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Full text of "Monatsschrift für höhere Schulen"

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Monatschrift 


für  .  I 


höhere  Schulen. 


Herausgegeben  unter  Mitwirkung 
namhafter  Schulmänner,  Universitätslehrer  und  Verwaltungsbeamten 


Dr.  R.  Köpke,  ^^^      Dr.  A.  Matthias, 

WIrkl.  Geh.  Ober-Reg.-Rat,  ""  Geh.  Ober-Reg.-Rat, 

Vortragenden  Räten  im  Königl.  Preuß.  Kultusministerium. 

Für  die  Redaktion  verantwortlich:   Geh.  Ober-Regierungsrat  Dr.  A.  Matthias. 


VIII.  Jahrgang. 

BERLIN 

WEIDMANNSCHE  BUCHHANDLUNG 
1909. 


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Inhalt. 


Seite 

Aufruf  für  die  Friedrich  Althoff-Stiftung 65 

Bekämpfung  der  „Schmutz-  und  Schundliteratur".     Auszug  aus  dem  Protokoll  der 
Hauptversammlung  des  Börsenvereins  der  Deutschen  Buchhändler  zu  Leipzig 

am  Sonntag  Kantate,  den  9.  Mai  1909 442 

Erste  Abteilung. 

Abhandlungen. 

F.   B  0  e  s  c  h  ,  Zur   Übungsbücherfrage    (Einige  Wünsche  zum  Quartaband  der 

Ostermannschen  Übungsbücher) 426 

P.  C  a  u  e  r  ,  Wie  studiert  man  Philologie? 588 

F.  C  r  a  m  e  r  ,  Selbstbetätigung  und  Selbstverantwortung  der  Schüler  auf  erzieh- 

lichem Gebiet 495 

W.  Fries,  Das  pädagogische  Seminar 71 

O.  Gerhardt,  Über  die  Schülerselbstmorde      129 

H.  Guhrauer,  Zur  Reifeprüfungsordnung 29 

R.  Herold,  Das  Einüben  der  griechischen  Buchstaben 425 

P.  Hohlstein,  Der  Unterricht  im  Linearzeichnen  an  den  preußischen  Real- 
anstalten nach  der  Verfügung  vom  14.  September  1908 20 

C.  H  ö  1  k  ,  Zu  Harnacks  Vorschlägen  über  die  Behandlung  des  Geschichtsunter- 
richts auf  der  Oberstufe  der  Gymnasien 150 

P.  Johannesson,  Eine  Schülerwerkstatt 165 

,   Über  Handfertigkeitsunterricht   an  höheren  Schulen.     Verkürzte  Wieder- 
gabe eines  Vortrags 434 

G.  Junge,  Nochmals  die  Astronomie  auf  der  Schule 234 

JVl.  Kirchner,  Mens  sana  in  corpore  sano 1 

E.  König,  Zur  Methodik  des  hebräischen  Unterrichts     353 

A.  Matthias,  Das  Böttinger-Haus  in  Göttingen  —  die  letzte  Schöpfung  Friedrich 

Althoffs      7 

,  Bergers  Schillerbiographie 81 

W.  Meier,  Bürgerkunde 162 

W.  M  e  V  s  ,    Die    ersten   griechischen   Stunden   in   der  Untertertia 657 

W.  M  ü  n  c  h  ,  Pädagogisches  aus  Paulsens  „Jugenderinnerungen" 417 

A.  Neumann,  Der  neueste  Oberlehrerroman 13 

P.  N  i  e  m  a  n  n  ,  Der  zweite  preußische  Oberlehrer-Ruder-Kursus  in  Wannsee  bei 

Berlin  vom  12.  bis  27.  Mai  1909 662 


IV  Inhalt. 

Seite 
J,  Norrenberg,  Die  Wiener  Reformvorschläge  für  den  naturwissenschaftlichen 

Unterricht 16 

,  Die  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen  an  den  höheren  Lehranstalten 

Preußens 481 

A.  P  1  e  i  ß  n  e  r  ,  Zur  Einführung  des  Werkunterrichts 498 

W.  Prinzhorn,  Die  freiere  Gestaltung  des  Unterrichtes  in  der  Prima  des  Lyzeums 

zu  Hannover 289 

E.  Rosenberg,  Zur  Bereicherung  der  Übersetzungssprache  aus  dem  Lateini- 
schen und  Griechischen 421 

G.  Schmidt,  Ein  neues  Hilfsmittel  für  den  Sprachunterricht 310 

K.  Schwarzschild,  Über  Astronomie  auf  den  höheren  Schulen 69 

V.  S  k  u  p  n  i  k  ,   Die  klassische  Philologie  und  die  Naturwissenschaften   ....  641 

W.  Thamhayn,  Eine  Ausstellungsgruppe  für  Reformschulwesen 75 

R.  Thiele,  Alte  Ziele  —  veränderte  Wege  im  Geschichtsunterricht  der  Prima  225 
A.  T  i  1  m  a  n  n  ,  I.  Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  in  die  Quellen  des  römi- 
schen Rechts.  —   II.  Die  Anfängerkurse  im  Griechischen  für  Studierende 
der  juristischen,  medizinischen  und  der  philosophischen  Fakultät.  —  III.  Reife- 
zeugnisse der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten 303  u.  600 

,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten  306  u.  659 

,    Statistisches  über  das  Frauenstudium 309  u.  501 

,  Die  Friedrich  Althoff-Stiftung 598 

M.  T  ü  r  k  ,  Ein  alter  Brauch 26 

H.  Weimer,  Die  höheren  Schulen  und  die  öffentliche  Meinung 577 

E.  Wernicke,  Der  biologische  Unterricht  am  Gymnasium  in  Marienwerder  .  312 

H.  Wickenhagen,  Turnen,  Spielen,  Rudern      171 

J.  Ziehen,   Zur  Beurteilung  des  Gymnasiums  nach  Frankfurter  Lehrplan  .    .  584 

Zweite  Abteilung. 

Programmabhandlungen. 

M.  N  a  t  h  ,  Über  Lehrpläne  und  Schulreform  1908 174 

H.  Schmidt,  Religion  1908 319 

P.  Geyer,  Zum  deutschen  Unterricht  1908 364 

F.  C  r  a  m  e  r  ,  Latein  1908 604 

O.  Preußner,  Französisch  und  Englisch  1908 610 

F.  M  a  r  c  k  s  ,  Geschichte  1907  u.  1908 188  u.  666 

J.  Norrenberg,  Mathematik  und  Naturwissenschaften  1908 85 

V.  Steinecke,  Erdkunde  1908  (Nachträge  von  1907  u.  1906) 315 

F.  Kuhlmann,  Zeichen-  und  Kunstunterricht  1908 92 

G.  Rolle,  Gesangunterricht  1908 93 

Berichtigung  zu  den  Programmabhandlungen  1907 576 

Dritte  Abteilung. 

Bficherbesprechungen. 

a)   Sammelbesprechungen: 
Aus  den  Veröffentlichungen  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schul- 
geschichte (Jahrgang  1908),  von  Oberiehrer  Dr.  H.  W  e  i  m  e  r  in  Wiesbaden  503 
Hilfsbücher    für    den    deutschen    Sprachunterricht,    angez.    von    Geh.    Reg.-Rat 

Dr.  J.   Buschmann,   Provinzial-Schulrat  in   Koblenz      450 


Inhalt  V 

Seite 

Zum  deutschen  Aufsatz,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  P.  G  e  y  e  r  in  Brieg    321 

Zur  deutschen  Literaturgeschichte,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  A.  Biese 

in  Neuwied 446 

Schulausgaben   deutscher  Klassiker,  angez.  von  Direktor  Dr.   Paul  Lorentz 

in  Friedeberg 237 

Lateinische    Übungsbücher   und   Grammatiken,    angez.    von   Oberlehrer  Professor 

Dr.  H.  F  r  i  t  z  s  c  h  e  in  Berlin       378 

Neuere  Schulausgaben  der  lateinischen  Klassiker  und  Beiwerk,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Dr.  H.  Z  i  e  m  e  r  in  Kolberg 33 

Griechische  Grammatiken  und  Übungsbücher,  angez.  von  Professor  Dr.  G.  S  a  c  h  s  e 

in  Charlottenburg 506 

Griechische  Autoren,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  C.  H  ö  1  k  in  Steglitz 375 

Zur  französischen  Lektüre  (Gedichtsammlungen  und  Verwandtes),  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t  in  Düsseldorf 671 

Zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Mathematik.  V.,  angez.  von  Direktor  Pro- 
fessor Dr.  M.  N  a  t  h  in  Pankow 525 

Schriften  aus  dem  Gesamtgebiet  der  Biologie  und  ihrer  Behandlung  im  Unterricht, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  F.  Hock  in  Perleberg 382 

Hilfsbücher  für  den  Unterricht  in  der  Physik,  angez.  von  Geh,  Reg.-Rat  Professor 

Dr.  J.  N  0  r  r  e  n  b  e  r  g  ,  vortr.  Rat  im  Kultusministerium  in  Berlin  .    .    .     533 

Erdkunde,  angez.  von  Direktor  Dr.  V.  S  t  e  i  n  e  c  k  e  in  Essen  a.  d.  Ruhr  .    .    ,     510 

Heer-,  Flotten-  und  Kolonial-Literatur  für  die  Schule,  angez.  von  Oberlehrer  Dr. 

W.  Scheel  in  Steglitz 37 

Neue  österreichische  Lehrbücher  für  den  katholischen  Religionsunterricht,  angez. 

von  Oberlehrer  Dr.  W.  C  a  p  i  t  a  i  n  e  in  Eschweiler 31 


b)    Einzelbesprechungen: 

Abhandlungen,  neusprachliche,  s.  R.  R  i  e  g  1  e  r. 

Akropolis,  die,  von  Athen  und  das  Forum  Romanum,  gemalt  von  MaxRoeder, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  Paul   Brandt  in  Bonn 276 

A  n  t  h  e  s  ,  O.,  Erotik  und  Erziehung,  angez.  von  Direktor  Dr.  Richardjahnke 

in  Lüdenscheid 635 

Arbeiten,  philosophische,  s.  M.  Simon. 

Asbach,  Jul,  ,  Ludwig  Freiherr  Roth  von  Schreckenstein,  angez.  von  Professor 

Kräh  in  Düsseldorf     120 

Aus  einem  Leben  „voller  Leuchten  und  Wunder"  zum  Andenken  an  Martin  Brennecke, 

angez.  von  Geh.  Ober-Regierungsrat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 99 

Aus  Natur  und  Geisteswelt,  s.  Th.  B  i  1 1  e  r  a  u  f  und  A.  Schapire  —  Neurat  h. 
B  a  e  n  t  s  c  h  ,  B.,  David  und  sein  Zeitalter,  angez.  von  Oberlehrer  H.  R  i  c  h  e  r  t , 

Leiter  der  Realschule  in  Pleschen 332 

B  a  r  d  t ,  C,  die  Sermonen  des  Q.  Horatius  Flaccus,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  L.  E  h  r  e  n  t  h  a  1  in  Schleusingen      53 

,  Zur  Technik  des  Übersetzens  lateinischer  Prosa,  angez.  von  Prov.-Schulrat 

Dr.  Paul  Cauer,  Professor  an  der  Universität  Münster  i.  W 273 

,  s.  Römische  Komödien. 

Bartels, Rudolf,  Zu  Schillers  „Das  Ideal  und  das  Leben",  angez.  von  Direktor 

Professor  Dr.  P.  G  o  1  d  s  c  h  e  i  d  e  r  in  Cassel 110 

Bauer,  W.,  Evangelium,  s.  Hand-Kommentar  zum  Neuen  Testament. 
Bäumer,  Gertrud,  und  Lili  Droescher,  Von  der  Kindesseele,  angez. 

von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 261 


VI  Inhalt 

Seite 
Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege,  1.  Heft,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  Fr.  Pfuhl, 

Professor  an  der  Akademie  in  Posen 124 

,2.  Heft,  angez.  von  Direktor  Professor  E.  Stutzer  in  Görlitz  .    .    .     632 

Beiträge  zur  Weiterbildung  der  christlichen  Religion,  s.  W.  Rein,  Religion  und 

Schule. 
B  e  r  g  e  r ,   A.  E.,  Die  Kulturaufgaben  der  Reformation,  angez.  von  Oberlehrer 

H.  R  i  c  h  e  r  t ,  Leiter  der  Realschule  in  Pleschen 334 

B  e  r  g  e  r  ,  K.,  Schiller,  besprochen  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias 

in  Berlin 81 

Bertz,  Eduard,    Harmonische    Bildung,    angez.    von    Oberlehrer  Professor 

Dr.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d  in  Berlin : 688 

B  e  z  a  r  d  ,  J.,  La  Classe  de  Fran^ais,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  - 

h  a  r  d  t  in  Düsseldorf 57 

V.  Bezold,Fr.,  F.  Gothein,  R.  Koser,  Staat  und  Gesellschaft  der  neueren 

Zeit,  angez.  von  Direktor  Dr.  F.  Neubauer  in  Frankfurt  a.  M 562 

Bibliothek,  indogermanische,  s.  M.  N  i  e  d  e  r  m  a  n  n. 

Bibliothek  wertvoller  Memoiren,  hrsgb.  von  Dr.  E.  S  c  h  u  1 1  z  e  ,  angez.  von  Geh. 

Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 118 

B  i  e  r  b  a  u  m  ,  0.  J.,  s.  Goethe-Kalender. 

Biese,   Alfred,    Deutsche    Literaturgeschichte,    angez.    von    Geh.    Reg.-Rat 

Dr.  J.  Buschmann,  Provinzial-Schulrat  in  Koblenz 106 

Bildungswesen,   Das  gesamte,  (mit  Ausschluß  der  Hochschulen)  im  preußischen 

Landtag,  Vollständiger  stenographischer  Bericht  usw.    Hrsg.  von  H.  S  i  e  r  k  s  , 

angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 456 

B  i  s  c  h  0  f  f ,  O.,  Leitfaden  beim  Unterricht  in  der  Geschichte  der  christlichen  Kirche 

für  evangelische  Schulen,  angez.  von  Direktor  Dr.  R.  G  a  e  d  e  in  Münster  i.  W.     199 
Bitterauf  ,\T  h. ,    Friedrich    der    Große,    angez.    von    Oberlehrer    Professor 

Dr.  W  i  1  h"e  1  m  M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld ,    .     699 

Bölsche, Wilhelm,  Die  Schöpfungstage,  angez.  von  Prof.  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 217 

Böninger, Eugen,  Von  der  Heerstraße,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  R  o  t  h  e  r  t 

in  Düsseldorf 348 

Bornemann,  W.,  Der  Konfirmandenunterricht  und  der  Religionsunterricht  in 

der  Schule  in  ihrem  gegenseitigen  Verhältnis,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

R.  Peters  in  Düsseldorf 202 

Brennecke,  Martin,  s.  Aus  einem  Leben. 

Bücher  der  Rose,  s.  Will  Vesper. 

Bücher  der  Weisheit  und  Schönheit,  angez.  von  Direktor  Dr.  Paul  L  o  r  e  n  t  z 

in  Friedeberg  Nm 396 

Budde,  Gerhard,  Der  Kampf  um  die  fremdsprachliche  Methodik,  angez.  von 

Geh.  Reg.-Rat  Dr.  W.  Münch,  Professor  an  der  Universität  Berlin  ...     112 
,  Die  Theorie  des  fremdsprachlichen  Unterrichts  in  der  Herbartschen  Schule, 

angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  J  o  h.  Borbein  in  Altona 114 

,  Schülerselbstmorde,  angez.  von  Direktor  Dr.  K-  W  e  h  r  m  a  n  n  in  Bochum     193 

B  u  r  g  a  ß  ,  E.,  Winterliche  Leibesübungen  in  freier  Luft,  angez.  von  Direktor  Dr. 

Edmund  Neuendorff  in  Haspe 636 

C  a  p  i  t  a  i  n  e  ,  W.,  Lehrbuch  der  katholischen  Religion,  angez.  von  Oberlehrer 

Dr.  Joh.   Noryskiewicz  in   Schrimm 547 

Cauer,Paul,  Grundfragen  der  Homerkritik,  angez.  von  Professor  Dr.  G  u  s  t  a  v 

Lang  in  Stuttgart 470 

Christlieb-Fauth,  Handbuch  der  Evangelischen  Religionslehre,  angez.  von 

Direktor  Dr.  R.  G  a  e  d  e  in  Münster  i.  W 198 


Inhalt.  VII 

Seite 
Chudzinski,  A.,  Tod  und  Totenkultus  bei  den  alten  Griechen,  angez.  von 

Oberlehrer  Professor  Dr.  H.  Wolf  in  Düsseldorf 342 

C  0  n  w  e  n  t  z  ,  H.,  s.  Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege. 

Dalcroze,  E.  Jaques,  Der  Rhythmus  als  Erziehungsmittel  für  das  Leben  und 

die  Kunst,  angez.  von  Dr.   F.  S  a  r  a  n  ,  Professor  an  der  Universität  Halle    393 
Darmstaedter.Paul,  Die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika.    Ihre  politische, 

wirtschaftliche  und  soziale  Entwicklung,  angez.  von  Direktor  Dr.  A  u  g.  H  ö  f  e  r 

in  Wiesbaden 404 

D  e  g  e  n  e  r ,    H.   A.    L.,    Wer    ist's?,    angez.    von    Geh.    Oberregierungsrat    Dr. 

A.  Matthias  in  Berlin 63 

Deußen,  Paul,  Die  Geheimlehre  des  Veda,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  Karl  Vorländer  in  Solingen      255 

Diesterwegs  deutsche  Schulausgaben,  s.  Sophokles'  Antigone. 

Dietze,    Hermann,    Griechische    Sagen,    angez.    von   Oberlehrer   Professor 

Dr.  H.  Wolf  in  Düsseldorf 343 

Dippe,  Alfred,  Naturphilosophie,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  Dennert 

in  Godesberg 477 

Dornblüth,  O.,  Hygiene  der  geistigen  Arbeit,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Bodo  Habenicht  in  Linden-Hannover 194 

D  y  r  0  f  f ,  A.,    Einführung    in    die    Psychologie,    angez.    von    Geh.-Rat  Direktor 

Dr.  G.  Leuchtenbergerin  Zehlendorf  bei  Berlin      619 

V.  Eberhardt,  Aus  Preußens  schwerer  Zeit,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  Johannes  Kreutzer  in  Cöln 277 

E  b  n  e  r  ,  E.,  Magister,  Oberlehrer,  Professoren.  Wahrheit  und  Dichtung  in  Literatur- 
ausschnitten aus  fünf  Jahrhunderten,  angez.  von  Direktor  Dr.  R.  J  a  h  n  k  e 

in  Lüdenscheid .       48 

E  c  k  e  r  m  a  n  n  ,  J.  P.,  Gespräche  mit  Goethe,  herausgeg.  von  H.  H.  Houben, 

angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 50 

Eichhoff,  H.,  Das  Petit  Lycee,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  M  a  x  N  a  t  h 

in  Pankow 687 

Eimer,   M.,    Lord   Byron    und    die   Kunst,    angez.   von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  Paul  Brandt  in  Bonn 257 

Eisler,  Rudolf,  Wörterbuch  der  philosophischen  Begriffe,  angez.  von  Geh. 

Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 458 

Ekkehards  Waltharius,  Hrsgb.  von  Karl  Strecker,  angez.  von  Dr.  Conrad 

B  0  r  c  h  1  i  n  g  ,  Professor  an  der  Akademie  Posen 268 

E  r  n  s  t ,  O.,  Des  Kindes  Freiheit  und  Freude,  angez.  von  Oberl.  Dr.  H.  W  e  i  m  e  r 

in  Wiesbaden 195 

Evangelien-Synopse,  Deutsche,  s.  A.  Huck. 

Fahre,  J.  H.,  Bilder  aus  der  Insektenwelt,  angez.  von  Professor  Dr.  F.  Pfuhl 

in  Posen 701 

Falkenberg,  Wilhelm,  Ziele  und  Wege  für  den  neusprachlichen  Unter- 
richt, angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t  in  Düsseldorf    215 
Fauth,   s.  Christlieb-Fauth. 
Festgesang  zu  Kaisers  Geburtstag,  angez.  von  Gesanglehrer  Professor  G.  Rolle 

in  Berlin  (s,  Weinreis) 63 

Festschrift  des  Königl.  Joachimsthalschen  Gymnasiums,  s.  Novae  Symbolae 

Joachimicae. 
Festschrift  zur  49.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner  in  Basel  im 

Jahre   1907,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  P.   Foerster  in  Berlin      44 
Fetter,  Johann,  Beiträge  zur  österreichischen  Mittelschulreform,  angez.  von 

Direktor  Professor  Dr.  Max  N  a  t  h  in  Pankow 97 


VIII  Inhalt. 

Seite 

Fischer,  Raymund,  Elementar-Laboratorium,  angez.  von  Oberlehrer  Pro- 
fessor P.  Johannesson    in  Berlin 280 

Flügel,  O.,  s.  Religionsphilosophie. 

Frank,  A.,  Die  Erkenntnis  Gottes  durch  die  Natur,  angez.  von  Professor  Dr. 

E.  Dennert    in  Godesberg 478 

F  r  i  t  s  c  h  ,  0.,  Delos,  die  Insel  des  Apollon  und  Delphi,  die  Orakelstätte  des  Apollon, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  E.  W  e  n  d  1  i  n  g  in  Zabern  i.  E.   .    .    .     624 

F  u  r  r  e  r  ,  K.,  Das  Leben  Jesu  Christi,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  R.  P  e  t  e  r  s 

in  Düsseldorf 267 

Gebhardts  Handbuch  der  Deutschen  Geschichte,  angez,  von  Direktor  Dr.  S. 

W  i  d  m  a  n  n    in  Münster  i.  W 405 

Gedenkhalle,  Deutsche.  Bilder  aus  der  vaterländischen  Geschichte  von  v.  P  f  1  u  g  k  - 
Härtung  und  v.  T  s  c  h  u  d  i ,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W  i  1  h. 
iVleiners    in  Elberfeld 560 

Geisteshelden,    s.  R.  M.  Werner,    Hebbel. 

Georges,  Lateinisch-deutsches  Schulwörterbuch  und  Deutsch-lateinisches  Schul- 
wörterbuch, angez.  von   Direktor  Dr.  F.  C  r  a  m  e  r  in  Düsseldorf 52 

Gerber,  L.,  Englische  Geschichte,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W  i  1  h. 

M  e  i  n  e  r  s    in  Elberfeld 568 

Geschichtsmalerei,  s.  Künstlerische  Wiedergaben. 

Geyer,  Albert,  Unsere  Kultur  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Gegenwart  in 
Einzelbildern,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  Johannes  Kreutzer 
in  Cöln 277 

G  i  e  s  e  ,  A.,  Deutsche  Bürgerkunde,  angez.  von  Direktor  Professor  E.  Stutzer 

in  Görlitz      122 

Colt  her,  W.,  Nordische  Literaturgeschichte,  angez.  von  Dr.  Fr.  Panzer, 
Professor  an  der  Akademie  für  Handels-  und  Sozialwissenschaften  in  Frank- 
furt a.  M 208 

Goethe-Gespräche,  ausgewählt  von  Paul  Lorentz,    angez.  von    Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin      271 

Goethes  lyrische  Meisterstücke,  s.  Meisterstücke. 

Goethe-Kalender    auf    das    Jahr   1910,    angez.    von    Geh.    Oberregierungsrat    Dr. 

A.  Matthias    in  Berlin 696 

Graeber,  Karl,  Ideal-Schulgärten  im  XX.  Jahrhundert,  angez.  von  Ober- 
lehrer Dr.  Fr.  Pfuhl,    Professor  an  der  Akademie  Posen 282 

Grießmann,  J.,  Die  gebräuchlichsten  Fremdwörter,  angez.  von  Geh.  Reg.-Rat 

Dr.   Jos.   Buschmann,    Provinzial-Schulrat  in   Koblenz 550 

Grosse,  Julius,  Ausgewählte  Werke,  angez.  von   Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr. 

A.  Matthias    in  Berlin 697 

Gruber,  Hugo,  Zeitiges  und  Streitiges,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr. 

E.  Grünwald    in  Berlin 689 

Günther,  Konrad,  Rückkehr  zur  Natur,  angez.  von  Prof.  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 477 

Günther,   Sigmund,   Geschichte  der  Mathematik,   angez.   von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  H.  T  h  i  e  m  e  ,  Dozent  an  der  Akademie  Posen 474 

Gymnasial-Bibliothek,  s.  A.  Chudzinski,  0.  Fritsch,  R.  Thiele  und 
H.  W  0  1  f. 

Hahn,  Julius,  Die  Schlacht  im  Teutoburger  Walde.    Ein  Gedenkblatt^  angez. 

von  Direktor  Dr.  S.  W  i  d  m  a  n  n  in  Münster 564 

Handbuch  des  deutschen  Unterrichts  an  höheren  Schulen,  s.  H,  H  i  r  t ,  Etymologie. 

Handbuch  zum  Neuen  Testament,  herausgeg.  von  Hans  Lietzmann,  angez. 

von  Oberlehrer  Lic.   Hans  Vollmer  in   Hamburg 543 


Inhalt.  IX 

Seite 

Hand-Kommentar  zum  Neuen  Testament,  angez.  von  Direktor  Dr.  M.  C  o  n  s  - 

b  r  u  c  h    in  Eisenach 545 

Hansen,  A,,  Haeckels  „Welträtsel"  und  Herders  Weltanschauung,  angez.  von 

Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t    in  Godesberg      216 

Hartmann,   A.,    Grundregeln   der   Gesundheitspflege,   angez.   von   Oberlehrer 

Professor  F.  Moldenhauer    in  Köln 64 

Hausschatz  des  Wissens,  s.  M.  V  o  g  t  h  e  r  r. 

Hebbel,   Friedrich,    Sämtliche   Werke,   Briefe,   bes.   von   Richard   Maria 

Werner,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin   .    .     335 

,  Durch  Irren  zum  Glück.    Tagebuchblätter,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat 

Dr.  A.  Matthias    in  BerHn 337 

Hebbel-Forschungen,    s.    Joh.    Krumm. 

H  e  i  d  r  i  c  h  ,  R.,  Christnachtsfeier  und  Christnachtsgesänge  in  der  evangelischen 
Kirche,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  K.  J  a  n  s  e  n  in  Gr.-Lichter- 
felde 206 

Heilmeyer,  AI.,    Die  Plastik  seit  Beginn  des  19.  Jahrhunderts,  angez.  von 

Oberlehrer  Professor  Dr.  Paul  Brandt  in  Bonn 257 

H  e  1 1  w  i  g  ,  P.,  Lehrbuch  der  Geschichte  für  höhere  Schulen,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s    in  Elberfeld 408 

Helm,   Franz,    Materialien    zur    Herodotlektüre,    angez.   von   Professor  Dr. 

Gustav    Lang   in  Stuttgart 401 

Herders  Werke,  (Auswahl),  s.  Klassiker-Bibliothek,  Goldene. 

Herold,  T  h. ,  Das  Lied  vom  Kinde,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A. 

Matthias    in  Berlin     552 

Hess,  W.,  Christliche  Glaubens-  und  Sittenlehre,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

R.  Peters   in  Düsseldorf      205 

H  e  y  c  k  ,  E.,  Deutsche  Geschichte,  angez.  von  Oberlehrer  Prof.  Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s 

in  Elberfeld 59 

Himmel  und  Erde.  Unser  Wissen  von  der  Sternenwelt  und  dem  Erdball,  Hrsgb. 
von  J.  P  1  a  s  s  m  a  n  n  u.  a.,  angez.  von  Prov.-Schulrat  Professor  A  1  b  r  e  c  h  t 
T  i  e  b  e    in  Berlin 278 

H  i  p  p  i  u  s  ,  A.,  Der  Kinderarzt  als  Erzieher,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  H.  W  e  i  m  e  r 

in  Wiesbaden 395 

Hirt,  H.,  Etymologie  der  neuhochdeutschen  Sprache,  angez.  von  Geh.  Reg.-Rat 

Dr.    Jos.    Buschmann,    Prov.-Schulrat  in  Koblenz 548 

Hirzel,  Rudolf,  Rede,  gehalten  zur  Feier  der  akademischen  Preisverteilung 
am  24.  Juni  1905,  angez.  von  Provinzial-Schulrat  Dr.  P.  C  a  u  e  r ,  Professor 
an   der  Universität  Münster 394 

Hock,  F.,   Lehrbuch  der  Pflanzenkunde,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  F  r.  P  f  u  h  1 , 

Professor  an  der  Akademie  Posen 281 

Hölderlins  Werke,  s.  Klassiker-Bibliothek,  Goldene. 

H  0  1 1  z  m  a  n  n  ,  H.  J.,  Evangelium,  s.  Hand-Kommentar  zum  Neuen  Testament. 

Holtzmann,  O.,  Christus,  angez.  von  Oberlehrer  H.  R  i  c  h  e  r  t ,  Leiter  der 

Realschule  in  Pleschen 332 

H  0  r  a  z  '  Jamben-  und  Sermonen-Dichtung,  s.  K.  S  t  a  e  d  1  e  r. 

H  0  r  a  z  '  Sermonen,  s.  C.  B  a  r  d  t. 

Huck,  A.,  Deutsche  Evangelien-Synopse,  angez.  von  Direktor  Dr.  M.  C  o  n  s  - 

b  r  u  c  h    in  Eisenach 546 

Huemer,  Kamillo,  Auf  die  Probe  kommt's  an,  angez.  von  Oberlehrer  Pro- 
fessor Dr.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d    in  Berlin      394 

Jäger,  O.,  Deutsche  Geschichte,  angez.  von  Oberlehrer  Prof.  Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s 

in  Elberfeld 628 


X  Inhalt. 

Jahrbuch  der  Naturwissenschaften  1906 — 1907,  angez.  von  Prof.  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 217 

1907—1908,  angez.  von  Geh.  Reg.-Rat  Professor  Dr.  J.  Norrenberg, 

Vortrag.   Rat  im   Kultusministerium  in  Berlin 573 

Janeil,  Walther,    Ausgewählte  Inschriften,  griechisch  und  deutsch,  angez. 

von  Provinzial-Schulrat  Dr.  P.  C  a  u  e  r  ,  Professor  an  der  Universität  Münster    472 

Javal,  Emile,  Die  Physiologie  des  Lesens  und  Schreibens,  angez.  von  Pro- 
vinzial-Schulrat Professor  A.  T  i  e  b  e  in  Berlin 412 

Jean  Pauls  Werke,  s.  Klassiker-Bibliothek,  Goldene. 

Jessen  und  Stehle,   Kleine  Zahnkunde  für  Schule  und  Haus,  angez.  von 

Oberlehrer  Professor  BodoHabenicht    in  Linden-Hannover 576 

I  m  m  i  s  c  h  ,  O.,  Wie  studiert  man  Philologie?,  besprochen  von  Provinzial-Schul- 
rat Dr.  P.  C  a  u  e  r  ,  Professor  an  der  Universität  Münster  i.  W.  .    .   .    .    .    .     588 

Ipfelkofer,A.,  Bildende  Kunst  an  Bayerns  Gymnasien,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  P.  Brandt    in  Bonn 257 

Junge,  Fr.,  Leitfaden  für  den  Geschichtsunterricht  in  Real-,  höheren  Bürger- 
und Mädchenschulen,  besorgt  von  A.  Lange,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 
Dr.  W.  Mein  er  s    in  Elberfeld 558 

K  a  1  ä  h  n  e  ,  A.,  Die  neueren  Forschungen  auf  dem  Gebiet  der  Elektrizität  und 
ihre  Anwendungen,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Fr.  Busch  in  Arns- 
berg i.  W. 411 

Kaemmel,  Otto,    Sächsische  Geschichte,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  Johannes    Kreutzer    in  Köln 278 

K  a  ß  n  e  r  ,  C,  Das  Wetter  und  seine  Bedeutung  für  das  praktische  Leben,  angez. 

von  Oberlehrer  Professor  A.  0  1 1  o    in  Eisleben 573 

V.  Keppler,PaulWilhelm,  Mehr  Freude,  angez.  von  Direktor  Dr.  Josef 

Riehemann    in  Meppen 391 

Kerschensteiner,  G.,  Die  Entwicklung  der  zeichnerischen  Begabung,  angez. 

von  Zeichenlehrer  Professor  Fritz  Kuhlmann   in  Altona 702 

K  e  1 1  n  e  r  ,   G.,  Studien  zu  Schillers  Dramen,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat 

Dr.  A.  Matthias    in  Berlin 550 

Kirchengeschichte  in  Quellen  und  Texten,  s.  G.  Schwamborn. 

K  i  r  c  h  n  e  r  ,  M.,  Die  Tuberkulose  in  der  Schule,  ihre  Verhütung  und  Bekämpfung, 

angez.  von  Dr.  K.  D  o  e  p  n  e  r   in  Charlottenburg 636 

Klassiker-Bibliothek,  Goldene,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s 

in  Berlin 269  u.  463 

K  1  a  1 1 ,  Max,  Althoff  und  das  höhere  Schulwesen,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.- 
Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 324 

Klein,  T  h. ,   Biblische  Geschichte  für  die  ersten  Schuljahre  und  für  die  Mittel- 

und  Oberstufe,  angez.  von  Direktor  Dr.  R.  G  a  e  d  e   in  Münster  i.  W.  .    .    .     200 

K  n  0  k  e  ,  F.,  Neue  Beiträge  zu  einer  Geschichte  der  Römerkriege  in  Deutschland, 

angez.  von  Direktor  Dr.  Fr.  Cr  am  er   in  Düsseldorf 116 

Komödien,  Römische,  Deutsch  von  C.  B  a  r  d  t ,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat 

Dr.  A.  Matthias    in  Berlin 698 

K  ö  n  i  g  ,  E.,  Die  Poesie  des  Alten  Testaments,  angez.  von  Oberlehrer  H.  R  i  c  h  e  r  t , 

Leiter  der  Realschule  in  Pleschen 332 

Kronenberg,  M.,  Geschichte  des  deutschen  Idealismus,  angez.  von  Geh.-Rat 

Professor  Dr.  Chr.  Muff    in  Pforta 691 

Krüger,  G.,  Verordnungen  und  Gesetze  für  die  Gymnasien  und  Realanstalten 
des  Herzogtums  Anhalt,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  Max  N  a  t  h  in 
Pankow 193 

Krumm,  Johannes,  Die  Tragödie  Hebbels,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat 

Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 339 


Inhalt.  XI 

Seite 

K  u  h  1  m  a  n  n  ,  F.,  Bausteine  zu  neuen  Wegen  des  Zeichenunterrichts,  angez.  von 

Professor  Philipp    Franck    in  Wannsee      575 

Kultur  der  Gegenwart,  s.  v.  B  e  z  o  1  d  ,  Staat  und  Gesellschaft. 

Künstlerische  farbige  Wiedergaben  bedeutender  Werke  deutscher  Geschichtsmalerei, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  P.  B  r  a  n  d  t    in  Bonn 197 

Ladenburg,  Albert,   Naturwissenschaftliche  Vorträge,  angez.  von  Professor 

Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t    in  Godesberg      476 

L  a  n  g  1 ,  Jos.,   Bilder  zur  Geschichte  für  Gymnasien,  Realschulen  und  verwandte 

Anstalten,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  P.  Brandt  in  Bonn  .   .    .     276 
Lassar-Cohn,  Die  Chemie  im  täglichen  Leben,  angez.  von  Professor  Dr.  P. 

Rulf    in  Dortmund      633 

L  e  h  m  a  n  n  ,  R.,  Deutsches  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten,  angez.  von  Direktor 

Professor  Dr.  Fr.  Seiler    in  Luckau 108 

,  Der  deutsche  Unterricht,  angez.  von  Geh.  Gber-Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 

in  Berlin 622 

Lentz,  Ernst,  Pädagogisches  Neuland,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr. 

O.  Keesebiter    in  Charlottenburg      98 

Lessi.ngs  Werke  (Auswahl),  s.  Klassiker-Bibliothek,  Goldene. 

Lhotzky,  Heinrich,  Die  Seele  deines  Kindes,  angez.  von  Oberlehrer  Dr. 

P  a  u  1  W  ü  s  t    in  Düsseldorf 258 

V.  L  i  e  b  e  r  m  a  n  n  ,   L.,   An   die  akademischen  Bürger  und  Abiturienten  höherer 

Lehranstalten,  angez.  von  Direktor  Dr.  Richard  Jahnkein  Lüdenscheid    635 
Lietzmann,  Hans,  s.  Handbuch  zum  Neuen  Testament. 
Lodge,Sir01iver,  Leben  und  Materie,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 477 

L  ö  h  r  ,  M.,  Volksleben  im  Lande  der  Bibel,  angez.  von  Oberlehrer  H.  R  i  c  h  e  r  t , 

Leiter  der  Realschule  in  Pleschen 332 

L  0  r  i  a  ,    G.,   Vorlesungen   über   darstellende    Geometrie,   angez.   von   Oberlehrer 

Professor  Dr.  H.  T  h  i  e  m  e  in  Posen 122 

Loewenfeld,  L.,  Über  die  Dummheit,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr. 

A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 620 

L  u  c  i  a  n  s  Schriften,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  H.  Z  i  e  m  e  r  in  Kolberg    553 
Luckenbach,  H.,  Kunst  und  Geschichte,  I.  Teil,  Abbildungen  zur  alten  Ge- 
schichte, angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  P.  Brandt  in  Bonn  ....     474 
Ludwig,  A.,  Schiller  und  die  deutsche  Nachwelt,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.- 
Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 210 

M  a  r  X  ,  H.,  und  H.  T  e  n  t  e  r  ,  Hilfsbuch  für  den  evangelischen  Religionsunterricht 

an  höheren  Lehranstalten,  angez.  von  Direktor  Dr.  R.  G  a  e  d  e  in  Münster  i.  W.     201 
Matschoß,  A.,  Die  preußischen  Provinzial- Instruktionen  für  die  Direktoren, 

Ordinarien  und  Oberlehrer  der  höheren  Schulen  (1856 — 1885),  angez.  von  Geh. 

Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 539 

Meisterstücke  der  deutschen  Lyrik  von  Johann  Wolfgang  von  Goethe,  hrsgb.  von 

R.  M.  M  e  y  e  r  ,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s  in  Berlin     210 
Mitteilungen  des  Vereins  der  Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums  in  Wien, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d  in  Berlin 46 

Mittelschul-Enquete  im  K.   K.  Ministerium  für  Kultus  und  Unterricht  in  Wien, 

angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 457 

Monatsblätter  für  den   evangelischen   Religionsunterricht,   angez.   von   Oberlehrer 

Dr.  Fr.  Fei  gel    in  Duisburg 100 

Moral  Instruction  and  Training  in  Schools,  angez.  von  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  W.  M  ü  n  c  h, 

Professor  an  der  Universität  Berlin 40 

Müller, Hugo,  Die  Gefahren  der  Einheitsschule  für  unsere  nationale  Erziehung, 

angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  Max  N  a  t  h  in  Pankow 96 


XII  Inhalt. 

Seite 
Münch,  Wilhelm,    Kultur  und  Erziehung,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d    in  Berlin      390 

Münchhausens  wunderbare   Reisen  und  Abenteuer,  angez.  von  Oberlehrer 

Dr.  K  a  r  1    Lorenz    in  Hamburg 212 

Muthesius,  Karl,    Goethe  und  Pestalozzi,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  Alfred  Heubaum    in  Friedenau  bei  Berlin 262 

Naumann,    Fr.,     Sonnenfahrten,    angez.    von    Geh.    Oberregierungsrat    Dr. 

A.  Matthias    in  Berlin 571 

Neubauer,   Fr.,    Kleine   Staatslehre  für  höhere   Lehranstalten,   angez.   von 

Direktor  Professor  E.  Stutzer   in  Görlitz 406 

Niedermann,  M.,  und  E.  Hermann,  Historische  Lautlehre  des  Lateinischen, 

angez.  von  Direktor  Dr.  Franz  Cramer  in  Düsseldorf 627 

Nohl, Clemens,  Womit  hat  der  höhere  Schulunterricht  unserer  Zeit  die  Jugend 

bekannt  zu  machen?    Was  ist  von  demselben  unbedingt  fernzuhalten?    Wie 

ist  in  dem  allein  Zulässigen  zu  unterrichten?,  angez.  von  Provinzial-Schulrat 

Dr.  P.  C  a  u  e  r  ,    Professor  an  der  Universität  Münster  i.  W 328 

Novae  Symbolae  Joachimicae,  angez.  von  Oberlehrer  Prof.  Dr.  E.  W  e  n  d  1  i  n  g 

in  Zabern  i.  E 329 

Novalis'  Werke,  s.  Klassiker-Bibliothek,  Goldene. 

Ostermann,   Chr.,    Lateinisches    Übungsbuch,   besprochen   von   Oberlehrer 

Dr.  F.  B  0  e  s  c  h    in  Berlin- Wilmersdorf      426 

Otto,  Berthold,    Deutsche  Erziehung  und  Hauslehrerbestrebungen,  angez. 

von  Direktor  Professor  Dr.  M  a  x  N  a  t  h    in  Pankow     97 

,  Wie  ich  meinen  Kindern  von  der  Bodenreform  erzähle,  angez.  von  Direktor 

Dr.  Edmund    Neuendorff   in  Haspe 631 

Papers  on  Moral  Instruction,  angez.  von  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  W.  M  ü  n  c  h  ,  Professor 

an  der  Universität  Berlin 40 

Patin,  A.,  Der  Lucidus  Ordo  des  Horatius,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr. 

Ludwig    Ehrenthal    in  Halberstadt      402 

Paulsen,  Fried  r. ,   Aus  meinem  Leben,  besprochen  von  Geh.  Reg.-Rat  Dr. 

W.  Münch,    Professor  an  der  Universität  Berlin 417 

,  Moderne  Erziehung  und  geschlechtliche  Sittlichkeit,  angez.  von  Direktor 

Dr.  R.  J  a  h  n  k  e    in  Lüdenscheid 326 

Petersen,   Eugen,    Die  Burgtempel  der  Athenaia,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  E.  Wendung   in  Zabern  i.  E 344 

Pfade,  neue,   zum   alten   Gott,   angez.  von  Oberlehrer  Professor  R.  P  e  t  e  r  s    in 

Düsseldorf 202 

Pfeiffer,    Ernst,     Schulhygienisches   Taschenbuch,   angez.    von   Oberlehrer 

Professor  F.  Moldenhauer    in  Köln 124 

Pfleiderer,  Otto,  Religion  und  Religionen,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

R.  P  e  t  e  r  s    in  Düsseldorf      265 

V.  Pflugk-Hartung,    s.  Deutsche  Gedenkhalle. 

P  h  i  1  i  p  p  s  0  n  ,  A.,   Das  Mittelmeergebiet,   angez.   von   Provinzial-Schulrat   Dr. 

Julius    Waßner    in  Groß-Lichterfelde  (Kassel) 570 

Pilger,  R.,  Das  System  der  Blütenpflanzen  mit  Ausschluß  der  Gymnospermen, 

angez.  von  Oberlehrer  Dr.  F.  Pfuhl,  Professor  an  der  Akademie  Posen  .    .     702 
P  l  a  s  s  m  a  n  n  ,  J.,  s.  Himmel  und  Erde. 
P  0  i  n  c  a  r  6  ,  L.,  Die  moderne  Physik,  angez.  von  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  J.  N  o  r  r  e  n- 

b  e  r  g  ,  vortr.  Rat  im  Kultusministerium  in  Berlin r    •    •     217 

Quellensammlung  zur  deutschen  Geschichte,  s.  F.  S  a  1  o  m  o  n. 

R  a  i  t  h  e  1 ,  R.,  Maturitätsfragen  aus  der  allgemeinen  Geschichte  und  Maturitäts- 

fragen  aus  der  vaterländischen  Geschichte,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld 558 


Inhalt.  XIII 

Seite 
Rauschen,   G.,   Lehrbuch  der  katholischen   Religion  für  die  oberen   Klassen 

höherer  Lehranstalten,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  theol.  Joh.  Noryskie- 

w  i  c  z    in  Schrimm 693 

Reckendorf,    H.,    Mohammed    und    die    Seinen,    angez.    von    Oberlehrer 

H.    R  i  c  h  e  r  t ,    Leiter  der  Realschule  in   Pleschen 332 

Rein,  W.,  Religion  und  Schule,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  R.  P  e  t  e  r  s  in 

Düsseldorf 205 

,  Grundriß  der  Ethik,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  Koppel- 

mann,    Dozent  an  der  Universität  in  Münster  i.  W 459 

Religionsphilosophie  in  Einzeldarstellungen.     Hrsg.  von  O.  Flügel,  angez.  von 

Oberlehrer  Professor  Dr.  W.   K  o  p  p  e  1  m  a  n  n  ,  Dozent  an  der  Universität 

in  Münster  i.  W 460 

R  e  s  a ,  F.,  Jesus  der  Christus,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  R.  Peters  in 

Düsseldorf 201 

Riegler,  Richard,    Das  Tier  im  Spiegel  der  Sprache,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  J.  H  e  i  n  z  e  r  1  i  n  g    in  Siegen     103 

Roeder,    Max,    s.  Akropolis  von  Athen. 

R  ö  h  1 ,   H.,   Entlassungsreden,  angez.   von   Provinzial-Schulrat  Dr.   P.   C  a  u  e  r  , 

Professor  an  der  Universität  Münster  i.  W 394 

Rose,  Felicitas,    Heideschulmeister   Uwe    Karsten,  angez.  von  Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in   Berlin 400 

S  a  d  1  e  r  ,  M.  E.,  s.  Moral  Instruction. 

Salomon,  Felix,    Die   deutschen  Parteiprogramme,   angez.  von  Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin      565 

Sammlung  Göschen,  s.  L.  Gerber,  W.  Golther,Al.  Heilmeyer,  Otto 

Kaemmel,  R.  Pilger,  W.  Staerk  und  H.  S  w  o  b  o  d  a. 
SchaarschmidtjC,  Die  Religion.    Einführung  in  ihre  Entwicklungsgeschichte, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.   K  o  p  p  e  1  m  a  n  n  ,  Dozent  an  der 

Universität  Münster  i.  W 542 

Schäfer,  Alb.,    Einführung  in  die  Kulturwelt  der  alten  Griechen  und  Römer, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  H.  Wolf  in  Düsseldorf 340 

Schapire-Neurath,  Anna,    Friedrich   Hebbel,  angez.   von   Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin      338 

Scheel,  W.,  Das  Lichtbild,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  H.  B  o  h  n  in  Berlin    574 
S  c  h  e  i  n  e  r  ,  J.,  Populäre   Astrophysik,  angez.   von  Provinzial-Schulrat  Professor 

A.  T  i  e  b  e    in  Berlin 278 

Schenk,  K-,  Lehrbuch  der  Geschichte  für  höhere  Lehranstalten,  angez.  von 

Direktor  Dr.  Fr.  Marcks    in  Putbus 121 

Schiller-Denkwürdigkeiten,  angez.  von  Direktor  P.  Lorentzin  Friedeberg,  Nm.    469 
S  c  h  m  i  d  ,  B.,  Philosophisches  Lesebuch,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 459 

Schnee,  H.,  Unsere  Kolonien,  angez.  von  Direktor  Gust.  Wittenbrinck 

in  Unna 700 

Schneider,  Ferd.  Jos.,    Jean  Pauls  Jugend  und  erstes  Auftreten  in  der 

Literatur,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  M.  G  e  y  e  r  in  Eisenberg  (S.-A.)    272 
Schneider,  Max,  Von  wem  ist  das  doch?,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat 

Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 695 

S  c  h  ö  p  p  a  ,  G.,  Das  Mädchenschulwesen  in  Preußen,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.- 
Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 538 

Schriften,  kleine,  des  Zentralausschusses  zur  Förderung  der  Volks-  und  Jugend- 
spiele, s.  E.  B  u  r  g  a  ß. 
Schubert,  H.,  Niedere  Analysis,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  H.  T  h  i  e  m  e 

in  Posen 349 


XIV  Inhalt. 

Seite 

Schultze,  Ernst,  s.  Bibliothek  wertvoller  Memoiren. 

Schultze,  Friedrich,   Die  Franzosenzeit  in  deutschen  Landen  1806—1815, 

angez.  von  Direktor  F.  Neubauer  in  Frankfurt  a.  M 566 

Schwamborn,  Gregor,    Kirchengeschichte  in  Quellen  und  Texten,  angez. 

von  Oberlehrer  Dr.  W.  C  a  p  i  t  a  i  n  e    in  Eschweiler 333 

S  e  1  i  g  0  ,  A.,  Tiere  und  Pflanzen  des  Seeplanktons,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  F. 

Pfuhl,  Professor  an  der  Akademie  Posen 701 

Senfft  von  Pilsach,  A.,  Aus  Bismarcks  Werkstatt,  angez.  von  Direktor 

Professor  E.  Stutzer    in  Görlitz 567 

S  i  e  c  k  e  ,  E.,  Mythus,  Sage,  Märchen  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart,  angez. 
von  Dr.  Fr.  Panzer,  Professor  an  der  Akademie  für  Handels-  und  Sozial- 
wissenschaften in  Frankfurt  a.  M 208 

8  i  e  r  k  s  ,  H.,  s.  Das  gesamte  Bildungswesen. 

S  i  k  0  r  s  k  i ,  J.  A.,  Die  seelische  Entwicklung  des  Kindes  nebst  kurzer  Charakte- 
ristik der  Psychologie  des  reiferen  Alters,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr. 
A.  Matthias    in  Berlin .     260 

S  i  m  0  n  ,  M.,  Über  Mathematik,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  H.  T  h  i  e  m  e  , 

Dozent  an  der  Akademie  Posen      572 

Sophokles'  Antigone,  übersetzt  von  O.  Altendorf,  angez.  von  Oberlehrer  Pro- 
fessor Ludwig    Hüter   in  Gießen 344 

S  p  i  1 1  e  r  ,  G.,  s.  Papers  on  Moral   Instruction. 

Stadelmann,  H.,  Ärztlich-pädagogische  Vorschule  auf  Grundlage  einer  biolo- 
gischen Psychologie,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias 
in  Berlin 690 

S  t  a  e  d  1  e  r  ,  K.,  Horaz'  Jamben-  und  Sermonen-Dichtung,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  L.  E  h  r  e  n  t  h  a  1    in  Schleusingen 55 

S  t  a  e  r  k  ,  W.,  Neutestamentliche  Zeitgeschichte,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

R.  Peters    in  Düsseldorf      202 

Statuen  deutscher  Kultur,  angez.  von  Direktor  P,  Lorentzin  Friedeberg,  Nm.    466 

Steinwender,  Th.,    Die  Marschordnung  des  römischen  Heeres  zur  Zeit  der 

Manipularstellung,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  H.  L  e  p  p  e  r  m  a  n  n  in  Paderborn    346 

S  t  e  u  d  i  n  g  ,  H.,  Denkmäler  antiker  Kunst,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr. 

P.  Brandt    in  Bonn      196 

S  t  r  z  y  g  0  w  s  k  i ,  J.,  Die  bildende  Kunst  der  Gegenwart,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  P.  B  r  a  n  d  t    in  Bonn 195 

S  u  c  h  i  e  r  ,  H.,  Les  Voyelles  Toniques  du  vieux  Fran^ais,  angez.  von  Oberlehrer 
Professor  Dr.  E.  M  a  c  k  e  1 ,  schultechnischer  Mitarbeiter  am  Provinzial-Schul- 
kollegium  zu  Stettin 554 

S  w  0  b  0  d  a  ,   H.,   Griechische   Geschichte,   angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr. 

W.  M  e  i  n  e  r  s    in  Elberfeld 474 

Taschenbuch,  schulhygienisches,  s.  E.  Pfeiffer. 

Tenter,  H.,  s.  H.  Marx    und  H.  Ten  t  er. 

Thiele,  R.,  Im  Ionischen  Kleinasien,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  W  e  n  d  1  i  n  g 

in  Zabern  i.  E 624 

Thilo,  C  h.  A.,  s.  Religionsphilosophie. 

T  h  i  m  m  e  ,  A.,  Das  Märchen,  angez.  von  Gymnasialdirektor  Dr.  P  a  u  1  L  o  r  e  n  t  z 

in  Friedeberg,  Nm 623 

Thomas,  P.  F61ix,    L'Education  dans  la  Familie  (Les  P6ch6s  des  Parents), 

angez.  von  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  W.  M  ü  n  c  h  ,  Professor  an  der  Universität  Berlin    327 

T  h  r  ä  n  d  0  r  f ,  E.,  Die  soziale  Frage  in  Prima,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

R.  Peters    in  Düsseldorf      265 

Thrändorf,  E.,  und  H.  M  e  1 1  z  e  r  ,  Der  Religionsunterricht,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  R.  P  e  t  e  r  s    in  Düsseldorf 266 


Inhalt.  *  XV 

Seite 

Th  u  1  i  n  ,  C.  O.,  Die  Etruskische  Disziplin  und  Die  Götter  des  Martianus  Capella 
und  die  Bronzeleber  von  Piacenza,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  A. 
Kannengießer    in  Gelsenkirchen 557 

T  i  e  c  k  s  Werke,  s.  Klassiker-Bibliothek,  Goldene. 

Unbescheid,  Hermann,  Die  Behandlung  der  dramatischen  Lektüre,  er- 
läutert an  Schillers  Dramen,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  P.  G  o  1  d  - 
scheider    in  Kassel      399 

Versuche  und  Vorarbeiten,  religionsgeschichtliche,  s.  C.  O.  T  h  u  1  i  n. 

V  e  s  p  e  r  ,  W  i  1 1 ,  Die  Ernte  aus  acht  Jahrhunderten  deutscher  Lyrik,  angez.  von 

Direktor  Professor  Dr.  A.  B  i  e  s  e    in  Neuwied 107 

,  s.  Statuen  deutscher  Kultur. 

V  0  g  t  h  e  r  r  ,  M.,  Die  Chemie,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  P.  R  u  1  f  in 

Dortmund     634 

Vorträge  der  theologischen  Konferenz  zu  Gießen,  s.  W.  B  o  r  n  e  m  a  n  n. 

V  0  w  i  n  c  k  e  1 ,   E.,  Pädagogische  Deutungen,  angez.  von  Direktor  Dr.  Fried- 

rich   Schmitz    in  Langenberg 540 

Wagner  und   v.    Kobilinski,   Leitfaden   der  griechischen   und   römischen 

Altertümer,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  H.  Wolf  in  Düsseldorf  .    .     341 

Walter,  M.,  Aneignung  und  Verarbeitung  des  Wortschatzes  im  neusprachlichen 

Unterricht,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t  in  Düsseldorf     1 15 

W  e  i  n  r  e  i  s  ,  P.  und  H.,  s.  Festgesang  zu  Kaisers  Geburtstag. 

Wer  ist's?,  s.  H.  A.  L.  D  e  g  e  n  e  r. 

Werner,  Richard  Maria,    Hebbel,  ein  Lebensbild,  angez.  von  Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin      337 

W  e  r  t  h  e  r  ,  Dr.  med..   Hütet  Euch,  angez.  von  Direktor  Dr.  R.  J  a  h  n  k  e    in 

Lüdenscheid      478 

Wickenhagen, Ernst,  Leitfaden  für  den  Unterricht  in  der  Kunstgeschichte 
der  Baukunst,  Bildnerei,  Malerei  und  Musik,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 
Dr.  P.  B  r  a  n  d  t    in  Bonn      474 

W  i  e  1  a  n  d  s    gesammelte    Schriften,    angez.    von    Geh.    Oberregierungsrat    Dr. 

A.  Matthias    in  Beriin 395 

W  i  1  d  e  r  m  a  n  n  ,  M.,  s.  Jahrbuch  der  Naturwissenschaften. 

Wissenschaft  und  Bildung,  s.  B.  Baentsch,A.  Dyroff,0.  Holtzmann, 
C.  Kaßner,E.  König,  M.  Löhr,H.  Reckendorf  und  H.  S  c  h  n  e  e. 

W  0  l  f ,  H.,  Die  Religion  der  alten  Römer,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  T  h.  G  r  o  b  b  e  1 

in  Paderborn 213 

W  0  1  f  f ,  Emil,  Grundriß  der  preußisch-deutschen  sozialpolitischen  und  Volks- 
wirtschaftsgeschichte von  1640  bis  zur  Gegenwart,  angez.  von  Geh.  Ober-Reg.- 
Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 564 

Zeitfragen,  soziale,  s.  B.  Otto. 

Ziehen,  Julius,  Über  die  bisherige  Entwicklung  und  die  weiteren  Aufgaben 
der  Reform  unseres  höheren  Schulwesens,  angez.  von  Provinzial-Schulrat 
Professor  Dr.  J  o  h.  B  o  r  b  e  i  n  in  Kassel 254 

,  Neue  Studien  zur  lateinischen  Anthologie,  angez.  von   Reg.-  und  Schulrat, 

Direktor  Professor  Dr.  A.  F  u  n  c  k    in  Sondershausen 626 

Vierte  Abteilung. 

Vermischtes. 

Zum  Tode  Ernst  v.  Wildenbruchs,  von  Oberlehrer  Dr.  Max  Georg  Schmidt 

in  Marburg 126 

Ein  internationaler  Neuphilologentag  in  Paris,  von  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  W.  M  ü  n  c  h  , 

Professor  an  der  Universität  Beriin 219 


XVI  '  Inhalt 

Seite 

Greifswalder  Ferienkurse 219 

Aufruf  zur  Schonung  der  Pflanzenwelt  vom  Westpreußischen   Provinzialkomitee 

für  Naturdenkmalpflege 283 

50.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner 284 

Aufruf  zu  einer  Stiftung  aus  Anlaß  der  50.  Versammlung  deutscher  Philologen  und 

Schulmänner 286 

Deutscher  Verein  für  Volkshygiene,  von  Sanitätsrat  Dr.  K.  B  e  e  r  w  a  1  d  in  Berlin  287 
Ferienkurse   in  Hydrobiologie  und  Planktonkunde,  veranstaltet  von  Professor  Dr. 

Zacharias    in  Plön      288 

Biologische  Ferienkurse  in  Münster  i.  W 352 

Kritische  Grillparzer-Ausgabe 414 

Böttinger  Studienhaus  in  Göttingen 415 

Marburger  Ferienkurse 416 

Aufruf  (Förderung  der  klassischen  Altertumswissenschaft) 479 

Voigtländers     Künstler  -  Steinzeichnungen,      von     Geh.     Oberregierungsrat     Dr. 

A.  M  a  1 1  h  i  a  s    in  Berlin 480 

III.  Ruderkursus  im  Bootshause  Wannsee  bei  Berlin  1910     704 

Fünfte  Abteilung. 

Sprechsaal.. 128,  220,  221,  222,  223,  351,  352,  639  u.  640 


Abhandlungen. 


Mens  Sana  in  corpore  sano. 

Vor  mehr  als  einem  Jahr  hat  Herr  Professor  Ernst  Böhm  in  der  BerHner 
Gymnasiallehrergesellschaft  einen  Vortrag  gehalten,  dessen  Thema  unter  den  Schul- 
hygienikern  berechtigtes  Kopfschütteln  erregte:  „Mens  sana  in  corpore  aegroto?" 
in  einer  Fußnote  bemerkte  Herr  Böhm  dazu:  „Gegenüber  den  maßlosen  Forde- 
rungen, zu  denen  sich  gewisse  Hygieniker  neuerdings  versteigen,  mag  auch  einmal 
eine  reaktionäre  Stimme  zu  Worte  kommen;  daß  er  sich  nicht  gegen  die  hygie- 
nischen Bestrebungen  an  sich,  sondern  nur  gegen  ihre  Einseitigkeiten  und  Über- 
treibungen wendet,  betont  der  Verfasser  nachdrücklich  genug."  Herr  Böhm  hatte 
auf  meine  Bitte  die  Freundlichkeit,  mir  einen  Separatabdruck  seines  Vortrags  zu 
senden.  Ich  habe  ihn  mit  Interesse  gelesen  und  den  Eindruck  gewonnen,  daß  viele 
Gedanken,  welchen  Herr  Böhm  Ausdruck  verliehen  hat,  eine  gewisse  Berechtigung 
haben,  daß  aber  der  ganze  Inhalt  des  Vortrags  zum  Widerspruch  herausfordert. 
Ich  möchte  mir  daher  erlauben,  in  einer  für  Schulmänner  bestimmten  Zeitschrift 
auf  diese  Frage  etwas  gründlicher  einzugehen. 

Herr  Böhm  geht  von  der  Bemerkung  aus,  daß  der  bekannte  Ausspruch  des 
Juvenal:  „Mens  sana  in  corpore  sano"  von  der  Mehrzahl  derjenigen,  welche  ihn 
anwenden,  nicht  richtig  gedeutet  werde;  seiner  Ansicht  nach  legten  die  meisten 
den  Ausspruch  so  aus,  daß  nur  in  einem  gesunden  Körper  ein  gesunder  Geist 
wohnen  könne.  In  der  Tat  gebrauchen  manche  den  Ausspruch  in  dieser  Bedeutung; 
ich  habe  dies  in  einer  hygienischen  Versammlung,  allerdings  von  einem  Laien, 
gehört.  Die  Sachverständigen,  namentlich  die  Schulhygieniker,  dagegen  stehen 
auf  einem  anderen  Standpunkt,  und  ich  selbst  habe  mich  wiederholt  dahin  aus- 
gesprochen, daß  das  Ziel  einer  rationellen  Erziehung  eine  gesunde  Seele  in  einem 
gesunden  Körper  sein  müsse. 

Herr  Böhm  gerät  in  seinem  Kampf  gegen  jene  falsche  Auffassung  des 
Juvenal  sehen  Wortes  in  den  entgegengesetzten  Fehler  und  legt,  wie  es  in 
früheren  Jahrhunderten  die  Regel  war,  den  Schwerpunkt  auf  eine  ausschließlich 
geistige  Vollkommenheit;  er  führt  aus,  daß  eine  große  Anzahl  geistig  hervorra- 
gender Persönlichkeiten  körperlich  mangelhaft  entwickelt  oder  gar  schwer  krank 
gewesen  sei,  und  stellt  die  Gesundheit  des  Körpers  fast  als  ein  Hinderungsgrund 
für  die  gesunde  Entwicklung  der  Seele  hin.  Seine  Beispiele  für  diese  Behauptung 
sind  nicht  glücklich  gewählt.  Er  führt  an,  daß  Homer,  Milton  und  Hieronymus 
Lorm  blind,   Apostel  Paulus  und  Napoleon  I.  Epileptiker  und^Luther  von 

Monatscbrift  L  hob.  Schulen.   VUL  Jhrg.  \ 


2  M.  Kirchner, 

seinem  vierzigsten  Lebensjahre  ein  kraniier  Mann  waren;  er  weist  darauf  hin,  daß 
Geliert  von  sehr  zarter  Konstitution,  Otto  Ludwig  jahrzehntelang  kränklich 
gewesen  und  Spinoza  an  der  Schwindsucht  gestorben  ist;  er  hebt  hervor,  wie 
trauriges  in  körperlicher  Beziehung  mit  unserem  größten  Dichter,  Friedrich  Schil- 
ler, gestanden  habe;  auch  der  taube  Heinrich  von  Treitschke  und  die  taub- 
stumme und  blinde  Amerikanerin  Helen  Keller  müssen  ihm  als  Beispiele  dafür 
dienen,  daß  eine  gesunde  Seele  in  einem  kranken  Körper  leben  könne.  Aber  will 
Herr  Böhm  vielleicht  damit  sagen,  daß  die  großen  Geistesgaben,  welche  die  von 
ihm  angeführten  hervorragenden  Persönlichkeiten  besessen  und  zum  Wohle  der 
Menschheit  betätigt  haben,  uns  verloren  gegangen  wären,  wenn  sie  sich  körperlicher 
Gesundheit  erfreut  hätten?  Würde,  um  nur  ein  Beispiel  herauszugreifen,  Schiller 
nicht  vielleicht  noch  viel  herrlichere  Dichtungen  hervorgebracht  haben,  wenn  er  nicht 
solange  kränklich  gewesen  und  nicht  so  frühzeitig  dahingegangen  wäre?  Nicht 
viel  glückhcher  ist  der  andere  Gedanke,  welchen  Herr  Böhm  ausspinnt,  daß  die 
modernen  Athleten,  „die  Steher  und  Flieger,  die  auf  den  Radrennbahnen  jährlich 
Zehntausende  als  Preise  erringen,  und  über  deren  Erfolge  und  Chancen  tagtäglich 
spaltenlange  Artikel  in  den  Zeitungen  stehen",  häufig  genug  geistig  minder- 
wertig sind.  Damit  deutet  er  also  beinahe  an,  daß  körperliche  Gesundheit  für  eine 
gesunde  Entwicklung  des  Geistes  sogar  ein  Hindernis  sein  könne,  was  sicherlich 
nicht  richtig  ist. 

Herr  Böhm  wendet  sich  dann  weiter  gegen  die  Statistik,  welche  den  Nachweis 
führe,  daß  leider,  namentlich  in  den  großen  Städten,  die  Militärdiensttaug- 
Hchkeit  der  heranwachsenden  Jugend  namentlich  in  den  gebildeten  Klassen  mehr 
und  mehr  zurückgeht.  Er  hält  auf  der  einen  Seite  diese  Statistik  nicht  für  zuverlässig, 
hebt  aber  auf  der  andern  Seite  hervor,  daß  es  doch  nicht  ein  so  großes  Unglück 
sei,  zum  Militärdienst  nicht  herangezogen  zu  werden,  da  man  ja  noch  kein  Krüppel 
oder  Todeskandidat  sei,  wenn  man  nicht  zu  dienen  brauche,  und  seinen  Beruf 
trotzdem  ausgezeichnet  erfüllen  könne.  Auch  hier  geht  Herr  Böhm  weit  über  das 
Ziel  hinaus.  Denn  wenn  auch  sicherlich  zahlreiche  Mitglieder  der  gelehrten  Berufe 
ihren  Platz  völlig  ausfüllen,  trotzdem  sie  wegen  körperlicher  Schwächlichkeit  nicht 
militärdiensttauglich  waren,  so  wäre  es  doch  sicherlich  für  das  Vaterland  und  sie 
selbst  schöner  gewesen,  wenn  diese  geistig  hochstehenden  Männer  infolge  einer 
kräftigen  körperlichen  Entwicklung  in  der  Lage  wären,  falls  das  Vaterland  in  Gefahr, 
zum  Schwert  zu  greifen  und  in  das  Feld  zu  ziehen.  Solange  Herr  Böhm  nicht 
den  Nachweis  führt,  daß  unter  den  Schulmännern  diejenigen,  welche  gedient  haben^ 
weniger  tüchtige  Lehrer  sind,  als  die,  welche  vom  Dienst  befreit  waren,  wird  man 
seine  Beweisführung  nicht  als  glücklich  anerkennen  können.  Das,  was  Herr  Böhm 
als  Ideal  hinstellt,  ist  leider  wenig  erfreulich.  Er  sagt:  ,Wer  durch  seinen  Körper 
in  der  Ausübung  seines  Berufes  nicht  gehindert  wird,  ist  für  seine  Person  gesund 
genug."  Dies  entspricht  so  wenig  dem,  was  wir  im  Interesse  unserer  Volks- 
gesundheit wünschen  müssen,  daß  wir  es  nur  auf  das  tiefste  beklagen  könnten,^ 
wenn  es  auch  nur  einem  Teil  unserer  Lehrer  als  Ideal  vorschweben  sollte. 

Auch  gegen  die  weitere  Behauptung  des  Herrn  Böhm,  daß  „nicht  patriotische 
Erwägung,  sondern  der  Wunsch,  die  unangenehmen  Schmerzen  fern  und  den 
Körper  möglichst  lange  arbeitsfähig,  vor  allem  aber  genußfähig  zu  erhalten,  die 


k 


Mens  Sana  in  corpore  sano.  ^ 

Mehrzahl  der  Menschen  veranlassen,  ihrer  Gesundheit  besondere  Aufmerksam- 
keit zu  schenken",  muß  ich  mich  mit  Nachdruck  wenden. 

Und  wenn  Böhm  schließlich  die  Mahnung  aufstellt:  „Trachtet  am  ersten  nach 
einer  gesunden  Seele,  dann  wird  die  Gesundheit  des  Leibes  nicht  ausbleiben, 
wenigstens  nicht,  soweit  die  Seele  ihrer  bedarf,"  so  muß  eine  solche  Mahnung 
meines  Erachtens  als  einseitig,  unzweckmäßig  und  als  in  hohem  Grade  ungesund 
bezeichnet  werden. 

Wenn  man  den  Aufsatz  von  Böhm  liest,  so  fragt  man  unwillkürUch:  Ist  denn 
die  großartige  Entwicklung  der  Hygiene,  welche  wir  in  den  letzten  30  Jahren  mit 
Staunen  und  Freude  beobachtet  haben,  vergeblich  gewesen,  und  ist  namentlich 
alles,  was  die  zahlreichen  verdienstvollen  Schulhygieniker,  und  zwar  nicht  nur 
Ärzte,  gesprochen  und  geschrieben  haben,  an  den  Lehrern  spurlos  vorübergegangen? 
Wäre  dies  der  Fall,  und  stände  auch  nur  ein  Teil  der  Lehrer  auf  dem  Standpunkt 
des  Herrn  Böhm,  so  wäre  die  heranwachsende  Jugend  auf  das  äußerste  zu  be- 
klagen. Allein  ich  gebe  mich  der  Hoffnung  hin,  daß  Herr  Böhm  selbst  von  der 
Richtigkeit  der  in  seinem  Vortrag  geäußerten  Ansicht  nicht  voll  durchdrungen  ist, 
und  daß  er  mit  seinem  Vortrag  nur  bezweckt  hat,  gewisse  Auswüchse  zu  geißeln. 
Weil  ich  diese  Ansicht  habe,  und  weil  ich  den  allergrößten  Wert  darauf  lege,  daß 
zwischen  Lehrern  und  Ärzten  auf  dem  Gebiet  der  Schulhygiene  eine  Verständigung 
herbeigeführt  werde,  will  ich  auf  diese  Dinge  noch  einmal  eingehend  zurückkommen. 

Vor  einer  Reihe  von  Jahren  habe  ich  im  Auftrage  des  Herrn  Kultusministers 
vor  Berliner  Gymnasiallehrern  mehrere  Kurse  in  der  Schulhygiene  halten  dürfen. 
Hierbei  habe  ich,  wie  mir  die  zahlreichen  Teilnehmer  an  diesen  Kursen  bestätigen 
werden,  einen  maßvollen  Standpunkt  vertreten  und  alles  vermieden,  was  die  in 
einem  so  verantwortungsvollen  und  aufreibenden  Berufe  stehenden  Lehrer  verletzen 
könnte,  habe  aber  immer  und  immer  wieder  darauf  hingewiesen,  daß  das  Ziel  der 
Erziehung  eine  harmonische  Ausbildung  von  Geist  und  Körper  sein  muß.  Wie  die 
alten  Griechen  in  ihren  Gymnasien  die  Jünglinge  xaXoc  x'  d-^a^oq  machen  wollten, 
so  darf  auch  in  unseren  Schulen  die  körperUche  Entwicklung  hinter  der  geistigen 
nicht  zurückbleiben.  Ich  habe  einerseits  betont,  daß  das  wissenschaftliche  Ziel 
der  Schule  unter  allen  Umständen  erreicht,  und  den  Schülern  dasjenige  Maß  von 
Kenntnissen  und  Fähigkeiten,  welches  sie  für  ihr  Leben  brauchen,  übermittelt 
werden  muß,  das  zu  erwerben  sie  Fleiß  und  ernste  Arbeit  aufwenden  sollen,  ich 
habe  aber  auf  der  anderen  Seite  darauf  hingewiesen,  —  und  ich  möchte  es  hier 
mit  Nachdruck  wiederholen  — ,  daß  die  Übermittlung  dieser  Kenntnisse  und 
Fähigkeiten  in  einer  Weise  erfolgen  muß,  unter  der  die  körperliche  Entwicklung 
der  Kinder  nicht  leidet.  Die  Schulhygiene  will  gar  nicht,  wie  manche  ihrer  Gegner 
glauben  machen  wollen,  die  geistige  Entwicklung  der  Kinder  hindern,  sie  will  nur 
verhüten,  daß  während  des  Unterrichts  körperliche  Störungen  eintreten,  welche  bei 
einer  zweckmäßigen  Gestaltung  der  Schuleinrichtungen  und  Unterrichtsmethoden 
gar  nicht  eintreten  brauchen. 

Wenn  wir  wissen,  daß  die  Rückgratsverkrümmung  eine  Folge  unzweck- 
mäßiger Sitzeinrichtungen  und  einer  fehlerhaften  Schreibhaltung  ist,  so  werden  wir 
durch  eine  Verbesserung  dieser  Einrichtungen  jene  körperiiche  Schädigung  ver- 
meiden, ohne  damit  der  geistigen  Mitteilung  zu  nahe  zu  treten;  wenn  wir  weiter 

1* 


4  M.  Kirchner, 

wissen,  daß  die  Kurzsichtigkeit  durch  Naharbeit  bei  mangelhafter  Beleuchtung 
bedingt  wird,  so  werden  wir  durch  eine  Besserung  der  Beleuchtung  und  durch 
Gewährung  zweckmäßigerer  Lehrmittel  die  Kurzsichtigkeit  verhüten,  ohne  dadurch 
die  geistige  Ausbildung  in  Frage  zu  stellen.  Wenn  die  Schulhygieniker  behaupten, 
daß  Rückgratsverkrümmung  und  Kurzsichtigkeit  vermeidbar  sind  und  deswegen 
vermieden  werden  müssen,  so  tun  sie  damit  nur  ihre  Schuldigkeit;  und  wenn  man 
ihren  Ratschlägen  folgt,  so  erreicht  man,  daß  die  Mitglieder  unserer  gelehrten 
Berufe,  welche  in  früheren  Jahren  krumm  und  kurzsichtig  waren,  sich  künftig  neben 
ihren  geistigen  Kenntnissen  auch  eines  geraden  Körpers  und  eines  guten  Sehver- 
mögens erfreuen  werden. 

Wenn  Herr  Böhm  sich  gegen  die  einseitige  Ausbildung  des  Körpers  wendet 
und  sich  über  Akrobaten  und  Seiltänzer  lustig  macht,  so  kann  man  ihm  hierin  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  beipflichten;  auch  ich  beklage  es,  wenn  in  den  jungen 
Leuten  die  Neigung  zum  Sport  sich  allzusehr  entwickelt,  und  viele  von  ihnen  ihr 
Ideal  lediglich  in  einer  kräftig  entwickelten  Muskulatur  sehen.  Aber  weicht  eine 
solche  einseitige  Entwicklung  von  dem,  was  ich  als  Bildungsideal  bezeichnet 
habe,  nicht  wesentlich  ab?  Ist  eine  solche  einseitige  körperliche  Entwicklung  bei 
Verkümmerung  der  geistigen  Fähigkeiten  nicht  gleichfalls  unvereinbar  mit  dem 
von  mir  erstrebten  Ziel,  der  harmonischen  Entwicklung  von  Geist  und  Körper? 
Wenn  Herr  Böhm  mit  Nachdruck  der  einseitig  körperHchen  Ausbildung  der 
heranwachsenden  Jugend  entgegentritt,  so  findet  er  alle  Hygieniker  an  seiner 
Seite.  Anderseits  aber  müssen  wir  vom  Standpunkt  der  Gesundheitspflege  aus 
betonen,  daß  ein  zweckmäßiger  Wechsel  zwischen  geistiger  und  körperlicher  Be- 
schäftigung nicht  nur  für  unsere  Jugend,  sondern  auch  für  uns  Ältere  eine  not- 
wendige Vorbedingung  auch  der  geistigen  Gesundheit  ist.  Die  Verhältnisse  in 
England  sind  hierfür  vorbildlich.  Wer  die  dortigen  Colleges,  ich  nenne  nur 
Eton,  und  die  dortigen  Universitäten  besucht,  der  sieht  mit  Freude  die  Jugend 
viele  Stunden  und  manche  ganze  Tage  dem  Tennis,  dem  Croquet,  dem  Golfspiel, 
dem  Rudern  und  Schwimmen  widmen  und  sich  dadurch  ihren  Körper  frisch  und 
ihre  Muskeln  elastisch  erhalten.  Hat  die  englische  Nation  auf  wissenschaftlichem, 
politischem  und  sozialem  Gebiete  etwa  weniger  geleistet  als  wir?  Das  wird 
niemand  ernstlich  behaupten  wollen.  Auch  wir  erstreben  —  und  hierin  ist  unser 
Kaiser  vorbildlich  — ,  daß  auch  bei  uns  Spiel  und  Sport  mehr  und  mehr  in  un- 
seren Lehranstalten  Eingang  finden,  damit  unsere  Jünglinge  und  Jungfrauen 
neben  einer  möglichst  vollkommenen  geistigen  Ausbildung  auch  eine  schöne  und 
gesunde  körperliche  Entwicklung  erfahren. 

Die  Physiologie  lehrt,  daß  Körperteile,  welche  übermäßig  in  Anspruch  ge- 
nommen werden,  sich  übermäßig  entwickeln,  während  Organe,  welche  zu  wenig 
in  Tätigkeit  versetzt  werden,  verkümmern.  Bei  einseitiger  Geistesarbeit  strömt 
das  Blut  übermäßig  zum  Gehirn,  und  Kopfschmerz,  Schwindel,  früher  Haarausfall 
sind  die  Folge  davon.  Kommt  eine  dauernde  sitzende  Lebensweise  in  mangelhaft 
beleuchteten  und  gelüfteten  Räumen  hinzu,  so  bleiben  Bleichsucht  und  Blut- 
armut nicht  aus,  das  Herz  entwickelt  sich  nicht,  wie  es  soll,  und  die  Muskulatur 
des  Rumpfes  und  der  Gliedmaßen  verkümmert.  Wenn  aber  die  Jugend  nach 
eifriger  geistiger  Arbeit  ins  Freie  geführt  wird  und  sich  dort  in  reiner  Luft  und 


Mens  Sana  in  corpore  sano.  5 

unter  sachverständiger  Aufsicht  tummelt,  dann  erweitert  sich  die  Lunge,  stärkt  sich 
das  Herz,  werden  Kopf  und  Gehirn  klar,  und  dann  kehren  die  jungen  Leute  nach 
kräftiger  körperlicher  Anstrengung  mit  frischer  Lust  zur  geistigen  Arbeit  zurück. 

Wenn  Herr  Böhm  hervorhebt,  daß  das  Hallenturnen  von  zweifelhaftem 
Werte  und  die  zwischen  den  wissenschaftlichen  Unterricht  gelegten  Turnstunden 
von  Übel  sind,  so  muß  dies  ohne  weiteres  zugegeben  werden.  Das  spricht  doch 
aber  nicht  gegen  das  Turnen  selbst,  sondern  nur  gegen  die  unzweckmäßige  Ein- 
richtung desselben.  Denn  darüber  ist  kein  Hygieniker  im  Zweifel,  daß  man  durch 
körperliche  Arbeit  nicht  sofort  wieder  geistig  leistungsfähig  werden  kann.  Es  ist 
daher  in  der  Tat  im  höchsten  Grade  verkehrt,  Turnstunden  zwischen  zwei  wissen- 
schaftliche Unterrichtsstunden  zu  legen.  Vermeidet  man  aber  derartige  Unge- 
schicklichkeiten, legt  man  die  Turnstunden,  wie  es  sich  gehört,  an  das  Ende  des 
Unterrichts  oder  auf  den  Nachmittag,  läßt  man  sie,  wenn  irgend  tunlich,  im  Freien 
stattfinden,  und  gewährt  man  der  Jugend  neben  dem  Turnen  Gelegenheit  zu  Spiel 
und  Sport,  so  wird  man  die  heilsame  Wirkung  der  körperlichen  Betätigung  auch 
auf  den  wissenschaftlichen  Unterricht  nicht  vermissen. 

Denn  wir  dürfen  eins  nicht  vergessen:  wir  sind  nicht  wie  Lasttiere  nur  zum 
Arbeiten  geschaffen.  Zwar  sollen  wir  ein  Ziel  erreichen,  und  jeder  Mensch  soll 
sich  ein  möglichst  hohes  Ziel  setzen ;  unser  Volk  soll  geistig  hoch  erhalten  werden 
und  im  Wettbewerb  der  Völker  sich  womöglich  hervortun.  Aber  wir  sollen  auch 
fröhlich  und  glücklich  sein,  eingedenk  jenes  schönen  Wortes:  „wer  schaffen  will, 
muß  fröhlich  sein".  Nur  in  der  Stube  sitzen  und  lediglich  Bücherweisheit  in  sich 
aufnehmen,  das  ist  nicht  der  Weg,  um  glücklich  zu  werden  und  glücklich  zu 
machen.  Ein  zweckmäßiger  Wechsel  von  Arbeit  und  Spiel,  eine  gesunde  Ab- 
wechselung von  geistiger  und  körperlicher  Tätigkeit,  eine  gleichmäßige  Ent- 
wicklung von  Geist  und  Körper,  das  sind  allein  die  Quellen  des  Frohsinns  und 
des  nicht  nur  körperlichen,  sondern  auch  des  geistigen  Glückes. 

Woher  sollen  gesunde  Ehen,  woher  frische  und  lebensfähige  Kinder,  woher 
mannhafte  Verteidiger  unseres  Vaterlandes  kommen,  wenn  die  Jugend  durch  ein- 
seitige Pflege  der  Büchergelehrsamkeit  schwach  erhalten  und  nur  zu  Stuben- 
gelehrten erzogen  wird? 

Auch  bei  der  Beurteilung  des  Studentenlebens  befinde  ich  mich  mit  Herrn 
Böhm  nicht  in  Übereinstimmung.  Wenn  er  sich  über  die  Musensöhne  lustig 
macht,  die  sich  „in  den  Strudel  der  großstädtischen  und  studentischen  Ver- 
gnügungen stürzen  und  sich  durch  allnächtliches  Kneipen,  täglichen  Frühschoppen, 
Nachmittagskaffeeskat  mit  anschließendem  Dämmerschoppen  in  lieblicher  Ab- 
wechselung mit  Raufen,  Randalieren  und  Dirnenverkehr  ergehen",  so  wird  in  der 
Verurteilung  eines  derartigen  Studienganges  jeder  Verständige  mit  ihm  über- 
einstimmen. Aber  entspricht  die  Schilderung  wirklich  den  Gewohnheiten  der 
heutigen  Studenten  oder  auch  nur  einer  Mehrzahl  von  ihnen?  Müssen  wir  nicht 
vielmehr  freudig  anerkennen,  daß  die  Mehrzahl  unserer  Musensöhne  eifrig  ihren 
Studien  obliegt  und  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Enthaltung  vom  Alkohol 
viele  unserer  Altvorderen  beschämt?  Und  sollen  wir  es  nicht  auf  der  anderen 
Seite  begrüßen,  wenn  unsere  Studenten  sich  nach  getaner  Arbeit  auf  dem  Tennis- 
platz,  dem  Fechtboden    und   im   Ruderboot   ergehen   und   sich   gelegentlich   bei 


Q  M.  Kirchner,  Mens  sana  in  corpore  sano. 

fröhlichem  Trunk  geistigem  Gedankenaustausch  hingeben?  Alles  läßt  sich  von 
zwei  Seiten  betrachten,  Einseitigkeit  aber  muß  vermieden  werden.  So  wenig  der 
Schüler  sich  nur  der  geistigen  Arbeit  widmen  soll,  so  bedauerlich  würde  ich  es 
finden,  wenn  der  Student  nur  am  Büffeln  seine  Freude  fände. 

Es  ist  auf  das  tiefste  zu  beklagen,  daß  die  Mehrzahl  unserer  Männer  und 
Frauen  nicht  nur  in  der  Jugend,  sondern  auch  in  späteren  Jahren  der  Entwicklung 
ihrer  körperlichen  Kräfte  und  Fähigkeiten  viel  zu  wenig  Aufmerksamkeit  zuwendet. 
Je  mehr  sich  ein  jeder  von  uns  durch  Waschungen  und  Bäder,  durch  körperliche 
Gymnastik  und  Sport  elastisch  zu  erhalten  suchte,  ein  umso  kräftigeres  und  fröh- 
licheres Geschlecht  würde  heranwachsen,  um  so  reiner  würde  es  auch  empfinden 
und  denken  lernen,  und  um  so  seltener  würden  Verirrungen,  wie  sie  von  Zeit  zu 
Zeit  durch  bedauerliche  Prozesse  bekannt  werden,  in  die  Erscheinung  treten. 

Wenn  Herr  Böhm  sagt,  man  betone  heute  viel  zu  sehr  die  Bedeutung  der 
körperlichen  Gesundheit,  so  ist  auch  dieses  richtig.  Auch  ich  bin  von  der  Richtig- 
keit des  Schillerschen  Wortes:  „Das  Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht"  durch- 
drungen. Deswegen  darf  man  doch  die  körperliche  Gesundheit  nicht  unter- 
schätzen. 

Wer  sieht,  welche  wirtschaftlichen  und  seelischen  Schädigungen  jede  Krank- 
heit im  Leben  des  einzelnen  und  in  seiner  Familie  verursacht;  wer  mit  ansehen 
muß,  welche  Lücke  ein  zu  früh  aus  dem  Leben  scheidender  Familienvater  ver- 
ursacht, welchen  Schatten  der  Heimgang  eines  Vaters  oder  einer  Mutter  auf  das 
ganze  Leben  der  Kinder  wirft,  der  kann  es  nur  als  ernste  Pflicht  jedes  einzelnen, 
namentlich  als  Pflicht  derjenigen,  welche  für  die  Zukunft  und  das  Lebensglück 
anderer  verantwortlich  sind,  bezeichnen,  alles  zu  tun,  was  geeignet  ist,  die  Ge- 
sundheit zu  erhalten  und  das  Leben  zu  verlängern. 

Sicherlich  ist  ein  kurzes  inhaltreiches  Leben  mehr  wert  als  ein  langes  taten- 
loses! Aber  wenn  der  Leistungsfähige  und  der  Führer  eines  Volkes  durch  mangel- 
hafte Beobachtung  seiner  Gesundheit  verschuldet,  daß  er  den  Seinen  frühzeitiger 
genommen  wird,  als  nötig  gewesen  wäre,  so  begeht  er  damit  keine  nachahmens- 
werte Tat. 

Soll  ich  auf  diese  Dinge  noch  weiter  eingehen?  Soll  ich  auf  die  Jungfrau 
hinweisen,  welche  durch  unzweckmäßige  Gestaltung  des  Unterrichts  eine  Rück- 
gratsverkrümmung und  ein  schiefes  Becken  erworben  hat  und  nun,  wenn  sie 
Mutter  werden  soll,  keine  gesunden  Kinder  zur  Welt  bringen  kann?  Soll  ich  her- 
vorheben, daß  ein  Jüngling,  welcher  infolge  einseitig  übertriebener  Geistesarbeit 
körperlich  schwächlich  ist,  geschlechtlichen  Versuchungen  leichter  erliegt,  keine 
gesunde  und  glückliche  Familie  begründen  kann  und,  wenn  der  Feind  an  die 
Tore  des  Vaterlandes  klopft,  traurig  zurückbleiben  muß,  während  seine  kräftigen 
Freunde  ins  Feld  ziehen  und  mit  Lorbeer  geschmückt  heimkehren?  Soll  ich 
darauf  hinweisen,  daß  ein  Mann,  welcher  sich  geistig  überanstrengt,  ohne  sich 
körperlich  zu  pflegen,  frühzeitig  arbeitsunfähig  wird  und  seinen  Posten  verlassen 
muß,  während  körperlich  gesundere  Arbeitsgenossen  vielleicht  noch  lange  leistungs- 
fähig bleiben?  Ich  meine,  das  Beispiel  von  Schiller  ist  in  dieser  Beziehung 
beweisend  genug. 


A.  Matthias,  Das  Böttinger-Haus  in  Göttingen.  7 

Wir  Hygieniker  werden  uns  durch  Äußerungen,  wie  sie  der  Vortrag  von 
Böhm  enthält,  nicht  irremachen  lassen,  wir  werden  unentwegt  an  unserem  Bildungs- 
ideale  festhalten.  Hoffentlich  lassen  sich  auch  die  Lehrer,  welchen  das  Glück 
und  die  Zukunft  unserer  Jugend  in  erster  Linie  anvertraut  ist,  gleichfalls  nicht 
irre  machen!  Im  Gegenteil,  hoffentlich  werden  sie  je  länger  je  mehr  unsere 
Bundesgeifossen ! 

Lehrer  und  Hygieniker  sollen  mit  gleichem  Nachdruck  das  schöne  Wort  Ju- 
venals  zu  ihrem  Wahlspruche  machen:  „Orandum  est,  ut  sit  mens  sana  in  cor- 
pore sano". 

Berlin.  Martin  Kirchner. 


Das  Böttinger-Haus  in  Göttingen    —    die  letzte  Schöpfung 
Friedrich  Althoffs. 

Nach  dem  Hinscheiden  des  Ministerialdirektors  Althoff  ist  von  mehreren  Seiten 
ernstlich  erwogen  worden,  ob  nicht  eine  Biographie  des  für  die  Entwicklung 
unserer  Universitäten  und  unseres  höheren  Schulwesens  so  hochverdienten  Mannes 
angebracht  sei.  Verschiedene  Persönlichkeiten  sind  dafür  ins  Auge  gefaßt,  die 
mit  Herz  und  Verstand  genügend  ausgerüstet  sein  mochten,  um  dieser  schwieri- 
gen Aufgabe  gewachsen  zu  sein.  Aber  keiner  dieser  Männer  hatte  schon  jetzt 
den  Mut,  sich  an  ein  solches  Werk  zu  wagen.  Abgesehen  von  anderen 
Schwierigkeiten  —  auch  lebende  Zeitgenossen  bilden  so  oder  so  ein  Hindernis  — 
liegt  das  größte  Hemmnis  in  der  Eigenart  des  Dahingeschiedenen  selber  und  in 
der  charakteristischen  Art  seines  ganzen  Wirkens.  Diese  Persönlichkeit  läßt  sich 
eben  nicht  leicht  in  ein  einheitliches  Bild  zusammenfassen,  das  in  vollster  Ob- 
jektivität den  Mann  wiedergeben  könnte,  genau,  wie  er  im  innersten  Kern  seines 
Wesens  war.  Wer  es  miterlebt  hat,  wie  allein  an  einem  Tage  seines  Wirkens 
zahllose  in  Zickzacklinien  sich  bewegende  und  sich  kreuzende  Entwürfe  und  Ideen 
sowie  wirkliche  Ergebnisse  und  Schöpfungen  von  diesem  Manne  gefördert  worden 
sind,  der  wird  schon  davor  zurückschrecken  nur  diesen  einen  Tag  getreu  wieder- 
zugeben, weil  eben  alles  so  rasch  wechselnd,  so  kaleidoskopisch  verlief,  daß  es 
kaum  darstellbar  erschien.  Um  so  weniger  wird  sich  jemand  anmaßen,  schon 
jetzt  das  Bild  des  ganzen  großen  inhaltsreichen  und  wechselvollen  Lebens 
Friedrich  Althoffs  zu  entwerfen.  Aber  eines  können  wir  tun,  wir  können 
seine  Schöpfungen,  die  fertig  vor  uns  liegen,  in  historisch  beglaubigter  Weise  dar- 
stellen, und  können  so  ein  Stück  nach  dem  anderen  zu  dem  Gemälde  zusammen- 
ragen, das  sich  dann  schließlich  zum  Vollbilde  gestalten  mag. 

Ich  wähle  die  letzte  Schöpfung  Althoffs  —  die  Gründung  des  Böttinger- 
Hauses  in  Göttingen. 

Die  Idee,  Göttingen  wieder  mehr  mit  England-Amerika  in  Verbindung  zu 
setzen  und  alte  historische  Beziehungen  zu  erneuern,  die  mit  alten  politischen 
Zusammenhängen  der  hannoverschen  Dynastie  verknüpft  waren,  war  schon  längere 
Zeit  in  Göttinger  Kreisen  gepflegt.   Man  hat  in  Göttingen  die  ruhmvolle  Vergangen- 


8  A.  Matthias, 

heit  der  alma  mater  Georgia  Augusta  nicht  vergessen  und  es  wohl  im  Gedächtnis 
bewahrt,  daß  Georg  II  im  Jahre  1737  nicht  nur  eine  beschränkte  Landesuniversität, 
sondern  eine  „Weltuniversität"  gründen  wollte.  Schon  seit  einem  Jahre  gab  es  in 
Göttingen  eine  Art  von  Komitee,  aus  Göttinger  Professoren  bestehend,  die  jene  Ideen 
und  ihre  Durchführung  in  der  Praxis  pflegen  wollten.  In  diesem  Komitee,  in  welchem 
der  damalige  Prorektor  Geheimrat  Gramer  den  Vorsitz  führte,  vertrat  Geheimrat 
Knoke  die  theologische,  Professor  Verworn  die  medizinische,  Professor  Detmold 
die  juristische  Fakultät,  Geheimrat  Klein  die  naturwissenschaftlich -philosophische 
Seite,  Professor  Morsbach  die  historisch-philosophische  und  die  neusprachlichen 
Interessen  der  philosophischen  Fakultät.  Die  Bibliothek  war  vertreten  durch  Ge- 
heimrat Pietschmann.  Ende  Juni  1908  besuchte  nun  Geheimrat  Klein  den  auf 
seinem  Krankenlager  weilenden,  gleichwohl  mit  einer  Fülle  von  Projekten  beschäf- 
tigten Friedrich  Althoff  in  Steglitz  und  hier  wurde  ihm  von  dem  rastlosen  Manne 
die  Idee  eines  in  Göttingen  zu  begründenden  Seminars  für  Ausländer  entwickelt. 
Geheimrat  Klein  machte  nach  seiner  Rückkehr  noch  in  demselben  Monat  in 
einer  vertraulichen  Sitzung,  zu  der  die  Professoren  Gramer,  Detmold,  Knoke, 
Morsbach,  Pietschmann,  Verworn  und  der  in  Göttingen  weilende  Professor  Hall  von 
der  Columbia  University  gebeten  waren,  die  Mitteilung,  daß  Althoff  bei  ihm  angeregt 
habe,  in  Göttingen  (wie  es  ähnlich  in  Berlin  geplant  sei)  ein  „Studienhaus  für 
Ausländer"  zu  begründen.    Finanzielle  Unterstützung  sei  in  Aussicht  gestellt. 

In  einigen  darauffolgenden  Sitzungen  wurde  dann  in  allgemeinen  Umrissen 
ein  Plan  entworfen,  der  an  Althoff  durch  Geheimrat  Klein  in  einem  Schreiben  vom 
5.  Juli  1908  mitgeteilt  wurde.  Darauf  lud  Althoff  das  engere  Aktions-Komitee, 
welchem  die  weitere  Vorbereitung  übertragen  war,  nämlich  die  Herren  Hall,  Klein, 
Morsbach  auf  den  26.  Juli  1908  zu  einer  Besprechung  nach  Schierke  a.  H.  ein. 
An  dieser  Beratung  nahmen  außer  den  Genannten  auf  Wunsch  Althoffs  noch  teil: 
Wirkl.  Geheimer  Ober-Regierungsrat  Dr.  Schmidt  vom  Kultusministerium,  Professor 
Münsterberg  von  der  Harvard  University,  dessen  Frau  eine  Göttingerin  ist,  und 
Professor  Paszkowsky  aus  Berlin. 

In  dieser  Sitzung  wurden  die  Grundlinien  des  Planes  festgestellt,  nämlich : 

daß    das    Studienhaus    unabhängig    von    der    Universität    begründet 
werden  solle,  daß  es  allen  studierenden  Ausländern,  nicht  bloß  den 
Engländern  und  Amerikanern  zugänglich  sein  solle,    daß  eine  Auskunfts- 
stelle damit  verbunden  werde,  die  allen  Studierenden,  In-  und  Ausländern, 
zugute  komme,  daß   durch  deutsche  Kurse   und   ähnliche  Einrichtungen, 
wie  sie  in  Berlin  schon  erprobt  sind,  den  Ausländern   deutscher  Sprach- 
unterricht und  deutsche  Kultur  vermittelt  werde. 
Zugleich  wurde  beschlossen,  daß  die  definitive  Gründung  des  Studienhauses  in 
einer  demnächstigen  Sitzung  in  Göttingen  stattfinden  solle,  wozu  der  Kurator  der  Uni- 
versität, der  Oberbürgermeister  und  eine  Anzahl  Universitäts-Professoren  eingeladen 
wurden.   An  den  Geheimrat  Dr.  von  Böttinger  wurde  mit  liebenswürdigem  Hochdruck 
ein  originelles  Telegramm  abgesandt,  um  die  nötigen  Gelder  zur  Verfügung  zu  be- 
kommen.   Diese  Unterstützung  wurde  von  dem  in  Geldsachen  immer  getreuen  Va- 
sallen Althoffs  bereitwilligst  zugesagt.     Denn  auch  Geheimrat  von  Böttinger  hatte 
schon  früher  an  der  Idee  teilgenommen,   hatte  vom  dem  starken  Zusammenhalten 


Das  Böttinger-Haus  in  Göttingen.  9 

der  Amerikaner,  die  früher  in  Göttingen  studiert  hatten,  gehört  und  hatte  schon 
vor  anderthalb  Jahren  mit  Geheimrat  Klein  überlegt,  wie  man  auch  das  Interesse 
überseeischer  Kräfte  für  die  Göttinger  Vereinigung  zur  Förderung  der  angewandten 
Physik  und  Mathematik  erwecken  könnte,  um  insbesondere  durch  den  Millionär 
Morgan  Mittel  für  die  Bibliothek  zu  erhalten.  Nach  einigen  weiteren  geschäftlichen 
Sitzungen  des  Aktions-Komitees,  dem  auch  Geheimrat  Gramer  angehörte,  wurde 
unter  anderem  auch  mit  der  Stadt  Göttingen  wegen  der  Miete  eines  größeren,  der 
Stadt  gehörenden  Gebäudes  Fühlung  genommen. 

Am  11.  September  fand  dann  in  Göttingen  die  konstituierende  Sitzung  statt, 
in  der  unter  Althoffs  Vorsitz  Geheimrat  Dr.  von  Böttinger,  der  Universitätskurator 
Dr.  Osterrath,  die  Universitäts-Professoren  Gramer,  Detmold,  Klein,  Knoke,  Körte, 
Morsbach,  Pietschmann,  Schröder,  Verworn,  Voigt  zugegen  waren. 

Geheimrat  Klein  gab  zunächst  eine  Übersicht  über  die  bisherigen  Verhand- 
lungen. Die  Einzelheiten  des  Planes  wurden  darauf  zur  Diskussion  gestellt  und 
nach  längerer  Beratung  die  grundlegenden  Beschlüsse  über 

Name    und  Zweck   des  Instituts,   Vorstand   und  Beirat  sowie  Ehren- 
mitglieder,   über   die   Finanzierung   des  Unternehmens,   die  Miete   eines 
Hauses  und  Anwerbung  von  Hilfskräften  und  über  den  Haushaltungsplan 
für  das  Geschäftsjahr  1.  Oktober  1908  bis  30.  September  1909. 
An   den  Herrn  Kultusminister   wurde   ein   Begrüßungs-Telegramm    abgesandt 
mit  der  Bitte,  dem  neugegründeten  Institut  ein  freundliches  Interesse  zuzuwenden. 
Darauf    ging    folgende   drahtliche  Antwort    an    die  Adresse    des    Geheimrats 
Dr.  von  Böttinger  ein: 

„Der  neuen  Stiftung,  welche  die  Georgia  Augusta  wiederum  Ihnen 
verdankt,  wünsche  ich  Blühen  und  Gedeihen.  Das  Unternehmen  auch 
meinerseits  zu  fördern,  wird  mir  eine  Freude  sein.  Für  die  telegraphi- 
sche Benachrichtigung  sehr  verbunden,  bitte  ich  auch  den  anderen  Herren 
bestens  zu  danken.  Kultusminister  Dr.  Holle." 

Die  Finanzierung  des  Unternehmens  war  mühelos  gesichert:  Geheimrat 
von  Böttinger  übernahm  die  Kosten  der  ersten  Einrichtung  und  stellte  außerdem 
für  das  erste  Jahr  5000  Mark  für  laufende  Ausgaben  zur  Verfügung.  Das  Haus 
bekam  deshalb  mit  Recht  den  Namen  Böttinger-Studienhaus  und  mit  Unrecht 
wehrte  sich  der  treffliche  Donator  gegen  diese  wohlverdiente  Ehrung.  Zudem 
wurde  der  Wunsch  ausgesprochen,  aus  disponibeln  Mitteln  der  Universitätsverwal- 
tung, bzw.  des  Ministeriums  im  ganzen  5000  Mark  Zuschuß  für  das  erste  Jahr  zu 
erhalten. 

Der  konstituierenden  Sitzung  folgte  nun  am  28.  November  die  in  beschei- 
denen Formen  sich  bewegende  Eröffnungsfeier  in  dem  neuangemieteten,  an  der 
Bahnhofstraße  liegenden  Hause. 

Dazu  waren  außer  den  Mitgliedern  des  Beirats  insbesondere  Mitglieder  der 
Stadtverwaltung,  der  Presse  und  Studierende  der  verschiedensten  Kreise  geladen 
worden. 

Nachdem  die  Erschienenen  in  dem  Hörsaale  Platz  genommen,  wurden  sie  von 
Herrn  Geheimrat  Klein  in  einer  Ansprache  begrüßt.  Der  Redner  dankte  dem 
Freund  und  Gönner  des  Unternehmens,  Herrn  Geheimrat  v.  Böttinger,  für  sein  Er- 


10  A.  Matthias, 

scheinen  und  gedachte  des  kürzlich  verstorbenen  Ministerialdirektors  Althoff  als 
des  Mannes,  der  den  Gedanken  an  die  Errichtung  eines  Studienhauses  zuerst  ge- 
faßt und  in  die  Tat  umgesetzt  habe.  Das  Wirken  dieses  „Universitätsgewaltigen", 
wie  man  ihn  nannte,  habe  vielfach  Zustimmung,  vielfach  Widerspruch  gefunden, 
man  erkenne  jetzt  dankbar  an,  daß  er  die  Quellen  für  mancherlei  Neuschöpfungen 
auf  akademischem  Gebiete  erschloß.  Ganz  besonders  habe  sich  die  Universität 
Göttingen  seines  Wohlwollens  zu  erfreuen  gehabt.  Das  Böttinger-Studienhaus  sei 
seine  letzte  Schöpfung  gewesen,  wie  es  denn  auch  als  ein  merkwürdiger  Zufall  zu 
betrachten  sei,  daß  seine  Reise  nach  Göttingen  zu  der  am  11.  und  12.  September 
stattgehabten  Gründungsversammlung  seine  letzte  Reise  war. 

Geheimrat  Klein  legte  dann  weiter  die  Zwecke  der  neuen  Stiftung  dar  und 
erbat  sich  die  Unterstützung  des  Unternehmens  durch  die  Staatsregierung,  Uni- 
versität, Stadtverwaltung  und  Bürgerschaft  und  gab  der  Hoffnung  Ausdruck,  daß 
sich  ein  freundliches  Zusammenarbeiten  entwickeln  möge.  Zum  Schluß  wandte 
sich  Redner  an  die  Kommilitonen  und  wies  darauf  hin,  daß  die  Hingabe  an  die 
eigene  Nation  so  zu  fassen  sei,  daß  sie  ein  Verständnis  der  Bedeutung  der  anderen 
Nationen  und  damit  für  die  Stellung  der  eigenen  Nation  im  Kreise  der  anderen 
einschließt.  Die  Völker  der  Erde  müßten  sich  verstehen  und  kennen  lernen,  um 
einander  richtig  zu  schätzen.  Durch  die  Vermittlung  des  Studienhauses  könnten 
die  Ausländer  lernen,  was  Deutschland  sei,  und  eindringen  in  die  Art  und  das 
Wesen  des  deutschen  Volkes.  Er  schloß  mit  dem  Wunsche,  daß  die  ausländischen 
Kommilitonen  dann  nicht  allein  als  Kenner,  sondern  auch  als  Freunde  von 
Göttingen  scheiden  möchten. 

Alsdann  ergriff  der  Geschäftsführer  des  Hauses,  Professor  Dr.  Tamson,  das 
Wort  und  gab  seiner  Freude  darüber  Ausdruck,  daß  nun  auch  Deutschland  eine 
Einrichtung  besitze,  wie  sie  ähnlicher  Art  schon  in  England  und  Frankreich  be- 
ständen. Wer  jetzt  als  Ausländer  nach  Göttingen  komme,  werde  alle  Wege  ge- 
ebnet finden.  Das  Böttinger-Studienhaus  erteile  ihm  nicht  allein  gute  Ratschläge, 
sondern  biete  ihm  auch  vielfach  Gelegenheit,  sich  mit  deutschem  Leben  und  deut- 
scher Bildung  vertraut  zu  machen.  Durch  ein  gegenseitiges  besseres  Verstehen- 
lernen erhoffen  wir  für  die  Zukunft  ein  freundliches  Verhältnis  der  Nationen  zu- 
einander. Redner  schloß  mit  dem  Danke  der  in  Göttingen  studierenden  Ausländer 
an  Herrn  v.  Böttinger. 

Herr  Kursusleiter  de  Bra  erläuterte  die  Einrichtungen  des  Böttinger-Studien- 
hauses,  wie  Auskunfsstelle,  Lesezimmer  und  deutsche  Sprachkurse  und  schloß  mit 
dem  Wunsche,  daß  von  dem  Böttinger-Studienhause  reicher  Segen  ausgehen  möchte 
in  dem  von  dem  Stifter  beabsichtigten  Sinne. 

Herr  Geheimrat  von  Böttinger,  der  dann  das  Wort  ergriff,  widmete  Exzellenz 
Althoff  warme  Worte  der  Anerkennung  und  trat  für  die  Annäherung  unter  den 
stammverwandten  Völkern  der  Deutschen  und  Angelsachsen  ein.  Magnifizenz, 
Herr  Professor  von  Seelhorst,  sprach  der  neuen  Gründung  das  Interesse  der  Uni- 
versität aus. 

Aus  Anlaß  der  Eröffnungsfeier  wurde  an  die  Witwe  des  verstorbenen  Mini- 
sterialdirektors Ahhoff  ein  Telegramm  abgesandt. 


Das  Böttinger-Haus  in  Göttingen.  H 

Soweit  die  Entstehungsgeschichte  des  Böttinger-Studienhauses,  das  sich  nun- 
mehr in  voller  Tätigkeit  befindet.  Ein  eigenes  Haus  (Bahnhofstraße  24)  wurde 
für  die  Zwecke  des  Institutes  gemietet  und  ausgestattet. 

Die  geschäftliche  Leitung  liegt  in  der  Hand  eines  aus  fünf  Herren  be- 
stehenden Vorstandes:  dem  Herrn  Geheimrat  von  Böttinger  und  den  Universitäts- 
professoren Gramer,  Klein,  Morsbach  und  Stimming.  Die  innere  Verwaltung  haben 
die  Professoren  Morsbach  und  Stimming,  die  beiden  Vertreter  der  neueren  Sprachen 
an  der  Göttinger  Universität,  übernommen.  Dem  Vorstande  steht  ein  Beirat  zur 
Seite,  welchem  die  folgenden  Herren  angehören :  Herr  Geheimer  Oberregierungsrat 
Dr.  Höpfner,  Herr  Universitäts-Kurator  Osterrath,  Herr  Oberbürgermeister  Calsow 
und  die  Universitätsprofessoren:  Detmold,  Knoke,  Körte,  Lexis,  Pietschmann, 
Schröder,  Verworn,  Voigt. 

Die  auswärtige  Korrespondenz  besorgt  Herr  Professor  Dr.  Tamson,  die  übrige 
Geschäftsführung  liegt  in  den  Händen  des  Kursusleiters  de  Bra. 

Dem  oben  erwähnten  Zwecke  des  Böttinger-Studienhauses  dienen  nunmehr 
folgende  Einrichtungen : 

a)  Das  Böttinger-Studienhaus  enthält  eine  für  In-  und  Ausländer  bestimmte 
Akademische  Auskunftsstelle.  Sie  will  sachgemäße  und  kostenlose 
Auskunft  erteilen  sowohl  auf  Anfragen  deutscher  Studierender,  als  auch 
auf  Erkundigungen  ausländischer  Gelehrter  und  Studierender,  welche  zu 
Studienzwecken  nach  Deutschland  kommen.  Dahin  gehört  Erteilung  von 
Auskunft  über  die  Einrichtungen  und  Verhältnisse  Göttingens,  Vermittlung 
eines  Austausches  von  Sprachkenntnissen  zwischen  Deutschen  und  Aus- 
ländern, sowie  Nachweis  von  Familien,  welche  geneigt  sind,  Ausländer  in 
Pension  zu  nehmen  oder  ihnen  anderweitigen  Anschluß  zu  gewähren. 

Weiter  wird  die  Auskunftsstelle  mit  Hilfe  einer  zu  diesem  Zwecke 
eingerichteten  Bücherei  gerne  alle  Anfragen  beantworten,  die  Bezug  haben 
auf  deutsche  Universitäten  und  technische  Hochschulen,  deren  Einrich- 
tungen und  Ziele,  den  Unterrichtsbetrieb,  die  Einrichtung  des  Studiums, 
die  Staatsprüfungen,  die  Erwerbung  des  Doktorgrades,  die  gesetzlichen 
Bestimmungen  über  die  Vorbildung  für  die  einzelnen  Berufe  usw. 

b)  Zu  den  ständigen  Einrichtungen  des  Böttinger-Studienhauses  gehören 
femer  die  deutschen  Sprachkurse,  welche  den  Ausländern  eine 
schnelle  und  gründliche  Erlernung  der  deutschen  Sprache  ermöglichen 
sollen.    In  betreff  dieser  Kurse  werden  besondere  Programme  ausgegeben. 

Diplome,  die  bescheinigen,   daß  Teilnehmer  mit  Erfolg  die  Kurse 
besucht  haben,  werden  auf  Wunsch  ausgestellt. 

c)  Das  Böttinger-Studienhaus  besitzt  ein  Lesezimmer,  welches  gegen  Ent- 
richtung einer  Gebühr  von  drei  Mark  für  das  Semester  zugänglich  ist  und 
welches  den  Benutzern,  besonders  den  Ausländern  die  Möglichkeit  geben 
soll,  sich  mit  den  Schätzen  deutscher  Literatur  und  deutschen  Geistes- 
lebens bekannt  zu  machen,  sowie  sich  über  alle  Deutschlands  Volksleben 
und  Einrichtungen  betreffende  Fragen  zu  unterrichten. 

Die  Benutzer  haben  eine  Kaution  von  drei  Mark  zu  hinterlegen. 

d)  In  jedem  Wintersemester  wird  ein  Zyklus  von  Vorträgen  veranstaltet,  zu 


12  A.  Matthias, 

denen  sich  eine  Anzahl  Professoren  und  Dozenten  der  Universität  bereit 
erklärt  haben.  Diese  Vorträge  werden  die  mannigfachsten  Gegenstände 
behandeln,  aber  stets  das  allgemeine  Ziel  verfolgen,  von  dem  wirtschaft- 
lichen, politischen  und  geistigen  Leben  des  deutschen  Volkes  in  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart  anschauliche  Bilder  zu  entwerfen, 
e)  Um  endlich  die  Kenntnisnahme  einzelner  bedeutender  Kulturstätten  Deutsch- 
lands durch  eigene  Anschauung  zu  vermitteln,  wird  das  Böttinger-Studien- 
haus  in  die  nähere  und  weitere  Umgebung  Göttingens,  z.  B.  nach  den 
interessantesten  Burgruinen,^  nach  Kassel,  Weimar,  Eisenach,  Hannover 
Hildesheim,  Gandersheim,  Goslar,  Braunschweig  und  anderen  Orten  Aus- 
flüge veranstalten,  wo  unter  sachverständiger  Führung  die  Sehenswürdig- 
keiten und  Einrichtungen  von  allgemeinem  Interesse  in  Augenschein  ge- 
nommen werden  sollen.  Sowohl  über  die  Vorträge,  als  auch  über  die 
Ausflüge  werden  besondere  gedruckte  Mitteilungen  ergehen. 

Einen    Anspruch   auf  Zulassung   zu    den    Einrichtungen    und   Ver- 
anstaltungen des  Böttinger-Studienhauses  haben  alle  diejenigen  Ausländer, 
,  welche  an  der  Universität  immatrikuliert  oder  als  Hörer  zugelassen  sind. 

Im  Wintersemester  1908/9  finden  bereits  folgende  Deutsche  Sprachkurse 
für  Ausländer  statt: 

I.  Unterkursus  (für  Anfänger):  Übungen  im  mündlichen  und  schriftlichen 
Gebrauch  der  deutschen  Sprache.  Sprechübungen.  Diktate.  Nacherzäh- 
lungen. Lektüre  ausgewählter  Abschnitte  aus  klassischen  und  modernen 
deutschen  Schriftstellern  nach  Paszkowskis  „Lesebuch  zur  Einführung  in 
die  Kenntnis  Deutschlands  und  seines  geistigen  Lebens"  (Verlag:  Weid- 
mann, Berlin).    3  stündig  wöchentlich. 

II.  Oberkursus  (für  Fortgeschrittene):  Übungen  im  mündlichen  und  schrift- 
lichen Gebrauch  der  deutschen  Sprache.  Übungen  in  dialektfreier  Aus- 
sprache des  Deutschen.  Stil-  und  Aufsatzübungen  (Essayschreiben). 
Schwierigere  Fragen  aus  der  Syntax.  Vorträge  der  Teilnehmer  über  selbst- 
gewählte oder  gestellte  Themata.  Lektüre  und  Interpretation  schwierigerer 
Abschnitte  aus  modernen  Schriftstellern  nach  Paszkowskis  Lesebuch. 
3  stündig  wöchentlich. 

III,  Über  deutsches  Leben  und  deutsche  Einrichtungen  (Vor- 
lesung) :  Allgemeiner  Überblick  über  deutsches  Wirtschaftsleben,  deutsche 
Verfassungszustände,  im  besonderen  Organisation  des  deutschen  Bildungs- 
wesens, deutsche  [Literatur,  Kunst  und  Weltanschauung  der  Gegenwart. 
1  stündig  wöchentlich. 

Das  Honorar  für  eine  wöchentliche  Stunde  beträgt  5  M.  im  Semester. 

Aus  der  Entstehungsgeschichte  und  der  Darlegung  der  Einrichtungen  des 
Böttinger  Studienhauses  geht  zur  Genüge  seine  Bedeutung  hervor.  Da  aber  von 
gewissen  Kreisen,  die  sich  nicht  loszumachen  wissen  von  chauvinistischer  Enge, 
auch  an  dieser  Schöpfung  allerhand  genörgelt  ist,  möchten  wir  doch  noch  einige 
Worte  gerechter  Würdigung  zum  Schlüsse  hinzufügen: 


Das  Böttinger-Haus  in  Göttingen.  13 

Das  „Böttinger  Studienhaus"  in  Göttingen  ist  ein  weiteres  Glied  in  der  Kette 
der  Bestrebungen,  einen  regen  geistigen  Austausch  zwischen  den  Universitäten  und 
höheren  Schulen  der  großen  Kulturländer  zu  vermitteln  und  somit  indirekt  auch  ein 
besseres  gegenseitiges  Verstehen  allmählich  herbeizuführen,  worauf  allein  wiederum 
eine  gegenseitige  Würdigung  und  Achtung  der  Völker  beruhen  kann.  Gerade  in  unse- 
rem Zeitalter,  wo  nationale  Gegensätze  leider  in  ungesunder  Schroffheit  sich  entwickeln 
und  wo  leider  auch  der  Deutsche  vielfach  mit  in  diesen  ihm  von  Haus  aus  fremden 
Chauvinismus  einstimmt,  muß  es  allen  wahrhaft  Gebildeten  am  Herzen  'liegen, 
einer  Bewegung  entgegenzuarbeiten,  die  auch  die  Besten  der  Nationen  immer  mehr 
einander  zu  entfremden  bemüht  ist,  und  in  unserem  Vaterland  den  schönen  huma- 
nen Geist,  der  mit  vagem  Kosmopolitismus  gar  nichts  zu  tun  hat,  im  Geiste  unserer 
Väter  und  im  Geiste  unserer  klassischen  Zeiten  des  Glaubens,  der  Kunst  und  der 
Wissenschaft  zu  pflegen.  Erworbenen  Besitz  und  erworbene  Vorzüge  und  die 
berechtigte  Eigenart  unseres  Volkes  wollen  wir,  wenn's  sein  muß,  auch  mit  dem 
Schwerte  uns  erhalten,  nicht  aber  die  nationalen  Unterschiede  aufheben,  sondern 
sie|in  ihrem  wahren  Charakter  und  Werte  schärfer  erfassen,  um  durch  diese  höhere 
Erkenntnis  ein  freundschaftliches  Verhältnis   der  Nationen  zueinander  anzubahnen. 

In  diesen  Bestrebungen  sind  uns  manche  französische  und  einige  schweizer 
Universitäten  längst  mit  gutem  Beispiel  vorangegangen,  indem  sie  Mittel  und  Wege 
gefunden  haben,  den  Ausländern  den  Aufenthalt  bei  ihnen  so  angenehm  und 
fruchtbringend  als  möglich  zu  gestalten.  Und  auf  der  letzten  Neuphilologen -Ver- 
sammlung in  Hannover  (Pfingsten  1908)  wurde  von  französischer  Seite  der  Plan 
angekündigt,  in  Paris  demnächst  mit  Hilfe  der  französischen  Regierung  ein  Institut 
einzurichten,  das  ähnliche  Zwecke  wie  das  soeben  in  Göttingen  gegründete 
, Studienhaus "  verfolgen  soll.  Daß  auch  das  preußische  Kultusministerium  die 
Tragweite  dieser  Bestrebungen  zeitig  erkannt  und  sie  immer  mehr  in  die  Tat  um- 
zusetzen bemüht  ist,  sollte  ihm  doch,  als  hohes  Verdienst  nicht  geschmälert  werden, 
und  es  soll  dem  verstorbenen  Ministerialdirektor  Althoff  und  seinem  treuen  Freunde 
von  Böttinger  nicht  vergessen  sein,  daß  sie  im  Geiste  deutscher  Vornehmheit  hier 
eine  Schöpfung  gegründet  haben,  die  durch  den  Austausch  der  Völkerbildung  dem 
Geiste  des  deutschen  Volkes  zugute  kommt,  weil  dieses  das  Leben  aller  Welt- 
geschlechter in  seines  einzuschließen  stets  bemüht  gewesen  und,  ohne  Sorge  für 
die  eigene  Seele,  den  fremden  Geist  kühngemut  in  deutsches  Gefäß  gegossen,  um 
für  des  eigenen  Geistes  Kraft  und  Stärke  immer  neue  Nahrung  zu  schöpfen  aus 
der  Berührung  mit  fremder  Eigenart.  — 

Berlin.  __  _______  i^-  Matthias. 

Der  neueste  Oberlehrerroman. 

In  Ebners*)  statistisch  wertvollem,  sonst  aber  ziemlich  philiströsem  Buche, 
»Magister,  Oberlehrer,  Professoren"  (Nürnberg  1908.  C.  Koch.  VII  u.  306  S.  8». 
5  M.),  welches  die  Spiegelung  des  höheren  Lehrers  in  der  Literatur  der  letzten 
fünf  Jahrhunderte  mit  einer  Träne  im  Auge  darstellt,  findet  sich  auf  S.  297  eine 
Hindeutung   auf   den    neuesten    Roman   von   Wilhelm    Arminius    (alias:    von 

*)  Jahrg.  Vffl,  S.  48f.  dieser  Monatschrift. 


14  A.  Neumann, 

Hermann  Schultze),  dem  fruchtbaren  Weimarischen  Gymnasialprofessor  und  Freunde 
des  Dichterjubilars  und  ExkoUegen  Hans  Hoffmann:  Stietz-Kandidat  (Roman 
aus  grauer  Vergangenheit  des  Oberlehrerlebens.  Berlin  1908.  Gebr.  Paetel. 
2  Bde.  252  u.  243  S.  8».).  Es  heißt  bei  Ebner  auf  Grund  der  bloßen  Ankündi- 
gung des  neuen  Werkes,  daß  „Lehrer  vom  alten  und  neuen  Schlage  mit  dem 
sicheren  Blicke  des  Künstlers  scharf  charakterisiert  werden". 

Diese  Notiz  machte  mich  hungrig.  Denn  ist  auch  die  Zahl  der  Erziehungs- 
geschichten heutzutage  Legion,  sind  auch  die  Professoren-Dramen  von  einst, 
trotz  Schreyers  „Nausikaa",  Erlers  „Zar  Peter"  und  Lösers  „Herostrat  von  Ephesus", 
fast  auf  der  ganzen  Linie  durch  Lehrer -Romane  abgelöst  worden,  so  herrscht 
doch  zumeist  in  der  Zeichnung  unseres  Standes,  anders  z.  B.  wie  in  der  des 
Pfarrers,  das  Unverständnis  und  die  starke  Tendenz  der  Verkleinerung,  weil  man 
die  alte  Schule  mit  Stumpf  und  Stiel  ausrotten  möchte,  weil  die  gesunde  Reform 
so  oft  von  den  Radikalismen  der  „Zukunftspädagogik"  übertönt  wird. 

Ich  fand  bei  der  Lesung  des  „  Stietz-Kandidaten"  ein  wirkliches  Kunst- 
werk, in  dem  Tendenzen  kaum  eine  untergeordnete  Rolle  spielen,  ein  Kunstwerk, 
das  freilich  ganz  im  „Milieu"  atmet.  Arminius  hat  sozusagen  das  uralte  Dümmer- 
lingsmotiv  ganz  in  die  Atmosphäre  der  höheren  Schule  und  der  Philologen- 
emanzipation versetzt.  Statt  Siegfrieds  oder  Parcivals  tritt  uns  ein  einfacher  Probe- 
kandidat entgegen,  der  in  einem  reichlichen  Probejahre  —  er  wird  also  noch  nicht 
ganz  modern  und  normal  vorgebildet!  —  mit  feinstem  Humor  von  der  Lehrer- 
tumpheit  über  Dutzende  von  Unfällen  zur  Lehrer-saelde  geführt  wird.  Natürlich 
ist  er,  wie  der  Verfasser  selbst,  Mathematikus,  freilich  nicht  traditioneller,  sondern 
einer  mit  einer  Fülle  von  Gemüt  und  Tiefsinn.  Seine  äußere  Erscheinung  mit 
strohgelbem,  abstehendem  Haarschopfe,  vulgo  „Stutz"  oder  „Stietz",  trägt  ihm 
den  sonderbaren  Spitznamen  ein,  welcher  den  Titel  des  Romans  bildet.  „Der 
Spitzname,  der  einer  Äußerlichkeit  entstammte  und  doch  etwas  von  dem  innersten 
Wesen  des  Bezeichneten  hervorgriff,  wurde  in  die  zahlreiche  Menkingsche  Pension 
getragen  und  gelangte  von  da  aus  in  die  Masse  der  Gymnasiasten"  (1,98).  In- 
folgedessen wurde  er  ihn  auch  nicht  durch  die  Schere  des  Baders,  sondern  nur 
durch  Lebenserfahrung  und  Selbsterziehung  wieder  los  (II,  127).  „Sein  Seelchen 
wächst  an  der  frischen  Winterluft  schmerzlicher  Erfahrungen"  (II,  76).  Von  Hause 
aus  steht  Malten  immer  und  überall  mit  der  Alltagswelt  auf  dem  Kriegsfuße 
und  faßt  alles  am  falschen  Ende  an.  Unscheinbarkeit,  ja  Plumpheit  sind  seine 
Schale;  aber  ideales  Streben,  Goldlauterkeit  und  Charakterstärke  sind  sein  Kern. 
Daß  er  sich  als  echter  Idealist  mit  einer  Fülle  von  Augengläsern  gegen  die  Außen- 
welt verschanzt,  ist  daher  nur  natürlich.  Allein  was  die  Exposition  hierüber  in 
etwas  breiter  Ausführlichkeit  beibringt,  wird  erst  vom  Schlüsse  aus  wirklich  ver- 
ständlich. Und  das  erscheint  als  ein  leichter  Schönheitsfehler  des  köstlichen 
Romans,  weil  er  den  Leser  zu  lange  im  Portale  aufhält.  Hierbei,  wie  zuweilen, 
namentlich  beim  Einführen  neuer  Personen,  wirkt  Raabe  und  Otto  Ernst  nach- 
gebildeter Wechsel  von  kleinmalender  Umständlichkeit  und  verdunkelnder  Sprung- 
haftigkeit  unnatürlich  (Klemmermotiv,  Barbiermotiv  I),  so  sehr  in  gemütvoller  Be- 
leuchtung des  Kleinsten  die  Komik  schlummert.  Aber  im  Verlaufe  des  Romans 
wird  der  Verfasser  immer  freier  von  aller  Manier,  und  man  kommt  zu  reinem  Ge- 


Der  neueste  Oberlehrerroman.  15 

nusse.  Die  Schlußszene  der  Verlobung  des  lieben  Tölpels  ist  ein  Kabinettsstück. 
Sie  zeigt,  wie  uralte  Dinge  mit  höchst  originellem  Dufte  umwoben  werden  können. 

Die  Fabel  ist  im  einzelnen  etwa  folgende:  Ernst  Malten,  der  Sohn  eines  früh 
verstorbenen  Steueramtskanzlisten,  verläßt  nach  glänzend  bestandener  Oberlehrer- 
prüfung seine  gute,  kleinbürgerliche  Mutter  in  der  großen  Handelsstadt  und  geht 
nach  seinem  Geburtsorte,  einem  engen  Provinzialstädtchen,  um  hier  am  klöster- 
lichen Stadtgymnasium  in  die  Elemente  der  Lehrkunst  eingeführt  zu  werden.  Er 
studiert  hier  die  beiden  Heerlager  seiner  Kollegen,  die  Alten  oder  „Basedower" 
und  die  jüngere  Generation  oder  die  „Modernen",  ja  jeden  einzelnen  Typus  und 
seine  Lehrmethode,  den  uniformfrohen  Elegant,  den  faulen  Schwätzer,  den  Meister 
in  Amouren,  den  gefühlvollen  Enthusiasten,  den  Musterlehrer  der  Sekunda,  den 
skeptischen  Witzbold,  den  methodisch  großen  Elementarkollegen  usf.  Es  wäre 
unhöflich  zu  sagen,  daß  man  dabei  hie  und  da  die  Hörnchen  eines  guten  alten 
Bekannten  hindurchschimmern  sieht.  Auch  ein  halbes  Dutzend  fein  durchgeführter 
Frauencharaktere  tritt  dabei  auf,  die  kinderlose  Direktrice,  welche  die  Härten  ihres 
Eheherrn  auszugleichen  versteht,  eine  fürsorgliche  Phileuse,  ein  ältlicher  Blaustrumpf^ 
ein  liebliches,  aber  sehr  ungleiches  Schwesternpaar,  eine  leichtsinnige  Kokette, 
der  vielen  Nebenpersonen  bis  auf  den  Schulvogt  Beinrich  herunter  gar  nicht  zu 
gedenken.  Am  rührendsten  aber  ist  die  Figur  der  ersten  „Braut"  des  Kandidaten, 
der  an  Schwindsucht  sterbenden  Hausenkelin  Dora.  Der  edle  junge  Mann  hängt 
zuerst  sein  erträumtes  Ideal  vom  Weibe  an  einem  Nagel  des  Mitleids  auf.  „Der 
Name  ,Dora',  den  er  oft  vor  sich  hinsprach,  und  der  unbewußt  in  ihm  schwang,^ 
bedeutete  ihm  eine  erste,  trauliche  Begegnung  zweier  junger  Seelen  auf  den  ab- 
irrenden Dornpfaden  des  Lebens,  wo  es  nötig  ist,  durch  gegenseitiges  Anrufen 
einander  nahe  zu  wissen  und  sich  Mut  zu  machen.  Das  hatten  sie  beide  redlich 
besorgt,  er  auf  seinem  Pfade  in  die  bitteren  Enttäuschungen  hinein  und  Dora  auf 
dem  Wege  zum  bitteren  Tode,  der  die  größte  Enttäuschung  des  jungen  Lebens 
ist"  (II,  76  f.).  Malten  erringt  sich  bald  am  Stammtische  eine  Position,  bald  aber 
auch  kommt  er  mit  seinem  greisen  Direktor,  einem  ehrwürdigen  Philologen  alten 
Schlages,  in  Konflikt,  bald  macht  er  in  städtischer  Politik.  Mühsam  wird  er  Meister 
der  Zucht,  plagt  sich  als  Tutor,  entgleist  in  Gesellschaft,  vergreift  sich  in  der 
Liebe,  mietet  wider  Willen  eine  Familienwohnung,  wird  Dr.  phil.  und  glücklicher 
Bräutigam  einer  selten  klugen  und  sichern  Kollegentochter,  Hilde  Hallihn,  der 
edleren  der  beiden  oben  erwähnten  Schwestern.  Dieses  starke  Mädchen  wird  den 
Weltfremden  wie  eine  kostbare  Fracht  durchs  Leben  steuern.  Mit  dieser  hoff- 
nungsreichen Überzeugung  entläßt  uns  der  Dichter. 

Die  schlichten  Grundzüge  der  Handlung  sind  umrankt  von  ungezählten  Ko- 
mödien der  Irrung,  so  sehr,  daß  man  zuweilen  gar  nicht  glauben  möchte,  daß  es 
solche  Eisbären  unter  Akademikern  geben  könnte.  Trotz  des  Nebentitels:  „aus 
grauer  Vergangenheit",  der  von  der  verlockenden  Suche  nach  einer  Stätte  der  Er- 
eignisse in  der  Gegenwart  ablenken  soll,  wird  fast  jede  Frage  dichterisch  ange- 
schnitten, die  heute  unseren  kämpfenden  Stand  bewegt:  der  Kampf  zwischen 
Humanismus  und  Realismus  (jeder  kommt  zu  seinem  Rechte!),  Volksschule  und 
höhere  Schule,  Methode  und  Lehrerpersönlichkeit,  Schulrede  (labor  omnia  vincit 
I,  87—98),    Konferenz,    Schulandacht  (II,  65—67),    Reform  des  naturwissenschaft- 


16  J-  Norrenberg, 

liehen  Unterrichts,  Tutel,  Privatunterricht,  Gerechtigkeit,  Freude  in  der  Schule, 
Schulvisitation. 

Und  hinter  dem  Ganzen  blickt  eine  ideale,  harmonisch  abgeklärte  Welt- 
anschauung unaufdringlich  hervor.  „Und  gerade  bei  Ihnen,  als  Mathematiker," 
sagt  Direktor  Döhms,  „heißt  es  weiter:  Nicht  bloß  den  Verstand  wecken,  sondern 
auch  für  die  Entwicklung  der  ethischen  Fakultäten  sorgen !  Ich  frage  Sie :  hat  ein 
bloß  kluger  Mensch  schon  einmal  der  Menschheit  etwas  genützt?  Schadet  die 
Klugheit  nicht  der  Tatkraft,  dem  Unternehmungsgeist?  Gibt  es  nicht  Dinge,  die 
mit  dem  Herzen  erfaßt  werden  müssen?  Nur  den  Kindern  nicht  beibringen,  alles 
sei  zu  beweisen;  dann  blast  ihr  etwas  weg  von  ihrer  Seele;  das  ist  nicht  zu  er- 
setzen (II,  124)!"  Der  Stietz-Kandidat  selber  aber  „hieß  jeden  wirklich  Religions- 
losen, dem  das  Jahr  keinen  seelischen  Feiertag  beschert,  dem  die  Natur  nichts  zu 
sagen  hat,  und  dem  Vater  und  Mutter  zwei  beliebig  gute  Bekannte  sind,  einen 
gefährlichen  Feind  der  Jugend  und  des  Volkes"  (II,  71,  vgl.  65—75).  Gerade 
auf  solcher  Stimmungsunterlage  wird  unser  Lachen  so  herzlich.  Dutzendfach  ent- 
fesselt es  der  Schriftsteller,  so,  wenn  die  brave  Hauswirtin  die  laute  Präparation 
des  Kandidaten  auf  die  zoologische  Lektion  über  den  bos  bubalus  für  eine  Be- 
schreibung von  Maltens  Onkel  hält,  wenn  der  Held  die  Bügelfalte  in  seiner  Hose 
bändigt,  wenn  die  bösen  Schüler  in  der  Physik  ein  Tableau  schaffen,  wenn  die 
Bestechungswurst  gewaltsam  vertilgt  wird,  wenn  der  Schlafrock  der  Mildtätigkeit 
ein  Unheil  anrichtet,  wenn  die  verschleppte  Visitenkartenschale  ein  korrektes  Haus 
ganz  in  Aufruhr  versetzt. 

Delectare  und  prodesse  verbinden  sich  hier  also  wieder  einmal  aufs  schönste. 
Nicht  nur  der  Zunftgenosse,  sondern  jeder  Leser  wird,  wie  ich  erprobt  habe, 
durch  diesen  Oberlehrerroman  in  voller  Spannung  erhalten.  Aber  von  der  Liebe 
zum  Philologus  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  geboren,  wird  er  auch  am  meisten 
auf  den  Philologus  wirken;  denn  es  ist  viel  feine  Lehrerweisheit  beigepackt 
(I,  125.  152.  159.  197  usw.).  Alles  in  allem  sehen  wir  eine  höchst  eigenartige,  aber 
bedeutende  Lehrerpersönlichkeit  werden.    Möge  an  solchen  nie  Mangel  sein! 

Apolda.  Arno  Neumann. 


Die  Wiener  Reformvorschläge  für  den  naturwissenschaftlichen 

Unterricht. 

Im  Anschlüsse  an  die  vorbildlichen  Arbeiten  der  Unterrichtskommission  der 
Gesellschaft  Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  haben  sich  nun  auch  die  Wiener 
Hoch-  und  Mittelschulprofessoren,  soweit  sie  naturwissenschaftliche  Fächer  ver- 
treten, auf  Anregung  der  Wiener  zoologisch-botanischen  Gesellschaft  über  die- 
jenigen Minimalforderungen  geeinigt,  die  von  den  Naturwissenschaften  an  die  be- 
vorstehende Neugestaltung  des  österreichischen  Mittelschulwesens  erhoben  werden 
müssen.    Die  Beratungen,*)  die  im  Januar  und  Februar  v.  J.  in  den  Räumen  der 

*)  Der  naturwissenschaftliche  Unterricht  an  den  österreichischen  Mittelschulen.  Bericht 
über  die  von  der  k.  k.  zoologisch-botanischen  Gesellschaft  in  Wien  veranstalteten  Dis- 
kussionsabende und  über  die  hierbei  beschlossenen  Reformvorschläge.   Herausgegeben  unter 


Die  Wiener  Reformvorschläge  für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht.  17 

Kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien  stattfanden,  knüpften  an 
folgende  vier  Punkte  an:  1.  die  Stellung  der  Naturwissenschaften  an  den  Mittel- 
schulen, 2.  die  biologische  Richtung  im  zoologischen  und  botanischen  Unterrichte, 
3.  die  Hilfsmittel  des  naturgeschichtlichen  Unterrichts  und  4.  die  Heranbildung  der 
Mittelschullehrer. 

Das  österreichische  Mittelschulwesen  mit  seinem  auf  das  Universitätsstudium 
vorbereitenden,  achtstufigen  Gymnasium  und  der  siebenstufigen  Realschule,  deren 
Maturitätszeugnisse  nur  zum  Besuche  der  technischen  und  ähnlicher  Hochschulen 
berechtigen,  unterscheidet  sich  wesentlich  von  unserem  höheren  Unterrichtswesen 
mit  seinen  drei  Gattungen  gleichwertiger  und  gleichberechtigter  Lehranstalten. 
Wenn  daher  auch  die  auf  den  Wiener  Diskussionsabenden  gefaßten  Beschlüsse 
auf  unsere  Verhältnisse  nicht  bestimmend  einwirken  können,  so  sind  doch  manche 
Berührungspunkte  in  den  hier  wie  dort  auf  dasselbe  Ziel  hinauslaufenden  Be- 
strebungen vorhanden,  und  trotz  der  temperamentvollen  Ablehnung  jedes  deutschen 
Einflusses  durch  den  streitbaren  Professor  Dr.  No6  sind,  da  Deutschland  auf 
dem  Gebiete  der  Unterrichtsreform  zuerst  durchs  Ziel  ging,  Annäherungen  an  die 
preußischen  Verhältnisse  in  den  Wiener  Beschlüssen  unverkennbar. 

Eine  solche  Annäherung  bedeutet  es  schon,  wenn  für  die  Realschulen  eine 
achte  Klasse  und  demgemäß  die  Gleichstellung  der  Realschule  mit  dem  Gymnasium 
bezüglich  der  Berechtigungen  ihrer  Schüler  zum  Besuche  der  Hochschulen  ge- 
fordert wird.  Deutsche  Verhältnisse  waren  auch  wohl  vorbildlich,  wenn  Schul- 
gärten, insbesondere  ein  Zentralschulgarten  für  die  Schulen  Wiens,  und  ein  Normal- 
verzeichnis der  für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht  unentbehriichen  Hilfs- 
mittel als  notwendig  bezeichnet  wurden.  Und  auch  manches,  was  in  bezug  auf 
die  Heranbildung  der  Mittelschullehrer  gewünscht  wurde,  so  die  Herausgabe  einer 
Anweisung  für  die  Studierenden  der  Naturgeschichte  nach  dem  Vorbilde  der 
Göttinger  Ratschläge,  eine  freiere  Bewegung  in  der  Auswahl  der  Fächer  bei  der 
Staatsprüfung,  die  Abschaffung  der  auf  den  Unterricht  an  Realschulen  beschränkten 
Lehrbefähigung,  die  Einrichtung  von  praktischen  Übungen  und  Demonstrationen 
für  Lehramtskandidaten  an  den  Hochschulen  usw.,  alles  dies  findet  in  schon  vor- 
handenen, deutschen  Einrichtungen  ein  nachahmenswertes  Vorbild. 

Trotzdem  war  Prof.  Dr.  Lanner,  ein  ausgezeichneter  Kenner  deutscher  Schul- 
verhältnisse, durchaus  im  Rechte,  wenn  er  mit  Stolz  auf  den  Vorrang  hinwies,  den 
Österreich  in  bezug  auf  den  Betrieb  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  an 
den  Mittelschulen  auch  Deutschland  gegenüber  stets  innegehabt  hat.  Denn  in 
dem  der  Gleichwertigkeit  entsprechenden  Gleichgewichtszustande  zwischen  der 
geschichtlich-sprachlichen  Gruppe  der  Bildungsfächer  und  der  realistischen  Gruppe 
(Erdkunde,  Mathematik,  Naturwissenschaften)  ist  uns  unser  Nachbariand  — 
wenigstens  soweit  die  Realschulen  in  Frage  kommen  —  weit  voraus.  Während  in 
Österreich  das  Verhältnis  der  beiden  Gruppen  in  dem  wöchentlichen  Stunden- 
ausmaß sich   wie  76  :  84  darstellt,   herrscht  an  unseren  Oberrealschulen  noch  das 


Mitwirkung  von  J.  Brunnthaler,  Prof.  Dr.  K.  Fritsch,  Prof.  Dr.  Lanner,  Prof.  P.  Pfurtscheller 
und  Prof.  Dr.  E.  Witlaczil  von  Prof.  Dr.  R.  v.  Wett stein  als  Präsident  der  k.  k.  zoologisch- 
botanischen Gesellschaft.    Wien  1908.    F.  Tempsky.    103  S.   8«.    3  M. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VUI.  Jhrg.  2 


13  J.  Norrenberg, 

Verhältnis  124  :  97,  oder  wenn  man  sogar  das  wahlfreie  Linearzeichnen  bei  uns 
noch  hinzurechnet,  das  Verhältnis  124  :  107  vor.  Und  auch  an  den  humanistischen 
Anstalten  ist  die  Stundenverteilung  in  Österreich  den  naturwissenschaftlichen 
Fächern  erheblich  günstiger  als  in  Preußen.  Dort  ist  das  Verhältnis  125  :  52,  hier 
167 :  61.  Trotzdem  beschränkten  sich  die  Wiener  nicht  darauf,  eine  „klaffende 
Lücke*  zu  konstatieren,  sondern  sie  forderten  auch  für  die  Gymnasien  eine  dem 
Bildungsideal  der  Zeit  entsprechendere  Gestaltung  des  Gymnasiallehrplanes  und 
demnach  eine  stärkere  Berücksichtigung  der  Naturwissenschaften.  Der  Zoologie 
und  Botanik  sollen  in  den  beiden  untersten  Klassen  je  3  Wochenstunden,  der 
Chemie  und  der  Mineralogie  in  den  beiden  folgenden  Klassen  je  1  Semester  mit 
3  Wochenstunden  zugewiesen  werden.  Auf  der  Oberstufe  des  Gymnasiums  würde 
nach  den  Vorschlägen  der  Wiener  Beschlüsse  dem  5.  Schuljahre  die  Chemie  mit 
je  2  Stunden,  dem  6.  die  Botanik  ebenfalls  mit  je  2  Stunden,  dem  7.  die  Zoologie, 
Somatologie  und  Hygiene  mit  je  3  Stunden  und  dem  8.  Schuljahre  die  Mineralogie 
und  Geologie  wieder  mit  je  2  Wochenstunden  zufallen.  Raum  für  die  neuen 
Fächer  soll  durch  eine  Einschränkung  des  Unterrichts  in  den  klassischen  Sprachen 
gewonnen  werden.  An  der  Oberrealschule  wird  für  die  Oberstufe  nur  eine  ge- 
ringe Vermehrung  der  Stundenzahl  zugunsten  der  Somatologie  und  Hygiene  ver- 
langt. Damit  würde  der  Lehrplan  der  Gymnasien  dem  der  Realschulen  in  bezug 
auf  die  Naturwissenschaften  annähernd  gleichgestellt  werden,  eine  berechtigte 
Forderung,  wenn  man  auch  den  humanistischen  Anstalten  die  Aufgabe  zuweisen 
will,  eine  moderne  Bildung  für  Gegenwartsmenschen  zu  vermitteln,  die  wenigstens 
eine  Ahnung  von  all  dem  Wunderbaren  mit  von  der  Schule  nehmen  sollen,  was 
in  uns  und  rings  um  uns  lebendig  ist. 

Die  Wiener  Forderungen  sind  nicht  soweit  gehend  als  die  sogenannten 
Meraner  Beschlüsse,  daher  leichter  realisierbar  als  diese.  Doch  zeigt  schon  die 
Stoffverteilung,  die  an  den  Realanstalten  der  Chemie  nur  ein  Schuljahr,  der  speziellen 
Zoologie  und  Botanik  je  2  Semester,  der  allgemeinen  Biologie  einschließlich  der 
Anthropologie  und  Hygiene  2  Schuljahre  zuweist,  daß  der  Bildungswert  der  Natur- 
wissenschaften in  dem  engen  Rahmen  des  vorgeschlagenen  Lehrplanes  an  den 
Realschulen  nicht  voll  zur  Geltung  gebracht  werden  kann.  Dazu  kommt,  daß  das 
Nacheinander  des  österreichischen  Entwurfes  die  auch  von  Höfler  geforderte 
didaktische  Ineinander-Verarbeitung  der  naturwissenschaftlichen  Spezialdisziplinen 
außerordentlich  erschwert.  Je  mehr  die  Wissenschaft  fortschreitet,  umso  inniger 
werden  die  Wechselbeziehungen  zwischen  den  Teilgebieten,  zwischen  Physik, 
Biologie,  Geologie  und  Chemie.  Mit  Recht  wies  Universitäts  -  Professor 
Dr.  Hatschek  darauf  hin,  daß  unsere  gesamte  naturwissenschaftliche  Welt- 
anschauung, die  im  vergangenen  Jahrhundert  eine  allzu  mechanistische  war,  in 
Zukunft  einen  viel  stärkeren,  ja  wahrscheinlich  einen  überwiegend  chemischen  Ein- 
schlag erhalten  wird.  Diese  zentripetale  Rolle  der  Chemie  kommt  aber  in  den 
Wiener  Vorschlägen  gar  nicht  zur  Geltung.  Die  Zusammenfassung  der  getrennt 
betriebenen  naturwissenschaftlichen  Einzelwissenschaften  zu  einer  umfassenden 
naturwissenschaftlich  orientierten  und  fundamentierten  Philosophie  kann  nicht  der 
in  die  oberste  Klasse  des  österreichischen  Gymnasiums  eingeordneten  Geologie 
und  Mineralogie  zugemutet  werden;  sie  muß  der  Chemie  vorbehalten  bleiben,  die 


Die  Wiener  Reformvorschläge  für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht.  19 

deshalb,  wie  an  unseren  deutschen  Oberrealschulen,  durch  die  ganze  Oberstufe 
hindurch  ununterbrochen  betrieben  werden  muß  und  dann  die  Physiologie,  Hygiene 
und  Geologie  in  sich  aufnehmen  und  mit  diesen  Fächern  zu  dem  naturwissen- 
schaftlichen Gesamtunterricht  der  Zukunft  verschmelzen  kann.  Sammlung  tut  not, 
noch  mehr  in  der  Pädagogik  als  in  der  Wissenschaft. 

Von  allgemeiner  Bedeutung  für  die  fernere  Entwicklung  des  naturgeschicht- 
lichen Unterrichts  sind  die  Verhandlungen,  die  sich  an  die  zweite  der  oben  er- 
wähnten Fragen  anschlössen.  Einig  war  man  über  die  große  Bedeutung  der 
biologischen  Methode,  die  an  Stelle  der  reinen  Beschreibung  die  Erklärung  setzt, 
die  Schüler  zum  Denken  und  Beobachten  anregt  und  dadurch  Interesse  und  Ver- 
ständnis steigert.  Allerdings  verhehlte  man  sich  auch  nicht  die  Gefahren,  die,  wie 
bei  allen  Methoden,  durch  Übertreibungen  hervorgerufen  werden  können.  Durch  die 
biologische  Methode  dürfen  die  deskriptive  Darstellung  der  morphologischen  Verhält- 
nisse und  die  systematische  Zusammenfassung  nicht  verdrängt  werden,  deren  Kennt- 
nis für  das  Studium  der  Zoologie  und  Botanik  die  unentbehrliche  Grundlage  bildet 
und  die  Beobachtungsgabe  der  Schüler  am  besten  zu  üben  imstande  ist.  Auch  sollen 
nur  diejenigen  biologischen  Verhältnisse  im  Unterricht  dargelegt  werden,  die  sich 
ungezwungen  ergeben  und  die  nach  dem  augenblicklichen  Stande  der  Wissen- 
schaft als  feststehend  angenommen  werden  können.  Verfehlungen  gegen  diese 
allzu  berechtigten  Forderungen  sind  Kinderkrankheiten,  die  jeder  methodische 
Fortschritt  zu  überwinden  hat,  sind  Schlacken,  die  erst  allmählich  abgesondert 
werden  können,  die  aber  den  Wert  der  biologischen  Methode  an  sich  nicht  be- 
einträchtigen können.  Denn  dieses  Lehrverfahren  entspricht  nicht  nur,  wie  Prof. 
Dr.  Witlaczil  ausführte,  den  Anforderungen  eines  modernen  Unterrichts,  der  sich 
an  das  Verständnis  der  Schüler  zu  wenden  hat,  sondern  auch  dem  Stande  der 
Wissenschaft,  die  seit  Cuvier  mit  seinem  Korrelationsgesetze,  seit  Leukart  mit 
seiner  Betrachtungsweise,  seit  Darwin  und  den  anderen  Verfechtern  der  Ent- 
wicklungslehre mehr  und  mehr  zu  einer  experimentellen  und  erklärenden  Wissen- 
schaft geworden  ist.  Es  wurde  denn  auch  von  dem  Schlußredner  ausdrücklich 
festgestellt,  daß  alle  Teilnehmer  der  Wiener  Diskussionsabende  in  der  Anerkennung 
des  Wertes  der  biologisch-ökologischen  Methode  einig  waren  und  daß  diese  als 
eine  Errungenschaft  zu  betrachten  sei,  die  niemand  mehr  missen  will. 

Überblicken  wir  den  Gesamtverlauf  der  .Verhandlungen,  die  sich  ferner  noch 
mit  der  praktischen  Betätigung  der  Schüler  im  zoologisch-botanischen  Unterricht 
eingehender  beschäftigte,  auch  zu  der  Frage  der  Abschaffung  des  Maturitäts- 
examens  Stellung  nahmen,  so  wird  man  sich  der  Überzeugung  nicht  verschließen 
können,  daß  die  Beratungen  auch  für  den  Unterricht  an  unseren  preußischen 
höheren  Lehranstalten  eine  wesentliche  Förderung  bedeuten  und  daß  sich  das 
Studium  des  an  Anregungen  reichen  Berichtes  wohl  verlohnt. 

Münster.  J.  Norrenberg. 


2* 


§0  Hohlstein. 

Der  Unterricht  im  Linearzeiclinen  an  den  preußisclien  Real- 
anstalten nach  der  Verfügung  vom  14.  September  1908. 

Der  Lehrplan  für  den  Zeichenunterricht  an  höheren  preußischen  Schulen  vom 
Jahre  1901  beschäftigt  sich  vorwiegend  mit  dem  freien  Zeichnen.  Er  hat  eine 
gewaltige  Reform  auf  diesem  Gebiete  herbeigeführt,  deren  Ergebnisse  wohl  in 
jgroßen  Zügen  feststehen,  im  einzelnen  aber  immer  noch  sorgsamer  Kleinarbeit 
bedürfen.  Infolge  der  verhältnismäßig  kurzen  Andeutungen,  welche  er  über  das 
gebundene  Zeichnen  enthält  und  der  angestrengten  Arbeit,  welche  nötig  war,  um 
den  Unterricht  im  freien  Zeichnen  von  Grund  aus  umzugestalten,  ist  das  Interesse 
der  Zeichenlehrer  für  das  gebundene  Zeichnen  etwas  in  den  Hintergrund  getreten. 
Die  neu  erschienenen  Bücher  über  Zeichnen,  die  Fachzeitschriften  und  Jahres- 
berichte beschäftigen  sich  fast  ausschließlich  mit  dem  freien  Zeichnen.  Ja,  es  ist 
sogar  ernstlich  erwogen  worden,  ob  nicht  das  gesamte  Linearzeichnen  dem  mathe- 
matischen Unterricht  anzugliedern  sei  und  als  besonderes  Fach  ganz  von  der 
Bildfläche  verschwinden  solle.  Eine  aufmerksame  Betrachtung  dieses  Zweiges 
menschlichen  Wissens  und  Könnens  wird  aber  ergeben,  daß  es  nicht  ein  rein 
mathematisches  Fach  ist,  sondern  ein  Gegenstand,  dessen  Unterrichtsergebnisse 
zwar  in  der  Mathematik,  aber  auch  in  andern  Lehrfächern,  z.  B.  in  der  Physik, 
Chemie,  Krystallographie,  Geographie  benutzt  werden  und  daß  ihm  daher  wie  dem 
freien  Zeichnen  eine  selbständige  Stellung  gebührt.  Es  wird  bisher  als  wahlfreies 
Fach  in  den  Klassen  III— I  der  Realschule  und  Olli— Ol  der  Realgymnasien  und 
der  Oberrealschulen  in  je  zwei  Stunden  wöchentlich  gelehrt,  und  diejenigen  An- 
stalten, bei  denen  es  bisher  mit  weniger  Stunden  angesetzt  war,  werden  jetzt  dazu 
tibergehen  müssen,  ihm  die  vorgeschriebene  Stundenzahl  zuzuweisen.  Die  Teil- 
nahme an  dem  Fache  wird  eine  befriedigende  sein,  wenn  Schüler  und  Eltern 
rechtzeitig  und  in  geeigneter  Weise  über  seinen  Wert  aufgeklärt  werden. 

Der  Lehrplan  teilt  den  Gesamtunterricht  in  zwei  Teile,  einen  unteren  Kursus, 
welcher  die  Klassen  III— I  der  Realschulen  bzw.  Olli  und  Uli  der  Realgymnasien 
und  Oberrealschulen,  und  einen  oberen,  welcher  die  Klassen  OII— Ol  der  Ober- 
realschulen und  Realgymnasien  umfaßt. 

I.  Unterer  Kursus. 

Der  Lehrstoff  ist:  Maßstabzeichnen,  geometrisches  Darstellen  einfacher  Körper 
und  Geräte  in  verschiedenen  Ansichten  mit  Schnitten  und  Abwickelungen.  In  dem 
Lehrplan  von  1901  war  vorgeschrieben:  OIIL  Übungen  im  Gebrauche  von  Zirkel, 
Lineal  und  Ziehfeder  durch  Zeichnen  von  Flächenmustem,  Kreisteilungen  und 
anderen  geometrischen  Gebilden.  Uli.  Geometrisches  Darstellen  einfacher  Körper 
in  verschiedenen  Ansichten  mit  Schnitten  und  Abwickelungen.  Die  Realschule 
hatte  mindestens  das  Lehrziel  der  Uli  einer  Oberrealschule  zu  erreichen,  und  die 
Verteilung  des  dort  in  zwei  Jahren  zu  erledigenden  Lehrstoffs  auf  die  Klassen 
III,  II  nnd  I  war  freigestellt.  In  dem  neuen  Lehrplan  sind  also  die  Übungen  im 
Gebrauch  von  Zirkel,  Lineal  und  Ziehfeder  durch  Zeichnen  von  Flächenmustern, 
Kreisteilungen  und  anderen  geometrischen  Gebilden  weggefallen.  Als  Ersatz  dafür 
sind  bereits  durch  den  Lehrplan  vom  Jahre  1901  vorbereitende  Übungen  dem  mathe- 


Der  Unterricht  im  Linearzeichnen  an  den  preußischen  Realanstalten  usw.  21 

matischen  Unterricht  der  Quinta  zugewiesen  worden.  Der  Lehrer  des  Linearzeichnens 
findet  daher  nicht  mehr  ein  unbeackertes  Gebiet  vor,  wenn  er  mit  seinen  Tertianern 
das  eigentliche  Linearzeichnen  beginnt.  Nur  auf  einige  wichtige  Punkte  hat  er  zu 
achten.  Die  mathematischen  Konstruktionen  werden  wohl  meistens  in  Hefte 
gezeichnet,  wodurch  der  Gebrauch  der  Reißschiene  und  der  ihr  anliegenden  Drei- 
ecke ausgeschlossen  ist.  Im  Linearzeichnen  dagegen,  das  doch,  wie  aus  dem 
ganzen  Inhalt  des  Lehrplans  hervorgeht,  ganz  im  Sinne  des  technischen  Zeichnens 
zu  behandeln  ist,  kann  auf  den  Gebrauch  des  Reißbretts  und  der  Reißschiene  nicht 
verzichtet  werden.  Es  wäre  daher  sehr  zu  wünschen,  daß  bereits  die  propädeuti- 
schen Zeichenübungen  und  die  geometrischen  Konstruktionen  der  Klassen  auf 
kleinen  handlichen  Reißbrettern  (vielleicht  auch  Holzrahmen  mit  Pappdeckeln)  aus- 
geführt würden.  Ferner  weichen  die  Methoden  des  technischen  Linearzeichnens 
von  denen  des  geometrischen  in  einigen  Punkten  ab,  namentlich  in  dem  Teilen 
von  Strecken  und  Kreisbogen  und  in  dem  Ziehen  von  Senkrechten  und  Parallelen. 
In  der  Geometrie  wird  das  Teilen  einer  Strecke  durch  das  Auftragen  gleicher  Teile 
auf  einen  von  ihrem  Endpunkt  ausgehenden  Strahl  und  Ziehen  von  Parallelen  be- 
bewirkt. Diese  Konstruktion  ist  zwar  für  die  Theorie  sehr  wertvoll,  in  der 
Praxis  aber  nicht  zu  gebrauchen,  da  sie  eine  Reihe  von  Fehlerquellen  enthält. 
In  der  Geometrie  werden  ferner  nur  ganz  bestimmte  Kreisteilungen,  z.  B.  die 
3.,  4.,  5.,  6.,  8.,  10.  Teilung  gelehrt,  welche  ebenfalls  in  der  Praxis  nur  um- 
ständlich und  trotz  aller  Sorgfalt  fehlerhaft  auszuführen  sind.  Der  Praktiker  da- 
gegen führt  alle  Linienteilungen  durch  Probieren  aus  und  erreicht  so  ein  möglichst 
richtiges  Resultat.  Gewisse,  oft  wiederkehrende  Teilungen,  nämlich  die  des  Kreis- 
umfangs  in  3,  4,  6,  8,  12,  24  gleiche  Teile  führt  er  auch  mit  Hilfe  seiner  Dreiecke 
aus,  wobei  allerdings  die  Richtigkeit  der  Konstruktion  von  der  Genauigkeit  der 
Zeichendreiecke  abhängig  ist.  Das  Ziehen  von  Parallelen  bewirkt  der  Techniker 
nahezu  fehlerlos  durch  Verschieben  eines  Dreiecks  am  anderen,  während  die  Kon- 
struktionen durch  Winkelübertragungen  stets  fehlerhafte  Resultate  ergeben.  End- 
lich werden  bereits  im  Anfangsunterricht  des  Linearzeichnens  ebene  Kurven  jeder 
Art  mit  Hilfe  des  Zirkels  oder  Papierstreifens  gestreckt,  während  dies  in  der  Ma- 
thematik nur  mit  Hilfe  eines  großen  Aufwandes  von  Rechnungen  möglich  ist.  Alle 
diese  Unstimmigkeiten  sind  dadurch  zu  beseitigen,  daß  bereits  im  geometrischen 
Unterricht  auf  die  Unsicherheiten  und  Umständlichkeiten,  denen  die  rein  geo- 
metrischen Konstruktionen  unterworfen  sind,  sowie  auf  die  Verfahren,  welche  der 
Praktiker  benutzt,  hingewiesen  wird  (s.  Lemoines  Untersuchungen  über  Geometro- 
graphie).  Zu  bedauern  ist,  daß  das  geometrische  Ornament  vollständig  weg- 
gefallen ist,  da  dieses  einigermaßen  Ersatz  für  das  aus  dem  freien  Zeichnen  be- 
seitigte ungebundene  Ornament  bieten  könnte  und  die  Schüler  für  die  ornamentalen 
Darstellungen  als  Übungen,  bei  denen  sie  ihre  eigene  Erfindungskraft  auf  dem  Gebiete 
der  Form  und  Farbe  spielen  lassen  können  und  als  praktische  Anwendungen  geometri- 
scher Lehrsätze  erfahrungsgemäß  stets  großes  Interesse  zeigen.  An  die  Stelle  dieser 
Übungen  ist  das  Maßstabzeichnen  getreten,  d.  h.  das  Ausmessen  und  Nachbilden 
gewisser  ebener  Formen  in  gleichem,  kleinerem  oder  größerem  Maßstabe.  Wer 
die  Entwicklung  des  freien  Zeichnens  kennt,  wird  die  Einführung  des  Maßstab- 
zeichnens  nur   als  notwendige  Konsequenz  der  in  jenem  Fach  geltenden  Grund- 


^  Hohlstein, 

Sätze  erkennen.  Wie  dort  nicht  mehr  von  abstrakten  Grundformen,  die  den 
Schüler  wenig  interessieren,  ausgegangen  wird,  so  ist  auch  im  gebundenen  Zeichnen 
das  Ausgehen  von  der  Wirklichkeit  geboten.  Unter  den  flächenhaften  Gebilden, 
welche  sich  für  die  ersten  Versuche  im  Zeichnen  eignen,  gibt  es  viele,  welche 
bei  freihändiger  Darstellung  nie  richtig  gelingen.  Hierhin  gehören  alle  Formen, 
welchen  ein  zusammengesetztes  Liniennetz  zugrunde  liegt,  z.  B.  Türen  und 
Fenster  mit  Füllungen,  Parkettmuster,  Fliesen  mit  geometrischen  Motiven,  durch- 
lochte Bleche  usw.,  ferner  Grundrisse  und  Pläne  von  Zimmern,  Gebäuden  und 
Grundstücken.  Werden  solche  Aufgaben  in  das  Linearzeichnen  verwiesen,  so  wird 
das  Stoffgebiet  des  Zeichnens  in  glücklicher  Weise  bereichert,  und  es  werden  Ab- 
bildungen erzielt,  welche  nicht  nur  über  die  allgemeinen  Formen  dieser  Dinge 
oberflächlichen  Aufschluß  geben,  sondern  auch  alle  Maßverhältnisse  so  genau 
erkennen  lassen,  daß  die  dargestellten  Gegenstände  jederzeit  nach  den  Zeichnungen 
angefertigt  werden  können.  Oft  wird  sich  bei  diesen  Übungen  eine  Verbindung 
des  freien  und  gebundenen  Zeichnens  herstellen  lassen,  indem  vom  Schüler  zu- 
nächst eine  freie  Handskizze  mit  Angabe  der  Maße  gefordert  wird,  welche  der 
gebundenen  Zeichnung  zugrunde  zu  legen  ist.  Als  Abbildungen  wirklicher  Gegen- 
stände dürften  wohl  auch  Flächenmuster  und  Kreisteilungen  zulässig  sein. 

Für  das  Darstellen  dreidimensionaler  Gegenstände  werden  in  dem  neuen  Lehr- 
plan zunächst  —  ganz  wie  in  dem  Lehrplan  von  1901  und  dem  Ministerialerlaß 
von  1902  —  einfache  Körper  in  verschiedenen  Ansichten  mit  Schnitten  und  Ab- 
wickelungen verlangt.  Der  Ministerialerlaß  betont  dabei  noch,  daß  der  Haupt- 
nachdruck auf  das  Lösen  praktischer  Aufgaben  zu  legen  ist.  Wenn  man  bedenkt, 
daß  in  Uli  (=1  der  Realschule)  die  Stereometrie  beginnt  und  dort  das  Zeichnen 
eifrig  zu  pflegen  ist,  so  wird  man  nicht  fehlgehen,  wenn  man  für  das  Linear- 
zeichnen zunächst  solche  Lebensformen  ausfindig  zu  machen  sucht,  welche  die 
rein  geometrische  Grundform  in  augenfälliger  Weise  enthalten.  Hierhin  gehören 
Kästen,  Dosen  und  Schachteln  allerlei  Art,  Dach-  und  Turmformen,  sowie  die 
mannigfaltigen  Erzeugnisse  des  Klempnergewerbes.  Diese  Gegenstände  bieten 
reiches  Material  für  die  Lösung  von  darstellend-geometrischen  Aufgaben.  Wie  in 
der  Algebra  und  in  der  Geometrie  neue  Größen  aus  gegebenen  abgeleitet  werden, 
so  sind  hier  neue  Ansichten,  Mäntel  und  Schnitte  aus  dem  durch  seine  Projektionen 
gegebenen  Körper  zu  entwickeln,  und  da  die  Bedingungen  der  Aufgaben  in  unend- 
lich mannigfaltiger  Weise  variiert  werden  können,  so  eröffnet  sich  dadurch  ein  weites 
Feld  interessanter,  praktischer  Probleme  für  die  Selbsttätigkeit  des  Schülers.  Hierbei 
wird  sich  oft  Gelegenheit  bieten,  auf  konstruktivem  Wege  erhaltene  Resultate 
durch  nachfolgende  Rechnungen  zu  prüfen  und  zu  bekräftigen.  Von  den  ein- 
facheren Körpern  schreitet  der  Unterricht  zu  denjenigen  weiter,  welche  solche 
Formen  in  Zusammensetzungen  oder  ganz  neue  Gestalten  aufweisen.  Unter  erstere 
gehören  Treppen  aus  Stein  und  Holz,  Möbel  in  streng  geometrischer  Auffassung, 
die  ja  dem  heutigen  Geschmack  entsprechen,  Holzverbindungen.  Neue  Formen, 
die  im  mathematischen  Unterricht  nicht  behandelt  zu  werden  pflegen,  sind  z.  B. 
Obelisk  (Entwicklungsschale),  Antiobelisk  (Turmform,  die  aus  quadratischem  Quer- 
schnitt in  achteckigen  übergeht),  Pyramidoid  (Turmspitze  mit  geschweiftem  Profil 
und  eckigem  Querschnitt),   Gewölbeformen,   Maschinenelemente  usw.    Geeignete 


Der  Unterricht  im  Linearzeichnen  an  den  preußischen  Realanstalten  usw.  23 

Vorbilder  werden  in  natura  nicht  immer  vorhanden  oder  zu  beschaffen  sein,  es 
wird  daher  nötig  sein,  Modelle  zu  benutzen.  Das  amtliche  Lehrmittelverzeichnis 
für  den  Zeichenunterricht,  Heft  4,  Blatt  1  u.  2,  führt  solche  bereits  auf.  Am  besten 
lernt  der  Schüler  die  Formen  verstehen,  wenn  er  das,  was  er  zeichnet,  auch  selbst 
in  Karton  oder  anderem  geeigneten  Material  modelliert.  Daß  der  Schüler  dazu 
geführt  wird,  auch  Körper,  die  im  mathematischen  Unterricht  nicht  behandelt 
werden,  wenigstens  graphisch  darzustellen,  ist  durchaus  gerechtfertigt.  Auch  der 
Techniker  löst  ja  Probleme,  die  er  nicht  mit  Anwendung  der  Arithmetik  lösen 
kann  oder  mag,  auf  rein  graphischem  Wege.  —  Durch  diesen  Zeichenunterricht 
nach  Gegenständen  aus  dem  Gesichtskreise  des  Schülers  wird  in  ihm  ein  Interesse 
an  der  Form,  ein  Eindringen  in  die  Form  und  schließlich  eine  Beherrschung  der  Form 
wachgerufen,  welche  weit  über  das  hinausgeht,  was  der  geometrische  Unterricht 
auf  dieser  Stufe  zu  bieten  vermag.  Eine  mathematische  Figur  ist  stets  abstrakt, 
die  Konstruktion  entwickelt  sich  nach  und  nach,  indem  bestimmte  Angaben,  z.  B. 
Seitenlängen,  Winkelgrößen,  Vergrößerungsverhältnisse  usw.  planmäßig  benutzt 
werden.  Das  Resultat  dieser  Arbeit  ist  zunächst  unbekannt  und  erscheint  erst  all- 
mählich. Ganz  anders  bei  dem  Zeichnen  von  wirklichen  Gegenständen  oder 
Modellen  I  Hier  ist  das  Ziel  sofort  gegeben,  nämlich  die  Herstellung  eines  Bildes, 
aus  dem  unzweideutig  die  gestaltlichen  Verhältnisse  des  dargestellten  Körpers  so 
zu  erkennen  sind,  daß  der  Körper  allein  auf  Grund  der  Zeichnung  jederzeit  wieder 
nachgebildet  werden  kann.  Ein  weiterer  Vorzug  des  Zeichnens  nach  der  Wirk- 
lichkeit vor  dem  mathematischen  Zeichnen  besteht  darin,  daß  die  Gesetze  der 
Zweckmäßigkeit  und  Schönheit  fast  in  jedem  Gegenstande  zum  Ausdruck  kommen, 
während  den  elementaren  mathematischen  Figuren  kein  Zweckmäßigkeitswert  und 
nur  ein  beschränkter  Schönheitswert  beizumessen  ist.  Die  Teilung  nach  dem 
goldenen  Schnitt,  die  regelmäßigen  Figuren,  der  Kreis  und  die  Kegelschnitte  be- 
friedigen zwar  unser  Schönheitsgefühl,  sind  aber  doch  nicht  zu  vergleichen  mit 
den  edlen  Konturen  einer  griechischen  Vase.  Die  Kurven  höherer  Ordnung,  welche 
einen  großen  ästhetischen  Wert  haben,  können  im  mathematischen  Unterricht 
höherer  Schulen  nur  wenig  behandelt  werden,  während  ihrer  graphischen  Dar- 
stellung nichts  im  Wege  steht,  und  sie  fallen  daher  dem  Gebiete  des  Zeichnens 
zu.  Mit  vorstehenden  ^Ausführungen  soll  nicht  der  Nutzen  des  mathematischen 
Zeichnens  bestritten  werden,  sondern  es  soll  ihm  nur  seine  Stellung  als  spezielle 
Unterabteilung  des  die  gesamte  Formenwelt  umfassenden  Zeichnens  angewiesen 
werden.  Mit  gutem  Grunde  ist  das  Linearzeichnen  bereits  in  die  Volksschulen 
eingeführt  (Lehrplan  von  1902),  nämlich  wegen  seines  hohen  Bildungswertes  und 
zur  Hebung  der  technischen  und  künstlerischen  Leistungsfähigkeit  aller  Volks- 
klassen. Ebenso  werden  die  Lehriinge  aller  Handwerke,  welche  mit  Zeichnungen 
zu  tun  haben,  in  den  Fortbildungsschulen  in  dem  Verständnis  und  in  der  An- 
fertigung technischer  Zeichnungen  unterwiesen.  Die  höhere  Schule,  welche  ihre 
Zöglinge  für  alle  höheren  Berufsklassen  vorbereitet,  kann  daher  nicht  zurückstehen 
und  muß  es  wenigstens  jedem  Schüler,  der  Neigung  für  einen  technischen  Beruf 
in  sich  fühlt  oder  überhaupt  Interesse  für  die  formale  Seite  der  Dinge  hat,  er- 
möglichen, die  Sprache  des  Technikers  zu  eriernen!  Mit  den  durch  den  neuen 
Lehrplan  festgelegten  Kenntnissen  versehen,  wird  er,  wenn  er  die  Schule  mit  dem 


^4  Hohlstein, 

Zeugnis  für  den  Einjährigfreiwilligen  Dienst  verlassen  hat,  sich  in  der  Praxis  gut 
betätigen  oder  in  den  Unterricht  in  jeder  Fachschule  mit  einer  guten  Grundlage 
eintreten  können,  und  es  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß  auch  solchen  Schülern, 
gleichsam  als  Lohn  für  ihre  Teilnahme  an  dem  fakultativen  Unterricht  die  guten 
Zeichnungen  entsprechend  der  Verfügung  vom  6.  Februar  1908  betreffend  Be- 
scheinigung von  Zeichnungen  solcher  Abiturienten,  welche  sich  den  an  Technischen 
Hochschulen  bestehenden  Studienrichtungen  zuwenden  wollen,  testiert  werden 
könnten. 

II.  Oberer  Kursus. 
In  den  oberen  Klassen  OII — Ol  der  realen  Vollanstalten  teilt  sich  der  Unter- 
richt im  Linearzeichnen  in  eine  mehr  mathematische  und  eine  mehr  technische  und 
künstlerische  Richtung.  Er  ist  ebenfalls  wahlfrei  und  in  jeder  Woche  mit  je  einer 
Stunde  angesetzt.  »Den  Schülern  dieser  Klassen,  die  sich  zur  Teilnahme  melden, 
ist  freizustellen,  ob  sie  den  Unterricht  in  der  speziellen  darstellenden  Geometrie 
usw.,  oder  den  in  der  malerischen  Perspektive  usw.,  oder  den  in  beiden  Fächern 
besuchen  wollen.  Wer  sich  zur  Teilnahme  bereit  erklärt,  muß  mindestens  ein 
Semester  den  von  ihm  gewählten  Unterricht  besuchen."  Mit  Rücksicht  auf  die- 
jenigen Schüler,  welche  den  Unterricht  in  beiden  Fächern  besuchen,  ist  daher  ein 
Zusammenfallen  dieser  beiden  Fächer  auf  die  gleiche  Zeit  des  Stundenplans  zu 
vermeiden.  Aus  inneren  Gründen,  aber  auch,  um  dem  Schüler  den  Übergang  von 
dem  einen  zu  dem  anderen  Fach  zu  ermöglichen,  wird  es  ferner  nötig  sein,  den 
ganzen  logischen  Aufbau  beider  Fächer  gleichartig  zu  gestalten,  jedoch  so,  daß 
die  rein  theoretischen  Unterweisungen  des  einen  Fachs  den  praktischen  Ausfüh- 
rungen des  anderen  zeitlich  vorausgehen.  Um  endlich  auch  Schüler,  welche  erst 
einige  Zeit  nach  der  Versetzung  nach  Obersekunda  in  den  einen  oder  anderen 
Unterricht  eintreten,  gebührend  fördern  zu  können,  und  um  den  Fähigkeiten  und 
Wünschen  der  einzelnen  entgegenzukommen,  wird  es  nicht  immer  möglich  sein, 
das  Prinzip  des  Klassenunterrichts  aufrecht  zu  erhalten.  Da  die  Einzelunter- 
weisungen aber  stets  längere  Zeit  in  Anspruch  nehmen,  so  sind  Kombinationen 
mehrerer  Klassenstufen  möglichst  zu  vermeiden.  Werden  z.  B.  die  drei  oberen 
Klassen  zugleich  unterrichtet,  so  kommt,  wenn  man  eine  Lehrstunde  zu  50  Minuten 
annimmt  und  fünf  Minuten  für  das  Herbei-  und  Fortschaffen  der  Zeichengeräte 
ansetzt,  auf  jede  Klasse  nur  eine  Viertelstunde  Unterrichtszeit!  Daß  für  gute  Be- 
leuchtung des  Zeichensaals  gesorgt  werden  muß,  ist  selbstverständlich.  —  Die 
spezielle  darstellende  Geometrie,  Schattenlehre  und  Perspektive  ist  in  einer  Stunde 
wöchentlich  zu  lehren,  und  der  Unterricht  ist  einem  mit  der  darstellenden  Geo- 
metrie vertrauten  Lehrer  der  Mathematik  zu  übertragen.  In  dem  Lehrplan  von 
1901  sind  für  Mathematik  an  Realgymnasien  und  Realschulen  die  Grundlehren  der 
darstellenden  Geometrie  vorgeschrieben,  und  den  Oberrealschulen  ist  eine  Weiter- 
führung dieser  Grundlagen  gestattet.  Jetzt  wird  die  gesamte  darstellende  Geometrie 
als  selbständiges  Fach  in  den  fakultativen  Unterricht  verlegt.  Tatsächlich  bedeutet 
also  diese  Neuerung  eine  Erhöhung  der  für  Mathematik  angesetzten  Unterrichts- 
zeit um  eine  fakultative  Stunde.  —  Der  Lehrstoff  für  den  Unterricht  in  der 
speziellen  darstellenden  Geometrie  ist  in  dem  Lehrplan  nur  in  seinen  äußersten 
Umrißlinien   angegeben,   und  erst  die  Praxis  wird  im  Laufe   der  Jahre  einen  be- 


Der  Unterricht  im  Linearzeichnen  an  den  preußischen  Realanstalten  usw.  25 

stimmten  Weg  durch  dieses  weite  Gebiet  bahnen.  Vorläufig  ist  die  Auswahl  des 
Lehrstoffs  freigestellt.  Jedenfalls  wird  die  Lehre  von  den  Punkten,  Geraden  und 
Ebenen  im  Räume,  welche  früher  dem  geometrischen  Unterricht  der  Uli  zuge- 
wiesen war,  in  neuem  Gewände  wieder  auftreten  und  die  Grundlage  für  den 
weiteren  Unterricht  bilden.  Ein  weiteres  Gebiet,  welches  sich  an  die  in  der  Stereo- 
metrie der  U  II  zu  erledigenden  rechtwinkligen  Parallelprojektionen  anschließt  und 
auch  für  arithmetische  Untersuchungen  reichen  Übungsstoff  bietet,  ist  die  Lehre 
von  den  schiefwinkligen  Parallelprojektionen.  Die  sphärische  Trigonometrie  wird 
Veranlassung  zur  Konstruktion  dreiseitiger  Ecken  aus  ihren  Bestimmungsstücken, 
sphärischer  Dreiecke  auf  der  Erd-  und  Himmelskugel,  sowie  zur  Darstellung  von 
Sonnenuhren  geben.  Auch  die  Durchdringungen,  welche  weder  unter  dem  Lehr- 
stoff für  die  spezielle  darstellende  Geometrie,  noch  in  dem  für  malerische  Perspek- 
tive aufgeführt  sind,  aber  doch  sowohl  rein  theoretisch,  als  auch  praktisch  sehr 
wichtig  sind,  dürften  mit  in  den  Rahmen  dieses  Kapitels  fallen.  Die  Schatten- 
konstruktionen, welche  weiterhin  genannt  sind,  könnten  wohl  auf  den  Selbst-  und 
Schlagschatten  geometrischer  Körper  und  ihrer  Durchdringungen  beschränkt  werden. 
In  der  Perspektive  wäre  von  der  Abbildung  des  Punktes  und  der  Geraden  auszu- 
gehen, dann  zu  der  Darstellung  geometrisch  begrenzter  Flächenstücke  fortzu- 
schreiten. Eine  eingehendere  Behandlung  würde  der  Zentralprojektion  des  Kreises 
und  damit  einer  projektiven  Ableitung  der  Kegelschnitte  zu  widmen  sein,  hieran 
würde  sich  die  Lehre  von  den  stereoskopischen  Bildern  und  die  Kartenprojektion 
schließen.  Als  Fortsetzung  der  graphischen  Darstellungen  und  als  Übungsmaterial 
für  die  analytische  Geometrie  können  einige  nomographische  Übungen  eingestreut 
werden. 

Während  dieser  Unterricht  als  Fortsetzung  und  Erweiterung  des  von  Quinta 
ab  geübten  mathematischen  Zeichnens  anzusehen  ist,  soll  die  andere,  von  dem 
Zeichenlehrer  zu  erteilende  Stunde  praktische  und  künstlerische  Wege  einschlagen. 
Wenn  dieser  Unterricht  auch  hinsichtlich  der  Anordnung  mit  jenem  etwa  parallel 
laufen  wird,  so  wird  die  Behandlung  des  Stoffs  doch  durchaus  verschieden  sein. 
Er  ist  als  Fortsetzung  des  wahlfreien  Linearzeichenunterrichts  der  mittleren  Klassen 
gedacht.  An  das  Darstellen  der  einfachen  Körper  und  Geräte  wird  sich  zweck- 
mäßig die  Abbildung  von  schwierigeren  Geräten,  Gebäudeteilen  und  Gebäuden, 
Maschinenteilen  und  Maschinen  anschließen.  Hiermit  kann  zugleich  die  schief- 
winklige Parallelprojektion  verknüpft  werden.  Zwischendurch  wären  vielleicht 
leichte  statische  Konstruktionen  auszuführen.  Es  würden  sich  dann  die  Durch- 
dringungen anreihen,  für  die  ja  ein  reiches  Aufgabenmaterial  in  der  Technik  vor^ 
banden  ist.  Auf  die  Schattenkonstruktion,  welche  namentlich  an  architektonischen 
Motiven  zu  üben  sein  wird,  folgt  die  Beleuchtungslehre,  welche  mit  der  Darstellung 
der  Normalkugel  beginnend,  zur  Schattierung  von  Drehkörpern  fortschreitet.  Als 
eine  Anwendung  der  Beleuchtungslehre  und  als  notwendige  Vorübung  und  Er- 
gänzung zu  dem  im  Lehrplan  geforderten  Terrainaufnahmen,  wäre  eine  Anleitung 
zum  Studium  und  zum  Schattieren  der  von  der  Königlich  Preußischen  Landes- 
aufnahme herausgegebenen  Meßtischblätter  zu  empfehlen.  Das  Lesen  von  Karten 
in  größerem  Maßstab  wird  im  Unterricht  der  höheren  Schulen  wohl  kaum  geübt, 
und  doch  gibt  es  kein  anderes  Mittel,  die  Geländeformen  der  engeren  und  weiteren 


26  M.  Türk, 

Heimat  kennen  zu  lernen  und  sich  einzuprägen,  als  die  Durchwanderung  an  der 
Hand  einer  guten  Karte.  Noch  tiefer  haften  die  auf  einer  solchen  geographischen 
Erkundungstour  gemachten  Beobachtungen,  wenn  das  Gelände  nach  den  An- 
gaben der  Meßtischblätter  modelliert  und  in  Ansichtsskizzen  festgehalten  wird. 
Die  Perspektive  soll  endlich  ebenfalls  in  rein  malerischem  Sinn  gegeben  werden. 
Geeignete- Motive  werden  in  und  an  dem  Schulhaus,  an  Kirchen,  Rathäusern  und 
Privatgebäuden  in  großer  Zahl  aufzufinden  sein.  Nach  Erledigung  der  geometri- 
. sehen  Konstruktionen  wird  der  Entwurf  am  besten  auf  ein  neues  Blatt  übertragen 
und  in  irgendeiner  Technik  weiter  ausgeführt.  Manche  Schüler  werden  die  Blei- 
stiftzeichnung bevorzugen,  andere  zur  Feder  oder  zum  Pinsel  greifen,  um  dem 
Bilde  in  einer  oder  mehreren  Farben  ein  malerisches  Gepräge  zu  verleihen.  Neben 
diesen  Produktionen  könnte  eine  Prüfung  vorbildUcher  Darstellungen  gepflegt 
werden,  denn  das  Aufsuchen  und  Erklären  bewußter  oder  unbewußter  Abweichun- 
gen von  den  perspektivischen  Gesetzen  ist  ein  sehr  wirksames  Mittel  zur  Stär- 
kung des  Raumgefühls.  Ferner  wäre  auf  die  Photogrammetrie  und  ihre  Anwen- 
dungen auf  Architektur  und  Geländedarstellung  einzugehen. 

Gegenüber  dem  Lehrplan  von  1901,  welcher  für  das  Linearzeichnen  der  oberen 
Klassen  nur  weitere  Einführung  in  die  darstellende  Geometrie,  Schattenlehre  und 
Perspektive  vorschreibt,  ist  der  Bereich  des  neuen  viel  ausgedehnter.  Er  umfaßt 
zusammen  mit  dem  Lehrplan  für  freies  Zeichnen  das  gesamte  Gebiet  der  wissen- 
schaftlichen, technischen  und  künstlerischen  Darstellung  und  ist  daher  als  eine 
durch  die  Anforderungen  der  neuen  Zeit  und  ihrer  kraftvollen  Bestrebungen  auf 
allen  Gebieten  theoretischen  und  praktischen  Wissens  und  Könnens  notwendig  ge- 
wordene Ergänzung  des  ersteren  freudig  zu  begrüßen  I 

Remscheid.  Hohlstein. 


Ein  alter  Brauch. 

Wenn  wir  älteren  Lehrer,  die  wir  vor  mehr  als  25  Jahren  das  Zeugnis  der 
Reife  erworben  haben,  an  die  eigene  Schulzeit  zurückdenken  und  den  damaligen 
Schulbetrieb  mit  dem  heutigen  vergleichen,  so  werden  wir  zu  unserer  Freude 
immer  von  neuem  gewahr,  welche  tiefgreifende  Umgestaltung  das  höhere  Schul- 
wesen erfahren  hat.  Für  die  Leser  der  Monatschrift  bedarf  es  nicht,  die  Ent- 
wicklung im  einzelnen  aufzuzeigen;  es  genügt,  auf  die  veränderten  Methoden  in 
einer  ganzen  Reihe  von  Unterrichtsgegenständen  hinzuweisen,  die  in  den  Neueren 
Sprachen,  in  der  Erd-  und  Naturkunde,  sowie  im  Zeichnen  selbst  dem  Laien,  der 
an  seinen  Kindern  die  Arbeit  der  Schule  beobachtet,  ins  Auge  fallen.  Die  Schwierig- 
keiten der  Reifeprüfung  sind  gemildert,  und  die  Milderung  wird  noch  fühlbarer 
werden,  wenn  erst  die  Bewegungsfreiheit  in  den  oberen  Klassen  durchgeführt  sein 
wird.  Der  körperlichen  Entwicklung,  der  Schulhygiene  wird  erhöhte  Bedeutung 
beigelegt.  Spiel  und  Sport  sind  in  unsere  Schulen  eingezogen,  weniger  als  früher  ist 
der  Lehrer  durch  einengende  Vorschriften  gehemmt,  seiner  Individualität  ist  ein  größerer 
Spielraum  gewährt.  Ein  freierer  Geist  herrscht  in  unseren  Schulen,  und  freund- 
licher ist  ohne  Schädigung  der  Disziplin  das  Verhältnis  von  Lehrern  zu  Schülern 


Ein  alter  Brauch.  2f 

geworden.  Aber  seltsam,  gerade  da,  wo  die  Behörden  den  Direktoren  und  Lehrern 
freie  Hand  lassen,  zeigt  sich  oft  eine  zähe  Neigung,  Überkommenes  festzuhalten. 
Wie  so  oft  im  Leben  ist  auch  bei  uns  die  Gewohnheit  eine  Macht,  gegen  die 
sachliche  Erwägungen  schwer  aufkommen. 

Es  ist  ein  alter  Brauch  in  unseren  Schulen,  die  Ergebnisse  der  Versetzungs- 
konferenz den  Schülern  am  letzten  Schultage  in  der  Aula  bekannt  zu  geben;  die 
Konferenz  selbst  hat  wohl  in  den  meisten  Anstalten  acht  bis  zehn  Tage  vor  dem 
Schlüsse  des  Semesters  stattgefunden,  da  der  Direktor  von  der  künftigen  Frequenz 
der  Klassen  für  die  neu  aufzunehmenden  Schüler  ein  Bild  haben  muß.  Die 
Schüler  kennen  im  allgemeinen  den  Tag  der  Konferenz;  wenn  er  ihnen  nicht  von 
den  Lehrern  geradezu  mitgeteilt  wird,  so  erfahren  sie  ihn  als  die  Nächstbeteiligten 
sicherlich  auf  indirektem  Wege.  Weshalb  erhält  man  sie  acht  bis  zehn  Tage  in 
ihrer  Unruhe,  in  ihrer  nervösen  Spannung?  Die  Versetzung,  das  äußere  Zeichen 
ihres  Fortschrittes,  ist  das  Ziel,  dem  sie  zustreben,  oft  hängt  sie  von  einer  vor- 
aufgegangenen schriftlichen  und  mündlichen  Prüfung  ab:  Wo  in  aller  Welt  ist  es 
üblich,  Prüfungen    das  Resultat   ihrer  Prüfung   so  viele  Tage  später  mitzuteilen? 

Der  gegenwärtige  Brauch  wird  damit  begründet,  daß  das  wichtigste  Ereignis 
des  Schuljahres  mit  Feierlichkeit  umgeben  werden  müsse,  daß  vor  der  versammelten 
Schulgemeinde  die  Tüchtigen,  die  das  Ziel  erreicht,  geehrt,  die  anderen  aber  durch 
öffentliche  Namensnennung  gestraft  werden  sollen.  Ist  das  wirklich  der  richtige 
Standpunkt?  Dürfen  wir  die  Nichtversetzung  als  eine  Strafe  ansehen  oder  gar  zur 
Schande  stempeln?  Wenn  wir  einen  Schüler  nicht  versetzen,  so  geben  wir  doch 
nur  der  wohl  erwogenen  Meinung  Ausdruck,  daß  die  Wiederholung  des  Pensums 
für  den  Schüler  selbst  eine  unabweisbare  Notwendigkeit  ist  und  für  ihn  von  Segen 
sein  werde,  und  oft  genug  kommen  wir  in  die  Lage,  solchen  Schülern,  deren 
ernste  und  ehrliche  Arbeit  wir  anerkennen  müssen,  Trost  zuzusprechen  und  ihnen 
zu  versichern,  daß  sie  sich  des  Mißerfolges  nicht  zu  schämen  hätten.  Ist  die 
öffentliche  Verkündigung  nicht  in  solchen  Fällen  ein  Widerspruch? 

Den  Schülern,  die  ihrer  Versetzung  nicht  ganz  sicher  sind,  ist  während  der 
Feierlichkeit  in  der  Aula  sehr  wenig  feierlich  zumute.  Es  ist  üblich,  vor  der  Ver- 
lesung der  Versetzungen  an  die  Schüler  eine  Ansprache  zu  richten  und  ihnen 
Mahnungen  und  Warnungen  auf  den  Weg  zu  geben.  Ich  fürchte,  daß  die  Körner, 
die  der  Sämann  hier  ausstreut,  in  das  Steinigte  fallen;  denn  den  Schülern,  die  der 
Entscheidung  entgegenharren,  fehlt  die  seelische  und  geistige  Ruhe,  um  die  be- 
herzigenswerten Worte  in  sich  aufzunehmen.  So  oft  ich  meine  Schüler  in  die 
Aula  führe,  muß  ich  der  Darstellung  denken,  die  Emil  Strauss  in  seiner  er- 
schütternden Erzählung  , Freund  Hein'  von  einem  Schulaktus  gibt.  Man  braucht  die 
Verlesung  der  Versetzungen  nicht  mit  dem  Dichter  als  roh  und  barbarisch  zu 
empfinden,  aber  dem  Leben  abgelauscht  ist  die  Schilderung  der  Schülertypen: 
»Einer  stand  steif  da  mit  erzwungenem  Lächeln  und  blickte  nach  dem  Podium  hin,  als 
ob  ihn  all  dieses  nichts  anginge  und  als  ob  er  durch  diese  Mienen  sich  unsichtbar 
machen  könnte,  ein  anderer  blinzelte  krampfhaft,  um  die  Tränen  zu  unterdrücken." 

Bei  der  bisherigen  Art,  den  Schülern  die  Jahreserfolge-  und  Mißerfolge  am 
letzten  Schultage  mitzuteilen,  bleibt  eines  immer  unbeachtet.  Sobald  die  Eltern 
aus  der  Zensur  ersehen  haben,   daß  ihr  Sohn  in  der  Klasse  zurückbleiben  müsse, 


gg  M.  Türk,  Ein  alter  Brauch. 

vielleicht  auf  ein  ganzes  Jahr,  haben  sie  den  begreiflichen  Wunsch,  mit  dem 
Lehrer  über  das  weitere  Schicksal  des  Sohnes  zu  beraten:  Soll  der  Knabe  das 
Pensum  von  neuem  beginnen  oder  ist  es  besser,  ihn  einer  anderen  Schulgattung 
zuzuführen?  Was  kann  geschehen,  um  seine  Lücken  auszufüllen  oder  soll  er 
völlig  auf  die  höhere  Schule  Verzicht  leisten?  All  solche  Fragen  müssen  ein- 
gehend erwogen  werden;  aber  in  den  Ferien  ist  der  Lehrer  den  Eltern  sehr 
häufig  unerreichbar,  und  eine  Entscheidung  muß  noch  vor  Beginn  des  neuen 
Schuljahres  getroffen  werden.  Schon  aus  diesem  einen  Grunde  haben  die  Eltern 
nicht  nur  ein  Interesse,  sondern  sogar  ein  Anrecht  darauf,  vor  dem  letzten  Schul- 
tage zu  erfahren,  wie  es  um  ihren  Sohn  bestellt  ist,  und  diese  Mitteilung  müßte 
ihnen  mindestens  eine  Woche  vor  Schluß  der  Schule  zugehen. 

Der  Einwand,  der  gegen  die  vorgeschlagene  Neuerung  erhoben  werden  könnte, 
daß  durch  frühzeitige  Veröffentlichung  der  Resultate  das  Interesse  der  Schüler  an 
dem  Unterricht  abflauen,  die  Disziplin  sogar  leiden  könnte,  verdient  kaum  eine 
Widerlegung.  Wäre  der  Einwand  richtig,  so  müßte  er  auch  jetzt  schon  zutreffen; 
denn  die  Schüler  wissen  sehr  wohl,  daß  ihr  Schicksal  seit  Tagen  entschieden  ist. 
Aber  der  Einwand  ist  hinfällig.  Wir  sollten  das  angeborene  und  anerzogene 
Pflichtgefühl  der  Schüler  nicht  zu  gering  einschätzen.  Uns  selbst  würden  wir  das 
denkbar  schlechteste  Zeugnis  ausstellen,  wenn  wir  nur  mit  dem  Schreckgespenst 
der  Versetzung  die  Aufmerksamkeit  der  Schüler  zu  erregen  und  ihren  Eifer  an- 
zuspornen wüßten,  unsere  Disziplin  stünde  auf  schwachen  Füßen,  wenn  sie  nur 
durch  Drohungen  zu  erhalten  wäre.  „Eine  gute  Didaktik  ist  die  beste  Disziplin"; 
dieses  Wort  Diesterwegs  behält  für  alle  Zeiten  seine  Gültigkeit. 

Und  ein  letzter,  tief  ernster  Grund  spricht  für  unsern  Vorschlag.  Am  Schlüsse 
fast  jeden  Schuljahres  hören  wir,  daß  hier,  daß  dort  ein  Schüler  aus  Verzweiflung 
über  die  vermeintliche  Schande  des  Mißerfolges,  aus  Furcht  vor  den  sinnlosen 
Vorwürfen  der  Eltern,  die  früher  hätten  nach  dem  Rechten  sehen  sollen,  sein  Leben 
gewaltsam  geendet  habe.  Dürfen  wir  da  in  hilfloser  Ergriffenheit  wie  vor  einem 
elementaren  Ereignis  stehen,  sollten  wir  nicht  auch  nur  nach  der  geringsten  Mög- 
lichkeit ausschauen,  vorzubeugen?  Engerer  freundlicher  Zusammenhang  zwischen 
Schule  und  Haus  ist  immer  noch  das  einzige  Mittel,  das  uns  bleibt.  Den  Mangel 
dieser  Verbindung  empfinden  wir,  zumal  in  der  Großstadt,  oft  und  tief.  Welchem 
Lehrer  wäre  es  nicht  begegnet,  daß  ihm  bei  irgendeiner  charakteristischen  Mit- 
teilung über  die  häuslichen  Verhältnisse  eines  Schülers  der  Gedanke  durch  das 
Gewissen  zuckte:  Bei  genauerer  Kenntnis  der  Verhältnisse  hättest  du  dem  Schüler 
manches  ersparen  können.  Wenn  wir  nun  den  Eltern  die  —  schriftliche  —  Nach- 
richt von  dem  Mißerfolge  des  Sohnes  noch  früher  zukommen  ließen  als  dem 
Schüler,  so  würden  wir  ihnen  die  Möglichkeit  geben,  auf  ihren  Sohn  besänftigend 
einzuwirken,  wenn  solche  Einwirkung  nach  der  Geartung  des  Schülers  nottut. 

Darum  fort  mit  dem  „Amtsgeheimnis"!  Dieses  Wort  ist  nirgend  weniger  am 
Platze  als  im  Leben  der  Schule.  Nicht  Lehrbeamte  sollen  und  wollen  wir  sein,  sondern 
verständnisvolle  Freunde  der  Jugend.  Wenn  der  alte  Brauch,  „von  dem  der  Bruch 
mehr  ehrt  als  die  Befolgung",  verschwunden  sein  wird,  dann  erst  werden  unsere 
Schüler  die  Jahresschlußfeier  mit  innerer  Sammlung,  mit  Andacht  begehen  können. 

Berlin.  M.  Türk. 


rt.  Oüh^aüet  tat  Röifepirüfungsordnüng.  2§ 


Zur  Reifeprüfungsordnung. 

§  4,  2  der  Reifeprüfungsordnung  vom  27.  Oktober  1901  lautet  bekanntlich 
folgendermaßen:  „Wenn  ein  Primaner  die  Anstalt  wechselt,  so  entscheidet  das 
Königliche  ProVinzial-Schülkollegium,  ob  ihm  für  die  Meldung  zur  Reifeprüfung 
das  Halbjahr,  in  welches  oder  an  dessen  Schluß  der  Wechsel  der  Anstalt  fällt,  auf 

die  Lehrzeit  der  Prima  anzurechnen  ist "  „Unzulässig  ist  die  Anrechnung 

in  allen  Fällen,  in  denen  der  Primaner  im  Disziplinarwege  von  der  früher  von  ihm 
besuchten  Anstalt  entfernt  worden  ist,  oder  sie  verlassen  hat,  um  sich  einer  Schul- 
strafe zu  entziehen." 

Diese  Bestimmungen,  die  ja  schon  vor  1901  gegolten  haben,  sind  gewiß  allen 
Direktoren  und  Kollegien  stets  sehr  willkommen  gewesen.  Es  sei  aber  zur  Er- 
wägung gegeben,  ob  sie  nicht  vielleicht  einen  Zusatz  vertragen  könnten.  Wir 
sind  alle  einig,  daß  es  pädagogisch  ganz  verkehrt  wäre,  einen  Schüler,  der  für  die 
nächste  Klasse  voll  reif  ist,  sitzen  zu  lassen,  weil  er  sich  eines  Disziplinarvergehens 
schuldig  gemacht  hat.  Nichtversetzung  darf  unter  keinen  Umständen  eine  Dis- 
ziplinarstrafe sein;  einen  Schüler  in  einer  Klasse  zurückbehalten,  in  der  er  nichts 
mehr  zu  suchen  hat,  wäre  geradezu  pädagogischer  Mord.  Das  braucht  man  vor 
Fachgenossen  nicht  zu  beweisen. 

Nun  ist  es  doch  aber  klar,  daß,  wie  ein  Oberprimaner,  der  nach  zwei  Jahren 
die  Reifeprüfung  nicht  besteht,  eben  in  Ol  „sitzen  bleibt",  so  auch  ein  solcher, 
der,  selbst  wenn  er  voll  reif  ist,  eines  früher  begangenen  Disziplinarvergehens 
halber  nach  zwei  Jahren  zur  Prüfung  nicht  zugelassen  wird,  in  Ol  „sitzen  ge- 
lassen" wird,  obwohl  er  nach  dem  Urteil  seiner  Lehrer  das  Pensum  der  Klasse 
voll  beherrscht.  Es  setzt  sich  also  ein  solches  Verfahren  in  direkten  Widerspruch 
mit  dem  oben  ausgesprochenen  pädagogischen  Axiom.  Man  könnte  ja  sagen, 
daß  ein  Primaner,  auch  wenn  er  reif  ist,  in  einem  fünften  Prima-Semester  immerhin 
noch  mancherlei  lernen  könne,  mehr  mindestens  als  das  z.  B.  ein  Quartaner  oder 
Sekundaner  könnte,  der  trotz  seiner  unbedingten  Reife  nicht  versetzt  wäre.  Immer- 
hin aber  wird  sich  für  den  betreffenden  Oberprimaner  ein  guter  Teil  des  Lehr- 
stoffs lediglich  wiederholen,  er  verliert  ein  halbes  Jahr  für  seine  Berufsaus- 
bildung usw.  Und  wie  niederdrückend  für  den  Schüler,  der  vielleicht  im  Anfange 
seiner  Primazeit  disziplinarisch  entfernt  worden  ist,  und  der  nun  lange  vorher  weiß, 
daß  er,  mag  er  tun,  was  er  will,  doch  fünf  Semester  in  Prima  bleiben  muß!  Wir 
wissen  doch  aber,  daß  manchmal  die  größten  Schlingel  gut  begabt  sind.  Welcher 
Ansporn  dagegen  wäre  es  gerade  für  einen  solchen  begabten  Übeltäter,  wenn 
ihm  gesagt  werden  könnte:  wenn  du  dich  gut  führst  und  voll  reif  wirst,  kann 
dir  vielleicht  die  Verlängerung  der  Primazeit  schließlich  doch  noch  erlassen 
werden!  Und  also,  um  die  Sache  ganz  kurz  zu  machen,  vielleicht  ließe  sich  zu 
§  4,  2  ein  Zusatz  etwa  folgender  Art  machen: 

„Nur  wenn  ein  solcher  Schüler  auf  der  neuen  Anstalt  sich  gut 
geführt,  und  wenn  er  in  der  vorgeschriebenen  Zeit  von  zwei  Jahren 
die  volle  Reife  erlangt   hat,   kann   er   auf   einstimmigen  Antrag  des 


30  H.  Guhrauer,  Zur  Reifeprüfung5ordnung. 

Lehrerkollegiums  ausnahmsweise   schoq  nach  zwei  Jahren  zugelassen 

werden.    Voraussetzung  für  einen   solchen  Antrag  aber  ist,   daß   der 

Schüler   in   mindestens  einem  Hauptfache  die  Zensur  „gut"  erhält,  in 

allen  übrigen  Prüfungsfächern  aber  Genügendes  leistet." 

Ich  habe  jetzt  einen  Oberprimaner,   der  nächste  Ostern  zweifellos   reif  sein 

wird,   aber  auf  Grund  des  §  4,  2  erst  nächste  Michaelis  in  die  Prüfung  eintreten 

darf.    Das  hat  mich  darauf  gebracht,  die  obige  Anregung  zu  geben. 

Wittenberg.  H.  Guhrauer. 


II.    Bücherbesprechungen. 


a)  Sammelbesprechungen: 

Neue  österreichische  Lehrbücher  für  den  katholischen  Religions- 
unterricht. 

Mit  erstaunlichem  Fleiße  arbeiten  die  österreichischen  Religionslehrer  an  ihren 
Lehrbüchern  weiter,  und  den  in  ihrer  Art  vorzüglichen  —  in  der  Monatschrift  1907, 
S.  182 — 186  und  670—673  besprochenen  —  bisher  erschienenen  Werken  schließen 
sich  bereits  zwei  neue  wieder  ebenbürtig  an.    Es  sind  dies: 

1.  Kraufi,  Eduard,  Lehr-  und  Lesebuch  für  den  katholischen  Religions- 
unterricht in  den  oberen  Klassen  der  Realschule  und  verwandter 
Lehranstalten.  Unter  Mitwirkung  des  Vereins  katholischer  Religionslehrer  an 
den  Mittelschulen  Österreichs  bearbeitet.  Zweiter  Teil:  Sittenlehre  mit  Einschluß 
der  Lehre  von  den  heihgen  Sakramenten.  Wien  1908.  A.  Pichlers  Wwe.  &  Sohn. 
172  S.    80.    geb.  2,50  M. 

Das  neue  Buch  von  Krauß  ist  das  Gegenstück  zu  seiner  Sittenlehre  für  die 
oberen  Klassen  des  Gymnasiums  und  verwandter  Lehranstalten  (vgl.  diese  Monat- 
schrift 1907,  S.  671);  der  Inhalt,  die  Anlage  und  Durchführung  sind  in  beiden 
Büchern  durchgängig  gleich,  doch  wird  in  allem  auf  die  Eigenart  der  bezüglichen 
Anstalten  und  ihrer  Schüler  die  gebührende  Rücksicht  genommen.  Das  zeigt  sich 
besonders  in  den  Definitionen,  der  Umschreibung  von  termini  technici  und  in  der 
Wiedergabe  der  Lesestücke.  Die  Texte  der  Lesestücke  sind  für  die  Gymnasien 
meistens  in  dem  Original,  also  Griechisch  und  Latein,  in  dem  für  Realanstalten  be- 
stimmten Buche  nur  in  deutscher  Sprache  wiedergegeben.  Unser  Gesamturteil 
deckt  sich  mit  dem  in  dieser  Monatschrift,  S.  671  angegebenen. 

Ein  Gedanke  aber  soll  dem  verdienten  Herrn  Verfasser  und  seinen  getreuen 
Gewährsmännern  wenigstens  näher  gebracht  werden.  Die  österreichischen  Lehr- 
bücher bringen  manches  schöne  Beispiel  und  Zitat,  und  zwar  sind  die  Zitate  vor- 
wiegend aus  der  neueren  Literatur  genommen;  auch  unsere  Klassiker  und  ihre 
Hauptwerke  sind  gebührend  vertreten.  Die  im  „ Lesebuche "  angeführten  Gedichte 
gefallen  weniger,  sie  sind  in  ihrer  Art  einfach,  ansprechend,  kindlich,  aber  sollten 
sie  deshalb  nicht  besser  für  die  mittleren  Stufen  eines  Profan-Lesebuches  passen  ? 
Für  Schüler  der  oberen  Klassen  läßt  sich  besseres  und  tieferes  Material 
holen.     Zudem  soll  den  Schülern  der  Realanstalten  mit  ihrem  Französisch  und 


32  W.  Capitaine,  Neue  österreichische  Lehrbücher  usw. 

Englisch  im  Religionsunterrichte  auch  der  Weg  in  die  religiösen  Partien  der 
ausländischen  Dichtung  erschlossen  werden.  Die  französische  Literatur  ist  stolz 
auf  ihre  großen  Kanzelredner  (les  grands  orateurs  de  la  chaire);  sie  hat  die  großen 
Moralphilosophen  (les  moralistes),  sie  hat  aus  neuerer  Zeit  gute  Autoren,  die  über 
religiöse  Fragen  sprechen.  Da  ließe  sich  von  Bossuet  aus  dem  Discours  sur  l'histoire 
universelle,  aus  seinen  Oraisons  funebres,  von  La  Rochefoucauld  und  La  Bruyere, 
zumal  aus  des  letzteren  Caracteres,  von  Chateaubriand  (G^nie  du  christianisme;  Atala), 
von  Lamartine,  aus  dessen  Oden,  von  Frangois  Copp^e  aus  dessen  „Rettendes  Leiden" 
u.  a.  vieles  gar  schön  verwerten.  Aus  dem  Englischen  eignen  sich  manche  Partien  aus 
Shakespeare,  aus  Milton  u.  a.  vorzüglich  für  ein  religiöses  Lesebuch;  vor  allem  sollte 
hier  Walter  Scotts  herrliches  Marialied  (Hymn  to  the  Virgin  in  the  Lady  of  the  Lake 
XXIX)  nicht  fehlen.  An  vielen  Realanstalten  ist  Gelegenheit  Spanisch  oder  Italienisch 
zu  lernen.  Das  katholische  Bekenntnis  der  meisten  Schriftsteller  dieser  Sprachen 
läßt  eine  Benutzung  ihrer  Werke  gerade  für  den  Religionsunterricht  äußerst 
fruchtbar  erscheinen.  Die  Werke  Calderons  und  der  h.  Theresia  bieten  große  Aus- 
wahl; im  Italienischen  ist  Dante  geradezu  unerschöpflich.  Seine  Auffassung  von 
Himmel,  Hölle  und  Fegefeuer,  seine  Charakterisierung  der  „Schwachheits-"  und 
„ Bosheitssünden "  und  ihrer  entsprechenden  Strafen,  seine  Auffassung  vom  Schicksal 
der  Ungetauften  und  Heiden  (Inf.  IV.)  ließe  sich  vorzüglich  im  Religionsunterricht  ver- 
wenden; warum  sollte  nicht  in  ein  solches  „Lesebuch"  etwa  die  berühmte  Überschrift 
über  dem  Höllentor  (Inf.  III),  die  schöne  Paraphrase  des  Vater-Unser  (Parad.  IX)  oder 
der  gehaltreichste  aller  Gesänge  aus  der  göttlichen  Kommödie,  der  33.  Paradies- 
gesang über  die  Gottanschauung,  gegeben  werden  können  I  Zahlreiche  Beispiele 
bieten  sich  noch  allenthalben  in  den  genannten,  wie  in  anderen  Literaturen.  Diese 
Leistungen  gehören  zudem  großenteils  zur  Weltliteratur,  und  ihre  Verwertung 
im  Religionsunterrichte  würde  die  Art  und  den  Wert  desselben  wie  auch  die  Kon- 
zentration des  Lehrstoffes  bedeutend  fördern.  Eine  eigene  Frage  wäre,  ob  die 
gewünschten  Partien  im  Originaltexte  oder  in  Übersetzung  gegeben  werden  sollten. 
Referent  befürwortet  die  Wiedergabe  im  Originaltexte;  das  regt  Lehrer  wie  Schüler 
gleicherweise  zum  Studium  der  neusprachlichen  Literatur  an  und  bietet  Anregung 
und  Genuß,  wie  die  beste  Übersetzung  es  nicht  zu  geben  vermag.  (Vgl.  des 
Verfassers  Ausführung  über  das  Lehrbuch  in  der  Abhandlung  über  den  katholischen 
Religionsunterricht  in  Teubners  Handbuch  für  Lehrer  höherer  Schulen  1905,  I, 
S.  165,  166.) 

2.  Deimels  „Biblisches  Lehr-  und  Lesebuch  der  Geschichte  der 
göttlichen  Offenbarung  des  Alten  Bundes  wurde  Monatschrift  1907,  S.  185, 
186  besprochen.  Das  vorliegende  Büchlein  über  das  Neue  Testament  enthält 
im  ersten  Teile,  im  „Lehrbuch",  die  Geschichte  der  göttlichen  Offenbarung  des 
Neuen  Bundes  mit  den  Worten  der  Bibel.  Jeder  einzelnen  Lektion  geht  aber  eine 
kurze  Erklärung  voraus,  die  die  jeweilige  Verbindung  mit  dem  Alten  Testamente 
wie  mit  den  vorhergehenden  Ausführungen  und  auch  die  nötigsten  geschichtlichen 
und  geographischen  Anweisungen  gibt.  Bis  S.  146  zur  „Verherrlichung  Christi" 
läßt  der  Verfasser  hauptsächlich  die  biblischen  Berichte  selbst  sprechen;  die  weiteren 
Ausführungen  über  »die  Kirche  Christi"  geben  die  entsprechenden  Berichte 
größtenteils  im  Auszuge.    (S.  158—168.)    Das  „Lesebuch"  enthält  „Biblische  Geo» 


H.  Ziemer,  Neuere  Schulausgaben  der  lateinischen  Klassiker  und  Beiwerk.          33 

graphie-,  (S.  170-184)  und  „Biblisch-petristische  Chrestomathie"  (S.  185—200). 
Eine  Anzahl  meist  guter  Illustrationen  erhöht  die  Anschaulichkeit  des  Lehr-  und 
Lesebuches;  zwei  Karten  sind  dem  Buche  vorausgeschickt. 

Deimels  Buch  zeugt  von  emsiger  Arbeit,  regem  pädagogischen  Eifer  und  be- 
kundet große  Liebe  zu  Amt  und  Schule.  Der  „Verein  katholischer  Religionslehrer 
an  den  Mittelschulen  Österreichs*  darf  mit  den  bisherigen  Erzeugnissen  wohl  zu- 
frieden sein.  Wenn  Referent  in  manchen  Punkten  anderen  Prinzipien  folgt,  ver- 
mag er  doch  den  einheitlichen  und  energischen  Arbeiten  der  österreichischen 
Religionslehrer,  wie  auch  den  vorzüglichen  Einzelleistungen  der  Verfasser,  seine 
Anerkennung  nicht  zu  versagen. 

Eschweiler.  Wilhelm  Capitaine. 


Neuere  Schulausgaben  der  lateinischen  Klassiker  und  Beiwerk. 

Die  Lebensfähigkeit  der  von  M.  Haupt  und  H.  Sauppe  begründeten  und  von 
Gelehrten  ihrer  Zeit  hergestellten  Sammlung  erweist  sich  immer  aufs  neue  in  den 
vielfachen,  mit  den  Fortschritten  der  Wissenschaft  im  Einklang  sich  haltenden 
Auflagen,  Manche  Schriften  dieser  Sammlung  haben  im  Laufe  der  Jahrzehnte 
wohl  ein  Dutzend  Auflagen  erlebt  und  sind  ganzen  Geschlechtern  segensreich  ge- 
wesen, allerdings  mehr  Studierenden  und  Lehrern,  als  Schülern.  Man  sollte  die 
Herausgeber  nicht  deswegen  tadeln,  daß  sie  in  diesen  Ausgaben  auch  der  Schul- 
schriftsteller weniger  das  Bedürfnis  des  Schülers  im  Auge  haben.  Höchstens  denken 
sie  an  reifere  Schüler.  Eigentlicher  Schülerausgaben  gibt  es  sonst  genug.  So  tut 
denn  der  Weidmannsche  Verlag  recht  daran,  daß  er  den  Herausgebern  freie  Hand 
läßt,  und  diese  tun,  wie  es  der  Erfolg  lehrt,  recht  daran,  ihre  Ausgaben  auf  einer 
das  Gymnasium  überragenden  Höhe  zu  halten.  Dieser  Sammlung  gehören  nun 
zwei  der  hier  folgenden  Schriften  an:  die  Ausgabe  von  Ciceros  Brutus  und  von 
Horaz'  Episteln. 

Zu  Cicero.  Otto  Jahns  wohlbekannte  und  geschätzte  Ausgabe  des  Brutus 
war  in  4.  Auflage  völlig  vergriffen.  Auf  Wunsch  des  Weidmannschen  Verlages 
übernahm  die  Bearbeitung  der  5.  Auflage  W.  Kroll,  der  ursprünglich  nur  Jahns 
Ausgabe  des  Orator  zu  bearbeiten  gedachte.  Mit  ihren  236  Seiten  (Preis  3  M.) 
ist  sie  umfangreicher  als  die  vierte  geworden,  obwohl  sich  Kroll  auf  eine  gründ- 
liche Durchsicht  beschränkte  und  in  erster  Reihe  Verfehltes  beseitigte,  daneben 
aber  die  Erklärung  besonders  nach  der  rhetorischen  und  sprachlichen  Seite  er- 
gänzte und  darauf  verzichtete,  auf  dem  Gebiete  der  Textkritik  Lorbeem  zu  pflücken. 
Im  Kommentare,  der  den  Text  an  Umfang  weit  übertrifft,  begegnen  wir  kurzen 
Inhaltsüberschriften  und  neben  gelehrten  sprachlichen  Erklärungen  auch  manchem, 
was  ein  Primaner  von  Rechts  wegen  wissen  sollte.  Kroll  scheint  also,  obwohl 
weder  im  Titel  noch  im  Vorwort  davon  die  Rede  ist,  anzunehmen,  daß  auch  ein 
Primaner  diese  Ausgabe  benutzen  könnte.  Dem  widerspricht  aber  die  Fassung 
der  Einleitung  und  die  ganze  Haltung  des  Kommentars.  In  der  Tat  wird  kein 
Schüler  zu  dieser  Ausgabe  greifen,  um  so  weniger,  als  ja  zum  Gebrauche  in  der 
Prima  vortreffliche  Auswahlen  aus  allen   rhetorischen  Schriften  Ciceros  vorliegen: 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  3 


34  H.  Ziemer, 

SO  die  von  O.  Weißenfels,  W.  Reeb,  P.  Verres  und  R.  Thiele.  Will  man  dem 
Schüler  ein  Bild  der  römischen  Beredsamkeit  geben,  wie  sie  in  Ciceros  Geiste 
sich  spiegelte,  grundlegend  in  der  Theorie  in  De  oratore,  geschichtlich  betrachtet 
im  Brutus,  der  Selbstverteidigung  Ciceros,  ästhetisch  in  den  idealen  Zielen  ge- 
würdigt im  Orator,  so  wird  man  doch  niemals  diese  Schriften  auf  der  Schule  ganz 
lesen  können  oder  wollen,  am  ehesten  noch  De  oratore,  dessen  Bücher  sowohl  um 
des  Gegenstandes  willen  als  durch  den  Reichtum  des  Inhalts,  auch  durch  Dar- 
stellung und  Sprache  nicht  bloß  die  übrigen  rhetorischen  Schriften  Ciceros  über- 
ragen, sondern  auch  unter  allen  lateinischen  Prosaschriften  in  dieser  Beziehung 
ihres  Gleichen  nicht  haben.  Vom  Brutus  wird  man  gut  tun  nur  die  Partien  zu 
lesen,  die  gleichsam  die  Nutzanwendung  aus  den  De  oratore  festgestellten  Regeln 
ziehen.  Noch  weniger  kommt  der  Orator  in  Betracht,  dessen  zweiter  Teil  von 
§  134  an  überhaupt  auszuschließen  ist.  Aber  für  alle  Philologen,  die  sich  auf 
der  Universität  und  in  der  Praxis  weiter  bilden  wollen,  ist  das  Studium  des  Brutus 
unerläßlich  wegen  seines  reichen  literaturgeschichtlichen  Inhalts,  der  treffenden 
Charakteristik  der  hier  behandelten  Redner  und  in  formeller  Hinsicht  wegen  der 
vorzüglichen  Komposition  und  Sprache.  Wir  haben  sogar  schon  öfters  der  Mei- 
nung Ausdruck  gegeben,  daß  diese  rhetorische  Prosa  Ciceros  in  mancher  Be- 
ziehung der  philosophischen  noch  vorzuziehen  ist.  Und  für  junge  Philologen  ist 
die  neue  Krollsche  Ausgabe,  welche  die  verdienstvolle  Arbeit  Otto  Jahns  zeit- 
gemäß umgestaltet,  als  sehr  brauchbares  Buch  zu  empfehlen. 

Zu  Ovid.  Eine  neue  Ausgabe  für  den  Schulgebrauch  von  Ovids  Fasti, 
Tristia,  Epistulae  ex  Ponto  in  Auswahl,  mit  knappen  Erläuterungen  ver- 
sehen, hat  der  Leipziger  Paul  Brandt  im  Verlage  der  Dieterichschen  Buch- 
handlung (Th.  Weicher)  in  Leipzig  (1908,  VIII  u.  148  S.,  geb.  1,80  M.)  ver- 
anstaltet. Er  beklagt  die  Teilnahmlosigkeit  der  Untersekundaner  bei  der  Lektüre 
der  Fasten  und  Tristien,  derselben  Schüler,  die  in  der  Olli  die  Metamorphosen 
gern  und  mit  Verständnis  lasen.  Er  findet  den  Grund  für  dieses  mangelnde 
Interesse  in  dem  Fehlen  eines  Kommentars  zu  diesen  Partien,  in  dem  Fehlen 
einer  passenden,  für  Schüler  berechneten  Ausgabe.  Eine  solche,  die  in  den 
Schulen  einzuführen  sei,  die  bisher  den  bloßen  Text  benutzten,  legt  Brandt  nun 
vor.  Gibt  es  aber  wirklich  keine  passenden  Ausgaben?  Wir  könnten  mehrere 
nennen,  so  die  auch  bei  uns  sehr  brauchbare  Ausgabe  des  Wiener  Philologen 
J.  GoUing,  Ovid-Auswahl,  die  schon  viele  Auflagen  erlebt  hat  und  von  uns  als 
für  unsere  norddeutschen  Anstalten  vorzüglich  geeignet  mehrfach  empfohlen 
worden  ist.  Sie  hat  in  Österreich  solchen  Beifall  gefunden,  daß  z.  B.  die  im 
Kommentare  enthaltenen  Bemerkungen  „Über  einige  Eigentümlichkeiten  der  lateini- 
schen Dichtersprache "  in  der  neuen  Ausgabe  der  österreichischen  „Instruktionen" 
einer  empfehlenden  Bemerkung  gewürdigt  wurden.  Hier  ist  die  Auswahl  aus 
Ovids  sämtlichen  Schriften  so  umfangreich,  daß  der  Lehrer  noch  die  Freiheit  der 
Wahl  hat.  Ferner  nennen  wir  den  II.  Teil  der  Ovid-Auswahl  von  A.  Tegge 
(Berlin,  Weidmann).  Sie  bringt  aus  den  Fasten  des  Ovid,  diesem  für  das  religiöse 
und  politische  wie  für  das  Volksleben  der  Römer  einzigen  Werke,  die  in  den 
österreichischen  „Instruktionen"  empfohlenen  Stücke,  aus  den  übrigen  elegischen 
Dichtungen  Ovids   diejenigen  Partien,   welche  in    den  Chrestomathien  ständig  zu 


Neuere  Schulausgaben  der  lateinischen  Klassiker  und  Beiwerk.  35 

finden  sind,  daneben  einen  sehr  sorgfältig  gearbeiteten  Kommentar,  der  wie  die 
Einleitungen  zu  den  einzelnen  Abschnitten  alles  irgendwie  Wissenswerte  enthält. 
Unter  den  Chrestomathien  nenne  ich  nur  den  vierten  Teil  der  Ausgabe  von 
K.  Jacoby  mit  gut  ausgewählten  Stücken  aus  den  elegischen  Dichtungen  Ovids 
mit  Erklärungen,  Ferd.  Hoffmanns  Auswahl  aus  römischen  Dichtern  in  zwei  Teilen 
mit  drei  Stücken  aus  den  Tristien,  neun  aus  den  Fasten,  endlich  die  Chresto- 
mathien von  A.  Biese,  Römische  Elegiker  für  den  Schulgebrauch  erklärt,  und  von 
K.  P.  Schulze;  hier  fehlen  allerdings  die  Fasten.  Alle  diese  Ausgaben  sind  für 
den  Schüler  berechnet;   Brandt  nennt  sie  nicht,   sondern  nur  die  Ausgabe  Peters. 

Sonach  ist  für  Brandts  neue  Ausgabe  im  Grunde  kein  Bedürfnis  vorhanden. 
Sie  enthält  aber  vielleicht  manches,  das  als  ein  eigentümlicher  Vorzug  ihr  eigen 
ist.  Auch  das  ist  kaum  zuzugestehen:  die  Stücke,  28  Abschnitte  aus  den  Fasten  — 
Aus  der  griechisch-römischen  Sage,  aus  der  römischen  Geschichte,  aus  dem  römi- 
schen Kultus  —  bieten  zu  viel  Lesestoff,  und  dasselbe  muß  von  den  33  Stücken 
aus  den  Tristien  und  Pontusbriefen  gesagt  werden,  dagegen  ist  der  Kommentar 
in  Fußnoten  viel  zu  knapp  und  dürftig  zugeschnitten,  wenige  Übersetzungshilfen, 
vereinzelte  sachliche  Bemerkungen  und  nur  selten  in  ein  paar  Worten  eine  Ein- 
leitung zu  den  einzelnen  Gedichten  —  alles  das  reicht  nicht  aus,  dem  Schüler 
die  Lektüre  zu  erleichtern,  ihm  einen  tieferen  Einblick  in  die  Kulturgeschichte 
der  ewigen  Stadt  und  in  die  Mythologie  zu  verschaffen.  Selbst  der  Zweck,  den 
Brandt  allein  im  Auge  hat,  dem  Schüler  die  häusliche  Präparation  zu  erleichtern, 
wird  nicht  voll  erreicht.  Somit  bleibt  dem  Lehrer  zuviel,  ja  fast  alles  überlassen, 
und  die  Lektüre  kann  nicht  schnell  fortschreiten.  Wir  glauben  also,  daß  der 
Zweck  dieser  Ausgabe,  die  an  sich  kein  Bedürfnis  war,  verfehlt  worden  ist. 

Zu  Virgil.  Den  V.  und  VI.  Gesang  von  Virgils  Äneide  hat  Ludwig 
Hertel  in  deutsche  Strophen  übertragen  (Arnstadt,  Gimmerthalsche  Buchhandlung, 
1908,  122  S.,  1,50  M.).  Um  die  Gedankenwelt,  die  hier  und  da  modern  anmutet, 
und  den  Gestaltenreichtum  des  römischen  Epikers  dem  heutigen  Leser  nahe  zu 
bringen,  wählt  Hertel  die  durchaus  passende  gereimte  Schillersche  Stanze.  Er  hat 
aber  keine  Übersetzung,  sondern  eine  ganz  freie  Übertragung,  mehr  eine  Nach- 
dichtung geschaffen.  Die  gute  und  gewandte  Formgebung,  die  edle  und  würdige 
Diktion  verrät  Hertels  Talent,  aber  sie  fließt  in  zu  breitem  und  flachem  Bett  da- 
hin. Die  Übersetzer  dieser  Art  stehen  dem  antiken  Muster  gegenüber  vor  der 
Alternative,  entweder  die  antike  Kürze  durch  zu  engen  Anschluß  an  das  Original 
nachzuahmen  und  so  undeutlich  zu  werden,  oder  im  anderen  Falle  durch  Breite, 
Dehnung  und  Weitung  der  Vorlage  sich  von  ihr  zu  verlieren  und  die  markige 
Prägnanz  zu  verwässern.  Letzterer  Gefahr  ist  Hertel  nicht  ganz  entgangen:  die 
edle  Gedrungenheit  und  kunstvolle  Plastik  des  Originals  geht  nur  zu  oft  in  der 
allzu  glatt  und  breit  dahinfließenden  Diktion  verloren.  So  gebraucht  er  für  An.  VI, 
645—655  volle  28  Zeilen,  die  sich  zwar  sehr  schön  lesen,  aber  durch  Breitspinnen 
des  Stoffes  vom  Muster  sich  zu  weit  entfernen.  Will  Hertel  die  Arbeit  fortsetzen, 
die  sonst  nahe  an  Schillers  Übertragungskunst  heranreicht,  so  möchten  wir  ihm 
doch  empfehlen,  kürzere  Fassung  anzustreben.  Eine  solche  findet  er  bei  E.  Irm- 
scher,  der  in  den  Programmen  der  Zeidlerschen  Realschule  in  Dresden  1888  und 
folgende  Jahre  die  einzelnen  Bücher  der  Äneis  gleichfalls  in  freien  Stanzen  leicht 


36         H.  Ziemer,  Neuere  Schulausgaben  der  lateinischen  Klassiker  und  Beiwerk. 

und  glatt  und  mit  wachsender  Kraft  von  Jahr  zu  Jahr  und  von  Gesang  zu  Gesang 
lesbarer  und  geschmackvoller  übertragen  hat,  wenngleich  man  auch  bei  ihm  ge- 
legentlich  zu  viel  Pathos  und   manche  subjektive  Freiheit   in  Kauf  nehmen  muß. 

Zu  Horaz.  Q.  Horatius  Flaccus.  Erklärt  von  Adolf  Kießling. 
Dritter  Teil:  Briefe.  Dritte  Auflage  besorgt  von  Richard  Heinze  (Berlin, 
Weidmannsche  Buchhandlung,  1908,  363  S.,  3,60  M.).  Kießlings  Ausgabe  der 
Briefe  erschien  zuerst  1889;  die  folgende  Auflage  besorgte  R.  Heinze  im  Jahre 
1898;  nun  ist  ihr  zehn  Jahre  später  die  3.  Auflage  gefolgt.  Heinzes  Zusätze  in 
der  2.  Auflage  vermehrten  das  Buch  um  18  Seiten ;  er  verhielt  sich  hier  noch 
möglichst  schonend  und  zurückhaltend,  sonst  hätte  er  manche  keck  hingeworfene 
und  geistreiche,  aber  nicht  gerade  haltbare  Bemerkung  Kießlings  wohl  geopfert. 
Den  Text  behandelte  er  schon  damals  wie  auch  nun  in  der  3.  Auflage  freier;  aber 
in  dieser  neuesten  Bearbeitung  weicht  er  doch,  so  sehr  er  in  allem  Grundsätz- 
lichen mit  Kießling  in  Übereinstimmung  sich  befindet,  in  Einzeldingen  so  weit 
ab  und  bringt  so  viel  neue  Zusätze  im  Kommentar,  daß  diese  neue  Auflage  gegen 
die  zweite  um  volle  51  Seiten  gewachsen  ist.  Fast  jede  Seite  verrät  diesen  Zu- 
wachs; so  ist  die  Einleitung  zu  Ep.  I,  1  von  54  auf  68  Zeilen  gewachsen.  Manche 
Bemerkung  ist  fallen  gelassen,  manches  erscheint  in  geänderter  Fassung,  sei  es, 
daß  Heinze  selbst  anderen  Sinnes  wurde,  sei  es,  daß  die  Forschung  in  der  zehn- 
jährigen Zwischenzeit  andere  Einsicht  schuf.  Dem  Lehrer  wird  der  gelehrte,  auf 
der  Höhe  der  Wissenschaft  einherschreitende  Kommentar  gute  Dienste  leisten. 
Er  zeigt  aber  auch,  daß  trotz  der  ungeheuren  Ausdehnung  der  Horazliteratur 
gerade  für  die  Episteln  noch  manches  zu  tun  übrig  bleibt. 

Zu  Cäsar.  Raimund  Oehlers  Bilder-Atlas  zu  Cäsars  Büchern  de 
hello  Gallico,  unter  eingehender  Berücksichtigung  der  commentarii  de  hello 
civili  mit  mehr  als  100  Abbildungen  und  11  Karten  ist  in  zweiter  verbesserter 
und  vermehrter  Auflage  erschienen  (Leipzig,  Schmidt  und  Günther,  1907,  VIII  u. 
91  S.  Text,  XXXVIII  S.  Karten,  brosch.  2,85  M.,  geb.  4  M.).  Nachdem  11  Jahre 
seit  der  1.  Auflage  des  Bilderatlas  verflossen  waren,  eine  Zeit  der  wichtigsten 
Entdeckungen  auf  dem  Gebiete  der  Cäsarforschung,  war  der  Verfasser  gewissen- 
haft bemüht,  die  Ergebnisse  für  die  Schule  nutzbar  zu  machen,  und  so  ist  denn 
der  Text,  die  Darstellung  des  römischen  Kriegswesens  bei  Cäsar  (Heer  und  Flotte, 
als  Anhang  Tracht  und  Bewaffnung  der  Gallier,  dann  die  Erklärung  der  Ab- 
bildungen) gegen  die  1.  Auflage  um  13  Seiten  gewachsen;  die  Abbildungen 
wurden  um  20,  die  Karten  um  4  vermehrt.  Wahriich,  eine  Fülle  des  Anschauungs- 
materials und  doch  eine  maßvolle  Auswahl,  die  so  recht  dem  Schulzweck  dient, 
aber  auch  dem  Lehrer  und  Fachmann  noch  lehrreich  ist.  Jede  Seite  des  Textes 
lehrt,  daß  die  schier  unübersehbaren  Ergebnisse  der  Cäsarforschung,  ein  gewaltiger 
Stoff,  in  tadelloser  Form  zu  einem  einheitlichen,  übersichtlichen  Bilde  verarbeitet 
worden  sind,  alles  in  allem  eine  wissenschaftlich  gesicherte,  mustergültige  Dar- 
stellung. Eins  ist  bemerkenswert:  Verfasser  zeigt  S.  65,  daß  die  Literatur  über 
Cäsars  Rheinbrücke  im  Verhältnis  zu  ihrem  gewaltigen  Umfange  bisher  nur  sehr 
wenig  gesicherte  Ergebnisse  aufzuweisen  hat.  Besonders  eingehend  sind  die 
Karten  Helvetiorum  clades,  nach  ihrem  ganzen  Veriaufe,  und  Ariovisti  clades  er- 
klärt worden.    Und  noch  etwas  ist  interessant:  principes,  hastati  und  triarii  werden 


W.  Scheel,  Heer-,  Flotten-  und  Kolonialliteratur  für  die  Schule.  37 

nicht  übel  mit  unseren  Füsilieren,  Musketieren,  Grenadieren  verglichen.  Wurde 
schon  die  erste  Auflage  mit  warmer  Anerkennung  der  Leistung  begrüßt  und  fand 
sie  wohl  in  die  meisten  höheren  Schulen  wenigstens  in  einem  Exemplare  Ein- 
gang, so  verdient  es  noch  mehr  diese  neue  Bearbeitung,  welche  sicherlich  eine 
Reihe  von  Jahren  vorhalten  wird,  wie  sehr  man  es  auch  wünschen  muß,  daß  ein 
so  vortreffliches  Werk  im  Einklang  mit  dem  Fortschritt  der  Wissenschaft  sich  von 
Zeit  zu  Zeit  verjüngt. 

Kolberg.  H.  Ziemer. 


Heer-,  Flotten-  und  Kolonialliteratur  für  die  Schule. 

Je  zahlreicher  die  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Heeres-,  Flotten-  und 
Kolonialliteratur  werden,  um  so  mehr  ist  es  geboten,  für  die  Schule  und  die  Bedürf- 
nisse ihrer  Bibliotheken  Passendes  vom  Unpassenden  zu  scheiden.  Ich  versuche 
im  folgenden  eine  Zusammenstellung  von  Werken  zu  geben,  die  ich  als  empfehlens- 
werten Bestand  von  Schulbibliotheken  bezeichnen  kann.*) 

Entsprechend  dem  Interesse,  das  unsere  Kolonien  in  weitesten  Kreisen  des 
Volkes  und  nicht  zuletzt  im  Herzen  unserer  Jugend  erwecken,  sind  die  kolonialen 
Werke  am  zahlreichsten  vertreten.  Seitdem  auf  der  Königsberger  Tagung  der 
Deutschen  Kolonialgesellschaft  von  1906  der  Gedanke  von  neuem  Ausdruck  ge- 
funden hatte,  koloniales  Interesse  in  die  Schule  zu  tragen,  sind  nicht  weniger  als 
drei  koloniale  Lesebücher  erschienen.  Das  erste  hat  den  Referenten  selbst  zum 
Verfasser;  es  entzieht  sich  daher  hier  näherer  Besprechung.**)  Bald  darauf  gab  die 
Deutsche  Kolonialgesellschaft  Bilder  aus  den  deutschen  Kolonien  heraus;***) 
die  kurzen,  wohl  für  Mittelklassen  berechneten  Abschnitte  geben  etwa  in  der  Art, 
wie  A.  Seidels  Koloniales  Lesebuch  1902  eine  Zusammenstellung  belehrender, 
bildender  und  auch  unterhaltender  Stoffe  aus  unseren  Kolonien  in  reicher  Fülle. 
Die  einzelnen  Kapitel  sind  z.  T.  recht  energisch  umgearbeitet,  und  mit  Recht. 
Denn  nur  auf  diesem  Wege  konnte  bei  dem  ungleichartigen  Material,  das  aus 
fachwissenschaftlichen  Werken  ersten  Ranges  und  daneben  aus  Tageszeitungen  und 
Missionsblättern  schöpft,  wenigstens  eine  gewisse  Harmonie  erreicht  werden.  Leider 
fehlt  jeglicher  Bilderschmuck. 

Noch  ein  drittes  Werk  bezeichnet  sich  als  Koloniales  Lesebuch;  doch  unter- 
scheidet sich  dies  Buch  des  Generals  v.  Lignit zf)  insofern  von  den  vorigen, 
als   es  keine  Sammlung  von  kolonialen  Lesestücken  bietet,  sondern  einen  selb- 


*)  Vgl.  diese  Monatschrift,  Bd.  VI  (1907),  S.  186—189. 

**)  W.  Scheel,  Deutsche  Kolonien.  Koloniales  Lesebuch  zur  Einführung  in  die 
Kenntnis  von  Deutschlands  Kolonien  und  ihrer  Bedeutung  für  das  Mutterland.  Berlin  1907. 
C.  A.  Schwetschke  u.  Sohn.    VIII  u.  226  S.    8».    geh.  2,80  M. 

***)  Bilder  aus  den  deutschen  Kolonien.  Lesestücke  gesammelt  und  bearbeitet  von  der 
Deutschen  Kolonialgesellschaft.    Essen  1908.    G.  D.  Baedeker.    187  S.    8».    geb.  1  M. 

t)  v.  Lignitz,  General  d.  Inf.  z.  D.,  Chef  des  Füsilier-Regiments  v.  Steinmetz,  Die 
deutschen  Kolonien,  ein  Teil  des  deutschen  Vaterlandes.  Koloniales  Lesebuch  für  Schule 
und  Haus.    Berlin  1908.    Vossische  Buchhandlung.    148  S.    8«.    geh.  2,50  M. 


äg  W.  Scheel, 

ständigen  Text  zeigt,  der  auf  guten,  auch  amtlichen  Quellen  beruhend,  einen  höchst 
instruktiven  Überblick  über  die  Kolonien  gewährt.  Der  Verfasser,  der  auch  sonst 
als  Kolonialschriftsteller  in  seinem  Buche  „Produktion,  Handel  und  Besiedelungs- 
fähigkeit  der  deutschen  Kolonien"  (Berlin  1908)  vorteilhaft  hervortrat,  gibt  be- 
sonders nach  der  wirtschaftlichen  und  politischen  Seite  hin  interessante  Zusammen- 
stellungen, die  durch  Anlagen,  Karten  und  zahlreiche  Abbildungen  Leben  gewinnen. 
Rühmend  zu  erwähnen  ist  auch  der  übersichtliche  Geschichtskalender  der  deutschen 
Kolonien. 

Ähnlich  ist  das  Büchlein  von  Schnee*)  angelegt,  das  ebenfalls  auf  amtlichem 
Material  fußend,  in  gefälliger  Darstellung  eine  gediegene  Übersicht  über  unsere 
Kolonien  nach  geographischer,  wie  handelspolitischer  Richtung  für  ein  größeres 
Publikum  bietet,  die  auch  für  Schulen  empfohlen  werden  kann. 

Die  Geschichte  der  Kolonien  und  der  Kolonisation  überhaupt  hat  in  Dietrich 
Schäfer  den  berufensten  Vertreter  gefunden,  der  seine  „Kolonialgeschichte"**) 
in  der  Sammlung  Göschen  156  in  zweiter  Auflage  revidiert  und  bis  auf  die  Gegen- 
wart fortgeführt  hat.  So  klein  das  Büchlein  ist,  so  umfassende  Blicke  bietet  es 
in  die  Geschichte  der  inneren  wie  äußeren  Kolonisation  seit  den  ältesten  Zeiten. 
Die  Schule  kann  es  nur  mit  Freude  und  Genugtuung  begrüßen,  wenn  fachwissen- 
schaftliche Größen  mehr  und  mehr  beginnen,  die  Früchte  ihrer  Forschung  auch 
weiteren  Kreisen,  besonders  dem  nachwachsenden  Geschlecht  mitzuteilen. 

Neben  den  allgemeineren  Übersichten  stehen  Veröffentlichungen  über  einzelne 
deutsche  Kolonien.  Im  Vordergrund  des  Interesses  steht  auch  hier  die  Unterdrückung 
des  großen  Aufstandes  in  Deutsch-Südwest-Afrika.  Das  bereits  im  VI.  Jahrgang 
(S.  187)  rühmlichst  genannte  Generalstabswerk  über  die  Kämpfe  unserer 
Truppen***)  ist  nunmehr  vollendet.  Der  vorliegende  zweite  Band  behandelt  den 
an  den  Hereroaufstand  anschließenden  Hottentottenkrieg,  die  schwierigen  und 
blutigen  Kämpfe  gegen  Hendrik  Witboi  und  Morenga.  Erhalten  wir  hiermit  eine 
Darstellung,  die  streng  kriegswissenschaftliche  Form  mit  gefälliger  Popularität  ver- 
eint, so  stellen  sich  die  Reiterbriefe f)  aus  Südwest  als  zwangslose  Berichte  von 
Selbsterlebnissen  dar,  die  im  ganzen  mehr  für  Soldatenbibliotheken  passen  dürften, 
doch  durch  die  ehrliche  Begeisterung  für  die  Sache  vielleicht  auch  unsere  Schüler 
mitreißen  können.    Die  Abbildungen  stehen  nicht  auf  der  Höhe. 

Mit  den  Verhältnissen  von  Deutsch-Südwest  beschäftigen  sich  drei  lesenswerte 
Aufsätze   von  Margarete  von  Eckenbrecher,  Helene  von  Falkenhausen  und  Ober- 


*)  Heinr.  Schnee,  Wirkl.  Legationsrat  u.  vortr.  Rat  im  Reichskolonialamt,  Unsere 
Kolonien.  „Wissenschaft  und  Bildung."  Einzeldarstellungen  aus  allen  Gebieten  des  Wissens, 
herausgegeben  von  P.  Herre.  Nr.  57.  Leipzig  1908.  Quelle  u.  Meyer.  188  S.  8».  geb. 
1,25  M. 

**)  Dietr.  Schäfer,  Kolonialgeschichte.  Leipzig  1906.  Göschen.  Nr.  156.  151  S. 
kl.  8«.    geb.  0,80  M. 

***)  Die  Kämpfe  der  deutschen  Truppen  in  Südwestafrika.  Auf  Grund  amtlichen  Ma- 
terials bearbeitet  von  der  Kriegsgeschichtlichen  Abteilung  I  des  Großen  Generalstabes. 
2.  Band:  Der  Hottentottenkrieg.  Berlin  1907.  E.  S.  Mittler  u.  Sohn.  349  S.  8».  geb.  2,25  M. 
t)  Deutsche  Reiter  in  Südwest.  Selbsterlebnisse  aus  den  Kämpfen  in  Deutsch-Süd- 
westafrika. Nach  persönlichen  Berichten  bearbeitet  von  Fr.  Freiherrn  von  Dincklage- 
Campe.    Beriin  1908.   Bong  &  Co.   20  Lieferungen  ä  0,60  M.    Mir  lag  Lieferung  1—9  vor. 


Heer-,  Flotten-,  und  Kolonialliteratur  für  die  Schule.  39 

leutnant  Stuhlmann  im  fünften  Bande  des  bekannten  Werkes  „Auf  weiter  Fahrt"*), 
der  auch  als  ganzes  durch  Ton  und  Art  seiner  Darbietungen  wie  seine  Vorgänger 
zu   dem   eisernen    Bestand  jeder  Klassenbibliothek  der  Mittelstufe  gehören  sollte. 

Nach  Deutsch-Ostafrika  führt  uns  neben  anderen  Werken  die  frische,  reizvoll 
geschriebene  Schilderung  des  Oberleutnants  Hans  Paasche  ,Im  Morgenlicht",**) 
eine  Art  Tagebuch  aus  den  Aufstandszeiten  von  1905,  das  in  gefälliger  Weise 
Jagdabenteuer  mit  mannigfachen  kulturhistorisch,  wie  völkerpsychologisch  wichtigen 
Bemerkungen  zu  verquicken  weiß.  Es  ist  als  Lektüre  für  Schüler,  auch  schon  der 
Mittelstufe  warm  zu  empfehlen.  Wer  bereits  auf  der  Schule  intimere  Blicke  in  die 
Wichtigkeit  dieser  größten  deutschen  Kolonie  und  ihre  wirtschaftliche  Bedeutung 
tun  will,  müßte  allerdings  zu  dem  Werke  von  Hermann  Paasche,***)  dem 
Vizepräsidenten  des  deutschen  Reichstags  greifen,  das  hier  nur  erwähnt  werden  kann. 

Für  die  Flotte  und  die  Seeinteressen  des  Reiches  bildet  das  Kgl.  Institut 
für  Meereskunde  durch  seine  Veröffentlichungen  einen  literarischen  Mittelpunkt. 
Die  im  Vortragssaal  mit  Lichtbildern  gehaltenen  Vorträge  für  ein  größeres  Publikum 
erscheinen  als  zwanglose  Folge  von  kleinen  Heften  f),  die  die  Zierde  jeder 
Schulbibliothek  bilden  würden.  Um  einen  Begriff  von  der  Reichhaltigkeit  dieser 
Darbietungen  zu  geben,  setze  ich  einige  der  behandelten  Themen  hierher,  die  für 
Schüler  der  Oberklassen  besondere  Anregungen  bieten  dürften:  Konteradmiral 
Holzhauer  handelt  über  Unterseeboote,  Fr.  Bidlingmaier  über  den  Kompaß 
in  seiner  Bedeutung  für  die  Seeschiffahrt  wie  für  unser  Wissen  von  der  Erde, 
W.  Stahlberg  über  den  Betrieb  des  Hamburger  Hafens,  W.  Vogel  über  nordische 
Seefahrten  im  frühen  Mittelalter,  P.  Dinse  über  die  Anfänge  der  Nordpolarfor- 
schung, G.  W.  von  Zahn  über  den  Dienst  auf  der  Kommandobrücke  bei  einer 
Ozeanfahrt;  der  Historiker  der  Marine,  Geheimer  Admiralitätsrat  Koch,  dessen 
Geschichte  der  deutschen  Marine  ff)  bereits  in  2.  Auflage  vorliegt,  spricht  über 
40  Jahre  Schwarz-Weiß-Rot  u.  v.  a.  Mit  weiten  historischen  Ausblicken  behandelt 
von  Halleftt)  als  eine  Fortsetzung  der  Gedanken  des  Amerikaners  A.  G.  Mahan 
in  dem  Werke  über  den  Einfluß  der  Seemacht  auf  die  Geschichte  zwischen 
1688  und  1815,  der  noch  nichts  von  deutscher  Seegeschichte  zu  berichten  hatte, 
die  Frage  der  Seemacht  in  der  deutschen  Geschichte. 

Als  Lektüre  für  untere  und  mittlere  Klassen  eignen  sich  die  billigen  Bändchen 


*)  Auf  weiter  Fahrt.    Selbsterlebnisse  zu  Wasser  und  zu  Lande.    Deutsche  Marlne- 

und   Kolonialbibliothek,   begründet  von  J.  Lohmeyer,   fortgeführt  von  G.  Wislicenus. 

V.  Bd.    Leipzig  1907.    Wilhelm  Weicher.    XXIII,  298  S.  u.  28  Abbildgn.    8  •.  geb.  4,50  M. 

**)  Hans  Paasche,  Im  Morgenlicht.  Kriegs-,  Jagd- und  Reise-Erlebnisse  in  Ostafrika. 

3.  Aufl.    Berlin  1907.    C  A.  Schwetschke  u.  Sohn.    376  S.    8».    geh.  10  M, 

***)  Hermann  Paasche,    Deutsch-Ostafrika.    Wirtschaftlich  dargestellt.  Berlin  1906. 
C.  A.  Schwetschke  u.  Sohn.    IV  u.  430  S.    8».    geh.  8  M. 

t)  Meereskunde.  Sammlung  volkstümlicher  Vorträge  zum  Verständnis  der  nationalen 
Bedeutung  von  Meer  und  Seewesen.  Berlin,  E.  S.  Mittler  u.  Sohn.  1.  Jahrgang  1907, 
2.  Jahrgang  1908,  je  12  Hefte  ä  0,50  M.,  mit  zahlreichen  Abbildungen. 

tt)  Paul  Koch,  Geschichte  der  deutschen  Marine.  2.  Aufl.   Berlin  1906.  E.S.Mittler 
und  Sohn.    X  u.   169  S.    8«.    3  M. 

ttt)   E.  von   Halle,   Die   Seemacht   in    der   deutschen    Geschichte.      Leipzig   1907. 
G.  J.  Göschen.    No.  370.    0,80  M. 


40  Moral  Instruction  and  Training  in  Schools, 

der  deutschen  Seebücherei*),  deren  11.  Band  über  den  Prinzen  Adalbert  von 
Preußen  und  die  Begründung  der  neuen  deutschen  Flotte  mir  vorliegt.  Über  das 
Kriegsmarinewesen  unterrichtet  in  populärer  Weise  C.  Lengning,  Navigations- 
lehrer in  Hamburg**). 

Auch  auf  dem  Gebiete  der  Heeresgeschichte  sind  schließlich  einige  Werke  zu 
nennen,  die  für  die  Schule  in  Betracht  kommen  und  dem  Geschichtsunterricht 
auf  der  Oberstufe  gute  Dienste  zu  leisten  vermögen. 

Die  Lebensbeschreibung  Moltkes  von  Max  Jähns*^*)  liegt  in  zweiter  Auflage 
vor.  Sie  ist  von  dem  ehemaligen  Chef  des  Generalstabes  der  Armee,  dem  Grafen  von 
Schlieffen,  in  dem  Nachruf  auf  den  inzwischen  verstorbenen  Verfasser  eine  glänzend 
geschriebene  Biographie  genannt  worden  und  hat  ihren  Wert  für  die  Schule  beson- 
ders in  der  umfänglichen  Heranziehung  des  Brief-  und  Redenmaterials,  das  sonst 
dem  Primaner  leider  ferner  bleibt.  Derselbe  Grund  läßt  auch  die  Darstellung  des 
deutsch-französischen  Krieges  von  1870-71  von  Friedr.  Regensberg f)  für 
reifere  Schüler  als  lesenswert  bezeichnen.  Leichtere  Lektüre  aus  der  großen 
Zeit  sind  Chr.  Roggesff)  Franctireurfahrten. 

Steglitz.  Willy  Scheel. 


b)  Einzelbesprechungen: 

Moral  Instruction  and  Training  in  Schools.  Report  of  an  International  Inquiry. 
In  two  Volumes.  Vol.  I:  The  United  Kingdom,  Vol.  II:  Foreign  and  Colonial. 
Edited,  on  behalf  of  the  Committee,  by  Sadler,  M.  E.,  Professor  of  the  History 
and  Administration  of  Education  in  the  University  of  Manchester.  Longmans, 
Green,  and  Co.  London,  New  York,  Bombay,  and  Calcutta,  1908.  XLIX  u. 
538,  XXVII  u.  378  S.    8«. 

Papers  on  Moral  Instruction,  communicated  to  the  First  International  Moral 
Education  Congress,  held  at  the  University  of  London,  September  25. — 29,  1908. 
Edited  by  Spiller,  Gustav,  Hon.  General  Secretary  of  the  Congress.  Published 
for  the  Congress  Executive  Committee.  London,  David  Nutt,  1908.  XXX  und 
404  S.  gr.  80. 
Verwunderung   hat   es   bei  nicht  wenigen   erregt  und  mag  es  noch  weiterhin 

erregen,   welch   gewaltiger   literarischer  Apparat  aufgeboten  worden  ist,   um    eine 


*)  Deutsche  Seebücherei.  Erzählungen  aus  dem  Leben  des  deutschen  Volkes  zur 
See.  Für  Jugend  und  Volk  herausgegeben  von  J.  W.  Otto  Richter  (Otto  von  Golmen). 
1906  ff.    Altenburg,  St.  Geibel.    1  u.  2  M. 

**)  C.  Lengning,  Unser  Kriegsmarinewesen.  Mit  70  Illustrationen.  Stuttgart  o.  J. 
E.  H.  Moritz.    Bibliothek  der  Rechts-  und  Staatskunde.    Bd.  17.    geb.  1,50  M. 

***)  Oberstleutnant  Dr.  M.  Jahns,  Feldmarschall  Moltke.  2.  Auflage.  Berlin  1906. 
E.  Hofmann  &  Co.    715  S.    8».    geh.  7,20  M. 

t)  Friedr.  Regensberg,  1870—71.  Der  deutsch-französische  Krieg.  Nach  den 
neuesten  Quellen  dargestellt.  Bisher  2  Bände.  Stuttgart,  o.  J.  Franckhsche  Verlagsbuch- 
handlung, W.  Keller  &  Co.    7,50  M. 

tt)  Chr.  Rogge,  Franktireurfahrten  und  andere  Kriegserlebnisse  in  Frankreich.  Kultur- 
bilder aus  dem  Kriege  1870—71.  Berlin  1907.  C.  A.  Schwetschke  u.  Sohn.  162  S.  8». 
2,50  M. 


angez.  von  W.  Münch.  41 

einzelne  pädagogische  Frage  zu  erörtern,  nämlich  die  nach  Berechtigung  und  Ge- 
staltung eines  Moralunterrichts  in  den  Schulen.  Und  um  es  sogleich  zu  sagen, 
auch  der  internationale  Kongreß  selbst,  dem  die  zwei  erstgenannten  Bände  zur 
Vorbereitung  und  der  Inhalt  des  letzten  zur  Unterlage  für  seine  Verhandlungen 
dienten,  war  auf  gewaltige  Maße  berechnet  und  hat  sich  in  solchen  Maßen  wirk- 
lich abgespielt.  Es  waren  20—25  verschiedene  Nationen,  von  Portugal  bis  Japan 
und  von  Finnland  bis  Mexiko,  nicht  bloß  irgendwie  vertreten,  sondern  durch 
große  Teilnehmerzahlen  oder  durch  ausgezeichnete  Persönlichkeiten  (ich  nenne  als 
einziges  Beispiel  den  französischen  Philosophen  Boutroux)  oder  durch  beides  zu- 
sammen vertreten,  und  die  Gesamtzahl  muß  zwischen  1000  und  1600  betragen 
haben.  Aber  hinter  den  zu  den  Verhandlungen  persönlich  Erschienenen  standen 
außerdem  zahlreiche  und  großenteils  bedeutende  Namen  von  solchen,  die  sich 
für  die  Organisation  interessiert  oder  auch  schriftstellerische  Beiträge  geliefert 
hatten,  und  die  aufgeführten  Mitglieder  der  verschiedenen,  weiteren  und  engeren 
Ausschüsse  bilden  ganze  Heerscharen.  Dies  alles  also,  um  jene  einzige  Frage  zu 
lösen  oder  gar  nur  zu  erörtern,  die  vielleicht  eine  Lösung  von  allgemeinerer 
Gühigkeit  überhaupt  ausschließt?  War  nicht  vielleicht  das  tatsächliche  Ziel,  durch 
Ansturm  einer  überwältigenden  Stimmenmenge  dem  Moralunterricht  als  solchem 
mit  einem  Male  den  Raum  in  den  Schullehrplänen  der  Welt  zu  erobern,  den  der 
Religionsunterricht,  wenigstens  noch  in  den  meisten  Ländern,  bis  jetzt  einnimmt? 
Auf  diesen  Gedanken  konnte  man  kommen,  und  bei  einem  Teil  der  Ver- 
anstalter oder  der  in  irgendeiner  Form  Mitwirkenden  ist  er  auch  vorhanden  ge- 
wesen. Bei  einem  gewissen,  sehr  ansehnlichen  Teil  brauchte  damit  gar  kein 
neues  Ziel  aufgestellt  zu  werden:  in  manchen  Ländern  ist  der  Gedanke  ja  längst 
durchgeführt,  und  diesen  konnte  nun  nur  daran  liegen,  ihn  nicht  bloß  gegen 
anders  Denkende  zu  rechtfertigen,  sondern  womöglich  auch  seine  weitere  An- 
nahme und  Verwirklichung  durchzusetzen.  In  diesem  Sinne  betätigten  sich  nament- 
lich die  Franzosen,  und  manche  Anzeichen  deuteten  darauf  hin,  daß  die  politische 
entente  cordiale  zwischen  England  und  Frankreich  Anregung  gegeben  hatte,  sich 
auch  innerlich  immer  völliger  zu  verstehen,  zu  verständigen,  womöglich  anzu- 
gleichen oder  zu  verschmelzen.  (Steht  doch  im  Dienste  dieser  selbigen  Idee 
z.  B.  auch  das  ziemlich  neue  Buch  der  französischen  Schriftstellerin  „Pierre  de 
Coulevain"  L'ile  inconnue.)  Die  schriftstellerisch  ausgeführten  Gedanken  darüber 
ergaben  aber,  ebenso  wie  die  mündlichen  Verhandlungen,  aufs  lebendigste  die 
tiefe  Verschiedenheit  der  französischen  und  der  englischen  Volksseele,  und  wenn 
man  gegen  einander  immer  möglichst  billig  und  willig,  höflich  und  selbst  herz- 
lich blieb,  so  hörte  jene  Wesensverschiedenheit  doch  nicht  auf,  entscheidend  zu 
wirken.  Die  übrigen  Nationen  hielten  sich  mehr  dem  einen  oder  dem  andern 
Standpunkt  nahe,  sie  nahmen  auch  im  ganzen  einen  weniger  breiten  Anteil.  Warum 
eine  solche  verhältnismäßige  Zurückhaltung  auch  von  uns  Deutschen  gilt,  das 
auszuführen  wäre  wohl  nicht  uninteressant,  hier  aber  ist  nicht  der  Raum  dazu. 
Immerhin  ging  das  Zugeständnis  von  der  englischen  Seite  so  weit,  daß  eine  plan- 
mäßige und  zusammenhängende  Unterweisung  über  sittliche  Dinge,  sei  es  nun 
im  Anschluß  an  religiösen  Unterricht  und  religiöses  Leben,  sei  es  neben  dem 
ersteren,   nicht   bloß  von  nicht  wenigen  englischen  Seiten  für  etwas  Wünschens- 


42  Moral  Instruction  and  Training  in  Schools, 

wertes  erklärt,  sondern  vielfach  als  schon  versucht  und  eingeführt  geschildert 
wurde.    Natürlich  in  verschiedener  Art  und  Auffassung. 

Bei  den  besten  und  einsichtsvollsten  Pädagogen  des  Landes  erklärt  sich  das 
Interesse  dafür  aus  einem  besonderen  Gesichtspunkt.  Gegenüber  der  kontinentalen, 
namentlich  auch  deutschen  Einrichtung  der  Schulerziehung,  die  ganz  wesentlich 
durch  Unterricht  und  damit  sich  verbindende  Disziplin  erfolgen  soll,  legt  man  be- 
kanntlich in  England  auf  den  erziehenden  Einfluß  eines  nach  allen  Seiten  gesund 
ausgestalteten  Schullebens  den  größten  Wert  und  hat  in  dieser  Hinsicht  ja  auch 
bedeutende  Erfolge  weithin  aufzuweisen.  Aber  die  Anschauung,  daß  durch  rechte 
Kameradschaft  und  tüchtige  Leibesübungen,  durch  allerlei  Abhärtung  und  Ein- 
gewöhnung nebst  frühzeitiger  Selbstverwaltung,  durch  den  anständigen  allgemeinen 
Geist  der  Lebenssphäre  schon  die  rechte,  die  wünschenswerte  und  wertvolle 
Willensbildung  geleistet  werde,  befriedigt  seit  kurzem  eben  die  besten  der  über 
Erziehung  Nachdenkenden  nicht  mehr.  Sie  fühlen,  daß  es  neben  und  über  jenem 
doch  gilt,  dem  Willen  hohe  Ziele  zu  stecken,  diese  Ziele  als  Lebensideale  dem 
Bewußtsein  einzupflanzen  und  damit  erst  die  Individuen  als  solche  recht  zu  be- 
leben, anstatt  sie  nur  der  allgemeinen  Bewegungsrichtung  anzugleichen;  es  soll 
nicht  bloß  ein  kräftiges  persönliches  Wollen,  sondern  auch  ein  reiches  soziales 
und  ideales  Wollen  entwickelt  werden,  und  das  rechte  Maß  von  Reflexion,  von 
bewußtem  innerem  Leben  gehört  dazu.  Man  ist  in  England  sehr  ernstlich  darauf 
bedacht,  die  Schranken  der  nationalen  Pädagogik  zu  erkennen  und  zu  über- 
winden, und  daß  man  dabei  vom  Kontinent,  von  Deutschland  vielleicht  noch  mehr 
als  von  Frankreich,  Wichtiges  zu  übernehmen  habe,  weiß  man  sehr  wohl.  Hat 
doch  der  Herausgeber  der  zwei  hier  in  Rede  stehenden  Bände,  der  denn  auch  als 
Präsident  den  Kongreß  geleitet  hat,  der  gegenwärtig  hervorragendste  englische 
Vertreter  der  Pädagogik,  Professor  M.  E.  Sadler,  schon  vor  mehreren  Jahren  der 
Vergleichung  englischer  und  deutscher  Erziehung  einen  mächtigen  Band  gewidmet, 
in  dem  nach  gerechter  Abwägung  überall  gestrebt  ist. 

Dürfen  wir  von  uns  sagen,  daß  wir  in  ähnlicher  Weise  bemüht  seien,  der  ge- 
samten Bewegung  des  pädagogischen  Denkens  und  Suchens  im  Ausland  zu 
folgen?  Die  Gefahr,  wesentlich  nur  die  Einzelfragen  der  Didaktik  und  Methodik 
innerhalb  der  vorhandenen  Organisation  zu  sehen  und  für  die  größeren  Probleme 
nicht  recht  wach  zu  werden  oder  geworden  zu  sein,  besteht  bei  uns  jedenfalls  in 
erheblichem  Umfang.  Daß  uns  seit  vielen  Jahrzehnten  überhaupt  die  Fragen  des 
Unterrichts  durchaus  im  Vordergrund  stehen,  unterscheidet  uns  sehr  von  den 
englisch-amerikanischen  Pädagogen,  deren  Interesse  vorwiegend  der  Erziehung  im 
engeren  Sinne,  der  Charakterbildung,  gilt.  So  sind  ja  auch,  obwohl  die  Anhänger 
Herbarts  dessen  Zielbestimmung  als  „Charakterstücke  der  Sittlichkeit"  mit  mäßiger 
Modifikation  immer  zu  der  ihrigen  gemacht  haben,  gerade  seine  Gedanken  über 
das,  was  jenseits  des  Unterrichts  und  der  Disziplin  liegt,  die  von  ihm  so  ge- 
nannte Zucht,  am  wenigsten  ausgenutzt  oder  ausgebeutet  worden.  Und  es  vollzieht 
sich  denn  gegenwärtig  die  pädagogische  Bewegung  in  Deutschland  teils  als  eine 
wesentlich  nur  ausbauende  und  teils  als  eine  wesentlich  umstürzende,  oder 
zwischen  Fachleuten   mit  ruhigem  Gewissen   und  Laien  voll   gereizter  Stimmung. 

In  den  zwei  Bänden  Moral  Instruction  and  Training  in  Schools,   also   über 


angez.  von  W.  Münch.  43 

Moral  Unterricht  und  Schulerziehung,  zusammen  mit  dem  Band  der  Referate  für 
den  Kongreß  kommt  eine  Zahl  von  mehr  als  150  Stimmen  aus  den  verschiedensten 
Ländern,  doch  allerdings  mit  überwiegender  Beteiligung  englischer,  zum  Gehör, 
die  fast  alle  positives  Suchen  vielmehr  denn  bloße  Kritik  oder  bloße  Apologie 
verraten.  Man  will  —  das  ist  der  vorwiegende  Eindruck  —  treulich  miteinander 
aufbauen,  will  an  der  Lösung  der  niemals  erledigten  Frage  mitarbeiten,  die  das 
tatsächliche  Programm  der  ganzen  Veranstaltung  geworden  ist,  die  sich  weit  über 
die  ursprüngliche,  einfache  Frage  erhebt  und  etwa  so  zu  fassen  ist:  An  welchen 
Punkten  und  durch  welche  Mittel  kann  Richtigeres  und  Vollständigeres  als  seit- 
her geschehen,  um  den  zu  Erziehenden  eine  wahrhaft  sittliche  und  als  solche 
fruchtbare  Gesinnung  einzuflößen?  Diese  Erweiterung  und  Vertiefung  der  ursprüng- 
lichen Frage  ist  Professor  Sadlers  Verdienst.  Es  ist  die  Frage  geworden,  auf  die 
nun  ein  Chor  nicht  bloß  international  gemischter,  sondern  auch  sonst  mannig- 
faltiger Stimmen  antwortete:  anglikanische  Bischöfe  und  sonstige  protestantische 
Geistliche,  Jesuiten  und  andere  römische  Kleriker,  Bibelgläubige  und  moderne 
Religionspsychologen,  Universitätsprofessoren  für  Philosophie  und  für  Pädagogik, 
Direktoren  und  Lehrer  von  vornehmen  höheren  und  von  schlichten  Volksschulen 
oder  von  Lehrerbildungsanstalten,  Vorstände  von  mancherlei  Gesellschaften,  Männer 
und  Frauen,  Politiker  und  Philanthropen,  Idealisten  und  Empiristen.  „Und  alle 
doch  ein  großes  Brudervolk"  hätte  man  beinahe  mit  unseres  Uhland  Worten  sagen 
können,  denn  die  Gemüter  fanden  sich  eben  zusammen  auf  dem  gleichen  Wege 
des  Suchens.  Niemand  wollte  fertig  sein,  niemand  Unbedingtes  geben,  aber  jeder 
sein  Bestes. 

Und  so  ist  denn  das  Gesamtproblem  von  allen  möglichen  Seiten  beleuchtet, 
und  während  selbstverständlich  manches  sich  mehrfach  wiederholt,  findet  sich  doch 
in  den  gedrängten  Beiträgen  eine  Fülle  von  anregenden,  auch  von  bedeutenden 
Gedanken.  Eine  Blütenlese  daraus  zusammenzustellen  und  hier  darzubieten,  wäre 
dem  Unterzeichneten  eine  Freude.  Aber  gegenwärtig  erlaubt  es  der  Raum  nicht. 
Es  wäre  leichter,  ein  kleines  Buch  daraus  zu  machen,  als  nur  einen  kurzen  Auf- 
satz. Wollte  ein  strebsamer  junger  Pädagog  sich  einer  einigermaßen  vollständigen 
Berichterstattung  unterziehen,  so  könnte  man's  ihm  danken.  Es  könnte  ein  wert- 
voller Spiegel  werden  zur  Prüfung  unserer  eigenen  pädagogischen  Bestrebungen. 
Der  englischen  Sprache  freilich  muß  der  Beurteiler  nicht  etwa  bloß  in  äußerlichem, 
sondern  in  eindringendem  Maße  mächtig  sein,  nur  dann  vermag  er  hier  wirklich 
zu  lesen  und  wiederzugeben.  Aber  man  kann  sich  ja  überhaupt  der  Erkenntnis 
immer  weniger  verschließen,  daß  zu  verständnisvoller  Teilnahme  an  dem  wissen- 
schaftlichen Leben  der  Gegenwart  die  Kenntnis  der  englischen  Sprache  nicht 
mehr  zu  entbehren  ist. 

Darf  ich  übrigens  an  dieser  Stelle  über  die  zum  Ausgang  genommene  Frage 
der  planmäßigen  ethischen  Unterweisung  in  unsern  deutschen  höheren  Schulen 
hier  eine  eigene  Meinung  andeuten,  so  bin  ich  seit  lange  der  Ansicht,  daß  L  der 
Religionsunterricht  namentlich  auf  der  Oberstufe  in  zusammenhängende  und  ein- 
dringende ethische  Erörterungen,  auch  von  praktischem  und  aktuellem  Charakter, 
ausmünden  sollte,  wofür  der  Raum  dem  sonst  üblichen  Stoff  dieser  Stunden  ge- 
trost zu  entziehen  wäre,  daß  2.  die  zunächst  zu  formaler  Geistesübung  bestimmte 


44  Festschrift  zur  49.  Versammlung  deutscher  Philologen  usw., 

Besprechung  von  Aufsatzthemen  (auch  nicht  auszuführenden)  das  ethische  Gebiet 
in  fruchtbarer  Weise  mit  einbeziehen  kann  und  möge,  daß  3.  allerdings  alle  wirk- 
samsten ethischen  Anregungen  vielmehr  gelegentHch  als  innerhalb  eines  planvollen 
Zusammenhanges  zu  erfolgen  pflegen  und  das  Wichtigste  also  nicht  dem  fachlich 
Berufenen,  sondern  dem  im  ethischen  Sinn  Bedeutendsten  zufällt,  daß  4.  doch  die 
bisher  erst  teilweise  durchgeführte  Unterweisung  über  die  bestimmten  bürger- 
lichen Verpflichtungen  in  vollständiger  Weise  an  allen  Schulen  verwirklicht 
werden  sollte. 

Um  auf  die  vorliegenden  englischen  Bände  zurückzukommen,  so  glaube  ich 
deren  Empfehlung  den  hohen  Unterrichtsbehörden  vorschlagen  zu  dürfen  und  rate 
ihre  Anschaffung  den  einzelnen  Schulbibliotheken  an.  In  der  Zeit,  wo  die  pein- 
liche Empfindung  einer  politischen  Isolierung  Deutschlands  so  leicht  über  uns 
kommt,  dürfen  wir  eine  geistige  Isolierung  auf  keinem  Gebiete  selbst  verschulden 
wollen.  Der  Londoner  Kongreß  seinerseits  war  ja  ein  großer  Friedenskongreß, 
eine  weithin  ergriffene  Gelegenheit  zu  freudigem  Zusammenwirken.  Freilich  waren 
da  keine  Separatinteressen  zu  opfern,  sondern  alle  konnten  gleichmäßigen  Gewinn 
ziehen.  Man  findet  sich  eben  am  besten  zusammen  da,  wo  man  gemeinsam  die 
reine  Höhenluft  der  Ideale  atmet. 

Berlin.  W.  Münch. 

Festschrift  zur  49.  Versammlung  deutscher  Philologen   und  Schulmänner  in 
Basel  im  Jahre  1907.    Basel  1907.    Leipzig.    Karl  Beck.    538  S.    gr.  8°.    15  M. 

Der  Sammelband  enthält  22,  zum  Teil  umfangreiche  Abhandlungen  zur  alten 
und  neuen  Philologie  (einschließlich  der  Mundarten),  zur  Rechtslehre,  auch  zur 
Medizin  und  Mathematik.  Die  Verfasser  sind  sämtlich  Baseler  Gelehrte;  sie  haben 
ihrer  Stadt  und  sich  selbst  mit  diesen  gelehrten  und  belehrenden  Untersuchungen 
ein  schönes  Denkmal  gesetzt,  wir  schauen  in  eine  Werkstatt  eifriger,  sachver- 
ständiger, dabei  sehr  mannigfacher  Tätigkeit  hinein. 

Besser  wäre  es  wohl  für  den  Gebrauch  solcher  Sammelbände  zu  Ehren  einer 
festlichen  Sitzung,  wenn  immer  das  Gleichartige,  bestimmten  Gebieten  Angehörige 
zusammengefaßt  und  in  Einzelheften  herausgegeben  würde. 

Unmöglich  kann  ich  hier  auf  alle  Abhandlungen  im  einzelnen  eingehen.  Es 
genüge  nur,  die  ausgesprochene  Anerkennung  im  großen  Ganzen,  die  Aufzählung 
der  einzelnen  Beiträge  zu  Nutz  und  Frommen  derer,  die  darin  etwas  für  ihr  Studium 
Brauchbares  entdecken,  endlich  wenige  Bemerkungen  über  einige  der  Arbeiten! 

Der  altklassischen  Philologie  und  Geschichte  gehören  zu:  Wilhelm 
Brückner,  Über  den  Barditus  ~  Kaü  Joel,  Zur  Entstehung  von  Piatons  „Staat" 
—  Alfred  Körte,  Der  Kothurn  im  5.  Jahrhundert  —  Friedrich  Münzer,  Zur 
Komposition  des  Vellejus  —  Jakob  Oeri,  Die  MspTj  xtjc  xpaYtuSta?  in  der  Tra- 
gödie des  5.  Jahrhunderts  —  Theodor  Plüß,  das  Gleichnis  in  erzählender  Dich- 
tung —  Hermann  Schöne,  Markellinos'  Pulslehre  —  Ferdinand  Sommer,  Zum  in- 
schriftlichen  Nu  icpeXxuoxtov  —  Felix  Stähelin,    Zu   Ciceros  Briefwechsel  mit 

Plancus. Die  Philologie  der  neueren  Sprachen  betreffen:  Albert  Barth, 

Lefabliau  du  Büffet  —  Gustav  Binz,  Untersuchungen  zum  altenglischen  sogenann- 
ten Crist  —  Charles  de  Roche,  Une  source  des  „Tragigues"  —  Artur  Rossat» 


angez.  von  P.  Förster.  45 

La  poesie  religieuse  patoise  dans  le  Jura  bemois  catholique  —  Ernst  Tapyolet, 
Zur  Agglutination  in  den  französischen  Mundarien  —  Emil  Thomm  en,  Aus  Sebast. 
Fäschs  Reisebeschreibung  {1669).  —  —  Der  deutschen  Philologie  und  Ge- 
schichte gehören  an:  Albert  Geßler,  Franz  Krutters  Bauerndrama  —  Eduard 
Hoffmann-Krayer,  Ferndissimilation  von  r  und  l  im  Deutschen  —  John  Meier, 

Wolfram  von  Eschenbach  und  einige  seiner  Zeitgenossen. Endlich  noch  die 

vereinzelten  Abhandlungen:  Rudolf  Lugin  buhl,  Die  Anfänge  der  Kartographie 
in  der  Schweiz  —  Ernst  Rabel,  Elterliche  Teilung  —  Otto  Spieß,  Die  Mathe- 
matik  auf  dem  Gymnasium  —  Rudolf  Thommen,  Die  Einführung  des  gregoria- 
nischen Kalenders  in  der  Schweizerischen  Eidgenossenschaft. 

Zur  Probe  endlich  wenige  Bemerkungen  über  drei  Arbeiten. 

Sommer  hat  recht,  wenn  er  sich  zum  Nachweise  des  Gebrauches  und  der 
Entstehung  der  bekannten  Schtilregel  von  v5  IcpsXxuorixov  vor  allem  auf  die  sicheren 
Inschriften,  nicht  die  unsicheren  Handschriften  stützt.  Seine  Arbeit  ist  von  Wert 
nicht  nur  für  Feststellung  der  Sprachformen  und  der  Texte;  sie  hat  auch  laut- 
wertliche  und  musikalische  Bedeutung. 

Plüß  nimmt  es  mit  der  Wertung  des  sogenannten  tertium  comparationis 
vielleicht  allzu  genau.  Er  erweist  aber,  daß  es  für  das  Gleichnis  vor  allem  oder 
allein  auf  die  Anregung  des  Gemütes,  auf  die  Erzeugung  einer  gewissen  Stimmung 
ankommt.  Die  Sprache  des  Dichters  und  seine  Kunstmittel  wenden  sich  minder 
an  den  Außensinn  des  Hörers,  als  an  dessen  Innensinn  —  Die  Abhandlung  läuft 
in  eine  allgemeinere  Betrachtung  über  Bildung  und  Erziehung  aus;  mit  voller 
Zustimmung  unterschreiben  wir  folgende  Schlußstellen:  „Was  wir  im  Falle  des 
Gleichnisses  gesündigt  haben,  das  sündigen  wir  gerade  heutzutage  in  tausend 
Fällen  unseres  Wissenschafts-,  Bildungs-  und  Schullebens.  Sehen,  Anschauung, 
Wirklichkeitssinn  schätzen  wir  mit  Recht,  aber  wir  überschätzen  Sehen  und  An- 
schauen gegenüber  Empfinden  und  Vorstellen  und  die  Wirklichkeit  gegenüber 
einer  höheren  allgemeinen  Wahrheit."  —  „Wir  dürfen  es  uns  nicht  verhehlen, 
was  für  eine  Gefahr  von  selten  eines  unwissenschaftlichen  Positivismus,  wie  er 
Leben  und  Bildung  beherrscht,  jeder  tiefer  seelischen,  geistig  menschlichen,  wahr- 
haft humanen  Kultur  drohen  kann:  Diese  Gefahr  in  Wissenschaft  und  Kunst  zu 
bekämpfen,  wäre  ein  gerechter  Kulturkampf.  —  Allerdings  rufen  so  viele  jetzt 
nach  künstlerischer  Kultur;  aber  gerade  unsere  jetzige  aufgeregte  Liebe  zur  bil- 
denden und  zur  musikalischen  Kunst  ist  vorläufig  oft  nur  „Die  Furcht  vor  dem 
Alleinsein,"  dem  Alleinsein  in  einem  ideenleeren,  positivistischen  Inhalt,  und  für 
viele,  die  am  lautesten  nach  Kunsterziehung  rufen,  ist  Sehen,  Anschauung  und 
Wirklichkeitsdarstellung  nicht  etwa  bloß  das  Erste,  sondern  auch  das  Letzte  in 
der  Kunst."  Also  nicht  nur  rechnender,  beweisender  Verstand  und  nicht  nur  An- 
schauug  von  außen,  sondern  dazu  die  Erfassung  der  Welt  durch  das  ahnende 
Gemüt;  nicht  nur  Wissen,  sondern  auch  Gewissen  1 

Der  „ßarditus",  was  ist  darüber  nicht  schon  geschrieben  worden I  Brück- 
ners Untersuchung  trifft  wohl  das  Richtige:  Der  Barditus,  den  die  Germanen  beim 
Beginne  der  Schlacht  anstimmten,  war  nicht,  konnte  nicht  wohl  ein  Lied  sein,  aber 
auch  nicht  nur  ein  Summen  oder  Brummen;  vielmehr  eine  Folge  musikalischer, 
wirkungsvoller  und  das  Ganze  bindender  Takte  oder  Rufe.    Trotzdem  bleiben  noch 


46  Mitteilungen  des  Vereins  der  Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums, 

immer  Schwierigkeiten  in  der  Erklärung  der  bekannten  Stelle  (Germania,  c.  3); 
und  Brückner  meint  nicht,  das  letzte  Wort  gesprochen  zu  haben.  Entweder  hat 
man  den  Tacitus  nicht  recht  verstanden,  oder  er  selbst  hat  seine  Quellen  nicht 
wohl  verstanden  und  ist  sich  nicht  klar  gewesen :  in  beiden  Fällen  keine  Empfeh- 
lung für  ihn,  und  ein  übles  Ding  seine  Lesung  in  der  Schule,  wo  man  sich  doch 
nicht  mit  Untersuchungen,  wie  der  Brucknerschen,  abgeben  kann!  Indes  über 
dergleichen  mißliche  Einzelheiten  hilft  der  dauernde  Wert  seiner  für  uns  doch 
unschätzbaren  Schrift  hinweg;  es  sollte  nicht  nur  erlaubt,  nein,  geboten  sein,  die 
„Germania"  regelmäßig  in  der  Oberschule  zu  lesen. 

Friedenau.  Paul  Förster. 

Mitteilungen   des  Vereins   der  Freunde   des  humanistischen  Gymnasiums  (in 

Wien).    6.  u.  7.  Heft.    Wien  und  Leipzig  1908.    Carl  Fromme.    0,85  u.  0,50  M. 

Heft  6  steht  ganz  im  Zeichen  der  österreichischen  Mittelschulreform:  es  be- 
richtet über  die  dritte  außerordentliche  Versammlung  des  Vereins,  die  der  Enquete 
unmittelbar  voranging,  und  über  die  vierte,  die  ihr  unmittelbar  folgte.  Den 
Hauptanziehungspunkt  der  ersteren  bildete  Gau  er  s  Vortrag  über  „die  Einheits- 
schule und  ihre  Gefahren".  Die  fesselnden  und  gedankenreichen  Ausführungen 
des  klugen  und  hochgebildeten  Praktikers  und  beredten  Anwalts  der  Antike 
münden  in  dem  Nachweis,  daß  den  verschiedenen  Anlagen  der  Menschen  gegen- 
über ein  einziges  Ideal  der  Ausbildung  unzulänglich  und  eine  Vielheit  von  Bil- 
dungszielen und  Bildungswegen  zu  wünschen  sei;  daß  die  richtig  aufgefaßte 
, allgemeine  Bildung"  „Fähigkeit  und  Lust  zum  Verstehen  und  Anteilnehmen  über 
den  eigenen  Lebenskreis  hinaus  nach  allen  Richtungen  hin"  bedeute  und  zu  dem 
Zwecke  „die  Realien  humanistisch  zu  lehren  und  die  alten  Sprachen  und  ihre 
Literatur  realistisch  zu  behandeln  seien."  Eine  durch  schlagende  Beispiele  unter- 
stützte Belehrung  über  Wert  und  Bedeutung  des  Sprachunterrichts,  die  den  Vortrag 
beschließt,  war  zugleich  ein  von  der  Versammlung  wohl  verstandener  Protest 
gegen  die  bekannten  Ostwaldschen  Angriffe.  In  der  sich  anschließenden  Dis- 
kussion sekundierten  dem  jVortragenden  geschickt  und  nachdrücklich  die  Abgeord- 
neten Pernerstorf  er  und  Pattai;  dieser  erklärte  sich  für  eine  ausgedehntere 
Kenntnis  der  Antike  auch  des  Realschülers,  wogegen  Gau  er  mehr  für  intensive 
als  extensive  Berücksichtigung  des  Humanismus  eintrat.  —  In  der  vierten  außer- 
ordentlichen Versammlung  gab  der  Vorsitzende  zunächst  einen  Rückblick  auf  die 
Mittelschulenquete  und  stellte  mit  Genugtuung  fest,  daß  der  Ansturm  auf  das 
Gymnasium  abgeschlagen  sei,  dagegen  den  modernen  Bildungsbedürfnissen  durch 
Reformen  des  Gymnasiums  sowohl  als  der  Realschule  begegnet  werden  solle.  In 
der  Diskussion  hob  Pattai  u.  a.  hervor,  daß  er  aus  eigener  Erfahrung  die  (öster- 
reichische) Realschule  nicht  für  ein  ideales  Bildungsinstitut  halten  könne:  erst 
durch  Verstärkung  des  humanistischen  Elements,  besonders  durch  Einführung  des 
Lateinischen,  wird  sie  ihm  hochschulfähig.  —  Es  folgt  ein  höchst  lesenswerter 
Aufsatz  des  Gymnasialdirektors  Tauber  (Eger)  „über  den  Wert  des  Sprachunter- 
richtes", der  dem  besonders  in  letzter  Zeit  wieder  viel  erörterten  Thema  doch  noch 
neue  Seiten  abzugewinnen  weiß. 

Kaum  halb   so  stark    ist    das   Uhlig,   dem   unermüdlichen  Vorkämpfer   für 


angez.  von  E.  Grünwald.  47 

die  Sache  des  humanistischen  Gymnasiums,  zu  seinem  siebzigsten  Geburts- 
tage gewidmete  siebente  Heft;  aber  es  enthält  einen  gewichtigen  Beitrag, 
den  Vortrag  Windelbands  über  , Wesen  und  Wert  der  Tradition  im  Kultur- 
leben". Ich  kann  es  mir  nicht  versagen,  seine  Hauptgedanken  hier  wieder- 
zugeben. Den  Kern  der  Schulfrage  —  eins  der  praktischen  Probleme  — 
haben  wir  nach  Windelband  in  dem  der  Philosophie  aus  dem  19.  Jahrhundert 
überkommenen,  von  ihr  bisher  noch  nicht  ausgeglichenen  Zwiespalt  zwischen 
historischem  und  naturwissenschaftlichem  Denken.  Die  Naturwissenschaft  solle 
nicht  vergessen,  daß  in  ihren  Theorien  viel  Tradition  stecke,  daß  diese  ein  Produkt 
der  Begriffsarbeit  von  zwei  Jahrtausenden  seien  und  ihre  Methoden  nicht  zu  ver- 
stehen seien,  wenn  man  sie  nicht  als  Erzeugnis  der  historischen  Arbeit  begreife: 
daher  handle  sie  voreilig,  wenn  sie  auf  einen  radikalen  Bruch  mit  unserer  histori- 
schen Tradition  dringe.  Aus  der  Geschichte  stammten  überhaupt  die  Wertinhalte 
des  Menschenlebens;  die  ganze  Erziehung  beruhe  darauf,  aus  dem  natür- 
lichen den  historischen  Menschen  zu  machen  (wem  fällt  nicht  1.  Cor.  2,  14 
ein!)  —  wenn  sie  freilich  auch  nicht  den  ganzen  Kulturprozeß  mitmache,  sondern 
sich  mit  dem  Niederschlag  des  dauernden  Besitzes  an  Kulturgütern,  mit  dem,  was 
nach  Herder  das  Thema  der  Geschichte  sei,  der  Humanität,  begnüge.  Den  be- 
deutendsten Kulturfortschritt  aber  habe  die  Menschheit  in  der  Phase  getan,  die  wir 
die  Mittelmeerkultur  nennten,  aus  der  als  letztes  Ergebnis  unsere  christliche  Kultur 
hervorgegangen  sei :  in  diesen  Verhältnissen  liege  das  historische  Recht  der  huma- 
nistischen Bildung.  Von  ihren  tiefgehenden  Einflüssen  auf  unser  deutsches  Kultur- 
leben hebt  der  Redner  nur  die  Befruchtung  der  zweiten  Blüteperiode  unserer 
klassischen  deutschen  Literatur  heraus.  Das  bedeutsamste  Vehikel  dieser  Tradition 
aber  ist  nach  Windeiband  die  Sprache.  Sie  ist  nicht  bloß  ein  konventionelles 
Mitlei  der  Verständigung,  sondern  das  große  Geheimnis  des  sprachlichen  Lebens 
liegt  darin,  daß  wir  an  dem  lebendigen  Worte  viel  mehr  Wirkliches  im  Hören  er- 
leben, als  in  den  bloß  lautlichen  Zeichen  als  solchen  jemals  bedeutet  sein  kann: 
darum  wachsen  wir  durch  das  Lernen  der  Ursprache  in  das  geistige  Leben  von 
Jahrhunderten  hinein,  und  darum  müssen  die  Sprachen  der  antiken  Kulturvölker 
einen  eisernen  Bestand  in  der  Ökonomie  des  Unterrichts  bilden,  besonders  das 
an  geistiger  Modulationsfähigkeit,  an  Feinheit  und  Mannigfaltigkeit  der  Beziehungs- 
formen, an  durchgearbeitetem  und  gegliedertem  Reichtum  der  Ausdrucksweise 
von  keiner  Sprache  erreichte  Griechische.  Wird  nun  aber  der  humanistische 
Einschlag  in  unserer  Kultur  auf  einen  zu  kleinen  Bruchteil  beschränkt  und  etwa 
einer  gelehrten  Kaste  vorbehalten,  so  muß  er  nach  einem  Kulturgesetze  in  sich 
verkümmern:  er  muß,  wenigstens  mit  einigen  seiner  Bestandteile,  auch  in  die  übrigen 
Bildungsschichten  hineinragen  und,  wenn  auch  in  abgestufter  Ausdehnung,  einer 
großen  Anzahl  von  Berufssphären  gemeinsam  bleiben.  So  sollte  auch  eine  auf  das 
technische  und  naturwissenschaftiche  Denken  zugespitzte  Bildung  niemals  der  Er- 
gänzung durch  wenigstens  eine  der  klassischen  Sprachen  entbehren.  Sollen  doch 
aus  unsern  Mittelschulen  auch  die  künftigen  Lehrer  hervorgehen:  sie  müssen  ein 
möglichst  breites  Maß  gemeinsamer  Bildung  haben,  und  dazu  muß  das  wichtigste 
und  traditionelle  Moment  unseres  gesamten  Geisteslebens,  das  humanistische,  ge- 
hören.   Aus  demselben  Grunde   sind  die  Vorschläge  abzuweisen,   mathematische 


48  E-  Ebner,  Magister,  Oberlehrer,  Professoren, 

und  naturwissenschaftliche  Hochschullehrer  bloß  auf  den  technischen  Hochschulen 
vorzubilden.  —  Das  Heft  enthält  noch  das  vom  Wiener  humanistischen  Verein  dem 
Minister  überreichte  „Promemoria,  die  neue  Maturitätsordnung  betreffend",  das 
mancherlei  Verbesserungen  und  Ergänzungen  der  unter  dem  29.  Februar  v.  J.  er- 
lassenen neuen  Vorschriften  über  die  Reifeprüfung  anregt ,*)  und  endlich  den  Be. 
rieht  über  die  zweite  ordenliche  Vereinsversammlung,  aus  dem  sich  ein  erfreuliches 
Gedeihen  des  musterhaft  rührigen  Vereins  ergibt.  Seine  „zwanglosen  Hefte"  sind 
bis  jetzt  immer  eine  anregende  und  gehaltvolle  Lektüre  gewesen  und  bilden  ein 
würdiges  Gegenstück  zum  „Humanistischen  Gymnasium". 

Berlin.  E.  Grünwald. 

Ebner,  Eduard,  Magister,  Oberlehrer,  Professoren.  Wahrheit  und  Dichtung 
in  Literaturausschnitten  aus  fünf  Jahrhunderten.  Nürnberg  1908. 
C.  Koch.    XV  und  306  S.    8°.    geb.  5  M. 

In  einer  Besprechung  des  vorliegenden  Buches  ist  die  Frage  aufgeworfen 
worden,  ob  es  nicht  am  besten  ungeschrieben  geblieben  wäre,  da  es  so  viel  Krän- 
kendes für  uns  Oberlehrer  enthält  und  nicht  nur  von  uns,  sondern  auch  von  wei- 
teren Kreisen  gelesen  werden  wird.  Demgegenüber  stehe  ich  auf  dem  Standpunkte, 
daß  wir  dem  Verfasser  für  seine  fleißige  und  sorgfältige  Arbeit  nicht  dankbar 
genug  sein  können. 

Es  ist  mit  der  Entwicklung  eines  Standes  ähnlich  wie  mit  der  des  einzelnen 
Menschen:  der  Knabe  und  Jüngling  ist  empfindlich  gegen  Tadel  und  Angriff, 
weil  er  sich  seine  Stelle  im  Leben  erst  erringen  muß;  der  Mann  dagegen,  der 
weiß,  was  er  wert  ist,  braucht  es  nicht  mehr  zu  sein.  Unser  Stand  befindet  sich 
allerdings  in  dieser  glücklichen  Lage  noch  nicht;  aber  über  die  Knaben-  und 
Jünglingsjahre  ist  er  doch  auch  hinaus,  und  er  tut  gut,  mit  gelassener  Ruhe  auch 
die  tollsten  Verhöhnungen  über  sich  ergehen  zu  lassen,  jedenfalls  sich  nicht  dar- 
über zu  ärgern  und  nicht  nach  der  Polizei  zu  rufen,  daß  sie  ihm  helfe. 

Mit  Ruhe  und  Gelassenheit  ist  denn  auch  der  Verfasser  an  die  Aufgabe 
gegangen,  die  er  sich  gestellt  hatte,  und  so  zeigt  er  uns,  wie  der  höhere  Lehrer 
im  Mittelalter  beurteilt  wurde,  wie  im  16.,  17.  und  18.  Jahrhundert,  um  dann  auf 
S.  100  mit  dem  für  die  meisten  Leser  wichtigsten  Abschnitte  „Der  höhere  Lehrer  im 
19.  Jahrhundert"  zu  beginnen.  Nur  zweimal  in  dieser  langen  Zeit  hat  sich  unser 
Stand  einer  freundlichen  Beurteilung  zu  erfreuen  gehabt:  im  Zeitalter  der  Reformation 
und  in  dem  des  Neuhumanismus  am  Anfange  des  19.  Jahrhunderts.  In  der  Mitte 
dieses  Jahrhunderts  aber  beginnt  der  Kampf  gegen  die  höheren  Schulen  und  ihre 
Lehrer,  der  immer  erbitterter  wird,  bis  hinein  in  unser  junges  20.  Jahrhundert. 

Es  sind  wenig  erfreuliche  Bilder,  die  da  vor  unsern  Augen  abgerollt  werden, 
und  wer  sich  ärgern  will,  hat  Veranlassung  genug  dazu.  Aber  es  ist  besser,  sich, 
wie  es  auch  der  Verfasser  tut,  darüber  klar  zu  werden,  daß  es  kaum  anders  sein 
kann.  Der  Schriftsteller  kann  ja  nur  von  dem  berichten,  was  er  selbst  erlebt  hat,  und 
über  Schulerinnerungen  verfügt  eben  jeder  zuerst.  Und  daß  in  diesen  die  schlechten 

♦)  Die  Grundzüge  dieser  neuen  .Vorschriften"  mit  begleitender  Kritik  habe  ich  in  der 
Zeitschrift  für  das  Gymnasialwesen  LXII,  S.  486  ff.  und  hat  Morsch  in  der  Deutschen 
Literaturzeitung  von  17.  und  24.  Oktober  v.  J.  gegeben. 


angez.  von  R.  Jahnke.  49 

Lehrer  die  Hauptrolle  spielen,  ist  auch  nur  zu  begreiflich;  prägt  sich  doch  ein 
Gegenstand  des  Hasses  und  Spottes  dem  Gedächtnisse  fester  ein  als  einer,  der 
Bewunderung  erregt.  Erst  recht  aber  werden  die  Lehrer  vergessen,  die  schlecht 
und  recht  ihre  Pflicht  getan  haben,  ohne  ihre  Schüler  für  sich  zu  begeistern  oder 
sie  sonderlich  gegen  sich  einzunehmen;  und  die  bilden  doch  naturgemäß  die 
überwiegende  Mehrzahl.  Freilich  sehr  viele  der  angeführten  Schriftsteller  über- 
treiben —  auch  das  ist  begreiflich,  da  ja  lebhafte  Farben  am  stärksten  wirken 
— ,  sie  verallgemeinern  und  entstellen  wohl  gar  geflissentlich,  und  die  große  Menge 
der  Leser  wird  sich  dadurch  in  ihrem  Urteil  bestimmen  lassen  und  uns  in  einer 
Beleuchtung  sehen,  die  uns  nicht  angenehm  sein  kann.  Aber  ganz  so  gefährlich 
ist  das  auch  nicht.  Wir  Lehrer  sind  doch  auch  einmal  Schüler  gewesen  und  haben 
unsere  Schulerinnerungen;  auch  wir  wissen  von  manchem  unserer  Lehrer  allerlei 
schnurrige  Geschichten  zu  erzählen,  aber  wir  verachten  sie  darum  doch  nicht  und 
hassen  die  Schule  nicht,  die  uns  herangebildet  hat.  Sollte  es  so  nicht  bei  vielen 
der  Fall  sein  und  vielleicht  gerade  bei  denen  besonders,  an  deren  Urteil  uns  am 
meisten  liegt:  den  Verständigen,  Gereiften  und  wahrhaft  Gebildeten?  Es  hat  zu 
allen  Zeiten  in  unserm  Stande  Leute  gegeben,  die  der  Herr  im  Zorn  zu  Schul- 
meistern gemacht  hatte,  und  darüber  hinaus  auch  solche,  die  in  keiner  Beziehung 
etwas  taugten.  Warum  sollten  wir  das  leugnen?  Die  gibt's  in  jedem  Berufe.  In 
dem  Schrifttum,  das  die  Schwächen  der  Menschen  geißelt,  mögen  auch  die  ihre 
Stelle  finden.  Das  trifft  die  Gesamtheit  nicht;  und  Übertreibung  und  Entstellung 
rächen  sich  schon  von  selbst  an  dem,  der  solche  Mittel  nicht  verschmäht. 

Wenn  ich  sage,  wir  sollten  die  Angriffe  auf  unsern  Stand  mit  Ruhe  ertragen, 
so  meine  ich  damit  nicht,  daß  wir  uns  darum  nicht  kümmern  sollten.  Schillers 
schönes  Wort,  der  Feind  zeige  uns,  was  wir  sollen,  ist  ja  nicht  bloß  zur  Bear- 
beitung in  deutschen  Aufsätzen  gut,  sondern  ist  auch  eine  nützliche  Mahnung  fürs 
Leben.  Und  hier  liegt  die  große  Bedeutung  des  Ebnerschen  Buches.  Der  Spie- 
gel freilich,  den  es  uns  vorhält,  ist  nicht  eben:  er  entstellt  unsere  Züge,  und  er 
ist  aus  gelblich-grünem  Glase:  er  zeigt  uns  kein  rosiges  Bild;  aber  sehen  können 
wir  uns  doch  darin  und  die  Flecken  gewahren,  die  wir  beseitigen  müssen.  Auf 
die  Frage:  „Was  können  wir  tun,  daß  es  besser  werde?"  gibt  es  vielerlei  Antwor- 
ten ;  sie  aufzuzählen,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Nur  eine  möchte  ich  nennen,  weil  ich 
sie  schon  früher  einmal  an  einer  andern  Stelle  ausgesprochen  habe  und  weil  auch 
der  Verfasser  dieses  Buches  auf  sie  hinweist  (S.  245):  das  Prügeln  in  jeder  Form 
muß  aus  den  höheren  Schulen  verschwinden;  es  geht  wirklich  auch  ohne  das.*) 

Aber  es  gibt  noch  manche  andere  Antwort,  und  zum  Suchen  danach  so  nach- 
drücklich anzuregen  wie  nichts  anderes,  ist  das  große  Verdienst  Ebners.  Es  wird 
auch  dann  noch  bleiben,  wenn  es,  wie  der  Verfasser  hofft,  besser  geworden  ist, 
sobald  nämlich  unsere  Schüler  Schriftsteller  geworden  sind. 

Mit  welcher  Genauigkeit  der  Verfasser  den  gewaltigen  Stoff  durchgearbeitet, 
wie  übersichtlich  er  ihn  geordnet  hat  und  wie  ruhig  er  zu  den  Angriffen  Stellung 
nimmt,  kann  hier  nicht  dargelegt  werden.  Daß  sich  die  Liste  der  angeführten 
Schriftwerke   noch   vervollständigen   ließe,   ist  selbstverständlich;   um  wenigstens 

*)  Der  Meinung  bin  auch  ich  von  jeher  gewesen.  Unsere  ganze  Kunst  der  Erziehung 
würde  sich  ohne  Prügel  feiner  gestalten  und  —  unser  Stand  nicht  minder.  Mtth. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  VIII.  Jhrg.  4 


50  J-  P-  Eckermann,  Gespräche  mit  Goethe, 

etwas  beizutragen,  nenne  ich  noch  die  Zaunkönige  von  Friedrich  Jacobsen,  Max 
Gebhard  von  Rudolf  Huch  und  das  Ärgernis  von  Wilhelm  Hegeler.  In  dem  zuletzt 
genannten  Romane  erscheint  ein  Vertreter  unseres  Standes,  mit  dem  wir  zufrieden  sein 
können;  sein  Urbild  ist  —  das  darf  hier  wohl  ausgesprochen  werden  —  der  ver- 
storbene Gymnasialdirektor  Evers  in  Barmen. 

Die  Darstellung  ist  gewandt,  wenn  auch  nicht  ganz  einwandfrei,  die  Zeichen- 
setzung —  oder  soll  man  es  Satzbau  nennen?  —  oft  recht  modern.  Ich  wenigstens 
liebe  Sätze  ohne  Subjekt  und  Prädikat  in  ruhigen  Abhandlungen  nicht.  Auch  mit 
einem  Satze  wie  dem  folgenden  kann  ich  mich  nicht  befreunden:  Wollen  wir  ver- 
schiedene Einzelheiten  zusammenstellen  (S.  280).  Ein  Versehen  liegt  vor  auf 
S.  133.  Statt  ,  abstoßender  als  dieser  unwissende  Professor  ..."  muß  es  dort 
heißen  „abstoßender  als  diesen  unwissenden  Professor";  denn  der  Satz  schließt: 
»haben  selbst  unsere  Modernen  den  Lehrer  nicht  gezeichnet". 

Aber  das  sind  Kleinigkeiten,  Im  ganzen  empfehle  ich  das  Buch  jedem 
Oberlehrer,  besonders  den  werdenden,  aufs  wärmste.  Ich  tue  es  in  dem 
Sinne  eines  Wortes  auf  S.  305:  „Die  Anerkennung  der  Wichtigkeit  des  Standes 
wird  auch  seine  Vertreter  nicht  minder  als  das  Gefühl  der  Verantwortung  geradezu 
zwingen,  ihr  Bestes  einzusetzen,  ihr  Höchstes  zu  leisten  in  dem  edelsten  aller 
Berufe."  Wenn  das  erst  bei  jedem  einzelnen  von  uns  der  Fall  ist,  dann  muß  auch 
das  Urteil  über  uns  freundlicher  werden,  und  eine  künftige  Fortsetzung  des  Werkes 
wird  freundlichere  Bilder  bringen,  als  es  bei  ihm  selbst  leider  der  Fall  ist. 

Lüdenscheid.  Richard  Jahnke. 

Eckermann,  J.  P.,  Gespräche  mit  Goethe.   Achte  und  neunte  Originalauflage. 

Nach   dem   ersten  Druck   und  dem  Originalmanuskript   des   dritten  Teiles 

mit  einem  Nachwort  und  Register  neu  herausgegeben  von  Dr.  H.  H.  Ho  üben. 

Mit  28  Illustrationstafeln,   darunter  3   Dreifarbendrucke,   und    1  Faksimile. 

Leipzig  1909.  F.  A.  Brockhaus.  805  S.  8  M. 
Wem  wie  dem  Rezensenten  Eckermanns  Gespräche  mit  Goethe  ein  unentbehrliches 
Lieblingsbuch  zu  fast  täglicher  Benutzung  für  kurze  Ruhepausen  geworden  ist,  muß 
es  mit  Freuden  begrüßen,  daß  ein  Neudruck  erschienen  ist,  der  von  den  bisherigen 
Ausgaben  in  allen  wesentlichen  Punkten  abweicht  und  der  sie  alle  übertrifft.  Er 
muß  sich  ferner  freuen,  daß  diese  Ausgabe  in  einem  so  künstlerischen  Gewände 
auftritt  und  eine  reiche  Anzahl  von  trefflichen  Abbildungen  enthält,  die  bei  diesem 
Werke,  wie  bei  keinem  anderen,  angebracht  sind.  Die  Unterhaltungen  Goethes 
knüpfen  ja  sehr  oft  an  Kunstwerke  an,  die  Goethe  seinen  noch  jetzt  erhaltenen 
kostbaren  Sammlungen  entnahm,  an  Gemälde,  Handzeichnungen,  Kupferstiche  usw. 
von  Rubens,  Claude  Lorrain,  Rembrandt,  Doris  d' Angers  und  vielen  anderen.  Alle 
diese  Kunstwerke  sind  in  der  neuen  Auflage  durch  vortreffliche  Abbildungen 
wiedergegeben.  Ebenso  betreten  wir  den  Schauplatz  der  Gespräche,  die  Haupt- 
zimmer des  Goethehauses,  deren  neue  Originalaufnahmen  das  Buch  bringt.  Als 
besondere  Zugabe  sind  drei  Dreifarbendrucke  hervorzuheben,  die  das  Äußere  des 
Goethehauses,  eine  Ansicht  seines  Gartenhauses  an  der  Um  und  das  Sterbezimmer 
des  Dichters  nach  zeitgenössischen  Aquarellbildern  wiedergeben.  Das  sind  die 
äußeren  Vorzüge  des  Buches,  die  für  den  inneren  Wert  von  nicht  geringer  Be- 
deutung sind.    Daß  dieser  aber  so  erfreulich  gewachsen  ist,  haben  wir  dem  tüch- 


angez.  von  A.  Matthias.  51 

tigen  Herausgeber  zu  danken.  Der  junge  Gelehrte,  der  schon  auf  die  trefflichen 
Ausgaben  von  Laube  und  Gutzkow  stolz  sein  kann,  hat  hier  mit  deutscher  Gründ- 
lichkeit und  mit  der  aus  seiner  rheinischen  Heimat  entstammenden  Frische  ein 
Werk  geschaffen,  das  derjenige  mit  besonderer  Freude  begrüßt,  der  den  Werdegang 
Houbens  in  den  letzten  Jahren  mit  herzlichem  Interesse  verfolgt  hat.  Er  ist  bei 
seiner  Arbeit  von  der  Meinung  ausgegangen,  daß  Eckermanns  Buch  die  gleiche 
Sorgfalt  verdient,  wie  ein  Originalwerk  Goethes,  daß  das  „gesprochene  Wort 
Goethes"  den  geschriebenen  gleich  zu  achten  ist.  Es  wurde  deshalb  auf  die 
Originalausgabe  mit  Beibehaltung  der  ursprünglichen  Orthographie  zurückgegangen. 
Das  gebot  zudem  die  Absicht  des  Verfassers,  Goethes  Ausdrucksweise  in  allen 
ihren  Eigentümlichkeiten  bis  auf  die  Schreibung  selbst  des  y  und  der  Interpunktion 
wiederzugeben,  worüber  sich  Eckermann  in  einem  Briefe  an  Brockhaus  genau 
ausspricht  (s.  Seite  652  des  Nachwortes).  Besondere  Schwierigkeiten  ergaben  sich 
bei  dem  3.  Bande,  der  12  Jahre  später  in  einem  andern  Verlage  erschien.  Diese 
Schwierigkeit  wurde  gehoben  durch  das  Auffinden  des  Eckermannschen  Manu- 
skriptes zum  dritten  Teil.  Die  Texte  des  Manuskriptes  und  des  ersten  Druckes 
wurden  Wort  für  Wort  verglichen,  und  so  ergab  sich  der  Wortlaut  auch  des 
dritten  Teiles  genau  nach  der  ursprünglichen  Absicht  Eckermanns.  Eine  ganze 
Reihe  von  kleinen  Stilfehlern,  Druckfehlern  usw.  waren  zu  berichtigen,  die  teils 
schon  den  ersten  Drucken  angehörten,  teils  in  spätere  Ausgaben  sich  eingeschlichen 
haben.  Auch  gröbere  Irrtümer  z.  B.  daß  ein  ganzer  Jahrgang  der  Gespräche  (1826) 
falsch  datiert  und  daß  ferner  im  dritten  Teil  ein  Gespräch  fälschlich  Soret  zu- 
geschrieben worden  ist,  wurden  beseitigt.  Seite  656  ist  über  die  zahlreichen  ver- 
druckten Stellen  ausführlicher  berichtet. 

Mit  derselben  Sorgfalt,  wie  die  textliche  Revision,  ist  die  Verarbeitung  des 
historischen  Materials  behandelt,  so  besonders  der  Nachlaß  Eckermanns  mit  seinen 
zahlreichen  Briefen  an  Brockhaus,  Vamhagen,  an  Heinrichshofen  und  an  einen 
Jugendfreund  Trapp.  Eckermanns  Briefe  z.  B.  an  Varnhagen,  die  S.  675,  S.  687f. 
und  S.  696  zitiert  werden,  dürfen  als  wertvolle  literarische  Dokumente  bezeichnet 
werden.  Anzuerkennen  ist  in  allem  das  Bestreben  des  Herausgebers,  das  Werk  Ecker- 
manns als  ein  festgeschlossenes  schriftstellerisches  Werk  zu  behandeln,  aus  dem  die 
Persönlichkeit  Goethes  klar  und  sympathisch,  dazu  einheitlich  hervortreten  sollte. 
Von  diesem  Gesichtspunkte  geht  des  Herausgebers  Kritik  im  Nachwort  überall  aus. 
Auch  in  den  Illustrationen  zeigt  sich  die  Sorgsamkeit  der  Arbeit;  sie  bilden  nicht 
nur  eine  äußeriiche  Buchausstattung,  sondern  in  manchen  Punkten  Berichtigungen 
von  offenbaren  Irrtümern  Eckermanns.  Besonders  wertvoll  aber  ist  das  Register. 
Anmerkungen  unter  dem  Text  liebt  Houben  nicht  und  am  Schlüsse  des  Buches 
auch  nicht.  Den  Lesern  sind  sie  ja  entweder  lästig  oder  gleichgültig.  Ins  Re- 
gister eingefügt  stehen  sie  aber  am  richtigen  Ort,  weil  sie  keinen  stören,  viele 
Leser  aber,  die  tiefer  dringen  möchten,  prächtig  unterstützen. 

Alles  in  allem  —  ein  Werk  deutschen  Gelehrtenfleißes,  wie  selten  eines  uns 
erfreut  hat.  Die  Schule  kann  nichts  Besseres  tun,  als  es  den  Primanern  zu  emp- 
fehlen, die  guter  Lektüre  würdig  und  bedürftig  sind.  Recht  wackeren  Jünglingen 
gebe  man  es  als  Prämie  mit  auf  den  Lebensweg  mit  der  Widmung:  „Ein  ganzes 
Buch  —  ein  ganzes  Leben." 

Berlin.  A.  Matthias. 

4* 


52  Georges,  Lateinisch-deutsches  Schulwörterbuch,  angez.  von  F.  Gramer. 

1.  Georges,  Lateinisch-deutsches  Schulwörterbuch.  10.  Auflage.  Hannover 
u.  Leipzig  1907.  Hahnsche  Buchhandlung.    993  S.    8*.    5,50  M. 

2.  Georges,   Deutsch-lateinisches  Schulwörterbuch.    8.  Auflage.    Ebenda. 
864  S.    8».    5,50  M. 

Seitdem  K.  E.  Georges,  der  verdienstvolle  Altmeister  lateinischer  Wortforschung, 
sein  Schulwörterbuch  —  neben  den  größern  Handwörterbüchern  —  in  die  Welt  sandte 
(i.  J.  1875),  hat  sich  gar  vieles  im  Unterrichtsbetrieb  der  klassischen  Sprachen  geändert. 
So  haben  gedruckte  „  Präparationen "  und  Kommentare  von  allerhand  Art  unter  Appro- 
bation hervorragender  Schulmänner  ihren  legitimen  Einzug  in  viele  Schulen  gehalten : 
trotzdem  wird  das  richtig  geübte  „Lexikonwälzen"  stets  seinen  Wert  behalten  — 
auch  für  den  Tertianer,  der  seinen  Cäsar  präpariert.  Aber  allerdings  hat  ein 
solches  Lexikon  den  Anforderungen,  die  die  heutige  Gymnasialpädagogik  stellt, 
möghchst  zu  entsprechen.  Daß  die  wissenschaftliche  Grundlage  bei  dem  vor- 
liegenden Wörterbuch  nicht  zu  kurz  kommt,  dafür  bürgt  schon  der  Name  Georges. 
Allerdings  sind  beide  Teile  von  neuem  sorgfältig  durchgesehen  und  ergänzt;  aber  in 
einigen  Einzelheiten  hätte,  besonders  bei  den  Eigennamen,  die  neueste  Forschung 
mehr  Berücksichtigung  verdient.  In  Ali  so  ist  die  Länge  des  i  sehr  zweifelhaft, 
und  die  Ansicht,  daß  der  Ort  an  der  Mündung  der  Lise  in  die  Lippe  zu  suchen 
sei,  ist  völlig  haltlos.  Wenn  das  Capitolium  „jetzt  Campidoglio"  genannt  wird, 
so  ist  die  sprachliche  Identität  da,  aber  der  moderne  Name  bezeichnet  nur  die 
Einsattelung  zwischen  den  zwei  Erhebungen  des  Hügels  und  das  dort  befindliche 
Gebäude.  Die  Form  Moguntia  neben  Mogontiäcum  hat  in  einem  Wörterbuch 
der  altrömischen  Sprache  nichts  zu  schaffen.  Wenn  Rigodulum  (übrigens  nicht 
„Ricol",  sondern  Riol  bei  Trier)  zur  Tacituslektüre  aufgenommen  ist,  dann  dürfte  auch 
Marcodurum  und  anderes  (z.  B.  Sunuci,  Mattium,  Mattiaci,  Tolbiacum,  Novaesium, 
Gugerni,  Asciburgium,  Tamfana  (dea),  Albruna  usw.  usw.)  nicht  fehlen.  Im  deutsch- 
lateinischen Teil  wundert  man  sich,  daß  z.  B.  für  Worms  die  neulateinische  Form 
Vormatia,  statt  des  echt  römischen  Borbetomagus  gesetzt  ist,  während  doch 
Speier  nicht  mit  dem  mittelalterlichen  Spira,  sondern  dem  antiken  Namenswort 
Noviomagus  benannt  ist.  Der  ursprüngliche  Name  Kölns  ist  nicht  Colonia 
Agrippina,  sondern  C.  Agrippinensis. 

Wenn  das  Buch  auch  heute  noch  dem  Anfänger  dienen  soll,  so  empfehle 
ich  bei  einem  Neudruck  die  Artikel,  die  für  die  Cäsarlektüre  besonders  in  Betracht 
kommen,  durchzusehen:  der  Tertianer,  der  z.  B.  in  Buch  1,  Kap.  21  auf  den  Aus- 
druck ,legatus  pro  praetore'  stößt,  weiß  damit  von  sich  aus  nichts  anzufangen, 
und  bei  seinem  Georges  findet  er  weder  unter  legatus  noch  unter  praetor  diesen 
Ausdruck  verzeichnet. 

Lob  verdient  die  (durch  Fettdruck  bewirkte)  Hervorhebung  der  Stichworte; 
auch  sind  diese  groß  und  klar  gedruckt;  aber  der  übrige  Text  ist  doch  nach 
heutigen  Begriffen  etwas  zu  kompreß  für  Schüleraugen.  Freilich  würde  Billigkeit 
und  Handlichkeit  bei  einer  Änderung  leiden.  Bei  der  Fülle  des  Gebotenen  ist  der 
Preis  sehr  wohlfeil,  zumal  bei  dem  starken  Halbfranzband. 

Düsseldorf.  Franz  Cramer. 


Die  Sermonen  des  Q.  Horatius  Flaccus,  angcz.  von  L.  Ehrenthal.  53 

Die  Sermonen  des  Q.  Horatius  Flaccus.    Deutsch  von    C.  Bar  dt.     Dritte  ver- 
mehrte  Auflage.    Berlin  1907.     Weidmannsche   Buchhandlung.     235  S.    Nach- 
wort mit  Namenregister  22  S.    8".    4  M. 
Die  Bardtsche  Verdeutschung  der  Sermonen  des  Horaz  liegt  nun  in  der  dritten, 
vermehrten  und  nahezu  vollständigen*)  Auflage  vor,  und  weitere  Auflagen  werden 
folgen.    Daran   ist  bei  der  Vortrefflichkeit  dieser  Leistung,  die  in  ihrer  Art  nicht 
überboten  werden  kann,  nicht  zu  zweifeln. 

Über  die  Grundsätze,  die  den  Übersetzer  geleitet  haben,  äußert  sich  dieser 
selbst  in  einem  sehr  lesens-  und  beherzigenswerten  Nachworte.  Unter  verständigen 
Leuten  kann  keine  Meinungsverschiedenheit  darüber  bestehen,  daß  eine  Über- 
setzung nicht  bloß  gelesen,  sondern  auch  genossen  werden  will.  Eine  Ver- 
deutschung, die,  um  verstanden  zu  werden,  erst  noch  eines  Kommentars  bedarf, 
hat,  mag  sie  auch  einen  gewissen  philologischen  Wert  beanspruchen  können, 
ihren  Zweck  verfehlt.  Sie  ist  kein  Kunstwerk  und  verfällt  mit  Recht  dem  Schick- 
sale, im  Laden  des  Buchhändlers  zu  verstauben.  Eine  gute  Verdeutschung  muß 
sich  lesen  wie  ein  Originalwerk,  muß  also  reindeutsch  und  wohllautend  sein. 
Und  diese  beiden  Vorzüge  vereinigt  die  Arbeit  Bardts  in  einem  seltenen  Maße. 
Sie  ist  auch  getreu  im  höheren  Sinne  des  Wortes,  denn  sie  gibt  bei  aller  Freiheit 
im  einzelnen  —  oder  vielmehr  gerade  deshalb  —  Geist  und  Wesen  des  Dichters 
in  bewundernswerter  Weise  wieder. 

Bardt  verzichtet  auf  die  Beibehaltung  des  Versmaßes  und  der  Zeilenzahl.  In 
der  Tat  ist  der  deutsche  Hexameter,  so  vortrefflich  er  sich  in  der  Hand  eines 
Meisters  wie  des  Lukrezübersetzers  Max  Seydel  (Schlierbach)  für  die  Wiedergabe 
von  Dichtungen  im  höheren  Stile  eignet,  viel  zu  spröde,  um  mit  der  wunderbaren 
Feinheit  und  Biegsamkeit,  der  lässigen  Anmut  des  Verses  der  horazischen  Sermonen 
wetteifern  zu  können.  Die  Tatsache,  daß  einem  Geibel  die  Übertragung  einiger 
weniger  Sermonen  geglückt  ist  —  und  zwar  solcher,  die  der  Verdeutschung  besonders 
geringe  Schwierigkeiten  entgegenstellten  — ,  beweist  nichts.  Und  ein  Eideshelfer 
ist  Bardt  in  Blümner  erstanden,  der,  ohne  Bardts  Arbeit  zu  kennen,  in  seiner 
Satura  gleichfalls  den  Hexameter  als  ungeeignet  für  die  Wiedergabe  römischer 
Satiren  verworfen  hat.  Beide  haben  nach  dem  Vorgange  Wielands  den  jam- 
bischen Fünffüßler**)  gewählt  und  beide  diesen  Vers  mit  dem  Reim  geziert,  ohne 
den  er  zu  reizlos  sein  würde.  Bei  Bardt  folgt  gewöhnlich  Reim  auf  Reim,  wie  Vers 
auf  Vers,  nur  selten  kreuzt  er  die  Reime.  Die  Behandlung  des  Verses  wie  des 
Reimes  verdient  das  höchste  Lob  und  muß  auch  das  verwöhnteste  Ohr  vollauf 
befriedigen;  überhaupt  zeichnet  sich  diese  Übertragung  durch  eine  wahrhaft 
glänzende  Form  aus  und  verrät  in  jeder  Zeile  den  Meister.  Die  anmutige  Schön- 
heit, Frische,  Schalkhaftigkeit  und  Liebenswürdigkeit  des  Originals  ist  aufs  glück- 
lichste wiedergegeben,  ja  häufig  ist  der  poetische  Ausdruck  gesteigert.  Auch 
hierin  kann  ich  dem  Verfasser  nicht  Unrecht  geben.  Denn  der  deutsche  Sprach- 
genius ist  nun  einmal  poetischer  als  der  lateinische. 


*)  Es  fehlen  nur  drei  Stücke:  Sat.  I,  8;  II,  4  und  8. 
**)  Nur  für  Sat.  I,  5  ist  der  sog.  Knittelvers  verwandt. 


54  Die  Sermonen  des  Q.  Horatius  Flaccus, 

Das  Buch  trägt  als  Motto  die  Worte  aus  der  ars  poetica: 

Willst  du  in  Wahrheit  treuer  Dolmetsch  sein, 
Mußt  du  zuerst  vom  Wortdienst  dich  befrei'n. 

So  steht  er  denn  seinem  Dichter  mit  der  Freiheit  und,  wenn  ich  so  sagen 
darf,  mit  dem  Selbstbewußtsein  des  gebildeten  Deutschen  unsrer  Zeit  gegenüber, 
dem  die  ganze  Fülle  der  durch  unsre  großen  Dichter  bereicherten  und  verfeinerten 
Sprache  zu  Gebote  steht.  Und  hier  zeigt  sich  ein  besonderer  Vorteil  der  von  ihm 
gewählten  Form:  Sie  gibt  ihm  die  nötige  Gesichtsweite,  den  freien  und  hohen 
Standpunkt,  der  ihn  das  Wesentliche,  den  geistigen  Gehalt,  erkennen  und  das 
Unwesentliche,  die  einzelnen  Worte  und  Wendungen,  nicht  überschätzen  läßt. 
Deshalb  ersetzt  er  Anspielungen  auf  Personen,  Ereignisse  und  Zustände,  die  dem 
deutschen  Leser  unverständlich  sein  müssen,  durch  Beziehungen  auf  Bekannteres, 
statt  eines  Bildes,  das  heute  unklar  sein  würde,  setzt  er  ein  verständlicheres. 
Satzbau  und  Ausdruck  sind  echt  deutsch,  selten  wird  einmal  ein  Vers  weggelassen, 
öfter  einer  oder  mehrere  eingefügt  und  dadurch  ein  Gedanke  deutlicher  gemacht 
oder  ein  Übergang  zu  dem  Folgenden  geschaffen.  Aber  was  er  so  vom  eigenen 
Geiste  gibt,  ist  immer  sachgemäß,  witzig,  poetisch,  sodaß  Horaz,  wenn  er  jetzt 
als  Deutscher  lebte,  es  gedichtet  haben  könnte.  So  machen  einzelne  Stellen  den 
Eindruck  der  Umdichtung. 

Ganz  besonders  ist  auch  der  Takt  zu  loben,  mit  dem  die  Derbheiten  gemildert 
sind,  sodaß  sie  unserm  in  diesen  Dingen  nun  einmal  zarteren  Empfinden  nicht 
widersprechen. 

Ungern  widerstehe  ich  der  Versuchung,  einige  Proben  der  meisterhaften  Kunst 
dieses  Mannes,  der  nicht  nur  ein  feiner  Gelehrter,  sondern  auch  ein  echter  Poet 
st,  anzuführen.  Man  lese  das  Buch  nur  selbst,  und  man  wird  aus  jenem  bei- 
älligen  Schmunzeln  nicht  herauskommen,  das  keinen  geringen  Lohn  für  die 
Mühen  eines  Schriftstellers  bildet.  Und  wer  dann  ins  einzelne  geht  und  ver- 
gleicht, bei  dem  wird  das  Ergebnis  wohl  dasselbe  sein  wie  bei  mir:  helle,  ehr- 
liche Bewunderung. 

Noch  Eines  möchte  ich  hervorheben:  Vielleicht  sagt  man:  Bardt  setzt  zuviel 
hinzu,  und  zur  Begründung  verweist  man  vielleicht  darauf,  daß  die  Verszahl  in 
der  Übersetzung  nahezu  doppelt  so  hoch  ist,  wie  im  Urtexte.  Man  braucht  je- 
doch nur  ein  einfaches  Rechenexempel  anzustellen,  um  einen  solchen  Vorwurf 
widerlegen  zu  können:  Der  Hexameter  hat  13—17  Silben,  der  Bardtsche  Vers 
10—11.  Also  läßt  sich,  angenommen,  die  deutsche  Sprache  brauchte  zum  Aus- 
druck eines  Gedankens  durchschnittlich  ebensoviel  Raum  auf  dem  Papier  wie  die 
lateinische,  im  jambischen  Quinar  erheblich  weniger  sagen  als  im  Hexameter.  Nun 
trifft  aber  jene  Annahme  nicht  zu:  Das  Deutsche  braucht  mehr  Raum  als  das  ge- 
drungenere Lateinische.  Infolgedessen  setzt  Bardt  sehr  oft  statt  eines  lateinischen 
Verses  ein  deutsches  Verspaar,  das  nun  mit  seinen  20—22  Silben  allerdings  reich- 
lichen Platz  zur  Entwicklung  des  bei  Horaz  oft  zu  so  großer  Kürze  zusammen- 
geballten Gedankens  und  auch  noch  die  Möglichkeit  kleiner  verdeutlichender  oder 
schmückender  Zusätze  bietet,  die  für  die  Wirkung  sehr  vorteilhaft  sind,  und  die 
Bardt  auf  das  glücklichste  anzubringen  versteht. 


angez.  von  L.  Ehrenthal.  55 

Alles  in  Allem:  Als  der  Verfasser  die  Feder  führte,  hat  ihm  die  Muse 
lächelnd  über  die  Schulter  geblickt,  und  wenn  der  selige  Horaz  wieder  auflebte  und 
in  Fleisch  und  Blut  jetzt  unter  uns  weilte,  bei  niemandem  würde  er  lieber  und 
häufiger  Einkehr  halten,  als  bei  dem  Manne,  der  den  anmutigsten  Kindern  seiner 
Muse  ein  neues  Leben  im  deutschen  Volke  geschenkt  hat,  bei  dem  trefflichsten 
seiner  Übersetzer. 

Horaz'  Jamben-  und  Sermonen-Dichtung.  Vollständig  in  heimischen  Versformen 
verdeutscht  von  Karl  Staedler.  Berlin  1907.  Weidmannsche  Buchhandlung. 
VIIl  u.  206  S.    8".    3  M. 

Die  Staedlersche  Übertragung,  mit  der  dem  Leser  nach  der  früher  erschienenen 
Odenübersetzung  nun  ein  vollständiger  deutscher  Horaz  geboten  wird,  wandelt 
insofern  in  denselben  Bahnen,  wie  die  Bardtsche,  als  auch  sie  überall  mit  Aus- 
nahme der  ars  poetica  das  antike  Versmaß  durch  moderne,  gereimte  Form  ersetzt. 
Diese  ist  in  den  Satiren  der  sogenannte  Knittelvers,  während  die  Episteln  die  aller- 
verschiedensten  Formen  aufweisen:  außer  dem  genannten  Versmaß  jambische  und 
trochäische  Zeilen  mit  5,  6,  7,  8  Hebungen,  darunter  auch  den  Alexandriner.  In 
Epist.  II,  1  wagt  es  der  Verfasser  sogar  ohne  jeden  erkennbaren  Grund,  innerhalb 
der  270  Verse  des  an  Augustus  gerichteten  Gedichtes  die  metrische  Form  nicht 
weniger  als  zehnmal  zu  wechseln,  sodaß  dem  Leser  infolge  des  ewigen  Schaukeins 
ganz  wunderlich  zumute  wird.  Auch  die  übrigens  wohl  gelungene  Übersetzung 
der  ars  poetica  wendet  drei  verschiedene  Versmaße  an,  darunter  zwei  antike: 
Hendekasyllaben,  jambische  Trimeter,  die  mit  aristophanischer  Freiheit  behandelt 
sind,  und  jambische,  reimlose  Fünffüßler.  Der  Gedanke,  daß  Horaz  doch  wohl 
seine  guten  Gründe  gehabt  haben  muß,  um  seinen  sämtlichen  Sermonen  dieselbe 
Form  zu  geben,  liegt  nahe  genug.  Außerdem  hat  jedes  Versmaß  seinen  eigenen 
Stil,  den  es  demjenigen,  der  es  anwendet,  aufzwingt,  mag  er  wollen  oder  nicht. 
Also  entsteht  durch  das  von  Staedler  angewandte  Verfahren  eine  Unruhe  im  Stil, 
die  einer  einheitlichen  Wirkung  der  Sermonen  im  ganzen  nicht  günstig  ist.  Von 
der  für  die  Epoden  angewandten  Form  möchte  ich  erst  am  Ende  dieser  Anzeige 
sprechen. 

Der  moderne  Vers  drängt  mit  heilsamem  Zwange  den  Übersetzer  eines  antiken 
Dichters  dazu,  den  Gedanken  völlig  ins  Deutsche  umzudenken,  während  derjenige, 
der  das  Versmaß  der  Urschrift  beibehält,  eher  Gefahr  läuft,  zu  sehr  am  Texte 
kleben  zu  bleiben.  Wer  nun  aber  erwartet,  daß  Staedler,  der  sich  von  der  antiken 
Form  so  weit  entfernt,  nun  auch  entschlossen  den  zweiten  Schritt  tun  und  ebenso 
radikal  in  der  sprachlichen  wie  in  der  metrischen  Form  sein  werde,  der  sieht  sich 
leider  oft  betrogen.  In  Satzbau,  Wortstellung  und  Ausdruck  finden  sich  störende 
Latinismen,  manche  Stellen  sind  dunkel  und  ohne  Kommentar  unverständlich, 
andre  hart  und  undeutsch  geraten.  In  Epist.  I,  15  läßt  er  ebenso  wie  das  latei- 
nische Vorbild  erst  v.  25  den  Nachsatz  auf  die  ungeheure  Periode  folgen,  was  im 
Deutschen  nicht  zu  ertragen  ist.  S.  128  heißt  es:  Wo  Claudius  jetzt  des  Landes  führt 
sein  Heer.  S.  144:  Wie  sie  dir  erschienen,  laß,  Bullaz,  mich  fragen,  Ruhmvoll 
Chios,  Lesbos.  S.  145:  mit  wegzuwünschendem  Schlamm.  S.  70:  Nicht  toller 
magst  du  Holz  zum  Walde  fahren  Als  mehren  der  Griechen  Dichterscharen.  Selbst 


56  Die  Sermonen  des  Q.  Horatius  Flaccus,  angez.  von  L.  Ehrenthal. 

wo  der  Text  nicht  dazu  verführt,  kommen  Dinge  vor,  wie  S.  145:  Wenn  du  dir 
von  den  Früchten  machst  den  richtigen  Genuß.  S.  115:  Bei  Nasidien  dem  reichen 
wie  hast  du  dich  amüsiert?  S.  153:  Erlogne  Ehr'  und  Schande  freut  oder  schreckt 
nur  —  wen  ?  Bildungen  wie  Kriegesmann,  Hufeschlag,  Faustesschlag  (!),  Geist- 
kraft, Lachlärm,  Feigstamm,  Gelübdbild,  Fußwaschfaß,  Brausesyrte,  Zwie-Eintracht, 
Frei-Leer-Götterfrau  (Vacuna),  Amterei,  Heiltum  (=  Heiligtum)  und  so  häßliche 
Fehler  wie:  „'nen  Purpurzottentuch  (also  der  Tuch!),  trachten  aufs  Laster,  lehrt 
er  mir"  stören  recht  erheblich.  Berolinismen  wie  „Radau,  Musike,  ne  (=  nein,  noch 
dazu  im  Reime),  bibbern,  lachhaft.  Nanu,  was  ist  denn  los?"  passen  für  den 
ästhetisch  und  weltmännisch  fein  gebildeten  Dichter  nicht.  Überhaupt  ist  der 
ganze  Ton  oft  zu  niedrig,  besonders  in  den  Knittelversen,  die  ja  dazu  verführen 
mögen.  Man  vergleiche  einmal  den  Anfang  der  Epistel  an  Tibull  (S.  130)  mit 
dem  Text  und  darauf  mit  der  Übersetzung  Geibels  oder  Bardts. 

Vers  und  Reim  sind  mit  großer  Freiheit  behandelt,  zuweilen  mit  glücklicher 
Kühnheit,  die  jedoch  manchmal  wieder  zu  weit  geht.  So  S.  104  in  den  Worten, 
die  an  den  bekannten  Vers  von  dem  dichtenden  Schuhmacher  Hans  Sachs  er- 
innern: „Man  (im  Reim)  bringt  nimmer  sie  weg,  wie  den  Hund  vom  trän  —  Getränkten 
Leder,"  wo  man  und  trän  reimen. 

Auf  Wohllaut  des  Verses  wird  wenig  Wert  gelegt,  und  das  einem  Dichter 
gegenüber,  der,  wie  er  die  Vernachlässigung  der  Form  bei  den  älteren  römischen 
Dichtern  scharf  und  nicht  immer  gerecht  rügte,  so  sich  in  seinen  eigenen  Werken 
der  saubersten  Form  befleißigte,  einer  Form,  die  nicht  den  geringsten  Reiz  seiner 
Dichtungen  ausmacht. 

Trotz  dieser  Ausstellungen  muß  anerkannt  werden,  daß  dem  Verfasser  manches 
recht  gut  gelungen  ist,  daß  manche  Stellen  kräftig  und  frisch  wirken  und  den 
Gedanken  zu  schlagendem  Ausdruck  bringen.  So  die  letzten  Zeilen  von  Sat.  1,  8, 
dieser  derben  Posse,  für  die  sich  auch  das  Versmaß  besonders  gut  eignet: 

„Und  wie  man  rundum  fliegen  sah 

Hier  das  Gebiß  der  Canidia, 

Die  Perücke  dort  der  Sagana, 

Die  Zauberkräuter  und  -knoten  —  ah, 

Das  war  ein  Hauptspaß,  hahahal" 

So  erinnern  die  in  diesem  Versmaß  geschriebenen  Stücke  an  ihren  besten  Stellen 
bald  an  Hans  Sachs,  bald  an  den  jungen,  kraftgenialischen  Goethe,  wenn  auch 
freilich  der  wirkliche  Horaz  weder  dem  einen  noch  dem  andern  glich.  Neben 
der  Bardtschen  Übersetzung  erscheinen  sie  wie  ein  derber  Holzschnitt  neben  einem 
feinen  Kupferstich. 

Die  obszönen  Partien  sind  mit  großer  Offenheit  behandelt,  sodaß  immer  das 
eigentliche  Wort  dasteht  und  der  Vorgang  völlig  nackt  erscheint.  Aber  wir  leben 
nun  einmal  in  einer  Zeit  der  Hosen  und  Unterröcke,  und  was  ein  Mann  von 
Bildung  und  Geschmack  zur  Zeit  des  Augustus,  ohne  Anstoß  zu  erregen,  sagen 
und  schreiben  konnte,  das  wirkt,  wenn  unverhüllt  ins  Deutsche  übertragen,  leicht 
roh.  Hier  scheint  mir  eine  mehr  andeutende  und  witzig  verschleiernde  Behand- 
lung angebracht  zu  sein. 


J.  Bezard,  La  Gasse  de  Fran9ais,  angez.  von  W.  Bohnhardt.  57 

Noch  ein  Wort  über  die  Übersetzung  der  Jamben,  die  der  der  Sermonen  vor- 
ausgeht: Ich  will  mich  auf  grundsätzliche  Erörterungen  darüber  nicht  einlassen, 
ob  es  ratsam  sei,  die  lyrischen  Versmaße  des  Horaz,  die,  mit  einer  einzigen  Ausnahme, 
von  unsrer  durch  Klopstock,  Hölderlin  und  Platen  geschulten  Sprache  trefilich 
nachgebildet  werden  können,  fallen  zu  lassen  und  durch  moderne  Reimverse  zu 
ersetzen.  Dies  aber  scheint  mir  festzustehen:  Wer  es  wagt,  auf  den  hohen  Reiz 
des  antiken  Rhythmus  zu  verzichten,  der  muß  Ersatz  dafür  leisten.  Er  muß  den 
modernen  Vers  alle  seine  Schönheiten  entfalten  lassen.  Er  muß,  was  Wohllaut, 
richtigen  metrischen  Bau,  Reinheit  und  Fülle  der  Reime  anlangt,  den  höchsten 
Anforderungen  genügen.  Wer  der  antiken  Dichtung  den  edlen  Faltenwurf  ihres 
rhythmischen  Gewandes  nimmt  und  sie  dafür  mit  dem  dünnen  Röcklein  einer 
jambischen  oder  trochäischen  Strophe  von  vier  Zeilen  mit  zwei  angenähten  Reim- 
glöcklein  bekleidet,  die  noch  dazu  nicht  immer  rein  zusammenklingen,  wer  Hiaten 
nicht  vermeidet  und  Verse  mit  unterlaufen  läßt,  die  dem  Ohre  weh  tun,  dem  mag 
im  einzelnen  manches  gute  Wort  gelingen,  im  ganzen  gleicht  er  dem  Knaben,  der 
einen  erprobten  Schützen  die  schlanken,  scharfen,  klingenden  Pfeile  in  das  Ziel 
hat  schießen  sehen  und  nun  nach  demselben  Ziele  seine  harmlosen  Rohrpfeile 
von  seinem  Flitzbogen  schnellt.  Die  bei  Besprechung  der  Sermonen  gerügten 
Fehler  finden  sich  nun  auch  in  der  Verdeutschung  der  Epoden,  und  so  stolpert 
man  denn  über  Verse  wie:  „Welch  Gift  tobt  im  L^ib  mir  doch.  In  Weibsdienst, 
in  —  weh  die  Nächwelt.  Ha,  willst  noch  mehr  mir,  Himmel!"  und  über  Kon- 
struktionen wie:  „Daß  Du  einem  Vorgezognen  Schenkest  Nacht  für  Nacht,  0  nein I 
(wobei  der  Daß-satz  von  nein  abhängig  ist).  Sieh,  Du  selbst  ja  brennst  wiesehr! 
Mein  wartet  welches  Ende  und  welche  Buße?  sprich!"  —  eine  Frageform,  die 
leider  in  der  Schulstube  noch  vorkommt,  aber  in  ein  Gedicht  wahrlich  nicht  gehört 
Ganz  verfehlt  ist  das  Versmaß  Epod.  5,  eine  vierzeilige  jambische  Strophe  in  der 
V.  1  und  4  reimen,  während  v.  2  und  3  reimlos  und  händeringend  in  der  Mitte 
stehen.  Man  vergleiche  die  wenigen  von  Geibel  im  Klassischen  Liederbuch  über- 
setzten Epoden!  Bedeutet  die  Staedlersche  Übersetzung  der  Epoden  einen  Fort- 
schritt und  ist  sie  in  höherem  Maße  geeignet,  diese  Gedichte  dem  Verständnis  ge- 
bildeter Laien  zu  erschließen?    Ich  möchte  es  bezweifeln. 

Schleusingen.  L.  Ehrenthal. 

Bezard,  J.,   La   Classe   de   Fran^ais.    Journal  d'un  Professeur  dans  une 
division   de   Seconde  C   (latin-sciences).    Paris  1908.    Vuibert  et  Nony, 
editeurs.    63,  Boulevard  Saint-Germain.    20/12».    320  S.    brosch.  3,50  Frs. 
Vorliegendes    Tagebuch    scheint    vielleicht    manchem    Fachgenossen    wegen 
der  Verschiedenheit   der  französischen  Methode   von   der   unserigen   eine  beson- 
dere Beachtung   nicht    zu    verdienen.     Aber  gerade  weil   sich   aus   dieser  ver- 
schiedenen  Auffassung  in   beiden  Ländern  (die  in  Wirklichkeit  gar  nicht  so  groß 
sein  dürfte,  wie  der  Verfasser  dem  Referenten  schreibt:  „rien  ne  peut  m'^tre  plus 
agreable  que  de  constater  entre  nous  un  accord  aussi  complet")  Lehrreiches  genug 
ergibt,  und  weil  die  Schrift  unendlich  mehr  bietet,  als  der  bescheidene  Titel  ahnen 
läßt,  wird   eine  Anzeige   nicht  unwillkommen  sein.    Auch  in  Deutschland  haben 
wir  unter  den  vielen  Arbeiten  dieser  Art  einige,  die  frei  von  allgemeinen  Urteilen 


58  J-  Bezard,  La  Classe  de  Frangais,  angez.  von  W,  Bohnhardt. 

und  hohlen  Phrasen  sich  auf  die  Darstellung  einer  wirklich  vollzogenen  Lehr- 
tätigkeit beschränken  und  dadurch  vornehmlich  dem  jungen  Lehrer  nützen  können. 
Dankbar  sei  in  dieser  Hinsicht  der  von  G.  Weitzenböck  in  seinen  beiden  anspruchs- 
losen „Tagebüchern  des  französischen  Unterrichts  in  der  L  und  II.  Klasse"  (Graz 
1894  und  1896)  ausgehenden  Anregung  gedacht.  Ebenso  stützt  sich  Kollege 
Bezard  nur  auf  zuverlässige  Tatsachen,  d.  h.  auf  schriftliche  und  mündliche  Ar- 
beiten der  Schüler,  auf  eigene  Beobachtung  und  zeichnet  nach  der  Natur,  ohne 
etwa  geschehene  Mißgriffe  zu  beschönigen,  seinen  Lehrgang  des  französischen 
Unterrichts  in  einer  Sekunda  C,  in  der  ihm  bei  dem  Übergewicht  des  Latein  und 
der  Naturwissenschaften  nur  drei  Stunden  für  die  Muttersprache  zur  Verfügung 
stehen.  Ohne  Anspruch  darauf  zu  machen,  die  Wissenschaft  fördern  zu  wollen, 
hofft  er  aus  dem  Austausch  der  gegenseitigen  Erfahrungen,  wenn  seinem  Bei- 
spiele auch  Vertreter  anderer  Fächer  folgen  würden,  mancherlei  Nutzen  für  seine 
und  ihre  Methode.  Aber  auch  für  den  deutschen  Neuphilologen  bietet  die  Schrift 
viele  interessante  Momente.  Zum  Beweise  hierfür  wird  die  Hervorhebung  nur 
einiger  charakteristischer  Kapitel  (von  32)  genügen.  Sie  bergen  eine  Fülle  von 
wertvollen  Beobachtungen  und  Winken.  Kap.  1:  Conseils  generaux  sur  la  nar- 
ration;  9.  Lecture  methodique  d'un  auteur;  10.  Reflexions  sur  un  tableau; 
18.  Analyse  d'un  caractere  tire  d'une  comedie;  20.  Une  comparaison.  In  all  diesen 
Abschnitten  läßt  sich  Bezard  auf  eine  gründliche  Kritik  der  schriftlichen  Arbeiten 
der  15  bis  16jährigen  Schüler  ein  und  zeigt  an  einer  Vergleichung  der  besten 
und  schlechtesten,  wie  der  Stil  an  Klarheit,  Schärfe  und  Leichtigkeit  gewinnen 
kann  und  wie  durch  fortwährenden  Hinweis  auf  die  Anforderungen  der  Ästhetik 
der  Takt  und  Sinn  für  schönen  und  edlen  Ausdruck  erfolgreich  zu  pflegen  ist. 
Ein  solches  zum  französischen  Aufsatz  anleitendes  Buch  mit  den  nötigen  techni- 
schen Ausdrücken  —  über  die  sich  unsere  jungen  Lehrer  meist  nicht  recht  im 
klaren  sind  —  erleichtert  die  Korrektur  ungemein,  spart  Zeit  und  Mühe  und  leistet 
einem  die  Gewähr,  den  Schülern  auch  wirklich  idiomatisch  Richtiges  zu  bieten. 
Dabei  ist  die  Anlage  derartig,  daß  sie  dem  Lehrenden  noch  genug  Selbsttätigkeit 
läßt.  Wie  würde  ich  eine  ähnliche  Anleitung  begrüßt  haben,  als  Geheimrat  Matthias 
den  Anfänger  im  Lehramt  mit  dem  französischen  Unterricht  der  Realabiturienten 
betraute  mit  dem  Bedeuten,  nun  schwimmen  zu  lernen  und  sich  selbst  zu  helfen. 
In  dem  Abschnitt  „Auswahl  der  Themata"  (S.  177  ff.)  bekundet  der  Verfasser 
seine  Freude  über  eine  gewisse  zufällige  Übereinstimmung  mit  P.  Cauers  „Von 
deutscher  Spracherziehung"  (S.  237)  in  der  Stellung  von  Themen  ganz  persön- 
lichen Inhalts  (sujets  personnels)  wie:  „Que  voulez-vous  etre,  et  pourquoi?" 
Ma  vie  u.  a.  Diese  Bekanntschaft  vermittelte  ihm  sein  Amtsgenosse,  der  Fach- 
lehrer des  Deutschen,  als  er  sich  mit  der  Frage  beschäftigte,  ob  auf  den 
deutschen  Gymnasien  ähnliche  Aufsätze  zur  Bearbeitung  gelangten.  Erwähnung 
verdient  weiter  Kapitel  17:  „Lettres  familieres:  Un  chapitre  de  la  civilite  puerile 
et  honnSte."  In  diesem  unterzieht*  Bezard  die  üblichen  Wendungen  des  Briefstils 
eingehender  Prüfung,  führt  einfache,  kurze,  von  den  Schülern  selbst  verfaßte 
Muster  (lettre  au  professeur,  lettre  d'affaires)  vor  und  warnt  vor  zu  vielen  Phrasen 
•und  Höflichkeitsformeln.  Hier  finde  ich  eine  beherzigenswerte  Mahnung.  Noch 
immer  legen  wir  nicht  genügend  Nachdruck  darauf,  unsere  Schüler  mit  der  äußern 


Ed.  Heyck,  Deutsche  Geschiclite,  angez.  von  W.  Meiners.  59 

Form  des  französischen  (und  selbst  des  deutschen)  Briefes  bekannt  zu  machen, 
sie  zu  lehren,  nicht  nur  kurze  Erzählungen  in  die  Formen  desselben  zu  kleiden, 
sondern  auch  einfache  Gelegenheitsbriefe  zu  verfassen.  Vor  allem  dürfte  es  Auf- 
gabe der  Realsekunda  sein,  dem  ins  praktische  Leben  eintretenden  jungen  Mann 
diese  Fertigkeit  mitzugeben.  —  Kap.  33  mit  „Vorschlägen  für  die  besten  und  ge- 
eignetsten Bücher  als  Privatlektüre  an  Regentagen"  zeigt  uns  die  Wertschätzung 
mancher  in  Deutschland  beliebten  Werke  in  der  Heimat  selbst.  So  werden  zur 
Kenntnis  des  Altertums  empfohlen  Boissier,  Cic^ron  et  ses  amis  (la  vie  privee, 
Atticus),  das  in  Ausschnitten  als  Ergänzung  der  klassischen  Lektüre  unserem 
Realprimanern  ein  fesselndes  Buch  war,  und  die  vier  ersten  Kapitel  des  hoch- 
bedeutenden Fustel  de  Coulanges:  „La  Citd  antique",  die  bereits  von  mir  in  der 
Monatschrift  VII,  379  gewürdigt  wurde.  Unter  den  Schriften  auf  dem  Gebiete: 
„Geographie  economique,  commerce  et  Industrie"  hebt  er  besonders  den  von  uns 
meist  anders  beurteilten  J.  Huret  hervor  mit  seinem  „En  Amerique"  und  „En 
Allemagne:  Rhin  et  Westphalie".  Vor  allem  möchte  der  Verfasser  Hurets  Grund- 
satz den  Schülern  ans  Herz  legen:  „se  tenir  au  courant  des  dernieres  decouvertes, 
chercher  toujours  ce  qui  est  nouveau,  et  s'en  servir  avant  les  autres."  Das  Nach- 
wort verspricht  einen  Lehrbericht  über  die  Prima.  Der  Kunst  des  Schreibens 
soll  die  Kunst  des  Lesens  folgen,  d.  h.  in  dem  neuen  Tagebuch  will  Bezard 
seine  Methode  in  der  Erklärung  der  Autoren  der  öffentlichen  Beurteilung  unter- 
breiten. Vermag  dieser  oder  jener  Fachgenosse  dem  liebenswürdigen  Bericht- 
erstatter auch  in  einzelnen  Ansichten  nicht  zu  folgen,  er  wird  in  seinem  Journal 
doch  vieles  finden,  das  zum  Nachdenken  anregt  und  zur  Nachahmung  auffordert. 
Dem  in  schöner  Sprache  geschriebenen  inhaltsvollen  Buch,  das  sich  bis  zur  letzten 
Seite  amüsant  liest,  bin  ich  selbst  für  die  Erschließung  mir  neuer,  Beachtung  ver- 
dienender Gesichtspunkte  zu  lebhaftem  Danke  verpflichtet.  Sein  Wert  wird  noch 
erhöht  durch  den  Schmuck  von  5  Drucken  nach  Photographien  (z.  B.  P^n^lope 
endormie,  le  tombeau  de  Rousseau,  Hoche)  als  Anschauungsbilder  für  zu  be- 
schreibende Gemälde. 

Düsseldorf.  W.  Bohnhardt. 

Heyck,  Ed.,  Deutsche  Geschichte.    Mit  zahlreichen  Abbildungen,  Karten  und 

Beilagen.    3  Bände.    Bielefeld  u.  Leipzig  1905  u.  1906.    Velhagen  u.  Klasing. 

Insgesamt  XX  u.  1870  S.    gr.  8».    geb.  43,50  M. 

Heyck,    durch  die  „Monographien  zur  Weltgeschichte"   als  Herausgeber  und 

Geschichtsschreiber  längst  weithin  bekannt,  verfolgt  mit  seiner  Deutschen  Geschichte 

denselben  Plan  wie  mit  jenen  Monographien.    Er  will  der  Masse  der  Gebildeten 

eine  Geschichte    unseres  Volkes  zugänglich  machen,    die,   wie  es  im  „Plan"  der 

Monographien  von  diesen  heißt,  „befreit  von  dem  Beiwerk  gelehrter  Spezialerörte- 

rungen    die   Zusammenfassung   oder    den    bisher   vollkommensten   Abschluß    der 

Forschung  enthalten  und  in  schöner,  ebenso  anregender  wie  verständlicher  Weise 

zur  Darstellung   bringen   soll".    Wie   in    den   „Monographien"    ist   ferner  in  der 

Deutschen  Geschichte  das  Prinzip  der  authentischen  Illustrierung  in  reichhaltigstem 

Maße  zur  Anwendung  gekommen;  die  Schätze  von  Sammlungen  und  Bibliotheken 

sind  durchforscht  und  in  ausgezeichneten  Abbildungen,  zu  denen  Photographien 


60  Ed.  Heyck,  Deutsche  Geschichte, 

von  Landschaften  und  Baudenkmälern  kommen,  wiedergegeben  worden.  Das 
Buch  ist  in  dieser  Hinsicht  eine  einzigartige  Erscheinung,  neben  der  sich  die 
Deutsche  Geschichte  von  Stacke  nicht  mehr  sehen  lassen  kann.  Über  den  Wert 
solcher  Beigaben  wird  heute  kaum  noch  einer  ernsthaft  streiten,  und  ich  stehe 
nicht  an,  dafür  dem  Verfasser  und  Verleger  in  jeder  Hinsicht  volles  Lob  zu  zollen, 
auch  das,  daß,  soweit  ich  sehe,  die  Forderung,  der  Bildschmuck  dürfe  den  Text 
nie  zurückdrängen,  sondern  ihn  nur  sinngemäß  begleiten,  mit  Erfolg  beobachtet 
worden  ist.  Ernstliche  Bedenken  hinsichtlich  der  Zweckmäßigkeit  der  Bildbeigabe 
sind  mir  nur  an  wenigen  Stellen  aufgetaucht,  so  Bd.  I,  S.  370  bei  der  Mitteilung 
einer  Photographie  von  der  abgehauenen  Hand  Rudolfs  von  Schwaben  oder 
Bd.  III,  S.  243  bei  der  Wiedergabe  eines  Gemäldes  vom  Zwerg  Perkeo. 

Heyck  hat  seine  Aufgabe  selbst  umgrenzt,  dadurch  daß  er  dem  Haupttitel 
„Deutsche  Geschichte"  hinzugefügt  hat:  „Volk,  Staat,  Kultur  und  geistiges  Leben." 
Er  will  also  nicht  bloß  eine  Geschichte  des  deutschen  Reiches  geben.  Die  Folge 
ist,  daß  er  zunächst  auf  etwa  250  Seiten  nach  einer  kurzen  geographischen  Ein- 
leitung die  Praehistorie  und  Historie  der  westgermanischen  Völker  des  Festlands 
und  die  Entwicklung  ihrer  Kultur  darstellt  bis  zu  ihrer  Vereinigung  mit  Romanen, 
Slawen  und  Kelten  zu  dem  Universalreich  Karls  des  Großen.  Er  ist  damit  zu  dem 
Begriff  gekommen,  der  das  weitere  Mittelalter,  auch  das  deutsche,  beherrscht,  dem 
Begriff  des  universellen  Imperiums.  Der  Streit  um  dieses  zwischen  dem  mit 
Deutschland  verknüpften  Kaisertum  und  dem  römischen  Papsttum  und  der  Sieg 
der  Kirche,  der  Hand  in  Hand  mit  der  Aufrichtung  der  Herrschaft  ihrer  Gedanken- 
welt über  die  Gemüter  erfolgte,  ist  der  wesentliche  Inhalt  der  mittelalterlichen 
deutschen  Geschichte.  Deren  Darstellung  nimmt  den  Rest  des  I.  Bandes  (247  S.) 
ein  und  erstreckt  sich  noch  über  die  ersten  254  Seiten  des  zweiten,  die  zunächst  eine 
Geschichte  der  mittelalterlichen  Territorien  enthalten  und  weiterhin  auf  200  Seiten 
eine  Schilderung  der  Zustände  und  Kultur  der  mittelalterlichen  Kaiserzeit.  Mit 
dem  Jahre  1273  beginnt  Heyck  den  zweiten  Abschnitt  seines  Werkes,  den  er 
„das  Werden  der  neuen  Zeit"  überschreibt  und  mit  1648  endet.  Diese  Perioden- 
einteilung ist  nicht  so  neu,  wie  Heyck  meint  (II,  257):  ich  finde  sie  schon  in  der 
1889  erschienenen  deutschen  Geschichte  von  Kaemmel.  Sie  folgt  ohne  weiteres 
aus  der  vorher  gegebenen  Charakteristik  des  Mittelalters,  dessen  Ende  naturgemäß 
ausgemacht  wird  durch  die  Abräumung  des  universellen  Imperiums  und  durch  das  Er- 
starken des  nationalen  Gedankens  auf  der  einen  Seite  und  „der  das  Irdische  in 
sein  Recht  einsetzenden  Lebensidee"  auf  der  andern.  Alles  dies  setzt  während 
der  Kreuzzüge  ein  und  ist  bis  1648  zum  bestimmenden  Faktor  geworden.  Nur 
möchte  ich  die  ausführliche  Begründung,  die  Heyck  auf  S.  255—260  für  seine 
Periodenteilung  gibt,  nach  zwei  Seiten  hin  etwas  ergänzen.  Auf  der  einen  würde 
ich  nicht  wagen,  der  Zeit  von  1273—1648  die  Aufgabe  zuzuschreiben,  schlechthin 
mit  den  Trümmern  des  Mittelalters  aufgeräumt  zu  haben:  dazu  bedurfte  es  bis 
1789  und  noch  länger.  Sodann  sähe  ich  gern  in  dieser  prinzipiellen  Erörterung 
ein  Moment  stärker  hervorgehoben,  das  wie  kein  zweites  der  Richtigkeit  unserer 
Einteilung  gerade  für  die  Geschichte  Deutschlands  das  Wort  redet.  Daß  hier  der 
herrschende  Partikularismus  das  erstarkende  Nationalgefühl  zu  einem  staatlichen 
Zusammenschluß  nicht  kommen  ließ,   hat  Heyck  betont;   ebenso,   daß  gerade  bis 


angez.  von  W,  Meiners.  61 

1648  der  Partikularismus  sein  zersetzendes  Werk  so  gut  wie  vollendet  hat.  Daß 
aber  auf  der  anderen  Seite  wiederum  in  der  Zeit  um  1648  der  Mann  regierte,  der 
den  brandenb.-preuß.  Einheitsstaat  begründet  und  damit  den  Keim  zum  späteren 
deutschen  Reiche  gelegt  hat,  dafür  vermisse  ich  an  der  angeführten  Stelle  den 
Hinweis.  In  der  weiteren  Darstellung  der  Ereignisse  selbst  tritt  freilich  die  Tat- 
sache deutlich  genug  hervor.  Nachdem  der  II.  Abschnitt  den  Rest  des  II.  Bandes, 
d.  h.  417  S.,  gefüllt  hat,  folgt  im  dritten  von  S.  13  an  —  die  ersten  12  Seiten 
füllen  wertvolle  Regententafeln,  die  freilich  besser  an  das  Ende  des  Bandes  gestellt 
worden  wären  —  der  nächste  Abschnitt:  „Das  Werden  des  deutschen  Reiches", 
in  den  allerdings  auf  S.  23—111  die  Fortsetzung  der  Geschichte  der  Territorien 
bis  ca.  1648  (vgl.  II,  1—55)  störend  eingesetzt  worden  ist.  In  diesem  Abschnitt 
ist  nun  aber  durchweg  die  Darstellung  der  brandenb.-preuß.  Angelegenheiten  in 
den  Vordergrund  gestellt  worden  in  der  richtigen  Erkenntnis,  daß  nicht  denjenigen 
Linien  zu  folgen  sei,  „die  sich,  vom  Standpunkt  der  deutschen  Entwicklung 
gesehen,  tot  laufen,  sondern  denen,  die  zu  der  Gestaltung  der  nationalen  Zukunft 
führen«  (III.  239).  Als  Schluß  des  dritten  Bandes  folgt  auf  S.  586—639  die  Ge- 
schichte des  neuen  deutschen  Reiches  bis  zur  Gegenwart,  in  deren  Darstellung 
ebenso  wie  in  der  der  beiden  letzten  Jahrzehnte  vor  1871  manchem  hier  und  da 
größere  Ausführlichkeit  erwünscht  sein  dürfte.  Jeder  der  3  Bände  enthält  ein  um- 
fangreiches, nach  Stichproben  zu  schließen  zuverlässiges  alphabetisches  Register, 
Band  I  außerdem  noch  als  Anhang  eine  Darstellung  der  vorgeschichtlichen  Wohnsitze 
der  Germanen. 

Heycks  Deutsche  Geschichte  ist  kein  Standard -Work,  von  der  Art  etwa,  wie 
Eduard  Meyers  griechische  Geschichte,  Dazu  fehlt  ihr  vor  allem  das  eine,  daß 
Heyck  es  nicht  unternimmt,  die  großen  Gesichtspunkte  herauszustellen,  die  sich 
in  allem  Detail  geltend  machen,  oder,  besser  gesagt,  daß  er  diese  zwar  gelegentlich 
im  Zusammenhange  der  Darstellung  mitteilt,  aber  nicht  von  ihnen  ausgeht,  sie 
nicht  als  Leitsätze  hinstellt,  um  so  das  Detail  dem  wahren  Verständnis  nahezu- 
bringen. Damit  hängt  dann  weiter  zusammen,  daß  zwar  die  Darstellung  der 
Kultur  und  des  Zuständlichen  oft  (vgl.  Kap.  VIII)  mit  einer  Ausführlichkeit 
gegeben  wird,  wie  sie  in  einem  Handbuch  der  deutschen  Altertümer  am  Platze 
wäre,  daß  aber  eben  die  Entwicklung  von  Volk,  von  Staat,  von  Kultur  und  geistigem 
Leben  sich  zu  wenig  durchdringen,  zu  wenig  als  einheitliche  Lebensäußerungen  er- 
scheinen. Die  Rechtfertigung  dieser  vom  Verfasser  selbst  als  „darstellerische  Barbarei" 
(Bd.  III,  316)  empfundenen  Teilung  durch  den  Hinweis  auf  ihre  praktische  Be- 
währung will  mir  nicht  einleuchten. 

Auf  der  andern  Seite  stehe  ich  nicht  an,  dem  Heyckschen  Buche  unter  den 
vorhandenen  vollständigen  Werken  über  deutsche  Geschichte,  soweit  sie  den 
gleichen  Zweck  verfolgen,  die  eine  hervorragende  Stelle  zuzuschreiben.  Der  vor- 
geschrittene Primaner,  der  Student,  auch  der  Geschichtsieh rer  und  weiter  jeder 
Gebildete  wird  gern  und  mit  Nutzen  zu  dem  Buche  greifen,  wird  gern  in  die  Schule 
gehen  bei  einem  Manne,  dessen  Forschungsgrundsatz  ist,  nicht  in  das  geschichtliche 
Bild  der  Vergangenheit  den  Maßstab  der  Gegenwart  hineinzutragen  (II,  192), 
sondern  jede  Zeit  aus  sich  selbst  heraus  verstehen  zu  lernen  (II,  249,  605 ;  1, 426), 
der  seine  Stellung  gegenüber  allem  geschichtlichen  Werden  selbst  durch  die  Worte 


62  Ed.  Heyck,  Deutsche  Geschichte,  angez.  von  W.  Meiners. 

kennzeichnet:  „Kein  geschichtlicher  Zustand  hat  das  Anrecht  auf  ewige  Fossilie- 
rung; jeder  besteht  nur,  solange  die  Kräfte,  die  ihn  herbeigeführt  haben,  in 
lebendiger  Stärke  fortbestehen.  Alle  Staatengeschichte  ist  von  je  ein  unablässiges 
Revidieren  des  Bestehenden  gewesen,  und  nur  die  politische  Degeneration  hat 
jeweils  dem  Recht  der  lebendigen  das  der  toten  Kräfte  vorangestellt"  (III,  124), 
und  der  einen  bleibenden,  wirksamen  geschichtlichen  Fortschritt  erst  dann  als 
vollzogen  ansieht,  wenn  die  Gesamtheit,  wenn  alle  mitgenommen  werden  (II,  403). 
Bei  einem  Manne  endlich,  der  so  hoch  und  warm  von  deutschem  Sinn  und  Sein 
denkt  wie  Heyck,  der  festhält  an  Geibels  Wort:  „Es  mag  am  deutschen  Wesen 
einmal  noch  die  Welt  genesen«  (vgl.  II,  254  u.  III,  637/638),  und  für  den  Goethe 
und  Bismarck  die  Wegweiser  zu  unsern  weitern  Zielen  sind,  zu  deren  Erreichung 
als  dritter  Schiller  mit  der  ethischen  Kraft,  die  aus  ihm  quillt,  verhelfen  werde 
(III,  638).  Zuverlässigkeit  und  Gründlichkeit  der  Forschung,  Besonnenheit  im 
Urteil,  treffende  Charakteristik  von  Personen,  Ereignissen  und  Zeitströmungen, 
anschauliche,  weil  vielfach  auf  Autopsie  beruhende  Schilderung  der  Örtlichkeiten 
(vgl.  II,  441,  III,  270),  Veranschaulichung  der  mitgeteilten  Vorgänge  durch  Ver- 
knüpfung mit  ähnlichen  aus  Vergangenheit  und  Gegenwart  zeichnen  neben  der 
Lebendigkeit  der  Darstellung  das  Buch  aus.  —  Daß  sich  dabei  auch  Ausstellungen 
gegen  Inhalt  und  Form  ergeben  werden,  ist  bei  einem  Buche  von  dem  Umfange 
des  vorliegenden,  zumal  in  seiner  ersten  Auflage,  nicht  verwunderlich.  Von  Belang 
und  den  Wert  des  Buches  nicht  unbedeutend  verringernd  sind  die,  die  sich 
auf  die  Form  beziehen.  Gerade  die  temperamentvolle  Art  des  Verfassers  und  sein 
Bestreben,  den  konkretesten,  plastischsten  Ausdruck  zu  finden,  machen  diesen 
nicht  selten  allzu  drastisch,  gesucht  und  übertrieben,  zuweilen  auch  unklar  und 
trivial.  Auch  ungebräuchliche  Neubildungen,  Unebenheiten  und  (bei  aller  Weit- 
herzigkeit) unerträgliche  Satzbildungen  sind  mir  an  dieser  und  jener  Stelle  aufge- 
stoßen. Als  Beispiele  notiere  ich  „sich  verdenken"  (I,  367),  „die  Nichtversehrung 
d.  Pfalz"  (II,  640),  „die  elende  deutsche  Rangfexerei"  (II,  607),  „die  kraxelfesten 
Bajowaren"  (I,  421),  „per  Schub"  (III,  220),  „Scherben  auf  dem  Trümmerhaufen 
der  Geschichte"  (I,  415),  „eine  der  aufsehenmachendsten  Broschüren"  (II,  664), 
das  „beichtväterlich  abgeängstigte"  Testament  (111,210),  „wo  die  Herzöge  abseh- 
bar aussterben  mußten"  (III,  252),  „eine  menschlich  unendlich  an  ihm  interessie- 
rende Zeit"  (III,  292),  „das  Vaterlandsgefühl  stürm-  und  drangvoll  sich  verjüngen- 
der deutscher  Literatur"  (III,  298),  „sinneniederhaltende  Frömmigkeit  erdenflüch- 
tigen Wollens  ist  mehr  denn  einmal  ins  enthüllte  Unterliegen  vor  überhitzter 
Sinnlichkeit  und  Erreglichkeit  hinausresultiert"  (II,  598)  sowie  Satzganze  wie 
III,  238:  „Weil  es  eben  ein  außerordentliches  Novum  war";  auch  III,  268,  ZI.  29  v.  u. 
Ebenso  halte  ich  an  einigen  Stellen  die  Polemik  gegen  heutige  Sitten  bzw.  Un- 
sitten, Personen,  Ansichten,  Tageserscheinungen,  nicht  am  Platze,  so  II,  98,  Abs.  2; 
192,  Abs.  2;  300,  ZI.  25;  III,  194,  Abs.  2;  I,  430,  Abs.  2;  Solche  oft  aus  einer 
Augenblicksstimmung  heraus  entstandene  allgemeine  Urteile  stören  den  Eindruck 
wissenschaftlicher  Objektivität,  halten  der  Kritik  in  ihrer  Allgemeinheit  nicht  stand 
und  sind  geeignet,  diesen  oder  jenen  Leser  von  vorneherein  einem  sonst  guten 
Buche  zu  entfremden. 

Elberfeld.  W.  Mein  er  s. 


H.  A.  L.  Degener,  Wer  ist's?,  angez.  von  A.  Matthias.  63 

Degener,  Herrmann  A.  L.,  Wer  ist's?  Zeitgenossenlexikon,  enthaltend  Bio- 
graphien nebst  Bibliographien;  Angaben  über  Herkunft,  Familie,  Lebenslauf, 
Werke,  Lieblingsbeschäftigungen,  Parteiangehörigkeit,  Mitgliedschaft  bei  Ge- 
sellschaften, Adresse.  Andere  Mitteilungen  von  allgemeinem  Interesse.  IV.  Aus- 
gabe, vollkommen  neu  bearbeitet  und  wesentlich  erweitert.  Leipzig  1909. 
H.  A.  Ludwig  Degener.  CLX  u.  1626  S.  8°.  geb.  12,50  M. 
Schon  nach  knapper  Jahresfrist  ist  das  Buch  von  Degener,  das  im  Jahrgang 
VII,  S.  411  eingehender  gewürdigt  ist,  von  neuem  erschienen  —  eine  bewunderns- 
werte Leistung,  wenn  man  alle  die  Redaktions-  und  Druckschwierigkeiten  in  Er- 
wägung zieht  und  wenn  man  bedenkt,  daß  an  sämtliche  neu  aufgenommenen 
Personen  Korrekturen  haben  versandt  werden  müssen.  Fast  2000  völlig  neue 
Biographien  sind  aufgenommen;  eine  völlig  neue  Anordnung  hat  der  Teil  erfahren, 
welche  die  Staatsoberhäupter  betrifft;  hier  findet  man  jetzt  auch  die  regierenden 
Familien  in  ihren  den  Benutzer  des  Buches  am  meisten  interessierenden  Gliedern 
zusammen;  am  Schluß  auch  die  europäischen  ehemaligen  regierenden  Häuser. 
Sehr  erweitert  liegen  auch  Bibliotheken  und  Archive  vor  —  eine  sehr  schätzens- 
werte Verbesserung  für  jeden  literarisch  interessierten  Menschen.  In  dieser  Be- 
ziehung sind  auch  die  Lieblingsbeschäftigungen  zu  kennen  von  Wert,  der  Marken- 
sammler findet  eine  große  Anzahl  von  Genossen;  auch  der  Freund  von  Schiller- 
und  Goetheliteratur  oder  kunstgeschichtlicher  Studien  und  Seltenheiten  sowie 
von  seltenen  Münzen  wird  manchen  verwandten  Liebhaber  finden  und  in  Austausch 
treten  können.  Wenn  er  aber  einen  Zeitgenossen  entdeckt,  der  als  Lieblings- 
beschäftigung „Klavier,  Orgel,  Cello  und  Alpenhochtouren "  angibt,  so  wird  er 
sich  hüten,  mit  dem  Betreffenden  in  ein  und  dasselbe  Haus  zu  ziehen  und  wird 
den  Alpenhochtouristen  bedauern  und  die  Menschheit  zugleich  beglückwünschen, 
daß  jene  Lieblingsinstrumente  die  Alpenhöhen  nicht  durchtönen  können.  Wes- 
halb lernt  denn  jener  Zeitgenosse  nicht  das  Alphorn?  —  Zahlreiche  Stich- 
proben auf  der  Suche  nach  bekannten  bedeutenden  Männern  haben  die  Prüfung  be- 
standen. Nur  zwei  Lücken  und  Versehen  habe  ich  gefunden.  Im  Nachtrag  ist  Karl 
Reinhardt  als  Direktor  a.  D.  in  den  Ruhestand  versetzt.  Er  befindet  sich  aber  in 
vielumfassender  Tätigkeit  im  preußischen  Kultusministerium  als  vortragender  Rat. 
Vermutlich  hat  Reinhardt  den  anfragenden  Zettel  nicht  beantwortet  und  ist  zur 
Strafe  pensioniert.  Möge  es  allen  so  ergehen,  die  den  fleißigen  Herausgeber 
H.  A.  L.  Degener  ignorieren.  Vermißt  habe  ich  den  rheinischen  Dichter  und 
Übersetzer  Horazischer  Oden  Friedrich  van  Hoff s -Wiesbaden.  (Gedichte  1883, 
Vaterländische  Klänge  etc.  Trier  1883  etc.) 

Berlin.  A.  Matthias. 

Festgesang   zu  Kaisers  Geburtstag   mit   einem  zweiten  Text:   Zur  Einweihung 
einer  Schule.    Dichtung  von  Peter  Weinreis,   für   gemischten  Chor   mit  Be- 
gleitung  des  Pianoforte   komponiert   von  Heinrich  Weinreis.    Berlin-Groß- 
Lichterfelde.    Chr.  Fr.  Vieweg.    Part.  1,20  M.,  Chorstimme  0,20  M, 
Wer  in  der  Praxis  steht,    der  weiß,   wie  schwer  es  oft  ist,   passende  Gesänge 
zu  Schulfeiern  zu  finden,   besonders  wenn    es  sich  um   alljährlich  wiederkehrende 
Feiern  handelt.    Die  meisten   zu  solchem  Zweck   komponierten  Chöre   sind  eben 


64       A.  Hartmann,  Grundregeln  der  Gesundheitspflege,  angez.  von  F.  Moldenhauer. 

oft  nicht  mehr  als  sogenannte  Gelegenheitskompositionen,  jedes  musikalischen 
Wertes  bar ;  der  ernste  Gesanglehrer  legt  sie  beiseite,  weil  er  seine  Jungen  für  zu 
gut  dafür  hält,  und  greift  lieber  zu  altbewährten  Werken,  auf  das  Neue  verzich- 
tend. Obiger  Festgesang  wird  deshalb  vielen  eine  willkommene  Gabe  sein,  da  er 
in  textlicher  und  musikalischer  Beziehung  für  Schulzwecke  durchaus  geeignet  er- 
scheint. Die  Musik  ist  ansprechend,  melodiös  und  volkstümlich,  dabei  vornehm 
und  frei  von  jeglicher  Trivialität.  Ein  a  cappella  zu  singender,  choraliter  gehaltener 
Mittelsatz  bringt  vortreffliche  Abwechselung;  der  Satz  ist  gesanglich,  und  stimm- 
lich wie  musikalisch  durch  jugendliche  Sänger  sehr  wohl  auszuführen.  Die  ganze 
Musik  ist  durchweht  von  einem  gewissen  singeseligen  Hauch,  der  die  beste  Bürg- 
schaft bietet,  daß  die  Schüler  den  Festgesang  gern  singen  und  etwas  davon  haben 
werden.  Auch  kleineren  Vereinen  kann  derselbe  herzlich  empfohlen  werden. 
Berlin.  Georg  Rolle. 

Hartmann,  Arthur,  Grundregeln  der  Gesundheitspflege.  Berlin  1907. 
R.  Stricker.  31  S.  8».  geh.  0,40  M. 
Wie  in  Wien  der  bekannte  Hygieniker  Prof.  Burgerstein  in  kurzen,  gemein- 
verständlichen Sätzen  die  wichtigsten  Regeln  der  Gesundheitspflege  aufgestellt  hat, 
so  weiß  auch  diese  kleine  Schrift  Hartmanns,  an  der  eine  große  Anzahl  von  Medi- 
zinern, besonders  Berliner  Schulärzte,  mitgewirkt  hat,  in  trefflicher  Weise  der  Schule 
und  dem  Hause  bestimmte  Anhaltspunkte  zu  geben  für  das,  was  die  gesamte 
heranwachsende  Jugend  und  das  deutsche  Volk  von  der  Pflege  der  Gesundheit 
wissen  muß.  Es  werden  behandelt  Wohnung,  Kleidung,  Ernährung,  Hautpflege, 
Pflege  einzelner  Organe,  wie  namentlich  der  Augen  und  Ohren  usw.,  Bewegungs- 
apparat, Blutkreislauf,  Nervenapparat,  Verhalten  bei  ansteckenden  Krankheiten,  erste 
Hilfe  bei  Unglücksfällen  und  plötzlichen  lebensgefährlichen  Erkrankungen.  An- 
geschlossen an  diese  Ausführungen  sind  Sprüche,  die  leicht  lern-  und  behaltbar 
das  sagen,  was  das  Volk  längst  als  ein  Gemeingut  von  Gesundheitsregeln  ge- 
schaffen hat,  so  z.  B.: 

„Besser  einen  Tag  gefastet. 
Als  den  Magen  überlastet; 
oder: 

Reiner  Mund 
Erhält  gesund." 
Köln.  F.  Moldenhauer. 


Aufruf. 

Vor  dem  Heimgange  des  Wirklichen  Geheimen  Rats 

Friedrich  Althoff 

war  unter  Freunden  der  Gedanke  erwogen  worden,  ihm  am  19.  Februar  1909,  als 
an  seinem  70.  Geburtage,  ein  durch  Sammlungen  aufzubringendes  Kapital  für  die 
ihm  besonders  am  Herzen  liegenden  Zwecke  zu  übergeben.  Jetzt,  da  er  nicht 
mehr  unter  uns  weilt,  tritt  in  weiten  Kreisen  der  Wunsch  hervor,  sein  Andenken 
durch  Sammlungen,  sei  es  für  sein  Denkmal,  sei  es  für  einzelne  von  ihm  geförderte 
Unternehmungen,  zu  ehren.  Die  Unterzeichneten  haben  sich,  um  einer  Zersplitte- 
rung der  Gaben  vorzubeugen,  dahin  zusammengefunden,  die  Sammlungen  auf 
ein   den  Intentionen  des  Verewigten  entsprechendes  gemeinsames  Ziel  zu  lenken. 

Kein  Unternehmen  hat  den  Zeit  seines  Lebens  um  die  Fürsorge  für  Bedrängte 
und  insbesondere  für  Witwen  und  Waisen  bemühten  Mann  in  den  letzten  Lebens- 
jahren mehr  beschäftigt,  keins  seinen  innersten  Wünschen  so  entsprochen,  wie  das- 
jenige, das  in  der  kurz  vor  seinem  Hinscheiden  Allerhöchst  genehmigten  Wilhelm- 
Stiftung  für  Gelehrte  Leben  gewonnen  hat.  Wenn  die  zu  Ehren  Althoffs  begründete 
und  auf  Grund  vieljähriger  Erwägungen  ganz  nach  seinen  Absichten  gestaltete 
Stiftung  nicht  von  Anfang  an  Althoffs  Namen  trug,  so  war  dies  lediglich  seiner 
überall  auf  das  Zurücktreten  der  eigenen  Person  gerichteten  Einwirkung  zuzu- 
schreiben. Seine  Majestät  der  Kaiser  und  König  haben  indes  durch  Allerhöchsten 
Erlaß  vom  21.  Dezember  1908  zu  bestimmen  geruht,  daß  die  Wilhelm -Stiftung 
für  Gelehrte  den  Namen  „Friedrich  Althoff-Stiftung"  tragen  soll.  Die  Förde- 
rung dieser  zur  Erreichung  ihrer  Ziele  großer  Mittel  bedürfenden  Stiftung  wird  im 
Sinne  Althoffs  vor  allem  ins  Auge  zu  fassen  sein.  Es  entspricht  aber  sicher  dem 
allgemeinen  Empfinden,  einen  Teil  des  Sammlungsbetrages  zuvor  dazu  zu  ver- 
wenden, um  auf  seinem  Grabe  ein  seiner  Schlichtheit  entsprechendes  einfaches 
Denkmal  erstehen  zu  lassen.  Sollten  einzelne  Beitragende  daneben  aus  besonderen 
Gründen  andere,  dem  reichen  Wirkungskreise  Althoffs  naheliegende  Unternehmungen 
bevorzugen,  so  wird  das  Komitee  auch  hierfür  bestimmte  Beiträge  als  eine  Ehrung 
des  Verstorbenen  mit  Dank  entgegennehmen  können. 

Wir  wenden  uns  nicht  nur  an  die  unmittelbar  an  der  Stiftung  beteiligten 
Kreise,  sondern  an  alle,  die  dem  vielseitigen  und  großzügigen  Wirken  Friedrich 
Althoffs  Interesse  gewidmet  haben,  mit  der  Bitte,  zu  diesem  Werke  der  Verehrung 
und  Dankbarkeit  sich  mit  uns  zu  vereinigen. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  VIII.  Jhrg.  5 


66  Aufruf. 

Spenden  zu  diesem  Zwecke  nimmt  entgegen  die  Preußische  Central -Genossen- 
schaftskasse   (Konto:    Althoff- Ehrung),    Berlin   C.  2,   Am  Zeughause  2.    Es 

ist  in  Aussicht  genommen,  die  Sammlungen  möglichst  schon  am  19.  Februar  1909 
zum  Abschluß  zu  bringen.  Etwaige  Anfragen  und  Mitteilungen  bitten  wir  zu 
richten  an  die  Amtliche  Akademische  Auskunftsstelle  der  Königlichen  Universität, 
Berlin  C.  2,  Platz  am  Opernhause. 

Fürst  von  Bülow,  Reichskanzler. 

Abb,  Geheimer  Hofrat,  Berlin.  Dr.phil.Ackermann-Teubner,  Hofrat,  Leipzig. 
Dr.  Adickes,  Oberbürgermeister,  Frankfurt  a.  M.  Eduard  Arnhold,  Geheimer 
Kommerzienrat, Berlin.  Prof.Dr.Auwers,  Geheimer  Oberregierungsrat, Berlin.  Back, 
Unterstaatssekretär  z.  D.,  Wirklicher  Geheimer  Rat,  Straßburg  i.  E.  Dr.  v.  Behr- 
Pinnow,  Königlich  Preußischer  Kammerherr  und  Kabinettsrat  Ihrer  Majestät  der 
Kaiserin,  Berlin.  Prof,  Dr.  v.  Behring,  Wirklicher  Geheimer  Rat,  Marburg.  Prof. 
Dr.  Bezzenberger,  Geheimer  Regierungsrat,  Königsberg  i.  Pr.  Dr.  Bode,  Wirk- 
licher Geheimer  Oberregierungsrat,  Charlottenburg.  Dr.  Böhm,  Geheimer  Ober- 
regierungsrat, Karlsruhe.  Dr.  v.  Böttinger,  Geheimer  Regierungsrat,  Elberfeld. 
Dr.  Bumm,  Präsident  des  Kaiserlichen  Gesundheitsamtes,  Berlin,  Prof.  Dr.  Darm - 
Städter,  Berlin.  Prof,  Dr.  Hans  Delbrück,  Grunewald.  Prof.  Dr.  Di  eis,  Geheimer 
Regierungsrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  Dilthey,  Geheimer  Regierungsrat,  Grunewald. 
Dr.  Dittrich,  Dompropst,  Frauenburg  i.  Ostpr.  Prof.  Dr.  Dönitz,  Geheimer 
Medizinalrat,  Steglitz.  Graf  Henckel  Fürst  von  Donnersmarck,  Wirklicher 
Geheimer  Rat,  Schloß  Neudeck.  Ebbinghaus,  Geheimer  Regierungsrat,  Bonn. 
Prof.  Dr.  Ehrlich,  Geheimer  Obermedizinalrat,  Frankfurt  a.  M.  Dr.  Eilsberger, 
Geheimer  Regierungsrat,  Bernburg.  Dr.  Elster,  Geheimer  Oberregierungsrat, 
Berlin.  Prof.  Dr.  Engl  er.  Geheimer  Oberregierungsrat,  Dahlem.  Prof.  Dr. 
Enneccerus,  Geheimer  Justizrat,  Marburg.  Dr.  Freiherr  v.  Erffa,  Kammerherr, 
Wernburg  bei  Pößneck.  Vogel  v.  Falckenstein,  General  der  Infanterie,  Dolzig. 
Prof.  Dr.  Finkler,  Geheimer  Medizinalrat,  Bonn.  Prof.  Dr.  Emil  Fischer,  Ge- 
heimer Regierungsrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  B.  Franke  1,  Geheimer  Medizinalrat, 
Berlin.  Dr.  Ger  mar,  Ministerialdirektor  a.  D.,  Charlottenburg.  Dr.  Alfred 
Giesecke-Teubner,  Verlagsbuchhändler,  Leipzig.  Ludwig  Max  Goldberge r. 
Geheimer  Kommerzienrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  Gold  seh  ei  der,  Geheimer  Medizinal- 
rat, Berlin.  Freiherr  v.  d.  Goltz,  Generaloberst,  Wilmersdorf.  Halley,  Kais. 
Wirkl.  Geheimer  Rat,  Berlin.  Frau  Ottilie  v.  Hansemann,  verw.  Geh.  Kom.-Rat, 
Berlin.  Prof.  D.  Dr,  Harnack,  Wirkl.  Geheimer  Oberregierungsrat,  Berlin.  Fürst 
V,  Hatzfeldt,  Herzog  zu  Trachenberg.  Dr.  Haug,  Sanitätsrat,  Schierkeim 
Harz.  Dr.  Heiligenstadt,  Präsident  der  Preußischen  Zentral-Genossenschafts- 
kasse,  Berlin.  Prof.  Dr,  Freiherr  v,  Hertling,  Königlich  Bayerischer  Kämmerer 
und  Geheimer  Rat,  München,  Prof,  Dr,  Oscar  Hertwig,  Geheimer  Medizinalrat, 
Grunewald,  Prof,  Dr,  Hillebrandt,  Geheimer  Regierungsrat,  Breslau.  Prof.  Dr. 
Hinneberg,  Berlin.  Dr.  Höpfner,  Wirklicher  Geheimer  Oberregierungsrat, 
Göttingen.  Prof.  Dr,  Dr,-Ing.  van't  Hoff,  Geheimer  Regierungsrat,  Charlottenburg, 
Dr.  Holle,  Staatsminister  und  Minister  der  geistlichen,  Unterrichts- und  Medizinal- 
Angelegenheiten,  Berlin,    v.  Hollmann,  Admiral  ä  la  Suite  des  Seeoffi'zierkorps, 


Aufruf.  67 

Berlin,  v.  Hülsen,  Generalintendant  der  Königlichen  Schauspiele,  Berlin,  v.  Ihne, 
Königlicher  Geheimer  Oberhofbaurat,  Berlin.  Dr.  v.  Ilberg,  Generalarzt,  Korps- 
arzt des  Gardekorps,  Berlin.  Prof.  Dr.  Irmer,  Kurator  der  Universität,  Greifswald, 
Emil  Jacob,  Geheimer  Kommerzienrat,  Berlin.  Dr.  Jungeblodt,  Oberbürger- 
meister, Münster  in  Westf.  Prof.  D.  Dr.  Kahl,  Geheimer  Justizrat,  Berlin.  Prof. 
Arthur  Kampf,  Präsident  der  Akademie  der  Künste,  Berlin.  Prof.  Dr.  Kehr,  Ge- 
heimer Regierungsrat,  Rom.  Prof.  Dr.  Kiepert,  Geheimer  Regierungsrat,  Han- 
nover. Prof.  Dr.  Klatt,  Provinzial-Schulrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  Dr.-Ing.  Klein, 
Geheimer  Regierungsrat,  Göttingen.  Dr.  Knappe,  Geheimer  Legationsrat,  Grune- 
wald. Prof.  Dr.  König,  Geheimer  Medizinalrat,  Grunewald.  Dr.  Kopp,  Kardinal, 
Fürstbischof,  Breslau.  Leopold  Koppel,  Geheimer  Kommerzienrat,  Berlin.  Dr. 
Koser,  Wirklicher  Geheimer  Oberregierungsrat,  Charlottenburg.  Prof.  Dr.  Krüger, 
Oberlehrer,  Groß-Lichterfelde.  Prof.  Dr.  Kutner,  Berlin.  Lau  dien,  Gymnasial- 
direktor, Breslau.  Prof.  Dr.  Friedrich  Leo,  Geheimer  Regierungsrat,  Göttingen. 
Graf  v.  Lerchenfeld-Koefering,  Kgl.  Bayerischer  außerordentlicher  Gesandter 
und  bevollmächtigter  Minister,  Berlin.  Dr.  Lewald,  Geheimer  Oberregierungsrat, 
Berlin.  Prof.  Dr.  Lexis,  Geheimer  Oberregierungsrat,  Göttingen.  Prof.  Dr.  v. 
Leyden,  Wirklicher  Geheimer  Rat,  Berlin.  Prof.  Dr.  Liesegang,  Direktor  der 
Landesbibliothek,  Wiesbaden.  Freiherr  Rochus  v.  Liliencron,  Wirklicher  Ge- 
heimer Rat,  Berlin.  Graf  v.  Limburg-Stirum,  Wirklicher  Geheimer  Rat,  Groß-Peter- 
witz  bei  Kanth.  Dr.  Lisco,  Kammergerichtspräsident,  Berlin.  Prof.  Dr.  Loening, 
Geheimer  Justizrat,  Halle  a.  S.  Freiherr  v.  Man  teuffei.  Wirklicher  Geheimer 
Rat,  Landesdirektor  der  Provinz  Brandenburg,  Berlin.  Marx,  Oberbürgermeister, 
Düsseldorf.  Dr.  Matthias,  Geheimer  Oberregierungsrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  Mell- 
mann,  Oberrealschuldirektor,  Berlin.  Ernst  v.  Mendelssohn -Bartholdy,  Ge- 
heimer Kommerzienrat,  Berlin.  Dr.  Mertens,  Gymnasialdirektor,  Brühl.  Meyer, 
Geheimer  Regierungsrat,  Kurator  der  Universität,  Halle  a.  S.  ;,Dr.  Milkau, 
Bibliotheksdirektor,  Breslau.  Freiherr  v.  Mirbach,  Oberhofmeister  Ihrer  Majestät 
der  Kaiserin,  Berlin.  Frau  Rudolf  Mosse,  Berlin.  D.  Müller,  Konsistorial- 
präsident,  Kurator  der  Universität,  Kiel..  Dr.  Dr.-Ing.  Naumann,  Ministerial- 
direktor, Wirklicher  Geheimer  Oberregierungsrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  Nernst,  Ge- 
heimer Regierungsrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  Nietner,  Oberstabsarzt  a.  D.,  Berlin. 
Prof.  Dr.  Nissen,  Geheimer  Regierungsrat,  Bonn.  Graf  v.  Oppersdorff,  Ober- 
glogau.  Dr.  Osterrath,  Geheimer  Oberregierungsrat,  Göttingen.  Prof.  Dr. 
Paszkowski,  Berlin.  Prof.  Dr.  v.  Renvers,  Geheimer  Medizinalrat,  Berlin.  Frei- 
herr V.  Rheinbaben,  Staats-  und  Finanzminister,  Berlin.  Prof.  Dr.  Sachau, 
Geheimer  Oberregierungsrat,  Berlin.  Dr.  Sachse,  Geheimer  Regierungs-  und 
Schulrat,  Hildesheim.  Prof.  Dr.  v.  Savigny,  Geheimer  Regierungsrat,  Münster. 
Prof.  Seh  aper,  Bildhauer,  Berlin.  Prof.  Dr.  Schiemann,  Berlin.  Prof.  Dr. 
Schjerning,  Generalstabsarzt  der  Armee,  Charlottenburg.  Prof.  Dr.  Erich 
Schmidt,  Geheimer  Regierungsrat,  Berlin.  Dr.  Friedrich  Schmidt,  Wirklicher 
Geheimer  Oberregierungsrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  v.  Schmoller,  Berlin.  Prof.  Dr. 
Schollmeyer,  Geheimer  Justizrat,  Marburg.  Prof.  Dr.  Schwalbe,  Berlin, 
v.  Schwartzkoppen,  Wirklicher  Geheimer  Legationsrat,  Berlin.  Dr.  Schwenke, 
Geheimer  Regierungsrat,   Berlin.     Prof.  Dr.  Sering,   Grunewald.     Karl   Siegis- 

5* 


68  Aufruf. 

mund,  Verlagsbuchhändler,  Steglitz.  Prof.  Dr.  Siemerling,  Geheimer  Mediziiial- 
rat,  Kiel.  Dr.  Eduard  Simon,  Geheimer  Kommerzienrat,  Berlin.  Prof.  Dr.  Dr.- 
Ing.  Slaby,  Geheimer  Regierungsrat,  Charlottenburg.  Frau  Franziska  Speyer, 
geb.  Gumbert,  Frankfurt  a.  Main.  Stadler,  Wirklicher  Geheimer  Oberregierungs- 
rat, Straßburg.  Prof.  Dr.  Stampe,  Geheimer  Regierungsrat,  Greifswald.  Prof.  Dr. 
Stolz el,  Wirklicher  Geheimer  Rat,  Kronsyndikus,  Berlin.  Dr.  v.  Studt,  Staats- 
minister, Berlin.  Dr.  Thiel,  Ministerialdirektor,  Berlin.  Prof.  Dr.  Thoms,  Di- 
rektor des  Pharmazeutischen  Instituts,  Dahlem.  Dr.  Thür,  Wirklicher  Geheimer 
Oberbaurat,  Berlin.  Tilmann,  Geheimer  Oberregierungsrat,  Berlin.  Prof.  Tuaillon, 
Bildhauer,  Berlin,  v.  Valentini,  Wirklicher  Geheimer  Rat,  Geheimer  Kabinettsrat 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  und  Chef  des  Geheimen  Zivilkabinetts,  Berlin.  Dr. 
Vollert,  Verlagsbuchhändler,  Berlin.  Dr.  Waentig,  Wirklicher  Geheimer  Rat, 
Ministerialdirektor,  Dresden.  Prof.  Dr.  Waldeyer,  Geheimer  Medizinalrat,  Berlin. 
Frau  Wentzel-Heckmann,  verw.  Kgl.  Baurat,  Berlin.  Dr.  Wever,  Unterstaats- 
sekretär im  Kultusministerium,  Wirklicher  Geheimer  Rat,  Berlin.  Prof.  Dr. 
V.  Wilamowitz-Moellendorff,  Geheimer  Regierungsrat,  Berlin.  Graf  v. 
Zedlitz-Trützschler,  Staatsminister  a.D.,  Oberpräsident  der  Provinz  Schlesien, 
Breslau.    Prof.  Dr.  Zorn,  Geheimer  Justizrat,  Kronsyndikus,  Bonn. 


Dem  vorstehenden  Aufruf  habe  ich  nur  weniges  hinzuzufügen:  Vor  allem  den 
Wunsch,  daß  in  den  Kreisen  der  unmittelbar  an  der  Stiftung  beteiligten  akademisch 
gebildeten  Schulmänner  rege  und  dauernde  Teilnahme  sich  zeigen  möge  für  ein 
Unternehmen,  das  hervorgegangen  ist  aus  ernster  Sorge  gerade  auch  für  die 
leidenden  und  bedürftigen  Mitglieder  des  Oberlehrerstandes  und  ihrer  Angehörigen 
im  weitesten  Sinne.  Große  Summen  wird  der  einzelne  ja  nicht  dieser  Stiftung  zu- 
führen können;  aber  laufende  Beiträge  sind  ihm  keine  Last;  auf  diese  kommt's 
besonders  an.  Wenn  jeder  Schulmann  alljährlich  sein  Scherflein  spendet,  dann 
wird  der  Wunsch  des  Stifters  erfüllt  werden,  daß  vielen  Bedürftigen  geholfen 
werden  kann,  für  welche  bisher  keinerlei  Mittel  zur  Verfügung  standen.  Die 
Stiftung  hat  ihren  Sitz  in  Berlin.  Von  den  Delegierten  der  Provinzial-Vereine 
sind  in  den  Vorstand  der  Stiftung  kooptiert  worden  die  Herren  Professor  Walther, 
Direktor  des  Realgymnasiums  in  Potsdam,  Professor  Dr.  Lortzing  vom  Sophien- 
Gymnasium,  Professor  Dr.  Krüger  vom  Luisenstädtischen  Gymnasium  und  Professor 
Dr.  Möller  vom  Königstädtischen  Gymnasium  in  Berlin. 

Matthias. 


[.  Abhandlungen. 


Ober  Astronomie  auf  den  höheren  Schulen. 

Die  Himmelskunde  hat  auf  den  höheren  Schulen  geringere  Beachtung  ge- 
funden, seitdem  einer  Lehrergeneration,  für  welche  die  Astronomie  zum  Inbegriff 
des  mathematischen  Studiums  und  Examens  gehörte,  eine  andere  gefolgt  ist,  die 
die  Astronomie  als  Prüfungsfach  überhaupt  nicht  verwerten  konnte  und  deren  In- 
teressen wohl  mehr  durch  die  aufstrebende  Physik  beherrscht  waren.  Die  —  zur- 
zeit noch  probeweise  —  Wiedereinführung  der  Astronomie  in  das  Oberlehrer- 
examen mag  die  nächste  Generation  der  Oberlehrer  wieder  mehr  auf  die  Stern- 
kunde hinlenken.  Doch  darauf  mag  nicht  warten,  wer  in  einiger  Kenntnis  astro- 
nomischer Dinge  einen  notwendigen  und  wohltätigen  Bestandteil  der  allgemeinen 
Bildung  sieht.  Daher  freue  ich  mich,  auf  Veranlassung  von  Herrn  Geheimrath 
Matthias  als  Astronom  hier  ein  paar  Worte  über  die  Astronomie  im  Schulunterricht 
sagen  zu  dürfen.  Sie  mögen  dazu  gut  sein,  wieder  einmal  an  den  vortrefflichen 
Unterrichtsstoff  zu  erinnern,  der  aus  der  Himmelskunde  zu  schöpfen  ist,  und  ein 
paar  flüchtige  Anregungen  hinzufügen,  die  vielleicht  über  das  Herkömmliche  hin- 
ausgehen. 

Drei  allgemeine  Gesichtspunkte  können  als  eigentümliches  Ziel  der  Beschäftigung 
mit  astronomischen  Gegenständen  besonders  genannt  werden:  Die  freie  Betätigung 
der  Raumanschauung,  die  Erkenntnis  der  ungeheuren  Größe  der  Welt  verglichen 
mit  irdischen  Dimensionen,  die  Einführung  in  den  Begriff  des  Naturgesetzes  und 
der  exakten  Naturwissenschaft  überhaupt. 

Die  beiden  ersten  Punkte  lassen  sich  schon  im  Unterricht  der  Unterstufe  zur 
Geltung  bringen.  Hier  hat  wohl  bereits  allgemein  im  Geographieunterricht  die 
Kugelgestalt  der  Erde,  das  kopernikanische  Weltsystem,  die  Entstehung  der  Jahres- 
zeiten, Zeitrechnung  und  Kalender  Erwähnung  gefunden.  Auf  diese  Dinge,  deren 
Zugehörigkeit  zum  Schulpensum  selbstverständlich  und  pädagogisch  durchgearbeitet 
ist,  brauche  ich  nicht  einzugehen.  Es  würde  gut  sein,  neben  der  üblichen  theore- 
tischen Erklärung  auf  dem  Papiere  oder  an  Modellen,  die  Jugend  auch  auf  das 
wirkliche  Anschauen  des  Himmels  hinzulenken.  Die  Vorstellung  eines  etwa  vor- 
gezeigten Planetariums  tritt  allzuleicht  an  Stelle  derjenigen  der  Wirklichkeit.  Doch 
kann  eine  Anzeichnung  der  Hauptpunkte  und  -kreise  des  Himmels  an  der  Decke 
des  Schulzimmers  förderlich   sein.    Es   müßten   dann   namentlich  die  wichtigsten 


70  K.  Schwarzschild, 

Sternbilder  (etwa  großer  und  kleiner  Bär,  Cassiopeia,  Perseus,  Leier,  Schwan, 
Orion,  Fuhrmann)  in  Bildern  vorgeführt  und  die  Schüler  zu  ihrer  selbständigen 
Aufsuchung  am  Nachthimmel  mittels  einer  drehbaren  Sternkarte  angehaltan  werden. 
Es  könnte  versucht  werden,  etwas  von  der  Vertrautheit  alter  Hirtenvölker  und 
Seefahrer  mit  den  Gestirnen,  die  ihnen  den  Weg  wiesen,  auch  bei  uns  wieder 
lebendig  zu  machen.  Auch  das  Gefühl  der  außerordentlichen  Kleinheit  der  Erde 
im  Verhältnis  zum  ganzen  uns  sichtbaren  Universum  kann  schon  hier  zur  Deut- 
lichkeit entwickelt  werden.  Man  kann  die  große  Entfernung  des  Mondes  aus  dem 
Mitwandern  desselben  beim  Spazierengehen  ableiten.  Man  kann  ferner  mit  Aristarch 
konstatieren,  daß  beim  ersten  Mondviertel  der  Winkel  zwischen  Sonne  und  Mond 
ein  rechter  ist,  und  daraus  auf  die  große  Entfernung  der  Sonne  im  Verhältnis  zum 
Monde  schließen.  Man  beobachte  vielleicht  auch  die  Mißweisung  des  Kompasses 
gegen  den  Polarstern  oder  die  Mittagssonne.  Es  wird  nicht  schlimm  sein,  wenn 
das  alles  zunächst  nur  obenauf  sitzt.  Denn  schon  die  äußerliche  Kenntnis  einiger 
Sternbilder  und  die  spielende  Beschäftigung  mit  ihnen,  die  Freude,  sie  am  Himmel 
wiederzufinden,  kann  die  Grundlage  eines  tieferen  Erfassens  der  räumlichen  Be- 
dingtheit unserer  Erde  und  unserer  Existenz  v/erden. 

Auf  der  Oberstufe  sind  natürlich  die  Möglichkeiten  für  astronomische  An- 
wendungen und  Exkurse  viel  weiter.  Die  übliche  Behandlung  einfacher  Aufgaben 
der  mathematischen  Geographie  mittels  der  Elemente  der  sphärischen  Trigono- 
metrie kann  mehr  berücksichtigt  werden  und  namentlich  durch  eine  Beschäftigung 
mit  der  wirklichen  Stellung  der  Gestirne  am  Himmelsgewölbe  und  im  Räume 
ergänzt  werden.  Man  kann  im  Klassenzimmer  fragen:  Wo  steht  jetzt  die  Sonne? 
Wie  hat  man  ein  Blatt  Papier  zu  halten,  damit  es  der  Ebene  der  Erdbahn  im 
gegenwärtigen  Augenblick  parallel  liegt?  Deute  in  die  Richtung,  in  welcher  sich 
eben  die  Erde  auf  ihrer  Bahn  um  die  Sonne  bewegt!  Man  kann  die  Stellung 
eines  Planeten  aus  der  Bewegung  in  einer  Kreisbahn  berechnen  und  ihn  dann  am 
Himmel  wiederfinden  (Schülke).  *)  Man  kann  ferner  hier  die  Größe  des  Weltraums 
durch  die  Parallaxe  der  Fixsterne,  durch  ihre  Entfernung  in  Lichtjahren  und  in 
Eisenbahnjahren,  durch  die  Analogie  des  Andromedanebels  mit  dem  ganzen 
Milchstraßensystem  verdeutlichen.  Man  kann  ein  Bild  der  Welt,  von  einem  anderen 
Planeten  oder  Fixstern  aus  gesehen,  entwerfen.  Man  kann,  alles  in  allem,  die 
Geister  zu  einem  freien  Schweben  im  Räume  bewegen,  bei  welchem  sie  die  Erde 
als  ihren  zwar  vertrautesten,  aber  doch  zufälligen  Standpunkt  empfinden,  und  so 
nicht  nur  die  Raumvorstellung  aufs  kräftigste  fördern,  sondern  für  einen  Augenblick 
auch  eine  gewiß  heilsame  sittliche  Erhebung  über  irdischen  Kleinkram  zuwege 
bringen. 

Als  Wissenschaft  des  Gesetzes  steht  die  Astronomie  trotz  der  Fortschritte  der 
Physik  noch  immer  voran.  Sie  prophezeit  durch  Deduktion  aus  dem  Attraktions- 
gesetz mit  der  Genauigkeit,  mit  der  das  unbewaffnete  Auge  beobachtet,  viele 
Jahrtausende  vorwärts  und  schaut  ebenso  weit  zurück.  Die  Exaktheit,  mit  der  sie 
die  Beobachtungen  der  Gegenwart  bearbeitet,  wird  illustriert  durch  den  Umstand, 
daß  man  zurzeit  eine  achtstellige  Logarithmentafel  für  den  unmittelbaren  Gebrauch 


*)  Die  Zahlengrundlagen  s.  A.  Schülke,  Vierstellige  Logarithmentafeln.  B.  G.  Teubner.  1907. 


über  Astronomie  auf  den  höheren  Schulen.  71 

herstellt,  da  die  bisherigen  siebenstelligen  nicht  mehr  ausreichen.  Der  Ersatz  der 
Induktion  durch  die  Deduktion,  welcher  das  Wesen  des  Naturgesetzes  ausmacht, 
findet  sein  typisches  Beispiel  in  der  Ableitung  der  Keplerschen  Gesetze  aus  dem 
Newtonschen  Gesetz.  Wenn  auch  die  Ableitung  der  elliptischen  Bahnform  zu 
schwierig  ist,  so  kann  doch  die  Erhaltung  der  Flächengeschwindigkeit  und  die 
Gültigkeit  des  dritten  Keplerschen  Gesetzes  für  Kreisbahnen  aus  dem  Newton- 
schen Gesetz  deduziert  und  damit  das  logische  Prinzip  genügend  verdeutlicht 
werden. 

Auch  auf  dem  Gebiet  der  Astrophysik  ist  neuerdings  manches  weit  genug 
gereift,  um  auf  der  Schule  Verwendung  finden  zu  können.  Man  weiß  aus  der 
Bewegung  der  Doppelsterne,  daß  die  Fixsterne  der  Masse  und  Größe  nach,  aus 
dem  Studium  ihrer  Spektren,  daß  sie  auch  der  Temperatur  und  Leuchtkraft  nach 
nicht  allzusehr  von  der  Sonne  verschieden  sind.  Wenn  man  nun  beobachtet,  daß 
der  uns  nächste  Stern  a  Centauri  40  000  000  000  mal  schwächer  leuchtet,  als  die 
Sonne,  so  kann  nach  dem  quadratischen  Gesetz  der  Abnahme  der  Lichtintensität 
auch  hieraus  wieder  die  ungeheure  Entfernung  der  Fixsterne  (für  den  nächsten 
Stern  a  Centauri  aus  der  Lichtintensität  200  000,  nach  den  Parallaxenmessungen 
280000  Sonnenweiten)  erschlossen  werden.  Das  Dopplersche  Prinzip  kann  be- 
handelt und  verwandt  werden,  um  unmittelbar  die  Annäherung  zwischen  uns  und 
den  Sternen  des  Hercules,  die  wachsende  Entfernung  von  den  gegenüberiiegenden 
Sternen  und  damit  die  Bewegung  des  Sonnensystems  im  Weltraum  nachzuweisen. 
Die  Verfinsterungserscheinungen  der  veränderlichen  Sterne,  insbesondere  des  Algol, 
geben  die  nettesten  Übungsbeispiele  zur  Kreisberechnung.  Man  vergleiche  hierzu 
des  Verfassers  Aufsatz:  „Über  astronomische  Beobachtungen  mit  elementaren  Hilfs- 
mitteln."-),  in  welchem  auch  auf  alleriei  Möglichkeiten  zu  astronomischen  Beob- 
achtungen auf  der  Schule  hingewiesen  ist. 

Zum  Schlüsse  seien  noch  für  den  astronomisch  interessierten  Pädagogen  drei 
Schriften  besonders  hervorgehoben.  Für  die  Unterstufe  die  Programmschrift  von 
Fr.  Edler  „Über  die  Aneignung  astronomischer  Begriffe  auf  der  Schule",  Städtische 
Oberrealschule  zu  Halle  a.  S.  1903.  Für  die  Oberstufe  Diesterwegs  populäre 
Himmelskunde,  neu  bearbeitet  von  W.  Meyer  und  B.  Schwalbe,  sowie  Th.  Epstein, 
„Geonomie"  (Wien  1888). 

Göttingen.  K.  Schwarzschild. 


Das  pädagogische  Seminar. 

In  Bayern *•=)  ist  die  Frage  der  seminaristischen  Vorbildung  des  höheren  Lehrer- 
standes wohl  zuerst  im  Jahre  1888  auf  der  15.  Generalversammlung  des  bayerischen 
Gymnasiallehrervereins  öffentlich  besprochen  worden.  Wenn  auch  damals  die  Thesen 


*)  In  »Neue  Beiträge  zur  Frage  des  mathematischen  und  physikalischen  Unterrichts  an 
den  höheren  Schulen."     Leipzig  1904.    B.  G.  Teubner.     190  S.    8«.    3,60  M. 

*'■)  Einführung  der  Kandidaten  der  Philologie  in  die  pädagogische 
Praxis.  Von  Dr.  Karl  Neff,  Professor  am  Königl.  Wilhelms -Gymnasium  in  München. 
München  1908.    Beck.    XI  u.  296  S.    8«.    geb.  6  M. 


72  W.  Fries, 

des  Professors  Fleischmann  (Hof)  nicht  die  Billigung  der  Mehrheit  fanden,  so 
war  doch  damit  eine  wirksame  Anregung  gegeben,  und  die  Unterrichtsverwaltung 
entschloß  sich  zur  Prüfung  der  in  andern  deutschen  Staaten  dafür  bestehenden 
Einrichtungen.  Die  hiermit  beauftragten  angesehenen  Schulmänner,  von  denen  ich 
nur  den  jetzigen  Rektor,  Oberstudienrat  und  Mitglied  des  Obersten  Schulrats 
Gerstenecker  in  München  nenne,  sprachen  sich  in  ihrem  Gutachten  entschieden 
gegen  das  von  Fleischmann  empfohlene  pädagogische  Universitätsseminar  aus, 
und  so  richtete  man  im  Jahre  1893  an  fünf  Gymnasien  des  Landes  pädagogisch- 
didaktische Kurse  ein,  eigentümlicherweise  aber  nur  für  die  Kandidaten  der  philo- 
logischen Fächer,  unter  denen  man  außer  den  alten  Sprachen  auch  das  Deutsche, 
die  Geschichte  und  die  Geographie  mit  einbegreift,  während  man  sich  bei  den 
übrigen  Kandidaten  damit  begnügt,  daß  sie  bei  der  Staatsprüfung  selbst  ihre  di- 
daktische Geschicklichkeit  an  einer  geeigneten  Mittelschule  Münchens  nachweisen. 
Endgültig  wurde  die  Einrichtung  durch  die  im  Jahre  1897  erschienene  Seminar- 
ordnung, die  uns  auf  Seite  4—9  des  vorliegenden  Buches  wörtlich  mitgeteilt  wird. 
Es  gibt  jetzt  acht  bayerische  Gymnasialseminare:  in  München  (Max-  und  Wilhelms- 
Gymnasium),  Straubing,  Erlangen,  Nürnberg  (Altes  Gymnasium),  Würzburg  (Altes 
Gymnasium),  Regensburg  (Altes  Gymnasium)  und  Speyer. 

Über  die  Arbeit  dieser  Gymnasialseminare  haben  unsere  süddeutschen  Kollegen 
im  Gegensatz  zu  den  zahlreichen  Veröffentlichungen,  die  bei  uns  vor  allem  in  den 
, Lehrproben  und  Lehrgängen"  erschienen  sind,  geschwiegen;  infolge  davon  herrschte 
bisher  sogar  in  dem  eigenen  Lande,  sofern  man  nicht  etwa  durch  den  Artikel  von 
Friedrich  Gebhard  in  den  Blättern  für  das  bayerische  Gymnasialschulwesen  vom 
Jahre  1896  interessiert  worden  war,  Unkenntnis  oder  wenigstens  Unklarheit,  zum 
Teil  sogar  ungünstiges  Vorurteil,  geschweige  denn  daß  wir  Norddeutschen  einen 
Einblick  in  die  Verhältnisse  hätten  gewinnen  können.  Diesem  Übelstande  wird 
nun  durch  den  Verfasser,  der  in  seinem  Vorwort  das  „süddeutsche  Schweigen" 
mit  Recht  verurteilt,  gründlich  abgeholfen;  er  hofft,  durch  sein  Buch  nicht  bloß 
die  heimischen  Amtsgenossen  zu  unterrichten  und  zu  fördern,  sondern  auch  den 
bisherigen  norddeutschen  Lehrmeistern,  deren  Erfahrungen  man  gern  verwertet 
habe,  bemerkenswerte  Momente  darzubieten.  Und  in  der  Tat  müssen  wir  ihm  für 
seine  eingehenden  und  lehrreichen  Berichte  Dank  wissen,  der  Austausch  von  Er- 
fahrungen, der  Vergleich  verschiedenartigen  Betriebes  kann  immer  nur  der  guten, 
wichtigen  Sache  zum  Vorteil  gereichen,  und  wenn  ein  Mann  wie  Neff,  der  jetzt 
schon  6  Jahre  lang  an  dem  wohl  hervorragendsten  Gymnasialseminar  des  Landes 
mit  voller  Hingebung  tätig  ist,  seine  Ansichten  und  seine  Erfolge  in  offenster 
Weise  darlegt,  so  ist  das  doppelt  willkommen. 

Er  gliedert  den  Stoff  in  12  Kapitel.  Die  ersten  vier  handeln  von  den  Gymnasial- 
seminaren im  allgemeinen,  von  der  Seminarleitung,  von  den  Kandidaten  und  von 
dem  Seminarbetriebe.  Dann  folgen  in  den  Kapiteln  5—9  Vorträge  über  den 
deutschen,  den  lateinischen,  den  griechischen,  den  geschichtlichen  und  den  geo- 
graphischen Unterricht.  Am  Schluß  werden  dann  noch  besprochen  die  pädagogische 
Schlußarbeit,  die  Protokolle  und  die  Beurteilung  der  Kandidaten. 

Die  Beschreibung  des  Verfahrens  und  der  ganzen  Einrichtung  geht  so  genau 
ins  einzelne,  daß  kaum  noch  eine  Frage  offen  bleibt,  und  man  gewinnt  die  Über- 


Das  pädagogische  Seminar.  73 

Zeugung,  daß  Plan  und  Ausführung  im  ganzen  durchaus  gesund  und  zweckmäßig 
ist.  Ich  darf  mich  daher  in  meiner  Anzeige  darauf  beschräniten,  einerseits  einige 
von  unserm  preußischen  Verfahren  abweichende  Punlite  herauszuheben,  anderseits 
einige  gegensätzliche  Ansichten  zu  äußern,  wobei  ich  der  im  Buche  gegebenen 
Anordnung  folgen  will. 

Die  Leitung  des  Seminars  liegt  natürlich  wie  bei  uns  in  der  Hand  des 
Rektors,  diesem  aber  steht  nur  ein  einziger  seiner  Lehrer  als  Gehilfe  zur  Seite, 
der  sich  dann  mit  dem  Rektor  in  die  Verantwortlichkeit  für  den  Erfolg  teilt,  somit 
eine  sehr  bedeutsame  Rolle  spielt,  zumal  wenn  er  sich  unablässig  und  in  der  per- 
sönlichsten Art,  wie  Neff  es  tut,  um  die  Kandidaten  kümmert.  Auf  die  Klasse 
des  Seminarlehrers  konzentrieren  sich  auch  die  Übungen  der  Kandidaten.  Hier 
hospitieren  sie  zunächst,  hier  machen  sie  ihre  Unterrichtsversuche,  hier  erteilen  sie 
die  Probelektionen,  so  daß  sie  recht  eigentlich  die  Übungsschule  darstellt  und 
dadurch  eine  starke  Belastung  erfährt,  die  nur  zum  Teil  durch  Heranziehung  von 
Parallelabteilungen  oder  von  anderen  Klassen  gemildert  wird.  Auch  die  Wahl  der 
Klassenstufe  —  es  .ist  die  fünfte,  nach  unserem  System  also  die  Obertertia  —  er- 
weckt Bedenken,  weil  sie  disziplinare  Schwierigkeiten  bietet.  Ich  halte  in  Rück- 
sicht des  Lebensalters,  der  geistigen  Reife  der  Knaben  und  der  Aufgaben  des 
Lehrplanes  die  Quarta  für  weit  mehr  geeignet  und  verweise  zur  Begründung  auf 
die  Ausführungen  in  meinem  Buche  „Die  Vorbildung  der  Lehrer"  (München  1895) 
S.  165. 

In  dem  Kapitel,  wo  von  der  Vorbildung  der  Kandidaten  die  Rede  ist,  macht 
Neff  den  Vorschlag,  diese  erst  während  der  Seminarzeit  in  die  Ge'schichte  der 
Pädagogik  einzuführen.  Ich  möchte  meinerseits  diese  geschichtlichen  Vorkennt- 
nisse um  keinen  Preis  entbehren,  das  Verständnis  und  das  Interesse  dafür  ist  auf 
der  Universität  gewiß  schon  vorhanden,  wenn  man  nur  die  Geschichte  der  Päda- 
gogik dort  als  das,  was  sie  ist,  nämlich  als  einen  Ausschnitt  aus  der  Kultur- 
geschichte behandelt.  Der  Kursus  ist  einjährig,  dauert  aber,  genau  genommen,  nur 
8V2  Monate,  an  Remuneration  erhalten  die  Kandidaten  monatlich  in  München  45  M., 
in  den  anderen  Städten  wunderlicherweise  mehr,  nämlich  60  M.  Die  Auswahl 
aus  der  pädagogischen  Literatur,  die  Neff  in  der  Bibliothek  für  unentbehr- 
lich hält,  ist  sehr  bescheiden,  irrtümlicherweise  wird  hier  Schraders  Erziehungs- 
und Unterrichtslehre  als  zweibändig  aufgeführt.  Die  Eröffnungs-  und  Schluß- 
konferenz hat  nach  der  Schilderung  des  Verfassers  für  mich  etwas  zu  Feierliches» 
in  Norddeutschland  pflegen  wir  das  natürlicher,  gemütlicher  abzumachen.  Die 
praktischen  Übungen  beginnen  naturgemäß,  nachdem  sie  durch  die  Sitzungen 
und  das  Hospitieren  vorbereitet  sind,  mit  den  Unterrichtsversuchen,  diese  Leistungen 
sind  doch  aber  wirklich  zu  geringfügig,  wenn  sich  dabei  „wenigstens  drei  Kan- 
didaten" in  eine  einzige  Stunde  teilen  sollen;  für  die  Schüler  wird  dann  die  Lektion 
wirklich  in  Stücke  gerissen.  Dann  folgen  Probelektionen  in  reichlicher  Anzahl, 
etwa  11—12  für  jeden  Kandidaten  im  Jahre,  die  eingehende  Kritik  schließt  sich 
möglichst  bald  daran  an.  Endlich  wird  der  Kandidat  auch  zu  selbständiger  Unter- 
richtserteilung zugelassen. 

Mit  Recht  bewertet  Neff  die  Referate  der  Kandidaten  sehr  hoch,  sie  gelten 
ihm  mit  als  die  wichtigsten  Aufgaben  des  Seminarbetriebes,  und  er  bedauert  nur. 


74  W.  Fries,  Das  pädagogische  Seminar. 

daß  über  den  anderen  Leistungen  keine  Zeit  bleibt,  jedes  Mitglied  mehr  als  ein 
Referat  halten  zu  lassen,  eine  Zahl  die  allerdings  völlig  unzureichend  ist  und  hinter 
dem  preußischen  Maße  ganz  verschwindet.  Aber  wie  wäre  es  denn,  wenn  man 
sich  in  Bayern  dazu  entschlösse,  die  Vorträge,  die  der  Seminarvorstand  und  der 
Seminarlehrer  nach  Maßgabe  der  Instruktion  halten  sollen,  einzuschränken?  Ich 
will  ihnen  Sinn  und  Zweck  keineswegs  absprechen,  sie  bilden  nach  Absicht  der 
Unterrichtsverwaltung  einen  wirksamen  Abschluß  der  theoretischen  Belehrung  und 
sollen  alle  die  Einzelheiten,  die  bei  den  Besprechungen  des  Hospitierens  und  der 
Probelektionen  vorgeführt  worden  sind,  gewissermaßen  systematisch  zu  einem  Ge- 
samtbild vereinigen.  Aber  wie  verhalten  sich  diese  Vorträge  zu  den  Referaten 
der  Kandidaten?  Könnten  solche  Zusammenfassungen  nicht  auch  dem  Kandi- 
daten selbst  zugemutet  und  dadurch  die  Vorträge  der  Seminarleiter  verkürzt,  ver- 
einfacht, zum  Teil  überflüssig  gemacht  werden?  Und  wie  verhalten  sich  die  Kan- 
didaten bei  diesen  Vorträgen?  Doch  nicht  etwa  nachschreibend  wie  vordem  als 
Studenten  auf  der  Universität?  Der  Verfasser  teilt  die  von  ihm  gehaltenen  Vor- 
träge (vgl.  die  Inhaltsübersicht  Seite  3)  auf  Seite  81—269  wörtlich  mit,  sie  bilden 
also  den  Hauptinhalt  des  Buches,  und  sie  haben  wirklich  einen  gediegenen  Wert. 
Neff  entwickelt  hier  wie  schon  in  früheren  Teilen  des  Buches,  z.  B.  auf  Seite  21 
und  auf  Seite  44  durchaus  gesunde  Ansichten  und  gründliche  Fachkenntnisse  im 
größeren  Zusammenhange:  Daß  man  sich  in  die  Gedanken-  und  Gefühlswelt  der 
Jugend  hinein  denken  müsse,  um  die  Haupttugenden  des  Lehrers,  Geduld  und 
Ruhe,  zu  gewinnen;  daß  man  alles  mechanische  Wesen  zu  vermeiden  habe; 
daß  sonniger  Humor  in  das  Schulzimmer  hineinleuchten  müsse  und  dergleichen 
mehr. 

Nebenbei  bemerke  ich,  daß  die  Vorträge,  die  der  Seminarvorstand  Ober- 
studienrat von  Arnold  über  Erziehung  und  über  den  lateinischen  Unterricht  auf 
der  Oberstufe  gehalten  hat,  nicht  mit  abgedruckt  sind. 

Mit  der  vorgeschriebenen  pädagogischen  Schlußarbeit,  die  ein  mit  dem 
Seminarbetrieb  zusammenhängendes  Thema  behandeln  soll,  hat  sich  Neff  bisher 
nicht  befreunden  können,  er  mißt  ihr  nur  einen  stilistischen  Wert  bei  (vgl.  S.  73 
und  271),  möchte  sie  am  liebsten  anderen  Aufgaben  opfern.  Er  scheint  sie  mir 
doch  stark  zu  unterschätzen,  in  Preußen  legen  wir  ihr  eine  große  Bedeutung  bei, 
sie  wird  an  die  Behörden  weiter  gereicht  und  dient  diesen  mit  zur  Beurteilung 
der  Leistung  des  betreffenden  Seminars. 

Endlich  noch  ein  Wort  über  die  Protokollführung,  auf  die  in  München 
sehr  große  Sorgfalt  verwandt  wird.  Wenn  der  Kandidat  die  in  seinem  Tagebuch 
aufgezeichneten  Bemerkungen  ordnen  und  stilistisch  zu  einem  Entwurf  verarbeiten, 
diesen  Entwurf  dann  dem  Seminarlehrer  und  dem  Vorstande  zur  Korrektur  vor- 
legen, hierauf  die  Reinschrift  anfertigen,  endlich  auch  diese  noch  durch  den  Seminar- 
leiter durchsehen  lassen  soll,  so  erscheint  das  doch  als  eine  gar  zu  schülerhafte 
Anleitung,  über  die  wissenschaftlich  gebildete  junge  Männer  erhaben  sein  müssen. 
Die  S.  282ff.  abgedruckten  Protokollproben  sind  doch  einfach  genug  und  er- 
fordern keinen  großen  Kunstverstand.  Auch  sonst  tritt  im  Münchener  Seminar- 
betrieb das  Bestreben,  die  Kandidaten  zur  Selbständigkeit  zu  erziehen,  nicht  genug 
hervor,  vgl.  z.  B.  S.  13  und  61. 


W.  Thamhayn,  Eine  Ausstellungsgruppe  für  Reformschulwesen,  75 

Dem  Verfasser  mögen  meine  Bemerkungen  beweisen,  welches  Interesse  ich 
an  seinem  gehaltvollen  Buche  genommen  habe,  den  Kollegen  empfehle  ich  das- 
selbe angelegentlich  zur  Lektüre. 

Halle  a.  S.  Wilhelm  Fries. 


Eine  Ausstellungsgruppe  für  Reformschulwesen. 

In  der  alten  Waffenstadt  Solingen  fand  vom  12.— 23.  September  eine  Aus- 
stellung für  Säuglings-  und  Kinderpflege  statt.  Man  hatte  beschlossen  an  sie 
eine  Gruppe  für  höheres  Schulwesen  anzugliedern,  deren  Aufgabe  es  sein  sollte, 
einige  von  den  Reformbewegungen,  die  gegenwärtig  auf  dem  Gebiete  der  Gym- 
nasien und  Realanstalten  hervortreten,  zur  Anschauung  zu  bringen.  Die  Auswahl 
konnte  unter  den  obwaltenden  Umständen  nicht  schwer  sein.  Da  Solingen  seit 
Ostern  dieses  Jahres  den  Umbau  seines  Gymnasiums  in  ein  Reformgymnasium 
vollendet  hat,  lag  es  nahe,  zunächst  an  den  Altonaer  und  Frankfurter  Lehrplan 
zu  denken.  In  enge  Beziehung  aber  zu  dem  letzteren,  wenngleich  nicht  in  not- 
wendige Verbindung  mit  ihm,  ist  die  neusprachliche  direkte  Methode  getreten, 
die,  mag  man  nun  ihren  strengen  Vertretern  folgen  oder  nicht,  für  jeden  Neu- 
philologen, der  ein  offenes  Auge  für  die  gegenwärtige  Entwicklung  seines  Faches 
hat,  eine  Quelle  reichster  Anregung  bildet;  untrennbar  verbunden  mit  ihr  ist  die 
Phonetik  in  der  Schule. 

Es  galt  nun  zunächst,  durch  graphische  Darstellungen  die  Eigenart  und  Ver- 
breitung des  Altonaer  und  Frankfurter  Systems  zur  Darstellung  zu  bringen,  letztere 
mit  Rücksicht  auf  den  lokalen  Charakter  des  ganzen  Unternehmens  unter  Be- 
schränkung auf  Preußen. 

Die  Abweichungen  der  beiden  Lehrpläne  von  den  alten  Systemen  und  unter- 
einander, wie  sie  in  der  Stundenverteilung  für  die  einzelnen  Fächer  hervortreten, 
wurden  in  folgender  Weise  dargestellt.  Die  irgendwie  umstrittenen  Fächer  — 
Deutsch,  Lateinisch,  Griechisch,  Französisch,  Englisch,  Geschichte  und  Erdkunde, 
Rechnen  und  Mathematik,  Naturwissenschaften  —  folgten  senkrecht  aufeinander. 
Nicht  in  Betracht  gezogen  war  also  z.  B.  der  Religionsunterricht,  der  keine  Ver- 
änderung erfahren  hat.  Hinter  jeder  Fachbezeichnung  standen  vertikal  die  Klassen- 
bezeichnungen la  bis  VI.  In  wagerechter  Richtung  war  für  jedes  Fach  und  jede 
Klasse  die  Zahl  der  Wochenstunden  am  Gymnasium,  Reformgymnasium,  Real- 
gymnasium und  Reformrealgymnasium  a)  Altonaer,  b)  Frankfurter  Systems  nach- 
einander in  der  Weise  bezeichnet,  daß  jede  Stunde  durch  ein  kleines  Quadrat 
dargestellt  wurde.  Es  ergab  sich  danach  z.  B.  für  den  deutschen  Unterricht  am 
Normalgymnasium  (einschließlich  der  Geschichtserzählungen  in  Sexta  und  Quinta) 
nachfolgendes  Bild: 

Aus  naheliegenden  Gründen  waren  in  einer  letzten  senkrechten  Reihe  die 
Stundenzahlen  für  die  Oberrealschule  angegeben,  wenngleich  ihre  Berücksichtigung 
nicht  in  dem  Plane  der  Darstellung  lag. 

Mit  Hilfe  dieser  Übersicht  war  es  möglich,  jedem,  der  es  wünschte,  gelegentlich 
der  Erläuterungen,  die  in  dieser  Abteilung  wie  in  allen  anderen  zu  festgesetzten 


76 


W.  Thamhayn, 


Stunden    und   auch   außerhalb    derselben  stattfanden,   das  Eigentümliche  der  ver- 
schiedenen Lehrpläne  schnell  und  leicht  klar  zu  machen. 

Eine  zweite  Tafel  stellte  die  allmähliche  Zunahme  der  Reformschulen  Preußens 
in  einer  aufsteigenden  Linie  dar.  Sie  zeigte,  wie  nach  der  Einführung  der  Reform 
am  Altonaer  Realgymnasium  (1878),  der  Annahme  ihres  Systems  durch  eine 
Abteilung  der  Guerickeschule  in  Magdeburg^)  (1887),  der  Übertragung  der  Reform- 
idee nach  Frankfurt  am  Main  und  ihrer  Neugestaltung  daselbst  (1892)  ein  lang- 
sames Aufsteigen  bis  1901  stattfindet  (jährlich  1  —4  Anstalten).  Dann  geht  die 
Linie  bis  1908  senkrechter  empor  (Jahreszuwachs  6 — 13).  Als  Gesamtziffer  ergab 
sich  für  den  1.  April  1908  die  Zahl  94.**)  Das  Ganze  zeigt  glücklicherweise  ein 
in  keiner  Weise  überstürztes,  wohl  aber  stetiges  und  sicheres  Wachstum. 


I  a 

Ib 

IIa 

IIb 

III  a 

III  b 

IV 

V 

VI 

4 
26 


Die  geographische  Verbreitung  der  Reformschulen  in  Preußen  war  auf  ein 
Exemplar  der  zu  derartigen  Zwecken  recht  gut  geeigneten  Umrißkarten  aus  dem 
geographischen  Schulverlag  von  H.  Wagner  und  E.  Debes  in  Leipzig  eingezeichnet. 
Wenn  man  von  Frankfurt  a.  Main  mit  3  Vollanstalten  der  neuen  Richtung  absieht, 


*)  Sie  wurde  1897  zum  Frankfurter  System  übergeführt  und  besteht  seit  Ostern  1907  als 
selbständiges  Realgymnasium. 

**)  Andere  zählen  etwas  mehr.  Dies  erklärt  sich  zumeist  daraus,  daß  sie  auch  die  eine 
oder  andere  Anstalt  mitrechnen,  die  erst  nach  dem  oben  bezeichneten  Termin  dem  zu- 
ständigen Kgl.  Prov.-Schulkollegium  unterstellt  wurde  oder  ihm  auch  jetzt  noch  nicht 
unterstellt  ist.  —  Ganz  irreführend  ist  die  Übersicht  über  den  Bestand  der  Reformgymnasien, 
welche  C.  Michaelis  in  seinem  Vortrag:  „Die  Stadt  Berlin  und  das  Reformgymnasium" 
(Dürr,  Leipzig)  S.  8  der  2.  Auflage  gibt. 


Eine  Ausstellungsgruppe  für  Reformschulwesen.  77 

ist  mit  der  Umgestaltung  weitaus  am  meisten  das  rheinisch-westfälische  Industrie- 
gebiet vorgeschritten.  Es  besitzt  über  ein  Drittel  aller  in  der  Monarchie  vor- 
handenen Reformschulen.  Dazu  hat  gewiß  nicht  nur  die  Dichtigkeit,  sondern 
auch  der  regsame,  für  das  Neue  leicht  empfängliche  Geist  der  Bevölkerung  bei- 
getragen. Auffallend  ist  es,  daß  die  unmittelbare  Umgebung  von  Berlin  neun 
Reformanstalten  aufweist,  während  die  Landeshauptstadt  selbst  auf  der  Karte 
überhaupt  nicht  erscheint.  Sie  hat  auch  mit  dem  Frankfurter  Reformrealgymnasium, 
dessen  Daseinsberechtigung  doch  auch  von  sehr  konservativ  denkenden  Pädagogen 
nicht  bestritten  wird,  noch  keinen  Versuch  gemacht.  Reger  ist  das  Leben  in  den 
Ostmarken  der  Monarchie,  wie  in  Schlesien  und  den  beiden  Preußen.  Nur  eine 
einzige  Anstalt  hat  die  Provinz  Pommern  (Swinemünde).  Die  Zahl  der  in  einer 
Stadt  vorhandenen  Reformschulen  war  auf  der  Karte  durch  einfaches,  doppeltes 
oder  dreifaches  Unterstreichen  des  Namens  gekennzeichnet,  wobei  die  beiden 
Systeme  durch  verschiedene  Farben  unterschieden  wurden.  Daß  Frankfurt  mit 
drei  Anstalten  an  der  Spitze  marschiert,  wurde  bereits  erwähnt;  je  zwei  besitzen 
Düsseldorf,  Essen,  Elberfeld,  Barmen,  Dortmund,  ferner  Charlottenburg  und 
Schöneberg,  dazu  Hannover,  Magdeburg,  Breslau,  Danzig.  Das  Altonaer  System 
findet  sich,  von  Altona  selbst  abgesehen,  in  Osnabrück,  Hildesheim,  Harburg  und 
Geestemünde. 

Endlich  galt  es  auch  die  Verbindung  zweier  Schularten  zu  Doppelanstalten 
der  Frankfurter  Reformrichtung  graphisch  darzustellen.  Es  ergaben  sich  drei  gabel- 
förmige Figuren,  für  welche  die  Real-,  Gymnasial-  und  Realgymnasialklassen  durch 
verschiedene  Farben  gekennzeichnet  waren.  Auf  den  gemeinsamen  realen  Unter- 
bau aller  drei  Verbindungen  folgt  bei  dem  ersten  System  die  Gabelung  in  einen 
gymnasialen  und  einen  realen,  bei  dem  zweiten  die  in  einen  realgymnasialen  und 
einen  realen  Zweig  von  Untertertia  an.  Das  dritte  System  weist  einen  gemeinsamen 
Unterbau  bis  einschließlich  III a  auf;  in  der  Tertia  ist  eine  Verquickung  zwischen 
gymnasialem  und  realgymnasialem  Lehrplan  eingetreten,  mit  dem  Eintritt  in  die  IIb 
entscheidet  sich  der  Schüler,  um  es  kurz  auszudrücken,  zwischen  Griechisch  und 
Englisch.  Diese  Verbindung  findet  sich  bisher  nur  viermal,  vollständig  durchge- 
führt in  der  Leibnizschule  (Hannover)  und  dem  Gymnasium  und  Realgymnasium 
zum  Heiligen  Geist  in  Breslau,  in  der  Entwicklung  begriffen  in  Essen  und  in 
Mülheim  a.  d.  Ruhr.  Gleichwohl  wird  man,  wie  auch  schon  von  anderer  Seite 
betont  worden  ist,  nicht  irren,  wenn  man  ihr  eine  Zukunft  prophezeit.  In  vielen 
Mittelstädten,  namentlich  des  Industriegebietes,  wird  man  die  Pflege  des  Griechi- 
schen auf  die  Dauer  kaum  anders  retten  oder  vielleicht  auch  einführen  können  als 
durch  Befolgung  dieses  dritten  Systems.  Das  erste  ist  in  Preußen  lOmal,  das 
zweite  nicht  weniger  als  40mal  vertreten.  Eine  Anstalt,  die  in  einem  eigentümlichen 
Übergangsstadium  begriffen  ist,  (Mülheim  a.  d.  Ruhr)  wurde  für  diese  Übersicht 
doppelt  gezählt,  bei  System  I  und  III. 

Die  Literatur  für  die  Reformschulen  war  zunächst  durch  weitere  graphische 
Darstellungen  vertreten  und  zwar  durch  Lenssens  7  Tafeln  zur  Reformschulfrage, 
Harnischs  Programmabhandlung  (Kieler  Reformrealgymnasium  1908)  „von  der 
Aufgabe  und  Eigenart  des  Reformrealgymnasiums"  und  Masberg,  „Die  höheren 
Schulen  in  Düsseldorf".   Was  die  zuletzt  genannte  Schrift  angeht,  so  bieten  ja  die 


78  W.  Thamhayn, 

Düsseldorfer  Schulverhältnisse  einen  besonders  dankbaren  Gegenstand  der  Betrach- 
tung; in  den  acht  in  der  Stadt  vorhandenen  höheren  Knabenschulen  ist  der  Lehr- 
plan des  Gymnasiums  und  Realgymnasiums,  des  Reformgymnasiums  und  Reform- 
realgymnasiums, der  Oberrealschule  und  Realschule  vertreten.  Es  folgten  weiter 
erläuternde  und  methodische  Schriften  von  Blum,  Knabe,  Lentz,  Lexis,  Liermann, 
G.  Michaelis,  Nissen,  Reinhardt,  Schnobel,  Steinbart,  Wulff,  J.  Ziehen,  sowie  Lehr- 
pläne des  Goethegymnasiums,  der  Frankfurter  Musterschule  und  des  Altonaer 
Realgymnasiums.  Das  Goethegymnasium,  das  als  Mutteranstalt  der  Reformgym- 
nasien für  die  Solinger  höhere  Schule  besondere  Bedeutung  hat,  war  auch  im 
Bilde  vorgeführt.^'')  Die  Gegner  der  Neuerung  durften  selbstverständlich  nicht 
übergangen  werden.  Es  lagen  Schriften  von  Paul  Cauer,  Carl  Michaelis  und 
Heinrich  Vogt  aus.  Oskar  Jäger  und  Gustav  Uhlig  haben  ja,  soweit  die  Kenntnis 
des  Unterzeichneten  reicht,  ihre  gegnerische  Auffassung  nur  in  Zeitschriften,  be- 
sonders im  „Humanistischen  Gymnasium",  und  in  Versammlungen  kundgegeben; 
alle  Artikel  oder  Berichte  aber,  die  in  Fach-  und  Tageszeitungen  veröffentlicht  sind, 
mitzuberücksichtigen,  war  von  vornherein  vollständig  ausgeschlossen;  die  kleine 
Gruppe  würde  ins  Ungeheure  angewachsen  sein. 

Sehr  reichlich  waren  die  Lehrbücher  vertreten,  welche  bisher  auf  dem  Gebiet 
des  Sprachunterrichtes  in  den  Reformschulen  geschaffen  sind.  Eine  besondere 
Freude  ist  es  dem  Berichterstatter  immer  gewesen,  auf  die  Unterrichtswerke  hin- 
zuweisen, welche  aus  dem  Kollegium  des  Goethegymnasiums  hervorgegangen  sind. 
Mag  man  über  System  und  Einzelheiten  der  Sprachlehren,  welche  diese  Herren 
geschrieben  haben,  denken,  wie  man  will;  sie  verdienen  die  größte  Anerkennung, 
weil  sie  die  Idee  der  Parallelsatzlehren  in  Praxis  umgesetzt  und  zugleich  die  Aus- 
wahl der  Beispiele  für  die  syntaktischen  Regeln  in  allerengste  Beziehung  zu  dem 
Lesestoff  gesetzt  haben.  Auf  diese  Weise  wird  eine  Einheitlichkeit  und  Geschlos- 
senheit im  gesamten  grammatischen  Unterricht  und  andererseits  innerhalb  der 
einzelnen  sprachlichen  Fächer  erreicht,  die  notwendig  reiche  und  schöne  Früchte 
tragen  muß.  Selbstverständlich  ist  das  nicht  etwas,  was  an  den  Gedanken  der 
Reformschulen  an  sich  gebunden  ist.  Die  Vorteile,  die  mit  dem  Frankfurter  Ver- 
fahren verbunden  sind,  könnten  und  sollten  auf  alle  Arten  höherer  Schulen  über- 
tragen werden.  Ansätze  dazu  sind  ja  bereits  vorhanden.  Nur  das  Englische  ist 
bisher  nicht  in  das  System  hineingezogen,  das  dem  sonstigen  sprachlichen  Unter- 
richt am  Goethegymnasium  zugrunde  liegt.  Aber  Reibungen  können  hier  z.  B. 
durch  Benutzung  des  Tenderingschen  Lehrbuches  kaum  noch  entstehen,  weil  der 
Schüler  durch  die  deutsche,  französische,  lateinische  und  griechische  Satzlehre  in 
seinem  System  bereits  volle  Fertigkeit  und  Klarheit  gewonnen  hat  und  andererseits 
die  Einführung  der  Obersekundaner  und  Primaner  des  Gymnasiums  in  die  englische 
Syntax  ein  außerordentlich  knappes  Wissensgebiet  umfaßt. 

Am  meisten  Lehrbücher  für  die  Reformlehrpläne  sind  bisher  wohl  auf  dem 
Gebiete  des  Lateinischen  veröffentlicht.  Das  seinerzeit  für  das  Goethegymnasium 
von  Wulff  und  Gillhausen  begonnene  und  dann  von  Reinhardt,  Bruhn  und  Preiser 
fortgesetzte  Unterrichtswerk  (Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung)  ist  z.  T.  in  einer 


')  Vgl.  namentlich  das  Programm  des  Jahres  1897. 


Eine  Ausstellungsgruppe  für  Reformschulwesen.  79 

etwas  vereinfachten  Ausgabe  B  von  Schmedes  erschienen.  Der  Teubnersche  Verlag 
war  durch  die  Lehrbücher  von  Müller  und  Michaelis  (Ostermann)  und  ferner  die 
von  Vogel  und  Schwarzenberg  vertreten,  während  das  früher  von  ihm  herausge- 
gebene Bahnsche  Lese-  und  Übungsbuch  nicht  mehr  im  Buchhandel  zu  haben  ist. 
Die  Freytagsche  Firma  hatte  das  Kersten-Nissensche  Unterrichtswerk,  die  Nord- 
deutsche Verlagsanstalt  in  Hannover  Wartenbergs  Vorschule  gesandt.  Ferner  lagen 
die  Elementarbücher  für  Reformanstalten  von  Lattmann  (Göttingen)  und  Höpken 
(Emden)  aus.  Auch  Asmus'  Vokabular  für  den  lateinischen  Anfangsunterricht  am 
Reformrealgymnasium  in  Anschluß  an  Wellers  Lesebuch  aus  Herodot  und  Caesar 
war  beigefügt  (Frankfurt  a.  M.,  Kesselring). 

Den  zweiten  Teil  der  Gruppe  bildeten,  wie  bereits  erwähnt,  Werke  und 
Lehrmittel  zur  Veranschaulichung  der  neusprachlichen  direkten  Methode  und  der 
Phonetik  im  Unterricht.  Die  zur  Verfügung  stehende  Wandfläche  deckten  die 
Vietorschen  Lauttafeln  für  das  Französische,  Englische  und  Deutsche,  Zünd-Bur- 
guets  anatomische  Darstellung  der  „ Sprechwerkzeuge "  und  die  „Tafel  deutscher 
Lautzeichen"  von  Schnell.  Die  Literatur  war  nach  den  Gesichtspunkten  „Metho- 
disches und  Hilfsbücher"  und  „Lehrbücher,  Lesebücher  und  Schriftstellerausgaben 
von  Anhängern  der  direkten  Methode"  geordnet.  Von  deutschen  Vorkämpfern 
waren  natüdich  vor  allem  Wilhelm  Victor  und  Max  Walter  vertreten,  ferner  Quiehl 
Kühn,  Roßmann  und  Schmidt  u.  a.,  von  den  Franzosen  Passy,  Schweitzer  und 
Zünd-Burguet.  Die  Fehrsche  Veriagsbuchhandlung  in  St.  Gallen  hatte  methodische 
Schriften  und  Lehrbücher  zur  Algeschen  Methode,  die  sich  in  der  gleichen  Richtung 
wie  die  „direkte"  bewegt,  zur  Verfügung  gestellt.  Vor  allem  durch  die  überaus 
dankenswerte  Liebenswürdigkeit,  mit  welcher  Herr  Professor  Vietor  in  Marburg 
den  Abteilungsleiter  durch  Rat  und  Tat  unterstützte,  wurde  es  demselben  möglich, 
die  Arbeiten  der  englischen  Vertreter  der  neuen  Unterrichtsweise  in  einer  Zusam- 
menstellung vorzuführen,  die  geeignet  war,  einen  recht  guten  Überblick  über  die 
einschlägige,  jenseits  des  Kanals  veröffentlichte  Literatur  zu  geben;  es  waren 
vertreten  M.  Brebner,  K.  Breul,  F.  Lange,  Mackay  und  Curtis,  W.  Rippmann, 
D.  L.  Savory,  L.  Soames,  H.  Sweet.  Nicht  weniger  als  sieben  hervorragende 
deutsche  Firmen  hatten  ansehnliche  Proben  ihrer  „Reformausgaben"  französischer 
und  englischer  Schriftsteller  zur  Verfügung  gestellt;  man  versteht  darunter  bekannt- 
lich Ausgaben,  in  welchen  auch  die  Einleitung  und  die  Sach-  und  Worterklärungen 
in  der  fremden  Sprache  abgefaßt  sind. 

Überraschend  mag  es  vielleicht  für  den  einen  oder  anderen  Leser  sein,  wenn 
er  hört,  daß  auch  die  Sprechmaschine  mit  in  den  Plan  der  Gruppe  hineingezogen 
war.  Der  Sachkenner  weiß,  daß  Phonograph  und  Grammophon  bereits  ihren  Einzug 
in  Unterrichtsräume  der  Schulen  und  Universitätsseminare  gehalten  haben,  wenn- 
gleich voriäufig  nur  in  sehr  beschränktem  Maße.  Der  Abteilungsleiter  glaubte  sich 
eine  Zeitlang  der  angenehmen  Hoffnung  hingeben  zu  dürfen,  das  Neuste  und, 
wenn  nicht  alles  täuscht,  auch  weitaus  Beste  auf  diesem  Gebiet  in  seiner  Gruppe 
vorführen  zu  dürfen.  Es  handelt  sich  um  eine  neue,  nicht  mit  Platten  oder  Walzen, 
sondern  mit  beliebig  langen  Bändern  arbeitende  Sprechmaschine,  welche  die  rührige 
Elwertsche  Firma  in  Marburg  dem  Publikum  und  in  erster  Linie  dem  neuphilolo- 
gischen als  Neujahrsgeschenk  darbieten  will.   Sie  wird  dann  ein  weitausschauendes 


80  W.  Thamhayn,  Eine  Ausstellungsgruppe  für  Reformschulwesen. 

pädagogisches  Unternehmen,  das  sie  vor  nicht  langer  Zeit  begann,  aber  um  der 
in  sicherer  Aussicht  stehenden  neuen  Erfindung  willen  unterbrach,  wieder  auf- 
nehmen. Man  wird  in  der  Lage  sein  vorzügliche,  praktisch  und  theoretisch 
geschulte  Sprecher  des  In-  und  Auslandes  durch  die  Sprechmaschine  in  hoffentlich 
ganz  einwandfreier  Wiedergabe  den  Schülern  vorzuführen.  Wie  die  Umstände 
nun  einmal  liegen,  konnte  auf  das  neue  Unternehmen  nur  durch  Prospekte  und 
mündliche  Aufklärung  hingewiesen  werden.  Doch  hatte  die  genannte  Firma  auch 
sechs  Phonographenwalzen  mit  französischen,  von  Professor  Thudichum  in  Genf 
gesprochenen  Texten  zur  Verfügung  gestellt.  Es  handelt  sich  hier  um  ein  Ver- 
suchsgebiet des  neuphilologischen  Unterrichtes,  vor  allem  auch  Selbstunterrichtes, 
das  vielversprechend  ist.  Auf  der  letzten  Neuphilologentagung  in  Hannover 
(Pfingstwoche  1908)  wurden  darüber  recht  beachtenswerte  Aufschlüsse  gegeben. 

Schließlich  lagen  in  der  Gruppe  unter  der  Bezeichnung  „Verwandte  Bestre- 
bungen" noch  einige  Druckschriften  aus,  die  sich  zwar  nicht  streng  in  den  Plan 
des  Ganzen  fügten,  aber  ihm  doch  zu  nahe  standen  und  zu  wertvoll  erschienen, 
als  daß  man  sich  hätte  entschließen  können,  den  freundlichen  Anregungen  von 
außen,  durch  welche  sie  dargeboten  wurden,  nicht  Folge  zu  leisten.  Herr  M.  Mon- 
genast,  Generaldirektor  der  Finanzen  in  Luxemburg,  hatte  die  Liebenswür- 
digkeit gehabt,  den  Gesetzentwurf  für  die  Gymnasialreform  des  Großherzog- 
tums vom  2L  April  1908  sowie  eine  von  ihm  in  der  „Chambre  des  Deput^s" 
darüber  gehaltene  Rede  zu  senden.  Herr  Dr.  Th.  Fritzsch  in  Leipzig 
hatte  sein  Werk  über  Ernst  Christian  Trapp,  den  Vorläufer  der  beiden  Reform- 
bewegungen, welche  die  Gruppe  vorführen  wollte,  freundlichst  zur  Verfü- 
gung gestellt.  Endlich  hatte  der  „allgemeine  Verein  für  vereinfachte  Recht- 
schreibung" und  der  für  „Altschrift"  (d.  h.  Lateinschrift)  eine  große  Anzahl  von 
Druckschriften  gesandt.  Die  Bestrebungen  der  beiden  Vereine  sind  im  ganzen  wohl 
wenig  bekannt;  sie -verdienen,  meinen  wir,  größere  Beachtung,  als  ihnen  bisher 
zuteil  geworden  ist.  Wenn  man  an  der  Hand  der  oben  erwähnten  Schneiischen 
Tafel  deutscher  Lautzeichen  einmal  studiert  —  die  Macht  der  Gewohnheit  läßt 
uns  ja  nur  selten  von  selbst  dazu  kommen  — ,  wie  wir  ein  und  denselben  Laut 
oft  durch  die  verschiedenartigsten,  ja  einander  widersprechende  Zeichen  aus- 
drücken, wenn  wir  ferner  bedenken,  daß  die  sogenannte  „deutsche"  Schrift  diesen 
Namen  im  Grunde  genommen  gar  nicht  verdient,  fragt  man  mit  einiger  Ver- 
wunderung, warum  wir  unsere  Kinder  soviel  Arbeitskraft,  die  viel  besser  auf  andere 
Dinge  verwandt  werden  könnte,  immer  noch  nutzlos  aufwenden  lassen.  Und  es 
handelt  sich  ja  gar  nicht  um  unsere  Kleinen  allein.  Wir  stehen  im  Zeichen  des 
internationalen  Verkehrs.  Sollen  wir  Deutsche,  deren  Handel  und  Industrie  viel- 
verheißend aufgeblüht  ist,  so  ganz  und  gar  die  Hoffnung  aufgeben,  daß  auch 
unsere  Sprache  imstande  ist  ein  wenig  „Weltsprache"  zu  werden?  Ihrem  inneren 
Wesen  nach  bietet  sie  dem  Ausländer  nicht  geringe  Schwierigkeiten.  Um  so 
mehr  Veranlassung  haben  wir  altfränkischen  Ballast  von  äußeren  Dingen  endlich 
einmal  über  Bord  zu  werfen. 

Im  Vorhergehenden  ist  gezeigt  worden,  was  in  der  Ausstellung  vorhanden  war. 
*Wie  stand  es  nun  mit  ihrem  Erfolg?  Es  darf  nicht  behauptet  werden,  daß  man 
sie  tiberlaufen  hätte.    Aber  doch  hat  sich  eine  nicht  unbeträchliche  Anzahl  von 


A.  Matthias,  Bergers  Schillerbiographie.  81 

Besuchern,  Laien  wie  Fachmännern,  gefunden,  die  dem,  was  sie  zu  bieten  ver- 
mochte, rege  Teilnahme  entgegengebracht  haben,  so  daß  man  hoffen  darf,  daß 
die  aufgewandte  Mühe  nicht  umsonst  gewesen  ist.  Die  Berechtigung  aller  Aus- 
stellungen liegt  ja  unseres  Erachtens  weniger  in  dem  unmittelbaren  geistigen 
Nutzen,  den  sie  dem  Besucher  bringen,  als  in  den  Anregungen,  die  sie  dem 
Anregungsfähigen  bieten.  Übrigens  darf  mit  großer  Freude  mitgeteilt  werden, 
daß  es  durch  das  dankenswerte  Entgegenkommen  der  Herren  Verleger  und  der 
städtischen  Behörden  Solingens  möglich  geworden  ist,  nahezu  alles,  was  in  der 
Gruppe  enthalten  war,  für  die  hiesige  höhere  Lehranstalt  zu  erwerben. 

Solingen,  _  W.  Thamhayn. 


Bergers  Schillerbiographie.*) 

Vier  Jahre  nach  Vollendung  des  ersten  Bandes  erscheint  der  zweite  Band  von 
Bergers  Schillerbiographie,  für  die,  die  mit  Spannung  der  Vollendung  des  Werkes 
entgegensahen,  eine  lange  Zeit;  für  denjenigen,  der  die  Arbeit,  die  nunmehr  vor- 
liegt, zu  würdigen  versteht,  eine  kurze  Frist;  denn  die  Fülle  des  zu  bearbeitenden 
Stoffes  in  vier  Jahren  zu  bewältigen,  dazu  gehört  eine  Arbeits-  und  Willenskraft, 
die  Bewunderung  verdient,  besonders  wenn  man  weiß,  ein  wie  hohes  Gefühl  der 
Verantwortlichkeit  den  Verfasser  beseelt  und  daß  er  zu  den  Naturen  gehört,  die 
mit  sich  selbst  und  mit  ihrer  Arbeit  niemals  zufrieden  sind.  Selbstzufriedenheit 
entsteht  ja  meist  aus  Unkenntnis  des  Gebietes,  das  man  bearbeitet,  und  wird, 
wenn  Eitelkeit  dazu  kommt,  zu  einer  Glückseligkeit  des  Unverstandes,  die  eine 
Annehmlichkeit  für  den  Träger  solcher  Empfindungen  ausmacht,  gründlicher  Arbeit 
aber  selten  zugute  kommt.  Berger  ist  nun  gründlicher  Arbeiter,  und  wir  Schul- 
männer wollen  stolz  auf  ihn  sein,  wie  wir  überhaupt  stolz  sein  können,  wenn  wir 
erwägen,  daß  Goethe  einem  Schulmanne  seine  beste  Biographie  verdankt  und  daß 
gerade  in  diesen  Monaten  eine  umfangreiche  Preisarbeit  eines  Schulmannes  über 
Schiller  und  die  deutsche  Nachwelt**)  im  Druck  erschienen  ist,  die  einen  Beweis 
liefert,  daß  wir  uns  noch  immer  in  der  Welt  der  Wissenschaft  sehen  lassen  können 
und  im  Drama,  im  Roman  und  in  der  Presse  der  Gegenwart  doch  mit  recht  un- 
gerechtem Maß  gemessen  werden. 

Wer  Bergers  Arbeit  gerecht  beurteilen  will,  muß  eins  bedenken;  es  liegt  hier 
nicht  nur  eine  von  ästhetischer  Wertung  ausgehende  Biographie  vor,  sondern  ein 
Lebensbild,  das  auf  gründlicher  historischer  Grundlage  aufgebaut  ist.  Ich  habe 
dabei  nicht  etwa  nur  die  äußeren  Lebensverhältnisse  im  Auge,  sondern  die  innere 
Genesis  der  Werke  Schillers  und  die  Genesis  seines  künstlerischen  Wesens.  Wer 
nur  von  ästhetischen  Gesichtspunkten  Schillers  Wirken   und  Werke   zu  beurteilen 

*)  Berger,  Karl,  Schiller.  Sein  Leben  und  seine  Werke.  In  zwei  Bänden.  Zweiter 
Band  mit  einer  Photogravüre  (Schiller  im  35.  Lebensjahre  nach  dem  Gemälde  von  Ludovika 
Simanowicz).  L— 4.  Auflage.  München  1909.  C.  H.  Beck  (Oskar  Beck).  VII  u.  812  S. 
geb.  8  M. 

**)  Ludwig,  Albert,  Schiller  und  die  deutsche  Nachwelt.  Berlin  1908.  Weidmannsche 
Buchhandlung.  XVI  u.  679  S.  geb.  14  M.  (Wird  demnächst  eingehend  gewürdigt  werden.) 
Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIU.  Jhrg.  6 


82  A.  Matthias, 

unternimmt,  hat  es  leichter,  als  derjenige,  der  von  ästhetischen  und  historischen 
Richtlinien  sich  leiten  läßt.  Historische  Forschungen  gerade  auf  dem  Gebiete  der 
geistigen  Entwicklung  von  Menschen  und  Zeitströmungen  sind  mühenreich  und 
zeitraubend  und  erfordern  starke  Widerstandskraft  gegen  mancherlei  niederdrückende 
und  entmutigende  Resignation.  Der  Forscher  sucht  oft,  ohne  zu  finden;  und  die 
Lücken,  die  sich  ihm  öffnen  und  nicht  schließen  wollen,  empfindet  er  voll  schmerz- 
licher Entsagung.  —  Nur  zwei  Beispiele  aus  Bergers  Schillerbiographie.  Bei  Be- 
sprechung von  Schillers  geschichtlichen  Studien  und  Arbeiten  heißt  es:  „Wie 
Schiller  den  universalhistorischen  Faden  in  seinen  Vorlesungen  weiterspann,  von 
der  griechischen  zur  römischen  Geschichte  und  durch  die  Anfänge  des  Christen- 
tums zur  Kaiserzeit,  wissen  wir  nicht:  nicht  das  geringste  Bruchstück  von  seinen 
Kollegien  über  diese  oder  die  späteren  Zeiten  ist  uns  geblieben."  Das  ist  nur 
ein  kurzer  Satz!  Aber  welche  Fülle  von  suchender  Arbeit  liegt  in  ihm  ein- 
geschlossen und  wieviel  Entsagung,  wieviel  Schmerz  über  ungelöste  Fragen 
mag  ihm  vorangegangen  sein.  Wer  selber  auf  anderen  Gebieten  gesucht  und 
nicht  gefunden  hat,  weiß  das  zu  würdigen.  Der  unerfahrene  Leser  geht  arglos 
vorüber  und  ahnt  nichts  von  der  Inhaltsschwere  solch  knapper  Sätze. 

Ein  anderes  Beispiel:  Im  Jahre  1791  verkehrte  Schiller  in  einem  kleinen  Kreise 
talentvoller  und  strebsamer  junger  Männer  bei  den  Jungfern  Schramm,  wo  er  mit 
seiner  Lotte  den  Mittags-  und  Abendtisch  einnahm.  Hier  wurde  immer  wieder 
das  Gespräch  über  die  kantische  Philosophie  aufgenommen  und  das  half  Schiller 
rascher  und  müheloser  in  das  Labyrinth  dieser  mächtigen  Gedankenwelt  ein- 
dringen, als  er  es  bei  einsamem  Studium  allein  vermocht  hätte.  Hierbei  kam  ihm 
seine  ungewöhnliche  Kunst  der  Unterhaltung  zugute,  seine  Gabe,  ebenso  fein- 
sinnig zuzuhören  (das  können  ja  nur  wenig  Menschen  und  diejenigen,  die 
es  am  meisten  nötig  hätten,  am  wenigsten)  wie  jeden  Gedanken  lebendig  zu 
erfassen,  jedes  Thema  in  heiterer  Wechselrede  so  lange  und  so  gründlich  zu  er- 
örtern, bis  ein  reiner  Gehalt,  ein  sicheres  Ergebnis  gewonnen  war.  „Von  allen 
diesen  gewichtigen  Tischgesprächen",  so  sagt  nun  Berger,  „die  zwischen  den 
höchsten  philosophischen  Problemen  und  alltäglichen  Lebensfragen  sich  be- 
wegten, ist  uns  kein  Wort  erhalten  geblieben.  Aber  zahlreiche  Zeugnisse  unver- 
löschlicher  Dankbarkeit  lassen  uns  die  geistige  Bewegtheit  dieser  Stunden  ahnen." 
Wie  niederdrückend,  daß  wir  um  diesen  Besitz  gekommen,  daß  uns  die  Quellen 
nicht  mehr  fließen,  aus  denen  Schiller  so  reich  geschöpft.  Wenn  doch  nur  einer 
der  Genossen:  Fritz  von  Stein,  Bartholomäus  Fischenich,  Friedrich  Immanuel  Niet- 
hammer, Karl  von  Fichard,  Friedrich  von  Hardenberg,  wenn  auch  nur  der  un- 
bedeutendste unter  ihnen,  der  schwäbische  Magister  Göritz,  Erinnerungen  an  diese 
Stunden  hinterlassen  oder  brieflich  sich  Freunden  gegenüber  geäußert  hätte,  wieviel 
reicher  würden  wir  unterrichtet  sein  über  den  Werdegang  Schillers,  gerade  da,  wo  es  am 
wichtigsten  für  uns  wäre,  auf  dem  Gebiete  seiner  philosophischen  und  seiner  ge- 
schichtlichen Studien.  Das  sind  nur  zwei  Beispiele  für  viele!  —  Und  damit  komme 
ich  zu  dem  Kernpunkte  in  der  Besprechung  des  Bergerschen  Buches.  Die  Kapitel, 
welche  seine  „geschichtlichen  Studien  und  Arbeiten"  behandeln  und  die  Abschnitte: 
„Zwischen  Philosophie  und  Politik",  „Philosophische  Studien  und  Arbeiten",  „Ge- 
dankenlyrik", „Wallenstein",  „Maria  Stuart",  „Braut  von  Messina"  und  „Letzte  Pläne 


Bergers  Schillerbiographie.  83 

und  Schicksale"  bilden  den  Glanzpunkt  des  Bergerschen  Werkes  und  zugleich  eine 
Gabe,  welche  für  unsere  kleine  Zeit  so  recht  wie  geschaffen  ist.  Eine  Berücksichtigung 
der  geschichtlichen  und  philosophischen  Leistungen  Schillers  war  ja  von  Berger  von 
Anbeginn  vorgesehen.  Diese  Absicht  hat  sich  bei  ihm  immer  mehr  gesteigert, 
„zu  der  Überzeugung,  daß  eine  Biographie,  die  den  Bedürfnissen  der  Gebildeten 
und  Strebenden  weitester  Kreise  dienen,  die  allen  ernsthaft  Suchenden  Schiller  in 
der  Ganzheit  und  Einheit  seines  Wesens  erschließen  möchte,  gerade  jene  Seiten 
ausführlich,  gemeinverständlich,  im  besten  Sinne  volkstümlich  darstellen  müsse". 
„Zu  dem  Adlerhorste  der  Schillerschen  Kunst  ist,  nach  einem  treffenden  Worte 
des  Historikers  Richard  Fester,  nur  ein  sicherer  Zugang  gelassen,  der  durch  Ge- 
schichte und  Philosophie  hindurchführt  .  .  ,  Ohne  die  Betätigung  auf  jenen  Ge- 
bieten wäre  Schiller  nicht,  was  er  ist,  oder  besser,  was  er  geworden  ist  in  groß- 
artiger Selbstentwicklung.  Die  Kenntnis  seiner  historischen  Bemühungen,  seines 
Ringens  mit  der  Philosophie  ist  zur  Erkenntnis  seiner  Persönlichkeit  und  zum 
Verständnis  seiner  Dichtungen,  die  ein  Ausdruck  dieser  Persönlichkeit  sind,  uner- 
läßlich und  notwendig.  Wer  also  zu  den  Höhen  vordringen  will,  auf  die  sich  der 
Genius  Schillers  aufgeschwungen  hat,  wer  ihn  in  den  tiefsten  Wurzeln  seines 
Wesens,  in  der  „Totalität"  von  Mensch  und  Leistung  erfassen  möchte,  der  darf 
den  Weg  nicht  scheuen,  den  er  selbst  gegangen  ist.  Die  Wanderung  selbst,  vor 
allem  aber  das  Ziel  lohnt  die  Mühen  des  Aufstiegs." 

Diese  Mühen  unsere  Schüler,  besonders  diejenigen  der  oberen  Klassen  kennen 
zu  lehren,  tun  wir  gut;  denn  solche  Mühen  erscheinen  nachahmenswert  im  Hin- 
blick auf  die  hohen  Ziele.  Das  Bergersche  Buch  sollte  deshalb  in  recht  vielen 
Schülerhänden  sein.  Unser  Geschichtsunterricht  strebt  ja  immer  mehr  dahin,  die 
„Bürgerkunde"  unsern  Schülern  nahe  zu  führen,  diese  zu  tüchtigen  Männern  für 
die  Erfüllung  auch  politischer  Pflichten  zu  machen.  Aber  täuschen  wir  uns  nicht. 
Kenntnisse  bürgerkundlicher  Art  tun's  nicht  allein.  Wie  viele  haben  heutzutage  nicht 
nur  Kenntnis  in  Bürgerkunde,  sondern  sind  auf  diesem  Gebiet  Tag  für  Tag  tätig  als  Ver- 
treter der  Bürgerpflichten  und  des  Volkes.  Und  wie  häufig  versagen  sie,  wenn  es  gilt 
Ideale  zu  erfüllen,  sobald  diese  mit  den  materiellen  Vorteilen  des  einzelnen  in  den 
leisesten  Konflikt  geraten.  Die  echte,  rechte  Bürgerkunde  baut  sich  auf  ganz 
anderer  Grundlage  auf,  als  auf  staatswissenschaftlichen  Kenntnissen,  sie  zieht  ihre 
Kräfte  aus  der  Nachahmung  großer  Männer  der  Vergangenheit.  Und  keinen 
besseren  Lehrer  wüßte  ich  auf  diesem  Gebiet  zu  nennen  als  Schiller.  „Wenn 
Goethes  Wort  wahr  ist,  daß  der  Wert  der  Geschichte  darin  besteht,  Begeisterung 
zu  wecken,  so  wird  Schiller  von  keinem  seiner  Vorgänger  in  Deutschland  über- 
troffen, nur  von  wenigen  seiner  Nachfolger  erreicht.  Schon  sein  erstes  Auftreten 
als  historischer  Darsteller  bedeutet  einen  Sieg  des  Künstlers  über  das  zünftlerische 
Handwerk."  Unsere  Zeit  ist  ja  gerade  auf  dem  Gebiete  historischen  und  politischen 
Denkens  eine  Zeit  kleinlicher  zünftlerischer  Gesinnung.  Es  fehlen  ihr  die  weit- 
blickenden Geister  und  vor  allem  die  Männer  selbstlosen  Denkens  und  Schaffens 
und  Schillerscher  Mannhaftigkeit;  deshalb  zurück  mit  unserer  Jugend  zu  Schillert 
Ihm  werden  alle  seine  Kenntnisse  zu  Mitteln  der  Selbsterziehung  und  Selbst- 
förderung. Mit  seinem  politisch-historischen  Denken  reift  und  vertieft  sich  seine 
gesamte  Weltanschauung.    Im  Ringen   mit   dem  Studium   der  Vergangenheit  tritt 

6* 


84  A.  Matthias,  Bergers  Schillerbiographie. 

sein  phantasievoller  Idealismus  unter  die  Aufsicht  einer  ruhigen  Betrachtung  der 
•Wirklichkeiten  des  Lebens:  Vorgefaßte  Meinungen  und  Lieblingsgedankeh 
'weichen  der  besseren  Erkenntnis  der  Tatsachen.  Und  aus  diesen  Tatsachen  auch 
einer  fernen  Vergangenheit  zieht  er  stets  das  Ergebnis  für  die  Gegenwart,  die  ja 
so  erbärmlich  war  an  politischen  Werten.  Beim  Studium  der  Geschichte  des 
'Malteserordens  und  im  Hinblick  auf  jene  Heroen  ruft  er  aus:  „Können  wir,  ihre 
Verfeinerten  Enkel,  uns  wohl  rühmen,  daß  wir  an  unsere  Weisheit  nur  halb  so 
viel,  als  sie  an  ihre  Torheit,  wagen?"  Was  wagt  unser  Geschlecht  denn  über- 
haupt? Die  Männer,  die  unter  den  mächtigen  Einwirkungen  Schillerscher  Dichtung 
heranwuchsen,  erwiesen  sich  in  der  Stunde  der  Gefahr  zahlungsfähig  mit  ihrem 
Gut  und  Blut,  mit  ihrem  Leib  und  Leben.  Wir  aber  sind  schon  insolvent,  wenn  es  sich 
darum  handelt,  einige  Mark  mehr  alljährlich  herzugeben  für  die  Größe  und  für  die 
Kraft  des  Reichs.  Sorgen  wir  nur  ja  dafür,  die  Jugend  selbstloser  und  zugleich  politisch 
klüger  und  wagemutiger  zu  machen  als  wir  selber  sind.  Dazu  kann  ihr  aber  das 
gelehrte  Rüstzeug,  das  die  Schule  bietet,  allein  nicht  verhelfen,  große  Meister 
müssen  Nacheiferung  wecken;  und  welches  Vorbild  wäre  wohl  geeigneter  als  dieser 
klare  Verstand,  diese  mächtige  Phantasie,  dieses  starke  Temperament,  kurz  diese 
bedeutende  Persönlichkeit,  die  Berger  uns  vor  Augen  führt  in  dem  Historiker 
Schiller  und  in  dem  Philosophen,  dessen  Gedanken  und  Betrachtungen  durch  seine 
Prosa,  seine  Dramen,  seine  Balladen  und  seine  reife  Gedankenlyrik  überall  hin 
fruchtbare  Anregungen  getragen  haben,  und  einen  viel  tieferen  Eindruck  auf  die 
Nachwelt  ausgeübt  haben,  als  wir  uns  gemeiniglich  bewußt  sind.  Daß  wir 
Schiller  in  der  Seele  tragen  und  oft  nicht  wissen  woher,  das  wird  uns  bei  der 
Lektüre  Bergers  klar  und  wir  sollten  uns  immer  bewußter  werden,  daß  die  An- 
regungen dieses  Geistesgewaltigen  „in  die  zartesten  Gefäße  unseres  nationalen 
Bildungsorganismus  eingeströmt  sind". 

Mit  Recht  sagt  Berger  in  seinem  Vorwort,  daß  es  mit  der  Kenntnis  und  dem 
abgenutzten  Gebrauch  einzelner  Schillerworte  nicht  mehr  getan  sei  und  daß  nicht 
in  herkömmlichem  Lobpreis  des  sogenannten  Nationaldichters  und  nicht  in  einer 
Begeisterung,  die  an  der  Oberfläche  und  an  Äußerlichem  hafte,  sich  die  rechte 
Schillerverehrung  und  das  echte  Schillerverständnis  erweise.  Es  gelte,  nicht  Schiller 
zu  loben,  sondern  ihn  zu  lesen;  einzudringen  in  das  Innerste  seiner  Persönlichkeit 
und  daraus  Halt  und  Inhalt  für  die  ganze  Lebensführung  zu  schöpfen.  Die  Willigen 
auf  dem  Wege  zu  Schiller  führen  und  fördern  will  Bergers  Werk.  Es  ist  ge- 
eignet dazu,  weil  es  in  Stil  und  Inhalt  meisterhaft  ist  und  weil  wir  vom  bösen 
Kraut   der  Langeweile  und   der  inhaltlosen  Phrase    nirgendwo   eine  Spur  finden. 

Berlin.  A.  Matthias. 


II.  Programmabhandlungen.     Ostern  1908. 


Mathematik  und  Naturwissenschaften. 

1.  Mathematik  und  Astronomie. 

Mit  einer  wohltuenden  Begeisterung  für  den  Wert  der  Mathematik  als 
Wissenschaft  und  Unterrichtsfach  ist  die  Abhandlung  von  M.  Gebhardt  (Vitz- 
thumsches  Gymnasium  zu  Dresden.  No.  704)  geschrieben.  Sie  betont  in  treffenden 
Ausführungen  die  Bedeutung  des  Geschichtlichen  im  mathematischen 
Unterrichte,  zeigt  wie  die  Geschichte  der  Mathematik  eng  verknüpft  ist  mit  der 
Entwicklung  der  menschlichen  Kultur,  wie  ihr  Studium  geeignet  ist,  die  ver- 
schiedenen Disziplinen  am  Gymnasium  einander  näher  zu  bringen,  auch  mather 
matisch  schwach  veranlagte  Schüler  für  dieses  Fach  zu  interessieren,  dem  mathe- 
matischen Unterrichte  das  Starre,  Tote  und  Abgeschlossene  zu  nehmen,  besonders 
aber  auch  hier  zu  zeigen,  daß  die  Wahrheit  in  jeder  Form  Schritt  für  Schritt  er- 
kämpft, durch  Mühe  und  Arbeit  errungen  werden  muß.  Die  Arbeit  wird  jedem 
Leser  Freude  machen;  nur  sollte  der  Verfasser  seine  Betrachtungen  nicht  auf  das 
Humangymnasium  beschränken.  Auch  für  die  griechisch-  und  lateinlosen  höheren 
Schulen  treffen  die  Ausführungen  Satz  für  Satz  zu. 

Der  Rechenunterricht  soll  ganz  gewiß  auch  Sachunterricht  sein,  also  auf  die 
Verhältnisse  des  bürgerlichen  Lebens  Rücksicht  nehmen,  doch  nur  so  weit,  als  die 
Kenntnis  der  Gepflogenheiten  des  geschäftlichen  Lebens  für  gebildete  Erwachsene 
Bedürfnis  ist.  Auch  die  Meraner  und  Stuttgarter  Vorschläge  lehnen  daher  mit 
Recht  eine  Einführung  in  das  eigentliche  kaufmännische  Rechnen  ab.  Selbst  der 
zunehmende  Scheckverkehr,  durch  den  alle  Berufsstände  in  engere  Verbindung 
zum  Bankwesen  getreten  sind,  macht  noch  nicht  die  Kenntnis  des  bankmäßigen 
Rechnens  notwendig,  und  daher  scheint  mir  das,  was  W.  Krimphoff  (Gymnasium 
zu  Warendorf.  Progr.-No.  475)  über  die  Grundzüge  des  bankmäßigen 
Rechnens  zum  Gebrauch  beim  Rechenunterrichte  zusammengestellt  hat, 
über  die  Bedürfnisse  des  Gymnasiums  und  anderer  höherer  Lehranstalten  hinaus- 
zugehen. 

Aus  dem  Nachlasse  des  Professors  Hermann  von  Schaewen  hat  E.  Wernicke 
(Evang.  Gymn.  zu  Marienwerder.  Progr.-No.  42)  mathematische  Aufgaben 
gesammelt,  und  zwar  solche  aus  der  Stereometrie.  Da  sie  gute  Rechenresultate 
liefern    und    ursprünglich   sind,   werden   sie    freundlicher  Aufnahme   gewiß    sein. 


86  J-  Norrenberg, 

Ebenso  die  Aufgaben  aus  der  analytischen  Geometrie  für  die  Prima, 
die  J.  Hinrichs  (Gymn.  Carolinum  zu  Neustrelitz.  Progr.-No.  869)  in  üblicher 
Weise  zusammengestellt  und  gelöst  hat.  Zu  einem  lehrreichen  Vergleich  mit  den 
Forderungen  und  Leistungen  unserer  preußischen  Oberrealschulen  geben  die  von 
E.  Strenger  (Oberrealschule  zu  Schwab.  Hall.  Progr.-No.  786)  geordneten  Ma- 
thematischen Aufgaben  aus  den  Reifeprüfungen  der  württembergi- 
schen Oberrealschulen  Veranlassung. 

Eine  Arbeit  von  H.  Weist  (Realgymn.  zu  Görlitz.  Progr.-No.  280)  betrifft 
die  Bedeutung  und  Behandlung  der  Gleichungen  im  mathematischen 
Unterricht.  Der  Hinweis  darauf,  daß  es  sich  lohnt,  neben  oder  vor  der  Lösung 
von  Gleichungen  durch  Rechnung,  die  durch  Versuch  oder  Näherung  zu  üben, 
ist  treffend  und  gut  durchgeführt;  die  Darstellung  der  Zahlen  durch  Dreieck  und 
Pfeilrichtung  ist  jedenfalls  eigenartig.  Methodische  Winke  sind  reichlich  einge- 
streut und  machen  die  Arbeit  lesenswert. 

Die  Anschaulichkeit  im  geometrischen  Anfangsunterricht  der 
mittleren  Klassen  hat  K.  Liewald  (Realschule  zu  Görlitz.  Progr.-No.  298)  zum 
Gegenstande  einer  sehr  gründlichen,  fast  erschöpfenden  Untersuchung  gemacht. 
Diese  erstreckt  sich  auf  die  Zusammenstellung  der  verschiedenen  Veranschau- 
lichungsmittel  (Zeichnen,  Farbendarstellung,  graphische  Darstellungen,  bewegliche 
Modelle,  unmittelbare  Veranschaulichung  an  Gegenständen  des  täglichen  Lebens) 
und  auf  deren  Anwendung  auf  den  einzelnen  Stufen  des  durch  die  amtlichen 
Lehrpläne  vorgeschriebenen  Lehrganges.  Besonders  wertvoll  sind  dabei  die  Hin- 
weise auf  die  Bezugsquellen  der  benutzten  Modelle. 

Auf  der  letzten  westfälischen  Direktorenkonferenz  1907  wurde  in  einem  der 
angenommenen  Leitsätze  darauf  hingewiesen,  daß  die  Stärkung  des  räumlichen 
Anschauungsvermögens  auch  durch  Heranziehung  stereometrischer  Beziehungen  im 
gesamten  planimetrischen  Unterrichte  zu  erzielen  sei.  Die  fast  ausschließliche 
Betrachtung  der  Ebene  im  Unterricht  der  Mittelstufe  ist  in  der  Tat  durch  nichts 
gerechtfertigt.  Nichts  steht  im  Wege,  beispielsweise  den  ersten  Kongruenzsatz 
durch  die  Betrachtung  zweier  an  einer  Kante  zusammenstoßender  Dreiecke  eines 
quadratischen  Quaders  vorzubereiten,  ihn  an  diesem  Körper  gelegentlich  auch  be- 
weisen zu  lassen  und  ihn  zum  Nachweise  der  Gleichheit  der  Flächendiagonalen 
dieses  Körpers  zu  benutzen.  In  ähnlicher  Weise  wird  sich  auch  an  allen  anderen 
Stellen  des  planimetrischen  Lehrganges  dem  vielbeklagten  Mangel  an  räumlicher 
Anschauungsfähigkeit  der  Schüler  entgegenarbeiten  lassen.  Eine  völlig  metho- 
dische Verbindung  der  Planimetrie,  Stereometrie  und  Trigonometrie 
zu  einer  einheitlichen  Raumlehre,  wie  sie  J.  Schacht  (Mariengymnasium  zu 
Posen.  Progr.-No.  251)  in  seinem  Leitfaden  für  den  Unterricht  der  Mittelstufe 
durchführt,  scheint  aber  doch  etwas  über  das  Ziel  hinauszugehen,  da  manche  Ver- 
knüpfungen erzwungen  anmuten  und  der  Lehrstoff  für  die  mittleren  Klassen  stark 
überbelastet  ist, 

Pfitzner,  P.  (Gymnasium  z.  heiligen  Kreuz  zu  Dresden.  Progr.-No.  703),  hat 
19  stufenmäßig  fortschreitende  Aufgaben  aus  der  Planimetrie  zusammengestellt, 
bei  denen  es  sich  um  diejenigen  Gestaltungen  des  Apollonischen  Problems  handelt, 
wo  ein  Kreis  zu  suchen  ist,   der  drei  gegebene  Halbkreise  berührt;    desgleichen 


Mathematik  und  Naturwissenschaften.  87 

16  Aufgaben,  aus  der  Trigonometrie,  die  die  Spiegelung  eines  Lichtstrahles  an 
den  Seiten  eines  Dreiecks  oder  Vierecks  behandeln.  Den  Aufgaben  sind  die 
Lösungen  hinzugefügt,  der  letzteren  Gruppe  auch  die  Determinationen,  die  in 
ihrer  vollständigen  Durchführung  auch  dem  Fachmanne  recht  bemerkenswerte  Ein- 
blicke gewähren.  Zweck  dieser  Zusammenstellung  ist  es,  den  didaktischen 
Wert  zuammenhängender  Aufgabengruppen  im  mathematischen  Unter- 
richt darzutun.  Durch  die  Verbindung  einer  größeren  ^ahl  von  Aufgaben  zu 
einer  Einheit  soll  den  schwächeren  Schülern  das  Gefühl  des  Rätselratens  ge- 
nommen werden ;  sie  sollen  sehen,  wie  im  glatten  Fortschreiten  vom  Leichten  zum 
Schwereren  einfache,  klare  Gedankengänge  zu  vollziehen  sind,  und  so  zum  scharfen, 
geordneten  Denken  erzogen  werden.  Gleichzeitig  aber  wollen  die  Determinationen 
die  besser  Begabten  zum  wissenschaftlichen  Denken  anleiten. 

Einige  kleine  Beiträge  zur  Methodik  des  Unterrichts  in  der  ebenen 
und  sphärischen  Trigonometrie  lieferte  Schmehl,  Chr.  (Oberrealschule  zu 
Darmstadt.    Prog.-No.  841). 

Eingehendem  Studium  mag  die  Arbeit  von  Prfismann,  R.  (Leibnizgymnasium 
zu  Berlin.  Prog.-No.  72)  über  lineare  Gravitationsprozesse  empfohlen 
werden.  Wie  die  in  recht  deutlicher  Sprache  abgefaßte  Einleitung  lehrt,  verfolgt 
die  Abhandlung  einen  didaktischen  Zweck,  nämlich  an  einem  Beispiele  zu  zeigen, 
wie  man  etwas  mehr  Natur  in  die  Schulmathematik  hineinbringen  kann,  um  die 
gebildeten  Leser  an  das  Verständnis  der  mathematisch-physikalischen  Literatur 
wieder  heranzubringen.  An  die  Stelle  „der  Planimetrie  mit  ihrer  Plattheit  und 
der  Stereometrie  mit  ihrer  Starrheit"  möchte  er  eine  mathematische  Anschauungs- 
lehre setzen  als  formale  Vorbereitung  für  alle  Naturwissenschaften,  möchte  er  nur 
diejenigen  Sätze  und  Aufgaben  der  Schulmathematik  berücksichtigt  wissen,  die 
unsere  Naturerkenntnis  zu  erweitern  imstande  sind,  und  wohl  auch  erst  dann, 
wenn  die  Natur  die  Lösung  der  Probleme  fordert.  Unter  Anwendung  dieser 
methodischen  Grundsätze  entwickelt  der  Verfasser  in  überaus  klarer  Weise  das 
lineare  Dreikörperproblem. 

Die  in  früheren  Programmbeilagen  (1898,  No.  632  u.  1905,  No.  726)  begonnenen 
Tafeln  zum  mathematischen  Unterricht  setzte  Sachs,  J.  (Gymnasium  zu 
Baden-Baden.  Prog.-No.  794)  diesmal  fort  durch  Aufstellung  der  Quadrate  aller 
ganzen  Zahlen  von  1—10  500  und  durch  die  überaus  wertvolle  Zusammenstellung 
aller  rationalen  schiefwinkligen  Primdreiecke. 

Über  die  Grenzen  der  Schulmathematik  reichen  folgende  Arbeiten  hinaus: 

Morgenstern,  A.,  (Luisengymnasium  zu  Berlin.  Prog.-No.  74)  Beiträge  zur 
numerischen  Lösung  der  Gleichungen  fünften  Grades. 

Kluge,  W.,  (Comenius- Gymnasium  zu  Lissa  i.  P.  Prog.-No.  216)  Be- 
sondere Systeme.    Ein  Beitrag  zur  Bestimmung  von  Determinanten. 

Klein,  H.,  (Evangelisches  Gymnasium  A.  B.  und  Realschule  zu  Hermann- 
stadt) Ausführung  und  Erläuterung  von  P.  G.  Lejeune-Dirichlets  Ab- 
handlung über  dieReduktion  der  positiven  quadratischen  Formen  mit 
drei  unbestimmten  Zahlen. 

Uetzmann,  R.,  (Realschule  zu  Hamm.  Prog.-No. 965)  Über  den  Zusammen- 
hang der  rationalen,  trigonometrischen  und  elliptischen  Funktionen. 


88  J-  Norrenberg, 

Braasch,  J.,  (Realschule  vor  dem  Lübeckertore  zu  Hamburg.  Prog.-No.  955) 
Historisches   über   die  Simpsonsche  Regel    und  deren  Anwendungen. 

Haentzschel,  E.,  (Köllnisches  Gymnasium  zu  Berlin.  (Prog.-No.  70)  Über 
ein  orthogonales  System  von  bizirkularen  Kurven  vierter  Ordnung. 

Lersch,  A.,  (Realgymnasium  zu  Tarnowitz.  Prog.-No.  288)  Über  Zentrum 
und  Achse  polarreziproker  Dreiecke  (Fortsetzung). 

Schlamp,  A.,  (Neues  Gymnasium  zu  Darmstadt.  Prog.-No.  828)  Die  Ent- 
stehung der  Kegelschnitte  nach  Maclaurin  und  Graßmann. 

Dieck,  W.,  (Realprogymnasium  zu  Sterkrade,  Rheinland.  Prog.-No.  644) 
Zur  Klassifikation  der  Punktepaar-  und  Kegelschnitt-Büschel. 

Kostka,  C,  (Gymnasium  und  Realgymnasium  zu  Insterburg.  Prog.-No.  5) 
Tafeln  für  symmetrische  Funktionen  bis  zur  elften  Dimension  mit 
kurzen  Erläuterungen. 

Als  Ergänzung  seiner  vorjährigen  Programmabhandlung  „Die  Osterberechnung 
in  alter  und  neuer  Zeit"  brachte  Bach,  J.,  (Bisch.  Gymnasium  zu  Straßburg  i.  E. 
Prog.-No.  688)  eine  übersichtliche  Darstellung  der  so  wenig  bekannten,  auf  der 
genauen  Beachtung  der  astronomischen  Erscheinungen  aufgebauten  Zeit-  und 
Festrechnung  der  Juden.  Besonders  wertvoll  ist  die  Arbeit  durch  eine  leicht- 
verständliche Ableitung  und  Vereinfachung  der  von  Gauß  im  Jahre  1802  auf- 
gestellten, für  die  jüdische  Passahbestimmung  berechneten  Osterformel. 

Baldauf,  G.,  (Gymnasium  Albertinum  zu  Freiberg.  Prog.-No.  708)  brachte 
wieder  eine  Fortsetzung  seiner  Übersetzung  aus  Keplers  neuen  Astronomie, 
Plasmann,  J.,  (Paulinisches  Gymnasium  zu  Münster  i,  W.  Prog.-No.  463)  weitere 
Beobachtungen  veränderlicher  Sterne. 

Die  vortreffliche  Arbeit  über  Astronomie  in  der  Schule  setzte  Gnau,  E., 
(Gymnasium  zu  Sangerhausen.  Prog.-No.  324)  in  diesem  Jahre  fort.  In  An- 
knüpfung an  die  anderen  Disziplinen,  insbesondere  an  die  Mathematik  und  die 
physikalische  Erdkunde,  aber  auch  an  die  humanistischen  Fächer,  behandelte  er 
im  Anschlüsse  an  das  Lehrpensum  der  Quarta  und  Untertertia  in  sehr  ansprechen- 
dem Verfahren  die  Aufgabe,  die  Erdkugel  im  Räume  und  die  Orte  der  Erde  nach 
ihrer  solaren  Lage  zu  orientieren.  Auch  hier  wird  an  dem  geozentrischen  Stand- 
punkte noch  festgehalten.  Die  Vertreter  aller  Unterrichtsgebiete  mögen  aus  dem 
Schriftchen  die  Veranlassung  entnehmen,  auch  in  ihren  Lehrstunden  einmal  aus 
dem  Schulzimmer  hinaus-  und  hinaufzublicken  zum  gestirnten  Himmel,  dessen 
Bewegungen  „Zeiten  und  Zonen,  Wetter  und  Wogen"  beherrschen. 

2.    Physik  und  Meteorologie. 

Die  naturwissenschaftlichen  Fachlehrer  des  Realgymnasiums  zu  Halberstadt 
(Prog.-No.  333)  Nordmann,  M.  und  Wedde,  H.  beschrieben  in  der  Programm- 
beilage den  Anschluß  des  physikalischen  und  chemischen  Unterrichts- 
zimmers an  das  städtische  Elektrizitätswerk. 

Zwei  Arbeiten  beschäftigen  sich  mit  den  Erfahrungen,  die  mit  der  Einrichtung 
von  physikalischen  Schülerübungen  gemacht  worden  sind.  Höhnemann,  E., 
(Gymnasium  nebst  Realschule  zu  Landsberg  a.  d.  Warthe.  Prog.-No.  94:  Die 
physikalischen  Schülerübungen  am  Gymnasium)  zeigt  uns,  wie  man  auch 


Mathematik  und  Naturwissenschaften.  89 

am  Gymnasium  ohne  Beeinträchtigung  oder  Verschiebung  der  Aufgaben  und  Ziele 
dieser  Anstalten  den  Schülern  die  Freude  gewähren  kann,  Gesetze  auf  eigene 
Erfahrung  zu  stützen.  Er  wendet  sich  namentlich  gegen  die  verbreitete  Ansicht, 
daß  zu  den  Übungen  überall  ein  besonderer  Arbeitsraum  erforderlich  sei.  Am 
Gymnasium,  wo  man  sich  etwas  nach  der  Decke  strecken  muß,  geht  es  auch 
ohne  das,  wie  die  dreijährige  Erfahrung  des  Verfassers  beweist,  der,  von  dem 
rechten  Geiste  beseelt,  es  nicht  verschmähte,  draußen  ein'Vnal  mit  Theodolith  und 
Meßkette  im  freien  Gelände  Messungen  vorzunehmen  oder  bei  Sonnenschein 
und  blauem  Himmel  dem  Physikzimmer  den  Rücken  zu  kehren,  geologische 
Streifzüge  durch  die  Umgebung  zu  unternehmen  und  auf  kartographische  Gelände- 
darstellungen durch  Meßtischblätter  und  Generalstabskarten  einzugehen.  Neben 
dem  physikalischen  Experimente  sind  solche  Abschweifungen  je  nach  Gelegenheit 
und  Neigung  von  ganz  besonderem  Werte.  Nur  keine  lehrplanmäßige  Festlegung 
für  einen  Unterricht,  der  der  freien  Selbstbetätigung  und  Selbsterziehung  ge- 
gewidmet isti  —  Auch  die  andere  Arbeit:  Die  Bedeutung  des  physikalisch- 
chemischen Unterrichts  und  seine  Förderung  durch  praktische  Schüler- 
übungen von  Milau,  P.  (Realschule  zu  Kreuznach.  Prog.-No.  666)  will  er- 
mutigen, trotz  ungünstiger  Umstände  einen  Versuch  mit  der  Einführung  solcher 
Übungen  zu  machen.  Der  Verfasser  hat  die  Übungen  —  allerdings  bei  kleinen 
Klassen  mit  höchstens  16  Schülern  —  eng  an  den  Unterricht  angeschlossen. 
Über  die  Art  der  Ausführung  finden  wir  in  der  Arbeit  genaue  Angaben.  Der 
Erfolg  war  hier  wie  auch  anderwärts  sehr  befriedigend.  Sehr  deutlich  traten  während 
der  praktischen  Arbeit  bei  einzelnen  Schülern  im  Verständnis  physikalischer  und 
chemischer  Begriffe  und  Gesetze  Lücken  hervor,  die  wohl  ohne  die  Übungen  nie 
zutage  gekommen,  also  auch  nie  beseitigt  worden  wären.  Darin  liegt  eben  die 
Erleichterung  für  Schüler  und  Lehrer  bei  praktischer  Arbeit  am  Gerät. 

Zur  experimentellen  Bestätigung  des  Grundgesetzes  der  Dynamik, 
wonach  eine  konstante  Kraft  gleich  dem  Produkt  aus  der  bewegten  Masse  und  der 
Beschleunigung  ist,  lieferteTroje,  O.  (Altstädtisches  Gymnasium  zu  Königsberg  O.-Pr. 
Prog.-No.  8)  wertvolle  Untersuchungen.  Die  Ausführung  aller  Versuche  wird  bekannt- 
lich meistens  erschwert  durch  störende  Nebenwirkungen  und -Einflüsse  (Reibung  usw.), 
die  man  gewöhnlich  außer  Betracht  läßt,  deren  genaues  Studium  aber  erst  das 
Gesetz  mit  Präzision  in  Erscheinung  treten  läßt.  Die  genaue  Feststellung  aller 
Fehlerquellen  bei  den  Bestätigungsversuchen  des  dynamischen  Grundgesetzes  hat 
nun  der  Verfasser  für  vier  verschiedene  Methoden  —  mit  der  Atwoodschen  Fall- 
maschine, mit  dem  Schienenapparate  von  Höfler  und  den  Anordnungen  von 
Pfaundler  und  Wiechert  —  vorgenommen.  Die  besten  Ergebnisse  bei  leichter 
Handhabung  lieferte  immer  noch  die  Atwoodsche  Fallmaschine,  vorausgesetzt, 
daß  alle  vorhandenen  Trägheitsmomente  und  Reibungskräfte  nach  zuverlässigen 
Methoden  vorher  genau  ziffernmäßig  ermittelt  wurden. 

Kircher,  E.,  (Realgymnasium  zu  Saalfeld.  Prog.-No.  922)  berichtete  über 
seine  im  Anschlüsse  an  die  Arbeiten  von  Gockel  und  von  Elster  und  Geitel  (cf. 
auch  Jahrgang  VII,  S.  166  dieser  Monatschrift)  vorgenommenen  ergebnisreichen 
Messungen    der   Elektrizitätszerstreuung    in   Saalfeld   im   Jahre    1907 


90  J-  Norrenberg, 

und  über  die  Ergebnisse  der  Untersuchungen  über  Radioaktivität  der 
Bodenarten  in  der  Umgebung  des  Beobachtungsortes. 

Von  Hochheim,  F.,  (Oberrealschule  zu  Weißenfels.  Prog.-No.  356)  liegt  der 
•erste  Teil  einer  Elementaren  Theorie  der  Wechselströme  als  „Beitrag  zur 
Behandlung  der  Wechselströme  in  der  Oberstufe  der  Realanstalten "  vor.  Da  die 
Darbietung  doch  wohl  recht  weit  über  die  Elemente  hinausgeht,  verlangt  der  Ver- 
fasser zunächst  eine  Umgestaltung  des  mathematisch-physikalischen  Unterrichts, 
in  Ausführungen,  die  seiner  Begeisterung  für  sein  Spezialgebiet  ein  gutes  Zeug- 
nis ausstellen. 

Bunkofer,  W.,  (Gymnasium  zu  Wertheim  a.  M.  Progr.-No.  810)  beschreibt 
«inen  von  ihm  konstruierten  Apparat  für  Beobachtung  der  Luftdruck- 
schwankungen mit  sehr  starker  Vergrößerung.  Die  Hoffnungen,  die  der 
Verfasser  an  seine  Erfindung  knüpft,  werden  sich  kaum  verwirklichen. 

In  zahlreichen  höheren  Lehranstalten  findet  man  jetzt  die  synoptischen  Wetter- 
karten ausgehängt,  aber  trotz  des  Min.-Erl.  vom  19.  Oktober  1901,  der  auf  die 
Wichtigkeit  des  Studiums  der  Meteorologie  hinwies,  bleiben  Fragen,  die  man  an 
■die  Schüler  über  Zweck  und  Inhalt  dieser  Karten  richtet,  meistens  unbeantwortet. 
Die  junge  Wissenschaft  der  Meteorologie  fand  eben  die  Lehrstunden  an  unseren 
höheren  Schulen  schon  alle  reichlich  besetzt.  Auch  mag  es  den  Lehrern  selbst 
an  den  nötigen  Anleitungen  fehlen.  Hier  hilft  die  Arbeit  von  Bauer,  G.  (Gym- 
nasium und  Realschule  zu  Greifswald.  Prog.-No.  187):  „Ein  Beitrag  zur 
Förderung  des  Unterrichts  in  der  Meteorologie"  in  bester  Weise  aus. 
In  sehr  ansprechender,  klarer  Darstellung  erzählt  uns  der  Verfasser,  wie  er  die 
Schüler  zu  Wetterbeobachtungen  anleitet,  indem  er  sie  erstens  selbst  Beobachtungen 
-am  Barometer,  Thermometer,  Hygrometer  und  am  Regenmesser  anstellen  läßt  -— 
das  sind  ja  auch  physikalische  Schülerübungen  —  und  sie  dann  zweitens  fort- 
gesetzt anweist;  die  Wetterkarten  zur  Beobachtung  und  Erklärung  des  Witterungs- 
ganges und  zur  rechnerischen  Bestätigung  der  aufgestellten  Witterungsgesetze  zu 
studieren.  Nicht  nur  den  naturwissenschaftlichen  sondern  auch  den  geographischen 
Fachlehrern  sei  die  Arbeit  zum  Studium  bestens  empfohlen. 

Sassenfeld,  M.,  (Gymnasium  zu  Sigmaringen.  Prog.-No.  608)  bot  ein  in 
großen  Umrissen  entworfenes  und  auch  für  Schüler  des  Gymnasiums  leicht  ver- 
ständliches Bild  von  den  Methoden  und  Ergebnissen  der  Erforschung  des 
Luftmeeres  mittels  Ballon  und  Drachen.  Es  kommen  hier  vor  allem  die 
Berliner  Luftfahrten  in  Betracht,  die  Unternehmungen  der  internationalen  Kom- 
mission für  wissenschaftliche  Luftschiffahrt  unter  Leitung  des  Straßburger  Pro- 
fessors Hergesell  und  die  seit  1905  von  Richard  Aßmann  geleiteten  Arbeiten  des 
Königl.  preußischen  aeronautischen  Observatoriums  zu  Lindenberg. 

3.   Naturgeschichte. 

Der  Schwierigkeit,  für  den  Unterricht  in  der  Biologie  auf  der  Oberstufe  der 
höheren  Schulen  Raum  zu  schaffen,  will  man  vielerorts  dadurch  begegnen,  daß 
man  den  biologischen  Lehrstoff  auf  die  Physik  und  die  Chemie  möglichst  zu  ver- 
teilen sucht.  Diesen  Versuchen  steht  Hock,  F.,  (Realgymnasium  zu  Perleberg. 
Prog.-No.  131)    in  seiner  Schrift   über   Natur-   und  Erdkunde  auf  der  Ober- 


Mathematik  und  Naturwissenschaften.  91 

stufe  der  Realgymnasien  etwas  zweifelnd  gegenüber.  Allerdings  lassen  sich 
auch  nach  seiner  Meinung  mancherlei  Einzelfragen,  so  aus  der  Mineralogie  und 
Oeologie,  der  allgemeinen  Erdkunde,  der  Sinnes-  und  Pflanzenphysiologie,  an 
Physik  und  Chemie  anknüpfen,  aber  es  bleiben  doch  auf  diese  Weise,  wie  Hock 
im  einzelnen  ausführt,  weite  Gebiete  unberücksichtigt,  für  die  ein  selbständiger 
Unterricht  schließlich  nicht  entbehrt  werden  kann.  Für  diesen  verlangt  er  in  jeder 
der  drei  oberen  Klassen  zwei  Wochenstunden,  je  eine  für  die  Erdkunde  und  für 
die  Biologie.  Ohne  erhebliche  Änderung  des  Lehrplanes  würde  sich  eine  dieser 
Stunden  der  Mathematik  entziehen  lassen.  Als  Stoff  für  den  biologischen  Unter- 
richt schlägt  er  für  O  II  allgemeine  Pflanzen-  und  Tierkunde,  für  U  I  Verbreitung 
der  Lebewesen,  für  O  I  Verwandtschaftslehre  und  Entwicklungslehre  vor.  Ein  Ver- 
gleich der  gemachten  Vorschläge  mit  anderen  ähnlichen  schließt  die  gerade  jetzt 
gewiß  allen  Fachlehrern  willkommene  Arbeit,  die  durch  Angabe  eines  reichen 
Quellenmaterials  noch  besonders  wertvoll  ist. 

Garbsch,  M.,  (Oberrealschule  zu  Breslau.  Prog.-No.  290)  hat  aus  der  be- 
kannten Literatur  über  pflanzenphysiologische  Versuche  solche  für  die 
unteren  Klassen  ausgewählt  und  eigene  hinzugefügt.  Die  Auswahl  ist  sehr 
gut  getroffen;  die  meisten  Versuche  erfordern  nur  wenig  Zeit,  lassen  sich  daher 
innerhalb  einer  Unterrichtsstunde  durchführen.  Sie  lassen  sich  am  besten  an 
Pflanzenbeschreibungen  anknüpfen,  bringen  die  Haupterscheinungen  der  pflanz- 
lichen Lebensvorgänge  zur  Darstellung  und  entlasten  so  wesentlich  das  Pensum 
der  Gymnasial-Untertertia.  Der  kleinen  Arbeit  ist  die  weiteste  Verbreitung  zu 
wünschen. 

Geisenheyner,  L.,  (Gymnasium  zu  Kreuznach.  Prog.-No.  592)  brachte  eine 
Fortsetzung  seiner  Wirbeltierfauna  von  Kreuznach  unter  Berücksichtigung 
des  ganzen  Nahegebietes.  Der  vorliegende  Teil,  der  14  Famüien  der  Vögel  um- 
faßt, zeigt  wie  auch  die  früheren  Teile  des  Verfassers  vortreffliche  Gabe,  auch 
systematische  Lehrstoffe  ansprechend  darzubieten. 

Einen  Beitrag  zur  Molluskenfauna  der  Umgebung  von  Kreuzburg 
O.-S.  brachte  Schimmel,  F.,  (Gymnasium  zu  Kreuzburg  O.-S.  Prog.-No.  257) 
durch  den  Nachweis  von  63  verschiedenen  Arten. 

Die  Floristik  hat  Bensemann,  H.,  (Ludwigs-Gymnasium  zu  Köthen.  Prog.- 
No.  890)  auf  Grund  20-jährigen  Studiums  bereichert  durch  eine  Flora  der  Um- 
gegend von  Köthen. 

Ein  Verdienst  um  die  Naturdenkmalspflege  hat  sich  Neumann,  R.,  (Gym- 
nasium zu  Bautzen.  Progr.-No.  701)  durch  seine  Monographie  über  einen  aus- 
sterbenden deutschen  Waldbaum  erworben.  Aus  Leben,  Sage  und  Geschichte 
der  Eibe  erzählt  er  in  allgemein  verständlicher  Darstellung  so  anziehend,  daß 
seine  Arbeit  recht  viele  Leser  finden  wird.  —  Das  gleiche  gilt  von  der  mit  Ab- 
bildungen reich  geschmückten  Arbeit  Schubes,  Th.,  (Realgymnasium  am  Zwinger 
zu  Breslau.  Prog.-No.  279):  Aus  der  Baumwelt  Breslaus  und  seiner  Um- 
gebung. Der  Verfasser  hat  darin  zur  Belebung  des  Unterrichts  und  zur  Förde- 
rung der  Freude  an  der  Natur  alle  Spaziergänge  und  Halbtagsausflüge  in  Breslaus 
Umgebung  zusammengestellt,  auf  denen  durch  Größe,  Schönheit  oder  Eigenart 
des  Wuchses  auffallende  Bäume  zu  beobachten  sind.    Hoffentlich  wird  die  Arbeit 


92  F.  Kuhlmann,  Zeichen-  und  Kunstunterricht. 

zu  ähnlichen  Schilderungen  in  bezug  auf  andere  Städte  anregen.  —  Einen  weiterer» 
Beitrag  zur  Naturdenkmalpflege  lieferte  Votsch,  W.,  (Obereralschule  zu  Delitzsch. 
Prog.-No.  341):  Aufbau  und  Vegetation  des  Moores  von  Mockrehna. 

Neben  weiteren  Beiträgen  zur  Kenntnis  der  Anpassung  der  Farne 
an  verschiedene  Lichtstärke  hat  Lämmermayr,  L.,  (k.  k.  Staatsgymnasium 
in  Leoben)  uns  in  einigen  Musterexkursionen  Leoben  und  seine  Umgebung 
im  Dienste  des  naturwissenschaftlichen  Anschauungsunterrichtes 
geschildert.  Unter  Hinweis  darauf,  daß  es  dem  seinen  Wirkungsort  so  oft  wechseln- 
den Lehrer  häufig  recht  schwer  fällt,  sich  mit  der  Flora,  Fauna  und  den  geologi- 
schen Verhältnissen  des  Schulortes  hinreichend  vertraut  zu  machen,  machte  der 
Verfasser  den  höchst  beachtenswerten  Vorschlag,  an  jeder  Anstalt  alle  die  Flora 
der  Umgebung  und  die  Praxis  des  botanischen  Unterrichts  überhaupt  betreffenden 
Beobachtungen  und  Erfahrungen  aufzeichnen  und  archivmäßig  hinterlegen  zu 
lassen.  Damit  könnte  jeder  neueintretende  Lehrer  auf  dem  Fundamente,  das  er 
vorfindet,  an  der  Verwertung  und  Erschließung  der  heimatlichen  Landschaft  — 
unbeschadet  seiner  individuellen  Neigung  —  weiterbauen  und  damit  auch  der 
reinen  Wissenschaft  nicht  zu  unterschätzende  Dienste  leisten, 

Beriin.  J.  Norrenberg. 


Zeichen-  und  Kunstunterricht. 

Knobloch,  Hermann,  Über  die  Reform  im  Zeichenunterricht.  Breslau 
1908.    Katholische  Realschule.    26  S.    8».    Prog.-No.  293. 

Die  Schrift  gibt  die  lesenswerte  Darstellung  eines  Zeichenunterrichts  nach  den 
neuen  Lehrplänen,  unter  Hinzufügung  einiger  Schülerzeichnungen.  Der  Verfasser 
läßt  es  sich  zugleich  angelegen  sein,  die  mancherlei  gegen  die  neuen  Wege  er- 
hobenen Einwendungen  unter  Hinweis  auf  seine  praktischen  Erfahrungen  zu 
entkräften.  Besonders  sei  auf  die  auch  in  dieser  Schrift  niedergelegte  überall  ge- 
machte Beobachtung  hingewiesen,  daß  nicht  wenige  im  Zeichnen  fleißige  Schüler 
durch  die  Erfahrung,  daß  ihnen  ihr  Fleiß  im  Zeichnen  nicht  in  gleicher  Weise 
angerechnet  wird,  wie  der  in  den  sogenannten  Hauptfächern,  dem  Zefthnen  all- 
mählich entfremdet  werden.  Man  vergleiche  damit  die  Ausführungen  von  H.  Bor- 
bein in  Heft  11,  1908,  wo  sie  von  leitender  Seite  eine  Bestätigung  finden. 

Rosenkranz,  W.,  Wie  kann  das  Zeichnen  in  den  anderen  Unterrichts- 
fächern angewendet  werden?  Saarlouis  1908.  Gymnasium.  16  S.  4°. 
Prog.-No.  606. 

Der  Verfasser  begründet  eingangs  die  Forderung  sowohl  einer  Konzentration 
als  auch  der  Anschaulichkeit  des  Schulunterrichts  und  weist  sodann  auf  die  Be- 
deutung des  Zeichnens  in  dieser  Richtung  hin,  das  neben  dem  gesprochenen 
Worte  als  Veranschaulichungs-  und  Ausdrucksmittel  größere  Beachtung  finden 
müsse.  Es  wäre  zu  wünschen,  daß  sowohl  diese  allgemeinen  wie  die  diesen 
folgenden  Ausführungen  über  die  einzelnen  Lehrfächer  bei  den  Vertretern  der- 
selben Würdigung  finden  möchten.  Sie  behandeln:  Religion,  Deutsch,  Latein  und 
Griechisch,  Geschichte,  Erdkunde,  Mathematik,  Naturwissenschaften. 


G.  Rolle,  Gesangunterricht.  93 

Schultz,  O.,  Die  wichtigste  Grundlage  der  Fähigkeit,  nach  der 
Natur  zu  zeichnen.  Delitzsch  1908.  Oberrealschule.  19  S.  4^.  Prog.- 
No.  341. 

Der  Verfasser  bietet  in  seiner  Arbeit  sowohl  über  das  Sehen  wie  über 
Farbenblindheit,  über  Raum-  und  Formvorstellung  und  verschiedenes  andere  Be- 
achtenswertes und  so  darf  sie  als  lesenswert  empfohlert  werden.  Es  muß  aber 
meines  Erachtens  zu  einer  rein  äußerlichen  Auffassung,  zu  einem  mechanischen 
Abschreiben  der  Natur  führen,  wenn  der  Verfasser  als  Grund-  und  Eckstein  des 
Zeichnens  nach  der  Natur  die  Auffassung  der  Winkel,  des  Richtungsverlaufes 
aller  Linien  und  Punktreihen,  aufstellt  und  einen  Winkelmesser  benutzt  wissen 
will,  um  das  mechanisch  richtige  Zeichenresultat  zu  erreichen.  Sicher  führt  des 
Verfassers  Weg  zu  einem  großen  Prozentsatz  richtiger  Zeichnungen,  ob  aber  zu 
einer  lebendigen,  inneren,  die  Menschenseele  bereichernden  Auffassung  der  Natur, 
das  erscheint  mir  doch  zweifelhaft. 

Kuhlmann,  Fritz,  Zeichenunterricht  und  Heimatstadt.  Altona  1907. 
Realgymnasium.  48  S.  4".  Prog.-No.  354.  (Zugleich  als  Buch  erschienen  im 
Verlage  A.  Müller-Fröbelhaus-Dresden.    2  M.) 

Der  Unterzeichnete  als  Verfasser  dieser  Arbeit  ist  bemüht  gewesen,  seinen 
Unterricht  von  den  teuren  käuflichen,  aus  der  lebendigen  Umgebung  losgelösten 
toten  Modellen  zu  befreien,  ihn  in  direkter  Verfolgung  seines  höchsten  erziehlichen 
Zweckes  als  Mittel  zu  benutzen,  die  Jugend  zur  Liebe  zu  Natur  und  Heimat  und 
zur  scharfen,  lebendigen  und  zugleich  genießenden  Auffassung  ihrer  Umgebung  zu 
•erziehen.  Die  Abhandlung  sucht  unter  Beigabe  vieler  (ca.  60)  Schülerzeichnungen 
ein  Bild  dieses  Unterrichts  zu  geben. 

Altona.  Fritz  Kuhlmann. 


Gesangunterricht. 

Als  ein  Zeichen  der  Zeit  ist  der  Umstand  freudig  zu  begrüßen,  daß  sich  die 
Programmabhandlungen  mehren,  welche  den  Schulgesang  zum  Gegenstand  haben. 
Die  Gesanglehrer  ergreifen  selbst  das  Wort,  um  dem  Gesangunterricht  die  Wert- 
schätzung zu  erringen,  die  ihm  gebührt,  nicht  zuletzt  aber  auch,  um  ihre  Fach- 
genossen anzuregen,  ihrem  Lehrgegenstande  die  rechte  Behandlung  zuteil  werden 
zu  lassen.  In  dieser  Richtung  bewegen  sich  die  beiden  Abhandlungen:  „Zur  Me- 
thode des  Gesangunterrichts  an  höheren  Schulen"  von  Wenner  (König- 
liches Gymnasium  in  Bonn,  Prog.-No.  560)  und  „Die  Methode  Jaques-Dalcroze  und 
ihre  Verwertung  im  Gesangunterricht  an  höheren  Schulen"  von  Julius  Steger  (Ober- 
real- und  Landwirtschaftschule  in  Flensburg,  Prog.-No.  379). 

Wenner  klagt,  wie  viele  es  tun,  daß  der  Gesangunterricht  in  der  Schule  „zum 
Stiefkinde  geworden  ist",  und  daß  er  infolge  „der  stiefmütterlichen  Behandlung  in 
den  Augen  unsrer  Jugend  an  Wertschätzung  verloren  hat."  Als  Beweis  für  diese 
Behandlung  führt  er  den  Mangel  „der  Feststellung  der  Lehraufgabe"  an.  Sollte 
dies  der  einzige  Beweisgrund  sein?  Aber  trotzdem  ist  Wenner  kein  Pessimist.    Er 


94  G.  Rolle, 

hofft  zunächst  auf  das  Interesse  der  Schulbehörden  (und  damit  hat  er  wohl  recht, 
D.  Red.)  und  schildert  dann  frisch  und  fröhlich  in  vortrefflicher  Weise,  wie  er  den 
Gesangunterricht  gehandhabt  wissen  will.  Stimmpflege,  Stimmbildung,  Klang- 
bildung, Atmung,  Aussprache,  Anleitung  zum  Singen  nach  Noten,  der  Übungs- 
stoff und  schließlich  der  Chorgesang  wird  von  ihm  eingehend  besprochen,  und  es 
ist  eine  Lust,  seine  Ausführungen  zu  lesen.  Dieselben  gipfeln  in  dem  Satze: 
„Singen  und  zwar  recht  viel  singen  unter  beständiger  sorgfältiger  Anleitung  zum 
bewußten  Singen,  zum  Schönsingen:  das  ist  die  Arbeit  in  der  Gesangstunde,  alles 
übrige  störendes  Beiwerk"  (S.  12).  Dabei  verfällt  er  nicht  etwa  in  den  Fehler  der 
„Vororgelmethode",  sondern  das  Verständnis  unserer  Notenschrift  ist  ihm  „die  Vor- 
aussetzung für  die  gesangliche  und  musikalische  Ausbildung"  der  Schüler.  Es 
kommt  ihm  nicht  nur  auf  die  Leistung  an  sich  an,  sondern  vor  allem  darauf,  „wie 
dieselbe  zustande  gekommen  ist"  (S.  7).  Besonders  bemerkenswert  und  —  aner- 
kennenswert ist  der  Standpunkt:  „Die  Anleitung  (zum  Treffen)  hat  davon  auszu- 
gehen, den  Schüler  innerhalb  einer  bestimmten  Skala  die  Stufen  treffen  zu  lehren." 
Erst  nachher  läßt  er  die  Unterscheidung  von  ganzen  und  halben  Stufen  folgen. 
Wenner  geht  so  viel  als  möglich  den  rein  theoretischen  Übungen  aus  dem  Wege: 
„Die  abgerundete  Vorlage,  das  Lied,  tritt  in  den  Mittelpunkt  aller  Übungen"  (S.  12), 
und  wie  das  zu  geschehen  hat,  zeigt  er  in  eingehender  Weise  S.  13 — 16.  Endziel 
ist  ihm  bei  alledem  ästhetische  Bildung  (S.  16).  Zu  leicht  nimmt  er  es  mit  der 
Behandlung  des  Rhythmus  (S.  11).  Der  Raum  gebietet  mir,  mich  kurz  zu  fassen, 
doch  auf  eines  möchte  ich  noch  hinweisen.  S.  15  sagt  Wenner:  „Der  Lehrer  muß 
vorsingen,  fleißig  vorsingen;  Beschreibungen  versagen  hier."  Damit  trifft  er  den 
Nagel  auf  den  Kopf.  Freilich  ist  wohl  hierbei  noch  hinzuzufügen:  Möchten  doch 
alle  Gesanglehrer  vorsingen  können!  Ich  bin  überzeugt,  daß  es  besser  mit  dem 
Gesangunterricht  an  den  höheren  Schulen  stehen  würde,  wenn  die  Ausführungen 
Wenners  von  allen  Gesanglehrern  in  die  Tat  umgesetzt  würden.  Möge  es  ge- 
schehen!   Das  ist  mein  aufrichtiger  Wunsch. 

Eine  nicht  leichte,  aber  um  so  verdienstlichere  Aufgabe  hat  sich  Jul.  Steger 
in  seiner  Abhandlung  gestellt:  Er  will  die  Gesanglehrer  für  die  Methode  Jaques- 
Dalcroze  mobil  machen.  Der  Schweizer  Jaques-Dalcroze  ist  bei  uns  kein  Fremder 
mehr;  seine  Methode  hat  hier  viele  warme  Verehrer  und  auch  manchen  Vertreter 
gefunden.  Aber  wie  sie  selbst  in  den  Schweizer  Schulen  bisher  verhältnismäßig 
wenig  Eingang  gefunden  hat,  so  sträuben  sich  auch  bei  uns  fast  alle  Schulgesang- 
lehrer gegen  ihre  Einführung  und  zwar  zum  Teil  aus  Überzeugung,  zum  Teil  auch 
aus  —  Unkenntnis.  Der  Grund  hierfür  ist  darin  zu  erblicken,  daß  diese  Methode 
sehr  viel  Zeit  und  ein  ausgesuchtes  Schülermaterial  erfordert.  Sie  eignet  sich  des- 
halb in  ihrem  ganzen  Umfange  weniger  für  öffentliche  Schulen  —  Steger  be- 
hauptet S.  48  das  Gegenteil  — ,  als  vielmehr  für  Musikschulen,  in  denen  jenes 
Material  vorhanden  sein  kann,  und  so  ist  sie  auch  in  vielen  solcher  Institute  mit 
bestem  Erfolge  eingeführt  worden.  Wer  aber  diese  Methode  kennt,  ja  wer  viel- 
leicht den  Mann  Jaques-Dalcroze  selbst  kennt  wie  der  Unterzeichnete,  der  wird 
von  der  Auffassung  durchdrungen  sein,  daß  auch  der  Schulgesanglehrer  an  ihr 
nicht  ohne  weiteres  vorüber  gehen  kann.  Sie  enthält  so  viel  Ausgezeichnetes,  daß 
sie  von  einem  Gesanglehrer  beachtet  werden  muß,   wenn  er  sich  nicht  selbst  ins 


Gesangunterricht.  9& 

Hintertreffen  stellen  will.  Und  darin  liegt  nun  das  Verdienstliche  der  Stegerschei» 
Abhandlung,  daß  sie  die  ganze  Methode  so  kurz  als  möglich  und  doch  klar  und 
umfassend  in  ihren  Hauptmomenten  dem  Lehrer  vor  Augen  führt.  Von  den  Zielen 
und  Aufgaben  des  Gesangunterrichts,  wie  sie  Jaques-Dalcroze  feststellt,  ausgehend,, 
bespricht  Steger  die  Hauptpunkte  der  Methode,  die  rhyfiimische  Gymnastik  und 
den  Solfege-Kursus,  um  schließlich  sich  eingehend  über  „die  Eingliederung  der- 
selben in  den  Gesangunterricht  einer  höheren  Lehranstalt"  zu  äußern.  Viele  wer- 
den bei  diesem  oder  jenem  Punkte  mit  dem  Kopf  schütteln,  z.  B.  bei  der  For- 
derung von  2—3  Jahren  für  die  rhythmische  Gymnastik  oder  bei  der  Behandlung 
der  ganzen  und  halben  Tonstufen  —  siehe  vorige  Abhandlung  — ,  aber  größer 
wird  die  Zahl  derer  sein,  die  sich  durch  Steger  anregen  lassen,  sich  genauer  mit 
der  Methode  zu  beschäftigen,  um  dann  vieles  daraus  in  ihrem  Unterricht  zu  ver- 
werten, z.  B.  die  schärfere  Heranziehung  des  rhythmischen  Elementes.  Steger 
will  den  Unterricht  in  der  Rhythmik  in  die  Vorschule  verlegt  haben.  Wir  wollen 
mit  ihm  hoffen,  daß  dies  bald  geschehen  kann,  und  ich  glaube,  wir  dürfen  es 
hoffen.  Ist  das  erreicht,  und  wird  auch  in  den  unteren  Klassen  der  Volksschulen, 
aus  denen  zurzeit  noch  die  größte  Zahl  unserer  Sextaner  hervorgeht,  der  Gesang- 
unterricht immer  intensiver  betrieben  —  die  Anzeichen  hierfür  mehren  sich  — ,  so- 
wird  in  den  höheren  Schulen  manche  der  Jaques-Dalcrozeschen  Forderungen  er- 
füllt werden  können,  sicher  zum  Gedeihen  unseres  Gegenstandes.  Möge  die 
Stegersche  Schrift  viele  Leser  und  Beherziger  finden. 

Berlin.  Georg  Rolle. 


III.    Bücherbesprechungen. 


Müller,  Hugo,  Die  Gefahren  der  Einheitsschule  für  unsere  nationale 
Erziehung.  Gießen  1907.  Alfred  Töpelmann.  VI  u.  142  S.  2,40  M. 
Im  Jahrgang  IV,  S.  544  dieser  Monatschrift  ist  schon  eine  Schrift  desselben 
Verfassers  über  die  Entwicklung  des  höheren  Schulwesens  angezeigt  worden,  die 
seine  Stellung  als  Freund  des  humanistischen  Gymnasiums  ebenso  wie  seine  ein- 
sichtige Beurteilung  der  letzten  Entwicklungsstadien  dartat.  Das  neue  Buch  hat 
es  wesentlich  zu  tun  mit  der  Bekämpfung  derjenigen  Bestrebungen,  die  auf  eine 
Wiederannäherung  der  Organisationstypen  weniger  als  auf  eine  gemeinsame,  aus 
einer  Wurzel  hervorgehende  Vorbildung  für  die  höheren  Lehranstalten  abzielen. 
Diese  Bestrebungen,  die  die  allgemeine  Volksschule  zur  einzigen  Eingangspforte 
für  alle  Bildungsmöglichkeiten  erheben  wollen,  die  daher  vor  allem  die  Abschaffung 
der  Vorschulen  fordern,  gehen  bekanntlich,  abgesehen  von  einigen  Theoretikern, 
von  den  Kreisen  der  Volksschullehrer  aus.  Der  Verfasser  ist  nun  mit  Erfolg  be- 
strebt, das  Utopische  dieser  Bestrebungen  nachzuweisen.  Er  zeigt,  wie  die  kon- 
sequente Durchführung  des  Gedankens  ohne  einen  Umsturz  unserer  ganzen  Gesell- 
schaftsordnung nicht  möglich  sein  würde,  wie  sie  weder  zur  Herstellung  des  so- 
zialen Friedens  beitragen,  noch  einen  Zustand  höherer  sozialer  Gerechtigkeit  her- 
beiführen würde.  Er  weist  nach,  wie  einzig  und  allein  nach  den  verschieden- 
artigen Anforderungen,  die  die  Mitarbeit  an  der  vielgestaltigen  Kulturaufgabe  an 
die  Vorbildung  der  heranwachsenden  Jugend  stellt,  die  Schulen  organisiert  werden 
können,  und  zeigt,  daß,  während  die  Volksschulen  für  das  praktische  Leben  vor- 
bereiten, die  höheren  SchuJen  ihre  Zöglinge  von  unten  herauf  allmählich  zum 
wissenschaftlichen  Arbeiten  tüchtig  machen  wollen.  Die  Einheit  des  gesamten 
Unterrichts  beruhe  daneben  auf  den  allgemeinen  Werturteilen,  der  gleichen  patri- 
otischen, ethischen  und  menschlichen  Grundstimmung,  die  sich  mit  jeder  Sonder- 
bildung vertrage  und  durch  jede  hindurchklingen  müsse.  Häufig  genug  seien  die 
Einheitsschulbestrebungen  auch  verkappt  der  humanistischen  Bildung  feindlich, 
während  doch  die  Kenntnis  der  Antike  immer  noch  die  wichtigste  Angelegenheit 
der  abendländischen  Menschheit  sei.  Daraus  folge  freilich  nicht,  „daß  alle  Ge- 
bildeten durch  die  Schule  der  klassischen  Sprachen  hindurchgehen  müssen,  wohl 
aber,  daß  unter   ihnen  eine  genügend  große  Anzahl  von  Männern  vorhanden  sein 


H.  Müller,  Die  Gefahren  der  Einheitsschule  usw.,  angez.  von  M.  Nath,  97 

muß,  welche  die  Antike  durch  eigene  Studien  kennen  und  somit  auch  der  Gesamt- 
heit eine  lebendige  Kenntnis  des  Altertums  zu  vermitteln  und  zu  verbürgen  ver- 
mögen« (S.  79). 

Wie  wenig  die  Volksschule  als  solche  sowohl  wie  ai^ch  die  in  ihr  verbleiben- 
den Schüler  durch  ihre  Bestimmung  zur  allgemeinen  Vorbildungsanstalt  für  alle 
Schichten  der  Bevölkerung  gewinnen  würde,  wird  überzeugend  nachgewiesen  und 
die  Erfahrungen,  die  im  Auslande  mit  dieser  Organisation  gemacht  worden  sind, 
werden  kritisch  gewürdigt. 

In  einem  Schlußabschnitte  werden  „Zukunftsaufgaben  unseres  deutschen  Schul- 
wesens" behandelt.  Neben  der  Empfehlung  größerer  Bewegungsfreiheit  für  die 
Schüler,  individueller  Ausgestaltung  der  einzelnen  Schulgattungen,  Zulassung  pri- 
vater Erziehungsanstalten  von  dem  Gesichtspunkt  als  Versuchsstationen,  wird  be- 
sonders auf  eine  Verminderung  der  Zahl  der  Gymnasien  gedrungen,  die  allein 
eine  Rückwärtsrevision  ihres  Lehrplans  ermöglichen  würde.  Der  Verfasser  ist  der 
Ansicht,  daß  über  kurz  oder  lang,  die  Schulverwaltungen  sich  zu  diesem  Schritte 
würden  entschließen  müssen.  Denn  in  absehbarer  Zeit  werde  sich  unser  deutsches 
Schulwesen  „nochmals  und  noch  ernstlicher  als  früher  vor  die  schwerwiegende 
Entscheidung  gestellt  sehen,  ob  Vielheit  oder  Einheit  der  maßgebende  Grundsatz 
einer  Schulgestaltung  sein  soll".  Er  verlangt  strenges  Festhalten  an  den  notwendigen 
Anforderungen  an  die  Schüler,  betrachtet  die  höhere  Schule  als  Mittel  der  sozialen 
Auslese  und,  indem  er  eine  übermäßige  Erleichterung  der  Anforderungen  als  ein 
soziales  Verbrechen  bezeichnet,  fordert  er  Rücksichtslosigkeit  gegen  unbefähigte 
Schüler.  Anderseits  weist  er  die  Wege,  die  die  Schule  gehen  kann,  um  sozial 
ausgleichend  zu  wirken.  So  sucht  er  überall  zu  praktischer  Arbeit  anzuleiten, 
von  der  Jagd  nach  Phantomen  abzulenken. 

Otto,  Berthold,  Deutsche  Erziehung  und  Hauslehrerbestrebungen.  Groß- 
Lichterfelde  1907,  Dürerstraße  25a.  Verlag  des  Hauslehrers.  50  S.  0,30  M. 
Der  bekannte  Pädagoge  entwickelt  in  dem  kleinen  Heft  die  Grundanschauungen 
seiner  in  seiner  Zeitschrift  und  in  einer  Reihe  größerer  Werke  ausgeführten  Methodik. 
So  erscheint  es  geeignet,  denjenigen  zu  orientieren,  der  mit  den  Bestrebungen 
des  Verfassers  noch  nicht  näher  bekannt  ist.  Sie  gehen  darauf  aus,  daß  die  Kinder 
sich  leiblich  und  geistig  so  entwickeln  sollen,  wie  ihre  natürliche  Anlage  es  er- 
fordert. Er  sucht  daher  ihre  Lernbegierde  zu  erwecken.  Ist  dies  gelungen,  so 
wächst  jeder  einzelne  Geist  von  selbst  aus  dem  eigenen  Volkstum  heraus,  und 
dieses  erscheint  daher  als  die  Wurzel  aller  geistigen  Entwicklung.  Folgerichtig 
eischeint  dem  Verfasser  die  Wertschätzung  des  fremdsprachlichen,  namentlich  des 
altsprachlichen  Unterrichts  für  die  Geistesbildung  als  übertrieben,  obwohl  er  sich 
keineswegs   als   einen  Feind   des  lateinischen    und  griechischen  Unterrichts  zeigt. 

Fetter,  Johann,   Beiträge  zur  österreichischen  Mittelschulreform.    Wien 

1907.    A.  Pichlers  Ww.  &  Sohn.    42  S.     1  Kr. 

Lose  aneinandergereiht,   wenn    auch    des  Zusammenhanges  nicht  entbehrend, 

werden   eine  Anzahl  von  Gedanken  vorgetragen,   die  sich  auf  die  als  notwendig 

erkannte  Reform  des  österreichischen  Mittelschulwesens  beziehen.  Vieles,  was  ge- 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  7 


98       J-  Fetter,  Beiträge  zur  österreichischen  Mittelschulreform,  angez.  von  M.  Nath. 

sagt  wird,  trifft  mit  Ansichten,  Wünschen  und  Vorschlägen  zusammen,  die  auch  in 
Deutschland  laut  geworden  sind:  die  Zusammendrängung  des  theoretischen  Unter- 
richts auf  den  Vormittag,  die  Vereinfachung  des  Lehrstoffs,  die  Abschaffung  des 
Drills  und  der  Schablone  („Der  Drill  ist  bedingt  durch  die  gleichmäßigen,  in  be- 
stimmten Zeitabschnitten  zu  machenden  Fortschritte,  durch  das  im  Amtswege  vor- 
geschriebene Marschtempo".  „Je  intensiver  der  Drill,  desto  seichter  und  unfrucht- 
barer der  Unterricht.  Je  mehr  die  Schüler  gedrillt  werden,  desto  weniger  lernen 
sie  arbeiten"),  die  Umgestaltung  des  Verhältnisses  zwischen  Lehrer  und  Schüler, 
für  dessen  Zustandekommen  die  gemeinsamen  Ausflüge  von  großer  Bedeutung 
sein  würden,  die  Bedeutung  der  körperlichen  Übungen  und  dergleichen  mehr. 
Im  besonderen  den  österreichischen  Verhältnissen  angehörend  sind  die  Wünsche, 
die  sich  auf  die  Ausgestaltung  der  Realschulen  zu  achtklassigen  Anstalten  und 
auf  die  Gleichberechtigung  ihrer  Abiturienten  mit  denen  der  Gymnasien  beziehen. 
Der  Grundfehler  des  öffentlichen  Schulwesens  scheint  dem  Verfasser  darin  zu 
liegen,  „daß  die  ganze  Jugendzeit  nur  als  Provisorium  betrachtet  wird,  das  einzig 
und  allein  dazu  dient,  sich  auf  einen  anderen  Lebensabschnitt  vorzubereiten". 
Dieser  Gedanke,  der  gar  nicht  neu  ist,  könnte  wirklich,  wenn  nicht  in  den  offiziellen 
Vorschriften,  so  doch  gelegentlich  ihrer  praktischen  Ausführung  noch  lebendiger 
werden.  Er  würde  bewirken,  daß  das  Urteil  über  Tun  und  Treiben  der  Jugend, 
wie  die  Anforderungen,  die  an  sie  gestellt  werden,  den  natürlichen  Verhältnissen 
besser  entsprächen.  Ironisch  fährt  der  Verfasser  fort:  „Das  reife  Alter  soll  sich 
wieder  auf  das  Greisenalter  vorbereiten,  und  so  wird  man  mit  der  Vorbereitung 
fertig,  wenn  das  Leben  zu  Ende  ist". 

Pankow.  Max  Nath. 

Lentz,  Ernst,  Pädagogisches  Neuland.  Ausgewählte  Aufsätze  und  Vor- 
träge. BerHn  1907.  O.  Salle.  172  S.  3  M. 
Das  Buch  umfaßt  12  Aufsätze,  z.  T.  Abhandlungen,  die  zwar  aus  der  Zeit- 
schrift für  die  Reform  der  höh.  Schulen,  der  Deutschen  Welt,  dem  Pädag.  Archiv, 
der  Monatschrift  f.  höhere  Schulen  abgedruckt,  aber  gerade  durch  diesen  Neudruck 
erst  zugänglich  geworden  sind.  Deshalb  ist  dieser  Neudruck  mit  Freude  zu 
begrüßen.  Besonders  gilt  das  von  den  prächtigen  Aufsätzen  mit  dem  Titel:  „For- 
male, grammatische  und  sachliche  Bildung".  Sie  bringen  den  unwiderieglichen 
Nachweis,  daß  das  „lateinische  Extemporale  kein  Prüfstein  geistiger 
Kraft"  sei  und  fordern  deshalb  seine  Abschaffung  in  der  Reifeprüfung.  Was  das 
Extemporale  veriangt,  kann  nämlich  auch  ein  leerer  Kopf  leisten,  weil  nicht  ein 
neuer  Stoff  mit  dem  vorhandenen  geistigen  Besitz  in  Beziehung  zu  setzen,  sondern 
nur  einem  gegebenen  Stoff  eine  neue  Einkleidung  zu  geben  ist.  Psychologie 
und  Sprachwissenschaft  haben  den  Beweis  erbracht,  daß  eine  formale,  durch 
altsprachlichen  Unterricht  zu  erzielende  Geistesbildung  ein  Unding 
ist.  Die  in  verschiedenen  Sprachen  nicht  übereinstimmenden  Sprachformen  be- 
weisen schon,  daß  sie  nicht  logischer  Überlegung  ihr  Dasein  verdanken. 
Das  Lateinische  steht  an  Bestimmtheit  und  an  Schärfe  des  Ausdrucks  entschieden 
dem  Deutschen  nach.  Aus  all  diesen  Gründen  sind  Übersetzungen  ins  Latei- 
nische  auf   der  Oberstufe   und    in    der  Reifeprüfung   ebenso  entbehriich  wie  die 


E.  Lenlz,  Pädagogisclies  Neuland,  angez.  von  O.  Keesebiter.  99 

Übersetzungen  ins  Griechische.  —  Diese  Grundsätze  werden  noch  weiter  aus- 
geführt im  2.  und  3.  Aufsatz  mit  den  Titeln:  „Gegenwart  und  Zukunft  des  latei- 
nischen Unterrichts  auf  den  Gymnasien"  und  „Die  Erfolge  der  lateinischen 
Lektüre  unter  den  neuen  Lehrplänen ".  Im  letzteren  Aufsatze  beweist  der  Ver- 
fasser, daß  die  Klagen  der  Amtsgenossen,  daß  „schon  jetzt  die  nötigen  grammatischen 
Kenntnisse  für  das  Lesen  lateinischer  Schriftsteller  nicht  mehr  vorhanden  seien', 
aus  seiner  Schulpraxis  heraus  als  unbegründet  zu  bezeichnen  seien. 

Im  I.Aufsatz  wird  der  Gedanke  einer  einheitlichen  Mittelschule  (Reform- 
schule) psychologisch  begründet,  im  6.  durch  die  Geschichte  der  Pädagogik  ver- 
folgt und  gezeigt,  daß  gerade  die  Männer,  deren  Werk  angeblich  durch  die  Idee 
der  einheitlichen  Mittelschule  zerstört  sein  sollte,  diese  Schulreform  selbst 
empfohlen  haben.  —  Aufsatz  9  tritt  für  die  Einführung  der  Schulärzte, 
4  (Schulreform  und  Schulgesundheitspflege)  für  Entlastung  der  schwachen  Periode 
in  der  Entwicklung  des  Kindes  bis  zum  14.  Jahre  vom  lateinischen  Unterricht  ein 
(nach  Axel  Keys  „Die  Pubertätsentwicklung  und  das  Verhältnis  derselben  zu  den 
Krankheitserscheinungen  der  Schuljugend"). 

Aber  auch  neue  pädagogische  Vorschläge  für  die  Zukunft  enthält  das  „Päd. 
Neuland",  z.B.  im  IL  Aufsatz:  „Hemmungen  geistiger  Tätigkeit".  Solche 
Hemmungen  sind  zuerst  in  körperlichen  Vorgängen  zu  suchen,  sodann  in 
Störungen  des  Empfindungslebens:  in  Mißerfolgen  (Vernichtung  des  Selbstver- 
trauens), Angst  (Man  störe  den  Frohsinn  des  Kindes  nicht!),  auch  im  Gegenteil 
der  Angst:  Überschwang  der  Gefühle,  Unruhe  im  Elternhaus.  Als  Heilmittel 
kommen  zur  Beseitigung  der  oben  angeführten  Übel:  L  Verminderung  des  Vielerlei 
im  Unterricht,  2.  das  Nacheinander  statt  des  Nebeneinander  des  Comenius,  3.  Wahl- 
freiheit des  Unterrichts  in  Betracht. 

Ebenso  bringt  der  12.  Aufsatz:  „Vorschläge  zur  Steigerung  unserer  erzieheri- 
schen Tätigkeit"  Neues:  er  empfiehlt,  die  Klassenlehrer  sollten  ihre  Schüler  als 
„bleibende  Pfleger"  durch  die  ganze  Anstalt  begleiten,  auch  wenn  sie  das  Ordi- 
nariat in  der  Klasse  vertieren,  in  die  ihre  Schüler  später  aufrücken.  Als  Haupt- 
vorteil dieser  Einrichtung  wird  der  jahrelange  Verkehr  mit  Schülern  und  Eltern 
angeführt.  Der  mitgeteilte  Entwurf  eines  Personalblattes,  wie  sie  hierzu  vor- 
geschlagen werden,  berichtet  über  1.  körperiiches  Befinden,  2.  häusliche  Verhält- 
nisse, 3.  eine  Charakteristik  des  Schülers. 

Aus  all  diesem  erhält  der  Leser  die  Empfindung,  daß  der  Titel  „Päda- 
gogisches Neuland"  sehr  berechtigt  ist:  an  den  meisten  unserer  höheren  Schulen 
ist  dies  Neuland  neu  und  unbekannt.  Das  Buch  wird  dazu  beitragen,  daß  wir 
mit  unseren  Reformen  schneller  vorwärtskommen. 

Charlottenburg.  O.  Keesebiter. 

Aus    einem    Leben    „voller    Leuchten    und   Wunder".     Zum   Andenken    an 

Martin   Brennecke.     Leipzig  1908.    J.  C.  Hinrichssche  Buchhandlung.     100  S. 

1,20  M.    geb.  2  M. 

Ein  Vater,  ein  auch  in  weiten  Kreisen  bekannter  Arzt,  gibt  hier  ein  Lebensbild 

seines  im  21.  Jahre  verstorbenen  Sohnes  und  Auszüge  aus  dessen  Briefen,  vier 

Aufsätze   des  Sechzehnjährigen,   dann   Blätter   aus   dem  Tagebuche  des  Schülers 

7* 


100        Aus  einem  Leben  „voller  Leuchten  und  Wunder",  angez'.  von  A.  Matthias. 

und  Studenten,  die  Ansprachen  am  Sarge  und  bei  der  Beerdigung,  den  Nachriif 
der  Verbindung  „Luginsland-*  in  Tübingen  und  ein  Verzeichnis  der  Bibliothek  des 
Verstorbenen. 

Auf  den  ersten  Blick  kommt  einem  der  Gedanke,  als  habe  diese  Veröffent- 
lichung mehr  nur  ein  Familieninteresse  und  habe  keine  Bedeutung  für  weitere 
Kreise.  Je  mehr  man  sich  in  das  Buch  hineinliest,  besonders  wenn  man  zu  den 
Briefen  und  Tagebuchblättern  kommt,  schlägt  der  Gedanke  in  sein  Gegenteil  um: 
man  überzeugt  sich,  daß  dieses  Buch  ein  Stück  wertvollen  Menschenlebens  ist, 
das  anregend  und  von  hoher  Bedeutung  für  alle  Erzieher  und  für  die  Zöglinge  an 
unseren  höheren  Schulen  ist.  Das  kurze  Leben  dieses  Frühvollendeten  ist  reich 
an  Segen  für  jeden,  der  damit  in  Berührung  kommt.  Nicht  auf  altkluge  und 
selbstgefällige  Gedanken  stoßen  wir  in  dem  Büchlein,  sondern  auf  bescheidene 
Äußerungen  eines  Kindes-  und  Jünglingsgemütes  seltener  Art  und  seltener  Tiefe; 
das  Ganze  durchzieht  ein  poetischer  Hauch,  und  wir  haben  das  Gefühl,  daß  auf 
diesen  Lebenslauf  die  Worte  des  Psalmisten:  „wir  bringen  unsere  Jahre  zu,  wie 
ein  Geschwätz"  nicht  zutreffen.  Eine  junge  Seele,  voll  und  rein,  tönt  hier  aus  und 
gibt  dem  Erzieher  von  heute  zu  denken,  ob  nicht  doch  in  unserer  Jugend  viel, 
sehr  viel  schlummert,  was  wir  Lehrer  nicht  erwecken,  weil  wir  so  viel  die 
Unbefangenheit  stören  und  dazwischenreden  mit  unserer  alten  und  veralteten 
Weisheit,  während  wir  besser  liebevoll  horchen  sollten  auf  jeden  Klang,  der  frisch 
und  ungezwungen  aus  jugendlichen  Seelen  tönt.  Das  können  wir  Alten  aus  diesem 
Buche  lernen  und  noch  manches  andere  dazu.  Die  Seminarleiter  sollten  doch  ja 
dieses  Buch  in  die  Hände  unserer  jungen  Lehrer  geben.  Sie  werden  reichen  Ge- 
winn daraus  ziehen.  Und  ebenso  sollten  unsere  Schüler  es  kennen  lernen,  um 
zu  sehen,  wieviel  Seelenglück  aus  einem  so  schlichten  Idealismus  entspringt 
und  wieviel  Segen  aus  dem  Quell  echter  und  gesunder  Frömmigkeit  sprudelt. 
Und  wenn  unsere  Schüler  dann  sehen,  wie  dieser  junge  Genosse  schon  früh  hat 
dahingehen  müssen  vom  Glauben  zum  Schauen,  dann  wird  die  Wirkung  nicht 
ausbleiben,  da  die  wehmütige  Sonne  des  Tragischen  über  dem  Ganzen  scheint 
und  die  Seelen  empfänglich  für  ernste  und  tiefe  Eindrücke  macht.  Wie  dieser 
junge  Mensch  sein  Verhältnis  zu  Elternhaus,  zur  Schule  und  zur  Universität  auf- 
faßt, das  kann  vorbildlich  wirken:  stille  Freude  an  der  Arbeit  und  am  Leben  wird 
das  Ergebnis  sein.  Das  Wort,  das  ein  junger  Freund  des  Verstorbenen  von  ihm  auf- 
bewahrt hat,  gilt  von  dem  Leben,  das  hier  beschrieben  ist  und  mag  meinen  Hinweis 
schließen:  „Ein  zitternd  Harfenspiel,  gerührt  von  einem  verborgenen  Meister,  ist 
der  Mensch;  seine  Aufgabe:  die  Saiten  rein  zu  stimmen,  daß  sie  nur  in  vollen, 
heihgen  Harmonien  erklingen  können."  — 

Berlin.  A:  Matthias. 

Monatsblätter  für   den  evangelischen  Religionsunterricht,   herausgegeben  von 
Heinrich  Spanuth  in  Hameln.    Erster  Jahrgang  Heft  1—7  (Januar— Juh  1908). 
Verlag  von  Vandenhoeck  und  Ruprecht  in   Göttingen.     232  S.    gr.  8«.    Halb- 
jährlich 3  M.,  Einzelheft  0,80  M. 
Als  „neue  Folge  der  Katechetischen  Zeitschrift",  die  zehn  Jahrgänge 

erlebt  hat,  erscheinen  seit  Januar  1908  die  „Monatsblätter  für  den  evangeli- 


Monatsblätter  für  den  evangelischen  Religionsunterricht,  angez.  von  F.  Feigel.     101 

sehen  Religionsunterricht",  Gegenüber  der  grundsätzlich  unparteiischen 
»Zeitschrift  für  den  evangelischen  Religionsunterricht",  herausgegeben  von  Half- 
mann und  Schuster  (Reuther  und  Reichard,  Berlin)  zeigen  diese  Blätter  unver- 
hohlen die  Tendenz  freiheitlicher  Reform.  Die  Liste  cfer  Mitarbeiter  enthält  nur 
Vertreter  und  Freunde  der  „modernen"  Theologie  und  Religionswissenschaft,  und 
das  einleitende  Wort  des  Herausgebers  („Was  wir  wollen")  läßt  keinen  Zweifel 
darüber,  daß  der  Untertitel  der  Monatsblätter  („Zeitschrift  für  Ausbau  und  Vertiefung 
des  Religionsunterrichts  und  der  religiösen  Erziehung  in  Schule,  Kirche  und  Haus") 
dahin  zu  verstehen  ist:  Nur  auf  dem  Wege  der  Freiheit,  nicht  durch  Aufbürdung 
der  „schweren  Last  der  Dogmatik  früherer  Jahrhunderte"  ist  in  unserer  Zeit  ein 
Ausbau  und  eine  Vertiefung  des  Religionsunterrichts  zu  erreichen.  Etwas  Neues 
bedeuten  die  Monatsblätter  auch  insofern,  als  sie  dem  Religionsunterricht  auf  allen 
Stufen,  vom  Elternhaus  und  der  Volksschule  bis  zur  höheren  Schule  dienen 
wollen. 

Wer  an  der  Existenzberechtigung  eines  solchen  bewußt  modernen  Or- 
gans für  den  Religionsunterricht  zweifeln  wollte,  dem  sei  z.  B.  die  Lektüre 
der  „Reformation",  VII.  Jahrgang,  No.  23—26,  empfohlen!  Da  wird  für 
den  Religionsunterricht  der  höheren  Schulen  rücksichtslose  Bindung  an  das 
Bekenntnis,  ja  volle  Verkirchlichung  verlangt,  eine  „Reform",  für  die  der  katho- 
lische Religionslehrer  mit  seiner  missio  canonica  Modell  gestanden  hat.  Die  Zu- 
stimmung, die  dieses  Programm  bei  der  Partei  findet,  die  vorerst  und  vielleicht 
noch  auf  lange  Zeit  in  Preußen  die  Synodalmehrheit  ausmacht,  läßt  keinen  Zweifel 
darüber,  daß  es  sich  hier  um  mehr  handelt  als  um  wunderliche  Einfälle.  Die 
Monatsblätter  stellen  sich  in  den  Dienst  einer  hohen  Kulturaufgabe,  wenn  sie  der 
Gefahr  endgültiger  Entzweiung  von  Religion  und  Wissenschaft,  Religion  und  Kultur 
energisch  entgegentreten,  sie  stellen  sich  auch  in  den  Dienst  wohlverstandener 
Interessen  des  Staates,  wenn  sie  ihre  Stimme  dafür  erheben,  daß  der  Staat  sich 
nicht  einen  so  wichtigen  Unterrichtszweig  von  der  Kirche  entreißen  lasse  und 
dadurch  den  Grund  lege  zu  unlöslichen  Konflikten. 

Bei  aller  Einmütigkeit  in  den  grundsätzlichen  Fragen  zeigen  doch  schon  die 
sieben  zuerst  erschienenen  Hefte,  daß  nicht  nur  der  fundamentale  Gegensatz 
gegen  die  „dogmatische"  Schule,  sondern  auch  Meinungsverschiedenheiten  im 
eigenen  Lager  den  Monatsblättern  immer  frischen  Wind  zuführen  werden.  Gegen 
den  wesentlich  geschichtlichen  Religionsunterricht,  für  den  H.  Meltzer  in 
Heft  1  eintritt,  wendet  sich  in  Heft  7  R.  Kabisch;  er  fordert  als  Abschluß  auf 
der  Oberstuf«  eine  systematische  Unterweisung,  d.h.  ein  „zusammenhängendes 
Glaubenszeugnis  mit  apologetischer  Tendenz".  Kabisch  verlangt  für  dieses  Bekennt- 
nis keine  Vollständigkeit,  und  das  Bekenntnis  soll  subjektiv,  nicht  nur  objektiv, 
persönlich,  nicht  nur  kirchlich  sein  (S.  212).—  Was  bedeutet  das  „nicht  nur"? 
Es  paßt  nur  für  den  glücklichen  Fall,  daß  man  das  objektive,  kirchliche  Bekenntnis 
als  subjektives,  persönliches  Bekenntnis  wirklich  bekennen  kann,  also  etwa  für 
die  Leser  der  oben  erwähnten  „Reformation".  Wenn  aber  ein  Konflikt  eintritt? 
Es  ist  doch  wohl  Kabischs  Ansicht,  daß  dann  das  Glaubenszeugnis  nicht  objektiv, 
sondern  subjektiv,  nicht  kirchlich,  sondern  persönlich  ausfallen  mußl  Das 
mittelparteiliche  Rezept,  man  solle  sich  an  dem  kirchlichen  Bekenntnis  orientieren, 


102    Monatsblätter  für  den  evangelischen  Religionsunterricht,  angez.  von  F.  Feigel. 

ihm  aber  „durch  [rechten  (?)  freien  Gebrauch  der  Form  den  Inhalt  geben,  deren 
(doch  wohl:  dessen)  persönliche  Aneignung  dem  Lehrer  und  seinen  Schülern 
möglich  ist"  (S.  213),  ist  gerade  in  unserer  Zeit  höchst  bedenklich. 

Es  handelt  sich  in  diesem  Streit  gar  nicht  um  eine  prinzipielle,  sondern  um  eine 
methodische  Frage,  um  eine  Frage  des  Lehrplans.  Meltzer  verficht  nicht  etwa 
einen  trockenen  „Historismus",  er  will  auf  dem  Wege  geschichtlicher  Belehrung, 
vor  allem  durch  die  lebendige  Darstellung  der  religiösen  Genien,  und  durch  die 
Wertung  der  geschichtlichen  Tatsachen  religiöses  Interesse  und  Urteil,  religiöse 
Überzeugung  erzielen.  Kabisch  erhofft  dasselbe  vor  allem  von  einem  abschließenden 
„systematischen"  Unterricht;  aber  was  Kabisch  meint,  ist  nicht  mehr  systematisch, 
es  ist  nichts  wesentlich  anderes  als  das,  was  nach  Meltzer  bei  Besprechung 
der  kirchengeschichtlichen  Lage  der  Gegenwart  behandelt  werden  müßte  (vgl. 
8.  216—223). 

Eine  Parallele  zu  diesem  Streit  bildet  die  Auseinandersetzung  F.  Heucks  mit 
R.  Peters  über  den  „Historismus  der  neueren  Theologie  im  Religions- 
unterricht der  höheren  Schulen"  (Heft  4).  In  Heft  5  und  6  hat  Referent 
geschrieben  über  das  Thema:  „Der  Religionsunterricht  der  Schule  im 
Kampfe  um  seine  Existenz"  (I.  Möglichkeit  des  Religionsunterrichts. 
IL  Interesse  des  Staates  am  Religionsunterricht  der  Schule.  III.  Inter- 
esse der  Kirche  am  Religionsunterricht  der  Schule).  In  denselben 
Heften  findet  sich  ein  Vortrag  Thrändorfs  über  „Jesus  im  lehrgesetzlichen 
und  im  geschichtlichen  Religionsunterricht".  Der  Aufsatz  Kabischs  über 
„Die  Lehre  von  der  Heiligen  Schrift  in  der  Volksschule"  (Heft  1)  gibt 
B.  Otto  (Heft  5)  und  L.  Krogmann  (Heft  7)  Anlaß  zu  ablehnenden  und  zustim- 
menden Thesen.  Fügen  wir  hinzu,  daß  in  Heft  1  Joh.  Weiß  das  „Leben  Jesu" 
von  D.  F.  Strauß  würdigt  und  im  Anschluß  daran  die  noch  ungelösten  Aufgaben 
der  Leben  Jesu-Forschung  präzisiert,  daß  in  Heft  2  F.  W.  Foerster-Zürich  reli- 
gionspädagogische Betrachtungen  gibt  über  „die  Persönlichkeit  Christi 
und  die  moderne  Jugend"  und  daß  in  Heft  7  K-  Eger -Friedberg  eine  Ab- 
handlung beginnt  über  das  alte  Problem  des  Verhältnisses  von  Gesetz  und  Evan- 
gelium in  der  religiösen  Verkündigung  und  Belehrung  („die  religiöseJugend- 
unterweisung  und  die  Freiheit  einesChristenmenschen"),  so  dürfte 
bewiesen  sein,  daß  die  neue  Zeitschrift  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  einen  lebens- 
frischen Anfang  gemacht  hat. 

Die  „Monatsblätter"  bringen  auch  eine  Reihe  praktischer  Beispiele  für  den 
Religionsunterricht,  teils  bloß  skizziert,  teils  in  vollständiger  Durchführung,  sie 
enthalten  Anregungen  und  Anfragen  aus  Schule  und  Haus,  machen  aufmerk- 
sam auf  die  einschlägige  Literatur,  berichten  über  Versammlungen  u.  a. 
und  bringen  endlich  aus  der  Feder  des  Herausgebers  eine  wertvolle  Chronik, 
die  die  für  den  Religionsunterricht  bedeutsamen  Ereignisse  grundsätzlich  be- 
leuchtet. 

Duisburg.  Friedrich  Feigel. 


R.  Riegler,  Das  Tier  im  Spiegel  der  Sprache,  angez.  von  J.  Helnzerling.  103 

Riegler,  Richard,  Das  Tier  im  Spiegel  der  Sprache.  Ein  Beitrag  zur  vergleichen- 
den Bedeutungslehre.  Dresden  u.  Leipzig  1907.  C.  A.  Koch.  XX  u.  295  S.  7,20  M. 
Neusprachl.  Abhandlungen  aus  den  Gebieten  der  Phraseologie  usw. 
Hgb.  von  C.  Klöpper.    XV.— XVI.  Heft. 

Das  vorliegende  Werk  betrachtet  der  Verfasser  als  eine  Ergänzung  zu  einem 
von  Fr.  Brinkmann  veröffentlichten,  welches  den  Titel  „Studien  über  den  Geist 
der  neueren  Sprachen"  trägt,  und  von  welchem  der  erste  Band  erschienen  ist.  Der- 
selbe behandelt  die  Tierbilder  in  der  Sprache  und  zwar  mit  Beschränkung  auf  die 
Haustiere.  Daher  werden  von  Riegler  nur  die  Namen  der  übrigen  Tiere,  „insofern 
sie  semasiologisch  oder  phraseologisch  von  besonderem  Interesse  sind,  in  den 
Kreis  der  Betrachtung  gezogen",  und  zwar  werden,  ebenfalls  im  Anschluß  an 
Brinkmann,  von  den  modernen  Kultursprachen  das  Deutsche,  Englische,  Italieni- 
sche, Spanische  und  Französische,  gelegentlich  auch  das  Lateinische,  berücksichtigt. 
Dialekte  fanden,  wie  gesagt  wird,  Berücksichtigung,  soweit  es  die  spärlich  flie- 
ßenden Quellen  ermöglichten.  Von  lezteren  sind  freilich  manche  unbenutzt  ge- 
blieben, z.  B.  Schillers  Meklenburg.  Tier-  und  Kräuterbuch  oder  Frommanns 
Zeitschrift:  Die  deutschen  Mundarten. 

In  den  einzelnen  Abschnitten  ist  jedesmal  zuerst  von  der  Etymologie  des  Tier- 
namens eingehend  die  Rede.  Hierdurch  wird  uns  oft  schon  diese  oder  jene  aus 
dem  Tiernamen  sich  ergebende  Metapher  verständlicher,  während  anderseits  letztere 
auch  auf  die  Etymologien  Licht  werfen  kann.  Wenn  z.  B.  in  allen  Sprachen  das 
scharfe  Gesicht,  die  leuchtenden  Augen  des  Luchses  eine  metaphorische  Verwen- 
dung erfahren  haben,  so  ist  das  eine  Bestätigung  dafür,  daß  Luchs  mit  Licht  usw. 
zusammenhängt. 

Unter  den  angeführten  Tiernamen  entsprechen  sich  eine  Anzahl  in  den  beiden 
hier  vertretenen  germanischen  Sprachen,  wie  auch  im  übrigen  Germanischen,  aufs 
genaueste  und  sind  nur  in  soweit  verschieden,  als  es  die  Lautgesetze  der  betref- 
fenden Sprache  bedingen.  Zu  diesen  Namen  gehören  unter  andern  Laus,  Wolf 
und  Maus:  das  erste  Wort  nennt  der  Verfasser  daher  gemeingermanisch,  und  das- 
selbe drückt  er  wohl  aus,  wenn  er  Wolf  germanisch  nennt  oder  Maus  usw.  auf 
ein  gemeinsames  müs  zurückführt.  In  vielen  anderen  Fällen,  wo  das  Verhältnis 
ganz  dasselbe  ist,  braucht  er  dagegen  den  Ausdruck  verwandt.  Da  man  aber  bei 
verwandt  zu  leicht  an  Wörter  denkt,  die  nur  eine  gleiche  Wurzel  haben,  ohne  sich 
sonst  genau  zu  entsprechen,  so  wäre  auch  hier  die  Bezeichnung  gemeingermanisch 
besser  gewesen. 

Bei  denselben  Tieren,  welche  einen  gemeingermanischen  Namen  haben,  wo 
das  beim  germanischen  Urvolk  vorhandene  Wort  bei  den  einzelnen  Stämmen  bis 
heute  nicht  geschwunden  ist,  hat  sich  auch  der  lateinische  Name  in  den  verschie- 
denen romanischen  Sprachen  ziemlich  regelmäßig  erhalten.  Dies  gilt  z.  B.  vom 
lateinischen  ursus,  lupus,  lepus,  mus,  anguilla,  vermis,  pediculus,  pulex,  simia  usw. 
Dagegen  zeigen  wieder  andere  Tiere  wie  Fledermaus,  Zeisig,  Schildkröte,  Schmet- 
terling, Heuschrecke,  Kröte,  Eule  usw.  im  Germanischen  sowohl  wie  im  Romanischen 
eine  mehr  oder  minder  große  Mannigfaltigkeit  der  Bezeichnung,  indem  die  alten 
Namen  durch  Neubildungen  ersetzt  oder  auch  bisweilen  vertauscht  wurden.  Weil 
in   diesen  Punkten    also  eine  so  auffallende   Übereinstimmung  zwischen   beiden 


104  R-  Riegler,  Das  Tier  im  Spiegel  der  Sprache, 

Sprachgebieten  herrscht,  so  sind  die  Gründe  hierfür  weniger  lautHcher  Art,  sondern 
müssen  im  Wesen  der  betreffenden  Tiere  gesucht  werden.  Sie  sind  in  der  Tat 
vielfach  vorhanden  und  hätten  bei  der  Erklärung  der  Namen  mehr  hervortreten 
können.  So  gab  man  z.  B.  manchen  Tieren  mit  Vorliebe  mehr  scherzhafte  Bei- 
namen, welche  oft  den  alten,  gemeinsamen  Namen  verdrängten,  oder  eine  sehr 
auffallende  Eigenschaft  war  Veranlassung,  das  betreffende  Tier  von  neuem  danach 
zu  benennen,  wenn  dieselbe  im  alten  Namen  gar  nicht  oder  wenigstens  nicht  mehr 
deutlich  genug  hervortrat. 

Da  solche  Neubildungen  späteren  Ursprungs  sind,  scheint  es  mir  nicht  ersicht- 
lich, warum  das  an  Stelle  des  altenglischen  igl  getretene  hedgehog  ein  älteres 
englisches  Wort  sein  sollte,  als  das  gleichbedeutende,  aus  dem  Romanischen  stam- 
mende urchin.   Vgl.  S.  16. 

Eine  Neubildung  innerhalb  des  Lateinischen  wäre  pediculus,  wenn  es,  wie 
S.  272  angegeben  wird,  einfach  als  Verkleinerungsform  von  pes  aufzufassen  wäre. 
Aber  abgesehen  davon,  daß  Füßchen  als  Bezeichnung  der  Laus  keinen  rechten 
Sinn  hat,  findet  sich  auch  im  Lateinischen  ein  altes  und  daher  schwer  zu  erklä- 
rendes Wort  für  Laus,  nämlich  pedis,  dessen  Verkleinerung  eben  pediculus  ist. 

Ein  anderes  lateinisches  Wort  mustela  wird  S.  48  als  Verkleinerung  von  mus 
erklärt.  Aber  abgesehen  von  den  rein  lautlichen  Bedenken  sind  doch  Maus  und 
Wiesel  zu  verschiedene  Tiere,  um  letzteres  einfach  Mäuschen  zu  nennen.  Der 
Verfasser  begründet  seine  Erklärung  damit,  daß  die  Alten  Wiesel,  Marder  usw.  zum 
Mäusegeschlecht  rechneten,  aber  das  Volk,  vor  allem  in  früherer  Zeit  bei  vertrau- 
tem Verkehr  mit  der  Natur,  unterscheidet  die  Tiere  viel  schärfer,  als  oft  in  sprach- 
lichen Werken  zum  Ausdruck  gelangt.  In  letzteren  kommen  leicht  Verwechselungen 
vor.  So  möchte  ich  vermuten,  daß  das  S.  190  neben  Eidechse  als  gleichbedeutend 
angeführte  dänische  Firebeen,  schwedische  fyrfota  und  hennebergische  firchebS 
nicht  der  Eidechse,  sondern  dem  Wassermolch  gilt.  Im  Siegerland  wenigstens 
wie  in  vielen  anderen  Gegenden,  bezeichnet  man  mit  Viergebein  usw.  nur  den 
Wassermolch,  niemals  die  Eidechse,  welche  eine  besondere  Bezeichnung  hat.  Ge- 
rade beim  Wassermolch,  weniger  bei  der  Eidechse,  mußten  die  vier  Beine  auffallen, 
weil  er  wie  ein  Fisch  ganz  im  Wasser  lebt  und  einem  Fisch  auch  an  Gestalt  ähn- 
lich ist. 

Auch  stork  und  crane  hat  man  im  Englischen  wohl  schärfer  auseinandergehalten, 
als  der  Verfasser  annimmt;  wenigstens  möchte  ich  es  nicht  für  ein  Anzeichen  von 
Vertauschung  halten,  wenn  der  Engländer  dieselbe  Pflanze  crane's  bill  nennt, 
welche  bei  uns  den  Namen  Storchschnabel  führt,  sondern  in  beiden  Sprachen  ist 
eben  die  Pflanze  wegen  der  Gestalt  der  Frucht  nach  Vögeln  mit  langem  Schnabel, 
nur  nicht  nach  denselben  Vögeln  benannt  worden. 

Ferner  liegt  beim  oberhessischen  Greinhase  nicht,  wie  S.  85  angenommen 
wird,  eine  einfache  Vertauschung,  ein  Ersatz  des  Wortes  Kaninchen  durch  Hase 
vor.  Denn  auch  in  Greinhase  steckt  das  Wort  Kaninchen  und  zwar  in  der  zu  Knin 
verkürzten  unverkleinerten  Form,  welche  noch  in  manchen  Mundarten  vorkommt. 
Hase  wurde  in  Greinhase,  ähnHch  wie  in  Walfisch,  Maultier  usw.  gleichsam  erklärend 
hinzugesetzt,  und  auch  in  dem  weiterhin  angeführten  schweizerischen  KüUhase 
haben  wir  einen  erklärenden  Zusatz  zu  der  ebenfalls  von  cuniculus  herrührenden  Form. 


angez.  von  J.  Heinzerling.  105 

Während  also  auch  in  Greinhase  eine  Entlehnung  aus  dem  Lateinischen  vor- 
liegt, möchte  ich  dies  weniger  bei  Grille  annehmen.  Zwar  wäre  dies  immer  noch 
wahrscheinlicher  als  die  Annahme  des  Verfassers,  daß  gryllus  aus  dem  Lateinischen 
in  die  romanischen  Sprachen  und  von  da  erst  in  das  Deutsche  eingedrungen  sei, 
denn  bei  dem  uns  zunächstwohnenden  romanischen  Volke  hat  das  Wort  die  un- 
serem Grille  unähnlichere  Gestalt  grillon.  Grille  halte  ich  für  ein  echt  deutsches 
Wort;  denn  wie  in  einigen  Gegenden  Heimchen  usw.  ist  in  anderen  z.  B.  in 
Schwaben  Grille  der  im  Volk  allgemein  übliche  Ausdruck  für  die  in  Häusern 
sowohl  wie  im  freien  lebende  Art,  und  da  für  derartige,  allgemein  bekannte  Tiere 
sich  nirgends  in  der  Volkssprache  ein  Fremdwort  findet,  so  wäre  es  unbegreiflich, 
warum  dies  gerade  hier  der  Fall  sein  sollte.  Grille  ist  eben  eine  unabhängig  von 
gryllus  entstandene  zufällig  gleichlautende  Bildung,  mit  welcher  das  daneben  viel- 
fach übliche  Zeitwort  grellen,  grillen  zusammenhängt,  und  welche  ebenso  wie  das 
lateinische  gryllus  auf  dem  vom  Tier  hervorgebrachten  Geräusch  beruht. 

Wie  Grille  ist  auch  Wiedehopf,  aber  natürlich  abgesehen  vom  ersten  Teile  des 
Wortes,  eine  onomatopoetische  Bildung,  und  aus  dem  Rufe  hup  hat  sich  ganz 
entsprechend  den  Lautregeln  des  Hochdeutschen  die  Form  Hopf  entwickelt.  Wiede- 
hopf ist  dagegen  nicht,  wie  S.  132  gesagt  wird,  eine  volksetymologische  Umdeu- 
tung  eines  Schallwortes,  sondern  ist  nur  von  den  Sprachforschern  unrichtig  als  Holz- 
hüpfer  gedeutet  worden.  Noch  weniger  aber  kann  das  als  frankfurtisch  angeführte 
Wigüggel  als  solche  angesehen  werden.  Ferner  möchte  ich  Wigüggel  nicht  als 
Weidenhahn  erklären;  denn  Weide  lautet  frankfurtisch  nicht  Wi,  sondern  letzteres 
ist  ohne  Zweifel  dasselbe  Wort  wie  Wiede  in  Wiedehopf,  und  Wiede  ist  nach 
Woeste  das  althochd.  Witu,  welches  Krone,  Haube  bedeutet.  Daß  der  auffallende, 
charakteristische  Kopfschmuck  des  Vogels  neben  dem  Rufe  ein  Ausgangspunkt 
der  Bezeichnung  werden  konnte,  liegt  sehr  nahe  und  findet  wieder  eine  Bestäti- 
gung in  der  metaphorischen  Anwendung  des  französischen  huppe. 

Unter  der  Überschrift  Grille  werden  Grille  oder  Heimchen  und  Singzirpe  oder 
Zikade  zusammen  behandelt,  indem  der  Verfassei  letztere  Baumgrille,  mehrmals 
auch  einfach  Grille  nennt.  Aber  zwischen  beiden  Tierarten  besteht  doch  ein 
wesentlicher  Unterschied,  und  sie  werden  dementsprechend  im  Lateinischen  durch 
die  ganz  verschiedenen  gryllus  und  cicada,  die  sich  auch  in  allen  romanischen 
Sprachen  fortgepflanzt  haben,  bezeichnet.  Eine  Trennung  war  um  so  mehr  geboten, 
als  die  Zikade,  ein  Kind  des  sonnigen  Südens,  nur  in  metaphorischen  Wendungen 
der  romanischen  Sprachen  vorkommt.  Die  Grille  ist  zwar  im  Norden  wie  im 
Süden  zu  Hause,  aber,  abgesehen  von  einem  einzigen  Falle,  ist  ihre  metapho- 
rische Verwendung  von  derjenigen  der  Zikade  verschieden. 

Die  S.  18  angeführte  Redensart  „saufen  wie  ein  Igel"  paßt  gar  nicht  zur 
Natur  dieses  Stachelträgers  und  beruht  sicher  auf  einer  Verwechselung  von  Igel 
und  Egel,  die  sich  dadurch  leicht  erklärt,  daß  in  vielen  Mundarten  der  Name  beider 
Tiere  völlig  gleich  lautet. 

Wenn  S,  78  zur  Erklärung  einiger  Redensarten  erwähnt  wird,  daß  der  Hase 
mit  offenen  Augen  schlafe,  so  steht  dies  wohl  nicht  im  Einklang  mit  den  neusten 
Forschungen.    Vgl.  Zell,  Tierfabeln  S.  68. 

Die  in   dem  Kapitel  Fliege  erwähnte  Redensart  mosca,   stille,  wird  zu  dem 


106  A   Biese,  Deutsche  Literaturgeschichte,  angez.  von  J.  Buschmann. 

Satz  vervollständigt:  che  nön  si  senta  una  mosca.  Vielleicht  wäre  es  hier  richtiger 
gewesen  non  wegzulassen,  weil  es  gerade  ein  Beweis  von  Stille  ist,  daß  man  so- 
gar die  Fliegen  hört. 

Etwas  gesucht  scheint  es  mir,  wenn  S.  272  die  Bedeutung  von  lausig  als 
knickerig  damit  erklärt  wird,  daß  ein  mit  Läusen  behafteter  Bettler  gezwungen  ist, 
mit  den  mühsam  erbettelten  Almosen  zu  knickern,  sondern  lausig  ist  nur  aus  glei- 
chem Grunde  wie  schmutzig  zu  der  Bedeutung  geizig  gekommen. 

So  ließe  sich  noch  mancherlei  hinzufügen  und  berichtigen,  was  hier  des  be- 
schränkten Raumes  wegen  nicht  möglich  ist,  aber  trotzdem  bin  ich  der  Ansicht, 
daß  der  Verfasser  seine  Aufgabe  in  sehr  befriedigender  Weise  gelöst  hat,  daß  die 
Arbeit  viele  interessante  Ergebnisse  liefert  und  nicht  nur  dem  Sprachgelehrten  und 
Naturforscher,  sondern  auch  weiteren  Kreisen  warm  empfohlen  werden  kann. 

Siegen.  J.  Heinzerling. 

Biese,  Alfred,  Deutsche  Literaturgeschichte.  Zweiter  Band.  Von  Goethe 
bis  Mörike.  Mit  50  Bildnissen.  Erstes  bis  achtes  Tausend.  München  1909. 
C.  H.  Becksche  Verlagsbuchhandlung,  Oskar  Beck.  VII  u.  693  S.  5,50  M.,  in 
Halbfranz  7  M. 
Der  längst  erwartete  zweite  Teil  der  deutschen  Literaturgeschichte  von 
Alfred  Biese  ist  erschienen.  Daß  nun  auch,  dem  entgegen,  was  der  erste  Band 
verhieß,  ein  dritter  Band  erwartet  werden  muß,  wird  wenigen  überraschend  gewesen 
sein.  Wie  hätte  auch  der  zweite  Band  bis  in  die  neueste  Zeit  hinaufgeführt  werden 
können,  wenn  ohne  die  eingehende  Behandlung,  die  schon  einem  Lessing  zuteil 
geworden  war,  die  Lebensbilder  Goethes  und  Schillers  gar  nicht  zu  denken  sind, 
und  wenn  den  zahlreichen  literarischen  Strömungen  des  19.  Jahrhunderts  ihr  volles 
Recht  werden  sollte?  So  umfaßt  denn  der  zweite  Band  nur  die  romantisch-klassische 
Zeit  von  Goethe  bis  etwa  um  die  Mitte  des  19.  Jahrhunderts.  An  der  Spitze  stehen 
in  berechtigter  breiter  Ausführung,  das  Ganze  beherrschend,  Goethe  und  Schiller, 
auf  die  zusammen  nicht  weniger  als  sechzehn  Bogen  entfallen.  Es  folgen  volks- 
tümliche Unterströmungen  in  der  Zeit  der  Klassiker,  Jean  Paul,  die  Zeit  der 
Frühromantik,  die  jüngere  Romantik,  Heinrich  von  Kleist,  die  Dichter  der  Befreiungs- 
kriege, die  Schwaben  und  ihre  Freunde,  Neben-  und  Gegenströmungen  der 
Romantik,  das  junge  Deutschland,  die  politische  Lyrik,  Grillparzer  und  endlich  die 
Gruppe  Lenau,  Mörike,  Droste-Hülshoff.  Der  erste  Band,  dem  in  zahlreichen 
Tagesblättern  und  Zeitschriften  viel  Gutes  nachgerühmt  worden  ist,  hat  sich  rasch 
in  Schule  und  Familie  den  verdienten  Platz  erobert  und  darf  als  ein  Volksbuch  im 
besten  Sinne  des  Wortes  bezeichnet  werden.  Die  Hoffnungen,  die  er  für  den 
zweiten  Band  erweckt  hat,  erfüllt  dieser  in  umfassendstem  Maße.  Biese  beherrscht 
den  Stoff  unumschränkt  und  weiß  ihn  mit  Meisterhand  zu  gestalten.  Jede  der 
vierzehn  in  sich  abgeschlossenen  und  doch  zu  einem  größeren  Ganzen  wie  Glieder 
einer  Kette  sich  verknüpfenden  Abhandlungen  stellt  sich  in  ihrem  Aufbau  als  ein 
nach  wohldurchdachtem  Plane  gefügtes  Kunstwerk  dar.  Sorglich  abgewogen 
und  wohlbegründet  ist  das  Urteil,  das  in  der  Liebe  zu  rechtem  Deutschtum  und 
in  der  Verehrung  alles  dessen  wurzelt,  was  künstlerische  Vollkommenheit  dartut ; 
aber  selbstsüchtiger  Mäkelei  und  Kritelei  abhold,  findet  der  Verfasser  ein  anerken- 


W.  Vesper,  Die  Ernte  aus  acht  Jahrhunderten  usw.,  angez.  von  A.  Biese.        107 

nendes  Wort  auch  für  minder  Wertvolles,  wenn  dieses  nur  das  Recht  seines  Daseins 
fruchtbringend  im  Entwicklungsgange  der  deutschen  Dichtung  erwiesen  hat.  Die 
Sprache,  deren  klare  Durchsichtigkeit  schon  am  ersten  Bande  gerühmt  worden  ist, 
zeigt  sich  im  zweiten  auf  noch  höherer  Stufe  der  VolIen,dung  durch  ihre  edle,  oft 
hinreißende,  stets  fesselnde  Schönheit.  Wer  Freude  an  der  vaterländischen 
Dichtung  hat,  den  wird  das  Buch  kaum  wieder  loslassen,  ehe  er  es  ganz  in  sich 
aufgenommen  hat,  und  wer  es  liest,  der  wird  es  nur  mit  der  Empfindung  eines 
voll  befriedigenden  Genusses  aus  der  Hand  legen.  Es  könnte  dem  Werke  keinen 
Abbruch  tun,  wenn  hier  auch  einzelnes  aufgezählt  würde,  was  der  bessernden 
Hand  zu  bedürfen  scheint;  doch  hat  dieses,  wenn  überhaupt,  nur  für  den  Ver- 
fasser Wert,  dem  es  auch  nicht  vorenthalten  ist;  so  darf  an  dieser  Stelle  darüber 
hinweggegangen  werden.  Dafür  möge  lieber  der  Wunsch  Platz  finden,  daß  von 
dem  Segen,  den  das  Buch  spenden  kann,  das  beste  Teil  auf  die  heranwachsende 
deutsche  Jugend  entfalle. 

Koblenz.  Jos.  Buschmann. 


Vesper,  Will,  Die  Ernte  aus  acht  Jahrhunderten  deutscher  Lyrik.  Düssel- 
dorf 1906.  Wilhelm  Langewiesche-Brandt.  480  S.  leicht  geb.  1,80  M.  (elegant 
in  Leinen  mit  Goldschnitt  3  M.) 

„Bücher  der  Rose"  nennt  die  rührige  Verlagshandlung  Langewiesche  in  Düs- 
seldorf eine  Reihe  —  beispiellos  billiger  und  beispiellos  gehaltvoller  —  Bücher, 
von  denen  eins  die  „Jugenderinnerungen  eines  alten  Mannes"  W.  v.  Kügelgen, 
zwei  andere  Goethes  Briefe  und  andere  eine  Auswahl  aus  E.  T.  A.  Hoffmann  und 
Hebbel  bieten;  das  erste  ist  Vespers  Anthologie.  —  Peter  Hille  singt  in  einem 
Gedicht  („Brautseele"):  „Alles,  was  schön  ist  auf  dieser  Weltwiese,  Ist  nur  aus 
Sehnen  und  Liebe  schön."  Dies  klingt  gleichsam  durch  das  ganze  Buch  Vespers 
hindurch.    Und  so  schließt  er  auch  selbst  mit  den  Zeilen: 

Das  sah  ich  heut  auf  abendlichen  Höhn: 
(In  meinem  Herzen  brannte  alle  Glut) 
Es  ist  doch  Alles  nur  aus  Liebe  schön. 
Es  ist  doch  Alles  nur  aus  Liebe  gut. 

Der  Rosenduft  der  Liebe  und  der  Sehnsucht,  des  Glücksgefühls,  der  Gottes- 
und  der  Herzensminne  weht  durch  diesen  Liederstrauß,  den  kundige  und  findige 
Hand  gewunden  hat,  die  Echtes  von  Falschem  zu  sondern  weiß.  In  der  Mannig- 
faltigkeit die  Einheit:  das  bedeutet  auch  hier  Schönheit.  Das  Buch,  das  von  der 
Zeit  des  Minnesanges  bis  auf  die  unsrige  hinführt,  liest  sich  —  möchte  man  fast 
sagen  —  wie  das  Werk  eines  Dichters;  und  dieser  Dichter  ist  die  deutsche  Volks- 
seele. Ihre  Offenbarungen  können  aber  nur  so  einheitlich  und  rein  und  stim- 
mungskräftig wirken,  weil  überall  derselbe  ordnende  Sinn  sich  kundgibt,  der  das 
Verwandte  an  das  Verwandte  anreiht  und  der  mit  dem  Zauberstabe  dichterischen 
Feingefühls'auch  verborgene  Quellen  zum  Strömen  zu  bringen  wußte.  Eine  ganze 
Reihe  unbekannter  Dichter,  selbst  aus  dem  viel  geschmähten  17.  Jahrhundert  tritt 


108  R-  Lehmann,  Deutsches  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten. 

hier  hervor,  mit  überraschender  Liedkraft;*)  besonderes  Lob  verdient  die  Auswahl 
aus  Goethe;  bei  Schiller  durfte  sein  herrlichstes  Gelegenheitsgedicht,  „Die  Ideale", 
nicht  fehlen;  neben  Mörike,  Eichendorff,  Heine  sind  Liliencron  und  Dehmel  am 
reichsten  vertreten;  gegen  Keller  und  Meyer  und  Hebbel  kommt  Storm  gar  zu 
kurz;  nicht  einmal  das  „Oktoberlied"  hat  Gnade  gefunden;  Greif,  Heyse,  Lingg, 
Hertz  müssen  sich  mit  je  einer  Seite  begnügen;  Groth  und  Jensen  fehlen  ganz; 
unter  den  Neuesten  wird  Dauthendey  bevorzugt.  —  Das  Buch  ist  jedoch,  als 
Ganzes  genommen,  ein  wahrer  Schatz.  Möchten  diesen  sich  recht  viele 
Primaner  zu  eigen  machen,  angeregt  und  geleitet  von  ihren  Deutsch- 
lehrern! Es  bildet  eine  treffliche  Ergänzung  zu  der  besten  Auswahl  für  Schulen 
die  wir  besitzen,  zum  alten  „Echtermeyer",  den  Alfred  Rausch  verjüngt  hat, 
(36.  Aufl.  1907,  246.  bis  255.  Tausend).  Eine  musterhafte  Auswahl  „religiöser 
Lieder  und  Gedichte  für  das  deutsche  Haus"  bietet  die  Sammlung  von  Rudolf 
Günther:  „Aus  der  verlorenen  Kirche"  (Heilbronn,  Eugen  Salzer.  1907,374  5. 
geb.  3  M.),  die  sich  in  ihrer  ganzen  Art  an  Avenarius'  Hausbuch  deutscher 
Lyrik  anschließt,  das  auch  in  kurzer  Zeit  Tausende  von  deutschen  Herzen  und 
deutschen  Häusern  sich  erobert  hat.  Die  überaus  handliche  und  billige  „Ernte" 
Vespers  hat  sie  noch  an  Erfolg  überflügelt  mit  ihren  60  Tausend  in  Jahresfrist! 
Neuwied.  Alfred  Biese. 

Lehmann,  R.,  Deutsches  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten.  Anhang 
für  Pommern  und  Mecklenburg  von  Dr.  O.  Alten  bürg.  Leipzig  und  Wien  1908. 
G.  Freytag.    8°.   57,  56  u.  63  S.    Heft  1,  2,  3  ä  80  Pf. 

Es  ist  ein  überaus  glücklicher  Gedanke  des  Herausgebers  des  „Deutschen 
Lesebuchs  für  höhere  Lehranstalten"  (vgl.  die  Besprechungen  Monatschrift  IV,  554  ff. 
V,  404  ff.),  mit  dessen  Verwirklichung  in  den  vorliegenden  drei  Heften  der  Anfang 
gemacht  worden  ist.  Ein  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten  muß  auf  weite  Ver- 
breitung rechnen  und  kann  nicht  einzelne  Landschaften  oder  Provinzen  bevorzugen. 
Die  Vaterlandsliebe  kann  es  fördern  und  fördert  es,  nicht  aber  das  Heimatsgefühl. 
Und  doch  ist  das  Heimatsgefühl  der  natürliche  Mutterboden,  auf  dem  eine  gesunde 
Vaterlandsliebe  erwächst.  Wie  man  schon  seit  Jahren  eine  „Heimatskunst"  kennt 
und  schätzt,  so  sollte  allmählich  auch  eine  Heimatspädagogik,  wenn  ich  den  Aus- 
druck bilden  darf,  an  unsern  höheren  Schulen  Aufnahme  und  Pflege  finden.  Vor 
kurzem  klagte  mir  ein  Herr,  der  —  allerdings  schon  vor  Jahrzehnten  —  in  der 
Provinz  Preußen  unterrichtet  worden  war,  daß  er  während  seiner  ganzen  Schulzeit 
nie  etwas  von  der  Marienburg  gehört  habe.  Nun  fehlt  es  aber  unsern  höheren 
Schulen  bisher  noch  fast  ganz  an  Hilfsmitteln,  die  geeignet  wären,  Heimatssinn 
und  Heimatsstolz  zu  erwecken.  Die  Volksschule  ist  uns  hierin  weit  voraus.  Diesem 
Mangel  sollen  die  Anhänge  zu  dem  Lehmannschen  Lesebuche  abhelfen.  Nach 
der  Vorrede  dürfen  wir  für  die  einzelnen  Provinzen  und  Landschaften  eine  Anzahl 
gesonderter  Anhänge  erwarten,  welche  Geschichte  und  Sage,  Poesie  und  Volks- 


*)  Vergl.  Will  Vesper,  „Deutsche  Gedichte  des  17.  Jahrhunderts".  Eine  Ehrenrettung 
dieser  vielgeschmähten  Zeit,  namentlich  Hoffmannswaldaus  in  den  „Statuen  deutscher 
Kultur«.    Bd.  11,  München  1907,  C.  H.  Beck  (Oskar  Beck).    106  S.     1,80  M 


angez.  von  F.  Seiler.  109 

leben,  Landeskunde  und  Kulturentwicklung  der  betreffenden  Landesteile  dem 
Schüler  in  einer  guten  Auswahl  poetischer  und  prosaischer  Lesestücke  vor  die 
Augen  führen.  Das  ist  wie  gesagt  ein  überaus  ersprießliches,  höchst  dankens- 
wertes Unternehmen.  * 

Mit  Pommern  und  Mecklenburg  ist  der  Anfang  gemacht  worden.  Daß  beide 
verbunden  sind,  kann  man  nur  gutheißen.  Zu  enge  dürfen  ja  die  einzelnen  Bezirke 
nicht  begrenzt  werden,  schon  um  den  Heften  das  nötige  Absatzgebiet  zu  sichern, 
und  wenn  irgendwelche  deutschen  Landesteile  durch  natürliche  Verhältnisse,  Ge- 
schichte, Eigenart  der  Bewohner,  Sitte  und  Sprache  eng  verwandt  sind,  so  sind 
es  Pommern  und  Mecklenburg.  Dr.  O.  Altenburg  hat  seine  Aufgabe  in  glück- 
lichster Weise  gelöst.  Heft  I,  für  die  Unterstufe  bestimmt,  bringt  zuerst  Gedichte 
aus  Sage  und  Geschichte,  sowie  poetische  Erzählungen  und  Schwanke  aus  dem 
Volksleben,  sodann  Prosastücke  und  zwar  Märchen,  Sagen  und  Erzählungen  und 
ein  Stück  über  Pommerns  Pflanzen  und  Tiere.  Heft  II  für  die  Mittelstufe  zeigt 
im  großen  und  ganzen  dieselbe  Einteilung:  Gedichte  aus  der  Geschichte  und 
Heimat  sowie  aus  dem  pommerschen  und  mecklenburgischen  Volksleben  und 
Prosastücke  aus  Landeskunde  und  Geschichte,  nebst  zwei  Stücken  über  den  Herings- 
fang und  die  Rauchhäuser  auf  Rügen.  Ebenso  gegliedert  ist  Heft  III  für  die  Ober- 
stufe. Als  letzte  Stücke  sind  hier  „Stettins  Handel  und  Industrie"  und  der  1856 
geschriebene  Brief  Arndts  zum  400jährigen  Jubelfest  der  Universität  Greifswald 
gegeben  worden.  Man  muß  anerkennen,  daß  die  Auswahl  eine  glückliche  ist. 
Im  Vordergrunde  stehen  bekannte  Namen,  wie  Arndt,  W.  Müller,  Holtei,  Reuter, 
Giesebrecht,  Scherenberg,  Prutz,  Voß,  aber  auch  weniger  bekannte  sind  heran- 
gezogen, darunter  ältere,  wie  Meister  Rumeland  (1278)  und  Laurenberg  (1650). 
Auch  alte  Volkslieder  und  Chroniken  sind  verwertet.  Gern  vermißt  hätte  ich  I,  3 
»Wie  die  Maränen  in  den  Madüsee  gekommen  sind".  Sehr  viel  Sinn  steckt  nicht 
darin,  und  die  Moral,  daß  es  ein  gutes  Werk  sei,  den  Teufel  zu  betrügen,  ist  doch 
von  recht  zweifelhaftem  Wert.  Die  Knaben  sollen  doch  vielmehr  die  Überzeugung 
bekommen,  daß  Betrug  unter  allen  Umständen,  auch  dem  Teufel  gegenüber,  ein 
sittliches  Unrecht  ist.  Sehr  interessant  war  mir  das  II,  3  gegebene  „Kriegslied, 
während  der  Belagerung  Kolbergs  1807  von  Soldaten  gedichtet"  (aus  den  Blättern 
für  pommersche  Volkskunde).  Das  sangen  wir  86  er  Füsiliere  (Schleswigholsteiner 
und  Rheinländer)  nämlich  noch  1870  in  erheblich  verkürzter  und  veränderter 
Gestalt.  Freunden  volkstümlicher  Kriegspoesie  dürfte  es  nicht  unwillkommen  sein, 
diese  Modernisierung  des  jetzt  gerade  hundert  Jahre  alten  Liedes  kennen  zu  lernen. 
Sie  lautete,  soweit  ich  mich  erinnere  —  und  gesungen  habe  ich  das  Lied  Dutzende 
von  Malen  —  folgendermaßen: 

Es  kann  ja  nicht  immer  so  bleiben 
Hier  unter  dem  wechselnden  Mond, 
Der  Krieg  muß  den  Frieden  vertreiben, 
Im  Kriege  wird  keiner  verschont. 

O  Napoleon,  du  Schustergeselle, 
Wie  saßest  du  so  fest  auf  deinem  Thron; 
In  Deutschland,  da  wärest  du  so  schnelle 
Und  erhieltest  in  Preußen  deinen  Lohn. 


110  R-  Bartels,  Zu  Schillers  „Das  Ideal  und  das  Leben*, 

Ach,  hättest  du  mit  Preußen  den  Frieden  gemacht 
Und  nicht  an  das  linke  Rheinufer  gedacht, 
Dann  wärest  du  Kaiser  geblieben 
Und  hättest  den  allerschönsten  Thron. 

Wir  legen  die  Waffen  nicht  nieder. 
Bis  Deutschland  und  Preußen  ist  befreit, 
Wir  kämpfen  mit  euch,  ihr  deutschen  Brüder, 
Von  nun  an  bis  in  Ewigkeit. 

Eine  Vergleichung  mit  dem  Kriegsliede  von  1807  zeigt,  daß  die  siebziger 
Fassung  nicht  nur  kürzer,  sondern  dem  Zeitgeschmack  entsprechend  auch  weniger 
pathetisch  und  phrasenhaft  ist. 

Die  Heimatspoesie  ist  naturgemäß  zum  großen  Teil  Dialektdichtung.  Darum 
findet  sich  in  den  Heften  eine  ganze  Anzahl  plattdeutscher  Gedichte.  Auch  in 
den  prosaischen  Teil  sind  plattdeutsche  Märchen  und  Abschnitte  aus  nieder- 
deutschen Chroniken  aufgenommen.  Verständnis  des  Dialekts  konnte  ja  hier  im 
allgemeinen  vorausgesetzt  werden.  Darum  sind  die  erklärenden  Anmerkungen 
mit  Recht  knapp  gehalten,  vielleicht  hier  und  da  zu  knapp.  Ob  wohl  alle  pom- 
merschen  Jungen  wissen,  was  ein  „Lewark"  (II,  S.  23)  ist,  ob  sie  sich  „vthwysinge" 
(III,  S.  10)  zu  deuten  vermögen?  Und  was  ein  „Eckkabus"  (I,  S.  36)  ist,  wird  kein  Leser 
dieser  Monatschrift  leicht  ergründen.  Auch  mir  blieb  das  Wort  lange  ein  Rätsel.  Ich 
trennte  es  in  ,Eckkab  us"  und  las:  »Hier  sucht  er  sich  einen  Eckplatz  aus".  Aber 
„Kab"  =  Platz  ist  doch  sehr  fragwürdig,  und  „aus"  heißt  plattdeutsch  sonst  „ut". 
Endlich  dämmerte  es  mir.  Das  Wort  ist  Femininum  und  bedeutet  „Eckkabuse", 
Kabuse  niederdeutsch  =  Kabine,  vgl.  seemännisch  „Kombüse"  =  Küche.  Die  „Wate- 
moem"  (I,  S.  10)  hätte  ich  nicht  durch  das  allgemeine  „Wassergespenst"  übersetzt, 
sondern  wörtlicher  und  viel  packender  durch  „Wassermuhme",  wie  es  ja  auch  eine 
Roggenmuhme  gibt. 

Die  Hefte  werden  ohne  Zweifel  Erfolg  haben.  Sie  kommen  dem  Bedürfnis 
und  dem  Geschmack  der  Zeit  entgegen,  und  —  was  ein  nicht  geringer  Vorteil 
ist,  —  sie  können  auch  zu  jedem  andern  Lesebuch  als  Anhänge  gebraucht  werden. 
Mögen  sie  dazu  beitragen,  Friedrichs  des  Großen  Urteil  über  die  Pommern  (II,  S.  49) : 
„Sie  würden  nicht  ohne  Geist  sein,  wenn  sie  besser  gebildet  wären"  zuschanden 
zu  machen,  mögen  ihnen  bald  andre  Anhänge  für  andre  Landschaften  folgen  I 

Luckau  i.  L.  Friedrich  Seiler. 

Bartels,  Rudolf,  Zu  Schillers  „Das  Ideal  und  das  Leben".  Halle  a.  S.  1907. 
Buchhandlung  des  Waisenhauses.  46  S.  8<^.  1  M. 
Bartels  wendet  sich,  was  die  Klarstellung  des  Grundgedankens  betrifft, 
gegen  die  gesamte  bisherige  Auslegung.  „Fast  alle  Ausleger  fassen  in  dem  Gedicht 
das  .Ideal'  als  das  Schöne  im  allgemeinen,  oder,  wie  einige  betonen,  als  das  Ideal- 
schöne" (S.  25).  Bartels  dagegen  will  nachweisen,  daß  diese  Deutungen  versagen 
und  den  Schwierigkeiten  der  Erklärung  nicht  gerecht  werden,  weil  von  dem 
Schönen  an  sich  und  von  den  Werken  der  Kunst  hier  nicht  gesprochen  wird.  Nach 
ihm  kommt  hier  nur  das  Schöne  in  Frage,  „das  aus  dem  wirklichen  Leben,  aus 
dem  was  der  Mensch  lebt,  heraus  empfunden  und  geschaut  wird."  (S.  28.)  - 


angcz.  von  P.  Goldscheidcr.  Hl 

Auf  dieser  Grundlage  entwickelt  er  in  Teil  I  seiner  Abhandlung  den  Gedan- 
kengang des  Gedichtes  folgendermaßen:  Die  ersten  vier  Strophen  zeichnen  das 
Reich  des  Ideals  im  allgemeinen,  die  fünfte  enthält  den  Übergang  zu  den  acht 
Strophenpaaren,  in  denen  Wirklichkeit  und  Ideal  im  einzelnen  einander  gegenüber 
gestellt  werden.  Die  Kämpfe  des  wirklichen  Lebens  werden  an  vier  Fällen  veran- 
schaulicht: An  dem  Kampfe  um  Dasein  und  Fortkommen,  an  der  Mühseligkeit  des 
Arbeitens,  an  der  sittlichen  Unzulänglichkeit  und  an  den  Schmerzen  und  Leiden 
des  Körpers.  In  den  4  Gegenstrophen  wird  überall  der  Sieg  „der  schönen  Voll- 
endung" zur  Darstellung  gebracht:  a)  Strophe  7  enthält  das  Ideal,  welches  den  Gegen- 
satz bildet  zu  den  feindlichen  Bestrebungen  des  Lebens.  Sehen  wir  von  dem  Stoff- 
lichen ab,  so  bleiben  die  einander  ergänzenden  Gegensätze  der  mannigfaltigen  Be- 
strebungen übrig,  b)  Strophe  9  stellt  das  erstrebte  Ziel  der  mühevollen  Aufgabe 
in  schöner  Vollendung  vor  Augen,  c)  Im  wirklichen  Leben  tritt  den  Bedrängnissen 
des  Gewissens  die  Forderung  gegenüber,  daß  die  sinnliche  Natur  unterdrückt  werden 
muß,  wo  sie  mit  der  Sittlichkeit  in  Widerstreit  gerät.  Diese  Forderung  ist  in  ihrer 
Vollkommenheit  nicht  erfüllbar;  und  wäre  sie  erfüllt,  so  fehlte  „die  Zustimmung 
des  sinnlichen  Triebes".  Das  schöne  Ideal  der  Sittlichkeit  dagegen  besteht  in  der 
harmonischen  Übereinstimmung  des  Naturtriebes  mit  dem  Sittengesetz,  d)  Leiden 
und  Mitleiden  des  wirklichen  Lebens  treten  im  Reiche  des  Ideals  zurück  und 
erscheinen  nur  als  die  Unterlage,  um  „des  Geistes  tapfre  Gegenwehr"  zu  zeigen, 
die  Überlegenheit  über  die  Macht  des  Schicksals.  Nur  auf  dunkler  Wolke  malt  sich 
der  Regenbogen,  nur  durch  Leiden  kann  die  geistige  Unabhängigkeit  von  der 
Naturgewalt  bewährt  werden. 

Die  Erhebung  zum  Ideal  hat  eine  negative  und  eine  positive  Wirkung:  Der 
Mensch  wird  dadurch  nicht  dem  Kampfe  entzogen,  sondern  vielmehr  für  ihn  ge- 
kräftigt. Nicht  zu  Schwärmerei  oder  Weltflucht  soll  ihn  die  Anschauung  des  Ideals 
veranlassen;  ebensowenig  zur  Schönfärberei;  und  damit  dieses  Mißverständnis  nicht 
aufkommen  könne,  wird  die  Wirklichkeit  des  Lebens  in  ihrer  ganzen  Härte  geschil- 
dert. Der  Blick  auf  das  Ideal  löst  die  Heftigkeit  der  Anspannung.  In  ihrer  Erhe- 
bung gleicht  die  das  Ideal  schauende  Seele  dem  Herakles. 

In  dem  zweiten,  dem  kritischen  Teil  verteidigt  der  Verfasser  seine  Auffassung. 
Er  hat  sich  bemüht,  das  Gedicht  auf  sich  selbst  zu  stellen;  er  bemängelt,  daß  sich 
die  frühere  Auslegung  zu  sehr  an  die  Briefe  über  die  ästhetische  Erziehung  an- 
schließe. Ob  zum  Verständnis  des  Gedichts  die  Kenntnis  der  Schillerschen  Ästhetik 
erforderlich  sei,  wurde  schon  von  Humboldt  und  Körner  erörtert.  Nachdem  Bartels  im 
entwickelnden  Teile  seiner  Arbeit  absichtlich  auf  Heranziehung  der  philosophischen 
Abhandlungen  Schillers  verzichtet  hatte,  beweist  er  im  kritischen  Teile  die  Über- 
einstimmung seiner  Auffassung  des  Gedichts  mit  der  Ästhetik  des  Dichters.  Das 
Subjekt  schafft  das  Schöne  und  zwar  als  Ideal  aus  dem  Stoffe,  den  es  lebt;  es 
betätigt  sich  darin  als  Künstler. 

Bartels'  Untersuchung  zeichnet  sich  durch  Schärfe  und  Folgerichtigkeit  aus, 
als  Muster  einer  Erläuterung  möchte  ich  sie  aber  nicht  hinstellen.  Die  Gedanken- 
entwicklung müßte  in  höherem  Maße  von  den  Bildern  ausgehen.  Bartels  legt  alles 
Gewicht  darauf,  den  Grundgedanken  zu  erfassen  und  die  Einzelgedanken  diesem 
unterzuordnen;  und  das  ist  ihm  gelungen.   Und  auch  die  Schwäche  der  angewand- 


112  G.  Budde,  Der  Kampf  um  die  fremdsprachliche  Methodik, 

ten  Bilder  hat  er  richtig  erkannt,  nämlich  daß  sie  bei  all  ihrer  sonstigen  Schönheit 
dem  Gedanken  nur  von  einer  Seite  her  gerecht  werden  können.  Am  deutlichsten 
ist  verhältnismäßig  die  Darstellung  des  Ideals  in  Strophe  7:  Das  Bild  des  Friedens 
und  des  harmonischen  Spiels  der  Kräfte.  In  Strophe  9  aber  wird,  gleichviel  was 
es  bedeuten  mag,  das  schöne  Kunstwerk  vor  Augen  gestellt.  In  Strophe  11  ist 
der  sittliche  Imperativ  enthalten;  und  die  Auffassung,  welche  das  Wort  „Nehmt 
die  Gottheit  auf  in  euren  Willen"  in  vielfachen  Zitaten  als  kategorischen  Imperativ 
verwertet,  hat  dazu  unzweifelhaft  ein  Recht,  wenn  man  von  der  Strophe  an  sich 
ausgeht.  (Vgl.  S.  39.)  Vollends  bei  Strophe  13  muß  Bartels  selbst  bemerken:  „So 
bleibt  in  diesem  Falle  ein  Rest  von  irdischem  Wesen,  also  Unvollkommenheit, 
auch  im  Ideal."  Es  erscheint  denn  doch  mit  der  menschlichen  Natur  des  Mtnschen 
unvereinbar,  daß  bei  dem  Anblick  menschlicher  Leiden  das  Mitleiden  gänzlich  der 
Bewunderung  weicht,  welche  durch  „des  Geistes  tapfre  Gegenwehr"  erregt  wird. 
(Vgl.  S.  20  und  43.) 

Wenn  man  somit  erwägt,  wie  der  von  Bartels  scharf  und  richtig  festgestellte 
Grundgedanke  im  einzelnen  ausgeprägt  wird,  so  ergibt  sich,  daß  der  Unterschied 
zwischen  Bartels  und  den  übrigen  Erklärern  nicht  ganz  so  groß  ist,  als  er  annimmt; 
der  Unterschied  zwischen  dem  Ideal  der  Vollendung,  der  schönen  idealen  Vorstel- 
lung und  dem  schönen  konkreten  Werke  wird  von  Schiller  selbst  als  ein  fließender 
behandelt.    Die  Schwierigkeit  des  Gegenstandes  hat  ihn  dazu  genötigt. 

Cassel.  P.  Goldscheider. 

Budde,  Gerhard,  Der  Kampf  um  die  fremdsprachliche  Methodik.  Sechs 
Vorträge,  gehalten  in  Jena,  anläßlich  der  Ferienkurse  im  August  1908.  Hannover 
u.  Leipzig  1908.  Hahnsche  Buchhandlung.  121  S.  8^.  2,50  M. 
In  den  Kampf  um  die  fremdsprachliche  Methodik  auch  nur  durch  die  Be- 
sprechung einer  Schrift  nochmals  eingreifen  zu  wollen,  liegt  mir  nachgerade  ganz 
fern;  aber  noch  einmal  mag  der  Wunsch  der  Schriftleitung  für  mich  „ein  hoher 
Wille,  dem  ich  mich  ergebe"  sein.  Der  Verfasser  überrascht  uns  in  den  letzten 
Jahren  durch  die  Menge  und  Mannigfaltigkeit  der  von  ihm  ausgehenden  Schriften 
und  Aufsätze,  und  in  der  vorliegenden  Arbeit  kehren  denn  zum  Teil  Gedanken 
wieder,  die  von  ihm  schon  anderswo  ausgeführt  wurden.  Aber  es  galt  ja  zunächst 
Orientierung  einer  bestimmten  Zuhörerschaft  durch  eine  Reihe  von  mündlichen 
Vorträgen,  die  dann  nachher  auch  für  den  Druck  bestimmt  worden  sind.  Sie 
werden  sich  angenehm  angehört  haben,  wie  sie  sich  auch  angenehm  lesen: 
alles  ist  lebendig,  klar  und  bestimmt  vorgebracht.  In  gewissem  Sinne  viel- 
leicht z  u  klar  und  bestimmt.  Der  Versuch,  die  ganze  Geschichte  des  fremd- 
sprachlichen Unterrichts  und  zugleich  die  grundsätzlichen  Fragen  auf  einige 
gerade  Linien  zu  bringen,  wird  zwar  immer  willkommen  sein,  kann  aber 
doch  nicht  leicht  gelingen.  Es  lösen  nicht  so  säuberlich  „Formalismus,  Realismus 
und  Utilismus"  einander  ab,  weder  im  altsprachlichen  noch  im  neusprachlichen 
Unterricht,  und  sie  treten  auch  nicht  gleichzeitig  so  sauber  auseinander.  Von  dem 
zu  einer  bestimmten  Zeit  oder  in  einer  bestimmten  Sphäre  wirklich  herrschenden 
Betrieb  ist  es  nicht  so  leicht,  sich  eine  zutreffende  Vorstellung  zu  machen;  zwischen 
dem    programmäßig  Vertretenen    und   der    wirklichen    Übung    ist  oft  große  Ver- 


angez.  von  W.  Münch.  1 13 

schiedenheit,  und  ebenso  zwischen  der  persönlichen  Praxis  der  auf  dasselbe  Pro- 
gramm Eingeschworenen.  Oskar  Jäger,  der  hier  als  ein  Hauptvertreter  des  forma- 
listischen Bekenntnisses  angeführt  wird,  war  sein  Leben  lang  —  im  Sinn  der 
Terminologie  unserer  Broschüre  —  Realist:  in  das  Leben  des  Altertums  führte  er  ein, 
so  gut  wie  jemals  einer.  Daß  jeder  der  grammatischen  Seite  der  Sprache  auch 
auf  oberen  Stufen  gewidmete  Ernst  auf  öden  Formalismus  und  unfruchtbare  Be- 
handlung der  Lektüre  kinauslaufen  müsse,  ist  nicht  der  Fall. 

Zur  offiziellen  Abschaffung  der  Hinübersetzung  ins  Lateinische  als  Ziel-  und 
Prüfungsleistung  wird  es  ja  sehr  möglicherweise  kommen,  und  vielleicht  bedeutet  das 
dann  einen  Fortschritt.  Aber  die  Behandlung  der  Lektüre  oder  der  Herübersetzung  zu 
einer  so  gründlich  bildenden  zu  machen,  wie  das  dann  um  so  wünschenswerter 
und  wie  es  auch  an  sich  möglich  ist,  bleibt  eine  Aufgabe,  der  die  Mehrzahl  der 
Lehrer  nur  sehr  allmählich  zu  genügen  lernen  wird.  Immerhin  dürfte  auf  dieser 
Linie  wirklich  das  künftige  Gedeihen  des  Unterrichts  liegen.  Daß  auch  die  Aus- 
wahl der  lateinischen  Lektüre  neuer  Prüfung  und  weitherziger  Entschließungen 
harrt,  ist  meine  persönliche  Meinung,  die  hier  aber  nur  angedeutet  werden  darf. 
Ein  paar  Einzelheiten :  Als  Zeugen  in  einer  ernstlichen  Unterrichtsfrage  würde  ich 
nicht  den  „bekannten  Literarhistoriker"  Eduard  Engel  anführen.  Unter  den  selb- 
ständigen didaktischen  Denkern  einer  gewissen  Periode  ist  neben  Lattmann  und 
einigen  andern  der  seiner  Zeit  sehr  lebendig  eingreifende  Hermann  Perthes  ver- 
gessen. Der  langjährige  Vertreter  der  Philosophie  an  der  Universität  Bonn, 
Jürgen  Bona  Meyer,  wäre  nicht  als  „ein  J.  B.  Meyer"  einzuführen  gewesen. 
(Durchlebte  Zeiten  weisen  immer  etwas  andere  Farben  auf,  als  nach  der  Lektüre 
vorgestellte.) 

In  der  zweiten  Hälfte  der  Schrift,  den  drei  der  neusprachlichen  Methodik  ge- 
widmeten Vorträgen,  finde  ich  mich  selbst  des  öfteren  namentlich  zitiert,  und  auch 
außerdem  muten  mich  manche  angeführte  Stellen  als  in  früheren  Zeiten  aus  meiner 
Feder  geflossen  an.  Das  kann  mich  freuen,  da  der  Verfasser  längere  Zeit  hindurch 
mich  kurzweg  abzulehnen  pflegte.  Insbesondere  finde  ich  hier  auch  fast  zum 
erstenmal,  daß  jemand  gleich  mir  einen  einleitenden  Laut-  oder  Aussprachekursus 
bestimmt  für  das  Rechte  erklärt.  Ganz  stimmen  wir  aber  doch  nicht  zusammen. 
Wenn  ich  an  gewissen,  hier  zitierten  Stellen  die  Schranken  des  Möglichen  hin- 
gezeichnet habe,  so  möchte  ich  doch  anderseits  wiederholen,  was  ich  ebenfalls 
ausgesprochen  habe:  Den  deutschen  Lehrern  der  Zukunft  muß  nicht  bloß  das 
möglich  sein,  was  denen  in  der  Vergangenheit  immer  möglich  gewesen  ist.  Und 
ernstlichere  Forderungen  an  die  Aussprache,  als  die  meisten  zu  tun  pflegen,  stelle 
ich  trotz  allem  nach  wie  vor,  namentlich  auch  je  öfter  ich  mich  mit  Ausland  und 
Ausländern  berühre,  und  je  mehr  ich  sehe,  was  doch  auch  diese  sich  darin  zumuten 
und  leisten.  Ja,  ich  möchte  hier  einen  vielleicht  überraschenden  Satz  aufstellen: 
Wer  sich  bei  einer  lebenden  Sprache  nicht  ernstlich  für  die  Eigenart  der  Lautbildung 
und  Betonung  interessiert,  wird  sich  auch  schwerlich  für  die  feineren  Seiten  der 
inneren  nationalen  Eigenart  interessieren! 

Daß  das  Französische  auf  den  Gymnasien  im  wesentlichen  Einführung  in  die 
Literatur  zum  Ziel  nehmen  und  damit  eine  mit  der  altsprachlichen  parallele  und 
ebenbürtige  Aufgabe  lösen  soll,  wird  zwar  auf  den  ersten  Blick  jedem  Gebildeten 

Monatschrift  f.  höh.  Schuien.    VIIF.  Jhrg.  8 


114     G.  Budde,  Die  Theorie  des  fremdsprachlichen  Unterrichts,  angez.  von  J.  Borbein. 

sympathisch  sein,  aber  es  ist  doch  vielleicht  ein  zu  großes  Wort  für  eine  Sache^ 
die  nach  Lage  der  Verhältnisse  dürftig  bleiben  muß,  und  ich  halte  nach  wie  vor 
eine  praktisch-sprachliche  Vorschulung  als  Zielbezeichnung  für  mindestens  ebenso 
berechtigt  —  in  dem  Gedanken  allerdings,  daß  in  dieser  Sprache  (und  möglichst 
auch  in  der  englischen)  die  Gymnasiasten  dann  ihre  weitere  Ausbildung  einschließ- 
lich der  Lektüre  selbst  suchen  sollen.  Wenn  man  philosophische  Lehrstoffe,  für 
die  Ruska  in  Heidelberg  so  lebhaft  eingetreten  ist  und  der  Verfasser  unserer  Bro- 
schüre dann  mit  ihm,  nicht  alsbald  ebenso  freudig  begrüßt  und  empfiehlt,  braucht 
man  noch  nicht  Banause  zu  sein.  Der  Versuch  wird  keineswegs  jetzt  zum  ersten- 
mal gemacht;  man  begegnete  ihm  schon  in  den  70er  Jahren  und  auch  später 
wieder.  Aber  bald  ward  wieder  Abstand  genommen,  weil  —  um  es  kurz  zu  sagen 
—  die  Primaner  dabei  eigentlich  weder  Philosophie  noch  Französisch  und  Englisch 
lernten. 

Gleichwohl  gestehe  ich  zu,  daß  namentlich  für  die  Oberrealschulen  Stoffe  von 
ganz  ernstem  Gehalt  und  bildender  Wirkung  auf  das  Gedankenleben  gewählt  werden 
müssen,  und  daß  auch  an  andern  höheren  Schulen  so  wenig  das  spielerisch  Unter- 
haltende wie  das  technisch  Praktische  überwiegen  darf.  Aber  die  Schwierig- 
keit, in  einer  lebenden  Sprache  zu  lebendiger  Spracherfassung  und  Bewältigung 
eines  tiefliegenden  Inhalts  zu  führen,  bleibt  größer  als  man  sich's  zu  denken 
scheint.  Und  eigentlich  kann  man  solche  gehaltvolle  Autoren  nur  lesen,  wenn 
man  durchaus  nicht  mehr  der  regelmäßigen  Verdeutschung  bedarf,  wenn  man  die 
innere  Anschauung  ohne  solche  (immer  fragwürdige  und  leicht  trügende)  Vermitt- 
lung gewinnt.  Es  ist  bald  gesagt,  daß  „bei  der  Übersetzung  unweigerlich  gutes 
und  fließendes  Deutsch  zu  verlangen"  sei:  einen  Schriftsteller  von  eigenem  und 
bedeutendem  Gedankengehalt  wirklich  treffend  in  eine  andere  Sprache  zu  über- 
setzen, erfordert  zugleich  ein  tiefes  Sach-  und  ein  feines,  zwiefaches  Sprachver- 
ständnis. Die  Allerbesten  sind  sich  bewußt,  es  immer  nur  unvollkommen  zu 
vermögen. 

Kurz,  ich  sehe  alle  diese  Dinge  nicht  so  einfach  wie  der  Verfasser.  Ob  daran  nur 
meine  innere  Schwerfälligkeit,  meine  ewige  Unfertigkeit  schuld  ist,  weiß  ich  nicht. 
In  Beziehung  auf  die  Verschiebung  des  Gewichtes  bei  der  akademischen  Vor- 
bildung der  neusprachlichen  Lehrer  indessen  begegnen  wir  uns.  Und  wie  ich  im 
übrigen  trotz  der  hier  angedeuteten  Zweifel  doch  der  lebendigen  Darlegung  der 
Broschüre  mit  Interesse  gefolgt  bin,  so  schlage  ich  vielen  andern  vor,  auch  ihrer- 
seits zu  lesen  —  und  nachzuprüfen. 

Berlin.  W.  Münch. 

Budde,  Gerhard,  Die  Theorie  des  fremdsprachlichen  Unterrichts  in  der 
Herbartschen  Schule.  Eine  historisch-kritische  Studie  nebst  einem  Vorschlag 
zu  einer  Neugestaltung  des  gesamten  fremdsprachlichen  Unterrichts  nach  einem 
einheitlichen  Prinzip.  Hannover  1907.  Hahnsche  Buchhandlung.  154  S.  geh.  3  M. 
Der  von  dem  Verfasser  gegebene  geschichtliche  Überblick  beweist  ebensowohl, 
daß  die  verschiedensten  Auffassungen  von  den  Zielen  und  Wegen  des  Sprachun- 
terrichtes sich  mit  den  Grundlehren    des  Herbartianismus  vertragen,    als  auch  daß 


M.  Walter,  Aneignung  und  Verarbeitung  usw.,  angez.  von  W.  Bohnhardt.        115 

keine  dieser  Auffassungen  sich  daraus  mit  Notwendigkeit  ergibt.  Dieser  Sach- 
verhalt schwächt  das  Interesse  für  den  von  Budde  gewählten  Gegenstand  doch 
ganz  erheblich  ab  und  könnte  leicht  dazu  führen,  Zweifel  an  der  Möglichkeit,  den 
fremdsprachlichen  Unterricht  überhaupt  als  notwendiges  Glied  irgendeines  päda- 
gogisch-didaktischen Systems  hinzustellen,  zu  erwecken.  Die  historische  Darstel- 
lung ist  reichlich  durchsetzt  mit  kritischen  Bemerkungen  nicht  nur,  sondern  auch 
mit  eigenen  positiven  Darlegungen  des  Verfassers;  an  manchen  Stellen  ist  es  schwer, 
beide  Bestandteile  auseinanderzuhalten.  Die  Ansichten,  welche  Budde  hier  vorträgt, 
bieten  nichts  eigentlich  Neues,  wie  er  denn  auch  oft  auf  frühere  Aufsätze  verweist 
und  sich  selbst  ausgiebig  zitiert.  Der  von  ihm  am  Schluß  gemachte  Vorschlag  läuft 
darauf  hinaus,  auf  der  Unter-  und  Mittelstufe  die  formale  Aneignung  der  Sprache, 
auf  der  Oberstufe  die  historisch-literarische  Bildung  in  den  Vordergrund  zu  stellen. 
Mit  Hinblick  auf  die  geltenden  Lehrpläne  sowohl  wie  die  jetzt  meist  übliche 
Unterrichtspraxis  kann  man  diesen  Vorschlag  nicht  wohl  ein  neues  Prinzip 
nennen. 

Altona.  Joh.  Borbein. 

Walter,  M.,  Aneignung  und  Verarbeitung  des  Wortschatzes  im  neu- 
sprachlichen  Unterricht.  Vortrag,  gehalten  auf  dem  XII.  Allgemeinen 
deutschen  Neuphilologentage  zu  München,  Pfingsten  1906.  (In  erweiterter  Form.) 
Marburg  in  Hessen.  N.  G.  Elwertsche  Verlagsbuchhandlung  1907.  Mit  Vorwort 
und  Leitsätzen.  36  S.  8^.  Geh.  0,75  M. 
Die  Einprägung  eines  zum  Verstehen,  Sprechen,  Lesen  und  Schreiben  der 
Fremdsprache  ausreichenden  Wortschatzes  ist  nach  Münch  eine  der  schwierigsten 
Aufgaben  des  Sprachunterrichts.  Ihre  Lösung  versucht  mit  großem  Geschick  und 
Erfolg  M.  Walter  in  der  vorliegenden  Broschüre  (erweiterter  Sonderabdruck  aus 
den  „Neueren  Sprachen"  Bd.  XIV.),  die  ein  würdiges  Seitenstück  und  eine  gewisse 
Ergänzung  ist  zu  dem  Vortrag  des  geschätzten  Reformers  über  „den  Gebrauch 
der  Fremdsprache  bei  der  Lektüre  in  den  Oberklassen ",  der  auf  dem  XL  Neu- 
philologentag zu  Köln  (1904)  so  berechtigten  Eindruck  gemacht  hatte.  Aus  den  Walters 
Methode  zusammenfassenden  Leitsätzen  kann  hier  nur  das  Wesentlichste  hervor- 
gehoben werden :  1.  „Im  Anfangsunterricht  insbesondere  steht  die  Einprägung  des 
Wortschatzes  in  engster  Verbindung  mit  einem  nach  sachlichen  Gesichtspunkten 
geordneten  und  der  Fassungskraft  der  Schüler  entsprechenden  Sprachstoff e. "  Der 
Kernpunkt  des  Ganzen  ist  Nr.  2:  „Die  Schüler  sind  dazu  anzuleiten,  die  Bedeu- 
tung aller  auftretenden  Wörter  und  idiomatischen  Wendungen  durch  unmittelbare 
Verknüpfung  mit  der  Handlung,  dem  Dinge  oder  Bilde  (Zeichnung  an  der 
Tafel)  oder  durch  Umschreibung  in  der  fremden  Sprache  zu  gewinnen 
oder  soweit  als  möglich  aus  dem  Zusammenhang  zu  erschließen."  (Natürlich  will 
er  neben  der  Handlung  auch  das  Gedicht,  Lied  und  einfache  Lesestück  in  An- 
wendung bringen.)  „Die  Muttersprache  ist  nur  im  Notfalle  heranzu- 
ziehen." Also  vor  allem  fehlt  das  Zwischenglied,  das  Abfragen  der  deutschen 
Bedeutung.  In  dem  dritten  Leitsatz  empfiehlt  Walter  den  am  Lesestücke  genom- 
menen Wortschatz  nach  bestimmten  formalen  und  sachlichen  Gruppen  zu  ordnen. 
Es  ist  ein  wahrer  Genuß,  ihm  in  seinen  am  französischen  Lesestoff  entwickelten 

8* 


116  F-  Knoke,  Neue  Beiträge  zu  einer  Geschichte  usw., 

Anleitungen  zu  folgen  über  die  Form,  in  welcher  die  Verbindung  zwischen  Hand- 
lung und  Wort  auf  der  Unterstufe  durchzuführen  ist.  Dankenswert  ist  auch  die 
Angabe  der  für  diese  Übungen  zur  Verfügung  stehenden  Hilfsmittel  über  Anschau- 
ung, Vokabularien  u.  dgl.  —  Die  in  München  knapp  bemessene  Zeit  verbot  die 
Erörterung  der  Leitsätze.  Das  ist  in  zweifacher  Hinsicht  sehr  zu  bedauern. 
Erstens  wäre  es  für  uns  höchst  wertvoll  und  lehrreich  gewesen,  den  dort  an- 
wesenden berufensten  Verfechter  der  Interpretation  in  fremder  Sprache,  den 
allseitig  verehrten  Prof.  Schweitzer  aus  Paris  (dem  Walter  auch  sein  Schriftchen 
widmet)  über  die  einschlägigen  Erfahrungen  sprechen  zu  hören,*)  die  er  in  seiner 
trefflichen  Methodologie  des  langues  Vivantes  (Paris,  A.  Collin)  niedergelegt  hat. 
Sodann  aber  hätte  uns  die  Stellungnahme  der  ganzen  Versammlung  interessiert, 
vor  allem  nach  der  überaus  erhitzten  Debatte,  die  der  vorangehende  Vortrag  über 
den  augenblicklichen  Stand  der  neusprachlichen  Reformbestrebungen  hervorgerufen 
hatte.  Daß  Walter  mit  seinem  ausgezeichneten  Verfahren  glänzende  Resultate  er- 
erzielt, leuchtet  ein ;  wieviele  von  uns  jedoch  nehmen  es  mit  dem  großen  Reformer 
an  Geschick  und  Ausdauer  auf?  wieviele  können  sich  eines  gleich  tüchtigen  Schüler- 
materials rühmen?  Eins  aber  steht  unwiderleglich  fest:  die  einzelnen  Neuphilologen 
mögen  der  Reform  gegenüber  einen  Standpunkt  vertreten,  welchen  sie  wollen,  alle, 
selbst  die  hartnäckigen  Anhänger  der  alten  Übersetzungsmethode  aus  der  Mutter- 
sprache in  die  fremde  werden  aus  Walters  Ausführungen  erheblichen  Nutzen  ziehen. 
Sie  lernen  es,  die  Aneignung  der  Vokabeln  für  den  Schüler  leichter  und  weniger 
langweilig  als  bisher  zu  gestalten.  Dies  Verdienst  darf  sich  der  Vortragende  mit 
Recht  zuschreiben,  und  darum  sollte  sich  jeder  Fachgenosse  die  Durcharbeitung 
der  ungemein  fesselnden  und  belehrenden  Schrift  zur  Pflicht  machen.  In  diesem 
Sinne  sehen  wir  auch  der  von  N.  G.  Elwert  angekündigten,  vielleicht  inzwischen 
veröffentlichten,  Walterschen  .Methodik  des  neusprachlichen  Unterrichts"  mit  ge- 
wisser Spannung  entgegen. 

Düsseldorf.  W.  Bohnhardt. 

Knoke,  F.,    Neue   Beiträge    zu    einer   Geschichte    der  Römerkriege   in 
Deutschland.    Mit  2  Tafeln  Abbildungen.   Berlin  1907.    Weidmannsche  Buch- 
handlung.   62  S.    80.    Geh.  2  M. 
Der   Verfasser   der   „Kriegszüge   des  Germanikus   in  Deutschland",    der   seit 
20  Jahren  unermüdlich  forschend  und  für  seine  Ansichten  kämpfend  tätig  gewesen 
ist,   wendet   sich   in   seiner   neuesten  Schrift   abermals  scharf  wider  seine  Gegner 
und   sucht   verschiedene  Punkte   seiner  früheren  Aufstellungen    neu  zu  erhärten. 
Polemik,    in    scharfem  Tone    geführt,   würde   man  wohl  lieber  missen;   aber  Ver- 
fasser selbst  gibt  nur  die  Streiche  zurück,  die  gegen  ihn  geführt  worden.    Dabei 
ist  Tatsache,  daß  die  Gegner  in  diesem  oder  jenem  Punkte  schon  nachgegeben 
haben  (z.  B.  in  der  Frage,  wo  die  Schlacht  des  Jahres  15  geschlagen  sei,  für  die 
jetzt,   nach    Knokes  Vorgang,   Baren  au  als  Schauplatz   angenommen   wird,   vgl. 
S.  62);  daraus  wird  man  entnehmen  dürfen,  daß  die  Forschungen  des  Verfassers 
alles  Anrecht  auf  Beachtung  haben. 


*)  Er  hat  dies  inzwischen  auf  der  Tagung  in  Hannover  (1908)  getan. 


angez.  von  F.  Gramer.  117 

Was  Knokes  Arbeitsweise  auszeichnet,  ist  die  Vereinigung  eines  gründlichen 
Studiums,  einer  philologisch  scharfen  Erklärung  der  antiken  literarischen  Quellen 
mit  einer  ausgebreiteten  und  immer  wieder  neu  einsetzenden  Arbeit  des  Spatens. 

Das  unbedingte  Zutrauen  in  die  Aufstellungen  der  Gegner,  wenn  sie  auch 
zum  Teil  sehr  klangvolle  Namen  aufweisen,  wird  nicht  gestärkt,  wenn  man  sieht, 
daß  sie  selbst  in  ihren  Ansichten  hin  und  her  schwanken:  so  sollte  das  von  Knoke  ent- 
deckte römische  Lager  im  Habichtswalde,  das  er  selbst  dem  Varus  zuweist,  einmal 
eine  Wallhecke  der  Forstverwaltung  sein,  dann  wurde  ein  bäuerlicher  „Zuschlagswall" 
daraus,  d.  h.  einer  der  Wälle,  welche  die  Bauern  zur  Zeit  der  Markenteilung  (in  West- 
falen) um  den  ihnen  zugeschlagenen  Teil  anlegten;  und  schließlich  wollte  man  immer- 
hin irgendeine  mittelalterliche  Befestigungsanlage  darin  erblicken.  Daß  aber  diese 
Anlage  im  Habichtswalde  tatsächlich  aus  römischer  Zeit  stammt,  hat  Knoke  nicht 
nur  durch  Gründe  bewiesen,  sondern  durch  die  in  den  letzten  Jahren  (1903—1906) 
vorgenommenen  Grabungen  vor  aller  Augen  sichtbar  hingestellt.  „Das  Ergebnis 
der  mühevollen  Arbeit",  heißt  es  S.  20,  „war  zunächst  die  Auffindung  von  meh- 
reren hundert  Scherben  der  verschiedensten  Gefäße.  DieGegenstände  waren 
über  den  gesamten  Lagerraum  verteilt.  .  .  .  Dieser  Umstand  spricht 
dafür,  daß  der  ganze  Flächenraum  von  einer  lagernden  Masse  einst  belegt  gewesen 
ist.  In  Übereinstimmung  hiermit  steht  auch  die  Auffindung  von  Holzkohlen  auf 
allen  Seiten  der  Befestigung."  Was  gefunden  wurde  (und  zwar  auf  dem  ge- 
wachsenen Boden)  ist  zum  größten  Teil  La-Tene-Ware  oder,  besser  gesagt, 
gallisch-rheinische  Provinzialware  römischer  Zeit.  Dieser  jüngsten  La-Tene-Zeit 
gehören  an  z.  B.  die  innerlich  schwarzen,  äußerlich  rotgebrannten  dünnwandigen 
Urnen*),  die  blauschwarzen  (belgischen)  Terra-nigra-Gefäße,  die  dickwandigen, 
äußerlich  ziegelroten,  innerlich  grauschwarzen  Schüsseln,  wie  sie  vom  Mont  Beu- 
vray  (Bibracte)  her  bekannt  sind.  Dazwischen  fanden  sich  auch  kleine  Gefäß- 
bruchstücke von  Ziegel-  oder  flammroter  Farbe,  die  „völlig  den  bei  Haltern  und 
in  sonstigen  römischen  Kastellen  gefundenen  Altertümern  gleicher  Gattung"  ent- 
sprechen. Linksrheinische  Provinzialware  (im  Gegensatze  zu  römisch-italienischem 
Import)  ist  übrigens  auch  bei  Oberadem,  in  der  kürzlich  von  Pastor  Prein  ent- 
deckten und  als  Aliso  angesprochenen  Kastellanlage,  zutage  gekommen. 

Wer  noch  an  der  römischen  Herkunft  des  Lagers  im  Habichtswalde  zweifeln 
will,  muß  absichtlich  seine  Augen  vor  den  Tatsachen  verschließen.  Eine  andere 
Frage  aber  ist  es,  ob  hier  nun  wirklich  gerade  ein  Lager  des  Varus 
(nach  Knoke  das  zweite  während  der  Schlacht)  wiedergefunden  ist:  Dies 
kann  m.  E.  erst  im  Zusammenhange  mit  dem  allmählichen  Fortschritt  der  Gesamt- 
anschauung von  jenen  römisch-germanischen  Kämpfen  sicher  entschieden  werden. 

Viel  weniger  deutlich  sind  bis  jetzt  Römerspuren  bei  Iburg,  wohin  Knoke 
das  erste  Varuslager  verlegt,  nachgewiesen  (S.  31);  doch  verdient  hier  wie  auch 
bei  Mehrholz  (nach  Knoke  die  Stätte  des  „Cäcinalagers")  das  Gefundene  ent- 
schieden Beachtung  (S.  32).  Wichtiger  sind  die  Ergebnisse  bezüglich  der  Moor- 
brücken zwischen  Brägel  und  Mehrholz.    Unter  den  acht  oder  neun  Bohlwegen 

*)  Im  Birkenfeldischen  werden  sie  sehr  zahlreich  angetroffen;  eine  Urne  gleicher 
Art  befindet  sich  auch  in  der  Gymnasial-Sammlung  zu  Eschweiler. 


118  Bibliothek  wertvoller  Memoiren, 

jenes  Moores  glaubt  Knoke  zwei,  die  einander  parallel  laufen,  als  unzweifelhaft 
römisch  nachgewiesen  zu  haben.  Die  Beschaffenheit  der  Anlagen,  wie  auch  die 
unmittelbar  dabei  (in  gleicher  Höhenlage)  gefundenen  Sachen,  besonders  eine 
silberne  Busennadel  von  römischer  Arbeit  und  die  zahlreichen  Scherben  von 
Gefäßen,  die  nach  K.  Koenens  Urteil  der  augusteischen  Zeit  angehören,  sind 
jedenfalls  gewichtige  Zeugnisse. 

Einen  großen  Teil  der  Schrift  hat  Verfasser  dem  Versuche  gewidmet,  seinen 
Kritikern  eine  vielfach  willkürliche  oder  unzulängliche  Erklärung  der  antiken  Qellen 
nachzuweisen.  Von  besonderem  Interesse  sind  seine  Äußerungen  über  die  bekannte 
Tacitusstelle,  in  der  zuerst  ein  (von  Germanicus  entsetztes)  „castellum  Lupiae 
adpositum"  ohne  Namensangabe  erwähnt  und  dann  vom  castellum  Aliso  mit  den 
Worten  geredet  wird:  „et  cuncta  inter  castellum  Alisonem  ac  Rhenum  novis  limitibus 
aggeribusque  permunivit."  Von  den  Anhängern  der  Gleichsetzung  Aliso  =  Haltern 
wird  die  Identität  dieser  beiden  Kastelle  naturgemäß  verfochten.  Knoke  wendet 
sich  lebhaft  dagegen;  er  macht  geltend,  daß  durch  diese  Annahme  eine  Schwierig- 
keit künstlich  geschaffen  werde,  die  gar  nicht  im  Texte  liege.  Ich  neige  jetzt  zur 
Ansicht  Knokes,  besonders  infolge  der  von  ganz  anderen  Gesichtspunkten  aus- 
gehenden Betrachtung  Ox6s  (Der  Limes  des  Tiberius.  Bonn.  Jahrb.  114,  S.  130), 
der  Aliso  im  Quellgebiet  der  Lippe  zu  suchen  geneigt  ist. 

Weniger  befreunde  ich  mich  mit  der  Ansicht  Knokes,  daß  Aliso  von  den 
Deutschen  im  Winter  9  auf  10  n.  Chr.  überhaupt  nicht  eingenommen  worden  sei: 
er  stützt  sich  u.  a.  auf  den  Ausdruck  des  Dio:  olKV  oü8'  exsivo  j^eiptuoaoOai 
T^SuvTj^vjoav,  der  Aorist  sei  hier  für  die  Auffassung  entscheidend:  ob  aber  der 
sonst  festgehaltene  Tempusunterschied  zwischen  Aorist  und  Imperfekt  noch  in 
gleicher  Schärfe  für  die  Zeit  des  Cassius  Dio  (um  200  n.  Chr.)  gilt,  würde  doch 
genauerer  Feststellung  bedürfen. 

Man  mag  aber  im  einzelnen  urteilen,  wie  man  will  (insbesondere  über  die 
Zuweisung  der  Lager,  Moorbrücken  usw.  an  bestimmte  Heerführer  und  Kriegs- 
jahre): Die  tatsächlichen  Entdeckungen  und  Feststellungen  sind  so  wichtig,  daß 
sie  ernsteste  Prüfung  aller  Forscher  verdienen;  sie  sind  auf  alle  Fälle  un- 
verächtliche Glieder  in  der  Kette  kriegsgeschichtlicher  Forschung  im  römischen 
Deutschland. 

Düsseldorf.  Franz  Gramer. 

Bibliothek  wertvoller  Memoiren.  Lebensdokumente  bedeutender  Menschen  aller 
Zeiten  und  Völker.  Herausgegeben  von  Dr.  Ernst  Schnitze.  Band  1:  Reisen 
des  Venezianers  Marco  Polo  im  13.  Jahrhundert.  Bearbeitet  von  Dr.  Hans  Lemke. 
543  Seiten,  geh.  6  M.,  geb.  7  M.  1907.  —  Band  2:  Deutsches  Bürgertum  und 
deutscher  Adel  im  16.  Jahrhundert.  Bearbeitet  von  Dr.  Max  Goos.  1907. 
Erster  Teil:  Erinnerungen  des  Stralsunder  Bürgermeisters  Bartholomäus  Sastrow. 
173  Selten,  geh.  3  M.,  geb.  4M.  Zweiter  Teil:  Erinnerungen  des  schlesischen 
Ritters  Hans  von  Schweinichen.  151  Seiten,  geh.  3  M.,  geb.  4  M.  Beide 
Teile  zusammen  in  einem  Bande  geh.  5  M.,  geb.  6  M.  1907.  —  Band  3: 
Aus    der   Dekabristenzeit.     Erinnerungen    hoher   russischer    Offiziere   von    der 


angez.  von  A.  Matthias.  119 

Militär-Revolution    des   Jahres  1825   (Jakuschkin,   Obolenski,   Wolkonski).    Be- 
arbeitet von  A.  Goldschmidt.     382  Seiten,     geh.  5  M.,   geb.  6  M.     -  Band  4: 
Die   Eroberung   von    iMexiko.      Eigenhändige   Berichte   von    Ferdinand   Cortez 
an    Kaiser    Karl   V.     Bearbeitet    von    Dr.    Ernst    Schultze.      Mit    Bildern    und 
Plänen.     1907.    645  Seiten,    geh,  6  M.  geb.  7  M.  —  Band  5:  Die  Erinnerungen 
des  Grafen  Paul  Philipp  von  Segur,   Adjutanten  Napoleons  I.    Bearbeitet  von 
Friedrich   M.  Kircheisen,    Genf  1908.    Mit  Kartenskizzen  im  Text.   472  Seiten, 
geh.  6  M.,  geb.  7  M.   —  Band  6:   Erinnerungen   aus   dem   indischen  Aufstand 
1857/58.    Von  Lady  Inglis  und  Sergeant  Forbes-Mitchell.    Bearbeitet  von  Elisa- 
beth Braunholtz,    Cambridge   1908.     Mit   Bildern    und    Plänen.     376   Seiten, 
geh.  6  M.,  geb.  7  M.  —  Band  7:  Memoiren  aus  dem  spanischen  Freiheitskampf 
1808/11  (Grolman,   Rocca,   Sherer,   Brandt,  Ducor,  Samaniego).    Bearbeitet  von 
Friedrich   M.  Kircheisen,   Genf    1908.    506   Seiten,     geh.  M.  6.,  geb.  M.  7.  — 
Band  8:   Briefe  und  Tagebuchblätter  des  Generals  Charles  Gordon  of  Khartum. 
Ausgewählt  und  übersetzt  von  Dr.  Max  Goos,  Hamburg  1908.   455  Seiten,  geh. 
6  M.,  geb.  7  M.    Hamburg,  Gutenberg-Verlag. 
Der  durch  die  deutsche  Dichter-Gedächtnisstiftung  bekannte  Dr.  E.  Schultze 
hat  sich   durch   die   Herausgabe  der   Bibliothek    wertvoller  Memoiren    ein   Ver- 
dienst erworben   —  auch  um  die  Schule  und  um  die  Belebung  des  Geschichts- 
unterrichts.   Goethe  hat  einmal  von  der  Geschichtschreibung  seiner  Zeit  gesagt, 
sie  habe   „etwas   Leichenhaftes"  und   den  „Geruch  der  Totengruft"  an.    Im  ge- 
wissen Sinne  kann  man  das  sagen  von  der  Art,  wie  heute  an  manchen  Stellen  der  Ge- 
schichtsunterricht  betrieben   wird.    Kein  Lehrgegestand  kann   so  leicht  der  Leb- 
losigkeit verfallen,  besonders  wenn  der  Gedächtnisstoff  und  das  abfragbare  Wissen 
derart  im  Vordergrunde   des  Interesses  steht,  daß  die  Vertiefung  des  Unterrichts 
dabei  zu  kurz  kommt.    Und  diese  wird  doch  nur  dann  erreicht,  wenn  der  Ge- 
schichtslehrer ähnlich  wie  der  Lehrer  des  Deutschen  die  Arbeitslust  der  Schüler 
so  erweckt,  daß  sie  daheim  guter  Lektüre  sich  widmen.    Als  mir  diese  Bibliothek 
wertvoller  Memoiren  von  Ernst  Schultze  in  die  Hand  kam,  erwachten  in  mir  alte  Er- 
innerungen  an   einen   lange   dahingeschiedenen   anregenden  Lehrer.    Wir  hatten 
Unterricht  in  der  Geographie  bei  dem  berühmten  Hermann  Guthe.    Als  wir  Asien 
durchnahmen,   machte   er  uns   immer  wieder  aufmerksam   auf  die  Reisen  Marco 
Polos,   von  denen  ein  altes  vergilbtes  Exemplar  in  der  Schülerbibliothek  sich  be- 
fand.   Wie  haben  wir  damals  geschwärmt  in  all  den  wunderbaren  Erlebnissen  und 
auch  in  den  Wundergeschichten,  die  von  dem  naiven  Glauben  des  13.  Jahrhunderts 
uns   ein   so  treues  Bild  boten!    Als  mir  die  Reisen  des  Venezianers  jetzt  in  der 
stattlichen  Ausgabe  dieser  Memoiren  wieder  in  die  Hand  kamen,   trat  es  mir  klar 
vor  Augen,   für  wie  wenig  Geld  heute  doch  Vortreffliches  geboten  wird  und  wie 
gut  es  unsere  Primaner   heutzutage  haben  vergangenen  Generationen  gegenüber. 
Auch   die  anderen   Bände   der  Memoiren  bieten  Vorzügliches.    Sie  sind  ja  nicht 
alle  geeignet  für   Schülerlektüre;   aber  vieles   wird  doch  auch  für  diesen  Zweck 
herangezogen  werden   können,  für  den  Geschichtslehrer  dagegen  wird  alles  wert- 
voll  sein.    Was   Goethe   vom  Hans  von  Schweinichen  (Band  2  der  vorliegenden 
Memoiren)   sagt,   dürfte   auch  auf  die  übrigen  Bände  des  Schultzeschen  Sammel- 
werkes anzuwenden  sein :  „Herr  von  Schweinichen  ist  ein  merkwürdiges  Geschichts- 


120         J'  Asbach,  Ludwig  Freiherr  Roth  von  Schreckenstein,  angez.  von  Kräh. 

und  Sittenbuch;  für  die  Mühe,  die  es  kostet,  es  zu  lesen,  finden  wir  uns  reichlich 
belohnt;  es  wird  für  gewisse  Zustände  eine  Symbolik  der  vollkommensten  Art. 
Es  ist  kein  Lesebuch;  aber  es  muß  gelesen  werden." 

Besonders  hervorheben  möchte  ich  noch  die  Erinnerungen  (Band  5)  des  Grafen 
Paul  Philipp  von  S6gur,  des  Adjutanten  Napoleons  I.  Die  großen  Tage,  die  jetzt 
gerade  in  hundertjähriger  Erinnerung  ihre  Auferstehung  feiern,  die  Tage  von  Auster- 
litz,  Jena,  Eylau,  Wagram  usw.  ziehen  an  uns  mit  mächtiger  Wirkung  vorüber, 
weil  der  große  Ritt  Napoleons  von  Sieg  zu  Sieg,  der  schließlich  ein  Ritt  ins 
Unglück  wurde,  kaum  aus  einem  anderen  zeitgenössischen  Buche  so  mächtig  her- 
vortritt. Meines  Wissens  ist  diese  Übersetzung  der  S^gurschen  Erinnerungen  wohl 
die  erste  in  deutscher  Sprache.  Zu  diesem  Buche  bieten  die  Memoiren  aus  dem 
spanischen  Freiheitskampfe  (Band  7)  ein  interessantes  Gegenstück.  Hier  bekommen 
wir  einen  tiefen  Einblick  in  die  gewaltig  erregte  Stimmung  des  erbitterten  spanischen 
Volkes,  das  für  seine  Unabhängigkeit  gegen  den  erbarmungslosen  Eroberer  mit 
Löwenmute  kämpfte,  wir  sehen  auch,  wie  widerwillig  im  Grunde  das  französische 
Heer  seinen  Pflichten  nachkam.  Dazu  sind  die  Persönlichkeiten,  die  uns  ihre 
Erlebnisse  schildern,  Vertreter  der  verschiedensten  Stimmungen  und  Parteistellungen, 
so  daß  wir  in  sehr  mannigfaltiger  Beleuchtung  die  Ereignisse  vor  uns  sich  abwickeln 
sehen.  Doch  der  Leser  prüfe  selbst;  es  sind  ja  keine  großen  Kosten,  die  ihm 
zugemutet  werden,  da  bei  der  vorzüglichen  Ausstattung  der  Preis  als  recht  gering 
bezeichnet  werden  kann.  Den  weiteren  Bänden  (den  Memoiren  Garibaldis,  den  Feld- 
zugserinnerungen aus  dem  österreichisch -französischen  Kriege  1809  und  aus 
dem  Tiroler  Volksaufstand  desselben  Jahres)  muß  man  mit  Spannung  ent- 
gegensehen. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Asbach,  Jul.,  Ludwig  Freiherr  Roth  von  Schreckenstein.  Ein  Lebensabriß. 
Köln  1907.    M.  Du  Mont-Schauberg.     129  S.    8«.    6  M.,  geb.  7  M. 

Mag  auch  die  eigentliche  Beurteilung  der  kurzen,  aber  schön  ausgestatteten 
Biographie,  für  die  leider  die  Quellen  späriich  geflossen  sind,  den  Fachblättern 
überiassen  bleiben,  so  dürfte  ihrer  doch  auch  in  dieser  Monatschrift  mit  Lob  zu 
gedenken  sein,  um  so  mehr,  als  sie  zeigt,  daß  auch  eine  „ungewöhnliche  Persön- 
lichkeit" der  neueren  Zeit  sehr  wohl  in  antikem  Stile  geprägt  werden  kann.  Zwar 
ist  General  von  Schreckenstein  (1789—1858)  der  heutigen  Generation  nur  wenig 
mehr  bekannt,  aber  in  den  fünfziger  Jahren  galt  er  auch  bei  Männern  wie  Roon 
als  einer  der  ausgezeichnetsten  Korpsführer  des  preußischen  Heeres,  dem  leider 
infolge  der  unglücklichen  Konvention  von  Olmütz  der  Ruhm  des  Schlachten- 
siegers versagt  blieb.  Mit  König  Friedrich  Wilhelm  IV.,  mehr  noch  mit  dem 
Prinzen  von  Preußen  und  seinem  Sohne  verband  den  ritteriich  vornehmen  und 
taktvollen  Mann  in  den  späteren  Jahren  ein  seltenes,  nicht  hoch  genug  zu  be- 
wertendes Vertrauensverhältnis.  Er  war  gewiß  auch  einer  der  frühesten  Einge- 
weihten bei  dem  Heeresreorganisationsplane  des  nachmaligen  Kaisers  Wilhelm  d.  Gr., 
und  mit  Recht  schließt  der  Verfasser:  „Auf  der  Schwelle  des  neuen  Reiches  hat 
auch  Ludwig  Roth  von  Schreckenstein  gestanden." 

Düsseldorf.  Kräh. 


K.  Schenk,  Lehrbuch  der  Geschichte  usw.,  angez.  von  F.  Marcks.  121 

Schenk,  K.,  Lehrbuch  der  Geschichte  für  höhere  Lehranstalten.  Zweite 
Auflage  gemeinsam  für  alle  Schularten  neu  bearbej^tet  von  Julius  Koch.  8°. 
IV.  Teil:  Lehraufgabe  für  Untertertia.  Leipzig  u.  Berlin  1904.  B.  G.  Teubner. 
99  S.  1,70  M.  Dasselbe:  VII.  Teil:  Lehraufgabe  für  Obersekunda.  1905. 
206  S.    2,40  M. 

Auf  die  Vorzüge  der  Schenkschen  Lehrbücher  ist  bei  früherer  Besprechung 
hingewiesen  worden.  Die  bessernde  Hand  des  Herausgebers  ist  in  beiden  Büchern 
zu  spüren:  in  dem  Lehrbuch  für  Untertertia  ist  an  vielen  Stellen  gestrichen,  um 
das  Pensum  der  Klasse  zu  entlasten.  Das  ist  zu  billigen;  denn  gerade  im  Mittel- 
alter läßt  sich  von  dem  Lehrstoff,  der  traditionell  in  der  Schule  behandelt  wird, 
manches  entbehren.  Dafür  sind  aber  einige  längere  Abschnitte  über  „das  Christen- 
tum in  den  ersten  drei  Jahrhunderten",  „die  Entstehung  des  Papsttums  und  des 
Kirchenstaates"  und  „die  Bedeutung  der  christlichen  Kirche  im  Mittelalter"  neu 
hinzugefügt  worden,  so  daß  der  Gesamtumfang  des  Textes  doch  noch  gewachsen 
ist.  Wenn  nun  auch  das  Lehrbuch  dadurch  noch  nicht  zu  umfangreich  für  das 
Schuljahr  geworden  ist,  so  hätten  doch  die  neu  eingefügten  Abschnitte  gekürzt 
werden  können.  Wie  sehr  der  Überzeugung  des  Verfassers  zuzustimmen  ist,  daß 
die  deutsche  Geschichte  des  Mittelalters  nur  dann  dem  Schüler  historisch  von  der 
richtigen  Seite  erscheinen  kann,  wenn  er  die  ungeheuere  Wirkung  der  beiden 
Faktoren,  Germanentum  und  Christentum,  in  ihrer  ganzen  Bedeutung  geradezu 
fühlen  lernt,  so  wenig  scheint  doch  die  Klassenstufe  schon  befähigt,  die  volle  Be- 
deutung der  beiden  Faktoren  zu  erfassen. 

Das  Lehrbuch  für  Obersekunda  bietet  die  alte  Geschichte  bis  zum  Untergange 
des  weströmischen  Kaiserreichs;  der  Klassenunterricht  ist  aber  nach  den  Lehr- 
plänen mit  Augustus  abzuschließen.  Die  179  Seiten,  die  bis  dahin  reichen,  bieten 
sehr  viel  Stoff,  so  daß  ich  große  Bedenken  habe,  ob  er  sich  in  der  gegebenen 
Zeit  bewältigen  läßt.  Man  nehme  z.  B.  die  Abschnitte  über  Urgeschichte,  die 
weiße  Rasse,  die  hemitischen  und  semitischen  Kulturvölker:  wieviel  steht  da  auf 
knappem  Räume,  und  wieviel  Zeit  wird  notwendig  sein,  um  dies  alles  den  Schülern 
zum  Verständnis  zu  bringen!  Der  Herausgeber  aber  weist  in  der  Vorrede  darauf  hin, 
daß  unsere  Schüler  in  Obersekunda  zum  letzten  Male  das  große  Gemälde  der 
antiken  Welt  in  einem  Zuge  an  sich  vorübergehen  lassen:  „sollte  es  ein  Fehler 
sein,  wenn  dabei  einige  Farbentöne  mehr  verwandt  werden,  als  der  erklärende 
Mentor  in  die  Beleuchtung  zu  rücken  für  gut  hält?" 

Als  Druckfehler  ist  mir  in  dem  Obersekundabuch  Burbaneschi  statt  Bunarbaschi 
(S.  24)  begegnet.  In  dem  Lehrbuch  für  Untertertia  heißt  es  fälschlich,  Thusnelda 
sei  mit  ihrem  Söhnchen  in  die  römische  Gefangenschaft  geraten;  zu  jener  Zeit 
hatte  sie  das  Kind  noch  nicht  geboren.  Für  die  Tüchtigkeit  der  germanischen 
Reiterei  wird  als  Beispiel  angeführt  (S.  8),  daß  ihrer  800  ohne  viele  Mühe  5000 
gallische  Reiter  über  den  Haufen  warfen;  der  eine  Fall  der  Art,  den  Cäsar  de 
bell.  Gall.  4,  12  erzählt,  hat  aber  doch  seine  besonderen  Umstände,  so  daß  man 
mit  ihm  nicht  exemplifizieren  darf. 

Putbus.  Friedrich  Marcks. 


122  A.  Giese,  Deutsche  Bürgerkunde,  angez.  von  E.  Stutzer. 

Giese,  A.,  Deutsche  Bürgerkunde.  Vierte  Auflage.  Leipzig  1907.  R.  Voigt- 
länder.   VIII  u.  168  S.    kl.  8«.    1,60  M. 

Unter  den  seit  etwa  15  Jahren  erschienenen  zahlreichen  „ Bürgerkunden ", 
„Staatskunden"  und  ähnlichen  Schriften  ist  die  Gieses  für  höhere  Schulen  ganz 
besonders  geeignet  (geradeso  wie  seine  in  dieser  Monatschrift  I,  S.  644  f.  an- 
gezeigt»  Kleine  Staatskunde),  natürlich  nur  insofern,  als  sie  es  allen  Lehrern  und 
einzelnen  Schülern  erleichtert,  einen  Einblick  in  das  Wesen  und  die  Bedeutung 
des  Staates,  sowie  in  die  Anfangsgründe  der  Volkswirtschaftslehre  zu  gewinnen. 
Unmittelbar  kann  das  ansprechende  Büchlein  dem  Unterrichte  in  den  Fortbildungs- 
und Fachschulen  zugrunde  gelegt  werden,  die  in  besonderen  Lehrstunden  den  von 
uns  nur  bei  Gelegenheit  zu  berücksichtigenden  Stoff  behandeln.  Giese  gliedert 
ihn  folgendermaßen:  Allgemeine  Staatslehre  (bis  S.  45),  Besondere  Staatslehre. 
A.  Das  Deutsche  Reich  (bis  S.  89).  B.  Preußen  (bis  S.  119).  C.  Die  außer- 
preußischen Staaten  (bis  S.  127),  Elemente  der  Volkswirtschaftslehre  (bis  S.  151). 
Nicht  weniger  als  73  Paragraphen  finden  sich  im  ganzen.  Durch  verschiedenen 
Druck  sind  allgemeine  und  Einzelangaben  sowie  Wichtiges  und  minder  Wichtiges 
geschieden.  Der  Anhang  enthält  die  bemerkenswertesten  Artikel  aus  der  Verfassung 
des  Deutschen  Reiches  und  Preußens. 

Nur  sehr  weniges  ist  mir  aufgefallen.  Zwischen  Ständen  im  rein  politischen 
Sinne  und  Berufsständen  —  wofür  nicht  „gesellschaftliche  Klassen"  (S.  140)  ge- 
sagt werden  kann  —  ist  S.  5  schärfer  zu  scheiden;  Verfassung  muß  §  6,  1  durch 
einen  anderen  Ausdruck  als  „Willen"  erklärt  werden.  S.  142  ist  Sozialismus  mit 
Sozialdemokratie  verwechselt.  „Kabinett",  S.  37,  und  „Utopie",  S.  45,  würde  ich 
näher  erklären  und  wenigstens  einige  allgemeine  literarische  Nachweise  geben. 

Görlitz.  E.  Stutzer. 

Loria,  G.,  Vorlesungen  über  darstellende  Geometrie.  Autorisierte,  nach  dem 
italienischen  Manuskript  bearbeitete  deutsche  Ausgabe  von  F.  Schütte.  Erster 
Teil:  Die  Darstellungsmethoden,  Mit  163  Figuren  im  Texte.  Leipzig  u.  Berlin 
1907.    B.  G.  Teubner.    XI  u.  219  S.    gr.  8«.    geb.  6,80  M. 

Für  die  Ausbildung  des  Anschauungsvermögens  der  Schüler  ist  anerkannter- 
maßen in  erster  Linie  der  Unterricht  in  der  konstruierenden  Stereometrie  von  Be- 
deutung und  in  ganz  besonderer  Weise  die  wirkliche  Durchführung  der  früher 
oft  nur  mit  Worten  angegebenen  stereometrischen  Konstruktionen,  wie  sie  in  der 
sogenannten  darstellenden  Geometrie  an  Zeichnungen  in  der  Ebene  geleistet  wird. 
Deshalb  wird  darstellende  Geometrie  in  irgendeiner  Form,  sei  es  auch  nur  als 
Kavalierperspektive,  jetzt  wohl  an  allen  höheren  Schulen  getrieben. 

Eine  eingehendere  Ausbildung  in  diesem  Zweige  der  Mathematik  war  bis 
vor  kurzem  an  den  meisten  unserer  Universitäten  nicht  möglich.  Damit  der 
Lehrer  in  privater  Arbeit  sich  aneignen  konnte,  was  er  für  den  Unterricht  brauchte, 
waren  leicht  verständliche  Lehrbücher  der  darstellenden  Geometrie  wünschenswert. 
Gegenwärtig  besitzen  wir  in  Deutschland  eine  ganze  Zahl  derartiger  Lehrbücher. 

Trotzdem  ist  das  voriiegende  Werk,  das  der  berühmte  italienische  Geometer 
Loria  für  die  im  Teubnerschen  Vertage  erscheinende  Sammlung  mathematischer 
Lehrbücher  verfaßt  hat,   keineswegs  als   überflüssig   zu   bezeichnen.     Das   Werk 


Loria,  Vorlesungen  über  darstellende  Geometrie,  angez.  von  H.  Tliieme.  123 

Lorias  unterscheidet  sich  von  anderen  Lehrbüchern  des  Gegenstandes  durch  eine 
eigenartige  Auffassung  von  der  Aufgabe  der  darstellenden  Geometrie,  durch  eine 
dementsprechende  neue  Abgrenzung  des  in  dies  Gebiet  zu  ziehenden  Stoffes  und 
durch  eine  durch  die  wissenschaftliche  Höhe  dieses  Forschers  gegebene  ebenso 
abschließend  fertige  Behandlung  wie  durchsichtig  klare  Darstellung  der  Lehren 
der  darstellenden  Geometrie. 

Loria  rechnet  im  Gegensatz  zu  der  preußischen  Prüfungsordnung  die  dar- 
stellende Geometrie  nicht  zur  angewandten  Mathematik,  er  schließt  sich  auch  nicht 
dem  Standpunkte  Fiedlers  an,  der  die  darstellende  Geometrie  mit  der  Geometrie 
der  Lage  zu  einem  großen  Ganzen  zu  verschmelzen  gesucht  hat;  er  sieht  in  ihr 
vielmehr  einen  besonderen  Zweig  der  reinen  Mathematik.  Für  ihn  ist  die  dar- 
stellende Geometrie  die  Wissenschaft,  welche  lehrt:  L  räumliche  Figuren  unter 
Benutzung  der  geometrischen  Abbildungsmethoden  durch  ebene  Figuren  in  gegen- 
seitig eindeutiger  Weise  darzustellen,  2.  mit  Hilfe  dieser  ebenen  Figuren  Auf- 
gaben, die  sich  auf  die  räumlichen  Figuren  beziehen,  zu  lösen,  3.  die  bezüglichen 
Sätze  aufzustellen.  Bei  dieser  Auffassung  ist  die  darstellende  Geometrie  eine  not- 
wendige Ergänzung  der  gewöhnlichen  Geometrie.  Richtig  zeichnen  ist  für  die 
Mathematik  ebenso  wichtig  wie  richtig  rechnen. 

Seinem  Standpunkte  gemäß  schließt  Loria  die  Theorie  der  Beleuchtung  und 
der  Schlagschatten  von  der  reinen  darstellenden  Geometrie  aus;  diese  Dinge 
rechnet  er  zur  angewandten  Mathematik.  Dagegen  hat  er  die  Photogrammetrie 
in  sein  Werk  aufgenommen;  der  Verfasser  dürfte  damit  wohl  der  erste  sein,  der 
eine  schulmäßige  Bearbeitung  dieses  jüngsten  Zweiges  der  darstellenden  Geo- 
metrie bietet. 

Der  vorliegende  erste  Teil  des  Werkes  hat  die  Darstellungsniethoden 
zum  Gegenstande;  er  ist  in  vier  Bücher  gegliedert.  Vorausgeschickt  wird  eine  kurze 
Darlegung  der  Geometrie  des  Zirkels,  die  Lösung  der  planimetrischen  Konstruktions- 
aufgaben nach  Mascheroni  allein  mit  dem  Zirkel,  und  eine  ebenso  kurze  Dar- 
stellung der  Grundbegriffe  der  Geometrographie.  Dann  folgt  im  ersten  Buche 
die  Methode  der  doppelten  Orthogonalprojektion,  der  Darstellung  der  Figuren 
durch  Grundriß  und  Aufriß,  im  zweiten  Buche  die  Methode  der  Zentralprojektion, 
im  dritten  die  Methode  der  kotierten  Ebenen,  im  vierten  die  Axonometrie  (die 
rechtwinklige,  die  schiefwinklige  und  die  Perspektive)  und  im  fünften  die  Photo- 
grammetrie. 

Nach  jeder  einzelnen  dieser  Darstellungsmethoden  werden  die  grundlegenden 
Aufgaben  gelöst.  Die  darstellende  Geometrie  wird  eben  als  stereometrische  Kon- 
struktionslehre betrachtet,  und  demgemäß  werden  die  einzelnen  Aufgaben,  zu 
denen  die  Geometrie  der  Lage  und  die  metrische  Geometrie  in  ihrer  naturgemäßen 
Entwicklung  führen,  der  Reihe  nach  für  jede  Projektionsart  gelöst. 

Vorkenntnisse  irgendwie  besonderer  Art  setzt  der  Verfasser  nicht  voraus.  Be- 
handlung und  Darstellung  der  Lehren  zeigen  aber  überall  den  Meister  geome- 
trischer Forschung.  Die  leitenden  Gesichtspunkte  und  die  allgemeinen  Methoden, 
durch  die  sich  die  Einzelprobleme  nachher  spielend  bewältigen  lassen,  werden 
herausgeschält  und   in   leicht   faßlicher  Weise  dargestellt,   in    einer  durchsichtigen 


124  Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege,  angez.  von  F.  Pfuhl. 

Klarheit,   über   die   nur  verfügt,   wer   so   hoch   über   seinem  Stoffe  steht  wie  der 
Verfasser. 

Posen.  H.  Thieme. 

Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege,  herausgegeben  von  H.  Conwentz.  Berlin 
1907.  Gebrüder  Borntraeger.  1.  Heft.  55  S.  1,50  M. 
Wie  die  Vorbemerkung  mitteilt,  werden  diese  Beiträge  die  Veröffentlichungen 
der  jüngst  ins  Leben  gerufenen  Staatlichen  Stelle  und  andere  Abhandlungen  zur 
Naturdenkmalpflege  in  sich  vereinen.  Sie  werden  in  zwanglosen  Heften  von 
wechselndem  Umfang  und  zu  verschiedenen  Preisen  erscheinen.  Des  Interesses 
der  naturwissenschaftlichen  Kreise  nicht  nur,  sondern  auch  das  vieler  Laien  werden 
diese  Beiträge  sicher  sein;  handelt  es  sich  doch  um  eine  Sache,  die  jedem,  der 
an  der  Natur  Gefallen  hat,  Herzenssache  ist.  Der  Verfasser  berichtet  zunächst  über 
die  Einrichtung  dieser  „Staatlichen  Stelle  für  Naturdenkmalpflege"  in  Preußen,  die 
einstweilen  ihren  Sitz  in  Danzig  hat,  berichtet  ferner  über  Anregungen,  die  er  zur 
Erhaltung  dieser  Denkmale  durch  Vorträge,  Reisen,  Veröffentlichungen  gegeben 
hat.  Dann  werden  örtliche  Maßnahmen  aufgeführt,  die  zum  Schutze  der  Natur- 
denkmäler getroffen  sind.  Sie  werden  nach  Provinzen  geordnet.  Es  handelt  sich 
dabei  um  Pflanzen  und  Pflanzenbestände,  wie  z.  B.  Geißblatt,  Wintergrün,  Eibe, 
dann  um  Tiergenossenschaften  (Mandelkrähe,  Pirol,  Eisvogel,  Schwarzstorch),  um 
geologische  Gebilde  (erratische  Blöcke,  Gletscherschliffe),  um  schöne  Landschafts- 
bilder. Von  Interesse  ist  es  auch,  zu  erfahren,  welche  Kosten  —  wenn  es  sich 
nicht  gerade  um  fiskalischen  Besitz  handelt  —  es  verursachen  kann,  ein  solches 
Naturdenkmal  zu  erwerben  und  in  geeigneter  Weise  zu  sichern.  Der  sogenannte 
Düppelstein,  der  nun  allerdings  mächtige  Maße  zeigt  (8,6  m;  6,7  m;  2,95  m),  hat 
eine  Summe  von  1700  M.  erfordert.  Und  das  alles  ist  durch  private  Beiträge, 
durch  Vereine,  zusammengebracht,  da  der  Staat  hierfür  Mittel  nicht  zur  Verfügung 
stellt.  Daß  auch  der  Weg  zur  Erwerbung  der  Naturdenkmale  ein  recht  langwieriger 
und  mühevoller  sein  kann,  dafür  gibt  uns  der  Verfasser  ein  Beispiel  an  dem  Zwerg- 
birkenmoor bei  Schafwedel  in  Hannover.  Die  Zwergbirke  gilt  hier  als  Relikt  aus 
der  Eiszeit,  was  allerdings  von  andern  bestritten  wird.  Über  eine  Zeit  von  mehr 
als  vier  Jahren  dehnten  sich  die  Verhandlungen  aus,  ehe  das  Gelände,  eine  1,6  ha 
große  Moorfläche,  für  3114  M.  erworben  werden  konnte.  Als  Anlagen  bringt  die 
Schrift  dann  noch  die  auf  die  Sache  bezüglichen  Verfügungen  der  betreffenden 
Ministerien.  Sieben  Abbildungen  sind  diesem  ersten  Bericht  beigegeben,  dem  hof- 
fentlich noch  recht  viel  andere  folgen  werden. 

Posen.  Fritz  Pfuhl. 

Pfeiffer,  Ernst,   Schulhygienisches  Taschenbuch   mit  Beiträgen   von   einer 
großen  Zahl    namhafter  Ärzte,   Schulärzte  und   Pädagogen,   herausgegeben  von 
Moritz  Fürst.    Mit  9  Abbildungen  im  Text  und  1  Tafel.    Hamburg  und  Leipzig 
1907.    Leopold  Voß.    384  S.    8o.   geb.  4  M. 
Das  Gebiet  der  Schulhygiene  wächst  von  Jahr  zu  Jahr,  das  Interesse  steigert 
sich  und  demgemäß  erscheinen  immer  mehr  größere  Werke  und  kleinere  Abhand- 
lungen über  schulhygienische  Fragen.    Es  wird  daher  allmählich  unmöglich,  alle 


E.  Pfeiffer,  Schulhygienisches  Taschenbuch  usw.,  angez.  von  F.  Moldenhauer.     125 

Veröffentlichungen  zu  lesen  und  zu  prüfen,  die  großen,  meist  recht  teuren  Werke 
sind  auch  nur  wenigen  zugänglich,  so  daß  schon  an  und  für  sich  ein  Buch  zu 
begrüßen  ist,  aus  dem  man  die  nötigsten  Aufschlüsse  über  solche  Fragen  rasch, 
ohne  große  Mühe  und  klar  erhalten  kann.  Dazu  l?ommt  aber  nun,  daß  die  ein- 
zelnen Abschnitte  dieses  Werkes  von  ganz  speziellen  Kennern  der  betreffenden 
Materien  bearbeitet  worden  sind.  Ich  greife  nur,  ohne  irgendwie  dadurch  einen 
der  nicht  genannten  Verfasser  als  minderwertig  zu  bezeichnen,  Namen  wie  Zeu- 
buscher-Meiningen  heraus,  der  eine  kurze  Schilderung  der  Entwicklung  der  Schul- 
hygiene und  des  Schularztwesens  in  Deutschland  und  eine  Übersicht  über  den 
Hauptinhalt  der  schulärztlichen  Verordnungen,  Instruktionen  und  Anstellungs- 
bedingungen für  Schulärzte  gibt.  Roller-Darmstadt  schreibt  über  Schulutensilien 
und  geteilte  und  ungeteilte  Schulzeit,  Stundenplan,  häusliche  Arbeiten:  Auguste 
Förster- Kassel  über  Haushaltungsunterricht.  Abel-Berlin  über  Elternabende,  Nuß- 
baum-Hannover über  die  Hygiene  des  Schulgebäudes  usw.  Das  Buch  ist  sehr 
handlich,  klar  und  übersichtlich  geordnet,  die  einzelnen  Darstellungen  sachgemäß 
und  doch  nicht  trocken  gehalten.  Es  ist  sehr  zu  wünschen,  daß  das  Taschenbuch 
in  keiner  Bibliothek,  weder  den  öffentlichen  der  Städte,  Schulen  usw.  noch  in  der 
privaten  fehlen  möge. 

Köln.  F.  Moldenhauer. 


IV.   Vermischtes. 


Oberlehrer  Dr.  Max  Georg  Schmidt  in  Marburg  schreibt  uns: 

Zum  Tode  Ernst  v.  Wildenbruchs. 

Der  frühere  Direktor  der  Franckeschen  Stiftungen,  D.  Dr.  Otto  Frick,  war 
in  seiner  Jugend  Hauslehrer  bei  dem  damaligen  preußischen  Gesandten  zu  Kon- 
stantinopel, V.  Wildenbruch.  Sein  Zögling,  Ernst  v,  Wildenbruch  widmete  sich  der 
militärischen  Laufbahn,  gab  sie  aber  bald  wieder  auf  und  bereitete  sich  am  Gym- 
nasium zu  Burg,  welches  Frick  als  Direktor  leitete,  auf  das  Abiturientenexamen 
vor.  Ein  schöner  Beweis  für  die  treue  Anhänglichkeit,  welche  der  nun  verstorbene 
große  Dichter  seinem  Jugenderzieher,  dem  großen  Pädagogen,  bewahrte,  ist  das 
folgende  Gedicht,  mit  dem  ihm  Wildenbruch  im  Jahre  1874  das  Manuskript  eines 
seiner  Werke  überreichte: 


An  alte  Zeiten  will  ich  heut  dich  mahnen, 
Laß  uns  noch  einmal  heute  Hand  in  Hand 
Rückwärts  durchmessen  unsre  Lebensbahnen, 
Folg  mir  in  unsrer  Jugend  schönes  Land. 

Siehst  du  das  Haus  am  Meeresufer  stehen? 
Siehst  du  das  gastlich  weit  erschloßne  Tor? 
Spürst  du  den  Hauch  des  Friedens  drüber 

wehen? 
Hörst  du  dort  drin  der  frohen  Stimmen  Chor? 

Und  sie,    die   ordnend  dieses  Haus   durch- 
schreitet. 
Kennst  du  die  unvergeßliche  Gestalt? 
Die  Liebe  rings  und  Segen  rings  verbreitet. 
Zur  Ehrfurcht  zwingt  mit  freundlicher  Gewalt? 

Siehst  du  die  Stube  mit  den  Arbeitstischen, 

Den  hellen  Raum,  den  Meereshauch  durch- 
rauscht? 

Kennst  du  den  Knaben  noch,  den  jugend- 
frischen. 

Der  willig  deinem  Lehrerworte  lauscht? 


Siehst  du  dich  selbst,  wie  du  in  Jugendeile 
Durchstreifst  das  alte  herrliche  Byzanz, 
Wo  aus  dem  Grab  mit  seiner  Schlangensäule 
Dir  Griechenland  ersteht  in  altem  Glanz? 

Gedenkst  du  noch  der  schönen  stolzen  Wege, 
An  Bospors  Uferbrandungen  entlang? 
An  des  Eliasbrunnens  Baumgehege, 
An  Berg  und  Tal,  an  manchen  stillen  Gang? 

Steigt  dir  empor  das  Bild  der  Mauerriesen, 
Dort  der  Hissaren  alter  Festungsring? 
Wo  du  den  Ort  dem  Knaben  einst  gewiesen, 
An  dem  Darius  iiber'n  Bospor  ging? 

Und  als  mich  da  vergangner  Zeiten  Kunde 
Zum  erstenmal  mit  tiefer  Lust  entzückt, 
War  das  vielleicht  die  erste  Weihestunde, 
Wo  Phantasie  mich  träumend  angeblickt? 

Begann  er  da  zuerst  sich  zu  entfalten, 
Der  tief  geheime  rätselvolle  Drang, 
Dem  Schöpfer  nachzubilden  die  Gestalten, 
Die  volle  Brust  zu  lösen  im  Gesang?  i 


Vermischtes. 


127 


Wie  nun  die  Jahre  voller  öder  Plage 
Mich  trüb  umfingen,  wohl  ist  dir's  bekannt, 
Bis  daß  mit  einem  gnäd'gen  Wetterschlage 
Das  Schicksal  mich  zum  rechten  Weg  gewandt. 

Und  als  ich  dann  mit  durstverzehrter  Seele 
Zum  heil'gen  Quell  der  Weisheit  heimgekehrt, 
Wer  schloß  mir  auf  Olympos'  goldne  Säle? 
Wer  hat  die  Götter  mich  versteh'n  gelehrt? 

Du  meiner  ersten  Jugend  treuer  Hüter, 
Du  warst's,  der  meine  zweite  Jugend  schuf, 
Der,  pflegend  meiner  Seele  beste  Güter, 
Mich  stark  gemacht  zum  lierrlichsten  Beruf. 

Und  jüngst,  da  ich  den  Liederkranz  gewoben, 
Den  preisend  um  das  Vaterland  ich  flocht, 
Wie  hast  die  Stimme  mächtig  du  erhoben. 
Wie  hast  du  an  der  Menschen  Ohr  gepocht ! 


Wem  Dichterworte  so  zum  Herzen  dringen. 
Der    hat   des   Lieds  geheimsten  Grund   er- 
kannt ; 
Wer  Antwort  so  dem  Dichter  weiß  zu  bringen. 
Der  wahrlich  ist  dem  Dichter  nah  verwandt. 

Den  BUck  zurückgewandt  zu  alten  Zeiten, 
Laß  uns  erneuern  nie  zerrißnen  Bund, 
Und  siehst  du  mich  den  Weg  des  Schick- 
sals schreiten. 
Sei,  Freund,  dem  Freunde  nah  mit  Herz  und 
Mund. 

Ich   seh'   nach   vorn  —  wie  viel  ist  zu  er- 
ringen ! 
Ich  seh'  zurück  —  ein  Schritt  ist  doch  getan! 
So  hoff  ich  doch  zum  Ziele  durchzudringen : 
Ich  weiß  das  Ziel  und  ich  bin  auf  der  Bahn. 


V.  Sprechsaal. 


Herr  Dr.  Heinrich  Fränkel-Halensee  schreibt: 

Herr  Direktor  Dr.  Lorentz  zwingt  mich  leider,  auf  unsere  Auseinandersetzung 
über  die  von  Herrn  Dr.  W.  Scheel  und  mir  bearbeitete  neue  Schulausgabe  von 
Wulffs  Poetischem  Hausschatz  zurückzukommen.  Er  schreibt:  »Ich  wieder- 
hole das  nicht  widerlegte  Urteil,  daß  die  früheren  Auflagen  einen  freieren 
Standpunkt  vertraten,  da  sie  Gedichte  wie  Goethes  Der  Gott  und  die  Bajadere  und 
Die  Braut  von  Korinth  enthielten."     Ich  darf  dazu  bemerken: 

1.  Eine  Beweisführung,  die  das  Urteil  über  den  »Standpunkt"  einer  umfang- 
reichen Sammlung  davon  abhängig  macht,  ob  einige  wenige  bestimmte  Gedichte 
aufgenommen  sind,  ist  unzureichend. 

2.  Die  beiden  von  Herrn  Dir.  Lorentz  wiederholt  angeführten  Goetheschen 
Gedichte  sind  nicht  etwa,  wie  er  offenbar  annimmt,  durch  Herrn  Dr.  Scheel  und 
mich  aus  dem  Hausschatz  entfernt  worden.  In  dessen  seit  1867  erschienenen 
Auflagen  (der  24.  bis  29.)  waren  sie  nicht  mehr  enthalten. 

3.  Diese  beiden  Gedichte  befinden  sich,  soviel  mir  bekannt,  in  keiner 
gegenwärtig  in  deutschen  Schulen  benutzten  Sammlung. 

4.  Daß  die  Kenntnis  der  besagten  Gedichte  „auch  für  die  heutigen  Primaner- 
Generationen  wünschenswert"  ist,  erkenne  ich  cum  grano  salis  an;  der  Primaner 
aber,  der  dafür  reif  ist,  genießt  Goethes  Gedichte  an  der  Quelle. 

5.  Der  Verlag  von  Otto  Wigand  G.  m.  b.  H.  in  Leipzig  stellt  den  Herren 
Direktoren  und  Fachmännern,  die  gegebenenfalls  die  Einführung  des  in  Rede 
stehenden  Buches  beabsichtigen,  auf  Wunsch  Exemplare  zur  Verfügung.  Wer  es 
mit  anderen  Sammlungen  vergleicht,  wird  ohne  weiteres  erkennen,  daß  der  Vorwurf 
des  Herrn  Dir.  Lorentz  nicht  begründet  ist.  Ich  verweise  der  Kürze  halber  nur 
auf  die  Aufnahme  zahlreicher  in  dem  einen  oder  andern  Sinne  einer  „freien" 
Auffassung  entsprechenden  Gedichte  von  Anzengruber,  Avenarius,  Bewer,  Bierbaum, 
Cornelius,  Dehmel,  Dingelstedt,  Falke,  Fitger,  Gilm,  Ginzkey,  Hamerling,  Hauptmann, 
Hebbel,  Henckell,  Hertz,  Herwegh,  Hesse,  Heyse,  Hoffmann  von  Fallersleben, 
Huch,  Keller,  Kurz,  Leixner,  Leuthold,  Lienhard,  Münchhausen,  Nietzsche,  Raabe, 
Rosegger,  Saar,  Salus,  Scheffel,  Schönaich-Carolath,  Spitteler,  Storm,  Strauss  und 
Torney,  Trojan,  Weber,  Wildenbruch.  Nichts  aber  ist  geeigneter  das  Lorentzsche 
Urteil  zu  widerlegen,  als  die  von  Dr.  Scheel  und  mir  gebotene  Auswahl  Goethe- 
scher Gedichte. 

Herr  Direktor  Dr.  Lorentz-Friedeberg  N.-M.  bemerkt  dazu: 

Auf  Grund  meiner  Erwiderung  im  letzten  Heft  dieser  Monatschrift  begnüge 

ich  mich  damit,  die  Kenntnisnahme  der  obigen  Zuschrift  des  Herrn  Dr.  Fränkel 

zu  bestätigen. 


I.  Abhandlungen, 


über  die  Schülerselbstmorde. 

(Erweiterte  Wiedergabe  des  auf  der   10.  Religionslehrer -Konferenz  in  Berlin 
am  14.  November  1908  gehaltenen  Berichts.) 

Das  20.  Jahrhundert  wurde,  schon  als  es  kaum  begonnen,  als  das  „Jahr- 
hundert des  Kindes'  bezeichnet.  Die  Kreise,  von  denen  das  ausging,  wählten 
diese  Bezeichnung  im  vollen  Bewußtsein  von  der  Bedeutung  ihrer  besonderen 
Tendenzen.  Es  waren  Männer  des  Sports  und  der  Technik,  der  Dichtkunst  und 
Malerei,  der  Naturwissenschaften,  Pädagogik  und  Philosophie.  Sie  alle  sind  ge- 
leitet von  dem  Schlagwort  „wer  die  Jugend  hat,  der  hat  die  Zukunft";  sie  wollen 
die  Jugend  beiderlei  Geschlechts  nach  neuen  Ideen  ausbilden  und  erziehen,  in  der 
besten  Absicht,  ein  glücklicheres  Geschlecht  zu  schaffen:  erst  die  Jugend,  danach 
das  Volk  soll  kräftiger,  frischer,  lebensfreudiger  und  künstlerischer  werden,  die  Be- 
herrschung und  Verwendung  der  Naturkräfte  im  Dienste  unserer  Kultur  soll 
mannigfaltiger,  leichter  und  gesteigerter,  der  menschliche  Intellekt  umfassender 
werden. 

Wir  wollen  hier  nicht  darüber  richten,  wie  weit  die  Verwirklichung  solcher 
Ziele  möglich  und  ratsam  ist,  wollen  auch  nicht  untersuchen,  ob  in  dieses  Pro- 
gramm der  früher  oftmals  angestellte  Versuch  aufgenommen  ist,  ohne  das  Christen- 
tum fertig  zu  werden  und  die  Sittlichkeit  auf  die  Forderungen  der  Natur  und  der 
menschlichen  Gesellschaft,  auf  Erkenntnis  und  Übereinkunft  zu  gründen.  Jeden- 
falls prägt  uns  ein  Blick  auf  die  rauhe  Wirklichkeit  nachdrücklich  die  Lehre 
ein,  daß  unserem  Geschlecht  nichts  mehr  not  tut,  als  eine  auf  fester  religiöser 
Basis  ruhende  Sittlichkeit.  Als  wir  vor  gar  nicht  langer  Zeit  in  sämtlichen 
Kollegien  die  sexuelle  Belehrung  der  Schüler  zu  behandeln  hatten,  da  wußten 
wir,  daß  dem  gar  trübe  Dinge  zugrunde  lagen.  Über  die  Verwilderung  unserer 
Jugend,  über  das  Schwinden  von  Pietät  und  Subordination  ziehen  sich  seit  Jahren 
durch  die  Tagespresse  und  Fachorgane,  durch  Gerichts-,  Synodal-  und  Parlaments- 
verhandlungen bittere  Klagen  hin.  Die  Moralstatistik  führt  erschreckende  Zahlen 
vor,  wenn  sie  von  den  jugendlichen  Verbrechern  handelt.  Aber  noch  düsterer 
scheint  das  Bild  durch  eine  andere  Erscheinung  zu  werden.  Was  in  früheren 
Zeiten  die  letzte  Zuflucht  eines  heimlichen  Verbrechers  oder  eines  verzweifelten 
Ingeniums  war,  das  verüben  jetzt  Knaben,  Mädchen  und  Jünglinge,  oft  mit  kühlster 
Überiegung  und  erstaunlicher  Berechnung  eines  ganz  bestimmten  Momentes. 

Unter  uns  Anwesenden  sind  wohl  nur  wenige,  die  sich  aus  ihrer  Jugend 
eines  Falls  von  Schülerselbstmord  erinnern.  Aber  im  Anfang  des  „Jahr- 
Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  VIII.  Jhrg.  9 


130  O-  Gerhardt, 

Hunderts  des  Kindes",  besonders  in  den  beiden  letzten  Jahren  sind  alle  Schichten 
unseres  Volks  durch  zahlreiche  und  erschreckende  Fälle  in  Aufregung  versetzt 
worden.  Die  Organe,  in  denen  die  öffentliche  Meinung  zum  Ausdruck  gelangt^ 
haben  nicht  selten  Schilderungen  entworfen,  als  ob  aus  der  Schulzucht  alle  Ver- 
nunft entwichen  wäre  und  die  „Erziehungstorheiten  der  Lehrer"  eine  ständige  Zu- 
nahme der  Selbstmorde  zur  natürlichen  Folge  hätte.  Man  verfiel  hier  in  einen 
Irrtum,  der  leider  auch  an  anderer  Stelle  begangen  worden  ist:  aus  dem  Um- 
stände, daß  tatsächlich  zahlreiche  Fälle  von  Selbstmord  ihre  unmittelbare  Ver- 
anlassung in  Vorkommnissen  des  Schullebens  hatten,  wurde  gefolgert,  daß  die 
Schule  auch  die  ganze  Schuld  an  dieser  beklagenswerten  Erscheinung  habe.*) 
Daß  hier  ein  sehr  bedeutsamer  Unterschied  zu  ziehen  ist,  wie  später  noch  dar- 
gelegt wird,  haben  indessen  auch  in  der  Tagespresse  öfters  Männer  mit  klang- 
vollem Namen  hervorgehoben  und  versucht,  das  Maß  von  Schuld  zwischen  der 
Schule,  dem  Hause  und  der  Gesellschaft  gerecht  zu  verteilen.  Vom  Jahr  1905  an 
mehrten  sich  die  Stimmen  in  den  Zeitungen  zusehends,  obwohl  ein  Umsichgreifen 
dieser  Verirrungen  der  Jugend  nicht  konstatiert  werden  konnte.  Zu  den  Schrift- 
stellern von  Beruf  kamen  jetzt  Politiker,  Ärzte  und  Pädagogen  und  beleuchteten 
diese  Vorkommnisse  nach  allen  Seiten  hin  in  Stadt-  und  Landparlament,  in  Ver- 
einen, Fachzeitschriften  und  besonderen  Broschüren;  die  höchste  Beachtung  fanden 
die  Ausführungen  Eulenburgs,  nicht  nur  wegen  der  allgemein  bekannten  Ver- 
dienste des  Verfassers  auf  dem  Gebiete  der  Schulgesundheitspflege,  sondern  auch 
weil  ihm  das  Aktenmaterial  des  Kultusministeriums  zur  Verfügung  gestellt  wurde. 
Seine  Darlegungen  und  Nachweisungen  gingen  deshalb  auch  in  die  Tageszeitungen 
über  und  wirkten  in  vieler  Hinsicht  recht  aufklärend.  Vielleicht  hat  dieser  Um- 
stand dazu  beigetragen,  daß  nunmehr  des  öfteren  auch  Pädagogen  das  Wort  er- 
griffen, um  von  ihrem  Standpunkt  aus  Angriffe  abzuwehren  und  Vorschläge  zur 
Besserung  zu  geben,  so  entstand  eine  kleine  Literatur  über  dieses  Gebiet,  die  hier 
in  aller  Kürze  vorgeführt  werde:**) 

Eulenburg,  „Selbstmorde  im  jugendlichen  Alter",  erschienen  in  der  „Umschau" 
(Wochenschrift  über  die  Fortschritte  in  Wissenschaft  und  Technik).  Frankfurt  a.  M. 
1904  (2.  Juli  und  9.  Juli). 


*)  Die  Übertreibungen  eines  nicht  geringen  Teils  unserer  Tagespresse  haben  vielleicht 
die  nachfolgende  Auslassung  des  weltbekannten  Pariser  Organs  „Les  Annales"  inspiriert. 
Im  Anschluß  an  den  Selbstmord  eines  12  jährigen  Mädchens  wird  vom  Selbstmord  unter  der 
französischen  Jugend  gesprochen;  dann  heißt  es:  »In  Deutschland  ist  es  noch  schlimmer; 
Tausende  von  Schülern  machen  ihrem  Leben  ein  Ende,  um  der  Brutalität  einer  eisernen 
Disziplin  zu  entgehen,  und  sodann  weil  ihr  Gehirn  der  schrecklichen  Masse  von  Kennt- 
nissen, die  sie  aufhäufen  ohne  zu  verdauen,  nicht  Widerstand  leisten  kann.  Das  Übermaß 
tötet  sie."  Diese  Wochenschrift  ist  nicht  nur  in  Frankreich,  sondern  in  ganz  Europa  verbreitet 
und  in  literarischer  wie  auch  sozialer  Hinsicht  ein  maßgebendes  Organ.  Nach  einer  Angabe 
in  demselben  Zusammenhange  sind  in  Frankreich  in  den  letzten  5  Jahren  1630  Schüler  und 
Schülerinnen  durch  Selbstmord  umgekommen.  (Les  Annales,  22.  November  1908,  S.  481 : 
„Suicides  d'enfants*.) 

**)  Von  allen  diesen  Schriften  ist  in  meiner  Arbeit  nur  die  zweite  Eulenburgsche  benutzt 
worden;  die  Tatsachen,  die  ich  schildere,  sind  ausnahmslos  den  Akten  entnommen;  alles 
übrige  ergab  sich  aus  diesem  Aktenmaterial. 


über  die  Schülerselbstmorde.  13| 

Derselbe,  „Schülerselbstmorde".  Vortrag  im  Berliner  Verein  für  Schulgesund- 
heitspflege  am  20.  Februar  1907,  erschienen  in  der  „Zeitschrift  für  pädagogische 
Psychologie,  Pathologie  und  Hygiene",  April  1807  (S.  1—31). 

L.  Gurlitt,  „Schülerselbstmorde".   Berlin  1908.   Concordia.   8°.    59  S.   0,50  M. 

A.  Lewinneck,  „Schülerselbstmorde  und  Elternhaus".  Königsberg  1908.  Härtung. 
8«.    30  S.    0,50  M. 

Wehnert,  „Schülerselbstmorde".    Hamburg  1908.    Schröder  &  Jeve.   8».  1  M. 

Fr.  Droop,  „Schülerselbstmorde«.   Dortmund  1908.    Ruhfus.    8".   18  S.  0,40  M. 

Gerh.  Budde  (Professor  in  Hannover),  „Schülerselbstmorde".  Hannover  1909. 
Jänecke.    8».    59  S.     1  M. 

Vgl.  auch  die  Verhandlungen  im  Reichstag  am  5.  und  am  10.  Dezember  1904 
und  im  preußischen  Abgeordnetenhause  am  19.  März  1908. 

Die  Untersuchungen  Eulenburgs  schlössen  in  der  Hauptsache  mit  dem  Jahre 
1903  ab.  Über  den  Stand  der  Dinge  in  der  nachfolgenden  Zeit  wurde  es  mir 
gütigst  gestattet,  gleichfalls  aus  dem  amtlichen  Material  des  Kultusministeriums 
genaue  Informationen  zu  schöpfen,  nicht  allein  um  der  bloßen  Statistik  willen, 
sondern  vor  allem,  um  das  Referat,  das  ich  heute  vor  Ihnen,  meine  sehr  geehrten 
Herren,  halten  darf,  in  dem  Sinn  und  Geist,  der  uns  alle  bewegt,  zu  vervoll- 
ständigen. Und  gern  erfülle  ich  auch  an  dieser  Stätte  die  Pflicht,  der  hohen  Be- 
hörde den  ehrerbietigsten  Dank  dafür  auszusprechen,  daß  sie  in  so  überaus  ent- 
gegenkommender Weise  gestattet  hat,  von  dieser  ernsten  Erscheinung  in  unserem 
gegenwärtigen  Schulleben  ein  getreues  Bild  zu  gewinnen  und  dadurch  die  Grund- 
lagen zu  weiteren  Maßnahmen  zu  bieten. 

Ehe  ich  aber  zur  Darstellung  und  Gruppierung  der  Schülerselbstmorde  über- 
gehe, möchte  ich  Ihnen  in  einem  kurzen  Rückblick  zeigen,  daß  diese  Ver- 
sündigung der  Jugend  nicht  etwa  erst  mit  den  mannigfachen  Übeln  der  Gegen- 
wart aufgetreten  ist,  sondern  schon  zur  Zeit,  als  wir  selbst  noch  Schüler  waren,  sich 
häufig  genug  ereignete.  Zu  einer  besonderen  Beruhigung  wird  es  Ihnen  ge- 
reichen, wenn  Sie  aus  einer  tabellarischen  Zusammenstellung  ersehen,  daß  unsere 
jetzige  Schülergeneration  hiervon  durchaus  nicht  schwerer  heimgesucht  wird,  als 
die  früheren  Geschlechter.  Eine  amtliche  Statistik  kann  ich  Ihnen  über  die  fast 
drei  Dezennien  umfassende  Periode  von  1880  bis  Ende  1908  vorführen  (siehe 
Tabelle  nächste  Seite). 

Das  sind  in  29  Jahren  416  (+  2)  Schülerselbstmorde  bzw.  -Selbstmordversuche; 
der  jährliche  Durchschnitt  beträgt  14,3. 

Aus  dieser  Übersicht  erkennen  wir  zunächst: 

1.  Daß  eine  regelmäßige  Zunahme  des  Selbstmords  unter  unserer 
Jugend  nicht  vorliegt,  allerdings  auch  keine  stetige  Abnahme.  Vielmehr  ist 
wiederholt  auf  ein  Sinken  der  Zahl  ein  schnelles  Ansteigen  erfolgt. 

2.  Die  Jahre  1882,  1886,  1895,  1898,  und  1904  stehen  am  günstigsten  da; 
aber  die  dazwischen  liegenden  Perioden  sind  ungleich  hinsichtlich  der  Länge  und 
des  Steigens  bzw.  Fallens  der  Ziffern. 

3.  Das  vorige  Jahr  (1908)  scheint  mit  seinen  28  Fällen  das  weitaus  höchste 
Maß  erreicht  zu  haben ;  aber  diese  Zahl  hat,  wie  bald  zu  zeigen  ist,  einen  anderen 
Wert.    Sehen   wir  von  1908  ab,   so   begegnen   wir   dem  Maximum   der   übrigen 

9* 


132 


O.  Gerhardt, 


Obersicht  über  die  von  Schülern  der  höheren  Lehranstalten  in  Preußen 
begangenen  Selbstmorde  (1880—1908). 

(Die  Schülerinnen  höherer  Lehranstalten  sind  hier  nicht  mitaufgenommen.) 


Jahr 

Zahl  der 
FäUe 

Jahr 

Zahl  der 
Fälle 

Jahr 

Zahl  der 
Fälle 

1880 

9 

1890 

11 

1900 

18 

1881 

13 

1891 

14 

1901 

18 

1882 

5 

1892 

19 

1902 

17 

1883 

17 

1893 

15 

1903 

18 

1884 

14 

1894 

18 

1904 

8 

1885 

10 

1895 

7 

1905 

16*) 

1886 

8 

1896 

11 

1906 

16 

1887 

18 

1897 

19 

1907 

19 

1888 

11 

1898 

7 

1908 

28*) 

1889 

20 

1899 

13 

28  Jahre  i.  J.  1889.  Dies  liegt  19  Jahre  zurück,  so  daß  ein  verhältnismäßig  großer 
Zeitraum  ein  erfreulicheres  Bild  aufweist  als  jenes  Jahr. 

4.  Es  muß  meines  Erachtens  hervorgehoben  werden,  daß  diese  Schülerselbst- 
morde sich  durchaus  nicht  gleichmäßig  über  die  Monarchie  verteilen,  daß  vielmehr 
eine  auffällig  große  Zahl  auf  einige  Großstädte  entfällt.  Nur  für  das  letzte  Jahr- 
zehnt: Anfang  1898  bis  Ende  1908,  habe  ich  diese  Zusammenstellung  gemacht; 
sie  hat  folgendes  Resultat  gebracht:  von  den  170  (172)  Fällen  dieses  Dezenniums 
kommen  25  auf  Berlin;  hat  man  Groß -Berlin  im  Auge,  so  entfallen  hierauf  341 
Von  den  anderen  Großstädten  sind  zu  nennen:  Magdeburg  mit  7  und  Breslau  mit 
6  Fällen.  Diese  Zahlen  sind  bei  jeder  der  genannten  Städte  bedeutend  höher, 
als  nach  der  Schülerzahl  zu  erwarten  wäre;  das  steht  aber  im  engsten  Zusammen- 
hang mit  anderen  Vorkommnissen,  die  sich  in  den  Großstädten  häufen. 

Eine  zutreffende  Würdigung  aller  Zahlen  ist  indessen  nur  möglich,  wenn  man 
den  Bestand  an  Schülern  hinzuzieht.  So  gab  es  z.  B.  1889  an  sämtlichen  höheren 
Lehranstalten  Preußens  136  908  Schüler,  aber  1907  betrug  die  Frequenz  208  170. 
Wäre  das  Verhältnis  zwischen  Schüler-Zahl  und  -Selbstmorde  auch  nur  konstant 
geblieben,  dann  hätten  wir  1907  nicht  weniger  als  30  Fälle  erlebt,  und  das  ver- 
gangene Jahr  hätte  uns  ihrer  32  gebracht. 

Da  mithin  die  bloße  zahlenmäßige  Zusammenstellung  der  Selbstmordfälle 
nicht  erkennen  läßt,  wie  die  Anzahl  in  einem  Jahre  sich  zu  dem  jedesmaligen 
Bestand  an  Schülern  verhielt,  habe  ich  eine  zweite  Tabelle  aufgestellt,  welche 
zeigt,  wieviel  Selbstmorde  in  jedem  Jahre  auf  je  100000  Schüler  ent- 
fielen.   Die  Schülerzahl   der  Jahre    1880—1906   ist  entnommen  aus  der  Gesamt- 


*)  Bei  einem  17.  Falle  (1905)  und  einem  29.  (1908)  konnte  weder  von  den  Eltern  und 
der  Schule,  noch  von  der  Polizei  und  Staatsanwaltschaft  entschieden  werden,  ob  Unfall 
oder  Selbstentleibung  vorlag. 


über  die  Schülerselbstmorde. 


133 


frequenz  des  Winter-  und  Sommerhalbjahres  und  als  das  Mittel  dieser  beiden 
Zahlen  angesetzt;  für  die  beiden  letzten  Jahre  1907  jind  1908  liegen  indessen  nur 
die  Zahlen  des  Bestandes  am  1.  Februar  vor: 


Selbstmordfälle 

Selbstmordfälle 

Jahr 

Schülerzahl 

auf 
100000  Schüler 

Jahr 

Schülerzahl 

auf 
100000  Schüler 

1880 

125  023 

7,1 

1895 

142  438 

4.9 

1881 

126  800 

10,2 

1896 

144  955 

7.5 

1882 

131  836 

3,7 

1897 

148  260 

12,8 

1883 

129  971 

13,0 

1898 

152  033 

4,6 

1884 

130  465 

10,7 

1899 

155  965 

8,3 

1885 

133  506 

7,4 

1900 

160757 

11.1 

1886 

132  640 

6,0 

1901 

166  005 

10,8 

1887 

134  784 

13,3 

1902 

172  639 

9,8 

1888 

136  317 

8,0 

1903 

179  947 

10,0 

1889 

136  908 

14,6 

1904 

188582 

4,2 

1890 

135  919 

8,0 

1905 

197  481 

8.1 

1891 

137  993 

10,1 

1906 

205  883 

7.7 

1892 

138  276 

13,7 

1907 

208  170 

9,1 

1893 

139  377 

10,7 

1908 

224  823 

12,4 

1894 

140  828 

12,7 

Wenn  man  hiernach  vergleicht,  daß  z.  B.  von  1884  zu  1885  sich  die  Schüler- 
zahl um  rund  3000,  von  1903  zu  1904  um  rund  9000  vermehrt,  dagegen  die  Zahl 
der  Selbstmorde  jedesmal  erheblich  verringert  hat,  wie  anderseits  die  Jahre  1888 
und  1889  fast  gleichstarke  Frequenzen  aufweisen  und  trotzdem  ein  erstaunliches 
Anschwellen  der  Selbstmorde,  so  wird  es  klar,  daß  dieser  traurigen  Erscheinung 
keine  Stetigkeit  der  Zunahme  oder  Abnahme  zuzuschreiben  ist. 

Wie  in  der  ersten,  so  zeigt  sich  auch  in  dieser  Tabelle  das  Jahr  1889  als  das 
unheimlichste  mit  seinem  hohen  Satz  von  14,6;  die  19  darauffolgenden 
Jahre  bis  1908  inkl.  bedeuten  dagegen  eine  Abnahme.  Das  Minimum 
von  3,7  treffen  wir  1882;  ihm  am  nächsten  stehen  die  Jahre  1895,  1898  und  1904. 

Vergleichen  wir  diejenigen  Jahre,  welche  auf  der  ersten  Tabelle  eine  gleich - 
hohe  Ziffer  aufweisen,  so  finden  wir,  daß  jedes  spätere  Jahr  unter  dieser 
einen  Schritt  zum  Besseren  darbietet:  nämlich 

1881  weist         13  Fälle  auf,  das  macht  auf  je  100000  Schüler         10,2 
1899      ,    auch  13     „,,„„„        „  »nur    8,3. 

,      ,        -        .     n        n  .  13,0 

»      ,        ,        »     .        ,  »nur    9,8. 

......  .  13,3 

.       .        .        .     r,        .  »nur  12,7 

.       .        .        .     .        .  .         .     11,1 

.  .  n  .        .  .  .  »        10,8 

.      .        .        .     .        .  .         .     10,0. 


1883 

17 

1902 

,  auch  17 

1887 

18 

1894 

„  auch  18 

1900 

.       .     18 

1901 

,   .  18 

1903 

.      .     18 

134  O.  Gerhardt, 

Endlich  das  Jahr  1908:  seine  sehr  hohe  Ziffer  (28)  verliert  doch  wenigstens 
etwas  von  ihrem  erschreckenden  Wert,  wenn  wir  jetzt  sehen,  daß  es  infolge  der 
stark  angewachsenen  Schülerzahl  noch  zurücktritt  hinter  manches  unter  den  vor- 
angegangenen Jahren,  nämlich  hinter  1883,  1887,  1889,  1892,  1894,  1897.  Immer- 
hin bleibt  die  betrübende  Tatsache,  daß  1908  in  dem  Zeitraum  der  letzten 
11  Jahre  die  höchste  Zahl  von  Schülerselbstmorden  aufweist. 

Eine  vollständige  Statistik  würde  noch  folgende  Frage  beantworten  müssen: 
ereignet  sich  der  Selbstmord  unter  den  Schülern  höherer  Lehranstalten 
seltener  oder  häufiger  als  unter  der  Gesamtbevölkerung?  Der  Erledigung 
dieser  Frage  stellen  sich  aber  außergewöhnliche  Schwierigkeiten  entgegen.  Die 
Altersgrenzen  der  Schüler,  die  sich  selbst  entleibten,  war  z.  B.  1903  nach  unten 
123/4,  nach  oben  21  Jahre,  1907  waren  es  12  und  19,  1908  aber  13  und  2OV2  Jahre. 
Nun  müßte  erstlich  die  Gesamtzahl  der  Schüler  dieser  Altersstufen  und  ebenso 
die  der  männlichen  Einwohner  Preußens  festgesetzt,  und  sodann  die  Zahlen  der 
jedesmal  entsprechenden  Selbstmordfälle  verglichen,  d.  h.  etwa  auf  den  Normalsatz 
von  100  000  geführt  werden. 

Das  Material  für  eine  solche  minutiöse  Detailuntersuchung  liegt  zurzeit  nicht 
vor.  Das  Ergebnis  dürfte  erheblich  zugunsten  der  Schule  ausfallen.  Denn  im 
Jahre  1906  z.  B.  hatten  wir  unter  100  000  unserer  Schüler  7,7  Selbstmordfälle,  aber 
unter  100  000  der  männlichen  Bevölkerung  im  Alter  von  15—20  Jahre  waren  es  17,83. 
Wenn  nun  auch  unter  jener  Zahl  sich  ein  Sextaner  von  10  Jahren  befand,  so 
bleibt  doch  eine  große  Differenz  zugunsten  der  Schule.  1905  war  der  Prozentsatz 
(d.  h.  auf  100000)  bei  den  Schülern  8,1,  wovon  2  Schüler  unter  15,  die  übrigen 
14  zwischen  15  und  20  Jahren;  der  entsprechende  Satz  bei  der  männlichen  Be- 
völkerung von  15—20  Jahren  war  aber  20,30.  Demnach  ist  man  zu  dem  Schluß 
berechtigt,  daß  unter  unseren  Schülern  der  Selbstmord  bei  weitem  nicht 
so  stark  grassiert  wie  unter  der  gleichaltrigen  Gesamtbevölkerung. 

Die  statistischen  Zusammenstellungen  schließe  ich  mit  zwei  Angaben,  deren 
ausdrückliche  Hervorhebung  im  Interesse  der  Schule  mir  verstattet  sein  wird: 

a)  Bei  31  von  diesen  170(4-2)  Schülern  waren  Gehirnkrankheiten, 
Geistesstörung  oder  erbliche  Belastung,  oft  schwerer  Art,  er- 
wiesen; daß  die  Zahl  dieser  Unglücklichen  in  Wahrheit  noch  beträcht- 
lich höher  gewesen,  ist  sehr  wahrscheinlich. 

b)  Bei  47  von  diesen  170  war  in  der  Schule  nicht  das  geringste 
geschehen,  was  mit  dem  Selbstmord  irgendwie  zusammenhing; 
vielmehr  waren  es  Schüler,  die  nicht  zurückgeblieben,  nicht  bestraft,  nicht 
gehänselt  noch  irgendwie  gekränkt  waren,  die  nicht  vor  dem  Semester- 
abschluß und  der  Versetzung  Angst  gehabt  hatten,  sondern  zum  Teil 
waren  es  Durchschnittsschüler,  zum  Teil  aber  auch  die  besten  Schüler 
ihrer  Klasse. 

Was  die  Gehirnkrankheiten  betrifft,  so  haben  zuweilen  die  Eltern,  zuweilen 
die  Schulbehörden  die  ärztlichen  Zeugnisse  darüber  erbracht,  daß  chronische  Ent- 
zündungen der  Gehirnhäute,  Eiterungen  im  Gehirn  als  Folge  von  nicht  gehobenen 
Ohrenleiden,  abnorme  Schädelbildung  infolge  schwerer  Zangengeburt  u.  dgl.  vor- 
lagen.   Die  Fälle  von  Geistesstörung  habe  ich  unter  jene  Zahl  (31)  nur  dann 


über  die  Schülerselbsttnorde.  135 

aufgenommen,  wenn  eine  solche  tatsächlich  erwieserv  war.  Eine  bloß  vermutete 
Geistesstörung  habe  ich  nicht  mit  in  Rechnung  gezogen.  Die  erbliche  Be- 
lastung bestand  in  einigen  Fällen  darin,  daß  Blutsverwandte  in  der  Aszendenz 
an  Geisteskrankheit,  Epilepsie  u.  dgl.  litten  (bei  einem  Schüler  waren  es 
nicht  weniger  als  vier  solcher  Verwandte,  ihm  selbst  war  bei  der  Geburt  der 
Schädel  zusammengedrückt  worden!),  oder  aber  darin,  daß  Blutsverwandte  von 
Vater  und  Mutter  (Brüder,  Großväter,  Vettern)  gleichfalls  durch  Selbstmord  ge- 
endet hatten,  nicht  selten  kurz  vorher.  Bei  einem  Primaner  im  vorigen  Jahre 
waren  es  sogar  drei  solcher  Verwandte,  bei  einem  Sekundaner  noch  mehr,  bei 
einem  Obersekundaner  waren  es  beide  Großeltern.  In  Wirklichkeit  wird  die  Zahl 
der  erblich  Belasteten  oder  mit  einer  sich  entwickelnden  Gehirnkrankheit  Be- 
hafteten noch  größer  sein.  Denn  öfters  heißt  es  in  dem  Berichte,  daß  die  Eltern 
des  umgekommenen  Schülers  auf  die  Anregung  des  Direktors,  jene  Möglichkeit 
festzustellen,  nicht  eingingen  —  aus  Gründen,  die  sich  wohl  begreifen  lassen.  Die 
Schicksale  dieser  31  jungen  Menschen  hätten  sich  bei  größerer  Obhut  und  Für- 
sorge ganz  anders  gestaltet. 


Man  kann  es  schwerlich  als  einen  Zufall  ansehen,  daß  die  öffentliche  Meinung 
sich  fast  nie  mit  den  Selbstmorden  der  Schüler  niederer  Anstalten  und  der 
Schülerinnen  beschäftigt,  die  doch  gleich  sehr  beklagenswert  sind,  dagegen  oft  und 
so  leidenschaftlich  mit  denen,  die  sich  an  unseren  höheren  Schulen  ereignen.  Mir 
scheint  es  vielmehr,  daß  sich  hierin  die  Überzeugung  bekundet  —  gleichviel  ob 
bewußt  oder  unbewußt  — ,  daß  die  Jugend,  die  später  zu  maßgebenden  und  ein- 
flußreichen Stellungen  im  Volk  gelangt,  von  diesen  Verirrungen  ganz  rein  bleiben 
müßte. 

Und  in  der  Tat,  der  ganze  Ernst  dieser  Vorkommnisse  wird  uns  erst  dadurch 
recht  fühlbar,  daß  wir  den  gewaltigen  Unterschied  zwischen  der  geistigen  und 
sittlichen  Atmosphäre,  in  welcher  der  Gymnasiast  lebt,  und  derjenigen,  die  andere 
gleichaltrige  Bevölkerungsklassen  umgibt,  erwägen:  junge  Kaufleute,  Subaltern- 
beamte, Lehrlinge,  Gesellen  u.  dgl.  stehen  nicht  entfernt  unter  solcher  Obhut,  Für- 
sorge und  Belehrung  wie  unsere  Schüler.  In  Anbetracht  dessen,  daß  für  die 
intellektuelle  und  ästhetische,  patriotische,  sittliche  und  religiöse  Ausbildung  und 
Erziehung  unserer  Jugend  das  Beste  erstrebt  wird,  was  die  Schule  vermag,  könnte 
man  erwarten,  daß  Selbstentleibungen  unter  Schülern  überhaupt  nicht  vorkämen. 
Und  wenn  sie  schon  zu  irgendeiner  Zeit  einzureißen  schienen,  hätte  da  nicht  alles 
geschehen  müssen,  was  eine  stetige  Abnahme  und  schließlich  ein  Aufhören  des 
Übels  herbeiführte?  So  wünschenswert  auch  die  Verwirklichung  dieses  Zieles  ist, 
erscheint  sie  doch  zunächst  noch  fraglich,  denn  die  Mächte,  die  diese  Verwüstung 
anrichten,  wurzeln  im  Zeitgeist  und  arbeiten  der  erzieherischen  Tätigkeit  der 
Schule  direkt  entgegen. 

Es  muß  aber  noch  ein  anderer  Gesichtspunkt  hervorgehoben  werden,  um  den 
Kontrast  zwischen  der  Schule  und  den  schweren  Verfehlungen  ihrer  Zöglinge  ins 
rechte  Licht  zu  setzen.  Wir  leben  in  einer  Zeit  der  Reformen:  um  das  gesamte 
Schulwesen  nach  der  Seite  des  Unterrichts  wie  auch  der  Erziehung  von  den  Ge- 


136  O.  Gerhardt, 

brechen  zu  heilen,  ist  in  den  letzten  drei  Jahrzehnten  vieles  ins  Werk  gesetzt 
worden,  oft  mit  unendlichen  Mühen  und  Opfern.  Ein  Hauptziel  war  es,  den 
Jünglingen  die  Erreichung  ihrer  Ziele  zu  erleichtern.  Daß  dies  tatsäch- 
lich erreicht  ist,  verdanken  wir  einerseits  dem  rührigen  Eifer  der  wissenschaftlichen 
Pädagogik,  welche  die  Anlage  der  Schulbücher  rationeller  und  das  Unterrichts- 
verfahren methodischer  ausgestaltete;  anderseits  einer  Reihe  besonnener  gesetz- 
licher Maßnahmen,  welche  das  Prüfungs-  und  Versetzungsverfahren  regelten 
und  besserten.  Ein  anderes  Hauptziel  war  von  den  Forderungen  nationaler  Er- 
ziehung bedingt,  und  als  Ziel  des  Unterrichts  in  deutscher  Sprache,  Literatur  und 
Geschichte  wurde  normiert,  Jünglinge  heranzubilden,  die  mit  einer  klaren  Einsicht 
deutsches  Fühlen  und  Wollen  verbanden,  Waren  hiermit  die  aktuellen  Interessen 
der  Nation  befriedigt,  so  wurden  auf  anderen  Gebieten  auch  die  aktuellen  Inter- 
essen unserer  Jugend  an  den  Errungenschaften  der  Naturwissenschaften  nach  Mög- 
lichkeit berücksichtigt.  Vor  allem  aber  galt  es  die  Körperpflege  zu  heben:  durch 
Knabenhandarbeit,  Turnen,  Turnspiele,  Wanderfahrten,  Sport  verschiedener  Art  wird 
vieles  getan,  um  die  Jugend  von  ungesunden  Bahnen  abzulenken  und  ihre  Lebens- 
freudigkeit zu  erhöhen.  Gewiß  bleibt  noch  vieles  zu  tun  übrig,  aber  sicher  haben 
alle  diese  Neuerungen  dazu  beigetragen,  das  Schulleben  gegen  früher  wesentlich 
frischer,  froher,  freier  zu  gestalten.  Und  endlich  die  Behandlung  —  ist  sie  nicht 
tatsächlich  gegen  früher  milder  und  besonnener?  Ein  Goethe  fand  noch  für  seine 
Lebenserinnerungen  kein  trefflicheres  Motto  als  einen  Grundsatz  griechischer  Pä- 
dagogik: „6  fi-Yj  Sapsk  avÖptuTTO?  ou  iraiSsusxai".  Das  war  aber  zugleich  die 
Grundanschauung  einer  ganzen  Generation  von  Deutschen,  Goethes  Epigonen 
dachten  nicht  anders,  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  hinein. 
Jedoch  das  lebende  Geschlecht  ist  von  dieser  Anschauung  weit  abgekommen: 
Heftigkeit,  Bitterkeit,  Derbheit,  Schimpfen  und  Schlagen,  das  alles  hat  aus  der 
Schule  mehr  und  mehr  weichen  und  hat  gelinderen  Mitteln  der  Zucht  und  feineren 
Formen  des  Umgangs  Platz  machen  müssen. 

Ob  diese  verschiedenen  Faktoren  unseres  Schullebens  nicht  etwas  dazu  beige- 
tragen haben,  daß  die  uns  hier  beschäftigende  Erscheinung  die  Gestalt  angenommen 
hat,  die  oben  in  den  verschiedenen  statistischen  Nachweisungen  uns  entgegentrat? 
Ich  vermag  es  nicht  zu  entscheiden.  Aber  das  ist  uns  allen  klar:  wollen  wir  die 
Mächte  bekämpfen,  die  das  Unheil  anrichten,  so  müssen  wir  sie  kennen  lernen.  Hier- 
bei handelt  es  sich  keineswegs  um  die  unmittelbaren  Veranlassungen  zu  den 
Selbstmorden.  Eulenburg  (Zeitschr.  f,  päd.  Psych  S.  8—10)  hat  daraufhin  1117 
Fälle  untersucht,  die  sich  in  den  Jahren  1883—1903  an  allen  preußischen  Schulen, 
höheren  wie  niederen  beiderlei  Geschlechts,  ereigneten,  und  faßt  sein  Urteil  folgender- 
maßen zusammen:  „Jedenfalls  also  weit  mehr  als  der  dritte  Teil  aller  Schüler- 
selbstmorde (nämlich  423  von  1117)  wurden  aus  Furcht  vor  Bestrafung  wegen 
Schulvergehen  oder  wegen  geringen  Schulerfolgs  begangen."  So  zutreffend  und 
wertvoll  auch  diese  Berechnung  ist,  so  ist  doch  diese  Formulierung  des  Urteils  zu 
knapp  und  scheint  mir  einer  Ergänzung  zu  bedürfen :  Die  Stelle,  von  welcher  bei 
diesen  423  Fällen  eine  Bestrafung  drohte,  war,  was  Eulenburg  nur  andeutet,  nicht 
immer  die  Schule,  sondern  ebenso  oft  oder  öfter  noch  das  Elternhaus,  Sodann 
lag  die  Ursache  der  Katastrophe  auch  in  anderen  Affekten  als  in  der  Furcht,  näm- 


über  die  Schülerselbstmorde.  137 

lieh  häufig  genug  in  der  Enttäuschung  und  der  Erljitterung  über  den  nicht  er- 
reichten Erfolg,  wie  auch  anderseits  in  der  Wut  über  eine  erlittene  Strafe.  Diese 
letztere  hatte  wiederum  in  zahlreichen  Fällen  mit  der  Schule  nicht  den  ge- 
ringsten Zusammenhang.  EndHch  sei  schon  hier  vorweggenommen,  daß  die 
besonders  bedauernswerten  Schüler,  die  wegen  ausgebliebenen  Erfolges  sich  das 
Leben  nahmen,  meist  unter  den  mannigfachsten  Umständen,  die  außerhalb  der 
Schule  liegen,  zu  leiden  hatten. 

Dieses  Moment  des  Strafens  und  Zurückbleibens  spielt  in  der  Tagespresse 
wie  auch  in  öffentlichen  Verhandlungen  eine  große  Rolle.  Noch  viel  mehr  aber 
ein  zweites:  wenn  Schüler  mündlich  oder  auf  einem  Zettel  oder  im  Abschiedsbrief 
die  schriftliche  Erklärung  hinterließen,  sie  seien  durch  Kränkungen,  höhnische  Be- 
handlung, Hänseleien  seitens  eines  Lehrers  in  den  Tod  getrieben  worden.  Dann 
erheben  sich  allerorten  die  bittersten  Klagen  über  die  , Prügelpädagogik"  und  die 
„Erziehungstorheiten "  der  Obedehrer,  Professoren  und  Direktoren.*)  Daß  indessen 
Bestrafung  und  Zurückbleiben  immer  vorgekommen  sind  und  auch  immer  wieder 
vorkommen  werden,  und  daß  Hänseleien,  höhnische  oder  ironische  Worte,  Krän- 
kungen mannigfacher  Art  unter  früheren  Schulgenerationen  sicher  weit  häufiger 
waren,  als  in  unseren  Zeiten,  das  bestreitet  niemand.  Es  ist  gewiß  auch  nicht 
von  der  Hand  zu  weisen,  was  in  einer  Zeitung  jemand  als  die  Meinung  aller 
nüchtern  denkenden  Männer  hinstellte,  daß  die  rauhere  Behandlung  der  Schüler 
in  vergangenen  Zeiten  eine  gesundere  war. 

In  dem  Maße,  wie  es  sich  der  Überzeugung  aller  Beteiligten  immer  deutlicher 
aufdrängte,  daß  alle  jene  „unmittelbaren  Veranlassungen"  als  hinreichende  Er- 
klärung dieser  unheimlichen  Erscheinung  nicht  betrachtet  werden  können,  und  wie 
das  scheinbare  Anwachsen  derselben  Schrecken  und  Bestürzung  in  den  weitesten 
Kreisen  hervorrief,  in  demselben  Maße  hat  man  immer  eingehendere  und  sorg- 
fältigere Untersuchungen  angestellt,  um  die  tiefer  liegenden,  oder  wie  man 
auch  gesagt,  die  prädisponierenden  Ursachen  klarzulegen.  Und  es  ist  in 
der  Tat  auch  gelungen,  bei  weitaus  dem  größten  Bruchteil  aller  Fälle  der  letzten 
Zeit  nachzuweisen,  welche  Mächte  an  den  jugendlichen  Seelen  ihre 
schändliche  Arbeit  getrieben,  die  Katastrophe  vorbereitet  und  lang- 
sam herbeigeführt  haben. 

Die  nachfolgende  Darstellung  und  Gruppierung  behandelt  eingehend  die 
104  (106)  Selbstmorde  und  Selbstmordversuche,  die  von  Schülern  höherer  Lehr- 
anstalten in  Preußen  in  den  Jahren  1903  bis  Ende  1908  begangen  wurden.  Die 
Vorkommnisse  der  vorangegangenen  Periode  von  1883  an  habe  ich,  ebenfalls  aus 
den  Akten,  nur  vergleichsweise  herangezogen;  sie  würden  an  dem  Gesamtbilde 
nichts  ändern,  nur  die  Zahlen  würden  entsprechend  größere  sein. 


*)  Auch  hierüber  hat  sich  eine  kleine  Literatur  gebildet,  bestehend  aus  .Gymnasiasten- 
Tragödien*,  .Schülertagebüchern"  und  Elegien  auf  Schülerselbstmorde  u.  dgl.  Von  den 
Werken  der  modernen  Erzählungsliteratur,  welche  die  Qualen  und  den  Verzweiflungskampf 
junger  Menschenherzen  schildern  sollen,  werden  in  Zeitungen  hervorgehoben  .Die  Budden- 
brocks'  von  Th.  Mann;  .Freund  Hein"  von  E.  Strauß  und  .Unterm  Rad"  von  H.  Hesse. 
Dieses  letztere  war  tatsächlich  die  bevorzugte  Lektüre  eines  jugendlichen  Selbstmörders 
(Oberprimaners)  vor  zwei  Jahren. 


138  O.  Gerhardt, 

A.  Als  erste  Gruppe  möchte  ich  Ihnen  diejenigen  Fälle  vorführen,  wo  die 
Knaben  und  Jünglinge  entweder  das  Opfer  des  sittlichen  Verfalls  der  Familie  wurden 
oder  in  einer  Atmosphäre  heranwuchsen,  die  den  Wert  des  Lebens  in  ständigen 
Genuß  setzt  und  sittliche  Urteilskraft,  Gewissensernst  und  Gottesfurcht  als  nichtige 
Dinge  ansieht.  Da  war  ein  Untertertianer  (14  Va  Jahr  alt),  dessen  Vater,  ein  noto- 
rischer Trinker,  mit  der  Frau  in  Ehescheidung  lag;  der  Sohn  hatte  zu  befürchten, 
er  müsse  gegen  den  eigenen  Vater  als  Zeuge  auftreten;  um  dem  zu  entgehen  und  der 
Mutter  die  um  sich  greifenden  Nahrungssorgen  zu  nehmen,  entleibte  er  sich.  Ganz 
ähnlich  lag  der  Fall  bei  einem  Sekundaner,  der  obendrein  geistig  nicht  normal  war  und 
sich  zeitweise  über  manche  Handlung  keine  Rechenschaft  zu  geben  vermochte.  Ein 
Obertertianer  (uneheliches  Kind)  war  in  geradezu  verlotterten  Familienverhältnissen 
aufgewachsen;  was  er  in  der  Nachbarschaft  sieht,  ist  das  zuchtlose  Treiben  gewisser 
Quartiere  in  den  Seestädten;  er  hat  viel  Verkehr  mit  Mädchen,  geht  nachts  wieder- 
holt aus  dem  Hause.  Als  er  nicht  versetzt  wurde,  brachte  er  sich,  nachdem  er 
eine  Verfluchung  seines  Religionslehrers  zu  Papier  geworfen,  einen  tödlichen 
Schuß  bei;  noch  lebend  nach  Hause  transportiert,  empfängt  ihn  die  Mutter  mit 
den  Worten:  „Es  ist  wohl  am  besten  so,"  dann  stirbt  er.  — 

Was  für  Anschauungen  über  den  Wert  einer  sittlichen  Lebensführung  gewinnt 
der  Sohn,  dem  der  eigene  Vater  bei  den  sich  häufenden  Klagen  des  Direktors 
über  Unfleiß  und  Unordnung  sagt:  „Junge,  an  deiner  Stelle  schösse  ich  mir  eine 
Kugel  durch  den  Kopf."  Kann  es  verwundern,  daß  dieser  Sohn  (Sekundaner) 
seinen  Klassengenossen  erzählte,  er  werde  es  schon  so  machen,  wenn  er  das 
„Einjährige"  nicht  erhielte?  Und  er  hielt  Wort.  —  Oder  wenn  in  einem  andern 
Hause  der  Selbstmord  fast  zur  Familientradition  gehört:  Mehrere  Verwandte  von 
Vater  und  Mutter  sind  auf  diese  Weise  aus  der  Welt  geschieden,  der  Selbstmord 
ist  ein  nicht  seltenes  Gespräch  und  findet  die  mildeste  Beurteilung  bei  allen  Familien- 
mitgliedern. Der  einzige  Sohn  hat  als  Obersekundaner  längst  seinen  Plan  gefaßt 
und  auch  in  der  Klasse  kundgegeben.  Als  die  Versetzung  nach  Prima  aussichtslos 
war,  schlägt  er  in  der  letzten  Schulwoche  einen  wüsten  Lebenswandel  ein  und  er- 
schießt sich  am  Tage  des  Schulschlusses,  dem  Geburtstage  der  Mutter  (1903). 

Was  mögen  das  für  Verhältnisse  gewesen  sein,  wenn  die  Eltern  die  Nach- 
richt vom  Schreckensende  des  Sohnes  mit  Worten  aufnahmen:  „Gott  sei  Dank, 
daß  er  fort  ist;  es  ist  gut,  daß  er  geendet  hat,  ohne  vorher  zum  Verbrecher  zu 
werden."  —  Oder  wenn  beide  Eltern  die  Nachricht,  ihr  einziger  Sohn  (Untersekun- 
daner) habe  sich  in  der  Schule  zn  erschießen  versucht,  ohne  die  geringste  Spur 
von  Schrecken  hinnehmen,  nicht  einmal  nach  dem  Ergehen  des  Kindes  fragen, 
sondern  beklagen,  daß  ihr  Sohn  solche  Dummheiten  mache  und  doch  mit  dem 
Tesching  nicht  umgehen  könne!  —  Füge  ich  hier  noch  Fälle  an  wie  die,  wo  ein 
Sohn,  der  vor  der  Ehe  geboren,  aber  vom  Vater  nicht  adoptiert  war,  sondern  den 
Namen  der  Mutter  führen  und  die  härteste  Behandlung,  ja  Mißachtung  vom  Vater 
erdulden  mußte,  —  oder  wo  der  Sohn  als  Obertertianer  bzw.  Untersekundaner  vom 
Vater  bald  über  alle  geschlechtlichen  Vorkommnisse  des  Großstadtlebens  aufgeklärt, 
bald  andererseits  von  ebendemselben  wiederholt  am  Tage  auf  offener  Straße  mit 
dem  Stocke  geprügelt  wurde,  so  dürften  diese  Angaben,  so  kurz  sie  sind,  doch 
deutlich  erkennen  lassen,  was  in  der  Seele  dieser  jungen  Menschen  sich  entwickelte. 


über  die  Schülerselbstmorde.  139 

Von  fünf  anderen  Beispielen  sei  nur  angeführt,  daß  die  Schüler  als  Opfer  einer 
fast  unsinnigen  Vergnügungssucht  bzw.  Alkohol-  und  Nikotingenusses  endeten. 
Von  den  104  Schülern,  die  in  den  letzten  acht  Jahren  sich  selbst  umgebracht  oder 
umzubringen  versucht  haben,  fällt  bei  dem  sechsten  Teil  (nämlich  18  von  104) 
die  Schuld  der  Stätte  zur  Last,  die  auf  die  Charakterbildung  den  stärksten  Ein- 
fluß auszuüben  berufen  ist.  Die  Jugend  braucht  lebendige  Vorbilder;  wenn  sich 
der  Seele  des  heranwachsenden  Knaben  ein  reines  Vorbild  da  zeigt,  wo  Ehrfurcht 
und  Liebe  die  Bildung  des  Willens  leiten,  das  heißt  im  Elternhause,  dann  ist  der 
innere  Mensch  gefestigt  und  geschützt  gegen  die  Verführung  und  die  Unbill  des 
Lebens.  Wenn  aber  diese  Stätte  so  ganz  versagt,  wie  kann  die  Schule  dagegen 
ankämpfen?  In  weitaus  dem  größten  Bruchteil  der  hier  genannten  Fälle  wußte 
kein  Lehrer  das  geringste  von  den  verderblichen  Lebensverhältnissen  seines  Zög- 
lings —  erst  nach  dem  Schreckensende  entrollte  sich  Zug  um  Zug  das  trübe  Bild. 

B.  Eine  schwere  Schuld  hatte  auch  das  Elternhaus  auf  sich  geladen,  wenn 
es  den  Sohn  jahrelang  jene  Schundliteratur  verschlingen  ließ,  die  sich,  Gott  sei's 
geklagt,  immer  noch  allerorten  breit  macht.  Diese  elenden  Hefte  schaden  bekannt- 
lich schon,  wenn  sie  gar  nicht  gelesen  werden;  denn  der  Inhalt  der  Deckel -Illu- 
strationen läßt  sich  in  der  Hauptsache  in  drei  Worten  zusammenfassen:  Wollust, 
Mord  und  Selbstmord.  Ob  nicht  ein  solches  Bild  einem  Tertianer  vorgeschwebt 
hat,  der  vor  nicht  langer  Zeit  Hand  an  sich  legte,  nachdem  er  sich  selbst  gezeichnet 
hatte,  wie  er  den  Revolver  an  seine  Schläfe  hielt?  Geradezu  entsetzliches  Unheil 
aber  haben  diese  Schriften  im  folgenden  Falle  angerichtet:  Ein  Untertertianer  hatte 
sie  massenhaft  verschlungen,  alle  darin  geschilderten  Schauderszenen,  besonders 
wenn  Blut  floß,  hatte  er  sich  durch  Bleistiftstriche  angemerkt  und  vermutlich  mehr- 
fach gelesen;  nach  einem  solchen  Heft  hatte  er  zuerst  eine  Brandstiftung  ange- 
zettelt, die  indessen  rechtzeitig  vereitelt  wurde;  nach  einem  anderen  inszenierte  er 
eine  Schießaffäre,  mit  der  er  gleichfalls  kein  Glück  hatte.  Endlich  verfiel  er  auf 
Selbstmordgedanken,  er  sprach  sie  unumwunden  zu  Hause  aus  gegen  die  Geschwister, 
dann  gegen  die  Mutter,  und  in  der  Klasse  prahlte  er  förmlich  damit  —  er  wollte 
durchaus,  wie  die  amerikanischen  Helden  seiner  Bücher,  etwas  bedeuten.  Dieb- 
stähle hatte  er  daheim  schon  mehrfach  begangen;  schließlich  entwendete  er  eines 
Abends  wieder  Geld,  und  da  er  morgens  merkte,  daß  es  bald  entdeckt  sei,  erschoß 
er  sich  während  des  Vormittagsunterrichts  in  seiner  Klasse;    er  war  13  Jahre  alt. 

Ist  es  angesichts  solchen  Elends  nicht  höchste  Zeit,  daß  mit  diesen  Preß- 
produkten radikal  aufgeräumt  wird?  Unter  dem  Einfluß  solcher  Schriften  handelte 
wahrscheinlich  ein  Sekundaner,  der  sich  in  der  Schule  tadellos  hielt,  aber  daheim 
ein  Verhältnis  mit  der  Stütze  seiner  Mutter  hatte;  eines  Tags  veranlaßte  er  das 
Mädchen  durch  ein  gefälschtes  Telegramm,  nach  der  Heimat  zu  fahren;  in  der 
Nachbarstadt  trafen  sie  zusammen,  verbrachten  die  Nacht  gemeinschaftlich  im 
Hotel,  und  am  Morgen  fand  man  sie  beide  erschossen  auf  dem  Sofa. 

Aber  erheblich  zahlreicher  sind  die  Beispiele,  wo  eine  Lektüre  ganz  anderer 
Art  Herz  und  Gemüt  vergiftet  und  die  Selbstmordpläne  langsam  aber  folgerecht  zur 
Reife  gebracht  hat:  Schopenhauer,  Nietzsche,  Dühring;  Darwin;  Tolstoi,  Ibsen,  Zola; 
von  diesen  kehren  drei  immer  wieder:  Ibsen,  Schopenhauer  und  Nietzsche;  die  anderen 
seltener,  einmal  auch  Häckel.  Es  ist  auf  Grund  der  Aussagen  von  Eltern,  Geschwistern 


140  O.  Gerhardt, 

und  Kameraden,  Ärzten,  Geistlichen,  Pensionshaltern,  Lehrern  und  Direktoren,  in 
einem  Fall  auch  von  einem  Rabbiner  und  in  zwei  Fällen  von  Rechtsanwälten  erwie- 
sene Tatsache,  daß  diese  Autoren  gar  vielen  Sekundanern  und  Primanern,  auch  drei 
Tertianern,  den  Kopf  gründlich  verdreht  haben.  Durch  anhaltendes,  hier  und  da  auch 
gemeinschaftlich  betriebenes  Lesen  solcher  Schriften  haben  sie  sich  mit  den  be- 
kannten Schlagwörtern  des  Atheismus  und  Pessimismus  von  der  Wertlosigkeit  des 
menschhchen  Dasein  angefüllt;*)  nicht  selten  haben  sie  sich  ihres  aufgeklärten 
Standpunktes  gerühmt,  und  die  erste  beste  Gelegenheit  fand  sie  bereit,  mit  einem 
gesuchten  6clat  aus  der  Welt  zu  scheiden.  Meine  sehr  geehrten  Herren,  bei  dem 
achten  Teil  aller  Selbstmörder  unserer  höheren  Schulen  in  den  lezten 
acht  Jahren  ist  diese  unglückselige  Entwicklung  nach  den  aktenmäßigen  Dar- 
legungen klargestellt.  In  Wirklichkeit  wird  dieser  Bruchteil  noch  größer  sein,  denn 
bei  mehreren  anderen  Schülern,  die  weder  in  der  Schule  noch  zu  Haus  sich  irgend- 
wie vergangen  hatten,  fanden  Angehörige  wie  Lehrer  keine  andere  Erklärung  für 
das  Unglück  als  schlechte  Lektüre  oder  das  böse  Beispiel. 

Es  entspricht  der  Bedeutung  unserer  heutigen  Versammlung,  daß  Sie  von 
solchen  Verwirrungen  einige  näher  kennen  lernen.  Da  ist  ein  Untersekundaner, 
der  bis  zu  dieser  Stufe  alle  Klassen  glatt  durchgemacht  und  nie  zu  Klagen  Anlaß 
gegeben  hat;  nun  verfällt  er  auf  Tolstoi,  Darwin,  „die  religiösen  Strömungen  der 
Gegenwart";  die  Volksbibliothek  liefert  ihm  diese  und  andere  Schriften,  die  er 
nachts  verschlingt,  ohne  daß  die  Pensionshalter  es  ihm  wehren.  In  einigen 
Monaten  ist  er  so  weit,  daß  er  zu  seinen  Mitschülern  sagt  „mir  ist  bange  vor  der 
Zukunft;"  endlich  bringt  er  sich,  ohne  daß  etwas  Besonderes  dazu  kam,  den 
tödlichen  Schuß  bei,  am  Abend  vor  dem  Tage,  wo  ihn  die  Eltern  besuchen 
wollten.  —  Ein  Gymnasiast  hat  sich  fleißig  und  tadellos  gehalten  bis  zur  Oberprima, 
seine  Aussichten  für  die  bevorstehende  Reifeprüfung  sind  recht  gut.  Aber  innerlich 
hat  er  Schiffbruch  gelitten,  seinen  Freunden  hat  er  es  gestanden,  daß  er  sich 
„zur  atheistischen  und  nihilistischen  Anschauung  durchgerungen"  habe.  An  dem 
Tage,  wo  das  Mädchen,  mit  dem  der  20  Va  Jahre  alte  Jüngling  ein  Liebesverhältnis 
hat,  ein  Kind  gebiert,  macht  er  schnell  seinem  Leben  ein  Ende.  --  In  der  Hinterlassen- 
schaft eines  Primaners  fanden  sich  lange  Aphorismen  über  den  Selbstmord,  die 
er  aus  den  Schriften  Schopenhauers,  Nietzsches  und  Dührings  sich  ausgezogen 
und  zu  Papier  gebracht  hatte.  Ein  anderer  Primaner  hatte  sich  entsprechende 
Glossen  amRand  derSchriften  der  nämlichen  Autoren  gemacht.  Im  letzten  Falle  hatten 
Lehrer  wie  Direktor  alles  versucht,  um  den  jungen  Mann  von  der  weiteren  Lektüre 
abzubringen,  aber  umsonst.  Zwischen  ihm  und  dem  Vater  herrschte  ein  gespanntes 
Verhältnis:  er  sollte  Jura  studieren  und  wollte  nicht.  Als  nun  der  Vater  versetzt 
wurde   und   dem  Sohne  Vorwürfe   machte,   daß   er   nicht  fleißiger  gewesen   und 


*)  Was  für  Anschauungen  die  Lektüre  von  Nietzsche  und  Ibsen  hervorgerufen,  sei  aus 
dem  Abschiedsbrief  eines  Unterprimaners  an  seinen  Vater  veranschaulicht:  „Dummen,  kindi- 
schen Ideen  über  mich  selbst  habe  ich,  wie  du  wohl  meintest,  mich  leider  nie  hingegeben, 
sondern  ich  habe  nur  allzuklar  mich  selbst  und  mein  Wesen  beurteilt.  Das  Resultat  meines 
jahrelangen  Selbstprüfens  war  ein  verzweifeltes.  Ich  bin  ein  Mensch  ohne  jede  Kraft  aktiver 
oder  auch  passiver  Art,  ein  Mensch,  der  nicht  in  die  Welt  paßt ....  Sucht  schnell  zu  ver- 
gessen und  betrachtet  mein  Leben  als  eine  unangenehme  Episode  des  Eurigen." 


über  die  Schülerseibstmorde.  141 

schon  das  Abiturium  hinter  sich  hätte,  da  versucht^  der  junge  Mann  sich  zu 
töten,  es  gelang  aber  nicht,  und  in  dauernd  unglücklichem  Zustand  blieb  er 
am  Leben. 

Daß  auch  die  Zeitungslektüre  oft  Unsegen  nach  sich  zieht,  haben  Eltern, 
Ordinarien  und  Religionslehrer  öfters  konstatiert,  1908  allein  zweimal.  Von  den 
letzteren  berichtete  einer,  daß  ihn  bei  der  Erklärung  der  Bergpredigt  die  älteren 
Schüler  seiner  Klasse  (Jünglinge  von  16  und  17  Jahren)  aus  eigenem  Antriebe 
um  Aufklärung  über  den  Selbstmord  ersuchten;  sie  gestanden,  daß  sie  ihn  in 
gewissen  Lagen  des  Lebens  (bei  unheilbaren  Krankheiten,  Verlust  der  Existenz- 
mittel oder  schwerer  Kränkung  der  Ehre)  für  selbstverständlich  hielten, 
und  bekannten,  daß  sie  solche  Anschauungen  in  den  Zeitungen  oft  zu  lesen  be- 
kämen. Und  wer  kann  das  letztere  leugnen?  Wird  da  nicht  oft  ein  solcher  Vor- 
fall mit  allen  Details  geschildert,  nach  der  Lage  der  Verhältnisse  als  berechtigt 
hingestellt,  und  wenn  es  ein  großer  Mann  war,  der  heroische  Entschluß  oben- 
drein noch  gepriesen!  Was  nun  gar  die  Schülerselbstmorde  betrifft,  so  hat  sich 
ein  nicht  unbedeutender  Teil  der  Presse  dazu  hinreißen  lassen,  die  angeblichen 
Opfer  einer  „unsinnigen  Pädagogik"  in  Schutz  zu  nehmen,  „die  schicksal- 
bestimmende Disziplinargewalt"  der  Schulen  als  drückendes  Joch  zu  schildern  und 
zu  zeigen,  daß,  wenn  „ein  junger  Mensch  in  völliger  Schutzlosigkeit  zum  Revolver 
greift,  die  größte  Hälfte  der  Schuld  immer  der  Schule  zufällt.*  Auf  Grund  des 
Aktenmaterials  muß  ich  aber  ausdrücklich  hervorheben,  daß  den  Zeitungen  zumeist 
einseitige  oder  übertriebene  Meldungen,  einige  Male  sogar  von  den  Angehörigen 
des  Verunglückten  direkte  Unwahrheiten  zugegangen  waren.  Es  würde  der  Be- 
deutung und  dem  Ansehen  der  Presse  nicht  minder  wie  dem  Wohle  der  Schule 
und  der  Jugend  entsprechen,  wenn  hier  große  Zurückhaltung  beobachtet  wird. 
Daß  solche  Mißgriffe  tatsächlich  Unheil  angestiftet,  d.  h.  andere  Schüler  —  in  einem 
Falle  sogar  einen  Quartaner  —  zu  dieser  Schändlichkeit  verleitet  haben,  ist  früher 
schon  konstatiert  worden,  zum  letzten  Male  im  vergangenen  Sommer.  Hier  war 
eine  ganze  Gruppe  von  Schülern  durch  die  Zeitungsschüderungen  eines  bestimmten 
Falles  verführt  worden,  sich  Selbstmordpläne  für  den  Tag  des  Schulschlusses  zurecht- 
zulegen ;  als  einer  von  ihnen  aber  schon  vor  dieser  Zeit  den  Plan  auszuführen  ver- 
suchte, kam  zum  Glück  alles  an  den  Tag,  und  es  wurden  alle  bewahrt.  —  In  einer 
Provinzialstadt  erschoß  sich  ein  Obersekundaner,  der  eine  wüste  Vergangenheit  hinter 
sich  hatte:  Diebstahl  im  Elternhause  wie  in  der  Pension,  Kneipereien,  Schulden,  die 
niemand  mehr  decken  mochte,  sexuelle  Geschichten;  im  Abschiedsbrief  schob  er  die 
Schuld  seines  Unglücks  auf  die  Schikanierungen  des  Direktors.  Und  nun  begann  gegen 
letzteren  eine  schlimme  Hetze  in  den  Zeitungen.  Die  Untersuchung  ergab  u.  a.,  daß 
ganze  Gruppen  der  oberen  Klassen  schlechte  Lektüre  betrieben  und  sich  gerühmt 
hatten,  „über  das  Christentum  sind  wir  erhaben."  Einer  dieser  Verführten,  der  trotz 
ärztlichen  Verbots  täglich  36  Zigaretten  geraucht  hatte,  bis  ihm  das  Nikotingift 
aus  dem  Magen  gepumpt  werden  mußte  (gleich  darauf  trank  er  5  Glas  Bier!) 
betrieb  eine  förmliche  Aufstachelung  zum  Selbstmord.  Zu  einem  Nachbar  sagte 
er:  „Wenn  sich  jetzt  noch  einer  hier  das  Leben  nimmt,  so  kann  das  dem  Direktor 
den  Hals  kosten;  tu  du's  doch,  dann  sind  wir  frei."  Hier  herrschte  eine  derartige 
Gefühllosigkeit,  daß,  obwohl  alle  Mitschüler  seine  Selbstmordpläne  kannten,  auch 


142  O.  Gerhardt, 

nicht  ein  einziger  einem  Lehrer  ein  Wörtchen  sagte,  wodurch   das  Unglück  ver- 
hütet werden  konnte.    Erst  nach  dem  Unglück  kam  alles  an  den  Tag. 

Eine  Aufstachelung  zur  Selbstentleibung  hatte  sich  auch  anderwärts  einmal 
ereignet,  allerdings  unter  anderen  Verhältnissen,  aber  mit  gleichem  Ausgang 
wie  hier. 

C.  Ist  dies,  wie  ich  ausdrücklich  hervorheben  möchte,  auch  nur  zweimal 
im  ganzen  Zeitraum  konstatiert  worden,  so  ist  doch  anderseits  die  ansteckende 
Wirkung  des  Selbstmords  innerhalb  der  Schülerwelt  leider  sehr  viel  öfter  vorge- 
kommen. Außer  den  genannten  sind  hier  diejenigen  Fälle  zu  nennen,  wo  die  jungen 
Leute  dem  Beispiel  ihrer  Vettern,  Onkel  oder  Großväter  gefolgt  sind,  ferner  die 
vielen  Gymnasiasten,  welche  die  Waffe  oder  das  todbringende  Gift  stets  bei  sich 
trugen.  An  einer  Anstalt  wurde  einst  ein  Primaner  bei  einem  Täuschungsversuch 
abgefaßt;  als  er  deswegen,  trotz  seines  Alters,  vom  Vater  eine  körperlicheZüchtigung 
erhielt,  schied  er  freiwillig  aus  dem  Leben.  Knapp  vier  Monate  später  hatte 
einer  seiner  Mitschüler  etwas  Ähnliches  zu  erfahren,  nur  war  dieser  letztere  an  der- 
selben Anstalt  einer  der  besten  Schüler,  den  Leistungen  wie  dem  Betragen  nach. 
Aber  als  er  in  einem  Konflikt  mit  dem  Vater  von  letzterem  eine  Ohrfeige  erhielt, 
schlug  er  denselben  Weg  wie  kurz  vorher  der  Kamerad.  —  In  einer  kleinen 
Gymnasialstadt  folgte  ein  Sekundaner,  der  sich  der  Fälschung,  Täuschung  und 
Lüge  schuldig  gemacht,  und  vom  Vater  eine  maßlose  Züchtigung  erhalten  hatte, 
seinem  Freunde,  der  in  der  Rangordnung  und  der  Weihnachtszensur  eine  Un- 
gerechtigkeit empfand,  im  Tode  —  zwischen  beiden  Unfällen  lagen  nur  drei  Monate. 
An  einer  dritten  Anstalt  folgte  auf  einen  Selbstmord  ein  zweiter  schon  nach  fünf 
Tagen;  wieder  in  einer  vierten  kleineren  Stadt  nach  einem  Monat.  Im  letzten  Falle 
handelte  es  sich  um  zwei  Tertianer,  die  überaltert  waren  und  nicht  nach  der  Sekunda 
versetzt  werden  konnten.  Bei  dem  ersten  lagen  verschiedene  Dinge  vor:  ver- 
eiteltes Liebesverhältnis;  Furcht  vor  Schwindsucht,  an  der  die  Mutter  gestorben 
war;  ungünstiges  Verhältnis  zur  Stiefmutter,  Irreligiosität  (er  rühmte  sich,  nicht 
einmal  die  zehn  Gebote  zu  kennen)  und  endlich  Eitelkeit,  „was  würden  die  Leute 
sagen,"  hatte  er  am  Tage  vor  seiner  Tat  zu  einem  Freunde  geäußert,  „wenn  sich 
an  unserer  Anstalt  jemand  erschösse?"  Mit  dem  zweiten  stand  es  anders:  als  er 
von  der  Nichtversetzung  schon  vor  Schulschluß  Kenntnis  erhalten  hatte,  und  ihm 
die  Unterbringung  an  einer  Anstalt  in  einer  anderen  Stadt  bevorstand,  wollte  er 
dem  Beispiel  seines  Kameraden  nachahmen,  hatte  jedoch  zum  Glück  nicht  denselben 
Erfolg.  —  Ein  vierter  Fall  darf  wegen  seiner  Eigenart  nicht  übergangen  werden: 
Da  war  ein  trefflicher  Schüler  der  Unterprima,  bei  allen  sehr  beliebt.  Als  im 
Herbst  1906  ein  Freund  durch  selbstgewählten  Tod  umgekommen  war,  konnte 
der  fleißige  und  gewissenhafte  junge  Mann  den  Gedanken  nicht  los  werden,  daß 
ihm  die  nämliche  Tat  gleichsam  auferlegt  sei.  Das  wird  ihm  ein  ständiges 
Gesprächsthema  im  Umgang  mit  Freunden  und  Verwandten,  ja  er  versuchte  sogar 
eine  kleine  dramatische  Bearbeitung  des  Lebensendes  seines  Freundes.  Am  Tage 
des  Schulschlusses  nahm  er  mit  den  Kameraden  noch  das  heihge  Abendmahl,  und 
auf  der  Heimreise  entleibte  er  sich  im  Eisenbahnzuge.  — 

D.  Wenn  ich  nun  am  Schluß  dieser  Schilderungen  angelangt  bin,  so  weiß  ich, 
daß  ich  Ihnen  in  einem  größeren  Bruchteil  aller  Fälle  die  Genesis  der  Katastrophe 


über  die  Scliülerselbstmorde.  14S 

noch  nicht  skizziert  habe.  Zum  Teil  ist  dies  auch  ^nmöghch,  nämUch  da,  wo 
von  allen  betroffenen  Kreisen  zur  Erklärung  des  Unglücks  nichts  herbeigebracht 
werden  konnte:  in  zehn  Fällen  standen  Schule  wie  Familie  vor  einem  Rätsel,  dessen 
Lösung  trotz  eifrigen  Bemühens  auch  in  der  Folgezeit  niemand  gelang.  Diese 
zehn  Fälle  bilden  beinahe  den  zehnten  Teil  aller  von  mir  hier  eingehend  be- 
schriebenen. —  Bei  dem  dann  noch  vorhandenen  Rest  konnte  allerdings  weder 
ein  schlimmer  Geist  in  der  Familie,  noch  verführerische,  seelenverderbende  Lektüre, 
noch  die  unheilstiftende  Beeinflussung  eines  anderen  Selbstmords  nachgewiesen 
werden.  Dafür  aber  bieten  die  näheren  Umstände,  unter  denen  hier  der  selbst- 
gewählte gewaltsame  Tod  erfolgte,  meistens  eine  hinreichende  Erklärung.  Die  Ge- 
mütserregungen :  Verzweiflung,  Lebensüberdruß,  Furcht,  Angst,  Trotz,  Erbitterung, 
Mut,  besonders  bei  krankhaft  überspanntem  Ehrgefühl  hatten  bei  diesen  Zöglingen 
dieselbe  traurige  Folge,  wie  auch  sonst  in  der  menschlichen  Gesellschaft,  außerhalb 
der  Schule.  Wenn  z.  B.  ein  Untersekundaner  beim  unvorsichtigen  Umgang  mit 
dem  Revolver  einen  Freund  erschießt  und  unmittelbar  darauf  sich  selbst  (1906); 
oder  wenn  ein  Obersekundaner  seinen  Vater  durch  Schlaganfall,  Mutter  und 
Schwestern  durch  Schwindsucht,  dann  noch  die  heißgeliebte  Großmutter  verlor 
und  in  Nietzsches  Zarathustra  den  einzigen  Trost  suchte;  oder  wenn  andere 
sich  geschlechtlich  vergangen,  und  sie  bei  der  nahe  bevorstehenden  Entdeckung 
ihrer  Schande  schwere  körperliche  Züchtigung  zu  befürchten  hatten,  so  bieten  sich 
hierzu  analoge  Fälle    unter  allen  Ständen  und  Altersstufen  zu  allen  Zeiten.  — 

Die  psychologische  Erklärung  des  Unglücks  ist  auch  bei  den  Gymnasiasten 
nicht  schwer,  die  in  der  Schule  ihre  Pflicht  in  jeder  Hinsicht  erfüllt  hatten,  aber 
von  den  Eltern  gezwungen  wurden,  einen  Beruf  zu  ergreifen,  gegen  den  sie  eine 
innere  Abneigung  empfanden;  ferner  bei  denen,  die  wegen  ungenügender  Fort- 
schritte an  einer  Anstalt  nach  einem  fremden  Orte  auf  eine  andere  Anstalt  gebracht 
werden  sollten;  und  nicht  minder  bei  solchen,  denen  angedroht  war  „komm  mir 
nicht  mit  einer  schlechten  Zensur  nach  Haus!"  In  dieser  Hinsicht  ist  wiederholt 
von  den  Eltern  gefehlt  worden. 

Die  seelischen  Vorgänge  bei  Knaben  oder  Jünglingen,  die  erst  eine  Züchtigung 
erhalten  und  dann  in  ihrer  Stube  eingeschlossen  wurden,  erklären  sich  völlig  aus 
den  Abschiedsworten,  die  meist  ein  Zettel  neben  der  Leiche  enthielt:  „Ich  kann 
so  nicht  weiter  leben". 

Verschlungener  war  das  Spiel  der  Affekte,  wenn  der  Gymnasiast  ein  Liebes- 
verhältnis hatte.  Da  haben  wir  Beispiele,  wo  der  Jüngling  mit  Wissen  beider 
Eltern  solche  Beziehungen  unterhielt;  andere,  wo  nur  die  Familie  des  Mädchens 
einverstanden  war;  wieder  andere,  wo  die  beiderseitigen  Eltern  mit  den  eigenen 
Kindern  in  bösen  Zwist  gerieten;  endlich  solche,  wo  dem  Schüler  von  seiner  Ge- 
liebten eine  schnöde  Absage  zuteil  ward.  In  allen  diesen  Vorkommnissen  kreuzten 
sich  die  Pflichten  der  Schule  mit  den  Neigungen  des  Zöglings,  nicht  selten  außer- 
dem noch  mit  der  Ehrfurcht  und  der  Liebe  gegen  die  Eltern.  War  dann  das  Ver- 
hältnis so  weit  gediehen,  daß  der  Gymnasiast  eine  Nichtversetzung,  eine  Rüge, 
oder  die  Einschränkung  der  Freiheit  als  die  schwerste  Kränkung  der  Ehre 
in  den  Augen  seiner  Angebeteten  empfand,  dann  war  die  Katastrophe  da!  Die 
Demütigung,  daß  sie  von  ihm  etwas  Derartiges  zu  erfahren  bekam,  wirkte  schmerz- 


144  O.  Gerhardt, 

lieber,  als  alle  Auftritte  in  der  Familie.  Die  Zahl  dieser  Fälle  beläuft  sich  auf 
10  unter  106!  Daß  hier  nicht  selten  noch  verschiedene  Dinge  dazu  kamen:  Schul- 
den, infolge  der  Ausgaben  für  Blumen  und  Toilettengegenstände,  Täuschungen 
bzw.  Lügen,  hitziges  Temperament  u.  dgl.  mag  nicht  unerwähnt  bleiben. 

E.  Wie  war  an  allen  diesen  traurigen  Ereignissen  die  Schule  be- 
teiligt? 

Schon  oben  konnte  ich  Ihnen  die  für  uns  gewiß  nicht  gleichgültige  Tatsache 
hervorheben,  daß  bei  einem  großen  Teil  aller  Selbstmordfälle  die  Schule  nicht  nur 
frei  von  jeder  Sctiuld,  sondern  überhaupt  gar  nicht  beteiligt  war.  Da  lagen  un- 
glückliche häusliche  Verhältnisse  vor,  denen  oft  genug  gute,  sogar  hervorragende 
Schüler  zum  Opfer  fielen.  Hier  beklagen  wir  indessen  sehr,  daß  weder  der  Direktor, 
noch  der  Ordinarius,  noch  der  Religionslehrer  in  das  Vertrauen  gezogen  waren  — , 
es  hätte  sich  sicher  manches  Unglück  vermeiden  lassen.  Aber  daran  haben  wir 
alle,  meine  hochgeehrten  Herren  Direktoren  und  Kollegen,  daß  größte  Interesse, 
festzustellen,  durch  welche  Maßnahmen  oder  Vorkommnisse  bei  den  übrigen  Fällen 
die  Schule  beteiligt  war.  Von  den  unglücklichen  Schülern  handelten  zwei  aus 
Angst  vor  der  Reifeprüfung,  die  Hälfte  aller  anderen  bei  dem  nichterreichten 
Klassenziel  aus  Erbitterung,  oder  Wut,  oder  Verzweiflung  (besonders  wenn  die 
Zensur  für  ungerecht  gehalten  wurde,  oder  wenn  nun  der  gewünschte  Lebens- 
beruf nicht  eingeschlagen  werden  konnte,  oder  aber  wenn  eine  Versetzung  schon 
vorher  als  sicher  bezeichnet  war),  nicht  wenige  aber  aus  Furcht  vor  der  Züchtigung 
zu  Haus.  Etwas  kleiner  ist  die  Anzahl  derjenigen,  die  schon  im  Laufe  des  Viertel- 
jahrs an  den  mangelhaften  Klassenarbeiten  erkannten,  daß  sie  beim  Semesterschluß 
nicht  zum  Ziele  kommen  würden.  Bei  dem  letzten  Bruchteil  lagen  Strafen  vor: 
wegen  Lüge,  Täuschung,  Fälschung,  Unterschlagung,  andauernden  Unfleißes,  Vergeß- 
lichkeit, Unordnung  oder  mehrfachen  Unfugs.  In  allen  diesen  Fällen  aber  wirkten, 
wie  nochmals  hervorzuheben  ist,  außerdem  verschiedene  andere  Faktoren  zusammen, 
die  ich  oben  (bei  A.,  B.,  C,  D.)  geschildert  habe.  Sind  nun  allerdings  die  hier 
aufgeführten  Vorgänge  im  Schulleben  unvermeidlich  und  teilweise  auch  notwendig, 
so  wollen  wir  uns  doch  nicht  verhehlen,  daß  trotzdem  viele  Selbstentleibungen 
verhütet  werden  konnten,  und  zwar  von  verschiedener  Seite  auf  verschiedenem 
Wege. 

F.    In  welcher  Weise  kann  Abhilfe  geschaffen  werden? 

1.  Daß  unsere  Kinder  etwas  davon  erfahren,  daß  eine  Handlung,  die  so  un- 
mittelbar gegen  die  eigene  Natur  gerichtet  ist  wie  der  Selbstmord,  von  Menschen 
überhaupt  verübt  wird,  läßt  sich  —  leider!  —  nicht  vermeiden.  Aber  so  viel  halte 
ich  für  sicher,  daß  es  nicht  gleichgültig  ist,  in  welchem  Tenor  ihnen  solch  unheim- 
liches Vorkommnis  geschildert  wird;  der  erste  Eindruck,  den  es  in  der  Seele  des 
heranwachsenden  Menschen  zurückläßt,  ist  oft  entscheidend  für  die  Zukunft.  Den 
Wert  des  Lebens  und  die  Bedeutung  einer  sittlichen  Lebensführung  erlernt  das 
Kind  nicht  mit  dem  Verstände,  sondern  Herz  und  Gemüt  sind  ganz  davon  durch- 
drungen. Die  Reinheit  der  Phantasie  —  ein  Faktor,  der  in  der  Erziehung  nicht 
hoch  genug  eingeschätzt  werden  kann  — ,  die  Lebensfreudigkeit  und  der  Ge- 
wissensernst haben  einen  sehr  bedenklichen  Schaden  erlitten,  wenn  es  heißt: 
N.  N.  konnte  nicht  anders  als  seiner  unerträglichen  Not  freiwillig  ein  Ende  machen. 


über  die  Schülerselbstmorde.  145 

er  hat  sich  und  seinen  Angehörigen  nur  eine  Last  abgenommen.  Oder:  M.  M.  hat 
seinen  Entschluß,  freiwillig  diese  Welt  zu  verlassen,  mit  bewundernswertem  Mute 
ausgeführt  und  ist  wie  ein  Held  gestorben.  Je  nach  der  Stelle,  von  wo  solche 
Anschauungen  ausgehen,  und  nach  der  Häufigkeit,  mit  der  sie  auftreten,  wird  die 
sittliche  Urteilskraft  früher  oder  später  in  dieser  Richtung  vernichtet.  Dies  zu 
verhindern  sind  in  vielen  Fällen  die  Vertreter  der  Presse  berufen;  denn  an  keiner 
Stelle  liest  der  Gymnasiast  öfter  vom  Selbstmord,  als  in  der  Zeitung.  Daß  indessen 
auch  im  häuslichen  Kreise  und  im  Umgang  mit  Verwandten,  Freunden  und  Be- 
kannten die  nämliche  Verkehrheit  begangen  wird,  wie  so  oft  in  der  Zeitung,  ist 
nicht  zu  leugnen.  — 

2.  Wie  das  Elternhaus  zur  Verhütung  dieser  beklagenswerten  Ereignisse 
viel,  sehr  viel  beitragen  kann,  das  dürfte  aus  den  obigen  Darlegungen  hervor- 
gegangen sein.  Aber  in  Anbetracht  des  Ernstes  und  der  Wichtigkeit  unseres 
Gegenstandes  scheint  es  nicht  unangebracht  zu  sein,  alle  Momente  noch  einmal 
zusammenzufassen.  Bei  weitaus  dem  größten  Teil  aller  Fälle  drängt  sich  einem 
die  Überzeugung  auf:  das  Unglück  konnte  und  mußte  verhütet  werden! 
Sorgfältigste  Überwachung  der  Lektüre  und  des  Umgangs,  Verbot  des  Tragens 
von  Waffen  oder  Gift,  Behütung  in  geschlechtlichen  Dingen,  freundliche  Berück- 
sichtigung der  Wünsche  in  der  Berufswahl,  Vermeidung  des  übermäßigen  Alkohol- 
genusses und  studentischen  Treibens,  sorgsamste  Beachtung  des  Verkehrs  mit  den 
Freundinnen  oder  den  Tanzstundendamen  werden  den  Eltern  wie  den  Kindern 
und  der  Schule  vielen  Schmerz,  Gram  und  Schande  ersparen.  Die  peinlichste 
Fürsorge  erfordern  die  Schüler,  die  einer  erblichen  Belastung  unterworfen  sind, 
auch  diese  können  unbedingt  vor  diesem  Übel  bewahrt  bleiben. 

Ferner  hat  sich  gezeigt,  daß  namentlich  überalterte  oder  schwach- 
beanlagte  Schüler  den  Verirrungen  unterlagen.  In  einem  Jahre  war  z.  B.  der 
dritte  Teil  aller  Fälle  von  Schülern  begangen  worden,  die  ihrer  Klassenstufe  längst 
entwachsen  waren.  Wenn  dieses  Mißverhältnis  Platz  gegriffen  hat,  oder  die  Ver- 
anlagung nicht  ausreicht,  um  den  Anforderungen  einer  höheren  Lehranstalt  gerecht 
zu  werden,  dann  sollen  die  Eltern  unbedenklich  ihre  Söhne  zu  einem  praktischen 
Berufe  greifen  lassen,  oder  in  anderer  Weise  ihnen  Zeit  und  Gelegenheit  geben, 
nur  ein  einfaches  Ziel,  etwa  das  Zeugnis  zum  einjährigen  Militärdienst  zu  er- 
werben. 

Sehr  zu  warnen  ist  endlich  vor  den  Drohungen:  „bring'  mir  keine  schlechte 
Zensur  nach  Haus";  dagegen  würde  ein  gütiges  Zureden,  ein  Vertrösten  auf  das 
nächste  Halbjahr,  ein  rechtzeitiges  Erwägen  „wenn  du  sitzen  bleibst,  so  schadet 
das  nichts"  oft  sehr  heilsam  gewesen  sein  und  den  Eltern  die  bitterste  Reue  er- 
spart haben. 

3.  Was  hier  vom  Hause  gesagt  ist,  gilt  fast  ausnahmslos  von  der  Schule. 
Pathologische  Anlagen,  wie  sie  hier  zutage  getreten,  entziehen  sich  leider  fast  ganz 
der  Kenntnis  der  Lehrer;  nur  selten  sind  ein  stierer  Blick  oder  ein,  ohne  beson- 
deren Anlaß  jäh  auftretendes  Erröten  aufgefallen,  aber  die  Bedeutung  dieser  Er- 
scheinungen klärte  sich  erst  nach  dem  Unfall  auf.  Dagegen  ist  die  Kenntnis  von 
der  Lebensführung  und  der  Lektüre  der  Zöglinge  dringend  erwünscht,  nicht  minder 
die  besondere  Beachtung  der  Überalterten  und  der  Schwachbegabten.    Zwar  soll 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIH.  Jhrg.  10 


146  O-  Gerhardt, 

nicht  verschwiegen  werden,  daß  tatsächlich  oft  alle  diese  Dinge  von  den  Direktoren 
und  Ordinarien  beachtet  worden  sind,  daß  sie  es  weder  an  Mahnung,  noch  an 
freundlichem  Zureden,  noch  an  rechtzeitiger  Verständigung  mit  dem  Elternhause 
haben  fehlen  lassen,  und  daß  trotz  alledem  am  Tage  des  Schulschlusses,  oder 
wenn  sonst  das  Resultat  der  Versetzung  bekannt  wurde,  die  Schüler  den  Schritt 
der  Verzweiflung  taten.  Aber  anderseits  ist  auch  erkannt  worden,  daß  manche 
Drohung,  wenn  sie  auch  den  Umständen  genau  entsprach,  eine  Anstachelung 
des  Ehrgefühls  durch  Ironie  oder  andre  scharfe  Worte,  eine  schnell  vorge- 
nommeneZüchtigung  oder  endlich  eine  allzu  scharfe  Fassung  der  Zensur, 
wenn  sie  auch  auf  die  Verstärkung  des  Fleißes  abzielte,  unterbleiben  konnte  und 
auch  sicher  unterblieben  wäre,  wenn  eine  Ahnung  davon  vorhanden  war,  daß  der 
Schüler  unter  unheilvollen  Beeinflussungen  stand.  Von  den  Zensuren  abgesehen, 
sind  jenes  erzieherische  Maßnahmen,  die  jeder  Vater  seinem  Sohne  gegenüber  an- 
wendet. Hatte  dieser  aber  unter  dem  Einfluß  schlechten  Umgangs  oder  solcher 
Lektüre  oder  eines  bösen  Beispiels  den  natürlichen  Greuel  gegen  die  Selbstent- 
leibung abgelegt,  dann  ereignete  sich  leider  oft  genug  die  Schreckenskatastrophe. 
Ebensowenig  wie  die  Eltern  die  volle  Tragweite  ihrer  Maßnahmen,  die 
oft  ganz  gewöhnliche  und  der  Lage  nach  selbstverständliche  waren,  übersehen 
konnten,  ebensowenig  auch  die  Lehrer.-) 

Mit  Wehmut  muß  ich  aber  eine  andre,  bisher  noch  nirgends  berücksichtigte 
Tatsache  hervorheben.  Aus  den  Akten  ergibt  sich,  daß  bei  einem  Drittel 
aller  besprochenen  Fälle  (genauer:  34  von  106)  die  Mitschüler  vorher  gewußt  hatten, 
daß  ihr  Kamerad  sich  seit  der  und  der  Zeit  mit  Selbstmordplänen  trug  und  sie  an 
dem  und  dem  Termin  ausführen  würde.  Bedenkt  man,  daß  in  manchem  andern 
Falle  die  Überlebenden  sich  gescheut  haben  mögen,  ihre  Mitwisserschaft  einzuge- 
stehen, so  hat  man  das  erstaunliche  Ergebnis,  daß  in  einem  sehr  hohen  Bruch- 
teil der  Gesamtzahl  die  Mitschüler  es  in  der  Hand  hatten,  das  Unglück 

*)  Daß  eine  Rettung  tatsächlich,  und  oft  ganz  leicht,  möglich  ist,  sei  durch  zwei  Bei- 
spiele erläutert:  Der  Direktor  M.  in  D.  erhielt  von  einer  Mutter  die  Nachricht:  mein 
Sohn  will  sich  erschießen.  Dieser  wurde  sofort  gerufen.  „Mein  lieber  G."  redete  der 
Direktor  ihn  an,  „ich  habe  soeben  von  ihrer  Frau  Mutter  erfahren,  daß  Sie  sich  erschießen 
wollen;  haben  Sie  schon  eine  Pistole?"  —  Er  stammelte:  „Nein".  —  „Das  sind  gefähr- 
liche Dinge;  ich  war  Soldat,  weiß  mit  Schußwaffen  Bescheid.  Wenn  Sie  eine  Pistole 
haben,  will  ich  Ihnen  zeigen,  wie  man  damit  umgeht'.  Der  junge  Mann  war  durch  diese, 
in  aller  Ruhe  gesprochenen  Worte,  ernüchtert;  es  erfolgte  eine  offene  Aussprache,  und  heut, 
nachdem  10  Jahre  darüber  verflossen,  dankt  er  seinem  ehemaligen  Direktor  noch  oft  für 
diese  Errettung.  —  An  einer  Realanstalt  in  B.  war  ein  überalterter  Obertertianer;  4  Wociien 
vor  dem  Semesterschluß  merkte  er,  daß  an  die  Versetzung  nicht  zu  denken  sei.  Da  brachte 
er  eines  Tages  einen  Revolver  mit  in  die  Klasse,  am  nächsten  wieder  —  es  war  die  Zeit 
der  mündlichen  Prüfungen;  am  letzten  Tage  brachte  er  außerdem  noch  eine  Flasche  Lysol 
mit.  In  der  Schule  wagte  keiner  dem  Direktor  oder  dem  Ordinarius  etwas  zu  sagen,  aber 
daheim  verriet  es  einer  doch  einem  Oberlehrer,  der  es  umgehend  dem  Direktor  M  .  .  n 
meldete.  Dieser  ließ  die  Mutter  und  den  Hausarzt  holen,  alle  drei  setzten  freundlich  dem 
Jüngling  auseinander,  daß  er  überarbeitet  sei  und  nach  etwa  6—8  Wochen  der  Ruhe  wieder 
frisch  in  der  Schule  mitarbeiten  könne.  Jetzt,  wo  diese  Zeilen  erscheinen,  sieht  er  ruhig 
seiner  Versetzung  nach  Sekunda  entgegen.  —  Alles  hängt  davon  ab,  daß  rechtzeitig  solch  ein 
unglücklicher  Plan  entdeckt  wird. 


über  die  Schülerselbstmorde.  147 

zu  verhüten.  Die  Gründe,  die  sie  abhielten,  den  Lehrern  rechtzeitig  zu  sagen, 
was  sie  wußten,  sind  uns  von  vornherein  ja  klar:  zumeist  hielten  die  Kameraden 
die  Worte  über  Selbstmordpläne  für  leere  Redensarten  oder  auch  für  Prahlerei  — 
doch  öfters  war  es  allein  der  Mangel  an  Vertrauen.  Gilt  es  hier,  die  Gewissen 
aufzurütteln  und  zu  schärfen,  so  darf  doch  auch  nichts  unterbleiben,  um 
das  volle  Vertrauen  der  Schüler  zu  erlangen.  Erinnern  wir  uns  nun,  was 
ich  oben  über  die  tatsächliche  Ansteckung  des  Selbstmords  innerhalb  der  Schüler- 
welt ausgeführt  habe,  so  dürfte  es  einleuchten,  daß  an  einer  Anstalt,  die  von  solcher 
Katastrophe  betroffen  wurde,  nichts  unterlassen  werden  kann,  um  ein  zweites  Vor- 
kommen zu  verhüten.  Den  Vorgang,  der  sich  allen  unauslöschlich  einprägte,  der 
lange  ihr  Gesprächsthema  bildet,  mit  Stillschweigen  zu  übergehen,  erscheint  geradezu 
bedenklich.  Neben  dem  Direktor  und  dem  Ordinarius  ist  hier  in  erster  Linie 
der  Religionslehrer  berufen  zum  Amte  des  Warners,  Mahners  und  väterlichen 
Freundes.  Denen,  die  als  Mitwisser  des  bösen  Planes  herausgefunden  werden, 
gelten  zunächst  die  ernstesten  Vorhaltungen.  Wie  leicht  hätten  sie  dem  Kame- 
raden das  Leben  retten,  der  Anstalt  und  der  Familie  Schmerz  und  Gram  ersparen 
können !  Welchen  Ruhm  erntet  von  aller  Welt  ein  Lebensretter!  Welche  innere 
Befriedigung  für  die  ganze  Lebenszeit  bereitet  solche  Tatl 

Alle  Schüler  fühlen  es  heraus,  daß  solch  Schreckensende  nicht  mit  einem 
Male  auftritt,  sondern  daß  es  die  Folge  gewisser  Verführungen  und  Verirrungen, 
und  in  letzter  Linie  die  Nachahmung  eines  andern  Selbstmords  ist.  Die  Auf- 
klärung, die  sie  nun  über  schlechte  Lektüre,  bösen  Umgang,  leichtsinnige  Lebens- 
führung, Mangel  an  sittlichem  Urteil,  Vertrauen,  Gewissensernst  empfangen,  werden,^ 
unterstützt  von  dem  beklagenswerten  Unglück,  ihnen  allen  die  Augen  Öffnen, 
Aber  es  ist  wohl  angebracht,  dieses  ernste  Thema  noch  weiter  zu  behandeln: 

daß  ein  Selbstmord  Feigheit  ist,  und  nicht  etwa  Mut;  daß  vielmehr  der 
mit  ungünstigen  Verhältnissen  Kämpfende  zehn  mal  mehr  Mut  besitzt,  als  der,  der 
zum  Revolver  greift; 

daß  ein  Selbstmord  wirklich  ein  Mord  ist,  wie  schon  die  Sprache  anzeigt; 

daß  die  heilige  Schrift  recht  hat,  wenn  sie  sagt  „was  hast  du,  das  du  nicht 
empfangen  hättest"; 

daß  Familie,  Gemeinde,  Vaterland  an  dem  Leben  des  einzelnen  ein 
heiliges  Anrecht  haben, 

das  alles  ist  an  sich  klar,  aber  das  jugendliche,  verführte  Gemüt  neigt  leider 
zu  leicht  dazu,  sich  andern  Einflüssen  hinzugeben. 

Die  Schüler  werden  es  wohl  erfassen,  daß  das  Wort  der  Martha  und  Maria 
„Herr,  wärest  du  hier  gewesen,  unser  Bruder  wäre  nicht  gestorben"  hier  auch 
Geltung  hat;  daß  der  Selbstmord  den  höchsten  Grad  von  Gottentfremdung  be- 
zeichnet, daß  ein  Ermordeter  zwar  den  Schritt  in  die  andere  Welt  wohl  vorbereitet 
tun  kann,  nie  aber  der  Selbstmörder. 

Diese  Gedankengänge  können  natürlich  noch  ausgedehnt  und  belebt  werden, 
besonders  durch  den  Hinweis  auf  die  Helden  der  Geschichte  und  Dichtung  und 
die  Männer,  die  in  Feuers-  und  Wassersnot,  im  Krieg  und  bei  Epidemien  ihr 
Leben  einsetzten,  um  das  anderer  zu  retten.  Aber  wenn  auch  alle  Darlegungen 
gut  gelingen,  so  soll  doch  nicht  vergessen  werden,  daß  eine  schwache  Stunde 

10* 


148  O-  Gerhardt, 

nicht  eine  Stunde  der  Erkenntnislosigkeit,  sondern  der  Kraftlosigkeit  ist.  Es 
ist  gewiß  viel,  daß  das  sittliche  Urteil  des  Schülers  geklärt  und  in  gesunde 
Bahnen  gelenkt  wird.  Aber  wenn  die  bösen  Leidenschaften  das  Herz  bestürmen, 
dann  müssen  edlere  und  stärkere  Kräfte  entgegenwirken.  Deshalb  ist  der  Höhe- 
punkt dieser  Arbeit  die  Schärfung  des  Gewissens,  die  Stärkung  des  Selbst- 
vertrauens, das  durch  Gottesfurcht  und  das  Gefühl  der  zukünftigen  Rechenschaft 
geläutert  und  gehoben  ist  und  im  Umgang  mit  Gott  seinen  einzigen  Halt  hat. 

Zum  Schluß  bleibt  mir  noch  die  Frage  zu  beantworten  übrig:  sollen  wir 
Religionslehrer  fortan,  auch  ohne  unmittelbaren  Anlaß,  die  Selbst- 
mordfrage behandeln  und  in  welcher  Weise?  Für  die  Unterstufe 
sprechen  meines  Erachtens  mehr  Gründe  dagegen  als  dafür.  Es  ist  ja  wahr,  daß 
wir  auf  die  Behandlung  der  Lüge,  des  Diebstahls,  der  Verleumdung,  des  Mein- 
eids, des  Mords  eingehen;  es  ist  auch  unstreitig,  daß  Katechismus  wie  biblische 
Geschichte  reichlich  Gelegenheit  geben,  über  den  Selbstmord  zu  sprechen.  Bei 
dem  ersten  Gebot  (Gottvertrauen,  Gottesfurcht  in  jeder  Lage  des  Lebens);  beim 
fünften  Gebot  (Selbstmord  ist  auch  Mord);  beim  ersten  Artikel  (Ursprung,  Erhaltung, 
Beschützung  unsers  Lebens,  Dank  und  Gehorsam  gegen  Gott);  beim  dritten  Artikel 
(berufen  zu  einem  himmlischen  Reich,  zu  einer  lebendigen  Hoffnung,  die  uns 
Christus  in  herrlichster  Weise  verbürgt  hat,  die  uns,  wenn  mit  Blutschuld  bedeckt, 
verloren  geht);  bei  allen  sieben  Bitten  des  Vaterunsers,  ebenso  beim  vierten  und  fünften 
Hauptstück.  —  Aber  trotz  alledem  kann  ich  gewisse  Bedenken,  wenigsten  für  die 
Sexta,  Quinta  und  Quarta  nicht  unterdrücken.  Es  gibt  Dinge,  deren  bloße  Nennung 
im  Kinde  das  Gefühl  des  Unbehagens,  der  Scham  oder  des  Entsetzens  hervorruft, 
so  daß  die  ganze  Gemütsstimmung  für  längere  Zeit  unter  solchem  Eindruck  ge- 
fangen ist.  Dieser  Zustand  der  Psyche  hat  einen  großen  erzieherischen  Wert, 
der  wohl  auch  hier  für  unser  Problem  ausgenutzt  werden  kann.  Wenn  wir  neben 
der  Belehrung  und  Ermahnung,  wozu  Katechismus  und  biblische  Geschichte 
direkten  Anlaß  geben,  die  Zöglinge  darauf  hinweisen,  daß  bei  gewissen  Dingen 
ihnen  eine  innere  Stimme  ein  deutliches  „Hüte  dichf  zuruft,  d.  h.  „Du  hast 
etwas  Häßliches  oder  Schändliches  gesehen  oder  gehört,  trage  dergleichen  nicht 
im  Herzen  herum!  — ",  dann  ist  viel  erreicht.  Eine  sorgsame,  mit  väterlichem 
Ernst  und  Liebe  betriebene  Pflege  dieser  Anlage  wird  zur  Folge  haben,  daß  die 
Kinder  dieser  inneren  Stimme  als  der  eines  zuverlässigen  Ratgebers  auch  in 
späteren  Jahren  gerne  folgen. 

Was  die  mittleren  und  oberen  Klassen  betrifft,  so  vertrat  ich  früher  den 
Standpunkt,  daß  auch  da  die  Behandlung  unseres  Problems  besser  unterbliebe. 
Jetzt  bin  ich  davon  abgekommen  und  halte  es  angesichts  der  geschilderten  Tat- 
sachen für  dringend  geboten,  die  furchtbare  Sünde  des  Selbstmords  namhaft  zu 
machen,  den  Feind,  der  sie  verschuldet,  rückhaltslos  bloßzulegen,  und  vorsichtig, 
liebevoll,  aber  energisch  Abwehr  zu  treiben.  Der  Kampf  hat  seine  großen 
Schwierigkeiten:  der  Einfluß  der  häuslichen  Umgebung  und  der  Freunde  ist  so 
groß,  die  Lust  an  dem,  was  die  Schule  als  verbotene  Frucht  hinstellt,  so  stark 
und  verführerisch,  daß  die  Schüler  ihre  Neigungen  nicht  leicht  bloßstellen  werden. 
Der  Sekundaner  nnd  Primaner,  dem  materialistische  und  pessimistische  Ideen  zu 
imponieren  anfangen,  steht  unter  dem  Eindruck,  den  eine  neue  Wahrheit  immer 


über  die  Schülerselbstmorde.  149 


hervorruft:  impulsiv  gibt  er  sich  ihr  hin,  nachzuprüfen,  ob  es  wirklich  Wahrheit 
sei,  fehlt  ihm  die  Anleitung  -—  und  an  unzähligen  anderen  sieht  er  ja,  daß  sie 
auch  so  denken!  Nun  wissen  wir,  wie  bereitwillig  die  Jugend  auf  die  Opposition 
eingeht,  besonders  gegen  das  Buch,  über  welches  anscheinend  alle  Welt  so  ganz 
anders  denkt  als  der  Religionslehrer.  Die  Jugend  wird  auch  zu  leicht  mit  fort- 
gerissen von  dem  Witz  und  der  Keckheit,  mit  der  diese  Opposition  betrieben 
und  das  neue  Evangelium  gepredigt  wird.  Und  dann,  diese  klangvollen  Namen 
der  Männer  der  Wissenschaft  und  Dichtkunst,  die  in  aller  Munde  leben  und  Ruhm 
ohne  Aufhören  ernten! 

Sagen  wir  dem  jungen  Mann:  diese  oder  jene  Lebensführung,  diese  oder 
jene  Lektüre  ist  eine  Gefahr,  eine  wirkliche,  ernste  Gefahr  —  der  Geist,  der  ihm 
in  der  Zeitung,  in  Romanen,  Theaterstücken,  wissenschaftlichen  Werken  entgegen- 
tritt, ist  der  Geist  der  Verneinung  und  nicht  der  der  Wahrheit,  so  wird  das 
wenig  helfen. 

Wir  werden  ihn  aber  eher  interessieren  oder  gar  ganz  fassen,  wenn  wir  ihn 
vor  die  Alternative  stellen:  wie  werden  die  drei  großen  Fragen,  um  die  jedes 
Menschenleben  sich  dreht:  woher?  wohin?  wie  komme  ich  zum  Ziel?  von  der 
naturalistischen  Weltanschauung,  und  wie  vom  Christentum  beantwortet?  Die 
Konsequenzen,  ruhig,  sachlich,  klar  und  vollständig  gezogen,  werden  es  ihm 
fühlbar  machen:    „Tua  res  agitur!" 

Bewegen  wir  uns  sodann  im  Anfang  auf  einer  negativen  Basis,  so  ist  es 
nach  der  heutigen  Lage  der  Apologetik  nicht  schwer,  dem  Atheismus  und 
Pessimismus  seinen  ganzen  Nimbus  zu  nehmen.  Die  Gegnerschaft  brauchen  wir 
gar  nicht  aus  dem  Lager  der  Theologen  zu  entnehmen,  sondern  können  den 
Schülern  unbedenklich  eine  Reihe  namhafter  Philosophen,  Zoologen,  Botaniker, 
Physiker  und  Chemiker  nennen,  die  weder  mit  Darwin  und  Häckel,  noch  mit 
Schopenhauer,  Nietzsche,  Dühring,  Ibsen,  Tolstoi  gehen,  sondern  den  Lehren 
dieser  letzteren  den  Boden  entzogen  haben. 

Mag  es  nun  auf  diesem  Wege  oder  auf  einem  anderen  geschehen,  der  erste 
Erfolg  ist  meines  Erachtens  dann  sicher  errungen,  wenn  der  Schüler  merkt, 
daß  es  mit  seinen  Anschauungen  doch  nicht  stimmt,  daß  er  in  seinem  Religions- 
lehrer jemanden  hat,  der  an  seinem  inwendigen  Menschen  ein  persönliches  Inter- 
esse hegt  und  imstande  ist,  ihm  aus  einem  gewissen  Wirrsal  herauszuhelfen. 

Von  solcher  Basis  aus  wird  dann  die  positive  Arbeit  leichter  vonstatten 
gehen,  zumal  wenn  es  gelingt,  das  Elternhaus  zu  interessieren  und  heranzuziehen. 
Je  nach  dem  Anknüpfungspunkte  im  Unterricht  und  dem  Stande  der  Klasse  wird 
der  Verlauf  ein  verschiedener  sein,  hier  kann  er  nur  in  kurzen  Zügen  geschildert 
werden.    Aber  auf  bestimmte  Punkte  wird  man  immer  wieder  kommen  müssen. 

Wie  der  Katechismus,  der  Spruch-  und  Liederschatz  gleichsam  der  eiserne 
Fonds  der  jungen  wie  der  erwachsenen  Christen  sind,  so  könnten  wir  unseren 
Schüler  zu  einem  eisernen  Fonds  verhelfen,  der  die  Begriffe  Leben,  Seele,  Ge- 
wissen, Wille;  Ehre,  Moral,  Glaube  und  Rechenschaft  im  Sinne  des  Christentums 
umfaßt.  Da  lernt  er,  daß  alle  geistigen  Werte  sub  specie  aeternitatis  zu  beurteilen 
und  einzuschätzen  sind.  Er  wird  davon  durchdrungen,  daß  zwischen  Gut  und 
Böse,   Rein    und  Unrein,   Recht   und  Sünde  feste  Unterschiede  bestehen,   die  im 


150  c.  Höik, 

Lichte  des  Wortes  Gottes  klar  werden,  deren  Nichtbeachtung  uns  ungiüclciich 
macht;  daß  wir  ferner  in  allen  Lagen  des  Lebens  nicht  nur  die  Abhängigkeit  von 
Gott  verspüren,  sondern  auch  im  Verkehr  mit  ihm  bleiben  sollen  und  können; 
daß  Jesus  Christus  durch  sein  Leben,  Lehren,  Leiden,  Sterben  und  Auferstehen 
uns  zu  einer  lebendigen  Hoffnung  berufen  hat,  und  wir  vor  aller  Welt  die  herr- 
lichsten Dinge  voraushaben. 

Meine  sehr  geehrten  Herren,  ich  bin  am  Schluß.  Es  ist  mein  Bestreben  ge- 
wesen, zu  zeigen,  daß  uns  die  Umstände  zwingen,  in  unsere  Arbeit  eine  der 
traurigsten  Erscheinungen  unseres  modernen  Lebens  aufzunehmen.  Den  Naturalismus 
und  Pessimismus  auszurotten  vermögen  wir  nicht;  die  pädagogischen  Sünden  des 
Elternhauses  können  wir  nicht  oder  nur  teilweise  wieder  gutmachen.  Aber  der 
kostbarste  Schatz,  den  das  Volk  besitzt,  ist  uns  zur  Behütung,  Pflege  und  Bildung 
anvertraut,  die  edelste  Arbeit  wird  von  uns  Religionslehrern  erwartet;  drum 
lassen  wir  nichts  unversucht,  um  unsere  liebe  Jugend  vor  der  bösesten  Verirrung 
zu  bewahren. 

Berlin.  O.  Gerhardt. 


Zu  Harnacks  Vorschlägen  über  die  Behandlung  des  Geschichts- 
unterrichts auf  der  Oberstufe  der  Gymnasien. 

Unter  den  vier  Reden,  welche  von  Klein,  Wendland,  Brandl  und  Harnack  auf 
der  Baseler  Philologen-Versammlung  gehalten  sind  zu  dem  Zwecke,  Mittel  und 
Ziele  zu  kennzeichnen,  wie  der  Unterricht  auf  der  Oberstufe  der  Gymnasien  zu 
gestalten  sei,  um  die  besonders  von  Paulsen  betonte  und  beklagte  Kluft  zwischen 
dem  Lehrbetrieb  der  Gymnasien  und  dem  der  Universitäten  zu  überbrücken, 
zeichnet  sich  die  Harnacksche  durch  Kürze  und  feste  Formulierung  der  aus- 
gesprochenen Wünsche  aus. 

Seine  Forderungen  für  den  Geschichtsunterricht  gehen  über  das,  was  jetzt 
geleistet  wird  und  im  ganzen  von  ihm  anerkannt  wird,  in  fünf  Punkten  hinaus. 

1.  in  der  Zahlenfrage  meint  Harnack:  „Bei  dem  Vortrag  der  einzelnen 
Geschichtsperioden  in  den  verschiedenen  Klassen  muß  natüriich  eine 
größere  Anzahl  von  Jahreszahlen  vorübergehend  und  ä  fond  perdu 
memoriert  werden;  aber  bei  den  Repetitionen,  und  zumal  bei  der  ab- 
schließenden in  der  obersten  Klasse  genügt  es,  festzustellen,  daß  der 
Schüler  weiß,  ob  etwas  am  Anfang,  in  der  Mitte  oder  am  Ende  eines 
Jahrhunderts  geschehen  ist.  Bestimmte  Einzelzahlen  sind  —  abgesehen 
von  der  Geschichte  der  letzten  150  Jahre  —  nur  in  bezug  auf  die  alier- 
wichtigsten  Ereignisse  zu  verlangen." 

2.  Die  Geschichte  des  Altertums  muß  ausgedehnt  werden  bis  über  die 
Kaiserzeit,  die  als  wichtigste  Periode  der  Weltgeschichte  genau  und 
ausführiich  zu  behandeln  ist. 

3.  Der  Geschichtsunterricht  muß  dafür  sorgen,  daß  die  abgehenden  Schüler 
unser  gegenwärtiges  Verfassungsleben  und  unsere  öffentlichen  Rechts- 
zustände kennen. 


Zu  Hamacks  Vorschlägen  über  die  Behandlung  usw.  Ij51 

f 

4.  Die  Schüler  müssen  einen  Einblick  in  die  Art  gewinnen,  wie  Geschichts- 

forschung  betrieben  wird. 

5.  Der  Gesamtunterricht  in  der  Geschichte  soll  sich  in  den  Oberklassen  nach 
Kräften  davon  frei  machen,  im  politischen  Tatsachenmaterial  und  im 
einzelnen  stecken  zu  bleiben;  er  soll  sich  bemühen,  zu  einer  Geschichte 
des  Geistes  zu  werden. 

Ob  man  Harnack  in  seiner  Ansicht  über  die  Behandlung  der  Zahlenfrage 
beistimmen  will,  ist  eine  Sache,  die  mit  der  Stellungnahme  zu  den  andern  vier 
Desiderien  nicht  unbedingt  zusammenhängt.  Das  ist  meines  Erachtens  eine  Frage 
der  schulmeisterlichen  Praxis;  es  handelt  sich  darum,  wie  der  Lehrer  den  Kindern 
am  besten  und  leichtesten  beibringt,  die  ungeheure  Fülle  von  Tatsachen  und  Namen 
und  Verhältnissen  so  zu  behalten,  daß  sie  nicht  leicht  sich  untereinander  verwirren 
und  dadurch  zu  bedenklichen  Schlüssen  Anlaß  geben. 

Daß  es  für  allgemeine  historische  Bildung  durchaus  genügt,  wenn  man  die 
vielgestaltigen  Dinge,  die  das  Gedächtnis  aufbewahrt,  an  den  drei  von  Harnack 
bezeichneten  Merkpunkten  aufzureihen  weiß,  nämlich  ob  Anfang,  Mitte  oder  letztes 
Drittel  des  Jahrhunderts,  wird  keiner  bestreiten.  Es  fragt  sich  nur,  ob  die  Gewöhnung 
an  diese  Art  von  Gruppierung  für  die  Schüler  nicht  sehr  viel  schwerer  ist  als  Harnack 
meint;  daß  Erwachsene  so  am  leichtesten  behalten  oder  auf  ähnliche  Art,  etwa 
indem  man  sich  daran  gewöhnt,  eine  längere  Geschichtsperiode,  wie  z.  B.  ein 
Jahrhundert,  sich  in  Gestalt  einer  Kurve  graphisch  vorzustellen,  an  der  man  das 
zeitliche  Nacheinander  aufreiht,  das  habe  auch  ich  an  mir  selbst  und  andern  oft 
beobachtet,  auch  gefunden,  daß  für  Repetitionen  etwa  in  der  Prima  eine  solche  Art 
der  Ordnung  sich  empfiehlt.  Aber  für  den  jüngeren  Schüler  halte  ich  das  nicht 
für  das  am  leichtesten  zu  erreichende  und  am  sichersten  wirkende  Mittel,  Verwirrung 
von  Tatsachen  und  Begriffen  zu  verhindern.  Bis  zu  ziemlich  hohem  Alter  hinauf 
ist  es  den  Schülern  sehr  schwer,  gerade  die  Jahrhunderte  festzuhalten;  die  Zehner 
und  Einer  innerhalb  der  Jahrhunderte  haften  nach  meiner  Beobachtung  viel  besser, 
als  die  Jahrhundertbezeichnungen.  Das  hängt  vielleicht  damit  zusammen,  daß  es 
den  Jungen  unmöglich  ist,  irgendeine  Längen-  und  überhaupt  eine  Raumvorstellung 
mit  diesen  Zahlen  zu  verbinden,  was  bei  Zehnern  und  Einern  leichter  gelingt. 
Ich  halte  es  deshalb  für  praktisch,  durch  die  lange  Reihe  der  Jahrhunderte  hindurch 
eine  sich  aneinanderschließende  Zahlenreihe  zu  allererst  lernen  zu  lassen.  Ob  man 
dabei  etwa,  z.  B.  beim  Mittelalter,  sich  mit  größeren  Gruppen,  wie  Kaiserfamilien, 
begnügen  will  und  dann  die  in  die  Gruppen  einzufügenden  Namen  ohne  besondere 
Zahl  nur  in  fester  Aufeinanderfolge  lernen  läßt,  oder  ob  man  die  deutschen  Kaiser 
so  gut  wie  nachher  —  in  Preußen  —  die  preußischen  Könige  (einschließlich  den 
Großen  Kurfürsten)  mit  ihren  Regierungszahlen  festhalten  läßt,  ist  eine  Frage,  die 
der  einzelne  nach  der  Art  seines  Unterrichts  am  besten  bestimmt.  Auf  jeden  Fall 
meine  ich,  daß  es  sich  empfiehlt,  die  lange  Spanne  eines  Jahrhunderts  auf  diese 
Weise  in  kleinere  Abschnitte,  die  unter  sich  alle  verschieden  sind,  zu  zerlegen; 
wird  das  in  den  Tertien  tüchtig  geübt,  wo  die  Jungen  an  so  etwas  große  Freude 
haben,  so  pflegt  es  nachher,  auch  ohne  daß  das  Pauken  fortgesetzt  wird,  ziemlich  lange 
festzusitzen.  Die  Harnacksche  Einteilung  jedes  Jahrhunderts  in  \.  und  2.  und  3. 
Drittel   hat   die   große   Gefahr,   daß   die  Jungen    wohl    innerhalb  der  Drittel  die 


152  C.  Hölk. 

hineingehörenden  Namen  usw.  merken,  aber  sie  dann  aus  den  verschiedenen 
Jahrhunderten  konfundieren;  merkt  man  dagegen  das  Jahrhundert  in  Form  einer 
Zahlenreihe,  die  bei  jedem  Jahrhundert  anders  aussieht,  so  verhütet  das  nach  meiner 
Beobachtung  besser  Verwechselung  und  Irrtum.  Im  übrigen  stimme  ich  dem  voll- 
ständig bei,  daß  die  Masse  der  Einzelzahlen  sehr  beschränkt  werden  kann,  auch  daß 
erst  die  letzten  150  Jahre,  also  die  Zeit  von  Friedrich  II.  an,  eine  reichere  Summe 
von  Zahlen  für  das  Gedächtnis  bieten  sollen.  Daß  aber  in  den  übrigen  von  Harnack 
aufgestellten  Wünschen  gerade  das  aufs  glücklichste  formuliert  wird,  was  nötig  ist, 
um  den  Geschichtsunterricht  von  dem  Niveau  des  Paukens  auf  die  Höhe  wissen- 
schaftlicher Behandlung  zu  erheben,  und  auch  wieder  gerade  diejenigen  Punkte 
bewundernswert  klar  hervorgehoben  werden,  die  nach  den  besonderen  Zwecken 
der  Schule,  wo  Wissenschaft  nicht  um  ihrer  selbst  willen  getrieben  wird,  sondern 
zu  bestimmten  erzieherischen  und  bildenden  Zwecken,  das  wird  wohl  jeder  zugeben, 
dessen  Gedanken  diese  Bahn  gegangen  sind.  Aber  ob  es  nicht  etwa  nur  ein  Ziel 
darstelle,  wohl  aufs  innigste  zu  wünschen,  dagegen  im  Rahmen  des  Schulunterrichts 
leider  nicht  zu  verwirklichen,  darüber  werden  die  Meinungen  sicherlich  weit  aus- 
einander gehen. 

Innerhalb  der  jetzt  bestehenden  Organisation  der  Schulen,  bei  derjenigen  Lehr- 
stoffverteilung, welche  die  geltenden  Lehrpläne  jetzt  vorschreiben,  ist  es  nicht  mög- 
lich, den  vier  von  Harnack  ausgesprochenen  Wünschen  zu  entsprechen;  das  ist  auch 
Harnack  selbstverständlich  nicht  entgangen,  wie  das  die  kurze  Vorbemerkung 
zeigt,  die  er  dem  Druck  seiner  Rede  vorausgeschickt  hat,  und  das  hat  jeder  Lehrer 
erfahren,  wenn  er  den  Versuch  machte,  dem  geschichtlichen  Unterricht  einen 
wissenschaftlichen  Charakter  in  dem  von  Harnack  bezeichneten  Sinne  zu  verleihen. 
Zu  gründlicher  Behandlung  der  römischen  Kaiserzeit,  etwa  bis  Justinian  hin,  ist 
absolut  keine  Zeit,  wenn  nur  ein  Jahr  dem  Unterricht  in  der  alten  Geschichte  zur 
Verfügung  steht.  Die  Lehrpläne  schreiben  ja  freilich  die  Behandlung  der  Kaiser- 
geschichte vor  für  den  Anfang  des  Primaunterrichts,  aber  bei  dem  riesigen  Jahres- 
pensum, das  der  Prima  gestellt  ist  —  erstes  Jahr  bis  1648,  zweites  Jahr  bis  zur 
Gegenwart,  wo  noch  dazu  das  zweite  Jahr  durch  den  meist  frühen  Termin  des 
Abituriums  um  fast  ein  Vierteljahr  gekürzt  wird  —  kommt  man  unfehlbar  in  ein 
unüberwindliches  Gedränge,  wenn  man  auf  die  Kaiserzeit  die  für  eine  solide 
Behandlung  nötige  Zeit  verwendet. 

Auch  für  die  politische  und  staatsrechtliche  Unterweisung  ist  außerordentlich 
schwer  Zeit  zu  erübrigen.  Unser  Geschichtsunterricht  vollzieht  sich  ja  in  zwei  sich 
wiederholenden  Kreisen:  einer  von  Quarta  bis  Untersekunda  einschließlich,  ein 
zweiter  von  Obersekunda  bis  Oberprima.  Wo  soll  man  da  die  Unterweisung  in 
dem,  was  man  Bürgerkunde  nennt,  unterbringen?  Quarta  bis  Olli  lassen  absolut 
keine  Zeit,  auch  bietet  sich  da  keine  aus  dem  Unterricht  selbst  organisch  sich 
ergebende  Gelegenheit.  Beides  ist  freilich  wohl  vorhanden  in  Uli;  diese  Klasse 
hat  eigentlich  nur  das  19.  Jahrhundert  zu  behandeln,  wird  deshalb  wohl  an  den 
meisten  Schulen  zu  Unterweisungen  in  dem  von  Harnack  gewünschten  Sinn  benutzt. 
Ist  sie  aber  dafür  eigentlich  der  geeignete  Platz?  Ich  meine  nicht.  Dem  aus 
eigenem  Interesse  entspringenden  Bedürfnis  entspricht  bei  Untersekundanern  höch- 
stens  eine   im   allerallgemeinsten    orientierende  Unterweisung  über  die  politische 


Zu  Harnacks  Vorschlägen  über  die  Behandlung  usw.  153 

« 
Gestalt  unseres  eigenen  Staatswesens;  eine  wirkliche  Einführung  in  Pflichten  und 
Rechte  der  Staatsbürger  liegt  den  Jungen  bei  ihrem  Alter  wirklich  noch  sehr  fern. 
Das  wird  Hunderten  von  Lehrern  gerade  jetzt  wieder  sehr  deutlich  zum  Bewußtsein 
gekommen  sein,  wo  sie  am  19.  November  auf  das  Wesen  der  Stein-Hardenbergschen 
Reform  hinzuweisen  hatten.  Wer  den  Versuch  machte,  diese  Unterweisung  in  dem 
Geist  zu  geben,  der  der  höheren  Schule  angemessen  ist,  wo  man  doch  womöglich 
alles  durch  das  Verständnis  der  Schüler  selbst  sich  gestalten  lassen  will,  der  hat, 
wenn  er  es  vorher  noch  nicht  wußte,  sicherlich  hier  erfahren,  daß  die  Jungen  bis 
zur  Uli  und  darüber  hinaus  für  solche  Betrachtungen  noch  nicht  reif  sind.  Nein, 
die  gegebene  Art  wäre  die  Behandlung  derselben  Periode  in  Oberprima;  aber 
woher  da  zu  solchen  Betrachtungen,  die  sich  doch  nicht  im  Stil  des  Kollegvortrags 
geben  dürfen,  sondern  die  im  Hin  und  Her  des  Unterrichtens  erwachsen  müssen, 
die  Zeit  nehmen?  Dasselbe  Pensum,  für  das  auf  der  Mittelstufe  zwei  Jahre  zur 
Verfügung  standen,  ist  hier  auf  dreiviertel  Jahre  angewiesen,  und  dabei  ist  der 
Unterricht  durchTden  weltgeschichtlichen  Charakter,  den  er  in  Prima  doch  haben 
muß  im  Gegensatz  zum  mehr  landesgeschichtlichen  der  Mittelstufe,  noch  mit 
eigenen  schwierigen  Aufgaben  genug  belastet.  Also  innerhalb  der  jetzt  geltenden 
Organisation  ist  die  Verwirklichung  des  Harnackschen  Ideals  nicht  möglich  an  der 
Stelle,  wo  sie  naturgemäß  eintreten  müßte,  um  wirklichen  Nutzen  zu  stiften.  Und 
auch  der  dritte  Wunsch  Harnacks,  bei  geeigneten  Gelegenheiten  in  die  Methode 
der  Geschichtsforschung  einzuführen,  ist  bei  der  überreichen  Besetzung  der  Zeit, 
welche  dem  Geschichtsunterricht  zur  Verfügung  steht,  nicht  möglich,  wenigstens 
nicht  innerhalb  des  Geschichtsunterrichts.  Freilich  wird  sachlich  dem  Harnackschen 
Wunsch  sicherlich  an  den  meisten  Gymnasien  an  einer  andern  Stelle  entsprochen. 
Die  alten  Autoren,  welche  unsere  Schüler  auf  der  Schule  beschäftigen,  sind  ja  zum 
großen  Teil  Historiker  und  alle  historischen  Quellen,  insoweit  sie  uns  die  Kenntnis 
des  Altertums  vermitteln.  Daraus  ergibt  sich  von  selbst,  daß  die  Schüler  eine 
ganze  Fülle  der  Grundbegriffe,  die  für  die  historische  Forschung  notwendig  sind, 
kennen  lernen.  Nicht  nur,  was  eine  Urkunde  ist,  privater  oder  öffentlicher  Art, 
Inschriften,  Briefe  usw.,  sondern  auch  jede  Form  von  künstlerischer  Darstellung 
historischer  Vorgänge:  naive  und  tendenziöse  Memoiren,  pragmatische  Darstellungen, 
Biographien,  Parteischriften,  Anklagen  und  Verteidigungen,  kurz  alle  nur  denkbaren 
Formen  historischer  Darstellung  werden  ihnen  in  langsamer,  zur  Berücksichtigung 
aller  mit  ihnen  verbundenen  Probleme  eingehender  Lektüre  bekannt,  mit  philoso- 
phischer Betrachtung  von  Politik  und  Geschichte  werden  sie  vertraut.  Daraus 
ergibt  sich  fast  unvermeidlich  die  Notwendigkeit,  methodologische  Probleme  zu 
behandeln  und  auch  an  Einzelfällen  historische  Kritik  zu  üben.  Ebenso  werden 
Fragen  der  Chronologie  und  Topographie  und  aller  der  andern  Hilfswissenschaften 
gelegentlich  berührt;  kurz,  in  diesem  Punkte  wird  materiell  sicheriich  das  Gymnasium 
den  Harnackschen  Forderungen  gerecht.  Freilich,  daß  die  hier  gewonnene  Fähig- 
keit auch  auf  dem  Gebiet  der  nicht  antiken  Geschichte  betätigt  werde,  dazu  wird 
sich,  obgleich  historische  Lesebücher  nicht  fehlen,  kaum  je  irgendwo  die  Zeit 
finden.  Das  hat  ja  an  sich  nicht  so  viel  zu  bedeuten,  da  es  bei  der  Weckung  von 
Verständnis  für  wissenschaftliches  Arbeiten  nicht  auf  die  Quantität,  sondern  die 
Intensität  ankommt.    Ein  Übelstand  ist  dabei  unverkennbar:  da  der  philologische 


154  C.   Hölk, 

Unterricht  nicht  in  derselben  Hand  zu  liegen  braucht  und  oft  auch  nicht  in  der- 
selben Hand  liegen  kann  wie  der  historische,  so  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß 
einerseits  der  philologische  Unterricht  gerade  den  historischen  Problemen  sein 
Interesse  nicht  zuwendet  und  anderseits,  daß  Differenzen  in  Behandlung  und 
Beurteilung  sich  zeigen.    Und  dann  kommt  doch  noch  eins  hinzu. 

In  der  modernen  Geschichte  stehen  im  Vordergrunde  doch  oft  Interessen, 
welche  wohl  auch  im  Altertum  wirksam  gewesen  sind,  aber  sich  mehr  im 
Hintergrund  gehalten  haben,  oder  wenigstens  für  uns  mehr  den  durch  ahnende 
Intuition  als  durch  bewußte  Kenntnis  zu  erfassenden  Hintergrund  des  Geschehens 
bilden.  Was  wissen  wir  von  den  großen  wirtschaftlichen  und  sozialen  Problemen, 
die  auch  im  Altertum  das  Leben  der  Menschen  bestimmt  haben  müssen,  aber  uns 
nur  in  höchst  beschränktem  Maße  faßbar  sind?  Läßt  sich  an  alter  Geschichte  be- 
greifen, welchen  ungeheueren  Einfluß  religiöse  und  konfessionelle,  rassenpolitische, 
dynastische  Fragen  auf  die  Gestaltung  der  Dinge  haben?  Und  läßt  sich  leugnen, 
daß  ein  Verständnis  für  den  Geist  der  modernen  Geschichte  ohne  die  Kenntnis 
von  den  Grundproblemen  aller  dieser  Fragen  unmöglich  ist?  Daß  auch  die  mo- 
derne Geschichtsforschung  diese  Dinge  außer  der  philologischen  Erkundung  des 
Quellenmaterials  in  den  Bereich  ihrer  Forschung  ziehen  muß?  Wo  soll  man  aber 
dazu  im  Rahmen  der  heutigen  Organisation  die  Zeit  nehmen?  Die  passende  Ge- 
legenheit würde  dazu  sein  der  Unterricht  in  Oberprima;  daß  der  aber  sowieso 
übermäßig  belastet  ist,  habe  ich  schon  vorhin  gesagt. 

Und  ebenso  geht  es  mit  der  letzten  Forderung  Harnacks,  daß  der  Unterricht 
in  der  Prima  nicht  in  der  Behandlung  des  politischen  Tatsachenmaterials  stecken 
bleiben  dürfe.  Die  Zahl  der  Lehrer,  die  den  brennenden  Wunsch  haben,  in  der 
Prima  über  die  jetzt  übliche  Form  des  Unterrichts  hinauszukommen  zu  einer  all- 
gemeineren Behandlung,  ist  viel  größer  als  der  Draußenstehende  meint;  aber  wie 
soll  es  der  Lehrer  anfangen,  für  solche  Dinge,  die  doch  auch  nur  im  Hin  und  Her 
des  Unterrichts  erwachsen  dürfen  und  nicht  in  rein  akademischem  Vortrag  geboten 
werden  können,  Zeit  zu  gewinnen?  Solange  das  Abiturientenexamen  mit  der 
Nötigung  eine  reiche  Fülle  präsenten  Stoffes  aus  der  ganzen  Weltgeschichte  zu 
beschaffen  existiert,  ist  der  Lehrer  an  allen  Ecken  und  Winkeln  gebunden. 

In  einem  seiner  letzten  Aufsätze  (demjenigen  über  den  nationalen  Charakter 
der  deutschen  höheren  Schule  und  die  Tendenz  der  letzten  Schulreform)  spricht 
Paulsen  sehr  klar  und  sehr  richtig  aus,  was  ja  auch  von  anderer  Seite  schon  oft 
betont  ist,  daß  das  Grundübel  unseres  heutigen  Schulbetriebes  sei,  daß  er  sich  zu 
sehr  im  Geist  der  Pensenlernschule  bewege.  Besonders  deutlich  tritt  das  im 
Geschichtsunterricht  der  Prima  hervor,  dessen  Aufgabe  so  belastet  ist,  daß  er  zu 
innerer  Freiheit  nicht  gedeihen  kann. 

Fasse  ich  das  Gesamtergebnis  dieser  Erwägungen  zusammen,  so  meine  ich 
erklären  zu  dürfen,  daß  man  sich  der  Erkenntnis  nicht  verschließen  kann,  daß 
innerhalb  der  jetzt  geltenden  Organisation  die  Verwirklichung  der  Harnackschen 
Forderungen  unerreichbar  scheint,  daß  ihrer  Durchführung  vorausgehen  muß  eine 
gründliche  Änderung  in  der  Art  des  Geschichtsunterrichts  überhaupt.  Im  persön- 
lichen Austausch  der  Gedanken  ist  mir  deshalb  öfter  die  Meinung  entgegen- 
getreten,  daß    man    aus   diesem  Grunde  von  vornherein  darauf  verzichten  müsse, 


Zu  Harnacks  Vorschlägen  über  die  Behandlung  usw.  155 

9 

dem  Unterricht  den  von  Harnack  gewünschten  Charakter  zu  geben.  Das  ist 
falsch.  Denn  die  Mittel,  welche  die  Schule  in  ihrer  Organisation  anwendet,  sollen 
sich  richten  nach  dem  Endziel,  das  dem  Unterricht  gestellt  ist,  nicht  umgekehrt 
durch  ihr  Schwergewicht  das  Endziel  herabziehen.  Aber  wie  soll  man  es  an- 
fangen? Auch  Harnack  verweist  in  der  vorhin  schon  zitierten  Vorbemerkung  vor 
der  Buchausgabe  seiner  Rede  auf  das  Mittel,  das  als  Panazee  empfohlen  zu  werden 
pflegt:  er  betrachte  als  Voraussetzung  für  die  Verwirklichung  seiner  Ideen  die 
freiere  Bewegung  des  Unterrichts  in  der  Prima  und  die  Bezeichnung  gewisser 
Unterrichtsfächer  als  wahlfreier.  Über  diesen  Begriff  sind  die  Meinungen  noch 
recht  wenig  geklärt,  und  es  ist  auch  wohl  kaum  Aussicht,  daß  sich  eine  allgemein 
anerkannte  Formel,  was  darunter  zu  verstehen  sei,  in  Kürze  herausbilden  sollte. 
Soll  man  deshalb  mit  dem  Versuch,  die  Harnackschen  Ideen  zu  verwirklichen,  warten, 
bis  durch  neue  Lehrpläne  allgemein  gültig  festgesetzt  sei,  was  man  unter  Be- 
wegungsfreiheit zu  verstehen  habe?  Ich  meine  nicht.  Auch  auf  der  Basis  der 
Schulorganisation  wie  sie  heute  ist,  läßt  sich,  ohne  wahlfreie  Fächer,  nur  durch 
innere  Freiheit  in  der  Handhabung  des  Stoffes  wohl  die  Verwirklichung  der 
Harnackschen  Wünsche  erreichen. 

Es  handelt  sich  darum,  Raum  zu  schaffen:  1.  für  die  ausführliche  Behandlung 
der  Kaisergeschichte;  2.  für  wirkungsvolle  Einführung  in  die  Bürgerkunde;  3.  für 
den  Einblick  in  die  wissenschaftliche  Werkstatt  des  Historikers  und  4.  für  die  Mög- 
lichkeit, aus  der  Behandlung  des  politischen  Tatsachenmaterials  sich  zu  erheben 
zur  Behandlung  der  Geschichte  als  „Geschichte  des  Geistes". 

Ich  habe  vorhin  gesagt,  daß  die  einzige  Klasse,  der  ein  verhältnismäßig 
kleines  Pensum  zugemessen  sei,  die  Untersekunda  sei;  in  ihr  sei  deshalb  auch 
Zeit  für  die  Behandlung  der  Bürgerkunde.  Doch  ähnlich  wie  U I  ist  nicht  über- 
lastet die  Obertertia.  Wenn  man  nun  das  Pensum  der  O  III  so  ausdehnte,  daß  es 
auch  die  Lehraufgabe  der  U  II  umfaßte,  dann  würde  in  der  Obertertia  ungefähr  der 
Stoff  behandelt,  den  auf  der  Oberstufe  bis  jetzt  die  Ol  zu  lehren  hat.  Daß  das 
möglich  ist,  ohne  die  Schüler  und  die  einzelnen  Stunden  zu  sehr  zu  belasten,  wird 
kein  Lehrer  leugnen;  bis  vor  kurzem  ist  es  ja  auch  so  gewesen  und  gegangen. 
Dadurch  würde  die  Möglichkeit  eröffnet,  die  alte  Geschichte  wie  früher  auf  die 
beiden  Sekundajahre  auszudehnen.  Das  empfiehlt  sich,  immer  unter  dem  Gesichts- 
winkel, den  die  Harnackschen  Vorschläge  angeben,  betrachtet,  aus  folgenden 
Gründen. 

1.  Es  wäre  dann  ein  Jahr  da  für  die  Behandlung  der  griechischen  Ge- 
schichte, nicht  bis  zur  Schlacht  von  Chäronea  und  bis  zu  Alexanders  Tod,  wo 
jetzt  die  griechische  Welt  unterzugehen  pflegt,  sondern  bis  zum  Eingehen  der 
griechischen  Welt  in  das  Weltreich  Roms.  Ich  will  nicht  behaupten,  daß  das  ebenso 
wichtig  sei,  wie  die  Behandlung  der  Kaisergeschichte,  aber  wenn  die  ganze  ge- 
lehrte Tätigkeit  der  Gegenwart  in  der  Hauptsache  der  Aufklärung  gerade  der  Zeiten 
des  Hellenismus  gewidmet  ist  und  wenn  für  diese  Zeiten  der  Kreis  unserer  Kennt- 
nisse riesig  erweitert  und  durch  diesen  Zuwachs  an  Erkenntnis  unsere  Beurteilung 
der  historischen  Bedeutung  des  Griechentums  von  Grund  aus  verändert  ist,  so  darf 
sich  die  Schule  der  Behandlung  dieser  Zeit  nicht  entziehen. 

2.  Ein  weiteres  Jahr  stände  zur  Verfügung  für  die   römische  Geschichte  bis 


156  C.  Hölk, 

Justinian.  Da  die  römische  Geschichte  eigenthch  für  uns  erst  mit  den  punischen 
Kriegen  beginnt,  so  bleibt  für  die  Behandlung  der  Zeit  nach  Cäsars  Tod  ein 
volles  Halbjahr,  wirklich  genug,  um  der  Kaiserzeit  gerecht  zu  werden. 

Damit  wäre  für  die  Erfüllung  der  einen  Harnackschen  Forderung,  die  Kaiser- 
geschichte genau  zu  behandeln,  gesorgt.  Aber  dadurch  allein  empfiehlt  sich  diese 
Änderung  nicht.  Harnack  legt  mit  Recht  besonderen  Wert  darauf,  daß  die  Ge- 
schichte nützlich  wirken  müsse  für  die  Vorbereitung  der  jungen  Leute  auf  ihre 
Betätigung  im  Staat  der  Gegenwart.  Was  ist  aber  dazu  nötig?  Doch  sicherlich 
der  Besitz  klarer  bewußtgewordener  Begriffe  von  den  Grundformen  und  Aufgaben 
der  politischen  Welt.  Engländer  pflegen  immer  zu  rühmen,  daß  bei  ihnen  die 
politische  Vorbereitung  der  Jugend  durch  das  Elternhaus  geschehe  und  durch  die 
politisch  so  stark  beeinflußte  Richtung  der  allgemeinen  Interessen.  Das  ist  bei 
uns  in  Deutschland  noch  nicht  der  Fall.  Die  Zahl  der  Familien,  wo  der  Vater 
mit  seinen  Jungen  die  allgemeinsten  politischen  Begriffe  erläutert,  wird  klein  sein. 
Da  muß  die  Schule  eingreifen,  denn  ihre  Aufgabe  ist  es,  der  Beeinflussung,  die 
das  Kind  durch  das  Elternhaus  erfährt,  ergänzend  zur  Seite  zu  treten.  Nun  sind 
aber  die  meisten  grundlegenden  politischen  Begriffe,  wie  ja  zum  großen  Teil 
auch  noch  die  für  sie  üblichen  Namen  verraten,  auf  griechischem  Boden  er- 
wachsen, als  Abstraktionen  von  den  politischen  Schicksalen  griechischer  Gemeinden 
und  Staaten  und  als  Resultat  griechischer  politischer  Spekulation.  Es  ist  also 
doch  das  natürliche,  auf  dem  Boden,  wo  sie  erwachsen  sind,  auch  diese  Grund- 
formen, die  das  politische  Dasein  annehmen  kann,  kennen  zu  lernen.  Natürlich 
darf  sich  die  Geschichte  nicht  in  antiquarische  Gelehrsamkeit,  die  sich  selbst  Zweck 
ist,  verlieren,  sondern  muß  so  orientiert  sein,  daß  die  Beziehungen  zur  Gegen- 
wart ständig  aus  den  typischen  Erscheinungen  des  Altertums  erläutert  werden. 
Es  soll  eben,  was  auch  der  Altersstufe  der  Untersekundaner  durchaus  angemessen 
ist,  die  allgemeine  Grundlage  für  politisches  Denken  gelegt  werden.  Das  gilt 
übrigens  nicht  nur  für  Begriffe  wie  Oligarchie,  Demokratie  usw.  usw.,  sondern 
auch  für  die  Grundlagen  der  Verwaltung,  wie  sie  Ägypten  ausgebildet  hat,  für 
Kolonisation  usw.  Ergänzend  tritt  dann  die  römische  Geschichte  hinzu,  die  ja 
gerade  für  verfassungsgeschichtliche  Betrachtungen  soviel  Gelegenheit  bietet  und 
über  das  griechische  politische  Wesen  hinaus  dem  modernen  sich  nähert. 

Die  Behandlung  dieser  grundlegenden  politischen  Begriffe  gerade  bei  der 
alten  Geschichte  ist  viel  praktischer  als  bei  sonst  einer  Gelegenheit,  weil  die  Er- 
örterung stattfindet  bei  einer  Geschichte,  die  der  Sphäre  des  persönlichen  Inter- 
esses ganz  entrückt  und  so  weit  entfernt  ist,  daß  eine  wirkliche  Objektivität  mög- 
lich wird.  Diese  begrifflichen  Operationen  finden  statt  gleichsam  am  Phantom; 
der  persönlichen  Sympathie  und  Antipathie  sind  sie  gleichermaßen  entzogen; 
ohne  bewußte  Absichtlichkeit  wird  der  Unterricht  zu  einer  Art  politischer  Pro- 
pädeutik. Dasselbe  gilt  auch  von  der  Einführung  in  die  historische  Kritik.  Hat 
man  je  ein  Jahr  für  griechische  und  römische  Geschichte  zur  Verfügung,  so  be- 
steht die  Möglichkeit,  etwa  an  der  Hand  von  Büchern  wie  den  Peterschen  Ge- 
schichtstabellen in  die  kritische  Behandlung  geschichtlicher  Probleme  einzuführen ; 
die  Geschichte  bietet  Gelegenheit,  die  hier  und  da  als  TrapspYov  gegebene  Be- 
lehrung  des   philologischen  Unterrichts   zusammenzufassen.    Und   was   vielleicht 


Zu  Harnacks  Vorschlägen  über  die  Behandlung  usw.  157 

das  Wichtigste  ist:  die  Harnacksche  Forderung,  die  'Geschichte  als  Geschichte  des 
Geistes  zu  behandeln,  wo  findet  sich  dafür  bessere  Gelegenheit,  als  bei  den  kleinen 
übersichtlichen  Verhältnissen  der  alten  Geschichte?  Sie  hat  sich  in  sich  totgelaufen. 
Die  Entwicklungsmöglichkeiten  die  den  Mittelmeervölkern  geboten  waren,  sind  bis 
an  ihr  Ende  gediehen.  Unsere  heutigen  politischen  Verhältnisse  sind  ja  noch  alle 
im  Fluß,  und  je  nach  der  Parteistellung  werden  sie  so  oder  so  beurteilt;  im  Alter- 
tum sieht  man  die  Dinge  wie  in  einem  Präparat  sorgfältig  ausgebreitet  vor  sich. 
Die  Grundfragen,  die  das  Leben  der  Menschen  bestimmen,  lassen  sich  dort  am 
klarsten  fassen  und  begreifen. 

Man  sieht,  eine  auf  zwei  Jahre  ausgedehnte  Behandlung  der  alten  Geschichte 
gibt  —  auf  dem  Gymnasium,  denn  um  das  allein  handelt  es  sich  —  die  Möglich- 
keit, den  Harnackschen  Wünschen  nach  jeder  Richtung  hin  gerecht  zu  werden. 
Sie  ist  deshalb  als  die  notwendige  Voraussetzung  zur  Verwirklichung  der  Harnack- 
schen Ideale  zu  betrachten.  Und  dieser  Verwirklichung  stehen  ernste  Bedenken 
nicht  gegenüber.  Denn  daß  es  heute  anders  ist,  kann  man  als  ernsten  Hinderungs- 
grund nicht  betrachten.  Abgesehen  davon,  daß  bis  1892  die  Untersekunda  noch 
der  alten  Geschichte  gehörte  und  abgesehen  davon,  daß  die  Obertertia  wirklich 
ohne  Mühe  das  Pensum  der  U II,  wenn  die  Bürgerkunde  davon  gestrichen  wird, 
bewältigen  kann:  so  spricht  für  die  Rückgewinnung  der  Untersekunda  für  die 
alte  Geschichte  noch  eine  andere  Erwägung,  die  ich  kurz  ausführen  muß. 

Die  Untersekunda  ist  seinerzeit  für  das  Pensum  der  Tertien  verwendet  worden 
mit  Rücksicht  auf  die  beträchtliche  Anzahl  derjenigen  Schüler,  die  das  Gymnasium 
nach  Absolvierung  der  U II  mit  der  Berechtigung  zum  einjährig-freiwilligen  Dienst 
verlassen  wollten.  Hat  aber  diese  Rücksicht,  die  damals  geboten  erschien,  heute 
noch  ihre  Berechtigung? 

Wenn  man  sich  auf  den  Boden  der  Harnackschen  Bestrebungen  stellt,  dann 
auf  jeden  Fall  nicht. 

Paulsens  unbestreitbares  und  nicht  hoch  genug  anzuerkennendes  Verdienst 
ist  es,  daß  er  die  letzte  Kraft  des  weichenden  Lebens  benutzte,  um  zu  betonen, 
daß  der  wahre  Sinn  der  jüngsten  Schulreform  der  sei,  den  höheren  Schulen  un- 
seres Vaterlandes  den  Charakter  wieder  zu  verleihen,  den  ihnen  die  Humboldtschen 
Reformen  gegeben  hatten:  vorzubereiten  auf  wissenschaftliche  Arbeit  und  wissen- 
schaftliches Denken.  Die  höheren  Schulen  —  Paulsen  nannte  alle  drei  Gattungen 
gern  mit  dem  gemeinsamen  Namen  Gymnasien  —  sollten  nicht  Pensenschulen 
sein,  sondern  Vorbereitungsschulen  für  wissenschaftliche  Arbeit.  Diesem  selben 
Zweck  sollte  jede  der  drei  Schulformen,  jede  in  der  Art,  die  sie  nach  ihrer  wissen- 
schaftlichen Grundlage  und  Struktur  vertrat,  dienen;  Nebenzwecke  neben  diesem 
eigentlichen  sollte  es  nicht  geben.  Und  es  ist  doch  eine  alte  Weisheit,  daß 
niemand  zwei  Herren  dienen  kann,  daß  Dinge  nur  auf  einen  Zweck  vollwertig 
angelegt  sein  können.  Da  ist  es  sicherlich  falsch,  wenn  man  in  den  einheitlichen 
Organismus  der  höheren  Schulen  aus  äußeren  Gründen  Nebenzwecke  hineinbaut; 
die  haben  dort  kein  Recht,  weil  sie  Verderben  wirken  müssen.  Ein  solcher  Ne- 
benzweck war  aber  der  Erwerb  der  Berechtigung  zum  Dienst  als  Einjährig-Frei- 
williger. An  sechsklassigen  Schulen  wird  diese  Berechtigung  als  Preis  für  das 
bestandene  Abgangsexamen  gewährt;  sicherlich  mit  Recht;  es  wäre  unrecht,  das 


158  C.  Hölk, 

bestreiten  zu  wollen.  Aber  ebenso  unrecht  ist  es  doch,  von  denjenigen  Schulen, 
die  einen  anderen  Plan  mit  weiteren  Zielen  folgen,  zu  verlangen,  daß  sie  nun 
ihre  aus  rationalen  Absichten  erwachsene  Struktur  verändern  sollen  aus  Rücksicht 
auf  eine  Einrichtung,  die  mit  ihrem  Wesen  nichts  zu  tun  hat.  Natürlich  müssen 
auch  diese  Schulen  die  Rechte  verleihen,  welche  die  Schule  mit  kürzerem  Studien- 
gang verleiht;  aber  dann  doch  nur  ohne  daß  sie  in  ihrer  Struktur  darum  Schaden 
nehmen.  Das  tun  sie  aber  zweifellos,  wenn  sie  die  alte  Geschichte  z.  B.  nicht 
auf  die  Untersekunda  ausdehnen,  denn  das  Wesen  der  humanistischen  Gymnasien 
ist  doch,  daß  sie  das  Zentrum  ihrer  Bildung  im  klassischen  Altertum  finden 
und  das  Schwergewicht  ihres  Unterrichts  in  das  Studium  der  Alten  verlegen.  Die 
Gymnasien  mögen  deshalb  ruhig  die  Berechtigung  zum  einjährigen  Dienst  nach 
sechsjährigem  Lehrgang  verleihen,  aber  die  Struktur  ihres  Lehrganges  sollen  sie 
sich  durch  diese  Rücksicht  nicht  verderben  lassen,  denn  einen  natürlichen  Einschnitt 
bietet  der  Lehrgang  des  Gymnasiums  nicht  in  Untersekunda,  sondern  höchstens  erst 
in  Obersekunda.  Man  pflegt,  um  die  Notwendigkeit  zu  erweisen,  daß  die  Unter- 
sekunda für  die  neueste  Geschichte  zu  verwenden  sei,  gerne  darauf  hinzuweisen, 
daß  die  mit  dem  Einjährigenschein  abgehenden  Schüler  einen  gewissen  Abschluß 
ihrer  Bildung  erreichen  müßten,  und  nannte  deshalb  auch  das  jetzt  ja  wieder  ver- 
schwundene Einjährigenexamen  mit  dem  schönklingenden  Namen:  Abschlußexamen. 
Mir  haben  Beobachtungen,  die  ich  seit  Jahren  mache,  starke  Zweifel  daran  erregt, 
ob  den  Eltern,  deren  Interessen  doch  wohl  die  Einrichtung  dieses  äußeren  Ab- 
schlusses dienen  sollte,  überhaupt  so  viel  an  dem  Abschluß  liegt.  Es  wächst  von 
Jahr  zu  Jahr  die  Zahl  derjenigen  Schüler,  die  mit  der  Erlangung  des  Einjährigen- 
zeugnisses nicht  zufrieden  sind,  sondern  durchaus  das  Zeugnis  für  die  Prima  er- 
werben wollen,  weil,  wie  die  Eltern  immer  versichern,  der  Wert  des  Einjährigen- 
zeugnisses in  der  allgemeinen  Einschätzung  gesunken  sei.  Daß  dabei  der  Wert 
des  Bildungsabschlusses,  den  die  Untersekunda  gewährt,  wieder  ganz  zerstört 
werde,  darüber  habe  ich  ernste  Bedenken  nie  gehört,  kaum  je  Verständnis  für 
solche  Betrachtung  gefunden.  Man  könnte  freilich,  angesichts  dieser  Neigung, 
auf  einen  andern  Vorschlag  kommen,  über  dessen  Richtigkeit  ich  mir  jedoch  ein 
bestimmtes  Urteil  nicht  erlauben  möchte.  Warum  soll  nicht  das  Gymnasium  das 
Zeugnis  zum  einjährigen  Dienst  erst  mit  der  Absolvierung  der  Obersekunda  ver- 
leihen? Das  hätte  allerdings  die  Folge,  daß  diese  Berechtigung  auf  den  Gymnasien 
erst  ein  ganzes  Jahr  später  erworben  würde  als  bei  den  sechsklassigen  Schulen 
und  auch  ev.  ein  Jahr  später  als  bei  den  beiden  andern  Vollanstalten,  dem  Real- 
gymnasium und  der  Oberrealschule,  falls  denen  die  innere  Struktur  ihres  Lehr- 
planes einen  Einschnitt  nach  sechs  Schuljahren  gestattet  anstatt  der  sieben  Schul- 
jahre des  Gymnasiums.  Aber  sollte  der  Schade  so  groß  sein?  Die  Zahl  der 
Gymnasiasten  würde  sicherlich  verringert  werden  um  die  Schüler,  die  nur  das 
Einjährige  erreichen  wollen;  die  würden  dann  eine  Schule  besuchen,  die  das 
Recht  nach  sechs  Jahren  verleiht.  Das  würde  den  Gymnasien  eine  Minderung 
ihrer  Schtilerzahl  und  voraussichtlich  auch  ihrer  Gesamtzahl  eintragen:  beides 
Dinge,  die  der  wahre  Freund  humanistischer  Bildung  mit  Gelassenheit  betrachten 
würde.  Und  diejenigen  Schüler  des  Gymnasiums,  die  aus  irgendwelchen  Gründen 
das  siebente  Schuljahr  nicht  zugeben  könnten,  hätten  ja  immerhin  die  Möglich- 


Zu  Harnacks  Vorschlägen  über  die  Behandlung  usw.  159 

keit,  durch  ein  Examen  vor  der  bei  allen  Regierungen  eingerichteten  Prüfungs- 
kommission die  Berechtigung  ein  Jahr  früher  zu  erwerben.  Sie  werden  schwerlich 
zu  befürchten  haben,  daß  sie  durchfallen. 

Ich  meine  also,  daß  ein  ernster  Grund,  die  Untersekunda  der  alten  Geschichte 
vorzuenthalten,  nicht  vorliegt,  ja  daß  vielmehr  diese  Rückbildung  geboten  ist, 
wenn  die  Paulsensche  Auslegung  der  jüngsten  Schulreform  richtig  ist,  auf  der  als 
Basis  die  in  dem  Buch  „Universität  und  Schule"  vereinigten  Vorträge,  darunter 
der  Harnacksche,  sich  erst  aufbauen. 

Aber  mit  dieser  Ausdehnung  des  Unterrichts  in  der  alten  Geschichte  auf  die 
Untersekunda  ist  für  die  Durchführung  der  Harnackschen  Ideen  noch  nicht  genug 
getan.  Auch  der  Unterricht  in  der  Prima  kann  nicht  in  der  alten  Form  bestehen 
bleiben;  er  muß  umorientiert  werden,  um  den  Forderungen  Harnacks  gerecht  zu 
werden.  Nachdem  in  den  Sekunden  die  grundlegenden  Definitionen  des  politi- 
schen Denkens  gewonnen  sind,  muß  in  der  Oberprima  die  Einführung  in  die  Welt 
der  Wirklichkeit  wie  sie  heute  vorliegt,  erfolgen.  Ferner  muß  die  Gelegenheit 
zum  Einblick  in  historische  Forschung  auch  hier  geschaffen  werden,  ebenso  wie 
der  „Geschichte  des  Geistes"  Zugang  eröffnet  werden  muß.  Wie  soll  man  das 
machen? 

Ich  glaube,  die  größte  Zahl  derjenigen  Lehrer,  die  wiederholt  in  den  Primen 
den  Geschichtsunterricht  gegeben  haben,  wird  mir  darin  recht  geben,  daß  auch 
der  fleißigste  und  unterrichtetste  Lehrer,  der  sich  bemüht,  im  Sinn  der  Harnack- 
schen Forderung  den  Unterricht  aus  der  Sphäre  der  politischen  Einzeltatsachen 
zu  einer  Geschichte  des  Geistes  zu  erheben,  nur  bei  sehr  wenigen  Schülern  einem 
selbsttätigen  Interesse  begegnet.  Die  jungen  Leute  verhalten  sich  auch  dem 
heißesten  Bemühen  gegenüber  sehr  passiv;  wäre  nicht  das  drohende  Gespenst 
des  mündlichen  Examens  beim  Abitur,  so  würde  die  Mitbetätigung,  wenige  Aus- 
nahmen immer  vorausgesetzt,  auf  ein  Minimum  herabsinken.  Ist  es  nun  aber  dem 
Geiste,  der  den  Unterricht  der  Prima  beherrschen  soll,  angemessen,  daß  nur  die 
Drohung  des  mündlichen  Examens  mit  seinen  Gefahren,  dem  Unterricht  Interesse 
und  Fleiß  sichert?  Doch  wohl  kaum!  Eine  Änderung  ist  also  notwendig.  Ob 
die  von  Harnack,  wie  es  scheint,  anerkannte,  daß  man  Geschichte  zum  wahlfreien 
Fach  mache,  nützen  werde,  ist  möglich,  aber  nicht  sicher.  Da  fragt  es  sich  doch 
zuerst,  ob  nicht  eine  Änderung  in  der  Methode  des  Geschichtsunterrichts  möglich 
sei.  Ich  habe  vor  einigen  Jahren  in  Geschichtskursen,  die  ich  an  einer  andern 
Schule  als  dem  Gymnasium  leitete,  einen  Versuch  gemacht,  der  mir  praktisch  zu 
sein  erscheint,  und  von  dem  ich  deshalb  berichten  will.  In  der  Überzeugung,  daß 
ich  mit  meinem  Versuch  auf  dem  richtigen  Wege  war,  hat  mich  unterdessen  das 
Erscheinen  von  Dietrich  Schäfers  Weltgeschichte  befestigt. 

Die  heutige  Art  des  Unterrichts  leidet  an  dem  Fehler,  daß  sie  sich  von  der 
Behandlung,  die  derselbe  Gegenstand  in  den  Tertien  erfahren  hat,  zu  wenig  ent- 
fernt. Während  sonst  mit  den  reiferen  Jahren  auch  die  Behandlung  eine  andere 
wird,  läßt  dazu  in  der  Geschichte  die  ungeheure  Fülle  des  Stoffes  den  Lehrer  nicht 
recht  kommen,  er  muß  sich  mit  Vortrag  und  Nacherzählen  und  Repetition  be- 
gnügen, kann  sich  auf  Diskussion,  sowie  sie  dem  Unterricht  auf  der  Oberstufe 
sonst  ihren  Reiz  verleiht,    nicht   einlassen.    Höchstens    daß  er  ab  und  zu  Schüler 


160  C.  Hölk, 

zu  Vorträgen  über  kleinere,  übersehbare  Gebiete  anleitet,  eine  außerordentlich 
dankbare  Aufgabe,  bei  der  auch  Verständnis  für  die  Technik  historischer  Forschung 
geweckt  und  zur  Lektüre  historischer  Werke  angeregt  werden  kann.  Aber  jedes 
Abweichen  vom  gewöhnlichen  Gang  annalistischer  Erzählung  rächt  sich  dadurch, 
daß  die  Zeit  knapp  wird,  wenn  das  Jahresende  herannaht  und  das  Lehrziel  noch 
in  weiter  Ferne  steht.  Was  auf  dem  Geschichtsunterricht  der  Prima  lastet,  das  ist, 
wie  ich  oben  schon  ausführte,  daß  er  zu  sehr  vom  Geist  der  Pensenlernschule  be- 
herrscht ist;  ihn  davon  zu  befreien,  dafür  muß  der  Hebel  eingesetzt  werden.  Das 
hat  mich  auch  seinerzeit  zu  meinem  Versuch  bestimmt. 

Man  stelle  dem  Primaunterricht  nicht  die  Aufgabe,  noch  einmal  in  chronolo- 
gischer Reihenfolge  die  ganze  Geschichte  von  dem  Zerfall  des  römischen  Reiches 
an  bis  zur  Gegenwart  hin  abzurollen,  sondern  mache  es  umgekehrt:  man  gehe 
vom  heutigen  Zustand  der  Staaten  aus,  suche  sie  in  ihrer  historischen  Be- 
dingtheit zu  begreifen,  indem  man  rückwärts  ihr  Entstehen  und  Wachsen  ver- 
folgt, und  suche  dann  von  da  aus  historisches  Verständnis  für  die  politischen 
Aufgaben  der  Gegenwart  und  der  nächsten  Zukunft  zu  gewinnen.  Dadurch  würde 
auch  Raum  geschaffen  für  eine  oft  begründete  Forderung  der  Geographen,  daß 
das  Gymnasium  auf  ihre  zu  so  starker  Bedeutung  entwickelte  Wissenschaft  mehr 
Rücksicht  nehmen  müsse.  Denn  das  versteht  sich  doch  von  selbst,  daß  eine  solche 
Betrachtungsweise  auszugehen  hätte  von  der  in  der  Geographie  so  glänzend  aus- 
gebildeten Betrachtungsweise,  den  heutigen  politischen  Zustand  in  seiner  Bedingt- 
heit durch  die  physische  Beschaffenheit  der  Länder  zu  begreifen.  Dazu  müßten 
statistische  und  politische  Betrachtungen  kommen.  Daß  junge  Leute  von  17—19  Jahren 
solcher  Art  der  Behandlung  mehr  selbsttätiges  Interesse  entgegenbringen,  als  dem 
bisher  vorgeschriebenen  Gang  des  Unterrichts  glaube  ich  aus  meiner  Erfahrung 
folgern  zu  dürfen. 

Es  wäre  dann  der  Unterprima  zuzuweisen  die  Behandlung  der  nichtdeutschen 
Staaten  und  Länder;  die  Oberprima  würde  frei  bleiben  für  die  Behandlung  der 
deutschen  Geschichte.*) 

Seit  dem  Erscheinen  von  Dietrich  Schäfers  Weltgeschichte  liegt  die  Not- 
wendigkeit einer  genaueren  Begründung  nicht  mehr  vor;  im  großen  und  ganzen 
würde  sich  der  Lehrer  der  Schäferschen  Betrachtungsweise  anschließen  können. 
Natürlich  reicht  aber  das  was  Schäfer  bietet  nicht  aus;  aus  seiner  Weltgeschichte 
kann  man  entnehmen,  welche  allgemeinen  politischen  Gedanken  man  verfolgen 
muß;  das  Material,  das  sonst  nötig  ist,  muß  anderweitig  beschafft  werden.  Und 
darin  liegt  ja  sicherlich  eine  Schwierigkeit.  Wir  Lehrer  sind  durch  unsere  histo- 
rische Vorbildung  mehr  für  die  Darstellung  der  Geschichte  erzogen,  wie  sie  bisher 
üblich  ist.  Aber  auch  so  kann  man  sich  für  den  ersten  Anfang  helfen;  später 
wird  sich  schon  die  genügende  Zahl  von  Hilfsbüchern  finden.  Ich  scheue  mich 
nicht  einzugestehen,  daß  ich  bei  meinem  Versuch  viel  Belehrung  in  den  Artikeln 
des  Brockhaus  gefunden  habe,  ebenso  wie  in  den  kleinen,  zum  Teil  ganz  vor- 
trefflichen Büchern  der  Göschenschen  Sammlung  sowie   in   den   ausgezeichneten 


*)  Sollte  es  nicht  möglich  sein,  diesen  Plan  für  Prima  schon  heute  zu  verwirklichen? 
Wenn  der  Geschichtslehrer  der  rechte  Mann  ist,  soUte  man  ihn  gewähren  lassen.     Mtth. 


Zu  Harnacks  Vorschlägen  über  die  Behnndlung  usw.  161 

Büchern,  die  Teubner  unter  dem  Gesarattitel  „Aus  Natur  und  Geisteswelt"  herausgibt. 
Vertiefung  durch  umfangreichere  Studien  wird  sich  später  schon  von  selbst  einstellen. 

Gerade  das  was  Harnack  als  wesentliche  Aufgabe  des  Geschichtsunterrichts 
betont,  das  glaube  ich  durch  diese  Art  der  Behandlung  erreicht  zu  haben,  soweit 
das  in  meinen  Kräften  stand.  Mittelpunkt  des  Unterrichts  werden  die  großen 
Fragen  der  politischen  Gegenwart;  sie  allseitig  in  ihrer  historischen  Bedingtheit 
und  Notwendigkeit  zu  begreifen,  das  ist  das  Ziel.  Das  politische  Einzeltatsachen- 
material reiht  sich,  von  seiner  Isoliertheit  befreit,  großen,  umfassenden  Gesichts- 
punkten ein,  weit  ausgreifende  Rückblicke  ermöglichen  Repetitionen  bis  in  das 
Altertum  hinein  und  wecken  das  Verständnis  für  historische  Kontinuität;  reichliche 
Gelegenheit,  die  Schüler  zu  eigenen  Vorträgen  heranzuziehen,  einzelne  Probleme 
in  freier  Diskussion  zu  behandeln  bietet  sich  allerorten.  Und  da  das  ganze  Jahr 
der  Oberprima  frei  ist  für  die  deutsche  Geschichte,  so  eröffnet  sich  hier  die  Mög- 
lichkeit zu  wirklich  wirksamer  Einführung  in  das  politische  Leben  unseres  Staates 
und  seine  Aufgaben. 

In  der  dem  Druck  seiner  Rede  vorausgeschickten  Vorbemerkung  sagt  Harnack, 
er  begrüße  es  mit  Freuden,  daß  auch  Lamprecht  die  von  Harnack  als  notwendig 
empfohlenen  Vorlesungen  (in  zwei  bis  drei  Semestern)  über  Weltgeschichte,  die 
jeder  Historiker  besuchen  müsse,  empfehle,  obgleich  er  der  Meinung  sei,  daß 
seine  und  Lamprechts  Meinungen  über  die  Ausführung  dieser  Vorlesungen  wahr- 
scheinlich auseinandergehen  werden;  man  müsse  den  Gedanken  an  solche  Diffe- 
renzen zurückstellen,  wo  es  gelte,  das  Wichtigere  zu  erreichen,  nämlich  daß  die 
Forderung  selbst  durchgesetzt  werde.  Hoffentlich  wird  er  dieselbe  Duldung  auch 
meinem  Vorschlag,  seine  Ideen  in  die  Praxis  umzusetzen,  zuteil  werden  lassen, 
obgleich  sie  sich  von  der  Voraussetzung,  an  die  er  die  Durchführbarkeit  seiner 
Ideen  knüpft,  die  sogenannte  freiere  Bewegung  im  Unterricht  der  oberen  Klassen 
und  die  Gestaltung  mehrerer  Fächer  als  wahlfreier,  entfernen.  Wenn  seine  Vor- 
schläge, daß  jedem  Studenten  die  Möglichkeit  geboten  werden  soll,  ein  über- 
sichtliches Kolleg  über  Weltgeschichte  und  ebenso  eins  über  den  Zustand  unseres 
modernen  Staates  zu  hören,  verwirklicht  wird,  dann  wird  die  Durchführung  seiner 
Gedanken  den  kommenden  Lehrern  sicherlich  leichter  sein  als  uns  älteren,  denen 
sich  zu  solcher  Art  der  Belehrung  keine  Möglichkeit  bot.  Aber  den  Nachweis  zu 
liefern,  daß  auch  ohne  diese  Voraussetzungen  schon  innerhalb  des  heutigen 
Rahmens,  mit  leichten  Änderungen  sich  eine  Umsetzung  seiner  Theorie  in  die 
Praxis  ermöglichen  lasse,  und  einen  Weg  dahin  zu  zeigen,  war  die  Absicht  der 
vorliegenden  Gedanken.  Daß  sie  nicht  den  Anspruch  erheben,  die  einzige  mög- 
liche Lösung  zu  sein  und  womöglich  gleich  zum  Gesetz  erhoben  zu  werden, 
sondern  daß  meiner  Überzeugung  nach  die  Fruktifizierung  der  Harnackschen  Ideen 
der  Individualität  des  Lehrers  überlassen  bleiben  muß,  der  der  praktischen  Auf- 
gabe gegenüber  steht,  das  besonders  zu  betonen  halte  ich  für  unnötig,  da  es 
selbstverständlich  ist.  Denn  Wissenschaft  lehren  in  dem  Sinne  wie  Harnack  es 
will,  dafür  ist  Voraussetzung  weitgehende  Freiheit  des  Lehrers  im  Schalten  mit 
seinen  Mitteln. 

Steglitz.  C.  Hölk. 

iMonatschrift  f.  höh.  Schulen.    VHI.  Jhrg.  H 


162  W.  Meier, 

Bürgerkunde. 

Mitte  Dezember  1908  fand  in  Düsseldorf  im  Park-Hotel  eine  „bedeutungsvolle 
Kundgebung"  statt,  bei  der  unter  dem  Vorsitze  des  Oberbürgermeisters  Marx  und 
in  Anwesenheit  der  Spitzen  der  Behörden  und  hervorragender  Männer  der 
Regierungsrat  Negenborn  einen  sehr  anziehenden  Vortrag  hielt  über  das  Thema, 
wie  eine  bessere  staatsbürgerliche  Erziehung  unserer  Jugend  herbeizuführen  sei. 
Nach  einer  außerordentlich  lebhaften  Diskussion  einigte  sich  die  Versammlung  in 
einer  Resolution  (dem  Sinne  nach)  auf  folgende  zwei  Sätze:  1.  Wir  Deutschen 
von  heute  zeigen  einen  bedeutenden  Mangel  an  politischem  Verständnis;  2.  Ab- 
hilfe muß  in  Zukunft  durch  die  Schule  geschaffen  werden.  —  In  dem  offiziellen 
Bericht  über  die  Versammlung,  der  an  die  Zeitungen  und  in  erweiterter  Form  an 
die  Ministerien  versandt  wurde,  hieß  es  am  Ende:  „Die  Versammlung  erkannte 
am  Schlüsse  einmütig  an,  daß  sich  ein  für  unser  staatliches  Leben  und  die 
Entwicklung  des  Staates  bedenklicher  Mangel  an  staatsbürgerlicher  Bildung  im 
deutschen  Volk  zeigt,  daß  diesem  Mangel  notwendig  abgeholfen  werden  muß  und 
zwar  durch  einen  geordneten  Unterricht  in  der  Bürgerkunde  an  mittleren,  höheren 
und  Hochschulen  aller  Art  und  eine  zur  Erteilung  solchen  Unterrichts  geeignete 
Ausbildung  der  Lehrer." 

Die  Resolution  zeigt,  daß  der  Mangel  auch  an  unseren  höheren  Lehranstalten 
empfunden  wird,  und  der  Verlauf  der  Diskussion  bewies,  daß  man  hauptsächlich 
von  ihnen  Änderung  in  der  bestehenden  Art  des  Unterrichts  wünschte.  Da  ich,  wie 
ich  glaube,  der  einzige  Philologe  war,  der  an  der  Versammlung  teilnehmen  konnte, 
so  hielt  ich  mich  für  verpflichtet,  mehrfach  das  Wort  zu  ergreifen  und  legte  folgendes 
dar :  1.  es  bestehen  bereits  amtliche  Vorschriften  darüber,  die  Dinge,  die  unter 
staatsbürgerlicher  Erziehung  begriffen  werden,  besonders  im  Geschichtsunterricht 
an  den  höheren  Lehranstalten  eingehend  zu  behandeln;  2.  sowohl  in  Untersekunda 
wie  in  Oberprima  ist  reichlich  Zeit  und  auch  im  sonstigen  Unterricht  viele  Gelegen- 
heit gegeben  für  die  Behandlung  dieser  Punkte;  3.  die  wirkliche  Ursache  des 
festgestellten  Mangels  an  politischem  Verständnis  und  Interesse  liegt  tiefer  und  ist 
nicht  in  der  Schule  zu  suchen;  4.  weitergehende  politische  Belehrungen  sind  nicht 
bloß  Sache  der  Schule,  sondern  müssen  vor  allem  von  den  Vätern  gegeben  werden, 
die  selbst  aus  ihrer  politisch  indifferenten  Haltung  heraustreten  müssen,  denn  in 
erster  Linie  tut  nicht  mehr  Wissen,  sondern  mehr  Liebe  zum  Ganzen  not;  5.  ein 
^geordneter  Unterricht  in  der  Bürgerkunde "  —  er  wurde  nicht  in  der  Resolution 
der  Versammlung,  sondern  nur  von  dem  Vortragenden  oder  einem  Diskussions- 
redner gewünscht  —  ist  an  den  höheren  Schulen  nicht  nur  unnötig,  da  bereits 
der  Stoff  an  den  geeigneten  Stellen  im  gesamten  Unterricht  vermittelt  wird,  sondern 
kann  sogar  schädlich  wirken,  weil  vielfach  der  lebendige  und  erwärmende  Zu- 
sammenhang mit  dem  Geschichtsunterricht  fehlen  wird.  —  Was  den  4.  Punkt  an- 
geht, so  konnte  ich  zwei  Beispiele,  die  in  der  Versammlung,  allerdings  in  anderem 
Sinne,  erwähnt  wurden,  nämlich  die  politische  Reife  der  jungen  Römer  und  der 
Kinder  unserer  Sozialdemokraten,  für  meine  Forderung  in  Anspruch  nehmen. 

Nach  der  Versammlung  habe  ich  über  ihren  Gegenstand  weiter  nachgedacht, 
und  ich  konnte  mich  der  Erkenntnis  nicht  verschließen:  wenn  auch  ein  , geordneter 


Bürgerkunde.  '  163 

Unterricht  in  der  Bürgerkunde"  für  unsere  höheren  Anstalten  abzulehnen  ist,  so 
kann  doch  mehr  geschehen  in  der  Art  des  Unterrichtsbetriebes. 

Zunächst  könnte  die  Ausbildung  der  Geschichtslehrer  selbst  stärker  gefördert 
werden,  und  zwar  durch  sie  selbst,  wie  durch  die  vorgesetzten  Behörden.  Bei  keinem 
anderen  Lehrfache,  wie  gerade  bei  der  Geschichte,  besteht  die  dringende  Not- 
wendigkeit, nicht  nur  das  auf  der  Universität  erworbene  Wissen  zu  vertiefen  und 
zu  erweitern,  sondern  auch  selbst  forschend  mitzuarbeiten.  Einen  guten  Geschichts- 
unterricht kann  nur  geben,  wer  nicht  nur  die  politische  Geschichte  beherrscht, 
sondern  auch  in  der  Nationalökonomie  und  Kunstgeschichte  gut  bewandert  ist. 
Die  Behörden  aber  könnten  helfen,  indem  sie  z.  B.  Ferienkurse  für  Historiker 
einrichteten  oder  die  Teilnahme  an  sozialpolitischen  Kursen,  wie  etwa  den  in  Cöln 
veranstalteten,  veranlaßten  oder  unterstützten.  Es  ist  ganz  sonderbar,  wie  wenig 
Oberlehrer  vergangenen  Herbst  den  Internationalen  Historikerkongreß  in  Berlin 
und  die  Cöhier  Kurse  besuchten.  Da  ferner  für  den  Historiker  namentlich  die 
Beurteilung  der  heutigen  Verhältnisse  und  die  Kenntnis  unseres  gesamten  Vaterlandes 
von  Wichtigkeit  ist,  so  möchte  ich  dafür  zwei  Vorschläge  machen:  1.  daß  die 
Oberlehrer  mehr  als  Schöffen  und  Geschworene  und  zu  anderen  Ehrenämtern  zu- 
gezogen werden;  2.  daß  man  die  jungen  Philologen  häufiger  von  West  nach  Ost 
und  umgekehrt,  wenn  auch  für  kürzere  Zeit,  versetzt,  denn  dadurch  wird  das 
Verständnis  für  innerpolitische  Verhältnisse  größer  werden.  Ich  persönlich  möchte 
nicht  die  Erfahrungen  missen,  die  ich  als  Rheinländer  und  Katholik  durch  längeren 
Schuldienst  in  Berlin  und  Schlesien  gesammelt  habe.  Mir  sind  aber  viele  Fälle 
bekannt,  daß  Herren  vom  Seminarjahr  an  bis  zu  ihrer  Pensionierung  an  ein  und 
derselben  Anstalt  tätig  waren.  Weiter  aber  sollten  die  Direktoren  nur  denjenigen 
Herren  den  Geschichtsunterricht  übertragen,  die  wirklich  ganz  als  Historiker  aus- 
gebildet sind;  denn  oft  genug  hört  man  die  sehr  verkehrte  Meinung  aussprechen, 
Geschichte  könne,  wie  Deutsch,  jeder  Oberlehrer  unterrichten. 

Der  Betrieb  des  Geschichtsunterrichts  erfordert  ein  ganz  besonderes  Studium, 
Fragen  mehr  technischer  Natur  will  ich  hier  nicht  berühren.  Ganz  gewiß  aber  wäre 
die  staatsbürgerliche  Bildung  größer,  wenn  wir  noch  stärker  Vaterlands-  und  Heimat- 
liebe betonten.  Wir  Lehrer  kommen  im  Unterricht  mit  der  bloß  objektiven 
Geschichtsdarstellung,  wenn  es  überhaupt  eine  gibt,  nicht  weiter.  Etwas  anderes 
ist  die  Wissenschaft,  etwas  anderes  die  Schule,  wo  wir  erwärmen  und  begeistern 
wollen.  Zur  Förderung  der  Heimatliebe  aber  muß  mehr  die  Heimatgeschichte 
herangezogen  werden,  und  darum  wünsche  ich  wie  im  Deutschen,  so  auch  in  der 
Geschichte  mehr  landschaftlich  gefärbte  Lese-  und  Lehrbücher.  Wann  hört  man 
z.  B.  an  unseren  Düsseldorfer  Anstalten  etwas  Eingehendes  und  Zusammenhängendes 
über  unsere  so  alte  und  wichtige  rheinische  Geschichte?  Wäre  es  anders,  dann  würde 
es  eine  fruchtbare  Aufgabe  sein,  festzustellen,  was  die  einzelnen  Landesteile  der  Er- 
ziehung durch  die  brandenburgisch-preußischen  Fürsten  verdanken,  und  was  umge- 
kehrt Preußen  gewann  durch  die  Erwerbungen.  Um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  so 
würde  man  auf  diese  Weise  erkennen  und  hervorzuheben  haben,  wie  die  nieder- 
rheinischen Lande  mit  ihrem  vielgestaltigen  Glaubensleben  und  ihren  weitherzigen 
cleve-bergischen  Fürsten  sofort  von  1609  an  Brandenburg  aus  seiner  damals  eng 
konfessionellen  Haltung  herausgenötigt  haben  zu  einer  toleranten  Politik.    Im  Zu- 

11* 


164  W.  Meier,  Bürgerkunde. 

sammenhang  mit  dieser  stärkeren  Betonung  der  Heimatgeschichte  steht  eine  größere 
Beschränkung  des  Geschichtsstoffes  auf  unsere  deutsche  Geschichte  und  diejenigen 
außerdeutschen  Dinge,  die  auf  unsere  geistige  und  materielle  Kultur  von  bestim- 
mendem Einfluß  gewesen  sind.  In  diesem  Punkte  müssen  wir  in  höherem  Grade 
bewußt  einseitig  auf  der  Schule  sein  und  dürfen  hoffen  und  erwarten,  daß  der 
strebsame  junge  Mann  die  fehlenden  Kenntnisse  selbst  sich  im  Leben  erwerben 
wird.  —  Ein  weiterer  Vorschlag  könnte  auf  den  ersten  Blick  bedenklich  erscheinen, 
ist  es  aber  tatsächlich  nicht.  Wie  viele,  sonst  gebildete  Menschen  stehen  den 
Behauptungen  der,  oder  besser  gesagt,  ihrer  Zeitung  kritik-  und  hilflos  gegenüber, 
und  zum  guten  Teil  rührt  daher  auch  die  staatsbürgerliche  Unkenntnis.  Da  meine 
ich  nun,  wir  könnten  unsere  älteren  Schüler  darin  üben,  Zeitungen  mit  rein  sach- 
licher Kritik  zu  lesen.  Natürlich  dürfte  das  nur  mit  sehr  feinfühliger  Hand  geschehen, 
und  diese  Art  von  Kritik  müßte  nicht  an  sogenannten  aktuellen,  sondern  an 
historischen  oder  parteiprinzipiellen  Artikeln  geübt  werden.  Nicht  minder  würde 
man  das  eigene  Urteil  stärken,  wenn  man  zeigte,  wie  unsere  heutigen  Zeitungen 
entstanden  sind  und  welche  Faktoren  bei  ihnen  tätig  sind. 

Auch  außerhalb  des  eigentlichen  Unterrichts  können  wir  unsere  Einwirkung 
steigern.  Der  Geschichtslehrer  muß,  wie  der  Lehrer  des  Deutschen,  in  besonderem 
Maße  auch  der  Berater  der  Schüler  sein,  z.B.  in  der  Lektüre;  er  soll  sie  hinführen 
zu  geeigneten  öffentlichen  Verhandlungen.  Berlin  ist  hierin  besonders  gut  gestellt, 
aber  auch  in  allen  anderen  Städten  bringe  man  sie  z.  B.  zu  den  öffentlichen 
Beratungen  der  Stadtverordneten  gelegentlich  und  zeige  ihnen  praktisch,  wie  das 
Selbstverwaltungsrecht  ausgeübt  wird.  Wanderungen  zu  nahe  gelegenen  histori- 
schen Stätten  und  industriellen  Anlagen  oder  kunsthistorische  Ausflüge  müßten 
mehr  gemacht  werden.  Seit  Jahren  fahre  ich  mit  den  älteren  Schülern  nach  Cöln, 
um  ihnen  die  römische,  mittelalterliche  und  moderne  Stadt  zu  zeigen,  an  deren 
Entwicklung  man  fast  die  ganze  deutsche  Geschichte  darlegen  kann,  und  immer 
wieder  fühle  ich  mich  für  die  Mühe  reichlich  belohnt  durch  die  Ergebnisse  dieses 
schönen  Anschauungsunterrichts. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  einen  Vorschlag  machen,  der  gegenüber  den 
bisherigen  ein  Mehr  an  Unterricht  bedeutet.  Wie  wäre  es,  wenn  an  jeder  Anstalt 
etwa  alle  14  Tage  die  Schüler  der  drei  oberen  Klassen  in  der  Aula  versammelt 
würden  und  dann  einer  der  Geschichtslehrer  einen  Vortrag  hielte  über  staats- 
bürgerliche Fragen,  der  in  der  Klasse  Durchgenommenes  zusammenfaßte  und 
Altes  in  neue  Beleuchtung  rückte?  Durch  diese  Zusammenfassung  der  oberen 
Klasse  würde  jeder  Schüler  drei  Jahre  lang  diese  Dinge  hören,  ohne  fürchten  zu 
müssen,  gefragt  zu  werden,  das  Wissen  würde  durch  die  verschiedenen  Persönlich- 
keiten der  Lehrer  sich  vertiefen  und  durch  die  öftere  Darlegung  unverlierbar  werden, 
die  Schüler  würden  so  hinübergeleitet  zu  den  Vorlesungen  der  Universität,  und  den 
Lehrern  wäre  eine  willkommene  Gelegenheit  gegeben,  vor  den  gesamten  größeren 
Schülern  über  das  zu  sprechen,  was  nach  Zeit  und  Gelegenheit  das  Geeignete  ist. 
Noch  einmal  aber  möchte  ich  für  unsere  höheren  Lehranstalten  mich  gegen  einen 
„geordneten  Unterricht  in  der  Bürgerkunde"  aussprechen;  denn  unsere  Schüler 
sollen  nicht  nur  wissen,  wie  die  Verhältnisse  sind,  sondern  auch,  wie  sie  geworden 
sind,  und  beides  zusammen  muß  und  kann  im  Geschichtsunterricht  gegeben  werden; 


P.  Johannesson,  Eine  Schülerwerkstatt.  165 

um  noch  einmal  ein  Beispiel  anzuführen:  was  würde  es  helfen,  wenn  einer  alle 
deutschen  Staaten  kennt,  aber  nicht  auch  aus  dem  Verlauf  der  deutschen  Geschichte 
gesehen  hat,  wie  diese  erst  allmählich  aus  dem  Amte  zum  Landesfürstentum  er- 
wachsen sind? 

Düsseldorf.  Wilhelm  Meier. 


Eine  Schülerwerkstatt. 

Am  Sophienrealgymnasium  in  Berlin  sind  die  praktischen  physikalischen  Übungen 
mit  einem  Handfertigkeitsunterricht  verknüpft;  ein  Teil  der  Schüler  stellt  physika- 
lische Geräte  her.  Versuche  solcher  Art  sind  bekanntlich  wiederholt  gemacht 
worden;  aber  von  Physiklehrern,  so  hoffnungsfreudig  sie  für  praktische  Übungen 
einzutreten  pflegen,  wird  der  Gerätebau  der  Schüler  wohl  meistens  abgelehnt. 

Auf  die  Gründe  für  oder  wider  jene  Ansicht  soll  hier  nicht  eingegangen 
werden.  Vielmehr  berichten  diese  Zeilen  schlicht,  welche  Form  der  Handfertig- 
keitsunterricht bei  uns  gewonnen  hat;  zugleich  wollen  sie  den  Leser  an  eine  Stätte 
führen,  die  reicher  vom  Licht  der  Freude  bestrahlt  ist,  als  dies  bei  Schulstuben 
der  Fall  zu  sein  pflegt. 

Nicht  aus  erziehungstheoretischen  Erwägungen  ist  unser  Handfertigkeitsunter- 
richt erwachsen;  auch  trieb  mich  keine  rauschende  Begeisterung;  den  Ausschlag 
gab  der  einfache  Gedanke,  daß  unseren  Schülern  keine  Anregung  vorenthalten 
bleiben  dürfe,  die  etwa  anderwärts  geboten  wird.  Dazu  kam  das  Bedürfnis,  die 
seit  langer  Zeit  geübten  physikalischen  Messungen  durch  Zuführung  frischen 
Blutes  zu  beleben;  daneben  wollte  ich  mit  den  Schülern  von  mehr  technischer  als 
wissenschaftlicher  Begabung  in  nähere  Berührung  kommen  und  sie  so  für  den 
Physikunterricht  auch  innerlich  gewinnen. 

Zunächst  freilich  war  eine  Vorarbeit  zu  leisten.  Als  ich  Michaelis  1904  den 
Handfertigkeitsunterricht  begann,  stand  mir  nur  eine  sehr  geringe  Sachkenntnis  zur 
Seite.  Zwar  war  ich  als  Knabe  von  einem  Tischler  unterwiesen  worden,  hatte 
Laubsägearbeiten  getrieben  und  überhaupt  gern  gebastelt,  eine  Neigung,  die  mir 
später,  als  ich  nämlich  Physik  zu  lehren  hatte,  gelegentlich  von  Vorteil  war;  dazu 
hatte  ich,  um  mich  im  technischen  Zeichnen  für  den  Unterricht  zu  üben,  zwei 
Jahre  hindurch  die  Handwerkerschule  besucht  und  die  Grundzüge  der  Glas- 
technik in  einer  Werkstätte  erlernt;  aber  die  erworbenen  Fertigkeiten  befähigten 
mich  nicht,  die  Herstellung  auch  nur  einfacher  physikalischer  Geräte  sachgemäß 
zu  überwachen.  Daher  war  plump  und  ungeschickt,  was  wir  zuerst  geschaffen 
haben;  vieles  blieb  halbfertig  liegen,  weil  der  Verfertiger  erlahmte;  vermochte  ich 
doch  nicht  das  ästhetische  Bedürfnis  zu  befriedigen,  welches  als  eine  der  Haupt- 
triebfedern den  Jüngling  an  Beschäftigungsspiele  fesselt.  Auch  hatte  ich,  die 
Schwierigkeiten  unterschätzend,  das  Ziel  zu  hoch  gesteckt.  Jeder  der  ersten  Teil- 
nehmer —  es  waren  18  Primaner  und  Obersekundaner  —  sollte  nach  eigener 
Wahl  oder,  wenn  er  deren  Qual  nicht  überwinden  konnte,  nach  meinem  Vorschlag 
eine   besondere  Vorrichtung  erbauen;   eine  große  hölzerne  Schublehre  mit  Zenti- 


166  P-  Johannesson, 

meterteilung  und  Millimetervernier,  eine  hölzerne  Teilmaschine,  eine  Libelle,  Papp- 
figuren zur  Bestätigung  der  Schwerpunktsätze,  ein  sehr  großer  eiserner  Halbkreis 
mit  Winkelteilung,  Spalt  und  drehbarem  Spiegel  zur  Erläuterung  des  Spiegel- 
gesetzes, ein  Elektroskop,  ein  Amperemeter,  ein  hochempfindliches  und  sehr  nied- 
liches Galvanometer  sind  wohl  fertig  gestellt  worden  und  werden  zum  Teil  noch 
jetzt  im  Unterricht  benutzt;  aber  eine  Federwage,  ein  Reflexionshebel,  eine  optische 
Bank,  ein  Stromwender,  eine  Bussole,  eine  wheatstonesche  Brücke,  ein  Mikrophon, 
ein  Akkumulator,  ein  Vorschaltwiderstand  und  Nebenschluß,  mehrere  Galvanometer, 
Amperemeter  und  Voltmeter  haben  den  Tag  der  Vollendung  nicht  erlebt,  sei  es, 
daß  der  Verfertiger  vorher  seine  Schullaufbahn  beendet  hatte,  oder  daß  seine  Aus- 
dauer versagte,  oder  daß  es  uns  nicht  gelang,  die  Vorrichtung  in  regelrechten 
Gang  zu  bringen. 

Um  diese  Mißerfolge  zu  verringern,  bedurfte  es  vor  allem  einer  besseren  Aus- 
bildung für  mich.  Die  Gelegenheit  dazu  fand  ich  in  den  Werkstattkursen,  welche 
der  Mechaniker  Herr  Hintze  in  der  alten  Urania  vortrefflich  leitet  und  deren  regel- 
mäßigen Besuch  der  Vorsitzende  der  Uraniakurse  Herr  Geheimrat  Vogel  mir  seit 
drei  Jahren  höchst  dankenswert  gestattet  hat.  Nachdem  ich  hier  die  Grund- 
verrichtungen der  mechanischen  Kunst,  Weich-  und  Hartlöten,  Metall-  und  Holz- 
dreherei und  schließlich  genaue  Feilarbeit,  erlernt  hatte,  ist  mir  Herr  Hintze  be- 
hilflich, nach  den  Regeln  der  Werkstatt  ein  Differentialgalvanometer  herzustellen; 
und  erst  jetzt,  wo  ich  die  Notwendigkeit  würdigen  gelernt  habe,  auch  das  unschein- 
barste Stück  mit  voller  Sorgfalt  zu  behandeln,  fühle  ich  mich  allmählich  mehr  im- 
stande, die  Schüler  erfolgreich  anzuleiten. 

Zweitens  ergab  sich  das  Erfordernis,  unsere  Werkzeuge  bedeutend  zu  ver- 
mehren und  vor  allem  mit  Liebe  auszuwählen.  Nicht  als  ob  die  Werkzeuge  den 
Meister  machten;  verrät  sich  doch  gerade  der  wahre  Künstler  durch  die  Gering- 
fügigkeit der  Mittel,  mit  denen  er  seine  Wirkungen  erzielt.  Aber  unsere  Schüler 
sind  nicht  mechanische  Künstler,  sondern  wollen  sich  zunächst  nur  als  Liebhaber 
betätigen,  und  solchen  darf  man  wohl  durch  Vollkommenheit  der  Werkzeuge  er- 
setzen, was  ihnen  an  Kunstfertigkeit  gebricht.  Freilich  hat  es  für  den  Beharr- 
lichen einen  eigenen  Reiz,  mit  mangelhaften  Werkzeugen  auszukommen;  so  war 
der  Schüler,  dem  es  gelang,  allein  mit  der  Dreikantfeile  einen  optischen  Spalt  in 
ein  Eisenblech  von  mehreren  Millimetern  Stärke  einzubringen,  mit  Recht  auf  seine 
Leistung  stolz.  Aber  solch  Maß  von  zielbewußter  Ausdauer  und  Geschicklichkeit 
ist  selten.  Daher  habe  ich  unserer  Werkzeugsammlung  besondere  Fürsorge  zu- 
gewendet sowohl  hinsichtlich  der  Zahl  wie  auch  der  Güte  der  einzelnen  Stücke; 
und  ich  glaube,  daß  ein  Mechaniker  in  unserer  Werkstatt  jetzt  wohl  die  üblichen 
Aufträge  zuwege  brächte.  Drei  reich  behängte  Wandbretter  tragen  die  Werkzeuge 
für  die  Hobelbank,  die  Drehbank  und  den  Schraubstock;  dazu  kommen  noch  ein 
weiterer  Werkzeugschrank,  ein  Glasblasetisch,  eine  Bohrmaschine,  die  erforder- 
lichen Schleif-  und  Abziehsteine,  die  Einrichtungen  für  Löt-,  Klebe-  und  Papp- 
arbeiten, auch  eine  große  Richtplatte  zum  Schleifen  des  Glases;  recht  notwendig 
war  es,  die  anfänglich  beschaffte  Schlosserkluppe  nebst  Zubehör  durch  genau  ge- 
arbeitete, übrigens  recht  kostspielige  Schneideisen  und  Gewindebohrer  zu  ergänzen. 


Eine  Schülerwerkstatt.     ♦ 


167 


Von  vielen  sonstigen  Kleinigkeiten  sei  noch  eine  stattliche  Sammlung  von  Sägen 
und  Bohrern  für  Holz  und  Metall  erwähnt;  und  daß  es  auch  an  den  nötigen  Meß- 
vorrichtungen nicht  fehlt,  um  unserer  Arbeit  die  unumgängliche  Genauigkeit  zu 
geben,  an  Winkel,  Schublehre  und  Taster,  versteht  sich  wohl  von  selbst. 

Drittens  erwies  sich  die  Notwendigkeit,  die  Zahl  der  gleichzeitig  arbeitenden 
Schüler  auf  höchstens  sieben  zu  beschränken.  Die  Übersicht  über  die  bisherigen 
Teilnehmerzahlen  gibt  die  nachstehende  Tafel: 


Halbjahr 

T  e  i 

1  n  e  h  m  e  r 

Vom 
Hundert 
der  vor- 
handenen 
Schüler 

Wi.  1904/5 

5  Obersekundaner  -+- 13  Primaner = 18  arbeiteten 

in  3  Gruppen 

36  7o 

So.  1905 

5 

„ 

4-  7 

/      =12 

„ 

«2      „ 

20   , 

Wi.  1905/6 

12 

„ 

+  7 

.        =19 

„ 

n    2           „ 

30   . 

So.  1906 

8 

„ 

-f-  5 

„        =13 

„ 

n    1 

22   , 

Wi.  1906/7 

5 

„ 

-h  8 

.        =13 

„ 

.    1           . 

22   „ 

So.  1907 

6 

„ 

4-  4 

=  10 

„ 

«    1           r 

16    „ 

Wi.  1907/8 

7 

„ 

+  4 

n         =11 

„ 

n    1            n 

18   „ 

So.  1908 

10 

„ 

4-  3 

„        =13 

„ 

.2      „ 

20   , 

Wi.  1908/9 

10 

n 

+  4 

.        =14 

» 

„2      „ 

22   , 

Durchschnitt 

: 8 Obersekundaner -4-  6Primaner=14;  in 

jeder  Gruppe  8 

23  7o 

Aus  der  letzten  Spalte  darf  nicht  geschlossen  werden,  daß  gegenüber  den 
Ziffern  36  und  30  7o  die  Lust  zur  Teilnahme  nachgelassen  hätte.  Es  melden  sich 
stets  mehr  Schüler,  als  ich  beschäftigen  kann;  die  mitgeteilten  Zahlen  sind  also 
nur  der  Rest  nach  Abzug  der  Zurückgewiesenen.  Dazu  beachte  man,  daß  die  in 
der  Handfertigkeit  Tätigen  nur  einen  Bruchteil  der  zu  den  praktischen  physika- 
lischen Übungen  überhaupt  Zugelassenen  bilden;  so  nehmen  z.  B.  in  diesem  Halb- 
jahr an  den  freiwilligen  Übungen  48  Schüler  —  wieder  nach  Abzug  der  Zurück- 
gewiesenen —  gleich  65  7o  cler  Gesamtzahl  teil,  wobei  jeder  Schüler  einfach  ge- 
zählt ist,  obgleich  7  Schüler  zwei,  einer  sogar  drei  Kurse  besucht.  —  Die  erwünschte 
Höchstziffer  7  für  die  Teilnehmer  einer  Handfertigkeitsgruppe  ist  dadurch  be- 
dingt, daß,  abgesehen  von  den  Anfängern,  jeder  Schüler  seine  besondere  Aufgabe 
hat.  Daher  müssen  die  Anleitungen  stets  in  knappster  Form,  häufig  wortlos  ge- 
geben werden,  damit  die  unzähligen  Wünsche  der  Schüler  ohne  Stauung  in  ihrer 
Arbeit  befriedigt  werden  können.  Bedenkt  man  ferner,  daß  viele  Werkzeuge  um 
ihres  Preises  willen  besonderer  Schonung  bedürfen,  daß  manche  Arbeiten,  z.  B. 
am  Blasetisch  und  an  der  Drehbank,  für  den  Ungeschickten  sogar  nicht  ungefähr- 
lich sind,  daß  ferner  der  Leiter  alle  in  Arbeit  befindlichen  Stücke  gleichzeitig  im 
Kopf  haben,  alle  Schwierigkeiten  durch  eine  plötzliche  Entscheidung  beseitigen, 
immerwährend  besondere  Kunstgriffe  der  Herstellung  erfinden  und  ausüben  muß, 
erfährt  man  schließlich,  daß  diese  Ansprüche  an  die  Umsicht  und  die  Tatkraft  des 
Lehrers  drei  ununterbrochene  Nachmittagstunden  dauern  und  häufig  genug  in  Ge- 
währung des  Wunsches  unermüdlicher  Schüler  vier  volle  Stunden  überschreiten,  so 
wird  man  die  erforderliche  Beschränkung  der  Teilnehmerzahl   verständlich  finden. 


168  P-  Johannesson, 

Aber  trotz  der  beschriebenen  Anspannung,  welche  die  geistigen  Kräfte  des  Lehrers 
nahezu  erschöpft,  ist  für  diesen  jener  Schaffensreichtum  eine  Quelle  des  Glücks 
und  der  Verjüngung;  daher  habe  ich  den  Eifrigen,  welche  den  Kursus  häufiger 
besuchen  wollen,  als  ihnen  von  Rechts  wegen  zusteht,  die  bezügliche  Bitte  noch 
nie  versagt,  obgleich  dadurch  die  Sollziffer  7  nicht  selten  überschritten  wird. 

An  letzter  Stelle  erwähne  ich  die  Nötigung,  unsere  Ziele  niedriger  zu  wählen. 
Nur  zu  oft  haben  wir  erfahren  müssen:  „Leicht  beieinander  wohnen  die  Gedanken; 
doch  hart  im  Räume  stoßen  sich  die  Sachen."  So  sind  wir  denn  von  der  Reich- 
haltigkeit unserer  schon  angedeuteten  Arbeitsliste  zurückgekommen.  Die  Viel- 
seitigkeit hat  bescheidener  Vertiefung  Platz  gemacht.  Gewöhnlich  beginnen  wir 
jetzt  mit  einer  leichten  Glasarbeit:  Röhren  werden  geteilt,  ausgezogen  und  ge- 
bogen als  Vorübung  zur  Herstellung  einer  Spritzflasche,  die  noch  das  Bohren  eines 
Korks  erfordert.  —  Anregender  bereits  ist  die  zweite  Aufgabe,  ein  Thermometer  an- 
zufertigen. Vor  der  Gebläselampe  der  Kapillaren  eine  Kugel  von  bestimmter 
Größe  und  ausreichender  Wandstärke  anzublasen,  gelingt  schon  nicht  beim  ersten 
Anlauf;  die  sachgemäße  Füllung  mit  gefärbtem  Weingeist  stellt  die  Geduld  ein 
wenig  auf  die  Probe ;  auch  geht  so  manches  fast  fertige  Rohr  in  Stücke,  wenn  es 
beim  Austreiben  einer  Luftblase  ungeschickt  geschleudert  wird;  dann  kommt  die 
Klippe,  die  Röhre  abzuschmelzen  und  dabei  zu  einer  rundlichen  Erweiterung  auf- 
zutreiben. Zwei  Fixpunkte  werden  durch  Vergleich  mit  einem  Normalthermometer 
gewonnen  und  die  Teilung  dann  sauber  auf  Papier  zu  Hause  angefertigt,  wo  dem 
Schüler  nicht  nur  Zirkel  und  Ziehfeder,  sondern  auch  Zeit  und  Ruhe  zur  Ver- 
fügung stehen.  Noch  fehlt  das  Brettchen  aus  Lindenholz,  das  an  der  Hobelbank 
geschnitten,  behobelt,  befeilt  und  geglättet  wird,  bis  die  Schnittlinien  gerade,  die 
Winkel  Rechte  und  die  Kanten  der  Vorderfläche  hübsch  abgerundet  sind;  das  Loch 
für  die  Thermometerkugel  wird  mit  der  Winde  gebohrt  und  nachgefeilt,  die  Bohr- 
löcher für  die  Befestigungsdrähte  mit  rückseitigen  Versenkungen  versehen.  Nun 
geht  es  an  den  Schraubstock  und  die  Bohrmaschine;  aus  starkem  Messingblech 
wird  die  Aufhängungsöse  geschnitten,  flach  gehämmert,  rechtwinkelig  oder  in 
anderer  Form  gefeilt  und  schließlich  dreifach  durchbohrt,  wobei  die  beiden  Löcher 
der  Befestigungsschrauben  genau  bis  zur  Schraubendicke  aufgerieben  werden. 
Sind  noch  aus  dickem  Messingdraht  mit  der  Rundzange  zwei  Befestigungsösen 
für  das  Thermometerrohr  gebogen,  an  den  geraden  Enden  mit  Gewinden  aus- 
gestattet und  die  zugehörigen  Muttern  auf  der  Drehbank  vorgerichtet,  danach 
durchbohrt  und  mit  Gewindebohrungen  versehen,  so  naht  die  Stunde,  wo  der 
Künstler  sein  Werk  in  der  Vollendung  schaut.  Nach  Festschrauben  der  Auf- 
hängungsöse wird  die  sorgfältig  beschnittene  Papierteilung  genau  und  sauber  — 
und  das  ist  schwerer,  als  mancher  glauben  wird  —  auf  das  dunkel  gebeizte  Brett 
geklebt  und  bis  zum  nächsten  Tag  gepreßt;  zur  Aufnahme  der  Kugel  wird  das 
Papier  mit  einem  Korkbohrer  und  einem  sehr  feinen  Messer,  wie  es  die  Augen- 
ärzte für  ihre  Operationen  brauchen,  ausgeschnitten  und  danach  das  Rohr  mit  Hilfe 
seiner  Befestigungsösen  auf  das  Brett  gebracht.  Und  werden  nun  die  uns  wohl- 
gesinnten Leser  nachempfinden,  daß  der  Besitzer  sein  meistens  hübsches  Werk 
mit  dem  Gefühl  der  Leistung  und  des  Glücks  nach  Hause  trägt?  Auch  merkten 
sie  wohl,   warum    die  Entstehung   der   kleinen  Sache   so   ausführlich  beschrieben 


Eine  Schülerwerkstatt.  169 

worden  ist:  Damit  sie  nämlich  die  Erfahrung  würdigen,  welche  der  Schüler  bei 
seiner  scheinbar  so  kleinen  und  doch  so  großen  Arbeit  macht;  damit  sie  ihm  die 
Verwunderung  darüber  zugestehen,  daß  ein  einfaches  Thermometer  soviele  müh- 
same Verrichtungen  erfordert,  und  daß  sie  schließlich  mit  ihm  fühlen,  wie  das 
Schaffen  der  Teile  die  Hoffnung  aufs  Ganze  belebt  und  allmählich  bei  manchem 
zur  Begeisterung  wird.  —  Als  dritte  Arbeit  habe  ich  mehrfach  Chromsäureelemente 
herstellen  lassen.  Hier  wurden  das  Absprengen  einer  Weinflasche,  das  nachfolgende 
Schleifen,  das  Auflöten  von  Kupfer  auf  Zink  und  von  Kupfer  auf  Kupfer,  das 
Amalgamieren  des  Zinks  und  die  Herstellung  der  Chromsäure  als  neue  Arbeiten 
geübt;  auch  ist  die  Leistung  der  so  geschaffenen  Elemente  sehr  befriedigend; 
aber  sie  haben  eine  unschöne  Form  und  entbehren  der  Liebe  und  Vertiefung,  so 
daß  ich  die  Anfertigung  entweder  aufgeben  oder  umgestalten  werde.  —  Die  Spntz- 
flasche,  das  Thermometer  und  das  Element  wurden  von  dem  Durchschnitt  der 
Schüler  in  einem  halben  Jahr,  also  in  rund  20  Stunden  beendet  und  bildeten  in 
den  letzten  Jahren  die  Vorstufe  für  die  Pläne  der  Ehrgeizigen.  Diesen  Geübteren 
lasse  ich,  wie  früher,  in  der  Wahl  ihrer  Arbeit  freie  Hand;  nur  mache  ich  natur- 
gemäß von  vornherein  auf  etwaige  Schwierigkeiten  aufmerksam,  fordere  bei  be- 
sonders hochfliegenden  Zielen  den  Schüler  zur  Selbstbesinnung  und  zur  Prüfung 
seiner  Ausdauer  und  Umsicht  auf  und  bezeichne,  wo  der  Plänemacher  sich  augen- 
scheinlich überschätzt,  seine  Absicht  als  nicht  durchführbar.  Gegenwärtig  sind 
einige  Amperemeter  und  Dubois-Reymondsche  Schlittenapparate  in  Arbeit;  doch 
werden  zugleich  nach  meinen  und  der  Schüler  Entwürfen  mehrere  galvanische 
Widerstände  und  ein  Widerstandssatz  für  verschiedene  Zwecke  und  eine  Vor- 
richtung mit  drei  Rollen  auf  gemeinsamer  Achse  zur  Bestätigung  des  Satzes  von 
der  Erhaltung  der  Arbeit,  das  letzte  nach  dem  Wunsche  eines  Amtsgenossen,  her- 
gestellt. Und  gerade  diese  Arbeiten  der  Geübteren  werden  fast  durchgängig  mit 
außerordentlicher  Sorgfalt  und  beträchtlichem  Ehrgeiz  ausgeführt.  So  läuft  die  aus 
einer  mittelstarken  Stricknadel  gefeilte  Achse  unserer  Amperemeter,  angestoßen,  in 
ihrem  ungeölten  Spitzenlager  trotz  ihres  winzigen  Trägheitsmomentes  mehrere  Se- 
kunden; so  sind  die  erwähnten  drei  ziemlich  großen  Rollen,  deren  Durchmesser 
sich  wie  1:2:3  verhalten  müssen,  aus  Buchenholz  so  genau  gedreht  und  ge- 
schliffen, daß  der  größte  Fehler  nur  0,2  mm  beträgt,  ein  Ergebnis,  das  ich  nach 
wirklich  redlichen  Bemühungen  des  Herstellers  habe  gelten  lassen,  obgleich  ich 
ursprünglich  0,1  mm  Genauigkeit  gefordert  hatte.  Den  Gipfel  des  von  uns  Er- 
strebten bilden  einstweüen  die  Schlittenapparate,  deren  einer  schon  recht  aner- 
kennenswert gefördert  ist. 

Noch  einiges  über  die  räumliche,  die  zeitliche  und  die  sachliche  Einnchtung. 
Räumlich  besteht  bei  uns  der  sehr  empfindliche  Mangel,  daß  wir  kein  besonderes 
Zimmer  für  unsere  Werkstattarbeiten  zur  Verfügung  haben.  Vielmehr  sind  fast 
alle  unsre  Hilfsmittel,  auch  Holz-,  Metall-  und  Pappvorräte,  dazu  die  zahlreichen 
Schülerarbeiten  in  einem  der  beiden  Räume  untergebracht,  welche  unsere  physi- 
kalische Sammlung  bergen.  Der  Übelstand  liegt  auf  der  Hand;  hier  gilt  das 
Sprichwort  „wo  gehobelt  wird,  da  fallen  Späne"  buchstäblich;  aber  abgesehen  da- 
von, daß  der  Aufenthalt  in  dem  nicht  immer  hinreichend  gesäuberten  Zimmer  außer- 


170  P-  Johannesson,  Eine  Schülerwerkstatt. 

halb  der  Handfertigkeitsstunden  wenig  behaglich  ist,  leiden  durch  den  Staub  auch 
die  zur  Sammlung  gehörigen  Instrumente,  die  für  die  physikalischen  Messungen 
der  Schüler  teilweise  frei  auf  den  Tischen  aufgestellt  sind.  Die  Abhilfe  ließe  sich 
nur  durch  die  Gewährung  eines  besonderen  Werkstattraumes  schaffen. 

Zeitlich  ist  festgesetzt,  daß  jeder  Teilnehmer  im  Durchschnitt  wöchentlich  eine 
Stunde  arbeitet;  dabei  kommt  jede  Gruppe  meistens  alle  drei  Wochen  einmal  zu 
einer  dreistündigen  Übung  heran;  doch  bedingen  auch  in  manchen  Halbjahren 
unsere  sonstigen  praktischen  physikalischen  Übungen,  daß  jede  Handfertigkeits- 
gruppe vierzehntägig  je  zwei  Stunden  arbeitet.  Entgegen  dieser  Festsetzung  in- 
dessen erbitten  sich,  wie  schon  angedeutet,  gerade  die  Geübteren  sehr  häufig  die 
Erlaubnis,  zwei  oder  drei,  manchmal  sogar  sechs  Stunden  in  der  Woche  an  ihrem 
Apparat  zu  schaffen,  zu  Zeiten  nämlich,  wo  die  Schüler  der  anderen  Handfertig- 
keitsgruppe ihren  Unterricht  erhalten  oder  sonst  praktische  Physik  getrieben  wird 

Die  sachliche  Einrichtung  ist  im  großen  und  ganzen  schon  beschrieben 
worden.  Weder  stellt  jeder  Schüler  eine  besondere  Vorrichtung  her,  noch  arbeiten 
alle  Schüler  in  gleicher  Front.  Vielmehr  hat  sich  mir  als  vorteilhaft  das  gemischte 
Verfahren  erwiesen,  wobei  Geübte  und  Anfänger  zu  einer  Gruppe  vereint  sind  und 
zwar  so,  daß  die  Geübten  Einzelunterricht  erhalten,  während  sämtliche  Anfänger 
die  gleichen  Arbeiten  herstellen.  Das  Geschaffene  gehört  in  der  Regel  dem  Ver- 
fertiger; nur  solche  Stücke,  welche  besonders  für  den  Klassenunterricht  bestimmt 
sind  —  und  für  manchen  Schüler  ist  diese  Verwendung  seines  Werkes  eigentüm- 
lich verlockend  — ,  verbleiben  der  Schule.  Die  Rohstoffe  werden  ebenso  wie  die 
Werkzeuge  durchgängig  aus  den  Physikmitteln  der  Anstalt  beschafft  und  den 
Schülern  unentgeltlich  geliefert;  doch  überlasse  ich  bei  den  Rohstoffen  die  Ein- 
kaufsgänge meistens  den  Schülern,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  daß  ein  Umtausch 
nötig  wird,  während  ich  die  Werkzeuge  natürlich  stets  persönlich  aussuche. 
Übrigens  werden,  wie  dies  an  den  Berliner  städtischen  höheren  Schulen  üblich 
ist,  die  praktischen  physikalischen  Übungen  einschließlich  des  Handfertigkeitsunter- 
richtes, im  ganzen  sechs  Wochenstunden,  auf  meine  Pflichtstundenzahl  angerechnet; 
nur  in  der  ersten  Zeit  war  meine  Leistung  freiwillig. 

Zu  Schluß  ein  kurzes  Glaubensbekenntnis.  Den  Hauptsegen  unserer  Hand- 
arbeit, abgesehen  von  vielen  Nebenwirkungen,  sehe  ich  in  der  so  ermöglichten 
Selbstprüfung  der  Schüler.  Die  theoretische  Begabung  unserer  Söhne  ist  gegen- 
wärtig in  Deutschland  für  ihr  Fortkommen  in  der  Schule  ausschlaggebend.  Nach 
diesem  Maßstabe  der  Leistungsfähigkeit  entwickelt  sich  vornehmlich  die  gegen- 
seitige Einschätzung  der  Schüler  und  die  Selbsteinschätzung.  Durch  diese  Ein- 
seitigkeit des  Wertmaßstabes  aber  setzt  sich  die  Schule  in  Gegensatz  zum  Leben. 
Das  Leben  verlangt  nicht  nur  Männer,  die  theoretische  Regeln  mit  Schärfe  er- 
fassen und  in  allen  Fällen  richtig  anzuwenden  wissen,  oder  Phantasievolle,  die 
Reichtum  und  Wärme  ins  geistige  Leben  tragen,  sondern  auch  harte  Köpfe,  die, 
mit  Umsicht,  Tatkraft  und  Wagemut  begabt,  ihr  Handeln  den  jeweiligen  Verhält- 
nissen anzupassen  vermögen,  die  trotz  mannigfacher  Mißerfolge  nicht  erlahmen, 
die  fühlend  und  mit  seherischem  Schauen  die  scheinbar  unbeugsamen  Widerstände 
zwingen.    Diese   praktisch   schaffenden  Naturen   sind  bisher  auf  der  Schule  nicht 


H.  Wickenhagen,  Turnen,  Spielen,  Rudern.  171 

nach  Gebühr,  nach  den  Bedürfnissen  des  Lebens  nämlich,  ausgewertet  worden; 
ja  sie  fanden  nicht  einmal  die  Gelegenheit  zur  Selbsterkenntnis  d.  h.  zur  Auf- 
findung des  Pfundes  in  sich,  mit  dem  sie  wuchern  sollen;  den  Theoretischen  und 
Phantasievollen  allein  ward  diese  Gelegenheit  geboten.  Und  die  Handfertigkeit 
sollte  hier  Wandel  schaffen?  Ich  glaube,  daß  sie  dazu  helfen  kann.  Wer  einen 
der  schwierigeren  Apparate,  deren  Ausführung  manche  unserer  Schüler  sich  vor- 
setzen, trotz  aller  Hindernisse  fertig  bringt,  der  erfährt  dabei,  daß  er  aus  hartem 
Holz  geschnitzt  ist;  daneben  kommt  ihm  die  Erkenntnis,  daß  die  „Handarbeit" 
mit  Unrecht  ihren  Namen  führt,  daß  auch  hier  vielmehr  Klarheit  und  Schärfe  des 
Erfassens,  Sinn  für  das  Einfache  und  Selbstverständliche,  Begeisterung  und  Selbst- 
beherrschung, mit  einem  Worte  Kräfte  des  Geistes  und  Gemütes  allein  ent- 
scheiden; er  weiß,  daß  er  zum  Techniker  befähigt,  wenn  nicht  gar  berufen  ist. 
In  dieser  Möglichkeit  der  Auslese  für  das  Leben  sehe  ich  den  Hauptsegen  unserer 
„Handarbeit",  wie  sich  mir  nicht  als  gedanklicher  Vorläufer  unseres  Unter- 
richtes, sondern  im  Laufe  unserer  Tätigkeit  je  länger  desto  zuversichtlicher 
ergeben  hat.  Aber  diese  Betrachtungen  sind  Philosopheme,  und  deren  wollte  ich 
mich  ja  enthalten. 

Berlin.  P.  Johannesson. 


Turnen,  Spielen,  Rudern. 
Zukunftsplan  für  die  höheren  Schulen  von  West-Berlin. 

In  den  Januartagen  dieses  Jahres  sind  nach  langer  und  planmäßiger  Vorarbeit 
drei  Gründungen  in  West -Berlin  zum  Abschluß  gebracht  worden,  welche  der 
körperlichen  Erziehung  an  den  höheren  Schulen  neue  Bahnen  öffnen.  Da  sie 
Vorbildliches  bieten  dürften,  sollen  sie  hier  dargelegt  werden. 

1.  Durch  die  Fürsorge  des  Unterrichtsministeriums  sind  zwei  große  Spiel- 
plätze im  Grunewald  vom  Forstfiskus  gewonnen,  der  eine  beim  Stadtbahnhof 
Eichkamp,  der  andere  auf  dem  Waldgelände  von  Dahlem.  Sie  werden  demnächst 
eingezäunt,  für  schulgerechten  Betrieb  hergerichtet  und  bieten  sodann  25  höheren 
Anstalten,  welche  genau  nach  Art  des  Rudervereins  „Wannsee"  zu  einem  Organis- 
mus auf  der  Basis  der  Selbstverwaltung  verbunden  sind,  ein  Unterkommen. 

2.  Am  15.  Januar  hat  ein  auf  Einladung  zusammengetretener  Kreis  von 
Direktoren  und  Lehrern  die  Errichtung  eines  Verbandes  für  geregelte 
Pflege  von  Land-  und  Wasserwettkämpfen  beschlossen.  Auch  er  wird 
seine  Satzungen  denen  des  Rudervereins  „Wannsee"  anpassen.  Beigetreten  sind 
sofort  zwölf  Anstalten;  vier  haben  ihren  Anschluß  in  Aussicht  gestellt  (Schulen  der 
Stadt  Berlin  werden  nicht  aufgenommen).  Die  Jahr  um  Jahr  wechselnden  Land- 
und  Wasserturnfeste  sollen  auf  den  1.  und  2.  September  —  Nachmittag  der  Herbst- 
parade und  Sedantag  —  verlegt  werden  und  in  ihren  aktuellen  Bildern  diesen 
Tagen  einen  immerfrischen  nationalen  Inhalt  geben. 

Der  Gründungsakt  fand  seine  Weihe  durch  die  Mitteilung,  daß  von  einem 
Freunde  der  Bestrebung  ein  wertvolles  Wanderbanner  gestiftet  sei. 


172  H.  Wickenhagen, 

3.  Am  16.  Januar  ist  in  der  Hauptversammlung  des  Rudervereins  „Wann- 
see" der  Ankauf  des  ausgedehnten  Nachbargeländes  zur  Erweiterung 
der  Anlagen  einstimmig  beschlossen.  Der  geplante  großzügige  Ausbau  wird  für 
etwa  800  Schüler  von  20—25  höheren  Anstalten  Raum  schaffen  und  sich  als 
Erziehungsheim,  einzig  in  seiner  Art,  darstellen. 

Die  drei  neu  erschlossenen  Wege  sollen  unter  Voraussetzung  behördlicher 
Genehmigung  zur  folgenden  einheitlichen  Betriebsform  führen: 

Land-  und  Wasserturnen  gehen  parallel  nebeneinander.  Jede  Anstalt 
hat  mit  ihrem  gesamten  Schülerbestande  an  einem  Nachmittage  der  Woche  Anspruch 
auf  Benutzung  des  Spielplatzes.  Weitere  Spielübungen  nach  freier  Verabredung 
sind  zulässig,  soweit  der  Platz  reicht.  Auf  denselben  Nachmittag  werden  die 
Übungen  ihrer  Ruderer  verlegt;  er  wird  freigehalten  von  Unterricht  und  Haus- 
arbeiten: Die  „Landjungen"  gehen  zum  Spielplatz;  die  „Wasserjungen"  besteigen 
in  Wannsee  das  Boot.  Für  die  Gruppe  der  letzteren  kommen  in  der  Regel  nur 
Obersekundaner  und  Primaner  in  Betracht. 

Auf  den  Plätzen  werden  unter  Leitung  aller  Turnlehrer  mit  Unterstützung 
von  „Spielkaisern"  aus  den  oberen  Klassen  erprobte  Turn  spiele  und  volkstümliche 
Übungen  vorgenommen,  auf  dem  Gelände  von  Wannsee  Gemeinübungen  im 
Kasten,  Stil-  und  Dauerrudern,  Landungen  u.  a.  m. 

Der  Spiel-  und  Rudernachmittag  ersetzt  eine  oder  ein  und  eine 
halbe  Stunde  des  pflichtmäßigen  Turnunterrichts. 

Das  Sedanfest  wird  zu  einer  allgemeinen  Schulfeier  mit  turnerischen 
Vorführungen  ausgestaltet.  In  einem  Jahre  werden  Land-,  im  andern  Wasser- 
übungen angesetzt,  und  den  Schülern  bietet  sich  Gelegenheit,  in  einem  gesunden 
Wettkampfe  ihr  Können  zu  zeigen.  Die  Kranzverteilung  erhebt  sich  zu  einem 
weihevollen  Akte  mit  zündender,  vaterländischer  Ansprache,  begeisternder  Musik. 
Alle  Schulfahnen  sind  zur  Stelle. 

Vorteile.  1.  Durch  den  aufgerollten  Plan  soll  das  Problem  gelöst  werden, 
wie  die  körperliche  Erziehung  den  Ansprüchen  der  Zeit  entsprechend  vervoll- 
kommnet und  durch  Mannigfaltigkeit  belebt,  gleichzeitig  die  Schule  bei  der 
Erledigung  ihrer  feststehenden  Pflichten  entlastet  werden  kann.  Ersetzt  der 
Spielnachmittag  eine  der  drei  Turnstunden,  so  werden  durch  ihn  bei  einer  Anstalt 
von  12  Turnabteilungen  12,  ersetzt  er  1V2  Turnstunden,  dann  18  Stunden  der 
Woche  erledigt.  Die  Aufstellung  des  Stundenplans  erfährt  eine  bedeu- 
tende Erleichterung;  alle  Unterrichtsstunden  lassen  sich  auf  den  Vormittag 
verlegen;  die  Angriffe  auf  die  dritte  Turnstunde  und  auf  den  —  Wassersport  (!) 
hören  auf,  und  die  Vertreter  eines  besonderen  obligatorischen  Spielnachmittags 
ziehen  sich  zurück.*) 

2.  Mit  der  Verlegung  des  Spielbetriebs  auf  besondere  Plätze  verstummen  die 
Klagen  über  Störungen  des  Klassenunterrichts  durch  lärmende  Riegen ;  andererseits 

*)  Mit  dem  Plane  tritt  das  in  die  Erscheinung,  was  ich  —  im  Gegensatz  zur  Forderung 
eines  besonderen  obligatorischen  Spielnachmittags  —  in  Monatschrift  für  höhere  Schulen  1907, 
S.  27  als  allein  erstrebenswert  und  erreichbar  hingestellt  habe. 


Turnen,   Spielen,  Rudern.  #  173 

fällt  die  Unnatur  weg,  daß  der  Jugend  nach  dem  Schweigen  und  Stillsitzen  in  der 
Klasse  weiteres  Schweigen  im  Turnkampfe  vorgeschrieben  werden  muß. 

3.  Die  sportlichen  Feste  verlangen  keine  Abtretungen  mehr  von  der  Lern- 
schule, keinen  besonderen  Stundenausfall;  andererseits  erhält  das  Sedanfest  ein 
natürliches,  ewig  neues  Programm. 

4.  Das  Spielplatzleben  entspricht  dem  Bedürfnis  der  Zeit.  Es  lenkt  das 
Interesse  der  Öffentlichkeit  mehr  denn  bisher  auf  die  Erziehung  der  Schulen  und 
bringt  der  letzteren  mehr  Sonnenschein:  Einmal  zum  wenigsten  in  der  Woche 
genießt  der  Großstadtschüler  Waldluft  mit  vollen  Zügen. 

Gr.  Lichterfelde.  H.  Wickenhagen. 


Programmabhandlungen  1908  u.  1907. 


Ober  Lehrpläne  und  Schulreform.    VII.*) 

1908. 

Bei  Beginn  der  diesjährigen  Besprechung  der  Programmabhandlungen  kann 
man  füglich  nicht  mit  Stillschweigen  übergehen  das  vortreffliche  Buch,  in  dem 
R.  Ullrich  „Programmwesen  und  Programmbibliothek  der  höheren 
Schulen"**)  erschöpfend  behandelt  hat.  Zwar  hat  kein  geringerer  als  Fr.  Paulsen 
ihm  schon  im  letzten  Jahrgange  (S.  233  ff.)  das  Wort  der  Empfehlung  gesprochen, 
das  es  verdient,  aber  vom  Guten  kann  nicht  oft  genug  die  Rede  sein.  Die  Be- 
deutung, die  die  Einrichtung  der  „wissenschaftlichen  Beilagen"  für  das  höhere 
Schulwesen  und  für  die  Lehrer  an  den  höheren  Unterrichtsanstalten  besitzt,  hat 
nirgends  eine  eingehendere,  umsichtigere,  objektivere  Darstellung  gefunden,  die 
zugleich  eine  so  vollständige  Rechtfertigung  ist,  daß  alle  Anfeindungen,  alle 
Stimmen  der  Mißachtung  und  Herabsetzung  verstummen  müssen. 

An  neuen  Erscheinungen,  die  die  Lehrpläne  betreffen,  liegen  diesmal  vor: 
Neudruck  des  Lehrplans  des  Königl.  Friedrich  -  Kollegiums  zu 
Königsberg  i.  Pr.  (No.  6,  4<',  23  S.).  —  Oberrealschule  zu  Bochum  (die  des 
Deutschen,  Englischen  und  Französischen  hrgb.  von  Dr.  Wehrmann.  No.  488,  4°, 
43  S.).  —  Lehrpläne    des   Friedenauer   Gymnasiums  II  (No.  87,  4»,  23  S.). 

—  Dr.  Max  Prollius,  Lehrpläne  und  Lehraufgaben  für  die  Schiller- 
schule zu  Jüterbog.  I.Teil:  Religion,  Deutsch,  Geschichte,  Erdkunde  (No.  168, 
40,   21s.).   —   Lehrpläne   (Gymn.  u.  O.-R.-S.   zu  Stolp  i.  Pomm.     No.  200,   40). 

—  Grundlehrplan  im  Lateinischen,  a)  für  Sexta  (Sprottau  Rpg.  No.  287, 
4°,  3  S.).  —  Dr.  W.  Schwarz,  Ausführliche  Lehrpläne  für  das  Gymnasium 
zu  Bochum.  III.  Lehrplan  für  das  Lateinische  [2.  Teil]  (No.  445,  8«,  80  S.).  — 
Dr.  Schenk,  Grundlehrpläne  des  Königl.  Gymnasiums  und  Real- 
gymnasiums zu  Rendsburg.  III.  Der  lateinische  Grundlehrplan  der  Prima  des 
Gymnasiums  (No.  368,  4°,  28  S.).  —  C.  Meurer  und  E.  Niepmann,  Richt- 
linien für  den  grammatischen  Unterricht  im  Lateinischen  (Bonn,  städt. 
Gymn.  und  Realgymn.    No.  561,  8^,  40  S.).  —  Grundlehrplan   für   den    eng- 


*)  Vgl.  Jahrg.  I,  S.  670,  III,  S.  316,  IV,  S.  37,  V,  S.  95,  VI,  S.  31,  VII,  S.  34. 
**)  Ullrich,  Richard,  Programmwesen  und  Programmbibliothek  der  höheren  Schulen 
in  Deutschland,  Österreich  und  der  Schweiz.   Übersicht  der  Entwicklung  im  19.  Jahrhundert 
und  Versuch  einer  Darstellung  der  Aufgaben  für  die  Zukunft.    Berlin  1908.    Weidmannsche 
Buchhandlung.    XXIV  u.  687  S.    12  JVU 


b 


M.  Nath,  Über  Lehrpläne  und  Schulreform.  175 

lischen   Unterricht  (Kiel   O.-R.-S.    I.  No.  381,  4»,   20  S.)  —  Görlitz,   Gym- 
nasium Augustum.    Lehrpläne.    IV.  Teil :   Turnen  (No.  250,  8°,  62  S.). *) 

Der  Königsberger  Lehrplan  ist  schon  durch  seinen  Titel  gekennzeichnet. 
Es  ist  ein  Neudruck  einer  schon  vor  geraumer  Zeit  verfaßten  Arbeit.  Er  enthält 
sämtliche  wissenschaftlichen  und  technischen  Fächer  der  Hauptanstalt  und  der  mit 
ihr  verbundenen  Vorschule,  und  gibt,  im  besonderen  für  die  Lektüre  im  Deutschen 
und  in  den  fremden  Sprachen,  zu  den  im  wesentlichen  unveränderten  amtlichen 
Vorschriften  genauere  Anweisungen  über  Auswahl  und  Ausmaß.  Von  den  tech- 
nischen Fächern  ist  das  Turnen  ausführlicher  behandelt.  Der  Lehrplan  der  Ober- 
realschule zu  Bochum  enthält  für  sämtliche  Fächer  die  Angabe  des  Klassenziels 
in  klarem  Ausdruck,  was  der  Leiter  der  Anstalt  als  Hauptzweck  solcher  Veröffent- 
lichung bezeichnet.  Die  Schüler  müßten  „genau  wissen,  was  von  ihnen  am  Ende 
des  Schuljahrs  verlangt  wird,  was  sie  wissen  und  was  sie  können  müssen,  um  die 
Reife  für  die  nächste  Klasse  darzutun. "  Ausführlicher  sind  die  Lehrpläne  für  das 
Deutsche,  Französische  und  Englische  behandelt,  und  allen  voran  geht  eine  Vor- 
bemerkung über  den  allgemeinen  Stand  des  höheren  Schulwesens,  in  der  z.  B. 
darauf  hingewiesen  wird,  wie  es  eine  eigentümliche  Sache  sei,  „daß  alle  höheren 
Schulen  in  ganz  Preußen,  im  Norden,  im  Süden,  wie  im  Westen  und  Osten,  nach 
einem  Lehrplane  sich  richten  sollen;  schon  die  Stammesunterschiede  der  Schüler 
und  die  dadurch  gegebenen  verschiedenen  Anlagen  müßten  grundsätzlich  in  Be- 
tracht gezogen  werden.  .  .  .  Die  Lehrpläne  gestatten  aber  bis  jetzt  noch  nicht, 
solche  Unterschiede  zu  berücksichtigen."  Wehrmann  betont  dann,  wie  es  darauf 
ankomme,  daß  die  Schüler  an  wenigen  Fächern  ihre  Geisteskräfte  üben  und  schulen, 
und  darin  ein  vollständiges  Können  sich  aneignen,  daß  sie  daher  weit  mehr  als 
bisher  zu  freier  Selbstbetätigung  in  den  Wissenschaften,  zu  denen  sie  ihre  eigenen 
Anlagen  und  Neigungen  hintreiben,  angeregt  und  angeleitet  werden  müssen.  — 
Was  die  Form  der  Lehrpläne  angeht,  so  muß  besonders  für  größere  Anstalten  mit 
starkem  Lehrerwechsel  ein  festes,  sicheres  Gerüst  errichtet  werden,  in  welches  die 
neu  eintretenden  Lehrer  hineinbauen  können.  Methodisch  darf  aber  nur  das  Not- 
wendigste einheitlich  festgelegt  werden,  da  sonst  ihr  direkter,  praktischer  Wert  sich 
verringert,  weil  es  keinem  Lehrer  möglich  ist,  sich  an  viele  Einzelheiten  zu  binden. 
Im  deutschen  Unterricht  wird  die  Berücksichtigung  mit  der  Literatur  der  Gegen- 
wart befürwortet,  um  das  Wertvolle  von  der  Spreu  zu  sondern,  und  der  Bedeutung 
gedacht,  die  die  Schülerbibliothek,  richtig  gewählt  und  richtig  verwaltet,  hier  haben 
kann.  Der  Wert  der  „kleinen  Ausarbeitungen"  wird  klar  bestimmt.  Die  grammatische 
Terminologie  ist  dieselbe  (die  deutsche)  für  alle  drei  Sprachen,  philosophische 
Propädeutik  soll  im  Anschluß  an  die  Lektüre  von  Prosaschriften  getrieben  werden. 
Sangbare  Lieder  sind  zu  pflegen  und  zu  lernen,  z.  B.  auch  zur  Weihnachtszeit. 
In  VI  und  V  werden  die  Geschichtserzählungen  vom  Lehrer  vorerzählt,  nicht  etwa  im 

*)  Von  Beilagen,  die  für  dief  Biesprechung  hätten  nach  dem  Teubnerschen  Verzeichnis 
in  Frage  kommen  können,  sind  nicht  erschienen:  No.  134  (Reinickendorf  Rpg.)  Siebert, 
Umfang,  Bedeutung  und  Lehrpläne  der  Reformschule.  —  No.  178  (Tegel  R.-S.)  Köhler, 
Die  Entwicklungslehre  und  der  biologische  Unterricht  an  höheren  Schulen.  —  No.  348 
(Magdeburg  O.-R.-S.  [Guerickeschulej),  Die  Lehrpläne  für  Rechnen,  Mathematik,  Physik, 
Chemie  und  Mineralogie  und  Naturbeschreibung). 


176  M.  Nath, 

Buche  gelesen.  In  den  fremden  Sprachen  liegt  der  bildende  Wert  der  Gram- 
matik in  der  Ausbildung  der  logisch-konstruktiven  Tätigkeit.  Aber  „der  sogenannte 
grammatische  Drill  wird  im  Englischen,  namentlich  im  Vergleich  zum  Französischen, 
sehr  zurücktreten;  doch  ist  auch  hierin  auf  Sicherheit  in  den  Formen  zu  halten." 
Als  praktisches  Lehrziel  gilt  zunächst :  Das  Verständnis  eines  nicht  zu  schwierigen 
Textes;  dann  erst  das  freie  Sprechen  und  das  Verstehen  der  Umgangssprache. 
„Das  Werk  ist  ganz  zu  lesen"  oder  doch  in  Teilen,  die  durch  vermittelnde  Inhalts- 
angabe zum  Ganzen  ergänzt  werden  können.  Sehr  beherzigenswert  sind  auch  die 
Schlußbemerkungen  über  die  Methodenkünstelei  und  die  ihr  gegenübertretende 
»einfache,  natürliche  Lehrmethode,  welche  der  Persönlichkeit  des  Lehrers  ihr  volles 
Recht  bewahrt"  und  über  die  letzten  Ziele  des  fremdsprachlichen  Unterrichts,  ein 
solider  systematischer  Unterricht  in  der  Grammatik  und  ein  eindringliches 
Studium  von  einigen  hervorragenden  Schriftstellern.  —  In  der  Veröffentlichung  von 
Friedenau  sind  diesmal  die  Lehrpläne  des  Deutschen,  Französischen,  des  (wahl- 
freien) Englischen,  des  Hebräischen,  des  Rechnens  und  der  Mathematik,  der  Natur- 
wissenschaften und  die  der  Vorschule  enthalten.  Auch  hier  tritt  der  Gedanke  her- 
vor, philosophisch-präpodeutische  Belehrungen  im  Anschluß  an  die  Prosastücke 
des  Lesebuches  vorzunehmen.  Im  Französischen  sollen  in  IV  „alle  grammatischen 
Erscheinungen  auf  induktivem  Wege  aus  den  Übungsstücken  abgeleitet"  werden. 
Im  Englischen  wird  auf  die  Lektüre  eines  Shakespearestückes  im  Urtext  verzichtet, 
und  es  wird  dagegen  eine  Lektüre  empfohlen,  die  in  die  englische  Verfassungs- 
geschichte und  in  die  Entwicklung  der  englischen  Kolonialmacht  einführt.  Im 
übrigen  schließen  sich  die  Angaben  den  amtlichen  Plänen  an.  ~  Jüterbog  gibt  eine 
leicht  übersichtliche,  scharfe  Einteilung  des  Lehrstoffes,  zugleich  in  Anmerkungen 
einige  wohl  durchdachte  methodische  Bemerkungen  und  Anregungen.  Es  ist  eine 
sehr  erfreuliche  Arbeit,  deren  Vollendung  im  nächsten  Jahre  man  mit  Interesse 
entgegensehen  kann.  —  Stolp  hat  für  Gymnasium  wie  für  Oberrealschule  Pensen- 
einteilung und  Lektürestoffe,  Aufsatzthemata  usw.  in  der  üblichen  Weise,  wie  die 
Jahresberichte  sie  bringen,  zusammengestellt.  Methodische  Weisungen  fehlen 
infolgedessen  ganz.  —  Von  den  vier  Lehrplanveröffentlichungen,  die  das  Lateinische 
betreffen,  behandelt  Sp rottau  nur  den  Unterricht  in  Sexta.  Neben  dem  Abdruck 
der  amtlichen  Vorschriften  bringt  es  das  Verzeichnis  der  eingeführten  Lehrbücher 
und  die  Verteilung  des  Stoffes  auf  die  einzelnen  Vierteljahre,  endlich  aber  eine 
Reihe  methodischer  Hinweise  unter  dem  Titel  „Die  Stoffbehandlung".  Energisch 
wird  die  induktive  Methode  empfohlen,  gleichzeitig  aber  das  Ausgehen  vom  Verb 
wie  für  die  Erlernung  jeder  Fremdsprache  so  auch  der  lateinischen  verworfen. 
Die  Erlernung  der  Konjugation  beginnt  nach  der  Behandlung  des  Substantivs. 
„Zunächst  werden  aus  leichten  lateinischen  Sätzen  in  gemeinsamer  Arbeit  zwischen 
Lehrer  und  Schülern  die  numeri  und  casus  der  einzelnen  Deklinationen  unter  be- 
sonderer Hervorhebung  der  Endungen  gewonnen.  Hierauf  erst  erfolgt  energische 
Einübung  und  dauernde  Wiederholung  der  Deklinationen."  „In  den  Vordergrund 
hat  die  Übersetzung  aus  dem  Lateinischen  ins  Deutsche  zu  treten,  nicht  umge- 
kehrt." „Zusammenhängende  Stücke  verdienen  den  Vorzug  vor  einzelnen  Sätzen." 
Sehr  gediegene,  richtige  Grundsätze!  —  In  dem  dritten  Teil  seiner  ausführlichen 
Lehrpläne  behandelt  Schwarz    die  lateinische  Lektüre.    Wieder  eine  Fundquelle 


über  Lehrpläne  und  Schulrefornf.  177 

trefflicher  Bemerkungen,  und  als  Ganzes  betrachtet,  —  wenn  der  Nichtfachmann 
ein  Urteil  wagen  darf,  —  eine  allseitig  überlegte  Anleitung.  Das  letzte  Urteil 
nachzuprüfen,  wird  man  aber  zu  der  Abhandlung  selbst  greifen  müssen.  Es  zu 
beweisen,  würde  schließlich  einen  Bericht  fordern,  der  weit  über  die  hier  gesteckten 
Grenzen  hinausgeht.  Sehr  gefallen  hat  dem  Berichterstatter  die  am  Schluß  ge- 
gebene „Übersicht  über  die  Ausnutzung  der  Zeit",  die  für  jede  Klasse  die  Zahl 
der  für  die  einzelnen  Schriftsteller  in  Betracht  kommenden  Stunden  festsetzt,  eben- 
so die  für  die  einzelne  Stufe  gebotene:  Übersicht  über  den  Verlauf  einer 
Lektürestunde.  Der  Wert  und  die  Bedeutung  der  Stegreifübersetzungen,  die 
Notwendigkeit  sorgfältiger  Pflege  der  Herübersetzungen  wird  stark  hervorgehoben. 
Über  die  Eigenart  der  gelesenen  Schriftsteller  fallen  charakteristische  Bemerkungen 
(Nepos  S.  112  —  Livius  S.  138  —  Sallust  S.  147  —  Tacitus  S.  157  usw.).  —  Bei 
der  Dichterlektüre  wird  davor  gewarnt,  Ovid  und  Vergil  „für  die  Realien  auszu- 
schlachten." Zwar  sollen  die  Schüler  mit  den  Sagen  der  antiken  Götter-  und 
Heroenwelt  bekannt  gemacht  werden,  und  deshalb  spielt  das  Mythologische  eine 
gewisse  Rolle,  „aber  viel  wichtiger  ist  es,  in  den  Zöglingen  die  Freude  an  Ovid 
zu  wecken"  (S.  174).  Sehr  richtig  wird  S.  164  über  die  ästhetische  Erklärung  ge- 
sprochen, ebenso  wie  S.  192  über  die  Wiederholung  des  Gelesenen  auf  der  Ober- 
stufe. Kurz,  ohne  vielfache  Anregung  und  Zustimmung  wird  wohl  niemand  die 
Abhandlung  aus  der  Hand  legen.  —  Mancherlei  Ähnlichkeit  mit  der  eben  be- 
sprochenen hat  die  Arbeit  Schenks.  Auch  sie  ist  ja  die  Fortsetzung  und  der 
Abschluß  früherer  Veröffentlichungen.  Besprochen  wird  zunächst  die  Lektüre, 
dann  die  Behandlung  von  Grammatik,  Wortschatz  und  schriftlichen  Übungen.  Den 
Beschluß  macht  eine  Anzahl  von  Vorlagen  für  die  schriftliche  Übersetzung  in  das 
Lateinische.  Was  die  „Einführung  in  das  Kulturleben  des  klassischen  Altertums" 
betrifft,  so  wird  davor  gewarnt,  zu  viel  zu  geben.  Dieselbe  Stellung  nimmt  der 
Verfasser  gegenüber  den  Anschauungsmitteln  ein,  wie  ja  auch  „die  jetzt  geltenden 
Lehrpläne  sie  mit  einer  heilsamen  Einschränkung  empfehlen."  Aus  den  Werken  des 
Tacitus  wird  ein  Lektürekern  herausgeschält,  über  die  Behandlung  seiner  Latinität 
und  seines  historischen  Urteils  wird  gesprochen.  Die  Bedeutung  der  Horazischen 
Episteln  und  Satiren  gegenüber  den  Oden  wird  hervorgehoben.  Auch  hier  ein 
ins  einzelne  gehender  Kanon.  Empfohlen  wird,  bei  Gelegenheit  der  Horazlektüre 
die  Unwissenheit  der  Schüler  in  der  Heroensage  zu  bekämpfen.  Gewarnt  wird  vor 
zu  eingehender  Beschäftigung  mit  den  Horazischen  Metren.  Es  folgen  Auseinander- 
setzungen über  die  Privatlektüre.  Für  die  Wiederholung  und  Sicherung  des  gram- 
matischen Wissens  wird  die  Benutzung  von  anziehenden  aus  der  Lektüre  ent- 
nommenen Beispielen  empfohlen,  da  die  ewigen  Wiederholungen  der  Grammatik- 
paragraphen ermüdend  sind.  Doch  muß  systematisch  verfahren  werden,  denn  er- 
fahrungsgemäß zeigt  sich  auf  dem  ganzen  Gebiete  der  Syntax  Unsicherheit,  und 
es  genügt  nicht  mehr,  diese  mit  gelegentlichen  Wiederholungen  zu  bekämpfen. 
Gewarnt  wird  vor  der  Bewertung  der  schriftlichen  Übungen  als  Leistungsproben. 
Überhaupt  finden  sich  über  den  Betrieb  der  stilistischen  Unterweisung  und  die 
Art,  wie  die  schriftlichen  Übungen  angewendet  werden,  eingehende  Mitteilungen, 
die  vielleicht  nicht  unbedingte  Zustimmung  finden  werden,  aber  doch  zum  Nach- 
denken Veranlassung   geben.    Verbreitung   und  Beachtung  verdient   gewiß   auch 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  12 


178  M.  Nath, 

die  Arbeit  Schenks  ebenso  wie  die  von  Schwarz.  —  Meurer  und  Niepmann 
machen  den  Versuch,  für  den  Unterricht  im  Lateinischen  die  Ergebnisse  der 
historischen  Sprachforschung  zu  verwerten  und  dem  Schüler  die  sprachlichen  Er- 
scheinungen historisch,  d.  i.  in  diesem  Falle  ursächlich  näher  zu  bringen  und  ver- 
ständlich zu  machen,  ihm  zu  zeigen,  wie  die  Sprache  ein  Gewordenes  und  noch 
Werdendes  ist,  wie  physiologische  und  psychologische  Gesetze  ihre  Gestaltung- 
bestimmen. Das  Maß  dessen,  was  davon  in  den  Schulunterricht  hinüberzunehmen 
ist,  bestimmt  sich  dann  danach,  ob  es  dazu  dient,  das  Interesse  zu  beleben  und 
das  Verständnis  zu  erleichtern  und  zu  vertiefen.  Auszuscheiden  ist  alles,  was 
lediglich  Hypothese  ist,  was  nicht  allgemeine  Bedeutung  hat,  und  was  außerhalb 
des  Gesichtskreises  der  Schule  und  des  Schülers  liegt.  —  Die  Kieler  Lehrpläne 
geben  für  den  englischen  Unterricht  Anweisungen  in  derselben  Übersichtlichkeit, 
wie  Schwarz  und  Schenk  es  für  das  Lateinische  tun.  Der  Verfasser  des  Bochumer 
Lehrplanes  wird  sich  also  mit  ihnen  nur  wenig  einverstanden  erklären  können. 
Indessen  ist  der  Geist,  in  dem  sie  abgefaßt  sind,  so  gleicher  Art,  wie  der  der 
Bochumer  Pläne,  daß  die  Mißbilligung  nicht  so  arg  wird  sein  können  (vgl.  S.  7 
oben  über  Hausaufgaben  und  Auswendiglernen  von  Regeln,  S.  6  über  die  Bewer- 
tung der  mündlichen  Leistungen,  S.  13  über  die  Gestaltung  der  Lektüre,  S.  20  über 
die  Bedeutung  der  Kenntnisse,  die  den  Schülern  beizubringen  sind,  gegenüber 
ihrer  Erziehung  zu  tüchtigen  Menschen,  über  die  Gewährung  von  Freiheit  und 
Selbständigkeit  an  die  Schüler  der  Oberstufe).  Eine  besonnene,  gemäßigte  Me- 
thodik und  Pädagogik  tritt  hier  wie  dort  hervor.  Sehr  richtig  gefaßt  ist  die 
Forderung  bei  den  Sprechübungen,  „die  unter  allen  Umständen  der  Lektüre  und 
der  Grammatik  gegenüber  zurücktreten  und  nur  als  Nebenzweck  des  eigentlichen 
Unterrichts  betrachtet  werden  müssen,"  die  Schüler  an  schnelles  Fragen  zu  ge- 
wöhnen, „da  es  beim  praktischen  Gebrauch  der  fremden  Sprache  weniger  darauf 
ankommt  zu  antworten,  als  richtig  und  schnell  zu  fragep".  —  Görlitz  bietet  in 
der  Vorbemerkung  zu  einem  Lehrplan  des  Turnens  bemerkenswerte  Ausführungen 
über  die  Dispensation  vom  Turnen,  den  Betrieb  in  der  Vorschule,  das  Klassen- 
turnen, Gesang  und  Turnen,  die  Lage  der  Turnstunde. 

Über  „Die  Konzentration  des  Unterrichts  und  ihre  Anwendung  in 
der  Quarta  des  Gymnasiums"  schreibt  Seh uchm an n  (Metz,  Lyceum.  No. 680, 
4",  60  S.)  eine  fleißige  Arbeit,  die  in  der  engeren  Heimat  des  Verfassers  gewiß  un- 
mittelbar benutzt  werden  kann,  an  anderen  Stellen  aber  als  Vorbild  für  gleichartige 
Arbeiten  dienen  mag,  indem  an  die  Stelle  der  im  Elsaß  eingeführten  Lehrbücher 
und  Lehrmittel  die  jedesmal  im  Gebrauch  stehenden  mit  der  gehörigen  Rücksicht 
auf  ihre  Eigenart  gesetzt  werden.  Reichliche  Literaturangaben  erhöhen  für  diesen 
Zweck  noch  die  Brauchbarkeit. 

Im  besondern  beziehen  sich  auf  die  Reformschulen  P.  Treutlein,  Geschichte 
des  sogenannten  Reformgymnasiums  während  des  ersten  Jahrzehnts 
seines  Bestehens.  II.  (Karlsruhe  i.  B.,  No.  814,  4»,  30  S.),  Kuhfuß,  Zur 
Gründung  des  selbständigen  Reformrealgymnasiums  (Magdeburg,  No.  336, 
4»,  36  S.),  A.  Harnisch,  Von  der  Aufgabe  und  Eigenart  des  Reform- 
realgymnasiums (Kiel,  No.  374,  4",  12  S),  Rohleder,  Zum  Ausbau  der 
bisherigen  Realschule  zur  Oberrealschule  (Stargard  i.  Pom.,   No.  204,  4°, 


über  Lehrpläne  und  Schulrefcfrm.  179 

21  S.).  Endlich  auch  Häußer,  Mündlich -grammatische  Sprach-  und 
Sprechmethode  für  den  Schulunterricht  in  den  lebenden  Sprachen 
(Mannheim,  Realgymnasium,  No.  817,  4«,  20  S.). 

Von  weiteren  Kämpfen  um  die  Ausgestaltung  und  Anerkennung  seiner  An- 
stalt berichtet  Treutlein,  bis  zum  glücklichen  Ende  nach  vielfacher  Not.  Eine 
große  Zahl  wertvoller  Tabellen  belehrt  über  die  mannigfachsten,  für  die  Entwicklung 
und  das  Gedeihen  der  Anstalt  maßgebenden  Verhältnisse.  Besonders  hervorzuheben 
ist  dabei  der  große  Zudrang  zu  der  untersten  Klasse,  seitdem  dem  Realgymnasium 
die  reformgymnasiale  Nebenanstalt  angegliedert  war.  In  Zustände,  wie  sie  nicht 
sein  sollten,  erhält  man  Einsicht  durch  die  Mitteilung,  daß  in  Baden  die  Zahl  der  fest- 
angestellten Professoren  zu  den  unständigen  Praktikanten  sich  wie  4  :  1  verhält,  daß 
Mangel  an  Lehrern  und  an  weiteren  Schulzimmern  Klassenteilungen  verhinderte. 
Schmerzlich  vermißt  man  die  Mitteilungen  aus  dem  »inneren  Leben  der  Schule", 
die  der  hochverdiente  Verfasser  für  die  Zukunft  verspricht.  —  Kuhfuß  und  Roh- 
leder haben  gleichfalls  von  mancherlei  Kämpfen  und  Widerstand  zu  erzählen,  den 
die  ihnen  unterstellten  Schulen  bei  Ausgestaltung  als  Reformrealgymnasium  bzw. 
als  Oberrealschule  erfuhren.  Für  den  engeren  Leserkreis  ihres  Elternpublikums 
fügen  sie  dann  allerlei  hinzu  über  Verbreitung  und  Berechtigung  des  Typus. 
Darüber  hinaus  bietet  Kuhfuß  auch  noch  einen  historischen  Überblick  über  die  all- 
gemeine Entwicklung  des  Reformschulgedankens  und  verbindet  damit  kritische 
Bemerkungen  über  seinen  Wert.  Er  ist  der  Ansicht,  daß  die  Zeit  kommen  wird, 
wo  nicht  nur  sämtliche  Realgymnasien,  sondern  auch  die  humanistischen  Gymnasien 
mit  Französisch  oder  Englisch  als  erster  Fremdsprache  beginnen  werden,  daß  der 
gemeinsame  Unterbau  auf  modern-fremdsprachlicher  Basis  sich  siegreich  durch- 
ringen wird.  Er  erörtert  weiter  die  Vorzüge,  die  der  Beginn  mit  dem  Französischen 
hat  und  widerlegt  die  Gründe  der  Gegner.  Er  stellt  fest,  daß  sowohl  bei  den 
Schülern  als  auch  bei  den  Lehrern  an  dieser  Schulart  eine  größere  Afbeitsfreudig- 
keit  herrscht.  „Es  ist  ein  frischer  Hauch,  der  durch  den  Unterricht  weht."  — 
Ohne  Fachmännern  etwas  Neues  sagen  zu  wollen,  stellt  Harnisch  in  seiner  An- 
trittsrede die  wichtigsten  Gesichtspunkte  für  die  richtige  Beurteilung  des  Reform- 
realgymnasiums zusammen.  Die  überkommene  Schulform  sei  in  Einklang  zu 
bringen  mit  den  veränderten  Zeitbedürfnissen.  Mit  der  wachsenden  Selbständig- 
keit des  modernen  Geisteslebens  vollziehe  sich  unaufhaltsam  eine  größere  Ab- 
wendung vom  Altertum.  Ein  neues  Bildungsideal  verlange  Berücksichtigung  im 
Schulwesen.  Denn  die  Schule  müßte  der  allgemeinen  Kulturbewegung  notwendig 
folgen.  Ein  Verdienst  der  deutschen  Stadtverwaltungen  sei  es,  wenn  dies  geschehen 
sei.  Der  Staat  habe  sich  wesentlich  ablehnend  verhalten.  Die  jetzt  gegebene 
Freiheit  in  der  Wahl  der  Studien wege  müßte  zu  rückhaltloser  gegenseitiger  An- 
erkennung dem  Elternpublikum  gegenüber  führen.  Sei  doch  das  Ziel  dasselbe, 
die  Ausbildung  des  einzelnen  zu  einer  geschlossenen,  im  Dienst  des  Ganzen 
tüchtigen  Persönlichkeit.  Das  trete  hervor  im  Betrieb  der  neuen  Sprachen,  deren 
praktische  Anwendung  zwar  gründlich  zu  üben  sei,  während  das  letzte  Ziel  des 
neusprachlichen  Unterrichts  nicht  das  sprachlich-technische  bilde,  sondern  das 
historisch-kulturelle,  die  Einführung  in  das  Geistesleben  der  großen  Nachbarvölker 
an  der  Hand  eines  tiefgründigen  Lehrstoffes.    So  auch  im  naturwissenschaftlichen 

12* 


180  M.  Nath, 

Unterricht,  wo  es  sich  darum  handle,  die  in  der  Erforschung  der  Natur  geleistete 
gewaltige  Geistesarbeit  nachzudenken.  Müssen  auch  für  die  Bekanntschaft  mit  der 
griechischen  Literatur  Übersetzungen  herangezogen  werden,  so  wäre  dies  für  die 
Erschließung  des  geistigen  Gehaltes  der  Schriftstellen  belanglos,  während 
freilich  zuzugeben  sei,  daß  an  ästhetischer  Wirkung  auch  die  beste  Übersetzung 
nie  das  Original  erreiche.  Recht  einleuchtend  wird  dann  (S.  8)  erklärt,  warum  der 
lateinische  Unterricht,  wie  er  in  Tertia  einsetze,  die  Schüler  leicht  voranbringt.  Und 
auch  Harnisch  hat  eine  gesteigerte  Lernfreudigkeit  der  Schüler  beobachtet,  für  die 
er  die  Erklärung  findet  in  dem  Gefühl  schnelleren  Hinwegkommens  über  die 
Schwierigkeiten  der  Grammatik.  Eine  eigenartig  ausgeführte  Übersichtstabelle  über 
die  Lehrpläne  und  die  Schultypen  ist  der  Arbeit  beigegeben.  —  Auf  die  Arbeit 
Häußers  hinzuweisen  ist  die  Pflicht  des  diesjährigen  Berichterstatters.  Und  am 
besten  findet  dieser  Hinweis  hier  seine  Stelle.  An  der  Hand  mehrerer  Lehrproben 
verdeutlicht  der  Verfasser  seine  Absicht.  Er  kritisiert  zunächt  sehr  heftig  die 
Absichten  der  Reformer,  die  Unmögliches  verlangten,  er  weist  darauf  hin,  daß  die 
alte  Buchmethode  gut  war,  solange  man  damit  einverstanden  war,  daß  die  leben- 
den Sprachen  wie  die  toten  gelehrt  werden  sollten.  Aber  sie  versagte,  als  man 
an  die  Schüler  die  Forderung  stellte,  die  neuen  Sprachen  auch  sprechen  zu 
lernen.  Dies  Ziel  zu  erreichen,  in  bestimmten  Grenzen,  aber  immer  grammatisch 
korrekt,  hat  Häußer  sich  vorgenommen.  Wie  er  es  zu  verwirklichen  gedacht  hat, 
mag  aus  der  Arbeit  selbst  ersehen  werden.  Ob  ihm  ein  Gelingen  geworden  wäre,  — 
soll  dahingestellt  bleiben. 

Gehen  wir  zu  Reformbestrebungen  im  weiteren  Sinne  über,  so  ist  zu  nennen: 
Wetekamp,  Selbstbetätigung  und  Schaffensfreude  in  Erziehung  und 
Unterricht  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  ersten  Schuljahres 
(Schöneberg  bei  Berlin,  Werner -Siemens -Realgymnasium,  No.  137,  8^  46  S., 
10  Tafeln).*)  —  Milau,  Die  Bedeutung  des  physikalisch-chemischen 
Unterrichts  und  seine  Förderung  durch  praktische  Schülerübungen 
(Kreuznach,  Realschule,  No.  666,  8°,  40  S.).  —  Höhnemann,  Die  physikali- 
schen Schülerübungen  am  Gymnasium  (Landsberg  a.W.,  No.  94,  4°,  12  S.).  — 
Scheel,  Das  Lichtbild  und  seine  Anwendung  im  Rahmen  des  regel- 
mäßigen Schulunterrichts  (Steglitz,  Gymnasium,  No.  104,  8»,  52  S.,  2 Taf.).**) — 
Schoenichen,  Natur  und  Schule  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
Amerika  (Schöneberg  bei  Berlin,  Helmholtz- Realgymnasium,  No.  136,  8°, 
87  S.).***)  —  Knobloch,  Über  die  Reform  im  Zeichenunterricht  (Breslau, 
katholische  Realschule,  No.  293,  80,  26  S.).  —  Rosenkranz,  Wie  kann  das 
Zeichnen  in  den  anderen  Unterrichtsfächern  angewendet  werden? 
(Saarlouis,  Gymnasium,  No.  606,  4",  17  S.).  —  Wenner,  Zur  Methodik  des 
Gesangunterrichts  auf  höheren  Schulen  (Bonn,  Königl.  Gymnasium, 
No.  560,  4°,  19  S.). 

Eine  anziehende,  eigenartige  Leistung  bietet  W.  Wetekamp.  Er  erzählt  von 
einer  neuen  Art,   wie   er   die  kleinen  A-B-C-Schützen,   die  die  Bänke   der  dritten 

*)  Verlag  von  B.  G.  Teubner,  Leipzig  u.  Berlin,  kart.  1,80  M. 
**)  Verlag  von  Quelle  u.  Meyer,  Leipzig,  1,20  M. 
***)  Verlag  von  B.  G.  Teubner,  Leipzig  u.  Berlin,  kart.  1,80  M. 


über  Lehrpläne  und  Schulreform.  1$1 

Vorschulklasse  drücken,  in  die  Elemente  der  Wissenschaften  einführen  läßt,  sehr 
abweichend  von  den  Gepflogenheiten  der  großen  Menge,  möglichst  angepaßt  der 
körperlichen  Eigenart  und  dem  Standpunkt  der  geistigen  Entwicklung  bei  dem 
jungen  Volk,  mit  großem  Beifall  und  Erfolg  in  den  Kreisen  der  beteiligten  Eltern. 
Auf  den  beigegebenen  Tafeln  sehen  wir  allerhand  Erzeugnisse  der  Kinder,  Blei- 
stiftzeichnungen, Abbildungen  ihrer  Fertigkeit  im  Formen  in  Plastolin,  wir  sehen 
die  Kinder  selbst  eifrig  bei  der  gerngetanen  Arbeit,  wir  erblicken  endlich  auch  in 
einer  Anzahl  von  Schriftproben  die  Ergebnisse  des  neugestaltenen  Unterrichts,  die 
am  Schlüsse  des  Schuljahres  trotz  des  neuen  Weges  doch  denen  gleichen  sollen, 
die  auf  dem  gewöhnlichen  Weg  erreicht  werden.  Ein  Vorgang,  der  zur  Nach- 
ahmung reizen  kann.  Man  wende  sich  an  den  jedem  Kinde  innewohnenden  Be- 
schäftigungstrieb und  gebe  Gelegenheit  zur  praktischen  Betätigung,  indem  man 
insbesondere  im  Anschauungsunterricht  sich  nicht  auf  das  Anblicken  der  Bilder  be- 
schränkt, sondern  die  Kinder  die  ihnen  bekannten  Gegenstände  formen  und  zeichnen 
läßt.  Das  Formen  als  das  Körperliche  und  damit  Konkretere  und  Einfachere  muß 
dabei  dem  auf  die  Fläche  beschränkten  und  damit  schon  abstrahierenden  Zeichnen 
natürlich  vorangehen.  An  das  Formen  schließt  sich  die  Betrachtung  der  Umrisse 
an,  die  zunächst  mit  größeren  und  kleineren  Stäbchen  gelegt  und  späterhin  mit  ein- 
fachen geraden  Bleistiftstrichen  nachgezeichnet  und  mit  Buntstiften  gefärbt  werden. 
Daneben  geht  die  Übung  des  Ohres  einher.  Auf  deutliches  Sprechen  und  damit 
verbunden  deutliches  Hören  wird  großes  Gewicht  gelegt.  Allmählich  geht  es  dann 
auch  an  die  Darstellung  der  Laute  durch  Buchstaben.  Es  werden  Buchstaben- 
täfelchen (der  lateinischen  Schrift)  hergestellt  und  mit  ihnen  Lese-  (und  Schreib-) 
Übungen  vorgenommen.  Mit  der  Zeit  entsteht  (durch  Druck  mittels  einer  kleinen 
Tiegelpresse)  ein  selbst  hergestelltes  kleines  Lesebuch.  Mit  den  Legeübungen 
werden  gleich  von  Anfang  an  praktische  Rechenübungen  verknüpft,  indem  zunächst 
an  den  Stäbchen  das  Zählen  gelernt  wird.  Allmählich  lernt  der  Schüler  auch  das 
allereinfachste  Addieren  und  Subtrahieren,  die  Zahlbegriffe  prägen  sich  fest  ein. 
Das  verpönte  Abzählen  an  den  Fingern  wird  verteidigt.  „Es  ist  jedenfalls  unver- 
gleichlich viel  besser,  wenn  der  Schüler  eine  Aufgabe,  die  er  noch  nicht  gedächtnis- 
mäßig kann,  an  den  Fingern  sich  ausrechnet,  denn  er  ist  dabei  doch  wirklich  tätig, 
als  wenn  er  sich  infolge  des  Nichtwissens  gar  nicht  beteiligt."  (S.  20.)  Sind  dann 
Augen  und  Hände  der  Kinder  durch  Formen,  Stäbchenlegen,  Lesen  und  Zeichnen 
im  Anschauungs-  wie  Rechenunterricht  gut  geübt,  dann  ist  es  Zeit,  zum  wirklichen 
Schreiben  überzugehen,  und  zwar  sofort  mit  Tinte  und  Feder.  Das  Schreibenlemen 
geht  dann  sehr  schnell  vorwärts.  Geübt  wird  die  Steilschrift.  Sehr  hübsch  ist  die 
Bemerkung:  „Die  Einübung  der  Hand  durch  das  Zeichnen  und  Formen  hat  auch 
noch  den  Vorteil,  daß  der  Lehrer  hierbei  viel  weniger  streng  in  der  Beurteilung 
sein  kann.  Er  kann  mehr  lobend  und  aneifernd  tätig  sein,  während  er  beim  Schreiben 
gezwungen  ist,  auf  eine  möglichst  korrekte  Form  zu  halten,  da  ja  sonst  niemals 
eine  gute  Schrift  herauskommen  kann"  (S.  22).  An  die  Darstellung  des  von  ihm 
angegebenen  Verfahrens  knüpft  Wetekamp  noch  eine  Reihe  von  Betrachtungen, 
die  das  Prinzip  dieses  Verfahrens  in  das  Ganze  des  Unterrichts  eingliedern. 
Diese  Betrachtungen  verdienen  ebenso  wie  die  Darstellung  selbst  die  Beachtung 
jedes  Pädagogen.    Die  Erörterungen  über  Handfertigkeitsunterricht  als  Unterrichts- 


182  M.  Nath, 

fach  und  Unterrichtsprinzip,  die  Verbindung  von  Handfertigkeitsunterricht  mit  der 
Anfertigung  physikalischer  Apparate  und  der  Zusammenhang  mit  den  Schüler- 
übungen, über  den  Verzicht  einer  erschöpfenden  Darstellung  aller  Gebiete  auf 
naturwissenschaftlichem  Gebiete,  über  eine  mögliche  Änderung  in  der  Methode 
des  sprachlichen  Unterrichts,  über  die  Wahlfreiheit  auf  der  Oberstufe  und  die  da- 
mit zusammenhängende  Änderung  der  Reifeprüfung,  über  die  Notwendigkeit  einer 
Verkürzung  der  Studien.  Eine  solche  ist  „aus  volkswirtschaftlichen  Gründen  auf 
die  Dauer  unumgänglich  nötig,  unsere  jungen  Leute  kommen  jetzt  viel  zu  spät 
in  den  Beruf  (S.  42).  Es  ist  eine  gedankenreiche,  höchst  beachtenswerte  Arbeit, 
die  den  Weg  zur  Neugestaltung  weist  und  ein  Wegweiser  sein  kann,  wo  guter 
Wille  und  Stetigkeit  des  Wollens  vorhanden  sind.  —  Wie  der  Gedanke  der  physi- 
kalischen Schülerübungen  immer  weiteren  Boden  faßt  und  praktisch  ausgestaltet 
wird,  zeigen  die  Arbeiten  von  Milau  und  Höhnemann.  Die  zweite  berichtet, 
wie  ein  eifriger  Lehrer  unter  ungünstigen  Verhältnissen  sich  zu  helfen  sucht,  um 
das  Mögliche  zu  leisten.  „Denn  wollten  alle  Physiklehrer  sich  diese  Forderungen 
(sei.  eines  gut  ausgestatteten  Arbeitsraumes)  zu  eigen  machen,  so  würde  die  für  so 
dringend  wünschenswert  gehaltene  Ergänzung  des  Demonstrationsunterrichts  durch 
praktische  Übungen  auf  Jahre  hinaus  ein  Privilegium  mit  reichen  Mitteln  ver- 
sehener oder  neu  eingerichteter  Schulen  bleiben."  So  geht  er  frisch  ans  Werk  und 
da  das  Arbeiten  „in  gleicher  Front"  nicht  möglich  ist,  begnügt  er  sich  mit  der 
„regellosen  Arbeitsweise",  der  er  auch  einige  Vorteile  nachrühmt,  z.  B.  den,  daß 
sie  es  ermöglicht,  persönliche  Wünsche  einzelner  Schüler  bezüglich  bestimmter 
Übungen  zu  berücksichtigen.  Er  befürwortet  die  Einführung  praktischer  Übungen 
auf  der  Unterstufe,  und  zwar  innerhalb  der  Pflichtstunden,  was  bei  einfachen 
Mitteln,  passender  Auswahl  und  entsprechender  Beschränkung  des  Lehrstoffs  mög- 
lich sein  würde  und  er  begründet  den  Vorschlag  mit  der  Erfahrung,  daß  auf  dieser 
Stufe  der  Drang  nach  praktischer  Betätigung  besonders  stark  sei.  Wenn  er  ferner 
berichtet:  „Als  die  Staatsregierung  wiederholt  in  sehr  dankenswerter  Weise  Be- 
träge gewährte,  die  allein  für  die  Schülerübungen  bestimmt  waren  .  .  .  erfolgten 
diese  Zuwendungen  stets  unvorhergesehen  und  waren  mit  der  Bedingung  ver- 
knüpft, in  sehr  kurzer  Frist,  ja  von  einem  Tage  bis  zum  nächsten,  eingehende 
Vorschläge  über  die  Verwendung  der  Mittel  einzureichen",  so  trifft  er  damit  einen 
wunden  Punkt,  einen  nicht  selten  empfundenen  Übelstand,  dessen  Beseitigung 
doch  nicht  außerhalb  des  Möglichen  liegen  dürfte.  —  Allseitiger  als  Höhnemann 
behandelt  Milau  sein  Thema.  Seine  Arbeit  gliedert  sich  in  vier  Kapitel.  Im 
ersten  behandelt  er  die  wachsende  Bedeutung  des  naturwissenschaftlichen  Unter- 
richts und  betont  dessen  formale  und  ästhetisch-ethische  Bedeutung,  im  zweiten  die 
praktisch-heuristischen  Unterrichtsmethoden  im  allgemeinen,  wobei  er  wie  Höhne- 
mann auf  der  Unterstufe  eine  innige  Verschmelzung  des  Klassen-  und  Labora- 
toriumsunterrichts als  dringend  wünschenswert  bezeichnet,  weil  die  Übungen  gerade 
die  Grundbegriffe  vermittelten.  An  Wetekamps  Gedanken  anklingend  wünscht  er 
einen  Handfertigkeitsunterricht  in  Quinta  und  Untertertia,  der  die  Schüler  in  den 
Besitz  aller  der  Handfertigkeiten  bringen  solle,  die  sie  zu  dem  späteren  Praktikum 
bedürfen.  Im  dritten  Kapitel  spricht  der  Verfasser  über  Schülerübungen  an  kleineren 
Anstalten,   über  die  eigenen  Erfahrungen,   im  vierten  endlich   stellt   er   eine  Aus- 


über  Lehrpläne  und  Schulreform.  183 

# 
wähl  von  Übungen  zusammen.  —  Eine  sehr  ansprechende  Darstellung  der  Förde- 
rung, die  die  Reform  des  Zeichenunterrichts  diesem  Lehrgegenstande  gebracht 
hat,  gibt  Knobloch.  Er  stellt  die  Vorteile  der  neuen  Methode  in  ein  helles  Licht 
gegenüber  den  Mängeln  des  Althergebrachten,  er  verteidigt  ihre  Eigenart  gegen 
die  Angriffe  der  Gegner  und  Zweifler  und  illustriert  seine  Ausführungen  durch  eine 
große  Zahl  anmutender  Bilder.  Die  Arbeit  ist  wohl  geeignet,  in  den  Kreisen  der 
Eltern  wie  auch  in  denen  der  höheren  Lehrer  selbst  die  ganz  veränderte  Lage  und 
Bedeutung  dieses  Faches  zur  Erkenntnis  zu  bringen.  So  kann  es  denn  auch 
Rosenkranz  unternehmen,  das  Zeichnen  als  ein  vorzügliches  Mittel  für  die  Kon- 
zentration des  Unterrichts  in  Anspruch  zu  nehmen,  das  zur  Veranschaulichung 
eines  durchzunehmenden  Stoffes  dienen  und  somit  beim  Unterricht  als  Erklärung 
neben  das  gesprochene  Wort  treten  soll.  Nach  Erörterung  der  Fragen:  l.  Wer 
soll  zeichnen?  2.  Wie  soll  gezeichnet  werden?  3.  Was  soll  gezeichnet  werden? 
geht  der  Verfasser  dazu  über,  für  die  einzelnen  Unterrichtsgegenstände  einen  Kanon 
dahin  zu  entwerfen,  was  durch  Zeichung  zu  erläutern  sei.  Man  wird,  trotz  aller 
Anerkennung  für  die  Richtigkeit  des  Prinzips  und  für  das  Streben  des  Verfassers, 
nicht  umhin  können,  bezüglich  der  Ausdehnung  dieser  Bestrebung  und  der  An- 
gemessenheit in  einzelnen  Fällen  abweichender  Ansicht  zu  sein.  —  Scheel  ver- 
sucht durch  den  Lichtbildapparat  die  Anschaulichkeit  des  Unterrichts  zu  heben. 
Zwar  besitzen  wir  einige  größere  literarische  Publikationen  über  die  Verwendung 
von  Lichtbildern  im  Unterricht,  indessen  wird  diese  kleinere  Veröffentlichung,  die 
alle  Seiten  der  Frage  bespricht,  für  die  erste  Orientierung  sehr  nützlich  sein  und 
sollte  in  jeder  Anstalt  den  Lehrern  leicht  zur  Hand  sein.  Auch  sie  bietet  einen 
Überblick,  wie  in  jedem  Fache  der  Projektionsapparat  mit  Nutzen  verwendet 
werden  kann,  aber  sie  geht  nicht  so  ins  einzelne  wie  Rosenkranz  es  tut,  und,  da 
bei  dem  Vorhandensein  eines  Skioptikons  die  Vorstellung  der  Bilder  weniger  Zeit 
in  Anspruch  nimmt  als  die  von  Zeichnungen,  die  der  Lehrer  in  der  Stunde  ent- 
werfen soll,  sind  die  Vorschläge  leichter  zu  befolgen  und  haben  mehr  Aussicht 
benutzt  zu  werden.  —  Schoenichens  Arbeit  beruht  auf  eingehenden  Studien, 
die  der  Verfasser  in  Amerika  gemacht  hat.  Sie  behandelt  ohne  Voreingenommen- 
heit weder  für  die  dortigen,  noch  für  die  heimischen  Verhältnisse  den  Stand  des 
biologischen  Unterrichts  in  den  Vereinigten  Staaten  und  legt  dar,  was  von  uns  dort 
gelernt  werden  kann.  Der  Verfasser  kommt  zu  Beginn  seiner  Darlegungen  auf 
den  Unterschied  zu  sprechen,  den  der  Amerikaner  zwischen  Nature-study  (der  Auf- 
gabe der  Volksschule)  und  natural-science  (der  der  höheren  Schule)  macht.  „Nicht 
einen  abgeschlossenen  Schatz  sicherer  Kenntnisse  will  die  Volksschule  ihrem 
Schülermaterial  mit  auf  den  Lebensweg  geben,  sondern  die  Fertigkeit,  dereinst  im 
Lebenskampfe  selbständig  sich  weiter  zu  bilden;  nicht  einen  toten  Besitzstand  an 
Wissen  will  sie  übermitteln,  sondern  lebendige  Entwicklungsenergie  zum  Weiter- 
streben".  (S.  5,  vgl.  dazu  den  Lehrplan  S.  63—72.)  Sehr  treffend  ist  seine  Unter- 
scheidung von  dreierlei  Arten  des  Beobachtens,  des  konstatierenden,  des  registrieren- 
den, des  entdeckenden,  von  denen  das  letzte  für  die  Zwecke  des  Unterrichts  das 
bedeutsamste  ist.  Von  hier  aus  wird  das  Lehrverfahren  bei  Berücksichtigung  des 
biologischen  Prinzips  als  ein  doppeltes  charakterisiert,  entweder  als  ein  Lehrverfahren 
mit  voraufgehender  Denkübung  und  nachfolgender  Beobachtung  erster  Stufe,  oder 


184  M.  Natb, 

als  ein  solches  mit  voraufgehender  Beobachtung  dritter  Stufe  und  nachfolgender 
Denkübung.  Die  Überlegenheit  des  zweiten  Lehrverfahrens  wird  hervorgehoben, 
zugleich  auf  die  Gefahren  einer  hyperteleologischen  Naturauffassung  hingewiesen. 
»Wenn  wir  beobachten,  daß  irgendein  Organ  zu  einer  bestimmten  Funktion 
wohlgeeignet  ist,  so  folgt  daraus  keinesfalls  mit  Notwendigkeit,  daß  die  Er- 
füllung jener  Funktion  auch  der  beabsichtigte  Zweck  der  Natur  sei"  (S.  17). 
Das  richtige  Verfahren  werde  nun,  bei  dem  Mangel  an  geeigneten  Lehrern 
keineswegs  überall  in  Amerika  angewendet,  ein  Verbalismus  herrsche  teilweise,  der 
übrigens  auch  in  Europa  keineswegs  ganz  ausgestorben  sei.  Auf  die  Verbindung 
des  Handfertigkeitsunterrichts  mit  dem  naturkundlichen  wird  auch  von  Schoenichen 
hingewiesen,  ein  Verhältnis,  das  der  Verfasser  in  dieser  Form  für  nicht  übertrag- 
bar auf  die  deutschen  Schulen  hält  (S.  26).  Im  zweiten  Kapitel  „das  Prinzip  der 
Anschaulichkeit"  betitelt,  wird  behandelt:  1.  Das  Naturobjekt,  das  soweit  irgend 
angängig  als  lebendes  verwertet  wird,  so  daß  auf  gute  Schulsammlungen  von  ge- 
stopften Tieren  und  Präparaten  ein  geringes  Gewicht  gelegt  wird.  2.  Die  An- 
schauungsbilder, mit  denen  die  amerikanischen  Anstalten  durchweg  geradezu 
dürftig  ausgestattet  sind.  3.  Das  Zeichnen,  das  bei  der  „beneidenswerten  Zeichen- 
fähigkeit der  Lehrer"  viel  geübt  wird,  vor  allem  das  selbständige  Zeichnen  nach 
der  Natur  und  das  nach  dem  Gedächtnis.  „Was  für  den  Sprachunterricht  die 
Vokabeln  bedeuten,  das  ist  in  der  Naturkunde  der  Inhalt  des  Formgedächtnisses". 
(S.  37.)  4.  Die  Exkursionen,  die  planmäßig  nach  den  Museen  der  großen  Städte, 
nach  den  zoologischen  Gärten  usw.  unternommen  werden.  Die  großzügigen 
Einrichtungen,  die  die  amerikanischen  Institute  dieser  Art  besitzen,  werden 
rühmend  betont.  5.  Der  Schulgarten  und  das  Praktikum.  Bei  ersterem  wird 
neben  dem  didaktischen  Nutzen  auch  der  erziehliche  Wert  hoch  geschätzt.  Bei 
der  Besprechung  der  Arbeiten  im  Laboratorium  wird  vor  zu  starker  Bevorzugung 
der  mikroskopischen  Übungen  gewarnt.  Der  makroskopische  Kursus  hat  den  Vor- 
teil, daß  er  weniger  kostspielig  ist.  Dann  aber  „Wenn  wir  auf  der  Oberstufe 
einem  höheren  Schüler  wieder  Biologie  lehren  dürfen,  so  ist  damit  keineswegs  ge- 
stattet, Dinge,  die  dem  Hochschulstudium  vorbehalten  sind,  für  die  Mittelschulen 
vorweg  zu  nehmen.  Vielmehr  haben  wir  hinreichend  zu  tun,  wenn  wir  uns  darauf 
beschränken,  unseren  Schülern  die  grundlegenden  Kenntnisse  von  der  Organismen- 
welt zu  übermitteln,  und  wenn  wir  stetig  dafür  Sorge  tragen,  daß  die  Beobachtungs- 
kunst nicht  zum  geistigen  Rudiment  degeneriert".  Im  letzten  Abschnitt  spricht 
Schoenichen  über  die  Vorbildung  der  Lehrer.  Er  weist  zunächst  darauf  hin,  daß 
es  in  Amerika  eine  strenge  Scheidung  in  akademisch  und  seminaristisch  ausge- 
bildete Lehrer  nicht  gebe.  Der  amerikanische  Lehrer  erlangt  seine  berufliche  Vor- 
bildung in  der  Regel  auf  einer  Normal  School.  Der  Eintritt  in  eine  derartige  An- 
stalt hat  den  vollständigen  Besuch  einer  High  School  zur  Voraussetzung,  so  daß 
in  der  Union  der  Lehrer  die  gleiche  allgemeine  Bildung  aufweisen  kann  wie  die 
übrigen  gelehrten  Stände.  Die  Ausbildungszeit  auf  der  Normal  School  umfaßt  in 
der  Regel  zwei  Jahre.  Schoenichen  berichtet,  was  auf  anderen  dieser  Schulen  an 
naturwissenschaftlichen  Belehrungen  geboten  ist.  Ebenso  von  denTeacher's  Colleges, 
deren  Besuch  4—5  Jahre  in  Anspruch  nimmt  und  dem  Studierenden  eine  um- 
fassendere und  wissenschaftlichere  Vorbildung  sowohl  in  den  Spezialfächern  als 


über  Lehrpläne  und  Schulreform.  185 

auch  in  der  Pädagogik  verschaffen  soll.  Als  Vorzüge  der  amerikanischen  Ver- 
hältnisse betrachtet  der  Verfasser  einmal  das  offenkundige  Bestreben,  den  Stu- 
denten mit  der  Natur  selbst  bekannt  zu  machen  und  dann  die  außerordent- 
liche Wertschätzung,  die  man  in  den  Vereinigten  Staaten  der  Methodik  der 
einzelnen  Lehrgegenstände,  insbesondere  auch  der  Naturwissenschaften,  ent- 
gegenbringt. Man  betrachtet  sie  als  eine  Wissenschaft  und  räumt  ihr  daher 
innerhalb  des  Studienplanes  den  ihr  gebührenden  Platz  ein.  Auch  für  die  euro- 
päischen, im  besonderen  die  deutschen  Schulen  und  deren  Lehrer  wünscht  Schoe- 
nichen  die  gleichen  Vorbedingungen.  Der  Schluß  seiner  Arbeit  ist  einer  Aus- 
einandersetzung A.  E.  Bungers  gewidmet,  der  (diese  Monatschrift  VI,  S.  500ff.) 
gegen  des  Verfassers  Darlegungen  im  Novemberheft  des  Jahrgangs  1906  polemisiert 
hatte.  Die  kurze  Skizze  der  Schoenischenschen  Abhandlung  zeigt  schon,  wie  viel 
an  reformatorischen  Gedanken  in  ihr  enthalten  ist.  Möge  sie  also  einen  weiten 
Leserkreis  finden.  *)  —  Wann  er  bespricht  die  Fragen  des  Gesangunterrichts, 
Stimmpflege  und  Stimmbildung,  vor  allem  dann  die  Anleitung  zum  Singen  nach 
Noten,  „das  vom  Blatte  Singen",  die  theoretischen  Belehrungen,  den  Übungsstoff 
und  seine  Behandlung,  den  Chorgesang,  so  daß  auch  ein  dem  Fach  Fernstehender 
dafür  Verständnis  und  Interesse  zu  gewinnen  vermag. 


*)  Bei  der  Besprechung  aller  dieser  Arbeiten,  die  eine  mehr  oder  minder  bedeutende 
Wandlung  des  höheren  Unterrichts  anstreben,  kann  schließlich  nicht  ganz  unerwähnt  bleiben, 
was  aus  Kreisen,  die  außerhalb  des  offiziellen  Schulwesens  stehen,  zur  Lösung  dieser  Fragen 
herbeigetragen  wird.  Und  so  sei  heute  hingewiesen  auf  den  „Ersten  Jahresbericht 
der  freien  Schulgemeinde  Wickersdorf«  (1.  September  1906  bis  1.  März  1908),  die  die 
Leiter  Paul  Geheeb  und  Dr.  G.  Wyneken  bei  Eugen  Diederichs  in  Jena  veröffentlicht 
haben  (8»,  30  S.).  Die  bei  Saalfeld  in  Sachsen-Meiningen  gelegene  Erziehungsanstalt  hat 
sich  abgespalten  von  dem  durch  Dr.  H.  Lietz  begründeten  Landerziehungsheim  (Pulver- 
mühle, Haubinda,  Schloß  Biberstein)  und  arbeitet,  wenn  auch  in  völliger  Unabhängigkeit, 
nach  gleichen  Grundsätzen.  Die  mit  18  Knaben  und  1  Mädchen  im  Herbst  1906  eröffnete 
Anstalt  zählte  schon  Ostern  1907  65  Zöglinge,  darunter  9  Mädchen.  Von  der  gemein- 
samen Arbeit  in  ländlichen  Stillen  erzählt  nun  der  Bericht,  von  dem  Leben  in  Wald  und 
Feld  und  der  körperlichen  Arbeit  ebenso  wie  von  Leben  und  Arbeit  in  der  Schulstube,  von 
den  Ausflügen  und  Reisen,  von  den  Aufführungen  und  Vorträgen,  von  dem  Gemeinschafts- 
leben der  Lehrer  und  der  Schüler.  Denn  als  Schulgemeinde  bezeichnet  sich  die  Anstalt 
als  ein  Ganzes,  dem  Lehrer  wie  Schüler  gleichmäßig  angehören.  Jeder  Schüler  wird  zum 
Gefühl  seiner  Verantwortlichkeit  für  das  Ganze  erzogen,  indem  er  an  den  Ordnungen  des 
Ganzen  mitarbeitet  und  zur  Gesetzgebung  und  Beratung  von  dessen  Verfassung  heran- 
gezogen wird.  Der  Geist  der  Schule  soll  sich  offenbaren  in  einem  freundlichen,  ja  freund- 
schaftlichen Verhältnis  zwischen  Lehrern  und  Zöglingen.  Gepflegt  wird  dieses  im  besondern 
durch  die  Institution  der  .Kameradschaften",  indem  um  einen  Lehrer  eine  Anzahl  von 
Schülern  nach  eigener  Wahl  sich  gruppieren,  ihn  zu  ihrem  besonderen  Vertrauten  erwählen, 
der  sich  dann  für  das  Wohlverhalten  und  Wohlergehen  seiner  Tutel  im  besonderen  verant- 
wortlich fühlt.  Im  Unterricht  soll  die  Selbsttätigkeit  der  Schüler  besonders  gepflegt  und 
entwickelt  werden.  Der  Bericht  gibt  von  den  Versuchen  Kunde,  die  besonders  im  neu- 
sprachlichen und  im  mathematischen  Unterricht  gemacht  wurden  und  sich  besonders  auf  die 
oberen  Klassen  bezogen.  „Sobald  der  Schüler  fähig  ist,  nach  einem  Buch  zu  arbeiten,  darf 
unseres  Erachtens  kein  Unterricht  mehr  erteilt  werden,  bei  dem  der  Lehrer  nur  das  Buch 
reproduziert.  Er  ist  dann  lediglich  Examinator;  allerdings  ein  Examinator,  der  nach  ge- 
taner Arbeit  die  gewonnenen  Kenntnisse  unter  sich  und  mit  denen  anderer  Gebiete  ver- 
knüpft   und   neue  Perspektiven    eröffnet.    Der  Primaner   kann  schon  so  arbeiten,   wie  der 


186  M.  Nath, 

Einige  Einzelheiten  sind  weiter  zu  erwähnen.  In  den  Rahmen  der  Schulreform 
gehören  ja  auch  die  Schülerreisen.  So  berichtet  diesmal  Otto  Richter  über  Er- 
fahrungen von  sieben  Schülerreisen  nach  Rom  (Schöneberg  b.  Berlin,  Prinz 
Heinrichs -Gymnasium.  No.  99,  4^,  14  S.,  1  Tafel).  Wer  dem  Verfasser  die  ge- 
wiesenen Pfade  nachgehen  will,  findet  auf  den  wenigen  Seiten  vielfache  Belehrung 
auf  Grund  der  langen  Bekanntschaft,  die  diesen  mit  Rom  verbindet.  Es  ist  ein 
Vergnügen,  die  Blätter  zu  lesen  und  die  Lust  kommt  einem  an,  unter  solcher 
Führung  und  einer  Lehrgabe,  an  die  der  Berichterstatter  dankbaren  Herzens  aus  seiner 
Schulzeit  sich  erinnert,  die  ewige  Stadt  in  frischer  Jugend  kennen  zu  lernen. 
A.  Schaefer  teilt  zum  andernmal  „Erfahrungen  aus  der  Sexta  eines 
Gymnasiums  ohne  Vorschule"  mit  (Rössel,  Gymnasium.  No.  16,  4",  14  S.), 
gefällige  Plaudereien,  die  doch  des  pädagogischen  Wertes  nicht  entbehren  und 
immer  wieder  gelesen  werden  können,  vom  jungen  Probanden  und  Oberlehrer,  der 
die  Freuden  solcher  Tätigkeit  zum  erstenmal  genießt,  wie  auch  von  manchem 
andern,  der  schon  weiter  voraus  ist.  Denn  was  der  Verfasser  sagt,  ist  beherzigens- 
wert auch  für  weitere  Kreise.  —  Die  Schule  im  Dienste  sozialer  Erziehung 
behandelt  H.  Grein  (Neunkirchen,  Realgymnasium.  No.  641,  8«,  98  S.).  Es  ist 
eine  tiefgründige,  erschöpfende  Untersuchung,  die  oft  zu  Rate  gezogen  werden 
kann,  wo  im  Augenblick  das  Verhalten  des  Lehrers  nicht  von  vorn  herein  fest  be- 
stimmt ist,  wie  auch  ihr  Studium  dem  Anfänger  vielfach  für  die  Zukunft  das  Ver- 
halten wird  festlegen  können.  Den  Inhalt  auch  nur  andeutungsweise  zu  skizzieren, 
läßt  der  Raum  nicht  zu.  Hinzuweisen  ist  z.  B.  auf  die  Forderung,  daß  die  Schule, 
„der  ja  die  Disziplinar-  und  Straf gewalt  in  ihrem  Bereiche  ohne  weiteres  ein- 
geräumt wird,  auch  mit  größeren  Untersuchungsrechten  ausgestattet  werde,  die  im 
öffentlichen  Leben  nur  den  staatlichen  Ordnungsbehörden  zustehen  (Recht  der 
Haussuchung,  des  Verhörs  und  des  Zeugniszwangs,  anwendbar  nicht  nur  auf 
Schüler,  sondern  auch  auf  Angehörige  derselben  und  andere  der  Schule  fern- 
stehende Personen  [S.  33]).  S.  53  wird  gezeigt,  wie  die  Individualität  des  Schülers 
zu  benutzen  sei,  um  sein  im  ganzen  unsoziales  Verhalten  zu  bessern  (Benutzung 
besonderer  Talente  etc.).  „Jedenfalls  muß  die  Schule,  je  unsozialer  ein  Schüler 
veranlagt  ist,  mit  desto  größerem  erzieherischen  Interesse  ihm  näher  treten.  Die 
Verschärfung  der  Disziplinarmittel  wird  hier  wenig  oder  gar  nichts  helfen."  „Die 
Schule  hat  in  der  Begeisterungsfähigkeit  und  dem  Autoritätsglauben  der  Jugend 
zwei  überaus  mächtige  Hilfskräfte  zur  Verfügung."  „Lehrt  doch  die  Erfahrung, 
daß  die  begeisterte  Jugend  selbst  gegenwirkenden  häuslichen  oder  andern  nahe- 
stehenden Einflüssen  gegenüber  oft  mit  Stolz  und  Mut  den  Standpunkt  der  Schule 
verficht,  verteidigt  und  hoch  hält"  (S.  75).  „Je  einfacher  und  schlichter  die  Jugend 


Student  auf  der  Hochschule  arbeiten  soll;  wenn  wir  den  einen  so  arbeiten  lassen,  wird  es 
der  andere  dereinst  auch  können,  und  der  Übergang  von  der  Schule  zur  Hochschule  wird  nur 
einen  Wechsel  der  Lehrer  bedeuten,  nicht  ein  Aufhören  oder  ein  erstes  Anfangen  der 
Arbeit."  (S.  16.)  Diese  Grundsätze  werden  auch  sonst  und  vor  allem  da  zur  Geltung 
kommen  können,  wo  mit  der  »freien  Gestaltung  auf  der  Oberstufe"  Ernst  gemacht  wird. 
Ein  ansprechendes  Bild  des  Lebens  in  Wickersdorf  entwirft  übrigens  aus  eigener  Anschauung 
W.  Heine  im  .März",  2.  Jahrgang,  Heft  5,  S.  444-456. 


über  Lehrpläne  und  Schulreform.  \^J 

0 

die  Natur  genießt,  desto  inniger  und  lockender  ist  der  Genuß.  Demgemäß  läßt 
sich  komplizierte,  Geist  und  Körper  für  sich  in  Anspruch  nehmende  sportlich^ 
Betätigung  nicht  mit  reinem  Naturgenuß  verbinden"  (S.  78).  Wenn  S.  89 
„die  vielfach  angestrebte  und  durchgeführte  Gründung  von  .  .  Schüler- 
vereinigungen .  .  vom  Standpunkte  der  sozialen  Erziehung  aus  nicht  vollständig 
gebilligt"  wird,  weil  „die  Jugend  vor  den  vielfachen  unverkennbaren  sozialen 
Schädigungen,  die  das  so  sehr  ausgebildete  und  daher  die  Menschen  nicht 
nur  vereinigende  sondern  auch  trennende  Vereinswesen  unserer  Zeit  mit  sich 
bringt,  bewahrt  werden  muß,"  so  möchte  der  Berichterstatter,  da  er  ja  schrift- 
stellerisch für  die  Förderung  der  Schülervereine  eingetreten  ist,  nicht  verfehlen', 
auch  im  Hinblick  auf  die  Bemerkung  in  dieser  Monatschrift  Jahrg.  V,  S.  484  hier 
seine  Stellung  dahin  zu  präzisieren,  daß  er  niemals  die  Gründung  von  Vereinen 
empfohlen  hat,  nur  damit  Vereine  da  seien,  sondern  nur,  wo  der  Wunsch  danach 
aus  Schülerkreisen  sich  geltend  macht,  ihm  nachzugeben  geraten  hat,  um 
Schlimmeres  (geheime  Schülerverbindungen)  zu  verhüten.  Fürsich  selbst  ist 
er  einer  der  wenigen  „ vereinsfeindlichen "  Deutschen  und  glaubt  einen  ziemlich 
hohen  Rekord  zu  schlagen,  wenn  es  darauf  ankommt  nachzuweisen,  zu  welchen 
Vereinen  er  nicht  gehört. 

Auch  einige  Biographien  liegen  vor.  Ein  anspruchsloses  Bild  vom  Leben 
Johann  Julius  Heckers  zeichnet  Kiehl  (Berlin,  Kaiser  Wilhelm-Realgymnasium. 
No.  109,  40,  7S.),  C.  Rethwisch  erzählt  von  Leopold  v.  Ranke  als  Ober- 
lehrer in  Frankfurt  a.  O.  (Charlottenburg,  Kaiserin  Augusta-Gymnasium.  No.  79, 
8°,  51  S.),  Haupt  schreibt  „Zur  Erinnerung  an  Franz  Devantier"  (Eutin, 
Gymnasium.  No.  875,  8^  39  S.).  Ein  fesselndes  Bild  von  dem  Leben  des  Menschen, 
des  Lehrers  und  des  Forschers  Ranke  während  der  sieben  Jahre,  die  er  als  Gym- 
nasiallehrer in  Frankfurt  a.  O.  verlebte,  auf  dem  Hintergrunde  der  Verhältnisse,  die 
die  damals  15000  Einwohner  zählende  Provinzialstadt  mit  sich  brachte,  und  eben- 
so im  Hinblick  auf  die  politischen  und  wissenschaftlichen  Zustände  Deutschlands 
zeichnet  Rethwisch  in  seiner  Programmarbeit.  Und  wenn  wir  in  ihr  gewisser- 
maßen das  Vorleben  des  großen  Historikers  kennen  lernen,  die  stille  Zeit,  da  er 
sich  die  Kräfte  für  seine  eigentliche  Lebensarbeit  schulte,  so  schildert  Haupt  uns 
das  gleichmäßig  stille  Dahinleben  eines  wahren  Schulmannes,  für  den  sein  Beruf 
im  Mittelpunkte  seines  Denkens  stand,  so  wenig  dieses  sich  doch  auf  ihn  be- 
schränkte, vielmehr  der  Wissenschaft,  der  hehren  Kunst  der  Musik  sich  zuwendete. 
Wie  Freud  und  Leid,  entsagungsreiches  Universitätsleben  und  siegreiches  Vorwärts- 
kommen, freudiger  Erfolg  und  schmerzreiches  Entsagen  sich  im  Leben  Devantiers 
ablösten,  sieht  der  Leser  an  sich  vorbeiziehen  und  wird  menschliche  Teilnahme 
auch  dem  bescheidenen  Geschick  nicht  versagen. 

Schon  einige  Male  ist  am  Schlüsse  dieser  Übersicht  auf  die  Veröffentlichung 
von  Schulreden  hingewiesen  worden,  in  der  Überzeugung,  daß  sie  so  recht  ein 
Gegenstand  der  Beilagen  zu  den  Jahresberichten  sind,  weil  sie,  falls  sie  nur  ein 
wenig  über  das  Legale  sich  erheben,  ein  Zeichen  von  dem  Geiste  sind,  der  in  der 
Anstalt  lebt,  von  dem  ein  Hauch  und  hoffentlich  mehr  als  wie  ein  Hauch  die 
Schüler  berührt.  So  mag  auch  heute  auf  die  Abschiedsrede  hingewiesen  werden, 
die  A.  Biese  seinen  Abiturienten  gehalten  hat  (Neuwied,  Gymnasium.    No.  601, 


188  F.  Marcks, 

4^,  S.  28—31),  die  Th.  Storms  Vermächtnis  „An  meine  Söhne"  zum  Thema  nahm 
und  in  der  Mahnung  dieser  Dichtung  gipfelt: 

„Was  du  immer  kannst,  zu  werden 

Arbeit  scheue  nicht  noch  Wachen, 

Aber  hüte  deine  Seele 

Vor  dem  Karriere-Machen." 
Und  mit  noch  lebhafterer  Gebärde  möchte  der  Berichterstatter  auf  die  „Aus- 
gewählten Schulreden"  weisen,  die  Heinrich  Anz  geboten  hat  (Nordhausen, 
Gymnasium.  No.  319,  4^,  35  S.),  geboten  zu  einem  Zeitpunkt,  ,wo  er  allgemach 
nach  der  Feierabendstille  ausschauen"  wollte,  um  „mit  solcher  Auswahl  und  Zu- 
sammenstellung ein  Bild  davon  zu  geben,  wie  er  eine  seiner  amtlichen  Aufgaben 
faßte",  und  weil  doch  „schnell  verklingt  .  .  das  gesprochene  Wort,  dem  später 
noch  nachsinnen  zu  können,  doch  vielleicht  diesem  und  jenem,  der's  vormals  hörte, 
willkommen  ist."  Wer  ihnen  einst  gelauscht,  wird  wie  der  Berichterstatter,  der  fast 
ein  Jahrfünft  hindurch  mit  dem  Verfasser  Tür  bei  Tür  unter  demselben  Dach  in 
Frieden  und  Freundschaft  des  gleichen  Amtes  waltete,  wünschen,  daß  mancher 
Leser  den  Redner  aus  seinen  Worten  kennen  und  lieben  lerne  als  feinsinnigen 
Menschen,  als  vom  Geist  der  Klassiker  erfüllten  Lehrer,  als  humorvollen  Philo- 
sophen, als  gottergebenen  Christen. 

Pankow.  Max  Nath. 


Geschichte. 

1907. 

König,  Johannes,  Mitteilungen  aus  dem  assyrisch-babylonischen 
Altertum.    Zweiter  Teil.    Dramburg,  Kgl.  Gymnasium.    Progr.  No.  169. 

Der  Verfasser  legt  zunächst  dar,  wie  die  Entzifferung  der  Keiltexte  er- 
möglicht worden  ist  und  wie  die  Babylonier  zu  ihrer  Schrift  gekommen  sind;  dann 
zeigt  er,  welche  Erweiterung  unsere  Geschichtskenntnis  durch  die  Entzifferung  der 
Keiltexte  gewonnen  hat;  zum  Schluß  wendet  er  sich  gegen  den  von  namhafter 
Seite  gemachten  Versuch,  die  Religion  Israels  mit  ihrem  Monotheismus  gegen 
das,  was  Babel  hatte,  zurückzusetzen  oder  aus  Babel  abzuleiten,  einen  Versuch, 
den  er  als  völlig  mißlungen  ansieht. 

Baumgarten,  Fritz,  Knosos.  Freiburg  i.  B.,  Bertholdsgymnasium,  Progr. 
No.  764. 

Auf  Grund  persönlicher  Kenntnis  der  Örtlichkeit  und  der  englischen  Aus- 
grabungsberichte entwirft  Baumgarten  ein  Kulturbild  von  Knosos,  das  unser  leb- 
haftes Interesse  erregt  und  des  Dankes  der  Fachgenossen  um  so  sicherer  sein  darf, 
als  der  Stoff  weitschichtig,  wenig  verarbeitet  und  nicht  für  jedermann  leicht  zu- 
gänglich ist.  Die  Darstellung  fesselt  den  Leser  um  so  mehr,  als  sie  ihn  die 
Fahrt  des  Verfassers  von  Athen  nach  Kreta  miterleben  läßt.  Bildertafeln  dienen 
zur  Veranschaulichung  des  Gegenstandes. 

Richter,  Otto,  Beiträge  zur  Römischen  Topographie.  III,  Die  Allia- 
schlacht.    Berlin,  Prinz  Heinrichs-Gymnasium.    Progr.  No.  95. 


Geschichte.  #  139 

Richter  verteidigt  seinen  Ansatz  der  Alliaschlacht  auf  dem  linken  Tiberufer, 
den  er  im  ersten  Teile  seiner  Beiträge  gemacht  hat  und  der  in  dieser  Monatschrift  UI 
(1904),  176  zustimmend  besprochen  ist,  gegen  die  von  E.  Meyer  erhobenen  Be- 
denken. 

Kaiser,  Bruno,  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  Samniten.  I. 
Pforta,  Landesschule.    Progr.  No.  303. 

Der  Verfasser  will  den  Versuch  machen,  den  Verlauf  des  Kampfes  zwischen 
Römern  und  Samniten  darzustellen,  durch  den  Roms  Herrschaft  in  Mittelitalien 
entschieden  wurde,  und  gibt  in  der  vorliegenden  Arbeit  die  Einleitung  dazu. 
Nach  einem  Überblicke  über  unsere  Quellen  geht  er  auf  die  Herkunft  der  Samniten 
ein,  stellt  den  ^Umfang  des  Gebietes  der  samnitischen  Eidgenossenschaft  fest,  legt 
die  Verfassung  des  Bundes  dar  und  verfolgt  dann  die  ältere  Geschichte  der 
Samniten  und  den  Einfluß,  den  sie  auf  die  Geschichte  Roms  schon  in  einer  Zeit 
ausgeübt  haben  müssen,  aus  der  von  unmittelbaren  Beziehungen  der  Römer  zu 
den  Samniten  noch  nirgends  die  Rede  ist.  Der  Verfasser  hat  die  Überlieferung 
der  alten  Schriftsteller  ausgiebig  verwertet  und  auch  die  neueren  Darstellungen 
und  Forschungen  sorgfältig  zu  Rate  gezogen. 

Dissel,  Karl,  Der  Opferzug  der  Ära  Pacis  Augustae.  Hamburg, 
Wilhelm-Gymnasium.    Progr.  No.  914. 

In  der  Anordnung  des  Opferzuges  und  der  Deutung  der  dargestellten  Per- 
sönlichkeiten weicht  der  Verfasser  nicht  unwesentlich  von  Petersen  ab  und  sucht 
seine  neue  Auffassung  geschickt  zu  begründen;  die  Entscheidung  über  die 
Richtigkeit  seiner  Hypothese  kann  aber  nur  durch  eine  Fortsetzung  der  Aus- 
grabungen und  durch  erneute  Untersuchung  von  Rehefplatten,  die  hierfür  erst 
zugänglich  zu  machen  sind,  herbeigeführt  werden. 

Luckenbach,  H.,  Archäologische  Ergänzungen.  Donaueschingen, 
Großherzogliches  Gymnasium.    Progr.  No.  762. 

Drei  Bilder  geben  eine  Ansicht  der  Mitte  Roms,  der  Kaiserfora  und  des 
Forum  Romanum;  neben  ein  Bild  der  unergänzten  Laokoongruppe  werden  vier 
Ergänzungsversuche  gestellt;  der  Apoll  von  Belvedere  erscheint  so,  wie  er  im 
Vatikan  steht  und  in  einer  Ergänzung  mit  dem  Bogen.  Drei  Gigantensäulen  aus 
Merten,  Schierstein  und  Heddernheim  machen  den  Schluß,  dem  drei  kleine  nicht 
ergänzte  griechische  Grabsteine  aus  dem  Karlsbau  in  Donaueschingen  als  donum 
superadditum  angefügt  sind.  Man  wird  die  Gabe  des  verdienten  Verfassers  mit 
Dank  entgegennehmen. 

Schmidt,  Ernst,  Aus  der  Vorgeschichte  der  Altmark.  Zweiter  Teil. 
Seehausen  i.  A.,  Realschule.    Progr.  No.  337. 

In  Fortsetzung  seines  früheren  Programms  behandelt  der  Verfasser  die  Zeit 
Heinrichs  I.  und  Ottos  des  Großen. 

Gulhoff,  Franz,  Der  deutsche  Ritterorden  in  der  deutschen 
Dichtung  des  Mittelalters.    Zaborze  O.-S.,  Gymnasium.    Progr.  No.  262. 

Verfasser  behandelt  zunächst  die  Reimchroniken,  die  im  Schöße  des  Ordens 
selbst  entstanden  sind,  und  die  Berichte  der  sogenannten  Wappendichter,  die  von 
Preußenfahrten  ritterlicher  Herren  singen  und  sagen;  dann  verfolgt  er  die  Rolle, 
die  der  Orden  in  der  moralisierenden  Dichtung  spielt;  hier  ist  das  Material  aber 


190  F.  Marcks, 

minder  reich  als  in  der  historischen  Dichtung,  allerdings  dafür  insofern  auch 
interessanter,  als  er  ein  Streiflicht  auf  die  Bedeutung  wirft,  die  man  dem  Orden 
zuerkannte. 

Ottemeyer,  Gustav,  Die  bäuerlichen  Rechtsverhältnisse  in  den 
Luxemburger  Weistümern.    I.Teil.    Borna,  Realgymnasium.    Progr.  No.  690. 

Dieser  erste  oder  allgemeine  Teil  handelt  von  Territorium  und  Landeshoheit, 
Regierung  und  Ständen,  Verteilung  der  Gewalten  und  der  Weistümer,  von  Bann- 
rechten und  Gemeinde.  Die  Untersuchung  gewinnt  dadurch  an  Bedeutung,  daß 
sie  sich  auf  eine  Gegend  bezieht,  die  einen  großen  Teil  der  Kolonisten  entsandt 
hat,  die  in  Siebenbürgen  eine  Hochburg  des  Deutschtums  begründeten,  und  daß  die 
bunte  Mannigfaltigkeit  der  dortigen  territorialen  Bildungen  eine  fasi  unglaubliche 
Vielseitigkeit  der  bäuerlichen  Verhältnisse  hervorgerufen  hat. 

Löwisch,  M.,  Die  alten  Steinkreuze  in  der  Gegend  der  mittleren 
Saale.    Weißenfels,  Oberrealschule.    Progr.  No.  339. 

Der  Verfasser  sucht  das  Alter  und  den  Zweck  der  Steinkreuze,  deren  er  eine 
ganze  Anzahl  in  der  Gegend  der  mittleren  Saale  nachweist,  zu  bestimmen. 
Die  meisten  sind  zur  Sühne  für  einen  Mord  oder  Totschlag  errichtet;  kein  anderer 
Zweck  ist  durch  Urkunden  so  sicher  bezeugt;  doch  ist  es  nicht  ausgeschlossen, 
daß  manche  eine  andere  Bestimmung  gehabt  haben.  Nur  die  Ausdehnung  der 
urkundlichen  Untersuchung  der  erhaltenen  Steinkreuze  über  ganz  Deutschland 
kann  die  Frage  endgültig  lösen. 

Moritz,  Hugo,  Reformation  und  Gegenreformation  in  Fraustadt. 
Teil  I.    Posen,  Friedrich-Wilhelms-Gymnasium.    Progr.  No.  205. 

Die  Arbeit  bietet  einen  Baustein  zur  Geschichte  der  Reformation  und  Gegen- 
reformation im  ehemaligen  Königreich  Polen.  Außer  literarischen  Quellen  zieht 
sie  reichen  archivalischen  Stoff  heran,  in  erster  Linie  die  zahlreichen  Urkunden 
der  Stadt,  sodann  zwei  Chroniken  aus  Fraustadt,  die  sich  in  der  Danziger  Stadt- 
bibliothek und  im  Posener  Staatsarchiv  befinden  und  die  der  Verfasser  der  Ab- 
handlung noch  besonders  veröffentlichen  will.  So  gewinnt  er  eine  feste  Grund- 
lage für  seine  Darstellung,  die  zunächst  das  katholische  Kirchenwesen  vor  der 
Reformation,  dann  den  Untergang  desselben  und  die  ersten  Jahrzehnte  der  evan- 
gelischen Gemeinde  umfaßt. 

Finder,  Ernst,  Die  Vierlande  um  die  Wende  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts.   Eilbeck  bei  Hamburg,  Realschule.    Progr.  No.  919. 

Von  ähnlichem  Wohlstande  wie  heutzutage  sind  die  Vierlande  schon  einmal 
vor  300  Jahren  gewesen,  bevor  der  30  jährige  Krieg  das  Land  erschöpfte.  Der 
Verfasser  findet  daher  Gelegenheit,  ein  interessantes  Kulturbild  zu  entwerfen,  indem 
er  Haus  und  Hof,  Erwerbsverhältnisse,  Lebensweise  und  Trachten,  Kirche  und 
Schule,  Recht  und  Rechtsprechung  wie  auch  den  Aberglauben  in  diesem  Teile 
Niedersachsens  schildert. 

Hitzigrath,  Heinrich,  Die  politischen  Beziehungen  zwischen  Ham- 
burg und  England  zurZeit  Jakobsl.,  Karls  I.  und  der  Republik  1611—1660. 
Hamburg,  Realschule  in  Hamm.    Progr.  No.  927. 

Den  Anfang  einer  größeren  Arbeit  über  Hamburg  und  England  veröffentlicht 
der  Verfasser  in  diesem  Programm,  in  dem  er  die  Wiederaufnahme  der  Kompagnie 


Geschichte.  *  191 

der  Merchant  Adventurers  und  das  politische  Verhältnis  zwischen  dem  mächtigen 
Seestaat  und  der  kleinen  Handelsrepublik  unter  dem  Einfluß  der  englischen 
Kaufmannsgilde  darlegt.    Einige  Aktenstücke  sind  im  Anhange  hinzugefügt. 

Schrohe,  H.,  Edmund  Rockoch.  Mainz,  Großherzogliches  Gymnasium. 
Progr.  No.  798. 

In  Edmund  Rockoch  lernen  wir  einen  bedeutenden  Bürger  des  altenMainz  kennen, 
der  als  Kaufmann  und  Beamter  in  der  Geschichte  seiner  Heimatstadt  seinesgleichen 
nicht  hat.  Durch  seine  Geschäftsgewandtheit  und  sein  organisatorisches  Talent 
hat  er  einen  erstaunlichen  Reichtum  erworben,  sich  eine  Stellung  im  Rate  der 
Stadt  verschafft  und  lange  Jahre  als  kurfürstlicher  Rentmeister  und  Kammerrat 
gewirkt.  Treffend  charakterisiert  ihn  der  Verfasser  als  einen  hervorragenden  Vertreter 
des  älteren  deutschen  Bürgertums. 

Schirrmacher,  Bruno,  Esaias  Pufendorf  und  seine  Denkschrift  über 
den  Zustand  des  Königreichs  Schweden.  Hamburg,  Realschule  vor  dem 
Lütreckertore.    Progr.  No.  917. 

Samuel  Pufendorfs  älterer  Bruder  Esaias  ist  über  dem  Ruhm  seines  Bruders 
fast  vergessen  und,  schlimmer  noch  als  das,  ungerecht  behandelt  worden.  Jetzt 
hat  ein  unerwarteter  Fund  Gelegenheit  geboten,  das  Bild  des  schwedischen 
Kanzlers  von  Bremen  durch  manche  wesentliche  Züge  zu  bereichern.  Unter 
den  Manuskripten  der  Rostocker  Universitätsbibliothek  befindet  sich  eine  Abschrift 
seiner  Denkschrift  über  den  Zustand  des  Königreichs  Schweden  im  Jahre  1682, 
die  Schirrmacher  hier  veröffentlicht  und  erläutert,  so  daß  wir  nun  ein  gerechteres 
Urteil  über  den  Kanzler  gewinnen. 

Hamtnann,  W.,  Das  Leben  des  Landgrafen  Kasimir  Wilhelm  von 
Hessen-Homburg  1690 — 1726.  Darmstadt,  Ludwig-Georgs-Gymnasium.  Progr? 
No.  793. 

Der  genannte  Markgraf  ist  ein  Sohn  des  aus  der  Schlacht  bei  Fehrbellin  be- 
kannten Landgrafen  Friedrich  von  Homburg  und  ein  Vetter  der  Herzogin 
Elisabeth-Charlotte  von  Orleans,  die  er  auch  in  Versailles  besucht  hat;  bei  seinem 
zweiten  Sohn  übernahm  Prinz  Eugen,  der  edle  Ritter,  Patenstelle.  Er  gehört  also 
in  ein  nicht  uninteressantes  Milieu.  Des  Vaters  Tapferkeit  war  auch  auf  die  Söhne 
übergegangen:  zwei  Brüder  Kasimir  Wilhelms  fielen  vor  dem  Feinde,  er  selbst 
bewährte  sich  bei  Malplaquet,  hat  aber  sonst  weder  im  spanischen  Erbfolgekriege 
noch  im  nordischen  Kriege  Glück  gehabt.    Schon  mit  36  Jahren  starb  er. 

Marcus,  Willy,  Choiseul  und  Bernstorff.  Erster  Teil.  Wohlau,  Königl. 
Gymnasium.    Progr.  No.  261. 

Der  Verfasser,  der  in  einem  früheren  Programm  die  Beilegung  des  Jansenisten- 
streites  durch  Choiseul  dargelegt  hat,  verfolgt  hier  seine  Beziehungen  zu  dem 
dänischen  Minister  Grafen  Bernstorff.  Wir  lernen  in  letzterem  eine  frühzeitig 
fertige  Natur  kennen,  die  aber  darum  auch  keiner  Weiterentwicklung  fähig  war, 
während  ersterer  mit  seinen  größeren  Zwecken  wuchs;  die  engen  Beziehungen 
zwischen  beiden  haben  lange  bestanden,  sind  dann  aber  allmählich  erkaltet,  da  sie 
die  tiefgehenden  Charakterunterschiede  beider  am  letzten  Ende  nicht  zu  unter- 
drücken vermochten.  Der  vorliegende  erste  Teil  der  Abhandlung  endet  mit 
Choiseuls  Sturz. 


192  F.  Marcks,  Geschichte. 

Holzapfel,  Wilhelm,  Das  Grenadierbataillon  von  Hallmann  im  Feld- 
zuge des  Jahres  1806.    Liegnitz,  Wilhelms-Realschule.    Progr.  No.  284. 

Nach  einem  Tagebuche  des  Leutnants  Johann  Baptist  Ferdinand  von  Wrede 
und  anderen  Quellen  schildert  der  Verfasser  die  Beteiligung  des  genannten  Bataillons 
an  dem  Feldzuge  von  1806;  Wrede  nahm  an  der  Schlacht  bei  Jena  teil,  wurde 
mit  dem  Blücherschen  Korps  bei  Ratkau  gefangen  genommen,  auf  Ehrenwort  in 
seine  Heimat  entlassen  und  erhielt  1808  unter  Beförderung  einen  ehrenvollen 
Abschied  aus  der  preußischen  Armee. 

Lorenz,  Hermann,  Quedlinburger  Denkwürdigkeiten  aus  der 
Kriegszeit  vor  100  Jahren.  Quedlinburg,  Guts  Muths-Oberrealschule.  Progr. 
No.  335. 

Der  Verfasser  schildert  die  Erlebnisse  Quedlinburgs  1806  im  Rahmen  der 
allgemeinen  Zeitgeschichte:  die  unheilvollen  Kriegsereignisse  spiegeln  sich  auch 
in  dem  engen  Bereiche  der  heimischen  Bataillone  und  Bürgerkreise  klar  und  an- 
schaulich wieder.  Die  Akten  des  Staatsarchivs  und  der  Tribunalberichte  des 
Großen  Generalstabes  haben  den  Stoff  zu  der  Darstellung  geboten. 

Drees,  Heinrich,  Wernigerode  in  der  Franzosenzeit.  Wernigerode, 
Fürstlich  Stolbergsches  Gymnasium.    Progr.  No.  311. 

Die  Abhandlung  zeigt  ähnlich  der  vorhergehenden,  wie  die  Schicksale  der 
großen  Welt  auf  das  Leben  einer  Kleinstadt  zurückwirken.  Es  ist  erwünscht,  wenn 
Geschichtsbilder  solcher  Art  für  den  Geschichtsunterricht  nutzbar  gemacht  werden. 

Fröhlich,  Franz,  Fichtes  Reden  an  die  deutsche  Nation.  Charlotten- 
burg, Kaiserin  Augusta-Gymnasium.    Progr.  No.  75. 

Nicht  bloß  die  Jahrhunderterinnerung  an  die  Reden  an  die  deutsche  Nation 
bringt  Fichte  weiteren  Kreisen  wieder  nahe,  sondern  auch  das  Gefühl,  daß  Männer 
von  solcher  sittlichen  Größe  wie  er  auch  gegenwärtig  unserm  Volke  besonders 
not  tun.  Mit  Dank  nimmt  man  daher  die  Untersuchung  über  die  Entstehungs- 
geschichte jener  Reden  entgegen,  der  auch  Erich  Schmidt  in  seiner  Zentenarrede 
über  sie  eine  ehrenvolle  Erwähnung  gegönnt  hat. 

Putbus.  Friedrich  Marcks. 


III.    Bücherbesprechungen. 


Krfiger,   0.,    Verordnungen  und  Gesetze  für  die  Gymnasien  und  Real- 
anstalten des  Herzogtums  Anhalt.   Erstes  Ergänzungsheft.   (No.  570—801, 
Januar  1902  —  Mai  1907.)    Dessau  1907.    C.  Dünnhaupts  Verlag.    VI  u.  190  S. 
3  M. 
Wie  die  Verfasser  der  entsprechenden  Sammlungen  für  Preußen  und  Hessen, 
so  hat  auch  Krüger  die  von  ihm  im  Jahre  1902  herausgegebene  Übersicht  der  für 
Anhalt  geltenden  Verordnungen    durch  die  Hinzufügung  eines  Ergänzungsheftes 
bis  zur  Gegenwart  herangeführt.    Auch  dieses  Heft  bietet  wie  das  Hauptwerk  dem 
Leser  vielfach  Gelegenheit,   festzustellen,   wie   die  Schulverwaltung  eines  kleinen 
Bundesstaates,   indem   sie  sich  den  durch  das  Jahr  1900  in  Preußen  geschaffenen 
Verhältnissen  anpaßte,   doch   bestrebt  gewesen  ist,   in  selbständiger  Modifizierung 
und  Spezialisierung  hier  und  da  die  bessernde  Hand  anzulegen.    Hinweisen  möchte 
der  Berichterstatter   dafür  auf  S.  34,   bez.  der  Lage  der  französischen  Unterrichts- 
stunden für  die  Ulli  und  Olli,   auf  S.  40,   wo  die  Verfügung  vom  1.  April  1902 
schon   den   biologischen  Unterricht  auf   der  Oberstufe  gestattet,   auf  S.  46,   (An- 
weisungen für  das  Verfahren  bei  dem  erweiterten  Schreibunterricht  für  IV  und  III), 
auf  S.  106  (Revers  bez.  des  Verbleibens  von  Kandidaten  des  höheren  Schulamts 
im  anhaltischen  Staatsdienst),  auf  S.  125 ff.  (Bestrebungen  bez.  der  Erziehung  zur 
Kunst),  u.  a.  m. 

Pankow.  Max  Nath. 

Budde,  Gerhard,  Schülerselbstmorde.  Hannover  1908.  Max  Jänecke.  59  S. 
80.  1  M. 
In  diesem  Büchlein  zeigt  Budde,  wie  unendlich  verkehrt  es  ist,  wenn  man 
die  Schuld  für  die  Schülerselbstmorde  einseitig  der  Schule  allein  zuschieben  will; 
er  sucht  und  findet  die  Gründe  auch  anderswo:  in  erblicher  Belastung,  in  der 
häuslichen  Erziehung  und  in  der  Lebensweise.  Die  Art,  wie  er  dies  zu  beweisen 
sucht,  befriedigt  einen  kritischen  Leser  nicht  immer;  es  ist  auch  recht  schwierig, 
im  einzelnen  darzutun,  wie  erbliche  Belastung,  die  Erziehung  in  der  Familie  oder 
die  Lebensweise  die  Schuld  an  einer  so  tief  bedaueriichen  und  herzergreifenden 
Erscheinung,  wie  es  die  Selbstmorde  junger  Menschen,  die  doch  eigentlich  mit 
Lebensfreude  und  Lebensmut  geladen  sein  sollten,  sind.  Doch  sind  es  bei  der 
Schule  zwei  Faktoren,  die  hier,  nach  Budde,  in  Betracht  zu  ziehen  sind  und  die 
zuweilen  verhängnisvoll  auf  das  innere  Leben  der  Schüler  gewirkt  haben:  die 
Furcht  vor  Strafen  und  die  Furcht  vor  dem  Mißlingen  der  Arbeit,  also  besonders 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  13 


194  Q-  Budde,  Schülerselbstmorde,  angez.  von  K.  Wehrmann. 

bei  dem  Nichtbestehen  von  Prüfungen  und  NichtVersetzungen.  Ich  persönlich 
glaube,  daß  allerdings  auch  hier  sehr  oft  eine  falsche  Erziehung  in  der  Familie 
die  Hauptursache  trägt,  insofern  als  ein  übertriebener  Ehrgeiz  der  Eltern  ganz 
falsche  Vorstellungen  über  Strafen  und  Nichtversetzung  den  Schülern  einflößt  und 
ihnen  einimpft.  Die  Pflicht  der  Lehrer  an  unseren  höheren  Schulen  ist  es,  hier 
auf  das  vielgerühmte  und  auch  vielgeschmähte  Elternhaus  aufklärend  zu  wirken, 
wann  und  wo  wir  nur  können,  im  persönlichen  Verkehr  wie  in  öffentlichem,  in  Wort 
und  in  Schrift.  Leider  kennen  wir  genaue  Einzelberichte  über  Schülerselbstmorde 
nicht,  da  sie  aus  erklärlichen  Gründen  zurückgehalten  werden;  es  wäre  aber  doch 
sehr  wünschenswert,  wenn  solche  Berichte  erstens  ohne  jeden  Namen  von  Ort 
und  Person  und  auch  dann  noch  streng  vertraulich  den  Direktoren  und  den 
Lehrerkollegien  bekannt  würden;  dadurch  erhielten  wir  mehr  Einblick  in  die 
wirklichen  Ursachen  als  durch  alle  kritische  und  schöngeistige  Produktionen  auf 
diesem  Gebiete.*)  —  Die  Schreibweise  Buddes  ist  leicht  und  natürlich;  man  merkt 
es  ihm  an,  daß  er  ein  Herz  für  die  Jugend  hat;  dadurch  wirkt  das  Schriftchen 
sehr  sympathisch.  Störend  wirken  die  sehr  häufigen  und  allzu  langen  Zitate  aus 
anderen  Schriften.  —  Zum  Schluß  bemerke  ich:  die  Schülerselbstmorde  wie  die 
Selbstmorde  überhaupt  sind  nur  das  Symptom  eines  modernen  krankhaften  Zustandes, 
nicht  aber  die  Krankheit  selber.  Der  tiefere  Grund  liegt  darin,  daß  die  modernen 
Menschen  zu  sehr  geneigt  sind,  das  Leben  als  ein  äußeres  Gut  aufzufassen,  das 
für  sie  keinen  rechten  Wert  mehr  hat,  wenn  äußere  Güter,  wozu  doch  auch  Ver- 
setzungen und  Prüfungen  gehören,  nicht  erreicht  werden.  Das  Leben  aber  ist 
ein  Teil  des  ewigen  Gutes,  das  uns  anvertraut  ist  und  das  wir  in  voller  Ver- 
antwortlichkeit vor  uns  selbst  und  vor  Gott  zu  verwalten  haben  und  das  wir  daher 
nicht  freiwillig  veräußern  dürfen.  Durch  die  Erziehung  in  der  Schule  sollte  den 
Schülern  zum  festen  Bewußtsein  kommen,  daß  die  höchsten  Güter  sind:  ein  zu- 
friedenes Gemüt,  ein  entschlossener  Glaube  an  eine  göttliche  Vorsehung  und  ein 
kräftiger  Wüle  und  Körper.  Vielleicht  kommen  diese  höchsten  Güter  in  unserer 
jetzigen  Erziehungsweise  bei  dem  Vorwiegen  des  Intellektualismus  nicht  zu  der 
richtigen  Wertschätzung  in  den  Gedanken  der  Schüler;  daher  wird  es  ein  wichtiges 
Ziel  unserer  Erziehungsarbeit  sein,  solche  Lebensauffassung  ihnen  so  tief  und  fest 
einzuprägen,  daß  sie  ein  Teil  ihres  innersten  Wesens  wird.  Nur  so  kann  die  un- 
heimliche Erscheinung  der  Schülerselbstmorde  gebannt  werden. 

Bochum.  Karl  Wehrmann. 

Dornblüth,  Otto,  Hygiene  der  geistigen  Arbeit.  2.  Auflage.  Berlin  1907. 
Deutscher  Verlag  für  Volkswohlfahrt.    258  S.    8  <>.    Geb.  4  M. 

Man  kann  nicht  behaupten,  daß  die  Schrift  sonderlich  Neues  bringt.  Aber 
sie  reiht  Tatsachen  und  Ratschläge  in  solch  leicht  verständlicher  Form  so  hübsch 
folgerichtig  aneinander,  daß  man  das  Buch  mit  gutem  Gewissen  empfehlen  kann. 

Es  behandelt  die  geistige  Hygiene  der  Erwachsenen  und  Kinder,  betont  die 
Wichtigkeit  der  systematischen  Schulung  des  Willens  und  zeigt,  wie  eine  den 
menschlichen  Anlagen  entsprechende  Erziehung  vorgehen  muß:  Anfangs  nur  durch 


*)  Vgl.  den  Aufsatz  von  O.  Gerhardt  Jhrg.  VIII,  S.  129  dieser  Monatschrift.      Mtth. 


O.  Ernst,  Des  Kindes  Freiheit  und  Freude,  ang^.  von  H.  Weimer.  195 

die  Sinne  eine  Vorstellungsarbeit  erzielen!  Nicht  zu  früh  mit  Fremdsprachen  be- 
ginnen, sondern  erst  gehen  können,  ehe  man  reiten  lernt!  Die  Kinder  fröhlich 
zur  Arbeit  machen!  In  oberen  Klassen  Bewegungsfreiheit  geben!  Mit  Kurz- 
stunden arbeiten!  Nachmittags  Schulspiele!  Kein  Abitur!  Beobachten  und 
denken  lehren,  aber  nicht  Worte  einpauken!    Keine  körperlichen  Strafen! 

Schließlich  wird  Überangestrengten  ein  Sanatorium  angeraten,  das  durch  ziel- 
bewußtes Vorgehen  wieder  Arbeitsmöglichkeit,  Frohsinn,  festen  Willen  und  Schlaf 
verschaffen  könne. 

Linden -Hannover.  Bodo  Habenicht. 

Ernst,  Otto,  Des  Kindes  Freiheit  und  Freude.  1. — 3.  Tausend.  Leipzig  1907. 
H.  Haessel.  50  S.  8».  1  M. 
„Man  tut  nachgerade  so,  als  wäre  jeder  Eingriff  in  die  kindliche  Freiheit,  auch 
der  notwendigste  und  vernünftigste,  ein  Ausfluß  bornierter  Herrschsucht  und  ein  Ver- 
brechen am  Allerheiligsten;  man  sieht  das  Kind  nur  noch  auf  einem  Gottesthrone  und 
mißt  den  Erwachsenen  nur  noch  die  Berechtigung  zu,  ihm  ohne  Unterbrechung 
Gold,  Weihrauch  und  Myrrhen  darzubringen."  So  spricht  am  Eingange  seines 
Büchleins  der  Mann,  der  von  des  Kindes  Freiheit  und  Freude  reden  will.  Er 
schüttelt  die  Erziehungsphantasten  energisch  von  sich  ab,  die  immer  schon  mit 
zwei  Schritten  beim  letzten  Ideale  sind  und  so  tun,  als  ob  man  in  drei  Tagen  ein 
Paradies  auf  Erden  haben  könnte,  wenn  man  nur  wollte.  Der  Leser  darf  also 
sicher  sein,  daß  er  in  dieser  kleinen,  herzgewinnenden  Schrift  auf  keine  unerfüll- 
baren Forderungen  stoßen  wird.  Aber  wie  sich  der  Verfasser  gegen  die  wirklich- 
keitsfremden Idealisten  wendet,  so  zieht  er  auch  nachdrücklich  gegen  die  eng- 
herzigen Schulmeisterseelen  los,  die  in  einseitiger  Überschätzung  ihrer  Erziehungs- 
arbeit glauben,  die  Kinder  um  jeden  Preis  zu  Ebenbildern  ihrer  eigenen  werten 
Persönlichkeit  machen  zu  müssen.  Mit  gleichem  Eifer  kämpft  er  gegen  alle  Gleich- 
macherei in  Erziehung  und  Unterricht  sowie  gegen  die  übermäßige  Einschätzung 
der  schulmäßigen  Leistungen  bei  der  Beurteilung  des  Gesamtwertes  eines  Menschen. 
Entlastung  der  Kinder  von  überflüssigem  Gedächtniskram,  der  für  ihr  inneres  Leben 
doch  keine  fördernde  Bedeutung  gewinnt,  gerechtere  Bewertung  der  Extemporalien, 
die  noch  zuviel  als  Prämien  für  die  jugendliche  Schlagfertigkeit  angesehen  werden, 
vor  allem  aber  eine  viel  intensivere  Pflege  des  kindlichen  Anschauungsvermögens 
und  Förderung  seines  Tätigkeitsdranges,  das  sind  die  wichtigsten  positiven  Forde- 
rungen, die  Otto  Ernst  in  dieser  Schrift  aufstellt.  Sie  werden  gewiß  in  weitesten 
Kreisen  Zustimmung  finden. 

Wiesbaden.  Hermann  Weimer. 

Strzygowski,  J.,   Die   bildende  Kunst  der  Gegenwart.    Ein  Büchlein  für 

jedermann.    Leipzig  1907.    Quelle  und  Meyer.    XVI  u.  279  S.    8°.    geh.  4  M. 

geb.  4,80  M. 

Wer  in  dem  verwirrenden  Labyrinth  moderner  Kunstrichtungen  eines  Führers 

bedarf,  —  und  wer  bedürfte  eines  solchen  nicht?  —  wem  auch  zugleich  die  Kunst 

nicht  ein  müßiges  Spiel  der  Phantasie,  sondern  tiefstes  Herzensbedürfnis  ist,  dem 

kann  das  „Büchlein  für  jedermann"  als  wegzeigend  und  zu  den  wahren  Quellen 

13* 


196       J-  Stfzygowski,  Die  bildende  Kunst  der  Gegenwart,  angez.  von  P.  Brandt. 

künstlerischer  Erquickung  leitend  nur  aufs  wärmste  empfohlen  werden.  Insbesondere 
wer  als  Lehrer  sich  berufen  glaubt,  andern  die  Wege  zum  Verständnis  der  Kunst 
zu  weisen,  wird  sich  diesem  Führer  um  so  lieber  anvertrauen,  als  die  Schrift  aus 
Vorträgen  für  Lehrer  erwachsen  ist  (Österreichische  Universitätsferialkurse  für 
Lehrer,  1906  in  Bielitz).  So  rechtfertigt  sich  auch  das  lehrreiche  Intermezzo  über 
Zeichenunterricht  und  künstlerische  Erziehung  (S.  132  ff).  Weite  des  historischen 
Blickes  verbindet  sich  durchweg  mit  liebevoller  Versenkung  ins  einzelne,  und 
obwohl  stets  von  dem  Kunstwerk  ausgegangen  wird,  leuchtet  doch  ein  klares 
System  hindurch,  das  schließlich  (S.  181  ff)  zusammenfassend  dargestellt  wird. 
Danach  sind  die  eigentlichen  künstlerischen  Qualitäten  die  des  ausdrucksvollen 
Inhaltes  und  der  wirkungsvollen  Form,  für  welch  letztere  Raum,  Masse,  Licht 
und  Farbe  nur  die  vier  optischen  Voraussetzungen  sind.  Durch  diese  beiden 
Forderungen  ist  über  den  Naturalismus,  wie  über  den  l'art  pour  /'ar/-Standpunkt 
der  Stab  gebrochen,  und  die  Pleinairisten  und  Pointillisten,  die  in  das  Innerste 
des  Heiligtums  eingedrungen  zu  sein  glaubten,  finden  sich  in  der  Vorhalle  wieder. 
Für  die  Malerei  sieht  der  Verfasser  in  Puvis  de  Chavannes  und  Hans  von  Mar6es 
Propheten,  in  Böcklin,  dessen  „Ruine  am  Meer"  den  Titel  schmückt,  schon  fast 
den  Messias  einer  neuen  monumentalen  Kunst.  Auch  über  die  modernen  Rich- 
tungen in  der  Baukunst,  im  Kunstgewerbe,  in  der  dekorativen  Kunst,  in  der 
Bildhauerei  und  in  der  Griffelkunst  wird  man  den  die  Frische  und  Unmittelbarkeit 
des  mündlichen  Vortrags  nicht  verleugnenden  Ausführungen  des  Verfassers  meist, 
mit  innerer  Zustimmung  folgen.  Überall  sucht  er  das  Gewagte,  Problematische 
von  dem  bleibenden  Gewinn  zu  scheiden  und  wählt  dazu  gelegentlich  ein  dem 
Referenten  sehr  sympathisches  Mittel,  die  Vergleichung  mit  der  Antike.  So  wenn 
er  unsere  endlich  zur  Einsicht  kommende  Monumentalkunst  (Denkmal  für  die 
Leipziger  Völkerschlacht  von  Bruno  Schmitz)  mit  dem  Monument  von  Adamklissi, 
wenn  er  das  Hegesorelief  in  seiner  Linienführung  mit  Meuniers  Mäher,  diesen  mit 
Myrons  Diskobol  vergleicht  und  bei  Chavannes  und  Maries,  wie  bei  der  Hegeso 
das  Höchste  der  Kunst  erreicht  findet,  daß  der  Mensch  sich  zu  seiner  in  sich 
ruhenden  Existenz,  zu  dem  hinter  allem  Werden  und  Geschehen  liegenden  Sein 
erhebt.  —  Der  Verfasser  scheint  berufen,  uns  eine  Methodik  der  Kunstbetrachtung 
zu  schenken,  zu  der  er  in  seinen  leider  nicht  veröffentlichten  Innsbrucker  Vorträgen 
vom  Jahre  1905  bereits  die  Vorarbeit  geleistet  hat. 

Steuding,   H.,   Denkmäler  antiker  Kunst,  für  das  Gymnasium  ausgewählt 

und  in  geschichtlicher  Folge  erläutert.    Zweite,  umgearbeitete  Auflage.    Leipzig 

1907.    E.  A.  Seemann.    66  Tafeln  und  21  S.  Text.   4 «-Querformat,    kart.  1,80  M. 

Das  sehr  brauchbare  Hilfsmittel  für  den  Gymnasialunterricht  erscheint  hier  in 

zweiter,  umgearbeiteter  Auflage.   Die  bessernde  Hand  ist  überall,  in  Tafeln  wie  Text, 

zu  spüren,  wenn  auch  manches  noch  zu  wünschen  bleibt.    So  wird  beim  Apoll  vom 

Belvedere  gegen  Benndorf-Schöne  noch  an  der  Ansicht  fe.stgehalten,  als  habe  der 

Gott  eben  den  Pfeil  abgeschossen;  Demosthenes  müßte  mit  gefalteten  Händen 

erscheinen;   die   richtige  Ergänzung   der  Laokoongruppe   ist,    etwas    unbehilflich, 

daneben  in  Holzschnitt  angedeutet.    Gern  will  ich  den  Herausgeber  in  das  mir  von 

Luckenbach  verratene  Geheimnis  einweihen :  man  läßt  die  jetzt  ja  so  gut  wie  sicher 


H.  Steuding,  Denkmäler  antiker  Kunst,  angez^  von  P.  Brandt.  197 

feststehende  Ergänzung  auf  einer  Bromsilberkopie  der  Marmorgruppe  von  Künstler- 
hand vornehmen;  der  Raster  gleicht  die  Unterschiede  völlig  aus.  Luckenbach 
hat  auch  gezeigt,  wie  man  aus  dem  labyrinthischen  Gewirr  der  Tirynther  Königs- 
burg die  Hauptbauten  für  das  Auge  heraushebt.  Nicht  einverstanden  bin  ich  auch, 
wenn  statt  des  lebensvollen  Torsos  der  Londoner  Köre  vom  Erechtheion  die 
trockne  römische  Replik  des  Vatikans  gegeben  wird:  was  man  an  äußerer  Voll- 
ständigkeit gewinnt,  geht  an  innerem  Reiz  rettungslos  verloren;  auch  mußte  die 
streng  architektonische  Vorderansicht  gegeben  werden.  Dagegen  hätte  auf  den 
Skopaskopf  von  Tegea  als  zu  verstümmelt  verzichtet  werden  können.  Die  Anord- 
nung sucht,  soweit  es  die  Ausnutzung  des  Raumes  verstattet,  methodisch  zu  Werke 
zu  gehen.  Manches  freilich  bedarf  der  Verbesserung,  so  namentlich  die  Zusammen- 
stellung der  Porträtbüsten :  ungut  steht  das  Idealbild  des  Homer  neben  Tiberius 
und  Titus,  unerträglich  ist  der  barbarische  Konstantinskopf  neben  Cäsar,  Cicero 
und  Augustus ;  hierher  hätte  der  äußerst  drastische  Pompeiuskopf  gehört,  der  jetzt 
durch  sein  böses  Schicksal,  genannt  Raumverwertung,  gar  an  die  allerletzte  Stelle 
des  Buches  unter  „Vermischtes"  geraten  ist.  Soweit  ist  es  Sache  des  Herausgebers, 
Abhilfe  zu  schaffen;  viel  erheblicher  aber  sind  die  Desideria  dem  Verleger  gegen- 
über. Es  muß  einfach  ausgesprochen  werden:  es  geht  heute  nicht  mehr  an,  die 
Schule  mit  dem  Abhub  des  Mahles  zu  speisen.  Alte,  längst  verbrauchte  Klischös, 
die  nut  ein  eben  noch  erkennbares,  oft  aber  auch  ein  geradezu  abstoßendes  Bild 
des  Gegenstandes  bieten,  gehören  nicht  in  ein  Werk  für  unsre  Jugend.  Hier  soll 
doch  alles  reizen,  locken,  soll  gewissermaßen  sprechen:  „Siehe,  wie  schön  ich  binl 
möchtest  du  mir  nicht  durch  deine  Sinne  den  Eingang  in  dein  Herz  verstatten ?" 
Reichlich  ein  Dutzend  Klisch^s  hervorragender  Werke,  z.  T.  mit  harten,  überaus 
störenden  Lichträndern  (z.  B.  Tafel  XXXIII  1)  müssen  durch  neue  ersetzt  werden. 
Daß  es  auch  anders  geht,  das  zeigt  Tafel  XLVI  mit  der  Athenagruppe  und  dem 
Gigantenkopf  vom  pergamenischen  Altar  gegenüber  der  fast  ganz  verunglückten 
Tafel  XLV,  das  zeigen  neuerdings  die  von  Max  Sauerlandt  herausgegebenen 
«Griechischen  Bildwerke"  des  rührigen  Verlags  von  Karl  Robert  Langewiesche, 
der  auf  118  Seiten  feinsten  Kunstpapiers  geradezu  Vollendetes  bietet,  und  zwar, 
obwohl  sämtliche  Druckstöcke  neu  gearbeitet  wurden,  zum  gleichen  Preise  von 
1,80  M.   Ein  Beispiel  buchhändlerischer  Großzügigkeit,  das  Nacheiferung  verdient  I 

Künstlerische  farbige  Wiedergaben  bedeutender  Werke  deutscher  Geschichts- 
malerei.   Verlag  der  Kunstanstalt  Trowitzsch  und  Sohn,  Frankfurt  a.  O.    Preis: 
im  Karton  25  M.,  in  breitem  Eichenrahmen  mit  Goldeinlage  45  M. 
Neben  der  mit  einer  gewissen  Einseitigkeit,  wie  sie  an  sich  erklärlich  und 
durchaus  nützlich  ist,    auftretende  neueren  Bewegung  für  künstlerischen  Wand- 
schmuckbraucht doch  die  ältere, auf  hochbedeutsame  patriotischeMomente  eingestellte 
Richtung  für  die  Ausschmückung  unserer  Schulen  nicht  ganz  in  den  Hintergrund 
zu  treten.    Einen  gewichtigen  Beitrag  hierzu  liefern  die  von  der  genannten  Kunst- 
anstalt im  Farbenlichtdruckverfahren  hergestellten  Reproduktionen  nach  Originalen 
der  Berliner  Ruhmeshalle:  Röber,   Ansprache  Friedrichs   des  Großen    an  seine 
Generale  vor   der  Schlacht   bei  Leuthen;   Bleib  treu,   Freiwillige  von  1813  in 
Breslau,  Blücher  bei  Belle- Alliance,  Erstürmung  von  St.  Privat;  Schuch,  die  ver- 


198  Christlieb-Fauth,  Handbuch  usw.,  angez.  von  R.  Gaede. 

bündeten  Monarchen  in  der  Schlacht  bei  Leipzig;  Hunten,  Königgrätz; 
A.  V.  Werner,  Kaiserproklamation  von  Versailles.  Die  neuere  Richtung  bedenkt 
bisweilen  nicht  genug,  daß  zuerst  der  Stoffhunger  der  Jugend  befriedigt  werden 
muß,  ehe  sie  für  die  höheren  künstlerischen  Werte  gewonnen  werden  kann.  Diese 
Beobachtung,  welche  aufmerksame  Verwalter  von  Volksbibliotheken  gemacht  haben, 
trifft  auch  auf  die  bildende  Kunst  zu,  und  höhere  künstlerische  Qualitäten  fehlen 
ja  überdies  den  angeführten  Werken  keineswegs.  Unter  diesen  Gesichtspunkten 
möchten  wir  das  neue  Unternehmen,  das  nach  dem  uns  vorliegenden  letzten  großen 
Blatt  zu  schließen  wirklich  Hervorragendes  leistet,  der  Beachtung  empfohlen  haben. 
Bonn.  Paul  Brandt. 

Christlieb-Fauth,  Handbuch  der  Evangelischen  Religionslehre.  Zum  Ge- 
brauche an  höheren  Schulen  nach  den  neuesten  Lehrplänen  völlig  umgearbeitet 
von  Rudolf  Peters.  3.  Heft:  Die  Kirchengeschichte.  4.  Aufl.  Leipzig  und 
Wien  1907.     Freytag  und  Tempsky.    I  u.  123  S.    S».    geb.  1,60  M. 

Ganz  neu  gestaltet  sind,  wie  in  der  Vorrede  angegeben  ist,  der  Abschnitt 
l.  Das  apostolische  Zeitalter,  III.  Die  Reichskirche  und  die  Papstkirche  des  Mittel- 
alters und  besonders  VI.  Die  Entwicklung  der  protestantischen  Kirche  bis  zur 
Gegenwart.  Die  ausführlichere  Behandlung  dieses  letzten  Abschnitts,  der  in  dem 
Christlieb-Fauthschen  Buch  viel  zu  kurz  war,  ist  dankenswert.  Er  ist,  wie  Peters 
mit  Recht  hervorhebt,  für  die  Schule  viel  wichtiger  als  die  Einführung  in  die 
dogmatischen  Streitigkeiten  der  ersten  Jahrhunderte,  und  ich  fürchte,  diese  nehmen 
in  der  Praxis  noch  immer  einen  zu  großen  Raum  ein,  was  dann  zur  Folge  hat, 
daß  in  der  Neuzeit  ungebührlich  gehastet  werden  muß.  In  Einzelheiten  vermisse 
ich  noch  manches.  Die  Heidenmission  müßte  ausführlicher  behandelt  sein.  Daß 
die  Pietisten  neben  der  inneren  auch  die  äußere  Mission  zuerst  wieder  auf- 
genommen haben,  wird  in  dem  betreffenden  Abschnitt  (§  58)  gar  nicht  erwähnt. 
Von  der  äußeren  Mission  ist  in  unseren  höheren  Schulen,  glaube  ich,  überhaupt 
zu  wenig  die  Rede.  Es  müßte  systematisch  im  erdkundlichen  Unterricht,  im  An- 
schluß an  die  Lektüre  der  Apostelgeschichte  und  bei  anderen  Anlässen  manches 
Wissenswerte  über  sie  mitgeteilt  werden.  Material  dazu  bietet  das  Buch  von 
Warneck:  „Die  Mission  in  der  Schule".  Hinter  dem  bekannten  Briefe  des  PHnius 
an  Trajan  (S.  15)  sähe  ich  gern  auch  die  Antwort  des  Kaisers  mitgeteilt.  S.  43 
hätte  es  sich  nach  meiner  Ansicht  empfohlen,  ein  größeres  Stück  aus  den  für  die 
Herrschaftsansprüche  der  mittelalterlichen  Kirche  so  charakteristischen  Bullen 
Bonifatius'  VIII.  „Unam  sanctam"  und  „Clericis  laicos"  im  Urtext  zu  geben,  wie 
das  S.  91  beim  Syllabus  mit  Recht  geschehen  ist.  Calvins  Bedeutung  ist  S.  76 
zu  wenig  betont;  dafür  hätte  Zwingli,  dessen  Wirksamkeit  doch  viel  weniger 
nachhaltig  war,  kürzer  behandelt  werden  können.  Unter  den  Wünschen,  die  S.  98 
aus  Speners  „Pia  desideria"  aufgezählt  werden,  fehlt  der  doch  sehr  wichtige,  daß 
Hausgottesdienste  abgehalten  werden  möchten.  Daß  der  Geist,  der  aus  E.  M.  Arndts 
Liedern  und  Schriften  spricht,  auf  dem  Boden  der  Aufklärung  erwachsen  sei, 
glaube  ich  dem  Verfasser  nicht.  Der  „Geist  der  Zeit"  z.  B.  mutet  an,  wie  die 
Schriften  der  alten  Propheten,  und  durch  viele  seiner  Lieder  weht  der  Geist  bibel- 
gläubigen Christentums. 


O.  Bischoff,  Leitfaden  beim  Unterricht  usw.,  ang«z.  von  R.  Gaede.  199 

Nicht  ganz  selten  kommen  Unebenheiten  im  Stil  vor,  die  in  einem  für  Schüler 
bestimmten  Buche  sorgfältiger  vermieden  sein  müßten.  So  S.  11  „der  Ermordung 
durch  die  Volksmassen  durch  einen  römischen  Offizier  entzogen,  wurde  Paulus 
nach  Cäsarea  gebracht,"  S.  55:  „Luther  .  .  .  lernte  die  lateinische  Sprache  be- 
herrschen, besonders  geschickt  wurde  er  im  öffentlichen  Disputieren  .  .  Doch  hat 
er  auch  in  Freundeskreisen  die  Musik  nicht  vergessen"  statt  „er  hat  auch  die 
Musik  nicht  vergessen  und  pflegte  sie  in  Freundeskreisen";  S.  56  „auch  fühlte 
Luther  mit  seinem  Gott  sich  versöhnt"  statt  „auch  fühlte  sich  Luther  mit  seinem 
Gott  versöhnt";  ebendort  in  der  Anmerkung  schwebt  der  indirekte  Satz  „damit 
habe  sich  ihm  die  Pforte  des  Paradieses  erschlossen"  in  der  Luft,  S.  62  wirkt  in 
dem  Satze:  „Hütten  und  Sickingen  sind  auch,  da  sie  zum  Schwerte  griffen, 
zugrunde  gegangen,  während  Luthers  Geistesschwert  unbesiegt  Siege  errang", 
das  ,auch'  sinnstörend,  S.  90  ist  in  dem  Satze  „die  Richtung,  die  das  alte 
Episkopalsystem  befürwortet  und  welche  Nationalkirchen  .  .  .  angestrebt  hatte, 
wurde  ganz  zurückgedrängt,"  das  .welche'  hart.  —  Einzelne  sinnstörende  Druck- 
fehler sind  stehen  geblieben. 

Es  wäre  zu  wünschen,  daß  diese  Mängel  bei  einer  neuen  Auflage  beseitigt 
würden.  Im  übrigen  ist  das  Buch  eine  tüchtige  Leistung  und  kann  empfohlen 
werden. 

Bischoff,  O.,  Leitfaden  beim  Unterricht  in  der  Geschichte  der  christ- 
lichen Kirche  für  evangelische  Schulen.  Vollständig  umgearbeitet  und 
fortgesetzt  von  D.  Dr.  G.  Buchwald.  17.  Auflage.  Leipzig  1907.  J.  Tr.  Wöller. 
Vorwort  und  Einleitung.    VIII  u.  141  S.    kl.  8°.     1  M. 

Das  Buch  scheint  mir,  da  es  ganz  auf  griechische  und  lateinische  Quellen- 
zitate verzichtet,  auch  nicht  immer  den  genetischen  Zusammenhang  zwischen  den 
einzelnen  Paragraphen  wahrt,  mehr  für  Mittelschulen  und  Lehrerseminare  als  für 
höhere  Schulen  berechnet,  bietet  aber  einzelnes  Wissenswerte,  was  sich  in  anderen 
so  kurzen  Abrissen  der  Kirchengeschichte  nicht  so  vollständig  zusammenfindet 
und  kann  daher  hier  und  da  auch  dem  Lehrer  an  höheren  Schulen  einen  guten 
Dienst  leisten.  Daß  jedoch  bei  der  Behandlung  der  evangelischen  Kirche  in  der 
Neuzeit  Männer  wie  Herder  und  Schleiermacher  überhaupt  nicht  erwähnt  werden, 
ist  ein  offenbarer  Mangel  für  alle  Schulen.  Ein  grober  Irrtum  ist  die  Behauptung 
S.  17,  daß  „in  Nicäa  325  das  apostolische  Glaubensbekenntnis  durch 
ausführliche  Zusätze  zu  dem  nicänischen  Bekenntnis  erweitert  wurde". 
„Betrachtungen  über  sich  selbst"  ist  eine  ungeschickte  Übersetzung  des  Titels  der 
Schrift  des  Kaisers  Markus  zU  kauxov.  Kindlich  klingt  S.  118  der  Satz:  „Nicht 
bloß  der  König,  sondern  auch  der  liebe  Gott  wurde  abgesetzt  und  an  die  Stelle 
Gottes  die  Göttin  der  Vernunft  erhoben."  Mehrfach  kommen  sehr  lästige  Wieder- 
holungen vor,  so  S.  14  „Und  diese  Verfolgung  dauerte  gegen  10  Jahre",  und 
zehn  Zeilen  weiter  „Zehn  Jahre  hatte  die  furchtbare  Verfolgung  gedauert." 
Stilistisch  läßt  das  Buch  viel  zu  wünschen  übrig.  Otto  Schröders  Buch  „Derselbe" 
kennt  der  Verfasser  offenbar  nicht;  dies  unglückselige  Pronomen  kommt  recht 
häufig  an  falscher  Stelle  vor.  So  S.  12  „Origenes  setzte  durch  seine  tiefen 
Fragen  oft  seinen  Vater  Leonidas  in  Verlegenheit.    Als  derselbe  ins  Gefängnis 


200  Th.  Klein,  Biblische  Geschichte  usw.,  angez.  von  R.  Gaede. 

geworfen  wurde  .  .  .  ."  S.  4  fangen  von  vier  aufeinanderfolgenden  Sätzen  drei 
mit  „Als"  an.  S.  14  heißt  es:  , Diokletian  zog  sich,  vom  Fluch  der  Christen  be- 
laden, ins  Privatleben  zurück"  statt  „mit  den  Flüchen"  u.  a.  Das  Buch  ist  nicht 
sorgfältig  genug  gearbeitet  und  kann  demnach  nicht  empfohlen  werden. 

Klein,  Th.,   Biblische  Geschichte    für    die   ersten    Schuljahre.     4.  Aufl. 

Gießen  1904.    E.  Roth.    VI  u.  88  S.    S".    Brosch.  0,50  M.,  geb.  0,60  M. 
,  Biblische  Geschichte  für  die  Mittel-  und  Oberstufe.    2.  verb.  Aufl. 

Gießen  1906.  E.  Roth.  VI  u.  298  S.  8».  Brosch.  1,60  M.,  geb.  2  M. 
Beide  Bücher  sind  mit  bildlichen  Darstellungen  von  Schnorr  von  Carolsfeld 
geziert,  das  erste  mit  42,  das  zweite  mit  73,  und  mit  einem  Anhang  versehen,  der 
in  dem  ersten  Gebete,  Lieder,  die  zehn  Gebote  und  die  drei  Artikel,  in  dem 
zweiten  einen  Abriß  der  Bibelkunde,  Notizen  über  das  Kirchenjahr  und  die  Geo- 
graphie des  heiligen  Landes  nebst  Ortsansichten  und  vier  Karten  enthält;  das 
zweite  Buch  bietet  außerdem  im  Anfang  noch  eine  Sammlung  von  Gebeten,  die 
geschickt  ausgewählt  sind. 

Mit  den  Grundsätzen,  die  in  dem  Vorwort  zu  der  Biblischen  Geschichte  für 
die  ersten  Schuljahre  ausgesprochen  sind,  kann  man  sich  durchaus  einverstanden 
erklären.  Es  heißt  dort  u.  a.:  „Die  Sprache  muß  einfach  und  möglichst  biblisch 
sein.  Zu  vermeiden  sind  schwerverständliche  Konstruktionen,  sowie  veraltete  Rede- 
wendungen und  Ausdrücke."  Soviel  ich  sehe,  sind  diese  Grundsätze  auch  befolgt. 
Wenn  das  doch  überall  im  Religionsunterricht  geschähe!  Er  wäre  dann  wirksamer 
und  würde  weniger  mit  Recht  angefeindet.  Die  Geschichten  sind  mit  richtigem 
Takt  ausgewählt.  So  ist  die  für  den  Unterricht  in  den  unteren  Klassen  nicht 
fruchtbar  zu  machende  Richterzeit  übergangen ;  von  Moses  zu  Saul  leitet  der  Ver- 
fasser mit  folgenden  kurzen  Worten  über:  „Als  Moses  tot  war,  führte  Josua  das 
Volk  Israel.  Er  eroberte  das  Land  Kanaan,  und  die  Kinder  Israel  wohnten  da- 
selbst. Später  herrschten  Könige  über  Israel.  Der  erste  König  hieß  Saul."  Die 
Geschichten  des  Alten  Testamentes  schließen  mit  Salomo  ab,  die  des  Neuen 
Testamentes  mit  der  Ausgießung  des  heiligen  Geistes.  Die  Bilder  sind  meist 
geeignet,  die  kindliche  Phantasie  in  der  richtigen  Weise  zu  beeinflussen.  Das 
Buch  erfüllt  meines  Erachtens  seinen  Zweck  sehr  gut. 

Das  zweite  Buch  ist  die  Fortsetzung  des  ersten  und  ist  für  die  Mittel-  und 
Oberstufe  der  Volksschule,  sowie  für  die  unteren  Klassen  höherer  Lehranstalten 
bestimmt.  Es  kann  ebenfalls  durchaus  empfohlen  werden.  Die  Geschichten  sind 
alle  so  bemessen,  daß  in  einer  Lehrstunde  immer  eine  durchgenommen  werden 
kann.  Jeder  Geschichte  ist  ein  Lehrstoff  aus  Katechismus,  Bibel  und  Kirchenlied 
beigegeben,  zur  verständigen  Auswahl  für  den  Lehrer,  nicht  etwa  zum  wahllosen 
Auswendiglernen.  Mit  Recht  finden  sich  darunter  auch  weltliche  Gedichte  z.  B.  bei 
der  Geschichte  von  Jakobs  Betrug  der  schöne  Vers:  „Vor  allem  eins,  mein  Kind, 
sei  treu  und  wahr,  Laß  nie  die  Lüge  Deinen  Mund  entweih'n,  Von  altersher  im 
deutschen  Volke  war  Der  höchste  Ruhm,  getreu  und  wahr  zu  sein."  Auch  der 
Inhalt  des  Anhangs  verrät  überall  den  erfahrenen  Lehrer,  der  mit  dem  Herzen  der 
Jugend  Fühlung  hat.    Der  Druck  ist  gut.  , 


H.  Marx  u.  H.  Tenter,  Hilfsbuch  usw.,  angfc.  von  R.  Gaede.  201 

Marx,  H.  u.  Tenter,  H.,  Hilfsbuch  für  den  evangelischen  Religions- 
unterricht an  höheren  Lehranstalten.  III.  Teil.  Stufe  der  christlichen 
Welt-  und  Lebensanschauung.  Obersekunda  bis  Oberprima.  Mit  2  Abbildungen. 
Leipzig  und  Frankfurt  a.  M.  1907.  Kesselringsche  Hofbuchhandlung.  VI  u. 
325  S.  8«.  Geb.  2,75  M. 
Dies  Buch  ist  entschieden  das  beste  Hilfsbuch  für  den  Religionsunterricht  der 
oberen  Klassen,  das  ich  kenne.  Auf  jeder  Seite  hat  man  die  wohltuende  Emp- 
findung, daß  hier  gründliche  wissenschaftliche  Durchbildung  und  pädagogisch- 
didaktische Erfahrung  sich  zu  schönem  Bunde  die  Hand  gereicht  haben.  Das 
Buch  zerfällt  in  drei  Hauptteile:  1.  Das  Evangelium  Jesu  Christi  im  apostolischen 
Zeitalter,  2.  Kirchengeschichte,  3.  Glaubens-  und  Sittenlehre.  In  einem  Anhang 
sind  die  Bekenntnisschriften  der  evangelischen  Kirche  abgedruckt.  Für  einen 
ganz  besonderen  Vorzug  halte  ich  es,  daß  im  zweiten  Hauptteil  die  Geschichte 
der  christlichen  Liebestätigkeit  im  Anschluß  an  das  bekannte  Uhlhornsche  Buch 
weit  mehr  als  bisher  üblich  war  behandelt  ist,  ferner  die  eingehende  Berücksichti- 
gung der  Stellung  unserer  Klassiker  zur  Religion  und  der  neueren  Entwicklung 
der  Philosophie  und  der  Naturwissenschaften.  So  muß  die  Kirchengeschichte  be- 
handelt werden,  dann  wird  sie  ein  lebhaftes  Interesse  bei  unseren  Schülern  er- 
wecken. Auch  die  Mission  kommt  zu  ihrem  Recht.  Die  Ergebnisse  der  theo- 
logischen Forschung  werden  überall  in  sehr  besonnener  Weise  mitgeteilt,  so  daß 
Andersdenkende  kaum  daran  Anstoß  nehmen  können.  Erfreulich  ist  es,  daß  auch 
die  katholische  Charitas  S.  223—226  eine  eingehende  wohlwollende  Behandlung 
erfährt.  Sehr  richtig  und  für  weite  Kreise  sehr  nötig  ist  die  Anmerkung  S.  168: 
»Die  Unklarheit  über  das  Wesen  des  viel  mißbrauchten  Begriffes  ,Glauben'  ist 
noch  heutigentags  der  eigentliche  Krebsschaden  des  evangelischen  Christentums." 
Die  beiden  Abbildungen,  Raffaels  „Disputa"  und  Kaulbachs  „ Reformationszeit " 
sollen  dazu  beitragen,  dem  Schüler  das  Verständnis  für  den  charakteristischen 
Unterschied  des  Katholizismus  und  des  Protestantismus  zu  erschließen. 

Ich  glaube,  das  Buch  kann  auch  außerhalb  der  Schule  viel  Segen  stiften  und 
manchem   Leser  für   die   Aufgaben  unserer  Zeit  das  rechte  Verständnis  eröffnen. 
Münster  i.  W.  R.  Gaede. 

Resa,  Fritz,  Jesus  der  Christus.  Bericht  und  Botschaft  in  erster  Gestalt. 
Leipzig  und  Berlin  1907.  B.  G.  Teubner.  8<^.  111  S.  0,80  M. 
Resa  bietet  hier  ein  Seitenstück  zu  seinen  Liedern  aus  den  Propheten.  Die 
erzählenden  Stücke  der  ursprünglichen  Quellen,  herausgeschält  nach  den  Prinzipien 
der  historischen  Forschung,  sind  zum  »Bericht",  die  Aussprüche  Jesu  ebenso  zur 
»Botschaft"  zusammengestellt  in  der  Weise,  daß  jeder  einzelne  Abschnitt  unter  einer 
Überschrift  ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes  darstellt.  Für  viele,  die  in  unserer 
religiös  wieder  mehr  interessierten  Zeit  zum  Neuen  Testament  greifen  mögen,  um 
an  der  Quelle  zu  schöpfen,  wirkt  der  Eindruck  befremdend,  daß  doch  auch  in  den 
drei  ersten  Evangelien  sich  schon  viel  zeitgeschichtlich  Bedingtes,  vor  allem  viel 
Mirakelglaube  findet:  Für  solche  ist  es  sehr  wertvoll,  eine  Zusammenstellung  der 
ursprünglichen  Stücke  vom  Leben  und  der  Lehre  Jesu  vor  Augen  zu  haben. 
Allerdings  steht  dem  Unternehmen  die  Schwierigkeit  entgegen,  daß  gerade  die 


202  W.  Staerk,  Neutestamentliche  Zeitgeschichte,  angez.  von  R.  Peters. 

historische  Forschung  der  letzten  Zeit  (ich  nenne  nurWrede)  die  Annahme  stark 
erschüttert  hat,  als  könnten  wir  das  Evangelium  „in  erster  Gestalt"  so  sicher  her- 
ausschälen, wie  das  z.  B.  auch  v.  Soden  (vgl.  Monatschrift  V,  547)  getan  hat. 
Der  Verfasser  gibt  auch  zu,  daß  in  den  Einzelheiten  hier  vieles  strittig  ist.  Aber 
abgesehen  davon,  bleibt  sein  Versuch  doch  verdienstlich,  die  ältesten  Zeugnisse  über 
Jesus  uns  vor  Augen  zu  stellen  und  ihn  selbst  zu  uns  reden  zu  lassen.  Daß  bei 
den  Aussprüchen  Jesu  oft  die  Zeilen  abgebrochen  sind,  soll  den  Rhythmus  der 
Ursprache  markieren.  Man  könnte  das  Bedenken  dagegen  geltend  machen,  daß 
dadurch  der  Eindruck  erweckt  werde,  als  habe  Jesus  seine  Verkündigung  auch  in 
der  Form  von  Liedern  gegeben. 

Staerk,  W.,  Neutestamentliche  Zeitgeschichte.  (Aus  der  Sammlung 
Göschen  No.  325,  326.)  I.  Bdchen.  192  S.,  IL  Bdchen.  168  S.  Leipzig  1907. 
G.  J.  Göschen,  geb.  je  0,80  M. 
Die  beiden  Bändchen  bieten  in  gedrängter  Kürze  einen  guten  Überblick  über 
den  historischen  und  kulturgeschichtlichen  Hintergrund  des  Urchristentums  und 
über  die  Religion  des  Judentums  im  neutestamentlichen  Zeitalter.  Der  erste  Teil 
zeichnet  ein  Bild  der  politischen  und  kulturellen  Entwicklung  in  der  Zeit  des 
Hellenismus  und  stellt  die  äußere  Geschichte  des  Judentums  bis  auf  Hadrian  dar, 
das  zweite  Bändchen  schildert  die  Zustände  der  jüdischen  Kirche,  deren  Kenntnis 
für  das  Verständnis  des  Neuen  Testaments  so  bedeutungsvoll  ist.  Zeitgeschicht- 
liche Tabellen,  ein  geographischer  Anhang,  ein  Abriß  der  Literaturgeschichte  jener 
Zeit  u.  a.  bieten  zum  Schluß  gute  Übersichten.  Heutzutage,  wo  die  wissenschaft- 
liche Forschung  über  das  Urchristentum  so  weite  Beachtung  findet,  wird  mancher 
beim  Studium  dieser  oder  jener  Schrift  auf  politische,  kulturhistorische  oder  religions- 
geschichtliche Verhältnisse  stoßen,  die  ihm  ein  Nachschlagebuch  über  Einzelheiten 
oder  eine  allgemeine  Orientierung  wünschenswert  machen.  Dazu  sind  die  beiden 
Bändchen  gut  geeignet. 

Bornemann,  W.,  Der  Konfirmandenunterricht  und  der  Religionsunter- 
richt in  der  Schule  in  ihrem  gegenseitigen  Verhältnis.    (Vortr.  d. 
theol.  Konf.    zu  Gießen,  26.  Folge.)     Gießen   1907.     Alfr.  Töpelmann  (vorm. 
J.  Ricker).    83  S.     1,80  M. 
Der  Vortrag  faßt  in  vortrefflicher  Weise  alles  zusammen,   was  in  der  letzten 
Zeit   über  das  schwierige  Problem  verhandelt  und  geschrieben  worden  ist.     In 
zahlreichen  Anmerkungen  wird  auf  die  reichhaltige  Literatur  über  die  Frage  Bezug 
genommen  und  dieser  oder  jener  Punkt  durch  den  Widerstreit  der  Meinungen 
weiter  verfolgt.    Die  Einzelbemerkungeu   erhöhen   ebenso  wie  die  Beilagen   den 
Wert  der  Veröffentlichung  für  Pfarrer  und  Religionslehrer  und  gestalten  sie  für 
jeden,  der  sich  mit  der  Sache  beschäftigt,  zum  trefflichen  Hilfsmittel. 

Neue  Pfade  zum  alten  Gott.  Herausgegeben  von  Pfarrer  F.  Gers  tu  ng.  Freiburg 
i.  B.  und  Leipzig,  Paul  Waetzel.  8^.  Neun  Bändchen  gebunden  zusammen 
19,60  M.    4.  Bändchen  3,20  M.,  7.  Bändchen  2,40  M.,  jedes  andere  2  M. 

1.  Karl  König,  Gott,    Warum  wir  bei  ihm  bleiben  müssen.     154  S.  o.  J, 


Neue  Pfade  zum  alten  Gott,  angez.  vo«f  R.  Peters.  203 

2.  Ferd.  Gerstung,  Die  Welt.    An  sich  —  für  mich.     100  S.  o.  J. 

3.  Karl  Neumaerker,  Der  Mensch.    Wie  er  sich  selber  findet.    176  S.  o.  J. 

4.  Arno  Neumann,  Jesus.    Wer  er  geschichtlich  war.    206  S.  1904. 

5.  Alfred  König,  Jesus.    Was  er  uns  heute  ist.    128  S.    1903. 

6.  Dietrich  Graue,  Die  Religion  des  Geistes.    Wie  der  Gebildete  denkend 
zu  ihr  Stellung  nimmt.     114  S.    1903. 

7.  Leonh.  Ragaz,  Du  sollst.    Warum  dies  Wort  bestehen  bleibt. 

8.  Günther  Wohlfarth,  Beten    und  moderner  Mensch  sein.    Wie  sich  beides 
zusammenreimt.     172  S.    1902. 

9.  Otto  Hering,  Persönliches  Christentum.  Das  Eine,  was  uns  not  ist.    1905. 

Die  Schriften  führen  uns  in  die  großen  Lebensfragen  der  christlichen  Welt* 
anschauung  hinein.  Ihr  Zweck  ist,  die  Erkenntnis  wahrer  Religiosität  und  Sittlichkeit 
unter  den  Gebildeten  unses  Volkes  zu  fördern  und  das  unantastbare  Recht  dieser 
Geistesmächte  gegenüber  allen  ihren  Gegnern  und  Verächtern  mit  scharf  geschlif- 
fener Waffe  zu  verteidigen.  „Die  Sammlung  trägt  bei  völlig  freier  Entfaltung  des 
Individuellen  in  den  einzelnen  Arbeiten  doch  den  Charakter  der  inneren  Einheitlich- 
keit. Man  verspürt  überall  den  Pulsschlag  persönlichen  Lebens;  und  es  ist  doch  ein 
Geist,  der  diese  Schriften  durchweht.  Die  Verfasser  eint  die  Begeisterung  für  die  Auf- 
gabe, Frömmigkeit  und  Sittlichkeit  in  ihrer  Lebensnotwendigkeit,  Herrlichkeit,  Hoheit 
und  Macht,  damit  aber  zugleich  die  christliche  Religiosität  und  Sittlichkeit  in  ihrer 
ganzen  schlichten  Größe  zu  erfassen  und  den  Suchenden  unserer  Tage  vor  die  Augen 
zu  stellen."  Es  eint  sie  der  freudige  Glaube,  daß  in  unserer  Zeit,  in  der  der  Blick 
freier  ward  für  das  Große  in  seiner  ursprünglichen  Einfachheit,  „auch  das  Evangelium 
wieder  in  seiner  ganzen  hehren  Größe  und  erhabenen  Einfalt  begriffen  werden  und 
seine  herzbezwingende  Macht  offenbaren"  werde.  Die  alten  dogmatischen  Geleise 
sind  verlassen.  Neue  Pfade  sollen  gewiesen  werden  dem  Geschlecht  unserer  Tage, 
aber  nicht  zu  einem  selbstkonstruierten  Gott  oder  Jesus,  wie  so  oft  vorwurfsvoll 
gegen  die  moderne  Richtung  der  Theologie  gesagt  wird,  sondern  zu  dem  alten 
Gott;  d.  h.  was  der  bleibende  religiöse  Kern  des  überlieferten  christlichen  Glaubens 
ist,  soll  dem  modernen  Menschen  nahe  gebracht  werden.  Die  Bedenken  und 
Zweifel,  die  er  vom  Standpunkt  der  heutigen,  durch  die  Fortschritte  der  natur- 
wissenschaftlichen und  geschichtlichen  Erkenntnis  bestimmten  Weltanschauung  aus 
empfindet,  werden  freimütig  und  ohne  Ausflüchte  erörtert.  Deshalb  sind  die 
Schriften  allen  nach  Wahrheit  und  Klarheit  Ringenden  warm  zu  empfehlen.  Ihre 
Tendenz  richtet  sich  einmal  gegen  einen  starren  Buchstabenglauben,  gegen  die 
Macht  des  durch  die  bloße  Tradition  Geheiligten ;  der  ehrliche  Zweifler  ist  den  Ver- 
fassern lieber  als  der  gedankenlose  Gewohnheitschrist,  und  der  durch  solche  Geister 
entfesselte  Sturm  erscheint  ihnen  minder  verderblich  für  die  Kirche,  als  die  träge 
Windstille.  Dann  aber  auch  gegen  die  Seichtigkeit  eines  naturphilosophischen 
Monismus,  der  sich  über  die  Schranken  der  reinen  Vernunft  hinwegsetzt  und  auf 
dem  Gebiet  der  religiös-sittlichen  Werturteile  aburteilend  und  negierend  sich  breit 
macht.  Gegen  diese  Seite  streitet  trefflich  die  Schrift  von  Karl  König:  Gott, 
die  den  christlichen  Gottesglauben  vor  dem  an  den  Naturwissenschaften  orientierten 
Denken  zu  rechtfertigen  unternimmt.  Sie  handelt  zunächst  von  dem  Rechte  des 
Glaubens  überhaupt,  des  Glaubens,  der  der  große  Lebenswille  der  Seele  ist.    Die 


204  Neue  Pfade  zum  alten  Gott,  angez.  von  R.  Peters. 

Erfahrungen  der  um  sich  selber  ringenden,  sich  selbst  gestaltenden  Menschenseele 
werden  in  das  rechte  Licht  gesetzt  gegenüber  der  rein  verstandesmäßigen 
Erkenntnis.  Dann  wird  der  Gottesglaube  erwiesen  als  eine  normale  und  charakte- 
ristische Lebensbetätigung  des  Menschen,  als  eine  Kraft  seines  geistig-sittlichen 
Wesens,  als  eine  zum  Bestand  unserer  Gattung  gehörende  und  deshalb  unverHer- 
bare  Ausrüstung  der  menschlichen  Natur,  ja  als  die  Offenbarung  unseres  tiefsten 
Wesens  selbst.  Von  hier  aus  steigt  die  Betrachtung  schließlich  auf  zu  dem  Gottes- 
glauben Jesu,  und  es  wird  klargestellt,  was  der  christliche  Gottesglaube,  der  Glaube 
an  den  Vatergott,  für  uns  bedeutet. 

In  der  zweiten  Schrift  behandelt  F.  Gerstung  „die  Welt  an  sich",  d.  h. 
als  Inbegriff  der  reinen  Kausalität,  und  „die  Welt  für  mich",  d.  h.  als  Inbegriff 
aller  Kausalität,  insofern  alle  Kausalität  teleologisch  bestimmt  ist,  Weltbeurteilung 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Zweckmäßigkeit  für  ihre  eigene  Existenz  und  auch  für 
die  Geistesentwicklung  des  Menschen  in  der  Richtung  der  Intelligenz  und  des 
Willens,  der  Religion  und  Sittlichkeit.  Diese  beiden  Arten  der  Weltbetrachtung 
werden  von  vielen  schmerzlich  als  unversöhnliche  Gegensätze  empfunden;  der 
Verfasser  will,  indem  er  die  Unzulänglichkeit  der  rein  kausalen  Auffassung  dartut 
und  das  Recht  der  teleologischen  aufweist,  der  Sehnsucht  nach  einer  Kopf  und  Herz 
befriedigenden  Weltanschauung  dienen  und  zeigen,  daß  diese  auch  praktisch  gegen- 
über der  rauhen  Wirklichkeit  der  Welt  und  des  Lebens  sich  behaupten  und  bewähren 
läßt.  Mit  den  von  König  und  Gerstung  behandelten  Gegenständen  berührt  sich 
aufs  innigste  die  Schrift  von  C.  Neumaerker,  deren  Ausführungen  unter  die 
Gesichtspunkte  gestellt  sind:  Wer  bin  ich?  Wo  komme  ich  her?  Was  soll,  was 
will  ich  hier?  Der  Verfasser  bringt  mehr  Einzelheiten  der  naturwissenschaftlichen 
Forschung,  er  nimmt  mehr  Bezug  auf  die  reiche  Literatur  dieses  Gebietes  und  ist 
in  seiner  Polemik  gegen  materialistische  und  monistische  Behauptungen  etwas 
schärfer.  Das  Streben  nach  Frische  der  Darstellung,  die  der  ganzen  Sammlung 
eigen  ist,  führt  hie  und  da  an  die  Grenze  des  bewußt  Geistreichen.  Arno  Neu- 
mann,  Jesus  ist  in  dieser  Monatschrift  schon  besprochen  worden  (V,  S.  546).  Die 
Ergänzungsschrift  von  Alfred  König  will  die  Bedeutung  der  geschichtlichen 
Persönlichkeit  Jesu  für  das  religiöse  Suchen  unserer  Zeit  dartun  (vgl.  Bousset,  Arn. 
Meyer  u.  a.).  Sie  zeigt,  daß  nur  der  praktische  Materialist  in  absolutem  Gegensatz 
zu  Jesus  steht,  daß  aber  der  Mann  „der  modernen  Weltanschauung"  und  der 
weltfreudige  Kulturmensch  trotz  aller  scheinbaren  Anstöße  ihm  den  höchsten  Wert 
beimessen  muß,  wenn  er  nur  sein  wirkliches  Wesen  und  Wirken  recht  verstehen 
will,  und  daß  Jesus  auch  dem  Menschen  zum  rechten  Verhältnis  zu  Gott,  zu  sich 
selbst,  zur  Welt  und  zum  Nächsten  verhilft.  Ausgehend  von  einer  feinsinnigen 
Kennzeichnung  des  Wesens  echter  Religiosität  und  der  Eigenart  des  modernen 
Menschen  stellt  Dietrich  Graue  die  Religion  des  Geistes  dar  als  Funktion  des 
menschlichen  und  zugleich  als  Wirkung  des  göttHchen  Geistes.  Der  Abschnitt,  in 
dem  der  Verfasser  die  Eigenart  der  Sprache  der  Religion,  wie  sie  der  Ausdruck 
ihres  inneren  Wesens  ist,  belauschen  lehrt,  leistet  ebenso  wertvolle  „Pförtnerdienste 
am  HeiHgtum",  wie  die  Ausführungen  über  die  Religion  als  persönliches  Erlebnis. 
G.  Wohlfarth  weiß  wohl,  daß  Beten  und  „moderner  Mensch  sein"  sich  für  gar 
viele  schlecht  zusammenreimt.    Aber  er  zeigt,  daß  das  Gebet  recht  verstanden,  d.  h. 


W.  Hess,  Christliche  Glaubens-  und  Sittenlehre,  »ngez.  von  R.  Peters.  205 

nicht  als  wunderhafte  Beeinflussung  des  göttlichen  Willens  gefaßt,  sondern  als 
Atemholen  der  Seele  in  der  Lebensluft,  aus  der  sie  stammt,  begriffen,  auch  für 
den  Menschen  der  Gegenwart  Bedürfnis  ist  und  von  ihm  als  reale  Macht  seiner 
religiös-sittlichen  Entwicklung  erlebt  wird,  wofern  Gott  selbst  ihm  lebendige 
Realität  ist.  Den  Abschluß  der  Sammlung  bildet  O.  Herings  „Persönliches 
Christentum",  worin  überaus  wirkungsvoll  der  in  allen  Schriften  anklingende 
Grundgedanke  zum  Ausdruck  kommt,  daß  unsere  Zeit  ein  heißes  Verlangen  nach 
persönlichem  Erfassen  und  Verarbeiten  der  religiösen  Werte  innewohnt,  das  fernab 
liegt  von  allem  dogmatistischen  Wesen  und  durch  die  Überlieferung  Geheiligten. 
Unsere  Primaner  nehmen  an  dem  geistigen  Suchen  unserer  Zeit  Anteil.  Die 
„Neuen  Pfade  zum  alten  Gott"  halte  ich  für  trefflich  geeignet,  ebenso  ihnen 
Berater  zu  sein  in  ihrem  Ringen  um  eine  Weltanschauung,  wie  den  „Gebildeten 
unseres  Volkes",  die  sich  nach  dem  Vorwort  die  Sammlung  als  Leser  wünscht. 
Der  niedrige  Preis  ermöglicht  jedem  leicht  die  Anschaffung  der  empfehlenswerten 
Schriften. 

Hess,  W.,  Christliche  Glaubens-  und  Sittenlehre.    Einführung  in  Wesen 
und    Inhalt    des    Christentums   für   humanistische    Lehranstalten.     3,    Auflage. 
Tübingen  1907.    J.  C.  B.  Mohr.    8°.    VIII  u.  93  S.    1,40  M. 
Die  Grundsätze  der  Behandlung  der  Glaubens-  und  Sittenlehre  sind  in  der 
neuen  Auflage  beibehalten.     Dem  Bestreben,   die  Glaubenslehre  vom   breitesten 
kulturgeschichtlichen  Boden  aufzubauen,  dienen  zalreiche  Zitate  aus  Schriftstellern 
alter  und  neuer  Zeit.    Unfruchtbarer  Dogmatismus  wird  vermieden  durch  Zurück- 
gehen auf  die  heilige  Schrift.    Die  neuere  theologische  Wissenschaft  wird  offen 
und  zugleich  maßvoll  verwertet.     Nach  einer  religionsgeschichtlichen  Einleitung 
ist  für  die  Glaubens-  und  Sittenlehre  der  Reichsgottesgedanke  zum  leitenden  Prinzip 
gemacht.    Der  Religionslehrer  der  Prima  wird  den  Leitfaden  für  die  zusammen- 
fassenden und  abschließenden  Besprechungen  gut  verwerten  können,  wenn  auch 
für  preußische   Anstalten   wenigstens   die   Behandlung  in   dieser  Vollständigkeit 
sich  nicht  durchführen  läßt. 

Rein,  W.,  Religion  und  Schule.  (Aus  „Beiträge  zur  Weiterbildung  der 
christlichen  Religion".  5  M.)  München  1905.  J.  F.  Lehmann.  8".  22  S. 
Der  erste  Teil  der  Abhandlung  bringt  eine  Kritik  des  evangelischen  Religions- 
unterrichts, bei  der  manche  oft  gehörte  Anklage  wiederholt,  manch  gutes  Wort 
gesagt  wird.  Viele  Religionslehrer  an  höheren  Schulen  werden  sich  allerdings 
durch  die  Vorwürfe  (u.  a.:  der  Religionsunterricht  bisher  nur  Übermittelung  kirch- 
licher Lehrsätze,  Einpauken  von  Pensen,  nur  Dogmatik,  aller  Psychologie  Hohn 
sprechend)  nicht  getroffen  fühlen.  Sie  werden  auch  in  Erinnerung  an  recht  erfreuliche 
Erfahrungen  im  Unterricht  der  Oberstufe  nicht  mit  R  e  i  n  einstimmen  in  das  Urteil, 
daß,  was  nach  dem  vierzehnten  oder  fünfzehnten  Jahre  von  Religion  vordemonstriert 
werde,  vom  Geiste  unserer  Jünglinge  ablaufe  wie  das  Wasser  vom  Regenmantel. 
Aber  der  starke  Beifall,  den  solche  Kritik  (auch  wenn  sie  nicht  von  so  berufener 
Seite  herkommt)  bekanntlich  findet,  beweist  immerhin,  daß  der  Schäden  noch  genug 
da   sind,   die  „Bureaukratie  und  Hierarchie  im  Bunde  miteinander'  verschulden. 


206  R-  Heidrich,  Christnachtsfeier  und  Christnachtsgesänge  usw. 

Auch  der  zweite  Teil  bietet  manches  Gute,  so  vor  allem  die  Forderung  eines 
historisch -genetischen  Ganges  des  Unterrichts  in  den  späteren  Jahren.  Für  die 
ersten  Jahre  fordert  Rein  Wegfall  des  Religionsunterrichts  in  der  Schule;  dafür 
sollen  Sagen  und  Märchen  eintreten,  wie  er  dies  praktisch  durchführt  in  Jena. 
Seinem  Vorschlag  stehen  doch  ernste  Bedenken  entgegen,  ebenso  seiner  Befür- 
wortung der  Simultanschule.  Er  sagt  selbst,  daß  später  „alles  Simultane  in  die 
Brüche"  gehe.  Das  ist,  wenn  man  sich  nicht  ideale  Verhältnisse  in  Schule,  Kirche 
und  Elternhaus  konstruiert,  sondern  die  tatsächliche  Lage  berücksichtigt,  auch  in 
den  früheren  Jahrgängen  der  Fall. 

Düsseldorf.  R.  Peters. 

Heidrich,  R.,  Christnachtsfeier  und  Christnachtsgesänge  in  der  evan- 
gelischen Kirche.  Nach  den  Akten  der  Konsistorien  und  der  Überlieferung 
der  Gemeinden.  Göttingen  1907.  Vandenhoeck  &  Ruprecht.  194  S.  8^. 
geh.  4,80  M. 
Wenn  in  der  Christnacht  die  Festglocken  zur  Mette  rufen,  dann  eilt  —  so 
ist  es  von  alters  her  Brauch  in  der  katholischen  Kirche  —  Alt  und  Jung,  Groß 
und  Klein  dem  in  hellem  Lichterglanze  erstrahlenden  Gotteshause  zu,  und  die 
weiten  Räume  hallen  wider  von  den  zum  Teil  uralten  Weihnachtsliedern,  denen 
die  Länge  der  Zeit  nichts  von  ihrem  Zauber  und  ihrer  Wirkung  auf  die  Menschen- 
herzen hat  rauben  können.  In  vergangenen  Jahrhunderten  gehörte  zur  Weihnachts- 
feier auch  die  dramatisch-liturgische  Darstellung  der  Geburt  des  Heilandes,  von 
der  als  älteste  Probe  das  Freisinger  Weihnachtsspiel  aus  dem  12.  Jahrhundert  uns 
erhalten  geblieben  ist.  Was  in  der  alten  Kirche  entstanden  war,  davon  sind  Reste 
in  die  evangelische  Kirche  übergegangen,  und  noch  heute  gibt  es  eine  Anzahl 
evangelischer  Gemeinden  —  der  Verfasser  zählt  deren  167  innerhalb  des  Deutschen 
Reiches  —  in  denen  der  Christnachtsgesang  in  Übung  ist,  oder  doch  bis  ins 
19.  Jahrhundert  in  Übung  gewesen  ist.  Angeregt  durch  die  in  der  evangelischen 
Gemeinde  seines  Heimatsortes  Fraustadt  bestehende  Feier  hat  der  Verfasser  e& 
unternommen,  durch  Rundfragen  bei  kirchlichen  Behörden  und  Privaten,  durch 
Einsichtnahme  einschlägiger  Akten,  Durchmusterung  von  Kirchengesangbüchern 
u.  dgl.  das  weit  zerstreute  Material  zu  sammeln  und  zu  einer  übersichtlichen 
Darstellung  der  Christnachtsfeier  und  des  Christnachtsgesanges  in  der  evangelischen 
Kirche  nach  historischen  und  sachlichen  Gesichtspunkten  zusammenzufassen.  Eine 
besondere  Aufmerksamkeit  ist  dabei  dem  sog.  Quempasgesange  gewidmet  (Das 
Wort  „Quempas"  gebildet  aus  den  beiden  Anfangssilben  des  lateinischen  Weihnachts- 
liedes Quem  pastores  laudavere). 

Das  recht  interessante  Buch  ist  nach  des  Verfassers  Absicht  zunächst  ein  wissen- 
schaftliches Buch.  Aber  „wer  eine  Sache  wertvoll  findet,  der  möchte  doch  gern  auch 
praktisch  wirken"  (Vorrede);  der  Verfasser  wünscht  daher,  „daß  die  alte  Sitte  der 
Christfeier  und  des  Christnachtsgesanges  zunächst  erhalten  bleibt,  wo  möglich  sich 
weiter  ausbreitet",  wobei  er  auf  die  Mitwirkung  der  Schule  und  der  Kirche  sein 
Augenmerk  richtet.  Übrigens  betrachtet  der  Verfasser  seine  Arbeit  noch  nicht 
als  abgeschlossen,  bittet  vielmehr  sowohl  in  der  Vorrede  wie  auch  im  Texte  selbst 
(S.  56)  um  weitere  Zusendung  von  Christnachtsgesängen  und  von  Berichten  über 


angez.  von  K.  Jansen.  207 

die  Christnachtsfeier.    Das  veranlaßt  mich  auf  einige  Punkte  hinzuweisen,  die  bei 
einer  späteren  Überarbeitung  der  Berücksichtigung  empfohlen  seien. 

Auf  Seite  2  sagt  der  Verfasser:  „Der  heilige  Martin  und  der  heilige  Nikolaus 
sind  dadurch  mit  dem  Weihnachtsfeste  in  Verbindung  gekommen,  daß  ihre  Tage, 
der  11.  November  und  der  6.  Dezember,  der  Zeit  vor  Weihnachten  angehören.* 
Das  klingt  nicht  sehr  warscheinlich,  zumal  der  11.  November  und  der  25.  Dezember 
doch  mehr  als  sechs  Wochen  auseinanderliegen.  Die  Sache  erklärt  sich  vielmehr 
so,  daß,  wie  manche  anderen  Feste  der  christlichen  Kirche  und  wie  das  Weih- 
nachtsfest selbst,  so  auch  die  Martins-  und  Nikolausfeier  an  bereits  vorhandene 
germanisch-heidnische  Feste  und  Gebräuche  angeschlossen  sind.  Wenn  die  Frucht 
des  Feldes  eingetragen,  der  Wein  gekeltert  worden  war,  folgten  die  Dankesopfer 
für  Odin;  das  geschah  in  den  nördlichen  Gegenden  gegen  das  Ende  des  Sep- 
tember (St.  Michaelstag),  in  den  südlichen  im  November  (St.  Martinstag).  Der 
Nikolaus  unserer  Kinder  mit  dem  Knecht  Ruprecht  im  Gefolge  ist  wiederum  kein 
anderer  als  der  Gott  Odin;  aber  er  erscheint  jetzt  (6.  Dezember)  als  Wintergott 
und  ihm,  zu  dem  alle  Toten  eingehen,  wurden  Kuchen  aus  Mehl  und  Honig, 
Äpfel  und  Nüsse,  die  sogenannten  Totenopfer,  dargebracht.  Ganz  im  Gegensatze 
dazu  wurde  gegen  den  Jahresschluß,  um  die  Zeit  der  Wintersonnenwende  das 
„Erwachen  der  Sonne"  gefeiert,  und  das  ist  es,  was  in  unserem  heutigen  Weih- 
nachtsfest noch  anklingt.  Daß  diese  verschiedenartigen  Feste  nach  ihrem  äußeren 
Verlaufe  manche  Übereinstimmungen  zeigten  und  in  ihren  wenig  mehr  verstandenen 
Überbleibseln  heute  noch  zeigen,  braucht  nicht  aufzufallen;  namentlich  Umzüge 
und  Umgänge  durch  die  Fluren  wurden  zu  verschiedenen  Jahreszeiten  in  Ver- 
bindung mit  dem  religiösen  Kultus  veranstaltet. 

Wenn  der  Verfasser  S.  14  sagt,  daß  in  der  katholischen  Kirche  noch  heute 
nicht,  wie  in  der  evangelischen  Kirche,  drei  Weihnachtstage  gefeiert  werden, 
sondern  nur  einer,  daß  dafür  aber  am  eigentlichen  Weihnachtstage  drei  Messen 
gelesen  würden,  so  ist  das  für  den  Zusammenhang,  in  dem  es  vorkommt,  zwar 
ganz  belanglos  und  bedarf  daher  hier  keiner  weiteren  Erörterung;  dagegen  mag 
wenigstens  die  Bemerkung  Platz  finden,  daß  die  gegebene  Darstellung  auf  einer 
in  mehr  als  einer  Hinsicht  schiefen  und  ungenauen  Vorstellung  des  Verfassers 
von  den  tatsächlichen  Verhältnissen  beruht. 

Eine  etwas  klarere  Darstellung  wäre  bei  einer  Neuauflage  dem  Kapitel  „Die 
Weihnachtslieder"  (S.  23  f.)  zu  wünschen.  Gleich  im  Anfange  wird  dem 
Leser  der  Gedanke  nahe  gelegt,  als  sei  Luthers  Lied  vom  Jahre  1524  „Gelobet 
seist  du  Jesu  Christ"  unter  den  Weihnachtsliedern  der  christlichen  Kirche 
das  älteste  Kirchenlied  gewesen,  was  der  Verfasser  gewiß  nicht  hat  sagen  wollen. 
Später  werden  den  vom  Verfasser  seinem  Thema  gemäß  ins  Auge  gefaßten  „Christ- 
nachtsliedern" der  evangelischen  Kirche  die  „volkstümlichen  Weihnachtslieder  und 
Christnachtsgesänge"  in  der  katholischen  Kirche  gegenübergestellt  und  daran  Be- 
merkungen geknüpft,  die  der  Leser  um  so  mehr  auf  die  „volkstümlichen  Weihnachts- 
lieder" mitbeziehen  muß,  als  der  Verfasser  unmittelbar  vorher  die  „Christnachts- 
lieder" von  den  „geistlichen  Volksliedern"  der  Weihnachtszeit  unterschieden  hat. 
Bei  dieser  Gelegenheit  sei  deshalb  darauf  hingewiesen,  daß  schon  im  Jahre  1167, 
als  Erzbischof  Christian  von  Mainz  in  der  Schlacht  bei  Tuskulum  mit  dem  Banner 


208  E.  Siecke,  Mythus,  Sage,  usw.,  angez.  von  F.  Panzer. 

voranstürmle,  vom  Heere  das  Lied  , Christ,  der  du  geboren  bist"  gesungen  wurde; 
ferner,  daß  aliein  für  das  15.  Jahrhundert  die  Zahl  der  dem  Weihnachtskreis  an- 
gehörigen  und  auf  uns  gekommenen  Gesänge  sich  auf  beinahe  Hundert  beläuft, 
darunter  auch  das  bekannte  „Es  ist  ein  ros  entsprungen"  und  das  von  Luther  zi- 
tierte „Ein  Kindelein  so  lobelich  ist  uns  geboren  heut".  Allerdings  gehörten 
die  vom  Volke  gesungenen  deutschen  Lieder  damals  so  wenig  wie  heute  zu  der 
durch  kanonische  Vorschriften  festgelegten  Liturgie;  aber  nichtsdestoweniger 
wurden  sie  bei  den  sogenannten  stillen  Messen,  bei  Nachmittags-  und  Abend- 
andachten und  selbst  während  der  von  dem  liturgischen  Choral  nicht  in  Anspruch 
genommenen  Teilen  des  Hochamts  gesungen,  und  wie  es  damals  war,  genau  so 
ist  es  noch  heute. 

Für  eine  zweite  Auflage  wäre  dem  Verfasser  zu  empfehlen,  den  allgemeinen  Teil 
seines  Buches  stofflich  noch  mehr  zu  verarbeiten  und  innerlich  zu  verbinden,  statt  ihn 
durch  allzuviele  Unterabteilungen  (I,  1,  A,  B,  C,  a,  b,  c  und  dgl.)  zu  zersplittern. 

Groß-Lichterfelde.  Karl  Jansen. 

Siecke,  Ernst,  Mythus,  Sage,  Märchen  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegen- 
wart.    Leipzig  1906.     J.  C.  Hinrichssche  Buchhandlung.    25  S.    8".    0,50  M. 

Der  Verfasser  zerlegt  in  seinem  Schriftchen,  dem  Abdrucke  eines  Vortrags, 
seinen  Vorwurf  in  drei  Teile,  die  von  den  Beziehungen  der  Mythologie  zur 
Wissenschaft,  Kunst  und  Religion  handeln  sollen. 

Der  erste  Abschnitt  spricht  kurz  von  der  Entstehung  der  Mythen,  die  aus  den 
Erfahrungen  eines  primitiven  Zeitalters  über  die  „zunächst  unbegreiflichen  und 
unbegriffenen  Vorgänge  der  uns  umgebenden  Natur"  abgeleitet  werden.  Daß  die 
Mondsagen  dabei  „ein  merkwürdiges  Übergewicht"  über  alle  andern  behaupten, 
wird  schon  hier  nachdrücklich  hervorgehoben;  vergessen  aber  ist,  daß  die  für  den 
primitiven  Menschen  und  nicht  bloß  für  ihn  nicht  minder  als  die  der  äußeren 
Natur  unbegriffenen  und  unbegreiflichen  Vorgänge  seiner  eigenen  menschlichen 
Natur  eine  wohl  noch  viel  wichtigere  Quelle  der  Mythenbildung  gewesen  sind.  Aus- 
führlicher wird  dann  über  das  Verhältnis  von  Mythus,  Märchen  und  Sage  gehandelt. 
Für  den  Verfasser  besteht  zwischen  diesen  dreien  „von  Hause  aus  gar  kein  Unter- 
schied. Ein  solcher  hat  sich  erst  im  Laufe  der  Zeiten  herausgebildet".  Es  geschah 
das  nämlich  auf  diese  Weise,  daß  „diejenigen,  in  denen  die  handelnden  Personen 
als  Helden  der  Vorzeit  erschienen  und  an  die  sich  wirkliche  historische  Erinne- 
rungen der  Völker  anlehnten,  zu  sogenannten  Sagen  wurden.  Die,  welche  die 
Beziehung  auf  historische  Vorgänge  ganz  fallen  ließen,  dabei  aber  scheinbar  von 
einfachen  Menschenkindern  handelten,  in  eine  niedere  menschliche  Sphäre  hinab- 
stiegen, hießen  Märchen".  Das  sind  Anschauungen,  an  denen  die  Entwicklung 
der  Wissenschaft  in  den  letzten  Jahrzehnten  spurlos  vorübergegangen  scheint;  aber 
auch  J.  Grimm,  der  ungefähr  auf  dem  Standpunkte  des  Verfassers  stand,  hätte  sich 
wenigstens  wesentlich  anders  ausgedrückt. 

Nachdem  noch  in  sehr  vager  Weise  ausgeführt  ist,  welchen  Nutzen  die  litera- 
rische und  historische  Wissenschaft  aus  mythologischen  Einsichten  gewinnen  kann, 
erörtert  der  Verfasser  die  Beziehungen  von  Mythologie  und  Kunst.  Er  nennt  seine 
Ausführungen  hier  selbst  „höchst  oberflächliche  und  abgerissene  Andeutungen", 


W.  Golther,  Nordische  Literaturgeschichte,  angtz.  von  F.  Panzer.  209 

und  der  Rezensent  hat  die  Pflicht,  diese  Attribute  zu  unterstreichen.  Man  kann 
wirklich  nicht  oberflächlicher  als  hier  geschieht  über  ein  Thema  sprechen,  das,  wo 
man  es  auch  packt,  in  die  Tiefen  menschlichen  Seins  und  Sinnens  führen  müßte. 
Der  ausführliche  letzte  Abschnitt  handelt  über  das  Verhältnis  von  Mythus  und 
Religion.  Ihr  Verhältnis  in  der  Gegenwart  macht  dem  Verfasser  berechtigte  Be- 
denken, und  er  wirft  in  Hinsicht  auf  unseren  Unterricht  die  ernste  und  wohl  zu  er- 
wägende Frage  auf,  „ob  es  ein  wünschenswerter  Zustand  ist,  daß  unsern  Kindern  in 
der  Schule  für  Religionsunterricht  die  Unterweisung  in  jüdischer  Mythologie  in 
so  ausgedehntem  Umfange  und  in  so  scholastischer  Weise  geboten  wird".  Leider 
sind  diese  Ausführungen  verquickt  mit  der  aus  anderen  Schriften  bekannten  Leiden- 
schaft des  Verfassers,  alle  Mythen  und  Sagen  auf  den  Mond  zurückzuführen.  Ob 
Zeus  oder  Herakles,  Hera  oder  Danae,  Adam  oder  Eva  und  selbst  der  Apfel  am 
Paradiesesbaum :  es  ist  der  Mond  und  wiederum  der  Mond,  der  allen  diesen  und 
hundert  anderen  mythischen  Gestalten  zugrunde  liegt.  Einen  Anhänger  hat  diese 
Theorie  freilich  bisher  nicht  gefunden  und  es  steht  zu  befürchten,  daß  ihr  auch 
die  Ausführungen  dieser  Schrift  keinen  Gläubigen  zuführen  werden. 

Golther,  Wolfgang,  Nordische  Literaturgeschichte.  1.  Teil:  Die  isländische 
und  norwegische  Literatur  des  Mittelalters.  Leipzig  1905.  G.  J.  Göschen'sche 
Verlagshandlung.  Sammlung  Göschen  No.  254.  123  S.  12 «.  geb.  0,80  M. 
Richard  Wagners  Werke  haben  dafür  gesorgt,  daß  ein  gewisses  Interesse  an 
altnordischer  Literatur  unter  den  Gebildeten  Deutschlands  immer  rege  blieb.  Was  von 
diesem  Interesse  erreicht  wurde,  waren  aber  doch  im  wesentlichen  nur  die  Eddalieder 
und  was  mit  ihnen  zusammenhing;  die  Kenntnis  der  alten,  wunderbar  reichen  und 
eigenartigen  Prosaliteratur  unserer  nordischen  Brüder  blieb  dagegen  wesentlich 
den  Germanisten  vorbehalten.  Es  möchte  das  um  so  auffälliger  erscheinen,  als 
hier  nicht  nur  Kunstleistungen  vorliegen,  die  wohl  um  ihrer  selbst  willen  eine  leb- 
haftere Teilnahme  verdienten.  Ist  es  doch  deutlich,  daß  gerade  unsere  literarische 
Gegenwart  oder,  richtiger  vielleicht  schon,  die  Literaturperiode,  die  wir  soeben  durch- 
laufen haben,  eine  tiefe  innere  Verwandtschaft  aufweist  mit  dem  scharfen  Realismus 
nordischer  Erzählungskunst  und  sichtbar  genug  haben  ja  durch  Björnson  und 
Ibsen  sich  auch  direkte  Fäden  von  dort  unmittelbar  zu  uns  herübergesponnen. 
In  unseren  Tagen  erst  scheint  ein  Umschwung  eintreten  zu  wollen,  da  Männer 
wie  Arthur  Bonus  sich  mit  leidenschaftlichem  Eifer  bemühen,  lange  Versäumtes 
nachzuholen.  Da  wird  es  doppelt  willkommen  scheinen,  daß  in  dem  vorliegenden 
Büchlein  den  größeren,  eindringlichem  Studium  dienenden  Werken  von  F.  Jonsson 
und  E.  Mogk  eine  kurze  populäre  Darstellung  der  altnordischen  Literatur  zur 
Seite  tritt. 

Ihr  Verfasser  hat  sich  selbst  seit  Jahren  um  die  Erforschung  der  alten  Literatur 
Skandinaviens  verdient  gemacht;  es  versteht  sich  also,  daß  er  überall  zuverlässige 
Nachricht  von  den  behandelten  Erscheinungen  gibt,  wenn  man  sich  auch  in  manchen 
schwierigen  und  umstrittenen  Fragen  anders  entscheiden  könnte  als  er  getan. 
Seinen  Stoff  hat  er  nicht  nach  Perioden  abgeteilt,  sondern  die  einzelnen  Gattungen 
werden  für  sich  behandelt,  sodaß  drei  Abschnitte,  Eddalieder,  die  Skaldendichtung, 
die  Sögur  überschrieben,  entstehen,  unter  welch  letzterem  Titel  die  Prosa  überhaupt 

MonaUchrift  f.  höh.  Schulen.    VIU.  Jhrg.  14 


'210  Die  lyrischen  Meisterstücke  usw.,  angez.  von  A.  Matthias. 

begriffen  wird.  Im  einzelnen  ist  wieder  so  verfahren,  daß  jedes  Denkmal,  im 
zweiten  Abschnitte  jeder  Dichter  für  sich  behandelt  wird.  Dabei  pflegen  gut 
geschriebenen  kurzen  Inhaltsangaben  Bemerkungen  über  Zeit,  Ort  und  sonstiges 
zur  Kritik  des  Denkmals  zu  folgen. 

Vielleicht  wird  man  finden,  daß  der  Verfasser  in  der  Auflösung  seines  Stoffes 
ins  einzelne  zu  weit  gegangen  ist;  den  zusammenfassenden  Betrachtungen  sollte 
etwas  mehr  Raum  gegönnt  sein.  Die  ästhetische  Beschreibung  und  Wertung  tritt 
überhaupt  allzu  stark  hinter  der  philologischen  Kritik  zurück.  Besonders  ungern 
vermißt  man  eine  Schilderung  der  geographischen,  nationalen  und  kulturellen 
Grundlage,  auf  der  diese  Literatur  sich  aufbaut,  aus  der  allein  ihre  Eigenart  ver- 
standen werden  kann. 

Frankfurt  a.  M.  Friedrich  Panzer. 

Die  lyrischen  Meisterstüclie  von  Joliann  Wolfgang  von  Goethe.  In  zwei 
Bänden.  Mit  Einleitung  und  Anmerkungen  von  Richard  M.  Meyer.  Leipzig. 
Wilhelm  Weicher.  12».  Je  142  S.  kart.  je  0,75  M. 
Man  muß  dem  feinsinnigen  R.  M.  Meyer  herzlich  dankbar  sein,  daß  er  in 
einer  so  hübsch  ausgestatteten  und  gefälligen  Ausgabe  zwei  so  interessante  Bänd- 
chen für  unseren  Hand-  und  Hausgebrauch  uns  darbietet:  Eine  Auswahl  aus  dem 
Reichtum  Goethescher  Lyrik,  die  alles  echt  Lyrische  sammelt  und  dafür  die  di- 
daktischen Zutaten  aussondert,  die  man  (nach  Goethes  eigenem  Vorgang)  unter 
seinen  lyrischen  Gedichten  zu  finden  gewöhnt  ist.  Ferner  sind  größere  episch- 
lyrische Dichtungen  fortgeblieben:  der  „Ewige  Jude"  und  „Hermann  und  Dorothea" ; 
die  Balladen  dagegen,  bei  denen  zu  stark  lyrischer  Färbung  die  liedähnliche  Form 
kommt,  sind  aufgenommen.  Die  Anordnung  ist  nicht  chronologisch,  wie  die 
Harnacks,  sondern  in  ästhetischer  Absicht  nach  dem  künstlerischen  Gesichtspunkt 
geordnet,  so  daß  Goethes  Durchbildung  zu  lyrischer  Totalität  als  Leitfaden  seiner 
lyrischen  Entwicklung  erscheint.  ,So  schreiten  wir  von  gelegentlichen  Einzel- 
gedichten zu  anwachsenden  Sammlungen  fort,  erreichen  in  dem  von  Goethe  selbst 
bewirkten  Gedichtbuch  die  Höhe  und  gleiten  durch  spätere  Gedichtreihen  wieder 
zu  den  lyrischen  Einzelergüssen  der  letzten  Jahre  herab."  Die  Anmerkungen  be- 
schränken sich  auf  das  zum  Verständnis  durchaus  Wesentliche.  Wir  können  an 
ihnen  lernen,  was  wir  in  der  Schule  bieten  und  was  wir  am  besten  nicht  bieten. 
Denn  gemeiniglich  wird  viel  zu  viel  an  unseren  Dichtern  heruminterpretiert  und 
dadurch  die  Poesie  unserer  Jugend  nicht  gerade  lieb  und  wert  gemacht. 

Ludwig,  Albert,  Schiller  und  die  deutsche  Nachwelt.    Von  der  kaiserlichen 

Akademie    der    Wissenschaften    zu   Wien    gekrönte   Preisschrift.      Berlin    1909. 

Weidmannsche  Buchhandlung.    XII  u.  679  S.    geb.  14  M. 

Bei  der  Besprechung  von  Bergers  Schillerbiographie  in  dieser  Monatschrift  habe 

ich  S.  84,  Jahrg.  1909  darauf  hingewiesen,  daß  der  Dichter,  der  Philosoph  und  der 

Historiker  Schiller  durch  seine  Prosa,  seine  Dramen,  seine  Balladen  und  seine  reife 

Gedankenlyrik  überall  hin  in  die  Welt  der  Deutschen  seine  fruchtbaren  Anregungen 

getragen,  daß  er  einen  viel  tieferen  Eindruck  auf  die  Nachwelt  ausgeübt  habe,  als 


A.  Ludwig,  Schiller  und  die  deutsche  Nachwelt,  ^gez.  von  A.  Matthias.         2 1 1 

wir  uns  gemeiniglich  bewußt  seien,  daß  wir  heute  Schiller  in  tiefster  Seele  tragen 
und  oft  nicht  wissen  woher  und  daß  die  Gedanken  dieses  Geistesgewaltigen  in 
die  zartesten  Gefäße  unseres  nationalen  Bildungsorganismus  eingeströmt  seien. 
Daß  dem  so  ist  und  wie  das  so  gekommen  ist,  weist  uns  Albert  Ludwig  in 
seinem  Buche  nach,  das  von  der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften  zu 
Wien  auf  das  Urteil  von  zwei  so  bedeutenden  Männer  wie  Minor  und  Schönbach 
mit  dem  Preise  gekrönt  worden  ist.  Mit  gutem  und  vollem  Recht;  denn  diese 
Arbeit  ist  das  Werk  ungewöhnlichen  Fleißes,  einer  beneidenswerten  Arbeitskraft 
und  der  feinsinnigsten  und  zugleich  großzügigsten  Auffassungsgabe.  Dabei  ist 
es  von  einer  Vielseitigkeit,  die  als  erschöpfend  bezeichnet  werden  kann. 

Wir  durchwandern  mit  dem  Verfasser  die  letzten  Jahrzehnte  des  achtzehnten 
und  das  ganze  neunzehnte  Jahrhundert,  immer  die  Blicke  auf  Schiller  und  seine 
Werke  gerichtet  und  auf  die  Kulturmission,  die  der  Geist,  der  von  ihnen  ausströmt, 
zu  erfüllen  berufen  ist.  Es  kommen  trübe  und  frohe  Zeiten,  Zeiten  des  Nieder- 
ganges und  der  Erhebung,  Zeiten  der  Abkehr  von  Schiller  und  der  liebevollen 
Zuwendung  zu  ihm,  Zeiten,  von  denen  wir  sagen  müssen,  daß  wir  sie  nicht  ver- 
stehen, und  Zeiten,  denen  unser  volles  Verständnis  und  unser  ganzes  Herz 
gehört. 

Es  ist  nicht  möglich,  mit  kurzen  Worten  dem  Inhalt  des  Ludwigschen  Buches 
gerecht  zu  werden,  weil  sich  in  jeder  Zeit,  die  uns  vorgeführt  wird,  die  Urteile 
über  Schiller  vielfach  kreuzen  und  entgegenstehen  und  einen  ganz  einheitlichen 
Grundzug  nicht  enthalten;  aber  die  jedesmal  herrschende  und  überwiegende  An- 
schauung der  einzelnen  Zeitabschnitte  weiß  Ludwig  uns  mit  gutem  Geschick  klar 
zu  machen.  So  faßt  er  den  Stand  der  Dinge  bei  Schillers  Tode  dahin  zusammen, 
daß  die  Kritik  dem  Dichter  zwar  meist  ohne  rechtes  Verständnis,  aber  auch  ohne 
Übelwollen  gegenüberstand,  daß  dafür  der  Dichter  unter  den  Gebildeten,  vor 
allem  unter  der  akademischen  Jugend  ein  großes  und  begeistertes  Publikum  be- 
saß, daß  aber  sein  früher  Tod  ihn  mit  einem  Schlage  dem  Herzen  der  Deutschen 
näher  brachte  als  irgendeinen  Dichter  jener  oder  früherer  Zeiten.  Die  kriegerische 
Periode  des  ersten  Jahrzehnts  freute  sich  dann  der  vielen  verwandten  Töne,  die 
Schiller  anschlug,  und  Schiller  vor  allem  löste  in  den  Jahren  der  Not  der  patrioti- 
schen Begeisterung  die  Zunge.  Dann  kommt  die  Herrschaft  der  Romantik  und 
mit  ihr  eine  Zurückdrängung  des  Ansehens  und  des  Einflusses  Schillers.  Das 
dauert  bis  gegen  die  Mitte  der  dreißiger  Jahre,  von  wo  ab  dann,  allmählich  stärker 
und  stärker  werdend,  wieder  eine  Reaktion  zu  seinen  Gunsten  einsetzt:  die  Zeit 
der  politischen  Knechtschaft  bringt  vor  allem  Schillers  Jungfrau  und  Schillers  Teil 
zu  Ehren;  die  Zensur  setzt  gegen  Schiller  ein;  die  Hoftheater  beteiligen  sich  an 
dem  Kampfe  gegen  manche  der  Schillerschen  Dramen;  in  den  Kreisen  der  höher 
Gebildeten  stellte  Goethe  mehr  und  mehr  Schiller  in  den  Schatten.  Doch  Hegel 
sorgte  dafür,  Schiller  in  seiner  philosophischen  Bedeutung  wieder  auf  den  ge- 
bührenden Platz  zu  stellen,  und  die  dreißiger  und  vierziger  Jahre  taten  das  Ihre, 
Schiller  wieder  in  den  Mittelpunkt  des  deutschen  politischen  Denkens  und  Fühlens 
zu  rücken.  „Wenn  die  gebildete  Jugend  der  dreißiger  und  vierziger  Jahre  sich 
als  Vorkämpferin  einer  neueren,  besseren  Zeit  der  Freiheit  und  des  Fortschrittes 
betrachtete,  wenn  sie  dann  von  den  Tagen  des  Hambacher  Festes  und  des  Frank- 

14* 


212  Wunderbare  Reisen  und  Abenteuer  usw.,  angez.  von  K.  Lorenz. 

furter  Wachensturmes  bis  zu  den  akademischen  Legionen  des  Jahres  1848  ein 
hervorstechendes  und  sicher  eins  der  sympathischsten  Elemente  der  Bewegungen 
dieser  wilden  Jahre  war,  so  trug  dazu  nicht  zuletzt  bei,  daß  sie  sich  von  früh  an 
am  Klange  der  Schillerschen  Verse  berauscht  hatte  und  ihr  dabei  naturgemäß  das 
der  Zeit  so  besonders  verständliche  Freiheitspathos  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen war."  Dann  kommt  die  Abkehr  des  jungen  Deutschlands  von  Schiller 
und  der  Ansturm  gegen  ihn,  sowie  die  Angriffe  der  orthodoxen  evangelischen 
Kirchenzeitung,  der  gegenüber  der  Liberalismus  Schiller  auf  den  Schild  erhebt 
und  die  großen  Tage  von  1859  in  Szene  setzte,  die  zugleich  das  Präludium  bilden 
zu  den  Ruhmestagen,  da  sich  die  Deutschen  durchkämpften  zu  starker  und  ein- 
heitlicher Gestaltung.  Und  wiederum  kommen  schlimme  Tage:  der  Schopen- 
hauersche  Pessimismus,  die  Fechnerische  Ästhetik  und  die  Angriffe  Nietzsches 
setzen  ein,  um  den  gewaltigen  Ansturm  der  Moderne  vorzubereiten,  der  Schiller 
am  liebsten  gänzlich  den  Garaus  gemacht  hätte.  Doch  binnen  kurzem  wird's  an- 
ders und  das  große  Jubiläumsjahr  1905  mit  der  Begleitarbeit  starker  wissenschaft- 
licher Tätigkeit  und  Vertiefung  zeigt  uns,  was  für  ein  geistiger  Reichtum  in 
Schillers  Werken  wie  altes  Gold  unvergänglich  lagert.  Das  alles  schildert  uns 
Ludwig  mit  seltener  Kunst:  die  Führer  hüben  und  drüben  läßt  er  zu  Worte 
kommen,  die  Strömungen  im  Publikum  sucht  er  darzustellen,  die  Schillerfeste 
zeigen  uns  das  deutsche  Bürgertum  in  seinen  politischen,  literarischen  und  reli- 
giösen Interessen,  den  Buchhandel,  das  Theater,  die  Stätten  der  Kunst  und  Wissen- 
schaft läßt  er  Zeugnis  ablegen,  die  Schillerbiographen,  die  Literaturhistoriker,  die 
Philosophen,  die  deutsche  Presse  treten  mit  ein  in  die  Äußerungen  der  Zeit,  Ver- 
gleiche der  Schillerverehrung  zur  Goethe-  und  Shakespeareverehrung  werden  ge- 
zogen, bis  schließhch  das  Schlußkapitel,  das  Schillerrenaissance  überschrieben  ist, 
in  vollen  Akkorden  alle  die  Klänge  voll  austönen  läßt,  die  im  Verlauf  des  Buches 
wiederholt  angeschlagen  sind. 

Das  Buch  ist  jedem  Geschichtslehrer  und  jedem  Lehrer  des  Deutschen  aufs 
wärmste  zu  empfehlen;  auch  allen  anderen  Bildnern  der  Jugend  ist  es  sehr  nütz- 
lich zu  lesen,  und  wenn  unsere  Primaner  es  kennen  lernen,  so  wird  es  ihnen  auch 
nichts  schaden.  Sie  können  daraus  erfahren  und  beherzigen,  an  welchen  Idealen 
sich  ihre  Väter  und  Großväter  zu  ihrem  Glücke  und  zu  des  Vaterlandes  Erstarkung 
genährt  haben. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Wunderbare  Reisen  und  Abenteuer  des  Freiherm  von  Münchhausen.    Für  die 

Jugend  bearbeitet  von  Mitgliedern  des  Dresdener  Jugendschriften-Aus- 
schusses. Dresden-A.,  Weißegasse  No.  5.  Verlag  Alexander  Köhler.  75  S.  4*^. 
3,50  M. 

Diese  Münchhausen-Ausgabe  ist  allerdings  teurer,  als  wir  sie  in  unserer  Kinder- 
zeit hatten.  Aber  für  das,  was  hier  geboten  wird,  ist  der  Preis  außerordentlich 
niedrig  und  kein  Lob  zu  groß.  Das  Äußere  des  Buches  ist  künstlerisch  vornehm 
und  macht  den  Herausgebern,  sowie  dem  Künstler  William  Krause,  Dresden,  und 
der  Kunstanstalt  von  Meisenbach,  Riffarth  &  Co.  alle  Ehre.  Acht  Vollbilder  im 
frischen  Vierfarbendruck,   aber    auch    jede   einzelne   Randleiste   entsprechen    dem 


H.  Wolf,  Die  Religion  der  alten  Römer,  angez.  von  Th.  Grobbel.  213 

übersprudelnden  Humor  des  Inhalts.  Für  vorzügliche  Schrift  und  ganz  besonders 
gutes  Buntdruckpapier  ist  mit  Recht  Sorge  getragen  worden.  Auch  der  Text  selbst 
ist  in  dieser  neuen  künstlerisch  abgerundeten  und  für  Kinder  verständlichen  Form 
ein  Kunstdruck  zu  nennen.  Wenn  man  das  Buch  durchblättert,  bekommt  man 
wieder  Lust,  sich  in  diese  Abenteuer  noch  einmal  zu  vertiefen  und  damit  die 
eigene  Kindheit  an  sich  vorüberziehen  zu  lassen.  Solche  Bücher  bleiben  ewig 
jung  und  machen  selbst  die  Ältesten  wieder  frisch,  besonders  wenn  auch  das  Auge 
seine  Freude  hat,  wie  es  hier  der  Fall  ist. 

Hamburg.  Karl  Lorenz. 

Wolf,  H.,   Die  Religion  der  alten  Römer.    Gütersloh  1907.    C.  Bertelsmann. 
104  S.    8''.    geh.  1,50  M.    Gymnasial -Bibliothek  (herausgeg.  von  Hugo  Hoff- 
mann).   Heft  42. 
In  der  Einleitung  (S.  9—10)  geht  Wolf  von  der  gegensätzlichen  Entwicklung 
der  griechischen  und  römischen  Religion  aus  —  dort  qualitative  Ausgestaltung  der 
Götter,  hier  quantitatives  Wachstum  —  und  hebt  sodann  den  Charakter  der  römi- 
schen Religion    als  Staatsreligion  hervor.    Demgemäß   gliedert  er  seinen  Stoff 
nach  den  drei  Perioden  der  politischen  Geschichte,    der  Zeit  des  Königtums,    der 
Republik  und  des  Kaiserreichs. 

L  Die  Königszeit  behandelt  er  S.  11 — 31  und  führt  hier  vor:  A.  die  Sonder- 
götter der  einfachen  Hirten-  und  Bauernreligion  samt  Renates,  Lares, 
Genii,  di  manes;  B.  die  auf  Numa  Pompilius  zurückgeführte  Einsetzung  des 
Kultus  der  fünf  alteinheimischen  Gottheiten:  Janus,  Jupiter  (nebst  Juno),  Mars, 
Quirinus,  Vesta  und  die  Einsetzung  der  wichtigsten  Priestertümer;  C.  die  unter 
den  drei  letzten  Königen  erfolgten  sakralen  Maßnahmen,  namentlich  die  Er- 
werbung der  Sibyllinischen  Bücher  gleichzeitig  mit  der  Rezeption  des  Apollokultes 
und  der  Einsetzung  des  Priesterkollegs  der  (späteren)  decemviri  sacris  faciundis 
für  den  bald  mehr  und  mehr  in  Aufnahme  kommenden  griechischen  Gottesdienst. 

II.  Der  Besprechung  der  republikanischen  Zeit  (S.  32— 61)  schickt  er  die 
für  mehrere  Jahrhunderte  maßgebende  Unterscheidung  zwischen  di  indigetes  (ein- 
heimischen) und  di  novensides  (neueingeführten  Gottheiten),  zwischen  ritus  patrius 
und  ritus  graecus  und  zwischen  intra  pomerium  und  extra  pomerium  (ob  der 
Gott  innerhalb  oder  außerhalb  der  alten  Weichbildgrenze  verehrt  wurde)  voraus. 
Er  zerlegt  diese  Zeit  in  drei  Abschnitte.  A.  Die  Zeit  bis  zum  zweiten  Puni- 
schen  Kriege  bringt  die  Aufnahme  neuer  Gottheiten  entweder  itahscher  oder 
griechischer  Herkunft.  B.  Die  Hannibalische  Not  veranlaßt,  da  man  mit  den 
alten  Sühnmitteln,  die  die  eigene  Religion  an  die  Hand  gibt,  nicht  mehr  auszu- 
kommen vermeint,  eine  völlige  Hellenisierung  der  römischen  Religion  im 
Götterbestande  und  im  Kulte.  C.  Der  Verfall  der  Religion  (von  200—31  v.  Chr.) 
wird  herbeigeführt  durch  die  zunehmende  Völkerverschiebung  mit  ihren  verschie- 
denen Kulten,  gefördert  durch  die  zersetzende  Arbeit  der  griechischen  Philosophie 
(des  Euripides,  Euhemeros)  und  beschleunigt  durch  die  hundertjährige  Revolution 
in  Italien  und  den  Unglauben  der  römischen  Geistlichkeit  selbst. 

III.  Die  Kaiserzeit,  die  S.  63—103  behandelt  wird,  beginnt  A.  mit  den 
an    innerer   Unwahrhaftigkeit    leidenden    Reformbestrebungen    des  Kaisers 


214  H.  Wolf,  Die  Religion  der  alten  Römer,  angez.  von  Th.  Grobbel. 

Augustus,  der  in  bewußter  Absicht  —  vgl.  auch  E.  Meyers  Aufsatz  über  „Kaiser 
Augustus«  in  der  Hist.  Zeitschr.  1903  (Bd.  91)  —  die  Staatsreligion  mit  Hilfe  eines 
Stabes  von  Literaten  (Varro,  Livius,  Dionys  von  Halikarnaß,  Vergil,  Horaz)  zu 
einer  Hofreligion  umzugestalten  sucht.  B.  Für  die  Zeit  von  Augustus  bis 
Konstantin  wird  als  charakteristisch  die  fortschreitende  Religionsmischung  und 
die  Sehnsucht  nach  einer  allumfassenden  Gottheit,  das  Verlangen  nach  einer  Welt- 
religion und  das  allgemeine  Heilsbedürfnis  hervorgehoben.  1.  Weder  die  stoische, 
noch  die  neuplatonische  und  neupythagoreische  (so  zu  schreiben!)  Philosophie 
erhebt  auf  einen  höheren  Standpunkt,  sondern  schleppt  den  ganzen  Ballast  der 
Volksreligion  weiter  mit  sich.  2.  Außerdem  nimmt  das  Eindringen  der  orien- 
talischen Kulte  überhand,  a)  Das  Judentum  entfaltet  in  der  Diaspora  eine 
gewaltige  Propaganda,  b)  Der  Isiskult  mit  seinen  geheimnisvollen  Ceremonien 
(nicht  Cärimonien  zu  schreiben  I)  verbreitet  sich  von  Ägypten  aus  über  den  Orient 
und  dann  auch  nach  Italien  und  Rom,  genießt  aber  erst  seit  Vespasian  kaiserliche 
Gunst  und  erfreut  sich  besonders  bei  der  Damenwelt  allgemeiner  Beliebtheit, 
c)  Der  Mithrasdienst,  dem  Wolf,  gestützt  besonders  auf  die  Arbeit  von  Cumont- 
Gehrich  (1903),  eine  eingehendere  Darstellung  widmet,  wird  für  das  römische 
Weltreich  im  3.  und  4.  Jahrhundert  die  Universalreligion  unter  dem  Schutze  des 
Kaisers:  das  Beispiel  der  buntesten  Religionsmischung  aller  Zeiten.  Auch  das 
Christentum  ist  von  ihr  —  nebenbei  bemerkt  —  vielfach  verzerrt  und  nachgeäfft. 
Wolf  beschreibt  des  weiteren  die  Einrichtung  eines  Mithrastempels  —  in  der 
Krypta  das  große  Altarbild  mit  einer  Darstellung  des  stiertötenden  Mithras  (siehe 
das  Titelbild)  —  und  die  nur  Männern  zugänglichen  Mysterien  dieses  Kultes  mit 
ihren  sieben  Graden,  d)  Auch  der  Kaiserkult  ist  orientalischen  Ursprungs.  An- 
fangs erst  nach  ihrem  Tode  auf  Senatsbeschluß  als  Divi  konsekriert,  sind  die 
Kaiser  seit  Commodus  schon  bei  Lebzeiten  göttlich  verehrt  worden.  C.  Das 
Christentum  tritt  nun  gegenüber  dem  Heidentum  mit  all  seinen  Religionen  und 
Kulten  in  die  Welt  ein  mit  dem  Anspruch,  die  absolute  Religion  zu  sein.  Es  hat 
sich  daher  mit  dem  Judentum,  der  griechisch-römischen  Religion,  dem  römischen 
Staate  und  der  Philosophie  auseinanderzusetzen  und  bleibt  Sieger. 

Es  ist  eine  der  wichtigsten  Erscheinungen  im  Geistes-  und  Kulturleben  des 
klassischen  Altertums,  deren  Kenntnis  der  Verfasser  mit  diesem  Büchlein  —  sowie 
mit  dem  gleichartigen  über  die  Religion  der  Griechen  (Gymnasial-Bibliothek  Heft  41, 
besprochen  in  dieser  Monatschrift  VI.,  S.  542—546  (1907)  von  G.  Schneider-Gera)  — 
der  studierenden  Jugend  vermitteln  möchte.  Seine  Berechtigung  trägt  es  also  in 
sich  selbst.  Zumeist  auf  Wissowas  ausgezeichnetem  Werke  über  „Religion  und 
Kultus  der  alten  Römer"  (J.  Müllers  Handbuch  V,  4.  1902)  fußend,  gibt  Wolf  nun 
wirklich  auch  im  großen  und  ganzen  eine  lichtvolle  Übersicht  über  die  geschicht- 
liche Entwicklung  der  religiösen  Verhältnisse  des  römischen  Volkes.  Aber  er  bietet 
im  wesentlichen  eben  nur  Religionsgeschichte.  Der  Inhalt  und  die  Form 
der  Religion,  d.  h.  also  die  Götterlehre  und  die  Formen  der  Götterverehrung  oder 
der  Kultus,  kommen  dabei  entschieden  zu  kurz.  Während  Wissowa  in  seinem 
Werke  auf  einen  kürzeren  historischen  Teil,  in  dem  er  einen  allgemeinen 
„Überblick  über  den  Entwicklungsgang  der  römischen  Religion"  entwirft,  einen 
fünfmal    stärkeren  besonderen  systematischen  Teil  folgen  läßt,    worin  er  die 


W.  Falkenberg,  Ziele  und  Wege  usw.,  angez.  von  W.  Bohnhardt.  215 

, Götter! ehre",  also  die  objektive  Seite  der  Religion,  und  deren  subjektive  Seite, 
den  , Kultus",  in  den  verschiedenen  Einzelerscheinungen,  jedem  einzelnen  Punkte 
natürlich  wieder,  soweit  möglich,  in  zeitlicher  Folge  nachgehend,  betrachtet  und 
zusammenstellt,  verwendet  Wolf  auf  die  Kultformen,  abgesehen  von  dem  Mithras- 
kult,  der  allein  seine  sechs  Seiten  erfordert,  kaum  ein  Zehntel,  auf  die  Götterlehre 
etwa  ein  Siebentel  seines  ganzen  Buches:  ein  Mißverhältnis,  das  sich  dadurch  noch 
steigert,  daß  diese  Fragen  nicht  etwa  im  Zusammenhange  behandelt,  sondern  daß 
die  Bemerkungen  darüber  vielmehr  vielfach  zerstreut  oder  auch  den  einzelnen 
historischen  Abschnitten  als  „Zusätze"  bloß  lose  angehängt  werden.  Schon  die 
Wahl  der  Fassung  des  Themas  „Die  Religion  der  alten  Römer"  hätte  dem  Ver- 
fasser auf  der  einen  Seite  eine  größere  Vollständigkeit  in  dem,  was  die 
eigentliche  Religion  ausmacht,  in  der  Götterlehre  und  im  Kultus,  nahe  legen 
müssen,  wobei  dann  die  systematische  Darbietungsweise  unumgänglich 
war;  auf  der  andern  Seite  erheischte  dieser  Umstand  eine  größere  Beschränkung 
der  Religionsgeschichte,  die  namentlich  in  der  Behandlung  der  Grenzgebiete, 
wie  der  Literatur  und  Philosophie,  in  der  Besprechung  der  Mithrasreligion,  in  den 
Ausführungen  über  das  Christentum,  ferner  auch  in  den  langen  wörtlichen  Zitaten 
aus  Livius  (auf  S.  33,  34,  35,  38,  39,  41,  42-48,  49—50)  ohne  Schaden  für  das 
Ganze  Platz  greifen  konnte.  Für  die  Zwecke  der  Schule  gar  wäre  beides  meines 
Erachtens  doppelt  geboten,  und  dadurch  würde  die  Klarheit  und  Übersichtlichkeit 
des  Ganzen  in  jedem  Falle  nur  gewinnen.  Die  Ausführungen  über  die  christtiche 
Religion,  die  fast  ausschließlich  auf  den  Arbeiten  Harnacks  zur  Urgeschichte  des 
Christentums  beruhen,  vertreten  zudem  Ideen,  denen  weite  Kreise  nicht  zustimmen 
können.  Fast  jeder  Satz  bedürfte  hier  der  einen  oder  andern  Einschränkung,  um 
allen  christlichen  Auffassungen  gerecht  zu  werden.  Wenn  es  schon  zweifelhaft 
erscheinen  kann,  ob  diese  rein  theologischen  Fragen  überhaupt  hierher  gehören, 
soviel  steht  sicher  fest,  daß  sie  in  einem  Schulbuche  in  dieser  einseitigen  Richtung 
und  in  einer  für  den  Standpunkt  des  Primaners  mehrfach  zu  philosophischen 
Fassung  nicht  vorgetragen  werden  durften.  Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  be- 
merken, daß  man  neuerdings  wieder  die  Herleitung  des  Wortes  „Religion*  von 
religere,  „rücksichtlich  beachten"  (schon  bei  Gell.  4,  9,  1)  —  also  „die  beachtende 
Rücksichtnahme",  nämlich  auf  die  Gottheit  —  der  von  Wolf  beliebten  Herleitung 
von  relegare  vorzuziehen  scheint. 

Paderborn.  Th.  Grobbel. 

Falkenberg,  Wilhelm,  Ziele  und  Wege  für  den   neusprachlichen  Unter- 
richt.   Methoden  und  Lehrpläne  für  den  neusprachlichen  Unterricht  an  höheren 
Lehranstalten    und    Fachschulen.     Der  Privat-    und    Selbstunterricht    und   der 
Aufenthalt  im  Auslande.    Cöthen  1907.    Otto  Schulze.    Mit  Vorbemerkung  und 
Einleitung.     108  S.   8°.   geh.  1,25  M. 
In  zehn  Kapiteln  stellt  Falkenberg,  der  sich  als  Lehrer  für  französische  Sprache 
einschließlich   der  Handelskorrespondenz  an  den  Unterrichtsanstalten  des  Vereins 
„Merkur"    in  Nürnberg   zu   erkennen  gibt,    die  Entwicklung  des  neusprachlichen 
Unterrichts   dar,    um   weiteren    Kreisen    die    noch   fehlende  Aufklärung   über   die 
Reformbewegung  und  über  die  Fortschritte  auf  diesem  Unterrichtsgebiet  zu  bringen. 


216  A.  Hansen,  Haeckels  „Welträtsel"  usw.,  angez.  von^E.  Dennert. 

Sodann  möchte  er  Lehrern  und  Lehrerinnen  mit  seminaristischer  Bildung  ein  brauch- 
bares Hilfsmittel  bei  der  Vorbereitung  zur  Prüfung  bieten.  Rein  praktischer  Natur 
ist,  wie  der  Titel  schon  andeutet,  der  letzte  Teil.  In  ihm  finden  wir  nützliche 
Ratschläge  für  alle  möglichen  Unterrichtsarten,  Besprechungen  der  gangbarsten 
Lehrbücher  mit  Heranziehung  der  bekannten  Literatur  über  den  Aufenthalt  im 
Ausland,  über  Ferienkurse  und  dgl.  Im  Interesse  der  didaktischen  Zwecke  hätten 
wir  im  ersten  Kapitel  „Kurzer  Abriß  der  Geschichte  der  beiden  Sprachen*  gern 
einen  Hinweis  auf  die  allerwichtigsten  ältesten  Sprachdenkmäler  gesehen.  Es 
schließt  sich  an  eine  objektive  Kritik  der  einzelnen  Methoden  seit  der  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts,  als  die  neueren  Sprachen  erst  durch  die  Begründung  der  Real- 
schulen Beachtung  fanden;  so  der  Methoden  von  Meidinger,  Seidenstücker  und 
ihres  wichtigsten  Bearbeiters  Plötz  (!!)  und  weiter  bis  zu  Berlitz.  In  dieser 
Charakteristik  folgt  der  Verfasser  teils  eigenen  Erfahrungen,  teils  den  Ansichten 
hervorragender  Schulmänner.  In  der  Überzeugung,  daß  der  sich  auf  extremen 
Bahnen  bewegende  Reformunterricht  nie  für  Schüler  und  Lehrer  gleichmäßig  erfreu- 
liche Resultate  erzielen  kann,  befürwortet  er  die  vermittelnde  Methode,  die  gegen- 
wärtig die  verbreitetste  sei,  auch  schon  deshalb,  „weil  die  Lehrpläne  sie  zur 
Voraussetzung  haben".  Unangenehm  redselig  wird  Falkenberg  in  manchen  seiner 
Ausführungen,  so  wenn  er  sich  gegen  die  Auswüchse  des  Privatunterrichts  wendet, 
der  von  Unfähigen  oder  Unbefugten  erteilt  wird.  Diese  Heranziehung  humoristisch 
wirkender,  ganze  Seiten  füllender  Beispiele  —  und  bisweilen  in  einem  wenig  einwand- 
freien, mit  zahlreichen  Fremdwörtern  versetzten  Stil  —  bleibt  in  einem  Buche,  das 
Anspruch  auf  Wissenschaftlichkeit  macht,  besser  fort.  Das  Ganze  ist  nach  Inhalt 
und  Sprache  recht  populär  gehalten  (man  vergleiche  das  über  Phonetik  Gesagte) ;  es 
ist,  um  Bekanntes  heranzuziehen,  etwa  nicht  auf  eine  Linie  zu  stellen  mit  den  aus 
dem  Ende  der  achtziger  Jahre  stammenden  kleinen  Encyklopädien  des  französischen 
und  englischen  Unterrichts  von  Rektor  Otto  Wendt.  Die  Absicht  Falkenbergs,  der 
nichts  Neues  bringen  will  und  kann,  den  Bedürfnissen  derjenigen  entgegenzu- 
kommen, die  vom  Studium  der  größeren  Werke  absehen  müssen,  ist  löblich.  Diesen 
wird  das  Büchlein  die  gewünschten  Dienste  tun. 

Düsseldorf.  W.  Bohnhardt. 

Hansen,  A.,  Haeckels  „Welträtsel"  und  Herders  Weltanschauung.  Gießen 
1907.  A.  Töpelmann.  40  S.  8».  1,20  M. 
Eine  vorzügliche  Studie  des  Gießener  Botanikers.  Sie  bietet  auf  der  einen 
Seite  eine  scharfe,  ja  vernichtende  Kritik  Haeckels  und  auf  der  andern  versucht 
sie  mit  Erfolg  das  Interesse  für  Herder  wieder  zu  erwecken,  und  das  ist  in  der 
Tat  ein  sehr  dankenswertes  Unternehmen;  denn  wenn  man  sich  an  den  großen 
Geistern  der  Vergangenheit  bildet,  so  wird  man  um  so  besser  die  kleinen  Geister 
der  Gegenwart  durchschauen.  Hansen  hat  wahrlich  recht,  wenn  er  urteilt,  „daß 
Herder  um  so  viel  höher  steht  als  die  modernen  ,Monisten',  als  er  bescheidener  ist 
als  sie".  Die  Lektüre  dieses  Schriftchens  ist  eine  Erquickung,  zu  bedauern  ist 
nur,  daß  der  Verlag  seinen  Preis  nicht  auf  die  Hälfte  ansetzte,  damit  es  eine 
weite  Verbreitung  finden  kann. 


W.  Bölsche,  Die  Schöpfungstage,  angez.  jvon  E.  Dennert.  217 

Bölsche,  Wilhelm,    Die  Schöpfungstage.     Umrisse    zu    einer   Entwicklungs- 
geschichte der  Natur.    Mit  10  Bildern.  Dresden  1906.   Karl  Reißner.    88  S.   8°. 
2  M. 
Bölsche   gehört  wegen   seines  einschmeichelnden  Stils   und   seiner  lebhaften 
Phantasie  zu  den   beliebtesten  Schriftstellern   der  Gegenwart.    Oft  muß  man  sich 
wundern,   daß   er   mit   seiner   mystisch-pantheistischen  Neigung   begeisterter  An- 
hänger Haeckels  ist;    es  will  uns  scheinen,   als   ob    er  nicht  dahin  gehörte.    Das 
zeigt  uns  auch  obiges  Buch,  in  welchem  er  eine  dichterisch  ausgeschmückte  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Weltalls  gibt  im  Anschluß  an  die  —  biblische  Schöpfungs- 
geschichte.   Im  Grunde  genommen  kann  es  wohl  für  letztere  kaum  eine  bedeut- 
samere Ehrenrettung  geben  als  dieses  Zeichen  der  Zeit.    Eigentlich  braucht  man 
in   diesem  Buch   nur  an   geeigneter  Stelle  einige  Hinweise   darauf  einzuflechten, 
daß  es  Gottes  Wille  ist,  der  diese  Welt  ins  Dasein  rief,  und  jeder  Christ  kann  es 
getrost  unterschreiben.    Das  gibt  zu  denken. 

Jahrbuch  der  Naturwissenschaften  1906—1907.     22.  Jahrgang.    Herausgegeben 
von    M.    Wildermann.      Freiburg    1907.      Herdersche    Verlagsbuchhandlung. 
XII  u.  484  S.    gr.  8«.    6  M.,  geb.  7  M. 
Wir   möchten    die   Anschaffung    dieses   bekannten    und    schon    lange   weit- 
verbreiteten Jahrbuchs  für  jede  Lehrerbibliothek  lebhaft  empfehlen.   Hier  findet  der 
Fachlehrer    kurze  Berichte   über   die   wichtigsten  neuen  Ergebnisse  auf  allen  Ge- 
bieten   der  Naturwissenschaft.    Dem  Buch   sind  außerdem  beigegeben:    ein  Über- 
blick über  die  Himmelserscheinungen  des  nächsten  Jahres,  ein  Totenbuch  und  ein 
sehr  dankenswertes  ausführliches  Namen-  und  Sachregister.    Wer  die  ganze  Reihe 
der  Bände  dieses  Jahrbuches  besitzt,    kann    mit  Hilfe  dieser  guten  Register  leicht 
die  wichtigste  Literatur  über  eine  in  Rede  stehende  Frage  finden. 

Godesberg.  E.  Dennert. 

Poincar6,  L.,  Die  moderne  Physik.    Übertragen  von  Privatdozent  Dr.  M.  Brahn 
und  Dr.  B.  Brahn.    Leipzig  1908.    Quelle  und  Meyer.    268  S.    8«.    geh.  3,80  M. 
geb.  4,40  M. 
Das  Werk  erreicht  nicht  die  Bedeutung  der  von  dem  gleichnamigen  Instituts- 
mitgliede  herausgegebenen  Arbeiten,*)  aber  es  hat  vor  diesen  letzteren  doch  den 
großen  Vorzug,  daß  es  wegen  seines  leichtverständlichen  Inhaltes  und  der  Materie, 
die  es  behandelt,  einem  größeren  Leserkreis  angepaßt  ist,  als  die  naturphilosophischen 
Gedankengänge,  die  sich  in  Henri  Poincar^s  Werken  finden.    In  überaus  klarer  und 
eleganter  Darstellung  gibt  der  Verfasser  des  hier  vorliegenden  Buches  einen  Ein- 
blick in  die  modernen  Anschauungsweisen  der  Physik,   die  um  so  deutlicher  und 


*)  Poincare,  Henri,  Wissenschaft  und  Hypothese.  Autorisierte  deutsche  Aus- 
gabe mit  erläuternden  Anmerkungen  von  F.  und  L.  Lindemann.  Zweite  Auflage.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner.    geb.  4,80  M. 

Poincare,  Henri,  Der  Wert  der  Wissenschaft.  Ins  Deutsche  übertragen  von 
E.  Weber.  Mit  Anmerkungen  und  Zusätzen  von  H.  Weber,  Professor  in  Straßburg.  Ebenda 
geb.  3,60  M. 


218  L.  Poincarö,  Die  moderne  Physik,  angez.  von  J.  Norrenberg. 

lichtvoller  sich  zeigen,  als  sie  hier  stets  als  Entwicklungsstadien  eines  historisch 
gewordenen  und  immer  noch  werdenden  Forschungsprozesses  erscheinen.  So 
behandelt  L.  Poincar6  in  anregendem  Plaudertone  die  verschiedenen,  zu  immer 
größerer  Genauigkeit  entwickelten  physikalischen  Messungsmethoden  und  die  Haupt- 
prinzipien der  Physik,  um  dann  durch  eine  Darlegung  der  neuesten  Anschauungen 
über  die  Theorie  der  Lösungen,  der  elektrischen  Erscheinungen  bei  Gasen  und  die 
Beziehungen  zwischen  Materie  und  Äther  die  Gebiete  zu  durchwandern,  die  dem 
Nichtfachmanne  noch  naturwissenschaftliches  Neuland  sind,  und  die  er  in  sein 
bisheriges  physikalisches  Wissen  kaum  schon  einzuordnen  vermochte.  Die  gewandte 
Darstellungsweise,  die  ohne  Anwendung  mathematischer  Hilfsmittel  und  ohne 
Eingehen  auf  Einzelheiten,  die  für  das  Verständnis  entbehrlich  sind,  von  den 
Grundtatsachen  ausgeht  und  einen  geschichtlichen  Aufriß  von  dem  gibt,  was  die 
moderne  Physik  beschäftigt,  erinnert  sehr  an  Ostwalds  Richtlinien  der  Chemie.  Die 
Übersetzung  ist  gut,  ebenso  die  Ausstattung. 

Berlin.  J.  Norrenberg. 


IV.  Vermischtes. 


Ein  internationaler  Neuptiilologentag  in  Paris  soll,  wie  vielleicht  den  meisten 
deutschen  Philologen  schon  bekannt  geworden  ist,  vom  14.  bis  17,  April  d.  J.  stattfin- 
den, und  zwar  in  den  Räumen  der  Sorbonne,  veranstaltet  von  der  Social^  des  Profes- 
seurs de  Langues  Vivantes  de  V Enseignement public.  Immerhin  möchte  ich  durch  Hin- 
weis an  gegenwärtiger  Stelle  mit  dazu  beitragen,  daß  diesem  Congris  International 
von  Seiten  der  deutschen  Fachleute  möglichste  Beachtung  geschenkt  werde.  Einen 
gewissen  internationalen  Charakter  haben  ja  schon  die  deutschen  Neuphilologentage 
allmählich  erhalten,  und  von  Ausländern  haben  gerade  Franzosen  besonders  lebhaft 
teilgenommen.  Es  ist  schon  deshalb  erwünscht,  daß  der  Gegenbesuch  von 
deutscher  Seite  numerisch  nicht  zu  schwach  ausfalle.  Um  so  mehr  aber,  als  die 
Pariser  Tagung  ausdrücklich  als  eine  internationale  veranstaltet  ist  und  als  voraus- 
sichtlich andere  Länder  eine  starke  Teilnehmerschaft  stellen  werden.  Für  wie  viele 
hat  Paris  immer  eine  starke  Anziehungskraft! 

Für  die  Anmeldung  eines  in  Vortrag  oder  These  zu  behandelnden  Themas  ist 
es  jetzt  allerdings  schon  zu  spät;  das  mußte  nach  dem  Rundschreiben  bis  zum 
15.  Februar  geschehen.  Aber  es  muß  ja  auch  viel  mehr  Hörende  als  Redende  geben. 
Von  den  drei  für  die  Verhandlungen  gebildeten  Sektionen  wird  die  erste  die  Frage 
der  Lehrerbildung  behandeln,  und  zwar  die  „literarische  und  philosophische"  Vor- 
bildung, die  philologische  und  die  „professionelle",  d.  h.  also  pädagogisch-didaktische. 
Die  zweite  Sektion  ist  den  Fragen  der  Lehrpläne  und  Methode  gewidmet  und  wird 
diesmal  wesentlich  die  große  Frage  der  Behandlung  der  Grammatik  erörtern.  Die 
dritte  beschäftigt  sich  mit  der  Erlernung  lebender  Fremdsprachen  außerhalb 
des  regelmäßigen  Schulunterrichts,  sowie  mit  der  später  folgenden  Fortbildung. 

Einzusenden  ist  an  Monsieur  Dupre,  Professeur  au  Lycie  Montaigne,  Tresorier 
du  Congr^s,  52,  boulevard  de  Vaugirard,  Paris  der  sehr  mäßige  Betrag  von  10  frcs, 
wofür  unter  anderm  der  gedruckte  Bericht  geliefert  wird.  Unter  anderm:  denn  auch 
Festlichkeiten  sind  in  Aussicht  gestellt.  Ich  glaube  wirklich,  man  darf  zur  Teil- 
nahme ermutigen. 

Berlin.  W.  Münch. 


An  der  Universität  Greif swald  findet  auch  in  diesem  Jahre  vom  5.  Juli  bis 
24.  Juli  ein  Ferienltursus  (XVI.  Jahrgang)  statt.  Die  Fächer  sind  folgende:  Pho- 
netik (Prof.  Heuckenkamp),  Deutsche  Sprache  und  Literatur  (Prof.  Heller,  Privat- 
dozent Dr.  Baesecke),  Französisch  (M.  Plessis),  Englisch  (Mr.  Montgomerie),  Re- 
ligion (Konsistorialrat  Prof.  Haussleiter),  Philosophie  (Prof.  Rehmke),  Geschichte 


220  Sprechsaal. 

Prof.  Bernheim),  Kunstgeschichte  (Prof.  Semrau),  Geologie  (Prof.  Jaekel),  Chemie 
(Privatdozent  Dr.  Strecker),  Physik  (Prof.  Starke),  Biologie  (Prof.  Kallius),  Botanik 
(Prof.  Schutt),  Physiologie  (Privatdozent  Dr.  Mangold),  Hygiene  (Geheimrat  Prof. 
Löffler).  Den  Vorlesungen  zur  Seite  gehen  zoologische,  botanische,  physikalische 
Übungen  bzw.  Exkursionen,  psychologisches  Seminar,  französische,  englische, 
deutsche  Sprachübungen.  Ausführliche  Programme  sind  gratis  unter  der  Adresse 
«Ferienkurse  Greifswald"  zu  erhalten. 


V.  Sprechsaal. 


1.  Zu  Xen.  Mem.  3,  5,  9  vgl.  Juliheft,  S.  414. 

Herr  Prof.  Schliack  scheint  mir  das  Richtige  gefunden  zu  haben,  indem  er  er- 
kannte, daß  dxouetv  mit  dem  Infinitiv  hier  in  dem  Rufe  stehen  bedeutet.  Eins  jedoch 
erregt  Bedenken,  dvafiijxvT^oxto  mit  doppeltem  Akkusativ  der  Person;  deshalb  ist 
dxTjxooxag  nicht  als  appositives  Partizip  zu  fassen,  sondern  prädikativ  zu  dvain- 
jAVi^oxotfAsv  zu  konstruieren:  wenn  wir  sie  daran  erinnerten,  daß  ihre  Vorfahren  in 
dem  Rufe  stehen,  sehr  vortrefflich  gewesen  zu  sein.  —  Im  übrigen  bemerke  ich, 
daß  es  doch  ein  wesentlicher  Unterschied  ist,  ob  jemand  sagt:  ich  erinnere  euch, 
daß  eure  Vorfahren  trefflich  gewesen  sind,  oder  ich  erinnere  euch  daran,  daß  ihr 
(von  Jugend  auf  von  Eltern,  Lehrern,  Rednern  und  Dichtern)  gehört  habt,  sie 
seien  trefflich  gewesen;  im  letzten  Falle  läßt  er  sich  aus  dem  Spiele  und  beruft 
sich  auf  Autoritäten,  das  ist  wirksamer  und  objektiver;  dadurch  wird  aber  das  Ge- 
hörte nicht  ohne  weiteres  als  „bloßes  Gerede"  hingestellt,  sondern  der  Redner 
sieht  von  seiner  Person  ab  und  überläßt  die  Verantwortung  für  die  Behauptung 
anderen;  deshalb  ist  auch  der  Infinitiv  nach  dxouo)  in  diesem  Falle  berechtigt. 
Vgl.  ibsXv  '(äp  I7re{>t5ij.£i  ("AoTudYT]?  Kupov),  Sxi  -^xoüe  xaX^v  xocYadöv  aöxov  eivai. 
Xen.  Cyr.  1,  3,  1. 

2.  Weber,  Demokrit  Bd.  9,  S.  22  liest  man,  Anaximandrides  habe  in  dem 
Verse  des  Eunpides  7;  cpuoi?  IßouXed',  -^  vojjicuv  oiihhv  ixsXsi  das  Wort  <p6oi?  in 
TToXi?  geändert  und  sei  deshalb  zum  Tode  verurteilt  worden.  Woher  stammt  diese 
Behauptung? 

3.  In  einem  Übungssatz,  der  einer  griechischen  Quelle  entnommen  zu  sein 
scheint  (v.  Bamberg,  Übungsbuch  II,  S.  36),  wird  der  Ausspruch  diem  perdidi 
dem  Kaiser  Trajan  zugeschrieben.  Woher  stammt  die  Angabe?  Vielleicht  findet 
man  Auskunft  in  dem  Kommentar  des  Casaubonus  zu  Sueton  (Titus  8). 

4.  In  der  deutschen  Kunstgeschichte  von  H.  Knackfuß  (Velhagen  &  Klasing) 
Bd.  I,  S.  548  findet  sich  unter  dem  Bilde  des  Kurfürsten  Friedrich  des  Weisen 
von  Dürer  die  Abbreviatur:  B.  M.  F.  VV.    Wie  ist  sie  zu  deuten? 

5.  Auf  einem  Silberstück  des  Königreichs  Westfalen  in  der  Größe  eines 
Talerstückes  steht  auf  der  einen  Seite  J^rome  Napol6on,  auf  der  andern:  König 
von  Westfalen  FR.  P.  R.    Was  bedeuten  die  letzten  Worte? 


Sprechsaal.  *  221 

6.  In  Dr.  Karl  Schmidts  Geschichte  der  Pädagogik  (2.  Aufl.  von  Dr.  Wichard 
Lange)  Bd.  III,  Köthen  1870,  S.  368  steht:  Meine  Bibliothek  soll  aus  dem  drei- 
fachen Buche  Gottes  bestehen.    Was  ist  damit  gemeint? 

Herford  i.  Westf.  Ernst  Meyer. 


Herr  Professor  Dr.  Bünger-Görlitz  schreibt: 

In  dem  Aufsatze:  „Die  Überbürdung  auf  der  Mittel-  und  Unterstufe 
der  höheren  Lehranstalten  und  die  Mittel  zu  ihrer  Abhilfe"  fordert  Herr 
Direktor  Professor  Dr.  Borbein,  daß  die  Lehrpläne  unserer  höheren  Schulen  mehr 
den  Bedürfnissen  der  Schüler  angepaßt  werden,  die  mit  dem  Einjährigen  die  Anstalt 
verlassen. 

Er  begründet  dies  damit,  daß  von  100  Schülern  auf  den  Gymnasien  nur  20, 
auf  den  Realgymnasien  nur  13,  auf  den  Oberrealschulen  nur  5,  auf  allen  höheren 
Schulen  zusammen  nur  14  den  oberen  Klassen  angehören;  denn  wo  fände  sich 
sonst  im  Staatsleben  ein  Beispiel  dafür,  daß  86  Menschen  sich  richten  nach  14, 
oder  gar  95  nach  5  vom  Hundert? 

Diese  Darstellung  zeigt  die  tatsächlichen  Verhältnisse  in  falschem  Lichte. 
Wenn  von  der  Gesamtzahl  der  Schüler  14  7o  den  Oberklassen  angehören,  so  rücken 
doch  von  den  mittleren  und  unteren  Klassen  nachher  etwa  ebensoviel  in  die  oberen 
Klassen,  wie  das  bisher  der  Fall  war,  d.  h.  zu  den  14  %  müssen  wir  noch  zweimal 
147o  zurechnen,  so  daß  also  nur  58  Schüler  sich  nach  42  vom  Hundert  zu  richten 
haben. 

Für  die  Gymnasien  insbesondere,  wo  nach  Borbein  20  7o  in  den  Oberklassen 
sich  befinden,  würden  noch  zweimal  20  aus  den  Mittel-  und  Unterklassen  aufrücken 
und  Borbeins  Forderung  bedeuten,  daß  die  60  Besten  sich  nach  den  40  Schlech- 
teren richten. 

Aber  auch  diese  Zahlen  sind  noch  zu  tief  gegriffen,  da  die  folgenden  Jahrgänge 
stärker  zu  sein  pflegen  als  die  vorhergehenden,  also  den  jetzigen  Mittel-  und  Unter- 
klassen nach  drei  bzw.  sechs  Jahren  stärkere  Oberklassen  entsprechen  werden,  als  die 
jetzigen  sind;  das  gilt  schon  für  die  Gymnasien,  ganz  besonders  aber  für  die 
Oberrealschulen. 

Nebenbei  sei  bemerkt,  daß  durch  die  Einrichtung  der  Realschulen  doch  schon 
erheblich  den  von  Borbein  vertretenen  Wünschen  entgegengekommen  ist. 

Dazu  bemerkt  Herr  Direktor  Dr.  Borbein-Altona: 

Herrn  Professor  Bünger  bin  ich  dankbar  für  seinen  Hinweis  auf  einen  von  mir 
begangenen  statistischen  Fehler.  Doch  glaube  ich,  daß  auch  die  Multiplizierung 
mit  drei  nicht  zum  Ziele  führt.  Die  Frage,  wieviel  Prozent  der  die  Unter- 
und  Mittelstufe  besuchenden  Schüler  Nutzen  ziehen  aus  der  Oberstufe,  ist,  na- 
mentlich wenn  man  dabei  an  das  Bestehen  der  Reifeprüfung  denkt,  sehr  viel  ver- 
wickelter, als  es  auf  den  ersten  Blick  scheint,  und  läßt  sich  mit  dem  im  Zentral- 
blatt und  sonst  gedruckt  vorliegenden  statistischen  Material  wohl  überhaupt  nicht 
genau  beantworten.    Im  übrigen  weise  ich  darauf  hin,  daß  ich  bei  der  Abfassung 


222  Sprechsaal. 

hieines  Aufsatzes  durchaus  von  inneren  Gründen  ausgegangen  bin  und  die  kurze 
statistische  Erörterung  über  die  Zahlen  der  Schüler  auf  den  verschiedenen  Stufen 
der  höheren  Lehranstalten  erst  angestellt  habe,  nachdem  alles  Vorhergehende 
druckfertig  niedergeschrieben  war.  Es  kommt  ihr  für  die  ganze  Frage  der  Über- 
bürdung nur  eine  nebensächliche  Bedeutung  zu. 


Herr  Oberlehrer  Dr.  Fr.  Bender-Cöln  schreibt: 

Im  ersten  Hefte  dieses  Jahrganges  der  Monatschrift  wendet  sich  Herr  Prof. 
Türk  S.  26—29  mit  Recht  gegen  den  alten  Brauch,  die  Resultate  der  Ver- 
setzungskonferenzen am  letzten  Tage  in  der  Aula  bekannt  zu  geben.  Den  von 
ihm  angeführten  Gründen  wird  wohl  billig  kein  einsichtsvoller  Schulmann  wider- 
streiten. Im  übrigen  steht  es  mit  jenem  Brauche  gottlob  nicht  so  schHmm,  wie 
er  anzunehmen  scheint;  jedenfalls  ist,  soviel  ich  weiß,  hier  in  Cöln  seit  langem 
mit  jenem  Verfahren  gebrochen,  wenn  es  überhaupt  je  in  Übung  gewesen  ist;  auch 
habe  ich  von  anderen  rheinischen  Anstalten  nie  etwas  derartiges  gehört.  Vielleicht 
dürfte  es  angebracht  sein,  einmal  kurz  den  hier  seit  langem  üblichen  Modus  zu 
skizzieren,  mit  dem  auch  Herr  Türk  wohl  einverstanden  sein  dürfte. 

An  den  meisten  hiesigen  höheren  Schulen  treten  nach  Ablauf  der  Hälfte  des 
Tertiais  die  Fachlehrer  unter  dem  Vorsitz  des  Direktors  zur  sog.  „Mittelkonferenz" 
zusammen,  so  ganz  besonders  auch  im  letzten  Tertial.  Einige  Tage  vor  deren 
Beginn  teilen  die  Lehrer  der  einzelnen  Klassen  dem  Ordinarius  mit,  in  welchen 
Fächern  die  Schüler  nicht  auf  dem  Standpunkt  der  Klasse  stehen.  Das  Gesamt- 
urteil über  die  Leistungen  wird  dann  in  der  Konferenz  festgestellt  und  so  auch 
zur  Kenntnis  des  Direktors  gebracht,  der  auf  diese  Weise  auch  immer  hinreichend 
über  die  Schüler  unterrichtet  ist.  In  wenigen  Minuten  ist  dank  der  vorhergehenden 
Orientierung  des  Ordinarius  die  Sache  erledigt;  es  heißt  einfach  nach  Namens- 
nennung: guter,  genügender  Schüler  —  bzw.  mangelhaft  oder  schwach  in  dem 
und  jenem  Fache.  In  letzterem  Falle  wird  bemerkt,  ob  der  Rückgang  in  den  Lei- 
stungen auf  Mangel  an  Fleiß  oder  sonstige  Gründe,  wie  Krankheit,  häusliche  Ver- 
hältnisse usw.,  zurückzuführen  ist.  Gerade  diese  Aussprache  schützt  manchen 
Schüler  vor  wenn  auch  nicht  gewollter  ungerechter  Beurteilung.  Die  Eltern  der 
schwachen  Schüler  erhalten  dann  ein  Formular  etwa  folgenden  Inhalts  zugestellt: 

„In  der  heutigen  Konferenz  stellte  sich  heraus,  daß  Ihr  Sohn  (folgt  Name  und 
Klasse)  in  (folgt  Fach)  nicht  auf  dem  Standpunkt  der  Klasse  steht  —  sowie  daß 
er  es  an  dem  nötigen  Eifer  fehlen  läßt."     (letzteres  im  Bedarfsfall  durchstrichen.) 

Der  Ordinarius. 

Im  dritten  Tertial  tritt  bei  dem  Formular  hinzu: 

„Voraussichtlich  (möglicherweise)  wird  er  Ostern  die  Versetzung  nicht  erreichen." 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  so  den  Eltern  rechtzeitig  Gelegenheit  zur  Rück- 
sprache mit  den  Lehrern  geboten  wird,  und  tatsächlich  geschieht  dies  auch  fast 
regelmäßig.  Ebenso  wird  der  schwache  aber  strebsame  Schüler  vor  entmutigendem 
Tadel  bewahrt,  und  dem  faulen  geschieht  kein  Unrecht. 

Das  Ergebnis  der  eigentlichen  Versetzungskonferenz  wird  dann  die  Eltern  und 
Schüler  kaum  noch  überraschen.    Zudem  wird  auch  den  Eltern  der  nichtversetzten 


Sprechsaal.  223 

Schüler  vor  dem  Schulschlusse  eine  diesbezügliche  Mitteilung  gemacht,  die  allerdings 
gewöhnlich  zur  Folge  hat,  daß  ein  Teil  der  Zurückgebliebenen  am  letzten  Tage 
der  Anstalt  fern  bleibt.  Das  ist  aber  weiter  auch  nicht  schlimm.  Die  dennoch 
Erscheinenden  sind  gewöhnlich  die  mit  gutem  Gewissen.  Und  daß  ihnen  beim 
Schulschlusse  —  eventuell  auch  in  der  Aula  —  einige  tröstende  und  ermunternde 
Worte  gesagt  werden,  ist  viel  eher  angebracht,  als  den  ohnehin  Glücklichen  durch 
die  öffentliche  Quittung  den  Gedanken  der  Überhebung  nahe  zu  legen. 


Herr  Professor  Dr.  Ludwig  Gurlitt-Steglitz  schreibt: 

Zur  Abwehr. 

Im  Novemberhefte  1908  dieser  Monatschrift  S.  609  brachte  Oberlehrer  Professor 
Dr.  Paul  Brandt  in  Bonn  eine  Anzeige  von  Friedrich  Fischers  Abhandlung 
„Anregung  zur  Kunstpflege  an  Gymnasien"  (Beilage  zum  Jahresbericht  des  Dom- 
gymnasiums zu  Merseburg  1906)  und  benutzte  diesen  Anlaß,  die  verletzende  Kritik, 
die  Fischer  gegen  einen  kleinen  Aufsatz  meiner  Hand  veröffentlicht  hatte,  in  ihren 
kräftigsten  Worten  zu  wiederholen. 

Es  ist  an  sich  eine  ungewöhnliche  Erscheinung,  daß  mein  kurzer  plaudernder 
Feuilleton-Aufsatz  fünf  Jahre  nach  seiner  Veröffentlichung  —  er  erschien  am 
18.  Juli  1903  in  der  Wiener  Wochenschrift  „Die  Zeit"  —  in  einer  wissenschaftlichen 
Zeitschritt  so  eingehend  und  schroff  behandelt  wird.  Ich  habe  inzwischen  über 
das  gleiche  Thema  eine  ausführliche  Abhandlung,  sogar  in  Buchform,  erscheinen 
lassen,  an  der  sich  mit  besserem  Grunde  der  Scharfsinn  meiner  Gegner  messen 
könnte.  So  aber  nimmt  es  sich  aus,  als  wenn  es  dem  Kritiker  weniger  darauf 
ankomme,  meine  Stellung  zur  Kunstpflege  auf  höheren  Schulen  zu  beleuchten, 
als  einen  Anlaß  zu  persönlichen  Anfeindungen  zu  finden. 

Ich  muß  die  von  beiden  Herren  ausgesprochenen  Worte,  daß  mein  von  ihnen 
kritisierter  Aufsatz  .dreiste  und  unwahre  Behauptungen  enthalte"  als  eine 
unberechtigte  Unterstellung  abweisen. 

Auch  Selbstüberhebung  und  blinde  Wut  gegen  das  klassische  Gymnasium 
wird  ein  unbefangener  Leser  nirgends  in  meinem  Aufsatze  spüren,  er  müßte  denn 
das  Betonen  einer  eigenen  starken  Überzeugung  so  bezeichnen  wollen.  Von  irgend- 
welchen eigenen  Leistungen  und  Verdiensten  spreche  ich  dort  mit  keinem  Worte. 

Auch  ist  es  mir  nicht  eingefallen,  meine  Urteile  zugunsten  einer  stärkeren 
Betonung  des  Beobachtungsvermögens  unserer  höheren  Schüler  als,  Orakelsprüche 
hoher  Weisheit"  auszugeben.  Ich  habe  nur  von  dem  mir  verfassungsmäßig 
zustehenden  Rechte  Gebrauch  gemacht,  öffentliche  Angelegenheiten  mit  den  meiner 
Überzeugung  entsprechenden  starken  Worten  zu  kritisieren.  Meine  Kritik  wandte 
sich  gegen  ein  System,  nirgends  gegen  bestimmte  Personen  und  vorwiegend  gegen 
Vertreter  der  Schulen,  die  „uns"  Erwachsene  erzogen  haben,  deren  Wirkung  und 
Leben  also  um  Jahrzehnte  zurückliegt. 

Es  ist  auch  nicht  wahr,  daß  ich  ein  doch  gewiß  nicht  so  bitter  ernst  zu 
nehmendes  derbes  Urteil  meines  Vaters  über  die  Philologen  mir  selbst  zu  eigen 
gemacht  hätte.     Ich  betonte  ausdrücklich,   daß  mein  Vater  von  seinem  Künstler- 


224  Sprechsaal. 

Standpunkte  aus  zu  einem  solchen  Urteil  kommen  konnte  und  auf  Grund  von 
Beobachtungen,  die  zumeist  schon  ein  halbes  Jahrhundert  zurückliegen,  also  der 
Geschichte  angehören.  Daß  ich,  der  ich  selbst  Philologe  bin  und  dessen  ältester 
Bruder  auch  Philologe  war,  dieses  derbe  Wort,  das  ich  obendrein  in  Anführungs- 
strichen gab,  zu  einer  Beleidigung  des  heutigen  Philologenstandes  stempeln  wollte, 
das  kann  auch  nur  Voreingenommenheit  herauslesen  und  seine  ausdrückliche  Be- 
tonung hat,  wenn  nicht  den  Zweck,  so  doch  die  Wirkung,  zwischen  mir  und  meinen 
Wissenschaftsgenossen  Unfrieden  zu  stiften. 

Es  kann  sich  hier  nicht  darum  handeln,  meine  Stellung  zu  dem  vorliegenden 
pädagogischen  Problem  zu  begründen  und  die  Kritik  meiner  Gegner  als  hinfällig 
nachzuweisen.  Das  letzte  Wort  hierin  zu  sprechen,  darf  ich  getrost  der  starken 
Bewegung  selbst  überlassen,  die  sich  zugunsten  des  Anschauungs-  und  Hand- 
fertigkeitsunterrichtes und  im  Kampfe  gegen  den  ererbten  Verbalismus  und 
Formalismus  auf  der  ganzen  Erde  vollzieht.  Aber  selbst  wenn  ich  mit  meinen 
Ausführungen  sachlich  und  formell  im  Unrecht  wäre,  so  durften  meine  Kritiker 
daraus  nicht  ein  Recht  für  sich  herleiten,  eine  gegen  meine  Person  gerichtete  Miß- 
achtung öffentlich  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Solange  diese  Angriffe  in  einer  der  weiteren  Öffentlichkeit  sich  entziehenden 
Programmabhandlung  versteckt  lagen,  konnte  ich  sie  als  gleichgültig  unbeachtet 
lassen.  Da  sie  jetzt  aber  an  weithin  sichtbarer  Stelle  wiederholt  worden  sind,  muß 
ich  ihnen  an  gleicher  Stelle  mit  aller  Entschiedenheit  widersprechen. 


Ich  bemerke  zu  den  vorstehenden  Worten,  daß  die  Redaktion  sich  den  ver- 
letzenden Angriff  gegen  Herrn  Professor  Dr.  Ludwig  Gurlitt  nicht  aneignet.  Auch 
hat  sie  gar  keinen  Anlaß,  an  der  Wahrhaftigkeit  des  Herrn  Professor  Gurlitt  irgend- 
welchen Zweifel  zu  hegen.  Herr  Professor  Dr.  Brandt  ermächtigt  mich  zu  erklären, 
es  habe  ihm  ferngelegen,  Herrn  Professor  Gurlitt  bewußter  Unwahrheit  zeihen  zu 
wollen. 

Berlin.  A.  Matthias. 


I.   Abhandlungen. 

Alte  Ziele  —  veränderte  Wege  im  Geschichtsunterricht 
der  Prima. 

Mit  jedem  Jahrzehnt  erweitert  sich  der  Schauplatz  der  Weltgeschichte.  Mit 
jedem  Jahrzehnt  vergrößert  sich  der  Umfang  des  geschichtlich  Gewordenen  und 
Abgeschlossenen. 

In  den  Jahren  unserer  Kindheit  —  vor  1870  —  schloß  der  Geschichtsunterricht 
mit  dem  Wiener  Kongreß,  bisweilen  schon  —  horribile  dictu  —  mit  der  französi- 
schen Revolution  oder  gar  mit  Friedrich  dem  Großen  ab. 

Das  vergangene  Jahrhundert  hat  die  menschliche  Kulturentwicklung,  das 
Staats-  und  Völkerleben  mehr  gefördert  als  die  drei  vorangehenden  Jahrhunderte 
zusammen. 

Die  jüngsten  Reformen  der  preußischen  Lehrpläne  haben  dem  Bedürfnis 
Rechnung  getragen  und  die  Fortsetzung  des  Geschichtsunterrichts  bis  1871  bzw. 
1888  geboten. 

Die  Teilnahme  aller  Kreise  der  Bevölkerung  am  öffentlichen  Leben  erfordert 
heute  ein  viel  tieferes  Verständnis  der  neueren  und  neuesten  Geschichte  als  vor 
wenigen  Jahrzehnten.  Die  Ausdehnung  der  politischen  Beziehungen  und  der 
wirtschaftlichen  Interessen  der  europäischen  Mächte  über  die  Ozeane  hinaus  macht 
heute  ein  —  wenn  auch  nur  flüchtiges  —  Eingehen  auf  die  Beziehungen  ähn- 
licher Art  in  den  früheren  Perioden  notwendig.  Mit  andern  Worten,  das  Gesamt- 
gebiet des  Geschichtsunterrichts  ist  so  ausgedehnt,  die  Fülle  des  Stoffes  so  ver- 
mehrt worden,  daß  die  Frage  heute  nicht  zu  umgehen  ist:  Wie  kann  in  den  wenigen 
Unterrichtsstunden  alles  Wissenswerte  mitgeteilt,  eingeprägt,  wiederholt,  vertieft 
>yerden?  Wo  kann  in  früheren  Perioden  Minderwichtiges  übergangen  oder  ver- 
kürzt werden?  Wie  kann  der  Geschichtsunterricht,  indem  er  —  wie  doch  vor- 
geschrieben ist  und  angestrebt  wird  —  die  Vergangenheit  in  Beziehungen  zur 
Gegenwart  setzt,  für  das  Verständnis  der  Gegenwart  fruchtbar  gemacht  werden? 
Wie  kann  die  Gefahr  einer  mechanischen  Einprägung  oft  kaum  in  ihrem  Zusammen- 
hang und  ihrer  Bedeutung  verstandener  Tatsachen  vermieden  werden? 

Jeder  Lehrer,  der  nur  wenige  Jahre  auch  in  den  oberen  Klassen  unterrichtet 
hat,  wird  die  gleichen  unerfreulichen  Erfahrungen  gemacht  haben: 

1.  Selbst  tüchtige  Schüler,  die  mit  dem  Urteil  II  in  der  Geschichte  nach 
Prima    (oder   Oberprima)   versetzt  sind,    haben   oft   nach   wenigen   Monaten    das 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VUI.  Jhrg.  15 


226  R-  Thiele, 

früher  Gelernte  und  Gewußte  zum  großen  Teil  vergessen.  Ein  Versuch,  die  Oster- 
Abiturienten  nach  ihrem  ersten  Studiensemester  in  der  Geschichte  zu  prüfen,  — 
in  der  Art  der  Reifeprüfung  — ,  würde,  wenn  er  sich  überhaupt  ausführen  ließe, 
ein  sehr  viel  ungünstigeres  Ergebnis  haben  als  im  Lateinischen  oder  in  der  Mathe- 
matik. Der  selbstverständliche  Einwand,  daß  die  den  fremden  Sprachen  und  der 
Mathematik  verdankte  geistige  Schulung  und  Bildung  ein  unverlierbarer  Besitz  für 
das  Leben  bleibt,  wenn  auch  die  Kenntnis  vieler  Sprachregeln,  Vokabeln,  mathe- 
matischer Formeln  und  Deduktionen  dem  Gedächtnis  fast  spurlos  entschwindet, 
trifft  für  den  Geschichtsunterricht  nicht  in  demselben  Maße  zu,  da  hier  in  weit 
höherem  Grade  die  Kenntnis  der  Tatsachen,  der  kausalen  und  chronologischen 
Zusammenhänge,  der  Kontinuitäten  oder  Unterbrechungen  der  Entwicklungsreihen 
die  unerläßliche  Bedingung  des  Verständnisses  ist. 

2.  Minderbefähigte  Schüler,  auch  in  Prima,  die  mit  der  beneidenswerten,  aber 
unter  Umständen  gefährlichen  Gabe  eines  guten  Gedächtnisses  ausgestattet  sind, 
wissen  —  oft  noch  nach  längerer  Zeit  —  einzelne  Abschnitte  des  Lehrbuches 
fast  wörtlich  auswendig;  sie  versagen  aber  völlig  bei  jeder  das  Verständnis  der 
Tatsachen  voraussetzenden  oder  eigene  Denkarbeit  erfordernden  Frage;  nament- 
lich wenn  ihnen  zugemutet  wird,  zu  kombinieren  oder  selbst  Vorstellungsreihen 
zu  bilden. 

3.  Auch  gute  Schüler  gewöhnen  sich  oft  schwer  und  langsam  an  begriffliche 
Klarheit  und  an  Präzision  des  Ausdrucks;  selbst  da,  wo  durch  das  Fehlen  der- 
selben arge  Verwechselungen  und  Unklarheiten  entstehen.  Nicht  nur  Begriffe  wie 
Vertrag,  Bündnis,  Friedensschluß  werden  teils  aus  Gedankenlosigkeit,  teils  aus  Un- 
sicherheit verwechselt.  Ich  habe  sogar  Bundestag  und  Bundesrat  in  Oberprima 
verwechseln  hören!  Über  einfache  geschichtliche  und  staatsrechtliche  Begriffe, 
wie  Reichs-  und  Landstände,  Territorium,  Säkularisation,  Konföderation,  Staats- 
streich, Revolution,  Konstitution,  Aristokratie,  Demokratie,  Timokratie  usw.  begegnet 
man  oft  noch  in  Prima  ganz  unklaren  Vorstellungen. 

4.  Ein  ganz  gewöhnlicher  Fehler  sind  Anachronismen.  Vorstellungen  der 
Gegenwart  werden  in  der  naivsten  Weise  auf  entlegene  Zeiten  übertragen ;  die  Ge- 
setze der  Kausalität,  der  geschichtlichen  Entwicklung,  die  Macht  des  Beharrungs- 
gesetzes, die  den  Primanern  aus  der  Naturlehre  bekannt  ist,  kommen  ihm  in  der 
Betrachtung  des  geschichtlichen  Werdens  und  Vergehens  nur  oberflächlich  und 
unklar  zum  Bewußtsein.  Welcher  Geschichtslehrer  hätte  nicht  auf  diesem  Gebiete 
die  seltsamsten  Erfahrungen  gemacht  I 

5.  Unter  der  Fülle  des  Tatsächlichen,  das  der  Geschichtsunterricht  bietet  und 
bieten  muß,  kommt  das  persönliche  Element  nicht  immer  zu  seinem  Recht.  Es 
ist  gewiß  eine  berechtigte  und  notwendige  Forderung  der  Lehrpläne,  daß  in  den 
oberen  Klassen  auch  kulturgeschichtliche  und  wirtschaftsgeschichtliche  Belehrungen 
gegeben  werden  sollen.  Aber  man  bedenke:  Was  in  der  Geschichte  auch  den  er- 
wachsenen Schüler  am  meisten  fesselt  und  interessiert,  sind  doch  Persönlichkeiten 
und  Tatsachen. 

In  einer  Zeit,  da  das  öffentliche  Leben  an  den  einzelnen  Mann  höhere  An- 
forderungen stellt,  ihm  ernstere  Pflichten  auferlegt  als  jemals  früher,  sollte  auch 
das  Gefühl  der  eigenen  Verantwortlichkeit  mehr  gestärkt  werden.    Das  kann  aber. 


Alte  Ziele  —  veränderte  Wege  im  Geschichtsunterricht  der  Prima.  227 

nur  geschehen,  wenn  die  geschichtliche  Betrachtung  den  Menschen  selbst  in  den 
Mittelpunkt  stellt,  wenn  die  Kraft,  der  Wille,  das  Genie  des  Menschen  als  der 
Hauptfaktor  der  Geschichte  angesehen  und  bewertet  wird.  Es  gibt  nichts  für  die 
Zukunft  Gefährlicheres,  als  die  bei  der  sogenannten  gebildeten  Jugend  ziemlich 
weit  verbreitete  Resignation,  die  den  Menschen  lediglich  als  Produkt  sogenannter 
„Verhältnisse"  ansieht  und  fatalistisch  „geschehen  läßt,  was  man  doch  nicht  ab- 
wehren oder  ändern  kann",  also  eine  persönliche  Verantwortlichkeit  nie  zum  rechten 
Bewußtsein  kommen  läßt. 


Wie  kann  der  Geschichtsunterricht  die  aus  den  mitgeteilten  und  wohl  überall 
gemachten  Erfahrungen  entstehenden  Aufgaben  erfüllen? 

Der  Verfasser  gestattet  sich,  den  Herren  Fachgenossen  folgende  Gedanken 
bzw.  Vorschläge  zur  Erwägung  vorzulegen. 

I.  Unterschiedliche  Behandlung  des  Stoffes  in  der  Weise,  daß  von  minder- 
wichtigen Perioden  nur  ein  chronologisches  Gerippe  mitgeteilt  wird,  während  die- 
jenigen Lehrabschnitte,  die  in  ihrer  Aufeinanderfolge  —  vielleicht  in  ganz  un- 
gleichen Zeitintervallen  —  den  wirklichen  Fortschritt  der  Geschichte  zur  An- 
schauung bringen,  in  breiter  Ausführlichkeit  und  mit  wissenschaftlicher  Genauig- 
keit behandelt  werden.    Statt  weiterer  Erörterungen  mögen  einige  Beispiele  folgen: 

a.    Aus  dem  Pensum  der  Unterprima. 

Das  X.  und  XI.  Jahrhundert. 

Bis  936  dürfte  eine  kurze  Übersicht  —  nicht  mehr  als  eine  Unterrichts- 
stunde! —  genügen.  Hauptsachen:  die  Bildung  der  Stammesherzogtümer;  die 
endgültige  Trennung  des  ostfränkischen  und  westfränkischen  Reiches  (der  ge- 
schichtliche Fortschritt  um  911  gegen  8841);  Konrads  I.  vergebliche  Versuche,  das 
Herzogtum  zu  beseitigen;  Heinrichs  I.  kluge  Anerkennung  des  geschichtlich  Ge- 
wordenen; seine  Abwehr  der  Magyaren,  Beginn  der  Slawenkriege,  Sicherung  der 
Erbfolge:  alles  in  kurzer  Erwähnung  der  Tatsachen,  ohne  ausführliche  Erzählung I 

Ottos  I.  Regierung  wird  eingehend  erzählt  werden  müssen  (in  etwa  drei  Unter- 
richtsstunden), weil  sie  für  die  Geschichte  der  folgenden  Jahrhunderte  grundlegend 
ist:  das  Wiederaufleben  des  Partikularismus;  die  Erwerbung  der  longobardischen 
Krone;  die  Beziehungen  zu  Burgund,  Frankreich,  Byzanz;  die  Beschränkung  der 
herzoglichen  und  Erweiterung  der  bischöflichen  Macht;  die  Slawenmission;  die 
Versuche,  die  politische  und  kirchliche  Vorherrschaft  über  Polen,  Böhmen,  Ungarn 
auszudehnen ;  die  Erneuerung  der  römischen  Kaiserwürde  und  der  Herrschaft  über 
das  Papsttum;  die  Sicherung  der  Erbfolge,  auch  im  Kaisertum;  die  Verbreitung 
römisch -kirchlicher  Bildung,  Gelehrsamkeit,  Kunst  in  deutschen  Landen:  Lauter 
Keime  der  späteren  geschichtlichen  Entwicklung  zu  guten  und  bösen  Früchten  I 
Hier  ist  eine  ausführlich  erzählende  Darstellung  erforderlich. 

Die  folgende  Zeit,  bis  1056,  also  fast  ein  Jahrhundert,  läßt  sich  ganz  kurz 
darstellen;  zwei  Stunden  genügen. 

Ausführlich  wird  dann  wieder  die  Zeit  Heinrichs  IV.  erzählt.  Von  den  Hohen- 
staufen  braucht  nur  die  Regierung  Friedrichs  I.  und  II.  eingehend  dargestellt  zu 
werden. 

15* 


228  R.  Thiele, 

b.   Aus  dem  Pensum  der  Oberprima. 

Die  Scheidung  ist  hier  natürlich  viel  schwieriger,  wegen  der  weit  zahlreicheren 
Beziehungen  der  beiden  letzten  Jahrhunderte  zur  Gegenwart. 

Im  Zeitalter  Friedrichs  des  Großen  läßt  sich  die  Kriegsgeschichte  sehr  ver- 
kürzen; z.  B.  für  den  dritten  schlesischen  Krieg  genügt  eine  ausführliche  Er- 
zählung der  beiden  ersten  Jahre  1756  und  57.  Von  1758  an  ist  eine  kurze  Dar- 
stellung der  wichtigsten  kriegerischen  Tatsachen  und  der  politischen  Wendungen 
ausreichend.  Dadurch  wird  die  Zeit  gewonnen,  auf  die  innere  Politik,  Staats- 
verwaltung usw.  ausführlicher  einzugehen,  als  es  meistens  geschieht. 

Die  französische  Revolution  braucht  nur  bis  zum  Königsmord  zusammen- 
hängend und  eingehend  erzählt  zu  werden,  weil  die  für  die  Zukunft  entscheiden- 
den Tatsachen  und  Beschlüsse  vorher  erfolgt  sind.  Eine  ebenso  eingehende  Dar- 
stellung der  späteren  Verfassungsänderungen  usw.  kann  nur  ermüden  und  ver- 
wirren und  ist  für  das  Verständnis  der  Gegenwart  minderwichtig.  Auch  die  beiden 
ersten  Koalitionskriege  können  auf  die  Angabe  der  wichtigsten  Tatsachen  ein- 
geschränkt werden.  Erst  mit  1804  mag  dann  die  ausführliche  Darstellung  wieder 
einsetzen,   muß   dann    allerdings   bis   zum  Wiener  Kongreß  durchgeführt  werden. 

Später  läßt  sich  vieles  kürzen,  bloß  andeutungsweise  erwähnen.  Aus  der  un- 
erfreulichen Periode  von  1849  bis  52  sind  außer  dem  preußischen  Staatsgrund- 
gesetz nur  das  zweite  Londoner  Protokoll  und  die  Olmützer  Punktation  von  ent- 
scheidender Bedeutung  für  die  Zukunft;  die  vergebliche  Einigungspolitik  Friedrich 
Wilhelms  IV.  —  Gotha,  Erfurt,  Berlin,  Dresden  —  braucht  nur  summarisch  er- 
wähnt zu  werden.  Dasselbe  gilt  von  Kämpfen  1866  nach  der  Schlacht  bei  König- 
grätz  auf  beiden  Kriegsschauplätzen. 

II.  Reichlichere  Benutzung  von  Urkunden  und  andern  Quellen  ist  seit  Jahr- 
zehnten lebhaft  gewünscht,  aber  wohl  nur  ausnahmeweise  erreicht  worden.  Die 
Texte  sind  heut  leichter  zugänglich  als  vor  wenigen  Jahrzehnten.  Wir  haben  sehr 
gute  Sammlungen  von  Urkunden  und  andern  Quellenabschnitten:  Altmann  und 
Bernheim;  Rinn  und  Jüngst  (zur  Kirchengeschichte);  Zurbonsen;  Schilling;  Richter 
und  andere.    Sie  sind  leider  zu  wenig  bekannt. 

Der  Einwand,  daß  die  Zeit  zum  Gebrauch  nicht  ausreiche,  ist  nicht  ganz  zu- 
treffend: Ob  ich  von  den  Verfassungs-,  Rechts-  und  Kriegsgebräuchen  und  dem 
Wirtschaftsleben  der  alten  Germanen  erzähle  oder  ob  ich  nach  sorgfältiger  Aus- 
wahl und  Ordnung  die  einschlägigen  Stellen  aus  Tacitus'  Germania  vorlese  (natür- 
lich deutsch  I),  erfordert  die  gleiche  Zeit;  ebenso  ob  ich  von  Karls  des  Großen 
Persönlichkeit  und  Lebensgewohnheiten  selbst  erzähle  oder  seinen  Biographen 
Einhard  erzählen  lasse. 

Ich  verspreche  mir  von  diesem  Verfahren,  das  ich  seit  Jahren  angewendet  habe, 
einen  zweifachen  Gewinn:  Erstens  werden  die  Primaner  mehr  gefesselt  und  für 
die  Sache  interessiert,  wenn  ein  Zeitgenosse  und  Augenzeuge  entlegener  Zeiten 
selbst  zu  ihnen  redet.  Zweitens  werden  sie  auf  diese  Weise  in  die  Werkstätten 
der  wissenschaftlichen  Arbeit  selbst  eingeführt  oder  erhalten  doch  eine  Ahnung  da- 
von, wie  die  ihnen  mitgeteilten  Tatsachen  sicher  überliefert  und  beglaubigt  sind. 
Wo  es  sich  um  Willens-  und  Meinungsäußerungen  einzelner  großer  Männer  handelt. 


Alte  Ziele  —  veränderte  Wege  im  Geschichtsunterricht  der  Prima.  229 

ergibt  sich  noch  drittens  der  Vorteil,  daß  das  Bild  bedeutender  Persönlichkeiten 
sich  aus  ihren  eigenen  Worten  dem  Schüler  fester  einprägt,  als  aus  dem,  was  über 
sie  gesprochen  wird.  Diesen  Wert  haben  beispielsweise  bekannte  Stellen  aus  den 
Briefen  Luthers,  Friedrichs  des  Großen,  die  Proklamationen  Napoleons  I.,  Stellen 
aus  den  Reden  Mirabeaus,  Bismarcks,  Aufrufe  und  Ansprachen  Friedrich  Wilhelms  III. 
und  Wilhelms  I.  Ähnliches  gilt  von  vielen  Vertrags-,  Gesetzes-  und  Friedens- 
urkunden, deren  Form  und  Sprache  außerdem  meistens  für  die  Zeit  ihrer  Ab- 
fassung charakteristisch  ist.  Das  ist  beispielsweise  der  Fall  bei  den  Kapitularien 
Karls  des  Großen,  dem  Papstwahlgesetz,  dem  Wormser  Konkordat,  den  Reichs- 
gesetzen Friedrichs  I.  und  IL,  der  Kurfürsteneinigung  von  Rense,  der  Goldenen 
Bulle. 

III.  Zu  dem,  was  oben  P.  2  unter  N.  2  erörtert  worden  ist,  wage  ich,  viel- 
leicht im  Widerspruch  mit  der  Mehrzahl  der  Herren  Fachgenossen,  zu  behaupten, 
daß  die  gebräuchlichen  Lehrbücher,  auch  die  anerkannt  guten,  der  Erziehung  des 
Schülers  zur  geistigen  Freiheit  und  Selbsttätigkeit  nicht  günstig  sind,  einfach  wegen 
ihrer  zusammenhängend  erzählenden  Form.  Welche  Gefahr  in  dieser  —  einmal 
durch  die  Lehrpläne  vorgeschriebenen,  also  wohl  nicht  zu  umgehenden  —  Form 
für  geistig  träge  und  gedankenarme  Schüler  liegt,  bedarf  keiner  Erörterung.  Aus- 
geführte Tabellen  von  sorgfältiger  Anordnung,  auch  äußerlich  für  das  Auge  über- 
sichtlich gegliedert,  würden,  meine  ich,  für  die  Schüler  ein  heilsamer  Zwang  sein, 
dem  Vortrag  des  Lehrers  mit  gespannterer  Aufmerksamkeit  zu  folgen;  sie  würden 
ihm  die  Wiederholung  erleichtern  und  ihn  nötigen,  in  der  folgenden  Stunde  den 
Inhalt  mit  seinen  eigenen,  nicht  mit  den  Worten  des  Lehrbuches  wiederzugeben. 
Wenn  einzelne  Schüler  nach  dem  Vortrag  des  Lehrers  dessen  Ausführungen  teil- 
weise nachschreiben  (ja  nicht  nachstenographieren !),  dann  sehe  ich  darin  keinen 
Nachteil,  vielmehr  eine  gute  Vorbereitung  für  das  später  unvermeidliche  Nach- 
schreiben nach  akademischen  Vorträgen. 

Für  zweckmäßig  halte  ich,  daß  in  solchen  Lehrbüchern  von  tabellarischer  Form 
die  wichtigsten  Gesetze,  Verträge,  Friedensschlüsse  usw.  in  urkundlicher  Form 
(natürlich  nur  die  entscheidenden  Sätze;  verkürzt,  aber  im  Wortlaut)  mitgeteilt 
würden;  die  mittelalterlichen  lateinisch.  Der  Umfang  eines  solchen  Buches  braucht 
trotzdem  den  der  jetzt  gebräuchlichen  nicht  zu  überschreiten. 

An  zwei  Beispielen  versuche  ich  zu  zeigen,  wie  ich  mir  etwa  die  Form  eines 
solchen  Lehrbuches  denke. 


1.   Aus  dem  Pensum  der  Unterprima. 

1314—47.    Ludwig  der  Bayer. 

Zerrüttung  im  Reiche:  Streit  der  Habsburger  (Albrechts  I  Söhne  Friedrich  und 
Leopold)  und  Witteisbacher  (zwei  Linien:  a)  Oberbayern  und  Pfalz;  b)  Niederbayern)  um 
die  Vormundschaft  in  Niederbayern:    1313.   Sieg  der  Witteisbacher  bei  Gammelsdorf. 

I.  1314.  Zwiespältige  Wahl  bei  (nicht  in)  Frankfurt.  Ludwig  von  Ober- 
bayern (t  1347).  Friedrich  (der  Schöne)  von  Österreich  (t  1330),  Vettern,  beide 
Rudolfs  I.  Enkel.     Langer  Bürgerkrieg  ohne  Entscheidung. 

Ludwig  gewann  die  Schweizer  Eidgenossen  (deren  Sieg  über  Leopold  bei  Morgarten 
1315),  Friedrich  den  Papst  Johann  XXII. 


230  R-  Thiele, 

1322.  Schlacht  bei  Mühldorf.  Friedrich  besiegt  und  gefangen.  Bann  des 
Papstes  und  Prozeß  in  Avignon  gegen  Ludwig.  Johann  XXII:  Vacante  imperio 
Imperator i  nos  succedimus! 

Beginn  der  Familienpolitik  Ludwigs. 

a)  1324:  Übertragung  der  Mark  Brandenburg  (Aussterben  der  Askanier  1320; 
Waldemar  der  Große  schon  t  1319)  mit  der  Erzkämmererwürde  auf  seinen  acht- 
jährigen Sohn  Ludwig.  (Urkunde  ohne  fürstliche  Unterschriften;  Anarchie  in  der 
Mark.)  Ludwigs  Vergleich  mit  Friedrich  (Trausnitzer  Vertrag  1325),  dessen  Mit- 
regentschaft trotz  des  päpstlichen  Protestes. 

II.  1327 — 30.  Ludwigs  Romfahrt.  Literarische  Opposition  gegen  die  päpst- 
lichen Anmaßungen;  die  Franziskaner  {Fratres  minores,  Minoriten). 

Des  Marsiglio  von  Padua  Buch  Defensor  pacis  1325:  ,Die  Priester  sind  die  Diener  des 
göttlichen  Gesetzes  . .  .  richterliche  Strafgewalt  kommt  ihnen  nicht  zu  . .  .  Exkommunikation 
kann  nur  die  Gemeinde  der  Gläubigen  oder  ein  allgemeines  Konzil  aussprechen  .  .  .  Alle 
Priester  haben  gleiche  Gewalt;  die  .Bischöfe,  der  Papst  keine  höhere  als  der  einfache 
Geistliche." 

Kaiserkrönung  Ludwigs  durch  Kardinäle.  [Fortdauer  des  Streites;  ganz 
Deutschland  auf  Ludwigs  Seite.    Landfriedensgesetze.    (Ulm  1331.) 

1338.    Die  Kurfürsteneinigung  (der  vier  rheinischen  Kurfürsten)  zu  Rense. 

Beschluß :  Dixerunt  judicaverunt .  .  hoc  esse  de  jure  et  antiqua  consuetudine 
imperii  approbata,  quod,  posiquam  aliquis  a  principibus  electoribus  imperii  vel  a 
majori  parte  numero  eorundem  principum  etiam  in  discordia  pro  rege  Romanorum 
est  electus,  non  indiget  nominatione  approbatione  confirmatione  assensu  vel  auc- 
toritate  sedis  apostolice  super  administratione  bonorum  et  jurium  imperii. 

Zusatz:  ,  .  .  Wir  Heinrich  von  gotes  gnaden  erzbischof  zu  Mainz  ....  ver- 
jehen  offenlichen  mit  disem  brief  ...  daß  wir  mit  derselben  buntnusse  und  ver- 
ainung  .  .  .  meinen  unsern  herren  den  Kaiser  Ludwigen  von  Rom  und  das  Römi- 
schen rieh,  das  er  inne  hat,  und  nieman  anders. 

III.  Entfremdung  der  Fürsten  durch  Ludwigs  Familienpolitik: 

b)  (1342)  Tirol  erworben:  Margareta  vermählt  mit  dem  viel  jüngeren  Ludwig 
von  Brandenburg. 

c)  Holland  und  Seeland  erworben  (durch  Aussterben  des  Grafenhauses). 

Bildung  einer  päpstlich -klerikal -luxemburgischen  Partei  zum  Sturz  Ludwigs 
(fünf  Kurfürsten!). 

1346.  Markgraf  Karl  von  Mähren  (Heinrichs  VII.  Enkel)  zum  Gegenkönig 
gewählt  (wieder  ein  „ Pfaffenkönig "  durch  päpstlichen  Segen  in  Avignon  1346; 
vgl.  1246!),  aber  der  französischen  Unterstützung  beraubt  (nach  der  französischen 
Niederlage  durch  die  Engländer  bei  Crecy)  und  erst  1347  (Ludwig  f)  als  Karl  IV. 
allgemein  anerkannt. 

2.   Aus  dem  Pensum  der  Oberprima. 

Die  Regierung  Friedrichs  III.  (L). 

(Vorausgesetzt  ist  die  Kenntnis  des  spanischen  Erbfolgekrieges,  der  Raubkriege  Lud- 
wigs XIV.,  der  zweiten  englischen  Revolution.) 


Alte  Ziele  —  veränderte  Wege  im  Geschichts»nterricht  der  Prima.  231 

Häusliche  Irrungen  am  Hofe  des  Großen  Kurfürsten  (dessen  zweite  Gemahlin 
Sophie  Dorothea)  entfremdeten  ihm  den  Kurprinzen  Friedrich;  dessen  Geheim- 
vertrag mit  dem  Wiener  Hofe. 

I.  1688.    Kurfürst  Friedrich  Wilhelm  der  Große  f- 
1688—1701—1713.   Friedrich  III.  (I.)    Anschluß  an  die  oranische  und  habs- 

burgische  Politik: 

a)  Unterstützung  der  Invasion  Wilhelms  (III.)  in  England. 

b)  Beitritt  zum  Bündnis  gegen  Ludwig  XIV.  (Dritter  Raubkrieg)  und  persön- 
liche Teilnahme  am  Kriege. 

c)  Brandenburger  Truppen  im  Türkenkriege. 
Der  Fortgang  entsprach  dem  Anfang  nicht: 

a)  Rückgabe  des  Kreises  Schwiebus  an  Österreich  1695  (womit  die  schlesi- 
schen  Erbansprüche  wieder  rechtskräftig  wurden!). 

b)  Übergehung  der  brandenburgischen  Ansprüche  in  Ryswik  1697. 

c)  Sturz  des  verdienten  Ratgebers  E.  v.  Dankelmann  (dessen  Stelle  Höflinge 
und  Schmeichler  einnahmen!). 

II.  Des  Kurfürsten  Streben  nach  der  Königswürde  war  ein  Gebot  der  Zeit- 
umstände: Notwendigkeit  eines  festeren  Zusammenschlusses  der  zerstreuten  Landes- 
teile, einer  selbständigen  europäischen  Politik;  Zeremoniell  und  Rangstreitigkeiten 
auf  Reichstagen,  Kongressen  usw.;  Beispiele  deutscher  Fürsten  auf  europäischen 
Thronen:  Sachsen-Polen;  Pfalz-Zweibrücken-Schweden;  bald  Hannover-England; 
dazu  des  Kurfürsten  Vorliebe  für  äußeren  Glanz. 

1700.  Der  preußische  Krontraktat.  Der  Kurfürst-König  verpflichtet  sich 
zur  Unterstützung  der  spanischen  Erbansprüche  des  Kaisers  mit  8000  Mann. 

Artikel  VII:  „Alß  auch  S.  K.  D.  (Seine  Khurfürstl.  Durchlaucht)  Ihrer  Kay serl. 
Maytt  underthgst  vorstellen  lassen,  was  massen  Sie  .  .  .  ihr  absehen  gefasset 
heften,  ihrem  mit  vielen  landen  von  Gott  gesegneten  hohem  hauß  den  königlichen 
titui  zu  acquiriren,  und  danenhero  Ihre  Kayserl.  Maytt  ersuchet  haben  daß  Sie 
Ihre  dazu  behülfflich  zu  seyn,  .  .  .  haben  Ihre  Kayserl.  Maytt  .  .  .  resolvirt,  eine 
solche  wohlmeritirte  dignitet  Ihrer  Khurfürstl.  Durchl.  beyzulegen.  Erklären  sich 
auch  hiemit  aus  Kayserl.  macht  und  Vollkommenheit,  daß,  von  S.  K.  D.  hier- 
nechst  .  .  .  wegen  ihres  herzogthumbs  Preußen  sich  vor  einen  König  proklamiren 
und  crönen  lassen,  Ihre  Kayserl.  Maytt  .  .  .  S.  K.  D.  soforth  ...  auf  Ihro  der- 
selben davon  thuende  notification  ...  vor  einen  König  in  Preußen  ehren,  würdigen 
und  erkennen  .  .  .  zwischen  Sr.  K.  D.  und  andern  europeyischen  königen,  in  specie 
denen  königen  von  Scheden,  Dennemark  und  Pohlen,  in  der  titulatur  und  anderen 
ehrenbezeigungen  keinen  unterschied  machen  .  .  .  wollen." 

Nur  der  Papst  versagte  dem  protestantischen  Königtum  (in  dem  alten  Ordens- 
lande, kirchlichem  Besitz!)  seine  Anerkennung. 

1701.  18.  Januar:  Krönung  in  Königsberg.  Friedrich  I.  König  in  Preußen. 
(Der  Hohe  Orden  vom  Schwarzen  Adler:  Suum  cuique.) 

Auszeichnung  preußischer  Truppen  im  spanischen  Erbfolgekriege  (Leopold 
von  Dessau  bei  Turin;  Kronprinz  Friedrich  Wühelm  bei  Malplaquet);  aber  Neu- 
tralität in  dem  (Preußens  Interesse  unmittelbarer  berührenden)  Nordischen  Kriege. 


232  R.  Thiele, 

III.    Erstes  literarisches  und  künstlerisches  Zeitalter  des  Hohenzollernstaats. 
1692.   Universität  Halle  (Thomasius;   A.  G.  Franke,  Chr.  Wolff). 

1699.  Akademie  der  bildenden  Künste:  Das  Zeughaus  (Nehring,  Schlüter); 
Denkmal  des  Großen  Kurfürsten  (Schlüter);  Friedrichsbau  des  königlichen  Schlosses 
(Schlüter);  Schloßkapelle  (E.  von  Goethe);  Schloß  Charlott^enburg  (nach  der  Königin 
Sophie  Chadotte). 

1700.  Sozietät  der  Wissenschaften:   Leibniz,  Pufendorf,  Spener,  Thomasius. 

Prachtliebe  und  Aufwand  des  Hofes  beförderten  Handel  und  Gewerbe  (vor- 
übergehend!); die  Kehrseite:  Zerrüttung  der  Finanzen,  Rückgang  des  Ackerbaus 
(besonders  durch  die  bedenkliche  Vererbpachtung  der  Domänen),  innere  Krisis 
und  Gefahr  des  Staatsbankerottes. 

1713.    Friedrich  I.   f.    Seinem  Nachfolger  waren  die  Aufgaben  vorgezeichnet. 

Eine  vergleichende  Prüfung  nach  den  hier  ausgeführten  Beispielen  zeigt,  daß 
ein  Buch  von  dieser  tabellarischen  Form  —  in  der  sich  übrigens  noch  manches 
kürzen  und  streichen  ließe  —  den  Umfang  der  gebräuchlichsten  Lehrbücher  nicht 
überschreiten  und  dem  Lehrer  mehr  Freiheit  lassen  würde,  zu  übergehen,  was  ihm 
entbehriich  scheint.  Dem  zusammenhängenden  und  kausal  verknüpfenden  Vortrag 
würde  der  Schüler  mit  ungeteilter  Aufmerksamkeit  zu  folgen  genötigt  sein. 

IV.  Auf  die  Gefahr  hin,  daß  ich  eine  Eule  nach  Athen  zu  tragen  scheine, 
aber  auf  Grund  eigener  erprobter  Erfahrung  mache  ich  noch  einen  Vorschlag: 

Wiederholungen  —  sowohl  des  Pensums  der  vorigen  Stunde  wie  längerer 
Perioden  —  sollen  doch  nicht  nur  das  Wissen  des  Schülers  kontrollieren,  sondern 
auch  sein  Urteil  bilden,  seine  Kombinationsgabe  entwickeln,  das  früher  Gelernte 
vertiefen  und  erweitern,  neue  Vorstellungsreihen  bilden,  kurz  zu  eigener  geistiger 
Arbeit  anregen.  Das  ist  wohl  am  besten  zu  erreichen,  wenn  eine  Anzahl  be- 
stimmter Fragen  gestellt,  vielleicht  sogar  am  Anfang  der  Stunde  diktiert  wird,  die 
dann  in  zusammenhängendem,  kurzem  Vortrag  beantwortet  werden  müssen;  bei 
schwächeren  oder  befangenen  Schülern  werden  meist  einzelne  Ergänzungen, 
Hilfen  und  Verbesserungen  nötig  sein.  Natüriich  kommt  alles  auf  sorgfältige  Aus- 
wahl und  bestimmte  Formulierung  der  Fragen  an. 

Einige  Beispiele  —  alle  aus  eigener  Erfahrung  des  Verfassers  —  mögen  das 
Gesagte  erläutern. 

a.   Unterprima. 

1.  Erzählt  war  der  Beginn  der  ostgermanischen  Wanderung  bis  410. 

Fragen  der  folgenden  Stunde: 

1.  Der  Verfall  des  römischen  Heerwesens  im  III.  und  IV.  Jahrhundert. 

2.  Die  germanischen  Völkerbündnisse. 

3.  Die  Grenzkriege  am  Rhein  und  an  der  Donau  im  IV.  Jahrhundert. 

4.  Die  Reichsteilung  und  ihre  Folgen. 

2.  Erzählt  war  die  deutsche  Reichsgeschichte  1555  bis  1609. 

Fragen  der  folgenden  Stunde: 

1.  Die  Loslösung  der  Grenzländer  aus  dem  Reichsverbande. 

2.  Die  Verschärfung  des  religiösen  Gegensatzes. 


Alte  Ziele  —  veränderte  Wege  im  Geschichtsinterricht  der  Prima.  233 

3.  Wiederholung  der  Periode  900  bis  1272. 

Fragen : 

1.  Wahlsystem  oder  Erbfolge  des  deutschen  Königtums? 

2.  Kämpfe  zwischen  deutschen  Königen  und  ihren  unbotmäßigen  Söhnen. 

3.  Hohenstaufen  und  Welfun. 

4.  Allgemeine  Ursachen  der  Kreuzzüge. 

5.  Entwicklung  des  Territorialfürstentums. 

6.  Begründung  der  hohenstaufischen  Herrschaft  in  Italien. 

7.  Ursachen  des  Untergangs  der  Hohenstaufen. 

4.  Wiederholung  der  Periode  1300  bis  1500. 

1.  2.  3.  Begründung    und  Erweiterung   der  Hausmacht  der  Habsburger, 
der  Luxemburger,  der  Witteisbacher. 

4.  Der  Verfall  der  Hansa  im  XV.  Jahrhundert, 

5.  Beziehungen    zwischen    der   Mark  Brandenburg   und    dem  Deutschen 
Orden  im  XIV.  und  XV.  Jahrhundert. 

6.  Die  Kaiseridee  im  XIV.  und  XV.  Jahrhundert. 

b.    Oberprima. 

1.  Erzählt  war  die  Zeit  1740  bis  42. 

Fragen  der  folgenden  Stunde: 

1.  Preußens  Anrecht  an  Jülich  und  Berg  geschichtlich  zu  begründen. 

2.  Preußens  Anrecht  an  Niederschlesien  geschichtlich  zu  begründen. 

3.  Die  politischen  Kombinationen  des  Jahres  1741. 

4.  Die  Kaiserwahl  1742. 

2.  Erzählt  war  die  Zeit  1803,  1804,  1805. 

Fragen  der  folgenden  Stunde: 

1.  Napoleons  Kaisertum;  sein  Ursprung  und  seine  Idee. 

2.  Entstehung  der  dritten  Koalition. 

3.  Preußens  Verhältnis  zu  Frankreich  1803  bis  1805. 

4.  Auflösung  der  dritten  Koalition. 

3.  Wiederholung  der  Geschichte  Friedrichs  des  Großen. 

Fragen : 

1.  Friedrichs  II.  Beziehungen  zum  Hause  Witteisbach. 

2.  Friedrich  II.  als  Bundesgenosse  und  als  Feind  Frankreichs. 

3.  Ist  Friedrich  II.  der  Urheber  des  deutschen  Dualismus? 

4.  Friedrichs  II.  fünf  (genau  genommen  sieben)  Einfälle  in  Österreich. 

5.  Das  geschichtliche  und  das  sittliche  Recht  der  gewaltsamen  Erwerbung 
polnischen  Gebietes. 

4.  Wiederholung  der  Periode  1815  bis  1860. 

Fragen : 

1.  Fortschritte  des  deutschen  Einheitsbewußtseins,   bzw.  Betätigung  des- 
selben im  öffentlichen  Leben. 

2.  Warum    mußte    der    Frankfurter   Versuch    zur   Wiederherstellung   des 
Reiches  mißlingen? 

3.  Die  Gründung  nationaler  Staaten  in  Europa  in  der  genannten  Periode. 


234  G.  Junge. 

Daß  solche  Fragen  für  Klassenarbeiten  —  sogenannte  , kleine  Ausarbeitungen", 
die  in  den  oberen  Klassen  doch  wohl  immer  die  ganze  Unterrichtsstunde  ausfüllen 
müssen  —  höchst  passende  Aufgaben  sind,  liegt  auf  der  Hand.  Mehr  als  zwei 
oder  drei  —  manchmal  nur  eine  —  Fragen  wird  man  freilich  nicht  zur  Bearbeitung 
stellen  können. 

Der  Verfasser  verhehlt  sich  nicht,  daß  der  letzterörterte  Vorschlag  streng  ge- 
nommen den  amtlichen  Lehrplänen  nicht  ganz  entspricht,  weil  vorgeschriebener- 
maßen  die  Fragen  zur  schriftlichen  Bearbeitung  so  gestellt  werden  sollen,  daß  der 
Stoff  zur  Beantwortung  den  Schülern  ganz  geläufig  und  gegenwärtig  ist. 

Er  glaubt  jedoch,  daß  auch  im  Sinne*)  und  Geiste  der  Lehrpläne  hier  für  den 
Unterricht  in  Prima  dem  Lehrer  einige  Bewegungsfreiheit  gestattet  ist,  und  wagt 
es  daher,  die  vorstehenden  Ausführungen  der  Erwägung  und  dem  Urteil  der 
Herren  Fachgenossen  und  der  maßgebenden  Autoritäten  anheimzustellen. 

Stettin.  R.  Thiele. 


Nochmais  die  Astronomie  auf  der  Sctiule. 

Das  Februarheft  der  „Monatschrift  für  höhere  Schulen«  bringt  (S.  69—71) 
einen  Artikel  von  Herrn  Professor  Schwarzschild,  dem  Direktor  der  Göttinger 
Sternwarte:  „Über  Astronomie  auf  den  höheren  Schulen."  Erfreulicherweise  wird 
darin  betont,  daß,  um  mit  H.  Hahn  zu  sprechen,  eine  „Kreide-  und  Schwamm"- 
Astronomie  an  der  Wandtafel  wenig  Wert  hat,  daß  vielmehr  die  Schüler  auf  das 
wirkliche  Anschauen  des  Himmels  hingelenkt  werden  müssen.  „Die  Vorstellung 
eines  etwa  vorgezeigten  Planetariums  tritt  allzuleicht  an  Stelle  derjenigen  der 
Wirklichkeit,"  sagt  der  Verfasser.  Vor  dem  Planetarium  und  ähnlichen  Dingen  ist 
seit  Rousseau  schon  sehr  oft  gewarnt  worden,  leider  mit  geringem  Erfolge.  Man 
kann  nur  froh  sein,  daß  es  für  Botanik,  Physik  und  die  anderen  Zweige  der  Natur- 
wissenschaft nicht  auch  solche  Quintessenz  gibt  wie  die  kopernikanische  Lehre  für 
die  Astronomie:  eine  Quintessenz,  die  nur  einmal  mit  gehöriger  Betonung  den 
Schülern  beigebracht  zu  werden  braucht,  um  ihnen  ein  für  allemal  die  natürliche 
Auffassung  des  Anfängers,  nämlich  die  geozentrische,  als  Kleinkinderkram  er- 
scheinen zu  lassen. 

Also  es  ist  höchst  wünschenswert,  daß  die  Schüler  von  vornherein  den  Himmel 
wirklich  ansehen.  Die  Frage  ist  nur:  Wie  soll  der  Lehrer  erreichen,  daß  sie  es 
tun?  Man  kann  ja  versuchen,  in  der  Klasse  Anregungen  zum  Beobachten  zu  geben 
und   etwa   gemachte  Beobachtungen    gleichfalls   vor   der  Klasse    zu  kontrollieren. 

Ich  denke  dabei  zunächst  an  sehr  einfache  „Beobachtungen".  Ich  habe  selbst 
in  den  Klassen  von  Sexta  bis  Untertertia  gelegentlich  die  Schüler  aufgefordert,  zu 
Hause  den  Umriß  des  Mondes  abzuzeichnen,  mit  Angabe  seiner  Stellung  und  der 
Zeit.    In  der  Klasse  wurden  die  Beobachtungen  besprochen  und  im  Laufe  einiger 


*)  Sobald  diese  Arbeiten  den  Charakter  von  Extemporalien  und  gedächtnismäßigen 
Prüfungsarbeiten  annehmen,  entsprechen  sie  wohl  nicht  mehr  dem  Sinne  und  Geiste  der 
Lehrpläne.  Mtth. 


Nochmals  die  Astronomie  auf  der  Schule.  235 

Wochen  die  Veränderungen,  so  gut  es  ging,  erklärt.  Oder  wenn  ein  Schüler  das 
Sternbild  des  Orion  aus  dem  Kopf  an  die  Tafel  zeichnet  und  auch  angibt,  wann 
und  in  welcher  Richtung  er  es  gesehen  hat,  so  bin  ich  nicht  nur  sicher,  daß  der 
Schüler  selbst  den  Orion  recht  genau  betrachtet  hat,  sondern  wahrscheinlich  werden 
durch  diese  Leistung  auch  andere  Schüler  zum  eigenen  Beobachten  angeregt.  Ein 
Lehrer  von  philologischem  Interesse  mag  dabei  auch  aus  den  alten  Sagen  über  die 
Sternbilder  einiges  erzählen.  Leider  ist  es  ja  abgekommen,  in  den  gedruckten 
Tafeln  zu  den  Sternbildern  die  Umrisse  der  von  der  Sage  ihnen  beigegebenen 
Gestalten  zu  zeichnen,  etwa  wie  es  Bode  in  seinem  , Gestirnten  Himmel'  getan 
hat.*)  Mindestens  als  mnemotechnisches  Hilfsmittel  sollten  doch  die  alten  Sagen 
beachtet  werden:  wem  einmal  davon  erzählt  ist,  wie  der  Jäger  Orion  dem  Stier 
zu  Leibe  geht,  der  wird  die  gegenseitige  Stellung  dieser  Sternbilder  nicht  so  bald 
vergessen. 

Aber,  wieviel  wirksamer  als  alle  mündlichen  Unterweisungen  ist  ein  gemein- 
sames Anschauen  des  Himmels!  Überall  sonst  im  naturkundlichen  Unterricht,  in 
Physik  und  Chemie,  in  Zoologie  und  Botanik,  überall  wollen  wir  nicht  von  ab- 
wesenden Objekten  reden,  nicht  auf  die  Erinnerung  der  Schüler  allein  uns 
stützen,  sondern  Belehrung  und  Anschauung  sollen  zusammenfallen,  die  Dinge, 
von  denen  gesprochen  wird,  sollen  da  sein,  sollen  wahrgenommen  werden!  Wie- 
viel leichter  und  selbstverständlicher  werden  die  Sternbilder  gefunden,  wenn  der 
Lehrer  sie  am  Himmel  zeigt,  wieviel  leichter  wird  so  der  tägliche  scheinbare  Lauf 
aller  Gestirne  beobachtet,  der  die  einen  in  großen,  die  anderen  in  kleinen  Kreisen 
herumführt! 

Auf  solchen  astronomischen  Abenden  würde  auch  das  Schulfernrohr  zu  der 
verdienten  Ehre  kommen  —  heute  weiß  niemand  recht,  wozu  es  eigentlich  da  ist. 
In  der  Tat,  man  sollte  eine  Statistik  aufnehmen,  wem  auf  der  Schule  der  Mond, 
Jupiter,  Saturn  oder  die  Sonne  mit  ihren  Flecken  gezeigt  sind! 

Man  wird  mir  antworten:  »Ein  Lehrer,  der  durchaus  den  Schülern  Sterne  zeigen 
will,  kann  sie  ja  abends  kommen  lassen!"  —  Ja,  aber  wer  tut  es  denn?  Die  Sache 
ist  eben  gegenwärtig  doch  nicht  so  einfach.  Zunächst  ist  es  fraglich,  ob  der 
Direktor  zu  solchen  abendlichen  Unterweisungen  seine  Einwilligung  gibt.  Außer- 
dem opfert  der  Lehrer  seine  freie  Zeit  und  nimmt  den  Schülern  ihre  freie  Zeit: 
sind  denn  unsere  Schüler  durch  die  Schule  nicht  schon  übergenug  belastet? 

Den  Lehrern,  die  sich  bereit  erklären,  sollte  es  ein  für  allemal  gestattet  sein, 
astronomische  Abende  einzurichten,  aber  unter  der  grundsätzlichen  Bedingung,  daß 
keine  Mehrbelastung  der  Schüler  eintritt.  Sowie  es  jetzt  schon  gelegentlich  zum 
Zwecke  einer  botanischen  Exkursion  geschieht,  sollte  alle  ein  oder  zwei  Monate 
eine  Vormittagsstunde,  womöglich  die  letzte,  zugunsten  einer  abendlichen  Astrono- 
miestunde ausfallen.  Freilich  wie  bei  den  physikalischen  Übungen,  so  wird  auch 
hier  nicht  eine  ganze  Klasse  zugleich  teilnehmen  können.  Sollen  mehrere  Ob- 
jekte von  ungeübten  Schülern  durchs  Fernrohr  gesehen  werden,  so  sind  vielleicht 
zehn  Schüler  schon  zu  viel.  Die  Klasse  wird  also  im  allgemeinen  geteilt  werden 
müssen.    Dies  kann  auf  zwei  Wegen  geschehen.    Entweder  man  erhöht  in  dem 

*)  Wenigstens  in  einigen  Auflagen.    Vor  mir  liegt  die  sechste  von  1792. 


236  G-  Junge,  Nochmals  die  Astronomie  auf  der  Schule. 

Fach,  das  der  Astronomie  Obdach  bietet,  die  Stundenzahl  des  Lehrers  um  ein  ge- 
ringes und  richtet  es  so  ein,  daß  trotz  der  Teilung  durchschnittlich  auf  jeden  Schüler 
anstatt  einer  ganzen  Unterrichtsstunde  ebensoviel  Zeit  abendlicher  Astronomie  ent- 
fällt. Oder  aber  man  läßt  die  Stundenzahl  für  den  Lehrer  bestehen,  dagegen  die 
Schüler  verlieren  einige  Unterrichtszeit:  jedesmal  wenn  eine  Vormittagsstunde  aus- 
fällt, also  etwa  alle  Monat,  nimmt  immer  nur  ein  Teil  der  Klasse  an  der  astronomi- 
schen Abendstunde  teil. 

Solche  astronomischen  Übungen  würden,  wenn  ein  Fernrohr  vorhanden  ist 
und  die  Stundenzahl  des  Lehrers  nicht  erhöht  wird,  keinerlei  Kosten  machen,  — 
ein  vorteilhafter  Unterschied  gegen  die  physikalischen  Übungen,  die  zum  Teil 
wohl  wegen  der  hohen  Kosten  bei  uns  so  langsam  in  Gang  kommen. 

Ob  die  Astronomie  an  die  Naturwissenschaft  oder  an  Mathematik  resp.  Rechnen 
oder  ob  sie  an  die  Geographie  angegliedert  werden  soll,  darüber  wird  sich  vor- 
läufig, bei  der  Spärlichkeit  des  astronomischen  Interesses  unter  den  Oberlehrern, 
keine  allgemeine  Regel  geben  lassen.  Auch  darüber  möchte  ich  keinen  bestimmten 
Vorschlag  machen,  ob  die  eingestreuten  astronomischen  Übungen  über  die  ganze 
Schulzeit  zu  verteilen  oder  ob  sie  auf  ein  oder  einige  Jahre  zusammenzudrängen  sind. 

Ernsthafte  Schwierigkeit  kann,  wenigstens  in  großen  Städten,  die  Auswahl 
eines  Beobachtungsortes  bereiten.  Einen  Turm  für  astronomische  Zwecke  haben 
meines  Wissens  nur  einige  wenige  Berliner  Schulen  und  ein  Breslauer  Gymnasium. 
Doch  einige  Aussicht  auf  den  Sternhimmel  wird  man  auch  vom  Schulhof  oder 
einem  Klassenfenster  aus  haben.  Ja,  in  einer  Stadt  wie  Berlin  wird  ein  frei  und 
hoch  gelegenes  Klassenfenster  für  manchen  Schüler  der  beste  Ort  für  astronomische 
Beobachtungen  sein,  der  ihm  überhaupt  zugänglich  ist.  Hoffentlich  kommen  wir 
indes  einmal  so  weit,  daß  für  jeden  Schulneubau  in  einer  größeren  Stadt  ein  Turm 
selbstverständlich  ist ! 

Jedenfalls  sehe  ich  kein  Hindernis  für  eine  probeweise  Einrichtung  astronomi- 
scher Abende  in  der  vorgeschlagenen  Form,  ja  ich  halte  einen  solchen  Versuch 
für  das  beste,  was  gegenwärtig  zur  Belebung  der  Astronomie  auf  der  Schule  ge- 
schehen kann. 

Berlin.  Gustav  Junge. 


II.    Bücherbesprechungen. 


a)  Satnmelbesprechungen: 

Schulausgaben  deutscher  Klassiker. 

I.  Textausgaben  mit  Erläuterungen, 
1.  Bibliothek  deutscher  Klassiker  für  Schule  und  Haus.  Mit  Lebens- 
beschreibungen, Einleitungen  und  Anmerkungen.  Begründet  von  Dr.  Wilhelm 
Lindemann.  Zweite  völlig  neu  bearbeitete  Auflage,  herausgegeben  von  Prof. 
Dr.  Otto  Hellinghaus,  Gymnasialdirektor.  Goethes  Werke.  3  Bände.  Frei- 
burg im  Breisgau  1906.    Herder,    geb.  9  M. 

Über  die  Grundzüge  dieser  Bibliothek  siehe  die  Besprechung  der  Schiller- 
Ausgabe  in  dieser  Monatschrift  VI,  S.  386—387. 

Die  Lebensdarstellung  bietet  auf  knappem  Raum  eine  gute  Einführung  an 
der  Hand  der  besten  Quellen,  aber  auch  z.  B.  der  von  Baumgarten,  und  unter 
recht  geschickter  Benutzung  von  Goethes  eigenen  Äußerungen.  In  der  Auf- 
führung der  einzelnen  literarischen  Erscheinungen  sowie  der  Personen,  mit  denen 
Goethe  zu  tun  hatte,  ist  des  Guten  etwas  zu  viel  getan  worden.  Der  dadurch 
beanspruchte  Raum  wäre  wohl  vorteilhafter  für  eine  genauere  Würdigung  etwa 
Hamanns  und  Jung-Stillings  zu  verwenden  gewesen.  In  der  vortrefflich  dar- 
gestellten ersten  Epoche  in  Weimar  sähe  ich  gern  noch  die  Erzieherrolle  betont, 
die  Goethe  dem  Herzog  gegenüber  ausgeübt  hat.  Auch  die  Beziehungen  zu  Schiller 
sind  recht  gut  herausgekommen,  wie  überhaupt  alle  Wende-  und  Höhepunkte  in 
Goethes  Leben  und  Schaffen  zu  klarer  und  eindringlicher  Anschauung  gelangen. 
Nur  bei  der  Beurteilung  des  Verhältnisses  zu  Christiane  und  der  Beziehungen  zur 
kantischen  Philosophie  waltet  eine  gewisse  Unfreiheit  und  Befangenheit  ob,  die 
weder  dem  Primaner  noch  der  Familie  gegenüber  angebracht  ist.  Eine  ähnliche 
Befangenheit  beobachte  ich  in  der  Darlegung  von  Goethes  Religiosität  und  Welt- 
anschauung, für  die  wir  heute  so  vortreffliches  Material  besitzen  in  den  Arbeiten 
von  Vogel,  Paulsen,  Siebeck,  Haynacher  u.  a.  So  wäre  z.  B.  die  ausführliche  Dar- 
stellung der  Beziehungen  Goethes  zur  Fürstin  Gallizin  zu  ergänzen  gewesen  durch 
weitere  Ausführung  des  S.  105  erwähnten  Gesprächs  mit  Eckermann  vom  11.  März 
1832:  „Je  tüchtiger  wir  Protestanten  in  edler  Entwicklung  voranschreiten,  desto 
schneller   werden  die  Katholiken  folgen.    So  bald   sie  sich  von  der  immer  weiter 


238  P.  Lorentz, 

um  sich  greifenden  großen  Aufklärung  der  Zeit  ergriffen  fühlen,  müssen  sie 
nach  usw.  usw."  Der  Text  ist  nach  der  Weimarer  Sophienausgabe  gegeben  und 
von  hervorragender  Sorgfalt,  im  Mignonliede  aber  ist  doch  wohl  die  Lesart  „o  mein 
Gebieter",  nicht  Geliebter  jetzt  als  „echt"  durchzusetzen.  Daß  in  der  Anordnung 
der  Gedichte  in  die  von  Goethe  selbst  gegebene  Reihenfolge  die  chronologisch 
hingehörigen  dazwischen  geschoben  sind,  hat  doch  seine  Bedenken. 

In  der  Auswahl  der  Gedichte  herrscht  anerkennenswerte  Weitherzigkeit,  aber 
statt  so  mancher  poetisch  recht  wenig  bedeutender  an  Personen  gerichteter,  hätte 
ich  lieber  die  indischen  Balladen  mit  ihrer  tiefchristliehen  Grundidee  und  die  Ge- 
heimnisse aufgenommen  gesehen  oder  auch  die  Braut  von  Korinth,  Weltseele,  das 
Prooemion  u.  a.  Bei  der  durch  die  Dreizahl  der  Bände  gebotenen  Beschränkung 
haben  außer  den  Gedichten  natürlich  nur  die  poetischen  Meisterwerke  Platz  finden 
können  von  Götz  bis  zum  Faust,  die  Benutzer  dieser  Goetheausgabe  müssen  sich 
also  die  Kenntnis  von  Wilhelm  Meister,  Dichtung  und  Wahrheit,  der  Wahl- 
verwandtschaften, der  Italienischen  Reise,  von  denen  für  die  Schule  nur  eine  Aus- 
wahl, für  das  Haus  natürlich  alles  in  Betracht  kommt,  aus  andern  Goetheausgaben 
verschaffen.  Abänderungen  des  Textes  haben  nur  im  Werther  und  im  Faust  statt- 
gefunden. Daß  da  die  romantische  und  die  klassische  Walpurgisnacht  ganz  fehlen, 
ist  durchaus  zu  billigen.  Freilich  hätte  das  Fehlende  durch  Inhaltsangabe  ersetzt 
werden  sollen.  Nicht  scharf  genug  aber  kann  die  willkürliche  Änderung  des 
Textes  verurteilt  werden,  wie  sie  durch  Auslassung  von  ganzen  und  halben  Versen, 
in  mehrern  Szenen  des  Faust  vorgenommen  ist.  Die  Einleitungen  in  die  ein- 
zelnen Dichtungen  erfüllen  ihren  Zweck,  sind  aber  nicht  ganz  gleichmäßig, 
gehen  z.  B.  da,  wo  es  sich  um  religiöse  Fragen  handelt,  wie  bei  Orests  Sühnung 
und  Fausts  Schuld  und  Erlösung,  nicht  bis  auf  den  tiefsten  Grund,  sie  halten  sich 
da  mehr  innerhalb  des  Kirchlichen  statt  in  das  Psychologische  zu  gehen.  Die 
Anmerkungen  sind  außerordentlich  sorgfältig,  und  für  den  Zweck,  den  sie  ver- 
folgen, auch  nicht  zu  zahlreich,  selbst  nicht  beim  Faust.  Die  Ausstattung  ist 
wieder  ganz  vortrefflich,  besonders  auch  durch  den  Bilderschmuck,  der  das  Jugend- 
bild von  May,  die  Büste  von  Trippel,  das  Altersbild  von  Stieler  wiedergibt.  An 
Druckversehen  ist  mir  nur  in  III,  304  unten  aufgefallen  1857  für  1587. 

2.  Sammlung  Göschen.  No.  364.  Deutsche  Literaturdenkmäler  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  bis  Klopstock.  I.  Lyrik.  Ausgewählt  und  er- 
läutert von  Dr.  Paul  Legeband.     Leipzig  1908.     171  S.    geb.  0,80  M. 

Durch  diese  Auswahl  wird  die  Möglichkeit,  den  Zeitraum  zwischen  Luther 
und  Lessing  durch  charakteristische  Proben  reichlich  zu  illustrieren,  in  sehr  er- 
freulicher Weise  verstärkt.  Denn  auch  für  den  Lehrer  war  früher  das  Material 
doch  noch  zu  vielfach  verstreut,  für  die  Schüler  kam  nur  die  Auswahl  in  Böttichers 
und  Kinzels  Denkmälern  der  älteren  deutschen  Literatur  in  Betracht.  Diese  neue 
Sammlung  von  Legeband  scheidet  die  geistliche  Lyrik,  die  aber  doch  ganz  un- 
entbehrlich für  den  Charakter  jenes  Zeitraumes  ist  und  die  im  Religionsunterricht 
kaum  nach  ihrem  literaturgeschichtlichen  und  ästhetischen  Wert  behandelt  werden 
dürfte,  fast  ganz  aus;  nur  von  Scheffler,  Zinzendorf,  Geliert,  DroUinger  findet  sich 
je  ein  Lied.  Um  so  reicher  ist  dafür  die  weltliche  Lyrik  vertreten.  Die  beiden 
einzigen  Dichter,  die  wohl  eigentlich  diesen  Namen  verdienen,  Fleming  und  Günther, 


t 
Schulausgaben  deutscher  Klassiker.  239 

kommen,  jener  mehr  als  dieser,  gut  zur  Geltung,  ebenso  Logau  und  Hagedorn, 
auch  sonst  schwerer  zugängliche  Poeten  wie  Spee,  Moscherosch,  Hoffmannswaldau, 
Lohenstein,  dann  besondes  Haller,  Brockes,  Kästner  sind  durch  charakteristische 
Proben  vertreten.  Mehr  kulturgeschichtlichen  als  dichterischen  Wert  haben  natür- 
lich die  Verse  von  Zesen,  von  Katharina  Regina  von  Greiffenberg,  der  Gott- 
schedin u.  a.  Aber  die  Sammlung  gehört  durchaus  auch  in  die  Hand  des  Ge- 
schichtslehrers. Daß  die  Rechtschreibung  der  Zeit  der  Dichter  selbst  beibehalten 
worden  ist,  konsequent  wenigstens  für  das  17.  Jahrhundert,  erscheint  mir  nicht 
unwichtig,  da  hier  die  Einwirkung  auf  das  Auge  den  Barockcharakter  verstärken 
hilft.  Die  ganz  wenigen  Anmerkungen  rechtfertigen  aber  nicht  die  Bezeichnung 
„erläutert",  eine  ganze  Reihe  sprachlicher  und  sachlicher  Bemerkungen  würden 
das  Verständnis  noch  bedeutend  fördern.  Die  literaturgeschichtliche  Einführung 
erfüllt  ihren  Zweck  recht  gut.  Das  Buch  verdient  recht  weite  Verbreitung  und 
macht  auf  den  IL  Teil,  der  die  Prosa  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  enthalten 
muß,  begierig. 

3.  Schöninghs  Ausgaben  deutscher  Klassiker  mit  ausführlichen  Er- 
läuterungen. VIL  Ergänzungsband,  Poesie  und  Prosa  aus  dem  16.,  17.,  18. 
Jahrhundert  von  F.  Weicker,  Seminarlehrer  in  Wittlich.  Paderborn  1906» 
230  S.    geb.  2,10  M. 

Eine  recht  umsichtige  praktische  Auswahl,  die  freilich  für  evangelische  Schüler 
von  Luther  zu  wenig  enthält,  obwohl  die  Proben  seiner  Prosa  wie  Poesie  charak- 
teristisch genannt  werden  müssen.  Von  andern  evangelischen  Kirchenliederdichtern 
sind  vertreten  Decius,  Hermann,  Mathesius,  Nicolai,  Gerhardt  und  Geliert,  von 
katholischen  nur  Spee,  denn  Scheffler  gehörte  ja  beiden  Konfessionen  an.  Außer- 
dem sind,  was  in  die  Sammlung  nicht  mehr  hineingehörte,  geistliche  Lieder  aus 
der  Zeit  vor  der  Reformation  aufgenommen,  wo  der  Herausgeber  mit  Unrecht 
bereits  „die"  Blütezeit  des  deutschen  Kirchenliedes  konstatiert.  Hans  Sachs,  Brant, 
der  Murner,  Fischart  sind  vertreten,  weiterhin  Opitz,  Dach,  Fleming,  Gryphius, 
Grimmeishausen,  Abraham  a  Santa  Clara,  Haller,  Hagedorn,  E.  v.  Kleist,  Gleim, 
Lichtwer,  Pfeffel,  die  Dichter  des  Hains.  Vermißt  wird  bei  Scheffler  die  mystisch- 
pantheistische  Spruchpoesie  und  vor  allem  wird  vermißt  der  bedeutendste 
Lyriker  zwischen  Walther  v.  d.  Vogelweide  und  Goethe,  Christian 
Günther;  Raummangel  kann  doch  nicht  der  Grund  für  seinen  Fortfall  gewesen 
sein?  Und  erfreuliche  Weitherzigkeit  und  Freimut  herrscht  doch  in  der  Auswahl 
von  Volksliedern  im  Anhang.  Die  kurzen  literaturgeschichtlichen  Einteilungen 
treffen  im  allgemeinen  das  Richtige.  Luther  aber  soll  „ohne  Beruf"  in  das  Kloster 
gegangen  sein?  und  zwischen  1517  und  seinem  Tode  war  nichts  von  ihm  zu 
erwähnen?  Bei  Hans  Sachs  ist  ein  Wort  über  seine  Stellung  zur  Reformation,  in 
der  ein  großes  Stück  seines  dichterischen  Schaffens  wurzelt,  gar  nicht  zu  ent- 
behren, so  wenig  wie  bei  Fischart.  Und  warum  wird  J.  H.  Voß'  Gemüt  und 
Phantasie  so  ganz  abgesprochen  und  Stollbergs  „Geschichte  der  Religion  Jesu 
Christi"  so  stark  gewürdigt?  Auch  sind  Claudius'  komische  Balladen  gar  nicht 
so  platt,  wie  der  Herausgeber  meint.  Die  sprachlichen  Anmerkungen  erfüllen  ihren 
Zweck  gut,  sie  sind  stets  sachlich  und  prunken  nicht  mit  übel  angebrachter  Ge- 
lehrsamkeit. —  Ergänzungsband  VIIL  Der  Schwäbische  Dichterkreis  von 


240  P.  Lorentz, 

Chr.  A.  Ohly.    1907.    geb.  1,50  M.    Eine  reiche,  vielseitige  Auswahl,  in  der  mit 
Recht  auch  die  jüngeren  Schwaben  vertreten  sind,  wie  Gerok,  Fischer  und  Vischer; 
Uhland  fehlt,  weil  er  einen  Band  für  sich  allein  erhält.   Von  den  älteren  ist  doch 
so  manches  Gedicht  aufgenommen,   auf  das  Goethes  hartes  Urteil  über  Pfizer  von 
den    „deprimierenden    Unpotenzen"    zutrifft.      Auch    hätte    bloße   Vollständigkeit 
nicht  angestrebt  zu  werden  brauchen,  Grüneisen  und  Krais  konnten  ohne  Schaden 
fehlen.    Im  übrigen  ist  es  erfreulich,  bei  aller  Gemeinsamkeit  doch  auch  in  dieser 
Sammlung   die  Mannigfaltigkeit  und  Eigenartigkeit  der  Schwaben   zu  beobachten. 
Der  allzu  reich  bedachte  Schwab  aber  hätte  zugunsten  des  gar  nicht  hoch  genug 
zu  bewertenden  Mörike,   von  dem  der  unvergleichliche  Turmhahn  leider  fehlt, 
etwas  eingeschränkt  werden  können.    Die  reich  bemessenen  Literaturangaben  sind 
recht  willkommen,  aber  wer  D.  F.  Strauß,  Hegel,  Schelling  waren,  bedürfte  doch 
der  Erläuterung.    Die  Anmerkungen    halten  sich  frei  von  Selbstverständlichkeiten. 
Daß    aber    bei  den  Gedichten  selbst  die  Gliederung  der  Teile  äußerlich  kenntlich 
gemacht  werde  und  die  leitenden  Gedanken  durch  den  Druck  hervorgehoben  wurden, 
war  recht  überflüssig.  —  Uhland,  Ludwig  der  Baier  von  Dr.  H.Schneider, 
<3ymnasialprofessor   in   Regensburg.     1906.    Geb.  1,30  M.    Die   Ausgabe   könnte 
neben  der  von  Weismann  bei  Cotta  mit  Recht  als  ein  Wagnis  bezeichnet  werden. 
Ihr  Hauptverdienst  ist  nun  die  aktenmäßige  Darlegung  des  Schicksals  des  Dramas 
in  der  bairischen  Preiskommission:  es  wurde  abgelehnt,  weil  der  päpstliche  Legat 
darin    allzu    deutlich    zum  Wortbruch  aufforderte,  ein  Hochaltar  und  ein  funktio- 
nierender Geistlicher  auf  die  Bühne  gebracht  und  die  Vertreibung  eines  Gespenstes 
durch   kirchliche   Zeremonien   als   Spiel   vorgenommen    wird.    Der  geschichtliche 
Hintergrund  wird  ausführlich  nach  Riezlers  Geschichte  Baierns  gegeben,  der  Bau 
des  Stückes  genau  gegliedert,   was  berechtigt  ist,    da  gerade  dies  Drama  als  eins 
der   ersten   gelesen    zu   werden    pflegt.     Die   Anmerkungen   sind   leider  ein   ab- 
schreckendes Beispiel    durch   ihre  Überladung   mit  Stoff,    kaum  10  Zeilen  hinter- 
einander  sind   ohne    Anmerkungen   geblieben,   die  auch   das   Allergewöhnlichste 
glauben    „erläutern"    zu  müssen  und   nicht  selten  auf  zehn  Zeilen  Text  30  eng- 
gedruckte Zeilen  Kommentar  liefern.  —  Schillers  Don  Carlos  von  Dr.  M.  Gorges, 
Gymnasial-Oberlehrer  in  Münster  i.  W.     1907.    geb.  2  M.  Eine  neben  den  bereits 
vorhandenen,  bei  Velhagen  &  Klasing  und  bei  Freytag  erschienenen,  recht  brauchbare 
Schulausgabe.  Der  Schüler  wird  in  wünschenswerter  Form,  ohne  Anhäufung  gelehrten 
Apparates  in  die  Entstehung  und  den  Ideengehalt  des  Stückes  eingeführt.    Unver- 
ständlich bleibt  freilich,  daß  die  Wendung  in  Schillers  äußerem  Geschicke,  die  durch 
Körner  eintrat,  „ein  bedauernswerter  Umschwung"  genannt  wird.    Hervorgehoben  ist 
die   geschickte   Inhaltsangabe   dieses   weitschichtigen   und   zwiespältigen  Stückes, 
dessen  Einheit  tatsächlich  doch  nicht  so  gelungen  ist,  wie  der  Verfasser  der  Briefe 
über  den  Don  Carlos  es  darstellt.    Für  die  Charakteristik  der  Personen  und  Würdi- 
gung  der  Hauptscenen    ist  Gorges  mit  Recht  bei  Kühnemann  und  Bellermann  in 
die  Schule  gegangen.    Die  Anmerkungen  halten  sich  in  sehr  vernünftigen  Grenzen 
und   benutzen    gleichfalls   schon  vorhandene  Erklärungen.    Ganz  vorurteilsfrei  ist 
die  Erörterung   über   die  „Gedankenfreiheit"    und   der  mehrfach  betonte  Sieg  der 
Ideen    des   Posa   gehalten.    Die   Ausgabe    wird    mit    großem    Nutzen    gebraucht 
werden  können..  —    Friedrich  Hebbel,    Die  Nibelungen   von   C.  Schmitt, 


Schulausgaben  deutscher  Klassiker.  241 

Seminarlehrer  in  Osnabrück.  1906.  Geb.  2,20  M.  Nach  den  vortrefflichen  Aus- 
gaben von  Gaudig,  Neumann  und  Jahnke  war  es  nicht  leicht,  eine  neue  mit 
eigenen  Vorzügen  zu  geben.  Daß  der  Text  der  vorliegenden  einzelne  Kürzungen 
erfahren  hat,  ist  ihm  nicht  nachteilig  geworden.  Die  Fußnoten  bieten,  trotz- 
dem sie  nicht  überwuchern,  noch  manches  Überflüssige:  z.  B.  zu  I,  29  Kumpan 
ist  es  völlig  gleichgültig,  zu  erfahren,  daß  Goethe,  nicht  etwa  Hebbel,  auch  die 
Form  Comp  an  hat,  bei  den  Robben  I,  59  brauchte  nicht  die  ganze  Natur- 
geschichte dieser  Tiere  verzeichnet  zu  werden;  II,  179,  wo  Kriemhild  ein 
Veilchen  pflückt,  brauchte  nicht  in  13  enggedruckten  Zeilen  des  Kommentars,  Hebbels 
Vorliebe  für  diese  Blume,  Novalis  blaue  Blume  der  Romantik  und  eine  Stelle  aus 

Schillers  Wallenstein  herangezogen  zu  werden  u.  a.  m Im  Anhang,  auf  den  der 

Verfasser  das  Hauptgewicht  legt,  wird  über  Leben  und  Schaffen  Hebbels  gut  be- 
richtet. Aber  ein  Plätzchen  war  da  auch  Elise  Lensing  zu  gönnen,  sie  hat  doch 
nun  einmal  eine  sehr  große  Bedeutung  für  den  Werdegang  des  Dichters,  und 
ebenso  Hebbels  Stellung  zu  den  großen  öffentlichen  Fragen  seiner  Zeit.  Die  Be- 
deutung Hebbels  für  die  Epoche  der  realistischen  Dichtung  des  19.  Jahrhunderts 
durfte  nicht  übergangen  werden.  Sehr  ausführlich  wird  dann  der  Stoff  der  „Nibe- 
lungen" erörtert,  nach  Herkunft  und  Verhältnis  zu  den  Bearbeitungen  durch  andere 
Dichter:  Fouque,  Raupach,  Wagner,  Geibel.  Daß  Hebbel  gerade  die  Braunsche 
Übersetzung  des  Nibelungenliedes  benutzt  hat,  ist  für  eine  Schulausgabe  unwesent- 
lich. Auch  die  sehr  ausgedehnte  Widerlegung  einer  Programmabhandlung  von 
Röpe  aus  dem  Jahre  1865  und  einer  Abhandlung  von  Meinck  aus  dem  Jahre  1905 
treffen  ja  meist  das  Richtige,  gehören  aber  in  dieser  Ausführlichkeit  keinesfalls  in 
eine  Schulausgabe,  und  bei  Siegfried  eine  wirkliche  Schuld  finden  zu  wollen,  geht 
doch  nicht  an.  Der  Aufbau  der  einzelnen  Akte  und  Szenen  ist  gleichfalls  von 
eingehendster  Genauigkeit,  ebenso  die  Beantwortung  der  etwa  70  Fragen  über 
das  Stück,  35  Themata  sind  außerdem  zur  Auswahl  für  Aufsätze  gestellt.  Das 
Ganze  stellt  eine  außerordentlich  fleißige  Arbeit  dar.  —  Von  Schönnighs  Aus- 
gaben ausländischer  Klassiker  ist  mir  zugegangen  XI:  Homers  Ilias,  nach 
der  ersten  Ausgabe  der  deutschen  Übersetzung  von  J.  H.  Voß  von  Dr.  J.  A.  Kilb. 
1906.  geb.  1,30  M.  Ehe  wir  nicht  eine  völlige  Neudichtung  Homers  haben,  zu 
der  die  Nachdichtung  von  Hans  Georg  Meyer  eine  sehr  hoch  zu  bewertende 
Etappe  bildet,  wird  sich  die  Schule,  hier  also  die  Realschule,  an  Voß  halten 
müssen,  wie  das  schon  Hubatsch  und  Weißenborn  mit  mehr  oder  weniger  Ab- 
änderung, wie  sie  unsere  Zeit  und  die  Ergebnisse  der  Homerforschung  bedingen, 
getan  hatten.  Sie  benutzt  auch  mit  Recht  Kilb.  In  seiner  Auswahl  hat  er  21  eigene 
Gesänge  zu  je  150—300  Versen  zusammengestellt,  die  nur  das  Wesentlichste  der 
Handlung,  d.  h.  also  des  ,Liedes  vom  Zorn  des  Achilles'  enthalten.  Freilich  ist 
da  nicht  viel  mehr  als  das  bloße  Skelett  übrig  geblieben,  von  dem  blühenden 
Fleisch  der  homerischen  Dichtung  ist  nicht  viel  zu  spüren.  Nicht  nur  so  herrliche 
Episoden  wie  Diomedes  und  Glaukos,  Die  Doloneia,  Die  Hoplopoiia  u.  a.  hat 
wegfallen  müssen,  sondern  auch  so  wichtige  Stücke  wie  der  Zweikampf  zwischen 
Paris  und  Menelaus,  zwischen  Aias  und  Hektor,  Thersites  und  der  Volksaufstand, 
durch  dessen  Ausfall  sogar  der  Zusammenhang  zerrissen  wird.  Es  ist  in 
allen   solchen  Fällen  durchaus  geratener,   selbständige  ganze  Stücke 

MonaUchrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  16 


242  P-  Lorentz, 

zu  geben  und  das  Ausgelassene  durch  Prosaerzählung  zu  ergänzen. 
Einleitung  und  Anhang  entsprechen  dem  Bedürfnis  und  verwenden  die  Ergebnisse 
der  heutigen  Forschung.  Über  100  Themata  zu  schriftlicher  Bearbeitung  werden 
angegeben,  aber  für  manche  von  ihnen  kommen  als  Stoff  kaum  20  Zeilen  des  Epos 
in  Betracht. 

Die  Schulausgaben  des  Schöninghschen  Verlages  sind  übrigens  jetzt  fast  die 
einzigen,  die  noch  die  unpraktische  und  hygienisch  bedenkliche  Drahtheftung  bei- 
behalten haben, 

4.  Von  Freytags  Schulausgaben  (Leipzig  und  Wien)  liegen  in  unver- 
änderter Gestalt,  aber  in  neuer  Rechtschreibung  vor:  Auswahl  aus  den  höfi- 
schen Epikern  1.  Hartmann  von  Aue  und  Gottfried  von  Straßburg  von  P.  Hagen 
und  Th.  Lenschau.  1906.  geb.  0,80  M.  —  Goethe,  Aus  meinem  Leben. 
2.  Bd.  von  Hachez.  1906.  geb.  0,80  M.  —  Hebbel,  Die  Nibelungen  von 
Neumann.  1907.  geb.  1,50  M.  —  Kleist,  Prinz  von  Homburg  von  Bene- 
dict. Mit  einem  Plan  der  Schlacht  bei  Fehrbellin.  3.  Aufl.  1907.  geb.  0,60  M. 
—  Lessing,  Emilia  Galotti  von  O.  Langer.  2.  Aufl.  1908.  geb.  0,70  M.  Die 
Ausstattung  hat  in  den  Bändchen  seit  1907  durch  den  Leinenband  und  Aufdruck 
des  Titels  erheblich  gewonnen,  in  der  Güte  des  Papiers  wird  sie  von  andern 
übertroffen. 

5.  Sammlung  deutscher  Schulausgaben  von  Velhagen  &  Klasing. 
Bielefeld  und  Leipzig.  Lief.  84:  Friedrich  Hebbel,  Die  Nibelungen  von 
Dr.  W.  Haynel,  Oberlehrer  in  Linden  bei  Hannover.  1907.  geb.  1,30  M. 
An  Stelle  der  früheren  gekürzten  Ausgabe  von  Gaudig  ist  die  neue  voll- 
ständige von  Haynel  getreten.  Die  Einleitung  gibt  in  ganz  vortrefflicher  Weise 
auf  äußerst  knappem  Raum  ein  Bild  des  Dichters,  dieses  tapfersten  Kämpfers 
im  „heiligen  Kriege"  um  seinen  Beruf  und  seine  Weltanschauung,  von  dieser 
selbst  die  Grundzüge,  die  zugleich  das  Verständnis  für  seine  Dichtung  ab- 
geben. In  der  Einführung  in  den  Stoff  wird  besonders  gut  herausgestellt  Recht 
und  Unrecht  in  der  Selbständigkeit  der  Charaktere  und  die  innere  Berechtigung 
des  Sieges  des  Christentums,  das  bekanntUch  dem  Dichter  selbst  keineswegs  von 
ausschließlichem  Werte  gewesen  ist.  Die  Anmerkungen  enthalten  nicht  nur 
sachliche  und  sprachliche  Erläuterungen,  sondern  auch  willkommene  Winke 
für  das  Verständnis  der  dramatischen  Entwicklung.  Das  Ganze  ist  eine  recht 
gute  Schulausgabe  auch  für  den  Gebrauch  in  der  Klasse.  Der  diskrete 
und  geschmackvoll  verwendete  Buchschmuck  in  Anlehnung  an  den 
Empirestil  verdient  ebenso  Anerkennung  wie  die  prächtigen  neuen 
Druckertypen,  die  die  Verlagshandlung  jetzt  verwendet.  Den  An- 
sprüchen auch  des  Schulbuchs  auf  Kunstwert  ist  gerade  auch  durch 
den  Druck  erfreulich  Rechnung  getragen.  —  Lief.  118:  Anthologie 
mittelalterlicher  Gedichte,  zusammengestellt  von  Prof.  Dr.  H.  Löschhorn. 
1906.  geb.  1  M.  „Für  Schulen,  die  der  mittelalterlichen  Dichtung  nur  geringe 
Zeit  zu  widmen  vermögen,  und  denen  es  nur  auf  eine  allgemeine  Übersicht  an- 
kommt," ist  nach  des  Herausgebers  Angabe  diese  Zusammenstellung  gemacht 
worden.  Freilich  geht  ja  wohl  das  Bestreben  aller  Gattungen  unserer  höheren 
Schulen  heute  dahin,  die  Kenntnis  dieser  nationalen  Dichtungen  eher  zu  erweitern. 


Schulausgaben  deutscher  Klassiker.  243 

und  vor  allem  auch  die  Bekanntschaft  mit  dem  Urtext  mehr  und  mehr  herbeizu- 
führen. Für  den  bei  weitem  umfangreichsten  Teil  dieser  Zusammenstellung  konnte 
der  Text  den  Lieferungen  46,  91,  107  entnommen  werden,  nämlich  für  den 
Armen  Heinrich,  Parzival,  Walther  von  der  Vogelweide,  neu  sind  hinzugekommen 
Chamissos  Lied  vom  Thrym  aus  der  Edda,  die  Merseburger  Zaubersprüche  mit 
dem  Urtext,  Hildebrandslied,  drei  Stücke  aus  dem  Heliand  und  einiges  aus  dem 
Waltharilied,  die  letzteren  von  Löschhorn  übersetzt,  nicht  ohne  Härten,  aber 
lesbar.  Die  literaturgeschichtliche  Übersicht,  in  der  doch  auch  Ansätze  zu  innerer 
Vertiefung  vorhanden  sind,  ist  praktisch.  —  Lief.  120:  Wieland,  Oberon,  her- 
ausgegeben von  Prof.  Dr.  E.  v.  Sallwürk.  1908.  geb.  1  M.  Wieland  bleibt  für 
die  Schüler  in  der  Regel  eine  unbekannte  Literaturgröße,  jedenfalls  wird  das  in 
der  Literaturgeschichte  ihnen  gegebene  Bild  durch  eigene  Lektüre  nicht  recht  an- 
schaulich. Das  liegt  natürlich  an  der  Art  der  von  Wieland  behandelten  Stoffe. 
Der  Oberon  ist  nun  ohne  Frage  besonders  geeignet,  die  Bekanntschaft  zu  ver- 
mitteln, und  das  wird  durch  die  vorliegende  Ausgabe  vortrefflich  gelingen.  Die 
Dichtung  ist  bis  auf  mehrere  unkünstlerische  Längen  und  einige  aus  pädagogischen 
Gründen  ungeeignete  Stellen  —  so  fiel  mit  Recht  der  ganze  11.  Gesang  fort  — 
vollständig  abgedruckt,  die  fortgelassenen  Stellen  sind  durch  kurze  Prosaerzählung 
ersetzt.  Die  Einleitung  gibt  ein  klares  Bild  von  Wielands  Leben  und  Persönlich- 
keit und  namentlich  auch  von  seiner  Stellung  innerhalb  der  Entwicklung  der 
deutschen  Literatur,  die  Anmerkungen  beseitigen  natürlich  nur  die  Schwierigkeiten 
im  Sach-  und  Wortverständnis.  Die  Ausgabe  dürfte  sich  recht  viel  Freunde  er- 
werben. Ich  halte  nun  aber  auch  eine  Auswahl  aus  den  Prosa-Dichtungen 
Wielands  nicht  nur  für  möglich  und  wünschenswert,  sondern  geradezu 
für  notwendig.  Denn  die  Stellung  Wielands  als  Vorklassiker,  gerade 
wegen  seines  Prosastiles,  ist  doch  zu  bedeutend,  als  daß  man  seiner 
Bekanntschaft  entbehren  dürfte.  Und  der  Agathon,  die  Abderiten, 
der  goldene  Spiegel  und  durchaus  auch  der  Aristipp  bieten  auch 
höchst  wertvollen  Stoff  für  ein  solches  Lesebuch.  Der  Schüler  würde 
daraus  selbständig  die  Überzeugung  gewinnen,  wie  , Wieland,  mitten 
inne  zwischen  Lessings  Ernst  und  Klopstocks  Überschwenglichkeit" 
stehend,  durch  seine  an  dem  modernen  französischen  Griechentum 
geschulte  Grazie  zu  dem  Stil  Goethes  hinüberleitet  und  würde  dadurch 
erst  das  hohe  Urteil  Goethes  in  seiner  Rede  auf  Wieland  bei  der 
Logenfeier  und  im  Gespräch  mit  Falk  an  seinem  Begräbnistage  als 
gerechtfertigt  erkennen.  —  Lief.  121:  Annette  von  Droste-Hülshoff, 
eine  Auswahl  aus  ihren  Gedichten,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Schmitz- 
Mancy.  1908.  geb.  1  M.  Eine  besonders  willkommene  Bereicherung  der  Samm- 
lung! Deutschlands  größte  Dichterin  ist  zugleich  eine  der  charakteristischsten 
Gestalten  der  nachklassischen  Epoche,  für  die  die  Bezeichnung  des  silbernen 
Zeitalters  zutrifft.  Ihre  bleibende  Bedeutung  mit  markanten  Strichen  zu  zeichnen, 
ist  dem  Herausgeber  recht  gut  gelungen.  Die  Auswahl  berücksichtigt  erstens  die 
subjektive  Dichtung,  wie  sie  in  Naturschilderungen,  Stimmungsmalerei,  Gedanken- 
dichtung sich  ausprägt,  also  Lyrik  im  engeren  Sinne,  und  zweitens  die  objektive 
Dichtung,    wie    sie    die    erzählenden  Gedichte    und    Balladen    darbieten,    also 

16* 


244  P.  Lorentz, 

epische  Dichtung.  In  beiden  sind  die  bei  aller  inneren  Einheit  doch  erfreulich 
mannigfaltigen  Züge  der  Dichterin  geschickt  zur  Geltung  gebracht  worden,  auch 
der  verhältnismäßig  seltene  Humor  fehlt  nicht  ganz.  Von  „des  alten  Pfarrers  Woche" 
hätte  ich  aber  alle  sieben  Tage  aufgenommen,  gerade  die  vom  Herausgeber  fort- 
gelassenen enthalten  menschlich  recht  wertvolle  Züge.  Nach  meinem  persönlichen 
Geschmack  dürften  auch  in  keiner  Sammlung  von  Annettens  Gedichten  die  beiden 
selten  charakteristischen  „Die  Krähen"  und  „Der  Dichter"  fehlen.  Aus  der  größeren 
epischen  Versdichtung,  die  „Schlacht  am  Loener  Bruch"  sind  zwei  größere  Stücke 
aufgenommen.    Die  Auswahl  verdient  recht  weite  Verbreitung. 

6.  Denkmäler  der  älteren  deutschen  Literatur,  herausgegeben  von 
Bötticher  und  Kinzel.  Halle  a,  S.  Buchh.  d.  Waisenhauses.  III.  2.  Martin 
Luther.  L  Teil  von  Prof.  Dr.  Richard  Neubauer.  1908.  Vierte,  vielfach 
verbesserte  Auflage,    kart.  2,80  M. 

Den  unermüdlichen  Herausgeber  hat  der  große  Erfolg  der  bisherigen  Auflagen 
dieses  allseitig  als  hervorragend  anerkannten  Lutherbuches  zu  immer  erneuter 
Prüfung  des  Textes  und  der  Erläuterungen  veranlaßt.  Namentlich  ist  in  der 
Schreibung  eine  immer  größere  Konsequenz  beobachtet,  in  der  Erläuterung  auf 
die  einschlägige  Literatur,  soweit  es  zweckdienlich  war,  immer  mehr  Bezug  ge- 
nommen. Es  ist  durchaus  erwünscht,  daß  diese  handliche,  vielseitige  Ausgabe 
nicht  nur  von  den  Primanern  tüchtig  gelesen,  sondern  auch  allen  an  deutschen 
höheren  Schulen  mitwirkenden  Lehrern,  gleichviel  welcher  Fachwissenschaft,  gründ- 
lich bekannt  werde,  soweit  sie  nicht  zu  noch  erweitertem  Sonderstudium  der 
Schriften  Luthers  gelangen;  und  auch  dazu  bildet  sie  die  denkbar  beste  Ein- 
führung. —  Ein  erfreuliches  Zeichen  regen  Bedürfnisses  ist  es,  daß  aus  derselben 
Sammlung  die  Literatur  des  18.  Jahrhunderts  vor  Klopstock  von  Bötticher 
in  3.  Auflage,  1908,  geh.  1,10  M.,  erscheinen  konnte.  Wer  sie  aus  langjähriger 
Benutzung  im  Unterricht  kennt,  wird  ihren  Wert  zu  schätzen  wissen  und  sie  allen 
Fachgenossen  angelegentlich  empfehlen. 

7.  Graesers  Schulausgaben  klassischer  Werke.  Leipzig  o.  J.  B.  G. 
Teubner.  Anastasius  Grün,  Spaziergänge  eines  Wiener  Poeten.  Auswahl 
aus  „Schutt",  herausgegeben  von  Dr.  Valentin  Pollak.    kart.  0,50  M. 

Da  die  Bedeutung  dieses  Österreichers  vornehmlich  in  seiner  Gedanken- 
dichtung, in  seinen  politischen  Zeitgedichten  liegt,  seine  Bekanntschaft  von  dieser 
Seite  aber  nicht  gut  durch  die  Aufnahme  einzelner  Gedichte  in  den  Lesebüchern 
der  mittleren  Klassen  vermittelt  werden  kann,  so  war  es  ein  glücklicher  Gedanke, 
in  einem  Sonderheft  eine  Auswahl  darzubieten.  Sie  wird  in  der  biographisch- 
iiteraturgeschichtlichen  Einleitung  dem  Dichter  und  Politiker,  weniger  dem  Menschen 
in  dem  Grafen  Auersperg  gerecht.  Seine  Gestalt  hebt  sich  da  gut  von  dem  kultur- 
geschichtlichen Hintergrunde  des  vormärzlichen,  Metternichschen  Wien  ab,  indem 
sie  für  Luft  und  Licht  der  Gedanken  der  neuen  Zeit  tapfer  kämpfend  eintritt.  Und 
wenn  dem  Herausgeber  natürlich  auch  darin  beizustimmen  ist,  daß  die  Fragen,  die 
den  Dichter  bewegten,  heute  nicht  mehr  Leidenschaften  auszulösen  vermögen,  so 
ist  dieses  Stück  Zeitgeschichte,  aufgefangen  im  Spiegel  der  Dichtung,  doch  ein  höchst 
schätzbares  Dokument.  Aus  den  „Spaziergängen"  sind  außer  der  Widmung  an 
Uhland   zwanzig   der   wirksamsten  Gedichte   aufgenommen,   aus   dem  Gedanken- 


Schulausgaben  deutscher  Kl/ssiker.  245 

Zyklus  „Schutt"  von  den  beiden  letzten  der  Teile  „Cincinnatus"  und  „Fünf  Ostern" 
zwölf  bzw.  fünf,  die  fehlenden  sind  ihrem  Inhalt  nach  in  den  Anmerkungen  wieder- 
gegeben. Die  Ausgabe  ist  als  Ergänzungsheft  der  deutschen  Literatur  des  19.  Jahr- 
hunderts, also  vor  allem  zu  Vortragszwecken  geeignet  und  wird  auch  von  dem 
Geschichtslehrer  beachtet  werden  müssen. 

8.  Die  Meisterwerke  der  deutschen  Bühne,  herausgegeben  von  Prof. 
Dr.  Georg  Witkowski.  Leipzig.  Max  Hesse.  Über  Art  und  Einrichtung  dieser 
Ausgaben,  die  zu  ungewöhnlich  wohlfeilem  Preise  ganz  besonders  Wertvolles  dar- 
bieten, ist  von  mir  in  dieser  Monatschrift  bereits  1905,  IV,  S.  526  und  1907,  VI, 
S.  386  gesprochen  worden.  Die  neuen  Erscheinungen  rechtfertigen  nicht  nur  das 
Lob  der  früheren,  sondern  verstärken  es  noch.  No.  54.  Otto  Ludwig,  Der  Erb- 
förster  von  Prof.  Dr.  Ad.  Stern.     1907.    geh.  0,30  M. 

Dem  feinsinnigen  Literaturhistoriker  und  Dichter  Adolf  Stern  verdanken  wir 
bereits  eine  sehr  wirksame  Darstellung  des  Lebens  O.  Ludwigs  sowie  die  Mit- 
herausgabe seiner  gesammelten  Schriften.  So  steht  denn  auch  die  Einführung  in 
dieses  Dramas,  eines  Hauptwerkes  der  realistischen  Dichtung  des  19.  Jahrhunderts,  auf 
der  zu  erwartenden  Höhe.  Die  Würdigung,  die  das  Drama  erfährt,  besonders  auch 
in  der  richtigen  Abwägung  seiner  Vorzüge  und  Fehler,  eröffnet  dem,  der  es  noch 
nicht  kennt,  den  richtigen  Zugang,  und  versteht  dem,  der  es  kennt,  seinen  Wert 
erheblich  zu  vertiefen.  No.  53  Hebbel,  Herodes  und  Mariamne  von  Prof. 
Dr.  Max  Koch.  Universität  Breslau  1907.  geh.  0,30  M.  Den  besonderen  Vor- 
zug dieser  Ausgabe  des  bekannten  Literaturhistorikers  sehe  ich  in  der  genauen 
Berücksichtigung  der  eigenen  Vorrede  Hebbels  zu  diesem  Stück,  die  auch  mit- 
abgedruckt wird,  sowie  in  dem  einleuchtenden  Hinweis  auf  die  persönlichen  Be- 
ziehungen zu  Hebbels  Ehe  und  in  der  Parallele  mit  Ibsens  Problemdramen,  von 
denen  Hebbels  Dramen  sich  doch  wieder  so  charakteristisch  unterscheiden.  Sehr 
willkommen  ist  auch  die  Gestaltung  des  Textes  durch  Abdruck  der  früher  von 
Hebbel  ausgeschiedenen  Verse.  —  No.  45,  46,  47,  48.  Goethe,  Faust  I.  Band. 
Der  Tragödie  1.  und  2.  Teil.  Urfaust,  Entwürfe  und  Skizzen,  geh.  1,20  M. 
II.  Band.  Kommentar  und  Erläuterungen,  geh.  1,20  M.,  von  Prof.  Dr.  Georg 
Witkowski.  1907.  Der  rühmlichst  bekannte  Goetheforscher  bietet  hier  dem 
größeren  Publikum  zum  ersten  Male  die  Gesamtheit  der  Goethischen 
Lebensarbeit  am  Faust,  den  Text  auf  wissenschaftlicher  Grundlage,  aber  natür- 
lich ohne  den  kritischen  Apparat,  Einführung  und  Erklärungen  nach  dem  gegen- 
wärtigen Stande  der  unablässig  fortschreitenden  Beschäftigung  der  Wissenschaften 
mit  jener  unserer  nationalsten  Dichtung.  Die  Fähigkeit,  die  Witkowski  schon  viel- 
fach kundgegeben  hat,  wissenschaftliche  Forschungen  in  einer  im  besten  Sinne 
populären  Form  darzubieten,  kommt  hier  aufs  neue  zu  wirksamster  Geltung.  Die 
Einleitung  unterrichtet  kurz  über  Richtung  und  Ergebnis  der  Faustforschung,  die 
seit  1886  mit  der  Entdeckung  des  „Urfaust"  in  ein  ganz  neues  Stadium  getreten 
war.  Es  folgt  die  Behandlung  der  Faustsage  und  Faustdichtung  vor  Goethe  und 
eine  eingehende  Darlegung  der  Entstehung  der  einzelnen  Teile  der  Goetheschen 
Dichtung.  Einen  besonders  wichtigen  Teil  bildet  der  Abschnitt  über  die  Handlung 
des  Dramas  und  seine  Idee,  weiterhin  wird  über  die  Form  der  Dichtung,  die 
Charaktere  und  die  Bühnengeschichte  gehandelt.    Wer  mit  der  Faustliteratur  ver- 


246  P.  Lorentz, 

traut  ist,  erkennt  bald,  daß  kaum  eine  wichtige  Frage  unberührt  geblieben  ist,  daß 
der  Verfasser  zu  allen  eine  selbständige  Stellung  einnimmt,  auch  ohne  daß  weit- 
schichtige persönliche  Auseinandersetzungen  erfolgen.  Eine  geschickte  Zusammen- 
stellung von  160  der  wichtigsten  Schriften  über  den  Faust  geben  das  Material  für 
die  nähere  Beschäftigung  mit  den  Einzelheiten.  Die  Erläuterungen  zu  einzelnen 
Versen  der  Dichtung  selbst  und  der  Entwürfe,  besonders  also  des  Urfaust,  auf 
221  enggedruckten  Seiten  vervollständigen  diesen  neuen  Faustkommentar,  der  ein 
mindestens  ebenbürtiger  Rivale  seiner  Vorgänger  i§t.  Wenn  ich  etwas  an  den  mit 
vollster  Beherrschung  des  Materials  und  seiner  völlig  selbständigen  Durchdringung 
gegebenen  Darstellung  vermisse,  so  ist  es  das  klare  deutliche  Aussprechen  der 
Tatsache,  daß  die  Goethesche  Faustdichtung  nur  auf  der  Grundlage  der  abend- 
ländischen Kultur,  die  durch  die  Idee  des  Christentums  geschaffen  wurde,  möglich 
war,  ja,  daß  diese  Idee  in  ihrem  Reingehalt,  losgelöst  von  jeder  kirchlichen  und 
konfessionellen  Einkleidung,  zum  guten  Teil  das  innere  Leben  der  Dichtung  aus- 
macht; und  weiter  der  Nachweis,  daß  das  Faustische  Ringen  und  sein  Ausgang 
eine  Besonderheit  deutschen  Geistes  darstellt.  Die  Witkowskische  Faustausgabe 
ist  jedem  Lehrer  an  höhern  Schulen  als  Handbuch  zu  wünschen  und  wird  auch 
manchem  Primaner  schon  helfen  können,  sich  den  Weg  zum  Verständnis  und  Ge- 
nuß, was  hier  sehr  nahe  sich  berührt,  dieser  Weltdichtung  zu  bahnen. 

9.  Deutsche  Schulausgaben,  herausgegeben  von  Dr.  J.  Ziehen,  Stadt- 
schulrat in  Frankfurt  a.  M.  Dresden  o.  J.  Ehlermann.  Ich  erwähne  zunächst 
eine  Reihe  im  Berichtsjahr  oder  schon  früher  erschienener  neuer  Auflagen,  die  alle 
als  durchgesehene  bezeichnet  sind  und  soweit  tunlich,  kleinere  Verbesserungen 
gegenüber  früheren  aufweisen.  Ihre  z.  T.  sehr  rasche  Aufeinanderfolge  ist  der 
beste  Beweis  für  die  große  Brauchbarkeit.  No.  19.  Die  Dichtung  der  Be- 
freiungskriege von  J.  Ziehen,  geb.  0,80  M.  Sie  ist  zugleich  eine  vermehrte 
und  trägt  dem  bezüglich  der  ersten  Auflage  geäußerten  Wünschen  Rechnung. 
No.  21/22.  Homers  Odyssee  von  demselben,  geb.  1,20  M.  No.  34.  Quellen- 
buch zur  deutschen  Geschichte  seit  1815  von  demselben,  geb.  1,45  M. 
No.  35.  Goethes  Gedankenlyrik  von  P.  Lorentz.  geb.  1,40  M.  Sie  verbessert 
vor  allem  störende  Druckfehler  und  berichtigt  einiges  Sachliche  in  den  Anmer- 
kungen. No.  36.  Körners  Zriny  von  Schladebach.  geb.  0,80  M.  No.  38. 
Homers  Ilias  übersetzt  von  J.  H.  Voß,  in  verkürzter  Gestalt  herausgegeben  von 
J.  Ziehen,  geb.  1,45  M.  Von  Neu-Erscheinungen  sind  mir  folgende  zu- 
gegangen: No.  41.  Schillers  Wilhelm  Teil  von  Hellwig.  geb.  1,20  M.  Die 
Einleitung  enthält  vor  allem  die  sehr  anschaulich  gehaltene  Einführung  in  das  Wesen 
der  dramatischen  Dichtkunst,  die  so  recht  aus  dem  Unterricht  hervorgegangen 
ist  und  eine  gute  Vorbereitung  für  die  theoretischen  Erörterungen  in  Prima 
bildet.  Bei  der  Tragödie  werden  hier  mit  Recht  nur  die  geläufigen  Typen  des 
Tragischen  in  Betracht  gezogen.  Besonders  bemüht  ist  der  Herausgeber,  Teil  als 
Helden  des  ganzen  Dramas  hinzustellen,  die  Einheit  des  Dramas  wird  aber 
trotz  der  Bemühung  Schillers  durch  die  Teilhandlung  doch  nicht  erzielt.  Über- 
zeugend ist  dagegen  nachgewiesen,  warum  Teil  nicht  ein  politischer  Held  werden 
durfte.  Das  eigenartige  des  Teildramas  ist  doch  eben,  was  als  vorausdeutend  auf 
Hauptmanns  „Weber"  aufzufassen  ist,  daß  das  Schweizervolk  als  solches  gewisser- 


Schulausgaben  deutscher  Klasstker.  247 

maßen  den  Helden  des  Stückes  abgibt.  Die  Karte  des  Vierwaldstätter  Sees  wird 
die  Brauchbarkeit  des  Buches  noch  erhöhen,  das  so  recht  zum  Gebrauch  in  der 
Klasse  geeignet  ist.  No.  42.  Shakespeare,  König  Lear  von  Dr.  E.  Waßer- 
zieher.  geb.  1,20  M.  Der  Text  wird  nach  der  Schlegel-Tieckschen  Übersetzung 
gegeben  mit  dem  durch  die  Ergebnisse  der  Forschung  notwendig  gewordenen 
Veränderungen.  Was  die  Einleitung  ausführt  über  die  Entstehung  und  das  künst- 
lerische Problem  der  Dichtung  —  der  Lear  die  Tragödie  des  Undanks,  wie  des 
Macbeth  die  des  Ehrgeizes,  der  Othello  die  der  Eifersucht  —  ferner  über  die 
Einheit  der  Handlung  trotz  der  vorhandenen  Doppelhandlung,  ist  sehr  gut  geeignet, 
in  das  Verständnis  der  Dichtung  einzuführen,  da  sie  die  wesentlichsten  Gesichts- 
punkte aufstellt,  unter  denen  sie  mit  nachhaltigem  Erfolge  gelesen  werden  kann. 
Einleuchtend  ist  die  knappe  Charakteristik  der  Personen,  recht  praktisch  die  von  Shake- 
speares Sprache.  —  No.  46.  Begleitstoffe  zur  deutschen  Literaturgeschichte 
des  16.-18.  Jahrhunderts,  augewählt  und  eingeleitet  von  Prof.  Dr.  Kinzel. 
1.  u.  2.  Aufl.  geb.  1,45  M.  Diese  Auswahl  ist,  soweit  ich  sehen  kann,  ohne 
Konkurrenz  —  vgl.  aber  oben  die  Ausgabe  von  Weicker  und  Legeband.  Denn  auf 
192  Seiten  gibt  sie  eine  Zusammenstellung  des  Lesens-  und  Wissenswürdigsten 
von  Hans  Sachs  bis  Gleim  unter  Zusammenziehung  der  in  den  „Denkmälern" 
bereits  veröffentlichten  Stoffe,  wobei  dann  freilich  die  charakteristische  geistliche 
Lyrik  ganz  fortfallen  mußte.  Die  klare,  tiefgreifende,  knapp  gehaltene  Einleitung 
in  das  Ganze,  wie  die  in  die  einzelnen  Abschnitte  zeugen  von  langjähriger  Er- 
fahrung im  Unterricht.  In  künftigen  Auflagen  muß  aber  durchaus  noch 
für  Schefflers  Sprüche  Raum  geschaffen  werden:  wir  haben  außer  in 
den  Goethischen  Sprüchen  kaum  irgend  etwas,  das  sich  damit  ver- 
gleichen ließe.  —  No.  47.  Sophokles,  König  Ödipus,  übersetzt  von 
Martin  Wohlrab,  Geh.  Studienrat  in  Dresden,  geb.  0,60  M.  Die  Einführung 
verwendet  das,  was  der  Verfasser  in  seiner  Monographie  über  das  Drama  gegeben 
hatte,  auf  dessen  bleibende  Bedeutung  hier  wiederholt  hingewiesen  worden  ist 
(s.  Monatschr.  IV,  529/30,  1905.  VI,  382,  1907  u.  s.).  Die  Übersetzung  ist  in  fünf- 
füßigen Jamben  gegeben,  die  lyrischen  Partien  im  Versmaß  des  Urtextes;  durch 
jenes  gewinnt  das  Deutsche,  durch  dieses  verliert  es,  denn  es  führt  zu  harten 
Wendungen,  der  Erfolg  steht  hier  nicht  im  Verhältnis  zu  der  aufgewandten  Mühe. 
Die  Dialogpartien  und  zumal  die  monstichischen  lesen  sich  erfreulich  glatt  und 
treffen  nicht  selten  mit  glücklicher  Wendung  den  Sinn  des  Urtextes,  z.  B.  v.  67, 
532,  975,  979,  1184/85,  selten  begegnen  Härten  wie  „den  Übermensch"  873;  „ihr, 
die  hier  wohnhaft  sind"  1048,  v.  1022—1024  würde  ich  mit  Nauck  umstellen, 
1169/70  ist  axooaTsov  kühn,  aber  sinngemäß  übersetzt:  ich  will  hören.  Die  Über- 
setzung tritt  der  von  Hubatsch  bei  Velhagen  u.  Klasing  würdig  an  die  Seite.  — 
No.  49.  Aus  Goethes  Prosa  von  Prof.  Dr.  Kinzel.  geb.  1,45  M.  Diese 
Auswahl  will  dem  Bedürfnis  der  Schüler  entgegenkommen,  Goethe  aus  eigenen 
Darstellungen  auch  als  Kunstschriftsteller  und  Biographen  kennen  zu  lernen, 
also  von  den  beiden  Seiten,  die  seine  Bedeutung  als  Dichter  gut  ergänzen. 
Der  Abschnitt  „Zur  Kunst"  bringt  Goethes  Rede  und  Abhandlungen  über 
Shakespeare,  über  die  deutsche  Baukunst,  über  Winkelmann  und  Laokoon,  über 
Lionardo  da  Vincis  Abendmahl  und,  was  eine  durchaus  erwünschte  Ergänzung  bildet, 


248  P-  Lorentz, 

die  über  das  Erwachen  der  niederrheinischen  und  niederländischen  Malerei.  Der 
Abschnitt  „Aus  Goethes  Leben"  entnimmt  seinen  Stoff  der  zweiten  Schweizerreise, 
der  Campagne  in  Frankreich,  gibt  nach  den  Annalen  die  Bekanntschaft  mit 
Schiller,  anderes  minder  Wichtige,  dann  aber  auch  „Dankbare  Gegenwart  1823". 
Ganz  aus  dem  Rahmen  heraus  fällt  Abschnitt  I,  der  die  „Novelle"  und  „Ferdinand" 
aus  den  Unterhaltungen  der  Ausgewanderten  bringt.  Diese  beiden  Dichtungen 
gehören  besser  zusammen  mit  ähnlichen,  wie  sie  Sallwürk  bei  Vel- 
hagen  &  Klasing,  Lief.  114  zusammengestellt  hat.  Dann  würde  auch 
Platz  für  andere  Seiten  Goethescher  Prosa,  vor  allem  könnte  Goethe 
als  Naturforscher  zur  Geltung  kommen,  eine  Seite,  die  doch  noch  in 
ganz  anderer  Weise  den  Dichter  in  ihm  ergänzt  hat.  Ein  vortrefflicher 
Schmuck  nicht  nur,  sondern  eine  ganz  unentbehrliche  Unterstützung  der  Lektüre 
sind  die  sechs  Bilder  zu  dem  Abschnitt  über  Kunst.  Das  Büchlein  sei  den 
Fachgenossen  zur  Beachtung  empfohlen.  —  No.  50.  Goethes  Italienische 
Reise  in  verkürzter  Gestalt,  herausgegeben  von  Dr.  Julius  Ziehen, 
geb.  1,50  M.  Die  Einleitung  erörtert  auf  knappem  Raum  außer  der  Ent- 
stehungsgeschichte und  Goethes  Selbstzeugnissen  über  das  Buch  vor  allem  die 
pädagogische  Bedeutung  seiner  Lektüre  auf  den  höheren  Schulen:  „Es  kann 
nichts  Erfreulicheres,  nichts  Bedeutenderes  geben,  als  den  Äußerungen  eines 
derart  gesteigerten  Daseins  nachzugehen"  —  „Scheuklappen  tragender  Einseitig- 
keit mag  bange  werden  vor  der  Fülle  der  Gesichte,  die  ihr  aus  dem  Reisebericht 
entgegentritt,  aber  gerade  dadurch  gewinnt  ja  dieser  Teil  von  Goethes  autobio- 
graphischen Aufzeichnungen  seinen  großen  geistigen  Nährwert,  daß  er  mit  einer 
Weltauffassung  bekannt  macht,  auf  die  Natur  und  Menschendasein  in  harmonischem 
Nebeneinander  einwirken."  Ausgeschieden  sind  aus  dem  Text  außer  kleinen, 
weniger  wichtigen  Bemerkungen,  größere  selbständige  Ausführungen,  wie  der  Be- 
such beim  Prinzen  Pallagonia,  bei  der  Familie  Cagliostros,  dem  Gouverneur  von 
Messina,  dann  besonders  aus  dem  zweiten  Teil  die  Materialien  zu  der  beabsichtigten 
kulturgeschichtlichen  Landesbeschreibung  Italiens.  Die  Briefe  vom  23.  8.  1787, 
vom  6.  9.  87  und  14.  3.  88  hätte  ich  in  größerer  Ausführlichkeit  gegeben,  den  vom 
28.  8.  87  hätte  ich  nicht  fortgelassen,  weil  alle  diese  ganz  notwendige  Züge  für 
den  Goethe  der  Italienischen  Reise  aufweisen.  Der  Bilderschmuck  ist  eine  präch- 
tige Zugabe,  er  umfasst  den  Campo  vaccino  nach  Piranesi,  die  Goethe-Palme  in 
Padua,  die  schiefen  Türme  in  Bologna,  den  Minervatempel  von  Assisi  und  einige 
Goethesche  Handzeichnungen.  Die  Ausgabe  ist  durchaus  geeignet,  den  Gewinn, 
den  Ziehen  von  der  Lektüre  der  Italienischen  Reise  für  den  Primaner  erwartet, 
in  vollstem  Maße  zu  erzielen.  —  No.  56.  Hebbel,  Agnes  Bernauer  von 
Dr.  Berthold  Schulze,  Oberlehrer  am  Schillergymnasium  zu  Groß-Lichterfelde. 
geb.  1  M.  Die  Einleitung  enthält  Entwicklung  und  Würdigung  der  dramatischen 
Gestaltung  und  den  Aufbau.  In  recht  geschickter  Weise  wird  Vorbereitung,  Ent- 
faltung und  Austrag  des  Konflikts  „aufgerollt,  nicht  lehrhaft  erklärt",  wie  sich  der 
Verfasser  vorsichtig  ausdrückt.  Die  Zweiteilung  1  —  111,9  und  III,  10 —V,  10  ist 
praktisch  und  richtig.  Die  ganze  Methode  des  Verfassers  hat  etwas  von  der  Art, 
mit  der  „der  ideale  Zuschauer"  eine  dramatische  Handlung  verfolgt.  Sehr  ein- 
leuchtend ist  der  Hinweis  auf  des  Großen  Kurfürsten  Verfahren  gegen  den  Prinzen 


Schulausgaben  deutscher  Klassiker.  249 

in  Kleists  Drama,  dessen  Parallele  ja  manchem  Erklärer  bei  der  Behandlung  des 
Stückes  vor  den  Schülern  schon  aufgefallen  sein  wird.  Die  Idee :  «die  deutsche 
politische  Religion,  —  ein  etwas  gesuchter  Ausdruck  —  mit  der  das  rein  Mensch- 
liche in  Konflikt  gerät",  konnte  noch  nach  der  Seite  weiter  ausgeführt  werden, 
daß  eben  auch  die  starke  und  ausschließliche  Bewertung  des  rein  menschlichen 
Gefühlslebens  etwas  besonders  deutsches  ist.  Praktisch  ist  es,  daß  der  Anhang 
Zeugnisse  Hebbels  zur  Entstehungsgeschichte  und  Idee  des  Dramas  enthält  sowie 
das  alte  Volkslied  von  der  Agnes  Bernauer.  Hoffentlich  trägt  auch  diese  Schul- 
ausgabe kräftig  dazu  bei,  dies  Hebbelsche  Drama,  ohne  dessen  Kenntnis  ich 
keine  Primaner-Generation  lasse,  der  Schule  näher  zu  bringen. 

10.  Deutsche  Schulausgaben,  herausgegeben  von  Gaudig  undFrick. 
Leipzig.  B.  G.  Teubner.  Goethe,  Dichtung  und  Wahrheit  von  Dr.  O.  Kästner, 
Direktor  der  höheren  Mädchenschule  zu  Landsberg  a.  W.    1907.    kart.  1,20  M. 

Richtiger  müßte  der  Titel  lauten  „ein  Lesebuch  aus  Dichtung  und  Wahrheit". 
Wo  man  es  nicht  vorzieht,  ganze  Bücher,  aber  natürlich  nicht  alle,  von  Goethes 
Selbstbiographie  lesen  zu  lassen,  was  ich  doch  stets  tue,  da  wird  die  Auswahl 
recht  gute  Dienste  leisten.  Sie  ist  aber  eben  eigentlich  ein  neues  Buch  geworden 
infolge  der  Ausscheidungen  und  Zusammenrückungen,  die  als  solche  nirgends  ge- 
kennzeichnet sind.  Natürlich  wird,  wie  bei  allen  solchen  Auswahlen  der  eine  dies, 
der  andere  jenes  vermissen  bzw.  missen  wollen.  Aber  der  aus  dem  Anhang  er- 
sichtliche Gesichtspunkt,  zu  zeigen,  wie  Goethe  das,  was  er  geworden  ist,  wurde, 
kommt  durch  die  getroffene  Auswahl  gut  zur  Geltung.  Der  „Durchblick  durch 
den  Roman"  zeichnet  sich  vor  allem  durch  frische,  fröhliche,  den  Nagel  auf  den 
Kopf  treffende  Bezeichnungen  für  Goethes  Entwicklungsstufen  aus  sowie  durch 
geschickte  Hinweise  auf  zusammenfassende,  zu  schriftlicher  Bearbeitung  geeignete 
Gesichtspunkte.  —  Von  Dr.  G.  Fr  ick  sind  in  der  vorliegenden  Sammlung  bearbeitet: 
Lessings  Emilia  Galotti.  1906.  geb.  0,65  M.  Grillparzers  König  Otto- 
kars Glück  und  Ende.  1906.  geb.  0,80  M.  Goethes  Egmont.  1907.  kart. 
0,60  M.  Schillers  Don  Karlos.  1907.  kart.  1,20  M.  Schillers  Kabale  und 
Liebe.  1907.  kart  0,70  M.  Die  Ausgaben  verwerten  alle  die  Arbeiten,  die  in 
dem  ausführlichen  Werke  „Aus  deutschen  Lesebüchern"  niedergelegt  sind,  sind 
mit  Recht  sehr  sparsam  mit  Anmerkungen  und  geben  hübsche  praktische  Beilagen, 
zu  denen  besonders  auch  die  Zeittafeln  gehören.  Bei  dem  „Rückblick  auf  den 
tragischen  Gehalt"  der  einzelnen  Stücke  waltet  ein  gewisses  Schema  vor.  Zum 
Gebrauch  in  der  Klasse  sind  alle  diese  Ausgaben  hervorragend  geeignet.  — 
Homers  Ilias  in  Auswahl  nach  der  Übersetzung  von  J.  H.  Voß  von  Dr.  Georg 
Finsler,  Rektor.  1906.  geb.  0,80  M.  Auch  dieser  Herausgeber  hat  sein  größeres 
Werk  über  Homer,  das  dem  Lehrer  des  Griechischen  eine  Fülle  von  praktischen 
Fingerzeigen  für  die  Behandlung  im  Unterricht  darbietet,  für  eine  Schulausgabe 
benutzen  können.  Die  Auswahl  berücksichtigt  B.  1,  3—6,  9,  16,  18,  22—24,  läßt 
aber  die  weniger  wichtigen  Episoden  darin  fort;  alles  Fehlende  wird  durch  Prosa- 
erzählung ersetzt.  Der  Anhang  enthält  außer  einer  Tafel  der  Götter  und  Helden 
in  knapper,  klarer  und  eingehende  Durcharbeitung  verratender  Darstellung  das 
Wichtigste  über  den  Dichter,  seine  Sprache,  die  Ökonomie  der  Dichtung,  innere 
Form   der  Darstellung,   Charakteristik    der   Personen   und   Kulturverhältnisse.   — 


250  P-  Lorentz, 

Sophokles  Antigone  übersetzt  von  Joh.  Geffken  und  Jul.  Schultz.  1907. 
kart.  0,40  M.,  geb.  0,65  M.  Welchen  Anteil  jeder  der  beiden  Übersetzer  hat,  ist 
nicht  zu  ersehen,  der  größere  scheint  Geffken  zu  gehören,  dem  wir  ja  ein  Buch 
über  das  griechische  Drama  verdanken.  Die  Übersetzung  hält  die  Mitte  zwischen 
solchen  poetischen  Nachdichtungen,  wie  wir  sie  Wilamowitz  und  Wilbrandt  ver- 
danken, und  solchen  für  Schulzwecke  gegebenen  wie  der  von  Hubatsch  bei  Vel- 
hagen  &  Klasing,  von  Veit  Valentin  bei  Ehlermann  und  der  Bearbeitung  der 
Donnerschen  von  Martens  bei  Freytag.  Die  vorliegende  macht  sich  eben  auch 
vom  Wortlaut  möglichst  frei,  außer  wo  es  auf  prägnanten  Ausdruck  ankommt. 
Als  Metrum  der  Dialogpartien  ist  der  fünffüßige  Jambus  gewählt,  offenbar  in  der 
Überzeugung,  daß  er  uns  heute  noch  allein  im  Drama  wohlansteht,  die  lyrischen 
Stellen,  von  denen  eine  geradezu  als  Arie  bezeichnet  wird,  sind  durchweg  freie 
Nachdichtungen  in  gereimten  Versen,  unter  Anlehnung  an  das  griechische  Metrum. 
Als  besonders  gelungene  Wiedergabe  nenne  ich  V.  34,  89,  237,  719/20,  781.  Zu- 
weilen sind  doch  auch  recht  ungewöhnliche  Ausdrücke  verwendet  worden  wie 
Trautgesellin,  Harst,  mähnig.  Besondere  Einführungen  in  das  Drama, 
Würdigung  seines  Gehaltes  u.  dgl.  enthält  die  Ausgabe  nicht. 

11.  Dürrs  deutsche  Schulausgaben.  Die  Ausgaben  sind  zunächst  für 
den  Gebrauch  an  Lehrer-  und  Lehrerinnen-Seminaren  bestimmt,  für  den  in  Dürrs 
Deutscher  Bibliothek  ein  vollständiges  Lehrmittel  für  den  deutschen  Unterricht 
vorliegt,  das  jene  Textausgaben  voraussetzt.  Die  mir  zur  Besprechung  zugegangenen 
beiden  Bändchen  könnten  die  Verwendung  aber  auch  durchaus  an  höheren  Schulen 
finden. 

1.  Die  deutschen  Dichter  von  Luther  bis  Klopstock  von  Liz.  Friedr. 
Mich.  Schiele.  4.  Auflage.  1908.  kart.  0,60  M.  2.  Die  Zeitgenossen 
Goethes  von  demselben.    3.  Auflage.     1908.    kart.  0,60  M. 

Beide  Auswahlen  sind  mit  sicherem  Blick  für  das  Charakteristische  getroffen. 
Daß  in  der  ersten  auch  Übersetzungen  von  Lotichius  (1528—1560)  aufgenommen 
sind,  könnte  Bedenken  erregen,  indessen  die  Persönlichkeit  dieses  ehemaligen 
Klosterschülers  und  Studenten  und  späteren  Landsknechtes,  der  als  Professor  der 
Medizin  in  Heidelberg  an  den  Folgen  eines  vergifteten  Liebestrankes  starb,  recht- 
fertigt es  durchaus.  Ebenso  ist  es  richtig,  daß  von  Klopstock  auch  Sprüche  auf- 
genommen wurden.  Einen  hübschen  Schmuck  bilden  die  beiden  Holzschnitte: 
das  Schlaraffenschiff  aus  Brants  Narrenschiff  und  das  Titelblatt  von  Murners 
Lutherbeschwörung.  Die  Zeitgenossen  Goethes  umfassen  die  Dichter  des  Hains, 
dann  Schubart,  Claudius  und  Hebel,  die  Romantiker  und  die  Dichter  der  Befreiungs- 
kriege. Sehr  brauchbar  ist  die  Angabe  der  Vertonungen  der  lyrischen  Gedichte 
durch  Schumann,  Mendelssohn,  Brahms,  die  Volksweisen  im  Kommersbuch. 

12.  Cottasche  Handbibliothek.  No.  141.  Ausgewählte  Balladen 
von  Theodor  Fontane.     Stuttgart  und  Berlin  o.  J.    geh.  0,40  M. 

Ein  prächtiges  Büchlein,  durch  dessen  Veröffentlichung  sich  die  berühmte  Ver- 
lagshandlung gerade  so  um  die  deutsche  Jugend  verdient  gemacht  hat,  wie  durch 
die  Auswahl  aus  den  Wanderungen  durch  die  Mark  Brandenburg.  Das  Vorwort 
gibt  in  raschen  Zügen  eine  gute  Skizze  des  Dichters.  Aufgenommen  sind  vier 
Balladen  aus  dem  Nordischen,   elf  aus  dem  Englisch-Schottischen,   fünf  frei    n?ch 


Schulausgaben  deutscher  Klassiker.  251 

dem  Englischen  und  21  aus  dem  deutsch-preußischen  Leben.  Das  Büchlein  ver- 
dient die  allerweiteste  Verbreitung. 

13.  Die  Dichter  der  Befreiungskriege  von  Friedrich  Arnold.  I.  Teil: 
Einführung  in  die  Dichtungen,  eleg.  geb.  2  M.  II.  Teil:  Auswahl  aus  den 
Dichtungen  Arndts,  Körners,  Schenkendorfs,  Rückerts.  eleg.  geb.  2.  M.  Beide 
Teile  in  einem  Leinwandband  3  M.  Der  II.  Teil  auch  besonders  unter  dem  Titel 
Auswahl  aus  den  Dichtern  und  Sängern  der  Befreiungskriege,  kart.  1  M.  C.  Vin- 
cent.   Prenzlau  1908. 

Das  Werk  ist  als  praktisches  Handbuch  für  den  Lehrer,  zur  Vorbereitung  auf 
die  zweite  Lehrerprüfung  und  das  Mittelschullehrer-Examen  gedacht  und  wird 
diesen  Zweck  jedenfalls  recht  gut  erfüllen.  Die  Liebeslyrik  und  die  Übersetzungen 
Rückerts  täte  man  doch  besser,  abzutrennen,  um  dafür  noch  diesen  und  jenen 
anderen  Sänger  der  Freiheitskriege  zu  Gehör  zu  bringen,  wenn  auch  nur  mit 
einzelnen  Liedern.  Daß  von  Arndt  auch  recht  viel  aus  seiner  Prosa  aufgenommen 
ist,  ist  sehr  willkommen  zu  heißen.  Der  1.  Teil  enthält  auch,  was  gleichfalls  sehr 
brauchbar  ist,  historische  Volkslieder  jener  Zeit,  und  dann  auch  Dichtungen  von 
Kleist,  Eichendorff,  Fouque  und  Uhland.  Die  reichlichen  Literaturangaben  sind 
eine  recht  dankenswerte  Zusammenstellung.  In  den  Erklärungen  wird  die  kultur- 
geschichtliche Grundlage  meist  richtig  getroffen,  die  didaktische  Darlegung  reiht 
die  einzelnen  Gedichte  in  den  Lebenslauf  des  Dichters  ein  und  gibt  Inhaltsangaben, 
die  zuweilen  freilich  geradezu  Auflösungen  der  Gedichte  in  Prosa  sind.  Die 
ungeheure  Fülle  von  Fleiß,  die  in  dem  Buche  steckt,  verdient  die  vollste  An- 
erkennung. 

II.   Selbständige  Erläuterungsschriften. 

1.  Heinrich  Dünzer,  Erläuterungen  zu  den  deutschen  Klassikern. 
1.  Bändchen:  Goethes  Hermann  und  Dorothea.  9.  Auflage.  Besorgt  von 
Dr.  E.  Ellinger.    Altenburg  S.-A.  1906.    Wartigs  Verlag,    geh.  1  M. 

Daß  Erläuterungen  zu  Schriftstellern  über  ein  halbes  Jahrhundert  lang  auf- 
gelegt werden,  ohne  wesentliche  Veränderungen  zu  erfahren,  spricht  für  sie. 
Dünzers  Kommentare,  die  stillschweigend  viel  benutzt  wurden  und  werden,  seit 
sie  ein  ungewöhnlich  reiches  Material  zum  ersten  Male  darboten,  waren  zuletzt 
doch  in  der  Geltung  zurückgetreten,  weil  die  vielfach  zu  redselige  Breite  und  die 
unnötig  heftige  Polemik  abstieß.  Ellinger  hat  durch  Beseitigung  dieser  beiden 
Hauptmängel  die  Benutzung  der  Erläuterungen  zu  Hermann  und  Dorothea  wesent- 
lich erhöht.  Die  Polemik  aber  z.  B.  gegen  Humboldt  S.  78/80  wäre  auch  noch 
richtig  zu  stellen  gewesen.  Außerdem  hat  er  natürlich  inzwischen  unhaltbar  ge- 
wordene Auffassungen  Dünzers  durch  die  jetzt  fast  allgemein  angenommenen  er- 
setzt. —  Dasselbe.  Bd.  5—6:  Schillers  Räuber.  2.  Auflage.  Besorgt  von 
Dr.  Otto  Ladendorf,  Oberlehrer  in  Leipzig.  1906.  geh.  2  M.  Hier  haben  die 
Erläuterungen  eine  sehr  viel  durchgreifendere  Bearbeitung  erfahren  müssen,  zumal 
in  dem  Abschnitt  über  die  Entstehung  der  Tragödie,  über  die  inzwischen  sicherere 
und  genauere  Angaben  bzw.  Auffassungen  möglich  geworden  sind.  Auch  hier 
sind  die  Kürzungen  nur  zum  Heil  gewesen,  wenn  auch  2V2  Hundert  enggedruckte 
Seiten  noch  recht  reichlich  sind.    Die  knappen  Inhaltsangaben  von  den  einzelnen 


252  P-  Lorentz, 

Akten  und  Szenen  haben  dadurch  gewonnen.  Im  einzelnen  ist  die  Auffassung 
nicht  immer  zu  billigen,  wenn  z.  B.  die  Szene  zwischen  Franz  Moor  und  Pastor 
Moser  in  der  Ökonomie  des  Dramas  auch  entbehrlich  ist,  so  muß  doch  die  außer- 
ordentUch  starke  Wirkung  hervorgehoben  werden. 

2.  Schillers  ästhetisch-sittliche  Weltanschauung,  aus  seinen  philo- 
sophischen Schriften  gemeinverständlich  erklärt  von  Dr.  Paul  Geyer, 
Professor  am  Kgl.  Gymnasium  zu  Brieg.  I.  Teil.  Zweite  verb.  Aufl.  Weid- 
mannsche  Buchhandlung  1908.  kart.  1,60  M.  Den  Kern  der  Schrift  bilden  die 
Gedankenzüge  der  Abhandlungen  über  das  Erhabene,  Anmut  und  Würde,  Grund 
des  Vergnügens  an  tragischen  Gegenständen,  die  tragische  Kunst,  das  Pathetische. 
In  der  Einleitung  werden  die  Begriffe  des  Schönen  und  Erhabenen  im  Umriß  der 
geschichtlichen  Entwicklung  unter  besonderer  Berücksichtigung  Kants  erörtert,  zum 
Schluß  Schillers  Theorie  der  Tragödie  und  ihr  Verhältnis  zur  Lehre  des  Aristoteles 
und  zu  neueren  Anschauungen  behandelt.  Der  erste  Teil  der  Schrift,  S.  1 — 64, 
ist  in  der  neuen  Auflage  (die  erste  erschien  1896)  fast  unverändert  geblieben,  hier 
und  da  ist  ein  Ausdruck  schärfer  gefaßt  bzw.  gemildert,  eine  Anmerkung  ergänzt 
u.  dgl.  Der  zweite  Teil,  S.  65—81,  hat  durchgreifendere  Änderungen  erfahren. 
An  Stelle  der  Auseinandersetzung  mit  Dühring,  die  mit  Recht  fortfiel,  und  der 
schematischen  Übersicht  der  Hauptbegriffe,  die  ich  nicht  gern  misse,  ist  die  Wir- 
kung über  die  Katharsis  und  den  Begriff  des  Tragischen  eingetreten,  vor  allem  die 
Auseinandersetzung  mit  Volkelt,  wobei  ich  nicht  immer  auf  der  Seite  Geyers  stehe. 
Für  künftige  Auflagen  würden  noch  die  Abhandlung  von  Knoke,  Programm 
Osnabrück  1906,  und  das  Buch  von  Engel,  Schiller  als  Denker,  zu  berücksichtigen 
sein.  Ich  benutze  das  Büchlein  schon  seit  seinem  ersten  Erscheinen  und  habe 
es  sehr  brauchbar  gefunden;  die  Brauchbarkeit  wird  durch  die  neue  Auflage 
noch  erhöht. 

3.  C.Rethwisch,  Der  bleibende  Wert  des  Laokoon.  2.  Aufl.  Berlin  1907. 
Weidmannsche  Buchhandlung.  1  M.  Auch  dieses  Schriftchen  hat  sich  mir  von 
Anfang  an,  als  es  i.  J.  1899  im  Programm  des  Kgl.  Gymnasiums  zu  Frankfurt  a.  O. 
erschien,  vortrefflich  bewährt.  Mit  seltener  Klarheit  und  ruhiger  Objektivität  stellt 
Rethwisch,  von  der  deutlich  herausgehobenen  Tendenz  des  Laokoon  ausgehend, 
die  Hauptgedanken  jedes  Kapitels  fest,  unter  Kennzeichnung,  auch  durch  die 
Schrift,  des  Bleibenden  und  des  Irrtümlichen.  Besonders  wichtig  ist,  daß  auch  die 
Fragmente  des  zweiten  und  dritten  Teiles  benutzt  werden.  Das  Ergebnis  des 
Ganzen  faßt  Rethwisch  zum  Schluß  dahin  zusammen:  „Das  Gedankengefüge  als 
Ganzes  bewährt  sich  als  so  sicher  begründet  und  festverbunden,  daß  man  im  ein- 
zelnen manches,  was  der  Abänderung  bedürftig  erscheint,  durch  anderes  ersetzen 
kann,  ohne  daß  dadurch  die  Hauptergebnisse  des  Werkes  an  ihrer  Wahrheit 
irgendeine  Einbuße  erführen.  Im  Gegenteil,  sie  treten  damit  vielfach  erst  in  ihr 
volles  Licht." 

4.  Lessings  Laokoon  in  gekürzter  Fassung,  herausgegeben  von 
Geheimrat  Prof.  Dr.  A.  Schmarsow.  Leipzig  1907.  Quelle  &  Meyer,  geh.  0,40 M. 
Erläuterungen  und  Kommentar  zu  Lessings  Laokoon  von  A.  Schmarsow. 
1907,  ebenda,  geh.  1,60,  geb.  2,20  M.  Hier  spricht  der  Akademiker  als  Fachmann 
vom   kunsttechnischen   und  kunstgeschichtlichen  Standpunkt  aus  zu  dem  Zweck, 


Schulausgaben  deutscher  Klassiker.  253 

für  die  Schulbehandlung  Richtlinien  zu  geben.  Er  hat  die  Literatur  des  Laokoon 
damit  erheblich  bereichert.  Textauswahl  und  Erläuterungen  sind  nach  dem  Ge- 
sichtspunkt gegeben,  daß  in  erster  Linie  das  Verständnis  der  Plastik  und  Malerei 
angebahnt  und  gefördert  wird.  Der  Text  hat  zum  Zweck  leichtern  Verständnisses 
kleinere  Abänderungen  erfahren,  durch  Beseitigung  von  Fremdwörtern,  ungewöhn- 
lichen Redewendungen  u.  dgl.;  die  fremdsprachlichen  Zitate  sind  auch  übersetzt. 
Der  Kommentar  gibt  zunächst  in  zusammenhängender  Form  allgemeine  Erörterungen 
über  Körperlichkeit,  Ausdruck,  wobei  Winckelmanns  Auffassung  mit  Recht  ausgiebig 
herangezogen  wurden,  über  Natur  und  Menschengeist  in  der  Kunst,  Nacktheit 
und  Bekleidung,  organisches  Gewächs  und  fremde  Zutat  im  Bildwerk,  über  die 
poetischen  Faktoren  in  der  bildenden  Kunst  u.  dgl.  Alles  wird  mit  der  an 
Schmarsow  bekannten  Frische  und  Lebendigkeit  vorgetragen,  wozu  besonders  noch 
die  fortwährende  Bezugnahme  auf  gegenwärtige  Probleme  beiträgt.  Für  die  di- 
daktische Behandlung  werden  auf  Schritt  und  Tritt  höchst  wertvolle  Winke  gegeben. 
Schmarsow  könnte  uns  keinen  größeren  Dienst  erweisen,  als  wenn  er 
uns  nun  auch  selbst  das  bilderreiche  Anschauungsmaterial  zusammen- 
stellte, worauf  er  so  oft  hinweist.  Die  Schrift  wird  von  keinem  Er- 
klärer des  Laokoon  künftig  übergangen  werden  dürfen. 

III.  Hilfsbücher. 

Hilfsbuch  zu  Homer.  Zum  Gebrauch  für  die  Lektüre  der  deutschen 
Odyssee  und  Ihas  an  Realgymnasien,  zusammengestellt  von  Dr.  H.  Mudrau, 
Professor  an  den  vereinigten  Gymnasien  zu  Brandenburg  a.  H.  Mit  24  Abbildungen. 
Bielefeld  1907.    Velhagen  &  Klasing.    Lief.  119.    geb.  1,80  M. 

Das  Buch  hat  den  sehr  großen  Vorzug,  durchweg  aus -der  Handhabung  des 
Unterrichts,  dem  es  dienen  will,  selbst  hervorgegangen  zu  sein.  Auf  jeder  Seite 
merkt  man  dem  Verfasser  den  sichern  Blick  für  die  Bedürfnisse  des  Schülers  an, 
der  den  deutschen  Homer  mit  Erfolg  lesen  soll.  Vorausgesetzt  wird  der  Text 
in  der  Gestalt,  wie  ihn  die  Lief.  37,  49,  110  dieser  Sammlung  zeigen.  Unter 
selbstverständlicher  Benutzung  solcher  Bücher,  wie  Retzlaffs  Vorschule  zu  Homer, 
Henkes  Hilfsheften,  Helbigs  und  Kammers  sich  gegenseitig  trefflich  ergänzenden 
Kommentaren  werden  in  ansprechender  Weise  folgende  Gebiete  behandelt:  Die 
Entstehung  der  Epen,  die  Metrik  und  Poetik,  Inhalt  der  Ilias  und  Odyssee,  die 
Götter  und  Helden,  die  Homerische  Mythologie  im  Zusammenhang  mit  den  Helden- 
sagen der  nordischen  und  orientalischen  Völker,  die  Kultur  des  Homerischen  Zeit- 
alters, die  Wiederentdeckung  Trojas  und  der  Homerischen  Königsburgen,  die  Be- 
deutung Homers  für  die  Griechen,  sein  Einfluß  auf  die  römische  Dichtkunst  und 
auf  die  Neuzeit  bis  auf  Goethe.  Bei  Benutzung  der  Homerforschungen  scheint 
mir  Drerups  Buch  übersehen  worden  zu  sein,  sonst  aber  herrscht  löbliche  Voll- 
ständigkeit, aber  auch  die  sehr  gebotene  Vorsicht  bei  Festsetzung  von  Resultaten. 
Nur  bei  den  Beziehungen  zur  nordischen  Mythologie  ist  mit  allzu  großer  Sicherheit 
verfahren.  Daß  die  literaturhistorische  Würdigung  Homers  von  Christ,  Bergk, 
Scherer,  Vilmar,  Leixner  entlehnt  wird,  ist  zu  loben,  aber  Wilamowitz  ist  jetzt  auch 
zu  berücksichtigen.  Bei  den  Kulturverhältnissen  waren  die  verschiedenen  Schichten 
der .  Dichtung  getrennt   zu   betrachten.     Daß   den   Verdiensten   Schliemanns  und 


254  J.  Ziehen,  Über  die  bisherige  Entwiclilung  usw.,  angez.  von  J.  Borbein. 

Dörpfelds  eine  sehr  ausführliche  Darstellung  zuteil  wird,  ist  für  die  jugendlichen 
Benutzer  des  Buches  durchaus  wünschenswert.  Für  Homer  in  der  Renaissance 
ist  jetzt  noch  Finslers  Vortrag  in  der  Philologenversammlung  in  Basel  1907  zu 
benutzen.  Der  Nachweis  der  Benutzung  Homers  durch  unsere  Klassiker  ist  sehr 
stark  übertrieben,  auch  die  Schlußbemerkungen  gehen  in  den  Bestrebungen, 
Homerische  Einflüsse  sogar  in  Auerbachs  Dorfgeschichten  und  Frenssens  Romanen 
nachzuweisen,  ganz  unnötigerweise  zu  weit.  Dagegen  mußte  der  Einfluß  auf  die 
bildende  Kunst  einmal  schon  durch  Hinweis  auf  antike  Bildwerke,  dann  aber  auch 
auf  die  Arbeiten  von  Flaxmann,  Carstens,  Thorwaldsen,  Cornelius,  Preller,  Genelli  und 
warum  nicht  auch  von  Slevogts  Achilleus,  sehr  viel  nachdrücklicher  gegeben  werden. 
Die  24  Abbildungen,  meist  nach  Dörpfeld  und  Schliemann,  unterstützen  die  An- 
schaulichkeit in  vorzüglicher  Weise.  Das  Hilfsbuch  wird  mit  großem  Vorteil 
benutzt  werden. 

Friedeberg  (Neumark).  Paul  Lorentz. 


b)  Einzelbesprechungen: 

Ziehen,  Julius,  Über  die  bisherige  Entwicklung  und  die  weiteren 
Aufgaben  derReform  unsereshöherenSchulwesens.  Frankfurt  a.  M 
1909.  M.  Diesterweg.  58  S.  geh.  1,40  M. 
Die  Schrift  gibt  im  wesentlichen  einen  am  10.  Oktober  1908  auf  der  Haupt- 
versammlung des  Braunschweiger  Philologenvereins  gehaltenen  Vortrag  wieder. 
Die  im  Druck  hineingefügten  Anmerkungen  enthalten  wertvolle  bibliographische 
Nachweise  über  die  vom  Verfasser  besprochenen  Fragen.  Ziehen  berichtet  zuerst 
über  die  bisherige  Entwicklung  der  Schulreformbewegung  während  der  letzten 
hundert  Jahre,  besonders  verweilend  bei  der  Konferenz  von  1900  und  dem  durch 
diese  geschaffenen  Zustand.  Als  die  wertvollsten  Früchte  dieses  Kampfes  erscheinen 
ihm:  freiere  Formen  der  Schulverfassung  und  infolgedessen  eine  größere  Selbst- 
verantwortung aller  Beteiligten  und  ein  größerer  Kulturwert  der  höheren  Schulen. 
Der  zweite  Teil  spricht  von  den  Aufgaben  der  Zukunft.  Ziehen  wünscht  eine  noch 
weitere  Ausdehnung  der  realen  Bildung,  besonders  an  kleineren  Orten,  wobei  das 
Frankfurter  Reformsystem  sich  immer  mehr  als  ein  höchst  wertvoller  Helfer  erweisen 
werde.  Im  losen  Zusammenhange  damit  vertritt  er  die  Verknüpfung  der  Berechtigung 
für  den  einjährigen  Dienst  mit  der  Reifeprüfung  an  einer  Vollanstalt,  eine  Forderung, 
die,  wie  mir  scheint,  mehr  das  Leben  nach  der  Schule  beurteilt,  als  umgekehrt. 
Gegen  die  Differenzierung  des  Unterrichts  auf  der  Oberstufe  der  Vollanstalten  hegt 
Ziehen  schultechnische  und  pädagogische  Bedenken,  anderseits  spricht  er  sich, 
bei  vorsichtigem  Gebrauch,  für  einen  wahlfreien  Lateinkursus  an  Oberrealschulen 
aus,  die  sich  aber  auch  nicht  sträuben  sollen,  wo  das  Bedürfnis  vorliegt,  einen 
Zweig  für  die  Zwecke  des  höheren  Kaufmannsstandes  auszubauen.  In  bezug  auf 
die  innere  Arbeit  der  Schule  hält  Ziehen  für  die  wichtigsten  Zukunftsaufgaben :  die 
stärkere  Betonung  der  Selbsttätigkeit  der  Schüler  und  eine  engere  Verbindung  der 
sachlichen  mit  der  sprachlichen  Belehrung. 

Cassel.  Joh.  Borbein. 


r 


Die  Geheimlehre  des  Veda,  angez.  von  K.  Vorländer.  255 

Die  Geheimlehre  des  Veda.  Ausgewählte  Texte  der  Upanishads,  aus  dem 
Sanskrit  übersetzt  von  Dr.  Paul  Deussen.  Zweite  Auflage.  Leipzig  1907. 
F.  A.  Brockhaus.  XXIV  u.  221  S.  3  M. 
Was  hat  die  Geheimlehre  des  Veda,  was  haben  die  Upanishads  der  alten 
indischen  Weisen  mit  der  Monatschrift  für  höhere  Schulen  zu  tun?  wird  mancher 
erstaunt  fragen.  Nun,  doch  mehr,  als  man  beim  ersten  Blick  auf  den  Titel  denkt. 
Das  lehrt  uns  schon  die  Lektüre  des  klar  und  warm  geschriebenen  Vorworts. 
Deussen,  ohne  Zweifel  heute  der  erste,  ja,  soviel  wir  wissen,  einzige  genaue  Kenner 
altindischer  Weisheit  unter  unseren  deutschen  Philosophie-Professoren,  führt  etwa 
folgendes  aus:  Die  Upanishads  sind  für  den  Veda,  was  für  die  Bibel  das  Neue 
Testament.  Während  eine  kindliche  Stufe  der  Religion  ihren  Hauptinhalt  in  Ge- 
boten und  Verboten  mit  Verheißung  bzw.  Androhung  von  Lohn  und  Strafen 
sucht,  so  bringt  uns  eine  höhere  Stufe  zu  der  Erkenntnis,  daß  die  höchste  Auf- 
gabe des  Daseins  nicht  in  einer  Befriedigung  des  Egoismus,  sondern  in  einer 
völligen  Aufhebung  desselben  besteht.  So  lehrt  das  Neue  Testament  die  Wert- 
losigkeit, lehren  die  Upanishads  sogar  die  Verwerflichkeit  aller,  auch  der  guten 
Werke.  Beide  aber  suchen  das  Heil  in  einer  völligen  Umwandlung  des  natür- 
lichen Menschen,  in  seiner  Erlösung:  von  der  Sünde,  wie  die  Bibel,  von  dem 
Irrtum,  wie  der  Veda  sagt.  Die  christliche  Lehre  appelliert  vor  allem  an  den 
Willen,  die  indische  an  die  Erkenntnis.  „Du  sollst  deinen  Nächsten  lieben  wie 
dich  selbst",  fordert  die  Bibel;  „weil  dein  Nächster  in  Wahrheit  dein  eigenes  Selbst 
und,  was  dich  von  ihm  trennt,  bloße  Täuschung  ist",  fügt  der  Veda  erklärend 
hinzu.  So  bedeutet  dieser  (nach  Deussen)  keinen  Gegensatz  zum  Christentum, 
sondern  seine  schönste  Ergänzung,  seine  Höherbildung.  Denn  Paulus'  av^pwT.oi: 
rveuixatixo?  und  Kants  kategorischer  Imperativ  sind  nur  „schüchterne  und  tastende 
Versuche  gegenüber  der  großen,  auf  jeder  Seite  der  Upanishads  durchblickenden 
Grundanschauung  des  Vedanta,  daß  der  Gott,  welcher  allein  alles  Gute  in  uns 
wirkt,  .  .  .  unser  eigenstes  metaphysisches  Ich,  unser  bei  allen  Abirrungen  der 
menschlichen  Natur  in  ungetrübter  Heiligkeit  verharrendes,  ewiges,  seliges,  gött- 
liches Selbst,  —  unser  Atman  ist"  {Vorwort  S.  XI). 

So  setzt  Deussen  das  uralte,  heilige  Wissen  der  Inder  in  unmittelbarste  Be- 
ziehung zur  Gegenwart.  Und  in  der  Tat,  wenn  wir  etwa  die  den  Anfang  des 
Buches  bildende  Hymne  aus  dem  Rigveda  in  der  formschönen  Übersetzung 
Deussens  lesen,  so  spüren  wir  nicht,  daß  zwischen  ihrer  Entstehung  und  heute 
mehr  als  zwei  Jahrtausende  liegen.  Wir  können  uns  nicht  enthalten,  aus  der  vom 
Ursprünge  der  Dinge  handelnden  Hymne  die  erste  und  die  letzte  Strophe  als 
Probe  hierher  zu  setzen. 

„Damals  war  nicht  das  Nichtsein  noch  das  Sein, 
Kein  Luftraum  war,  kein  Himmel  drüber  her.  — 
Wer  hielt  in  Hut  die  Welt,  wer  schloß  sie  ein? 
Wo  war  der  tiefe  Abgrund,  wo  das  Meer? 

Er,  der  die  Schöpfung  hat  hervorgebracht, 
Der  auf  sie  schaut  im  höchsten  Himmelslicht, 
Der  sie  gemacht  hat  oder  nicht  gemacht, 
Der  weiß  es!  —  oder  weiß  auch  er  es  nicht?" 


256  Die  Geheimlehre  des  Veda,  angez.  von  K.  Vorländer. 

Das  ist  in  der  Tat  eine  hehre  reUgiöse  Poesie,  die  in  ihren  ersten  Zeilen 
übrigens  ein  wenig  an  unser  althochdeutsches  Wessobrunner  Gebet  erinnert,  aber 
weit  weniger  dogmatischen,  weit  mehr  philosophischen  Charakter  hat  als  dieses. 
Allerdings  ist  nicht  alles  ebenso  schön,  aber  noch  viele  herrliche  Stücke  finden 
sich  in  Deussens  Auswahl  wie:  „das  Suchen  nach  dem  unbekannten  Gott",  „Ur- 
sprung der  Welt  aus  dem  Atman",  das  „Tat  twam  asi"  (=  das  bist  Dul),  „der 
Atman  im  Herzen  und  im  Weltall",  „die  Unerkennbarkeit  des  Atman",  „Naciketas 
und  der  Todesgott",  „der  Atman  und  die  Maya"  (=  Blendwerk,  Schein)  u.  m.  a. 
Übrigens  wiederholen  sich  in  anderer  Form  oft  dieselben  Grundgedanken,  da  der 
Herausgeber  seine  Auswahl  auf  die  zwei  wichtigsten  Lehrstücke  des  Veda,  vom 
Atman  als  weltschöpferischem  Prinzip  und  von  der  Seele  in  ihren  Zuständen  der 
Wanderung  und  Erlösung,  beschränkt  hat  und  jeder  Text,  wie  er  selbst  sagt,  mehr 
oder  weniger  die  ganze  Atmanlehre  enthält.  Und  die  drei  Kardinaltugenden:  Selbst- 
bezähmung, Almosengeben  und  Mitleid  (S.  69)  erscheinen  als  Inbegriff  der  Ethik 
doch  etwas  dürftig,  ebenso  die  „Schlußermahnung  an  den  scheidenden  Veda- 
schüler",  das  Vedastudium  weiter  zu  betreiben,  Fromme  zu  erziehen,  alle  seine 
Organe  im  Atman  zum  Stillstand  zu  bringen  und  kein  Wesen  zu  verletzen  (S.  122), 
während  die  „goldenen  Regeln  für  den  Schüler"  (S.  123f.)  allerdings  inhaltsreicher 
sind.  Jedenfalls  aber  trägt  diese  ganze  indische  Anschauungsweise  bei  allem  Tief- 
sinn und  aller  Erhabenheit  einen  weichen  und  weltfremden  Zug  an  sich,  der  uns 
Abendländern  fern  liegt.  Dazu  kommt  das  Fremdartige  vieler  Worte  und  Begriffe, 
die  nur  zum  Teil  in  dem  kurzen  Register  erklärt  werden. 

Wir  möchten  im  Anschluß  daran  nicht  verfehlen,  die  Leser,  welche  tiefer  in 
die  indische  Weisheit  einzudringen  wünschen,  auf  die  beiden  bedeutenden  wissen- 
schaftlichen Werke  unseres  Indologen  aufmerksam  zu  machen:  L  Das  System 
des  Vedanta,  2.  Auflage  1906,  und  2.  Allgemeine  Geschichte  der  Philo- 
sophie, mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Religionen,  in  drei  Ab- 
teilungen (2.  Aufl.  1906 — 1908,  beide  im  Verlag  von  F.  A.  Brockhaus,  Leipzig  er- 
schienen), die  freilich  über  die  Philosophie  der  Inder  noch  nicht  hinausgelangt  ist. 
Das  wird  Deussen  sich  allerdings  nicht  verhehlen  dürfen,  daß  das  Interesse  für 
die  von  ihm  so  sehr  verehrte  und  in  der  Tat  auch  verehrungswürdige  altindische 
Weisheit  immer  auf  ein  kleineres  Publikum  beschränkt  bleiben  wird;  und  schon 
deshalb,  ganz  abgesehen  von  dem  mir  auf  diesem  Felde  mangelnden  Spezial- 
studium,  konnte  ich  seinem  an  dieser  Stelle  gegebenen  wohlgemeinten  Rate  nicht 
folgen,  in  der  seitdem  erschienenen  zweiten  Auflage  meiner  Geschichte  der  Philo- 
sophie ein  volles  Sechstel  (d. h.  ca.  140  Seiten)  auf  die  orientalische  Philosophie 
zu  verwenden.  Zitiert  er  selbst  doch  in  einem  der  beiden  seinem  neuen  Buche 
vorgesetzten  Motti  die  Worte:  „Darum  soll  diese  Lehre  nur  dem  ältesten  Sohne 
sein  Vater  als  das  Brahman  kundmachen,  oder  auch  einem  vertrauten  Schüler,  aber 
keinem  andern,  wer  es  auch  sei".  Trotzdem  möchten  wir  das  vorliegende  —  auch 
äußerlich  vom  Verlage  geschmackvoll  ausgestattete  —  Buch  zur  Fruchtbarmachung 
im  deutschen  oder  Religionsunterricht  durch  Vorlesen  besonders  schöner  oder 
treffender  Stellen  lebhaft  empfehlen;  vor  allem  freilich  zur  eigenen  Lektüre  im 
stillen  Kämmerlein  oder,  noch  besser,  zusammen  mit  einer  gleichgestimmten  Seele, 
gemäß  den  Worten  des  anderen  Mottos :  „Da  sprach  Yaj&avalkya:  „Faß  mich,  mein 


A.  Heilmeyer,  Die  Plastik  seit  Beginn  des  19  Jahrhunderts,  angez.  v.  P.  Brandt.     257 

Teurer,  bei  der  Hand;  darüber  müssen  wir  beide  unter  uns  allein  uns  verständigen, 
nicht  hier  in  der  Versammlung". 

Solingen.  Karl  Vorländer. 

Hellmeyer,  AI.,  Die  Plastik  seit  Beginn  des  19.  Jahrhunderts.  Mit  41 
Abbildungen.  Sammlung  Göschen  321.  Leipzig  1907.  108  S.  8«.  0,80  M. 
Ein  vorausgeschickter  allgemeiner  Teil  orientiert  kurz  und  treffend  über  die 
einschlägigen  ästhetischen  Fragen  und  gibt  damit  dem  Leser  einen  Maßstab  in  die 
Hand  zur  Beurteilung  der  nun  eingehender  aufgeführten  Hauptvertreter  der  deut- 
schen, französischen  und  belgischen  Plastik  des  19.  Jahrhunderts  und  ihrer  Werke, 
von  denen  eine  Auswahl  in  guten  Abbildungen  beigegeben  ist.  Für  den  gesunden 
nationalen  Standpunkt  des  dem  Münchener  Kunstkreise  nahestehenden  Verfassers 
ist  es  bezeichnend,  daß  er  A.  Hildebrands  Kugelspieler  dem  Titelblatt  vorgesetzt  hat. 

Eimer,  M.,  Lord  Byron  und  die  Kunst.  Beilage  zum  Jahresbericht  der  Ober- 
realschule in  Straßburg  i.  E.  1907.  37  S.  4«. 
Eine  Ehrenrettung  des  Dichters  gegenüber  dem  voreingenommenen  und 
schiefen  Urteil  seines  Biographen  Elze.  Die  lesenswerte  Studie  stellt  auf  Grund 
einer  umfassenden  Stellensammlung  vor  allem  eine  Entwicklung  in  dem  anfangs 
sehr  spröden  Verhältnis  Byrons  zur  Kunst,  insbesondere  zur  Malerei,  fest,  eine 
Entwicklung,  die  während  des  italienischen  Aufenthaltes  1816-1819  einsetzte 
und  ihn  schließlich  zu  Hymnen  begeisterte,  wie  die  auf  die  Venus  von  Medici  und 
den  Petersdom.  Auch  der  Verfasser  ist  gelegentlich  (S.  31)  nicht  vorsichtig  genug 
in  der  Bewertung  der  Stellen.  Wenn  Byron  von  der  Gesellschaft  bei  Lord  Amun- 
deville  sagt  (Don  Juan  XIII  110): 

But  all  was  gentle  and  aristocratic 

In  this  our  party;  polished,  smooth,  and  cold, 

As  Phidian  forms  cut  out  of  marble  Attic, 

so  liegt  darin  kein  abgünstiges  Urteil  über  die  Parthenonskulpturen,  deren  rohe 
Entführung  durch  Lord  Elgin  er  eine  Barbarei  nannte;  die  Worte  besagen  nach 
der  individualisierenden  Art  der  Dichter  bloß:  Alles  war  glatt  und  kalt  wie  Marmor. 

Ipfelkofer,  A.,  Bildende  Kunst  an  Bayerns  Gymnasien.  Erwägungen,  Er- 
fahrungen und  Vorschläge.  Progr.  des  Luitpoldgymnasiums,  München  1907. 
131  S.    8». 

„Der  Worte  sind  genug  gewechselt,  laßt  mich  auch  endUch  Taten  sehnl" 
Wenigstens  an  den  bayrischen  Gymnasien,  denn  Archäologie  ist  in  Bayern  seit 
lange  Prüfungsgegenstand  im  philologisch-historischen  Examen,  so  daß  es  nicht 
an  geeigneten  Lehrkräften,  und  dort  stehen  für  die  zweite  Durchnahme  der  Ge- 
schichte nicht  wie  bei  uns  nur  drei,  sondern  vier  Jahreskurse  zur  Verfügung,  so 
daß  es  auch  nicht  an  Zeit  fehlt.  So  kann  der  Verfasser  auf  Grund  langjähriger 
eigener  Erfahrung  die  organische  Eingliederung  des  Kunstunterrichts  in  den  Ge- 
schichtsunterricht verlangen,  indem  eine  fortlaufende  Besprechung  einer  Auswahl 
hervorragender  Kunstwerke  jeweils  an  kulturhistorische  Rückblicke  über  unterrichtlich 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  17 


258  H.  Lhotzky,  Die  Seele  deines  Kindes, 

abgeschlossene  Geschichtsperioden  angefügt  werden  soll.  Dieser  Kunstunterricht 
(wohl  zu  scheiden  von  der  auf  allen  Stufen  zu  pflegenden  Anschauung)  soll  auf 
die  drei  oberen  Klassen  beschränkt  bleiben,  mit  Hilfe  des  Skioptikons  akroamatisch, 
nicht  katechetisch  erteilt  werden  und  neben  der  alten  Kunst  auch  die  romanische 
und  gotische  Periode,  sowie  die  italienische  und  deutsche  Renaissance  berücksich- 
tigen, gelegentlich  auch  moderne  Werke  zum  Vergleich  heranziehen.  Dies  Programm 
wird  mit  großer  Sachkenntnis  und  bajuvarischem  Humor  eingehend  und  im  wesent- 
lichen überzeugend  begründet,  Ref.  freut  sich,  dem  ihm  von  Athen  und  Venedig 
her  persönlich  bekannten  Verfasser  hier  zum  dritten  Male  auf  den  Wegen  d-'r 
Kunst  zu  begegnen;  auch  darin  ist  er  mit  ihm  einig,  daß  für  die  Pflege  dieses 
Faches  die  Schulbehörde  nur  die  Bedingungen  des  Gedeihens  schaffen,  die  Durch- 
führung im  einzelnen  aber  der  frei  wirkenden  Persönlichkeit  des  Lehrers  über- 
lassen soll. 

Bonn.  Paul  Brandt. 

Lhotzky,  Heinrich,  Die  Seele  deines  Kindes.  222  S.  kl.  8^  Düsseldorf- 
Leipzig  1908.  K.  R.  Langewiesche.  Kart.  1,80  M. 
„Ein  Buch  für  Eltern"  nennt  der  Verfasser  seine  Schrift;  sie  ist  vor  allem 
auch  eins  für  Lehrer  —  für  alle,  denen  werdende  Seelen  anvertraut  sind.  Das 
Wort  , Erzieher*  liebt  er  nicht;  es  ist  ihm  damit  zu  eng  verknüpft  der  Begriff  des 
„methodischen"  Arbeitens  an  dem  Kinde  nach  bestimmten  vorgefaßten  „Prinzipien", 
des  Beschneidens  und  Einschränkens:  „Nie  habe  ich  mir  Mühe  gegeben,  die  Jugend 
zu  erziehen.  Im  Gegenteil  kann  ich  kein  junges  Menschenkind  mitleidlos  ansehen : 
Ich  fürchte,  man  könnte  es  erziehen."  Es  kommt  ja  auf  Worte  nicht  an;  gerne 
folgen  wir  Lhotzky  auf  einem  Wege,  der  uns  über  die  „Erziehung"  in  jenem  Sinne 
hinwegführt,  um  mit  ihm  zu  lernen»  Seelen  werden  zu  lassen. 

Es  ist  das  Geheimnis  alles  Erziehens  —  ich  kann  mir  nicht  helfen  und  muß 
den  neuen  Wein  wieder  in  die  alten  Schläuche  gießen  —  daß  dem  Werdenden ,  zu 
Bildenden  das  Gesetz  des  eigenen  Wesens  abgelauscht  werden  muß,  um  es  all- 
mählich zu  einer  höheren  Stufe  d^s  Seins  emporheben  zu  können.  Die  Freiheit 
der  Persönlichkeit  ist  für  Lhotzky  das  Ziel  des  Werdens  der  jungen  Seele  —  aber 
in  seiner  feinen  und  tiefblickenden  Art  ist  er  weit  entfernt,  für  alle  und  jede 
Wesensäußerung  des  Kindes  schrankenlose  Entwicklungsmöglichkeit  zu  fordern 
wie  unsere  modernen  ,Individual'pädagogen.  Der  Weg  zu  jenem  Ziele  ist  ihm 
vielmehr  die  Erziehung  zum  Gehorsam.  Die  beiden  Schwerpunkte  unseres  per- 
sönlichen Lebens:  Freiheit  und  Notwendigkeit  werden  zuvörderst  auf  dem 
sittlichen  Gebiete  zueinander  in  das  rechte  Verhältnis  gesetzt.  Die  freie  Entfaltung 
der  Seele  des  Kindes  ist  zu  gewähren  durch  ein  Verzicht  der  Eltern  auf  ein  Eigen- 
tumsrecht an  dem  Kinde:  Lhotzky  findet  hier  ebenso  herzliche  wie  scharfe  Worte 
für  den  Elternegoismus  in  jeder  Form,  mag  er  sich  nun  in  dem  Auf  quälen  eines 
der  Eigenart  des  Kindes  nicht  gemäßen  Berufes  äußern  oder  seine  Entwicklung 
zur  sittlich  freien  Persönlichkeit  durch  ängstliches  Behüten  vor  den  Wirklichkeiten 
des  Lebens  unterbinden.  Das  Ziel  aber  zeigt  seine  Umrisse  in  voller  Klarheit 
erst  dann,  wenn  der  Seele  des  Kindes  die  Unterordnung  des  eigenen  Ich  unter 
einen  höheren,  edlen  Zweck  als  Notwendigkeit  klar  geworden  ist.    Eine  Forderung, 


angez.  von  P.  Wüst.  •  259 

die  ihre  Fruchtbarkeit  in  aller  Menschwerdung  von  je  bewiesen  hat,  deren  Be- 
tonung aber  gerade  heute  mehr  als  je  nötig  ist. 

Diese  Ideen  allein  schon  würden  dem  Buche  Wert  verleihen  —  denn 
Ideen  sind  ja  im  tiefsten  Sinne  das  wahrhaft  Reale  im  bunten  Getriebe  der 
Wirklichkeiten;  eine  Auffassung,  in  der  ich  mich  mit  Lhotzky  eins  weiß,  wenn 
er  es  vielleicht  auch  nirgends  mit  diesen  Worten  ausspricht.  Sie  geben  allem,  was 
in  dem. Buche  steht,  Lebenskraft,  denn  sie  bilden  seine  Wurzeln.  Und  all  die 
vielen  und  reichen,  in  alle  Tatsächlichkeiten  und  Geschehnisse  des  Verhältnisses 
hitern  und  Kinder'  hineinleuchtenden  Winke,  die  Lhotzky  gibt,  sind  hieraus  er- 
wachsen. Daß  er  sie  gibt,  erhöht  nun  die  Fruchtbarkeit  des  Werkchens  ungemein: 
es  befriedigt  nicht  nur  den  Menschen  der  Idee,  sondern  wird  auch  allen  Wirklich- 
keitsmenschen, sofern  ihnen  nicht  jedes  Dasein  in  bloß  äußerlichem  Leben  aufgeht, 
in  allen  Fällen  ein  gediegener,  praktischer  Wegweiser  sein  können,  ein  Handbuch 
gar  zum  täglichen  Gebrauch.  Ich  habe  das  Büchlein  denn  auch  nicht  nur  in  der 
periodischen  Erziehungsliteratur  oft  mit  Anerkennung  genannt  gefunden,  sondern 
auch  von  manchen  Eltern  dankbare  Worte  darüber  gehört.  Daß  Wirklichkeit 
und  Idee  sich  als  feindliche  Mächte  gegenüberstehen,  hat  von  jeher  alles  Leid 
und  jeden  Schmerz  tief  angelegter  Menschen  ausgemacht.  Daß  sie  sich  die  Hände 
reichen  müssen,  daß  ein  werdendes  Leben  zur  Reife  persönlichen  Lebens  heran- 
gebildet werden  kann  nur  durch  ein  harmonisches  Bündnis  dieser  beiden  Grund- 
mächte alles  Seins,  macht  den  besten  Erwerb  aus,  den  uns  Lhotzkys  Buch  zuteil 
werden  läßt. 

Soll  ich  Einzelheiten  herauslesen?  Der  Verfasser  ist  Arzt,  und  darum  gehören 
die  Kapitel,  welche  den  Körper  des  Kindes  behandeln,  der  gesund  sein  muß, 
wenn  die  Seele  es  sein  und  bleiben  soll,  zu  den  besten  des  Buches;  die  Aus- 
führungen ,Über  das  geschlechtliche  Geheimnis'  bilden  einen  Teil  davon.  Feine 
und  wahre  Worte  sagt  Lhotzky  über  das  Verhältnis  zwischen  Haus  und  Schule. 
Nicht  nur  in  der  genannten  Frage:  ein  besonderes  Kapitel  (V)  ist  auch  dem  Pro- 
blem „Kinder  und  Wissenschaft"  gewidmet;  es  wird  die  Leser  dieser  Monat- 
schrift natürlich  besonders  fesseln.  In  den  Abschnitten:  ,Schule  und  Haus',  ,Schule 
und  Gehorsam'  finden  sich  wahrhaft  herzerquickende  Aussprüche:  »Die  Stellung 
des  Lehrers  ist  überaus  schwierig;"  seine  „ganze  schwere  Arbeit  wird  geleistet 
zwischen  gefährlichen  Klippen.  Zwischen  Schulbehörde,  Schulaufsicht,  Schul- 
gewaltigen aller  Art  und  zwischen  der  vielköpfigen  Elternmenge.  Wenn  diese 
Mächte  nicht  einigermaßen  im  Gleichgewicht  sind,  vermag  auch  der 
beste  Lehrer  nichts  zu  leisten."  (S.  166.)  „In  der  Regel  stehen  diejenigen 
Häuser  mit  der  Schule  im  grellsten  Widerspruch,  in  denen  es  an  der  nötigen  Zucht 
fehlt."  (S.  168.)  „Man  bedenke  doch  dieses:  Die  Schule  ist  eine  Einrichtung, 
über  deren  fortwährender  Verbesserung  seit  Jahrhunderten  die  besten  Köpfe  ge^ 
sonnen,  und  an  deren  heilbringender  Umgestaltung  die  edelsten  Menschen  Hand 
angelegt  haben  .  . ."  (S.  169.)  „Vollkommen  ist  keine  einzige  Schule.  Aber  ,  .  . 
auch  der  Lehrer  leidet  unsagbar  unter  deinen  Schwächen,  also  stelle  dich  nicht 
so  ungebärdig,  wenn  du  auch  die  seinen  bemerkst.  Meine  Mutter  pflegte  immer 
zu  sagen,  wenn  ich  als  kleiner  Bursche  behauptete,  der  Lehrer  habe  dies  und  das 
anders  gelehrt  als  sie:  Dann  wird  wohl  der  Lehrer  recht  haben.    Weißt  du, 

17* 


260  J-  A.  Sikorski,  Die  seelische  Entwicklung  usw.,  angez.  von  A.  Matthias. 

er  versteht  das  besser  als  ich."  (S.  170.)  „Aus  Gewinnsucht  ist  jedenfalls  nie- 
mand Lehrer.  .  .  Es  ist  nicht  die  Ehre  der  menschlichen  Gesellschaft,  daß  es  so 
ist.  .  .  Eigentlich  müßten  die  Lehrer  die  weitaus  bestbesoldeten  Beamten  sein, 
denn  ihnen  ist  das  Teuerste  anvertraut,  was  wir  haben  .  .  .  unsere  Kinder.' 
(S.  165.) 

Das  kleine  Zitat  zeigt  sogleich,  wie  sich  bei  Lhotzky  feiner  Humor  und  tiefer 
Ernst  verflechten  und  durchdringen.  Er  bleibt  nie  beim  .bloßen'  Humor  stehen. 
Wer  das  glauben  mag  hie  und  da  beim  Lesen,  der  wird  zu  denen  gehören,  die 
Lhotzkys  Ernst  auch  nicht  verstehen  werden,  weil  sie  seinen  ,Spaß'  nicht  be- 
greifen. Es  ist  ein  Humor,  der  immer  im  Takte  bleibt,  der  an  Dinge  her- 
anreicht und  Gefühle  trifft,  die  für  bloß  begrifflichen  Ernst  kaum  zugänglich  wären. 
Wo  er  Hohles  und  Gemachtes  geißeln,  platte  Nüchternheit  und  leeren  .Idealismus' 
in  ihrer  ganzen  Unzulänglichkeit  aufdecken  will,  da  tut  ihm  sein  Humor  die  besten 
Dienste.  Und  er  ist  niemals  bloß  zersetzend.  Immer  weiß  er  die  wahren  Wurzeln 
echter  Seelenbildung  zu  finden. 

Sein  Schlußkapitel  „Kinder  und  Religion"  zeigt  das  auf  einem  vielumstrittenen 
Gebiete.  Sollen  die  jenseitigen  Fragen  hier  die  oberste  Rolle  spielen?  —  Viel- 
leicht. Lhotzky  wird  für  jede  Überzeugung  hier  einen  Weg  weisen  können. 
Aber  der  Ausgangspunkt  für  die  Gestaltung  des  Verhältnisses  zwischen  Kind  und 
Gott  wird  doch  in  dem  einfachen,  ersten  Verhältnis  zwischen  Kind  und  Eltern 
liegen.  „Du  liebst  dein  Kind,  und  dein  Kind  liebt  dich.  Siehe,  so  ist  Gott!  Wo 
Liebe  ist,  da  ist  göttliches  Wesen.  Wo  Wahrhaftigkeit  ist,  da  ist  Gott."  „Es 
ist  nicht  draußen  —  da  sucht  es  der  Tor;  Es  ist  in  dir,  du  bringst  es  ewig  her- 
vor."   Man  fühlt  sich  sogleich  zu  Hause  in  diesem  Buche. 

Möge  das  Buch  ein  rechtes  Haus-  und  Handbuch  werden  für  alle  Eltern,  und 
auf  daß  der  Same  auf  einem  weiteren  Felde  aufgehe,  auch  für  recht  viele  Lehrer 
und  —  Sit  venia  verbo  —  Erzieher. 

Düsseldorf.  Paul  Wüst. 

Sikorski,  J.  A.,   Die   seelische  Entwicklung   des  Kindes    nebst   kurzer 
Charakteristik  der  Psychologie  des  reiferen  Alters.    Zweite  vermehrte 
und  verbesserte  Auflage.   Mit  16  Abbildungen.    Leipzig  1908.   Joh.  Ambr.  Barth. 
VI  u.  159  S.    3,60  M. 
Das  vorliegende  Buch   verfolgt   in    erster  Linie   den  praktischen  Zweck,    dem 
Leser  die  Grundtatsachen  aus  dem  für  Eltern,  Erzieher   und  für  jeden  gebildeten 
Menschen  so  wichtigen  Gebiete  der  seelischen  Entwicklung  des  Kindes  mitzuteilen. 
Die  Einleitung   bringt   einen   Abschnitt   über   die   Grundtatsachen   aus   der   Zoo- 
psychologie :  die  reiche,  vielseitige  Seele  des  Kindes  wird  hier  mit  der  einseitigen 
schablonenhaften  Tierseele  verglichen.    Diese  Kapitel  sind  den  Lehrern  zu  emp- 
fehlen,  welche  Biologie   zu   lehren    haben.    Sie  werden  reiche  Anregung   daraus 
schöpfen.    Der  eigentlichen  Abhandlung  schließt  sich  ein  kurzer  psychologischer 
Abriß  der  späteren  Lebensalter  an,  damit  die  Besonderheiten  der  Kindesseele  und 
ihrer  Entwicklung  in   dem  Rahmen  der  reifen  menschlichen  Seele  deutlicher  und 
plastischer  hervortreten.    Die  Mitte  des  Buches  bildet  den  Kern.    Und  in  dieser 
Mitte  steht  als  ergebnisreichster  Abschnitt  die  Erörterung,  welche  die  Entwicklung 


G.  BÄumer  u.  L.  Droescher,  Von  der  Kindesseele,  angez.  von  A.  Matthias.       261 

der  Kindesseele  vom  zweiten  bis  zum  sechsten  Lebensjahre  umfaßt;  sie  bildet 
fast  ein  Drittel  des  ganzen  Buches  und  zugleich  den  Glanzpunkt  des  Werkes. 
Was  wir  hier  über  die  Entwicklung  des  Gefühls,  des  Verstandes  und  der  Aufmerk- 
samkeit, des  Willens,  der  Persönlichkeit  und  der  Individualität  des  Kindes  und  über 
die  Unregelmäßigkeiten  im  Gange  der  individuellen  Entwicklung  sowie  über  die 
psychischen  Züge  des  normal  entwickelten  Kindes  zu  lesen  bekommen,  gibt  reiche 
Ausbeute  für  die  praktische  Pädagogik  des  späteren  Lebensalters  des  Kindes. 
Und  innerhalb  dieser  Erörterungen  über  den  bedeutsamsten  Lebensabschnitt 
(vom  2.  bis  zum  6.  Jahre)  des  jungen  Erdenbürgers  heben  sich  die  Darlegungen 
über  die  Bedeutung  der  Spiele  für  die  geistige  Entwicklung  des  Kindes  ganz 
besonders  ab  und  werden  jedem,  der  sich  mit  Erziehungsfragen  eingehender 
beschäftigt  hat,  viel  neue  Anregungen  bieten.  Das  Buch  kann  aufs  wärmste 
allen    Erziehern  empfohlen  werden. 

Als  eine  Art  von  poetischer  Illustrierung  zu  dem  streng  wissenschaftlich  ge- 
haltenen Buche  von  Sikorski  sei  die  Besprechung  eines  Buches  von  ganz  anderem 
Charakter  angefügt: 

Bäumer,  Gertrud  und  Droescher,  Lilf,  Von  der  Kindesseele.  Beiträge  zur 
Kindespsychologie  aus  Dichtung  und  Biographie.  Leipzig  1908.  R.  Voigt- 
länders  Verlag.  VIII  u.  429  S.  6  M.,  geb.  7  M. 
Das  Buch  enthält  eine  Sammlung  von  dichterischen  und  biographischen  Bei- 
trägen zur  Kindespsychologie,  es  ist  ein  Archiv  der  Individual-Psychologie  des 
Kindes,  zusammengestellt  aus  den  Beobachtungen  von  Dichtern,  die  ja  am  tiefsten 
in  menschliches  Wesen  einzudringen  pflegen  und  seine  Eigenart  in  schönster  Form 
darzustellen  imstande  sind.  Die  Auswahl  ist  getroffen  nach  dem  Maßstabe  der 
psychologischen  Treue  der  Beobachtung.  Stücke  von  künstlerischem  Wert,  die  den 
Regungen  der  Seele  bis  in  ihre  feinsten  Verzweigungen  nachgehen  und  meister- 
hafte Darstellungen  bieten,  haben  den  Vorzug.  Auf  literarisch  Mittelmäßiges  oder 
doch  weniger  Wertvolles  ist  aber  auch  nicht  verzichtet,  insofern  es  interessante 
psychologische  Aufschlüsse  gibt  und  psychologisch  Wahrhaftiges  bietet.  Es  ist 
möglichst  jede  Seite  des  kindlichen  Seelenlebens  berücksichtigt;  für  manche  Fälle 
liegt  nicht  nur  ein,  sondern  mehrere  Beispiele  vor;  auch  die  ausländische  Literatur 
(Tolstoi)  ist  hineingezogen,  um  Vielseitigkeit  zu  zeigen.  Die  Anordnung  ist  nicht 
starr  systematisch,  sie  folgt,  soweit  es  möglich,  dem  Einteilungsschema  der 
Psychologie,  hält  sich  aber  auch  in  loserer  und  freierer  Form  an  irgendeine 
besonders  charakteristische  Gemeinsamkeit.  Nur  einige  Namen  und  Buchtitel 
brauchen  genannt  zu  werden,  um  den  Inhalt  anzudeuten :  Ludwig  Richters  Lebens- 
erinnerungen; Friedrich  Hebbel,  Meine  Kindheit;  Otto  Ernst,  Asmus  Sempers 
Jugendland;  Gottfried  Keller,  Der  grüne  Heinrich;  Emil  Strauß,  Freund  Hein; 
Bogumil  Götz,  Buch  der  Kindheit;  Theodor  Storm,  Von  Kindern  und  Katzen; 
Peter  Rosegger,  Waldheimat.  Die  Anmerkungen,  die  dem  Buche  beigegeben  sind, 
geben  Rechenschaft  über  Auswahl  und  Zusammenstellung;  sie  verbinden  damit 
Hinweise  auf  die  Art  der  Benutzung  des  Buches  und  nennen  weiteres  Beob- 
achtungsmaterial —  eine  reiche  Fundgrube  des  Besten,  was  auf  dem  Gebiete  der 
schönen  Literatur  über  die  Jugend,  ihr  Werden  und  ihre  Entwicklung  zu  finden  ist 
Berlin.  A.  Matthias. 


262  >.  K.  Muthesius,  Goethe  und  Pestalozzi, 

Muthesius,  Karl,  Goethe  und  Pestalozzi.  Leipzig  1908.  Dürrsche  Buch- 
handlung.   VIII  u.  275  S.  4,50  M. 

Es  ist  ein  treffliches  Buch,  das  ich  nur  aus  voller  Überzeugung  zum  Studium 
empfehlen  kann.  Der  Literarhistoriker  wie  der  Pädagog  wird  es  gleich  befriedigt 
aus  der  Hand  legen.  Was  der  Verfasser  über  die  gegenseitige  Beziehung  der 
beiden  großen  Geister  aus  der  Literatur  und  aus  den  Archiven  hat  herbeibringen 
können,  ist  zusammengetragen  und  in  anziehender  Darstellung  verarbeitet.  Mit 
dem  lebhaftesten  Interesse  folgt  man  dem  Gange  der  Untersuchung,  die  zum  ersten 
Male  auf  sicherer  Grundlage  und  man  darf  wohl  sagen  erschöpfend  das  wechsel- 
seitige Verhältnis  der  beiden  Männer  behandelt. 

Es  verlohnt  sich,  etwas  näher  auf  das  Buch  einzugehen,  um  einen  Begriff 
von  der  Behandlung  des  Gegenstandes  und  von  der  Fülle  der  neuen  darin  ent- 
haltenen Belehrung  zu  geben.  Die  Anlage  des  Buches  zeigt  einen  kunstgerechten 
Aufbau  mit  unverkennbarer  dramatischer  Steigerung,  die  die  Lektüre  zu  einem 
hohen  Genüsse  macht. 

Die  beiden  ersten  Kapitel  suchen  uns  zu  zeigen,  wie  weit  jeder  der  beiden 
Männer  die  Werke  des  andern  gekannt  und  gelesen  hat.  Läßt  sich  über  das 
Thema:  Goethe  in  Pestalozzis  Werken  nichts  Neues  sagen,  so  ist  anderseits  merk- 
würdig und  überraschend,  daß  die  Art,  ,  wie  Goethe  die  Bücher  seiner  Bibliothek 
behandelte,  einen  Schluß  darauf  zuläßt,  welche  Beachtung  er  ihnen  schenkte,  und 
daß  sich  daraus  eine  starke  Gleichgültigkeit  Goethes  Pestalozzis  Werken  gegen- 
über ergibt.  Das  dritte  Kapitel  erörtert,  bevor  es  an  die  Frage  herantritt,  ob 
beide  Männer  persönlich  miteinander  bekannt  geworden  sind,  zunächst  den 
schwierigen  Punkt  über  die  Reisen  Pestalozzis,  die  er  nach  Deutschland  unter- 
nommen haben  soll.  Ich  bin  durchaus  der  Ansicht  des  Verfassers,  daß  der  im 
Briefwechsel  zwischen  Lavater  und  Goethe  1775  genannte  Pestaluz  nicht  der  unsere 
ist,  weil  die  dort  gegebene  Charakteristik  auf  ihn  nicht  zutrifft,  und  daß  daher  der 
Aufenthalt  Pestalozzis  in  Frankfurt  a.  M.  in  jener  Zeit  aus  seiner  Lebensgeschichte 
verschwinden  muß.  Ebenso  hat  Muthesius  zweifellos  recht,  wenn  er  die  neuer- 
dings ausgesprochene  Vermutung,  Pestalozzi  sei  im  Mai  1786  in  Dresden  und  in 
der  sächsischen  Schweiz  gewesen,  ins  Reich  der  Fabel  verweist.  Vor  allem 
sprechen  dagegen  die  von  ihm  übersehenen  Stellen  in  den  Briefen  Pestalozzis  an 
den  Grafen  Karl  von  Zinzendorf.  Am  26.  Mai  1787  schreibt  jener:  ,Ich  hoffe 
innert  einem  Jahr  —  die  Reise  durch  Teutschland  die  ich  schon  Lang  vor  hatte 
machen  u:  dan  mit  mehreren  Menschen  Freunden  über  die  ausführbarkeit  meiner 
Ideen  mich  unterhalten  zu  Konen."  Und  am  17.  Januar  1788:  „Nach  Wien  werde 
ich  gewiß  Komen,  so  bald  mein  Schicksahl  es  mir  möglich  macht  meiner  so  lang 
vorgehabten  Reise  durch  Teutschland  mit  Ruhe  einige  Monate  zu  gönen."  (Pä- 
dagogium, herausg.  von  Dittes,  3.  Jahrg.,  1881,  S.  482  u.  539.) 

Eingehend  untersucht  der  Verfasser  die  bekanntlich  auf  Blochmann  zurück- 
gehende und  von  diesem  bejahend  beantwortete  Frage,  ob  Pestalozzi  im  Anschluß 
an  seine  sicher  feststehende  Reise  von  1792  auch  nach  Weimar  gekommen  und 
mit  den  Größen  der  Literatur,  insbesondere  mit  Goethe  bekannt  geworden  sei. 
Seine  Darlegungen  zeigen  meines  Erachtens  mit  Glück,  daß  jedenfalls  mehr  für 
als,   wofür   man  sich  neuerdings  gern  entscheidet,   gegen  diese  Annahme  spricht. 


angez.  von  A.  Heubaum.  263 

Bleibt  die  persönliche  Berührung  zwischen  Goethe  und  Pestalozzi  immerhin  einigem 
Zweifel  ausgesetzt,  so  erweisen  sich  die  indirekten  Beziehungen,  wie  das  folgende 
umfangreichste  Kapitel  des  Buches  zeigt,  um  so  reicher  und  mannigfaltiger.  Mit 
kundiger  Hand  deckt  Muthesius  die  Fäden  auf,  die  sich  von  Weimar  nach  Zürich 
und  umgekehrt  spannen.  Auch  hier  weiß  er  uns  mit  einzelnen  völlig  neuen  Tat- 
sachen zu  überraschen.  Vor  allem  treten  die  Beziehungen  zwischen  Pestalozzi 
und  Herder  deutlicher  als  früher  hervor.  Ein  bisher  übersehener  Dankbrief  des 
erstem  an  Herder  aus  Anlaß  von  dessen  bekannter  Rezension  der  Nachforschungen 
enthüllt  uns  die  interessante  Tatsache,  daß  sich  Pestalozzi  mit  dem  Gedanken 
einer  Fortsetzung  dieses  Werkes  trug.  Auch  mit  einem  an  Herder  und  Goethe 
gerichteten  Rundschreiben  Pestalozzis,  in  dem  er  1803  um  Unterstützung  seines 
Erziehungsunternehmens  bittet,  werden  wir  zum  ersten  Male  bekannt  gemacht.  Die 
auffällige  Sicherheit  von  Schillers  Urteil  über  Pestalozzis  mangelnde  Befähigung  zum 
Historiker  führt  Muthesius,  wir  mir  scheint,  mit  Recht  auf  die  Lektüre  von  Lien- 
hard  und  Gertrud  und  auf  einen,  wenn  auch  nur  einige  Tage  währenden  persön- 
lichen Umgang  mit  unserem  Pädagogen  zurück.  Übrigens  trete  ich  ihm  durchaus 
bei,  wenn  er  Natorp  gegenüber  das  abfällige  Urteil  Schillers  für  begründet  er- 
klärt. Pestalozzis  Begabung  lag  nicht  auf  historischem  Gebiete.  Es  folgen  dann 
die  zahlreichen  Beziehungen,  die  Goethe  mit  vielen  Freunden  und  Bekannten 
Pestalozzis  verbanden,  mit  Bäbe  Schultheß,  dem  Dr.  Hotze,  Lavater,  Pfenninger, 
Joh.  Heinrich  Füßli  dem  Maler,  Zimmermann,  dem  Arzt  und  Philosophen.  Sie 
alle  waren  Mittelglieder  zwischen  den  beiden  Männern  und  werden  dem  einen 
vom  andern  erzählt  haben. 

Den  größten  Gewinn  für  die  Frage  des  Verhältnisses  zwischen  Goethe  und 
Pestalozzi  bringen  die  beiden  folgenden  Kapitel.  Im  Herbst  1803  begann  die  neu- 
gegründete, von  Goethe  mit  lebhaftem  Anteil  begleitete  Jenaische  allgemeine 
Literaturzeitung  der  bekannter  werdenden  Methode  Pestalozzis  einen  breiten  Raum 
zu  widmen.  Die  Besprechung  der  von  und  über  Pestalozzi  erscheinenden  Literatur 
übernahm  Joh.  Gottl.  Spazier,  ein  bekannter,  auch  in  pädagogischen  Fragen  be- 
wanderter Schriftsteller.  Wie  mehrere  Bemerkungen  zeigen,  verfolgte  Goethe  seine 
umfangreiche,  überwiegend  recht  verständige  und  das  Wesentliche  gut  heraus- 
hebende Darstellung  von  Pestalozzis  Lehrsystem,  sowie  seine  Anzeigen  von  dessen 
Schriften  mit  dem  größten  Interesse.  Anfangs  hält  er  mit  seinem  Urteil  zurück, 
indem  er  eingesteht,  von  der  Pädagogik  so  fern  zu  sein,  daß  er  „in  das  Pesta- 
lozzische  Wesen  noch  nicht  ernstlich  habe  eingehen  können".  Bald  aber  ist  er 
sich  im  klaren,  und  es  macht  sich  eine  leise  Ablehnung  bemerkbar.  „Pah!"  rief 
er  einmal  aus,  „eine  Rose  von  einer  Nelke  zu  unterscheiden  ist  das  Abc  der  An- 
schauung, nicht  das  geheimnisvolle  Dreieck  oder  Viereck."  Am  merkwürdigsten 
dafür  ist  aber  eine  von  Muthesius  hervorgehobene  Anmerkung,  die,  wie  der  Ver- 
fasser aus  dem  Archiv  festgestellt  hat,  Wilhelm  von  Humboldt  an  Goethe  über- 
sandte und  deren  sich  gegen  die  Methode  wendender  Inhalt  Goethe  zu  seiner 
Ansicht  machte.  Es  war  Ende  1804,  daß  sich  der  Dichter  gegen  die  Pestalozzische 
Methode  entschied.  Trotzdem  hat  er  sich  später  immer  wieder,  wie  wir  schon 
bisher  aus  seiner  Lebensgeschichte  wußten,  um  sie  bekümmert  und  auch  sonst 
den  pädagogischen  Bewegungen  der  Zeit  seine  Aufmerksamkeit  geschenkt.    Von 


264  K,  Muthesius,  üoethe  und  Pestalozzi,  angez.  von  A.  Heubaum. 

höchstem  Interesse  ist  hierbei,  was  Muthesius  über  den  Plan  zur  Gründung  des 
Archivs  deutscher  Nationalbildung  von  Passow  und  Jachmann  und  Goethes  Ver- 
halten dazu  erzählt.  In  dem  Bestreben  jener  beiden  Männer  kam  eine  Auffassung 
von  der  Aufgabe  der  Schule  und  dem  Zweck  der  Bildung  zum  Ausdruck,  die  dem 
weltfrohen  Geiste  des  Dichters  nicht  zusagen  konnte.  Sie  konstruierten  einen  reinen 
Vernunftbegriff  von  der  Schule,  die  im  Gegensatze  gegen  die  Welt  bestehen 
müsse,  die  aus  dem  Dienst  der  Welt  heraustreten  und  den  Geschäfts-  und  Werk- 
stätten die  berufliche  Vorbildung  überlassen,  selbst  aber  nichts  anderes  als  Bildnerin 
zur  Humanität  sein  und  Kunstentwicklung,  intellektuelle,  ästhetische  und  moralisch- 
religiöse Kultur  befördern  müsse.  Es  ist  das  Programm,  das  dann  das  ganze 
19.  Jahrhundert  hindurch  die  Aufgabe  unserer  höheren  Schule  bestimmt  hat. 
Muthesius  entwickelt  sehr  treffend,  wie  wenig  Goethes  Bildungs-  und  Erziehungs- 
ideal um  diese  Zeit  mit  diesem  allgemein  menschlichen,  formalistischen  von 
Passow  und  Jachmann  harmonierte,  wie  er  vielmehr  in  einer  tüchtigen,  zum 
Handeln  erziehenden  Berufsbildung  die  Vervollkommnung  des  Menschen  erblickte. 
Aus  diesem  Grunde  vermochte  er  auch,  so  oft  er  sich  wieder  bemühte,  kein  Ver- 
hältnis zu  der  intellektualistischen  Methode  zu  gewinnen,  die  die  Anhänger  Pesta- 
lozzis ausgestaltet  hatten  und  für  die  wahre  Meinung  des  großen  Pädagogen  er- 
klärten. Es  ist  sehr  wahr,  was  Muthesius  darlegt,  daß  im  Grunde  zwischen  dem 
ursprünglichen  Wollen  Pestalozzis  und  dem  Erziehungsideal  Goethes  kein  Wider- 
spruch bestand.  Auch  jener  hatte  die  Verbindung  von  Leben  und  Lernen  ange- 
strebt und  in  der  Ausbildung  zu  einem  tüchtigen  beruflichen  Leben  das  wahre 
Ziel  der  Erziehung  gesehen.  Aber  über  der  Entdeckung  seiner  Methode  verlor  er 
sein  ursprüngliches  Ziel  aus  dem  Auge,  und  seine  Anhänger  betonten  den  Formalis- 
mus der  Methode  so  stark,  daß  Pestalozzis  Wollen  ins  gerade  Gegenteil  verkehrt 
wurde.  Niemand  hat  diesen  Widerspruch  zwischen  seinem  Wollen  und  Voll- 
bringen stärker  zum  Ausdruck  gebracht  als  Pestalozzi  selbst.  Muthesius  hat  den 
Gegensatz  klar  herausgearbeitet  und  richtig  als  die  Tragik  in  dem  Geschick  des 
großen  Pädagogen  bezeichnet.  Ich  halte  diese  Beurteilung  von  Pestalozzis  Lebens- 
werk für  durchaus  zutreffend. 

Noch  einmal  hat  dann  Goethe,  wie  uns  das  siebente  Kapitel  des  Buches  ein- 
gehend darlegt,  Gelegenheit  gehabt,  sich  mit  Pestalozzis  Lehrweise  bekannt  zu 
machen.  Es  war  in  den  Jahren  1814  und  1815,  wo  er  am  Main  und  Rhein  weilte, 
in  Wiesbaden  die  Schule  des  Pestalozzi-Schülers  de  l'Aspee  besuchte  und  sich 
besonders  mit  seiner  Rechenmethode  auch  bekannt  machte.  Der  Enderfolg  war 
derselbe  wie  vor  zehn  Jahren.  Der  Formalismus  der  Methode  stieß  ihn  ab.  Goethe 
verhielt  sich  von  nun  ab  ablehnend  gegen  Pestalozzi. 

Das  letzte  Kapitel  des  Buches  beschäftigt  sich  nur  noch  indirekt  mit  Pesta- 
lozzi und  seinem  Verhältnis  zu  Goethe.  Es  behandelt  die  schon  häufiger  er- 
örterte Frage,  wem  der  Dichter  die  in  der  pädagogischen  Provinz  des  Wilhelm 
Meister  dargelegten  Gedanken  schuldet.  Bielschowsky  hat  hierin  noch  Pestalozzis 
Einfluß  verspüren  zu  müssen  geglaubt;  wenn  schon  die  ganze  bisherige  Unter- 
suchung von  Muthesius  dies  unwahrscheinlich  macht,  so  zeigt  nunmehr  Dr.  Jung- 
manns Aufsatz  (Euphorien,  hersg.  von  Aug.  Sauer,  14.  Bd.,  2.  u.  3.  Heft)  zweifel- 
los, daß  wir  das  Vorbild  für  die  pädagogische  Provinz  in  Fellenbergs  Institut  in 


O.  Pfleiderer,  Religion  usw.  und  E.  Thrändorf,  Die  soz.  Frage  usw.,  angez.  v.  R.  Peters.     265 

Hofwyl,  nicht  aber  in  Pestalozzi  zu  suchen  haben.  Auch  der  umsichtigen  und 
fleißigen  Forschung  Jungmanns  hat  Muthesius  noch  eine  neue  nicht  unwesentliche 
Tatsache  hinzufügen  können.  Er  weist  nach,  daß  außer  der  , vorläufigen  Nach- 
richt" Fellenbergs,  ja  mehr  als  diese  der  „Rapport  presentd  ä  sa  Majest^  l'em- 
pereur  Alexandre,  par  S.  Ex.  Mr.  le  comte  de  Capo  d'Istria  sur  les  etablissements 
de  M.  de  Fellenberg  ä  Hofwyl  en  Octobre  1814"  Goethe  zur  Grundlage  des  in  der 
pädagogischen  Provinz  entworfenen  Bildes  gedient  hat. 

Mit  diesen  Bemerkungen  glaube  ich  hinreichend  mein  im  Anfange  aus- 
gesprochenes Lob  des  Buches  begründet  zu  haben;  ich  wünsche  ihm,  daß  es 
recht  fleißige  Leser  finden  möge. 

Friedenau  bei  Berlin.  Alfred  Heubaum. 

Pfleiderer,  Otto,  Religion  und  Religionen.  München  1906.  Lehmann.  249  S. 
8^    geb.  5  M. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß,  wenn  der  hochverdiente  Forscher  auf  dem  Gebiet 
der  Religionsgeschichte  und  der  Religionsphilosophie  die  Resultate  seiner  lang- 
jährigen Arbeit  in  populären  Vorträgen  zusammenfaßt,  das  auch  für  den  Religions- 
lehrer der  oberen  Klassen  eine  sehr  willkommene  Gabe  bedeutet.  Manche  Partien 
möchte  man  in  dieser  knappen,  alles  Wesentliche  zusammenfassenden  Form  den 
Primanern  direkt  darbieten;  bei  dem  lebhaften  Interesse,  das  sich  auch  bei  der 
heranwachsenden  Generation  für  diese  Fragen  geltend  macht,  eignet  sich  das  Buch 
trefflich  für  die  Schülerbibliothek  der  Prima.  Die  Zeiten,  wo  man  gegen  religions- 
geschichtliche Betrachtungen  und  Vergleichungen  mißtrauisch  war,  sind  doch  vor- 
über. Zeigt  sich  doch,  je  länger,  je  mehr,  daß  die  christliche  Religion  solche 
Vergleiche  wahrlich  nicht  zu  scheuen  hat,  wie  dies  auch  aus  der  vorliegenden 
Darstellung  überall  hervorleuchtet.  Und  wenn  dadurch  der  Blick  erweitert,  das 
Urteil  auf  eine  breitere  Basis  gestellt  wird,  so  kommt  dies  entschieden  einem  Zuge 
entgegen,  der  in  den  aufwärts  ringenden  Geistern  sich  kundgibt. 

Die  ersten  Abschnitte  behandeln  das  Wesen  der  Religion  und  ihr  Verhältnis 
zur  Moral  und  zur  Wissenschaft;  daran  schließt  sich  in  zwölf  Vorträgen  ein  Über- 
blick über  die  einzelnen  Religionen,  der  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  all- 
gemeinen vergleichenden  Religionswissenschaft  vorzüglich  orientiert. 

Thrändorf,   E.,   Die   soziale   Frage   in    Prima.     Beiträge   zur   Methodik   des 
Religionsunterrichts    an    höheren    Schulen,    l.  Heft.     Dresden   1905.      Bleyl    u. 
Kämmerer.    69  S.    8".     1,20  M. 
Der    rührige   Vorkämpfer    für    den    Fortschritt    des   evangelischen    Religions- 
unterrichts  hat   hier  ein  schwieriges  Problem   in  den  Kreis    seiner   methodischen 
Bearbeitungen  hineingezogen.    Die  berechtigte  Scheu  vor  dem  auf  dem  Gebiet  der 
sozialen  Frage  ganz  besonders  gefährlichen  Dilettantismus,  den  die  höhere  Schule 
gewiß  nicht  Anlaß  hat  zu  verbreiten,  macht  viele  mißtrauisch  gegen  alle  derartige 
Versuche,   namentlich    im    Religionsunterricht.     Anderseits   aber   wird    man    nicht 
leugnen  wollen,    daß   angesichts   des   so   weit   verbreiteten    verständnislosen  Ab- 
urteilens  über  die  Verhältnisse  und  Bestrebungen  der  sogenannten  unteren  Stände 
die  höhere  Schule  eine  ernste  Pflicht  hat.    In  dieser  Hinsicht  sind  die  einleitenden 


266      E-  Thrändorf  und  H.  Meltzer,  Der  Religionsunterricht,  angez.  von  R.  Peters. 

Bemerkungen  des  Verfassers  sehr  beherzigenswert.  Er  weist  mit  Recht  darauf  hin, 
daß  die  ethischen  Unterweisungen  im  Anschluß  an  das  Neue  Testament  vielfach 
völlig  unfruchtbar  bleiben  müssen,  wenn  der  große  Unterschied  zwischen  den  da- 
maligen und  den  jetzigen  sozialen  Zuständen  nicht  beachtet  wird,  und  daß  auch 
die  Behandlung  der  inneren  Mission  für  die  vorliegende  Frage  nicht  ausreicht,  da 
ihre  Bestrebungen  ohne  Kenntnis  der  sozialen  Verhältnisse  nicht  zum  rechten 
Verständnis  gebracht  werden  können.  Fraglich  dagegen  ist  mir  trotz  der  Geleit- 
worte Thrändorfs  geblieben,  ob  solche  selbständigen  und  ausführlichen  Belehrungen 
über  die  soziale  Frage  gerade  im  Religionsunterricht  am  Platze  sind  und  ob  dafür 
die  nötige  Zeit  vorhanden  ist.  Thrändorf  schließt  sie  an  einen  Überblick  über  das 
Leben  Gustav  Werners,  über  die  christlich-soziale  Bewegung  in  England,  ferner 
an  die  Kaiserliche  Botschaft  vom  17.  November  1881  und  die  Arbeiterschutzerlasse 
Wilhelms  II.  an.  Dieser  ganze  Abschnitt  ist  unter  dem  Titel  „Soziales  Christen- 
tum" auch  selbständig  gedruckt  (0,25  M.)  und  als  Beiblatt  zum  kirchengeschicht- 
lichen Lesebuch  gedacht.  Den  Schluß  bilden  ausführliche  Präparationen  zu  diesen 
Stoffen.  Die  Form  dieser  nach  Stufen  gegliederten  Präparationen  wird  mancher 
wohl  für  den  Primaunterricht  als  entbehrlich  betrachten;  sie  hat  hier  jedenfalls  das 
Gute,  daß  sie  bis  ins  einzelnste  zeigt,  wie  der  Verfasser  sich  die  Durchführung  der 
von  ihm  geforderten  Belehrungen  denkt. 

Thrändorf,  E.  und  Meltzer  H.,  Der  Religionsunterricht.  Bd.  II.  Mittel- 
stufe; Heft  I.  Von  Moses  bis  Elias.  2.  Aufl.,  bearb.  von  E.  Beyer.  VIII 
u.  141  S.  Geb.  2,75  M.  Dresden  1906.  Bleyl  und  Kaemmerer.  Bd.  III.  Mittel- 
stufe; Heft  II.  Der  Prophetismus  und  das  nachexilische  ludentum. 
2.  Aufl.,  bearb.  v.  d.  Herausgebern.  XII  u.  179  S.  Geb.  3,40  M.  Ders.  Verlag  1907. 
Der  Anfänger,  der  mit  dem  alttestamentlichen  Unterricht  in  VI  oder  IV  betraut 
wird,  tritt  oft  mit  einer  gewissen  Scheu  an  seine  Aufgabe  heran;  er  hat  leicht  das 
Gefühl,  als  müsse  er  nun  alles,  was  er  an  der  Universität  auf  diesem  Gebiet  sich 
erarbeitet  hatte,  dahinten  lassen  und  sich  wieder  zurückversetzen  in  Anschauungen, 
die  längst  er  überwunden  geglaubt.  Einem  solchen  kann  man  die  Präparationen 
von  Thrändorf  und  Meltzer  nicht  warm  genug  empfehlen;  er  wird  daraus  ersehen, 
wie  ohne  Verleugnung  des  wissenschaftlichen  Standpunktes  die  religiösen  Schätze 
des  Alten  Testaments  für  die  Jugend  fruchtbar  gemacht  werden  können.  In  der 
Neuauflage  des  II.  Heftes  besonders  werden  ihm  die  [alten  Bekannten  von  der  Uni- 
versität her  (Cornill,  Stade,  Smend,  Wellhausen,  Gunkel,  Duhm  u.  a.) 
immer  wieder  begegnen.  Denn  über  jedem  Hauptabschnit  sind  kurze,  sachliche 
Einleitungen  und  über  jedem  Einzelabschnitt  Sacherklärungen  in  der  Weise  ge- 
geben, daß  bezeichnende  Stellen  aus  den  Werken  der  hervorragendsten  Forscher 
zitiert  werden.  Das  ist  nicht  nur  für  den  vortrefflich  eingerichtet,  dem  eingehende 
theologische  Studien  nicht  möglich  waren  (—  die  Bücher  sind  zunächst  für  den 
Lehrer  der  Volksschule  bestimmt  — ),  sondern  auch  für  den  Theologen,  der  das 
Wichtigste  übersichtlich  beisammen  findet.  Vielleicht  hätte  an  geeigneter  Stelle 
auch  hier  und  da  auf  das  abweichende  Urteil  anderer  Richtungen  verwiesen 
werden  können  als  Aufforderung  zum  Selbstabwägen.  Mit  der  wohlbegrün- 
deten   Auswahl    des   Stoffes    wird    man    sich    durchweg   einverstanden    erklären 


K.  Furrer,  Das  Leben  Jesu  Christi,  angez.  von  R.  Peters.  267 

können;  für  die  entsprechenden  Klassen  der  höheren  Schulen  ist  sie  allerdings 
etwas  reichlich  bemessen.  Die  methodische  Anlage  ist  im  allgemeinen  beibehalten, 
nur  sind  in  beiden  Heften  bei  der  Stufe  der  Vertiefung  die  erarbeiteten  Gesichts- 
punkte zum  Schluß  in  Zusammenfassung  gegeben. 

Im  2.  Heft  sind  die  Texte,  weil  gesondert  erschienen,  weggelassen.  Überhaupt 
ist  die  neue  Auflage  dieses  Teiles  stark  umgearbeitet,  weniger  die  des  I.  Heftes, 
das  im  Geiste  der  Herausgeber  Oberlehrer  E.  Beyer  neu  bearbeitet  und  das  bei 
den  Abschnitten  aus  dem  Richterbuch  einige  Erweiterungen  erfahren  hat. 

Der  Religionslehrer  der  unteren  und  mittleren  Klassen  wird,  auch  wenn  er 
sich  nicht  an  die  fünf  Stufen  binden  möchte,  aus  den  Präparationen  für  seinen 
Unterricht  reichen  Gewinn  ziehen  können. 

Furrer,  K.,  Das  Leben  Jesu  Christi.  Leipzig  (J.  C.  Hinrichs)  und  Zürich. 
(Müller,  Werder  &  Gie.)  1905.    2.  Aufl.    VII  u.  261  S.    8o.    geb.  4  M. 

Der  Verfasser  will  kein  neues  wissenschaftliches  „Leben  Jesu"  bieten,  seine 
Schrift  verfolgt,  wie  die  Vorträge,  aus  denen  sie  entstanden  ist,  den  praktischen 
Zweck,  den  Ertrag  ernster  wissenschaftlicher  Arbeit  dem  Volke  zu  vermitteln 
Deshalb  sieht  sie  ab  von  allem  gelehrten  Apparat  und  allen  dogmatischen  Aus- 
sagen über  Jesus.  Man  verspürt  aber  überall  den  Einfluß  der  neueren  protestan- 
tischen Theologie  und  der  religionsgeschichtlichen  Betrachtung.  Stets  bleibt  das 
Bestreben  im  Vordergrund,  positiv  zu  zeigen,  was  uns  heute  Jesus  ist;  auch  da, 
wo  der  Verfasser  vom  Hergebrachten  abweicht,  wie  z.  B.  betreffs  der  Geschicht- 
lichkeit der  Weihnachtserzählung,  will  er  nicht  „mit  groben  Händen  das  feine 
goldene  Gewebe  geistiger  Wirklichkeit  anfassen",  es  gilt  ihm  „Geistiges  mit  Geist 
aufzunehmen  und  mit  andachtsvoller  Freude  zu  verehren". 

Auf  allseitige  Zustimmung  zu  allen  Einzelheiten  wird  Furrer  auch  bei  freier 
Gerichteten  nicht  rechnen.  Dazu  sind  so  manche  Fragen  noch  zu  wenig  geklärt; 
was  dem  einen  als  Resultat  der  wissenschaftlichen  Forschung  erscheint,  stößt  bei 
dem  anderen  auf  ernste  Bedenken.  So  werden  gewiß  nicht  alle  mitgehen,  wenn 
die  Personen  des  Johannesevangeliums  symbolisch  gefaßt  werden,  die  Mutter  Jesu 
etwa  die  „Stillen  im  Lande"  bezeichnen  soll.  Den  synoptischen  Evangelien  liegt 
überall  geschichtliche  Wirklichkeit  zugrunde,  aber  es  hat  sich  darüber  „gleichsam 
ein  allegorischer  Duft  gelagert"  CS.  143).  In  diesem  Allegorisieren  geht  Furrer 
manchmal  recht  weit.  An  anderen  Stellen  erinnert  seine  Erklärung  an  die  rationa- 
listische Art,  so  bei  der  Stillung  des  Sturmes  und  der  Speisung  der  Fünftausend. 
Die  Messiasidee  tritt  zu  sehr  zurück.  Die  Selbstbezeichnung  Menschensohn  und 
die  Aussagen  über  das  Weltgericht  werden  nicht  zu  ihr  in  Beziehung  gesetzt. 
Hier  erweckt  die  Darstellung  den  Zweifel,  ob  das  wirklich  das  historische  Jesubild 
ist.  Ob  z.  B.  Petrus  bei  seinem  Bekenntnis  eine  so  abstrakt  geistige  Auffassung 
vom  Messias  hat  aussprechen  wollen?  (S.  174).  Bei  der  Erklärung  der  einzelnen 
Aussprüche  und  Situationen  flickt  Furrer  sehr  häufig  ein,  was  er  von  der  Eigenart 
des  Landes  und  seiner  Bewohner  selbst  beobachtet  hat;  meist  in  sehr  glücklicher 
Weise,  nur  hat  man  hier  und  da  den  Eindruck,  daß  dieses  Beiwerk  sich  zu  sehr 
in  den  Vordergrund  dränge.  Manche  dieser  Bemerkungen  sind  trefflich  geeignet, 
auch  im  Unterricht  die  Erklärung  anschaulicher  und  lebendiger  zu  gestalten. 

Düsseldorf.  R.  Peters. 


268  Ekkehards  Waltharius,  angez.  von  C.  Borcbling. 

Ekkehards  Waltharius.  Herausgegeben  von  Karl  Strecker.  XVI  u.  109  S. 
8«.  Berlin  1907.  Weidmannsche  Buchhandlung.  2,40  M. 
Der  Waltharius  manufortis  Ekkehards  I  von  St.  Gallen  muß  im  späteren  Mittel- 
alter ein  sehr  beliebtes  Buch  gewesen  sein,  davon  zeugen  die  zahlreichen  Ab- 
schriften des  Werkes,  die  auf  uns  gekommen  sind  oder  sich  mit  Sicherheit  als 
einst  vorhanden  erweisen  lassen.  Nur  einen  Teil  dieses  Materials  konnte  Jakob 
Grimm  1838  für  seine  Ausgabe  des  Waltharius  in  den  „Lateinischen  Gedichten 
des  X.  und  XI.  Jahrhunderts"  benutzen.  Erst  Peiper  hat  1873  die  gesamte  Über- 
lieferung des  Gedichtes  herangezogen  und  in  sorgfältigen  Kollationen  vor  uns 
ausgebreitet.  Als  eine  Neubearbeitung  der  Peiperschen  Ausgabe  stellt  sich  der 
vorliegende  Band  dar,  allein  es  ist  ein  ganz  neues  Buch  daraus  geworden,  so  daß 
der  Bearbeiter  mit  Recht  den  Namen  Peipers  auf  dem  Titelblatte  fortlassen  durfte. 
Peipers  Text  war  auf  einer  ganz  verkehrten  Bewertung  der  verschiedenen  Hand- 
schriftenklassen aufgebaut,  so  daß  man  bei  ihm  den  richtigen  Text  nur  in  den 
Lesarten  unter  dem  Texte  finden  konnte.  Noch  im  selben  Jahre  1873  zeigte  dann 
Wilhelm  Meyer  den  richtigen  Weg  für  die  Recensio  des  Walthariustextes,  indem 
er  den  höheren  Wert  der  sogenannten  Geraldus-Klasse  (d.  h.  derjenigen  Hand- 
schriften, die  dem  Gedichte  den  Prolog  von  Ekkehards  Lehrer  Geraldus  voran- 
setzen) nachwies.  Wenn  er  aber  innerhalb  dieser  Geraldusklasse  die  Brüsseler 
Handschrift  allen  übrigen  voranstellte  und  auf  ihr  allein  den  Text  aufgebaut  wissen 
wollte,  so  darf  diese  Hypothese  heute  als  abgetan  gelten,  zumal  Wilhelm  Meyer 
sich  selbst  in  einer  neueren  Arbeit  davon  losgesagt  hat.  Trotzdem  hielt  aber 
Hermann  Althof  in  seiner  dickleibigen  Ausgabe  des  Waltharius  (Band  1  [Text] 
Weimar  1899,  Band  2  [Kommentar]  1905)  an  dieser  Überschätzung  der  Brüsseler 
Handschrift  fest,  ja  er  überbot  Wilhelm  Meyers  früheren  Standpunkt  noch.  Dem 
gegenüber  hatte  bereits  P.  von  Winterfeld  seiner  1897  erschienenen  Übersetzung 
des  Waltharius  in  Stabreimen  einen  auf  der  gesamten  Geraldusklasse  beruhenden 
Text  zugrunde  gelegt.  Diesen  Text  auch  für  seine  geplante  Ausgabe  des  Wal- 
tharius in  den  Poetae  Latini  medii  aevi  kritisch  herzustellen,  hat  ihn  leider  sein 
allzufrüher  Tod  verhindert.  Die  notwendige  Arbeit  hat  jetzt  erst  Strecker  in  der  vor- 
liegenden Ausgabe  besorgt,  sie  verleiht  dem  Bande,  der  zugleich  die  genauen  Kolla- 
tionen Peipers  beibehält  und  ergänzt,  einen  besonderen  Wert.  Neu  ist  an  Streckers 
Beurteilung  der  Handschriften  die  Einordnung  der  wertvollen  alten  Innsbrucker 
Bruchstücke,  die  erst  1889  bekannt  gemacht  worden  sind  und  bisher  fast  allgemein 
der  Geraldusklasse  zugerechnet  wurden.  Strecker  vermutet  S.  XV,  daß  diese  Inns- 
brucker Bruchstücke  vielmehr  mit  den  Auszügen  des  Waltharius  im  Chronicon  No- 
valiciense  zusammen  eine  ältere  Stufe  der  durch  die  Karlsruher  und  Stuttgarter 
Handschrift  repräsentierten  Klasse  darstellen.  Diese  für  die  Textgeschichte  sehr 
wichtige  Feststellung  hat  Strecker  jetzt  in  seiner  Besprechung  des  Althofschen 
Kommentars  (Göttingische  Gelehrte  Anzeigen  1907,  S.  846  ff.)  ausführlich  und  über- 
zeugend bewiesen;  der  Wert  der  Geraldusklasse  ist  aber  dadurch  nur  noch  verstärkt 
worden.  Streckers  Ausgabe  bringt  ferner  auf  jeder  Seite  des  Textes  unter  den 
Lesarten  auch  die  vom  Dichter  des  Waltharius  benutzten  Stellen  des  Vergil,  des 
Prudentius  und  der  Vulgata.  Auch  diese  sorgfältige  und  sehr  erwünschte  Sammlung 
findet  sich  erst  zum  kleinen  Teile  bei  Peiper  vor;  zu  ihr  haben  Wilhelm  Meyer 


Goldene  Klassiker -Bibliothek,  angez.  von  A.  Matthias.  269 

für  den  Prudentius  und  Strecker  selbst  für  den  Vergil  und  die  Vulgata  in  früheren 
Aufsätzen  das  Beste  beigesteuert.  Die  Einleitung  orientiert  auf  12  Seiten  in  aller 
Kürze,  aber  klar  und  sorgfältig,  über  den  Dichter,  die  Handschriften  und  ihre  Be- 
urteilung. Dem  Texte  folgen  S.  74—76  diejenigen  Lesarten  der  Wiener  Hand- 
schrift und  der  Engelberger  Bruchstücke,  die  nicht  in  den  Lesartenapparat  auf- 
genommen worden  sind,  weil  sie  eine  spätere  Umarbeitung  des  Gedichtes  reprä- 
sentieren. Im  Verzeichnis  der  Eigennamen  S.  77—79  sind  alle  handschriftlichen 
Varianten  gebucht.  Das  Glossar  S.  80—92  ist  ganz  neu  gestaltet  und  trotz  aller 
Knappheit  zu  einem  ausgezeichneten  Hilfsmittel  für  die  Erkenntnis  schwierigerer 
Stellen  des  Textes  geworden.  Den  Band  beschließt  endlich  ein  Anhang,  der  die 
altenglischen  Waldere-Bruchstücke  (nach  HoUhausens  Ausgabe)  nebst  Weinholds 
Übersetzung  und  die  bisher  nur  einzeln  publizierten  Bruchstücke  des  mittelhoch- 
deutschen Waltherepos  bequem  vereinigt.  Alles  in  allem  ist  also  Streckers  Ausgabe 
des  Waltharius  eine  äußerst  praktische  Handausgabe,  die  in  ihrem  engen  Rahmen 
dennoch  alles  Wissenswerte  in  kritischer,  sorgfältig  abgewogener  Darstellung  bei- 
bringt und  deshalb  weitester  Verbreitung  empfohlen  sei. 

Posen.  Conrad  Borchling. 

Goldene  Klassiker-Bibliothek.  Lessings  Werke  (Auswahl).  Herausgegeben  von 
R.  Boxberger,  Chr.  Groß,  E.  Große,  R.  Pilger,  C.  Chr.  Redlich,  A.  Schöne, 
Th.  Vatke,  G.  Zimmermann,  neu  bearbeitet,  mit  Biographie  und  Einleitungen  ver- 
sehen von  F.  Budde,  Dr.  Waldemar  Oehlke,  Dr.  Waldemar  Olshausen,  Dr.  Julius 
Petersen,  Dr.  W.  Riezler,  Prof.  Dr.  Eduard  Stemplinger.  I.  Lebensbild.  Gedichte 
und  Fabeln.  Miß  Sara  Sampson.  Philotas.  LH  u.  328  S.  IL  Minna  von  Barn- 
helm. Emilia  Galotti.  Nathan  der  Weise.  314  S.  IIL  Jugenddramen:  Dämon. 
Der  junge  Gelehrte.  Der  Misogyn.  Die  alte  Jungfer.  Die  Juden.  Der  Frei- 
geist. Der  Schatz.  344  S.  IV.  Briefe,  die  neueste  Literatur  betreffend.  Laokoon. 
511  S.  V.  Hamburgische  Dramaturgie.  431  S.  VI.  Ernst  und  Falk.  Die  Er- 
ziehung des  Menschengeschlechts.  309  S.  6  Teile  in  3  Leinenbänden  5  M. 
In  3  Halbfranzbänden  7,50  M.  Prachtausgabe  in  3  Goldleinenbänden  7  M. 
Prachtausgabe  in  3  Luxus-Halbfranzbänden  10  M. 

Herde  r  s  Werke.  (Auswahl.)  Auf  Grund  der  Hempelschen  Ausgabe  neu  herausgegeben, 
mit  Biographie,  Einleitungen  und  Anmerkungen  versehen  von  Prof.  Dr.  E.  Naumann. 

I.  Lebensbild.    Fragmente  über  die  neuere  deutsche  Literatur.    CXXXI  u.  318  S. 

II.  Kritische  Wälder.  Von  deutscher  Art  und  Kunst.  Von  Ähnlichkeit  der 
mittleren  englischen  und  deutschen  Dichtkunst.  249  S.  III.  Ideen  zur  Philosophie 
der  Geschichte  der  Menschheit,  1.  Teil.  204  S.  IV.  Ideen,  2.  Teil.  V.  Ideen, 
3.  Teil.  188  S.  VI.  Ideen,  4.  Teil.  VII.  Volkslieder.  331  S.  VIII.  Der  Cid. 
285  S.  8  Teile  in  3  Leinenbänden  6  M.  In  3  Halbfranzbänden  9  M.  Pracht- 
ausgabe in  3  Goldleinenbänden  9  M.  Prachtausgabe  in  3  Luxus-Halbfranz- 
bänden 12  M.    Berlin-Leipzig  o.  J.    Deutsches  Verlagshaus  Bong  &  Co. 

Wer  das  Leben  der  Schule  und  die  Interessen  unserer  Schüler  aufmerksam 
verfolgt  und  auch  noch  die  geistigen  Bedürfnisse  derjenigen  Kreise,  die  man  die 
bessern  zu  nennen  pflegt,  beobachtet,  kann  sich  einer  betrübenden  Wahrheit  nicht  ver- 
schließen :  Es  ist  die  Gefahr  vorhanden,  daß  unsere  Jugend  in  Herder  und  Lessing,  ja 


270  Goldene  Klassiker-Bibliothek,  angez.  von  A.  Matthias. 

selbst  in  Goethe  und  Schiller  literarische  Antiquitäten  zu  sehen  sich  gewöhnt  und 
daß  sie  solche  Ansichten  mit  in  eine  Welt  hinausnimmt,  in  welcher  man  sich  in 
den  oberen  Schichten  an  unseren  Klassikern  zu  langweilen  pflegt.  Unsere  ganze  Zeit 
ist  ja  Idealen  nicht  ganz  günstig,  bei  der  Jugend  kommt  die  Sehnsucht  hinzu, 
die  Stätten,  wo  Ideale  gepflegt  werden  sollen,  möglichst  bald  hinter  sich  zu  haben, 
und  dem  Druck  zu  entrinnen,  der  nun  einmal  mit  allem,  was  mit  gesunder  Er- 
ziehung zusammenhängt,  notwendigerweise  verbunden  ist.  Das  ist  so  und  läßt  sich 
im  Grunde  nicht  ändern.  Und  doch  wird  die  Schule,  was  den  deutschen  Unter- 
richt, was  die  Pflege  der  Klassiker  anbelangt,  manches  vermeiden  können,  wo- 
durch sie  der  Liebe  und  Lust  der  Jugend  zum  Studium  und  zur  Lektüre  unserer 
Klassiker  geschadet  hat.  Die  Schule  hat  an  manchen  Stellen  zuviel  getan,  zu- 
viel mit  der  Einzelinterpretation,  zuviel  mit  dem  Zerpflücken  unserer  Klassiker,  zu 
viel  mit  der  breiten  und  an  einem  einzigen  Klassikerwerke  haftenden  Erklärung,  zuviel 
mit  der  Ausschlachtung  unserer  Klassiker  zu  Aufsatzthemen,  zuviel  auch  mit  der 
Herausgabe  von  Schulausgaben  und  Schulkommentaren  zu  den  Klassikern;  sie  hat 
damit  den  Schulstaub  auf  unser  bestes  Literaturgut  gehäuft  und  der  Jugend  die 
Klassiker  nicht  gerade  sympathisch  gemacht.  Dem  Übermaß  folgt  dann  der  Über- 
druß. Darin  sollte  Wandel  geschaffen  werden,  und  die  Schule  vor  allem  sollte 
sich  freuen,  wenn  unsere  Klassiker  in  schönem  Gewände,  gleichsam  im  Feiertags- 
kleide und  Sonntagsstaate  vor  uns  wieder  erscheinen  und  wenn  man  diesen  Sonn- 
tagsgenuß für  verhältnismäßig  sehr  geringes  Entgelt  jedem  verschaffen  kann, 
auch  dem,  der  die  Nachlaßsteuer  nicht  im  allergeringsten  zu  scheuen  hat. 

Die  alte  Hempelsche  Ausgabe,  die  uns  Älteren  so  lieb  und  wert  geworden  ist,  aber 
doch  an  manchen  Stellen  z.  B.  bei  Lessing,  ein  ganz  wunderliches  Aussehen  hatte,  er- 
scheint zu  rechter  Zeit  und  guter  Stunde  in  neuem  Gewände,  um  das  Interesse  an  un- 
seren besten  Denkern  und  Dichtern  neu  zu  beleben.  Sie  nimmt  Geringwertiges  nicht  in 
sich  auf,  sie  vermeidet  eine  zu  sehr  ins  einzelne  gehende  Behandlung.  Die  Ein- 
leitungen sind  einfach  und  in  freundlicher  Lesbarkeit  gehalten,  sind  übersichtlich 
und  bieten  das,  was  man  nötig  hat,  um  in  des  betreffenden  Dichters  Lande  unter 
guter  Führung  eine  erquickliche  Wanderung  zu  tun.  Wissenschaftliche,  literar- 
historische Einzelheiten,  die  den  Gelehrten  interessieren  mögen,  fehlen;  die  An- 
merkungen dienen  in  knapper  und  klarer  Form  dem  Verständnis  dessen,  der  eine 
gute  Schulbildung  genossen  hat. 

Vor  mir  liegt  Lessing  und  Herder.  Lessings  Herausgabe  leitet  Julius  Petersen 
mit  geschickter  Hand.  Er  hat  das  Lebensbild  entworfen,  hat  sich  die  hambufgische 
Dramaturgie  vorbehalten  und  die  Arbeitsteilung  am  Werke  geschickt  in  die  Hand 
genommen.  Das  ist  manchmal  sicher  keine  leichte  Arbeit  gewesen;  sie  ist  aber 
recht  gut  gelungen.  Alle  Anerkennung  verdient  z.  B.  das  Register,  das  am 
Schlüsse  der  sechs  Bände  steht,  dem  alle  Erklärungen,  die  sich  an  die  Namen 
historischer  Persönlichkeiten  knüpfen,  zugeteilt  sind  und  in  dem  die  Einzelheiten 
durch  die  Gesamtredaktion  miteinander  in  freundlichen  Einklang  gebracht  sind. 
Daß  im  Register  und  in  den  Anmerkungen  eine  Fülle  anregender  literarischer 
Quellen  an  passende  Stellen  sich  verteilt,  wird  demjenigen,  der  sich  weiter  unter- 
richten möchte,  willkommen  sein.  Das  Lebensbild,  das  Petersen  vorausschickt, 
soll  nur  eine  Skizze  sein,  die  sich  mit  einer  knappen  Chronologie  begnügt,  in  die 


Goethe-Gespräche,  angez.  von  A.  Matthias.  271 

man  die  Werke  mühelos  einreihen  kann;  das  zum  Verständnis  der  einzelnen 
Schriften  Notwendige  überläßt  sie  den  Einleitungen,  in  denen  die  einzelnen  Her- 
ausgeber miteinander  möglichst  im  Einklang  zu  bleiben  suchen.  Die  Einheitlich- 
keit des  Ganzen  ist  im  wesentlichen,  trotzdem  sechs  Herausgeber  mitgearbeitet 
haben,  gut  gewahrt.  —  Volle  Einheitlichkeit  herrscht  in  der  Herder-Ausgabe,  die 
Ernst  Naumann  allein  übernommen  hat.  Nur  bei  der  Bearbeitung  der  Anmerkungen 
haben  ihm  Emil  Dickhoff,  Alfred  Kinne  und  Adalbert  Silbermann  hilfreich 
zur  Seite  gestanden,  indem  sie  Zusammenstellungen  darboten,  die  Naumann 
selber  redigierte.  Das  Lebensbild  Herders,  fast  dreimal  so  umfangreich  als  das 
Lessings  von  Petersen,  liest  sich  ungemein  fließend  und  es  ist  wohl  geeignet,  Herder  zu 
vollem  Leben  zu  rufen  und  den  vollen  Wert  der  Lebensarbeit  eines  Mannes  uns  deut- 
lich zu  machen,  der  erst  heute,  da  wir  wirklich  ein  Volk  geworden,  in  seinem  ganzen 
Umfange  uns  klar  wird.  Denn  je  mehr  wir  uns  in  Herders  „Ideen"  vertiefen,  um 
so  klarer  wird  es  uns,  wie  sehr  die  still  fortgehende  Wirkung  seiner  Gedanken 
die  Kultur  der  Gegenwart  und  die  geschichtliche  Größe  des  neuen  Reiches  be- 
einflußt und  zum  Teil  geschaffen  hat.  An  diesem  Segen  sollten  wir  doch  ja  unsere 
Jugend  teilnehmen  lassen.  Je  mehr  sie  herderfest  wird,  um  so  sattelfester  wird 
sie  in  deutscher  Eigenart.  Da  das  Lebensbild  Herders  so  umfangreich  und  so 
eingehend  ausgestaltet  ist,  kann  sich  Naumann  in  Einleitungen  zu  den  Einzel- 
schriften kürzer  fassen.  Gleichwohl  erhalten  wir  alles,  was  zum  Verständnis  nötig 
ist  und  was  die  Wanderung  durch  die  reiche  Welt  Herderscher  Gedanken  uns  lieb  und 
angenehm  machen  kann,  Porträts  von  Lessing  und  Herder  in  Photogravüre  und 
Faksimiles  sind  in  technisch  vollendeter  Ausstattung  beigefügt;  vorzügliches  Papier, 
tadelloser  Druck  und  dazu  der  geringe  Preis  geben  der  goldenen  Klassiker-Bibliothek 
einen  Vorzug,  wie  er  kaum  einer  anderen  Ausgabe  unserer  Klassiker  zukommt. 
Die  deutsche  Schule  und  das  deutsche  Haus  muß  für  eine  solche  Gabe  dankbar 
sein.    Auf  weitere  Teile  des  Sammelwerkes  kommen  wir  noch  zurück. 


Goethe -Gespräche,  ausgewählt  von  Dr.  Paul  Lorentz.  Mit  zehn  Kunstdrück- 
beilagen und  einer  Heliogravüre.  Dresden,  1908.  L.  Ehlermann.  208  S.  8». 
geb.  2,75  M. 

Der  Löwenanteil  dieser  Goethe-Gespräche  fällt  Eckermann,  dem  Kanzler  von 
Müller  und  dem  Philologen  Friedrich  Wilhelm  von  Riemer  zu,  deren  , Gespräche", 
, Unterhaltungen"  und  Mitteilungen  ja  auch  die  ergiebigsten  Quellen  bilden,  wenn 
man  Goethe  in  seinen  Äußerungen  vernehmen  will,  die  die  Gelegenheit  und  die 
glückliche  Stunde  erzeugte.  Dazwischen  eingestreut  sind  Gespräche  mit  zahl- 
reichen anderen  aus  der  Goethezeit  bekannten  Persönlichkeiten,  so  mit  Schiller, 
mit  Heinrich  Voß  (dem  Sohne  des  Homerübersetzers),  mit  Bertram,  Creuzer, 
Sorel,  Falk,  dem  Großherzoge  Karl  August  und  mit  Napoleon.  Eine  vortreffliche 
Einleitung  und  knappe,  aber  reich  belehrende  Anmerkungen  geben  uns  über 
die  einzelnen  Personen  Auskunft,  auch  über  die  gesellschaftlichen  Kreise,  in 
welchen  die  Gespräche  gepflogen  wurden  und  über  die  Gelegenheiten,  bei 
welchen  sie  stattfanden. 

Auch   auf   den  Schauplatz    der  Gespräche  werden  wir  geleitet,   vor  allem  in 


272  F-  J-  Schneider,  Jean  Pauls  Jugend  usw.,  angez.  von  M.  Geyer. 

Goethes  Wohnhaus  in  Weimar,  in  dessen  einzelne  Räume  uns  anschaulich  ein- 
zuführen die  beigegebenen  Illustrationen  treffliche  Dienste  leisten. 

Die  Gegenstände  der  Gespräche  ergeben  sich  vor  allem  aus  der  Dichtung 
aller  Zeiten  und  Völker,  vor  allem  aus  der  Dichtung  unseres  Volks,  sodann  aus 
dem  weiten  Gebiete  der  bildenden  Kunst,  ferner  aus  allen  Teilen  der  Wissen- 
schaft, insbesondere  aus  der  Naturwissenschaft  und  Philosophie.  Aber  auch  das 
volle  Leben  der  Wirklichkeit  mit  seinen  tausend  Problemen,  Forderungen  und 
Äußerungen  tritt  in  den  Gesichtskreis  der  Teilnehmer  an  der  Unterhaltung  und  damit 
auch  in  unseren  Gesichtskreis. 

Die  Art,  wie  Goethe  sich  bei  diesen  Gesprächen  gab,  ist  nach  Beschaffenheit, 
Gelegenheit  und  Personen  außerordentlich  verschieden;  derEindruck  ist  immer 
reich,  reif  und  vornehm  und  er  rückt  uns  allemal  auf  eine  höhere  Stufe  der  Betrach- 
tung der  Dinge.  Goethes  einfache,  lichtgebenden  Worte  haben  stets  einen  eigen- 
tümlichen Reiz;  er  war  eben,  wie  Jean  Paul  einmal  gesagt  hat,  „der  klarste  Mann  von 
Europa".  Es  klingen  bei  seinen  Worten  eine  Menge  verborgener  Saiten  in  uns 
an,  die  zum  ersten  Male  in  uns  tönen.  Es  ist  eben  der  Widerhall  des  Rein- 
menschlichen in  Goethe,  das  zugleich  aus  dem  Reiche  des  Idealen  und  dem  Reiche 
der  schlichtesten  Gedankenwelt  zu  stammen  scheint.  In  besserer  Gesellschaft 
können  wir  uns  gar  nicht  unterhalten;  wir  werden  das  besonders  merken,  wenn 
wir  aus  den  Unterhaltungen,  auf  die  wir  durch  unsere  Umgebung  und  unseren 
Verkehr  angewiesen  sind,  uns  in  den  Frieden  dieser  Gespräche  flüchten,  von  denen 
keins  trivial  ist,  jedes  in  seinen  besonderen  Anregungen  uns  zu  langem  Nachdenken 
Anreiz  bietet   —    eine  gesunde  Lektüre  für  unsere  Primaner. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Schneider,  Ferd.  Jos.,  Jean  Pauls  Jugend  und  erstes  Auftreten  in  der 
Literatur.  Ein  Blatt  aus  der  Bildungsgeschichte  des  deutschen  Geistesim  18. 
Jahrhundert.  Berlin  1905.  B.  Behr's  Verlag.  XII  u.  369  S.  S».  brosch.  8  M. 
Den  Forschungen  über  Jean  Paul  schienen  die  Schriften  Nerrlichs  einen  ge- 
wissen Abschluß  gegeben  zu  haben.  Diesen  Glauben  erschütterte  Jos,  Müller  in 
einigen  Schriften,  die  zwar  etwas  formlos  geschrieben  waren,  aber  doch  zu  neuen 
schönen  Ergebnissen  führten.  In  Müllers  Bahnen  wandelt  mit  größerer  Umsicht 
F.  J.  Schneider,  der  1901  ein  tüchtiges  Buch  über  Jean  Pauls  Altersdichtung  (Fibel 
und  Komet)  schrieb.  Das  vorliegende,  von  hoher  Begeisterung  getragene  Buch 
Schneiders  hat  dieselben  Vorzüge  wie  sein  Vorgänger:  unverdrossenes  Durchspüren 
der  Quellen,  sorgfältiger  Nachweis  der  Beziehungen  zwischen  Jean  Pauls  Leben 
und  Werken,  weitausholende  Untersuchungen,  um  Jean  Pauls  Weltanschauung, 
namentlich  in  religiöser  und  philosophischer  Beziehung,  als  Erzeugnis  seiner  Zeit 
darzulegen.  Aufdecken  der  schriftstellerischen  Abhängigkeit  von  seinen  Vorbildern, 
besonders  den  Engländern. 

Jean  Paul  hat  für  den  Unterricht  an  den  deutschen  höheren  Schulen  kaum 
ein  unmittelbares  Interesse,  und  die  in  der  Vorrede  ausgesprochenen  Hoffnungen 
des  Verfassers,  die  Deutschen  aufzurütteln,  daß  sie  fühlen,  was  der  14.  November 
1905  (80.  Todestag  Jean  Pauls)  für  sie  bedeutet,  können  uns  fast  ein  leises  Lächeln 
abgewinnen.    Man  wird  in  der  Prima  auf  den  Einfluß  hinweisen,    den   Jean  Paul 


I 


C.  Bardt,  Zur  Technik  des  Übersetzens  usw.,  angez.  von  P.  Cauer.  273 

^uf  die  Entwicklung  des  deutschen  Romans  ausgeübt  hat  (vgl.  besonders  Köster, 
Gottfr.  Keller  S.  59),  man  wird  seiner  stilgeschichtlichen  Bedeutung  einige  Worte 
widmen  und  des  Vergleichs  wegen  ihn  bei  Raabe  heranziehen.  Gelesen  wird  voti 
ihm  schwerlich  etwas.  Aber  allgemein  menschliches  Interesse  hat  das  Ringen  des 
jungen  Jean  Paul  mit  Not  und  Armut  selbst  für  Schüler,  und  in  diesem  Sinne 
wäre  das  breit  angelegte  Buch  Schneiders  stellenweise  für  Primaner  lesenswert. 
Den  Fehler  Schneiders,  daß  er  aus  einer  lateinischen  Zensur  des  Hofer  Gymnasiums 
genau  das  Gegenteil  herausliest  von  dem,  was  gemeint  ist  (S.  251),  wird  hoffent- 
lich der  deutsche  Primaner  nicht  mitmachen. 

Eisenberg  (S.-A.).  M.  Geyer. 

Bardt,  C,  Zur  Technik  des  Übersetzens  lateinischer  Prosa.  Leipzig  und 
Berlin  1904.  B.  G.  Teubner.  II  u.  67  S.  0,60  M. 
Legio  bedeutet  eigentlich  die  Verlesung,  dann  die  verlesene  Mannschaft, 
oratio  das  Reden,  dann  die  als  Kunstwerk  vorliegende  Rede.  Bardt  erinnert  an 
diese  Beispiele,  in  denen  er  eine  Neigung  der  Abstrakta  erkennt,  in  konkrete  Be- 
deutung überzutreten,  und  knüpft  daran  die  Beobachtung,  daß  wir  vielfach  lateinische 
Konkreta  durch  Abstrakta  wiedergeben,  die  bei  uns  schon  konkreten  Sinn  an- 
genommen haben:  dicta  Äußerungen,  instituta  Einrichtungen  (S.  48).  Sicher  ist 
das  Deutsche  hierin  weiter  fortgeschritten;  besonders  die  Verbalsubstantiva  auf 
ung  werden  oft  da  gebraucht,  wo  von  dem  Resultate  des  Vorganges  die  Rede  ist, 
den  sie  ursprünglich  bezeichneten.  Es  ist  ja  so  viel  leichter  das  Geschehene  zu 
registrieren,  als  ein  Geschehendes  aufzufassen.  Eine  „Anmerkung"  wird  kaum 
noch  gemacht  wie  einst  von  dem  Kammermädchen  des  Fräuleins  von  Barnhelm, 
sondern  steht  schwarz  auf  weiß  da.  Eine  „Verhandlung"  soll  —  nach  neuestem 
amtlichem  Jargon  —  nicht  mehr  geführt  werden,  sondern  vorgelesen,  unterzeichnet 
und  zu  den  Akten  gelegt.  Daß  jedes  organische  Wesen  in  immer  wechselnder 
Bildung  begriffen  ist,  hat  man  längst  vergessen,  und  meint  in  „Bildung",  gar 
, allgemeiner  Bildung",  einen  Besitz  zu  haben,  der  angeeignet  und  weitergegeben 
werden  könne.  Etwas  Konkretes  ist  ja  auch  dies  nicht,  wahrlich  nicht I  Der  Gegen- 
satz steht  ein  wenig  anders:  zwischen  Abgeschlossenem  und  Werdendem,  Leben- 
digem und  Erstarrtem.  Der  inneren  Gefahr,  die  in  solchem  Wandel  des  Sprach- 
gebrauches sich  äußert,  ist  nun  auch  die  Übersetzung  ausgesetzt:  man  möchte  sie 
gern  fertig  haben,  sei  es  gedruckt  als  Gegenstand  der  Lektüre,  oder,  im  Unter- 
richt, fließend  vorgetragen,  um  den  Schüler  zu  loben.  Einen  Protest  für  die  un- 
fertige, sich  bemühende,  suchende,  und  eine  Anleitung,  wie  man  suchen  und  sich 
bemühen  soll,  enthält  das  Schriftchen  von  Bardt;  ursprünglich  nur  ein  Hilfsheft  zu 
seiner  —  nicht  genug  zu  rühmenden  —  Schulausgabe  von  Ciceros  Briefen,  dann 
sehr  mit  Recht  auch  selbständig  herausgegeben.  Die  Beispiele  stammen  nun  frei- 
lich alle  aus  dieser  einen  literarischen  Gattung;  aber  dadurch  ist  dem  Ganzen  ein 
lebensvoller  Zusammenhang  geschaffen  und  zu  mancher  tiefer  dringenden  Beob- 
achtung erst  der  rechte  Anlaß  gegeben.} 

Und  ins  Innere  zu  führen,  um  aus  vertieftem  Verständnis  die  Mittel  des  Aus- 
drucks hervorzuheben,  ist  der  Verfasser  durchweg  bestrebt.  Der  prosaische  Sinn 
der  Römer  achtete  am  liebsten  auf  die  Quantität  und  unterschied  manches  einfach 

Moaatschrift  f.  hfih.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  \% 


274  C.  Bardt,  Zur  Technik  des  Übersetzens  lateinischer  Prosa, 

als  groß  und  klein,  was  dem  empfänglicheren  Blick  anderer  Völker  in  bunter 
Mannigfaltigkeit  bestimmter  Beziehungen  erscheint;  so  sprechen  wir  von  wichtigen 
Fragen,  reicher  Frucht,  starkem  Schutz,  lebhafter  Erinnerung,  tiefem  Leid,  wo  das 
Lateinische  mit  einem  nüchternen  magnus,  tantus,  maximus  auskommt  (S.  37). 
Daß,  wenn  ein  Gütiger  etwas  erlaubt,  die  Erlaubnis  an  sich  doch  nicht  gütig  ist, 
daß  eine  Erwägung  nicht  besonnen  sein  kann,  sondern  nur  der,  der  sie  anstellt: 
das  ist  im  Grunde  richtig  gedacht,  aber  pedantisch.  Wenn  also  der  Römer  ge- 
nötigt war  die  Begriffe  auseinanderzulegen :  illius  concessu  et  beneficio,  summa  tua 
ratione  et  continentia,  so  brauchen  wir  das  nicht  mitzumachen,  sondern  können 
die  leise  Personifizierung,  die  uns  natürlich  ist,  getrost  anwenden  (S.  38).  In  der 
Scheu  vor  einer  solchen  liegt  auch  ein  Grund  zu  der  Vorliebe  des  Lateinischen  für 
passive  Wendungen  („deren  Intrigen  es  zuwege  gebracht  haben",  quorum  arti- 
ficiis  effectum  est),  die  wir  um  so  mehr  vermeiden  werden,  als  bei  uns  das  Passiv 
eine  schwerfällige  Umschreibung  erfordert.  In  diesem  Punkte  zeigt  sich  die  alte 
Sprache  überlegen;  Bardt  weist  gern  und  mit  Stolz  auf  die  Vorzüge  des  Deutschen 
hin.  Sätze  aus  Goethe,  Ranke,  Mommsen,  Ernst  Curtius  nimmt  er  als  Muster,  um 
an  ihnen  die  Eigenart  deutschen  Satzbaues  zu  zeigen,  der  bei  aller  Schlichtheit 
des  parataktischen  Gefüges  doch  der  Gliederung  und  festen  Zusammenfassung 
nicht  entbehrt.  Vom  Satze,  nicht  vom  einzelnen  Wort,  geht  die  stilistische  Be- 
trachtung aus.  Aufgabe  des  Übersetzers  ist  es,  Perioden  aufzulösen  ohne  sie  zu 
zerstören,  d.  h.  anstatt  der  lateinischen  Infinitivkonstruktionen,  Participia,  Neben- 
sätze andere  Mittel  zu  finden,  die  das  logische  Verhältnis  der  Gedanken  aus- 
drücken und  in  geänderter  Form  ein  Ganzes  herstellen,  wie  es  dem  Charakter  der 
deutschen  Sprache  gemäß  ist.  Von  solchen  Mitteln  handelt,  nach  einer  kurzen 
Einleitung,  das  erste  Kapitel;  in  den  folgenden  bespricht  der  Verfasser  geläufige 
Begriffspaare,  Bilder,  Wortarten,  Flexionsformen,  und  die  Art,  wie  sie  beim  Über- 
setzen vertauscht  oder  verschoben  werden  müssen. 

Von  dem  geistvollen  Nachdichter  horazischer  Sermonen,  plautinischer  Lust- 
spiele wird  jeder  mit  Vergnügen  lernen;  ein  paar  kleine  Einwendungen  seien  doch 
gestattet.  Daß  man  im  Deutschen  manchmal  etwas  mehr  Worte  gebraucht,  um  den 
lateinisch  knapp  gefaßten  Gedanken  befriedigend  auszudrücken,  ist  freilich  wahr 
(S.  21).  Das  ist  ein  notwendiges  Übel;  immer  ein  Übel,  nicht  immer  notwendig. 
Papirius  Paetus  hat  den  Cicero  mit  einem  Zitat  aus  dem  „Önomaus"  des  Accius 
zu  trösten  gesucht;  jener  antwortet:  „Deinen  Önomaus  kann  ich  nicht  gebrauchen." 
Sollen  wir  wirklich  dafür  sagen :  „Von  dem  von  dir  angeführten  Önomaus  kann  ich 
keinen  Gebrauch  machen?"  Das  heißt  erklären;  und  wir  wollen  doch  übersetzen. 
C.  Matius  schilt  über  die  Tyrannei  der  Republikaner,  die  verlangen,  daß  auch 
Cäsars  Freunde  sich  über  dessen  Tod  freuen;  ad  fam.  XI  28,  3:  at  haec  etiam 
servis  semper  libera  fuerunt,  timerent  gauderent  dolerent  suo  potius  quam  alterius 
arbitrio;  quae  nunc,  ut  quidem  isti  dictitant  libertatis  auctores,  metu  nobis  extor- 
quere  conantur.  Natürlich  ist  gemeint  „diese  angeblichen  Befreier";  aber  auch 
wir  schreiben,  so  besser  wie  kürzer,  „diese  ,Befreier'",  und  bedienen  uns  —  sicher- 
lich im  Briefe  —  des  bequemen  Mittels  der  Anführungszeichen,  um  ein  Miß- 
verständnis auszuschließen.  Nos  ab  initio  spectasse  otium  nee  quidquam  aliud 
libertate  communi  quaesisse  exitus  declarat:  so  schreiben  Brutus  und  Cassius  an. 


angez.  von  P.  Cauer.  275 

Antonius  (ad  fam.  XI  2,  2).  „Die  Lage,  in  die  wir  schließlich  geraten  sind",  wäre 
ja  deutlicher;  aber  verständlich  ist  auch  „der  Ausgang",  und  er  steht  hier  doch 
dem  „Anfang"  gegenüber.  So  würde  ich  ad  fam.  IX  16,  tuae  litterae,  in  quibus 
amavi  amorem  tuum,  nicht  übersetzen:  „in  dem  ich  deine  Liebe  mit  Vergnügen 
erkannt  habe";  denn  damit  wird  ein  Wortspiel  unterdrückt.  „In  dem  deine  Liebe 
mir  lieb  gewesen  ist",  dürfen  wir  wagen.  Ein  wichtigeres  Element  des  Gedankens 
geht  verloren  in  dem  Satze  (ad  fam.  IX  14,  8)  neque  solum  ad  tempus  maximam 
utilitatem  attulisti  sed  etiam  ad  exemplum,  wenn  die  Übersetzung  bloß  von  „vor- 
übergehendem und  dauerndem  Nutzen"  spricht.  Die  Gegenüberstellung  von  tempus 
und  exemplum  ist  ja  auffallend;  aber  wenn  dazu  im  Kommentar  bemerkt  wird, 
der  vorschwebende  Gegensatz  der  nur  zeitweiligen  und  der  dauernden  Förderung 
habe  hier  einen  nicht  ganz  konzinnen  Ausdruck  gefunden,  so  ist  damit  schlecht- 
weg ein  Mangel  bezeichnet,  während  in  der  Ablenkung  des  Gedankens  aus  der 
vorgeschriebenen  Bahn  gerade  ein  Überschuß  hervortritt.  Unwillkürlich  hat  sich 
die  Vorstellung  hereingedrängt,  daß  der  bleibende  Gewinn  in  dem  Vorbild  bestehe, 
das  der  Angeredete  —  Dolabella  —  gegeben  hat. 

Im  ganzen  hat  Bardt  ja  recht,  daß  der  Briefstil  der  guten  Gesellschaft,  in  der 
wir  uns  bei  Cicero  und  seinen  Freunden  bewegen,  seine  Vollendung  in  der  Glätte 
sucht,  daß  er  nichts  Ungewohntes,  nichts  Gewagtes  bringt,  keine  Knorren  und 
Ecken  hat  (S.  43).  Um  so  mehr  wollen  wir  uns  hüten,  die  wenigen  Ecken,  die 
sich  doch  etwa  finden,  nicht  wegzuschleifen  und  so  einen  Rest  charakteristischer 
Redeweise  zu  tilgen.  Eine  Übersetzung  soll  so  viel  [als  möglich  den  Eindruck 
wieder  hervorrufen,  den  das  Original  auf  die  Zeitgenossen  des  Autors  machte:  ein 
so  hohes  Ziel  wird  auch  der  Künstler  nie  ganz  erreichen,  aber  auch  die  Schule 
darf  ihm  von  ferne  zustreben;  ja,  sie  hat  besonderen  Grund  dies  mit  Bewußtsein 
zu  tun.  Denn  gerade  in  ihrem  regelmäßigen  Betriebe  ist  Gefahr,  daß  die  „aus- 
gefahrenen Geleise",  in  denen  sich  „jede  Sprache  bewegt"  (S.  17),  immer  aus- 
gefahrener. Ausdrücke,  Satzformen,  Wendungen  immer  alltäglicher  werden,  daß  die 
Kraft  frischer  und  selbständiger  Gedankenprägung  abstirbt.  Um  diese  Kraft 
lebendig  und  wirksam  zu  erhalten,  gibt  es  kein  besseres  Mittel  {nihil  rectius,  S.  61), 
als  daß  wir  versuchen,  das  Eigentümliche  in  dem  Stil  eines  großen  Fremden,  die 
Schönheiten  aber  auch  die  Härten,  mit  den  Mitteln  der  eigenen  Sprache  zum  Aus- 
druck zu  bringen.  Damit  wird  unserer  Sprache  etwas  zugemutet;  aber  sie  kann 
es  vertragen,  und  sie  weiß  es  zu  belohnen.  Gewiß,  unsere  Schüler  sollen  in  ein 
geläufiges  Deutsch  übersetzen;  aber  zugleich  soll  das  ihnen  geläufige  Deutsch 
sich  entwickeln,  soll,  indem  es  nach  hohen  Vorbildern  sich  aufrichtet,  besser,  freier, 
ursprünglicher  werden.  Das  sind  zwei  Forderungen,  die  sich  entgegenwirken,  ihr  voll- 
kommener Ausgleich  wieder  eine  unlösbare  Aufgabe,  die  doch  stetig  fortschreitende 
Annäherung  gestattet  (vgl.  S.  16,  35,  44).  Den  Reiz  des  Irrationalen  auf  diesem 
Gebiete  vermag  wohl  niemand  besser  zu  würdigen  als  der  Verfasser  des  vor- 
liegenden Heftes. 

Auf  dem  Titelblatte  steht  „Zur  Technik  des  Übersetzens",  scheinbar  im  Gegen- 
satz zu  dem  Worte  „Kunst",  das  ich  an  ähnlicher  Stelle  gebraucht  habe.  Im 
Grunde  ist  hier  nur  eine  Verschiedenheit  des  Ausgangspunktes.  Wer  von  eigener 
künstlerischer  Tätigkeit,  in  der  er  Bedeutendes  geleistet  hat,  wieder  der  mühsamen 

18* 


276  J-  Langl,  Bilder  zur  Geschichte,  angez.  von  P.  Brandt, 

Alltagsarbeit  des  Unterrichtes  sich  zuwendet,  muß  das  Gefühl  haben,  daß  er  aus 
dem  weiten  Bereiche  freien  Schaffens  in  die  Enge  eines  handwerksmäßigen  Be- 
triebes hinabsteige,  in  dem  höchstens  technische  Fertigkeit  erzielt  werden  könne. 
Wer  umgekehrt  gerade  diesem  engeren  Kreise  immer  gedient  und  sich,  hier  und 
da  erfolgreich,  bemüht  hat  ihn  wohl  zu  pflegen,  mag  hoffen,  daß  es  gelingen 
könne  das  Handwerk  zu  adeln,  wenn  etwas  von  Kunst  ihm  zugeführt  werde. 
Praktisch  werden  beide  oft  auf  dasselbe  hinauskommen.  So  sind  nicht  nur  die 
Grundanschauungen,  aus  denen  Bardt  hier  Regeln  ableitet,  fast  durchweg  die 
gleichen,  zu  denen  ich  mich  bekenne;  auch  die  Regeln  selbst  kann  ich  größten- 
teils unterschreiben.  Nur  würde  ich  etwas  mehr,  als  von  ihm  geschehen  ist,  be- 
tonen, daß  es  sich  hier  nie  um  unverbrüchliche  Gesetze  handelt,  und  daß,  wenn 
Übersetzen  ein  lebendiges  Tun  bleiben  oder  werden  soll,  die  Fähigkeit,  Ausnahmen 
zu  erkennen  und  zur  Geltung  zu  bringen,  wichtiger  ist  als  die  Sicherheit  im  An- 
wenden von  Regeln.  Gewöhnung,  durch  die  der  Lehrer  erziehen  will,  wird  so 
leicht  zur  Gewohnheit,  die  das  Denken  in  Fesseln  legt.  Damit  diese  üble  Wirkung 
nicht  eintrete,  wäre  es  doch  vielleicht  kein  schlechter  Gedanke,  schon  die  Lernen- 
den mit  der  Einsicht  zu  erfüllen,  die  stolz  klingt,  doch  bescheiden  machen  kann, 
daß  sie  nicht  zu  einer  Technik  angeleitet  werden,  die  zu  beherrschen  sie  hoffen 
könnten,  sondern  zu  einer  Kunst,  in  der  es  kein  Ende  gibt  und  in  der  nur  dem 
reifsten  Können  und  Verstehen  eine  Vollendung  beschieden  ist. 

Münster  i.  W.  Paul  Cauer. 

Langl,  Jos.,  Bilder  zur  Geschichte  für  Gymnasien,  Realschulen  und  verwandte 
Anstalten.    W.  Hölzel,  Wien.    Jedes  Blatt  unaufgespannt  2  M.,  auf  starken  Deckel 
gespannt  3  M. 
Das   verdienstliche   wohlfeile   Anschauungswerk   ist   um   vier   weitere   Tafeln 
vermehrt    worden:    No.    72:    Die    Thermen    des    Caracalla    (hauptsächlich    nach 
A.  Thierschs  Rekonstruktion),  No.  73:  Der  Tempel  von  Karnak,  No.  74:  Der  Palazzo 
Bargello  in  Florenz,  No.  75:  Die  K.  K.  Hofbibliothek  in  Wien.    Die  drei  ersten 
Tafeln    sind    in   Zeichnung,    Perspektive   und   Farbengebung   trefflich   gelungen, 
weniger  genügt  die  alles  in  bräunUche  Töne  tauchende  Sepiamanier  zur  Wieder- 
gabe der  farbenprächtigen  Innenausstattung  von  Fischer  von  Erlachs  Barockbau. 
Von  den  beigegebenen  Texten  bedürfte  der  zu  No.  74  einer  stilistischen  Revision. 
Zu  No.  72  und  73  wäre  die  Beigabe  eines  Grundrisses  der  Gesamtanlage  sehr 
erwünscht. 

Die  Akropolis  von  Athen  und  das  Forum  Romanum,  nach  der  Natur  gemalt 
von  MaxRoeder  in  Rom.    Phototypische  Reproduktionen.    B.  Kühlens  Kunst- 
verlag, M.-GIadbach.    Imperial-Hochformat.    Jedes  Blatt  6  M. 
Zwei  Gemälde,  in  der  Gymnasialaula  eines  rheinischen  Industriezentrums  von 
einem  kunstbegabten  Sohne  der  Stadt  und  früheren  Zögling  der  Anstalt  aus  den 
Mitteln  der  hochherzigen  Stiftung  eines  Bürgers  geschaffen  —  fürwahr  ein  schönes 
Bekenntnis  zu  den  in  diesen  Bildern  verkörperten  Idealen,  doppelt  erfreulich  in 
einer  Umgebung,  wo  das  werktätige  Treiben  des  Tages  sie  nur  zu  leicht  übertäubt. 
Die  hohe  Aufgabe  konnte  keiner  berufeneren  Hand  vertraut  werden.    Für  die  Burg 
von  Athen  wählt  Roeder  mit  feinster  künstlerischer  Berechnung  seinen  Standpunkt 


A.  Geyer,  Unsere  Kultur  von  den  ältesten  Zeiten  usw.,  angez.  von  J.  Kreutzer.    277 

am  Fuße  der  Pnyx,  so  daß  er  nur  den  Zügen  der  freien  Natur  zu  folgen  braucht, 
um  durch  die  vor-  und  zurücktretenden  Linien  des  Areshügels,  durch  die  Krüm-r 
mungen  der  zum  Vordergrunde  herabführenden  Wege  und  Schluchten  das  Auge 
sacht  emporzuleiten  zu  der  hochthronenden,  tempelgekrönten  Götterburg  Athens, 
hinter  der  in  sanfter  Schwingung  der  Rücken  des  Hymettos  den  Horizont  abschließt. 
Schwieriger  war  die  Wahl  des  Standpunktes  für  das  römische  Forum.  Der  Künstler 
hat  recht  getan,  auf  das  viele  Verwirrende  zu  verzichten,  um  weniges  Bedeutsame 
zum  packenden  Ganzen  zusammenzuschließen.  Drei  mächtige  Merksteine  sind 
hier  gesetzt,  an  denen  der  Beschauer  die  Tiefe  des  Raumes  gleichsam  im  Zickzack 
abtasten  kann:  die  Trümmer  des  Saturntempels  links  im  Vordergrund,  die  bekannten 
drei  Säulen  des  Castortempels  im  Mittelgrund,  der  hellschimmernde  Titusbogen  im 
Hintergrund,  alles  rechts  überragt  von  den  steilen  Massen  des  palatinischen  Hügels 
und  abgeschlossen  durch  das  hinter  den  Pinien  und  Zypressen  des  Caelius  in  bläu- 
licher Ferne  sanft  emporstrebende  Zeltdach  des  Monte  Gavo.  „Le  due  civiltä!"  — 
so  faßte  der  König  von  Italien,  im  Anschaun  der  Bilder  versunken,  seinen  Eindruck 
treffend  zusammen.  Von  der  einheimischen  Kunstanstalt  auch  in  den  Farbenwerten 
der  Originale  trefflich  wiedergegeben,  werden  sie  überall  da,  wo  der  Sinn  für  die 
Ideale  dieser  beiden  Kulturen  noch  nicht  erloschen  ist,  im  Heim  des  Lehrers  und 
Gelehrten,  in  den  Räumen  unserer  Bildungsanstalten,  einen  vornehmen,  zu  ernstem 
Sinnen  wie  zu  stimmungsvollem  Betrachten  anregenden  Wandschmuck  bilden. 
Bonn.  Paul  Brandt. 

Geyer,  Albert,   Unsere   Kultur  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Gegen- 
wart  in  Einzelbildern.    Gießen  1908.    Emil  Roth.    352  S.    8^.    geh.  2.40  M., 
geb.  3  M. 
Der  Verfasser   macht  den  Versuch,  Abschnitte  aus  größern  Werken  zu  einem 
einheitlichen  Bilde  der  deutschen  Kulturentwicklung  zu  vereinigen.    Seine  Absicht 
—   den   Lehrern    an    Volkschulen   und   den   gebildeten  Laien  ein  Hilfsmittel  zu 
kulturgeschichtlicher   Belehrung   darzubieten    —  kann  man  anerkennen  und  auch 
zugeben,    daß   sein    Buch    für  den    genannten  Zweck    brauchbar  ist;   jedoch    mit 
einer  Einschränkung:  Weil  die  einzelnen  Abschnitte  nicht  aufeinander  abgestimmt 
sind,   wird   dem   Leser  manches   unverständlich   bleiben;   daher  würde  auch  ein 
Lehrer  an  der  Volksschule,  der  sich  auf  diesem  Gebiete  zu  unterrichten  wünscht, 
mit  der  Lektüre  des  Geyerschen  Buches  sich  nicht  zufrieden  geben  dürfen. 

V.  Eberhardt,  Aus  Preußens  schwerer  Zeit.  Briefe  und  Aufzeichnungen 
meines  Urgroßvaters  und  Großvaters.  Mit  4  Porträts  und  1  Schlachtenbild. 
Berlin  1907.    R.  Eisenschmidt.     168  S.    8o.    geh.  2  M.,  geb.  3  M. 

Das  Buch  enthält  urkundliche  Nachrichten  aus  dem  Leben  des  bei  Jena  ge- 
fallenen Majors  und  Kommandeurs  Friedrich  Wilhelm  Magnus  v.  Eberhardt  und 
seines  Sohnes  Wilhelm,  der  als  fünfzehnjähriger  Fähnrich  wegen  seines  in  der: 
selben  Schlacht  bewiesenen  Heldenmutes  den  Orden  pour  le  mörite  erhielt,  in  der 
Leipziger  Schlacht  das  linke  Bein  verlor  und  später  Jahrzehnte  hindurch  am  Potsdamer 
Kadettenhause,  zuerst  als  Lehrer,  von  1826—1850  als  Kommandeur,  vorbildHch 
gewirkt  hat.  Das  Buch,  das  von  der  Lebens-  und  Denkweise  einer  Offizierfamilie 
in  jener  bewegten  Zeit  Kunde  gibt,  vermehrt  die  Beweise  für  die  Ungerechtigkeit 


278  O-  Kaemmel,  Sächsische  Geschichte,  angez.  von  J.  Kreutzer. 

mancher  Schmähungen,  die  das  preußische  Offizierkorps  nach  dem  Unglüclt  von 
Jena  über  sich  ergehen  lassen  mußte.  Wegen  seines  Inhaltes  und  der  schlichten 
braven  Gesinnung,  die  aus  den  Aufzeichnungen  spricht,  verdient  es  namentlich  in 
Schülerbibliotheken  Aufnahme. 

Kaemmel,  Otto,  Sächsische  Geschichte.  2.  Aufl.  Leipzig  1905.  Sammlung 
Göschen.    G.  J.  Göschen.    160  S.    8».    geb.  0,80  M.| 

Das  Buch  behandelt  die  sächsische  Geschichte  in  vier  Zeiträumen,  deren 
Grenzen  die  Jahre  1485,  1694  und  1830  bezeichnen.  Der  erste  Zeitraum  umfaßt 
die  unter  vielen  Hemmnissen  sich  vollziehende  Entstehung  des  meißen-sächsischen 
Staatswesens,  der  zweite,  in  dem  Kursachsen  vorübergehend  eine  führende  Rolle 
im  geistigen,  religiösen  und  politischen  Leben  der  Nation  spielte,  die  Ausbildung 
des  ständisch-territorialen  Staates,  der  dritte  die  aus  der  polnischen,  antipreußischen 
und  napoleonischen  Politik  der  Dynastie  sich  ergebenden  Verwicklungen,  der 
letzte  Zeitraum  den  zum  Teil  unfreiwilligen  Eintritt  in  die  unter  Preußens 
Führung  erfolgte  wirtschaftliche  und  politische  Einigung  Deutschlands.  Die  mannig- 
fachen Beziehungen,  die  den  Staat  der  Wettiner  mit  der  Geschichte  seiner  Nach- 
barländer und  vorübergehend  mit  der  großen  europäischen  Politik  verflochten, 
machen  die  knappe  und  klare  Darstellung  Kaemmels  auch  für  weitere  Kreise  be- 
achtenswert, zumal  die  Kulturentwicklung  des  wirtschaftlich  bedeutenden  Landes 
nach  Gebühr  gewürdigt  wird. 

Köln.  Johannes  Kreutzer. 

Himmel  und  Erde.    Unser  Wissen   von   der  Sternenwelt  und   dem  Erd- 
ball.   Herausgegeben  unter  Mitwirkung  von  Fachgenossen  von  J.  Plassmann 
und  J.  Pohle,    P.  Kreichgauer   und   L.  Waagen.    Berlin-München-Leipzig, 
Allgemeine  Verlags-Gesellschaft  m.  b.  H.    2  Bände  größt.  8*^  in  28  Lieferungen 
zum  Preise   von   je  1  M.    Mit   zahlreichen   Textabbildungen  und  vielen  mehr- 
und  einfarbigen  Tafelbildern  und  Beilagen. 
Scheiner,   Populäre   Astrophysik.     Leipzig  und  Berlin  1908.    B.  G.  Teubner. 
VI  u.  716  S.,  30  Tafeln,  210  Figuren  im  Text.    8».    geb.  12  M. 
Die   Zahl    der   populären   Astronomien   ist  Legion,   und  schon  wieder  neue? 
Hören  wir,  wie  ihr  Erscheinen  begründet  wird. 

Das  erste  der  oben  angezeigten  Werke  soll  sich  nach  der  Ankündigung 
,vor  allen  anderen  ähnlichen  Publikationen"  dadurch  auszeichnen,  „daß  es  nur  das 
beste  und  gesichertste  aus  dem  großen  Bereiche  der  neuesten  mühevollen  For- 
schungsarbeiten zu  bieten  sucht,  indem  es  sich  in  seinen  Schlußfolgerungen  nur 
auf  sicher  bewiesene  Tatsachen  und  in  seinen  Annahmen  nur  auf  gutbegründete 
Hypothesen  stützt";  es  will  die  Methoden  der  Wissenschaft  befolgen  und  sie 
, ohne  Voreingenommenheit  und  ohne  tendenziöse  Nebenabsichten"  so  handhaben, 
„wie  es  das  rein  wissenschaftliche  Interesse  erheischt".  Das  sind  etwas  stolze 
Worte.  Lassen  wirklich  die  anderen  ähnlichen  Publikationen  in  ihrer  Gesamtheit 
oder  auch  nur  in  ihrer  Mehrzahl  das  gleiche  Bestreben  vermissen  ?  Und  ist  ein 
Werk  wirklich  ganz  frei  von  tendenziöser  Nebenabsicht,  das  ausgesprochener- 
maßen darauf  ausgeht,  der  Naturforschung  gerade  aus  den  christlich-gläubigen 
Kreisen  neue  Freunde  zuzuführen? 


» 


Himmel  und  Erde,  angez.  von  A.**Tiebe.  279 

Die  bis  jetzt  erschienenen  sieben  Lieferungen  bringen  zunächst  aus  der  Feder 
des  Prof.  Dr.  Pohle  in  Breslau  eine  „Allgemeine  Einleitung  in  die  Naturwissen- 
schaften", der  Abbildungen  wie  „Die  Philosophie.  Nach  Rafael",  „Brandung  an 
der  Riviera  bei  aufgehender  Sonne",  „Großglockner  und  Johannesberg  mit  dem 
Pasterzengletscher",  „Ein  Beispiel  von  Mimikry"  u.  a.;  beigegeben  sind  ~  Bilder, 
die  man  in  einer  Astronomie  gemeinhin  nicht  sucht.  Der  Artikel  ist  glänzend 
geschrieben  und  trägt  Anschauungen  vor,  die  alle  Billigung  verdienen,  er  wäre 
aber  m.  E.  in  einer  Biologie  weit  mehr  am  Platze  als  hier.  — 

Die  folgenden  Abschnitte  behandeln  „das  Weltsystem  in  seiner  ge- 
schichtlichen Entwicklung"  (Verfasser  Schumacher  und  Hoelling),  „die 
Sonne"  (Verfasser  Pohle)  und  „das  Sonnensystem"  (Verfasser  Plassmann). 
Allenthalben  tritt  hier  das  Bestreben  hervor,  den  Leser  zu  einer  wirklichen  Ein- 
sicht zu  führen,  doch  wiegt  im  besonderen  im  ersten  Teile  das  „Mitteilen"  bei 
weitem  vor,  während  der  Zweck  doch  nur  erreicht  werden  kann,  wenn  man  den 
Leser  unmittelbar  an  die  Beobachtungen  heranführt  und  ihn  lehrt,  wie  man  aus 
diesen  zur  Erkenntnis  der  Wahrheit  gelangt.  Wer  einen  tieferen  Blick  in  den 
Wunderbau  des  Weltalls  tun  soll,  der  muß  vor  allem  die  Stellung  und  die  schein- 
baren Bewegungen  der  Gestirne  gründlich  kennen  lernen  und  eine  klare  An- 
schauung von  den  Grundbegriffen  Pol,  Äquator,  Ekliptik  usw.  gewinnen.  Wie 
soll  jemand,  der  nichts  weiß  von  Frühlingspunkt,  hello-  und  geozentrischer  Länge, 
die  Gedankenarbeit  Keplers  bei  der  Aufstellung  seiner  Marstheorie  verstehen? 
Was  nützt  es  dem  Leser,  von  der  Entdeckung  der  Rezession  der  Nachtgleichen 
durch  Hipparch  zu  hören,  wenn  er  nicht  weiß,  was  diese  sind?  Wie  soll  er  zu 
einer  klaren  Vorstellung  gelangen,  wenn  ihm  die  wechselnde  Stellung  Merkurs 
zur  Sonne  geschildert  wird  und  es  dann  einfach  weiter  heißt:  infolge  dieser 
Unregelmäßigkeiten  der  Bewegung  beschreibt  der  Planet  Schleifen  am  Himmel? 
Günstiger  liegen  die  Verhältnisse  bei  den  astrophysikalischen  Teilen,  die  denn 
auch  eine  ansprechende  Bearbeitung  erfahren  haben.  Auf  neue  und  neueste 
Forschungen  wird  gebührend  Rücksicht  genommen,  in  Hypothesen  Maß  gehalten. 
Zur  Veranschaulichung  sind  meist  vortreffliche  Abbildungen  in  größerer  Anzahl 
beigegeben;  doch  hätten  m.  E.  manche  wegbleiben  können,  die  entweder  für  den 
vorliegenden  Zweck  bedeutungslos  oder  ohne  eingehende  Erläuterung  für  den 
Leser  unverständlich  sind,  wie  „der  Astrolog",  „astrologische  Tafel",  „arabisches 
Astrolabium". 

Der  zweite  Band,  verfaßt  von  Dr.  Waagen,  an  der  k.  k.  geologischen 
Reichsanstalt  in  Wien,  unter  Mitwirkung  von  Geh.  Reg.-Rat  van  Bebber  in  Altona 
und  P.  Kreichgauer  S.  V.  D.  in  St.  Gabriel-Mödling  bei  Wien,  soll  den  „Werde- 
gang des  Erdballs  und  seiner  Lebewelt,  seine  Beschaffenheit  und  seine  Hüllen" 
schildern.  Das  Buch  kommt  dem  in  weiteren  Kreisen  tatsächlich  vorhandenen 
Bedürfnis  nach  einer  gemeinverständlich  geschriebenen  Geologie  und  Paläontologie 
entgegen;  wünschen  wir  ihm,  daß  es  den  Erwartungen  auch  entspricht. 

Das  Werk  von  Scheiner  liegt  bereits  abgeschlossen  vor.  Es  behandelt 
den  jüngsten  Zweig  der  Astronomie  ausführlicher  und  eingehender,  als  es  sonst  in 
populären  Lehrbüchern  dieser  Wissenschaft  geschieht  und  geschehen  kann.  Schon 
hierdurch  würde  sich  sein  Erscheinen  rechtfertigen  lassen.    Sein  Hauptvorzug  je- 


280  R-  Fischer,  Eletnentar-Laboratorium,  angez.  von  P.  Johannesson. 

doch'  besteht  darin,  daß  es  den  Leser  zunächst  auf  das  sorgfältigste  mit  den  astro- 
physikalischen  Methoden  und  Instrumenten  vertraut  macht;  fast  die  Hälfte  des 
Buches  ist  diesem  Zweck  gewidmet.  Dadurch  ist  es  aber  nicht  etwa  zu  einem 
Handbuche  für  den  Fachmann  geworden,  nein,  es  ist  eine  gemeinverständliche 
Darstellung  im  besten  Sinne  des  Wortes  für  den  großen  Kreis  der  Gebildeten. 
Mathematische  Betrachtungen,  die  nun  einmal  nicht  zu  entbehren  sind,  werden 
nicht  ängstlich  vermieden;  sie  gehen  aber  nirgends  über  den  Standpunkt  eines 
Gymnasialprimaners  hinaus.  Überall  schöpft  der  als  hervorragender  Forscher  be- 
kannte Verfasser  aus  dem  Vollen.  Die  Bilder  sind  vorzüglich.  —  Nach  allem 
kann  das  Werk  auf  das  wärmste  empfohlen  werden. 

Friedenau.  Albrecht  Tiebe. 

Fischer,  Raymund,  Elementar-Laboratorium.    Eine  Anleitung  zur  billigsten 
Herstellung   von  Apparaten    aus   dem  Gebiet   der  Naturkunde  in  schematischer 
und    perspektivischer  Darstellung   mit   erläuterndem  Text.    Mit  einem  Begleit- 
wort von  Schulrat  Dr.  Kerschensteiner.  —  Verlag  der  Jugendblätter  (Carl  Schnell) 
München  II.   —   Begleitwort,   Einleitung   und   allgemeine  Ausführungen    14  S., 
außerdem  40  Tafeln  mit  ebensoviel  Seiten  Text.  Längliches  Format,    geb.  4  M. 
Das  Werk  gibt  eindringliche  Kunde  von  der  Tatkraft,  mit  welcher  der  Ver- 
fasser den   Physikunterricht  auf  der  Volkschule   zu   heben  sich  bemüht ;   durch 
einen  farbigen  Atlas  mit  begleitendem  Text  lehrt  er,  125  Apparate  aus  den- denkbar 
einfachsten  Mitteln  herzustellen.   Die  Rumpelkammer  des  Haushalts  mit  ihren  Blech- 
büchsen, Flaschenkapseln,  Garnrollen  und  ähnlichen  Abfällen,  ergänzt  durch  äußerst 
geringfügige   Ankäufe,    genügt   dem   Verfasser,    um   daraus   seine   physikalische 
Sammlung  entstehen  zu  lassen;  und  wenn  er  auch  entsprechend  Bescheidenes  von 
den  Werkzeugen  und  den  Fertigkeiten  seiner  Zöglinge  fordert,  so  ermutigt  er  die 
Schüler  gleichwohl,  sich  selbst  an  verwickeitere  Vorrichtungen  zu  wagen.    Stoßen 
wir  doch  in  der  Mechanik  auf  die  mannigfaltigsten  Anwendungen  des  Hebels,  auf 
Pumpen  und  Flaschenzüge,  in  der  Wärmelehre  auf  ein  Modell  der  Dampfmaschine ; 
auch   die  Inklinationsnadel,   der  Multiplikator,   der  Morsetelegraph,   der  Schlitten- 
apparat zur  Faradisation  und  die  .optische  Kamera  sind  in  den    Bereich  der  ju- 
gendlichen Kunstfertigkeit  gezogen ;  dazu  spricht  aus  alledem  ein  solches  Maß  von 
Fleiß  und  begeisterter  Hingabe  des  Verfassers,  daß  es  kleinlich  wäre,  auf  die  ver- 
einzelten Irrtümer  des  Inhalts  hinzuweisen. 

Und  welche  stumme  Mahnung  erwächst  aus  dem  angezeigten  Werke  für  den 
Physiklehrer  der  höheren  Schule?  Er  halte  sich  nicht  für  zu  vornehm,  die  dort 
gelehrte  Tätigkeit  zu  üben  und  auch  bei  seinen  Schülern  die  Freude  an  prak- 
tischem Schaffen  zu  beleben.  Nur  denke  er  daran,  daß  ihm  reichere  Mittel  zur 
Verfügung  stehen,  daß  seine  Zöglinge  älter  und  anspruchsvoller  sind,  daß  Primaner 
und  Sekundaner  von  einem  physikalischen  Apparate  größere  Genauigkeit  und  eine 
gewisse  Harmonie  der  Form  verlangen.  Solchem  verwöhnteren  Geschmack  ge- 
nügen die  Vorschläge  des  Verfassers  im  allgemeinen  nicht;  doch  können  sie  zur 
Nacheiferung  und  Vervollkommnung  anreizen  und  so  nicht  nur  der  Volkschule, 
sondern  auch  der  höheren  Schule  nützen. 

Berlin.  P.  Johannesson. 


Hock,  Lehrbuch  der  Pflanzenkunde,  an^z.  von  F.  Pfuhl.  281 

HÖck,  Lehrbuch  der  Pflanzenkunde.    Teil  I.  Unterstufe  (112  S.),  geb.  1,60  M. 

Teil   II.     Oberstufe   (220    S.),    geb.   3,20  M.     Eßlingen   und  München    1908. 

J.  F.  Schreiber. 
Die  Anordnung,  in  der  die  Pflanzen  geboten  werden,  ist  nicht  die  „methodische", 
sondern  die  des  Systems.  Denn  der  Herr  Verfasser,  der  in  weiten  Kreisen  als 
pflanzen -geographischer  Schriftsteller  bekannt  ist,  meint,  daß  aus  den  Beschrei- 
bungen —  welche  Pflanze  nun  auch  der  Lehrer  wählen  mag  —  sich  jedesmal  das 
für  den  Unterricht  erforderliche  Material  entnehmen  läßt.  Die  so  einfach  und  klar 
gebauten  Monokotylen  sind  in  I  auf  S.  85—92  vertreten,  in  II  von  S.  2 — 28. 
Die  Dikotylen  nehmen  in  I  die  Seiten  9  —  85,  in  II  S.  29—62  ein.  Dann  folgen 
in  II  die  Nacktsamer  bis  71,  dann  Farne  und  Moose,  endlich  die  Lagerpflanzen. 
Natürlich  enthält  diese  Zusammenstellung  auch  eine  große  Anzahl  exotischer  Pflanzen. 
Besonders  in  I,  aber  auch  in  II  hat  Verfasser  reichlich  dafür  Sorge  getragen,  aus- 
führliche Beschreibungen  zu  liefern  für  solche  Pflanzen,  die  sich  etwa  zur  Unter- 
suchung und  zu  eingehenderem  Durchnehmen  empfehlen;  so  für  die  Vogelmiere 
eine  Seite,  Kuckucks -Lichtnelke  dgl.,  Busch -Windröschen  über  eine  Seite.  Aller- 
dings birgt  diese  Einrichtung  den  Übelstand  in  sich,  daß  für  die  auf  der  untersten 
Klassenstufe  zu  besprechenden  Arten  doch  zu  vielerlei  zusammenkommt.  Am 
Anfang  des  ersten  Teils  befindet  sich  eine  kurze  Übersicht  über  Bau  und  Leben 
der  Pflanze  und  am  Ende  werden  die  Resultate  (S.  93—112)  zusammengestellt, 
z.  B.  a)  Wurzeln,  b)  Sprosse,  e)  Blüten,  f)  Bestäubungseinrichtungen.  Der  zweite 
Teil  bringt  S.  110—156  einen  Abschnitt  über  Bau  und  Lebensvorgänge  der  Pflanzen, 
endlich  bis  S.  210  einen  anderen  über  ihre  Verbreitung.  Jegliches  Gebiet  der 
Botanik,  das  für  den  Unterricht  in  Betracht  kommt,  ist  in  diesen  Abschnitten  berück- 
sichtigt. Der  Text  wird  durch  eine  große  Anzahl  z.  T.  kolorierter  Abbildungen 
erläutert;  von  allen  kann  zwar  nicht  gesagt  werden,  daß  sie  ganz  genügen.  So  ge- 
nügen die  Pilzbilder  (II,  Tafel  20)  wohl  kaum ;  seit  Erscheinen  des  Michaelschen  Pilz- 
buches ist  man  in  der  Hinsicht  verwöhnt.  Abbildung  146  (II)  ist  verzeichnet,  auch  ist  es 
nicht  gut  zu  heißen,  daß  dieser  schreckliche  Giftpilz  „Eichenblätter -Champignon" 
genannt  wird,  denn  dadurch  wird  erst  recht  die  Verwechslung  mit  dem  Champignon 
unterstützt,  die  schon  so  oft  verhängnisvoll  geworden  ist,  abgesehen  davon,  daß 
der  Pilz  ganz  und  gar  —  wenigstens  in  der  Provinz  Posen  —  kein  Eichenbegleiter 
ist.  Beim  giftigen  Pfefferling  hätte  auf  den  (meist)  grauen  Stiel  hingewiesen 
werden  können,  und  das  Geflecht  im  echten  Zunderschwamm  ist  weich  und  nicht 
holzig.  Die  Abbildungen  der  Welwitschie  (II,  192)  ist  unklar,  wie  auch  manches 
der  aus  Schimper  entnommenen  Klischees.  Die  Kernteilung  ist  doch  (II,  112)  etwas 
zu  schematisch  dargestellt,  und  die  Centrosomen  hätten  in  einem  botanischen 
Lehrbuche  wohl  fortbleiben  können;  auch  wäre  statt  des  bikollateralen  Gefäßbündels 
ein  kollaterales  besser  gewesen,  und  die  Tracheide  der  Kiefer  (11,114)  hätte  wohl 
auch  normaler  gehalten  werden  können.  Manche  Abbildungen  wären  zu  entbehren, 
andere  wären  vielleicht  erwünscht,  wie  z.  B.  der  Vorkeim  eines  Farns,  die  Befruch- 
tung der  Samenknospe  einer  Angiosperme  in  größerem  Maßstabe  (II,  193).  Doch, 
wie  gesagt,  diese  Wünsche  bezüglich  einer  Abänderung  betreffen  nur  einzelne 
der  sehr  zahlreichen  Abbildungen.  Der  Druck  des  Buches  (Antiqua)  ist  klar,  leicht 
leserlich,  das  Papier  gut. 


282         K.  Qraeber,  Ideal-Schulgärten  im  XX.  Jahrhundert,  angez.  von  F.  Pfuhl. 

Oraeber,  Karl,  Ideal-Schulgärten  im  XX.  Jahrhundert.  Mit  19  Plänen  und 
Skizzen  und  140  Abbildungen.  VIII  u.  309  S.  Frankfurt  a.  O.  1907.  Kgl. 
Hofbuchdruckerei  Trowitzsch  u.  Sohn.  3,50  M, 
Zunächst  legt  Verf.  die  Notwendigkeit  für  die  Einrichtung  von  Schulgärten 
dar.  Denn  die  Exkursionen,  die  manche  Lehrer  eingeführt  haben,  hätten  keinen 
Erfolg  ergeben,  trotzdem  sie  in  der  Literatur  so  manchmal  rühmend  gepriesen 
werden,  und  das  Pflanzenholen  aus  der  Umgegend  wäre  mit  vielen  Unzuträglich- 
keiten verknüpft.  Die  Schulgärten  sollen  nun  nach  Ansicht  des  Verf.  von  den 
Schülern  klassenweise  besucht  werden,  sogar  während  der  Zwischenstunden,  und  der 
Unterricht  soll  zum  großen  Teil  dorthin  verlegt  werden.  Graeber  sucht  zu  beweisen, 
daß  durch  diesen  Besuch  des  Schulgartens  vieles  geleistet  werden  kann,  was  die 
Beobachtung  abgeschnittenen  Pflanzenmaterials  im  Klassenzimmer  nicht  leisten 
kann.  Aber,  warum  kann  denn  nicht  der  Unterschied  zwischen  der  Blüte  des 
Alpengänsekrauts  und  des  Goldlacks  (S.  9),  der  Unterschied  zwischen  Hundspeter- 
silie, Küchenpetersilie  und  Schierling  (S.  15),  zwischen  den  Blättern  der  Königs- 
kerze und  des  Fingerhuts  auch  in  der  Klasse  ermittelt  werden?  Die  Anhängsel 
der  Staubblätter,  die  in  den  Sporn  des  Veilchens  Honig  absondern,  wird  der 
Schüler  in  der  Klasse,  wenn  er  seine  Nadel  benutzen  kann,  viel  sicherer  und  ge- 
nauer beobachten  können,  als  draußen,  stehend,  im  Garten  —  usw.  Verf.  bringt 
dann  (S.  34—135)  unter  Beigabe  von  Plänen  Vorschläge  für  Gartenanlagen,  wie 
sie  sich  dem  bei  den  Schulhäusern  gegebenen  Raum  anpassen  könnten,  und  sollte 
gar  kein  freier  Platz  vorhanden  sein,  so  empfiehlt  er  die  Kultur  von  Pflanzen 
in  Kästen.  „Der  vollständige  Ideal -Schulgarten  einer  größeren  Schule"  ist  eigent- 
lich ein  botanischer  Garten  einer  heutigen  Hochschule  —  aber  ganz  im  kleinen 
(25x20  qm).  Waldpartien  sind  da,  eine  Wiese,  ein  Alpinum,  die  Systematik  ist 
durch  die  häufigsten  Familien  vertreten,  denn  Kultur-,  Nutz-  Giftpflanzen,  Un- 
kräuter, Gartenzierpflanzen,  Zwergobst.  Pflanzen,  zum  Verteilen  an  die  Schüler 
während  des  Unterrichts,  liefert  er  nicht,  das  soll  der  , Zentral -Schulgarten"  tun. 
Doch  ist  diese,  für  einen  geordneten  Unterricht  so  überaus  wichtige  Aufgabe  auf 
knapp  2  Seiten  behandelt.  In  dem  „Abc  der  Schulgartenpraxis"  (S.  166 — 309) 
werden  die  zur  Anpflanzung  empfohlenen  Gewächse  meist  mit  kurzen  Zusätzen 
über  ihre  Pflege  aufgeführt,  auch  werden  die  häufigsten  Gartenarbeiten  beschrieben 
(Ableger,  Anbinden,  Aussägen,  Okulieren  usw.).  Übrigens  wird  der  Lehrer  so 
manchmal  mit  dem  Verf.  über  die  Notwendigkeit  einer  zu  kultivierenden  Pflanze 
nicht  übereinstimmen  (Iberis  sempervirens,  Gypsophila  repens  usw.).  Die  deutschen 
Pflanzennamen  sind  meist  mit  Geschick  gewählt,  doch  ist  mancher  nicht  allgemein 
verständlich,  ohne  daß  die  botanische  Bezeichnung  hinzugefügt  ist  (blaues  Sperr- 
kraut, Beerapfelbaum  usw.).  Jedenfalls  wird  das  Buch  manchem  Lehrer  Anregung 
und  Belehrung  geben  können. 

Posen.  Fr.  Pfuhl. 


IV.  Vermischtes. 


Aufruf  zur  Schonung  der  Pflanzenwelt. 

Wer  mit  aufmerksamem  Blick  am  Abend  eines  schönen  Frühlingstages  die 
heimkehrende  Menge  betrachtet  und  die  Fülle  von  z.  T.  großen  Sträußen  sieht, 
die  mitgebracht  werden,  wer  außerdem  bedenkt,  daß  erfahrungsgemäß  noch  viel 
mehr  Blumensträuße  vorzeitig  fortgeworfen  oder  achtlos  liegen  gelassen  werden, 
der  wird  zugeben  müssen,  daß  an  jedem  solchen  Tage  ganze  Wagenladungen  von 
Pflanzen  aus  der  Pflanzendecke  geraubt  werden.  Und  er  wird  verstehen,  was 
jeder  Pflanzenkundige  bestätigen  kann,  daß  besonders  in  der  Umgegend  der  Städte 
die  Pflanzenwelt  immer  mehr  und  mehr  verödet,  und  daß  seltenere,  durch  große 
Blüten  ausgezeichnete  Pflanzen  allmählich  ganz  verschwinden. 

An  alle  diejenigen,  welche  beim  Wiedererwachen  der  Natur  ins  Freie  eilen, 
um  sich  an  buntfarbigen  Frühlingsblumen,  am  frischen  Grün  des  Waldes,  am  zarten 
Weiß  der  Obstblüte  zu  erfreuen,  richtet  das  Westpreußische  Provinzialkomitee  für 
Naturdenkmalpflege  daher  die  dringende  Bitte,  nachstehende  Mahnungen  sorgfältig 
zu  beachten  und  nach  Kräften  dafür  einzutreten,   daß  sie  überall  befolgt  werden. 

1.  Schone  die  Pflanzen,  schone  vor  allem  die  Frühlingsblumen. 
Bedenke  stets,  daß  jede  Pflanze  am  schönsten  in  ihrer  natürlichen  Umgebung,  an 
ihrem  Standort,  ist  und  daß  die  Blumen  am  besten  dort  ihren  Lebenszweck,  die 
Erhaltung  und  Vermehrung  der  Art,  erfüllen  können. 

2.  Willst  Du  aber  etwas  davon  mitnehmen,  um  Dein  Heim  zu  schmücken, 
so  beherzige  des  Dichters  sinniges  Wort:  »Brichst  Du  Blumen,  sei  bescheiden, 
nimm  nicht  gar  so  viele  fort!  .  .  .  Nimm  ein  paar  und  laß  die  andern  in  dem 
Grase,  an  dem  Strauch.  Andere,  die  vorüber  wandern,  freu'n  sich  an  den  Blumen 
auch"  (Trojan).  Ein  „Sträußlein  am  Hute"  ziert  den  Wanderer,  aber  nicht  ein 
Riesenbusch  von  Blumen,  welche  in  der  Hand  zerdrückt  werden  und  bald  verwelken. 

3.  Pflücke  die  Blumen  behutsam  von  der  Pflanze  ab,  oder  noch  besser 
schneide  sie  vorsichtig  mit  einem  scharfen  Messer  ab.  Dadurch  leidet 
die  Pflanze  am  wenigsten,  und  die  übrigbleibenden  Teile  können  sich  weiter  ent- 
wickeln. Hingegen  werden  bei  heftigem  und  rücksichtlosem  Abreißen  von  Blüten 
oder  Blütenzweigen  gewöhnlich  auch  die  benachbarten  Zweige  beschädigt  und 
vielfach  die  ganzen  Pflanzen  geknickt  und  zugrunde  gerichtet. 

4.  Reiße  oder  grabe  nie  Pflanzen  mit  Wurzeln  aus.  Gerade  die  Früh- 
lingsblumen gehören  fast  alle  zu  den  ausdauernden  Gewächsen.    Wenn  nur  die 


284  Vermischtes. 

Blütenzweige  sorgfältig  abgeschnitten  werden,  kann  der  Stamm  weiterwachsen  und 
sich  langsam  wieder  erholen,  wogegen  beim  Herausnehmen  auch  der  unterirdischen 
Teile  die  ganze  Pflanze  verloren  geht.  Bei  vielen  selteneren  Pflanzen,  z.  B.  den 
meisten  Orchideen  (Knabenkräutern),  ist  das  Ausgraben  mit  den  Knollen  um  so 
schädlicher,  als  sie  sich  meist  nur  durch  die  Knollen,  weniger  durch  Samen  vermehren. 

5.  Reiße  auch  keine  Zweige  von  den  Bäumen  ab.  Wenn  Du  Dir  ein 
paar  grüne  Zweige  behutsam  mit  dem  Messer  abschneidest,  wird  wohl  niemand 
etwas  dagegen  sagen,  anders  aber,  wenn  ganze  Gesellschaften  den  Wald  rücksichts- 
los plündern.  Beim  gewaltsamen  Abreißen  von  Zweigen  werden  nicht  nur  diese, 
sondern  oft  auch  größere  Äste  abgebrochen,  so  daß  dem  Waldbesitzer  ein  erheb- 
licher Schaden  entstehen  kann.  Bedenke  auch,  daß  alle  später  an  solch 
eine  geplünderte  Stelle  Kommenden  die  geknickten  Äste  und  kahlen  Aststümpfe 
vorfinden  und  dadurch  ebensosehr  in  ihrem  Naturgenuß  gestört  werden,  wie  durch 
hingeworfene  Reste  der  Mahlzeit,  als  da  sind  Frühstückspapier,  Eierschalen  und 
leere  Flaschen. 

6.  Benütze  nicht  die  Rinde  der  Baume  als  Stammbuch.  Das  Ein- 
schneiden von  Buchstaben  und  Zeichen  schädigt  nicht  nur  den  Baum,  ein  über  und 
über  mit  Narben  und  frischen  Wunden  bedeckter  Stamm  muß  auf  jeden  Natur- 
freund verletzend  wirken. 

Danzig,  den  30.  März  1909. 

Westpreußisches  Provinzialkotnitee  für  Naturdenkmalpflege. 

V.  Jagow, 
Oberpräsident. 


50.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner. 

Die  50.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner  wird  von 
Dienstag  d.  28.  September  bis  Freitag  d.  1.  Oktober  1909  in  Graz  stattfinden. 
Vorsitzende:  Univ.-Prof.  Dr.  Heinrich  Schenkl,  Maria-Trost  bei  Graz, 
Regierungsrat  Gymnasialdirektor  Dr.  Otto  Adamek,  Graz,  Licht enfelsgasse  3. 
Als  Obmänner  haben  die  vorbereitenden  Geschäfte  übernommen: 
Für  die  philologische  Sektion:  Gymnasialdirektor  Dr.  Albin  Nager, 
Graz,  Kaiserfeldgasse  20,  Univ.-Prof.  Dr.  Richard  C.  Kukula,  Graz,  Ruckerl- 
berggasse 5;  für  die  pädagogische  Sektion:  Landesschulinspektor  Dr.  Karl 
Tumlirz,  Graz,  Wormgasse  8,  Univ.-Prof.  Dr.  Eduard  Marti nak,  Graz,  Zinzen- 
dorfgasse  21,  Gymn.-Prof.  Dr.  Johann  Ranftl,  Graz,  Grabenstraße  27;  für  die 
archäologische  Sektion:  Univ.-Prof.  Dr.  Hans  Schrader,  Graz,  Parkstraße  17, 
Gymn.-Dir.  Dr.  Hans  Gut  seh  er,  Leoben,  Gymn.-Prof.  Dr.  Rudolf  Wi  mm  er  er, 
Graz,  Rosenberggürtel  25;  für  die  germanistische  Sektion:  Univ.-Prof.  Dr. 
August  Sauer,  Prag,  Smichow  586,  Univ.-Prof.  Dr.  Konrad  Zwierzina,  Inns- 
bruck,   Glaudiaplatz  3,    Regierungsrat   Direktor  i.  R.    Dr.  Karl    Reißen  berger, 


Vermischtes.  285 

Graz,  Katzianergasse  7;  für  die  historisch-epigraphische  Sejttion:  Univ.- 
Prof.  Dr.  Adolf  Bauer,  Graz,  Heinrichstraße  97,  Univ.-Prof.  Otto  Cuntz,  Graz, 
Kroisbachgasse  4,  Gymn.-Prof.  Dr.  Artur  Ledl,  Graz,  Kopernikusgasse  20;  für 
die  romanistische  Sektion:  Hofrat  Univ.-Prof.  Dr.  Julius  Cornu,  Graz, 
Laimburggasse  11,  Realschul-Prof.  Georg  Weitzenböck,  Graz,  Leonhard- 
straße  131;  für  die  geographische  Sektion:  Univ.-Prof.  Dr.  Robert  Sieger, 
Graz,  Leonhardstraße  109,  Handelsakademie-Prof.  Dr.  Richard  Marek,  Graz, 
Pestalozzigasse  31;  für  die  anglistische  Sektion:  Univ.-Prof.  Dr.  Alois 
Pogatscher,  Graz,  Harrachgasse  16,  Realschul-Prof.  Ferdinand  Kroier,  Graz, 
Wickenburggasse  7;  für  die  indogermanische  Sektion:  Univ.-Prof.  Dr.  Rudolf 
Meringer,  Graz,  Universitätsstraße  27,  Gymn.-Prof.  Anton  Lantschner,  Graz, 
Parkstraße  7;  für  die  orientalische  Sektion:  Univ.-Prof.  Dr.  Johann  Kirste, 
Graz,  Salzamtsgasse  2,  Univ.-Prof.  Dr.  Nikolaus  Rhodokanakis,  Graz,  Mandell- 
straße  7;  für  die  mathematisch-naturwissenschaftliche  Sektion:  a)  mathe- 
matisch-physikalische Abteilung:  Landesschulinspektor  Dr.  Karl  Rosen- 
berg, Graz,  Luthergasse  4,  Realschul-Dir.  Josef  Frank,  Graz,  Keplerstraße  1; 
b)  biologisch-chemische  Abteilung:  Realschul-Dir.  Dr.  Anton  Schwaighofer, 
Graz,  Schützen hofgasse  39,  Univ.-Prof.  Dr.  Franz  Hemmelmayr  Edl.  v. 
Augustenfeld,  Graz,  Laimburggasse  8;  für  dieSektion  für  Bibliothekswesen: 
Univ. -Bibliothekar,  kais.  Rat  Dr.  A.  Schi  ossär,  Graz,  Nibelungengasse  8, 
Bibliotheks-Kustos  Dr.  Ferdinand  Eich  1er,  Graz,  Burgring  11. 

Außerdem  ist  die  Gründung  einer  Sektion    für  sachliche  Volkskunde  in   Aus- 
sicht genommen. 


Vorträge  für  die  allgemeinen  Sitzungen  sind  bis  zum  1.  Juni  bei  einem  der 
beiden  Vorsitzenden,  für  die  Sektionen  bei  einem  der  Herren  Obmänner  anzu- 
melden. Im  Laufe  des  Monats  Juli  wird  eine  zweite  Einladung  mit  dem  voll- 
ständigen Verzeichnis  der  angemeldeten  Vorträge  und  der  Ankündigung  der  in 
Aussicht  genommenen  festlichen  Veranstaltungen  versendet  werden. 

Gemäß  den  Beschlüssen  der  Basler  Versammlung  wird  sich  diesmal  die 
Durchführung  des  Hamburger  Programmes  (Verhältnis  zwischen  Wissenschaft  und 
Schule  und  Ausbildung  der  Lehramtskandidaten)  auf  die  deutsche  Sprache  und 
die  Geographie  erstrecken.  Als  Referenten  sind  für  die  deutsche  Sprache  Univ.- 
Prof.  Dr.  Elster  (Marburg)  und  Gymnasialdirektor  Dr.  Lück  (Steglitz),  für  die 
Geographie  Univ.-Prof.  Dr.  Brückner  (Wien)  und  Oberlehrer  Dr.  Lampe  (Berlin) 
gewonnen;  der  Diskussion  wird  ein  voller  Halbtag  eingeräumt  werden. 

Am  Sonntag  den  26.  und  Montag  den  27.  September  1909  findet  in  Graz  die 
Jahresversammlung  des  deutschen  Gymnasialvereines  statt;  ebenso  wird  in  her- 
kömmlicher Weise  mit  der  orientalischen  Sektion  die  Sitzung  der  deutsch-morgen- 
ländischen Gesellschaft  verbunden  werden. 

Die  Unterzeichneten  ersuchen  besonders  um  freundliche  Berücksichtigung  des 
dieser  vorläufigen  Einladung  beigedruckten  Aufrufes. 

Graz,  im  März  1909. 

Schenkl.  Adamek. 


286  Vermischtes. 

Aufruf  zu  einer  Stiftung  aus  Anlaß  der  50.  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner. 

Im  Herbste  des  laufenden  Jahres  wird  in  Graz  die  50.  Versammlung  deutscher 
Philologen  und  Schulmänner  stattfinden.  Von  mehreren  Seiten  ist  die  Anregung 
gegeben  worden,  aus  Anlaß  dieses  bedeutsamen  Jubelfestes  eine  Stiftung  ins  Leben 
zu  rufen,  deren  Ertrag  zur  Förderung  der  klassischen  Altertumswissenschaft  ver- 
wendet werden  soll.  Die  Unterzeichneten,  welche  derzeit  den  ständigen  Ausschuß 
der  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner  bilden,  erachten  es  für 
eine  Ehrenpflicht,  diese  Anregung  aufzunehmen  und  in  die  Tat  umzusetzen.  So 
möge  denn  an  alle  Freunde  des  klassischen  Altertums  und  der  humanistischen 
Bildung  der  Ruf  ergehen,  durch  Beiträge  das  Zustandekommen  dieser  Stiftung,  die 
den  schönsten  Schmuck  und  die  würdigste  Verherrlichung  der  Jubiläumsversammlung 
bilden  wird,  zu  sichern. 

Um  dem  erstrebten  Zwecke  möglichst  reiche  Mittel  zuzuführen,  bedarf  es  einer 
ausgebreiteten  und  regen  Werbetätigkeit,  die  selbstverständlich  genaue  Kenntnis 
der  örtlichen  Verhältnisse  voraussetzt. 

Die  Unterzeichneten  richten  daher  an  die  Empfänger  dieses  Aufrufes  die 
dringende  Bitte,  ihrerseits,  ohne  eine  weitere  Aufforderung  abzuwarten,  möglichst 
bald  Ortsausschüsse  einzurichten,  denen  es  obliegen  wird,  die  Sammlungen  in 
geeigneter  Weise  einzuleiten  und  an  diejenigen  Persönlichkeiten  und  Körperschaften, 
von  denen  Beteiligung  an  dem  geplanten  Unternehmen  zu  erwarten  ist,  heranzu- 
treten. Die  erfolgte  Konstituierung  der  Ausschüsse  möge  dem  ersten  Präsidenten 
der  Grazer  Versammlung,  Universitäts-Professor  Dr.  Heinrich  Schenkl,  Maria-Trost 
bei  Graz,  baldigst  mitgeteilt  werden.  Als  Termin  für  den  Schluß  der  Sammlungen 
und  die  Ablieferung  der  eingegangenen  Beiträge  (abzüglich  der  durch  die  Sammlung 
verursachten  Kosten)  ist  der  1.  September  1909  in  Aussicht  genommen;  Einzahl- 
stelle ist  die  Wechselstube  der  Steiermärkischen  Escomptebank,  Graz  (Konto:  Philo- 
logenstiftung), welche  Einzahlungen  von  Teilbeträgen,  sowie  von  Einzelbeträgen 
aus  Orten,  wo  kein  Ausschuß  gebildet  wird,  auch  vor  dem  angegebenen  Termine 
entgegen  nimmt. 

Ein  Mindestmaß  der  Beitragsleistung  ist  nicht  festgesetzt;  jede  Spende  wird 
mit  Dank  entgegengenommen. 

Die  Beschlußfassung  über  die  Verwendung  der  Stiftung  auf  Grund  des  Vor- 
schlages einer  vorberatenden  Kommission  bleibt  der  Grazer  Versammlung  vorbe- 
halten. Die  Namen  der  Spender  werden  in  einem  der  Versammlung  vorzulegenden 
Berichte  verzeichnet  werden. 

Regierungsrat  Gymnasialdirektor  Dr.  O.  Adamek  (II.  Präsident,  Graz).  Schulrat 
Professor  Dr.  M.  Brütt  (I.  Präsident,  Hamburg).  Geheimer  Regierungsrat  Dr. 
J.  Francke  (II.  Präsident,  Straßburg).  Geheimer  Regierungsrat  Dr.  W.  Fries 
(I.  Präsident,  Halle).  Universitätsprofessor  Dr.  F.  Münzer  (I.  Präsident,  Basel). 
Rektor  Dr.  F.  Schäublin  (IL  Präsident,  Basel).  Universitätsprofessor  Dr.  H.  Schenkl 
(I.  Präsident,  Graz).  Geheimer  Hof  rat  Universitätsprofessor  Dr.  E.  Schwartz 
(I.  Präsident,  Straßburg).    Universitätsprofessor  ;Dr.  P.  Wendland  (II.  Präsident, 

Hamburg).  > 


Vermischtes.  287 


Deutscher  Verein  für  Volkshygiene. 

Mit  der  Entwicklung  der  Hygiene  trat  mehr  und  mehr  die  Erkenntnis  hervor, 
daß  zu  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  auch  die  private  als  deren  notwendige 
Ergänzung  sich  gesellen  müsse,  da  sonst  aus  Unkenntnis  und  Unverstand  leicht 
im  Hause  und  in  der  Familie  wieder  verdorben  werde,  was  Staat  und  Kommune 
zur  Erhaltung  der  Gesundheit  durch  öffentliche  Einrichtungen  genützt  haben.  Um 
diese  Bestrebungen  der  persönlichen  Gesundheitspflege  und  Krankheitsverhütung 
zu  zentralisieren  und  zu  einer  systematischen  Entwicklung  zu  bringen,  wurde  vor 
ca.  10  Jahren  der  Deutsche  Verein  für  Volkshygiene  gegründet,  welcher 
durch  praktische  Einrichtungen,  durch  Vorträge  und  Herausgabe  einer  Zeitschrift, 
der  „Blätter  für  Volksgesundheitspflege",  seine  Aufgabe  zu  lösen  sucht.  Seine 
Zeitschrift  ist  in  der  Zwischenzeit  ein  Familienblatt  vornehmster  Art  geworden, 
das  in  keinem  Hause  fehlen  sollte,  wo  die  große  Bedeutung  der  persönlichen  Ge- 
sundheitspflege sowohl  für  das  Wohl  des  Einzelnen  als  der  ganzen  Familie  er- 
kannt ist.  Nach  Möglichkeit  passen  sich  stets  die  Artikel  der  Zeitschrift  den 
Jahreszeiten  und  den  augenblicklich  interessierenden  Verhältnissen  an.  So  erfährt 
der  Laie  durch  sie,  was  die  Erkältung  ist  und  wie  man  sie  bekämpft,  wie  man 
die  Entwicklung  des  Schulkindes  leiten  und  überwachen  soll,  welche  Ernährung 
die  beste  und  billigste  ist,  welche  Kleidung  die  zweckmäßigste,  wie  sich  die  Mutter 
vor  und  nach  der  Geburt  zu  verhalten  hat,  damit  ihr  und  ihres  Kindes  Leib  nicht 
Schaden  nehme,  wie  wichtig  die  Reinlichkeit  ist,  wie  deren  Betätigung  auch  zur 
Reinheit  der  Seele  und  des  Herzens  führt,  und  wie  diese  vielen  Themen  alle 
heißen  mögen.  Die  besten  Männer  haben  sich  in  dieser  Zeitschrift  zur  Mitarbeit 
vereinigt:  Geheimrat  Goldscheider  schreibt  über  Erkältung  und  Erkältungsfurcht, 
Eugen  Zabel  über  Goethe  als  Lebenskünstler,  Geheimrat  Professor  Dr.  Schottelius 
über  Ernährungsfragen,  Peter  Rosegger,  Dr.  Avenarius,  Richard  Nordhausen  be- 
handeln ethische  und  pädagogische  Probleme,  wir  finden  Arbeiten  von  Rudolf 
^  Eucken,  A.  H.  France,  dem  Münchener  Hygieniker  Gruber,  Praussnitz,  Münster- 

^m^  berg,  Rubner,  Heubner  und  vielen  anderen.   Bei  einem  solchen  Inhalt  ist  es  wohl 

^H  berechtigt,  auch  an  dieser  Stelle  eine  warme  Empfehlung  für  diese  Zeitschrift 
^H  auszusprechen.  Sie  sollte  in  den  Kreisen  unserer  Gymnasiallehrer  weiteste  Ver- 
^H  breitung  finden,  da  sie  nur  segensreich  wirken  und  wesentlich  dazu  beitragen 
^^K  wird,  die  Lehrerschaft  dauernd  über  die  verschiedenen  Fragen  der  Gesundheits- 
^^m  pflege  zu  belehren  und  aufzuklären.  Die  Zeitschrift  erscheint  in  monatlichen 
^^B  Heften  von  je  IV2  Bogen  im  Deutschen  Verlag  für  Volkswohlfahrt,  Berlin  W.  30, 
^^m  Nollendorfstraße  29/30,  und  kostet  jährlich  4  M.  Probeexemplare  werden  sowohl 
^B  von  dem  Verlag  als  auch  von  der  Geschäftsstelle  des  Deutschen  Vereins  für  Volks- 
^^m  hygiene,  Berlin  W.  30,  Motzstraße  7,  stets  gerne  auf  Wunsch  versandt. 
^B,  Berlin.  K.  Beerwald. 

L 


288  Vermischtes. 

Ferienkurse  in  Hydrobiologie  und  Planktonkunde  will  Prof.  Dr.  Zacharias 
in  Plön  (Biolog.  Station)  von  jetzt  an  jährlich  veranstalten.  Es  soll  in  diesen  ein 
Hinweis  auf  die  Geschichte  dieses  Wissenszweiges  gegeben  werden,  die  Lebens- 
bedingungen der  Schwebewesen  geschildert  werden,  vor  allem  aber  Bekanntschaft 
mit  den  Fangmitteln,  mit  der  Untersuchung  und  Aufbewahrung  der  Kleinwesen 
und  ihre  Verwertung  im  Unterricht  gelehrt  werden.  Da  die  Lehrer,  welche  Bio- 
logie auf  der  Oberstufe  unterrichten,  von  dieser  Art  der  Belehrung  Gebrauch 
machen  können,  sei  an  dieser  Stelle  kurz  darauf  hingewiesen.  Näheres  wird  der 
Veranstalter  selbst  auf  Wunsch  mitteilen. 

Perleberg.  F.  Hock. 


1.  Abhandlungen. 


Die  freiere  Gestaltung  des  Unterrichtes  in  der  Prima  des 
Lyzeums  zu  Hannover. 

über  den  Versuch  einer  freieren  Gestaltung  des  Unterrichts  der  Prima,  wie  er 
im  verflossenen  Schuljahre  an  dem  von  mir  geleiteten  Gymnasium  gemacht  ist, 
habe  ich  in  der  letzten  Versammlung  des  Philologen-Vereins  der  Provinz  Hannover 
auf  Wunsch  des  Vorstandes  einen  Vortrag  gehalten,  der  allem  Anscheine  nach 
großes  Interesse  fand.  Wenn  ich  meine  Ausführungen  im  folgenden  veröffentliche, 
so  hoffe  ich,  auch  bei  dem  weiten  Leserkreise  der  Monatschrift  für  höhere  Schulen 
auf  Interesse  rechnen  zu  dürfen,  einmal  weil  das  Problem,  um  das  es  sich  handelt, 
seit  einigen  Jahren  aufs  lebhafteste  erörtert  wird,  zum  andern,  weil  auf  diesem 
Gebiete  jede  Erprobung  der  Theorie  durch  die  Praxis  höchst  wertvoll  und  förder- 
lich erscheint,  und  endlich  drittens,  weil  die  am  Lyzeum  getroffene  Einrichtung 
sich  von  den  übrigen,  die  dem  gleichen  Zwecke  dienen,  erheblich  unterscheidet. 

Ich  setze  voraus,  daß  der  Gegenstand  der  Erörterung  selbst,  die  freiere  Gestal- 
tung des  Unterrichts  oder  die  Bewegungsfreiheit  im  Unterrichte,  bekannt  ist;  denn 
seitdem  von  oben  her  der  erfrischende  Wind  der  Freiheit  über  das  Feld  der  Päda- 
gogik der  höheren  Schulen  fährt  und  die  starre  Decke  der  Lehrpläne  gelockert 
hat,  haben  sich  vielerorten  Keime  geregt  und  ans  Licht  gewagt,  von  deren  Dasein 
man  nichts  wußte  und  deren  Entwicklung  man  früher  für  unmöglich  gehalten 
hätte.  Die  pädagogische  Fachpresse  und  die  Tagespresse  haben  sich  mit  der 
Frage  beschäftigt,  auf  Direktorenkonferenzen  ist  sie  verhandelt  —  so  auf  der  letzten 
hannoverschen  und  der  letzten  rheinischen  —  und  bei  der  Tagung  des  Vereins- 
verbandes akademisch  gebildeter  Lehrer  Deutschlands  zu  Braunschweig  war  sie 
das  Thema  eines  ausführlichen  Vortrages. 

Ich  begnüge  mich  daher  mit  der  Erklärung,  daß  das  Ziel  selbst,  dem  wir  zustreben, 
das  gleiche  ist  wie  bei  den  andern  Gestaltungen  der  Bewegungsfreiheit,  nämlich 
durch  Berücksichtigung  der  Neigungen  und  Anlagen  der  Schüler  ihre  Arbeit 
freudiger  und  damit  den  Schulbesuch  ersprießlicher  zu  gestalten,  zugleich  auch 
die  Kluft  zwischen  der  Arbeit  der  Schule  und  dem  Studium  auf  der  Universität 
nach  Möglichkeit  zu  überbrücken.  Wie  die  Freunde  der  Bewegungsfreiheit  — 
denn  es  gibt  natürlich  auch  Kollegen,  die  sich  ablehnend  verhalten  —  in  diesem 
Ziele  einig  sind,   so  herrscht  im  ganzen  auch  Einigkeit  über  die  Zeit,   in  der  die 

Monatichrift  f.  höh.  Schulen.    VUI.  Jhrg.  19 


290  W.  Prinzhorn, 

größere  Freiheit  am  Platze  ist;  nur  die  Prima  der  Vollanstalten  gilt  als  die  ge- 
eignete Stufe,  auf  der  man  den  Jünglingen  die  Möglichkeit  geben  möchte,  die 
Schwingen  des  Geistes  freier  zu  regen  und  auf  Tage  oder  Stunden  wenigstens 
dem  Gängelbande  zu  entfliegen,  an  dem  sie  zehn  Jahre  festgehalten  und  ge- 
leitet sind. 

Desto  mannigfacher  sind  aber  die  Meinungen  und  Vorschläge,  wenn  es 
sich  um  die  Art  und  Weise  der  Ausführung  handelt.  Das  Feld  ist  noch  so  wenig 
angebaut,  daß  es  für  viele  Versuche  Raum  bietet.  Der  eine  will  der  Jugend  durch 
Studientage  mit  oder  ohne  Aufsicht  helfen,  der  andere  mit  freien  Arbeiten,  ein 
dritter  mit  Schülervereinigungen;  daneben  gibt  es  Gruppensysteme  in  verschieden- 
artiger Zusammensetzung,  Selektenbildung,  Wahlfreiheit  zwischen  mehreren  Fächern, 
ja  selbst  das  Fachsystem  ist  der  Vergessenheit  wieder  entrissen  worden. 

Ich  sehe  es  nicht  als  meine  Aufgabe  an,  die  Frage  im  allgemeinen  zu  be- 
handeln und  das  Für  und  Wider  bei  den  mannigfachen  Vorschlägen  zu  erörtern, 
glaube  mich  vielmehr  im  wesentlichen  auf  die  am  Lyzeum  getroffene  Einrichtung 
beschränken  zu  sollen. 

Eine  Voraussetzung  muß  vorliegen,  will  man  bei  einem  Versuche  auf  Erfolg 
rechnen:  es  muß  Lust  und  Interesse  daran  unter  den  Kollegen  vorhanden  sein. 
Schon  im  Namen  der  neuen  Einrichtung  liegt  es,  daß  Zwang  oder  Druck  sich  da- 
mit schlecht  verträgt.  Jene  Voraussetzung  traf  bei  uns  zu,  das  erforderliche  Inter- 
esse war  da,  wie  sich  in  Unterhaltungen  und  bei  Besprechungen  in  der  Konferenz 
zeigte.  Zwei  Mitglieder  des  Kollegiums  sind  auch  literarisch  für  die  Sache  auf- 
getreten, die  Professoren  Hornemann  und  Budde,  deren  Aufsätze  den  Lesern,  zum 
Teil  wenigstens,  sicherlich  bekannt  geworden  sind.  Zudem  fand  sich  ein  er- 
mutigender Vorkämpfer  in  einem  Meister  der  Schule  und  der  Wissenschaft,  der 
uns  besonders  nahe  stand,  dem  früheren  Direktor  des  Lyzeums,  Heinrich  Ludolf 
Ahrens,  auf  dessen  im  Schulprogramm  von  1857  ausgesprochene  Gedanken  Hornemann 
in  einem  Aufsatze  in  den  Neuen  Jahrbüchern  1906  nachdrücklich  hinwies.  Ahrens 
beklagt  es  dort,  daß  die  freie  Selbsttätigkeit  auf  der  obersten  Stufe  der  Gymna- 
sien zu  wenig  gefördert  werde,  und  empfiehlt  als  Abhilfe  Selektalektionen  in 
verschiedenen  Unterrichtsfächern,  die  neben  dem  gewöhnlichen  Unterrichte  her- 
gehen sollen.  Hornemann  konnte  hinzufügen,  daß  er  mit  dem  Unterrichte  in  Se- 
lektakursen  schon  wiederholt  die  besten  Erfahrungen  gemacht  habe. 

So  lagen  wertvolle  Gedanken  und  Versuche  vor,  an  die  wir  anknüpfen  konnten 
und  gern  anknüpften. 

Nach  eingehenden  Erörterungen  in  der  Konferenz  war  bereits  ein  Plan  aus- 
gearbeitet, der  dem  Königlichen  Provinzial-Schulkollegium  eingereicht  werden  sollte, 
als  sich  mit  unserer  Absicht  eine  neue  sehr  beachtenswerte  Anregung  kreuzte.  Der 
Herr  Stadtdirektor  von  Hannover,  der  ebenso  wie  der  Herr  Stadtsyndikus,  Dezer- 
nent für  das  Schulwesen,  sich  lebhaft  für  eine  freiere  Gestaltung  des  Unterrichts 
interessierte,  trat  an  mich  heran  mit  dem  Wunsche,  im  Lyzeum  möge  ein  dahin- 
gehender Versuch  gemacht  werden,  bei  dem  die  Mathematik  in  den  oberen  Klassen 
wahlfreies  Unterrichtsfach  würde.  Ich  war  mir  darüber  klar,  daß  solche  Bestimmung 
ein  zu  starker  Eingriff  in  die  bestehenden  Verhältnisse  wäre  und  auch  mit  der 
Reifeprüfungsordnung   schwerlich   in  Einklang  gebracht  werden  könnte,   und  ver- 


Die  freiere  Gestaltung  des  UnterrfJhts  usw.  291 

faßte  meinerseits  eine  Denkschrift  für  den  Magistrat,  in  der  ich  die  Bewegungs- 
freiheit im  allgemeinen  behandelte  und  schließlich  unsern  oben  erwähnten  Plan 
besprach,  jedoch  ohne  ihn  als  den  einzig  möglichen  oder  wünschenswerten  hin- 
zustellen. Zu  diesem  Aufsatze  ist  dann  durch  Vermittlung  des  Herrn  Oberpräsi- 
denten, der  der  Sache  warme  Teilnahme  entgegenbrachte,  von  einem  —  inzwischen 
verstorbenen  —  Mitgliede  des  Königlichen  Provinzial-Schulkollegiums  ein  Gut- 
achten verfaßt,  und  nach  neuen  Beratungen  und  Verhandlungen  habe  ich  schließ- 
lich einen  Entwurf  eingereicht,  der  vom  Herrn  Minister  im  wesentlichen  genehmigt 
worden  ist. 

Ich  glaubte  das  Gesagte  vorausschicken  zu  sollen,  um  zu  zeigen,  wie  reiflich 
die  von  uns  getroffene  Einrichtung  erwogen  ist,  ehe  sie  wirklich  eingeführt  wurde; 
dies  gab  uris  von  vornherein  ein  gewisses  Gefühl  der  Sicherheit,  daß  wir  uns  nicht 
auf  einem  Irrwege  befänden.  Damit  verband  sich  die  Freude  über  das  Interesse, 
das  nicht  nur  die  Schulbehörde,  sondern  ebenso  der  Magistrat  für  den  pädagogi- 
schen Versuch  zeigte. 

Ich  lasse  nun  den  Entwurf  folgen,  zu  dem  ich  im  voraus  bemerke,  daß  der 
Name  Sonderunterricht  gewählt  ist,  um  ein  Bedenken  zu  zerstreuen,  das  im  Laufe 
der  Verhandlungen  geäußert  wurde,  nämlich  die  Teilnehmer  an  Selekten  oder 
Selektakursen  möchten  auf  diese  Bezeichnung  stolz  werden  und  sich  über  ihre 
Mitschüler  erhaben  dünken. 

Der  Entwurf  lautet  unter  Weglassung  einiger  inzwischen  bedeutungslos  ge- 
wordenen Stellen  folgendermaßen: 

1.  Neben  dem  lehrplanmäßigen  Unterrichte  wird  den  Primanern  Gelegenheit 
geboten,  an  Sonder-Unterrichtskursen  teilzunehmen,  und  zwar  sind  solche  Kurse 
in  Aussicht  genommen  für:  a)  philosophische  Propädeutik,  b)  Deutsch,  c)  die 
alten  Sprachen,  d)  die  neueren  Sprachen,  e)  Geschichte,  f)  Mathematik,  g)  Natur- 
wissenschaften. 

2.  Von  diesen  Kursen  treten,  soweit  es  im  Rahmen  des  gesamten  Schul- 
betriebes tunlich  erscheint,  in  jedem  Jahre  diejenigen  in  Tätigkeit,  für  die  sich  ge- 
eignete Schüler  finden  und  zu  deren  Leitung  sich  Mitglieder  des  Kollegiums 
bereit  erklären. 

Der  Unterricht  findet  in  je  zwei  Wochenstunden,  getrennt  für  Unter-  und  Ober- 
prima, statt.  Die  Stunden  werden  tunlichst  in  die  gewöhnliche  Unterrichtszeit  ge- 
legt. Soweit  das  nicht  geht,  finden  sie  außerhalb  derselben  statt,  und  es  können 
dann  die  beiden  für  ein  Fach  bestimmten  Stunden  zu  einer  P/a  bis  2  stündigen 
Unterrichtszeit  zusammengelegt  werden. 

3.  Wer  an  einem  Sonderkursus  teilnimmt,  wird  von  zwei  Stunden  mathe- 
matischen oder  von  zwei  bis  drei  Stunden  lateinischen  Unterrichts  befreit;  wer  an 
zwei  Kursen  teilnimmt,  von  je  zwei  Stunden  in  beiden  genannten  Fächern.  Auf 
die  Entlastung  kann  unter  Umständen  verzichtet  werden. 

4.  Über  die  Teilnahme  am  Sonderunterrichte  und  über  die  Entlastung  behält 
sich  die  Schule  in  jedem  einzelnen  Falle  das  Recht  der  Entscheidung  vor,  doch 
sollen  die  Wünsche  der  Schüler  bzw.  der  Eltern,  soweit  sie  nicht  nach  dem  Urteile 
der  Schule  dem  wahren  Interesse  der  ersteren  entgegenstehen,  weitherzige  Be- 
rücksichtigung findet). 

19» 


292  W.   Prinzhorn, 

5.  Es  ist  zunächst  in  Aussicht  genommen,  daß  die  Schüler,  die  in  Sonder- 
kursen unterrichtet  werden,  in  den  betreffenden  Fächern  mit  den  übrigen  an  dem 
lehrplanmäßigen  Unterrichte  teilnehmen. 

Sollte  sich  dieser  Versuch  durch  die  Erfahrung  nicht  als  zweckmäßig  erweisen, 
so  müßte  ein  anderer  Weg  eingeschlagen  werden. 

6.  In  den  Vierteljahrszeugnissen  wird  im  Lateinischen  und  in  der  Mathematik 
für  die  Leistungen  der  Schüler,  die  in  diesen  Fächern  entlastet  sind,  ein  ent- 
sprechend geringerer  Maßstab  zugrunde  gelegt,  ebenso  in  der  Reifeprüfung. 
Dafür  kommt  in  den  Fächern,  in  denen  sie  am  Sonderunterrichte  teilnehmen,  ein 
entsprechend  höherer  Maßstab  in  Anwendung.  Dies  wird  in  den  Reifezeugnissen 
und  den  an  Primaner  erteilten  Abgangszeugnissen  zutreffenden  Falles  bei  den 
Unterrichtsfächern  vermerkt. 

7.  Für  jeden  Sonder -Unterrichtskursus  erhält  der  betreffende  Leiter  eine 
Renumeration  von  300  M.  fürs  Jahr. 

Wie  schon  bemerkt,  lautete  der  Bescheid  des  Herrn  Ministers  zustimmend, 
abgesehen  von  einer  —  oben  fortgelassenen  —  Bestimmung  des  Entwurfes,  nach 
der  es  in  Ausnahmefällen  gestattet  sein  sollte,  einen  Primaner  von  einem  Unter- 
richtsfache ganz  zu  befreien  gegen  entsprechende  Ersatzleistungen  in  anderen 
Fächern;  dies  wurde  nach  der  Vereinbarung  mit  den  deutschen  Staatsregierungen 
über  die  gegenseitige  Anerkennung  der  Reifezeugnisse  als  unzulässig  bezeichnet. 
Weiter  heißt  es  in  dem  Ministerialerlasse:  „Ob  es  sich  empfiehlt,  diejenigen 
Schüler,  welche  den  Vollunterricht  in  Mathematik  oder  Latein  genießen,  mit  den- 
jenigen Schülern,  die  nicht  an  allen  Stunden  dieser  Fächer  teilnehmen,  gemeinsam 
zu  unterrichten,  erscheint  nicht  zweifelfrei.  Es  wird  deshalb  nötig  sein,  besondere 
Aufmerksamkeit  dieser  Frage  zuzuwenden  und,  falls  es  sich  als  notwendig  her- 
ausstellen sollte,  in  Mathematik  und  Latein  für  die  beiden  Schülergruppen  ge- 
trennten Unterricht  einzurichten. 

Erwünscht  erscheint  es  auch,  daß,  falls  im  Deutschen,  im  Griechischen  oder 
in  einer  neueren  Fremdsprache  ein  Sonderkursus  eingerichtet  wird,  die  Ent- 
lastung im  Lateinischen,  nicht  aber  in  Mathematik  gesucht  wird." 

Es  galt  nun,  die  Theorie  in  die  Praxis  umzusetzen.  Da  sich  der  Wunsch 
geltend  machte,  auch  den  zu  Ostern  1908  beginnenden  Jahrgang  der  Oberprima 
an  dem  Vorteile  der  neuen  Einrichtung  teilnehmen  zu  lassen,  so  blieb  der  Versuch 
nicht,  wie  ursprünglich  fürs  erste  Jahr  beabsichtigt  gewesen  war,  auf  die  Unter- 
prima beschränkt,  sondern  wurde  auf  beide  Primen  ausgedehnt.  Durch  ein  Rund- 
schreiben setzte  ich  den  Eltern  der  in  Frage  kommenden  Schüler  auseinander, 
um  was  es  sich  handle,  und  forderte  sie  auf,  die  Sache  mit  ihren  Söhnen  ernstlich 
zu  erwägen  und  der  Schule  ihre  etwaigen  Wünsche  mitzuteilen.  Mit  den  Schülern 
selbst  wurde  der  Plan  in  den  Klassen  besprochen. 

Indem  die  geäußerten  Wünsche  nach  Möglichkeit  berücksichtigt  wurden,  kam 
schließlich  folgendes  Resultat  zustande: 

In  der  Oberprima  traten  fünf  Sonderkurse  ins  Leben,  je  einer  für  philosophische 
Propädeutik  mit  fünf  Teilnehmern,  von  denen  einer  im  Herbste  nach  bestandener 
Reifeprüfung  abging,  für  Griechisch  mit  drei  Teilnehmern,  für  Englisch  mit  fünf 
Teilnehmern,  für  Geschichte  mit  fünf  Teilnehmern,    für  Mathematik   mit  drei  Teil- 


Die  freiere  Gestaltung  des  Unterrichts  usw.  293 

nehmern.  Wenn  ich  die  drei  zu  Michaelis  entlassenen  Oberprimaner  nicht  mit- 
rechne, so  beteiligten  sich  von  vierundzwanzig  Oberprimanern  im  ganzen  sechzehn, 
während  acht  bei  dem  lehrplanmäßigen  Gange  blieben.  Unter  jenen  sechzehn 
waren  acht  von  zwei  Stunden  lateinischen  Unterrichtes  befreit,  sechs  von  zwei 
Matheraatikstunden,  einer,  der  an  zwei  Kursen  teilnahm,  von  je  zwei  Latein-  und 
Mathematikstunden,  einer  verzichtete  mit  Genehmigung  der  Schule  auf  Entlastung. 
Drei  Schüler  nahmen  bei  Entlastung  in  einem  Fache  an  zwei  Kursen  teil,  einer 
wollte  ohne  jede  Entlastung  an  zwei  Kursen  teilnehmen,  das  wurde  ihm  jedoch 
nicht  gestattet. 

In  Unterprima  kamen  drei  Sonderkurse  zustande,  je  einer  für  Englisch  mit 
drei  Teilnehmern,  für  Geschichte  mit  vier  Teilnehmern,  für  Naturwissenschaft  mit 
vier  Teilnehmern.  Von  zwanzig  Unterprimanern  beteiligten  sich  zehn,  während 
die  andere  Hälfte  bei  dem  gewöhnlichen  Lehrplan  geblieben  ist.  Jene  zehn  waren 
auf  ihren  Wunsch  sämtlich  von  zwei  Stunden  Latein-Unterrichts  befreit;  ein 
Schüler  durfte  an  zwei  Kursen  teilnehmen  ohne  Entlastung  für  den  zweiten. 

Von  diesen  acht  Sonderkursen,  die  zu  Ostern  1908  eingerichtet  wurden, 
konnten  vier  in  die  gewöhnliche  Unterrichtszeit  gelegt  werden,  je  zwei  der  Ober- 
prima und  der  Unterprima,  die  übrigen  vier,  drei  der  Oberprima  und  einer  der 
Unterprima,  wurden  an  Nachmittagen  abgehalten,  und  zwar  je  an  einem  Nach- 
mittage in  anderthalb  Stunden. 

Wenn  ich  mich  nun  zu  den  Gegenständen  des  Sonderunterrichtes  und  ihrer 
Behandlung  wende,  so  muß  ich  dabei  natürlich  zu  gutem  Teile  die  Angaben,  die 
die  Leiter  der  Kurse  mir  gemacht  haben,  wiedergeben. 

Der  propädeutische  Unterricht  Inder  Philosophie  (Oberprima)  hatte  nicht 
das  Ziel,  die  Schüler  in  bestimmte  Gebiete  der  Philosophie,  wie  etwa  Logik  und 
Psychologie,  einzuführen,  auch  nicht,  ihnen  eine  bestimmte  Weltanschauung  zu 
übermitteln.  Er  wollte  sie  vielmehr  allgemein  zu  tieferem  Nachdenken  über 
Fragen  des  Lebens  und  der  Wissenschaft  anregen,  ihre  geistige  Regsamkeit  und 
Selbständigkeit  wecken,  ihre  Lust  und  Kraft  zu  eigenem  Prüfen  und  Urteilen 
fördern,  ihnen  zeigen,  wie  manche  Probleme,  die  die  höchsten  Interessen  der 
Menschheit  berühren,  von  der  Wissenschaft  nicht  gelöst  sind  und  auch  wohl  nie 
gelöst  werden  können,  kurz,  ihnen  eine  vorbereitende  Anleitung  dazu  geben,  in 
den  ernsten  Fragen,  die  an  den  Menschen  herantreten,  einen  festen  Standpunkt 
zu  gewinnen. 

Um  dieses  Ziel  zu  erreichen,  wurde  eine  Einführung  in  einige  Hauptprobleme 
der  Philosophie  im  Anschluß  an  Windelbands  Präludien  versucht.  Zuerst  wurde 
der  einleitende  Aufsatz  „Was  ist  Philosophie?"  gelesen  und  besprochen;  dann  die 
Frage  der  Willensfreiheit  im  Zusammenhang  mit  der  Lektüre  des  Aufsatzes 
„Normen  und  Naturgesetze"  behandeU.  Bedenken  gegen  Windelbands  Determinismus 
wurden  dargelegt  und  zur  freiwilligen  Lektüre  gab  der  Leiter  den  Schülern  Joels 
Schrift  „Der  freie  Wille",  nachdem  die  Auffassung  dieses  Philosophen  erläutert 
war.  Es  folgte  aus  den  Windelbandschen  Präludien  der  Aufsatz  „Vom  Prinzip 
der  Sittlichkeit",  dessen  wesentlicher  Inhalt  mit  den  Ansichten  Kants  und  Schillers, 
die  im  Unterricht  vorgekommen  waren,  verglichen  wurde.    Endlich  gab  der  Aufsatz 


294  W.  Prinzhorn, 

»Das  Heilige«    nebst    einigen    Stellen    aus    der    Schlußbetrachtung    „Sub    specie 
aeternitatis«  Veranlassung  zur  Einführung  in  das  religiöse  Problem. 

Für  jede  Stunde  hatten  die  Schüler  das  in  der  vorhergehenden  Stunde  Ge- 
lesene in  kurzer  Zusammenfassung  schriftlich  auszuarbeiten.  Zuletzt  wurde  ihnen 
als  Thema  eines  freiwilligen  „ Abschiedsaufsatzes "  gestellt:  «Die  Hauptbegriffe 
der  Ethik  Kants,  Schillers,  Windelbands  vergleichend  entwickelt.«  Zwei  Schüler 
bearbeiteten  dieses  Thema  mit  gutem  Erfolge,  von  denen  einer  am  Schluß  den 
Gedanken  als  allgemeines  Ergebnis  hinzufügte,  Kant  befriedige  am  meisten  sein 
ethisches,  Schiller  sein  ästhetisches,  Windelband  sein  logisches  Bewußtsein. 

Das  in  die  Reifezeugnisse  aufgenommene  Urteil  lautete  bei  zwei  Schülern  sehr 
gut,  bei  einem  gut,  beim  vierten  genügend. 

In  dem  griechischen  Sonderkursus  für  Oberprima  wurde  der  Gesichtskreis 
der  Teilnehmer  durch  Lektüre  griechischer  Dichtungen  erweitert,  die  im  Klassenunter- 
richte keinen  Raum  finden.  Der  größte  Teil  des  Jahres  war  den  Lyrikern  gewidmet,  und 
zwar  wurde  die  Auswahl  von  Biese  zugrunde  gelegt.  Solernten  die  Schüler  ein 
Gebiet  näher  kennen,  das  ihnen  sonst  fast  ganz  fremd  geblieben  wäre  und  doch 
großes  Interesse  bietet,  nicht  nur  an  sich,  sondern  auch  wegen  der  engen  Be- 
ziehungen zur  Lyrik  der  Römer.  Außerdem  wurde  ein  Äschyleisches  Drama  ge- 
lesen, nämlich  der  Prometheus,  Die  Lektüre  eines  Dramas  von  Äschylus  neben 
den  im  Unterrichte  behandelten  Sophokleischen  schien  zur  Einsicht  in  die  Ent- 
wicklung der  Tragödie  sehr  förderlich  und  ließ  zudem  das  Wissen  von  dem 
eigentlichen  Schöpfer  der  Tragödie  nicht  auf  seinen  Namen  und  seine  Teilnahme 
am  Kampfe  bei  Salamis  beschränkt  bleiben,  wie  das  doch  für  gewöhnlich  der  Fall 
ist.  Bei  längerer  Zeit  würde  zweckmäßig  auch  ein  Stück  von  Euripides  gelesen 
sein.  Für  die  Wahl  dieses  Sonderkursus  ist  bei  zwei  Teilnehmern  vermutlich  das 
in  Aussicht  genommene  Studium  mit  ins  Gewicht  gefallen,  und  es  will  mir  scheinen, 
als  ob  für  diese  beiden  künftigen  klassischen  Philologen  eine  eingehendere  Beschäf- 
tigung mit  dem  Griechischen  besonders  wertvoll  gewesen  sein  könnte;  denn  in 
der  griechischen  Sprache  und  Literatur  sind  die  angehenden  Studierenden  durch- 
weg wohl  weniger  bewandert,  als  im  Lateinischen.  Daß  von  einer  philologischen 
Behandlung  der  Lektüre  nicht  die  Rede  sein  kann,  brauche  ich  kaum  zu  erwähnen; 
die  soll  dem  Studium  vorbehalten  bleiben.  Dadurch  ist  natürlich  nicht  aus- 
geschlossen, daß  gelegentlich  eine  Frage  der  Überlieferung  oder  Kritik  etwas  ein- 
gehender besprochen  wird,  znmal  wenn  man  bei  den  Teilnehmern  auf  Interesse 
dafür  stößt. 

In  Geschichte  fand  je  ein  Sonderkursus  für  Oberprimaner  und  für  Unter- 
primaner statt;  bei  den  Teilnehmern  an  dem  erstgenannten  konnte  das  mit  den 
Unterprimanern  bearbeitete  Pensum  vorausgesetzt  werden,  da  es  mit  ihnen  im  vor- 
hergehenden Schuljahre  in  einer  privatim  eingerichteten  Selekta  für  Geschichte 
durchgenommen  war.  Der  Unterricht  hatte  den  Zweck,  die  Schüler  in  den  allge- 
meinen Zusammenhang  der  Kulturentwicklung  Deutschlands  einzuführen.  Als 
leitender  Gedanke  wurde  (mit  Lamprecht)  der  Übergang  von  vollkommener  Ge- 
bundenheit der  Persönlichkeit  zu  immer  größerer  Freiheit  angenommen  und  dar- 
nach sowohl  die  Periodenteilung  wie  die  Ausführung  im  einzelnen  gestaltet. 

Auf  die  Anhäufung  umfangreichen  Gedächtnisstoffes  sowie  auf  Einzelschilde- 


Die  freiere  Gestaltung  des  Unterrichts  usw.  295 

rungen  wurde  kein  Gewicht  gelegt;  alle  angeführten  Einzelheiten  sollten  nur  den 
allgemeinen  Gedanken  anschaulich  und  klar  machen. 

Jede  Epoche  wurde  nach  ihren  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnissen, 
nach  ihrem  künstlerischen  und  wissenschaftlichen  Leben,  nach  ihren  staatlichen 
Zuständen,  nach  ihrer  sittlichen  und  religiösen  Eigentümlichkeit  geschildert;  überall 
wurde  versucht  zu  zeigen,  welche  Mächte  die  Lösung  der  Persönlichkeit  förderten 
oder  hemmten,  und  worin  der  erreichte  Stand  der  Entwicklung  auf  allen  Kultur- 
gebieten sich  zeigte.  Besonders  ausführlich  wurde  in  dieser  Beziehung  der  Über- 
gang vom  Mittelalter  (d.  h.  dem  Zeitalter  der  gebundenen  Persönlichkeit)  zur 
Neuzeit  (d.  h.  dem  Zeitalter  der  befreiten  Persönlichkeit)  betrachtet. 

Der  Gegenstand  des  ersten  Jahres  des  Sonderunterrichts  war  die  Kultur- 
geschichte unseres  Volkes  bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters;  im  zweiten  Jahre 
kam  dazu  der  Übergang  zur  Neuzeit  und  diese  selbst  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts. Für  die  Behandlung  der  neuesten  Geschichte  (d.  Zeitalter  des  Sub- 
jektivismus) fehlte  leider  die  Zeit.  Jeder  Teilnehmer  lieferte  einen  Abschieds- 
aufsatz, in  welchem  ein  Thema  aus  der  deutschen  Kulturgeschichte,  meist  mit  sehr 
gutem  Erfolge,  bearbeitet  war.  Die  Themata  lauteten:  Loyola  und  sein  Orden. 
Das  Prinzip  der  Reformation  und  ihr  Einfluß  auf  die  Geschichte  der  europäischen 
Völker  im  16.  und  17.  Jahrh.  nach  Chr.  (nach  Dietrich  Schäfer).  Deutsches  Leben 
zur  Zeit  der  Reformation  (nach  Gustav  Freytag).  Die  Gliederung  der  wirtschaft- 
lichen Arbeit  und  deren  Einfluß  auf  die  soziale  Klassenbildung  (nach  Karl 
Bücher). 

Ich  komme  zu  den  beiden  englischen  Sonderkursen,  und  zwar  zunächst 
dem  für  die  Oberprimaner.  Die  fünf  Teilnehmer  wünschten  sämtlich,  nicht  Lektüre 
zu  treiben,  sondern  in  den  Gebrauch  der  Sprache  eingeführt  zu  werden,  und  der 
Leiter  erklärte  sich  bereit,  diesem  Wunsche  nachzukommen.  Dementsprechend 
wurde  auf  ein  dreifaches  Ziel  hingearbeitet: 

1.  Die  Aneignung  eines  möglichst  großen  Wort-  und  Phrasenschatzes,  der 
nicht  nur  der  Buchsprache  entnommen  wurde,  sondern  vor  allem  der  niederen  und 
höheren  Umgangssprache. 

2.  Gewöhnung  des  Ohres  an  den  fremden  Klang. 

3.  Gewöhnung  an  den  eigenen,  möglichst  glatten  und  fließenden  mündlichen 
Gebrauch  der  englischen  Sprache  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Erwerbung 
einer  möglichst  deutlichen  und  korrekten  Aussprache. 

Der  Stoff  wurde  entnommen  aus  Stiers  englisch-deutschem  Vokabular,  Berlitz, 
First  book  for  adults,  ferner  aus  englischen  Tageszeitungen  und  Texten  aus 
modernen  englischen  Schriftstellern. 

Die  Vokabeln  und  Phrasen  aus  dem  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  geord- 
neten Vokabular  wurden  mit  Auswahl  gelernt  und  dann  unter  Ausschaltung  der 
Muttersprache  durch  Fragen  des  Lehrers  und  durch  gegenseitiges  Fragen  der 
Schüler  festgelegt.  Dabei  wurde,  um  die  Teilnahme  zu  erhöhen,  das  persönliche 
Leben  der  Schüler  in  Schule,  Haus  und  Gesellschaft  möglichst  herangezogen. 

Ähnlich  wurden  die  in  dem  Berlitzschen  Buche  enthaltenen  Stoffe  benutzt. 

Bei  der  Behandlung  englischer  Tageszeitungen  kam  es  darauf  an,  den  Schülern 
die  ganze  Einrichtung   und   Stoffgruppierung   nahe   zu   bringen,  überhaupt  sie  in 


296  W.  Prinzhorn, 

einer  solchen  Zeitung  heimisch  zu  machen.  So  wurden  einzelne  Artikel,  die  be- 
sonderes Interesse  boten,  gelesen  und  besprochen  und  Tagesfragen,  die  den 
Schülern  schon  aus  deutschen  Zeitungen  bekannt  waren,  in  englische  Beleuchtung 
gerückt. 

Die  Texte  aus  modernen  englischen  Schriftstellern  endlich  sollten  hauptsächlich 
dazu  dienen,  die  Schüler  noch  mehr  zu  befähigen,  die  vorgesprochene  Fremd- 
sprache richtig  zu  hören  und  aufzufassen.  Zu  diesem  Zwecke  wurden  ganz  un- 
bekannte Texte  von  dem  Lehrer  ausgewählt  und  nach  Erklärung  unbekannter 
Vokabeln  von  dem  Lehrer  oder  einem  Schüler  diktiert. 

Mit  dem  Erfolge  war  der  Leiter  des  Kurses  recht  zufrieden. 

Ein  anderes  Ziel  verfolgte  der  englische  Sonderkursus,  der  in  Unter- 
prima begann,  aber  für  zwei  Jahrgänge  berechnet  ist;  nämlich  das  Einlesen  in  be- 
deutende englische  Autoren  und  dadurch  Einführung  in  die  englische  Geschichte, 
Poesie  und  Philosophie.  Daneben  auch  eine  gewisse  Geübtheit  im  freien  münd- 
lichen und  schriftlichen  Gebrauche  des  Englischen.  Die  Fähigkeit  mündlichen 
Ausdruckes  wurde  angestrebt  dadurch,  daß  während  des  Unterrichts  die  Mutter- 
sprache ausschied,  soweit  es  das  Verständnis  des  Inhaltes  zuließ,  denn  dieses  sollte 
nicht  durch  Rücksicht  auf  praktische  Sprechfertigkeit  beeinträchtigt  werden.  Aber 
wenn  der  Inhalt  sicher  verstanden  und  aufgefaßt  war,  wurden  Zunge  und  Ohr  geübt 
durch  Fragen  und  Antworten  und  kürzere  zusammenhängende  Referate  im  An- 
schlüsse an  die  Lektüre.  Alles,  was  sich  auf  den  äußeren  Gang  des  Unterrichts 
bezog,  wie  Auffordern  zum  Übersetzen  u.  dgl.,  wurde  in  englischer  Sprache  erledigt. 
Eine  gewisse  Geübtheit  im  freien  schriftlichen  Gebrauche  des  Englischen  wurde 
angestrebt  durch  Aufsätze  im  Anschluß  an  das  Gelesene. 

Im  verflossenen  Schuljahre  wurde  ein  allgemeiner  Überblick  über  die  englische 
Geschichte  von  ihren  Anfängen  bis  zur  Gegenwart  mit  Einschluß  der  Kolonial- 
geschichte gegeben  an  der  Hand  von  Chambers  Englisch  History  und  eine  ge- 
nauere Einführung  in  einen  Hauptabschnitt  der  englischen  Kolonialgeschichte  an 
der  Hand  von  Macaulay,  Lord  Clive;  für  das  Oberprimajahr  ist  die  Einführung  in 
die  Höhenlagen  der  englischen  Poesie  und  in  Gedanken  bedeutender  englischer 
Philosophen  in  Aussicht  genommen.  Der  Lehrer  war  mit  den  Erfolgen  sehr  zu- 
frieden und  hofft,  daß  die  Schüler  mit  Abschluß  des  Kursus  etwa  den  Bildungs- 
stand der  Abiturienten  des  Realgymnasiums  erreichen  werden. 

Das  Ziel  des  Sonderkursus  in  der  Mathematik  (Oberprima)  war  Einführung  in 
die  Differential-  und  Integralrechnung.  Zu  diesem  Zwecke  wurden  anfangs  graphische 
Darstellungen  von  ganzzahligen  rationalen  Funktionen  einer  Veränderlichen  verwandt; 
diese  dienten  auch  dazu,  algebraische  Gleichungen  höherer  Grade  annäherungsweise 
aufzulösen.  Daran  schloß  sich  die  Entwicklung  des  Begriffes  des  Differential- 
Quotienten  und  der  Differentiale,  sowie  die  Ableitung  der  wichtigsten  Differential- 
formeln. Ferner  wurden  die  Taylorsche  und  Mac  Laurinsche  Reihe  abgeleitet  und 
ihre  Anwendung  zur  Berechnung  der  goniometrischen  Funktionen,  der  Logarithmen 
und  der  Zahlen  e  und  tc  gezeigt,  ebenso  zur  Berechnung  der  Maxima  und  Minima. 

Der  Begriff  des  Integrals  wurde  als  Umkehrung  des  Differentials  eingeführt 
und  die  wichtigsten  Integralformeln  wurden  abgeleitet,  ferner  Integrationen  durch 
Substitution  durchgeführt   und  partielle  Integrationen.    Der  Begriff  des  bestimmten 


Die  freiere  Gestaltung  des  Unterricftts  usw.  297 

Integrals  wurde  abgeleitet  und  angewandt  zur  Rektifikation  und  Quadratur  ebener 
Kurven,  zur  Berechnung  der  Oberflächen  und  Rauminhalte  von  Rotationskörpern, 
zu  Schwerpunktsbestimmungen  und  zur  Berechnung  von  Trägheitsmomenten.  Der 
Gang  des  Unterrichtes  richtete  sich  im  wesentlichen  nach  Lesser,  Einführung  in 
die  Infinitesimalrechnung.  Die  Teilnehmer  haben  mit  Lust  und  Eifer  gearbeitet 
und  es  zu  erfreulichen  Leistungen  gebracht. 

An  dem  Sonderkursus  in  Chemie  nahmen  vier  Unterprimaner  teil.  Der 
Unterricht  sollte  den  Schülern  Kenntnis  und  Verständnis  der  wichtigsten  Vorgänge 
und  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  anorganischen  Chemie  und  im  Anschluß 
daran  Einsicht  in  die  allgemeinen  Gesetze  und  Regeln,  nach  denen  die  chemischen 
Prozesse  vor  sich  gehen,  verschaffen.  Der  Unterricht  wurde  so  erteilt,  daß  die 
Schüler  die  Versuche  selbst  anstellten,  meistens  jeder  für  sich  allein,  bisweilen,  ins- 
besondere bei  umständlicheren  Versuchen,  je  zwei  zusammen  arbeitend.  Sie  mußten 
darüber  Buch  führen  und  wurden  angehalten,  sorgfältig  zu  beobachten  und  aus 
dem  Beobachteten  vorsichtig  Schlüsse  zu  ziehen. 

Da  aus  dem  Klassenunterrichte  nur  geringe  Kenntnisse  mitgebracht  wurden, 
so  mußte  anfangs,  um  nicht  allzu  langsam  weiter  zu  kommen,  der  Leiter  öfter 
theoretische  Erörterungen  geben;  da  aber  der  Kursus  sich  über  zwei  Jahre  er- 
strecken soll,  so  ist  zu  erwarten,  daß  im  zweiten  Jahre  die  eigene  Tätigkeit  der 
Schüler  noch  mehr  hervortreten  wird.  Bislang  sind  behandelt  die  Elemente,  ihre 
binären  Verbindungen,  Hydrate  und  einige  Salze,  daneben  stöchiometrische  Be- 
ziehungen und  Rechnungen.  Der  Kursleiter  hofft,  daß  es  gelingen  wird,  gegen 
Ende  des  Kursus  auch  einige  Kapitel  der  organischen  Chemie,  soweit  sie  biologi- 
sche Bedeutung  haben,  zu  behandeln. 

Anfangs  machten  sich  Mangel  an  Handfertigkeit  und  Ordnungssinn  störend 
bemerkbar,  doch  wurde  es  damit  allmählich  besser.  Die  Schüler  liebten  es  durch- 
weg mehr,  neue  Versuche  anzustellen,  als  aus  den  angestellten  Schlüsse  und  Re- 
sultate zu  ziehen,  arbeiteten  aber  durchweg  mit  Lust  und  Interesse. 

Ich  hoffe  durch  diese  Darlegungen  die  Geduld  der  Leser  nicht  über  Gebühr 
in  Anspruch  genommen  zu  haben.  Sollte  einmal  der  am  Lyzeum  unternommene 
Versuch  behandelt  werden,  so  schien  es  mir  richtig,  nicht  nur  Umrisse  zu  ziehen, 
sondern  diese  auch  mit  einigen  Linien  auszufüllen. 

An  die  Mitteilung  des  Tatsächlichen  schließe  ich  eine  Erörterung  über  die 
Gründe,  die  uns  gerade  zu  dieser  Gestaltung  der  Bewegungsfreiheit  geführt  haben, 
und  über  andere  Fragen,  die  damit  zusammenhängen ;  dabei  werden  auch  Vorteile 
und  Nachteile  der  Einrichtung  hervortreten. 

An  die  Spitze  möchte  ich  das  Prinzip  stellen,  das  uns  bei  unseren  Maßnahmen 
geleitet  hat:  wir  woHten  Freiheit  gewähren,  soweit  das  im  Rahmen  der  Schule 
irgend  möglich  war. 

Deshalb  haben  wir  zunächst,  abweichend  von  anderen  Anstalten,  den  Schülern 
den  lehrplanmäßigen  Weg  offen  gehalten.  Er  ist  doch  nun  einmal  der  gewohnte 
und  gebahnte,  und  die  Freiheit,  auf  anderen  Wegen  zu  gehen,  würde  etwas  Ge- 
zwungenes haben,  wenn  man  den  Hauptweg  versperren  wollte.  Erschien  seine 
Freihaltung  an  sich  als  recht  und  billig,  so  sprach  dafür  auch  die  Erfahrung,  daß 
manche  Schüler   nach   keiner  Seite   hin    eine   so   ausgesprochene  Begabung   oder 


298  W.  Prinzhorn, 

Neigung  haben,  um  deshalb  die  Bildung,  die  sie  nach  dem  lehrplanmäßigen  Unter- 
richte erwerben  können,  in  einer  Richtung  zu  beschränken.  Bei  anderen  liegt  die 
Begabung  auf  künstlerischem  Gebiete  und  kann  von  der  Schule  nicht  entsprechend 
gepflegt  werden,  wieder  andere  können  doppeltes  Futter  brauchen  und  ohne  Ent- 
lastung ihren  besonderen  Interessen  nachgehen.  Der  Erfolg  hat  uns  bis  jetzt  recht 
gegeben,  denn  von  beiden  Primen  wollte  ein  erheblicher  Teil  —  in  der  Unterprima 
die  Hälfte  —  auf  dem  lehrplanmäßigen  Wege  bleiben. 

Aus  dem  vorangestellten  Prinzip  folgt  zweitens,  daß  die  Fächer,  die  den 
Schülern  zur  Auswahl  geboten  werden,  möglichst  zahlreich  sein  müssen,  soll  anders 
der  Hauptzweck,  die  Schüler  ihrer  eigenen  Begabung  und  Neigung  entsprechend 
über  das  gewöhnliche  Ziel  der  Schule  hinaus  zu  fördern  und  dadurch  zu  freier 
und  freudiger  Selbsttätigkeit  anzuregen,  erreicht  werden.  Mag  man  auch  mit  Recht 
zwei  oder  drei  Hauptgruppen  von  Anlagen  aufstellen,  so  zeigen  sich  innerhalb 
dieser  Gruppen  doch  wieder  erhebliche  Verschiedenheiten,  und  noch  mehr  gehen 
die  Interessen  auseinander,  die  nicht  immer  allein  durch  die  Beanlagung  bedingt 
zu  sein  brauchen,  sondern  auch  in  dem  Lebenskreise,  in  dem  der  einzelne  auf- 
gewachsen ist,  oder  in  guten  Erfolgen  auf  den  früheren  Unterrichtsstufen  oder  in 
dem  erwählten  Lebensberufe  ihren  Grund  haben  können.  Der  eine  fühlt  sich  von 
der  Naturwissenschaft  angezogen,  ohne  darum  ein  Jünger  des  Euklid  zu  sein,  ein 
anderer  wünscht  seine  Kraft  besonders  einer  der  modernen  Fremdsprachen  zu 
widmen,  während  er  sich  mit  der  Sprache  Ciceros  nur  beschäftigt,  weil  er  muß. 
Gerade  den  eigenen  Neigungen  und  Wünschen  der  Schüler  aber  wollten  wir  ent- 
gegenkommen und  haben  deshalb  den  Kreis  der  Sonderfächer  möglichst  weit  ge- 
zogen. Jeder  Wunsch  kann  natürlich  doch  nicht  erfüllt  werden,  das  ist  hier  so, 
wie  überall  in  der  rauhen  Wirklichkeit  des  Lebens,  aber  es  schien  uns  richtig,  den 
Schülern  so  weit  entgegenzukommen,  wie  es  die  Verhältnisse  gestatten.  Man 
könnte  vielleicht  daran  denken,  auch  das  Zeichnen  unter  die  Sonderfächer  einzu- 
reihen; sein  Wert  für  die  Bildung  im  allgemeinen  und  für  bestimmte  Berufe  wird 
heute  weit  höher  eingeschätzt,  als  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten,  und  wenn  die 
Teilnahme  am  Zeichnen  durch  eine  Entlastung  auf  anderem  Gebiete  aufgewogen 
würde,  so  läge  darin  vermutlich  ein  stärkerer  Anreiz,  als  in  den  Aufforderungen 
und  Empfehlungen  der  Schule.  Ich  bemerke  übrigens,  daß  mir  dieser  Gedanke 
erst  bei  der  Ausarbeitung  des  Vortrages  gekommen  ist;  mag  er  auf  den  ersten 
Blick  etwas  Ungewohntes  haben,  so  scheint  er  mir  immerhin  diskutabel  zu  sein. 
Auch  Kunstgeschichte  als  Sonderfach  würde  meine  volle  Zustimmung  finden,  vor- 
ausgesetzt, daß  ein  geeigneter  Lehrer  vorhanden  ist;  denn  die  Kunst  wird  meiner 
Meinung  nach  auf  den  höheren  Schulen  stiefmütterlich  behandelt. 

Drittens  soll  möglichst  große  Freiheit  herrschen  im  Sonderunterrichte  selbst. 
Über  den  zu  behandelnden  Stoff  und  die  Art  der  Behandlung  sollen  nicht  im 
voraus  Pläne  festgelegt  und  Vorschriften  aufgestellt  werden,  sondern  der  Leiter 
des  Kursus  soll  darüber  selbst  befinden,  nachdem  er  sich  mit  den  Teilnehmern 
besprochen  und  ihre  etwaigen  Wünsche  gehört  hat.  Bei  der  geringen  Zahl  der 
zu  Unterrichtenden  kann  man  wirklich  auf  geäußerte  Wünsche  eingehen,  und  eine 
solche  Rücksichtnahme  entspricht  durchaus  dem  Sinne  der  ganzen  Einrichtung. 
Selbstverständlich  will  ich  damit  nicht  einem  willkürlichen  Hin-  und  Herschwanken 


Die  freiere  Gestaltung  des  Unterricftts  usw.  299 

und  -Tasten  ohne  festes  Ziel  das  Wort  reden;  aber  eben  das  Ziel  kann  ver- 
schieden bestimmt  werden,  und  zu  demselben  Ziele  können  verschiedene  Wege 
führen.  Darüber  muß  die  Einsicht  und  Umsicht  des  Leiters  entscheiden,  der  die 
Freiheit  schon  nicht  ausarten  lassen  wird,  und  schließlich  findet  diese  ihre  Grenze 
an  dem  Bannkreise  der  Schule,  den  auch  die  Wellen  der  Bewegungsfreiheit  nicht 
überfluten  dürfen. 

Eine  so  ausgedehnte  Wahlfreiheit  wie  bei  den  Gegenständen  der  Sonderkurse 
kann  in  bezug  auf  die  Entlastung  nicht  gewährt  werden.  Um  mich  nicht  in  weit- 
läufige Einzelbetrachtungen  zu  verlieren,  möchte  ich  hier  zusammenfassend  sagen, 
daß  nach  unserer  Ansicht  die  Religionslehre,  die  deutsche  Sprache,  die  neueren 
Fremdsprachen,  die  Geschichte  und  Erdkunde,  die  Naturwissenschaft  als  Ent- 
lastungsfächer —  wenn  ich  diesen  Ausdruck  gebrauchen  darf  —  nicht  in  Betracht 
kommen,  teils  wegen  ihres  ethischen  Bildungswertes,  teils  wegen  ihrer  Bedeutung 
für  die  sogenannte  allgemeine  Bildung.  Vielleicht  werden  nicht  alle  Kollegen  diese 
Ansicht  in  vollem  Umfange  teilen.  Insbesondere  könnte  eingeworfen  werden,  daß 
ja  das  Englische  in  den  preußischen  Provinzen  außer  Hannover  fakultativer  Lehr- 
gegenstand ist  und  daher  in  erster  Linie  zur  Entlastung  heranzuziehen  sei;  ich 
würde  darauf  erwidern,  daß  ich  schon  wegen  unserer  politischen,  wirtschaftlichen 
und  Verkehrsverhältnisse  einige  Kenntnis  des  Englischen  auch  für  den  Gymnasial- 
abiturienten als  höchst  wünschenswert  ansehe  und  mich  darüber  gewundert  habe, 
daß  es  in  den  letzten  Lehrplänen  nicht  auch  in  den  übrigen  Provinzen  unter  die 
verbindlichen  Lehrfächer  eingereiht  ist. 

Es  bleiben  übrig  die  lateinische  Sprache,  die  griechische  Sprache  und  die 
Mathematik.  Von  diesen  drei  Lehrfächern  haben  wir  das  Griechische  nicht  ange- 
tastet. Nicht  etwa,  weil  wir  es  an  sich  höher  einschätzten  als  die  beiden  andern; 
aber  es  setzt  im  Vergleich  mit  dem  Lateinischen  recht  spät  ein,  und  seine  wert- 
vollsten Früchte  reifen  erst  in  der  Prima,  so  daß  es  unverhältnismäßig  viel  an 
Wert  einbüßen  würde,  wenn  man  die  Unterrichtszeit  in  Prima  verkürzte.  Lieber 
würde  ich  es  dann  für  den  einen  oder  anderen  Schüler,  dem  es  Plage  statt  Wohl- 
tat ist,  ganz  aufgeben  und  durch  andere  Lehrstoffe  zu  ersetzen  suchen,  aber  diese 
Möglichkeit  ist  uns  nicht  zugebilligt  worden. 

Somit  mußten  das  Lateinische  und  die  Mathematik  den  höheren  Zwecken  ge- 
opfert werden. 

Das  Lateinische  kann  ohne  Frage  eine  Verkürzung  in  der  Prima  eher  ver- 
tragen als  das  Griechische,  da  es  von  Sexta  an  mit  Nachdruck  betrieben  wird  und 
sein  bildender  Einfluß  sich  auch  in  den  unteren  und  mittleren  Klassen  aufs 
kräftigste  geltend  macht.  Es  hätte  nahe  gelegen,  die  lateinischen  Grammatik- 
stunden zur  Entlastung  heranzuziehen,  wie  es  z.  B.  in  Strasburg  geschieht,  wo  dann 
die  betreffenden  Abiturienten  eine  Übersetzung  aus  dem  Lateinischen  statt  in  das 
Lateinische  zu  liefern  haben.  Hiervon  hielt  uns  einmal  die  Überzeugung  zurück, 
daß  die  grammatischen  Übungen  höchst  wertvoll  sind,  auch  in  der  Prima,  wo  sie 
den  Schüler  mehr  noch  als  in  anderen  Klassen  zu  scharfer  Auffassung  der  Unter- 
schiede in  der  Anschauungs-  und  Ausdrucksweise  beider  Sprachen,  zum  Umdenken 
und  Umformen  nötigen.  Sie  sind  durch  das  Übertragen  aus  der  fremden  Sprache, 
bei  dem  die  Muttersprache  die  Einkleidung  der  Gedanken  sozusagen  fertig  liefert, 


300  W.  Prinzhorn, 

schwerlich  zu  ersetzten.  Und  der  lateinische  Unterricht  ist  der  einzige,  in  dem  sie 
wirklich  bis  oben  hin  energisch  betrieben  werden.  Auch  in  den  Lehrplänen  von 
1901  hat  die  Wertschätzung  des  grammatischen  Unterrichtes  deutlichen  Ausdruck 
gefunden  in  der  Verdoppelung  der  für  ihn  in  den  oberen  Klassen  bestimmten 
Zeit.*) 

Ein  Bedenken  kam  hinzu,  das  von  Gegnern  der  Bewegungsfreiheit  stark  be- 
tont und  auch  meiner  Überzeugung  nach  nicht  ohne  weiteres  von  der  Hand  zu 
weisen  ist,  die  Gefahr  nämlich,  daß  die  Bewegungsfreiheit  von  weniger  eifrigen 
Schülern  anders  aufgefaßt  und  benutzt  wird,  als  die  Schule  beabsichtigt,  und  so 
dazu  dienen  könnte,  die  Leistungen  noch  mehr  herunterzudrücken,  als  es  nach 
der  Ansicht  vieler  bereits  geschehen  ist  und  noch  fortgesetzt  von  manchen 
Seiten  versucht  wird.  Eine  solche  Gefahr  kann  in  der  Tat  unter  Umständen  ein- 
treten, am  ersten  in  einer  größeren  Stadt,  in  der  die  Beobachtung  der  Schüler 
seitens  der  Schule  sich  im  wesentlichen  auf  die  Unterrichtszeit  beschränkt.  Des- 
halb wollten  wir  den  bahnbrechenden  Strasburger  Plan  nicht  nachahmen,  nach  dem 
die  Primaner  alle  von  zwei  Unterrichtsstunden  befreit  sind  und  diese  Entlastung 
durch  freigewählte  Arbeiten  ausgleichen  sollen.  In  Strasburg  hat  sich  diese  Ein- 
richtung bewährt,  aber  sie  ohne  weiteres  in  andere  Verhältnisse  zu  übertragen 
wäre  doch  bedenklich.  Unsere  Primaner  arbeiten  nach  der  Ansicht  des  weit  über- 
wiegenden Teiles  des  Kollegiums  zu  Hause  im  Durchschnitt  keineswegs  zu  viel, 
eher  zu  wenig,  und  bedürfen  einer  Erleichterung  in  dieser  Richtung  nicht.  Ge- 
wiß, die  Stundenzahl  ist  reichlich  groß,  namentlich  für  die,  die  von  der  Muse  des 
Gesanges  begnadet  sind  und  womöglich  noch  dazu  am  Zeichnen  oder  am  hebräi- 
schen Unterrichte  teilnehmen,  und  wenn  eine  Verminderung  der  Stunden  statt- 
finden könnte  unter  gleichzeitiger  sicherer  Erhöhung  der  Selbsttätigkeit,  so  würde 
ich  mit  Freuden  zustimmen.  Aber  leider  gibt  es  neben  tüchtigen  und  eifrigen  so 
viele  Schüler,  denen  es  in  erster  Linie  gar  nicht  darauf  ankommt,  etwas  Ordent- 
liches zu  lernen,  sondern  nur,  die  Schule  durchzumachen,  und  je  weniger  An- 
strengung sie  dazu  nötig  haben,  desto  lieber  ist  es  ihnen.  Um  diesen  Elementen, 
die  einen  gar  nicht  unerheblichen  Prozentsatz  bilden  dürften,  keine  neue  Hand- 
habe zur  Bequemlichkeit  zu  geben  und  dadurch  indirekt  auch  die  Leistungen  im 
ganzen  zu  drücken,  scheuten  wir  uns  davor,  die  Möglichkeit  zur  gleichzeitigen  Be- 
freiung vom  lateinischen  Grammatikunterrichte  und  von  der  Hälfte  des  Mathe- 
matikunterrichtes zu  bieten.  Denn  gerade  in  diesen  beiden  Fächern  bedarf  es 
energischer  eigener  Anstrengung,  um  Erfolge  zu  erzielen  und  den  Anforderungen 
der  Schule  gerecht  zu  werden.  So  haben  wir  eine  Befreiung  von  einem  Teile 
der  lateinischen  Lektüre  eintreten  lassen;  aber  die  Bestimmung  in  dem  Entwürfe 
ist  so  allgemein  gefaßt,  daß  wir,  wenn  wir  wollen,  auch  den  Grammatikunterricht 
zur  Entlastung  benutzen  können.  Daß  von  der  Lektüre  zusammenhängende  Stücke 
ausgeschaltet  werden  müssen,  halte  ich  für  selbstverständlich  und  erwähne  es  hier 
nur,  weil  in  den  Verhandlungen  darüber  doch  auch  der  Gedanke  an  eine  andere 
Möglichkeit   auftauchte,    an    eine  Entlastung  nämlich  in  der  Weise,   daß   die   be- 

*)  Wie  erfreulich  der  Erfolg  dieser  Maßregel  gewesen  ist,  zeigen  die  Gutachten  der 
Wissenschaftlichen  Prüfungskommissionen  über  die  vor  Ostern  1908  angefertigten  lateinischen 
Reifeprüfungsarbeiten. 


Die  freiere  Gestaltung  des  Unterrichts  usw.  301 

treffenden  Schüler  z.  B.  heute  bei  der  Horaz-  oder  Cicerolektüre  fehlten  und  in 
der  nächsten  Stunde  doch  wieder  daran  teilnähmen.  Mir  erscheint  ein  solcher 
Weg  ausgeschlossen,  wofür  ich  die  Gründe  hier  wohl  nicht  näher  darzulegen 
brauche.  Im  letzten  Schuljahre  ist  für  die  Oberprimaner  die  Horazlektüre  aus- 
gefallen, weil  sie  diesen  Dichter  schon  in  der  Unterprima  kennen  gelernt  hatten 
und  der  Lateinlehrer  die  Lektüre  von  Ciceronischen  Briefen  für  förderlicher  hielt. 
Darüber  kann  man  natürlich  verschieden  denken,  auch  unter  Umständen  im  Laufe 
des  Jahres  einen  Wechsel  eintreten  lassen,  nur  muß  daran  festgehalten  werden, 
daß  alle  Schüler  mit  Horaz  und  Tacitus  bekannt  werden.  So  haben  in  der  letzten  Unter- 
prima die  Entlasteten  im  Sommerhalbjahre  an  der  Horazlektüre,  nicht  aber  an  der 
von  Ciceros  Briefen  teilgenommen;  im  Winterhalbjahre  waren  sie  dagegen  von 
der  Horazlektüre  befreit  und  an  der  Tacituslektüre  beteiligt. 

Über  die  Verteilung  des  mathematischen  Lehrstoffes  auf  die  beiden  Gruppen 
der  Entlasteten  und  Nichtentlasteten  ist  seinerzeit  ein  Plan  aufgestellt  und  dem 
Entwürfe  zur  Erläuterung  beigegeben.  Danach  werden  alle  Schüler  in  den  ersten 
drei  Quartalen  der  Unterprima  in  die  Stereometrie  eingeführt,  im  letzten  Quartale 
in  die  arithmetischen  und  geometrischen  Reihen,  sowie  die  Zinseszins-  und  Renten- 
rechnung; für  die  Vollmathematiker  geht  daneben  her  eine  Erweiterung  der  Trigo- 
nometrie, stereometrisches  Zeichnen,  Kombinatorik  und  Wahrscheinlichkeitslehre, 
Koordinatengeometrie  und  Grundlehren  von  den  Kegelschnitten.  In  Oberprima 
sollen  die  Halbmathematiker  nur  in  der  Arithmetik  und  Algebra  weitergebracht  und 
dann  durch  Wiederholungen  aus  allen  Gebieten  in  dem  Erlernten  befestigt  werden, 
während  für  die  Volimathematiker  noch  die  übrigen  in  den  Lehrplänen  vorgeschrie- 
benen Stoffe  hinzukommen. 

Es  erhebt  sich  hier  naturgemäß  die  Frage,  welche  Erfahrungen  mit  dem  ge- 
meinschaftlichen Unterrichte  der  Schülergruppen  gemacht  sind,  und  ob  der  zu- 
nächst eingeschlagene  Weg  als  der  richtige  festgehalten  werden  kann.  Das  Urteil 
darüber  wird  zwar  durch  die  Kürze  der  Versuchszeit  an  Umfang  und  Sicherheit 
beschränkt  und  kann  natürlich  auch  erheblich  beeinflußt  werden  durch  Stoff  und 
Art  des  Sonderunterrichts,  doch  will  ich,  was  ich  darüber  glaube  sagen  zu  können, 
nicht  zurückhalten. 

Der  philosophisch-propädeutische  und  der  geschichtliche  Kursus  können  nur 
befruchtend  auf  den  Unterricht  der  gesamten  Klasse  einwirken,  dem  das  größere 
Interesse  und  Verständnis  einzelner  Schüler  für  philosophische  Fragen  oder  Kultur- 
verhältnisse bei  manchen  Gelegenheiten  Anregung   und  Förderung   bringen    muß. 

Im  lateinischen  Unterrichte  hat  die  Gruppenbildung  keinerlei  Schwierigkeit 
gemacht,  ebensowenig  im  Griechischen,  denn  die  Zahl  der  ausfallenden  oder  hin- 
zukommenden Stunden  war  nicht  so  groß,  daß  der  Bildungsunterschied  im  gemein- 
samen Unterrichte  irgendwie  störend  empfunden  wäre.  Anders  steht  es  im  Eng- 
lischen. Zwar  nicht  in  der  Oberprima,  wo  der  Sonderkursus  mit  dem  Ziele  der 
Fertigkeit  im  Gebrauche  der  Umgangssprache  und  den  dazu  angewandten,  oben 
genannten  Mitteln  ohne  Beeinträchtigung  für  beide  Teile  neben  dem  Klassenunter- 
richte hergehen  konnte,  der  in  der  Hauptsache  doch  ein  anderes  Ziel  verfolgt. 
Dagegen  ist  der  Leiter  des  englischen  Sonderkursus  der  Unterprima  allerdings  der 
Ansicht,  daß  Ziel  und  Art  dieses  Unterrichtes  eine  völlige  Trennung  der  Teilnehmer 


302  W.  Prinzhorn,  Die  freiere  Gestaltung  des  Unterrichts  usw. 

von  den  übrigen  Schülern  bei  weiterem  Fortschreiten  wünschenswert  machen 
würde. 

Im  Mathematikunterrichte  der  Oberprima  bestanden  drei  Gruppen,  eine  der 
Sonderkursisten  mit  6  Stunden,  eine  mittlere  mit  4  Stunden  und  eine  der  Ent- 
lasteten mit  2  Stunden;  in  diesen  2  Stunden  trafen  alle  drei  Gruppen  zusammen. 
Trotzdem  haben  sich  nach  dem  Urteile  des  Lehrers  aus  dem  gemeinsamen  Unter- 
richte keine  Nachteile  ergeben,  doch  ist  hierbei  zu  berücksichtigen,  daß  sich  jene 
Teilung  nur  auf  das  eine  letzte  Schuljahr  erstreckte.  Ob  die  Vereinigung  der  ver- 
schiedenen Gruppen  auch  während  der  beiden  Primajahre  unbedenklich  wäre, 
darüber  zu  entscheiden  müssen  wir  der  Zukunft  überlassen,  deren  Erfahrungen 
wir  gern  beherzigen  wollen. 

Erwähnen  möchte  ich  hier,  daß  bei  der  Reifeprüfung  zwei  mathematische 
Aufgaben  für  alle  Schüler  gemeinsam  gestellt  wurden;  bei  den  beiden  anderen 
wurden  die  Schüler  mit  verkürzter  Unterrichtszeit  von  den  übrigen  getrennt, 
und  von  diesen  bekamen  wieder  die  mathematischen  Sonderkursisten  eine  Auf- 
gabe allein. 

Durch  eine  weitergehende  Trennung  in  dem  einen  oder  anderen  Fache  würden 
die  Schwierigkeiten  natürlich  wachsen,  und  es  könnte  insbesondere  der  Vorteil 
verloren  gehen,  daß  der  Lehrer,  der  den  Klassenunterricht  erteilte,  auch  der  Leiter 
des  Sonderkursus  wäre.  Denn  unter  Umständen  würden  die  Stunden  der  ver- 
schiedenen Abteilungen  in  mehrere  Hände  gelegt  werden  müssen. 

Dadurch  würde  auch  der  Punkt  berührt,  den  ich  doch  hier  nicht  ganz  mit 
Stillschweigen  übergehen  darf,  der  Geldpunkt.  Die  Kurse  bringen  für  die  Leiter 
eine  nicht  unerhebliche  Arbeit,  und  so  schien  es  recht  und  billig,  wenn  dafür  eine 
Entschädigung  gezahlt  würde.  Wir  hielten  das  für  um  so  wünschenswerter,  da 
der  Erfolg  großenteils  von  dem  Interesse  und  der  Hingabe  der  Leiter  abhängt, 
und  glaubten  deshalb  alles  vermeiden  zu  sollen,  was  die  Freudigkeit  bei  der  über- 
nommenen Aufgabe  beeinträchtigen  könnte.  Ich  gebe  unbedingt  zu,  daß  es  idealer 
wäre,  die  Arbeit  ohne  Entgelt  zu  leisten,  aber  man  muß  doch  auch  hier  mit  den 
Verhältnissen  rechnen,  wie  sie  nun  einmal  sind,  und  danach  dürfte  der  eingeschla- 
gene Weg  richtig  sein. 

Die  Stadtverwaltung  hat  sich  dankenswerterweise  ohne  Zögern  bereit  erklärt, 
ihr  Interesse  auch  praktisch  zu  betätigen  und  die  erwachsenden  Kosten  zu  tragen, 
so  daß  die  finanzielle  Frage  keine  Schwierigkeiten  gemacht  hat.  Außer  dem  Honorar 
für  die  Leiter  der  Kurse  wurde  auch  eine  Summe  von  200  Mark  für  Beschaffung 
der  notwendigen  Unterrichtsmittel  in  Chemie  ohne  Anstand  bewilligt,  so  daß  die 
Gesamtkosten  im  verflossenen  Schuljahre  2600  Mark  betragen  haben.  Das  ist  zwar 
keine  hohe  Summe  im  Verhältnis  zum  ganzen  Schuletat,  aber  immerhin  wird  die 
Tatsache,  daß  die  Einrichtung  überhaupt  Kosten  erfordert,  nicht  gerade  zur  Emp- 
fehlung dienen. 

Diesem  Nachteile  steht  aber  der  bedeutende  Vorzug  der  Mannigfaltigkeit  des 
Sonderunterrichts  und  die  dadurch  den  Schülern  gebotene  große  Wahlfreiheit 
gegenüber.    Darin  liegt  überhaupt  das  Charakteristische  des  Versuches. 

Und  wenn  man  einmal  zugibt,  daß  es  wünschenswert  ist,  in  der  Prima  auf 
die  Neigung  und  Begabung  der  Schüler  mehr  einzugehen,  als  es  im  gewöhnlichen 


I 


A.  Tilmann,  Kurse.       •  303 

Gange  des  Unterrichts  geschehen  kann,  so  wird  eine  Vielseitigkeit  des  Angebotes 
jener  Forderung  am  besten  entsprechen. 

Soweit  ich  weiß,  hat  auch  die  Einrichtung  bei  Eltern  und  Schülern  Anerkennung 
und  Zustimmung  gefunden. 

Ich  bin  damit  zum  Schlüsse  meiner  Ausführungen  gekommen.  Allzugroß  ist 
die  Freiheit  nicht,  die  den  Schülern  der  obersten  Klasse  gewährt  wurde,  aber 
immerhin  kann  schon  die  Tatsache  selbst  und  das  Bewußtsein  der  Schüler,  ihre 
Kraft  auch  einmal  an  selbstgewählte  Arbeit  setzen  zu  können,  einen  erfrischenden 
Einfluß  auf  ihre  Lust  und  Tätigkeit  ausüben. 

Mag  längere  Erfahrung  neue  Belehrung  und  die  Zukunft  freiere  Formen  des 
Unterrichts  bringen,  die  die  Selbsttätigkeit  und  eigene  Kraft  der  Schüler  stärker 
zur  Entfaltung  kommen  lassen  und  sie  auf  die  Hochschule  und  das  Leben  besser 
vorbereiten,  als  es  nach  der  Ansicht  mancher  jetzt  geschieht,  einstweilen  haben 
wir  es  mit  bescheidenen  Anfängen  zu  tun,  die  von  den  Umsturzgedanken  der 
pädagogischen  Stürmer  und  Dränger  weit  entfernt  sind.  Dazu  rechne  ich  auch 
unseren  Versuch,  und  es  würde  mich  freuen,  wenn  er  zur  Lösung  des  Problems 
beitrüge.  Verschwinden  wird  dieses  meiner  Ansicht  nach  sobald  nicht  wieder, 
nachdem  es  einmal  aufgeworfen  ist,  da  es  etwas  Gutes  und  Wertvolles  enthält; 
aber  welches  Resultat  bei  den  Wünschen  und  Versuchen  schließlich  herauskommen, 
und  was  sich  als  dauernd  lebensfähig  erweisen  wird,  läßt  sich  zurzeit  noch  nicht 
übersehen.  Hoffen  wir,  daß  die  Bewegung  der  Jugend  zum  Heile  dient  und  dazu 
hilft,  unser  Volk  nicht  nur  im  Kampfe  um  die  äußeren  Lebensgüter  zu  stärken 
sondern  auch  an  Gütern  innerer  Kultur  zu  bereichern. 

Hannover.  Wilhelm  Prinzhorn. 


I.  Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  in  die  Quellen  des 
römischen  Rechts.  —  IL  Die  Anfängerkurse  im  Griechischen 
für  Studierende  der  juristischen,  medizinischen  und  der  philo- 
sophischen Fakultät.  —  III.  Reifezeugnisse  der  Studierenden 
der  preußischen  Universitäten. 

l.  Im  Wintersemester  1908/09  haben  an  den  Kursen  zur  sprachlichen  Einführung 
in  die  Quellen  des  römischen  Rechts  an  den  preußischen  Universitäten  im  ganzen 
260  Studierende  teilgenommen.  Davon  studierten  257  Rechtswissenschaft,  1  neuere 
Philologie,  1  Staatswissenschaften,  1  sonstige  Fächer.  Das  Reifezeugnis  eines 
Gymnasiums  hatten  56,  eines  Realgymnasiums  159,  einer  Oberrealschule  44.  Preußen 
waren  223,  Deutsche  aus  anderen  Bundesstaaten  23,  Ausländer  14.  Von  den  257 
Studierenden  der  Rechte  standen  18  im  ersten  Semester,  53  im  zweiten,  30  im 
dritten,  62  im  vierten,  26  im  fünften,  48  im  sechsten,  10  im  siebenten,  4  im  achten, 
1  im  neunten,  3  im  zehnten,  1  im  elften,  1  im  zwölften. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  wie  folgt:  Berlin  120, 
Bonn  30,  Breslau  22,  Göttingen  4,  Greifswald  2,  Halle  12,  Kiel  22,  Königsberg  5, 
Marburg  22,  Münster  21. 


304  A.  Tilmann, 

II.  Im  Wintersemester  1908/09  haben  an  den  Anfängerkursen  im  Griechischen 
für  Studierende  der  juristischen,  medizinischen  und  philosophischen  Fakultät  auf 
den  Preußischen  Hochschulen  im  ganzen  157  Studierende  teilgenommen,  davon 
1  Theologe,  64  Juristen,  2  Mediziner  und  90  Angehörige  der  philosophischen 
Fakultät.  Von  letzteren  studierten  klassische  Philologie  6,  neuere  Philologie  35, 
Deutsch  20,  Geschichte  14,  Mathematik  und  Naturwissenschaften  4,  sonstige 
Fächer  11.  Von  den  Teilnehmern  der  Kurse  hatten  11  das  Reifezeugnis  eines 
Gymnasiums,  97  eines  Realgymnasiums,  41  einer  Oberrealschule.  Preußen  waren  130, 
Deutsche  aus  anderen  Bundesstaaten  20,  Ausländer  7.  Von  den  64  Studierenden 
der  Rechte,  die  den  Kursus  besuchten,  standen  im  ersten  Semester  7,  im  zweiten  27, 
im  dritten  5,  im  vierten  14,  im  fünften  4,  im  sechsten  5,  im  siebenten  2. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  an  diesem  Kursus 
wie  folgt:  Berlin  92,  Breslau  16,  Göttingen  3,  Halle  16,  Kiel  15,  Königsberg  3, 
Marburg  7,  Münster  5. 

III.  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten  im 
Wintersemester  1908/09.  Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studierende, 
die  nicht  auf  Grund  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  immatrikuliert  waren,  un- 
berücksichtigt. Von  den  nachstehenden  Zusammenstellungen  umfaßt  die  erste  alle 
im  Wintersemester  1908/09  an  den  preußischen  Universitäten  immatrikulierten  Stu- 
dierenden, die  zweite  nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten 
Semester  standen. 

I.   Im  Wintersemester  1908/09  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

A.  In  der  evangelisch-theologischen  Fakultät  1048  Studierende,  davon  im- 
matrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .    1047 
,        ,  „  „      Realgymnasiums    .    .  1 

B.  In  der  katholisch-theologischen  Fakultät  856  Studierende,  alle  auf  Grund 

Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

C.  In  der  juristischen  Fakultät  6157  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .    5211 
„        ,  ,  ,      Realgymnasiums    .    .      695 

,        „  ,  einer  Oberrealschule       .    .      251 

D.  In  der  medizinischen  Fakultät  3072  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .    2546 
„        „  ,  „      Realgymnasiums    .    .      407 

,         ,  ,  einer  Oberrealschule  ...      119 

E.  In  der  philosophischen  Fakultät  9141  Studierende,  davon  immatrikuliert: 


auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    . 

.    6379 

„        „                  ,                 „      Realgymnasiums    . 

.     1596 

einer  Oberrealschule  .    . 

.     1166 

Hiervon  studierten: 

1.    Philosophie  224  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    . 

.      179 

Realgymnasiums    . 

33 

einer  Oberrealschule 

12 

Kurse. 


305 


2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  3382  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .     .    .  3095 

n                  M                 n      Realgymnasiums    .    .  187 

,        ,                  n              einer  Oberrealschule   ...  100 

3.  Neuere  Philologie  1584  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .  685 

,        ,                  ,                 ,      Realgymnasiums     .    .  548 

,        ,                  ,              einer  Oberrealschule   ...  351 

4.  Geschichte  645  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .  557 

,        ,                  ,                 ,      Realgymnasiums     .    .  61 

einer  Oberrealschule  ...  27 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  2463  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums .    .    .    .*  1312 

„                  „                 ,      Realgymnasiums    .    .  582 

einer  Oberrealschule        .    .  569 

6.  Sonstige  Studienfächer  843  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      ...  551 

m        f,                 „                 n      Realgymnasiums    .    .  185 

,        ,                  ,              einer  Oberrealschule    ...  107 

II.   Von  den  unter  I.  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

A.  In  der  evangelisch-theologischen  Fakultät  43  Studierende,   davon  im- 
matrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      ...        42 
„  »  ,      Realgymnasiums    .     .  1 

B.  In  der  katholisch-theologischen  Fakultät  31   Studierende,   alle  imma- 

trikuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

C.  In  der  juristischen  Fakultät  313  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .      256 
„        „  „  „     Realgymnasiums    .    .        37 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...        20 

D.  In  der  medizinischen  Fakultät  198  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      ...      136 
„        „  „  „      Realgymnasiums    .     .        53 

„        „  „  einer  Oberrealschule  ...         9 

E.  In  der  philosophischen  Fakultät  564  Studierende,  davon  immatrikuliert: 


auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 
„        „  „  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

Hiervon  studierten: 

1.    Philosophie  13  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums .    . 
„        „  „  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule  . 

Monatichrift  f.  höh.  Schulen.   VIII.  Jhrg.  20 


270 
186 

108 


306 


A.  Tilmann, 


2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  150  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasinms 
„        „  „  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule 

3.  Neuere  Philologie  115  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 
„        „  „  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule 

4.  Geschichte  32  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 
„        „  „  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  167  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 
„        „  „  „      Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule 

6.  Sonstige  Studienfächer  87  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 
„        „  „  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule 

Gr.. Lichterfelde.  A.  Tilm 


116 

27 

7 

29 
52 
34 

20 

10 

2 

56 
64 
47 

41 
30 
16 


Die  Reifezeugnisse   der  Studierenden   der   außerpreußischen 

Universitäten 

Erlangen,  Freiburg,  Gießen,  Heidelberg,  Jena,  Leipzig,  München,  Rostock,  Straß- 
burg, Tübingen  und  Würzburg  im  Winter-Semester  1908/09: 

Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studierende,  die  nicht  auf 
Grund  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  immatrikuliert  waren,  unberücksichtigt. 
Von  den  nachstehenden  Zusammenstellungen  umfaßt  die  erste  alle  im  Winter- 
Semester  1908/09  an  den  genannten  Universitäten  immatrikulierten  Studierenden,  die 
zweite  nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten  Semester  standen. 

I.   Im  Winter-Semester  1908/09  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  950  Studierende,  davon  im- 
matrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .  943 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums    .    .  6 

„        „                  „              einer  Oberrealschule    ...  1 

b)  in  der  Katholisch-Theologischen  Fakultät  820  Studierende,  davon  im- 
matrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums ....      816 

„        „  „  „      Realgymnasiums    .    .  4 

einer  Oberrealschule    ...        — 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten.         307 


c)  in  der  Juristischen  Fakultät  4767  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....    4242 
•        »  n  n      Realgymnasiums     .    .      374 

,        ,  ,  einer  Oberrealschule    ...      151 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  4582  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .    3810 

,  ,  •      Realgymnasiums    .    .      654 

,        ,  ,  einer  Oberrealschule    ...      128 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  7822  Studierende,  davon  immatrikuliert: 


auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .    . 
,        .  „  n      Realgymnasiums 


einer  Oberrealschule 


5330 

1561 

931 


Hiervon  studierten: 

1.    Philosophie  721  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugni 


eines  Gymnasiums      .    .    .      555 
,  ,      Realgymnasiums    .    .      126 

einer  Oberrealschule    ...        40 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch*)  2053  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 
.    .     .  m        n  »  „      Realgymnasiums 

,        ,  ,  „      Oberrealschule 

3.  Neuere  Philologie*)  1591  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 
m        „  n  „      Realgymnasiums 

,  ,  einer  Oberrealschule 

4.  Geschichte*)  426  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums . 
r,        n  ,  t,      Realgymnasiums 

,  ,  einer  Oberrealschule 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  2610  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums . 
„        „  „  ,      Realgymnasiums 

,  einer  Oberrealschule 

6.  Sonstige  Studienfächer  421  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums . 
»        >.  n  n      Realgymnasiums 

,        „  ,  einer  Oberrealschule 

.   Von  den  unter  I.  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 
a)  in    der   Evangelisch-Theologischen    Fakultät    127    Studierende,    davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums ....      125 
„         „  ,  ,      Realgymnasiums    .    .  2 

„        „  ,  einer  Oberrealschule    ...        — 


1937 
73 
43 

815 
547 
229 

351 
52 
23 

1401 
656 
553 

271 

107 

43 


*)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg  bei 
der  Geschichte  nachgewiesen. 

20* 


308    A.  nimann,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten. 


b)  in   der  Katholisch-Theologischen  Fakultät  214  Studierende,   davon  im- 
matrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums.    .    .    .  212 

n        ,                 •                •      Realgymnasiums     .    .  2 

„        ,                 ,             einer  Oberrealschule   ...  — 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  582  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .  502 

Realgymnasiums    .    .  47 

„        ,                 „              einer  Oberrealschule    ...  33 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  461  Studierende,    davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums ....  380 

,        „                  ,                 ,      Realgymnasiums    .    .  57 

,        ,                 n             einer  Oberrealschule   ...  24 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  908  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums ....  637 

,        ,                 „                 ,      Realgymnasiums    .    .  106 

„                 n             einer  Oberrealschule    ...  165 
Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  124  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  101 

n        „                 n                »      Realgymnasiums     .    .  11 

„        „                  „              einer  Oberrealschule    ...  12 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch*)  212  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums ....  196 

n        f,                  „                 n      Realgymnasiums    .    .  8 

n        n                  »              einer  Oberrealschule   ...  8 

3.  Neuere  Philologie*)  229  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums      .    .    .  143 

n        n                  1.                 r,      Rcalgymnaslums     .    .  39 

„        ,                  „              einer  Oberrealschule    ...  47 

4.  Geschichte*)  52  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums ....  43 

n        ,                 n                n      Rcalgymnaslums    .    .  2 

n        n                  n              cincr  Oberrealschule   ...  7 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  247  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums ....  125 

,        ,                 ,                 ,      Realgymnasiums    .    .  39 

,        ,                 „             einer  Oberrealschule    ...  83 

6.  Sonstige  Studienfächer  44  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gyipnasiums      ...  29 

„        ,                 „                ,      Realgymnasiums    .    .  7 

„        n                 n             einer  Oberrealschule    ...  8 
Gr.-Lichterfelde.                                                                      A.  Tilmann. 


*)  Siehe  Bemerkung  S.  307. 


* 
A.  Tilmann,  Statistisches  über  das  Frauenstudium.  309 

Statistisches  über  das  Frauenstudium. 

über  die  Bedeutung  des  Erlasses  vom  18.  August  1908  wegen  der  Zulassung 
der  Frauen  zum  Universitätsstudium  herrschen  vielfach  unklare  Vorstellungen.  Es 
wird  nicht  genügend  gewürdigt,  daß  schon  vor  diesem  Erlasse,  der  den  Frauen 
die  Immatrikulation  eröffnete,  das  Frauenstudium  auf  den  preußischen  Universitäten 
möglich  war  und  in  weitem  Umfange  betrieben  wurde.  Bekanntlich  waren  die 
Frauen  als  sogenannte  Gasthörerinnen  zugelassen.  Diese  Form  der  Zulassung 
hatte  aber  nach  zwei  Richtungen  etwas  Unbefriedigendes.  Einmal  war  die  Stellung 
der  studierenden  Frau,  wenn  auch  mehr  in  der  Theorie,  unsicher,  prekär,  weil  das 
Belieben  des  Dozenten  bei  ihrer  Zulassung  zu  einer  Vorlesung  in  Betracht  kam. 
Sodann  aber  war  für  die  Universitäten  der  Nachteil  damit  verbunden,  daß  die  An- 
forderungen an  die  Schulbildung  geringere  waren,  als  sie  für  die  Jmmatrikulation 
gestellt  werden  und  daß  [infolgedessen  die  preußischen  Hochschulen  von  nicht 
Vollgebildeten,  darunter  auch  Ausländerinnen  in  starkem*  Maße  aufgesucht  wurden. 
Bei  dieser  Sachlage  bedeutet  der  Erlaß  ivom  18.  August  v.  Js.  wegen  der  damit 
verbundenen  Verschärfung  der  Anforderungen  für  den  Eintritt  in  das  Studium  eine 
Einschränkung  des  Frauenstudiums.  Das  muß  sich  auch  in  den  Zahlen  über  das 
Frauenstudium  im  Wintersemester  1908/09  im  Vergleich  zum  Wintersemester  1907/08 
zeigen.  Allerdings  kommt  ;dabei  [in  Betracht,  daß  diejenigen  Frauen,  welche  im 
Sommer  1907  als  Gasthörerinnen  zugelassen  waren,  nach  der  Bestimmung  des 
Ministers  ihr  Studium  beenden  durften,  auch  wenn  sie  den  Anforderungen  für  die 
Immatrikulation  nicht  entsprachen.  Es  liegt  also  bezüglich  des  Wintersemesters 
1908/09  ein  Übergangszustand  vor.  Wie  sind  nun  die  Zahlen?  Im  Wintersemester 
1908/09  studierten  an  preußischen  Universitäten  1680  Frauen  gegen  1773  im  Winter- 
semester 1907/08.  Der  zu  erwartende  Rückgang  im  Studium  ist  also  tatsächlich 
eingetreten.  Was  die  einzelnen  Fakultäten  anbetrifft,  so  stellt  sich  die  Sache 
folgendermaßen : 

In  der  theologischen  Fakultät  1908/09:      22        1907/08:      33 
„      „    juristischen  „  „  17  ,15 

„      „    medizinischen        ,  ,  188  „  155 

,      „    philosophischen     „  ,        1453  ,         1570 

Unter  den  Studentinnen  des  Wintersemesters  1908/09  sind  die  Immatriku- 
lierten in  der  Minderzahl,  es  überwiegen  also  die  Gastzuhörerinnen  wie  das  in 
dieser  Übergangszeit  nicht  anders  zu  erwarten  war.  Insgesamt  waren  immatrikuliert 
718  Frauen  und  zwar  inskribiert 

in  der  theologischen  Fakultät  6 

„      „    juristischen            „  6 

,     ,    medizinischen        „  140 

,     '„    philosophischen      ,  566 

Noch  ein  anderer  Irrtum  über  die  Bedeutung  der  Immatrikulation  ist  weit  ver- 
breitet, indem  nämlich  angenommen  wird,  die  Immatrikulation  habe  Einfluß  auf 
die  Frage  der  Öffnung  von  neuen  Berufen  für  die  Frauenwelt.  Diese  Frage  geht 
über  das  Universitätsgebiet  hinaus  und  wird  von  dem  Erlasse,  welcher  die  Imma- 


310  Q.  Schmidt, 

trikulation  einführte  und  dadurch  lediglich  das  vorhandene  ungeordnete  Frauenstu- 
dium  in  ein  geordnetes  überleiten  wollte,  nicht  entschieden.  Umgekehrt  wird  von 
der  Frage,  ob  neue  Berufe  den  Frauen  eröffnet  werden,  das  Frauenstudium  beein- 
flußt werden,  wie  denn  auch  die  als  Folge  der  Neuordnung  des  Mädchenschul- 
wesens zu  erwartende  Vermehrung  der  Gelegenheit  zur  Erwerbung  des  Reifezeug- 
nisses auf  den  Umfang  des  Frauenstudiums  von  Einfluß  sein  wird. 

Gr. -Lichterfelde.  A.  Tilmann. 


Ein  neues  Hilfsmittel  für  den  Sprachunterricht. 

Auf  der  vorjährigen  Tagung  des  Neuphilologen-Verbandes  hielt  Herr  Dr. 
Panconcelli-Calzia  vom  phonetischen  Kabinett  der  Universität  Marburg  einen  Vortrag 
mit  Demonstrationen  über  die  Verwendung  der  Phonautographie  auf  den  ver- 
schiedenen Stufen  des  neusprachlichen  Unterrichts  und  fand  großen  Beifall,  auch 
von  selten  pessimistisch  angehauchter  Kollegen,  Ein  Freund  aller  Neuerungen, 
von  denen  man  sich  Ersprießliches  versprechen  kann,  gedachte  ich,  mir  ein  Gram- 
mophon zu  beschaffen,  war  aber,  offen  gestanden,  doch  etwas  mißtrauisch,  weil 
ich  von  früher  noch  den  Blechton  in  Erinnerung  hatte,  der  bei  der  Wiedergabe 
sich  so  unangenehm  bemerklich  zu  machen  pflegte.  Um  so  mehr  war  ich  erfreut  und 
überrascht,  als  die  von  dem  Verlag  Violet  in  Stuttgart  bereitwillig  zur  Probe  über- 
sandte Sprechmaschine  allen  billigen  Anforderungen  vollkommen  genügte.  Die 
Erfahrungen,  welche  ich  in  der  kurzen  Zeit  vor  Ostern  mit  der  Benutzung  des 
Instruments  im  Unterricht  machte,  haben  mich  sehr  befriedigt.  Voraussetzung  ist 
natürlich  vorhergehende,  genaue  Durchnahme  der  Texte.  Erst  wenn  dies  gesche- 
hen, tritt  die  Maschine  in  Tätigkeit,  wobei  man  es  völlig  in  der  Hand  hat,  langsam 
oder  schneller  sprechen  zu  lassen,  abschnittweise  oder  den  ganzen  Text  auf  einmal. 

Schon  jetzt  gibt  es  eine  große  Anzahl  Sprachplatten,  die  recht  gut  im  Klassen- 
unterricht Verwendung  finden  können.  Von  solchen,  die  ich  kenne  und  besitze, 
oder  mir  empfohlen  worden  sind,  nenne  ich  The  Charge  of  the  Light  Brigade,  be- 
sprochen von  Lewis  Waller,  die  ausgezeichnet  gelungen,  während  die  von  Rev. 
Fleming  weniger  gut  ist.  Daneben  gibt  es  einige  wundervolle  Christmas  Carols  — 
See!  amid  the  winter  snow  und  Good  King  Wencelas  —  gesungen  von  dem 
London  College  of  Choristers'  Choir,  deren  Vortrag  bei  der  Besprechung  englischer 
Weihnachtsbräuche  meines  Erachtens  nicht  gegen  den  Geist  gesunder  Pädagogik 
verstößt.  Besser  als  durch  viele  Worte  und  noch  so  begeisterte  Schilderung  ver- 
mögen unsere  Schüler  aus  solchen  Liedern  Verständnis  für  englische  Eigenart  zu 
gewinnen  und  aus  den  Tönen,  wenn  anders  sie  zu  hören  verstehen,  die  Stimmen 
der  Stammesverwandtschaft  zu  vernehmen.  Schottische  Balladen  und  Volkslieder 
reihen  sich  an,  die  eine  ganz  neue  Welt  erschließen,  während  die  ohrenzer- 
reißenden Dudelsäcke  der  Royal  Scotch  Guards  nicht  den  Wunsch  nach  Wieder- 
holung auslösen.  Von  Liedern  seien  noch  besonders  erwähnt  Rule  Britannia  — 
The  Banks  of  Allan  Water  —  The  Minstrel  Boy  —  •  My  old  Dutch  —  Scots, 
wha  hae  wi'  Wallace  bled  — ,  während  ich  My  Heart's  in  the  Highlands  vermisse. 


Ein  neues  Hilfsmittel  für  den  Sprachunterricht.  311 

Besonders  für  die  Oberstufe  eignen  sich  Texte  aus  Shakespeare  (Falstaff  s  Speech 
of  Honour,  Antony's  Lament  over  the  Body  of  Julius  Caesar,  Hamlet's  Soliloquy 
on  Life  and  Death,  Address  of  Henry  V  to  his  Soldiers  before  Harfleur),  Byron 
(Adieu  of  Mary,  Queen  of  Scots.  Ave  Maria  —  Eternity,  Immortality)  und  Poe 
(The  Beils). 

Im  Französischen  ist  reiche  Auswahl  vorhanden.  Für  den  Anfangsunterricht 
steht  ein  Lautierkursus  in  Aussicht.  Erschienen  sind  Texte  zu  den  bekannten 
Hölzelschen  Bildern,  zunächst  Le  printemps  und  L'^te,  ferner  Gespräche  aus  dem 
täglichen  Leben  auf  Sprachplatten  der  Methoden  Schliemann  und  Toussaint-Lan- 
genscheidt.  Neben  weniger  bekannten  Fabeln  von  Florian  finden  sich  von  Lafon- 
taine: La  cigale  et  la  fourmi,  Le  chSne  et  le  roseau,  Les  animaux  malades  de  la 
peste,  während  ich  der  in  allen  Schulbüchern  anzutreffenden  Le  corbeau  et  le 
renard,  Le  laboureur  et  ses  enfants,  Le  savetier  et  le  financier,  noch  nicht  habhaft 
werden  konnte.  Die  Oberstufe  ist  besonders  reich  bedacht  mit  Stücken  aus  Cor- 
neille (Le  Cid,  Horace,  Polyeucte),  Racine  (Andromaque,  Phedre),  Moliere  (Misan- 
thrope,  Les  femmes  savantes,  Les  fourberies  de  Scapin,  Le  mddecin  malgrö  lui, 
Le  depit  amoureux),  Victor  Hugo  (Ruy  Blas,  Hernani)  und  Gedichten  von  Musset 
(Le  Rhin  allemand,  La  nuit  d'octobre,  Une  soiree  perdue)  und  Richepin  (Ocöano 
Nox,  Achetez  mes  belles  violettes).  An  Musikplatten  besitze  ich  die  Marseillaise 
und  die  lustigen  Gas  d'Islande,  gesungen,  ferner  Le  defile  de  la  Garde  und  die 
Marseillaise  als  Orchesterstück.  Wünschenswert  wären  noch  Volkslieder  wie  Mal- 
brough,  Si  le  Roi  m'avait  donne,  Ma  Normandie  u.  a. 

Auch  dem  deutschen  Unterricht  stehen  Platten  zur  Verfügung,  deren  Be- 
nutzung man  sich  nicht  entgehen  lassen  sollte.  So  von  Schiller:  Schlachterzählung 
aus  Wallenstein,  Monolog  der  Marfa  aus  Demetrius,  Stauffachers  Rede  aus  Wilhelm 
Teil;  Goethe:  Schluß  des  Monologs  von  Faust  I.  Teil,  1.  Akt;  der  getreue  Eckhart, 
der  Gott  und  die  Bajadere,  Wirkung  in  die  Ferne;  Lessing:  Ringerzählung  aus 
Nathan  dem  Weisen;  Heine:  Belsazar;  Gutzkow:  Uriel  Acosta;  Uhland:  Schwäbische 
Kunde;  LiHencron:  Cincinnatus;  Eckstein:  Das  Märchen  vom  Glück.  Eine  Samm- 
lung der  in  den  Schulen  auswendig  zu  lernenden  Gedichte  bereitet  das  Institut 
für  experimentelle  Phonetik  und  Phonautographie  in  Wien  vor  unter  Leitung  von 
Professor  Reko  an  der  Franz-Joseph-Realschule,  dessen  empfehlenswertem  Büchlein 
über  Sprachenerlernung  mit  Hilfe  der  Sprechmaschine  ich  einige  der  obigen  An- 
gaben entnommen  habe.  In  den  neueren  Sprachen  erscheint  jetzt  auch  eine 
besondere  Rubrik  „Der  Phonolehrer",  die  Herrn  Dr.  Panconcelli  zum  Ver- 
fasser hat.  — 

Es  würde  mich  freuen,  wenn  diese  Zeilen  dazu  beitrügen,  daß  der  oder  jener 
Kollege  denselben  Versuch  machte.  Freilich,  die  Ausgabe  fällt  zunächst  dem 
eigenen  Geldbeutel  zur  Last,  aber  die  Aussicht  auf  die  bevorstehende,  glänzende 
Gestaltung  unserer  finanziellen  Verhältnisse  stärkt  vielleicht  manchem  den  Mut, 
es  zu  wagen. 

Arolsen.  G.  Schmidt. 


312  E.  Wernicke, 

Der  biologische  Unterriclit  am  Gymnasium  in  Marienwerder, 

Der  biologische  Unterricht  wurde  versuchsweise  in  der  Unterprima  während 
des  verflossenen  Jahres  erteilt. 

In  jeder  Woche  wurde  eine  biologische  Unterrichtsstunde  abgehalten.  Da 
nicht  beabsichtigt  war,  die  Wochenstunden  der  Primaner  zu  vermehren,  gewannen 
wir  die  Zeit  in  folgender  Weise :  Außer  einigen  durch  nötig  werdende  Vertre- 
tungen für  den  biologischen  Unterricht  freigewordenen  Stunden  gab  im  Laufe  des 
Jahres  der  mathematische  Unterricht  16,  der  lateinische  7,  der  griechische  7,  der 
französische  4,  der  geschichtliche  und  der  deutsche  je  zwei  Stunden  ab.  Die  Ver- 
teilung geschah  ohne  besondere  Anordnungen  durch  Verabredung  der  betreffenden 
Lehrer  unter  sich  in  der  Weise,  daß  auf  je  zwei  ausgefallene  mathematische 
Stunden  eine  lateinische,  eine  griechische  und  entweder  eine  französische  oder  eine 
geschichtliche  bzw.  deutsche  für  die  Biologie  verwandt  wurde.  Die  Stundenpläne 
brauchten  nicht  geändert  zu  werden,  obwohl  nicht  von  vornherein  auf  den  biologi- 
schen Unterricht  Rücksicht  genommen  war.  Keiner  der  durch  den  Stundenverlust 
betroffenen  Herren  hat  die  Beobachtung  machen  können,  daß  die  genannte  Anzahl 
von  Stunden  Bedenken  erweckte.  Der  Mathematiklehrer,  der  die  meisten  Stunden 
hergegeben  hat,  hatte  die  Lehre  von  den  arithmetischen  und  geometrischen  Reihen 
in  das  Pensum  der  Obersekunda  verlegt,  ist  aber  infolge  des  äußerst  regen  Inter- 
esses, das  dem  von  ihm  erteilten  biologischen  Unterrichte  entgegengebracht  wurde, 
reichlich  durch  vermehrte  Arbeitsfreudigkeit  in  seinen  Stunden  entschädigt  worden. 
Ein  Lehrbuch  wurde  von  den  Schülern  nicht  angeschafft. 

Im  Sommerhalbjahr  wurde  die  Abhängigkeit  der  Pflanzen  von  den  Einwir- 
kungen der  Umwelt  besprochen: 

1.  Ihre  Abhängigkeit  von  der  Wärme,  dem  Licht,  der  Luft,  dem  Wasser,  dem 
Erdboden. 

2.  Ihre  Beziehungen  zueinander  und  zum  Tierreich. 

Aus  dem  letzten  Gebiete  wurde  das  Thema  einer  „kleinen  freien"  Arbeit  ge- 
wählt, die  statt  derjenigen  aus  der  Physik  geschrieben  wurde. 

Es  wurden  unter  fast  vollzähliger  Beteiligung  der  Unterprimaner  folgende 
Nachmittagsausflüge  gemacht: 

1.  Mit  der  Eisenbahn  nach  Rehhof,  dann  zu  Fuß  nach  Stuhm  und  zurück 
mit  der  Bahn.  Der  zu  Fuß  zurückgelegte  Weg  betrug  15  km.  Betrachtet 
wurden  der  Wald  im  Frühling,  die  Zusammensetzung  des  Untergrundesi 
eiszeitliche  Bildungen  und  das  Vermooren  von  Seen,  erklärt  die  Mor- 
phologie des  durchwanderten  Landes. 

2.  Im  August  mit  der  Eisenbahn  nach  Kurzebrack.  Beim  Warten  auf  die 
Weichselfähre,  während  des  Übersetzens  und  der  Wanderung  durch  die 
Niederung  wurde  die  Entstehung  des  Weichseltals,  die  des  heutigen  Bettes 
der  Weichsel,  der  Steilufer,  der  Talbildungen  und  Schwemmkegel  erörtert; 
eiszeitliche  Geschiebe  und  Terrassenbildungen  wurden  betrachtet.  Waren 
wir  beim  ersten  Ausfluge  im  Kiefernwald  gewandert,  so  kamen  wir  bei 
diesem  in  Laub-  bzw.  gemischten  Wald.  Sein  Pflanzenleben  und  seine 
Tierwelt  boten  reichlichen  Stoff  zum  Fragen  und  Erklären.    In  Kleinkrug 


Der  biologische  Unterricht  am  Gymnasium  ^n  Marienwerder.  313 

wurde  eine  kleine  Rast  gemacht  (wie  sich  das  für  biologische  Ausflügler 
geziemte)  —  zu  meinem  Erstaunen  —  ohne  Alkohol.    Dann   ging's  auf 
anderem  Wege    durch  den   Wald  zur   Weichsel   zurück.     (Marsch    von 
16  km.) 
3.   Im  September  mit  der  Eisenbahn   nach  Sedlinen,   zu  Fuß  nach  Garnsee, 
mit  der  Bahn  zurück  (Marsch  18  km).    Belehrungen    boten    die  Steilufer 
der  Weichselniederung   mit   den    vorliegenden  Sandflächen    und  Mooren, 
das  Leben  in  einem  abgeschlossenen  Waldsee,  die  Pflanzen  in  ihrer  Ab- 
hängigkeit  vom   Boden    und    der   dadurch    bedingte  Vegetationswechsel. 
Bei   schon    niedrigstehender   Sonne   betraten    wir   das   2  km    lange   und 
Vi  km  breite  Kalmuser  Moor.    Es  wurde  die  Entstehung  der  verschiedenen 
Moore,  die  Moorlandschaft,  die  Moorflora  (Sumpfbirke,  Krüppelkiefer  etc.) 
und  die  Moorfauna  besprochen.    Doch  mit  dem  Gesagten  ist  längst  nicht 
alles  erschöpft,  was  auf  diesen  Ausflügen  zur  Sprache  kam.    Es  konnten 
Wetterbeobachtungen,    die  wir   an    die   meteorologischen  Beobachtungen 
in  der  Schule  anknüpften,   im  Freien    gemacht  werden,    die  Alkoholfrage 
und  andere  mehr  gaben  Rede  und  Gegenrede. 
Außer   den  Unterrichtsstunden    und  Ausflügen  wurden  wöchentlich  freiwillige 
mikroskopische  und  makroskopische  Übungen  abgehalten,  an  denen  sich  sämtliche 
Unterprimaner  (24)  beteiligten.    Sie  nahmen  die  Mehrbelastung  von  zwei  Stunden 
alle  14  Tage  sehr  gern  auf  sich.    In  der  physikalischen  Sammlung  war  aus  alten 
Tagen  nur  ein  etwas  mangelhaftes  Mikroskop  vorhanden.    Da  uns  aber  vom  Herrn 
Minister  für  die  physikalischen  und  anderen  Schülerübungen  Unterstützungsgelder  be- 
willigt worden  waren,  so  schafften  wir  von  einem  Teil  dieser  Übungsgelder  ein  gutes 
Mikroskop,  fünf  kleine  und  sechs  mikroskopische  Bestecke  an.  Die  kleinen  Mikroskope 
erhielten  wir  zum  Preise  von  28  M.  bei  50, 100,  200f  acher  Vergrößerung  (drei  Objektive, 
ein  Okular).    Infolge  dieser  Zahl  von  Mikroskopen  konnten  zwölf  Schüler  zugleich 
in  den  Übungen  beschäftigt  werden.    Jeder  Schüler  mußte  von  dem  im  Mikroskop 
Gesehenen    stets   kleine  Skizzen    anfertigen.    So   unbeholfen    diese  auch  anfangs 
waren,  allmählich  besserten  sie  sich,  und  es  schien,  als  ob  die  Schüler  erst  durch 
das  Skizzenzeichnen    sehen    lernten.    Der  Übungsraum,   auch    benutzt   von  zwei 
andern  Klassen  zu  physikalischen  Übungen,  befindet  sich  im  Keller.    Er  ist  leider, 
wie  alle  Keller  in  Marienwerder,  etwas  feucht,    so  daß  die  Geräte  nur  im  physika- 
lischen Sammlungszimraer  aufbewahrt  werden  können.    Die  Lichtverhältnisse  sind 
naturgemäß  schlecht. 

Im  Wintersemester  mußten  die  biologischen  Übungen  fast  ganz  eingeschränkt 
werden  1.  der  Kosten,  2.  der  Lichtverhältnisse  wegen. 

Im  Unterricht  wurden  die  Tiere  in  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Wärme,  dem 
Licht,  dem  Boden,  dem  Wasser,  der  Luft  behandelt.  Es  stellte  sich  aber  eine 
solche  Unkenntnis  über  die  Fauna  in  der  Klasse  heraus,  daß  sich  der  Lehrer  ver- 
anlaßt sehen  mußte,  einen  kurzen  Überblick  über  die  Tierwelt  zu  geben  und  vor 
allem  die  Schüler  zu  eigenem  Lesen  über  die  Tierwelt  heranzuziehen.  Auch  er- 
boten sich  einige  Schüler,  Vorträge  über  die  Geschichte  der  beschreibenden  Natur- 
wissenschaften zu  halten. 

Da  der  Überblick   zwölf  Stunden  beanspruchte,   kann   der  biologische  Unter- 


314         E.  Wernicke,  Der  biologische  Unterricht  am  Gymnasium  in  Marienwerder, 

rieht  erst  nach  Ostern  in  der  Oberprima  fortgesetzt  werden,  vorausgesetzt,  daß 
auch  dort  die  nötige  Stundenzahl  freigemacht  werden  kann. 

Wie  es  nicht  anders  möglich  ist,  fehlen  uns  noch  gute  Anschauungsmittel. 
Wir  haben  kein  Terrarium  und  kein  Aquarium.  Wir  würden  schon  sehr  zufrieden 
sein,  wenn  wir  nur  gute  Abbildungen  bzw.  Lichtbilder  hätten,  an  die  teuren  Prä- 
parate wollen  wir  uns  mit  den  bescheidenen  Mitteln  der  Anstalt  nicht  heranwagen. 
Doch  mit  der  Zeit  wird  dieser  Übelstand  gehoben  werden:  Präparate  werden  in 
den  Übungen  hin  und  wieder  hergestellt,  Photographien  von  charakteristischen 
biologischen  Erscheinungen  auf  den  Ausflügen,  Mikrophotographien  im  Physik- 
zimmer. —  Der  biologische  Unterricht  ist  den  Schülern  liebgeworden.  Man  kann 
es  in  jeder  Stunde  von  neuem  erkennen.  Selbst  ein  durchaus  mehr  den  philo- 
logischen als  den  exakten  Wissenschaften  zugeneigter  Schüler  erklärte,  daß  er  den 
biologischen  Unterricht  nicht  mehr  missen  möchte. 

Marien  Werder.  Erich  Wernicke. 


II.  Programmabhandlungen.    1908. 

(Mit  Nachträgen  von  1907  u.  1906.) 


Erdkunde. 

1.  Maack,  Rieh.,  Künstlerische  Heimatkunde  von  Hamburg  und 
Umgegend.    Realschule  St.  Georg  zu  Hamburg  1907.    Prog.-No.  926.    43  S.  8o. 

2.  Foerster,  Herrn.,  Heimatkunde  von  Groß-Strehlitz  (O.-S.).  Gymnasium 
Groß-Strehlitz  1907.    Prog.-No.  259.     14  S.    4«. 

3.  Colbus,  Beiträge  zum  Unterricht  in  der  Heimatskunde.  Pro- 
gymnasium St.  Wendel  1907.     Prog.-No.  589.     12  S.    4». 

4.  Flöckher,  A.,  Die  Naturdenkmäler  von  Hildesheim,  welche  dem 
Pflanzenreiche  angehören.  Andreas-Realgymnasium  Hildesheim  1908.  Prog.- 
No.  421.    22  S.    80. 

5.  Breddin,  Flurnamen  und  Flurgeschichte,  ein  Beitrag  zur  Heimat- 
kunde der  Oschersleber  Umgegend.  Gymnasium  Oschersleben  1908.  Prog.- 
No.  351.    38  S.    8». 

6.  Winkelmann,  Der  Schutz  der  Naturdenkmäler.  Schiller-Realgymnasium 
Stettin  1908.    Prog.-No.  206.     15  S.    4^. 

7.  Manch,  O.,  Das  Erosionstal  der  unteren  Mosel.  Realschule  Oppen- 
heim 1907.    Prog.-No.  815.    9  S.    4». 

8.  Michael,  Paul,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  eiszeitlichen  Ab- 
lagerungen in  der  Umgegend  von  Weimar.  Realgymnasium  Weimar  1908. 
Prog.-No.  887.    25  S.     4^. 

9.  Jung,  Die  Schotterlager  in  Arnstadts  Umgebung.  Realschule 
Arnstadt  1907.    Prog.-No.  898.    29  S.    4». 

10.  Stoltz,  Karl,  Geologische  Bilder  aus  dem  Großherzogtum 
Hessen.  Ludwigs- Georgs- Gymnasium  Darmstadt  1908.  Prog.-No.  827.  43  S. 
8".    Mit  1  Profil  u.  2  Abb. 

11.  Crantz,  Fritz,  Ein  Wandertag  auf  der  schwäbischen  Alb.  Klinger- 
Oberrealschule  Frankfurt  a.  M.  1908.    Prog.-No.  536.    16  S.    4°. 

12.  Halbfass,  W.,  Klimatologische  Probleme  im  Lichte  moderner 
Seenforschung.  Gymnasium  Neuhaldensleben  1908.  Prog.-No.  318.  26  S.  4». 
Mit  4  Tafeln. 

13.  Drewes,  Reiseeindrücke  von  Kunst  und  Leben  in  Italien.  Teil  VI. 
Gymnasium  Helmstedt  1906.    Prog.-No.  865.    26  S.    4^. 


316  V.  Steinecke, 

14.  Maier,  Albert,  Italienische  Reiseskizzen.  Realgymnasium  Köln- 
Nippes  1908.    Prog.-No.  636.    16  S.    4°. 

15.  Braun,  Reinhold,  Sommertage  in  Griechenland.  Gymnasium 
Hagen  i.  W.  1908.    Prog.-No.  454.    92  S.    8«. 

16.  Dingeldein,  Otto,  Eine  Ferienreise  nach  dem  Goldenen  Hörn. 
Gymnasium  Büdingen  1907.     Prog.-No.  792.    37  S.    8^. 

17.  Braun,  Fritz,  Tiergeographische  Fragen,  das  propontische 
Gebiet  betreffend.    I.Gymnasium  Marienburg  1908.      Prog.-No.  41.    44  S.  8°. 

18.  Richter,  Otto,  Erfahrungen  von  sieben  Schülerreisen  nach  Rom. 
Königliches  Prinz  Heinrich-Gymnasium  Berlin  1908.     Progr.-No.  99.    14  S.    4". 

19.  Knüll,  Bodo,  Deutschland  zu  Beginn  der  sächsischen  Kaiserzeit. 
Progymnasium  Horde  1908.    Prog.-No.  458.    34  S.    8«. 

20.  Dopp,  Ernst,  Die  geographischen  Studien  des  Ephorus.  II.  Gym- 
nasium und  Realgymnasium  Rostock  1908.    Prog.-No.  856.    29  S.    4». 

21.  Pritzel,  Ernst,  Vegetationsbilder  aus  dem  mittleren  und  südlichen 
Griechenland.  Schiller-Gymnasium  und  Realgymnasium  Groß-Lichterfelde  1908. 
Prog.-No.  89.    37  S.    8°. 

22.  Heckmann,  K.,  Das  Hochtal  von  Mexiko  und  seine  künstliche 
Entwässerung.  Realschule  Nordstadt -Elberfeld  1908.  Prog.-No.  656.  26  S. 
40.    Mit  2  Tafeln. 

23.  Palleske,  Rieh.,  Zur  isländischen  Geographie  und  Geologie. 
Realgymnasium  Landeshut  (Schi.)  1908.  Prog-No.  282.  51  S.  8°.  Mit  einem 
Kärtchen. 

24.  Hoffschulte,  H.,  Aus  dem  englischen  Rechtsleben.  Realschule 
Münster  i.  W.  1907.    Prog.-No.  476.     13  S.    4». 

25.  Simroth,  H.,  Natur-  und  Kulturgeschichtliches  aus  Oberitalien 
und  Sardinien.   Realschule  Leipzig  1907.    Prog.-No.  715.   44  S.   4°.   Mit  11  Fig. 

26.  Kuntzemüller,  A.,  Das  Wunderland  am  Yellowstone.  Gymnasium 
Offenburg  1908.    Prog.-No.  806.    40  S.    4».    Mit  5  Ansichten  und  2  Karten. 

27.  Lüdtke,  Franz,  Die  Geologie  im  erdkundlichen  Unterrichte 
höherer  Lehranstalten.    Realschule  Wollstein  1907.    Prog.-No.  217.    13  S.    4°. 

28.  Schwarz,  Adolf,  Der  geodätische  Kursus.  Oberrealschule  Kiel  1906. 
Prog.-No.  363.     16  S.    4«.    Mit  4  Tafeln. 

Wie  in  allen  Jahren,  so  haben  auch  in  den  letzten  Jahresberichten  die  geo- 
graphischen Fachlehrer  oder  auch  das  ganze  Lehrerkollegium  sich  der  dankens- 
werten Aufgabe  unterzogen,  einen  Teil  der  Heimatkunde  ihres  Schulortes  zu 
bearbeiten  und  dadurch  unmittelbar  der  Schule  zu  nützen.  Um  mit  einem  der 
eigenartigsten  Beiträge  zu  beginnen,  hat  Maack  (1)  eine  sehr  wertvolle  und  an- 
sprechende künstlerische  Heimatkunde  von  Hamburg  gegeben.  Er  will  dem  öden, 
herz-  und  geistlosen  Materialismus  entgegentreten  und  den  Geschmack  auch  der 
Schuljugend  bessern.  So  bespricht  er  nach  sachlichen  Gruppen  die  in  Betracht 
kommenden  Plätze,  Gärten  und  Gebäude  von  Hamburg  und  dient  dadurch  der 
Kunsterziehung  in  ganz  vorzüglicher  Weise.  Vielleicht  hätte  den  Vorgärten  und 
dem  Blumenschmuck  der  Balkone  und  Häuser  noch  eine  eingehendere  Beachtung 
geschenkt  werden  können.   Den  ersten  Teil  einer  Heimatkunde  bietet  Fo  erst  er  (2), 


Erdkunde.  317 

indem  er  aus  der  Lage  und  der  Bodenform  zunächst  die  geologische,  geschicht- 
Uche  und  kulturelle  Entwicklung  herausarbeitet.  Ein  sehr  hübsches  Beispiel  dafür, 
wie  der  heimatkundliche  Unterricht  an  Wanderungen  angeschlossen  werden  kann, 
die  planmäßig  mit  den  Schülern  ausgeführt  werden,  hatColbus  (3)  durchgeführt. 
Seine  Darlegungen  werden  hoffentlich  manchen  Kollegen  veranlassen,  in  ähnlicher 
Weise  auch  seine  eigene  Heimat  auf  Wanderungen  den  Schülern  bekannt  und  lieb 
zu  machen.  Auch  das  Bestreben  von  Flöckher  (4),  auf  Naturdenkmäler  der 
näheren  Heimat  aufmerksam  zu  machen,  die  entweder  durch  Alter  und  außer- 
gewöhnliches Vorkommen  oder  wegen  ihrer  Seltenheit  bedeutungsvoll  sind,  bzw. 
dem  Aussterben  entgegengehen,  verdient  Anerkennung  und  Nachahmung;  Flöckher 
hat  diese  Frage  für  die  Pflanzenwelt  seiner  Heimat  vorzüglich  durchgeführt.  In 
anderer  Weise  gewinnen  Direktor  und  Lehrerkollegium  von  Oschersleben  (5), 
indem  sie  die  Chroniken  und  Flurkarten  kritisch  studieren,  eine  wertvolle  Bereiche- 
rung für  Geschichte  und  Heimatkunde.  Eine  Übersicht  über  die  verschiedenen 
Vorkehrungen,  die  in  den  einzelnen  Provinzen  Preußens  und  in  den  Nachbar- 
staaten zum  Schutz  der  Naturdenkmäler  getroffen  worden  sind,  stellt  Winkel- 
mann  (6)  unter  besonderer  Berücksichtigung  von  Pommern  zusammen. 

Drei  von  den  vorliegenden  Arbeiten  beschäftigen  sich  eingehend  mit  geolo- 
gischen Fragen  der  Heimat.  Den  früheren  Lauf  der  unteren  Mosel  konstruiert 
Münch  (7)  aus  den  Schottermassen  heraus;  im  Anschluß  daran  bespricht  er  ins- 
besondere die  Wittlicher  Senke  und  den  Einfluß  der  Eifelzuflüsse.  Tiefgründige 
Studien  bezüglich  der  Diluvialablagerungen  an  der  Grenze  des  norddeutschen  Ver- 
gletscherungsgebietes,  besonders  in  der  Umgebung  von  Weimar,  liefert  Michael  (8). 
Jung  (9)  weist  durch  seine  Untersuchungen  der  Schotterlager  von  Arnstadt  nach, 
wie  wichtig  die  Erosionsstudien  sind;  seine  Arbeit  ist  auch  für  den  Gebrauch  der 
Schüler  sehr  geeignet  und  hoffentlich  der  erste  Teil  einer  umfassenden  Heimat- 
kunde. Meisterhaft  versteht  es  Stoltz  (10),  aus  einer  geologischen  Betrachtung 
seiner  Heimat  eine  ganze  systematische  Geologie  für  seine  Schüler  und  überhaupt 
für  Laien  aufzubauen. 

Sinnige  Betrachtung  von  Land  und  Leuten  vereinigt  Gräntz  (11)  mit  geo- 
graphischem Wissen  in  einer  prächtigen  Schilderung  einer  Albwanderung,  die  den 
von  Altmeister  Ratzel  in  seinem  Buche  „Über  Naturschilderung"  gestellten  An- 
forderungen in  jeder  Beziehung  gerecht  wird.  Rein  in  das  wissenschaftliche  Ge- 
biet begibt  sich  der  bekannte  Seenforscher  Halbfaß  (12);  in  dem  zweiten  Teil 
seiner  Abhandlung  über  klimatologische  Probleme  untersucht  er  mitteleuropäische 
und  amerikanische  Seen  auf  ihre  Beziehung  zur  Brücknerschen  Periode,  größten- 
teils mit  negativem  Ergebnis. 

Auch  ihre  Reisen  machen  viele  Schulmänner  dem  Unterricht  dienstbar. 
Drewes  (13)  erfreut  uns  durch  die  Fortsetzung  seiner  schönen  Reiseeindrücke 
aus  Italien,  die  sich  allmählich  zu  einer  Kunstgeschichte  ausbauen.  Ansprechende, 
warm  von  Poesie  durchhauchte  Reiseskizzen  und  Stimmungsbilder  liefert  Maier  (14) 
über  Italien.  Die  aus  der  Schulliteratur  bekannten  Stätten  Griechenlands  beleben 
sich  wieder,  wenn  man  mit  Brauns  (15)  schönheitstrunkenem  Auge  die  von  ihm 
durchstreiften  Gegenden  anschauen  darf.  Dingeldein  (16)  schildert  uns  be- 
sonders Konstantinopel  und  Athen   und  die  Griechen.    Angenehm   berührt  es  bei 


318  W.  Steinecke,  Erdkunde. 

ihm,  daß  er  der  „Versuchung,  dem  Aufsatz  ein  Mäntelchen  von  Wissenschaftlich- 
keit umzuhängen,  erfolgreich  widerstanden"  hat;  den  wissenschaftlich  gebildeten 
Reisenden  erkennt  man  trotzdem  und  man  lernt  aus  seinen  Skizzen  vieles,  was 
man  zur  Belebung  des  geographischen  Unterrichtes  benutzen  kann.  Dieselbe 
Gegend  behandelt  Fritz  Braun  (17);  seine  während  eines  fünfjährigen  Aufenthaltes 
in  Konstantinopel  gemachten  feinsinnigen  Beobachtungen  der  Vogelwelt  fügt  er 
zu  einer  anziehenden  tiergeographischen  Studie  zusammen.  Er  weist  nach,  wo- 
durch die  Verbreitung  der  in  jenem  Übergangsgebiete  vorkommenden  Vögel  ver- 
ursacht wird,  und  macht  nachdrücklich  auf  die  Bedeutung  der  meteorologischen 
Bedingungen  des  Vogelzuges  aufmerksam. 

Über  Schülerreisen  haben  wir  noch  längst  nicht  genügend  Literatur,  ob- 
wohl an  vielen  Schulen  jetzt  Schülerfahrten  unternommen  werden,  was  wegen  der 
daraus  folgenden  Weitung  des  Blickes  und  der  Bereicherung  der  Kenntnisse  warm 
zu  begrüßen  ist.  Sind  schon  Turnfahrten  wertvoll,  so  gewinnen  die  Reisen  noch, 
wenn  sie  auch  wissenschaftliche  Zwecke  verfolgen.  Nicht  jedem  wird  es  durch 
die  äußeren  Umstände  ermöglicht,  den  klassischen  Sinn  der  Schüler  durch  eine 
Romfahrt  zu  beleben,  wie  es  Richter  (18)  bereits  siebenmal  tun  konnte,  sondern 
mancher  wird  sich  mit  dem  Inlande  begnügen  müssen;  aber  jeder,  der  überhaupt 
eine  Fahrt  mit  seinen  Schülern  macht,  wird  sich  Anspruch  auf  lebhaften  Dank  er- 
werben und  in  jeder  Beziehung  gute  Früchte  ernten. 

Zur  historischen  Geographie  bringt  Knüll  (19)  auf  Grund  seiner  trefflichen 
»Historischen  Geographie  Deutschlands  im  Mittelalter"  eine  übersichtliche  und  im 
Unterricht  gut  verwendbare  Darlegung  von  Deutschlands  und  des  Deutschtums 
Grenzen,  von  der  Bebauung,  Besiedelung  und  Nutzung,  von  den  Siedelungen  und 
Straßen  zu  Beginn  der  sächsischen  Kaiserzeit.  Aus  Vergleichen  der  Fragmente 
des  Ephorus  mit  anderen  griechischen  Quellen  gewinnt  Dopp  (20)  Beiträge  zur 
alten  Geographie,  Stammes-  und  Siedelungskunde  Altgriechenlands;  ein  angehängter 
Abschnitt  über  Bruchstücke  einer  sizilischen  Chronik  aus  der  Zeit  um  465  v.  Ch. 
bietet  eine  willkommene  Ergänzung  zu  den  bei  Diodor  überlieferten  Vorgängen 
nach  der  Beseitigung  der  Tyrannis. 

Eine  ganze  Reihe  von  Beiträgen  zur  Landeskunde  des  Auslandes  liegt 
auch  in  diesem  Jahre  vor.  Pratze  1  (21)  schildert  eingehend  die  Vegetation  des 
mittleren  und  südlichen  Griechenland.  Heckmann  (22)  weist  nach,  wie  die 
früher  im  Wasser  liegende  Stadt  Mexiko  durch  großartige  Entwässerung  zu  einer 
gesunden  Stadt  gemacht  worden  ist.  Palleske  (23)  übersetzt  landeskundliche 
Beiträge  von  Thoroddsen.  Hoffschultes  (24)  Beiträge  aus  dem  englischen  Rechts- 
leben sind  nicht  nur  für  den  englischen  Unterricht,  sondern  auch  für  unseren 
deutschen  Geschichtsunterricht  und  für  die  Unterweisung  in  der  Bürgerkunde  sehr 
interessant,  indem  sie  das  deutsche  und  englische  Rechtsleben  scharf  einander  gegen- 
überstellen. Simroth  (25)  vergleicht  die  deutsche  und  italienische  Waldkultur, 
wobei  er  die  Pendulationstheorie  als  Grund  für  das  Hinabschieben  der  nordischen 
Koniferen  auf  den  Boden  von  Oberitalien  heranzieht;  eigentümliche  Beobachtungen 
über  zoologische  Merkwürdigkeiten  und  eine  hübsche  Schilderung  von  Land  und 
Leuten  Sardiniens  sind  angehängt;  den  Nuraghen,  den  wunderlichen  zyklopischen 
Bauwerken,  widmet  er  eine  besondere,  von  Bildern  unterstützte  Untersuchuing.    In 


H.  Schmidt,  Religion.  319 

Kuntzemüller  (26)  finden  wir  jemand,  der  sich  nicht  mit  Ausrufen  des  Ent- 
zückens über  das  Wunderland  am  Yellowstone  begnügt,  sondern  das  Ergebnis 
seiner  Bereisung  in  einer  ausführlichen  Beschreibung  gibt  und  nicht  nur  eine 
Schilderung  der  Entdeckung  und  wissenschaftlichen  Erforschung,  sondern  auch 
über  das  gewöhnliche  Maß  hinausreichende  Kärtchen  und  Bilder  hinzufügt. 

Lüdtke  (27)  bricht  eine  Lanze  für  die  Verwertung  der  Geologie  im  erd- 
kundlichen Unterricht  und  bietet  seiner  Schule  ein  Hilfsmittel,  indem  er  die 
Hauptzüge  der  geologischen  Entwicklung  von  Posen  zeichnet  und  den  Wissens- 
stoff auf  die  einzelnen  Klassen  verteilt.  Schließlich  führt  Schwarz  (28)  in  nach- 
ahmenswerter Weise  den  ansprechenden  Gedanken  aus,  die  im  mathematischen 
Unterricht  an  der  Wandtafel  entwickelten  und  erläuterten  Aufgaben  auch  durch 
Messungen  im  Gelände  zu  ergänzen.  Er  hat  dazu  einen  geodätischen  Kursus  ein- 
gerichtet, an  dem  sich  Mitglieder  des  Lehrerkollegiums  und  des  pädagogischen 
Seminars  beteiligten.  Wenn  solche  Kurse,  wie  es  wünschenswert  ist,  an  anderen 
Schulen  auch  eingeführt  werden,  dann  lernen  die  Schüler  in  der  Mathematik  nicht 
nur,  wie  man  Linien  auf  dem  Papiere  zieht,  wie  man  Lote  fällt  und  errichtet,  wie 
Parallele  gezogen,  Winkel  angetragen  und  gemessen  werden,  sondern  auch,  wie 
alle  diese  Konstruktionen  im  Gelände  ausgeführt  werden.  Dadurch  wird  in  erster 
Linie  die  Mathematik  praktisch  verwertet,  aber  auch  die  Grundlagen  des  geo- 
graphischen Unterrichtes  werden  dadurch  verstärkt. 

Essen,  Ruhr.  Victor  Steinecke. 


Religion. 

(Nachtrag  1908.) 

Tröger,  Julius,  Zur  wissenschaftlichen  Rechtfertigung  des  christ- 
lichen Glaubens  im  Unterricht  der  höheren  Schule.  Breslau,  Gymna- 
sium zu  St.  Maria-Magdalena.     Progr,-Nr.  239. 

Verfasser  versteht  unter  Apologetik  die  wissenschaftliche  Rechtfertigung  der 
Heilstatsachen.  Er  unterscheidet  an  ihr  zwei  Stufen :  die  erste  hat  den  Glauben  an 
einen  persönlichen  Gott  als  denknotwendig  und  darum  (das  Dasein  dieses  Gottes 
als)  wirklich  zu  erweisen;  die  zweite,  christliche  Stufe  hat  die  wissenschaftliche 
Möglichkeit  der  Aussagen  des  Glaubens  zu  erweisen.  Beide  Stufen  der  Apologetik 
sind  auf  der  höheren  Schule  nötig,  die  erste  gegenüber  dem  Monismus,  die  zweite 
gegenüber  Deismus  und  Rationalismus  der  alten  und  »modernen"  Theologie.  Der 
Beweis  geht  aus  vom  Begriff  der  Sünde  als  gottfeindlicher  Macht,  die  eine  über- 
natürliche Erlösung  notwendig  macht;  damit  ist  dann  die  Notwendigkeit  der 
Heilstatsachen  gegeben.  Es  handelt  sich  nun  darum,  die  Möglichkeit  dieser  Heils- 
offenbarung, besonders  des  Wunders  zu  erweisen  und  zwar  nicht  nur  des  relativen, 
sondern  auch  des  absoluten  Wunders.  Ist  dieses  möglich,  so  entscheidet  nur 
Bezeugung  und  Zweck  über  seine  geschichtliche  Wirklichkeit.  Die  Bezeugung 
ruht  auf  der  Glaubwürdigkeit  der  Ew.    Die  Bestreitung  derselben  wird  wesentlich 


320  H.  Schmidt,  Religion. 

durch  die  Weltanschauung  der  betreffenden  Forscher  bestimmt;  man  kann  also  ge- 
trost an  der  Echtheit  der  Urkunden  (speziell  Joh.)  festhalten.  Es  folgt  dann  ein 
Gang  durch  die  Heilstatsachen:  Gottessohnschaft,  Menschwerdung,  Opfertod,  leib- 
liche Auferstehung,  Geistesausgießung. 

Ich  bezweifle  nicht,  daß  solche  Gedankengänge  je  nach  der  Persönlichkeit  des 
Lehrers  auf  viele  Schüler  starken  Eindruck  machen  können.  Ich  stehe  aber  selbst 
in  einer  Reihe  grundsätzlicher  Fragen  anders,  deshalb  kann  ich  die  Argumentation 
nicht  als  beweiskräftig  anerkennen  und  fürchte,  daß  auch  einem  Teil  der  Schüler 
jedenfalls  ein  dementsprechender  Unterricht  nicht  gerecht  würde. 

Roßleben.  H.  Schmidt. 


III.    Bücherbesprechungen. 


a)  Sammelbesprechungen: 

Zum  deutschen  Aufsatz. 

Kehrein,  Joseph,  Entwürfe  zu  deutschen  Aufsätzen  und  Reden  nebst 
Einleitung  in  die  Stilistik  und  Rhetorik  und  Proben  zu  den  Haupt- 
gattungen der  prosaischen  Darstellung  für  höhere  Lehranstalten. 
Nach  dem  Tode  des  Verfassers  neu  bearbeitet  von  Dr.  Valentin  Kehrein,  Pro- 
fessor am  Kaiserin  Augusta-Gymnasium  zu  Koblenz.  Elfte,  verbesserte  Auflage« 
Paderborn  1907.    Ferdinand  Schöningh.     XXII  u.  524  S.    gr.  8".    5,40  M. 

Die  erste  Abteilung  behandelt  auf  78  Seiten  die  Bestimmung  des  Themas, 
die  Auffindung,  Anordnung  und  Einkleidung  (Tropen  und  Figuren)  des  Stoffes, 
die  Stilarten  und  Gattungen  der  prosaischen  Darstellung  (dazu  auch  die  übliche 
Titulatur  nach  Geburtsrang,  Stand  und  Würden)  und  endlich  die  Teile  und  die 
Hauptarten  der  Rede.  Die  zweite  Abteilung  gibt  auf  114  Seiten  49  Proben,  die 
dritte  auf  281  Seiten  327  Entwürfe  zu  historischen  (129),  theoretischen  (165)  und 
rhetorischen  Themen  (33)  nebst  einem  Anhang:  Metrische  Übungen.  Den  Be- 
schluß bilden  weitere  366  Themen,  die  zum  Teil  kurz  erläutert  werden,  und  ein 
alphabetisches  Inhaltsverzeichnis.  —  Daß  das  Buch  seinen  ausgesprochen  christ- 
hchen,  genauer  positiv-katholischen  Charakter  seit  seinem  ersten  Erscheinen  (1853) 
bis  heute  beibehalten  hat,  das  ist  ein  Umstand,  der  hier  festgestellt,  aber  natür- 
lich in  keiner  Weise  bemängelt  wird.  Ich  gebe  ohne  weiteres  zu,  daß  das  um- 
fangreiche Werk,  von  seinem  Standpunkte  aus  betrachtet,  tüchtig  und  brauchbar 
ist,  viel  Wissen,  Fleiß  und  Umsicht  offenbart.  Es  fragt  sich  bloß,  ob  es  sich  in 
seinen  Neubearbeitungen  den  Bedürfnissen  und  Interessen  der  heutigen  höheren 
Lehranstalten  oder  doch  der  großen  Mehrheit  derselben  genügend  angepaßt  hat. 
Das  ist  meines  Erachtens  nicht  der  Fall.  Das  Buch  macht  einen  etwas  altvaterischen 
Eindruck.  Die  neuere  Literatur  wird  viel  zu  wenig,  die  neueste  gar  nicht  berück- 
sichtigt. Die  Namen  Lessing  und  Shakespeare  sucht  man  im  Schlußverzeichnis 
vergeblich,  obgleich  sie  in  den  „Proben"  und  „Entwürfen"  im  ganzen  vier-  oder 
fünfmal  vorkommen.  Daß  übrigens  Lessing  heutzutage  darum  „an  Ansehen  viel 
eingebüßt  habe",  weil  ihm  „vielfache  Entlehnungen  aus  anderen  (französischen 
und  englischen)  Schriftstellern  nachgewiesen  seien",    ist  wohl  kaum  zu  beweisen. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VHI.  Jhrg.  21 


322  P   Geyer, 

Ob  Tilly  wirklich  „unstreitig  der  edelste  Charakter  unter  den  Helden  des  Dreißig- 
jährigen Krieges"  gewesen  ist?  S.  237.  Ob  Schillers  Teil  wirklich  weiter  nichts 
ist  als  ein  „selbstsüchtiger,  von  persönlicher  Rache  getriebener,  mit  Gottes  Vor- 
sehung spielender,  eitler  und  gemeiner  Meuchelmörder?"  S.  267.  Übrigens  ein 
Zitat  aus  einem  Buche  von  Günther  (Halle  1845),  aber  es  soll  doch  wohl  —  so 
scheint  es  —  auch  Kehreins  Meinung  wiedergeben.  S.  236  liest  man:  „Daher 
ist  es  sehr  zu  bedauern,  daß  ein  so  großer  Dichter  wie  Schiller den  Cha- 
rakter der  Jungfrau  [von  Orleans]  so  verkannt  hat,  und  S.  270  wird  dem  näm- 
lichen Schiller  der  Vorwurf  gemacht,  daß  er  die  „in  der  neueren  und  neusten  Zeit 
als  durchaus  falsch  erwiesene  Ansicht"  von  dem  verbrecherischen  Vorleben  der 
Maria  Stuart  zu  der  seinigen  gemacht  habe.  Auch  Goethe  muß  sich  S.  272  sagen 
lassen,  daß  „die  schlichte  geschichtliche  Wahrheit  seinem  Trauerspiel  Egmont 
mindestens  eine  ebenso  ergreifende  Tragik"  verliehen  hätte  als  die  Dichtung 
[Kehrein  schreibt  das  Wort  mit  Anführungsstrichen]  des  großen  Meisters  es  ver- 
mocht hat.  Ja,  diese  Dichter!  Warum  fragen  sie  nicht  immer  erst  die  Schul- 
meister, ehe  sie  sich  an  geschichtliche  Persönlichkeiten  heranmachen  ?  —  S.  321 
heißt  es:  „Die  deutschen  Sprichwörter  sind  gute  Anthropologen  (Menschenkenner)." 
Genauer  und  zutreffender  wäre  es  wohl  zu  sagen:  Psychologen. 

Dörwald,  Paul,  Aus  der  Praxis  des  deutschen  Unterrichts  in  Prima. 
Berlin  1908.    Weidmannsche  Buchhandlung.     167  S.    gr.  8".   3  M. 

Inhalt:  I.  Die  Aufgaben  des  deutschen  Unterrichts  in  Prima,  II.  Das  Deutsche 
im  Mittelpunkt  des  Unterrichts.  III.  Sprachgeschichtliches  und  Metrisches.  IV.  Die 
Lektüre.  V.  Die  Literatur  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit  bis  auf  Lessing. 
VI.  Lessing.  VII.  Goethe  und  Schiller  im  Sturm  und  Drang.  VIII.  Goethes  Lyrik. 
IX.  Goethes  Iphigenie.  X.  Schillers  kulturhistorische  Lyrik.  XI.  Schillers  ideale 
Lyrik.  XII.  Die  Dichtkunst  nach  Schillers  Gedichten.  XIII.  Schillers  Braut  von 
Messina. 

Dörwald  sieht  davon  ab,  sich  mit  gegenteiligen  Anschauungen  kritisch  aus- 
einanderzusetzen, sondern  beschränkt  sich  darauf,  dem  Leser  „die  Früchte  einer 
zwanzigjährigen,  dem  Verfasser  lieb  gewordenen  Unterrichtstätigkeit"  zu  bieten. 
Und  er  tut  recht  daran.  Probieren  geht  über  Studieren,  Theoretisieren  und  Kriti- 
sieren, und  daß  der  Verfasser  reiche  Erfahrung  auf  dem  Gebiete  nicht  bloß  des 
deutschen  Unterrichts,  sondern  des  humanistischen  Schulbetriebes  überhaupt  und 
dazu  Liebe  zur  Sache  besitzt,  das  erkennt  man  auf  jeder  Seite  des  Buches.  Man 
kann  ja  in  diesem  oder  jenem  Punkte  anderer  Meinung  sein.  Zum  Beispiel  möchte 
ich,  daß  die  neueste  Literatur  nicht  ganz  außer  Betracht  bleibe,  was  allerdings 
nur  möglich  ist,  wenn  die  Beschäftigung  mit  Klopstock  und  mit  Lessings  Prosa- 
schriften noch  mehr  verkürzt  wird.  Aber  das  hält  mich  nicht  ab,  Dörwalds  Buch 
für  einen  trefflichen  Wegweiser  für  den  deutschen  Unterricht  zu  erklären,  der 
neben  den  umfassenderen  Werken  von  Laas  und  Lehmann  von  jedermann,  auch 
von  älteren  Lehrern,  mit  Vorteil  benutzt  werden  wird.  —  Zum  Schluß  noch  eine 
bescheidene  Anregung,  die  sich  auf  den  sprachlichen  Ausdruck  bezieht!  S.  19 
heißt  es:  „Ein  rechter  Schüler  dieses  [nämlich  Horazens]  ist  Klopstock", 
S.  53:  „Der  Laokoon  fordert  —  dazu  auf,  auf  Einteilung  und  Wesen  dieser 
[nämlich   der  schönen  Künste]  einzugehen."    Ich  muß  gestehen,    daß  ich  die  Ab- 


Zum  deutschen  Aufsatz.  323 

neigung  Wustmanns  gegen  diese  nackten  Genetive  dieses  und  dieser  im  vollen 
Maße  teile.  —  Vielleicht  trägt  die  zweite  Auflage  meinen  Gefühlen  Rechnung. 

Ewald,  Georg,  Wegweiser  zur  Erzielung  eines  selbständigen  deut- 
schen Schüleraufsatzes.  Frankfurt  a.  M.  1907.  Moritz  Diesterweg.  112  S. 
gr.  8».    geh.  1,80  M. 

Verfasser  ist  der  Meinung,  daß  der  frische  Kindersinn  durch  die  „schablonen- 
mäßige Schreiblesedressur"  der  ersten  Schuljahre  für  gewöhnlich  erstickt  werde, 
während  doch  „jedes  normal  begabte  Kind  die  größte  Freude  daran  finde,  seine 
Gedanken  über  angeschaute  Dinge,  selbstverrichtete  Tätigkeiten,  miterlebte  Familien- 
feste, Spiele  und  Spielsachen,  Ausflüge  u.  a.  m.  selbständig  ausdrücken  zu  dürfen". 
Was  dann  vorgeschlagen  wird,  diese  Selbständigkeit  im  Beobachten,  Vergleichen, 
Ordnen  und  Gliedern  von  der  ersten  Schulwoche  an  anzubahnen  und  immer  mehr 
zu  festigen,  ist  im  allgemeinen  recht  verständig  und  beherzigenswert.  Eben  des- 
halb, weil  es  sich  wirklich  um  eine  systematische  Anleitung  zur  Selbständigkeit 
handelt,  also  um  —  Unselbständigkeit,  wie  die  gründlichsten  Aufsatzreformer  sagen 
würden!  Um  so  überraschender  ist  es,  daß  einer  der  letzten  Abschnitte  des 
Buches  die  Überschrift  trägt:  „Vermeidung  jeglichen  Zwanges  in  bezug  auf  die  Dis- 
position." In  dieser  Allgemeinheit  ist  der  Satz  schief  und  irreführend.  Daß  sich 
jeder  vernünftige  Lehrer  jede  vernünftige  Disposition  gefallen  läßt,  ist  selbst- 
verständlich, aber  es  gibt  schließlich  auch  einen  Zwang  der  Logik,  d.  h.  für  die  Be- 
handlung eines  bestimmten  Themas  steht  eine  bestimmte,  oft  sehr  begrenzte  Aus- 
wahl von  Möglichkeiten  zu  Gebote,  die  dem  Schüler  —  mindestens  an  verwandten 
Themen  —  klargemacht  werden  können  und  müssen.  Aber  Verfasser  hat  geglaubt, 
von  seinem  —  seminaristischen  —  Standpunkte  aus  dem  kurzsichtigen,  pedan- 
tischen „Herrn  Professor"  etwas  am  Zeuge  flicken  zu  müssen.  Die  Lehrer  des 
Deutschen  an  höheren  Lehranstalten  sind  gern  bereit,  von  der  Praxis  der  Volks- 
schule zu  lernen,  halten  sich  aber  im  übrigen  an  den  Spruch:  „Jeder  kehre  vor 
der  eigenen  Türe!" 

Bargmann,  A.,  Anleitung  zum  Aufsatzbilden.  Lehrplan  und  An- 
schauungsbeispiele. Mit  einem  Bilderanhang.  Leipzig  1907.  Quelle 
und  Meyer.    VIII  u.  175  S.    gr.  8«.    geh.  2,60  M. 

Das  Buch  ist  wie  das  eben  besprochene  zunächst  für  die  achtklassige  Volks- 
schule bestimmt,  gibt  aber  auch  für  die  Praxis  der  höheren  Lehranstalten  brauch- 
bare Anregungen  und  Fingerzeige.  Eine  durchaus  eigenartige  und  selbständige 
Arbeit,  die  den  Aufsatz  auf  die  breiteste  Grundlage  stellt,  d.  h.  ihn  in  die  engste 
Beziehung  zu  dem  gesamten  Lehrplan  der  Volksschule,  genauer  der  sächsischen 
Volksschule,  setzt.  In  Hinsicht  auf  die  —  bisweilen  fast  beängstigende  —  Gründ- 
lichkeit, mit  der  Methodik  und  Systematik  behandelt  werden,  erinnert  sie  mich  an  die 
Bücher  von  Johannes  Boock.  Aber  die  schwere  Rüstung  der  Methodik  und  Systematik 
hat  ja  immerhin  bloß  der  Lehrer  zu  tragen,  nicht  der  Schüler,  und  der  mag  sie  lockern, 
wenn  sie  ihn  drückt  und  beengt.  —  Verfasser  unterscheidet  zunächst  Vorgänge, 
die  durch  Ursachen,  und  Handlungen,  die  durch  Beweggründe  bestimmt  werden, 
und  demnach  Vorgangsfächer  (Erdkunde,  Naturgeschichte  und  Naturlehre)  und 
Handlungsfächer  (Religionsgeschichte  und  Profangeschichte).  Das  sind  die  Fächer, 
die  für  seine  Aufsatzlehre  in  Betracht  kommen.    Dabei  handelt  es  sich  entweder 

21* 


324  M.  Klatt,  Althoff  und  das  höhere  Schulwesen, 

um  ein  Nebeneinander  im  Räume  oder  um  ein  Nacheinander  in  der  Zeit.  Für  das 
Nebeneinander  folgen  die  Vorstellungen  so:  links,  Mitte,  rechts  oder  Vordergrund, 
Mittelgrund,  Hintergrund  oder  unten,  Mitte,  oben  oder  umgekehrt.  Für  das  Nach- 
einander ist  der  feststehende  Gang:  Anfang,  Mitte,  Ende  —  Ursache,  Vorgang, 
Wirkung  oder  Beweggrund,  Handlung,  Folge.  Das  sind  also  zwei  Aufsatztypen, 
in  denen  die  Ordnung  (Disposition)  mit  der  Bestimmung  des  Typus  unmittelbar 
gegeben  ist.  Zu  dem  Nebeneinander  und  Nacheinander  tritt  als  dritter  Aufsatz- 
typus das  Durcheinander  (Betrachtung  oder  Abhandlung).  Hier  ist  die  Ordnung 
nicht  gegeben,  sondern  erst  zu  schaffen.  Endlich  wird  auf  allen  Stufen  die  ge- 
legentliche Aufsatzbildung  von  der  absichtlichen  (systematischen)  Aufsatzbildung 
streng  unterschieden.  Der  Ausdruck  „gelegentlicher  Aufsatz"  wird  verständlich, 
wenn  man  weiß,  daß  Bargmann  schlechtweg  jede  geordnete  Reihe  von  Vor- 
stellungen oder  Vorstellungsgruppen,  mag  dieses  Ordnen  auch  nur  mündlich  oder 
gar  nur  in  Gedanken  vorgenommen  werden,  einen  „Aufsatz"  nennt.  Wenn  man 
also  die  leidige  Systematik  beiseite  läßt,  so  lautet  Bargmanns  Forderung  dahin, 
daß  der  eigentliche  (für  gewöhnlich  so  benannte)  Aufsatz  in  allen  Unterrichts- 
fächern von  allen  Lehrern  vom  ersten  Schuljahr  ab  dadurch  vorzubereiten  sei, 
daß  der  Schüler  sowohl  Geschautes  wie  Gedachtes  in  bestimmter  Ordnung  aufzu- 
nehmen lerne.  Der  Gedanke  ist  nicht  neu,  aber  vortrefflich,  und  Bargmann  hat 
ihn  an  Beispielen  aufs  sorgsamste  erläutert. 

Brieg.  Paul  Geyer. 


b)  Einzelbesprechungen: 

Klatt,  Max,  Althoff  und  das  höhere  Schulwesen.  Vortrag,  gehalten  am 
19.  Dezember  1908  im  Berliner  Gymnasiallehrer-Verein.  Berlin  1909.  Weid- 
mannsche  Buchhandlung.  42  S.  0,60  M. 
Es  ist  kein  geringes  Verdienst,  daß  Klatt  sich  entschloß,  den  Vortrag  zum  An- 
denken Althoffs  im  Berliner  Gymnasiallehrer-Verein  zu  halten,  den  andere  zu  halten 
Bedenken  trugen  wegen  der  Schwierigkeit  der  Aufgabe,  ein  Bild  zu  entwerfen,  das 
so  ungemein  schwer  schon  jetzt  mit  voller  Objektivität  und  Sicherheit  zu  zeichnen 
ist.  Daß  Klatt  es  getan,  verdient  Anerkennung,  noch  mehr,  wie  er  es  ausgeführt. 
Es  beweist,  daß  die  Wahl  die  richtige  Persönlichkeit  getroffen  hat.  Denn  der  Vor- 
tragende stand  dem  verstorbenen  Ministerialdirektor  nahe  genug,  um  ihn  richtig 
einzuschätzen,  d.  h.  hoch  zu  schätzen  und  diese  Hochschätzung  auch  weiteren  Kreisen 
übermitteln  zu  können.  Er  stand  ihm  aber  nicht  zu  nahe,  um  in  die  Gefahr  zu 
kommen,  an  kleinlichen  Dingen  Anstoß  zu  nehmen.  Denn  zu  leicht  nimmt  der 
Mensch  an,  bedeutende  Eigenschaften  müßten  das  Kleinliche  und  Alltägliche  ver- 
zehren, oder  von  diesem  verzehrt  werden.  Das  ist  ein  Irrtum;  denn  das  Kleine 
kann  neben  dem  Großen  sehr  gut  bestehen;  unter  Umständen  kann  es  das  Große 
sogar  verschönern  und  interessant  charakterisieren.  Für  den  Biographen  liegt  die 
Gefahr  zu  nahe,  das  zu  vergessen.  —  Klatt  war  auch  sonst  in  erster  Linie  berufen 
zu  seinem  Vortrag.  Er  hat  schon  früher  in  zahlreichen  Versammlungen  über  Althoff 
gesprochen  und  er  kann  es  sich  zum  Verdienst  anrechnen,  immer  gerecht  und  so 


angez.  von  A.  Matthias.  325 

gesprochen  zu  haben,  daß  man  in  Philologenkreisen  die  Bedeutung  Althoffs  für 
die  höheren  Schulen  und  für  den  höheren  Lehrerstand  frühzeitig  erkannt  hat  und 
daß  dieses  Bewußtsein  beim  Tode  in  einer  Weise  zum  Ausdruck  kam,  die  dem 
Bewunderten  und  den  Bewunderern  alle  Ehre  macht.  Man  kann  es  nach  Verlauf 
einiger  Monate  getrost  behaupten,  daß  die  praktischen  Schulmänner  Preußens  in 
dem  Punkte  der  Einschätzung  Althoffs  den  Universitätslehrern  den  Rang  abgelaufen 
haben.  Die  Zeit  wird  kommen,  wo  diese  Wahrheit  noch  deutlicher  als  heute  er- 
kannt wird.  —  Was  nun  das  Lebensbild  Althoffs  anbelangt,  das  Klatt  uns  zeichnet, 
so  darf  man  es  als  wohlgelungen  bezeichnen.  Wenn  an  manchen  Stellen  manches 
im  unklaren  bleibt,  wenn  „für  die  Entscheidung  darüber,  welchen  Anteil  an  der 
Entwicklung  des  höheren  Schulwesens  im  einzelnen  Althoff  gehabt  hat,  die  Grund- 
lage fehlt  und  die  Methode  versagt",  wenn  diese  Monatschrift  mit  ihren  Äußerungen 
über  Althoff  den  eigentlichen  Zusammenhang  zwischen  manchen  Vorgängen  nicht 
aufgedeckt  hat,  wenn  vor  allem  für  die  historischen  plötzlichen  „Umschwünge"  die 
Gründe  nicht  ganz  erkennbar  gemacht  sind,  so  möge  sich  Klatt  und  die  Welt  zu- 
nächst damit  trösten,  daß  eben  ein  bedeutender  Mensch  in  seinem  Wesen  stets 
einige  Rätsel  hat,  und  daß  nur  der  unbedeutende  Flachkopf,  der  Schaumschläger 
oder  der  Philister  sofort  erkannt  wird  in  seinen  Motiven  und  Entschlüssen.  Wenn 
auch  einige  Rätsel  vorliegen,  besonders  aus  dem  Mai  1900,  so  kommt  man  viel- 
leicht der  Lösung  näher,  wenn  man  in  Erwägung  zieht,  daß  Althpff  ein  großer 
Taktiker,  daß  er  weniger  ein  Praktiker  war;  jedenfalls  kein  pädagogischer  Praktiker. 
Er  wußte  ja  kräftig  zu  schulmeistern,  d.  h.  Aufgaben  zu  stellen,  Gutachten  aufzu- 
geben, so  daß  noch  heute  eine  Fülle  dieser  Extemporalien  daliegen,  an  denen  mancher 
Pädagoge  von  Ruf  sich  erfolgreich  beteiligt  hat.  Aber  ein  praktischer  Pädagoge 
war  Althoff  nicht.  Das  beweist  eine  Geschichte,  die  bezeichnend  für  ihn  und  für 
sein  gutes  Herz  zugleich  ist.  Er  hatte  einen  Neffen  zur  Erziehung  in  sein  Haus 
genommen.  Dieser  Knabe  hatte  nun  einmal  etwas  versündigt;  zur  Strafe  sollte 
ihm  am  nächsten  Sonntag  die  süße  Speise,  die  Althoff  selbst  für  sein  Leben  gern 
aß,  entzogen  werden.  Als  der  Sonn-  und  Straftag  und  die  Stunde  der  süßen 
Speise  nahte,  konnte  Althoff  die  Strafvollziehung  nicht  über  sich  gewinnen;  er 
verließ  das  Lokal,  rief  seine  treffliche  Frau  vor  die  Tür  und  gab  Marien  den  Auftrag, 
dem  Neffen  die  Speise  zu  geben,  damit  er  nicht  inkonsequent  erscheine.  Man 
sieht,  ein  großer  Taktiker,  aber  kein  pädagogischer  Praktiker.  In  dieser  Linie 
liegen  denn  auch  die  „Umschwünge",  die  er  wohl  mit  dem  klassischen  Motto  aus- 
zuschmücken verstand:  „Was  gebe  ich  auf  mein  dummes  Geschwätz  von  gestern", 
einem  Worte,  das  er  einem  Studienfreunde  früherer  Zeiten  zu  verdanken  versicherte. 
Also  grübeln  wir  nicht.  Die  Taktik  und  die  Rücksicht  auf  retardierende  Faktoren 
hat  manches  auf  dem  Gewissen  in  der  Entwicklung  der  Dinge  vom  l.  Februar  bis 
1.  Juni  1900.  Das  aber  ist  sicher:  Wäre  Althoff  nicht  gewesen,  so  stünden  wir  mit  der 
wichtigsten  Frage,  der  der  Berechtigungen  und  Gleichwertigkeit  der  höheren 
Knabenschulen  noch  auf  demselben  Fleck  wie  anno  1899.  Bei  dieser  Frage  hat 
Althoff  mit  seiner  vielgewandten  Taktik  alle  Beteiligten  nach  seiner  Pfeife  tanzen 
lassen  und  hat  es  mit  Humor  angesehen,  wie  dieser  Tanz  von  diesem  und  jenem 
mit  größtem  Widerstreben  und  sogar  unter  Zornesäußerungen  ausgeführt  wurde. 
So  etwas  konnte  nur  eine  große  Persönlichkeit  fertig  bringen  und  als  solche  hat 


326  F-  Paulsen,  Moderne  Erziehung  usw.,  angez.  von  P.  Jahnke. 

ihn  Klatt  gezeichnet;  er  befindet  sich  damit  in  Übereinstimmung  mit  dem  Urteil 
eines  klugen  Schafherdenbesitzers  aus  Australien.  Als  Althoff  nämlich  eines  Tages 
mit  einem  vortragenden  Rat  seiner  Abteilung  von  Berlin  nach  Halle  fuhr  in  der 
bekannten  grauen  vorsintflutlichen  Reisejoppe  und  der  unglaublichen  Kopfbedeckung, 
von  der  man  auf  alles  andre  als  auf  das  Kultusministerium  schließen  konnte,  saß 
im  Speisewagen,  wo  Althoff,  wie  gewohnt,  erkleckliche  Speisevorräte  zu  sich  nahm, 
ein  kluger,  vielgereister  Schafherdenbesitzer  aus  Australien  ihm  gegenüber  und 
verwickelte  sich  in  ein  lebhaftes  Gespräch,  in  dessen  Verlauf  Althoff  die  drollige 
Aufforderung  an  ihn  richtete,  zu  raten,  welchem  Beruf  er  angehöre.  Die  knappe 
Antwort  lautete:  „Das  weiß  ich  nicht;  jedenfalls  sind  Sie  ein  bedeutender  Mann." 
So  war  es.  Am  besten  merken  es  die  Freunde  Althoffs  an  der  Lücke,  die  sein 
Tod  gelassen  hat. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Paulsen,  Friedrich,  Moderne  Erziehung  und  geschlechtliche  Sittlichkeit. 
Einige   pädagogische   und   moralische   Betrachtungen   für   das  Jahrhundert  des 
Kindes.    Berlin  1908.    Reuther  &  Reichard.    95  S.    8«.    geh.  1  M. 
Wenn  Friedrich  Paulsen,  der  warmherzige  Freund  der  höheren  Schulen,  ihrer 
Lehrer  und  ihrer  Schüler,  das  Wort  ergriff,    um  in  seiner  milden  und  doch  kraft- 
vollen Art  Stellung   zu    nehmen   zu    irgendeiner  Frage  der  Erziehung   und    des 
Unterrichts,   dann  konnte  er  gewiß  sein,  viele  dankbare  und  aufmerksame  Zuhörer 
und  Leser  unter  uns   zu   finden.    So   waren   wir  ihm,   dem    nun  leider   allzufrüh 
Dahingeschiedenen,  auch  dafür  zu  Dank  verpflichtet,  daß  er  in  dem  vorliegenden 
Büchlein   einige  zuerst   in  Zeitschriften  veröffentlichte  Aufsätze  vereinigt   und  be- 
quemer zugänglich  machte 

Der  erste  , Väter  und  Söhne"  sucht  die  Frage  zu  beantworten,  wie  es 
komme,  daß  gerade  heutzutage  der  Gegensatz  zwischen^  Jungen  und  Alten  so 
scharfe  Formen  angenommen  habe,  wo  doch  in  der  Schule  wie  im  Elternhause 
der  Jugend  die  größte  Rücksicht  bewiesen,  ihrer  Entwicklung  die  größte  Teilnahme 
entgegengebracht  werde.  Er  findet  die  Ursache  in  dem  Umstände,  daß  wir  uns 
auf  allen  Gebieten,  dem  kirchlich-religiösen  wie  dem  staatlichen  und  gesellschaft- 
lichen, in  einer  Zeit  des  Übergangs  befinden.  Es  herrsche  noch  eine  Kampfes- 
stimmung, die  „ruhigen  Selbstbesitz  und  sichere  Bewegung  innerhalb  anerkannter 
und  selbstgezogener  Schranken"  nicht  aufkommen  lasse.  Darum  sieht  er  nicht 
mutlos  in  die  Zukunft,  sondern  hält  dafür,  daß  man  der  Jugend  die  Erkenntnis 
dieses  Zieles  der  Charakterbildung  erleichtern  müsse.  Darum  begrüßt  er  es  mit 
Freude,  daß  im  Schulleben  der  „östliche  Typus"  des  Vorgesetzten  „in  raschem 
Zurückweichen"  begriffen  sei.  Das  sei  auch  bei  der  Reifeprüfung  nötig;  denn 
»bleibt  es  dabei,  daß  am  Ende  der  Schulzeit  das  gebotene  Maß  regelrechter  Ziegel- 
steine gebrannt  sein  muß,  dann  wird  es  nichts  mit  der  Freiheit  der  Oberstufe". 
Insbesondere  sei  beim  Religionsunterricht  dem  Lehrer  wie  dem  Schüler  ein  größeres 
Maß  von  Freiheit  zuzubilligen.  —  Den  trefflichen  Ausführungen  kann  man  nur 
eins  entgegenhalten:  daß  sie  selbst  wie  die  in  ihnen  bekämpften  Erscheinungen 
und  Schriften  im  wesentlichen  auf  großstädtischen  Verhältnissen  beruhen,  die 
glücklicherweise   nicht   überall   herrschen.    Gott   sei   Dank,    es  gibt  in  deutschen 


P.  F.  Thomas,  L'tducation  dans  la  Familie  usw.,  angez.  von  W.  Münch.        327 

Landen  noch  genug  Schüler,  die  ihren  Lehrern  innerliche  Hochachtung,  willigen 
Gehorsam  und  dauernde  Dankbarkeit  entgegenbringen! 

Der  zweite  Aufsatz  „Schuljammer  und  Jugend  von  heute"  schildert 
nicht  ohne  grimmigen  Humor  das  Jammern  über  die  Schule  und  zeigt,  worüber 
die  Schule  selbst  zu  jammern  hat,  deren  Ansehen  von  allen  Seiten  erschüttert 
wird.  Wir  wollen  uns  freuen,  daß  ein  Mann  wie  Friedrich  Paulsen  solches  Ver- 
ständnis für  die  Schwere  unseres  Berufes  hat,  und  wollen  ihm  dankbar  dafür 
sein,  daß  er  es  so  mannhaft  ausspricht.  Aber  wir  selbst  wollen  doch  auch  nicht 
vergessen,  was  einmal  der  verantwortliche  Herausgeber  dieser  Monatschrift  auf  einer 
Philologenversammlung  in  Köln  ausführte:  es  gibt  auch  viele  Eltern,  die  mit  der 
Schule  sehr  zufrieden  sind  und  nicht  in  das  allgemeine  Klagelied  einstimmen; 
aber  da  die  Verständigen  meist  stiller  sind  als  die  Unverständigen,  so  treten  sie  nicht 
hervor.  An  die  sollen  wir  denken,  wenn  wir  dem  Unverstände  begegnen,  und 
sollen  uns  hüten,  uns  zu  ärgern  und  uns  verbittern  zu  lassen.  Denn  sonst  könnte 
es  dahin  kommen,  daß  die  Schreier  recht  hätten. 

Der  dritte  Aufsatz  verurteilt  die  Episode  von  Anna  Bojes  Liebesverhältnis  mit 
dem  „Manne  vom  Heckenweg"  in  Frenssens  Hilligenlei  aus  künstlerischen  und 
sittlichen  Gründen.  —  Der  vierte  „Zum  Kapitel  der  geschlechtlichen  Sitt- 
lichkeit" steht  auf  demselben  Standpunkt,  wie  das  kürzlich  hier  besprochene 
Buch  von  Förster  „Sexualethik  und  Sexualpädagogik".  Auch  Paulsen  verspricht 
sich  nichts  von  der  sogenannten  Aufklärung  („es  fehlt  nur  noch  der  Experimentier- 
kursus"!), sondern  verlangt  kräftigeren  Schutz  der  Jugend  vor  der  sittlichen  Ver- 
seuchung durch  Bücher,  Zeitungen  und  Auslagen  in  den  Ladenfenstern.  Er  schlägt 
zur  Hebung  des  sittlichen  Ernstes  aller  Kreise  entsprechende  Belehrung  der  Juristen 
und  Mediziner  auf  der  Universität  vor,  eine  Durchdringung  dieser  Berufe  mit 
philosophisch-ethischen  Ideen.  Er  meint,  die  gesetzlichen  Bestimmungen  gegen  die 
Verbreitung  unzüchtiger  Schriften  und  Abbildungen  reichten  aus,  wenn  sie  nur  mit 
Nachdruck  gehandhabt  würden.  Ob  das  richtig  ist,  weiß  ich  nicht;  aber  das  ist 
jedenfalls  richtig,  daß  diese  Pest  eine  der  verderblichsten  ist,  und  sie  wütet  leider 
nicht  nur  in  großen  Städten. 

Der  fünfte  Aufsatz  „Alte  und  neumodische  Erziehungsweisheit"  be- 
handelt drei  Imperative  als  „die  ewigen  Leitsterne  der  wahren  Erziehung":  Lerne 
gehorchen!  Lerne  dich  anstrengen!  Lerne  dir  versagen  und  deine  Begierden 
überwinden! 

Lüdenscheid.  R.  Jahnke. 

Thomas,  P.  P^lix,  L'feducation  dans  la  Familie  (Les  P6ch6s  des  Parents). 
Paris  1908,  F.  Alcan.  XI  u.  255  S.  8". 
Das  klar  und  lebendig  geschriebene,  von  sicherer  Lebenskenntnis  zeugende, 
auf  gesunden  Grundsätzen  aufgebaute  Buch  des  Verfassers  (dem  wir  unter  manchem 
andern  das  gute  Buch  L'^ducation  des  Sentiments  und  ebenso  eine  eingehende 
Studie  über  die  Bedeutung  der  Suggestion  in  der  Erziehung  verdanken)  verfolgt 
einen  ganz  praktischen  Zweck.  Zu  einer  Zeit,  wo  gegen  die  Gestaltung  der  öffent- 
lichen Erziehung  so  unendlich  viel  Vorwürfe  erhoben  werden,  will  es  den  Familien 
wieder  einmal  zu  Gemüte  führen,  wie  viel  sie  ihrerseits  versäumen,  verfehlen,  ver- 


328       C.  Nohl,  Womit  hat  der  höhere  Schulunterricht  usw.,  angez.  von  P.  Cauer. 

derben.  Naturgemäß  wiederholt  sich  da  eine  Kritik,  wie  sie  oft  genug  früher  zum 
Ausdruck  gekommen  ist.  Die  Ratschläge,  so  sagt  Thomas  ganz  ähnlich  wie  seiner 
Zeit  Jean  Paul  sich  äußerte,  mag  man  banal  nennen;  aber  da  man  sie  zu  befolgen 
bis  jetzt  immer  unterlassen  hat,  so  werden  sie  immer  wieder  nötig.  Großenteils 
hat  es  der  Verfasser  mit  spezifisch  französischen  Verhältnissen  zu  tun.  Dahin 
gehört  die  überzärtlich  schwache  Elternliebe,  die  übertriebene  Ängstlichkeit  und  zu- 
gleich doch  die  aus  Bequemlichkeit  erfolgende  frühzeitige  Verpflanzung  der  Knaben 
in  Schulinternate,  die  sehr  mißliche  Pflege  des  Ehrgeizes  oder  der  Eitelkeit,  das 
Haschen  nach  äußerlichen  Preisen,  auch  die  steten  Versuche,  durch  persönliche 
Fürsprache  und  Bitten  Erfolge  zu  sichern  oder  Mißerfolge  abzuwehren,  dann  auch 
die  schroffe  Scheidung  zwischen  den  streng  kirchlichen  und  wesentlich  religions- 
feindlichen Menschen.  Vieles  aber  trifft  überhaupt  die  erzieherischen  Gepflogen- 
heiten der  Gegenwart,  namentlich  in  den  Großstädten.  Daß  die  elterliche  Autorität  als 
solche  so  ziemlich  abgedankt  habe,  hört  man  ja  zurzeit  aus  allen  Ländern.  Von 
den  heutigen  parents  constitutionnels  redet  das  Buch  mit  Recht,  oder  von  dem 
im  „Jahrhundert  des  Kindes"  neu  aufgerichteten  Königtum  der  Kinderwelt  mit 
seinen  ausgedehnten  und  unbedingten  Rechten.  Dem  in  der  Praxis  wichtigsten 
Gebiet  sind  auch  die  wertvollsten  Abschnitte  unseres  Buches  gewidmet,  nämlich 
der  Erziehung  des  Willens  gemäß  den  psychologisch -pädagogischen  Erkenntnissen 
der  Gegenwart.  Übrigens  verfolgt  der  Verfasser,  entsprechend  der  auch  sonst  ver- 
breiteten französischen  Auffassung,  die  Aufgaben  der  Familienerziehung  über  die 
gesamte  Schul-  und  Studienzeit  hinaus  bis  zur  Selbständigkeit,  zur  Amtsbewer- 
bung, zur  Verlobung  und  Heirat.  Wesentlich  als  Sache  der  Eltern  werden  auch 
alle  diese  Dinge  noch  betrachtet,  worin  wir  ihm  zu  folgen  weder  Anlaß  noch  Nei- 
gung haben.  Wie  viel  praktische  Einwirkung  dem  Buche  beschieden  sein  wird? 
Kenntnis  von  ihm  zu  nehmen  kann  jedenfalls  auch  diesseits  der  Vogesen  denen 
empfohlen  werden,  die  mit  Erziehung  zu  tun  haben. 

Berlin.  W.  Münch. 

Nohl,  Clemens,   Womit  hat  der  höhere  Schulunterricht  unserer  Zeit  die 
Jugend    bekannt   zu   machen?     Was    ist   von    demselben    unbedingt 
fernzuhalten?     Wie   ist   in    dem   allein  Zulässigen   zu  unterrichten? 
Für  Eltern  und  Lehrer.    Essen  a.  R.  1904.    G.  D.  Baedeker.    0,80  M. 
Auf  27  Seiten  werden  die  drei  Fragen  des  Titelblattes  beantwortet.    Der  Ver- 
fasser selbst  bezeichnet  das,  was  er  geschrieben  hat,  mehrfach  als  „Untersuchungen"; 
in  Wirklichkeit  sucht  er  nicht,  sondern  hat  längst  gefunden,  und  trägt  seine  An- 
sicht im  Tone  des  Gesetzgebers   vor.    Zum  Beispiel:    „Vom  Nibelungenlied,    von 
Gudrun,  Parzival,  von  Heliand  und  von  Krist  kann  als  Lektüre  keine  Rede  sein, 
am  wenigsten  im  Urtext."    Religion,  Deutsch,  neuere  Sprachen,  Geschichte,  Geo- 
graphie werden   einigermaßen  ausführlich  behandelt;   ganz  kurz  die  Naturwissen- 
schaften, übrigens  mit  warmer  Empfehlung,  dann  Mathematik  und  Rechnen,  Latein 
und  Griechisch.    Diesen  beiden  Gruppen  ist  der  Verfasser  gleich  sehr  abgeneigt. 
Von  der  einen  heißt  es:  „Die  Griechen  und  Römer  haben  von  ihrer  früheren  Höhe 
herniedersteigen  müssen,  seitdem  man  nicht  mehr  zweifelte,  daß  die  neueren  Kultur- 
völker sie  auf  allen  Gebieten  des  Denkens  und  Schaffens  überflügelt  haben,  und 


Novae  Symbolae  Joachimicae,  angez.  von  E.  Wendung.  329 

daß  keine  Kulturfrage  der  Gegenwart  aus  ihren  Schriften  Antwort  empfängt.*  Von 
der  anderen:  »Der  großen  Herde  der  Schüler,  die  dem  Rechen-  und  mathematischen 
Unterricht,  sobald  er  die  Anfänge  verläßt,  nicht  mehr  folgen  kann,  ist  derselbe 
schon  auf  den  mittleren  Lerngebieten  ein  nicht  ruhender  Quell  der  Überbürdung, 
reich  an  Mühsal  und  Zeitvergeudung,  arm  an  geistigem  Gewinn." 

Von  dieser  Rücksicht  auf  Lernbegier  und  Arbeitskraft  der  großen  Menge  — 
den  anderen  Ausdruck  mag  ich  nicht  nachgebrauchen  —  ist  nun  auch  bei  den  be- 
vorzugten Fächern  das  Urteil  über  Auswahl  und  Methode  bestimmt.  So  kann  man 
sich  nicht  wundern,  daß  das  Niveau  der  Hoffnungen  und  Forderungen,  so  zu- 
versichtlich sie  ausgesprochen  werden,  doch  dem  Inhalte  nach  ein  mehr  als  be- 
scheidenes ist.  Im  Deutschen  erscheint  als  „Blüte  des  Grammatikunterrichts  in  den 
oberen  Klassen  die  Satzanalyse,  wenn  sie  an  schwierigeren  Satzgefügen  oder  gar 
Satzperioden  vorgenommen  wird  und  ein  gewandter  Schulmann  sie  leitet".  Daß 
ein  solcher  Unterricht  sich  an  Lessingsche,  Goethesche  und  Schillersche  Prosa 
nicht  heranwagen  will  (S.  11),  verdient  eigentlich  nur  Lob.  „Der  ganze  Geschichts- 
unterricht", so  wird  das  über  diesen  Gesagte  zusammengefaßt,  „kann  es  der  Haupt- 
sache nach  kaum  weiter  als  zu  allgemeinen  Überblicken  über  das  bringen,  was 
von  den  hervorragendsten  Völkern  in  ihren  hervorragendsten  Zeiten  durch  ihre 
hervorragendsten  Persönlichkeiten  gewirkt  und  errungen  worden  ist.  Kaum  mehr 
als  ausnahmsweise  darf  im  Schulunterricht  die  Welt-  oder  Volksgeschichte  zur 
Spezialgeschichte  werden". 

Die  kleine  Schrift  kann  doch  Nutzen  stiften.  Sie  mag  zeigen,  wohin  wir 
schließlich  kommen,  wenn  wir  in  der  Richtung  weiter  gehen,  daß  in  allen  wichtigen 
Fächern  alles  Wichtigste  vom  Wichtigen  ausgewählt  und  zu  einem  für  alle  gültigen 
Bestände  allgemeiner  Bildung  gemacht  werden  soll.  —  Erwähnt  sei  noch,  daß  sich 
Nohl  als  überzeugten  Anhänger,  ja  ältesten  Vertreter  (S.  28)  des  Reformgymnasiums 
bekennt. 

Münster  i.  W.  Paul  Cauer. 

Novae   Symbolae   Joachimicae.     Festschrift  des   Königlichen  Joachimsthalschen 
Gymnasiums  aus  Anlaß  des  dreihundertjährigen  Jubiläums  der  Anstalt  veröffentlicht 
von 'dem  Lehrerkollegium  des  K.  J.  G.  —  Halle  a.  S.  1907.    Buchhandlung  des 
Waisenhauses.    270  S.    m.  Fig.  u.  3  Taf.    gr.  8°.    5  M. 
Im    Jahre    1880    veröffentlichte    das   Lehrerkollegium    des   Joachimsthalschen 
Gymnasiums    aus  Anlaß   der  Verlegung   der  Anstalt   in  ihr  neues  Gebäude  eine 
zweibändige   Festschrift:  Symbolae  Joachimicae  (zusammen  636  S.).    Die  Jubel- 
feier des  vorigen  Jahres  veranlaßte  die  Herausgabe  neuer  Beiträge  in  bescheidenerem 
Umfang.    Von  den  Verfassern  der  erstgenannten  Festschrift  sind  an  der  vorliegenden 
nur  noch  zwei  beteiligt,  O.  Schröder  und  P.  Stengel.    Als  ein  Zeichen  der  Zeit  mag 
hervorgehoben  werden,  daß,  während  1880  unter  18  Beiträgen  5  lateinische  waren, 
die  10  Beiträge  von   1907  sämtlich  in  deutscher  Sprache  abgefaßt  sind;  der  Titel 
des  Buches  zeugt  als  einzige  Säule  von  der  entschwundenen  Latinität. 

Bei  der  Verschiedenartigkeit  der  behandelten  Gegenstände  muß  ich  mich  im 
wesentlichen  darauf  beschränken,  den  Inhalt  der  einzelnen  Abhandlungen  nach 
Möglichkeit  zu  skizzieren. 


330  Novae  Symbolae  Joachimicae, 

C.  Bardt,  Ein  verirrter  Brief  des  Cicero  an  Cornificius  (S.  7—21)  weist 
nach,  daß  ad  fam.  XII  25  aus  zwei  Briefen  besteht:  1)  25,1—2  vom  20.  März  43; 
2)  25,3—5  vom  26.-29.  November  44.  Die  Untersuchung  gibt  Gelegenheit,  die 
Entwicklung  des  Verhältnisses  zwischen  Cicero  und  Oktavian,  besonders  im  Oktober 
und  November  44  eingehend  zu  behandeln. 

O.  Schröders  Abhandlung  über  Griechische  Zweizeiler  (S.  25—45)  gipfelt 
in  einer  neuen  rhythmischen  Erklärung  des  elegischen  Distichons.  Von  Horaz  aus- 
gehend zeigt  der  Verfasser,  daß  fast  alle  griechischen  Zweizeiler  ursprünglich  auf 
Dreiheit  gestellt  sind;  also  nicht;  a:a,  sondern:  a:a;b,  d.  h.  zwei  Stollen  und  Ab- 
gesang,  wobei  b  bald  proodisch,  bald  mesodisch,  bald  epodisch  ist;  nach  Metren 
berechnet  (Daktylen-  und  Jambenpaare  sind  rhythmisch  gleichwertig)  meist  1  -»- 1;3. 
Beispiel  Hör.  epod.  15: 

Nox  erat  et  caelo  fulgebat  luna  sereno  (^  =  3) 
inter  minora  sidera  (a  -f  a  =  1  +  1). 

Faßt  man  nun  die  daktylische  Penthemimeres  {arboribusque  comae)  nicht  als 
Dreiheber,  sondern  als  ursprünglichen  Vierheber  mit  Kontraktion  oder  fester  Pause 
(- v.v^  _<^v^^^^),  wozu  Schröder  das  Recht  aus  den  Chorhedern  des  Aischylos 
ableitet  (S.  35—40),  so  ergibt  sich  für  das  elegische  Distichon  die  Struktur  3 :  (2  +  2) 
oder  b  a  a.  Also  „stieg  in  dem  ,Hexameter'  des  Springquells  flüssige  Säule  nicht, 
um  in  dem  ,Pentameter'  einfach  wieder  melodisch  herabzufallen,  sondern  um  sich 
im  Steigen  als  eine  Feuersäule  zu  offenbaren,  die  dann,  plötzlich  verwandelt,  in 
zwei  leuchtenden  Sternen  langsam  niederschwebte,  und,  noch  in  der  Höhe,  erlosch 
erst  der  eine,  dann  der  andere  Stern*. 

Es  folgt  eine  Studie  von  J.  L.  Schultze  über  Das  „Evangelium"  im  ersten 
Thessalonicherbrief  (S.49 — 87),  die  alsMuster gewissenhaftester m/^/-/;/'^/a//o  auch 
den  Philologen  fesselt.  Das  Ergebnis  lautet  dahin,  daß  Paulus  „unter  euaY^eXiov 
inhaltlich  nicht  nur  einzelne  erweckliche  Heilswahrheiten  verstanden  wissen  will, 
sondern  immer  den  ganzen  Komplex  derjenigen  Verkündigung,  welche  zur 
Begründung  des  christlichen  Heilsstandes  notwendig  ist .  .  und  daß  er  seine  ein- 
zelnen Briefe  nur  als  fragmentarische  Ergänzungen  einer  solchen  Verkündigung 
ansieht,  die  aber  sie  selbst  bei  weitem  nicht  zu  ersetzen  vermögen". 

P.  Stengel  Zu  den  griechischen  Sakralaltertümern  (S.  91—107)  behandelt 
die  Begriffe  oizkd-^Yyh  to[i.ia  und  ocpa^tov.  Das  Essen  der  inneren  Teile  (oTcXa^/va)  des 
Opfertieres,  wie  es  Homer  regelmäßig  schildert,  muß  eine  sakrale  Bedeutung  gehabt 
haben.  Man  vermutete  in  ihnen  eine  geheimnisvolle  Kraft,  vielleicht  den  Gott  selber, 
mit  dem  man  sich  durch  das  Aufessen  mystisch  zu  vereinigen  suchte.  Ähnliche 
Gedankengänge  hat  bekanntlich  Dieterich  in  seiner  „Mithrasliturgie"  verfolgt.  Die 
bei  den  Eidopfern  häufig  erwähnten  Toixia  sind  nach  Stengel  gleichbedeutend  mit 
den  Evxo[i.a;  es  sind  die  Hoden  der  Opfertiere.  So  erklärt  sich  die  Tatsache,  daß 
mit  einer  Ausnahme,  die  eine  besondere  Stellung  einnimmt  (F  103),  bei  Schwur- 
opfern nur  männliche  Tiere  verwendet  werden.  Sie  wurden  vor  dem  Opfer 
kastriert,  und  der  Schwörende  zertrat  die  xofAia,  d.  h.,  da  diese  als  Sitz  des  Lebens 
galten,  er  wünschte  sich  für  den  Fall  des  Meineids  den  Tod. 


angez.  von  E.  Wendung.  331 

Die  von  K.  Fuhr  zusammengestellten  Rhetorica  (S.  111—133)  interessieren 
nur  den  Spezialisten.  Erwähnt  sei  hier  sein  Nachweis,  daß  die  unter  dem  Namen 
des  Dionys  von  Halikarnaß  überlieferte  te/vt)  jünger  sein  muß  als  Hermogenes, 
von  dem  sie  stark  abhängig  ist.  Zwei  späte  byzantinische  Machwerke  über  Wort- 
und  Sinnfiguren  lassen  einen  Blick  in  die  Verchristlichung  der  Schulbücher  jener 
Zeit  tun;  an  die  Stelle  von  Homer  und  Demosthenes,  aus  denen  bis  dahin  die 
Beispiele  entnommen  wurden,  tritt  Gregor  von  Nazianz  (S.  126  ff.). 

W.  Nausesters  Beiträge  zur  Lehre  vom  Deponens  und  Passivum 
(S.  137—168)  beruhen  auf  einem  mit  großer  Selbstverleugnung  gesammelten  stati- 
stischen Material,  aus  dem  sich  folgendes  ergibt.  Die  r-Formen  des  Deponens 
(Praes.  Imperf.  Fut.  I)  sind  bei  Plautus,  Terenz,  Virgil,  Seneca  ungleich  häufiger 
als  die  des  Passivums;  bei  Catull,  Horaz,  Petron  halten  sie  sich  die  Wage;  bei 
Lukrez,  Juvenal,  Martial  und  den  Prosaikern  überwiegt  das  Passivum.  In  diesem 
Befund  spiegelt  sich  der  Übergang  von  der  Volkssprache  zur  Literatursprache. 
Die  Verbindung  der  passiven  r-Formen  mit  a  (ab)  ist  bei  allen  Dichtern,  von  Plautus 
bis  Martial,  überaus  selten;  etwas  häufiger  erscheint  die  Präposition  a  in  Verbindung 
mit  dem  Part.  Perf.  Pass.;  bei  den  Prosaikern  ist  beides  ungemein  zahlreich. 
Nausester  zieht  hieraus  den  Schluß:  die  Volkssprache  sah  in  laudor  nur  ein 
Intransitivum ;  bei  laudatus  gestattete  sie  die  streng  passivische  Auffassung,  empfand 
aber  den  Zusatz  ab  aliquo  als  unschön;  laudor  ab  aliquo  ist  eine  „in  den  Kreisen 
der  Gebildeten  aufgekommene  Sprachunart".  —  M.  E.  liegt  der  eigentliche  Grund 
tiefer.  Die  Volkssprache  geht  von  der  Anschauung  aus;  diese  aber  haftet  am 
tätigen  Subjekt  {verberat).  Ein  Leiden  wird  zunächst  in  der  Vollendung  an- 
schaulich {verberatusest);  hiermit  verbindet  sich  dann  die  Frage  nach  dem  Ursprung 
des  Leidens  {ab  aliquo).  Erst  nachträglich,  d.  h.  auf  dem  Wege  abstrakten  Denkens, 
wird  diese  Ausdrucksweise  auf  die  Tempora  der  Dauer  (==  r-Formen)  übertragen. 
So  erklärt  sich  auch  cpeu-ytu  als  sog.  Passivum  zu  Skuxo)  :  die  Vorstellung  des  Ver- 
folgens  haftet  am  Situxtuv;  der  Verfolgte  wird  nicht  als  Skdxoixevc?,  sondern  als 
^euYiüv  sinnlich  wahrgenommen. 

R.  Schiel  handelt  von  der  Anwendung  der  Kegelschnitte  auf  physika- 
lische Fragen  im  Gymnasialunterricht  (S.  171—196;  mit  12  Textfiguren). 

R.  Bartels  gibt  eine  Analyse  von  Schillers  Gedicht  „Das  Ideal  und  das 
Leben"  (S.  199 — 214),  ohne,  wie  es  scheint,  die  schöne  Abhandlung  von  A.  Döring 
über  den  gleichen  Gegenstand  (Neue  Jahrb.  f.  d.  klass.  Alt.  usw.  XVII  1906,  484 ff.) 
zu  kennen.*) 

K.  Schmalz  beschreibt  Pleurotomaria  Hirasei,  Pilsbry,  eine  Varietät 
von  PI.  Beyrichi,  Hilgendorf  (S.  217—219;  mit  3  Tafeln). 

G.  Junge  hat  sich  die  Frage  gestellt:  Wann  haben  die  Griechen  das 
Irrationale  entdeckt?  (S.  223—264;  mit  4  Textfiguren).  Die  Antwort  lautet: 
»Pythagoras  hat  die  Theorie  des  Irrationalen  nicht  gefunden;  das  Irrationale  ist 
wahrscheinlich  erst  Jahrzehnte  nach  seinem  Tode  entdeckt  worden.  Von  wem  es 
entdeckt  ist,  wird  sich  wohl  nie  herausstellen  (S.  264)." 


*)  Inzwischen  ist  die  Arbeit  von  Bartels  in  erweiteter  Form  gesondert  erschienen   und 
oben  S.  llOff.  von  P.  Goldscheider  ausführlich  besprochen  worden. 


332  Wissenschaft  und  Bildung,  angez.  von  H.  Richert. 

Im  Anhang  gibt  O.  Schröder  eine  Übertragung  des  HildebrandsHedes  in 
homerische  Hexameter;  C.  Bardt  hat  Lucrez  III  830—1094  (Vom  Wesen  der  Dinge) 
in  paarweise  gereimten  Blankversen  verdeutscht. 

Zabern  i.  E.  E.  Wendung. 

Wissenschaft  und  Bildung.  Einzeldarstellungen  aus  allen  Gebieten  des  Wissens. 
Herausgegeben  von  Privatdozent  P.  Herre.  Leipzig,  Quelle  u.  Meyer.  130  bis 
160  Seiten,  geh.  1  M.,  geb.  1,25  M.  -  Bd.  2.  Recken dorf,  H.:  Mohammed 
und  die  Seinen.  Bd.  3.  Holtzmann,  O.:  Christus.  Bd.  7.  Löhr,  M.:  Volks- 
ieben im  Lande  der  Bibel.  Bd.  11.  König,  E.:  Die  Poesie  des  alten  Testaments. 
Bd.  16.  Baentsch,  B.:  David  und  sein  Zeitalter. 
Die  Sammlung  „Wissenschaft  und  Bildung",  augenscheinlich  ein  Parallelunter- 
nehmen zu  Teubners  Sammlung  „Aus  Natur  und  Geistes  weit",  „will  dem  Laien 
eine  belehrende  und  unterhaltende  Lektüre,  dem  Fachmann  eine  bequeme  Zusam- 
menfassung, dem  Gelehrten  ein  geeignetes  Orientierungsmittel  sein,  der  gern  zu 
einer  gemeinverständlichen  Darstellung  greift,  um  sich  in  Kürze  über  ein  seiner 
Forschung  fernerliegendes  Gebiet  zu  unterrichten".  Es  liegt  in  der  Natur  der 
Sache,  daß  diese  drei  Aufgaben  hier  und  da  sich  stoßen,  und  daß  entweder 
der  Gelehrte  oder  der  Laie  zu  kurz  kommt.  Indessen  kann  über  die  Nützlichkeit 
solcher  Sammlungen  kein  Streit  mehr  sein,  da  der  Erfolg,  nicht  nur  der  buch- 
händlerische, allen  diesen  Unternehmungen  günstig  ist.  Die  vorliegenden  5  Bänd- 
chen behandeln  einzelne  Gebiete  der  Religionsgeschichte.  Die  Bändchen  treten 
in  erfolgreiche  Konkurrenz  mit  den  Religionsgeschichtlichen  Volksbüchern,  die  doch 
mehr  in  der  Richtung  eines  bestimmten  Parteistandpunktes  liegen.  Das  Christus- 
bild Oskar  Holtzmanns  kann  natürlich  nicht  mehr  sein  als  eins  neben  andern. 
Darin  liegt  der  starke  Reiz  dieses  Buches  und  seiner  Schranke.  Harnacks  neueste 
Forschungen  beweisen,  daß  wir  gerade  in  der  Evangelienkritik  von  gesicherten 
Resultaten  noch  nicht  sprechen  können.  Aber  soviel  kann  von  Holtzmanns  Christus 
gesagt  werden,  daß  er  neben  den  vielen  modernen  Christusbildern  eine  mögliche 
Auffassung  einheitlich  und  mit  wissenschaftlicher  und  religiöser  Tiefe  durchführt.  — 
Reckendorfs  Mohammed  füllt  nun  wirklich  eine  oft  gefühlte  Lücke  aus.  Wer  sich 
kurz  und  sicher  über  Mohammed  orientieren  wollte,  war  bisher  in  Verlegenheit. 
Jetzt  kann  er  an  der  objektiven  und  feinsinnigen  Arbeit  Reckendorfs  sich  schnell 
und  sicher  unterrichten.  Die  wissenschaftlichen  Resultate  der  Arbeit  vermag  ich 
nicht  nachzuprüfen.  Ich  kann  nur  sagen,  daß  ich  aus  dem  Buch  reiche  Belehrung 
geschöpft  und  es  mit  wachsender  Spannung  gelesen  habe.  —  Königs  Studie  über 
die  Poesie  des  alten  Testaments  erfreut  durch  klare  Anordnung  und  besonnenes 
Urteil.  Da  gerade  hier  die  Forschung  im  Fluß  ist,  muß  man  sich  vielfach  mit 
einem  „wahrscheinlich"  begnügen.  Aber  dem  gebildeten  Laien  wird  die  Schön- 
heit des  alten  Testamentes  erschlossen,  die  ihm  durch  dogmatische  Behandlung 
in  der  Schule  so  oft  verdeckt  geblieben  ist.  Bei  der  Lektüre  dieses  Buches  ist 
es  mir  wieder  besonders  deutlich  geworden,  daß  die  unbefangene  Anerkennung 
der  menschlichen  Seite  der  Bibel  wohl  Raum  schafft  für  eine  vertiefte  Anerkennung  des 
religiösen  Wertes.  Die  Formgebung  Königs  ist  nicht  immer  ganz  glücklich.  Gut 
ausgewählte  Anmerkungen  reizen   zur  weiteren  Forschung  auf  diesem  Gebiet.  — 


I 


G.  Schwamborn,  Kirchengeschichte  usw.,  angez.  von  W.  Capitaine.  333 

Musterhaft  ist  Baentsch:  David  und  sein  Zeitalter;  denn  hier  kann  der  Verfasser 
den  Leser  an  der  Forschung  selbst  teilnehmen  lassen,  hier  kann  der  Laie  lernen, 
nach  welchen  Grundsätzen  die  moderne  Forschung .  aus  alten  Quellen  ein  Ge- 
schichtsbild rekonstruiert.  Mit  überraschender  Sicherheit  entwirrt  der  Verfasser  die 
verschlungenen  Fäden  der  sich  verwirrenden  und  kreuzenden  Überlieferung.  Er 
regt  dadurch  zu  eigenem  Urteil  an  und  nimmt  für  die  eigene  Lösung  keine  Un- 
fehlbarkeit in  Anspruch,  sondern  zeigt  nur,  warum  sein  Resultat  wohl  das  wahr- 
scheinlichere ist.  Aber  nicht  nur  in  der  methodischen  Schulung  des  Lesers,  die 
mir  selten  in  einem  populären  Werk  so  instruktiv  erschienen  ist,  liegt  der  Wert 
des  Büchleins,  sondern  auch  in  dem  Wert  des  Geschichtsbildes,  in  dem  auf  reizvoll 
gemaltem  Hintergrund  sich  das  Porträt  eines  der  größten  Männer  der  Vergangenheit 
abhebt  und  mit  frappierender  Lebenswahrheit  zu  uns  spricht.  —  Während  Baentsch  aus 
uralten  Quellen  ein  Lebensbild  erschließt,  geht  Löhr  den  umgekehrten  Weg:  aus 
einer  reizvollen  Darstellung  des  modernen  Palästina  schimmert  das  Bild  des  alten 
Palästina  hindurch.  Man  wird  im  heiligen  Lande  durch  dieses  Buch  heimisch. 
Es  behandelt:  Land  und  Leute,  das  häusliche  Leben,  Stellung  und  Leben  des 
Weibes,  das  Landleben,  das  Geschäftsleben,  das  geistige  Leben,  Jerusalem  einst 
und  jetzt.  Bei  dem  in  christlichen  und  jüdischen  Kreisen  neuerwachten  Interesse 
für  das  heilige  Land  darf  das  Büchlein,  das  überall  auf  ernsthaften  Studien  ruht 
und  doch  so  interessant  plaudert,  auf  dankbare  Leser  rechnen.  Der  Schmuck 
durch  stimmungsvolle  Bilder  sei  noch  hervorgehoben. 

Pleschen.  H.  Richert. 

Schwamborn,    Gregor,      Kirchengeschichte     in     Quellen     und    Texten. 

I.  Teil  Altertum  und  Mittelalter.    In  deutscher  Übersetzung  herausgegeben.   Verlag 

von  L.  Rutz.  Neuss  1908.  147  S.  8».  kart.  1,80  M. 
Im  engsten  Anschluß  an  das  in  der  „Monatschrift"  1908  S.  199—201  be- 
sprochene Lehrbuch  der  Kirchengeschichte  und  unter  völliger  Übernahme 
der  Disposition  dieses  Buches  verfaßte  Dr. theol.  Gregor  Schwamborn  ein  ganz 
neues,  aber  durchaus  nützliches  Buch  über  die  Kirchengeschichte.  Schwamborn 
war  in  den  Religionslehrerkreisen  längst  durch  Herausgabe  mehrerer  Quellenwerke 
über  einzelne  kirchengeschichtliche  Stoffe  bekannt,  und  mit  Erwartung  durfte  man 
der  Vollendung  des  von  ihm  angekündigten  größeren  Werkes  entgegensehen. 
Der  erste  Teil  dieses  Werkes  liegt  nun  in  einer  ebenso  reichhaltigen  wie  praktischen 
und  billigen,  dabei  gut  ausgestatteten  Ausgabe  vor. 

Der  Anschluß  an  die  Disposition  eines  als  gut  erkannten  Schullehrbuches 
war  sehr  zweckmäßig;  dadurch  ist  für  viele  Benutzer  der  Gebrauch  des  Buches  be- 
deutend erleichtert;  aber  auch  an  der  Hand  eines  andern  kirchengeschichtlichen 
Grundrisses  oder  Lehrbuches  wird  man  mit  der  Stoffanordnung  Schwamborns  gut 
auskommen  können. 

Das  Wichtigste  für  ein  Werk  ähnlicher  Art  ist  die  Auswahl  des  Stoffes. 
Schwerlich  werden  alle  Benutzer  des  Buches  mit  der  Art  und  dem  Umfang  der 
behandelten  Partien  ganz  einverstanden  sein;  jeder  wird  nach  dem  Maße  seiner 
persönlichen  Bevorzugung  einzelner  Partien,  oder  nach  dem  Grade  seiner  Spezial- 
kenntnisse auf  einzelnen  Gebieten  hier  mehr  oder  minder,  hier  dieses  statt  jenes. 


334        A.  E.  Berger,  Die  Kulturaufgaben  der  Reformation,  angez.  von  H.  Richert. 

wünschen.  Es  wird  Lebensarbeit  des  Verfassers  bleiben,  hier  fortwährend  zu 
prüfen,  zu  sichten,  zu  kürzen,  zu  erweitern.  Hier  und  da  läßt  sich  auch  an  der 
Unterordnung  unter  die  Haupttitel  noch  manches  bessern;  z.  B.  §  61  „Wissen- 
schaft und  religiöses  Leben".  Hervorzuheben  ist  jedoch,  daß  die  Stellen  und 
Texte  mit  Sorgfalt  geprüft  und  mit  Verständnis  und  kritischem  Geiste  dem  Ganzen 
eingefügt  sind.  Mit  Recht  hat  der  Verfasser  die  kritischen  Noten  auf  das  AUer- 
notwendigste  beschränkt. 

Dem  Buche  darf  ein  glänzender  Erfolg  geweissagt  werden.  Möge  der  flei- 
ßige Verfasser  den  zweiten  Teil  bald  folgen  lassen. 

Eschweiler.  Wilhelm  Capitaine. 

Berger,  A.  E.,  Die  Kulturaufgaben  der  Reformation.  Einleitung  in  eine 
Lutherbiographie.  Zweite,  durchgesehene  und  vermehrte  Auflage.  Berlin  1908. 
E.  Hofmann  &  Co.    XI  u.  483  S.    6  M. 

Der  Verfasser,  dem  wir  die  ausgezeichnete  kulturgeschichtliche  Darstellung 
Luthers  in  der  Sammlung  , Geisteshelden"  verdanken,  deren  wichtigsten  Schluß- 
band er  uns  endlich  für  1909  verspricht,  hatte  das  vorliegende  Werk  ursprünglich 
als  das  erste  Buch  seiner  Lutherbiographie  gedacht.  Der  Stoff  erforderte  jedoch 
die  Darstellung  in  einem  besonderen  Werk,  das  aber  nach  des  Verfassers  Wunsch 
als  eine  Einleitung  zu  einem  kulturgeschichtlichen  Lebensbilde  Luthers  aufgefaßt 
werden  sollte.  Die  neue  Auflage  bringt  als  wesentlichste  Änderung  Anmerkungen 
und  literarische  Nachweise,  die  so  angelegt  sind,  daß  das  Buch  „zur  Einführung 
in  das  Studium  der  mittelalterlichen  Kulturgeschichte  benutzt  werden  kann".  Die 
Menge  der  verarbeiteten  Stoffe  ist  in  der  Tat  staunenswert.  Die  kulturgeschicht- 
liche Betrachtungsweise  muß  alle  Gebiete  der  geistigen  und  materiellen  Kultur 
durchforschen;  Weltgeschichte  und  Literaturgeschichte,  Philosophie  und  Rechts- 
geschichte, Wirtschaftswesen  und  Dogmengeschichte,  kurz  das  gesamte  Leben 
eines  Zeitalters  in  allen  seinen  Äußerungen  muß  berücksichtigt  werden.  Die  lite- 
rarischen Nachweise,  die  100  Seiten  umfassen,  geben  Kunde  von  der  geleisteten 
Arbeit.  Ich  habe  einzelne  Gebiete,  die  mir  vertraut  sind,  auf  die  Vollständigkeit 
nachgeprüft  und  habe  alles  Wesentliche  mit  sorgfältiger  Kritik  gesichtet  gefunden, 
auf  den  andern  Gebieten  meine  bibliographischen  Kenntnisse  wesentlich  bereichert. 
Diese  Anmerkungen  sind  für  jeden  Forschenden  eine  unerschöpfliche  Quelle  wissen- 
schaftlicher Anregung.  Der  so  gegebene  Rohstoff  ist  nun  im  darstellenden  Teil 
mit  Künstlerhand  architektonisch  aufgebaut,  so  daß  die  stoffliche  Schwere  völlig 
überwunden  erscheint.  Durch  vier  Entwicklungsreihen  sind  die  mittelalterlichen 
Kulturideale  überwunden,  durch  die  Ausbildung  des  Nationalbewußtseins,  durch 
den  Sieg  einer  Laienkultur,  durch  den  Durchbruch  einer  individualistischen  Welt- 
anschauung, die  die  mittelalterliche  Wissenschaft  zersetzt  und  in  humanistischen 
Individualismus  sich  auswirkt,  und  schließlich  durch  die  Laienreligion.  Es  ist 
selbstverständlich,  daß  die  Entwicklungslinien  der  geistigen  und  besonders  der 
religiösen  Kultur  stärker  betont  sind  als  die  der  materiellen.  Aber  aufs  ganze 
gesehen,  wird  die  mittelaltediche  Kultur  in  diesem  Buche  so  tief,  so  reich,  so 
klar  dargestellt,  daß  ich  diesem  Buche  nichts  an  die  Seite  zu  setzen  weiß,  weil 
es  jede  Darstellung  einer  Sonderdisziplin  aufs  glücklichste  ergänzt,  weil  es  dabei 


F.  Hebbel,  Sämtliche  Werke,  angez.  von  A.  Matthias.  335 

jedem  gebildeten  Laien  nicht  nur  verständlich  wird,  sondern  auch  starke  ethische 
Impulse  gibt  und  zu  geschichtlicher  Besonnenheit  erzieht.  Harnack  hat  kürzlich 
das  bemerkenswerte  Wort  gesprochen,  daß  der  kirchengeschichtliche  Unterricht 
auf  den  höheren  Schulen  kein  anderes  Ziel  sich  stecken  dürfe  „als  ein  wirkliches, 
fundamentiertes  Verständnis  des  heutigen  Katholizismus  und  Protestantismus  zu 
gewinnen  nnd  es  durch  Vorführung  einiger  großer  kirchlicher  Persönlichkeiten  zu 
beleben".  Für  ein  wirkliches,  fundamentiertes  Verständnis  des  im  Mittelalter  wur- 
zelnden Katholizismus  und  des  aus  ihm  mit  Notwendigkeit  herauswachsenden 
Protestantismus  ist  unser  Buch  zweifellos  ein  ganz  hervorragendes  Hilfsmittel. 
Pleschen.  Hans  Richert. 

Hebbel,  Friedrich,  Sämtliche  Werke.  Historisch.-kritisch.  Ausgabe,  besorgt 
von  Richard  Maria  Werner.  III.  Abteilung:  Briefe  8  Bände.  Berlin  1904—07. 
Behrs.  Verlag.  Bd.  I:  VIII  und  414  S.  -  Bd:  II.  VIII  und  370  S.  —  Bd.  III: 
VII  und  355  S.  —  Bd.  IV:  X  und  425  S.  —  Bd.  V:  X  und  370  S.  —  Bd.  VI: 
X  und  366  S.  —  Bd.  VII:  XII  und  415  S.  —  Bd.  VIII:  VIII  und  294  S.  Jeder 
Band  3  M.,  geb.  4  M. 
Im  Jahrgang  III  (1904)  S.  429  dieser  Monatschrift  sind  Hebbels  sämtliche  Werke, 
zwölf  Bände,  nebst  vier  Bänden  Tagebücher  eingehend  besprochen.  Nunmehr  liegen 
auch  die  Briefe  Hebbels  vor.  Die  Anzahl  der  Bände,  die  ursprünglich  sieben  betragen 
sollte,  hat  sich  auf  acht  erhöht.  Band  I  umfaßt  die  Jahre  1829—39  und  enthält  die 
Briefe  aus  Wesselburen,  Hamburg,  Heidelberg  und  München ;  Band  II.  1839 — 1843 
aus  Hamburg,  Koppenhagen,  Hamburg  und  Paris;  Band  III  1844 — 1846  aus  Paris, 
Rom,  Neapel,  Rom  und  Wien;  Band  IV.  1847—1852  aus  Wien,  Berlin,  Wien,  München; 
Band  V.  1852—1856  aus  Wien,  Marienbad,  Wien,  Gmunden,  Wien;  Band  VI  1857—1860 
aus  Wien,  Gmunden,  Weimar,  Gmunden,  Wien,  Paris,  Wien;  Band  VII.  1861—1863 
aus  Wien,  Weimar,  Gmunden,  Norddeutschland,  Wien,  Baden,  Gmunden, 
Wilhelmsthal,  Wien,  Gmunden,  Baden  und  Wien;  Band  VIII.  1832—1862  Nach- 
träge, Zusätze,  Berichtigungen  und  Ergänzungen;  Bemerkungen  über  unzu- 
gängliche und  verlorene  Briefe  und  ein  umfangreiches  Register  I  über  Hebbels  Leben 
und  Wirken  und  II.  ein  Namen-  und  Sachregister,  das  den  köstlichen  Schatz  erst 
ganz  erschließt  und  nutzbar  macht.  —  Schon  in  der  ersten  Besprechung  vom  Jahre 
1904  war  bemerkt,  daß  Hebbel  an  tiefen  Gedanken  reich  war,  aber  an  Kunst  in 
Prosa  zu  stilisieren  arm,  besonders  wenn  es  schriftliche  Fixierung  galt,  während 
das  gesprochene  Wort  bei  Hebbel  leichteren  Fluß  hatte.  Seine  Zaghaftigkeit  be- 
engte ihn  vielfach  beim  Schreiben;  diese  trat  in  mündlicher  Rede  mehr  zurück. 
Er  wurde  ängstlich,  wenn  er  das,  was  er  schrieb,  der  Öffentlichkeit  übergeben  sollte. 
Briefe  aber  sind  zunächst  nicht  für  die  Öffentlichkeit  und  deshalb  tritt  die  Ängst- 
lichkeit in  ihnen  zurück.  Und  ging  schon  in  den  Tagebüchern  die  Fassung  glatter 
von  statten,  so  war  das  noch  mehr  in  den  Briefen  der  Fall.  Bürgers  Wort  trifft 
bei  wenigen  so  zu  wie  bei  Hebbel: 

Briefe  leben,  atmen  warm  und  sagen 
Mutig,  was  das  bange  Herz  gebeut. 
Was  die  Lippen  kaum  zu  stammeln  wagen, 
Das  gestehn  sie  ohne  Schüchternheit. 


336  F.  Hebbel,  Sämtliche  Werke, 

Hebbel  entstammt  einem  harten  Volksstamm,  in  seinem  Vaterhaus  verlebte  er 
eine  harte  Zeit;  seine  Kindheit  war  hart  und  knorrig;  das  Schicksal,  das  über  den 
jungen  Jahren  Hebbels  waltete,  war  nicht  minder  hart.  Das  prägte  sich  seinem 
Wesen  auf.  Wie  oft  hat  er  an  diesem  Dasein  verzweifelt;  wie  oft  mit  dem  Ge- 
danken an  Selbstmord  gespielt;  aber  doch  flüchtet  oder  stiehlt  er  sich  nicht  fort 
aus  dieser  Welt  wie  ein  feiger  Kämpfer,  sondern  er  zwingt  sich  mit  und  in  ihr  zu 
leben;  erzwingt  sich  zum  Kampfe,  den  er  immer  von  neuen  wieder  aufnimmt.  Die 
Briefe  bilden  ein  sprechendes  Zeugnis  dieses  mannhaften  Kampfes ;  schon  mit  den  Flegel- 
jahren in  Wesselburen  beginnen  sie  und  tragen  geradezu  einen  gespreizten  und  selbst- 
gefälligen Ton,  der  offenbar  der  zwiespältigen  Lage  entspringt,  in  welcher  sich  Hebbel, 
in  dem  schon  Künstlerstolz  sich  regt,  als  sklavischer  Diener  des  Kirchspiel vogtes 
Mohr  befand.  Vor  allem  sind  alle  Briefe  Hebbels  stimmungsvoll.  Er  sagt  einmal 
in  einem  Brief  (11,114)  an  Elise  Lensing:  »Ich  brauche  zu  allem  Stimmung,  zu 
einem  Brief,  zu  einer  Notiz,  ich  habe  Tage,  ja  Wochen,  wo  ich  nicht  im  Stande 
bin,  eine  Zeile  zu  schreiben".  Diese  Stimmung  gibt  vielfach  die  seltsamsten 
Farben  ab.  Wenn  er  in  seinen  Tagebüchern  Verzweiflungsausbrüche  niederge- 
schrieben hat,  so  kommen  in  fast  gleichzeitigen  Briefen  Ausdrücke  der  Selbst- 
gefälligkeit, mit  welcher  er  von  seinen  Erfolgen  spricht.  Günstige  Aussprüche, 
die  andere  über  ihn  tun,  freundliche  Bemerkungen,  die  über  ihn  fallen,  sammelt  er 
sorgsam,  um  auf  diesem  Untergrund  rosig  gefärbte  Zukunftsbilder  zu  zeichnen, 
die  er  an  Kirchenspielschreiber  Voß  in  Wesselburen  und  Charlotte  Rousseau 
sendet.  In  den  Heidelberger  Briefen  mischen  sich  auch  landschaftliche  Stimmungs- 
bilder ein  und  von  da  ab  spielt  die  Natur  häufiger  in  seinen  Briefen  und  bei 
seinen  Dichtungen  mit.  Dazwischen  wieder  spiegelt  sich  in  den  Briefen  der 
grimme  Humor,  mit  dem  der  Dichter,  der  Zeit  seines  Lebens  unter  den  traurigen 
Folgen  seiner  gedrückten  Jugend  gelitten,  sich  über  sich  selbst  unbarmherzig 
lustig  macht,  wenn  er  gesellschaftlichen  Formen  nicht  voll  genügt,  wo  er  doch 
jede  Bangigkeit  verlor,  wenn  er  Auge  in  Auge  anderen  Menschen  im  Gespräch 
gegenüberstand.  Aber  dieser  Grimm  geht  tiefer  und  der  Gram  dazu,  wenn  Hebbel 
immer  wieder  schwankt  zwischen  Selbstanklagen  über  sein  zwiespältiges  Wesen, 
Trostgründen,  Erinnerungen  und  Entschlüssen,  die  sich  immer  von  neuem  kreuzen 
und  bekämpfen.  Ergreift  uns  bei  diesem  martervollen  Schwanken  innigstes  Mitleid, 
so  freuen  wir  uns,  wenn  wir  Fortschritte  von  Hebbels  Selbstentwicklung  beobachten 
und  miterleben,  wie  in  den  drei  Jahren  des  Heidelberger  und  Münchener  Aufenthaltes 
allmählich  sein  Schwanken  und  Zagen  sich  verliert  und  er  eine  geschlossene 
Persönlichkeit  mit  festem  Urteil  nach  Hamburg  zurückbringt  und  wie  er  dieses 
Ergebnis  in  einem  Briefe  aus  München  in  den  zwei  Worten:  , Selbständigkeit  und 
Unabhängigkeit"  vorausverkündet. 

Solche  Ausblicke  und  Erlebnisse,  die  dann  auf  sein  ferneres  Leben  wirken, 
finden  wir  häufiger  in  seinen  Briefen,  als  in  seinen  Tagebüchern,  die  mehr  an- 
schaulichen Charakter  tragen.  Deshalb  sind  dann  auch  die  Briefe  lebensvoller, 
dramatischer  und  aktueller  als  die  Tagebücher,  besonders  auch,  wenn  sie  in  die 
literaturhistorischen  Verhältnisse  des  Tages,  z.  B.  in  die  Beurteilung  des  jungen 
Deutschland,  besonders  Gutzkows  und  Laubes,  mit  scharfen  Worten  eingreifen. 
Und  seiner  Weltanschauung    verleihen    sie  an  den  Stellen  einen  großartigen  Aus- 


r 


angez.  von  A.  Matthias.  337 

druck,  wo  sie  zu  ganzen  Abhandlungen  lebensvoll  anschwellen.  Also  eine  treffliche 
Lektüre.  Vielleicht  läßt  sich  eine  geschickte  Auswahl  auch  für  die  Schüler  der 
oberen  Klassen  und  für  weitere  Kreise  aus  dem  Reichtum  der  acht  Bände  aus- 
sondern, ähnlich  wie  das  mit  den  Tagebüchern  geschehen  ist  in  dem  geschmack- 
vollen Buch: 

Durch  Irren  zum  Glfick.    Tagebuchblätter  von  Friedrich  Hebbel.    Berlin 
1907.    Behrs  Verlag.    VIII  u.  405  S.    2  M. 

Diese  Auswahl  hat  —  ein  schönes  Bild  des  Zusammenwirkens  von  Autor  und 
Verleger  —  der  Besitzer  des  Behrschen  Verlages,  Walter  Bloch,  veranstaltet,  um 
eins  der  bedeutsamsten  und  ergreifendsten  menschlichen  Dokumente  der  weitesten 
Allgemeinheit  zugänglich  zu  machen.  Diese  Tagebücher  geben  ja,  wie  der  Her- 
ausgeber mit  Recht  bemerkt,  neben  der  Fülle  von  Aussprüchen  voll  tiefer  Lebens- 
weisheit eine  fast  fortlaufende  Selbstbiographie  in  persönlichen  Geständnissen. 
Die  Auswahl  enthält  alle  bedeutsamen  Äußerungen  Hebbels  über  seinen  äußeren 
und  inneren  Entwicklungsgang,  über  Entstehung  und  Bedeutung  seiner  Werke, 
über  seine  Auffassung  von  Kunst  und  Künstler.  Wir  sehen  ihn  mit  gewaltiger 
Kraft  sich  durchkämpfen  »durch  Irren  zum  Glück".  Das  Ergebnis  spricht  er  selber 
aus  in  den  Versen: 

„Götter,  öffnet  die  Hände  nicht  mehr,  ich  würde  erschrecken, 
Denn  ihr  gabt  mir  genug,  hebt  sie  nur  schirmend  hervor!" 

Die  Tagebücher  sind  in  der  Tat  das,  wozu  Hebbel  sie  machen  wollte:  „Es  soll 
ein  Notenbuch  meines  Herzen  sein,  und  diejenigen  Töne,  welche  mein  Herz  an- 
gibt, getreu,  zu  meiner  Erbauung  in  künftigen  Zeiten,  aufbewahren."  Nicht  nur 
ein  Erbauungsbuch  für  den  Verfasser,  sondern  für  alle,  die  Sinn  dafür  haben,  wie  er 
die  Phrase  haßt  und  in  die  tiefsten  Geheimnisse  des  Menschenherzens  mit  heiligem 
und  unerbittlichem  Ernst  einzudringen  versucht. 

Im  Zusammenhang  mit  der  Besprechung  der  großen  Briefausgabe  und  der  Aus- 
wahl der  Tagebuchblätter  sei  noch  eine  ältere  Schuld  gelöscht  mit  dem  Hinweis  auf 

Werner,  Richard  Maria,  Hebbel,  ein  Lebensbild.  Mit  Bildnis  und  Handschrift. 
Berlin  1905.  Ernst  Hoffmann  &  Co.  VII  u.  383  S.  4,80  M. 
Werner  hat  sich  seine  Aufgabe  nicht  leicht  gemacht.  Er  hat  versucht,  die 
doch  zweifellos  durch  ihre  scheinbare  Zerrissenheit  schwer  zu  ergründende  Natur 
Hebbels  in  ihrem  Werden  und  Wirken  so  zu  erforschen  und  darzustellen,  daß  sie 
in  der  Einheit  ihres  Werdens  uns  aufgedeckt  wird;  nicht  das  anekdotisch  Ver- 
einzelte, sondern  der  innere  Zusammenhang  ist  Werner  die  Hauptsache ;  nicht  ein 
Lebensrepertorium,  eine  Art  Kalender,  sondern  eine  Biographie  wollte  er  schaffen. 
Und  man  kann  sagen,  daß  ihm  das  gelungen  ist,  besonders  deshalb,  weil  er  bei 
den  Anfängen  Hebbels,  bei  seiner  Werdezeit  länger  verweilte,  als  bei  den  mehr 
abgeschlossenen  Mannesjahren.  Denn  die  Wander-  und  Werdezeit  umfaßt  die 
stärkere  Hälfte  des  Buches  und  man  erkennt  in  ihr  die  Wahrheit  dessen,  was 
Hebbel  einmal  von  sich  gesagt  hat:  „Wenn  sich  mein  Leben  von  Jugend  an  nur 
ein  klein  wenig  anders  gestaltet  hätte,  nur  ein  klein  wenig,  wie  anders  würden  die 

MonaUchrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  22 


338  F-  Hebbel,  Sämtliche  Werke, 

Resultate  ausgefallen  sein!"  Erfrischend  wirkt  nun  an  dieser  Biographie,  daß  wir 
nicht  mit  Zitaten  überbürdet  und  ermüdet  werden,  daß  wir  vielmehr  beständig  an- 
geregt werden,  den  Genuß  der  Werke,  der  Briefe  und  Tagebuchblätter  an  der 
Quelle  selbst  zu  suchen;  ebenso  wie  wir  auch  nicht  durch  die  Monographie  der 
einzelnen  Werke  aufgehalten  werden,  die  wir  in  der  großen  Wernerschen  Ausgabe 
gründlicher  studieren  können.  —  Und  gleich  erfrischend  wirkt  es,  daß  der  Biograph 
sich  Hebbels  Wort,  daß  Biographien  keine  Rezensionen  sein  sollen,  und  daß 
darum  die  Liebe  sie  schreiben  müsse,  zum  Grundsatz  gemacht  hat  oder  vielmehr 
diese  Liebe  von  Jugend  auf  durch  enge  Beziehung  zu  Hebbel  gepflegt  hat.  So 
ist  er  denn  auch  befähigt,  mit  feinem  Sinne,  ohne  blind  für  die  Schwächen 
seines  Helden  zu  sein,  ein  anderes  schönes  Hebbelsches  Wort  mit  seiner  Bio- 
graphie zu  verwirklichen,  das  also  lautet:  „Die  Wurzel  muß  aufgebrochen  werden, 
denn  die  Erde  verhüllt  sie  in  ihrem  Schoß;  die  Frucht  glänzt  im  Sonnenschein." 
An  die  Wurzel  gräbt  Werner  überall  mit  zarter  Hand  und  nirgendwo  verletzt  er 
die  feinen  Wurzelfasern,  mit  denen  Hebbels  Natur  reiche  Nahrung  aus  der  Tiefe  der 
Erde  zieht,  mit  der  er  innig  verwachsen  und  von  der  er  sich  immer  wieder  nach 
Sonne  und  Sonnenschein  sehnte. 

Schapire-Neurath,  Anna,  Friedrich  Hebbel.  Mit  einem  Bildnis  Hebbels.  Leipzig 
1909.  B.  G.  Teubner.  II  u.  135  S.  1  M.,  geb.  1,25  M.  (Aus  Natur  und  Geistes- 
welt,   Samml.  wissenschaftl. -gemeinverständlicher  Darstellungen,  238.  Bdch.) 

Für  die  Beurteilung  von  Dichter  und  Dichterwerken  im  allgemeinen  und  ins- 
besondere Hebbels  erscheint  der  Verfasserin  die  Frage  ausschlaggebend:  sind  Vor- 
gänge, Menschen  und  Form  einheitlich?  Und  ihre  Antwort  lautet  dahin,  daß  die 
ästhetische  Erörterung  von  Hebbels  Werken  nicht  immer  leicht,  die  Verhältnisse  oft 
ungewohnt  und  die  Psychologie  uns  fremdartig  erscheint  und  daß  wir  mitunter 
sogar  einen  Widerspruch  in  uns  bekämpfen  müssen.  Eine  einheitliche  Idee  ver- 
knüpft nach  Meinung  der  Verfasserin  Hebbels  Dichterwerke  nicht,  wenn  auch  mit- 
unter Personen  und  Probleme  seiner  Dramen  eine  große  Verwandtschaft  aufweisen. 
Hebbels  Werke,  so  meint  sie,  entstanden  hintereinander,  wie  sich  dem  Dichter 
Menschen  und  Dinge  nach  und  nach  aufgedeckt  und  zur  Gestaltung  gereizt  hätten. 
Den  einheitHchen  Hebbel  findet  sie  erst,  wenn  sie  von  seinen  Werken  zu  seinen 
Anschauungen  übergeht.  Daher  betrachtet  sie  zuerst  den  Menschen,  also  Hebbels 
Leben;  dann  den  Dichter  und  seine  Werke  und  schließlich  den  Denker  und  seine 
Weltanschauung.  So  wickeln  sich  denn  drei  parallele  Linien  vor  uns  ab,  die  zwar 
durch  die  Einheit  der  Persönlichkeit  verknüpft  sind,  deren  Verbindung  aber  so  enge 
ist,  daß  sie  sich  in  jedem  gegebenen  Falle  mit  Bestimmtheit  aufdecken  ließ;  es 
wird  der  Versuch  gemacht,  dem  Leser  Hebbel  von  all  diesen  drei  Seiten  näher  zu 
bringen,  ohne  künstlich  Zusammenhänge  zu  konstruieren,  wo  wir  selbst  sie  nicht 
zu  sehen  vermögen. 

Das  Büchlein  wird  also  nach  seiner  ganzen  Anlage  demjenigen,  der  zuerst  an 
die  Hebbellektüre  herantritt,  eine  Art  von  Elementarkatechismus  zur  Einführung  in 
die  nicht  leichte  Lektüre  bilden.  Je  weiter  der  Leser  dann  aber  kommt,  je 
mehr  er  sich  von  Werner  führen  läßt,  vor  allem  von  seinen  trefflichen  Einleitungen, 
die   in   die  einzelnen  Werke  einführen,    um  so  mehr   werden   sich   die   parallelen 


h 


angez.  von  A.  Matthias.  339 

Linien  zu  ineinander  greifenden  Wellenlinien  verwandeln,  die  schließlich  eine  einzige 
Bahn  laufen,  auf  welcher  Mensch,  Dichter  und  Denker  als  einheitliche  Gestalt  uns 
erscheint.  Zu  diesem  Prozeß  wird  wesentlich  noch  beitragen  die  Vertiefung  in 
eine  wertvolle  Hebbelstudie,  die  an  letzter  Stelle  besprochen  sein  mag: 

Krumm,  Johannes,  Die  Tragödie  Hebbels.  Ihre  Stellung  und  Bedeutung  in 
der  Entwicklung  des  Dramas.  Berlin  1908.  B.  Behrs  Verlag.  II  u.  124  S.  2,50  M. 
(Hebbel-Forschungen.  Herausgegeben  von  R.  M.  Werner  u.  W.  Bloch-Wunsch- 
mann  III). 
Die  Studie,  die  ursprünglich  für  einen  weiteren  Kreis  bestimmt  war  und  des- 
halb einen  populären  Zug  an  sich  trägt,  der  ihr  aber  nicht  schlecht  steht,  sucht 
die  Antwort  auf  die  Frage  nach  der  entwicklungsgeschichtlichen  Stellung  und  Be- 
deutung der  Tragödie  Hebbels.  Sie  geht  dabei  aus  von  einem  Worte  Hebbels  (Briefe 
IV,  S.  207)  mit  Beziehung  auf  Herodes  und  Mariamne:  „Dabei  habe  ich  mir  die 
Aufgabe  gestellt,  die  Form  möglichst  zu  vereinfachen  und  die  größten  histo- 
rischen Massen  sowohl,  die  die  Faktoren  des  psychologischen  Prozesses  bilden,  als 
auch  das  Detail  der  Nebenpersonen  und  der  Situationen  in  den  Hintergrund  zu 
drängen,  da  ich  überzeugt  bin,  daß  aus  dem  Stil  der  Griechen  und  dem  Shakespeares 
durchaus  ein  Mittleres  gewonnen  werden  muß."  Krummes  Meinung  nach  paßt 
das,  was  hier  zunächst  nur  auf  die  Form  bezogen  und  als  Ziel  aufgestellt  ist, 
ebenso  auf  das  Wesen  der  Tragödie  Hebbels  und  ist  von  ihm  nicht  nur  erstrebt, 
sondern  auch  erreicht  worden.  Denn  diese  Tragödie  stellt  sich  in  der  Tat  als  ein 
Mittleres  dar  zwischen  der  Tragödie  der  Alten  und  der  Shakespeares.  Zunächst 
sucht  nun  Krumm  eine  allgemeine,  möglichst  auf  der  Basis  der  konkreten  Kunst 
ruhende  Verständigung  zu  gewinnen  über  das  Wesen  der  früheren  Formen  der 
Tragödie,  des  klassisch-antiken  und  des  klassisch-modernen  Dramas.  Er  bespricht 
in  einem  ersten  Kapitel  die  These  des  antik-klassischen  und  die  Antithese  des 
modern-klassischen  Dramas  von  Äschylus  Agamemnon  ausgehend  über  Sophokles 
Ödipus  und  Antigone,  die  Schicksalstragödie,  das  moderne  Drama  bei  Euripides, 
die  dramatische  Anschauung  bei  Shakespeare  (Macbeth  und  Othello),  das  deutsche 
Drama  bei  Lessing,  Goethe  und  Schillers  Wallenstein  und  Braut  von  Messina, 
Kleist  und  Grillparzer  (Jüdin  von  Toledo)  bis  an  die  Schwelle  Hebbelscher  Dichtung 
gelangend,  über  der  wir,  in  Beziehung  auf  die  Schicksalstragödie,  Hebbels  Wort 
als  Richtlinie  finden,  daß  die  Unklarheit  des  Wallenstein  nach  dieser  Richtung  hin 
das  ganze  Irrwisch-  und  Nachtfeuerwerk  der  Schicksal-  und  Ahnungstragödien  ent- 
zündet habe.  Hebbel  hält  daran  fest,  daß  der  Charakter  ganz  allein  die  Basis 
des  dramatischen  Schicksals  bilden  müsse.  Das  Schicksal  entsteigt  bei  ihm  einzig 
der  menschlichen  Brust.  In  einem  zweiten  Kapitel  behandelt  Krumm  in  diesem  Sinne 
die  Synthese  der  Tragödie  Hebbels,  um  in  zwei  weiteren  Kapiteln  die  philo- 
sophische und  die  ästhetische  Bedeutung  der  Tragödie  Hebbels  darzulegen.  Wie 
das  geschieht,  kann  eine  kurze  Rezension  nicht  wiedergeben.  Nur  das  sei  gesagt: 
Krumm  erschließt  das  Verständnis  Hebbels  in  klaren  Erörterungen  weiteren  Kreisen, 
er  stellt  als  zweifelloses  Ergebnis  hin,  daß  Hebbel  an  Tiefe  und  Geschlossenheit 
der  Kunstauffassung,  an  Gewissenhaftigkeit  und  Reinheit  des  künstlerischen 
Strebens   nicht  leicht  einer  gleichkommt,   daß   er   als   künstlerische  Persönlichkeit 

22* 


340  A.  Schäfer,  Einführung  in  die  Kulturwelt  usw.,  angez.  von  H.  Wolf. 

vollberechtigt  neben  unsere  Klassiker  treten  kann  und  daß  kein  Mißverstehen  und 

kein  Verdrehen   der  künstlerischen  Absichten  Hebbels   an    dieser  Tatsache   etwas 
ändern  kann. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Schäfer,  Alb.,  Einführung  in  die  Kulturwelt  der  alten  Griechen  und 
Römer.  Für  Schüler  höherer  Lehranstalten  und  zum  Selbstunterricht.  Hannover 
und  Berlin  1907.    Karl  Meyer  (Gustav  Prior).    VIII  u.  270  S.    3  M.,  geb.  4  M. 

Das  Buch  soll  als  Lese-,  Lehr-  und  Nachschlagebuch  benutzt  werden  und  ist 
für  die  erwachsene  Jugend  bestimmt.  Der  Titel  ist  etwas  irreführend;  denn 
der  Verfasser  beschäftigt  sich  der  Hauptsache  nach  nur  mit  den  griechischen  Mythen 
und  Sagen.  Diese  werden  nicht  einfach  nacherzählt,  sondern  die  alten  Schriftsteller 
kommen  selbst  zu  Wort.  Es  ist  ein  Quellen  buch.  Der  Inhalt  ist  sehr  reich- 
haltig und  legt  rühmliches  Zeugnis  ab  von  der  umfangreichen  Belesenheit  und 
dem  gediegenen  Wissen  des  Verfassers. 

Den  ersten  großen  Abschnitt  bildet  ein  Gang  über  den  „klassischen  Boden" 
Altgriechenlands.  Hier  würde  ich  mich  viel  mehr  beschränkt  haben.  Da  das 
Buch  für  solche  bestimmt  ist,  welche  „die  griechische  Sprache  oder  auch  beide 
alten  Sprachen  nicht  kennen",  so  muß  die  Fülle  der  Namen  verwirren  und  ab- 
schrecken: Epirus  und  Ambrakia,  Molosser  und  Pelasger,  Phthiotis  und  Pelas- 
giotis,  Pindus  und  Othrys,  Akarnanen  und  Lokrer,  Pentelikon  und  Hymettus,  Deke- 
lea  und  Amyklä,  Erymanthus  und  Kyllene  etc.  etc.    Wozu? 

Das  Buch  erhebt  Anspruch  auf  Wissenschaftlichkeit.  Da  wäre  es  doch  wohl 
nötig  gewesen,  auf  die  Entwicklung,  den  Ursprung,  das  Wachsen  und  Wandeln 
der  Mythen  und  Sagen  einzugehen;  denn  die  Mythen  und  Sagen  haben 
ihre  Geschichte.  Ich  würde  z.  B.  die  Herakles-Sage  in  folgender  Weise 
behandeln:  Im  Vordergrund  stehen  die  berühmten  zwölf  Arbeiten,  dazu  die  the- 
banischen  und  ätolischen  Sagen.  Mit  der  Erweiterung  des  geographischen  Hori- 
zontes der  Griechen  wächst  die  Zahl  der  Taten,  nehmen  die  Abenteuerfahrten  eine 
immer  größere  Ausdehnung  an.  Später  erfolgt  eine  innere  Umgestaltung  der 
Sage:  die  Philosophie  bemächtigt  sich  des  Stoffes;  der  Sophist  Prodikus  dichtet 
im  5.  Jahrhundert  die  schöne  Geschichte  von  „Herakles  am  Scheidewege".  Mit 
großer  dichterischer  Freiheit  formt  Euripides  in  seiner  Tragödie  „Herakles"  den 
Stoff  um:  einerseits  zeigt  er  uns  den  größten  Menschen  Griechenlands  in  seiner 
Schwäche;  anderseits  veranlaßt  ihn  sein  athenischer  Patriotismus  dazu,  Theseus  als 
Retter  auftreten  zu  lassen.*) 

Eine  „Einführung  in  die  Kulturwelt"  müßte  es  sich  zur  Aufgabe  machen,  zu 
zeigen,  wie  die  Griechen,  der  eigenen  Kulturstufe  entsprechend,  ihre  Vorstellungen 
von  den  Göttern  und  Heroen  fortwährend  umgewandelt  haben.  Statt  dessen  gibt 
uns  der  Verfasser  ein  buntes  Mosaik  aus  Quellen,  die  um  1000  Jahre  auseinander- 
liegen. Daraus  wird  eine  Art  Lebensbeschreibung  zusammengestellt;  die 
schönste  und  herriichste  Dichtung,  die  wir  über  Herakles  besitzen,  die  Tragödie 
des  Euripides,  wird  ganz  unerwähnt  gelassen;  auch  die  Tragödie  Alkestis. 

*)  Vgl.  Heinrich  Wolf,  Einführung  in  die  Sagenwelt  der  griechischen  Tragiker.  Leipzigs 
Bredt.    1902. 


Wagner  und  v.  Kobilinski,  Leitfaden  der  griechischen  usw.,  angez.  von  H.  Wolf.     341 

In  dem  „Quellenbuch"  spielen  meiner  Ansicht  nach  Diodor,  Pausanias,  Plutarch, 
Hygin,  Appollodor  eine  viel  zu  große  Rolle.  Doch  will  ich  rühmend  hervorheben, 
daß  viele  herrliche  Stellen  aus  Homer,  Hesiod,  Pindar,  Äschylos,  Sophokles,  Euri- 
pides,  Vergil  und  Ovid  in  trefflicher  Übersetzung  wiedergegeben  sind. 

Wagner  und  v.  Kobilinski,  Leitfaden  der  griechischen  und  römischen 
Altertümer,  für  den  Schulgebrauch  zusammengestellt.  Dritte  verbesserte  Auf- 
lage von  Wagner.  Berlin  1907.  Weidmannsche  Buchhandlung.  XVI  u.  192  S. 
3,20  M.  Mit  einem  Sonderheft,  enthaltend  24  Bildertafeln  und  Pläne  von 
Rom  und  Athen. 

Daß  dieses  Buch  in  dritter  Auflage  erscheint,  ist  ohne  Zweifel  eine  große 
Empfehlung.  Es  soll  ein  Lehrmittel,  ein  Leitfaden  sein,  um  die  sachhche  Erklärung 
der  Schriften  des  Altertums  zu  fördern  und  die  Schüler  in  das  Geistes-  und  Kultur- 
leben der  Griechen  und  Römer  einzuführen.  Alles,  was  zum  öffentlichen  und 
privaten  Leben  der  Griechen  und  Römer  gehört,  wird  in  allen  seinen  Teilen  be- 
sprochen: Staatsaltertümer,  Gerichts-,  Kriegs-  und  Religionswesen;  Haus  und 
Hausrat,  Kleidung,  Ehe,  Erziehung  der  Kinder,  das  tägliche  Leben,  Bestattung; 
dazu  Athen,  Olympia,  Rom.  Die  Verfasser  sind  der  Meinung,  daß  dieser  Leitfaden 
in  der  Hand  jedes  Schülers  sein  müsse.  Es  heißt  im  Vorwort:  „Mag  man  nun 
die  wichtigsten  Abschnitte  systematisch  durchnehmen  oder  die  Kapitel  für  die 
jeweilige  Lektüre  auswählen  wollen,  immer  ist  für  den  Lehrer,  wie  für  den  Schüler 
die  Aufgabe  wesentlich  erleichtert,  wenn  als  Stützpunkt  dieser  Belehrung  ein 
Hilfsbuch  gebraucht  werden  kann,  das  dann  freilich  in  der  Hand  jedes  Schülers 
sein  muß." 

Das  Buch  enthält  eine  Fülle  von  vortrefflichem  Material;  soviel  ich  sehe,  fehlt 
nichts  von  den  sogenannten  Realien.  Aber  gerade  dieses  Streben  nach  Voll- 
ständigkeit erscheint  mir  hochbedenklich.  Wenn  ein  derartiger  Wert  auf 
die  „Realien"  gelegt  wird,  so  entsteht  die  große  Gefahr,  daß  die  Schüler  nicht  in 
„das  Geistes-  und  Kulturleben  der  Griechen  und  Römer"  eingeführt,  sondern  durch 
Kleinigkeitskrämerei  davon  abgelenkt  werden.  Wenn  nun  gar  im  Abiturientenexamen 
über  Beamte,  Finanzen,  Münzen,  Maße  und  Gewichte,  Waffen,  gottesdienstliche 
Handlungen,  Hausrat,  Kleidung,  Mahlzeiten  etc.  geprüft  wird,  so  führt  das  zum 
Einpauken  von  Dingen,  die  doch  wahrhaftig  nicht  die  Hauptsache  sind. 

Unter  „Einführung  in  das  Geistes-  und  Kulturleben  der  Griechen  und  Römer" 
verstehe  ich  etwas  ganz  anderes.  Vor  allem  dürfen  die  Schüler  nicht  den  Eindruck 
haben,  als  ob  auf  irgendeinem  Gebiet  des  öffentlichen  und  privaten  Lebens  dauernde 
Einrichtungen  bestanden  hätten;  vielmehr  ist  alles  in  beständigem  Werden. 

Die  historische  Entwicklung  ist  überall  die  Hauptsache.  Da  haben  wir 
die  verschiedensten  Staatsformen;  hierbei  ist  der  Gegensatz  zu  besprechen 
zwischen  Orient  und  Okzident,  zwischen  Sparta  und  Athen,  zwischen  Griechenland 
und  Rom.  Bei  den  Griechen  entwickelt  sich  die  Freiheit:  sie  führte  zur  höchsten 
Höhe  der  Kultur;  ihre  Entartung  war  schuld  am  Untergang.  Zwischen  Sparta  und 
Athen  entstand  eine  immer  größere  Kluft;  ganz  verschiedene  Bildungsideale;  hier  Ent- 
artung zu  der  engherzigsten  Oligarchie,  dort  zu  einer  Ochlokratie;  die  verschiedenen 
Wirkungen   der   athenischen   und   der  spartanischen  Hegemonie.     Verhängnisvoll 


342  Chudzinski,  Tod  und  Totenkultus  usw.,  angez.  von  H.  Wolf. 

wurde,  daß  die  griechisch-römische  Welt  nicht  fähig  war,  aus  den  Formen  des 
Stadtstaates  herauszukommen. 

In  der  Religion  ist  nichts  Fertiges,  Dauerndes,  sondern  fortwährend  Werdendes. 
Die  Griechen  steigen  von  der  niedrigsten  Stufe  bis  zu  bedeutenden  Höhen  religiösen 
Denkens  und  Empfindens;  die  Entwicklung  geht  von  unten  nach  oben.  Bei  den 
Römern  geht  das  Wachsen  in  die  Breite;  ihre  Religion  wächst  mit  dem  Staat. 

Bei  der  Zeitrechnung  ist  der  Widerstreit  zwischen  Mond-  und  Sonnenjahr 
zu  betonen:  nicht  Mangel  an  astronomischen  Kenntnissen,  sondern  Rücksicht  auf 
den  Kultus  hat  die  Einführung  des  Sonnenjahres  so  lange  gehindert.  Ist  es  nicht 
heute  noch  ebenso? 

Über  den  antiken  Kommunismus  und  Sozialismus  muß  gesprochen  werden, 
über  die  Entstehung  des  „vierten"  Standes. 

„Geistes-  und  Kulturleben  der  Griechen  und  Römer":  Hauptsache  muß  doch 
immer  das  Erwachen  des  wissenschaftlichen  Denkens  bleiben,  die  gewal- 
tigen Fortschritte  auf  allen  Gebieten.  Und  neben  der  Wissenschaft  die  Kunst! 
Aber  auch  hier  gilt  es,  weise  Beschränkung  zu  üben.  Das  Streben  nach  Voll- 
ständigkeit ist  auch  den  Bildertafeln  schädlich  gewesen.  Wir  müssen  zufrieden  sein, 
wenn  unsere  Abiturienten  etwas  von  dem  Besten  kennen;  wenn  sie  eine  Vorstellung 
von  der  Akropolis,  von  Olympia,  Pergamum  und  dem  Forum  Romanum  haben. 
Non  multa,  sed  multum. 

Chudzinski,  Tod  und  Totenkultus  bei  den  alten  Griechen.    44.  Heft  der 
Gymnasialbibliothek.    Gütersloh  1907.    C.  Bertelsmann.    83  S.    1  M, 
Der  Verfasser  hat  den  Stoff  in  folgender  Weise  eingeteilt: 

1.  Der  Tod  und  seine  ethische  Bedeutung  bei  den  Griechen. 

2.  Der  Zustand  der  Seele  nach  dem  Tode.    Der  Hades. 

3.  Das  Schicksal.     Der  Dämon  des  Todes.     Die  unterirdischen  Gottheiten. 
Die  Mysterien. 

4.  Der  Tod.    Die  Bestattung. 

5.  Totenverehrung.    Gräber  und  Friedhöfe. 

6.  Der  Aberglaube  innerhalb  des  Glaubens  an  ein  jenseitiges  Leben. 

7.  Zusammenhang  zwischen  der  Pflanzenwelt  und  der  Welt  der  Toten. 

In  überaus  interessanter  Weise  knüpft  Chudzinski  an  Schillers  wundervolle 
Elegie  „Die  Götter  Griechenlands"  und  an  Lessings  Abhandlung  „Wie  die  Alten 
den  Tod  gebildet  haben"  an  und  bemerkt  mit  Recht,  daß  wir  die  Ansichten  Schillers 
und  Lessings  wesentlich  einschränken  müssen.  Wer  das  Büchlein  liest,  empfängt 
eine  Fülle  von  Anregungen ;  wir  werden  mit  den  mannigfachen  Vorstellungen  und 
Gebräuchen  bekannt  gemacht;  der  Verfasser  führt  uns  durch  die  vielen  Jahrhunderte 
bis  zum  Sieg  des  Christentums.  Mit  Recht  betont  er  die  religiöse  Bewegung  des 
6.  Jahrhunderts  v.  Chr.;  erst  seit  dieser  Zeit  kann  man  von  einer  Unsterblichkeit 
der  Seele,  von  Lohn  und  Strafe  nach  dem  Tode,  von  einer  Erlösungsreligion  sprechen. 

Das  Büchlein  kann  warm  empfohlen  werden.  Vielleicht  hätte  bei  der  Anordnung 
und  Besprechung  des  umfangreichen  Stoffes  noch  mehr  die  historische  Entwicklung 
der  Gebräuche  und  Anschauungen  in  den  Vordergrund  treten  müssen.  Totenkultus 
ist  ein  Stück  Religion,  und  zwar  eins  der  ältesten  Stücke.    Er  fließt  vielfach  mit 


H.  Dietze,  Griechische  Sagen,  angez.  von  H.  Wolf.  343 

dem  Götterkultus  zusammen,  weil  in  den  ältesten  Zeiten  die  Götter  wesentlich 
chthonische,  unter  der  Erde  wohnende  Gewalten  sind.  Furcht  ist  in  erster  Linie 
die  Triebfeder  für  die  Leistungen  gegenüber  den  Toten.  Totenorakel,  Traumorakel, 
chthonische  Orakel  gehören  zu  den  ältesten  Stücken  der  Mantik.  Pluton  und  Plutos 
sind  ursprünglich  identisch:  »Der  Reichtum  spendende,  unter  der  Erde  wirkende  und 
herrschende  Gott." 

Den  gefallenen  Feinden  gegenüber  ist  man  nicht  von  vornherein  so  milde  ge- 
wesen, wie  es  nach  dem  Büchlein  erscheint.  Ist  ja  gerade  die  Frage  der  Bestattung 
gefallener  Feinde  der  Stoff  für  mehrere  Tragödien  geworden. 

Dietze,  Hermann,    Griechische  Sagen,    l.  Band   mit   3   Abbildungen.    Berlin 
1908.    Hermann  Paetel.    X  u.  213  S.    8".    geb.  1,75  M. 
Dieser  erste  Band  der  „Griechischen  Sagen"  enthält  folgende  Abschnitte: 

1.  Weltentstehung  und  Götterkämpfe. 

2.  Die  Götter. 

3.  Anfänge  der  Menschen. 

4.  Geschlecht  des  Äolus  (Argonautensage). 

5.  Arkadische  Sagen. 

6.  Ätolische  Sagen. 

7.  Geschlecht  des  Inachos  und  Belos  (Perseus  und  Herakles). 

8.  Thebanische    Sagen    (Thebanische    Urgeschichte    und    Geschlecht    des 
Ödipus). 

Das  Buch  ist  der  Hauptsache  nach  für  Quintaner  bestimmt;  doch  sind  für 
reifere  Schüler  und  aucl^  für  Lehrer  wertvolle  Abschnitte  über  Sagengeschichte 
und  dichterische  Quellen  hinzugefügt.  Die  Erzählung  ist  knapp,  gewandt  und 
für  die  Schüler  der  unteren  Klassen  recht  angemessen. 

Im  Vorwort  heißt  es:  „Besonderes  Gewicht  ist  darauf  gelegt,  durch  Vereinigung 
der  einzelnen  Geschichten  zu  [größeren  Zusammenhängen  ^eine  fortlaufende  Dar- 
stellung zu  gewinnen."  Darin  sehe  ich  gerade  die  Schwäche  des  Buches;  die  Ge- 
nealogien der  Götter  und  Heroen  sind  etwas  Sekundäres  und  können  größtenteils 
fehlen.  Die  Götter  sind  ursprünglich  einfach  da,  werden  nicht  geboren,  und  man 
sollte  die  Schüler  damit  verschonen,  aus  welcher  von  den  zahlreichen  Verbindungen 
des  Zeus  dieser  oder  jener  Gott  und  Held  hervorgegangen  ist.  Die  Geschichte 
des  Herakles  würde  ich  beginnen:  „Herakles  war  ein  Sohn  des  Zeus";  von  Elek- 
tryon,  Sthenelos,  Amphitryo,  von  der  Doppelehe  der  Alkmene,  die  gleichzeitig 
einen  Sohn  von  Zeus  und  von  Amphitryo  gebärt,  braucht  gar  keine  Rede  zu  sein. 
Um  zu  der  Geschichte  des  Jason  zu  gelangen,  haben  wir  den  Stammbaum  des 
Deukalion,  die  Erzählungen  von  Keyx  und  Alkyone,  den  Kindern  der  Ino,  von 
Salmoneus  und  Thyro  nicht  nötig. 

Für  eine  Neuauflage  des  Buches  würde  ich  also  eine  andere  Anordnung  und 
vor  allem  eine  sorgfältigere  Sichtung  des  überreichen  Stoffes  empfehlen.  Zahl- 
reiche Geschichten  können  meiner  Ansicht  nach  fehlen,  z.  B.  Selene  und  Endymion, 
Meergott  Glaukos,  Alpheios  und  Arethusa,  die  Taten  des  Dionysos,  viele  TCotpepifa 
des  Herakles  u.  a. 

Düsseldorf.  Heinrich  Wolf. 


344  Sophokles'  Antigone,  angez.  von  L.  Hüter. 

Sophokles'  Antigone  übersetzt  von  O.  Altendorf.    Frankfurt  a.  M.  1908.   Moritz 
Diesterweg.   Diesterwegs  Deutsche   Schulausgaben.   Band   VII.    geb.  1  M. 

Eine  gute  und  die  damit  von  einem  höheren  Gesichtspunkte  aus  treueste 
Übersetzung  soll,  nach  der  eigenen  Kennzeichnung  Altendorfs,  ,,die  Hauptsache 
treu  wiedergeben";  das  will  besagen,  sie  soll  „im  ganzen  und  in  allen  kleineren 
und  größeren  Unterteilen  möglichst  den  Eindruck,  den  das  Werk  auf  den 
kunstverständigen  Sprachkenner  macht,  in  der  Sprache  der  Übersetzung  wieder 
hervorrufen". 

Die  vorliegende  Antigoneübersetzung  entspricht  nach  meinem  Urteil  in  bisher 
nicht  erreichtem  Maße  dieser  wohlbegründeten  Forderung.  Auch  hat  sie,  das 
kann  ich  versichern,  in  gewissem  Sinne  eine  bemerkenswerte  Probe  daraufhin 
schon  bestanden.  Der  Verfasser  fertigte  sie  gelegentlich  der  Dreihundertjahrfeier 
des  Gießener  Gymnasiums  im  Oktober  1907  für  eine  Schüleraufführung  an,  und 
ich  darf  bestätigen,  was  er  selbst  bemerkt:  „Die  Einprägung  des  Textes  hat  sich 
mit  einer  Leichtigkeit  vollzogen,  die  die  Deklamatoren  selbst  in  Erstaunen  setzte." 
Daraus  folgert  er  aber  mit  Recht,  „daß  der  vorliegende  Text  dem  Sprach- 
gefühl und  der  Sprachkenntnis  von  Schülern  und  Schülerinnen  der 
obersten  Klassen  der  höheren  Lehranstalten,  denen  das  Buch  ja  zu- 
nächst dienen  soll,  angemessen  ist*. 

Im  Dialoge  ist  der  uns  vertraute  fünffüßige  Jambus  zur  Anwendung  ge- 
kommen. Eigenartig  und  anziehend  wirkt  die  Lyrik;  die  Chorlieder,  in  einem 
Versmaß  geschrieben,  das  dem  Original  in  manchen  Rhythmen  verwandt  ist,  haben 
den  Endreim  erhalten. 

Die  mit  drei  anschaulichen  Bildern  geschmückte  Einleitung  gibt  eine  zweck- 
entsprechende Einführung  in  die  Haupttatsachen  der  Tragödie  und  des  Theaters 
der  Griechen,  sowie  in  das  Leben  des  Sophokles  und  die  Vorgeschichte  zur 
Antigone.  Anmerkungen  am  Schlüsse  enthalten  notwendige  oder  wünschenswerte 
Erklärungen  inhaltlicher,  sagengeschichtlicher,  metrischer  Natur  u.  dgl.  Eine  wohl- 
gelungene Wiedergabe  der  Lateranischen  Statue  des  Sophokles  bildet  das  Titelbild 
des  schönen  Büchleins,  das  sich  auch  sonst  durch  ein  gefälliges  Äußere  aus- 
zeichnet. 

Es  sei  gestattet,  als  kleine  Probe  den  Anfang  des  berühmtesten  Chorliedes 
mitzuteilen. 

»Vieles  Gewaltige  gibt  es  auf  Erden, 
zum  Gewaltigsten  wachsen  und  werden 
sollte  der  Mensch  auf  dem  Erdenball. 
Er  durchquert  in  des  Winters  Stürmen, 
wenn  ihn  des  Südwinds  Wogen  umtürmen, 
selbst  des  schäumenden  Meeres  Schwall." 

Gießen.  Ludwig  Hüter. 

Petersen,    Eugen,    Die   Burgtempel    der  Athenaia.    Mit   vier  Abbildungen. 
Berlin  1907.    Weidmannsche  Buchhandlung.     147  S.    8».    4  M. 
Als  Dörpfeld  vor  einigen  zwanzig  Jahren  zwischen  Parthenon  und  Erechtheion 
die  Fundamente  eines  alten  Tempels  entdeckte,  dessen  Name  Hekatompedon  in 


E.  Petersen,  Die  Burgtempel  der  Athenaia,  angez.  von  E.  Wendung.  345 

einer  später  gefundenen  Inschrift  zutage  trat,  geriet  der  alte  Ruhm  des  Erechtheions 
als  der  ursprünglichen  Kultstätte  der  Burggöttin  Athene  in  Gefahr,  nicht  sowohl 
durch  die  schöne  Entdeckung  selbst  als  durch  die  Hypothese  des  Entdeckers,  das 
Hekatompedon  sei  der  „alte  Tempel"  der  Göttin,  das  Erechtheion  dagegen  ledig- 
lich ein  Heiligtum  des  Erechtheus  gewesen.  Petersen  erneuert  in  seiner  scharf- 
sinnigen Untersuchung  den  gegen  Dörpfelds  Lehre  sofort  von  ihm  erhobenen 
Widerspruch  und  führt  ihn  siegreich  durch. 

Bei  Homer  erscheint  Athene  in  fester  Kultgemeinschaft  mit  Erechtheus  (B.  546 
7)  80  —  beide  Stellen  nach  Petersen  zur  pisistratischen  Redaktion  gehörig);  sie 
geht  in  sein  „Haus";  sie  erzieht  ihn  in  ihrem  vtjo?.  Herodot  scheint  neben  dem 
Erechtheion  (VIII  55)  mit  dem  aSutov  der  Göttin  (V  72)  das  Hekatompedon  (V  11 
VIII  53)  zu  kennen.  Die  schon  genannte  Inschrift  unterscheidet  das  letztere 
deutlich  von  dem  vstu^,  d.  h.  dem  Erechtheion. 

Das  wichtigste  Zeugnis  aber  findet  Petersen  in  dem  „Reliefbild  des  Urtempels", 
d.  h.  einigen  zusammengehörigen  Bruchstücken  eines  Porosreliefs  von  der  Akropolis. 
Trifft  seine  Rekonstruktion  zu,  so  haben  wir  uns  im  Ostgiebel  des  Hekatompedon 
folgende  Darstellung  zu  denken:  Links  ein  Tempel,  hinter  dem  (weiter  links)  in 
ummauertem  Raum  ein  Ölbaum  steht,  also:  das  alte  Erechtheion  mit  dem  Kekropion. 
Am  Tempel  vorbei  bewegt  sich  nach  der  Mitte  des  Giebelfelds  zu  eine  Prozession 
zum  Altar  der  Göttin.  In  der  Mitte  thronen  Zeus  und  Athene,  denen  von  andern 
Gottheiten  (von  rechts  her)  Herakles  zugeführt  wird;  hier  ist  also  die  Szene  im 
Olymp.  Die  beiden  Giebelecken  werden  von  zwei  Schlangendämonen  (Erechtheus 
und  Kekrops)  ausgefüllt. 

Da  das  Kekropion,  welches  im  Relief  hinter  dem  Erechtheion  liegt,  später 
südlich  von  diesem  genannt  wird,  so  folgert  Petersen,  daß  der  Urtempel  nach 
Norden  orientiert  war,  wofür  ja  heute  noch  die  Nordhalle  Zeugnis  ablegt.  Wie  mir 
scheint,  spricht  dafür  auch  folgender  Umstand.  Wer  die  Abbildung  des  Urtempels 
im  Ostgiebel  des  Hekatompedon  beschaute,  brauchte  nur  einige  Schritte  nach  rechts 
zu  machen,  um  das  Bild  in  Wirklichkeit  umgesetzt  zu  sehen,  nämlich  die  (ange- 
nommene) östliche  Längswand  des  Erechtheions  mit  dem,  wie  wir  wissen,  ans 
Hekatompedon  anstoßenden  Kekropion.  Die  Nordfront  mit  dem  Altar  war  allerdings 
freie  Zutat  des  Künstlers. 

Über  den  Grundriß  des  Urtempels  ist  nichts  mehr  zu  ermitteln.  Wir  wissen 
also  nicht,  in  welcher  Weise  die  Cella  der  Athene  mit  dem  Heiligtum  des  Erechtheus 
verbunden  war.  Im  sechsten  Jahrhundert  beschloß  man,  unter  dem  Einfluß  der 
homerischen  Dichtung,  der  Landesgöttin  ein  würdigeres,  ihr  ausschließlich  gehöriges 
Gotteshaus  zu  bauen,  das  Hekatompedon ;  man  legte  es  so  dicht  an  den  Urtempel 
heran,  daß  das  Kekropion  beide  berührte,  und  richtete  es,  neuer  Weise  entsprechend, 
nach  Osten. 

Über  die  ältesten  Kultbilder  der  Athene  kann  man,  wie  Petersen  selbst  sagt 
(S.  60),  nur  Vermutungen  aufstellen.  Vielleicht  hatte  die  Göttin  ursprünglich  über- 
haupt kein  Bild,  weil  sie  im  heiligen  Ölbaum  gegenwärtig  war.  Später  scheint 
man  ihren  Sitz  verehrt  zu  haben,  einen  Thron  oder  ein  Ruhebett,  auf  dem  man  sie 
unsichtbar  sich  niederlassend  dachte;  hierfür  spricht  nach  Petersen  der  spätere 
spezifisch  attische  Gebrauch  von  2öo;  =  Götterbild.     Das  älteste  wirkliche  Bild, 


346  Th.  Steinwender,  Die  Marschordnung  des  römischen  Heeres  usw., 

ein  ^oavov,  stellte  die  Göttin  stehend  dar,  mit  den  Attributen  der  homerischen 
Pallas  Athene,  an  welche  die  alte  „agrarische"  Athene  immer  mehr  angeglichen 
wurde  (um  600). 

Tief  in  die  Urzeit  attischen  Glaubens  führt  das  Kapitel  über  Erechtheus-Poseidon. 
Ungeahnten  Aufschluß  gewährt  hier  die  1902  im  Erechtheion  gemachte  Entdeckung, 
daß  über  dem  Felsmal,  das  vom  Dreizack  des  Poseidon  herrühren  sollte,  im  Dach 
der  Nordhalle  von  Anfang  an  eine  Öffnung  gelassen  war,  wie  sie  in  römischen 
Kultstätten  sich  über  Blitzmalen  (bidentalia)  findet.  Unter  Anlehnung  an  Gedanken 
Rohdes  (in  der  „Psyche")  kommt  Petersen  nun  zu  folgendem  Ergebnis.  Erechtheus, 
der  „Erdaufreißer",  ist  ursprünglich  der  vom  Himmel  kommende  Blitz,  der  in  den 
Felsen  einschlägt,  der  xatsißatr];,  der  chthonische  Zeus.  Als  Unterirdischer  wurde 
er,  in  Schlangengestalt  gedacht,  in  dem  geheimnisvollen  -^do^a.  verehrt.  Ursprüng- 
lich identisch  mit  dem  Feuergott  Hephaistos,  der  im  homerischen  Mythus  vom 
Himmel  auf  die  Erde  geschleudert  wird,  d.  h.  als  Blitz  herabfährt,  wird  er  später 
in  der  Doppelung  Erichthonios  zum  Sohn  des  Hephaistos  und  der  Ge  =  Pandrosos- 
Beim  Eindringen  der  homerischen  Theologie  wurde  Pandrosos  zur  jungfräulichen 
Athene,  die  Mutter  des  Erechtheus  zu  seiner  Pflegerin.  Erechtheus  aber  wurde 
mehr  und  mehr  von  Poseidon  verdrängt:  an  die  Stelle  des  vom  Blitz  geschlagenen 
/aofjLa  trat  die  durch  den  Dreizack  hervorgerufene  Salzquelle. 

Die  beiden  letzten  Abschnitte  des  Buches  behandeln  das  neue  Erechtheion 
(um  400)  und  die  Cella  der  Polias  in  demselben.  Auch  hier  wird  über  viele 
wichtige  Punkte  neues  Licht  verbreitet.  Hervorgehoben  seien  die  Inschriften,  die 
S.  124  ff.  abgedruckt  und  kommentiert,  uns  das  Bild  der  Polias  und  seine  nächste 
Umgebung  greifbar  vor  Augen  führen.  — 

Wer  das  Glück  gehabt  hat,  unter  Petersens  Führung  die  Altertümer  Italiens 
kennen  zu  lernen,  der  erinnert  sich,  daß  es  kein  müheloser  Genuß  war,  seinen 
Darbietungen  zu  folgen.  Das  war  kein  glatter,  ein  für  allemal  fertiger  Vortrag; 
da  drängte  ein  Gedanke  den  andern,  und  es  gehörte  oft  die  gespannte  Aufmerksam- 
keit dazu,  um  über  den  zahlreichen  Nebenfragen,  denen  der  Redner  nachging,  den 
Faden  nicht  zu  verlieren.  Und  doch  war  es  von  hohem  Reiz,  den  Forscher  so 
recht  eigentlich  bei  seinem  geistigen  Schaffen  zu  beobachten  und  ihm  durchs 
Gestrüpp  der  Einzeluntersuchung  zur  lichten  Höhe  geschichtlicher  Erkenntnis  zu 
folgen.  So  sind  denn  auch  Petersens  Schriften  keine  leichte  Lektüre;  aber  wer  sich 
hindurcharbeitet,  findet  seine  Mühe  reichlich  belohnt. 

Zabern  i.  E.  E.  Wendung. 

Steinwender,  Jh.,   Die   Marschordnung   des  römischen  Heeres  zur  Zeit 

der  Manipularstellung.    Danzig  1907.  Druck  von  A.  W.  Kafemann,  G.  m.  b.  H. 

42  S.    8«.    0,80  M. 

Die   Abhandlung   umfaßt   acht   Kapitel.    In  dem  ersten  Kapitel  schildert  der 

Verfasser  den  Aufbruch   aus  dem  Lager.    Er  ergänzt  hier  den  kurzen  Bericht 

des  Polybius  (VI,  40),   der   nur   die   Tatsache   erwähnt,    daß  die  Truppen  auf  ein 

dreifaches  Signal  aufbrachen.    Die  eingefügten  Details  verraten  den  genauen  Kenner 

unseres  deutschen  Exerzierreglements.    Wir   gewinnen  die  Überzeugung,    daß  die 

Legion    auf   das   zweite  Signal  auf  dem  Intervallum   antrat   (mit  Ausnahme   der 


angez.  von  H.  Leppermann.  347 

Velites,  die  den  Wachtdienst  besorgten  und  draußen  kampierten),  und  daß  dann 
auf  das  dritte  Signal  der  Aufbruch  sich  in  durchaus  geordneten  Formationen  vollzog. 
Im  einzelnen  können  ja  diese  Formationen  wohl  ein  wenig  anders  gewesen  sein, 
als  Steinwender  darlegt,  aber  im  großen  und  ganzen  wird's  schon  stimmen.  In 
Kapitel  2:  ,Der  Heereszug"  und  Kapitel  3:  „Breite  und  Länge  der 
Marschkolonne"  unterscheidet  der  Verfasser  nach  Polybius  den  Reisemarsch 
und  die  Marschordnung  in  der  Nähe  des  Feindes.  Es  wird  überzeugend  nach- 
gewiesen, daß  das  römische  Heer  auf  der  Reise  nicht  in  Frontformation,  sondern  in 
langen  Reihen  zog  (agmen  pilatum,  von  pila  =  Säule,  vgl.  Heeressäule),  und  bezüglich 
der  Marschordnung  in  der  Nähe  des  Feindes  (agmen  munitum)  weiß  Steinwender 
seine  Ansicht  über  die  Gefechtsentwicklung  und  das  Gefechtsexerzieren  wenigstens 
sehr  wahrscheinlich  zu  machen.  In  Kapitel  4  berechnet  Steinwender  die  Zahl 
der  Zelte,  der  Packpferde  und  der  Troßknechte.  Das  Resultat  gibt  er  mit 
den  Worten:  ,Ein  konsularisches  Heer  von  normaler  Größe  verfügte  also,  ab- 
gesehen von  der  Begleitmannschaft  des  [Hauptquartiers,  den  pedites  et  equites 
delecti,  die  sich  unserer  Schätzung  entziehen,  über  2250  Zelte  nebst  der  ent- 
sprechenden Anzahl  von  Packpferden  und  Troßknechten  zum  Transport."  Die 
„entsprechende"  Anzahl  bedeutet  hier  die  „gleiche"  Anzahl.  Für  die  Zelte  wird 
die  Rechnung  wohl  annähernd  stimmen,  aber  für  die  Packpferde  scheint  mir  doch 
die  Zahl  zu  hoch  gegriffen.  Es  dürfte  überhaupt  wohl  ein  ganz  aussichtsloses 
Bemühen  sein,  für  diese  eine  bestimmte  Zahl  auszurechnen,  da  wir  über  das  Ge- 
wicht der  Zelte  gar  nicht  und  über  den  Umfang  der  großen  Bagage  (impedimenta) 
nur  unvollständig  unterrichtet  sind.  Das  fünfte  Kapitel:  „Der  Auszug  in  die 
Schlacht"  will  mir  wenig  wichtig  erscheinen.  Da  auch  Polybius  die  Marsch- 
ordnung, die  sich  ergab,  wenn  die  Truppen  unmittelbar  aus  dem  Lager  in  die 
Schlacht  rückten,  gar  nicht  erwähnt,  so  dürfen  wir  wohl  annehmen,  daß  das  Auf- 
exerzieren zum  Gefecht  in  solchem  Falle  dasselbe  gewesen  ist,  wie  das  bei  dem 
oben  erwähnten  agmen  munitum.  In  dem  wichtigen  Kapitel  6  versucht  Steinwender 
den  Begriff  des  von  den  römischen  Schriftstellern  oft  erwähnten,  aber  nirgends 
beschriebenen  agmen  quadratum  festzustellen.  Daß  sich  von  quadrare  der  Be- 
griff des  Rechtecks  schlechterdings  nicht  trennen  läßt,  ist  allgemein  anerkannt. 
Aber  Steinwender  führt  mit  Erfolg  den  Beweis,  daß  obiges  Attribut  nicht  nur 
Geltung  hat  für  das  gleich  zu  Anfang  in  gerader  Front  gerichtete,  die  Form  eines 
Rechtecks  bildende  Heer,  sondern  daß  quadrare  auch  der  terminus  technicus  war, 
wenn  die  ursprüngliche  Grundformation,  die  sich  auf  dem  Vormarsche  verschoben 
hatte,  angesichts  des  Feindes  wiederhergestellt  wurde  unter  Aufnahme  der 
Richtung  in  Reihe  und  Glied;  also  agmine  quadrato  =  nach  Wiederaufnahme  der 
Richtung.  Im  siebenten  Kapitel  ist  der  Beweis  gelungen,  daß  die  Römer  den 
„Gleichschritt"  angewandt  haben.  Allerdings  dürfen  wir  dabei  an  unsern 
Parademarsch  nicht  denken.  Im  letzten  Kapitel  werden  die  Nachrichten  über  die 
Leistungen  des  Legionars  als  Fußgänger  mit  gesunder  Skepsis  einer 
genauen  Nachprüfung  unterzogen.  Mit  Recht  wird  dabei  betont,  daß  Vegetius 
bei  der  Feststellung  der  Zeit,  die  das  Heer  zum  Zurücklegen  der  20  000  bzw. 
24000  passus  (Doppelschritte)  benötigte,  die  notwendigen  Ruhepausen  außer  acht  ge- 
lassen hat.  Wir  gewinnen  die  Überzeugung,  daß  die  Marschleistungen  unserer  Truppen 


348  E.  Böninger,  Von  der  Heerstraße,  angez.  von  E.  Rothert. 

den  Marschleistungen  der  römischen  Legionen  nicht  nachstehen,  sondern  daß  jene 
oft  sogar  noch  höher  sind  als  diese.  Denn  wenn  bei  den  Römern  der  Grundsatz 
beobachtet  wurde,  die  Truppen  am  Tage  vor  der  zu  erwartenden  Schlacht  nach 
Möglichkeit  zu  schonen,  so  leisten  unsere  Truppen  am  Vorabende  einer  Schlacht 
nicht  selten  im  Marschieren  geradezu  Übermenschliches,  um  nur  noch  rechtzeitig 
in  den  Kampf  eingreifen  zu  können.  In  der  modernen  Schlacht  gibt  ja  nicht  mehr 
die  ungeschwächte  Kraft  der  Truppen  allein  den  Ausschlag,  sondern  der  Erfolg 
hängt  im  wesentlichen  von  der  Feuerwirkung  ab.  Die  in  den  Text  ein- 
gefügten Skizzen  und  Abbildungen  erleichtern  das  Verständnis  der  stets 
interessanten,  an  vielen  Stellen  überzeugenden,  scharfsinnigen  Ausführungen,  für 
die  der  Verfasser  Anerkennung  und  Dank  verdient. 

Paderborn.  Herrn.  Leppermann. 

Böninger,  Eugen,  Von  der  Heerstraße.  Düsseldorf  1908.  Schmitz  &  Olbertz. 
96  S.    2,50  M. 

Wieder  ist  die  allgemeine  Reisezeit  angebrochen  und  wieder  ziehen  Hunderte 
und  Tausende,  begünstigt  durch  die  staatliche  Eisenbahnpolitik,  in  die  weite  Ferne, 
um  alle  die  Punkte  rasch  zu  sehen,  die  nun  einmal  den  Ruf  besonderer  Groß- 
artigkeit genießen  und  die  man  deshalb  gesehen  haben  muß.  Unsere  alles  gleich 
machende  Zeit  bringt  so  in  gleicher  Weise  den  Gebildeten  wie  den  Ungebildeten, 
den  Erwachsenen  wie  die  Kinder  sofort  zu  dem  Größten  und  Erhabensten  von 
Schweiz  und  Tirol.  Die  Fülle  der  Eindrücke  steht  aber  oft  in  umgekehrtem  Ver- 
hältnis zu  ihrer  Vertiefung  und  die  Ausdehnung  der  Reisen  schädigt  nur  zu  leicht 
die  Fähigkeit,  richtig  zu  beobachten  und  auch  die  Reize  der  Heimat  zu  erkennen. 

An  dieses  Mißverhältnis  dachten  wir,  als  uns  die  Böningersche  Schrift  in  die 
Hände  kam.  Sie  zeigte  uns,  wie  viele  lehrreiche  Betrachtungen  sich  an  das  rechte 
Reisen  anknüpfen  lassen.  Die  meisten  Touristen  geben  sich  mit  dem  zufrieden, 
was  Bädeker  sagt,  dessen  Notizen  ja  ebenso  zutreffend  wie  ausreichend  für 
den  Augenblick  sind.  Zu  einem  selbständigen  Nachdenken  drängen  sie  nicht 
gerade.  Böninger  aber  bietet  noch  etwas  anderes.  Er  will  anregen  zu 
eigener  Beobachtung.  Zu  diesem  Zwecke  knüpft  er  an  das  Gesehene  Be- 
trachtungen buntester  Art,  wie  der  Ort  sie  gerade  nahe  legt.  Den  vielgereisten 
Verfasser,  der  sich  immer  jedoch  den  Blick  auch  für  das  Kleine  und  Einzelne 
offen  gehalten  hat  und  dieses  dann  zum  Anlaß  seiner  Ausführungen  nimmt, 
führt  seine  diesmalige  Reise  von  Singen  über  Konstanz  nach  Tirol.  Nament- 
lich sucht  er  St.  Anton,  den  Brenner  und  Bozen  auf  und  kehrt  dann  über  Inns- 
bruck und  München  in  die  Heimat  zurück.  Das  ist  eine  Reise,  wie  sie  jährlich 
viele  Hunderte  ausführen.  Böninger  aber  macht  sie  zum  Ausgangspunkt  für  Be- 
trachtungen gesellschaftlicher  und  sozialer,  geschichtlicher  und  politischer  Art.  So 
erörtert  er  die  Einrichtungen  der  Schutzhütten,  die  Notwendigkeit  des  Tier-  und 
Pflanzenschutzes,  die  Zweckmäßigkeit  indirekter  Steuern,  den  Kampf  der  Natio- 
nalitäten ,  ja,  selbst  die  Wirkungen  des  Zölibats  auf  die  Minderung  der  Intelligenz 
des  Stammes  und  vieles  andere.  Die  Belege  werden  teils  aus  den  unmittelbaren 
Beobachtungen,  teils  aus  den  Schriften  namhafter  Männer  entnommen.  Fast  immer 
sind  es  Fragen,  die  uns  alle  gegenwärtig  beschäftigen.    Daß  man   nicht  überall 


H.  Schubert,  Niedere  Analysis,  angez.  von  H.  Thieme.  349 

ihm  ganz  zustimmen  wird,  ist  selbstverständlich.  Immer  aber  schreibt  Böninger 
lebendig  und  anregend.  Und  daß  wir  ein  dringendes  Interesse  haben,  uns  anregen 
zu  lassen,  zeigt  beispielsweise  der  Abschnitt  über  den  deutschen  Schulverein.  Ist 
es  nicht  beschämend,  wie  untätig  wir  Deutschen  dem  Kampf  der  Deutschösterreicher 
zusehen  ?  Für  die  tschechische  Schule  wurden  701  757  Kronen  aufgebracht,  für  die 
deutsche  durch  den  deutschen  Schulverein  nur  78  781  Mark.  Im  ganzen  verfügten 
in  Österreich  im  Jahre  1906  die  Vereine  zur  Bekämpfung  des  Deutschtums  über 
2  150000  Kronen,  die  deutschen  Schulvereine  aber  nur  über  950000  Kronen.  —  Durch 
solche  Vorhaltungen  schärft  Böninger  unser  patriotisches  Gewissen,  wie  er  überall 
auf  unser  nationales  Empfinden  einzuwirken  sucht.  Das  führt  ihn  allerdings  auch 
zu  Behauptungen ,  die  zu  weit  gehen.  Er  vergleicht  Ostgoten  und  Bajuvaren. 
Diese  rühmt  er,  denn  sie  sind  deutsch  geblieben ;  noch  in  jüngster  Zeit  konnte  an 
ihrer  südlichsten  Warte  (in  Bozen)  dem  echt  deutschen  Walther  von  der  Vogelweide 
ein  Denkmal  errichtet  werden.  Wenn  aber  die  Ostgoten  uns  verloren  gegangen 
sind,  so  hat  hier  nicht  „lediglich  der  Grad  des  nationalen  Sinnes  die  Völkerscheide 
bestimmt".  Die  Bajuvaren  sind  kompakt  beieinander  geblieben  und  haben  immer 
zur  katholischen  Kirche  freundlich  gestanden.  Das  hat  diese  dann  aus  guten 
Gründen  vergolten.  Die  Ostgoten  aber  verschwanden,  weil  sie  etwa  im  Verhältnis 
von  1  zu  15  sich  im  Lande  verteilten  und  dabei  einer  Menge  gegenüberstanden, 
die  in  der  Kultur  weit  überlegen  und  durch  den  Beistand  der  organisierten,  katho- 
lischen Kirche  um  vieles  stärker  war. 

Zu  solchen  einschränkenden  Bemerkungen  wird  man  sich  hin  und  wieder  ver- 
anlaßt fühlen.  Das  beweist  aber  auch,  daß  die  Schrift  unser  Interesse  in  Anspruch 
nimmt  und  uns  in  all  den  Fragen  so  oder  so  Partei  ergreifen  läßt.  Wir  können  sie 
mit  Recht  empfehlen,  namentlich  denjenigen,  welche  die  gleiche  Reise  gemacht 
haben  oder  sie  bzw.  ähnliche  noch  zu  machen  gedenken. 

Düsseldorf.  E.  Roth  er  t. 

Schubert,  H.,  Niedere  Analysis.  Erster  Teil:  Kombinatorik,  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung, Kettenbrüche  und  diophantische  Gleichungen.  Zweite  Auflage 
(Sammlung  Schubert,  V.)  Leipzig  1908.  G.  J.  Göschensche  Verlagshandlung. 
IV  u.  181  S.    80.    3,60  M. 

Von  der  bekannten  Sammlung  Schubert  ist  der  von  dem  Herausgeber  selbst 
bearbeitete  Band  V,  erster  Teil,  der  die  Kombinatorik,  Wahrscheinlichkeitsrechnung, 
Kettenbrüche  und  diophantische  Gleichungen  enthält,  in  zweiter  Auflage  erschienen. 
Der  in  dem  Werke  behandelte  Stoff,  der  vor  einem  Jahrhundert  in  Deutschland 
im  Vordergrunde  des  Interesses  stand,  ist  in  neuerer  Zeit  zugunsten  der  Teile 
der  Mathematik,  die  zu  den  Anwendungen,  zu  den  graphischen  Methoden  und 
zum  Funktionsbegriff  in  näherer  Beziehung  stehen,  mehr  und  mehr  zurückgedrängt 
worden  und,  wie  man  wohl  sagen  kann,  mit  Recht.  Für  die  Mathematik  als  Mittel 
zur  Beantwortung  von  Fragen  der  Außenwelt  ist  die  Jugend  leichter  zu  gewinnen 
als  für  die  rein  abstrakten  Erörterungen,  mit  denen  es  in  der  Hauptsache  die  hier 
behandelten  Stoffgebiete  zu  tun  haben.  Wenn  trotzdem  nach  verhältnismäßig 
kurzer  Zeit  eine  neue  Auflage  des  Buches  notwendig  geworden  ist,  so  darf  man 
daraus  wohl  schließen,  daß  der  Sinn  für  mathematische  Abstraktion  doch  nicht  ganz 


350  H.  Schubert,  Niedere  Analysls,  angez.  von  H.  Thieme. 

so  selten  ist,  wie  zuweilen  geglaubt  wird.  Bedingt  ist  allerdings  der  Erfolg  des 
Buches  ebenso  durch  die  methodisch  außerordentlich  geschickte,  durchsichtig  klare 
Darstellung  des  Stoffes  seitens  des  als  Forscher  wie  als  pädagogischer  Schriftsteller 
gleich  hervorragenden  Verfassers. 

Der  Stoff,  den  das  Buch  enthält,  ist  ziemlich  umfangreich.  Zur  Kombinatorik 
sind  hinzugenommen  der  binomische  und  der  polynomische  Lehrsatz  und  die 
arithmetischen  Reihen  höherer  Ordnung.  Die  Aufgaben  der  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung sind  als  Force-maJeure-Piohleme,  als  Ursachen-  und  als  Glaubwürdig- 
keitsprobleme unterschieden  und  im  einzelnen  sehr  eingehend  erörtert.  Ebenso 
eingehend  behandelt  werden  die  Kettenbrüche,  endliche  und  unendliche,  und  im 
Anschluß  hieran  die  sog.  diophantischen  Gleichungen,  zuerst  die  Gleichungen 
ersten  Grades  und  zwar  der  Reihe  nach  eine  einzige  Gleichung  mit  zwei  Unbe- 
kannten, Gleichungen,  deren  Zahl  nur  um  eins  kleiner  ist  als  die  Zahl  der  Unbe- 
kannten, und  solche,  deren  Zahl  um  zwei  oder  mehr  kleiner  ist  als  die  Zahl  der 
Unbekannten,  darauf  Gleichungen  zweiten  Grades  und  insbesondere  die  Feilsche 
Gleichung  u^  —  Dt2=l,  die  pythagoreische  Gleichung  x2  =  y2  4-z2  und  schließlich 
die  Gleichungen  x^  +  y^  +  z^  =  ü^  und  x^  4- y2  =  u^  +  z». 

Den  einzelnen  Abschnitten  sind  eine  größere  Zahl  geschickt  ausgewählter 
Übungsaufgaben  beigefügt,  die  nebenbei  den  Beweis  liefern,  daß  dies  scheinbar 
rein  abstrakte  Gebiet  der  Mathematik  auch  seinen  praktischen  Wert  besitzt.  Den 
Schluß  des  Buches  bilden  die  Resultate  zu  den  Übungsaufgaben. 

Der  Verfasser  hatte  bei  Abfassung  des  Buches  als  Interessenten  vorzugsweise 
die  Primaner  höherer  Lehranstalten  im  Auge.  Sicherlich  wird  jeder  Mathematik- 
lehrer sich  freuen,  wenn  die  besseren  seiner  Schüler  neben  dem  Unterricht,  der  ja 
nicht  soweit  gehen  kann,  noch  ein  so  anregendes  Werk  durcharbeiten  wie  das 
vorliegende.  Der  behandelte  Stoff  bietet  eine  vorzügliche  Gelegenheit  zur  Übung 
in  genauerer  Analyse  komplizierter  Sachverhältnisse  und  zur  Schärfung  des 
mathematischen  Urteils.  Für  derartige  Zwecke  sei  das  Buch  den  Schülerbibliotheken 
zur  Anschaffung  empfohlen. 

Posen.  H.  Thieme. 


IV.  Sprechsaal. 


Professor  Dr.  Krause-Düsseldorf  schreibt: 

Die  Kurzsichtigkeit  unserer  Schüler.  Schon  seit  langen  Jahren  kämpfe  ich 
einen  erbitterten,  aber  erfolglosen  Kampf.  Bei  allen  schriftlichen  Arbeiten  habe 
ich  eine  ganze  Anzahl  von  Schülern  zum  Geradesitzen  zu  ermahnen.  Bei  dem 
einen  oder  anderen  fruchtet  es,  er  richtet  sich  auf  und  behält  bis  zum  Schlüsse 
der  Schreibarbeit  eine  unschädliche  Haltung  bei.  Die  meisten  aber  sinken  bald  wieder 
zusammen,  und  es  bedarf  immer  erneuter  Zurufe  und  Aufmunterungen,  damit  sie 
sich  wieder  aufraffen.  Noch  andere  sind  überhaupt  nur  durch  scharfes  und  schärfstes 
Anfahren  dazu  zu  bewegen,  für  kurze  Zeit  wenigstens  ihre  Liegestellung  zu  ver- 
lassen. Wohlgemerkt,  ich  überzeuge  mich  stets,  ob  der  Junge  in  normaler  Sitz- 
haltung wirklich  genügend  sehen  kann.  Bei  jeder  weiteren  schriftlichen  Arbeit 
geht  der  Tanz  von  neuem  los.  Und  je  weiter  nach  oben,  desto  größer  wird  der 
Prozentsatz  der  zu  ermahnenden  Schüler.  Manchmal  habe  ich  schon  entmutigt 
die  Sache  gehen  lassen  wollen,  wie  sie  eben  will,  habe  es  aber,  da  ich  selber 
kurzsichtig  bin,  nicht  übers  Herz  bekommen  und  immer  wieder  meine  Anspornungen 
ertönen  lassen.  Einen  großen  Teil  der  Schuld  an  dieser  schlechten  Gewöhnung 
der  Schüler  trägt  sicher  das  Haus,  wo  es  meist  an  der  nötigen  Beaufsichtigung  und 
Ermahnung  fehlen  wird.  Anderseits  habe  ich  mich  davon  überzeugt,  daß  auch 
die  Schule  nicht  von  aller  Schuld  freizusprechen  ist.  Eine  ganze  Reihe  von 
Kollegen  stehen  der  Sache  völlig  gleichgültig  gegenüber,  sei  es,  daß  sie  ihr  nicht 
dieselbe  Bedeutung  beimessen  wie  ich,  oder  daß  sie  sich  sagen,  ihre  Bemühungen 
seien  zur  Fruchtlosigkeit  verurteilt.  Ich  für  meinen  Teil  bin  davon  überzeugt,  daß, 
wenn  alle  in  derselben  Weise,  wie  ich  oben  angedeutet,  auf  die  Jugend  einwirkten, 
bei  der  großen  Mehrzahl  der  schlecht  Gewöhnten  doch  noch  eine  korrekte  und 
gesunde  Schreibhaltung  zu  erzielen  ist,  wodurch  schon  recht  viel  für  die  Vor- 
beugung gegen  das  Kurzsichtigwerden  gewonnen  wäre. 

Die  Kurzsichtigkeit  nimmt  rapide  in  den  oberen  Klassen  zu.  Es  sprudelt  dort 
eine  neue  Quelle  für  diese  betrübende  Erscheinung.  Das  ist  das  Linienblatt.  Die 
Schüler  sollen  ja  nicht  mehr  auf  Linien  schreiben,  vermögen  aber  noch  nicht  ohne 
solche  Hilfe  auszukommen  und  benutzen  daher  in  OII  fast  durchweg  ein  Linien- 
blatt. Das  scheint  aber  je  nach  der  Stärke  der  Linien,  der  Dicke  des  Papiers  und 
der  Belichtung  des  Platzes,  den  der  Schüler  einnimmt,  recht  verschieden  durch, 
meist  recht  schwach,    so  daß  der  Schüler  geradezu  gezwungen  ist,  von  der  nor- 


352  Vermischtes. 

malen  Haltung  abzuweichen  und  sich  tief  auf  das  Blatt  hinabzubücken.  Ich 
mache  daher  den  Vorschlag,  das  Linienblatt  ganz  zu  verbieten.  Mögen  diejenigen, 
die  nicht  ohne  Hilfsmittel  in  geraden  Zeilen  und  in  genügendem  Zeilenabstande 
schreiben  können,  ruhig  liniiertes  Papier  weiter  benutzen.  Das  ist  jedenfalls  besser, 
als  daß  sie  sich  mit  dem  Linienblatt  die  Augen  verderben. 

Ich  fasse  zusammen.  Mögen  alle  Kollegen  in  den  unteren  und  mittleren 
Klassen  auf  das  konsequenteste  zusammenwirken,  jede  falsche  Haltung  der  Schüler 
beim  Schreiben  zu  verhüten.  In  den  oberen  Klassen  ist  das  Linienblatt  abzu- 
schaffen. Werden  diese  beiden  Forderungen  erfüllt,  dann  kann  die  Schule  sagen, 
daß  sie  zwei  Hauptquellen  der  Kurzsichtigkeit  ihrer  Schüler  verstopft  habe.  Der 
Erfolg  wird  nicht  ausbleiben. 

Herr  Oberlehrer  v.  Kolbe -Marienwerder  schreibt: 

Zur  Anfrage  des  Herrn  Professor  Meyer,  wo  der  Satz  diem  perdidi  auf  Traian 
bezogen  ist,  erlaube  ich  mir  auf  eine  Stelle  im  Panegyricus  des  jüngeren  Plinius 
hinzuweisen.  Dort  c.  56,  2  heißt  es  nämlich  von  Traian :  quid  est  enim  in  principatu 
tuo,  quod  cuiusquam  praedicatio  vel  transilire  vel  praetervehi  debeat  ?  quod  mo- 
mentutn,  quod  immo  temporis  punctum  aut  beneficio  sterile  aut  vacuum  laude? 
Schon  Samuel  Pitiscus  in  seiner  Ausgabe  des  Sueton  Leuwarden  1714  (2.  Aufl.) 
hat  diese  Stelle  angeführt. 


V.  Vermischtes. 


An  der  Universität  Mfinster  i.  Westf.  wird  in  der  Zeit  vom  10.  bis  zum  20.  Oktober 
dieses  Jahres  ein  biologischer  Ferienltursus  stattfinden.  Das  Programm  ist  mit 
Rücksicht  auf  die  Bedürfnisse  des  naturgeschichtlichen  Unterrichts  der  Oberstufe 
zusammengestellt.  Im  Vordergrunde  stehen  daher  Übungen  und  Demonstrationen 
auf  dem  Gebiete  der  Tier-  und  Pflanzenphysiologie,  wobei  insbesondere  das  Süß- 
wasserplankton eingehende  Berücksichtigung  finden  wird. 


Abhandlungen. 


Zur  Methodik  des  hebräischen  Unterrichts/) 

Da  mit  meinen  Arbeiten  zur  wissenschaftlichen  Erforschung  der  hebräischen 
Sprache,  wie  sie  in  dem  »Historisch -kritischen  Lehrgebäude  der  hebräischen 
Sprache"  niedergelegt  sind,  von  Anfang  an  die  Betätigung  im  hebräischen  Unter- 
richt Hand  in  Hand  gegangen  ist,  so  ist  es  natürlich,  daß  ich  auch  über  die  Me- 
thode, die  bei  diesem  Unterricht  zu  wählen  sei,  mir  ein  selbständiges  Urteil  zu 
bilden  gesucht  habe.  Dabei  ist  mir  nun  der  und  jener  Gedanke  gekommen,  der 
von  den  bisher  zum  Ausdruck  gebrachten  Grundsätzen  mehr  oder  weniger  abweicht. 
Deshalb  drängt  es  mich,  diese  Gedanken  einmal  im  Zusammenhang  auszusprechen 
und  zur  Diskussion  zu  stellen. 

Die  erste  Frage,  die  bei  Erwägungen  über  die  richtige  Methode  des  hebräi- 
schen Unterrichts  aufsteigt,  ist  natürlich  die,  ob  sie  eine  andere  sein  muß,  als  die, 
welche  zur  Einführung  in  tote  Sprachen  überhaupt  angewendet  werden  soll. 

Wie  man  sieht,  mache  ich  bei  der  Beantwortung  der  zuerst  aufgeworfenen 
Frage  einen  Unterschied  zwischen  lebenden  und  toten  Sprachen. 

Denn  bei  den  ersteren  mag  es  sein,  daß  die  Methode,  die  gleich  mit  dem 
Sprechen  von  Sätzen  anfängt,  auf  raschem  Wege  zu  dem  zunächst  gewünschten 
Ziele,  sich  in  der  betreffenden  Sprache  unterhalten  zu  können,  führt,  obgleich  ich 
auch  bei  der  Erlernung  von  lebenden  Sprachen  es  für  richtiger  halte,  wenn  das 
Sprechen  mindestens  mit  der  Durchnahme  einer  —  wenn  auch  noch  so  kurzen  — 
systematischen  Darstellung  der  Grammatik  des  betreffenden  Idioms  parallel  geht. 
Dies  ist,  wie  ich  hinterher  sehe,  auch  von  J.  Rosenberg  stillschweigend  anerkannt 
worden,  der  vor  einigen  Jahren  für  die  in  A.  Hartlebens  Verlag  (Wien)  erscheinende 
»Bibliothek  der  Sprachenkunde "  eine  „Hebräische  Konversations-Grammatik "  ge- 
schrieben hat,  um  „die  Kunst,  schnell  modernes  Hebräisch  zu  lernen",  wie  der 
Nebentitel  des  Buches  heißt,  zu  lehren.  Denn  er  beginnt  mit  einem  systematischen 
Abriß  der  biblisch-hebräischen  Grammatik  (S.  1 — 20),  der  leider  ziemlich  viele  Fehler 


*)  Da  diese  Arbeit  sich  an  die  Religionslehrer  beider  Konfessionen  an  unseren  höheren 
Lehranstalten  wendet,  würde  ihr  Platz  in  einer  Zeitschrift  für  den  konfessionellen  Religions- 
unterricht nicht  der  richtige  gewesen  sein.  Auch  betrifft  die  gegebene  Auseinandersetzung 
keineswegs  bloß  den  Unterricht  im  Hebräischen,  sondern  zum  großen  Teil  auch  den  Sprach- 
unterricht überhaupt.  Mtth. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VUI.  Jhrg.  23 


354  E.  König, 

enthält,  und  fügt  einen  ebensolchen  über  die  biblisch-aramäische,  die  talmudisch- 
hebräische  und  die  talmudisch-aramäische  Grammatik  hinzu,  ehe  er  mit  den  prak- 
tischen Übungen  beginnt. 

Bei  toten  Sprachen  aber  kann  von  der  Anwendung  der  Kcnversationsmethode, 
wie  man  sie  nennen  kann,  nicht  im  Ernste  die  Rede  sein.  In  bezug  auf  die  Er- 
lernung dieser  Sprachen  habe  ich  aber  auch  nie  mich  mit  der  Anwendung  der 
Methode  befreunden  können,  die  von  der  Lektüre  zusammenhängender 
Texte  ausgeht.  [Denn  entweder  muß  dieses  Verfahren[im  Anfang  zu  einem  bloß 
mechanischen  Aneignen  eines  Gedächtnisstoffes  werden,  oder  das  Foitschreiten 
in  der  Lektüre  des  zusammenhängenden  Textes  muß  wegen  der  notwendigen  Ein- 
schaltung von  Erklärungen  ein  so  langsames  sein,  daß  das  Interesse  am  Faden 
der  Erzählung  erlischt  und  die  Lesestunde  zur  grammatischen  Auseinandersetzung 
wird.  Außerdem  kann  es  doch  nicht  ausbleiben,  daß  die  gelegentlich  aus  Anlaß 
der  Lektüre  zu  gebenden  Bruchstücke  von  grammatischer  Darstellung  schließlich 
zu  einem  planvollen  Ganzen  zusammengefügt  werden. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  aber  erstens  keine  Zeitverschwendung,  wenn 
eine  geordnete  Übersicht  über  die  grammatischen  Verhältnisse  der  betreffenden 
Sprache  gleich  am  Anfang  gegeben  wird.  Zweitens  aber  ist  zu  betonen,  daß 
dieser  grammatisch  geordnete  Unterricht  ebensoviel  Lebendigkeit  und  Inter- 
esse besitzen  muß,  wie  der  an  die  Lektüre  eines  zusammenhängenden  Textes  sich 
anschließende  Unterricht.  Denn  die  Grammatik  einer  Sprache  ist  auch  ein  Stück 
Leben,  kräftig  vorwärtsdrängendes  und  vielseitiges  Leben.  In  ihm  tritt  der 
Denkprozeß  einer  Volksseele  als  mächtig  zeugender  Grundfaktor  auf  und  die  Laut- 
gesetze greifen  als  gestaltende  Kräfte  ein.  Welch  [reiche  und  bunte  Schar  von 
Sprößlingen  rufen  sie  ins  Dasein  I  Welcher  unaufhörliche  Wechsel  ferner  im  Ent- 
stehen und  Vergehen  bei  diesem  Sprachprozeß!  Blüten  öffnen  sich  und  verwelken, 
ja  ganze  Zweige  und  Äste  sterben  ab,  und  andere  sprießen  empor.  Dies  kann 
bei  den  Formen  und  beim  Satzbau  beobachtet  werden.  Man  denke  nur  z.  B.  an 
das  Schicksal  der  Kasusendungen  oder  an  den  Übergang  von  Parataxe  zur  Hypo- 
taxe! Wie  deutlich  stellt  sich  dem  aufmerksamen  Beobachter  der  Sprache  über- 
haupt alles  als  im  lebendigen  Flusse  befindlich  dar!  Wer  also  darf  behaupten, 
daß  dem  Unterricht  in  der  Grammatik  das  Interesse  und  das  Leben  fehlen  müsse? 
Nein,  dieser  Unterricht  kann  ebenso  lebensvoll  und  anziehend  gestaltet  werden, 
wie  der  Unterricht  z.  B.  über  das  organische  Leben  in  der  Natur. 

Da  demnach,  wie  hier  einleitungsweise  kurz  zu  begründen  war,  die  grammati- 
kalische Methode  auch  für  den  Unterricht  im  Hebräischen  die  richtige  ist,  so  ist 
nur  die  Frage,  wie  diese  Methode  in  bezug  auf  das  Hebräische  auszugestalten 
ist.  Zur  Beantwortung  dieser  Frage  meine  ich  aber  auf  Grund  meiner  Erfahrungen 
und  Erwägungen  folgende  Sätze  darbieten  zu  können. 

I. 

Gleich  als  ich  zum  erstenmal  einen  Plan  für  meine  Vorträge  über  hebräische 
Grammatik  entwarf,  kam  ich  zu  dem  Urteil,  daß,  außer  der  historischen  und  kom- 
parativen Methode  der  neueren  Sprachwissenschaft,  ganz  besonders  die  induktive 
Art  des  Forschens  zur  Anwendung  zu  bringen  sei.    Denn  nur  aus  den  einzelnen 


Zur  Methodik  des  hebräischen  Unterrichts.  355 

genau  festgestellten  Tatsachen  kann  auch  auf  dem  Gebiete  des  Sprachlebens  das 
organisierende  Prinzip  erkannt  werden,  das  in  ihnen  waltet.  Nur  der  Blick  auf  alle 
einzelnen  Erscheinungen  und  Vorgänge  einer  bestimmten  Sprache  kann  die  Eigen- 
art erkennen  lehren,  in  der  die  allgemeinen  Gesetze  der  menschlichen  Sprache  sich 
in  einem  bestimmten  Zweige  derselben  zur  Geltung  gebracht  haben.  So  gelangte 
ich  zu  der  Überzeugung,  daß  die  synthetisch-spekulative  Methode,  nach  welcher 
Heinr.  Ewald  bei  seiner  Darstellung  der  hebräischen  Grammatik  (Lehrbuch  1827 
bis  1870)  vom  Ganzen  der  Erscheinungen  und  von  den  wirkenden  Ideen  aus- 
ging, mit  dem  analytisch-induktiven  Verfahren  zu  vertauschen  sei.  Daraus 
ergab  sich  aber  mehr  als  eine  Direktive  für  die  Darstellung  der  hebräischen  und 
überhaupt  aller  Spracherscheinungen. 

a)  Durch  die  ganze  Grammatik  hindurch  hat  jeder  Abschnitt  und  auch  die 
Auseinandersetzung  über  jeden  einzelnen  Punkt  nicht  mit  allgemeinen  Er- 
wägungen zu  beginnen.  Z.  B.  im  Abschnitt  vom  Verbum  ist  nicht  mit  all- 
gemeinen Darlegungen  über  Wurzel  und  Stamm  anzufangen,  sondern  deren  Ver- 
hältnis im  Hebräischen  und  Semitischen  überhaupt  ist  an  einem  konkreten  Beispiel, 
gleich  am  Paradigma,  aufzuzeigen.  Weiter  ist  z.  B.  nicht  im  allgemeinen  erst  über 
Tempora  und  Modi  zu  sprechen,  sondern  das  im  Hebräischen  bestehende  Ver- 
hältnis zur  Bezeichnung  der  Zeiten  und  Modi  ist  wieder  am  Paradigma  zu  ver- 
anschaulichen. Sodann  die  Ausnahmen,  die  bei  den  einzelnen  Formationen,  wie 
z.  B.  bei  der  Ausprägung  von  Numerus,  Genus  und  Person  am  Verb,  beobachtet 
werden,  sind  nicht  gleich  am  Anfang  vorzuführen,  sondern  an  den  einzelnen 
Punkten  zu  erwähnen,  wo  sie  tatsächlich  auftreten.  Erst  hinterher  sind  sie  alle  zu 
überblicken  und  so  das  quantitative  Verhältnis  von  normalen  und  abnormen  Er- 
scheinungen festzustellen.  Bei  diesem  Verfahren  wird  aber  nicht  etwa  bloß  das 
Gesetz  der  Induktion  bewahrt,  sondern  man  sieht  auch  leicht,  daß  dieses  Ver- 
fahren für  die  Erlernung  und  Einübung  der  sprachlichen  Formen  vorteilhaft  ist. 
Denn  indem  der  Lernende  die  einzelne  Abnormität  erst  je  an  ihrem  Orte  kennen 
lernt,  wird  er  veranlaßt,  sich  an  die  gesetzmäßige  Bildungsweise  zu  erinnern,  und 
so  befestigt  sich  in  seinem  Geiste  das  betreffende  Grundgesetz  immer  von  neuem 
gegenüber  der  einzelnen  Abweichung.  Außerdem  kann  die  einzelne  Abnormität 
an  dem  Platze,  wo  sie  nach  diesem  induktiven  Verfahren  auftritt,  auch  gleich  bei 
der  Anwendung  des  ganzen  betreffenden  Verbs  oder  Nomens  in  Übersetzungen 
eingeübt  werden. 

b)  Die  Hauptfolgerung  aber,  die  sich  mir  aus  der  Zugrundelegung  der  rein 
induktiven  Methode  ergab,  war  eine  neue  Behandlung  der  sogenannten  Lautlehre. 
Denn  ihre  bisherige  Stellung  vor  der  Formenlehre  bringt  mehrere  Nachteile  mit 
sich.  Erstens  muß  sie  dem  Lernenden  eine  Menge  von  Formen  vorführen,  die  er 
noch  gar  nicht  in  ihrem  genetischen  Zusammenhange  kennt.  Sie  muß  ja  Verbal- 
formen und  Nominalformen  als  Belege  geben,  ohne  daß  dem  Lernenden  deren 
organische  Zugehörigkeit  zu  einem  regelmäßigen  oder  unregelmäßigen  Verbum  usw. 
bekannt  sein  kann.  Zweitens  aber  müßte  die  sogenannte  Lautlehre,  wenn  sie 
ihren  Beweis  auf  genaue  Art  führen  wollte,  alle  normalen  und  abnormen  Er- 
scheinungen der  Formenlehre  vorweg  nehmen,  oder  sie  muß  wenigstens  wegen  der 
weiteren  Belege  auf  einen  späteren  Teil  der  Darlegung   verweisen,  und  das   ist 

23* 


356  E-  König, 

allemal  wenigstens  ein  formeller  Mangel  der  Darstellung.  Drittens  aber  wird  sich 
auch  in  der  Praxis  des  Unterrichts  oft  gezeigt  haben,  daß  die  „Lautlehre"  den  Fort- 
schritt des  Erlernens  der  Sprache  mehr  unterbricht,  als  zu  ihm  gehört.  Denn 
die  Regeln  der  „Lautlehre"  können  nicht  recht  eingeübt  werden,  da  die  Kenntnis 
der  Formenlehre  noch  fehlt,  und  gewiss  eilt  der  Unterricht  mindestens  möglichst 
rasch  über  die  Paragraphen  dieses  Abschnitts  der  Grammatik  hinweg,  um  schnell  bei 
der  Formenlehre  das  Gebiet  der  organischen  Entfaltung  des  Sprachkörpers  zu  be- 
treten. 

Aus  diesen  Gründen  ist  die  „Lautlehre"  in  ihrer  jetzigen  Stellung  ein  Fremd- 
körper innerhalb  eines  wissenschaftlich-praktisch  orientierten  Systems  der  Gram- 
matik. Nach  meiner  Ansicht  baut  sich  die  Grammatik  besser  aus  folgenden  Teilen 
auf:  Sie  gibt  in  einem  ersten  Hauptteile  eine  Lehre  von  der  Schrift  und  der  Aus- 
sprache des  betreffenden  Idioms,  und  zur  Aussprache  gehört  natürlich  auch  die 
Betonung.  —  Als  zweiter  Hauptteil  folgt  die  Formenlehre,  wo  die  Gebilde  der 
betreffenden  Sprache  wie  Individuen  in  ihrem  Einzelleben  und  Familienzusammen- 
hang vorgeführt  werden.  Auch  sind  dabei  die  Nomina  in  Flexionsklassen  zu 
ordnen,  sodaß  z.  B.  das  Schicksal  mancher  Endungen,  wie  der  Endung  e,  in  seiner 
ganzen  Entfaltung  an  Nominibus  von  verschiedenster  Ableitung  veranschaulicht  wird. 
Denn  etwas  anderes  ist  die  Lehre  von  der  Nominalderivation  und  etwas  anderes 
die  Lehre  von  der  Nominalflexion,  und  so  wenig  diese  beiden  Abteilungen  der 
nominalen  Formenlehre  z.  B.  in  Kühners  großer  Griechischen  Grammatik  zusammen- 
geworfen sind,  ebenso  wenig  darf  dies  im  Hebräischen  geschehen,  und  beide  Ab- 
teilungen sind  also  von  Olshausen  und  Stade  in  ihren  Lehrbüchern  der  hebräischen 
Sprache  mit  Unrecht  vermischt  worden.  Es  läßt  sich  bei  der  Auseinanderhaltung 
der  beiden  Gebiete  sogar  ein  Mittelweg  einschlagen,  damit  die  doppelte  Vorführung 
desselben  Stoffes  vermieden  werde.  Nämlich  innerhalb  der  einzelnen  nominalen 
Flexionsklassen  können  die  Vertreter  derselben  immer  so  hintereinander  betrachtet 
werden,  daß  die  Angehörigen  der  einfachsten  Derivationsklasse  vorangehen  und 
die  Vertreter  der  anderen  Nominaltypen  folgen.  —  Als  dritter  Hauptteil  folgt  dann 
die  generelle  Gestaltungslehre  oder  Morphologie.  Diese  führt  ein  Dreifaches 
vor:  a)  sie  untersucht,  wie  sich  in  der  betreffenden  speziellen  Sprache  die  Idee 
als  Sprachschöpferin  geltend  gemacht  hat.  b)  Sie  zeigt,  wie  das  Nebeneinander- 
ertönen von  Konsonanten  und  Konsonanten,  Konsonanten  und  Vokalen  usw.  eine 
gegenseitige  Beeinflussung  der  Laute  verursacht  hat.  c)  Sie  weist  nach,  wie 
der  Akzent  ein  wirksamer  Faktor  im  Sprachprozeß  gewesen  ist.  Indem  die  generelle 
Formenlehre  aber  dies  Dreifache  vorführt,  leitet  sie  dazu  an,  einen  zusammen- 
fassenden Rückblick  auf  die  —  hebräischen  —  Spracherscheinungen  zu  werfen  und 
ein  tieferes  Verständnis  der  in  ihrer  Entstehung  wirksamen  Kräfte  zu  gewinnen.  — 
Als  vierter  Hauptteil  endlich  folgt  die  Syntax,  deren  Disposition  keiner  Entfaltung 
bedarf. 

So  scheint  mir  die  induktive  Seite  an  den  Prinzipien  der  neueren  Sprachwissen- 
schaft sich  schon  bei  der  allgemeinen  Gestaltung  und  Anordnung  des  grammatischen 
Unterrichts  geltend  zu  machen.  Derselbe  Einfluß  muß  aber  nach  meiner  Ansicht 
auch  noch  speziell  in  einzelnen  Partien  des  Systems  der  Grammatik  wirksam 
werden. 


Zur  Methodik  des  hebräischen  Unterrichts.  357 

c)  Dies  scheint  mir  zunächst  in  bezug  auf  die  Vorführung  der  doppelt  un- 
regelmäßigen Verba  gezeigt  werden  zu  können.  Denn  auch  deren  Behandlung 
kann  nach  meiner  Ansicht  wahrhaft  induktiv  gestaltet  werden.  Man  braucht  nur 
die  doppelt  und  dreifach  schwachen  Zeitwörter  allemal  erst  da  zu  behandeln,  wo 
ihre  zweite  oder  auch  dritte  Schwäche  im  Laufe  der  Besprechung  der  einfach 
schwachen  Verba  erklärt  werden  kann.  Z.  B.  werden  die  Verba,  die  zugleich  J<"S 
quiescentia  und  zugleich  r\"b  sind,  richtig  als  eine  Gruppe  der  doppelt  schwachen 
n"b  besprochen.  Denn  da  ist  der  Lernende  selbst  imstande,  nicht  bloß  die  erste, 
sondern  auch  die  zweite  Schwäche  dieser  Verba  in  ihrem  Einfluß  zu  würdigen,  und 
zugleich  wird  eine  erwünschte  Gelegenheit  geboten,  das  Wissen  von  der  Behand- 
lung der  Verba  8<"D  quiescentia  von  neuem  zu  befestigen.  Nach  diesem  methodischen 
Grundsatz  wird  also  nicht  nur  eine  organische  Verbindung  der  mehrfach  schwachen 
Verba  mit  den  einfach  schwachen  hergestellt,  sondern  es  wird  auch  dem  Schüler 
nicht  zugemutet,  Sprachformen  zu  lernen,  deren  Entstehung  er  noch  nicht  nach 
ihren  einzelnen  Bedingungen  durchschauen  kann. 

d)  Besonders  aber  auch  der  erste  Hauptteil  des  Unterrichts  im  Hebräischen, 
die  Besprechung  von  Schrift,  Aussprache  und  Betonung,  verdient  es,  streng  nach 
den  Forderungen  der  induktiven  Methode  geordnet  zu  werden.  Denn  gerade  die 
Grundlegung  der  Kenntnisse  in  einem  Gebiete  ist  natürlich  nicht  nur  besonders  wichtig, 
sondern  auch  besonders  schwierig,  aber  sie  kann  wesentlich  erleichtert  werden,  wenn 
sie  erstens  in  klarem  Fortschritt  ohne  Vorausnahmen  und  Wiederholungen  und 
zweitens  so  geschehen  kann,  daß  der  immer  folgende  Abschnitt  in  der  voraus- 
gehenden Darlegung  seine  volle  Basis  besitzt.  Einen  solchen  Gang  der  Darstellung 
aber  meine  ich  ausfindig  gemacht  und  in  der  vor  kurzem  erschienenen  , Hebräischen 
Grammatik  für  den  Unterricht  mit  Übungsstücken  und  Wörterverzeichnissen  me- 
thodisch dargestellt"  (Leipzig  bei  Hinrichs)  vorgelegt  zu  haben.  Ich  schließe  nämlich 
an  die  Paragraphen  über  Konsonanten  und  Vokale  gleich  noch  die  Regeln  über  die 
Betonung.  Denn  dann  ist  die  Grundlage  vorhanden,  um  die  Offenheit  und  Ge- 
schlossenheit der  Silbe  zu  charakterisieren.  Darauf  wieder  kann  die  Unterscheidung 
der  verschiedenen  Arten  der  Seba  aufgebaut  werden,  und  damit  wird  die  letzte 
Voraussetzung  gewonnen,  um  die  Regeln  über  Dages  forte  und  Dagea  lene  geben 
zu  können.  Dann  endlich  kann  ein  Paragraph  über  das  Qames  chatüph  die  Lehre 
vom  Lesen  des  Hebräischen  zum  Abschluß  bringen. 

e)  Außer  diesen  vier  Punkten,  in  denen  mir  der  Gang  des  Unterrichts  im  Hebräischen 
nach  den  Forderungen  der  induktiven  Methode  verbessert  werden  zu  können  scheint, 
gibt  es  noch  einen  Punkt,  wo  dieser  Gang  nach  meiner  Ansicht  aus  guten  Gründen 
und  mit  großem  praktischen  Nutzen  geändert  wird.  Dies  ist  die  Stelle,  wo  die 
unregelmäßigen  oder,  wie  man  ja  in  den  semitischen  Sprachen  sagt,  die  schwachen 
Verba  und  Nomina  einzureihen  sind.  Ich  schlage  vor,  hinter  der  Behandlung 
der  regelmäßigen  (oder  „festen")  Verba  und  der  von  ihnen  abgeleiteten  Nomina 
gleich  noch  die  Zahlwörter  und  die  Partikeln  zu  besprechen  und  dann  erst  die 
unregelmäßigen  Verba  und  Nomina  folgen  zu  lassen.  Diesen  Vorschlag  aber  mache 
ich  aus  folgenden  Gründen. 

Zunächst  gewinnt  man  bei  Befolgung  dieses  Unterrichtsganges  die  Möglich- 
keit, bald  Übungen  auch  mit  dem  flektierten  Nomen  anstellen  zu  können,  ohne 


358  E.  König. 

daß  man  sich  einer  Vorausnahme  schuldig  macht.  Besonders  in  die  Wagschale 
fällt  sodann,  daß  durch  die  erwähnte  Anordnung  einer  der  obersten  pädagogischen 
Grundsätze,  immer  vom  Leichteren  zum  Schwereren  fortzuschreiten,  zu  seinem 
vollen  Rechte  gelangt.  Auch  wird  durch  diese  Anordnung  des  Unterrichtsstoffes 
die  Gelegenheit,  die  Flexionsregeln  des  normalen  („starken")  Verbs  und  Nomens 
noch  einmal  in  ihrem  ganzen  Umfange  zu  repetieren  und  praktisch  einzuüben,  zu 
einer  vollkommenen  gemacht.  Dies  sind  wahrscheinHch  auch  die  Gründe,  weshalb 
dieselbe  Disposition  des  grammatischen  Lehrganges,  wie  ich  sie  jetzt  für  den  he- 
bräischen Unterricht  vorschlage,  in  Lehrbüchern  für  moderne  Sprachen  angewendet 
wird.  Wenigstens  weiß  ich  noch  aus  lebhafter  Erinnerung,  daß  der  sogenannte 
„Erste  Ploetz"  die  Konjugation  der  regelmäßigen  Verba  darstellte,  aber  der  „Zweite 
Ploetz"  mit  den  unregelmäßigen  Verba  begann. 

Jedenfalls  läßt  sich  diese  von  mir  befürwortete  Disponierung  des  Unterrichts 
im  Hebräischen  auch  sehr  gut  mit  der  Dreizahl  der  Klassen  in  Einklang  bringen, 
die  auf  den  Gymnasien  für  den  Unterricht  im  Hebräischen  bestimmt  sind.  Denn 
die  Einübung  der  Schrift,  Aussprache  und  Betonung,  die  Erlernung  der  Pronomina, 
des  starken  Verbums  und  der  von  diesem  abgeleiteten  Nomina  samt  den  Zahlwörtern 
und  den  Grundkenntnissen  über  die  Präpositionen  und  Konjunktionen  dürften  ein 
in  sich  abgeschlossenes  Pensum  für  die  Obersekunda  bilden.  Dann  folgen  die 
einfach  und  mehrfach  schwachen  Zeitwörter  und  die  von  diesen  abgeleiteten  Nomina 
(wieder  in  fünf  Flexionsklassen  vorgeführt)  samt  dem  orientierenden  Rückblick  auf 
die  Haupterscheinungen  der  Sprachgestaltung  (Assimilation,  Ersatzdehnung  usw.) 
und  die  in  ihnen  waltenden  Faktoren,  zu  dem  mein  Buch  in  den  sechs  Paragraphen 
der  generellen  Formenlehre  oder  Morphologie  anleiten  will,  und  dies  ist  wieder  ein 
in  sich  abgerundetes  Ganze  und  das  Pensum  für  die  Unterprima.  Endlich  die 
Einübung  der  Grundlehren  der  Syntax  samt  den  nunmehr  immer  dichter  einzu- 
streuenden zusammenhängenden  Lesestücken  dürften  den  größten  Teil  des  Pensums 
der  Oberprima  bilden,  bis  dann  der  Übergang  zur  Lektüre  des  hebräischen  Alten 
Testaments  selbst  erfolgen  kann. 

Dies  sind  im  wesentHchen  die  Punkte,  in  denen  mir  betreffs  der  Anordnung 
des  grammatischen  Unterrichts  im  Hebräischen  ein  Fortschritt  angebahnt  werden 
zu  können  scheint. 

II. 

Eine  andere  Reihe  von  Vorschlägen,  die  ich  für  die  Ausgestaltung  des  Unter- 
richts im  Hebräischen  machen  zu  sollen  meine,  hat  es  mit  den  Mitteln  zur  Ein- 
übung des  Sprachstoffes  zu  tun. 

a)  Zu  diesen  Mitteln  gehört  gewiß  schon  die  Leichtigkeit  des  Hei  misch - 
Werdens,  die  das  für  den  Unterricht  benützte  Lehrbuch  ermöghcht.  Zur  Be- 
förderung dieser  Leichtigkeit  des  Sichzurechtfindens  und  Einheimischwerdens  dient 
ja  selbstverständlich  in  erster  Linie  die  klare  Übersichtlichkeit  des  Ganges  der  Dar- 
stellung und  diese  wiederum  ist  natürlich  nicht  bloß  durch  die  Art  des  Aufbaues 
der  Darstellung  bedingt,  der  im  ganzen  und  einzelnen  stets  von  den  Ursachen  zu 
den  Wirkungen  und  vom  Einfacheren  zum  Zusammengesetzten  hinschreiten  soll,  wie 
diese  Art  des  Aufbaues  oben  in  bezug  auf  mehrere  Partien  der  Grammatik  be- 


Zur  Methodik  des  hebräischen  Unterrichts.  359 

sprochen  worden  ist.  Die  klare  Übersichtlichkeit  der  Darstellung  ist  vielmehr  auch 
durch  die  Vermeidung  von  Wiederholungen  und  durch  die  strenge  Aufeinanderbe- 
ziehung oder,  noch  besser  ausgedrückt,  Parallelisierung  der  verwandten  Materien 
bedingt,  sodaß  z.  B.  die  Flexion  der  vom  schwachen  Verbum  abgeleiteten  Nomina 
genau  in  ebenderselben  Reihenfolge  vorgeführt  wird,  wie  vorher  die  Flexion  des 
vom  starken  Verbum  abstammenden  Nomens.  Als  ein  Mittel,  das  Heimischwerden 
in  dem  grammatischen  Material  zu  erleichtern,  ist  aber  auch  die  Verbindung  der 
Paradigmen  mit  dem  Gange  der  Darstellung  selbst  zu  betrachten.  Denn  da 
dienen  sie  nicht  bloß  an  ihrer  Stelle  dazu,  die  betreffende  Regel  zur  deutlichsten 
Anschauung  zu  bringen,  sondern  da  werden  sie  auch  ein  Mittel,  den  Lernenden 
immer  zu  der  gleichen  Stelle  im  Buche  [zurückzuführen.  Er  weiß  dann,  wo  die 
betreffende  Sache  ein  für  allemal  steht,  und  jedem  ist  es  wohl  aus  eigener  Er- 
fahrung"^bekannt,  daß  es  gar  nicht  unwichtig  ist,  in  einem  Lehrbuch  sogar  die  Stelle 
auf  der  Seite  zu  wissen,  wo  ein  Gegenstand  behandelt  ist.  Indem  die  Paradigmen 
aber  nicht  hinter  der  grammatischen  Auseinandersetzung  wiederholt  werden, 
wird  der  Lernende  nur  vor  dem  Hin-  und  Herblättern  bewahrt.  Auch  das  aber  ist 
ein  unverächtliches  Mittel,  das  feste  Einwurzeln  in  den  Lernstoff  zu  befördern. 

b)  Das  soeben  berührte  Festwerden  des  Schülers  in  der  Kenntnis  des  Unter- 
richtsgegenstandes,  das  selbstverständlich  das  oberste  Ziel  alles  Lehrens  bildet,  wird 
aber  beim  hebräischen  Unterricht,  wie  beim  Erlernen  jeder  fremden  Sprache,  ferner 
positiv  hauptsächlich  durch  lautes  Lernen  zuwege  gebracht.  Das  immer  wieder- 
holte laute  Vorsprechen  von  selten  des  Lehrers  nützt  nicht  genug.  Der  Schüler 
muß  selbst  alle  zu  lernenden  Sprachformen  unausgestzt  laut  aussprechen,  und  wenn 
er  eine  kleine  Gruppe  oder  dann  eine  lange  Reihe  zusammengehöriger  Sprachformen 
gelernt  hat,  muß  er  sie  immer  wieder  laut  aufsagen.  Denn  wenn  Gehirn  und 
Sprechwerkzeug  und  Ohr  zusammenarbeiten,  entsteht  ein  so  verstärkter  Eindruck 
auf  den  Lernenden,  daß  er  ihn  leichter  und  sicherer  festhält,  als  wenn  er  bloß 
psychologisch  im  Gehirn  tätig  ist.  Nichts  empfehle  ich  daher  meinen  Hörern  in 
den  Übungsstunden  so  eindringlich,  wie  dies,  daß  sie  laut  lernen  und  alles  Ge- 
lernte laut  aufsagen  und  sich  auch  dadurch  zwingen,  ohne  Stocken  z.  B.  die 
Paradigmata  zu  reproduzieren.  Zu  dieser  Mahnung  füge  ich  immer,  und  deshalb 
setze  ich  dies  auch  hier  gleich  dazu,  den  Ratschlag,  alles  Gelernte  zu  schreiben. 
Schon  beim  Erlernen  des  Alphabets  beginne  ich,  diesen  pädagogischen  Wink  zu 
geben.  Nur  mit  der  Feder  in  der  Hand  zu  lernen,  um  jeden  Buchstaben 
und  jede  Gruppe  von  solchen  auch  sofort  schreiben  zu  können,  dies  dürfte  in  der 
Tat  eine  höchst  wichtige  pädagogische  Direktive  besonders  für  den  Unterricht  in 
Sprachen  mit  einer  besonderen  Schriftart  sein.  Es  ist  ja  auch  psychologisch  ganz 
erklärlich,  daß,  wenn  zu  den  vorher  erwähnten  drei  Faktoren  und  Kanälen  des  Ein- 
prägens  —  Gehirn,  Sprachorgan  und  Ohr  —  nun  auch  noch  das  Auge  hinzutritt 
und  aus  dem  Anblick  der  geschriebenen  Sprachformen  noch  ein  neuer  Eindruck 
in  die  Seele  strömt,  dann  die  Apperzeption  eine  um  so  schnellere  und  nachhaltigere 
werden  muß. 

c)  Natürlich  muß  das  Festwerden  des  zu  lernenden  Stoffes  auch  durch  dessen 
Einschränkung  unterstützt  werden,  und  in  der  Tat  meine  ich,  die  Parole  «Wenig, 
aber  fest  lernenl"  ausgeben  zu  können,  ohne  mich  in  den  Verdacht  zu  bringen, 


360  E.  König, 

daß  ich  das  Niveau  der  Schulleistungen  herabdrücken  oder  gar  der  Trägheit  Vor- 
schub leisten  wolle.  Jene  Parole  dürfte  ja  schon  dann  einigermaßen  sich  als  un- 
verfänglich und  pädagogisch  richtig  darstellen,  wenn  sie  in  der  negativen  Fassung 
„Nicht  vieles  und  das  nur  unsicher  lernen!"  auftritt.  Jene  meine  Direktive  kann 
aber  noch  auf  andere  Art  empfohlen  werden.  Denn  sie  hat  zunächst  die  Absicht, 
im  Lernpensum  die  unbedingt  erforderlichen  und  darum  unverrückbar  fest  zu 
lernenden  Grundlagen  bei  der  Erlernung  jeder  Sprache  und  so  auch  der 
hebräischen  in  den  Vordergrund  zu  rücken.  Denn  wer  z.  B.  das  gewöhnliche 
Paradigma  der  Verba  primae  gutturalis  (oder  laryngalis)  sicher  kann,  der  besitzt 
qualitativ  mehr,  als  wer  über  das  Paradigma  nicht  fest  verfügt,  aber  von  manchen 
andern  Dingen  über  diese  Verba  gehört  hat.  Sodann  will  jene  meine  Parole  auch 
den  Grundsatz  zur  Geltung  bringen,  daß  der  Memorierstoff  auch  im  Hebräischen 
auf  der  ersten  Stufe  des  Unterrichts  möglichst  auf  das  Notwendige  eingeschränkt 
werde.  Damit  meine  ich  aber  z.  B.  dies.  In  erster  Linie  sollen  z.  B.  beim  schwachen 
Verbum  nur  die  Gruppen  von  Verben  gelernt  werden,  die  sich  nach  jaäab  und 
die  sich  nach  jares  (jarah)  richten  und  die  den  mittleren  Stammkonsonanten  sich 
verdoppeln  lassen  iyi'\^  jasath)  und  die  in  jatab  „gut  sein'  ihr  Paradigma  besitzen. 
Wenn  dies  bei  allen  Gruppen  der  schwachen  Verba  geschieht,  so  entsteht  schon 
ein  hinreichend  großes  Pensum  für  das  Auswendiglernen.  Ehe  dies  Notwendige 
ganz  bewältigt  ist,  soll  man  nicht  andere  Stoffe  zum  Auswendiglernen  hinzubringen, 
und  wie  gut  dies  vermieden  werden  kann,  soll  gleich  im  folgenden  gezeigt 
werden. 

d)  Bei  aller  praktischen  Einübung  der  zu  lernenden  Sprache  scheint  mir 
nämlich  dies  immer  als  oberster  Grundsatz  betont  werden  zu  müssen,  daß  die  in 
der  Grammatik  selbst  notwendigerweise  darzubietenden  Materialien  zur 
Anwendung  zu  bringen  sind.  Die  grammatischen  Verhältnisse  lassen  sich  ja 
auch  bei  der  hebräischen  Sprache  auch  nicht  einmal  in  ihren  Grundzügen  dar- 
stellen, ohne  eine  gewisse  Summe  von  MateriaHen  vorzuführen.  Man  braucht  ja 
nur  vom  Pronomen  und  Artikel  an  die  einzelnen  Redeteile  sich  zu  vergegenwärtigen 
und  wird  zugeben,  daß  schon  der  Stoff  ziemlich  ausgedehnt  ist,  der  bei  der  Be- 
leuchtung dieser  Redeteile  berührt  werden  muß.  Dieses  Material  aber  nun  bei  den 
praktischen  Übungen  auch  wirklich  in  allererster  Linie  zu  verwenden,  das  scheint 
mir  eine  wichtige  und  noch  nicht  genug  beobachtete  Maxime  sein  zu  müssen.  Denn 
ohne  daß  Namen  genannt  werden,  darf  doch  gesagt  werden,  daß  in  manchen  Übungs- 
büchern viel  zu  viel  anderes  Material  für  die  Übungen  herbeigebracht  wird  und 
so  der  Schüler  mit  seinen  Gedanken  zu  sehr  von  jenem  notwendig  zu  lernenden  Stoff 
weggelenkt  wird.  Solches  Herbeiziehen  von  anderem  Übungsmaterial  ist  aber  auch 
nicht  etwa  notwendig,  um  Abwechslung  in  die  Übungen  zu  bringen.  Ich  meine 
wenigstens,  in  der  oben  erwähnten  kleinen  hebräischen  Grammatik  gezeigt  zu  haben, 
daß  sich  ein  reichliches  Maß  von  Übungsstücken  geben  läßt,  ohne  daß  viel  anderes 
Material  verwendet  wird,  als  was  bei  der  grammatischen  Darstellung  notwendig  zu 
berühren  war. 

e)  Bei  der  Darbietung  von  Übungsstücken  meine  ich  ferner  ein  wichtiges 
methodisches  Prinzip  in  dem  Parallelgehen  der  Übungen  mit  den  Para- 
graphen des  grammatischen  Unterrichts  sehen  zu  müssen.  Ich  kann  kejnen 


Zur  Methodik  des  hebräischen  Unterrichts.  361', 

Vorteil,  sondern  nur  Nachteile  für  das  Erlernen  der  Sprache  darin  sehen,  wenn  in 
manchem  jetzt  vorhandenen  Lehrbuch  des  Hebräischen  die  Übungsstücke  und  die 
Abschnitte  der  grammatischen  Darlegung  sich  oftmals  auf  ihren  Wegen  kreuzen 
und  als  Fremdlinge  nebeneinander  herlaufen.  Da  kann  der  Lernende  nicht  zu  einem 
geschlossenen  Eindruck  von  dem  darzubietenden  Lernstoff  gelangen.  Die  doppelte 
Reihenfolge,  die  in  der  Grammatik  und  im  Übungsbuch  eingeschlagen  wird,  be- 
schwert und  stört  vielmehr  das  Erlernen  der  Sprache.  Ein  zwingender  Grund, 
von  der  Anordnung  des  grammatischen  Lernstoffs  in  den  Übungsstücken  abzu- 
weichen, ist  aber  nicht  vorhanden,  wie  meine  langjährige  Erfahrung,  die  in  dem. 
oben  zitierten  kleinen  Buche  niedergelegt  worden  ist,  mir  erwiesen  hat,  und  weil 
die  Abschnitte  meines  Übungsbuches  mit  den  Paragraphen  des  theoretischen  Teiles 
der  Grammatik  durchaus  gleichen  Schritt  halten,  brauchten  den  Übungsstücken 
auch  keine  sogenannten  „Vorbemerkungen"  vorangeschickt  zu  werden,  die  in 
manchem  Übungsbuch  sich  massenhaft  finden.  Nein,  was  zur  Bewältigung  eines 
betreffenden  Übungsstückes  nötig  ist,  muß  der  Schüler  in  dem  mit  diesem  Übungs- 
stück gleichlaufenden  Paragraphen  oder  in  den  vorhergehenden  Paragraphen  der 
Grammatik  schon  gelernt  haben. 

Zum  Parallelgehen  von  grammatischer  Auseinandersetzung  und  Übungsstücken 
kann  methodisch  richtig  nur  die  Wiederholung  des  früher  dagewesenen  gram- 
matischen Stoffes  in  zusammenfassenden  Übungsaufgaben  sich  hinzugesellen.  Aber 
ebensosehr,  wie  das  Sichkreuzen  der  Reihenfolge  von  theoretischer  Darstellung  und 
praktischem  Übungsmaterial,  ist  auch  dies  zu  vermeiden,  daß  in  den  Übungsstücken 
solche  Teüe  des  grammatischen  Lernstoffs  berührt  werden,  die  noch  nicht  im 
Unterricht  dagewesen  sind.  Diese  pädagogische  Grundregel  vollkommen  zu 
beobachten,  ist  ja  schwer,  wie  der  Blick  auf  die  vorhandene  Literatur  zeigt,  aber 
die  Durchführung  dieser  Regel  ist  doch  möglich  und  muß  jedenfalls  durchaus  er- 
strebt werden. 

f)  Wird  aber  das  Erlernen  der  hebräischen  Sprache,  für  dessen  Erleichterung 
im  Vorhergehenden  mehrfach  plädiert  worden  ist,  nicht  unnötig  erschwert,  wenn 
bei  der  Einübung  des  grammatischen  Stoffes  auch  das  Übersetzen  aus  dem 
Deutschen  ins  Hebräische  gepflegt  wird?  Nein,  diese  oftmals  bei  den  Lernen- 
den begegnende  Meinung  ist  nur  auf  den  ersten  Blick  berechtigt.  Wer  die  Frage 
aber  gründlich,  und  das  geschieht  wirklich  nur  an  der  Hand  der  Erfahrung,  betrachtet, 
der  wird  sie  verneinen. 

Denn  erstens  ist  das  Übersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Hebräische  überhaupt 
nicht  so  schwer,  wie  es  vielen  erscheint.  Wie  sollte  es  auch  schwerer  sein,  als 
das  Übersetzen  aus  dem  Deutschen  in  eine  andere  fremde  Sprache?  Zweitens 
aber  ist  dieses  Übersetzen  insbesondere  dann  nicht  schwer,  wenn  es  nach  richtiger 
Methode  geübt  wird.  Diese  besteht  aber  bei  diesem  speziellen  Punkte  darin,  daß 
das  zu  übersetzende  Material  mit  den  einfachsten  Mitteln  gesammelt,  d.  h.  mit 
steter  Berücksichtigung  der  fundamentalen  Kenntnisse  zusammengestellt  wird, 
die  bei  dem  vorhergehenden  grammatischen  Unterricht  notwendigerweise  darge- 
boten und  vom  Schüler  angeeignet  sein  müssen.  Die  zu  übersetzenden  Materialien 
werden  dann  gewiß  und  hauptsächlich  beim  Beginn  der  Formenlehre  sehr  einfach 
sein,  aber  wenn  man  mit  Fleiß  sucht,  kann  man  —  ich  meine,  dies  aus  Erfahrung 


362  E.  König, 

sagen  zu  dürfen  —  mehr  Abwechslung  schaffen,  als  es  auf  den  ersten  Blick 
•möglich  zu  sein  scheint.  Jedenfalls  aber  kann  —  und  dies  ist  das  Dritte,  was  zu- 
gunsten der  Übersetzungen  aus  dem  Deutschen  ins  Hebräische  bemerkt  werden 
muß  —  der  Nutzen  dieser  Übersetzungen  gar  nicht  hoch  genug  angeschlagen 
werden.  Die  Übertragung  eines  Satzes  aus  dem  Deutschen  ins  Hebräische  bringt 
mehr  Gewinn  für  die  Befestigung  der  Grundkenntnisse  in  diesem  Idiom,  als  die 
Übersetzung  von  zehn  hebräischen  Sätzen  ins  Deutsche. 

Dies  führt  mich  darauf,  auch  ein  Wort  betreffs  der  Übersetzungen  aus  dem 
Hebräischen  ins  Deutsche  hinzuzufügen.  Da  hat  nämlich  meine  ganze  Erfahrung, 
die  ich  sowohl  bei  der  eigenen  Erlernung  fremder  Sprachen  als  auch  beim  Unter- 
richten im  Hebräischen  gewonnen  habe,  zu  dem  Grundsatz  geführt,  daß  während 
des  Erlernens  der  Grundlagen  einer  Sprache,  und  diese  umfaßt  doch  den  größten 
Teil  des  gymnasialen  Kursus  im  Hebräischen,  nicht  viele  hebräische  Abschnitte 
zu  lesen  sind.  Immer  und  immer  wieder  hat  sich  mir  die  Überzeugung  bewährt, 
daß  es  besser  ist,  wenig  Abschnitte,  aber  diese  bis  zur  vollen  Beherrschung  und 
gewissermaßen  bis  zum  Auswendiglernen  zu  traktieren.  Denn  dann  verfügt  der 
Lernende  wirklich  über  das  darin  vorkommende  lexikalische  Material  und  kann  die 
Redewendungen,  die  darin  auftreten,  überall  wieder  erkennen.  Dann  ist  er  also 
durch  die  Lektüre  wirklich  in  seiner  Beherrschung  der  betreffenden  Sprache  ge- 
fördert. Das  ist  auch  der  Grund  gewesen,  weshalb  mein  Streben  in  der  schon 
oben  erwähnten  kleinen  Grammatik  dahin  ging,  für  die  Anfangslektüre  im  Hebräischen 
möglichst  viel  Sätze  —  Sprichwörter,  Fabeln,  Gleichnisse  usw.  —  zu  wählen,  die 
auch  ihrem  Inhalt  nach  es  wert  sind,  dem  Gedächtnis  eingeprägt  zu  werden. 

g)  So  bleibt  mir  nur  noch  übrig,  über  die  praktische  Einübung  des  Teiles  der 
grammatischen  Darlegung  zu  sprechen,  bei  dessen  Einübung  es  sich  füglich  noch 
nicht  um  Übersetzen  handeln  kann.  Dies  aber  ist  die  Anfangspartie  des 
grammatischen  Kursus,  und  über  die  Art,  wie  ich  mir  deren  praktische  Einübung 
denke,  will  ich  um  so  weniger  schweigen,  als  sie  bekanntlich  und  naturgemäß  die 
schwierigste  ist.  Um  aber  auch  diese  Partie  in  ihrem  methodischen  Aufbau,  wie 
er  oben  (Nr.  I,  d)  skizziert  worden  ist,  praktisch  einüben  zu  können,  bringe  ich 
erstens  den  oben  erwähnten  Grundsatz,  alles  Gelernte  auch  schreiben  zu  lassen, 
bei  der  Anfangspartie  —  wie  ich  denke,  naturgemäß  —  am  stärksten  zur  Anwen- 
dung. Sodann  suche  ich  auch  bei  dieser  Partie  das  Prinzip  zur  vollen  Durch- 
führung zu  bringen,  daß  bei  der  praktischen  Einübung  gerade  die  Materialien, 
welche  im  theoretischen  Unterricht  besprochen  werden,  auch  in  allererster  Linie  be- 
rücksichtigt werden  sollen.  Deshalb  lasse  ich  z.  B.  die  Buchstabennamen,  die 
vom  Lehrbuch  nur  in  deutscher  Transkription  gegeben  sind,  in  hebräischen  Buch- 
staben mit  dazwischen  gesetzten  deutschen  Vokalen  schreiben,  so  lange  die  he- 
bräischen Vokalzeichen  noch  nicht  dagewesen  sind,  usw.  Natürlich  findet  reich- 
liches Material  zum  Einüben  sich  wieder  z.  B.  da,  wo  der  Ziffernwert  der  hebräischen 
Buchstaben  zur  praktischen  Einübung  gelangt.  Ferner  ist  auch  das  Buchstabieren 
der  geschriebenen  hebräischen  Worte  ein  treffliches  Mittel,  um  die  toten  Zeichen 
lebendig  zn  machen.  Endlich  sind  auch  das  Rückübersetzen  und  das  Fragestellen 
4er  Schüler  untereinander,  wobei  sie  natürlich  sich  gegenseitig  an  Scharfsinn  über- 
bieten wollen,  noch  Mittel,  um  auch  in   diesen  Anfangsstunden  des   hebräischen 


Zur  Methodik  des  hebräischen  Unterrichts.  363 

Unterrichts,  die  leicht  sich  etwas  starr  gestalten,  doch  den  erquickenden  Pulsschlag 
des  Lebens  zu  erwecken. 

Doch  genug  nun  der  Andeutungen!  Diese  wenigen  Sätze  aber  über  die  Ge- 
danken niederzuschreiben,  mit  denen  ich  die  Methodik  des  hebräischen  Unterrichts 
an  einigen  Punkten  fördern  zu  können  meine,  war  mir  endlich  ein  Bedürfnis  ge- 
worden. Ist  doch  die  Erforschung  der  hebräischen  Sprache  und  ihre  Stellung  inner- 
halb des  Semitischen  überhaupt  eines  der  beiden  Gebiete,  denen  die  Arbeit  meines 
Lebens  gegolten  hat  und  gilt.  Wie  also  sollte  es  mir  nicht  am  Herzen  liegen,  wo- 
möglich etwas  dazu  beizutragen,  daß  der  Zugang  zu  dieser  Sprache  und  dann  zu- 
gleich zum  althebräischen  Schrifttum  erleichtert  werde? 

Bonn.  Ed.  König. 


k 


iL  Programmabhandlungen.    1908. 


Zum  deutschen  Unterricht. 

stiller,  Otto,  J.  J.  Volkmann,  eine  Quelle  für  Goethes  Italienische 
Reise.  Mit  einer  Wiedergabe  von  Guercinos  „Petronilla".  Berlin,  Gymnasium 
zum  grauen  Kloster.    Prog.-No.  63. 

Das  Buch,  das  Goethe  sowohl  während  seiner  Reise  nach  Italien  als  auch 
später  bei  der  Ausarbeitung  seines  Reiseberichts  am  häufigsten  zu  Rate  gezogen 
hat,  war  die  erste  Aullage  des  dreibändigen  Werkes  „Historisch-kritische  Nach- 
richten von  Italien"  von  Johann  Jakob  Volkmann,  Leipzig  1770/71.  Das  von  ihm 
benutzte  Exemplar  ist  noch  vorhanden.  Goethe  nennt  den  „guten,  trocknen",  an 
anderer  Stelle  „ehrlichen"  Volkmann  wiederholt,  aber  auch  da,  wo  er  auf  diesen 
seinen  ,Bädeker"  nicht  ausdrücklich  Bezug  nimmt,  zeigt  er  sich  vielfach  von  ihm 
beeinflußt.  Stiller  hat  nun  diese  —  schon  in  den  Ausgaben  von  Düntzer  und 
Weber  in  Einzelheiten  belegten  —  Beziehungen  zwischen  Goethe  und  Volkmann 
zum  Gegenstand  einer  zusammenhängenden  Untersuchung  gemacht,  die  uns  einen 
anziehenden  Einblick  in  Goethes  Arbeitsweise  gestattet  und  zudem  beweist,  daß 
manches,  was  uns  in  Goethes  Beurteilung  der  italienischen  Kunstwerke  befremdet, 
auf  Volkmann  zurückgeht.  Die  Frage,  ob  Goethe  bei  der  Redaktion  seiner  Tage- 
bücher und  Briefe  sich  stets  die  Mühe  gemacht  habe,  die  Angaben  Volkmanns, 
die  er  in  sein  Werk  aufnahm,  auf  ihre  Richtigkeit  zu  prüfen,  glaubt  Stiller  ver- 
neinen zu  müssen.  Nun,  daß  Goethe  im  Anschluß  an  Volkmann  die  Maße  des 
Salone  zu  Padua  bedeutend  zu  hoch  gegriffen  hat  u.  a.  m.,  wird  man  ja  zugeben 
müssen.  Ob  er  sich  dagegen  samt  Volkmann  geirrt  hat,  wenn  er  meint,  auf  dem 
Bilde  des  Guercino  werde  der  Leichnam  der  heiligen  Petronilla  aus  dem  Grabe 
gehoben  —  Stiller  behauptet,  er  werde  in  das  Grab  gelegt  — ,  das  ist  doch  wohl 
noch  zweifelhaft.  Stiller  tut  recht  daran,  die  Legende  von  der  heiligen  Petronilla 
zur  Aufklärung  der  Sache  heranzuziehen.  Sie  berichtet  aber,  Petronilla  sei  schon 
vor  Ablauf  der  dreitägigen  Bedenkzeit,  die  ihr  der  ungestüme  Flaccus  gewährt 
hatte,  nämlich  „am  dritten  Tage  in  der  Frühe"  nach  Empfang  der  heiligen  Kom- 
munion sanft  entschlafen.  Wie  nun,  wenn  sie  alsbald  bestattet  worden  ist?  Wenn 
der  später  eintreffende  Flaccus,  fest  überzeugt,  man  habe  es  darauf  abgesehen,  ihn 
zu  täuschen,  erst  durch  den  Augenschein  belehrt  werden  konnte?  Der  Künstler  hätte 
dann  den  Augenblick  dargestellt,  in  dem  die  Leiche  bis  zum  oberen  Rande  der  Gruft 


P.  Geyer,  Zum  deutschen  Unterricht.  365 

heraufgezogen  wird,  um  dann  sogleich  wieder  —  auf  des  erschütterten  Flaccus 
Geheiß  —  hinabgelassen  zu  werden.   Vielleicht  läßt  sich  eine  Fassung  der  Legende 

ermitteln,  die  zu  dieser  Erklärung  stimmt. 

Kurschat,  Alexander,  Goethes  »Italienische  Reise"  im  deutschen 
Unterricht  der  Prima.    Tilsit,  KönigHches  Gymnasium.    Prog.-No.  17. 

Die  lehrreiche  Arbeit  verbreitet  sich  über  die  —  nicht  immer  durchweg  zu- 
stimmende —  Beurteilung,  die  die  I.  R.  bei  Literarhistorikern  und  Kunstrichtern 
(Boisseree,  Lewes,  Hermann  Grimm,  Borinsky,  Bielschowsky)  gefunden  hat,  geht 
auf  die  Entstehung  und  die  Darstellungsweise  des  Werkes  ein  und  empfiehlt  unter 
Berufung  auf  Laas,  Hermann  Schiller  und  Goldscheider  und  in  mehr  oder  weniger 
scharfem  Gegensatze  zu  Apelt,  Rud.  Lehmann  und  Paul  Cauer  die  möglichst  un- 
verkürzte Lektüre  in  Prima.  Ob  sich  das  tun  läßt,  ohne  andere,  gleich  wichtige 
oder  noch  wichtigere  Aufgaben  des  deutschen  Unterrichts  ungebührlich  in  den 
Hintergrund  zu  drängen?  —  Zum  Schluß  werden  15  Themen  zu  schriftlicher  oder 
mündlicher  Bearbeitung  samt  den  dazu  gehörigen  Stoffquellen  mitgeteilt.  —  Eine 
höchst  wertvolle  Ergänzung  zu  Kurschats  warmherziger  Apologie  der  Italienischen 
Reise  bildet  der  Aufsatz,  den  J.  Ziehen  im  Pädag.  Archiv,  1908,  11.  Heft,  unter 
dem  Titel:  „Richtlinien  zur  Behandlung  von  Goethes  Italienischer  Reise  in  den 
Oberklassen  der  höheren  Schulen"  veröffentlicht  hat.  Ziehen  tritt  im  Unterschiede 
von  Kurschat  für  eine  Auswahl  des  zu  Lesenden  ein.  Auf  diesem  Standpunkte 
stehen  u.  a.  die  Schulausgaben  der  Italienischen  Reise  von  Nöldeke  (Velhagen  u. 
Klasing),  Freericks  (Aschendorff)  und  von  Ziehen  selbst  (L.  Ehlermann). 

Hasenclever,  Goethes  Pädagogik  im  Wilhelm  Meister.  Hagen  i.  W. 
Oberrealschule.    Prog.-No.  495. 

Ich  bin  kein  Freund  von  aufdringlicher  Systematik,  aber  ich  meine,  der  Leser 
wäre  dem  Herrn  Verfasser  dankbar  gewesen,  wenn  er  das  bunte  Vielerlei  dieser 
an  sich  höchst  wertvollen  pädagogischen  Gedanken  unter  bestimmte,  deutlich  her- 
vortretende Überschriften  gebracht  hätte.  Also  etwa:  Allgemeine  Erziehungsgrund- 
sätze; die  einzelnen  Fächer:  Religion,  Geschichte,  Sprachen  usw.;  Knabenerziehung; 
Mädchenerziehung  usw.  Das  hätte  denn  doch  die  Übersichtlichkeit  und  damit  den 
Nutzen  dieser  sorgsamen  Feststellungen  beträchtlich  erhöht. 

Cleve,  Carl,  Ein  Beitrag  zur  Behandlung  von  Goethes  Gedicht 
Mahomets  Gesang  in  unsern  höhern  Schulen.  Schwedt  a.  O.,  Hohenzollern- 
Gymnasium.    Prog.-No.  101. 

Verfasser  will  eine  sachliche  Erläuterung  der  Goetheschen  Allegorie  in  der 
Form  eines  Schüleraufsatzes  bieten,  dessen  Thema  lautet:  „Der  Lauf  eines  großen 
Stromes,  ein  Bild  der  Entwicklung,  Wirksamkeit  und  Bedeutung  großer,  epoche- 
machender Persönlichkeiten."  Mit  Rücksicht  auf  die  allgemein  menschliche  Be- 
deutung der  Allegorie  ist  Mohammed  durch  andere  Gestalten  ersetzt  worden,  die 
unserer  deutschen  Jugend  näher  stehen  als  der  Begründer  des  Islams.  Ich  bin  der 
Meinung,  daß  eine  Umschreibung  gleich  der  hier  gebotenen,  in  diesem  Falle  eine 
amplificatio,  das  Gedicht  in  der  Tat  besser  erklärt,  als  es  die  genaueste  Gedanken- 
zergliederung tun  könnte. 


366  P-  Geyer, 

Ludwig,  Albert,  Schiller  und  das  erste  Dezennium  des  neunzehnten 
Jahrhunderts.  Lichtenberg  bei  Berlin,  Realprogymnasium  i.  E.  nebst  Real- 
schule i.  E.    Prog.-No.  126. 

Die  lichtvolle  und  anziehende  Darstellung  macht  uns  an  der  Hand  eines 
reichen  Quellenmaterials  mit  der  Aufnahme  bekannt,  die  Schillers  Schöpfungen  — 
vergleichsweise  auch  die  von  Goethe  und  anderen  —  bei  seinen  Zeitgenossen  ge- 
funden haben.  Das  Verhältnis  der  romantischen  Bewegung  zu  Schiller  ist  aus  Raum- 
mangel vorerst  unerörtert  geblieben.  Die  Abhandlung  stellt  überhaupt  bloß  das 
einleitende  Bruchstück  dar  zu  einer  umfangreichen  Geschichte  des  Nachlebens 
Schillers  in  seinem  Volke,  die  Ludwig  unter  dem  Titel  „Schiller  und  die  deutsche 
Nachwelt"  inzwischen  veröffentlicht  hat.  (vgl.  die  Besprechung  dieses  Buches  von 
A.  Matthias  1909,  S.  210  ff.  dieser  Monatschrift.) 

Sänger,  Wallensteins  Lager.  Eine  Erläuterung  für  Schüler  der  Ober- 
klassen.   Öls,  Königl.  Gymnasium.    Prog.-No.  266. 

Inhalt:  Prolog  (Gedankengang,  Gliederung),  Erläuterung  von  , Wallensteins 
Lager",  Zusammenfassende  und  wiederholende  Betrachtung  (Die  Charaktere,  Das 
„Lager"  als  Exposition,  Haupthandlung  und  Nebenhandlung,  Ästhetische  Würdi- 
gung des  „Lagers").  Verfasser  hat  die  Arbeiten  von  Bellermann,  Frick,  Bult- 
haupt  u.  a.  benutzt  und  will  dem  Schüler  „in  der  für  ihn  geeignetsten  Form, 
nämlich  vermittels  Frage  und  Antwort,  ein  Verständnis  des  Lagers  im  Sinne  der 
preußischen  Lehrpläne  vermitteln".  Ganz  schön,  ich  möchte  aber  dringend  davor 
warnen,  diese  Katechese  auf  gar  zu  selbstverständliche  Dinge  auszudehnen,  eine  Ge- 
fahr, die  hier  nicht  immer  ganz  vermieden  ist,  wie  mich  deucht. 

Warncke,  Zur  Behandlung  von  Schillers  Braut  von  Messina.  Myslo- 
witz,  Gymnasium.    Prog.-No.  262. 

Warncke  nimmt  zwischen  den  Erklärern,  die  in  der  Braut  von  Messina  eine 
reine  Schicksalstragödie  sehen,  und  denen,  die  das  Drama  für  eine  reine  Charakter- 
tragödie halten  (besonders  Ernst  Bergmann,  Braunschweig  1906,  Prog.-No.  859; 
vgl.  meine  Anzeige  Monatschr.  1907,  S.  439)  eine  vermittelnde  Stellung  ein,  im 
Sinne  von  Kühnemann,  Primer  (Programm  des  Kaiser -Friedrichs -Gymnasium  zu 
Frankfurt  a.  M.  Ostern  1905)  und  O.  Harnack.  Danach  ist  die  Braut  von 
Messina  als  Schicksalstragödie  zu  bezeichnen,  wenn  auch  nicht  als  Schicksals- 
tragödie nach  der  Art  des  König  Ödipus.  Vielmehr  hat  Schiller  den  eigen- 
artigen Versuch  gemacht,  die  Schicksalsidee  der  Alten  im  Geiste  unserer  Zeit  um- 
zubilden, d.  h.  neben  der  Bedingtheit  des  menschlichen  Handelns  (dunkle  Triebe, 
Verhängnis)  die  aus  dem  Charakter  entspringende  volle  Verantwortlichkeit  fest- 
zuhalten, Schuld  und  Schicksal  miteinander  zu  verknüpfen.  —  Ziel  und  Einheit 
der  Handlung  sieht  Verfasser  in  dem  greuelvollen  Untergange  des  Fürstenhauses, 
ihren  Mittelpunkt  in  der  Fürstin  Isabella.  —  Die  Programmabhandlung  von  Warncke 
ist  neben  der  obengenannten  von  Bergmann  allen  zu  empfehlen,  die  sich  mit  diesen 
schwierigen  Fragen  und  der  dazu  gehörigen  Literatur  bekannt  machen  wollen. 

Tieffenbach,  Richard,  Dispositionen  zu  einigen  ästhetischen  Ab- 
handlungen Schillers.  Königsberg  i.  Pr.,  Königliches  Wilhelmsgymnasium. 
Prog.-No.  7. 

Sachverständige  Gliederung  und  gedrängte  Gedankenübersicht  zu:  1.  Die  Schau- 


Zum  deutschen  Unterricht.  357" 

bühne  als  eine  moralische  Anstalt  betrachtet.  2.  Was  heißt  und  zu  welchem  Ende 
studiert  man  Universalgeschichte?  3.  Vorrede  zur  Geschichte  des  Malteserordens. 
4.  Über  Anmut  und  Würde.  5.  Über  das  Pathetische.  6.  Über  die  ästhetische 
Erziehung  des  Menschen  in  einer  Reihe  von  Briefen.  Urtext.  I — VI.  Brief.  7.  Über 
den  moralischen  Nutzen  ästhetischer  Sitten.    VI.  Brief,  Schluß.    VII.  Brief. 

Verfasser  bekennt  sich  mit  großer  Entschiedenheit  zu  der  Ansicht,  daß  die 
Frage:  Was  ist  tragisch?  nur  im  Anschluß  an  die  Definition  des  Aristoteles  bzw. 
an  das  Handbuch  der  Poetik  von  Hermann  Baumgart  richtig  beantwortet  werden 
könne.  Er  hält  es  demnach  für  verfehlt,  daß  sich  die  Lesebücher  von  Muff  und 
Spieß  in  dieser  Frage  immer  noch  an  G.  Freytag,  Technik  des  Dramas,  anschließen. 
Sei  dem,  wie  ihm  wolle.  Nur  darin  möchte  ich  ihm  hier  widersprechen,  daß  es 
, nicht  ratsam"  sei,  Schillers  Abhandlung  »Über  den  Grund  des  Vergnügens  an 
tragischen  Gegenständen"  und  „Über  die  tragische  Kunst"  in  der  Schule  zu  be- 
handeln. Mag  doch  jeder  Lehrer,  gleichviel  ob  er  es  mit  Hebbel,  Bernays, 
Baumgart,  Volkelt  oder  sonst  wem  hält,  seinen  Anschauungen  bei  der  Lektüre 
Ausdruck  geben!  Lessings  Prosaschriften  sind  ja  auch  noch  nicht  auf  den  Index 
gesetzt,  so  zahlreich  auch  die  Punkte  sind,  in  denen  eine  sachliche  Berichtigung 
nötig  erscheint.  Also  weg  mit  dem  Sperrbaum  und  der  Warnungstafel!  —  Zum 
Schluß  noch  ein  Wort  in  eigener  Sache.  Tieffenbach  schreibt:  E.  Grosse  hat  in 
den  Programmen  unserer  Anstalt  und  in  den  sieben  bei  Weidmann  (Berlin  1902 
und  1903)  erschienenen  Heften  „Zum  deutschen  Unterricht"  das  Beispiel  gegeben 
mit  der  vorbereitenden  Bearbeitung  der  Begriffe  des  Erhabenen  und  des  Schönen. 
P.  Geyer  geht  auf  demselben  Wege  weiter  usw.  Ich  bemerke,  daß  ich  es  an  und 
für  sich  als  durchaus  unbedenklich,  ja  als  rühmlich  betrachten  würde,  in  die  Fuß- 
stapfen eines  so  feinsinnigen  Erklärers  wie  Grosse  zu  treten,  möchte  aber  doch 
feststellen,  daß  mein  Kommentar  zu  den  philosophischen  Abhandlungen  Schillers 
durch  Grosse?  Veröffentlichungen  in  keiner  Weise  beeinflußt  oder  angeregt  wor- 
den ist.  Die  erste  Ausgabe  desselben  ist  übrigens  schon  1896  u.  1898  bei  Weid- 
mann erschienen,  was  Tieffenbach  entgangen  zu  sein  scheint. 

Baumgarten,  Der  einzelne  und  die  Masse  bei  Schiller.  Magdeburg, 
Realschule.    Prog.-No.  349. 

Die  verhältnismäßig  kurze,  aber  trefflich  geschriebene  Abhandlung  empfiehlt 
sich  schon  dadurch,  daß  sie  sich  auf  Pfaden  bewegt,  die  noch  nicht  gar  zu  oft 
begangen  sind.  Sie  bespricht  1.  Die  Bedeutung  der  Masse  in  Schillers  Gedanken- 
welt. 2.  Die  Rolle,  welche  die  Masse  in  Schillers  Dichtung  spielt.  3.  Die  Technik 
der  Massenbeherrschung.  4.  Der  einzelne  und  die  Masse  im  „ Wallenstein. "  — 
Übrigens  hätte  vielleicht  die  Programmschrift  von  K.  Hißbach,  die  geschichtliche 
Bedeutung  von  Massenarbeit  und  Heroentum  im  Lichte  Goethescher  Gedanken 
(Eisenach,  O.  1907,  Prog.-No.  847;  angezeigt  in  der  Monatschrift  1908,  S.  369) 
mit  Vorteü  benutzt  werden  können. 

Ideler,  Rudolf,  Zur  Sprache  Wielands.  Sprachliche  Untersuchungen 
im  Anschluß  an  Wielands  Übersetzung  der  Briefe  Ciceros.  Torgau, 
Gymnasium.    Prog.-No.  327 

Die  wertvolle  Untersuchung  bezieht  sich  auf  die  beiden  ersten  Bände  der 
fünfbändigen  Ausgabe   der  Briefe  vom  Jahre  1814  (Stuttgart,  A.  F.  Macklot)  und 


368  P-  Geyer, 

behandelt  nach  einem  Abschnitt,  der  die  „Übersetzungsmethode"  Wielands  an  Bei- 
spielen veranschaulicht,  , Lauteigenheiten "  sowie  „Wort-  und  Satzlehre".  Die 
Arbeit  will  einen  Beitrag  zur  Charakteristik  der  Wielandschen  Sprache  geben,  vor 
allem  aber  feststellen,  „inwieweit  diese  Sprache  in  seiner  Ciceroübersetzung  von 
der  heutigen  Schriftsprache  abweicht."  Das  ist  insofern  schwierig,  als  der  Be- 
griff Schriftsprache  nichts  unbedingt  Feststehendes  bedeutet.  Verfasser  hat  dem- 
nach auch  solche  Ausdrucksweisen  verzeichnen  zu  müssen  geglaubt,  die  heute 
zwar  nicht  allgemein  gebräuchlich,  aber  doch  selbst  bei  anerkannt  guten  Schrift- 
stellern vielfach  zu  belegen  sind.  Wer  in  der  Umgangssprache  und  den  Mund- 
arten die  Quellen  sieht,  aus  denen  die  Schriftsprache  immer  wieder  schöpfen  muß, 
der  wird  ja  die  Grenzen  des  sprachlich  Zulässigen  erheblich  weiter  ziehen  als 
mancher  unserer  grammatischen  Gesetzgeber. 

Brüggemann,  Joseph,  Ludwig  Tieck  als  Übersetzer  mittelhoch- 
deutscher Dichtung.  Trier,  Königl.  Kaiser  Wilhelms -Gymnasium  mit  Real- 
gymnasium.   Prog.-No.  614. 

Die  Einleitung  dieser  ebensowohl  gründlichen  wie  anziehenden  Abhandlung 
macht  uns  zunächst  mit  den  Widerständen  bekannt,  die  die  Neubelebung  des 
deutschen  Altertums  bei  Gelehrten  und  Laien  gefunden  hat,  und  würdigt  sodann 
die  Schwierigkeit  des  Unternehmens,  ohne  Vorarbeiten,  auf  Grund  eines  mühsamer! 
Selbstudiums  altdeutsche  Dichtungen  einerseits  richtig  und  anderseits  in  gemein- 
verständlicher, gefälliger  Form  zu  übertragen.  Dieser  Aufgabe  ist  Tieck  trotz  seines 
ehrlichen  Strebens  nicht  gewachsen  gewesen.  Erscheint  sich  „die  meiste  Wirkung 
von  einer  sklavisch-wortgetreuen  Kopierung  der  sprachlichen  Eigentümlichkeiten" 
versprochen  zu  haben  und  verwendet  daher,  wie  Verfasser  in  genauen,  übersicht- 
lich geordneten  Zusammenstellungen  nachweist,  eine  Menge  von  veralteten  und 
ausgestorbenen  Laut-  und  Flexionsformen,  Worten,  Redewendungen  und  Kon- 
struktionen. Trotz  alledem  sind  wir  Tieck  „für  die  Förderung,  die  er  der  alt- 
deutschen Literatur  in  so  reichem  Maße  hat  zuteil  werden  lassen,  noch  heute  Dank 
schuldig",  wenngleich  seine  Übersetzungen  nur  noch  historische  Bedeutung  be- 
sitzen. 

Möller,  Hans,  Hebbel  alsLyriker.  Cuxhaven,  Höhere  Staatsschule.  Prog.- 
No.  950. 

Unter  den  Vorarbeiten,  die  Verfasser  benutzt  hat,  steht  R.  M.  Werners  historisch- 
kritische  Ausgabe  von  Hebbels  Werken  sowie  dessen  Werk  „Lyrik  und  Lyriker" 
in  erster  Reihe.  Die  Untersuchung  erörtert  zunächst  den  Einfluß,  den  Uhland 
und  Heine,  vor  allem  aber  Goethe  (in  Hinsicht  auf  Vorwurf,  Metrum,  Wortschatz) 
auf  Hebbels  lyrische  Gedichte  geübt  haben,  und  behandelt  sodann  ihre  Ent- 
stehungsweise, Inhalt  und  Form,  Hauptthemen  und  oft  wiederkehrende  Motive. 
Auf  Balladen,  Romanzen  und  Epigramme  wird  nicht  eingegangen.  Dagegen  wird 
Hebbels  Theorie  vom  Wesen  der  Lyrik  und  des  Schönen  überhaupt  berührt. 
Hier  hätten  Schillers  Ansichten  zum  Vergleich  herangezogen  werden  können. 
Die  Verwendung  der  Ausdrücke  „Stoff"  und  „Form"  u.  a.  m.  weist  jedenfalls  auf 
Schiller  zurück.  Zum  Schluß  wird  die  Frage  beantwortet,  welche  stofflichen  und 
formalen  Gesichtspunkte  den  Dichter  bei  der  endgültigen  Auswahl  seiner  Ge- 
dichte geleitet  haben. 


Zum  deutschen  Unterricht.  369 

Biese,  Alfred,  Zur  Behandlung  Mörikes  in  Prima.  Neuwied,  Königl. 
Gymnasium.    Prog.-No.  601. 

Kurze,  aber  höchst  beachtenswerte,  feinsinnige  Darstellung,  die  uns  mit  dem 
Lebenslauf  des  Dichters  bekannt  macht,  ihn  im  Rahmen  der  Literaturbewegung 
seiner  Zeit  betrachtet,  vor  allem  aber  das  Verständnis  für  die  Eigenart  seiner 
Lyrik  —  unter  anderm  auch  durch  Vergleiche  mit  Heine,  Uhland,  Rückert,  Platen, 
Hebbel,  Keller,  den  Romantikern  und  besonders  Goethe  —  zu  erschließen  sucht. 
Eingehend  behandelt  wird  auch  der  Roman  „Maler  Nolten".  Unter  den  Heutigen 
ist  kaum  einer  so  zeitig  für  Mörikes  Größe  eingetreten  wie  Alfred  Biese,  hat  er 
doch  schon  im  Jahre  1884,  also  vor  25  Jahren,  einen  Aufsatz  über  „Eduard 
Mörike  und  Theodor  Storra"  veröffentlicht,  und  wenn  neuerdings  Mörikes  Be- 
deutung immer  mehr,  allmählich  auch  in  den  Kreisen  der  Schule,  anerkannt  wird, 
so  ist  das  nicht  zum  wenigsten  sein  Verdienst.  Seine  hier  angezeigte  Programm- 
abhandlung bietet  übrigens  mehr,  als  der  Titel  verspricht.  So  macht  er,  fest  über- 
zeugt, daß  wie  Goethe,  Schiller  und  Uhland,  so  auch  Mörike  den  Schüler  von  den 
unteren  bis  zu  den  oberen  Klassen  begleiten  müsse,  dankenswerte  Vorschläge  für 
die  Verteilung  der  Gedichte  auf  die  einzelnen  Stufen,  und  gibt  schließlich  einen, 
wie  mich  dünkt,  erschöpfenden  Bericht  über  die  Berücksichtigung,  die  Mörikes 
Lyrik  bisher  in  den  deutschen  Lesebüchern  für  höhere  Schulen  und  in  Anthologien 
gefunden  hat. 

Riehemann,  Joseph,  Erläuternde  Bemerkungen  zu  Annette  von  Droste- 
Hülshoffs  Dichtungen.  III.  Teil.    Meppen,  Königl.  Gymnasium.  Prog.-No.  403. 

Verfasser  gibt  Sach-  und  Worterklärungen  —  nicht  selten  im  Widerspruche  zu 
Kreiten  und  anderen  —  zu  einzelnen  Versen  oder  Strophen  des  Zyklus  „Das  geist- 
liche Jahr",  der  „ Heidebilder "  usw.  Den  Schluß  der  Arbeit  bildet  eine  Betrachtung 
des  erst  1905  veröffentlichten  Gedichtes  „Des  Arztes  Tod'  und  der  Nachweis,  daß 
der  von  H.  Cardauns  behauptete  Zusammhang  des  Gedichtes  mit  dem  größeren 
epischen  Gedicht  „Des  Arztes  Vermächtnis"  höchstens  rein  äußerlich  ist.  —  Der 
I.  und  II.  Teil  der  Erläuterungen  sind  bereits  1896  und  1898  in  den  Jahresberichten 
des  Königlichen  Gymnasiums  zu  Osnabrück  erschienen. 

Wiedenhöfer,  Joseph,  Maria  Lenzen  geb.  di  Sebregondi.  Ausgewählte 
Gedichte.  Aus  ihrem  handschriftlichen  Nachlaß  mit  einer  Lebensbeschreibung  her- 
ausgegeben.   Dorsten,  Gymnasium.    Prog.-No.  449. 

Dem  Äußern  nach  keine  Programmschrift  der  üblichen  Art,  sondern  ein 
vornehm  ausgestattetes,  mit  Abbildungen  geschmücktes  Buch,  das  der  Stadt 
Dorsten  gewidmet  ist.  Ein  Denkmal  der  Pietät,  das  Dorstener  Heimatssinn  einer  zwar 
nicht  weltberühmten,  aber  doch  immerhin  hervorragenden  Tochter  der  kleinen 
Lippestadt,  der  am  11.  Februar  1882  verstorbenen  Dichterin  Maria  Lenzen,  er- 
richtet hat.  Wir  erhalten  ein  äußerst  ansprechendes  Bild  von  der  Persönlichkeit 
und  dem  anspruchslosen,  von  deutscher  Gemütstiefe  und  schlichter  Frömmigkeit 
erfüllten  literarischen  Schaffen  dieser  Frau,  die  ja  an  ihre  Landsmännin  Annette 
von  Droste-Hülshoff  nicht  heranreicht,  aber  doch  wohl  größere  Beachtung  verdient, 
als  ihr  Kritik  und  Publikum  bisher  gezollt  haben. 

Monatschrift  I.  höh.  Schulen.    Vllf.  Jhrg.  24 


370  P.  Geyer, 

lltz,  Johannes,  Über  Wilhelm  Raabes  Weltanschauung.  Stettin,  Stadt- 
gymnasium.   Prog.-No.  198. 

Ein  Herz,  das  für  das  Leid  des  Mitmenschen  und  zumal  für  die  stillen 
Schmerzen  und  Sorgen  der  Kleinen,  Armen  und  Bedrückten  das  zarteste  Ver- 
ständnis besitzt,  anderseits  aber  auch  empfänglich  ist  für  die  Freude  an  der  Natur, 
an  der  Heimat,  für  den  Segen  der  Arbeit,  für  das  Glück  des  Nächsten,  der  Volks- 
genossen: solch  ein  Herz  hat  jene  tapfere  Lebensbejahung,  jenen  gesunden  Humor 
geboren,  der  uns  in  Raabes  Schriften  überall  entgegentritt.  Die  prächtige  Dar- 
stellung von  lltz  sei  allen  empfohlen,  die  Raabe  kennen  oder  ihn  erst  noch  näher 
kennen  lernen  wollen. 

Adrian,  Gerhard,  Beiträge  zur  Würdigung  der  Nibelungendichtung. 
Dortmund,  Städtisches  Gymnasium.    Prog.-No.  45L 

Der  erste  von  den  beiden  Hauptteilen  dieser  scharfsinnigen,  von  voller  Be- 
herrschung des  spröden  Stoffes  zeugenden  Untersuchung  ist  betitelt:  „Die  wichtigste 
Umformung  der  Sage  im  ersten  Teile  des  Nibelungenliedes".  Hier  wird  in  ein- 
gehender Erörterung  der  Standpunkt  begründet,  daß  die  zahlreichen  Widersprüche 
und  Unebenheiten,  die  uns  im  Nibelungenliede  entgegentreten,  „fast  alle  durch 
die  Modernisierung  des  Stoffs  d.  h.  durch  die  Einkleidung  der  alten  Sage  in  die 
Formen  höfischen  Rittertums  und  des  Minnedienstes  ihre  Erklärung  finden."  Die 
ungünstigen  Wirkungen  dieser  Umgestaltung  erstrecken  sich  nicht  bloß  auf  die 
Handlung,  genauer  auf  die  dramatisch  wirksame  Aufeinanderfolge  und  Motivierung 
der  einzelnen  Ereignisse,  sondern  auch  auf  die  Charaktere.  Daher  schreibt  sich 
vor  allem  auch  das  Unsichere,  Schwerverständliche  im  Charakter  Hagens,  dieses 
„Haupthelden"  des  Nibelungenliedes,  das  durch  ihn  „die  Tragödie  des  wilden, 
leidenschaftlichen,  selbst  vor  Verbrechen  nicht  zurückschreckenden  Ehrgeizes"  ge- 
worden ist.  —  Der  zweite  Hauptteil  der  Arbeit  gilt  dem  Thema:  „Der  dramatische 
Aufbau  der  Handlung  des  Nibelungenliedes  als  Grundlage  einer  Volks-  und  Schul- 
auswahl." Daß  die  Dichtung  dramatisch-tragischen  Charakter  besitzt,  ist  ja  un- 
bestreitbar. Es  fragt  sich  nur,  ob  sie  nach  der  dramatischen  Seite  hin  als  ein 
Ganzes  zu  erfassen  ist,  oder  ob  es  sich  empfiehlt,  jeden  der  gegebenen  beiden 
Teile,  Siegfrieds  Tod  und  Kriemhildens  Rache,  für  sich  allein  nach  den  Gesetzen 
der  dramatischen  Technik  zu  bearbeiten.  Adrian]  hat  sich  aus  guten  Gründen  für 
das  letztere  Verfahren  entschieden  und  gliedert  jedes  der  beiden  „Dramen"  in 
zehn  Teile,  bemüht,  „die  einzelnen  Teile  nach  ihrer  dramatischen  Bedeutung  her- 
auszuheben, die  zahlreichen  wilden  Triebe  zu  beschneiden  und  nur  das  Kernholz 
beizubehalten".  —  Zum  Schluß  wird  eine,  wie  mir  scheint,  wohlgelungene  Über- 
setzungsprobe der  ersten  Aventiure  gegeben.    Vivant  sequentia! 

Bernays,  Ulrich,  Die  Sage  vom  großen  König  Alexander  für  die 
Jugend  erzählt  von  Adolf  Ausfeld.  Aus  dem  Nachlaß  des  Verfassers  her- 
ausgegeben.   Lörrach,  Großherzogliches  Gymnasium.    Prog.-No.  804. 

Ausfeld  hat  sich  in  dieser,  hier  zum  erstenmal  veröffentlichten,  Bearbeitung 
der  Alexandersage  eng  an  Pseudokallisthenes  bzw.  an  Julius  Valerius  und  den 
Archipresbyter  Leo,  also  an  die  ursprüngliche  Fassung  der  Sage  angeschlossen; 
nur  die  Erzählung  von  den  Blumenmädchen  ist  dem  Alexanderlied  des  Pfaffen 
Lamprecht  entnommen.    Die  Auswahl  des  Stoffes  ist  mit  Rücksicht  auf  die  Jugend 


Zum  deutschen  Unterricht.  371 

getroffen.  Der  Ausdruck  trifft  den  schlichten  Ton  des  Märchenerzählers  und  ist 
überall  glatt  und  ansprechend.  Die  Herausgeber  von  deutschen  Lesebüchern 
werden  meines  Erachtens  gut  daran  tun,  aus  dieser  Quelle  zu  schöpfen. 

Oüthling,  Otto,  Schlesische  Kirchenliederdichter.  Liegnitz,  Stadt. 
Gymnasium.    Prog.-No.  261. 

Verfasser  hat  sich  der  dankenswerten  Mühe  unterzogen,  51  schlesische  Kirchen- 
liederdichter nebst  kurzen  biographischen  Mitteilungen  und  den  Anfängen  der  be- 
kanntesten Lieder  in  alphabetischer  Ordnung  zusammenzustellen.  Die  be- 
deutendsten unter  ihnen,  Angelus  Silesius,  Schmolck  und  Rothe,  werden 
ausführlicher  behandelt. 

Jaffe,  Siegfried,  Die  Vaganten  und  ihre  Lieder.  Berlin,  Lessing-Gym- 
nasium.    Prog.-No.  73. 

Eine  gelehrte,  auf  reiches  Quellenmaterial  gestützte,  dabei  sehr  anschauliche 
Darstellung,  jedem  zu  empfehlen,  der  sich  mit  der  alten  und  nicht  ganz  unrühm- 
lichen Geschichte  jenes  Künstlertums  bekannt  machen  will,  das  sich  in  vielfach 
verschlechterter  Auflage  heute  noch  auf  Landstraßen  und  Jahrmärkten  zur  Schau 
stellt.  Die  historische  Einleitung  behandelt  zunächst  das  Verhältnis  zwischen  den 
mittelalterlichen  Spielleuten,  den  Nachfahren  der  römischen  mimi,  und  ihren  vor- 
nehmeren Brüdern,  den  gelehrten,  lateinisch  dichtenden  „Vaganten".  Weiterhin  er- 
halten wir  über  die  Anfänge,  die  örtliche  und  zeitliche  Verbreitung,  die  Existenz- 
bedingungen und  Lebensanschauungen  dieses  Vagantentums  Auskunft,  desgleichen 
über  Stoff  und  Form  der  Vagantenlieder.  An  einer  Auswahl  systematisch  ge- 
ordneter Beispiele  werden  charakteristische  Stil-  und  Kunstmittel  (Tropen  und 
Figuren)  sehr  eingehend  erläutert.  Daran  schließt  sich  eine  Zusammenstellung 
von  Zitaten  aus  der  Bibel  und  römischen  Schriftstellern.  Endlich  werden  noch 
zwei  Themen  sorgfältig  erörtert,  erstens  die  Frage:  Wie  ist  die  Überlieferung  der 
Vagantendichtungen  beschaffen,  und  welche  Handschriften  stehen  uns  zu  Gebote? 
und  zweitens:  Was  läßt  sich  von  dem  Leben  und  den  Werken  einzelner  Vaganten- 
dichter eruieren?  Den  Löwenanteil  an  diesem  Schlußkapitel  haben  die  beiden 
Dichterfürsten,  wollte  sagen  Vagantenfürsten,  der  Archipoeta  und  Walter  von 
Chätillon,  erhalten,  die  nach  Jaffe  unmöglich  identisch  sein  können,  wie  andere 
vor  ihm  behauptet  haben. 

Qombert,  Albert,  Beiträge  zur  deutschen  Wortgeschichte.  Breslau, 
Königl.  König  Wilhelms-Gymnasium.    Prog.-No.  24L 

Verfasser  sucht  bei  38  Worten  und  Redensarten,  die  (wie  Hygiene,  Geniezeit, 
Schicksalstragödie,  Neue  Ära)  zum  Teil  als  wissenschaftliche  Kunstausdrücke  ge- 
braucht werden,  das  erste  Auftreten,  hier  und  da  auch  den  Wandel  der  Bedeutung 
nachzuweisen,  soweit  dies  in  unseren  Wörterbüchern  oder  sonstwo  noch  nicht  aus- 
reichend geschehen  ist.  Wichtig  für  weitere  Kreise,  besonders  für  Geschichtslehrer 
ist  die  unumstößliche,  aktenmäßige  Feststellung,  daß  die  Benennung  „König  in 
Preußen"  durchaus  keinen  staatsrechtlichen  Unterschied  von  dem  „König  von 
Preußen"  zum  Ausdruck  bringen  sollte,  sondern  einfach  dem  damaligen  Sprach- 
gebrauch entsprang,  und  daß  erst  unter  dem  7.  Juli  1797  die  preußischen  Ver- 
treter bei  den  fremden  Höfen  von  Berlin  aus  angewiesen  worden  sind,  fortan  den 
nunmehr  allein  üblich  gewordenen  Titel  „König  von  Preußen«  zu  gebrauchen. 

24* 


372  P-  Geyer, 

Holzgraefe,  Wilhelm,  Das  grammatische  Geschlecht  der  Fremdwörter 
und  fremden  Wörter  im  heutigen  Sprachgebrauch.  Hamburg,  Real- 
gymnasium des  Johanneums.    Prog.-No.  953. 

An  hunderten  von  Beispielen,  bei  denen,  wenn  nötig,  der  Fundort  angegeben 
ist,  wird  die  Tatsache  erhärtet,  daß  in  der  Geschlechtsbezeichnung  nichtdeutscher 
Wörter  selbst  bei  Gebildeten  zurzeit  eine  schier  unerträgliche  Wirrnis  zu  beob- 
achten ist.  Verfasser  hält  alle,  sei  es  instinktiven  oder  bewußten,  Versuche,  heute 
noch  das  Geschlecht  fremdsprachlicher  Ausdrücke  dem  deutschen  Gebrauche  mit 
Rücksicht  auf  Klangfarbe  oder  Bedeutung  anzugleichen,  für  völlig  unberechtigt 
und  will  in  allen  irgendwie  noch  zweifelhaften  Fällen  das  ursprüngliche  Geschlecht 
festgehalten  wissen.  Man  kann  dieser  Forderung  im  allgemeinen  zustimmen,  wird 
aber  doch  wohl  hier  und  da  dem  Usus  oder  auch  Abusus;  größere  Zugeständ- 
nisse machen  müssen,  als  Holzgraefe  zugeben  will.  So  ist  z.  B.  die  Ossa,  die 
Ida,  der  Rhone  kaum  noch  zu  retten,  eher  noch  die  Peloponnes.  Und  schließ- 
lich: was  verschlägt's? 

Wirth,  Hermann,  Gedankengang  zur  deutschen  Etymologie.  Tauber- 
bischofsheim, Großherzogl.  Gymnasium,    Prog.-No.  809, 

Die  „Indogermanische  Sprachbeziehungen "  betitelten  Programmschriften  dieses 
fleißigen  und  kenntnisreichen  Wortforschers  (I.  Teil  Bruchsal,  Ost.  1905,  II.  Teil 
Donaueschingen,  Ost,  1906)  sind  bereits  im  V.  und  VI.  Jahrgang  der  Monatschrift  an- 
gezeigt worden.  In  di  es  er  Arbeit  sind  eine  Reihe  deutscher  Wörter  nach  Bedeutungs- 
gruppen behandelt:  Deutsche  Tiernamen  im  Lichte  der  Sprachvergleichung;  Zur 
Geschichte  deutscher  Baum-  und  Pflanzennamen;  Namen  von  Körperteilen;  Geräte, 
Werkzeuge  usw.;  Verben  der  Bewegung.  —  In  allen  diesen  Gruppen  kommt  der 
Begriff  der  „Krümmung",  dessen  Wirksamkeit  überdies  noch  in  einem  besonderen 
Abschnitte  nachgewiesen  wird,  zur  Verwendung.  Außer  dem  Sanskrit  wird  überall, 
wo  sich  das  tun  läßt,  Latein  und  Griechisch  zur  Erklärung  herangezogen. 

Wirth,  Philipp,  Die  Rechtschreibung  der  Straßennamen  und  Geschäfts- 
aufschriften in  Straßburg.  Straßburg  i.  E.,  Oberrealschule  bei  St,  Johann, 
Prog.-No.  698, 

Der  Leitsatz,  in  dem  Wirths  Ausführungen  gipfeln,  ist  allen  deutschen  Stadt- 
verwaltungen zur  Beherzigung  dringend  zu  empfehlen.  Er  lautet:  „Nachdem  wir 
im  Deutschen  Reiche  eine  amtlich  eingeführte  Rechtschreibung  besitzen,  ist  es  eine 
Pflicht  der  staatlichen  und  städtischen  Behörden,  darüber  zu  wachen,  daß  in  den 
öffentlichen  Aufschriften  nicht  eine  Rechtschreibung  befolgt  wird,  die  sich  mit  der 
amtlich  eingeführten  in  Widerspruch  setzt,  und  wo  sich  solche  fehlerhaften  Auf- 
schriften finden,  sind  sie  so  rasch  als  möglich  zu  beseitigen."  Zurzeit  liegt  die  Sache 
so,  daß  kaum  in  einer  deutschen  Stadt  die  Straßennamen  völlig  richtig  geschrieben 
sind,  von  den  oft  haarsträubenden  Geschäftsaufschriften  gar  nicht  zu  reden.  Daß 
es  im  wunderschönen  Straßburg  hierin  besonders  häßlich  aussieht,  ist  begreiflich. 

Schnobel,  Karl,  Zum  grammatischen  Unterricht  im  Deutschen  auf  der 
lateinlosen  Unterstufe  der  Reformschulen,  Charlottenburg,  Reform-Real- 
gymnasium,   Prog.-No.  120, 

Die  sachverständigen,  durchdachten  Darlegungen  behandeln:  I,  Aufgabe  und 
Ziel  des  grammatischen  Unterrichts  auf  der  Unterstufe,  II,  Stundenzahl,  III.  Stoff- 


Zum  deutschen  Unterricht.  373 

Verteilung,  IV.  Lehrverfahren.  —  Da  die  gesamte  Satzlehre  zum  Abschluß  und  zum 
vollen  Verständnis  der  Schüler  gebracht  werden  muß,  wenn  der  erst  in  Untertertia 
einsetzende  Lateinunterricht  Erfolg  haben  soll,  und  da  diese  Aufgabe  im  wesentlichen 
dem  deutschen  Unterricht  der  Unterstufe  zufällt,  so  hält  es  Verf.  für  erforderlich, 
die  Stundenzahl  für  diesen  Unterricht  zu  erhöhen.  Das  ist  an  einigen  wenigen 
preußischen  Reformschulen  nach  dem  Frankfurter  Lehrplan  schon  geschehen,  im 
ausreichenden  Maße  aber  bisher  bloß  an  den  Reformschulen  des  Königreichs 
Sachsen.  Hier  sind  dem  Deutschen  in  Sexta  sieben,  in  Quinta  sechs  und  in 
Quarta  fünf  Wochenstunden  zugewiesen. 

Gemoll,Albert,DieMeditation  des  deutschen  Auf  Satzes  mitBeispielen. 
Striegau,  Realgymnasium.  Prog.-No.  286. 

Fortsetzung  der  Jahrg.  VI,  S.  450  angezeigten  Programmabhandlung.  Geschickt 
durchgeführte  Meditationen  in  Form  von  Frage  und  Antwort  zu  sieben  Erzählungen, 
deren  Stoff  der  poetischen  Lektüre  der  Sekunda  entnommen  ist. 

Netoliczka,  Oscar,  Aus  der  Praxis  des  deutschen  Unterrichts.  Kron- 
stadt in  Siebenbürgen,  Honterus-Gymnasium. 

Ganz  vortreffliche  Darstellung,  die  erstens  in  einer  geschichtlichen  Orientierung 
die  Hauptströmungen  innerhalb  des  Aufsatzbetriebes  I(mit  Berücksichtigung  des 
siebenbürgisch-  sächsischen  Gymnasialwesens)  scharf  und  sicher  beurteilt  und  zweitens 
mit  überzeugenden  Beweisgründen  dafür  eintritt,  daß  die  »Abhandlung"  als  letztes 
und  höchstes  Ziel  des  deutschen  Aufsatzes  anzusehen  sei.  Hervorragend  sind 
auch  die  drei  Schülerleistungen,  die  im  Anhang  veröffentlicht  werden:  l.  Darf 
Banquos  Geist  auf  der  Bühne  erscheinen?  [Dialog],  2.  Zum  9.  Mai  1905  [Geradezu 
meisterhafte  Dichtung,  die  uns  die  Hauptgestalten  der  Schillerschen  Dramen  zu 
mitternächtiger  Stunde  am  Grabe  des  Gefeierten  zeigt].  3.  Die  Laokoongruppe 
[Betrachtung  des  Kunstwerks].  Besonders  erfreulich,  ich  möchte  sagen  erfrischend, 
wirkt  die  freie,  scheinbar  zwanglose  Form,  in  der  unter  1  und  3  der  Gedankenstoff 
(Lessing)  zur  Darstellung  kommt. 

Schurig,  Aus  dem  deutschen  Unterricht  der  Prima:  Dispositionen 
und  Meditationen.    Höxter,  König  Wilhelms-Gymnasium.    Prog.-No.  459. 

Die  hier  behandelten  19  Aufgaben  sind  nicht  Lektürethemen  der  üblichen  Art 
—  den  unmittelbaren  Anschluß  an  das  Gelesene,  zumal  an  die  poetische  Lektüre, 
glaubt  Verfasser  auf  die  Facharbeiten  beschränken  zu  müssen  — ,  sondern  ihre  Be- 
arbeitung setzt  meist  die  Kenntnis  größerer  Wissens-  und  Gedankengebiete  voraus 
und  stellt  deshalb  an  die  Schüler  und  nicht  zum  wenigsten  auch  an  den  „spiritus 
inventor  und  rector",  den  Lehrer,  recht  hohe  Anforderungen.  Je  breiter  die  durch 
Lektüre  und  sonstwie  gelegten  Grundlagen  sind,  auf  denen  die  verlangte  Abhand- 
lung beruhen  muß,  um  so  größer  wird  ja  natürlich  auch  der  Spielraum  für  selb- 
ständige, „produktive"  Auffassung  und  Behandlung  des  Themas  werden.  Wer  es 
wie  Referent  für  angebracht  hält,  in  Pnma  gelegentlich  auch  einmal  ein  Thema  zu 
stellen,  das  andere  Unterrichtsfächer  tributpflichtig  macht,  wird  aus  Schurigs  ge- 
dankenreichen Dispositionen  mancherlei  Anregung  schöpfen. 

Fischer,  Der  deutsche  Aufsatz  in  den  Oberklassen.  Stettin,  Friedrich 
Wilhelms-Realgymnasium.    Prog.-No.  205. 

Die  lehrreiche,  mit  unverkennbarer  Sachkenntnis  geschriebene  Arbeit  behandelt : 


374  P-  Geyer,  Zum  deutschen  Unterricht. 

1.  Zweck  und  Regelung  der  Aufsatzübung,  2.  Die  Wahl  des  Themas  (Allgemeine 
Gesichtspunkte  —  die  Stoffgebiete  —  Stilistische  Gesichtspunkte  —  Fassung  des 
Themas).  3.  Vorbereitung  und  Anfertigung  des  Aufsatzes.  4.  Die  Beurteilung  des 
Aufsatzes  (die  Korrektur  —  das  Urteil  —  Rückgabe  und  Besprechung  der  korri- 
gierten Aufsätze).  Wer  Fischers  Abhandlung  zusammen  mit  der  oben  angezeigten 
Arbeit  von  Netoliczka  liest,  erhält  unter  anderem  auch  ein  vorzügliches  Bild  von 
den  Strömungen  und  Strebungen,  die  in  unserer  Aufsatzliteratur  bis  heute  zutage 
getreten  sind. 

Finckh,  Theodor,  Der  Lehrstoff  der  philosophischen  Propädeutik. 
Reutlingen,  Oberrealschule.    Prog.-No.  789. 

Eine  aus  der  Schulpraxis  hervorgegangene,  nach  meinem  Dafürhalten  sehr  brauch- 
bare Auswahl  des  philosophischen  Stoffs  für  Oberprima  —  bis  auf  Ethik  und 
Religionsphilosophie,  die  dem  Religionsunterricht  zugewiesen  werden.  Sieben  Kapitel : 
I.  Allgemeine  Einleitung.  II.  Einleitung  in  die  Psychologie.  III.  Psychophysik. 
IV.  Erkenntnistheoretischer  Anhang  zur  Psychophysik.  V.  Metaphysischer  Anhang 
zur  Psychophysik.  VI.  Eigentliche  Psychologie.  [Ein  Abschnitt  behandelt  die 
psychologischen  Grundlagen  der  Ästhetik.]  VII.  Logik,  einschließlich  Methoden- 
lehre. —  Benutzt  sind  die  anerkannt  besten  philosophischen  Schriften  der  Gegen- 
wart. Die  württembergischen  Oberrealschulen  sind  in  der  glücklichen  Lage,  in  Ober- 
prima der  philosophischen  Propädeutik  zwei  Wochenstunden  widmen  zu  können. 
Daher  der  Umfang  des  hier  Gebotenen. 

Brieg.  Paul  Geyer. 


III.    Bücherbesprechungen. 


a)  Sammelbesprechungen: 

Griechische  Autoren. 

Muzik,  Hugo,  Lehr-  und  Anschauungsbehelfe  zu  den  griechischen 
Schulklassikern.  Leipzig -Wien  1906.  Karl  Fromme.  VIII  u.  121  S.  gr.  8«. 
3,50  M. 

Ein  Buch  wie  dies  entspricht  sicherlich  einem  Bedürfnis,  heute  mehr  als  früher, 
weil  heute  manche  Philologen  die  Universität  verlassen,  ohne  sich  mit  denjenigen 
Schriftstellern,  die  sie  nachher  auf  der  Schule  zu  behandeln  haben,  ausreichend 
beschäftigt  zu  haben. 

Also  ist  die  Zusammenstellung  einer  Bibliographie  an  sich  dankenswert.  Aber 
entspricht  die  vorliegende  Arbeit  den  Wünschen,  die  man  an  ein  solches  Buch 
stellen  muß?  Sie  beobachtet  folgendes  Verfahren:  Der  Verfasser  hat  die  Zeit- 
schriften durchgemustert,  die  seiner  Meinung  nach  hauptsächlich  an  den  deutschen, 
d.  h.  reichsdeutschen  und  österreichischen,  Gymnasien  gehalten  werden  —  es  sind: 
Zeitschr.  f.  österr,  Gymn.;  Zeitschr.  f.  d.  Gymnasialw.;  Neue  Jahrb.  f.  Philolog.  u. 
Pädag.  und  ihre  Fortsetzung:  Neue  Jahrb.  f.  d.  kl.  Altert.,  Gesch.  u.  deutsch.  Lit. 
u.  Pädag.;  Gymnasium;  Österreichische  Mittelschule;  Wiener  Studien;  Lehrproben 
und  Lehrgänge;  Bursians  Jahresbericht;  — ,  hat  aus  ihnen  die  Titel  der  Aufsätze 
exzerpiert  und  nach  bestimmten  Rubriken  geordnet;  dazu  sind  noch  die  Programm- 
beilagen gekommen.  Doch  hat  Muzik  nicht  nur  die  selbständigen  Arbeiten  auf- 
gezählt, nein,  er  hat  auch  die  bei  Gelegenheit  von  Rezensionen  in  diesen  Zeit- 
schriften genannten  selbständigen  Werke  mit  ausgeschrieben,  in  dem  er  gleich- 
zeitig auf  die  Besprechung  hinweist.  Diese  Fülle  von  Büchertiteln  ist  dann  nach 
folgenden  Gesichtspunkten  geordnet:  1.  nach  Autoren,  so  daß  Arrian  der  erste, 
Xenophon  der  letzte  ist;  2.  innerhalb  dieser  Rubriken  nach:  Biographie,  Würdigung 
des  Autors,  Schriften  über  seinen  Sprachgebrauch,  Aufsätze  über  methodische  Be- 
handlung, Übersetzungen,  Übungsbücher,  die  den  Wortschatz  der  Schulautoren 
verwerten;  ferner  sind  angeführt  Werke,  welche  die  Realien  der  einzelnen  Schrift- 
steller behandeln,  und  Hilfsmittel  für  den  Anschauungsunterricht.  Das  bildet  den 
ersten  Teil  des  Buches  (S.  1—69);  der  zweite  enthält,  alphabetisch  nach  griechi- 
schen Stichwörtern  geordnet,  ein  Verzeichnis  derjenigen  Dinge,  die  sich  durch  ein 
Bild   veranschaulichen  lassen,   mit  Hinweis   auf   die  Publikationen  in  denen  diese 


376  C.  Hölk, 

Abbildungen   leicht  zugänglich  sind,   also   auf  Bücher   wie   Baumeister,   Lucken- 
bach, Röscher  usw. 

Ist  das  hier  beobachtete  Verfahren  richtig?  Über  die  Auswahl  der  Zeitschriften 
will  ich  nicht  sprechen,  ihr  liegen  vielleicht  statistische  Beobachtungen  über  das 
was  die  Schulen  zu  halten  pflegen  zugrunde;  ebenso  wenig  über  die  Heranziehung 
der  Programme;  aber  wie  steht  es  mit  denjenigen  Titeln,  die  weder  Programm- 
abhandlungen noch  Zeitschriftenaufsätze  sind?  Eine  vom  Verleger  beigegebene 
Empfehlung  des  Buches  verspricht,  „daß  zu  jedem  der  in  Österreich  oder  in 
Deutschland  üblichen  griechischen  Schulklassiker  die  literarischen  Erschei- 
nungen, welche  dem  Lehrer  für  die  Behandlung  des  Autors  sowohl 
nach  der  formalen  wie  nach  der  realen  Seite  hin  Unterstützung  ge- 
währen können,  zusammengetragen  sind."  VortreffUch,  wenns  so  wäre, 
aber  leider  ist  es  nicht  so.  Es  ist  doch  z.  B.  höchst  merkwürdig,  daß  man  Namen 
wie  Welcker,  Otfried  Müller,  Usener,  Bücheier,  Rohde,  v.  Wilamowitz  usw.  hier 
vergeblich  sucht.  Der  Grund  ist,  daß  die  Auswahl  die  Muzik  bietet  eigentlich 
rein  zufällig  entstanden  ist:  was  jene  Zeitschriften  in  Rezensionen  usw.  erwähnten, 
und  was  die  Aufmerksamkeit  des  Verfassers  fand,  das  ist  angeführt;  was  sich 
auf  diese  Weise  nicht  anbot,  hat  Erwähnung  nicht  gefunden. 

Ich  stehe  nicht  an  zu  erklären,  daß  mir  dadurch  der  Wert  der  ganzen  Samm- 
lung stark  in  Frage  gestellt  zu  sein  scheint.  Wenn  Muzik  mehr  bieten  wollte  als 
die  Aufzählung  der  in  den  von  ihm  exzerpierten  Zeitschriften  gedruckten  Arbeiten, 
so  durfte  er  nicht  mehr  mechanisch  verfahren,  sondern  mußte  entweder  selbst  eine 
Auswahl  treffen  oder  sich  mit  anderen  in  Verbindung  setzen,  die  ihm  hier  die 
für  ein  Repertorium  notwendigen  Werke  empfohlen  hätten.  Es  ist  denn  doch 
wirklich  eigenartig,  wenn  man  z.  B.  Cauer  mit  einigen  kleinen  Arbeiten  zu  Homer 
erwähnt  findet,  dagegen  von  seinen  Grundfragen  der  Homerkritik  nichts  erfährt; 
oder  wenn  bei  Homer  Gladstone  angeführt  wird,  aber  von  Kirchhoff,  Wilamowitz, 
Kammer  usw.  nichts  gesagt  wird.  Nicht  einmal  Wilamowitz'  Übersetzungen  sind 
genannt,  um  von  andern  zu  schweigen.  Ebenso  willkürlich  ist,  was  von  Schrift- 
stellerausgaben erwähnt  wird. 

Der  Gedanke,  welchem  das  Buch  seine  Entstehung  verdankt,  ist  unbedingt 
zu  loben,  aber  die  Ausführung  müßte  anders  gestaltet  werden.  Und  Hilfsmittel 
gibt  es  dafür  doch  mehr  als  genug. 

Eine  vortreffliche  Literaturauswahl  allgemeiner  Art  enthält  z.  B.  die  griechische 
Literaturgeschichte  von  Wilamowitz  in  der  Kultur  der  Gegenwart;  ebenso  gibt 
Krolls  so  sehr  dankenswerter  Überblick  über  die  Fortschritte  der  Philologie  in  den 
letzten  25  Jahren  eine  ganze  Fülle  vortrefflicher  Hinweise.  Wenn  es,  wie  ich 
hoffe,  zu  einer  neuen  Auflage  des  Buches  kommt,  so  wird  das  hoffentlich  eine 
Neubearbeitung  werden;  und  wenn  sich  der  Verfasser  für  diese  die  Hilfe  eines 
Universitätslehrers  sicherte,   so   würde   das   seinem  Buche   sehr  von  Nutzen  sein. 

Sehr  dankenswert  ist  die  Zusammenstellung  des  zweiten  Teiles;  der  verschafft 
dem  Buche,  so  wie  es  vorliegt,  schon  seinen  Wert.  Mir  wenigstens  ist  eine  so 
praktische  Übersicht  über  das  Anschauungsmaterial,  das  in  leicht  zugänglichen 
Werken  vorhanden  ist,  nicht  bekannt. 


Griechische  Autoren,  377 

Wolf,  H.,  Homers  Odyssee,  erläutert  und  gewürdigt.  Leipzig  1904.  H.  Bredt. 
118  S.    8".     1  M. 

Wolf,  H.,  Homers  Ilias,  erläutert  und  gewürdigt,  ebenda  1905.  154  S. 
80.     1  M. 

Die  beiden  knappen  Hefte  bilden  das  zweite  und  dritte  Bändchen  der  im 
Verlag  von  H.  Bredt  erscheinenden,  von  Hau  und  Wolf  herausgegebenen  Sammlung 
von  Erläuterungen  und  Würdigungen  der  ausländischen  Klassiker;  diese  sind  in 
erster  Linie  bestimmt,  das  Selbststudium  der  durch  den  Unterricht  angeregten 
Schüler,  besonders  der  Primaner,  zu  unterstützen.  Die  beiden  vorliegenden  Hefte 
kann  man  mit  gutem  Gewissen  einem  noch  weiteren  Kreise  empfehlen:  auch  dem 
jungen  Lehrer,  der  Homer  behandeln  soll,  wird  der  Einblick  in  den  Umfang  der 
Dinge,  die  ein  erfahrener  Lehrer  seinen  Schülern  bietet,  sehr  nützlich  sein;  ebenso 
wird  der  Lehrer  des  Deutschen  an  realistischen  Schulen  reiche  Anregung  für 
seinen  Unterricht  aus  diesen  Heften  holen  können. 

Anspruch  als  wissenschaftliche  Leistungen  gewürdigt  zu  werden,  erheben  die 
Hefte  nicht,  wenn  auch  unverkennbar  ist,  daß  sie  auf  solider  gelehrter  Grundlage 
beruhen,  und  erfreulichen  Mut  zu  selbständigem  Urteil  zeigen. 

Beide  Hefte  zerfallen  in  zwei  ziemlich  gleiche  Teile,  von  denen  der  erste  eine 
genaue  Darstellung  der  Handlung  bietet,  der  zweite  in  kurzen  Abhandlungen  an- 
hangsweise einzelne  Gebiete  der  homerischen  Welt  behandelt,  wie  Religion,  Kultur, 
Sage,  homerische  Frage  usw.  Im  ganzen  ist  die  richtige  Mitte  zwischen  ge- 
lehrter Behandlung  und  schulmäßiger  Einführung  getroffen,  besonders  lobenswert 
scheint  mir  die  Art,  wie  zur  Vertiefung  des  ästhetischen  Verständnisses  durch 
Hinweis  auf  Lessing,  Schiller,  Goethe,  aber  auch  Lehrs,  Rohde,  v.  Wilamowitz 
brauchbare  Winke  gegeben  werden,  ebenso  daß  religionsgeschichtlichen  Unter- 
suchungen verhältnismäßig  viel  Raum  gegönnt  ist.  Dagegen  scheint  es  mir  doch 
recht  zweifelhaft  zu  sein,  ob  mit  den  zahlreichen  und  nachdrücklichen  Hinweisen 
auf  Mängel  der  Komposition,  auf  „Risse"  und  , Überklebungen ",  auf  „Flick- 
poesie" usw.,  wie  sie  sich  besonders  häufig  in  dem  Ilias-Bändchen  finden,  für  den 
Zweck  der  Hefte  das  Richtige  getroffen  ist;  jedenfalls  könnten  sie  ruhig  vom 
Superlativ  auf  den  Positiv  herabgestimmt  werden. 

Bei  einer  zweiten  Auflage,  die  ich  dem  brauchbaren  Büchlein  wünsche,  würde 
es  sich  wohl  empfehlen,  diese  Bemerkungen  aus  dem  ersten  Teil  fortzulassen  und 
zur  Bereicherung  des  im  Anhang  gebotenen  Abschnittes  über  Komposition  und 
homerische  Frage  zu  verwenden.  Ebenso  würden  mir  die  Übersetzungen  in  guter 
Prosa  besser  gefallen,  als  in  der  altfränkischen  und  gestelzten  Form  der  Hexameter, 
die  von  dem  Reiz  der  homerischen  Verse  nichts  mehr  verspüren  lassen. 

Schäfer,  A.,  Kleiner  deutscher  Homer.  Ilias  und  Odyssee  im  Auszug, 
verdeutscht,  mit  Anmerkungen  und  Zusätzen.  4.  Aufl.  in  alldeutscher  Recht- 
schreibung.   Berlin-Hannover  1903.    C.  Meyer  (G.  Prior),    geb.  1  M. 

Das  an  vielen  Mädchenschulen  gebrauchte  Büchlein  sucht  der  Forderung  des 
preußischen  Kultusministeriums  nach  einer  Schulausgabe  der  homerischen  Gedichte 
für  die  zweite  Klasse  der  höheren  Mädchenschulen  gerecht  zu  werden  und  ent- 
spricht offenbar,  wie  seine  Verbreitung  beweist,  einem  Bedürfnis.  Die  Übersetzung 
ist  z.  T.   eigenes  Werk   des  Verfassers  und  liest  sich  ziemlich   glatt;   z.  T.   sind 


378  H.  Fritzsche, 

Schillersche  Übersetzungen  verwendet.  Die  einzige  Abbildung,  die  zur  lilustrierung 
des  Bogenschusses  dienen  soll,  ist  kaum  richtig. 

Altendorf,  K.,  Ästhetischer  Kommentar  zur  Odyssee.  Gießen  1904. 
Emil  Roth.     1,50  M. 

Ein  etwas  seltsam  anachronistisches  Buch!  Jegliche  Anfechtung  der  Odyssee, 
nicht  nur  ganzer  Teile,  wie  z.  B.  der  Telemachie,  sondern  sogar  einzelner  Verse 
und  Wiederholungen  wird  als  Unrecht  an  den  Manen  des  großen  Dichters  be- 
kämpft, jede  nicht  abzuleugnende  Unebenheit  zu  erklären  gesucht.  Und  doch 
liest  sich  das  Buch  wohltuend,  was  zurückzuführen  sein  wird  auf  die  echte 
Liebe  des  Verfassers  zu  dem  Gedicht  und  zu  dem  Bilde,  das  er  sich  vom 
Dichter  Homer  gemacht  hat.  Übrigens  mag  es  auch  ganz  nützlich  sein,  ein  Buch 
über  Homer  zu  lesen,  das  nicht,  wie  sonst  wohl  üblich,  einseitig  auf  die  Fehler 
eingestellt  ist,  freilich  an  Einseitigkeit  selbst  nichts  zu  wünschen  läßt.  In  den  ästheti- 
schen Bemerkungen  findet  sich  mancherlei  Hübsches,  das  für  die  Erklärung  in  der 
Schule  gut  zu  verwerten  ist. 

Steglitz.  C.  Hölk. 


Lateinische  Übungsbücher  und  Orammatilten.*) 

Der  von  mir  Jahrgang  III,  S.  403  besprochene  zweite  Teil  von  J.  Wulff, 
E.  Bruhn  und  R.  Preiser,  Aufgaben  zum  Übersetzen  ins  Lateinische  ist 
durch  J.  Schmedes  in  einer  Ausgabe  B  (Berlin  1908,  Weidmannsche  Buch- 
handlung, VII  u.  187  S.,  geb.  2,20  M.)  in  ähnlicher  Weise  bearbeitet  worden  wie 
schon  früher  der  erste  Teil  (vgl.  Jahrgang  VII,  S.  181  f.).  Während  in  den  „zu- 
sammenhängenden Übersetzungsstücken"  nur  leichte  Änderungen  im  Text  und  Zu- 
sätze zu  den  Anmerkungen  erforderlich  erschienen  sind,  hat  Schmedes,  um  die 
Arbeit  des  Schülers  nicht  ohne  Not  zu  erschweren,  eine  große  Anzahl  „Einzel- 
sätze" vereinfacht  oder  durch  leichtere  ersetzt,  auch  die  Zahl  der  Anmerkungen 
erheblich  vermehrt.  Da  der  erstrebte  Zweck  der  Aufgaben  zweifellos  auch  mit 
der  vereinfachten  Ausgabe  erreicht  werden  kann,  wird  sie  den  Anstalten  zu 
empfehlen  sein,  denen  sich  die  ältere  Ausgabe  als  zu  schwierig  erwiesen  hat. 

J.  Haulers,  Lateinische  Stilübungen  für  obere  Klassen  der  Gymna- 
sien, die  in  Norddeutschland  ziemlich  unbekannt  sein  dürften,  haben  in  der 
6.  Auflage  (Wien  1907,  A.  Holder,  VI  u.  302  S.,  geb.  3  kr.  20  h.)  durch  J.Dorsch 
und  J.  Fritsch  eine  Neubearbeitung  erfahren,  die  ihren  Wert  zweifellos  erhöht 
hat.  An  die  Stelle  der  „Vorübungen",  in  denen  an  lateinischen  Sätzen  die  Regeln 
der  Stilistik  zur  Anschauung  gebracht  wurden,  und  der  im  ganzen  Buche  zer- 
streuten stilistischen  und  synonymisch-phraseologischen  Anmerkungen  ist  ein  sach- 
lich, bzw.  alphabetisch  geordneter  Anhang  getreten,  auf  den  in  den  Aufgaben  fort- 
laufend verwiesen  wird,  und  ferner  ist  die  Übersetzungsarbeit  durch  Fußnoten  und 
Direktiven  im  Texte  und  besonders  durch  ein  reichhaltiges  Wörterverzeichnis  er- 
leichtert worden.  Die  Verbesserungen  würden  uneingeschränktes  Lob  verdienen, 
wenn   der  Anhang   übersichtlicher  geordnet   und  in  der  Auswahl  mehr  Maß  ge- 

•)  Vgl.  Jahrgang  VII.,  S.  181  ff. 


Lateinische  Übungsbücher  und  Grammatiken.  379 

halten  worden  wäre.  Der  bisherige  Übersetzungsstoff  ist  teils  gekürzt,  teils  durch 
Aufnahme  einer  Reihe  von  Aufgaben,  die  sich  an  die  Klassenlektüre  anschließen, 
erweitert  worden;  auch  haben  sich  die  Herausgeber  bemüht,  den  deutschen  Aus- 
druck zu  bessern,  infolgedessen  man  selten  noch  auf  Latinismen  stößt.  Wenn 
nun  auch  durch  all  diese  Änderungen  das  Buch  an  Brauchbarkeit  gewonnen  hat 
und  mit  Nutzen  verwandt  werden  kann,  so  zeichnet  es  sich  doch  nicht  so  sehr 
durch  seine  Eigenschaften  aus,  daß  es  den  in  Norddeutschland  gebrauchten  Hilfs- 
mitteln vorgezogen  zu  werden  verdiente. 

Bei  den  weit  verbreiteten  Ostermannschen  Übungsbüchern  haben  sich  im 
Laufe  der  Zeit  Änderungen  als  wünschenswert  herausgestellt,  die  bei  einer  neuen 
Auflage  aus  praktischen  Gründen  nicht  vorgenommen  werden  konnten  und  zur 
Herstellung  einer  besonderen  Ausgabe  C  geführt  haben.  Während  die  beiden 
ersten  Teile  von  H.  J.  Müller  und  G.  Michaelis  bearbeitet  worden  sind  (vgl.  Jahr- 
gang V,  S.  531  f.),  hat  die  Neubearbeitung  der  übrigen  Teile  der  Berichterstatter 
auf  Wunsch   des  bisherigen  Herausgebers  und  der  Veriagshandlung  übernommen. 

Zuerst  ist  erschienen  der  für  Obersekunda  und  Prima  bestimmte  fünfte 
Teil  (Leipzig  und  Berlin  1908,  B.  G.  Teubner,  VIII  u.  400  S.,  geb.  3  M.),  dessen 
Umgestaltung  seinem  Verfasser  besonders  notwendig  erschien.  Ich  habe  mich  zu- 
nächst bemüht,  den  Übungsstücken  die  ihnen  noch  anhaftende  lateinische  Färbung 
im  Ausdruck  und  Satzbau  zu  nehmen,  und  infolgedessen  ist  vielfach  an  Stelle 
des  subordinierenden  Satzbaues  und  verbaler  Wendungen  Koordination  und  nomi- 
nale Ausdrucksweise  getreten;  noch  häufiger  ist  das  aber  geschehen,  damit  der 
Schüler  durch  die  Verschiedenartigkeit  der  lateinischen  und  deutschen  Ausdrucks- 
weise zu  Umformungen  genötigt  werde.  Nach  Form  oder  Inhalt  weniger  ergiebige  Ab- 
schnitte sind  durch  Ausschaltung,  Ergänzung,  Zusammenziehung  und  durch  sonstige 
Änderungen  fruchtbarer  gemacht  worden,  und  auch  sonst  zeigen  die  Aufgaben 
nach  der  sachlichen  Seite  sehr  viele  kleinere  oder  größere  Umgestaltungen.  Wenn 
infolge  der  sprachlichen  Umformung  des  Textes  die  Denkkraft  des  Schülers  jetzt 
mehr  als  bisher  in  Anspruch  genommen  werden  wird,  so  ist  doch  auch  die  Zahl 
der  Übersetzungshilfen  in  Form  von  besonderen  Zeichen  oder  Verweisungen  auf 
den  Anhang  oder  die  Grammatik  vermehrt.  Die  „Phraseologie"  hat  eine  voll- 
ständige Umarbeitung  erfahren.  Um  eine  systematische  Behandlung  und  bessere 
Einprägung  der  in  den  Anmerkungen  der  Phraseologie  zerstreuten  stilistischen 
Regeln  und  synonymischen  Unterscheidungen  zu  ermöglichen,  sind  die  ersteren 
in  Form  deutsch-lateinischer  Beispiele,  nach  den  Kategorien  der  Grammatik  ge- 
ordnet, die  letzteren  in  alphabetischer  Reihenfolge,  beide  Gruppen  nicht  unwesent- 
lich verändert,  vor  bzw.  hinter  die  Wortkunde  gestellt  worden.  In  dieser  ist,  da- 
mit der  Schüler  nach  einem  unbekannten  Ausdruck  nicht  an  zwei  verschiedenen 
Stellen  zu  suchen  braucht,  die  eigentliche  Phraseologie  mit  dem  früheren  Wörter- 
verzeichnis in  der  Weise  vereinigt,  daß  sich  in  der  oberen  Hälfte  der  Seiten  die 
einzuprägenden  wichtigeren  Wendungen,  nach  einem  einheitlichen  Prinzip  geordnet, 
verzeichnet  finden,  während  die  untere  Hälfte  in  kleinerem  Druck  die  alphabetisch 
entsprechenden  sonstigen  Wörter  und  Wendungen  enthält,  die  für  die  Übersetzung 
der  Aufgaben  erforderiich  sind.  Außerdem  ist  die  Phraseologie  einer  sorgfältigen 
Nachprüfung   unterzogen   worden,   und   zahlreiche  Ausscheidungen,   Einfügungen 


380  H.  Fritzsche, 

und  andere  Änderungen  sind  erfolgt;  ebenso  ist  das  frühere  Wörterverzeichnis  er- 
heblich Vermehrt. 

Auch  der  später  erschienene,  für  Quarta  bestimmte  dritte  Teil  (Leipzig  und 
Berlin  1909,  B.  G.  Teubner,  IX  u.  310  S.,  geb.  2,40  M.)  unterscheidet  sich  wesent- 
lich von  der  Ausgabe  A.  Im  „ Lesebuche "  zeigt  fast  jedes  Stück,  teils  in  sprach- 
licher, teils  in  sachlicher  Hinsicht,  kleinere  oder  größere  Änderungen,  besonders 
gilt  dies  von  „Alexander"  und  den  „Punischen  Kriegen".  Noch  umfangreicher 
und  einschneidender  sind  die  Änderungen  im  eigentlichen  „Übungsbuche".  Aus 
didaktischen  Gründen  sind  einige  besser  für  Tertia  aufzusparende  Regeln  aus- 
geschieden, andere,  besonders  die  in  Quarta  vorwegzunehmenden  Regeln  aus  der 
Syntax  des  Verbs,  sind  an  eine  andere  Stelle  gerückt.  Vor  allem  sind  aber  die 
Stücke  selbst  verändert.  Zunächst  habe  ich  mich  bemüht,  der  auch  auf  dieser 
Stufe  durchaus  berechtigten  Forderung,  nur  gutes  Deutsch  im  Ausdruck  und  Satz- 
bau zu  bieten,  mehr,  als  es  bisher  geschehen  ist,  gerecht  zu  werden.  Dann  aber 
bin  ich  bestrebt  gewesen,  nicht  nur  zur  Einübung  der  Regeln  genügenden  Stoff 
zu  liefern,  sondern  auch  fortgesetzt  Gelegenheit  zu  bieten,  die  geübten  Regeln 
wieder  aufzufrischen  und  zu  befestigen.  Zu  diesem  Zwecke  sind  sowohl  die 
Einzelsätze,  besonders  aber  die  zusammenhängenden  Stücke  vielfach  durch  Er- 
weiterung oder  sonstige  Änderungen  fruchtbarer  gemacht  oder  durch  zweckmäßigere 
ersetzt  worden.  Um  endlich  zu  verhüten,  daß  in  einer  Reihe  aufeinanderfolgender 
Sätze  dieselbe  Regel  in  fast  mechanischer  Weise  angewandt  werde,  habe  ich  die 
Reihenfolge  der  Sätze  vielfach  geändert  und  häufiger  mehrere  Regeln  in  einem 
Stücke  zusammengefaßt.  Die  zum  „Lesebuch"  gehörige  „Präparation"  ist  eines- 
teils durch  Ausscheidung  alles  dessen,  was  dem  Quartaner  aus  den  vorausgehenden 
Teilen  des  Übungsbuches  oder  aus  der  Grammatik  bekannt  sein  muß,  verkürzt, 
andernteils  durch  syntaktische  Angaben  erweitert,  das  „Wörterverzeichnis"  zum 
„Übungsbuche"  auch  auf  die  Einzelsätze  ausgedehnt  und  erheblich  vermehrt 
worden.  Den  Schluß  der  „Wortkunde"  bildet  eine  Zusammenstellung  der  in  den 
unteren  Klassen  gelernten  und  in  der  Quarta  häufiger  vorkommenden  Phrasen  in 
übersichtlicher  Anordnung  und  ein  Verzeichnis  der  wichtigsten  Synonyma,  auf 
das  in  den  Übungsstücken  verwiesen  wird.  Endlich  ist  der  „grammatische  An- 
hang" völlig  umgearbeitet.  Die  bisher  teils  vor  den  einzelnen  Übungsstücken, 
teils  im  Anhang  aufgeführten  Regeln  und  die  am  Schlüsse  des  Übungsbuches 
verzeichneten  „ausgewählten  Musterbeispiele"  habe  ich  vereinigt,  und  zwar  sind, 
um  das  lästige  Umlernen  in  Tertia  zu  vermeiden,  die  Regeln  und  Beispiele  mög- 
lichst in  der  Form  gegeben,  wie  sie  sich  in  der  Ausgabe  C  der  Grammatik  finden. 
Die  am  Schluß  zugefügten  stilistischen  Regeln,  auf  die  gleichfalls  in  den  Über- 
setzungsaufgaben verwiesen  wird,  sollen  die  mit  Recht  gestellte  Forderung  er- 
füllen, mit  der  Stilistik  nicht  erst  in  Sekunda  zu  beginnen. 

Thieme,  K.,  Scribisne  litterulas  latinas?  (Dresden  und  Leipzig  1908, 
Kochs  Verlagsbuchhandlung,  VIII  u.  122  S.,  1,60  M.),  eine  Anweisung,  moderne 
Postkarten  in  lateinischer  Sprache  zu  schreiben,  dürfte  selbst  außerhalb  der  Schule 
keinen  Anklang  finden,  und  ich  erwähne  das  Buch  nur  der  Kuriosität  wegen. 

Siedentop,  L.,  Lateinische  Formenlehre  nebst  zahlreichen  Übungsaufgaben 
(Leipzig  1909,  H.  Bredt,  168  S.,  1,60  M.)  kann,  da  die  Übungsaufgaben  nur  in  ein- 


Lateinische  Übungsbücher  und  Grammatiken.  381 

zelnen  Formen  bestehen,  bloß  für  häusliche  Übungen  unter  Kontrolle  eines  Latein- 
kundigen in  Betracht  kommen. 

Hesselbarth,  H.  und  Wibbe,  H.,  Lateinische  Syntax  für  Reform-Real- 
gymnasien (Gotha  1909,  Perthes,  VII  u.  83  S.,  1,25  M.)  steht  in  der  Kasuslehre, 
was  die  Auswahl  und  Anordnung  des  Stoffes  sowie  die  Verständlichkeit  und  Ge- 
nauigkeit der  Regeln  angeht,  hinter  den  neueren  Schulgrammatiken  zurück,  und 
die  Behandlung  der  Satzlehre  entspricht,  ganz  abgesehen  von  der  Ungenauigkeit 
nicht  weniger  Regeln,  sowenig  der  Fassungskraft  der  Schüler  und  besonders  dem 
praktischen  Bedürfnis,  daß  wohl  wenige  Anstalten  es  wagen  werden,  mit  diesem 
Buche  einen  Versuch  zu  machen.  Dagegen  wird  gerade  der  eigentümliche  Auf- 
bau der  Satzlehre*)  für  den  Lehrer  von  Interesse  sein,  und  manches  wird  er  ge- 
legentlich auch  den  Schülern  auf  einer  höheren  Stufe  vorführen  können. 

Auch  das  eigenartige  Werk  von  A.  Döhring,  Deutsch-lateinische  Satz- 
lehre für  Schulen  (Königsberg  i.  Pr.  1908,  Gräfe  u.  Unzer  Verlag,  VIII  u.  177  S., 
geb.  2,60  M.)  wird  sich  im  Schulunterricht  nicht  verwenden  lassen.  Der  Verfasser 
geht  durchweg  von  der  deutschen  Ausdrucksweise  aus  und  zeigt  in  überaus  zahl- 
reichen Beispielen,  wie  die  einzelnen  deutschen  Satzteile,  Wortarten  und  Wendungen 
im  Lateinischen  wiedergegeben  werden.  Verwendbar  wäre  das  Buch  nur  nach  Er- 
ledigung der  elementaren  Syntax;  aber  da  fehlt  es  wieder  an  Zeit,  um  den  über- 
reichen Stoff  durchzuarbeiten.  Für  den  Lehrer  der  oberen  Klassen  aber  wie,  über- 
haupt für  den  Philologen,  bietet  die  fleißige,  selbständige  Arbeit  des  Interessanten 
genug. 

In  einer  Besprechung  von  H.  J.  Müller  und  G.  Michaelis,  Lateinische  Satzlehre 
zum  Gebrauche  in  Reformschulen  (Jahrgang  IV,  S.  689 f.)  hatte  ich  es  für  not- 
wendig erklärt,  die  Müllersche  Schulgrammatik,  von  der  die  Satzlehre  nur  eine 
wenig  veränderte  Sonderausgabe  war,  einer  Umgestaltung  zu  unterziehen,  die  be- 
sonders auch  die  große  Weitschweifigkeit  beseitigen  müsse.  Diese  Umarbeitung 
ist  inzwischen  auf  Wunsch  des  Verfassers  und  der  Verlagshandlung  vom  Bericht- 
erstatter in  der  Ausgabe  C  der  Müllerschen  Grammatik  vorgenommen  worden 
(vgl.  Jahrgang  VII,  S.  184).  Jetzt  hat  nun  Michaelis  auch  eine  verkürzte  Aus- 
gabe der  oben  erwähnten  Satzlehre  erscheinen  lassen  (Michaelis,  G.,  Lateinische 
Satzlehre.  Verkürzte  Ausgabe.  Leipzig  und  Berlin  1909,  B.  G.  Teubner, 
V  u.  124  S.,  geb.  1,40  M.),  in  der  nicht  nur  „alles  mit  dem  Deutschen  Über- 
einstimmende, Unwesentliche  und  selten  Vorkommende  ausgeschieden,  das  Wichtige 
durch  übersichtliche  Gruppierung  und  verschiedenen  Druck  hervorgehoben",  son- 
dern auch  die  (den  Regeln  vorausgeschickten)  Beispiele  auf  ein  Mindestmaß  be- 
schränkt und  die  Regeln  unter  Verzicht  auf  eine  Erklärung  der  grammatischen  Er- 
scheinungen „so  kurz  gefaßt  worden  sind,  als  es  möglich  war,  ohne  der  deutschen 
Sprache  Gewalt  anzutun".  Zweifellos  hat  der  Verfasser  damit  ein  brauchbares 
Lernbuch  geschaffen,  das  für  Realgymnasien  im  allgemeinen  ausreichen  wird,  für 


♦)  Das  verbum  finitum  z.  B.  wird  in  folgender  Anordnung  behandelt:  Konjunktiv  in 
Hauptsätzen,  Konjunktiv  in  Nebensätzen  entsprechend  dem  Gebrauch  in  Hauptsätzen,  Tem- 
pora des  Konjunktivs,  Konjunktiv  ausgedehnt  auf  Wirklichkeitssätze,  Tempora  des  Kon- 
junktivs in  Wirklichkeitssätzen,  Imperativ,  Indikativ,  Tempora  des  Indikativs,  Abweichung 
vom  Deutschen  in  Anwendung  der  Tempora. 


382  F.  Hock, 

Gymnasien  freilich  nicht  genügt,  zumal  die  Stilistik  keine  Berücksichtigung  ge- 
funden hat.  An  manchen  Stellen  ist  der  Verfasser  allerdings  in  seinem  Streben 
nach  Kürze  zu  weit  gegangen,  und  man  vermißt  hier  eine  Regel.  An  noch  mehr 
Stellen  aber  entbehren  die  Regeln  die  erforderliche  Genauigkeit  und  Richtigkeit, 
und  im  Interesse  der  Sache  wäre  es  zu  wünschen  gewesen,  wenn  der  Verfasser, 
der  offenbar  in  vielen  und  zum  Teil  wesentlichen  Punkten  sich  der  Darstellung  der 
Ausgabe  C  angeschlossen  hat,  noch  an  anderen  Stellen  die  Fassung  der  größeren 
Ausgabe  angenommen  hätte.  Eine  Umarbeitung  bedarf  der  Abschnitt  über  die 
lateinische  Periode,  der  unverändert  aus  der  Originalausgabe  übernommen  worden 
ist.  Ganz  neu  sind  in  der  Satzlehre  die  steten  Hinweisungen  auf  die  französische 
und  englische  Sprache,  die  der  Verfasser  der  Mitarbeit  von  K.  Rudolph  verdankt. 
Natürlich  muß  es  dem  Takt  des  Lehrers  überlassen  werden,  wie  weit  und  zu 
welcher  Zeit  er  auf  die  Ähnlichkeiten  und  Verschiedenheiten  der  modernen  Fremd- 
sprachen eingehen  will. 

Berlin.  H.  Fritzsche. 


Schriften  aus  dem  Gesamtgebiet  der  Biologie  und  ihrer  Behandlung 

im  Unterricht. 

Als  wertvollstes  Werk  für  die  Methode  des  naturkundlichen  Unterrichts  sei  in 
diesem  Sammelbericht  vorangestellt: 

Der  moderne  Naturgeschichtsunterricht.  Beiträge  zur  Kritik  und  Aus- 
gestaltung. Von  A.  Ginzberger,  P.  Kammerer,  F.  Kossmat,  W.  A.  Lay, 
L.  V.  Portheim,  K-  C.  Rothe,  A.  Umlauft,  E.  Walther  und  F.  Werner. 
Herausgegeben  von  K.  C  Rothe.  Wien  u.  Leipzig  1908.  F.  Tempsky  &  G.  Freytag. 
235  S.    80.    Mit  12  Abbildungen.    Geh.  5  M. 

Wie  aus  der  großen  Zahl  von  Verfassern  hervorgeht,  ist  es  nicht  so  ein  ein- 
heitliches Werk  wie  das  im  vorigen  Sammelbericht  (Monatschr.  VII,  S.  248  ff.) 
besprochene  Werk  von  Bastian  Schmid.  Dafür  sind  aber  Einzelfragen  um  so 
genauer  behandelt.  Das  Werk  zerfällt  in  zwei  Hauptteile,  einen  allgemeinen,  „Ge- 
schichte, Kritik  und  Grundsätze  der  Methodik  des  Naturgeschichtsunterrichts" 
von  Lay,  und  einen  von  verschiedenen  Verfassern  bearbeiteten  speziellen  Teil. 
Im  ersten  Teil  wird  nach  einem  einleitenden  Abschnitt  über  „das  didaktische 
Grundprinzip  als  Grundlage  der  Kritik"  eine  reichlich  30  Seiten  einnehmende 
„Geschichte  der  Methodik,  im  Zusammenhang  mit  Biologie,  Geologie  und  Philo- 
sophie" gegeben  und  dann  auf  die  Mängel  und  Gefahren  der  Reformbestrebungen 
hingewiesen.  Dieser  letzte  Abschnitt  ist  besonders  wichtig.  Es  wird  vor  allem 
darauf  hingewiesen,  daß  die  Stoffbehandlung  je  nach  der  Natur  der  Schüler  ver- 
schieden sein  muß,  daß  aber  immer  von  der  Anschauung  auszugehen  ist.  Ebenso 
enthält  der  Abschnitt  beachtenwerte  AnhaltspunHte  über  die  Anfertigung  von 
Schulbüchern  für  den  biologischen  Unterricht.  Der  spezielle  Teil  des  Buches  ent- 
hält die  Behandlung  zahlreicher  Einzelfragen  aus  der  Biologie.  Da  alle  aufzu- 
zählen nicht  möglich  ist,  seien  hervorgehoben: 

Rothe,  „Über  Schutz-,  Warnfarben,  Mimikry  und  Signale". 


Schriften  aus  dem  Gesamtgebiet  der  Biologie  usw.  383 

Rothe  u.  Kossmat,  „Mehr  Geologie"  und  „Geologie  im  Geographie- 
unterrichte". 

Das  ganze  Werk  sei  für  Lehrerbibliotheken  bestens  empfohlen. 

Ähnlich  aus  Arbeiten  verschiedener  Verfasser  zusammengesetzt  ist: 

Pieper,  G.  R.,  Beiträge  zur  Methodik  des  biologischen  Unterrichts. 
Gesammelte  Abhandlungen  Hamburgischer  Lehrer.  Leipzig  und  Berlin  1908. 
B.  G.  Teubner.    IV  u.  96  S.    gr.  8«.     1,50  M. 

Wie  im  vorher  genannten  Buch  wird  hier  auch  über  naturkundliche  Ausflüge, 
über  das  Zeichnen  im  biologischen  Unterricht,  doch  noch  über  zahlreiche  weitere 
Fragen  verhandelt,  aber  in  diesem  Falle  wesentlich  mit  Rücksicht  auf  die  Volks- 
schule. Trotzdem  hat  auch  diese  kleine  Schrift  natürlich  Interesse  ebenfalls  für 
Biologen  an  höheren  Schulen.    Ähnlich  steht  es  mit: 

Thomas,  P.,  16  Lektionen  zur  Einführung  in  die  Pflanzenphysio- 
logie. Für  Volks-  und  höhere  Schulen.  Annaberg  i.  Erzgebirge  1908.  Grasers 
Verlag.    74  S.    8«.    1,60  M. 

Wie  es  bei  Lehrproben  aber  vielfach  der  Fall  ist,  setzen  diese  auch  Schüler 
voraus,  die  über  das  Mittelmaß  hinausgehen.  Erklärungen,  wie  die  über  Nahrungs- 
mittel auf  S.  6,  oder  wie  die  über  die  Tätigkeit  der  grünen  Farbkörner  auf  S.  38, 
wird  ein  Durchschnittsschüler  nicht  liefern.  Trotzdem  vermögen  natürlich  diese 
schriftlichen  Lehrproben  wohl  für  den  Unterricht  anzuregen. 

Weit  über  die  Interessen  des  Naturwissenschafters  hinaus  geht: 

Flatt,  R.,  Der  Unterricht  im  Freien  auf  der  höheren  Schulstufe. 
Mit  durchgeführten  Beispielen  aus  verschiedenen  Unterrichtgebieten  (Naturwissen- 
schaften und  Geographie,  Zeichnen  und  Mathematik,  Geschichte  und  Sprachen, 
körperlicher  Erziehung).  In  Verbindung  mit  Lehrern  der  oberen  Realschule  zu 
Basel  herausgegeben  vom  Rektor  dieser  Anstalt.  Frauenfeld.  Huber  &  Co.  V  u. 
146  S.  8".  Mit  einer  Exkursionskarte  der  Nordwestschweiz,  einer  geologischen 
Reisekarte  der  Schweiz  und  neun  geologischen  Profilen.     3,50  M. 

Für  diesen  Bericht  kommt  außer  der  Einleitung  über  „die  pädagogische  Be- 
deutung der  Klassen-Ausflüge  auf  der  höheren  Schulstufe"  wesentlich  der  erste 
Abschnitt  über  „botanische  Exkursionen"  in  Betracht.  Auf  diesen  sind  die  einzelnen 
gesammelten  Pflanzen  nach  Standorten  geordnet.  Doch  vermißt  Unterzeichneter 
einen  Hinweis  auf  Bestäubungsbeobachtungen,  die  doch  auf  jedem  Ausflug  ge- 
macht werden  können,  wenn  auch  nicht  von  der  ganzen  Klasse,  so  doch  von  ein- 
zelnen sich  heranschleichenden  Beobachtern.  Sehr  geeignet  sind  Ausflüge  wie 
die  geschilderten  zur  Einführung  in  die  Pflanzengeographie  der  Heimat,  zumal 
wenn  sie,  wie  hier,  durch  geographische  und  geologische  Exkursionen  unterstützt 
werden.  Am  Schluß  sind  anch  „kombinierte  Klassenausflüge  im  Dienste  ver- 
schiedener Unterrichtsfächer  unter  Leitung  eines  oder  mehrerer  Lehrer"  geschildert. 
Hierbei  werden  auch  Beobachtungen  aus  der  Tierkunde  gemacht.  Der  am  Schluß 
mitgeteilte  Unterrichtsplan  der  Realschule  zu  Basel  zeigt,  daß  die  Naturgeschichte 
da  mit  mehr  Stunden  bedacht  ist  als  bei  uns  an  entsprechenden  Schulen. 

Als  Neuauflage  eines  Schulbuches  sei  kurz  genannt: 

Schtneil  u.  Fitschen,  Flora  von  Deutschland.  Ein  Hilfsbuch  zum  Be- 
stimmen  der  zwischen   den   deutschen  Meeren  und  den  Alpen  wildwachsenden 


384  C.  Hock, 

und  angebauten  Pflanzen.  Leipzig  1909.  Quelle  &  Meyer,  5.  Aufl.  4i8  S.  8«. 
Mit  587  Abb.    Geb.  3,80  M. 

Es  ist  ein  unveränderter  Abdruck  der  Monatschrift  VII,  S.  252  besprochenen  Arbeit. 

In  vollkommen  neuer  Bearbeitung,  so  daß  sie  fast  alsNeuerscheinungen  angesehn 
werden  können,  liegen  zwei  Lehrbücher  für  den  Schulunterricht  vor.  Am  meisten 
von  der  früheren  Ausgabe  unterscheidet  sich  von  ihnen: 

Bokorny,  Th.,  Lehrbuch  der  Botanik  für  Oberrealschulen  und 
Realschulen.  Im  HinbUck  auf  den  neuen  (1907),  vom  K.  B.  Ministerium  auf- 
gestellten Lehrplan  für  die  Schulen  bearbeitet.  Leipzig  1908,  W.  Engelmann. 
Teil  I.    VI  u.  366  S.    8».    4  M.    Teil  II.    233  S.    8«.    3  M, 

Gegenüber  der  älteren  Ausgabe  von  1898,  die  auch  gleichzeitig  für  Gymnasien 
bestimmt  war,  ist  das  Buch  mehr  als  verdoppelt;  denn  es  umfaßte  damals  nur  einen 
Band  von  226  S.  Diese  starke  Erweiterung  ist,  wie  Verfasser  ausdrücklich  hervorhebt, 
mit  Rücksicht  auf  die  Einführung  pflanzenkundlichen  Unterrichts  auf  der  Oberstufe 
vorgenommen.  Da  ein  solcher  Unterricht  auch  bei  uns  jetzt,  wenn  auch  nicht  vorge- 
schrieben, so  doch  erlaubt  ist,  verdient  das  Werk  sicher  unsere  Beachtung.  Da  es  bei 
uns  in  Preußen  wohl  wenig  bekannt  ist,  sei  erst  kurz  seine  Gesamteinrichtung  er- 
wähnt. Das  Werk  beginnt,  wie  in  der  ersten  Auflage,  mit  Beschreibung  einzelner 
Pflanzenarten;  doch  ist  im  Gegensatz  zur  ersten  Auflage  diese  benutzt  zur  all- 
mählichen Einführung  in  die  Lehre  von  der  Pflanzengestalt  und  dem  Pflanzen- 
leben, ähnlich  wie  viele  auch  bei  uns  bekannte  methodische  Bücher  verfahren. 
Wie  bei  diesen  oft  schon  herrvorgehoben,  hat  es  natürlich  auch  seine  Schattenseiten, 
solche  allgemeinen  Erörterungen  an  einzelne  Pflanzenarten  im  Lehrbuch  zu  binden, 
während  im  Unterricht  unbedingt  die  Einzelbeschreibungen  zur  allmählichen  Ein- 
führung in  die  allgemeine  Pflanzenkunde  zu  benutzen  sind.  Durch  diese  Ver- 
teilung der  „Erläuterungen",  wie  wir  solche  allgemeinen  Bemerkungen  zu  benennen 
pflegen,  wurde  der  in  erster  Auflage  vorhandene  zweite  Abschnitt  über  die  äußere 
Gliederung  der  Pflanze  überflüssig;  und  es  schließt  sich  sofort  ein  solcher  über 
Anatomie  an,  der  aber  eher  etwas  gekürzt  als  erweitert  ist,  gegenüber  der  früheren 
Ausgabe.  Stark  erweitert  ist  dagegen  der  folgende  Abschnitt  „Systematische 
Übersicht  des  Pflanzenreiches",  in  der  mit  Recht  das  System  von  Engler  zu- 
grunde gelegt  wird.  Den  sonst  anhangsweise  anschließenden  Abschnitt  über  das 
Linne'sche  System  würde  ich  lieber  in  einem  Schulbuch  vermissen,  wie  ich  es 
allgemein  im  Pädagogischen  Archiv  1906,  S.  455  ff,  dargelegt  habe;  aber  es  gibt 
ja  immer  noch  Lehrer,  die  für  nötig  halten,  darauf  näher  einzugehen.  Daran  schließt 
sich  als  letzter  Abschnitt  des  ersten  Teils  der  ursprünglich  das  ganze  Werk  ab- 
schließende Bestimmungsschlüssel  häufiger  Decksamer,  der,  wie  es  bei  solchen 
Schlüsseln  immer  der  Fall  ist,  den  Nachteil  hat,  daß  der  Schüler  manche  Arten  ver- 
geblich sucht,  trotzdem  sie  in  einigen  Gegenden  häufig  sind,  aber  ja  auch  nur  für 
Bestimmungsübungen  unter  Leitung  des  Lehrers  dienen  soll.  Der  zweite  Teil  des 
Werks  beginnt  mit  einem  Abschnitt  über  Morphologie,  der  zum  Teil  den  ursprüng- 
lich zweiten  Abschnitt  des  ganzen  Werks  ersetzt,  aber  mit  Recht  stark  gekürzt 
ist.  Dann  folgt  ein  Abschnitt  über  Physiologie  (u.  Anatomie),  sowie  einer  über 
Ökologie,  von  denen  namentlich  der  letzte  gegen  die  frühere  Ausgabe  mit  Recht  stark 
erweitert  ist.    Den  Schluß  des  ganzen  Werks  (mit  Ausschluß  des  Registers)  bildet 


Schriften  aus  dem  Gesatntgebiet  der  Biologie  usw.  385 

ein  Abschnitt,  der  „Einiges  aus  der  Pflanzengeographie"  behandelt,  im  Wesent- 
lichen eine  Schilderung  der  Pflanzenwelt  der  Erde  auf  Grundlage  von  Englers 
pflanzengeographischer  Einteilung  der  Erde  gibt.  Die  Einzelaufzählung  einiger 
pflanzengeographischer  Provinzen  ohne  Anführung  von  Leitpflanzen  hat  für  ein 
Schulbuch  keinen  Wert.  Wo  Leitpflanzen  genannt  sind,  hätten  solche  kurz  ge- 
kennzeichnet werden  müssen.  Sonst  verdient  auch  dieser  Abschnitt,  wenn  auch 
nicht  in  so  hohem  Maße,  wie  die  vorangehenden  Abschnitte  des  zweiten  Teils 
durchaus  unsere  Anerkennung.  Dieser  zweite  Teil  des  Werkes  ist  es  hauptsäch- 
lich, den  ich  den  Fachgenossen  in  Preußen  zur  eigenen  Benutzung  empfehlen 
möchte,  wenn  sie  biologischen  Unterricht  auf  der  Oberstufe  erteilen:  denn  er  ist 
nach  guten  Quellen  bearbeitet,  behandelt  den  Stoff  schulgemäß  und  doch  richtig, 
künstelt  nicht  und  weicht  nicht  von  den  Ergebnissen  der  Wissenschaft  ab,  nur 
um  dem  Schüler  eine  Ansicht  klar  zu  machen. 

In  dieser  Beziehung  ist  eine  Art  Gegenstück  aus  dem  Gebiete  der  Tierkunde 
zu  diesem  Werk,  wenn  auch  in  ganz  anderer  Einrichtung,  das  andere  in  neuer 
Bearbeitung  vorliegende  Schulbuch: 

Matzdorff,  C,  Tierkunde  für  den  Unterricht  an  höheren  Lehr- 
anstalten. Ausgabe  für  Gymnasialanstalten.  5  Teile  in  3  Bänden.  Erster 
Band:  Lehrstoff  der  Sexta  und  Quinta  (Die  Wirbeltiere).  255  S.  8».  Mit  134 
Abbildungen  in  Schwarz-  und  Farbendruck.  2,20  M.  —  Zweiter  Band:  Lehrstoff 
der  Quarta  und  Untertertia  (Die  Wirbellosen).  320  S.  8».  Mit  118  Abbildungen 
in  Schwarzdruck,  sowie  zwei  Tafeln  und  einer  Karte  in  vielfachem  Farbendruck. 
2,80  M.  —  Dritter  Band:  Lehrstoff  der  Obertertia  (Der  Mensch).  127  S.  8«. 
Mit  85  Abbildungen  in  Schwarzdruck,  sowie  fünf  Tafeln  und  einer  Karte  in  viel- 
fachem Farbendruck.    Breslau  1907.    F.  Hirt.     1,50  M. 

Die  Ausgabe  für  Realanstalten,  welche  4Vt  Jahre  früher  erschien,  wurde  von 
F.  Weiß  in  dieser  Monatschrift  (III,  1904,  S.  222 f.)  besprochen  und  ihrer  ganzen 
Anlage  nach  empfohlen.  Nur  am  Satzbau  wurde  von  dem  dortigen  Berichterstatter 
manchedei  getadelt.  Die  dort  als  schwer  verständlich  oder  falsch  bezeichneten 
Sätze  habe  ich  sämtlich  in  beiden  Ausgaben  verglichen  und  meist  gefunden,  daß 
Verfasser  sie  in  der  neuen  Ausgabe  verbessert  hat,  wenn  auch  nicht  in  jedem 
Einzelfall,  da  er  offenbar  nicht  immer  mit  dem  dortigen  Berichterstatter  gleicher 
Ansicht  ist.  Aber  auch  an  vielen  anderen  Stellen  finden  wir  wesentliche  Ände- 
rungen im  Text,  die  nur  zum  geringen  Teil  durch  den  Fortschritt  der  Wissenschaft 
bedingt  sind,  großenteils  auf  dem  Bestreben  des  Verfassers  nach  möglichster  Klar- 
heit der  Darstellung  beruhen.  Dennoch  kann  ich  aus  eigner  Erfahrung  sagen,  daß 
auch  im  allgemeinen  schon  die  Ausgabe  für  Realanstalten  klar  geschrieben  ist.  Seit 
reichlich  einem  Jahr  benutze  ich  sie  bei  meinem  Unterricht  und  finde,  daß  im  ganzen 
die  Schüler  sie  gern  benutzen,  auch  selbständig  darin  lesen,  sie  also  sicher  ver- 
stehen. Wie  schon  Weiß  hervorhebt,  enthält  nämlich  das  Buch  mehr  als  den 
nötigen  Lehrstoff.  Selbst  auf  Oberrealschulen  wird  man  kaum  allen  Lehrstoff  be- 
wältigen können,  und  dies  gilt  auch  für  die  Gymnasialausgabe.  Aber  das  soll 
auch  der  Fall  sein.  Der  Lehrer  muß  Auswahl  haben,  da  nicht  überall  gleiche 
Anschauungsmittel  zur  Verfügung  stehen.  Wenn  aber  der  im  Unterricht  behandelte 
Stoff  so  dargelegt  ist,  daß  der  Schüler  ihn  wenigstens  zum  Teil  selbständig  liest, 

MonatKhrift  f.  höh.  Schulen,  VID.  Jhrg.  25 


386  F.  Höck, 

sich  daran  erfreut  und  weiterbildet,  dann  erfüllt  erst  das  Buch  ganz  seine  Auf- 
gabe. Aber  noch  für  einen  weiteren  Zweck  ist  die  Fülle  des  Stoffes  erwünscht^ 
nämlich  für  den  Unterricht  auf  der  Oberstufe,  wo  solcher  gegeben  wird;  denrj 
dieser  Unterricht  soll  nicht  neuen  Wissensstoff  in  die  Schüler  hineinpfropfen,  sondera 
nur  zur  Vertiefung  des  auf  der  Mittelstufe  zu  flüchtig  behandelten  Stoffes  dienen. 
Daher  braucht  man  bei  Ausdehnung  des  tierkundlichen  Unterrichts  auf  die  oberer» 
Klassen  kein  neues  Lehrbuch  einzuführen,  sondern  wird  in  diesem  noch  reichlichen 
Lehr-  und  Übungsstoff  finden.  Verfasser  selbst  hat  seit  mehreren  Jahren  in  der 
Prima  des  Lessing-Gymnasiums  zu  Berlin  Biologie  unterrichtet  und  da,  wie  er 
mir  mitgeteilt  hat,  für  die  Tierkunde  sein  Buch  benutzt.  Auch  von  der  Gymnasial- 
ausgabe werden  Bd.  2  u.  3  hierfür  vorzüglich  brauchbar  sein,  denn  sie  enthalten  so 
ausführliche  Abschnitte  über  allgemeine  Tierkunde  und  über  die  Lehre  vom 
Menschen,  daß  sie  sich  erst  dann  ganz  behandeln  lassen,  wenn  die  Schüler  über- 
haupt reifer  sind  und  vor  allem  mehr  Kenntnisse  aus  der  Physik  und  Chemie  be- 
sitzen, wie  ein  Tertianer  sie  haben  kann.  Für  eine  Neuauflage  aber  würde  ich 
Verfasser  raten,  lange  Namenaufzählungen  zu  meiden;  ein  Abschnitt  wie  der  letzte 
auf  S.  303  des  zweiten  Bandes  über  deutsche  Landtiere,  hat  gar  keinen  Wert.  — 
Wo  zur  Kennzeichnung  der  Tiergebiete  Einzelarten  genannt  werden,  muß  auf  ihre 
Beschreibung  hingewiesen  oder  diese  müssen  durch  Vergleich  mit  bekannten 
Tieren  kurz  gekennzeichnet  werden.  Sonst  verdient  dieses  Buch  in  jeder  Weise 
unbedingt  die  Anerkennung  der  Fachgenossen,  wie  sie  die  Realausgabe  vielfach 
gefunden  hat.  Namentlich  in  der  Richtigkeit  übertrifft  es  fast  alle  für  Schulen  vor- 
liegenden Lehrbücher  der  Tierkunde. 

Ein  ganz  eigenartiges  Lehrmittel,  das  vor  allem  zur  Unterstützung  des  natur- 
kundlichen Unterrichts  außerhalb  der  Schulen  bestimmt  ist,  stellen  dar: 

Schulz,  Georg  E.  F.,  Natururkunden.  Biologisch  erläuterte  photographische 
Aufnahmen  frei  lebender  Tiere  und  Pflanzen,  Berlin  1908.  Paul  Parey.  Heft  1 — 4. 
ä  Heft  (einzeln  käuflich)  1  M. 

Das  erste  dieser  Hefte  enthält  Darstellungen  von  Vögeln,  das  zweite  und 
dritte  solche  von  Sproßpflanzen  und  das  vierte  solche  von  Pilzen.  Jedes  Heft 
enthält  20  nach  Photographien  unmittelbar  und  schön  deutlich  hergestellte  Tafeln 
in  der  Größe  des  Buches;  das  eigentliche  Bild  ist  17:1172  cm  groß.  Da  die 
Bilder  unmittelbar  nach  der  Natur  aufgenommen  sind,  zeigen  sie  die  Tiere  oder 
Pflanzen  in  ihrer  natürlichen  Umgebung.  Das  ist  ein  großer  Vorzug,  den  sie  vor 
den  meisten  für  Schulzwecke  dargestellten  Bildern  haben.  Da  diese  meist  die 
Aufgabe  haben,  das  Tier  oder  die  Pflanze  möglichst  vielseitig  kennen  zu  lehren, 
sind  sie  oft  stark  gekünstelt.  Um  gleichfalls  verschiedene  Stellungen  oder  Ent- 
wicklungszustände  zu  zeigen,  hat  Verfasser  oft  mehrere  Aufnahmen  des  gleichen 
Wesens  gemacht.  So  stellt  er  das  Gänseblümchen  nachmittags  2  Uhr  (mit  ge- 
öffnetem Köpfchen),  morgens  7  Uhr  (mit  geschlossenem  Köpfchen)  dar,  die  ge- 
ruchlose Kamille  einmal  zwischen  betauten  Kleeblättern,  einmal  am  Rande  eines 
Roggenfeldes.  Die  Sturmmöwe  hat  er  brütend,  schreiend  und  seine  Eier  um- 
legend beobachtet  und  gibt  auf  einer  vierten  Tafel  noch  ein  Bild  von  ihrem  Nest 
mit  dem  Gelege.  Von  der  Stinkmorchel  liefert  er  vier  Abbildungen  in  verschie- 
denem Entwicklunofszustand.    Ähnlich  verfährt  er  bei  anderen  Tieren  und  Pflanzen.. 


Schriften  aus  dem  Gesamtgebiet  der  Biologie  usw.  387 

Da  auch  der  erläuternde  Text  gut  bearbeitet  ist,  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß  dieses 
Werk  recht  weite  Verbreitung  fände.  Es  ist  vor  allem  für  Schülerbiblotheken  zu 
empfehlen,  wird  dann  hoffentlich  auch  vielfach  von  Eltern  ihren  Kindern  ge- 
schenkt, denn  es  ist  ein  Werk,  das,  wie  wenige  andere,  fähig  ist,  Liebe  zur  Natur 
im  Kinde  zu  erwecken,  das  Schöne  in  der  Natur  ihm  vor  Augen  zu  stellen. 

Bezüglich  der  Pflanzentafeln  sei  noch  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  sie 
nicht  nur  Einzelarten,  sondern  diese  in  ihrer  Umgebung,  daher  also  Pflanzen- 
bestände und  zwar  aus  unserer  Heimat  darstellen.  Manche  könnten  wohl  die 
Unterlage  liefern,  auf  der  Bilder  von  Pflanzenbeständen  auch  für  den  Klassen- 
gebrauch angefertigt  würden. 

Solche  Bilder  bringen: 

Potoni^,  H.  und  Gothan,  W.,  Vegetationsbilder  der  Jetzt-  und  Vor- 
zeit. Tafel  I:  Laubwald  mit  Unterflora,  Tafel  II:  Verlandungsvegetation,  Tafel  III: 
Moorlandschaft  der  Steinkohlenzeit.  Eßlingen  und  München  1908.  J.  F.  Schreiber. 
(Jede  Tafel  unaufgezogen  4,50  M.,  auf  Leinwand  mit  Stäben  unlackiert  6,50  M., 
lackiert  7  M.,  begleitender  Text  0,30  M.) 

Die  letzte  Tafel  ist  eine  ähnliche,  aber  weit  billigere  Darstellung  wie  die  vor 
Jahren  über  den  gleichen  Gegenstand  von  Potoni^  im  Verlage  von  Gebr.  Born- 
träger (Berlin)  herausgegebene,  trotz  ihres  hohen  Preises  recht  bekannte  Tafel. 
Die  beiden  anderen  sind  in  Wandtafeldarstellung  ganz  neu,  zwar  gibt  es  wohl 
Vegetationsbilder,  aber  sie  sind  meist  Darstellungen  aus  fernen  Ländern  oder  sie 
sind  für  erdkundliche  Zwecke  bestimmt,  zeigen  daher  nur  massenhaft  gemeinsam 
wachsende  oder  einzelne  höhere,  daher  für  das  Landschaftsbild  bezeichnende 
Pflanzen.  Diese  stellen  eine  ganze  Reihe  von  Pflanzenarten  dar,  die  neben- 
einander leben  und  nebeneinander  deutlich  erkennbar  sind.  Das  erste  Bild  zeigt 
mehrere  unserer  wichtigsten  Laubwaldbäume  (Eiche,  Buche,  Birke,  Ahorn  u.  a.) 
neben  Sträuchern  (Hasel,  Hollunder  u.  a.),  Stauden  (Windröschen,  Hahnenfuß, 
Schlüsselblume  u.  a.)  und  Gräsern  in  dem  Zustand,  in  welchem  alle  im  mittleren 
Norddeutschland  etwa  Ende  Mai  oder  Anfang  Juni  erscheinen,  also  wie  sie  wirk- 
lich nebeneinander  stehen  könnten.  Wenn  daher  auch  das  Bild  keine  getreue 
Wiedergabe  der  Natur  ist,  wie  die  im  vorherbesprochenen  Werke,  so  ist  es  doch 
auch  nicht  soweit  gekünstelt  wie  viele  Schultafeln,  daß  es  Pflanzen  nebeneinander 
darstellte,  die  nirgends  nebeneinander  zugleich  in  dem  dargestellten  Zustande  vor- 
kämen. Ähnlich  steht  es  mit  Tafel  II.  Sie  stellt  ein  Flachlandmoor  etwa  aus 
gleicher  Gegend  im  Juli  dar.  Sie  zeigt  Röhrichtbestände  mit  Schilf  und  Schachtel- 
halm, eine  Insel  auf  Faulschlamm,  im  Hintergrunde  Erlen  und  Weiden,  die  ersten 
von  Hopfen  umgeben.  Zahlreiche  im  und  am  Wasser  lebende  Pflanzen  sind  zur 
Darstellung  gebracht,  so  daß  das  Bild  nicht  nur  zeigt,  wie  die  Pflanzenwelt  zur 
Landbildung  beiträgt,  sondern  auch  die  wichtigsten  unserer  Teich-  und  Moor- 
pflanzen in  ihrem  natürlichen  Wüchse  vorführt.  Es  sind  daher  die  vorliegenden 
Tafeln  das  beste  Lehrmittel  zur  Einführung  in  die  heimische  Pflanzengeographie, 
das  wir  bis  heute  besitzen,  sind  daher  aufs  angelegentlichste  für  die  Lehrmittel- 
sammlungen der  Schulen  zu  empfehlen.  Hoffentlich  folgen  weitere  ähnliche 
Tafeln,  etwa  von  norddeutschen  Strand-  und  Heidebeständen  bald  nach.  Zum 
Teil  könnte  das  vorher  besprochene  Werk  von  Schulz  dazu  eine  Unterlage  liefern^ 

25* 


388  F-  Hock, 

Jenem  Werke  von  Schulz  läßt  sich  an  die  Seite  stellen: 

Meerwarth,  H.,  Lebensbilder  aus  der  Tierwelt.  Sonderheft:  Das  Tier- 
bild der  Zukunft.  Leipzig  1908.  R.  Voigtländer.  60  S.  S^.  Mit  zahlreichen  Ab- 
bildungen.   0,40  M. 

Es  enthält  neben  einer  großen  Zahl  nach  Photographien  hergestellter  Ab- 
bildungen von  lebenden  Tieren  mit  ihrer  Umgebung  einige  wenige  Abschnitte  Text. 
Es  werden  nur  behandelt  „das  wilde  (es  müßte  wohl  heißen  „verwilderte") 
Kaninchen"  von  H.  Meerwarth  und  „der  Eichelhäher"  von  H.  Löns,  sind  da- 
her nur  wenige  Beispiele  der  Lebensschilderung  von  Tieren  gegeben,  während 
zahlreiche  verschiedene  Tiere  abgebildet  werden.  Text  und  die  meisten  Bilder 
sind  gut;  auf  einigen  Abbildungen  hebt  sich  das  Tier  zu  wenig  von  der  Um- 
gebung ab,  was  zeigt,  daß  auch  die  Abbildung  eines  Tieres  ohne  natürliche  Um- 
gebung doch  bisweilen  berechtigt  ist,  nämlich  dann,  wenn  sich  das  Tier  zu  sehr 
seinem  Aufenthaltsorte  angepaßt  hat.  So  würde  man  z.  B.  die  auf  Seite  59  ab- 
gebildete brütende  Waldschnepfe  nicht  erkennen  können,  wenn  die  Erklärung  nicht 
dabei  stände.  Dennoch  hat  natürlich  auch  ein  Bild  wie  dieses  seinen  Wert,  gerade 
da  es  die  Anpassung  an  die  Außenwelt  zeigt.  Auch  dieses  Heft  kann  daher  wohl 
empfohlen  werden. 

Dagegen  hält  Berichterstatter  für  ziemlich  wertlos: 

Kenter,  J.,  Morphologisch-biologisches  Skizzenbuch  für  Schüler 
mittlerer  und  höherer  Lehranstalten.  Eine  Anleitung  zur  Beobachtung  des 
Pflanzenlebens.     Ausgabe  A.:   Botanik.     Arnsberg.     Stahl.     86  S.     8°.     1,60  M. 

Es  ist  darin  zunächst  je  Va — 1  Seite  Raum  zur  Eintragung  von  Beobachtungen 
an  Samen,  Stengel  und  Blattbildung,  Bildung  der  Knospen  und  Blüten,  Bildung 
der  Frucht,  Bedeutung  der  Pflanze  im  Haushalt  der  Natur  und  Bemerkungen  für 
neun  Beobachtungspflanzen.  Damit  sind  48  Seiten  eingenommen.  Dann  kommt 
der  verhältnismäßig  wertvollste  Teil  des  Buches  (22  S.)  mit  einigen  vorgedruckten 
Faustskizzen  und  Raum  zu  ähnlichen  Skizzen.  Der  Schluß  enthält  Vordruck  zu 
Gruppenbeobachtungen,  wobei  Verfasser  noch  die  Fehler  hygrophyl  (statt  hygrophil) 
und  xerophyl  (statt  xerophil)  durchgeschlüpft  sind.  Unterzeichneter  weiß  nicht, 
warum  solche  Beobachtungen  nicht  genau  so  gut  in  jedes  andere  Heft  eingetragen 
werden  könnten.  Wenn  auch  die  Faustzeichnungen  einigen  Wert  haben,  so  sieht 
er  doch  nicht  ein,  wie  dieses  Buch  ein  Lehrbuch  ersetzen  soll  und  hält  seine  Be- 
zeichnung als  „Herbarium  im  modernen  Sinn"  auch  für  sehr  übertrieben,  den  Eifer 
des  Verfassers  im  Vorwort  gegen  den  Linnöismus  mindestens  für  zu  weitgehend. 
Wenn  wir  auch  j^tzt  nicht  mehr  Herbarienbotanik  treiben,  sondern  die  Pflanzen 
als  lebende  Wesen  behandeln,  so  erschöpfen  wir  ihr  Wesen  nicht  annähernd  an 
neun  Beispielen  und  müssen  immer  noch  viel  Systematik  treiben,  um  die  Einzel- 
ergebnisse zu  gruppieren. 

Von  Werken,  die  das  Studium  des  Lehrers  der  Biologie  fördern  können,  liegt 
leider  nur  in  einer  Lieferung  vor: 

Guenther,  Konrad,  Vom  Urtier  zum  Menschen.  Ein  Bilderatlas  zur  Ab- 
stammungs-  und  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen.  Deutsche  Verlagsanstalt, 
Stuttgart.    Vollständig  in  20  Lieferungen  ä  1  M. 

In  dieser  Lieferung  sind  enthalten  Tafel  47  u.  48  mit  Embryonen  von  Wirbel- 


Schriften  aus  dem  Gesamtgebiet  der  Biologie  usw.  389 

tieren,  zum  Vergleich  nebeneinandergestellt,  Tafel  14:  Scyphozoen  und  Anthozoen 
(sehr  schön  farbig);  Tafel  1:  Die  Zelle  und  ihre  Vermehrung;  Tafel  60:  Amphibien 
der  Vorzeit  als  Vorfahren  der  Reptilien  und  Säugetiere.  Leider  ist  der  Text  auch 
nicht  zusammenhängend,  sondern  umfaßt  S.  1—6  und  S.  31—50.  Dennoch  lassen 
schon  die  Proben  erkennen,  daß  das  Werk  wohl  geeignet  ist,  in  die  Fragen  der 
Abstammungslehre  einzuführen.  Wenn  diese  auf  der  Schule  behandelt  werden 
soll,   können   seine  Tafeln  dem  Unterricht  unmittelbar  dienstbar  gemacht  werden. 

Zum  Teil  gleiche  Fragen  behandelt  in  wesentlich  kürzerer  Darstellung: 

Meisenheiner,  J.,  Entwicklungsgeschichte  der  Tiere.  Leipzig.  Göschen. 
Teil  I:  136  S.  mit  48  Fig.,  Teil  II:  134  S.  mit  46  Fig.    je  0,80  M. 

Teil  I  behandelt  die  Furchung,  Primitivanlagen,  Larven,  Formbildung  und 
Embryonalhüllen,  Teil  II  die  Organbildung.  Es  zeigt  schon  diese  kurze  Inhalts- 
angabe, daß  hier  nur  die  Ontogenie,  nicht  wie  im  vorigen  Werke  auch  und  zwar  vor- 
wiegend die  Phylogenie  berücksichtigt  wird.  Da  jene  aber  die  Hauptstütze  für 
diese  ist,  kann  auch  dieses  Werk  für  stammesgeschichtliche  Fragen  als  Ratgeber 
dienen.  Es  ist,  wie  fast  alle  Bändchen  der  „Sammlung  Göschen"  in  ziemlich 
leicht  verständlicher  Weise  geschrieben,  aber  auf  rein  wissenschaftlichen  Beob- 
achtungen aufgebaut. 

Zur  gleichen  Sammlung  gehört  noch  ein  vorliegendes  tierkundliches  Werk: 

Werner,  F.,  Das  Tierreich,  IIL  Reptilien  und  Amphibien.  Ebenda. 
184  S.  mit  55  Abbildungen.   0,80  M. 

Es  kommt  wie  das  im  vorigen  Bericht  (Monatschrift  VII,  S.  253)  erwähnte 
Bändchen  von  Rauther  als  Ergänzung  kurzer  Handbücher  für  Schülerbibliotheken 
in  Betracht.  Es  behandelt  die  im  Titel  genannten  Tierklassen  zunächst  allgemein 
in  ausführlicher  Weise  und  dann  die  einzelnen  Ordnungen  unter  Aufzählung  der 
wichtigsten  Vertreter.  Es  kann  daher  auch  dem  Lehrer  vielfach  Aufklärung  über 
Einzelfragen  geben,  soweit  er  nicht  genauer  Fachkenner  ist. 

Endlich  gehört  der  gleichen  Sammlung  an: 

Diels,  L.,   Pflanzengeographie.     163  S.    0,80  M. 

Das   vorzüglich    durchdachte   Werk    des    in    Fragen    der    außereuropäischen 
Pflanzengeographie  bekannten  Verfassers  zerfällt  in  folgende  vier  Hauptteile: 
L   Floristische  Pflanzengeographie, 

II.   Ökologische  Pflanzengeographie, 

in.    Genetische  Pflanzengeographie. 

IV.  Übersicht  der  Florenreiche. 
Der  letzte  Teil  ist  besonders  eigenartig,  da  Verfasser  nur  sechs  Florenreiche  unter- 
scheidet: das  paläotropische,  kapländische,  holarktische,  neotropische,  antarktische 
und  australische,  während  meist  mehr,  von  Engler  aber  weniger  unterschieden 
werden.  Die  gewöhnlich  sonst  getrennten  Reiche  erscheinen  hier  als  Gebiete. 
Rein  wissenschaftlich  betrachtet  ist  dies  sicher  bis  zu  gewissem  Grade  berechtigt. 
Für  die  Schule  scheint  Berichterstatter  eine  solche  Einteilung  nicht  zweckmäßig. 
Hiervon  abgesehen  aber  kennt  Berichterstatter,  trotzdem  er  mehr  als  ein  Viertel- 
jahrhundert auf  dem  Gebiete  selbst  gearbeitet  hat,  kein  Werk,  das  eine  so  kurze 
und  doch  für  die  meisten  Zwecke  vollkommen  ausreichende  Einführung  in  die 
Pflanzengeographie   böte  wie  dieses.    Nur  ist  zu  bedauern,   daß  abgesehen  von 


390  W.  Münch,  Kultur  und  Erziehung,  angez.  von  E.  Orünwald. 

einer  skizzenhaften  Übersicht  der  Florenreiche  am  Schlüsse  des  Buches  keine 
Abbildungen  geboten  werden,  da  viele  der  genannten  Pflanzen  den  Lesern,  für 
die  dieses  Buch  doch  in  erster  Linie  bestimmt  ist,  unbekannt  sind,  aber  z.  T. 
durch  Abbildungen  wenigstens  ihrer  äußeren  Erscheinung  nach  bekannt  werden 
könnten.  Doch  hätten  solche  vielleicht  den  Preis  zu  sehr  erhöht.  Aber  für  eine 
neue  Auflage  wäre  dem  Verfasser  zu  raten,  zwei  Bändchen  damit  zu  füllen,  etwa 
in  allgemeine  und  spezielle  Pflanzengeographie  zu  trennen,  an  Text  nicht  viel 
mehr,  aber  möglichst  viele  Abbildungen  zu  liefern.  Dann  könnte  das  so  schon 
anerkennenswerte  Werk  an  Wert  noch  gewinnen. 

Perleberg.  F.  Hock. 


b)  Einzelbesprechungen: 

Münch,  Wilhelm,  Kultur  und  Erziehung.    Vermischte  Betrachtungen.    München 
1909.    C.  H.  Becksche  Verlagsbuchhandlung.    285  S.    8°.    geb.  4  M. 

In  diesem  vom  Verleger  geschmackvoll  ausgestatteten  Bande  hat  Münch  eine 
scheinbar  bunte  Reihe  von  meist  schon  in  der  Tagespresse  erschienenen  Aufsätzen*) 
vereinigt,  die  aber  durch  den  Titel  nicht  übel  zusammengehalten  werden :  Erziehungs- 
fragen sind  ja  schließlich  immer  Kulturfragen,  und  Kulturfragen  werden  schließlich 
zu  Erziehungsfragen.  Pädagogisches  im  engeren  Sinne  bringt  nur  etwa  die  Hälfte 
des  Bandes,  aber  durch  aufklärende  und  kritisierende,  ratende  und  warnende  Be- 
leuchtung der  die  Gegenwart  beherrschenden  Kulturwerte  und  -Probleme  wirkt  das 
ganze  Buch  erzieherisch  und  weist  einem  ernsten  und  empfänglichen  Laienpublikum 
die  Wege  zu  rechter  Selbstbesinnung  und  wahrer  Selbstbildung.  So  wird  der 
Pädagoge  Münch  hier  wie  in  seinen  außerfachlichen  Veröffentlichungen  so  oft  zum 
dv&po>TraY(o'^6c.  Er  spricht  einmal  bescheiden  von  sich  als  dem  Laien,  der 
mit  einfachen  Menschenaugen  lange  genug  ins  Leben  hineingeblickt  habe  (S.  225), 
aber  diese  Augen  sind  mit  dem  Alter  nicht  stumpfer  geworden,  sondern  sehen  noch 
recht  scharf,  und  —  um  ihn  noch  einmal  zu  zitieren  —  einer  Torheit  erliegt 
wenigstens  sein  Alter  nicht,  die  alle  jugendHchen  Menschen  bedroht,  nämlich  sich 
von  jeder  kühnen  Neuheit  imponieren  zu  lassen  und  in  jeder  Abänderung  des  Be- 
stehenden einen  Fortschritt  zu  sehen  (S.  284).  Und  mag  er  daher  reden  von  Regeln 
und  Anomalien  in  Vererbung  und  Generationenfolge,  von  deutscher  und  fremder 
Art  und  Sitte,  deutscher  und  fremder  Erziehung  und  Bildung,  von  Lebens-  und 
Erziehungsidealen,  mag  er  der  Psyche  der  Völker  oder  der  Geschlechter  oder  des 
Kindes  nachgehen,  mag  er  Altes  oder  Neues,  Krankes  oder  Gesundes,  Höhen  oder 
Tiefen  des  Volkslebens  in  den  Kreis  seiner  Betrachtung  ziehen,  mag  er  vom  Glück- 
wünschen oder  vom  Wetter  plaudern  oder  vom  Unmusikalischen  aus  Musiksälen, 
oder  mag  er  endlich  seine  reife  Lebenserfahrung  in  Sprüchen  in  Prosa  kristallisiert 
bieten  —  immer  quillt  es  ihm  aus  schier  unerschöpflichem  Borne,  folgen  wir  dem 
hochgebildeten,  gedankenreichen  und  sprachgewaltigen  Manne  mit  gespannter  und 

*)  Zum  ersten  Male  gedruckt  sind:  .Menschen  und  Jahreszeiten'  und  .Wandernde  Ge- 
danken". 


P.  W.  V.  Keppler,  Mehr  Freude,  angez.  von  J.  Riehemann.  391 

dankbarer  Aufmerksamkeit,  freilich  auch  nicht  ohne  gelegentliche  Beklemmung 
gegenüber  den  hohen  Anforderungen,  die  sein  vornehmer  Bildungsbegriff  an  uns 
Erwachsene,  insonderheit  die  zum  Lehren  Berufenen,  stellt.  Humor  und  Satire, 
ernste  und  nachdrückliche  Rede,  leichte  Causerie  und  scharfe  Logik  stehen  ihm 
mühelos  zu  Gebote,  und  gern  schließt  ein  Gedankengang  mit  einer  Maxime  oder 
doch  wenigstens  einem  epigrammatisch  zugespitzten  Resümee.  Kabinettstücke  der 
Sammlung  sind  „Willensmenschen  und  Willensbildung*  und  .Wissen  und  Bildung". 
Unsere  ungestümen  Reformer,  die  so  gerne  fremde  Götter  anbeten,  sollten  sich  des 
Verfassers  Warnungen  vor  kritikloser  Herübernahme  fremder,  entweder  noch  nicht 
ausgereifter  und  bewährter  oder  uns  wesensungleicher  Institutionen,  vor  Preisgabe 
des  erprobten  Alten,  vor  Unterschätzung  des  Schulwissens,  vor  allerhand  Schlag- 
wörtern und  Modernismen  zu  Herzen  nehmen.  Von  einigen  Aufsätzen  wünschte 
man,  daß  sie  durch  Übersetzung  auch  im  Auslande  bekannt  würden:  auch  Franzosen 
und  Engländern  wird  hie  und  da  gründlich  die  Wahrheit  gesagt  —  aber  wirklich 
die  Wahrheit.  Weh  tat  mir  der  Ausfall  gegen  die  Philologen  S.  162:  ist  ihr  Eigen- 
sinn wirklich  größer  als  der,  sagen  wir  einmal  tapfer,  der  Mathematiker  z.  B.? 
Gegen  ein  Schulstrafgesetzbuch  (S.  98)  wenden  sich  der  schöne  Aufsatz  von 
A.  Matthias  in  der  Münchener  Allg.  Zeitung  vom  13.  Februar  1909  und  eine  Arbeit 
von  mir  in  der  Zeitschrift  »Jugendfürsorge"  vom  März  d.  J.  Zu  S.  99,  wo  die 
amerikanische  Art,  der  reiferen  Jugend  der  höheren  Schulen  ein  nicht  geringes 
Maß  von  Selbstverwaltung  einzuräumen,  beistimmend  erwähnt  wird,  vgl.  meine 
eben  angeführte  Arbeit  S.  112  f.,  aber  auch  die  etwas  abkühlende  Bemerkung 
Schultzes  in  Heft  II  u.  III  d.  J.  des  Humanistischen  Gymnasiums  S.  77.  Endlich 
muß  es  S.  147,  Z.  8  v.  u.  doch  wohl  heißen  »dem  amerikanischen"? 

Alles  in  allem:  keine  Kathederweisheit,  sondern  Lebensweisheit. 

Berlin.  E.  Grünwald. 

V.  Keppler,  Paul  Wilhelm,  Mehr  Freude.  Freiburg  1909.  Herder.  5.— 8.  Tausend. 
199  S.  geb.  2,60  M. 
Gerade  in  der  „Monatschrift",  die  so  oft  und  so  nachdrücklich  das  Recht 
unserer  Jugend  auf  Freude  betont  hat,  —  und  alle,  auch  oder  vielmehr  ganz  be- 
sonders diejenigen,  die  eine  „schwere  Schule"  für  notwendig  erachten,  müssen  einer 
solchen  Forderung  zustimmen  —  verdient  die  soeben  erschienene  kleine  Schrift 
von  Dr.  P.  W.  von  Keppler,  Bischof  von  Rottenburg,  angezeigt  und  warm  empfohlen 
zu  werden.  Ihre  Ziele  sind  freilich,  ohne  daß  dabei  die  Rücksicht  auf  die  Schule 
vernachlässigt  würde,  weiter  gesteckt;  sie  sucht,  erfüllt  von  echter  Menschen-  und 
Vaterlandsliebe,  der  Freude  in  allen  Gesellschaftsschichten,  sofern  sie  ihr  noch  ver- 
schlossen blieben,  Eingang  zu  schaffen.  Und  leicht  wird  es  dem  Verfasser  zu- 
nächst, darzutun,  daß  unsere  Gegenwart  wirklich  im  allgemeinen  freudenarm  ist, 
daß  daran,  ganz  abgesehen  von  den  beiden  mächtigsten  „Freudenmördern",  dem 
Alkohol  und  der  Unsittlichkeit,  die  soziale  Entwicklung  überhaupt  trotz  oder  viel- 
mehr wegen  aller  Entdeckungen  und  Erfindungen  die  Hauptschuld  trägt.  Die 
moderne  Kunst  aber  verkennt  allzu  oft  ihre  Aufgabe,  das  Leben  zu  verschönern; 
das  Volkslied,  in  das  unsere  Vorfahren  ihre  Freude  ausjubelten  und  das  zu  neuer 
Freude  Anlaß  gab,  lebt  nur  noch  in  wenigen  kümmerlichen  Resten  weiter.    Und 


392  P-  ^-  V.  Keppler,  Mehr  Freude,  angez.  von  J.  Richemann. 

endlich  fehlt  es  sogar  der  Jugend,  was  als  Schlimmstes  erscheint,  am  belebenden 
und  erwärmenden  Sonnenscheine.  Wie  ist  da  zu  helfen  ?  was  kann  am  ehesten  der 
verdrossenen  Unlust  ein  Ende  bereiten?  Der  Verfasser  erkennt  als  bestes  und 
sicherstes  Heilmittel  das  Christentum;  daher  seine  Mahnung:  „Zurück  zum  christ- 
lichen Glauben;  zurück  zu  gesundem,  christlichem  Volksleben,  zum  religiösen 
Ernst,  zu  Demut  und  Herzenseinfalt,  zu  schlichtem,  edlem,  reinem  Sinn,  zur 
Religion,  zur  Kirche,  zu  Christus!"  Er  schildert  die  „Freude  des  Christen",  zeigte 
wie  »schon  durch  die  Schriften  und  das  Leben  des  Alten  Bundes  sich  reichliche 
Silberadern  der  Freude  ziehen",  wie  der  Messias  zum  Bringer  und  Mittelpunkt  der 
Freude  wurde,  und  führt  uns  endlich  in  eine  „Galerie  fröhlicher  Menschen",  bei 
denen  Heiligkeit  und  Heiterkeit  sich  aufs  engste  verbanden.  Dabei  hat  er  wieder- 
holt Anlaß,  den  weitverbreiteten  Irrtum  zu  bekämpfen,  daß  rechtes  Fröhlichsein 
christlicher  Gesinnung  widerspräche,  daß  Kreuz  und  Freude  unvereinbare  Gegen- 
sätze bedeuteten.  So  bestimmt  auch  in  allen  diesen  Auseinandersetzungen  das 
katholische  Bekenntnis  des  Verfassers  betont  ist,  so  ist  doch  sorgfältig  jedes  Wort 
vermieden  worden,  das  Andersgläubige  irgendwie  verletzen  könnte,  ganz  entsprechend 
seiner  eigenen  schönen  Mahnung:  „Und  wir,  die  wir  im  Glauben  getrennt  und 
doch  auch  wieder  geeint  an  Christus,  dem  Gottessohn,  dem  Heiland  und  Erlöser^ 
festhalten,  ....  stellen  wir  den  wahnsinnigen  Kampf  gegeneinander  ein.  Wenn 
kein  anderer  Beweggrund  uns  dazu  vermögen  sollte,  stellen  wir  ihn  ein  um  der 
Freude  willen."  Neben  dem  Christentum  aber,  dem  Hauptquell  der  Freude,  kennt 
und  nennt  Keppler  noch  zahlreiche  andere  Freuden,  die  zugleich  Heilmittel  sind, 
die  Genesung  zu  bewirken  und  zu  beschleunigen,  und  hier  findet  er  manches 
sinnige  und  treffende  Wort  von  der  Dankbarkeit,  der  Erziehung,  der  Kunst,  dem 
Naturgefühl  u.  a.  m.  Alle  diese  Darlegungen,  in  denen  auch  die  einschlägige  ältere 
wie  neuere  Literatur  sorgfältig  berücksichtigt  ist,  sind  dargeboten  in  einer  überaus 
edlen,  oft  zu  poetischem  Schwünge  sich  erhebenden  Sprache. 

Um  im  einzelnen  noch  ein  Wort  beizufügen  über  die  Stellung  Kepplers  zu 
den  zeitbewegenden  Erziehungsfragen,  so  läßt  sich  ihm  in  allem  eine  ruhige,, 
besonnene  Mäßigung  nachrühmen,  die  im  wesentlichen  freilich  einen  konservativen 
Standpunkt  wahrt,  aber  sich  durchaus  nicht  allen  Neuerungen  abhold  zeigt.  Manche 
wegwerfende  Urteile  über  die  moderne  Schule,  wie  von  Fr.  W.  Foerster  und  Hilty, 
registriert  er  zwar,  doch  er  nimmt  Anstoß,  sie  sich  selbst  zu  eigen  zu  machen. 
Allgemeiner  Zustimmung  dürfen  sicher  sein  die  Worte:  „Der  Lehrer  und  Erzieher 
steht  in  der  Tat  höher,  der  mit  den  feinen  geist-leiblichen  Mitteln,  mit  Sonnenstrahlen 
der  Freude,  mit  scharfen  Worten  und  Blicken  dasselbe  und  mehr  erreicht,  als  ein 
anderer  mit  scharfen  Hieben.  Der  Lehrer,  welcher  es  versteht,  dem  Schüler  Freude 
am  Unterrichtsgegenstande  einzuflößen,  hat  gewonnenes  Spiel;  diese  Freude  wird 
ihm  eine  treuere  Bundesgenossin  und  Lehrgehilfin  sein  als  der  Stock."  Anderseits 
freilich  wendet  er  sich  im  Anschluß  an  Paulsen,  dessen  letzte  Schrift  wiederholt 
die  anerkennendste  Erwähnung  findet,  gegen  die  „törichten  Versuche,  die  Lust  am 
Lernen  zur  einzigen  Triebfeder  aller  Arbeit  zu  machen  und  so  die  Freude  in  die 
Schule  zurückzuführen";  auch  ihm  scheint  unumgänglich  nötig  „die  Rückkehr  zu 
den  drei  großen  Imperativen:  Lerne  gehorchen I  Lerne  dich  anstrengen!  Lerne 
dir  versagen  und  deine  Begierde  überwinden  l"    Sehr  berechtigt  erscheint  ihm  die 


E.  Jaques-Dalcroze,  Der  Rhythmus  als  Erziehungsmittel  usw.,  angez.  von  F.  Saran.     393^ 

Warnung  Foersters  vor  ,der  neuerdings  Mode  werdenden  (sexuellen)  Aufklärungs- 
manie, welche  die  Gefahr  nicht  beschwört,  sondern  heraufbeschwört*.  Um  so  ent- 
schiedener aber  tritt  er  ein  für  die  Pflege  körperlicher  Übungen,  auch  den  Sporte 
, sofern  letzterer  sich  in  vernünftigen  Grenzen  hält". 

Alles  in  allem  wird  das  Buch,  das  sich  ungemein  rasch  verbreitet  hat  und  wenige 
Tage  nach  seinem  Erscheinen  schon  in  der  1.  Auflage  völlig  vergriffen  war,  in 
Einzelheiten  vielleicht  nicht  ohne  Widerspruch  bleiben,  seinem  eigenartigen  Zauber 
wird  sich  aber  kein  Leser  entziehen  können.  Und  so  steht  zu  hoffen,  daß,  nacfi 
der  Absicht  des  Verfassers,  die  Worte  des  Titels  nicht  bloß  ein  gutgemeinter  Oster- 
gruß, ein  Wunsch  und  Sehnsuchtsruf  bleiben,  sondern  daß  die  Schrift  auch  das  Ihrige. 
dazu  beiträgt,  sie  zur  Wirklichkeit  werden  zu  lassen. 

Meppen.  Josef  Riehemann. 

Jaques-Dalcroze,  E.,  Der  Rhythmus  als  Erziehungsmittel  für  das  Leben- 
und  die  Kunst.    Sechs  Vorträge,    zur  Begründung  seiner  Methode  der  rhyth- 
mischen Gymnastik.     Deutsch   her.  v.  P.   Böpple.      Basel  1907.    Helbing  und. 
Lichtenhahn.    V  und  154  S.    3,20  M. 
Die  Pflege,  welche  unsere  Zeit  —  endlich!  —  durch  Turnen,  Sport,  Luftbad  usw. 
dem  Körper  zu  teil  werden  läßt,  das  Interesse,  welches  sich  dadurch  auf  die  Aus- 
bildung des  Körpers  zu  richten  anfängt,  finden  allmählich  ihren  Widerball  in  der 
Kunst.    Das  Verständnis  für  Plastik  ist  im  Steigen  begriffen  und,  wenn  nicht  die 
Zeichen  trügen,  stehen  wir  im  Beginn  einer  Erneuerung  der  Tanzkunst,  nicht  des 
völlig   erstarrten   französischen  Ballets,   sondern    einer  Kunst  im   Sinne   der   alten 
Orchestik,  der  die  Bewegung  des  Körpers  wirklich  Ausdrucksmittel  war,    wie  uns 
der  Ton.    J.  Dalcroze  fühlt  diesen  Zug  der  Zeit  und  so  möchte  er  die  Kunst  der 
zweckmäßigen  und  schönen  Körperbewegung  auch  in  die  Erziehung  einführen.  Seine 
Methode  hat  erjn  einem  zweibändigen  Werk  mit  10  anatom.  Tafeln,  80  Zeichnungen^ 
120  Photographien  und  160 rhythmischen  Märschen  bei  Sandoz,  Jobinet  Co.  (Neu- 
chätel,  Paris  u.  Leipzig)  erscheinen    lassen.    Diese  6  Vorträge   sollen   uns  in  die 
Methode  einführen  und  über  sie  kurz  unterrichten. 

Verfasser  will  lehren,  wie  durch  zweckmäßige  Unterweisung  schon  der  Kinder 
d".  h.  durch  Aufsteigen  von  einfachen  zu  verwickelten  Bewegungen,  Einüben 
gleichzeitiger,  erst  gleichartiger,  dann  rhythmisch  verschiedener  u.  s.  w.  volle 
Herrschaft  über  die  Bewegungen  des  Körpers  erreicht  werden  kann.  Die  Übungen, 
sind  stets  rhythmisch  und  sollen  zur  plastischen  Schönheit  des  Körpers  führen. 
Sie  sollen  die  Grundlage  bilden  für  eine  neue  Tanzkunst,  die  den  ^Rhythmus 
in  kunstvoller  Zusammensetzung  verwendet  (Polyrhythmie !)  wie  jetzt  die  Musik 
den  Ton.  Verfasser  verspricht  sich  von  solchen  Übungen  auch  Herausbildung 
eines  stärkeren  Gefühls  für  den  Rhythmus  in  der  Musik.  Vor  allem  aber  wird  der 
Wille  gestärkt,  wenn  der  Mensch  lernt  seinen  Körper  zu  beherrschen,  und  so  schreibt 
D.  seiner  Methode  auch  einen  großen  psychologischen  Wert  zu. 

Man  muß  D.  in  diesen  allgemeinen  Grundsätzen  zustimmen  und  kann  nur 
wünschen,  daß  seine  Bemühungen  das  Streben  nach  schöner  Durchbildung  des 
Körpers  verstärken  und  diese  so  wichtige  Seite  der  antiken  Bildung  mit  wieder- 
erwecken helfen.    Ob   aber  die  vorliegenden   6  Vorträge  sehr  geeignet  sind,   der 


394  K.  Huemer,  Auf  die  Probe  kommt's  an,  angez.  von  E.  Grünwald. 

Methode  Anhänger  zu  erwerben,  fragt  sich  sehr.  Die  rhythmischen  Begriffe  sind 
ganz  unwissenschaftlich,  die  Darstellung  fällt  sicher  selten  in  breites  Gerede  ohne 
Inhalt,  man  vermißt  eine  klare  und  nicht  vorwärtsschreitende  Gedankenentwickelung, 
kurz  es  ist  kein  Vergnügen  sich  durch  die  153  Seiten  durchzuwinden.  Gleichwohl 
sei  D.'s  Methode  der  Aufmerksamkeit  der  Lehrer  angelegentlich  empfohlen. 
Halle  a.  S.  F.  Saran. 

Huemer,  Kamille,  Auf  die  Probe  kommt's  an.  Referat  über  die  Frage  der 
Mittelschulreform.  Wien  1908.  Alfred  Holder.  16  S.  S».  0,40  M. 
Mit  seinem  im  Verein  „Mittelschule  für  Oberösterreich  und  Salzburg"  zu  Linz 
gehaltenen  Vortrage  erstrebt  der  Verfasser  die  Versöhnung  der  Humanisten  und 
Realisten  durch  eine  uns  Reichsdeutschen  nunmehr  schon  geläufige,  in  dieser  Monat- 
schrift öfter  erörterte  und  aus  der  Praxis  beleuchtete  Berücksichtigung  beider 
Richtungen,  d.  h.  durch  Gabelung  des  Oberkursus  des  Gymnasiums  in  eine 
humanistische  und  eine  naturwissenschaftliche  Abteilung.  Da  Österreich  das  Real- 
gymnasium noch  nicht  hat  und  ein  Abiturient  seiner  einen  nur  siebenjährigen 
Kursus  umfassenden  Realschule  nicht  als  ordentlicher  Hörer  der  Universität  im- 
matrikuliert werden  kann,  so  ist  bei  unsern  Nachbarn  eine  solchen  Organisation  viel- 
leicht angebrachter  als  irgendwo;  die  grundsätzlichen  Bedenken,  die  gegen  sie 
vorgebracht  werden  können,  gelten  freilich  auch  dort.  Das  Referat  beginnt  mit 
«inem  hübschen  Überblick  über  die  Geschichte  der  deutschen  Lateinschule  und 
-zeugt  von  warmem  Verständnis  für  die  Bedeutung  des  klassischen  Bildungsideals, 
enthält  auch  sonst  manch  treffenden  Gedanken;  so  werden  viele  des  Verfassers 
Bedenken  über  die  Zweckmäßigkeit  der  altsprachlichen  Ergänzungskurse  für 
Studenten  teilen.  Daß  übrigens  den  Absolventen  der  Oberrealschule  in  Preußen 
die  juristische  Fakultät  ohne  Ergänzungsprüfung  offen  stehe  (S.  9),  ist  ein  Irrtum. 
Berlin.  E.  Grünwald. 

Jlirzel,  Rudolf,  Rede,  gehalten  zur  Feier  der  akademischen  Preisvertei- 
lung am  24.  Juni  1905.    24  S.  in  4.    Jena  1905  (G.  Neuenhahn).     1  M. 
Röhl,  H.,  Entlassungsreden.    58  S.    Leipzig  1904  (B.  G.  Teubner).     1  M. 

Zwei  Hefte,  deren  Lektüre  dazu  beitragen  kann,  einem  die  Beschäftigung  mit 
dem  Altertum  und  mit  der  Jugenderziehung  durch  es  froh  werden  zu  lassen. 
Hirzel  behandelt  die  Frage,  was  die  Wahrheit  war  für  die  Griechen.  Er  zeigt, 
wie  bei  ihnen  das  Suchen  -nach  Wahrheit  von  der  Rechtspflege  ausgegangen  ist, 
sodaß  eben  hieraus  sich  die  Benennung  dXY]i>£ta  erklärt,  wie  dann  im  Entwick- 
lungsgange griechischer  Forschung  der  Begriff  immer  mehr  sich  vertieft  hat,  bis 
die  Blüte  der  SpezialWissenschaften  und  später  der  praktische  Sinn  der  römischen 
Weltherrscher  den  Gedanken  auch  der  Gelehrten  eine  andere,  mehr  dem  Richtigen, 
praktisch  Verwendbaren  zustrebende  Richtung  gaben.  —  Röhls  Abiturientenreden, 
im  Domgymnasium  in  Halberstadt  gesprochen,  lassen  wieder  erkennen,  welche 
Fülle  von  Beziehungen  zum  wirklichen  Leben  in  dem  Gedankenkreise  der  Schule 
enthalten  ist  und  für  eine  sinnende  Betrachtung  des  Lebens  fruchtbar  gemacht 
werden  kann.  Mit  beweglichem  Geist  und  gutem  Geschmack,  stellenweise  mit 
«inem  Anflug   von  Humor,    hat   der  Redner   die  Sprüche,  Erzählungen,  Begriffe, 


A.  Hippius,  Der  Kinderarzt  als  Erzieher,  angez.  von  H.  Weimer.  395 

Gegenstände  ausgewählt,  um  die  er  seine  Gedanken  gruppiert.  Ernst  und  doch 
heiter,  nicht  eintönig,  aber  so,  daß  alles  in  einen  Ton  zusammenklingt,  geben 
diese  Abschiedsworte  ein  ansprechendes  Bild  von  der  Gemeinschaft,  aus  der  sie 
erwachsen  sind. 

Münster  i.  W.  Paul  Cauer. 

Hippius,  A.,  Der  Kinderarzt  als  Erzieher.  München  1909.  C.  H.  Beck'sche 
Verlagsbuchh.  (Oskar  Beck).    VI  u.  324  S.    8°.    4  M. 

Man  kann  den  Verfasser  dieses  Buches  nur  beglückwünschen.  So  wertvoll 
die  Schrift  für  Eltern  und  Ärzte  ist,  so  lehrreich  ist  sie  für  den  Schulmann.  Geht 
Hippius  auch  zu  weit,  wenn  er  die  Pädagogik  kurzweg  als  einen  Teil  der  Hygiene 
bezeichnet,  ein  Irrtum,  auf  den  ich  schon  in  der  Zeitschrift  für  Kindererforschung 
hingewiesen  habe  — ,  so  muß  man  es  ihm  doch  als  Verdienst  anrechnen,  daß  er 
die  körperliche  und  seelische  Entwicklung  des  Kindes  als  die  von  der  Natur  gegebene 
Grundlage  unserer  Erziehungsarbeit  mit  allem  Nachdruck  in  den  Vordergrund  rückt  und 
danach  seine  pädagogischen  Anweisungen  gibt.  Was  er  an  solchen  Anweisungen 
vorbringt,  dürfte  von  der  Mehrzahl  der  Berufserzieher  gebilligt  werden.  Wer  es 
nicht  schon  weiß,  der  kann  aber  auch  aus  diesem  Buche  lernen,  daß  die  unter- 
richtliche Tätigkeit  nur  einen  bescheidenen  Teil  unserer  gesamten  Erziehungsarbeit 
ausmacht. 

Wiesbaden.  Hermann  Weimer. 

Wielands  gesammelte  Schriften,  herausgegeben  von  der  deutschen  Kommission 
der  Königlich  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften.    I.  Abteilung:  Werke. 
Erster  Band.   Poetische  Jugendwerke.    I.  Teil.   Herausgegeben  von  Fritz  Homeyer. 
Berlin  1909.    Weidmannsche  Buchhandlung.    XI  u.  462  S.    9  M.    II.  Abteilung: 
Übersetzungen.    Erster   Band.    Shakespeares   theatralische   Werke.    Erster  und 
zweiter  Teil.    Herausgegeben  von  Ernst  Stadler.    1909  ebenda.    372  S.    7,20  M. 
Die  gesamten  Schriften  Wielands  werden   mit  dieser  Ausgabe  im  Umfange 
dreier  Abteilungen  veröffentlicht  werden,  alles  in  allem  mindesten  50  Bände.    Die 
drei  Abteilungen   enthalten  die  Werke,    die  Übersetzungen  und  die  Briefe.    Da 
Zuschüsse  nötig  sind,  hat  die  Königlich  Preußische  Akademie  der  Wissenschaften 
die  Aufgabe   übernommen   und   diese   ihrer  Deutschen  Kommission   überwiesen. 
Diese  ist  mit  dem  vertrautesten  Kenner  Wielands,  Bernhard  Seiffert,  in  Verbindung 
getreten,  der  den  ganzen  Briefkorpus  übernehmen  wird.    Er  hat  seine  Richtlinien 
dargelegt  in  den  Abhandlungen  der  Akademie  1904,  1905,  und  1908/09  „Prole- 
gomena"  zu  einer  Wielandsausgabe.    Im  Bunde  mit  Erich  Schmidt  ist  er  zu  Personen 
und  Bibliotheken  in  Beziehung  getreten,  welche  beisteuern  können  zu  der  großen 
Sammlung.    Diese  wird  nun  die  erste  vollständige  Ausgabe  bilden.    Was  bisher 
vorlag,  konnte  höheren  Ansprüchen  nicht  genügen.    Die  neue  Ausgabe  wird  den 
ganzen  Entwicklungsgang  Wielands  vorführen.    Sie  wird  einen  Kommentar  nicht 
bringen,  so  weit  nicht  jetzt  Unverständliches  einer  knappen  Erläuterung  bedarf, 
dagegen  außer  Registern  zur  Übersicht  der  Fülle  des  Stoffes  und  außer  gelegent- 
lichen Proben  von  Bilderschmuck  alter  Ausgaben  einen  kritischen  Apparat,  worin 
Handschriften  die  Reihe  der  zum  Teil  sehr  seltenen  ersten  Drucke  ergänzen.    Nach 


396  Wielands  gesammelte  Schriften,  angez.  von  A.  Matthias. 

einer  knappen  Geschichte  des  einzelnen  Werkes  wird  er  die  Varianten  bieten,  so- 
weit sie  die  inneren  und  äußeren  Wandlungen  entfalten  und  allseitig  die  Kenntnis 
der  Sprache  fördern.  Der  ganze  Apparat  wird  von  den  Texten  getrennt  erscheinen 
in  besonderen  Heften  und  Bänden.  —  Die  erste  Abteilung  soll  die  Werke  bringen. 
Homeyers  erster  Band  enthält  die  Poetischen  Jugendwerke,  von  Knabengedichten 
bis  zum  „Schreiben  von  der  Würde  und  Bestimmung  eines  schönen  Geistes". 
Hier  finden  wir  Dichtungen  des  frühreifen  Talents,  das  schon  vom  elften  Jahre  an 
eine  unendliche  Menge  von  Versen  geschrieben  hat,  die  nicht  echter  Empfindung 
entsprangen,  sondern  Nachahmungen  Brockesscher  Redseligkeit  und  Klopstockscher 
Dichtung  waren:  so  das  Gedicht  „Natur  der  Dinge"  (mit  18  Jahren  gedichtet), 
voll  ungewöhnlicher  Belesenheit  und  erfüllt  von  ganz  andrem  Schwung  als  Hallers 
Poesie,  ferner  die  im  20.  Jahre  gedichteten  moralischen  Briefe,  die  arm  an  Poesie» 
aber  sehr  moralisch  sind  und  von  einer  Menschenkenntnis  zeugen,  die  mehr  aus 
Gemälden  als  aus  der  Wirklichkeit  geschöpft  war;  vor  allem  aber  interessiert  der 
Antiovid  (mit  19  Jahren  gedichtet),  aus  dem  schon  der  Satyr  sich  zeigt,  inhaltlich 
sehr  moralisch  und  durchzogen  von  einer  in  sinnlichen  Bildern  schwelgenden 
Frömmigkeit,  in  verführerische  Sprache  gekleidet.  Daneben  noch  vieles  Inter- 
essante aus  der  Jugendzeit. 

Die  zweite  Abteilung  beginnt  mit  den  Shakespeareübersetzungen,  voran  der 
Sommernachtstraum;  dieser  allein  in  Blankversen,  die  anderen  in  Prosa.  Diese 
Übersetzungen,  so  große  Mängel  sie  zeigen,  haben  doch  ihren  Wert.  Die  „glück- 
liche Wörterfabrik"  Wielands,  wie  Lessing  einmal  gesagt  hat,  zeigt  sich  hier  in 
den  kühnsten  Neuschöpfungen  der  Sprache.  Man  kann  es  verstehen,  wie  Lessing 
und  Goethe  dankbar  die  Leistungen  Wielands  anerkannten  und  wie  Lessing  nicht 
mit  seinem  Hinweis  auf  Shakespeare  hätte  wirken  können,  wenn  Wielands  Über- 
setzungen nicht  gewesen  wären. 

Den  ersten  Veröffentlichungen  der  dritten  Abteilung  muß  man  mit  Spannung 
entgegensehen.  Denn  hier  wird  uns  die  bewegliche,  reizbare,  enthusiastische 
PersönUchkeit,  deren  konziliante  Gespräche  lange  Zeit  ihren  Umgangskreis  entzückt 
und  berückt  haben,  erst  in  vollem  Lichte  entgegentreten  und  uns  klar  machen,  wie- 
viel unsere  Sprache  dem  zwanglosen  und  künstlerischen  Plauderer  zu  danken  hat. 

Zum  Schlüsse  sei  auch  auf  „die  hübsche  Fügung"  hingewiesen,  auf  welche 
Erich  Schmidt  im  Vorwort  aufmerksam  macht,  daß  Wieland  hier  dank  dem  Ent- 
gegenkommen des  Leiters  der  Weidmannschen  Buchhandlung,  Dr.  Vollert,  zur 
Wiedergeburt  in  den  Verlag  heimkehrt,  aus  dem  einst  die  „Musarion"  und  andere 
hervorgegangen  sind.  —  Der  Weidmannsche  Verlag  kann  auf  diese  Ausgabe,  wie 
auf  manch  andres  Werk,  mit  gutem  Rechte  stolz  sein. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Bücher  der  Weisheit  und  Schönheit,  hrsgb.  von  J.  E.  Freiherrn  von  Grotthuß. 
Jeder  Band  geb.  2,50  M.  12  Bände  nach  freier  Wahl  25  M.  Stuttgart  o.  J. 
Greiner  und  Pfeiffer.  1.  Walther  von  der  Vogelweide  a.  d.  Mhd.  übertragen, 
eingeleitet  und  mit  Anmerkungen  versehen  von  Rieh.  Zoozmann.  2.  Friedrich 
der  Große,  Auswahl  aus  seinen  Schriften  und  Briefen  nebst  einigen  Gesprächen 
mit  de  Gatt,  hrsgb.  von  F.  Lienhard. 
Die  Schätze  der  Weltliteratur  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Weisheit  und  Schön- 


Bücher  der  Weisheit  und  Schönheit,  angez.  von  P.  Lorentz.  397 

heit,  d.  h.  also  aus  ihrem  Reichtum  das  auszuwählen,  was  durch  seinen  ethisch- 
religiösen und  ästhetischen  Wert  dauernde  Wirkung  auszuüben  bestimmt  ist,  war  der 
fruchtbare  Gedanke  von  Grotthuß,  der  als  Herausgeber  des  Türmers  mit  dazu  berufen 
ist,  den  Geschmack  des  deutschen  Publikums  zu  leiten.  Für  dessen  Pflege  kommen 
natürlich  in  erster  Linie  die  einheimischen  Dichter  und  Denker  in  Betracht,  die 
denn  auch  in  den  bis  jetzt  erschienenen  33  Bänden  jenes  Sammelwerks  bei 
weitem  überwiegen.  Die  beiden  großen  Deutschen,  denen  die  hier  zu  be- 
sprechenden Bände  gewidmet  sind,  haben  in  Sprachen  geschrieben,  die,  um  auf  die 
größere  Masse  auch  der  Gebildeten  zu  wirken,  erst  übersetzt  werden  müssen.  Wenn 
ein  Biograph  Walthers  von  der  Vogelweide,  Schönbach,  behaupten  durfte:  „So 
lange  uns  Walthers  Verse  nicht  von  den  Lippen  fließen  wie  dem  Italiener  Dantes 
Terzinen,  so  lange  ist  unsere  Kultur  halb",  so  hatte  er  natürlich  an  die  mittelhoch- 
deutsche Urform  seiner  Dichtungen  gedacht,  aber  auch  die  heute  wieder  eifrigere 
Pflege  des  Urtextes  in  der  Schule  wird  jene  Möglichkeit  für  den  größten  deutschen 
Lyriker  vor  Goethe  doch  nur  einem  recht  kleinen  Kreise  verschaffen.  Zahlreicher 
werden  immer  noch  diejenigen  sein,  die  die  Schriften  des  großen  deutschen  Königs, 
der  zugleich  eines  der  größten  Genies  aller  Völker  und  Zeiten  war,  in  der  franzö- 
sichen  Urform  lesen  können.  Ist  aber  die  Bekanntschaft  mit  den  Dichtungen 
Walthers  und  den  Schriften  Friedrichs  des  Großen  ein  wesentliches  Stück  deutscher 
Bildung,  so  muß  eben  zur  Übertragung  in  unsre  heutige  Sprache  gegriffen  werden. 
Dichter  sollten  womöglich  immer  wieder  von  Dichtern  übersetzt  werden,  aber 
freilich  nur  von  solchen,  die  das  wissenschaftliche  Rüstzeug  ebenso  wie  die  Leyer 
zu  handhaben  verstehen.  Richard  Zoozmann  erfüllt  diese  Bedingungen  gut.  In 
der  kurzen  Übersicht  des  Lebensganges  Walthers  hat  ihn  allerdings  die  dichterische 
Phantasie  mit  zu  großer  Sicherheit  manches  schon  als  Tatsache  sehen  lassen,  was 
die  Wissenschaft  doch  nur  als  Hypothese  oder  kaum  als  solche  gelten  läßt,  wie 
Walthers  Geburt  um  1168,  sein  Erzieheramt  bei  einem  Sohne  Friedrichs  IL,  den 
Sängerkrieg  auf  der  Wartburg,  seine  Teilnahme  am  Kreuzzuge  von  1228.  Die  Art 
der  neuhochdeutschen  Umdichtung  —  denn  das  mußte  die  Wiedergabe  vielfach 
werden,  die  sich  mit  Recht  die  Vorarbeiten  auf  diesem  Gebiet,  also  besonders  die 
von  Simrock,  Schröter,  Pannier,  zunutze  macht  —  zeugt  von  der  Fähigkeit,  mit 
der  Übertragung  des  Sinnes  der  in  mittelhochdeutscher  Sprachform  ausgedrückten 
Gedanken  Walthers  in  die  neuhochdeutsche  doch  die  Gefahr  zu  vermeiden,  ganz 
neue  Gedichte  im  Stil  des  19.  oder  20.  Jahrhunderts  zu  schaffen,  was  zum  Teil 
der  Fehler  Schröters  war.  Der  Stil  des  mittelhochdeutschen  Dichters,  und  wo  es 
anging,  auch  die  Reime  und  das  Versmaß  sind  beibehalten,  nur  zuweilen  sind 
mit  Recht  zur  Erhöhung  des  Wohlklanges  Auftakte  da  weggelassen  oder  hinzu- 
gefügt, wo  ein  Wechsel  von  Jamben  und  Trochäen  störend  wirkte ;  das  hätte  aber 
noch  häufiger  angewendet  werden  sollen.  Die  Übersetzung  wird  eingeleitet  durch 
ein  stimmungsvolles  Gedicht  Zoozmanns,  das  die  Dichtung  Walthers  gut  charak- 
terisiert. Der  ganze  Reichtum  dieses  gedankenreichen,  vielseitigen  und  männlichsten 
Lyrikers  des  deutschen  Mittelalters  ist  übersichtlich  geordnet  in  die  Abteilungen: 
Minnelieder  —  Ein  fahrender  Gesell  —  In  Kaisers  Diensten  —  Gegen  die  Kutten 
—  Vom  sinkenden  Reich  —  Religion,  Lehrhaftes  und  Spruchdichtung.  Von  den 
Minneliedern,  die  zu  einem  guten  Teil  den  heutigen  Deutschen  doch  fremdartig 


398  Bücher  der  Weisheit  und  Schönheit,  angez.  von  P.  Lorentz. 

anmuten  —  es  kommt  da  oft  mehr  nur  das  kulturgeschichtliche  Interesse,  nicht 
immer  auch  das  Empfindungsleben  auf  seine  Rechnung  —  hätten  eine  Reihe  ohne 
Schaden  fehlen  können.  Das  Verständnis  der  in  ihrer  Art  ganz  unerreichten 
politischen  Dichtungen  Walthers  wird  durch  gute  geschichtliche  Kenntnisse,  für 
deren  Übermittlung  die  Anmerkungen  zum  Teil  sorgen,  unterstützt  werden  müssen. 
Die  lehrhafte  Spruchpoesie  ist  wie  die  rein  menschlich  schönen  und  wahren  Stücke 
der  Minnelieder  so  modern  wie  möglich  in  der  Vereinigung  des  Humanen  mit  dem 
Nationalen.  Ein  paar  Seltsamkeiten  im  Ausdruck  sind  mir  aufgefallen,  die  eine 
künftige  Auflage  besser  abstellt,  so  S.  83  dann  kusch  dich,  Mut  —  S.  104 
dein  Ehrenschatz-Behalter  —  S.  116  Bannblitz  —  S.  120  das  Schach 
halte  Rast  —  S.  137  niemals  pflanzt  dieRute...  ein  dasGute,  ferner  der 
Druckfehler  in  der  Einleitung  Heinrich  IV.  statt  VI.  Der  beste  Erfolg,  den  wir  dem 
Buche  wünschen,  ist  der,  daß  es  recht  viele  zum  Studium  des  Originals  veranlassen 
möchte,  denn  das  wird  vor  allem  eine  gute  Übersetzung  tun,  eine  schlechte 
schreckt  ab. 

Fritz  Lienhard,  ein  Volksschriftsteller  im  allerbesten  Sinne  des  Wortes,  war 
der  geeignete  Mann,  weitere  Kreise  mit  einer  Auswahl  aus  den  Werken  Friedrichs 
des  Großen  bekannt  zu  machen.  Mit  Recht  hat  er  dabei  gerade  an  die  Jugend 
gedacht,  in  deren  Seelen,  durch  den  Geschichtsunterricht  vermittelt,  die  Gestalt  des 
großen  Königs  bereits  mit  unverlöschlichen  Zügen  geprägt  werden  kann,  so  daß 
die  Möglichkeit  vorhanden  ist,  daß  der  später  im  taten-  und  leidensreichen  Leben 
stehende  Mann  den  eigentlichen  Menschen  und  den  Denker  zu  erfassen  vermag. 
Lienhards  Auswahl  bietet  eine  willkommene  Ergänzung  zu  seiner  Darstellung 
Friedrichs  des  Großen  im  dritten  Bande  der  „Wege  nach  Weimar",  die  sich  bei 
der  weiteren  Fortsetzung  immer  deutlicher  als  recht  brauchbarer  Wegweiser  für 
unsere  nationale  Geisteskultur  darstellen.  Einen  Gesamtbegriff  von  dem  Menschen 
und  Schriftsteller,  dem  Dichter  und  Erzieher,  die  in  dem  Feldherrn  und  Philosophen 
Friedrich  steckten,  erhalten  wir  in  der  Tat  aus  Lienhards  Buch.  Eine  Fülle  von 
Einzelzügen  und  Situationen  werfen  ein  höchst  charakteristisches  Licht  auf  die  Art,, 
wie  der  König  sich  gab,  auf  die  Art,  wie  er  über  Menschen  und  Verhältnisse  urteilte. 
Als  siegreichen  wie  als  geschlagenen  Feldherrn  lernen  wir  ihn  aus  seiner  eigenen 
Darstellung  in  Briefen  und  Gesprächen  kennen,  die  gerichtet  sind  an  seine  Schwester^ 
die  Markgräfin  von  Bayreuth,  an  Voltaire,  an  d'Alembert  und  seinen  Vorleser  de 
Gatt.  Der  Philosoph,  der  über  den  Ursprung  des  Weltalls  reflektiert,  über  den 
Wert  und  Sinn  des  Lebens,  tritt  uns  gleichfalls  in  vollster  Deutlichkeit  nahe.  Sein 
Menschentum  wächst  zu  erhabener  Höhe  empor,  wenn  der  König  rückhaltlos  seine 
eigenen  Fehler  und  Schwächen  bekennt,  sein  nationales  Heldentum  tut  es  da,  wo 
er  sein  Leben  setzt  an  die  Erhaltung  der  Ehre  des  Staates.  Den  Geschichtsschreiber 
lernen  wir  kennen  mit  der  Darlegung  seiner  Gründe  zum  Kriege  gegen  Maria 
Theresia  und  der  Schilderung  der  Schlacht  bei  Mollwitz,  ferner  aus  der  Charak- 
teristik Caesar  Borgias  im  Anti-Macchiavell ,  den  Erzieher  aus  der  Instruktion  für 
Karl  Eugen  von  Württemberg  und  der  für  den  Erzieher  des  späteren  Königs 
Friedrich  Wilhelms  IL  Der  Dichter  Friedrich  der  Große  wird  den  heutigen  Deutschen 
zumal  in  der  übersetzenden  Nachdichtung  verhältnismäßig  wenig  ansprechen ,  da 
man  doch  durch  die  Rhetorik  des  Stils  stark  gestört  wird  und  durch  die  allzu  lehr- 


H.  Unbescheid,  Die  Behandlung  usw.,  angez.  von  P.  Goldscheider.  S9^ 

hafte  Tendenz.  Von  den  geistvollen  und  formvollendeten  Abhandlungen  finden- 
wir  die  über  die  Schmähschriften  und  eins  der  Totengespräche.  Mit  Recht  ganz 
aufgenommen  ist  die  Schrift  über  die  deutsche  Literatur  mit  der  ebenso  charak- 
teristisch großartigen  Verkennung  ihrer  Leistungen  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts wie  der  durchaus  richtigen  Beurteilung  der  Mittel,  die  eine  künftige 
Blüte  hervorbringen  mußten.  Das  Testament  des  Königs,  das  den  Schluß  bildet, 
ist  ein  schönes  Zeugnis  der  menschlich-patriarchalischen  Fürsorge  für  die,  die  ihm 
im  Leben  am  nächsten  gestanden  hatten,  —  Die  Übersetzung  ist  durchweg  nach 
den  besten  vorhandenen  Ausgaben  gegeben  mit  gelegentlicher  Änderung  auf 
Grund  der  französischen  Gesamtausgabe.  Möchte  die  Auswahl  aus  dem  „Werke" 
Friedrichs  des  Einzigen,  dessen  Schlachtfelder  der  Herausgeber  sehr  richtig  als  seine 
besten  Gedichte,  dessen  straffe  Lebensführung  er  als  sein  bestes  Epos  bezeichnet, 
recht  viel  von  der  deutschen,  vor  allem  der  preußischen  Jugend  gelesen  werden! 
Die  höchst  gesckmackvolle  Ausstattung,  die  alle  Bände  der  Bücher  der  Schönheit 
und  Weisheit  aufweisen,  wird  hoffentlich  auch  das  ihre  dazu  beitragen. 

Friedeberg  Nm.  Paul  Lorentz. 

Unbescheid,  Hermann,   Die  Behandlung   der  dramatischen  Lektüre,   er- 
läutert an  Schillers  Dramen.    Dritte  Auflage.    Berlin  1908.    Weidmannsche 
Buchhandlung.    IV  u.  189  S.    3,60  M. 
In  der  vorliegenden  dritten  Auflage  seiner  „Behandlung  der  dramatischen  Lek- 
türe" hat  Unbescheid  eine  Übersicht  über  „Minna  von  Barnhelm",  „Macbeth"  und 
„Faust"  hinzugefügt;  ferner  ist  ein  Verzeichnis  der  seit  1876  mit  den  Jahresberichterr 
der   höheren  Schulen    veröffentlichten  Abhandlungen  über  Schillers  Dramen  bei- 
gegeben worden. 

Unbescheid  hatte  in  der  ersten  Auflage  seines  Werkes  vorzugsweise  Schillers 
Dramen  berücksichtigt,  deren  Aufbau  er  an  der  Hand  Freytagscher  Kunstgesetze 
entwirft.  Er  entwickelt  nicht  ein  Drama  im  Zusammenhange  nach  seinem  Gesamt- 
verlaufe, sondern  er  behandelt  die  einzelnen  dramatischen  Gesichtspunkte,  wie 
charakterisierenden  Akkord,  Exposition,  erregendes  Moment  und  ähnliches,  und 
belegt  sie  jedes  Mal  mit  erläuternden  Beispielen.  Den  Abschluß  dieses  Hauptteiles 
bildet  von  S.  148  ab  unter  C  eine  Übersicht,  welche  Ergebnisse  und  drama- 
turgische Tafeln  enthält;  die  Geometrie  der  letzteren  (S.  151 — 158)  artet  meines 
Erachtens  in  Spielerei  aus.  Dagegen  pflichte  ich  den  Leitsätzen  der  „Ergebnisse" 
durchaus  bei.  Jedoch  mit  Unbescheids  Entfaltung  der  Werke  kann  ich  mich  bei 
der  neuen  Auflage  ebensowenig  befreunden,  als  es  bei  den  früheren  Auflagen  der 
Fall  war.  Er  bemerkt  im  Vorwort  zur  zweiten  Auflage  (1890):  „Fast  die  sämtlichen 
seit  1886  zu  den  klassischen  Dramen  erschienenen  Erläuterungsschriften  haben  sich 
den  (vom  Verfasser)  ausgesprochenen  Grundsätzen  und  gegebenen  Proben  an- 
geschlossen, und  es  sei  den  Herren  Verfassern,  auch  denen,  die  dies  in  sehr  aus- 
giebiger Weise  getan  haben,  an  dieser  Stelle  der  beste  Dank  ausgesprochen."  Ich 
möchte  weder  den  Abschreibern  dafür  danken,  denen  dieses  ironische  Lob  gilt, 
noch  der  sonstigen,  zweifellos  sehr  zahlreichen  Gefolgschaft  Unbescheids.  Diese 
dürre,  mechanische  Abwandlung  von  Kunstparadigmen  hat  dem  deutschen  Unter- 
richte schweren  Schaden  zugefügt.    Begreifen  läßt  es  sich  ja  freilich,  daß  so  viele 


400  F-  Rose,  Heideschulmeister  Uwe  Karsten,  angez.  von  A.  Matthias. 

«lach  diesen  bequemen  Hilfsmitteln  greifen;  gehören  doch  auch  die  stets  wachsenden 
Auflagen  der  fertigen  Dispositionen  zu  dem  Handwerkzeuge  der  Lehrer  —  und 
Schüler  I  Dem  Geiste  einer  selbständigen  und  sinnigen  Erklärungskunst  entsprechen 
diese  Schemata  nicht;  und  sie  gewinnen  nicht  dadurch,  daß  überall  unter  dem 
Strich  „die  auffälligsten  Mängel"  der  klassischen  Dramen  nach  Düntzer  zu- 
sammengetragen werden. 

Cassel.  P.  Goldscheider. 

I^ose,  Felicitas,  Heideschulmeister  Uwe  Karsten.  Roman.  Berlin  1909. 
Deutsches  Verlagshaus  Bong  &  Co.  320  S.  4  M.  geb.  5  M. 
Tagebuchblätter  einer  Frühvollendeten  könnte  man  diesen  Roman  auch  betiteln. 
Denn  Ursula  Diewen,  die  reiche  Hamburger  Patriziertochter,  welche  den  kernigen 
Heideschulmeister  Uwe  Karsten  zum  Gatten  nimmt  und  mit  ihm  über  die  Maßen 
glücklich  wird,  führt  die  Feder  und  bildet  die  Seele  des  Romans,  in  welcher  sich 
das  Bild  des  Heideschulmeisters  spiegelt.  —  Frühvollendet  in  jedem  Sinn  ist  diese 
Frau;  deshalb  geht  sie  so  früh  dahin,  weil  sie  für  diese  Welt  zu  edel  ist  und  ein 
Glück  genießt,  das  nur  im  Lande  der  Sehnsucht  eine  Heimstätte  zu  finden  hat. 
Und  nachdem  sie  geschieden  aus  ihrem  Glück,  ist  es  dem  Leser,  als  sei  ein  An- 
gehöriger dahingegangen,  der  ihm  wie  kein  anderer  ans  Herz  gewachsen  war, 
und  als  ob  eine  Lücke  gerissen  sei  im  Herzen,  die  unausfüllbar  klafft.  Die 
Oründe  für  diese  Wirkung  liegen  nahe.  Die  Künstlerin,  die  diesen  Roman 
und  das  sonnige  Wesen  der  Ursula  Karsten  geschaffen  hat,  sieht  nicht  wie  so 
viele  Künstler  unserer  Tage  nur  die  Schatten,  sie  ist  ein  Sonntagskind  und  weiß 
■die  Sonne  zu  sehen.  Sie  sieht  nicht  die  Schwächen  der  Menschen  allein  und  hängt 
nicht  knechtisch  an  ihnen;  sie  sieht  die  Stärke,  die  Kraft  der  Seele,  wie  sie  die 
Stillen  im  Lande  hegen,  und  sie  sieht  sie  nicht  allein,  sie  glaubt  an  diese  Kraft 
in  einer  Zeit,  die  in  der  Verherrlichung  der  Schwächen  sich  so  gern  ergeht.  Daß 
dieser  Roman  in  dieser  Monatschrift  besprochen  wird,  hat  er  seinem  Erziehungswert 
-ZU  danken.  Ein  idealer  Erzieher  steht  in  seinem  Mittelpunkt.  Der  prächtige  Uwe 
Karsten,  dessen  Wesen  geadelt  wird  durch  Entsagung  und  Pflichtgefühl,  auf  den 
das  Wort  Goethes  paßt:  „Wer  andre  wohl  zu  leiten  strebt,  muß  fähig  sein,  viel  zu 
entbehren";  dieser  Mann,  der  die  Lebensbedingungen  der  Großstadt  klein  und  den 
Horizont  der  Großstadt  eng  findet,  aber  die  Heide  und  die  Einsamkeit  als  Weite 
erkennt,  ein  Schulmeister  von  echtem  Schrot  und  Korn,  der  alles  mit  Güte  und 
Gerechtigkeit  auf  die  rechten  Wege  bringt  und  der  seine  pädagogischen  Ideale  in 
den  Worten  zusammenfaßt:  „Sechzig  Knaben  und  Mädchen,  sechzig  Menschenseelen! 
Und  in  jeder  ein  heiliger  Gottesfunken,  in  jeder  ein  Durst,  ein  Verlangen  nach  Licht. 
In  jeder  eine  rührende  Bitte,  daß  man  diesen  Funken  anblase,  wachsen  lasse,  un- 
ermüdlich schüre,  bis  er  zur  reinen  Flamme  werde.  Und  mir  gilt  diese  Bitte;  ich 
darf  ihr  Erfüller  sein.  Gibt  es  etwas  Köstlicheres?  Schulmeister!  Man  spricht  es 
so  gedankenlos  hin;  und  doch  sollte  niemand  so  vermessen  sein,  sich  so  zu  nennen.  — 
Des  großen  einzigen  Schulmeisters  Handlanger,  das  bin  ich."  Und  neben  ihm 
seine  prächtige  Ursula,  die  immer  von  der  Empfindung  belebt  wird,  viel  zu  wenig 
Pflichten  zu  haben.  Beide  ^er  verstaubten,  dickköpfigen,  engherzigen  Patrizier- 
-herrlichkeit  der  Hamburger  gegenüber  erfüllt  von  dem  Stolze,  daß  es  wohl  eine 


F.  Heim,  Materialien  zur  Herodotlektüre,  angez.  von  G.  Lang.  401 

Kluft  zwischen  den  Anschauungen  des  Hauses  Diewen  und  denen  des  Lehrer- 
hauses in  der  Heide  gebe,  niemals  aber  zwischen  Mensch  und  Mensch.  Doch  genug. 
Auf  Einzelheiten  einzugehen,  ist  hier  nicht  Raum;  und  wozu  aus  der  Schule  plaudern, 
in  welcher  Uwe  Karsten  unterrichtet?  Auch  aus  der  Schule  des  ihn  umgebenden 
Lebens,  in  welche  er  so  wirksam  eingreift?  —  Alles  ist  mit  so  plastischer  Kunst 
gezeichnet;  der  Stil  so  sorgsam  und  offenbar  mit  vielem  Fleiß  geformt  und  gestaltet, 
daß  man  das  Buch  getrost  in  die  Reihe  mit  unseren  Klassikern  stellen  kann. 
Sie  brauchen  sich  nicht  voreinander  zu  schämen.  Und  daß  es  ein  Dorfschulmeister 
ist,  der  hier  als  Vorbild  uns  entgegentritt,  wird  akademischer  Bildung,  die  sich 
über  Kastengeist  erhaben  fühlen  sollte,  gewiß  nichts  schaden,  besonders  in 
unseren  Tagen,  da  man  berechtigtes  Standesgefühl  und  Standesdünkel  doch  nicht 
immer  fein  säuberlich  zu  trennen  weiß. 

Berlin.  A,  Matthias. 

Helm,  Franz,  Materialien  zur  Herodotlektüre.  Heidelberg  1908.  Carl  Winters 
Verl.    XV  u.  202  S.    gr.  8°.    5  M.,  geb.  in  Leinw.  6  M. 

,Es  steckt  viel  pädagogischer  Stoff  und  pädagogischer  Sinn  im  Herodot", 
dieses  Wort  Otto  Willmanns  hat  sich  der  Verfasser  zum  Motto  gewählt,  und  es  ist 
ihm  in  der  Tat  gelungen,  dessen  Wahrheit  trefflich  zu  veranschaulichen.  Er  macht 
auf  alles  aufmerksam,  was  in  erzieherischer  Hinsicht  bedeutsam  ist;  er  tut  dies 
aber  nicht  pedantisch  zerpflückend  oder  durch  Einzelerklärung  ermüdend,  er  greift 
vielmehr  die  hervorstechenden  Gesichtspunkte  heraus  und  verarbeitet  sie  zu  kleinen 
Abhandlungen  über  die  Geschichte  im  allgemeinen  und  die  behandelten  Personen 
und  Ereignisse  im  besonderen,  dabei  werden  kultur-  und  literaturhistorische,  auch 
ethische  Fragen  eingehend  berücksichtigt. 

Das  Buch  ist  frisch  und  anregend  und  in  aufrichtiger  Begeisterung  für  Herodot 
hinreißend  und  begeisternd  geschrieben.  Man  spürt  es  ihm  an,  es  ist  nicht 
gemacht,  es  ist  geworden.  Die  einzelnen  Abschnitte  sind  aus  des  Verfassers 
Erfahrung  herausgewachsen;  erst  als  sie  wiederholt  im  Unterricht  durchgearbeitet 
waren,  wurden  sie  der  Veröffentlichung  für  würdig  befunden.  So  enthält  das 
Buch  das  Beste  und  Reifste,  was  nur  ein  guter  Pädagog  in  jahrelangem  Bemühen 
zeitigen  kann ;  es  ist  ein  treffliches  Vademecum  für  Herodotleser,  ein  pädagogischer 
Kommentar  voll  goldener  Worte  praktischer  Weisheit. 

Der  Verfasser  sieht  im  Gymnasium  die  Elementarschule  der  Wissenschaft  und 
in  diesem  Sinne  übt  und  lehrt  er  die  Kunst,  die  schwierigsten  Dinge  und  Fragen 
an  der  Hand  Herodots  in  elementarer  Weise  dem  Verständnis  der  Schüler  zu 
erschließen.  Es  ist  bewundernswert,  wie  er  aus  anscheinend  nebensächlichen 
Notizen  und  Episoden  in  pädagogischer  Hinsicht  Kapital  zu  schlagen  versteht, 
ohne  der  naheliegenden  Gefahr  zu  erliegen,  sich  in  lauter  Exkursen  zu  zersplittern. 
Er  arbeitet  zugleich  den  künstlerischen  Aufbau  des  Werkes  anschaulich  heraus, 
indem  er  den  großen  Gesichtspunkt  Herodots,  den  ewigen  Kampf  und  Gegensatz 
von  Europa  und  Asien,  Hellenen  und  Barbaren,  Orient  und  Okzident,  zum  Richt- 
punkt seiner  Auswahl,  zum  Mittelpunkt  seiner  Exegese  macht;  in  diesem  laufen 
schließlich  alle  Fäden  seiner  Darstellung  zusammen. 

Um  einzelnes  noch  besonders  hervorzuheben,   sei  hier  auf   die   meisterhafte 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  26 


402  A-  Patin,  Der  Lucidus  Ordo  des  Horatius, 

Behandlung  der  Rede  des  Artabanos  (VII,  10)  S.  54 — 62  und  auf  die  Charakteristik 
des  Xerxes  am  Schluß  von  Buch  VIII  (S.  151 — 157)  hingewiesen,  welche  das 
durch  das  ganze  Buch  sorgsam  vorbereitete  Material  erschöpfend  zusammenfaßt. 
Besonders  anziehend  sind  die  reichlich  herangezogenen  Parallelen  aus  der  Literatur 
verschiedener  Völker  und  Zeiten,  die  ungezwungen  angefügten  Ausblicke  auf 
die  Weltgeschichte,  nicht  zum  wenigsten  auf  Preußens  und  Deutschlands  jüngste 
Vergangenheit,  die  geschickte  Hervorkehrung  geschichtsphilosophischer,  moralischer 
und  patriotischer  Geschichtspunkte,  die  nirgends  aufdringlich  werden. 

Nur  in  den  Dispositionen  und  Vergleichen  scheint  mir  der  Verfasser  des  Guten 
etwas  zu  viel  zu  bieten.  Denn  hiermit  kann  man  erfahrungsgemäß  den  Schülern 
den  schönsten  Schriftsteller  gründlich  verleiden,  man  braucht  noch  nicht  einmal 
ein  ungeschickter  Pädagoge  zu  sein.  Deshalb  warnt  auch  das  Vorwort  mit  Recht 
davor,  im  Unterricht  das  Gebotene  restlos  zu  benützen.  Individualisierende,  den 
Gaben  von  Schüler  und  Lehrer  angemessene  Auswahl  und  weise  Beschränkung 
gewährleistet  allein  den  vollen  Nutzen  des  Buches.  Am  meisten  wird  es  derjenige 
Lehrer  verwerten  können,  der  neben  Herodot  den  Aufsatz  in  Obersekunda  zu  lehren 
hat.  Denn  nur  so  kann  er  die  ganze  Fülle  der  gegebenen  Anregungen  nach  und 
nach  ausschöpfen.  In  der  griechischen  Stunde  aber  muß  man  sich  hüten,  durch 
allzuviel  lehrhaftes  Beiwerk  den  Eindruck  des  Originals  und  das  Weiterschreiten 
in  der  Lektüre  zu  beeinträchtigen. 

Da  das  tüchtige  Werk  jedenfalls  mehrere  Auflagen  erleben  wird,  so  möchte  ich 
dem  Verfasser  empfehlen,  künftig  zur  leichteren  Orientierung  nicht  bloß  die  jeweils 
besprochenen  Herodotstellen,  sondern  auch  kurze  Stichworte  und  Inhaltsangaben 
am  Rande  und  ein  ausführliches  Sachregister  hinten  beizufügen.  Man  könnte 
überhaupt  aus  dem  Buch  statt  der  zusammenhängenden  von  Herodotkapitel  zu 
Herodotkapitel  weitereilenden  Abhandlung  eine  nach  allgemeinen  Gesichtspunkten 
angeordnete  Artikelserie  herausschälen.  Da  aber  eine  so  radikale  Umarbeitung 
nicht  mehr  möglich  ist,  so  könnten  doch  die  sich  deutlich  abhebenden  größeren 
Abhandlungen  durch  besondere  Überschriften  getrennt  werden,  ein  Verfahren^ 
durch  welches  das  Buch  nicht  bloß  übersichtlicher,  sondern  auch  gefälliger  und 
einladender  erscheinen  würde,  als  dies  bei  dem  fast  ungegliederten,  endlos  sich 
fortspinnenden  Vortrag  der  Fall  ist. 

Stuttgart.  Gustav  Lang. 

Patin,  A.,  Der  Lucidus  Ordo  des  Horatius.    Ein  neuer  Schlüssel  für  Kritik 
und   Erklärung,   gewonnen   aus   der  Dispositionstechnik  des  Dichters.      Gotha 
1907.    F.  A.  Perthes.    48  S.    8^.    1,20  M. 
Horaz  schreibt  (A.  P.  40  sq.)   dem  Dichter  vor,  bei  der  Abfassung  eines  Ge- 
dichtes lichtvolle  Ordnung  (lucidus  ordo)  walten  zu  lassen,  und  fügt  hinzu,  diese 
Ordnung   bestehe   darin,   daß   er   aus  der  Masse   des  sich  zudrängenden  Stoffes 
immer  nur  das  Angemessene  (debentia  dici)  auswähle.    Diesen  Ausdruck  bezieht 
der   unbefangene  Leser   auf  die  innere  Art,    die  Qualität  des  Gedankens.    Patin 
jedoch  wendet  ihn  auf  die  Quantität  an,  d.  h.  die  Verszahl,  und  behauptet,  Horaz 
habe   seine   Sermonen    —   mit  wenigen  Ausnahmen   —   nach  einem  festen  und 
künstlichen   Zahlenschema  gedichtet,  wobei  einem  jeden  Teile  des  Gedichtes  bis 


angez.  von  L.  Ehrenthal.  403 

in  die  kleinste  Unterabteilung  hinein  immer  nur  gerade  so  viel  Verse  zugewiesen 
worden  seien,  wie  auf  einen  anderen,  dem  in  Frage  stehenden  Teile  entsprechenden 
Teil  kämen,  sodaß  dadurch  eine  bis  ins  kleinste  ausgearbeitete  Responsion  ent- 
stände. Dieser  zahlenmäßige  Plan  ist  nach  Patin  bei  den  verschiedenen  Sermonen 
auch  verschieden,  hier  einfacher,  dort  künstlicher.  Beispielsweise  sei  Sat.  I,  1 
nach  folgendem  Plane  gearbeitet:  E.  HVa  |  A.  I2V2, 17, 16  H  M.  2  \\  B.  17, 12, 16  |  S.  14. 
Abgesehen  von  den  beiden  überschüssigen  Vershälften  entspräche  hier  alles  ein- 
ander: E  (Einleitung)  habe  ebenso  viel  Verse  wie  S  (Schluß).  Der  erste  Haupt- 
teil der  Ausführung  A  habe  dieselbe  Verszahl  wie  B,  der  zweite,  und  beide  zer- 
fielen in  je  drei  Unterabteilungen,  die  einander  hinsichtlich  der  Verszahl  nach  dem 
Schema  a,  b,  c,  b,  a,  c  entsprächen.  Zwischen  A  und  B  stehe  M,  das  Mittelstück, 
das  hier,  wie  auch  sonst,  den  Hauptgedanken  enthalte. 

Die  Verzwicktheit  dieses  Schemas  wird  von  den  für  andere  Sermonen  auf- 
gestellten Ordnungen  noch  bei  weitem  überboten. 

Sind  diese  Behauptungen  richtig,  so  wird  durch  sie  das  ganze  bisherige  Urteil 
über  den  Dichter  der  Sermonen  über  den  Haufen  geworfen.  Es  fragt  sich  nur,  ob 
sie  richtig  sind. 

Der  Verfasser  gelangt  zu  ihnen  mit  Aufwendung  von  viel  haarspaltendem 
Scharfsinn  und  einer  Sezierungskunst,  die  keineswegs  frei  ist  von  Willkür  und 
Gewaltsamkeit.  So  soll  S.  II,  6  (117  Verse)  in  drei  völlig  gleiche  Teile  zu  je 
39  Versen  zerfallen,  während  in  Wirklichkeit  das  Gedicht,  wie  jeder  Unbefangene 
zugeben  wird,  sich  ganz  anders  gliedert  Auf  eine  Einleitung  von  15  Versen  folgt 
die  Ausführung  in  zwei  Hauptteilen  von  44  und  58  Versen.  Beide  setzen  sich 
aus  je  zwei  Unterabteilungen  zu  24  und  20  und  zu  20  und  38  Versen  zusammen, 
von  denen  die  letzte  zugleich  das  Ganze  wirkungsvoll  abschließt. 

Zu  besonders  lebhaftem  Widerspruche  fordert  eine  Stelle  der  Schrift  heraus, 
in  der  Patin  dem  Dichter  zumutet,  sich  um  seines  von  Patin  „neuentdeckten 
Kunstgesetzes"  willen  überaus  wunderlich  ausgedrückt  zu  haben.  Der  Sat.  II,  3, 287 
erwähnte  närrische  Menenius  soll  kein  anderer  sein,  als  der  wegen  seines  Un- 
glückes gegen  die  Etrusker  durch  freiwilligen  Hungertod  aus  dem  Leben  ge- 
schiedene Sohn  des  bekannten  Plebejerfreundes.  Horaz  soll  nun  sagen:  Nach 
stoischer  Auffassung  gehört  der  abergläubische  Freigelassene,  der  durchaus  nicht 
sterben  will,  ebenso  wie  ein  kurz  vorher  erwähnter  Mörder  und  Selbstmörder 
namens  Marius  zu  der  zahlreichen  Sippschaft  des  Menenius.  Dieser  war  aber  ein 
Selbstmörder.  Folglich  müßte  Horaz  behauptet  haben,  der  Freigelassene,  der  den 
Tod  fliehe,  gehöre  zu  den  Selbstmördern  1  Dies  ist  nun  freilich  nicht  die  Meinung 
Patins,  der  vielmehr  so  interpretiert:  Er  ist  ebenso  närrisch  wie  Menenius.  Aber 
eben  dies  hätte  Horaz  deutlich  sagen  müssen,  wenn  er  verstanden  werden  wollte. 
Warum  nun  also  diese  seltsame  Dunkelheit?  Patin  antwortet:  „Weil  ihm  das 
Dispositionsschema  nicht  mehr  Raum  gestattete,  weil  er  aus  viel  breiterem  Ent- 
würfe .  .  .  weghobelte,  daß  die  Späne  flogen,  weil  er  .  .  .  zusammendrückte  bis 
alles  dem  gewollten  Maße  entsprach."  Und  doch  glaubt  Patin,  daß  dem  Dichter, 
wenn  er  sich  auch  nicht  der  Illusion  hingegeben  habe,  „die  Leser  würden  die  Eben- 
mäßigkeit seiner  Disposition  in  ihrer  ganzen  Strenge  erkennen  und  bewundern, 
solche  Grundrisse  ...  ein  zuverlässiges  und  erprobtes  Mittel  gewesen  seien,  um 

26* 


404  P-  Darmstaedter,  Die  Vereinigten  Staaten  usw.,  angez.  von  A.  Höfer. 

objektiv  untadelige  Gebilde  zu  erzielen".  Nun,  in  diesem  Falle  hat  sich  das 
Mittel  nicht  eben  bewährt,  denn  es  hat  den  Dichter  veranlaßt,  etwas  Unsinniges  zu 
sagen.  Hätte  Patin  recht,  träfe  dann  auf  Horaz  nicht  sein  eigenes  Wort  zu:  „In- 
sanire  parat  certa  ratione  modoque?" 

Welch  eine  wunderliche  Vorstellung  von  dem  Vorgange  der  dichterischen 
Tätigkeit  liegt  doch  dieser  Schrift  zugrunde I  Mag  die  Lyrik  —  und  in  der  Tat 
beschäftigt  sich  der  Schluß  der  Patinschen  Arbeit  mit  einer  Anzahl  Oden  des  Horaz. 
Doch  sieht  er  selbst  die  eigentliche  Bedeutung  seiner  Leistung  in  dem,  was  sich  auf 
die  Sermonen  bezieht  —  mag  also  die  Lyrik  schon  wegen  ihres  Zusammenhangs 
mit  der  Musik  eine  gewisse  zahlenmäßige  Responsion  vertragen,  ja  stellenweise 
fordern:  ganz  anders  steht  es  mit  den  Gebilden  der  Musa  pedestris.  Hier  waltet 
nur  das  selbstverständliche  künstlerische  Gesetz,  daß  Teile  von  gleicher  Bedeutung 
für  das  Ganze  auch  annähernd  gleichen  Raum  einnehmen.  Aber  eben  nur  an- 
nähernd! Der  Eindruck  harmonischer  Schönheit,  den  die  Lektüre  dieser  Dichtungen 
erweckt,  beruht  auf  dem  Feingefühl  für  das  Ebenmaß  des  Ganzen  und  seiner  Teile, 
das  dem  Dichter  gewissermaßen  in  den  Fingerspitzen  saß,  nicht  auf  dem  starren 
Zwange  der  Patinschen  Versarithmetik.  Durch  diese  können  nur  Gliederpuppen 
entstehen,  keine  blühenden  Gebilde  voll  warmen  inneren  Lebens.  Welcher  Dichter 
wird  seine  gesunde  Muse  in  eine  solche  Schnürbrust  pressen  1  Hat  Horaz  wirklich 
so  gearbeitet,  so  ist  er  kein  Dichter  gewesen,  sondern  nur  ein  fingerierender 
Versifex.  War  er  aber  ein  Dichter  —  und  er  war  es,  trotz  seiner  eigenen  be- 
scheidenen Ableugnung  —  so  hat  er  nicht  nach  jenem  Rezept  gearbeitet. 

Wie  trügerisch  die  Methode  Patins  ist,  kaan  man  leicht  erkennen,  wenn  man 
sie  auf  andere  Gedichte  ähnlicher  Art,  beispielsweise  auf  Goethes  beide  Episteln 
in  Hexametern  anwendet.  Auch  da  läßt  sich  bei  einigem  guten  Willen  ein  Zahlen- 
schema herausklügeln,  das  sich  wunderschön  auf  dem  Papiere  ausmacht  und 
dennoch  ganz  wertlos  ist." 

Was  würde  wohl  ein  Dichter,  d.  h.  ein  wirklicher,  zu  der  vorliegenden  Schrift 
sagen?  Oder  meinetwegen  ein  Kollegium  von  zwölf  Dichtern,  obgleich  es  so 
viele,  die  zugleich  etwas  von  Hexametern  verstehen,  in  Deutschland  kaum  geben 
dürfte.  Ich  möchte  wetten,  daß  die  Antwort  aller  dem  Sinne  nach  dieselbe  sein 
würde,  und  daß  einer  von  ihnen,  der  von  der  Schulbank  her  noch  einige  horazische 
Brocken  im  Kopfe  hätte,  lächelnd  ausrufen  würde;    Credat  Judaeus  Apella! 

Halberstadt.  Ehrenthal. 

Darmstaedter,    Paul,    Die  Vereinigten    Staaten    von  Amerika.    Ihre  po- 
litische, wirtschaftliche  und  soziale  Entwicklung.    Leipzig  1909.  Quelle 
und  Meyer.    VI  u.  242  S.    geh.  3,60  M.,  geb.  4  M. 
Der  gewaltige  Aufschwung  der  Vereinigten  Staaten  in  wirtschaftlicher,  politischer 
und  kommerzieller  Beziehung  hat  in  den  letzten  Jahren  eine  wahre  Flut  von  Schriften 
über  amerikanische  Verhältnisse  hervorgerufen,  von  denen  weitaus  die  meisten  über 
mehr  oder  weniger  ausgedehnte  persönliche  Erfahrungen  auf  einzelnen  Gebieten 
berichten.    Im  Gegensatz  zu  dieser  Hauptmasse  der  Amerika-Literatur  gibt  das  vor- 
liegende Buch  eine  auf  ausgebreiteten  Quellenstudien  beruhende,  in  ihrer  Form 
aber  kurz  zusammengefaßte  objektive  Darstellung  des  Werdegangs  der  Vereinigten 


Gebhardts  Handbuch  der  deutschen  Geschichte,  angez.  von  S.  Widmann.        405 

Staaten  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  wirtschaftlichen  und  sozialen  Ver- 
hältnisse, ohne  deren  eingehende  Erforschung  die  Geschichte  gerade  dieses  Landes 
überhaupt  nicht  zu  verstehen  ist.  Es  war  keine  leichte  Aufgabe,  in  einem  so  engen 
Rahmen  das  Wesentlichste  über  die  Entwicklung  eines  so  riesigen  und  so  viel- 
seitigen Gebietes  im  Zusammenhang  darzustellen;  aber  der  Verfasser  hat  die  Auf- 
gabe gut  gelöst,  und  insbesondere  das  bis  auf  die  neueste  Zeit  fortgeführte  Schluß- 
kapitel über  die  Probleme  der  Gegenwart  verdient  alles  Lob  in  seiner  meisterhaft 
knappen  Zusammenfassung  der  verschiedenartigen  großen  Aufgaben,  vor  die  das 
junge  amerikanische  Volk  gestellt  ist.  Angesichts  einer  solchen  gigantischen  Ent- 
wicklung schrumpft  die  geschichtliche  Bedeutung  gar  mancher  europäischen 
»Weltbegebenheit"  doch  stark  zusammen,  und  schon  um  dieses  Maßstabes  willen 
wäre  für  jeden  Historiker,  nicht  zum  mindesten  aber  auch  für  den  neuphilologischen 
Schulmann,  eine  gewisse  Kenntnis  der  Entwicklung  der  Vereinigten  Staaten  von 
großem  Nutzen.  Das  Darmstaedtersche  Buch  ist  für  einen  solchen  Zweck  durchaus 
zu  empfehlen,  zumal  da  es  auch  ausgedehnte  Literaturnachweise  gibt.  Zu  bedauern 
ist  nur  der  Mangel  einer  oder  mehrerer  Karten,  die  zum  besseren  Verständnis  der 
geschichtlichen  Verhältnisse  viel  beigetragen  hätten. 

Wiesbaden.  Aug.  Höfer. 

Gebhardts  Handbuch  der  Deutschen  Geschichte,  in  Verbindung  mit  R.  Löwe, 
W.  Schnitze,  H.  Hahn,  K.  Köhler,  F.  Großmann,  G.  Liebe,  G.  Ellinger,  G.  Erler, 
G.  Winter,  A.  Kleinschmidt  und  G.  Schuster,  neu  herausgegeben  von  Ferdi- 
nand Hirsch.    I.  Band:  Von  der  Urzeit  bis  zur  Reformation.    XII  u.  724  S. 
II.  Band:  Von  der  Reformation  bis  zur  Gegenwart.    VIII  u.  952  S.    Union  Deutsche 
Verlagsgesellschaft  in  Stuttgart,  Berlin,  Leipzig  o.  J.   gr.  8°.    17,50  M.,   geb.  in 
Halbfrz.  21  M. 
Wenn  ein  in  einem  verhältnismäßig  kleinen  Kreis  von  Abnehmern  verbreitetes 
Handbuch  innerhalb  fünfzehn  Jahre  drei  Auflagen  erlebt,  so  zeugt  diese  Tatsache  für 
seine  Brauchbarkeit,  überhebt  jedoch  nicht  den  Beurteiler  der  Aufgabe,  zu  prüfen,  ob  es 
den  Anforderungen  entspricht,   ob  die  früher  gerügten  Mängel  beseitigt,  ob  die 
Ergebnisse  der  neuesten  Forschungen  berücksichtigt  und  verwertet  sind.    Leider 
hat  über  der  neuen  Auflage  ein  Mißgeschick  geschwebt,  weil  der  Begründer  des 
Werkes  starb,  ein  anderer  seine  Arbeit  übernehmen  mußte  und  für  einen  gleichfalls 
verstorbenen  Mitarbeiter  zwei  neue  Kräfte  eintraten.    Wie  erklärlich  übt  der  neue 
Herausgeber  gegen  das  Überkommene  eine  gewisse  Schonung,  auch  wo  sie  andern 
vielleicht  nicht  am  Platze  erscheint.     Bei   manchen    strittigen   Punkten,    z.  B.  in 
Fragen  der  germanischen  Urzeit  ist  sie  berechtigt.    Die  Polemik  möchte  ich  aus 
einem  derartigen  Handbuche  ausgeschlossen  sehen.    Es  hat  die  Tatsachen  anzu- 
geben, Zweifelhaftes  als  solches  zu  bezeichnen  und  höchstens  kurz  den  etwa  be- 
sonders hervortretenden  einseitigen  Standpunkt  eines  Werkes  zu  bezeichnen,  darf 
aber  den  Leser  in  seinem  Urteil  nicht  voreinnehmen  gegen  das  eine  oder  das  andere 
Buch.    In  dieser  Hinsicht  kann  das  Handbuch  noch  Verbesserung  erfahren.    Gerne 
erkenne  ich  an,  daß  die  Literatur,  soweit  ich  prüfte,  sorgfältig  ergänzt  ist.    Überaus 
dankenswert  ist  die  Fortführung  der  Darstellung  bis  Ende  1905.    Wiederholt  nimmt 
man  in  Einzelheiten  die  bessernde  Hand  wahr,  z.  B.  II,  S.  299  und  330.    II,  S.  423 
Anm.  2  zu  §  123  ist  zwar  geändert,  was  zu  tadeln  war,  aber  zum  Schaden  der 


406  P-  Neubauer,  Kleine  Staatslehre  für  höhere  Lehranstalten. 

Sache.  Früher  stand  der  seltsam  stilisierte  Satz :  „Auch  Nassau-Usingen  bekämpfte 
letztere  (die  Reichsritterschaft),  mußte  darum  vom  Freiherrn  vom  Stein  die  bittersten 
Wahrheiten  hören  und  suchte  den  Grafen  Waldbott  Reiffenberg  zu  rauben."  Jetzt 
ist  der  Stil  gebessert,  die  Tatsache  —  vielleicht  durch  den  Druckfehlerkobold  —  ver- 
wischt: „Auch  Nassau-Usingen  bekämpfte  letztere,  suchte  die  Grafen  Waldbott 
und  Reiffenberg  zu  berauben  und  mußte  darum  usw."  Statt  „und"  ist  zu  lesen 
„  um  (Reiffenberg) " .  Grafen  von  Reiffenberg  gab  es  nicht,  sondern  nur  Herren  von  Reiffen- 
berg, deren  letzter  in  Mainzischer  Gefangenschaft  1686  gestorben  war.  Seine  Herrschaft 
fiel  an  Franz  Freiherrn  von  Waldbott-Bassenheim.  Im  18.  Jahrhundert  starb  auch 
die  Westerwälder  Linie  des  Geschlechts  Reiffenberg  aus.  Auf  derselben  S.  423, 
Anm.  1  steht  immer  noch  der  Ausdruck  „seitens  von".  Überhaupt  vermißt  man 
zuweilen  die  sorgfältige  Durchsicht.  Obgleich  I,  S.  199  die  neuesten  Schriften 
über  die  Bonifatius-Codices  angeführt  sind,  wird  S.  198  noch  von  der  „Bibel" 
gesprochen,  die  Bonifatius  „beim  Tode  schützend  über  sein  Haupt"  hielt.  Der 
sog.  Ragyndrudis-Codex  in  Fulda  aber  ist  keine  Bibel,  sondern  ein  Sammelband 
theologischer  Schriften.  Das  von  dieser  Handschrift  verschiedene  Evangeliar  in 
Fulda,  geschrieben  vom  Iren  Cadmug,  das  keine  Spuren  eines  Schwertstreiches  zeigt, 
ist  mit  ihr  verwechselt,  weil  in  den  alten  Berichten  von  einem  „sacer  evangelium 
codex"  die  Rede  ist.  I,  S.  338  korrigiere  „Ott"  in  „Otto",  wie  auf  der  folgenden 
Seite  richtig  angegeben  wird.  I  S.  530  und  531  finden  sich  Wiederholungen. 
I,  S.  716  ist  der  Ausdruck  „dem  er  nach  Königsberg  folgte  und  ihm  (1)  persönlich 
nahestand"  zu  verbessern  durch  Streichen  des  „ihm".  II,  S.  7  steht  immer  noch 
die  „Taxordnung  für  den  Loskauf  aller  erdenklichen  Sünden",  wenn  auch  durch 
das  zugefügte  „gleichsam"  etwas  gemildert.  S.  8  wird  Prierias  „Meister  des 
päpstlichen  Palastes"  genannt;  der  Titel  Magister  sacri  palatii  läßt  sich  nicht 
übersetzen,  da  die  Verdeutschung  eine  ganz  falsche  Vorstellung  von  dem  Amte 
erweckt.  S.  136  steht  einmal  der  23.  März  1609  als  Todestag  des  letzten  Herzogs 
von  Jülich-Cleve-Berg  angegeben,  einmal  der  25.  März,  und  dies  ist  der  richtige 
Tag.  S.  211  werden  noch  Reunionskammern  zu  Breisach  und  Besangon  erwähnt, 
während  es  eine  solche  nur  in  Metz  gab  (seit  Oktober  1679).  In  den  beiden 
anderen  Orten  gaben  die  Gerichtshöfe  das  Urteil  ab.  Siehe  M.  Immich,  Geschichte 
des  europäischen  Staatensystems  S.  105.  Maria  Theresia  wird  S.  314  zu  ungünstig 
beurteilt.  S.  434  ist  zu  korrigieren:  „Deutschland  in  seiner  tiefsten  Erniedrigung" 
in  „Deutschland  in  seiner  tiefen  Erniedrigung".  Zu  S.  439:  Im  Jahre  1807  war 
Schill  noch  nicht  Major.  S.  445  Anm.  4  steht  noch  wie  in  den  ersten  Auflagen 
die  falsche  Form  „verhing",  S.  570  wie  in  diesen  „Anna  Emmerich"  statt  des 
gewöhnlichen  Namens  „Anna  Katharina  Emmerich",  S.  79  selbst  der  alte  Druck- 
fehler „Adiophora"  und  der  Ausdruck  „alle  Haltung  (?)  verloren  hatte",  S.  9  und 
18  „voll  und  ganz".  Bei  einer  neuen  Auflage  muß  auch  solchen  Kleinigkeiten 
Aufmerksamkeit  zugewandt  werden. 

Münster  i.  W.  S.  Widmann. 

Neubauer,  Fr.,  Kleine  Staatslehre  für  höhere  Lehranstalten.    Halle  a.  d.  S. 
1909.    Buchhandlung  des  Waisenhauses.    44  S.    8^.    kart.    0,50  M. 
Der  allen  Geschichtslehrern  bekannte  Verfasser  hat  das  Büchlein  in  der.  un- 


angez.  von  E.  Stutzer.  407 

zweifelhaft  richtigen  Überzeugung  geschrieben,  daß  besondere  Vorkehrungen 
nötig  sind,  um  unsern  Schülern  und  Schülerinnen  ein  besseres  und  tieferes  Ver- 
ständnis für  unser  Staatsleben  und  für  unsere  öffentlichen  Einrichtungen  überhaupt 
mitzugeben,  und  gliedert  den  Stoff  in  vier  Teile.  Der  erste  (bis  S.  15)  enthält 
Allgemeines  über  Aufgaben,  Formen  und  Einkünfte  des  Staates  sowie  über  das 
Heerwesen;  der  zweite  (bis  S.  25)  bezieht  sich  auf  die  Verfassung  und  die  Ver- 
waltung des  Deutschen  Reiches,  der  dritte  (bis  S.  30)  auf  Preußen;  der  vierte 
bringt  wiederum  Allgemeines  und  zwar  über  die  Volkswirtschaft  (Geld,  Kredit, 
Banken,  Kolonien)  und  ihre  Theorien,  versucht  also  auch  eine  erste  Einführung  in 
die  großen  Gegensätze  Individualismus  und  Sozialismus.  Einige  statistische  Angaben 
finden  sich  auch  in  den  Anmerkungen,  deren  Umfang  meist  klein  ist,  von  dreien 
abgesehen;  im  ganzen  sind  es  21  Anmerkungen,  die  entweder  kurze  Definitionen 
oder  nähere  Erläuterungen  enthalten. 

Der  Verfasser  sagt  mit  Recht,  er  sei  bemüht  gewesen,  einfach  zu  sprechen  und 
alles  Komplizierte  fernzuhalten;  auch  darin  hat  er  nicht  ganz  unrecht,  daß  er 
sein  Schriftchen  für  „sicherlich  verbesserungfähig"  erklärt,  da  „der  Gegenstand 
schwierig  bleibt".  Nur  sechs  Punkte  seien  berührt.  Im  ersten  Abschnitte  vermißt 
mancher  vielleicht  eine  kurze  Bemerkung  über  den  Unterschied  zwischen  den  jetzigen 
Weltstaaten  und  den  früheren,  die  keine  gleichberechtigten  neben  sich  anerkannten. 
Seite  8  ist  der  Hinweis  darauf  am  Platze,  daß  zwischen  Volk  im  weiteren  Sinne 
(=  Regierung  und  Regierte)  und  im  engeren  (=  Gesamtheit  der  Regierten)  zu 
scheiden  ist.  Seite  10  würde  ich  bei  den  Landständen  —  Neubauer  sagt  ungenau 
„Vertretung  der  Stände"  —  hervorheben,  daß  sie  keine  wirkliche  Volksvertretung 
waren,  aber  als  Vertreter  des  ganzen  Landes  galten,  und  daß  es  sich  um  Stände 
im  politischen  Sinne  handelt  im  Gegensatz  zu  Berufsständen:  das  muß  den 
Schülern  sofort  klar  werden.  Seite  18  hätte  ich  die  Entschädigungssumme,  3000 
Mark,  angeführt,  auch  den  eventuellen  Abzug  von  je  20  Mark.  Seite  28  muß 
Zeile  12  von  oben  hinzugefügt  werden :  hier  steht  an  der  Spitze  der  Stadtverwal- 
tung kein  Magistrat,  sondern  der  Bürgermeister,  der  zugleich  Vorsitzender  der 
Stadtverordneten  ist.  Seite  38  endlich  im  zweiten  Absatz  des  §  19  würde  ich  bei 
den  übernommenen  Verpflichtungen  hinzufügen:  einem  anderen,  dem  Gläubiger 
gegenüber. 

Doch  wichtiger  als  solche  Einzelheiten  ist  die  methodische  Frage:  in  welcher 
Weise  kann  dieses  „für  Schüler  geschriebene"  Büchlein  benutzt  werden ?  Der  Ver- 
fasser weist  darauf  hin:  Der  Geschichtsunterricht  muß  das  meiste  für  die  staats- 
bürgerhche  Vorbildung  tun  und  auch  durch  zusammenfassende  Besprechungen 
ein  Gesamtbild  unserer  politischen  Verhältnisse  dem  Schüler  vor  Augen  stellen; 
am  Schluß  der  Untersekunda  läßt  sich  für  die  ersten  drei  Abschnitte  ohne  Schwierig- 
keit Zeit  erübrigen,  „freilich  nur  dann,  wenn  ein  Teil  des  bisherigen  Pensums 
dieser  Klasse,  nämlich  die  Zeit  Friedrichs  des  Großen,  nach  Obertertia 
verlegt  wird.  Dies  ist  aber  durchaus  möglich  .  .  .  Vermag  es  der  Lehrer,  so 
können  am  Schlüsse  der  Untersekunda  einige  Wochen  erspart  werden,  um  die 
wichtigsten  Abschnitte  dieser  kleinen  Staatslehre  zu  besprechen.  Den  ganzen  In- 
halt freilich  wird  man  an  dieser  Stelle  nicht  bewältigen  können;  insbesondere  der 
vierte  Abschnitt  gehört  noch  nicht  hierher."    Wer  an  die  Lehraufgaben  mit  freiem 


408  P-  Hellwig,  Lehrbuch  der  Geschichte  für  höhere  Schulen, 

Geiste  und  weitem  Herzen  (wie  es  in  dieser  Monatschrift  1904,  S.  509,  Anm.  heißt) 
herantritt  und  mit  der  Zeit  sehr  haushälterisch  umzugehen  weiß,  für  den  enthalten 
Neubauers  Bemerkungen  sicherlich  Verwertbares.  Soweit  ich  auf  Grund  der  mit 
dem  Anhange  zu  David  Müllers  Leitfaden  (14.  Auflage  1906)  und  zu  Andräs 
Grundrisse  (27.  Auflage  1907)  gemachten  Erfahrungen  ein  allgemeines  Urteil 
fällen  darf,  glaube  ich,  daß  in  vielen  Untersekunden  aus  dem  zweiten  und  dritten 
Abschnitte  der  angezeigten  Staatslehre  vieles  mit  Erfolg  durchgenommen  werden 
kann  und  daß  aus  dem  ersten  und  vierten  wenigstens  manches  „gelegentlich"  auf 
der  Oberstufe  sich  besprechen  ließe,  für  die  Neubauer  im  letzten  Teile  seines  Lehr- 
buches schon  Übersichten  zusammengestellt  hat;  manches  darin  stimmt  mit  seiner 
Staatslehre  natürlich  überein.  Doch  nicht  auf  das  tote  Buch,  sondern  auf  den 
Lehrer  kommt  das  meiste  an,  der  wirkliches  Interesse  zu  wecken  vermag. 
Görlitz.  E.  Stutzer. 

Hellwig,  P.,  Lehrbuch  der  Geschichte  für  höhere  Schulen.  Zweite  Abteilung. 

Mittelstufe.     1.  Teil:  Deutsche  Geschichte  bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters. 

VI  u.  125   S.    80.    geb.  1,60  M.  —    2.  Teil:   Vom   Ausgange   des  Mittelalters 

bis  zur  Gegenwart.  V  u.  242  S.  gr.  8^.   2,80  M.    Leipzig  1908.  A.  Deichertsche 

Verlagsh.  Nachf. 
Die  vorliegenden  Bücher  (für  III  u.  Uli)  stellen  den  Anfang  eines  neuen 
geschichtlichen  Lehrbuches  dar,  das  allmählich  zum  vollständigen  Geschichtswerk 
für  Quarta  bis  Prima  ergänzt  werden  soll.  Bei  dem  verständigen  Drängen  der 
Unterrichtsbehörde  auf  eine  gewisse  Einheitlichkeit  im  Gebrauche  der  Schulbücher 
und  der  gerechtfertigten  Warnung  von  Experimenten,  bei  der  großen  Fülle 
ferner  an  vorhandenen  Geschichtswerken,  die  z-  T.  vielfache  Auflagen  erlebt  haben, 
ist  es  ein  großes  Wagnis,  deren  Zahl  noch  durch  ein  neues  vermehren  zu  wollen : 
ein  Wagnis,  das  nur  dann  Aussicht  hat  auf  Gelingen,  wenn  das  neue  Buch  nach 
Form  und  Inhalt  etwas  ganz  Neues  bringt,  woraus  dem  Geschichtsunterricht  eine 
wirkliche  Förderung  erwächst.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  soll  der  erste  Band 
des  Hellwigschen  Buches,  der  Teil  für  Ulli,  geprüft  werden.  Was  für  ihn,  d.  h.  für 
125  Seiten,  gilt,  wird  auch  wohl  auf  die  übrigen  242  passen. 

„Zurücktreten  jedes  toten  Gedächtnisstoffes,  Abscheidung  des  Nebensächlichen 
und  Einzelnen  und  Zurückbeziehung  auf  die  Hauptvorgänge,  die  in  ihren  Ursachen 
und  Wirkungen  dargelegt  werden"  sollen,  ist  neben  „Schlichtheit  des  Ausdrucks, 
Zurücktreten  des  Abstrakten,  aller  Werturteile,  kurz  aller  derartiger  Gedanken, 
die  nur  auf  dem  Boden  umfassender  und  weUschauender  Geschichtswissenschaft 
entstanden  sein  können",  das  Bestimmende  für  den  Charakter  des  Buches.  Mit 
beiden  Gesichtspunkten  erkläre  ich  mich  durchaus  einverstanden  und  zögere  nicht 
auszusprechen,  daß  in  beiden  Hinsichten  dem  Verfasser  Gutes  gelungen  ist. 

Ob  er  freilich  recht  daran  tut,  die  Anpassung  an  das  Verständnis  des  Schülers 
so  weit  zu  treiben,  daß  er  oft  geradezu  in  dessen  Sprechweise  erzählt,  ist  mir  bei  einem 
Schulbuch  mehr  als  fraglich.  Ich  fürchte  vielmehr,  daß  dadurch  der  nicht  selten 
hervortretenden  Neigung  des  Untertertianers,  lieber  auswendig  zu  lernen  als  selbst 
zu  denken,  Vorschub  geleistet  wird.  Jedenfalls  erklärt  sich  aus  dem  gekennzeich- 
neten Streben  des  Verfassers  die  oft  ermüdende  und  logisch  nicht  immer  scharfe 
Verknüpfung  der  Sätze  durch  „und",  der  Satzgefüge  durch  „nun",  ebenso  die  breite. 


angez.  von  W.  Meiners.  409 

das  gesprochene  Wort  nachahmende  Erzählungsweise  an  Stellen  wie  auf  S.  56, 
Abs.  1 :  „Als  Otto  III.  unvermählt  und  kinderlos  starb,  war  der  nächste  männliche 
Sproß  des  bisherigen  Herrscherhauses  Heinrich  IL,  Herzog  von  Bayern,  der  Sohn 
Heinrichs  des  Zänkers.  Dieser'  erhob  demgemäß  Anspruch  auf  die  deutsche  Krone. 
Die  nördlichen  Stämme  des  Reiches  aber  forderten  einen  Mann  aus  ihren  Gauen 
als  Herrscher  und  bezeichneten  als  diesen  den  tapferen  Slawenbezwinger,  den 
Markgrafen  Eckart  von  Meißen;  die  Schwaben  endlich  wollten  ihren  Herzog  Hermann 
auf  den  Thron  erheben.  Indessen  Eckart  wurde  durch  Meuchelmord  getötet,  und 
nun  gelang  es  namentlich  dem  Erzbischof  Willigis  usw."  Ähnlich  S.  64,  2,  S.  76, 
S.  88,  3  u.  ö.  Die  angeführte  Stelle  ist  zugleich  ein  Beleg  dafür,  daß  der  Verfasser 
in  seinem  Streben,  Nebensächliches  auszuscheiden,  noch  nicht  immer  weit  genug 
gegangen  ist:  Hermann  und  Eckart  sind  an  jener  Stelle  für  den  Untertertianer 
nichts  als  Namen,  und  an  dieser  Tatsache  ändert  die  Charakterisierung  Eckarts  als 
„tapferen  Slawenbezwingers"  um  so  weniger,  als  der  Schüler  ihn  als  solchen  vorher 
nicht  kennen  gelernt  hat.  Zu  weitläufig  dem  Inhalt  nach  erscheint  mir  Hellwigs 
Darstellung  auch  noch  an  einigen  anderen  Stellen,  so  wenn  er  den  Nachfolgern 
Karls  des  Großen  bis  919  sieben  Seiten  oder  den  sächsischen  Kaisern  nach  Otto  I. 
sechs  Seiten  widmet.  Auch  in  der  Behandlung  der  Familienstreitigkeiten  unter 
Otto  I.  selbst,  sowie  in  der  Darstellung  der  Geschichte  Lothars  und  Konrads  III., 
der  letzten  Hohenstaufen(S.  88)  undMaximilian  I.  (S.  119)  hätte  gekürzt  werden  können, 
während  ich  anderseits  einen  Hinweis  auf  die  verfassungsmäßige  Begründung 
der  römischen  Monarchie  unter  Diocletian  (S.  11)  oder  auf  den  Höhepunkt  des 
mittelalterlichen  Papstums  unter  Innocenz  III.  (Laterankonzil)  oder  eine  kurze  Notiz 
über  die  kolonisatorische  Tätigkeit  der  Zisterzienser  oder  über  die  Bedeutung  der 
Feme  ebenso  ungern  vermisse  wie  ein  paar  Bemerkungen  über  die  Baukunst  im 
Mittelalter  und  über  die  Geschichte  der  iberischen  Halbinsel.  Der  Name  Walther 
von  der  Vogelweide  ist  auf  S.  93  genannt  worden;  Leben  hat  der  Verfasser  ihm 
durch  eine  Bezugnahme  auf  die  Thronfolgestreitigkeiten  nach  1198  nicht  gegeben, 
ebensowenig  wie  er,  den  Mertensschen  Büchern  und  anderen  folgend,  es  unter- 
nommen hat,  unbeschadet  der  Wissenschaftlichkeit  seines  Werkes  den  dem  Schüler 
bekannten  Gedichtsstoff  mitzuverarbeiten.  Daß  er  derartiges  nicht  im  Prinzip  ab- 
lehnt, entnehme  ich  aus  der  Erwähnung  von  Thorwaldsens  Marmorbild  Konradins 
(S.  89),  das  der  Schüler  nicht  kennt,  aus  dem  Hinweis  auf  die  Meinung,  Barbarossa 
werde  wiederkehren  (S.  91),  die  sich  freilich  zunächst  auf  Friedrich  II.  bezog,  endlich 
aus  der  Belebung  des  Textes  durch  die  vereinzelte  Wiedergabe  der  Bilder  Armins, 
Karls  des  Großen  und  Barbarossas,  von  denen  auf  historische  Treue  keins  An- 
spruch machen  kann. 

Daß  auch  im  einzelnen  das  Buch  noch  manche  Unebenheit  im  Ausdruck 
und  Schiefheit  oder  Unrichtigkeit  im  Inhalt  enthält,  ist  bei  einer  ersten 
Auflage  nicht  wunderbar,  fast  selbstverständlich.  Ich  will  zum  Belege  einiges 
anführen.  Wiederholungen  finden  sich :  S.  12,  1  ZI.  9  =  S.  2,  4  ZI.  5;  S.  63,  4 
ZI.  8  =  S.  58,  ZI.  10  V.  u.;  S.  43,  ZI.  7ff.  =  S.  29,  ZI.  2  ff.;  mit  Ausdrücken  wie 
»soziale  Gliederung"  (S.  3,  6  vgl.  auch  42,  ZI.  7  v.  u.),  wie  „eine  Umwertung  der 
bisher  üblichen  Werte  trat  ein"  (S.  19,  1,  ZI.  9),  „in  der  deutschen  Volksseele  lebte 
der  Glaube  auf"  (S.  91,  ZI.  6),  mit  der  ganzen  Deduktion  der  Lehre  des  Marsilius 


410  P-  Hellwig,  Lehrbuch  der  Geschichte  usw.,  angez.  von  W.  Meiners. 

von  Padua  (S.  99,  4)  und  der  allgemeinen  Charakteristik  der  Nachfolger  des 
Augustus  (S.  9,  1,  ZI.  3  ff.)  ist  dem  Untertertianer  ebensowenig  gedient  wie  mit  der 
S.  89,  7  ausgesprochenen  Behauptung,  mit  Konradins  Tode  habe  „ein  gewaltiges 
Drama  der  Weltgeschichte  seinen  Abschluß"  gefunden,  oder  einem  nichtssagenden 
Zusatz,  wie  wir  ihn  S.  6,  5  zu  Varus  finden,  wo  es  heißt:  „der  zu  seinem  Verderben 
von  der  Wichtigkeit  und  Schwierigkeit  dieser  Aufgabe  keine  rechte  Vorstellung 
hatte"  (ähnlich  S.  8,  8,  ZI.  18)  oder  endlich  den  immer  noch  nicht  ganz  vermiedenen 
Epitheta  ornantia  (vgl.  auch  S.  18,  ZI.  5  v.  u.;  S.  30,  ZI.  11  v.  u.;  S.  41,  6,  ZI.  1  „jene*) 
und  den  überflüssigen  „usw."  ,u.  a."  auf  S.  21  und  35.  Der  Ausdruck  ist  zu 
bessern  S.  7,  7  ZI.  2  „erlittene  Scharte",  S.  8,  9  ZI.  7  (Satzbau),  S.  9,  ZI.  7  „in 
der  Gegend",  S.  22  unten  „alle  menschlichen  Verhältnisse  wurden  bestraft",  S.  37,  1 
ZI.  20  (Zusammenhang),  S.  64,  ZI.  8  „krönte  Heinrich  und  seine  Gemahlin  zum 
römischen  Kaiser",  S.  72,  ZI.  5  v.  u.  „erhielt  die  Kaiserkrönung",  S.  89,  ZI.  16  v.  u. 
„unheilt^o//^  Wunden"  und  „Den  Ausspruch"  u.  öfter.  Auch  von  sachlichen 
Fehlern  soll  einiges  notiert  werden.  In  „Rheims"  (S.  23,  3  u.  37,  1),  „Thassilo" 
(S.  31,  4)  und  „Rhense"  (S.  99,  4)  ist  das  h  entbehrlich;  S.  9,  1  heißt  es  besser 
„Claudier"  statt  „Salier";  daß  das  Recht  der  Kaiserwahl  in  Rom  „eigentlich  dem 
Senate"  zugestanden  habe  (S.  10,  3,  ZI.  3),  ist  ebenso  unhaltbar  wie  auf  S.  11,  5 
ZI.  11  ff.  die  Gleichstellung  der  Augusti  und  Caesares;  die  Schlacht  auf  den 
katalaunischen  Feldern  bedeutete  f ür  Attila  keine  „vernichtende  Niederlage"  (S.  16  ZI.  7) ; 
687  war  ein  und  derselbe  Mann  Hausmeier  in  Neustrien  undBurgund  (S.  24,  1);  das 
capitulare  de  partibus  Saxonum  ist  S.  31,  ZI.  7  zu  spät  angesetzt;  der  S.  33,  10 
mitgeteilte  Zuruf  ist  eben  der  Zuruf  des  Volkes;  S.  40,  3  ist  demTeilungsvertrage  von 
Mersen  zuviel  Gewicht  beigelegt  worden;  der  Zölibat  der  Priester  war  im  XI.  Jahr- 
hundert nicht  so  allgemein  üblich,  wie  es  nach  S.  58,  ZI.  12  v.  u.  erscheint; 
S.  63,  3,  ZI.  11  hätten  die  kirchlichen  Festzeiten  mit  aufgenommen  werden  müssen; 
S.  68,  8  hält  die  Darstellung  der  Szene  vor  Canossa  den  Ergebnissen  der  Forschung 
nicht  stand;  S.  80,  11  ist  der  Name  des  Reichstags  unrichtig  und  die  Verleihung 
Westfalens  übergangen;  der  Inhalt  der  vor  Rudolfs  Wahl  erlassenen  Willebriefe 
(S.  95,  1)  ist  zu  allgemein  wiedergegeben,  der  Rechtsstreit  zwischen  Rudolf  und 
Ottokar  (S.  96,  ZI.  7)  nicht  klar  dargelegt;  der  Kurverein  zu  Rense  (S.  99,  4) 
war  eine  Vereinigung  lediglich  der  Kurfürsten  und  trat  vom  Kaiser  ungerufen 
zusammen;  woher  die  Zahl  87  (S.  107)  für  den  Umfang  des  Hansabundes  kommt, 
weiß  ich  nicht;  Ruprecht  III.  ist  nicht  der  Gründer  der  Universität  Heidelberg  ge- 
wesen (S.  112,  ZI.  2);  der  Abschnitt  drei  auf  derselben  Seite  (über  das  würdelose 
Leben  der  Geistlichkeit)  scheint  mir  etwas  zu  sehr  verallgemeinert  u.  a. 

Ich  würde  es  für  unrichtig  halten,  wenn  die  Einführung  eines  neuen  Lehrbuches 
in  erster  Linie  abhängig  gemacht  würde  von  der  größeren  oder  geringeren  Zahl 
von  Einzelausstellungen  der  angegebenen  Art,  die  sich  in  ihm  finden,  und  die  in 
einer  zweiten  Auflage  doch  leicht  gebessert  werden  können.  Die  entscheidende 
Frage  muß  vielmehr,  wie  schon  oben  gesagt  worden  ist,  sein:  „Bedeutet  das  neue 
Buch  in  seiner  ganzen  Anlage,  in  der  Stoffauswahl  und  der  Darstellungsweise  eine 
wirkliche  Förderung  des  Geschichtsunterrichts;  geht  es  über  die  vorhandenen 
Unterrichtsbücher  hinaus?"  Diese  Frage  glaube  ich  für  die  Hellwigschen  Bücher 
verneinen  zu  sollen.    Wenn   auch  mit  den  Schwächen,  die  in  einer  ersten 


A.  Kalähne,  Die  neueren  Forschungen  usw.,  angez.  von  F.  Busch.  411 

Auflage  verzeihlich  sind,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  behaftet,  führen 
sie  zwar  auf  der  einen  Seite  die  Gesichtspunkte,  die  für  ihre  Abfassung 
bestimmend  gewesen  sind,  im  ganzen  in  anerkennenswerter  Weise 
durch;  auf  der  andern  Seite  aber  sind  diese  nicht  derart,  daß  ihr  Her- 
vortreten allein  die  Notwendigkeit  des  Erscheinens  der  Bücher  recht- 
fertigen könnte. 

Elberfeld.  W.  Mein  er  s. 

Kalähne,  A.,  Die  neueren  Forschungen  auf  dem  Gebiet  der  Elek- 
trizität und  thre  Anwendungen.  Leipzig  1908.  Quelle  u.  Meyer.  I  und 
284  S.    8°.    4,40  M,  geb.  4,80  M. 

Wie  der  Verfasser  in  der  Vorrede  bemerkt,  ist  sein  Buch  für  weitere  Kreise 
bestimmt  und  deshalb  elementar  gehalten.  Aus  Vorträgen,  die  er  im  Jahre  1906 
in  Heidelberg  bei  Gelegenheit  eines  Ferienkursus  gehalten  hat,  ist  es  entstan- 
den, aber  im  Interesse  einer  abgerundeten  Darstellung  ist  der  Inhalt  bedeutend  er- 
weitert. Durch  eingehendere  Besprechung  der  modernen  Theorien  der  elektrischen 
und  magnetischen  Erscheinungen  ist  das  Buch  zunächst  für  wissenschaftlich 
gebildete  oder  auf  anderen  Gebieten  wissenschaftlich  tätige  Leser,  die 
sich  für  physikalische  Theorien  interessieren,  dann  aber  auch  für  Studierende 
bestimmt,  die  sich  desselben  als  Orientierungsmittel  auf  theoretischem  Gebiete  be- 
dienen sollen. 

Der  Verfasser  behandelt  in  sieben  Kapiteln  der  Reihe  nach  folgende  Gegen- 
stände: 1.  die  Fluidumtheorie  der  Elektrizität  und  des  Magnetismus;  2.  die  elek- 
trischen und  magnetischen  Kräfte  und  ihre  Gesetze.  Fernwirkung  und  Nahewirkung; 
3.  die  Faraday-Maxwellsche  Theorie  des  Elektromagnetismus;  4.  die  Elektronen- 
heorie;  5.  die  elektromagnetischen  Schwingungen;  6.  die  elektromagnetische  Wellen- 
telegraphie;  7.  die  elektrischen  Entladungen  in  Gasen  und  die  Radioaktivität. 
96  Figuren  veranschaulichen  das  Vorgetragene. 

Seine  nicht  leichte  Aufgabe  hat  der  Verfasser  in  vortrefflicher  Weise  erledigt. 
Die  Darstellung  ist  recht  ausführlich,  zusammenhängend  und  fließend,  wodurch 
das  Buch  sich  vorteilhaft  auszeichnet  vor  anderen  gemeinverständlichen,  aber  mehr 
schulmäßigen  Behandlungen  desselben  Gegenstandes.  Die  zahlreichen  der  Elektro- 
technik eigentümlichen  Begriffe  sind  durchweg  klar  entwickelt.  Der  Verfasser 
weiß  dabei  häufig  Anwendung  zu  machen  von  Vergleichen  mit  Erscheinungen 
und  Vorgängen  in  der  Mechanik.  Wenn  diese  Vergleiche  auch  nur  Analogien 
enthalten,  die  man  als  erläuternde  Beispiele  heranzuziehen  pflegt,  so  geben  sie 
doch  der  Vorstellung  eine  feste  Stütze,  die  für  recht  viele  Leser  des  Buches  ganz 
unentbehrlich  sein  dürfte. 

Große  Anschaulichkeit  ist  überhaupt  eine  hervorragende  Eigenschaft  des 
Buches.  Diese  zeigt  sich  so  recht  in  der  Entwicklung  der  Faraday-Maxwell- 
schen  Theorie,  deren  Behandlung  zu  den  schwierigsten  Aufgaben  gemein- 
verständlicher Darstellung  auf  physikalischem  Gebiete  gehört. 

Daß  das  Buch  überall  den  neuesten  Standpunkt  der  Forschung  und  Technik 
wiedergibt,  soll  nur  nebenbei  erwähnt  werden. 

Anderseits  darf  ich  nicht  unterlassen,  auf  einige  Punkte  hinzuweisen,  die  wohl 


412  E.  Javal,  Die  Physiologie  des  Lesens  und  Schreibens, 

einer  Verbesserung  bedürftig  sind:  da  ist  zunächst  die  Art,  wie  der  Proportio- 
nalitätsfaktor in  die  Definitionsgleichungen  der  elektrischen  Maße  eingeführt 
wird,  dem  Nichtfachmanne  nur  schwer  verständlich.  Dieser  Faktor  wird  zunächst 
S.  9  und  10  nur  vorübergehend  erwähnt,  S.  16  wird  dann  in  der  Gleichung 
e  =  C  •  V  der  Faktor  C,  der,  wie  es  an  der  betreffenden  Stelle  heißt,  „offenbar" 
die  Aufnahmefähigkeit  des  Leiters  I  für  Elektrizität  unter  den  gegebenen  Umständen 
bedeutet,  ohne  weiteres  als  elektrische  Kapazität  des  Leiters  bezeichnet,  und 
erst  S.  23  wird  an  dem  Ausdruck  für  das  Coulombs  che  Gesetz  die  Bedeutung 
des  Proportionalitätsfaktors  näher  erläutert.  S.  24  hätte  der  Begriff  Dyne  ganz 
gut  in  aller  Schärfe  definiert  werden  können.  Die  magnetischen  Kraftlinien 
werden  S.  64  etwas  sehr  kurz  behandelt.  S.  219  läßt  der  Verfasser  es  zweifelhaft, 
ob  die  Wolkenelemente  aus  Tröpfchen  oder  Bläschen  bestehen,  obschon  die 
sogenannte  Bläschentheorie  in  der  Meteorologie  doch  längst  endgültig  aufgegeben 
ist.  Die  Theorie  der  Elektrolyse  hätte  wegen  ihrer  großen  Bedeutung  für  die 
Entwicklung  der  Elektronentheorie  ausführlicher  behandelt  werden  müssen. 

Das  sind  indessen  alles  Dinge,  die  den  großen  Wert  des  Buches  nicht  beein- 
trächtigen können  und  sich  bei  Bearbeitung  einer  hoffentlich  recht  bald  notwen- 
digen neuen  Auflage  leicht  berücksichtigen  lassen.  Dem  Buche  ist  eine  recht  weite 
Verbreitung,  namentlich  auch  unter  den  Fachlehrern  an  den  höheren  Schulen 
zu  wünschen. 

Arnsberg  i.  W.  Fr.  Busch. 

Javal,  Emile,  Die  Physiologie  des  Lesens  und  Schreibens.      Autorisierte 
Übersetzung   nach   der  2.  Auflage  des  Originals  nebst  Anhang  über  deutsche 
Schrift  und  Stenographie  von  Dr.  med.  F.  Haas,  Augenarzt  in  Viersen,  Leipzig  1907, 
W.  Engelmann.    XXXIV  u.  352  S.,  mit  101  Fig.  im  Text  und  1  Tafel.    8«.  9  M. 
Das  Original  ist  das  letzte  Werk  des  im  Januar  1907  verstorbenen  französischen 
Augenarztes  Professor  Javal,  dessen  Name  mit  dem  von  ihm  verbesserten  Ophthalmo- 
meter und  mit  der  von  ihm  in  die  praktische  Optik  eingeführten  Dioptrie  in  alle 
Welt  gegangen  ist.    Er  hat  es,  seit  Jahren  völlig  erblindet,  mit  Hilfe  seiner  Frau, 
einer   geborenen  Deutschen,   verfaßt   und   in   ihm   seine  Anschauungen  über  die 
Hygiene  des  Sehens  und  die  Physiologie  des  Lesens  und  Schreibens,  die  er  wäh- 
rend eines  Menschenalters  in  zahlreichen  Veröffentlichungen  dargelegt  hatte,    zu 
einem  einheitlichen  Ganzen  zusammengefaßt.  Das  im  Jahre  1905  erschienene  Buch 
hat  in  Frankreich  einen  großen  Erfolg  gehabt,   so  daß  nach  Jahresfrist  eine  neue 
Auflage   nötig  wurde;   nach   dieser   ist  die  vorliegende  Übersetzung  angefertigt. 
Das  Buch  wendet  sich  nicht  nur  an  die  Ärzte,  sondern  an  alle,  die  mit  dem 
Schreib-  und  Druckwerk  irgendwie  zu  tun  haben,  im  besonderen  auch  an  die  Lehrer. 
Sein  Schwerpunkt  liegt  in  seinem  dritten  Teile,  in  dem  aus  den  vorausgeschickten 
geschichtlichen  Bemerkungen   und  theoretischen  Betrachtungen  die  „Schlußfolge- 
rungen für  die  Praxis"  gezogen  werden.  Vor  allem  handelt  es  sich  um  die  Frage: 
wie  kann  der  Entstehung  und  Weiterentwicklung  der  Kurzsichtigkeit  vorgebeugt 
werden?  Die  Antwort  ergiebt  sich  von  selbst,  wenn  man  die  Ursachen  dieses  mit 
der  Erlernung  und  Ausübung  der  Lese-  und  Schreibkunst  anscheinend  untrennbar 
verknüpften  Übels  erkennt.  Javal  sieht  sie  in  dem  „Mißbrauch  des  Lesens  zum  Nach- 


i 


angez.  von  Tiebe.  413 

teil  des  Denkens  und  der  Beobachtung  der  wirklichen  Tatsachen",  in  der  den 
Schülern  zu  Hause  gebotenen  ungenügenden  Beleuchtung,  in  der  Verwendung 
kleinen  und  gedrängten  Druckes,  im  besonderen  für  Schulbücher,  und  in  dem 
Gebrauch  der  Schrägschrift.  Typen,  wie  sie  seinen  Anforderungen  entsprechen, 
sind  für  den  Druck  des  Originals  und  ebenso  für  den  der  Übersetzung  eigens 
hergestellt  worden;  sie  sind  so  hoch,  wie  die  in  dieser  Monatschrift  verwendeten  *), 
aber  dicker  und  von  einfacher,  klarer  und  gefälliger  Zeichnung,  spinngewebfeine 
Haarstriche  sind  bei  ihnen  vermieden.  —  In  dem  Kampf  gegen  die  Schrägschrift 
begegnet  sich  Javal  mit  dem  Nürnberger  Arzt  Schubert,  der  bereits  im  Jahre  1880 
auf  das  kräftigste  für  ihre  Beseitigung  und  für  die  Einführung  der  Steilschrift  ein- 
getreten ist.  Seitdem  hat  der  Streit  um  die  beiden  Schriftlagen  hin-  und  herge- 
wogt. Die  Zukunft  dürfte  der  letztgenannten  gehören,  die  schon  jetzt  auch  bei 
uns  an  manchen  Schulen  gelehrt  wird. 

Javal  ist  natürlich  ein  Gegner  der  sogenannten  „deutschen"  Schrift.  Ihr  widmet 
der  Übersetzer  im  Anhange  ein  besonderes  Kapitel,  in  dem  er,  ohne  damit  etwas 
Neues  sagen  zu  wollen,  auseinandersetzt,  wie  wenig  berechtigt  wir  sind,  diese  Schrift 
als  eine  nationale  Besonderheit  zu  betrachten  und  zu  pflegen,  wie  ihre  Erhaltung 
vielmehr  eine  Rückständigkeit  in  dem  Zeitalter  des  Weltverkehrs  bedeutet;  er  nimmt 
dabei  zugleich  auf  die  bekannten  Untersuchungen  Soenneckens  und  Burgersteins 
bezug  und  stellt  durch  Nebeneinanderstellung  zusammenhängenden  Druckes  in 
Fraktur  und  Antiqua  dar,  daß  diese  leserlicher  ist  als  jene. 

Daß  in  dem  Buche  auch  die  Stenographie,  die  Noten-  und  die  Blindenschrift, 
die  Tätigkeit  der  Schreibsachverständigen  u.  e.  a.  behandelt  ist,  sei  nur  kurz  erwähnt. 
Über  „die  Entwicklung  der  Stenographie  in  Deutschland"  macht  der  Übersetzer 
im  Anhange  eine  Reihe  verständiger  Bemerkungen,  deren  Durchsicht  denjenigen 
empfohlen  werden  kann,  die  sich  in  der  Kürze  über  die  Frage:  soll  die  Kurzschrift 
auf  den  höheren  Schulen  eingeführt  werden?  orientieren  wollen. 

Friedenau.  Tiebe. 


*)    Diese  Höhe  entspricht   auch   den  Forderungen  des  um  die  Hygiene  des  Auges 
hochverdienten  deutschen  Forschers  Hermann  Cohn. 


IV.  Vermischtes. 


Kritische  Grillparzer  Ausgabe. 

Der  Stadtrat  der  Reichshaupt-  und  Residenzstadt  Wien  hat  den  Beschluß  ge- 
faßt, das  Andenken  des  größten  österreichischen  Dichters,  Franz  Grillparzers,  durch 
die  Veranstaltung  einer  würdigen  kritischen  Ausgabe  seiner  sämtHchen  Werke  zu 
ehren,  und  hat  den  Professor  der  deutschen  Sprache  und  Literatur  an  der  deutschen 
Universität  in  Prag  Dr.  August  Sauer,  den  bewährten  Kenner  von  Grillparzers  Leben 
und  Werken,  mit  der  Herstellung  dieser  Ausgabe  betraut,  die  im  Verlage  der  Buch- 
und  Kunsthandlung  Gerlach  &  Wiedling  in  Wien  in  25  Bänden  erscheinen  wird. 
Sie  soll  neben  allen  abgeschlossenen  dichterischen  uud  prosaischen  Arbeiten  auch 
die  Entwürfe  und  Fragmente,  die  Studien  und  Tagebücher,  die  Briefe  von  dem 
Dichter  und  an  ihn,  endlich  die  von  ihm  verfaßten  Aktenstücke  in  umfassender 
Weise  vereinigen. 

Zur  Vervollständigung  des  in  der  Wiener  Stadtbibliothek  bereits  aufgesammelten 
bedeutenden  Handschriftenschatzes  wendet  sich  der  Unterzeichnete  hiemit  an  alle 
Besitzer  von  Handschriften  Grillparzers,  insbesondere  an  alle  Bibliotheken,  Archive, 
Theater,  Vereine,  Verlagsbuchhandlungen,  Autographensammlungen  etc.  mit  der 
ergebenen  Bitte,  dem  Herausgeber  alles  zerstreute  einschlägige  Material  gütigst 
zugänglich  zu  machen.  In  Betracht  kommt  alles,  was  sich  von  Grillparzers  Hand 
erhalten  hat,  unter  anderen  die  vielen  Stammbuchblätter,  Sprüche,  Epigramme, 
Widmungsexemplare  seiner  Dramen  oder  seiner  Porträte  in  Privatbesitz;  ferner  Druck- 
exemplare seiner  Werke,  in  welche  er  Verbesserungen  eingetragen  hat,  Bücher  oder 
Manuskripte,  welche  er  mit  Bemerkungen  versehen  hat,  auch  scheinbar  wertlose 
Aufzeichnungen,  selbst  wenn  sich  ihr  Inhalt  zur  Veröffentlichung  nicht  eignen  sollte, 
können  unter  Umständen  in  größerem  Zusammenhang  Bedeutung  gewinnen ;  ferner 
alte  Abschriften,  die  auf  Grillparzers  Originale  zurückgehen,  ältere  Theatermanu- 
skripte seiner  Dramen,  handschriftliche  Sammlungen  seiner  Gedichte  und  Epigramme, 
Briefe  an  ihn  oder  über  ihn  und  seine  Werke,  Dokumente  über  sein  Leben,  De- 
krete, Kontrakte  usw. ;  auch  seltene  Drucke,  besonders  Einzeldrucke  seiner  Gedichte. 
Endlich  werden  auch  bloße  Hinweise  auf  erhaltene  Handschriften  oder  versteckte 
Drucke  erbeten. 

Die  Zusendung  von  Handschriften  wird  an  die  Direktion  der  Wiener  Stadt- 
bliothek  (Wien  I,  Rathaus)  erbeten,  wo  für  feuersichere  Aufbewahrung  und  pünktliche 
Rücksendung  sowie  für  Vergütung  der  Kosten  Sorge  getragen  wird.  Sollte  sich 
die  Versendung  der  Originale  als  unmöglich  erweisen,  so  werden  möglichst  ge- 
naue (am  besten  photographische)  Kopien  erbeten. 

Jede  Förderung  der  Ausgabe  wird  in  dieser  dankbar  verzeichnet  werden. 

Dr.  Karl  Lueger 
Bürgermeister  der  k,  k.  Reichshaupt-  und  Residenzstadt  Wien. 


Vermischtes.  415 

Böttinger  Studienhaus  in  Göttingen, 

Deutsches  Institut  für  Ausländer. 

Deutsche  Ferienkurse  für  Ausländer  unter  dem  Protektorate  der 
Herren  Universitäts-Professoren  Morsbach,  Stimming  und  Weissenfeis. 
In  dem  Böttinger  Studienhause,  über  dessen  Zweck  und  Einrichtungen  Programme 
zur  Verfügung  stehen,  werden  in  der  Zeit  von  Donnerstag,  dem  12.  August,  bis 
Donnerstag,  den  9.  September  deutsche  Sprachkurse  abgehalten,  welche  dazu  be- 
stimmt sind,  Ausländer  in  deutsche  Sprache,  deutsche  Literatur  und  deutsches  Leben 
einzuführen. 

Erste  allgemeine  Zusammenkunft  Donnerstag,  den  12.  August,  abends  6  Uhr 
im  Hörsaale  des  Böttinger  Studienhauses  (Bahnhofstraße  24). 

Die  Zulassung  ist  nicht  au  eine  bestimmte  Bedingung  gebunden;  gebildete 
Ausländer  und  Ausländerinnen  sind  berechtigt  zur  Teilnahme.  Es  liegt  aber  im 
eigenen  Interesse  der  Teilnehmer,  daß  sie  eine  gewisse  Kenntnis  des  Deutschen, 
besonders  der  grammatischen  Grundlagen,  mitbringen. 

In  erster  Linie  denken  wir  bei  der  Einrichtung  der  Kurse  an  ausländische  Lehrer 
und  Lehrerinnen,  sowie  an  Studierende,  die  sich  etwa  in  den  Ferien  für  das  Ver- 
ständnis der  Vorlesungen  an  den  deutschen  Universitäten  vorbereiten  wollen. 

Zum  Unterschiede  von  anderen  Ferienkursen  soll  diesen  Kursen  jeder  eng  fach- 
wissenschaftliche Charakter  fehlen;  sie  wollen  nur  Ausländer  in  deutsche  Sprache 
und  deutsches  Leben  einführen.  Besonders  sei  noch  hervorgehoben,  daß  die  Aus- 
sprache des  Deutschen,  wie  sie  in  den  gebildeten  Kreisen  der  Provinz  Hannover 
üblich  ist,  allgemein  als  gut  anerkannt  ist. 

Göttingen  liegt  in  schöner,  waldreicher  Gegend,  hat  gute  Bahnanschlüsse  und 
ist  in  jeder  Beziehung  durch  Klima  und  geographische  Lage  begünstigt.  An  den 
Sonnabenden  werden  Ausflüge  zu  den  sehenswerten  Punkten  der  Umgegend  ver- 
anstaltet. 

Das  Böttinger  Studienhaus  wird  seine  Einrichtungen  in  den  Dienst  der  Ferien- 
kurse stellen,  besonders  die  Bibliothek  und  das  Lesezimmer. 

Anfragen  in  betreff  weiterer  Auskunft  über  die  Kurse  sind  zu  richten  an  das 
Böttinger  Studienhaus  (Bahnhofstraße  24),  das  auch  gern  bereit  ist,  Göttinger  Familien 
anzugeben,  die  Ausländern  Familienanschluß  gewähren.  (Durchschnittliche  Preise 
der  Wohnungen  einschließlich  voller  Pension  von  100  M.  an;  einzelne  Zimmer  mit 
Frühstück  etwa  30  M.) 

Auch  Anmeldungen  zu  den  Kursen  bittet  man  an  das  Böttinger  Studienhaus 
zu  richten. 

Honorare:  Der  Gesamtkursus  dauert  vom  12.  August  bis  9.  September;  der 
erste  Halbkursus  vom  12.  bis  26.  August,  der  zweite  Halbkursus  vom  27.  August 
bis  9.  September.  Die  Teilnahme  an  dem  Gesamtkursus  kostet  40  M.,  an  jedem 
der  Halbkurse  25  M. 

Die  Honorare  sind  nicht  vor  der  Ankunft  zu  zahlen. 
Vorträge  und  Übungen. 
I.  Praktisch-grammatischer  Teil. 

1.  Oberlehrer  Dr.  Pohlmann,  Konversations-  und  Vortragsübungen  im  Anschluß 
an  das  Buch  von  Paszkowski.    Zweistündig  wöchentlich. 


416  Vermischtes. 

2.  Professor  Dr.  Gade,  Phonetische  und  grammatische  Übungen.  Zweistündig 
wöchentlich. 

3.  Professor  Dr.  Bock,  Stilistische  Übungen  (mit  besonderer  Berücksichtigung 
der  Synonymik).    Zweistündig  wöchentlich. 

Das  Buch  von  Paszkowski,  „Lesebuch  zur  Einführung  in  die  Kenntnis 
Deutschlands  und  seines  geistigen  Lebens"  (Verlag  Weidmann)  wird  den 
Übungen  zurunde  gelegt. 

II.  Literarischer  Teil. 

L  Oberlehrer  Dr.  Jung,  Einführung  in  die  neueste  Literatur  Deutschlands 
(mit  Proben).    Zweistündig  wöchentlich. 

2.  Dr.  Heinrich  Meyer,  Heinrich  von  Kleist.    Zweistündig  wöchentlich. 

3.  Kursusleiter  de  Bra,  Lektüre  und  Erklärung  von  Goethes  Faust.  I.  Teil. 
Zweistündig  wöchentlich. 

III.  Pädagogik. 

Direktor  Heinrich,  Probleme  der  modernen  Pädagogik.    Zweistündig  wöchent- 
lich. 

IV.  Von  deutscher  Art  und  deutschem  Wesen. 

L  Dr.  Crome,  Ausgewählte  Kapitel  aus  der  deutschen  Kulturgeschichte 
(in  Verbindung  mit  dem  Besuch  der  Altertumssammlung).  Zweistündig 
wöchentlich. 

2.  Dr.  Fischer,  Deutsche  Architektur  (mit  Demonstrationen  an  Göttinger 
Fachwerkbauten  und  Burgen  in  Göttingens  Umgebung).  Zweistündig 
wöchentlich. 

3.  Dr.  Wesenberg,  Über  Verfassung  und  Wirtschaftsentwicklung  des  modernen 
Deutschlands.    Zweistündig  wöchentlich. 

Diplome  werden  auf  Wunsch  denjenigen  Teilnehmern  kostenlos  ausgestellt 
welche  den  Gesamtkursus  besucht  haben. 


Die  diesjährigen  Ferienkurse  mit  Vorlesungen  und  Übungen  in  deutscher, 
englischer,  französischer  und  italienischer  Sprache  finden  vom  8.  bis  28.  Juli  und 
vom  5.  bis  25.  August  statt  und  werden  aus  zwei  Teilen  von  je  dreiwöchentlicher 
Dauer  bestehen. 

Alle  auf  die  Kurse  bezüglichen  Anfragen  sowie  Anmeldungen  sind  zu  richten 
an :  Marburger  Ferienkurse,  Villa  Cranston,  Marburg  a.  d.  Lahn. 

(Führer  von  Marburg  gegen  Einsendung  von  35  Pf.  in  Marken.) 

Marburg  a.  d.  Lahn,  im  Mai  1909. 

Das  Komitee  der  Marburger  Ferienkurse. 


Abhandlungen. 


Pädagogisches  aus  Paulsens  ,,Jugenderinnerungen'^ 

Daß  jedem  an  seiner  Selbsterziehung  gelegen  sei,  der  erzieherische  Nonnen 
für  andere  aufstellt,  wird  sich,  obwohl  es  sehr  schön  wäre,  nicht  behaupten  lassen; 
aber  daß  der,  dem  die  Fragen  der  Erziehung  überhaupt  wichtig  sind,  gern  über 
die  ihm  selbst  zuteil  gewordene  Erziehung  urteilt,  kann  man  erwarten.  Und  wenn 
sein  Blick  hell  genug  ist  und  sein  Urteil  reif,  so  wird  er  auch  gern  den  Zusammen- 
hang verfolgen  zwischen  dem,  was  bei  ihm  natürlich  gegeben  war,  und  dem,  was 
er  an  Einwirkungen  erfahren  hat.  Vielleicht  gibt  es  kaum  eine  Selbstbiographie, 
kaum  eine  wertvolle  Biographie  überhaupt,  aus  der  nicht  für  den  pädagogischen 
Denker  Gewinn  zu  ziehen  wäre.  Wen  nun  könnte  es  wundernehmen,  wenn  ihm 
aus  der  Darstellung  vom  Leben  eines  Theoretikers  und  Historikers  vom  Fache 
solche  Gedanken  in  Fülle  zuwachsen!  Dem  im  Mai  d.  J.  ausgegebenen  Buche 
unseres  edlen  Paulsen  »Aus  meinem  Leben"  eine  Blumenlese  dieser  Art  zu  ent- 
nehmen, muß  nahe  genug  liegen.*)  Neben  Urteilen,  die  der  Verfasser  unmittelbar 
fällt,  sind  es  Bilder  aus  seiner  Erziehungs-  und  Schulsphäre,  und  zugleich  Zeug- 
nisse von  dem  pädagogischen  Geist  der  Zeiten  und  der  Landschaften,  die  die  Leser 
wohl  auch  gegenwärtiger  Monatschrift  interessieren  können. 

Paulsen  war  auf  der  Höhe  und  gegen  das  Ende  seines  Lebens  in  besonderem 
Maße  gesammelt,  seines  Weges  wie  seines  Standpunkts  sicher,  und  die  recht  Neuen 
und  Jungen  haben  sich  verschiedentlich  etwas  gereizt  gegen  ihn  erwiesen,  weil  er 
von  den  die  Luft  durchschwirrenden  pädagogischen  Umsturzideen  eine  ganz  ge- 
ringe Meinung  hatte.  Er  war  durchaus  für  ein  Fortschreiten,  nicht  bloß  in  vager 
Grundsätzlichkeit,  sondern  auf  ganz  bestimmten  Linien,  aber  um  so  weniger  für 
irgend  ein  leichtherziges  Springen  und  Stürmen  in  die  Luft  hinein,  und  er  mag 
auch  für  manche  wirklich  mögliche  und  wünschenswerte  Neuerung  allzu  un- 
empfänglich geblieben  sein.  Doch  sein  Spott  gegen  dergleichen  behält  etwas 
Ruhiges,  womit  er  vielleicht  um  so  mehr  Eindruck  macht. 

Zunächst  aber  ist  da  das  Bild  seiner  schleswigschen  Dorfschule,  die  nach  dem 
Urteil  des  Erzählers  „im  ganzen  noch  den  Typus  der  Volksschule  darbot,  wie  ihn 

*)  Friedrich  Paulsen,  Aus  meinem  Leben.  Jugenderinnerungen.  Jena  1909.  Eugen 
Diederichs.  209  S.  gr,  8».  3  M.  In  allgemeinerem  Sinne  habe  ich  mich  über  dieses  Buch 
ausgesprochen  in  der  Nummer  des  »Tag"  vom  16,  Juni  d.  Js. 

Monatschrift  f.  hAh.  Schulen.  VIII.  Jhrg.  27 


418  W.  Münch, 

das  16.  Jahrhundert  geschaffen  und  das  18.  ein  wenig  ausgebaut  hatte".  „Pestalozzi 
war  offenbar  noch  nicht  in  den  Gesichtskreis  des  Seminars  getreten,  wo  der 
Lehrer  seine  Ktinste  erlernt  hatte."  Und  so  hat  der  Verfasser  zu  berichten  von 
endlosem  Auswendiglernen  in  Religion,  Geographie,  Naturlehre,  Auswendiglernen 
des  Katechismus  (nebst  regelmäßigen  Strafexekutionen  bei  lückenhaftem  Hersagen), 
Auswendiglernen  der  Namen  vieler  großen,  kleinen  und  kleinsten  Städte  und  sonstiger 
Namen  und  Zahlen,  behufs  treulicher  Kenntnis  der  beiden  wichtigsten  Länder  der  Welt, 
also  Dänemarks  und  Palästinas,  dann  von  rein  mechanisch  betriebenem  Rechnen  und 
völliger  Versäumnis  des  Kopfrechnens,  von  bloß  wortmäßigem  Vorsagen  und  Nach- 
beten in  der  Naturlehre,  vom  Fehlen  aller  Anschauungsmittel,  sodaß  eine  Kartoffel 
mit  eingeschnittenen  Ringen  den  Erdglobus  vertreten  mußte,  vom  Fehlen  auch 
eines  deutschen  Lesebuchs  und  von  so  manchen  andern  Defekten.  Die  ab- 
stumpfende Wirkung  der  häufigen  Schläge  wird  hübsch  dahin  charakterisiert,  daß 
sie  auf  manche  Schülernaturen  nur  noch  so  viel  Eindruck  machten,  wie  der  Vor- 
übergang einer  Wolke  vor  der  Sonne.  Daß  man  von  Hygiene  und  Überbürdung 
noch  nichts  wußte,  von  Hitzeferien  nie  gehört  hatte,  an  eine  sorgsam  zu  be- 
schränkende Unterrichtszeit  für  die  erste  Periode  des  schulpflichtigen  Alters  gar 
nicht  dachte;  daß  auch  „die  Wissenschaft  von  den  Pausen  noch  sehr  unentwickelt" 
war,  erwähnt  der  Verfasser  mit  einem  Humor,  der  etwas  ins  Satirische  spielt.  Ja, 
mit  tiefer  Mißstimmung  fügt  er  hinzu:  „Wenn  die  Widerstandsfähigkeit  gegen 
Anstrengungen  aller  Art  in  gleicher  Progression  von  Generation  zu  Generation 
abnimmt  wie  in  der  letzten,  dann  möchte  es  noch  vor  Ablauf  des  Jahrhunderts 
dahin  kommen,  daß  wir  von  Viertelstunde  zu  Viertelstunde  mit  dem  Ergographen 
die  Ermüdungsgröße  und  mit  dem  Thermometer  die  Zimmer-  und  die  Bluttemperatur 
der  einzelnen  Schüler  feststellen,  auch  den  Puls  fühlen  und  die  Atmung  kon- 
trollieren und  für  jedes  die  Kurve  aufzeichnen.  Eine  vortreffliche  Aussicht  für  die 
Ärzte:  wir  werden  dann  mindestens  ebensoviel  Ärzte  als  Lehrer  in  den  Schulen 
brauchen." 

Die  Verwendung  von  Unter-  und  Obergehilfen  neben  der  offiziellen  Lehrkraft, 
dem  , Küster",  ruhte  offenbar  viel  mehr  auf  naiv  praktischer  als  auf  psychologisch- 
sozialer Grundlage  (unter  welchem  Gesichtspunkt  manche  sie  jetzt  wieder  einge- 
führt sehen  möchten);  und  daß  den  zu  Aufsehern  über  die  Mitschüler  berufenen 
Obergehilfen  manche  Konflikte  der  Pflichten  nicht  nur,  sondern  auch  der  Fäuste 
erwuchsen,  lesen  wir  mit  gutem  Verständnis.  Aber  gerade  in  seiner  Elementar- 
schule hat  Friedrich  Paulsen  doch  weiterhin  die  für  sein  Leben  maßgebendsten 
Einwirkungen  erfahren.  Dem  Schulmeister  von  altem  Schlag  folgte  dann  „ein 
Lehrer  von  Gottes  Gnaden,  klar  und  sicher,  in  der  Sache  lebend,  daher  heiter  und 
frei,  nicht  ohne  den  notwendigen  Ernst  und,  wenn  es  sein  mußte,  die  gebührende 
Strenge",  so  daß  „alle  Begabteren  dem  Unterricht  mit  einem  spontanen  Eifer 
folgten",  daß  „der  Verstand  gleichsam  mobil  gemacht  wurde",  daß  in  dem  Knaben, 
aus  dem  später  der  weltbekannte  Professor  der  Philosophie  und  Pädagogik  werden 
sollte,  damals  und  dort  „sich  der  Erkenntnistrieb  entzündete"  und  mit  den 
wachsenden  Erkenntniskräften  „sich  das  Verlangen  zu  studieren  als  natürliche 
Folge  einstellte". 

So   setzte   es  denn  der  mehr  als  Fünfzehnjährige  durch,  daß  er  noch  Latein 


Pädagogisches  aus  Paulsens  .Jugenderinnerungen".  419 

und  die  andern  Dinge  lernen  durfte,  um  auf  das  Gymnasium  überzugehen  und  für 
die  Universität  reif  zu  werden.  Wie  das  ehedem  so  vielfach  geschah  und  damals 
so  wohl  möglich  war,  brachte  Privatunterricht,  von  einem  Landpfarrer  erteilt,  den 
Schüler  über  die  Unter-  und  selbst  Mittelstufe  des  Gymnasiums  hinaus  und  er- 
möglichte ihm,  sofort  in  eine  der  Oberklassen  einzutreten.  Und  dieser  ganze 
Weg  ward  von  dem  jungen  Paulsen  in  weniger  als  anderthalb  Jahren  zurück- 
gelegt. Weit  entfernt  natürlich,  den  Beginn  jedes  neuen  Faches,  mindestens  aber 
jeder  neuen  Sprache,  immer  erst  nach  erheblichem  Zeitabstand  eintreten  zu  lassen, 
wurden  da  Latein,  Griechisch,  Hebräisch,  Französisch,  Englisch  und  Dänisch  und 
natürlich  auch  das  sonst  Erforderliche  so  ziemlich  miteinander  begonnen  und 
betrieben.  ,Es  wurde  eben  nach  der  Möglichkeit  nicht  gefragt."  Der  Lehrer  hat 
auf  des  Vaters  ausdrücklichen  Wunsch  seinen  Schüler  „gehörig  vorgenommen". 
Und  dieser  „erinnert  sich  kaum  einer  Zeit  fröhlicherer  Arbeit  und  gedeihlicheren 
Wachstums".  Dabei  hat  er  nie  ein  Lob  empfangen,  „wohl  aber  mehr  als  eine 
entschiedene  Zurechtweisung".  Wie  ungeheuer  ist  doch  die  Verschiedenheit 
zwischen  dem,  was  dem  einen  Individuum  gebührt  und  was  dem  andern!  „Daß 
mir  die  Strenge  übel  bekommen  wäre,  kann  ich  nicht  sagen."  Und  mit  J.  Stuart 
Mill  spricht  Paulsen:  „Ein  Schüler,  von  dem  nie  etwas  verlangt  wird,  was  er  nicht 
oder  noch  nicht  leisten  kann,  wird  nie  alles  leisten,  wozu  er  fähig  ist."  Paulsen 
ist  überzeugt,  daß  „von  den  beiden  Fehlern  des  Lehrers,  zu  große  Strenge  und 
zu  große  Nachsicht,  der  letztere  der  gefährlichere  ist".  Habituelle  Erschlaffung 
werde  das  Ende  sein.  Für  seine  Person  ist  es  ihm  unzweifelhaft,  „daß  der  rasche 
Gang  am  scharfen  Zügel  das  seiner  Natur  Gemäße  war". 

Übrigens  hatte  der  Unterricht  dieser  Periode  offenbar  wesentlich  einen  streng 
formal  schulenden,  vor  allem  kraftheischenden  Charakter.  Von  sachlicher  Er- 
läuterung der  fremden  Texte  ist  kaum  die  Rede;  und  wenn  wir  darin  schwerlich 
ein  bewußtes  Prinzip,  eine  pädagogische  Überzeugung  des  Lehrers  zu  erblicken 
haben,  so  sehen  wir  doch,  daß  allerdings  auch  eine  zufällige  Einseitigkeit  ihre 
schätzbare  Wirkung  tun  kann,  oder  vielleicht,  daß,  wie  den  Frommen  alles  zum 
Segen,  so  den  wirklich  Begabten  alles  zum  Fortschritt  gereichen  kann.  Daß 
übrigens  der  Inhalt  selbst  eines  Autors  wie  Homer  in  dieser  und  der  folgenden 
Schulzeit  auf  den  Zögling  keinen  rechten  Eindruck  gemacht  habe,  betont  Paulsen 
ausdrücklich  und  fügt  hinzu:  „Vermutlich  ist  die  Zeit,  wo  wir  als  Schüler  Homer 
griechisch  zu  lesen  pflegen,  überhaupt  für  ihn  das  undankbarste  Alter.  Der 
Knabe  freut  sich  der  bunten  Fabeln,  der  Mann  kehrt  zu  dem  Spiel  der  Phantasie 
gern  zurück,  das  Jünglingsalter  ist  vielleicht  am  stärksten  auf  das  Reelle  gerichtet 
und  darum  für  das  harmlose  Fabulieren  am  wenigsten  empfänglich."  Und  hier 
sei  doch  auch  seines  an  früherer  Stelle  gefällten  Urteils  über  die  deutsche  Privat- 
lektüre der  Schülerjahre  gedacht.  „Ich  habe  viel  gelesen,  ich  gestehe  —  den 
heutigen  Reformern  der  Jugendliteratur  zum  Trotz  sei  es  gesagt  —  mit  viel  Ver- 
gnügen, und  soweit  ich  urteüen  kann,  ohne  Schaden  an  meiner  Seele  oder  meinem 
Geschmack  zu  nehmen.  Diese  Geschichten  haben  meinen  Gesichtskreis  erweitert, 
meine  Fähigkeit  Deutsch  zu  sprechen  und  zu  schreiben  gemehrt,  überhaupt  in 
jeder  Hinsicht  mich  bereichert."  Und  er  findet  es  geradezu  töricht,  eine  besondere 
Jugendliteratur  überhaupt  zu  verwerfen,  um  der  Jugend  unvermittelt  das  Beste, 

27* 


420  W.  Münch.  Pädagogisches  aus  Paulsens  .Jugenderinnerungen". 

Größte,  das  Klassische  zuzuführen,  zu  einer  Zeit,  wo  sie  das  durchaus  noch  nicht 
zu  schätzen  vermag.  „Mit  einer  Literatur,  die  die  Jugend  nicht  selbst  schätzt, 
sie  mag  im  übrigen  noch  so  schätzenswert  sein,  ist  nichts  gewonnen." 

So  also  wurde  der  junge  Paulsen  für  die  Sekunda  des  holsteinischen  Gymna- 
siums zu  Altona  reif  gemacht,  in  derselben  Zeit  wo  er  übrigens  gelegentlich  auch 
Feldarbeit  mit  zu  verrichten  und  seine  mannigfaltigen  Schularbeiten  zwischen  den 
plaudernden  und  arbeitenden  Familienmitgliedern  und  Dienstboten  am  großen 
Tisch  um  ein  einziges  Licht  anzufertigen  hatte.  Paulsen  ist  dann  durch  die  Ober- 
klassen der  streng  humanistischen  Lehranstalt  gegangen,  die  ausdrücklich  nur  Ge- 
lehrtenschule sein,  nur  zur  Universität  die  Schüler  entlassen  wollte.  Alle  Klassen- 
lehrer waren  klassische  Philologen,  Lateinschreiben  war  die  nach  allen  Seiten  ent- 
scheidende Leistung,  und  zwar  wesentlich  Hinübersetzung,  viel  weniger  freie 
Aufsätze,  von  denen  Paulsen  mit  sehr  geringer  Schätzung  spricht:  mehr  als  Zu- 
sammenstoppelung  von  Reminiszenzen  aus  der  Lektüre  hätten  sie  nicht  sein 
können.  Daß  ein  guter  lateinischer  Stil  die  wertvollste  Errungenschaft  für  jede 
einzuschlagende  Lebensbahn  bedeute,  war  die  uns  jetzt  seltsam  dünkende  Über- 
zeugung der  Lehrer,  Sie  paßt  aber  zu  der  mir  erinnerlichen  Äußerung  eines  be- 
rühmten Philologieprofessors  aus  der  Zeit  meiner  Jugend,  daß  „Philologen  alles 
können",  d.  h.  jedem  Amt  und  Beruf  die  günstigste  Befähigung  entgegenbringen. 
Wie  unendlich  weit  ist  von  diesem  angenehmen  Glauben  das  Urteil  der  gegen- 
wärtigen Menschen  entfernt!  Übrigens  erwähnt  Paulsen,  daß  allerdings  „im 
allgemeinen  die  besten  Lateiner  auch  die  fähigsten  Köpfe  gewesen  seien",  was 
psychologisch  zu  erklären  keine  Schwierigkeit  machen  würde. 

Zum  Bilde  dieser  typischen  Schule  der  damaligen  Zeit  —  typisch  wenigstens 
für  das  dänische  Schleswig-Holstein,  wenn  auch  schon  keineswegs  mehr  für 
Preußen  —  gehört  dann  ferner  das  Fehlen  nicht  bloß  von  Zeichnen  und  Turnen 
auf  der  Oberstufe,  sondern  jeglicher  Sorge  für  leibliche  Bildung,  die  ganz  außer- 
halb des  Gesichtskreises  dieser  Pädagogen  lag,  von  denen  auch  keiner  je  daran 
gedacht  haben  würde,  sich  auf  einem  Turn-  oder  Spielplatz  mit  den  Schülern  zu- 
sammenzufinden. Ein  Sprachbetrieb  ohne  rechten  Sinn  für  den  Inhalt  der  Autoren, 
ein  Unterricht  in  deutscher  Literatur  durch  den  trockenen  Notizenkram  des  Leit- 
fadens von  Pischon,  im  Englischen  eine  ganz  verfrühte  Shakespearelektüre,  bei 
ungenügenden  sprachlichen  Vorkenntnissen,  nur  um  der  literarischen  Vornehmheit 
willen  (eine  Verkehrtheit,  deren  auch  jetzt  manche  Gymnasien  sich  schuldig 
machen),  ein  ganz  ungenügender  Betrieb  der  Mathematik:  diese  Züge  passen  zu 
dem  sonstigen  Bilde.  Aber  die  Themata  der  deutschen  Aufsätze,  deren  das  Buch 
gedenkt,  haben  vor  vielen  jetzt  üblichen  den  Vorzug,  daß  sie  nichts  mit  den  Fragen 
der  Poetik,  der  dramatischen  Technik  zu  tun  haben,  sondern  wesentlich  zu  leben- 
diger Nachempfindung  und  Darstellung  eines  menschlich  verständlichen  Inhalts 
anregen.  Und  indem  der  Kursus  der  „Antiquitäten"  in  wesentlich  akademischer 
Form  abgehalten  wurde,  war  eine  (damals  auch  anderswo  nicht  vermißte  und  jetzt 
so  sehr  als  wünschenswert  erkannte)  Zwischenstufe  zwischen  Schul-  und  Universitäts- 
unterricht hergestellt.  Für  einen  Geschichtsunterricht,  der  energisches  Erfassen, 
Einprägen  und  Bereithalten  eines  positiven  Stoffes  forderte,  hat  Paulsen  sich  seinem 
damaligen    Lehrer   mit   Recht   lebenslang   verpflichtet   gefühlt.     Auch   sonst   hat 


E.  Rosenberg,  Zur  Bereicherung  der  Übersetzungssprache  usw.  421 

Tüchtigkeit  der  lehrenden  Männer  keineswegs  gefehlt.  Schon  jener  Lateinlehrer 
kann  uns  Wohlgefallen,  der  die  schweren  grammatischen  Fehler  moralisch  leichter 
nahm  als  die  anscheinend  leichteren  Verstöße  gegen  feinere  Sprachgesetze  oder 
gegen  die  zu  fordernde  Sorgfalt  im  kleinen.  Ist  es  doch  wahr,  daß  die  wahrhaft 
groben  Fehler  den  jugendlichen  Schülern  oft  nur  »passieren",  wie  uns  gänzlich 
Ausgewachsenen  ja  auch  in  unserer  Berufsbetätigung  von  Zeit  zu  Zeit  sehr  un- 
zweifelhafte Fehler  „passieren". 

Zu  dem  Interessantesten  für  einen,  der  selbst  Lehrer  ist,  gehört  es  wohl,  wenn 
urteilsfähige  ehemalige  Schüler  die  Bilder  ihrer  früheren  Lehrer  hinzuzeichnen 
wissen.  Sicherlich  gilt  das  von  Paulsens  Porträts  seiner  Altonaer  Lehrer  aus  der 
Zeit  um  1865,  auf  die  hier  nicht  näher  die  Rede  kommen  soll.  Bei  einem  in 
falscher  Vertrauensseligkeit  Befangenen  heißt  es:  „Gewiß  ist  Vertrauen  Lebens- 
bedingung für  das  rechte  Verhältnis  von  Lehrer  und  Schülern:  aber  es  darf  dem 
Lehrer  die  Augen  nicht  für  die  Wirklichkeit  verschließen."  Über  die  Mißlichkeit 
des  Überspringens  einer  Klasse,  über  die  Möglichkeit  eines  sehr  schlechten  Klassen- 
geistes und  eines  ziemlich  verwahrlosten  Primanerlebens  auch  unter  einem  recht 
achtungswerten  Lehrerkollegium  und  über  noch  manches  andere  könnte  Paulsens 
Buch  nachdenken  lehren.  Wie  er  im  ganzen,  nach  all  den  Jahrzehnten  weiteren 
Werdens  und  Reifens  und  Aufsteigens,  seiner  Gymnasiallehrer  gedenkt,  zeigt  die 
Stelle  :  „Gefühle  des  Dankes  sprießen  bei  Schülern  spät.  Ich  habe  lange  Zeit  mit 
Widerwillen  an  jene  Jahre  zurückgedacht.  Jetzt  kann  ich  nicht  ohne  dankbare 
Empfindung  an  die  Männer  denken,  die  alle  mit  viel  Geduld  und  Wohlwollen  mich 
getragen,  zum  Teil  auch  mit  redlichem  Eifer  mich  gefördert  haben." 

Es  ist,  glaube  ich,  überhaupt  eine  gute  Charakterprobe,  wie  derjenige,  der 
seinen  Lehrern  mit  achtzehn  Jahren  seelenvergnügt  und  geringschätzig  den  Rücken 
kehrte,  einige  Jahrzehnte  später  über  diese  selbigen  Lehrer  urteilt.  Zum  Aner- 
kennen von  Menschenwert  ist  es  eine  gute  Hilfe,  daß  man  selber  Menschenwert 
errungen  hat. 

Berlin.  W.  Münch. 


Zur  Bereicherung  der  Obersetzungssprache  aus  dem 
Lateinischen  und  Griechischen. 

Ich  habe  an  andrer  Stelle  (Hirschberg,  Gymnasium,  Programm  1908)  mich  eifrig 
für  eine  zeitgemäße  Umwandlung  der  Übersetzungssprache  aus  dem  Lateinischen 
ins  Deutsche  verwandt.  Jetzt  habe  ich  etwas  anderes  im  Sinn.  Ich  möchte 
manches  aus  der  älteren  Sprache,  aus  der  Luthers  und  der  Kirchenlieder- 
dichter, wieder  in  die  Übersetzung  hinüberretten,  wenn  es  zur  Bereicherung 
des  gewöhnlichen,  blaß  gewordenen  Sprachschatzes  dienen  kann,  besonders  aber 
dann,  wenn  der  alte  Ausdruck  oder  die  alte  Konstruktion  zur  Aufhellung  des 
grammatischen  Gefüges  in  der  fremden  Sprache  sich  eignet.  Man  darf  keine 
Konstruktion  einer  antiken  Sprache  lernen  lassen,  ohne  den  deutschen  Ausdruck 
mit   ihr  genau   zu  vergleichen   und  zu  untersuchen,   wie  weit  wir  ihr  in  unserer 


422  E.  Rosenberg, 

Sprache  folgen  oder  gerecht  werden  können.  Es  ist  das  tausendmal  ausgesprochen 
und  doch  wohl  immer  noch  nicht  oft  genug,  denn  sonst  könnten  sich  falsche  Kon- 
struktionen z.  B.  die  des  leidigen  persuadere  nicht  bis  zur  Prima  versteigen.  Dafür 
ist  nun  die  ältere  deutsche  Sprache  in  Bibel  und  Kirchengesang  ganz  besonders  ge- 
eignet. Und  ich  glaube:  wenn  ich  dem  Schüler  ein  Beispiel  vorlege,  dessen  Wortlaut 
ihm  zumeist  vertraut  ist,  das  er  ganz  wo  anders  gelernt  hat,  da  helle  ich  ihm  nicht 
bloß  den  Verstand  auf;  ich  diene  dann  auch  der  Konzentration  des  Unterrichts, 
der  ja  doch  schließlich  eine  Einheit  zu  bilden  berufen  ist.  Hier  und  da  möchte 
ich  auch  dadurch  eines  der  nichtssagenden,  so  öden  und  langweiligen  Übungs- 
beispiele vertreiben,  die  Aufmerksamkeit  durch  ein  so  anderes  und  doch  ver- 
trautes Wort  anregen. 

Ich  beginne  mit  den  Kasus.  Ich  lehre  im  Griechischen  den  Genetiv  des 
Grundes  und  erinnere  an  das  Deutsche: 

„Des  freu  sich  alle  Christenheit 
Und  dank  ihm  das  in  Ewigkeit." 

Man  erwähnt,  wie  die  deutschen  Verba  so  vielfach  ihre  alte  Genetivkonstruk- 
tion aufgegeben  und  nur  in  der  altersgeweihten  Sprache  der  Dichter  sie  bewahrt 
haben.  Ich  lasse  die  gewöhnlichen  Beispiele,  das  Vergessen,  das  Schenken  „des 
perlenden  Weines":  ich  erwähne  nur: 

Lacht  der  finstern  Erdenkluft, 

wo  „lachen"  dem    xataysXav    entspricht;  dann: 

„Vor  dir  niemand  sich  rühmen  kann; 
Des  muß  dich  fürchten  jedermann 
Und  deiner  Gnade  leben": 

Genetive  der  Ursache,  die  jeder  Deutsche  fühlt,  wenn  er  auch  den  grammatischen 
Terminus  nicht  kennt. 

Den  Dativ  ethicus  mögen  die  Schüler  sich  klar  machen  an: 

Dein  Zion  streut  dir  Palmen  und  grüne  Zweige  hin 
Und  ich  will  dir  in  Psalmen  ermuntern  meinen  Sinn. 

Wenn  ich  den  Akkusativ  bei  docere  einübe,  würde  ich  es  für  gut  halten  zu 
erwähnen:  „Das  wir  in  Glaubensinnigkeit  auch  können  alle  Christenheit  dein 
wahres  Zeugnis  lehren." 

Zur  Erklärung  des  echten  Ablativs  bei  den  Verben  des  Beraubens  schlage 
ich  den  bekannten  Vers  vor: 

„Und  daher  bist  du  kommen  von  deines  Leibes  Kraft." 

zur  Erklärung  heranzuziehen,  und  als  ein  schönes  Beispiel  des  abl.  modi,  den 
man  auch  abl.  absol.  nennen  kann: 
„Mein  Herze  soll  dir  grünen  in  stetem  Lob  und  Preis  und  deinem  Namen  dienen". 

Aber  wir  haben  uns  auch  zu  sehr  an  ein  Grammatischdeutsch  gewöhnt, 
das  wieder  mehr  und  mehr  schwinden  muß.  Welches  Gymansium  übersetzt  noch 
ein  ut  finale   mit  „auf  daß"   oder  auch  nur  mit  „daß",   „zu"  statt  mit  dem  ge- 


Zur  Bereicherung  der  Übersetzungssprache  usw.  423 

wohnten:  »damit"  oder  »um  zu"?  Und  doch  gibt  es  unzählige  bekannte  Bei- 
spiele wie: 

„auf  daß  wir  unter  deinem  Schutz,  Begegnen  aller  Feinde  Trutz" 
oder:    „Doch  wird  er  mich  erwecken  aus  der  Erden,   daß  ich  in   der  Herrlichkeit 
um  ihn  sein  mög'  allezeit",   wo  sich   auch   passend   auf   die  Notwendigkeit   des 
Konjunktiv   in   den   lateinischen  und  griechischen  Absichtssätzen  hinweisen  läßt; 
oder  endlich: 

„Liebster  Jesu,  wir  sind  hier,  dich  und  dein  Wort  anzuhören." 

So  ist  auch  das  „da"  fast  verloren  gegangen,  besonders  in  Relativsäten,  wie 

„Der  wird  auch  Wege  finden,  da  dein  Fuß  gehen  kann." 
„Es  kommen  Stund'  und  Zeiten, 
Da  man  auch  wird  bereiten 
Zur  Ruh'  ein  Bettlein  in  der  Erd."    oder: 
„Da  alleine  Hilf  und  Rat 
Ist  für  meine  Missetat." 
„Als  mir  das  Reich  genommen. 
Da  Fried'  und  Freude  lacht." 

So  ist  es  Sitte  geworden,  in  unserem  Grammatischdeutsch  in  den  Konzessiv- 
sätzen mit  quamvis  u.  a.  ein  „auch„  einzuschieben.  Es  heißt  aber  in  dem  be- 
kannten Liede  bloß: 

„wie  sauer  er  sich  stellt" 

und  wird  doch  richtig  aufgefaßt.  Ist  der  Gebrauch  von  „ob",  wie  er  sich  häufig 
in  Kirchenliedern  findet: 

„Und  ob  es  währt  bis  in  die  Nacht  und  wieder  an  den  Morgen"  oder 
„Ob  bei  uns  ist  der  Sünden  viel  —  bei  Gott  ist  viel  mehr  Gnade" 

noch  heute  üblich?  Das  steife:  „wenn  gleich"  und  ähnliches  hat  uns  wohl  darum 
gebracht.  Wir  sagen  jetzt  auch  wohl  überflüssigerweise  „als  ob",  wo  „als"  auch 
genügte : 

„denn  es  fähret  schnell  dahin,  als  flögen  wir  davon." 

Droht  doch  selbst  die  im  Echtdeutschen  so  kräftige  Inversion  allmählich  vor  den 
„Wenn"-sätzen  ganz  zu  entfliehen!    Wie  schön  klingt  es  doch: 

„Sterbt  ihr,  Christus  ruft  euch  wieder!" 

„Nehmen  sie  uns  den  Leib,  Gut,  Ehre, 

Kind  und  Weib:  Laß  fahren  dahin!  .  .  ." 

„Erwarte  nur  die  Zeit,  so  wirst  du  schon  erblicken." 

Und  nun  erst  gar  die  schöne  Parataxe  im  natüriichen  deutschen  Ausdruck! 
Es  bedarf  beim  Unterricht  kräftiger  Mahnung,   daß  sie  zu  ihrem  Rechte  komme: 

„Das  macht:  er  ist  gericht't:  ein  Wörtlein  kann  ihn  fällen." 

„Ich  lag  in  schweren  Banden  —  du  kommst  und  machst  mich  los." 

„Dieses  weiß  ich;  sollt  ich  nicht  darum  mich  zufrieden  geben?" 


424  E.  Rosenberg,  Zur  Bereicherung  der  Übersetzungssprache  usw. 

Für  die  im  Griechischen  besonders  häufige  Aufgabe  des  relativen  Gefüges 
finde  ich  passend: 

„Der  seine  Frucht  bringt   zu  seiner  Zeit,    und  seine  Blätter 
verwelken  nicht,  und  was  er  macht,  das  gerät  wohl." 

Bekanntlich  sagt  man  im  guten  Deutsch  nicht  mehr  „so  wohl",  „als  auch", 
„weder  —  noch"  usw.  Einfaches  Verbindungswort  oder  Unverbundenheit  genügt. 
Darum  heißt  es: 

„Der  nicht  wandelt  im  Rate  der  Gottlosen,  noch  tritt  auf  den 
Weg  der  Sünder." 

„Daß  wir  wieder  Trost  empfinden,  alles  Unglück  überwinden." 
Jede  Grammatik   muß   für   den   prädikativ-proleptischen    Gebrauch    auch   des 
deutschen  Adjektivs  Beispiele    anführen.     Folgende   mögen   sich   ebenfalls   dazu 
eignen : 

„Er  hilft  uns  frei  aus  aller  Not"  — 

„Der  dich  auf  Adlers  Fittichen  sicher  geführet". 

„Und  schenkest  mir  voll  ein". 

„Du  hebst  mich  hoch  zu  Ehren." 

Ich  habe  oft  gefunden,  daß  Schülern  die  Voranstellung  eines  Relativsatzes 
Schwierigkeiten  macht  hinsichtlich  des  sofortigen  Verständnisses.  Aber  wir  haben 
ja  auch: 

„Der  eure  Herzen  labet  und  tröstet,  steht  allhier." 

„Den  aller  Weltkreis  nie  beschloß. 

Der  lieget  in  Marienschoß." 

Immer  seltener  wird  es,  daß  wir  im  Deutschen  in  indirekten  Fragesätzen  den 
Konjunktiv  setzen,  es  sei  denn,  daß  ganz  deutlich  eine  oblique  Beziehung  hervor- 
trete. Darum  ist  es  nicht  unangebracht,  darauf  hinzuweisen,  daß  wir  auch  im 
Deutschen  den  Konjunktiv  anwenden  dürfen: 

„weiß  und  sieht,  was  gut  sei  oder  schade  dem  sterblichen  Gemüt." 
„damit,  was  dich  ergötze,  mir  kund  und  wissend  sei."  — 

Zu  den  bekannten  Umschreibungen  des  Verbums  mit  habere,  teuere,  jacere 
habe  ich  mir  folgende  Beispiele  aufgeschrieben: 

„damit  du  alle  Welt  ...  so  fest  umfangen  hast." 
„zu  dir  kommen  wir  getreten." 

Für  die  Besprechung  des  Konjunktivus  dubitativus  scheinen  mir  seiner  Über- 
setzung wegen  folgende  Verse  passend: 

„Wie  soll  ich  dich  empfangen? 
Und  wie  begeg'n  ich  dir?  .  .  ." 
„Warum  sollte  mir  denn  grauen?" 


R.  Herold,  Das  Einüben  der  griechischen  Buchstaben.  425 

Wunschsätze  machen  im  Lateinischen  und  Griechischen  oft  Schwierigkeiten 
in  bezug  auf  die  Wiedergabe  mit  dem  Konj.  Präs.  oder  Konj.  Imperf.  event. 
im  Griechischen  Optativ  und  Ind.  temp.  bist.    Man  lasse  danach  betrachten: 

,Ach  möcht  ich,  o  mein  Leben,  an  Deinem  Kreuze  hier  mein  Leben 
von  mir  geben,  wie  wohl  geschähe  mir!" 

Luise  Henriette  von  Brandenburg  wollte  sicherlich  auch  ihr: 

„Nur  daß  ihr  den  Geist  erhebt  von  den  Lüsten  dieser  Erden I" 

als  Wunschsatz  gefaßt  sehen. 

Zum  Schluß  noch  eine  den  Schülern  längst  bekannte  Enallage  des  Adjektivs, 
deren  bei  der  Dichterlektüre  im  Gymnasium  so  viele  besprochen  werden  müssen: 

„meine  starke  Glaubenshand  wird  in  ihn  gelegt  befunden" 

und  für  die  Übersetzung  des  Horazischen  (pallida  mors  I,  4) : 

„des  blassen  Todes  Macht  hat  alles  hingerafft". 
Hirschberg  i.  Schi.  Emil  Rosenberg. 


Das  Einüben  der  griechischen  Buchstaben. 

Die  Frage,  wann  und  von  wem  den  Schülern  die  griechischen  Buchstaben  zu 
lehren  sind,  gehört  zwar  nicht  zu  den  Kernfragen  des  Unterrichts,  ist  aber  doch 
einiger  Beachtung  wert.  In  den  Lehrplänen  und  Lehraufgaben  für  die  höheren 
Schulen  wird  die  Frage  nicht  berührt  und  auch  in  den  meisten  methodischen  Hand- 
büchern mit  Stillschweigen  übergangen.  O.  Kohl  in  Reins  Enzyklopädischem  Hand- 
buch der  Pädagogik  III,  43  empfiehlt  das  Lesen  des  griechischen  Alphabets  für  die  Ge- 
schichtsstunden in  Quarta  und  die  Schreibübungen  für  die  ersten  Wochen  des  grie- 
chischen Unterrichts  in  Unter-Tertia,  macht  aber  darauf  aufmerksam,  daß  die  kleinen 
griechischen  Buchstaben,  wenigstens  bis  C.  schon  vom  Mathematiklehrer  in  Quarta 
einzuüben  sind.  Meines  Erachtens  fällt  das  Lehren  der  griechischen  Schrift  am  besten 
dem  Schreiblehrer  zu;  denn  dieser  ist  mehr  als  mancher  Altphilologe  oder  Mathe- 
matiker geeignet,  durch  seine  eigene  Vorschrift  vorbildlich  zu  wirken.  Als  Zeit 
möchte  ich  das  zweite  Halbjahr  der  Quinta  empfehlen;  denn  dann  ist  nach  einem 
Schreibunterricht  von  insgesamt  4V3  Jahren  einige  Sicherheit  in  den  Formen  der 
deutschen  und  lateinischen  Buchstaben  erreicht,  und  dem  Zwecke,  Schönheit  der 
Form  zu  erzielen,  dient  auch  der  griechische  Schreibunterricht.  Die  gegen  die 
Einübung  durch  den  Schreiblehrer  —  meistens  wohl  einen  Elementarlehrer  —  ge- 
äußerten Bedenken,  daß  dieser  bei  der  Nichtkenntnis  des  Griechischen  nicht  geeignet 
sei,  solchen  Unterricht  zu  erteilen,  sind  hinfällig,  da  ja  der  griechische  Schreibunter- 
richt auf  keinen  Fall  in  einen  Anfangsunterricht  des  Griechischen  ausarten  darf. 
Dies  ist  freilich  oft  der  Fall.  Eine  mir  voriiegende  Schreibvorschrift  von  W.  Suckow 
(Breslau,  E.  Morgenstern)  bietet  eine  Sammlung  von  einigen  Dutzend  griechischen 
Vokabeln  nebst  Beispielen  aus  der  Deklination  und  Konjugation  und  ganzen  grie- 


426  F.  Boesch, 

chischen  Sätzen  nebst  darunter  gesetzter  deutscher  Übersetzung.  Die  Vokabeln 
sind  ganz  willkürlich,  nur  nach  den  darin  vorkommenden  Buchstaben,  ausgewählt, 
und  auch  die  Gattungsnamen  sind  oft  unrichtigerweise  mit  großen  Anfangsbuch- 
staben geschrieben.  In  ähnlicher  Weise  verwendet  ein  Schreibheft  (Würzburg, 
E.  Bauer)  beliebige  Deklinations-  und  Konjugationsformen,  doch  ohne  deutsche 
Übersetzung.  Besser  schon  sind  in  den  Vorlagen  zur  Einübung  der  griechi- 
schen Schrift  von  B.  G.  Teubner- Leipzig  überwiegend  Wörter  und  Eigennamen 
verwendet,  die  dem  Sextaner  und  Quintaner  bereits  bekannt  geworden  sind,  aber 
als  nicht  vorteilhaft  erscheint  mir,  daß  hier  mit  der  Einübung  der  kleinen  griechi- 
schen Buchstaben  begonnen  wird  und  sich  erst  an  diese  die  großen  Buchstaben 
anschließen.  Da  in  jedem  Unterricht  an  Bekanntes  angeknüpft  werden  muß,  beginnt 
man  besser  mit  den  großen  Buchstaben,  die  sich  zur  Hälfte  an  die  bereits  bekannten 
lateinischen  Kapitalbuchstaben  anlehnen.  Diese  Anordnung  ist  den  „Neuen  grie- 
chischen Schul  Vorschriften"  (Halle,  Buchhandlung  des  Waisenhauses)  zugrunde  gelegt, 
und  da  in  recht  geschickter  Weise  auch  die  Entstehung  der  kleinen  Buchstaben  aus 
den  großen  dargelegt  ist,  wird  deren  Einprägung  und  Aneignung  neben  den  großen 
sehr  erleichtert.  Zur  Einübung  der  griechischen  Schrift  sind  die  dem  Quintaner  be- 
reits bekannten  Fremdwörter  ausgewählt  worden,  wie  «cuiAraotov,  berjXo'(ia,  cptXooo'fta, 
Ypa[XjjiaTixT},  [xaOYjjxotxixT^,  fxouatxrj,  ßtßXtoöi^xvj  u.  a.;  dann  folgen  allbekannte  Namen 
von  Personen,  Städten  und  Bergen.  Mit  besonderer  Freude  aber  werden  die  Schüler 
die  ihnen  aus  der  Sagengeschichte  bereits  bekannten  Namen  der  Helden  des  Argo- 
nautenzuges, der  Ilias  und  Odyssee  in  der  Urschrift  schreiben  und  lesen. 
Halle  a.  d.  Saale.  Richard  Herold. 


Zur  Übungsbücherfrage. 

(Einige  Wünsche  zum  Quartaband  der  Ostermannschen  Übungsbücher.) 

Wollen  die  Vertreter  des  alten  Gymnasiums  den  Bestrebungen,  den  Beginn 
des  lateinischen  Unterrichts  nach  oben  hin  zu  verschieben  wirksam  entgegen- 
treten, werden  sie  mehr  als  bisher  darauf  bedacht  sein  müssen,  den  Unterricht  so 
zu  gestalten,  daß  schon  auf  den  unteren  Stufen  die  Erziehung  zum  Denken  als 
seine  Hauptaufgabe  erscheint.  Von  wesentlicher  Bedeutung  wird  dazu  das  Übungs- 
buch sein.  Für  seine  Anlage  soll  das  folgende  einige  Wünsche  geben.  Sie  sind 
gekleidet  in  die  Form  einer  ausführlichen  Besprechung  des  neuen  Quartabandes 
der  Ostermannschen  Übungsbücher.*)  Es  wird  sich  das  rechtfertigen  durch  die 
große  Verbreitung,  die  gerade  diese  Bücher  gefunden  haben. 

Über  die  vorgenommenen  Änderungen  gibt  das  Vorwort  Auskunft.  Sie  be- 
treffen im  wesentlichen  teils  die  Form  der  lateinischen  und  deutschen  Texte,  teils 
die  Anordnung  des  Stoffes.  Mit  den  letzteren  wird  man  im  großen  und  ganzen 
einverstanden  sein  können. 


*)  Ostermann,  Chr.,  Lateinisches  Übungsbuch.  Ausgabe  C.  III.  Teil:  Quarta.  Bearbeitet 
von  H.  J.  Müller  und  H.  Fritzsche.  Leipzig  und  Berlin  1909.  B.  G.  Teubner.  VI  u.  310  S. 
geb.  2,40  M. 


Zur  Übungsbücherfrage. 


427 


Das  Lesebuch  hat  die  Umarbeitung,  die  nötig  gewesen  wäre,  nicht  erfahren.*) 
Auch  in  der  neuen  Form  hat  es  keinen  von  den  Vorzügen,  die  wir  selbst  an  dem 
schwächsten  Original  bewundern,  dagegen  alle  die  Mängel  eines  künstlichen,  nicht 
einmal  analysenfesten  Surrogates.  Schopenhauer  würde  von  Kaffee  und  Zichorie 
sprechen.  Das  „Ostermanndeutsch"  ist  berüchtigt;  „ Ostermannlatein "  ist  nicht 
besser.  Einförmigkeit  der  Wortstellung  und  des  Periodenbaus,  wenig  sorgfältige 
Anlage  vieler  Sätze  (viel  öfter  müßte  das  gemeinsame  Satzglied  an  den  Anfang), 
geringe  Beachtung  der  sogenannten  Synonyma,  Aufnahme  deutsch  gedachter 
Wendungen,  Vorliebe  für  manche  Ausdrücke,  Einschiebung  völlig  gedankenarmer 
Satzglieder  und  Sätze,  Auslassung  anderer  für  das  Verständnis  notwendiger,  Un- 
genauigkeit  in  der  Wahl  der  Tempora,  fortwährende  unlateinische  Wiederholung 
des  Eigennamens,  Zerreißung  eng  zusammengehörender  Sätze,  Verkuppelung  ganz 
verschiedener  Gedanken  durch  et  atque  sed  zu  einem  scheinbaren  Ganzen,  geringe 
Genauigkeit  in  der  Verbindung  der  Sätze,  häufige  Unterbrechung  des  Zusammen- 
hangs, namentlich  am  Anfang  eines  Kapitels,  bilden  seine  Hauptkennzeichen. 

Innerhalb  dieses  Rahmens  hat  C.  vieles  geändert,  manches  gebessert.  —  Um 
ein  genaues  Bild  von  dem  Unterschied  der  beiden  Rezensionen  und  ihrem  Ver- 
hältnis zum  Original  zu  geben,  wäre  eine  Gegenüberstellung  größerer  Abschnitte 
erforderlich;  die  verbietet  der  Raum.  Doch  genügen  vielleicht  folgende,  um  ihrer 
Kürze  willen  gewählte,  Sätze,  das,  worauf  es  ankommt,  zu  zeigen.  Absichtlich 
habe  ich  mich  auf  ganz  vereinzelte  Zusätze  beschränkt. 


Cornelius  Nepos 
I.  3.  3.  hie  (Miltiades) 
cumcrebri*)  afferrent  nuntii 
male  rem  gerere  Darium 
premique  a  Scythis,  horta- 
tus  est  pontis  custodes,  ne  a 
fortuna  datam  occasionem 
liberandae  Graeciae  dimit- 
terent. 

*)  crebri  und  das  praes. 
gerere  bedingen  sich  gegen- 
seitig. 


//.  2.  6.  Deliberantibus 
Pythia  respondit,  ut  moeni- 
bus  ligneis  se  munirent. 
Id  responsum  quo  valeret 
cum  intellegeret  nemo, 
Themistocles  persuasit  con- 


6.  Paulo  post  ad  cus- 
todes pontis  nuntius  allatus 
estDareum  male  rem  gerere 
premique  a  Scythis,  et 
equites  hostium,  qui  idem 
nuntiantes  ad  flumen  ve- 
nerant,  Qraecis  persuade- 
bant,  ut  pontem  rescinde- 
rent  Quibus  rebus  cognitis*) 
Miltiades  custodes  pontis 
hortatus  est,  ut  consilio  et 
voluntati  Scytharum  pa- 
rerent. 

17.  Pythia  utilissimum 
esse  respondit  moenibus 
ligneis  se  defendere.  Quod 
cum  Athenienses  audivis- 
sent,  incerti  erant,  quid 
sibi  deus  praeciperet:  alii 

*)  Quibus? 


C. 


6.  Paulo  post  profec- 
tiönem  regis  custodibus.. 


persuadere  conati  sunt  . 


17. 


dubitabant 


*)  Der  Unterzeichnete  hat  A.  u.  C.  verglichen ;  er  muß  um  Entschuldigung  bitten,  falls 
einiges,  was  er  C  zuschreibt,  schon  in  B  geändert  sein  sollte. 


428 


F.  Boesch, 


Cornelius  Nepos 
silium  esse  Apollinis,  ut  in 
naves  se  suaque  conferrent: 
eum  enim  a  deo  significari 
mumm  ligneum. 


IL  9.  4.  te  autem  rogo, 
ut  de  eis  rebus,  quas  tecum 
colloqui  volo,  annuum  mihi 
tempus  des  eoque  transacto 
ad  te  venire  patiaris. 

III.  3.  2.  hie  qua  fuerit 
absiinentia,  nullum  est 
certius  indicium  quam  quod, 
cum*)  tantis  rebus  prae- 
fuisset,  in  tanta  paupertate 
äecessit,  ut  qui  efferretur 
vix  reliquerit.  Quo  factum 
est,  ut  filiae  eius  .  . 

*)  Dieser  Satz  ist  für  den 
Beweis  notwendig. 


putabant  Apollinem  impe- 
rare,  ut  urbs  defenderetur, 
alii  navibusfugiendum  esse 
credebant; 

Themistocles  autem  naves 
esse  moenia  lignea  dixit  et 
deum  imperare,  ut,  cum 
Lacedaemonii  aliique  pe- 
destribus  Persarunt  copiis 
obviam  irent,  Athenienses 
cum  hostibus  proelium 
navale  facerent. 

27.  Oro  te,  ut  vitam 
meam  tuearis  et  me  ad  te 
venire  patiaris. 


33.  Quanta  probitate  et 
abstinentia  Aristides  fuerit, 
nullum  est  certius  indicium, 
quam  quod  in  summa  \  quod  is  in 
paupertate  mortuus  est.  \ 
Ne  tanium  quidem  liberis 
suis  reliquit,  quo  efferri 
posset.  Ita  factum  est,  ut 
et  ipse  publicis  sumptibus 
sepeliretur  et  filiae  eius  .  . 


C 

ut  arx,  quae  olim  lignea 
sepe  circumdata  fuisse 
dicebatur,  defenderetur. 
Themistocles  autem  dixit 
deum  sibi  (?)  impe- 
rare, ut  navibus  velut 
moenibus  ligneis  liber- 
tatem  defenderent ;  itaque 
civibus  suasit,  ut,  cum  .  . 
terrestribus  .  .  ipsi 

.  .  navibus  pugnarent. 

27.  Oro  te,  ut  in  hac 
urbe  me  manere  et  linguam 
Persicam  ita  discere  sinas, 
ut  ipse  tecum  colloqui 
possim. 

33. 


VI.    4.   2.    saepe,    cum      45.   saepe,    cum   in   ho- 
aliquem  offensum  fortunae  mines  male  vestitos  inci- 


videret  minusbenevestitum, 
suum  amiculum  dedit. 

VIII.  4.  I.  huic  pro  tantis 
meritis  honoris  causa  Corona 
a  populo  data  est,  facta 
duabus  virgulis  oleagineis. 
quam  quod  amor  civium 
et  non  vis  expresserat, 
nullam  habuit  invidiam 
magnaque  fuit  gloria. 
(sc.  Corona). 


derat,  comites  vestem  suam 
Ulis  dare  iubebat. 

71.  72.  Pro  his  in  rem 
publicam  meritis  Thrasy- 
bulo  et  reliquis,  qui  in  cas- 
tello  Phyle  a  triginta  ty- 
rannis  oppugnati  erant,  ex 
plebiscito  singulis  Corona 
ex  virgulis  oleaginis  facta 
data  est,  universis  mille 
nummi,  qui  Graeco  voca- 
bulo  drachmae  nominantur, 
donati  sunt,  ut  dis  immor- 


45. 
. .  aut  ipse  vestem  suam  Ulis 
dedit  aut  comites  suosumptu 
bene   vestitos  dare  iussit. 

66. 
ceteris 


a  populo  singulaecoronae 
ex  virgulis  oleaginis  factae, 
universis  vero  milU 
drachmae   datae   sunt  .  . 


Cornelius  Nepos  1  A. 

'  talibus  sacrificarent  ei  dona 
illa  igitur  Corona  conieniusjerrent.       Thr.     qui     Uta 


Zur  Übungsbücherfrage.  429 

C. 


Trasyb.  neque  amplius  re- 
quisivit  neque  quemquam 
honore  se  antecessisse 
existimavit. 


Corona  conientus  nihil  am- 
plius requisivit,  omni  caruit 
invidia  magnaque  fuit 
gloria. 


Quo  praemio  contentus 
quod  Thr.  nihil  amplius  re- 
quirebat,  omni  caruit  in- 
vidia magnaque  gloria 
floruit. 


Dazu  vergleiche  man  etwa  Nep.  II.  8.  2,  A.  25. 15  ff,  C.  25. 15  ff.;  Nep.  IV.  2.  3  ff, 
A.  35.  10  ff.,  C.  35. 10  ff.;  Nep.  III.  1.1  f.  A.  29,  7  ff,  C.  29,  7  ff;  A.  31.  1  ff.,  C.  31.  1  ff.; 
Nep.  II.  5,  A.22,  C.22;  Nep.  III.  1.3,  A.  30.  C.  30;  A.49,  C.49.  Ich  fürchte,  der 
Vergleich  wird  nicht  zu  Gunsten  der  neuen  Ausgabe  ausfallen.  Der  Abstand  vom 
Original  wird  noch  größer  und  fühlbarer,  und  der  Wunsch,  an  einer  Stelle  zu 
bessern,  ruft  nur  zu  leicht  eine  Verschlechterung  an  anderer  Stelle  hervor.  Der 
einzige,  der  bei  dem  Vergleich  gewinnt,  ist  Nepos,  der  viel  Geschmähte. 

Aus  der  Menge  des  Materials  gebe  ich  noch  einige,  mehr  zufällig  als  planvoll 
ausgewählte,  Beispiele  von  Stellen,  an  denen  nach  meiner  Meinung  nicht  glücklich 
geändert  oder  eine  wünschenswerte  Änderung  unterlassen  ist:  2.  7  eos  nicht  illos,  3.  6 
ut  imperio  Apollinis  pareret  (A).  nicht  ut  sibi  salutem  afferret,  4.  9  (mortuus  est  et) 
wie  A.  5.  8  wie  A,  oder  ponte  in  fl.  facto  in  fines  profectus  est.  6.  6  (7.  9)  cum  eis 
copiis,  quas  (Nep.).  9.  1  nicht  quae  Mardonio  duce  missa  erat,  sondern  quae 
cum  Mard.  missa  erat  oder  quacum  Mardonius  missus  erat.  13. 4  {et  in  potes- 
tatem  suam  redigeret)  wie  Nep.  u.  A.  13. 12  nicht  putaveruni  sondern  putabant 
(A).  14. 1  etwa:  cives  irati  cum  .  .  comperissent  .  .  accusaverunt.  14. 14  solvit 
pecuniam  . .  Cimon.  15.  4  nam  cum.  16.4  nicht  persuasit,  sondern  suasit  wegen  7 
quod  cum  comprobatum  esset.  18.7  mchi  Persae  eos  cum  decem  milibus  militum 
transcenderunt,  sondern  decem  milia  Persarum  etc.  19. 17  nicht  navium  partem 
violatam  esse,  sondern  afflictam,  20. 1  nicht  cum  Graeci  venissent  — ,  nuntiatum 
eis  est,  sondern  mit  A.  Graecis  cum  venissent  nuntiatum  est,  oder  sachlich  besser: 
cum  ibi  deliberarent,  quid  faciendum  esset,  n.e.  21.2  nicht  per  fidelissimum  ex 
servis  suis,  sondern  per  servum  quendam  de  suis,  quem  habuit  f.  21. 6  nicht 
Persae   naves   adduxerunt,     sondern    Xerxes   naves   adduci    iussit    (cfr.    Nep.) 

23.  2   nichtssagend  wie  4. 4.    23. 5   nicht  dixerunt  enim,  sondern  dicebant  autem. 

24.  8  nicht  Lacedaemonii  igitur,  sondern  itaque  Lac.  26. 3  nicht  illum,  sondern 
ipsum.  27.  6  quamdiu  necesse  fuit,  wie  Nep.  31. 12  nicht  sed  cum,  sondern  at 
cum.  33. 8  Der  Gedanke  muß  an  anderer  Stelle  verwertet  werden.  34.  15  nicht  et 
nomina  modo,  sondern  neque  aliud  quam  (nisi)  Nep.  36. 5  nicht  se  sequi  iubebat,. 
sondern  iussit  oder  sequebantur  eum  (A).  44.  4  nicht  a.  461  testularum  suffragio 
in  decem  annos  ex  patria  expulsus  est,  sondern  nam  a.  461  t.  suffragiis  decem 
annorum  exilio  multatus  est  (Nep.)  52. 3  frustra  postulavit;  75. 1 1  nicht  pöst- 
quam  causam  comperit,  sondern  indir.  Frage  (Nep.  causam  ostendit). 

78.  3  qui  cum  ipso  Epaminonda  auctore  omnem  culpam  in  illum  (sc.  Epami- 
nondam)  transtulissent  bringt  den  Schüler  nur  in  Verlegenheit.  78.8  nicht  in 
tabulis  publicis,  sondern  in  sepulcro  suo  (A.  Nep.)  82. 18  nicht  lllyrios  a  Mace- 
donibus  Parmenione  duce  esse  superatos,  sondern  quibus  praeerat.  86.7  nicht 
in  utram  partem  Victor ia  esset  inclinatura,  sondern  fortuna  .  .  oder  uiri  victores 


430  F   Boesch, 

essent  discessuri.  89. 14  nicht  quare  cum  .  .  Delphos  escendisset,  casu  accidit, 
ut  eo  die,  quo  advenit,  a  Pythia  responsa  non  darentur,  sondern  sed  cum  escen- 
disset, casu  eo  die  advenit,  quo  .  .  non  dabantur.  94.  9  nicht  perstitissent,  sondern 
perstiterant.  94. 12  corpora  suorum,  nicht  corp.  s.  mortua.  95.  3  pleraeque  urbes 
sua  sponte  ei  portas  aperuerunt  Germanismus.  97.  13  exspectans,  num  .  .  esset 
animadversurus  (!)  100.  21  =  108.  10;  100.  24  .  .  ut  mercennarii  quoque  et 
equites  .  .  ipsi  quoque  .  .  peterent;  ipsi  quoque  ist  zu  streichen,  ebenso  108. 17 
ipsum  (Text:  ipso)  quoque. 

101. 13  stabant  ergibt  ein  unmögliches  Bild;  Gurt:  iacebant  in  gremio.  104.  2 
nicht  XXX?  ib.  13  nicht  ego  quoque  hoc  facerem,  si  Parmenio  essem,  sondern 
mit  Gurt,  pecuniam  quam  gloriam  mallem,  si  (cfr.  St.  184  S.  4).  ib.  15  deinde 
legatis  .  .  revocatis  verlangt  das  legatis  .  .  excedere  iussis  von  A.  wie  102. 12 
sine  pretio  das  magna  pecunia  acctpta  (A.  Gurt.)  im  Anerbieten  des  Darius. 
109.22  nicht  inter  mirabilia  opera,  sondern  inter  m.  op.  orbis  terrarum.  110. 18 
nicht  pro  merito  uniuscuiusque,  sondern  pro  suo  cuique  merito.  110. 22  nicht 
regiam  delendam  curavit,  sondern  r.  deleri  iussit.  123.  11  nicht  cum  paucis, 
sondern  solus.  137. 14  Hannibal  primus  in  proelium  ibat  (Liv.  A.),  nicht  ad  pr. 
proficiscebatur.  139.  15  nicht  quo  proelio  equestri  prope  flumen  facto,  sondern 
Proelio  etc.  .  .  denn  es  fehlt  das  in  A.  vorausgehende  equestri  proelio  dimicavit. 

Ich  könnte  diese  Bemerkungen  ad  libitum  vermehren;  allein  die  Fälle,  wo 
€in  is  oder  ille  zur  Wiederaufnahme  des  Subjekts  ganz  unnötiger  Weise  neu  ein- 
geschoben ist,  würden  eine  stattliche  Zahl  ergeben,  von  dem  Gebrauch  von  quidem 
zu  schweigen.  Aber  worauf  nach  meiner  Ansicht  bei  der  Neubearbeitung  hätte 
geachtet  werden  müssen,  wird  klar  sein.  „Der  Schüler  ist  natürlich  für  solche 
Unterschiede  noch  nicht  reif;  der  Lehrer  aber  soll  daran  denken  und  Beispiele 
vermeiden,  die  bei  dem,  der  sich  daran  gewöhnt,  für  spätere  Zeiten  die  Unter- 
scheidungsfähigkeiten abstumpfen."  (Gauer.)  Übrigens  gilt  nach  meinem  Urteil 
für  den  Sexta-  und  Quintaband  das  Gleiche. 

Als  Druckfehler  sind  zu  streichen  94.12  in,  112.10  se;  als  unnötige  Hilfen 
die  noch  stehen  gebliebenen  Quantitätsbezeichnungen,  soweit  sie  dem  Schüler  das 
Erkennen  des  Kasus  erleichtern  sollen. 

Das  Übungsbuch  enthält,  abgesehen  von  einem  Abschnitt  über  die  Über- 
setzung der  Participialkonstruktionen  (warum  fehlt  ein  Hinweis  auf  die  Wiedergabe 
durch  einen  Hauptsatz?)  wenige,  z.T.  nach  Form  und  Inhalt  recht  dürftige,  latei- 
nische und  viel  deutsche  Sätze.  Ich  würde  es  umgekehrt  wünschen;  denn  nach 
meiner  Erfahrung  kommt  beim  Übersetzen  gedruckt  vorliegender  deutscher  Sätze 
nicht  viel  heraus,  so  bequem  es  auch  ist.  „Aber  das  ist  ein  zu  weites  Feld." 
Sollen  aber  diese  jetzt  vorhandenen  lateinischen  Sätze  der  Entwicklung  oder  der 
Einübung  der  sonst  irgendwie  entwickelten  Regeln  dienen  —  und  nach  ihrer 
Stellung  scheinen  sie  doch  eins  von  beiden  zu  sollen  —  so  müssen  alle  die  Über- 
setzungshilfen aus  ihnen  verschwinden,  die  dem  Schüler  gerade  das  verraten,  was 
erfinden  oder  üben  soll;  z. B.  pag.  99,  115,  117,  163.  Sollte  etwas  Nutzbringendes 
geschehn,  so  mußte  man  etwa  pag.  99  denselben  lateinischen  Satz  in  doppelter 
Fassung  (Partie,  resp.  Nebensatz)  wiedergeben  und  so  zum  Vergleich  anregen,  ähnlich 
wie  es  p.  107  gemacht  ist.    Aber  wenn  da  steht:   „T.  Manlius  filium  suum  securi 


Zur  Übungsbücherfrage.  431 

percuti  iussit.  Aber:  Livius  narrat  T.  Manlii  iussu  filium  eius  securi  necatum 
esse",  so  würde  es  lateinisch  doch  wohl  heißen:  Livius  narrat  T.  Manlii  filium 
iussu  patris  necatum  esse. 

In  den  deutschen  Sätzen  und  Stücken  soll  das  Bestreben,  das  Ostermann- 
deutsch zu  beseitigen,  ausdrücklich  anerkannt  werden,  wenn  man  auch  noch 
manches  »daß",  manchen  Nebensatz  und  Wendungen  wie:  die  Vorsehung  ver- 
waltet das  Weltall;  er  wandte  eine  große  Strenge  an;  Augustus  genoß  lange  die 
höchste  Gewalt,  die  Cäsar  nur  kurze  Zeit  verwaltet  hatte;  das  Heer  entbehrte 
mehrere  Tage  hindurch  der  Speise;  die  verzeichneten  Buchstaben  u.  a.  m.  gern 
missen  würde. 

Aber  leider  wird  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  der  undeutsche 
Ausdruck  in  Klammern  hinzugefügt  und  damit  der  ganze  Erfolg  wieder  aufgehoben; 
denn  naturgemäß  werden  die  Augen  und  Gedanken  des  Schülers  mehr  an  dem 
schlechteren,  aber  für  ihn  wichtigeren,  als  an  dem  richtigen  Ausdruck  haften. 
Und  wieder  wird  ihm  die  Arbeit,  die  er  selbst  leisten  soll,  und  noch  dazu  die 
eigentlich  bildende  und  reizvolle  Arbeit  abgenommen. 

Doch  das  ist  nur  eine  von  den  zahllosen  Hilfen,  die  ihm  für  die  Übersetzung 
gegeben  werden  und  die  mich  gegen  das  Buch  noch  bedenklicher  machen,  als 
die  mangelhafte  Latinität  des  ersten  Teils.  Bewundernswert  ist  die  Sorgfalt  der 
Verfasser  bei  dieser  entsetzlichen  Kleinarbeit,  bewundernswerter  die  rein  technische 
Leistung  eines  Schülers,  der  es  fertig  bringt,  unbeirrt  durch  diese  Menge  ver- 
schiedener Zeichen  sein  deutsches  Stück  fließend  vorzulesen.  An  der  richtigen 
Stelle  freut  man  sich  über  einen  Wegweiser,  wo  man  selbst  den  Weg  nicht  finden 
kann  und  ein  Umweg  keinen  Nutzen  gebracht  hätte,  aber  man  nehme  sich  nicht 
gewisse,  jedem  Wanderer  verhaßte,  Verschönerungsvereine  zum  Vorbild,  die  alle 
paar  Schritt  die  Bäume  bemalen  und  es  für  ihre  Pflicht  halten,  überall  Wegweiser, 
Barrieren,  Warnungstafeln  u.  dgl.  anzubringen.  Man  gebe  dem  Schüler  die  Haupt- 
regel und  dann  überlasse  man  es  ihm,  ob  er  sich  nun  etwa  für  participium  oder 
Nebensatz,  für  perf.  oder  imperf.  entscheiden  will,  zumal  wenn  beides  in  gleicher 
Weise  paßt.  SchließHch  gehört  das  doch  auch  in  das  vielerörterte  Kapitel  von 
der  Erziehung  zur  Selbständigkeit  und  Freiheit. 

Von  einem  Schüler,  der  zwei  Jahre  Latein  gehabt  hat,  muß  man  verlangen, 
daß  er  von  selbst  das  gemeinsame  Subjekt  an  den  Anfang  stellt,  daß  er  weiß, 
wie  er  sich  einem  Infinitiv  mit  „um  zu",  (St.  181  S.  2),  einem  finalen  Relativsatz 
(St.  182  S.  9),  oder  präpositionalen  Wendungen  in  Fällen  wie  „für  die  Lacedä- 
monier  schimpflich"  (St.  185  S.  8)  oder  „Perikles  schmückte  die  Stadt  mit  Tempeln" 
(St.  184  S.  2;  cfr.  186,  25,  28;  187,  14)  gegenüber  zu  verhalten  hat.  Aber  noch 
am  Schluß  des  dritten  Jahres  erhält  er  Hilfen,  wie  St.  282  viermal:  „zu  Schiff", 
„auf  dem  Wagen"  (abl),  St.  276  zweimal  (nb.  auch  hier  in  einem  zusammen- 
hängenden Stücke):  „sei  überzeugt"  (überzeuge  didi),  ebenda:  „zur  Kriegführung" 
(ger.),  in  demselben  Satze  viermal  hinter  einem  Präsens  (fut.),  bald  darauf:  „für 
die  Punier  günstig"  (dat.)  u.  s.  w.  Natürlich  erhält  auch  jedes  „sagte  er"  vor 
direkter  Rede  seinen  Stern. 

Das  muß  anders  werden;  denn  wie  soll  der  Schüler  sich  etwas  zutrauen,  wenn 
wir  ihm   nichts  zutrauen?   wie  soll   er  Aufmerksamkeit  und  Genauigkeit  lernen? 


432  F.  Boesch, 

Und  wenn  die  zahlreichen  Verweisungen  auf  die  unglückliche  zweite  „stilistische* 
Regel  verschwinden,  werden  viele  Sätze  auch  lateinischer  werden. 

Ähnliches  gilt  von  der  Wortkunde. 

Ohnehin  schon  für  den  Schüler  zurechtgemachte  Sätze  erhalten  eine  Menge 
unnötiger  Obersetzungshilfen,  und  statt  bei  den  nötigen  Vokabeln  die  Grundbe- 
deutung zu  geben  und  durch  ein  „hier?"  das  Suchen  des  Schülers  anzuregen, 
schlägt  man  den  umgekehrten  Weg  ein  und  verzichtet  auch  hier  der  Bequemlichkeit 
des  Schülers  zuliebe  auf  den  Hauptnutzen  der  Arbeit.  Zwar  wird,  wie  das 
Vorwort  rühmt,  überall  die  Frage  nach  der  Grundbedeutung  gestellt,  aber  wozu 
soll  der  Schüler  noch  suchen,  wenn  er  hat,  was  er  braucht?  Auch  wird  nur  eine 
leider  schon  genug  verbreitete  Nachlässigkeit  des  Übersetzens  gefördert,  wenn 
man  z.  B.  druckt  —  es  soll  übersetzt  werden:  ut  Athenae  lumen  ac  decus  totius 
Graeciae  vocarentur  —  lumen,  hier:  der  Schmuck.  Dazu  kommen  die  zahllosen 
Rückverweisungen,  nicht  nur  zwischen  den  verschiedenen  Stücken,  sondern  im 
Rahmen  derselben  Erzählung,  die  den  Schüler  der  heilsamen  Pflicht,  sein  Ge- 
dächtnis zu  befragen,  entheben.  Habe  ich  richtig  gezählt,  ist  unter  den  Vokabeln 
zu  den  Alexanderstücken  caput  viermal,  labor  sechsmal  (dazu  dreimal  läborare), 
alter-alter,  ratus,  victoriam  adipisci,  loci  natura,  humi  prosternere  je  dreimal, 
ipse  quoque  viermal,  ingredi  fünfmal  vertreten,  eine  Liste,  die  beliebig  erweitert 
werden  kann.  Denn  das  macht  sachlich  keinen  Unterschied,  ob  jedesmal  die  Be- 
deutung wiederholt  oder  nur  durch  ein  s  auf  die  Stelle,  wo  die  Bedeutung  zu 
finden  ist,  hingewiesen  wird.  Kein  Wunder,  daß  die  Klagen  über  mangelnde 
Vokabelkenntnisse  so  überhand  nehmen  und  wieder  besondere  , Wörterbücher  zu 
Ostermanns  Lesebüchern"  angezeigt  werden! 

Die  dann  folgende  Zusammenstellung  von  „Redensarten  und  anderen 
bemerkenswerten  Ausdrücken",  die  von  Klassenstufe  zu  Klassenstufe  er- 
weitert wird,  verschafft  den  Übungsbüchern  Freunde  auch  unter  solchen,  die  sie 
sonst  ablehnen;  ebenso  wird  die  Sammlung  von  Sprichwörtern  und  synonymen 
Ausdrücken  willkommen  sein.  Ablehnen  muß  ich  allerdings  die  Formulierung  des 
Unterschiedes  von  propter  und  causa  (S.  282):  propter  bei  vorhandenen  Dingen; 
causa  bei  erstrebten  Dingen. 

Den  Schluß  bildet  der  grammatische  Anhang. 

Unnötige  Erklärungen  von  Konstruktionen  und  grammatischen  Ausdrücken 
sind  mit  Recht  vermieden.  Sollte  der  Lokativ  erwähnt  werden,  so  gehörte  er 
folgerichtig  in  §  1,  1,  c  zu  Corinthi,  nicht  erst  in  §  1,3  zu  domi.  Unzureichend 
ist  die  Erklärung  des  genetiv.  subjectivus  und  objectivus:  Name  und  Sache  sind 
mit  einem  Schlage  klar,  wenn  man  zeigt,  wie  in  der  Umschreibung  durch  einen 
Satz  das  jetzt  im  Genetiv  stehende  Substantiv  einmal  Subject,  das  andere  Mal 
Objekt  wird. 

Das  Verständnis  fördernde  Hilfen,  wie  §  14  der  Hinweis  auf  die  Grundbedeutung 
von  persuadeo,  hätten  öfter  gegeben  werden  können. 

In  §  2  vermisse  ich  einen  Hinweis  auf  die  Fälle,  wo  erst  durch  die  Um- 
wandlung des  genus  verbi  eine  Participialkonstruktion  ermöglicht  wird,  mit  Rück- 
sicht auf  die  im  Lesebuch  vorkommenden  Fälle  §  5  iubeor  und  vetor,  §  7  den 
Zusatz,   daß   indirekte  Fragen   auch   als  Subjekt  zu   unpersönlichen  Ausdrücken 


Zur  Übungsbücherfrage.  435 

treten  können,  §  8  einen  Hinweis  auf  ut  nemo  und  ne  quis,  §  10  auf  die  im 
Vorwort  angekündigte  coniugatio  periphrastica,  ib.  nach  2  c  ein  Beispiel  für  da» 
häufige  in  mit  dem  Ablativ  des  Gerundiums.  §2,2  steht  an  verkehrter  Stelle; 
§  12,  2,  a  ist  unvollständig  und  hätte  mit  b  besser  gefehlt.  §  16,  3  wiederholt 
nur  §  1,  4  und  könnte  eine  knappere  Fassung  erhalten;  §  14,  2  war  früher  besser 
formuliert.    §  18,  14  ist  in  dieser  Allgemeinheit  falsch. 

Um  seines  Eigenwertes  verteidigen  wir  den  grammatischen  Unterricht;  von 
der  untersten  Stufe  an  ist  uns  „Erziehung  zum  Denken  durch  die  Grammatik"  seine 
Aufgabe.  Diesem  Ziel  hat  auch  das  Lehrbuch  zu  dienen.  Es  mögen  geringe 
Ungenauigkeiten  sein,  wenn  wir  drucken:  adaequo]  usw.  parco  und  Genossen 
regierten  abweichend  vom  Deutschen  den  Akkusativ  resp.  Dativ  (§13,  §14), 
oder  gar:  transitiv  wird  gebraucht  decet  me  (§  13),  oder:  das  letzte  Glied 
wird  (wie  im  Deutschen)  mit  que  angehängt  (§  18,7),  oder:  präpositionale  Aus- 
drücke dürfen  nicht  von  Substantiven  abhängen  (§  18,6)  oder:  der  genet. 
partit.  bezeichnet  das  Ganze,  von  dessen  Teil  (oder  Teilen)  etwas  ausgesagt 
wird  —  aber  bei  uns  wie  bei  den  Schülern  müssen  wir  sie  erbarmungslos  be- 
kämpfen. 

Aus  demselben  Grunde  dürfen  sich  die  syntaktischen  Regeln  nicht  auf  eine 
äußerliche  Aufzählung  einzelner  Fälle  beschränken,  die  man  lernen  muß;  der 
Schüler  muß  hören  und  verstehn,  daß  es  auf  den  Inhalt  des  Satzes  ankommt. 
Also  fort  mit  Regeln  wie  §8,3:  dass=  damit:  ut  (finale);  dass  nicht  =  damit 
nicht:  ne.  Anm.  ut  finale  entspricht  auch  dem  deutschen  um  zu  mit  dem  In- 
finitiv. —  oder  §  7  (die  Überschrift  enthält  einen  Druckfehler),  weg  mit  der 
Trennung  von  §  18, 11,  weg  mit  der  Fassung  von  §  4.  In  diesem  Falle  ist  die 
Aufzählung  nicht  einmal  vollständig;  denn  in  Fällen  wie  St.  206  Z.  31  oder  St.  114 
Z.  17  läßt  sie  den  Schüler  im  Stich. 

Als  ein  Musterbeispiel,  wie  man  es  nicht  machen  soll,  erscheint  mir  §  3: 
Viele  Verba  haben  neben  einem  Objektsakkusativ  einen  Objektsin- 
finitiv nach  sich  (wirklich?);  z.B.  video  eum  fugere  (eum  timidum  esse, 
eos  timidos  esse)  =  ich  sehe  ihn  fliehn  (ihn  furchtsam  sein,  sie  f.  s.) 
=  ich  sehe,  daß  er  flieht  .  .  (Ein  anderes  Beispiel  hätte  sich  mehr  empfohlen, 
mit  Rücksicht  auf  video  eum  fugientem).  Man  nennt  diese  Konstruktion 
a.  c.  i.  Sieht  man  den  a.  c.  i.  als  einen  besonderen  Satz  an  (das  geht 
nicht!),  dann  steht  sein  Subjekt  im  Akkusativ,  sein  Prädikat  im  In- 
finitiv, und  die  nominalen  Bestimmungen  des  Infinitivs  richten  sich 
.  .  nach  seinem  Subjekt.  Der  a.  c.  i.  steht:  1.  bei  den  verba  sentiendi 
etc.  2.  bei  .  .  3.  .  .  —  Daß  es  sich  um  Aussagesätze  handelt,  es  also  auf  den 
Inhalt  des  Satzes  ankommt,  hört  der  Schüler  nicht.  Aber  er  muß  doch  c.  28  lesen: 
hanc  urbem  rex  ei  donaverat,    cum   diceret  ut  is  (!)   ex  Ulis  panem  haberet. 

Dem  stelle  ich  ein  Beispiel  gegenüber,  wie  man  es  machen  kann.  Es  stammt 
aus  den  Lehrplänen  unseres  zweiten  humanistischen  Gymnasiums,  mit  dessen  Direktor 
ich  die  Fragen  des  Unterrichts  und  dieses  Übungsbuches  oft  und  gern  besprochen 
habe:  „Der  Infinitiv  kann  Subjekt  oder  Objekt  sein,  z.  B.  navigare  necesse  est, 
vivere  non  necesse;  sentio  appropinquare,  ich  fühle  ein  Nahen.  Tritt  zu  dem 
Infinitiv   ein   Subjekt,   so   steht  dies  im  acc,  z.  B.  mortem.     Diese  Konstruktion 

Monatschritt  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  28 


434  P-  Johannesson, 

nennt  man  a.  c.  i.  Sie  gehört  also  als  Subjekt  oder  Objekt  zu  einem  verbum 
finitum;  sie  ist  der  Inhalt  des  Verbums.  Macht  man  aus  diesem  Infinitiv -Inhalt 
einen  Satz,  so  ergibt  sich  jedesmal  ein  Aussagesatz.  Umgekehrt:  Nur  Aussage- 
sätze stehn  im  a.  c.  i.  Die  Frage  lautet  also  in  jedem  Falle:  Wie  heißt  der  Inhalt 
in  Satzform  ausgedrückt?  Z.  B.:  Ich  glaube  gesehn  zu  haben.  Inhalt?  gesehn 
zu  haben.  Als  Satz?  ich  habe  gesehn,  ego  vidi.  Also:  puto  me  vidisse." 
Ich  sage  nicht,  daß  man  es  so  machen  muß;  ich  selbst  habe  es  anders  gemacht. 
Aber  jedenfalls:  xa  xctTtuOev  layn'^oxoLX    sTvai  8st  «SsTiep  oixta?  xat  TrXotou  xat  täv 

aXXcUV    TÄV    TOlOUXfOV. 

Berlin -Wilmersdorf.  F.  Boesch. 


Ober  Handfertigkeitsunterricht  an  tiöheren  Schulen. 

Verkürzte  Wiedergabe  eines  Vortrags. 

Unter  der  Aufschrift  „eine  Schülerwerkstatt"  wurde  hier  kürzlich  über  den 
Handfertigkeitsunterricht  des  Sophienrealgymnasiums  berichtet.  Jene  Mitteilung, 
die  sich  auf  das  Tatsächliche  beschränkt,  dagegen  allgemeinere  und  darum  strittige 
Erwägungen  nur  eben  streift,  soll  heute  durch  die  Darlegung  der  inneren  Trieb- 
federn und  Ziele  ergänzt  werden,  die  meines  Erachtens  dem  Handfertigkeits- 
unterricht zugrunde  liegen;  damit  verbinden  wir  einige  Fragen,  welche  die  zweck- 
mäßige Gestaltung  jenes  Unterrichts  betreffen. 

Welche  Vorteile  kann  an  höheren  Schulen  ein  Handfertigkeitsunterricht  dem 
Zögling  bieten?  Als  ersten  Vorteil  hat  man  die  Tatsache  angesehen,  daß  durch 
die  Handfertigkeit  die  feineren  Muskelgruppen  in  Bewegung  kommen,  die  selbst  beim 
Turnen  und  den  andern  üblichen  Verrichtungen  ausgeschaltet  bleiben;  auch  wird 
ein  Zusammenhang  zwischen  dem  Schaffen  der  Hände  und  dem  Sprechen  darin 
gefunden,  daß  beide  Vorgänge  von  derselben  Gehirnstelle  aus  geleitet  werden ;  so 
sollen  Sprachstörungen  durch  geeignete  Regelung  der  Handtätigkeit  geheilt  worden 
sein.  Ob  diese  physiologischen  Gründe  gegenüber  der  Mehrzahl  der  höheren 
Schüler  irgendwie  belangreich  sind,  lasse  ich  dahingestellt;  für  wichtig  dagegen 
halte  ich  die  ganz  bestimmten  Anschauungen  und  Fertigkeiten,  die  durch  den 
Handarbeitsunterricht  erworben  werden;  und  zwar  sind  diese  ganz  bestimmten 
Anschauungen  und  Fertigkeiten  die  allereinfachsten  handwerklichen  Arbeiten 
etwa  das  Schneiden  und  Bekleben  von  Pappe,  das  Ineinanderfügen  von  Holzteilen, 
die  Herstellung  einer  Schraube,  das  Befeilen  eines  Metallstücks,  auch  das  schon 
eher  künstlerische  Formen  in  weichem  Material.  Und  welchen  Gewinn  sollten 
diese  geringfügigen  und  oft  genug  verachteten  Künste  dem  damit  Vertrauten  bringen? 
Sie  sollen  ihn  nicht  nur  in  die  Lage  setzen,  derartige  kleine  Schöpfungen  ge- 
legentUch  in  müßigen  Stunden  selber  zu  vollbringen,  sondern  auch  ein  Urteil  über 
gewerbliche  Erzeugnisse  zu  gewinnen.  Die  Arbeit,  welche  die  leiblichen  Bedürf- 
nisse befriedigt,  liegt  fast  ausschließlich  in  der  Hand  der  niederen  Stände;  daher 
'ist  die  Fähigkeit  und  das  Verständnis  solcher  Arbeit  bei  den  Gebildeten  in  be- 


über  Handfertigkeitsunterricht  an  höheren  Schulen.  436 

dauerlicher  Art  gesunken.  Bei  vielen  häuslichen  Verrichtungen  sind  die  Gebildeten 
in  fast  beschämende  Abhängigkeit  von  den  Handwerkern  geraten  und  stehen  bei 
ihren  Einkäufen  dem  Lieferer  wehrlos  gegenüber.  Sie  kennen  eben  nicht  die 
Merkmale  einer  gediegenen  gewerblichen  Arbeit;  sie  wissen  den  Pfuscher  von  dem 
Sorgsamen  und  Umsichtigen  nicht  recht  zu  unterscheiden.  Trotz  aller  Schulung 
in  Sprachen  und  Begriffen  erliegen  die  Gebildeten  nicht  selten  dem  Redeschwall 
des  Schwätzers  oder  der  zuversichtlichen  Haltung  des  Betrügers;  fehlt  es  doch 
gerade  den  feinsten  Köpfen  an  gewerblicher  Sachkenntnis  gemeinhin  so  sehr,  daß 
sie  sich  ängstlich  vor  jeder  Berührung  mit  dem  Markte  hüten.  Die  Abhilfe  könnte 
hier  nur  die  Handfertigkeit  erbringen,  die  neben  der  Schwierigkeit  gewerblicher 
Erzeugung  auch  die  Merkmale  gediegener  Leistung  kennen  lehrt.  Schon  um  den 
Kopfarbeiter  aus  jenen  geistigen  Fesseln  zu  befreien,  welche  die  Handarbeiter  um 
ihn  geschlungen  haben,  wäre  es  freudig  zu  begrüßen,  wenn  auch  in  Häusern,  die 
rein  geistigem  Schaffen  sonst  gewidmet  sind,  die  Axt  nicht  fehlte,  die  den  Zimmer- 
mann erspart;  ganz  abgesehen  davon,  daß  nach  der  Ansicht  der  Hygieniker  ein- 
seitige Belastungen  des  Gehirns  durch  anregenden  Wechsel,  am  besten  durch  eine 
fesselnde  körperliche  Tätigkeit  ergänzt  und  ausgeglichen  werden  sollen. 

Die  Förderung  gewerblicher  Sachkenntnis  bei  den  Gebildeten  halte  ich  für 
wünschenswert;  aber  sie  ist  mir  beim  Handfertigkeitsunterricht  nur  eine  Neben- 
wirkung. Den  Hauptsegen  erkenne  ich  in  der  dadurch  ermöglichten  Auslese  für 
das  Leben.  Nicht  also  auf  eine  Übung  der  Sinne  oder  Muskelgruppen,  auch  nicht 
auf  eine  Ausfahrung  der  Gehirngeleise  oder  auf  die  Vermittelung  bestimmten 
Wissens,  ja  überhaupt  nicht  auf  irgendeine  Art  der  Ausbildung  kommt  es  mir 
beim  Handfertigkeitsunterricht  in  erster  Linie  an,  sondern  auf  die  Auslese  der 
Jugend  für  das  Leben.  Weist  man  der  Schule  die  Aufgabe  zu,  die  Auslese  für 
das  Leben  zu  bewirken,  so  muß  die  Schule  ein  unverfälschtes  Bild  des  Lebens 
sein  mit  all  seiner  Mannigfaltigkeit,  mit  seinem  Ehrgeiz  und  seiner  Eitelkeit,  mit 
seinem  Hoffen  und  Befürchten.  Da  darf  es  nicht  nur  Verstandesmenschen  geben, 
denen  aliein  Schärfe  und  Klarheit  der  Gedanken  seelisches  Bedürfnis  ist,  oder 
Phantasiebegabte,  die  mit  ihren  Schöpfungen  Freude  und  Erholung  dem  Menschen- 
herzen bringen  und  durch  sinnige  Vertiefung  in  die  feinsten  Regungen  die  Wunder- 
blume des  Gemüts  in  sich  erzeugen ;  da  müssen  auch  Willensmenschen  ihren  Boden 
haben,  die  im  reinen  Erkennen  kein  Genügen  finden,  denen  ferner  das  reiche 
Lichterspiel  phantastischen  Gestaltens  fehlt,  die  aber  unermüdlich  und  trotzigen 
Sinnes  ihre  Kraft  beweisen,  wo  starre  Widerstände  zu  besiegen  sind.  Und  diese 
Willensstarken,  denen  Zugreifen  und  praktisches  Wirken  ein  Bedürfnis  ist,  sind 
bisher  in  der  Schule  zur  Selbsterkenntnis  nicht  geführt;  nicht  einmal  sind  sie 
außer  im  Turnen  zum  Wettkampf  zugelassen  worden;  ihre  Waffe  hatte  keine 
Geltung;  nur  dem  Denken  und  der  Phantasie  ward  in  der  Schule  der  Platz  an 
der  Sonne  gegönnt.  Hier  ist  die  Stelle,  wo  der  Handfertigkeitsunterricht  eine 
Lücke  auszufüllen  glaubt.  Er  bietet  dem  Schüler  die  Gelegenheit,  seine  Ausdauer 
in  praktischer  Tätigkeit  zu  prüfen,  seine  Umsicht  und  Geschicklichkeit  im  Kampf 
mit  dem  spröden  Stoff  der  Dinge  zu  erproben  und,  falls  er  gewerbliche  Begabung 
hat,  den  Hebel  im  Weltgetriebe  zu  entdecken,  für  welchen  sein  Herz  am  leichtesten 
sich   öffnet.    Nicht   also   die  Ausbildung,   welche  die  Handfertigkeit  der  Jugend 

28* 


436  P-  Johannesson, 

etwa  bieten  könnte,  ist  für  mich  ausschlaggebend;  den  Hauptvorteil  brächte  meines 
Erachtens  ein  Handfertigkeitsunterricht  dem  Einzelwesen  dadurch,  daß  er  dem 
Jüngling  die  Frage  lösen  hilft:  Bist  du  zum  höheren  Handwerker,  zum  Ingenieur, 
geboren  oder  nicht? 

Ehe  wir  weiterschreiten,  ist  hier  noch  kurz  ein  Einwand  zu  beseitigen.  Es 
könnte  darauf  hingewiesen  werden,  daß  die  Gewerbe,  die  für  den  höheren  Schüler 
als  künftiger  Beruf  zumeist  in  Frage  kommen,  rein  geistige  Tätigkeit  erfordern. 
Die  Technik  ist  heutzutage  eine  Wissenschaft.  So  genügt  für  den  Jüngling  der 
Prüfstein  seiner  Geistesfähigkeiten.  Wer  so  spricht,  scheint  mir,  der  verkennt 
die  Wurzel,  aus  welcher  die  technische  Wissenschaft  erwächst.  Die  Ideen,  welche 
auch  beim  gewerblichen  Schaffen,  genau  wie  bei  der  reinen  Geistestätigkeit,  den 
Leitstern  bilden,  entspringen  dem  Techniker  aus  der  feinfühligen  Durchdringung 
seines  körperlichen  Stoffes,  wie  dem  Gelehrten  oder  Dichter  aus  der  innigen 
Vertrautheit  mit  dem  seinigen.  Nicht  mathematische  oder  naturwissenschaftliche 
Begabung  ist  für  den  Techniker  allein  entscheidend,  sondern  die  ganz  eigenartige 
Fähigkeit,  mit  den  Stoffen  der  Körperwelt  zu  fühlen.  Aus  diesem  Gefühl  ent- 
springt das  Wogen  seines  inneren,  wechselvollen  Schauens,  die  Schärfe  seiner 
klärenden  Gedanken,  die  Beharrlichkeit  des  Folgens  seiner  Fährte;  aus  solchem 
Gefühl  erwuchs  im  Geiste  Michelangelos  der  Kuppelbau  der  Peterskirche;  daraus 
entspringt  auch  die  Erfindungskraft,  welche  dem  Techniker  den  Vorsprung  vor 
allen  Mitbewerbern  gibt,  die  nur  in  den  ausgetretenen  Bahnen  des  Gelernten 
sich  bewegen  können.  Und  wenn  auch  der  Mehrzahl  der  Ingenieure  nicht  be- 
schieden sein  kann,  eine  führende  Rolle  zu  spielen,  so  wirken  jene  Gefühle,  jene 
meist  unbewußten  Strebungen  selbst  in  das  alltägliche  technische  Schaffen  mit 
hinein  und  hauchen  dem  Geringfügigsten  Reiz  und  Leben  ein.  Um  dieser  eigen- 
artigen,  ich  möchte  sagen  technischen,  Gefühle  willen  sind  Mathematik  und  Physik 
keine  ausreichenden  Prüfsteine  für  die  technische  Begabung. 

Bisher  war  allein  von  dem  Vorteil  die  Rede,  welchen  der  Handfertigkeits- 
unterricht dem  Einzelwesen  bringen  kann.  Wir  fragen  jetzt  nach  dem  Nutzen 
jenes  Unterrichts  für  die  Gesamtheit.  Staat  und  Gesellschaft  sind,  mathematisch 
gesprochen,  eine  Funktion  der  Einzelwesen;  daher  stehen  Staat  und  Gesellschaft 
auf  der  einen  Seite  und  die  Einzelwesen  auf  der  andern  Seite  im  Verhältnis  der 
Wechselwirkung  zueinander.  Glück  und  Gedeihen  der  Einzelwesen  fördern  zu- 
gleich Glück  und  Gedeihen  der  Gesamtheit  und  umgekehrt,  wo  ein  Glied  leidet, 
da  leidet  der  ganze  Körper.  Welches  sind  nun  gegenüber  der  Handfertigkeit  die 
Bedürfnisse  unseres  Vaterlandes?  Deutschland  ist  nicht  durch  den  Wunsch  und 
Willen  vereinzelter  Machthaber,  sondern  durch  die  unwiderstehliche  Gewalt  der 
Umstände  zu  einer  Lebensgemeinschaft  geworden,  in  der  Gewerbe  und  Handel  zu 
den  allerwichtigsten  Verrichtungen  gehören.  Es  gibt  keine  Macht  der  Erde,  welche 
diese  Entwickelung  hemmen  könnte;  ganz  nutzlos  würde  seine  Kraft  vergeuden, 
wer  diesem  Lebensstrome  sich  entgegen  werfen  wollte;  und  wenn  er  mit  Menschen- 
und  mit  Engelzungen  redete,  so  könnte  er  höchstens  eine  abseits  stehende  Gemeinde 
versonnener  Träumer  um  sich  sammeln.  Soll  daher  die  Schule  nach  dem  Grund- 
satz der  Auslese  ein  Bild  des  deutschen  Lebens  sein,  so  muß  sie  dem  Knaben 
auch  die  Möglichkeit  gewerblicher  Betätigung  gewähren;  ganz  abgesehen  von 


über  Handfertigkeitsunterricht  an  höheren  Schulen.  437 

dem  Einzelwesen  ist  diese  Forderung  um  der  Gesamtheit  willen  aufzustellen,  dafi 
nämlich  ausgelesene  Kräfte  mit  ihrem  Geist  und  ihrer  Ausdauer  die  Führer  im  ge- 
werblichen Leben  werden  und  seine  Blüte  vonseiten  Unberufener  keine  Hemmungen 
erfährt.  So  würde  nicht  nur  das  Glück  einzelner  gefördert,  sondern  zugleich  die 
geistige  Gesundheit  des  Gesellschaftslebens.  Woher  rührt  denn  in  unserer  Zeit  die 
Mißstimmung  so  weiter  Kreise?  Sie  wurzelt  allemal  in  der  Unfähigkeit  der  Miß- 
gestimmten, ihren  täglichen  Aufgaben  zu  genügen.  Der  herrschende  Bildungsbe- 
griff preßt  die  Söhne  der  Gebildeten  in  ganz  bestimmte  Schablonen  des  Lebens 
hinein  und  macht  viele  mißgestimmt,  die  an  die  falsche  Stelle  des  Lebens  geraten. 
Nicht  Bildung  im  überlieferten  Sinne  des  Worts,  sondern  Tüchtigkeit  müssen  wir 
der  Jugend  zu  ihrem  Glücke  wünschen;  und  Tüchtigkeit  erfordert  bei  dem  hoch- 
gesteigerten Wettbewerb  unserer  Tage  für  jedermann  die  richtige  Stelle  im  Leben 
und  somit  frühzeitige  Auslese,  die  für  die  gewerblichen  Berufe  vor  allem  der  Hand- 
fertigkeitsunterricht gewähren  könnte.  So  aufgefaßt,  hat  die  Handarbeit  der  Schule 
die  Bestimmung,  die  Zahl  der  Glücklichen  zu  mehren  und  damit  zu  fördern,  was 
ich  die  geistige  Gesundheit  des  Gesellschaftlebens  nannte. 

Zu  diesem  geistesgesundheitlichen  Vorteil  des  Handfertigkeitsunterrichtes  für 
den  Staat  käme  ein  zweiter,  wirtschaftlicher.  Jede  Auslese  ist  ein  Kampf  der  Kräfte 
und  hat  eine  Ausbildung  der  Kämpfenden  unvermeidlich  im  Gefolge.  Danach 
würden  die  gewerblichen  Kräfte  der  Jugend  durch  Handarbeit  gebildet  und  gehoben. 
Vor  allem  aber  würde  die  gewerbliche  Arbeit  in  den  Augen  der  Jugend  die  der 
Zeitlage  entsprechende  Geltung  gewinnen.  Und  die  Schulung  der  Kräfte  und  das 
Werturteil  ergeben  zusammen  allemal  den  besten  Boden  für  geistige  Entwickelungen. 
So  müßten  auch  beide  Umstände  die  gewerbliche  Phantasie  und  Tatkraft  unserer 
Jugend  steigern  und  die  gewerbliche  Erzeugung  unseres  Landes  heben;  und  es 
wäre  damit  der  Gedanke  des  wirtschaftlichen  Vorteils  für  den  Staat,  der  in  Amerika 
zu  einem  so  umfangreich  betriebenen  Handfertigkeitsunterricht  geführt  hat,  auch 
für  unser  Vaterland  als  zu  Recht  bestehend  anerkannt. 

An  dieser  vermuteten  Hebung  des  deutschen  Gewerbes  wären  unmittelbar  nur 
die  Kräfte  beteiligt,  die  durch  den  Handarb«itsunterricht  veranlaßt  werden,  sich 
im  späteren  Leben  gewerblich  zu  betätigen.  Aber  auch  alle  andern,  die  an  jenem 
Unterrichte  teilgenommen  haben,  würden  mittelbar  der  Hebung  des  Gewerbes 
dienen.  Die  erworbene  Sachkenntnis  würde  sie  dazu  befähigen,  gewerbliche  Arbeit 
richtiger  einzuschätzen.  Nicht  die  geschminkte  Außenseite  eines  Erzeugnisses  oder 
die  gefällige  Form  seiner  Darbietung,  mit  einem  Worte  die  Aufmachung  ist  für  den 
Sachkenner  entscheidend,  sondern  die  Gediegenheit  des  Rohstoffs,  der  Herstellung 
und  des  Geschmacks.  Aber  solche  Eigenheiten  können  den  Markt  nur  halten,  wenn 
Käufer  vorhanden  sind,  welche  die  gediegene  Leistung  von  der  Pfuscherarbeit  unter- 
scheiden können.  Die  durch  den  Handfertigkeitsunterricht  verbreitete  Sachkenntnis 
würde  nach  dem  Gesetz  des  Wettbewerbes  den  Handwerker  einfach  zu  solider  Arbeit 
zwingen  und  damit  unserem  Handwerk  zum  Segen  und  neuer  Blüte  verhelfen;  hat 
doch  das  über  die  deutschen  Waren  gefällte  Urteil  „billig  und  schlecht"  noch  immer 
nicht  ganz  seine  Berechtigung  verloren. 

Zur  Gesundung  des  deutschen  Geisteslebens,  zur  Steigerung  der  gewerblichen 
Phantasie  und  Tatkraft,  zur  Hebung  des  vaterländischen  Handwerks  kommt  noch 


438  P.  Johannesson, 

ein  viertes.  Die  Handarbeit  steht  bei  den  höheren  Ständen  vielfach  in  Verruf.  Der 
Vorschlag,  den  Sohn  Handwerker,  selbst  Kunsthandwerker  werden  zu  lassen,  wird 
von  gebildeten  Familien  zumeist  als  eine  Beleidigung  empfunden.  Unser  Wert- 
und  Schamgefühl  ist  unter  dem  Einfluß  des  herrschenden  Bildungsbegriffs  völlig 
mißleitet.  Auch  hier  ist  es  wieder  die  den  Gebildeten  fehlende  Sachkenntnis,  welche 
eine  richtigere  Einschätzung  zur  Folge  haben  würde.  Wer  sich  einmal  um  saubere 
Handarbeit  bemüht  hat,  der  weiß,  daß  allein  der  Geist  die  Bewegungen  der  Hände 
leitet,  daß  Klarheit  und  Schärfe  der  Auffassung,  ein  feines  Gefühl  für  das  Zweck- 
mäßige und  liebevolle  Hingabe  an  die  Sache  die  unerläßlichen  Bedingungen  für 
achtenswertes  Gelingen  sind;  die  gediegene  Handarbeit  ist  eben  Kopf-  und  Herz- 
arbeit, die  ebenso  ihre  absonderlichen  Anlagen  vom  Hersteller  fordert,  wie  irgend 
eine  Geistestat.  Diese  Tatsache  ist  in  den  Kreisen  der  Gebildeten  und  bei  ihren 
Söhnen  gemeinhin  unbekannt;  das  Gefühl  der  Ehrfurcht  gegenüber  einer  erlesenen 
Handarbeit  wird  einen  Gelehrten  kaum  je  ergreifen;  statt  dessen  schießt  jene  Über- 
heblichkeit üppig  ins  Kraut,  welche  von  der  liederlichsten  Schreibarbeit  noch  Auf- 
hebens macht.  Weil  die  beiden  großen  Stände  unseres  Vaterlandes,  die  sogenannten 
Kopfarbeiter  und  die  sogenannten  Handarbeiter,  einander  nicht  verstehen,  deswegen 
ist  auch  die  zwischen  ihnen  vorhandene  Kluft  unüberbrückbar.  Der  Mißachtung  der 
einen  Seite  antwortet  der  Haß  von  der  andern.  Dieser  sozialen  Zerrissenheit  unseres 
Volkes  ließe  sich  entgegenwirken,  wenn  der  höhere  Schüler  im  Handfertigkeitsunter- 
richt an  seinen  eigenen  Erfolgen  oder  Mißerfolgen  spürte,  welches  Maß  von  Hoch- 
achtung dem  gediegenen  Handwerk  gebührt.  Ich  wiederhole:  Nicht  gebildet  und 
ungebildet,  sondern  tüchtig  und  untüchtig  sind  die  wünschenswerten  Gegensätze. 

Nachdem  wir  die  Vorteile  des  Handfertigkeitsunterrichtes  für  das  Einzelwesen 
und  den  Staat  erwogen  haben,  stellen  wir  die  Frage:  Wie  soll  der  Handfertigkeits- 
unterricht eingerichtet  sein  ?  Den  vollständigen  Plan  solchen  Unterrichtes  zu  entwickeln, 
bin  ich  außerstande.  Zu  jeder  praktischen  Regelung  eines  Unternehmens  gehören 
langjährige  Erfahrungen,  und  die  stehen  mir  nur  in  der  bisher  geübten  Form  meines 
Unterrichtes  zu  Gebote.  .  So  können  meine  Erwägungen  einzig  als  ein  Abtasten 
des  Zweckmäßigen  gelten.  Nur  Primaner  und  Obersekundaner  sind  am  Sophien - 
realgymnasium  zur  Handfertigkeit  zugelassen  worden.  Ist  diese  Beschränkung 
vorteilhaft,  oder  soll  man  auch  Unter-  und  Mittelklassen  zur  Handarbeit  heranziehen  ? 
Auf  den  ersten  Blick  könnte  es  scheinen,  als  wenn  die  Freunde  des  Handfertigkeits- 
unterrichtes  ihn  auf  allen  Klassenstufen  wünschen  müßten.  Wenn  Unter-  und  Mittel- 
klassen die  Vorstufe  für  die  Oberklassen  auch  im  Handfertigkeitsunterricht  bildeten, 
so  würden  die  Leistungen  naturgemäß  gehoben.  Andererseits  würden  manche  der 
älteren  Schüler  sich  zurückziehen,  da  ihnen  die  Lust  an  der  Sache  ausgegangen  wäre. 
Jede  Unternehmung,  die  Beifall  findet,  wirkt,  übrigens  nicht  nur  bei  Schülern,  zunächst 
durch  den  Reiz  der  Neuheit;  so  gibt  es  wohl  keinen  neuen  Lehrgegenstand,  dem  die 
Schüler  nicht  erwartungsvoll  entgegensähen;  bald  aber  tritt  die  Ermüdung  des 
fehlenden  Wechsels  ein,  und  diese  Tatsache  spricht  allemal  gegen  die  durch  viele 
Jahre  sich  erstreckende  Ausdehnung  eines  Unterrichtes.  Bei  der  Handarbeit  freilich 
dürfte  der  Vorteil  der  größeren  Schulung  den  Nachteil  der  inneren  Abkehr  über- 
wiegen; ihren  Hauptsegen  sollte  die  Handarbeit  ja  durch  die  Auslese  der  Berufenen 


über  Handfertigkeitsunterricht  an  höheren  Schulen.  439 

wirken,  und  die  erfolgreich  Strebenden  wurden  noch  stets  durch  Schaffenslust 
belebt  und  haben  daher  unter  Ermüdungserscheinungen  weniger  zu  leiden,  fühlen 
sie  sich  doch  dem  Felde  ihrer  künftigen  Betätigung  innerlich  entgegenreifen.  Auf 
Grund  dieser  Erwägung  würde  ich  mich  für  die  Heranziehung  der  Unter-  und 
Mittelklassen  zur  Handarbeit  entscheiden. 

Die  nächste  Frage  ist:  Wieviel  Stunden  in  der  Woche  sollten  jenem  Unter- 
richt gewidmet  und  sollte  er  pflichtmäßig  oder  wahlfrei  sein?  Bei  der  Neueinrichtung 
eines  Unterrichtes  ist  stets  Vorsicht  am  Platze;  deswegen  wird  man  sich  mit  einer 
kurzen  Arbeitszeit,  etwa  einer  oder  zwei  Stunden  wöchentlich,  begnügen.  Aus 
demselben  Grunde  der  Vorsicht  wird  man  auch,  mindestens  einstweilen,  die  Wahl- 
freiheit für  richtig  halten.  Gesunde  Erscheinungen  im  Schulleben  wachsen  eine 
Zeit  lang  durch  ihre  eigene  Kraft;  danach  freilich  erhebt  sich  der  kühl  rechnende 
Verstand  und  läßt  den  Schüler  fragen,  ob  die  Erfolge  seines  wahlfreien  Unterrichtes 
ihm  auch  für  seine  Schullaufbahn  von  Vorteil  sind.  Man  weise  solche  Frage  nicht 
als  unwürdig  ab.  Oder  sollten  Knaben  und  Jünglinge  gereifter  sein  als  die  Er- 
wachsenen, die  doch  in  nicht  geringer  Zahl  ihre  Handlungen  dem  Zweck  selbstischen 
Nutzens  unterwerfen?  Nicht  unwürdig,  sondern  durchaus  berechtigt  wäre  die 
Frage  des  Jünglings:  Was  nützt  mir  das  in  dem  Kampf,  den  ich  als  Schüler  aus- 
zufechten  habe  ?  So  kommt  es,  daß  jeder  wahlfreie  Unterricht  die  Neigung  zeigt, 
im  Laufe  der  Jahre  sich  in  einen  pflichtgemäßen  umzuwandeln;  denn  solcher  bietet 
eine  stärkere  Gewähr  für  die  belohnende  Wertung  der  aufgewandten  Mühe. 

Für  die  Einführung  des  Handfertigkeitsunterrichtes  in  die  höhere  Schule  ist 
wiederholt  die  Bedingung  aufgestellt  worden,  daß  er  nicht  zur  Unzahl  der  Lehr- 
fächer noch  ein  weiteres  bringe,  sondern  sich  zu  anderen  Gegenständen,  nämlich 
den  mathematisch-naturwissenschaftlichen,  in  engere  Beziehung  setze.  Zwar  stehe 
ich  der  in  Frankreich  vertretenen  Meinung,  welche  von  geeigneter  Betätigung  der 
Hände  eine  Hebung  des  Raum-  und  Zahlverständnisses  hofft,  zweifelnd  gegenüber; 
wohl  aber  erscheint  es  mir  auf  alle  Fälle  wünschenswert,  die  verschiedenen  Fächer 
sich  wechselseitig  durchdringen  zu  lassen  und  als  einander  ergänzende  Glieder 
nur  eines  Geisteslebens  aufzuzeigen.  So  müßte  selbstredend  auch  die  Handarbeit 
als  Vorstufe  und  Begleiterin  der  Kunst  erscheinen,  durch  welche  die  Menschen 
das  Naturgeschehen  meistern,  nicht  allein  in  der  Physik  und  ihrer  Anwendung, 
der  Technik,  sondern  zugleich  in  der  eigentlichen  Kunst,  Plastik  und  Malerei, 
welche  die  Schönheit  der  Form-  und  Farbenwelt  enthüllt. 

Schließlich  die  Frage:  Wer  soll  den  Handfertigkeitsunterricht  erteilen?  Man 
könnte  meinen,  daß  der  gründlichste  Kenner  eines  Faches  auch  sein  bester  Lehrer 
sein  müßte.  Danach  wäre  der  Handwerksmeister  der  berufene  Lehrer  des  Hand- 
fertigkeitsunterrichtes. Wenn  indessen  schon  für  eine  Wissenschaft  dieser  Zu- 
sammenhang zwischen  Kennerschaft  und  Lehrbefähigung  keine  allgemeine  Geltung 
hat,  so  noch  viel  weniger  in  unserem  Falle.  Der  höhere  Schüler  unterwirft  sich 
freiwilllig  seinem  Lehrer  nur  aus  dem  Gefühl  des  Vertrauens  und  der  Hoch- 
achtung heraus,  und  diese  Gefühle  sind  durch  die  Vorurteile  der  näheren  Um- 
gebung und  des  Zeitgeistes  bestimmt.  Auf  Grund  dieses  Vorurteiles  fordert  der 
Schüler,  daß  der  Lehrer  nicht  nur  sein  Lehrfach  leidlich  beherrscht,  sondern 
zugleich   über  ein  gewisses  Maß  weiterer  wissenschaftlicher  Kenntnisse  verfügt, 


440  P>  Johantlesson, 

über  sogenannte  allgemeine  Bildung  nämlich;  erst  dadurch  wird  in  den  Augen 
des  Zöglings  der  Lehrer  zu  einer  verehrungswürdigen,  als  überlegen  anerkannten 
und  weiter  auch  sittlichen  Persönlichkeit.  Und  diesen  im  Zeitgeist  wurzelnden 
Anspruch  der  höheren  Schüler  werden  die  meisten  Handwerksmeister  nicht  er- 
füllen. Erst  wenn  der  Zeitgeist  sich  gewandelt  hat,  wenn  nicht  mehr  die  alt- 
hergebrachte Bildung,  sondern  die  Tüchtigkeit  in  den  Augen  der  Welt  den  Wert 
des  Mannes  macht,  wird  das  Hochachtungsgefühl  des  höheren  Schülers  auch  zum 
Handwerksmeister  eine  Brücke  finden,  so  daß  dieser  als  bester  Handfertigkeits- 
lehrer wohl  in  Frage  käme.  Einstweilen  aber,  wo  das  Gefühl  der  Hochachtung 
gegenüber  dem  tüchtigen  Handwerk  im  höheren  Schüler  sich  noch  erst  bilden  soll, 
werden  die  schon  vorhandenen  Lehrer  auch  für  den  Handfertigkeitsunterricht  den 
Vorzug  haben.  Am  besten  wäre  es,  wenn  gerade  solche  Lehrer,  deren  vielseitige 
wissenschaftliche  Bildung  außer  Zweifel  steht  und  denen  die  Jugend  weitgehendes 
Vertrauen  schenkt,  für  den  Gedanken  und  die  Ausübung  des  Handarbeitsunterrichts 
gewonnen  werden  könnten.  Sie  würden  nicht  nur  die  so  oft  mißachtete  Geschick- 
lichkeit der  Hände  mit  ihrem  Ansehn  decken,  sondern  zugleich  die  Fäden  bloß 
zu  legen  fähig  sein,  die  vom  Schaffen  der  Hände  sich  zu  den  Wissenschaften  und 
den  Künsten  spinnen;  sie  könnten  am  glaubwürdigsten  den  Nachweis  führen,  daß 
Handarbeit  ohne  Kopf  und  Herz  das  Wirken  eines  Stümpers  bleibt. 

Noch  fehlt  die  Antwort  auf  die  Kostenfrage.  Am  Sophienrealgymnasium,  wo 
ausgezeichnete  Werkzeuge  und  Maschinen  zur  Verfügung  stehen,  kostet  die  Werk- 
statteinrichtung bis  jetzt  1500  Mark.  Sollte  für  jede  höhere  Schule  solche  Ein- 
richtung getroffen  werden?  Zwar  wäre  für  Preußen  und  seine  Städte  der  Kosten- 
aufwand nicht  besonders  hoch;  aber  er  ist  auch  nicht  einmal  vonnöten.  Ohnehin 
würden  die  Hauptausgaben  ja  für  die  Erteilung  des  Unterrichts  entfallen;  diese 
laufenden  Ausgaben  würden  die  einmaligen  der  Einrichtung  sicher  übersteigen. 
Wer  aber  wollte  sich  getrauen  abzuschätzen,  ob  solche  Anlage  öffentlicher  Mittel 
im  Sinne  des  Kaufmanns  wirtschaftlich  zu  nennen  wäre?  Die  ganzen  Schullasten 
von  Staat  und  Städten  sind  ja  doch  werbendes  Kapital,  das  seine  Zinsen  in  der 
Zukunft  tragen  soll,  jene  zumeist  unwägbaren  Zinsen,  die  nicht  nur  in  Handel 
und  Gewerbe,  in  Staatskunst  und  Wehrkraft,  sondern  auch  in  der  Blüte  von 
Wissenschaft  und  Kunst,  im  gesamten  Geistes-  und  Gemütszustand  des  Landes 
kenntlich  werden.  Und  ob  in  diesem  Sinne  das  Geschäft  eines  Handfertigkeits- 
unterrichts an  höheren  Schulen  die  Kosten  decken  würde?  Ich  meinesteils  zweifle 
nicht  daran. 

Trotz  aller  ideellen  Werte  aber,  die  ein  Unternehmen  bergen  mag,  wird  man 
den  Weg  der  Ausführung  wählen,  welcher  die  geringsten  Geldmittel  erheischt. 
Und  da  scheint  der  Weg  der  zweckmäßigste  zu  sein,  den  man  vielfach  im 
Ausland  eingeschlagen  hat  und  den  auch  der  Deutsche  Verein  für  Knabenhand- 
arbeit befolgt.  Man  wird  am  besten,  wenigstens  in  größeren  Städten,  Werk- 
stätten errichten,  die  mit  den  vollkommensten  Erzeugungsmitteln  ausgestattet  sind, 
deren  Benutzung  aber  mehreren  Schulen  gleichzeitig  offen  steht.  Nicht  einmal 
wäre  dabei  nötig  oder  wünschenswert,  die  höhere  Schule  von  der  Volkschule  zu 
trennen.  Der  Bildungsbegriff  soll  ja  doch  durch  den  Tüchtigkeitsbegriff  ersetzt 
werden,  und  da  wird  mancher  höhere  Schüler  in  dem  Volkschüler  seinen  Meister 


über  Handfertigkeitsunterricht  an  höheren  Schulen.  441 

finden;  auch  würde  bei  einer  Mischung  der  Schulgattungen  das  Herzensband 
zwischen  Kopf-  und  Handarbeitern  am  leichtesten  geschlungen.  Bei  solcher 
Zentralisierung  des  Handarbeitsunterrichts  würden  Werkzeuge  und  Maschinen  am 
stärksten  ausgenützt.  Diese  Zentralwerkstätten  müßten  zugleich  für  die  erforder- 
lichen Lehrkräfte  die  Bildungstätte,  so  eine  Art  von  Hochschule,  sein. 

Ehe  ich  von  der  Frage  nach  der  allgemeinen  Einrichtung  des  Handfertigkeits- 
unterrichtes scheide,  möchte  ich  einen  eigentümlichen  Vorzug  andeuten,  welchen 
die  Handarbeit  vor  andern  Lehrgegenständen  hätte.  Die  Schule  als  Bildungschule 
bereitet  den  Knaben  und  Jüngling  auf  das  Leben  vor;  sie  stellt  ihm  einen  Wechsel 
aus  auf  lange  Sicht,  den  er  als  Mann  erst  präsentieren  darf.  Daher  bleibt  die 
Schule  nur  ein  Bild  des  Lebens  und  kann  nicht  das  Leben  selber  sein.  Welches 
Maß  von  Anregung  aber  läge  darin,  wenn  Ausbildung  und  Ausnützung  nicht 
durch  eine  lange  Reihe  von  Jahren  sich  voneinander  scheiden  müßten?  Es  hegt 
mir  selbstverständlich  durchaus  fern,  der  Ausbeutung  der  Minderjährigen  das  Wort 
zu  reden;  aber  eine  vernünftige,  staatlich  geregelte  Ausnützung  der  jugendlichen 
Kräfte,  die  zugleich  Aussiebung  und  Ausbildung  ist,  wäre  doch  so  übel  nicht. 
Zwar  herrschte  früher  die  allgemeine  Ansicht,  daß  die  Schule  vor  jedem  Luftzug 
des  draußen  wogenden  Lebens  behütet  werden  müsse;  nur  in  der  Stille,  so  hieß 
es,  enthüllen  die  Musen  ihr  Haupt.  Diese  Anschauung  jedoch,  so  sehr  sie  der 
Stimmung  vergangener  Zeit  entsprach,  zerschellt  an  den  stürmischen  Forderungen 
der  lebensvollen  Gegenwart.  Sors  de  l'enfance,  ami,  r^veille-toi !  Diese  Saat 
Rousseaus  geht  auf,  nicht  allein  durch  ihre  eigene  innere  Kraft,  sondern  getragen 
von  unserm  nüchternen,  der  Wirklichkeit  zugewandten  Zeitgeist.  So  taucht  vor 
meinem  Auge  das  Bild  einer  Zukunft  auf,  wo  jeder  Schüler  sich  mitten  im  Leben 
stehend  fühlt,  teilnehmend  an  den  Herzschlägen  seines  Volkes,  wo  jede  Schüler- 
tätigkeit nicht  nur  als  Vorbereitung  für  spätere  Zeiten  gelten  oder  den  inneren 
Segen  der  Arbeit  offenbaren  soll,  sondern  unmittelbar  das  geistige  oder  dingliche 
Vermögen  des  Schülers  und  seines  Vaterlandes  hebt.  Dieses  Ziel  aber  läßt  sich, 
soweit  ich  sehe,  nur  im  Handfertigkeitsunterricht  erfüllen,  wo  viele  sonst  kostspielige 
Lehrmittel  angefertigt  werden  könnten,  physikalische  und  chemische  Geräte,  natur- 
kundliche und  mathematische  Modelle.  Oder  fürchtet  man,  daß  durch  solche  Aus- 
nützung der  Schüler  das  in  die  Ferne  gerichtete  beschwingte  Hoffen,  der  sogenannte 
Idealismus,  Schaden  nehmen  würde?  Ich  glaube  nicht  daran,  daß  eine  so  tief 
wurzelnde  Charaktereigenschaft  durch  äußere  Umstände  merklich  beeinflußt 
werden  kann. 

Noch  gegen  einen  Einwand  habe  ich  den  Gedanken  eines  Handfertigkeits- 
unterrichts an  höheren  Schulen  zu  verteidigen.  Man  könnte  fragen,  woher  die 
Zeit  nehmen  für  eine  weitere  Belastung  unserer  Schüler;  sind  sie  nicht  schon 
geplagt  genug?  Und  wenn  die  Zeit  vorhanden  wäre,  würde  die  Handarbeit  nicht 
bei  diesem  oder  jenem  Schüler  das  Herz  gefangen  nehmen  und  ihn  abwendig 
machen  von  den  Neigungen,  die  sonst  die  Schule  pflegt?  Gewiß  wäre  ein  solcher 
Wandel  bei  einzelnen  zu  erwarten,  und  manches  Lehrfach  würde  an  Zeit  und 
Neigung  der  Schüler  Einbuße  erleiden.  Aber  darin  sehe  ich  gerade  den  Vorteil 
des  Handfertigkeitsunterrichtes,   daß   er  die  Böcke  von  den  Schafen  trennen  hilft, 


442  Bekämpfung  der  »Schmutz-  und  Schundliteratur'. 

dafi  er  den  rein  gedanklich  und  phantastisch  Unbegabten,  aber  Willens  starken 
die  Möglichkeit  gewährt,  auch  mit  ihrem  Pfund  der  Schaffenskraft  zu  wuchern. 
Oder  würde  durch  solche  Spaltungen  die  Einheit  des  Schullebens  gefährdet 
werden?  Wohl  sind  vielerlei  Gaben,  aber  es  bleibt  ein  Geist I  So  lasse  man 
jeden  Menschen  seine  eigene  Sprache  reden,  nicht  die  in  Worten  allein,  sondern 
die  Sprache,  die  aus  seiner  ursprünglichen  Begabung  wächst  und  darum  aus  dem 
Herzen  dringt.  Es  kann  ja  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die  Sprache  im 
engeren  Sinne  das  gewaltigste  Werkzeug  ist,  durch  welches  die  Herzen  der 
Menschen  geleitet  und  dem  Willen  eines  Führers  unterworfen  werden.  Aber 
neben  diesem  Werkzeug  gibt  es  die  andere  Sprache,  welche  durch  Taten  das 
Wesen  eines  Menschen  offenbart,  und  diese  Sprache  der  Tat  steht  manchem 
herrlich  zu  Gebote,  der  nach  seiner  Eigenart  verurteilt  wäre,  in  Worten  stumm 
zu  bleiben.  Man  lasse  jeden  Menschen  die  Sprache  seines  Herzens  auch  in  der 
Schule  reden.  So  wird  man  nicht  den  Birnbaum  zwingen,  daß  er  Kirschen  trägt, 
sondern  ein  jedes  Gewächs  im  Garten  des  Lebens  zu  seiner  Bestimmung 
kommen  lassen,  ein  jegliches  nach  seiner  Art.  Dann  sind  Gaben  und  Sprachen 
eins  und  preisen  miteinander  die  Werke  der  geistigen  Welt. 

Berhn.  P.  Johannesson. 


Bekämpfung  der  ,, Schmutz-  und  Schundliteratur". 

Auszug  aus  dem  Protokoll  der  Hauptversammlung  des  Börsenvereins 

der  Deutschen  Buchhändler  zu  Leipzig  am  Sonntag  Kantate, 

den  9.  Mai  1909. 

Zu  dem  Punkt  „Bekämpfung  der  Schmutz-  und  Schundliteratur"  erbittet  Herr 
Alexander  Francke-Bern  das  Wort  und  führt  dazu  folgendes  aus: 

Meine   Herren,  ich   habe  mir    das   Wort    erbeten  zu    dem   Passus   über  die 

Schmutz-   und    Schundliteratur,   wo  der  Vorstand  sich  folgendermaßen  ausspricht: 

Im  vorjährigen  Geschäftsbericht  haben  wir  unsere  Berufsgenossen  zum 

Kampf  gegen  die  immer  mehr  anwachsende  Schmutz-  und  Schundliteratur 

aufgerufen,   und   wir  wiederholen  heute  die  Bitte,  daß  jeder  von  uns  an 

diesem  Kampfe  teilnehmen  möge.    In  manchen  Städten,   an   erster  Stelle 

in  Göttingen,    haben  sich  Männer  aller  Berufskreise  zusammengetan,  um 

das  öffentliche   Ausstellen    und   das  Feilhalten  unsittlicher  und  anderer 

insbesondere   für  die  Jugend  verderblicher  Schriften  und  Bilder  auf  dem 

Wege  der   Selbsthilfe   zu  verhindern,  und  gleiches  wird  überall  möglich 

sein,   wo   diese  Schäden   zutage  treten,   wenn  der  Anstoß  dazu  gegeben 

wird.    Der  Buchhandel   ist   mit  verantwortlich  dafür,  daß  unserem  Volke 

nicht  Gift  statt  gesunder  geistiger  Nahrung  gereicht  wird;  dessen  wollen 

wir  immer  eingedenk  bleiben  und  danach  handeln. 

Meine  verehrten  Herren,    Sie   werden    alle  dem  Vorstand  dafür  dankbar  sein, 

daß  er  diese  Frage,  die  uns  alle  wohl  auf  das  ernstlichste  beschäftigt,  hier  wieder 

einmal  vorgebracht  hat,  und  werden  mit  einstimmen  in  den  Appell,  den  er  an  uns 


Bekämpfung  der  .Schmutz-  und  Schundliteratur'.  443 

richtet,  daß  jeder  in  seinem  Kreise  dahin  wirken  soll,  daß  womöglich  einmal  Halt 
gemacht  wird  gegenüber  dieser  Literatur. 

Ehe  wir  weiter  darüber  sprechen,  glaube  ich,  sollten  wir,  um  Mißverständnisse 
auszuschließen,  kurz  sagen,  was  wir  wohl  unter  Schmutz-  und  Schundliteratur 
verstehen.  Ich  glaube  es  kurz  dahin  definieren  zu  können,  daß  es  einerseits  die 
Literatur  ist  —  die  allerdings  den  Namen  Literatur  überhaupt  gar  nicht  verdient  — , 
die  hervorgeht  aus  einer  lüsternen,  perversen  Phantasie,  andererseits  die  Literatur, 
die  in  Tausenden  und  Abertausenden  von  Exemplaren  überall  hin  verbreitet  wird, 
die  dazu  dient,  das  Verbrechertum  zu  verherrlichen.  Ich  darf  wohl  die  Über- 
zeugung aussprechen,  daß  der  großen  Mehrzahl  von  uns  diese  Literatur  eigentlich 
unbekannt  ist,  daß  wir  sie  nur  vom  Hörensagen  kennen.  Aber  wer  Ohren  hat, 
zu  hören,  der  hörel 

Besonders  aus  den  Kreisen  der  Schule  und  der  Familie  erklingen  immer  wieder 
wahre  Hilferufe;  helft  uns,  daß  sich  diese  Seuche  besonders  in  der  Jugend  nicht 
weiter  ausbreitet!  Wir  wissen  es  ferner  aus  verschiedenen  Broschüren,  —  u.  a. 
aus  einer  Broschüre  von  einem  Strafanstaltspfarrer,  die  in  Düsseldorf  erschienen 
ist  und  wo  das  an  einer  ganzen  Reihe  von  Fällen  nachgewiesen  wird  — ,  daß 
ganz  direkt  verbrecherische  Handlungen  von  Kindern  noch  und  von  kaum  Er- 
wachsenen zurückzuführen  sind  auf  die  verderbliche  Lektüre;  wir  wissen  es  endlich 
selber  aus  zahlreichen  Gerichtsverhandlungen,  wie  verderblich  diese  Literatur  ist 
und  wie  sie  Dimensionen  angenommen  hat,  von  denen  wir  uns  vor  wenigen 
Jahren  noch  gar  keinen  Begriff  gemacht  haben  und  wie  es  Pflicht  eines  jeden 
denkenden  Menschen  ist,  sein  möglichstes  zu  tun,  daß  dem  Einhalt  geboten  wird. 
Der  Buchhandel  ist  bisher,  ich  möchte  sagen,  Gewehr  bei  Fuß  dagestanden  gegen- 
über dieser  Erscheinung,  von  rühmlichen  Ausnahmen  abgesehen,  indem  er  sich 
gesagt  hat :  die  große  Mehrzahl  von  uns  hat  ein  durchaus  gutes  Gewissen  in  dieser 
Sache.  Es  ist  ja  tatsächlich  gar  nicht  der  wirkliche  Buchhandel,  der  diese  Literatur 
produziert,  es  ist  auch  gar  nicht  der  wirkliche  Buchhandel,  der  sie  verbreiten  hilft. 
Aber,  meine  Herren,  wir  müssen  doch  bedenken,  daß  bei  einem  großen  Teile  des 
Publikums  man  sich  einfach  sagt:  Bücher  kommen  doch  vom  Buchhandel  her, 
und  daß  bei  vielen  Leuten  keine  große  Unterscheidung  gemacht  wird,  daß  man 
also  mehr  oder  weniger  auch  uns  dafür  verantwortlich  machen  wird. 

Da  tritt  nun  an  uns  die  Frage  heran:  wie  können  wir  helfen,  daß  es  besser 
wird?  Die  Frage  ist  ja  ungemein  schwierig,  und  Taten  werden  wir  vor  der  Hand 
vielleicht  noch  nicht  tun  können;  aber  immerhin,  den  Anstoß  dazu  möchte  ich  doch 
geben,  daß  wir  uns  nun  einmal  aufraffen  und  wenigstens  den  Versuch  machen, 
denen,  jdie  dagegen  kämpfen,  zu  helfen,  und  gleichzeitig  auch  dafür  zu  sorgen, 
daß  auch  in  der  breiten  Öffentlichkeit  man  einen  Unterschied  macht  zwischen  den 
Erzeugern  und  Verbreitern  dieser  Literatur  und  uns  Buchhändlern.  Wir  müssen 
dafür  sorgen,  daß  unser  Schild  rein  bleibt  und  daß  allfällige  Flecken  entfernt 
werden.  Ich  möchte  Ihnen  im  Einverständnisse  mit  dem  Vorstande  des  Börsen- 
vereins, dem  ich  gestern  die  Sache  vorgelegt  habe,  den  Vorschlag  machen,  daß 
wir  durch  den  Vorstand  in  möglichst  ausgedehntem  Maße  im  ganzen  deutschen 
Sprachgebiet  durch  die  Zeitungen  eine  Veröffentlichung  ungefähr  folgenden  In- 
halts erscheinen  lassen: 


444  Bekämpfung  der  .Schmutz-  und  Schundliteratur". 

Die  Hauptversammlung  des  Börsenvereins  der  Deutschen  Buchhändler 
spricht  ihr  tiefes  Bedauern  aus  über  das  unheimliche  Anwachsen  einer 
traurigen  Schundliteratur,  die,  durch  keine  Rücksichten  auf  das  Volkswohl, 
durch  kein  Verantwortlichkeitsgefühl  für  geistige  und  körperliche  Gesund- 
heit der  Jugend  gezügelt,  die  niedrigsten  Triebe  der  menschlichen  Natur 
entfesselt  und  die  sittlichen  Grundlagen  unserer  Kultur  ernstlich  ge- 
fährdet. 

Die  heute  in  Leipzig  versammelten  Vertreter  des  Buchhandels  Deutsch- 
lands,   Österreichs   und    der  Schweiz   lehnen  jede  Gemeinschaft  mit  den 
Erzeugern  und  Verbreitern  solcher  volksvergiftenden  Literatur  ab  und  er- 
klären   es   als  die  selbstverständliche  Pflicht  eines. rechten  Buchhändlers, 
sich   durch   intensivste  Vertretung    guter,    durch  Bekämpfung    schlechter 
Literatur  mit  allen  Kräften  an  der  Ausrottung  des  unser  Volk  bedrohenden 
Übels  zu  beteiligen. 
Meine  Herren,  ich  verspreche   mir  von  solcher  Veröffentlichung  erstlich,  daß 
dadurch  einmal  vor  aller  Welt  konstatiert  wird,  wer  eigentlich  die  Verbreiter  sind, 
und  daß  wir  mit  diesen  Leuten  —  in  unserer  allergrößten  Mehrzahl  wenigstens  — 
nichts  gemein  haben.    (Lebhafter  Beifall.) 

Ich  verspreche  mir  ferner  davon,  daß  diejenigen,  die  vielleicht  hier  und  da 
den  Verlockungen  der  hohen  Rabatte  erlegen  sind  und  vielleicht  ein  etwas  weites 
Gewissen  gehabt  haben,  sich  darüber  klar  werden,  daß  es  so  nicht  weitergehen 
kann,  daß  sie  eine  derartige  Literatur  nicht  nur,  wie  man  bescheidenerweise  bis 
jetzt  meistens  verlangt,  aus  ihren  Schaufenstern  entfernen,  sondern  aus  ihren  Läden 
überhaupt,  daß  sie  in  ihrem  Hause  überhaupt  nicht  mehr  zu  finden  ist,  und  ich 
verspreche  mir  endlich  davon,  daß  dadurch  das  Publikum  darüber  aufgeklärt  wird, 
daß  eigentlich  die  beste  und  nachdrücklichste  Hilfe  gerade  in  dem  Kreise  des 
Buchhandels  zu  finden  ist  und  daß  man  doch  bei  zukünftigen  Schritten  gegen 
eine  derartige  Literatur  sich  auch  gerade  der  Buchhändler  bedienen  soll,  indem 
sie  doch  eigentlich  Fachmänner  ersten  Ranges  auf  diesem  Gebiete  sind. 

Meine  Herren,  ich  wage  nicht  zu  hoffen,  daß  wir  dadurch  schon  jetzt  Großes 
erreichen;  aber  ich  hoffe  doch,  daß  damit  der  erste  Schritt  getan  werde,  daß  es 
anders  werden  soll  auf  diesem  Gebiete:  denn  wenn  es  so  weitergeht,  wie  es  jetzt 
der  Fall  ist,  dann  können  wir  nur  mit  der  allerernstesten  Besorgnis  der  Zukunft 
und  der  Entwicklung  unseres  Volkes  entgegensehen. 

Ich  empfehle  Ihnen  daher  aufs  wärmste  die  Annahme  dieser  Resolution,  indem 
wir  die  Bitte  aussprechen,  daß  der  Vorstand  des  Börsenvereins  sie  —  sei  es  in 
dieser  oder  vielleicht  in  einer  etwas  abgeänderten  Form  —  in  möglichst  aus- 
gedehntem Maße  zur  Kenntnis  des  ganzen  deutschen  Volkes,  soweit  überhaupt  die 
deutsche  Zunge  klingt,  verbreiten  wird.    (Lebhafter,  anhaltender  Beifall.) 

Hierauf  spricht  Herr  Justus  Pape-Hamburg:  Meine  Herren,  auch  ich  danke 
dem  Vorstand,  daß  er  diese  so  ungemein  wichtige  Angelegenheit  in  seinen  Jahres- 
bericht mit  aufgenommen  hat,  und  ich  danke  namentlich  Herrn  Francke,  daß  er 
so  kräftig  dahintergefaßt  hat.  Meine  Herren,  es  läßt  sich  auf  diesem  Gebiete 
manches  tun.  Wenn  Sie  nach  dem  Vorbilde  von  Göttingen  überall  in  Ihren 
Städten  angesehene  Männer  sammeln,  die  sich  mit  Aufrufen  und  Flugblättern  an 


Bekämpfung  der  „Schmutz-  und  Schundliteratur*.  445 

das  sittliche  Verantwortungsgefühl  der  Händler,  der  Ladenbesitzer  usw.  wenden^ 
dann  werden  Sie  Erfolg  haben;  denn  wir  haben  in  Hamburg  das  auch  getan,  wir 
haben  Hunderte  von  Unterschriften  angesehenster  Männer  gefunden,  und  es  ist  in- 
folgedessen bei  uns  schon  besser  geworden.  Wir  haben  aber  auch  in  Hamburg 
noch  mehr  erreicht.  Auf  meine  Veranlassung  hat  die  Bürgerschaft  in  Hamburg» 
unser  gesetzgebender  Körper,  sich  mit  der  Frage  befaßt,  und  bei  der  aligemeinen 
Zustimmung,  die  dort  ausgesprochen  wurde,  hat  die  Hamburger  Polizeibehörde 
den  Straßenverkauf  all  dieser  Schund-  und  Schmutzliteratur  verboten.    (Bravo!) 

Ich  glaube,  es  ist  möglich,  in  allen  Städten  die  Stadtverordnetenkollegien  in 
ähnlicher  Art  und  Weise  zu  beeinflussen.  Es  kann  vielleicht  noch  mehr  geschehen. 
Nach  dem  Beispiel  der  freien  Schweiz,  wo  ein  Gesetzentwurf  —  ob  er  schon  an- 
genommen ist,  weiß  ich  nicht  —  eingebracht  ist,  auch  das  Zurschaustellen  solcher 
Schmutz-  und  Schundhefte  in  den  Schaufenstern  der  Läden  zu  bestrafen,  planen 
wir  in  Hamburg  etwas  Ähnliches  und  hoffen  auf  Grund  von  Bestimmungen  unserer 
Hamburgischen  Straßenordnung  —  denn  die  Gewerbeordnung  gibt  uns  keine 
Handhabe  —  etwas  Ähnliches  zu  erreichen.  Bitte,  meine  Herren,  unterstützen  Sie 
allesamt  diese  so  ungemein  wichtigen  Bestrebungen.  Noch  ist  unser  deutscher 
Volkskörper  nicht  krank,  aber  er  kränkelt  schon.  Noch  können  wir  dem  Übel 
Einhalt  gebieten.    Beteiligen  Sie  sich  sämtlich  daran !    (Bravo!) 

Der  Vorsitzende  Herr  Dr.  Ernst  VoUert-Berlin  richtet  darauf  an  die  Haupt- 
versammlung die  Frage:  Wünscht  noch  jemand  das  Wort  hierzu?  —  Es  scheint 
nicht  der  Fall  zu  sein. 

Meine  Herren,  wenn  sich  kein  Widerspruch  dagegen  erhebt,  dann  nehme  ich 
an,  daß  Sie  dem  Antrage  des  Herrn  Francke  zustimmen,  daß  diese  Kundgebung, 
die  er  eben  vorgeschlagen  hat,  durch  den  Börsenverein  in  der  von  Herrn  Francke 
gewünschten  Weise  in  der  Öffentlichkeit  verbreitet  wird.  —  Es  erhebt  sich  kein 
Widerspruch,  also  wird  der  Börsenvereinsvorstand  dieser  Anregung  mit  großer 
Freude  Folge  geben,  und  wir  wollen  ihr  alle  von  Herzen  den  Erfolg  wünschen, 
den  Herr  Francke  und  wir  mit  ihm  davon  erhoffen.    (Bravo!) 


II.    Bücherbesprechungen. 


a)  Samtneibesprechungen: 

Zur  deutschen  Literaturgeschichte. 

Im  dritten  Jahrgange  dieser  Monatschrift  (1904,  S.  470f.)  zeigte  ich  die  ersten 
11  Hefte  der  großangelegten  „Illustrierten  Geschichte  der  deutschen  Lite- 
ratur" von  Anselm  Salzer  (München,  Allgemeine  Verlagsgesellschaft)  an.  Im 
Jahre  1905  erklärte  Salzer:  obwohl  er  „mit  vollem  Eifer,  mit  größter  Hingabe  und. 
warmer  Liebe  die  Bearbeitung  übernommen"  habe,  hätten  „die  quellenmäßige 
Durchforschung  und  Sichtung  des  überreichen  Materials,  das  sich  bei  dieser  ersten, 
auf  dem  Boden  katholischer  Weltanschauung  stehenden,  illustrierten  Literatur- 
geschichte besonders  notwendig  erwies,  ein  großes  Plus  von  Arbeit"  ergeben;  in 
ca.  25  Lieferungen,  einer  „Zahl,  die  äußerstenfalls  um  ein  bis  zwei  Lieferungen 
überschritten"  werde,  solle  die  Arbeit  „im  laufenden  Jahr  —  1905  —  sicher  ab- 
geschlossen werden."  Auch  noch  auf  dem  Umschlage  des  22.  Heftes,  das  mit 
Haller  schließt,  hieß  es:  „Vollständig  in  25  Lieferungen".  Heute  schreiben  wir 
Dezember  1908,  die  27.  Lieferung,  die  mit  Herder  (S.  1048)  abbricht,  ist  er- 
schienen; es  ist  leicht  auszurechnen,  daß  bei  gleicher  Ausführlichkeit  mindestens 
noch  20  Lieferungen  nötig  werden,  um  bis  zur  Gegenwart  hinzuführen.  Dies  ist 
im  Interesse  der  Subskribenten  und  der  Sache  überhaupt  zu  bedauern.  So  an- 
erkennenswert die  Großzügigkeit  des  Werkes  ist,  das  in  bibliographischer  Hin- 
sicht ein  Meisterwerk  mit  seinen  großartigen  Illustrationen  bedeutet,  so  sehr  zu 
beklagen  bleibt  doch  die  Weitschweifigkeit  und  Gelehrsamkeit,  die  Verstaubtes 
und  Verblichenes  nicht  vergessen  und  übergehen  kann,  sondern  alles  am  Wege 
Stehende,  und  wenn  es  auch  Unkraut  ist,  in  den  übergroßen  Strauß  sammeln  muß. 
So  bleibt  das  Werk,  das  dem  Hause  und  besonders  auch  der  Jugend  dienen 
möchte,  doch  im  wesentlichen  nur  ein  Werk  für  Gelehrte.  Denn  wen  kümmert 
sonst  die  Unzahl  von  unwichtigen  Namen  und  Titeln  und  Inhaltsangaben?  Immer 
wieder  bedauert  man,  wenn  man  die  gründlichen  kulturhistorischen  Einleitungen 
und  so  manche  feine  Charakteristik  der  bedeutendsten  Träger  der  Literaturbewegung 
mit  Freuden  gelesen  hat,  daß  die  kleineren  Geister  nicht  in  das  Dunkel,  wohin 
sie  gehören,  zurückgescheucht  worden  sind.  Oder  man  mußte  sogleich  auf  das 
Titelblatt  setzen:  Deutsche  Literaturgeschichte  in  ca.  50  Lieferungen  ä  1  M. 

Die  Lieferungen  12—27  gliedern  den  Stoff   in  folgender  Weise.    Die  fünfte 


A.  Biese,  Zur  deutschen  Literaturgeschichte.  447 

Periode  (1250—1500)  umspannt  das  ausgehende  Mittelalter  und  den  Übergang 
zur  bürgerlichen  Dichtung  und  teilt  sich  in  Epos,  Lyrik,  Legende  und  poetische 
Erzählung,  geschichtliche  Dichtung,  Drama;  die  sechste  Periode  (1500—1624): 
Anbruch  der  neuhochdeutschen  Zeit,  die  deutsche  Literatur  im  Zeitalter  des  Hu- 
manismus, der  Reformation  und  Gegenreformation.  Einsichtig  und  seiner  maß- 
vollen Denk-  und  Ausdrucksweise  gemäß  weist  Salzer  die  Darstellung  des  Ver- 
laufes der  Reformation  dem  Historiker,  die  der  Lehre  Luthers  dem  Theologen  zu 
und  hält  sich  in  der  Beurteilung  des  Mannes,  der  der  Literatur  seiner  Zeit  das 
Gepräge  gegeben  hat,  im  wesentlichen  von  leidenschaftlicheren  Ausbrüchen  zurück 
und  würdigt  die  Größe  seiner  Übersetzungstat;  er  leugnet  nicht,  daß  die  vor 
Luther  vorhandenen  deutschen  Bibelübersetzungen,  auf  der  Vulgata  beruhend, 
sich  meistens  mit  der  einfachen  Übertragung  der  lateinischen  Worte  begnügten, 
während  Luther,  auf  den  Grundtext  zurückgehend,  trotz  peinlicher  Treue  doch 
ganz  im  Geiste  des  Originals  und  der  Muttersprache  zugleich  übersetzte.  —  Wer 
im  einzelnen  sich  hierüber  unterrichten  will,  findet  in  der  sorgsam  mit  Einleitung 
und  Erläuterungen  versehenen  Auswahl  aus  Martin  Luthers  Schriften  von 
Richard  Neubauer  (Erster  Teil.  Vierte  Auflage.  Halle  a.  S.  1908.  Waisenhaus. 
2,80  M.)  alles  Nötige  in  trefflichster  Weise  beisammen. 

Daß  Salzer  an  Hütten  und  Fischart  die  Schwächen  hervorkehrt  —  immer 
neben  den  Vorzügen  —  und  Murner  besonders  eingehend  und  liebevoll  be- 
handelt, wird  nicht  wundernehmen.  Nicht  minder  warm  und  sachkundig  ver- 
herrlicht er  aber  auch  den  biederen  Hans  Sachs,  den  beredten  Verkünder  der 
Lutherschen  Lehre.  Eine  erdrückende  Fülle  von  Namen  tritt  uns  in  dem  letzten 
Abschnitt  wieder  entgegen. 

Die  siebente  Periode  nennt  sich  „der  dreißigjährige  Krieg  und  die  Neu- 
gestaltung der  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Verhältnisse,  die  Renaissance- 
poesie und  Ansätze  selbständiger  Neugestaltung  der  deutschen  Nationalliteratur". 
Auch  dieser  Abschnitt  bietet  des  Trefflichen  genug,  im  allgemeinen  wie  im  be- 
sonderen —  über  Fleming  und  Gerhardt  wie  über  Spee  und  Bälde  und  Abraham 
a  Sankta  Clara,  über  die  Schlesier  und  Königsberger,  über  Epigramm,  Satire  und 
Roman  und  Drama  usw.,  würdigt  mit  Recht  manches  innige  und  schöne  Lied 
Hofmanns  v.  Hofmannswaldau,  während  die  schädlichen  Einwirkungen  des  Marinis- 
mus, der  barocken,  höfisch-galanten  Schäferdichtung,  der  Kultus  des  Fremden  über- 
haupt, der  Schwulst  und  die  Unnatur  treffend  gegeißelt  werden.  Den  Beginn  der 
Gesundung,  besonders  unter  englischem  Einflüsse  stellt  dann  die  Behandlung  der 
achten  Periode  dar:  das  Zeitalter  des  höfischen  und  des  aufgeklärten  Absolutis- 
mus, der  französischen  Revolution  und  ihrer  Folgen  für  Deutschland.  Mit  Ver- 
gnügen liest  man  auch  hier  wieder  die  Schilderung  der  Zeitverhältnisse;  Joh.  Christ. 
Günther  wird  gar  zu  kurz  —  im  Vergleich  zu  anderen  viel  kleineren  Geistern  — 
gewürdigt,  während  Gottsched  und  die  Schweizer  in  dem,  was  sie  trennte,  und  in 
dem,  was  sie  einte,  trefflich  gewürdigt  werden.  Das  Gleiche  läßt  sich  auch  ohne 
Einschränkung  betreffs  Klopstocks  und  Wielands,  ja  auch  im  wesentlichen  be- 
treffs Lessings  und  Herders  sagen,  wenn  auch  Lessings  religiöser  Standpunkt  mit 
„Indifferentismus"  nicht  abgetan  werden  darf.  Man  hat  bei  der  gesamten  Dar- 
stellung Salzers  den  angenehmen  Eindruck,  daß  ein  gründlicher  Kenner  und  warm 


448  A.  Biese, 

für  die  deutsche  Dichtung  fühlender  Mann  die  Feder  führt  und  daß  er  sichtlich 
bemüht  ist,  seinem  katholischen  Standpunkt  doch  die  Strenge  und  Schärfe  zu 
nehmen,  ohne  in  Indifferentismus  und  seichte  Flachheit  zu  verfallen.  Es  kann 
eben  niemand,  auch  beim  besten  Willen,  nicht  ganz  aus  seiner  konfessionellen 
Haut  heraus.  —  Der  Druck  ist  bis  auf  wenige  Versehen,  besonders  in  den  klein- 
gedruckten Stellen,  recht  gut.  Jedem  Hefte  sind  Vollbilder,  Text-  und  Schrift- 
proben in  vorzüglicher  Nachbildung,  verschiedenen  Zeiten  angehörend,  beigegeben; 
ordnen  läßt  sich  das  alles  erst  nach  Vollendung  des  Ganzen. 

Ein  sehr  glücklicher  Gedanke  der  Elwertschen  Verlagsbuchhandlung 
in  Marburg  war  es,  den  seit  langem  hochgeschätzten  „Deutschen  Literatur- 
atlas von  Gustav  Könnecke"  in  einer  Auswahl  zu  ganz  billigem  Preise  (6  M.) 
neu  herauszugeben;  diese  bringt  nach  einer  kurzen  Einführung  von  Chr.  Muff 
826  Abbildungen  und  zwei  Beilagen,  in  die  Gegenwart  mit  aller  Vorsicht  hinein- 
reichend. Bei  einer  so  wertvollen  Gabe  ist  es  nun  Sache  des  deutschen  Hauses 
und  besonders  auch  der  deutschen  Schule,  sich  ihrer  wert  zu  zeigen!  — 

Ein  interessantes  Thema  jener  vergleichenden  Literaturgeschichte,  die 
ein  Motiv  durch  den  Wandel  der  Zeiten  hindurch  verfolgt,  hat  Kurt  Hille  ge- 
liefert im  12.  Heft  der  „Breslauer  Beiträge  zur  Literaturgeschichte",  die  Max  Koch 
und  Gregor  Sarrazin  herausgeben.  Es  behandelt  „Die  deutsche  Komödie 
unter  der  Einwirkung  des  Aristophanes"  (Leipzig  1907.  Quelle  &  Meyer. 
180  S.  5,75  M.).  Den  Humanisten  blieb  der  griechische  Komiker  ziemlich  fern; 
doch  hören  wir  von  Plutus-Aufführungen;  erst  als  man  ihn  zu  übersetzen  begann 
(Goldhagen,  Wolf,  Wieland,  Voß,  Droysen),  mehren  sich  die  Nachahmungen.  Als 
erste  Nachbildner  werden  Fröreisen  und  Frischlin  aufgewiesen;  sodann  wird  das 
Einteilungsprinzip  nach  der  Art  der  Komödien  bestimmt:  philosophische,  soziale, 
politische  und  literarische  Komödien.  So  gewinnen  manche  bekannte  Werke  der 
neueren  Literatur  wie  Goethes  „Götter,  Helden  und  Wieland"  u.  a.,  Platens  „Ver- 
hängnisvolle Gabel"  u.  a.,  Vischers  Faust  III  u.  a.,  Hauptmanns  „Versunkene  Glocke", 
„Und  Pippa  tanzt"  usw.  eine  richtigere  Beleuchtung.  Platen  wird  von  Hille 
überschätzt,  nach  dem  Vorgange  Goedekes,  der  bekanntlich  unter  dem  Pseudonym 
Kari  Stahl  sich  nach  dem  Muster  Platens  in  einer  „aristophanischen"  Komödie,  König 
Kodrus,  versucht  hat.  Der  wesentlichste  Mangel  bei  Platen  besteht  darin,  daß 
der  Aufwand  von  Mitteln  in  keinem  Verhältnisse  zu  dem  trivialen  Gegenstande 
steht,  daß  er  mit  Kanonen  nach  Spatzen  schießt.  Auch  sonst  bedarf  manches 
Urteil  bei  Hille  der  Einschränkung,  besonders  hinsichtlich  bewußter  oder  un- 
bewußter Nachahmung.  Immerhin  ist  die  Schrift  ein  wertvoller  Beitrag.  —  Bei 
dieser  Gelegenheit  sei  auf  die  ausgezeichnete  kleine  Arbeit  von  Adolf  Müller  in 
Kiel  hingewiesen :  „Das  griechische  Drama  und  seine  Wirkungen  bis  zur 
Gegenwart"  (in  der  „Sammlung  Kösel",  Kempten  und  München  1908,  1  M.); 
was  hier  auf  knappen  164  Seiten  (kl.  8)  geboten  wird,  ist  an  Inhaltfülle  geradezu 
bewundernswert  und  für  die  Schule  vorzüglich  verwendbar. 

Im  Mittelpunkte  unserer  gegenwärtigen  Literaturströmung  und  Literatur- 
forschung steht  das  neuerwachte  Interesse  für  die  Romantik.  Man  gibt  ihre 
Schriften  neu  heraus,  veranstaltet  Auslesen  aus  diesen  und  wendet  sich  der  Aus- 
beute ihrer  Briefe  zu.    So  legt  uns  in  schöner  Ausstattung  O.  E.  Schmidt  einen 


Zur  deutschen  Literaturgeschichte.  449 

Briefwechsel  vor  in  dem  Buche:  ,Fouqu6,  Apel,  Miltitz"  (Mit  zwölf  Illustra- 
tionen und  zwei  Musikbeilagen.  Leipzig  1908.  Dürr.  219  S.  geh.  5,40  M.).  In 
der  Einleitung  stellt  er  der  „weichlichen",  „tändelnd-philosophischen"  Frühromantik 
die  spätere,  „heroische"  (mit  dem  Freiheitskämpfer  Fouqu^)  entgegen.  Man  darf 
aber  dabei  nicht  vergessen,  daß  die  Schlegel  als  Denker  und  Anreger,  daß  an 
dichterischer  Kraft  Novalis  und  Tieck  einen  Fouque  bei  weitem  überragen;  an 
männlicher  Gesinnung  und  Tatkraft  und  Charakter  muten  uns  freilich  jene  Ro- 
mantiker, die  mit  Wort  oder  Schwert  ins  Leben  der  Wirklichkeit  eingriffen,  mehr 
an  als  die  Denker  und  Träumer.  Was  uns  Schmidt  von  den  Beziehungen  der 
drei  Männer  berichtet,  ist  recht  interessant,  und  manche  der  Briefe  —  besonders 
auch  des  geistvollen  Apel  —  sind  für  die  Zeitgeschichte  bedeutungsvoll.  Fouqu^s 
Tragik  war  es,  daß  er  sich  nicht  weiter  entwickelte,  sondern,  wie  so  viele  schwächere 
Talente,  sich  unablässig  wiederholte,  mit  seiner  Ritterromantik  und  seinem  Säbel- 
gerassel und  seiner  Sagenmystik,  und  so  sich  selbst  überlebte.  So  ging  auch  der 
Scharfenberger  Freundeskreis  sehr  bald  wieder  auseinander.  Miltitz  erkannte  sehr 
früh  dasjenige,  was  ihn  —  den  Nüchterneren  —  von  dem  Freunde  trennte. 

Die  Einzelschriften  über  neuere,  noch  lebende  Dichter  sind  Legion.  Mir  liegt 
zur  Besprechung  vor:  Wilhelm  Kosch,  Martin  Greif  in  seinen  Werken 
(Leipzig  1907.  Amelang.  174  S.  2,50  M.).  Es  ist  ein  Buch  tief  eindringender 
Forschung,  ein  Buch,  das  warme  Liebe  geschaffen  hat.  Und  diese  hat  vielfach 
Treffliches  gezeitigt,  doch  das  freundliche  Bild  gar  zu  sehr  in  Licht  getaucht. 
Mit  Freuden  habe  ich  selbst  schon  zu  Anfang  der  80er  Jahre  die  zweite  Auflage 
von  Greifs  „Gedichten"  begrüßt  (in  der  „K.  Ztg.")  und  den  Lyriker  in  dem  Buche 
„Lyrische  Dichtung  und  neuere  deutsche  Lyriker"  (1896,  S.  152—156)  gewürdigt, 
indem  ich  das  Bedeutende  anerkannte,  aber  auch  seine  Schwächen  nichfverschwieg. 
Kosch  wendet  seinem  geliebten  Meister  gegenüber  zu  wenig  das  Salz  der  Kritik  an. 
Er  geht  zu  weit,  wenn  er  den  Lyriker  Greif  so  dicht  an  die  Seite  von  Goethe  und 
Mörike,  ja  in  manchem  noch  über  diesen  stellt,  wenn  er  seine  Balladen  mit  den  „schotti- 
schen" zusammen  nennt,  wenn  er  die  unreinen  Reime  und  die  Leidenschaftslosig- 
keit verteidigt,  wenn  er  ferner  die  „objektive"  Naturlyrik  auf  Greif  zurückführt 
und  ihn  zu  einem  Vorläufer  des  Impressionismus  macht,  wenn  er  den  Dramatiker 
Greif  an  Shakespeare  und  Ludwig,  im  Unterschiede  von  dem  „idealisierenden 
und  reflektierenden  Rhetoriker"  Schiller  rücken  will.  Auch  das  Biographische 
zerrinnt  zu  sehr  ins  Unbestimmte.  Sonst  findet  sich  gerade  in  der  Behandlung 
der  Lyrik,  im  Anschlüsse  an  Bayersdorfer,  du  Prel,  Minor  u.  a.  viel  Feinsinniges 
und  Schönes.  Bei  Greif  —  auch  gerade  nach  persönlicher  Bekanntschaft  des 
liebenswerten  Mannes  —  muß  ich  immer  eines  Wortes  von  E.  M.  Arndt  gedenken, 
der  sagt:  „Einfalt,  Gradheit,  Ehrlichkeit  —  ich  unterstreiche  diese  drei  —  das 
heißt  Deutschheit,  das  ist  gottlob  bei  dem  schlichten,  unverbildeten  und  unver- 
drehten Deutschen  noch  da".  Bei  keinem  Lyriker  nach  Uhland  möchte  dies  Wort 
mehr  zutreffen  als  bei  Greif.  Er  ist  schlicht,  echt,  innig;  ein  Stimmungsbild  in 
ein  paar  knappen  Zeilen  zu  entwerfen,  darin  ist  er  Meister;  seine  Naturbeseelung 
ist  wahrhaft  „elementar",  sein  Volkston  rührend  und  herzenswarm  und  wahr. 

Eine  hübsche  Auswahl  seiner  Gedichte  für  die  Jugend  gab  Julius  Sahr 
heraus  (Leipzig  1905.   Amelang). 

.Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  29 


450  ^'  Buschmann, 

Über  „Das  moderne  Drama"  hat  der  Wiener  Universitäts-Professor  Robert 
F.  Arnold  ein  vortreffliche  Übersichten  bietendes  Buch  geschrieben,  das  jedem 
Lehrer  des  Deutschen  in  Prima  gute  Dienste  leisten  kann  (Straßburg  1907.  Karl 
J.  Trübner.  388  S.  6  M.).  Aus  Vorlesungen  an  den  Universitäten  von  Innsbruck 
und  Wien  hervorgegangen,  trägt  es  die  Farbe  frischen  Lebens,  scharfer  Beobachtung 
und  eines  feinen  historischen  Sinnes.  Der  Riesenstoff,  der  nicht  nur  die  deutsche, 
sondern  auch  die  außerdeutsche  Bühnendichtung  seit  1880  umfaßt,  baut  sich  auf 
der  Grundlage  eines  in  großen  Zügen  gezeichneten  Bildes  der  kulturhistorischen 
Vorbedingungen  auf.  Eine  Fülle  der  wertvollsten  Tatsachen  betreffs  Dramatik, 
Bühnen-  und  Schauspielerwesen  und  Presse  usw.  ist  schon  in  den  ersten  Kapiteln 
zusammengetragen;  doch  das  Hauptinteresse  erweckt  jene  auf  Ibsen  und  Zola  und 
Tolstoi  zurückweisende  Bewegung  der  Literaturrevolution  der  80  er  Jahre,  die  mit 
sichtlicher  Vorliebe  geschildert  und  in  ihre  äußersten  noch  heute  erkennbaren  Ver- 
zweigungen verfolgt  wird,  mögen  auch  Symbolismus  und  Neuromantik  und  Heimat- 
kunst neue  Bestrebungen  und  neue  Schlagwörter  geschaffen  haben.  Mit  kräftigen 
Worten  wendet  Arnold  am  Schlüsse  sich  gegen  den  „Merkantilismus"  unseres  lite- 
rarischen Betriebes,  den  er  als  die  Brutstätte  von  Mittelmäßigkeit  und  Gesinnungs- 
losigkeit bezeichnet,  und  erhofft  den  neuen  Messias  für  die  deutsche  Bühne,  der 
vielleicht  schon  unter  uns  weile,  doch  noch  nicht  zur  Reife  gelangt  sei;  jedenfalls 
will  er  das  letzte  Wort  über  die  noch  in  rüstiger  Kraft  schaffenden  Dramatiker 
nicht  sprechen,  deren  Erdenwerk  noch  nicht  abgeschlossen  ist.  Die  Überschau 
nach  Stoffen,  die  in  den  letzten  Kapiteln  vorherrscht,  ist  besonders  fesselnd,  die 
Literaturnachweise  und  die  Personen-  und  Dramenregister  sind  in  hohem  Maße 
dankenswert. 

Neuwieti  a.  Rh.  Alfred  Biese. 


Hilfsbücher  für  den  deutschen  Sprachunterricht. 

Rehorn,  Dr.  Karl,  Methodischer  Lehrgang  für  den  Unterricht  in  der 
deutschen  Grammatik.  Nach  Klassenstufen  geordnet.  Siebente  Auflage,  neu 
bearbeitet  von  Dr.  Hermann  Werth.  Frankfurt  am  Main  und  Berlin  1908. 
Moritz  Diesterweg.    VII  u.  103  S.    geb.   1   M. 

Der  für  höhere  Mädchenschulen  bestimmte  Lehrgang  hat  sich  als  brauchbares 
Schulbuch  bewährt,  hält  aber  vielfach  an  veralteten  Anschauungen  fest.  Daß  sich 
die  neue  Auflage  besonders  an  Sütterlin,  die  deutsche  Sprache  der  Gegenwart 
„orientiert"  hätte,  wie  der  Bearbeiter  der  neuen  Auflage  sagt,  wird  sich  aus  dem 
Buche  schwerlich  feststellen  lassen. 

Matthias,  Prof.  Dr.  Th.,  Handbuch  der  deutschen  Sprache  für  höhere 
Schulen.  I.  Teil:  Vorstufe.  Methodischer  Lehrgang  für  den  Deutschunterricht 
der  Unterklassen.    Leipzig  1908.    Quelle  und  Meyer.  VII  u.  113  S.    geh.  1,20  M. 

Matthias'  Lehrgang  für  den  deutschen  Unterricht  ist  eigentlich  mehr  Übungs- 
buch   als  Sprachlehre.    Es   verzichtet   auf  Tabellen    und  Regelwerk  und   läßt   in 


Hilfsbücher  für  den  deutschen  Sprachunterricht.  451 

geistiger  Verarbeitung  eines  im  ganzen  glücklich  gewählten,  jedoch  nicht  selten 
über  die  Fassungskraft  der  Unterstufe  hinausgehenden  Übungsstoffes  das  Ver- 
ständnis für  die  Sprachformen  erwachsen,  die  Gesetze  sich  erschließen  und  den 
Schülern  zu  geistigem  Eigentum  werden.  Mechanisches  Nachbeten  der  Fragen 
zu  erwarten,  welche  dieser  Verarbeitung  vorgezeichnet  sind,  lag  sicher  der  Absicht 
des  Verfassers  fern.  Er  wollte  damit  wohl  nur  den  Weg  und  das  Ziel  andeuten. 
Des  Lehrers  und  der  Schüler  Eigenart  und  der  den  mannigfachen  Zufällen  unter- 
liegende Unterrichtsgang  werden  eine  Abweichung  nicht  nur  von  der  Reihenfolge 
der  Fragen,  sondern  auch  von  ihrem  Inhalt  und  ihrer  Form  oft  genug  erforderlich 
machen,  auch  abgesehen  davon,  daß  viele  Fragen  kaum  die  Antwort  auslösen 
würden,  die  der  Verf.  erwartet.  Jedenfalls  ist  aber  in  diesem  Fragenschatz  ein 
nicht  zu  verachtendes  Mittel  gewiesen,  wie  der  Bildungswert  des  deutschen 
Sprachunterrichts  in  anregender  Geistesarbeit  lebendig  und  fruchtbar  werden  kann. 
Der  erste  Teil  des  Handbuchs  umfaßt  die  Lautlehre,  die  Wortlehre  und  die  Satz- 
lehre. Die  Wortlehre  wird  aber  auf  die  Bedeutungslehre  und  die  Wortbildungs- 
lehre beschränkt;  von  der  Beugungslehre  bringt  sie  nur  einiges  über  die  Mittel 
der  Beugung  im  allgemeinen.  Was  sonst  im  Mittelpunkt  der  Wortlehre  zu  stehen 
pflegt,  die  Lehre  von  den  Wortarten  und  von  der  Beugung  im  besonderen,  findet 
sich  auf  geeignete  Stellen  der  Satzlehre  zweckmäßig  verteilt.  Die  Lehre  von  der 
Rechtschreibung  ist  in  unmittelbare  Verbindung  mit  der  Lautlehre  gebracht;  ange- 
schlossen ist  Übungsstoff  für  lautrichtiges  Sprechen. 

Matthias,  Theodor,  Handbuch  der  deutschen  Sprache  für  höhere 
Schulen.  Zweiter,  darstellender  Teil.  Leipzig  1908.  Quelle  &  Meyer.  X  und 
257  S.    geb.  2,40  M. 

Die  Aufgabe,  die  der  Verfasser  sich  für  den  zweiten  Teil  seines  Handbuches 
gestellt  hatte,  alle  wesentlichen  Erscheinungen  der  deutschen  Sprache  in  einem 
geschichtlich  begründeten,  übersichtlichen  Lehrgebäude  zusammenzufassen  und 
Bilder  ihrer  Entwicklung  zu  bieten,  ist  von  ihm  aufs  beste  gelöst,  wenn  die  Ab 
sieht  war,  nicht  sowohl  ein  Lehrbuch  für  die  Schüler  als  ein  Handbuch  für  den 
Lehrer  zu  veröffentlichen  und  diesem  eine  Hilfe  zur  Belebung  und  Vertiefung 
seines  Unterrichts  zu  bieten.  Dem  Buche  fehlt  nirgendwo  die  klare  Durchsichtig- 
keit, die  für  ein  Schulbuch  unentbehrlich  ist;  aber  es  setzt  doch  vielfach  eine 
Auffassungskraft  voraus,  die  man  frühestens  bei  fähigen  Schülern  der  oberen 
Klassen  erwarten  darf,  und  die  Durchblicke  in  die  geschichtliche  Entwicklung 
einzelner  sprachlichen  Erscheinungen  werden  ebenso  wie  das  meiste  von  dem, 
was  in  dem  zweiten  Teile  der  Wortbildung  an  sprachgeschichtlichen  Belehrungen 
geboten  wird,  auf  der  mittleren  Stufe  kaum  rechtes  Verständnis  und  tiefergehende 
Teilnahme  finden.  Einiges,  wie  z.  B.  gleich  das  in  der  Lautlehre  über  Schall-  und 
Drucksilben  Gesagte,  ist  für  die  Schule  mindestens  entbehrlich.  Mit  alledem  soll 
das  Verdienstliche  des  Buches  nicht  beeinträchtigt  werden;  für  den  Lehrer  ist  es 
ein  Hilfsbuch  im  besten  Sinne  des  Wortes.  Nicht  unerwähnt  soll  bleiben,  daß  der 
Verfasser  in  der  Satzlehre  unter  Wahrung  seiner  Selbständigkeit  und  ohne  den 
bislang  in  Gebrauch  gewesenen  Fachausdrücken  Gewalt  anzutun,  den  von  Sütterlin 
gewiesenen  Wegen  folgt. 

29* 


452  J-  Buschmann, 

Sütterlin,  Dr.  L.  und  Martin,  Dr.  K.,  Grundriß  der  deutschen  Sprach- 
lehre für  die  unteren  Klassen  höherer  Schulen.  Leipzig.  R.  Voigtlän- 
ders  Verlag.    VIII  u.  81  S.    kart.  1.  M. 

Wenn  der  in  dieser  Monatschrift  wiederholt  besprochene,  von  Sütterlin  entwor- 
fene Aufbau  der  Satzlehre  sich  im  Leben  der  Schule  einbürgern  sollte,  so  bedurfte 
es  nach  der  mehr  für  den  Lehrer  als  für  Schulen  eingerichteten  deutschen  Sprach- 
lehre von  Sütterlin  und  Waag  einer  für  die  Fähigkeiten  jüngerer  Schüler  geeig- 
neten Verarbeitung  der  Grundlagen  Sütterlins.  Der  Aufgabe,  ein  Buch  für  die 
unteren  Klassen  höherer  Schulen  zu  schaffen,  hat  sich  Sütterlin  in  Verbindung 
mit  einem  praktischen  Schulmann  unterzogen,  und  unterstützt  von  anderen  Schul- 
männern Badens  haben  beide  ein  treffliches  Schulbuch  zustande  gebracht,  welches 
allen,  die  den  deutschen  Sprachunterricht  im  Geiste  Sütterlins  in  neue  Bahnen 
umlenken  möchten,  gute  Dienste  leisten  wird;  sich  mit  dem  Buche  bekannt  zu 
machen,  wird  namentlich  jüngeren  Lehrern  auch  dann  zu  empfehlen  sein,  wenn 
eigener  Trieb  oder  die  Verhältnisse  ihnen  nahelegen,  im  Unterricht  der  deutschen 
Satzlehre  den  bisher  vorgezeichneten  Weg  weiter  zu  verfolgen.  Auch  der  erste 
Teil,  „Laute  und  Wörter",  enthält  viel  Gutes,  was  in  anderen  Büchern  dieser  Art 
nicht  zu  finden  ist.  In  der  Satzlehre  ist  es  den  Verfassern  im  allgemeinen  aufs 
beste  gelungen,  ihre  Neuerungen  in  eine  auch  zehn-  bis  zwölfjährigen  Schülern 
faßliche  Form  zu  bringen.  An  Schwierigkeiten  fehlt  es  aber  nicht.  Dahin  gehört 
es,  wenn  in  dem  Satze  „Er  kann  seinen  Namen  schreiben"  die  gesperrt  ge- 
druckten Worte  als  Attribut  oder  auch  als  Objekt  angesehen  werden  können. 
Eine  gewisse  Verwirrung  dürfte  dadurch  entstehen  können,  daß  nur  die  näheren 
Bestimmungen  des  Zeitworts  als  Umstandsbestimmungen  bezeichnet  werden 
sollen,  und  man  in  der  Verbindung  „Der  stets  singende  Knabe"  das  Wort  stets 
nicht  als  Umstandsbestimmung  bezeichnen  darf,  weil  singend  reines  Adjektiv  sei. 
Daß  es  sich  um  Prädikatsätze  handelt,  wenn  ein  Nebensatz  ohne  Verb  neben  ein 
Subjekt  gestellt  wird  (Ein  fürchterlich  Gedräng  [ist],  wo  er  stund),  wird  jedenfalls 
auf  der  unteren  Stufe  nicht  leicht  verständlich  zu  machen  sein.  Und  warum  in 
dem  Satze  „Gretel  merkte,  was  die  Hexe  im  Sinne  hatte"  der  Relativsatz  ein 
Fragesatz  sein  soll,  nicht  auch,  wie  in  dem  Satze  „Das  Mädchen  erzählte  alles, 
was  ihm  begegnet  war",  ein  Behauptungssatz,  wird  auch  einem  Tertianer  zu 
fassen  schwer  sein. 

Scheel,  Willy,  Neuhochdeutsche  Sprachlehre.  1.  Laut-  und  Wortbildungs- 
lehre für  die  Oberstufe  höherer  Lehranstalten.  Heidelberg  1908.  Carl  Winters 
Universitätsbuchhandlung.    VIII  u.  89  S.    kart.  1,80  M. 

Credner,  Dr.  Karl,  Grundriß  der  deutschen  Grammatik  nach  ihrer 
geschichtlichen  Entwicklung  für  höhere  Lehranstalten  und  zur  Selbst- 
belehrung.   Leipzig  1908.    Veit  u.  Comp.    XII  u.  228  S.    geh.  3  M. 

Th.  Matthias  hat  in  dem  zweiten  Teil  seines  Handbuchs  ein  geschichtlich 
gegründetes,  übersichtliches  Lehrgebäude  aller  wesentlichen  Erscheinungen  der 
deutschen  Sprache  nebst  Bildern  aus  ihrer  Entwicklung  geboten  und  sieht  es 
als  Aufgabe  der  Mittelstufe  an,  die  Erscheinungen  des  heimischen  Sprachlebens 
klärend  zusammenzufassen  und  geschichtlich  verstehen  zu  lassen.  Nun  ist  ja 
nicht  zweifelhaft,    daß   nicht  wenige   Eigentümlichkeiten    der   deutschen    Sprache 


Hilfsbticher  für  den  deutschen  Sprachunterricht.  453 

ohne  Einblick  in  ihre  Entwicklung  unverständlich  bleiben,  und  es  gibt  schon  in 
den  mittleren  Klassen  Gelegenheit  genug,  Verständnis  für  solche  Entwicklung 
anzubahnen.  Aber  mit  ausreichendem  Erfolge  kann  dies  Verständnis  doch  erst 
dann  erschlossen  werden,  wenn  einige  Bekanntschaft  mit  älteren  Sprachnieder- 
setzungen es  ermöglicht,  die  Entwicklungsgesetze  an  zahlreichen,  im  Zusammen- 
hang des  Schriftwerks  lebendig  gewordenen  Beispielen  zu  veranschaulichen.  Dieser 
Absicht  wollen  die  Neuhochdeutsche  Sprachlehre  von  Scheel  und  der  Grundriß 
der  deutschen  Grammatik  von  Credner  dienen.  Scheels  Sprachlehre,  deren  erster 
Teil  erschienen  ist,  gehört  zu  der  von  Dr.  Max  Niedermann  herausgegebenen 
Sprachwissenschaftlichen  Gymnasialbibliothek,  welche  eine  den  heutigen  Verhält- 
nissen entsprechende  wissenschaftliche  Gestaltung  des  grammatischen  Unterrichts 
und  die  Erklärung  der  grammatischen  Gesetze  auf  Grund  der  gesicherten  Ergeb- 
nisse der  historisch-vergleichenden  Sprachforschung  anstrebt.  Scheel  seinerseits 
will  dem  Lehrer  das  Material  bieten,  an  welches  dieser  in  den  oberen  Klassen, 
soweit  dazu  der  deutsche  Unterricht  Gelegenheit  bietet,  seine  Belehrungen  an- 
knüpfen kann.  Der  vorliegende  erste  Teil  entspricht  dieser  Absicht  vollkommen; 
er  ist  aber  inhaltlich  und  in  seiner  Darstellung  so  gehalten,  daß  Primaner,  welche 
Freude  an  ihrer  Muttersprache  haben,  sich  auch  ohne  Hilfe  des  Lehrers  mit  dem 
Buche  beschäftigen  können.  Für  eine  neue  Auflage  möge  das  Augenmerk  des 
Verf.  auf  den  letzten  Satz  in  Abs.  2,  S.  9  (Neben  dem  anspruchsvollen  Förderer 
usw.)  und  auf  Abs.  2,  S.  70  (Ebenso  wie  bei  den  subst.  Ableitungssilben  usw.) 
gerichtet  werden.  S.  7  hätte  sich  die  Form  „Akkusativ  cum  Infinitivo"  vermeiden 
lassen.  Auf  S.  41  wird  gesagt,  die  Brechung  beruhe  auf  einer  falschen  Voraus- 
setzung. Würden  in  der  nächsten  Auflage  §  23  u.  24  nicht  besser  mit  §  1  ver- 
einigt werden? 

Credners  Grundriß,  ursprünglich  als  neue  Auflage  der  von  Geistbeck  im 
Jahre  1882  herausgegebenen  Elemente  der  wissenschaftlichen  Grammatik  der 
deutschen  Sprache  geplant,  ist  durch  Verwendung  der  neueren  Ergebnisse  deutscher 
Sprachforschung  in  durchgreifender  Umarbeitung  der  Grundlage  ein  neues  Buch 
geworden.  Der  Grundriß  empfiehlt  sich  als  zuverlässiger  Wegweiser  für  Studierende, 
doch  hat  der  Verf.  zunächst  die  reiferen  Schulen  höherer  Lehranstalten  im  Auge, 
denen  das  Buch  nicht  als  Lernbuch  unmittelbar  für  die  Schule,  sondern  als  Lern- 
und  Lehrbuch  im  Selbstunterricht  dienen  soll.  Es  enthält  aber  auch  reichen  Stoff 
für  freie  Vorträge,  und  wo  bei  freierer  Gestaltung  der  Lehrpläne  der  deutsche 
Unterricht  in  den  oberen  Klassen  verstärkt  ist,  würde  es  zur  Vertiefung  in  die 
Geschichte  der  Muttersprache  recht  wohl  als  Schulbuch  dienen  können.  Eine 
dankenswerte  Zugabe  des  Grundrisses  bildet  die  Karte  der  deutschen  Mundarten. 

Dr.  Karl  Krauses  Deutsche  Grammatik  für  Ausländer  neu  bearbeitet 
von  Dr.  Karl  Nerger.  Sechste  verbesserte  Auflage.  Breslau  1908.  J.  U.  Kerns 
Verlag  (Max  Müller).    VIII  u.  276  S.    3,60  M. 

Ein  Handbuch  für  deutsche  Lehrer  ausländischer  Schüler.  Ein  ausländischer 
Lehrer  würde,  zumal  ein  alphabetisches  Sprach-  und  Wörterverzeichnis  fehlt,  auch 
wenn  er  die  deutsche  Sprache  zur  Genüge  beherrschte,  in  dem  umfangreichen, 
im  Streben  nach  Vollständigkeit  des  Regelvorrats  mancher  Schulgrammatiker  des 
vorigen  Jahrhunderts  ebenbürtigen  Werke  sich  nur  mit  Mühe  zurechtfinden.    Das 


454  J.  Buschmann, 

Buch  ist  in  erster  Auflage  1867  erschienen;  der  neuen  Auflage  würde  es  als 
Empfehlung  gedient  haben,  wenn  die  Fassung  mancher  Regeln  mehr  mit  den 
Ergebnissen  wissenschaftlicher  Forschung  der  neueren  Zeit  in  Einklang  ge- 
bracht, manche  veraltete  Anschauungen  beseitigt  und  manche  Regel,  die  sich 
als  Gedächtnisballast  erweisen  muß,  ausgeschieden  wäre,  um  das  grammatische 
Gesetz  durch  unwillkürliche  Aneignung  im  Geiste  der  Schüler  von  selbst  sich 
bilden  zu  lassen. 

Weyde,  Johann,  Neues  deutsches  Rechtschreibewörterbuch.  Auf 
Grund  der  neuen,  gemeindeutschen  Rechtschreibung  bearbeitet.  4.  vermehrte  Auf- 
lage.   Leipzig,  G.  Freytag,  Wien,  F.  Tempsky,  1908.   256  S.   Geb.  1,50  M.  =  2  K. 

Das  Buch,  das  sich  in  der  Schreibung  der  Wörter  an  das  auf  Ersuchen  der 
Buchdruckervereine  von  Duden  verfaßte  Wörterbuch  mit  einheitlicher  Rechtschreibung 
anschließt,  zeichnet  sich  vor  allem  durch  seine  Reichhaltigkeit  aus.  Diese  wird 
man  sich  gern  gefallen  lassen,  wo  sie  dazu  dient,  der  Mundart  zu  Ehren  zu  ver- 
helfen ;  aber  in  der  Auswahl  der  Fremdwörter  ist  des  Guten  doch  zu  viel  geschehen. 
So  findet  man  Wörter  wie  goalkeeper  und  good  average,  ganze  Redensarten 
wie  cherchez  la  femme,  habeant  sibi  (dies  mit  der  Übersetzung:  sie  passen 
zueinander I),  last  not  least,  und  gemischte  Wendungen  wie  tabula  rasa  machen. 
Der  Verfasser  sagt  zwar,  er  biete  die  Fremdwörter  mit  den  Verdeutschungen,  um 
dem  Fremdwörterunwesen  durch  passenden  Ersatz  entgegenzuwirken;  tatsächlich 
wird  aber  für  zahlreiche  Fremdwörter  nicht  das  entsprechende  deutsche  Wort, 
sondern  nur  der  höhere  Gattungsbegriff  angegeben  oder  sonst  eine  Erklärung  ge- 
boten. Dagegen  ist  nichts  einzuwenden,  wenn  es  ein  entsprechendes  deutsches 
Wort  nicht  gibt;  aber  in  diesem  Falle  hätte  das  durch  irgend  ein  Zeichen 
angedeutet  werden  sollen.  Gelegentlich  ist  die  Verdeutschung  durch  ein  Komma, 
die  Erklärung  durch  den  Doppelpunkt  von  dem  Fremdwort  getrennt;  es  wird  sich 
empfehlen,  dies  in  der  nächsten  Auflage  zu  verallgemeinern.  Besser  noch  wird 
überall,  wo  es  möglich  ist,  ein  gut  deutsches  Wort  eingesetzt. 

Kankeleit,  A.,  Grammatikblätter  für  die  Hand  der  Schüler.  15.  Aufl. 
0,15  M.  —  Orthographieblätter  für  die  Hand  der  Schüler.  29.  Aufl. 
0,15  M.  —  Lehrerheft  zu  den  Orthographie-  und  Grammatikblättern 
mit  175  Diktaten.  5.  Aufl.  0,50  M.  Gumbinnen  1908.  C.  Sterzeis  Buchhand- 
lung (Gebr.  Reimer). 

Die  drei  Hefte  bilden  zusammen  ein  brauchbares  Hilfsbüchlein  für  den 
deutschen  Sprachunterricht  der  Volksschule,  lassen  sich  aber  wohl  auch  in  den 
Vorschulen  höherer  Lehranstalten  verwenden.  Die  Grammatikblätter  beschränken 
sich  auf  das  unbedingt  Notwendige  und  bieten  zu  dessen  Einübung  reichlichen 
Stoff.  Die  Orthographieblätter  folgen  den  erprobten  Grundsätzen,  daß  das  Auge 
die  richtige  Auffassung  des  Wortbildes  unterstütze,  daß  die  Unterweisung  sich  an 
zweckmäßig  geordnete  Wörtergruppen  anschließe,  daß  kein  Tag  ohne  Übung 
vergehe,  daß  das  Üben  aber  sorgfältig  vorbereitet  werde.  Das  Lehrerheft  enthält 
außer  methodischen  Winken  einen  umfassenden  Diktatstoff,  der  mit  gutem  Grunde 
Zusammenhängendes  ausschließt,  dafür  aber  der  Volksweisheit  des  Sprichworts 
breiten  Raum  vergönnt. 


Hilfsbücher  für  den  deutschen  Sprachunterricht.  455 

Scheffler,  Karl,  Die  Schule.  Verdeutschung  der  hauptsächlichsten  ent- 
behrlichen Fremdwörter  der  Schulsprache.  Dritte,  verbesserte  und  vermehrte  Auf- 
lage. 90  S.  0,60  M.  Berlin  1909.  Verlag  des  Allgemeinen  Deutschen  Sprach- 
vereins (F.  Berggold). 

Für  den,  der  die  Zeit  vor  der  Arbeit  des  Allgemeinen  Deutschen  Sprachvereins 
erlebt  hat,  ist  es  lehrreich,  zu  beobachten,  wie  viele  Fremdwörter  aus  dem  Schul- 
leben verschwunden  sind,  die  früher  als  festgewurzelt  hätten  gelten  können,  nicht 
minder  lehrreich,  festzustellen,  daß  gerade  im  Schulleben  noch  sehr  viel  zu  tun 
bleibt.  Es  lohnt  sich,  Schefflers  Verdeutschungsbuch  von  Anfang  bis  zu  Ende 
durchzulesen,  um  sich  zu  vergewissern,  wie  viele  Fachwörter  der  verschiedensten 
Unterrichtszweige  sich  durch  gut  deutsche  ersetzen  lassen.  Besonders  aufmerksam 
gemacht  werden  möge  auf  die  zahlreichen  trefflichen  Verdeutschungen  der  Fach- 
ausdrücke im  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Unterricht. 

Linde,  Friedrich,  Onomatik.  Sprachliche  Untersuchungen  über  Wortbildung 
und  Wortbedeutung,  angeschlossen  an  Wortfamilien.  Ein  Hilfsbuch  zur  Belebung 
und  Vertiefung  des  deutschen  Sprachunterrichts.  Langensalza  1908.  Hermann 
Beyer  u.  Söhne.     144  S.    2  M. 

Die  Wortkunde  —  das  Fremdwort  , Onomatik",  das  Mayer  dafür  in  seinem 
1842  erschienenen  Sprachbuch  geprägt  hat,  hätte  Linde  nicht  wieder  aufleben 
lassen  sollen  —  die  Wortkunde  hat  ihre  Stelle  ebensowohl  im  Unterricht  der 
Volksschule  wie  in  dem  der  höheren  Lehranstalten,  und  seitdem  Rudolf  Hildebrand 
gezeigt  hatte,  wie  sich  die  Ergebnisse  der  Sprachwissenschaft  dafür  verwerten 
lassen,  gedankenlosem  Wortgebrauch  zu  steuern  und  in  den  Schülern  lebhaftere 
Teilnahme  am  deutschen  Unterricht  zu  wecken,  hat  es  an  Versuchen  nicht  ge- 
fehlt, den  Lehrern  für  ihre  und  ihrer  Schüler  Förderung  geeignete  Hilfsmittel  dar- 
zubieten. Von  älteren  Werken  dieser  Art  hat  das  unter  dem  Titel  „Familien 
deutscher  Wurzelwörter "  von  H.  Damm  (Berlin  1883)  verfaßte  Hilfsbuch,  trotz 
seiner  Brauchbarkeit  nur  eine  Auflage  erlebt.  Neuerdings  hat  Gustav  Rudolph 
in  seiner  „Wortkunde  im  Anschluß  an  den  Sachunterricht"  (1.  Aufl.  1898,  2.  Aufl. 
1906)  recht  gute  „Materialien  zu  einer  elementaren  Onomatik  und  Phraseologie" 
geboten.  Wertvoll  für  die  Weiterbildung  junger  Lehrer  ist  die  „Deutsche  Wort- 
kunde" von  Edwin  Wilke  (1.  Aufl.  1893,  3.  Aufl.  1905),  die  auch  für  den 
deutschen  Unterricht  an  höheren  Schulen  Beachtung  verdient.  Linde  hat  in 
seiner  „Onomatik"  aus  den  Wörterbüchern  von  Kluge,  Heyne  und  Paul  den  Stoff 
gesammelt,  an  dessen  Hand  die  Volksschüler  mit  der  Herleitung  deutscher  Wörter 
aus  älteren  Sprachniedersetzungen  bekannt  gemacht  werden  sollen  und  der 
eigentlichen  Bedeutung  abgeleitete  und  übertragene  Bedeutungen  und  überdies 
Wörter  ähnlicher  Bedeutung  zugefügt.  Daß  das  Buch  sich  für  seinen  Zweck  ver- 
werten läßt,  soll  nicht  geleugnet  werden;  aber  gründlichere  Belehrung  ist  jedenfalls 
aus  Wiikes  Wortkunde  zu  holen,  und  an  den  Früchten  ihrer  Studien  werden  ver- 
ständige Lehrer  ihre  Schüler,  soweit  es  sich  um  die  Herleitung  aus  dem  Alt-  und 
dem  Mittelhochdeutschen  handelt,  in  den  Volksschulen  wie  in  den  unteren  und 
mittleren  Klassen  höherer  Schulen  nur  sparsam  teilnehmen  lassen.  Hier  gelten  die 
Grundsätze,  die  Michel  und  Stephan  in  ihrem  Methodischen  Handbuch  zu 
Sprachübungen  (4.  Aufl.  1908)  vertreten.    Sie  sehen  in  der  Etymologie  die  Würze 


456  D^s  gesamte  Bildungswesen  usw.,  angez.  von  A.  Matthias. 

des  Sprachunterrichts  auch  der  Volksschüler;  aber  sie  finden  keinen  Nutzen  in 
Etymologieen,  die  sich  der  Schüler  nicht  erarbeiten  kann.  Sie  haben  den  Stoff 
nach  etymologischen  Gesichtspunkten  geordnet,  scheiden  aber  überall  zwischen 
Wörtern,  deren  Abstammung  die  Schüler  selbst  auffinden  können,  und  solchen, 
deren  Etymon  ihnen  nicht  zugänglich  ist.  Die  Behandlung,  die  Linde  den  Wörtern 
zuteil  werden  läßt,  geht  über  den  Rahmen  derunteren  und  der  mittleren  Stufe  höherer 
Lehranstalten  ebenso  sehr  hinaus  wie  über  den  der  Volksschule;  der  Lehrer  aber 
wird  es  vorziehen,  zu  seiner  eignen  Fortbildung  an  den  Quellen  selbst  zu  schöpfen. 

Stöcke!,  D.,  Hermann,  Deutsche  Sprachlehre  auf  geschichtlicher 
Grundlage  zum  Gebrauche  an  höheren  Lehranstalten,  wie  zum  Selbst- 
unterricht. Bamberg  1908.  C.  C.  Buchners  Verlag.  XV  u.  252  S.  8«.  geh. 
3,60  M.,  geb.  4  M. 

Stöckel  will  im  Knaben-  und  im  Mädchenunterricht  höherer  Lehranstalten  und 
Lehrerbildungsanstalten  eine  gründlichere,  das  Alt-,  Mittel-  und  Neuhochdeutsche 
umfassende  Kenntnis  vom  Wesen  unserer  Muttersprache  anbahnen.  Damit  geht 
Stöckel  noch  über  das  Ziel,  das  unter  andern  auch  Credner,  Th.  Matthias  und 
Scheel  sich  gesteckt  haben,  weit  hinaus,  indem  er  den  Schülern  und  Schülerinnen 
nicht  viel  weniger  zumutet,  als  etwa  der  Studierende  der  Hochschule  an  allgemeinem 
Wissen  von  der  Geschichte  sowie  von  der  Laut-  und  der  Wortlehre  seiner  Mutter- 
sprache benötigt.  Dafür  bieten  wenigstens  die  höheren  Lehranstalten  keinen 
Raum,  und  es  ist  auch  kaum  abzusehen,  daß  sie  jemals  auf  einen  Unterrichts- 
betrieb eingerichtet  werden  könnten,  der  Einführung  in  das  Alt-  und  das  Mittel- 
hochdeutsche ohne  die  Unterstützung  einer  genügenden  Kenntnis  der  Literaturdenk- 
mäler verlangte.  Soll  aber  diese  Unterstützung  nebenhergehen,  dann  würde  zu- 
nächst den  auf  Vermehrung  der  Stundenzahl  abzielenden  Wünschen  des  Vereins 
für  Schulreform  entsprochen  werden  müssen,  und  bis  das  geschieht,  werden  vor- 
aussichtlich noch  viele  Federn  in  Bewegung  gesetzt  und  viele  Worte  dafür  und 
dawider  geredet  werden.  So  wie  die  Dinge  jetzt  liegen,  sind  es  nur  einzelne 
Abschnitte,  die  sich  im  Unterricht  an  höheren  Schulen  verwerten  lassen,  unter 
anderem  das,  was  unter  den  Überschriften  „Allgemeines"  und  „Geschichtliches" 
zusammengefaßt  ist,  einiges  aus  der  Wortbildungslehre,  besonders  die  Anhänge 
„Bildung  der  Eigennamen"  und  „Wortbedeutung".  An  sich  ist  Stöckeis  Sprach- 
lehre ein  vortreffliches  Buch.  Doch  haftet  die  Lehre  vom  Satze  mehr  als  nötig 
am  Überlieferten;  auch  würde  gerade  hier  Berücksichtigung  des  geschichtlichen 
Entwicklungsganges  erwünscht  gewesen  sein. 

Coblenz.  Jos.  Buschmann. 


b)  Einzelbesprechungen: 

Das  gesamte  Bildungswesen  (mit  Ausschluß  der  Hochschulen)  im  preußisclien 

Landtag.  Vollständiger  stenographischer  Bericht  über  die  Verhandlungen  der 
IV.  Session  1907/1908.  Hrsgb.  von  H.  Sierks.  I.  Jahrgang  1908.  Wichtig  für 
alle  Volksschulen,  Fortbildungsschulen,  Gymnasien,  Realgymnasien,  Realschulen, 


Die  Mittelschul-Enquete  usw.,  angez.  von  A.  Matthias.  457 

höhere  Mädchenschulen,  Mittelschulen,  Kunstgewerbe-,  Maschinenbau-,  Bauge- 
werbeschulen, Landwirtschaftliche  Schulen  usw.  Kiel  und  Leipzig  o.  J.  Lipsius  & 
Tischer.  639  S.  gr.  8».  geh.  7,50  M. 
Für  wen  in  erster  Linie  dieses  Buch  bestimmt  ist,  sagt  uns  das  Titelblatt. 
Aber  für  noch  weitere  Kreise  ist  es  von  Wert,  da  es  in  handlicher  Form  Einblick 
gewährt  in  die  Verhandlungen  des  preußischen  Landtags,  soweit  diese  sich  mit 
höheren  Schulen,  Volksschulen  und  Fachschulen  beschäftigt  haben  in  der  Session 
1907/1908.  Ein  solches  Buch  fehlte  bisher  und  es  ist  tatsächlich  ein  Bedürfnis; 
denn  die  offiziellen  stenographischen  Berichte  sind  zu  wenig  handlich  und  zu  wenig 
übersichtlich  für  solche  Orientierung.  Diese  verschafft  uns  das  vorliegende  Buch, 
besonders  auch  dadurch,  daß  ein  ausführliches  Sachregister  ihm  beigegeben  ist, 
das  durch  ein  Verzeichnis  der  Redner  noch  erfreulich  ergänzt  wird.  —  Es  ist  zu 
wünschen,  daß  es  reichen  Anklang  findet;  zu  wünschen  aber  auch,  daß  es  noch 
vervollkommnet  wird.  Vor  allem  vermißt  man  die  Angaben  der  Sitzungsnummern 
und  der  Sitzungsdaten.  Und  diese  sind  doch  nötig,  wenn  man  zitieren  und  den 
Leser  instandsetzen  will,  auch  im  Originalbericht  der  Verhandlungen  wiederzu- 
finden, was  man  angeführt  hat.  Es  könnten  mit  leichter  Mühe  am  Rande  Sitzungs- 
nummer und  Datum  angeführt  werden.  Dann  sähe  man  zugleich,  wie  viel  Zeit 
die  Abgeordneten  auf  die  einzelnen  Gegenstände  verwandt  —  in  manchen  Fällen 
kann  man  auch  sagen  verschwendet  —  haben  ohne  Rücksicht  auf  Sparsamkeit,  die 
nicht  nur  für  Verausgabung  von  Geld,  sondern  auch  von  Zeit  angebracht  wäre.  Es 
erscheint  ja  auch  wünschenswert,  die  Qualität  der  Reden  mehr  im  Auge  zu 
behalten  als  die  Quantität  und  die  einfache  Forderung  des  Mitleids  erheischt  es, 
leeres  Stroh  nicht  mutwilligerweise  zu  dreschen.  —  Daß  die  Hochschulen  aus- 
geschlossen sind,  ist  zu  bedauern.  Würden  nicht  in  einem  zweitem  Bande  die 
Universitäten,  die  technischen  Hochschulen,  Kunst  und  Wissenschaft  gebracht  werden 
können?  Dann  bekäme  man  auch  einen  Gesamteindruck  von  dem  umfassenden  Ge- 
schäftskreise des  arg  belasteten  Kultusministeriums. 

Die  Mittelschul-Enquete  im   K.   K.   Ministerium    für   Kultus  und   Unterricht. 

Wien  21.— 25.  Januar  1908.  Stenographisches  Protokoll,  Referate  und  Korreferate. 
Statistik  der  mit  dem  Öffentlichkeitsrechte  beliehenen  Gymnasien  und  Realschulen 
in   betreff  ihres  Umfanges,  ihrer  Erhalter  und  in  betreff  der  Unterrichtssprache 
im  Schuljahre  1907/08.    Herausgegeben  im  Auftrage  des  Ministeriums  für  Kultus 
und  Unterricht.    Wien  1908.    Alfred  Holder.    XIV  u.  766  S.   gr.  8«.    15,50  M., 
geb.  18  M. 
Bereits  im   VII.  Jahrgang  dieser  Monatschrift  S.  484  ist   die  österreichische 
Mittelschulenquete  vom  Januar  1908  und  ihre  nächsten  Folgen  für  Österreich  von 
Direktor  Dr.  Thumser  mit  Hinweis  auf  vorstehendes  Werk  behandelt.  Eine  eigentliche 
Besprechung  sind  wir  dem  Gesamtinhalt,  auch  in  Hinblick  auf  seine  allgemeine  Be- 
deutung, noch  schuldig.    Das  umfangreiche  Druckwerk  enthält  auf  35  Bogen,  die 
etwa  drei  Viertel  des  Bandes  einnehmen,  die  Protokolle  mit  der  Wiedergabe  der 
von  57  Rednern  gehaltenen   115  Reden.    Daran  schließen  sich  die  Referate  und 
Korreferate,  im  ganzen  fünfzehn,  die  über  die  vom  Ministerium  aufgestellten  7  Fragen 
vor  der  Enquete  verfaßt  wurden.    Die  7  Fragen  betreffen  folgende  Punkte:  1.  Be- 


458      R-  Eisler,  Wörterbuch  der  philosophischen  Begriffe,  angez.  von  A.  Matthias. 

dürftigkeit  einer  Verbesserung  der  Mittelschulen.  2.  Ist  ein  neuer  Mittelschultypus 
nötig?     Vom    Übergang    der   Realschulabsolventen    zu    den   Universitätsstudien. 

3.  Beibehaltung  der  Zweistufigkeit  im  Unterricht  einzelner  Disziplinen  oder  nicht? 

4.  Die  Maturitätsprüfung.  5.  Der  bedenkliche  Zugang  zu  den  Mittelschulen.  Revision 
des  Berechtigungswesens.  6.  Übergang  von  der  Volksschule  zur  Mittelschule,  von 
der  Mittelschule  zur  Universität.  Das  bestehende  Prüfungs-  und  Klassifikations- 
verfahren; die  Disziplinarvorschriften.    7.  Die  körperlichen  Übungen.  — 

Ein  Vergleich  mit  den  beiden  preußischen  Schulkonferenzen  vom  Jahre  1890 
und  1900  ergibt,  daß  die  Zusammensetzung  der  österreichischen  Enquete  eine  um- 
fassendere und  freiere  war.  Die  preußische  Schulkonferenz  von  1890  trug  einen  im 
wesentlichen  schulmännischen  Charakter;  Schulmänner  führten  überwiegend  das 
Wort.  Die  Konferenz  von  1900  war  mehr  durch  die  akademischen  Vertreter  beein- 
flußt. Die  österreichische  Enquetekommission  hatte  Mitglieder  aus  sehr  mannig- 
fachen Berufskreisen ;  Banken,  Handel  und  Gewerbe  waren  vertreten,  auch  Damen 
nahmen  daran  teil;  Mitglieder  der  Bürger-  und  Volksschule  waren  zugegen.  Da- 
mit war  der  Kreis  der  Gedanken  uud  Erörterungen  viel  weiter  gezogen.  Die 
öffentliche  Meinung  in  ihren  vielseitigen  Ausstrahlungen  kam  mehr  zur  Geltung. 
Der  ganze  Ton  war  infolgedessen  auch  ein  freimütigerer,  war  kritischer,  unmittel- 
barer und  unbefangener;  von  irgend  einer  Vorbereitung  in  der  Art  einer  , General- 
probe" war  nichts  zu  bemerken.  Dagegen  sind  feste  und  greifbare  Ergebnisse, 
wie  bei  der  letzten  preußischen  Konferenz  in  der  Gleichberechtigungsfrage,  nicht 
herausgekommen.  Es  ist  also  interessant,  Vergleiche  anzustellen.  Besonders  kann 
man  den  Seminaren  an  unseren  höheren  Schulen  raten,  sich  mit  solchen  Vergleichen 
eingehend  zu  beschäftigen.  Diese  werden  um  so  ergebnisreicher  sein,  als  hier  eine 
Fundgrube  für  jeden  Pädagogen  vorliegt  auf  dem  Gebiete  der  Erziehung,  des  Unter- 
richts, der  körperlichen  und  geistigen  Ausbildung  und  der  gesamten  Schuldisziplin. 
Es  findet  sich  manch  wahres,  auch  manch  halbwahres  Wort  und  manche  anregenden 
Aussprüche  über  einseitige  humanistische  Bildung  des  Gymnasiasten,  über  die  un- 
gerechte Geringschätzung  des  Realschülers,  über  den  Verkehr  zwischen  Schule  und 
Haus  und  —  auch  das  ist  nicht  unerfreulich  —  über  die  allzu  übertriebene  Betonung 
der  körperlichen  Ausbildung  und  über  die  durch  Klassenüberfüllung  herbeigeführte 
Verhinderung  jeder  gesunden  Individualisierung.  Auch  darüber  hinaus  bietet  der 
überreiche  Inhalt  noch  so  viele  Einblicke  in  die  Gesamttätigkeit  des  österreichischen 
Schulwesens,  daß  wir  den  Schulen  nur  empfehlen  können,  dieses  anregende  Werk 
gründlich  auszunützen. 

Eisler,    Rudolf,    Wörterbuch    der   philosophischen    Begriffe.     Historisch- 
quellenmäßig bearbeitet.  Dritte,  völlig  neubearbeitete  Auflage.  Berlin  1909.  Mittler 
und  Sohn.    Lieferung  1.    VIII  u.  208  S.    2,50  M. 
Das  Eislersche  Wörterbuch  ist  in  dieser  Monatschrift  Jahrgang  I,  S.  580/81  als 
ein  auch  der  Schule  willkommenes  Werk  begrüßt,  weil  es  dazu  beitragen  kann,  der 
Schule  das  für  philosophische  Propädeutik  schon  verloren  gegebene  Terrain  wieder- 
zugewinnen.   Es  liegt  nun  die  erste  Lieferung  einer  neuen  Auflage  vor,  die  völlig 
neu  bearbeitet  ist  und  eine  erhebliche  Erweiterung  der  Schlagworte,  Artikel,  Zitate 
Verweisungen  und  Literaturnachweise  erfahren  hat.    Die  Anordnung  des  Stoffes 


B.  Schmid,  Philosophisches  Lesebuch  usw.,  angez.  von  E.  Dennert.  459 

ist  außerdem  einheitlicher  und  übersichtlicher  gestaltet  und  es  sind  namentlich  die 
neueren  Systeme  sorgfältig  berücksichtigt  und  die  Grenzwissenschaften  —  Biologie, 
Physik,  Soziologie  usw.  —  mehr  als  sonst  bedacht.  Wir  begnügen  uns  zunächst 
mit  diesem  kurzen  Hinweis,  um  auf  das  Werk  nach  vollständigem  Erscheinen  zurück- 
zukommen. 

Die  Ausgabe  der  neuen  Auflage  erfolgt  in  14  Lieferungen  von  etwa  je  10 
Bogen  Umfang  zu  je  2,50  M.,  oder  in  3  Bänden  zum  Gesamtpreis  von  geheftet 
35  M.,  in  Halbfranz  gebunden  40  M.  Die  Lieferungen  erscheinen  in  etwa  vier- 
zehntägigen Zwischenräumen,  so  daß  das  Werk  voraussichtlich  im  Oktober  1909, 
zugleich  mit  der  Bandausgabe,  abgeschlossen  vorliegen  wird. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Schmid,  B.,  Philosophisches  Lesebuch  zum  Gebrauch  an  höheren  Schulen 
und  zum  Selbststudium.    Leipzig  1906.    B.  G.  Teubner.    166  S.    8«.    2,60  M. 

Der  Gedanke,  der  den  Verfasser  bei  dieser  Schrift  leitete,  ist  unzweifelhaft 
richtig:  das  philosophische  Interesse  ist  eben  im  Steigen  begriffen,  und  es  ist 
wünschenswert,  daß  es  auch  bereits  in  den  oberen  Klassen  der  höheren  Schulen 
genährt  wird.  Diesem  Zweck  soll  die  hier  gebotene  Auswahl  aus  philosophischen 
Aufsätzen  alter  und  neuer  Zeit  dienen.  Der  Verfasser  hat  den  Stoff  vielseitig 
gewählt,  und  auch  so,  daß  ein  gewisser  Zusammenhang  erkennbar  ist.  Im  ganzen 
ist  ihm  sein  Plan  gut  gelungen,  wenn  sich  auch  nicht  leugnen  läßt,  daß  manches 
für  die  Schule  zu  schwer  ist.  Die  dem  Abschnitt  „die  Seele"  von  Haeckel  bei- 
gefügte Kritik  hätte  noch  schärfer  sein  müssen,  und  was  den  „Vitalismus"  anbelangt, 
so  hätte  denn  doch  neben  Verworn  auch  einem  Vitalisten  das  Wort  erteilt  werden 
sollen;  denn  der  kurze  Abschnitt  aus  Verworn  beweist  wirklich  gar  nichts  und 
kann  junge  Leser  nur  irreführen.  Hier  hätte  Reinke  oder  Driesch  zum  Wort 
kommen  müssen.  So  empfindet  man  auch  sonst  eine  gewisse  Einseitigkeit,  die 
den  Schüler  in  einen  Gedankenkreis  einzuführen  strebt,  den  jedenfalls  sehr  viele 
Lehrer  nicht  billigen  werden:  das  Buch  muß  daher  mit  Auswahl  und  Kritik  benutzt 
werden.  Der  Verfasser  sollte  sich  entschließen  in  einer  Neuausgabe  auch  andere 
Ansichten  zum  Wort  kommen  zu  lassen. 

Godesberg.  E.  Dennert. 

Rein,  W.,  G  r  u  n  d  r iß  d  e  r  E t h  i  k.  2.  Auflage.  Osterwieck  1906.  A.  W.  Zickfeldt. 
X  u.  336  S.    3,20  M. 

Die  beiden  Grundfragen  der  wissenschaftlichen  Ethik  sind  folgende.  Erstens: 
Woher  stammen  unsere  sittlichen  Begriffe  und  Anschauungen?  Zweitens:  Woher 
stammt  das  Bewußtsein,  uns  ihnen  entsprechend  verhalten  zu  müssen,  d.  i.  das 
Pflichtbewußtsein? 

Was  die  erste  Frage  betrifft,  so  steht  Rein  auf  dem  Standpunkt,  daß  das  Sitten- 
gesetz „in  der  Gemeinschaft  geworden"  ist,  die  Bedingungen  eines  gedeihlichen 
Gemeinschaftslebens  darstellt.  Der  oft  aus  dieser  Auffassung  gezogenen  Konsequenz, 
daß  mit  den  wechselnden  Bedingungen  des  Gesamtwohles  dann  auch  die  sittlichen 
Anschauungen  wechseln  müßten,  also  auf  dem  Gebiet  der  Sittlichkeit  nur  von  rela- 
tiven, nicht  von  absoluten  Normen  die  Rede  sein  könne,  sucht  Rein  dadurch  zu  ent- 


460  C.  Rein,  Grundriß  der  Ethik,  angez.  von  W.  Koppelmann. 

gehen,  daß  er  aus  der  Gesamtheit  der  ethischen  Urteile  die  »unveränderlichen 
ethischen  Elementar-  oder  Stammurteile"  ausscheidet.  Sie  finden  ihren  Ausdruck  in 
den  , sittlichen  Ideen",  wie  Rein  im  Anschluß  an  Herbart  sie  nennt,  der  Rechtsidee, 
der  Idee  des  Wohlwollens,  des  sittlichen  Fortschritts  und  der  inneren  Freiheit.  Diese 
„Ideen  sind  die  konzentrierten  Niederschläge  ....  einer  Arbeit,  an  der  Tausende 
von  Geschlechtern  sich  abgemüht  haben  und  noch  weiter  abmühen  werden".    (S.  303.) 

Mit  seiner  Ansicht,  daß  unter  unseren  sittlichen  Anschauungen  eine  Reihe  un- 
veränderlicher Elemente  sind,  hat  Rein  gewiß  recht.  Aber  mit  seiner  Grundüber- 
zeugung von  dem  Ursprung  des  Sittengesetzes  dürfte  sie  schwerlich  in  Einklang 
zu  bringen  sein,  vielmehr  führt  diese  in  ihren  Konsequenzen  rettungslos  zum  ethi- 
schen Relativismus.  In  der  Tat  weiß  auch  Rein  für  die  Existenz  seiner  „Stamm- 
urteile" keine  rechte  Erklärung.  Er  meint,  durch  den  Erbgang  seien  im  Men- 
schen Funktionen  angelegt,  die  er  nicht  zu  ändern  vermag.  „Dazu  gehört  das 
Fällen  von  Wert-Urteilen,  und  zwar  von  solchen,  die  sich  gleichbleiben  im  Wandel 
der  Zeiten.  Das  ist  etwas  Wunderbares."  Meiner  Meinung  nach  ist  es  nicht 
nötig,  sich  in  dieser  Hinsicht  auf  das  Wunder  zu  berufen.  Aus  dem  Wesen  der 
Vernunft  ergeben  sich  a  priori  gewisse  Bedingungen  der  geistigen  Gemeinschaft, 
nämlich  Wahrhaftigkeit  für  die  theoretische,  Zuverlässigkeit  für  die  praktische  Vernunft- 
gemeinschaft. Daraus  entspringen  dann  sittliche  „Stammurteile",  die  ich  allerdings 
anders  formulieren  würde  als  Rein  (vgl.  meine  „Kritik  des  sittlichen  Bewußtseins" 
S.  126  ff.  und  meine  „Ethik  Kants"  S.  33  ff.). 

Die  zweite  der  oben  genannten  Grundfragen  der  Ethik  sucht  Rein,  wiederum  in 
Anlehnung  an  Herbart,  dadurch  zu  lösen,  daß  er  das  Gute  mit  dem  Schönen  in 
Parallele  stellt.  Der  Böse  verletzt  sozusagen  das  ästhetische  Gefühl,  der  Gute  be- 
friedigt es.  Man  braucht  das  Wahrheitsmoment,  welches  darin  liegt,  nicht  zu  ver- 
kennen, aber  der  Wucht  des  Problems  vermag  diese  Auffassung,  wie  schon  gegen 
Herbart  öfters  geltend  gemacht  worden  ist,  keineswegs  gerecht  zu  werden.  Man 
braucht  nur  an  die  oft  zur  Verzweiflung  treibenden  Gewissensbisse  zu  denken,  um 
sich  davon  zu  überzeugen. 

Den  größten  Teil  des  Buches  nimmt  die  angewandte  Ethik  ein,  die  „Dar- 
stellung der  sittlichen  Ideen"  (S.  100—336).  Hier  bespricht  Rein  mit  Wärme  und 
Einsicht  auch  eine  Reihe  von  aktuellen  Fragen,  die  Behandlung  jugendlicher  Ver- 
brecher, christlichen  und  Staatssozialismus,  die  Organisation  des  Schulwesens,  die 
Frauenfrage  usw. 

Die  Darstellung  ist  überall  klar  und  gefällig  und  durch  manche  interessanten 
Zitate  belebt. 

Religionsphilosophie  in  Einzeldarstellungen,  herausgegeben  von  O.  Flügel. 
Langensalza  1905/6.  Hermann  Beyer  und  Söhne.  Heft  I:  Kants  Religions- 
philosophie, von  Gh.  A.  Thilo.  65  S.  1,20  M.  —  Heft  II:  Fr.  H.  Jacobis 
Religionsphilosophie,  von  Thilo.  54  S.  1,20  M.  —  Heft  III:  Die  Reli- 
gionsphilosophie der  Schule  Herbarts,  Drobisch  und  Hartenstein, 
von  O.  Flügel.  88  S.  1,50  M.  —  Heft  IV:  Die  Religionsphilosophie 
des  absoluten  Idealismus.  Fichte,  Schelling,  Hegel  und  Schopen- 
hauer, von  Thilo.  72  S.  1,20M.  Heft  V:  SchleiermachersReligionsphilo- 


Religionsphilosophie  in  Einzeldarstellungen,  angez.  von  W.  Koppelmann.         461 

Sophie,  von  Thilo.  128  S.  2  M.  — Heft  VI:  Die  Religionsphilosophie 
des  Descartes  und  Malebranche,  von  Thilo.  76  S.  1,25  M. —  Heft  VII: 
Spinozas  Religionsphilosophie,  von  Thilo.  80  S.  1,25  M.  —  Heft  VIII: 
Leibniz'  Religionsphilosophie,  von  Thilo.    36  S.   0,70  M. 

Über  Zweck  und  Anlage  des  Unternehmens  gibt  das  Schlußwort  zum  VIII.  Heft 
Aufschluß. 

Danach  hat  die  Religionsphilosophie  die  Aufgabe,  den  Glauben  an  Gott,  Freiheit 
und  Unsterblichkeit  vor  der  Vernunft  zu  rechtfertigen.  Für  die  Leugner  jeder 
Offenbarung  ist  die  Religionsphilosophie  noch  ungleich  wichtiger  als  für  die 
Offenbarungsgläubigen,  da  sich  religiöse  Überzeugungen  bei  jenen  natürlich  nur 
auf  Vernunftgründe  stützen  können.  „Vielleicht  hängt  damit  das  Interesse  zu- 
sammen, das  unsere  so  skeptische  Zeit  an  der  Religionsphilosophie  nimmt." 

Was  die  Anlage  betrifft,  so  heißt  es:  „Der  Kreis  der  religionsphilosophischen 
Gedanken  ist  in  der  vorliegenden  Sammlung  zweimal  durchlaufen,  einmal  ausgehend 
von  Kant  und  dann  ausgehend  von  Descartes."  Näheren  Aufschluß  über  diese 
Bemerkung  Uefert  Heft  VI,  S.  1:  „In  einem  ähnlichen  Verhältnis  wie  Kant  zu  Fichte 
und  Herbart  steht  Descartes  zu  Spinoza  und  Leibniz.  Wie  Kants  halber  Idealismus 
und  halber  Realismus  in  den  ganzen  Idealismus  Fichtes  und  den  ganzen  Realismus 
Herbarts  übergehen  mußte,  so  trägt  die  Philosophie  des  Descartes  die  Keime  so- 
wohl zum  Monismus  Spinozas  wie  zum  Pluralismus  von  Leibniz  in  sich.  Es  ist 
beidemal  dieselbe  Gedankenbewegung,  das  zweitemal  nur  weiter 
und  tiefer."  Demnach  würden  innerhalb  der  Sammlung  enger  zusammengehören 
einerseits  die  Hefte,  welche  Kant,  Jacobi,  die  Schule  Herbarts  und  den  „absoluten 
Idealismus",  andererseits  die,  welche  Descartes -Malebranche,  Spinoza  und  Leibniz 
behandeln.  Eine  Zwitterstellung  würde  Schleiermacher  einnehmen,  welcher  zeitlich 
zur  zweiten,  sachlich,  da  er  „den  Spinozismus  in  die  Theologie  eingeführt  . . .  hat", 
mehr  zur  zweiten  Gruppe  gerechnet  werden  mußte.  Weshalb  bei  diesem  Plan  nicht 
mit  Descartes  begonnen  ist,  bleibt  unklar.  Auch  weshalb  die  Scholastik  und  die 
antike  Philosophie  unberücksichtigt  geblieben  sind,  wird  nicht  gesagt. 

Nach  der  Versicherung  des  Verfassers  des  Schlußwortes  ist  in  der  Sammlung 
„nicht  allein  eine  historisch-kritische  Darstellung  der  Religionsphilosophie  der  Neu- 
zeit enthalten,  sondern  auch  eine  positive  Religionsphilosophie  selbst", 
„Alle  einzelnen  Punkte  einer  solchen  sind,  wenngleich  nicht  zusammenhängend, 
sondern  an  verschiedenen  Orten,  zur  Sprache  gekommen;  und  wiederum  ist  jeder 
einzelne  Punkt  nach  allen  Seiten  hin  erörtert,  nicht  allein,  was  darüber  bisher  von 
den  erleuchtetsten  Religionsphilosophen  gedacht  ist,  sondern  auch,  was  überhaupt 
darüber  zu  denken  möglich  ist."  Der  Verfasser  ist  nämlich  überzeugt,  daß 
auf  diesem  Gebiet  „schwerlich  andere  Gedanken  oder  auch  nur  andere  Gedanken- 
verbindungen" zu  erwarten  sind  als  die,  „die  bereits  so  vielfach  erwogen  und  dar- 
gelegt sind". 

Die  Verfasser  der  Hefte  stehen  für  ihre  Person  auf  dem  Standpunkt  Herbarts. 
Besonders  deutlich  tritt  dies  in  dem  von  O.  Flügel  selbst  bearbeiteten  Heft  III  („Die 
Schule  Herbarts")  hervor,  in  welchem  auch  eine  kurze  Einleitung  in  die  Religions- 
philosophie gegeben  wird.  Bei  Kant  sei,  wie  Flügel  richtig  bemerkt,  die  Be- 
antwortung der  großen  religiösen  Fragen  das  eigentliche  Ziel  des  Philosophierens 


462         Religionsphilosophie  in  Einzeldarstellungen,  angez.  von  W.  Koppelmann. 

gewesen.  Herbarts  Ziel  war  nach  Flügel  noch  höher.  „Was  Kant  als  Ziel  vor- 
schwebte, war  nach  Herbart  nur  Mittel",  nämlich  Mittel  zur  sittlichen  Erziehung. 
Diese  Auffassung  sei  auch  in  der  Schule  Herbarts  stets  herrschend  geblieben.  Er 
schildert  dann  weiter,  welchen  Gang  eine  im  Sinne  Herbarts  betriebene  Religions- 
philosophie zu  nehmen  habe.  Daß  Herbarts  Philosophie  für  die  Lösung  aller  ein- 
schlägigen Probleme  die  beste  Grundlage  biete,  ist  für  Flügel  nicht  zweifelhaft. 
Für  die  Verteidigung  der  Existenz  Gottes  „bietet  unsere  Philosophie  den 
günstigsten  Standpunkt".  Auch  ist  „die  persönliche  Unsterblichkeit  nach  unseren 
Prinzipien  ungleich  wahrscheinlicher  als  das  Gegenteil".  Ebenso  dürfte  bei  der 
Lehre  vom  Bösen  „allein  das  System  Herbarts  den  Anforderungen  von  selten  des 
Christentums  entsprechen". 

Auf  den  Inhalt  der  einzelnen  Hefte,  welche,  von  dem  dritten  abgesehen,  sämtlich 
von  Thilo  bearbeitet  worden  sind,  kann  hier  natürlich  nicht  näher  eingegangen, 
werden.  Nur  mit  der  Darstellung  der  Kantischen  Religionsphilosophie  möchte  ich 
€ine  Ausnahme  machen,  da  dieselbe  meinem  Interesse  und  Verständnis  am  nächsten 
liegt.  Hier  habe  ich  nun  allerdings  erhebliche  Bedenken.  Das  ablehnende  Urteil, 
2U  welchem  Thilo  gelangt,  gründet  sich  nämlich  auf  eine  meiner  Ansicht  nach 
durchaus  irrtümliche  Auffassung  der  Erkenntnistheorie  Kants  einerseits,  der  Prinzipien 
seiner  Ethik  andererseits.  So  sagt  Thilo  z.  B.  a.  a,  O.  S.  18:  „Wäre  diese  Ansicht 
richtig,  daß  die  Empfindungen  gänzlich  unverbunden  gegeben  würden,  und  daß 
das  menschliche  Gemüt  zunächst  nur  die  beiden  allgemeinen  und  unbestimmten 
Formen  des  Raumes  und  der  Zeit  zu  ihrer  Aufnahme  offen  hielte,  so  würde  man 
nicht  begreifen  können,  wie  und  wodurch  dann  die  Empfindungen  zu  den  indivi- 
duellen Formen  gelangten,  in  denen  sie  gegeben  werden.  Wir  sind  doch  nicht 
die  freien  Schöpfer  der  individuellen  Gruppierung  der  verschiedenen  Merkmale,  noch 
der  individuellen  räumlichen  Gestaltung,  noch  der  bestimmten  Zeitfolge  und  Zeit- 
dauer der  Dinge,  sondern  sind  im  Auffassen  der  Gegenstände  an  diese  ihre  indivi- 
duellen Formen  vollständig  gebunden;  solange  wir  nämlich  wirklich  anschauen  und 
nicht  etwa  phantasieren."  Und  S.  20  heißt  es:  „Wenn  wir  eine  Nachtigall  hören, 
so  sollen  wir  nur  die  Töne  selbst  hören,  der  Rhythmus  derselben  soll  aus 
unserem  Gemüt  stammen?  Wer  mag's  glauben?"  Meines  Wissens  hat  Kant 
nie  und  nirgends  etwas  Derartiges  behauptet,  und  deshalb  sind  die  weitgehenden  Fol- 
gerungen, welche  Thilo  aus  dieser  vermeintlichen  Lehre  Kants  zieht,  völlig  nichtig? 
Die  Frage  der  „Lokalisation"  der  Eindrücke  in  Raum  und  Zeit,  um  das  Problem  kurz 
anzudeuten,  bietet  von  Kants  Standpunkt  nicht  mehr  und  nicht  weniger  Schwierigkeiten 
als  von  jedem  anderen,  denn  daß  die  räumlichen  Bilder  der  Gegenstände  und  ihre 
Lage,  wenn  die  Außenwelt  genau  unseren  Vorstellungen  entspräche,  nicht  unmittel- 
bar in  unser  Bewußtsein  eintreten  können,  ist  selbstverständlich.  Kant  hat  sich 
über  die  Frage  der  Lokalisation  meines  Wissens  nirgends  ausgelassen,  aber  von 
seinem  Standpunkt  aus  würde  man  etwa  sagen,  daß  die  Empfindungen,  welche  uns 
gegeben  werden,  zugleich  etwas  an  sich  tragen,  was  uns  veranlaßt,  sie  so  oder  so 
zu  lokalisieren,  oder,  mit  anderen  Worten,  daß  zwischen  den  Empfindungen  Be- 
ziehungen stattfinden,  welche  an  sich  nicht  räumlich  und  zeitlich  sind,  aber  von 
uns  ins  Räumliche  und  Zeitliche  übersetzt  werden. 

Wie  das  geschilderte  Mißverständnis  verhängnisvoll  geworden  ist  für  die  Auf- 


l 


Goldene  Klassiker-Bibliothek,  angez.  von  A.  Matthias.  463 

fassung  der  transzendentalen  Dialektik  mit  ihrer  Kritik  der  Beweise  für  das  Dasein 
Gottes,  so  andere  für  die  Lehre  Kants  von  den  Postulaten  der  praktischen  Vernunft. 
So  meint  Thilo  z.  B. :  „Der  erste  Fehler  liegt  in  dem  zugrundeliegenden  Haupt- 
gesetze, daß  aus  der  Gültigkeit  seines  Sittengesetzes  auch  die  Möglichkeit  seiner 
Ausführung,  oder  kurz,  daß  aus  dem  Sollen  auch  das  Können  folge."  Daß 
»aus  der  Gültigkeit  der  sittlichen  Ideen  die  Möglichkeit  ihrer  Realisierung 
folge",  wie  Thilo  sich  im  Anschluß  an  den  zitierten  Satz  ausdrückt,  ist  aber  durch- 
aus nicht  das,  worauf  die  Kantische  Lehre  hinausläuft.  Ich  weise  nur  hin  auf  die 
bekannte  Stelle  aus  der  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten:  „Ein  jedes  Wesen, 
das  nicht  anders  als  unter  der  Idee  der  Freiheit  handeln  kann,  ist  eben- 
darum in  praktischer  Hinsicht  frei,  d.  i.  es  gelten  für  dasselbe  alle  Gesetze, 
die  mit  der  Freiheit  unzertrennlich  verbunden  sind,  ebenso  als  ob  sein 
Wille,  auch  an  sich  selbst  und  in  der  theoretischen  Philosophie  für  frei  erklärt  würde." 
Was  Kant  beweisen  will,  ist  dementsprechend  nichts  anders  als  daß  jedes 
vernünftige  Wesen  notwendig  unter  der  Idee  der  Freiheit  handle:  „Nun 
behaupte  ich,  daß  wir  jedem  vernünftigen  Wesen,  das  einen  Willen  hat,  notwendig 
auch  die  Idee  der  Freiheit  leihen  müssen,  unter  der  es  allein  handle."  Wie 
sich  dieser  Grundgedanke  zu  den  „Postulaten"  verhält,  welche  gar  keine  Beweise 
sein  wollen,  ist  hier  nicht  möglich  auseinanderzusetzen. 

Selbstverständlich  soll  mit  den  Bedenken,  welche  gegen  Thilos  Darstellung 
der  Religionsphilosophie  Kants  erhoben  sind,  keinerlei  Vorurteil  gegen  die  übrigen 
Hefte  erweckt  werden.  Daß  die  Verfasser  von  Herbarts  Standpunkt  ausgehen, 
daraus  ist  ihnen  natürlich  kein  Vorwurf  zu  machen,  von  einer  mit  wissenschaftlichen 
Untersuchungen  unverträglichen  Tendenz  sind  die  Hefte,  soviel  ich  sehe,  völlig  frei. 
Die  Sprache  ist  bei  Flügel  sowohl  wie  bei  Thilo  klar,  und  beide  Verfasser  sind 
mit  den  in  Betracht  kommenden  Fragen  offenbar  von  lange  her  vertraut.  Die 
Ausstattung  der  Hefte  ist  vortrefflich. 

Münster  i.  W.  Wilhelm  Koppelmann. 

Goldene  Klassiker-Bibliothek.  Jean  Pauls  Werke.  Auf  Grund  der  Hempelschen 
Ausgabe  neu  herausgegeben,  mit  Biographie,  Einleitungen  und  Anmerkungen 
versehen  von  Dr.  Karl  Freye.  I.  Lebensbild.  Reise  des  Rektors  Falbel.  Schul- 
meisterlein Wuz.  XXXIII  u.  77  S.  II.  Siebenkäs.  446  S.  III.  Titan.  739  S. 
IV.  Flegeljahre.  437  S.  V.  Schmelzles  Reise  nach  Flätz.  Dr.  Katzenbergers 
Badereise.  194  S.  VI.  Leben  Fibels.  253  S.  6  Teile  in  3  Leinenbänden  6  M. 
In  3  Halbfranzbänden  9  M.  Prachtausgabe  in  3  Goldleinenbänden  9  M.  Pracht- 
ausgabe in  3  Luxus-Halbfranzbänden  12  M. 

Hölderlins  Werke.  Herausgegeben,  mit  Biographie,  Einleitungen  und  An- 
merkungen versehen  von  Dr.  M.  Joachim! -Dege.  I.  Lebensbüd.  Gedichte. 
LXXXIII  u.  308  S.  IL  Hyperion.  226  S.  III.  Empedokles.  115  S.  IV.  Die 
Trauerspiele  des  Sophokles.  Theoretische  Schriften.  193  S.  4  Teile  in  1  Leinen- 
band 2,50  M.  In  1  Halbfranzband  3,50  M.  Prachtausgabe  in  1  Goldleinenband 
3,50  M.    Prachtausgabe  in  1  Luxus-Halbfranzband  4,50  M. 

Novalis'  Werke.  Herausgegeben,  mit  Biographie,  Einleitungen  und  Anmerkungen 
versehen  von  Dr.  Hermann  Friedemann.    I.  Lebensbild.    Gedichte.    XLV  u.  137  S. 


464  Goldene  Klassiker-Bibliothek, 

II.  Die    Lehrlinge    zu    Sais.     Heinrich    von    Ofterdingen.     Entwürfe.     207  S. 

III.  Fragmente  I.  247  S.  IV.  Fragmente  II.  Tagebücher.  Aufsätze.  212  S. 
4  Teile  in  1  Leinenband  2  M.  In  1  Halbfranzband  3  M.  Prachtausgabe  in 
1  Goldleinenband  3  M.    Prachtausgabe  in  1  Luxus-Halbfranzband  4  M. 

Tiecks  Werke.    Herausgegeben,   mit  Biographie,  Einleitungen  und  Anmerkungen 
versehen   von   Dr.   Eduard  Berend.     I.   Lebensbild.     Gedichte.     Die  Freunde. 
Der   blonde  Eckbert.    Der   getreue  Eckart  und  der  Tannenhäuser.    Der  Runen- 
berg.   Die   Elfen.    Der  Pokal.    Abraham  Tonelli.    Phantasien   über   die  Kunst. 
LXXVIII   u.  280   S.    IL  Ritter   Blaubart.    Der   gestiefelte   Kater.    Rotkäppchen. 
151  S.    III.    Kaiser   Oktavian.    279  S.    IV.   Die   Gemälde.    Der  15.  November. 
Das   Zauberschloß.    Des   Lebens   Überfluß.    246  S.    V.  Vittoria   Accorombona. 
284  S.    VI.  Kritische   Schriften.    278  S.    6  Teile   in   2   Leinenbänden   4,50  M. 
In   2  Halbfranzbänden   6,50  M.    Prachtausgabe   in  2  Goldleinenbänden  6,50  M. 
Prachtausgabe  in  2  Luxus-Halbfranzbänden  8  M. 
Für   die  Herausgabe  von  Jean  Paul  sind   wohl   wenige  so  berufen  wie  Karl 
Freye.    Es   ist   ein  sehr  glücklicher  Griff,   daß   gerade   ihm    der   so  verschieden 
beurteilte  Dichter  zugefallen  ist.    Von  der  genauen  Kenntnis,  die  Freye  von  Jean 
Paul   besitzt,   sehe   ich   ganz   ab.    Er   ist  vielmehr  deshalb  besonders  der  rechte 
Mann,   weil   er   zu  denen  gehört,   die  Jean  Pauls  wahre  Eigenart  immer  richtiger 
zu   erkennen    bemüht   sind,    die   ihn   wieder    zu    den    ihm    gebührenden    Ehren 
bringen,   für   die   der  Dichter   wieder  so  lebendig  wird,   wie   es   sein  muß,  und 
die   ihn   lieben,   ohne   für  ihn  von  blinder  Liebe  erfüllt  zu  sein.    Freye  hat  Jean 
Paul   für   die  Goldene  Klassiker-Bibliothek  nicht  nur  als  ein  nobile  officium  über- 
nommen,   um  ihn  in  den  Rahmen  dieser  Bibliothek  aus  literarischem  Pflichtgefühl 
einzufügen.    Er  steht  nicht  kühl  dem  Dichter  gegenüber;  sondern  jede  Zeile  des 
Lebensbildes,   das  Freye   von  Jean  Paul   gibt,    zeugt  von  teilnahmvoller  Wärme. 
,Von   wem   soll    die  Rede   sein?    Sollen   wir  Worte   sprechen,   wie   man  sie  vor 
einem  Könige   herruft?    Sollen   wir   den  Weisen   feiern,    der   allen  Geheimnissen 
menschlichen  Wesens  nachsann?    Oder  von  dem  Kauz  reden,  der  in  vergessenen 
Büchern  nachgrub  und  sein  Bündel  Exzerpte  mit  sich  trug,  wenn  er  zum  Schrift- 
stellern in  das  Häuschen   vor   dem  Stadttor  wanderte?    Doch  am  besten  wird  es 
sein,   rein   menschlich   und    herzlich   zu   sprechen;   so   wäre   es  Jean  Paul,   dem 
sonderbaren,   aber  herzlichen  Mann   am  liebsten  gewesen,"   so  beginnt  Freye  das 
in   knappen  Zügen   entworfene  Lebensbild,    und   er  schließt   es  mit  den  Worten: 
»Viele  Vorwürfe   gegen  seine  Werke  als  Kunstwerke  sind  einzeln  unwiderleglich: 
aber   sie  hindern  uns  nicht,   ein  »trotzdem*  auszusprechen.    Einen  solchen  Mann 
hat   es   nur   einmal   gegeben,   und   diese  Tatsache   wird  siegreich  bleiben."    Das 
stimmt,  besonders  für  unsere  Zeit,  die  so  reich  an  Philistern  ist,  wie  sie  von  altersher 
so   zahlreich   gewesen   sind,   sind  und  sein  werden,   wie  der  Sand  am  Meere.  — 
Freye   hat   sich   auf   die  Herausgabe   der  Dichtungen  und  zwar  der  besten  be- 
schränkt.   Er   selber   empfindet   es  schmerzlich  und  wir  mit  ihm,    daß  nicht  auch 
die  Vorschule   der  Ästhetik  geboten  werden  konnte.    Aber  die  gedrängte  Auslese 
gebot  diese  Beschränkung,   sie  hat  auch  wohl  geboten,  daß  Quintus  Fixlein  nicht 
aufgenommen   ist,   den   man   ebenfalls   schmerzlich  vermißt.    Doch  seien  wir  mit 
dem  Dargebotenen  zufrieden,   besonders  weil   es   so  meisterhaft  ausgewählt  und 


angez.  von  A.  Matthias.  46S 

ausgeführt  ist;  denn  die  Anmerkungen  erfüllen  ihren  Zweck  in  vollkommener 
Weise,  weil  sie  die  fortlaufende  Lektüre  sehr  schön  unterstützen,  den  Inhalt  aber 
nicht  mit  störender  Kritik  unterbrechen,  sondern  diese,  wie  es  sich  gehört,  den 
Einleitungen  überweisen,  um  von  hier  aus  dem  Leser  die  richtige  Stellungnahme 
zu  seiner  Lektüre  zu  geben. 

Daß  Hölderlin,  dessen  Bedeutung  als  Lyriker  sehr  nahe  an  die  Goethesche 
Lyrik  heranrückt,  der  aber  weicher  und  empfindsamer  ist,  einem  weiblichen  Heraus- 
geber übergeben  ist,  scheint  ebenfalls  ein  glücklicher  Griff  zu  sein.  Das  Lebens- 
bild trägt  daher  einen  wohltuend  nachempfindenden  Charakter.  „Ein  feiner  stolzer 
Knabe  hatte  einst  träumend  und  sinnend  vom  mondbeschienenen  Waldesrand  ins 
große  verheißungsvolle  Dunkel  des  Menschenlebens  hineingeblickt,  —  ein  müder, 
kranker  Dichter,  den  das  Leben  zerbrechen,  aber  nicht  hatte  beflecken  können, 
saß  jetzt  still  an  seinem  Fensterchen  und  trank  zum  letzten  Male  mit  sterbenden 
Augen  den  milden  Glanz  des  Mondesfriedens  in  seine  verlassene,  schlummermüde 
Seele.  Dann  legte  er  sich  nieder  und  starb:  einsam,  wie  er  gelebt."  Damit  be- 
zeichnet die  Herausgeberin  Anfang  und  Ende  des  Lebensbildes;  was  sie  mit  einem 
Gedankenstrich  andeutet,  füllt  sie  aus  mit  einem  umfangreichen  Bilde,  das  Pauls 
Lebensbild  um  50  Seiten  an  Umfang  übertrifft  —  mit  gutem  Recht.  Denn  zu 
Hölderlins  Leben  gehören  seine  Briefe,  die  auch  ausgenutzt  sind  und  die  man 
nicht  kürzen  soll  auf  Kosten  ihrer  Wirkung,  gerade  bei  diesem  tiefangelegten  ein- 
samen Dichter,  dessen  Gedichte  ja  zwar  sein  Leben  waren,  dessen  Briefe  aber 
dazugehören.  —  Daß  die  Sophoklesübersetzungen  aufgenommen  sind  —  andere 
Ausgaben  enthalten  sie  nicht  —  ist  sehr  zu  billigen.  Philologischen  Ansprüchen 
genügen  sie  ja  nicht,  als  Übersetzungen  sind  sie  keine  Muster;  aber  in  ihnen 
zeigt  sich  etwas  anderes:  die  gewaltige  Lebenstragödie  des  Dichters  Hölderlin ;  es 
zeigt  sich  hier  der  zarte,  innerlich  schon  gebrochene  Geist  Hölderlins  in  engster 
Berührung  und  inniger  Verschmelzung  mit  dem  gewaltigen,  krafterfüllten,  hell- 
blickenden Geist  des  Sophokles,  und  eine  Fülle  wunderbarer  Schönheiten  ent- 
quellen der  eigenartigen  Verbindung.  Aus  und  hinter  den  Tragödien  des  ge- 
marterten Ödipus  und  der  „ zarternsten "  sterbenden  Antigone  klingt  die  große 
Tragödie  eines  deutschen  Dichterlebens  von  ergreifender  Gegenwärtigkeit  und 
Wirklichkeit.  Man  muß  deshalb  der  Herausgeberin  dankbar  sein,  daß  sie  uns  die 
Übersetzungen  nicht  vorenthalten  hat.  Die  Anmerkungen  sind  knapp,  inhaltreich, 
belehrend  und  vielfach  von  anregender  Kraft. 

Daß  Novalis,  der  Hölderlin  äußerlich  so  ähnlich  war  wie  ein  Bruder  dem  andern 
und  der  doch  in  seinem  Dichten  und  Denken  so  sehr  verschieden  von  jenem  ist,  in 
einer  durch  das  geschickte  Lebensbild  und  die  belehrenden  Einleitungen  des  Her- 
ausgebers zu  den  einzelnen  Werken  ansprechenden  Ausgabe  uns  dargeboten 
wird,  ist  erfreulich,  umsomehr,  als  sie  uns  die  überraschende  Ähnlichkeit  unserer  Früh- 
romantik mit  der  allerjüngsten  deutschen  Dichtungseigenheit  an  vielen  Stellen 
zeigt.  Nur  mit  Unterschied.  Dort  wahrhafte,  hier  vielfach  gemachte  und  animierte 
Stimmung.  Bei  Novalis  spricht  das  echt  Kindliche  in  seinem  Wesen  an,  bei  den 
Jüngsten  stößt  das  Jungenhafte  ab;  dort  ein  .träumerisches  Hinsterben",  hier  aber 
ein  frivoles  Spiel  und  Kokettieren  mit  dem  Leben,  das  für  wertlos  ausgegeben  und 
doch  tatsächlich  so  kräftig  ausgelebt  wird.  —  Ein  besonderes  Verdienst  der  Aus- 

Monat»chrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  30 


466  Statuen  deutscher  Kultur, 

gäbe  sehe  ich  in  der  Art,  wie  die  Fragmente  von  Friedemann  wiedergegeben 
sind.  Strenge  Literarhistoriker  werden  ja  nicht  zufrieden  damit  sein,  daß  die  An- 
ordnung nicht  den  Quellen  entspricht,  wie  sie  in  den  Sammlungen  „Blütenstaub" 
und  , Glaube  und  Liebe"  sich  darbieten,  sondern  daß  eine  stofflich  geordnete 
Ordnung  gewählt  ist  nach  persönlichen,  philosophischen,  psychologischen,  anthro- 
pologischen, religiösen,  historischen,  ästhetischen,  naturphilosophischen,  physikali- 
schen, medizinischen,  mathematischen  und  magischen  Einteilungsprinzipien.  Da- 
gegen wird  ein  weiteres  Publikum  dem  Herausgeber  dankbar  sein  für  die  Mühe, 
die  er  sich  gemacht.  Der  Reiz  der  Buntheit  geht  ja  verloren;  aber  die  Verständ- 
lichkeit gewinnt,  da  die  Fragmente  sich  gegenseitig  edäutern  und  durch  die  Zu- 
sammenstellung des  Gleichartigen  schon  die  Hälfte  der  Kommentierungsarbeit  getan 
ist.  Und  da  vieles  in  den  Fragmenten  zu  dem  Feinsinnigsten  und  Tiefsten  gehört, 
was  die  deutsche  Prosaliteratur  an  Sprüchen  hervorgebracht  hat  und  da  wir  hier 
den  sonst  so  weltfremden  Romantiker  als  einen  feinen  Beobachter  auch  der  wirk- 
lichen Welt  kennen  lernen,  so  wird  eine  Anordnung  allen  willkommen  sein,  die 
ohne  große  Wegschwierigkeiten  die  Schönheiten  einer  literarischen  Wanderung  ge- 
nießen möchten. 

Was  die  Ausgabe  von  Tiecks  Werken  anbetrifft,  so  hatte  Tieck  selber  vor, 
eine  kritische  Auswahl  zu  geben.  Er  ist  nicht  mehr  dazu  gekommen.  Hätte  er 
es  getan,  so  würde  er  vermutlich  zu  milde  verfahren  sein;  so  hat  er  es  denn  der 
Nachwelt  übedassen  müssen,  diese  Kritik  zu  üben.  Sie  ist  so  hart  ausgefallen, 
daß  kaum  eins  seiner  Werke  vor  dem  Urteil  der  Nachlebenden  seine  Stellung  hat 
behaupten  können.  Der  Herausgeber  ist  nun  bemüht  gewesen,  hier  Gerechtigkeit 
zu  üben  und  er  hat  wohl  recht  daran  getan,  den  komischen  und  humoristischen 
Dichter  ausgiebig  zu  Worte  kommen,  die  Jugendwerke  unberücksichtigt  zu  lassen, 
den  Dichtungen  aus  der  romantischen  Periode  und  denen  der  Dresdener  Zeit 
ungefähr  gleich  viel  Platz  einzuräumen  und  neben  dem  Dichter  den  Kritiker 
gründlich  zu  berücksichtigen.  Die  Einleitungen  rechtfertigen  die  Aufnahme  oder 
Fortlassung  der  einzelnen  Werke  und  charakterisieren  über  die  ausgewählten  Stücke 
hinausgehend  die  Hauptgattungen  der  Tieckschen  Poesie  im  allgemeinen,  so  daß 
wir  dadurch  ein  Gesamtbild  Tieckscher  Dichtung  bekommen.  Dadurch  wird  das 
Lebensbild  wesentlich  entlastet  und  zu  flotter  Lesbarkeit  ausgestaltet. 

Alles  in  allem  —  auch  diese  Bände  der  goldenen  Klassikerbibliothek  njachen 
ihrem  Namen,  dem  Verlage  und  den  Herausgebern  alle  Ehre. 

Beriin.  A.  Matthias. 

Statuen  deutscher  Kultur,  herausgegeben  von  Will  Vesper.  München, 
C.  H.  Becksche  Veriagsbuchhandlung  (Oskar  Beck).  IX.  Novalis'  Märchen, 
ausgewählt  von  Sulger-Gebing.  geb.  1,60  M.  X.  Brentanos  Gedichte, 
ausgewählt  von  H.  Todsen.  geb.  1,80  M.  XL  Deutsche  Gedichte  des 
17.  Jahrhunderts,  ausgewählt  von  Will  Vesper,  geb.  1,80 M.  XII.  Gessners 
Idyllen,  ausgewählt  von  Will  Vesper,  geb.  1,60  M.  XIII.  Die  Geschichte 
vonGisli  dem  Geächteten,  aus  dem  Isländischen  des  12.  Jahrhunderts  deutsch 
von  Friedrich  Ranke,  geb.  1,60  M.  XIV.  Jos.  Frhr.  v.  Eichendorff, 
Dichter    und    ihre    Gesellen,    Novelle,    herausgegeben    von    Alexander 


angez.  von  P.  Lorentz.  467 

V.  Bernus.  geb.  2,50  M.  XV.  Eichendorffs  Gedichte,  ausgewählt  von 
Will  Vesper,  geb.  1,20  M.  XVI.  Philipp  Otto  Runge,  Gedanken  und 
Gedichte,  ausgewählt  und  eingeleitet  von  Sulger-Gebing.  geb.  1,80  M. 
Die  allgemein  charakterisierende  Würdigung  dieser  feinen  und  zeitgemäßen 
Sammlung  sowie  die  Einzelbesprechung  der  ersten  acht  Bände  ist  in  der  Monat- 
schrift von  1908,  Jahrg.  VII,  S.  51—53  gegeben.  Die  weiteren  acht  Bände,  die 
jetzt  vorliegen,  haben  sich  fast  durchweg  auf  derselben  Höhe  gehalten,  der  Inhalt 
vermag  das  Interesse  dauernd  rege  zu  erhalten.  Mit  Ausnahme  von  Bd.  XIII,  der 
in  die  altnordische  Zeit  zurückgreift  und  von  Bd.  XI  und  XII,  die  das  17.  bzw.  18. 
Jahrhundert  widerspiegeln,  bilden  die  neuen  Bände  auch  eine  innere  Einheit,  da 
sie  alle  ihren  Inhalt  der  Romantik  entnehmen.  Es  ist  offenbar  kein  Zufall,  daß 
der  Herausgeber  die  verschiedenen  Seiten  gerade  dieser  Kulturepoche  gleichzeitig 
in  unseren  Gesichtskreis  treten  läßt.  Denn  in  unserer  eigenen  Zeit  sind  so  mancherlei 
Strömungen  vorhanden,  die  Verwandtschaft  mit  dem  Geist  der  Romantik  auf- 
weisen, also  dem  Stimmungsgehalt  jener  Epoche,  soweit  er  zum  künstlerischen 
Ausdruck  gekommen  ist,  verständnisvoller  gegenüberstehen,  als  das  in  den  letzten 
Jahrzehnten  des  19.  Jahrhunderts  der  Fall  sein  konnte.  Wieweit  das  auch  eine 
Gefahr  sein  kann,  davon  ist  an  dieser  Stelle  nicht  zu  sprechen.  Es  genügt  hier, 
daran  zu  denken,  daß  jene  überreiche  Zeit  noch  so  manchen  Keim  enthält,  den 
unsere  eigene  Zeit  zu  gedeihlichem  Wachstum  zu  führen  bestimmt  sein  dürfte. 
Das  Interesse  am  Romantischen  ist  also  keineswegs  nur  ein  historisches,  das  wird 
ohne  Zweifel  die  starke  Wirkung  beweisen,  die  auch  von  diesen  fünf  neuen  Bänden 
ausgeht.  Von  Novalis  bekommen  wir  in  Bd.  IX  vier  Märchen  zu  lesen,  die  alle 
auf  jenen  pantheistisch- mystischen  Ton  gestimmt  sind,  der  den  Dichter  so  unver- 
kennbar charakterisiert :  Hyazinth  und  Rosenblütchen  —  Der  Traum  von  der  blauen 
Blume  aus  dem  Ofterdingen  —  Vom  Dichter  und  der  Königstochter  —  Das  Märchen 
vom  Dichter  Klingsohr,  gleichfalls  aus  dem  Ofterdingen.  In  allen  kommt  das 
echt  romantische  Grundgefühl  des  Dichters,  „dem  alle  Wesen  klingen",  zu  wunder- 
vollstem Widerhall,  und  zumal  in  dem  letzten  Märchen  wird  in  phantasievollster 
Form  aus  dem  intuitiven  Eindringen  in  das  Wesen  der  Dinge  ein  ideales  Weltbild 
geschaffen,  gewissermaßen  „der  Naturzustand  der  Natur,  die  Zeit  vor  der  Welt, 
die  gleichsam  die  zerstreuten  Züge  der  Zeit  nach  der  Welt  liefert".  —  Die  Aus- 
wahl von  Brentanos  Gedichten  in  Bd.  X  hat  den  Vorzug,  daß  durch  die  Zusammen- 
stellung in  ungefähr  chronologischer  Reihenfolge  die  Entwicklung  dieses  allerindi- 
viduellsten  Romantikers  überschaut  werden  kann;  in  den  50  Gedichten  kommen 
so  ziemlich  alle  Töne  zu  Gehör,  die  diesem  reichbegnadeten,  ewig  friedlosen 
Dichter  zu  Gebote  standen,  von  dessen  im  20.  Lebensjahr  geschaffenen  Liedern 
Caroline  Schlegel  sagen  konnte:  »Sie  schienen  sich  vor  langer  Zeit  selbst 
gemacht  zu  haben."  —  Bd.  XIV  und  XV  sind  Eichendorff  gewidmet,  dessen 
fünfzigjähriger  Todestag  im  November  1907  manches  zu  erneuter  und  auch  ver- 
tiefter Würdigung  den  Dichters  und  Literaturhistoristorikers  beigetragen  hat.  Der 
von  Vesper  gegebene  Überblick  über  sein  Leben  läßt  die  zwei  so  stark  verschie- 
denen Hälften  seines  Daseins,  den  romantischen  Dichter  und  Offizier  im  Befreiungs- 
kriege und  den  Kgl.  preußischen  Verwaltungsbeamten  gut  hervortreten.  Die  bis- 
her unbekannten  Gedichte,  die  die  Sammlung  enthält,  sind  doch  nicht  so  bedeutend, 

30* 


468  Statuen  deutscher  Kultur,  angez.  von  P.  Lorentz. 

wie  der  Herausgeber  meint,  man  sähe  an  ihrer  Stelle  lieber  alle  die  Gedichte,  die 
mit  dem  Namen  Eichendorffs  unzertrennlich  verbunden  sind,  wie:  „Wer  hat  dich, 
du  schöner  Wald"  —  „Es  war,  als  hätte  der  Himmel  die  Erde  still  geküßt"  — 
„Überm  Garten  durch  die  Lüfte"  —  „Wem  Gott  will  rechte  Gunst  erweisen".  — 
Ein  besonderes  Verdienst  ist  es  dagegen,  die  ganz  vergessene  Novelle  Dichter 
und  ihre  Gesellen  zugänglich  gemacht  zu  haben,  die  dem  Taugenichts  durch- 
aus ebenbürtig  ist,  freilich  aber,  weil  in  reiferem  Alter  im  Rückblick  auf  die  so 
romantische  Jugendzeit  geschrieben,  in  mehr  bewußter  Weise  die  Kunstmittel  der 
Darstellung  handhabt.  Man  lebt  da  wie  unter  lauter  Bildern  von  Meister  Schwind, 
Spitzweg,  Kaspar  David  Friedrich,  zuweilen  auch  unter  solchen  von  Rottmann 
mit  ihren  brillanten  Beleuchtungen,  Alle  jene  wohl  vertrauten,  stimmungsvollen 
Requisiten  der  Romantik  weben  bei  der  Lektüre  „um  die  gemeine  Deutlichkeit 
der  Dinge  den  goldenen  Duft  der  Morgenröte":  Die  mondbeglänzten  Zaubernächte, 
die  verfallenen  Schlösser  und  Klosterruinen,  die  Einsiedler  in  der  Waldkapelle,  die 
Zigeuner  und  Komödianten,  Entführungen  und  Verkleidungen.  Und  im  Mittel- 
punkt des  Interesses  das  Schicksal  von  Dichtern  und  Musikanten,  das  sich  bald 
in  verträumten,  alten  deutschen  Kleinstädten  abspielt,  bald  im  Lande,  wo  die 
Zitronen  blühen.  Und  nur  ganz  leise,  leise  wie  um  den  Zauber  nicht  zu  stören, 
schimmert  einmal  wie  Wetterleuchten  am  fernen  Horizont  ein  wenig  von  der  „neuen 
Zeit"  herein.  Ein  eigenartiges  ästhetisches  Erlebnis  widerfährt  nach  meiner  Erfah- 
rung dem,  der  etwa  diese  Eichendorffsche  Novelle  unmittelbar  nach  O.  J.  Bierbaums 
neuestem  Roman,  dem  Prinzen  Kuckuck,  liest,  auch  einem  Zeitgemälde  und  auch  in 
der  Form  wie  in  Verwendung  so  mancher  Darstellungsmittel  „romantisch".  Einen 
besonderen  Band  dem  Romantiker  Philipp  Otto  Runge  in  XVI  zu  widmen, 
wird  manchem  doch  zu  anspruchsvoll  erscheinen.  Zwar  zeugen  die  in  Grimms 
Kinder-  und  Hausmärchen  aufgenommenen,  von  Runge  zuerst  in  dieser  Form  auf- 
gezeichneten Märchen  „Von  dem  Machandelboom"  und  „Von  dem  Fischer  und  syner 
Fru"  ohne  Frage  von  echtem  poetischem  Geiste,  aber  die  Gedichte  lassen  doch 
nicht  gerade  eine  besonders  eigenartige,  zu  künstlerischem  Ausdruck  gelangte 
Dichterpersönlichkeit  erkennen.  Der  Maler  bleibt  doch  in  Runge  die  Hauptsache, 
und  der  hat  jetzt  seit  Lichtwarcks  und  Tschudis  Bemühungen  seinen  unbestrittenen 
Platz  in  der  Entwicklung  der  Kunst  des  19.  Jahrhunderts  erhalten.  Darum  steckt 
nun  auch'  in  den  Gedanken  über  seine  Kunst  das  eigentlich  Wertvolle  von  Runges 
Schriftstellerei.  Darin  ist  denn  der  Romantiker  ganz  unverkennbar,  daß  er  eine 
organische  Vereinigung  von  Kunst,  Religion  und  Liebe  anstrebt,  daß  er  die  Forde- 
rung als  unabweisbar  stellt,  es  müsse  hinter  dem  Kunstwerk  die  ganze  harmonische 
Persönlichkeit  des  Schaffenden  stehen.  Von  besonderem  Wert  in  kunstgeschichtlicher 
Hinsicht  sind  dann  noch  Runges  Forderung  von  dem  selbständigen  Recht  der  Farben 
der  Landschaft  und  seine  Einsicht  in  die  spezifische  Ausdrucksmöglichkeit  der  Farben, 
in  die  Bedeutung  des  Gegensatzes  von  Licht  und  Schatten:  wie  nahe  daran  war  er, 
die  Bedeutung  eines  Rembrandt  zu  ahnen.  Aber  das  alles  scheint  mir  doch  nicht 
recht  auszureichen,  ihm  auch  eine  eigene  „Statue"  im  Saal  der  deutschen  lite- 
rarischen Kultur  zu  errichten.  —  In  Band  XI  ist  das  Barockzeitalter  unserer  Lite- 
ratur vertreten,  soweit  die  Lyrik  und  zwar  die  Liebeslyrik  in  Frage  kommt.  Auf 
eine  Ehrenrettung  Hoffmanns  v.  Hoffmannswaldau  ist  es  Vesper  besonders  ange- 


Schiller-Denkwürdigkeiten,  angez.  von  P.  Lorentz.  469 

kommen.  Sie  kann  auch  als  erreicht  gelten,  aber  es  bedurfte  dazu  nicht  gerade 
17  Gedichte.  Denn  dadurch  sind  Dichter  wie  Simon  Dach  zu  kurz  gekommen, 
dessen  Freundschaftslied  „Ännchen  von  Tharau"  in  keiner  Sammlung  des  17.  Jahr- 
hunderts fehlen  sollte.  Gern  begegnet  man  hier  aber  auch  weniger  gekannten 
Dichtern  wie  Harsdörffer,  Greflinger,  Schirmer,  Stieler.  Das  Vorwort  führt  gut 
in  den  Charakter  des  Barockzeitalters  ein.  Die  ganze  Ausgabe  wird  dazu 
beitragen,  der  Dichtung  des  17.  Jahrhunderts  das  unfreiwillig  Komische,  das 
sie  für  viele  noch  immer  hat,  zu  nehmen  und  sie  richtiger  einzuschätzen,  wenn  es 
auch  nicht  allzuviel  sein  kann,  was  über  den  literatur-  und  kunstgeschichtlichen  Wert 
hinaus  einen  bleibenden  Kunstcharakter  beanspruchen  darf.  Auch  aus  der  Schäfer- 
welt des  Rokokozeitalters  ist  für  uns  heute  nur  wenig  mehr  genießbar.  Geßners 
Idyllen  gehören  zu  dem  Wenigen.  Zwar  die  antikische  Einkleidung,  die  bewußte 
und  für  klassisch  gehaltene  Nachahmung  des  schon  nicht  mehr  naiv  dichtenden 
Theokrit  können  wir  unmöglich  mehr  gelten  lassen.  Aber  bei  Geßner  ist  doch 
die  in  der  Einkleidung  vorhandene  Anmut  und  Zartheit  und  Keuschheit  selbst 
echt,  wenn  sie  auch  nicht  gerade  an  der  dem  Dichter  in  natura  zugänglichen 
Schweizer  Hirtenwelt  studiert  sein  kann.  Und  echt  sind  vor  allem  auch  die  tat- 
sächlich an  seiner  Heimat  beobachteten  Naturstimmungen,  die  selige  Heiterkeit 
und  das  Behagen  am  einfachen  Landleben.  Die  Kleinmalerei  mahnt  zuweilen 
direkt  an  Dürer  und  die  Niederländer.  —  Am  allerweitesten  der  Zeit  nach  ent- 
fernt sich  die  isländische  Erzählung  von  Gisli  dem  Geächteten  aus  dem  12.  Jahr- 
hundert in  Bd.  XIII.  Diese  älteste  germanische  Kunstprosa  ist  von  erstaunlicher 
Wirkung.  Man  muß  in  der  deutschen  Literatur  schon  bis  ans  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts hinaufgehen,  um  etwas  annähernd  Ähnliches  zu  finden.  Die  Gestalt  der 
mündlichen  Form,  in  der  sich  zuerst  die  Geschichte  fortpflanzte,  wird  von  dem 
Herausgeber  in  das  10.  Jahrhundert  verlegt,  das  ihr  zugrunde  liegende  Ereignis 
fällt  in  das  Jahr  964.  Die  Derbheit  dieser  bodenständigen  Nordländer  wirkt  wie 
ein  erfrischendes  Stahlbad,  manches  an  der  Gestalt  des  geächteten  Helden  Gisli 
mahnt  an  den  Hagen  des  Nibelungenliedes.  Von  zwingendem  Eindruck  ist  die 
Unerschütterlichkeit  der  Urform  der  Familienehre  und  des  Geschlechterstolzes,  die 
Blutrache,  als  deren  Opfer  Gisli  fällt,  erhebend  die  Gattentreue  seines  Weibes  Aud, 
erstaunlich  die  Rücksichtslosigkeit  der  Tücken  und  Ränke  des  Helden.  Die  charak- 
teristische Ausdrucksweise  mit  den  Anspielungen,  Verhaltenheiten,  ihrer  Treffsicher- 
heit und  dem  grimmen  Humor  kommt  in  der  Übersetzuug  von  Ranke  gut  zur 
Geltung.  Bedeutend  ist  auch  der  Gewinn  in  kunstgeschichtlicher  Hinsicht  für  die 
Kenntnis  der  Zeit  des  Überganges  vom  Heidentum  zum  Christentum.  Diese 
isländischen  Geschichten,  wie  sie  ja  auch  Artur  Bonus  uns  wieder 
erfreulich  nahe  gebracht  hat,  verdienen  die  allerweiteste  Verbreitung, 
sie  sind  schlechterdings  mit  nichts  anderm  zu  vergleichen. 

Schiller-Denkwürdigkeiten,  für  die  deutsche  Jugend  gesammelt  und  herausgegeben 
von  Wilhelm  von  Buttlar-Elberberg.   Dresden  1908.  F.  Emil  Boden.  Elegant 
broschiert  0,40  M. 
Schiller  der  deutschen  Jugend  nahebringen,  heißt  den  tiefsten  Wurzeln  unseres 

Volkstums  Nahrung  spenden.    Als  einen  Nachklang  der  Schillerfeier  von  1905  stellt 


470  P-  Cauer,  Grundfragen  der  Homerkritik, 

der  Verfasser  eine  Fülle  von  Einzelheiten  aus  des  Dichters  Leben  und  Schaffen, 
aus  dem  Kreise  seiner  Verwandten,  der  Personen  seiner  jeweiligen  Umgebung 
und  dergl.  zusammen.  So  entsteht  ein  vielfarbiges  Mosaikbild,  das  vor  allem  dem 
Menschen  in  Schiller  gerecht  wird,  dem  Dichter  nur,  so  weit  das  Volk  im  weitesten 
Sinne  des  Worts  ihn  verstehen  kann.  Es  kommen  dabei  auch  allerlei  Anekdoten 
zur  Geltung,  die  recht  hübsche  Schlaglichter  auf  Personen  und  Verhältnisse  werfen. 
Die  Beschreibung  von  Schillers  Begräbnis,  seinen  Büsten  und  Bildern  sowie  Auer- 
bachs Eindrücke  von  der  Schillerfeier  im  Jahre  1859  bilden  den  Schluß.  Für  die 
Jugend  der  Volksschule  freilich,  an  die  der  Verfasser  in  erster  Linie  gedacht  hat,  ist 
der  Ton  nicht  durchweg  geeignet,  die  wird  mit  dem  „echten  antiken  Stil  der 
Schicksalstragödie"  so  wenig  anzufangen  wissen  wie  mit  dem  „historischen  Kolorit". 
Aber  Schiller  als  Idealist  und  Sozialist  wird  in  der  vorliegenden  Darstellung  auch 
ihr  verständlich  werden.  Das  anspruchslose,  aber  wirksam  geschriebene  Heft 
schmücken  sieben  wohlgelungene  Abbildungen,  die  teils  berühmte  Schillerstätten, 
teils  Szenen  aus  des  Dichters  Leben  darstellen;  nur  das  Geburtshaus  in  Marbach 
mußte  nach  einer  andern  Vorlage  gegeben  werden.  Die  Schrift  verdient  Verbreitung, 
sie  wird  Schiller  viele  Herzen  gewinnen,  selbst  dem  Lehrer  an  höheren  Schulen  kann 
sie  so  manchen  hübschen  Fingerzeig  zur  Verlebendigung  der  Größe  des  Mannes 
geben,  der  „sein  eigener  Bildener  und  Schöpfer,  durch  der  Tugend  Gewalt  selber  die 
Parze  bezwang". 

Friedeberg  Nm.  Paul  Lorentz. 

Cauer,  Paul,  Grundfragen  der  Homerkritik.    Zweite,  stark  erweiterte  und  z.  T. 

umgearbeitete  Auflage.    Leipzig  1909.   S.  Hirzel.    552  S.   8<^.  geh.  12  M.,  geb. 

13,35  M. 
Eine  staunenswerte  Arbeit  steckt  in  dem  umfangreichen  Buche;  und  man 
kann  dem  Verfasser  nicht  dankbar  genug  sein,  daß  er  die  unsägliche  Mühe  nicht 
gescheut  hat,  all  dem,  was  über  Homer  Maßgebendes  und  Unmaßgebliches  er- 
dacht und  gesagt  worden  ist,  nachzugehen,  es  zu  sichten  und  zu  ordnen,  um 
es  zu  großen  kritischen  Referaten  zusammenzuarbeiten.  Er  behandelt  auf  180  S. 
zunächst  Textkritik  und  Sprachwissenschaft  (Aristarch,  Pisistratus,  Äolismen),  so- 
dann auf  170  S.  den  Inhalt  (historischer  Hintergrund  der  Ilias,  geographischer  der 
Odyssee,  Kulturstufen  und  Göttergestalten),  schließlich  wieder  auf  180  S.  die 
Fragen  über  den  Dichter  und  seine  Kunst  (Homerischer  Stil,  Grenzen  und  Be- 
rechtigung der  Kritik).    Den  Schluß  bildet  ein  wertvolles  Register. 

Die  Fülle  des  Gebotenen  ist  geradezu  überwältigend.  Man  spürt  durchweg 
das  redliche  Bemühen,  allen  Ansichten  gerecht  zu  werden,  nach  Kräften  zu  ver- 
mitteln und  selbst  aus  den  kühnsten  Hypothesen  etwas  Brauchbares  zu  retten. 
Dies  gih  besonders  solchen  Theorien  gegenüber,  die  durch  Neuheit  und  Kühnheit 
überraschen  und  blenden.  Zu  dem  im  übrigen  besonnen  abwägenden  Charakter  des 
Buches  paßt  der  Standpunkt  schlecht,  den  Cauer  Dörpfelds  neusten  Hypothesen  gegen- 
über einnimmt.  Er  bringt  es  über  sich,  zu  glauben,  daß  in  Leukas  wirklich  das  ur- 
sprüngliche Ithaka  wiedergefunden  sei,  obgleich  er  S.  255  bekennen  muß,  daß 
diese  Hypothese  „statt  befriedigender  Lösung  neue  Rätsel"  bringt.  Noch  erstaun- 
licher ist,  daß  er  auch  Dörpfelds  Totenröstungshypothese  zustimmt,  und  das  nicht 


angez.  von  G.  Lang.  471 

nur  ohne  Einschränkung,  sondern  noch  mit  dem  gänzlich  unangebrachten  Kom- 
pliment, „daß  man  sich  beschämt  fühlt,  es  nicht  ohne  ihn  gefunden  zu  haben" 
Nach  der  glänzenden  Widerlegung,  die  Dörpfeld  u.  a.  von  Rouge  (Südwestd. 
Schulbl.  1907  No.  9  u.  10  und  besonders  1908  No,  10)  erfahren  hat,  sollte  man 
eine  solche  Entgleisung  nicht  für  möglich  halten.  Wenn  es  schon  in  diesen  Fragen 
sichtlich  an  der  nötigen  Objektivität  fehlt,  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn 
Cauer  auch  seine  eigenen  Lieblingstheorien,  so  den  thessalischen  Ursprung  der 
Ilias,  mit  voller  Einseitigkeit  vertritt:  er  bringt  es  fertig,  sogar  die  Gestalt  des 
Agamemnon  von  Argolis  loszureißen  und  Thessalien  zuzuweisen  und  im  Lauf 
der  Erörterung  diese  Gewalttat  wie  ein  gesichertes  Ergebnis  der  Wissenschaft  zu 
verwerten  (S.  433). 

Die  schwersten  Anstöße  finden  sich  in  der  ersten  Hälfte  des  Buchs,  die  über- 
haupt weniger  zu  fesseln  und  zu  überzeugen  vermag.  Man  gewinnt  im  ganzen 
aus  Cauers  Darstellung  ein  ungünstiges  Bild  vom  gegenwärtigen  Stand  der  Homer- 
kritik. Seit  mehr  als  100  Jahren  stellen  sich  die  Gelehrten  immer  kühnere  Fragen 
über  Homer  und  die  unter  seinem  Namen  überlieferten  Gedichte,  und  mit  den 
Antworten  sind  sie  auch  nicht  verlegen.  Es  leitet  sie  dabei  einerseits  ein  unbe- 
grenztes Mißtrauen  gegen  alle  überlieferten  Nachrichten  und  Vermutungen,  andrer- 
seits eine  maßlose  Überschätzung  ihres  eigenen  Scharfsinns  und  Wissens.  Jede, 
auch  die  windigste  Hypothese  findet  Gläubige,  freilich  um  bald  wieder  von  einer 
neuen,  nicht  besser  und  nicht  schlechter  begründeten  abgelöst  zu  werden.  In 
dem  Chaos  der  Möglichkeiten  ist  aber  nicht  eine  sichere  und  klare  Antwort  auf- 
getaucht, die  irgend  auf  allgemeine  und  dauernde  Anerkennung  rechnen  dürfte. 
Noch  immer  ist  alles  im  Fluß,  und  noch  ist  keine  Aussicht,  daß  sich  die  auf- 
geregten Fluten  so  bald  beruhigen  werden.  Und  doch  ist  es  höchste  Zeit,  daß 
die  Homerphilologie  sich  wieder  ihrer  Grenzen  bewußt  wird,  daß  sie  einsieht, 
wie  die  geistreichste  Theorie,  wenn  sie  selbst  wieder  lediglich  nur  auf  Theorien 
gegründet  ist,  gar  keinen  wissenschaftlichen  Wert  hat,  und  weder  Zeit  noch  Mühe, 
ja  nicht  einmal  die  Druckerschwärze  lohnt,  die  darauf  verwendet  wird. 

Bei  diesem  harten  Urteil  möchten  wir  jedoch  Cauers  Buch  ausnehmen.  Schon 
dieses  negative  Resultat  herausgestellt  zu  haben  ist  ein  großes  Verdienst;  es  weckt 
doch  vielleicht  das  wissenschaftliche  Gewissen  der  beteiligten  Kreise  und  ruft  der 
wilden  Hypothesenmacherei  ein  entschiedenes  »Bis  hierher  und  nicht  weiter!"  zu, 
wenn  auch  der  Verfasser,  selbst  noch  allzusehr  von  dieser  Art  Homerkritik  ge- 
blendet, dies  nicht  ausdrücklich  getan  hat.  Deshalb  ist  und  bleibt  das  Buch,  bei 
aller  Breite  und  trotz  des  Mangels  an  greifbaren  Ergebnissen,  doch  für  jeden 
lesenswert,  der  sich  mit  den  homerischen  Fragen  auseinanderzusetzen  hat.  Ganz 
besonders  ansprechend  ist  in  der  zweiten  Hälfte  das  3.  Buch;  was  hier  über 
homerischen  Stil,  über  die  Natur  naiver  Dichtkunst  gesagt  ist,  kann  nicht  oft  ge- 
nug eingeschärft  werden;  auch  der  Charakter  der  beiden  Epen  ist  meisterhaft 
entwickelt.  Cauer  zeigt  hier  selbst  den  richtigen  Weg,  auf  dem  allein  etwas  Er- 
sprießliches über  Homer  gefunden  werden  kann,  die  liebevolle  Versenkung  in  die 
Eigenart  der  homerischen  Gedichte;  viel  verstehen  heißt  auch  hier  viel  verzeihen. 

Stuttgart.  Gustav  Lang. 


472  ^-  Jaiell,  Ausgewählte  Inschriften,  griechisch  und  deutsch, 

Janell,  Walther,  Ausgewählte  Inschriften,  griechisch  und  deutsch.  Mit 
einer  Titelvignette  und  drei  Abbildungen.  BerUn  1906.  Weidmannsche  Buch- 
handlung. VIII  u.  148  S.  4  M. 
Der  Bearbeiter  dieses  Buches  hat  sich  eine  ähnliche  Aufgabe  gestellt,  wie  einst 
der  englische  Gelehrte  Charles  Thomas  Newton,  dessen  zwei  Aufsätze  über  „die 
griechischen  Inschriften",  von  Imelmann  aus  dem  Englischen  übersetzt,  im  Jahre  1881 
erschienen  sind.  Nichtphilologischen  Lesern  soll  eine  Vorstellung  davon  gegeben 
werden,  eine  wie  reiche  Quelle  geschichtlicher  und  kulturgeschichtlicher  Erkenntnis 
wir  in  den  Inschriften  besitzen.  In  zwei  Hauptgruppen  —  Urkunden  aus  dem 
öffentlichen  Leben,  Urkunden  aus  dem  religiösen  Leben  der  Griechen  —  werden 
im  ganzen  230  Nummern  vorgeführt.  Für  jede  einzelne  sind  griechischer  Text 
(ohne  Andeutung  von  Korrekturen  oder  Ergänzungen)  und  deutsche  Übersetzung 
nebeneinander  gestellt.  Erläuterungen  finden  sich  teils  als  Noten  am  Fuß  der 
Seiten,  teils  verarbeitet  in  einen  zusammenhängenden  Text,  der  das  ganze  Buch 
durchzieht,  und  in  den  die  Inschriften  selbst  eigentlich  nur  als  Beispiele  eingelegt 
sind.  Diese  Anordnung  ist  keine  glückliche.  Besser  wäre  es  gewesen,  beides  zu 
trennen:  die  Proben,  die  geboten  werden  sollten,  übersichtlich  zu  gruppieren,  jeder 
einzelnen  so  viel  an  Erläuterung,  als  notwendig  schien,  hinzuzufügen  und  in  einem 
für  sich  stehenden,  lesbaren  Aufsatz  die  verschiedenen  Arten  von  Inschriften  und 
die  Methode  ihrer  Benutzung  zu  schildern.  So  wie  es  jetzt  ist,  kommt  keine  Seite 
ganz  zu  ihrem  Rechte;  weder  die  Texte,  die  nicht  klar  geordnet  sind  und  für  die 
man  das  zur  Erklärung  Gesagte  unbequem  zusammensuchen  muß,  noch  vollends 
die  zusammenfassende  Darstellung,  die,  um  alle  einzelnen  Stücke  in  ihren  Rahmen 
zu  fassen,  manchmal  seltsame  Wendungen  und  Sprünge  machen  muß.  Bald  ist  die 
Zeitfolge,  bald  eine  sachliche  Beziehung,  bald  sprachliche  Ähnlichkeit  oder  Ver- 
schiedenheit (S.  38,  52),  bald  irgendein  ganz  nebensächlicher  Anknüpfungspunkt 
(S.  19)  benutzt,  um  den  Übergang  zu  vermitteln.  Die  Geschicklichkeit,  mit  der 
die  Rede  sich  hindurchschlängelt,  so  daß  der  Eindruck  eines  Zusammenhanges 
erzielt  wird,  kann  man  bewundern,  mag  aber  doch  wünschen,  daß  diese  Kraft 
lieber  der  lohnenderen  Aufgabe  dienstbar  gemacht  worden  wäre,  den  reichen  Stoff 
sachgemäß  zu  ordnen  und  in  einem  wirklich  zusammenhängenden  Vortrag  von 
Gedanken  darüber  die  innere  Gliederung  deutlich  hervortreten  zu  lassen. 

Ob  durch  die  Rücksicht  auf  einen  Übergang  hier  und  da  auch  die  Auswahl  be- 
einflußt worden  ist,  läßt  sich  nicht  sicher  sagen;  man  müßte,  um  darüber  zu  urteilen, 
wissen,  wie  weit  das  überhaupt  in  Betracht  kommendeMaterial  dem  Verfasser  vollständig 
vorgelegen  hat.  Einiges  von  dem,  was  ich  über  das  Fehlen  lehrreicher  Stücke  bei 
Newton  vor  27  Jahren  bemerkt  hatte  (Philol.  Anzeiger  1882,  S.  451  f.),  könnte  ich 
hier  wiederholen.  Im  ganzen  hat  Janell  einmal  Athen  zu  sehr  bevorzugt,  und  dann, 
in  Athen  wie  draußen,  die  spätere  Zeit.  Abgesehen  von  dem  sprachlichen  Interesse, 
das  Dialekt-Inschriften  bieten,  ist  es  doch  auch  für  das  politische  Leben  der 
Griechen  höchst  bezeichnend,  wie  zähe  sie  in  öffentlichen  Urkunden  die  Mundart 
festhalten  und  wie  treu  in  dieser  Beziehung  die  Kolonien  dem  Brauche  der  Mutter- 
stadt folgen.  Unter  230  Nummern  sind  nur  etwa  60  mundartliche,  und  von  diesen 
wieder  der  größte  Teil  entweder  von  ganz  geringem  Umfang  oder  mit  nur  schwachen 
Spuren  des  Dialektes.    An  Hauptstücken  dieser  Art  ist  eigentlich  nur  eins  gegeben, 


angez.  von  P.  Cauer.  473 

Nr.  42  (=GDI.  1149),  der  Vertrag  zwischen  Eleern  und  Heräern  (wie  Janeil  mit 
Boeckh  wieder  schreibt),  den  auch  Newton  übersetzt  hatte.  Von  den  Volksbe- 
schlüssen der  Larisäer  (G  D  I.  345)  sind  einige  Sätze  aus  dem  zweiten  Briefe  König 
Philipps  (214  V.  Chr.)  mitgeteilt  (Nr.  56),  während  hier  durch  vollständigen  Abdruck 
des  Textes,  wenn  auch  ohne  das  ganze  Verzeichnis  der  neuen  Bürger,  zugleich 
von  dem  Verhältnis  des  Makedonenkönigs  zu  der  griechischen  Stadt  und  von  der 
Beschaffenheit  des  äolischen  Dialektes  in  Thessalien  eine  Anschauung  gegeben  werden 
konnte.  Von  delphischen  Freilassungsurkunden  hätten  sich  leicht  charakteristischere 
Beispiele  finden  lassen  als  die  beiden  aufgenommenen  (Nr.  145,  146),  die  wohl  nur 
den  Vorzug  der  Kürze  hatten.  Daß  von  der  parischen  Marmorchronik  bloß  eine 
kleine  Probe  Platz  gefunden  hat,  wird  jeder  billigen  (Nr.  55).  Freigebig  behandelt 
sind  die  Orakelfragen  von  Dodona  (Nr.  163—169),  die  ja  wirklich  einen  über- 
raschenden Einblick  in  antikes  Kleinleben  gewähren.  Schade  nur,  daß  der  Verfasser 
nicht  den  Versuch  gemacht  hat,  die  Unbeholfenheit  der  Sprache  in  der  Übersetzung 
zum  Ausdruck  zu  bringen;  vielmehr  die  wunderlichen  Verrenkungen  des  Satzbaus 
in  korrektem  Deutsch  verschwinden  läßt.  Z.  B.  Nr.  166  (=  G  D  I.  1573) :  'H  aixoc 
Tterajisvo?  tav  s([x)  ttoXi  otxi'av  xal  zb  -/(opt'ov  ßeXTto'iJL  [xoi  x'eiVj  xal  TtoKu  cucpeXs- 
(<3)-s(p)ov.  Das  heißt  doch  nicht:  „Ob  es  für  mich  vorteilhaft  und  nutzbringend  ist, 
das  Haus  in  der  Stadt  und  das  Grundstück  zu  kaufen",  sondern  etwa:  „Ob  ich, 
wenn  ich  das  Haus  in  der  Stadt  und  das  Gründstück  selber  besäße,  besser  für  mich 
wäre  und  viel  nützlicher."  —  Von  verwandter  Art  sind  die  an  die  dodonäischen 
Täfelchen  sich  anschließenden  Heilungsberichte  aus  Epidauros,  auch  sie  zahlreich 
vertreten  (Nr.  170—177). 

Von  historisch  wichtigen  Dokumenten,  die  der  Sammlung  eingereiht  sind,  sei 
die  Inschrift  der  Schlangensäule  erwähnt  (Nr.  128).  Ein  paar  athenische  Volksbe- 
schlüsse (z.  B.  Nr.  20  u.  24)  führen  in  die  letzten  schlimmen  Jahre  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges;  ein  anderer,  vom  Herausgeber  mit  Recht  hervorgehoben 
(Nr.  45),  enthält  die  Bedingungen  des  zweiten  attischen  Seebundes,  377  v.  Chr. 
Dazwischen  stehen  u.  a.  ein  Ehrendekret  der  Erythräer  für  Konon  den  Sieger  von 
Knidos  (Nr.  23),  ein  athenisches  für  den  Päoner-König  Audoleon  aus  dem  Jahre 
286  (Nr.  25),  die  Aufschrift  eines  Standbildes,  das  der  achäische  Bund  dem  Königs- 
sohne Attalos  von  Pergamon  errichtet  hatte  (Nr.  28),  ein  hundert  Jahre  älterer 
Beschluß  der  Athener  zu  Ehren  eines  Philippides,  der  als  Freund  des  Königs  Ly- 
simachos  von  Thrakien  der  Stadt  gute  Dienste  geleistet  hatte  (Nr.  32)  usw.  Auch 
die  Zeit  der  beginnenden  Römerherrschaft  und  weiter  die  Kaiserzeit  sind  durch 
reichliche  Proben  erläutert.  Im  ganzen  empfindet  man  immer  wieder  bei  der  Lek- 
türe, was  schon  zu  Anfang  gesagt  wurde,  daß  es  besser  gewesen  wäre,  die  hi- 
storisch verwertbaren  Stücke  auch  historisch  zu  ordnen  und  eine  zusammenfassende 
Besprechung  der  dem  Inhalte  nach  ähnlichen  gesondert  zu  halten.  Für  gottesdienst- 
liche Einrichtungen  und  Gebräuche  und  daneben  für  das  Privatleben  würden  sich 
dann  wohl  kleinere,  leicht  überschaubare  Gruppen  ergeben  haben,  während  jetzt  ein  so 
prächtiges  Stück  wie  der  auf  Blei  geschriebene  Brief  eines  Atheners  Mnesiergos 
an  seine  Familie  in  einer  Anmerkung  hat  untergebracht  werden  müssen  (52a),  weil 
er  sich  dem  System  nicht  fügte.  Auch  die  Grabschriften  sind  in  das  Kapitel  „Ur- 
kunden aus  dem  religiösen  Leben"  doch  zum  Teil  etwas  willkürlich  eingeordnet 


474  H.  Luckenbach,  Kunst  und  Geschichte,  angez.  von  P.  Brandt. 

Viele  von  ihnen  tragen  rein  privaten  Charakter,  namentlich  die  Mehrzahl  der  me- 
trischen (Nr.  200  ff.),  deren  reiche  Auswahl,  meist  mit  sehr  freier  doch  geschmack* 
voller  Übersetzung,  an  sich  nur  willkommen  geheißen  werden  kann. 

Auch  im  ganzen  wird  das  Buch  gewiß  manchem  Leser  Freude  machen  und 
Anregung  bringen.  Möchte  der  Verfasser  bald  Gelegenheit  bekommen,  bei  einer 
neuen  Auflage  die  hier  angedeuteten  Änderungsvorschläge  in  Erwägung  zu  ziehen. 

Münster  i.  W.  Paul  Cauer. 

Luckenbach,   H.,   Kunst  und  Geschichte,  I.  Teil,  Abbildungen  zur  alten 
Geschichte.     7.  vermehrte  Aufl.     München  und  Berlin  1908.     R.  Oldenbourg. 
120  S.   4°.    geh.  1,70  M.,  geb.  2  M. 
Das  erste  Heft  des  an  dieser  Stelle  vielfach  gerühmten  Werkes  ist  von  dem 
unermüdlichen  Verfasser   auf  Wunsch    des  Verlegers   um    einen  Bogen  vermehrt 
worden,  der  ihm  gestattete,  die  ägyptische  und  mesopotamische  Kunst  zu  berück- 
sichtigen und  die  ägäische  zu  erweitern.    Das  Heft  hat  damit  wohl  seine  endgültige 
Gestalt  gewonnen. 

Wickenhagen,  Ernst,  Leitfaden  für  den  Unterricht  in  der  Kunstgeschichte 

der  Baukunst,  Bildnerei,  Malerei  und  Musik.  12.Aufl.  Mit  325  Abbildungen. 

Esslingen,  Paul  Neff  Verlag.    336  S.    8».    Geb.  3,75  M. 

Das  gut  illustrierte  Buch  wird  auch  in  der  neuen  Auflage  seinem  Zweck,  die 

Ergebnisse  des  Unterrichts  kurz  zusammenzufassen  und  zur  Wiederholung  sowie 

als  Nachschlagebuch  zu  dienen,  vollauf  gerecht. 

Bonn.  Paul  Brandt. 

Swoboda,  H.,  Griechische  Geschichte,  (Sammlung  Göschen  49).  Dritte  Aufl. 
Leipzig  1907.  G.  J.  Göschen.  194  S.  8«.  geb.  0,80  M. 
Der  Kreis,  in  dem  der  vorliegende  Band  der  „Kleinen  historischen  Bibliothek* 
aus  der  Sammlung  Göschen  seine  Leser  suchen  wird,  ist  derselbe,  den  ich  bei 
Besprechung  der  römischen  Geschichte  aus  derselben  Sammlung  (Monatschrift  VII, 
214)  gekennzeichnet  habe.  Es  mag  daher  in  dieser  Monatschrift  genügen,  auf  die 
Neuauflage  des  Werkchens  hingewiesen  zu  haben.  Eines  Werkchens,  das  übrigens 
an  Zuverlässigkeit  im  einzelnen  und  in  der  Auffassung  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung dem  oben  genannten  Buche  überlegen  ist,  das  freilich  auf  der  andern 
Seite  die  —  wenn  auch  absichtliche  —  Vernachlässigung  des  geistigen  Lebens  des 
einzelnen  wie  der  Gesamtheit  noch  mehr  vermissen  läßt  als  jenes,  und  zwar  in 
demselben  Maße,  in  dem  das  altgriechische  Volk  die  Römer  an  Bedeutung  für  die 
Menschheit  gerade  auf  dem  genannten  Gebiete  übertrifft. 

Elberfeld.  Wilhelm  Meiners. 

Günther,  Sigmund,  Geschichte  der  Mathematik.    1.  Teil.    Von  den  ältesten 
Zeiten  bis  Cartesius.    Sammlung  Schubert  XVIII.    Leipzig  1908.    G.  J.  Göschen. 
VI  u.  427  S.    80.    9,60  M. 
Auf  den  Wert,  den  die  Berücksichtigung  der  Geschichte  der  Mathematik  für 

den  Unterricht  besitzt,  ist  schon  wiederholt  hingewiesen  worden.    Sehen  die  Schüler, 


S.  Günther,  Geschichte  der  Mathematik,  angez.  von  H.  Thieme.  475 

welches  Interesse  den  mathematischen  Fragen  zu  allen  Zeiten  entgegengebracht 
worden  ist,  z.  B.  von  führenden  Philosophen  wie  Thaies,  Pythagoras,  Plato, 
Descartes,  Leibniz,  Kant,  erfahren  sie,  in  welchem  Maße  die  Fortschritte  der 
Technik  ebenso  wie  die  Ausbildung  der  jeweiligen  Weltanschauung  von  den 
mathematischen  Forschungen  abhängig  gewesen  sind,  so  werden  sie  ein  einiger- 
maßen richtiges,  wenn  auch  immer  noch  unvollkommenes  Bild  von  der  Bedeutung 
der  Mathematik  als  Kulturfaktor  gewinnen. 

Der  Lehrer,  der  diesen  Anschauungen  gemäß  seinen  Unterricht  einrichten  will 
ist  jetzt  in  einer  bei  weitem  glücklicheren  Lage  als  vor  wenigen  Jahren.  Für 
tiefer  gehende  geschichtlich-mathematische  Studien  besitzen  wir  jetzt  die  für  lange 
Zeit  grundlegenden  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Mathematik  von 
M.  Cantor  und  für  den  unmittelbaren  Gebrauch  beim  Unterricht  die  Geschichte 
der  Elementar-Mathematik  von  J.  Tropfke. 

Daneben  bleibt  aber  noch  bestehen  das  Bedürfnis  nach  einer  Geschichte  der 
Mathematik,  die  nicht  ein  so  langwieriges  Studium  erfordert  wie  das  umfangreiche 
Werk  von  Cantor,  anderseits  aber  doch  in  die  Entwicklung  der  Mathematik  bei 
den  einzelnen  Völkern  und  in  die  geistigen  Strömungen,  die  mit  dieser  Entwicklung 
verbunden  waren,  einen  tieferen  Einblick  gewährt  als  die  Darstellung  Tropfkes, 
der  sich  für  seine  besonderen  Ziele  sehr  zweckmäßig  eng  an  die  einzelnen  Lehren 
der  Elementar-Mathematik  anschließt. 

Diesem  Bedürfnis  will  die  vorliegende,  in  der  Sammlung  Schubert  erscheinende 
Geschichte  der  Mathematik  entgegenkommen. 

Das  Werk  ist  auf  zwei  Bände  berechnet.  Den  ersten  Band,  der  die  Geschichte 
der  Mathematik  im  Altertum  und  im  Mittelalter  behandelt,  hat  den  bekannten 
Münchener  Geophysiker  Sigmund  Günther  zum  Verfasser,  der  namentlich  in 
früheren  Zeiten,  als  er  noch  nicht  die  geographische  Professur  inne  hatte,  sich 
mehrfach  mit  Geschichte  der  Mathematik,  insbesondere  auch  mit  Fragen  des 
mathematischen  Unterrichts  im  Mittelalter  beschäftigt  hatte  und  nun  gern  zu  seinen 
früheren  Studien  zurückgekehrt  ist.  Den  zweiten  Teil,  die  Geschichte  der  Mathematik 
in  der  Neuzeit,  sollte  Anton  v.  Braunmühl  liefern,  der  sich  durch  seine  Geschichte 
der  Trigonometrie  um  diesen  Teil  der  Wissenschaft  so  große  Verdienste  erworben. 
Hoffen  wir,  daß  wir  trotz  des  frühen  Todes  dieses  hervorragenden  Forschers  auf 
ein  baldiges  Erscheinen  des  2.  Bandes  rechnen  können. 

Der  vorläufig  vorliegende  erste  Band  verfolgt  die  Entwicklung  der  Mathematik 
von  den  Uranfängen  der  Kultur  an,  gibt  anschauliche  Schildeiungen  der  Mathematik 
bei  den  Mesopotamiern,  Ägyptern,  Chinesen,  Indern  früherer  und  späterer  Zeiten, 
Griechen,  Römern,  Arabern,  im  kirchlichen  und  höfischen  Schulwesen  des  Mittel- 
alters, zeigt  die  Anbahnung  neuerer  Anschauungen  durch  Forscher  -wie  Lionardo 
Pisano,  Peurbach,  Regiomontan,  Clavius  u.  a.,  schildert  die  Auffindung  der  Lösung 
kubischer  und  biquadratischer  Gleichungen  durch  Scipione  del  Ferro,  Cardano» 
Tartaglia,  Ferrari,  die  Forschungen  von  Girard,  Harriot,  Vieta  über  die  Wurzeln 
algebraischer  Gleichungen,  die  Entdeckung  der  Logarithmen  durch  Bürgi,  Napier, 
Briggs,  die  geometrischen  Arbeiten  von  Vieta,  Oresme,  Ludolf,  Adrian  Metius  u.  a. 
Der  Band  verfolgt  die  geschichtliche  Entwicklung  bis  zum  Jahre  1637,  dem  Jahre 
des  Erscheinens  der  Geometrie  von  Descartes,  von  dem  aus  ganz  neue  Gedanken- 


476         A.  Ladenburg,  Naturwissenschaftliche  Vorträge,  angez.  von  E.  Dennert. 

reihen,  namentlich  die  Gedanken,  die  zur  Ausbildung  der  Differential-  und  Integral- 
rechnung führten,  Gegenstand  mathematischer  Forschung  werden. 

Die  Behandlung  des  Stoffes  ist  überall  ausreichend  ausführlich,  so  daß  der 
Leser  ein  wirklich  anschauliches  Bild  der  jeweiligen  Epoche  der  Geschichte  der 
Mathematik  erhält.  Die  Darstellung  ist  durchsichtig  klar  und  geeignet,  den  Leser 
dauernd  zu  fesseln.  Zitate  sind  dem  Texte  nicht  beigegeben,  dafür  sind  am 
Schlüsse  die  wichtigsten  Literaturnachweisungen  beigefügt  und  diese  nach  den 
einzelnen  Kapiteln  geordnet. 

Das  Werk  kann  den  Fachgenossen  für  die  eigene  Bücherei  empfohlen  werden. 

Posen.  H.  Thieme. 


Ladenburg,  Albert,  Naturwissenschaftliche  Vorträge  in  gemeinverständ- 
licher Darstellung.  Leipzig  1908.  Akademischer  Verlag.  264  S.  8».  9  M. 
Der  Breslauer  Chemiker  veröffentlicht  in  diesem  Bande  eine  Reihe  von  Vor- 
trägen über  chemische  Dinge,  die  er  in  dem  Lauf  der  Jahre  gehalten  hat,  z.  B. 
über  die  Fundamentalbegriffe  der  Chemie,  die  chemische  Konstitution  der  Materie, 
die  Aggregatzustände,  die  4  Elemente  des  Aristoteles,  das  Ozon,  das  Radium  und 
anderes  mehr.  Der  Leser  wird  angenehm  und  leicht  durch  diese  Abhandlungen  in 
die  betreffenden  Fragen  eingeführt.  Schade  ist,  daß  der  Verfasser  zum  Schluß 
auch  seine  viel  besprochene  Rede  auf  der  Kasseler  Naturforscher-Versammlung 
„Über  den  Einfluß  der  Naturwissenschaften  auf  die  Weltanschauung"  mit  aufnahm, 
um,  wie  er  selbst  sagt,  zu  zeigen,  daß  er  heute  auch  noch  ebenso  steht.  Er  gibt 
ihr  auch  einen  Epilog.  So  wenig  er  damals  mit  seiner  Rede  Ruhm  erntete,  so 
wenig  wird  er  es  heute  tun,  zumal  der  Epilog  zeigt,  daß  er  auch  heute  noch  nicht 
seine  offenkundigen  Fehler  einsieht;  denn  er  hält  unglaublicherweise  jene  Rede 
auch  heute  noch  für  „rein  wissenschaftlich"  und  glaubt,  er  habe  mit  ihr  die  Grenzen 
der  Wissenschaft  in  keiner  Weise  überschritten.  Dies  letztere  würde  nur  dann 
richtig  sein,  wenn  Ladenburg  als  Naturforscher  sich  lediglich  auf  den  unbedingt 
richtigen  Satz  beschränkt  hätte,  daß  man  die  Natur  so  erforschen  müßte,  als  ob  es 
keinen  Gott  gäbe ;  allein  statt  dessen  hat  er  seine  atheistischen  Sätze  als  direkte 
Folgerungen  der  naturwissenschafrlichen  Forschung  hingestellt,  und  das  ist  nicht 
nur  eine  sehr  grobe  Grenzüberschreitung,  sondern  auch  ein  schwerer  logischer  Fehler. 
Auf  die  Frage,  die  in  seinem  Thema  liegt,  kann  es  nur  eine  klare  und  wahre  Ant- 
wort geben:  Die  Naturwissenschaft  ist  in  Weltanschauungsfragen  völlig  neutral. 
Ladenburgs  Folgerungen  entsprechen  seinen  aufallenden  Mißverständnissen  auf 
religiösem  Gebiet.  Der  Tenor  im  Anfang  seines  Vortrages  kennzeichnet  diesen 
schon  zur  Genüge.  Er  sagt  dort:  ,Im  L  Buch  Moses  steht  zu  lesen:  Gott  sprach: 
Es  werde  Licht.  Und  es  ward  Licht.  Hell  in  den  Köpfen  ward  es  aber  erst,  als 
die  Heiligkeit  der  Bibel  bezweifelt  und  sie  wie  alle  Bücher  als  Menschenwerk  an- 
gesehen wurde."  —  Solche  Plattheiten  sollte  sich  ein  ernster  Naturforscher  nicht 
leisten.  Die  kurze  im  „Epilog"  gegebene  Verteidigung  Ladenburgs  ist  ebenso 
matt  wie  unzureichend. 


A.  Dippe,  Naturphilosophie,  angez.  von  E.  Dennert.  477 

Dippe,  Alfred,  Naturphilosophie.  Kritische  Einführung  in  die  modernen  Lehren 
über  Kosmos  und  Menschheit.  München  1907.  C.  H.  Becksche  Verlagsbuch- 
handlung. IX  u.  417  S.  8°.  geb.  5  M. 
Eine  recht  brauchbare  „Naturphilosophie".  Der  Standpunkt  des  Verfassers  ist 
ein  transzendentaler  Realismus,  er  ist  dualistischer  Theist.  Mit  großer  Ruhe  und 
Sachlichkeit,  auch  recht  klar,  entwickelt  er  seine  Probleme,  zuerst  die  Grundbegriffe 
der  Naturwissenschaft,  dann  die  Entwicklungslehre  und  die  Naturreiche.  Am 
Schluß  fügt  er  metaphysische  Betrachtungen  an  über  den  menschlichen  Geist  und 
den  Weltgeist.  Es  ist  schade,  daß  er  im  vorletzten  Abschnitt  über  den  menschlichen 
Geist  durchaus  nicht  konsequent  bleibt,  sorKlern  —  während  er  z.  B.  die 
Eigenart  des  Lebens  scharf  betont  —  hin-  und  herschwankt  und  die  Eigenart 
des  Geistes  mit  ihren  Konsequenzen  nicht  recht  anerkennt.  Ein  folgerichtiger 
Dualismus  ist  dies  nicht,  und  man  hat  unbedingt  den  Eindruck,  daß  den  Verfasser 
wohl  der  Wunsch,  nicht  aber  der  Verstand  hier  zum  Dualismus  hinzieht,  mit 
welchem  Recht  ist  hier  nicht  zu  erörtern. 

Lodge,  Sir  Oliver,  Leben  und  Materie.  Haeckels  Welträtsel  kritisiert.  Berlin 
1908.  K.  Curtius.  150  S.  8«.  2,50  M. 
Neben  den  Petersburger  Physiker  Chwolson  tritt  hier  sein  berühmter  englischer 
Fachkollege  auf  den  Plan,  um  die  Haltlosigkeit  der  Grundlagen  des  Haeckelschen 
Monismus  klar  und  gut  nachzuweisen.  Das  ist  mit  Dank  zu  begrüßen.  —  Allein 
das  interessante  und  anregende  Buch  bietet  noch  mehr,  nämlich  den  Nachweis, 
daß  es  in  den  Vorgängen  auf  der  Erde  eine  besondere  Leitung  und  Richtung 
gebende  Kontrolle  gibt  und  daß  das,  was  wir  Leben  nennen,  nicht  etwa  eine  mate- 
rielle Energie  ist.    Lodge  ist  Vitalist  und  Dualist.    Die  Übersetzung  ist  gut. 

Günther,  Konrad,  Rückkehr  zur  Natur?  Eine  Betrachtung  über  das  Verhältnis 
des  Menschen  zur  Natur.    Leipzig  1907.    J.  A.  Barth.    72  S.    8«.    1,20  M. 

Die  „Rückkehr  zur  Natur"  wird  heute  vielfach  gepredigt.  Der  Verfasser  (Privat- 
dozent der  Zoologie)  der  vorliegenden  Schrift  behandelt  sie  von  einem  besonderen 
Gesichtspunkt  aus,  der  zwar  manchen  Widerspruch  hervorruft,  aber  doch  des  Inter- 
essanten genug  bietet.  Er  ist  nämlich  ein  ziemlich  einseitiger  Darwinianer  und 
spricht  als  solcher  der  Selektion  eine  Bedeutung  zu,  die  sie  nicht  verdient.  Die 
Kultur  hat  es  nun  mit  sich  gebracht,  daß  der  Mensch  sich  dieser  Selektion  entzogen 
hat.  Die  Folge  ist  ein  Umsichgreifen  von  Krankheiten  usw.  Wenn  man  auch 
die  Selektion  als  neue  Arten  schaffendes  Prinzip  ablehnt,  so  ist  dieser  Gedanke  in 
bezug  auf  den  Menschen  freilich  richtig,  weil  bei  ihm  keine  Auslese  die  Schwachen 
und  Kranken  von  der  Fortpflanzung  ausschließt.  Hier  zeigt  es  sich  eben  sehr  deut- 
lich, daß  die  Selektion  nicht  neu  organisierte  Arten,  sondern  höchstens  stärkere 
schaffen  kann. 

Der  Verfasser  glaubt,  daß  sich  der  Mensch  durch  Naturzüchtung  aus  einem 
mit  geringem  Verstand  begabten  Wesen  entwickelte.  Beim  Menschen  mit  höherem 
Verstand  brauchte  die  Naturzüchtung  hauptsächlich  nur  ihn  weiter  zu  züchten, 
da  der  Verstand  die  Weiteranpassung  des  Körpers  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
selbst  besorgt.  Die  Auslese  ist  also  beim  Menschen  einseitig.  Dies  ist  natürlich 
alles  rein  hypothetisch  und  auch  das  Beispiel,  das  der  Verfasser  vom  Urmenschen 


478        A.  Frank,  Die  Erkenntnis  Gottes  durch  die  Natur,  angez.  von  E.  Dennert. 

anführt,  ist  es  durch  und  durch.  Immerhin  ist  wohl  des  Verfassers  Resultat  richtig: 
daß  die  klügeren  Völker  im  allgemeinen  (aber  durchaus  nicht  immer!)  erhalten 
bleiben. 

Nun  ist  die  Kultur  das  Werk  des  Verstandes,  und  Rückkehr  zur  Natur  ist  daher 
Verzicht  auf  den  Verstand.  Damit  ist  jener  Devise  das  Urteil  gesprochen.  Es 
ist  dazu  auch  zu  spät,  die  Kultur-Krankheiten  würden  dann  z.  B.  nicht  ver- 
schwinden (I).  Der  Mensch  ohne  Kultur  und  Verstand  harmoniert  nicht  mit  den 
Lebensbedingungen;  ein  Zurück  wäre  gleichbedeutend  mit  dem  Tod.  Er  kann  nur 
vorwärts  gehen. 

Der  Leser  wird  mit  mir  schon  bei  dem  Gesagten  manche  Fragezeichen  machen, 
bei  dem  Inhalt  im  einzelnen  ließen  sie  sich  noch  vermehren.  So  vor  allem,  wenn 
der  Verf.  feststellt,  daß  Naturzüchtung  und  künstliche  Züchtung  „prinzipiell  ver- 
schieden" sind.  Das  ist  nun  freilich  ganz  gewiß  richtig,  allein  damit  verliert  jene 
eben  jede  Grundlage,  jede  Berechtigung,  da  sie  bekanntlich  an  sich  nie  beobachtet, 
sondern  da  auf  sie  nur  durch  Analogie  aus  der  künstlichen  geschlossen  wurde.  Mit 
jenem  Zugeständnis  hebt  der  Verfasser  also  auch  die  Grundlage  seiner  Erörterungen 
einfach  auf  und  sie  schweben  daher  in  der  Luft. 

Frank,  A.,  Die  Erkenntnis  Gottes  durch  die  Natur.  Hannover  1907.  C.  Meyer. 
35  S.  80.  0,60  M. 
Verfasser  ist  der  Ansicht,  daß  bei  den  heutigen  Verhältnissen  viele  in  Gewissens- 
not den  Kirchenlehren  gegenüber  geraten  sind  und  daß  diesen  der  Weg  zu  Gott 
nur  durch  unmittelbare  Naturanschauung  geöffnet  werden  kann,  die  dadurch  ge- 
wonnene Gotteserkenntnis  soll  im  vollen  Einklang  mit  der  Lehre  Jesu  stehen.  Diese 
Grundlage  des  Buches  muß  ich  bereits  für  irrig  erklären;  denn  Naturanschauung  als 
solche  liefert  keine  Gotteserkenntnis,  sondern  nur  in  Verbindung  mit  religiös- 
ethischen Erfahrungen.  Der  Gedankengang  des  Buches  ist  dann  der,  daß  die  Ein- 
heitlichkeit und  Allweisheit  der  Naturgesetze  das  Dasein  Gottes  und  die  Lenkung 
des  Universums  durch  einen  Willen  beweisen;  ebenso  die  Entwicklung  der  Organis- 
men (der  Verfasser  wendet  sich  dabei  mit  zutreffenden  Bemerkungen  gegen  Darwin) 
und  die  planmäßige  Fürsorge  für  alle  Lebewesen.  Im  einzelnen  finden  sich  neben 
einigen  Irrtümern  auch  viele  anregende  Gedanken,  aber  im  ganzen  bezweifle  ich, 
daß  der  Verfasser  seinen  gut  gemeinten  Zweck  erreichen  und  viele  überzeugen  wird. 
Godesberg.  E.  Dennert. 

Dr.  med.  Werther,  Hütet  Euch!    Ärztliche  Mahnworte  an  unsere  Söhne  beim 
Eintritt  ins  Leben.    Rede  an  die  Gymnasial-Abiturienten,  gehalten  im  Auftrage 
des  Rates  zu  Dresden.    Dresden  1908.    Alexander  Köhler.    48  S.    8«.    0,90  M. 
Der  Titel  sagt  schon  genug  über  den  Inhalt.    So  wird  es  ausreichen,  hinzu- 
zufügen, daß  in  ernster,  würdiger  Sprache  vor  allem  die  ungeheure  Gefährlichkeit 
und  verhängnisvolle  Folgenschwere  der  Geschlechtskrankheiten  besprochen  wird. 
Wo  also  eine  Belehrung  der  abgehenden  Schüler  nützlich  erscheint,  aber  eine  Auf- 
klärung von  Auge  zu  Auge  nicht  angängig  ist,  da  möge  man  vertrauensvoll  den 
jungen  Leuten  dies  Heftchen  in  die  Hand  geben.    Nur  scheint  mir  der  Preis  reich- 
lich hoch  bemessen  für  43  Seiten  zu  19  Zeilen. 

Lüdenscheid.  Richard  Ja  hnke. 


IV.  Vermischtes. 


Aufruf. 

Von  Graz  ist  die  Anregung  ausgegangen,  zur  Erinnerung  an  die  50.,  in  diesem 
Jalire  dort  tagende  Versammlung  Deutscher  Philologen  und  Schulmänner  eine  Ju- 
biläumsstiftung ins  Leben  zu  rufen 

zur  Förderung  der  klassischen  Altertumswissenschaft. 

Genauere  Bestimmungen  über  die  Art  der  Verwendung  dürfen  wir  vertrauens- 
voll der  Grazer  Versammlung  überlassen. 

So  ergeht  denn  unser  Ruf  an  alle,  die  ein  Herz  haben  für  das  Studium  der 
Alten,  ein  Herz  auch  für  die  Jugend,  der  besonders  diese  Studien  zugute  kommen, 
die  Jugend  des  Humanistischen  Gymnasiums.  Beweisen  wir  durch  die  Zahl  und 
die  Höhe  der  Beiträge,  daß  Groß-Berlin  neben  andern  Vorzügen  auch  den  hat,  eine 
echte  Philologenstadt  zu  seini 

Die  Beiträge  wolle  man,  einzeln  oder  gesammelt,  bis  zum  1.  Juli  einsenden 
an  den  mitunterzeichneten  Schatzmeister,  Herrn  Verlagsbuchhändler  Dr.  Ernst  Vollert, 
Berlin  SW,  Zimmerstr.  94,  von  da  an  bis  zum  31.  August  an  die  Steiermärkische 
Eskomptebank  zu  Graz,  Konto:  Philologenstiftung. 

Berlin,  14.  Mai  1909. 

Der  Ortsausschuß  für  Groß-Berlin. 
Dr.  Andresen,  Prof.  am  Askan.  Gymn.,  Redaktor  d.  Wochenschrift  f.  cl.  Philol.; 
Dr.  D.  Bellermann,  Geheimer  Regierungsrat,  Dir.  d.  Gymn.  zum  Grauen  Kloster; 
Dr.  Diels,  Geheimer  Regierungsrat,  Prof.  a.  d.  Universität; 
Dr.  Fuhr,  Prof.  am  Joachimsth.  Gymn.,  Red.  d.  Berl.  Philol.  Wochenschrift; 
Dr.  Genz,  Geheimer  Regierungsrat,  Provinzialschulrat; 
Dr.  Ernst  Hoffmann,  Oberlehrer  am  Mommsengymn.,  Schriftführer; 
Dr.  D.  Harnack,  Wirkl.  Geheimer  Oberregierungsrat,  Generaldirektor  der  Kgl.  Bibliothek; 
Dr.  Kekule  v.  Stradonitz,  Geheimer  Regierungsrat,  Direktor  der  Königl.  Museen; 
Dr.  Köpke,  Wirkl.  Geheimer  Oberregierungsrat,  Vortrag.  Rat  im  Kultusministerium; 
Dr.  Lortzing,  Prof.  am  Sophiengymn.,  Ehrenvors.  des  Gymnasiallehrervereins; 
Dr.  Lück,  Gymnasialdirektor,  2.  Vorsitzender  der  Vereinig,  d.  Freunde  d.  Hum.  Gymn.; 
Dr.  Ed.  Meyer,  Geheimer  Regierungsrat,  Prof.  a.  d.  Universität; 
Otto  Morgenstern,  Prof.  am  Schillergymnasium,  Schriftführer; 
Dr.  Herrn.  Müller,  Geheimer  Regierungsrat,  Red.  d.  Zeitschrift  f.  d.  Gymnasialwesen; 
D.  Scholz,  Archidiak.  an  St.  Marien  u.  Prof.,  1.  Vors.  d.  Vereinig  d.  Fr.  d.  Hum.  Gymn; 
Dr.  Otto  Schroeder,  Prof.  a.  Joachimsth.  Gymn.,  Vors.  d.  Philol.  Vereins; 
Dr.  Vahlen,  Geheimer  Regierungsrat,  Prof.  an  der  Universität; 
Dr.  Vollert,  Verlagsbuchhändler,  Schatzmeister. 


480  Vermischtes. 

Voigtländers  Künstler-Steinzeichnungen. 

In  der  Amelangschen  Kunsthandlung  zu  Berlin,  Kantstr.  164,  hat  R.  Voigt- 
länders  Verlag  gegenwärtig  eine  Heimkunst-Ausstellung  veranlaßt,  die  für  Schule 
wie  Haus  von  großem  Interesse  ist.  Den  Besuchern  werden  ja  viele  der  Künstler- 
Steinzeichnungen  schon  bekannt  sein.  Neuartig  an  der  Ausstellung  ist  vor  allem 
der  Umstand,  daß  zum  ersten  Male  fast  die  ganze  Kollektion  gezeigt  wird  und 
daß  in  dem  geschmackvollen  Räume  die  Blätter  voll  zu  ihrer  Geltung  kommen. 
Über  den  Wert  der  Blätter  braucht  nichts  gesagt  zu  werden:  man  braucht  nur  die 
Namen  Arthur  Kampf,  Hans  von  Volkmann,  Hans  Thoma,  Biese,  Skarbina, 
Kalimorgen  zu  nennen,  um  zu  zeigen,  auf  welcher  Höhe  man  sich  hier  befindet. 
Landschaften  aus  allen  Teilen  unseres  Vaterlandes  sind  vertreten  und  ebenso 
aus  allen  Jahreszeiten  und  Naturlagen;  dazu  eine  reiche  Anzahl  prächtiger 
Stimmungsbilder  und  figürlicher  Darstellungen.  Ein  sehr  geschmackvoller  Katalog 
dient  zur  Erinnerung  an  den  Besuch,  der  für  jedermann  frei  ist. 

Berlin.  A.  Matthias. 


1.  Abhandlungen. 


Die  naturwissenschaftlichen  Schfilerübungen  an  den 
höheren  Lehranstalten  PreuBens. 

(Ergebnis  einer  Umfrage.) 

I.    Zur  Statistik  der  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen. 

Auf  den  unterrichtlichen  Wert  naturwissenschaftlicher  Schülerübungen 
ist  in  den  preußischen  Lehrplänen  bereits  im  Jahre  1882  aufmerksam  gemacht  worden, 
doch  erst  durch  die  amtlichen  Lehrpläne  von  1892  wurden  sie  als  ein  wertvolles 
und  unentbehrliches  Mittel  zur  Hebung  des  naturwissenschaftlichen  Erkennens 
in  den  Unterricht  einbezogen.  „Derartige  praktische  Übungen  haben",  wie  die 
Lehrpläne  von  1892  hervorheben,  „bei  richtiger  Leitung  einen  nicht  zu  unter- 
schätzenden erziehlichen  Wert  und  können  unter  Umständen  auch  auf  das  Gebiet 
des  physikalischen  Unterrichts  ausgedehnt  werden."  Einfache  Arbeiten  im  Labo- 
ratorium sind  demgemäß  im  Anschlüsse  an  die  Chemie  seit  1892  in  das  naturwissen- 
schaftliche Pflichtpensum  der  Unter-  und  Oberprima  der  Realanstalten,  zumal  der 
Oberrealschulen  aufgenommen.  Dieselbe  Einrichtung  ist  mit  gleicher  Begründung 
auch  in  den  Lehrplänen  von  1901  beibehalten  worden.  Die  Praxis  ist  allerdings 
über  die  erwähnte  bloße  Anregung,  die  Laboratoriumsarbeiten  auch  auf  die  übrigen 
Gebiete  der  Naturwissenschaften  außer  Chemie  auszudehnen,  wie  die  nachfolgende 
Statistik  zeigt,  bald  und  weit  hinausgegangen. 

•  Die  im  Jahre  1892  erfolgte  Aufnahme  der  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen 
in  den  lehrplanmäßigen  Unterricht  der  höheren  Schulen  erfolgte  keineswegs  unver- 
mittelt, sie  war  das  Ergebnis  dessen,  was  pädagogische  Einsicht  und  Erfahrung 
schon  lange  vorher  als  notwendig  erkannt  und  erprobt  hatte.  Schon  vor  1892  hatten 
manche  Fachlehrer  aus  eigenem  Antriebe  ihrem  theoretischen  Unterricht  durch 
praktische  Schülerarbeiten  einen  festeren  Halt  und  eine  nachhaltigere  Wirkung  zu 
verschaffen  gesucht.  Soweit  preußische  Schulen  in  Betracht  kommen,  finden  wir 
chemische  Schülerübungen,  ganz  abgesehen  von  ähnlichen  Bestrebungen  an 
den  Ritterakademien  und  an  den  Realschulen  des  18.  Jahrhunderts,  bereits  im  Winter 
1839/40  am  Realgymnasium  am  Zwinger  zu  Breslau,  im  Jahre  1845  erfolgte  deren 
Einführung  am  Realgymnasium  zu  Wiesbaden,  1846  am  Düsseldorfer  Realgymnasium, 
1854  am  Realgymnasium  zu  Potsdam,  1855  am  Realgymnasium  zu  Lippstadt, 
1858  am  Kaiser  Wilhelm-Realgymnasium  zu  Berlin,  1860  am  Realgymnasium  zu 

Monatschrlft  f.  höh.  Schulen.  VIII.  Jhr.t;.  31 


482  J-  Norrenberg, 

Grünberg  i.  Schi.  usw.  Physikalische  Übungen  lassen  sich  in  Preußen  zuerst 
nachweisen  1845—1867  am  Wiesbadener  Realgymnasium,  1886  am  Realgymnasium 
zu  Reichenbach  i.  Schi.,  1892  am  Dorotheenstädtischen  Realgymnasium  zu  Berlin, 
1893  an  der  Oberrealschule  zu  Aachen,  1894  am  Gymnasium  zu  Osnabrück,  1895 
an  der  Frankfurter  Musterschule,  1896  am  Sophien-Realgymnasium  zu  Berlin, 
1897  an  der  Oberrealschule  vor  dem  Clevertore  zu  Hannover  usw.  Zur  Einführung 
von  besonderen  Schülerübungen  im  naturgeschichtlichen  Unterricht  scheint 
man  zuerst  am  Falk-Realgyranasium  zu  Berlin  (1894)  geschritten  zu  sein. 

Die  Ausdehnung  der  Schülerarbeiten  auf  die  physikalische  Unterweisung  hat 
besonders  erfreuliche  Fortschritte  gemacht,  nachdem  Bernh.  Schwalbe  auf  der 
Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  zu  Bremen  im  Jahre  1893  die 
Möglichkeit  der  Einführung  eines  physikalisch-praktischen  Unterrichts  dargetan  und 
den  allgemeinbildenden  Wert  der  physikalischen  Schülerübungen  nachdrücklich  be- 
tont hatte.  Der  reichen  Literatur,  die  sich  an  den  Schwalbeschen  Vortrag  anschloß, 
und  der  nachhaltigen  Anregung,  die  von  den  vortrefflich  geleiteten  Beriiner  Urania- 
Kursen  ausging,  ist  es  zu  danken,  daß  sich  die  Überzeugung  von  der  Bedeutung 
des  praktisch-heuristischen  Unterrichtsverfahrens,  das  auch  außerhalb  Preußens  zahl- 
reiche Anhänger  hatte,  immermehr  Bahn  brach.  Nach  einer  von  der  Unterrichts- 
kommission der  Gesellschaft  deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  im  Einvernehmen 
mit  der  Preußischen  Unterrichts-Verwaltung  im  Jahre  1906  erlassenen  Rundfrage 
waren  damals  physikalische  Schülerübungen  bereits  an  30  höheren  Lehranstalten 
(4  Gymnasien,  2  Gymnasien  nebst  Realschulen,  17  Realgymnasien,  7  Oberreal- 
schulen) eingeführt.  Chemische  Schülerübungen  wurden  in  demselben  Jahre  an 
100  höheren  Lehranstalten  abgehalten.  Naturgeschichtliche  Übungen  ließen  sich  im 
Jahre  1906  an  keiner  höheren  Lehranstalt  nachweisen.  Die  früheren  Versuche,  solche 
Übungen  einzurichten,  mußte  man  fallen  lassen,  weil  bei  dem  Mangel  naturgeschicht- 
licher Unterweisung  auf  der  Oberstufe  es  an  jeder  Möglichkeit  der  Anknüpfung 
fehlte. 

Bei  dem  hohen  erziehlichen  Werte,  der  dem  auf  eigenen  Schülerversuchen 
aufbauenden  heuristischen  Unterrichtsverfahren  unzweifelhaft  beizumessen  ist,  er- 
scheint die  Zahl  derjenigen  Anstalten,  welche  sich  die  Vorteüe  dieser  Methode  zu 
Nutze  machten,  nur  gering.  Abgesehen  von  den  großen  Opfern,  die  die  Leitung 
und  Vorbereitung  der  Übungen  an  die  Zeit  und  die  Arbeitskraft  der  Lehrer  stellt, 
waren  es  früher  wohl  hauptsächlich  finanzielle  Bedenken,  die  einen  befriedigenden 
Fortschritt  des  bezeichneten  Unterrichts-Verfahrens  hinderten.  Daß  aber  unter  den 
Fachlehrern  die  Notwendigkeit  der  Einführung  der  Schülerversuche  anerkannt  wurde, 
geht  deutlich  daraus  hervor,  daß  bei  der  Rundfrage  des  Jahres  1906  74,9%  aller 
gymnasialen  und  82,1  %  aller  realistischen  höheren  Lehranstalten  sich  zur  Einführung 
der  Übungen  bereit  erklärten,  falls,  abgesehen  von  anderen  Bedingungen,  aus- 
reichende Mittel  hierzu  bereitgestellt  würden. 

Nachdem  nun  seit  1906  im  Etat  der  Unterrichtsverwaltung  jähriich  eine  Summe 
von  25  000  M.  zur  Förderung  naturwissenschaftlicher  Schülerübungen  zur  Verfügung 
steht,  hat  die  Zahl  derjenigen  höheren  Lehranstalten,  an  denen  man  von  dieser 
fruchtbaren  Methode  Gebrauch  macht,  ganz  erheblich  zugenommen.  Am  1.  Mai 
1909   waren   naturwissenschaftliche  Schülerversuche   an  224  Anstalten  =  28,7  % 


Die  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen  an  d.  höher.  Lehranstalten  Preufiens.    483 


aller  höherer  Lehranstalten  eingeführt.  Am  weitesten  verbreitet  finden  wir  sie  in 
den  Provinzen  Sachsen  (44,3  %),  Westpreußen  (41,4  o/o)  und  Brandenburg  (32,7  o/o)» 
am  wenigsten  in  den  Provinzen  Posen  (18,5  7o)>  Schleswig-Holstein  (22,2  7o)  und 
Schlesien  (23,2  7o)-    Vergl.  Tabelle  1. 

Tabelle  1. 

Übersicht  über  die  Zahl  der  höheren  Lehranstalten,  an  denen  natur- 
wissenschaftliche Schülerübungen  eingeführt  sind 
(nach  dem  Stande  vom  1.  Mai  1909). 


Provinz 


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dar- 
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staat- 
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An- 
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in 

% 
aller 
An- 
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1.  Ostpreußen 

2.  Westpreußen  .  .  .  . 

3.  Brandenburg  .  .  .  . 

4.  Pommern 

5.  Posen 

6.  Schlesien 

7.  Sachsen 

8.  Schleswig-Holstein 

9.  Hannover 

10.  Westfalen 

11.  Hessen-Nassau  .  .  . 

12.  Rheinprovinz  .  .  .  . 


29.8 
41,4 
32.7 
29.4 
18,5 
23,2 
44,3 
22.2 
25,7 
25,0 
25,9 
26,2 


Summe 


65 


77 


68 


10       224 


67 


28,7 


Unter  den  224  Anstalten  sind  beteiligt  65  =  19,6  7o  Gymnasien,  77  =  62,1  % 
Realgymnasien,  68  =  90,7  7o  Oberrealschulen,  2  =  5  7o  Progymnasien,  2  =  5,1  % 
Realprogymnasien  und  endlich  10  =  5,9  7o  Realschulen.  Für  die  Vollanstalten  be- 
tragen die  Beteiligungsziffern  210  =  39,5  7o>  für  die  Nichtvollanstalten  14  =  5,6  7o- 

Auffällig  ist  die  geringe  Zahl  der  beteiligten  Gymnasien.  Wenn  man  bei  ihnen 
auch  gewiß  nicht  den  Wert  der  praktischen  Arbeiten  unterschätzt,  so  neigt  man 
aber  doch  der  leicht  erklärlichen  Auffassung  zu,  daß  die  Übermittlung  einer 
gründlicheren  naturwissenschaftlichen  Bildung  den  Realanstalten  überlassen  bleiben 
müsse.  Auch  mag  es  den  Gymnasien  wohl  vielfach  an  den  geeigneten  Lehrern 
und  an  ausreichenden  Mitteln  zur  Durchführung  eines  auf  eigener  Beobachtungs- 
arbeit der  Schüler  begründeten  Unterrichtsweise  fehlen. 

So  sehr  der  durch  die  obigen  Zahlen  erwiesene  Fortschritt  in  der  Methodik 
des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  seit  1906  und  damit  der  Erfolg  der  Unter- 
richtsarbeit auch  anzuerkennen  ist,  so  bleibt  doch  die  Zahl  der  Anstalten,  die  sich 
an  diesem  Fortschritt  beteiligen,  noch  weit  zurück  hinter  der  Zahl  derjenigen 
Schulen,  die  sich,  wie  vorhin  erwähnt,  zur  Einführung  der  Schülerübungen  bereit 
erklärt  haben.    Da  somit   ein  weiteres  Steigen  der  Beteiligungsziffer  für  die  Zu- 

31* 


484  J-  Norrenberg, 

kunft  zu  erwarten  ist,  so  ist  die  dauernde  Bereitstellung  der  bisher  zur  Förderung 
der  Übungen  bewilligten  Mittel  dringend  erwünscht. 

Das  Bild,  das  sich  aus  den  vorhin  mitgeteilten  Zahlen  ergibt,  ist  allerdings 
weniger  günstig,  als  es  nach  den  wirklichen  Verhältnissen  sein  sollte.  Unter  den 
aufgezählten  Anstalten  fehlen  noch  diejenigen  höheren  Schulen,  die  die  Übungen 
schon  in  Aussicht  genommen  haben,  aber  aus  irgendwelchen  Gründen  (namentlich 
weil  die  erbetenen  Mittel  nicht  mehr  rechtzeitig  angewiesen  werden  konnten)  am 
1.  Mai  d.  J.  noch  nicht  eingerichtet  hatten,  also  auch  diejenigen,  die  die  Übungen 
nur  für  das  Winterhalbjahr  einzurichten  beabsichtigen.  Bei  manchen  Anstalten  ist 
vielfach  auf  die  Einrichtung  vorläufig  noch  verzichtet  worden,  weil  sie  sich  noch 
in  der  Entwicklung  zu  Vollanstalten  befinden  und  an  ihnen  somit  ohnedies  an  die 
Arbeits-  und  Organisationskraft  der  Leiter  und  Lehrer  ungewöhnliche  Anforderungen 
gestellt  werden.  Vor  allem  aber  sind  bei  der  Zählung  alle  diejenigen  höheren 
Schulen  außer  Betracht  gelassen  worden,  an  denen  die  experimentelle  Anleitung 
der  Schüler  nur  ganz  gelegentlich  in  den  lehrplanmäßigen  Unterrichtsstunden  erfolgt, 
ohne  daß  gerade  von  einem  Übungskursus  zu  sprechen  an  diesen  Anstalten  eine 
Berechtigung  vorhanden  wäre.  Daß  dieses  Verfahren  aber  nicht  ohne  Wert  und  Be- 
deutung ist,  bedarf  keiner  weiteren  Begründung.  Von  einer  Statistik  über  die  in 
den  Unterricht  eingeordneten,  nur  gelegentlichen  Schülerversuche  mußte  aber  Ab- 
stand genommen  werden,  da  die  Ausdehnung  derartiger  Übungen  zu  verschieden 
sein  kann. 

Ganz  auffallend  ist  die  offenbare  Zurückhaltung,  die  bezüglich  der  Schüler- 
übungen an  den  sechsstufigen  Anstalten  trotz  der  guten  Erfolge  geübt  wird,  die 
man  mit  der  praktisch-heuristischen  Methode  gerade  im  Anfangsunterricht  erzielt 
hat.  Dem  Wunsche,  der  von  dem  Verein  zur  Förderung  des  physikalischen  Unter- 
richts zu  Berlin  in  seiner  der  Unterrichtsverwaltung  eingereichten  Denkschrift  aus- 
gesprochen wurde,  es  möchten  vor  allem  für  die  Realschulen  praktische  Schüler- 
übungen eingerichtet  werden,  ist  man  also  in  Wirklichkeit  wenig  entgegen- 
gekommen. Der  Hauptgrund  liegt  hier  augenscheinlich  nicht  nur  an  dem  Mangel 
geeigneter  Räumlichkeiten  und  ausreichender  Hilfsmittel  —  Umstände,  die  ja  an 
sechsstufigen  Anstalten  kleiner  Gemeinden  wohl  hier  und  da  mitsprechen  können  — 
sondern  auch  daran,  daß  in  der  Abschlußklasse,  die  vor  allem  in  Frage  kommt, 
das  Interesse  zu  ausschließlich  auf  den  äußeren  Erfolg  der  Schlußprüfung  gerichtet 
ist.  Leider  macht  sich  auch  hier  wieder  eine  bedauerliche  Überschätzung  des  aus 
dem  Lehrbuche  angeeigneten  Wissens  auf  Kosten  eines  selbständigen,  wenn  auch 
auf  Einzelgebiete  beschränkten  wirklichen  Naturerkennens  geltend. 

Nur  an  wenigen  Anstalten  sind  die  physikalischen,  chemischen  und  natur- 
geschichtlichen Übungen  zu  einem  allgemein  -  naturwissenschaftlichen  Übungs- 
kursus vereinigt.  Vielfach  werden  aber  mehrere  Spezialgebiete  nebeneinander  be- 
handelt, so  daß  an  den  224  in  Betracht  kommenden  Anstalten  im  ganzen  355  Übungs- 
kurse bestehen.  Unter  ihnen  sind  141  =  39,7  %  der  Physik,  165  =  46,5  %  der 
Chemie,  49  =  13,8  %  der  Naturgeschichte  gewidmet.    Vergl.  Tabelle  2. 

Wie  sich  historisch  erklären  läßt,  überwiegen  die  chemischen  Übungen,  aber 
auch  die  jüngeren  physikalischen  Übungen  sind  schnell  behebt  geworden.  Die 
naturgeschichtlichen  Schülerversuche,   als  die  zuletzt  eingeführten,  stehen  iiatur- 


Die  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen  an  d.  höher.  Lehranstalten  Preußens.     485 


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486  J-  Norrenberg, 

gemäß  hinter  den  übrigen  noch  zurück,  obgleich  in  dem  Erlasse  vom  19.  März 
1908  (U II  668),  betreffend  Einführung  des  naturgeschichtlichen  Unterrichts  in  den 
oberen  Klassen,  auf  den  Wert  derartiger  Übungen  ausdrücklich  hingewiesen  worden 
ist.  Der  Mangel  an  Erfahrung  über  Inhalt,  Umfang  und  methodische  Behandlung 
des  Gegenstandes  veranlaßt  viele  Anstalten,  eine  abwartende  Haltung  einzunehmen, 
und  nur  wenige  Lehrer  trauen  sich  vermöge  der  unzureichenden  Vorbildung  zu, 
solche  Arbeiten  zu  leiten  und  fruchtbar  zu  gestalten.  Dies  scheint  vor  allem  in 
Hessen-Nassau,  dann  aber  auch  in  Posen,  Pommern  und  Schleswig-Holstein  der 
Fall  zu  sein. 

An  den  Gymnasien  herrschen,  da  hier  die  Chemie  kein  besonderes  Lehrfach 
bildet,  die  physikalischen  Übungen  vor,  doch  auch  die  übrigen  Teilgebiete  bleiben 
da  nicht  unberücksichtigt.  An  den  realistischen  höheren  Schulen  überwiegen 
dagegen  die  auf  eine  längere  Vergangenheit  zurückblickenden  und  im  Lehrplane 
vorgesehenen  chemischen  Übungskurse.  Bemerkenswert  bleibt  es  immerhin,  daß 
von  den  Oberrealschulen  noch  12  7oi  von  den  Realgymnasien  noch  44,4  7o  keine 
besonderen  chemischen  Laboratoriumsübungen  eingeführt  haben.  Vermutlich  werden 
hier  die  lehrplanmäßig  vorgeschriebenen  „einfachen  Arbeiten  im  Laboratorium", 
falls  sie  überhaupt  stattfinden,  nur  gelegentlich  dem  theoretischen  Unterricht  in  den 
dafür  angesetzten  Stunden  eingefügt.  Doch  gibt  es  auch  immer  noch  preußische 
Oberrealschulen,  an  denen  tatsächlich  der  Mangel  an  Räumlichkeiten  die  Ein- 
richtung praktischer  Arbeiten  völlig  unmöglich  macht. 

Von  den  355  naturwissenschaftlichen  Übungskursen  sind  137  =  38,6  %  in  die 
verbindlichen  Unterrichtsstunden  des  normalen  Lehrplanes  eingeordnet,  die 
übrigen  218  =  61,4  7o  sind  als  besondere  fakultative  Kurse  eingerichet.  Erstere 
Anordnung  überwiegt  an  den  Oberrealschulen,  letztere  an  den  Gymnasien  und 
Realgymnasien.  Daß  man  an  den  Oberrealschulen  die  Einrichtung  besonderer 
freiwilliger  Kurse  nicht  so  gerne  sieht  wie  an  den  übrigen  Anstalten,  liegt  wohl 
daran,  daß  fakultative  Stunden  an  den  Oberrealschulen  schon  in  größerer  Zahl  vor- 
gesehen sind  (Latein,  Linearzeichnen  usw.).  In  Ostpreußen,  Sachsen  und  Hannover 
bevorzugt  man  überhaupt  die  Eingliederung  der  Übungen,  in  Posen,  Pommern 
und  Brandenburg  die  Angliederung  besonderer  Stunden. 

Die  naturwissenschaftlichen  Übungskurse  verteilen  sich  (vgl.  Tabelle  3)  auf 
684  Klassen:  in  283  Klassen  finden  physikalische,  in  309  chemische  und  in  92 
Klassen  naturgeschichtliche  Übungen  statt.  Hierbei  ist  die  Ulli  nur  ein  einziges 
Mal  und  zwar  an  einem  sächsischen  Gymnasium  beteiligt,  wo  von  den  Schülern 
in  der  Naturgeschichte  gearbeitet  wird.  Auf  die  Olli  entfallen  die  Übungen 
20 mal  (2,1%),  auf  Uli  58  (8,4 o/o),  auf  OII  105  (15,3  o/^),  auf  UI  256  (37,4%) 
und  endlich  auf  Ol  244 mal  (35,5%).  Vorwiegend  sind  also  die  beiden  Primen 
beteiligt,  auffallend  gering  die  Obersekunda,  wo  doch  eigentlich  ein  hinreichender 
Anlaß  gegeben  wäre,  nach  Beendigung  des  propädeutischen  Kursus  die  natur- 
wissenschaftliche Erkenntnis  auf  selbständigem  Erarbeiten  neu  aufzubauen.  Für 
die  geringe  Beteiligung  der  mittleren  Klassen  gilt  dasselbe,  was  bereits  oben  über 
die  zurückhaltende  Stellung  der  sechsstufigen  Anstalten  gesagt  worden  ist.  In 
Hessen-Nassau  und  Posen  ist  die  Mittelstufe  überhaupt  nicht  zu  Übungen  heran- 
gezogen, in  Hannover  und  Ostpreußen  nur  einmal,  in  Pommern  zweimal,  in  West- 
falen und  Schleswig-Holstein  je  dreimal. 


Die  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen  an  d.  höher.  Lehranstalten  Preußens.    487 

Tabelle  3. 
Verteilung  der  naturwissenschaftlichen  Übungen  auf  die  einzelnen  Klassen. 


Provinz 


Zahl  der  Anstalten,  an  denen  sich  die  Übungen  auf  die 
einzelnen  Klassen  verteilen:  in 


Physik 

Ol  ui  on  Uli  om 


Ol 


Chemie 
UI  OII  Un  Olli 


Natursbeschr. 

Ol  ui|oii|uii|oni|um 


1.  Ostpreußen  .  .  .  . 

2.  Westpreußen  .  ,  . 

3.  Brandenburg  .  .  . 

4.  Pommern 

5.  Posen 

6.  Schlesien 

7.  Sachsen  

8.  Schlesw.-Holstein. 

9.  Hannover 

10.  Westfalen 

11.  Hessen-Nassau  .  . 

12.  Rheinprovinz  .  .  . 


8 


Summe    83  86  63  34    17    132    136  20  20      1     29  34  22     4      2 


Bei  den  fakultativen  Übungen,  denen  annähernd  im  gleichen  Verhältnisse  en 
weder  1  oder  2  Wochenstunden  gewidmet  sind,  ist  der  Prozentsatz  der  Beteiligung 
in  den  einzelnen  Klassen  und  Fächern  außerorordentlich  verschieden  (vergleiche 
Tabelle  4). 

Tabelle  4. 

Teilnahme  an  den  wahlfreien  Übungen. 


Provinz 


Zahl  der  Ab- 
teilungen, an 

denen  die 

wöchentliche 

Stundenanzahl 

betrug: 

1 


Zahl  der  Abteilungen,  an  denen  die  Beteiligung 
an  den  wahlfreien  Übungen  war: 


mehr  als 


20 
bis 
30% 


bis 
100«« 


1.  Ostpreußen 

2.  Westpreußen  .  .  .  , 

3.  Brandenburg  .  .  .  , 

4.  Pommern , 

5.  Posen , 

6.  Schlesien 

7.  Sachsen , 

8.  Schleswig-Holstein 

9.  Hannover 

10.  Westfalen 

11.  Hessen-Nassau  .  .  , 

12.  Rheinprovinz  ... 


2       2 


Summe    146   159 


14     31  I  47     30  I  34     19     27     18    15    74 


488  ^-  Norrenberg, 

Irgendwelche  Schlüsse  aus  dem  Prozentsatze  der  Beteiligung  zu  ziehen,  wäre  aber 
durchaus  verfehlt,  da  diese  Ziffern  für  das  Interesse,  das  die  Schüler  den  Übungen 
entgegenbringen,  nicht  bezeichnend,  vielmehr  meistens  durch  die  Zahl  der  ver- 
fügbaren Arbeitsplätze  bestimmt  ist.  Ein  geringer  Prozentsatz  —  zumal  an  einer 
stark  gefüllten  Anstalt  —  kann  auch  bedeuten,  daß  der  Direktor  eine  größere  An- 
zahl von  Schülern  nicht  zugelassen  und  zahlreiche  Meldungen  zurückgewiesen 
hat,  um  so  entweder  den  Erfolg  der  Übungen  selbst  nicht  zu  gefährden,  oder  auch 
um  einer  Überlastung  der  Schüler  vorzubeugen.  Letztere  könnte  besonders  leicht 
da  eintreten,  wo,  ganz  abgesehen  von  anderen  wahlfreien  Fächern,  neben  den 
chemischen  Übungen  noch  physikalische  und  vielleicht  auch  naturgeschichtliche 
Praktika  eingerichtet  sind.  Unter  Berücksichtigung  dieser  Gesichtspunkte  muß 
anerkannt  werden,  daß  die  Schüler  sich  an  den  Übungen  in  höchst  erfreulichem 
Maße  beteiligen. 


II.  Über  den  Erfolg  der  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen. 

Bis  zur  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  wurde  es  als  die  Hauptaufgabe  des 
Unterrichts,  auch  des  naturwissenschaftlichen,  angesehen,  dem  Schüler  eine  möglichst 
große  Menge  von  Wissensstoff  mitzuteilen.  „Der  Vortrag,  so  berichtete  der 
Direktor  der  Berliner  Realschule,  Spilleke,  in  seinem  Programm  vom  Jahre  1823, 
ist  ein  beständig  fortlaufender.  Das  Vorgetragene  wird  kurz  diktiert  oder  nieder- 
geschrieben; hieran  knüpft  sich  zu  Hause  eine  eigene  Bearbeitung,  die  zu  Anfang 
der  folgenden  Stunde  vorgelesen  wird." 

Mechanik  und  Optik  waren  damals  die  bevorzugten  Abschnitte  des  natur- 
wissenschaftlichen Unterrichts,  da  diese  sich  ohne  Apparate  durch  Zeichnungen 
an  der  Tafel  hinreichend  verdeutlichen  ließen. 

Unter  dem  Einflüsse  der  Aufsehen  erregenden  Entdeckungen  und  Erfindungen, 
die  in  der  zweiten  Hälfte  des  vergangenen  Jahrhunderts  Schlag  auf  Schlag  die 
Welt  der  Wissenschaft  wie  auch  der  täglichen  Arbeit  in  Erstaunen  versetzten  und 
in  Spannung  erhielten,  machte  sich  auch  an  den  höheren  Schulen  das  Bedürfnis 
geltend,  über  die  gewaltigen  Errungenschaften  der  Wissenschaft  und  Technik  den 
Schülern  nicht  nur  zu  berichten,  sondern  sie  ihnen  auch  im  Versuche  vorzuführen. 
Abgesehen  von  einzelnen  Anstalten,  wo  leider  noch  veraltete  Anschauungen 
herrschen  mögen,  wird  jetzt  im  naturwissenschaftlichen  Unterricht  erfreulicher- 
weise dem  Experiment  die  ihm  gebührende  Bedeutung  beigemessen  und  der  ganze 
Unterricht  auf  der  Grundlage  der  Demonstration  aufgebaut.  Gut  ausgestattete  Lehr- 
zimmer und  reichhaltige  Sammlungen,  welche,  wie  auch  auf  der  Juni-Konferenz 
des  Jahres  1900  anerkannt  wurde,  an  der  Mehrzahl  der  höheren  Schulen  vorhanden 
sind,  ermöglichen  einen  durchweg  guten  Unterrichtserfolg.  Aber  immermehr  ist 
man  dazu  übergegangen,  daß  der  Lehrer  die  Experimente  nicht  nur  vorführt,  son- 
dern daß  er  —  wenigstens  die  einfacheren  und  grundlegenden  Versuche  auch  von 
den  Schülern  selbst  wiederholen  läßt.  Die  Schüler  werden  demgemäß  —  besonders 
bei  Repetitionen  —  nicht  lediglich  abgefragt,  sondern  sie  treten  an  den  Experimen- 
tiertisch heran  und  geben  an  den  Apparaten  selbst  die  notwendigen  Erläuterungen. 
Dieses  Verfahren   hat  sich   außerordentlich    bewährt.    Interesse  und  Verständnis 


Die  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen  an  d.  höher.  Lehranstalten  Preußens.     489 

werden  ganz  anders  erweckt,  als  dies  bei  dem  früher  üblichen,  bloß  dozierenden, 
demonstrierenden  und  abfragenden  Verfahren  möglich  war. 

Dies  gelegentliche  und  wiederholende  Experimentieren  ist  aber  nicht  das,  was 
man  unter  „  Schülerübungen "  zu  verstehen  hat.  Die  preußischen  Lehrpläne  von 
1901  verlangen  mit  Recht,  daß  das  Bestreben  des  Lehrers  vor  allem  dahin  zu  richten 
sei,  den  Schüler  zu  eigenem  Beobachten  und  selbständigem  Denken  anzuleiten. 
Er  soll  also  lernen,  wie  naturwissenschaftliche  Erkenntnis  zustande  kommt,  wie 
ein  naturwissenschaftliches  Problem  erfaßt  und  behandelt  wird.  Dies  ist  aber  nur 
möglich,  wenn  dem  Schüler  Gelegenheit  geboten  wird,  durch  Selbstanstellung  von 
Versuchen  in  innige  Fühlung  mit  dem  Objekte  zu  treten  und  naturwissenschaftliche 
Wahrheiten  durch  eine  abwechselnde  Inanspruchnahme  von  experimenteller  Prüfung 
und  logischer  Erwägung  selbst  aufzufinden.  Nur  dann  wird  der  naturwissen- 
schaftliche Unterricht  seine  volle  Kraft  entfalten,  wenn  es  gelingt,  den  Schüler 
anzuhalten,  „die  Eigenart  der  naturwissenschaftlichen  Arbeitsmethoden  aus  eigener 
Erfahrung  kennen  zu  lernen  und  so  zu  einer  Würdigung  ihrer  Bedeutung",  aber 
auch  zur  Erkenntnis  ihrer  begrenzten  Anwendbarkeit  zu  gelangen. 

Die  naturwissenschaftlichen  Übungen  zielen  daher  keineswegs  auf  eine  Aus- 
dehnung des  Lehrstoffes,  eher  auf  dessen  Einschränkung,  auch  nicht  auf  Einführung 
eines  neuen  Unterrichtsfaches,  sondern  auf  eine  methodische  Umgestaltung  und 
damit  vielleicht  auf  eine  Zusammenfassung  bisher  getrennter  Unterrichtsgebiete  hin. 
Diese  Bestrebungen  gehen  ganz  parallel  mit  ähnlichen  methodischen  Reformen  auf 
allen  anderen  Unterrichtsgebieten.  Überall  läßt  sich  eine  Abkehr  vom  systematischen 
Buchwissen  zugunsten  eines  lebendigen  Erfassens  der  Wirklichkeit  erkennen. 
Schon  im  Zeichenunterricht  ist  an  Stelle  des  schematischen  Abzeichnens  eine  erfolg- 
reichere Art  des  Zeichnens  getreten,  das  vom  unmittelbaren  Sehen  der  Dinge  aus- 
geht, Freude  am  Schauen  und  künstlerischen  Nachschaffen  weckt  und  zum  freien 
Nachgestalten  der  Wirklichkeit  erzieht.  Das  Turnen  ist  aus  einer,  nach  fein  kon- 
struierten Regeln  betriebenen,  im  Turnsaale  ausgeführten  Gymnastik  zu  einem  freien 
Spiel  geworden,  wo  jeder  seine  eigene  Persönlichkeit  zur  Geltung  bringen  kann. 
Und  auch  im  Sprachunterricht  beobachten  wir  dieselbe  Erscheinung,  das  gleiche 
Loslösen  von  der  Gebundenheit  und  Regelherrschaft,  wenn  an  Stelle  der  zurecht- 
gestutzten Einzelsätze,  die  nur  der  Einübung  einer  bestimmten  Form  oder  Regel 
dienen,  der  zusammenhängende  Text  tritt,  der  als  Erzählung,  Anekdote  oder 
Gedicht  ein  Stück  lebendiger  Sprache,  ein  Wirkliches  darstellt,  oder  wenn  das  Haupt- 
gewicht nicht  mehr  auf  die  abstrakte  Form  sondern  auf  den  konkreten  Inhalt  gelegt 
wird.  Und  auch  die  klassische  Philologie  ist,  wie  Paulsen  einmal  eingehender  aus- 
einander gelegt  hat,  realistischer  geworden  und  sucht  mehr  dem  Leben  zu  dienen. 
Diesem  allgemeinen  Aufschwung  des  Unterrichtsverfahrens  kann  sich  der  natur- 
wissenschaftliche Unterricht,  der  mehr  als  ein  anderes  Fach  die  Erkenntnis  der  Wirk- 
lichkeit zur  Aufgabe  hat,  nicht  entziehen.  Auch  er  muß  das  jetzt  vielfach  noch  herr- 
schende Buchwissen  und  Registrieren  der  Erscheinungen  zugunsten  des  erzieherisch 
wertvolleren  naturwissenschaftlichen  Schaffens  zurücktreten  lassen,  die  Methode 
muß  noch  mehr  als  bisher  in  Wahrheit  eine  naturwissenschaftliche  werden.  Die 
Bildung,  die  die  höhere  Schule  auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaften  vermittelt 
und  die  früher  auf  einem  möglichst  umfassenden  Wissen  von  der  Natur  beruhte, 


490  J-  Norrenberg, 

muß,  da  beim  heutigen  Umfange  unserer  Erkenntnis  eine  systematische  Behandlung 
selbst  der  einfacheren  Erscheinungen  kaum  noch  möglich  ist,  sich  jetzt  auf  ein 
Verständnis  und  eine  Beherrschung  der  naturwissenschaftlichen  Methode  und  deren 
Anwendung  auf  einzelne  Teilgebiete  beschränken.  Nicht  erlernen,  sondern  erarbeiten 
muß  der  Schüler. 

Bei  diesen  Schülerübungen,  bei  denen  es  sich  um  eine  systematische  Anleitung 
zur  eigenen  Anstellung  von  Experimenten  handelt,  sind  bisher  zwei  grundsätzliche 
Wege  erprobt  worden.  Man  läßt  nämlich  einmal  alle  Schüler  die  Übungen  zu 
derselben  Zeit  mit  denselben  Apparaten  ausführen  oder  teilt  die  Schüler  von  vorn- 
herein in  Gruppen,  die  verschiedene  Übungen  an  verschiedenen  Apparaten  vor- 
nehmen. Man  pflegt  jetzt  diese  beiden  Verfahrungsweisen  kurz  als  Übungen  „mit 
gleicher"  oder  „mit  ungleicher  Front",  letztere  auch  als  die  „regellose  Arbeits- 
weise" zu  bezeichnen. 

In  den  Fachkreisen  wird  die  Frage,  welcher  von  diesen  beiden  Wegen  den 
Vorzug  verdiene,  auf  das  lebhafteste  erörtert.  Die  erste  Methode  besitzt  unzweifel- 
haft große  Vorzüge,  ja  sie  stellt  insofern  sogar  ein  Ideal  dar,  als  hier  der  ganze 
Lehrstoff  auf  wirklich  experimenteller  Grundlage  durch  die  Schüler  selbst  —  nur 
unter  Anleitung  des  Lehrers  —  wirklich  erarbeitet  und  nicht  nur  verarbeitet  werden 
soll.  Demgemäß  bilden  diese  Übungen  auch  nicht  nur  eine  vollkommene  Ergän- 
zung des  Unterrichts,  sondern  sie  sind  mit  ihm  organisch  verschmolzen.  Von  den 
Anhängern  der  zweiten  Richtung  werden  diese  Vorzüge  wohl  anerkannt,  ander- 
seits wird  aber  geltend  gemacht,  daß  bei  diesem  Verfahren  der  Unterrichsstoff  zu 
stark  beschränkt  werden  müsse,  da  sich  sonst  die  Arbeitsweise  in  gleicher  Front 
garnicht  durchführen  lasse.  Bei  dieser  gleichmäßigen  Berücksichtigung  aller  Schüler 
kämen  gerade  die  besseren  Elemente  entschieden  zu  kurz.  Demgegenüber  ge- 
währe der  zweite  Weg,  die  regellose  Arbeitsweise  in  ungleicher  Front,  den  großen 
Vorteil,  daß  hier  die  Schüler  ihrer  ganzen  Veranlagung  und  individuellen  Neigung 
gemäß  angeregt  und  gefördert  werden  könnten.  Unzweifelhaft  liegt  hierin  viel 
Wahres.  Beide  Wege  besitzen  eben  ihre  besonderen  Vorzüge.  Im  allgemeinen 
empfiehlt  sich  das  Arbeiten  in  gleicher  Front  besonders  beim  Unterricht  der  Unter- 
stufe (Naturgeschichte)  und  beim  propädeutisch -naturwissenschaftlichen  Unterricht 
der  Mittelstufe,  während  auf  der  Oberstufe  die  gruppenweise  Beschäftigung  durch- 
weg größere  Anregung  gewährt.  Auch  die  Lehrpläne  der  bayerischen  Oberreal- 
schulen vom  15.  Juni  1907,  die  in  vorzüglichen  Anweisungen  den  naturwissen- 
schaftlichen Schülerübungen  einen  weiten  Raum  im  Pflichtunterricht  gewähren, 
empfehlen  dieses  Verfahren :  „Die  Anfangsübungen  sind  durchweg  als  gemeinsame 
Übungen  der  Klasse  auszugestalten,  in  denen  der  Lehrer  den  Fortschritt  der  Ex- 
perimente überwacht  und  regelt  und  die  Übungen  in  gemeinsamer  Besprechung 
durch  Frage  und  Erläuterung  ihrem  Ziele  entgegenführt.  Später  ist  durch  Einzel- 
arbeit eine  größere  Selbständigkeit  allmählich  anzustreben.  Hier  soll  der  Schüler 
die  Methoden  der  physikalischen  Forschung  und  die  Grenzen  der  exakten  experi- 
mentellen Arbeit  an  einigen  Beispielen  verstehen  lernen."  Indessen  lassen  bei  der 
ersteren  Methode  sich  auch  auf  der  Oberstufe  recht  gute  Erfolge  erzielen,  wenn 
neben  dem  praktischen  Unterricht  in  den  verbindlichen  Stunden  für  die  weiter 
Fortgeschrittenen   noch   besondere  wahlfreie  Übungsstunden   eingerichtet  werden. 


Die  naturwissenschaftlichen  Schülerilbungen  an  d.  höher.  Lehranstalten  Preußens.     491 

Es  empfiehlt  sich  daher  dringend,  beide  Wege  noch  weiter  zu  erproben  und  — 
wo  dies  angängig  ist  —  sogar  miteinander  zu  verbinden. 

Augenblicklich  wird  an  der  weit  überwiegenden  Mehrzahl  der  Anstalten  —  so- 
viel sich  erkennen  läßt  —  die  regellose  Arbeitsweise  bevorzugt.  Dazu  trägt  un- 
zweifelhaft der  Umstand  wesentlich  bei,  daß  bei  dem  Arbeiten  in  gleicher  Front 
größere  Aufwendungen  erforderlich  sind.  Bei  der  gruppenweisen  Beschäftigung  hin- 
gegen lassen  sich  Übungen  schon  dann  ganz  gut  vornehmen,  wenn  nur  ein  geeignetes 
physikalisches  Lehrzimmer  (mit  einem  großen  Experimentiertische)  sowie  ein  an- 
grenzender Sammlungsraura  mit  mehreren  Tischen  vorhanden  ist.  Bei  dem  ersteren 
Verfahren  dagegen  muß,  wenn  die  Schülerzahl  die  normale  Größe  hat,  ein  besonderer, 
mit  Gas,  Wasserleitung,  elektrischem  Anschluß  und  eingerichteten  Übungstischen  ver- 
sehener größerer  Arbeitsraum  vorhanden  sein.  Außerdem  lassen  sich  für  diese 
Übungen  in  gleicher  Front  auch  nicht  die  gewöhnlichen  Demonstrationsapparate 
der  Schulsammlungen  benutzen;  es  müssen  vielmehr  besonders  konstruierte,  ein- 
fache Apparate  beschafft  werden  und  zwar  in  so  großer  Zahl,  daß  eben  alle  Schüler 
gleichzeitig  an  gleichen  Apparaten  die  gleichen  Übungen  vornehmen  können. 
Natürlich  sind  hierzu  nicht  unerhebliche  Mittel  erforderlich.  So  sehr  sich  die  regel- 
lose Arbeitsweise  für  die  erste  Einrichtung  der  Schülerübungen  empfiehlt,  so  er- 
freulich wäre  es,  wenn  trotz  aller  Schwierigkeiten,  die  ja  auch  mit  der  Zeit  mehr 
und  mehr  wegfallen  werden,  das  Arbeiten  in  gleicher  Front  doch  weiter  zur  An- 
wendung käme  und  besonders  im  Anfangsunterricht  zugrunde  gelegt  würde.  Auf 
einem  Gebiete,  auf  dem  der  Naturgeschichte,  ist  das  Arbeiten  in  gleicher  Front 
ganz  unerläßlich,  wo  es  sich  darum  handelt,  in  der  Pflanzenkunde  die  Teile  einer 
Pflanze  sorgfältig  zu  sondern,  in  der  Tierkunde  einen  Fisch,  einen  Maikäfer  zu 
präparieren,  und  hier  erfordern  die  Übungen  außer  einer  Lupe,  einer  Präpariernadel 
und  einigen  Dutzend  Stecknadeln  kaum  weitere  Apparate. 

Über  die  Erfolge,  welche  durch  die  Übungen  —  sei  es  auf  dem  einen  oder 
anderen  Wege  —  erzielt  worden  sind,  sprechen  sich  die  Provinzial-Schulkollegien, 
insbesondere  auch  der  um  die  Förderung  der  naturwissenschaftlichen  Lehrmethode 
hochverdiente  Provinzial- Schulrat  Geh.  Reg. -Rat  Dr.  Vogel,  sowohl  auf  Grund 
eigener  Anschauung  als  auch  der  Gutachten  der  Direktoren  ausnahmslos  außer- 
ordentlich anerkennend  aus.  Freudigkeit  an  der  Arbeit  in  der  Schule  und  Ver- 
ständnis für  den  Lehrstoff,  beides  wird  durch  die  Schülerübungen  erhöht. 
Diese  kommen  ungezwungen  dem  natürlichen  Betätigungsdrang  der  Schüler  ent- 
gegen. Die  Schüler  erlangen  ein  gewisses  Maß  von  Handfertigkeit,  größere  Sicher- 
heit und  Genauigkeit  in  der  Beobachtung  im  Messen,  Wägen  usw.,  klareren  Ein- 
blick in  den  Zusammenhang  von  Ursache  und  Wirkung  und  in  die  Begründung 
der  Gesetze  auf  dem  den  Naturwissenschaften  eigentümlichen  Erkenntniswege  der 
Induktion.  Die  Übungen  erziehen  zur  Selbsttätigkeit  und  Entschlußfähigkeit,  Sorg- 
falt und  Geduld  und  nicht  zuletzt  auch  zur  Bescheidenheit,  da  sie  den  Schüler 
die  ungeheure  Arbeit  erkennen  lassen,  die  zur  Feststellung  der  naturwissenschaftlichen 
Tatsachen  und  Gesetze  hat  geleistet  werden  müssen.  Mehrfach  wird  mit  Befriedigung 
festgestellt,  daß  die  Schüler  durch  den  Zwang,  über  ihre  Untersuchungen  schrift- 
lich zu  berichten,  eine  sichtliche  Gewandtheit  im  Ausdruck  gewonnen  und  sich 
—  im  Gegensatz  zu  den  bei  anderen  Aufsätzen  vielfach  üblichen  Gepflogenheiten 


492  J-  Norrenberg, 

—  daran  gewöhnt  haben,  nur  das  auf  die  Richtigkeit  streng  geprüfte  Wissen  knapp 
und  klar  darzustellen.  Besonders  bei  den  physikalischen  Versuchen  werden  die 
Schüler  allmählich  immer  vorsichtiger  in  der  Beurteilung  des  Gesehenen,  sie  scheuen 
sich  mehr  und  mehr,  aus  den  Einzelbeobachtungen  voreilige  und  allgemeingültige 
Schlüsse  zu  ziehen.  Sie  erkennen  je  länger  destomehr,  daß  sie  bei  allen  Beob- 
achtungen größere  oder  kleinere  Fehler  begehen,  daß  sie  deren  Quellen  nachforschen 
müssen  und  die  Fehlergrößen  durch  besondere  Vorsichtsmaßregeln  oder  durch 
möglichst  zahlreiche  Versuche  einschränken  können.  Ein  Vergleich  der  am  Schlüsse 
der  Experimente  von  den  einzelnen  Schülern  erzielten  Resultate  spornt  jedesmal 
zu  noch  größerem  Wetteifer  an. 

Nicht  selten  zeigte  sich  auch  bei  den  Schülern,  die  vorher  im  Klassenunterricht 
wenig  hervortraten,  ja  sogar  minderwertig  erschienen,  eine  auffallende  Anstelligkeit 
und  Besonnenheit  bei  der  Arbeit,  sodaß  sie  durch  die  ihnen  gezollte  Anerkennung 
angespornt  sich  später  auch  im  Klassenunterricht  lebhafter  beteiligten  und  Besseres 
leisteten.  Eine  umfassendere  Pflege  der  Übungen  und  eine  höhere  Bewertung  des 
hierbei  Geleisteten  bietet  jedenfalls  die  Möglichkeit,  die  intellektuellen  Fähigkeiten 
der  Schüler  gerechter  zu  beurteilen  und  auch  solche  jungen  Leute,  die  nun  ein- 
mal mehr  Freude  am  Konkreten  haben  und  für  das  abstrakte  Denken  weniger  be- 
anlagt sind,  deshalb  aber  doch  hinter  ihren  für  Grammatik  und  mathematische  De- 
duktionen empfänglicheren  Mitschülern  geistig  keinesweg  zurückstehen,  einen 
Bildungsweg  offenzuhalten,  ohne  dessen  Absolvierung  es  dem  Gebildeten  außer- 
ordentlich erschwert  ist,  sich  eine  geachtete  Stellung  unter  seinen  Mitbürgern  zu 
erringen.  Daß  solche  Unterschiede  in  der  Beanlagung  vorhanden  sind,  ist  bei 
den  Übungen  deutlich  zu  erkennen.  Einzelne  Schüler  bevorzugen  die  qualitativen, 
andere  die  quantitativen  Versuche.  Nicht  selten  hat  sich  auch  gezeigt,  daß  Schüler 
ganz  besondere  technische  Talente  und  Geschicklichkeit  entfalten,  ja  auch  eine  auf- 
fallende Erfindungsgabe  besitzen  und  zu  Versuchsanordnungen  gelangen,  die  ein 
hohes,  im  Klassenunterricht  bei  ihnen  kaum  beobachtetes  Maß  von  Verständnis 
der  physikalischen  Erscheinungen  und  Gesetze  verraten. 

Einstimmig  wird  von  den  Provinzial-Schulkollegien  festgestellt,  daß  die  Schüler 
mit  großer  Freude  an  die  praktischen  Übungen  herangehen  und  sich  in  steigender 
Zahl  an  ihnen  beteiligen. 

Wenn  die  physikalischen  Übungen  eine  höchst  beachtenswerte  Ergänzung  und 
Vertiefung  des  Klassenunterrichts  gewähren,  so  sind  die  chemischen  Übungen 
geradezu  als  ein  unbedingt  notwendiger  Bestandtteil  des  Unterrichts  selbst  zu  be- 
trachten. Demgemäß  sind  sie  erfreulicherweise  an  den  meisten  Oberrealschulen 
und  an  einer  großen  Zahl  der  Realgymnasien  zur  Einführung  gelangt. 

Hinsichtlich  des  Verfahrens,  das  bei  diesen  Übungen  zu  beobachten  ist, 
gehen  die  Ansichten  auch  nicht  so  weit  auseinander,  wie  bei  den  physikalischen 
Übungen.  Die  beiden  möglichen  Methoden  —  Übungen  in  gleicher  und  ungleicher 
Front  —  lassen  sich  hier  unschwer  vereinigen.  Nach  den  bisher  gemachten  Erfah- 
rungen empfiehlt  es  sich,  die  Schüler  zunächst  gemeinsam  mit  dem  Betriebe  der 
Arbeiten  im  Laboratorium  überhaupt  bekannt  zu  machen  (z.  B.  Behandlung  und 
Benutzung  der  Brenner,  Biegen  und  Schmelzen  von  Glas,  Kochen,  Auflösen,  Fil- 
trieren usw.).    Nachdem  auf  diese  Weise  die  Grundlage  gewonnen  und  die  manu- 


Die  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen  an  d.  höher  Lehranstalten  Preußens.     493 

eile  Fertigkeit  der  Schüler  genügend  entwickelt  ist  —  wobei  ein  besonderes  Augen- 
merk auf  unbedingte  Sauberkeit  und  Genauigkeit  zu  richten  ist  — ,  geht  man  zu 
Gruppenübungen  über.  Unter  Anleitung  des  Lehrers  lernen  die  Schüler  nun  die 
Apparate  selbst  zusammenstellen  und  die  Versuche  ausführen.  Auf  der  oberen 
Stufe  üben  die  Schüler  einzeln,  indem  sie  an  der  Hand  des  Lehrbuches  die  ihnen 
vorgelegten  Analysen  und  Synthesen  selbständig  durchführen. 

Auch  bei  den  chemischen  Übungen  sind  nach  dem  einstimmigen  Urteile  der 
Provinzial- Schulkollegien  die  Erfolge  durchaus  erfreulich.  Die  Schüler  arbeiten 
mit  regem  Interesse  und  deutlichem  Gewinn  für  das  Verständnis  chemischer  Vor- 
gänge. Wie  sehr  die  praktischen  Arbeiten  hier  dem  natürlichen  Bildungsbedürf- 
nisse entsprechen,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  viele  Schüler  die  chemischen 
Übungen  wie  auch  die  physikalischen  zu  Hause  in  einem  eigenen  Laboratorium 
fortsetzen  und  so  das  Ergebnis  des  Schulunterrichts  fördern  und  ausnützen. 

So  günstig  die  Urteile  über  den  Erfolg  der  chemischen  Übungen  lauten,  so 
ist  doch  nicht  zu  verkennen,  daß  bei  ihnen  vielerorts  die  Neigung  besteht,  zu 
weitgehende  Anforderungen  zu  stellen,  ja  über  das  Ziel  der  Schule  hinauszugehen. 
Die  Schule  hat  nicht  die  Aufgabe,  Chemiker  heranzubilden.  Das  rein  stoffliche 
Interesse  darf  sie  daher  nicht  in  den  Vordergrund  rücken,  sondern  sie  muß  unter 
möglichster  Beschränkung  des  bloß  Stofflichen  ihr  Augenmerk  auf  die  allgemein- 
bildende Seite  des  Unterrichts  richten.  Qualitative  und  quantitative  Analysen  dürfen 
ihr  nicht  Selbstzweck  sein,  sondern  nur  so  weit  herangezogen  werden,  als  es  zur 
Erkennung  und  Begründung  der  die  chemischen  Vorgänge  beherrschenden  Gesetze 
notwendig  ist.  Verliert  sie  diesen  Gesichtspunkt  aus  den  Augen,  so  stehen  die 
Erfolge  des  Unterrichts  in  keinem  richtigen  Verhältnisse  zu  der  für  sie  aufgewandten 
Zeit  und  Mühe.  Es  ist  entschieden  zu  rügen,  wenn  hier  und  da  eine  spezielle 
Fachausbildung  bei  den  Übungen  erstrebt  wird,  die  vielleicht  später  das  Lob  eines 
Hochschullehrers  ernten  kann,  aber  doch  für  die  harmonische  Ausbildung  der 
Schüler  und  damit  für  die  Lösung  der  eigentlichen  Aufgabe  der  höheren  Schule 
wenig  fruchtbar  ist. 

Um  das  rein  sachliche  Interesse  bei  den  chemischen  Übungen  nicht  über- 
wuchern zu  lassen,  empfiehlt  es  sich  dringend,  im  Unterricht  selbst  wie  auch  bei 
den  Übungen  ein  besonderes  Augenmerk  auf  den  Zusammenhang  mit  den  übrigen 
naturwissenschaftlichen  Gebieten  zu  richten  und  demgemäß  nicht  nur  die  Grenz- 
gebiete der  Physik  sondern  auch  vor  allem  die  Mineralogie,  Geologie  und  die 
Naturgeschichte  zu  berücksichtigen.  Der  chemische  Unterricht  gewinnt  durch  diese 
Erweiterung  seiner  Lehrziele  entschieden  an  Interesse  und  an  Wert  für  die  gesamte 
geistige  Ausbildung  der  Schüler.  Es  kann  mit  Befriedigung  hervorgehoben  werden, 
daß  an  einzelnen  Anstalten  mit  Erfolg  der  Versuch  gemacht  wird,  dieser  Forderung 
gerecht  zu  werden. 

Über  die  naturgeschichtlichen  Übungen  sprechen  sich  die  Provinzial- 
Schulkollegien  fast  alle  sehr  zurückhaltend  aus  mit  der  Begründung,  daß  diese 
Übungen  ja  erst  seit  sehr  kurzer  Zeit  zur  Einführung  gelangt  seien.  Offenbar 
liegt  hier  vielfach  ein  Mißverständnis  vor,  das  leider  durch  die  irreführende  Be- 
zeichnung , Biologie"  veranlaßt  worden  zu  sein  scheint  und  wohl  nur  diejenigen 
naturgeschichtlichen  Übungen  als  solche  gelten  läßt,  die  an  den  neuerdings  ein- 


494  J-  Norrenberg,  Die  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen  usw. 

geführten  biologischen,  also  naturgeschichtlichen  Unterricht  der  oberen  Klassen 
anknüpfen.  Ein  Grund  mehr  die  nach  jeder  Richtung  hin  mißverständliche  Be- 
zeichnung „Biologie"  in  Zukunft  durch  den  eindeutigen  Namen  , Naturgeschichte" 
zu  ersetzen.  In  Wirklickeit  sind  ja  gewiß  auf  keinem  Gebiete  die  Schülerübungen 
mehr  verbreitet  und  seit  längerer  Zeit  erfolgreich  gepflegt  worden  als  gerade  auf 
dem  der  Naturgeschichte.  Gemeinsam  in  gleicher  Front  vorgenommene  Bestim- 
mungsübungen im  botanischen  Unterricht,  Anlegen  von  Herbarien,  von  Schmetter- 
lings- und  Käfersammlungen,  die  Anlage  von  Aquarien  und  Terrarien,  Arbeiten 
im  Schulgarten,  Sezieren  und  Präparieren  eines  Maikäfers,  eines  Frosches,  eines 
Fisches  sind  doch  Übungen,  ohne  die  ein  naturgeschichtlicher  Unterricht  auch  auf 
der  Mittelstufe  zum  Teil  sogar  der  Unterstufe,  kaum  denkbar  ist  oder  sein  sollte, 
und  die  doch  an  Wert  wenigstens  für  die  Ausbildung  der  Beobachtungsfähigkeit  hinter 
einer  physikalischen  Messung  oder  einer  chemischen  Analyse  sicher  nicht  zurück- 
stehen. Solche  Übungen,  die,  soweit  sich  übersehen  läßt,  an  den  meisten  Anstalten 
in  weiterem  oder  engerem  Umfange  eifrig  gepflegt  werden,  sind  infolge  des  erwähnten 
Mißverständnisses,  wohl  aber  auch  deshalb,  weil  sie  nicht  systematisch  eingeordnet 
sind,  sondern  nur  gelegentlich  stattfinden  (s.  oben),  außer  Betracht  geblieben. 
Aber  auch  für  die  eigentlichen  naturgeschichtlichen  Übungen  der  Oberstufe  haben 
sich  aus  den  bisherigen  Erfahrungen  einzelne  wichtige  Gesichtspunkte  deutlich 
ergeben. 

Zunächst  dürfte  es  sich  auch  hier  empfehlen,  wenn  es  irgendwie  angeht,  die 
Teilnehmer  besonders  im  Anfange  gemeinsam,  später  aber  -in  Gruppen  zu  be- 
schäftigen. Voraussetzung  ist  natürlich,  daß  die  erforderlichen,  hier  ohne  allzu 
großen  Kostenaufwand  zu  beschaffenden  Einrichtungen  und  auch  die  nötigen  Mikro- 
skope vorhanden  sind.  Die  einzelnen  Übungsgebiete  (Morphologie,  Anatomie, 
Physiologie)  werden  am  zweckmäßigsten  nicht  gesondert,  vielmehr  in  inniger  Ver- 
bindung behandelt.  Unbedingt  geboten  ist  es,  sich  auch  hier  vor  jedem  Übermaß 
in  stofflicher  Hinsicht  zu  hüten.  Die  Schüler  werden  am  besten  gefördert,  wenn 
sie  einige  gut  ausgewählte  Übungsbeispiele  recht  gründlich  und  allseitig  erarbeiten. 
Endlich  müssen  sie  noch  dazu  angeleitet  werden,  ihre  Beobachtungen  wenigstens 
teilweise  schriftlich  niederzulegen  und  durch  Zeichnungen  zu  illustrieren.  Zuweilen 
veranstaltete  Exkursionen  können  nicht  nur  dazu  dienen,  den  erforderlichen  Übungs- 
stoff zu  sammeln,  sondern  auch  den  Blick  der  Schüler  auf  das  Naturganze  hin- 
zulenken und  die  im  Laboratorium  gemachten  Erfahrungen  auf  die  Erklärung  der 
Erscheinungen  draußen  im  Freien  anzuwenden.  Wenn  die  Übungen  in  dieser 
Weise  geleitet  werden,  ist  ihr  Erfolg  gesichert.  Der  Gesichtskreis  der  Schüler 
wird  gerade  durch  die  hier  geübte  Art  der  Beobachtung  außerordentlich  erweitert. 
Es  geht  ihnen  nach  und  nach  ein  immer  tieferes  Verständnis  auf  für  dieses  wunder- 
bare Reich  des  Lebens  mit  seinem  unendlichen  Reichtum  an  Formen;  sie  gewinnen 
auch  einen  immer  genaueren  Einblick  in  unsere  eigene  Organisation  und  in  die  Be- 
dingungen, die  für  unsere  körperliche  Entwickelung  maßgebend  sind,  d.  h.  sie 
werden  in  wirklich  eindringlicher  Weise  mit  den  hygienischen  Anforderungen  vertraut 
gemacht.  Die  Gefahr,  daß  der  Unterricht  zu  einer  einseitig  naturalistischen  Auf- 
fassung des  Lebens  hinführen  kann,  wenn  er  in  der  Hand  ungeeigneter  Lehrer 
liegt,  ist  allerdings  nicht  ausgeschlossen,  jedoch  liegt  diese  Gefahr  auch  bei  den 


F.  Gramer,  Selbstbetätigung  und  Selbstverantwortung  der  Schüler  usw.  495 

meisten  anderen  Unterrichtsfächern,  jedenfalls  in  gleichem  Maße  bei  der  Physik 
und  Chemie  vor.  Derselbe  Takt,  der  für  eine  wirksame  Ausbildung  und  Erziehung 
der  Schüler  in  diesen  Gebieten  oder  etwa  im  geschichtlichen  und  religiösen  Unter- 
richt bedingungslos  Voraussetzung  ist,  muß  auch  beim  praktischen  Unterricht  in 
der  Naturgeschichte  von  dem  Lehrer  erwartet  werden.  Gerade  eine  an  der  Hand 
von  selbständigen  Schülerübungen  erlangte  ernste  und  sorgfältige  Vertiefung  in 
die  naturgeschichtlichen  Probleme  kann  vor  der  Annahme  oberflächlicher  An- 
schauungen und  vor  allem  vor  der  landläufigen  Verwechslung  von  bloßen  Hypo- 
thesen und  feststehenden  Tatsachen  behüten. 

Zusammenfassend  ergibt  sich,  daß  die  SchülerObungen  auf  den  drei  Haupt- 
gebieten der  Naturwissenschaft  sich  vortrefflich  bewährt  haben  und  daß  ihre  weitere 
Entwicklung  und  Ausgestaltung  unbedingt  im  höchsten  Maße  erwünscht  ist.  Es 
ergibt  sich  aber  auch  ferner,  daß  die  naturwissenschaftliche  Unterrichtsmethode  an 
den  preußischen  höheren  Lehranstalten  dank  der  Freiheit,  die  die  preußischen 
Lehrpläne  gewähren  und  dank  der  Leistungsfähigkeit  und  Arbeitsfreudigkeit  der 
naturwissenschaftlichen  Fachlehrer  eine  solch  erfreuliche  Entwicklung  genommen 
hat,  daß  die  preußische  höhere  Schule  auch  auf  diesem  Gebiete  einen  Vergleich 
mit  den  Schulen  des  Auslandes  nicht  zu  fürchten  hat. 

Berlin.  J.  Norrenberg. 


Selbstbetätigung  und  Selbstverantwortung  der  Schüler 
auf  erziehlichem  Gebiet.*) 

In  seinem  bekannten  Buche  „Erziehung  und  Erzieher*  berichtet  Rudolf 
Lehmann  von  einem  Schulgespräche  mit  Primanern,  in  dem  diese  ganz  offen  und 
ernsthaft  den  Betrug  in  der  Schule  als  etwas  durchaus  Erlaubtes  und  Selbst- 
verständliches bezeichneten.  Daß  hier  nur  mit  wünschenswerter  Offenheit  aus- 
gesprochen wurde,  was  mehr  oder  weniger  als  Grundton  der  Schülerstimmung 
überhaupt  durchklingt,  das  wissen  wir  alle.  Woher  diese  Erscheinung?  Zu  einem 
Teile  ist  sie  die  Folge  des  staatlichen  Berechtigungswesens.  Die  höhere  Schule 
gilt  einem  Teile  der  Allgemeinheit  als  eine  Art  Berechtigungsautomat,  der  gegen 
das  nötige  Kleingeld  die  Berechtigungsscheine  pflichtgemäß  zu  verabreichen  hat: 
hier  etwas  nachzuhelfen,  gilt  als  erlaubt,  wenn's  gelingt.  Auch  mag  das  über- 
moderne Streben  nach  jeder  Art  von  Lebenserleichterung,  der  leichte  Lebensgenuß 
um  jeden  Preis  mit  hineinspielen.  Aber  diese  Erklärungen  können  allein  nicht 
ausreichen,  da  doch  Gottlob  das  deutsche  Volk  in  seiner  Gesamtheit  als  Träger 
einer  ernsten  sittlichen  Lebensauffassung  erscheint.  Es  bleibt  meines  Erachtens 
nichts  übrig,  als  ein  gewisses  Maß  der  Schuld  auch  innerhalb  der  Schule  selbst 
zu  suchen:  Die  Schüler  verstehen  unsere  Schule  nicht  recht,  weil  dieser  selbst 
nicht  immer  gelingen  mag,  ihren  Zöglingen  die  sittlichen  Zwecke,  den  weitern 
ethischen  Horizont   allen    »Reglements"    und  aller  Zucht  zu  eröffnen.    Jedenfalls 


*)   Nach   einem   Berichte   auf   dem   3.  Rheinischen   Philologentag   zu   Düsseldorf  am 
3.  Juli  1909. 


496  F-  Gramer, 

darf  es  sich  bei  unserer  Scliulerziehung  nicht  handeln  um  eine  Art  Repressiv- 
system, also  um  das  bloße  Zurückdrängen  von  Unordnung  und  um  das  Er- 
zwingen äußerlicher  Ordnung. 

Das  Erstrebenswerte  vielmehr  ist  die  innere  Mitwirkung  des  Zöglings  an 
seiner  äußerlichen  Beherrschung,  also  der  innerlich  freiwillige  Gehorsam. 
Viele  von  uns  werden  es  sicherlich  aus  eigener  Erfahrung  bestätigen,  wie  hellhörig 
und  interessiert  meistens  die  Schüler,  kleine  wie  große,  aufhorchen,  wenn  in  ge- 
eigneter Weise  an  ihr  eigenes  Urteil  und  an  ihre  eigene  sittliche  Verantwortung 
appelliert  wird. 

Diese  Erziehung  zur  Selbstüberwindung,  zur  innern  Freiheit  der  Seele  hat 
nichts  zu  schaffen  mit  dem  übertriebenen  und  mißverstandenen  Kultus  der  Indivi- 
dualität, wie  er  seit  einigen  Jahren  nach  amerikanischem  Muster  auch  in  Deutsch- 
land gepredigt  wird.  Die  beiderseitigen  Anschauungen  fliehen  sich  vielmehr  wie 
Feuer  und  Wasser.  Und  grade  dies  kann  ich,  etwaigen  Mißverständnissen  gegen- 
über, nicht  scharf  genug  betonen. 

Jene  angeblichen  Freiheitsapostel  verwechseln  trotz  allem  Gerede  von  ,Per- 
sönlichkeits-Kultur"  durchaus  die  natürliche,  sinnliche  Individualität  mit  der 
Innern,  geistigen  Persönlichkeit.  Der  alte  Aberglaube  Rousseaus  an  die  mensch- 
liche Natur  lebt  in  ihnen  wieder  auf;  sie  säen  die  individuelle  Willkür  und  Launen- 
haftigkeit des  Kindes  und  ernten  die  geistige  Knechtschaft  statt  der  geistigen 
Freiheit  des  Jünglings  und  Mannes.  Nein,  der  Weg  zur  wahren  Freiheit  geht 
nach  wie  vor  durch  Zucht  und  Überwindung.  Aber  diese  Zucht  und  Überwindung 
muß  übersetzt  werden  in  die  Welt  der  sittlichen  Selbstbestimmung. 

„Aber,"  so  tönt  es  mir  nun  wohl  entgegen,  „was  ihr  da  redet  von  freiwilligem 
Gehorsam,  von  der  Vermählung  von  Zucht  und  Freiheit,  das  ist  ja  gar  nichts 
Neuesl"  Ach  nein,  es  ist  nichts  Neues,  es  ist  sogar  etwas  sehr  Altes;  schier 
tausend  und  neun  hundert  Jahre  ist  es  her,  daß  auf  diese  alte  Lehre  das  ewige 
Siegel  der  Vollendung  gedrückt  worden  ist.  Aber  entspricht  in  unserer  heutigen 
Schule  allerwegen  die  Praxis  dieser  alten  und  anerkannten  Theorie?  Kein  Zweifel 
—  damit  wir  uns  nicht  mißverstehen  —  daß  wir  alle  die  ethischen  Werte  nicht 
unterschätzen  wollen.  Die  Frage  dürfte  nur  sein,  ob  wir  bei  unserer  Erzieher- 
arbeit immer  die  zweckmäßigsten  Mittel  angewandt  haben.  Auch  da,  wo  der 
Drill  nicht  gleich  handgreiflich  wird,  erscheint  doch  bisweilen  das  Regime  des 
äußeren  Zwanges,  des  starren  Gebietens  und  Verbietens  so  festgewurzelt,  daß  wir 
daneben  mit  unsern  Bemühungen,  auch  eine  ethische  Grundlage  zu  schaffen,  den 
Schülern  unverständlich  bleiben.  Ebenso  wenig  vermag  die  Anstachelung  des 
Ehrgeizes  zur  wahren  Selbstbezwingung  und  Selbstbefreiung  zu  führen.  Und 
womöglich  noch  schwächlicher  sind  die  Versuche,  der  Erziehungsaufgabe  durch 
Weckung  des  Interesses  gerecht  zu  werden,  d.  h.  durch  das  bloße  Gefesseltsein 
der  Schüleraufmerksamkeit  durch  den  Stoff  und  seine  Darbietung. 

Nur  das  freudige  Selbstwollen  des  Schülers,  der  aktive  Wille  zur  Be- 
herrschung des  äußern  Menschen,  das  Bewußtsein  der  Verantwortlichkeit 
vor  sich  selber  vermag  zu  helfen.  Hier  liegt  der  springende  Punkt  unserer 
Forderung.  Man  hat  gesagt,  das  Charakterbildende  liege  schon  in  dem  Lernzwang, 
in   dem  festen,  wohlüberlegten   Antrieb   des   Unterrichtenden.     Charakterbildung 


Selbstbetätigung  und  Selbstverantwortung  der  Schüler  auf  erziehlichem  Gebiet.    497 

stelle  sich  da  von  selbst  ein.  Aber  wie  ist  es  denn  mit  dem  Antrieb?  Wenn 
dieser  Antrieb  nicht  gleichwohl  wieder  zur  Dressur  werden  soll,  so  muß  dem 
Zögling  doch  das  Verständnis  für  den  Eigenwert  der  zeitweiligen  Selbstverleugnung 
aufgehen;  die  Forderungen  des  Antriebes  müssen  mit  der  innersten  Persönlichkeit 
des  Menschen,  mit  seinem  sittlichen  Wollen  verbunden  werden:  kurz,  der  Zwang 
soll  in  freudige  Mitwirkung  des  Schülers  zur  Verwirklichung  des  sittlichen  Gesetzes 
verwandelt  werden. 

„Des  Gesetzes  strenge  Fessel  bindet 
Nur  den  Sklavensinn,  der  es  verschmäht." 

Was  aber  sollen  wir  nun  zunächst  tun,  um  das  Ziel  zu  erreichen?  Sollen  wir 
gleich  hingehen,  um  überall  alle  äußern  Experimente  des  sogenannten  Schul- 
staates*) (school-city)  vorzunehmen?  Ich  spreche  es  mit  allem  Nachdruck  aus: 
Diese  Dinge  allein  wären  ein  Körper  ohne  Seele!  Diese  äußern  Ver- 
anstaltungen sind  meines  Erachtens  nicht  die  Hauptsache,  vor  allem  sind  sie  nicht 
das  Ziel.  Sie  sind  ein  Mittel  zum  Zwecke,  aber  keineswegs  das  einzige,  und 
zunächst  sind  sie  nicht  einmal  das  unbedingt  Erforderliche.  Unsere  heutige 
Schülergeneration  wird  ohnehin  hier  und  da  wohl  noch  nicht  reif  sein  zum  Mittun ; 
ist  ja  doch  ein  Volk  nicht  ohne  weiteres  dadurch  reif  zum  Verfassungsleben,  daß 
ihm  die  Politiker  die  Urkunde  einer  Konstitution  in  den  Schoß  legen.  Da  wird 
es  gewiß  noch  vieler  vorbereitenden  Arbeit  bedürfen.  Gewiß  sind  Versuche  an 
geeigneter  Stelle  und  unter  zweckmäßiger  Leitung  durchaus  wünschenswert;  läßt 
es  sich  doch  nicht  verkennen,  daß  gerade  bei  solcher  Mitarbeit  der  Schüler  diesen 
selbst  ihre  Verantwortung  sinnfällig  vor  Augen  tritt,  und  daß  gerade  so  das  Ge- 
meinleben der  Schüler  in  gesunde,  offene  Bahnen  geleitet  wird.  Freilich  alle  solche 
Versuche  müssen  getragen  und  durchdrungen  sein  vom  Geiste  gegenseitigen  Ver- 
trauens zwischen  Lehrern  und  Schülern  und  von  dem  Geiste  wahrer,  sittlicher 
Freiheit.  Grundlegend  dagegen  und  geradezu  unerläßlich  erscheint  mir  dies:  Möchten 
wir  alle  uns  mit  der  Überzeugung  erfüllen,  daß  die  gekennzeichnete  Freiwillig- 
keit des  Gehorsams  ein  erstrebenswertes  Ziel  und  daß  sie  —  die  unvermeid- 
liche Unvollkommenheit  alles  Menschlichen  abgerechnet  —  ein  erreichbares 
Ziel  sei.  Wo  ein  Wille  ist,  wird  sich  ein  Weg  zeigen.  Die  Einkehr  bei  uns  selbst 
macht  uns  zur  Umkehr  fähig.  Dieser  Weg  braucht  nicht  —  wie  ich  im  Gegensatz 
zu  Förster  glaube  —  notwendig  durch  besondere  Besprechungen  ethischer 
Grundfragen  zu  gehen.**)  Das  Wesentliche  ist  vielmehr,  daß  von  der  untersten 
Stufe  an  immer  dann,  wenn  das  konkrete  Schulleben  bestimmte  Gelegenheiten  von 


*)  Über  diese  Art  der  Selbsttätigkeit  der  Schüler,  d.  h.  ihre  Beteiligung  an  der  Schul- 
verwaltung hatte  vorher  auf  dem  genannten  Philologentage  Herr  Prof.  Dr.  Heckmann 
(Elberfeld^  berichtet  und  auch  bereits  eine  von  ihm  entworfene  Ordnung  vorgelegt;  ver- 
gleiche die  folgende  Anmerkung.  Auch  von  der  Oberrealschule  zu  Aachen  lag  bereits  eine 
solche  Ordnung  vor. 

**)  Fr.  W.  Förster,  Schule  und  Charakter  (Zürich,  1908).  Dies  Buch  gab  den  Anstoß 
zu  den  Verhandlungen  auf  dem  Philologentage,  nachdem  das  Rheinische  Provinzialschul- 
kollegium  schon  vorher  auf  dies  Werk  aufmerksam  gemacht  und  zu  praktischen  Ver- 
suchen eingeladen  hatte.  Vgl.  übrigens  auch:  Herm.  Weimer,  Der  Weg  zum  Herzen 
des  Schülers,  (München,  1907.) 

iMonatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  32 


498  A.  Pleißner, 

selbst  bietet,  der  Erzieher  sich  erinnere,  er  sei  nicht  der  Gendarm  des  Zwanges, 
sondern  der  Anwalt  sittlichen  Wollens.  Im  Anfange  wird  es  uns  selbst  wohl  hier 
und  da  etwas  Überwindung  kosten,  folgerichtig  den  Ton  zu  finden.  Aber  der 
Erfolg  wird  uns  ermutigen.  Und  mit  der  Kraft,  die  das  Ideal  dem  strebenden 
Geiste  gibt,  wollen  wir  dem  Sänger  „des  Ideals  und  des  Lebens"  folgen: 

,  .  .  flüchtet  aus  der  Sinne  Schranken 
In  die  Freiheit  der  Gedanken, 
Und  die  Furchterscheinung  ist  entflohn, 
Und  der  ewige  Abgrund  wird  sich  füllen; 
Nehmt  die  Gottheit  auf  in  euern  Willen, 
Und  sie  steigt  von  ihrem  Weltenthron. " 
Versuchen  wir  es,  diesen  Weg  zu  gehen: 

es  ist  der  Weg  zum  Herzen  des  Schülers. 


Leitsätze: 

1.  Den  sichern  Grund  für  die  Gesamtaufgabe  der  Schule  legt  die  Er- 
ziehung zum  freiwilligen,  auf  sittlicher  Einsicht  beruhenden  Ge- 
horsam. 

2.  Das  wirksame  Mittel  hierzu  ist  das  stetige  und  planmäßige  Bestreben, 
in  dem  Schüler  das  Gefühl  der  Selbstachtung  und  das  Bewußt- 
sein der  Verantwortlichkeit  vor  sich  selber  zu  wecken  und  zu 
festigen.  Dienlich  mag  diesem  Bemühen  die  zweckmäßig  geleitete  Be- 
tätigung des  Schülers  auf  dem  Gebiete  der  Schulverwaltung  sein. 

Düsseldorf.  Franz  Gramer. 


Zur  Einführung  des  Werkunterrichts. 

Es  war  ein  verheißungsvolles  Zeichen  für  die  äußere  Entwicklungsmöglichkeit 
des  Werk-  (Arbeits-)  Unterrichts  an  unserer  Schule*),  als  sich  im  Winterhalbjahr 
1908/09  —  wir  hatten  keinen  besonderen  Raum,  sondern  waren  auf  Klassenzimmer 
angewiesen  —  aus  freier  Wahl  65  Prozent  aller  Schüler  an  Lehrgängen  für  Papp- 
arbeiten und  Tonformen  beteiligten.  Auch  jetzt  im  zweiten  Halbjahre  (Sommer 
1909)  sind  alle  Kurse  voll  besetzt,  trotzdem  der  Direktor  der  Anstalt  unter  Hinweis 
auf  den  nahenden  Frühling  und  Sommer  den  Schülern  dringend  geraten  hatte, 
sich  den  Eintritt  wegen  des  unvermeidlichen  Opfers  an  Lust  und  Spiel  draußen 
in  freier  Luft  doppelt  zu  überlegen.  — 

Im  eignen  Gebäude  haben  wir  eine  im  Erdgeschoß  gelegene  Werkstätte,  einen 
Raum  von  nahezu  60  qm  Bodenfläche.  Er  enthält  elektrisches  Licht  und  Wasser- 
leitung. Der  Fußboden  ist  mit  Linoleum  belegt.  An  der  Decke  befindet  sich  für 
elektrischen  Kraftbetrieb  eine  Transmission,  an  die  später  einmal  zwei  Drehbänke 


*■)  Arndt-Gymnasium  in  Dahlem. 


Zur  Einführung  des  Werkunterrichts.  4^9 

und  ein  Schleifstein  angehängt  werden  sollen.  Ausgestattet  ist  der  Arbeitsraum 
mit  zehn  Hobelbänken*);  das  vollständige  Werkzeug  dazu  befindet  sich  gemein- 
sam in  einem  Schranke.  Durch  Auflegen  von  Linoleuraresten  (Geschenk  der  Firma 
Quantmeyer  &  Eicke,  Berlin,  Wilhelmstr.)  eignen  sich  die  Bänke  auch  im  Betriebe 
der  Papp-  und  Modellierkurse.  Eine  innen  mit  Zink  ausgeschlagene  Kiste  enthält 
den  Modellierton.  Jedem  Teilnehmer  im  Tonformen  steht  ein  mit  eingeschobenen 
Gratleisten  versehenes  kiefernes  Brett**)  (gebaut  von  einem  ansässigen  Tischler) 
zur  Verfügung.  An  den  Längsseiten  des  Arbeitsraumes  bieten  Bänke  Gelegenheit 
zu  vorübergehendem  Ausruhen.  Schließlich  ist  an  der  den  Schülern  zugekehrten 
Wand  eine  schwarze  Tafel  (für  Zeichnungen)  angebracht.  Nach  und  nach  wird 
die  Einrichtung  mehr  und  mehr  vervollkommnet  werden.  Besondere  Schränke  zur 
Aufnahme  von  Vorbildern  (z.  B.  Natur-  und  Lebensformen  für  das  Modellieren) 
enthält  der  Arbeitsraum  nicht;  sie  werden  je  nach  Bedarf  den  Sammlungen  für 
den  naturwissenschaftlichen  und  den  Zeichenunterricht  entnommen.  Die  von  den 
Schülern  angefertigten  Gegenstände  werden  in  einem  Räume  neben  dem  Zeichen- 
saal untergebracht. 

Bis  jetzt  sind  vier  Kurse  eingerichtet:  je  einer  für  Hobelbankarbeit  und  für 
Modellieren  und  zwei  für  Papparbeiten.  Die  Kurse  sind  wahlfrei,  dauern  jedesmal 
ein  halbes  Jahr  und  werden  wöchentlich  in  zwei  Stunden  am  späteren  Nachmittag 
abgehalten.  Es  bestehen  Kurse  für  Anfänger  und  Fortgeschrittene.  Papparbeiten 
sind  berechnet  für  Schüler  aus  Sexta  und  Quinta  (Höchstzahl  der  Teilnehmer  15); 
Modellieren  (15)  und  Holzarbeiten  (10),  je  nach  Neigung  und  Körperkraft  für 
Schüler  aus  allen  Klassen  von  Quarta  an  aufwärts.  Im  Laufe  der  Jahre  sollen 
noch  Kurse  eingerichtet  werden  für  Metallbearbeitung  und  Anfertigung  physikali- 
scher Apparate.  Eine  besondere  Schulordnung  für  den  Werkunterricht  halten  wir 
nicht  für  nötig. 

Sämtliche  Rohstoffe  (Papiere  und  Pappe***),  Klebstoff,  Holzf),  Tonft),  dazu 
das  gesamte  Werkzeug  für  Holzarbeiten  bekommen  die  Schüler  geliefert.  Für  die 
Papparbeiten  muß  sich  jeder  Schüler  ein  Pappmesser  und  ein  Falzbein  (35  Pf.) 
anschaffen;  ebenso  hat  für  das  Modellieren  jeder  einzelne  sein  eigenes  Handwerks- 
zeugt}-}-).  Als  Entschädigung  für  die  Materialien  bezahlen  die  Teilnehmer  beim 
Modellieren  und  bei  den  Papparbeiten  je  4  M.  vierteljährlich,  bei  den  Hobelbank- 
arbeiten je  7  M.  Es  ist  beabsichtigt,  diesen  Betrag  herabzusetzen,  sobald  kein 
Überschuß  für  Neuanschaffungen  mehr  nötig  ist;  der  Betrieb  soll  sich  dann  nur 
selbst  erhalten.  Am  Ende  jedes  Halbjahres  bekommen  die  Schüler  ihre  Arbeiten 
als  ihr  Eigentum  zurück.  Den  Abschluß  eines  Kursus  soll  eine  öffentliche  Aus- 
stellung bilden,  deren  wirkungsvolle  Herrichtung  die  Schüler  selbst  lernen  sollen. 

Die  Neueinrichtung  der  Hobelbankwerkstatt  kostet  gegen  550  Mark;  die  Neu- 


*)  Geliefert  von  J.  G.  Degner,  Berlin,  Gertraudtenstr. 
**)  Verschiedene  Größen;  Stück  durchschnittlich  0,90  M. 
***)  Winckler,  Leipzig,  Seeburgstr.  47. 

t)  Aus  der  nächsten  Holzhandlung, 
tt)  Belitzer  Ton  von  Gebrüder  Baentsch,  Dölau  bei  Halle.    50  kg  1,40  M.  inkl.  Sack. 
ttt)  Modellierkästchen    (mit   Pinsel,    Schwämmchen   und    drei   Hölzern;   liefert   das 
Albrecht  Dürer-Haus,  Berlin.    1,50  M. 

32* 


500  A.  Pleißner,  Zur  Einführung  des  Werkunterrichts. 

anschaffungen  und  Unterhaltungskosten  für  Papparbeiten  (Leim,  Buntpapiere,  Ösen 
Haken,  Pausleinen)  rund  30  Mark,  für  Modellieren  (Ton)  rund  10  Mark  und  Hobel- 
bankarbeiten (Holz,  Nägel,  Schrauben,  Schleifen  der  Werkzeuge)  rund  40  Mark 
werden  reichlich  durch  das  von  den  Schülern  erhobene  Schulgeld  gedeckt.  Der 
den  gesamten  Werkunterricht  erteilende  Lehrer  ist  auf  dem  Lehrerseminare  für 
erziehliche  Knabenhandarbeit  in  Leipzig  vorgebildet  und  gibt  den  Unterricht  als 
Überstunden,  deren  einzelne  mit  90  Mark  jährlich  bezahlt  wird.  Diese  Stunden 
sollen  später  zu  seinen  Pflichtstunden  gehören. 

Für  uns  ist  der  Werkunterricht  ein  wichtiges  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
mittel. Er  ist  kein  „technisches"  Fach.  Er  steht  in  fortwährender  Beziehung  zum 
Erkenntnis-  und  Zeichenunterricht  und  zum  praktischen  Leben,  er  ist  angewandte 
Kunstpflege  und  will  ein  Gegengewicht  sein  gegen  die  rein  intellektuelle  Arbeit 
der  Lernschule.  Gearbeitet  wird  nicht  ausschließlich  nach  einem  der  vorliegenden 
Lehrgänge*).  Möglichst  bald  und  oft  wird  individualisiert;  Aufgaben  werden  durch- 
geführt, die  sich  die  Schüler  selbst  stellen.  Die  einzelnen  Gegenstände,  die  stets 
einen  praktischen  Wert  haben  und  nicht  bloß  Übungen  darstellen,  werden  nach  Größe, 
Form  und  Ausstattung  verschieden  angefertigt.  Unter  äußerster  Wahrung  des 
Prinzips  der  Selbsttätigkeit  wird  bei  der  Anfertigung  eines  neuen  Gegenstandes 
folgender  Lehrweg  durchschritten: 

1.  Was  soll  ich  bauen? 

Namen  des  Gegenstandes;  Untersuchung  des  kindlichen  Gedanken- 
inhaltes darüber,  Zeichnen  an  die  Wandtafel. 

2.  Wie  groß  soll  der  Gegenstand  werden? 

Selbstfindenlassen  der  entsprechenden  Maße  und  Eintragen  in  die 
Zeichnung;  die  Zeichnung  lesen  lernen. 

3.  Welche  Rohstoffe  und  Werkzeuge  brauche  ich? 

Material-  und  Werkzeugkunde;  Wertberechnungen;  Wert  der  eignen 
Arbeit. 

4.  Welche  Arbeiten  muß  ich  der  Reihe  nach  ausführen? 

Ökonomie  in  Zeit  und  Kraft. 

5.  Wie  könnte  ich  meinem  Gegenstande  einen  Schmuck  geben? 

Schmuck,  entwickelt  aus  dem  Zweck  des  Gegenstandes.  Beizen, 
Wachsen,  Polieren.  Anwendung  der  verschiedenen  Ziertechniken  (Schnitzen, 
Brennen,  Intarsia). 

6.  Welche  Fehler  kann  ich  vermeiden? 

Falsche  Behandlung  des  Materials  und  des  Werkzeugs;  wobei  könnte 
ich  mich  verletzen? 

7.  Herstellen  des  Gegenstandes. 

Noch  haben  wir  bis  jetzt  keine  anderen  Erfahrungen  gesammelt  als  diese: 
daß    auch   an    unseren  Schülern  der  Werkunterricht  seine  altgewohnte,  werbende 


*)  Wie  Grimm,  Lehr-  und  Modellgang  etc.  —  Die  Vorlagen  der  Leipziger  Schüler- 
werkstatt. Leipzig,  Frankenstein  &  Wagner.  Koch-Knutzsch,  Lehrgang  und  Anleitung  etc. 
Leipzig,  Hahn. 


A.  Tiltnann,  Statistisches  über  das  Frauenstudium.  501 

Kraft  ausübt  und  daß  er  im  Schüler  alle  die  hohen  Lustgefühle  auslöst,  die  der 
unmittelbare,  sichtliche  Erfolg  bereitet. 

Bei  mehreren  Schülern,  die  wegen  Kränklichkeit  vorübergehend  von  einem 
Teile  des  wissenschaftlichen  Unterrichts  befreit  werden  mußten,  war  es  gerade 
„das  schaffende  Lernen",  der  Arbeitsunterricht,  der  ihr  Selbstvertrauen  und  die 
Freude  an  der  Schule  wach  erhielt.  Und  das  halten  wir  für  das  Beste  an  unserem 
Fache,  daß  es  Freude  und  Begeisterung  und  Zuversicht  bereitet  im  Leben  des 
Schülers.  Deswegen  stehen  wohl  ausnahmslos  die  Eltern  unserer  Jungen  dem 
Arbeitsunterrichte  mit  regem,  dankbarem  Interesse  gegenüber.  Ihnen  soll  von  Zeit 
zu  Zeit  Gelegenheit  geboten  werden,  dem  Betriebe  in  unserer  Werkstatt  bei- 
zuwohnen. 

Dahlem.  A.  Pleißner. 


Statistisches  über  das  Frauenstudium.*) 

In  den  Bestimmungen  über  die  Immatrikulation  der  Frauen  ist  eine  Änderung 
eingetreten:  sie  bezieht  sich  auf  solche  Frauen,  welche  die  Universität  mit  dem 
Ziele  der  Oberlehrerinnenprüfung  besuchen.  Bisher  wurden  diese  Frauen  unter 
§  3  der  Vorschriften  für  die  Studierenden  subsumiert  und  erhielten  die  sogenannte 
kleine  Matrikel;  deshalb  bedurfte  ihre  Zulassung  der  besonderen  Genehmigung  des 
Ministers.  Dies  hat  mehr  eine  formelle  als  materielle  Bedeutung  gehabt,  denn  alle 
Frauen,  welche  die  Schulbildung,  die  erfordert  wird  für  die  Zulassung  zur  Ober- 
lehrerinnenprüfung, nachwiesen,  wurde  die  ministerielle  Genehmigung  anstandslos 
erteilt.  Die  Änderung,  welche  der  Erlaß  vom  11.  April  dieses  Jahres  gebracht  hat, 
besteht  nun  darin,  daß  diese  Frauen  unter  §  2,  Absatz  2  der  Vorschriften  gestellt  sind. 
Dort  werden  diejenigen  Kategorien  behandelt,  von  welchen  —  wie  den  Apothekern, 
früher  auch  den  Zahnärzten  und  Tierärzten  —  Universitätsstudien  gefordert  werden, 
ohne  daß  sie  das  Reifezeugnis  einer  neunstufigen  höheren  Lehranstalt  nachzuweisen 
haben.  Hierdurch  werden  jene  Frauen  der  sogenannten  großen  Matrikel  teilhaftig. 
Die  praktische  Bedeutung  der  Änderung  besteht  in  der  Hauptsache  darin,  daß  die 
Notwendigkeit  der  ministeriellen  Genehmigung  für  die  Immatrikulation  fortgefallen 
ist.  Für  die  statistische  Untersuchung  über  das  Frauenstudium  ist  dieser  Erlaß 
ohne  Bedeutung.  Ob  die  gleichzeitig  angeordnete  Steigerung  der  Anforderungen 
des  Oberlehrerinnen -Examens  einen  Einfluß  auf  das  Frauenstudium  ausüben  wird, 
bleibt  abzuwarten.  Es  sind  nämlich  durch  einen  Erlaß  vom  3.  April  dieses  Jahres 
jene  Anforderungen  bis  auf  das  Maß  der  Prüfung  pro  facultate  docendi  erhöht  worden; 
das  Oberlehrerinnen -Examen  ist  also  erheblich  schwerer  geworden.  Was  aber  die 
Zahlen  selbst  betrifft,  so  studierten  im  Sommersemester  1909  an  preußischen  Uni- 
versitäten 1464  Frauen  gegen  1188  im  Sommersemester  1908;  es  hat  also  eine 
Vermehrung  der  studierenden  Frauen  stattgefunden.  Für  die  einzelnen  Fakultäten 
stellt  sich  die  Sache  folgendermaßen: 


*)  Vgl.  Seite  309  des  Jahrgangs  1909. 


502  A.  Tilmann,  Statistisches  über  das  Frauenstudium. 

In  der  theologischen  Fakultät  1909:      26  1908:      32 

„     „    juristischen            „            „         13  „14 

„     „    medizinischen        „           „       183  „        142 

„    „    philosophischen     „           „      1242  ,      1000 

Unter  den  Studentinnen  des  Sommersemesters  1909  sind  die  immatrikulierten 
in  der  Mehrzahl,  die  Gastzuhörerinnen  in  der  Minderzahl.  Insgesamt  waren  imma- 
trikuliert 935  Frauen,  und  zwar  inskribiert 

in  der  theologischen  Fakultät .       8 

„     „    juristischen  „  8 

„    medizinischen       „  155 

„     philosophischen   „  764 

Gr.-Lichterfelde.  A.  Tilmann, 


II.    Bücherbesprechungen. 


a)  Sammelbesprechungen: 

Aus  den  Veröffentlichungen  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs- 
und Schulgeschichte.    (Jahrgang  1908.) 

1.  Bolte,  Johannes,  Andrea  Guarnas  Bellum  Grammatieale  und  seine 
Nachahmungen.     Berlin  1908.     A.  Hofmann  &  Co.     92  u.  307  S.     8°.     11  M. 

In  dieser  Ausgabe  erscheint  bereits  der  43.  Band  der  Monumenta  Germaniae 
Paedagogica.  Bolte  bietet  darin  eine  mit  bewundernswertem  Fleiße  ausgeführte  Zu- 
sammenstellung des  Originals  und  der  zahlreichen  Nachahmungen  dieses  eigen- 
artigen und  für  die  Schulgeschichte  hochwichtigen  Werkes.  Sein  Verfasser,  der 
Humanist  Andrea  Guarna,  entstammt  einer  italienischen  Soldatenfamilie.  Sein 
Großvater  hatte  in  Francesco  Sforzas  Diensten  gestanden,  und  zwei  seiner  Brüder 
lebten  ebenfalls  vom  Schwerte.  Solch  kriegerische  Umgebung  —  auch  an  Bürger- 
kriegen war  Italien  nicht  arm  —  erklärt  es  wohl,  daß  Guarna  auf  den  Gedanken 
kam,  die  Entstehung  der  Unregelmäßigkeiten  in  der  lateinischen  Sprache  aus  einem 
Streite  zu  erklären,  den  einst  die  Könige  Amo,  der  Beherrscher  der  Verba,  und 
Poeta,  der  Gebieter  der  Nomina,  ausgefochten  hätten.  Jene  Unregelmäßigkeiten 
werden  als  die  Spuren  der  Wunden  und  Verluste  dargestellt,  die  dieser  Krieg  mit 
sich  brachte.  Das  Werkchen  hatte  einen  gewaltigen  Erfolg:  das  beweisen  schon 
die  107  Ausgaben,  die  Johannes  Bolte  festgestellt  hat  und  von  denen  der  Löwen- 
anteil Deutschland  zufällt;  das  beweisen  ferner  die  Übersetzungen  und  die  zahl- 
reichen epischen  und  dramatischen  Nachbildungen,  die  das  von  Guarna  erfundene 
Motiv  den  verschiedensten  Zwecken  dienstbar  machen.  Man  kann  Boltes  prächtige 
Einleitung  und  die  übersichtliche  Zusammenstellung  der  Texte  dem  geschichthch 
interessierten  Pädagogen  wie  dem  Kultur-,  Literar-  und  Musikhistoriker  —  auch 
zu  musikalischen  Lehrzwecken  wurde  das  Werk  umgearbeitet  —  in  gleicher  Weise 
empfehlen. 

2.  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schul- 
geschichte. XVIII.  Jahrgang.  1.— 4.  Heft.  340  S.  S».   Preis  für  Nichtmitglieder  8  M. 

Die  „Mitteilungen"  des  vergangenen  Jahres  leitet  Georg  Kampf fmey er  mit 
einem  Aufsatz  über  den  niederländischen  Humanisten  Nicolaus  Clenardus  ein 
(S.  1—22).  Clenardus  war  ein  geborener  Pädagoge  und  zudem  eine  durchaus 
eigenartige,   eindrucksvolle  Persönlichkeit.    In  Löwen  vorgebildet,  lehrte  er  dort 


504  H.  Weimer, 

von  1520—31  mit  großem  Erfolge  Griechisch  und  Hebräisch.  Sein  Ideal  aber  war 
die  Erlernung  der  arabischen  Sprache,  die  er  später  in  seinem  geliebten  Löwen 
als  erster  Europäer  seine  Zeitgenossen  lehren  wollte.  Mit  unendlicher  Mühe 
arbeitete  er  sich  an  der  Hand  eines  polyglotten  Psalteriums,  das  auch  eine  ara- 
bische Kolumne  enthielt,  in  die  Geheimnisse  dieser  Sprache  ein,  reiste  dann  nach 
Spanien  und  schließlich  auch  nach  Marokko,  starb  aber  nach  mehr  als  einjährigem 
Aufenthalt  daselbst  in  Spanien,  ohne  sein  Heimatland  wiederzusehen.  Die  sprach- 
unterrichtlichen Versuche  des  Clenardus,  von  denen  uns  Kampffmeyer  eine  an- 
schauliche Probe  gibt,  sind  sehr  interessant.  —  In  die  Zeit  des  Humanismus  ver- 
setzen uns  auch  Friedrich  Meyers  Angaben  über  den  Schulplan,  den  die  Huma- 
nisten Leichius  und  Velsius  (letzterer  auch  ein  Niederländer  und  früherer  Lehrer 
am  Collegium  trilingue  in  Löwen)  1552  für  das  Dreikronenkolleg  in  Köln 
ausgearbeitet  haben  (S.  23—32).  Ging  diese  Anstalt  auch  schon  nach  vierjährigem 
Bestand  in  die  Hände  der  Jesuiten  über,  so  ist  der  Lehrplan  doch  schon  wegen 
seiner  mannigfachen  Berührungspunkte  mit  den  in  Löwen  und  von  Sturm  ver- 
tretenen Anschauungen  der  Beachtung  wert.  —  Johann  Michael  Reu,  der  durch 
sein  groß'  angelegtes  Werk  „Quellen  zur  Geschichte  des  Katechismusunterrichtes • 
die  Geschichte  der  religiösen  Jugendunterweisung  so  hervorragend  gefördert  hat, 
weist  in  einem  Aufsatz  über  die  deutsch-lateinische  Magdeburger  Schulaus- 
gabe des  kleinen  Katechismus  Luthers  auf  die  große  Verbreitung  und  den 
tiefgehenden  Einfluß  hin,  den  diese  Fassung  (in  erster  Ausgabe  von  Georg  Major 
stammend)  gewonnen  hat,  und  sucht  unter  gleichzeitiger  Kritik  von  einschlägigen 
früheren  Arbeiten  Knokes  und  Albrechts  die  zeitliche  Reihenfolge  der  bis  jetzt 
bekannt  gewordenen  Drucke  dieser  Ausgabe  festzustellen  (S.  33—43).  —  Max 
Schneider  liefert  in  seiner  Zusammenstellung  der  Themata  der  lateinischen 
Schülerreden  vom  Gymnasium  Illustre  in  Gotha  die  Fortsetzung  zu  der  schon 
im  17.  (nicht  18.1)  Jahrgang  veröffentlichten  Liste  von  Schülerdisputationen  der- 
selben Anstalt  (S.  44—56).  Wenn  wir  auch  keinen  Einblick  in  die  Reden  selbst 
gewinnen  können  —  nur  einige  davon  sind  gedruckt  worden  — ,  so  ist  doch  schon 
die  Wahl  der  Themen  für  ihre  Zeit  höchst  charakteristisch  und  daher  ihre  Zu- 
sammenstellung für  die  Schulgeschichte  wertvoll.  Mir  ist  eine  besondere  Vorliebe 
für  die  Wahl  aktueller  Themata  aufgefallen:  mehr  oder  weniger  berühmte  Persön- 
lichkeiten der  Zeitgeschichte  werden  häufiger  zum  Gegenstand  oratorischer  Er- 
örterungen gemacht.  Schneider  sollte  jedoch  der  Klarheit  wegen  die  Mitteilungen 
(abgekürzt  Mitt.)  nicht  als  »Zeitschrift"  zitieren. 

Die  umfangreichste  Abhandlung  dieses  Jahrgangs  bildet  die  Schilderung,  die 
Heinrich  Willemsen  von  der  Entwicklung  des  bergischen  Schulwesens  unter 
der  französischen  Herrschaft  gibt  (S.  65—95  und  153—209).  Die  fleißige 
Arbeit  baut  sich  in  erster  Linie  aus  dem  Material  auf,  das  dem  Verfasser  die  ein- 
schlägigen Akten  des  Staatsarchivs  zu  Düsseldorf  boten.  Die  bergische  Regierung 
hatte  die  besten  Absichten,  die  in  ihrem  Machtbereich  liegenden  höheren  und 
niederen  Schulen  zu  fördern,  und  eine  Reihe  von  Erlassen  und  Entwürfen  sprechen 
deutlich  für  ihren  Eifer  um  die  Hebung  des  arg  daniederliegenden  Unterrichts- 
wesens. Galt  es  doch  die  Schulen  aus  den  verschiedensten  Gebietsteilen  (Bayern, 
Preußen  und  Kurköln)  zu  einem  einheitlichen  Organismus  zu  verschmelzen.  Aber 


Aus  den  Veröffentl  der  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  u.  Schulgeschichte,    505 

wenn  man  die  ständigen  Veränderungen  im  Besitzstand  des  ephemären  Staaten- 
gebildes und  die  durch  die  vielen  Kriege  Napoleons  hervorgerufenen  drückenden 
Militärlasten  in  Betracht  zieht,  so  versteht  man,  daß  alle  Arbeit  der  Bergischen 
Regierung  um  die  Förderung  des  Schulwesens  eine  Sisyphusarbeit  sein  mußte. 
Willemsen  verzeichnet  mit  Genugtuung  eine  gewisse  Aufwärtsbewegung  des  Volks- 
schulwesens, die  sich  in  der  energischeren  Durchführung  des  Schulzwanges,  in 
bescheidener  pädagogischer  und  teilweise  auch  materieller  Förderung  des  Volks- 
schullehrerstandes kundgibt;  aber  das  ist  auch  alles,  was  sich  an  positiven  Ergeb- 
nissen feststellen  läßt.  Wie  kläglich  steht  dagegen  das  höhere  Schulwesen  des 
bergischen  Landes  da,  wenn  man  es  mit  der  gleichzeitigen  glänzenden  Ent- 
wicklung desselben  Bildungszweiges  in  dem  äußerlich  niedergetretenen  Preußen 
vergleicht! 

In  den  Osten  der  preußischen  Monarchie  führen  uns  Gustav  Bauchs  Bei- 
träge zur  älteren  Liegnitzer  Schulgeschichte  (S.  96—135),  deren  Ver- 
öffentlichung durch  die  sechshundertjährige  Jubelfeier  des  evangelischen  Gymna- 
siums zu  Liegnitz,  der  ehemaligen  Pfarrschule  zu  St.  Peter  und  Paul,  mitveranlaßt 
worden  ist.  Ältere  Versuche,  einer  Geschichte  dieser  Anstalt  sind  wohl  vorhanden, 
aber  besonders  die  letzte  dieser  Bearbeitungen  von  A.  H.  Kraffert  (1869)  ist  sehr 
dilettantisch  und  fehlerhaft.  Bauch  liefert  nun  in  seinen  Beiträgen  wertvolles  Ma- 
terial für  eine  Neubearbeitung  dieser  Anstaltsgeschichte.  Er  stellt  zunächst  die 
spärlichen  urkundlichen  Daten  über  die  Geschichte  des  Kollegiatstiftes  zum  hl.  Grabe, 
dann  die  kaum  zahlreicheren  über  die  Entwicklung  der  Marienschule  zusammen 
und  verfolgt  endlich  im  Hauptteil  seiner  Abhandlung  die  Geschichte  der  wichtig- 
sten der  drei  alten  Liegnitzer  Bildungsanstalten,  der  Pfarrschule  zu  St.  Peter  und 
Paul,  die  durch  Stiftungsurkunde  vom  31.  Dezember  1908  vom  Bischof  Heinrich  von 
Breslau  zum  Range  einer  Partikularschule  erhoben  und  im  16.  Jahrhundert  mit  der 
Marienschule  zum  heutigen  städtischen  Gymnasium  vereinigt  wurde.  Besonders  reiche 
historische  Angaben  liefert  Bauch  über  die  Rektoren  und  Lehrer  dieser  Schule  von 
der  Mitte  des  16.  bis  ins  erste  Jahrzehnt  des  17.  Jahrhunderts.  —  Georg  Huth 
bringt  neues  Material  zur  Geschichte  des  neusprachlichen  Unterrichts 
in  den  Ländern  deutscher  Zunge  (S.  210—223).  Er  teilt  den  Stoff  ein  nach  Ländern 
und  Landschaften,  bestimmten  Schulen  und  einzelnen  Personen.  Besonders  inter- 
essant sind  die  aus  Schwarzens  Buch  über  die  „Neumärkischen  Schulen  am  Aus- 
gang des  18.  und  Anfang  des  19.  Jahrhunderts"  entlehnten  Bemerkungen  über  die 
französischen  Aufsätze  der  preußischen  Abiturienten  dieser  Zeit,  in  denen  ebenso 
gern  aktuelle  Themata  behandelt  weiden  wie  in  den  von  Schneider  aufgezählten 
lateinischen  Schülerreden  des  Gothaer  Gymnasiums. 

Das  vierte  Heft  bietet  als  erste  größere  Abhandlung  den  Abdruck  eines  Vor- 
trags von  Wilhelm  Münch  über  die  Theorie  der  Fürstenerziehung  im  Wandel 
der  Jahrhunderte.  Eine  gewaltige  Fülle  von  Abhandlungen  ist  im  Laufe  der 
Jahrtausende  in  allen  möglichen  Sprachen  über  dieses  Problem  geschrieben  worden. 
Sie  harren  noch  einer  zusammenfassenden,  eingehenderen  geschichtlichen  Be- 
trachtung. Münch  stellt  in  seinem  Vortrag  die  großen  Richtlinien  auf,  die  für  eine 
Einteilung  des  riesigen  Stoffes  maßgebend  sein  werden,  und  hebt  geschickt  die 
Haupterscheinungen  heraus,  an  denen  er  den  Wandel  der  Anschauungen  auf  diesem 


506  G.  Sachse, 

Efziehungsgebiete  seinen  Hörern  nahe  bringt  und  auch  die  geschichtlichen  Zu- 
sammenhänge andeutet.  —  Für  die  Praxis  der  Fürstenerziehung  liefert  das  folgende 
von  H.  Wäschke  zusammengestellte  Archivinventar  zur  Geschichte  des  an- 
haltischen Schulwesens  gelegentlich  auch  wertvolles  Material.  Sein  Haupt- 
zweck ist  freilich  ein  anderer.  Wissenschaftliche  bildungsgeschichtliche  Forschungs- 
arbeit ist  nur  möglich,  wenn  die  zahllosen  schulgeschichtlichen  Akten  der  staatlichen 
und  städtischen  Archive  dem  Forscher  leichter  zugänglich  gemacht  werden.  Wäschkes 
Inventar  ist  nun  als  Muster  einer  fachmännisch  brauchbaren  Archivregistrierung  ab- 
gedruckt worden.  Wer  die  Zusammenstellung  auch  nur  einmal  flüchtig  durch- 
arbeitet, der  wird  staunen  über  die  Fülle  des  Stoffes,  die  noch  wissenschaftlicher 
Bearbeitung  harrt. 

Auf  den  Inhalt  der  kleinen  Beiträge,  die  sich  am  Ende  der  einzelnen  Hefte 
befinden,  können  wir  nicht  näher  eingehen.  Hingewiesen  sei  nur  auf  den  warm 
empfundenen,  dem  Andenken  Friedrich  Paulsens  gewidmeten  Nachruf  von 
Alfred  Heubaum,  der  Paulsens  wissenschaftliche  Bedeutung  als  Philosoph  und 
Pädagog  eingehend  und  bei  aller  persönlichen  Verehrung  durchaus  sachlich 
würdigt. 

3.  Historisch  -  pädagogischer  Literaturbericht  über  das  Jahr  1907. 
17.  Beiheft  der  Mitteilungen  der  Ges.  f.  deutsche  Erziehungs-  u.  Schulgeschichte. 
VI  u.  248  S.    80.    3  M. 

Der  große  Sammelbericht  über  die  bildungsgeschichtliche  Literatur  des 
Jahres  1907  ist  an  Umfang  seinem  Vorgänger  fast  gleich.  Die  Einteilung  des 
Stoffes  ist  mehrfach  geändert,  die  Zahl  der  zu  besprechenden  Kapitel  vermehrt 
worden.  Die  Fröbelliteratur  hat  einen  besonderen  Referenten  erhalten,  die  Berichte 
über  historisch-pädagogische  Arbeiten  aus  dem  Gebiete  des  katholischen  Religions- 
unterrichts, des  deutschen,  geschichtlichen,  geographischen,  sowie  des  Anschauungs-, 
Zeichen-  und  Turnunterrichts  sind  neu  hinzugekommen.  Auch  der  Abschnitt  über 
territoriale  Bildungsgeschichte  hat  durch  Besprechung  der  Arbeiten  über  Bayern, 
Baden,  Mecklenburg  und  Braunschweig  Zuwachs  erhalten.  Neben  Sonderschriften 
über  das  Studentenleben  werden  endlich  die  großen  Enzyklopädien  von  Rein  und 
Loos  kritisch  gewürdigt.  Besonders  zu  begrüßen  ist  das  (im  Vorjahre  fehlende) 
Sachregister,  das  nun  für  beide  Jahrgänge  angefügt  worden  ist.  So  wächst  sich 
der  Literaturbericht  in  erfreulicher  Weise  zu  einem  immer  vollkommeneren  Orien- 
tierungswerk aus. 

Wiesbaden.  Hermann  Weimer. 


Griechische  Grammatiken  und  Übungsbücher. 

Die  Frage,  ob  es  ratsam  sei  im  Unterricht  Chrestomathieen  zu  verwenden, 
wird  verschieden  beantwortet.  Es  scheint  mir  nicht  richtig,  sie  ohne  Einschränkung 
zu  bejahen.  Man  wird  stets  darauf  bedacht  nehmen  müssen,  dem  Schüler  eine 
vollständige  Schrift,  etwas  Abgerundetes  vorzulegen;  denn  nur  dann  kann  er  die 
Folgerichtigkeit  der  Durchführung  eines  Themas  und  die  Kunst  der  Darstellung 
erkennen.  So  wird  man  Reden  auch  von  größerem  Umfange  nicht  im  Auszuge 
bieten  dürfen. 


Griechische  Grammatiken  und  Übungsbücher.  507 

Anders  scheint  es  bei  geschichtlichen  Darstellungen  zu  sein;  doch  auch  hier 
dürfte,  wenn  man  an  Thukydides,  Livius,  die  Annalen  und  Historien  des  Tacitus 
denkt,  eine  Auswahl  nicht  zweckmäßig  sein,  nicht  etwa  weil  jemand  auf  den  Ge- 
danken kommen  könnte,  ein  oder  zwei  Bücher  unverkürzt,  ohne  Rücksicht  auf 
den  Zusammenhang  oder  auf  die  Vollständigkeit  der  geschilderten  Zustände  oder 
erzählten  Ereignisse,  lesen  zu  lassen,  sondern  weil  den  Erwägungen  des  Lehrers 
über  das  für  die  jeweilige  Schülergeneration  Notwendige  und  über  die  Ergänzung 
und  Bereicherung  der  in  anderen  Lehrstunden  angeregten  Gedanken  eine  nach 
andern  Gesichtspunkten  getroffene"  Wahl  entgegentritt. 

Wie  steht  es  mit  Schriften  philosophischen  Inhalts?  Auch  hier  halte  ich  es 
aus  den  oben  angeführten  Gründen  für  notwendig,  daß  die  Schrift  unverkürzt  ge- 
lesen wird.  Aber  selbst  wenn  sie  den  Umfang  hat,  wie  Ciceros  tuskulanische  Er- 
örterungen oder  seine  Schriften  über  die  Pflichten  oder  über  das  höchste  Gut  und 
das  höchste  Übel,  ist  es  zweckmäßig,  wenn  jeder  Lehrer  selbst  den  Lehrstoff  aus 
der  ganzen  Schrift  bestimmt;  es  gibt  ja  noch  eifrige,  wißbegierige  Schüler,  die, 
da  sie  die  unverkürzte  Schrift  in  Händen  haben,  die  Gelegenheit  benutzen,  ihr 
Wissen  durch  private  Lektüre  der  ausgelassenen  Stellen  zu  vervollständigen.  Bei 
der  beschränkten  Stundenzahl  kann  jedes  Jahr  nur  eine  solche  Schrift  in  dieser 
Ausführlichkeit  behandelt  werden;  andere  Schriften,  die  ähnliche  Gedanken  er- 
örtern, können  schon  wegen  der  Anschaffungskosten,  die  bei  manchem  Schüler 
sehr  ins  Gewicht  fallen,  zur  Bereicherung  der  Kenntnisse  von  den  Anschauungen 
des  Verfassers  über  den  behandelten  Gegenstand  nicht  herangezogen  werden. 
Diesem  Übelstande  wird  durch  eine  Zusammenstellung  der  in  anderen  Schriften 
ausgesprochenen  Gedanken  des  Schriftstellers  über  die  in  Betracht  kommenden 
Fragen  abgeholfen. 

Diese  Fragen  sind  meist  ethischer  Natur.  Dies  entspricht  einmal  den  An- 
schauungen des  Altertums,  das  solche,  das  Zusammenleben  der  Menschen  beför- 
dernde Erwägungen  gern  angestellt  hat,  und  dann  erregen  sie,  in  genauer  Um- 
grenzung dargeboten,  das  Interesse  der  Schüler  am  lebhaftesten. 

Eine  solche  Auswahl  aus  den  Schriften  Ciceros  oder  Piatos  kann  zweitens  die 
Kenntnisse  von  der  Art,  wie  sie  derartige  Dinge  behandeln,  bereichern  und  ver- 
tiefen. Für  Plato  verweise  ich  auf  den  Aufsatz  von  E.  Höttermann  in  der  Zeit- 
schrift für  das  Gymnasialwesen  LXIII  (1909),  S.  81—102. 

Ich  habe  schon  vorhin  bemerkt,  daß  einige  Schriften  unverkürzt  von  den 
Schülern  gelesen  werden  müssen.  Dazu  rechne  ich  Apologie  und  Kriton.  Ich 
kann  es  nicht  billigen,  daß  Weißenfels  in  seinem  Buche:  „Auswahl  aus  Plato" 
diese  beiden  Schriften  im  Auszuge  darbietet.  Alles  übrige,  was  diese  „Auswahl" 
enthält,  ist  trefflich,  nur  hätte  ich  es  lieber  gesehen,  wenn  er  die  aus  verschie- 
denen Schriften  ausgewählten  Abschnitte  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  ge- 
ordnet hätte.  Dies  hat  Schneider  in  seinem  Lehrbuch  aus  Plato  getan;  der  Schüler  hat 
die  in  verschiedenen  Schriften  über  denselben  Gegenstand  angestellten  Erwägungen 
zusammen.  Doch  vermisse  ich  bei  ihm  anregende  Stellen  aus  der  Politeia.  Sie 
hätten  Aufnahme  finden  können,  wenn  die  Apologie  und  der  Kriton  nicht  abge- 
druckt worden  wäre.  Dadurch  wird  der  Argwohn  geweckt,  als  ob  das  Lehrbuch 
mit  dieser  Auswahl   für  die  Platolektüre  ausreichen  soll.    Sollte   dies  wirklich  die 


508  G-  Sachse, 

Ansicht  des  Herausgebers  sein,  so  bedauere  ich,  bei  aller  Wertschätzung  des  ver- 
dienten Verfassers  der  „Hellenischen  Welt-  und  Lebensanschauungen ",  dieser  An- 
sicht nicht  beipflichten  zu  können;  aber  ich  begrüße  diese  Zusammenstellung 
freudig,  weil  sie  Gelegenheit  bietet,  die  aus  der  üblichen  Klassenlektüre  gewonnenen 
Kenntnisse  zu  ergänzen  und  zu  vertiefen. 

Werden  die  Chrestomathieen  zu  diesem  Zweck  zusammengestellt  und  in  dieser 
Absicht  benutzt,  so  sind  sie  ein  wertvolles  Hilfsmittel  für  den  Unterricht.  Die 
von  Wilhelm  Münch  in  dieser  Monatschrift  VIII  (1909),  S.  114  bei  der  Besprechung 
der  während  eines  Ferienkursus  von  Gerhard  Budde  gehaltenen  Vorträge  „der 
Kampf  um  die  fremdsprachliche  Methodik"  mit  bezug  auf  seine  Zusammenstellung 
von  Ausschnitten  aus  den  Schriften  französischer  und  englischer  Philosophen  aus- 
gesprochene Befürchtung  trifft  bei  solchen  Chrestomathieen  nicht  zu. 

Ich  habe  oben  gesagt,  daß  bei  der  beschränkten  Stundenzahl  neben  den  an- 
deren Lektürestoffen  jährlich  nur  ein  größerer  Platonischer  Dialog  gelesen  werden 
kann.  Das  macht  für  die  Primazeit  zwei.  Die  Studienordnung  für  die  höheren 
Mädchenschulen  und  Lyceen,  wie  sie  im  Zentralblatt  für  die  gesamte  Unterrichts- 
verwaltung i.  J.  1908  (im  Dezemberheft)  abgedruckt  ist,  setzt  für  einen  zwei- 
jährigen Zeitraum  2 — 4  Dialoge  fest.  Diese  Zahl  soll,  wie  es  mir  nach  den  Aus- 
führungsbestimmungen (S.  941)  scheinen  will,  dadurch  erreicht  werden,  daß  nicht 
allen  Schülerinnen  dasselbe  Pensum  zur  Präparation  aufgegeben  wird,  sondern 
abwechselnd  einzelne  Schülerinnen  die  Erklärung  und  Übersetzung  zusammen- 
hängender Abschnitte  übernehmen,  während  die  übrigen  zur  nachträglichen  Be- 
sprechung herangezogen  werden.  Nach  meinen  Erfahrungen  halte  ich  dieses  Mittel 
zur  Erledigung  größerer  Lektüreaufgaben  nicht  für  zweckmäßig.  Ich  lasse  viel  extem- 
porieren; aber  das  Tempo  des  Übersetzens  ist  kein  übermäßig  schnelles  und  das 
Verständnis  wird  allen  gleichmäßig  vermittelt.  Präpariert  sich  aber  nur  einer,  so 
geht  das  Übersetzen  schneller,  die  Befürchtung  liegt  nahe,  selbst  wenn  die  Über- 
setzung das  richtige  Verständnis  des  Übersetzenden  bekundet,  daß  es  schwächeren 
Schülern  schwer  fällt,  in  das  Verständnis  einer  zu  Hause  nicht  vorbereiteten  Stelle 
einzudringen  und  daß  dadurch  das  Fortschreiten  aller  verlangsamt  wird. 

Nach  diesen  Bemerkungen,  zu  denen  mich  das  Studium  der  im  Jahre  1908 
der  Schriftleitung  zur  Besprechung  eingesandten  Unterrichtswerke  für  den  Unter- 
richt im  Griechischen  und  Erwägungen  über  den  Lehrplan  für  die  höheren 
Mädchenschulen  veranlaßt  haben,  wende  ich  mich  zur  Berichterstattung. 

Harries,  Lehrgang  des  griechischen  Unterrichts  in  Unter-  und  Ober- 
tertia.   Leipzig  1908.    Quelle  und  Meyer.    50  S.   8».    geh.  0,80  M. 

Eine  so  ausführliche  Anleitung  erscheint  mir  bei  der  sorgsamen  Einführung 
der  Kandidaten  in  die  Methodik  des  Unterrichts  während  des  Seminarjahres  nicht 
notwendig.  Davon  abgesehen  erhält  der  Anfänger  manch  wertvollen  Fingerzeig 
für  erfolgreiche  unterrichtliche  Tätigkeit.  Die  Auswahl  der  syntaktischen  Regeln 
ist  wohl  erwogen. 

Klement,  Schulgrammatik  der  griechischen  Sprache.  Auf  Grund  von 
V.  Hintners  Griechischer  Schulgrammatik  bearbeitet.  Wien  1908.  Alfred  Holder. 
IV  u.  191  S.    80.    geh.  2  K.  50  h.,  geb.  3  K. 

Verfasser  führt  neben   den  häufig  sich  findenden  Formen   auch  weniger  oft 


Griechische  Grammatiken  und  Übungsbücher.  509 

gebrauchte  an,  gibt  auf  jeder  Seite  unter  dem  Strich  bei  den  betreffenden  Para- 
graphen die  Abweichung  des  homerischen  und  herodoteischen  Sprachgebrauchs 
vom  attischen  an  und  fügt  sprachgeschichtliche  Erläuterungen  an  geeigneter  Stelle 
hinzu.  Die  Grammatik  ist  sehr  brauchbar;  nur  wird  in  einer  neuen  Auflage 
manches  Überflüssige  wie  die  Definition  schon  dem  Sextaner  geläufiger  gramma- 
tischer Begriffe  weggelassen,  manches  geschickter  dargestellt  werden  müssen. 

Klement,  Elementargrammatik  der  griechischen  Sprache.  Auf  Grund 
der  Griechischen  Schulgrammatik  von  Hintner-Klement.  Wien  1909.  Alfred  Holder. 
100  S.    80.    geh.  1  K  30  h.,  geb.  1  K  80  h. 

Die  Grammatik  ist  ein  Auszug  aus  der  Schulgrammatik.  Sehr  viele  Para- 
graphen sind  verkürzt,  nicht  wenige  ganz  oder  zum  Teil  weggefallen,  manche 
Bemerkungen  sind  durch  kleinen  Druck  wiedergegeben,  manches  in  der  Schul- 
gramraatik  klein  Gedruckte  ist  hier  in  großem  Druck  wiedergegeben.  Ganze 
Paragraphen  oder  Teile  sind  umgestellt,  einige  Regeln  anders  gefaßt,  auch  neue 
Zusätze  gemacht.  Nicht  alle  Zusammenziehungen  betrachte  ich  als  Verbesserungen 
(cf.  §  165  und  §  192).  Ein  großer  Teil  der  Erläuterungen  unter  dem  Texte  auf  den 
einzelnen  Seiten  ist,  wenn  auch  verkürzt,  beibehalten.  Die  Grammatik  ist  auch  in 
dieser  Bearbeitung  brauchbar. 

Maurenbrecher,  B.  und  Wagner,  R.,  Grundzüge  der  klassischen  Philo- 
logie. Band  II,  1.  Abteilung:  Griechische  Grammatik  von  Reinhold 
Wagner.    Stuttgart  1908,  Wilhelm  Violet.    218  S.    8".    geh.  3,50  M. 

Diese,  die  einschlägigen  Schriften  sorgfältig  benutzende,  für  die  einzelnen 
Abschnitte  die  Literatur  vollständig  gebende,  gesicherte  Ergebnisse  bietende  Schrift 
kann  den  Studierenden  warm  empfohlen  werden. 

Stürmer,F.,Wörterverzeichnis  zu  den  griechischen  Übungsbüchern  von  Prof. 
Dr.  O.  Kohl.  Teil  I  u.  II  (Stück  1—30)  etymologisch  bearbeitet.  Halle  a.  S.  1908, 
Buchhandlung  des  Waisenhauses.    80  S.    8°.    geh.  1  M. 

Verfasser  hat  aus  den  Kohlschen  Wörterverzeichnissen  geeignete  Wörter  aus- 
gewählt und  eine  Reihe  davon  abgeleiteter  oder  damit  zusammengesetzter  Wörter 
mit  Erklärungen  hinzugefügt.  Eine  teilweise  Wiederholung  ist  unvermeidlich  ge- 
wesen. Die  Hoffnung,  daß  diese  Zusammenstellung  im  Unterricht  Nutzen  stiften 
werde,  teile  ich  leider  nicht. 

Schneider,  Gustav,  Lehrbuch  aus  Piaton.  Für  den  Schulgebrauch  heraus- 
gegeben. Leipzig  1909,  G.  Freytag  G.  m.  b.  H.  136  S.  8».  geb.  1,50  M.  = 
1,80  K. 

Dem  Texte  ist  vorangeschickt  eine  Darstellung  der  vorsokratischen  Philosophie 
der  Griechen,  des  Wesens  der  Sophistik  und  des  Lebens  und  der  Lebensanschau- 
ungen des  Sokrates  und  des  Piaton.  Den  Schluß  bildet  eine  Reihe  selbständiger 
Textänderungen  und  ein  Verzeichnis  der  Eigennamen. 

Die  nach  religiös-ethischen  Gesichtspunkten  hergestellte  Gruppierung  des  aus 
den  in  Betracht  kommenden  Schriften  gewählten  Lesestoffes  verrät  den  in  Piatons 
Anschauungen  mit  Liebe  sich  versenkenden  Gelehrten  und  Schulmann. 

Charlottenburg.  Gotthold  Sachse. 


510  V.  steinecke, 

Erdkunde. 

I.    Zeitschriften. 

1.  Deutsche  Rundschau  für  Geographie  und  Statistik.  31.  Jahrgang. 
Wien  1908.    A.  Hartleben.    Viele  Abbildungen  und  Karten. 

2.  Schlesien.  Illustrierte  Zeitschrift.  2.  Jahrgang.  Breslau  u.  Kattowitz  1909. 
F.  u.  K.  Siwinna.    Mit  Abbildungen. 

3.  Deutsche  Erde.  Zeitschrift  für  Deutschkunde.  7.  Jahrgang.  Gotha  1908. 
Justus  Perthes. 

Unter  den  geographischen  Zeitschriften  hat  sich  die  „Deutsche  Rundschau 
für  Geographie  und  Statistik"  (1)  wegen  der  Vielseitigkeit  ihrer  Mitteilungen,  ihres  für 
ein  wissenschaftlich  gebildetes  Publikum  berechneten  Textes  und  wegen  der  Schnellig- 
keit, mit  der  sie  den  statistischen  und  wissenschaftlichen  Ergebnissen  folgt,  auf  ihrer 
alten  Höhe  gehalten.  Eine  große  Zahl  von  Bildern  ergänzt  die  Aufsätze,  mit  denen  die 
Zeitschrift  über  alle  im  Vordergrund  des  Interesses  stehenden  Gebiete,  über  die  jüng- 
sten Forschungsreisen  und  die  Fortschritte  der  geographischen  Wissenschaft  fort- 
laufend berichtet.  Auch  die  Karten  sind  sorgfältig  ausgeführt  und  dabei  ist  die 
inhaltreiche  Zeitschrift  sehr  billig.  In  neuem  Gewände  erscheint  die  Zeitschrift 
„Schlesien"  (2).  Sie  umfaßt  neben  einer  Abteilung  Kunst  und  Kunstpflege  auch 
eine  schlesische  Chronik  und  einen  Teil  „Schlesien",  der  beachtenswerte  Beiträge 
für  schlesische  Heimatkunde,  schlesische  Kultur  und  für  Folklore  enthält.  Eine 
große  Zahl  von  sehr  hübsch  ausgeführten  Zeichnungen  und  Photographien  erhöht 
den  vornehmen  Eindruck,  den  die  Zeitschrift  äußerlich  macht.  Die  von  Lang- 
hans  herausgegebene  „Deutsche  Erde"  (3)  hat  sich  während  ihres  siebenjährigen 
Bestehens  eine  führende  Stellung  unter  unseren  wissenschaftlichen  Zeitschriften 
errungen.  Schon  der  Name  des  Herausgebers  und  der  Umstand,  daß  die  Zentral- 
Kommission  für  wissenschaftliche  Landeskunde  von  Deutschland  an  ihr  mitarbeitet, 
bietet  für  den  wissenschaftlichen  Inhalt  volle  Bürgschaft.  Sie  will  den  kaiser- 
lichen Ausspruch  vom  „größeren  deutschen  Reich"  verkörpern  und  bringt  um- 
fangreichen Stoff  zur  Frage  der  Betätigung  des  deutschen  Volkes  herbei.  Mit 
suchender  Liebe  folgt  sie  dem  deutschen  Volkstum  allerorten  und  hat  auf  diesem 
Gebiete  eine  ganz  einzigartige  und  alles  überragende  Stellung  erreicht.  Die  der 
Zeitschrift  beigefügten  Karten  verdienen  wegen  ihrer  zweckmäßigen  Ausführung 
und  ihres  wertvollen  statistischen  und  wissenschaftlichen  Materials  besondere  An- 
erkennung. In  keinem  gebildeten  deutschen  Hause  dürfte  diese  Zeitschrift  fehlen, 
die  für  das  Deutschtum  und  für  die  Wissenschaft  so  Außerordentliches  leistet. 
Wer  auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Landeskunde  oder  des  Deutschtums  Forschun- 
gen anstellt,  wird  der  Zeitschrift  keineswegs  entraten  können. 

IL   Hilfsmittel  für  den  Unterricht. 

1.  Fischer,  Heinrich,  Schulatlas  für  Anfangsunterricht  und  Mittel- 
stufen. Bielefeld  u.  Leipzig  1907.  Velhagen  &  Klasing.  47  Haupt-  und  74  Neben- 
karten,   brosch.  1,50  M. 

2.  Müller,  Alois,  Bilder-Atlas  zur  Geographie  von  Österreich-Ungarn. 
Wien  1905.  A.  Pichlers  Ww.  u.  Sohn.   29  u.  48  S.  8°.  96  Abbildungen,  steif  geh.  2  Kr. 


Erdkunde.  511 

3.  Letoschek,  Emil,  Sammlung  von  Skizzen  und  Karten.  Wien. 
G.  Freytag  u.  Berndt.     13  und  18  Karten  mit  Text.   8".   2,50  M. 

4.  Boock,  Johannes,  Zeichenschule  für  den  Unterricht  in  der  Erd- 
kunde. Ausgabe  A.  für  höhere  Lehranstalten.  3  Hefte  Unterstufe  und  3  Hefte 
Oberstufe,  je  0,45  M.   4°.   Berlin  1907.    D.  Reimer.    Mit  Lehrerheft  I,  31  S.    8». 

5.  Wild,  Josef,  Wandtafel  zur  Veranschaulichung  geographischer 
Grundbegriffe.     Eßlingen  u.  München.     J.  F.  Schreiber,     unaufgezogen  3  M. 

6.  Lehmann,  Richard,  Die  Bedeutung  des  erdkundlichen  Unter- 
richtes.   Bielefeld  u.  Leipzig  1908.    Velhagen  &  Klasing.    33  S.    8°.    0,60  M. 

7.  Lampe,  Felix,  Zur  Einführung  in  den  erdkundlichen  Unterricht. 
Halle  1908.    Buchhandlung  des  Waisenhauses.    225  S.   8«.   3  M. 

8.  Lampe,  Felix,  Zur  Erdkunde.  Leipzig  u.  Berlin  1905.  B.  G.  Teubner. 
151  S.   8°.    geb.  1,20  M. 

9.  Pädagogisches  Magazin.    Langensalza  1906.     Hermann  Beyer  u.  Söhne. 

a)  Haustein,  A.,  Der  geographische  Unterricht  im  18.  Jahrhundert. 
58  S.    80.    0,80  M. 

b)  Kohlhaase,  Fr.,  Die  methodische  Gestaltung  des  erdkundlichen 
Unterrichts.    48  S.    8°.    0,60  M. 

c)  Fritzsche,  Richard,  Die  neuen  Bahnen  des  erdkundlichen  Unter- 
richts.   121  S.    80.     1,50  M. 

d)  Heine,  Heinrich,  Über  thüringisch-sächsische  Ortsnamen.  21  S.  8». 
0,25  M. 

Unter  den  neuen  Atlanten  ist  der  von  Fischer  (1)  herausgegebene  Schul- 
atlas für  die  Unter-  und  Mittelstufen  sehr  beachtenswert.  Es  wird  bei  ihm  vor 
allen  Dingen  betont,  daß  er  für  deutsche  Schüler  bestimmt  ist,  deshalb  nehmen 
die  deutschen  Karten  einen  sehr  großen  Raum  ein  und  auch  auf  den  Ausland- 
karten werden  deutsche  Arbeit  und  deutsche  Siedelung  besonders  deutlich  ge- 
macht. In  zweiter  Linie  legt  Fischer  Wert  auf  die  wirtschaftlichen,  industriellen 
und  Verkehrsverhältnisse,  und  so  finden  wir  in  dem  Atlas  eine  erfreulich  große 
Zahl  von  Haupt-  und  Nebenkarten,  die  sich  mit  diesem  täglich  wichtiger  werden- 
den Zweige  unseres  Volkslebens  beschäftigen.  Außerdem  hat  er  sich  bemüht, 
die  Vergleichung  der  Flächenmaßstäbe  zu  vereinfachen  und  zu  erleichtern,  und 
benutzt  anerkennenswerterweise  die  Merkatorprojektion  nur  für  das  Wasser- 
gebiet der  Erde,  während  er  bei  allen  die  Landmasse  betreffenden  Darstellungen 
Hammers  flächentreuen  Entwurf  der  Planisphäre  ven\'endet.  Die  Auswahl  der 
Karten  ist  gut,  ihre  Ausführung  klar,  und  der  Preis  des  Ganzen  billig.  Daß  eine 
große  Zahl  von  Karten  der  Darstellung  von  Land-  und  Siedlungsformen  ge- 
widmet ist,  wird  in  den  Augen  vieler  Fachmänner  ein  Vorzug  sein.  —  Der  Bilder- 
atlas von  Österreich-Ungarn,  den  Alois  Müller  (2)  herausgegeben  und  mit  einer 
einfachen,  klaren  Beschreibung  versehen  hat,  enthält  nahezu  100  typische  Bilder, 
von  denen  sich  viele  durch  ihren  klaren  Druck  und  durch  die  Bedeutung  des 
dargestellten  Gegenstandes  auszeichnen.  Eine  ganze  Reihe  dieser  Bilder  eignet 
sich  auch  für  den  erdkundlichen  Unterricht  bei  uns  in  Deutschland.  —  Einen 
eigenartigen  Versuch,  die  geographischen  Karten  dem  Schüler  näherzubringen, 
macht  Letoschek  (3).    Er   bringt  für  den  Zweck   der  Repetition   die  einzelnen 


512  V.  steinecke, 

Landschaften  in  schematischen  Formen,  um  dem  Schüler  das  Nachzeichnen  und 
das  gedächtnismäßige  Erfassen  der  wichtigsten  Punkte  zu  erleichtern.  Die  Samm- 
lung leidet,  ebenso  wie  die  meisten  derartigen  Versuche,  daran,  daß  schließlich 
vor  der  Unmenge  von  Hilfslinien  die  Grundformen  der  Karte  kaum  mehr  ge- 
sehen werden.  —  Die  Zeichenschule  von  Boock  (4)  beschränkt  sich  deshalb  mit 
Recht  darauf,  die  einzelnen  Naturlinien  zu  vereinfachen  und  dadurch  das  Bild  für 
den  jüngeren  Schüler  klarer  und  eindringlicher  zu  machen.  Dadurch  dient  die 
Zeichenschule  demselben  Zwecke  wie  die  Zeichenatlanten  von  Debes,  nur  daß  sie 
kleinere  Landschaftseinheiten  zur  Darstellung  bringt,  Sie  kann  deshalb  dem 
Lehrer  als  ein  gutes  Muster  dienen,  wie  er  an  der  Wandtafel  einfache  Skizzen 
entwerfen  und  sie  nachher  bei  der  Wiederholung  von  seinen  Schülern  verlangen 
kann.  —  Schreibers  Wandtafel  zur  Veranschaulichung  geographischer  Grund- 
begriffe (5)  hat  mit  den  meisten  derartigen  Versuchen  das  gemein,  daß  unmögliche 
Verbindungen  der  verschiedensten  Landschafts-  und  Siedelungsformen  auf  kleinem 
Räume  miteinander  vereinigt  werden.  Wenn  man  allzu  viel  auf  kleinem  Räume 
darstellen  will,  dann  kommt  man  naturgemäß  in  die  Schwierigkeit,  daß  man  statt 
der  Natur  die  Unnatur  zeichnet. 

Über  den  erdkundlichen  Unterricht  und  seine  Gestaltung  liegt  ein  kleines 
Schriftchen  von  Richard  Lehmann  (6)  vor,  worin  der  erfahrene  Meister  über 
den  lehrhaften  Wert  des  geographischen  Unterrichtes  goldene  Worte  spricht  und 
wertvolle  praktische  Folgerungen  zieht.  Er  kommt  zu  dem  unabweisbaren  Schluß, 
daß  er  die  Ausdehnung  des  erdkundlichen  Unterrichtes  bis  in  die  oberen  Klassen, 
die  Veranstaltung  von  erdkundlichen  Ausflügen  und  die  Vermehrung  der  Unter- 
richtsmittel fordert.  Daneben  macht  er  aufmerksam,  daß  auch  die  Geographie- 
lehrer ordentlich  vorgebildet  sein  müssen  und  daß  die  Methodik  des  Unterrichtes 
noch  an  vielen  Stellen  der  Besserung  bedarf.  —  Zur  Einführung  in  den  erdkund- 
lichen Unterricht  gibt  Lampe  (7)  nicht  nur  wertvolle  Anregungen  und  Winke, 
sondern  er  faßt  auch  die  sämtlichen  Auffassungen  über  die  Bedeutung  der  Erd- 
kunde als  Fach  und  über  die  erdkundliche  Methode  zusammen.  Kraftvoll  vertritt 
er  die  Meinung,  daß  der  Mensch  der  Mittelpunkt  des  erdkundlichen  Unterrichtes 
sein  muß,  und  weist  an  verschiedenen  Beispielen  nach,  wie  auch  scheinbar  fern- 
Uegende  Naturerscheinungen  auf  den  Menschen  einwirken.  Eine  genauere  Aus- 
einandersetzung widmet  er  nach  Herbartscher  Methode  den  verschiedenen  Seiten 
des  kindlichen  Geistes,  die  von  der  Erdkunde  beeinflußt  werden,  und  bespricht 
so  die  Erdkunde  als  Bildungsfach  recht  eingehend.  Auch  die  Persönlichkeit  des 
Lehrers  und  die  Art  des  Lehrens  findet  eine  eingehende  Besprechung.  Mit  den 
mancherlei  Arten  des  Unterrichts  setzt  er  sich  dann  auseinander  und  kommt 
hier  auf  den  jetzt  allgemein  durchdringenden  Gedanken,  daß  an  Stelle  des  Karten- 
zeichnens nur  die  Skizze  treten  soll.  Darauf  bespricht  er  die  Lehrmittel,  unter 
denen  er  die  Verwendung  der  Bilder  sehr  hervorhebt,  und  schließlich  auch  das 
Lehrbuch  und  den  Atlas.  Das  Werk  wird  neben  den  früheren  methodischen  An- 
weisungen von  Kirchhoff,  Günther,  Fischer  und  Lehmann  für  jeden  Lehrer  der 
Erdkunde  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  sein.  Lampe  zieht  auch  (8)  gleich  die 
praktische  Folgerung  aus  seinen  methodischen  Darlegungen,  indem  er  unter  dem 
Titel  „Zur  Erdkunde"  ausgewählte  Aufsätze  von  Humboldt,  Ritter,  Peschel,  Barth, 


Erdkunde.  513 

Richthofen,  Drygalski,  Kirchhoff,  Ratzel,  Partsch  und  von  den  Steinen  zusammen- 
stellt. Die  Darlegungen  sind  im  allgemeinen  gut  ausgewählt,  hätten  aber  teil- 
weise etwas  gekürzt  werden  können,  damit  der  Leser  nicht  auf  allzu  viele  ihm 
fremde  Namen  stößt.  —  In  dem  , pädagogischen  Magazin"  sind  mehrere  Hefte 
erschienen,  die  sich  mit  der  Erdkunde  beschäftigen.  Haustein  (9a)  bietet  eine 
auf  gründlichen  Quellenstudien  beruhende  Skizze  des  geographischen  Unterrichts 
im  18.  Jahrhundert,  in  der  er  der  Bedeutung  des  Pietismus,  der  Philanthropen,  der 
Aufklärer  gerecht  wird  und  schließlich  den  durch  Herder  gewonnenen  Fortschritt 
würdigt.  Er  kommt  zu  dem  Schluß,  daß  das  18.  Jahrhundert  für  die  Entwicklung 
des  geographischen  Unterrichtes  bedeutungsvoller  ist  als  das  19.,  das  eigentlich 
nur  stoffliche  Erweiterungen  und  Berichtigungen  gebracht  habe.  —  Kohlhaase  (9b) 
weist  auf  diejenigen  wichtigen  Gesichtspunkte  des  Geographieunterrichtes  hin,  die 
nach  den  Forderungen  der  modernen  Geographie  und  Pädagogik  beobachtet 
werden  müssen,  damit  das  erforderliche  Unterrichts-  und  Erziehungsziel  erreicht 
wird.  Er  bespricht  besonders  eingehend  die  Kulturgeographie  und  die  Wirtschafts- 
geographie und  legt  großen  Wert  darauf,  daß  auch  durch  Anschauungsmittel  und 
durch  Karten  und  Zeichnungen  der  Unterricht  entsprechend  unterstützt  wird.  — 
Wenn  Fritzsche  (9c)  von  neuen  Bahnen  im  erdkundlichen  Unterricht  spricht, 
so  meint  er  damit  ebenfalls,  daß  die  Kulturgeographie  in  den  Vordergrund  ge- 
stellt werden  muß,  daß  es  nicht  auf  Ansammlung  toten  Wortwissens,  sondern  auf 
die  Anbahnung  einer  Erkenntnis  der  natürlichen  Grundlagen  menschlicher  Kultur 
ankommt.  Er  verlangt  außerdem,  daß  die  Landschaftskunde  höher  stehen  soll 
als  die  Staatenkunde,  daß  die  Heimat  bei  allem  Unterricht  den  anschaulichen 
Hintergrund  bietet  und  daß  die  geschichtlichen  und  naturgeschichtlichen  Elemente 
in  der  Erdkunde  durchdringen  müssen.  Im  allgemeinen  ist  das  Buch  für  die 
Bedürfnisse  der  Elementarschule  geschrieben.  —  Heine  (9  d)  weist  in  einem 
kurzen  Schriftchen  die  Abstammung  thüringischer  und  sächsischer  Ortsnamen  aus 
dem  Slawischen  und  aus  den   verschiedenen   deutschen  Wortstämmen   nach.   — 


IIL  Lehrbücher. 

1.  Langenbeck,  R.,  Leitfaden  der  Geographie.  L  Unterklassen.  Leipzig 
1908.    W.  Engelmann.    5.  Auflage.    135  S.    8°.    Mit  6  Figuren,    geb.  2  M. 

2.  Pahde,  Adolf,  Erdkunde  für  höhere  Lehranstalten.  Mittelstufe  2. 
Glogau  1906.  2.  Auflage.  Carl  Flemming.  172  S.  8°.  Mit  8  Bildern  und  sechs 
Figuren,    geb.  2,40  M. 

3.  Pahde,  Adolf  und  Lindemann,  Heinrich,  Leitfaden  der  Erdkunde. 
Ebenda.    5  Hefte  mit  vielen  Abbildungen,    kart.  je  0,60  M. 

4.  Schlemmer,  Karl,  Leitfaden  der  Erdkunde.  Berlin  1906.  Weid- 
mannsche  Buchhandlung.  Unterstufe,  3.  Auflage.  63  S.  8°.  Mit  3  Abbildungen. 
0,80  M.  —  Mittelstufe,  3.  Auflage.  296  S.  8°.  Mit  84  Abbildungen.  2,80  M. 
—  Oberstufe  1908.    86  S.    S".    Mit  26  Abbildungen.    1,40  M. 

5.  Pütz,  Wilhelm,  Lehrbuch  der  vergleichenden  Erdbeschreibung. 
Freiburg  1905.  Herder.  18.  Auflage.  Bearbeitet  von  Ludwig  Neumann,  392  S. 
8°.   3M.  — Derselbe,  Leitfaden,  27.  u.  28.  Auflage.    1906.  V  u.  260  S.   8°.   2M. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  33 


^14 


V.  steinecke, 


6.  Seydlitz,  E.  von,  Geographie,  bearbeitet  von  A.  Rohrmann.  Breslau 
1908.  Ferdinand  Hirt.  Ausgabe  D:  7  Hefte;  Ausgabe  G:  5  Hefte  und  1  Ergän- 
zungsheft.   Mit  vielen  Bildern.    Vollständig  4,70  M. 

7.  Fischer,  Heinrich  und  Geistbeck,  Erdkunde  für  höhere  Schulen. 
Berlin  und  München  1908.  R.  Oldenbourg.  Ausgabe  in  6  Heften,  2.  Auflage. 
4,35  M.  —  Buchausgabe  1907.    3  M. 

8.  Rüge,  Sophus,  Kleine  Geographie.  8.  Auflage,  von  Walther  Rüge. 
Leipzig  1909.    Dr.  Seele  &  Co.    VIII  u.  304  S.    8". 

9.  Regel,  Fritz,  Geographie  für  Handels-,  Real-  und  Fortbildungs- 
schulen.   Stuttgart  1907.    Wilhelm  Violet.    484  S.    8».    3,20  M. 

10.  Ludwig,  Kari,  Lehrbuch  der  Handels-  und  Verkehrsgeographie. 
Wien  1907.    A.  Pichlers  Wwe  u.  Sohn.    494  S.    8".    Mit  129  Abbildungen.    6  M. 

11.  Weighardt,  E.,  Leitfaden  für  den  geographischen  Unterricht. 
Weinheim  1907.    F.  Ackermann.    VI  u.  46  S.    8°.    0,50  M. 

Langenbecksin  dieser  Monatschrift  bereits  besprochener  Leitfaden  (1)  hat  in 
den  neueren  Auflagen  einige  Abänderungen,  die  insofern  zu  begrüßen  sind,  als 
sie  den  Merkstoff  in  den  außereuropäischen  Erdteilen  einschränken  und  dem  deut- 
schen Mittelgebirge  eine  weit  klarere  Ausarbeitung  haben  zuteil  werden  lassen.  — 
Die  Erdkunde  von  Pah  de  (2)  zeichnet  sich  durch  die  klare  zusammenhängende 
Darstellung  und  durch  die  wissenschaftlich  hohe  Stufe  aus,  auf  der  ihr  Verfasser 
steht.  Vielleicht  bringt  er  in  den  mittleren  Stufen  zuviel  wissenschaftliche  Einzel- 
heiten. Auf  der  Oberstufe  zeigt  sich,  wie  wertvoll  es  ist,  daß  die  mathematische 
Erdkunde  einmal  von  jemand  behandelt  wird,  der  den  Stoff  sowohl  von  der  ma- 
thematischen wie  von  der  geographischen  Seite  aus  vollständig  beherrscht.  Pahdes 
Oberstufe  wird  sich  als  vorzügliches  Hilfsmittel  für  den  Lehrer  auch  in  denjenigen 
Schulen  bewähren,  wo  man  wegen  der  in  der  Mathematik  gestellten  hohen  An- 
forderungen das  Buch  vielleicht  nicht  einführen  sollte.  Die  Durcharbeitung  des 
gesamten  Stoffes  ist  bei  Pahde  vorzüglich,  wie  bei  einem  so  erfahrenen  Lehrer 
der  Erdkunde  nicht  anders  zu  erwarten  ist.  Neben  dem  „großen  Pahde"  besteht 
bereits  eine  von  Lindemann  (3)  herausgegebene  kleinere  Ausgabe,  die  die 
wissenschaftlichen  Vorzüge  des  großen  Pahde  hat,  aber  bezüglich  des  Stoffes  eine 
schärfere  Auswahl  trifft,  deshalb  allen  denen  willkommen  sein  wird,  die  den  großen 
Pahde  deshalb  ablehnen,  weil  er  zu  „schwer"  ist.  —  Schlemmers  Leitfaden  der 
Erdkunde  (4)  ist  in  vielen  Schulen  eingeführt,  obwohl  er  vielfach  das  induktive 
Verfahren  vermissen  läßt,  nach  dem  die  Erdkunde  von  den  meisten  Lehrern  heute 
aufgebaut  wird.  Es  ist  daraus  ersichtlich,  daß  der  Text  nach  Inhalt  und  Form  so- 
wie auch  bezüglich  der  Auswahl  des  Lehrstoffes  vorzüglich  durchgearbeitet  ist; 
besonders  für  Gymnasialanstalten  ist  das  Buch  zu  empfehlen.  —  Das  Lehrbuch 
der  vergleichenden  Erdbeschreibung  von  Pütz  (5)  hat  heute  noch  viele  Anhänger, 
besonders  auf  der  altgymnasialen  Seite.  Es  ist  zwar  von  Neumann  in  den  neueren 
Auflagen  vollständig  umgearbeitet  und  bietet  namentlich  viele  Tabellen,  läßt  aber 
in  der  Oberstufe  in  bezug  auf  die  allgemeine  Erdkunde  und  die  Kartenprojektions- 
lehre zu  wünschen  übrig.  Der  einleitende,  von  Neumann  neu  verfaßte  Abschnitt 
über  die  allgemeine  Erdkunde  in  der  Unterstufe  verfolgt  einen  selbständigen,  sehr 
vernünftigen  Gedankengang.    Die  Länderkunde  scheidet  ziemlich  scharf  zwischen 


Erdkunde.  5J5: 

der  physischen  und  politischen  Erdkunde  und  zeichnet  sich  durch  weise  Be- 
schränkung auf  die  notwendigsten  Namen  vorteilhaft  aus.  —  Eine  Neubearbeitung 
hat  die  Seydlitzsche  Geographie  (6)  gefunden.  Der  Ausgabe  D  in  7  Heften 
ist  eine  Ausgabe  G  in  5  Heften  und  einem  Ergänzungsheft  gefolgt,  die  durch  Be- 
schränkung des  Stoffes  und  vereinfachte  Darstellung  in  erster  Linie  denjenigen 
höheren  Lehranstalten  dienen  will,  die  in  den  mittleren  Klassen  nur  eine  wöchent- 
liche Unterrichtsstunde  haben.  Die  Neubearbeitungen  von  Rohrmann  haben  den 
SeydHtz  in  jeder  Beziehung  sehr  gehoben.  Der  früher  etwas  banale  Text  hat  jetzt 
einen  wertvollen  Inhalt  bekommen  und  außerdem  hat  die  Verlagshandlung  sich 
ungemein  angestrengt,  durch  die  Ausstattung  der  Hefte,  besonders  aber  durch 
ganz  vorzügliche  Bilder,  dem  Werke  einen  Vorsprung  vor  seinen  Mitbewerbern  zu 
geben.  —  Dieses  Vorgehen  hat  vorbildlich  auf  andere  Leitfäden  gewirkt.  Das 
sieht  man  besonders  an  dem  neu  von  Fischer  und  Geistbeck  (7)  heraus- 
gegebenen erdkundlichen  Werke,  das  bereits  in  zweiter  Auflage  vorliegt.  Auch 
dieses  Werk  bringt  den  Stoff  für  die  einzelnen  Klassen  in  gesonderten  Heften, 
was  für  die  Erdkunde  ja  sehr  notwendig  ist,  weil  der  Stoff  allzu  schnell  veraltet. 
Es  gibt  aber  auch  eine  Ausgabe,  die  alles  in  einem  Bande  vereinigt.  Methodisch 
ist  das  Buch  gut  durchgearbeitet.  Durch  den  Satz  sind  die  einzelnen  Teile  der 
Darstellung  klar  voneinander  geschieden,  ohne  daß  die  Einheitlichkeit  des  Textes 
zerrissen  wäre.  Das  Buch  steht  auf  einem  sehr  modernen  Standpunkt  insofern, 
als  es  die  Beziehungen  Deutschlands  zum  Auslande  hervorkehrt,  auf  die  Wirt- 
schafts- und  Verkehrsverhältnisse  Rücksicht  nimmt  und  bei  jeder  länderkundlichen 
Einheit  einen  umfassenden  Rückblick  anfügt,  der  eine  eingehende  Würdigung  des 
Landes  bietet.  Da  auch  die  Bilder  recht  gut  sind,  wird  das  Buch  den  bisherigen 
Lehrbüchern  ein  scharfer  Konkurrent  werden,  besonders  wenn  Fischer  noch  mehr 
daran  mitarbeitet.  —  Die  kleine  Geographie  von  Sophus  Rüge  (8)  unterscheidet 
sich  in  ihrer  achten,  von  Walter  Rüge  bearbeiteten  Auflage  von  den  früheren  Auf- 
lagen vorteilhaft  dadurch,  daß  der  Lehrstoff  von  Deutschland  nicht  mehr  wie  früher 
nach  politischen  Ländern,  sondern  nach  natürlichen  Landesteilen  geordnet  ist. 
Außerdem  hat  sie  eine  beachtenswerte  Neuerung,  indem  sie  im  Anhange  nach  den 
Vorschlägen  von  Matzat  und  H.  Fischer  unter  den  Zahlentabellen  auch  Platz  für 
eigene  Messungen  der  Schüler  bietet,  damit  Zahlen  für  den  Schulhof,  für  Plätze 
des  Heimatortes,  für  Turm-  und  Haushöhen,  sowie  für  meteorologische  Beobach- 
tungen eingetragen  werden  können.  —  In  erster  Linie  für  Handelsschulen  ist  die 
Geographie  von  Regel  (9)  bestimmt.  Sie  bringt  eine  große  Menge  von  wissen- 
schaftlich wertvollen  Angaben  und  ist  besonders  in  ihrem  allgemeinen  Teil  sehr 
gut  durchgearbeitet.  Die  Länderkunde  ist  ebenfalls  sehr  gut,  hat  aber  leider,  was 
bei  ihrem  Zweck  nicht  gut  zu  vermeiden  war,  eine  große  Zahl  von  Namen.  — 
Namentlich  durch  ihre  scharfe  und  übersichtliche  Gliederung  ist  die  Wirtschafts- 
geographie von  Ludwig  (10)  ausgezeichnet.  Eine  große  Menge  von  Zahlen  und 
Einzelangaben  macht  das  Buch  sehr  wertvoll.  Wenn  auch  in  erster  Linie  die  öster- 
reichischen Verhältnisse  als  Maßstab  angenommen  werden,  so  wird  doch  genügend 
Rücksicht  auf  die  Handels-  und  Verkehrsgeographie  von  Deutschland  geübt.  Das 
Buch  kann  deshalb  trotz  mancher  kleinen  Versehen  und  Druckfehler  denjenigen 
Lehrern  bestens  empfohlen  werden,  die  in  ihrem  Unterricht  auf  die  wirtschaftlichen 

33* 


516  V.  Steineckc, 

Verhältnisse  näher  eingehen  wollen.  —  Der  Leitfaden  von  Weighardt  (11)  ist  sehr 
geschickt  in  Art  eines  Lernbuches  ausgeführt  und  bemüht  sich  mit  Erfolg,  die 
Frage  zu  lösen,  ob  den  Schülern  der  untersten  Klassen  überhaupt  ein  Lehrbuch 
in  die  Hand  gegeben  werden  soll;  wenn  die  Bücher  in  dieser  Weise  bearbeitet 
sind,  läßt  sich  jedenfalls  nichts  dagegen  einwenden. 


IV.   Landeskunde. 

1.  Linde,  Richard,  Die  Lüneburger  Heide.  Bielefeld  1905.  Velhagen 
und  Klasing.     153  S.    8°.    Mit    114  Abbildungen  und  einer  Karte,    geb.  4  M. 

2.  Sammlung  Göschen,  kl.  8°.  Jedes  Bändchen  0,80  M.  —  a)  Greim,  Georg, 
Landeskunde  des  Großherzogtums  Hessen.  1908.  158  S.  13  Abb.,  eine 
Karte.  —  b)  Zemmrich,  J.,  Landeskunde  des  Königreichs  Sachsen.  1905. 
138  S.  12  Abb.,  1  Karte.  —  c)  Grund,  Alfred,  Landeskunde  von  Öster- 
reich-Ungarn. 1905.  139  S.  10  Abb.,  1  Karte.  —  d)  Philippson,  Alfred, 
Landeskunde  des  europäischen  Rußlands.  1908.  148  S.  16  Abb.,  eine 
Karte.  —  e)  Walser,  Hermann,  Landeskunde  der  Schweiz.  1908.  146  S. 
16  Abb.,  1  Karte.  —  f)  v.  Ihering,  Rodolpho,  Landeskunde  der  Republik 
Brasilien.  1908.  167  S.  12  Abb.,  1  Karte.  —  g)  Fischer,  Heinrich,  Landes- 
kunde der  Vereinigten  Staaten.  1908.  I.  115  S.  22  Karten,  14  Tafeln; 
IL  103  S.  20  Abb.,  1  Karte.  -  h)  Hassert,  Kurt,  Australien.  1907.  184  S. 
8  Abb.,  6  Tabellen,  1  Karte.  —  i)  Kölscher,  Gustav,  Landes- und  Volkskunde 
Palästinas.     1907.    8  Bilder,  1  Karte. 

3.  Landeskunden  zur  Ergänzung  der  Schulgeographie  von  Seydlitz.  Breslau, 
Ferd.  Hirt.  —  a)  Wormstall,  Josef,  Provinz  Westfalen.  4.  Aufl.  1907.  48  S. 
22  Abb.  0,70  M.  —  b)  Lullies,  H.,  Ost-  und  Westpreußen.  6.  Aufl.  1907. 
64  S.  2  Karten,  24  Abb.  0,70  M.  —  c)  Gild,  A,  Provinz  Hessen-Nassau. 
5.  Aufl.     1907.    48  S.    20  Abb.    0,55  M. 

4.  Der  Harz  und  das  Kyffhäusergebirge.  Harzburg  1908.  R.  Stolle.  236  S. 
78  Abb.,  41  Karten.    0,50  M. 

Unter  den  Beiträgen  zur  Landeskunde  Deutschlands  ragt  die  Bearbeitung  der 
Lüneburger  Heide  durch  Linde  (1)  weit  hervor.  Macht  das  Buch  schon  äußerlich 
einen  prächtigen  Eindruck  dadurch,  daß  es  eine  große  Zahl  von  schönen  eigenen 
Bildern  aufweist,  die  freilich  leider  ohne  Plan  im  Buche  verstreut  sind,  so  gewinnt 
es  noch  durch  den  herrlichen  Text.  Was  da  geschildert  wird,  ist  nicht  mehr  die 
alte  Heide,  die  wir  aus  Lesestücken  des  vorigen  Jahrhunderts  kennen,  sondern  ein 
aufblühendes  Wirtschaftsgebiet  der  Zukunft.  Schnell  schreitet  die  Kultur  in  jenem 
Gebiet  fort,  in  dem  Torf,  Kalisalz  und  Erdöl  ausgebeutet  werden.  Aber  der  Ver- 
fasser zeigt  auch  feines  Verständnis  für  die  eigenartige  Schönheit  der  Heide,  die 
er  sehr  genau  kennt  und  die  er  wissenschaftlich  eingehend  durchforscht  hat.  Er 
verwendet  eine  reiche  Statistik  in  zweckentsprechender  Weise  und  weist  beispiels- 
weise nach,  wie  das  Waldgebiet  und  die  Zahl  der  gehaltenen  Schweine  allmählich 
zunimmt.  Unter  den  wissenschaftlich  interessanten  Forschungsergebnissen  sind 
wohl  vor  allen  Dingen  zwei  Punkte  herauszuheben:  Linde  erklärt  den  Bau  des 
Einhauses   aus  der  Empfindlichkeit  der  Schnucken   und  stellt  die  weit  verbreitete 


Erdkunde.  517 

Ansicht,  daß  die  Lüneburger  Heide  früher  ein  zusammenhängender  Wald  gewesen 
sei,  dahin  richtig,  daß  sie  zwar  sehr  viel  Holzungen,  aber  wohl  niemals  einen 
großen  zusammenhängenden  Wald  aufgewiesen  habe.  Wir  stehen  nicht  an,  dies 
Buch  über  die  Lüneburger  Heide,  das  gerade  rechtzeitig  erscheint,  bevor  der  me- 
lancholisch schöne  Landstrich  der  Kultur  zum  Opfer  fällt,  zu  dem  Schönsten  zu 
rechnen,  was  in  den  letzten  Jahrzehnten  über  deutsches  Land  geschrieben  worden 
ist.  —  Die  Sammlung  von  Göschen  erscheint  mit  einer  größeren  Zahl  von  Einzel- 
abhandlungen auf  dem  Plan,  die  sämtlich  von  guten  Sachkennern  und  Fachleuten 
bearbeitet  sind  und  in  Anbetracht  des  billigen  Preises  nicht  nur  wissenschaftlich 
sehr  viel  leisten,  sondern  auch  gut  ausgestattet  sind.  Die  Göschensche  Sammlung 
kommt  ihrem  Ziel,  eine  klare,  leichtverständliche  und  übersichtliche  Einführung  zu 
geben,  immer  näher  und  zeichnet  sich  vornehmlich  dadurch  aus,  daß  gutes  und 
neues  Zahlenmaterial  benutzt  worden  ist  und  daß,  wenigstens  bei  den  meisten 
Heften,  auf  überflüssige  Namen  mit  vollem  Recht  Verzicht  geleistet  wurde.  Dies 
gilt  besonders  bezüglich  der  Landeskunde  von  Hessen  (2a),  die  wissenschaftlich 
vorzüglich  durchgearbeitet  und  doch  lesbar  geschrieben  ist.  —  Auch  Sachsen 
(2  b)  ist  durchaus  vom  Standpunkt  der  modernen  Erdkunde  bearbeitet,  die  ihr 
Schwergewicht  in  die  wissenschaftliche  Landeskunde  verlegt,  und  beweist  das 
Ratzeische  Wort,  wonach  Sachsen  eine  Kulturlandschaft  ist,  voll  von  den  Zeichen 
der  Arbeit,  die  ein  Volk  in  seinen  Boden  rodet,  hineingräbt  und  hineinpflanzt. 
Dem  eigentümlichen  Volkscharakter,  der  Völkermischung  und  dem  wirtschaftlichen 
Leben  ist  der  Verfasser  in  jeder  Beziehung  trefflich  gerecht  geworden.  —  Die 
Landeskunde  von  Österreich-Ungarn  (2c)  bietet  vornehmlich  eine  geologisch- 
morphologische Beschreibung  des  Landes  nach  den  einzelnen  natürlichen  Land- 
schaften. Für  jede  Einheit  wird  eine  Darlegung  des  Klimas  angeschlossen.  Die 
Staatenbildung  und  die  Entstehung  der  heutigen  Nationalitätsverhältnisse  finden 
eine  eingehende  Betrachtung,  die  auf  gründlichen  Studien  beruht;  und  schließlich 
sind  auch  die  Siedelungen  mit  der  durch  den  engen  Raum  des  Buches  gebotenen 
Beschränkung,  aber  doch  ausführlich  genug  geschildert.  —  Eine  systematische 
Landeskunde  Rußlands,  wie  sie  Philippson  (2d)  teilweise  auf  Grund  eigener 
Anschauungen  bietet,  ist  um  so  mehr  willkommen,  als  über  dieses  Land,  das  in  der 
letzten  Zeit  eine  so  tiefgreifende  UmwaTidlung  seiner  politischen  und  sozialen 
Verhältnisse  durchmacht  und  auch  in  wirtschaftlicher  Beziehung  vor  einer  Um- 
wandlung steht,  noch  viel  Unkenntnis  herrscht.  Der  größte  Teil  des  Buches  ist 
selbstverständlich  der  Landesnatur  gewidmet,  aber  überall  geht  der  Verfasser  auf 
die  wunderliche  Zwiespältigkeit  zwischen  dem  slawisch-orientalischen  und  dem  mo- 
dernen westeuropäischen  Wesen  ein  und  schildert  ebenso  anschaulich  die  sklavisch 
unterwürfige,  schweigend  duldende,  opferwillige  und  ungebildete  Masse  der  Mu- 
schik,  wie  das  neu  entstehende  städtische  Proletariat  und  das  Beamtentum.  — 
Beschreibungen  der  Schweiz  gibt  es  wie  Sand  am  Meer,  aber  die  meisten  sind 
zu  sehr  touristisch  gefärbt  und  eine  kleine  Minderheit  viel  zu  sehr  wissenschaft- 
lich. Zwischen  beiden  die  richtige  Mitte  zu  halten,  ist  Walser  (2e)  gelungen. 
Vor  allem  hat  er  das  Gebiet  in  seine  natürlichen  Abschnitte  zerlegt  und  schildert 
nun  bei  jedem  die  ungebändigte  wilde  Natur  und  die  zähe  Kraft  des  Menschen, 
der  dem  Lande  allmählich  sein  Gepräge  aufzwingt  und  die  Elemente  unter  seinen 


618  V.  Steinecke, 

Willen  beugt.  Während  man  sonst  gewöhnlich  nur  mit  der  Fremdenindustrie  be- 
kannt gemacht  wird,  schildert  uns  das  Werkchen  auch  die  großartige  wirtschaft- 
liche Entwicklung  der  Schweiz  auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft  und  des 
Fabrikwesens.  —  Unter  den  außereuropäischen  Ländern  hat  Brasilien  für  uns  des- 
halb eine  ganz  besondere  Bedeutung,  weil  es  das  Wirtschaftsfeld  für  zahlreiche 
dort  angesessene  Deutsche  und  eins  unserer  wichtigsten  Handelsgebiete  ist. 
Von  Ihering  (2f),  der  Abkömmling  einer  deutschen  Gelehrtenfamilie  und  mit 
seinem  neuen  Heimatlande  von  Geburt  an  vertraut,  hat  auf  Grund  eigener  An- 
schauungen und  durch  Verwertung  der  ungemein  reichhaltigen  Literatur  ein  Bild 
des  großen  und  in  seinen  entlegeneren  Teilen  noch  so  unbekannten  Landes  ge- 
zeichnet, wie  wir  es  in  solcher  umfassenden  Vollständigkeit  und  in  so  knapper 
Beschränkung  auf  das  Wichtigste  noch  nicht  besitzen.  Daß  die  deutschen  Teile 
des  Landes  mit  besonderer  Liebe  ausgearbeitet  sind,  wollen  wir  ausdrücklich  her- 
vorheben. Von  höchstem  Wert  sind  die  statistischen  Angaben,  da  sie  aus  Quellen 
genommen  sind,  die  uns  schwerer  zugänglich  sind,  und  in  wenig  Zahlen  ein  klares 
Bild  der  unerschöpften  Schätze  bieten,  die  in  diesem  reichen  Lande  verborgen 
liegen.  —  In  zwei  Bänden  hat  Heinrich  Fischer  (2g)  die  Vereinigten  Staaten 
behandelt.  Mit  der  Gründlichkeit,  dem  eindringenden  Fleiße  und  dem  wissen- 
schaftlich scharfen  Urteil,  das  wir  an  ihm  gewohnt  sind,  schildert  er  den  riesigen 
Stoff  anschaulich  und  klar  und  auf  Grund  der  neusten  Quellen.  Hochinteressant 
sind  vor  allem  die  geschichtlichen  Streiflichter  und  die  Folgerungen,  die  er  aus 
wissenschaftlich  geographischen  Beobachtungen  auf  die  künftige  Entwicklung  zu 
ziehen  versteht.  Daß  er  dem  Deutschtum  in  der  Union  besonders  eingehend 
nachspürt,  braucht  nicht  eigens  gesagt  zu  werden.  —  Auch  Hassert  (2h)  be- 
handelt sein  Thema  in  anziehender  Weise,  indem  er  die  Wechselwirkung  zwischen 
dem  Sonderling  unter  den  Erdteilen  und  dem  daran  arbeitenden  Menschenvolke, 
besonders  die  wirtschaftliche  Entwicklung  und  die  eigenartigen  anthropogeographi- 
schen  Einflüsse  mit  wissenschaftlicher  Gründlichkeit  und  doch  in  angenehm  les- 
barer Form  darstellt.  Auch  die  politische  Entwicklung  des  Erdteils,  der  ursprüng- 
lich nur  eine  Verbrecherkolonie  war  und  jetzt  am  Handels-  und  Wirtschaftsleben 
der  ganzen  Welt  in  so  hervorragender  Weise  teilnimmt,  wird  in  schönen  Einzel- 
bildern skizziert  und  dann  zu  einem  Schlußgemälde  zusammengefaßt.  —  Eine 
vollständige  Landeskunde  von  Palästina  in  so  engem  Raum,  wie  sie  Hölscher 
(2i)  darbietet,  haben  wir  trotz  der  reichhaltigen  Palästinaliteratur  noch  nicht;  man 
muß  vielmehr,  um  das  Gelobte  Land  und  damit  die  Wiege  des  Christentums 
kennen  zu  lernen,  große  Bände  durchlesen.  Um  so  willkommener  ist  diese  auf 
guter  Kenntnis  beruhende  Landeskunde,  die  in  scharfer  Gliederung  das  Land  und 
das  Volk  so  zeichnet,  wie  es  heute  ist,  und  dabei  der  Hinblicke  auf  die  geschicht- 
liche Entwicklung  nicht  ermangelt.  Von  den  sämtlichen  Bänden  der  Göschen- 
Sammlung  soll  hervorgehoben  werden,  daß  die  äußere  Ausstattung  gegen  früher 
bedeutend  besser  geworden  ist  und  alles  leistet,  was  bei  dem  billigen  Preis  ver- 
nünftigerweise gefordert  werden  kann.  —  Für  die  Schule  bestimmt  sind  die 
Landeskunden  aus  dem  Hirtschen  Verlage,  die  zunächst  als  Ergänzung  zur 
Schulgeographie  von  Seydlitz  dienen  sollen  (3).  Daß  sie  fortwährend  in  neuen 
Auflagen  erscheinen,   ist  ein  Zeichen   für  ihre  Brauchbarkeit.    Daß  aber  der  Text 


Erdkunde.  519 

und  die  Ausstattung  mit  Bildern  und  Karten  bei  jeder  neuen  Auflage  besser  werden, 
gereicht  dem  Verlage  und  den  Verfassern  zur  größten  Ehre.  Die  Landeskunden 
sind  in  dieser  Monatschrift  bereits  besprochen  worden  und  sind  bekannt  genug,  als 
daß  noch  ein  besonderes  Wort  zu  ihrer  Empfehlung  gesagt  werden  müßte.  Wenn 
sie  auch  nicht  alle  gleichwertig  sind,  so  zeichnen  sich  doch  die  meisten  dadurch 
aus,  daß  sie  die  wissenschaftliche  Forschung  in  einer  für  die  Schulzwecke  passen- 
den Form  vorbringen.  —  Der  seit  zwei  Jahren  erscheinende  sogenannte  „blaue 
Harzführer"  (4)  ist  die  offizielle  Vereinsschrift  des  Harzer  Verkehrsverbandes  und 
bietet  eine  übersichtliche,  durch  viele  Routenkarten  und  Wegebeschreibungen  unter- 
stützte Hilfe  bei  den  Wanderungen  durch  unser  schönes  Waldgebirge.  Das  Vor- 
wort, aus  der  Feder  des  Dichters  Hans  Hoffmann,  ist  eine  wanderfrohe  Skizze  der 
wichtigsten  Punkte  und  Siedelungen.  Für  alle  Lehrerzimmer  wird  das  Buch  gegen 
Einsendung  von  10  Pfennig  Porto  durch  den  Harzer  Verkehrsverband  kostenfrei 
geliefert. 

V.   Zur  Länderkunde. 

1.  Fontane,  Theodor,  Wanderungen  durch  die  Mark  Brandenburg. 
Herausgegeben  von  Hermann  Berdrow.  Stuttgart,  J.  G.  Cotta  Nachf.  228  S.  8°. 
geh.  1  M. 

2.  Friedemann,  Hugo,  Reichsdeutsches  Volk  und  Land  im  Werde- 
gang der  Zeiten.    Stuttgart  1906.    Strecker  u.  Schröder.  483  S.  8".  geh.  4  M. 

3.  Langenbeck,  Wilhelm,  Geschichte  des  deutschen  Handels.  Leipzig 
1909.    B.  G.  Teubner.    (Aus  Natur  und  Geisteswelt.)    183  S.    8°.    geb.  1,25  M. 

4.  Heilborn,  Adolf,  Die  deutschen  Kolonien.  Ebenda  1906.  168  S. 
8°.    Mit  vielen  Abbildungen  und  2  Karten,    geb.  1,25  M. 

5.  Scheel,  Willy,  Deutsche  Kolonien.  Berlin  1907.  Schwetschke  u.  Sohn. 
226  S.    8".    brosch.  2,80  M. 

6.  Hettner,  Alfred,  Grundzüge  der  Länderkunde.  I.  Europa.  Leipzig 
1907.    O.  Spamer.    737  S.    8''.    Mit  8  Tafeln  und  347  Kärtchen.    16  M. 

7.  Philippson,  Alfred,  Europa.  2.  Auflage.  Leipzig  1906.  Bibliographi- 
sches Institut.    Mit  145  Abbildungen,  14  Karten  und  22  Tafeln,    geb.  17  M. 

8.  Sievers,  Wilhelm,  AllgemeineLänderkunde!  Kleine  Ausgabe.  Leipzig 
1907.  Bibliographisches  Institut.  I.  496  S.  8«,  Mit  19  Karten,  16  Profilen,  zwölf 
Kartenbeilagen  und  15  Tafeln.     10  M. 

9.  Passarge,  Siegfried,  Südafrika.  Leipzig  1908.  Quelle  u.  Meyer.  355  S. 
8".    Mit  47  Abbildungen,  34  Karten  und  vielen  Profilen,    geb.  8  M. 

10.  von  Seydlitz,  E.,  Handbuch  der  Geographie.  Breslau  1908.  Ferd. 
Hirt.  25.  Auflage.  844  S.  8°.  Mit  400  Profilen,  Figuren,  Karten  und  Bildern, 
4  farbigen  Karten  und  30  farbigen  Tafeln,  in  Leinen  6,50  M. 

An  ersterstelle  soll  des  prächtigen  Buches  von  Fontane  (1)  gedacht  werden, 
dessen  Wanderungen  durch  die  Mark  Brandenburg  den  poetischen  Hauch  einer 
Zeit  bewahren,  die  unwiederbringlich  dahin  ist.  Sie  sind  aus  Liebe  und  Anhäng- 
lichkeit an  die  Heimat  geboren,  jeder  Fußbreit  Erde  belebt  sich  und  längst  vergangene 
Zeiten,  längst  verschollene  Gestalten  tauchen  yor  unserem  Auge  auf.  Doch  war  das  Buch 
wegen  seines  großen  Umfanges  in  letzter  Zeit  nicht  mehr  so  bekannt,  wie  es  verdient; 


520  V.  .steinecke, 

es  ist  deshalb  höchst  anerkennenswert,  daß  Berdrow  den  Versuch  gemacht  hat, 
das  klassische  Werk  in  verkürzter  Form  dem  Deutschen  und  der  deutschen  Schule 
wieder  näherzubringen.  Bei  einer  neuen  Bearbeitung  wäre  wohl  zu  wünschen, 
daß  den  vielen  Fremdwörtern  nach  Kräften  der  Garaus  gemacht  würde.  Das 
Büchelchen  enthält  eine  Chronik  der  märkischen  Ortschaften  und  Herren- 
geschlechter, aber  auch  wunderschöne  Naturschilderungen.  Hübsche  Anekdoten 
von  Berühmtheiten  der  Welt-  und  Ortsgeschichte  durchranken  die  Schilderungen 
der  kleinen  Städtchen,  Gutshöfe,  Herrenhäuser  und  Klöster.  Für  Schülerbüchereien 
eignet  sich  das  Werk  in  dieser  Form  sehr  gut,  in  erster  Linie  natürlich  im  Gebiet 
von  Mitteldeutschland.  —  Das  reichsdeutsche  Volk  und  Land  im  Werdegang  der 
Zeiten  zu  schildern,  ist  die  dankbare  Aufgabe,  der  sich  Friedemann  (2)  unter- 
zogen hat.  Von  der  Vorzeit  an  verfolgt  er  den  Zug  des  deutschen  Volkes  durch 
die  Weltgeschichte  bis  zum  Auftreten  der  Einheitsbestrebungen  und  bis  in  unsere 
Tage  hinein,  wo  sich  Reichsdeutschland  auf  neuen  Bahnen  bewegt.  Ein  kurzer 
Blick  wird  auf  die  kulturellen  Beziehungen  von  Deutschlands  Lage  und  Grenzen, 
auf  die  Bildung  des  Volkes,  die  Verfassung  des  Reiches  und  die  Bodenbildung 
von  Deutschland  geworfen  und  darauf  führt  uns  der  Verfasser  durch  das  ganze 
Land  hindurch,  beschreibt  die  Eigentümlichkeiten  der  Landschaft,  die  Geschichte 
der  Siedelungen,  den  Stand  der  Landwirtschaft  und  Industrie  und  das  Leben  des 
Volkes.  Besonders  in  letzterer  Beziehung  weiß  der  Verfasser  viele  anziehende 
Einzelheiten  zu  erwähnen,  so  daß  einem  die  Wanderung  an  der  Hand  dieses 
Führers  an  keiner  Stelle  langweilig  wird.  Das  Buch  ist  auch  im  allgemeinen  zu- 
verlässig und  bietet  nur  selten  Gelegenheit,  Druckfehler  oder  kleine  sachliche  Ver- 
sehen zu  rügen.  In  den  hübschen  Schlußabschnitten  wird  von  Deutschlands 
Wetter,  von  den  Erzeugnissen  des  Berg-,  Land-  und  Waldbaues,  von  der  Vieh- 
zucht und  eingehender  von  dem  deutschen  Handel  gesprochen.  Die  von  dem 
sonstigen  Schema  abweichende  Darstellung  erhebt  zwar  nicht  den  Anspruch 
einer  besonderen  wissenschaftlichen  Tiefe,  kann  aber  für  Schülerbüchereien  gut 
empfohlen  werden.  —  Tiefer  in  die  Einzelheiten  dringt  L  an  gen  b  eck  (3)  bei 
seiner  Geschichte  des  deutschen  Handels.  Er  verarbeitet  die  reichhaltige  Literatur 
in  wissenschaftlich  tadelfreier  Weise  und  doch  in  leicht  lesbarer  Form.  Die  An- 
ordnung des  Stoffes  ist  nach  geschichtlichen  Rücksichten  vorgenommen:  die  vor- 
geschichtliche und  älteste  Zeit  mit  ihren  Beziehungen  zu  den  Römern  und  ihrem 
ersten  Aufblühen  im  Frankenreich,  die  Blüteperiode  von  der  Karolingerzeit  bis  zum 
Ausgang  des  Mittelalters  und  schließlich  der  wechselnde  Auf-  und  Niedergang  in 
der  Neuzeit  finden  der  Reihe  nach  eingehende  Würdigung.  Natürlich  konnten  bei 
dem  geringen  Umfang  der  Schrift  einzelne  Gebiete  nur  angedeutet  werden,  wäh- 
rend andere  eingehender  gezeichnet  sind.  Für  die  Hand  des  Lehrers  im  geographi- 
schen Unterricht,  dem  ja  meistens  die  größeren  Quellenwerke  nicht  zur  Verfügung 
stehen,  sei  das  Buch  warm  empfohlen.  —  Ebenso  wie  das  vorhergehende  Buch 
ist  auch  Heilborns  Schilderung  der  deutschen  Kolonien  (4)  aus  einer  Reihe  von 
Vorträgen  entstanden,  die  der  Verfasser  vor  einem  gebildeten  Publikum  gehalten 
hat.  Es  bietet  eine  sehr  gute  Übersicht  unserer  Kolonien  unter  mannigfaltiger 
Benutzung  reicherer,  teilweise  schwer  zugänglicher  Quellenschriften,  deren  Ver- 
zeichnis  eine   wertvolle  Zugabe   des  Schriftchens  ist.    Die  Landeskunde   unserer 


Erdkunde.  521 

Kolonien  wird  bis  in  ihre  kleinsten  Teile  behandelt  und  außerdem  werden  sehr 
viele  Einzelheiten  erwähnt,  unter  denen  wohl  das  interessanteste  die  Proben  des 
Volksgesanges  mit  den  dazugehörigen  Noten  sind.  Auch  dieses  Buch  sei  Lehrern 
warm  ans  Herz  gelegt.  —  Einen  anderen  Zweck  verfolgt  Scheel  (5).  Er  will  in 
seinem  kolonialen  Lesebuch  Deutschlands  überseeische  Interessen  der  deutschen 
Jugend  und  dem  deutschen  Volke  vertraut  machen.  Dazu  hat  er  eine  Reihe  von 
Aufsätzen  zusammengestellt,  die  in  ihrer  Gesamtheit  die  Geschichte  unserer 
Kolonien,  unserer  kolonialen  Lehrjahre  von  der  Zeit  des  Großen  Kurfürsten  bis 
heute,  und  einzelner  Siedelungen,  Vegetationsbilder,  wirtschaftliche  und  meteorologi- 
sche Verhältnisse  der  Kolonien  in  hübscher  Weise  und  lesbarer  Form  vorführt. 
Das  Buch  eignet  sich  vortrefflich  für  Schülerbüchereien  und  auch  als  Prämienwerk. 
—  Auf  dem  Gebiete  der  Länderkunde  herrscht  augenblicklich  ein  großer  Wett- 
bewerb. Mit  einem  ganz  neuen  Werke  erscheint  Hettner  (6).  Seine  Grundzüge 
der  Länderkunde  sind  ursprünglich  der  Text  zu  Spamers  Handatlas  und  nach  der 
Horazschen  Vorschrift:  „nonum  prematur  in  annum"  nunmehr  in  veränderter  Form 
herausgegeben.  Es  ist  weder  ein  Schulbuch  noch  ein  Nachschlagebuch  für  den 
praktischen  Gebrauch,  sondern  eine  kurze  wissenschaftliche  Darstellung  der  Länder- 
kunde für  Lehrer,  für  Studierende  und  überhaupt  für  alle  Gebildete,  die  nach 
geographischer  Belehrung  suchen.  Hettner  versteht  es,  seinen  reichhaltigen  Stoff 
geistig  zu  durchdringen  und  den  Zusammenhang  der  Landschaften  unter  sich 
sowie  die  gegenseitige  Beeinflussung  von  Land  und  Volk  zu  klarer  Darstellung 
zu  bringen.  Wenn  auch  der  Stoff  nach  natürlichen  Landschaften  gegliedert  ist, 
so  finden  doch  die  staatlich  abgegrenzten  Landgebiete  ebenfalls  ihr  Recht.  Daß 
Hettner  sich  überall  bemüht  hat,  Einzelheiten  unter  große  Gesichtspunkte  zu 
ordnen  und  auch  bei  den  wissenschaftlichen  Darlegungen  den  Text  so  zu  gestalten, 
daß  man  ihn  ohne  wissenschaftliche  Vorkenntnisse  versteht,  verdient  lebhafte  An- 
erkennung. Selbständige  bzw.  neue  Kärtchen  für  meteorologische  und  andere 
Verhältnisse  gereichen  dem  Werke  zum  Schmuck  und  erhöhen  seine  wissenschaft- 
liche Bedeutung.  Mitteleuropa  findet  eine  eingehendere  Schilderung  sowohl  nach 
der  Landesnatur  als  auch  in  bezug  auf  die  Menschenwelt.  Das  Buch  reiht  sich 
in  die  besten  Erscheinungen  unserer  geographischen  Literatur  ein  und  eignet  sich 
vorzüglich  als  Handbuch  für  die  Vorbereitung  zum  Unterricht.  —  Die  zweite  Auf- 
lage von  Philippsons  allgemeiner  Landeskunde  von  Europa  (7)  gibt  ebenfalls 
ein  treffliches  Hilfsbuch.  Die  Bearbeitung  ist  vollkommen  neu  und  legt  in  erster 
Linie  Wert  auf  die  physikalische  Geographie.  Aber  auf  dieser  Grundlage  ersteht 
ein  lebensvolles  Gesamtbild  unseres  Erdteiles,  in  dem  sich  die  einzelnen  Teile  und 
Beziehungen,  Bodenart,  Klima,  Pflanzen-,  Tier-  und  Menschenwelt  gegenseitig 
durchdringen.  Die  Weltwirtschaft  und  die  Weltkultur  findet  die  ihr  in  heutiger 
Zeit  gebührende  ausführliche  Darlegung.  —  Neben  der  großen  Ausgabe  der 
Sieversschen  allgemeinen  Länderkunde  erscheint  jetzt  noch  eine  kleine  Ausgabe, 
die  Sievers  selbst  besorgt  hat  (8).  Auf  diese  Weise  ist  es  möglich  geworden, 
das  wichtige  umfangreiche  Werk  seinem  Inhalte  nach  weiteren  Kreisen  zugänglich 
zu  machen.  Weggefallen  ist  eigentlich  nur  die  Entwicklungsgeschichte  der  ein- 
zelnen Erdteile.  Die  Ausstattung  ist  ebenso  vortrefflich  wie  die  der  großen  Aus- 
gabe und  nicht  nur  die  Studierenden,   sondern   auch   die  Lehrer  werden   dieser 


522  V.  Steinecke, 

Ausgabe  ein  wissenschaftliches  Interesse  entgegenbringen,  um  so  mehr,  als  das 
überaus  wertvolle  Verzeichnis  der  Quellenschriften  auch  dieser  kleinen  Handaus- 
gabe beigefügt  ist.  Wer  nicht  in  der  Lage  ist,  das  größere.  Werk  zu  beschaffen, 
kann  nunmehr  für  seine  Hand-  oder  Schulbücherei  den  wissenschaftlichen  Inhalt 
auf  diese  bequemere  Weise  in  zwei  Bänden  erwerben.  —  Eigene  Bahnen  wandert 
Passarge  (9).  Er  schildert  zuerst  die  allgemeine  physische  Geographie  ein- 
schließlich der  Tier-  und  Pflanzenwelt  und  gibt  dadurch  ein  anschauliches  Bild  der 
natürlichen  Landschaften.  Darauf  folgt  die  allgemeine  Kulturgeographie  und 
schließlich  die  Staatenkunde.  Die  Abhängigkeit  der  verschiedenen  Erscheinungen 
von  der  Natur  des  Landes  steht  stets  im  Vordergrunde  der  Betrachtung,  dagegen 
sind  solche  Verhältnisse,  die  von  dem  Lande  unabhängig  sind,  wie  die  national- 
ökonomischen,  politischen  und  statistischen,  nur  ganz  kurz  berücksichtigt  worden. 
Der  Verfasser,  der  wegen  seines  langen  Aufenthaltes  in  Südafrika  für  die  Behand- 
lung dieses  Gebietes  wie  wenige  geeignet  ist,  der  für  die  Kalahari  geradezu  der 
wissenschaftliche  Bahnbrecher  geworden  ist,  hat  in  dem  vorliegenden  Werk  eine 
sehr  eingehende  Landes-,  Volks-  und  Wirtschaftskunde  geschrieben,  die  ein  har- 
monisches Bild  des  Landes  und  seiner  Bewohner  bietet.  Namentlich  reizvoll  sind 
seine  Angaben  über  die  vorgeschichtlichen  Kulturen  und  über  die  verschiedenen 
europäischen  Kolonien,  wobei  er  die  Gebiete  der  Gold-  und  Diamantenfunde  ein- 
gehender behandelt.  Anschauliche  Karten  und  zahlreiche  Profile  und  Abbildungen 
unterstützen  den  Text,  der  nur  bezüglich  der  wirtschaftlichen  Absätze  nicht  voll- 
ständig auf  der  Höhe  steht.  Das  Schlußwort  über  die  Schwarzen  und  Weißen 
verdient  für  unsere  Zeit  und  für  unser  künftiges  Verfahren  in  den  Kolonien  ernste 
Beachtung:  den  Schwarzen  Respekt  nnd  Gehorsam  beizubringen,  sie  streng,  aber 
gerecht  zu  behandeln  und  nicht  in  falsche  Humanität  zu  verfallen.  Wer  sich  ein- 
gehender mit  den  Kolonien  bekannt  machen  will,  wird  dieses  Buch  durcharbeiten 
müssen.  —  Vom  Großen  Seydlitz  sind  die  Bearbeitungen  einander  schnell 
gefolgt.  Die  Jubiläumsausgabe  (10),  die  25.  Bearbeitung,  ist  ein  außerordentliches 
Zeugnis  für  die  tatkräftigen  Bemühungen  des  Verlages,  seine  Bücher  nicht  nur 
auf  der  Höhe  zu  halten,  sondern  sie  immer  weiter  zu  vervollkommnen.  Der  Hirt- 
sche  Verlag,  der  auf  dem  Gebiete  der  geographischen  Bilder  stets  eine  führende 
Stellung  einnahm,  hat  fast  sein  gesamtes  Anschauungsmaterial  neu  umgearbeitet 
und  bietet  jetzt  Bilder,  die  durch  ihre  Natürlichkeit  und  Klarheit  die  meisten  ähn- 
lichen Unternehmungen  überragen.  Aber  auch  der  Text  ist  nach  Inhalt  und  Aus- 
dehnung durch  die  Bearbeitung  Oehlmanns  bedeutend  voUkommner  geworden, 
und  da  das  Buch  außerdem  beispiellos  billig  ist,  wird  der  Große  Seydlitz  sich  zu 
seinen  vielen  alten  Freunden  sehr  viel  neue  erwerben.  Wir  wünschen  zu  dieser  Jubel- 
feier des  Werkes,  die  zugleich  eine  Jubelfeier  des  Verlages  ist,  auch  weitere  Erfolge. 


VL   Allgemeine  Erdkunde.    Verschiedenes. 

L  Löwl,  Ferdinand,  Geologie.  Leipzig  1906.  F.  Deuticke.  332  S.  8°.  Mit 
266  Figuren.    11,60  M.    (Klar,  Die  Erdkunde,  XI.) 

2.  Günther,  Siegraund,  Physische  Erdkunde.  Sammlung  Göschen.  Dritte 
Auflage.    1905.    147  S.    32  Abb.    0,80  M. 


Erdkunde.  523 

3.  Oppermann,  Edmund,  Geographisches  Namenbuch.  Hannover  1908. 
Carl  Meyer.    2.  Auflage.    248  S.    8°.    brosch.  3  M. 

4.  Craraer,  Franz,  Afrika  in  seinen  Beziehungen  zur  antiken  Kultur- 
welt.   Gütersloh  1907.    C.  Bertelsmann.    134  S.    8°.    Mit  34  Abb.  und  3  Karten., 
geb.  3  M. 

5.  Forke,  Alfred,  Die  Völker  Chinas.  Berlin  1907.  Carl  Curtius.  90  S. 
8".    1,50  M. 

6.  Korodi,  Lutz,  Deutsche  Vorposten  im  Karpathenland.  Berlin  1908. 
Hermann  Paetel.    107  S.    8°.    geb.  1,25  M. 

Das  Lehrbuch  der  Geologie  von  Löwl  (1)  weicht  insofern  vom  gewöhnUchen 
Schema  ab,  als  es  auf  die  vielen  paläontologischen  Einzelheiten  der  historischen 
Geologie  verzichtet  und  nur  die  wichtigeren  Leitfossilien  und  geologischen  Zonen 
bespricht.  Durch  das  Weglassen  der  sinnbetörenden  und  den  Anfänger  verwirren- 
den Menge  von  Namen  wird  nicht  nur  eine  größere  Klarheit  erzielt,  sondern  auch 
Raum  für  die  dynamische  Geologie  und  die  Besprechung  der  Oberflächenform  ge- 
spart. Auf  diesen  beiden  Gebieten  liegt  denn  auch  der  Hauptvorzug  des  Buches 
vor  vielen  anderen  Lehrbüchern.  Löwl  geht  bei  jedem  Abschnitt  von  Beobach- 
tungen aus,  bespricht  diese  unter  kritischer  Würdigung  der  aufgestellten  Theorien 
und  Hypothesen,  verwebt  dabei  die  von  den  einzelnen  Forschern  eingeführten 
Fachausdrücke  allmählich  und  erzielt  dadurch  eine  gute  Erklärung  der  physikali- 
schen Bedingungen,  die  auf  die  Erdrinde  ihren  Einfluß  ausüben.  Die  geologischen 
Verhältnisse  der  besser  erforschten  Erdschollen  werden  genau  dargelegt  und  so 
erhält  der  Leser  —  das  ist  für  den  Geographen  sehr  angenehm  und  nützlich  — 
die  geologische  Darstellung  der  wichtigeren  Erdräume,  besonders  Mitteleuropas. 
Wenn  man  auch  dem  Verfasser  nicht  bei  allen  Darlegungen  Recht  gibt,  sondern 
etwa  bei  seiner  Schilderung  der  Erde  als  eines  kosmischen  Vulkanherdes  lieber 
auf  der  „alten  Lehrmeinung"  stehen  bleibt,  so  soll  dem  Verfasser  daraus  kein 
Vorwurf  gemacht  werden,  denn  er  erstrebt  und  erreicht  bei  seinen  Lesern 
Selbständigkeit  des  Urteils  und  scheut  niemals  davor  zurück,  die  Erörterung  einer 
Frage  mit  einem  „non  liquet"  abzuschließen.  So  ist  das  ganze  Buch,  das  sich 
übrigens  auch  durch  sorgfältige  Überarbeitung,  geschickt  ausgewählte  Bilder  und 
ein  treffliches  Verzeichnis  der  Fachausdrücke  auszeichnet,  dem  Geographen  bestens 
zu  empfehlen.  —  Die  physische  Geographie  von  Günther  (2)  bringt  in  geo- 
graphischer Form  alles  Wissenswerte  über  die  Erde  als  Weltkörper,  über  die 
physikalischen  Eigenschaften  der  Erde,  ihr  Inneres  und  ihre  Rinde,  über  Vulkane 
und  Erdbeben  und  über  elektro-magnetische  Kräfte  und  schließt  eine  Betrachtung 
der  Lufthülle,  des  Meeres  und  der  Gewässer  an,  wobei  die  Wirkungen  von  Schnee 
und  Eis  herausgehoben  werden.  Eine  Morphologie  der  Erdoberfläche  bildet  den 
Abschluß  des  trefflichen  Werkes.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  Günther  bei  seinen 
Darlegungen  durchaus  eigene  Wege  geht;  das  tritt  besonders  bei  den  Abschnitten 
über  das  Erdinnere  hervor.  Eigenartig  ist  seine  Anwendung  der  Elektronentheorie 
auf  meteorologische  Vorgänge.  —  Oppermann  (3)  will  in  seinem  geographischen 
Namenbuch  in  erster  Linie  der  Schule  dienen  und  hat  deshalb  den  Stoff  nicht 
alphabetisch  geordnet,  sondern  behandelt  die  zu  erklärenden  Namen  nach  den 
Landgebieten,   zu  denen  sie  gehören,   so  daß  man   bei  der  Vorbereitung  auf  den 


524  V.  Steinecke,  Erdkunde. 

Unterricht  den  nötigen  Stoff  bequem  beieinander  findet.  Die  Auswahl  ist  eben- 
falls nach  dem  Bedürfnis  der  Schule  getroffen.  Soweit  bei  reichlichen  Stichproben 
festgestellt  werden  konnte,  sind  die  Erklärungen  zuverlässig,  und  bei  zweifelhaften 
Erklärungen  ist  ein  Fragezeichen  hinzugefügt  worden.  Daß  der  Verfasser  sich  auf 
solche  Namen  beschränkt  hat,  die  wirklich  nicht  nur  eine  taube  Nuß,  sondern  die 
Hülle  für  einen  bedeutungsvollen  Kern  sind,  ist  anzuerkennen.  In  einem  An- 
hange werden  auch  die  in  der  allgemeinen  Erdkunde  vorkommenden  Fachausdrücke 
erklärt,  und  ein  alphabetisch  geordnetes  Verzeichnis  sämtHcher  im  Buch  erklärten 
Namen  bildet  den  Schluß.  —  Ebenfalls  für  die  Bedürfnisse  der  Schule  bzw.  der 
Lehrer  ist  die  Abhandlung  von  Gramer  (4)  bestimmt.  Er  schildert,  zunächst  für 
die  Gymnasien,  das  Vordringen  der  Aegypter  in  die  oberen  Nilländer,  das  Nilgebiet 
unter  selbständiger  Verwaltung  und  unter  römischer  Herrschaft,  das  sagenhafte 
afrikanische  Goldland,  den  Verkehr  an  der  Ost-  und  Westküste  in  alten  Zeiten 
und  schließlich  das  Vordringen  der  Römer  und  ihre  Kulturarbeit  im  nördlichen 
Afrika.  Die  alten  Kultureinflüsse  werden  auf  Grund  eines  sehr  gründlichen  Quellen- 
studiums dargelegt  und  bei  allen  Ergebnissen  finden  sich  Hinweise  auf  die  mo- 
derne Entwicklung.  Eine  Reihe  von  interessanten  Skizzen  und  Bildern  veran- 
schaulicht den  frisch  lebendig  geschriebenen  Text.  —  Je  mehr  wir  von  einer  gelben 
Gefahr  sprechen,  um  so  mehr  haben  wir  auch  die  Pflicht,  unsere  Kenntnisse  über 
die  Völker  zu  erweitern,  bzw.  richtigzustellen,  die  nach  langem  Scheintod  jetzt 
so  energisch  vordringen,  um  an  der  ferneren  Kulturentwicklung  der  Erde  mitzu- 
arbeiten. Uns  dabei  zu  helfen,  ist  Forke  (5)  als  Professor  am  orientalischen 
Seminar  in  Berlin  vor  anderen  berufen.  Es  ist  ihm  gelungen,  in  gedrängter  Form 
über  China  und  seine  Bewohner,  die  uns  doch  in  Wirklichkeit  noch  als  ein  un- 
gelöstes Problem  gegenüberstehen,  eine  umfassende  Aufklärung  zu  geben.  Eine 
feingeistige  Darstellung  zeichnet  das  Büchelchen  aus,  das  es  verdient,  in  die 
Schülerbücherei  aufgenommen  zu  werden,  damit  unsere  Kenntnisse  über  das  stärkste 
Volk  der  Welt  sich  endlich  einmal  über  das  gewöhnliche  Maß  des  Dilettantismus 
hinausheben.  —  Korodis  Werk  (6)  bemüht  sich  ebenfalls,  Lücken  in  unserem 
Wissen  über  solche  Völker  auszufüllen,  von  denen  man  viel  spricht,  aber  wenig 
weiß.  Wie  mancher  bezeichnet  den  Südosten  als  den  Wetterwinkel  von  Europa 
und  widmet  den  Vorgängen  an  dem  alten  Einfallstore  der  asiatischen  Völker  eine 
gespannte  Aufmerksamkeit,  ohne  über  die  dort  auf  der  Grenzwacht  stehenden 
Völker,  namentlich  aber  über  unsere  deutschen  Vorposten  Genaueres  zu  wissen. 
Korodi  hat  als  geborener  Siebenbürger  und  als  deutscher  Vertreter  seiner  Vater- 
stadt Kronstadt  im  ungarischen  Reichstage  mit  den  dortigen  politischen  Verhält- 
nissen in  engster  Fühlung  gestanden  und  schildert  uns  nun,  nachdem  er  aus  seinem 
Vaterlande  vertrieben  und  bei  uns  eine  Zuflucht  gefunden,  den  Schauplatz  des 
erregten  Kampfes.  Er  zeichnet  seine  kulturhistorischen,  politischen,  literarischen 
und  sozialen  Bilder  unmittelbar  nach  dem  Leben,  er  beleuchtet  scharf  die  Eigenart 
der  verschiedenen  dort  aufstrebenden  Völker  und  wird  bei  aller  Wahrung  des 
deutsch-politischen  Standpunktes  auch  dem  magyarischen  Volkscharakter  völlig 
gerecht.  Gerade  jetzt,  wo  so  manche  politischen  Utopien  auftauchen  und  gläubig 
hingenommen  werden,  ist  es  von  Wert,  daß  ein  so  gewiegter  Kenner  der  Verhält- 
nisse uns   auf  den  Boden  der  Wirklichkeit  stellt.    Umso   erfreulicher  ist  es,   daß 


M.  Nath,  Zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Mathematik.  525 

Korodi  den  felsenfesten  Glauben  an  die  Zukunft  unserer  deutschen  Vorposten  hat, 
und  wir  empfinden  es  dankbar,  daß  er  diesen  Glauben  auch  anderen  mitzuteilen 
weiß.  Nicht  nur  wegen  der  anziehenden  Ausführungen  der  Schrift,  sondern  auch 
um  das  vaterländische  Gefühl  für  unsere  Brüder  jenseits  der  Grenze  zu  wecken, 
wäre  zu  wünschen,  daß  das  Buch  von  Korodi  die  weiteste  Verbreitung,  vornehm- 
lich in  Schüler-  und  Lehrerkreisen  findet. 

Essen  a.  Ruhr.  V.  Stein  ecke. 


Zum  Unterricht  Im  Rechnen  und  In  der  Mathematik.    V.*) 

I.  Lafsant,  A.,  Einführung  in  die  Mathematik.  Allen  Kinderfreunden 
gewidmet.  Autorisierte  deutsche  Ausgabe  von  S.  J.  Schicht.  Leipzig  u.  Wien  1908. 
Franz  Deuticke.    XI  u.  199  S.    2  M. 

Dölker,  Franz  und  Richter,  Max,  Sammlung  von  Rechenaufgaben  für 
höhere  Lehranstalten.  II.  Band:  Gemeine  und  Dezimalbrüche.  III.  Band: 
Wiederholung  der  Bruchrechnung.  Das  bürgerliche  Rechnen.  Stutt- 
gart 1906.  Adolf  Bong  &  Co.  II:  VI  u.  156  S.  geb.  2  M.  III:  VIII  u.  248  S. 
geb.  2,40  M. 

Westnick,  F.  A.  und  Heine,  G.,  Rechenbuch  nebst  Aufgaben  zur  ersten 
Einführung  in  die  Geometrie  für  höhere  und  mittlere  Lehranstalten. 
12.  u.  13.  Auflage.  Münster  i.W.  1908.  Aschendorffsche  Buchhandlung.  VIII  u. 
308  S.    geb.  3  M. 

II.  Dolinski,  M.,  Algebra  und  politische  Arithmetik.  Wien  u.  Leipzig 
1908.    Karl  Fromme.    IV  u.  340  S.    geb.  5  Kr.  =  4  M. 

Heis,  E.,  Sammlung  von  Beispielen  und  Aufgaben  aus  der  allge- 
meinen Arithmetik  und  Algebra  zum  Gebrauch  an  höheren  Schulen. 
112.  Auflage,  nach  den  zeitgemäßen  Anforderungen  des  mathematischen  Unter- 
richts neu  bearbeitet  und  erweitert  von  J.  Druxes.  Teil  I:  Pensum  der  Ulli, 
Olli,  Uli.  V  u.  280  S.  2,80,  geb.  3  M.;  Teil  II:  Pensum  der  O  II  und  L  2,40, 
geb.  2,80  M.    Köln  1908.    M.  Du  Mont-Schauberg. 

Jakob,  J.,  Lehrbuch  der  Arithmetik  für  Obergymnasien.  Wien  1908. 
Franz  Deuticke.    IV  u.  292  S.    3,30,  geb.  3,80  Kr. 

Jakob,  J.  und  Schiffner,  Fr.,  Lehrbuch  der  Arithmetik  für  Unterreal- 
schulen. I.  Abteüung:  Lehrstoff  der  1.  Klasse.  Wien  1907.  Franz  Deuticke. 
96  S.  1,30,  geb.  1,60  Kr.  II.  Abteilung:  Lehrstoff  der  2.  Klasse.  Ebenda 
1908.    57  S.     1,  geb.  1,40  Kr. 

Kambly,  L.,  Mathematisches  Unterrichtswerk.  L  Teil:  Arithmetik 
und  Algebra.  Nach  den  preußischen  Lehrplänen  von  1901  umgearbeitet  von 
Albrecht  Thaer.  Ausgabe  B :  Für  Oberrealschulen,  Realgymnasien  und  Gymnasien 
mit  Reformunterricht.    Breslau  1908.    Ferdinand  Hirt.    248  S.    geb.  2,40  M. 


*)  Vgl.  Jahrgang  V,  S.  264,  534;  Jahrgang  VI,  S.  393;  Jahrgang  VII,  S.  540. 


526  M.  Nath, 

Mehler,  F.  0.,  Hauptsätze  der  Elementar-Mathematik.  Neu  bearbeitet 
von  A.  Schulte-Tigges.  Ausgabe  A.  25.  Auflage  des  Stammbuches.  Berlin  1908. 
G.  Reimer.    XII  u.  280  S.    geb.  2,40  M. 

Pietzker,  F.,  Lehrgang  der  Elementar-Mathematik  in  zwei  Stufen. 
Teill:  Unterstufe.  Teil  II:  Oberstufe.  Teil  IIb:  Kegelschnittslehre.  Leipzig 
1907  bzw.  1908.  B.  G.  Teubner.  I:  XII  u.  318  S.  geb.  3,60  M.  II:  VII  u.  442  S. 
geb.  4,40  M.    IIb:  IV  u.  96  8.    kart.  1,80  M. 

Schmehl,  Chr.,  Arithmetik  und  Algebra  nebst  Aufgabensammlung. 
II.  Teil:  Ausgabe  A  für  die  Oberstufe  der  Gymnasien.  Ausgabe  B  für  die  Ober- 
sekunda der  realistischen  Lehranstalten.  Gießen  1908.  Emil  Roth.  A:  VI  u.  196  S. 
B:  V  u.  164  S.    je  1,60,  geb.  2  M. 

Schmehl,  Chr.,  Sammlung  von  Aufgaben  aus  der  Algebra  und  alge- 
braischen Analysis  im  Anschluß  an  das  Lehrbuch:  Die  Algebra  und  algebraische 
Analysis  mit  Einschluß  einer  Elementaren  Theorie  der  Determinaten.  Für  die 
Prima  der  realistischen  Anstalten.  Gießen  1909.  Emil  Roth.  VI  u.  136  S.  nebst 
Anhang:  19  S.    geh.  1,60  M. 

Schulze,  Edin.  und  Pahl,  Fr.,  Mathematische  Aufgaben.  Ausgabe  für 
Realgymnasien,  Oberrealschulen  und  Realschulen.  Teil  II:  für  die  Ober- 
stufe.   Leipzig  1908.    Dürrsche  Buchhandlung.    VIII  u.  304  S.    geb.  3,60  M. 

III.  Borel,  E.,  Die  Elemente  der  Mathematik.  Vom  Verfasser  genehmigte 
deutsche  Ausgabe,  besorgt  von  P.  Stäckel.  Erster  Band:  Arithmetik  und  Algebra. 
Leipzig  1908.    B.  G.  Teubner.    XVI  u.  431  S.  nebst  3  Tafeln,    geb.  7,60  M. 

Behrendsen  und  Götting,  Lehrbuch  der  Mathematik  nach  modernen 
Grundsätzen.  A:  Unterstufe.  Leipzig  1909.  B.  G.  Teubner.  VII  u.  253  S. 
geb.  2,80  M. 

Bruno,  K.,  Die  Grundlehren  der  Integral-  und  Differentialrechnung. 
Wien  1908.    Alfred  Holder.    54  S.     1,25  M. 

Dintzl,  E.,  Einführung  in  die  Funktionentheorie.  Für  Schüler  der 
oberen  Klassen  an  Mittelschulen.  (Sonderabdruck  aus  dem  Jahresbericht  des  k.  k. 
Erzherzog-Rainer-Gymnasiums  in  Wien).    Wien  1908.    49  S.     1,80  Kr. 

Dreßler,  H.,  Die  Lehre  von  der  Funktion.  Theorie  und  Aufgabensammlung 
für  alle  höheren  Lehranstalten.  Leipzig  1908.  Dürrsche  Buchhandlung.  93  S. 
geb.  1,60  M. 

Düsing,  K.,  Die  Elemente  der  Differential-  und  Integralrechnung  in 
geometrischer  Methode.  Ausgabe  A:  für  Gymnasien,  Realgymnasien  und 
Oberrealschulen,  sowie  zum  Selbstunterricht.  Hannover  1908.  M.  Jänecke.  X  u. 
74  S.    1,  geb.  1,30  M. 

Lesser,  O.  und  Schwab,  K.,  Mathematisches  Unterrichtswerk  zum 
Gebrauch  an  höheren  Lehranstalten.  Im  Sinn  der  neueren  Lehrpläne  be- 
arbeitet. I.  Band:  Arithmetik  und  Algebra.  I.  Teil:  Für  die  mittleren  Klassen. 
Wien  u.  Leipzig  1909.    F.  Tempsky,  G.  Freytag.    204  S.    geb.  2,80  M. 

Lesser,  0.,  Graphische  Darstellungen  im  Mathematikunterricht  der 
höheren  Schulen.  Eine  Sammlung  von  Materialien  für  die  Hand  des  Lehrers. 
Leipzig  u.  Wien  1908.    F.  Tempsky,  G.  Freytag.    108  S.    5  M. 


Zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Mathematik.  527 

Noodt,  G.,  Übungsbuch  zur  Arithmetik  und  Algebra  (für  höhere 
Mädchenschulen).  Bielefeld  u.  Leipzig  1908.  Velhagen  u.  Klasing.  VIII  u.  212  S. 
geb.  2  M. 

Valentiner,  S.,  Vektoranalysis.  Leipzig  1907.  G.  J.  Goeschen.  163  S. 
kart.  0,80  M. 

I.  Die  beiden  Teile  des  Rechenbuches  von  Dölker  und  Richter  —  der 
erste  der  drei  Bände  hat  dem  Berichterstatter  nicht  vorgelegen  —  bringen  den 
Lehrstoff  für  die  Quinta  und  Quarta  der  höheren  Lehranstalten  (Preußens)  in  ver- 
ständiger Auswahl  und  Begrenzung,  gehen  nur  bei  den  bürgerlichen  Rechnungs- 
arten einen  Schritt  weiter,  als  die  Praxis  wohl  im  allgemeinen  mitkommen  kann.  Das 
Buch  von  Westnick  und  Heine  ist  altbewährt.  Über  die  durchaus  zu  billigen- 
den Grundsätze,  die  bei  der  Bearbeitung  maßgebend  gewesen  sind,  verbreiten  sich 
die  Verfasser  im  Vorwort.  Sehr  brauchbar  erscheinen  die  den  Jahrespensen  bei- 
gegebenen Rückblicke  und  Wiederholungsaufgaben.  Der  geometrische  Anhang 
gibt  das  Landläufige  übersichtlich  und  knapp.  Das  Büchlein  von  Laisant  beab- 
sichtigt einen  Weg  zu  weisen,  um  „von  der  ersten  Kindheit  an  bis  zum  Beginn 
des  Studiums  —  sagen  wir  vom  vierten  bis  zum  elften  Lebensjahr  —  dem  Kinde 
zehnmal  so  viel  im  Rechnen  beizubringen  als  jetzt,  und  zwar  in  unterhaltender, 
anstatt  in  quälender  Weise".  „Dann  wird  es  bei  einiger  Intelligenz  mit  elf  Jahren 
mehr  mathematisches  Verständnis  besitzen  als  jetzt  neun  Zehntel  unserer  Abiturienten. 
Und  was  noch  wichtiger  ist,  es  wird  Freude  und  Lust  am  Lernen  gewinnen." 
Kein  kleines  Ziel,  das  hier  gesteckt  ist!  Und  wenn  nun  einige  Jahre  ins  Land 
gegangen  wären  und  das  Buch  fleißige  Benutzung  gefunden  hätte,  wie  erfreulich 
müßte  dann  die  Entwicklung  mathematischer  Fähigkeiten  sichtbar  werden!  Es  ist 
auch  gar  nicht  schlecht,  was  das  Werk  bietet.  Allerhand,  häufig  ganz  geistreiche 
Anleitung  den  jungen  Schülern  systemlos,  anschaulich,  spielend,  angenehm  Be- 
griffe, Gedanken,  Fertigkeiten  der  mathematischen  Disziplinen  zuzuführen  und  ein- 
zuprägen, bis  zum  Funktionsbegriff,  zum  graphischen  Rechnen,  zu  den  Kegel- 
schnitten. Die  Auswahl  ist  manchmal  etwas  wunderlich.  Kann  die  Veranschau- 
lichung des  dekadischen  Systems  durch  Stäbchen,  Päckchen,  Bündel,  Packete, 
Schachteln,  Ballen  usw.  als  ganz  pläsierlich  und  auch  als  zweckentsprechend  be- 
zeichnet werden,  so  erscheint  doch  die  starke  Bevorzugung  der  Dreieckszellen,  der 
Summen  der  Quadrate  und  Kuben  nicht  recht  erklärlich,  weder  durch  den  Gegen- 
stand noch  durch  die  Art  der  Behandlung.  Die  Planimetrie  wird  z.  T.  zu  sehr 
rein  in  der  Form  von  Erklärungen  behandelt,  die  Formeln  der  Oberflächen  und 
Inhalte  der  Körper  werden  dem  Kinde  „vorläufig  einfach  mrtgeteilt,  um  es  in  den 
Stand  zu  setzen,  praktische  Aufgaben  zu  lösen."  „Doch  belaste  man  nicht  das 
kindliche  Gedächtnis  mit  diesen  Formeln;  man  lege  sie  vielmehr  dem  Schüler 
jedesmal,  wenn  er  sie  braucht,  neuerdings  vor.  Wenn  sie  sich  von  selbst  seinem 
Geist  einprägen,  um  so  besser;  wenn  nicht,  schadet  es  auch  nicht."  Nicht  jeder 
Mathematiklehrer  wird  diese  Grundsätze  unterschreiben  wollen. 

II.  Dolinski  bietet  zunächst  eine  breite  Darstellung  des  Lehrstoffes  bis  zu 
den  Reihen,  darauf  in  sehr  ausführlicher  Form  die  Lehre  von  der  Lebensversiche- 
rung.   Eine  alle  Teile  berücksichtigende  Aufgabensammlung  macht  den  Beschluß. 


528  M.  Nath. 

Sterbetafeltabellen  liegen  in  einem  besondern  Heft  vor.  »Dem  Verfasser  schwebt 
das  Endziel  vor,  einen  wissenschaftlichen  Überblick  über  die  Gliederung  des  auf 
den  höheren  Handelsschulen  (Handelsakademien)  behandelten  mathematischen  Lehr- 
stoffs zu  geben."  Diesen  kennen  zu  lernen,  mag  das  Buch  auch  von  einem  Lehrer 
der  höheren  Schulen  mit  Nutzen  gebraucht  werden.  Grundsätzlich  aber  stimmt  der 
Berichterstatter  Chr.  Schmehl  zu,  ,daß  für  die  Behandlung  solcher  rein  techni- 
scher Fragen  (die  Berechnung  der  Prämien  der  Lebensversicherungsanstalten)  die 
der  Schule  zugewiesene  Zeit  nicht  ausreicht  oder  daß  dadurch  die  Zeit  für  andere 
Gebiete  des  mathematischen  Unterrichts  beschränkt  werden  müßte".  So  findet 
sich  denn  nichts  davon  in  den  Fortsetzungen  seines  Werkes,  die  dieser  Autor 
jetzt  bietet.  In  diesen  sonst  klar  und  gründlich  gearbeiteten  Sammlungen  fällt 
auf,  daß  die  Kunststücke  der  Lösung  von  Gleichungen  zweiten  Grades  mit  zwei 
oder  gar  mit  drei  Unbekannten  noch  so  ausführlich  behandelt  wurde.  Demgegen- 
über erscheint  der  der  Gymnasialausgabe  beigegebene  Paragraph  über  „Funktionen 
von  veränderlichen  Größen  und  graphischen  Darstellungen"  ein  wenig  schmächtig. 
Und  nichts  anderes  läßt  sich  von  demjenigen  sagen,  der  in  der  Ausgabe  für  die 
Prima  der  realistischen  Lehranstalten  enthalten  ist.  Dieselbe  Stellung  wird  man  zu 
dem  entsprechenden  Abschnitt  in  dem  Heisschen  Buche  einnehmen  müssen.  Frei- 
lich, der  anerkannte  Vorzug  des  jugendfrisch  greisen  Buches,  interessante  „ange- 
wandte" Aufgaben  zu  bringen,  kommt  auch  ihm  zu.  Der  neue  Herausgeber  ist 
im  übrigen  bestrebt  gewesen,  die  Modernisierung  des  bewährten  Lehrmittels  durch 
Weglassung  überflüssiger  Formeln,  gekünstelter  Aufgaben,  ganzer  Paragraphen, 
die  nach  Inhalt  und  Form  veraltet  erschienen,  zu  fördern.  Im  ganzen  ist  das  auch 
wohl  gelungen.  Aber  an  einzelnen  Stellen  machen  sich  doch  die  Runzeln  noch 
immer  bemerklich,  die  auf  die  Abstammung  des  Werkes  aus  einer  abgeschlossenen 
Epoche  der  Methodik  hinweisen.  Der  Berichterstatter  denkt  dabei  an  eine  Reihe 
von  Aufgaben  in  der  Potenz-  und  Wurzelrechnung,  deren  Kompliziertheit  den 
Schülern  Schwierigkeiten  zu  bereiten  geeignet  ist,  ohne  daß  doch  die  aus  ihrer 
Überwindung  sich  ergebende  Einsicht  und  Übung  als  entsprechend  bezeichnet 
werden  könnte.  Aber  der  Lehrer,  der  das  Buch  benutzt  und  der  gleichen  An- 
sicht ist,  kann  sie  ja  überschlagen.  Mancher  wird  sie  immer  noch  als  notwendig 
erachten  und  ihr  Dasein  begrüßen.  Schulze  und  Pahl  haben  nun  ihrem  Unter- 
nehmen den  Abschluß  geben  können  und  die  neue  Aufgabensammlung  wird  den 
Kampf  um  das  Dasein  auf  sich  zu  nehmen  haben.  Der  enge  Anschluß  an  die 
offiziellen  Lehrpläne,  die  gleichmäßige  Berücksichtigung  aller  Gebiete,  die  bewußte 
Beschränkung  auf  solche  Aufgaben,  die  dem  Schüler  rechnerisch  und  im  Ansatz 
nicht  zu  große  Schwierigkeiten  bereiten,  die  besondere  Kennzeichnung  solcher,  bei 
denen  das  zu  befürchten  ist,  die  Fülle  der  Anwendungen,  die  sich  auf  Physik 
und  Chemie  wie  auf  das  praktische  Leben  beziehen,  endlich  die  Sorgfalt,  die  auf 
die  Herstellung  eines  korrekten  Druckes  verwendet  worden  ist,  lassen  erwarten, 
daß  dieser  Kampf  erfolgreich  sein  wird,  zumal  die  Verfasser  auch  den  neuen  Be- 
strebungen, wie  die  Meraner  Vorschläge  sie  bringen,  Rechnung  zu  tragen  sich 
bemüht  zeigen. 

Von  den  Veröffentlichungen,  die  den  Namen  J.  Jakobs  tragen,  sind  die  beiden 
kleineren  etwa  für  die  Sexta  bis  Quarta  unserer  höheren  Lehranstalten  bestimmt. 


Zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Mathematik.  529 

Von  ihnen  gilt,  was  für  das  entsprechend  für  die  Gymnasien  geschriebene  Buch 
hier  Jahrgang  V,  S.  265  gesagt  worden  ist.  Das  größere  Buch  ist  die  Fortsetzung 
der  schon  früher  besprochenen  für  die  Unterstufe  bestimmten  Arbeiten.  Es  teilt 
mit  diesen  den  Vorzug  ausführlicher,  klarer  Darstellung,  hat  die  Tendenz,  die 
Zahl  der  Lehrsätze  möglichst  zu  beschränken  und  das  ganze  Augenmerk  der 
Schüler  auf  die  zu  lenken,  die  in  der  Praxis  gebraucht  werden.  Über  die  Multi- 
plikation finden  sich  nur  zwei,  über  die  Division  drei  Lehrsätze,  im  Ganzen  ist 
ihre  Zahl  für  alle  sieben  Rechnungsarten  auf  14  reduziert.  Die  Gleichungen  werden 
nicht  erst  nach  den  Proportionen  behandelt,  sondern  gleich  nach  der  Subtraktion 
eingeführt  und  begleiten  von  da  ab  alle  Abschnitte  des  Buches.  Besondere  Sorg- 
falt ist  auf  die  Einführung  der  neuen  Zahlenarten  verwendet.  Vor  allem  ist  mit 
der  formalen  Einführung  der  negativen  Zahlen  gebrochen.  Sie  geschieht  vielmehr, 
genau  wie  in  den  unteren  Klassen,  auf  Grund  des  Gegensatzes.  Ein  besonderes 
Kapitel  ist,  zum  erstenmal  in  einem  österreichischen  Lehrbuche,  den  Begriffen 
Funktion,  Differentialquotient,  Integral  gewidmet.  Über  dieses  Kapitel  wird  noch 
weiter  unten  zu  sprechen  sein. 

Unter  den  Namen  Kambly,  Mehl  er,  Pietzker  treten  zwei  altbewährte  und 
eine  neue  Darstellung  uns  entgegen.  Die  beiden  ersten  haben  in  Albrecht 
Thaer  bzw.  August  Schulte-Tigges  neue  Bearbeiter  gefunden  und  sind  den 
Anforderungen  der  Gegenwart  angepaßt  worden.  Bei  Mehl  er  ist  besonders  ein 
sehr  klarer  Abschnitt  „Wiederholender  Aufbau  des  arithmetischen  Lehrgangs"  hin- 
zugefügt worden,  mit  einigen  eigenartigen,  beachtenswerten  tabellarischen  Zu- 
sammenstellungen. Auch  hat  eine  Umstellung  der  Paragraphen  an  mehreren 
Stellen  des  arithmetischen  Lehrgangs  stattgefunden.  Auf  die  Umarbeitungen  der 
übrigen  Teile  des  Buches  einzugehen  liegt  außerhalb  der  Aufgabe  dieses  Auf- 
satzes. Die  Arithmetik  von  Kambly-Langguth  hat  einmal  in  dem  Tenor  ihrer 
früheren  Auflagen  an  vielen  Stellen  durch  Änderungen  des  Ausdrucks  und  Ein- 
fügungen (z.  B.  der  §  57  durch  die  geometrische  Darstellung  der  Addition  usw. 
komplexer  Zahlen,  durch  die  Anfangsgründe  der  Vectorrechnung)  Verbesserungen 
erfahren,  außerdem  aber  bringt  ein  Anhang  von  65  Seiten  drei  Ergänzungs- 
abschnitte: Versicherungsrechnung,  Analysis  und  Differentialrechnung.  Die  letzten 
beiden  Abschnitte  werden  weiter  unten  noch  näher  besprochen  werden,  von  dem 
ersten  kann  gesagt  werden,  daß  das  Kapitel  in  dieser  vorsichtig  beschränkten 
Ausdehnung  an  Anstalten,  die  durch  Lehrer  und  Schüler  besonders  günstig  ge- 
stellt sind,  wohl  ohne  Schädigung  anderer  Disziplinen  wird  bewältigt  werden 
können.  Nach  des  Berichterstatters  freilich  nicht  sehr  umfangreichen  Erfahrungen 
scheitert  das  Bemühen  oft  an  der  Schwierigkeit,  das  Interesse  der  Schüler  zu  ge- 
winnen und  die  Vorbegriffe  ihm  so  klar  zu  machen,  daß  die  Anwendung  auf 
Aufgaben  geläufig  wird.  —  Die  Abschnitte  des  Pietzker  sehen  Lehrbuches  die 
sich  auf  die  Arithmetik  beziehen,  stellen  an  die  Schüler  keine  geringen  Anforde- 
rungen. Besonders  tritt  das  auf  der  Unterstufe  hervor.  Die  Darstellung  schreitet 
hier,  trotz  der  Hervorhebung  der  Sätze  durch  gesperrten  Druck,  für  das  Verständ- 
nis dieser  Altersstufe  zu  akademisch  vor.  Als  Lernbuch  dürfte  es,  bei  aller  Treff- 
lichkeit des  Inhalts,  manche  Schwierigkeiten  bereiten.  In  geringerem  Maße  wird 
das  bei  der  Oberstufe  der  Fall  sein,   wo  der  Schüler  schon  imstande  ist,  die  Dis- 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIH.  Jhrg.  34 


530  M,  Nath, 

Position  aus  der  Darstellung  herauszufinden.  Sachlich  ist  das  Gegebene  ein- 
wandsfrei.  Die  Verwertung  der  neuen  Gedanken,  an  deren  Verwirklichung  der 
Verfasser  hervorragend  mitgewirkt  hat,  ist  besonders  eigenartig  in  den  beiden 
ersten  Abschnitten  des  zweiten  Teils,  „Gleichungen  als  Ausdrucksmittel  für  funktio- 
nalen Zusammenhang"  und  „der  Aufbau  des  Zahlensystems  nach  der  fortschreiten- 
den Entwicklung".  Von  ihnen  sollte  jeder  Lehrer  der  Mathematik  Kenntnis  nehmen. 

III.  Unter  den  hier  zusammengestellten  Werken  erscheinen  die  Veröffent- 
lichungen von  Behrendsen  undGötting  und  vonLesser  und  Schwab  als  die 
ersten  Versuche,  schulbuchmäßig  die  Grundgedanken  der  Meraner  Vorschläge  zu 
verarbeiten.  Die  Bücher  von  Bruno,  Dintzl,  Dreßler  und  Düsing  geben, 
teils  methodisch,  teils  systematisch,  den  Stoff  aus  der  höheren  Analysis,  der  schon 
für  die  Behandlung  an  den  höheren  Lehranstalten  in  Frage  kommen  könnte.  Allen 
voran  muß  die  von  P.  Stäckel  gelieferte  Übersetzung  des  grundlegenden  Werkes 
von  E.  Borel  gestellt  werden.  Das  Buch  ist  eine  sehr  geschickte  Bearbeitung  und 
Verschmelzung  dreier  Boreischen  Publikationen,  der  „Arithm^tique  et  notions 
d'Alg^bre",  der  „Algebre,  premier  cycle",  und  der  »Algebre,  second  cycle".  Es 
führt  den  Leser  von  den  ersten  Anfangsgründen  des  Rechnens  bis  zu  den  Grund- 
gedanken der  Infinitesimalrechnung  und  hebt  im  Verlaufe  der  Darstellung  alle  die 
Untersuchungen,  Begriffe  und  Gedanken  hervor,  die  dazu  gehören,  die  Neu- 
gestaltung des  mathematischen  Unterrichts  im  modernen  Sinne  durchzuführen. 
Der  erste  Abschnitt,  die  Arithmetik,  ist  freilich  etwas  breit  gehalten,  aber  der  Her- 
ausgeber hat  doch  damit  recht,  daß  er  ihn  gegenüber  der  Überlegung,  auf  seine 
Wiedergabe  zu  verzichten,  beibehält  und  den  deutschen  Lesern  geboten  hat.  Es 
ist  in  der  Tat  eine  originelle  Leistung  Boreis,  da  hier  eine  ganze  Reihe  von  Sätzen 
hergeleitet  werden,  die  sonst  in  die  Buchstabenrechnung  gehören,  und  da  diese 
Sätze  in  einer  begreiflichen  Fassung  erscheinen,  die  ihren  Inhalt  deutlicher  hervor- 
treten läßt,  als  wenn  man  sich  der  Buchstaben  bedient  hätte.  Der  zweite,  aus- 
führlichere Teil,  die  Algebra,  enthält  dann  eng  ineinander  gearbeitet  und  in  einer 
alle  Zusammenhänge  und  Übergangsmöglichkeiten  berücksichtigenden  und  hervor- 
hebenden Darstellung  die  elementaren  Lehren  der  Rechnung  mit  allgemeinen 
Zahlen,  die  Lehre  von  den  Gleichungen,  die  Anfangsgründe  der  Koordinaten- 
geometrie, graphische  Darstellungen  der  behandelten  algebraischen  Formen.  Der 
Studierende  lernt  alle  diese  Disziplinen  in  erster  Linie  nicht  als  gesonderte  Teile 
eines  Ganzen  kennen,  vielmehr  verschlingen  sich  deren  Lehren  und  Untersuchungen 
von  Anfang  an  zu  einem  Netz  von  Vorstellungen  und  Fertigkeiten,  das  den  Über- 
gang zu  Gedankengängen  und  Untersuchungsmethoden  der  höheren  Mathematik 
anzubahnen  wohl  imstande  ist.  Die  Kenntnisnahme  des  Buches  erscheint  von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  für  jeden  Lehrer  der  Mathematik  empfehlenswert  und 
zwar  gerade  die  Übersetzung,  da  sie  dem  Originale  gegenüber  die  Erleichterung 
bietet,  die  französische  Terminologie  der  Elementarmathematik,  die  dem  Deutschen 
nicht  in  gleicher  Weise  geläufig  zu  sein  pflegt,  wie  die  der  höheren  Teile,  in  die 
deutschen  Bezeichnungen  umgewandelt  zu  finden.  Jeder  Abschnitt  des  Buches 
ist  mit  einer  guter  Auswahl  zum  Teil  eigenartig  gebildeter  Aufgaben  versehen, 
die   drei   angehängten   Tafeln   bringen  eine   graphische   Eisenbahnkarte   und   die 


Zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Mathematik.  531 

Logarithmen  und  Numeri  zu  vier  Dezimalen.  —  Das  Werk  von  Behrendsen  und 
Göttin g  bietet  sowohl  den  geometrischen  wie  auch  den  arithmetischen  Lehrstoff 
der  Unterstufe  in  einer  vom  Hergebrachten  zwar  abweichenden  Gestalt,  aber  doch 
sehr  vorsichtig  mit  dem  Neuen  zurückhaltend.  Gerade  aus  diesem  Grunde  eignet 
es  sich  wohl  besonders  zu  einem  Versuche,  den  Unterricht  umzugestalten.  Die 
neuen  Gedanken  und  Betrachtungsweisen  sind  in  ihm  enthalten  und  treten  viel- 
fach zutage,  aber  sie  beherrschen  doch  den  Fortgang  nicht  in  der  Art,  daß  die 
Wandlung  des  Unterrichts  zu  radikal  erschiene.  Anderseits  sind  die  Neuerungen 
auch  nicht,  wie  bei  manchen  Neubearbeitungen  älterer  Werke,  als  Einschiebsel 
oder  Anhänge  einfach  ausscheidbar  für  den,  der  zu  ihrem  Werte  kein  Vertrauen 
hat.  Anders  verfährt  Lesser  in  dem  ersten  Teil  des  im  Erscheinen  begriffenen 
Werkes.  Die  knappen  theoretischen  Abschnitte,  die  das  „Übungsbuch"  durch- 
setzen, heben  sofort  mit  den  neuen  Betrachtungsweisen  an,  kürzere  graphische 
Darstellungen  bringen  dem  Lernenden  die  Auffassung  der  Veränderlichen,  der  Ab- 
hängigen nahe  und  legen  sich  in  bezug  auf  die  Formulierung  von  Sätzen  und 
Regeln  eine  schätzenswerte  Beschränkung  auf.  Dem  entsprechend  ist  denn  auch 
das  Übungsmaterial  gewählt.  Die  Aufgabensammlung  vermeidet,  die  Schüler  zu 
komplizierten,  mechanischen  Rechnungen  Anlaß  zu  geben,  bietet  aber  anderseits 
doch  wohl  alles,  was  als  unentbehrlich  bezeichnet  werden  muß,  in  genügender 
Reichhaltigkeit.  So  wäre  nun  durch  die  drei  Bücher,  das  von  Börel  als  Gegen- 
stand des  Studiums  seitens  des  Lehrers,  das  Lehrbuch  von  Behrendsen -Götting, 
endlich  durch  das  Übungsbuch  von  Lesser  und  Schwab  Gelegenheit,  im  Unter- 
richt den  Wert  der  Meraner  Vorschläge  zu  prüfen  auch  für  den  gegeben,  der  auf 
eigene  Verantwortung  Versuche  zu  machen  sich  bisher  gescheut  hat. 

Die  kleineren  Werke  von  Bruno,  Dintzl,  Dreßler  und  Düsing  begrenzen 
ihren  Stoff  in  ziemlich  abweichender  Weise,  unterscheiden  sich  auch  nicht  un- 
wesentlich in  der  Behandlungsweise.  Als  eine  besonders  brauchbare  und  erfreu- 
liche Arbeit  kann  die  von  Dreßler  bezeichnet  werden.  Sie  bietet,  eng  sich  an- 
schließend an  einen  im  wesentlichen  den  üblichen  Weg  einschlagenden  Unterricht 
in  der  Elementarmathematik,  für  jeden  Schritt  vorzüglich  in  der  Arithmetik  die 
Ansatzpunkte,  vorbereitenden  Hinweise,  Übungen  und  aus  ihnen  sich  ergebenden 
Begriffe  und  Sätze,  die  allmählich  die  neuen  Gedanken  in  dem  Schüler  lebendig 
werden  lassen  können.  Was  Klarheit,  Folgerichtigkeit,  Umsicht  und  Sorgfalt  in 
der  Auswahl  des  Gebotenen  angeht,  kann  man  das  Büchlein  fast  als  vollendet  be- 
zeichnen. Bei  Dintzls  tüchtiger  Darstellung  ist  der  Einfluß  von  Borel  sehr  deut- 
lich zu  merken.  Übrigens  ist  die  methodisch  gehaltene  Form,  wie  wohl  immer, 
von  einer  gewissen  Subjektivität  nicht  frei  zu  sprechen.  Aber  die  Subjektivität 
bietet  anderseits  für  den  Leser,  der  in  erster  Linie  doch  wohl  als  Fachmann  ge- 
dacht ist,  das  Interessante.  Die  Auswahl  —  es  ist  keine  systematische  Vollständig- 
keit angestrebt  — ,  die  Aufeinanderfolge  der  Betrachtungen,  die  herangezogenen 
Anwendungen  sind  strittig.  Die  eigenen  Ansichten  und  das  eigene  Verfahren  an 
dem  Dintzls  zu  kritisieren  ist  nicht  ohne  Wert.  Bruno  geht  im  Gegensatz  zu 
allen  anderen  Bearbeitungen  des  Stoffes  vom  bestimmten  Integral  aus  und  gelangt 
von  da  aus,  gelegentlich  nicht  ganz  ohne  Schwierigkeiten,  zu  den  sonst  früher  be- 
handelten Gebieten.    Auch  seine  Behandlungsart  kennen   zu   lernen,   lohnt  sich 

34* 


532  M»  Nath,  Zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Mathematik. 

wohl  der  Mühe.  Allerdings  möchte  der  Berichterstatter  seinen  Zweifel  nicht  unter- 
drücken, ob  sein  Verfahren,  selbst  wenn  die  Berechtigung  des  Ausgangspunktes 
zugegeben  wird,  sich  im  Unterricht  von  Neulingen  empfehlen  würde.  —  Dintzl 
wie  Bruno,  an  österreichischen  Mittelschulen  wirkend,  sind  auch  bestrebt,  die  Ein- 
fügung des  neuen  Lehrstoffs  in  die  Lehrpensen  der  Klassen  in  die  Wege  zu 
leiten.  Ihre  Vorschläge  zu  würdigen  ist  für  den  Reichsdeutschen  nicht  leicht.  Die 
Stelle,  an  der  das  Neue  einsetzen  soll,  erscheint  reichlich  vorausgeschoben. 
Düsing  beabsichtigt,  die  Differentialquotienten  der  einfachen  Funktionen  geome- 
trisch abzuleiten.  Er  findet  diese  Methode  anschaulicher,  deswegen  auch  leichter 
und  interessanter  als  die  algebraische,  die  leicht  zu  mechanischer  Anwendung  von 
Regeln  werde  und  keineswegs  als  exakter  wie  die  erste  bezeichnet  werden  könne. 
Als  eine  weitere  Eigenart  des  Büchleins  kann  der  überall  durchgeführte  Grund- 
satz bezeichnet  werden,  das  gefundene  Ergebnis  zu  besprechen,  dem  Schüler  An- 
leitung zu  geben,  daß  er  über  das  Gewonnene  nachdenke,  vor  allem  seine  Richtig- 
keit prüfe.  Alle  subtileren  Untersuchungen  werden  als  außerhalb  der  Aufgabe  der 
Schule  liegend  zurückgewiesen,  das  Ausgewählte  aber  wird  klar  und  ausführlich 
entwickelt.  —  Nicht  unbesprochen  kann  an  dieser  Stelle  der  Teil  der  Thaerschen 
Bearbeitung  von  Kambly-Langguth  bleiben,  der  sich  mit  dem  gleichen  Gegen- 
stande befaßt.  Er  ist  sehr  inhaltsreich,  klar  und  übersichtHch,  allerdings  etwas 
knapp  gehalten.  Hineinverwebt  sind  die  Abschnitte  über  die  Entwicklung  des 
Zahlbegriffes,  über  die  Lösung  der  kubischen  und  biquadratischen  Gleichung,  sehr 
interessant  und  eigenartig  in  der  Darstellung.  An  die  Ableitung  der  Differential- 
quotienten, die  hier  ganz  und  gar  auf  algebraischem  Wege  geschieht,  schließt  sich 
ein  auf  diesen  fußender  Abschnitt  über  die  unendlichen  Reihen.  Des  Stoffes  ist 
so  viel,  daß  er  wohl  nur  auf  wenigen  Anstalten  ganz  wird  bewältigt  werden 
können. 

Lessers  „Materialien"  sind,  schon  dem  Titel  nach,  für  die  Hand  des  Lehrers 
bestimmt.  Hatte  er  schon  früher  in  seinem  Buche  „Die  Entwicklung  des  Funk- 
tionsbegriffes und  die  Pflege  des  funktionalen  Denkens  im  Mathematik-Unterricht 
unserer  höheren  Schulen"  (4".,  74  S.,  Frankfurt  a.  M.,  Gebr.  Knauer)  sehr  wertvolle 
Beiträge  für  die  Unterstufe  geliefert,  so  enthält  die  neue  Arbeit  eine  kaum  zu  er- 
schöpfende Fülle  von  Stoff  für  die  oberen  Klassen,  und  dieser  Stoff  so  zu-  und 
vorbereitet,  daß  der  Lehrer  ihn  sofort  verwenden  kann,  ohne  selbst  zu  zeitrauben- 
der Arbeit  genötigt  zu  sein,  dabei  eine  große  Zahl  von  Figuren  im  Text  wie  auf  be- 
sonderen Tafeln.  Ebenso  wie  für  den  Unterricht  wird  das  Buch  aber  gewiß  für 
viele  Lehrer  persönlich  von  Bedeutung  werden.  Manch  einer,  besonders  von  uns 
älteren,  hat  ja  diesem  Zweige  der  Wissenschaft  zu  pflegen  früher  keine  Gelegen- 
heit oder  Veranlassung  gehabt.  Er  wird  gut  tun,  noch  einiges  zu  lernen,  ehe  er 
ans  Lehren  geht.  Dem  Berichterstatter  ist  es  so  gegangen  und  Lessers  Buch  hat 
ihn  manche  Stunde  beschäftigt.  —  Da  die  Neuordnung  des  höheren  Mädchen- 
schulwesens den  Unterricht  in  der  Mathematik  an  diesen  Anstalten  erweitert,  ist 
das  Erscheinen  besonders  für  ihn  bestimmter  Lehrbücher  begreiflich.  Das  Übungs- 
buch von  G.  Noodt  ist  eine  ausgezeichnete  Leistung.  Es  verbindet  in  trefflicher 
Weise  den  Anschluß  an  die  elementaren  Teile  mit  dem  Bestreben,  auch  seinem 
Schülerkreise  den  Zugang  zu  den  modernen  Anschauungen  zu  bahnen.   Die  Aus- 


J.  Norrenberg,  Hilfsbücher  für  den  Unterricht  in  der  Physik.  533 

wähl  der  Fragen  und  der  Aufgaben  zeigt  einen  erfahrenen,  methodisch  wohl  ge- 
gebildeten Lehrer.  Für  die  Aufstellung  der  Gleichungen  bei  eingekleideten  Auf- 
gaben gibt  der  Verfasser  an  vielen  Stellen  eigenartige  Hilfsmittel  graphischer  Ver- 
deutlichung, die  kennen  zu  lernen  auch  den  Lehrern  an  Knabenschulen  Nutzen 
bringen  wird. 

Zu  den  mancherlei  Sammlungen  von  Reifeprüfungsaufgaben  hat  jetzt  E.Sprenger 
.Mathematische  Aufgaben  aus  den  Reifeprüfungen  der  württembergischen  Ober- 
reaischulen"  I.  Teil  (Leipzig  1908.  Quelle  u.  Meyer.  79  S.  1,25  M.)  veröffentlicht. 
Das  Heft  enthält  Aufgaben  aus  der  darstellenden  Geometrie,  der  niederen  und 
höheren  Analysis,  Trigonometrie  und  analytischen  Geometrie  (der  Ebene  und  des 
Raumes).  Der  Herausgeber  weist  darauf  hin,  wie  die  vor  nicht  anger  Zeit  ein- 
getretene Kürzung  der  Stundenzahl  in  allen  Mathematikfächern  für  die  Zukunft 
Leistungen,  wie  sie  durch  die  älteren  schwierigeren  Aufgaben  gekennzeichnet 
seien,  nicht  mehr  zulassen  würde. 

Das  kleine  Buch  S.  Valentiners  führt  in  ziemlich  gedrängtem  Vortrag  von 
den  ersten  Elementen  der  Disziplin  zu  den  hauptsächlichsten  Anwendungen  und  zu 
Erweiterungen,  die  jüngste  Vergangenheit  gebracht  hat. 

Pankow.  Max  Nath. 


Hilfsbücher  für  den  Unterricht  in  der  Physik. 

1.  Boerner,  H.,  Lehrbuch  der  Physik  für  die  drei  oberen  Klassen  der 
Realgymnasien  und  Oberrealschulen  sowie  zur  Einführung  in  das  Studium  der 
neueren  Physik.  Mit  393  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen.  Fünfte  Auflage. 
Berlin  1907.    Weidmannsche  Buchhandlung.    XV  u.  525  S.    6  M. 

2.  Jochmann,  E.,  Hermes,  O.,  Spies,  F.,  Grundriß  der  Experimental- 
physik und  Elemente  der  Chemie  sowie  der  Astronomie  und  mathematischen 
Geographie.  Zum  Gebrauch  beim  Unterricht  auf  höheren  Lehranstalten  und  zum 
Selbstudium.  Mit  488  Figuren,  einer  Spektraltafel,  einer  Dreifarbendrucktafel, 
vier  meteorologischen  Tafeln  und  zwei  Sternkarten.  Sechzehnte  verbesserte  Auf- 
lage.   Beriin  1906.    Winckelmann  u.  Söhne.    XVI  u.  512  S.    geb.  5,50  M. 

Daraus  besonders: 

3.  Hermes,  O.  und  Spies,  P.,  Elemente  der  Astronomie  und  mathe- 
matischen Geographie.  Zum  Gebrauch  beim  Unterricht  auf  höheren  Lehr- 
anstalten und  zum  Selbstudium.  Mit  48  Holzschnitten  und  zwei  Sternkarten. 
Fünfte  verbesserte  Auflage.    Beriin  1906.    Winckelmann  u.  Söhne.    73  S.    1,20  M. 

4.  Mach,  E.,  Grundriß  der  Physik  für  die  höheren  Schulen  des  Deutschen 
Reiches  bearbeitet  von  F.  Harbordt  und  M.  Fischer.  I.  Teil:  Vorbereitender 
Lehrgang.  Mit  430  Abbildungen.  Dritte  verbesserte  Auflage.  Leipzig  1905. 
Freytag.  VI  u,  226  S.  geb.  2  M.  —  IL  Teil:  Ausführiicher  Lehrgang.  Mit 
537  Abbildungen.  Zweite  verbesserte  und  durch  Übungsaufgaben  erweiterte  Auf- 
lage.   Leipzig  u.  Wien  1908.    Freytag-Tempsky.    376  S.    geb.  4.  M. 

5.  Mach,  E.,  Grundriß  der  Naturlehre  für  die  unteren  Klassen  der  Real- 


534  J-  Norrenberg, 

schule,    bearbeitet  von   K.   Harbart.     Mit  349  Abbildungen.      Vierte  Auflage. 
Wien  1905.    Tempsky.    192  S.    geb.  2,30  K. 

6.  Höfler,  A.,  Maiss,  E.,  Schilling,  G.,  Naturlehre  für  die  unteren  Klassen 
der  Mittelschulen.  Mit  290  Holzschnitten,  drei  farbigen  Figuren,  einer  lithogra- 
phierten Sterntafel  und  einem  Anhange  mit  140  Denkaufgaben.  Vierte  verbesserte 
Auflage.    Wien  1906.    C.  Gerold's  Sohn.     194  S.    geb.  2,60  K. 

7.  Wallentin,  J.,  Lehrbuch  der  Physik  für  die  oberen  Klassen  der  Mittel- 
schulen und  verwandter  Lehranstalten.  Elfte  Auflage.  Mit  234  in  den  Text  ge- 
druckten Holzschnitten  und  einer  Spektraltafel  in  Farbendruck.  Ausgabe  für 
Realschulen.    Wien  1905.    A.  Pichlers  Ww.  &  Sohn.    316  S.    geb.  3,50  K. 

8.  Donle,  W.,  Grundriß  der  Experimentalphysik  für  höhere  Lehr- 
anstalten. Dritte  verbesserte  Auflage.  Mit  294  in  den  Text  gedruckten  Figuren 
und  293  Übungsaufgaben.    Stuttgart  1908.    Friedr.  Grub.    VII  u.  287  S.    geb.  3  M. 

Die  hier  genannten  an  zahlreichen  höheren  Lehranstalten  bereits  eingeführten 
Lehrbücher  liegen  in  neuen  Auflagen  vor.  Bei  den  meisten  von  ihnen  sind  der 
Lehrgang,  der  äußere  Aufbau,  Auswahl  und  Anordnung  des  Stoffes  im  wesent- 
lichen unverändert  geblieben.  Nur  bei  dem  Grundriß  von  Mach-Harbordt-Fischer 
hat  eine  Vereinigung  der  bisherigen  beiden  Ausgaben  für  Gymnasien  und  Real- 
anstalten stattgefunden.  Der  vorbereitende  Lehrgang  enthält  jetzt  außer  dem 
astronomisch-meteorologischen  Anhange  noch  einen  kurzen  Abschnitt  über  Chemie 
und  Krystallographie  und  hat  dadurch  an  Brauchbarkeit  für  diejenigen  Anstalten 
gewonnen,  die  für  die  letztgenannten  Lehrgebiete  kein  besonderes  Hilfsbuch 
benutzen.  Bei  allen  Neuauflagen  sind  Einzelheiten  sachlicher  und  metho- 
discher Art  vielfach  verbessert,  die  Fortschritte  der  Wissenschaft  und  der  Unter- 
richtstechnik zur  schärferen  Herausarbeitung  der  Begriffe  und  zur  methodischeren 
Ableitung  der  Gesetze  eingehend  berücksichtigt  worden,  so  vor  allem  bei  dem 
vielbenutzten  Joch  mann  sehen  Buche  und  dem  ausgezeichneten  Unterrichtswerke 
von  Boerner.  Das  gleiche  gilt  von  den  an  österreichischen  Anstalten  benutzten 
Lehrbüchern  5 — 7,  besonders  von  der  Höflerschen  Naturlehre,  in  der  das  Kapitel 
über  die  elektrotechnischen  Anwendungen  eine  wesentliche  Bereicherung  erfahren 
hat.  Wie  die  Hilfsbücher  von  Boerner,  Donle  und  Jochmann  so  haben  auch  die 
übrigen  auf  eine  reichere  Ausstattung  mit  Abbildungen  mit  vollem  Rechte  mehr 
Wert  gelegt.  Die  Beziehungen  zum  praktischen  Leben  sind  von  Mach  durch  Ein- 
fügung von  zahlreichen  gutgewählten  Übungsaufgaben  gepflegt  worden.  Ebenso 
hat  auch  Donle  außer  durch  historische  Notizen  durch  die  Wiedergabe  der  an  den 
bayerischen  höheren  Lehranstalten  in  den  letzten  Jahrzehnten  gestellten  Absolutorial- 
aufgaben  den  Stoff  bereichert.  Donles  Grundriß  hat  überhaupt  durch  eine  vorzügliche 
Ausstattung  und  durch  eine  geschickte  methodische  Verarbeitung  sehr  gewonnen. 

9.  Koppe -Husmanns  Anfangsgründe  der  Physik  mit  Einschluß  der 
mathematischen  Geographie  und  Chemie.  Für  den  Unterricht  an  höheren  Lehr- 
anstalten, sowie  zur  Selbstbelehrung.  31.  Auflage.  Mit  462  in  den  Text  ein- 
gedruckten Holzschnitten,  einer  mehrfarbigen  Tafel  der  Spektren  verschiedener 
Elemente  und  Himmelskörper  sowie  einer  mehrfarbigen  Sternkarte.  Bearbeitet 
von  K.  Knops.    Essen  1908.    G.  D.  Baedeker.    VIII  u.  604  S.    geb.  6  M. 

10.  Heussi,  J.,    Leitfaden  der  Physik.    Sechzehnte  Auflage.    Mit  199  in 


Hilfsbücher  für  den  Unterricht  in  der  Physik.  535 

den  Text  gedruckten  Holzschnitten.  Neu  bearbeitet  von  E.  Götting.  Berlin  1906. 
O.  Salle.    XI  u.  182  S.    1,80  M. 

Heussi,  J.,  Lehrbuch  der  Physik  für  Gymnasien,  Realgymnasien,  Ober- 
realschulen und  andere  höhere  Bildungsanstalten.  Siebente  Auflage,  vollständig 
neu  bearbeitet  von  E.  Götting.  Mit  487  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen. 
O.  Salle.    XII  u.  475  S.    geh.  5  M. 

Beide  Unterrichtswerke  haben  in  der  neuen  Auflage  einen  neuen  Bearbeiter 
und  damit  auch  eine  wesentliche  Neubearbeitung  erfahren.  Die  Knopssche  Mit- 
arbeit an  dem  trefflichen  Koppe  wird  dazu  beitragen,  dem  Buche  seine  alten 
Freunde  zu  erhalten  und  neue  zu  erwerben.  Der  chemische  Lehrgang  ist  wieder 
aufgenommen  und  namentlich  der  Abschnitt  über  Elektrizität  einer  gründlichen 
Überarbeitung  unterzogen  worden,  die  Text  und  Abbildungen  wieder  in  Einklang 
mit  den  neuesten  Fortschritten  der  Technik  gebracht  hat.  Von  jeher  war  es  das 
Bestreben  des  Verfassers,  einen  gut  lesbaren  und  leicht  verständlichen  Text  zu  bieten. 
Dadurch  ist  der  Umfang  des  beliebten  Lehrbuches  etwas  allzugroß  geworden. 
Würde  es  sich  zur  Erleichterung  des  Bücherranzens  nicht  ermöglichen  lassen,  den 
Band  in  zwei  oder  drei  Teilbände  zu  zerlegen?  Bei  geschichtlichen,  mathematischen 
und  andern  Unterrichtswerken  (Neubauer,  Reidt  usw.)  ist  eine  solche  Teilung  ja 
längst  eingeführt. 

Aus  dem  Heussischen  Buche,  das  als  Lehrbuch  für  höhere  Schulen  überhaupt 
nicht  mehr  in  Betracht  kam,  ist  durch  die  Bearbeitung  von  Götting  ein  fast  neues, 
recht  brauchbares  Hilfsmittel  für  den  physikalischen  Unterricht  geworden.  Der 
Leitfaden  ist  für  Realschulen  und  für  den  propädeutischen  Kursus  an  Vollanstalten 
bestimmt.  Diesem  Zwecke  entsprechend  ist  das  Buch  ein  methodisches,  indem  es 
in  der  Darstellung  möglichst  von  der  Erfahrung  des  Schülers  ausgeht,  von  dieser 
aus  zur  Fragestellung  und  zur  Antwort  durch  das  Experiment  gelangt.  Alle  Hypo- 
thesen sind  vermieden,  die  Lehre  von  der  Umwandlungsfähigkeit  der  Energie  ist 
ebenfalls  ausgeschlossen,  der  Stoff  überhaupt  dem  Umfange  nach  stark  ein- 
geschränkt, was  gewiß  allgemeine  Billigung  finden  wird.  Angehängt  finden  wir 
einen  von  Götting  neu  bearbeiteten  Abriß:  Elemente  der  Chemie,  in  Anlehnung 
an  Wilbrand.  Ganz  unabhändig  vom  Leitfaden  und  in  der  Darstellung  auch  mehr 
systematisch  als  dieser  ist  das  Lehrbuch.  In  ihm  tritt  der  Energiebegriff  stark  in 
den  Vordergrund  und  beherrscht  die  Entwicklung.  Sowohl  den  Forderungen  der 
Wissenschaft  (z.  B.  Abbesche  Theorie  der  optischen  Instrumente)  wie  auch  denen 
der  Methodik  wird  das  Lehrbuch  in  weitestem  Maße  gerecht.  In  letzterer  Be- 
ziehung ist  ein  folgerichtiger  Aufbau  auf  der  Erfahrung  und  Beobachtung,  eine 
reinliche  Scheidung  der  Beobachtungsergebnisse  von  dem  Hypothetischen  und  von 
dessen  experimenteller  Begründung  angestrebt  und  auch  mit  Erfolg  erzielt  worden. 
Das  Göttingsche  Werk  wird  sicher  mit  den  besseren  Lehrbüchern  in  Wettbewerb 
treten.  Bei  den  weiteren  Auflagen  müßte  jedoch  auf  etwas  größeren  Druck  und  Ver- 
meidung des  Kleindrucks  gesehen  werden. 

12.  Kadesch,  A.,  Leitfaden  der  Physik.  Unterstufe.  Mit  283  Figuren  im 
Texte.  Wiesbaden  1907.  J.F.Bergmann.  VII  u.  166  S.  geb.  1,80 M.  — Oberstufe. 
Mit  294  Figuren  im  Texte,  einer  Spektraltafel  am  Schlüsse  uud  386  Übungs: 
aufgaben.    Ebenda  1908.    VIII  u.  312  S.    geb.  3,60  M. 


536  J-  Norrenberg, 

13.  Klingelhöffer,  H.,  Leitfaden  der  Physik.  Mit  334  Figuren.  Gießen 
1908.    E.  Roth.     187  S.    geb.  2  M. 

14.  Bohn,  H.,  Leitfaden  der  Physiit.  Unterstufe.  Ausgabe  A.  Mit  che- 
mischem Anhang  von  O.  Nitsche.  Leipzig  1908.  O.  Nägele.  V  u.  221  u.  64  S. 
geb.  2,80  M.  —  Ausgabe  B  ohne  chemischen  Anhang,    geb.  2,40  M. 

15.  Roesen,  K.,  Lehrbuch  der  Physik.  Zum  Gebrauche  für  die  oberen 
Klassen  höherer  Lehranstalten.  Mit  328  Abbildungen.  Leipzig  1906.  Leiner. 
X  u.  380  S.  geb.  4,60  M.  —  Dazu:  Ergänzungen  zum  Lehrbuche  der  Physik. 
Mit  61  Abbildungen,    geb.  1,20  M. 

16.  Poske,  Fr.,  Oberstufe  der  Naturlehre  (Physik  nebst  Astronomie  und 
mathematischer  Geographie).  Nach  A.  Höflers  Naturlehre  für  die  oberen  Klassen 
der  österreichischen  Mittelschulen,  für  höhere  Lehranstalten  des  deutschen  Reiches 
bearbeitet.  Mit  442  zum  Teil  farbigen  Abbildungen  und  drei  Tafeln.  Braun- 
schweig 1907.    Fried.  Vieweg  u.  Sohn.    XI  u.  337  S.    geb.  4  M. 

17.  Zwick,  H.,  Elemente  der  Experimentalphysik  zum  Gebrauch  beim 
Unterricht.  Mit  473  Figuren  und  einer  Farbentafel.  Berlin  1906.  L.  Oehmigke. 
XXXVIII  u.  520  S.    geb.  11  M. 

18.  Rosenberg,  K.,  Lehrbuch  der  Physik  für  die  unteren  Klassen  der 
höheren  Schulen.  Mit  336  in  den  Text  gedruckten,  zum  Teil  farbig  ausgeführten 
Figuren  und  einer  farbigen  Tafel.  Ausgabe  für  Realschulen.  Leipzig  u.  Wien 
1907.    A.  Holder.    260  S.    geb.  2,60  M. 

19.  Rosenberg,  K.,  Lehrbuch  der  Physik  für  die  oberen  Klassen  der 
höheren  Schulen.  Mit  615  in  den  Text  gedruckten  Figuren  und  einer  farbigen 
Spektraltafel.  Ausgabe  für  Realgymnasien  und  Oberrealschulen.  Leipzig  u.  Wien 
1906.  A.  Holder.  XIII  u.  462  S.  geb.  4,80  M.  —  Ausgabe  für  Gymnasien.  XIII  u. 
488  S.    geb.  5  M. 

20.  Rosenberg,  K.,  Resultate  der  Übungsaufgaben  aus  dem  obigen 
Lehrbuche  für  die  oberen  Klassen.  Mit  drei  in  den  Text  gedruckten  Figuren. 
Ebenda.     15  S.    0,52  M. 

21.  Dannemann,  F.,  Naturlehre  für  höhere  Lehranstalten,  auf  Schüler- 
übungen gegründet.  II.  Teü:  Physik,  insbesondere  für  Realschulen  und  den 
ersten  Kursus  der  Vollanstalten.  Hannover  u.  Leipzig  1908.  Hahnsche  Buch- 
handlung.   VII  u.  204  S.    geb.  3,60  M. 

Von  den  für  den  Hauptlehrgang  bestimmten  Hilfsbüchern  verdient  wohl  die 
Oberstufe  von  Poske  an  erster  Stelle  genannt  zu  werden.  Sie  schließt  sich  an  die 
von  demselben  Verfasser  herausgegebene  Unterstufe  an,  auf  die  schon  früher 
(BJ.  V,  S.  193)  hingewiesen  werden  konnte.  Dadurch  daß  auf  viele  in  der 
Unterstufe  bereits  behandelte  Abschnitte  Bezug  genommen  wird,  ist  hinreichend 
Raum  gewonnen  worden  zur  eingehenderen  Berücksichtigung  der  technischen  An- 
wendungen, auf  die  in  dem  sonst  als  Unterlage  der  Darstellung  dienenden,  der 
Praxis  etwas  abholden  Höflerschen  Lehrbuche  (Bd.  V,  S.  188)  früher  fast  ganz 
verzichtet  worden  war.  In  sehr  erfreulicher  Weise  hat  Poske  hier  in  der  Ober- 
stufe einmal  den  Versuch  gewagt,  ein  Buch  zu  schaffen,  das  den  Stoff  nicht  in 
behaglicher  Breite  lesebuchartig  schildert,  sondern  in  kurzen,  leicht  einprägbaren 
Leitsätzen  zusammenfaßt.    Diesen  Leitsätzen  sind  die  erforderlichen  Ausführungen 


Hilfsbücher  für  den  Unterricht  in  der  Physik.  537 

und  Begründungen  nachgestellt.  Hierdurch  nähert  sich  das  Buch  der  Form,  die 
man  als  Lernbuch  bezeichnen  könnte,  und  die  auf  der  Oberstufe  sicher  ihre  Be- 
rechtigung hat.  Die  großen  Vorzüge,  die  schon  der  Unterstufe  nachgerühmt  werden 
mußten,  sind  auch  diesem  Hauptlehrgange  erhalten  geblieben,  ja  sie  sind  durch 
die  angestrebte  knappe  Fassung  noch  viel  mehr  zum  Vorschein  gekommen.  Her- 
vorzuheben wären  die  vorzüglichen  Abbildungen  und  die  gute  Ausstattung,  die 
zwar  nicht  die  Hauptsache  bei  einem  Lehrbuche  sind,  die  es  aber  erleichtern,  das 
Poskesche  Werk  ohne  jede  Einschränkung  zu  empfehlen. 

Österreichischen  Ursprungs  wie  das  Poskesche  Unterrichtswerk  ist  auch  das 
Lehrbuch  von  Rosenberg.  Gründliche  methodische  Durcharbeitung,  gute  schema- 
tische Abbildungen,  ein  außerordentlicher  Reichtum  an  guten  Aufgaben,  die  die 
technische  Seite  wie  die  denkende  Verarbeitung  der  gewonnenen  Kenntnisse  gleich- 
mäßig berücksichtigen  sowie  die  Beachtung  historischer  Merkpunkte  sind  die  Vor- 
züge des  Werkes,  das  auch  schon  durch  die  überaus  klare  Sprache,  die  trotz  der 
Einfachheit  doch  durchweg  an  Schärfe  nichts  zu  wünschen  läßt,  angenehm  unter 
anderen  Lehrbüchern  auffällt.  Die  Rosenbergschen  Lehrbücher  bedeuten  in 
methodischer  Hinsicht  einen  beachtenswerten  Fortschritt  und  dürfen  von  den  Fach- 
lehrern nicht  übersehen  werden.  Die  Auswahl  des  Unterrichtsstoffes  könnte  wohl 
hier  und  da  zweckmäßiger  sein.  Die  beiden  Ausgaben  für  Gymnasien  und  für 
Oberrealschulen  sind  vollständig  übereinstimmend,  die  erstere  ist  nur  um  einen 
ganz  kurzen  Abschnitt  über  Chemie  ergänzt  und  daher  umfangreicher.  Beide  sind 
völlig  unabhängig  von  dem  für  die  unteren  Klassen  bestimmten  Teile,  der  nicht 
ein  Auszug  aus  dem  größeren  Werke  ist,  sondern  in  einer  dem  propädeutischen 
Unterricht  angepaßten  Weise  den  Stoff  behandelt.  Auch  hier  lernen  wir  wieder 
den  Verfasser  als  einen  überaus  geschickten  Methodiker  kennen  und  schätzen 
(vgl.  auch  diese  Monatschrift  Bd.  V,  S.  212). 

In  der  Verteilung  des  Stoffes  auf  zwei  Stufen,  in  der  knappen  Fassung  und 
in  dem  Bestreben,  zu  möglichst  klaren  Begriffen  hinzuleiten,  gleicht  dem  Poske- 
schen  Hilfsbuche  der  Leitfaden  von  Kadesch.  Der  Stoff  ist  hier  mehr  eingeschränkt, 
wodurch  eine  große  Übersichtlichkeit  ermöglicht  wurde;  die  Figuren  sind  fast 
überall  schematisch,  vielfach  noch  verbesserungsfähig  aber  doch  ausreichend,  die 
Übungsaufgaben  der  Oberstufe  tragen  einen  überwiegend  rechnerischen  Charakter. 
Vorzüge  des  Buches  sind  die  übersichtliche  Anordnung  und  der  gute  Druck,  die 
mit  dazu  beitragen,  das  Buch  zu  einem  gut  verwendbaren  Lernbuche  zu  machen, 
das  da,  wo  keine  allzu  hohen  Anforderungen  im  Physikunterricht  gestellt  werden, 
also  vorwiegend  am  Gymnasium,  ganz  gute  Dienste  tun  wird. 

Roesens  Lehrbuch  ist  ein  handliches  Bändchen,  das  den  Stoff  systematisch 
darbietet,  dabei  aber  doch  im  wesentlichen  stets  vom  Versuche,  und  zwar  von  recht 
glücklich  gewählten  Versuchen  ausgeht,  unter  denen  wir  manche  finden,  denen  wir 
in  anderen  Lehrbüchern  bisher  noch  nicht  begegneten.  Die  Stoffauswahl,  die 
auch  die  Elektronentheorie,  die  Wechsel-  und  Drehstromtechnik  berücksichtigt,  ist 
zunächst  wohl  für  die  gymnasialen  Forderungen  bemessen,  wird  aber  auch  den 
weitergehenden  Bedürfnissen  der  Realanstalten  durch  ein  Ergänzungsheft  gerecht, 
das  einige  schwierigere  Kapitel  weiterführt. 

Für  den  Anfangsunterricht  mögen  die  Elemente  der  Experimentalphysik  von 


538  D^s  Mädchenschulwesen  in  Preußen, 

dem  verstorbenen  Berliner  Stadtschulinspektor  Zwick,  wenn  sie  auch  eigentlich  für 
die  Vorbereitung  des  Volksschullehrers  bestimmt  sind,  zu  Rate  gezogen  werden. 
Sie  sind  methodisch  angelegt,  knüpfen  an  die  Erfahrung  des  Schülers  an,  lassen 
das  Experiment  da  einsetzen,  wo  jene  versagt  und  stellen  daher  den  Versuch  an 
die  Stelle,  wohin  er  gehört.  Die  Versuche  sind  kurz  beschrieben  und  sind 
meistens  so  einfach  gewählt,  daß  sie  sich  auch  als  Schülerversuche  eignen. 

Von  den  für  die  Unterstufe  bestimmten  Leitfäden  ist  derjenige  von  Bohn  als 
eine  Ergänzung  des  biologischen  Unterrichtswerkes  von  Schmeil  gedacht.  Dem- 
entsprechend ist,  wie  das  Vorwort  hervorhebt,  eine  einfache,  leichtverständliche 
Sprache  und  eine  ausschließliche  Ableitung  der  physikalischen  Erkenntnis  aus 
Anschauung  und  Versuch  angestrebt  worden.  Es  ist  aber  dem  Verfasser  doch 
nicht  ganz  gelungen,  aus  dem  deduktiven  Schema  herauszukommen,  so  daß  bei 
ihm  Definitionen,  vielfach  auch  reine  Nominaldefinitionen  im  Vordergrunde  ge- 
blieben sind.  Auch  die  Abbildungen  lassen  manches  zu  wünschen.  Fast  das  gleiche 
muß  von  dem  Klingelhöfferschen  Leitfaden  gesagt  werden.  Sollen  etwa  die  ge- 
sperrt gedruckten  und  vorangestellten  Definitionen  der  Rolle,  des  Hebels  usw. 
vom  Schüler  memoriert  werden?  Man  sollte  doch  endlich  mit  diesem  Gedächtnis- 
ballast aufräumen  und  dafür  wirkliche  Physik  treiben. 

Neue  Wege  beschreitet  dagegen  der  IL  Teil  der  Naturlehre  von  Danneman n. 
Das  Buch  ist  nach  den  Gesichtspunkten  verfaßt,  die  Dannemann  in  seinem  Werke 
über  den  „naturwissenschaftlichen  Unterricht  auf  praktisch-heuristischer  Grundlage" 
(Hannover,  Hahn,  1907)  näher  dargelegt  hat.  Konsequenter  noch  als  Bremer 
(s.  diese  Monatschrift  Bd.  V,  S.  188)  baut  der  Verfasser  den  gesamten  Unterricht 
auf  Schülerübungen  auf,  die  den  Stoff  heuristisch  behandeln  und  zu  dem  theore- 
tischen Unterricht  in  engster  Wechselbeziehung  stehen.  Laboratoriums-  und 
Klassenunterricht  bilden  hiernach  eine  Einheit.  Soweit  eine  aufmerksame  Durch- 
sicht es  erkennen  ließ,  sind  die  Versuche  ohne  Ausnahme  leicht  durchführbar  und 
lehrreich,  erfüllen  also  ihren  eigenartigen  Zweck  in  hohem  Maße.  Ich  muß  ge- 
stehen, daß  mich  dieser  Leitfaden  von  der  Durchführbarkeit  des  , praktischen" 
Verfahrens  mehr  noch  überzeugt  hat,  als  es  schon  die  theoretischen  Ausführungen 
des  genannten  Buches  vermochten.  Dem  Bestreben,  dem  geschichtlichen  Momente 
eine  erhöhte  Berücksichtigung  zuteil  werden  zu  lassen,  gibt  der  Verfasser  Aus- 
druck durch  die  Wiedergabe  einiger  wertvoller  Abschnitte  aus  den  Schriften 
solcher  Männer,  die  der  Physik  neue  Bahnen  gewiesen  haben. 

Berlin.  J.  Norrenberg. 

b)  Einzelbesprechungen: 

Das  Mädchenschulwesen  in  Preußen.    Ministerielle  Bestimmungen  und  Erlasse 
zusammengestellt  von  G.  Schöppa.    4.  Ausgabe.    Weitergeführt  bis  zum  15.  De- 
zember 1908.     Leipzig  1909.    Dürrsche  Buchhandlung.    302  S.    geb.  3,50  M. 
kart.  2,80  M. 
Die  neue  Ausgabe  ist  beträchtlich  erweitert.    Abschnitt  A,  der  über  die  Schulen 
handelt,  enthält  unter  III  alle  Bestimmungen,  die  sich  ergeben  haben  aus  der  be- 
endeten Mädchenschulreform.    Fast  die  Hälfte  des  Buches  wird  von  diesen  Be- 


Die  preußischen  Provinzial-Instruktionen  usw.,  angez.  von  A.  Matthias.  539 

Stimmungen  in  Anspruch  genommen.  Ein  Vergleich  ihres  Inhalts  mit  den  Lehrplänen 
für  höhere  Knabenschule  von  1901  ist  ungemein  interessant  und  anregend,  da  das, 
was  an  den  Bestimmungen  von  1901  ergänzungsbedürftig  war,  hier  zu  amtlichem  Aus- 
druck gelangt.  Der  2.  Teil,  der  die  Bestimmungen  über  die  Prüfungen  der  Lehrerinnen 
behandelt,  ist  im  wesentlichen  derselbe  geblieben,  wie  in  der  3.  Ausgabe. 

Die  preußischen  Provinzial-Instruktionen  für  die  Direktoren,  Ordinarien  und 
Oberlehrer  der  höheren  Schulen  (1856—1885).    Neu   herausgegeben   und  mit 
einem  Sachregister  versehen  von  A.  Matschoß.    Bunzlau  1909.    G.  Kreuschmer. 
X  u.  189  S.    gr.  80.    2  M. 
Die   zweite  Auflage   von  A.  Beier,   Die  höheren  Schulen  Preußens  und  ihre 
Lehrer,   enthielt  noch   nicht  die  preußischen  Provinzial-Instruktionen  für  die  Di- 
rektoren,  Ordinarien    und   Oberlehrer.     Matschoß   kam    deshalb    einem    sich    an 
manchen   Stellen   geltend  machenden   Bedürfnisse   entgegen,  wenn   er  diese  In- 
struktionen neu  herausgab.  Die  dritte  Auflage  des  Beier  bringt  uns  die  Instruktionen 
auch,    ein  Sachregister  in  der  Ausführlichkeit,  wie  Matschoß  es  zusammengestellt 
hat,   fehlt  aber   bei   Beier,   und   so  wird  das  Buch  von  Matschoß  für  den  Hand- 
gebrauch immer  sehr  willkommen  sein. 

Diese  Instruktionen  werden  ja  voraussichtlich  bald  nur  noch  ein  historisches  Inter- 
esse haben,  wenn  es  gelingt,  eine  einheitliche  Instruktion  für  alle  Provinzen  herzustellen. 
Und  wünschenswert  ist  diese  Einheitlichkeit,  ebenso  wie  es  wünschenswert  ist,  daß 
die  Vorbesprechungen  in  der  Fachpresse  immer  in  angemessenen  Formen  sich  be- 
wegen und  Takt  und  Gerechtigkeit  in  der  Beurteilung  der  verschiedenen  in  Frage 
kommenden  Faktoren  wahren.  Dabei  würde  ein  Einblick  in  die  Rechte  und 
Pflichten  der  Verwaltungsbeamten  und  Richter  und  der  Offiziere  gute  Wirkung 
auf  Maßhaltung  und  Gerechtigkeit  ausüben  und  den  Wohlklang  der  Besprechung 
wesentlich  heben.  —  Mir  haben  diese  Instruktionen,  die  ich  an  der  Hand  des  von 
Matschoß  aufgestellten  vortrefflichen  und  gründlichen  Sachregisters  einmal  wieder 
prüfte,  alte  schöne  Erinnerungen  geweckt.  Als  ich  vor  langen  Jahren  als  Probandus 
eintrat,  gab  mir  mein  lieber  und  würdiger  Direktor  den  Auftrag,  für  meine  päda- 
gogische Ausbildung  dadurch  zu  sorgen,  daß  ich  Wiese,  Verordnungen  und  Gesetze 
und  besonders  die  Instruktionen  für  Direktoren,  Ordinarien  und  Oberlehrer  fleißig 
studiere.  Ich  habe  es  mit  heißem  Bemühen  getan,  muß  aber  zu  meiner  Schande  ge- 
stehen, daß  ich  dann  später  als  Ordinarius,  Oberlehrer,  Direktor  und  weiterhin  statt  dieser 
Instruktionen  in  leichten  und  in  schwierigen  Fällen  stets  meinen  gesunden  Menschen- 
verstand gefragt  habe,  und  daß  dieser  mich  bis  in  meine  alten  Tage  freundlich  und 
im  ganzen  erfolgreich  geführt  und  mir  jedenfalls  die  Freude  am  Leben,  am  Amt 
und  wissenschaftlicher  Beschäftigung  nicht  durch  bureaukratische  Buchstabenweisheit 
verdorben  hat.  Und  gleichaltrigen  Freunden  und  Amtsgenossen  ist  es  ähnlich  so 
ergangen.  Doch  wir  gehören  ja  zu  dem  Geschlechte,  das  allmählich  ausstirbt. 
Die  heranrückende  Jugend  scheint  das  dringende  Bedürfnis  zu  haben,  sich  Leben 
und  Amt  saurer  zu  machen.  Und  dazu  und  zu  etwas  mehr  Bureaukratie  kann  ihr 
ja  .wunschgemäß"  verholten  werden.  Es  sei  aber  gestattet,  sich  bei  rein  mensch- 
licher, nicht  amtlicher  Betrachtung  der  ganzen  Frage  des  schönen  gegen  jegliche 
Verknöcherung  und  alte  und  neue  Zöpfe  gerichteten  Dichterwortes  zu  erinnern: 


540  E.  Vowinckel,  Pädagogische  Deutungen, 

„'s  ist  eben  manchen  Leuten  eigen, 
Daß  ihnen  Schlichtes  nicht  gerät: 
Sie  müssen  immer  ins  Fenster  steigen, 
Auch  wenn  die  Haustür  offen  steht." 
Berlin.  A.  Matthias. 

Vowinckel,  Ernst,  Pädagogische  Deutungen.  Philosophische  Prolegomena  zu 
einem  System  des  höheren  Unterrichts.  Berlin  1908.  Weidmannsche  Buchhand- 
lung. VII  u.  164  S.  geh.  3,40  M. 
Das  vorliegende  Buch  ist  ein  Beweis  nicht  nur  für  den  starken  Drang,  der 
sich  —  Gott  sei  Dank  —  in  neuster  Zeit  wieder  geltend  macht,  der  Philosophie 
große  Wissensgebiete  zurückzuerobern  oder  neu  zu  gewinnen,  sondern  auch  für 
das  ernste  Streben  der  Pädagogen,  sich  immer  wieder  über  die  tieferen  Gründe 
und  Zusammenhänge  ihrer  Wissenschaft  und  ihrer  praktischen  Tätigkeit  klar  zu 
werden.  In  dem  lauten  Kriegsgeschrei  der  aufeinander  platzenden  methodischen 
Geister  und  der  für  Realismus  oder  Humanismus  streitenden  Kämpen  ist  die  philo- 
sophische Besinnung  auf  die  der  pädagogischen  Tätigkeit  als  Grundlage  dienenden 
Prinzipien  sehr  zu  kurz  gekommen.  Dieser  Besinnung  sollen  die  Prolegomena 
des  Verfassers  dienen,  der  gegenüber  den  Standpunkten  der  theologischen  Ethik, 
der  naturwissenschaftlich  orientierten  Psychologie,  der  realistischen  Praktiker  und 
einseitigen  Methodefanatiker  die  Unabhängigkeit  der  philosophischen  Pädagogik 
und  die  ideale  Bedeutung  und  Würde  der  pädagogischen  Arbeit  und  die  innere 
Einheit  ihrer  Probleme  und  Aufgaben  betont. 

Der  Verfasser  behandelt  in  seinem  fesselnden  Buch,  das  auch  in  seiner  Form 
hohen  Ansprüchen  genügt,  zuerst  die  ethische  Grundlegung  und  den  logischen 
Aufbau  des  Unterrichts,  geht  dann  zu  dessen  Psychologie  und  Methodik  über, 
erörtert  die  Unterrichtsstunde  als  Kunstwerk  und  schließt  mit  der  Darstellung  einer 
sozialen  Pädagogik,  deren  hohe  Bedeutung  er  in  einer  Untersuchung  über  die  Teil- 
nahme der  Eltern  an  der  Arbeit  der  Schule  und  in  der  Vorführung  zweier  zeit- 
genössischer Schülertypen,  des  deutschen  und  englischen,  zum  Ausdruck  bringt. 
Die  philosophischen  Grundideen  des  Verfassers  knüpfen  an  Kants  Kritik  an  und 
erinnern  hier  und  da  an  Fichtes  idealistische  Gedankenformung.  Ziel  der  Erziehung 
ist  das  volle  Menschentum  oder,  um  mit  Kants  eigenen  Worten  zu  reden,  Kinder 
sollen  der  Idee  der  Menschheit  und  deren  ganze  Bestimmung  angemessen  erzogen 
werden.  Die  wichtigsten  Fragen  sind  für  den  Verfasser  die:  wie  ist  in  Erziehung 
und  Unterricht  Intellektuelles  und  Ethisches  zu  vereinigen,  und  welche  Entwicklungs- 
gesetze beherrschen  das  geistige  Wachstum?  Ethische  Grundlegung  und  logischer 
Aufbau  des  Unterrichts  bilden  daher  den  Grundstock  seiner  Untersuchungen. 
Unterrichten  hat  im  letzten  Grunde  immer  den  Zweck,  intellektuelle  Erlebnisse 
herbeizuführen,  jene  tiefgeheimen,  unfaßbaren  Vorgänge  in  der  Psyche  des  unter- 
richteten Schülers,  die  eine  Vereinigung  von  Freiheit  und  Bedingtheit  sind,  und  die 
zugleich  in  eminentem  Sinne  sittlich  wertvolle  Grundakte  darstellen.  Wenn  der 
Schüler  im  intellektuellen  Erlebnis  eine  neue  geistige  Welt  aus  sich  herausschafft 
und  dem  ihm  aus  der  Fülle  des  Menschheitsdenkens  dargebotenen  Wissen  selbständig 
gegen  übertritt,  wird  jenes  Erlebnis  zur  sittlichen  Tat.    Zur  Herbeiführung  dieses 


angez.  von  F.  Schmitz.  541 

Hauptvorgangs  jedes  Unterrichts  haben  an  zweiter  Stelle  auch  die  Psychologie  als 
empirische  Erforschung  der  Schülerpsyche,  die  methodische  Technik  und  die  Ästhetik 
des  Unterrichts,  bei  deren  Charakterisierung  der  Verfasser  in  fesselnder  Weise 
verschiedene  Stilarten  aufstellt,  mitzuwirken.  Der  Pädagogik  Kants  und  der  Kan- 
tianer ist  von  jeher  die  einseitige  Intellektualisierung  der  Erziehungsarbeit  vorge- 
worfen worden.  Wenn  Kant  auch  die  Erziehungsidee  aus  der  Sphäre  des  praktischen 
Empirismus  herausgerückt  habe,  so  sei  er  doch,  wie  in  seiner  Philosophie  Verstand, 
Vernunft  und  Urteilskraft  als  die  herrschenden  psychologischen  Grundkräfte  er- 
schienen, der  Einseitigkeit  verfallen,  in  der  Erziehung  der  Entwicklung  des  Er- 
kenntnisvermögens und  insbesondere  des  Verstandes  eine  überragende  und  daher 
einseitige  Bedeutung  beizulegen.  Derselbe  Vorwurf  wird  dem  Verfasser  des  vor- 
liegenden Werkes  nicht  erspart  werden.  Eine  weitere  Einwendung  wird  ihm  in 
der  Hinsicht  gemacht  werden,  daß  sein  Erziehungsideal  des  reinen  Menschentums 
zu  abstrakt,  zu  transzendent  sei  und  daher  notwendigerweise  sich  zu  wenig  den 
Forderungen  des  Tages  anpasse.  Beide  Einwürfe  erscheinen  vom  Standpunkt  des 
Verfassers  ungerecht.  Nimmt  man  einmal  die  kritische  Philosophie  zum  Ausgangs- 
punkt und  Leitmotiv  seines  philosophischen  und  pädagogischen  Denkens  —  und  diese 
Philosophie  erweist  ja  tagtäglich  immer  wieder  ihre  die  Zeit  überdauernde  und  in 
die  Zukunft  hinausgreifende  Bedeutung  und  ihre  stets  neue  Ideen  und  Fragestel- 
lungen erzeugende  Fruchtbarkeit  —  dann  wird  man  zugeben  müssen,  daß  der  Ver- 
fasser in  seinen  „Pädagogischen  Deutungen*  die  recht  solide  Grundlage  eines  pä- 
dagogischen Baues  gelegt,  daß  er  auch  dessen  weitere  Ausgestaltung  in  logisch 
lückenloser  Ideenfolge  angedeutet  hat,  wobei  ein  offener  Blick  für  wichtige  päda- 
gogische Erscheinungen  der  Vergangenheit  und  die  dringenden  Erfordernisse  der 
Gegenwart  seine  philosophische  Gedankenarbeit  unterstützt,  und  daß  sein  Bildungs- 
ideal auch  den  besten  pädagogischen  Überiieferungen  unserer  höheren  Schulen 
entspricht.  Der  Verfasser  steht  manchen  modernen  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete 
des  Erziehungrechts  konservativ  und  skeptisch  gegenüber.  Er  weist  mit  Recht  die 
Angriffe  einer  maßlosen,  jetzt  so  beliebten  Kritik  unserer  höheren  Schulen  zurück, 
deren  Unterricht  und  Erziehung  durchaus  nicht  dem  verzerrten  Bilde  der  Schul- 
hasser entspreche.  Er  hält  nicht  viel  von  den  tönenden  Revolutionen  pädagogischer 
Reformversammlungen  und  Tagungen,  von  den  nicht  enden  wollenden  Methode- 
streitigkeiten, die  ja  glücklicherweise  abzuflauen  begonnen  haben,  und  auch  die 
Ergebnisse  der  Experimentalpsychologie  müssen  ihm,  der  aus  der  Fülle  des  philo- 
sophischen, kritisch  orientierten  Humanitätsgedankens  Aufgabe,  Richtungspunkte 
und  Ziel  der  Erziehungslehre  herieitet,  für  die  Begründung  und  Weiterbildung  der 
pädagogischen  Wissenschaft  nicht  sonderiich  wertvoll  erscheinen. 

Im  letzten  Kapitel  bespricht  der  Verf.  die  Stellung  der  Eltern  zur  Schule  und 
stellt  den  deutschen  Schülertypus  dem  englischen  gegenüber.  Hoffen  wir,  daß  ein- 
mal in  Zukunft  unser  Vateriand  reich  an  solchen  idealen  Häusern,  an  so  harmonisch 
gegliederten  Familien  sein  möge,  wie  sie  der  Verf.  (S.  139)  beschreibt,  Familien, 
in  denen  die  Versöhnung  praktischer,  intellektueller,  ästhetischer  und  religiöser 
Interessen  in  den  Gefühlen  des  Wahren,  Guten  und  Schönen  eine  tägliche  Atmosphäre 
schafft,  die  ein  ideales  Zusammenwirken  von  Schule  und  Haus  ermöglicht.  Im 
zweiten  Abschnitt  dieses  Kapitels  wahrt  der  Verf.  dem  deutschen  Schulideal  sein 


542  C.  Schaarschmidt,  Die  Religion,  angez.  von  W.  Koppelmann. 

gutes  Recht  gegenüber  dem  englischen,  das  in  der  Heranbildung  willensstarker, 
charaktervoller  und  muskelkräftiger  Persönlichkeiten  gipfelt,  die  nicht  allzusehr  mit 
des  Wissens  Schätzen  beschwert  werden,  und  hält  mit  Recht  den  übereifrigen  päda- 
gogischen Englandschwärmern  die  nationale  und  politische  Bedingtheit  des  englischen 
Erziehungsideals  vor,  dessen  Aus-  und  Weitergestaltung,  dessen  Ergänzung  durch 
kontinentale  Erziehungsgrundsätze  drüben  übrigens  von  vielen  bedeutenden  Geistern 
erstrebt  werde.  Die  deutsche  Schule  müsse  ihre  Grundlage  festhalten,  die  eines 
Kreises  für  die  Bildung  zum  Allgemein-  Menschlichen  notwendiger  Gegenstände  be- 
dürfe, und  von  dieser  Grundlage  aus  sei  der  Weiterbau  des  deutschen  Schülertypus 
zu  erarbeiten.  — 

Alles  in  allem  haben  wir  hier  ein  vortreffliches,  ernstes,  ideenreiches  und  schön 
geschriebenes  Buch  vor  uns.  Niemand,  dem  es  um  eine  philosophische  Begründung 
der  Pädagogik  und  um  eine  philosophische  Rechtfertigung  seines  pädagogischen 
Standpunktes  zu  tun  ist,  wird  an  den  grundlegenden  „Pädagogischen  Deutungen" 
des  Verfassers  vorübergehen  können. 

Langenberg  (Rhld.)  Friedrich  Schmitz. 

Schaarschmidt,  C,  Die  Religion.  Einführung  in  ihre  Entwicklungs- 
geschichte. Leipzig  1907.  Dürr'sche  Buchh.  IV  und  252  S.  4,40  M. 
Der  Verfasser  ist  der  Überzeugung  —  und  die  religionsgeschichtlichen 
Forschungen  der  neuesten  Zeit  geben  ihm  mehr  und  mehr  recht  — ,  daß  die 
religiösen  Anschauungen  aller  Völker  im  wesentlichen  dieselben  Stufen  durch- 
laufen haben,  und  daß  die  vorhandenen  Verschiedenheiten  darauf  zurückzuführen 
sind,  daß  die  religiös  tiefer  stehenden  Völker  entweder  noch  auf  dem  Wege  zu 
den  höheren  Stufen  sind  oder  sich  im  Zustande  der  Erstarrung  befinden  und  zur 
Weiterentwicklung  aus  eigenen  Kräften  nicht  fähig  sind.  Eine  Hauptstütze  dieser 
Auffassung  ist  die,  daß  auch  da,  wo  höhere  Formen  der  Religion  zum  Siege 
gekommen  sind,  die  primitiven  Anschauungen  sich  vielfach  in  der  Form  des  Aber- 
glaubens noch  vorfinden.  Auch  damit  dürfte  Schaarschmidt  recht  haben,  daß  er 
im  Christentum,  d.  i.  in  der  Religion  Jesu,  nicht  allein  die  höchste  bisher  erreichte, 
sondern  die  höchste  überhaupt  erreichbare  Stufe  der  Religion  sieht  und  überzeugt 
ist,  daß  die  Lehre  Jesu  „als  die  eigentliche  Zuflucht  alles  Strebens  nach  Sittlichkeit" 
zu  Recht  bestehen  und  die  Religion  in  ihrer  höchsten  Form  niemals  in  „reine 
Sittlichkeit"  ohne  Religion  sich  auflösen  werde  (S.  223). 

Die  unterste  Stufe  der  Religion  ist  nach  Schaarschmidt  der  Naturalismus,  und 
zwar  erstens  der  „Konkrete"  (Totemismus  und  Fetischismus)  und  zweitens  der 
„abstrakte"  (Polydämonismus),  abstrakt  deshalb,  weil  hier  die  Vorstellung  einer 
übersinnlichen  Macht  von  der  unmittelbaren  Gegenwart  eines  sinnlichen  Gegen- 
standes losgelöst  wird,  während  man  im  Fetischismus  seinen  Gott  „sozusagen  in 
der  Tasche  bei  sich  als  Schutzgeist  oder  Hausmittel  tragen  kann".  Über  den 
Naturalismus  erhebt  sich  der  „Spiritualismus",  welcher  in  den  „antropomorphen 
Polytheismus"  und  den  Monotheismus  zerfällt.  Innerhalb  des  letzteren  unterscheidet 
Schaarschmidt  den  „national  und  nomistisch  beschränkten  Monotheismus"  (die 
Religion  Zarathustras,  den  israelitisch-jüdischen  Monotheismus  und  den  Islam),  und 
den  „universalistisch  und  ethisch  bestimmten  Monotheismus",  nämlich  das  Christen- 


Handbuch  zum  Neuen  Testament,  angez.  von  H.  Vollmer.  543 

tum.  Diese  Klassifikation  veranschaulicht  auch,  wie  der  Verfasser  sich  die  historische 
Entwicklung  oder  besser:  den  Aufbau  der  Religion  denkt.  Den  Buddhismus  in 
seiner  ursprünglichen  Form  rechnet  er  nicht  zur  Religion  und  behandelt  ihn  des- 
wegen in  einem  Anhang. 

Daß  es  bei  dieser  Behandlung  der  Religionsgeschichte  nicht  ganz  ohne  un- 
genügend begründete  Konstruktionen  abgeht,  ist  bei  den  vielen  Lücken  in  unserer 
Kenntnis  der  Religionen  erklärlich.  Ob  z.  B.  die  enge  Verbindung,  in  welche 
Schaarschmidt  den  „konkreten"  Naturalismus  mit  dem  Jägerleben,  den  „abstrakten" 
mit  dem  Aufkommen  des  Nomadenlebens,  den  Polytheismus  mit  der  Entstehung 
des  Ackerbaus  bringt,  überall  den  Tatsachen  entspricht,  scheint  mir  doch  zweifel- 
haft. Trotzdem  verdient  diese  Art  der  Darstellung,  welche  allein  ein  tieferes 
Verständnis  anbahnen  kann,  m.  E.  den  Vorzug  vor  der  bloßen  Aneinanderreihung 
von  Schilderungen  der  einzelnen  Religionen,  wie  sie  in  den  Lehrbüchern  der 
Religionsgeschichte  vielfach  sich  findet. 

Münster  i.  W.  Wilhelm  Koppelmann. 

Handbuch  zum  Neuen  Testament,  in  Verbindung  mit  H.  Gressmann,  E.  Kloster- 
mann,  F.  Niebergall,   L.  Radermacher,   P.  Wendland  herausgegeben  von  Hans 
Lietzmann.    Tübingen  1906  ff.    J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck). 
Von  diesem  bedeutsamen  neuen  Hilfsmittel  zur  Erklärung  des  Neuen  Testa- 
ments, dessen  Erscheinen  ich  bereits  im  vorigen  Jahre  begrüßte  (Monatschrift  VI, 
472  ff.),  liegen  mir  eine  Reihe  weiterer  Lieferungen  zur  Besprechung  vor. 

In  der  4.  Lieferung  (geh.  3,20  M.)  behandelt  Paul  Wendland,  dem  inzwischen 
von  Gießen  der  theologische  Ehrendoktor  zuteü  wurde,  in  Fortsetzung  seiner  Dar- 
stellung der  „Hellenistisch -römischen  Kultur  in  ihren  Beziehungen  zu 
Judentum  und  Christentum"  in  drei  weiteren  Abschnitten  „Hellenismus  und  Juden- 
tum", „Hellenismus  und  Christentum",  „Synkretismus  und  Gnosticismus".  Es  soll 
nicht  wiederholt  werden,  was  ich  schon  früher  zum  Lobe  dieses  Buches  sagte. 
Wendlands  „Hellenistisch-römische  Kultur"  bedeutet  ein  Ereignis  für  alle,  die  sich 
irgendwie  wissenschaftlich  mit  der  neutestamentlichen  Literatur  und  ihren  Grenz- 
gebieten beschäftigen.  Es  gibt  keinen  Philologen  oder  Theologen,  der  nicht  eine 
Menge  Neues  aus  diesem  Buche  lernen  könnte,  sei  es  nun  durch  das  erschlossene 
Tatsachenmaterial  oder  dessen  Beleuchtung.  Ein  solcher  Apparat  war  in  der  Tat 
notwendig,  um  ein  wirklich  geschichtliches  Verständnis  und  eine  geschichtliche 
Würdigung  des  Neuen  Testamentes  anzubahnen.  Ich  will  hier  nicht  wieder  auf 
Einzelheiten  eingehn.  Dem  Autor  zum  Zeugnis,  wie  mannigfach  seine  Aus- 
führungen anregen,  möchte  ich  nur  auf  eine  Perspektive  hinweisen,  die  sich  mir 
bei  ihm  S.  167  eröffnete:  Von  dem  Kampfe  guter  und  böser  Geister  um  die  Seele 
bei  ihrer  Rückkehr  zur  Gottheit,  an  dessen  Vorkommen  in  der  parsischen  Escha- 
tologie  Norden,  Aeneis  IV,  S.  8  Anm.,  erinnert  [vgl.  auch  im  N.  T.  Jud.  9]*), 
führt  eine  Linie  über  die  lateinische  apokalyptische  Literatur  auch  zu  Muspilli  und 


*)  Nach  Clemens  Alexandr.  adumbr.  in  epist.  Judae  auf  eine  Assumptio  Mosis  zurück- 
gehend. —  Vgl.  auch  Apocal.  Pauli  (Tischend.  S.  44),  dazu  Bousset,  Relig.  des  Judent. 
1.  Aufl.,  S.  284  f.  Nicht  hierher  gehört  der  Kampf  des  Herakles  mit  dem  Thanatos  in  der 
Alkestissage. 


544  Handbuch  zum  Neuen  Testament,  angez.  von  H.  Vollmer. 

zu  jenen  phantastisch  illustrierten  mittelalterlichen  Sterbebüchern,  wo  Engel  zu 
Häupten  und  Teufel  am  Fußende  des  Sterbenden  um  die  abscheidende  Seele 
streiten,*)  und  bis  zum  Faust. 

Zwei  Sätze  Wendlands  von  allgemeinerem  Interesse  seien  wörtlich  mitgeteilt; 
sie  haben  gewissen  immer  noch  nicht  verschwindenden  hyper-  und  afterkritischen 
Richtungen  gegenüber  eine  besondere  Bedeutung,  weil  sie  von  einem  Kenner  der 
Zeitgeschichte  herrühren,  mit  dem  es  nicht  viele  aufnehmen  können.  S.  121  sagt 
er:  ,Wer  in  den  Hauptbriefen  des  Paulus  und  in  der  synoptischen  Grundlage  nicht 
ganz  individuelles  religiöses  Leben  zu  spüren  vermag,  der  ist  für  historische 
Forschung  auf  diesem  Gebiete  verdorben."**)  Und  S.  130  heißt  es:  ,Wir  haben 
auf  dem  Gebiete  der  Religion  und  Spekulation  bei  den  antiken  Völkern  auffallend 
parallele  und  konvergierende  Entwicklungslinien  beobachten  gelernt  und  sind  skep- 
tischer geworden  gegen  die  Annahme  einer  geschichtlichen  Abhängigkeit,  wo 
Wege  und  Medien  der  Vermittelung  gar  nicht  nachzuweisen  sind." 

Von  den  Zugaben  sei  diesmal  besonders  auf  die  fünf  Abbildungen  im  Text  und 
die  zwölf  Tafeln  verwiesen.  Sehr  lehrreich  sind  z.  B.  der  Bilderzyklus  zu  den 
Sabaziosmysterien  und  die  Darstellungen  aus  dem  Mithrakult,  zu  denen  der  Her- 
ausgeber des  ganzen  Werks,  Hans  Lietzmann,  von  Loeschcke  beraten,  treffliche 
Erläuterungen  gibt.  Vielleicht  bewilligt  die  Verlagsbuchhandlung  bei  der  nächsten 
Auflage  mehr  solcher  Bilder,  die  hier  wahrlich  nicht  nur  Schmuck  sind. 

Auf  die  Bedeutung  des  1.  Korintherbrief  es  für  den  Religionsunterricht  auf  der 
Oberstufe  hat  der  Schreiber  dieser  Zeüen  wiederholt  hingewiesen.***)  Hans  Lietz- 
mann bietet  in  seinem  Kommentar  zu  diesem  Briefe  (5.  Lieferung  des  ganzen  Werkes, 
geheftet  1,60  M.)  dem  sorgfältig  präparierenden  Lehrer  ein  neues,  ganz  vortreffliches 
Hilfsmittel  dar.  Bei  den  Erläuterungen  erwies  sich  auch  hier  wieder  der  alte 
Wetstein  als  unerschöpfliche  Fundgrube;  aber  ebenso  sorgfältig  ist  in  umfassendster 
Weise  die  neuere  Forschung  benutzt,  wie  z.  B.  die  Bemerkungen  Useners  zu 
TTspixa&apiia  und  irepi'tJ^Tjjxa  1.  Kor.  4,13.  —  Zu  dem  kultur-  und  sittengeschicht- 
lich höchst  interessanten  Passus  7,36—38  (der  allerdings  nicht  auf  die  Schule 
gehört)  ist  die  Weizsäcker-Grafesche  Erkenntnis,  daß  es  sich  hier  um  das  Syn- 
eisaktentum,  die  geistliche  Ehe,  handle,  durch  eine  von  Wendland  unterstützte 
sprachliche  Untersuchung  über  die  Bedeutung  von  YafAi'C«)  erhärtet.  Zu  den  tech- 
nischen Ausdrücken  bei  dem  Bilde  von  der  Rennbahn  9,24 — 27  hätte  noch  auf 
Lukian  Anachars.  13  verwiesen  werden  können.  Sehr  bedeutsam  und  manchem 
Benutzer  des  Handbuches  gewiß  völlig  neu  und  überraschend  sind  die  Ausführungen 
zu  10,21  über  Kultmahle  und  die  antike  Anschauung  vom  Genießen  der  Gottheit. 


*)  Ein  bisher  unbekanntes  Stück  aus  dieser  Literatur  hat  der  Recensent  inzwischen  in 
der  „Christlichen  Welt«  1908,  1246  ff.  behandelt.  In  dem  dort  mitgeteilten  Text  ist  statt 
„inderland"  „niderland"  zu  lesen. 

**)  Das  Wort  hat  mittlerweile  großen  Unwillen  bei  dem  bekannten  Karlsruher  Philo- 
sophieprofessor Arthur  Drews  erregt  in  seinem  übrigens  ganz  dilettantischen  Buch  „Die 
Christusmythe" ;  er  fühlt  wohl,  wie  es  ihn  selber  trifft. 

***)  Vom  evangelischen  Religionsunterricht  an  höheren  Schulen  (mit  Metz,  Rinn,  Seyring) 
herausgegeben  von  Hans  Vollmer,  Tübingen  (Mohr)  1900,  S.  28 f.,  44 ff.;  Handbuch  für 
Lehrer  höherer  Schulen,  Leipzig  (Teubner)  1906,  S.  112  f. 


Hand-Kommentar  zum  Neuen  Testament,  angez.  von  M.  Consbruch.  545 

Aus  der  Fülle  reichen  Material  es  schöpfend,  sprach  der  unvergeßliche  Albrecht 
Di  et  er  ich  in  einem  seiner  letzten  Vorträge  in  Hamburg  kurz  vor  seinem  jähen 
Ende  über  dieses  Thema. 

Auf  Lieferung  6:  Marcus,  unter  Mitwirkung  von  Hugo  Gressmann  erklärt  von 
Erich  Klostermann,  soll  erst  eingegangen  werden,  wenn  die  von  Klostermann  in 
Aussicht  gestellte  Einleitung  zu  den  Evangelien,  die  der  Erklärung  folgen  soll, 
gleichfalls  voriiegt. 

Nur  ganz  kurz  kann  hier  auf  die  beiden  bisher  erschienenen  Lieferungen  von 
F.  Niebergall  hingewiesen  werden  (Lieferung  2  und  7),  die  den  Bedürfnissen  der 
praktischen  Auslegung  des  Neuen  Testaments,  zunächst  des  Römerbriefs  und  des 
Markusevangeliums,  dienen  sollen.  Sie  kommen  mehr  für  die  Kanzel  als  für  die 
Schule  in  Betracht,  wenn  auch  sicher  für  den  Religionslehrer  mancher  anregende 
Gedanke  daraus  zu  holen  ist.  „Es  ist  ein  sehr  billiges  Vergnügen,  die  tote  In- 
spirationslehre noch  einmal  totzuschlagen,"  sagt  der  Verfasser  einmal.  Aber  uns 
will  bedünken,  daß  er  doch  gar  manches  sagt,  was  im  Rahmen  dieses  Handbuchs 
nicht  noch  einmal  ausgeführt  zu  werden  brauchte.  Sehr  willkommen  war  dem 
Rezensenten  die  folgende  Bestätigung  seiner  eigenen,  oft  vorgetragenen  An- 
schauungen über  den  biblischen  Unterricht  auf  der  Oberstufe  höherer  Schulen 
(Lieferung  2,  S.  47 f.):  »Der  Unterricht  auf  den  höheren  Schulen  ersetze  die  be- 
liebte, dogmatischen  Rücksichten  dienende  Lektüre  des  Römerbriefs  oder  Johannes- 
evangeliums durch  ganz  offene,  nicht  apologetisierende  Behandlung  der  großen 
historischen  und  kritischen  Probleme.  Wenn  die  Herren  Primaner  Respekt  vor 
der  Bibel  bekommen,  wie  vor  anderer  antiker  Literatur,  wenn  sie  gereizt  werden 
durch  eine  ihre  Bedenken  berücksichtigende  Kritik,  dann  wird's  besser  mit  dem 
Verhältnis  der  Gebildeten  zur  Bibel.  Je  unerbaulicher,  kritischer  und  geschicht- 
licher, desto  besser  ist  es  bei  diesem  erregbaren  Geschlecht.  Die  ersehnte  Über- 
wachung durch  gläubige  Oberhirten  kann  nur  noch  mehr  das  Ansehn  der  Bibel 
ruinieren.  Auch  hier  ist  freilassendes  Gewähren,  das  auf  spätere  Jahre  der  Reife 
sieht,  besser  als  die  Angst,  die  für  heute  und  morgen  retten  will.*  Das  ist  natüriich, 
damit  nicht  wieder  Mißverständnis  entsteht,  pointiert  gegen  den  bloß  pektoral- 
theologischen  Religionsunterricht  gesagt  und  soll  ganz  gewiß  die  weckende  Wärme, 
die  TrXTfjpocpopia  des  Lehrers  nicht  ausschließen. 

Hamburg.  Hans  Vollmer. 


Hand-Kommentar  zum  Neuen  Testament,  bearbeitet  von  W.  Bauer,  H.  J.  Holtz- 
mann,  A.  Lipsius,  P.  W.  Schmiedel,  v.  Soden,  Windisch.    4.  Bd.   Evangelium, 
Briefe  und  Offenbarung  des  Johannnes;  bearbeitet  von  H.  J.  Holtzmann, 
dritte,  neubearbeitete  Auflage  von  W.  Bauer.  Tübingen  1908.  J.  C.  B.  Mohr.  V  u. 
504  S.    gr.  8".    geh.  9,75  M.,  geb.  UM. 
Während  die  beiden  ersten  Auflagen  des  Kommentars  von  H.  J.  Holtzmann 
zu  den   Johanneischen  Schriften   rasch   aufeinander  folgten,    sind   15  Jahre  ver- 
strichen, bis  nun  die  dritte  Auflage  voriiegt,  zwar  noch  mit  einem  Vorwort  von  Holtz- 
mann, aber  durchaus  selbständig  bearbeitet  von  W.  Bauer.    Bei  der  regen  wissen- 
schaftlichen Tätigkeit,  die  auf  diesem  schwierigen,  an  Problemen  reichen  Gebiete 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  35 


546  Deutsche  Evangelien-Synopse,  angez.  von  M.  Consbruch. 

geherrscht  hat,  ist  es  um  so  erfreulicher,  daß  einschneidende  Änderungen,  soweit 
ich  sehe,  nirgends  notwendig  gewesen  sind.  Denn  als  solche  kann  man  es  nicht 
bezeichnen,  wenn  auf  Grund  der  neuen  Literatur  beim  Evangelium  ein  Abschnitt 
über  den  Verfasser  und  den  Zweck  des  Buches  hinzugefügt,  bei  der  Apokalypse 
das  Kapitel  über  die  „kritische  Verarbeitung"  umgestaltet  ist. 

Wenn  auch  noch  viele  Rätsel  im  einzelnen  bleiben,  so  kann  man  doch  sagen^ 
daß  die  vor  fast  70  Jahren  von  F.  Gh.  Baur  und  der  Tübinger  Schule  angebahnte 
Auffassung  des  Evangeliums  als  der  Lehr-  und  Streitschrift  eines  Theologen,  die 
paulinische  Gedankengänge  voraussetzt,  allen  Angriffen  gegenüber  sich  bewährt 
hat,  ja  vielmehr  durch  vertiefte  Untersuchungen  zwar  hier  und  da  modifiziert,  aber 
im  ganzen  nur  bekräftigt  ist.  Daß  sie,  wie  z.  B.  Zahns  Kommentar  (1908)  zeigt, 
immer  noch  nicht  in  vollem  Umfange  durchgedrungen  ist,  hat  meines  Erachtens 
mehr  subjektive  als  objektive  Gründe.  Denn  sie  erfordert  eine  weitgehende  Ab- 
straktion von  alten,  liebgewordenen  Anschauungen  und  ein  Maß  philologischen 
Denkens,  das  nicht  gering  ist.  Der  allegorische  Charakter  der  Schrift  würde  leichter 
anerkannt  werden,  wenn  auch  hier  gelänge,  was  bei  der  Apokalypse  geglückt  ist:  der 
Nachweis  literarischer  Parallelen  und  Zusammenhänge.  Die  heute  brennende  Frage 
der  literarischen  Einheit  ist  leider  nur  gestreift;  denn  die  Aufsätze  von  Schwarte 
und  das  Hauptwerk  Wellhausens  sind  erst  später  erschienen.  —  Die  neue  Auflage 
ist  bei  engerem  Druck  fast  150  Seiten  umfangreicher  geworden,  einmal  durch  Beigabe 
einer  fortlaufenden  deutschen  Übersetzung,  sodann  dadurch,  daß  Bauer  mit  unge- 
meiner Belesenheit  nicht  nur  die  neuere  Literatur  verarbeitet,  sondern  auch  die 
Hinweisungen  auf  die  ältere  vermehrt  hat,  oft  mit  ein  paar  Worten  das  Resultat 
einer  literarhistorischen  Untersuchung  zusammenfassend.  Gerade  dadurch  unter- 
scheidet sich  bei  Übereinstimmung  in  den  Hauptpunkten  dieser  Kommentar  von 
dem  von  Heitmüller  und  Joh.  Weiß  im  2.  Band  der  „Schriften  des  Neuen  Testa- 
ments", der  für  die  Gebildeten  überhaupt  bestimmt  ist.  Wenn  der  Religionslehrer 
auch  für  die  unmittelbare  Praxis  dort,  namentlich  bei  Heitmüller,  mehr  Ausbeute 
finden  wird,  so  wird  doch,  wer  eine  rechte  Einsicht  in  die  Schwierigkeit  der  Pro- 
bleme gewinnen  und  sich  selbst  sein  Urteil  bilden  will,  zu  Holtzmanns  Kommentar 
greifen  müssen. 


Deutsche  Evangelien-Synopse  mit  Zugrundelegung  der  Übersetzung  Carl  Weiz- 
säckers.   Ununterbrochener  Text  mit  den  Parallelen  im  vollen  Wortlaute  unter 
Beifügung  johanneischer  und  außerkanonischer  Seitenstücke  und  der  wichtigsten 
Varianten  in  der  Überlieferung  des  Textes  von  Lic.  A.  Huck.    Tübingen  1908. 
J.  C.  B.  Mohr.    XVI  u.  150  S.    gr.  8°.    brosch.  3  M.,  geb.  4  M. 
Als  vor  vier  Jahren  die  religionsgeschichtlichen  Volksbücher  zu  erscheinen 
begannen,  wurden  vielfach  Zweifel  laut,  ob  das  Unternehmen  zeitgemäß  sei  und 
auf  diesem  Wege  das  religiöse  Interesse  nachhaltig  gefördert  und  vertieft  werden 
könne. 

Seitdem  sind  den  Volksbüchern  außer  einer  Fülle  andrer  Heftchen  und  Bücher 
die  „Zeit-  und  Streitfragen"  und  die  „Lebensfragen"  gefolgt,  und  in  allen  Samm- 
lungen für  Gebildete,  wie  sie  Göschen,  Teubner,  Quelle  und  Meyer  u.  a.  veran- 


W.  Capitaine,  Lehrb.  der  katholischen  Religion  usw.,  angez.  v.  J.  Norysklewicz.    547 

stalten,  nehmen  heute  religiöse  Probleme  einen  breiten  Raum  ein.  Oft  ist  dabei 
der  Kampf  der  Vater  der  Dinge  gewesen,  aber  die  wissenschaftliche  Darlegung  hat 
doch  die  Achtung  auch  vor  dem  Gegner  erhöht  und  zugleich  gezeigt,  daß  die 
Gegensätze  zwischen  rechts  und  links  nicht  so  schroff  sind,  als  man  früher  wohl, 
namentlich  außerhalb  der  Fachkreise,  meinte.  Freilich  bleibt,  wie  uns  jeder  Tag 
zeigt,  zur  Versöhnung  der  Gegensätze  noch  recht  viel  zu  tun,  eine  Aufgabe,  zu 
deren  Lösung  auch  die  Lehrer  der  höheren  Schulen  sehr  erheblich  beitragen  sollen 
und  können.  Und  daß  wir  trotz  vieler  unerfreulichen  Erscheinungen  die  Hoffnung 
auf  ein  Fortschreiten  in  friedlichem  Geiste  nicht  aufgeben,  dazu  berechtigt  uns  die 
Tatsache,  daß  es  dem  wissenschaftlichen  Ernst  gelungen  ist,  die  Gebildeten  zu 
den  Quellen  selbst,  d.h.  zu  der  Bibel  zurückzuführen;  den  Beweis  dafür  bildet  der 
starke  Absatz  vor  allem  der  Kautzsch-Weizsäckerschen  Übersetzungen,  dann  der 
soeben  erschienenen  Erklärung  des  Neuen  Testaments  von  Joh.  Weiß.  Dazu  treten 
die  Übersetzungen  von  Stage  bei  Reclam,  die  Kommentare  von  B.  Weiß,  Schlatter, 
Niebergall  u.  a.  Diesem.  Streben  der  Gebildeten,  sich  im  Geiste  echten  Protestan- 
tismus selbst  ein  Urteil  über  jene  wichtigen  Fragen  zu  bilden,  will  auch  Hucks 
Buch  dienen.  Längst  ist  seine  griechische  Synopse  jedem  Theologen  ein  unent- 
behrliches Hilfsmittel.  In  seiner  deutschen  Bearbeitung  hat  nun  Huck  den  voll- 
ständigen Text  der  drei  synoptischen  Evangelien,  für  die  Passionsgeschichte  auch 
den  des  Johannis  Evangeliums  gegeben.  Von  den  Textvarianten  ist  natürlich  nur 
so  viel  aufgenommen  als  auch  für  den  Laien  von  Wichtigkeit  ist.  Gerade  weil  unsere 
Lutherische  Übersetzung  auf  dem  recht  schlechten  Text  des  Erasmus  beruht,  wird 
mancher  doch  überrascht  sein,  wie  verändert  selbst  so  wichtige  Stellen  wie  das 
Vaterunser  (nam.  Lc.  11,  1  ff.)  hier  aussehen.  Auch  aus  den  apokryphischen  Evan- 
gelien und  den  neugefundenen  Texten  aus  Ägypten  ist  mit  bewährter  Sachkunde 
genug  geboten,  um  ein  gewisses  Urteil  zu  ermöglichen.  Eine  knappe  Einleitung 
über  die  verwickelte  Überlieferungsgeschichte  wird  selbst  Theologen  willkommen 
sein.  So  wird  das  treffliche,  praktisch  angelegte  Buch  jedem  nützen,  insbesondere 
aber  den  zahlreichen  Religionslehrern,  die  nicht  von  Hause  aus  Theologen  sind. 
Ihrem  Unterricht  in  der  evangelischen  Geschichte  wird  es  die  wissenschaftliche 
Grundlage  geben,  die  hier  auch  schon  auf  den  unteren  Stufen  unerläßlich  ist. 
Eisenach.  M.  Consbruch. 


Capitaine»  W.,  Lehrbuch  der  katholischen  Religion  für  die  oberen  Klassen 
höherer  Lehranstalten.   2.  Teil:  Kirchengeschichte.   Köln  1909.   J.  P.  Bachem. 
IV  u.  296  S.,  geb.  2,80  M. 
Nachdem  Capitaine  gegen  Ende   des  vorigen  Jahres   den  ersten  Teil  seines 
Lehrbuches  der  katholischen  Religion  für  die  oberen  Klassen  höherer  Lehranstalten 
der  Öffentlichkeit  übergeben  hatte,  ist  jetzt  der  zweite  Teil,  die  Kirchengeschichte, 
gefolgt.    Die  Vorzüge,   die  des  Verfassers  Arbeit  auszeichnen,  Vielseitigkeit  des 
Inhalts,   lichtvolle   methodische  Behandlung  des  Stoffes  und  eine  fesselnde  Dar- 
stellungsweise, finden  sich  auch  in  der  Kirchengeschichte,  einem  Gebiete,  das  sehr 
oft  synchronistisch  und  trocken  behandelt  wird.    Wohltuend  wirkt  in  Capitaines 
Lehrbuch  die  streng  durchgeführte  pragmatische  Darstellung,  die  da  zeigt,  „daß 

35* 


548  H.  Hirt,  Etymologie  der  neuhochdeutschen  Sprache, 

in  der  Menschheft  kein  blindes  Ungefähr,  sondern  eine  wunderbare  göttliche  Vor- 
sehung herrscht  (S.  10)."    Dafür  gebührt  dem  Verfasser  aufrichtiger  Dank. 

Was  nun  den  Inhalt  im  allgemeinen  betrifft,  so  ist  das  einschlägige  Material 
—  Quellen,  Handbücher  und  Monographien  —  mit  anerkennenswertem  Fleiße 
gesammelt  und  durchaus  selbständig  verarbeitet.  Fast  nirgends  hat  man  Gelegenheit, 
zu  dem  behandelten  Stoffe  etwas  hinzuzufügen,  im  Gegenteil,  fast  will  es  scheinen, 
als  ob  hier  und  da  manches  gekürzt  werden  könnte,  besonders  die  losen  Bemerkungen 
im  dritten  Druck.  Es  unterliegt  zwar  keinem  Zweifel,  daß  der  Vortrag  des  Lehrers 
sie  anstandslos  übergehen  kann,  aber  sie  vermehren  den  Umfang  des  Buches  und 
erhöhen  den  Preis,  der  unseres  Erachtens  nicht  viel  über  2  M.  für  die  einzelnen 
Teile  des  Lehrbuches  hinausgehen  darf.  So  könnte  z.  B.  die  Geschichte  der  ober- 
rheinischen Kirchenprovinz,  der  engeren  Heimat  des  Verfassers,  des  öfteren 
ausgeschaltet  werden,  ohne  dem  Ganzen  irgendwie  Abbruch  zu  tun. 

Das  christliche  Altertum,  verständnisvoll  mit  der  Missionstätigkeit  des  heiligen 
Bonifatius  abgeschlossen,  erfährt  eine  eingehende  Darstellung  (bis  S.  109).  In 
dem  Gedankenkreise  des  christlichen  Altertums  liegen  die  Ideen  und  keimen  die 
Motive,  die  im  Mittelalter  ihre  weltbeherrschende  Macht  entfalten  und  in  der  Neu- 
zeit allmählich  wieder  ihrem  Niedergange  entgegengehen.  —  Die  Christianisierung 
der  slawischen  Völker  (§  27,2)  bedarf  einer  abermaligen  genaueren  Durchsicht  (auf 
den  Druckfehler  Domorowka  sei  nebenbei  hingewiesen)  und  in  §  29,1  könnten 
die  Schäden  rückhaltloser  aufgedeckt  und  manche  Ereignisse  ausführlicher  besprochen 
werden.  „Gerade  diese  traurige  Zeit  wurde  ein  neuer  Erweis  der  Göttlichkeit  des 
Christentums,  denn  wenn  Gottes  Beistand  die  Kirche  in  diesen  gefahrvollen  Zeiten 
nicht  geleitet  hätte,  wäre  sie  sicher  durch  die  menschliche  Leidenschaft  bald  zu- 
grunde gerichtet  worden  (S.  122)." 

Schrimm.  Johannes  Noryskiewicz. 


Hirt,  Hermann,   Etymologie  der  neuhochdeutschen  Sprache.    (Handbuch 
des  deutschen  Unterrichts  an  höheren  Schulen,  herausgegeben  von  Dr.  Adolf 
Matthias.    4.  Band,  2.  Teil.)    München   1909.    C.  H.  Becksche  Verlagsbuch- 
handlung (Oskar  Beck).    XV  u.  404  S.    geh.  8  M.,   in  eleg.  Leinenbande  9  M. 
Die  Ergebnisse,  welche  die  Wissenschaft  im  Gebiete  der  Etymologie  unserer 
Muttersprache   erzielt   hat,   in    umfassendem  Maße   zusammenzustellen,   war  eine 
dankenswerte  Aufgabe,  die  zu  lösen  der  Verfasser  sich  durch  seine  ins  Jahr  1894 
zurückgehenden  Vorlesungen  über  deutsche  Etymologie  und  Wortforschung,  durch 
seine  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  indogermanischen  Sprachwissenschaft  und 
durch  die  Bearbeitung  der  5.  Auflage  des  Weigandschen  Wörterbuches  die  Wege 
geebnet  hat.    Daß  er  kein  Fremdling  ist  auf  dem  Gebiete  der  neuhochdeutschen 
Wortforschung,  erweist  sich  dem,  der  einigermaßen  mit  diesem  Studium  vertraut 
geworden  ist,  fast  auf  jedem  Blatte  des  inhaltreichen  Buches,  in  der  Beherrschung 
der  einschlägigen  Literatur,  in  der  Sicherheit,  mit  welcher  der  Verfasser  sich  auch 
auf  entlegenen  Teilgebieten  bewegt,  in  der  geschickten  Verarbeitung  des  für  seine 
Aufgabe  in  Betracht  kommenden  Stoffes  und  auch  in  der  Aufdeckung  der  Lücken, 
die  der  Wissenschaft  noch  auszufüllen  übrig  bleiben.    Daß  der  Studierende  und 


angez.  von  J.  Buschmann.  549 

daß  der  Lehrer  des  Deutschen  sich  der  Führung  des  Verfassers  ruhig  anvertrauen 
können,  lehrt  schon  ein  Blick  auf  den  Inhalt.  Nach  einer  Übersicht  über  die  für 
die  Wortentwicklung  maßgebenden  Lautgesetze  entwickelt  der  Verfasser,  was  von 
je  zur  Sammlung  des  deutschen  Wortschatzes  geschehen  ist,  wobei  aus  neuerer 
Zeit  Adelung,  Campe  und  die  Brüder  Grimm  eingehend  behandelt  und  weiterhin 
auch  die  Wörterbücher  von  Sanders,  Weigand,  Heyne  und  Paul  gewürdigt  werden. 
Nachdem  dann  dargetan  ist,  wie  groß  die  Anleihen  sind,  welche  die  Nachbar- 
sprachen bei  dem  germanischen  Wortschatz  gemacht  haben,  folgt  eine  ausführliche 
Betrachtung  derjenigen  Bestandteile  des  germanischen  und  zumal  des  deutschen 
Wortschatzes,  die  sich  als  indogermanisch  erweisen  lassen,  derer,  die  aus  den 
Grundwörtern  durch  Ableitung  und  Zusammensetzung  entlehnt  sind,  und  endlich 
derer,  die  als  Lehn-  und  Fremdwörter  von  der  ältesten  bis  in  die  neueste  Zeit  sich 
mehr  oder  weniger  Bürgerrecht  bei  uns  erworben  haben.  Dies  gibt  Anlaß  zu  Ein- 
blicken in  die  vielfachen  Verdeutschungs-  und  Sprachreinigungsversuche  von  der 
Tätigkeit  der  Mönche  an,  die  den  Deutschen  zuerst  das  Christentum  predigten, 
bis  auf  die  Männer  im  Dienste  des  Deutschen  Sprachvereins.  Für  die  Geschichte 
der  Entwicklung  des  deutschen  Wortschatzes  muß  sich  der  Verfasser  bei  dem  Mangel 
an  Vorarbeiten  auf  Bruchstücke  beschränken ;  er  untersucht  eine  Reihe  von  Begriffs- 
gruppen, wie  z.  B.  die  Zahlwörter,  die  Bezeichnungen  der  Körperteile,  Tier-  und 
Pflanzennamen,  mit  teilweise  wertvollem  Ergebnis,  betrachtet  die  Bereicherung, 
welche  die  Sprache  gelegentlich  durch  Neuschöpfung,  durch  Übernahme  mund- 
artlicher Wörter  und  Neubelebung  alter,  aus  der  lebenden  Sprache  verschwundener 
Wörter  erfahren  hat,  und  geht  besonders  der  Einwirkung  der  Hauptmundarten  auf 
die  Entwicklung  der  Schriftsprache  nach.  Gern  wird  man  sich  in  das  Kapitel  über 
die  Sondersprachen  vertiefen  und  von  dem  Verfasser  sich  darüber  belehren  lassen, 
wie  das  Kulturleben  längst  vergangener  Zeiten  in  unserer  Sprache  noch  jetzt  fort- 
lebt. Es  folgen  die  Kapitel:  Sprachliche  Versteinerungen,  Volksetymologie  und 
Bildung  der  Eigennamen.  Den  Beschluß  macht  die  Lehre  vom  Bedeutungswandel. 
Die  Etymologie  der  neuhochdeutschen  Sprache  bildet  einen  Teil  in  der  Er- 
kenntnis der  Sprache  selbst  und  ihrer  Geschichte  und  somit  ein  wesentliches  Glied 
im  Studienbereiche  des  deutschen  Fachlehrers.  Ihre  Bedeutung  für  den  Unterricht 
wird  von  dem  Verfasser  mit  weiser  Mäßigung  richtig  gekennzeichnet,  wenn  er  sagt: 
„Es  wird  keinem  Lehrer  einfallen,  systematisch  etymologische  Forschungen  im 
Unterricht  verwerten  zu  wollen;  aber  er  kann  den  Unterricht  mit  ihrer  Hilfe  be- 
leben. Er  kann  und  wird  auf  den  Bedeutungswandel  hinweisen,  da  ja  schon  bei 
Schiller  und  Goethe  die  Worte  oft  eine  andere  Bedeutung  haben;  er  wird  da,  wo 
Schüler  verschiedener  Gegenden  beieinander  sind,  auf  die  Verschiedenheit  des  Wort- 
gebrauchs zu  sprechen  kommen,  er  kann  vor  allen  Dingen  an  der  Hand  der  Ge- 
schichte eines  Wortes  die  Schüler  in  den  Geist  älterer  Zeiten  versetzen,  ihnen 
Einblicke  in  die  Entwicklung  der  Kultur  gewähren;  denn  aus  der  Sprache  erhalten 
wir  tatsächlich  ein  Spiegelbild  der  Kultur,  und  Sprachgeschichte  ist  sicheriich  ein 
Teil  Kulturgeschichte."  Daß  das  Buch  in  diesem  Sinne  sich  fruchtbar  erweisen 
kann,  unteriiegt  keinem  Zweifel ;  in  die  Hand  der  Lehrer  ist  es  gegeben,  mit  dem 
Verständnis  für  das  Wesen  der  Muttersprache  die  Freude  an  ihrem  Werden  und 
Wandeln  in  den  Schülern  zu  wecken  und  zu  nähren. 


550    J-  Grießmann,  Die  gebräuchlichsten  Fremdwörter  usw.,  angez.  v.  J.  Buschmann. 

Oriefimann,  Joh.,  Die  gebräuchlichsten   Fremdwörter  in   etymologisch 
geordneten   Gruppen.    Für  Schulen  ohne  Unterricht  im  Griechischen  und 
Lateinischen  zusammengestellt.    Zweite  verbesserte  Auflage.    Deggendorf  1908. 
Ernst  Bachmann.    190  S.    8».    geb.  2,50  M. 
Hilfsmittel  für  das  Verständnis  und  den  Gebrauch  der  Fremdwörter  hat  die 
erfolgreiche  Wirksamkeit  des  Allgemeinen  deutschen  Sprachvereins  und  haben  die 
Wörterbücher,  die  durch  gute  Verdeutschung  dem  maßlosen  Gebrauche  der  Fremd- 
wörter wehren  wollen,  nicht  überflüssig  gemacht.  Neuerdings  sind  für  diejenigen, 
die  den  Weg  zur  allgemeinen  Bildung  in  lateinlosen  Schulen  finden,  Fremdwörter- 
bücher zusammengestellt,  in  denen  der  Nachdruck  auf  die  aus  den  alten  Sprachen 
entlehnten  Fremdwörter  gelegt  wird.    Ob  Bücher  dieser  Art  ein  Bedürfnis  sind, 
soll  hier  nicht  untersucht  werden;  die  Forderung,  ihnen  einen  bestimmten  Platz  im 
Unterricht   einzuräumen,   wird  jedenfalls  für  höhere  Lehranstalten  nachdrücklichst 
abzulehnen  sein.    Gelegenheit,  der  Herkunft  und  Bedeutung  wichtiger  Fremdwörter 
auch  ohne  Hilfsbucl.  -.'if  den  Grund  zu  gehen,  bietet  jedes  Lehrfach,  und  in  das 
Verständnis   zahlloser  aus   dem  Griechischen   und  dem  Lateinischen  stammender 
Fremdwörter  führen  nicht  nur  die  alten,  sondern  auch  die  neueren  Fremdsprachen 
zur  Genüge  ein.    Was   darüber  hinausgeht,   muß   das  Leben  oder  im  Einzelfall 
auch  ein  geeignetes  Wörterbuch  lehren. 

Das  Buch  von  Grießmann  erfüllt  im  allgemeinen  seinen  Zweck.  Wenn  die 
Fremdwörter  in  Gruppen  geordnet  werden  sollen,  so  kann  nicht  zweifelhaft  sein, 
daß  für  die  Gruppierung  die  gleiche  Abstammung  maßgebend  sein  muß,  und  er- 
leichtert wird  diese  Aufgabe  dadurch,  daß  die  Mehrzahl  der  Fremdwörter  ihre  Ab- 
stammung deutlich  genug  verrät.  Wie  aber,  wenn  unter  domus  ohne  Vermittlung 
von  dominus  die  Wörter  Don,  Donna  und  Domino  aufgeführt  werden,  wenn  die 
Wörter  Schema,  Scholar  und  Epoche  unvermittelt  zu  demselben  Stammwort 
oxeco  gestellt  werden,  Archiv  zu  dp'/ato?»  Kategorie  zu  d^opzoo),  Philomele 
zu  [jL^Xov,  Comfort  zu  fero?  Ohne  Nachweis,  auf  welchem  Wege  sich  die  Be- 
deutung des  Fremdworts  aus  der  des  Stammworts  oder  eines  mit  diesem  ver- 
wandten Wortes  entwickelt  hat,  wird  Aktuar  unter  ago,  Analytik  unter  looi<;, 
Historie  unter  foTwp,  Entomolog  unter  tsjxvu),  kapitulieren  unter  caput, 
Mosaik  unter  Musa,  pragmatisch  unter  irpaYfia  genannt  und  dadurch  das  Ver- 
ständnis dieser  Wörter  erschwert.  Daß  Wörter,  die  ursprünglich  auf  eine  der  alten 
Sprachen  zurückgehen,  aus  neueren  Sprachen  entlehnt  sind,  ist  in  der  Regel,  aber 
bei  weitem  nicht  immer  angedeutet,  so  daß  Wörtern  wie  Aktiva,  Altan,  Aquarell, 
Externat,  Finale,  Kapuze,  majorenn,  Prokura,  raffinieren,  Repräsen- 
tation nur  ungenau  lateinische  Herkunft  zugeschrieben  wird.  Zu  wünschen  bleibt 
auch,  daß  den  in  das  alphabetische  Verzeichnis  aufgenommenen  Fremdwörtern, 
die  in  den  Gruppen  sich  nicht  unterbringen  ließen,  soweit  als  möglich  Herkunft 
und  ursprüngliche  Bedeutung  zugefügt  werde. 

Coblenz.  Jos.  Buschmann. 

Kettner,  Gustav,   Studien  zu  Schillers  Dramen.    Erster  Teil.    Wilhelm  Teil. 
Berlin  1909.    Weidmannsche  Buchhandlung.    X  u.  180  S.    gr.  8^.    3,50  M. 
Der  vorliegende  Band  eröffnet  eine  zwanglose  Folge  von  Monographien  über 


G.  Kettner,  Studien  zu  Schillers  Dramen,  angez.  von  A.  Matthias.  55 1 

Schillers  Dramen.  Das  Buch  schließt  sich  den  früher  in  demselben  Verlage  er- 
schienenen über  Lessings  Dramen  an  (vgl.  Monatschrift  Bd.  IV,  S.  404/5)  und 
verfolgt  dasselbe  Ziel,  das  sich  heute  jede  tiefergehende  Erklärung  setzt:  aus  der 
Entstehung  des  Werkes,  aus  seinem  Zusammenhang  mit  der  Zeit  und  der  Per- 
sönlichkeit des  Dichters  ein  tieferes  Verständnis  zu  gewinnen.  —  In  ihrer  zeitlichen 
Folge,  was  ja  das  Gegebene  wäre,  werden  die  Dramen  nicht  besprochen;  die  Rück- 
sicht auf  seine  Arbeitskraft  und  Arbeitsmuße  zwang  den  Verfasser  davon  abzu- 
stehen. Auch  ist  für  die  Würdigung  der  Jugenddramen  im  ganzen  wie  im  ein- 
zelnen schon  so  viel  geschehen,  daß  im  wesentlichen  nur  eine  neue  Zusammen- 
fassung der  bisherigen  Untersuchungen  herauskäme.  Der  Teil  aber  ist  bisher  ein 
Stiefkind  der  Forschung  geblieben;  das  hat  den  Verfasser  gereizt,  mit  ihm  den 
Anfang  zu  machen.  Wir  können  damit  zufrieden  sein.  Denn  was  hier  geboten 
wird,  ist  in  vielen  Punkten  neu,  oder  Altes  wird  in  ganz  neuer  Beleuchtung  ge- 
boten. Sehr  ansprechend  ist  die  Ruhe  des  Stils  und  ebenso  anregend  wirkt  der 
in  erfreulicher  Knappheit  gebotene,  reiche  Inhalt,  dessen  man  erst  ganz  teilhaftig 
wird,  wenn  man  die  Goldgrube  der  belehrenden  Hinweise  in  den  Anmerkungen 
auszuschöpfen  sich  anschickt.  Das  Eingangskapitel  versucht  die  Hauptpunkte  der 
Entwicklung  zu  zeichnen,  zunächst  die  Wanderungen  und  Wandlungen  der  Sage, 
die  Bedeutung  von  Tschudis  Chronik  mit  ihrer  Kraft  anschauender  Phantasie, 
ihrer  ruhigen  Gegenständlichkeit,  ihrem  Reichtum  an  lebensvollen  Bildern,  ihrer 
Sorgfalt  der  Motivierung  und  ihrer  Frische  der  Kontrastfarben ;  dann  den  Wert  von 
Johannes  von  Müllers  „Geschichten  schweizerischer  Eidgenossenschaft",  mit  ihrem 
„pathetischen"  Gemälde  der  feierlichen  Stiftung  eines  neuen  Volksbundes,  mit  der 
anregenden  Kraft  ihres  ideellen  Gehalts  und  mit  der  Fülle  konkreten  Lebens. 
Dann  noch  ein  kurzer  Einblick  in  die  Telldramen  des  18.  Jahrhunderts  und  in 
Goethes  Tellplan  und  schließlich  die  zu  poesievoller  Klarheit  gelangte  Auffassung 
Schillers.  In  einem  zweiten  Kapitel  legt  uns  Kettner  die  Entstehung  des 
Planes  dar,  die  äußeren  Anregungen,  das  Reifen  und  die  ältesten  Entwürfe, 
um  dann  in  einem  ebenso  knappen,  wie  anregenden  und  inhaltreichen  Kapitel 
die  Ausführung  zu  bringen,  wobei  die  Einwirkung,  oft  recht  drängender  Art, 
Ifflands,  der  Einfluß  der  Aufführung  von  Julius  Caesar  (1.  Oktober  1803)  und 
die  klare  Berechnung  der  Forderungen  der  Theatertechnik  plastisch  hervortritt 
und  wir  mit  einer  gewissen  Wehmut  lesen,  wie  Schiller  seine  Kräfte  immer 
neuen  Hindernissen  gegenüber  aufs  äußerste  anspannen  mußte,  um  schließlich 
noch  unter  der  Tragik  der  Verzögerung  bei  der  Aufführung  am  Berliner  Theater 
schmerzvoll  zu  dulden.  —  Die  weiteren  Kapitel  (4  und  5)  legen  dar,  wie  Schiller 
die  Aufgabe  gelöst  hat,  ein  ganzes  Volk  zum  Träger  der  Handlung  zu  machen 
und  dieses  in  seiner  vollen,  durch  die  umgebende  Natur  bedingten  Eigenart 
gleichsam  als  eine  mächtige  Persönlichkeit  vor  uns  hinzustellen,  wie  er  in 
der  Darstellung  der  Gegenmacht  aus  künstlerischen  Rücksichten  sich  kluge  Be- 
schränkung auferlegt  und  auf  jenen  Teil  des  Bildes  alles  Licht,  auf  diesen  alle 
Schatten  vereinigt  hat.  In  den  letzten  fünf  Kapiteln  (6—10)  wird  uns  gezeigt, 
wie  Schiller  abweichend  von  der  Überlieferung  der  Quellen  einen  dramatischen 
Gegensatz  geschaffen  hat,  indem  er  den  Adel  und  Teil  vom  Rütlibunde  ausschloß, 
und  wie  er  anderseits  der  ganzen  Entwicklung  den  Charakter  einer  äußeren  und 


552  Th.  Herold,  Das  Lied  vom  Kinde,  angez.  von  A.  Matthias. 

inneren  Notwendigkeit  verlieh,  wie  er  überall  den  Druck  der  Verhältnisse,  der  die 
Schweizer  vorwärts  drängt,  uns  auf  das  schwerste  empfinden  läßt  und  wie  er 
zugleich  die  zwingenden  sittlichen  Motive  ausschöpft,  denen  sie  sich  fügen  müssen, 
und  damit  die  Berechtigung  der  Empörung  über  jeden  Zweifel  stellt.  Weiter  wird 
von  Kettner  gezeichnet  der  Gegensatz,  in  welchen  Schiller  den  Helden  mit  seinem 
ausgeprägten  Individualismus  und  den  Adel  mit  seinem  Egoismus  zum  Volke 
setzt,  die  dadurch  hervorgerufene  dramatische  Spannung  und  Schürzung  des 
Knotens  und  die  Wandlung  des  in  den  Quellen  mehr  epischen  Verlaufes  der 
Handlung  zu  einem  dramatischen  Prozeß.  Und  schließlich  tritt  plastisch  hervor, 
wie  plötzlich  der  weitere  Gang  nicht  bloß  den  Helden  selbst  zu  entscheidender 
Tat  zwingt,  wie  die  Tellhandlung  zum  Höhepunkte  treibt,  wie  dieser  Höhepunkt 
zum  Wendepunkte  der  ganzen  Handlung  wird  und  Teils  Schicksal  zu  einer 
Angelegenheit  aller  macht,  indem  der  Vertreter  des  einsamen  Individualismus 
über  sich  selbst  hinauswächst  und  der  Allgemeinheit  dient. 

Die  ganze  Darstellung  Kettners  ist  ebenso  schlicht  wie  überzeugend;  nirgendwo 
läßt  er  sich  von  Schillerschem  Pathos  zu  eigenem  Pathos  hinreißen,  er  geht  auf 
die  beste  Literatur  zurück  und  auf  die  Quellen  und  beherrscht  ihre  Ergebnisse 
mit  eigenem,  wohlbegründetem  Urteil;  er  charakterisiert  Handlungen  und  Personen 
ungemein  fein,  weil  sein  Sinn  offen  ist  für  die  feine  Charakteristik  des  Dichters, 
er  legt  die  Handlung  in  ihren  verschlungenen  Fäden  ebenso  klar  vor  uns  dar,  wie 
in  der  Einheitlichkeit  ihres  schließlichen  Verlaufs;  er  zieht  geschickte  Vergleiche 
zu  anderen  Dichterwerken  Schillers,  zu  Shakespeare  und  zu  den  Quellen,  aus 
denen  Schiller  geschöpft  und  läßt  bei  allem  eine  ebenso  unumwundene  wie  über- 
zeugend gerechte  Kritik  walten. 

Wenn  ich  dem  Buche  Kettners  hier  eine  ausführliche  Würdigung  gewidmet 
habe,  so  ist  das  geschehen  wegen  seines  Wertes  für  die  Schule.  Hier  ist  kein 
vergnügliches,  phrasenvolles  und  weichliches  Ästhetisieren,  für  das  unsere  Jugend 
uns  zu  gut  sein  sollte,  sondern  Anregung  zu  ernstem  und  tiefem  Nachdenken 
über  ein  Kunstwerk  und  Versenkung  in  die  dichterische  Schöpfung.  Große 
Probleme  werden  herbeigerufen,  deren  Lösung  ja  unserer  Jugend  noch  nicht  zu- 
gemutet werden,  für  das  sie  aber  Interesse  gewinnen  soll,  damit  sie  für  das  weitere 
Leben  kräftig  zu  denken  sich  bemüht.  Um  nur  eins  zu  berühren:  Wie  viel 
„ Bürgerkunde "  aus  der  Behandlung  der  Rütliszene  zu  schöpfen  ist,  davon  haben 
diejenigen,  welche  auf  dem  Markt  des  journalistischen  Lebens  augenblicklich  mit 
diesem  Artikel  hausieren  gehen,  gar  keine  Ahnung,  ebensowenig  wie  sie  eine 
Empfindung  haben,  daß  Bürgerkunde  und  Menschenkunde  eigentlich  dasselbe  ist. 
Und  für  echte  Menschenkunde  öffnet  uns  Kettner  in  seinem  trefflichen  Buche 
unsere  Augen  und  unser  Herz. 

Das  Lied  vom  Kinde.  Herausgegeben  von  Theodor  Herold.  Leipzig  1909. 
Fritz  Eckardts  Verlag.  281  S.  2,50  M. 
Es  handelt  sich  in  diesem  sinnigen  Buche  nicht  nur  um  eine  gute  Auswahl 
von  Kindergedichten  für  Erwachsene,  es  kommt  vielmehr  das  ganze  Leben  des 
Kindes  in  künstlerisch  geschlossener  Entwicklung  zur  Darstellung:  von  den  Tagen 
der  Hoffnung  an  bis  zum  frühen  Tode  und  darüber  hinaus,  wenn  die  Kleinen  als 


Ausgewählte  Schriften  des  Lucian,  angez.  von  H.  Ziemer.  553 

glückselige  Engel  sich  auf  Blütenästen  schaukeln  und  abends  goldene  Sternlein 
schnitzen.  Der  letzte  Abschnitt  ,0  wüßt'  ich  doch  den  Weg  zurück"  spiegelt  das 
Heimweh  nach  der  Kinderzeit  wider.  —  Es  ist  eine  eigenartige  Idee,  dieser  Gang 
durchs  Kinderland  in  Begleitung  der  besten  deutschen  Dichter  —  zugleich  auch  eine 
literar-historisch  interessante  Aufgabe.  Denn  das  Kinderleben  ist  erst  spät  zur  Geltung 
gekommen  in  unserer  Lyrik.  Der  gemütvolle  naive  Matthias  Claudius  beginnt  den 
Reigen  und  erst  die  nachromantische  Zeit  (Chamisso,  Eichendorff,  Rückert)  setzte 
mehr  und  mehr  ein,  bis  die  Moderne  in  vollen  Klängen  die  Poesie  des  Kinderdaseins 
singt.  Hier  finden  wir  die  Namen  Detlev  von  Liliencron,  Otto  Ernst,  Gustav  Falke, 
Carl  Busse,  Otto  Haendler,  Hans  Benzmann,  Albert  Geiger,  Paul  Barsch,  Rudolf 
Presber,  Adolf  Ey,  Jakob  Loewenberg,  Paul  Heyse,  Anna  Ritter,  Börries  von  Münch- 
hausen,  Wilhem  Langewiesche,  Frida  Schanz,  Adolf  Holst,  Fritz  Lienhard,  Gustav 
Schüler  und  den  Herausgeber  Theodor  Herold,  der  ja  selbst  ein  ansprechender 
Dichter  ist  und  deshalb  mit  gutem  Geschmack,  wie  das  vorliegende  Büchlein  zeigt, 
zu  wählen  weiß. 

Berlin.  A.  Matthias. 


Ausgewählte  Schriften  des  Lucian.    Erklärt  von  J.  Sommerbrodt.   2.  Bändchen: 

Nigrinus.  Der  Hahn.  Icaromenippus.  3.  Aufl.  Neu  bearbeitet  von  Rudolf  Helm. 

Berlin  1908.  Weidmannsche  Buchhandlung.  IX  u.  135  S.    8".    1,80  M.    Haupt- 

Sauppesche  Sammlung. 

Die  Ausgaben  der  Haupt -Sauppeschen  Sammlung  des  Weidmannschen  Verlages 

—    auch   die  Neuauflagen    —   sind   sich    seit  Jahrzehnten    in    ihrem    Charakter 

im  wesentlichen  treu  geblieben:  sie  sind  keine  wirklichen  Schülerausgaben,   die 

dem  Schüler  in  literarischer,  sprachlicher  und  sachlicher  Hinsicht  das  Verständnis 

des  Schriftstellers   erleichtern,   obwohl   sie  philologisch   beanlagten  Köpfen   stets 

willkommen  waren,  sondern  wollen  mehr  den  jungen  Studierenden  und  dem  Lehrer 

dienen.    Das  gilt  auch  von  dieser  Lucianausgabe  R.  Helms. 

Der  frühere  Herausgeber  freilich,  J.  Sommerbrodt,  hatte  sich  die  Lektüre  dieses 
Bändchens  in  der  Sekunda  des  Gymnasiums  gedacht,  und  die  in  ihm  enthaltenen 
Schriften  sind  auch  mehrfach  in  dieser  Klasse  früher  gelesen  worden.  Heute  aber,  wo 
Herodot,  Lysias  oder  Xenophon  die  Prosalektüre  dieser  Klasse  ausmachen,  ist  für 
Lucian  kaum  noch  Raum,  es  müßte  denn  das  bis  jetzt  noch  vereinzelt  auftauchende 
Bestreben  der  Modernisierung  der  Lektüre  siegreich  vordringen.  Dieses  Streben, 
an  die  Stelle  der  altklassischen  Autoren  im  Griechischen  die  hellenistischen  und  im 
Lateinischen  z.  B.  an  Stelle  Ciceros  den  jüngeren  Plinius  zu  setzen,  hat  ja  in 
Gymnasialkreisen  sich  bereits  erfolgreich  betätigt.  Aber  wer,  wie  in  diesem  Falle, 
vor  die  Wahl  gestellt  wird,  das  neue  Gute  gegen  das  alte  und  bewährte  Bessere 
einzutauschen,  wird  lieber  beim  Alten  bleiben. 

Man  könnte  überhaupt  auch  kaum  dazu  raten,  die  in  dieser  Ausgabe  von 
Sommerbrodt -Helm  vereinigten  Schriften  in  einer  zweiten  Klasse  lesen  zu  lassen, 
dazu  sind  sie  inhaltlich  zu  schwer:  der  Nigrinus  ist  aus  pädagogischen,  der  Hahn 
aus  didaktischen  Gründen  nicht  zu  empfehlen,  und  der  Icaromenippus,  die  Parodie  der 
menippeischen  Satire,  interessiert  mehr  den  Philologen.    Eher  würde  der  Traum  und 


554  H.  Suchier,  Les  Voyelles  Toniques  Du  Vieux  Frangais  usw., 

Charon  sich  eignen,  die  neuerdings  in  einer  billigen  Schulausgabe  von  F.  Pichlmayr 
herausgegeben  worden  sind,  doch  bietet  diese  wiederum  dem  Schüler  zu  wenig. 

Helms  Ausgabe  zeugt  von  umfassender  wissenschaftlicher  Arbeit.  Von  Sommer- 
brodts  Werken  ist  so  gut  wie  nichts  stehen  geblieben.  Der  Kommentar  hat  eine 
ganz  andere  Gestalt  gewonnen :  er  ist  nicht  nur  wesentlich  erweitert,  sondern  auch 
inhaltlich  neugeschaffen  worden,  und  das  geschieht  namentlich  in  den  sachlichen 
Erklärungen,  die  bei  Sommerbrodt  zurücktraten.  Nun  ist  allen  Anforderungen 
genügt,  Wort-  und  Sacherklärung  gleichmäßig  berücksichtigt,  auch  das  Grammatische 
mit  Hinweis  auf  Kühner- Blaß- Gerth  erklärt  worden.  Für  den  Nigrinus  mit  seinen 
bunten  Kulturbildern  aus  den  verschiedenen  Kreisen  des  römischen  Lebens  sind 
mit  Recht  Parallelen  aus  der  römischen  Literatur  herangezogen  neben  Hinweisen 
auf  die  Abhängigkeit  des  Ausdrucks  von  Piaton;  am  zahlreichsten  jedoch  sind  die 
Parallelen  aus  Lucians  eigenen  Schriften,  der  bekanntlich  nur  zu  oft  sich  wieder- 
holt. So  bietet  der  Kommentar  viel  des  Lehrreichen  und  Interessanten,  ja  Helm 
ist  oft  gesprächiger  als  es  nötig  war.  Um  so  mehr  fällt  es  auf,  daß  S.  24,2  die 
Stelle  Kap.  22  Schluß  evtot  |x^v  ^ap,  xh  xatvoxatov,  ou8s  voosiv  o;(oXaCouatv  nur 
von  der  Erklärung  begleitet  ist:  „haben  nicht  einmal  Zeit  krank  zu  sein,  weil  sie 
ihren  Klientenpflichten  nachkommen  müssen."  Hier  wäre  die  Parallele  Kaiser 
Wilhelms  L  am  Platze  gewesen. 

Lucian  hat  überhaupt  bei  Helm  ein  ganz  anderes  Gesicht  bekommen  als  bei 
Sommerbrodt,  und  das  spiegelt  sich  auch  in  den  Anmerkungen  wider.  Die  hohe 
Meinung,  die  man  noch  zu  Sommerbrodts  Zeit  von  diesem  Schriftsteller  hatte,  ist 
nach  den  Forschungen  der  letzten  Jahrzehnte  verflogen:  aus  dem  Kämpfer  für 
geistige  Freiheit,  dem  Feinde  der  Dunkelmänner,  des  Dünkels  und  der  Schein- 
heiligkeit, dem  strengen  Moralisten  ist  nun  der  sophistische  Freigeist  mit  seinem 
allerdings  glänzenden  Redetalent,  der  geistreiche  Kopf  mit  seinem  Talent  für  Witz 
und  Satire  geworden;  statt  des  früher  überschätzten  Geisteshelden  und  Eiferers 
sehen  wir  nun  nach  der  Auffassung  Helms  einen  uns  menschlich  näher  gerückten 
witzigen  und  losen  Schalk  vor  uns,  der  uns  einen  Einblick  in  die  geistige  Tätigkeit 
des  griechischen  Volkes  und  in  seine  Eigenart  eröffnet,  der  sich  lohnt.  Zu  dieser 
besseren  Erkenntnis  des  Autors  hat  R.  Helm  selbst  sehr  viel  schon  durch  seine 
früheren  Schriften  beigetragen,  und  diese  von  ihm  veranstaltete  treffliche  Ausgabe 
leistet  alles  Nötige  zum  richtigen  Verständnis  des  Satirikers  von  Samosata  und 
seiner  drei  hier  vereinigten  Schriften. 

Kolberg.  H.  Ziemer. 

Suchier,  Hermann,  Les  Voyelles  Toniques  Du  Vieux  Fran^ais,  Traduction 

De  L'Allemand,  Augment^e  D'Un   Index   Et   D'Un   Lexique   Par  Gh. 

Guerlin  De  Guer,  Paris  1906.    Honor^  Champion.    230  S.    S». 

Es  wird  den  Franzosen  im  allgemeinen  schwer,  den  großen  Anteil  zu  erkennen 

und  anzuerkennen,  den  deutscher  Forschungsgeist  an  der  Begründung  und  dem 

Ausbau  der  romanischen  Philologie  hat,  und  sie  verschließen  gerne  das  Auge  vor 

der  unbequemen  Tatsache,  daß  die  romanische  Philologie  bei  uns  seit  langen  Jahren 

eine  blühende  Wissenschaft  ist,  während  sie  im  eigenen  Lande  noch  immer  ein 

etwas   aschenbrödelhaftes  Dasein   fristet.    Das   hat   sich  noch  besonders  deutlich 


angez.  von  E.  Mackel.  555 

bei  dem  im  Jahre  1903  erfolgten  Tode  des  großen  französischen  Romanisten 
Gaston  Paris  gezeigt.  Während  dieser  ausgezeichnete  Gelehrte  seiner  Verehrung 
und  Dankbarkeit  für  seinen  Lehrer  und  Meister  Friedrich  Diez  stets  rückhalts- 
losen Ausdruck  gegeben  hat,  während  er  in  einem  seiner  Briefe  an  den  „cräateur 
et  maitre  de  la  philologie  romane'  (veröffentlicht  von  A.  Tobler  in  Herrigs  Archiv, 
Bd.  1 15,  S.  74  ff.)  von  einer  noch  anzustellenden  wichtigen,  aber  schwierigen  und 
langwierigen  Untersuchung  sagt  „mais  ce  ne  sera  pas  en  France  qu'on  entrepren- 
dra  quelque  chose  d'aussi  malais^;  nous  attendrons  cela  de  V Allemagne,"  ist  in 
all  den  Kundgebungen  auf  französischem  Boden,  die  sein  Tod  hervorrief,  von  einem 
nennenswerten  Verdienst,  das  sich  Deutschland  um  die  Pflege  der  romanischen 
Philologie  erworben  habe,  nur  herzlich  wenig  die  Rede.  Nach  ihnen  ist  es  G.  Paris, 
der  ein  für  allemal  die  Grenzen,  den  Umfang,  die  Methode  der  romanischen 
Philologie  festgelegt,  der  Frankreich  die  primaute  dans  les  ätudes  romanes  ver- 
schafft, der  die  Wissenschaft  der  altfranzösischen  Sprache  und  Geschichte  zu  einer 
„conquite  frariQaise"  gemacht  hat,  wie  es  in  der  Rede  heißt,  die  kein  geringerer 
als  Chaumi^,  der  damalige  ministre  de  V instruction  publique,  bei  Gelegenheit  des 
Leichenbegängnisses  von  G.  Paris  gehalten  hat. 

Wir  sind  nun  aber  in  der  glücklichen  Lage,  nicht  nötig  zu  haben,  mit  Worten 
gegen  Worte  zu  kämpfen.  Wir  können  einfach  auf  die  große  Zahl  von  Werken 
deutscher  Romanisten  hinweisen,  die  zur  Hebung  und  Befruchtung  der  romanistischen 
Studien  in  Frankreich  ins  Französische  übersetzt  worden  sind.  Und  das  sind  nicht 
nur  grundlegende  Gesamtdarstellungen,  sondern  auch  Einzeluntersuchungen  wie 
die  Haases  über  die  französische  Syntax  des  18.  Jahrhunderts  oder  D.  Behrens' 
Bibliographie  der  Galloromanischen  Mundarten. 

Unter  den  deutschen  Romanisten  nun,  deren  Schriften  die  Ehre  der  Übersetzung 
ins  Französische  zuteil  geworden  ist,  steht  Hermann  Suchier  in  der  ersten 
Reihe.  Zu  der  Übersetzung  seiner  Darstellung  der  französischen  und  provenzalischen 
Sprache  und  ihrer  Mundarten  in  Gröbers  Grundriß  durch  P.  Monet  (1891),  zu  der 
Übersetzung  seiner  Ausgabe  von  Aucassin  et  Nicolete,  die  jetzt  nur  noch  in  dem 
französischen  Gewände  weitererscheinen  wird,  das  ihr  Counson  gegeben  hat, 
ist  nun  noch  die  Übersetzung  des  1.  Teils  der  großangelegten  altfranzösischen 
Grammatik  getreten,  der  im  Jahre  1893  erschienen,  aber  bislang  zu  aller  Bedauern 
ohne  Fortsetzung  geblieben,  ist.  Der  Übersetzer,  der  seinem  Buche  den  Titel 
»Les  Voyelles  Toniques  Du  Vieux  Fran^ais"  gegeben  hat,  Gh.  Guerlin 
de  Guer,  ist  kein  Neuling  auf  dem  Gebiete  der  romanischen  Philologie;  er  hat  sich 
durch  seine  mannigfachen  Arbeiten  über  die  normannische  Mundart  in  alter  und 
neuer  Zeit  bereits  einen  guten  Namen  gemacht.  So  ist  er  mit  gründlichen  Kennt- 
nissen an  die  Übersetzung  herangegangen,  und  das  ist  ihm  sehr  zustatten  ge- 
kommen. Er  begnügt  sich  nicht  damit,  seine  Vorlage  wortgetreu  und  sinngemäß 
zu  übersetzen.  Abgesehen  davon,  daß  er  als  hochwillkommene  Zugaben  sowohl 
ein  Verzeichnis  der  benutzten  altfranzösischen  Texte  als  auch  ein  Verzeichnis  der 
besprochenen  Wörter  hinzufügt,  erweitert  er  auch  den  Text  selbst  durch  kurze, 
aber  wertvolle  Zusätze,  die  er  aus  den  seit  1893  erschienenen  Veröffentlichungen 
schöpft  und  durch  die  es  ihm  gelingt,  Suchiers  Teildarstellung  der  altfranzösischen 
Schriftsprache  auf  den  heutigen  Stand  der  Forschung  zu  heben.    In  diesem  Sinne 


556    H.  Suchier,  Les  Voyelles  Toniqu€s  Du  Vieux  Fran^ais  usw.,  angez.  v.  E.  Mackel. 

sind  besonders  G.  Paris'  schöne  Ausgabe  von  Ambroise,  tEstoire  de  la  guerre 
sainte  vom  Jahre  1897  und  die  neuen  Ausgaben  der  Marie  de  France  heran- 
gezogen worden. 

Hat  er  so  Suchiers  Text  sachlich  bereichert,  so  ist  er  auch  mit  Erfolg  bemüht 
gewesen,  ihm  eine  schöne  Form  zu  geben.  Da  Suchier  mit  peinlicher  Genauigkeit 
arbeitet  und  wo  es  geht,  auf  die  Schreibung  der  Urkunden  und  Handschriften 
selbst  zurückgeht,  so  ist  die  Lektüre  des  Buches  recht  mühsam.  Guerlin  de  Guer 
hat  nicht  nur  möglichst  genau,  er  hat  auch  mit  dem  jedem  gebildeten  Franzosen 
eigenen  Streben  nach  Klarheit  und  Deutlichkeit  des  Ausdrucks  möglichst  lichtvoll 
und  durchsichtig  übersetzt.  Es  ist  reizvoll,  den  leichten  Änderungen  nachzugehen, 
mit  denen  er  Unebenheiten  und  Undeutlichkeiten  des  Ausdruckes  in  der  Vorlage 
beseitigt,  so  wenn  er  statt  Suchiers 

„trotz  Romania  VII,  125"  (S.  25)  sagt  „quoiqu'en  dise  G.  Paris,  Rom.  VII, 

125"  (S.46); 
statt:   „Die  älteren  Dichtungen  binden  noch  iär  in  devier,  mercWr,  lapiär, 

criSr,  obUSr,  mariär  mit  e,  so  Wace  und  noch  G.  Giere"  (S.  23  u.) 

„Les  ancienspoites,  depuis  Wacejusqu'ä  G.  le  Clerc,  fönt  encore  assoner 

—  ie'r  avec  e  dans  devier  etc.,"  (S.  43); 
statt:    „Besonders  Worte  der  zweiten  Gattung  schwanken  oft  in  den  Texten" 

(S.  45)    „Les  mots  de  la  seconde  catägorie,  surtoat,  prdsentent  souveni 

les  deux  formes  dans  les  textes"  (S.  85)  usf.  usf. 
Es  ist  nicht  minder  reizvoll  zu  sehen,  wie  durchsichtig  zu  lang  geratene  Sätze 
der  Vorlage  durch  kluge  Zerlegung  gestaltet  werden.  Es  sei  mir  gestattet,  das 
wenigstens  an  einem  Beispiele  zu  zeigen.  Der  entschieden  unübersichtlich  gebaute 
Satz  S.  2,  Anm.  3  bei  Suchier:  „In  §  3  ist  streng  unterschieden  zwischen  der 
ursprünglichen  Sprache  der  Schriftsteller,  die,  auch  wenn  sie  durch  die  Schreiber 
in  den  erhaltenen  Handschriften  vielfach  verändert  wurde,  doch  durch  beweisende 
Reime  und  durch  das  Metrum  zu  ermitteln  ist,  —  und  der  überlieferten  Sprache 
der  Handschriften  und  Urkunden,  die,  wenn  sie  nicht  verschiedene  Mundarten 
untereinander  mengt,  im  allgemeinen  ihrem  ganzen  Wortlaut  nach  die  dem  Ort 
und  der  Zeit  der  Niederschrift  entsprechende  Lautform  zeigt"  lautet  bei  Guerlin 
de  Guer  (S.  4) :  Dans  le  §  3,  on  distinguera  avec  soin  la  langue  qu'dcrivaient  les 
auteurs  mime  de  celle  qui  nous  est  conserväe  par  les  scribes  dans  les  manuscrits 
et  les  chartes.  Quand  mime  la  premiere  aurait  subi,  dans  les  manuscrits,  de 
nombreuses  transformations  du  fait  du  scribe,  eile  peut  itre  reconstruite  gräce 
ä  des  rimes  caractäristiques  et  gräce  au  metre.  La  seconde,  quand  il  n'y  a  pas 
mdange  de  dialectes,  presente,  en  giner al,  des  formes  phonitiques  qtii  correspondent 
au  temps  et  au  Heu  oü  le  document  a  iti  ecrit. 

Trotz  einiger  Druckfehler,  die  aufgestoßen  sind,  darf  auch  der  Druck  als  sorg- 
fältig bezeichnet  werden,  und  so  dürfen  wir  alles  in  allem  sagen,  daß  auch  der 
deutsche  Student  mit  Vorteil  zu  der  Übersetzung  greifen  wird.  Wir  aber  freuen 
uns,  daß  Suchiers  Torso  in  seinem  Schüler  Guerlin  de  Guer  einen  Übersetzer, 
und  zwar  solch  einen  Übersetzer  gefunden  hat.  Wie  groß  würde  erst  unsere  Freude 
sein,  wenn  es  dem  erfolgreichen  Lehrer  so  Vieler  noch  vergönnt  wäre,  den  Torso 
2u  einem  vollständigen  Meisterwerke  auszugestalten. 

Stettin.  E.  Mackel. 


C.  O.  Thulin,  Die  Etruskische  Disziplin,  angez.  von  A.  Kannengießer.  557 

Thulin,  C.  O.,  Die  Etruskische  Disziplin.    1.  Die  Blitzlehre  (Göteborgs  Hög- 
skolas  Arsskrift  1905,  V.).   Göteborg.    Wettergren  &  Kerber.  XV  u.  128  S.   gr.  8». 

2  Kr.  50  öre.    2.  Die  Haruspicin   (Göteborgs  Högskolas  Arsskrift  1906,  I).    Mit 

3  Tafeln.    Ebenda.    54  S.  gr.  8».    1  Kr.  25  öre. 

Thulin,  C.  O.,  Die  Götter  des  Martianus  Capella  und  die  Bronzeleber  von 
Piacenza  (Religionsgeschichtliche  Versuche  und  Vorarbeiten,  hrsg.  von  A.  Diete- 
rich und  R.  Wünsch,  Bd.  III,  Heft  1).  Mit  2  Abbildungen  und  1  Tafel.  Gießen 
1906.  A.  Töpelmann.  92  S.  gr.  8°.  2,80  M. 
Die  letzten  Jahre  haben  uns  eine  Reihe  wertvoller  Arbeiten  über  den  Kult 
und  die  sakrale  Disziplin  der  Etrusker  von  C.  O.  Thulin  gebracht.  Er  hat  in  den 
ersten  beiden  der  obigen  Schriften  alles,  was  uns  die  Überlieferung  über  die  Blitz- 
lehre und  die  Haruspicin  der  Etrusker  bietet,  noch  einmal  mit  großer  Sorgfalt  wieder 
gesammelt  und  noch  manches  beibringen  können,  was  in  den  „Etruskern"  von 
Müller-Deecke  fehlte.  Eben  so  große  Anerkennung  wie  die  Sorgfalt  in  der  Samm- 
lung des  Materials  verdient  die  auf  Grund  desselben  gegebene  Darstellung  und 
kritische  Behandlung  des  Gegenstandes.  Auf  Einzelheiten  der  etruskischen  Dis- 
ziplin hier  näher  einzugehen  kann  ich  um  so  mehr  unterlassen,  als  jetzt  von  Thulin 
selbst  ein  Artikel  über  die  Etrusca  disciplina  im  11.  Halbband  von  Pauly-Wisso- 
was  Realenzyklopädie  vorliegt  (Spalte  725  ff.).  Von  allgemeinerem  Interesse  sind 
die  Resultate,  welche  Thulins  Untersuchungen  für  die  sogenannte  etruskische  Frage 
ergeben  haben  und  die  er  in  den  einleitenden  Worten  mitteilt :  „Für  alle  Zweige 
der  etruskischen  Divination  gibt  es  bei  den  Babyloniern  Anhaltspunkte.*  Sowohl 
in  der  Blitzlehre  als  besonders  in  der  Haruspicin  gehen  die  Übereinstimmungen 
bei  den  Etruskern  und  Babyloniern  so  weit,  daß  eine  Übernahme  babylonischer 
Anschauungen  seitens  der  Etrusker  auf  dem  Wege  bloßer  Handelsbeziehungen 
kaum  denkbar  ist;  vielmehr  müssen  schon  voritalische  Berührungen  der  Etrusker 
mit  dem  Orient  stattgefunden  haben.  ,Mit  der  von  Lehmann  (Aus  und  um  Kreta 
in  Klio,  IV  S.  387  ff.)  ausgesprochenen  Annahme,  daß  die  Etrusker  vom  Osten 
des  Mittelmeeres  nach  Italien  gekommen  sind,  verträgt  sich  zweifelsohne  am 
besten  das  orientalisch-griechische  Gepräge  dieses  Volkes."  Zu  dem  nämlichen 
Ergebnis  der  östlichen  Herkunft  der  Etrusker  haben  die  meisten  neueren  Unter- 
suchungen über  die  etruskische  Frage  geführt.  Die  archäologischen  Gründe,  welche 
dafür  sprechen,  sind  neuerdings  eingehend  von  Körte  in  dem  Artikel  „die  Etrus- 
ker" in  dem  schon  erwähnten  11.  Halbband  von  Pauly-Wissowas  Realenzyklopädie 
eingehend  gewürdigt  worden.  Den  sprachlichen  Beweis,  daß  die  Etrusker  zu  der 
vorgriechischen,  hettitischen  Bevölkerung  Kleinasiens  und  Kretas  gehören,  habe  ich 
im  vorjährigen  Programm  des  Gelsenkirchener  Gymnasiums  zu  erbringen  begonnen, 
indem  ich  darlegte,  daß  das  für  die  vorgriechischen  Eigennamen  charakteristische 
vd-Suffix  auch  in  den  etruskischen  Eigennamen  massenweis  Verwendung  gefunden  hat. 
Die  letzte  der  oben  verzeichneten  Schriften  „Die  Götter  des  Martianus 
Capella  etc."  hat  zunächst  das  Verdienst,  auf  Grund  einer  von  Körte  vorge- 
nommenen Revision  die  auch  bei  Deecke  noch  vielfach  vorhandenen  Fehler  in  der 
Wiedergabe  der  Götternamen,  die  auf  der  Bronzeleber  von  Piacenza  stehen,  zu 
berichtigen.  Insbesondere  ist  nunmehr  festgestellt,  daß  in  der  2.  Region  der  Leber 
nicht  mar  (Mars),  sondern  mae  (Malus)  steht.     Einen  Gott  Malus  verehrte  man 


558     R-  Raithel,  Maturitätsfragen  aus  der  allgem.  Geschichte,  angez.  v.  W.  Meiners. 

nach  Macrobius  (Sat.  I,  12,  17)  in  Tusculum,  in  ihm  haben  wir  zweifelsohne  einen 
etruskischen  Gott  zu  sehen,  nach  welchem  der  Monat  Mai  benannt  worden  ist. 

Die  auf  der  Bronzeleber  stehenden  30  Götternamen  und  ihre  Verteilung  auf 
die  16  Randregionen  und  24  Innenregionen  der  Leber  vergleicht  nun  Thulin  nach 
dem  Vorgange  von  Deecke  und  anderen  mit  den  Göttern,  welche  Jupiter  bei  Mar- 
tianus  Capeila  (De  nuptiis  Mercurii  et  Philologiae  I,  41—61)  aus  den  16  Himmels- 
regionen  zusammenruft,  um  über  die  projektierte  Heirat  des  Merkurius  und  der 
Philologia  zu  beraten.  Diese  Vergleichung  begegnet  erheblichen  Schwierigkeiten, 
weil  bei  Martian  eine  Verschiebung  gegenüber  seiner  Quelle  stattgefunden  hat; 
zwar  läßt  sich  eine  Anzahl  von  Götternamen  beider  Listen  ohne  weiteres  identi- 
fizieren, so  ani— Janas,  uni—Juno,  fufluns— Dionysos,  ne^uns—Neptunus;  bei 
andern  dagegen  ist  man  auf  mehr  oder  weniger  unsichere  Kombinationen  ange- 
wiesen. Thulin  hat  nun  versucht,  die  Verschiebung  bei  Martian  genau  festzustellen 
und  dann  die  Götter  desselben  mit  denen  der  Leber  in  Einklang  zu  bringen.  Zu 
völlig  sichern  Ergebnissen  ist  er  dabei  trotz  Aufwendung  großen  Scharfsinns  m.  E. 
noch  nicht  gelangt;  aber  er  hat  doch  für  eine  Reihe  bisher  unzureichend  erklärter 
etruskischer  Götternamen  wahrscheinliche  Deutungen  gegeben,  die  ich  hier  im 
einzelnen  nicht  weiter  verfolgen  will.  Als  völlig  gelungen  erachte  ich  den  Beweis; 
daß  Martian  eine  astrologische  Elemente  und  etruskische  Götterlehre  vereinigende 
Quelle  benutzt  hat  und  daß  diese  Quelle  Nigidius  Figulus  ist. 

Gelsenkirchen.  A.  Kannengießer. 

Raithel,   R.,   Maturitätsfragen  aus  der   allgemeinen    Geschichte.    Zweite 
veränderte  Auflage.    Wien  und  Leipzig  1908.    Wilh.  Braumüller.    XVI  u.  254  S. 
80.    geb.  3  M. 
Derselbe,  Maturitätsfragen   aus   der  vaterländischen  Geschichte.    Wien 
und  Leipzig  1908.    Wilh.  Braumüller.    VIII  u.  74  S.    geb.  1,40  M. 
Wie  v.  Filek-Wittinghausen  (vgl.  Monatschrift  VI,  S.  341)  an  seine  Maturitäts- 
fragen aus  der  allgemeinen  Geschichte  solche  aus  der  österreichischen  Ge- 
schichte und  Vaterlandskunde  anschließt,  so  hat  auch  Raithel  nunmehr  in  einem 
besonderen  Büchlein   die  vaterländische  Geschichte,   der  an  den  österreichischen 
Gymnasien   im  1.  Semester  der  8.  Klasse  als  Abschluß  des  Geschichtsunterrichts 
eine  besondere,   zusammenhängende  Darstellung  gewidmet  wird,   unter  denselben 
Gesichtspunkten  und  in  derselben  Absicht  behandelt,   die  bei  der  Abfassung  der 
nunmehr  in   zweiter  Auflage  vorliegenden  „Maturitätsfragen  aus  der  allgemeinen 
Geschichte"  zugrunde  lagen.    Unter  Bezugnahme  auf  das,  was  über  dieses  Buch 
bei  Besprechung  seiner  ersten  Auflage  (vgl.  Monatschrift  VII,  S.  278)  gesagt  worden 
ist,   begnüge  ich   mich   an  dieser  Stelle  damit,   auf  die  beiden  genannten  Werke 
hinzuweisen. 

Junge,  Fr.,  Leitfaden   für   den  Geschichtsunterricht   in  Real-,  höheren 

Bürger-   und  Mädchenschulen.    Vierte,   verbesserte  Auflage,   besorgt   von 

Rudolf  Lange.    Berhn  1907.    Franz  Vahlen.    XVIII  u.  284  S.    8».    geb.  3  M. 

Der  Verlag  hat  leider  meiner  Bitte  um  Zusendung  eines  Exemplars  der  dritten 

Auflage  des  Buches  nicht  entsprechen  können;  ich  muß  daher  auf  den  Vergleich 


Fr.  Junge,  Leitfaden  für  den  Geschichtsunterricht  usw.,  angez.  von  W.  Meiners.    559 

dieser  letzten,  nunmehr  vergriffenen  Auflage  mit  der  vorliegenden  verzichten.  Der 
Verfasser  nennt  diese  selbst  eine  „Umarbeitung",  erklärt  selbst,  daß  die  dritte  Auflage 
„auch  abgesehen  von  vielfachen  Berichtigungen  im  einzelnen  stark  verändert  und 
auch  verbessert  worden  sei"  (S.  VI).  Den  Löwenanteil  der  Änderungen,  so  darf 
man  nach  S.  VI  des  Vorworts  annehmen,  fällt  der  alten  Geschichte  oder,  wie  es 
im  Texte  selbst  (S.  2)  wenig  geschichtlich  gedacht  heißt,  der  Geschichte  der  „vor- 
germanischen"  Völker  zu,  der  ja  durch  die  seit  der  letzten  Neubearbeitung  er- 
schienenen Lehrpläne  in  der  Quarta  der  Realschule  eine  Stunde  mehr  zugewiesen 
worden  ist.  Auf  sie,  das  ist  auf  etwa  V?  des  Ganzen  will  ich  daher  meine  Be- 
sprechung beschränken. 

Das  Buch  ist  durchaus  (auch  in  seinen  andern  Teilen)  als  Lesebuch  oder 
besser  als  Nachlesebuch  gedacht,  die  Darstellung  demnach  im  Stile  des  Lesestückes 
gehalten.  Wer  sich  mit  diesem  Ziele  eines  Schulbuches  einverstanden  erklärt,  die 
Gefahr  gering  anschlägt,  die  es  notwendigerweise  im  Gefolge  hat,  nämlich  den 
Schüler  zu  gedankenlosem  Auswendiglernen  zu  verleiten,  der  wird  in  dem  vor- 
liegenden Buche  auf  seine  Rechnung  kommen:  die  Sprache  ist  flüssig,  der  Ton 
und  Inhalt  im  ganzen  dem  kindlichen  Verständnis  angepaßt.  Freilich  ist  die 
Phrase  nicht  vermieden  worden.  Die  Zahl  der  schmückenden  Beiwörter  ist  zu 
groß:  man  vergleiche  z.  B.  auf  der  einen  S.  29  die  „drohende"  Wetterwolke,  das 
„starke"  Heer  „auserlesener"  Krieger,  die  „heldenmütigen"  Bürger,  „alle"  ver- 
lockenden Anträge  des  Mardonius,  den  „mächtigen"  Feind,  den  „tapfersten"  Wider- 
stand, die  „gänzliche"  Besiegung  der  Perser,  die  „ruhmreichen"  Kämpfe,  den 
„streng  rechtlichen"  Aristides,  der  erst  2  Seiten  vorher  als  solcher  gekennzeichnet 
worden  ist  und  sich  auf  S.  30  noch  einmal  dasselbe  Lob  gefallen  lassen  muß, 
endlich  neue,  „mächtige"  Mauern.  Nichts  als  Phrasen  für  den  Quartaner  ferner 
sind  Sätze,  wie  wir  sie  in  §  37  finden,  wo  es  heißt:  „Die  Bildnerei  brachte  noch 
manches  treffliche  Werk  hervor",  „Xenophon  steht  viel  tiefer"  (als  Thukydides), 
„An  Gedankentiefe,  wenn  auch  nicht  an  Schönheit  der  Sprache,  steht  (dem  Plato) 
Aristoteles  gleich",  oder  wenn  im  §  62  gar  Tacitus  dem  Verständnis  des  Quartaners 
nähergebracht  wird  durch  seine  Würdigung  als  eines  „der  größten  Meister  des 
Stils  aller  Zeiten,  der  in  seiner  Kaisergeschichte  jede  Saite  des  Herzens  mit  un- 
nachahmbarer  Gewalt  zu  berühren  weiß".  Der  Schüler  will  die  Sache,  nicht  das 
Wort. 

Noch  schwerwiegender  ist  eine  zweite  Schwäche,  die  hier  und  da  vielleicht 
durch  die  Rücksichtnahme  auf  das  kindliche  Alter  erklärt  werden,  aber  nicht  ent- 
schuldigt werden  kann.  Es  stoßen  uns  in  der  Darstellung  der  alten  Geschichte 
streckenweise  zahlreiche  sachliche  Ungenauigkeiten  und  Fehler  sowie  Schiefheiten 
des  Ausdrucks  auf.  So  wenn  §  13  die  spanischen  und  ungarischen  Steppen  ganz 
außer  acht  gelassen,  §  14  Parnaß  und  Taygetus  an  Höhe  „wenig"  vom  Olymp 
unterschieden  und  etwas  später  Landschaften  und  Staaten  trotz  der  unmittelbar 
vorhergehenden  gegenteiligen  Ausführungen  gleich  gesetzt  werden.  §  15  heißt  es: 
„die  Griechen  gehörten  dem  arischen  Sprachstamme  (1)  an".  Lykurg  erscheint 
(§  20)  als,  „ein  Mann  aus  königlichem  Geblüt,  der  für  einen  unwürdigen  König 
die  Regierung  führte",  daher  auch  die  sogenannte  lykurgische  Verfassung  viel  zu 
sehr  als  einheitliche  Schöpfung.    Die  Messenier  wurden  nicht  bloß  Heloten;  die 


560  Deutsche  Gedenkhalle.  Bilder  aus  der  vaterländischen  Geschichte, 

Periöken  waren  nicht  bloß  Bauern.  Der  §  21  stellt  Tyrtaeus,  Alkaeus,  Sappho, 
Anacreon,  Arion,  Ibykus  und  wohl  gar  Homer  als  Zeitgenossen  dar;  wie  aber  die 
Pythia  durch  „aus  schmalem  Erdspalte"  aufsteigende  »betäubende  Dämpfe"  „zu 
weissagender  Rede  begeistert"  werden  konnte,  vermag  sich  der  Quartaner  nicht  zu 
denken.  In  §  22,2  erscheint  die  griechische  Kolonisation  von  etwa  750—550  als 
zeitliche  und  sachliche  Folge  der  Tyrannenherrschaften.  In  §  23  wird  weder  die 
wirtschaftliche  noch  die  politische  Bedeutung  Solons  klar;  über  die  Tätigkeit  von 
Archonten,  Rat  und  Volksgericht  verliert  der  Verfasser  kein  Wort;  falsch  ist,  daß 
die  „Schiffer,  Kaufleute  usw.  mit  geringem  oder  keinem  Grundbesitz"  die  vierte 
Klasse  gebildet  haben;  falsch  auch,  daß  Solon  den  Areopag  geschaffen  hat,  „einen 
höchsten  Gerichtshof,  der  über  alle  schweren  Vergehen  abzuurteilen  und  zugleich 
die  oberste  Aufsicht  über  die  Sitten  und  den  Staat  zu  führen  hatte".  Wieso  Kleisthenes 
die  solonische  Verfassung  „weiter  fortgebildet"  und  in  Athen  „die  Volksherrschaft 
begründet"  hat,  erfahren  wir  nicht.  Nach  §  25  muß  dem  Schüler  als  ein  Merkmal  demo- 
kratischer Gesinnung  erscheinen,  „die  Macht  auf  eine  starke  Flotte  zu  gründen  und  auf 
die  Entwicklung  von  Handel  und  Industrie  das  größte  Gewicht  zu  legen",  als  das  der 
aristokratischen,  „vor  allem  Landbau  zu  treiben  und  die  Landmacht  zu  stärken".  Aus 
§  28  endlich  notiere  ich  noch  zwei  Gedankenreihen,  von  denen  jede  mehrere  Fehler 
enthält.  „Als  sich,"  so  heißt  es,  „Pausanias  als  Oberanführer  durch  seinen  Hoch- 
mut allgemein  verhaßt  gemacht  und  dazu  noch  verräterische  Unterhandlungen  mit 
dem  Perserkönig  angeknüpft  hatte,  übertrugen  die  Griechen  den  Athenern  für  die 
Fortsetzung  des  Krieges  den  Oberbefehl.  Sparta  fügte  sich  zunächst  in  stillem 
Groll",  und  eine  Seite  weiter:  „Athen  mußte  gewaltige  Anstrengungen  machen,  um 
sich  aller  seiner  Feinde  zu  erwehren.  In  Ägypten  kämpfte  es  gegen  die  Perser, 
in  Griechenland  nicht  nur  gegen  Sparta,  sondern  auch  gegen  Korinth,  Ägina  und 
Böotien."  Die  Fehlertabelle  könnte  leicht  ergänzt  werden;  ich  begnüge  mich  mit 
ein  paar  Hinweisen  auf  die  römische  Geschichte  (z.  B.  auf  §  42,  wo  von  der  ser- 
vianischen  Mauer  und  der  servianischen  Verfassung  Verkehrtes  berichtet  wird,  und 
auf  §  43,  wo  eine  fehlerhafte  Begründung  der  Unzufriedenheit  der  Plebs  nach  510 
gegeben  wird)  und  glaube  zur  Genüge  bewiesen  zu  haben,  daß  die  angeführten 
Schwächen  des  Buches  durch  seine  Vorzüge,  zu  denen  auch  die  gelungene  Stoff- 
auswahl und  -anordnung  gehören  —  nur  die  Sagen  (§  16 — 18)  sähe  ich  gern  reinlicher 
von  der  Geschichte  geschieden  und  in  einen  besonderen  Anhang  gebracht  —  nicht 
ausreichend  gedeckt  werden.  Hoffen  wir,  daß  die  nächste  Auflage  eine 
gründlichere  Umarbeitung  der  alten  Geschichte  bringt,  damit  nicht 
durch  deren  Fehlerhaftigkeit  von  vornherein  die  Brauchbarkeit  des 
ganzen  Werkes  in  Frage  gestellt  wird. 

Deutsche  Gedenkhalle.   Bilder  aus  der  vaterländischen  Geschichte.   Schrift- 
leitung: V.  Pflugk-Hartung;  Leitung  des  illustrativen  Teiles:  v.  Tschudi.   Berlin 
und  Leipzig.    Verlagsanstalt  „Vaterland".    Groß-Folio.    ä  Liefg.  2  M. 
Die  „Deutsche  Gedenkhalle"  will  in  86  chronologisch  aneinandergereihten,  in 
sich  abgeschlossenen  Einzeldarstellungen  aus  der  Feder  von  nahezu  70  namhaften 
Fachmännern  eine  Geschichte  unseres  Vaterlandes  geben.    Das  Wort  soll  durch 
das  Bild   unterstützt  werden.    50  ganzseitige  Heliogravüren  (Größe  35  :  46  cm) 


angez.  von  W.  Meiners.  561 

sollen  in  künstlerischer  Reproduktion  die  historisch-denkwürdigsten  Gemälde  älterer 
und  neuer  Meister  vor  Augen  führen.  Dem  Inhalt  soll  die  äußere  Ausstattung 
entsprechen,  die  durch  monumental  wirkenden  Druck,  reichen  Buchschmuck  und 
Beigabe  farbenprächtiger  Kunstblätter  das  Vollendetste  bieten  soll,  was  deutscher 
Buchdruck  je  geschaffen.  Von  dem  Werk  soll  eine  Lieferungsausgabe  von  55 
Lieferungen  zu  je  2  M.  in  etwa  14  tägigen  Zwischenräumen  erscheinen. 

Zwei  Lieferungen  liegen  vor.  Sie  enthalten  außer  dem  Geleitswort  Kaiser 
Wilhelms  IL,  der  das  Protektorat  über  das  Werk  übernommen  hat,  auf  16  Seiten 
die  ersten  3  Kapitel  des  Textes:  „Die  alten  Germanen"  von  Museumsdirektor 
Schumacher,  „Römer  und  Germanen"  von  Museumsdirektor  Schuchhardt  und 
,Die  Hunnenschlacht"  vom  Schriftleiter  selbst,  dazu  die  Wiedergaben  von  Anton 
v.  Werners  Bild  „die  Eröffnung  des  Reichstags  durch  Kaiser  Wilhelm  IL  am 
25.  Juni  1888"  und  Adolph  v.  Menzels  „Begegnung  Friedrichs  II.  mit  Kaiser 
Josef  II.  in  Neisse". 

Wenn  die  folgenden  Lieferungen  halten,  was  die  beiden  ersten  versprechen, 
so  wird  die  „deutsche  Gedenkhalle"  in  Wahrheit  nach  einem  Wort  ihres  hohen 
Protektors  nach  Inhalt  und  Ausstattung  ein  „Denkmal  Deutscher  Buchkunst" 
werden,  wert  in  jeder  deutschen  Familie  seine  Stätte  zu  finden.  Auch  in  der 
Schule,  der  höheren  wie  der  niederen.  Und  das  um  so  mehr,  als  diese,  eingedenk 
des  Goetheschen  Wortes,  das  der  Kaiser  zugleich  als  Geleitwort  dem  Werke  mit- 
gegeben hat,  von  der  Schwierigkeit  „mit  den  Augen  zu  sehen,  was  vor  den  Augen 
dir  liegt",  die  Kunst  des  Anschauens  auf  unmittelbarem  und  mittelbarem  Wege 
pflegt  und  man  durch  Hineintragen  von  guten  Bildern  in  die  Schule  gleichzeitig 
ernst  macht  mit  dem  Gedanken,  diese  —  wenn  auch  in  bescheidenem  Maße  — 
zu  einer  Kunststätte  zu  machen.  Welchen  schöneren,  würdigeren  und  —  last  not 
least  —  billigeren  Schmuck  könnte  man  sich  für  unsere  Schulen  wohl  denken  als 
die  Reproduktionen  der  Geschichtsbilder  aus  unserem  Werke,  von  denen  die  beiden 
vorliegenden  geradezu  künstlerisch  wirken.  Sie,  unter  Glas  und  Rahmen,  in  die 
Klassen  und  Gänge,  um  möglichst  oft  von  allen  gesehen  zu  werden;  der  Text,  in 
schönem  Bande,  ins  Lehrerzimmer  oder  in  die  Lehrerbibliothek,  um  gelegentlich 
den  Schülern  vorgelesen  zu  werden :  führwahr  zwei  wirksame  Mittel  mehr,  um 
durch  Auge  und  Ohr  unserer  Jugend  nahe  zu  bringen,  was  unser  Volk  geleistet 
hat  und  wo  es  an  sich  hat  fehlen  lassen,  wieviel  wir  unsern  Vätern  schuldig  sind 
und  wo  wir  es  ihnen  nicht  nachmachen  sollen. 

Ich  will  mich  heute  mit  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  begnügen;  auf  den 
Inhalt  der  einzelnen  Kapitel  vergleichend  einzugehen,  gibt  wohl  die  Anzeige  weiterer 
Lieferungen,  die,  sobald  sie  erschienen  sind,  von  Zeit  zu  Zeit  erfolgen  soll,  Gelegen- 
heit. Hier  nur  noch  drei  Wünsche,  soweit  deren  Erfüllung  noch  möglich  ist.  Einer 
an  die  Verfasser:  ihren  Text  möglichst  wenig  durch  Rücksichtnahme  auf  gelehrte 
Kontroversen  zu  beschweren,  die  ein  großer  Teil  der  Leser,  auf  die  das  Werk  rechnen 
muß,  nicht  würdigt,  sondern  lieber  aus  der  ganzen  Fülle  eigenen  Wissens  heraus 
mit  Benutzung  zeitgenössischer  Autoren,  deren  Nennung  aber  nur  belastend  wirkt. 
volle,  satte  Bilder  zu  malen  von  Persönlichkeiten,  Begebenheiten  und  Zuständen, 
wie  das  von  den  Verfassern  der  drei  ersten  Bilder  ohne  Zweifel  am  besten  Pflugk- 
Hartung  gelungen  ist.    Ein  zweiter  Wunsch  an  den  Schriftleiter:  noch  besser  da- 

Mon«t»chrift  t.  hfih.  Schulen.    VIU.  Jhrg.  36 


562     Fr-  V.  Bezold,  F.  Qothein,  R.  Koser,  Staat  und  Gesellschaft  der  neueren  Zeit, 

für  zu  sorgen,  daß  Wiederholungen  vermieden  werden  (Abs.  I  von  Kapitel  III  ist 
überflüssig  mit  Rücksicht  auf  Kapitel  I  und  II),  oder  daß,  wenn  sie  erfolgen, 
wenigstens  keine  Unstimmigkeiten  entstehen  zwischen  den  verschiedenen  Dar- 
stellungen (wie  in  Kapitel  I  Andernach,  in  Kapitel  II  richtig  Rheinbröhl  und  in 
Kapitel  III  „ungefähr"  Remagen  als  Ausgangspunkt  des  obergermanischen  limes 
angegeben  wird).  Ein  dritter  Wunsch  endlich  richtet  sich  an  den  Leiter  des 
illustrativen  Teils,  nämlich  der,  daß  die  Bildbeigabe  den  Empfänger  der  jedesmaligen 
Lieferung  möglichst  in  dieselbe  Zeit  wie  der  Text  führen  möge. 

Elberfeld.  Wilh.  Meiners. 

V.  Bezold,  Fr.,  Gothein,  F.,  Koser,  R.,  Staat  und  Gesellschaft  der  neueren 
Zeit  bis  zur  französischen  Revolution  (Kultur  der  Gegenwart,  ihre  Ent- 
wicklung und  ihre  Ziele,  herausgegeben  von  Paul  Hinneberg).  Berlin  und 
Leipzig,  B.  G.  Teubner.  VI  u.  349  S.  gr.  8».  geh.  9  M.,  geb.  11  M. 
Erst  vor  kurzem  haben  wir  in  Dietrich  Schäfers  zweibändiger  Weltgeschichte 
der  Neuzeit  eine  gedankenvolle,  lebendig  geschriebene  Übersicht  der  neuzeitlichen 
Entwicklung  erhalten,  die  nach  der  Absicht  ihres  Verfassers  bei  ihrem  verhältnis- 
mäßig geringen  Umfang  nicht  die  Aufgabe  haben  sollte,  erschöpfend  über  die 
Einzeltatsachen  zu  berichten,  sondern  vielmehr  überall  das  Charakteristische  her- 
vorzuheben, die  großen  Linien  aufzuzeigen,  die  Erzählung  mit  lebhafter  Beurteilung 
der  Ereignisse  zu  verbinden.  Jetzt  haben  sich  drei  andere  namhafte  Forscher  und 
Darsteller  vereinigt,  um  das  geschichtliche  Werden  von  Staat  und  Gesellschaft  in 
der  Periode  von  Anfang  des  sechzehnten  bis  zum  Ausgang  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts zu  schildern.  Naturgemäß  tritt  in  diesem  Werke  der  Bericht  über  das 
einzelne  noch  stärker  zurück  als  bei  Schäfer.  Es  handelt  sich  um  die  innere  ge- 
schichtliche Entwicklung,  die  Entwicklung  der  politischen  und  sozialen  Ideen;  die 
geistigen  Mächte,  die  einem  jeden  Zeitalter  sein  Gepräge  geben,  sollen  in  ihrem 
Ursprung,  ihrer  Wirkung,  ihrem  Werden  und  Vergehen  dargestellt  werden.  Die 
drei  Verfasser  haben  diese  Aufgabe  in  verschiedenem  Sinne  aufgefaßt  und  zu 
lösen  versucht;  aber  jeder  von  ihnen  hat  etwas  fein  Ausgearbeitetes,  an  Ideen  und 
Anregungen  Reiches  geschaffen. 

Bezold,  der  über  „Staat  und  Gesellschaft  des  Reformationszeitalters "  handelt, 
gibt  zunächst  eine  knappe,  orientierende  Einleitung,  aus  der  ich  nur  den  gegen 
Tröltsch  gerichteten  Satz  zitiere:  „Das  16.  Jahrhundert  ist  trotz  seiner  Wieder- 
belebung der  scholastisch  -  theologischen  Spekulation,  trotz  seines  vielgestaltigen 
und  wuchernden  Aberglaubens  doch  die  Entstehungszeit  der  modernen  Aufklärung 
und  Naturwissenschaft."  Dann  schließt  sich  ein  Abschnitt  über  „Staatensystem 
und  Machtverschiebungen ",  der  eine  Übersicht  der  politischen  Ereignisse  bis  zum 
Ausgang  Karls  V.  gibt  und  nicht  nur  die  leitenden  Gesichtspunkte  kräftig  hervor- 
hebt, sondern  auch  die  führenden  Persönlichkeiten  mit  klaren  Zügen  charakterisiert. 
Es  folgt,  naturgemäß  mit  Italien  anhebend,  dem  Land,  wo  „unverhüllter  als 
anderswo  die  Verweltlichung  des  Staates  zu  tage  trat,  wo  ganz  offen  die  Macht 
zum  Selbstzweck,  die  ratio  status  zum  obersten  Gesetz  erhoben  wurde",  die  Be- 
leuchtung der  politischen  Verhältnisse  und  Theorien,  wie  sie  sich  zu  Beginn  des 
Jahrhunderts  herausgebildelt  hatten,  und  wie  sie  sich  dann  unter  dem  Einfluß  der 


angez.  von  F.  Neubauer.  563 

Reformation  weiterbildeten.  Die  Losreißung  von  der  universalen  Kirche  führt  zur 
Entstehung  von  Staatskirchen,  d.  h.  zu  einer  »neuen  Verweltlichung  des  Religiösen": 
aber  der  neu  erwachte  Glaube  an  das  freie  Recht  der  Persönlichkeit,  so  schwer  er 
sich  des  Übergewichts  des  gleichzeitig  erstarkten  Staatsgedankens  zu  erwehren 
vermag,  läßt  sich  doch  nicht  ganz  überwinden:  die  Täufer  sind  die  Väter  der 
Independenten,  und  „humanistisch  und  juristisch  geschulte  Anhänger  Calvins  sind 
es  schließlich  gewesen,  die  den  Sieg  des  Naturrechts  entschieden  haben".  Der 
Verfasser  geht  sodann  dazu  über,  „die  gesellschaftlichen  Wandlungen  und  die 
neue  Geisteskultur"  zu  schildern;  er  beginnt  mit  dem  Wirtschaftlichen;  darauf 
schildert  er  die  Erscheinungen  des  sozialen  Lebens  und  schließlich  die  ver- 
schiedenen Richtungen  des  Geisteslebens  und  die  neue  Wissenschaft.  Mit  er- 
kennbarer Liebe  verfolgt  er  die  verschiedenartigen  Äußerungen  der  damaligen 
Kultur;  und  so  erhalten  wir  ein  reiches  und  fesselndes  Bild  des  Zeitalters. 

Von  einer  wesentlich  anderen  Auffassung  aus  ist  Gothein  an  sein  Thema 
»Staat  und  Gesellschaft  des  Zeitalters  der  Gegenreformation"  herangegangen.  In 
selbstgewoUter  Beschränkung  hat  er  sich  zur  Aufgabe  gestellt,  nur  eben  die  Ten- 
denzen der  Gegenreformation  in  ihrem  Werden  und  Wirken  darzustellen;  die  ganze 
protestantische  Welt  wird  —  wenn  ich  von  wenigen  Stellen,  z.  B.  denen,  die  über 
Bacon  und  Grotius  handeln,  absehe  —  ausgeschieden.  Man  hört  also  nichts  von 
dem  Staat  Elisabeths  und  den  Niederlanden  zur  Zeit  des  ersten  Oraniers,  nichts 
von  Gustav  Adolf  oder  der  inneren  Entwicklung  der  deutschen  Territorien.  Ja, 
man  darf  hinzufügen,  daß  überhaupt  die  Schilderung  des  Staates  stark  in  den 
Hintergrund  tritt;  die  Theorie  vom  Staat  wird  dargelegt,  von  Macchiavelli  bis  zu 
Althusius,  Bodinus,  Grotius,  Hobbes  und  den  Verfassern  der  Staatsromane;  aber 
von  den  damals  vorhandenen  politischen  Zuständen  wird  wenig  gesagt.  Man  wird 
Zweifel  daran  äußern  dürfen,  ob  diese  Behandlungsart  ganz  den  Zwecken  der 
Enzyklopädie,  von  der  dieser  Band  ein  Teil  ist,  entspricht;  man  wird  aber 
sogleich  hinzufügen,  daß  wir  diesem  Verfahren  ein  so  fein  ausgeführtes  Bild  der 
katholischen  Reformbewegung,  eine  so  tiefgehende  psychologische  Analyse  der 
Kultur  der  Gegenreformation  verdanken,  wie  wir  sie  in  dieser  Art  noch  nicht 
besaßen.  Nacheinander  bespricht  der  Verfasser  ihre  Philosophie,  ihre  Dogmatik, 
Mystik,  Askese,  Morallehre,  die  Organisation  der  Kirche,  um  sich  dann  denjenigen 
Bestrebungen  zuzuwenden,  die  auf  eine  allmähliche  Befreiung  von  der  Herrschaft 
der  kirchlichen  Ideen  abzielen.  Er  schließt  mit  einer  Charakteristik  der  Epoche, 
»einer  der  leidenschaftlichsten  und  befangensten  der  Menschheitsgeschichte,"  einer 
Zeit  „ungeschlichteten  Kampfes  ringender  Gegensätze*,  die  er  doch  hoch  bewerten 
zu  müssen  meint:  »fast  möchten  wir  glauben,  daß  keine  Epoche  der  Neuzeit  an 
neuen,  fruchtbaren  Keimen  so  reich  ist  wie  diese." 

Den  Schlußteil  des  Buches  bilden  Kosers  Ausführungen  über  »Staat  und  Ge- 
sellschaft zur  Höhezeit  des  Absolutismus".  Der  Unterschied  zwischen  dem  Ab- 
solutismus Ludwigs  XIV.  und  dem  Friedrichs  des  Großen  scheint  ihm  nicht  da 
zu  liegen,  wo  man  ihn  gewöhnlich  sucht;  auch  Ludwig  XIV.  bekenne  sich  zu 
dem  Satze,  daß  der  König  allein  für  das  öffentliche  Wohl  geboren  sei  und  das 
Interesse  des  Staates  immer  vor  seinen  persönlichen  Neigungen  den  Vortritt  haben 
müsse.    Das  Eigentümliche   des  »aufgeklärten"  Absolutismus  Friedrichs  findet  er 

36* 


564  Die  Schlacht  im  Teutoburger  Walde,  angez.  von  S.  Widmann. 

darin,  daß  er  „mit  der  durch  die  Schule  des  Naturrechts  hindurchgegangenen  Auf- 
klärungsphilosophie den  Ursprung  der  monarchischen  Gewalt  aus  dem  Staatsvertrage 
herleite".  Demgegenüber  wird  man  doch  vielleicht  fragen  dürfen,  ob  es  nicht  zur 
Entscheidung  dieser  Frage  mehr  auf  die  Praxis  als  auf  die  Theorie  beider 
Könige  ankomme.  Stärker  als  Bezold  und  Gothein  geht  Koser  auf  das  rein  Ge- 
schichtliche ein.  Nach  einem  Überblick  über  „Tendenzen,  Erfolge  und  Niederlagen 
des  Absolutismus"  wendet  er  sich  den  sozialen  Zuständen  in  den  verschiedenen 
Staaten  Europas  zu,  um  dann  ausführlicher  bei  den  „Abwandlungen  des  europäischen 
Staatensystems"  vom  westfälischen  Frieden  bis  zum  Beginn  der  französischen 
Revolution  zu  verweilen,  in  großen  Zügen  schildernd,  doch  so,  daß  er  auch  eine 
Reihe  von  Einzelangaben  einflicht,  die  dem  Leser  einen  tieferen  Einblick  gewähren, 
daß  die  Beziehungen  zwischen  Volkswirtschaft  und  Politik  gekennzeichnet  werden, 
daß  Streiflichter  auf  die  Persönlichkeiten  fallen.  Er  schließt,  in  dieser  Beziehung 
ausführlicher  als  seine  Mitarbeiter,  mit  vier  Seiten  Literaturangaben. 

Frankfurt  a.  M.  F.  Neubauer. 


Die  Schlacht  im  Teutoburger  Walde.    Ein  Gedenkblatt  von  Julius  Hahn.    Mit 
sechs   Illustrationen   und  einer  Kartenskizze.    Hamburg  1909.    Gustav  Schloeß- 
manns  Verlagsbuchhandlung  (Gustav  Fick).    48  S.    kl.  8".    0,50  M. 
Die   Neunzehnhundertjahr  -  Feier    der   Schlacht    im   Teutoburger   Walde   will 
Detmold  vom  15.  bis  zum  22.  August  begehen  durch  Festzug,  Festspiel  und  Ent- 
hüllung des  Bandeldenkmals.    Der  Festausschuß  erwartet,  daß  aber  auch  an  anderen 
Orten    des    deutschen   Vaterlandes    Arminfeiern,    besonders    durch    die    höheren 
Schulen,  veranstaltet  werden,  die  sich  in  der  Tat  ohne  große  Beeinträchtigung  des 
Unterrichts  werden  ermöglichen  lassen.    An  literarischen  Erinnerungsgaben  an  den 
Befreier  Germaniens  fehlt  es  nicht.    Die  vorliegende  ist  für  die  Jugend  brauchbar, 
weil   sie    eine   schlichte  Darstellung  des  germanischen  Freiheitskampfes  und  eine 
kurze  Lebensskizze  des  wackeren  Bändel  bringt. 

Münster.  S.  Widmann. 

Wolff,  Emil,   Grundriß  der  preußisch-deutschen  sozialpolitischen  und 
Volkswirtschaftsgeschichte  von  1640  bis  zur  Gegenwart.    Dritte  ver- 
besserte und  vermehrte  Auflage.    Berlin   1909.    Weidmannsche  Buchhandlung. 
VII  u.  296  S.    geb.  4,50  M. 
Das  Buch  von  Wolff,  das  man  als  eine  deutsch -preußische  Bürgerkunde  auf 
entwicklungsgeschichtlicher  Grundlage  bezeichnen  könnte,  hebt  sich  in  zwei  Punkten 
von  manchen  Veröffentlichungen  auf  bürgerkundlichem  Gebiete  vorteilhaft  ab:  es 
hält  sich  fern  von  blassen  Begriffsabstraktionen,  und  es  ist  nicht  überlastet  mit 
verwirrendem  statistischem  Material.    Da  es  auf  festem  historischem  Boden  fußt 
und  die  volkswirtschaftlichen  und  sozialpolitischen  Gestaltungen  in  ihrem  Werden 
behandelt,  bietet  es  lebendige  Darstellung,  die  an  Persönlichkeiten  anknüpft,  und 
es  liest  sich   deshalb  frisch   und  anregend.     Und  da  die  statistischen  Angaben 
sorgfältige  Auswahl  treffen,  so  hat  der  Leser  nicht  erst  nötig,  unnützen  Ballast 
zu  beseitigen,  bevor  er  seine  Fahrt  im  Buche  mit  Erfolg  fortsetzen  kann.    Auch 


E.  Wolff,  Grundriß  der  preußisch-deutschen  usw.,  angez.  von  A.  Matthias.         565 

die  Gliederung  des  Stoffes  ist  klar  und  übersichtlich.  Der  erste  Abschnitt  bringt 
die  Überwindung  der  Ständeherrschaft  und  der  Stadtwirtschaft  durch  das  Landes- 
fürstentum (Zeitalter  des  Großen  Kurfürsten,  1640 — 1713),  der  zweite  das  absolute 
Königtum  im  Dienste  des  Staates  (Zeitalter  Friedrich  Wilhelms  I.  und  Friedrichs 
des  Großen,  1713—1806),  der  dritte  Abschnitt  die  Befreiung  des  Staatsbürgertums 
und  die  Gründung  der  wirtschaftlichen  Freiheit  Deutschlands  (Zeitalter  Friedrich 
Wilhelms  III.,  1807—1840),  der  vierte  Abschnitt  die  Gründung  des  deutschen  Reiches 
und  das  Aufkommen  des  Arbeiterstandes  (Zeitalter  Wilhelms  I.,  1840—1900).  — 
Diese  neue  Auflage  führt  die  Darstellung  der  neuesten  Entwicklung  bis  an  die 
Grenze  der  Gegenwart,  soweit  das  möglich  war.  Neu  hinzugekommen  ist  die 
Ausführung  über  das  Fortbildungswesen  und  über  die  Frauenfrage.  —  Das  Buch 
ist  ein  gutes  Hilfsbuch  für  den  geschichtlichen  Unterricht,  aber  auch  ein  passendes 
Lesebuch  für  reifere  Schüler,  die  sich  für  solche  Fragen  interessieren.  Und  das 
sollten  recht  viele,  das  sollten  alle  tun.  Daß  ein  so  gutes  und  feinsinniges  Buch  von 
1898  bis  1909  gebraucht  hat,  um  zu  nur  drei  Auflagen  zu  kommen,  ist  ein  Beweis 
dafür,  daß  der  Geschichtsunterricht  an  vielen  Stellen  nicht  so  ist,  wie  er  sein  sollte. 
Alle  Welt  schreibt  und  redet  über  „Bürgerkunde",  schweift  in  die  Ferne  mit  ihren 
Gedanken,  fordert  zu  wer  weiß  welchen  Maßnahmen  auf  und  sieht  nicht,  daß  das 
Gute  so  nahe  liegt,  wie  in  dem  Wolffschen  Buche.  — 

Als  auf  eine  passende  Ergänzung  zu  dem  besprochenen  Buche  sei  aufmerk- 
sam gemacht  auf: 

Salomon,  Felix,   Die  deutschen  Parteiprogramme.    Heft  I:  von  1814—1871. 

Heft  II:  von   1871—1900.    Leipzig  und  Berlin   1907.    B.  G.  Teubner.    VIII  u. 

112  S.  und  VI  u.  136  S.  1,40  M.  u.  1,60  M. 
Die  beiden  Hefte  bilden  einen  Teil  der  von  E.  Brandenburger  und  G.  Seeliger 
herausgegebenen  Quellensammlung  zur  deutschen  Geschichte,  die  in  erster  Linie 
pädagogischen  und  in  zweiter  Linie  wissenschaftlichen  Zwecken  dienen  soll.  Die 
kleinen  Sammlungen  stellen  sich  zunächst  in  den  Dienst  des  Universitätsunterrichts 
und  wollen  die  Kenntnis  der  Zeitgeschichte  fördern  helfen,  indem  sie  einen  ganz 
objektiven  Überblick  über  die  Entwicklung  unserer  politischen  Parteien  verschaffen. 
Gewicht  gelegt  ist  auf  eine  gewisse  Vollständigkeit  und  auf  systematische  Gliede- 
rung und  Übersichtlichkeit.  Da  die  Bücher  sich  in  keiner  Weise  in  den  Dienst 
einer  politischen  Tendenz  stellen,  so  können  sie  zu  sachlicher  Würdigung  der 
einzelnen  Parteibestrebungen  anleiten,  den  BHck  schärfen  für  die  Bedingtheit  und 
Mannigfaltigkeit  der  politischen  Bedürfnisse,  die  politische  Voreingenommenheit 
bekämpfen  und  der  Bürgerkunde  gute  Dienste  leisten.  Dem  Schulunterricht  soll 
ja  der  Parteien  Haß  und  Gunst  noch  fern  bleiben;  aber  wenn  die  Gelegenheit  sich 
ungezwungen  bietet,  so  wird  die  Kenntnis  dieses  oder  jenes  Parteiprogrammes, 
besonders  aus  der  Werdezeit  des  deutschen  Reiches,  manches  beitragen  zur  genau- 
eren Kenntnis  jener  Zeit  und  zu  größerer  Achtung  vor  allen  Faktoren,  die  mit- 
gewirkt haben  in  unserer  großen  Vergangenheit,  die  nun  schon  ein  Menschenalter 
hinter  uns  liegt.  Voraussetzung  ist,  daß  überall  der  Geschichtsunterricht  vom 
feinsten  pädagogischen  Takt  erfüllt  ist. 

Berlin.  A.  Matthias. 


566    F-  Schultze,  Die  Franzosenzeit  in  deutschen  Landen,  angez.  von  F.  Neubauer. 

Schultze,  Friedrich,  Die  Franzosenzeit  in  deutschen  Landen  1806—1815. 
In  Wort  und  Bild  der  Mitlebenden.  2  Bände.  Leipzig  1908.  R.  Voigtländer.  XII  u. 
336,  IX  u.  379  S.    8".    Geb.  20  M. 

Das  vorliegende  Buch  ist  nach  der  Beilage,  die  ihm  der  Verleger  mitgegeben 
hat,  bestimmt,  die  geschichtlichen  Darstellungen,  die  über  die  Katastrophe  von 
1806,  den  Neubau  Preußens  und  die  Befreiungskriege  vorliegen,  zu  ergänzen 
durch  Mitteilung  eines  möglichst  vielseitigen,  gleichzeitigen  Quellenmaterials.  So 
werden  denn  zahlreiche  aus  jenen  Jahren  stammende  Abbildungen,  auch  einige 
Faksimiles  und  Pläne  geboten ;  und  wir  erhalten  über  die  Ereignisse,  die  Zustände, 
die  Stimmungen,  die  Persönlichkeiten  Berichte,  die  damals  entstanden  sind  und, 
mögen  sie  zu  einem  Teil  stark  subjektiv  gefärbt  sein,  doch  den  Vorzug  haben, 
uns  in  die  Zeit  hineinzuversetzen  und  die  Dinge  mit  erleben  zu  lassen.  Die 
einzelnen  Kapitel  werden  meist  durch  eine  Art  Motto  eingeleitet,  so  z.  B.  das 
Kapitel  über  die  preußische  Armee  vor  1806  durch  die  berühmte  Bemerkung  des 
Generals  von  Saldern,  daß  75  Schritt  in  der  Minute  besser  seien  als  76,  oder  das 
über  den  Erfurter  Kongreß  durch  die  Äußerung  Goethes  über  Napoleon,  „Dieses 
Kompendium  der  Welt".  Dann  folgen  in  buntem  Wechsel  Stellen  aus  zeit- 
genössischen Historikern  und  Publizisten,  aus  Briefen  und  Berichten,  Memoiren, 
Tagebüchern.  Der  erste  Band  führt  uns  von  dem  Beginn  des  Krieges  1806  bis 
zu  den  Reformen  Hardenbergs,  der  zweite  vom  russischen  Feldzug  bis  zum  zweiten 
Pariser  Frieden.  Anhangsweise  werden  die  benutzten  Schriften  genauer  be- 
zeichnet. 

Daß  der  Gedanke  des  Werkes  gut  ist,  leuchtet  ein;  auch  mit  der  Art,  wie  er 
verwirklicht  worden  ist,  wird  man  in  den  meisten  Fällen  einverstanden  sein. 
Einige  Einwendungen  freilich  habe  ich  zu  erheben.  Zunächst  scheint  mir,  daß 
die  Gedanken  und  letzten  Ziele  der  Reformperiode  nicht  in  völlig  genügender 
Weise  beleuchtet  werden.  Aus  Steins  Nassauer  Denkschrift  ist  nichts  abgedruckt; 
um  über  das  Edikt  vom  9,  Oktober  1807,  das  die  Bauernbefreiung  brachte  und 
die  ständischen  Schranken  zerbrach,  zu  orientieren,  kann  die  Stelle  aus  Beguelins 
Denkwürdigkeiten  nicht  ausreichen ;  die  Anführung  eines  Abschnitts  aus  Steins  so- 
genanntem politischen  Testament  wäre  sehr  nützlich  gewesen.  Noch  weniger  klar 
ist  das  Bild,  das  von  Hardenbergs  Entwürfen  und  Schöpfungen  gegeben  wird ;  hier 
hat  sich  wohl  der  Verfasser  die  Arbeit  etwas  zu  leicht  gemacht.  Die  herrlichen 
Worte  Gneisenaus  ferner  über  die  Poesie  der  Vaterlandsliebe  aus  dem  Jahre  1811 
durften  doch  keinesfalls  fehlen;  ebenso  wenig  Clausewitz'  erhabene  Absage  an  die 
»leichtsinnige  Hoffnung  einer  Errettung  durch  die  Hand  des  Zufalls,  an  die 
dumpfe  Erwartung  der  Zukunft"  usw.  Auch  daß  nicht  einige  der  markigen 
Äußerungen  Steins  über  den  Volkskrieg,  die  aus  dem  Jahre  1808  stammen,  mit- 
geteilt sind,  bedaure  ich;  sie  gehören  zu  dem  Ergreifendsten,  was  damals  ge- 
schrieben worden  ist,  ebenso  wie  seine  Niederschriften  über  die  Unsittlichkeit  des 
napoleonischen  Universalreichs  (bei  Pertz,  Bd.  II,  S.  442  ff.).  Es  fehlt  ferner 
der  Bericht  Metternichs  über  seine  Dresdener  Unterredung  mit  Napoleon  im 
Juli  1813.  Die  Briefe  der  Königin  Luise  hätten  meiner  Meinung  nach  stärker  aus- 
genutzt werden  können,  ebenso  z.  B.  Briefe  Gneisenaus  und  Blüchers. 

Aber  ich  breche  ab.    Trotz  der  gemachten  Ausstellungen  ist  das  Buch  sicher- 


A.  Senfft  V.  Pilsach,  Aus  Bismarcks  Werkstatt,  angez.  von  E.  Stutzer.  567 

lieh  ein  nützliches  und  empfehlenswertes  Buch,  wohl  geeignet,  die  Kenntnis  jener 
gewaltigen  Zeit  zu  vertiefen  und  zu  beleben. 

Frankfurt  a.  M.  F.  Neubauer. 

Senfft  von  Pilsach,  A.,  Aus  Bismarcks  Werkstatt.  Studien  zu  seinem  Cha- 
rakterbilde.   Stuttgart  und  Berlin  1908.    J.  G.  Cotta.     103  S.    8°.    1,60  M. 

Was  muß  Geschichtforschern  und  Psychologen  als  der  letzte  Schlüssel  zum 
Verständnis  Bismarcks  gelten?  Das  eigenartige  Vertrauensverhältnis  des  preußischen 
Offiziers  und  märkischen  Landedelmanns  zu  seinem  Könige.  Von  dieser  unzweifel- 
haft richtigen  Grundanschauung  aus  beleuchtet  der  Verfasser  den  Gegensatz 
zwischen  Bismarck,  »der  im  gestickten  Diplomatenfrack  mehr  einem  verkappten 
Kriegsmann  glich  als  im  Waffenrock  einem  verkleideten  Minister",  und  den  mili- 
tärischen Ratgebern  des  Königs,  einen  Gegensatz,  der  besonders  nach  der  Schlacht 
bei  KöniggrätZj  während  der  Belagerung  von  Paris  und  1879  zutage  trat.  Auf 
neue  Tatsachen  oder  bisher  nicht  veröffentlichte  amtliche  Schriftslücke  kann  Pilsach 
seine  Ausführungen  nicht  stützen,  er  verwertet  aber  sehr  geschickt  die  bekannten 
Quellen  und  Darstellungen,  namentlich  Bismarcks  „Gedanken  und  Erinnerungen* 
sowie  Friedjungs  Werk,  und  gibt  wiederholt  seiner  Überzeugung  Ausdruck:  Das 
Deutsche  Reich  entstand  aus  Bismarcks  vulkanischem  Wollen  und  gestaltendem 
Denken  und  aus  Bismarcks  Treue,  die  sein  Wollen  und  Denken  in  den  Dienst 
seines  Königs  stellte.  Heben  wir  das  auch  für  die  höheren  Schulen  Wichtigste 
aus  diesen  Studien  über  die  »Geltendmachung  der  Individualität"  hervor. 

Den  Schlüssel  zum  Verständnis  der  Nikolsburger  Vorgänge  enthalten  die 
staatsrechtlich  anfechtbaren  Sätze  aus  den  »Gedanken  und  Erinnerungen" 
Kap.  20,  III:  »Ich  war  der  einzige,  dem  eine  politische  Verantwortlichkeit  als 
Minister  oblag",  und:  »Ich  war  der  einzige  Anwesende,  der  gesetzlich  verpflichtet 
war,  eine  Meinung  zu  haben,  zu  äußern  und  zu  vertreten",  Sätze,  die  das  ganze 
Selbstgefühl  des  Staatsmanns  atmen,  der  sich  vor  aller  Welt  und  vor  der  Ge- 
schichte für  Preußens  Krieg  mit  Österreich  verantwortlich  fühlte.  So  kämpfte  er 
denn  »um  sein  Urheberrecht  an  einer  entscheidenden  Wendung  der  preußischen 
Geschichte,  mehr  als  das,  er  kämpfte  um  seine  Stellung",  nämlich  um  sein  »ver- 
antwortliches Ratgeberamt"  beim  Könige,  und  zwar  »aus  innerstem,  sagen  wir 
ruhig  aus  selbstischem  Antriebe.  Wenn  darin  Egoismus  war,  so  muß  ihm  Deutsch- 
land solchen  Egoismus  danken".  Die  Eifersucht  der  preußischen  Heerführer  einer- 
seits und  des  Franzosenkaisers  anderseits  wirkten  mit  zu  der  »künstlerischen  Ab- 
rundung  des  Bismarckschen  Meisterwerkes"  (S.  71). 

Fast  noch  deutlicher  läßt  sich  in  Bismarcks  Stellung  zu  Rußland  die  Ein- 
wirkung persönlicher  Erlebnisse  und  Eindrücke  nachweisen.  1875  erfolgte  in  über- 
raschender Unfreundlichkeit  eine  »Intervention"  des  russischen  Reichskanzlers  Gort- 
schakow;  sein  »Schüler"  Bismarck  gewann  den  Eindruck,  daß  der  »Lehrer"  eine 
diplomatische  Kampagne  gegen  ihn  vom  Zaun  brach,  und  empfand  seitdem  „das 
Bedürfnis  eines  Gegenzuges.  So  betrachtet,  mochte  der  Berliner  Kongreß,  dem 
Gortschakow  beiwohnte  und  Bismarck  vorsaß,  für  diesen  eine  persönliche  Genug- 
tuung enthalten".  Aber  in  der  selbstgewählten  Rolle  des  „ehrlichen  Maklers"  be- 
schwor der  deutsche  Kanzler  einen  gefährlichen  Sturm  für  das  von  ihm  gegründete 


568  L.  Gerber,  Englische  Geschichte, 

Reich  herauf  und  mußte  dann  wieder  die  Erfahrung  machen,  daß  sein  Einfluß  auf 
den  Kaiser  in  einer  politischen  Angelegenheit  ersten  Ranges  durch  unverantwort- 
liche militärische  Einflüsse  erfolgreich  durchkreuzt  ward.  Manteuffel,  auf  dessen 
Rat  Wilhelm  I.  nach  Alexandrowo  ging,  3.  September  1879,  ging  vier  Wochen 
später  nach  Straßburg.  „Das  Raubtier  war  in  einem  vergoldeten  Käfig  in  Sicher- 
heit gebracht;  der  Schaden,  den  es  in  den  Reichslanden  anrichtete,  schien  Bis- 
marck  immerhin  erträglicher  als  eine  unheilvolle  Beeinflussung  des  Kaisers* 
(S.  56). 

Was  Bismarcks  Charakter  betrifft,  so  läßt  der  Verfasser  Licht  und  Schatten 
gleichmäßig  hervortreten.  Als  den  besonderen  Zug,  an  den  seine  geschichtliche 
Größe  anknüpft,  bezeichnet  er  das  „gesunde  Selbstgefühl  des  preußischen  Land- 
edelmanns"  und  als  einzigartig  die  Vereinigung  von  Kühnheit  und  Verstand;  in 
der  dem  Niederdeutschen  eigenen  Mischung  von  Schlauheit  und  Offenheit  sieht  er 
den  Charakterzug,  mit  dessen  Hilfe  er  gegen  die  Wünsche  Wilhelms  I.  und  Franz 
Josephs  den  Krieg  von  1^66  herbeiführte.  Bismarcks  Widerspruchsgeist,  die  ver- 
zehrende Glut  seines  Hasses  und  seine  Neigung,  die  Verantwortung  für  Fehl- 
schläge seiner  Politik  auf  andere  Schultern  abzuwälzen,  wird  betont;  in  der  Wirt- 
schafts- und  in  der  Kolonialpolitik  setzte  seine  Tätigkeit  weder  rechtzeitig  ein, 
noch  war  sie  der  Größe  der  Aufgabe  gerecht;  denn  „er  sah  im  wesentlichen  nur 
Europa;  Anschauung  war  das  Element,  in  dem  er  lebte  und  webte"  (S.  52). 

Wiederholt  nimmt  der  Verfasser  auf  Goethe  Bezug  und  will  dessen  Äußerung: 
„Das  Ausschließende  geziemt  sich  für  das  Große  und  Vornehme"  auf  Bismarck 
angewendet  sehen.  Sachlich  und  sprachlich  erregt  es  übrigens  Bedenken,  wenn  er 
S.  95  den  alten  Goethe  mit  einem  „schneeigen  Gletscher  im  blauen  Firmament* 
vergleicht  im  Gegensatz  zum  „tätigen  Vulkan'  Bismarck.  War  Goethe  nicht  als 
Vierundsiebzigjähriger  in  leidenschaftlicher  Liebe  zu  Ulrike  von  Levetzow  ent- 
brannt? „Schneeig"  sind  Gletscher  immer,  aber  niemals  im  Firmament.  Auch  an 
anderen  Stellen  der  Schrift  regen  sich  Bedenken  (die  Schwierigkeiten  z.  B.,  die 
sich  Bismarcks  schleswig-holsteinischer  Politik  entgegenstellten,  werden  unter- 
schätzt). Doch  sie  können  den  günstigen  Gesamteindruck  nicht  beeinträchtigen. 
Der  Verfasser  schließt  mit  den  Worten:  „Bismarcks  Kraft  ist  mit  ihm  dahin- 
gegangen; sein  Vorbild  bleibt.  In  den  Besten  unseres  Volkes  wird  seine  Ge- 
sinnung fortleben."    Quod  Deus  bene  vertat! 

Görlitz.  E.  Stutzer. 

Gerber,  L.  Englische  Geschichte  (Sammlung  Göschen  375).  Leipzig  1908. 
G.  J.  Göschen.  162  S.  8°.  geb.  0,80  M. 
Eine  englische  Geschichte  fehlte  bisher  in  der  „Kleinen  historischen  Bibliothek" 
der  Sammlung  Göschen.  An  dem  Bedürfnis  nach  einer  solchen  nahm  auch  der 
Schüler  der  oberen  Klassen  höherer  Lehranstalten,  in  erster  Linie  der  realen,  teil. 
Sein  geschichtliches  Schulbuch  reicht  durchweg  nicht  aus,  um  den  Stoff,  den  ihm 
seine  englische  Lektüre  bietet,  überall  zu  ergänzen,  in  Zusammenhang  zu  bringen, 
unter  die  richtigen  Gesichtspunkte  zu  rücken.  Hierzu,  so  sollte  man  meinen,  wäre 
ein  Band  der  , Sammlung  Göschen'  gerade  das  geeignete  Buch ;  denn  wenn  man  auf 
150  Seiten  kleinen  Oktavs  —  die  12  Seiten  ,Zeittafeln',  .Vorbemerkung',  ,Inhaltsver- 


angez.  von  W.  Meiners.  569 

zeichnis'  usw.  rechne  ich  ab  —  die  ganze  englische  Geschichte  von  den  Römer- 
zeiten bis  auf  die  Gegenwart  darstellen  will,  wie  der  Verfasser  es  getan  hat,  muß 
notgedrungen  das  Hauptziel  das  sein,  die  Entwicklungslinien,  die  diese  Geschichte 
aufweist,  klar  und  scharf  herauszustreichen  und,  soweit  sie  zu  verfolgen  sind,  von 
Anfang  bis  zu  Ende  durchzuziehen,  wobei  naturgemäß  die  bedeutungsvollen 
Strecken  eine  sorgfältigere  Ausführung  erfahren,  die  minder  wichtigen  Ereignisse, 
die  die  Entwicklung  lediglich  gehemmt  oder  wenigstens  nicht  erheblich  beeinflußt 
haben,  übergangen  oder  kurz  skizziert  werden  müssen. 

Über  dieses  Ziel  ist  sich  der  Verfasser  entschieden  nicht  klar  geworden.  Oder 
wie  wäre  es  sonst  zu  erklären,  daß  er  trotz  seines  beschränkten  Raumes  z.  B.  für 
die  Erzählung  der  Schlacht  bei  Hastings  (S.  28—29)  einen  Platz  von  IV2  Seiten,  für 
die  letzten  Versuche  der  Stuarts  aber,  auf  den  englischen  Thron  zu  kommen  (S.  126), 
sowie  für  die  Schlacht  bei  Waterloo  (137/138)  fast  je  eine  Seite  übrig  hat?  Die 
Folge  ist,  daß  anderes  unverhältnismäßig  stark  zurücktreten  muß,  wie  denn  z.  B. 
Wicliff  mit  noch  nicht  zwei  Zeilen  (S.  62  u.  63)  abgetan  wird.  Was  von  der  Dar- 
stellung im  einzelnen  gilt,  gilt  auch  von  der  Gesamtbehandlung.  Das  englische 
Volk  möchte  sich  noch  heute  als  den  Gebieter  der  Meere  und  den  Herrn  der  Welt 
ansehn.  Es  ist  es  eine  Zeit  lang  in  der  Tat  gewesen.  Seine  Geschichte  ist  in 
ganz  hervorragender  Weise  Weltgeschichte,  Kolonialgeschichte,  Geschichte  des  Welt- 
handels. Das  beginnt  sie  zu  werden  etwa  seit  1485  bzw.  1558.  Die  Zeit  bis  dahin  müßte 
also  eine  weit  mehr  summarische  Behandlung  erfahren.  Und  doch  nimmt  ihre  Dar- 
stellung 66  Seiten,  d.  i.  beinahe  die  Hälfte  (genau  "/«)  des  Ganzen  ein.  Keiner 
der  Herrscher  vor  1485  wird  uns  geschenkt;  von  jedem  erfahren  wir  den  Anteil, 
den  er  an  der  inneren  und  äußeren  Entwicklung  des  Landes  gehabt  hat.  Naturgemäß 
wird  dadurch  die  Darstellung  des  wichtigeren  Abschnitts  der  englischen  Geschichte 
beengt  und  beeinträchtigt.  Eine  englische  Geschichte  ohne  Würdigung  von  Adam 
Smith,  um  nur  einen  Beleg  für  meine  Behauptung  anzuführen,  ist  mir  undenkbar. 
Und  doch  wird  von  Gerber  dieses  Mannes  mit  keinem  Worte  gedacht.  Überhaupt 
ist  der  ganze  Gegensatz  zwischen  dem  merkantilistischen  und  liberalen  Wirtschafts- 
system, der  doch  zuerst  in  England  in  die  Erscheinung  trat,  so  wenig  erfaßt,  daß 
z.B.  der  Verlust  der  nordamerikanischen  Kolonien  auf  den  „Starrsinn"  Georgs  III. 
geschoben  wird  (S.  129).  Dazu  auch  in  dem  zweiten  Teile  des  Buches  auch  im 
einzelnen  wieder  zu  große  Gleichmäßigkeit  in  der  Behandlungsweise,  zu  geringe 
Hervorhebung  des  wirklich  Bedeutungsvollen,  die  Entwicklung  Fördernden. 

Dazu  kommt  für  diesen  Teil  ein  zweiter  empfindlicher  Mangel.  Der  Verfasser 
wird  den  großen  Persönlichkeiten  und  ihrer  Bedeutung  für  England  nicht  immer 
gerecht  und  legt  an  geschichtliche  Ereignisse  zuweilen  allzusehr  den  Maßstab 
unserer  heutigen  Auffassung.  Auch  hierfür  einige  Belege.  Gewiß  ist  in  unserem 
Sinn  der  Erlaß  der  Test- Akte  eine  „unerhörte  Gewissensvergewaltigung "  der  Katho- 
liken (S.  111);  der  merkantilistische  Staat  dachte  indessen  anders  darüber,  wie  das 
,cuius  regio,  eius  religio'  von  1555,  die  Aufhebung  des  Edikts  v.  Nantes  1685,  die 
Erlasse  gegen  die  Salzburger  1732  zur  Genüge  beweisen.  S.  86  ferner  sagt  der 
Verfasser  zur  Erklärung  der  gewaltsamen  Religionsverfolgungen  Marias  der  Katho- 
lischen: „Aber  es  war  nicht  die  Zeit,  geistige  Bewegungen  mit  geistigen  Waffen 
zu  führen.    Wie  ihre  Vorgänger  und  Nachfolger  gewaltsam   dem  Protestantismus 


570  A.  Philippson,  Das  Mittelmeergebiet,  angez.  von  J.  Waßner. 

Einführung  und  Verbreitung  verschafften,  so  verschmähte  auch  sie  dieses  Mittel 
nicht,  um  ihrer  reHgiösen  Überzeugung  zum  Siege  zu  verhelfen."  Gewiß  richtig. 
Nur  hätte  er  20  Seiten  weiter  Cromwell  in  seinen  irischen  und  schottischen  Kriegen 
dieselben  mildernden  Umstände  zubilligen  sollen,  anstatt  sich  hier  (S.  105  u.  106) 
in  der  Schilderung  seiner  Grausamkeiten  zu  gefallen  und  so  das  Bild  dieses  einzig- 
artigen Mannes  zu  trüben.  Das  geschieht  auch  durch  andere  gelegentliche  Be- 
merkungen, die  nicht  am  Platze  sind,  wenn  es  gilt,  auf  ein  paar  Seiten  Klein- 
oktavs —  nicht  aber  in  einer  Sonderdarstellung  —  dem  Leser  seinen  Helden  nahe 
zu  bringen  (vgl.  S.  108,  Abs.  3;  S.  107,  Abs.  2  am  Schluß).  Freilich  wer  zur 
Charakterisierung  der  Independenten  keine  anderen  Worte  hat  als  daß  ihnen  die 
Puritaner  noch  nicht  rein  genug  waren  (S.  103,  Z.  8  v.  u.),  kann  einen  Cromwell 
nicht  verstehen.  Dasselbe  gilt  von  Elisabeth.  Weder  tritt  sie  so  sehr  hinter  ihren 
Minister  Burleigh  zurück,  wie  Gerber  uns  das  glauben  machen  will,  noch  ist  sie 
nur  die  „eitle,  herrschsüchtige"  Frau,  die  sich  in  ihrer  schottischen  Politik  „im 
wesentlichen  von  persönlichen  Motiven"  leiten  läßt;  auch  mit  der  Kennzeichnung 
des  Zieles  ihrer  Politik  als  dahin  gehend,  „England  zur  Vormacht  des  Protestan- 
tismus zu  machen"  (S.  90),  kann  ich  mich  nicht  einverstanden  erklären.  —  Bei 
aller  Anerkennung,  die  wir  der  Darstellung  etwa  bis  1485  zollen  wollen,  werden 
wir  demnach  mitRücksicht  auf  den  zweiten  Teil  doch  die  Gerbersche 
Englische  Geschichte  nicht  als  vollwertige  Ergänzung  der  „Kleinen 
historischen  Bibliothek"  anerkennen  können. 

Elberfeld.  Wilh.  Meiners. 

Philippson,  Alfred,  Das  Mittelmeergebiet.  Seine  geographische  und  kulturelle 
Eigenart.  Mit  9  Figuren  im  Text,  13  Ansichten  und  10  Karten  auf  15  Tafeln. 
Leipzig,  1.  Auflage  1904.  2.  Auflage  1907.  B.  G.  Teubner.  VI  u.  266  (bzw. 
261)  S.    geb.  7  M. 

„Es  dürfte  kaum  auf  der  Erde  ein  Ländergebiet  von  ähnlicher  Größe  geben, 
das  sich  an  Vielseitigkeit  der  Bedeutung  mit  dem  Mittelmeergebiet  messen  könnte. 
Es  ist  der  so  gut  wie  alleinige  Schauplatz  der  Geschichte  während  mindestens 
zweier  Jahrtausende,  es  ist  der  Herd  eines  so  scharf  ausgeprägten  Abschnitts  der 
Entwicklung  der  menschlichen  Gesittung,  daß  man  geradezu  von  einem  mediterranen 
Kulturkreise  spricht.  Es  gibt  kaum  eine  Wissenschaft,  deren  Geschichte  nicht  in 
die  Mittelmeerländer  zurückführt,  die  in  ihrer  Eigenart  und  Entwicklung  nicht  durch 
die  Eigenart  dieses  Länderindividuums  beeinflußt  worden  ist."  Diese  Worte,  mit 
denen  Theobald  Fischer  einen  Aufsatz  über  das  Mittelmeergebiet  (in  der  Inter- 
nationalen Wochenschrift  I,  S.  209)  einleitet,  können  gewissermaßen  als  Motto  oder  als 
Inhaltsangabe  über  das  vorliegende  Buch  gesetzt  werden,  das  Ferdinand  von  Richt- 
hofen  gewidmet  und  auf  den  Arbeiten  Theobald  Fischers  gegründet  ist.  Sind  jene 
Worte  richtig  —  und  wer  wollte  es  leugnen?  — ,  dann  muß  jeder  gebildete  Mensch 
mit  Spannung  nach  diesem  Buche  greifen,  das  ihm  zwar  „keine  Vollständigkeit  in 
Einzelheiten,  auch  nicht  neue  Forschungsergebnisse  oder  eine  spezielle  Länderkunde 
der  Mittelmeerländer"  verspricht,  das  es  sich  aber  zur  Aufgabe  macht,  „eine  zu- 
sammenfassende Übersicht  über  die  verschiedenen  geographischen  Erscheinungen 
zu  geben,  die  im  Mittelmeer  auftreten,  aufeinander  einwirken  und  so  dieses  Gebiet 


Fr.  Naumann,  Sonnenfahrten,  angez.  von  A.  Matthias.  571 

als  einen  einheitlichen,  wohl  individualisierten  Erdraum  kennzeichnen,  der  von  Natur 
zum  Schauplatz  einer  unvergleichlichen  Kultur  und  Geschichte  geeignet  war".  Der 
Verfasser  hat  seine  Aufgabe  glänzend  gelöst  und  uns  in  diesem  Buche  eine  aus- 
gezeichnete Gabe  geschenkt.  Gerade  an  solch  einer  zusammenfassenden,  nicht 
in  Einzelheiten  sich  zerfasernden,  sondern  immer  die  großen  Gesichtspunkte  fest- 
haltenden Darstellung  hat  es  bis  jetzt  gefehlt.  Hier  aber  wird  der  Leser  von 
sicherer  Hand  durch  die  Ergebnisse  der  neuesten  Forschungen  hindurchgeleitet 
und  gewinnt  von  ihnen  aus  immer  neue  Überblicke  über  die  Bedeutung  des  Mittel- 
meergebietes, in  seinem  weitesten  Umfange,  der  sich  sogar  bis  Mesopotamien  er- 
streckt. 

Von  der  Weltlage,  dem  Bau  und  der  Entstehungsgeschichte  beginnend, 
führt  uns  der  Verfasser  nach  der  Betrachtung  des  Wassers,  der  Küsten  und  des 
Klimas  zur  Pflanzen-  und  Tierwelt  und  schließlich  zu  dem  reizvollsten  Abschluß, 
gewissermaßen  der  Krone  des  Ganzen:  zum  Menschen.  Die  Sprache  ist  ruhig  und 
sachlich,  so  ganz  frei  von  Phrase,  aber  nicht  frei  von  Wärme,  die  an  verschiedenen 
Stellen  auch  zu  begeisterter  Schilderung  sich  erhebt. 

Der  Verfasser  hat  sein  Buch  in  erster  Linie  für  gebildete  Leser  geschrieben, 
die  sich  sei  es  durch  Studien,  sei  es  durch  Reisen  für  das  Mittelmeergebiet  inter- 
essieren; aber  er  hofft,  daß  auch  die  Geographen  es  verwenden  können.  Daß  er 
sich  nicht  getäuscht  hat,  beweisen  die  zweite  Auflage,  die  der  ersten  schnell 
gefolgt  ist,  und  die  glänzenden  Anerkennungen»  die  seine  Fachgenossen  ihm  haben 
zuteil  werden  lassen.  Hier  mögen  nur  noch  die  Altphilologen  auf  das  Buch  hin- 
gewiesen werden,  das  für  sie  eine  Fundgrube  von  interessanten  und  klärenden  Hin- 
weisen enthält.  Ganz  besonders  diejenigen,  die  sich  mit  Griechenland  beschäftigen, 
kommen  auf  ihre  Rechnung.  Erkennt  man  doch  gerade  in  den  Abschnitten,  die 
sich  auf  die  griechische  Welt  beziehen,  den  gründlichen  Kenner  Griechenlands 
wieder,  wie  er  aus  seinem  ausgezeichneten  Buch  über  den  Peloponnes  (Berlin 
1892)  schon  lange  bekannt  ist. 

Die  Abbildungen  sind  vortrefflich,  klar  und  charakteristisch;  die  Karten  geben 
eine  gute  Übersicht,  nur  möchte  man  vielleicht  im  Text  häufiger  einen  Hinweis 
wünschen,  welche  von  ihnen  gerade  gemeint  ist.  Ein  ausführliches  Register  ist 
eine  wertvolle  Beigabe;  Papier  und  Druck  verdienen  Lob.  Die  zweite  Auflage  ist 
im  wesentlichen  ein  Abdruck  der  ersten,  die  Verbesserungen  beziehen  sich  meistens 
auf  die  statistischen  Zahlen,  auf  die  Ergänzungen  einiger  Anmerkungen  und  die 
Beachtung  von  Neuerscheinungen.  Sie  alle  bekunden  die  Sorgfalt  des  Verfassers, 
dem  man  noch  besonderen  Dank  dafür  wissen  muß,  daß  er  Mesopotamien  auch 
in  der  neuen  Auflage  nicht  fortgelassen  hat,  trotz  des  Widerspruches,  den  die  Her- 
einziehung dieses  Landes  in  die  Darstellung  des  Mittelmeergebietes  gefunden  hat. 
Wir  möchten  auch  diese  Abschnitte  nicht  entbehren. 

Groß -Lichterfelde.  Julius  Waßner. 

Naumann,  Fr.,  Sonnenfahrten.    Berlin-Schöneberg  1909.    Buchverlag  der  Hilfe. 
182  S.    kart.  3  M. 
Ein  schlimmer  Feind  alles  Unterrichts  ist  die  Langeweile;  im  Geographieunter- 
richt aber  der  schlimmste.    Hier  tritt  er  besonders  dann  auf,  wenn  Anschaulichkeit 


572  M.  Simon,  Über  Mathematik,  angez.  von  H.  Thieme. 

und  Phantasie  fehlen,  die  Leben  in  diesen  Unterricht  bringen  müssen.  Ich  habe 
deshalb  immer  solche  Bücher  als  Hilfe  begrüßt,  die  mir  die  Kartenbilder  und  die 
Lehrbücher  so  erfrischten,  daß  das  in  ihnen  schlummernde  Leben  zur  Auferweckung 
kam.  Das  vorliegende  Buch  ist  eine  dieser  erfrischenden  Quellen.  Schon  der 
Name  „Sonnenfahrten"  lockt  an.  Der  Name  ist  gewählt,  weil  die  Reisen,  die  der 
Verfasser  nach  dunklen  Wintertagen  und  dumpfer  Winterarbeit  unternahm,  in  sonnige 
Lande  ging,  durch  die  fruchtstrotzende  Bretagne,  das  bunte  Algerien,  durch  Tunis,  in 
die  Wüste,  nach  Venedig,  Assisi  und  durch  die  ungarischen  Waldgebirge.  Nicht  nur 
fremde  Menschen  und  Landschaften  hat  der  empfänghche  Reisende  gesehen;  er  hat 
ihren  Zusammenhang  lebhaft  empfunden,  hat  fremde  Kulturen,  fremde  Kunst,  fremde 
politische  und  wirtschaftliche  Verhältnisse  mit  klarem  Blicke  erkannt,  so  daß  er  auch 
im  einzelnen  wertvolle  Beobachtungen  anstellt,  z.  B.  über  die  Kolonisationsfähigkeit 
der  Franzosen  in  Algerien  und  Tunis  und  über  französische  Gotik  in  der  Bretagne. 
Auch  an  interessanten  Abstechern  ins  geschichtliche  Gebiet,  die  Erläuterungen  so- 
gar zu  unsern  Schulklassikern  (bei  Constantine  zu  Sallusts  Jugurthinischem  Krieg) 
bringen.  Kurz  das  Mannigfaltigste  vereinigt  sich  in  dem  kleinen  Bändchen  in  farben- 
reicher Darstellung  und  lebendiger  und  hübscher  Sprache. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Simon,  Max,  Über  Mathematik.  Erweiterung  der  Einleitung  in  die  Didaktik. 
Gießen  1908.    A.  Töpelmann.    32  S.    8".    0,80  M. 

Der  vorliegende  Aufsatz  des  bekannten  Straßburger  Mathematikers  Max  Simon 
bildet  das  erste  Heft  des  zweiten  Bandes  der  von  H.  Cohen  und  P.  Natorp 
herausgegebenen  philosophischen  Arbeiten.  Das  Thema:  „Über  Mathematik"  ist 
so  allgemeiner  Natur,  daß  darüber  jeder  Mathematiker  recht  viel  zu  sagen  hat;  in 
erhöhtem  Maße  ist  das  bei  einem  so  vielseitig  tätigen  Schriftsteller  wie  Simon 
der  Fall. 

Der  Aufsatz  beginnt  mit  der  für  alles  weitere  grundlegenden  Frage,  für  die 
allerdings  jeder  bedeutende  Mathematiker  seine  besondere  Antwort  hat,  mit  der 
Frage:  „Was  ist  Mathematik?"  Mit  der  Behandlung  dieser  Frage  verknüpft  der 
Verfasser  eine  Erörterung  der  wichtigsten  Grundbegriffe  der  Mathematik.  Die 
Entstehung  und  die  Natur  unserer  Raum-,  Zeit-  und  Zahlvorstellungen  und  Be- 
griffe, der  Begriff  der  Größe,  der  Begriff  des  Kontinuums,  der  Grenzbegriff,  die 
Begriffe  des  Unendlichgroßen  und  des  Unendlichkleinen,  die  Mengenlehre,  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Zahl  (Kardinalzahl,  Ordnungszahl  und  Beziehungszahl), 
Wesen  und  Unterschied  von  Geometrie  und  Arithmetik,  die  verschiedenen  Raum- 
formen (die  Bolyai-Lobatschefskische,  die  Riemannsche,  die  Klein-Cliffordsche)  und 
noch  viele  andere  Dinge  werden  an  unserem  Geiste  vorbeigeführt,  teils  mehr,  teils 
weniger  eingehend  besprochen  oder  auch  nur  kurz  erwähnt. 

Der  Verfasser  setzt  sich  bei  der  Erörterung  der  vielen  wichtigen  mit  diesen 
Dingen  verknüpften  Probleme  mit  einer  sehr  großen  Zahl  von  Mathematikern  und 
Philosophen  auseinander  und  kennzeichnet  ihnen  gegenüber  in  seiner  bekannten 
scharf  ausgeprägten  Art  die  eigene  Stellung. 

Es  ist  bei  der  Vielgestaltigkeit  des  Inhalts  der  vorliegenden  Schrift  nicht  wohl 
möglich,  hier  den  Auseinandersetzungen  des  Verfassers  Schritt  für  Schritt  zu  folgen. 


C.  Kaßner,  Das  Wetter  und  seine  Bedeutung  usw.,  angez.  von  A.  Otto.  573 

Als  Einzelheit  sei  erwähnt,  daß  Simon  nachdrücklich  der  landläufigen  Ansicht  ent- 
gegentritt, nach  der  Plato  als  bedeutender  Mathematiker  anzusehen  sei,  der  auch 
durch  eigene  Forschungen  die  Mathematik  wesentlich  gefördert  habe,  ferner  daß 
Simon  nicht  minder  nachdrücklich  auf  die  Bedeutung  von  Leibniz  für  die  Auf- 
klärung des  Raumproblems  hinweist,  darauf  daß  Leibniz  in  der  Frage  unserer 
Raumanschauung  als  ebenbürtiger  Vorgänger  Kants  anzusehen  sei,  daß  die  An- 
schauungen von  Leibniz  denen  von  Kant  schon  außerordentlich  nahe  standen. 

Wegen  der  vielseitigen  Anregungen,  die  der  Aufsatz  von  Simon  bietet,  kann 
seine  Lektüre  jedem,  der  für  mathematisch-philosophische  Fragen  Interesse  besitzt, 
empfohlen  werden,  wenn  auch  mancher  paradoxe  Ausspruch  des  Verfassers  —  er 
sagt  z.  B.,  »die  Differentialrechnung  sei  nie  und  nimmer  erfunden"  —  wohl  kaum 
auf  volle  Zustimmung  rechnen  darf.  Wünschenswert  bleibt,  daß  der  Leser  mit 
den  von  Simon  besprochenen  Forschungen  sich  auch  selbst  bekannt  macht,  um  in 
den  behandelten  Fragen  ein  unabhängiges  Urteil  zu  gewinnen. 

Posen.  H.  Thierae. 

Jahrbuch  der  Naturwissenschaften  1907—1908.    Dreiundzwanzigster  Jahrgang. 

Herausgegeben  von  Dr.  Max  Wildermann.    Mit  29  Abbildungen.    Freiburg  1908. 

Herdersche  Verlagshandlung.  XII  u.  510  S.  Lex.  8".  geb.  7,50  M. 
Das  Wildermannsche  Jahrbuch  erscheint  von  dem  vorliegenden  Jahrgange  ab 
in  etwas  veränderter  Gestalt  und  in  größerem  Drucke.  Seinen  Zweck,  die  ge- 
bildeten Laien  mit  den  Errungenschaften  der  gesamten  Naturwissenschaften,  ein- 
schließlich der  Forst-  und  Landwirtschaft,  der  Länder-  und  Völkerkunde,  der 
Gesundheitspflege  und  Heilkunde  fortlaufend  bekannt  zu  machen,  erfüllt  es  mit 
bestem  Erfolge.  Für  Lehrerbibliotheken  hat  es  an  Brauchbarkeit  gewonnen,  da  mit 
ihm,  wie  der  Verlag  ankündigt,  ein  Jahrbuch  der  Zeit-  und  Kulturgeschichte  nun- 
mehr verbunden  worden  ist.  Für  Fachlehrer  reicht  der  Inhalt  nicht  aus.  Zu 
wünschen  bliebe  außer  einer  genaueren  Angabe  der  Berichtsperiode  eine  über- 
sichtlichere Darstellung  des  chemischen  Teiles  unter  Einschränkung  der  dem  Laien 
ganz  unverständlichen  kurzen  Notizen.  Auch  könnte  hier  und  da  (cf.  Zoologie) 
mehr  auf  die  Originalarbeiten  zurückgegangen  werden.  Referate  über  Referate 
entbehren  im  allgemeinen  der  wünschenswerten  Zuverlässigkeit. 

Münster.  J.  Norrenberg. 

Kaßner,    Carl,    Das  Wetter   und    seine   Bedeutung   für    das   praktische 
Leben.      Leipzig    1908.      Quelle    und    Meyer.      148    S.     8«.      geh.    1    M., 
geb.  1,25  M. 
Das  vorliegende  Büchlein  bietet  in  3  Abschnitten  das  Wichtigste  über  die  Grund- 
lagen der  Wettervorhersage.    Der  erste  Teil  ist  insofern  der  interessanteste,  weil 
er  in  45  Seiten  eine  Geschichte  der  Wettervorhersage  gibt.    Wenn  diese  auch  nur 
kurz  gefaßt  ist,  so  enthält  sie  doch  das  Wichtigste  und  zum  Verständnis  der  Ent- 
wicklung  der  meteorologischen  Wissenschaft  Notwendige  in  übersichtlicher  und 
ansprechender  Form.    Eine  solche  Darstellung  vermißten  wir  bis  jetzt  in  den  meisten 
Lehrbüchern  der  Meteorologie. 

Ebenso  bietet  auch  der  dritte  Teil  viel  Neues.    Von  der  Bedeutung  des  Wetters 


574      W.  Scheel,  Das  Lichtbild  und  seine  Verwendung  usw.,  angez.  von  H.  Bohn. 

für  das  praktische  Leben  ist  ja  jedermann  überzeugt;  wie  stark  aber  das  gesamte 
menschliche  Leben  beeinflußt  wird,  davon  kann,  man  sich  erst  eine  richtige  Vor- 
stellung machen,  wenn  man  die  Kapitel  über  die  „Bedeutung  des  Wetters  für  Land- 
und  Forstwirtschaft,  für  Verkehr  und  Handel,  für  die  Industrie"  gelesen  hat. 

Die  meteorologischen  Grundlagen  für  die  Wettervorhersage  bilden  den  Haupt- 
teil des  Buches  (Seite  46—113).  Er  enthält  natürlich  mehr  als  der  Titel  des  Ab- 
schnittes verspricht,  nämlich  auch  die  Grundlagen  für  die  Erkenntnis  des  Wetters 
und  seiner  Entstehung.  Besonders  gut  haben  mir  die  Schilderungen  des  Wetters 
in  den  Tief-  und  Hochdruckgebieten  gefallen,  Sie  sind  vom  Laien  —  für  den  das 
Buch  doch  wohl  in  erster  Linie  bestimmt  ist  —  leicht  zu  verstehen  und  zu  behalten. 
Nur  hätte  die  Bedeutung  der  Randgebilde  wegen  ihrer  Häufigkeit  und  ihres  zu- 
meist schädlichen  Einflusses  mehr  hervorgehoben  werden  können.  Dagegen  hätte 
die  neuere  Theorie  der  Entstehung  der  Hoch-  und  Tiefdruckgebiete  (S.  77)  weg- 
bleiben können,  da  sie  in  der  äußerst  knappen  Form  nur  schwer  verständlich  ist. 

Von  Wetterkarten  ist  nur  eine  (vom  21.  März  1907)  gegeben.  Wünschenswert 
wäre  die  Beigabe  einer  Wetterkarte  eines  typischen  Minimums  gewesen.  Gerade 
eine  solche  ist  in  bezug  auf  Wind-,  Temperatur-  und  Niederschlagsverhältnisse 
am  lehrreichsten  und  anregendsten. 

In  dem  Kapitel  über  Wetterprognosen  ist  besonders  erfreulich,  daß  nur  das 
tatsächlich  Richtige  betont,  dem  Aberglauben  und  den  weitverbreiteten  Irrtümern 
aber  kräftigst  entgegengetreten  wird  (Tiere,  Pflanzen,  Instrumente  als  Wetterver- 
kündiger). 

Von  Versehen  und  Druckfehlern  hat  sich  das  —  auch  in  bezug  auf  Druck 
und  äußere  Ausstattung  gefällige  —  Büchlein  ziemlich  frei  gehalten.  In  der  Figur 
S.  76  „Querschnitt"  verwirren  die  obenangebrachten  Bezeichnungen  „Hoch"  und 
.Tief".  S.  77  steht  Erstehung  statt  Entstehung,  S.  138  Landstrecken  für  Land- 
straßen, S.  110:  „Maximum  der  Temperatur  in  den  Minimaljahren  (der  Sonnenflecken), 
während  die  Minimaljahre  kühl  sind."    S.  88  und  98  finden  sich  Zeilenverwerfungen. 

Doch  das  sind  Kleinigkeiten,  die  bei  einer  Neuauflage  leicht  zu  beseitigen 
sind.  Was  der  Herr  Verfasser  gebracht  hat,  bietet  ein  übersichtliches  und  ziem- 
lich erschöpfendes  Bild  von  dem  gesamten  Wissen  in  der  Meteorologie,  und  es 
kann  eine  gute  Grundlage  für  weitere  Forschungen  abgeben.  Auch  im  Hinblick 
auf  die  vielen  Anregungen,  welche  zu  einer  selbständigen  Beobachtertätigkeit  auf- 
fordern, kann  das  Büchlein  nur  auf  das  wärmste  empfohlen  werden. 

Eisleben.  A.  Otto. 

Scheel,  Willy,  Das  Lichtbild  und  seine  Verwendung  im  Rahmen  des  regel- 
mäßigen Schulunterrichts.  Leipzig  1908.  Quelle  &  Meyer.  VI  u.  52  S.  8«.  1  M. 
In  den  letzten  Jahren  mehrt  sich  die  Literatur  über  die  Verwendung  des  Pro- 
jektionsapparates in  der  Schule.  Das  ist  ein  erfreuliches  Zeichen,  welches  darauf 
hindeutet,  daß  in  Zukunft  nicht  nur  der  naturwissenschaftliche,  sondern  auch  der 
gesamte  übrige  Unterricht  anschaulich  gestaltet  werden  wird.  Ohne  Anschauungs- 
material muß  z.  B.  die  Behandlung  von  Lessings  Laokoon  in  der  Prima  recht 
langweilig  und  wenig  nutzbringend  sein.  Welche  Fülle  von  Anregung  erhalten 
aber  die  Schüler,  wenn  das  fragliche  Thema  in  der  Weise  behandelt  wird,  wie  der 


F.  Kuhlmann,  Bausteine  zu  neuen  Wegen  usw.,  angez.  von  Ph.  Franck.  575 

Verfasser  im  12.  Kapitel  angibt,  wenn  nicht  nur  die  Laokoongruppe  selbst  im 
Bilde  gezeigt,  sondern  auch  mit  anderen  Bildwerken  verglichen  wird.  Ohne  Licht- 
bilder ist  dies  in  den  meisten  Fällen  so  gut  wie  unmöglich. 

Trotz  des  geringen  Umfanges  bietet  das  Büchlein  einen  außerordentlich  reichen 
Inhalt,  der  um  so  wertvoller  erscheint,  da  er  ganz  aus  der  Erfahrung  geschöpft  ist; 
es  ist  mit  Liebe  und  Begeisterung  von  einem  Philologen  geschrieben,  der  schon 
längere  Zeit  Lichtbilder  in  seinem  Unterricht  verwendet  und  sich  von  einem  er- 
fahrenen und  tüchtigen  Physiker  (Dr.  M.  Koppen)  beraten  ließ.  Die  auf  die  Natur- 
wissenschaften, den  Lichtbilderapparat  selbst  und  seine  Bedienung  während  des 
Unterrichts  bezüglichen  Kapitel  sind  von  letzterem  geschrieben.  So  ist  ein  aus- 
gezeichnetes Werk  entstanden,  dem  die  weiteste  Verbreitung  zu  wünschen  ist. 
Als  unerläßliche  Bedingung  für  eine  gedeihliche  Benutzung  des  Lichtbildapparates 
bezeichnet  der  Verfasser  freilich  das  Vorhandensein  eines  besonderen  Lichtbild- 
zimmers. Ich  möchte  ihm  hierin  nicht  bloß  beistimmen,  sondern  für  größere  An- 
stalten sogar  deren  zwei  verlangen,  eins  für  den  naturkundlichen,  das  andere  für 
den  erdkundlichen  Unterricht,  weil  in  diesen  beiden  Fächern  die  Lichtbilder  fort- 
während und  in  mannigfaltigster  Weise  gebraucht  werden  sollten.  In  den  übrigen 
Fächern  werden  sie  nur  gelegentlich  gezeigt,  und  das  kann  geschehen,  wenn  eins 
der  genannten  Zimmer  frei  ist. 

Berlin.  H.  Hohn. 

Kuhlmann,    F.,    Bausteine    zu    neuen    Wegen    des    Zeichenunterrichts. 

VII.  Heft.    Das  lebende  Tier.    Verlag  von  A.  MüUer-Fröbelhaus.    Dresden  und 

Wien.  40  S.  2  M. 
Den  Nachweis,  daß  und  wie  es  möglich  sei,  im  Schulunterrichte  nach  dem 
lebenden  Tier  zu  zeichnen,  versucht  F.  Kuhlmann  in  dem  siebenten  Heft  seiner 
sog.  „Bausteine*  zu  erbringen,  und  im  allgemeinen  wird  man  seinen  Ausführungen 
willig  folgen  können.  Daß  die  seither  meist  im  Schulzeichnen  gebrauchten  aus- 
gestopften Tiere  fast  immer  doch  nur  ganz  minderwertige  Surrogate  sind,  daß  die 
besten  außerdem  sich  im  Gebrauch  bald  abnützen  und  gräßliche  Zerrbilder  werden, 
hat  wohl  jeder  Zeichenlehrer  selbst  empfunden. 

Kuhlmann  führt  in  überzeugender  Weise  aus,  daß  es  nicht  zu  schwierig  ist, 
nach  einer  ganzen  Anzahl  lebender  Tiere  zu  zeichnen.  Besonders  sind  Skizzier- 
übungen stets  sachgemäßer  nach  lebenden  und  veränderlichen  Objekten  vorzu- 
nehmen, als  nach  den  gleichmäßig  stillhaltenden,  weil  das  bewegliche  Objekt  zu 
viel  intensiverer  Beobachtung  des  Wesentlichen  zwingt  und  die  Auffassungsfähig- 
keit in  ungleich  höherem  Grade  schärft,  als  das  tote.  Auch  wäre  zu  betonen,  daß 
kein  Künstler  nach  dem  ausgestopften  Tier  Tierstudien  machen  würde,  wie  dies 
auch  die  großen  Tierdarsteller,  die  Japaner,  niemals  tun. 

Daß  indessen  dieser  siebente  , Baustein"  ein  neues  Eindringen  in  ein  bis  dahin 
unbekanntes  Gebiet  darstellt,  ist  ein  Irrtum  Kuhlmanns.  Das  lebende  Tier  war 
und  ist  in  englischen  und  amerikanischen  Schulen  schon  längst  ein  Zeichen- 
objekt. Auch  lassen  eine  ganze  Reihe  seiner  preußischen  Kollegen,  zum  Teil 
ganz  unabhängig  von  Kuhlmann,  lange  schon  nach  lebenden  Tieren  im  Schul- 
unterricht zeichnen. 


576  Jessen  und  Stehle,  Kleine  Zahnkunde  usw.,  angez.  von  B.  Habenicht. 

Zuletzt  steht  die  Forderung,  nach  lebenden  Tieren  zu  zeichnen,  in  keiner 
Weise  im  Widerspruch  mit  den  amtlichen  preußischen  Lehrplänen,  die  stets  das 
Zeichnen  nach  den  wirklichen  Dingen,  nicht  nach  Nachbildungen,  gefordert  haben, 
bei  ihrer  knappen  Fassung  die  zu  zeichnenden  Dinge  aber  nicht  einzeln  auf- 
zählen konnten. 

Wannsee.  Philipp  Franck. 

Jessen  und  Stehle,  Kleine  Zahnkunde  für  Schule  und  Haus.  Zugleich 
eine  Handreichung  zu  der  Schulwandtafel  Gesunde  und  kranke  Zähne. 
Straßburg  i.  E.    Ludolf  Beust.    VI  u.  64  S.    8«.    1,40  M. 

Es  haben  65  deutsche  Städte  Schulzahnkliniken  eingerichtet,  in  denen  jedes 
Kind  in  jedem  Semester  untersucht  und  behandelt  wird,  da  festgestellt  ist,  daß  96  ^/^ 
aller  Kinder  kranke  Zähne  haben,  daß  diese  das  Kind  allgemein  kränklich  machen 
und  daß  mit  kranken  Zähnen  meistens  schlechte  Zensuren  verbunden  sind.  Schlechte 
Zähne  tragen  oft  Schuld  an  Schwindsucht,  Bleichsucht,  Hals-  und  Darmkrankheiten. 
Gewarnt  wird  vor  dem  Zuckerbäcker.  Hartes  Schwarzbrot  als  Nahrung  ist  die 
beste  Zahnbürste. 

Das  elementar  geschriebene  Büchlein  bespricht  die  Krankheiten  der  Zähne  und 
ihre  Folgen,  ihre  Verhütung  und  Behandlung  gut  und  gründlich.  Bei  genauer 
Befolgung  wird  es  in  Schule  und  Haus  vortrefflich  wirken. 

Linden-Hannover.  B.  Habenicht. 


Berichtigung  zu  den  Programmabhandlungen  1907. 

Im  laufenden  Jahrgang  S.  190  ist  ein  Irrtum  untergelaufen.  Die  Abhandlung 
im  Jahresbericht  der  Oberrealschule  zu  Weißenfels  über  Steinkreuze  in  der  Saale- 
gegend ist  nicht  von  Direktor  Dr.  Löwisch,  sondern  von  Dr.  Richard  Neumann. 


i.  Abhandlungen. 


Die  höheren  Schulen  und  die  öffentliche  Meinung.*) 

„Niemand  setzt  die  Feder  gerne  für  sich  selbst  an,  sogar  in  gerechter  Abwehr", 
sagt  Jakob  Grimm  einmal,  und  alle  vornehm  denkenden  Menschen  stimmen  gewiß 
in  dieser  Meinung  mit  ihm  überein.  Aber  wenn  man  auch  nicht  gerne  in  eigener 
Sache  zur  Abwehr  greift,  so  können  einen  doch  die  Verhältnisse  dazu  zwingen. 
In  solcher  Notlage  befinden  sich  in  unsern  Tagen  die  Lehrer  der  höheren  Schulen. 
Die  öffentliche  Meinung  hat  sich  in  Deutschland  zu  einer  Abneigung,  ja  sogar 
vielfach  zu  einem  Haß  gegen  das  höhere  Schulwesen  verirrt,  der  unsre  ohnehin  so 
schwierige  Lehr-  und  Erziehungsarbeit  ganz  vergeblich  zu  machen  droht.  Wer 
heutzutage,  sei  es  in  der  Presse,  sei  es  vom  Rednerpult  herab,  gegen  diese  Schulen 
eifert,  der  ist  des  Beifalls  der  Masse  gewiß.  Mögen  auch  seine  Anklagen  noch  so 
übertrieben  und  haltlos  sein,  man  nimmt  sie  ungeprüft  für  wahr  an,  man  jubelt 
ihnen  zu,  man  betet  sie  nach.  Ein  Wilhelm  Ostwald  konnte  vor  einer  Versammlung 
von  über  2000  Zuhörern  die  leidenschaftlichsten  Vorwürfe  wider  das  vermeintliche 
,, Schulelend"  erheben  und  Vorschläge  zu  einer  Verbesserung  machen,  die  sich 
weder  durch  Neuheit  noch  durch  Bestimmtheit  auszeichnen.  Aber  die  Zuhörer 
befanden  sich  offenbar  in  einem  wahren  Rausch  des  Hasses  gegen  alles,  was  Schule 
heißt;  denn  sie  gaben  dem  Vortragenden  so  warm,  ja  zuweilen  stürmisch  ihre 
Zustimmung  zu  erkennen,  daß  er  sich  zu  einem  viel  tausendfältigen.  Abdruck  seines 
Notrufes  ermutigt  sah.  Und  wie  sinnberaubend  haben  erst  die  beiden  Charlotten- 
burger Selbstmorde  gewirkt!  Die  amtliche  Untersuchung  hat  keine  Be- 
ziehungen zwischen  den  Schul  Verhältnissen  und  der  unseligen  Tat  der  beiden  Schüler 
entdecken  können;  die  städtischen  Körperschaften  in  Charlottenburg  haben  sich 
durch  den  gleichlautenden  Bericht  des  Direktors  Hubatsch  für  überzeugt  erklärt, 
und  niemand  hat  nach  seinen  Darlegungen  noch  ein  Wort  der  Kritik  gewagt.  Aber 
die  öffentliche  Meinung,  soweit  sie  durch  einen  großen  Teil  der  Presse  vertreten 


*)  Ich  gebe  dem  Verfasser  des  Buches  „Der  Weg  zum  Herzen  des  Schülers"  (Beck, 
München)  gern  das  Wort  zu  ernster  Mahnung,  da  Weimer  nicht  der  erste  beste  ist,  der 
sich  berufen  fühlt  zu  eindringlichem  Rat,  sondern  ein  Mann,  der  seine  Berechtigung 
durch  jenes  Buch  vollauf  erwiesen  hat  zu  einer  Anregung,  die  so  oder  so  gute  Früchte 
tragen  mag.  Mtth. 

MonatMhrlft  (.  hfib.  Schulen.  VUI.  Jhrg.  37 


578  H.  Weimer, 

wird,  hat  sich' bei  diesem  Ergebnis  nicht  beruhigt.  In  die  Privatwohnungen  sind 
die  Reporter  eingedrungen,  haben  die  Angehörigen  der  beiden  Opfer,  die  Klassen- 
genossen und  deren  Eltern  ausgefragt  und  ausgehorcht,  und  als  wenn  sie  aller  Logik 
bar  wären,  die  seltsamsten  „möglichen"  Gründe  zur  Erklärung  der  Selbstmorde 
herausgefunden.  Angeblich  zu  schwere  und  unvorbereitete  Aufsätze,  eine  vor 
einem  Vierteljahr  —  beinahe  —  verabreichte  Ohrfeige,  die  vorgebliche  Be- 
quemlichkeit eines  einzelnen  Lehrers  wurden  als  solche  bezeichnet.  Ein  innerer 
Zusammenhang  zwischen  diesen  an  den  Haaren  herbeigezogenen  Mängeln  und  der 
Verzweiflungstat  der  jungen  Leute  muß  für  den  ruhig  Überlegenden  als  ausge- 
schlossen gelten;  aber  es  „rast  der  See  und  will  sein  Opfer  haben". 

In  Nürnberg  wirft  sich  gar  ein  zur  Entlassungsrede  aufgeforderter  Abiturient 
zum  Richter  seiner  Lehrer  auf.  Nachdem  er  das  Reifezeugnis  glücklich  in  der 
Tasche  hat,  macht  er  ihnen  im  Angesicht  der  ganzen  Schule  den  Vorwurf  einer 
unzeitgemäßen,  allzu  beengenden  und  nivellierenden  Erziehung.  Ein  nicht  minder 
betrübendes  Vorspiel  dazu  haben  wir  im  vorausgehenden  Jahre  in  Wiesbaden 
erlebt.  Da  benutzte  ein  eben  entlassener  Abiturient  die  Abschiedskneipe,  um  den 
als  Gästen  anwesenden  Lehrern  samt  dem  Direktor  in  der  Begrüßungsrede  einige 
gutgemeinte  Stiche  zu  versetzen.  Wenn  auch  seine  Kameraden  sofort  gegen  ihn 
Stellung  nahmen  und  der  Missetäter  sich  später  zu  einer  Bitte  um  Entschuldigung 
dem  Direktor  gegenüber  veranlaßt  sah:  der  Stachel,  den  man  uns  ins  Fleisch  ge- 
drückt, er  hat  verwundet,  und  es  bleibt  für  immer  die  Narbe  der  peinlichen  Er- 
innerung. Nun  haben  wohl  von  jeher  gar  viele  Abiturienten  mit  ihren  vermeint- 
lichen Peinigern  in  geheimem  Widerstreit  gestanden;  aber  dieser  Gegensatz  wurde 
doch  meist  als  ein  persönlicher,  auf  bestimmte  Individuen  beschränkter  empfunden. 
Den  Mut  zur  offenen  Kritik  am  ganzen  Stande  und  seinen  Leistungen  hat  den 
jungen  Leuten  erst  die  Gewißheit  gegeben,  daß  die  Teilnahme  der  Erwachsenen 
und  ganz  besonders  die  Tagespresse  hinter  ihnen  steht;  nicht  die  beste,  dürfen 
wir  hinzusetzen,  doch  die  meistgelesene  Presse.  Wenn  aber  erst  einmal  die  Mehr- 
zahl der  Schüler  von  dieser  Gewißheit  durchdrungen  ist,  wenn  sie  in  unsrer  Lehr- 
und  Erziehertätigkeit  nur  eine  öffentlich  verurteilte,  zwecklose  Tortur  erblickt, 
dann  dürfen  wir  unsre  Schularbeit  nicht  mehr  mit  ernsten  Augen  ansehen,  dann 
kann  man  auch  uns  mit  spöttischem  Lächeln  zurufen:  Gute  Nacht  Basedow! 

Woher  nun  diese  kritische,  ablehnende,  ja  häufig  gehässige  Stimmung  gegen 
unsre  höheren  Schulen  und  ihre  Lehrer?  Eine  erschöpfende  Antwort  darauf  läßt 
sich  im  Rahmen  eines  kurzen  Aufsatzes  nicht  geben.  Aber  wir  wollen  wenigstens 
versuchen,  die  Hauptwurzeln  dieser  betrübenden  Erscheinung  im  folgenden  bloß- 
zulegen. Die  ganze  Entwicklung  des  höheren  Schulwesens  im  19.  Jahrhundert 
hat  gewiß  ein  gut  Teil  dazu  beigetragen  und  vor  allem  der  Riesenkampf  gegen  das 
Berechtigungsmonopol  des  Gymnasiums.  Dieser  Kampf  wurde  und  konnte  nicht 
in  Fachkreisen  allein  ausgefochten  werden.  Wollten  die  Vertreter  der  minder- 
berechtigten Schulgattungen  siegen,  so  mußten  sie  eine  möglichst  große  Anhänger- 
schar zu  gewinnen  suchen.  So  trug  man  die  Agitation  über  den  Kreis  der  Fach- 
genossen hinaus,  machte  durch  Versammlungen,  durch  Bearbeitung  interessierter 
Berufsvereine,  durch  Massenpetitionen  und  vor  allem  durch  die  Benutzung  der 
Tagespresse  die  öffentliche  Meinung  gegen  das  Gymnasium  mobil.     Auf  diese 


Die  höheren  Schulen  und  die  öffentliche  Meinung.  579 

Weise  wurden  die  mehr  oder  minder  berechtigten  Vorwürfe  der  Weltfremdheit 
und  Rückständigkeit  der  Gymnasialbildung,  der  Vernachlässigung  der  Realien, 
der  Muttersprache,  der  modernen  Fremdsprachen,  der  vaterländischen  Geschichte 
usw.  zum  Gemeingut  der  Masse  gemacht.  Die  Anhänger  der  humanistischen 
Bildung  blieben  die  Antwort  nicht  schuldig.  Sie  lehnten  von  vornherein  das  Ver- 
langen nach  Gleichberechtigung  der  höheren  Schulen  mit  der  Behauptung  der 
Minderwertigkeit  der  Realschulbildung  ab  und  ließen  es  auch  im  Verlaufe  des 
weiteren  Streites  an  derben  Gegenhieben  nicht  fehlen.  Natürlich  appellierten 
auch  sie  durch  Presse  und  Versammlungen  an  die  öffentliche  Meinung,  um  sich 
möglichst  weithin  Gehör  zu  verschaffen.  Der  ganze  Kampf  hat  gewiß  sein  gutes 
gehabt,  und  wenn  es  auch  nur  das  eine  wäre,  daß  das  Berechtigungsmonopol 
des  Gymnasiums  erfolgreich  durchbrochen  wurde.  Jedenfalls  haben  sich  die  Ge- 
müter seit  dem  Erlaß  vom  26.  November  1900  erheblich  besänftigt.  Man  will 
sich  nun  die  gegenseitige  Anerkennung  nicht  mehr  versagen;  man  gibt  auf  beiden 
Seiten  zu,  daß  auch  die  von  den  ^Gegnern  gepriesene  Bildungsart  ihre  Zwecke 
erfüllt.  Wenn  das  aber  heutzutage  die  ehrliche  Meinung  der  Mehrzahl  unsrer 
Kollegen  ist,  dann  muß  man  auch  eingestehen,  daß  —  gewiß  nicht  alle  —  aber  doch 
viele  der  früheren  Angriffe  übertrieben  waren,  daß  man  sich  im  Eifer  des  Gefechts 
zu  Behauptungen  hat  hinreißen  lassen,  die  man  jetzt  bei  nüchterner  Betrachtung 
nicht  mehr  aufrecht  erhalten  kann.  Es  schadet  unsrer  Ehre  gewiß  nichts,  wenn 
wir  Übereilungen  und  Übertreibungen  von  ehedem  heute  zurücknehmen.  Aber 
einen  Fehler  können  wir  so  leicht  nicht  wieder  gut  machen:  was  wir  jahrzehnte- 
lang dem  Publikum  als  tilgungswürdige  Schäden  vorgepredigt  haben,  das  können 
wir  ihm  nicht  kurzer  Hand  wieder  aus  dem  Gedächtnis  reißen.  Es  wird  die  ein- 
zelnen Vorwürfe  vielleicht  vergessen,  aber  die  Gesamtüberzeugung  von  der  Rück- 
ständigkeit unserer  höheren  Schulen  überhaupt,  die  bleibt  haften. 

Sie  bleibt  haften,  weil  neben  und  nach  jenem  Streite  um  die  Berechtigungen 
auch  noch  eine  ganze  Reihe  von  weiteren  Kämpfen  um  Lehrstoff  und  Lehrart 
geführt  worden  sind  und  heute  noch  geführt  werden.  Ich  erinnere  nur  an  das  ge- 
waltige Ringen  um  die  Methode  des  neusprachlichen  Unterrichts,  das  über  1000 
größere  und  kleinere  Schriften  und  Gegenschriften  gezeitigt  hat;  ich  erinnere  an 
die  lauten  Klagen  über  die  Vernachlässigung  unsrer  Muttersprache,  die  Verwerfung 
des  Sprachunterrichts  überhaupt  als  eines  unfruchtbaren  Verbalismus;  ich  er- 
innere an  die  Reformvorschläge  auf  dem  Gebiete  der  religiösen  Unterweisung, 
des  naturwissenschaftlichen,  des  Turn-,  Gesang  und  Zeichenunterrichts.  Kurz, 
es  ist  fast  kein  Zweiglein  und  kein  Blättlein  am  Baum  des  höheren  Unterrichts- 
wesens, an  dem  man  nicht  zu  schütteln  und  zu  rütteln  wagte. 

Daß  man  nun  Besseres  glaubt  an  die  Stelle  des  Alten  setzen  zu  können  und 
vielfach  auch  gesetzt  hat,  das  ist  ja  gewiß  ein  Gewinn.  Die  Stürme  und  Angriffe 
zeugen  von  Interesse  für  die  Sache  der  Jugenderziehung,  sie  zeugen  von  freudigem 
Leben  und  Streben.  Bedenklich  ist  nur  die  Art  des  Kampfes.  Man  wandte  und 
wendet  sich  heute  noch  in  allen  diesen  Streitigkeiten  nicht  nur  an  die  Fachkreise, 
sondern  sucht  die  Öffentlichkeit  für  seine  Sache  zu  gewinnen,  ruft  die  Theologen, 
die  Ärzte,  die  Künstler,  die  Väter  und  Mütter  auf  den  Plan  und  überschwemmt 
die  Tagesblätter  mit  Artikeln  und  Artikelchen.    Und  jeder,  der  etwas  Neues  zu 

37* 


580  H.  Weimer, 

bringen  glaubt,  der  leitet  seine  Vorschläge  mit  dem  alten  Liede  von  der  Rück- 
ständigkeit unsrer  höheren  Schulen  ein. 

Nun  leben  wir  aber  in  einer  sehr  kritikfreudigen  Zeit,  einer  Zeit,  die  in  ner- 
vöser Unruhe  an  allem  nörgelt  und  wühlt,  die  überall  Unzulängliches  sucht  und 
findet.  Gerade  die  führenden  Stände  haben  unter  diesem  Übermaß  der  Kritik 
Zu  leiden.  Die  Geistlichen,  die  Ärzte,  die  Richter,  die  Verwaltungsbeamten,  die 
Offiziere  können  ebensowohl  ein  Lied  davon  singen  wie  wir.  Ist  doch  neuerdings 
der  deutsche  Richterverein  mit  in  erster  Linie  gegründet  worden,  um  seine  Glieder 
und  deren  Arbeit  gegen  ungerechtfertigte  Angriffe  von  selten  des  Publikums  er- 
folgreicher verteidigen  zu  können.  Und  haben  die  literarischen  Erzeugnisse  eines 
Beyerlein,  Bilse,  Freiherrn  von  Schlicht  u.  a.  um  ihrer  künstlerischen  Qualitäten 
willen  einen  so  großen  Leserkreis  gefunden  oder  nicht  vielmehr  wegen  ihrer  kri- 
tischen Stellungnahme  gegen  das  deutsche  Heer  und  sein  Offizierkorps?  Ich 
dächte,  das  Schicksal  gerade  des  Bilseschen  Machwerkes  dürfte  uns  über  diese 
Frage  nicht  in  Zweifel  lassen.  In  einer  solchen  Zeit  müssen  natürlich  auch  die 
radikalen  Gegner  unsrer  höheren  Schulen,  ein  Ludwig  Gurlitt,  Arthur  Bonus  und 
Wilhelm  Ostwald,  leichtes  Spiel  haben.  Sie  sind  des  Beifalls  der  Masse  sicher, 
wenn  sie  die  Phrase  von  der  Rückständigkeit,  ja  Jämmerlichkeit  unsrer  Schulen 
zum  Dogma  erheben. 

Aber  mit  der  Verwerfung  unsrer  Leistungen  allein  ist  es  nicht  getan.  Jeder 
Laie  weiß,  daß  die  höheren  Schulen  als  Bildungsstätten  für  die  leitenden  Kreise 
des  Volkes  eine  sehr  wichtige  Aufgabe  zu  erfüllen  haben.  Sind  sie  dieser  Aufgabe 
nicht  gewachsen,  so  wird  man  nicht  nur  mit  Geringschätzung  auf  sie  blicken,  sondern 
mit  Unwillen;  man  wird  eine  feindliche  Stellung  zu  ihnen  einnehmen.  Daß  diese 
sich  vielfach  zum  Hasse  steigert,  das  hat  wieder  seine  besondern  Gründe,  Um  nur 
einen  zu  nennen:  unsre  Gymnasial-  und  Realanstalten  haben  wertvolle  Berechti- 
gungen zu  verleihen.  Die  wichtigste  Absicht  der  Berechtigungen  ist  aber  die, 
daß  nur  die  Leistungsfähigen  zu  den  Staatsämtern  gelangen.  Je  höher  daher  das 
Amt,  um  so  schwieriger  die  geforderte  Leistung,  Der  reinen  Verwirklichung  dieser 
Absicht  steht  nun  ein  bis  jetzt  unausrottbares  Vorurteil  des  Publikums  entgegen. 
Nur  wer  den  „Schein"  hat,  gilt  in  unserm  Vaterlande  für  gebildet,  und  wer  sich  gar 
bis  zur  Universität  hinaufgearbeitet  hat,  der  erfreut  sich  ganz  besonderen  An- 
sehens. Und  so  zwingt  der  Ehrgeiz  des  Vaters  auch  den  unbegabten  Sohn  zu 
einer  Schullaufbahn,  der  er  nicht  gewachsen  ist.  Durch  muß  er,  er  entehrt  ja 
sonst  die  Familie!  Wie  viel  Tausende  und  Abertausende  von  Jünglingen  sind  schon 
diesem  wahnsinnigen  Streben  geopfert  worden,  den  Lehrern,  den  Eltern  und  sich 
selbst  zur  Qual !  Man  hat  natürlich  meistens  nicht  den  Mut,  sich  das  eigene  Unrecht 
einzugestehen,  sondern  man  eifert  und  geifert  gegen  die  Schule  mit  ihrem  welt- 
fremden, zwecklosen  Lernballast,  man  schilt  auf  die  Lehrer  —  denn  man  trennt 
ja  nicht  die  Person  von  der  Sache  —  mit  ihren  maßlosen  Forderungen,  ihrem  quä- 
lenden Drill  und  ihrer  herzlosen  Strenge.  Hier  hat  der  Haß  gegen  die  Schule  und 
ihre  Lehrer  zuerst  Wurzel  geschlagen,  aus  diesem  Boden  schöpft  er  noch  heute 
die  reichlichste  Nahrung. 

Wir  wollen  uns  nun  einmal  fragen,  was  wir  bis  jetzt  gegen  diese  Entwicklung 
der  öffentlichen  Meinung  getan  haben.    Offenbar  nicht  viel,  wenigstens  nicht  viel 


Die  höheren  Schulen  und  die  öffentliche  Meinung.  581 

Wirksames,  sonst  müßten  wir  den  Verlauf  der  Dinge  doch  in  etwas  zu  unseren 
Gunsten  haben  lenken  können.  Es  ist  wahr,  Kämpfer  wie  der  unersetzliche  Friedrich 
Paulsen,  Wilhelm  Münch,  und  Männer  in  einflußreicher  Stellung,  wie  der  verant- 
wortliche Herausgeber  dieser  Monatschrift,  haben  allezeit  mutig  auf  der  Wehr  ge- 
standen, manchen  Schlag  pariert  und  treffende  Gegenhiebe  ausgeteilt.  Wenn  Not 
an  den  Mann  ging,  sind  sie  auch  von  andern  unterstützt  worden.  Aber  für  die 
Dauer  und  gegen  die  große  Schar  der  Feinde  ist  das  Häuflein  unentwegter  Streiter 
doch  zu  klein.  Hätten  wir  wirklich  keinen  größeren  Heerbann  von  Mitkämpfern 
aufzutreiben?  Ich  glaube  doch.  Die  Geister  müssen  nur  zu  diesem  Kampfe  auf- 
gerufen werden.  Wir  haben  uns  bisher  leider  zu  viel  um  andre  Dinge  gekümmert. 
Wirtschaftliche  Not  hat  uns  bedrückt  und  uns  zu  einem  dringenderen  Kampfe  auf 
den  Plan  gerufen.  Die  Sorge  um  auskömmliches  Gehalt,  um  Klärung  und  Besse- 
rung der  Pensionsverhältnisse  und  vor  allem  das  Ringen  um  die  längst  versprochene 
und  doch  jahrzehntelang  vorenthaltene  Gleichstellung  mit  den  Richtern:  das  alles 
hat  viele  Jahre  hindurch  unser  ganzes  Interesse  und  unsre  Kraft  in  Anspruch 
genommen.  Gott  sei  Dank,  sind  wir  in  diesem  Ringen  siegreich  gewesen  und 
können  uns  nun  dem  wichtigeren  Kampfe  zuwenden  um  die  Anerkennung 
unsrer  Lebensarbeit. 

Wie  aber  sollen  wir  diesen  Kampf  führen?  Die  Anweisungen,  die  ich  als 
Antwort  auf  diese  Frage  im  folgenden  zu  geben  habe,  finden  als  unmaßgebliche 
Vorschläge  vielleicht  einige  Beachtung.  Vielleicht  aber  auch  regen  sie  andre  zum 
Suchen  nach  einer  erfolgreicheren  Taktik  an.  Betont  habe  ich  schon  die  Not- 
wendigkeit einer  größeren  Mitarbeiterschar.  Unsre  wackeren  Vorkämpfer  haben 
bisher  nur  wenige  Blätter  und  Zeitschriften  von  vornehmer  Haltung  zu  Verbrei- 
terinnen ihrer  Gedanken  machen  können.  Eine  größere  Zahl  von  Mitstreitern 
könnte  durch  Heranziehung  von  andren  Zeitungen  schon  rein  räumlich  unsrer 
Verteidigung  einen  größeren  Wirkungsbereich  verschaffen.  Sollten  sich  wirklich 
zu  wenige  freiwillige  Helfer  auf  diesem  Gebiete  finden  —  was  ich  aber  nicht  glauben 
mag  —  so  müßte  die  gesamte  deutsche  Oberlehrerschaft  sich  über  die  Schaffung 
eines  Presseausschusses  einig  werden,  der  wenigstens  im  Falle  ungerechtfertigter 
Anschuldigungen  gegen  die  höheren  Schulen  und  ihre  Leser  sofort  für  wirksame 
Abwehr  sorgte.  Die  Gründung  eines  solchen  Ausschusses  würde  dem  deutschen 
Oberlehrertag  zufallen.*) 

Übrigens  ist  die  Presse  wohl  heutzutage  das  wichtigste,  nicht  aber  das  einzige 
Organ  zur  Ideenverbreitung.  Vorträge  in  Vereinen  oder  ad  hoc  berufenen  Ver- 
sammlungen haben  sich  ebenfalls  von  jeher  als  wirksame  Mittel  zu  diesem  Zwecke 
erwiesen.  Freilich  müßte  —  nach  meinen  Erfahrungen  zu  urteilen  —  alsdann  in 
manchen  Fachvereinen  eine  gründliche  Mauserung  eintreten.     Ich  denke  dabei 


*)  Soeben  erfahre  ich,  daß  man  in  Volksschullehrerkreisen  denselben  Gedanken 
zu  verwirklichen  sucht.  Im  ,,Tag"  wird  am  2.  Oktober  berichtet,  daß  der  deutsche 
Lehrerverein  eine  aus  Fachmännern  bestehende  pädagogische  Zentralstelle  schaffen 
will,  die  unter  anderem  durch  geeignete  Aufsätze  in  der  Presse  „der  heute  leider 
üblichen  Art,  an  der  Schule  Kritik  zu  üben",  entgegenarbeiten  soll.  Besonders  die 
kleinere  Presse  hält  man  für  pädagogisch  schlecht  unterrichtet  und  durch  Fartei- 
standpunkte  verwirrt.     Auf  sie   soll   sich  die  Aufklärungsarbeit  vor  allem  erstrecken. 


582  H.  Weimer, 

hauptsächlich  an  die  Lokalvereine  akademisch  gebildeter  Lehrer.  Hier  haben 
in  den  letzten  Jahren  die  wirtschaftlichen  und  Standesfragen  fast  alles  Interesse 
absorbiert.  Was  daneben  an  geistiger  Nahrung  geboten  wurde,  das  erstreckte 
sich  meist  auf  Vorträge,  die  den  wissenschaftlichen  Sonderinteressen  einzelner 
Mitglieder  ihren  Ursprung  verdankten.  Fragen  rein  pädagogischer  und  besonders 
erziehlicher  Natur  wurden  nur  selten  angeschnitten.  Daß  das  leicht  anders  werden 
kann  und  unter  dem  Druck^der  Verhältnisse  auch  anders  werden  wird,  davon  dürfen 
wir  wohl  überzeugt  sein.  Von  großer  Bedeutung  und  segensreicher  Wirkung  können 
auch  die  Elternabende  sein,  wenn  sie  unter  geschickter,  zielbewußter  Leitung  stehen. 
Und  wenn  neuerdings  in  Berlin  die  Lehrer  sich  mit  den  älteren  Schülern  gelegent- 
lich zu  einem  gemütlichen  Unterhaltungsabend  vereinigen,  so  wird  auch  das  die 
Geister  eher  zusammenführen  als  trennen.  Aber  auch  vor  der  Einladung  des 
Publikums  zu  größeren  Versammlungen,  in  denen  Erziehungsfragen  besprochen 
werden,  dürfen  wir  nicht  zurückschrecken.  Wenn  ein  Ludwig  Gurlitt  die  deutschen 
Städte  bereist,  um  die  öffentliche  Meinung  gegen  die  Schule  mobil  zu  machen, 
dann  dürfen  wir  es  an  einer  ähnlichen  Gegenagitation  nicht  fehlen  lassen. 

Überhaupt,  warum  wartet  man  immer  ab,  bis  man  angegriffen  wird?  Die 
Lage  ist  viel  zu  ernst,  als  daß  man  sich  auf  die  bloße  Verteidigung  beschränken 
dürfte.  Wir  sollten  auch  aus  der  Geschichte  wissen,  daß  der  Angreifende  dem 
Abwehrenden  gegenüber  meist  im  Vorteil  ist.  Der  Hieb  gilt  noch  immer  mit 
Recht  als  die  beste  Deckung.  Also  kehren  wir  einmal  den  Spieß  um  und 
greifen  selber  an!  Der  Vorschlag  klingt  manchem  vielleicht  frivol.  Man  soll 
keinen  Streit  vom  Zaune  brechen,  wenn  die  Not  nicht  dazu  zwingt.  Die  Not! 
Das  ist  es  eben;  die  ist  vorhanden,  und  sie  wird  von  Tag  zu  Tag  größer. 
Selbst  ein  so  erfolgreicher  Kämpe  wie  Friedrich  Paulsen  sah  nur  mit  größter  Be- 
sorgnis auf  die  Zukunft  unsers  höheren  Schulwesens.  Ich  besitze  ein  Zeugnis  von 
seiner  eignen  Hand,  in  dem  er  sich  verzweifelt  über  die  heutige  „verworrene 
Zeit"  äußert. 

Aber  wen  sollen  wir  denn  angreifen?  wird  man  weiter  fragen.  Nun  die, 
die  ihrer  erziehlichen  Aufgabe  sich  heute  am  wenigsten  bewußt  sind,  das  Haus, 
die  Gesellschaft.  Wir  würden  gewiß  ein  Unrecht  begehen,  wollten  wir  sie  nur 
anklagen,  um  eigne  Schuld  von  uns  abzuwälzen.  Das  sei  ferne  von  uns!  Aber 
Haus  und  Umwelt  sind  so  wichtige  Erziehungsfaktoren,  daß  wir  ohne  ihre  Mit- 
arbeit nichts  Ersprießliches  leisten  können.  Wo  sie  versagen,  da  muß  auch  die  Er- 
ziehungsarbeit der  Schule  versagen.  Leider  entbehren  wir  ihrer  Unterstützung 
nur  allzu  sehr;  häufig  sogar  arbeiten  sie  mit  Bewußtsein  heimlich  und  offen  unsern 
Absichten  entgegen.  Die  Mängel  der  Hauserziehung  drängen  sich  uns  allen  ja 
tagtäglich  mit  erschreckender  Deutlichkeit  auf.  Es  ist  daher  nicht  nötig,  an  dieser 
Stelle  sie  einzeln  aufzuzählen.  Und  wer  mit  offenen  Augen  durch  die  Straßen 
unsrer  Städte  geht,  die  Auslagen  der  Buchhändler  und  Ansichtskartenverkäufer 
durchmustert,  einen  Blick  in  die  Kinematographen  und  Biophontheater  mit  ihren 
verlockenden  Reklamebildern  wirft,  wer  die  Kirchweihen,  Jahrmärkte  und  andre 
Volksfeste  mit  ihren  „zeitgemäßen"  Darbietungen  beobachtet  (vom  gesellschaft- 
lichen Nachtleben  in  den  Großstädten  ganz  zu  schweigen),  wer  sich  am  Montag 
Morgen  die  schlaftrunkenen  Gesichter  seiner  Zöglinge  ansieht  und  die  Knaben 


Die  höheren  Schulen  und  die  öffentliche  Meinung.  583 

nach  ihrem  Tun  und  Treiben  am  Vorabend  fragt:  dem  tut  sich  eine  schier  un- 
erschöpfliche Fundgrube  von  Zeit-  und  Gesellschaftssünden  auf,  unter  denen  die 
Jugend  zu  leiden  hat.  Gegen  sie  müssen  wir  ankämpfen  in  Wort  und  Schrift, 
in  der  Öffentlichkeit  und  in  Privatkreisen,  den  Schülern  wie  den  Eltern  gegen- 
über. Zu  solchem  Kampfe  kann  jeder  sein  Teil  beitragen.  Nur  sei  das  eine  nicht 
vergessen:  man  warte  nicht,  wie  es  bisher  meist  geschah,  erst  ab,  bis  die  andern 
uns  anklagen,  sonst  macht  der  Gegenangriff  leicht  den  Eindruck  der  Ausflucht 
und  verliert  dadurch  seine  Wirkung.  Freilich  zu  gehässigen  oder  gar  persönlichen 
Angriffen  darf  dieser  Kampf  in  keinem  Falle  führen;  sonst  bringt  man  sich  von 
vornherein  um  die  beabsichtigte  Wirkung.  Aber  wir  haben  zwei  mächtige  Waffen 
in  diesem  Kampfe:  Tatsachen  und  Belehrung.  Mit  ihrer  Hilfe  können  wir 
Haus  und  Gesellschaft  auf  die  eigenen  Fehler  und  die  eigenen  Pflichten  auf- 
merksam machen;  mit  ihrer  Hilfe  dürfen  wir  hoffen  sie  wieder  zur  Selbst- 
besinnung zu  bringen. 

Und  doch  soll  dies  die  einzige  und  letzte  Kampfesart  noch  nicht  sein.  Wir 
wollen  nicht  die  Rolle  des  selbstgerechten  Pharisäers  spielen,  die  die  Schar  der 
Gegner  bisher  so  gerne  gespielt  hat.  Diese  Rolle  würde  zu  den  schwersten  Schäden, 
sie  würde  zum  Stillstand  und  zur  Versumpfung  führen.  Wir  wollen  und  müssen 
vor  allen  Dingen  Selbstkritik  üben.  Das  heißt  aber,  richtig  verstanden,  nicht 
Kritik  an  der  Gesamtleistung  unsres  Standes  —  die  ist  gar  zu  schwer  und  niemals 
ganz  richtig  abzuschätzen,  wohl  aber  Kritik  des  einzelnen  an  sich  und  seiner  Arbeit. 
Und  auch  bei  ihm  darf  die  Frage  nicht  nur  lauten:  Was  leistest  du?  Was  lernen 
die  Schüler  bei  dir?  Man  kann  ein  Meister  der  Lehrkunst  sein  und  doch  eine  ewige 
Qual  und  Marter  für  die  Schüler.  Es  frage  sich  vielmehr  ein  jeder:  Wie  stehst 
du  zu  deinen  Schülern?  Was  sind  sie  dir  bisher  gewesen?  Was  kannst  du  ihnen 
sein?  Diese  allerpersönlichste  Fra^e  bildet  nach  meiner  Überzeugung  die  Kern- 
frage der  praktischen  Pädagogik.  Es  hat  zu  allen  Zeiten  Klagen  über  Schülernot 
und  Schulelend  gegeben,  und  sie  werden  auch  in  Zukunft  nie  ganz  verstummen; 
aber  es  hat  auch  nie  an  Lehrern  gefehlt,  die  den  Schülern  den  Aufenthalt  in  der 
engen  Schulstube  doch  erträglich  zu  machen,  die  sie  mit  einer  unzerreißbaren 
Kette  an  sich  zu  fesseln  wußten.  Diese  Kette  war  die  Liebe  zur  Jugend.  Sie  ist 
kein  Geschenk,  das  jedem  ungewollt  in  den  Schoß  fällt,  man  muß  ringen  um  sie 
als  um  einen  kostbaren,  unersetzlichen  Schatz.  In  unsrer  Zeit  ist  dieses  Kleinod 
vielleicht  doppelt  schwer  zu  gewinnen,  aber  auch  doppelt  vonnöten.  Denn  wir 
leben  in  einer  Zeit,  wo  die  amtliche  Autorität  des  Lehrers  ihm  nicht  mehr  allein 
weiterhilft;  in  einer  Zeit,  wo  der  M  e  n  sc  h  im  Schüler  mehr  zur  Geltung  kommen 
will.  Da  muß  man  die  Quellen  der  Macht  und  des  erziehlichen  Einflusses  vor  allem 
in  sich  selber  suchen.  Wenn  der  jetzige  Schulstreit  recht  viele  von  uns  zu  solcher 
Einkehr  veranlaßte,  dann  würde  er  letzten  Endes  doch  ein  Segen  sein. 

Wiesbaden.  Hermann  Weimer. 


5  84  J.  Ziehen, 

Zur  Beurteilung  des  Gymnasiums  nacli  Frankfurter  Lelirplan, 

zugleich  ein  Gedenkblatt  für  Waldemar  Gillhausen. 

Gewiß  ist  zurzeit  noch  nicht  der  Augenblick  gekommen,  wo  über  Entstehung 
und  Weiterentwicklung  des  Frankfurter  Lehrplans  die  aktenmäßigen  und  aus  der 
Privatkorrespondenz  der  Beteiligten  stammenden  Quellen  sowie  die  umfangreiche 
Literatur  der  Flugschriften  und  Zeitungsartikel  im  Zusammenhang  veröffentlicht 
werden  können;  für  diese  Aufgabe,  die  der  Zukunft  zufällt,  kann  jetzt  nur  insofern 
vorgearbeitet  werden,  als  allen,  die  dazu  in  der  Lage  sind,  die  Sammlung  und 
Aufbewahrung  des  einschlägigen  Materials  dringend  ans  Herz  gelegt  und  vielleicht 
auch  die  Schaffung  einer  Zentralstelle  in  die  Wege  geleitet  wird,  an  der  ein  Archiv 
für  die  Geschichte  des  Reinhärdtschen  Versuches  seine  Stelle  finden  kann;  es  ist 
wohl  Sache  der  deutschen  Gesellschaft  für  Erziehungs-  und  Schulgeschichte,  in 
dieser  Beziehung  das  Nötige  zu  tun  und  damit  an  einem  sehr  interessanten  Bei- 
spiel zu  zeigen,  wie  sich  die  Sorge  für  schulgeschichtliche  Forschung  dem  Leben 
der  Gegenwart  gegenüber  zu  verhalten  hat. 

Das  privatbriefliche  Aktenstück,  das  ich  auf  Anregung  des  hochverehrten 
verantwortlichen  Herausgebers  dieser  Zeitschrift  und  mit  Genehmigung  des 
Briefempfängers  im  folgenden  als  Beitrag  zu  einer  solchen  Sammlung  von  Quellen- 
material über  den  Frankfurter  Lehrplan  veröffentliche,  stammt  aus  einem  Briefe, 
den  Professor  Waldemar  Gillhausen  im  Frühjahr  1900,  also  in  den  Zeiten  der  hef- 
tigen Erregung  vor  der  Berliner  Schulkonferenz,  an  einen  der  hervorragendsten 
Gegner  des  neuen  Lehrplans  gerichtet  hat;  sein  besondererWert  beruht  auf  der 
Persönlichkeit  des  Verfassers,  die  bei  dem  bedauerlichen  Mangel  eines  biogra- 
phischen Jahrbuches  hervorragender  Schulmänner  leider  eine  ausführliche  Dar- 
stellung noch  nicht  gefunden  hat;  um  so  mehr  ist  es  mir  ein  Bedürfnis,  über  den 
dankbar  verehrten  einstigen  Lehrer  und  späteren  Kollegen  und  Freund  hier  noch 
einige  Worte  hinzuzufügen.  (Vgl.  auch  Programm  des  Frankfurter  Goethegym- 
nasiums Ostern  1903  und  Festschrift  des  Kgl.  Wilhelmsgymnasiums  in  Berlin 
V.  J.  1908,  S.  50  f.) 

Waldemar  Gillhausen  war  ein  Mann  eigner  Kraft  von  geradezu  vorbildlicher 
Art;  am  31.  Dezember  1847  zu  Elfringhausen  im  Kreise  Bochum  geboren,  studierte 
er  nach  Absolvierung  des  Duisburger  Gymnasiums  von  1865  bis  1868  in  Göttingen 
und  Greifswald  klassische  Philologie  und  Geschichte  und  bereitete  sich  während 
einer  zweijährigen  Hauslehrertätigkeit  auf  das  Examen  pro  facultate  vor,  nach 
dessen  Ablegung  er  kurze  Zeit  am  Gymnasium  zu  Friedland  in  Mecklenburg-Strelitz 
eine  Vertretung  innehatte.  Der  Krieg  rief  ihn  zu  den  Waffen,  und  als  Offizier 
der  Reserve  kehrte  Gillhausen  aus  Frankreich  heim,  wo  er  u.  a.  an  der  Belagerung 
von  Paris  teilgenommen  hatte.  Einer  einjährigen  Tätigkeit  als  Probandus  und 
Hilfslehrer  am  Joachimsthalschen  Gymnasium  folgte  Herbst  1872  der  Ruf  als 
ordentlicher  Lehrer  an  das  Kgl.  Wilhelmsgymnasium,  Ostern  1876  die  Berufung 
an  das  Frankfurter  Gymnasium.  Im  Lehrerkollegium  dieser  Anstalt  nahm  Gill- 
hausen von  Anfang  an  eine  hervorragende  Stellung  ein  und  hat  unter  anderm 
für  die  Einführung  der  Perthesschen  Gedanken  und  die  gesamte  Gestaltung  des 


Zur  Beurteilung  des  Gymnasiums  nach  Frankfurter  Lehrplan.  585 

Lehrplans  der  alten  Sprachen  in  Frankfurt  Entscheidendes  geleistet.  Im  Jahre 
1897  mit  an  das  Goethegymnasium  übergetreten,  hat  er  der  Anstalt  bis  kurz 
vor  seinem  Tode  (2.  Juli  1902)  trotz  immer  wiederholter  schwerer  gesundheitlicher 
Heimsuchung  mit  bewundernswerter  Kraft  und  schier  einzig  dastehenden  Unter- 
richts- und  Erziehungserfolgen  gedient  —  ein  Mann  von  hinreißender  Begeisterung 
für  den  Lehrberuf  und  von  einer  Intensität  der  Einwirkung  auf  die  Schüler,  wie 
sie  nur  einer  genialen  Erziehernatur  möglich  ist.  Der  höchsten  Festigkeit  im 
Hinblick  auf  die  Ziele  des  humanistischen  Unterrichts  und  ihre  Erreichung 
trat  bei  Gillhausen  eine  Wärme  der  Empfindung  zur  Seite,  die  nur  auf  dem 
Boden  edler  Vornehmheit  des  Herzens  und  schönster  Reinheit  der  Gesinnung 
gedeihen  kann.  Er  galt  mit  Recht  als  streng;  aber  klarste  Gerechtigkeit 
und  teilnehmendstes  Wohlwollen  nahmen  dieser  Strenge  auch  für  die  Auffassung 
der  Jugend  völlig  ihren  Stachel.  Und  auf  alle,  die  ihm  näher  traten,  war  es  von 
mächtiger  erzieherischer  Bedeutung  zu  sehen,  wie  dieser  von  Krankheit  und  Leiden 
innerlich  bis  zuletzt  ungebeugte  Mann  mit  der  Bescheidenheit  wahrer  Größe  immer 
und  immer  weiterarbeitete  an  der  Bildung  seiner  Persönlichkeit  und  an  der  Ge- 
winnung neuer  innerer  und  äußerer  Mittel  zur  Durchführung  seines  Lehrberufs. 
Mir  ist  kaum  ein  Zweiter  bekannt,  in  dem  der  Geist  der  Altertumswissenschaft 
so  zur  treibenden  Kraft,  das  humanistische  Prinzip  so  lebendig  geworden  wäre 
wie  in  Professor  Gillhausen;  feinste  Urbanität  durchzog  sein  Wesen  und  beherrschte 
sein  Heim,  dem  auch  in  den  trübsten  Zeiten  des  Siechtums  die  Sonne  häuslichen 
Glücks  und  vom  Glauben  an  Ideale  durchwärmter  Lebensauffassung  erstrahlte. 
Wohl  wäre  es  ein  großer  Gewinn  für  sehr  Viele,  wenn  das  Wesen  und  Können 
eines  Schulmannes  wie  Gillhausen  nicht  nur  durch  persönliche  Einwirkung,  sondern 
auch  durch  schriftstellerische  Tätigkeit  in  reichstem  Maße  zur  Geltung  gekommen 
wäre.  Eine  solche  Tätigkeit  hat  Gillhausen  zwar  insofern  entfaltet,  als  er  die 
Perthesschen  Lehrbücher  mit  größter  Sorgfalt  und  Sachkenntnis  wiederholt  neu 
bearbeitet  und  in  seine  Lateinische  Schulgrammatik  gar  manche  Frucht  seiner 
Unterrichtserfahrung  und  Lehrkunst  hineingearbeitet  hat;  aber  wie  vieles  hätte 
er  sonst  noch  geben  können!  Die  Übersetzungen  der  Schulautoren,  die  er,  un- 
ermüdlich feilend  und  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  aus  nachprüfend 
und  verbessernd,  seiner  Tätigkeit  in  der  Schule  mit  zugrunde  legte,  den  köstlichen 
Reichtum  an  Erfahrungen  seiner  von  aller  starren  Systematik  und  Methoden- 
hascherei  freien,  von  genialer  Naturanlage  getragenen  Unterrichtskunst  und  die 
Fülle  seiner  Gedanken  über  den  wissenschaftlichen  Lehrerberuf,  für  dessen  Kämpfe 
um  richtige  ideelle  und  materielle  Wertung  er  volles  Verständnis  hatte,  dessen 
inneren  Wert  aber  hochzuhalten  und  immer  mehr  auszubilden  gleichsam  ein  Lebens- 
prinzip seines,  von  allem  pädagogischen  Banausentum  in  tiefster  Seele  angewiderten 
Wesens  bildete.  Waldemar  Gillhausen  ist  nicht  dazu  gekommen,  hatte  auch  bei 
der  Höhe  der  Anforderungen,  die  er  wie  an  andere  so  erst  recht  an  sich  selber  stellte, 
kaum  das  Verlangen,  all  diese  Gaben  durch  Veröffentlichung  einem  weiteren  Kreise 
zu  spenden.  Und  so  müssen  denn  die,  auf  die  er  mächtig  eingewirkt  hat,  seine 
Schüler  wie  seine  Arbeitsgenossen  und  Freunde,  suchen  festzuhalten,  was  fest- 
zuhalten ist  von  dem  Bilde  und  von  den  Äußerungen  eines  Mannes,  der  ohne  Zweifel 
unter  den  bedeutenden  Schulmännern  unsrer  Tage  einer  der  besten  war. 


586  J.  Ziehen, 

Wir  lassen  nunmehr,  mit  geringen  Auslassungen,  den  Text  des  oben  erwähnten 
Briefes  folgen,  der  nebenbei  wohl  geeignet  ist,  von  Gillhausens  ruhig  klarer  Art 
eine  wohltuende  Vorstellung  zu  geben. 

Professor  W.  Gillhausen  an 

Frankfurt  a.  M.,  d.  14.  Febr.  1900. 
Ihre   Bemerkungen  über  Reinhardts   Re- 


formversuch nötigen  mich,  darauf  einzugehen  und  wenn  auch  in  aller  Kürze  meinen 
Standpunkt  zur  Sache  klar  zu  legen Reinhardt  drückt  sich  etwas  euphe- 
mistisch aus,  wenn  er  in  der  Bremer  Versammlung  (vgl.  das  Humanist.  Gymnas. 
1899  III-IV,  Seite  146)  sagt:  „Als  der  Versuch  an  unserer  Anstalt  unternommen 
wurde,  waren  fast  alle  meine  altsprachlichen  Kollegen  gegen  diesen  neuen  Lehr- 
plan".   Nicht  bloß  alle  altsprachlichen  Kollegen,  sondern  auch  die  Neusprachler 

waren  dagegen Nun  war  es  interessant  zu  beobachten,  wie 

die  einzelnen  Kollegen  allmählich  für  die  höchst  anziehende  Aufgabe,  in  den  ein- 
zelnen Unterrichtsgebieten  den  angemessensten  Lehrgang  zu  finden,  sich  erwärmten 
und  unter  dem  bestrickenden  Einfluß  Reinhardts  sich  für  die  Sache  selbst  be- 
geisterten. Ich  selbst,  der  ich  mein  ganzes  Leben  diesen  Fragen  gewidmet,  konnte 
mich  dieser  Stimmung  nicht  entziehen,  im  Gegenteil,  ich  fand  nun  Gelegenheit, 
vielen  meiner  Anschauungen  eine  breitere  Grundlage  und  eine  ausgedehntere 
Wirkung  zu  geben.  Die  Vervollkommnung  des  Unterrichts,  die  Verfeinerung  und 
Vergeistigung  desselben,  die  früher  der  einzelne  für  sich  angestrebt  hatte,  konnte 
nun  zur  Grundlage  des  ganzen  Systems  gemacht,  von  vornherein  als  Forderung 
aufgestellt  werden.  Für  mich  persönlich  besteht  in  dieser  gründlichen  Revision 
und  Vertiefung  des  Unterrichts  der  Hauptfortschritt  und  Vorzug  der  ganzen  Reform, 
von  der  ich  nichts  sehnlicher  wünsche,  als  daß  sie  für  die  Gesamtheit  der  huma- 
nistischen Gymnasien  festgehalten  und  fruchtbar  gemacht  werden  könnte.  Be- 
schreiben läßt  sich  das  in  der  Kürze  nicht,  das  muß  man  sehen,  erleben,  beobachten. 
Die  Art,  wie  in  den  drei  unteren  Klassen  das  Französische  betrieben  wird,  lockert 
und  fördert,  gestützt  durch  verstärkten  und  geschickt  ausgekauften  Unterricht 
in  der  Muttersprache,  das  allgemeine  Verständnis  und  das  Sprachgefühl  insbe- 
sondere in  einer  Weise,  daß  nun  in  der  Untertertia  das  Lateinische  weder  in  For- 
menlehre noch  in  Syntax  irgend  welche  Schwierigkeiten  bietet,  daß  man  nun  end- 
lich mit  der  uralten  Forderung,  den  mechanischen  Unterricht  auf  das  denk- 
bar geringste  Maß  zu  beschränken,  Ernst  machen  kann.  Das  schließt  natürlich 
die  Gefahr  in  sich,  daß  nunmehr  die  Sicherheit  in  der  Beherrschung  des  sprach- 
lichen Materials  leicht  vernachlässigt  wird,  eine  Gefahr,  die  aber  bei  gewissenhafter 
Amtsführung  mit  ihrer  Erkenntnis  eigentlich  schon  beseitigt  ist.  Und  so  sind 
denn  die  Leistungen  im  Lateinischen  bis  jetzt  unanfechtbar,  selbst  die  Übersetzungen 
ins  Lateinische  stehen  in  der  Reformprima  denen  alten  Stils  nicht  nach,  sind  ihnen 
eher  noch  überlegen.  Ich  selbst  konnte  das  als  Leiter  der  alten  absterbenden 
Klassen  genau  verfolgen.  Unterstützt  werde  ich  in  meinem  Bestreben,  den  Reform- 
unterricht genau  kennen  zu  lernen,  —  von  vornherein  stand  ich  dem  Gesamtplan 
sehr  kühl  und  skeptisch  gegenüber,  und  daran  hat  sich  bis  heute  nichts  geändert 


Zur  Beurteilung  des  Gymnasiums  nach  Frankfurter  Lehrplan.  587 

—  durch  den  glücklichen  Umstand,  daß  meine  Pensionäre  in  den  letzten  Jahren 
sämtlich  der  Reform  angehören,  so  daß  ich  drei  verschiedene  Generationen 
von  unten  an  habe  hinauf  begleiten  können.    Zur  Ergänzung  und  Korrektur 
meiner  häuslichen  Beobachtungen  habe  ich  dann  meine  .  .  ,  Stellung  an  der  Anstalt 
dazu  benutzt,  fleißig  zu  hospitieren.     Ich  habe  mich  da  nun  dem  Eindruck  nicht 
verschließen  können,  daß  der  geistige  Standpunkt  der  Schüler  am  Goethe-Gym- 
nasium —  und  nur  von  diesem  rede  ich,  von  dem,  was  ich  dort  selbst  erlebt  —  im 
ganzen  höher  ist,  daß  sie  gewandter  und  reifer  sind  als  unsre  früheren  Schüler. 
Das  zeigt  sich  wie  in  der  Verarbeitung  der  Lektüre  der  alten  Klassiker  so  auch 
in  den  deutschen  und  Geschichtsstunden.     Ganz  besonders  aber  muß  ich  hervor- 
heben die  überraschende  geistige  Frische,   Regsamkeit  und  Aufnahmefähigkeit, 
wie  auch  die  stark  ausgebildete  Selbsttätigkeit  der  Schüler  auf  allen  Stufen.     Ich 
habe  mich  gegen  diese  Erkenntnis*)  naturgemäß  gesträubt,  mich  ihr  aber  nicht 
verschließen  können.     Es  blieb  für  mich  als  großes  Fragezeichen  nur  noch  das 
Griechische  übrig,  da  ich  mir  nicht  denken  konnte,  wie  man  in  vier  Jahren  ein 
einigermaßen  erträgliches  Resultat  erzielen  wolle.    Aber  auch  da  ist  das  bisherige 
Ergebnis  ein  überraschend  gutes;  alles  Sträuben  dagegen  nützt  nichts,  es  ist  so. 
Die  Formenlehre  wird  in  114  bis  IV,  Jahren  gut  bewältigt,  die  Syntax  durch  scharfe 
Übungen  im  Hinübersetzen  befestigt  und  durch  Fortsetzungen  dieser  Übungen  bis 
in  die  Oberprima  hinein  dauernd  festgehalten,  die  Lektüre  selbst  des  Plato  macht 
in  Unterprima  keine  Schwierigkeiten,  worüber  Ihnen  Herr  Professor  Diels,  der  gerade 
diesen  Teil  des  Unterrichts  mit  besonderem  Interesse  verfolgt  hat,  wohl  genaue  Aus- 
kunft geben  kann.  So  sind  denn  meine  Zweifel  und  Bedenken  in  bezug  auf  die  Mög- 
lichkeit der  Durchführung  der  neuen  Form  allmählich  alle  beseitigt  worden,  wenig- 
stens bei  den  Verhältnissen,  wie  wir  sie  hier  haben.     Begünstigt  oder  überhaupt 
erst  möglich  wurde  die  glückliche  Durchführung  bei  uns  durch  den  Umstand,  daß 
unser  Lehrerkollegium  seit  vielen  Jahren  durch  die  Durchführung  der  Perthesschen 
Grundsätze  ganz  vortrefflich  für  diese  Methode  vorbereitet  war,  ferner  dadurch, 
daß  aus  dem  verhältnismäßig  jungen  Kollegium  des  alten  großen  städtischen 
Gymnasiums  die  gerade  für  die  Reform  passendsten  Kräfte  ausgesucht  werden 
konnten.    Diese  vortrefflichen  Kräfte  entwickelten  nun,  vor  eine  neue,  ebenso 
interessante  wie  schwierige  Aufgabe  gestellt,  natürlich  einen  außerordentlichen 
Eifer  und  zwar  nicht  bloß  in  der  Einzelarbeit,  sondern  erst  recht  in  der  Zusammen- 
arbeit, gegenseitigen  Mitteilung,  Förderung;  eine  Gemeinsamkeit,  wie  sie  so  wahr- 
scheinlich nur  bei  der  Bewältigung  einer  neuen  großen  Aufgabe  sich  herausbilden 
kann.     Denn  da  macht  sich  der  Gedankenaustausch  über  alle  Einzelheiten  des 
Unterrichts  auf  den  verschiedenen  Stufen  ganz  von  selbst,  der  wenigstens  nach 
meinen  Erfahrungen  bei  Kollegen  so  schwer  zu  erzielen  ist.     In  dieser  bewußten 
Zusammenarbeit,  die  natürlich  durch  die  Angriffe  und  scharfen   Beurteilungen 
von  Seiten  der  Vertreter  des  alten  Gymnasiums  nur  befördert  wird,  in  dieser  Durch- 
führung eines  großen  Prinzips,  das  doch  dem  einzelnen  Freiheit  genug  läßt,  sehe 
ich  die  Grundbedingung  des  erzielten  Erfolges.    Dazu  kommt  dann  noch  die  geringe 


♦)  Der  vorhergehende  Satz  ist  nachträglich  eingeschoben.    „Diese  Erkenntnis"  be- 
zieht sich  auf  „gewandter  und  reifer  sind"  usw. 


588  P.  Cauer, 

Schülerzahl,  zirka  25  von  Untertertia  aufwärts,  die  eine  unablässige  Heranziehung 
auch  der  Schlechten  ermöglicht. 

So  übertreffen  denn  die  Resultate,  die  ich  hier  sehe,  alle  meine  Erwartungen; 
sie  sind  auch  keine  Scheinerfolge,  sondern  redlich,  allerdings  in  schnellem  Schritt, 
erarbeitet.  Ob  aber  eine  große  Verallgemeinerung  des  Systems  möglich  und  daher 
ratsam  ist,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden;  dabei  sprechen  zu  viele  Faktoren  mit, 
vor  allem,  wie  mir  scheint,  das  Vorhandensein  geeigneter  Lehrkräfte.  Denn  es 
wird  dabei  bei  dem  Lehrer  mehr  als  ein  Durchschnittsmaß  des  Könnens  wie  des 
Wollens  vorausgesetzt.  Aber  auch  die  finanzielle  Seite  —  geringe  Schülerzahl, 
durchaus  notwendige  Entlastung  der  Lehrer  —  möchte  Schwierigkeiten  bereiten. 
So  ließe  sich  noch  manches  anführen.  Überhaupt  aber  läßt  sich  eine  richtige 
Gesamtwürdigung  der  durch  die  neue  Form  erzielten  geistigen  Bildung  heute  noch 
nicht  recht  gewinnen.  Dazu  gehören  Erfahrungen  der  Universität  und  des  späteren 
Lebens.  Und  diese  sind  nur  schwer  —  in  reiner  Form,  die  Ursache  und  Wirkung 
klar  erkennen  läßt,  wohl  überhaupt  nicht  —  zu  erlangen. 

Ich  glaubte  Ihnen,  hochverehrter  Herr ,  diese  Darlegung  meiner 

Stellung  zur  Reform  schuldig  zu  sein,  und  wenn  sie  etwas  länger  ausgefallen  ist, 
als  ich  beabsichtigte,  so  werden  Sie  das  gewiß  gern  mit  der  Wichtigkeit  des  Themas 
entschuldigen. 

Frankfurt  a.  M.  J  u  1  i  u  s  Z  i  e  h  e  n. 


Wie  studiert  man  Philologie? 

(Ein  kritischer  Versuch.) 

Wilhelm  Freunds  „Hodegetik  für  Jünger  der  Philologie",  1872  zuerst  er- 
schienen, war  in  einer  Reihe  von  Auflagen  fast  unverändert  geblieben  und  da- 
durch so  veraltet*),  daß  der  Verleger  sich  entschlossen  hat,  sie  durch  ein  ganz 
neues  Buch  zu  ersetzen,  welches  jetzt,  von  Otto  Immisch  ausgearbeitet,  als  einer 
von  „Violets  Studienführern"  vorliegt**).  Nicht  lange  vorher  war  dasselbe  Thema 
in  knapperer  Fassung  von  zwei  Seiten  bearbeitet  worden:  von  Wilhelm  Kroll  (da- 
mals in  Greifswald,  jetzt  in  Münster),  zuerst  1905,  und  von  Hanns  Zwicker***). 
Der  Aufforderung  des  Herrn  Herausgebers  der  Monatschrift,  das  Buch  von  Immisch 
hier  anzuzeigen,  glaube  ich  am  besten  so  nachzukommen,  daß  ich  die  beiden  klei- 
neren Schriften  mit  heranziehe,  um  im  Anschluß  an  das  Gebotene  so  viel  wie  mög- 


*)  Vgl.  meine  Anzeige  der  sechsten  Auflage  in  dieser  Monatschrift  IV  (1905),  S.269f. 
**)  Otto  Immisch,  Wie  studiert  man  klassische  Philologie?  Ein  Überblick  über  Ent- 
wicklung, Wesen  und  Ziel  der  Altertumswissenschaft,  nebst  Ratschlägen  zur  zweckmäßigen 
Anordnung  des  Studiengangs.    Stuttgart  1909.    Wilh.  Violet.     IV  u.  192  S.    2,50  M. 

***)  Wilh.  Kroll,  Das  Studium  der  klassischen  Philologie.  Ratschläge  für  angehende 
Philologen.  Zweite  vermehrte  Auflage.  Greifswald  1906.  Julius  Abel.  24  S.  0,50  M.  — 
Dr.  H.  Zwicker,  Wie  studiert  man  klassische  Philologie?  Leipzig  1908.  Arthur  Roßberg. 
74  S.    1,50  M. 


Wie  studiert  man  Philologie?  589 

lieh  diejenigen  Gedanken  ins  Licht  zu  stellen,  die  zur  Anleitung  für  Studenten 
unsres  Faches  mir  selbst  als  die  wichtigsten  erscheinen. 

Die  zweckmäßige  Anlage  des  alten  Freundschen  Buches  hätte  Immisch  getrost 
beibehalten  können,  wenn  er  doch  die  aufs  Praktische  gerichtete  Fragestellung  — 
Wie  studiert  man  klassische  Philologie?  —  beibehielt.  Aber  eben  dies  ist  nur 
scheinbar,  im  Titel,  geschehen.  Den  größten  Teil  des  Raumes  nehmen  theoretische 
Erörterungen  ein;  „praktische  Winke,  den  Gang  und  die  Einrichtung  des  Studiums 
betreffend,"  sind  in  ein  Schlußkapitel  von  12  Seiten  zusammengedrängt.  Zer- 
streut finden  sie  sich  natürlich  auch  in  den  früheren  Partien,  aber  zu  sehr  versteckt. 
Dies  gilt  namentlich  mit  bezug  auf  die  Wahl  der  Lektüre.  Gelegentlich  werden 
Bücher  genannt,  die  der  Student  lesen  solle  oder  die  ein  Philologe  gelesen  haben 
müsse,  auch  wohl  ein  solches,  das  sich  zur  Dedikation  an  einen  Kommilitonen 
eigne  (S.  156).  Aber  ein  geordnetes  Verzeichnis,  wie  es  Freund  unter  der  Über- 
schrift: „Die  Bibliothek  des  Philologie-Studierenden"  geboten  hatte,  fehlt.  Und 
doch  wäre  dies  eine  der  wertvollsten  Hilfen,  die  ein  gedruckter  Ratgeber  dem 
Anfänger  leisten  könnte:  durchdachte  Zusammenstellung  der  fürs  Ganze  wie  für 
die  einzelnen  Disziplinen  wichtigsten  Bücher  und  Abhandlungen,  vor  allem  solcher, 
die  nicht  in  großen  Sammelwerken  von  selbst  sich  darbieten.  Zwicker  hat  in  dieser 
Richtung  wenigstens  einen  Versuch  gemacht,  der  freilich,  sei  es  durch  Willkür 
oder  durch  Zufall,  in  der  Auswahl  etwas  ungleichmäßig  geraten  ist.  Immisch 
empfiehlt  für  das  Sprachstudium  eine  Reihe  bekannter  Handbücher:  Hirt,  Sommer, 
Kühner-Blaß,  Kühner-Gerth,  Landgraf  u.  a.  (S.  159,  161).  Die  könnte  einer  zur 
Not  auch  ohne  Hilfe  finden,  und  sie  sind  alle  mehr  zum  Nachschlagen  als  zum 
Lesen  geeignet.  Pauls  „Prinzipien  der  Sprachgeschichte"  stehen  weniger  nah 
am  Wege  und  sind  so  recht  ein  Buch  zum  Durchstudieren;  Immisch  erwähnt  es 
nicht,  während  sich  in  dem  kurzen  Abriß  von  Kroll  Platz  gefunden  hat,  mit  Nach- 
druck darauf  hinzuweisen*).  Manches  andre,  wie  Georg  von  der  Gabelentz, 
„Die  Sprachwissenschaft,  ihre  Aufgaben,  Methoden  und  bisherigen  Ergebnisse" 
(zuerst  1891),  oder  die  einst  zwischen  Georg  Curtius  und  den  Junggrammatikern 
(1885),  neuerdings  zwischen  Wundt  und  Delbrück  (1901)  gewechselten  Streit- 
schriften, ließe  sich  noch  hinzufügen.  Bei  der  Metrik  gedenkt  Immisch  zwar  der 
durch  Wilamowitz  hervorgerufenen  Umwälzung,  gibt  aber  dem  Belehrung  Su- 
chenden wieder  nur  zwei  Titel  von  Lehrbüchern  (Masqueray  und  Christ).  Daß 
er  Otto  Schroeders  „Vorarbeiten  zur  griechischen  Versgeschichte"  (1908)  dem 
Studenten  nicht  zumutet,  wird  man  billigen;  sie  enthalten  wohl  im  Grunde  ge- 
borgen manches  edle  Metall,  /aXeiu^v  8e  t  6puoosiv  av5paoi  ^e  OvtjtoToi.  Da- 
gegen sind  Wilamowitz'  metrische  Einzelschriften**)  zwar  auch  keine  Unterhaltungs- 
lektüre, doch  für  den  verständlich,  der  ernsten  Willen  mitbringt  sich  einzuarbeiten. 
Wer  dergleichen  in  dem  Augenblick,  wo  er  sich  —  vielleicht  in  den  Ferien  —  der 


*)Auch  z.  B.  in  der  „Anleitung  zum  Studium  der  französischen  Philologie"  von  Eduard 
Koschwitz  (2.  Aufl.  Marburg  1900,  S.  93)  einem  Buche,  das  freilich  bei  der  Masse  seiner 
Literaturangaben  die  nützliche  Wirkung  der  einzelnen  kaum  recht  aufkommen  läßt. 

**)  Commentariola  metrica.  1. 1 1.  Göttinger  Lekt.-Kat.  1895.  —  Des  Mädchens  Klage. 
Eine  alexandrinische  Arie.  Göttinger  Nachr.  1896.  —  Choriambische  Dimeter.  Berliner 
Berichte  1902. 


590  P.  Cauer, 

Metrik  zuwenden  will,  nicht  sofort  von  einer  Bibliothek  erlangen  kann,  mag  mit 
der  Erklärung  der  Chorpartien  in  den  von  Ewald  Bruhn  herausgegebenen  Tra- 
gödien (Bakchen  und  Iphigenie  auf  Tauris,  Antigone  und  König  Ödipus)  den  An- 
fang machen.  Überall  handelt  es  sich  da  um  Auffassung  und  Würdigung  be- 
stimmter, an  sich  interessanter  Gedichte;  Untersuchungen  darüber  bieten  dem, 
der  in  die  Wissenschaft  eindringen  möchte,  einen  besseren  Anhalt  als  die  syste- 
matische Darstellung  in  einem  Handbuch.  Für  genauere  Nachweisungen  dieser 
Art  würde,  wie  in  der  Metrik  so  in  andren  Disziplinen,  der  Student  dem  Verfasser 
einer  Hodegetik  sehr  dankbar  sein. 

Auch  mit  allgemeinen  Richtlinien  kann  man  ihm  nützen.  „Der  Herr  Kandidat 
merke  sich  eins:  daß  ein  Buch  studieren  besser  ist,  als  in  Journalen  blättern"  — 
so  schreibt  Oskar  Jäger  in  seinem  Pädagogischen  Testament.  Gilt  das  gleiche 
für  den  Studierenden?  Das  läßt  sich  so  einfach  nicht  beantworten.  Das  Leben 
der  Wissenschaft  pulsiert  zum  guten  Teil  in  den  Spezialforschungen,  die  in  perio- 
dischen Publikationen  niedergelegt  werden;  wer  von  diesem  Leben  berührt  werden 
will,  darf  hier  nicht  fern  bleiben.  Unmöglich  aber,  was  Zwicker  (S.  43)  zu  meinen 
scheint  und  wovor  Immisch  (S.  136)  wenigstens  nicht  warnt,  daß  jemand  ver- 
suchen sollte,  alle  wichtigeren  Zeitschriften  mit  stetiger  Kenntnisnahme  zu  be- 
gleiten. Das  mag  dem  Professor  vorbehalten  bleiben,  bei  dem  das  Mannigfaltige, 
was  dort  geboten  wird,  schon  eine  Voraussetzung  findet;  der  Student  sollte  sich 
zur  Regel  machen,  an  einzelnen  Aufsätzen  und  Abhandlungen  immer  nur  das 
zu  lesen,  was  für  ihn  einen  Zusammenhang  hat.  Wenn  ihn  Kolleg  oder  Lektüre 
auf  eine  Frage  führen,  die  ihn  lockt,  so  mag  er  ihr  mit  Gründlichkeit  nachgehen,. 
vor  allem  sich  bemühen,  die  Behandlung  desselben  Gegenstandes  bei  verschiedenen 
Gelehrten  kennen  zu  lernen,  Streitfragen  mit  zu  erleben.  Im  ganzen  aber  sind 
auch  für  ihn  Bücher  mehr  zu  empfehlen  als  Aufsätze,  eben  weil  sie  den  Zusammen- 
hang von  sich  aus  geben,  der  eins  ans  andre  knüpft.  Nur  sei  das  nicht  der  Zu- 
sammenhang der  Einordnung  in  ein  System,  sondern  der  des  Fortschrittes  leben- 
diger Gedanken.  Mit  andren  Worten:  der  Anfänger  lese  nicht  Handbücher,  in 
denen  ein  Wissen  dargestellt  ist,  sondern  Monographien,  in  denen  es  gewonnen 
wird;  nicht  Christs  Literaturgeschichte,  sondern  Rohdes  Griechischen  Roman, 
nicht  Prellers  Mythologie,  sondern  Useners  Götternamen  und  Sintflutsagen.  Ein 
gutes  Wort  in  diesem  Sinne  wird  bei  Immisch  vermißt;  ja,  indem  er  wiederholt 
(z.  B.  S.  136,  167,  177)  die  Notwendigkeit  allseitiger  Orientierung  betont,  leistet 
er,  ohne  es  zu  wollen  (vgl.  S.  175),  der  schülerhaften  Meinung  Vorschub,  man  könne 
aus  übersichtlichen  Gesamtdarstellungen  das  Wesentliche  sich  aneignen.  Hand- 
bücher sind  ja  gut  zum  Nachschlagen,  zum  Nachlesen  bei  augenblicklichem  Bedarf; 
als  eigentliche  Lektüre  genossen  sind  sie  langweilig  und  machen  oberflächlich.. 
Bei  der  letzten  Vorbereitung  auf  ein  Examen  mögen  sie  immerhin  ihre  Dienste 
tun;  doch  je  weniger  diese  in  Anspruch  genommen  zu  werden  brauchen,  desto 
vernünftiger  war  das  Studium,  desto  besser  wird  das  Ergebnis  sein. 

Mit  der  Feder  in  der  Hand  zu  lesen,  ist  eine  gute  alte  Regel.  Vielleicht  nochr 
besser:  mit  dem  Bleistift,  zu  vorläufigem  Notieren  der  Stellen,  die  merkenswert 
erscheinen.  Überblickt  man  sie  nachher  im  ganzen,  so  treten  einige  hervor,  andre 
zurück.    Beziehungen  werden  deutlich,  mit  deren  Hilfe  die  Wortfassung  für  den 


Wie  studiert  man  Philologie?  59t 

Auszug  treffender  gelingt;  was  man  wörtlich  auszuheben  und  aufzuheben  wünschte, 
läßt  sich  schärfer  begrenzen  und  knapper.  Denn  dies  ist  nun  auch  wichtig:  daß 
man  nicht  allzu  viel  aufschreibt,  nicht,  wie  es  wohl  ein  Eifriger  anfängt,  um  nach- 
her in  der  Arbeit  zu  ersticken,  vollständige  Inhaltsangaben  wissenschaftlicher  Werke. 
Von  einer  schwer  zugänglichen  Abhandlung,  deren  man  glücklich  einmal  habhaft 
geworden  ist,  mag  zu  erneutem  Gebrauch  der  ganze  Gedankengang  fixiert  werden. 
Im  übrigen  gelte  der  Grundsatz,  nur  das  festzuhalten,  was  dem  Leser  persönlich 
besonders  interessant  ist,  d.  h.  was  den  Fragen,  mit  denen  er  gerade  jetzt  an  die 
Lektüre  heranging,  am  entschiedensten  entspricht  oder  zu  neuen  Fragen  den  fühl- 
barsten Stachel  enthält.  Exzerpieren  ist  eine  Kunst,  für  deren  Ausübung  der 
Student  in  einer  Hodegetik  einigen  Rat  finden  müßte,  zu  der  übrigens  auch  in 
den  oberen  Klassen  der  Schule  schon  angeleitet  werden  kann,  eines  der  natür- 
lichsten Mittel,  um  auf  die  freiere  Arbeitsweise  der  Hochschule  vorzubereiten. 

Was  vom  Lesen  gelehrter  Schriften  gesagt  ist,  gilt  ebenso  von  dem  wichti- 
geren der  alten  Autoren  selbst:  auch  hier  Sammlungen  anlegen,  nicht  nach  über- 
nommenem Schema,  sondern  nach  persönlichem  Interesse;  und,  damit  solches 
rege  bleibe,  immer  das  vornehmen,  was  eine  Anknüpfung  hat  und  eine  Folge  haben 
kann !  Es  müßte  seltsam  zugehen,  wenn  nicht  diese  oder  jene  Vorlesung  schon  des 
ersten  Semesters  manchen  Gesichtspunkt  ergäbe:  ein  Kulturverhältnis,  einen  histo- 
rischen Hintergrund,  eine  literarische  Beziehung,  ein  Gedankenelement,  worauf 
überall  zu  achten  wäre,  auch  wohl  eine  sprachliche  oder  stilistische  Erscheinung,, 
die  zu  verfolgen  sich  lohnt.  Und  wo  solcher  Trieb  noch  nicht  geweckt  ist,  da  kann 
ein  Interpretationskolleg,  das  gerade  gehört  wird,  wenigstens  einen  äußeren  Anhalt 
geben.  Wird  eine  Tragödie  oder  Komödie  erklärt,  so  lese  der  Student  in  diesem 
Semester  nebst  nachfolgenden  Ferien  entweder  alle  von  demselben  Dichter  — 
wie  bei  Aischylos,  Sophokles,  Terenz  —  oder  doch  eine  größere  Zahl;  sind  es  Proben 
aus  einem  Historiker,  so  ist  das  der  beste  Anlaß,  ihn  ganz  zu  lesen.  Immisch  emp- 
fiehlt, daß  sich  Freunde  zu  gemeinsamer  Arbeit  zusammentun  (S.  185);  gewiß 
praktisch.  Aber  auf  den  Gedanken  kommen  auch  Neulinge  leicht  von  selbst; 
sind  sie  doch  alle  einmal  in  Prima  gewesen.  Nötiger  wäre  in  einem  gedruckten 
Ratgeber  die  Empfehlung  nicht  allzu  vieler,  doch  mit  Bedacht  ausgewählter  Kom- 
mentare, nicht  ohne  Angabe  des  Preises.  Eine  sehr  gute,  im  Grunde  ja  selbst- 
verständliche, doch  keineswegs  immer  von  selbst  verstandene  Regel  gibt  Kroll 
(S.  12):  zur  Vorbereitung  auf  eine  genauere  Interpretation  die  Schrift  oder  den 
Abschnitt,  der  den  Gegenstand  bildet,  schnell  im  ganzen  durchzulesen.  Das  gilt 
nicht  nur  im  Hinblick  auf  die  mündliche  Interpretation  eines  Professors,  sondern 
auch  da,  wo  man  einen  gedruckten  Kommentar  privatim  sich  vornimmt.  Viele 
Einzelzüge  sind  nur  im  Gedanken  an  das  Ganze  zu  verstehen,  andre  gewinnen 
doch  so  erst  ein  rechtes  Leben;  und  aus  den  so  besser  gewürdigten  Teilen  bildet 
sich  nachher  wieder  eine  vollere  Anschauung  des  Ganzen.  Auch  dies  ein  Ver- 
fahren, das  schon  auf  der  Schule,  wenigstens  für  deutsche  Dichtwerke,  geübt  werden 
kann  und  soll,  und  in  dem  das  Grundgesetz  alles  philologischen  Erkennens  wirk- 
sam wird.  Immisch  erörtert  dieses  Gesetz  (S.  128,  144),  aber  ohne  entschiedenen 
Ansporn  zu  täglicher  Befolgung  und  ohne  Bücheier  zu  nennen,  der  doch  wohl  als 
erster  (in  seiner  Rektoratsrede,  Bonn  1878)  dieses  Verhältnis  scharf  gefaßt  hat. 


592  P.  Cauer, 

Daß  es,  wie  für  den  einzelnen  Leser  und  Denker,  so  im  großen  für  das  Fort- 
schreiten der  Wissenschaft  gilt,  ist  gewiß  richtig;  ja,  diese  Betrachtung  verleiht 
einer  Geschichte  der  Philologie  ihr  eigentliches  Interesse.  Solches  aber  im  Rahmen 
einer  Hodegetik  zu  befriedigen,  ist  wohl  unmöglich.  Was  hier  an  Geschichte  unsrer 
Wissenschaft  geboten  wird,  muß  praktisch  gerichtet  sein.  Es  gibt  eine  Menge 
gelehrter  Werke  aus  älterer  und  alter  Zeit,  die  sozusagen  zum  Handwerkszeug  des 
Philologen  gehören;  deren  genaue  Bezeichnung  und  zeitliche  Einordnung,  die  der 
Anfänger  oft  sucht,  bringt  man  besser  in  einem  knappen  Verzeichnis  als  in  einer 
Vorlesung.  Immischs  „Überblick  über  die  Geschichte  der  Philologie"  (Kap.  II), 
mehr  als  die  Hälfte  des  ganzen  Buches  umfassend,  macht  den  Eindruck  eines  ge- 
druckten Kollegheftes.  Darin  finden  sich  ja  auch  jene  Angaben,  zum  Teil  —  wie 
für  Photius,  Stephanus,  Scaliger,  Bentley  —  in  brauchbarer  Ausführung,  zum  Teil 
jedoch  dürftig  und  unzureichend;  so  für  Aristarch,  Varro,  Suidas.  Festus  ist  über- 
haupt nicht  genannt;  von  Lambin  heißt  es:  „f  1573;  seine  Art  hält  etwa  die  Mitte 
zwischen  Vettori  und  Muret."  Was  hat  er  geschrieben?  fragt  der  Student.  Ihm 
hat  der  Verfasser  in  diesem  und  dem  folgenden  Kapitel  („Begriffliche  Grund- 
legung") das  Zurechtfinden  auch  dadurch  erschwert,  daß  es  dem  Druck  an  äußerer 
Übersichtlichkeit  fehlt;  bis  zu  zehn  Seiten  muß  man  ohne  Absatz  lesen.  Viel 
zweckmäßiger  war  doch  das  Verfahren  des  alten  Freund,  für  die  bedeutendsten 
Förderer  unsrer  Wissenschaft  von  Eratosthenes  bis  damals  zu  Ritschi  kurze  bio- 
graphischet  und  genaue  bibliographische  Notizen  zu  geben.  In  wie  unglaublicher 
Gestalt  manchmal  Bestellzettel  eingehen,  davon  wissen  unsre  Bibliothekare  zu 
erzählen.  Wir  wollen  nicht  darüber  spotten,  lieber  Sorge  tragen,  wo  guter  Wille 
vorhanden  ist  einem  empfangenen  Anstoß  zu  folgen,  über  ein  Buch  oder  einen 
Mann,  die  erwähnt  wurden.  Genaueres  zu  erfahren,  daß  da  die  Frage,  wie  das  nun 
anzufassen  sei,  keine  Schwierigkeit  bereite.  Das  beste  ist  ja,  wenn  der  Professor 
Notizen  und  Gedanken  zu  verbinden,  notwendige  Voraussetzungen  in  einer  Form 
zu  geben  weiß,  daß,  wer  sie  nicht  könnt,  ausreichend  belehrt,  wer  sie  schon  kannte, 
nicht  gelangweilt  wird.  Aber  nicht  jeder  versteht  diese  Kunst  so  wie  einst  Ritschi. 
Und  bei  manchem  temperamentvollen  und  anregenden  Dozenten  wird  man  damit 
rechnen  müssen,  daß  er  über  Titelangaben  und  Jahreszahlen  gern  schnell  hinweg- 
geht. Für  dergleichen  ist  dann  ein  gedruckter  Ratgeber  da;  Reflexionen  über  die 
Entwicklung  der  Wissenschaft  wird  man  bei  ihm  nicht  suchen. 

Vortrefflichen  Anhalt  für  den,  der  mit  philologischer  Denk-  und  Arbeitsweise 
innere  Fühlung  zu  gewinnen  wünscht,  bietet  die  Lektüre  von  ausführlichen  Bio- 
graphien bedeutender  Forscher;  der  Mann,  mit  dem  was  er  durchlebt  hat,  fesselt 
den  Jüngling  und  zieht  ihn  mit  fort.  Das  weiß  Immisch  zu  würdigen  (S.  20); 
interessant  wäre  es,  auch  für  den  Erfahreneren,  welche  Auswahl  er  empfiehlt. 
„Die  Titel  der  betreffenden  Biographien",  heißt  es  statt  dessen,  „sind  leicht  zu 
finden;  die  empfehlenswertesten  sind  zusammengestellt  im  Anhang  von  Wilhelm 
Krolls  kurzgefaßter  Geschichte  der  klassischen  Philologie"  (Leipzig,  Göschen, 
1908).  Hätte  er  auf  das  Vorhandensein  dieses  nützlichen  kleinen  Buches  lieber 
dadurch  Rücksicht  genommen,  daß  er  den  Gegenstand  nicht  zum  zweitenmal  in 
ähnlichem  Umfang  behandelte!  Und  wenn  es  doch  geschehen  mußte,  warum 
hat  er  nicht  wenigstens  die  Gelegenheit  benutzt,  den  Vorgänger  zu  ergänzen? 


Wie  studiert  man  Philologie?  593 

Die  Ausschließung  der  Gegenwart  mag  in  dem  Werkchen  von  Kroll,  das  eben 
als  „Geschichte"  auftritt,  sich  rechtfertigen  lassen;  in  einem  praktischen  „Studien- 
führer" gebührte  ihr  ein  reichlicher  Raum.  Nun  ist  es  so,  daß  Erwin  Rohde  be- 
handelt wird  und  Wilamowitz  nicht,  weil  der  eine  uns  entrissen  ist,  der  andre  noch 
lebt  und  schafft;  in  einer  neuen  Auflage  wäre  Albrecht  Dieterich  leider  zu  berück- 
sichtigen; doch  um  über  Diels  und  seine  Arbeiten  etwas  zu  erfahren,  müßten  die 
Studenten  noch  warten  —  hoffentlich  recht  lange.  Ist  dies  gleich  eine  Methode, 
so  hat  sie  doch  wenig  Sinn. 

Besser  entsprechen  dem  eigentlichen  Zwecke  des  Buches  zwei  mittlere  Kapitel: 
das  schon  erwähnte  dritte  (Begriffliche  Grundlegung)  und  das  vierte,  „Das  Ge- 
samtgebiet und  seine  Gliederung,  Übersicht  und  erste  Orientierung".  Die  ein- 
zelnen Disziplinen  sind  hier  gut  charakterisiert,  das  Verhältnis  zu  verwandten 
Wissenschaften,  wie  Geschichte  und  Sprachwissenschaft,  sachgemäß  dargelegt. 
Auch  über  das  Wesen  der  Philologie  als  solcher  und  ihre  Methode  wird  Treffendes 
gesagt.  Boeckhs  Enzyklopädie,  Useners  Rektoratsrede  von  1882,  „Philologie  und 
Geschichtswissenschaft",  sind  benutzt  und  genannt  (S.  119;  115,  125).  Aber  hier 
hätte  wieder  an  Literatur  mehr  gegeben  werden  können.  Wenn  die  eigenen  Aus- 
führungen des  Verfassers  nur  wenig  gekürzt  wären,  so  würde  Raum  gewonnen 
worden  sein,  um  die  Stellen  nachzuweisen  —  meist  in  Festreden  und  Gelegen- 
heitschriften —  wo  überhaupt  die  namhaftesten  Vertreter  der  Altertumswissen- 
schaft sich  über  deren  Aufgaben  und  die  Mittel  zu  ihrer  Lösung  ausgesprochen 
haben:  Bücheier  (dessen  schon  bei  der  Kunst  des  Lesens  gedacht  wurde),  Ernst 
und  Georg  Curtius,  Moriz  Haupt,  Gottfried  Hermann,  Otto  Jahn,  Adolf  Kirchhoff 
(Rede  zur  Feier  des  3.  August  1884),  Lachmann,  Mommsen  (Über  das  Geschichts- 
studium, 1874)  Ritschi,  Vahlen,  Wilamowitz.  Neben  den  Biographien  geben 
Schriften  dieser  Art  einen  Anhalt,  um  unter  persönlicher  Führung  in  bedeutende 
Zusammenhänge  einen  Einblick  zu  gewinnen. 

Je  freier  ein  junger  Philologe  sich  von  Anfang  an  über  das  Verhältnis  seiner 
Wissenschaft  zu  den  Nachbargebieten  orientiert,  desto  sicherer  wird  er  unter  diesen 
das  oder  diejenigen  treffen,  denen  er  selbst  nach  persönlicher  Neigung  und  Geistes- 
anlage ein  bestimmteres  Interesse  zuwenden  will.  Wenn  auf  diese  natürliche 
Weise  die  Wahl  von  „Nebenfächern"  zustande  kommt,  so  braucht  nicht  mit  un- 
mittelbarer Sorge  an  das  Examen  gedacht  zu  werden.  Mit  seiner  Warnung,  nicht 
allzu  früh  auf  dieses  Ziel  den  Blick  einzustellen,  hat  Immisch  (S.  180)  sicher  recht.*) 


*)  Nützlich  wirlten  könnten  nacli  dieser  Seite  hin  auch  die  Prüfungsbestimmungen,  wenn 
sie  mehr,  als  zurzeit  der  Fall  ist,  diejenigen  Stellen  ins  Auge  fassen  wollten,  an  denen 
wissenschaftliche  Vertiefung  und  pral<tische  Verwendbarkeit  zugleich  gefördert  werden 
können.  Nächst  alter  Geschichte  ist  der  klassichen  Philologie  keine  Wissenschaft  so  nahe 
verwandt  wie  die  Archäologie,  aus  keiner  würde  der  Lehrer  des  Lateinischen  und  Griechischen 
für  seine  Schüler  mehr  Nutzen  ziehen  können;  und  doch  wird  die  Beschäftigung  damit  von 
Amts  wegen  geradezu  gehemmt,  weil  keine  Möglichkeit  vorgesehen  ist,  von  den  Erfolgen 
solches  Studiums  anders  als  innerhalb  der  lateinischen  und  griechischen  Prüfung  Rechen- 
schaft abzulegen.  Wohl  begründet  war  deshalb  eine  Resolution,  die  auf  Georg  Loeschckes 
Antrag  von  der  Pädagogischen  Sektion  der  Baseler  Philologen-Versammlung  im  Jahre  1907 
gefaßt  wurde:  zu  befürworten,  „daß  ein  volles  Zeugnis  erteilt  werde,  wenn  der  Kandidat 
die  Prüfung  in  Griechisch  und  Latein  für  alle  Klassen  und  eine  Prüfung  in  Archäologie,  die 
Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  38 


594  P.  Cauer, 

Doch  hat  er  diesen  Punkt  etwas  zu  kurz  abgetan;  dem  Ungeschickten,  dem  Ängst- 
lichen, der  mit  gutem  Willen  um  Rat  sich  bemüht,  sollen  wir  helfen.  Und  der 
Verfasser  eines  „Studienführers"  wäre  der  nächste  dazu.  Meiner  Erfahrung  nach 
macht  nicht  so  vielen  die  Gewinnung  eines  dritten  oder  vierten  Faches  Schwierig- 
keit, als  die  Erfüllung  der  allgemeinen  Forderungen  in  Religion,  Philosophie,  Päda- 
gogik und  Deutsch,  die  sogenannte  Sufficit-Prüfung  oder  „Kultur-Prüfung". 
Immisch  handelt  davon  gar  nicht,  während  Zwicker,  der  die  „Examinas"  (so!) 
überhaupt  ausführlicher  bespricht,  auch  hier  Winke  und  Ratschläge  erteilt,  aller- 
dings nicht  in  sehr  ermutigendem  Sinne,  Auch  ein  eifriger  Student,  meint  er, 
der  es  mit  seinen  Fachstudien  ernst  nehme  und  sie  fern  von  handwerksmäßiger 
Art  betreibe,  tue  doch  ganz  recht,  „wenn  er  sich  bei  der  Vorbereitung  zur  Kultur- 
prüfung mit  dem  begnüge,  was  zu  einem  guten  Bestehen  des  Examens  erforder- 
lich ist.  Denn  ein  künstliches  Einpauken  vieler  Zahlen  und  einzelner  unzusammen- 
hängender Tatsachen  speziell  für  den  Examenstag  hat  ja  nicht  den  geringsten 
Sinn"  (S.  65). 

Also  für  jeden,  der  nicht  gerade  eine  Fakultas  in  den  entsprechenden  „Fächern" 
zu  erwerben  gedenkt,  ist  die  Beschäftigung  mit  deutscher  Literatur,  mit  religiösen 
Fragen,  mit  philosophischen  Problemen  eine  aufgepackte  Last?  bestenfalls  ein 
notwendiges  Übel?  —  Unglaublich!  Aber  nehmen  wir  einmal  an,  es  sei  so:  wäre 
es  da  nicht  immer  noch  das  Beste,  aus  der  Not  eine  Tugend  zu  machen,  zu  sehen, 
ob  sich  der  unbequemen  Pflicht  etwa  doch  eine  gute  Seite  abgewinnen  läßt? 

Wer  deutsche  Knaben  und  Jünglinge  nicht  nur  als  Spezialist  in  Fachkennt- 
nissen unterrichten,  sondern  als  Lehrer  helfen  soll  sie  zu  Menschen  zu  bilden, 
muß  darauf  bedacht  sein,  mit  dem  Gedankenkreise,  in  dem  sich  seine  Schüler  be- 
wegen, vertraut  zu  bleiben,  möglichst  viele  ihrer  Interessen  auch  selber  zu  pflegen. 
Nur  so  wird  er  finden,  von  wo  aus  er  sie  packen,  wie  er  den  Zugang  zu  ihrem  inneren 
Leben  gewinnen  soll.  Und  welcher  Weg  wäre  da  natürlicher,  als  der  durch  die 
Literatur  des  eignen  Volkes?  Von  jeder  Wissenschaft  führen  Brücken  dorthin- 
über,  die  meisten  und  breitesten  aus  der  des  Philologen.  Es  ist  nicht  banausische 
Examenvorbereitung,  sondern  freudige  Berufserfassung,  wenn  ein  Student  dies  von 
vornherein  ins  Auge  nimmt  und,  je  mehr  er  sich  in  Römer  und  Griechen  —  oder 
in  Engländer  und  Franzosen  —  einliest  und  einlebt,  desto  mehr  den  Beziehungen 
nachgeht,  durch  die  sie  auf  deutsche  Dichtung  und  deutsches  Geistesleben  Ein- 
fluß geübt  haben.  Anlaß  und  innerer  Trieb,  weiter  zu  dringen,  werden  von  selbst 
sich  einstellen.  Brachte  der  Zug  zum  Klassischen  für  Goethe  eine  Vertiefung 
seines  Wesens  oder  eine  Entfremdung  von  angeborener  Art?  Wie  ist  in  unsrer 
von  den  Alten  scheinbar  ganz  abgewandten  Zeit  eine  Erscheinung  wie  Hofmanns- 
thals Elektra  zu  verstehen?  Wer  mit  offenem  Sinn  für  solche  Fragen  der  Zeit 
des  Examens  entgegengeht,  wird  nicht  auf  den  ungeheuerlichen,  ihn  selbst  — 
oder  seine  Examinatoren?  —  beschämenden  Gedanken  kommen,  durch  Repetition 


deren  Vertreter  abzunehmen  hat,  bestand".  —  Möchte  die  oberste  Unterrichtsverwaltung  es 
nicht  verschmähen,  dieser  Anregung  nachzugeben;  so  gut  wie  philosophische  Propädeutik 
müßte  auch  Archäologie,  bei  einem  für  die  Oberstufe  ohnehin  voll  befähigten  Philologen, 
als  drittes  Fach  gelten  können.  (Ich  darf  wohl  hinzufügen,  daß  ich  persönlich  diesem 
Wunsche  von  ganzem  Herzen  zustimme.     Mtth.) 


Wie  studiert  man  Philologie?  595 

aus  Kluges  Literaturgeschichte  seiner  allgemeinen  Bildung  aufzuhelfen.*)  Nicht 
anders  steht  es  mit  der  Religion,  der  evangelischen  jedenfalls,  von  der  allein  ich 
sprechen  kann.  Daß  wir  die  Unterweisung  darin  nicht  einfach  der  Kirche  über- 
lassen, hat  doch  seinen  guten  Sinn.  Religion  soll  nicht  wie  etwas  Fremdes,  für 
sich  Abgeschlossenes  in  der  Gedankenwelt  eines  Menschen  stehen,  sondern  soll 
ein  Element  sein,  das  mit  allen  andern  sich  berührt  und  verbindet,  überallhin 
Wirkungen  ausübt  und  empfängt.  Dafür,  daß  sie  im  Geist  und  im  Herzen  eines 
Heranwachsenden  diese  Stellung  gewinne,  hat  vorab  der  Religionslehrer  zu  sorgen. 
Doch  jeder  andere  kann  und  soll  helfen,  indem  er  in  sich  das  Bewußtsein  des  Anteils 
wach  erhält,  den  seine  eigene  Wissenschaft  am  religiösen  Leben  der  Gegenwart 
hat,  sei  es,  daß  sie,  wie  die  Naturwissenschaft,  mit  scheinbar  bedrohlichen  Konse- 
quenzen in  eine  Weltanschauung  ausmündet,  oder  daß  sie  unmittelbar  zum  Ver- 
ständnis der  uns  überlieferten  Religion  beiträgt.  Die  Probleme,  die  deren  Ur- 
sprung umgeben,  sind  philologischer  Art,  nicht  nur  in  der  Evangelienkritik,  son- 
dern auch  in  der  Analyse  der  Vorstellungen,  die  in  das  Christusbild  der  Kirche 
eingegangen  sind.  Ein  junger  Philologe,  der  nur  ein  bescheidenes  Maß  von  Lektüre 
nach  dieser  Seite  verwendet,**)  daneben  —  zu  notwendiger  Ergänzung  seiner  grie- 
chischen Studien  —  einige  Schriften  des  Neuen  Testamentes  mit  Aufmerksamkeit 
liest,  öffnet  sich  überall  neue  Pforten,  findet  immer  mehr  innere  Verbindung  zwi- 
schen der  Wissenschaft,  der  er  dient  und  von  deren  Geist  er  seine  Schüler  einen 
Hauch  möchte  verspüren  lassen,  und  der  Religion,  die  als  ein  von  den  Vätern 
ererbtes  Gut  frisch  zu  erwerben  eine  große  Aufgabe  jeder  tieferen  und  freieren 
Bildung  ist.  Will  man  dies  alles  „Vorbereitung  aufs  Kulturexamen"  nennen  — 
der  Name  soll  uns  nicht  kränken. 

Etwas  anders  steht  es  für  die  Philosophie.     Hier  wird  längeres  Verweilen, 


*)  Mit  Kopfschütteln  lese  ich  bei  Koschwitz,  wo  er —  für  das  französische  Fachstudium 

—  das  Hören  literargeschichtiicher  Kollegien  empfiehlt,  diese  Mahnung  (S.  119):  „Beim 
Nachschreiben  versäume  man  nicht,  auch  die  vorgetragenen  Inhaltsangaben  aufzuzeichnen, 
die  man  in  den  Handbüchern  oft  schmerzlich  vermißt  und  deren  Kenntnis  doch  bei  den 
Prüfungen  gefordert  wird."  —  Daß  Studenten  und  Kandidaten  etwas  Nützliches  zu  tun 
meinen,  wenn  sie  den  Schein  eigener  Belesenheit  durch  Aneignung  übernommener  Inhalts- 
angaben hervorzurufen  suchen,  erleben  wir  täglich;  aber  daß  ein  Professor  dazu  anleitet ? 

—  oh,  oh! 

**)  Ein  paar  Beispiele  mögen  deutlicher  machen,  wie  das  gemeint  ist:  von  Soden,  Die 
wichtigsten  Fragen  im  Leben  Jesu  (Ferienkurs-Vorträge),  1 904;  Otto  Pfleiderer,  Das  Christus- 
bild des  urchristlichen  Glaubens  in  religionsgeschichtlicher  Beleuchtung,  1903;  Brückner, 
Der  sterbende  und  auferstehende  Gottheiland  in  den  orientalischen  Religionen  und  ihr  Ver- 
hältnis zum  Christentum,  1908  (aus  den  religionsgeschichlichen  Volksbüchern).  —  Daß 
einem  künftigen  Mitarbeiter  an  „höherem  Unterricht"  Adolf  Harnack  nicht  ganz  fremd  bleibt, 
darf  doch  wohl,  ohne  Rücksicht  auf  irgend  welchen  Examenszwang,  für  selbstverständlich 
gelten.  Nimmt  er  Hermann  Schells  „Christus"  hinzu  (1903,  aus  der  bei  Franz  Kirchheim  in 
Mainz  erscheinenden  ,, Weltgeschichte  inCharakterbidern"),  so  gewinnt  er  eine  Anschauung, 
wie  sich  das  Evangelium  und  sein  Stifter  in  den  Augen  eines  geistvollen  und  edeldenkenden 
Katholiken  unsrer  Zeit  darstellen.  Endlich  sollte  ein  Philologe,  dem  Textvergleichung 
und  Übersetzen  einen  Hauptteil  der  eigenen  Lebensarbeit  ausmachen,  nicht  unterlassen, 
Paul  de  Lagardes  Streitschrift  „Die  revidierte  Lutherbibel  des  Hallischen  Waisenhauses" 
(1885)  zu  lesen,  woraus  ihm  über  das  Thema  hinaus  reicher  Gewinn  erwachsen  könnte. 

38* 


596  P.  Cauer, 

selbständiges  Eindringen  erfordert,  aber  nicht  als  etwas  äußerlich  Hinzukommendes, 
sondern  als  wesentlicher  Teil  der  Beschäftigung  mit  dem  Altertum.  Piaton  und 
Aristoteles  gehören  zu  denjenigen  Autoren,  mit  denen  jeder  Philologe  einiger- 
maßen bekannt  werden  muß;  willkommen  wäre  ihm  ein  Vorschlag  von  kundiger 
Seite,  in  welcher  Auswahl  und  welcher  Reihenfolge  er  lesen  soll.  Nichts  der  Art 
gibt  Immisch;  auch  davon  sagt  er  nichts,  daß  man  wie  die  beiden  Großen  so  ihre 
Vorgänger  und  Nachfolger  aus  den  Quellen  studieren  solle,  wofür  ein  so  hand- 
liches Buch  wie  Ritters  und  Prellers  Historia  philosophiae  Graecae  et  Romanae 
zur  Verfügung  steht.  Was  der  Rat  Suchende  bei  Immisch  (S.  176  f.)  findet,  sind 
nur  einige  halb  empfehlende,  halb  warnende  Worte  über  die  Bedeutung  zusammen- 
fassender Kollegien  auf  diesem  Gebiete.  Wichtiger  ist  es  wohl  bei  der  neueren 
Philosophie,  daß  jemand  sie  nicht  bloß  aus  Büchern  kennen  lerne,  sondern  durch 
lebendigen  Vortrag.  Geschieht  es,  nachdem  er  sich  in  die  griechische  schon  ein- 
gearbeitet hat,  so  ist  ihm  voraus  ein  leitender  Gesichtspunkt  gegeben:  zu  sehen, 
wie  die  uralten  Fragen  unter  veränderter  Gestalt  immer  wieder  hervortreten.  Auch 
einen  äußeren  Anhalt  gibt  es,  um  Altes  und  Neues  fruchtbar  zu  verbinden,  die 
gelehrte  Terminologie,  die  mehr  Achtung  und  Beachtung  verdient,  als  Immisch 
(z.  B.  S.  32)  für  sie  in  Anspruch  nimmt.  Zu  den  nützlichsten  Büchern,  die  ein 
Student  im  ersten  Semester  lesen  kann,  gehören,  obwohl  heute  fast  vergessen, 
Trendelenburgs  Elementa  logices  Aristoteleae,  23  Seiten  griechischer  Text  mit  Über- 
setzung und  inhaltreichen,  einst  für  Primaner  bestimmten  Anmerkungen.  Wer 
sie  durcharbeitet,  sieht  nicht  nur  Logik  entstehen,  sondern  wissenschaftliches  Denken 
überhaupt,  und  mag  von  da  den  Trieb  empfangen,  überall  in  der  sich  verfeinernden 
Begriffsbildung  die  Entwicklung  der  Probleme  zu  verfolgen. 

Ein  Gespräch  von  einer  halben  Stunde  über  Zusammenhänge  dieser  Art  sollte 
für  einen,  der  wirklich  gearbeitet  hat,  etwas  Schreckendes  sein?  auch  nur  beson- 
derer Vorbereitung  bedürfen?  Denn  so  wollen  wir  doch  die  „allgemeine  Prüfung" 
ansehen,  wie  Wilhelm  Münch  sie  einmal  treffend  bezeichnete,  „als  ein  freies,  aber 
eindringendes  Zwiegespräch  zur  Ermittlung  der  allgemeinen  geistigen  Reife,  des 
Interesses  und  des  Weltverständnisses  des  Kandidaten"  (NJb.  16  (1905)  S.  568). 
Daß  es  Examinatoren  gibt,  die  sie  anders  verstehen  und  daraus  wieder  ein  Stück 
Fachexamen  machen,  ist  allerdings  möglich.  Und  mehr  als  möglich,  niederdrückende 
Wirklichkeit  ist  es,  daß  die  amtlichen  Bestimmungen  selber  solchen  Irrtum  be- 
fördern, ja  beinahe  ihn  uns  aufdrängen,  indem  sie  das  Ergebnis  eines  Gedanken- 
austausches, in  dem  Geistesart  und  Entwicklungsstand  eines  Menschen  gewürdigt 
werden  sollten,  zu  einem  „Genügend"  oder  „Nicht  genügend"  formuliert  ver- 
langen. Der  Wunsch,  daß  es  hierin  besser  werde,  richtet  sich  nicht  mehr  an  die, 
welche  studieren. 

Auch  für  das  letzte  der  „Sufficit-Fächer",  die  Pädagogik,  könnte  wohl  mehr 
geschehen,  um  guten  Willen  und  Arbeitseifer,  die  doch  meistens  vorhanden  sind, 
auf  den  rechten  Weg  zu  lenken.  Das  Entscheidende  ist  hier,  daß  der  Student 
möglichst  bald,  nicht  dies  oder  jenes  Wissen  sich  aneigne,  aber  den  Stachel  be- 
komme, darauf  zu  achten  und  darüber  zu  sinnen,  wie  sich  all  das  Schöne,  was  er 
kennen  lernt  und  im  Innern  erlebt,  dereinst  in  die  hohe  Aufgabe  einfügen  wird, 
zur  Erziehung  der  Jugend,  zur  Veredlung  der  Zukunft  unsres  Volkes  beizutragen. 


Wie  studiert  man  Philologie?  597 

Dies  ist  der  Punkt,  in  dem  sich  Immischs  Ansicht  und  die  meinige  am  schärfsten 
trennen.  Ausdrücklich  wünscht  er  durch  sein  Buch  dem  Anfänger  die  Notwendig- 
keit klar  zu  machen,  daß  Hochschulphilologie  und  Gymnasialphilologie  auseinander 
gehalten  werden.  „Zunächst  kommt  es  vor  allem  darauf  an,"  so  lesen  wir  S.  19, 
„daß  er  sich  der  Tatsache  des  Unterschiedes  bewußt  sei  und  weiterhin  der  daraus 
sich  ergebenden  Folgerung,  daß  er  in  seiner  Universitätszeit  nahezu  ausschließlich 
mit  der  Philologie  als  reiner  Wissenschaft  und  nicht  mehr  mit  ihrer  gymnasialen 
Anwendung  zu  tun  hat."  Genau  das  Gegenteil  erscheint  mir  als  das  Richtige. 
„Was  in  des  Wissens  Land  Entdecker  nur  ersiegen,  entdecken  sie,  ersiegen  sie 
für  euch !"  das  sei  die  Gesinnung  des  Lehrers  zur  Jugend.  Und  ihm  selbst  in  seiner 
frohen  Zeit  des  Sammeins  und  Empfangens  wollen  wir  zurufen:  Was  immer  du 
lernen  magst,  du  lernst  es  für  deine  künftigen  Schüler,  nicht  zu  unveränderter 
Weitergabe,  doch  zu  mittelbarer,  innerlicher  Verwertung.  An  solche  denkt  wohl 
auch  Immisch;  aber  er  wirkt  ihr  mit  Kraft  entgegen,  wenn  er  da  einen  äußerlich 
hervortretenden  Unterschied  einschärft,  wo  alles  darauf  ankommt,  den  tiefen 
geistigen  Zusammenhang  aufzudecken  und  greifbar  zu  machen. 

Daß  das  Altertum,  in  dessen  historischem  Verständnis  die  Wissenschaft  fort- 
schreitet, im  Unterrichte  nach  wie  vor  als  etwas  Normatives  zu  behandeln  sei, 
„klassisch"  im  Sinne  von  „vorbildlich",  wird  immer  noch  von  vielen  ernsthaft  ge- 
glaubt. Immisch  möchte  vermitteln  (S.  132  f.);  das  kann  nicht  gelingen,  nachdem 
er  selbst  sich  zur  Trennung  bekannt  hat.  Und  allgemein,  wie  sollen  wir  unsrer 
Lehre  Herz  zu  Herzen  schaffen,  wenn  wir  von  dem,  was  im  Grunde  unser  Herz 
bewegt,  der  Jugend  nicht  sprechen  dürfen?  Wie  soll  die  Jugend  Gedanken,  An- 
sichten, Urteile  annehmen  und  sich  ihrem  Einfluß  hingeben,  die  künstlich  aufrecht 
erhalten  werden,  deren  Überlebtheit  dem  Primaner  zu  zeigen  ein  Blick  über  die 
Mauern  der  Schule  hinaus  genügt?  Das  Altertum,  wie  soll  es  als  Element  eines 
unaufhaltsam  weiter  sich  entwickelnden  Lebens  wirken,  wenn  es  selbst  als  etwas 
Fertiges,  Unzugängliches  dazwischen  steht?  Schon  einmal  (NJb.  14  (1904)  S.  182) 
habe  ich  an  Heinrich  Weinel  erinnert,  was  er  in  seinem  schönen  Buche  „Jesus  im 
XIX.  Jahrhundert"  (1903;  S.  64)  von  der  scheinbar  zerstörenden,  in  Wahrheit 
bauenden  und  lebenfördernden  Wirkung  der  Bibelkritik  sagt:  „Als  Strauß  seine 
Zerstörungsarbeit  getan  hatte,  da  ist  der  historische  Jesus  mit  Macht  lebendig 
geworden.  Kein  Jahrhundert  vorher  hat  sich  so  um  ihn  gemüht,  so  heiß  danach 
getrachtet,  seine  wahren  geschichtlichen  Züge  zu  schauen,  keines  hat  ihn  so  in 
die  großen,  die  Zeit  bewegenden  Fragen  hineingestellt  und  eine  Antwort  aus  dem 
Munde  des  schlichten  Mannes  von  Nazareth  gesucht,  wie  dieses  Jahrhundert  der 
Kritik."  —  Kritisches  Bemühen  ist  die  Form,  in  der  unser  Geschlecht  sich  mit 
den  Mächten,  die  ihm  etwas  bedeuten,  auseinandersetzt.  Zu  diesen  Mächten 
gehört  das  klassische  Altertum.  Auch  dieses  wird  nur  dann,  dann  aber  erst  recht, 
als  eine  lebendige  Kraft  sich  erweisen,  wenn  es  von  der  stark  flutenden  Bewegung 
modernen  Daseins  und  Denkens  mit  ergriffen  wird.  Wer  es  vorsichtig  absondert 
und  in  einmal  gewonnener  Auffassung  festlegt,  um  ihm  gleichmäßig  dauernde 
Verehrung  zu  sichern,  der  wirft  es  zu  den  Toten.  Als  Problem  unerschöpflich, 
als  Gegenstand  der  Forschung  immer  neu  sich  darstellend,  so  soll  es  unter  uns 
fortwirken,  um  unser  eignes  Leben  mit  immer  erneutem  Einfluß  zu  befruchten. 


598  A.  Tilmann, 

Von  dieser  Zuversicht  durchdrungen  zu  werden,  ist  das  Erste  und  das  Letzte, 
dessen  ein  Jünger  der  klassischen  Philologie  heute  bedarf;  sie  zu  wecken  und  zu 
nähren  die  vornehmste  Aufgabe  dessen,  der  lehrend,  beratend,  leitend  an  der  Bil- 
dung eines  heranwachsenden  Lehrergeschlechtes  mitarbeitet. 

Münster  i.  W.  P  a  u  1  C  a  u  e  r. 


Die  Friedrich  Althoff -Stiftung. 

Diese  Stiftung  ins  Leben  gerufen  „zum  ehrenden  Andenken  an  die  Wirk- 
samkeit des  früheren  Direktors  im  Kultusministerium  Wirklichen  Geheimen  Rats 
Dr.  Friedrich  Althoff"  soll  nach  den  Bestimmungen  ihrer  Satzung  allen  denjenigen 
Berufskreisen  zugute  kommen,  die  zu  seinem  Geschäftsbereich  gehört  haben. 
Wie  er,  da  er  noch  im  Amte  war,  sich  nicht  damit  begnügte,  aus  den  öffentlichen 
Mitteln,  wo  es  not  tat,  soweit  irgend  möglich  zu  helfen,  sondern  bemüht  war,  hier- 
über hinaus  Hilfsquellen  zu  erschließen,  so  stellt  nach  seinem  Ausscheiden  diese 
auf  seine  Veranlassung  durch  die  hochherzige  Entschließung  seines  Freundes, 
des  Geheimen  Regierungsrats  Dr.  v.  Böttinger  begründete  Stiftung  sich  gleichsam 
als  Denkmal  hin  seines  von  warmer  christlicher  Nächstenliebe  getragenen  Be- 
strebens Bedrängten  und  Notleidenden,  deren  es  in  jedem  Stande  gibt,  tatkräftig 
und  wirksam  zu  helfen,  zugleich  aber  auch  als  ein  sichtbares  Zeichen  der  Stärke 
des  Bandes,  das  ihn  mit  den  Menschen  und  Dingen  verknüpfte,  welche  das  Amt 
ihm  näher  brachte. 

Daß  der  bei  Gründung  dieser  Stiftung  leitende  Gedanke  die  Fürsorge  aus 
den  Mitteln  der  staatlichen  Unterstützungsfonds  sowie  der  lokalen  und  provinziellen 
Hilfskassen  zu  ergänzen,  einem  praktischen  Bedürfnisse  entspricht,  beweist  die 
bisherige  Erfahrung.  Seit  Konstituierung  des  Vorstandes  im  Frühjahr  d.  J.  sind 
zahlreiche  Unterstützungsgesuche  eingegangen,  die  zum  größten  Teil  haben  be- 
rücksichtigt werden  können.  Die  gewährten  Beihilfen  sind  mit  e  i  n  e  r  Ausnahme 
Angehörigen  des  höheren  Lehrerstandes  zugefallen.  Der  Vorstand  war  bei  seinen 
Entschließungen  beraten  durch  die  Vorsitzenden  der  Provinzialvereine,  die  sich 
gern  bereit  fanden,  nähere  Auskünfte  über  die  Gesuchsteller  zu  geben.  Bisher 
sind  insgesamt  4400  M.  zur  Verteilung  gebracht,  ein  schöner  Anfang,  davon  fielen 
auf  Berlin-Brandenburg  500  M.,  500  M.,  500  M.,  300  M.,  300  M.,  300  M.,  200  M., 
200  M.,  200  M.,  auf  die  Rheinprovinz  300  M.,  300  M.,  300  M.,  auf  die  Provinz  Posen 
300  M.,  auf  die  Provinz  Hessen-Nassau  200  M.  Wer  die  Gesuche  gesehen  hat, 
weiß,  in  welch  trübe  Verhältnisse  dabei  ein  warmer  Sonnenstrahl  gefallen  ist. 
Vornehmlich  waren  es  Witwen  und  ältere  Fräulein,  die  durch  besondere  Umstände 
in  Bedrängnis  geraten  waren,  denen  geholfen  werden  konnte. 

Die  Stiftung  ist  noch  nicht  genügend  bekannt.  Das  beweist  schon  die  Ver- 
teilung der  gewährten  Beihilfen  auf  die  einzelnen  Provinzen,  vor  allem  aber  die 
Tatsache,  daß  die  Beitrittserklärungen  bisher  in  verhältnismäßig  geringer  Zahl 
(aus  Oberlehrerkreisen  etwa  520)*)  erfolgt  sind.    Möchten  diese  Zeilen  dazu  bei- 


*)  Am  L  April  1909  betrug  die  Gesamtzahl  der  Stellen  für  wissenschaftliche  Lehrer 
einschließlich  Direktoren  9219.    Die  Zahl  520  ist  demgegenüber  verschwindend.    Wenn 


Die  Friedrich  Althoff-Stiftung.  599 

tragen,  daß  hier  weitere  größere  Fortschritte  gemacht  werden.  Was  Althoff, 
der  die  einzelnen  Bestimmungen  der  Satzung  selbst  auf  das  sorgfältigste  erwogen 
hat,  vorschwebte,  war  das  Ziel,  den  korporativen  Geist,  der  sich  namentlich  bei 
den  Oberlehrern  tatkräftig  gezeigt  hat,  fruchtbar  zu  machen  für  diese  schöne 
Aufgabe.  Möge  das  Andenken  an  ihn,  dessen  Initiative  in  der  Gestaltung  der 
inneren  und  äußeren  Verhältnisse  der  höheren  Schulen  nicht  hoch  genug  an- 
geschlagen werden  kann,  ebenso  dazu  beitragen,  daß  jenes  Ziel  erreicht  wird, 
wie  die  Überzeugung,  daß  hier  etwas  Praktisches  geschaffen  ist,  was  den  be- 
teiligten Kreisen  zum  größten  Segen  gereichen  kann. 

Der  Geheime  Regierungsrat  v.  Böttinger  hat  der  mit  einem  Kapital  von 
100  000  M.  gegründeten  Stiftung  weitere  20  000  M.  zugewendet.  Hierzu  kommen 
20  000  M.,  die  für  Unterstützungszwecke  zur  Verfügung  standen  und  auf  deren 
Verwendung  die  Delegiertenversammlung  der  Provinzialvereine  zugunsten  der 
Friedrich  Althoff-Stiftung  verzichtet  hat.  Außerdem  ist  zu  erwarten,  daß  von  der 
nach  Althoffs  Tode  veranstalteten  Sammlung  ein  Betrag  von  30  000  M.  der  Stiftung 
zufließen  wird.  Das  ist  gewiß  ein  ansehnliches  Ergebnis,  aber  wie  gering  erscheint 
es  im  Verhältnis  zu  dem  weiten  Umfange  der  gesteckten  Ziele.  Möchten  die  Ober- 
lehrer eingedenk  der  warmen  Beziehungen,  die  sie  mit  dem  Manne  verbanden, 
dessen  Name  die  Stiftung  ziert,  ein  besonders  gutes  Beispiel  geben  und  der  Stiftung 
zu  einer  breiten  starken  Unterlage  verhelfen!  Dann  wird  auch  der  Wunsch  in 
Erfüllung  gehen,  den  §  1  der  Satzung  dahin  formuliert:  „Indem  die  Stiftung  nach 
dem  Maße  ihrer  Mittel  mit  bezug  auf  diese  Berufskreise  eine  Fürsorge  im  Geiste 
der  Botschaft  Kaiser  Wilhelms  des  Großen  vom  17.  November  1881  und  der  Aller- 
höchsten Kundgebungen  vom  18.  Januar  1896  und  17.  November  1906  einleitet, 
möchte  sie  zugleich  einen  Vorgang  zu  weiteren  Gründungen  ähnlicher  Art  bilden". 

Der  laufende  Beitrag  beträgt  jährlich  3  M.  An  Stelle  des  laufenden  Beitrages 
kann  ein  einmaliger  Beitrag  von  50  M.  treten.  Die  Beitrittserklärungen  sind  unter 
Einzahlung  des  Beitrages  zu  richten  an  die  Preußische  Zentralgenossenschafts- 
kasse  Berlin,  C.  2,  Am  Zeughaus  2,  Konto  der  Friedrich  Althoff-Stiftung. 

Unterstützungsgesuche  sind  zu  senden  an  den  Vorstand  der  Friedrich  Althoff- 
Stiftung,  Berlin  W.  64,  Wilhelmstraße  68. 


man  bedenkt,  wie  Althoff  sich  Zeit  seines  Amtes  gemüht  hat,  daß  die  Gehälter  der 
Oberlehrer  in  die  Höhe  kamen,  auf  welcher  sie  jetzt  sind,  wie  seine  Gedanken  beständig 
darauf  gerichtet  waren,  daß  auch  dann,  wenn  Not  und  Sorge  über  die  Oberlehrer  oder 
über  ihre  Hinterbliebenen  kamen,  vorgesorgt  sei,  wie  seine  letzte  große  Stiftung  diesem 
Ziele  galt  und  wie  selbstlos  er  in  materieller  Beziehung  an  sich  und  die  Seinen  gedacht 
hat,  dann  möchte  man  wünschen,  daß  der  Name  Althoff  durch  eine  lebhaftere  und 
dankbarere  Beteiligung  an  seiner  Stiftung  geehrt  würde.  Und  ganz  abgesehen  davon  — 
wenn  man  erfahren  hat,  wie  groß  oft  die  Not  in  Oberlehrerfamilien  ist  und  wie  dann 
schnelle  Hilfe  bei  mangelnden  Mitteln  nicht  möglich  ist,  dann  muß  man  dieser 
Stiftung  eine  viel,  viel  regere  Beteiligung  wünschen,  als  ihr  bisher  aus  den  zunächst 
beteiligten  Kreisen  zuteil  geworden  ist.  Fernerstehende,  die  gar  keinen  Vort.il  von 
der  Stiftung  haben,  haben  aus  Pietät  für  den  Dahingeschiedenen  große  Summen 
gezeichnet.  Wir  möchten  wünschen,  daß  auch  sie  die  Empfindung  haben,  daß  die  zunächst 
Beteiligten  sie  nicht  imStiche  lassen.  Aber 520  gegen 921 9!  Das  ist  eine  klaffende  Lücke! 

Mtth. 


60Ö  A.  Tilmann, 

Die  Vertreter  des  höheren  Schulwesens  im  Vorstande  sind  Geheimer  Re- 
gierungsrat Realgymnasialdirektor  Professor  Walther  in  Potsdam,  Professor 
Dr.  Lortzing  in  Wilmersdorf,  Professor  Dr.  Krüger  in  Groß -Lichterfelde  und 
Professor  Dr.  Möller  in  Berlin. 

Der  die  Geschäfte  führende  Ausschuß  besteht  aus  dem  Generaldirektor  der 
Königlichen  Bibliothek  Wirklichen  Geheimen  Oberregierungsrat  Professor  Dr. 
Harnack,  dem  Abteilungsdirigenten  Wirklichen  Geheimen  Oberregierungsrat 
Dr.  Schmidt  sowie  dem  Unterzeichneten. 

Die  Geschäftsstelle  befindet  sich  im  Kultusministerium,  Berlin  W.  64, 
Wilhelmstraße  68. 

Der  Unterzeichnete  ist  zu  Auskünften  gern  bereit. 

Gr.-Lichterfelde.  A.  Tilmann. 


t.  Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  in  die  Quellen  des 
römischen  Rechts.  -—  IL  Die  Anfängerkurse  im  Griechischen 
für  Studierende  der  juristischen,  medizinischen  und  der  philo- 
sophischen Fakultät.  —  III.  Reifezeugnisse  der  Studierenden 
der  preußischen  Universitäten. 

I.  Im  Sommersemester  1909  haben  an  den  Kursen  zur  sprachlichen  Ein- 
führung in  die  Quellen  des  römischen  Rechts  an  den  preußischen  Universitäten 
im  ganzen  247  Studierende  teilgenommen.  Davon  studierten  246  Rechtswissen- 
schaft, 1  klassische  Philologie.  Das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums  hatten  50, 
eines  Realgymnasiums  144,  einer  Oberrealschule  52.  Preußen  waren  224,  Deutsche 
aus  anderen  Bundesstaaten  14,  Ausländer  9.  Von  den  246  Studierenden  der  Rechte 
standen  46  im  ersten  Semester,  18  im  zweiten,  37  im  dritten,  24  im  vierten,  82 
im  fünften,  14  im  sechsten,  14  im  siebenten,  1  im  achten,  4  im  neunten,  1  im  zehnten, 
4  im  elften,  1  im  zwölften. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  wie  folgt: 
Berlin  102,  Bonn  26,  Breslau  14,  Göttingen  4,  Greifswald  6,  Halle  19,  Kiel  25, 
Marburg  29,  Münster  22. 

II.  Im  Sommersemester  1909  haben  an  den  Anfängerkursen  im  Griechischen 
für  Studierende  der  juristischen,  medizinischen  und  philosophischen  Fakultät 
auf  den  Preußischen  Hochschulen  im  ganzen  232  Studierende  teilgenommen, 
davon  82  Juristen,  7  Mediziner  und  143  Angehörige  der  philosophischen  Fakultät. 
Von  letzteren  studierten  klassische  Philologie  11,  neuere  Philologie  59,  Deutsch 
35,  Geschichte  21,  Mathematik  und  Naturwissenschaften  2,  sonstige  Fächer  15. 
Von  den  Teilnehmern  der  Kurse  hatten  6  das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums, 
124  eines  Realgymnasiums,  63  einer  Oberrealschule.  Preußen  waren  189,  Deutsche 
aus  anderen  Bundesstaaten  34,  Ausländer  9.  Von  den  82  Studierenden  der  Rechte, 
die  den  Kursus  besuchten,  standen  im  ersten  Semester  20,  im  zweiten  9,  im  dritten 


Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  usw.  601 

9,  im  vierten  10,  im  fünften  18,  im  sechsten  6,  im  siebenten  5,  im  achten  2,  im 
neunten  1,  im  zehnten  1,  im  zwölften  1. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  an  diesem  Kursus 
wie  folgt:  Berlin  100,  Bonn  11,  Breslau  30,  Göttingen  32,  Greifswald  16,  Halle  3, 
Kiel  24,  Königsberg  1,  Marburg  9,  Münster  6. 

III.  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten  im 
Sommersemester  1909.  Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Stu- 
dierende, die  nicht  auf  Grund  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  immatrikuliert 
waren,  unberücksichtigt.  Von  den  nachstehenden  Zusammenstellungen  umfaßt 
die  erste  alle  im  Sommersemester  1909  an  den  preußischen  Universitäten  imma- 
trikulierten Studierenden,  die  zweite  nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung 
im  ersten  Semester  standen. 

I.  Im  Sommersemester  1909  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

A.  In   der   evangelisch-theologischen    Fakultät    1099   Studierende,   davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gynmasiums    ....     1098 
„        „  „  „      Realgymnasiums     .   .  1 

B.  In   der  katholisch-theologischen    Fakultät  965   Studierende,   alle   auf 

Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

C.  In  der  juristischen  Fakultät  5555  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....     4586 
„        „  „  „      Realgymnasiums     .   .      687 

„        „  „  einer  Oberrealschule     .   .   .      282 

D.  In  der  medizinischen  Fakultät  3286  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....     2691 
„        „  „  „      Realgymnasiums     .   .      442 

„        „  „  einer  Oberrealschule     .   .   .       153 

E.  In  der  philosophischen  Fakultät  9679  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....     6647 
„        „  „  „      Realgymnasiums     .   .     1726 

„        ,,  „  einer  Oberrealschule     .   .   .     1306 


Hiervon,  studierten: 

1.  Philosophie  234  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    .   .   . 

.       187 

„      Realgymnasiums     . 

38 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     .   . 

9 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  3566  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    .   .   . 

.     3244 

„        „                 „                „     Realgymnasiums     . 

.      218 

„        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule     .   . 

.       104 

602  A.  Tilmann, 

3.  Neuere  Philologie  1762  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  743 

„        „                 „                „      Realgymnasiums     .    .  599 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     .   .   .  420 

4.  Geschichte  620  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  522 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums     .    .  73 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     ...  25 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  2688  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  1429 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums     .    .  629 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     .   .   .  630 

6.  Sonstige  Studienfächer  809  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  522 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums     .    .  169 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     .   .   .  118 

II.  Von  den  unter  I.  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

A.  In  der  evangelisch-theologischen  Fakultät  195  Studierende,  alle  imma- 

trikuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

B.  In  der  katholisch-theologischen  Fakultät  254  Studierende,  alle  imma- 

trikuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

C.  In  der  juristischen  Fakultät  672  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  522 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums     .    .  107 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     ...  43 

D.  In  der  medizinischen  Fakultät  446  Studierende,  davon  immatikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  341 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums     .    .  79 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     ...  26 

E.  In  der  philosophischen  Fakultät  1590  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  995 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums     .    .  324 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     ...  271 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  31  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  20 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums     .    .  7 

.       .    .                  „        ,,                 „        .      einer  Oberrealschule     ...  4 


Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  usw.  603 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  562  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  501 

„        „                 „                „      Realgymnasiums     .    .  43 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     ...  18 

3.  Neuere  Philologie  342  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  137 

„        „                 „                „      Realgymnasiums     .    .  114 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule     ...  91 

4.  Geschichte  76  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  51 

„        „                 „                „      Realgymnasiums     .    .  19 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     ...  6 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  493  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  243 

„        „                 „                „      Realgymnasiums     .    .  118 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     .    .    .  132 

6.  Sonstige  Studienfächer  86  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums    ....  43 

„        „                 „                „      Realgymnasiums     .    .  23 

„        „                 „             einer  Oberrealschule     ...  20 

Gr.-Lichterfelde.                                                                     A.  T  i  1  m  a  n  n. 


II.  Programmabhandlungen  1908. 


Latein. 


Die  fruchtbringende  Ausgestaltung  der  Lektüre,  die  Stellung  des  gramma- 
tischen Betriebes,  die  wirkliche  Einführung  in  die  Kultur-  und  Gedankenwelt 
der  Antike  —  das  sind  einige  Hauptfragen  der  altsprachlichen  Didaktik,  die  in  den 
letzten  Jahren  besonders  lebhaft  erörtert  wurden  und  deren  Widerhall  auch  in 
den  Programmabhandlungen,  die  das  Jahr  1908  gebracht  hat,  lebendig  ist.  Im 
allgemeinen  ist  bemerkenswert,  in  wie  engem  Anschluß  an  die  wissenschaftliche 
Forschung  die  Wege  für  die  Schulpraxis  gesucht  werden,  wie  beiderlei  Gedanken- 
arbeit sich  gegenseitig  durchdringt  und  befruchtet  und  voneinander  Licht  und 
Nahrung  gewinnt.  Sehr  mit  Recht  wird  der  Ruf  erhoben:  Nicht  Vernichtung  der 
grammatischen  Übungen,  sondern  innere  Belebung,  Durchdringung  mit  geist- 
bildender Kraft.  Andrerseits  ermöglicht  das  Durchbrechen  der  Fesseln,  die  ein 
mißverstandener,  den  guten  Cicero  selbst  meisternder  Klassizismus  der  unbefan- 
genen Würdigung  altrömischer  Geistesschätze  auferlegte,  ein  freieres  Erfassen  des 
literarischen  und  kulturellen  Entwicklungsganges  der  römischen  Antike.  Es  ist 
m.  E.  nicht  allein  der  ethisch-ästhetische  Humanismus,  der 
uns  den  Freibrief  zur  Einführung  der  Jugend  in  die  Welt  der  Alten  gibt;  daneben 
muß  zweifellos  die  geschichtliche  Auffassung,  die  Erkenntnis  des  gewal- 
tigen, die  Jahrtausende  umfassenden  Zusammenhanges  unserer  Kultureinheit  zu 
ihrem  vollen  Rechte  kommen.  Diesem  Gedanken  will  Professor  Dr.  Christian 
Härder  (Neumünster)  durch  einen  bemerkenswerten  Vorschlag  dienen.  Man 
kann  die  Beobachtung  machen,  daß  die  Schulpädagogen  der  Verwertung  von 
„Chrestomathien"  nicht  mehr  so  geringschätzig  gegenüberstehen,  wie 
in  dem  letzten  Drittel  des  vergangenen  Jahrhunderts.  Allbekannt  ist  fürs  Grie- 
chische der  Versuch  Wilamowitz',  der  freilich  seine  Auswahl  als  den  Lektüre- 
Kanon  schlechthin  sich  dachte;  auch  für  die  neueren  Sprachen  ist  ein  Umschwung 
der  Stimmung  bemerkbar.  Und  nun  macht  H  a  r  d  e  r  in  einer  sehr  kenntnisreichen 
und  gründlichen  Schrift  einen  „Vorschlag  zur  Erweiterung  der 
lateinischen  Schullektüre",  indem  er  die  Frage  eines  lateinischen 
Lesebuches  neu  erörtert  (Gymn.  nebst  O.-R.  in  Entw.  zu  Neumünster.  Nr.  365. 
26  S.  4°).*)    Sein  Lesebuch,  wie  er  es  sich  denkt,  soll  nicht  die  bisherige  Klassiker- 


*)  Schon  1903  hatte  in  dieser  Monatschrift  W.  Jung  die  Frage  einer  Chrestomathie 
behandelt. 


F.  Cramer,  Latein.  605 

lektüre  verdrängen,  aber  wohl  soll  es  ergänzend  hinzutreten  und  zwar  unter  Ver- 
drängung eines  Teiles  des  bisherigen  Lesestoffes. 

Mit  der  Einschätzung,  die  er  diesem  und  jenem  Schulklassiker,  z.  B.  Cäsar^ 
zuteil  werden  läßt,  bin  ich  nicht  ganz  einverstanden;  aber  im  großen  Ganzen  hat 
er  recht,  und  auch  wo  man  andrer  Meinung  ist,  erfreut  die  Sachkenntnis  und  der 
umfassende  Blick  des  Verfassers.  Ich  möchte  mir  namhaften  Gewinn  für  die 
Belebung  des  Lateinunterrichtes  von  der  Verwirklichung  einer  Zusammenstellung^ 
wie  sie  vorgeschlagen  wird,  versprechen.  Über  die  Auswahl  im  einzelnen  wird 
sich  natürlich  reden  lassen. 

Einem  ähnlichen,  doch  anders  ausgeführten  Gedanken  will  ein  siebenbürgischer 
Schulmann  dienen.  Hermann  Schuller,  Gymnasialprofessor  am  Gymnasium 
zu  Mediasch  (Siebenbürgen),  will  uns  ein  „Lesebuch  aus  Livius 
zur  römischen  Staatsverfassung"  bieten,  von  dem  er  zunächst 
den  I.Teil,  „die  Bürgerschaft"  vorlegt  (Gymnasium  zu  Medgyes  (Mediasch), 
80  S.  8^).  Für  unsere  preußischen  Lehrpläne  ist  das  Buch  weniger  geeignet.. 
Auf  alle  Fälle  aber  kann  man  die  Sammlung  willkommen  heißen,  da  sie 
manche  brauchbare  Zusammenstellung  für  die  Hand  des  Lehrers  (des 
Altsprachlers  wie  des  Historikers)  bietet  (vgl.  z.  B.  den  Abschnitt  „Patrizier  und 
Plebejer").  Daß  die  römische  Literatur,  auch  die  Poesie,  dem  ingenium  Romanum 
durchaus  entsprechend,  mehr  oder  weniger  stark  im  Zeichen  der  Rhetorik  steht,, 
ist  bekannt. 

Oberlehrer  Dr.  Ranke  gibt  in  seinen  „Beiträgen  zur  Kritik  der 
Prologe  des  Terenz"  (Gymn.  zu  Anklam.  Nr.  181.  19  S.  8")  beachtens- 
werte Ergänzungen  zu  frühern  Beobachtungen  Leos.  Ob  freilich  die  Allitera- 
tionen usw.  in  jedem  einzelnen  der  angeführten  Fälle  wirklich  beabsichtigt 
sind,  wird  sich  bezweifeln  lassen.  Bemerkenswert  ist  der  Hinweis,  daß  schon 
bestimmte  Ausdrücke  des  Gerichtswesens,  die  in  den  Prologen  sich  finden,, 
diese  als  Gerichtsreden  charakterisieren  (causam  dicere,  accusare,  iudices,  rem 
cognoscere,  indicium  facere  u.  a.). 

Unter  den  römischen  Dichtern,  die  zum  eisernen  Bestände  der  Schullektüre 
gehören,  pflegt  vor  allem  H  o  r  a  z  nicht  ohne  Förderung  zu  bleiben.  Auch  dies- 
mal ist  er  mit  zwei  Beiträgen  bedacht: 

Anziehend  geschrieben  und  sachlich  recht  dankenswert  ist  die  Horazstudie,. 
die  uns  Oberlehrer  Paul  Hoppe  unter  der  Bezeichnung  „Ein  Triobolon 
zur  Erklärung  der  Gedichte  des  Horaz"  vorlegt  (Kgl. 
kath.  St.  Matthias- Gymnasium  zu  Breslau  Nr.  240.  XIV  S.  4»).  Die  Ver- 
werfung des  hübschen  und  in  seiner  versteckten  Kunst  liebenswürdigen  Wein- 
liedchens  L  20  {Vile  potabis),  für  die  auch  Kießling  entschieden  eintrat,  hat 
mir  nie  recht  gefallen,  und  Hoppe  wendet  sich  mit  Recht  dagegen.  Die 
Art  und  Weise,  wie  er  den  Hauptanstoß,  die  Lesart  Tu  bibes,  zu  entfernen 
sucht,  ist  eigenartig.  Leider  verbietet  der  Raum,  seinen  Ausführungen  hier 
zu  folgen;  jedenfalls  sind  sie,  auch  wenn  man  nicht  völlig  zustimmt,  anregend  und 
fördernd,  ebenso  wie  seine  Auffassung  von  I  28  (Archytasode)  und  III  26  (Vixi 
puellis). 

Den  Römeroden,  dem  zumal  seit  Mommsens  bahnbrechender  Festrede 


606  F.  Cramer, 

(Sitzungsberichte  der  Kgl.  preuß.  Akad.  d.  W.  1889)  immer  wieder  untersuchten 
Zyklus,  gilt  eine  umfassende  und  sachkundige  Schrift  von  Professor  Theodor 
Widmann  (Die  Römeroden  des  Horaz  und  die  Begründung 
des  Prinzipats  des  Augustus,  Kgl.  Gymn.  in  Cannstatt.  Nr.  768. 
45  S.  40.).  Ein  Hauptanstoß  lag  für  Widmann  in  der  neuerdings  auftretenden 
Hypothese  (v.  Domaszewsky,  Hiemer),  daß  die  Römeroden  ein  F  e  s  1 1  i  e  d  seien 
zur  feierlichen  Aufrichtung  des  goldenen  Ehrenschildes  im  Senatsgebäude;  Verfasser 
stellt  meines  Erachtens  mit  Recht  fest:  „Sie  sind  nicht  für  musikalischen  Vortrag 
bestimmt  und  weder  am  13.  noch  am  16.  Januar  des  Jahres  27  v.  Chr.  als  Fest- 
gesang vorgetragen  worden."  Das  ,canto'  im  Prooemium  vergleicht  sich  mit  ,cano' 
in  Vergils  ,arma  virumque  cano'  und  unserm  , Singen'  als  dem  Tun  jedes  Dichters. 
Daß  die  Römeroden  jedenfalls  kein  Fest  lied  waren,  scheint  mir  vor  allem  aus 
dem  Subjektivismus  dieser  Gedichte,  dem  Horaz  hier  wie  sonst  huldigt, 
hervorzugehen.  Den  Ergebnissen  des  Verfassers  kann  man  fast  durchweg  zustimmen, 
z.  B.  der  Feststellung,  daß  die  Oden  zusammengehören,  daß  sie  an  die  am  16.  Ja- 
nuar 27  erfolgte  Verleihung  des  Titels  Augustus  anknüpfen,  ferner  daß  sie  n  i  c  h  t 
in  e  r  s  t  e  r  Linie  der  Person  des  Cäsar,  sondern  dessen  auf  das  Wohl  des  römischen 
Volkes  abzielenden  Bestrebungen  gelten  und  daß  „sie  daher  nur  eine  mittelbare, 
der  Ehrung  des  Senates  parallel  laufende,  von  Horaz,  als  dem  Sänger  seines  Volkes 
und  Vertreter  seines  Standes,  in  vaterländischem  Interesse  dem  Prinzeps  dar- 
gebrachte Huldigung  bilden".  Wenn  solche  Ergebnisse  keine  neuen  Überraschungen 
bieten,  sondern  meist  den  Schatz  der  besten  neuern  Forschung  sichern,  so  liegt 
das  eben  an  der  besonnenen  Art  des  Verfassers,  der  nicht  mit  glänzenden, 
aber  hohlen  Hypothesen  spielt,  sondern  ruhig  abwägend  seinen  Weg  geht  und  daher 
mit  der  wohlbegründeten  Forschung  der  hervorragendsten  Horazkenner  sich  trifft. 
Aber  für  vieles  bringt  er  doch  neue  Gründe,  neue  Gesichtspunkte,  und  alte  Er- 
kenntnis rückt  er  in  neue  Beleuchtung. 

In  die  Zeit  der  Kirchenväter  versetzt  uns  Professor  Dr.  Knappe  in  seiner 
Untersuchung:  Ist  die  21.  Rede  des  heiligen  öaudentius  {Oratio 
B.  Gaudentii  episcopi  de  vita  et  obitu  B.  Filastrii  episcopi  praedecessoris  sui)  echt? 
(Kgl.  Gymn.  Carolinum  zu  Osnabrück,  No.  403,  66  S.  8°).  Er  tritt  in  dieser 
Abhandlung,  die  er  zugleich  einen  Beitrag  zur  Latinität  des  Gaudentius  nennt, 
für  die  Echtheit  ein.  Das  Material,  das  Verfasser  zusammengebracht  hat, 
ist  sehr  reich;  freilich  wenn  der  Schluß,  den  er  zieht,  zwingend  sein  soll,  dann 
wäre  es  nötig,  die  Autoren,  die  zu  gleicher  Zeit  und  in  gleicher  Sprachprovinz 
wie  Gaudentius  schrieben,  heranzuziehen,  um  genau  festzustellen,  wodurch  dieser 
sich  von  andern  seinesgleichen  wirklich  unterscheide;  manche  Übereinstimmung 
zwischen  der  angezweifelten  Rede  und  den  übrigen  kommt  jedenfalls  auf  Rechnung 
des  Spätlateins  überhaupt. 

Für  die  Kenntnis  des  Wiedererwachens  antiker  Einflüsse  in  Karolingischer 
Zeit  und  die  Stellung  A  1  c  u  i  n  s  innerhalb  dieser  Bewegung  ist  die  gründliche 
Arbeit  über  Alcuins  Ars  grammatica,  die  lateinische  Schulgrammatik  der  karolin- 
gischen  Renaissance,  von  Oberlehrer  Dr.  Wilhelm  Schmitz  willkommen.  (Stadt. 
Prog.  zu  Ratingen,  Progr.-No.  603.)  Es  ergibt  sich,  daß  Alcuin  mit  voller 
Absicht,    auch    im    Gegensatz   zu   Petrus  Pisanus,    das    B  i  b  e  1 1  a  t  e  i  n  nicht 


Latein.  607 

berücksichtigt,  sondern  (in  Übereinstimmung  mit  der  besseren 
angelsächsischenTradition)zuder  altrömischen  Grammatik  zurück- 
kehrt. „Keine  Bibelstelle  drängt  sich  als  Hüterin  der  Sprache  der  Heiden  ein, 
und  kein  Kirchenvater  tritt  neben  Vergil  und  Terenz  als  Gewährsmann  ihrer  Worte 
auf."  Dabei  bricht  Alcuin  auch  völlig  mit  den  hohlen  Phantastereien  eines  „Gram- 
matikers" wie  V  i  r  g  i  1  i  u  s  M  a  r  o  ,  der  in  der  Zeit  der  Söhne  Chlodwigs  auf 
gallischem  Boden  ein  viel  benutztes  und  bis  auf  Karls  des  Großen  Zeit  angesehenes 
grammatisches  „Lehrbuch"  schrieb. 

Auch  die  Kunst  des  Übersetzens  ist  nicht  leer  ausgegangen;  zwei 
bewährte  Meister  lateinischen  Schrifttums,  Emil  Rosenberg  und  Max 
Hodermann,  haben  wertvolle  Beiträge  geliefert:  Dr.  Emil  Rosenberg, 
Professor  am  Kgl.  Gymnasium  zu  Hirschberg  in  Schles.  geht  in  seiner  Abhandlung 
(Der  deutsche  Ausdruck  beim  Übersetzen  ciceronianischer 
Reden.  32  S.  4°.  Progr.-No,  253)  einem  seiner  Lieblingsgedanken  nach, 
„die  alten  Schriftsteller  mehr  modernem  Fühlen  zu 
näher  n."  Er  berücksichtigt  besonders  in  Verr.  4.  5,  pro  Murena,  pro  Plancio. 
Bemerkenswert  ist  sein  Hinweis  auf  einen  alten  lateinischen  Stilisten  der  Anstalt, 
an  der  er  selber  wirkt,  Gottfr.  Wilh.  Koerber  (nach  1800),  der  vor  lOOJahren 
schon  die  Erkenntnis  aussprach:  ,,Wir  sind  überhaupt  ungemein  substantivlustig, 
weilesunsdurchdiePraxisdesmenschlichenVerstandes 
seit  Jahrhunderten  geläufig  geworden,  Begriffe  abzu- 
ziehen und  zusammenzubinde  n."  Rosenberg  selbst  weiß  dies  wie 
andres  Eigenartige  des  lateinischen  Stils  lehrreich  zu  erläutern.  Hier  ein  Beispiel, 
wie  das  Verhältnis  des  Partizips  zum  Verbum  finitum  zum  Ausdruck  kommt:  Verr. 
V  5,  27:  sie  confecto  itinere,  cum  ad  aliquod  oppidum  venerat,  eadem  lectica  usque 
in  cubiculum  deferebatur.  „So  wurde  die  Reise  zurückgelegt.  Kam  er  nun  in 
ein  Städtchen,  so  ließ  er  sich  .  .  ,"  Ganz  besonders  stimme  ich  ihm  bei  in  dem 
Urteil,  daß  richtiges  Übersetzen  nicht  genügt,  um  dem  Schüler  den  antiken 
Autor  nahe  zu  bringen,  besonders  da  nicht,  wo  Temperament  sich  kundgibt 
{,agitat  rem  militarem':  ,das  Militärische  ist  ihm  ein  Dorn  im  Auge',  statt:  ,er  tadelt 
das  Kriegswesen').  Die  alten  Schriftsteller  dürfen  uns  „nicht  in  marmorner  Mu- 
seumsweiße entgegentreten";  die  Schüler  müssen  sie  vom  Leben  durchpulst,  viel- 
leicht oft  auch  geschwärzt  und  zerzaust  sehen. 

Professor  Dr.  Max  Hodermann,  dessen  frühere  Arbeiten  über  Cäsar  (Unsre 
Armeesprache  im  Dienste  der  Cäsar- Übersetzung  (Leipzig,  Dürr  1899,  2.  Aufl.  1903) 
über  Xenophon  (Vorschläge  zur  Xenophon-Übersetzung  im  Anschluß  an  die  deutsche 
Armeesprache.  Festschrift  zur  350  jährigen  Jubelfeier  des  Fürstlichen  Gymnasiums 
zu  Wernigerode,  1900)  lebhaften  Beifall  gefunden  haben,  bringt  in  einer  neuen 
Schrift  ähnliche  Vorschläge  für  Livius  (Livius  in  der  deutschen  Heeres- 
sprache. Gymn.  zu  Wernigerode,  No.  328.  80  S.  8°).  Als  Quellen  be- 
nutzte Verfasser  besonders  die  Dienstvorschriften  und  die  Veröffentlichungen  des 
Großen  Generalstabes;  von  diesen  waren  neu  hinzugetreten  der  4.  und  5.  Bd.  des 
Siebenjährigen  Krieges  und  die  Darstellung  der  Kämpfe  der  deutschen  Truppen 
in  Südwestafrika  (Berlin  1906);  auch  einiges  von  den  kriegsgeschichtlichen  Er- 
zählungen Taneras  wurde  herangezogen.   Die  übersichtliche  alphabetische  Ordnung 


608  F.  Cramer, 

des  Stoffes  erleichtert  sehr  wesentlich  die  Benutzung;  und  diese  selbst  wird  oft 
genug  manchen  Lichtblick  auch  dem  erfahrenen  Übersetzer  gewähren.  Man  hat 
einst  Theodor  Mommsens  Römischer  Geschichte  zum  Vorwurf  gemacht,  sie  kokettiere 
zu  sehr  mit  modernen  Worten  zum  Ausdruck  antiker  Begriffe;  im  allgemeinen 
aber  lag  hierin  ein  wirklicher  Vorzug,  selbst,  wenn  einmal  dies  oder  jenes  Fremd- 
wort hineinspielte;  Beispiele  wie  etwa  Kavallerie  oder  Infanterie  sind  um  so  weniger 
zu  tadeln,  als  doch  unsre  Armee  —  selbst,  wenn  wir  lieber  „Heer"  sagen  —  in 
ihrer  Sprache  mit  Fremdlingen  noch  gespickt  ist,  ganz  entsprechend  der  Ent- 
wicklung unsres  Heerwesens.  Hier  und  da  vermißt  man  wohl  das  eine  oder 
andre:  so  würde,  wenn  manipulus  berücksichtigt  wird,  auch  centuria  einen  Platz 
haben  dürfen,  ebenso  das  zugehörige  centurio.  „Hauptmann"  halte  ich  noch  immer 
für  die  geeignetste  Wiedergabe  dieses  Wortes,  wenngleich  der  centurio  im  Sinne 
der  heutigen  deutschen  Wehrordnung  nicht  zu  den  Offizieren  gehören  würde;  der 
Ausdruck  „Feldwebel",  wie  ihn  Eduard  Wolff  (Lugano)  in  einer  Besprechung  der 
Hodermannschen  Schrift  vorschlägt,  erweckt  meines  Erachtens  eine  durchaus 
schiefe  Vorstellung:  der  centurio  hat  weit  mehr  selbständige  Entschließungsgewalt 
als  unser  Feldwebel.  Übrigens  gab  es  eine  höchste  Klasse  von  Legionszenturionen, 
die  auch  dem  Ritterstande  angehören  konnten;  ebenso  verleiht  Trajan  den  Ritter- 
rang einem  Legionszenturionen.  Auch  befehligen  Zenturionen  durchaus  selbständig 
Kohorten  der  Auxilien,  ebenso  oft  auch  Detachements  des  Provinzialheeres  (vgl. 
v.  Domaszewsky,  Die  Rangordnung  des  römischen  Heeres,  Bonner  Jahr- 
bücher, Heft  117,  1.  und  2.  Heft,  S.  81  ff.). 

Ebenso  erhalten  wir  für  die  Behandlung  der  Sprachlehre  und  der 
Übersetzungen  ins  Lateinische  bemerkenswerte  Beiträge.  Eine 
der  willkommensten  Erscheinungen  dieser  Art  sind  die  Richtlinien  für 
den  grammatischen  Unterricht  im  Lateinischen,  die 
Oberlehrer  C.  Meurer  und  Direktor  Dr.  E.  Niepmann  zusammengestellt  haben. 
(Stadt.  Gymnasium  und  Realgymnasium  zu  Bonn.  No.  561;  40  S.  8".)  Wir 
haben  heute  eine  Fülle  gelehrter  Untersuchungen  und  auch  systematischer 
Darstellungen  über  die  geschichtliche  Entwicklung  auch  der 
lateinischen  Sprache.  Aber  der  landläufigen  Schulgrammatik  sind  sie,  wenig- 
stens im  allgemeinen,  noch  nicht  so  zugute  gekommen,  wie  es  auf  griechi- 
schem Sprachgebiete  wenigstens  teilweise  der  Fall  ist.  Zwar  ist  dies  meines 
Erachtens  aus  Innern  Gründen  erklärlich;  aber  jedenfalls  kann  fürs  Lateinische 
entschieden  noch  mehr  geschehen.  Es  ist  daher  sehr  erfreulich,  wenn  wir  hier  einen 
durchaus  praktischen  Versuch  begrüßen  können,  dasjenige  handlich  herauszuheben, 
was  das  Interesse  beleben,  das  Verständnis  erleichtern  und  vertiefen  kann.  Die 
Abschnitte  zur  Laut-  und  Formenlehre  und  zur  Kasussyntax  sind  von  Meurer, 
die  Syntax  des  Verbums  von  Niepmann  behandelt.  Auf  Schritt  und  Tritt 
tritt  uns  die  praktische  Einsicht  und  Sicherheit  des  erfahrenen  und  klarsehenden 
Schulmannes  entgegen.  Möchten  die  „Richtlinien"  mit  dazu  helfen,  dem  gram- 
matischen Unterricht  die  Frische,  die  Lebendigkeit  und  Anschaulichkeit  zu  geben, 
die  ihm  zukommt. 

Einen  praktischen  Beitrag  zur  vergleichenden  Schulgrammatik  gibt  Professor 
Max    Zöllner    in    seinen     „Lateinischen     Beispielen    zur     Ein- 


F.  Cramer,  Latein.  609 

Übung  des  verbum  infinitum  und  die  oratio  obliqua  mit  deutscher, 
englischer  und  französischer  Übersetzun  g",  die  er  für  das 
Realgymnasium  i.  E.  zu  N  a  u  e  n  zusammengestellt  hat  (Nauen,  Freyhoff.  Prog.- 
No.  128.  19  S.  4°).  Die  Beispiele  sind  aus  dem  Bereiche  der  Cäsarlektüre  genommen, 
sind  ihrem  Wortlaute  nach  klar  und  bestimmt  gefaßt  und  berücksichtigen  alle 
wesentlichen  Punkte  des  bezeichneten  Syntax-Abschnittes.  Es  ist  aber,  da  nur 
die  Beispiele  selbst  gegeben  sind,  nicht  ersichtlich,  auf  welchen  Stufen  die  Zu- 
sammenstellung gebraucht  werden  und  ob  alles  von  den  Schülern  auswendig 
gelernt  werden  soll.  Dies  würden  wir  jedenfalls  für  unnötige  Gedächtnisbelastung 
halten,  so  lehrreich  auch  die  Vergleichung  an  sich  ist  und  so  geschickt  sie  durch- 
geführt ist;  besonders  auch  die  deutsche  Übersetzung  erscheint  durchweg  geschmack- 
voll und  angemessen. 

Dem  Übersetzen  ins  Lateinische  will  in  eigenartiger  Weise  Oberlehrer 
Dr.  A.  Baltzer  in  seinen  „Lateinischen  Studien"  zu  Hilfe  kommen 
(Große  Stadtschule  —  Gymnasium  und  Realschule  —  zu  Wismar.  No.  859.  4  S. 
8").  Er  legt  darin  als  die  Frucht  „langdauernder  Arbeit"  die  Anfänge  einer  Schrift 
vor,  in  der  er  den  Lese-  und  Übungsstoff  bis  zur  Mittelstufe  und  bis  zum 
Einsetzen  der  Schriftstellerlektüre  behandelt.  Mustern  wir  die  dargebotenen 
Proben  seines  Stoffes,  so  will  uns  scheinen,  als  ob  manches,  was  an  um- 
formenden Übungen  geboten  ist,  besser  dem  lebendigen  Takte  des  Lehrers  über- 
lassen bleibe. 

Ich  setze  den  Anfang  des  ersten  lateinischen  Lesestückes  („Julius  und  sein 
Vater")  hierher: 

„Julius:  Epistolal  Pater:  Quis  pulsat  portam?  }uVms :  Epistolal  Pater:  Qu w 
pulsat  portam?  Julius:  Reddo  epistolam.  Pater:  Quis  reddit  epistolam?  Julius: 
Julius  reddit  epistolam." 

Jedenfalls  aber  ist  die  Art  des  Ganzen  für  den  Lateinlehrer  durchaus  be- 
achtenswert; über  die  Brauchbarkeit  des  Gebotenen  in  der  Hand  der  Schüler 
halten  wir  mit  dem  Urteil  zurück  bis  zum  Vorliegen  des  ganzen  Buches. 

Einen  beachtenswerten  Versuch  zur  Verbesserung  des  Verfahrens  beim 
Vokabellernen  bringt  Professor  Franz  Stürmer  in  seinem  „W  ö  r  t  e  r  - 
Verzeichnis  zu  Ostermann-Müllers  lateinischemÜbungs- 
buch  für  Sexta  (Ausgabe  A)"  (Gymnasium  zu  Weilburg  a.  d.  Lahn. 
No.  524.  48  S.  8").  Nach  der  Methode,  die  derselbe  Verfasser  in  seiner  Schrift 
„Die  Etymologie  im  Sprachunterricht  der  höheren  Schulen"  (Halle  1906)  vor- 
geschlagen hat,  knüpft  er,  nach  etymologischen  Grundsätzen,  die  Wörter  möglichst 
an  Bekanntes  und  Verwandtes  an.  Dem  Grundsatze  nach  wird  dies  ja  mehr  oder 
weniger  von  jedem  erfahrenen  Lehrer  beim  mündlichen  Unterricht  geübt.  Wenn 
Stürmer  geltend  macht,  es  empfehle  sich,  auch  dem  Schüler  ein  etymologisch  be- 
arbeitetes Wörterverzeichnis  in  die  Hand  zu  geben,  so  wird  man  jedenfalls  zuge- 
stehen müssen,  daß  eine  Stütze  für  die  häusliche  Wiederholung  wünschenswert  ist. 
Auf  alle  Fälle  wird  aber  des  Verfassers  Schrift  dazu  helfen  können,  daß  der  Lehrer 
seinerseits  planmäßiger  und  in  mehr  umfassender  Weise  die  Etymologie  heranziehe. 

Düsseldorf.  Franz  Cramer. 


Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg. 


610  O.  Preußner, 

Französisch  und  Englisch. 

Baake,  Wilhelm,  Moliere  et  les  Tartuffes  de  son  Temps. 
Halle  a.  S.,  Oberrealschule  der  Franckeschen  Stiftungen.  17  S.  4".   Progr.-No.  347. 

Während  man  bisher  annahm,  daß  der  Tartuffe  gleich  dem  Avare  und  dem 
Misanthrope  eine  jener  Charakterkomödien  sei,  deren  Gestalten  dem  Leben  und 
den  Sitten  der  Zeit  abgelauscht  sind,  stellt  der  Verfasser  die  Komödie  als  eine 
poetische  Streitschrift  hin,  die  geschrieben  ist  gegen  die  heimlich  wirkende  und 
religiös  fanatische  Gesellschaft  des  „Saint-Sacrement  de  l'Autel".  Der  Verfasser 
gibt  zunächst  eine  kurze  Geschichte  des  seinerzeit  gefürchteten  Ordens,  dessen 
Aufzeichnungen  erst  gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  aus  dem  Staube  der 
Pariser  National-Bibliothek  hervorgeholt  wurden  und  auf  den  C.  von  Hoiningen- 
Huene  in  der  deutschen  Rundschau  (März  1906)  aufmerksam  machte.  Dann  wird 
uns  gezeigt,  wie  der  Orden  scharf  und  erbittert  gegen  Moliere  und  seinen  Tartuffe 
kämpft,  wie  es  ihm  gelingt,  die  erste  öffentliche  Aufführung  des  Stückes  fünf  Jahre 
lang  hinauszuschieben,  wie  er  aber  schließlich  auch  in  diesem  Kampfe  unterliegt. 
Endlich  erfahren  wir  noch,  welche  Anspielungen  auf  den  geheimen  Bund  und 
seine  Mitglieder  sich  im  Tartuffe  finden  und  wie  der  ungewöhnliche  Erfolg  des 
Stückes  zum  großen  Teil  darauf  beruhte,  daß  das  Publikum  die  mehr  oder 
minder  versteckten  Angriffe  des  Dichters  auf  die  am  Hofe  wie  in  der  Gesellschaft 
gleich  verhaßten  Frömmler  verstand.  So  haben  wir  im  Tartuffe  zwar  keine 
geschichtliche  Darstellung  des  Treibens  der  heimlichen  Gesellschaft  zu  suchen, 
deren  eigentlicher  Name  wahrscheinlich  Moliere  und  seiner  Zeit  selbst  unbekannt 
war,  aber  die  Charaktere  der  Hauptpersonen  passen  sicherlich  auf  die  gefürchteten 
und  gehaßten  Hauptvertreter  dieses  unheimlichen  Ordens. 

Glaser,  Kurt,  Montesquieus  Theorie  vom  Ursprung  des 
Rechts.    Marburg,  Oberrealschule.    23  S.    8».     Progr.-No.  546. 

Montesquieu  spricht  über  den  Ursprung  des  Rechts  in  den  beiden  ersten  Ka- 
piteln seines  „Esprit  des  Lois"  und  richtet  in  diesen  einleitenden,  früher  viel  um- 
strittenen Darlegungen  einen  Angriff  auf  die  von  Hobbes  in  seinen  Schriften  „De 
cive"  und  „Leviathan"  ausgesprochenen  Theorien.  Der  Verfasser  entwickelt  daher 
zunächst  die  von  Hobbes  gegebenen  Argumente  und  behandelt  dann  die  von  Montes- 
quieu gegen  den  englischen  Philosophen  gerichtete  Polemik.  Mit  Interesse  folgen 
wir  den  die  Entstehung  des  Rechts  betreffenden  Einzelfragen;  wir  sehen,  wie  beide 
Philosophen  das  bestehende  Recht  aus  dem  natürlichen  Recht  herleiten,  wie  beide 
jedoch  schon  hinsichtlich  des  Naturzustandes  eine  verschiedene  Auffassung  haben, 
wie  beide  zur  Erklärung  der  Ursachen,  die  zum  Verlassen  des  Naturzustandes 
und  zum  Abschluß  einer  rechtlichen,  staatlichen  Gemeinschaft  führen,  in  wesent- 
lichen Punkten  auseinandergehen. 

Noite,  Hans,  Der  wallonische  Volksdichter  Nicolas  De- 
frecheux.     Papenburg,  Realgymnasium  i.  E.    31  S,    4«.     Progr.-No.  426. 

Einleitend  spricht  der  Verfasser  über  die  Entstehung  und  Verbreitung  der 
wallonischen  Sprache,  die  jetzt  nur  noch  in  wenigen  Gemeinden  als  Sprache  der 
Arbeiterbevölkerung  ein  trauriges  Dasein  fristet.  Nur  ein  Dichter,  der  Bäcker 
Nicolaus  Defrecheux,  geb.  1825,  gest.  1874,  hat  als  echter  Volksdichter  den  wallo- 


Französisch  und  Englisch.  61 1 

nischen  Dialekt  noch  einmal  zu  Ehren  gebracht.  Seine  Bedeutung  verdankt  er 
eigentlich  nur  zwei  Liedern,  die  noch  heut  im  Lütticher  Lande  allgemein  bekannt 
sind,  einem  tief  empfundenen  lyrischen  Gedicht  „Liyiz-m'  plorer"  und  einem 
wallonischen  Tanzlied  „L'avez-v'  viyou  passer?"  Beide  Lieder  sind  in  wallonischer 
Sprache  abgedruckt;  beigegeben  sind  eine  metrische  Übertragung  des  belgischen 
Landsmannes  Cuppens,  eine  französische  und  eine  deutsche  Übersetzung, 

Runge,  H.,  Moliere  und  die  Kritik  seiner  Zeitgenossen. 
Eisenberg,  Herzogl.  Christians-Gymnasium.     12  S.    4".     Progr.-No.  897. 

Der  Verfasser  macht  es  sich  nicht  zur  Aufgabe,  die  Fülle  des  Stoffs  des  ge- 
wählten Themas  zu  erschöpfen;  er  zeigt  nur  kurz  die  Kritik  von  Freund  und  Feind 
an  den  sechs  bedeutendsten  Komödien,  die  ja  auch  grade  am  meisten  den  Kampf 
um  das  Für  und  Wider  herausforderten.  Der  Verfasser  stellt  dar,  wie  Lafontaine, 
Racine  und  der  König  den  Dichter  in  Schutz  nahmen,  und  verweilt  länger  bei  den 
zahlreichen  Widersachern  Moli^res,  den  kleinen  zeitgenössischen  Dichterlingen 
und  Schauspielern,  den  Höflingen,  die  in  den  Komödien  persönliche  Angriffe  sahen, 
den  überall  Anstoß  nehmenden  Preziösen,  dem  hohen  Adel,  den  Moliere  oft  und 
gern  in  seiner  Verworfenheit  an  den  Pranger  stellt,  den  Ärzten  mit  ihrer  wertlosen 
Wissenschaft  und  der  gestrengen  Geistlichkeit,  die  mit  einem  Sturm  der  Ent- 
rüstung gegen  den  Dichter  zu  Felde  zog. 

Sonnekalb,  Karl,  EinesprachlicheUntersuchungderChan- 
son  des  Saxons.     Ilmenau,  Realschule.    29  S.    4°.     Progr.-Nr.  885. 

Der  Verfasser  der  fleißigen  und  streng  wissenschaftlichen  Abhandlung  kommt 
zu  dem  Ergebnis,  daß  die  Chanson  des  Saxons  der  pikardischen  Mundart  angehört 
und  um  das  Jahr  1200  abgefaßt  worden  ist.  Der  Dichter  nennt  sich  selbst  Jehan 
Bordiaus,  den  man  bisher  mit  Jehan  Bodiaus  aus  Arras,  dem  Dichter  des  bekannten 
Jeu  de  Saint  Nicolas,  für  identisch  gehalten  hat.  Im  Laufe  der  sprachlichen  Unter- 
suchung führt  jedoch  der  Verfasser  gewichtige  Beweise  an,  die  gegen  die  Identität 
der  beiden  Dichter  sprechen.  Eine  eingehende  vergleichende  Sprachuntersuchung 
der  beiden  Dichtungen  kann  jedoch  erst  ein  abschließendes  Urteil  über  die  Ver- 
fasserfrage erbringen. 

Zabel,  Ernst,  Die  soziale  Bedeutung  von  J.  J.  Rousseaus 
Erziehungstheorie.  Quedlinburg,  Kgl.  Gymnasium.  23  S.  4".  Progr.- 
No.  321. 

Eine  Kritik  von  Rousseaus  Erziehungstheorie  nach  sozialen  Gesichtspunkten 
ist  in  unsrer  sozial  interessierten  Zeit  ein  zeitgemäßes  Thema.  Aber  unsre  Zeit, 
die  im  Gegensatz  zum  Zeitalter  der  französischen  Aufklärung  steht,  kann  nicht  mehr 
den  Kultur-  und  Naturzustand  des  Menschen  als  schroffe  Gegensätze  auffassen 
und  muß  demnach  Rousseaus  Erziehungstheorie  als  im  Prinzip  verfehlt  ansehen. 
Diesen  Nachweis  führt  uns  der  Verfasser  in  seiner  interessanten  und  klaren  Ab- 
handlung. Es  wird  uns  gezeigt,  wie  bereits  die  Zielbestimmung  der  pädagogischen 
Erziehung  Rousseaus  nach  dem  heutigen  Stande  des  Wissens  unhaltbar  ist  und 
wie  auch  die  Maßnahmen,  die  zur  Erreichung  dieses  Zieles  dienen  sollen,  nicht 
genügen  können. 

Unter  den  neusprachlichen  literarischen  Arbeiten  sei  auch  hier  auf  eine  Ab- 
handlung hingewiesen,  die  sich  mit  zwei  Dramen  Alfieris  befaßt. 

39* 


612  0.  Preußner, 

Kariowa,  Oskar,  Über  einige  Tragödien  von  Alfieri.  Pleß, 
Kgl.  Gymnasium.    20  S.    4°.     Progr.-No.  270. 

Der  Verfasser,  dessen  wertvolle  literarische  Skizzen  schon  mehrfach  an  dieser 
Stelle  besprochen  worden  sind  (vgl.  Monatschrift  III,  454  und  V,  44),  veröffent- 
licht in  der  vorliegenden  Abhandlung  eine  interessante  Studie  über  die  Merope 
und  die  Antigone  Alfieris,  den  die  Italiener  gern  unter  die  Zahl  der  ersten  Dra- 
matiker der  Welt  rechnen  möchten.  Der  Verfasser  analysiert  den  Inhalt  des  italie- 
nischen Dramas  im  Verhältnis  zu  Voltaires  Merope  und  skizziert  dabei  meister- 
haft das  Knappe  und  Einfache  der  Handlung  und  Sprache  der  italienischen  Nach- 
dichtung im  Gegensatz  zu  dem  gezierten,  unnatürlichen  Benehmen  und  den  galanten 
Reden  der  Helden  des  französischen  Vorbildes.  Und  doch  ist  Alfieris  Merope 
kaum  bühnenfähig;  trotz  einzelner  hochdramatischer  Szenen  läßt  uns  das  Ganze 
kalt.  Wir  vermissen  das  Folgerichtige  in  der  Handlung,  die  Unvernunft  trägt 
gar  oft  über  die  gesunde  Vernunft  den  Sieg  davon.  Dazu  ist  die  Sprache  meist 
recht  spröde  und  hart.  Noch  gewagter  und  verfehlter  ist  Alfieris  Versuch,  die 
Antigone  des  Sophokles  zu  modernisieren;  die  Abweichungen  von  den  Überliefe- 
rungen der  klassischen  Sage  sind  ganz  erheblich,  entstellen  und  entwürdigen 
aber  die  klassische  Antigone  völlig. 

Born,  Carl,  Sammlung  französischer  und  englischer  Ge- 
dichte. Geeigneter  Memorierstoff  für  Realschulen  und  die  Mittelstufe  der  realen 
Vollanstalten.     Kalbe  a.  S.,  Realschule.     58  S.     8".     Progr.-No.  340. 

Den  Fachkollegen,  die  mit  der  oft  stiefmütterlich  behandelten  Auswahl  der 
Gedichte  im  eingeführten  Übungsbuch  nicht  einverstanden  sind,  sei  das  kleine 
Buch  bestens  empfohlen.  Die  Buchhandlung  von  Quelle  &  Meyer  in  Leipzig 
hat  den  Vertrieb  der  Abhandlung  übernommen.  Die  Sammlung  enthält  etwa 
die  doppelte  Anzahl  des  lehrplanmäßig  vorgeschriebenen  Memorierstoffes,  so  daß 
immer  noch  das  Recht  der  freien  Auswahl  gewahrt  bleibt.  Außer  den  allbekannten 
Dichtungen,  die  selbstverständlich  geistiges  Eigentum  der  Schüler  werden  müssen, 
sind  eine  Anzahl  weniger  bekannter,  aber  doch  recht  wertvoller  Dichtungen  ab- 
gedruckt. Nur  würde  ich  Thomsons  Rule  Britannia  von  deutschen  Schülern 
nicht  mehr  lernen  lassen.  Etwas  reichere  historische  Anmerkungen  würden  bei 
einem  etwaigen  Neudruck  von  Vorteil  sein.  Das  beigegebene  Druckfehler-Ver- 
zeichnis ist  auch  noch  unvollkommen.  Der  Verfasser  bereitet  eine  Fortsetzung 
der  Sammlung  für  die  Oberklassen  vor;  diese  müßte  aber  so  reichlich  bemessen 
sein,  daß  sie  auch  den  Stoff  für  die  poetische  Lektüre  der  drei  oberen  Klassen  bietet. 

Lehmann,  Joh.,  Douze.douzaines  d'^nigmes  frangaises, 
propres  ä  gtre  apprises  par  coeur  par  les  el^ves  des  classes  superieures.  Nakel, 
Gymnasium.    31  S.    8».     Progr.-No.  218. 

Der  Verfasser  veröffentlicht  außer  18  einer  französischen  Zeitschrift  ent- 
lehnten Rätsel  144  französische  Rätsel,  die  er  selbst  verfaßt  hat  und  die  er  die 
Schüler  der  oberen  Klassen  auswendig  lernen  läßt.  Die  französischen  Verse  und 
die  Kunst,  Rätsel  zu  schmieden,  machen  ja  dem  Verfasser  Ehre;  die  Fachkollegen 
werden  sich  aber  kaum  für  diese  vielfach  flachen  Gelegenheitspoesien  begeistern 
und  werden  den  älteren  Schülern  lieber  echt  französische  Dichtungen  darbieten, 


Französisch  und  Englisch.  613 

die  nach  Inhalt  und  Form  unsrer  Jugend  weit  mehr  Interesse  an  der  französischen 
Sprache  abgewinnen. 

Schäfer,  Bernhard,  Englische  Gedichte  in  metrischer  Über- 
tragung,   Lünen  a.  d.  Lippe,  Progymnasium  i.  E.    13  S.    4°.    Progr.-No.  461. 

Der  Verfasser  hat  33  englische  Gedichte,  die  sämtlich  der  Schullektüre  ent- 
nommen sind,  ins  Deutsche  übertragen;  am  besten  gelungen  erscheinen  mir  die 
kleineren  bekannten  Lieder. 

Brüll,  Hugo,  Beiträge  zur  französischen  Etymologie,  zu- 
gleich als  Probe  eines  etymologischen  Wörterbuchs.  Krotoschin,  Kgl.  Wilhelms- 
Gymnasium.    47  S.    8».     Progr.-No.  215. 

Die  Abhandlung,  die  noch  nicht  den  Buchstaben  A  bewältigt  und  nur  bis 
affüter  führt,  verrät  eine  fleißige  und  mühsame  Arbeit.  Die  einschlägige  Literatur 
ist  nach  Möglichkeit  herangezogen,  schwebende  und  schwierigere  Ableitungen  sind 
mit  Vorsicht  behandelt.  Vielleicht  wäre  es  ratsam,  bei  der  Fortsetzung  der  Arbeit 
die  Bedeutungsentwicklung  der  einzelnen  Wörter  noch  eingehender  nachzuprüfen. 

Müller,  Zum  Bedeutungswandel  englischer  Wörter.  Frei- 
berg, Realgymnasium.     28  S.    4°.     Progr.-No.  728. 

Die  Arbeit  enthält  das  Ergebnis  der  gelegentlichen  etymologischen  Studien 
des  Verfassers.  Wenn  auch  gar  manches  allbekannt  ist,  so  ist  doch  diese  Zusammen- 
stellung der  in  der  Schriftsprache  am  häufigsten  vorkommenden  Wörter  mit  ihrer 
Bedeutungsentwicklung  im  Leben  und  Wandel  der  Sprache  recht  dankenswert. 
Wir  sehen,  wie  sich  gar  oft  die  ursprüngliche  Bedeutung  abschwächt  und  ver- 
wischt, um  sich  schließlich  zu  verengern,  zu  verschlechtern  und  zu  vergröbern 
und  nur  in  seltenen  Fällen  sich  zu  heben  und  zu  bessern.  Die  umgekehrte  Er- 
scheinung der  Erweiterung  und  Verallgemeinerung  des  Begriffs  ist  in  weit  weniger 
Fällen  nachzuweisen.  Diesen  interessanten  Prozeß  des  ständigen  Lebens  und 
Werdens  in  der  Sprache  darf  auch  der  Schüler  nicht  unbeachtet  lassen.  Darum 
fort  mit  den  wertlosen  SpezialWörterbüchern,  die  dem  Schüler  ganz  mechanisch 
die  passende  Bedeutung  des  fremdsprachlichen  Wortes  geben  und  ihn  gradezu 
zur  Denkfaulheit  erziehen. 

Grundlehrplan  für  den  englischen  Unterricht.  Kiel, 
Oberrealschule  I  an  der  Waitzstraße.    20  S.    4«.     Progr.-No.  381. 

Nachdem  der  Gesamtlehrplan  der  Anstalt  in  großen  Zügen  bereits  in  der 
wissenschaftlichen  Beilage  zum  Jahresbericht  1906  veröffentlicht  worden  ist,  wird 
in  der  vorliegenden  Arbeit  die  Behandlung  der  englischen  Lehraufgaben  in  ihren 
Einzelheiten  gezeigt.  Solche  Veröffentlichungen  sind  stets  willkommen,  zumal 
wenn  sie  mit  solcher  Sorgfalt  und  Ausführlichkeit  wie  das  Kieler  Programm  ab- 
gefaßt sind.  Hier  sind  nicht  nur  die  theoretischen  Ansichten  eines  einzelnen 
ausgesprochen,  es  werden  uns  vielmehr  die  praktischen  Resultate  und  die  mehr- 
jährigen Erfahrungen  der  neusprachlichen  Kollegen  vorgelegt.  Als  Lehrbücher 
sind  die  bekannten  trefflichen  Unterrichtsbücher  von  Dubislav  und  Boek  ein- 
geführt, dazu  kommt  noch  in  den  Klassen  0  III — I  die  Gedichtsammlung  von 
Gropp  und  Hausknecht.  Am  eingehendsten  ist  die  Darbietung  der  Grammatik 
behandelt,  die  nach  der  sogenannten  vermittelnden  Methode  gelehrt  wird.     Es 


614  O.  Preußner, 

finden  sich  hierbei  Ratschläge  und  Winke,  die  verdienen,  immer  wieder  betont 
zu  werden  und  die  hoffentlich  in  noch  recht  viele  Lehrpläne  übergehen  werden. 
Leider  verbietet  es  der  Mangel  an  Raum,  hierauf  näher  einzugehen;  ich  muß  mich 
damit  begnügen,  zu  den  oft  bis  ins  einzelne  gehenden  Ausführungen  nur  einige 
Berichtigungen  und  Ergänzungen  hinzuzufügen.  Über  die  Art  des  Lautierkurses, 
mit  dem  der  englische  Unterricht  zu  beginnen  hat  und  der  gerade  Anfängern  nicht 
unbedeutende  Schwierigkeiten  bereitet,  vermißt  man  genauere  Angaben.  Die 
zum  Lautieren  der  schwierigeren  und  wichtigsten  Laute  angesetzten  zwei  bis  drei 
Stunden  können  in  keiner  Weise  genügen.  Auch  über  die  den  einzelnen  Quartalen 
zugewiesenen  Abschnitte  der  Jahrespensen  kann  man  andrer  Ansicht  sein;  die 
Praxis  wird  auch  gewiß  schon  öfters  Abweichungen  und  Änderungen  ergeben  haben. 
Auf  fest  anzusetzende  Wiederholungen  am  Schluß  eines  Semesters  oder  Schul- 
jahres wird  man  ja  bei  ausreichender  Zeit  kaum  verzichten.  Wichtiger  ist  aber,  daß 
bei  der  Durchnahme  jedes  Stückes  auf  eine  ständige  immanente  grammatische 
wie  sprachliche  Wiederholung  der  größte  Nachdruck  zu  legen  ist.  Daher  kann 
ich  der  Verteilung  der  Stunden  für  Klasse  Olli  nicht  zustimmen  (1  Stunde  für 
Wiederholung  des  U  III  Pensums,  1  Stunde  für  Grammatik,  2  Stunden  für  Lektüre). 
Die  vielfach  auch  in  Grammatiken  noch  übliche  Bezeichnung  unregelmäßige  Verben 
für  starke  Verben  ist  zu  verwerfen.  Bei  der  Besprechung  der  Reflexiva  ist  darauf 
hinzuweisen,  daß  die  englische  Sprache  eine  beschränkte  Anzahl  echter  Reflexiva 
kennt.  Der  Acc.  c.  Inf.  im  Englischen  ist  nicht  so  mechanisch  zu  behandeln,  wie 
wir  es  leider  von  der  früher  allgemein  üblichen  Art  des  Lateinischen  gewöhnt  sind. 
Die  Ausführungen  über  die  Behandlung  der  Lektüre  treten  hinter  denen  über  die 
grammatische  Belehrung  ziemlich  zurück,  wahrscheinlich,  weil  man  hier  dem 
Lehrer  die  beim  Unterricht  so  notwendige  und  unentbehrliche  Freiheit  sichern  will, 
sich  die  seiner  Art  am  besten  entsprechende  Methode  zu  wählen.  Was  helfen  auch 
hier  über  den  Gebrauch  der  Fremdsprache  im  Lektüre-Unterricht  alle  Theorien, 
wenn  sie  doch  nicht  befolgt  werden  oder  nicht  befolgt  werden  können.  Auffallend 
ist  nur,  daß  man  in  0  III  und  zum  Teil  auch  noch  in  U  II  von  einer  häuslichen 
Präparation  absehen  will.  Der  Schüler  ist  doch  bereits  im  französischen  Unter- 
richt auf  die  rechte  Art  der  Präparation  hingewiesen  worden.  Daneben  ist  aller- 
dings die  unvorbereitete  Übersetzung  nach  Möglichkeit  zu  üben.  Der  Satz  „Wün- 
schenswert ist  in  Klasse  I  ein  Überblick  über  die  englische  Literatur  seit  Shake- 
speare" wahrt  zwar  auch  hier  dem  Lehrer  jede  Freiheit;  einige  Ausführungen  über 
die  Auswahl  des  Stoffes  sind  jedoch  in  einem  ausführlichen  Lehrplan  unentbehrlich. 

Berlit,  Otto,  Quelques  principes  sur  la  lecture  ä  haute 
voix,  specialement  sur  la  liaison  des  mots  en  fran^ais. 
Wiesbaden,  Stadt.  Oberrealschule  i.  E.  am  Zietenring.    13  S.    4".    Progr,-No.  550. 

Die  Kunst  des  Vortrags  ist  zwar  schwierig,  aber  doch  auch  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  für  jeden  durch  Übung  zu  lernen.  Der  Verfasser,  der  sich  bewußt 
ist,  daß  die  Gesetze  der  französischen  Vortragskunst  sich  nicht  ohne  weiteres  in 
bestimmte  und  allgemein  gültige  Regeln  fassen  lassen,  da  sie  vielfach  willkürlich 
sind  und  nach  der  Art  des  Vortrags,  des  Lesens  oder  Sprechens,  oft  Abänderungen 
erfahren,  stellt  die  wichtigsten  Richtlinien  zusammen  und  spricht  über  die  Atmung, 
die  Stimme,  die  Aussprache,  die  Betonung,  die  Interpunktion  und  am  ausführ- 


Französisch  und  Englisch,  615 

liebsten  über  die  Bindung.     Das  Material  ist  übersichtlich  und  klar  zusammen- 
gestellt und  nach  den  maßgebenden  Gesichtspunkten  erschöpfend  behandelt. 

Kirschstein,  Louis  Ferdinand,  Ergänzungsregeln  zur  franzö- 
sischen Sprachlehre.  II.  Teil:  Das  Verb  aller  in  den  gebräuchlichsten 
Verbindungen  und  Konstruktionen.  Wehlau,  Kgl.  Realschule.  36  S.  8".  Progr.- 
No.  29. 

Der  Verfasser  stellt  das  Verb  aller  in  den  gebräuchlichsten  phraseologischen, 
syntaktischen,  synonymischen  und  stilistischen  Verbindungen  zusammen.  Den 
Hauptteil  der  Abhandlung  nehmen  die  Germanismen  mit  dem  deutschen  Verb 
„gehen"  ein.  Die  Zusammenstellung  ist  übersichtlich  und  in  möglichster  Voll- 
ständigkeit geboten.  Da  die  Art  der  Darstellung  volle  Anerkennung  verdient, 
würden  gewiß  weitere  Veröffentlichungen  über  andre  gebräuchliche  Verben 
dankbar  begrüßt  werden. 

Morgenroth,  Eduard,  Die  französischen  Verben  im  Schul- 
unterricht.    Berlin,  Humboldt-Gymnasium.    46  S.    8°.     Progr.-No.  68. 

Der  Verfasser  versucht  es,  den  Schülern  das  Erlernen  der  französischen  regel- 
mäßigen wie  unregelmäßigen  Verben  nach  Art  des  im  Lateinischen  üblichen  Systems 
der  Stammformen  zu  erleichtern,  ein  Verfahren,  das  wohl  heut  fast  allgemein 
geübt  wird  und  das  das  sinnlose  Durchkonjugieren  der  Zeiten  ohne  Erkenntnis 
des  inneren  Zusammenhangs  der  einzelnen  Formen  hoffentlich  völlig  beseitigt  hat. 
Es  werden  außer  dem  Infinitiv  die  folgenden  vier  Stammformen  angenommen: 
Praesens  Ind.,  Imperfectum  Indic,  Histor.  Perfectum,  Partie.  Perfecti.  Das 
Imperf.  Ind.  ist  aber  als  besondere  Form  übrig,  wenn  man  hierfür  die  1.  Person 
Plur.  Praes.  Ind.  einsetzt.  Neu  ist  auch  die  Forderung,  in  der  französischen  Sprache 
nur  zwei  Konjugationen  zu  unterscheiden;  ob  sich  aber  diese  Forderung  in  der 
Praxis  bewährt,  ist  recht  fraglich.  Wertvoll  erscheint  mir  das  Betonen  der  Tat- 
sache, daß  wir  auch  im  Französischen  starke  und  schwache  Formen  der  Verben  zu 
unterscheiden  haben.  Da  der  Verfasser  zunächst  nur  für  Latein  lernende  Schüler 
schreibt,  wäre  es  notwendig  gewesen,  das  Latein  noch  mehr  zur  Erklärung  und 
Bildung  der  Formen  heranzuziehen.  Ich  erinnere  nur  an  die  Schreibung  mit  und 
ohne  d  in  den  Formen:  je  crains,  je  resous,  je  prends;  ebenso  an  die  als  Ausnahmen 
angeführten  Futurformen:  j'aurai,  je  saurai,  je  voudrai,  j'irai  usw.  Das  den  Kon- 
junktiv nach  sich  bedingende  que  muß  aus  der  Formenlehre  unsrer  Grammatiken 
für  immer  verschwinden.  Falsch  ist  auch  die  Annahme,  daß  nur  einige  intransitive 
Verben  als  Ausnahme  mit  avoir  verbunden  werden;  es  muß  umgekehrt  heißen: 
Die  intransitiven  Verben  werden  im  Französischen  mit  avoir  verbunden;  nur  ein- 
zelne Ausnahmen,  die  auswendig  zu  lernen  sind,  verlangen  etre.  Verfehlt  ist  es 
auch,  von  einem  persönlichen  unbetonten  Genitiv-Pronomen  zu  sprechen  und 
die  unmögliche  Verbindung  vas-en  lernen  zu  lassen,  anstatt  etwa  vas  en  France. 
Gern  stimme  ich  aber  dem  Verfasser  zu,  daß  man  recht  wohl  die  regelmäßigen 
und  die  unregelmäßigen  Verben  zusammen  lernen  lassen  kann,  vorausgesetzt, 
daß  die  Stammformen  bekannt  sind  und  daß  man  mehr  als  vielfach  üblich  auf 
die  den  einzelnen  Konjugationsformen  gemeinsamen  Endungen  nachdrücklichst 
hinweist.     Neuere  Grammatiker  üben  dieses  Verfahren  mit  gutem  Erfolge  und 


616  O.  Preußner, 

bringen  die  Schüler  nicht  erst  nach  3  Jahren  zum  Wissen  der  gebräuchlichsten 
unregelmäßigen  Verben. 

Petzold,  F.,  Zur  Wiederholung  des  verarbeiteten  Lehr- 
stoffs. Mit  Zugrundelegung  von  Gaspard,  Les  pays  de  France.  Mühlhausen 
in  Thür.,  Oberrealschule.    31  S.    8".     Progr.-No.  350. 

Die  Arbeit,  die  der  Verfasser  seinen  Primanern  gewidmet  hat,  zeigt,  mit  wel- 
chem Eifer  der  Lehrer  mit  seinen  Schülern  die  Erweiterung  und  Befestigung  des 
Wort-  und  Phrasenschatzes  betrieben  hat.  Der  Wortschatz  der  Realien  ist  in 
den  gebräuchlichsten  Verbindungen  und  Redewendungen  zusammengestellt  und 
befähigt  so  den  Schüler,  sich  schriftlich  und  mündlich  über  das  Gelesene  in  kor- 
rektem Französisch  zu  äußern. 

Remus,  Beiträge  zur  Behandlung  Shakespeares  im  eng- 
lischen Unterricht  der  Prima.  Düren,  Realgymnasium.  19  S.  8". 
Progr.-No.  629. 

Der  Verfasser  spricht  sich  zunächst  in  einer  kurzen  Einleitung  über  die  Richt- 
linien und  Gesichtspunkte  aus,  nach  denen  ein  neusprachliches  Drama  als  Kunst- 
werk zu  behandeln  ist.  Er  läßt  richtig  und  energisch  betriebenen  Sprechübungen 
ihren  Wert,  den  Schüler  im  ständigen  Gebrauch  der  fremden  Sprache  an  die  fremden 
Laute  und  Lautverbindungen  zu  gewöhnen.  Nur  wendet  er  sich  gegen  die  extremen 
Reformer,  die  rn  der  mündlichen  Beherrschung  der  Sprache  ihr  letztes  und  einziges 
Ziel  sehen  und  die,  anstatt  ein  Drama  zu  interpretieren  und  es  auf  die  Schüler 
wirken  zu  lassen,  es  durch  übel  angebrachte  Sprechübungen  den  Schülern  ver- 
leiden. In  kurzen  Sätzen  zeigt  dann  der  Verfasser  an  Macbeth,  welche  Aufgaben 
der  Lektüre  eines  Shakespearedramas  harren.  Hierbei  verlangt  er  auch,  daß 
die  Schüler  das  Notwendigste  über  die  Entwicklung  des  englischen  Dramas  bis 
Shakespeare  erfahren,  einen  kurzen  Abriß  des  Lebens  Shakespeares  erhalten  und 
vertraut  gemacht  werden  mit  den  damals  üblichen  Bühneneinrichtungen,  wobei 
er  mit  Recht  beklagt,  daß  uns  hierzu  noch  die  allernotwendigsten  Anschauungs- 
mittel fehlen  und  daß  selbst  der  Regie  größerer  Bühnen  oft  noch  die  grundlegenden 
Kenntnisse  fehlen.  Man  vergleiche  hierzu  die  treffenden  Bemerkungen,  die  Her- 
mann Conrad  gelegentlich  der  Besprechung  einer  Aufführung  von  Shakespeares 
Macbeth  macht  (Preuß.  Jahrbücher  B.  136,  p.  545). 

Schumann,  Wilhelm,  Der  französische  Anfangsunterricht 
nach  dem  Elementarbuch  von  G.  Ploetz  (Ausgabe  E).  Mar- 
burg, Kgl.  Gymnasium  Philippinum.     28  S.    4°.     Progr.-No.  520. 

Der  Verfasser,  der  die  Ploetzschen  Lehrbücher  gründlich  kennt,  gibt  für  den 
Unterricht  in  der  Grammatik  wertvolle  methodische  Anleitungen  und  Winke. 
Er  vermeidet  sorgsam  die  gefährliche  mechanische  Dressur  des  Schülers,  er  ver- 
sucht vielmehr  überall  das  Gedächtnis  nach  Möglichkeit  zu  unterstützen  und  den 
Schüler  dadurch  zum  Denken  zu  erziehen,  daß  er  nach  dem  Grunde  der  Erscheinung 
fragt  und  daß  er,  wo  nur  irgend  angängig,  das  Deutsche  und  besonders  das  La- 
teinische zum  Vergleich  heranzieht.  Dabei  zeigt  er  auch,  wie  ein  Lesestück  zu 
behandeln  ist,  wie  erst  nach  dem  Übersetzen  und  Lesen  die  eigentliche  Arbeit 
beginnt,  die  peinliche  Durcharbeit  zur  Wiederholung,  Befestigung  und  Erweiterung 
des  grammatischen  Wissens,  des  Wort-  und  Phrasenschatzes.    Der  Verfasser  führt 


Französisch  und  Englisch.  617 

uns  weiter  vor,  welch  reiches  Maß  grammatischer  Kenntnisse  sich  der  Schüler 
bei  richtiger  Anleitung  in  zwei  Jahren  erwerben  kann,  welche  Fülle  des 
Wissens  aus  dem  Übungsbuch  herausgelesen  und  welche  Fülle  syntaktischen 
Stoffes  auf  induktivem  Wege  in  den  beiden  Elementarklassen  gelernt  werden 
kann.  Hierbei  deckt  der  Verfasser  auch  manche  Mängel  der  Regeln,  der  Lese- 
und  Übungsstücke  auf;  er  erweitert  und  bessert  vielfach  und  gibt  gleichsam  einen 
Kommentar  zu  Ploetz  heraus,  der  sicher  bei  späteren  Auflagen  benutzt  werden  wird. 
Zum  Schluß  klagt  der  Verfasser  mit  Recht  über  die  stiefmütterliche  Behandlung 
des  Französischen  in  der  Unter-Tertia  des  Gymnasiums.  Wir  bedauern  mit  ihm 
die  Herabsetzung  der  4  Stunden  in  Quarta  auf  2  Stunden  in  Unter-Tertia,  ein 
Verfahren,  das  sonst  in  keinem  Unterrichtsfach  versucht  wird  und  das  für  das 
Französische  am  Gymnasium  die  schlimmsten  Folgen  hat.  Unsre  Gymnasiasten, 
die  in  Quarta  gern  Französisch  lernen  und  bei  4  Stunden  zumeist  auch  befriedigende 
Leistungen  aufzuweisen  haben,  fallen  bei  dem  plötzlich  auf  2  Stunden  reduzierten 
Unterricht  oft  genug  völlig  ab  und  messen  dem  mit  so  geringer  Stundenzahl  be- 
dachten Unterricht  auch  nicht  mehr  die  rechte  Bedeutung  bei.  Gelingt  es  nicht, 
die  Stundenzahl  wenigstens  in  U  III  wieder  auf  drei  zu  erhöhen,  so  muß  der  Lehr- 
stoff erheblich  beschränkt  werden.  Der  Verfasser  hat  uns  ja  gezeigt,  welche  Fülle 
grundlegenden  grammatischen  Wissens  zu  erledigen  ist.  Reicht  aber  die  Zeit 
in  keiner  Weise  aus,  dann  kann  die  grammatische  Belehrung  nur  oberflächlich 
erfolgen,  und  die  Übungsstücke  müssen  durchgejagt  werden,  ohne  daß  an  Wieder- 
holungen oder  an  eine  Befestigung  des  Wissens  gedacht  werden  kann. 

Sörgely  Johannes^  Englisch  als  erste  Fremdsprache.  Erfurt, 
Oberrealschule.    20  S.    4».    Progr.-No.  343. 

Nach  einigen  einleitenden  Bemerkungen  über  die  Stellung  des  Englischen  im 
fremdsprachlichen  Unterricht  und  über  die  Erfahrungen,  die  man  bis  jetzt  mit 
Englisch  als  erste  Fremdsprache  gemacht  hat,  untersucht  der  Verfasser  objektiv, 
welche  stichhaltigen  Gründe  sich  gegen  den  Anfang  mit  Französisch  oder  Englisch 
anführen  lassen,  und  zeigt  dann,  daß  das  Englische  in  grammatischer  Beziehung 
sehr  wohl  das  leisten  kann,  was  man  allgemein  von  der  ersten  Fremdsprache  ver- 
langt. Für  Englisch  als  erste  Fremdsprache  spricht  vor  allem  der  Umstand,  daß 
die  gesamte  Formenlehre  einschließlich  der  wichtigsten  syntaktischen  Gesetze 
infolge  ihrer  durchsichtigen  Klarheit  und  Einfachheit  bequem  in  den  beiden  ersten 
Schuljahren  erledigt  werden  kann,  so  daß  bereits  in  den  Mittelklassen  die  Lektüre, 
die  für  unsre  Jugend  von  einem  ungleich  größeren  Wert  als  die  französische  ist, 
zu  ihrem  Recht  korpmen  und  in  den  oberen  Klassen  völlig  in  den  Vordergrund 
treten  kann.  Für  des  Verfassers  Ansicht,  mit  Englisch  zu  beginnen  und  Englisch 
energischer  zu  betreiben,  sprechen  dann  noch  wichtige  praktische  Bedürfnisse, 
die  größere  politische  und  kommerzielle  Bedeutung  der  Sprache.  Wenn  man  auch 
den  in  der  Abhandlung  dargelegten  interessanten  Ausführungen  des  Verfassers 
vielfach  zustimmen  kann,  so  sind  doch  bei  der  praktischen  Durchführung  schwere 
Bedenken  nicht  zu  unterdrücken.  Schafft  man  wieder  bei  den  Realanstalten 
grundverschiedene  Lehrpläne,  indem  hier  Französisch  erste  Fremdsprache  bleibt, 
dort  aber  mit  Englisch  begonnen  wird,  dann  ergibt  sich  ein  heilloser  Wirrwarr 
bei  den  Schülern,  deren  Eltern  ihren  Wohnsitz  wechseln  müssen.     Den  Luxus 


618  O.  Preußner,  Französisch  und  Englisch. 

zweier  Realschulen  mit  verschiedener  Behandlung  der  beiden  modernen  Fremd- 
sprachen könnten  sich  gewiß  nur  wenige  größere  Städte  leisten.  Aber  auch  nach 
den  jetzigen  Lehrplänen  der  Realschulen  erreicht  das  Englische  nicht  viel  später 
die  ihm  gebührende  Bedeutung.  In  der  Unter-Tertia  erledigt  man  bequem  die  ein- 
fache Formenlehre,  so  daß  bereits  in  Ober-Tertia  mit  der  zusammenhängenden 
Lektüre  in  wöchentlich  zwei  Stunden  begonnen  werden  kann.  Außerdem  sind 
die  neueren  Lehrbücher  —  ich  erwähne  hier  nur  das  Unterrichtswerk  von  Dubislav 
und  Boek  —  so  eingerichtet,  daß  die  Lesestücke  auch  schon  im  ersten  Unterrichts- 
jahr wertvolle  Lektüre  nach  Inhalt  und  Form  bieten  und  reichlich  Stoffe  zu  Sprech- 
übungen über  Gegenstände  des  täglichen  Lebens,  über  Land  und  Leute  enthalten. 
Der  Nachteil  des  Zeitverlustes  wird  also  bei  den  sprachlich  schon  vorgebildeten 
und  geschulten  Schülern  recht  bald  wieder  eingeholt,  nur  bleibt  hierbei  die  ständige 
Voraussetzung,  daß  man  im  Englischen  die  Grammatik  wirklich  in  ihrer  Ein- 
fachheit und  unter  Ausschluß  alles  unnötigen  Formenkrams  lehrt  und  englische 
Grammatik  nur  so  weit  treibt,  als  sie  zum  klaren  Verständnis  der  Lektüre  un- 
bedingt notwendig  ist.  In  Pommern  und  gewiß  auch  anderswo  haben  wir  es  erreicht, 
daß  die  Endleistungen  in  Beziehung  auf  praktische  Sprachkenntnisse  und  Be- 
wältigung einer  schwierigeren  Lektüre  hinter  denen  des  Französischen  in  keiner 
Weise  zurückstanden,  daß  sogar  öfters  die  Resultate  im  Englischen  befriedigender 
waren  als  im  Französischen. 

Stettin.  Oskar  Preußner. 


1.    Bücherbesprechungen. 


Dyroff,  Adolf,  EinführungindiePsychologie  (Band  37  von  „Wissen- 
schaft und  Bildung").  Leipzig  1909.  Quelle  u.  Meyer.  I  u.  134  S.  kl.  S«. 
geb.  1,25  M. 

Die  Sammlung  „Wissenschaft  und  Bildung"  will  in  anregender  Darstellung 
und  systematischer  Vollständigkeit  die  Ergebnisse  wissenschaftlicher  Forschung 
bringen, 

Sie  will  den  Leser  schnell  und  mühelos,  ohne  Fachkenntnisse  vorauszusetzen, 
in  das  Verständnis  wissenschaftlicher  Fragen  einführen;  sie  will  dem  Laien  eine 
belehrende  und  unterhaltende  Lektüre,  dem  Fachmann  eine  bequeme  Zusammen- 
fassung und  dem  Gelehrten,  der  gern  zu  einer  gemeinverständlichen  Darstellung 
greift,  um  sich  in  Kürze  über  ein  seiner  Forschung  ferner  liegendes  Gebiet  zu  unter- 
richten, ein  geeignetes  Orientierungsmittel  sein. 

Nicht  wenige  von  diesen  Versprechungen  erfüllt  das  unter  allen  Umständen 
wertvolle  Buch  von  Dyroff.  Die  Sprache  ist,  abgesehen  von  hier  und  da  etwas 
lang  und  nicht  rasch  übersichtlich  gebauten  Sätzen,  sehr  angenehm,  meist  recht 
frisch,  öfter,  auch  bei  sprödem  Stoff,  anschaulich.  Ergebnisse  streng  wissenschaft- 
licher Forschung,  auch  in  relativ  systematischer  Vollständigkeit,  liegen  vor,  relativ 
d.  h.  in  Anbetracht  der  zahlreichen  noch  ungelösten  und  schwer  zu  lösenden  Fragen. 
Auch  haben  wir  es  hier  unzweifelhaft  mit  einer  für  den  Fachmann  bequemen  Zu- 
sammenfassung von  Ergebnissen  und  auch  von  noch  offenen  Fragen  der  neuen, 
experimentellen  Psychologie  zu  tun.  Gleicherweise  kann  dem  Gelehrten,  der,  ohne 
Fachmann  zu  sein,  sich  über  Wesen,  Methode  und  Erfolge  der  experimentellen 
Psychologie  orientieren  will,  das  Buch  gute  Dienste  leisten. 

Aber  ohne  physiologische,  und  zwar  in  gewissem  Betracht  sehr  eingehende 
physiologische  Kenntnisse  wird  nicht  einmal  der  Gelehrte,  geschweige  der  L  a  i  e, 
der  im  üblichen  Sinne  gebildete  Mann,  die  gebildete  Frau,  das  Buch,  wenigstens 
große  Partien,  ja  etwa  die  erste  Hälfte  des  Buches  hinlänglich  verstehen  können, 
und  eine  „schnelle  und  mühelose  Lektüre,  die  keine  Fachkenntnisse  voraussetzt", 
ist  das  Buch  wenigstens  in  diesen  Abschnitten  keineswegs.  Nur  für  den  Leser, 
der  schon  Fachkenntnisse,  insonderheit  physiologische  besitzt,  wird  die  unzweifel- 
haft belehrende  Lektüre  auch  eine  unterhaltende  sein  können. 

Das  liegt  aber  nicht  an  dem  Verfasser,  das  liegt  an  Art  und  Charakter  der 
schwierigen,  heiß  umstrittenen,  erst  etwa  30  Jahre  alten  Wissenschaft  der  ex- 
perimentellen Psychologie  selbst,  die,  von  bedeutenden   Köpfen  begründet,  ge- 


620         A.  Dyroff,  Einführung  in  die  Psychologie,  angez.  von  Leuchtenberger. 

fördert  und  gepflegt,  im  gegenseitigen  Kampf  hochwichtiger  Gegensätze,  für  eine 
populäre  Darstellung  doch  noch  zu  wenig  Gesichertes  bieten  kann,  vielmehr 
in  nimmer  ruhendem  Streben  immer  neue  Fragezeichen  aufstellt  und  in  mühevollen 
Untersuchungen  vorhandener  Rätsel  auf  immer  neue  stößt. 

Sollte  also  eine  populäre  Darstellung  der  experimentellen  Psychologie  nicht 
wirklich  noch  verfrüht  sein?  Daß  das  Buch  von  Dyroff  ein  meines  Wissens  erster, 
ernster  und  immerhin  sehr  beachtenswerter  Versuch  zu  solcher  Darstellung 
ist,  wird  nicht  bestritten;  daß  er  gelungen,  in  allen  Teilen  gelungen,  kann  man  nicht 
anerkennen.  Vielmehr  erscheinen  gerade  die  Abschnitte,  die  möglichst  wenig 
Physiologisches  und  Experimentelles  an  sich  tragen,  sondern  nur  auf  feiner,  reicher 
und  sorgsamer  Beobachtung  ruhen,  als  besonders  gelungen  und  ansprechend,  als 
im  besten  Sinne  populär  und  für  gebildete  Laien  in  hohem  Maße  anregend. 

Nun  ist  das  Buch  der  „Monatschrift  für  höhere  Schulen"  zur  Beurteilung  zu- 
gegangen. Es  wird  also  wohl  auch  zu  der  Frage  Stellung  zu  nehmen  sein,  ob  der 
Schrift  vielleicht  irgendwie  eine  nähere  Beziehung  zur  höheren  Schule  zukommen 
könnte? 

Und  ich  möchte  die  Frage  nicht  schlechthin  verneinen.  Als  Lehrbuch  freilich 
für  Propädeutik  kann  es  nicht  zugrunde  gelegt  werden;  darauf  ist  es  auch  gar  nicht 
angelegt.  Auch  als  belehrendes  Lesebuch  kann  es  nicht  allgemein  empfohlen  werden 
aus  dem  oben  angegebenen  Grunde  unzureichender  Gemeinverständlichkeit.  Aber 
es  gibt  hier  und  da  Primaner,  die  sich  für  experimentelle  Physik  besonders  inter- 
essieren und  bei  denen  man  auch  für  die  experimentelle  Psychologie  durch  das 
Buch  wohl  den  Sinn  wecken  und  Verständnis  schaffen  könnte.  Es  würde  also  eine 
geeignete  Anschaffung  für  die  Bibliothek  der  Prima  sein  können. 

Im  einzelnen  fällt  in  dem  äußerlich  sehr  gefälligen  Buche  weniges  auf. 

„Erinnern"  passivisch:  „es  wird  etwas  erinnert"  ist  nicht  Sprachgebrauch 
(S.  39).  „Nachdenkliche  Tatsachen"  (S.  30)  für  Tatsachen,  die  zum  Nachdenken 
anregen,  ist  ungewöhnlich.  Ungewöhnlich  ist  auch  (S,  110)  der  Plural  von  Pein: 
„die  Peinen".  S.  78  die  Worte  des  Mephistopheles:  „Grau,  teurer  Freund,  ist  alle 
Theorie  usw."  erklären  sich  aus  dem  Zusammenhang  der  Stelle  und  aus  dem 
Charakter  Mephistos  anders  und  sehr  einfach.  S.  88.  Luther  vergleicht  nicht 
„Wort"  und  „Geist"  schlechthin  der  „Scheide"  und  dem  „Messer",  sondern  nennt 
„die  Sprachen"  (die  alten)  „die  Scheiden,  darinnen  das  Evangelium  („dies  Messer 
des  Geistes")  steckt".  Was  ähnliches  bei  Ratichius  steht,  habe  ich  nicht  finden 
können.  S.  108  bei  „ich  mag"  wäre  es  doch  wohl  ratsam  gewesen,  auch  an  die 
ursprüngliche  und  nicht  bloß  an  die  heutige  Bedeutung  von  „mögen"  (vgl.  ver- 
mögen) zu  denken;  noch  bei  Luther  „graben  mag  ich  nicht"  =  oxocttteiv  oux  lo/utu. 
S.  112.  Verfasser  scheint  keinen  Unterschied  zwischen  ,, ideal"  und  „ideell"  zu 
machen.  S.  118.  „Askese"  ist  uns  aber  doch  heute  im  „weitesten" Sinn  =  „Übung": 
fremd.     S.  117  steht  versehentlich  „setzte"  statt  „setze". 

Zehlendorf  bei  Berlin.  G.  Leuchtenberger. 

Loewenfeld,  L.,  Über  die  Dummheit.    Eine  Umschau  im  Gebiete  mensch- 
licher Unzulänglichkeit.  Wiesbaden  1909.   J.F.Bergmann.  XVu.339S.  8».  5M. 
Der  Verfasser,  Nervenarzt  in  München,  ist  zu  dieser  Schrift  veranlaßt  durch 


L.  Loewenfeld,  Über  die  Dummheit,  angez.  von  A.  Matthias.  621 

die  große  Zahl  der  Publikationen,  die  sich  in  den  letzten  Jahren  in  ärzlichen  Kreisen 
mit  dem  Schwachsinn  beschäftigt  haben.  Dummheit  und  Schwachsinn  sind 
ja  Geschwister;  aber  jene  gehört  noch  in  das  Gebiet  der  Gesundheit,  dieser  in 
den  Bereich  des  Krankhaften.  Die  Dummheit  ist  auch  verbreiteter  als  Schwach- 
sinn und  in  sozialer  Beziehung  viel  wichtiger  als  diese.  Sie  ist  eine  Macht  im 
öffentlichen  wie  im  privaten  Leben;  vor  allem  eine  Macht  in  der  Schule  und  im 
Elternhause,  die  zu  bekämpfen  ist  und  gegen  die  der  Kampf  um  so  aussichtsvoller 
ist,  je  genauer  wir  sie  kennen.  Eine  erschöpfende  oder  systematische  Darstellung 
beabsichtigte  der  Verfasser  nicht,  er  hat  sich  vielmehr  bemüht,  unter  gewissen 
wichtigen  Gesichtspunkten  die  Dummheit  zu  betrachten  und  in  ihren  mannig- 
faltigen Beziehungen  sie  zu  verfolgen.  So  behandelt  er  beispielsweise  die  Frage 
allgemeiner  und  partieller  Dummheit,  ferner  die  Kriterien  und  besonderen  Formen 
der  Dummheit,  Dummheit  und  Leidenschaft,  Dummheit  und  Aberglauben,  die 
Verdummung  als  Folge  von  Momenten,  welche  die  geistige  Entwicklung  hemmen, 
und  die  Dummheit  als  Folge  von  Erkrankung.  Für  die  Erziehung,  die  Schule  und 
den  Unterricht  finden  wir  reiche  Anregung  in  dem  Kapitel,  das  die  Dummheit 
und  die  Lebensalter  behandelt;  es  handelt  über  die  Kriterien  der  kindlichen  Dumm- 
heit, über  Aufsatzleistungen  als  Gradmesser  geistiger  Begabung,  über  Leistungen 
beschränkter  Schüler  im  Rechnen,  in  der  Orthographie  und  im  Lesen,  geht  dann 
zur  Dummheit  der  reiferen  Jugend  über,  wobei  die  ungenügende  Ausbildung  der 
hemmenden  seelischen  Kräfte  als  Grundquelle  aller  Jugendtorheiten  bezeichnet 
und  der  Einfluß  des  Alkohols  und  des  erotischen  Elements  auf  die  Entwicklung 
zur  Dummheit  behandelt  wird. 

Doch  nicht  nur  die  Jugend  mit  ihrer  Dummheit  kommt  zu  ihrem  Recht,  auch 
uns  selber  wird  ein  Spiegel  vorgehalten,  in  welchem  wir  uns  je  nach  dem  Maße 
unseres  Selbsterkenntnisdranges  beschauen  können.  Dazu  bietet  sich  Gelegenheit 
in  mehreren  Kapiteln,  einmal  da,  wo  von  der  Dummheit  der  Intelligenten  die  Rede 
ist,  das  andre  Mal,  wo  die  Dummheit  in  der  Wissenschaft  behandelt  wird.  Bei- 
läufig und  ohne  irgendwie  anzüglich  zu  werden:  auch  der  Fall  des  klugen  Hans 
wird  besprochen;  auch  wird  dargelegt,  daß  Beschränktheit  kein  Hindernis  für 
einen  gewissen  Grad  von  Gelehrsamkeit  zu  sein  braucht  und  daß  manche  Dumm- 
köpfe sogar  imstande  sind,  Stellungen  zu  erlangen,  die  in  den  Augen  vieler 
wenigstens  die  staatliche  Anerkennung  nicht  nur  ihrer  Gelehrsamkeit,  sondern 
auch  ihrer  höheren  Intelligenz  bedeutet.  Die  geistigen  Eigentümlichkeiten  dieser 
Auserwählten  werden  so  gut  charakterisiert,  daß  man  lebendige  Modelle  dazu  bald 
finden  kann.  —  Ein  besonders  anziehender  Abschnitt  ist  der  letzte  des  Buches, 
der  von  der  Dummheit  in  der  Vergangenheit,  der  Frage  des  intellektuellen  Fort- 
schritts der  Menschheit  sowie  von  der  Dummheit  der  Zukunft  und  von  dem  Kampf 
gegen  diese  handelt.  —  Die  Schlußbemerkungen  kommen  zu  dem  Ergebnis,  daß 
bei  dem  Ausblick  in  Vergangenheit  und  Gegenwart  nichts  entdeckt  sei,  was  uns 
zu  besonderm  Stolze  auf  den  derzeitigen  Stand  unsrer  Kultur  und  Intelligenz  be- 
rechtigen könne;  aber  der  Verfasser  hält  doch  einen  intellektuellen  Fortschritt 
unsrer  Bevölkerung  in  nicht  zu  ferner  Zukunft  für  möglich.  Hoffen  wir  das  Beste 
und' tun  wir  das  Unsrige  in  Bekämpfung  eigner  und  fremder  Dummheit! 

Berlin.  A.  Matthias. 


622  R.  Lehmann,  Der  deutsche  Unterricht,  angez.  von  A.  Matthias. 

Lehmann,  Rudolf,  Derdeutsche  Unterricht.  Eine  Methodik  für  höhere 
Lehranstalten.  Dritte,  neu  bearbeitete  Auflage.  Berlin  1909.  Weidmannsche 
Buchhandlung.  XX  u.  428  S.  8».  geb.  9  M. 
Die  neue  Auflage  von  Lehmanns  wertvollem  Buche  zur  Methodik  des  deutschen 
Unterrichts  ist  eindringlich  durchgearbeitet  und  an  manchen  Stellen  wesentlich  um- 
gearbeitet, ohne  daß  es  seinem  ursprünglichen  Charakter  und  seinen  von  Anfang 
an  genommenen  Richtlinien  irgendwie  untreu  geworden  ist.  Lehmann  hat  stets 
die  richtige  Mitte  gehalten  gegenüber  Extremen  im  deutschen  Unterricht,  die  diesem 
nicht  unerheblich  geschadet  haben.  Er  hat  dem  anschaulichen  Verständnis  ebenso 
zu  seinem  Rechte  verhelfen  wollen  wie  dem  denkenden;  er  hat  also  Front  gemacht 
gegen  die  einseitige  verstandesmäßige  Richtung,  die  Laas  und  Hiecke  seinerzeit 
vertraten,  indem  sie  in  der  Ausbildung  des  kritischen  Urteils  und  systematisch- 
rhetorischen Könnens  das  wesentliche  Ziel  des  deutschen  Unterrichts  wie  der 
gymnasialen  Bildung  überhaupt  erblickten.  Sein  Buch  hat  der  anschaulichen 
Auffassung  dichterischer  Werke  wieder  Freunde  gewonnen,  ohne  daß  der  ver- 
standesmäßigen Verarbeitung  künstlerischer  Eindrücke  Abbruch  geschah.  Die 
Natur  des  Knaben-  und  Jünglingsalters  war  ihm  dabei  Richtschnur  für  taktvolle 
Grenzregulierung.  Anderseits  hat  Lehmann  aber  auch  das  Verdienst,  einer  andern 
Gefahr  frühzeitig  entgegengetreten  zu  sein,  nämlich  der  allzu  einseitigen  Betonung 
der  Phantasie  und  des  Gefühls  im  deutschen  Unterricht.  Und  gerade  diese  Gefahr 
wurde  doch  in  den  letzten  Jahren  zuzeiten  recht  bedenklich,  zumal  Elternpublikum 
und  auch  ein  Teil  der  Tagespresse  der  bezeichneten  Richtung,  die  sich  auf  Kunst- 
erziehungstagen über  Gebühr  zur  Geltung  zu  bringen  suchte,  gefangen  gab.  Es 
ist  ja  so  schön,  alles  was  der  strengen  Arbeit,  besonders  strenger  Gedankenarbeit 
sich  nähert,  von  unsrer  lieben  Jugend  fernzuhalten;  daß  aber  gerade  im  deutschen 
Unterricht  Arbeit,  angestrengteste  Arbeit  vor  allem  not  tut,  das  betont  die  Art, 
wie  Lehmann  die  Fragen  auffaßt,  auf  jeder  Seite  seines  Buches.  Und  gerade  hierin 
sehe  ich  den  aktuellen  Wert  des  Lehmannschen  Buches,  daß  es  uns  beschützt 
vor  den  lauten  Freunden  des  deutschen  Unterrichts,  die  im  Grunde  seine  schlimmsten 
Feinde  sind,  weil  sie  als  falsche  Propheten  Stimmungsduselei  predigen  und  das  Heil 
der  Zukunft  sehen  in  ästhetischen  Kunsterziehungskränzchen,  in  denen  wir  allen- 
falls Selbstmordskandidaten  züchten,  aber  keine  mannhaften  Jünglinge  erziehen, 
die  mit  klarem  Kopf  dereinst  den  Gefahren  des  Lebens  trotzen,  weil  sie  innerlich 
gegen  jeden  Sturm,  der  das  Gemüt  einmal  erschüttert,  gefestigt  sind.  —  Noch 
nach  einer  andern  Seite  hin  trägt  das  Lehmannsche  Buch  den  gesunden  Forderungen 
des  Tages  Rechnung;  es  faßt  den  Begriff  der  Klassiker  nicht  zu  eng;  wir  erkennen 
heute  mehr  und  mehr  das  geschichtlich  Bedingte  und  das  dauerndLebendige 
ünsrer  großen  klassischen  Epoche  und  wir  scheiden  demgemäß  das  Wertvolle, 
das  pädagogisch  Bedeutsame  jener  Zeit,  von  dem  weniger  Wertvollen.  Immer 
näher  rückt  uns  Goethe  und  auch  für  die  Werte,  die  Schiller  verkörpert,  erwacht 
das  Verständnis  kräftiger,  während  bei  Lessing,  sofern  die  Jugend  davon  genießen 
soll,  für  Lehmann  die  Einseitigkeit  seiner  Kritik  und  seines  Standpunktes  einen 
Grund  bildet,  seine  Werke  mehr  nur  als  entscheidende  Dokumente  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  deutschen  Geistes  zu  berücksichtigen.  Dagegen  aber  zieht 
Lehmann  die  nachgoethische  Zeit  weit  mehr  in  den  Kreis  seiner  Methodik,  weil 


A.  Thimme,  Das  Märchen,  angez.  von  P.  Lorentz,  623 

diese  spätere  Entwicklung  in  viel  weiterem  Umfange  Gemeingut  der  Gebildeten 
geworden  ist,  als  das  noch  vor  zwei  Jahrzehnten  der  Fall  war.  Das  gilt  ihm 
ebensowohl  von  der  Romantik  wie  von  der  Epoche  deutschen  Schrifttums  bis 
zum  Jahre  1880.  Er  hat  deshalb  die  Abschnitte,  welche  die  Lektüre  in  Prima  be- 
handeln, wesentlich  erweitert,  die  Erörterungen  über  die  Romantik  vertieft  und 
der  Behandlung  der  nachklassischen  Zeit  einen  eigenen  Abschnitt  gewidmet.  Neu 
hinzugekommen  ist  ein  eingehender  Entwurf  zur  Behandlung  von  Goethes  Faust. 
Dieser  Abschnitt  scheint  vielleicht  manchem  zu  lang  geraten;  mir  nicht.  Denn 
es  ist  gut,  daß  wir  an  einer  Stelle  einmal  in  die  Arbeitsstätte  deutschen  Unter- 
richts eingeführt  werden,  wo  die  Lösung  eines  schwierigen  didaktischen  Problems 
uns  so  vorgeführt  wird,  daß  wir  nachahmen  können  und  für  unsre  Lehrkunst 
Gesetze  zu  finden  vermögen.  Diese  Erweiterung  des  Lehmannschen  Buches  und 
diese  Erweiterung  der  Unterrichtsaufgaben  wird  hier  und  da  Bedenken  erregen, 
besonders  an  den  Stellen,  die  ängstlich  mit  den  deutschen  Stunden  rechnen,  die 
ihnen  „lehrplanmäßig"  zugewiesen  sind.  Diesen  ängstlichen  Gemütern  ist  der 
Abschnitt  über  Bewegungsfreiheit  oder  deutlicher  gesagt  über  Lern-  und  Arbeits- 
freiheit gewidmet.  Der  deutsche  Unterricht  liegt  eben  nicht  nur  in  der  Schule, 
seine  Wirkungen  sollen  weit  hinein  gehen  in  die  Arbeitsstunden  des  Hauses,  seine 
Wirkungen  sollen  den  Schüler  im  Hause  beherrschen  und,  wenn  es  geht,  auch 
die  übrigen  Mitglieder  des  Hauses,  denen  es  nichts  schadet,  wenn  sie  ihre  litera- 
rische Bildung  vom  Sohne  Benjamin  beständig  anregen,  erweitern  und  vervoll- 
kommnen lassen. 

Da  Lehmanns  Buch  an  manchen  Stellen  eine  Erweiterung  erfahren  hat,  so  ist 
dafür  das  Kapitel  über  philosophische  Propädeutik  in  Wegfall  gekommen,  auch 
mit  Rücksicht  darauf,  daß  der  Inhalt  dem  Verfasser  heute  veraltet  erschien. 

So  ist  das  Buch  lediglich  seiner  nächstliegenden  Aufgabe  gewidmet  und  ver- 
dient weiteste  Verbreitung;  jedenfalls  weitere  Verbreitung,  als  es  bis  jetzt  gefunden 
zu  haben  scheint.  Denn  daß  ein  Buch  von  dieser  Bedeutung  für  den  deutschen 
Unterricht  12  Jahre  gebraucht  (1897 — 1909)  hat,  um  zu  einer  neuen  Auflage  zu 
gelangen,  ist  bezeichnend  für  das  Interesse,  das  der  deutsche  Unterricht  in  den 
beteiligten  Kreisen  findet.  Alle  schönen  Worte  und  Behauptungen  auf  Tagungen 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner  und  alle  ironisierenden  Bemerkungen 
gegenüber  Verfechtern  einer  kräftigeren  Hebung  und  Pflege  dieses  Unterrichtes 
enthalten  nichts  weiter  als  eine  Selbsttäuschung  und  schaffen  die  Tatsache,  daß 
der  deutsche  Unterricht  vielerorts  noch  eine  Aschenbrödelstellung  einnimmt,  nicht 
aus  der  Welt.  Möge  das  Lehmannsche  Buch  dazu  beitragen,  den  Schatz  unsres 
nationalen  Geisteslebens  unsrer  Jugend  zu  vollerem  Eigentume  zu  machen. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Thimme,  Adolf,  Das  Märchen.  Handbücher  zur  Volkskunde.  Bd.  II.  Leipzig 
1909.  Wilh.  Heims.  VII  u.  201  S.  8».  geh.  2  M.,  geb.  2,75  M. 
Einer  außerordentlich  schweren,  aber  auch  ebenso  dankbaren  Aufgabe  hat  sich 
der  Verfasser  der  Monographie  über  das  Märchen  unterzogen  und  —  mit  großem 
Geschick  gelöst.  Die  Schwierigkeiten,  die  es  zu  besiegen  galt,  lagen  einmal  in  der 
schier  unübersehbaren  Literatur,  zumal  der  in  Zeitschriften  verstreut  liegenden, 


624  R.  Thiele,  Kleinasien;  0.  Fritsch,  Delos,  Delphi, 

die  es  durchzuarbeiten  galt,  und  dann  in  der  Entscheidung  bei  den  zahlreichen 
Fragen,  die  gerade  für  diese  Literaturgattung  noch  recht  umstritten  sind.  Dankbar 
aber  war  die  Aufgabe  in  so  hohem  Grade  deshalb,  weil  das  Märchen  mehr  als  vieles 
andre  einen  zuverlässigen  Einblick  in  das  Innenleben  alles  Volkstums,  hier  also 
vor  allem  unsres  eigenen,  tun  läßt.  Bewältigt  sind  die  Schwierigkeiten  der  Durch- 
arbeitung der  weitverzweigten  Literatur  derart,  daß  man  den  Eindruck  einer  recht 
geschickten  Verdichtung  des  Stoffes  gewinnt.  Nachdem  der  Begriff  des  Märchens 
bestimmt  und  umsichtig  abgegrenzt  ist  gegen  Sage  und  Mythus,  auch  Beziehungen 
zum  Volkslied  aufgewiesen  sind,  und  die  wichtige  Unterscheidung  zwischen  Märchen- 
motiven und  Märchennovellen  aufgestellt  ist,  wird  in  je  einem  Kapital  behandelt: 
die  Geschichte  der  Märchenforschung,  Märchen  und  Mythologie,  Märchenmotive 
und  Märchenformeln,  märchenhafte  Züge,  kontaminierte  Märchennovellen,  einheit- 
liche Volksmärchen,  mythische  Märchenleute,  Märchentiere  und  Tiermärchen,  Liebe, 
Ehe,  Sittlichkeit,  nationale  Aneignung,  Kinderseele  und  Märchenstimmung.  Die 
B  e  n  f  e  y  sehe  Theorie  vom  ausschließlich  indischen  Ursprung  aller  europäischen 
Märchen  wird  als  unhaltbar  nachgewiesen,  und  zwar  grundsätzlich,  wenn  auch  die 
Gültigkeit  für  einzelne  anerkannt  wird,  wenigstens  für  eine  bestimmte  bekannte 
Fassung. 

Die  Form,  in  der  das  Buch  vom  deutschen  Märchen  geschrieben  ist,  kann  in 
vorbildlichem  Sinne  volkstümlich  genannt  werden.  Nur  der  Kundige  merkt  die 
Arbeit,  die  darin  steckt,  die  nachzuprüfen  und  weiter  fortzusetzen  der  sehr  umfang- 
reiche Literaturnachweis  am  Schluß  ermöglicht.  Wo  da  Wacken  und  Klötze  ge- 
legen, um  mit  Luther  zu  reden,  da  fährt  der  Leser  jetzt  fein  säuberlich  wie  über  ein 
gehofelt  Brett  hin.  Herzerfreuend  berührt  der  warme  innere  Anteil,  mit  dem  das 
Buch  geschrieben  ist.  Den  Deutschlehrern  aller  Arten  von  höheren  Schulen  sei 
es  aufs  beste  empfohlen. 

Friedeberg,  Nrn.  Paul   Lorentz. 

Thiele,  R.,  Im  Jonischen  Kleinasien.    Erlebnisse  und  Ergebnisse.    Mit 

drei  Karten  und  32  Bildern.     160  S.    8».    geh.  2  M. 
Fritsch,  0.,  D  e  1  o  s  ,  d  i  e  I  n  s  e  1  d  e  s  A  p  o  1 1  o  n.   Mit  27  Abbildungen.   84  S. 
8°.    geh.  1,50  M. 

.Delphi,  dieOrakelstätte  desApollo  n.  Mit  47  Abbildungen. 

135  S.  8°.  geh.  2,40  M,  (Gymnasialbibliothek,  herausgegeben  von  Hugo  Hoff- 
mann. 45.,  47.,  48.  Heft.)  Gütersloh  1907  und  1908.  C.  Bertelsmann. 
Wer  über  eine  antike  Ruinenstätte  berichten  will,  sieht  sich  vor  der  schwierigen 
Aufgabe,  ein  doppeltes  Bild  zu  geben;  er  soll  den  gegenwärtigen  Zustand  anschau- 
lich machen,  daneben  aber  aus  den  Trümmern  das  Ursprüngliche  vor  dem  geistigen 
Auge  des  Lesers  wieder  erstehen  lassen.  Diese  Schwierigkeit  steigert  sich  häufig 
noch  dadurch,  daß  verschiedene  Kulturschichten  übereinanderliegen,  also  mehrere 
Rekonstruktionsbilder  erforderlich  sind.  Ferner  hat  nicht  nur  die  antike  Stätte, 
sondern  auch  ihre  Wiederauffindung  und  Aufdeckung  in  der  Neuzeit  ihre  Geschichte; 
auch  hierüber  werden  geeignete  Mitteilungen  einzuflechten  sein.  Endlich  kommt 
der  Berichterstatter  häufig  in  Versuchung,  von  persönlichen  Reiseerlebnissen  zu 
sprechen,  zumal  dann,  wenn  er  nicht  als  Ausgräber  dauernd  an  Ort  und  Stelle  war, 


angez.  von  E.  Wendung.  625 

sondern  als  wissenschaftlicher  Tourist  sich  mit  einem  mehr  oder  minder  flüchtigen 
Besuch  begnügen  mußte.  Es  ist  klar,  daß  es  einer  Meisterhand  bedarf,  wenn  diese 
verschiedenen  Fäden  sich  zu  einem  glatten  Gewebe  vereinigen  sollen. 

Die  Verfasser  der  drei  vorliegenden  Hefte  scheinen  sich  der  Schwierigkeit  und 
Kompliziertheit  ihres  Unternehmens  nicht  gleichmäßig  bewußt  gewesen  zu  sein. 
Die  Schilderung  der  jonischen  Städte  Kleinasiens  leidet  an  einer  gewissen  Unruhe 
und  Sprunghaftigkeit,  die  keinen  ungetrübten  Gesamteindruck  aufkommen  läßt. 
Freilich  ist  R.  Thiele  in  der  mißlichen  Lage,  in  E.  Ziebarths  gleichzeitig  er- 
schienenen „Kulturbildern  aus  griechischen  Städten"  einen  gefährlichen  Kon- 
kurrenten zu  besitzen;  beide  treffen  in  der  Schilderung  von  Priene,  Milet  und 
Didyma  zusammen,  und  der  Vergleich  fällt  hier  entschieden  zugunsten  Ziebarths 
aus,  der  den  Leser  von  Anfang  bis  zu  Ende  zu  fesseln  weiß.  Unstreitig  beruht 
auch  Thieles  Büchlein  auf  sehr  fleißiger  Arbeit;  aber  man  merkt  die  Arbeit  zu  sehr. 
Zuweilen  hat  man  den  Eindruck,  als  ob  der  Verfasser  nicht  recht  über  seinem  Stoff 
stünde.  Die  „Ergebnisse"  der  Ausgrabungen  sind  nicht  durchweg  so  verarbeitet, 
daß  sie  dem  Lehrer  genießbar  sind.  So  werden  die  „sieben  Campagnen"  der  Aus- 
grabung von  Milet  bis  aufs  Datum  genau  mitgeteilt  (S.  42).  Dagegen  sind  die 
Inschriften,  aus  denen  Ziebarth  so  farbige  Bilder  antiken  Lebens  zu  erwecken 
weiß,  von  Thiele  allzu  spärlich  und,  wie  es  scheint,  nicht  immer  aus  erster  Hand 
benutzt  worden. 

Anderseits  erfüllt  die  Darstellung  der  „Erlebnisse"  des  Verfassers  den  einen 
Zweck,  dem  sie  berechtigterweise  dienen  sollte,  die  örtlichkeit  zu  veranschau- 
lichen, nur  sehr  unvollkommen.  Wozu  diese  Erinnerungen,  wenn  der  Verfasser 
trotzdem  seiner  Beschreibung  gelegentlich  eine  „angenommene  Wanderung"  zu- 
grunde legen  muß  (S.  43)? 

Sieht  man  von  diesen  Mängeln  ab,  die  den  Genuß  beeinträchtigen,  so  darf 
gesagt  werden,  daß  Thiele  ein  zuverlässiger  und  gründlicher  Perieget  für  die  von 
ihm  geschilderten  Stätten  (außer  den  oben  genannten  noch  Ephesos  und  Smyrna) 
ist.  Sehr  dankenswert  sind  die  geschichtlichen  Überblicke  (S.  7  ff.,  26  f.,  32  ff., 
62  ff.,  107  f.),  die  freilich  mit  dem  archäologischen  Befund  nicht  durchweg  enge 
Fühlung  halten. 

Die  beiden  Hefte  von  0.  F  r  i  t  s  c  h  verdienen  volle  Anerkennung.  Hier  wird 
die  Reiseerinnerung  wirklich  lebendig;  ein  geschickter  Zug  ist  es  z.  B.,  den  Leser 
gleich  nach  der  Landung  in  Delos  mit  auf  den  Kynthos  zu  nehmen,  ihm  dort  einen 
topographischen  Überblick  zu  geben  und  daran  die  sorgfältig  ausgearbeitete  ge- 
schichtliche Skizze  zu  knüpfen.  Nicht  minder  gelungen  ist  die  Verbindung  zwischen 
den  beiden  Heften  durch  die  Schilderung  einer  Reise  von  der  Geburtsstätte  zur 
Orakelstätte  ApoUons  hergestellt.  Beide  Kultstätten  werden  erschöpfend  ge- 
schildert; wir  lernen  die  einzelnen  Bauten  und  plastischen  Werke,  verlorene  und 
wiedergefundene,  kennen  und  erhalten  einen  Einblick  in  den  Betrieb  der  beiden 
Heiligtümer,  ihre  Verwaltung  und  ihre  Feste.  Dazwischen  wird  an  passenden 
Stellen  das  Notwendige  über  die  Wiederentdeckung  mitgeteilt.  Überall  merkt  man 
hier  gute  archäologische  Schule,  so  besonders  in  der  Verwertung  der  Inschriften 
und  der  literarischen  Zeugnisse  (vgl.  den  Päan  des  Aristonoos,  Delphi  S.  29  ff.). 
(Für  die  zweite  Auflage  notiere  ich  folgende  Versehen:  S.  50  unten  fehlt  im  zweiten 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  VIII.  Jhrg.  40 


626        J.  Ziehen,  Neue  Studien  zur  lateinischen  Anthologie,  angez.  von  Funck. 

deutschen  Hexameter  ein  Fuß;  S.  81  fehlt  in  der  Transskription  und  Übersetzung 
der  Inschrift:  xal  xä  OTrXa.) 

Die  drei  Hefte  sind  mit  Plänen,  Grundrissen  und  Ansichten  reich  ausgestattet. 
Von  wundervoller  Schärfe  ist  das  Titelbild  von  „Delphi"  (Kastaliavorstadt)  und 
die  Gesamtansicht  des  heiligen  Bezirks  mit  den  Phaidriaden  (nach  S.  12). 

Zabern  i.  E.  E.  W  e  n  d  1  i  n  g. 

Ziehen,  Julius,  Neue  Studien  zur  lateinischen  Anthologie. 
Frankfurt  a.  M.  und  Berlin  1909,  Moritz  Diesterweg.  40  S.  8».  1,80  M. 
Wenn  der  Verfasser  dieser  Carl  Reinhardt  gewidmeten  Studien  in  der  Vor- 
bemerkung, seinen  Stoff  als  spröde  bezeichnet,  so  hat  jedenfalls  die  Art,  wie  er 
hier  mehr  als  60  Stellen  der  Anthologie  in  24  Abschnitten  behandelt,  diesem  ab- 
gelegeneren Literaturgebiete  eine  Menge  interessanter  Seiten  abzugewinnen  ver- 
mocht. Die  schonende  Behandlung  des  überlieferten  Textes  weiß  durch  scharf- 
sinnige Erklärung,  die  mit  umfassender  Gelehrsamkeit  feines  Verständnis  auch 
der  bildenden  Kunst  verbindet,  manches  Angezweifelte  zu  retten;  mit  leiser  Hand 
rückt  öfter  schon  eine  anders  gesetzte  Interpunktion  das  Verständnis  zurecht; 
wo  stärkere  Mittel  unerläßlich  erscheinen,  stellt  der  Verfasser  mit  glänzender 
Divinationsgabe  meist  völlig  überzeugend  das  Richtige  her.  Was  so  dem  Texte 
gegeben  wird,  gibt  er  reichlich  zurück,  indem  wir  namentlich  für  die  so  eigenartige 
Kultur  des  römischen  Afrika  eine  Fülle  von  neu  belebten  Einzelzügen  gewinnen. 
Nur  an  wenigen  Stellen  gelange  ich  in  der  Kritik  und  Erklärung  des  Textes  zu 
etwas  abweichendem  Ergebnis.  Gewiß  ist  in  dem  auf  S,  7  besprochenen  Gedichte 
304  der  Salmasianusanthologie  die  Überlieferung,  Hinc  nemus,  hinc  fontes  et  struda 
civilia  cingunt  Statque  velut  propriis  ipsa  Diana  iugis  unhaltbar;  unhaltbar  wäre 
auch  Rieses  Schreibung  exstruda  cubilia,  wenn,  wie  Ziehen  annimmt,  cubilia  die 
Schlaf  gemacher  des  Jagdschlosses  bedeutete,  deren  Erwähnung  neben  dem  nemus, 
den  fontes  und  der  Dianastatue  denn  doch  zu  abgeschmackt  wäre.  Aber  cubile 
bezeichnet  in  der  Baukunst  auch  das  Lager,  in  das  Steine  u.  a.  eingelassen  sind; 
kann  mit  cubilia  hier  nicht  der  Sockel  gemeint  sein,  auf  dem  das  Bild  der  Göttin 
so  natürlich  steht,  wie  wenn  sie  auf  ihrem  eigenen  Bergrücken  stünde?  Auch  an 
sedilia  ließe  sich  denken,  vgl.  Corpus  gloss.  III  238,53  (Herm.  Einsidl.  de  aedibus 
sacris)  tä  dpovia  sedilia.  —  In  dem  Diskusrelief  c.  371  schafft  Ziehen  eine  neue 
Pointe  dadurch,  daß  er  an  der  verderbten  Stelle  v.  4  inridens  pariete  teste  gemere 
virum  einen  derben  Witz  vermutet,  den  er  in  einem  nach  Analogie  von  robiginare 
gebildeten  tentiginare  zum  Ausdrucke  bringt:  irridens  pariter  tentiginare  virum. 
Man  gewinnt  dasselbe,  wenn  mit  einfacherer  Änderung  gelesen  wird:  irridens 
pariter  teste  tumere  virum;  der  tröstende  Cupido  lächelt  zugleich  darüber,  daß  dem 
Satyr  der  Hoden  strotzt.  In  dem  Gedicht  auf  Bajä  c.  271  wird  S.  16  zweifellos 
richtig  der  zweite  Vers  illa  natare  lacus  cum  lampade  iussit  Amorem  als  Satz  für  sich 
von  dem  ersten  ante  bonam  Venerem  gelidae  per  litora  Baiae  getrennt;  nun  fehlt  aber 
diesem  ein  Verbum  finitum,  und  Ziehen  kommt  von  dem  Gedanken,  mit  Recht  sei  in 
Bajä  die  Venus  Gegenstand  der  Verehrung  und  des  Kultes  gewesen,  zu  der  Ver- 
mutung: rite  boant  Venerem  gelidae  per  litora  Baiae.  Muß  man  überhaupt  ändern? 
Läßt  sich  nicht  erant  ergänzen?  Dann  wäre  dies  der  Sinn:  Vor  der  gütigen  Venus, 


M.  Niedermann  u.  E.  Hermann,  Historische  Lautlehre  usw.,  angez.  v.  F.  Cramer.   627 

d.  h.  bevor  die  Güte  der  Venus  eingriff,  war  Bajä  ein  kalter  Ort  an  der  Küste. 
Infolge  der  Sendung  des  Amor  wurde  Bajä  durch  seine  warmen  Quellen  repente 
salubres  (Cic.  fam,  9,  12).  Ziehen  verzweifelt  daran,  in  c  415,29  f.  (S.  30)  et  qui 
decenti  iugulo  tindoria  moto  spem,  quamvis  lecto  iam  referatur,  habet  die  Worte  von 
decenti  bis  moto  herzustellen;  unter  Benutzung  seines  Gedankenganges  könnte 
man  vermuten:  et  qui  decertat  iugulo  tindoria  vota  =  „und  wer  mit  seinem 
Halse  blutgierige  Wünsche  durchkämpft",  d.  h.  wer  den  eignen  Hals  daran  setzt, 
um  die  Wünsche  blutgieriger  Menschen  zu  befriedigen.  —  Dem  Druckfehler- 
verzeichnis auf  S.  40  wäre  noch  hinzuzufügen  S.  4,  Z.  10  v.  u.  hellenistisch  (statt 
hellenistich),  S.  17,  Z.  19  v.  u.  S.  7  (statt  17). 

Sondershausen.  F  u  n  c  k. 

Niedermann,   Max   und   Hermann,   Ed.,   Historische   Lautlehre    des 
Lateinischen.     Heidelberg  1907.    Carl  Winter.    XH  u.  115  S.    8».    2  M. 
(Indogermanische  Bibliothek,  herausg.von  Herm.  Hirtu.Wilh.  Streitberg.  Zweite 
Abteilung:  Sprachwissenschaftliche  Gymnasialbibliothek 
unter  Mitwirkung  zahlreicher  Fachgenossen  herausgegeben  von  Max  Nieder- 
mann.    1.  Band.) 
Das  Büchlein  ist  eine  von  Dr.  Ed.  Hermann  (Oberlehrer  an  der  Hansaschule 
in  Bergedorf)  besorgte  deutsche  Bearbeitung  einer  französischen  Schrift  von  Dr. 
Max  Niedermann  {Pricis  de  phonetique  historique  du  latin,  avec  un  avant  propos 
par  A.  Meittet,   Paris  1906,    Klincksieck).     Es  eröffnet  in  recht  würdiger  Weise 
eine  Reihe   für  Gymnasialzwecke  berechneter  Handbücher,   die   die  Ergebnisse 
der  Sprachwissenschaft  in  einfacher,  brauchbarer  Form  vermitteln  sollen.     Um 
den  weitläufigen  Werken  von  Brugmann,  Delbrück  und  andern,  sowie  der  unüber- 
sehbaren   Einzelliteratur   mit  völlig  eigenem   Urteil   gegenüberzustehen,   ist  ein 
Studium  des  Indischen  unerläßlich.    Für  das  hier  vorliegende  Werkchen  aber  isl 
charakteristisch,  daß  es  zum  erstenmal  ganz  auf  die  Heranziehung  der  andern  indo- 
germanischen Sprachen  verzichtet  und  seine  Darlegungen  auf  die  lateinische  Sprache 
selbst  aufbaut.     Der  Versuch    ist   im  wesentlichen  gelungen.    Aus  jeder 
Zeile  blickt  recht  gründliche  Kenntnis  der  gesamten  indogermanischen  Sprach- 
wissenschaft hervor,  ohne  daß  doch  der  Verfasser  mit  weitläufigen  Herleitungen 
aufhält  und  ermüdet.     Da,  wo  das  Lateinische  eine  Sonderentwicklung  durch- 
gemacht hat,  z.  B.  in  dem  Ablaut  con-ficio  gegenüber  facio,  der  sich  durch  das 
älteste  lateinische  Betonungsgesetz  erklärt,  mag  jene  schlichte  Kürze  schon  weniger 
überraschen;  aber  auch  da  bewährt  Verfasser  seinen  Grundsatz,  wo  andere  der 
Versuchung  des  Vergleichens  und  Herleitens  wohl  nachgegeben  hätten:  so  z.  B. 
in  der  Angabe  über  die  Entstehung  des  -i  im  Perfectum  Activi  aus  einem  ursprüng- 
lichen -ai  (tütüdl  =  *tütudai);  es  war  Osthoff,  der  in  langwieriger  Untersuchung 
zuerst  die  Herkunft  des  -i  aus  medialem  -ai  (griech.  -ai)  darlegte. 

Alles  ist  so  wohl  erwogen,  daß  an  wenigen  Stellen  Widerspruch  herausgefördert 
wird.  Wenn  freilich  im  Eingang  im  Abschnitt  über  die  lateinische  Betonung  der 
Auffassung  der  französischen  Gelehrten,  die  den  lateinischen  Akzent  we- 
sentlich als  musikalisch  betrachten,  der  Vorzug  gegeben  wird,  so  kann  die  der 
deutschen  Forscher  —  nach  ihnen  überwiegt  das  exspiratorische  Moment  —  damit 

40* 


628  O.  Jäger,  Deutsche  Geschichte, 

nicht  als  erledigt  angesehen  werden.  Es  wird  zwar  darauf  hingewiesen,  daß  erst 
seit  dem  Beginn  der  romanischen  Periode  (d.  h.  etwa  seit  dem  Ende  des  4.  Jahr- 
hunderts) Angaben  auftauchen,  die  auf  einen  exspiratorischen  Akzent  bezogen 
werden  müssen.  Damals  sei  ein  W  a  n  d  e  1  in  der  Natur  der  lateinischen  Betonung 
vor  sich  gegangen.  Es  ist  aber  daraus  nur  zu  schließen,  daß  damals  —  mit  dem 
Sinken  oder  Verschwinden  des  hellenischen  Einflusses  —  auch  d  i  e  Ü  b  e  r  - 
tragung  g  r  i  ec  h  i  s  c  h  e  r  A  k  z  e  n  1 1  h  e  o  r  i  e  n  auf  die  lateini- 
schen Verhältnisse  aufhörte. 

Für  die  spätlateinische  Verwirrung  zwischen  b  und  v  wäre  für  deutsche 
Leser  (neben  dem  angeführten  franz.  Besangon  aus  lat.  Vesontionem)  besonders 
naheliegend  deutsch  W  o  r  m  s  aus  lat.  Borbetomagus, Bormitomagus 
(mit  der  Zwischenform  Wormatia)  und  B  i  r  t  e  n  aus  einer  dem  latinisierten 
V  e  t  e  r  a  zugrunde  liegenden  (einheimischen)  Namensform,  die  auf  einer  mero- 
wingischen  Münze  als  Bertu-  no  (wohl  gleich  Viro-dunum)  erscheint. 

Das  Buch  wird  seinen  Zweck  sicher  erfüllen.  J.  Wackernagel,  der 
ein  Vorwort  dazu  geschrieben  hat,  bemerkt  mit  Recht,  daß  der  heutige  Sprach- 
unterricht eine  entwicklungsgeschichtliche  Betrachtungs- 
weise fordert,  zumal  er  sie  mit  den  sichersten  Tatsachen  belegen  kann. 

Düsseldorf.  FranzCramer. 

Jäger,  Oskar,  Deutsche  Geschichte.  Erster  Band.  Bis  zum  westfä- 
lischen Frieden.  Mit  114  Abbildungen  und  7  Karten.  München  1909.  Becksche 
Verlagsbuchhandlung.  XII  u.  668  S.  8«.  geb.  7,50  M. 
„Geschichte"  definiert  Jäger  (S.  373)  als  das,  was  würdig  ist,  „im  Gedächtnis 
der  Allgemeinheit  aufbewahrt  zu  werden".  Was  also  von  den  allgemeinen  Ge- 
schicken der  deutschen  Nation  bis  1648,  bis  zu  der  Zeit,  wo  ihr  „die  Einheit,  die 
Macht,  die  Freiheit"  endgültig  verloren  gingen,  nach  des  Verfassers  Meinung 
diesen  Anspruch  erheben  kann,  ist  in  dem  vorliegenden  ersten  Teile  des  auf  zwei 
Bände  berechneten  Werkes  erzählt  worden.  Von  Ereignissen  der  außerdeutschen 
Geschichte  soll  nur  das  herbeigezogen  werden,  was  für  die  Entwicklung  jener  Dinge 
von  Bedeutung  gewesen  ist  und  zu  deren  Verständnis  notwendig  ist.  Daß  die  Aus- 
wahl des  Dargestellten  unter  solche  Gesichtspunkte  gestellt  worden  ist,  wird  man 
ohne  weiteres  billigen.  Daß  sie  im  ganzen  richtig  getroffen  worden  ist,  soll 
ohne  Rückhalt  ausgesprochen  werden ;  im  einzelnen  wird  naturgemäß  mit 
dem  Verfasser  zu  rechten  möglich  sein.  Da  wo  von  dem  „unfruchtbaren  Ringen" 
Ruprechts  von  der  Pfalz  die  Rede  ist  (S.  373),  gesteht  Jäger  selbst,  daß  das  „nicht 
die  Geschichte  Deutschlands"  sei.  Vielleicht  läßt  sich  unter  Annahme  desselben 
Standpunktes  auch  sonst  noch  gelegentlich  kürzen:  so  S.  316 — 318,  wo  ausführlich 
die  Tat  Johann  Parricidas  erzählt  wird,  so  in  Kapitel  25,  wo  der  Reformations- 
bewegung in  den  außerdeutschen  Ländern  Europas  fast  1 1  Seiten  gewidmet  werden, 
oder,  wenn  man  Heinrich  I.  oder  auch  Ludwig  den  Deutschen  als  Begründer  der 
politischen  Einheit  der  deutschen  Nation  ansieht,  in  dem,  was  man  dann  füglich 
die  Vorgeschichte  nennen  könnte,  die  mehr  als  den  sechsten  Teil  des  Buches  füllt. 
„Nicht  auf  dem  Wege  des  Friedens  und  der  gütlichen  Überredung  vollziehen 
sich  die  menschlrchen  Geschicke,"  heißt  es  auf  S.  600.    „Dem  Auf  und  Ab  der 


angez.  von  W.  Meiners,  629 

Fehden  und  Kriege,  dem  Zank  und  den  Gewaltsamkeiten  der  hadernden  Parteien, 
dem  Feilschen  und  Zanken  um  Landbesitz  und  Ehrenstellen,"  der  politischen 
Geschichte  mit  einem  Wort  hat  Jäger  daher  auch  den  ersten  Platz  eingeräumt. 
Und  da  ferner  der  Willensentschluß  des  Einzelnen  den  Gang  der  Ereignisse  be- 
stimmt, so  ist  weiterhin  sein  Buch  nicht  eine  Geschichte  der  „Ismen";  die  Darstellung 
ist  vielmehr  orientiert  an  der  Erzählung  von  dem  Tun  und  Handeln  der  führenden 
Persönlichkeiten,  wie  es  charakteristischer  auch  der  Form  nach  kaum  hervortreten 
kann  als  z.  B.  auf  S.  584,  wo  es  heißt:  ,,Die  zwölf  Jahre  der  Regierung  Maximilians 
waren  durch  kein  größeres  Ereignis  bezeichnet."  Weshalb  denn  auch  auf  die 
Herausarbeitung  von  klaren  Bildern  der  Großen  dieser  Welt  —  nicht  selten  auch 
der  weniger  bedeutenden  —  an  der  Hand  der  zeitgenössischen  Quellen  große  Sorg- 
falt verwandt  worden  ist. 

Aber  der  Verfasser  ist  hierbei  nicht  stehen  geblieben.  Er  ist  tiefer  vorge- 
drungen zu  den  Motiven  und  Prinzipien,  die  sich  in  jenem  Auf  und  Ab  der  äußeren 
Ereignisse  kundtun;  er  schildert  ferner  auch  das  soziale  und  wirtschaftliche,  das 
geistige,  künstlerische  und  religiöse  Leben,  und  zwar  um  so  ausführlicher,  je  größer 
seine  Wirkung  auf  die  jedesmaligen  geschichtlichen  Vorgänge  gewesen  ist,  so  daß  bei- 
spielsweise in  den  Abschnitten  über  die  Reformationszeit,  den  schönsten  des  ganzen 
Buches,  die  politische  Geschichte  naturgemäß  in  den  Hintergrund  tritt.  Er  wendet 
endlich  nicht  selten  „von  dem  Getümmel  der  großen  Welt,  den  Ränken  und  Kämpfen 
der  Magnaten"  den  Blick  auch  ,,dem  privaten  Leben"  zu,  der  Arbeit  und  dem 
Tun  der  vielen,  die  „keinen  Anspruch  auf  die  Dauer  ihres  Namens  in  der  Geschichte 
machen",  und  gibt  wieder  auf  Grund  zeitgenössischer  Quellen  anschauliche  Bilder 
z,  B,  von  den  Kulturzuständen  unsrer  Vorfahren  zu  Tacitus'  Zeit  (S,  19  ff,)  oder 
von  dem  Leben  des  Bürgers  in  der  Stadt  (S.  430),  von  dem  Tagewerk  eines  geist- 
lichen Herrn  (S.  163),  dem  Tun  und  Treiben  der  Ritter, 

Der  Anschaulichkeit  der  Schilderung  entspricht  die  Durchsichtigkeit  des 
Stils.  Flüssig  und  schlicht  in  Ausdruck  und  Satzbau,  frei  von  Trivialitäten  wie 
von  gesuchten  Wendungen  —  nur  ein  paar  Ausnahmen  notiere  ich:  S.  10  u.  S.  19 
„ungeschmeidigt";  S.  47,  ZI.  3;  S.  164,  Z.  12  und  ähnlich  S.  551,  Z.  4;  S.  223  „a  1  s 
Kaiser  gekrönt";  S.  310  „der  nahe  und  nächst  liegende  Kandidat";  S.  316  „Scherz- 
wort...aufgesetzt";  S.  344  u.  602  „verhaftet" ;  S.  492  „die  im  Fett  schwim- 
menden Kaufherrn";  S,517  „allem  Zwange  und  Bindung";  S,599,  Z,6,  7  und  dazu 
die  Ungleichheit  in  der  Zeichensetzung  vor  ,und'  mit  neuem  Subjektswort  im  Haupt- 
satze, für  die  ich  einen  Grund  nicht  erkennen  kann  —  geht  dieser  nur  darauf  aus, 
für  die  Sache  jedesmal  den  passendsten  Ausdruck  zu  finden,  um  den  Leser  zu 
über  zeugen,  nicht  zu  über  reden,  ohne  daß  er  deshalb  etwa  farblos  würde. 

Es  ist  etwas  Wahres  an  dem  Buffonschen  Wort  Je  style  c'est  l'homme  mime". 
Der  Mensch  Jäger,  wenn  ich  von  mir  aus  schließen  darf,  erwirkt  auch  bei  flüchtiger 
Bekanntschaft  den  Eindruck  einer  Persönlichkeit,  den  Persönlichkeitsbegriff  in 
der  knappen  aber  scharfen  Definition  gefaßt,  wie  Horaz  sie  lehrt,  als  „fides"  und 
„virtus'\  Nun  wohl,  „Gerechtigkeits-  und  Wahrheitssinn"  und  zugleich  „Herz 
und  Charakter"  sprechen  auch  aus  seinem  Buch,  nach  Form  und  Inhalt.  Jener 
äußert  sich  in  der  unbedingten  sachlichen  Zuverlässigkeit  —  ein  Versehen  notiere 
ich  auf  S.  318,  Z.  9  v.  u.  (1296  statt  1295)  — ,  in  der  verständigen  Benutzung  der 


630  O.  Jäger,  Deutsche  Geschichte,  angez.  von  W.  Meiners. 

Forschungsergebnisse  und  dem  besonnenen  Urteil  über  Personen  und  Dinge  —  un- 
gerechtfertigte Härten  sind  mir  nur  aufgestoßen  auf  S.206,  Z.IO,  11  u.  551,  Z.4,  5 — , 
wobei  sich  Jäger  der  Kunst  des  rechten  Historikers  befleißigt,  das  Wesen  und 
Tun  vergangener  Zeiten  so  zu  erkennen,  wie  die  Mitlebenden  sie  erkannt  haben, 
nicht  wie  sie  von  den  Menschen  des  aufgeklärten  XX.  Jahrhunderts  beurteilt 
werden,  ohne  uns  übrigens,  wo  das  von  Wert  ist,  deren  Urteile  zu  verschweigen 
(vgl.  z.  B.  S.  222,  Z.  9  ff.).  An  solchen  Stellen  wie  aber  überhaupt  aus  dem  ganzen 
Buche  weht  uns  die  andre  vorher  gekennzeichnete  Eigenschaft  entgegen,  die  virtus 
Jägers,  die  starke,  auf  sich  selbst  stehende  Männlichkeit  des  evangelischen  deutschen 
Mannes  der  Gegenwart,  der  Front  macht  gegen  alles,  was  lediglich  „auf  das  Recht 
des  Überlieferten  gestützt"  jedem  „gottgewollten  Fortschritt"  zuwider  auf  „Zwang 
und  Bindung"  des  Menschengeistes  ausgeht,  und  der  sich  nicht  scheut,  offen  als 
Wahrheit  zu  bekennen,  was  er  als  solche  erkannt  hat.  Daß  ihm  hier  freilich  der 
katholische  Teil  unsrer  Bevölkerung  überall  wird  folgen  können,  halte  ich  für 
ausgeschlossen  (vgl.  besonders  S.  100,  Z.  8;  361,  Z.  12  ff.;  S.460,  Z.19,  20;  S.461, 
Z.  2;  S.  509,  Z.  16  ff.;  S.  510  Ende;  S.  565,  Z.  10  ff.  v.  u.;  S.  575,  Z.  3ff.;  S.  601, 
Z.  1  ff.;  S.  643,  Z.  15  ff.  v.  u.).  Was  hier  für  Jäger  Wahrheiten  sind,  sind  für  jenen 
eben  keine  und  werden  ihm  auch  durch  die  Lektüre  des  Buches  keine  werden.  Der 
Geschichts  Schreiber  Jäger  durfte  und  mußte  hier  weitergehen,  als  der  Ge- 
schichts  1  e  h  r  e  r  von  Schülern  verschiedener  Konfessionen  es  empfohlen  und 
seinerzeit  getan  hat. 

Unter  Mitteilung  dieser  Beobachtung  empfehle  ich  daher  das  vorliegende 
Buch,  das  sich  zudem  einer  tadellosen  Ausstattung  erfreut,  auf  das  wärmste  denen, 
für  die  es  geschrieben  ist:  dem  Primaner  der  höheren  Lehranstalten  und  dem  ihm 
an  Auffassung  Gleichstehenden  als  Anregung  zum  Studium  eingehenderer  Spezial- 
werke  und  dann  weiterhin  deutschen  Männern  und  Frauen  überhaupt  als  Quelle 
geschichtlicher  Belehrung,  als  ein  Buch,  das  zwar  für  die  Wissenschaft 
einen  selbständigen  Wert  nicht  hat  noch  haben  soll,  aber  andererseits 
die  bisherigen  wissenschaftlichen  Ergebnisse  zusammenfaßt  und  in  vorzüglicher 
Weise  zur  Darstellung  bringt. 

Daß  man  im  einzelnen  hier  und  da  Ausstellungen  machen  wird,  gelegentlich 
etwas  hinzugesetzt  oder  gestrichen  sehen  möchte,  mit  diesem  oder  jenem  Urteil 
sich  nicht  einverstanden  erklären  wird,  hier  und  da  im  Interesse  größerer  Klarheit 
einen  Ausdruck  geändert  wissen  will,  ist  selbstverständlich:  diese  Ausstellungen 
sind  nicht  derart,  daß  sie  den  Wert  des  Ganzen  herabzusetzen  vermöchten.  Nur 
zur  Rechtfertigung  meiner  Behauptung  soll  das  Wichtigste  angeführt  werden. 
S.  5  unten  und  S.  36  oben  vermisse  ich  einen  Hinweis  auf  die  , .Wissenschaft  des 
, Spatens";  der  Name  „Germanen"  haftete  doch  wohl  zuerst  an  einem  Bund  kel- 
tischer Völkerschaften  („Nachbarn")  in  Belgien  (S.  9,  15);  auf  S.  44,  45  hätte  die 
Vernichtung  des  Reiches  der  Burgunder  und  die  Verpflanzung  ihrer  Reste  er- 
wähnt werden  können;  S.  119  scheint  mir  die  Bedeutung  der  Mersener  Teilung 
auf  Kosten  derjenigen  von  878  überschätzt;  zur  Zeit  des  Sieges  bei  Hohenburg 
glaubte  Gregor  VII.  noch  an  Heinrichs  Gefügigkeit,  die  Erörterung  auf  S.  180 
unten  scheint  mir  daher  nicht  am  Platze;  die  Frage  der  „Laieninvestitur"  scheint 
mir  in  ihrer  Bedeutung  für  den  Ausbruch  des  Konfliktes  (S.  182)  überschätzt, 


B.  Otto,  Wie  ich  meinen  Kindern  usw.,  angez.  von  E.  Neuendorff.  631 

die  Szene  von  Kanossa  (186  unten)  zu  sehr  im  Sinne  der  kaiserfeindlichen  Quellen 
dargestellt;  den  Abschluß  des  Wormser  Konkordats  (S.  206)  beurteile  ich  weniger 
günstig  (vgl.  S.  210,  Z.  7,  wo  der  Zusatz  fehlt  „oder  seines  Vertreters",  und  214, 
Z.  12  V.  u.);  der  S.  303,  Z.  10  festgestellte  Unterschied  zwischen  „Billigung"  und 
„Bestätigung"  (approbatio)  ist  mir  nicht  klar;  S.  349  muß  es  statt  „Siegel"  „Siegel- 
kapsel" heißen,  auch  ist  das  „fremde  Gericht"  (Z.  5  v.  u.)  eben  das  königliche; 
die  Erklärung  von  der  Bedeutung  des  Wahlprinzips  für  die  deutschen  Königswahlen 
aus  der  Idee  von  der  Erhabenheit  des  Kaiserberufs  heraus  (S.  448,  449)  billige 
ich  nicht;  die  Darstellung  des  Ablaßgeschäfts  des  Kurfürsten  Albrecht,  sowie 
sie  S.476,  Z.  3  v.  u.  bis  477,  Z.  7  gegeben  worden  ist,  halte  ich  nicht  für  einwand- 
frei; in  dem  Marburger  Religionsgespräch  (S.  518)  hätte  der  Verfasser  Luther 
den  Zwang  seiner  Überzeugung  zubilligen  müssen  (vgl.  S.  525  o.),  und  endlich 
tritt  mir  (S.  642)  der  Fortschritt  von  1648  gegen  1555  hinsichtlich  der  Toleranz 
nicht  klar  genug  hervor,  wenn  er  auch  in  dem  Satze  „wo  sie  nicht  allen  ihren  Unter- 
tanen öffentliche  Ausübung  ihres  Kultus  gewähren  wollten"  angedeutet  worden  ist. 
Elberfeld.  W.  M  e  i  n  e  r  s. 

Otto,  Berthold,  Wie  ich  meinen  Kindern  von  der  Bodenreform 
erzähle.  Berlin  1908.  Buchhandlung  „Bodenreform".  31  S.  0,50  M. 
Ottos  Streben,  die  Jugend  mehr  als  im  allgemeinen  geschieht  zum  Nachdenken 
über  moderne  Lebensfragen  anzuregen,  verdient  auch  bei  den  Lehrern  höherer 
Schulen  durchaus  Beachtung.  Dazu  ist  die  Art,  wie  er  diese  Fragen  zu  behandeln 
versteht,  eingehenden  Studiums  wert.  Man  kann  ein  gut  Teil  methodischer  Weis- 
heit lernen,  wenn  man  aufmerksam  liest,  wie  Otto  in  den  ersten  sieben  Kapiteln 
des  vorliegenden  Büchleins  die  Frage  der  Bodenreform  in  immer  neue  Teilprobleme 
zerlegt  und  seine  Zuhörer  geradezu  zwingt,  sie  mit  ihm  zu  lösen,  wie  er  in  ein- 
facher, kräftiger  Sprache  zu  ihnen  redet,  wie  er  schwierige  Begriffe  in  lebhafte  An- 
schauungen umwandelt,  wie  er  an  einem  Stoffe  wissenschaftlich  denken  lehrt,  der 
gerade  durch  seine  Behandlung  für  viele  der  Kinder  persönliche  Bedeutung  ge- 
winnen wird.  So  meisterhaft  die  Entwicklung  des  Problems  und  der  m  ö  g  1  i  c  h  e  n 
Lösungen  in  diesen  ersten  sieben  Kapiteln  ist,  so  matt  und  in  seiner  Kürze  schwer 
verständlich  ist  das  achte,  das  die  Gesamtlösung  im  Sinne  des  Programms  der 
Bodenreformer  bringt.  Mir  scheint  aber  auch,  daß  es  bei  der  Behandlung  moderner 
sozialer,  politischer  oder  religiöser  Fragen  auf  der  Schule  meistens  unnötig,  immer 
gefährlich  ist,  fertige  Lösungen  zu  geben.  Es  genügt,  auf  die  Probleme  hin- 
zuweisen, sie  zu  entwickeln.  Gefährlich  ist  der  andre  Weg  schon  deshalb,  weil 
in  sehr  vielen  Fällen  die  Fassungskraft  der  Schüler  es  verbietet,  die  Probleme 
allseitig  und  erschöpfend  zu  behandeln,  und  weil  es  dem  wissenschaftlichen  Geist 
unsrer  höheren  Schulen  widerspricht,  Schüler  nach  einseitiger  Behandlung  eines 
Problems  zu  seiner  Lösung  anzuhalten.  So  betrachtet  auch  Otto  die  Bodenreform- 
frage mit  den  Schülern  nur  unter  dem  einen  Gesichtspunkte  der  Volksgesundheit 
und  der  wirtschaftlichen  Not  der  Masse.  Das  ist  methodisch  gewiß  richtig.  Ehe 
man  aber  dann  ein  praktisches  Einschreiten  des  Staates  endgültig  empfiehlt,  wird 
man  einem  zweiten  Gesichtspunkt  doch  mindestens  Nachdenken  widmen  müssen: 
dem  Gedanken,  inwieweit  es  gut  und  nützlich  sein  kann,    das  freie  Spiel  der 


632         H.  Conwentz,  Beiträge  zur  Naturdenkmaipflege,  angez.  von  E.  Stutzer. 

Kräfte  der  einzelnen  immer  melir  durch  die  Allmacht  des  Staates  zu  binden. 
An  diese  Frage  rührt  Otto  garnicht,  und  er  würde  sie  wohl  auch  schwerlich 
seinen  Schülern  so  verständlich  machen  können,  daß  sie  zu  fertigen  Schlüssen 
kommen.  Aber  wie  gesagt,  deren  bedarf  es  auch  nicht.  Es  ist  nur  gut,  wenn 
die  Schule,  um  dem  Leben  nicht  fremd  zu  werden,  moderne  religiöse  und 
politische  Fragen  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtung  zieht.  Aber  sie  darf  sie  immer 
nur  als  Problem  behandeln.  Nirgends  so  sehr  als  hier  gilt  Lessings  Wort  von 
der  Wahrheit. 

Haspe.  Edmund  Neuendorf  f. 

Conwentz,  H.,  Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege.  Zweites  Heft. 
Berlin  1908.     Gebrüder  Borntraeger.     158  S.     gr.  8».     1,50  M. 

Für  die  Erweckung  und  Belebung  des  Heimatgefühls  können  und  müssen 
auch  die  höheren  Schulen  das  ihrige  beitragen;  es  gehört  zu  ihren  edelsten  Auf- 
gaben, in  den  Zöglingen  das  feinere  Empfinden  zu  pflegen,  „für  welches  nicht 
nur  Mitmenschen  und  Tiere,  sondern  auch  Landschaft,  Steine,  Pflanzen  ein  Recht 
auf  schonende  Rücksicht  haben  und  welchem  beispielsweise  auch  das  gedanken- 
und  zwecklose  Abbrechen  von  Zweigen  und  Ausreißen  oder  Zertreten  von  Pflanzen 
widerstreben  muß,  selbst  wenn  es  sich  nicht  um  Seltenheiten  oder  gar  um  Reste 
einer  absterbenden  Flora  handelt",  wie  es  in  einer  Verfügung  des  ostpreußischen 
Provinzial-Schulkollegiums  heißt.  Deshalb  wird  hoffentlich  vielen  Lesern  der 
Monatschrift  eine  kurze  Anzeige  des  zweiten  Heftes  der  „Beiträge"  erwünscht 
sein.  Vornehmlich  für  wissenschaftliche  Kreise  bestimmt,  verfolgen  sie  den  löb- 
lichen Zweck,  zur  Erforschung,  Pflege  und  Erhaltung  der  Naturdenkmäler  an- 
zuregen und  erscheinen  in  zwanglosen  Heften  von  verschiedenem  Umfange.  Das 
vorliegende  zweite,  den  Zeitraum  vom  1.  April  1907  bis  31.  März  1908  umfassend, 
berichtet  im  ersten  Teile  (bis  S.  65)  zunächst  über  die  allgemeine  Tätig- 
keit der  staatlichen  Stelle  für  Naturdenkmalpflege,  über  die  Reisen  und  die 
Vorträge,  die  der  unermüdliche  Herausgeber  gehalten  hat;  sodann  über  die  V  e  r- 
öffentlichungen,  die  von  jener  Stelle  ausgegangen  sind  und  die  mit  ihr 
mehr  oder  weniger  im  Zusammenhang  stehen;  schließlich  werden  die  Bücher, 
Karten  und  Bilder  angeführt,  die  seit  dem  ersten  Berichte  durch  Ankauf 
und  Schenkung  hinzugekommen  sind;  „teilweise  unbeabsichtigt"  ist  ein  Tausch- 
verkehr entstanden. 

Der  zweite  Teil  (bis  S.  1 16)  berichtet  über  dieFortschrittederNatur- 
denkmalpflege,  und  zwar  zunächst  über  allgemeine  Maßnahmen  der  gesetz- 
gebenden Körperschaften  (das  bekannte  Gesetz  vom  15.  Juli  1907  kommt  be- 
sonders in  Betracht),  der  Behörden  und  der  Vereine.  Außer  sechs  Provinzial- 
komitees  sind  zwei  Bezirks-  und  ein  Landschaftskomitee  entstanden.  Das  Nähere 
darüber  wird  in  dem  besonderen  Abschnitte  „örtliche  Maßnahmen" 
(S.  75  bis  116)  mitgeteilt;  unter  den  preußischen  Provinzen  ist  das  wenigste  zu 
berichten  über  Schleswig-Holstein  und  Hessen-Nassau. 

Den  Beschluß  machen  15  Anlagen;  meist  sind  es  Erlasse  von  Behörden. 
Die  letzte  Anlage  ist  ein  Bericht  des  Professors  Dr.  G  ü  r  i  c  h  in  Breslau  über 
die  neueröffnete  Tropfsteinhöhle  in  Attendorn,  Kreis  Olpe,  Westfalen;  durch  drei 


Lassar-Cohn,  Die  Chemie  im  täglichen  Leben,  angez.  von  P.  Ruif.  633 

große  Abbildungen  wird  der  Bericht  erläutert.  In  ihm  nehme  ich  an  den  beiden 
Sätzen  S.  150  sprachlich  Anstoß:  „Die  Höhle  bietet  eine  Fülle  sehr  bemerkens- 
werter Vorkommen  von  Kalksinter  und  Tropfsteinbildungen.  Diese  zeigen 
auffällige  Ähnlichkeit  mit  den  Vorkommnissen  in  der  Hermannshöhle." 
, Funden'  muß  es  heißen,  und  zwar  auch  an  erster  Stelle.  , .Vorkommen",  Plural 
eines  substantivierten  Infinitivs  —  heiliger  Wustmann,  sei  gnädig!  Das  sei  die 
einzige  Kritik,  die  ich  an  dem  Hefte  übe;  sachliche  ist  ja  überhaupt  ausgeschlossen. 
Möge  das  nächste  Heft  über  erfreuliche  Fortschritte  berichten  können. 

Görlitz.  E.  Stutzer. 

Lassar-Cohn,  Die  Chemie  im  täglichen  Leben.  Gemeinverständliche 
Vorträge.  Hamburg  und  Leipzig  1905.  Leopold  Voss.  5.  Aufl.  VIIu.  32  9S. 
80.  4M. 
Unter  den  Büchern,  die  bestimmt  sind,  weiteren  Kreisen  chemische  Kenntnisse 
zu  vermitteln,  steht  das  bezeichnete  in  erster  Reihe.  Hat  es  doch  in  neun  Jahren 
die  fünfte  Auflage  erreicht.  Es  verdankt  diesen  Erfolg  offenbar  dem  großen  Be- 
dürfnis, das  in  weiten  Kreisen  des  Volkes  für  solche  Bücher  vorhanden  ist  und 
dem  Geschick,  mit  dem  der  Verfasser  dieses  zu  befriedigen  verstanden  hat.  In 
dem  engen  Rahmen  von  zwölf  Vorträgen  bietet  er  eine  große  Fülle  von  Stoff  aus 
dem  Gebiete  der  Chemie,  soweit  sie  Vorgänge  und  Gebrauchsgegenstände  des 
täglichen  Lebens,  der  Industrie  und  des  Handels  betrifft.  Dabei  verzichtet  der 
Verfasser  allerdings  auf  eine  ausreichende  wissenschaftliche  Begründung  der  che- 
mischen Erscheinungen.  Für  Leser  ohne  entsprechende  Vorbildung  hat  er  eine 
Einführung  in  die  Chemie  in  leicht  faßlicher  Form  in  dem- 
selben Verlage  erscheinen  lassen.  Immerhin  hätte  auch  in  dem  vorliegenden  Buch 
ohne  wesentliche  Vergrößerung  seines  Umfanges  auf  eine  methodische  Einführung 
in  die  Grundbegriffe  der  Chemie  mehr  Rücksicht  genommen  werden  können.  Was 
in  dieser  Beziehung  geboten  wird,  ist  unzulänglich.  So  wird  erst  auf  S.  23  der 
Begriff  des  chemischen  Elementes  erläutert,  nachdem  schon  vorher  kompliziert 
zusammengesetzte  Verbindungen  besprochen  sind.  Die  Erläuterung  der  Begriffe 
Atom  und  Molekül,  S.  26,  könnte  die  irrtümliche  Auffassung  hervorrufen,  daß  nur 
die  nicht  elementaren  Körper  aus  Molekülen  aufgebaut  sind.  Vor  allem  müßte 
die  quantitative  Bedeutung  der  Formeln,  auf  die  nur  am  Schlüsse  des  Buches  in 
einer  Anmerkung  kurz  hingewiesen  wird,  und  im  Zusammenhang  damit  das  wichtige 
Grundgesetz  von  den  konstanten  Gewichtsverhältnissen  eingehender  erörtert  werden, 
und  zwar  schon  in  der  ersten  Vorlesung  im  Anschluß  an  die  Besprechung  der  Ver- 
brennungserscheinungen. Im  übrigen  zeichnet  sich  das  Buch  durch  eine  frische 
und  anschauliche  Art  der  Darstellung  aus;  als  besonderer  Vorzug  derselben  ist 
hervorzuheben,  daß  sie  die  geschichtliche  Entwicklung  der  wichtigsten  chemischen 
Industrien  eingehend  berücksichtigt,  wodurch  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung 
der  letzteren  und  ihr  Zusammenhang  mit  der  Kulturentwicklung  wirkungsvoll 
hervortritt.  Die  Fassung  des  Ausdrucks  könnte  manchmal  sorgfältiger  sein,  wie 
S.  248:  „.  .  .  .  so  wirken  sie  (die  Röntgenstrahlen)  durch  das  Holz  des  Kästchens, 
welches  das  Tageslicht  nicht  durchdringt,  also  abhält,"  wo  dasselbe 
Relativpronomen  gleichzeitig  als  Subjekt  und  Objekt  gebraucht  wird;  oder  S.  206: 


634  M.  Vogtherr,  Die  Chemie,  angez.  von  P.  Ruif, 

„der  große  Unterschied,  ob  die  Fette  ,  .  .  .,  ist,  wie  wir  schon  aus  den  Gleichungen 
ersehen,"  anstatt:  worauf  bei  den  Gleichungen  schon  hingewiesen  ist.  Auch  einige 
sachliche  Irrtümer  seien  erwähnt:  S.  40  wird  der  Aschengehalt  der  Roggenpflanze 
mit  6,38%  ihres  Gewichtes  angegeben,  statt  des  Gewichtes  ihrer  Trockensubstanz. 
S.  50  wird  das  Vorkommen  der  Kalisalze  zu  eng  begrenzt;  die  große  Ausdehnung 
und  Bedeutung  des  Kalibergbaus  könnte  mehr  hervorgehoben  werden.  S.  53 
werden  die  Ausdrücke  Basis  und  Alkali  fälschlich  als  gleichbedeutend  be- 
zeichnet. S.  61  wird  bei  Besprechung  der  Milchsäuregärung  gesagt,  daß  „Voraus- 
setzung für  jede  Gärung  Pilze,  heute  Bazillen  genannt,  seien",  während  an  anderer 
Stelle  richtig  die  Hefepilze  als  Ursachen  der  weingeistigen  Gärung  bezeichnet  sind. 
Auch  hätten  die  bedeutsamen  Buchnerschen  Forschungen  über  den  wirklichen 
Anteil  der  Hefepilze  an  der  weingeistigen  Gärung  erwähnt  werden  können.  S.  155: 
Die  Farbe  des  Chlorgases  ist  nicht  gelb,  sondern  gelbgrün;  bei  der  Besprechung 
der  Bleichprozesse  hätte  auf  die  elektrolytische  Gewinnung  der  Bleichflüssigkeiten 
hingewiesen  werden  können.  S.  273:  Die  Bezeichnungen  „Schmiedeeisen  und 
Schweißeisen"  sind  nicht  identisch,  ebenso  wird  S.  281  jedes  manganhaltige 
Roheisen  fälschlich  als  Spiegeleisen  bezeichnet.  S.  294  heißt  es,  daß  bei  der  elektro- 
lytischen Gewinnung  des  Aluminiums  aus  Aluminiumoxyd  der  Sauerstoff  „gas- 
förmig entweicht",  während  er  sich  mit  dem  Kohlenstoff  der  Anode  zu  Kohlen- 
oxyd vereinigt.  Die  wichtige  Verwendung  des  Aluminiums  nach  dem  Goldschmidt- 
schen  Verfahren  zur  Erzielung  hoher  Temperaturen,  z.  B.  bei  der  jetzt  häufig  aus- 
geführten Verschweißung  der  Straßenbahnschienen,  hätte  erwähnt  werden  können. 
Die  gemachten  Ausstellungen,  die  bei  einer  neuen  Auflage  leicht  berück- 
sichtigt werden  können,  sollen  den  Wert  des  Buches  nicht  herabsetzen.  Für  den 
chemischen  Unterricht  bietet  es  mancherlei  Anregungen  und  wertvollen  Stoff, 
auch  den  Schülerbibliotheken  sei  es  zur  Anschaffung  empfohlen. 

Vogtherr,  M.,  Die  Chemie.  Hausschatz  des  Wissens,  Abt.  HI,  Bd.  5.  Neu- 
damm 1905.    J.  Neumann.     847  S.    8«.     Lbd.  7,50  M. 

Die  „Chemie"  von  Vogtherr  weist  alle  Vorzüge  auf,  die  den  mir  bekannt  ge- 
wordenen Werken  der  Sammlung  „Hausschatz  des  Wissens"  eigen  sind:  eine  aus- 
führliche Darstellung,  die  in  der  rechten  Art  zwischen  dem  kurzen  Leitfaden  und 
der  erschöpfenden  Behandlung  des  wissenschaftlichen  Handbuches  die  Mitte  hält, 
eine  leicht  verständliche  und  doch  von  wissenschaftlichem  Geiste  getragene  Schreib- 
weise, eine  trotz  des  billigen  Preises  sehr  gute  Ausstattung  und  reiche  Illustrierung 
mit  Textabbildungen  und  Tafeln. 

Die  115  Seiten  umfassende  Einleitung  bietet  eine  ausführliche  Übersicht  über 
die  allgemeine  Chemie,  die  auch  die  wichtigsten  neueren  Methoden  und  Gesetze 
der  Elektrochemie,  der  Thermochemie,  der  Molekurgewichtsbestimmung  berück- 
sichtigt. In  dem  speziellen  Teil  wird  die  anorganische  und  organische  Chemie  in 
systematischer  Anordnung  behandelt.  Die  von  der  lonentheorie  ausgehende  neuere 
Auffassung  der  chemischen  Prozesse,  die  in  der  Einleitung  dargelegt  wird,  ist  in 
dem  systematischen  Teile  nicht  durchgeführt. 

Die  Technologie  ist  eingehend  berücksichtigt,  wie  überhaupt  diejenigen  Körper 
und  Vorgänge,  die  in  der  chemischen  Industrie  die  Grundlage  bilden,  besonders 


L. V. Liebermann,  An  die  Bürger  usw.;  O.  Anthes,  Erotik  usw.,  angez.  v.  R.  Jahni<e,    635 

ausführlich  behandelt  sind.  Zahlreiche  Tafelbilder  und  Textabbildungen  beleben 
gerade  diese  Abschnitte,  meist  in  sehr  guter  Ausführung. 

Andere  Abbildungen  erläutern  die  beschriebenen  Experimente.  Einen  an- 
ziehenden Schmuck  des  Buches  bilden  zahlreiche  Bildnisse  berühmter  Chemiker, 
wie  auch  der  Text  die  geschichtliche  Entwicklung  der  chemischen  Wissenschaft 
und  Industrie  eingehend  berücksichtigt. 

Einige  Irrtümer  und  Versehen,  die  bei  einer  neuen  Auflage  leicht  beseitigt 
werden  können,  seien  kurz  erwähnt.  S.  295,  Z.  1  muß,  wie  in  der  folgenden  Gleichung 
richtig  angegeben  ist,  „eine  schwarze  Fällung  von  Silbe  r",  statt  „Arsen"  gesetzt 
werden.  Auf  S.  428,  Z.  6  v.  u.  muß  es  heißen:  „in  der  schwerer  löslichen  Form 
des  Tricalciumsphosphates",  anstatt  „leichter  löslichen".  S.  433  werden  die 
Kristalle  des  Kalkspates  als  „rhombisch",  statt  „rhomboedrisch"  bezeichnet.  Auch 
sonst  sind  die  an  sich  schon  knapp  gehaltenen  kristallographischen  Angaben  öfter 
ungenau  („rhomboidisches"  Arsen  S.  293,  ,, würfliges"  Antimon,  S.  300).  In  den 
beiden  Gleichungen  auf  S.  136  muß  2H2O  anstatt  HjO  gesetzt  werden;  auch  die 
Gleichung  für  die  quantitative  Bestimmung  der  im  Wasser  enthaltenen  Nitrate 
S.  143,  bedarf  einer  Änderung  der  Koeffizienten  (9H2SO4,  8Zn,  8ZnS04).  Die  Zu- 
sammensetzung des  gereinigten  Leuchtgases  ist  auf  S.  634  unvollständig  an- 
gegeben, es  enthält  außer  Kohlenoxyd  und  Äthylen  bekanntlich  noch  mehrere 
andere  Gase,  vor  allem  Wasserstoffgas  und  Methan. 

Die  Angaben  über  das  Acetylen,  S.  637,  sind  ungenau,  Acetylen  ist  nicht 
leichter,  sondern  schwerer  als  Leuchtgas;  die  Austrittsschlitze  an  den  Acetylen- 
gasbrennern  müssen  schmal  und  enge  sein,  nicht  wegen  der  größeren  Ausströmungs- 
geschwindigkeit des  Gases,  sondern  wegen  seines  großen  Kohlenstoffgehaltes,  da 
die  erzielte  kleine  Flamme  eine  relativ  größere  Oberfläche  besitzt,  also  auch  relativ 
mehr  Sauerstoff  für  die  Verbrennung  enthält,  als  eine  größere  Flamme. 

Dortmund.  P  a  u  1    R  u  1  f . 

von  Liebermann,  L.,  An   die  akademischen  Bürger  und  Abitu- 
rienten  höherer    Lehranstalten.     Zur   Aufklärung   in   sexuellen 
Fragen.    Deutsche  Ausgabe.     Halle  1908.     E.  Marhold.    23  S.    8».    0,40  M. 
Unter  den  mir  bekannt  gewordenen  Schriften  dieser  Art  würde  ich  der  vor- 
liegenden unbedingt  den  Vorzug  geben,  wenn  nicht  im  letzten  Abschnitt  Schutz- 
mittel gegen  die  Ansteckung  mit  Geschlechtskrankheiten  genannt  würden.    Zweifel- 
los ist  der  Verfasser  von  der  Absicht  geleitet  worden,  auch  denen  einen  guten  Rat 
zu  geben,  bei  denen  die  Warnungen  nichts  gefruchtet  haben.    Aber  ich  fürchte, 
diese  Ratschläge  werden  bei  manchem  Leser  nur  den  Eindruck  hervorrufen,  daß 
bei  der  nötigen  Vorsicht  die  vorher  geschilderte  Gefahr  doch  so  groß  nicht  sei. 

Anthes,  Otto,  Erotik  und  Erziehung,  eine  Abhandlung  mit  Zwischen- 
spielen. Leipzig  1908.  R.  Voigtländer.  72  S.  8°.  1  M. 
Anthes  hat  eigne  Gedanken  und  eine  eigne  Art  sich  auszudrücken.  Was  er 
schreibt,  lohnt  die  Mühe  des  Lesens;  so  auch  dieses  Büchlein.  Sein  Hauptgedanke 
ist  der,  daß  man  die  Sinnlichkeit  nicht  unterdrücken  dürfe,  sondern  sie  veredeln, 
oder  anders:  sie  mit  andern  Trieben  mischen  müsse.     Nur  in  der  Vereinzelung 


636         E.  Burgaß,  Winterliche  Leibesübungen  usw.,  angez.  von  E.  Neuendorff. 

bedeute  sie  eine  Gefahr.  Diese  Mischung  aber  erreiche  man  beispielsweise  da- 
durch, daß  man  bei  Betrachtung  eines  Kunstwerkes,  das  die  Sinnlichkeit  zu  er- 
regen geeignet  sei,  das  ästhetische  Verständnis  wecke,  daß  man  „den  Körper  als 
ein  mit  den  vielfältigsten  Bestimmungen  versehenes  Ding  zu  betrachten  und  zu 
bewerten"  lehre,  „so  daß  das  Sinnliche  immer  nur  als  ein  Bezirk  neben  vielen 
andern  ebenso  wichtigen  erscheinen  kann".  Das  ist  gewiß  ein  Weg,  der  nicht 
nur  gangbar,  sondern  auch  schon  von  manchem  von  uns  begangen  worden  ist; 
und  noch  einiges  andre  steht  in  dem  Schriftchen,  was  im  Unterricht  Verwendung 
finden  kann.  Aber  ich  meine,  es  wäre  zweckmäßiger  gewesen,  wenn  der  Verfasser 
seine  Ansichten  mit  größter  Klarheit  ausgesprochen  und  sich  weniger  mit  An- 
deutungen begnügt  hätte.  Wenngleich  das  Wort  am  Schluß  des  „Büchleins" 
„Ein  Erzieher  muß  ein  Feinarbeiter  sein  und  kein  Grobschmied"  auch  für  den 
Schriftsteller  gilt,  so  ist  doch  auch  das  unbestreitbar,  daß,  wer  andre  für  seine 
Auffassung  gewinnen  will,  gut  tut,  diese  mit  der  größten  Deutlichkeit  auszusprechen. 
Lüdenscheid.  Rieh.  Jahnke. 

Burgaß,  E.,  Winterliche  Leibesübungen  in  freier  Luft.  Kleine 
Schriften  des  Zentralausschusses  zur  Förderung  der  Volks-  und  Jugendspiele  in 
Deutschland.     Bd.  6.     Leipzig  1908.     B.  G.  Teubner.     X  u.  120  S.    kart.  1  M. 

Ein  handliches  Büchlein,  das  mit  Fleiß  und  Sachkunde  abgefaßt  ist  und  uns  mit 
heller  Begeisterung  von  winterlichen  Freuden  erzählt.  Auf  100  Seiten  gibt  der  Ver- 
fasser ein  umfassendes  Bild  von  dem  Wesen,  dem  Betrieb  und  der  Technik  aller 
Leibesübungen,  die  im  Winter  in  freier  Luft  betrieben  werden  können.  Allen 
Lehrern,  denen  es  ein  Bedürfnis  ist,  auch. außerhalb  der  pflichtmäßigen  Unter- 
richtsstunden mit  ihren  Schülern  ab  und  zu  Gemeinsames  zu  erleben,  kann  man 
nur  dringend  raten,  das  Büchlein  recht  oft  zu  Rate  zu  ziehen.  Sie  werden  ihm 
für  manche  Anregung  dankbar  sein.  Wenn  man  auch  nur  an  wenigen  Orten  unseres 
Vaterlandes  Schneeschuhlaufen,  Schlittenfahren  und  Rodeln  betreiben  kann,  so 
kann  man  doch  überall  schneeballwerfen  und  schlindern  lassen,  gemeinsames 
Schlittschuhlaufen  veranstalten  oder  Schnitzeljagden  im  Schnee  vornehmen. 

Haspe.  Edmund   Neuendorff. 

Kirchner,  M.,  DieTuberkuloseinderSchule,ihreVerhütung 
und  Bekämpfung.  Berlin  1909.  Richard  Schoetz.  16  S.  8«.  0,60  M. 
Verfasser  weist  an  der  Hand  der  Statistik  auf  die  Bedeutung  der  Tuberkulose 
für  Kinder  im  schulpflichtigen  Alter  hin.  Während  sich  in  den  letzten  30  Jahren 
die  Sterblichkeit  an  Tuberkulose  fast  um  50  Prozent  verringert  hat,  hat  sie  für  das 
Alter  von  10 — 15  Jahren  zugenommen;  1876  war  der  Anteil  der  Tuberkulose  an 
der  Sterblichkeit  bei  den  Knaben  dieses  Alters  10,  bei  den  Mädchen  28,4  %;  diese 
Zahlen  waren  bis  zum  Jahre  1903  auf  18,65%  und  29,7%  gestiegen.  Bis  zum 
Jahre  1906  nahm  dann  zwar  der  Anteil  der  Tuberkulose  an  der  Sterblichkeit  bei 
den  schulpflichtigen  Knaben  etwas  ab  —  er  betrug  18,41%  —  bei  den  Mädchen 
aber  vergrößerte  er  sich  bis  auf  30,08%.  Es  sind  dies  in  der  Tat  sehr  hohe  Zahlen, 
deren  Bedeutung  dadurch  nicht  vermindert  werden  kann,  daß  die  absolute  Sterb- 
lichkeitsziffer an  Tuberkulose  entsprechend  der  niedrigen  Mortalität  dieses  Alters 


M.  Kirchner,  Die  Tuberkulose  in  der  Schule  usw.,  angez.  von  Doepner.         637 

ziemlich  gering  ist.  Besonders  hervorzuheben  ist  noch,  daß  die  Tuberkulose  im 
Alter  von  10 — 15  Jahren  erheblich  mehr  Todesfälle  verursacht  als  die  sogenannten 
Kinderkrankheiten  —  Diphtherie,  Scharlach,  Masern  und  Keuchhusten  —  zu- 
sammen, während  ihre  Mortalität  in  den  Altersstufen  von  3  bis  10  Jahren  nur 
durch  die  von  Scharlach  und  Diphtherie  übertroffen  wird. 

Aus  diesen  Feststellungen  des  Verfassers  geht  die  Notwendigkeit  einer  ener- 
gischen Bekämpfung  der  Tuberkulose  im  schulpflichtigen  Alter  klar  hervor.  In 
dem  Ministerial-Erlaß  vom  9.  Juli  1907  —  Anweisung  zur  Verhütung  der  Ver- 
breitung übertragbarer  Krankheiten  durch  die  Schulen  —  ist  daher  auch  die  Tuber- 
kulose besonders  berücksichtigt  worden.  In  diesem  Erlaß  wird  besonders  auf 
drei  Punkte  bei  der  Bekämpfung  der  Tuberkulose  in  der  Schule  Wert  gelegt:  auf 
die  Feststellung  der  Krankheit,  auf  vorbeugende  Maßregeln  und  auf  die  Belehrung 
von  Lehrern  und  Schülern  über  die  Krankheit.  Die  Feststellung  der  Tuberkulose 
ist  wesentlich  erleichtert  in  den  Schulen,  in  welchen  Schulärzte  angestellt  sind. 

Es  sollen  nach  dem  obengenannten  Erlaß  nur  solche  Lehrer  und  Schüler 
vom  Unterricht  ferngehalten  werden,  bei  denen  die  Ansteckungskeime  im  Auswurf 
nachweisbar  sind,  und  zwar  nur  so  lange,  als  dies  der  Fall  ist.  Die  Untersuchung 
des  Auswurfs  in  dieser  Hinsicht  kann  kostenlos  in  allen  Medizinal-Untersuchungs- 
ämtern  und  Untersuchungsstellen  sowie  in  zahlreichen  staatlichen  und  städtischen 
Instituten  vorgenommen  werden.  Auch  im  Interesse  der  Lehrer  liegt  es,  falls 
sie  von  einer  tuberkuloseverdächtigen  Krankheit  befallen  werden,  möglichst  früh- 
zeitig sich  über  die  Art  der  Krankheit  Gewißheit  zu  verschaffen;  denn  erfahrungs- 
gemäß wird  durch  eine  Heilstättenbehandlung  im  Beginn  einer  Tuberkulose  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  die  Leistungsfähigkeit  wieder  hergestellt  oder  sogar  völlige 
Heilung  bewirkt. 

Um  den  Lehrern,  soweit  sie  nicht  der  Alters-  und  Invalidenversicherung 
unterliegen,  den  Aufenthalt  in  Heilstätten  zu  erleichtern,  hat  der  Staat  mit 
einigen  Heilstätten  Verträge  abgeschlossen,  nach  denen  diese  regelmäßig  so- 
undso viel  Lehrer  für  ein  ermäßigtes  Entgelt  aufnehmen;  außerdem  gewährt 
er  den  Lehrern  Beihilfen  aus  Zentralfonds.  Da  diese  Mittel  jedoch  nicht  ausreichen, 
wäre  es  wünschenswert,  daß  die  Lehrer  sich  selbst  helfen  durch  Begründung  eines 
Vereins  zur  Bekämpfung  der  Tuberkulose,  durch  den  Lungenheilanstalten  für 
Lehrer  und  Lehrerinnen  begründet  und  erkrankten  Mitgliedern  die  Aufnahme 
in  diese  Anstalten  ermöglicht  würde.  In  den  letzten  Jahren  sind  außerdem  von 
dem  Herrn  Kultusminister  die  Quarantäneanstalten  an  den  Küsten  der  Ost-  und 
Nordsee  für  erholungsbedürftige  Lehrerinnen  während  der  großen  Ferien  in  dan- 
kenswerter Weise  kostenlos  zur  Verfügung  gestellt  worden.  Für  wünschenswert 
zur  Verhütung  der  Tuberkulose  bei  den  Lehrern  hält  es  Verfasser  auch,  daß  nicht 
nur  bei  der  Anmeldung  zur  Präparandenanstalt,  sondern  auch  vor  dem  Eintritt 
in  das  Seminar  und  in  den  Beruf  eine  genaue  Untersuchung  der  Lungen  statt- 
finde und  nötigenfalls  durch  Erteilung  von  Urlaub  und  Gewährung  von  Stipendien 
und  Unterstützung  die  Möglichkeit  zur  Kräftigung  der  Lungen  geboten  werde. 

Tuberkulöse  Schüler  könnten,  solange  Tuberkelbazillen  in  ihrem  Auswurf 
fehlen,  ohne  Gefährdung  ihrer  Umgebung  die  Schule  besuchen,  was  monate-  und 
jahrelang  der  Fall  sein  könne.    Sobald  sich  aber  Ansteckungskeime  im  Auswurf 


638         M.  Kirchner,  Die  Tuberkulose  in  der  Schule  usw.,  angez.  von  Doepner. 

zeigen,  sei  die  schleunige  Entfernung  des  Schülers  aus  dem  Unterricht  geboten. 
Es  wäre  zweckmäßig,  für  solche  Schüler  Sonderklassen  einzurichten,  wie  sie  vielfach 
schon  für  geistig  zurückgebliebene  Kinder  oder  für  solche  mit  Hörresten  vorhanden 
sind.  Nachahmenswert  seien  auch  die  Waldschulen,  die  in  den  letzten  Jahren 
in  Charlottenburg  und  andern  Orten  entstanden  sind.  Bei  Kindern,  die  von  der 
Krankheit  bedroht  sind,  wirke  ein  Ferienaufenthalt  an  der  See,  im  Wald  oder  im 
Gebirge  oft  auffallend  gut.  Zur  Verhütung  der  Übertragung  der  Tuberkulose 
trage  auch  wesentlich  die  im  Erlaß  geforderte  regelmäßige  Reinigung  der  Schul- 
zimmer bei,  nur  dürfe  diese  staubreiche  und  ungesunde  Arbeit  nicht  von  den  Schul- 
kindern selbst  verrichtet  werden.  Spucknäpfe  müßten  mit  Wasser  gefüllt  sein 
und  nicht  auf  den  Boden  gestellt,  sondern  an  der  Wand  aufgehängt  werden. 

Von  großer  Wichtigkeit  für  die  Bekämpfung  der  Tuberkulose  sei  es  schließ- 
lich, daß  man  seit  einer  Reihe  von  Jahren  unter  den  angehenden  Lehrern  und 
Lehrerinnen  hygienische  Kenntnisse,  namentlich  bezüglich  des  Wesens  und  der 
Verhütung  der  Tuberkulose  verbreite  und  daß  auch  vielfach  schon  in  den  oberen 
Schulklassen  eine  Belehrung  der  Schüler  hierüber  stattfinde. 

Charlottenburg.  Doepner. 


IV.  Sprechsaal. 


Herr  Oberlehrer  Dr.  Wilhelm  Meier-  Düsseldorf  schreibt: 

Im  Juli-Heft  der  „Neuen  Jahrbücher"  stellt  Prov.-Schulrat  Prof.  Dr.  P.  Cauer 
u,  a.  zehn  Gebote  für  Oberlehrer  auf,  die  ich  zum  Teil  für  vortrefflich  halte,  zum 
Teil  aber  nicht  billigen  kann.  So  vermute  ich,  daß  bei  Gebot  5  („Alles  verstehen, 
aber  nicht  alles  verzeihen!'*)  und  7  („Metuant,  dum  ne  oderint")  das  Wortspiel 
die  Wahl  und  den  Sinn  beeinflußt  hat.  Ich  setze  voraus,  daß  Gebote  möglichst 
leicht  verständlich  und  eindeutig  sein  müssen.  Warum  nun  sollen  wir  Lehrer 
nicht  alles  verzeihen?  Erbitten  wir  es  nicht  täglich  von  Gott  selber,  daß  er  uns 
unsre  Schuld  vergibt?  Sodann  muß  ich  gestehen,  daß  das  „Gebot":  metuant 
mir  persönlich  doch  keineswegs  wünschenswert  erscheint.  Meinetwegen  mögen 
„sie"  „Dampf  haben"  vor  mir,  aber  metuant  (als  „Gebot"  doch  zu  übersetzen: 
sie  sollen  mich  fürchten)  —  nein!  Ferner  nehme  ich  Anstoß  an  Gebot  9:  „Du 
sollst  von  den  Schülern  nicht  verlangen,  was  du  nicht  selber  leistest."  Wenn  ich 
also  einen  Aufsatz  nicht  selbst  ins  Reine  schreibe,  darf  ich  es  auch  von  den  Schülern 
nicht  verlangen?  Oder  verstehe  ich  den  Satz  falsch?  Dann  ist  m.  E.  der  Wort- 
laut unklar.  Oder  ist  etwa  der  Satz  wörtlich  zu  befolgen  und  sollen  wir  es  machen 
wie  jener  alte  Gymnasialprofessor,  der  allen  Ernstes  behauptete,  er  heirate  nicht, 
rauche  nicht  und  trinke  möglichst  wenig  Bier,  weil  das  auch  den  Schülern  ver- 
boten sei. 

Im  ganzen  genommen  vermisse  ich  bei  den  zehn  Geboten  eine  Gesamtauffassung 
für  den  Stand,  wie  sie  m.  E.  darin  liegen  müßte.  Ganz  unabhängig  von  den  Cauer- 
schen  Geboten  habe  ich  mir  einmal  zehn  zusammengestellt,  die  ich  mir  hierher 
zu  setzen  erlaube.  Naturgemäß  müssen  solche  Aufstellungen  subjektiv  sein  und 
fordern  —  wie  ich  es  ja  selbst  tue  —  zur  Kritik  heraus. 

1.  Arbeite,  um  zu  erziehen,  nicht  um  Dank  zu  erwerben;  findest  du  ihn, 
so  freue  dich. 

2.  Arbeite,  nicht  um  in  deiner  Stellung,  sondern  um  in  deinem  Wissen  vor- 
wärts zu  kommen. 

3.  Stelle  in  erste  Linie  Jugend  und  Schule,  nicht  deine  Person  und  deine 
Lebensverhältnisse. 

4.  Suche  ein  Künstler  zu  sein  und  alles  tote  Material  zu  beleben. 

5.  Laß  in  allen  Dingen  Liebe,  nicht  nur  Recht  und  Logik  dich  leiten. 


640  Sprechsaal. 

6.  Nimm  teil  an  den  Freuden  und  Leiden  deiner  Schüler,  sie  müssen  immer 
unbefangen  zu  dir  kommen  dürfen,  suche  nicht  vor  ihnen  als  Halbgott 
zu  erscheinen  und  befolge  selbst  die  Lehren,  die  du  gibst. 

7.  Bearbeite  ein  wenn  auch  noch  so  kleines  wissenschaftliches  Gebiet  und 
hilf  es  ausbauen. 

8.  Sei  Beamter  nur  in  äußeren  Dingen,  bei  inneren  Fragen  nur  Erzieher. 

9.  Habe  Vertrauen  zu  deinen  Vorgesetzten,  vor  allem  sieh  in  ihnen  die 
Männer,  die  mit  dir  das  gleiche  Ziel  erreichen  wollen. 

10.  Denke  immer  daran,   daß  Vorgesetzte,   Kollegen,   Eltern   und   Schüler 
Stimmungen  unterworfen  sind,  wie  du. 

Ich  hätte  diese  Zeilen  nicht  geschrieben,  wenn  ich  nicht  wüßte,  daß  mein 
verehrter  früherer  Direktor  Cauer  stets  über  die  Personen  die  Sache  stellt  und 
den  Kampf  liebt,  den  Vater  aller  Dinge. 


Wir  gehen  an  unserer  Anstalt  mit  der  Absicht  um,  für  die  Schüler  Personal- 
und  Gesundheitsbogen  einzuführen,  etwa  wie  sie  E.  Lenz  in  der  Monatschrift 
für  höhere  Schulen  V.  1906,  S.  499  vorgeschlagen  hat,  sowie  an  die  Stelle  der  bisher 
üblichen,  klassenweise  eingerichteten  Bücher  für  die  Zeugnisentwürfe  individuelle 
Zeugnisbogen  zu  setzen,  die  Raum  für  mehrere  Zeugnisse  bieten  und  jedesmal 
klassenweise  zusammenzufügen  sind.  Wir  erlauben  uns  daher,  an  alle  Anstalten, 
an  denen  ähnliche  Einrichtungen  bereits  bestehen,  folgende  Bitten  zu  richten: 

1.  uns  von  den  benutzten  Formularen  je  ein  Exemplar  zu  senden, 

2.  uns  über  die  Art  der  Verwendung  dieser  Formulare  und 

3.  über  die  Erfahrungen,  die  mit  ihnen  gemacht  sind,  gütigst  Mitteilung 
zukommen  zu  lassen. 

Wir  bitten  alle  Sendungen  an  den  unterzeichneten  Vertrauensmann  des 
Kollegiums  gelangen  zu  lassen. 

Dr.  L  ü  d  c  k  e  ,  Professor  W  i  1  k  n  e  r  , 

Direktor.  Oberlehrer  an  der  Oberrealschule  in  Steglitz  bei  Berlin. 


1.  Abhandlungen. 


Die  klassische  Piiilologie  und  die  Naturwissenschaften."^) 

Nur  die  Arbeit  wird  eine  erfolgreiche  und 
nutzbringende  sein,  die  mit  der  Überzeugung 
ihres  inneren  Wertes  und  der  Zuversicht  ihres 
Gelingens  getan  und  von  hoher,  reiner  Begeiste- 
rung getragen  wird. 

Die  österreichische  Mittelschule**)  macht  soeben  unter  dem  Drucke  von  Ver- 
änderungen jenseits  unserer  Reichsgrenze  eine  tiefgehende  Umwandlung  durch, 
die  man  ganz  kurz  als  den  Vormarsch  der  naturwissenschaftlichen  Fächer  und 
den  Rücktritt  des  altsprachlichen  Bildungsstoffes,  der  bisher  die  Rolle  der  Hege- 
monie im  Gymnasium  inne  hatte,  bezeichnen  kann.  Die  naturwissenschaftliche 
Methode  hat  sich  binnen  kurzer  Zeit  durch  ihre  junge,  neue  und  interessante  Lebens- 
kraft die  Führung  der  gesamten  Wissenschaft  angeeignet  und  droht  in  ihrem  Sieges- 
zuge, der  durch  sein  neuartiges  Gepränge  Sinn  und  Herz  der  zusehenden  Laienwelt 
gefangen  nimmt,  über  alles  hinwegzuschreiten,  was  alt  und  krank  und  somit  nicht 
mehr  lebensfähig  scheint.  Allseits  erschallt  der  Ruf:  „Nur  der  Lebende  hat  recht" 
und  infolgedessen  auch  nur  der,  der  Leben  spendet.  Wie  es  aber  bei  jeder  revo- 
lutionären Bewegung  zu  beobachten  ist,  wird  auch  vieles  Lebenskräftige  dem 
Tode  geweiht,  weil  man  sich  im  Überschäumen  seiner  Kraft  nicht  die  Zeit  nimmt, 
Lebensstarkes  und  Lebensmüdes  sorgfältig  zu  scheiden.  Revolution  kennt  keine 
Gerechtigkeit;  in  solcher  Zeit  muß  jeder,  der  leben  will,  all  seine  Kraft  in  sich 
sammeln  und  danach  trachten,  sich  eine  solche  Stellung  zu  erwerben,  daß  er  mit 


*)  Die  Voraussetzung  dieses  Aufsatzes,  daß  die  Vertreter  der  Naturwissenschaf ten  zur 
klassischen  Philologie  in  scharfem  Gegensatz  stünden,  trifft  für  die  Mitarbeiter  an  dieser 
Monatschrift  nicht  zu.  Seit  dem  Jahre  1900,  dem  Jahr  der  Anerkennung  der  Gleich- 
berechtigung unserer  höheren  Lehranstalten  und  der  Gleichwertigkeit  der  in  ihnen  gelehrten 
Wissenschaften,  besteht  zwischen  den  beiden  geistigen  Mächten  ein  freundschaftliches  und 
gleichstrebendes  Verhältnis.  Gleichwohl  ist  dem  obigen  Aufsatz  gern  Aufnahme  gewährt, 
weil  er  ein  Stimmungsbild  bietet,  wie  es  da  aussieht,  wo  man  nicht  früh  genug  für  Aus- 
gleichung der  Gegensätze  und  eine  freundnachbarliche  Annäherung  gesorgt  hat.  Auch  hat 
deshalb  der  Aufsatz  seine  Bedeutung,  weil  er  frei  von  humanistischer  Selbstgefälligkeit  auf 
die  Mängel  im  Unterricht  aufmerksam  macht  und  viel  dazu  beitragen  kann,  sie  zu  beseitigen. 

Mtth. 

**)  Wenn  auch  zunächst  an  diese  gedacht  ist,  weil  ihre  Verhältnisse  dem  Verfasser 
durch  seine  Stellung  zu  ihr  nahe  liegen,  so  sind  doch  die  folgenden  Ausführungen  für  die 
Allgemeinheit  bestimmt. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  VIII.  Jhrg.  41 


642  V.  Skupnik, 

der  herrschenden  Partei  gehen  kann;  die  das  tun,  sind  wahrlich  nicht  die  Schlech- 
testen. Hat  sie  die  Unbeschränktheit  ihrer  Macht  bisher  durch  die  Ruhe,  in  der 
sie  sich  dieser  freuen  konnten,  um  einen  guten  Teil  ihrer  Kraft  gebracht,  so  gibt 
ihnen  der  neue  Kampf  mit  einem  Gegner,  der  erst  auf  ein  Alter  von  wenigen  De- 
zennien zurückblicken  kann,  nicht  nur  genug  Ausdauer  und  Stärke  zum  Siegen, 
sondern  noch  ein  Plus  an  Kraft,  das  ihnen  mit  dem  Siege  die  Herrschaft  für  die 
Zukunft  sichert.  Kampf  gibt  Stärke,  Erfahrung  und  noch  mehr:  neues  Leben, 
neue  Jugend,  freie  Bewegung,  Selbstbewußtsein.  Gerade  das  braucht  jedes  Lebe- 
wesen, um  lebensfähig  zu  sein. 

Ein  solcher  Kampf  spielt  sich  soeben  vor  unsern  Augen  ab:  hier  die  klassische 
Philologie,  ihr  gegenüber  das  Feindeslager:  die  Naturwissenschaften.  Diese  haben 
jenen  offen  den  Krieg  erklärt.  Der  ältere  Gegner  führt  als  Kämpfer  das  Recht 
auf  seine  Tradition  und  die  Achtung  vor  dem  Alter  in  die  Schranken,  überdies 
die  Vorzüge  der  Einfachheit  und  damit  die  exemplifikatorische  Kraft  seines  Arbeits- 
materials, der  Schriftwerke  der  Griechen  und  Römer,  aber  auch  das  Ideal  als  die 
Hauptcharaktereigenschaft  des  zur  Verarbeitung  gelangenden  Stoffes,  die  Ruhe 
und  Abklärung,  die  zum  Wesen  der  Vergangenheit  gehört  und  sozusagen  die  Magnet- 
nadel des  Gegenwartslebens  darstellt,  dann  aber  auch  die  Eigenartigkeit  der  Be- 
handlung eines  fremdsprachlichen  Stoffes  in  linguistischer,  intellektueller  und 
ästhetischer  Beziehung  von  einem  solchen  Standpunkte  aus,  der  dem  naturwissen- 
schaftlichen diametral  gegenübersteht,  insoferne  als  dieser  in  der  Biologie  und 
Induktion  zwar  seine  Wege  hat,  auf  denen  er  zum  Verständnis  des  Mikro-  und 
Makrokosmus  sich  emporarbeitet,  aber  doch  nicht  den  Intellekt  und  das  bewußte 
Fühlen  der  Formenschönheit  zu  jener  Höhe  zu  führen  vermag,  die  durch  das  Ver- 
senken in  die  Sprache  dem  Menschen  erreichbar  ist,  und  das  ganz  einfach  deshalb, 
weil  in  der  Natur  die  Phantasie,  des  Geistes  vornehmstes  Kind,  in  der  Materie 
in  feste  Formen  gebunden  ist  und  nur  eine  Analyse  zuläßt,  während  sie  in  der 
Sprache  keine  Grenzen  ihrer  Bewegung  findet.  Die  Sprache  ist  schon  an  sich  be- 
kanntermaßen das  höchste  Kunstwerk,  das  die  Menschheit  geschaffen  hat,  was  erst 
die  Vereinigung  der  einzelnen  Teile  zum  Bilde  in  Prosa  und  Poesiel 

Wodurch  aber  imponiert  der  Gegner?  Vorerst  durch  das  Übermaß  an  Kraft, 
das  ihm  seine  Jugend  gibt.  Diese  setzte  er  in  eine  neue  Form  um,  die  sich  im 
Fluge  zur  Geltung  brachte:  in  eine  neue  Methode,  die  als  die  speziell  naturwissen- 
schaftliche sich  zuerst  die  Achtung,  dann  die  Liebe  und  heute  bereits  die  aus- 
schließliche Anerkennung  zu  erringen  wußte.  Das  hat  auch  seinen  guten  Grund. 
Die  Welt  ist  durch  die  Erschließung  ungeahnter  Kräfte  und  Schätze  des  Universums 
ganz  Auge  und  Ohr  für  das  Materielle  geworden  und  verkrallt  sich  mit  allen  ihren 
Kräften,  physischen  wie  psychischen,  in  die  Materie,  während  dem  Ideal  der  Ab- 
schied gegeben  wurde.  Die  Menschen  der  Vergangenheit  haben  zuviel  dem  Ideale 
gelebt;  nur  ab  und  zu  hat  einer  den  Blick  von  der  Sonne,  dem  Ziele  seiner  Sehn- 
sucht, tiefer  gegen  den  Horizont  gesenkt  und  sieh  da !  Auf  einmal  nahm  er  wahr, 
daß  es  viel  besser  sei,  statt  am  Sonnenglanze  zu  erblinden,  seine  Seele  dem  zu- 
zuwenden, dem  die  Sonne  ihr  Licht,  ihre  Wärme,  ihre  Kraft  und  damit  einen  Teil 
ihres  Wesens  leiht,  und  daran  das  Auge  zu  laben.  Dabei  kam  aber  der  Mensch 
mit  einem  andern  Zuge  seines  Wesens  in  Konflikt:  mit  der  Neigung,  in  jedem 


Die  klassische  Philologie  und  die  Naturwissenschaften.  643 

Lebensträger,  auch  dem  metaphorischen,  gleichzeitig  den  Grund  des  geoffenbarten 
Lebens  zu  sehen,  die  Materie  als  bewußt  Wirkendes  aufzufassen,  und  so  verlor 
er  den  Glauben  an  die  Allmacht  der  Sonne,  sagte  sich  von  seiner  bisherigen  Herrin 
los  und  machte  den  Menschengeist  zum  Mittelpunkt  seines  neuen  Kosmos.  Stoff 
und  Form  sind  ihm  zur  Ursache  und  Wirkung,  zu  Gott  und  Schöpfung  geworden. 
Damit  gehörte  die  Zeit  auch  ihm;  deshalb  wurde  aber  auch  alles  Immaterielle 
verworfen  und  das  Dasein  nur  insoweit  als  Grundlage  für  die  Wissenschaft,  als 
Lebensinhalt  zugelassen,  als  es  sich,  in  milliardenfacher  Gleichartigkeit  existierend, 
eine  Erfahrung  entlocken  ließ  und  die  Prägung  neuer,  auf  realer  Basis  ruhender 
Gesetze  ermöglichte.  Allem  anderen  wird  unablässig  die  Existenzberechtigung 
abgesprochen,  ja  man  konnte  es  sogar  aus  dem  Munde  eines  der  hervorragendsten 
Vertreter  der  Naturwissenschaften  hören,  daß  Sprachstudium  zu  überlebtem 
Kram  geworden  sei. 

So  kam  es  also  zum  Krieg  zwischen  beiden  Parteien:  die  eine  hatte  ihr  Macht- 
gebiet zu  erweitern,  die  andere  sich  ihres  alten  Besitzrechtes  zu  wehren.  Bald 
nach  dem  Ausbruch  der  Fehde  bewahrheitete  sich  wieder  der  alte  Erfahrungssatz, 
daß  man  vom  Feinde  nur  lernen  könne  und  solle.  Wie  allen  Fortschritt,  begleitet 
auch  den  der  Naturwissenschaften  eine  negative  Kritik,  die  sich  in  einer  Art  De- 
pression auf  die  humanistischen  Studien  an  den  Gymnasien  äußerte;  aber  durch 
ihren  Druck  erzeugte  sie  den  Gegendruck,  indem  sie  eine  verbesserte  Philologie 
schuf,  in  deren  Geiste  sich  die  antiken  Schriftsteller  wesentlich  anders  geben  als 
früher.  Für  die  klassische  Philologie  ist  es  nur  ein  großes  Glück  gewesen,  daß 
ihr  ein  Gegner  mit  frischer  Kraft  erstand,  der  der  Menschheit  einen  lustigen  Quell 
aus  ihrer  eigenen  Scholle,  an  der  sie  mit  so  viel  Liebe  hängt,  hervorzauberte,  wo 
jeder  Junge  den  Nektar  des  Lebens  und  jeder  Altersmüde  und  Schwache  sich 
freudenreiche  Jugend  und  erneuten  Anspruch  auf  Ewigkeit  holen  kann.  Die  Feinde 
stehen  sich  zumindest  ebenbürtig  gegenüber.  Man  kann  es  nur  mit  Freude  be- 
grüßen, daß  von  Seiten  der  Philologie  mit  aller  Macht  zu  den  Waffen  gegriffen 
wurde  und  sie  sich  durch  die  Annäherung  an  die  Methode  der  Gegner  bis  jetzt 
auf  dem  Platze  behauptet  hat. 

,,Und  doch,  nicht  gut  ist's  um  ihr  Glück  bestellt."  Eine  Institution  kann  sich 
in  bewegter  Zeit,  wenn  man  ihr  das  Recht  auf  den  Besitz  streitig  macht,  nicht 
anders  gebärden  als  ein  Mensch,  der  von  einem  bösen  Tier  angefallen  wird.  Der 
Schreck  fährt  ihm  in  die  Glieder,  er  sucht  nach  Mitteln,  um  das  drohende  Unheil 
von  sich  abzuwenden.  Es  fehlt  ihm  die  Konzentration  und  damit  die  geistige 
Verfassung  des  Angreifenden,  so  daß  er  in  seiner  Abwehr  keine  Systematik  verrät, 
sondern  stoßweise  vorzudringen  versucht  und  sich  dabei  aller  Hilfsmittel,  die  ihm 
der  Zufall  in  die  Hände  spielt  oder  die  klare  Überlegung  des  Augenblicks  als  förder- 
lich erscheinen  läßt,  bedient.  Das  ist  aber  schlecht.  Die  Kräfte  brauchen  Samm- 
lung, während  sie  der  partielle  Verbrauch  nicht  bloß  um  die  Summe  der  einzelnen 
Teile  vermindert,  sondern  mit  der  Zersplitterung  die  völlige  Auflösung  herbeiführt. 

In  dem  folgenden  soll  nun  der  Versuch  gemacht  werden,  aus  den  einzelnen 
Steinchen,  die  als  Beiträge  zu  einer  Umgestaltung  des  philologischen  Unterrichtes, 
wie  er  bisher  in  Übung  stand,  von  allen  nöglichen  Seiten  herbeigeschafft  werden, 
ein  einheitliches  Bild  fertig  zu  stellen,  wobei  wir  als  Künstler  im  Zauberreiche  des 

41* 


644  V.  Skupnik, 

Geistes  mit  reinem  Geistesstoff  zu  schaffen  haben.  Denn  geradeso  wie  noch  nie 
einer  ein  Künstler  geworden  ist,  wenn  er  bald  dieses,  bald  jenes  Werkzeug  zu  führen 
probierte,  sondern  alle  gleichzeitig  und  gleichmäßig  zu  gebrauchen  verstand,  so 
dürfte  es  auch  nicht  überflüssig  sein,  uns  einmal  unsere  Werkzeugreihe  anzusehen 
und  die  Verwendungsart  der  einzelnen  kennen  zu  lernen,  aber  auch  den  Beweis 
zu  erbringen,  daß  sich  damit  ein  wirkliches  Kunstwerk  gestalten  läßt,  das  zur 
Harmonie  des  Lebens  unentbehrlich  ist.  Da  erst  wird  es  sich  zeigen,  daß  die  Arbeit 
der  klassischen  Philologie,  insoweit  als  sie  in  den  Schulbetrieb  fällt,  wirklich  eine 
Kunst  ist,  und  zwar  keine  geringe.  Es  soll  aber  auch  allgemein  bewußt  werden, 
daß  nicht  eine  Kunst  allein  das  Leben  gestalten  und  verschönern,  ja  überhaupt 
nur  lebenswert  machen  kann,  sondern  daß  in  der  Variation,  die  die  Teile  zu  Homo- 
genem vereint,  die  Lebensmöglichkeit,  Lebenskraft  und  Lebenslust  gelegen  ist. 
Nur  eine  Vielheit  von  Ursachen  und  Wirkungen  vermag  ein  so  kompliziertes  Dasein 
zu  geben,  wie  es  der  Mensch  im  Laufe  seiner  Entwicklung  zeigt. 

Von  der  alten,  überlebten  Art  der  Beschäftigung  mit  den  Griechen  und  Römern 
im  philologischen  Unterrichte  brauche  ich  nicht  weiter  des  näheren  zu  reden:  es 
war  die  Zeit  der  Anatomie,  des  Studiums  an  der  Leiche.  Da  wurde  alles  fein 
seziert  und  herauspräpariert:  Nerven,  Adern,  Muskeln.  Es  war  nur  die  Zeit  des 
Studiums  und  selten  hat  man  den  Blick  von  der  Leiche  weg  auf  den  lebenden  Menr 
sehen  geworfen  und  sich  gefragt:  wie  kann  ich  mit  den  Kenntnissen,  die  ich  mir 
hier  so  systematisch  erwerbe,  dem  Leben  nützen?  Man  hat  dabei  ganz  übersehen, 
daß  man  bei  diesem  Studium  die  Beziehung  nicht  bloß  zum  eignen  Leben,  sondern 
vor  allem  zum  Leben  der  Mitmenschen  verloren  hat.  Ab  und  zu  wurde  wohl  der 
Versuch  gemacht,  sein  Kennen  in  ein  Können  umzusetzen,  aber  das  blieb  doch 
nur  eine  Kuriosität.  Es  war  kein  wahres  Leben,  sondern  ein  Mechanismus,  der 
Leben  imitierte.  Da  kam  die  Naturwissenschaft  und  zeigte,  wie  man  den  Weg 
zum  Leben  finden  kann.  Sie  hat  aber  noch  mehr  gebracht:  sie  gab  uns  auch  die 
neue  Wahrheit,  daß  es  nicht  nur  schön  sei  zu  wissen,  daß  man  lebt,  sondern  noch 
viel  interessanter  sei  zu  erfahren,  wie  man  lebt.  Dabei  ist  ihr  so  mancher  Eingriff 
in  die  Lebensrichtung  geglückt.  Mit  einem  Male  bekam  der  Mensch  einen  Abscheu 
vor  der  Leiche;  er  sagte  sich:  so  finde  ich  mit  aller  Logik  nie  den  Weg  zum  eignen 
und  fremden  Dasein.  Er  begann  sich  für  das  Lebensproblem  zu  interessieren 
und  aus  dem  Leichnam,  den  bisher  der  lateinische  oder  griechische  Autor  in  der 
Hand  des  Schülers  darstellte,  ist  ein  lebender  Mensch  geworden,  mit  Blut  in  den 
Adern,  Leben  im  Nerv  und  vollen,  frischen  Formen. 

Leichter  war  dieser  Sprung  zunächst  für  die  deutsche  Sprache.  Hier  fand 
man  bald  die  Stelle,  wo  man  anfassen  mußte.  „Der  Wohlklang  der  Worte  eines 
Gedichtes,  der  Rhythmus  der  Verse,  die  verschiedenen  Arten  des  Reims,  das  melo- 
dische An-  und  Abschwellen  des  Satztons,  die  Figuren  und  Tropen  mit  ihrem  dem 
Ohre  schmeichelnden  Klang,  ihrem  den  Geist  aufmunternden  Reiz,  kurz,  all  die 
Schönheitselemente,  welche  die  Sprache  schmücken,  führen  die  empfänglichen 
Kindergemüter  in  die  Wunderwelt  der  Schönheit  ein,  von  der  Schiller  behauptet: 

Ihr  Lichtpfad,  schöner  nur  geschlungen,  senket 
Sich  in  die  Sonnenbahn  der  Sittlichkeit. 


Die  klassische  Philologie  und  die  Naturwissenschaften.  645 

Die  ihrem  hehren  Dienste  leben, 

Versucht  kein  niederer  Trieb,  beugt  kein  Geschick, 

Wie  unter  heilige  Gewalt  gegeben. 

Empfangen  sie  das  reine  Geistesleben, 

Der  Freiheit  süßes  Recht  zurück."*) 

Hier  begann  der  Zauber  zuerst  zu  wirken,  weshalb  ich  ein  wenig  näher  darauf 
eingehen  will. 

Man  ist  auf  einmal  mitten  im  Leben  drin:  man  studiert  nunmehr  die  Teile 
am  Lebenden,  läßt  sie  schön  beisammen  ruhen,  weil  man  es  als  ein  zweckloses 
Beginnen  ansieht,  Kuriositäten  herauszupräparieren,  und  einem  der  Blick  dafür  ge- 
öffnet wurde,  daß  es  eine  absolute  Schönheit  des  Teiles  nicht  gibt,  und  wenn  man 
schon  an  sie  glaubt,  nur  kalte  Schönheit  ist,  die  überdrüssig  macht,  kein  Verlangen 
auslöst,  keine  Betätigung  der  eignen  Gestaltungskraft  hervorruft,  sondern  höchstens 
nur  ein  interessantes  Spiel  mit  künstlich  geschaffenem  Spielzeuge  verstattet.  Unsre 
Muttersprache  ist  also  auf  dem  besten  Wege,  zur  bewußten  Anerkennung  ihrer 
Schönheit  bei  allen  Menschen  zu  kommen,  die  Anspruch  auf  Bildung  erheben 
wollen;  sie  hörte  auf,  in  ihnen  nur  als  Wortkonglomerat,  das  aus  oft  unverstandenen, 
in  ihrer  Bildung  und  Bildungsfähigkeit  unbekannten  Teilen  bestand,  und  erstarrten 
einzelnen  Gruppen  —  z.  B.  Zitaten  —  zu  existieren,  die  man  wie  Edelsteine  protzig 
zur  Schau  trägt;  aus  der  Erkenntnis,  daß  aus  der  poetischen  Form  die  Erregung 
des  kindlichen  Schönheitssinnes  entspringe,  ergab  sich  vielmehr  für  sie  die  Be- 
rechtigung eines  beseelten  Daseins.  Die  ästhetische  Richtung  setzte  hier  mit  aller 
Macht  ein.  Man  konnte  gleich  das  Ganze  als  solches  genießen  lernen,  weil  es  sich 
nur  um  Äußerlichkeiten  handelte,  mit  deren  Überwindung  der  Inhalt  sich  in  seiner 
ganzen  Schönheit  darbietet  und  die  Grundlage  eine  ganz  andere  war,  als  es  in  den 
alten  Sprachen  der  Fall  ist,  insofern  als  die  Muttersprache  kein  Hindernis  bot, 
vielmehr  einen  großen  Gegensatz  gegen  eine  fremde  Sprache  schon  dadurch  bil- 
dete, daß  sie  sich  auf  einen  weit  ausgedehnteren  Gebrauch,  der  in  der  frühesten 
Jugend  einsetzt,  stützt,  so  daß  eine  Unmenge  von  Sprachmaterial  das  Seelen- 
leben nährt  und  durch  die  Menge  schon  früh  gestaltend  wirkt,  aber  auch  in  steter 
Gestaltung  tagtäglich  beobachtet  werden  kann,  wodurch  dem  Erfassen  selbst  des 
Schwierigsten  in  Prosa  und  Poesie  wesentlich  vorgearbeitet  ist.  Das  Mittel  des 
Gegensatzes  der  dichterischen  Darstellung  zur  prosaischen  oder  eignen  zeigt  sich 
um  so  wirksamer,  je  bekannter  die  Bestandteile  sind,  die  nur  in  andrer  Setzung 
oder  feinerem  Gebrauche,  aber  doch  als  lebende,  gute  Bekannte  zum  Herzen  reden 
und  in  ihrer  Verfeinerung  mit  um  so  mehr  Reiz  wirken,  je  größer  der  Gegensatz 
von  Form  und  Inhalt  ist.  Was  der  Junge  dadurch  kennen  lernt,  ist  Sprachbiologie 
auf  induktivem  Wege,  also  rein  naturwissenschaftlich.  Hier  wie  dort  lernt  er 
den  Wert  der  Erfahrung,  das  Beobachten  mit  Auge  und  Ohr,  das  Analysieren 
zum  Zwecke  einer  Einsicht  in  das  Lebensprinzip,  und  daher  bleibt  die  Rückwirkung 
auf  die  eigne  Person  auch  nicht  aus:  er  lernt,  sich  richtig,  gewählt,  verständig  und 
vor  allem  formvollendet  ausdrücken,  aus  Gold  und  Silber  zuerst  Münzen  prägen, 


•)  Aus  der  Rezension  der  „Wandbilder  zu  deutschen  Gedichten"  in  der  „Zeitschrift  f. 
Lehrmittelwesen  und  pädag.  Literatur",  IV.  Bd.,  S.  193  f. 


646  V.  Skupnik, 

in  der  Folge  immer  meiir  die  Plastik  des  Lebens  durch  die  Plastik  der  Sprache 
in  ebenbürtige  Form  kleiden. 

Daneben  aber  leistet  die  Muttersprache  noch  durch  eigne,  gesonderte  Arbeit 
ihrem  stetigen  Ausbau  gute  Dienste:  durch  die  kleinen  und  größeren  Kunst- 
werke, die  sie  von  den  Jungen  in  Haus-  und  Schulaufgaben  schaffen  läßt.  Im 
Vergleich  zur  früheren  Übung  zeigt  sie  schon  in  der  Wahl  der  Aufgaben  einen 
gewaltigen  Fortschritt:  Berücksichtigung  des  Gefühles  und  Gemütes;  der  Verstand 
darf  nur  durch  das  Gefühl  reden.  Denn  nur  gefühlsbetonte  Vorstellungen  haben 
die  rechte  Lebenskraft,  die  aus  sich  Leben  entwickelt;  auf  diese  Weise  bahnen 
sie  das  Verständnis  der  Literatur  an.  Die  Kinderseele  wird  von  allem  Anfange 
an  so  präpariert,  daß  sie  später  einmal  selbst  bedeutenden  Männern  nachfühlen 
und  sich  einfühlen  kann,  wodurch  allein  das  rechte  Verständnis  möglich  ist.  Lyrik, 
Epik  und  Dramatik  finden  so  in  ihren  elementaren  Formen  wie  in  ihrer  Voll- 
endung in  gleicher  Weise  Anwendung.  Heute  ist  nicht  die  reine  Logik,  kalt  und 
nüchtern,  der  Schulgeist,  nicht  der  Aufbau  eines  Dramas  die  Hauptsache,  sondern 
das  Interesse  an  den  Spielern  ist  uns  wichtig,  weil  man  so  das  Spiel  versteht  und 
zum  Verständnis  der  Dramatik  der  Bühne  und  des  Lebens  kommt.  Der  Junge 
hat  nicht  an  dem  Helden  —  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  —  seine  guten  und 
schlechten  Charaktereigenschaften  zu  summieren  und  die  kleinere  Summe  von  der 
größeren  zu  subtrahieren,  um  aus  dem  Rest  das  Zuwenig  der  Lebenskraft  zu  er- 
weisen, sondern  er  soll  sich  bewußt  werden,  wie  mannigfach  dramatisch  das 
Leben  sein  kann,  soll  die  menschliche  Wesenheit  kennen  lernen. 

Seinerzeit  waren  die  Aufgaben  rein  verstandesmäßig:  Zuerst  Vorarbeit  des 
Lehrers,  dann  die  Arbeit  des  Schülers:  ein  Konglomerat  daraus,  das  durch  die 
Verstandesarbeit  des  Lehrers  Gebotene,  aber  oft  unverstanden,  zu  einem  Gebäude 
zusammengelegt,  das  so  fest  wie  ein  Kartenhaus  war.  Es  war  kein  Leben  darin, 
weil  ihm  das  Persönliche  fehlte,  es  waren  schlechte  Abhandlungen,  die  in  der  Seele 
nichts  Lebensfähiges  zurückließen.  Man  sehe  sich  einmal  dagegen  die  Themen 
von  heute  an! 

Bald  wird  die  Aufgabe  gestellt,  ,, Poesie  und  Prosa  des  Herbstes"  zur  Dar- 
stellung zu  bringen  oder  der  Lehrer  läßt  ein  ,, Märchen  bilden",  eine  „Lessingsche 
Fabel  fortsetzen"  —  z.  B.  die  vom  „zerbrochenen  Bogen"  — ,  er  beschäftigt  den 
Jungen  mit  der  „Sprache  des  Frühlings",  ein  Ackergaul  muß  durch  das  Medium 
des  Jungen  seine  Selbstbiographie  entwickeln,  man  läßt  „eine  Stunde  in  der  Stras- 
senbahn"  humoristisch  schildern,  eine  Silberkrone  ihr  Wanderleben  erzählen, 
läßt  „Vers  und  Prosa"  ein  Zwiegespräch  führen  oder  Gemälde  in  Worten  ent- 
werfen: „Zu  spät!"  oder  „der  Tod  einer  Mutter",  läßt  aber  auch  den  jungen 
Menschen  die  Unendlichkeit  ahnen,  wenn  man  ihm  das  Thema  vorlegt:  „Durch 
unsre  Kultur  klingt  ein  wunderbares  Lied,  das  Lied  vom  brennenden  Stein", 
oder  es  wird  der  kleine  Erdenbürger  gefragt:  „Welche  Wahl  träfe  ich,  wenn  mir 
Fortuna  drei  Wünsche  freistellte?",  damit  er  uns  sein  Herz  ausschütte;  das  tut 
ja  der  Große,  der  Dichter  oder  Schriftsteller  auch. 

So  steht  der  Gymnasiast  heute  nicht  mehr  als  Philister  vor  den  gemalten 
Fensterscheiben  der  Kirche  und  sieht  durch  das  farbige  Glas  den  Innenraum  in 
einer  anderen  unverständlichen  Belichtung  und  Farbe,  sondern  man  führt  ihn  in 


Die  klassische  Philologie  und  die  Naturwissenschaften.  647 

die  Kirche  hinein  und  von  dort  aus  sieht  er  die  Natur  auch  in  andern  Farben,  die 
ihm  aber  verständlich  sind,  weil  das  Licht,  das  durch  die  Scheiben  hindurch  in 
den  Innenraum  fällt,  in  seinem  Auge  schon  in  dieser  neuen  Form  das  Element 
des  neuen  Sehens  bildet,  so  daß  er  mit  einem  andern  Lichte  sieht  und  dadurch 
der  Ästhetik  des  Lebens  nahekommt.  Die  richtige  Behandlung  deutscher  Gedichte 
vor  allem  vermag  den  schönen  Flor  menschlicher  Gefühle  im  kindlichen  Herzen 
auf  diese  Weise  zu  wecken,  zu  pflegen  und  zum  Aufblühen,  zur  Produktivität,  zu 
bringen.  So  wird  schon  in  die  jungen  Seelen  jenes  für  das  Zusammenleben  der 
Menschen  unentbehrliche  Wohlwollen  —  man  beachte  den  begrifflichen  Inhalt  der 
beiden  Bestandteile  des  Wortes!  —  gelegt.  Indem  sich  dann  unsre  Augen  in  der 
Umgebung  umschauen,  sehen  sie  beseelend;  die  seelenlose  Natur  bekommt  so 
durch  uns  Sprache,  Wollen  und  Streben,  und  die  Plastik  der  Erscheinung  verbindet 
sich  mit  der  Tiefe  des  Gefühles  zu  harmonischer  Schönheit.  Oskar  Blumenthal 
sagte  einmal  trefflich:  „Aus  der  Landschaft  —  der  Natur  —  sind  die  Dichtungen 
erwachsen  und  aus  der  Dichtung  wächst  wieder  die  Landschaft  hervor.  Man 
mißt  die  Kunst  des  Dichters  an  der  Natur  und  mißt  die  Natur  an  ihrem  verklärten 
Abbild."  Das  ist  sozusagen  eine  neue  Kunst  geworden,  die  das  Eigentum  des 
Menschen  sichern  hilft,  seine  Mühe  erleichtert  und  seine  Wirksamkeit  verbreitert 
und  vertieft.  „In  die  Tiefe  mußt  du  steigen,  soll  sich  dir  das  Wesen  zeigen"  ist 
der  Drang,  der  mit  der  Kulturentwicklung  bei  jedem  Volke  auf  einem  gewissen 
Punkte  einsetzen  muß.  So  lehrt  man  heutigentags  die  Menschen  die  Wonne  des 
Verweilens  in  jener  Welt,  die  kein  andres  Interesse  als  das  der  voraussetzungs- 
losen Schönheit  kennt,  wo  alles  um  seiner  selbst  willen,  nicht  zur  materiellen 
Ausnützung  durch  den  Menschen  besteht. 

Dabei  kommt  aber  mit  den  Jahren  auch  der  Verstand  immer  mehr  zur  Geltung 
und  bekommt  an  geeigneter  Arbeit  Gelegenheit  zu  erstarken;  immerhin  aber  wird 
der  einmal  erkannte  Wert  der  gefühlsbetonten  Vorstellung  nicht  aus  dem  Auge 
gelassen.  „Die  Sonne  als  belebende  Kraft"  gibt  gleich  dazu  Gelegenheit  und 
manchem  Lehrer  scheint  es  nicht  zuviel,  von  seinen  Schülern  die  Bearbeitung  des 
Themas  zu  verlangen:  „Was  ich  tat,  kann  ich  vertreten",  er  läßt  ihn  „die  Land- 
straße vor  hundert  Jahren  und  heute"  schauen,  verlangt  von  ihm  eine  eingehende 
Darstellung  der  ,, Bedeutung  der  grünen  Pflanze  für  Natur  und  Kultur",  läßt  ihn 
auf  Grund  von  Erfahrung  —  zweifacher:  literarischer  und  eigner  —  die  Bezie- 
hungen zwischen  den  „Jahreszeiten  und  lyrischer  Stimmung"  suchen,  er  macht  ihn 
auf  Irrtümer  aufmerksam  und  verlangt  von  ihm  Stellungnahme  zu  dem  Aus- 
spruche: „Nil  admirari?  Nein,  nein!  omnia  admirari!"  Nur  so  kann  es  ihm  ge- 
lingen, seine  jungen  Leute  so  weit  zu  bringen,  daß  sie  ihm  bei  der  schriftlichen 
Reifeprüfung  den  Nachweis  für  die  Richtigkeit  der  Worte  erbringen:  „Bildung 
erwerben  heißt,  sich  selbst  sozial  empfinden;  sie  ist  das  Bewußtsein  vom  Zusammen- 
hang der  Menschen  untereinander  und  mit  der  ewigen  Natur"  oder  „Seinen  Beruf 
erkennen  und  danach  handeln,  muß  ich  Freiheit  nennen". 

In  der  Literaturgeschichte  hat  das  trockene  Durchführen  auch  ein  Ende; 
keine  bloße  Kette  von  Jahreszahlen  mehr,  kein  Herumwandern  von  Ort  zu  Ort 
an  der  Hand  der  Jahreszahl,  sondern  pragmatisch.  Den  Blick  nach  allen  Seiten 
gerichtet,  erfaßt  man  den  Dichter  als  einen  Fixstern  seiner  Zeit,  als  einen  beson- 


648  V.  Skupnik, 

deren  Menschen,  der  sein  Zeitalter  durch  seine  Person  widerspiegelt,  dabei  aber  ein 
Mensch  bleibt,  der  von  Menschen  wieder  verstanden  werden  kann,  so  daß  wirklich 
von  einer  ewigen  Existenz  gesprochen  werden  kann,  daß  er  lebt,  indem  nicht  bloß 
die  von  ihm  ausgesprochenen  Gedanken  auf  Grund  der  Autorität,  die  sich  auf 
die  Überlegenheit  seines  Geistes  gründet,  als  Dogmen  das  Menschenleben  be- 
herrschen, sondern  nur  Bausteine  zu  neuen  Gebäuden  sein  sollen,  die  nicht  dafür 
bestimmt  sind,  der  bloßen  Erbauung  zu  dienen,  nicht  der  Abkehr  von  der  Welt, 
nein,  der  wirklichen  Einkehr  in  sie,  Gebäude  für  menschliches  Leben  des  Alltags, 
der  nicht  mehr  so  scharf  dem  Feiertage  gegenübersteht.  Die  viele  Arbeit,  die 
man  heute  leisten  muß,  wird  durch  die  Durchgeistigung,  die  sie  so  erfährt,  zur  Lust 
und  nicht  zur  Qual.  Der  Dogmatismus  hat  sich  überlebt;  sogar  dort,  wo  er  durch 
Jahrtausende  einzig  geherrscht,  ist  er  im  Absterben  begriffen  und  neue  Formen 
werden  aus  den  Ruinen  erblühen. 

Der  Verschiedenartigkeit  der  Menschen  entspricht  man  heute  dadurch,  daß 
man  ihnen  schon  in  der  Schule  die  Wege  der  Betätigung  nicht  vorschreibt  und 
sie  den  kürzesten  Kurs  zum  Ziele  weist,  sondern  sie  ihre  eignen  Wege  gehen  läßt, 
weil  nur  so,  nicht  aber  im  Herdentrieb  der  Mensch  „sich  entdecken"  kann.  Das 
kannte  die  Vergangenheit  nicht,  Sie  trieb  alles  einem  von  ihr  deduzierten  Ziel- 
punkte zu.  Wer  mitkommen  konnte,  für  den  war's  gut;  die  andern  blieben  am 
Wege  liegen  und  verkümmerten.  Das  Ziel  war  aber  nur  schwer  zu  erreichen,  daher 
war  die  Welt  von  Krüppeln  voll,  ja  sogar  die,  welche  das  Ziel  erreichten,  waren 
in  den  allermeisten  Fällen  untauglich  geworden,  indem  durch  die  Überanstrengung 
des  Geistes  die  Entwicklung  der  Körperkraft  lahm  gelegt  wurde.  Daher  neuer- 
dings „Zurück  zur  Natur",  hinein  in  sie,  das  macht  stark  und  groß!  Einer  Ver- 
flachung der  Bildung  wirkt  schon  die  Unmasse  des  Stoffes,  der  zur  Bearbeitung 
reizt,  entgegen,  wobei  zu  bedenken  ist,  daß  sich  heute  die  Stoffe  nicht  bloß  intensiv, 
sondern  auch  extensiv  entfalten,  wodurch  sie  die  Beziehungen  zu  allem  Benach- 
barten suchen;  das  aber  ist  das  Wichtigste:  aus  der  Wechselbeziehung  entspringen 
die  wahren  Lebensmotive. 

Diese  eingehende  Skizzierung  des  heutigen  Unterrichtes  in  der  Muttersprache 
war  notwendig,  weil  das  die  Vorarbeit  für  die  Philologie  ist:  Man  lehrt  den  rich- 
tigen Gebrauch  der  Sprache,  scheidet  Originelles  von  Nachahmung,  Brauchbares 
vom  Unbrauchbaren,  führt  in  den  Bau  dieser  einzelnen  Sprache  nur  einigermaßen 
ein  und  zeigt  induktiv-produktiv  die  ihr  eigentümlichen  Schönheiten. 

Wie  verhält  es  sich  nun  mit  dem  antiken  Stoff?  Die  Materie  gliedert  sich  in 
Autoren  (Prosa  und  Poesie)  und  Denkmäler  (Statuen,  Plastik,  Inschriften  und 
Urkundenmaterial).  Das  zweite  ist  dem  ersten  untergeordnet.  Sehen  wir  einmal 
die  Autoren  an:  hier  überwiegt  naturgemäß  die  Prosa,  aber  auch  die  Poesie  nimmt 
nicht  wenig  daran  teil.  Die  Stoffe  der  Prosa  gehören  der  Historik,  Rhetorik  und 
Philosophie  an;  das  ist  die  Reihenfolge  im  Unterrichtsgange,  die  am  Ende  eine 
Kombination  aller  drei  Elemente  in  Tacitus  und  Thukydides  aufweist.  Epik, 
Dramatik  und  Lyrik  stellt  die  Aufeinanderfolge  in  der  Poesie  dar.  Das  entspricht 
dem  Gange  der  Weltgeschichte  und  dem  psychischen  Leben:  der  Mensch  inter- 
essiert sich  zuerst  für  Erzählungen  (auch  das  Kinderlied  ist  noch  stark  erzählend), 
dann  fürs  Redenhalten  und  zuletzt  für  die  Philosophie,     Historik  —  Epik,  Rhe- 


Die  klassische  Philologie  und  die  Naturwissenschaften.  649 

torik  —  Dramatik,  Philosophie  —  Lyrik  kommen  nebeneinander  als  Bildungsstoff 
zur  Anwendung. 

Alles,  was  menschlich  ist,  d.  h.  der  unbeeinflußten  Entwicklung  des  Menschen 
parallel  läuft,  ist  auch  richtig.  Hier  ist  gewiß  der  Mensch  das  Maß  der  Dinge, 
zu  denen  er  in  Beziehung  treten  soll. 

Diese  kunstgemäße  Anordnung,  die  eine  so  naturgemäße  Grundlage  hat,  kommt 
freilich  dem  jungen  Menschen  nicht  zum  Bewußtsein;  es  ist  unmöglich,  weil  er 
erst  den  Punkt  erreicht  haben  muß,  wo  das  Embryonalstadium  in  das  des  orga- 
nischen Lebens  übergeht. 

Wie  steht  es  um  die  Stellung  zur  Vergangenheit?  Hier  haben  wir  es  mit  einer 
andren  als  der  nationalen  zu  tun.  Die  nationale  Vergangenheit  wird  nie  ganz 
Vergangenheit,  wie  ein  Baum  sich  nie  von  seinen  Wurzeln  loslöst,  weil  das  die 
Organe  sind,  die  ihm  aus  der  Erde  die  Elemente  seines  Daseins  zuführen.  Doch 
dazu  kommt  all  das,  was  über  der  Erde  als  organische  Kraftstation  existiert: 
die  Luft  mit  den  chemischen  Stoffen,  Licht  und  Wärme,  Energien,  die  jedes  Jahr 
in  neuer  Form  dasselbe  Wesen  darstellen,  immer  einen  neuen  Frühling,  Sommer 
und  Herbst  bringen.  Aber  wie  kein  Baum  ohne  Wurzeln  existieren  kann,  so  auch 
nicht  ohne  Luft,  Licht  und  Wärme:  kurz,  ohne  die  Umgebung,  die  ihr  Bereich 
über  der  Erdscholle  hat.  Was  für  Güter  sind  nun  das  in  unsrem  Falle?  Es  sind 
die  Nationen  der  Umgebung.  Die  existieren  aber  nicht  für  sich,  geradeso  wie 
Luft,  Licht  und  Wärme  nicht  an  sich  existieren,  sondern  durch  die  Wesen,  in  denen 
sie  uns  erscheinen,  die  sie  in  ihrer  Wesenheit  bestimmen.  Es  sind  die  Völker  der 
Vergangenheit,  die  Wesensbestandteile  an  die  Umgebung  abgegeben  haben,  also 
auch  an  unsre  Kultur. 

Was  lehrt  aber  ein  Blick  in  die  Arbeit  der  Naturwissenschaft  von  heute?  Daß 
sie  mit  allem  Eifer  daran  ist,  die  Einwirkung  der  Umwelt  auf  die  Organismen 
aufs  eingehendste  zu  studieren;  z.  B.  untersucht  sie  den  Lichtgenuß  der  Pflanzen 
und  ist  bestrebt,  davon  die  Gestaltung  der  Blätter  in  Abhängigkeit  zu  bringen, 
analysiert  Luft  und  Wärme  in  allen  Höhenschichten  und  schließt  auf  die  Ursachen, 
um  ihre  Wirkungen  zu  verstehen.  Die  Naturwissenschaften  forschen  dem  orga- 
nischen Leben  nach  und  führen  selbst  dabei  ein  organisches  Leben.  Sie  betrachten 
biologisch-induktiv,  und  diese  Betrachtungsweise  ist  allein  animalisch. 

Warum  sind  aber  die  Naturwissenschaften  auf  uns  Altphilologen  so  übel  zu 
sprechen?  Hauptsächlich  wohl  darum,  weil  wir  fortwährend  scheinbar  in  der 
Vergangenheit  arbeiten,  während  sie  ein  ewiges  Gegenwartsleben  führen.  Sie 
wollen,  daß  der  Mensch  nur  in  der  Gegenwart  mit  seinen  ganzen  Kräften  wurzle, 
weil  sie  ihre  Errungenschaften  heißhungrig  gemacht  haben  und  keiner  dem  anderen 
auf  dem  gemeinsamen  Arbeitsfelde  einen  Erfolg  gönnt.  Ja,  sie  haben  es  leicht: 
Ihre  Tätigkeit  sagt  sich  mit  jeder  Errungenschaft  von  dem  Bisherigen  los,  es  be- 
steht nicht  mehr  für  sie,  sie  haben  sozusagen  gar  keine  Vergangenheit!  Das  ist 
aber  nur  im  Reiche  der  Materie  möglich:  was  der  Acker  bei  der  Verwendung  neuer 
chemischer  und  technischer  Hilfsmittel  trägt,  interessiert  uns  allein;  hier  braucht 
man  nur  die  Vergangenheit  so  lange,  als  man  sie  nicht  überflügelt  hat.  Der  Prozeß, 
der  sich  da  abspielt,  ist  der  des  Verdauens,  wogegen  in  den  Geisteswissenschaften 
die  Geburt  das  Endziel  darstellt. 


650  V.  Skupnik, 

Allein,  sehen  wir  zu,  ob  auch  auf  dem  Felde  der  antiken  Fremdsprachen  eine 
naturwissenschaftliche  Betrachtungsweise  möglich  ist  und  vielleicht  bereits  ange- 
wendet wird! 

Wir  haben  einen  Autor  vor  uns:  man  bereichert  sich  an  ihm  intellektuell  durch 
historische  Tatsachen,  politische  Gedanken  und  philosophische  Probleme,  ferner 
ästhetisch  durch  die  Übertragung  in  den  eignen  Gedanken-  und  Wirkungskreis. 
Eine  der  Voraussetzungen,  die,  bevor  man  an  die  Arbeit  herantritt,  nicht  aus  dem 
Auge  gelassen  werden  dürfen,  ist  der  Standpunkt  des  Autors  oder  der  Person, 
durch  die  er  zu  uns  redet,  insofern  als  daraus  ihre  Sprache  formuliert  werden  muß, 
ferner  wächst  durch  das  Suchen  die  Kraft  der  eignen  Persönlichkeit,  indem  an 
die  Erfolge,  die  man  dabei  erzielt,  eine  Beurteilung  des  eigenen  Wertes,  eine  pro- 
gressive Selbsterkenntnis  sich  anschließt,  aber  auch  dadurch,  daß  man  an  die  Stelle 
der  Toten  tritt,  sich  einfühlt,  einlebt,  selbst  zu  dem  wird,  der  uns  in  seiner  fremden 
Sprache  nur  ein  Hilfsmittel  leiht,  das  ganz  eigener  Art  ist.  Die  Psychologie  des 
Übersetzens  scheint  noch  wenig  Beachtung  gefunden  zu  haben,  obgleich  es  einen 
so  wichtigen  Faktor  im  Schulbetriebe  darstellt.  Der  fremde  Text  ist  sozusagen 
eine  Operationsbasis.  In  der  älteren  Zeit  herrschte  darin  ein  mathematischer 
Betrieb,  der  sogar  zum  Mechanismus  ausartete.  Die  fremdsprachlichen  Sätze 
waren  algebraische  Gebilde;  die  Leistung  bestand  darin,  für  die  allgemeinen  Werte 
die  bestimmten  einzusetzen.  Darauf  passen  die  Worte:  ,,Es  wurden  durch  irgend- 
eine Macht  dem  Auge  Brillen  aufgesetzt,  so  daß  man  die  Dinge  mit  den  eignen 
Augen  zu  sehen  verlernte."  Es  entwickelte  sich  eine  ,, steifleinene  Redeweise", 
eine  Sprache,  die  in  einem  gewissen  Abstände  von  dem  Menschen  stand  und  nichts 
weniger  als  persönlich  war:  die  gleiche  Rolle,  die  der  so  Gebildete  in  der  Gesell- 
schaft, besonders  in  seinen  Beziehungen  nach  unten  spielte.  Das  ist  heute  anders 
geworden,  schon  durch  den  Unterricht  in  der  Muttersprache.  Die  experimentelle 
Psychologie  hat  einerseits  die  großen  Gegensätze  in  den  Naturen  auf  ihre  Gründe 
hin  untersucht  und  dargelegt,  anderseits  aber  das  richtige  Verständnis  für  das  erste 
Kunstwerk  des  Menschen,  die  Sprache,  erschlossen.  Man  hat  erkannt,  daß  die 
Etymologie  keine  so  überflüssige  Sache  ist,  sondern  zum  Übersetzen  wie 
das  Brot  zum  täglichen  Leben  gehört.  Die  heutigen  Schulwörterbücher  haben 
bereits  diesen  Weg  betreten.  Denn  dadurch,  daß  wir  uns  die  griechische  oder 
lateinische  Form  sub  specie  der  Sprachen,  die  zum  indogermanischen  Sprachstamme 
gehören,  ansehen  und  streng  darauf  achten,  zunächst  in  der  eignen  Muttersprache 
dasjenige  Wort  zu  suchen,  das  dem  Fremdworte  ganz  entspricht,  indem  es  partiell 
übertragen  wurde,  z.  B.  abstrahere  =  ab  -  ziehen,  uTrep  -  ßoXV]  =  Über  -  schwang, 
und  dann  prüfen,  ob  der  fremde  Gedanke  sich  mit  dem  deutschen  in  diesem  Worte 
deckt,  lernt  man  seine  eigne  Sprache  mit  Bedacht  gebrauchen  und  verstehen, 
lernt  den  Gebrauch  all  der  Hilfsmittel,  welche  die  Sprache  zu  ihren  Bildungen 
verwendet,  und  bekommt  allmählich  einen  Einblick  in  die  ganz  einfache  Hantie- 
rung, die  in  der  deutschen  Sprachwerkstätte  besteht.  Das  gibt  aber  eine  ästhe- 
tische Arbeit;  der  Junge  muß  die  Wortbildung  auf  Klang  und  Begriff  prüfen.  Im 
Wortinhalte  offenbart  sich  ihm  die  Phantasie  und  der  Wille  der  Menschheit,  in 
der  Wortform  der  Verstand.  Hier  wird  ihm  die  Wahl  zur  Qual,  aus  des  Geistes 
Nöten  wird  das  Lebewesen  geboren.     Dieses  ästhetische  Arbeiten  aber  verhilft 


Die  klassische  Philologie  und  die  Naturwissenschaften.  651 

uns  zur  Glückseligkeit  und  zum  moralischen  Adel.  Wie  not  das  der  deutschen 
Sprache  tut,  hat  Herder  schon  richtig  erkannt,  wenn  er  sich  darüber  äußert: 
„Welche  Nation  in  Europa  hat  ihre  Sprache  wesentlich  so  verunstalten  lassen 
als  die  deutsche?"*) 

Das  führt  weiterhin  zum  Staunen:  dieses  hat  den  Ursprung  in  der  inneren 
Kraft  und  äußert  sich  in  der  Frage,  in  dem  Erstaunen  über  das  scheinbar  Selbst- 
verständlichste. Wie  in  den  realen  Disziplinen,  so  wird  auch  in  den  Geisteswissen- 
schaften der  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  in  den  allermeisten  Fällen  durch  die  Art 
der  Fragen  bewirkt,  die  man  an  seine  Erkenntnis  des  Lebens  in  und  um  sich  stellt. 
Ganz  richtig  sagt  Jakobs**):  ,,Eine  Erziehung,  bei  der  das  Verwundern  keine  Rolle 
spielt,  ist  eine  mangelhafte  Erziehung."  Das  hat  es  aber  ehedem  ebensowenig  in 
den  Naturwissenschaften  wie  in  den  Sprachen  gegeben:  beiderseits  nur  logischer 
Drill,  keine  Rechte  und  Pflichten  der  Persönlichkeit.  Nur  so  aber  lernt  man  das 
Denken  in  den  Dienst  der  Kulturarbeit  stellen.  Und  so  ist  die  Pädagogik  hier 
heutigentags  eine  geistige  Nationalökonomie  geworden.  Jeder  rechte  Lehrer  sagt 
mit  Goethe:  „Alles  ist  mir  verhaßt,  was  mich  bloß  belehrt,  ohne  mich  unmittelbar 
zu  beleben." 

Darauf  könnte  man  wieder  den  Einwand  zu  hören  bekommen:  Das  kann 
der  deutsche  Unterricht  auch!  Doch  dies  ist  eine  andre  psychische  Arbeit:  es 
wäre  dasselbe  wie  ein  Unterricht  in  der  Mathematik,  ohne  daß  man  Beispiele 
rechnet.  Nur  die  Betätigung,  d.  h.  die  Begriffsarbeit  des  Kopfes,  kann  dauernden 
Besitz  geben.  Tatsachen  müssen  erlebt,  aber  nicht  als  fertige  vorgeführt  werden ; 
denn  unser  ganzer  geistiger  Besitz  entsteht  so  aus  kleinenSelbstschöpfungsakten.***) 
Man  setzt  nur  das  Verfahren  der  Natur  in  die  Schule:  aus  sich  heraus  fortwährend 
Neues  schaffen;  wie  eine  Wiese:  ein  großes,  buntes  Allerlei  —  grün  die  reine  Wissen- 
schaft, blumig  die  Elite  am  Menschen  — :  bei  jedem  Anblick  aber  doch  ein  Ganzes  !f) 
Aus  diesem  Selbstfinden  entwickelt  sich  das  Selbstbeobachten:  in  sich  selbst  und 
von  selbst;  damit  arbeitet  aber  die  Schule  gerade  dem  Leben  vor,  wie  es  die  Gegen- 
wart verlangt.  Und  Selbstfinden  ist  mehr  als  Selbstdenken:  man  versetzt  sich  aus 
sich  heraus  in  die  Lage  andrer,  um  von  da  aus  die  Dinge  zu  sehen,  ff)  Wir  ver- 
langen von  den  Schülern  keine  geläufige  Übersetzung;  wenn  es  einmal  läuft, 
dann  ist  es  hier  schon  schlecht:  Maschinenbetrieb  ruiniert  den  Menschen!  Dem- 
nach bleibt  trotz  Ostwald  das  Wort  Goethes  doch  ewige  Wahrheit,  daß  wir  mit 
der  Muttersprache  erst  durch  das  Studium  fremder  Sprachen  vertraut  werden. 
Denn  in  dem  pedantischen  Ringen  um  die  Schwierigkeiten  der  Sprache  liegt  eben- 
soviel Gutes  als  in  dem  gleichen  Ringen  der  Menschheit  mit  der  Materie  und  ihren 
Kräften. 

Das  ist  nur  der  eine  Teil.    Bekanntlich  ist  die  deutsche  Sprache  in  der  Wort- 

*)  Adrastea  VI,  187. 
**)  Dr.  A.  Jakobs,  Was  leistet  der  Mathematikunterricht  für  die  Erziehung  zur  Wissen- 
schaft? (In  der  Zeitschrift  für  den  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Unterricht : 
39  Bd.,  S.  625  f.) 

•*•)  Siehe  R.  Hildebrand,  Vom  deutschen  Sprachunterricht,  11.  Aufl.,  S.  7. 

f)  Ebenda   S.  8. 
ff)  Hildebrand  S.  26. 


652  V.  Skupnik, 

Schöpfung  und  Wortbildung  ungemein  reich  und  poetischer  als  die  Fremdsprachen. 
Da  liegt  eine  neue  Quelle  der  Lust  und  des  Gewinnes,  Gleichzeitig  mit  der  Deckung 
der  fremden  Form  durch  die  deutsche  treten  vor  die  Seele  diejenigen  Wörter,  die 
wir  gleichbedeutend  zu  nennen  pflegen.  Jedes  hat  seine  besondere  Schönheit; 
nun  stellt  sich  das  Denken  ein:  Man  hat  beispielsweise  die  redende  Person  —  auch 
der  Historiker  spricht  in  seinen  Erzählungspartien  mit  und  zu  uns,  die  anderen 
(Redner  und  Philosoph)  schon  gar;  in  der  Poesie  offenbart  sich  mehr  ein  Egoismus: 
der  Dichter  gibt  von  seiner  Persönlichkeit  den  größten  Teil  und  vervollständigt 
ihn  durch  die  Tendenz,  zu  den  Menschen  zu  sprechen  —  im  Auge  zu  behalten  und 
nach  den  momentanen  Verhältnissen  die  richtige  Wahl  zu  treffen.  Am  deutlichsten 
zeigt  es  sich  bei  einer  direkten  Rede,  z.  B.  der  Hannos  in  Livius  XXI.  c.  10.  Da 
ist  die  Arbeit  für  den  Jungen  doppelt  schwer;  die  Sprache  geht  sozusagen  durch 
zwei  Personen  hindurch:  aus  der  Seele  des  Historikers  in  die  des  Redners  zum 
Leser.  Theodor  Heyse  gibt  für  diese  Geistesarbeit  am  lateinischen  und  griechischen 
Autor  eine  treffende  Darstellung  in  der  Vorrede  zur  Übersetzung  des  Katull,  indem 
er  sich  also  äußert:  Er  habe  in  doppelter  Richtung  seinen  Dichter  gelesen:  einmal 
an  sich  und  für  den  fremden  Schriftsteller  selbst.  Durch  das  Mittel  des  fremden 
Wortes  sei  er  lauschend  und  sinnend  mehr  und  mehr  in  das  Wesen  und  Wollen 
des  Schreibenden  hineingegangen,  habe  sich  gleichsam  in  ihn  verwandelt  und 
nunmehr  versucht,  von  dem  inneren  Quell-  und  Lebenspunkte  der  fremden,  geistigen 
Einheit  und  des  fremden  Sprachcharakters  sich  wieder  zurückwendend  und  bis  an 
die  einzelnen  äußerlichsten  Enden  seiner  Schrift,  wie  vom  Kern  zur  Schale  vor- 
dringend, alles  dasjenige,  was  dem  eignen  Bewußtsein  hier  als  fremdartig  und 
unecht  entgegentreten  mochte,  hinauszustoßen.  Das  andre  Mal  habe  er  ihn  für 
sich  gelesen,  zu  seiner  Lust  und  Erweckung,  als  ein  Deutscher  des  19.  Jahrhunderts. 
Er  habe  den  Lateiner  in  sich  selbst  verwandelt,  habe  ihn  in  sein  eignes  Emp- 
findungs-  und  Sprachvermögen  herübergezogen,  habe  von  jedem  Gedichte  sich 
den  schöpferischen  Grundgedanken  und  durchgehenden  Klang  anzueignen  gesucht 
und  sei  mit  aufmerksamem  Gefühl  den  Stimmungen  des  Dichters  von  Stufe  zu 
Stufe,  von  Schritt  zu  Schritt  gefolgt:  erst  analytisch,  das  andre  war  die  Synthese 
des  Lesens. 

Darauf  wird  man  einwenden,  das  mache  der  Berufsübersetzer:  der  träfe  die 
Sache  schon  gut,  aber  die  Schule!  Nun,  man  möge  sich  trösten;  durch  die  ge- 
diegene philologische  Arbeit  geschieht  das  heute  in  kleinen  Grenzen  geradeso  wie 
dort  im  großen.  Wie  oft  hat  man  schon  den  philologischen  Lehrern  zugerufen: 
Non  multa,  sed  multuml  Das  haben  sie  sich  auch  gesagt  sein  lassen,  ohne  des- 
halb mit  der  Lektüre  auf  ein  Minimum  herabzusinken.  Früher  freilich  las  man 
multa,  nicht  multum.  Dabei  muß  man  aber  die  persönliche  Sprache,  nicht  die 
Schriftsprache  gebrauchen;  dann  wird  es  etwas  Rechtes.  Treffliche  Worte  Hofers 
sollen  hier  ihren  Platz  finden:  „Gerade  das,  was  aus  den  Mundarten  in  die  Schrift- 
sprache vordringt,  ist  das  Beste  an  der  Schriftsprache;  denn  es  ist  cjas,  was  die 
Frische,  das  Leben,  die  Eigenart  der  Schriftsprache  eines  Stammes  oder  einer 
Persönlichkeit  ausmacht."*)    Es  ist  ganz  etwas  andres  als  die  „destillierte"  Schrift- 

*)  Dr.  A.  Hofer,  Die  Mittelschule  und  die  neue  Zelt.  (Programm  des  k.  k.  Staats- 
gymnasiums in  Triest  1903/4.)    S.  24. 


Die  klassische  Philologie  und  die  Naturwissenschaften.  653 

spräche.  Wer  ein  nach  den  neuen  Lehrplänen  gearbeitetes  deutsches  Lesebuch 
aufschlägt,  findet  in  der  Auswahl  der  Stücke  die  Bestätigung  für  das  oben  Ge- 
sagte; sogar  der  Dialekt  findet  Eingang  in  die  Räume,  aus  denen  er  gesetzlich 
ausgewiesen  war. 

Dieses  geistige  Exerzitium,  mit  Bedacht,  gutem  Willen  und  ganzer  Hingabe 
geleitet,  ist  wohl  für  die  jungen  Seelen  die  höchste  Leistung,  die  sie  erreichen  können. 
Jeder  wird  Hildebrand  recht  geben,  daß  der  Augenblick,  wo  Wort  und  Sache 
sich  im  Kopfe  vermählen,  ein  eigentümlich  wohltuender  ist.*)  Mit  psycholo- 
gischem Scharfblicke  hat  er  den  Vorgang  des  Übersetzens  in  die  Worte  gefaßt: 
,,Wer  in  ein  fremdes  Land  —  das  ist  in  unserem  Falle  der  Autor  —  kommt,  lernt 
die  Sprache  auf  diese  Weise:  er  hört  unter  dem  anfangs  inhaltslosen  Schwall  von 
Tönen,  der  sein  Ohr  umspült,  plötzlich  von  Dingen  reden,  die  er  kennt,  die  ihn 
näher  angehen  oder  anzugehen  anfangen,  und  mitten  aus  der  gestaltlosen  Reihe 
von  Klängen  heraus  faßt  er  plötzlich  einen,  ein  Stichwort,  von  dem  er  merkt,  daß 
es  dem  ihm  bekannten  Gegenstande  entspricht,  und  der  Wortklang  vermählt  sich 
in  dem  Augenblicke  in  ihm  mit  der  Vorstellung  des  Dinges:  Inhalt  und  Form, 
Kern  und  Schale  haben  sich  gefunden,  und  das  wird  zugleich  ein  Augenblick 
reinster,  geistiger  Freude,  geistigen  Genusses,  weil  es  zugleich  ein  eignes  Nach- 
schaffen des  schon  vorhandenen  ist,  ein  kleiner  Schöpfungsakt  in  uns."**) 

Wer  eine  brillante  Stunde  dieser  Arbeit  erlebt  hat,  wird  es  verstehen;  so  nährt 
das  Neue  nicht  allein  das  Wissen,  sondern  auch  das  freudige  Selbstgefühl  und 
Kraftbewußtsein!  Wie  die  Jungen  glühen,  wie  sich  die  Wonne  in  ihren  Augen 
widerspiegelt,  wenn  sie  zur  größten  Überraschung  das  treffende  Wort  gefunden 
haben,  wie  sich  da  der  Alp  von  der  Seele  löst,  wenn  die  Schwierigkeit  behoben 
ist,  wenn  man  es  leibhaftig  vor  ihre  Seele  treten  läßt!  Da  ist  die  Seele  gesammelt 
und  begehrt  sofort  weiter  tätig  zu  sein;  sie  fragt  gleichsam:  was  nun  weiter  damit? 
Was  die  Jungen  so  mit  der  Seele  erfassen,  sehen  sie  eigentümlich,  ergreifen  das 
wahrhaft  Menschliche  daran  kraft  eigner  Menschlichkeit  und  sehen  den  Himmel 
offen,  aus  dem  die  Seele  kam.  Es  war  ein  kleiner  Flug  in  die  Ewigkeit  und  sie 
freuen  sich  ihres  Menschentums.  Sie  lernen  die  Wahrheit  der  Worte  empfinden: 
Nil  humani  a  me  alienum  puto.  Sie  erleben  einen  Kunstgenuß,  der  nichts  anderes 
als  erlesener  und  verdichteter  Genuß  des  Lebensgefühles  ist;  sie  schaffen  sich  das 
Lebensglück,  das  erkämpfte  Harmonie  ist. 

Was  Hildebrand  vom  persönlichen  Stil  sagt,  gilt  ebenso  gut  vom  persönlichen 
Übersetzen:  es  erinnert  an  einen  Spaziergang  mit  einem  Menschen,  „der  beim 
Gehen  mit  uns  im  lebhaften  Sprechen,  das  ihn  auch  innerlich  in  verschiedene 
Bewegung  versetzt,  manchmal  stehen  bleibt,  wohl  gar  einen  Schritt  zurück  oder 
quer  neben  uns  hintritt  mit  lebhaften  Mienen  und  Handbewegungen  und  wech- 
selndem Stimmton".***)  Das  Übersetzen  ist  heute  keine  „Gedächtnisprobe"  mehr, 
der  Schüler  hat  Dinge  hinzustellen,  die  schon  in  seinem  Ich  Wurzeln  gefaßt  haben. 
In  der  Aus))ildung  des  Ich  liegt  aber  die  Zukunft  des  Schülers.  So  gebraucht  der 
Lehrer  das  wahrhaft  Menschliche,  die  höhere  Persönlichkeit  in  seinem  Schüler 


•)  Hildebrand  I.  c,  S.  8. 
♦•)  Ebenda,  S.  7. 
►**)  Hildebrand  1.  c,  S.  50. 


654  V.  Skupnik, 

auf  Schritt  und  Tritt  zur  Inspiration  aller  Leistungen,  auf  welchem  Gebiet 
sie  immer  liegen.  Schulen  die  Naturwissenschaften  vor  allem  den  Verstand,  so 
ist  die  Aufgabe  der  Philologie  die  Seelsorge.  Das  ist  ein  belebtes  Denken,  während 
es  in  den  Naturwissenschaften  ein  abstraktes  ist;  beide  aber  führen  zum  bedachten 
Leben.  So  erziehen  wir,  d.  h.  wir  ziehen  heraus  bis  zur  Vollendung.  Allerdings 
macht  da  die  Person  des  Lehrers  alles  aus;  aber  wo  nicht? 

Unsre  Arbeit  soll  nicht  ebenso  wertvoll  sein,  als  wenn  ein  Schüler  einen  Apparat 
für  den  Physikunterricht  in  der  Schulwerkstätte  baut  und  unablässig  probiert, 
bis  alles  leidlich  zusammenpaßt?  Denn  es  bleibt  immerhin  nur  eine  leidliche  Arbeit, 
die  am  Ziele  keine  höhere  Vollendung  aufweist  als  die  in  den  sprachlichen  Fächern. 
Und  wie  niemand  mit  den  Naturwissenschaften  allein  eine  Weltanschauung  be- 
kommen kann  —  das  will  man  heute  in  der  Mittelschule  anbahnen  und  möglichst 
weit  fortführen  —  so  wird  es  auch  keinem  Philologen  einfallen  zu  behaupten, 
der  lateinische  und  griechische  Unterricht  allein  sei  für  diesen  Zweck  ausreichend. 
„Der  Lehrer  dieser  Sprachen  erfüllt  den  Lernenden  mit  der  Einsicht,"  sagt  einmal 
P.  Cauer,  „die  stolz  klingt,  doch  bescheiden  machen  kann,  daß  sie  (die  Schüler) 
nicht  zu  einer  Technik  angeleitet  werden,  die  zu  beherrschen  sie  hoffen  könnten, 
sondern  zu  einer  Kunst,  in  der  es  kein  Ende  gibt  und  in  der  nur  dem  reifsten  Können 
und  Verstehen  eine  Vollendung  beschieden  ist."  Ist  es  in  den  Naturwissenschaften 
anders?  Nur  eine  wohlwollende  Zusammenarbeit  in  der  Geisteswerkstatt  und 
der  für  manuelle  Betätigung  kann  den  vollendeten  Menschen  geben. 

Man  prüfe  nur  einmal  die  Arbeit  des  philologischen  Unterrichtes  an  den  For- 
derungen, die  Jakobs  an  die  Erziehung  zur  Wissenschaft  stellt,  die  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  das  Leben  der  Gebildeten  beherrschen  muß,  weil  man  durch  ihre 
Popularisierung  heute  sogar  die  niederste  Bevölkerungsschicht,  den  manuellen 
Arbeiter,  dauernd  auf  einem  festeren  Lebensfundament  postieren  will.  Ihm  ist  die 
Erziehung  zur  Wissenschaft  die  Erziehung  zur  Fähigkeit,  wissenschaftlich  zu  denken 
und  zu  arbeiten.     Diese  Fähigkeit  setzt  ein  Vierfaches  voraus: 

1.  Die  Möglichkeit,  eine  Materie  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  zu 
übersehen:  die  Erziehung  zur  Gedankenzucht,  zu  logischer  Schärfe; 

2.  Die  Erweckung  schöpferischer  Kräfte  im  Menschen:  die  Erziehung  zur 
Selbstarbeit,  zum  Selbstfinden; 

3.  Die  Kraft,  auch  in  selbstverständlichen  Fragen  Probleme  zu  sehen:  die 
Erziehung  zur  Verwunderung,  zum  Staunen; 

4.  Die  Fähigkeit,  die  Beziehungen  eines  Gegenstandes  zu  verschieden- 
artigen Kulturmomenten  zu  erforschen:  die  Erziehung  zur  Einheit  des 
Kulturbewußtseins.*) 

Sobald  ein  Stück  so  erarbeitet  worden  ist,  hat  man  Menschen  kennen  gelernt, 
die  dadurch,  daß  sie  Hannibal,  Scipio  oder  sonstwie  heißen,  uns  nicht  fremd  bleiben, 
weil  man  sich  in  sie  hineingelebt  hat.  Die  Vergangenheit  wird  zur  Gegenwart 
durch  die  neue  Idee,  die  dem  Jungen  da  entgegentritt.  Es  wird  doch  niemand 
behaupten,  daß  ein  Schüler  bei  solchem  Übersetzen  je  schon  die  Vergangenheit 
empfunden  hat.    Es  ist  die  gleiche  Gegenwart  wie  bei  einem  physikalischen  oder 


*)  Siehe  Anmerkung  **  S.  65L 


Die  klassische  Pliilologie  und  die  Naturwissenschaften.  655 

chemischen  Versuch,  nur  daß  dieser  ihm  eigentlich  nie  Gelegenheit  gibt,  mit  seiner 
ganzen  geistigen  Person  in  ein  solches  Verhältnis  zur  Funktion  der  Materie  zu 
treten  wie  in  der  fremdsprachlichen  Stunde.  Hier  sammelt  er  alle  Kräfte:  Er- 
innerung in  ihrer  ganzen  Fülle,  Phantasie  im  Bunde  mit  einem  rudimentären  Denken 
geben  oft  Schlag  auf  Schlag  einen  Erfolg:  das  macht  allein  die  Arbeit  interessant, 
daß  aus  kleinen  Erfolgen  ein  größerer  und  zuletzt  ein  ganz  großer  wird. 

Das  fertige  Ganze  bietet  aber  erst  oft  noch  einen  hohen  Genuß:  der  intellek- 
tuelle Bestandteil,  der  die  stärkste  Betonung  durch  das  Gefühl  aufweist;  die  großen, 
Gedanken,  die  Gemeingut  der  Welt  sind  und  überall,  wo  Menschen  leben,  an- 
getroffen werden  müssen:  wohlbegründeter  Patriotismus,  Ehre,  Freiheit,  Tugend, 
Wohltat,  Edelsinn  usw.,  wie  die  Namen  alle  für  die  höhere  soziale  Funktion  des 
Menschen  lauten,  treten  ihm  nicht  bloß  als  Postulate  hier  entgegen,  sondern  ihnen 
schließen  sich  gleich  die  Folgen  an,  je  nachdem  sich  die  Menschen  von  ihnen  leiten 
ließen  oder  nicht.  Was  beispielsweise  die  Griechen  bedeuten,  vernehme  man 
von  einem  Vertreter  der  realistischen  Disziplinen,  Dr.  A.  Jakobs:  „Die  Griechen 
sind  deshalb  so  bewundernswert,  weil  sie  ihrer  eigenen  Natur  gemäß  und  nicht 
nach  überkommenen  Regeln  schufen,  weil  ihre  Kunst  der  getreueste  Ausdruck 
ihres  Wesens  und  nur  deshalb  notwendig  und  daher  groß  und  original  ist,"*)  ein 
Urteil,  das  sich  mit  einem  anderen  ganz  deckt:  „Das  glänzendste  Beispiel  der  Ent- 
wicklung eines  Volkes  aus  barbarischen  Anfängen  zu  einer  bis  ins  kleinste  und 
unbedeutendste  geschmackvollen  und  dabei  völlig  ungezwungenen,  natürlichen 
Kultur  bietet  die  Geschichte  Alt-Griechenlands.  Auf  allen  Gebieten  der  grie- 
chischen Kunst  können  wir  diese  Entwicklung  aus  orientalischem  Gebundensein 
und  kindlicher  Unbeholfenheit  zu  immer  freierer,  tieferer  und  dabei  immer  ge- 
drängter und  knapper  werdender  Ausdrucksweise  Schritt  für  Schritt  verfolgen: 
bis  endlich  in  den  Giebelfiguren  und  in  dem  Cellafriese  des  Parthenon  die  Höhe 
erreicht  ist,  auf  der  der  Mensch  sich  selbst  in  ungezwungener  Würde  und  einer 
durch  Harmonie  und  Rhythmus  gehaltenen  Freiheit  plastisch  verkörpert  der 
Gottheit  darbringt." 

Da  hören  wir  aber  schon  den  Ruf:  Los  vom  Vorbild,  damit  wir  uns  auch  unsre 
Originalität  wahren!  In  der  Nationalgeschichte  und  -literatur  gebe  es  genug  Bei- 
spiele für  diese  oben  genannten  Triebfedern  des  gesellschaftlichen  Lebens,  das  der 
Mensch  als  Qt^ov  iroXixixöv  zu  führen  hat;  wozu  brauche  man  sich  diese  elemen- 
taren Impulse  des  Lebens  erst  aus  einer  fremden  Sprache  mühevoll  in  die  eigne 
Gedankensprache  überführen?  Wer  so  spricht,  bedenkt  mehrfaches  nicht.  Das 
gewaltsame  Losreißen  geht  bei  uns  nicht  mehr  oder  noch  nicht,  weil  wir  uns  mit 
unsrer  Kultur  schon  im  allerfrühesten  Stadium  an  die  Vorbilder  klammerten. 
Das  Werk  von  mehr  als  zwei  Jahrtausenden  kann  keine  Macht  aus  der  Welt  schaffen. 
Dort  sind  ebenso  die  Wurzeln  unsrer  Kraft  wie  im  angestammten  Boden.  Ein 
technischer  Aufschwung  kann  uns  nicht  mehr  trennen,  weil  er  unsre  Lebenskraft 
unterbinden  würde.  Man  will  uns  künstlich  ausbrüten  und  reißt  uns  dabei  zu 
früh  von  der  Quelle  unsres  Lebens,  gleichsam  von  dem  Mutterleibe  los.  Nein, 
wir  tragen  das  reine,  ewige  Feuer  Europas,  das  dort  lodert,  leuchtet  und  wärmt, 


*)  Siehe  Anmerkung  **  S.  651. 


656  V.  Skupnik,  Die  klassische  Philologie  und  die  Naturwissenschaften. 

fleißig  auf  den  eignen  Herd!  Ferner  aber  vergißt  man,  daß  die  Dramatik,  die  in 
der  Gescliichte  der  Griechen  und  Römer  liegt,  insofern  als  wir  ihren  Werdegang 
von  der  mythischen  Zeit  bis  zu  ihrem  Untergange  vor  uns  als  eine  fertige  Tat- 
sache liegen  haben,  die  profunde  Kraft  ist,  die  ihr  dauerndes  Leben  gibt.  Die 
Abgeschlossenheit  dieser  zwei  Schicksale  ist  das  einzig  richtige  Fundament  für 
eine  sichere  Bewertung.  Man  denke  nur  daran,  ob  wir  ein  Interesse  an  einem  Stoffe 
haben,  der  in  sich  nicht  eine  Geschlossenheit  darstellt,  d.  h.  nicht  bloß  die  ersten 
Folgen,  sondern  die  Kette  von  Folgen  darstellt.  Drama  und  Geschichte  sind  hier 
eins.  Alle  andren  Völker  Europas  sijid  in  ihrer  Entwicklung  durch  diese  zwei 
Völker  der  Vergangenheit  gegenwärtig  noch  beeinflußt,  während  bei  jenen  die 
Wirkung  ihrer  Umgebung  auf  sie  und  das  Verhalten  ihrer  eignen  Energie  dagegen 
vollendet  dastehen. 

Das  ist  aber  nicht  das  Letzte.  Mit  dem  alten  Materiale  baut  unser  Geist 
immer  wieder  Neues.  Das  einfachere  Vorbild  ist  für  den  jungen  Menschen  gleich- 
sam die  erste  Rechnung,  die  ihn  eine  kompliziertere  verstehen  lehrt.  Er  steigt 
nicht  vom  Einfachen  zum  Komplizierten  auf,  sondern  geht  durch  das  Tor  in  den 
Park  hinein,  weil  er  über  die  zu  hohe  Mauer  nicht  springen  kann.  Jeder  Augen- 
blick im  philologischen  Unterrichte  aber,  wo  ein  neuer  Gedanke  geboren  wird 
—  was  für  uns  Männer  schon  alt  ist,  ist  für  die  Jugend  ewig  neu;  indem  wir  das 
immer  wieder  miterleben,  wie  diese  fundamentale  Weisheit  in  den  jungen  Herzen 
wie  ein  kleines  Flämmchen  aufflackert  und  sich  zu  einem  Lichte  ausbreitet,  das 
immer  mehr  an  Ausdehnung  und  Stärke  gewinnt,  bleibt  die  Jugend  des  Geistes 
auch  uns  dauernd  erhalten  —  und  wo  durch  die  Anpassung  der  lateinischen  und 
griechischen  Worte  an  das  Deutsche  in  die  Herzen  Befriedigung  einzieht,  ist  nicht 
bloß  groß,  weil  etwas  geleistet  wurde,  sondern  wird  noch  größer  als  Geburtsstunde 
des  wirklichen  Lebens! 

Mit  den  deutsch-lateinischen  und  deutsch-griechischen  Übungsbüchern  und 
den  Grammatiken  muß  es  noch  anders  werden;  die  neuesten  Arbeiten  auf  diesem 
Gebiete  zeigen  schon  ein  Verständnis  für  die  Bestrebungen  der  Gegenwart,  sie 
stehen  aber  mit  einem  Fuße  noch  tief  im  Alten. 

Als  die  reale  Ergänzung  tritt  eine  gelegentliche  oder  systematische  gemein- 
same Betrachtung  von  Kunstwerken  und  andern  Denkmälern  der  Antike  dazu. 
Auch  hier  erschließt  die  Induktion  das  Verständnis;  es  wird  auch  sozusagen  Bio- 
logie getrieben,  indem  nicht  die  Figur  an  sich  den  Gegenstand  der  Betrachtung 
bildet,  sondern  den  Gründen  nachgeforscht  wird,  die  den  Boden  darstellen,  aus 
dem  das  Werk  entsproß:  Lebensverhältnisse  und  Material  geben  den  Werken 
ihr  Gepräge. 

So  gibt  also  die  klassische  Philologie  Plastik  und  Melodie  des  Lebens.  Neben 
dem  größten  Komfort  und  der  behaglichsten  Bequemlichkeit  im  physischen  Leben 
brauchen  wir  diejenige  Bildung,  die  uns  in  dieser  Lage  Genuß  zu  bieten  vermag. 
Ärzte,  Advokaten,  Richter  und  alle  diese  Berufsarten  verlangen  viel  abstrakten 
Verstand,  aber  auch  Tiefe  des  Gemütes.  Diese  gibt  nicht  allein  die  Muttersprache, 
weil  es  da  zu  schnell  geht,  so  daß  zu  wenig  hängen  bleibt,  sondern  auch  die  Be- 
schäftigung mit  den  Griechen  und  Römern,  wo  man  in  bedächtiger  Arbeit  den 
Naturgesetzen  entsprechend  aufbaut  und  den  Menschen  humanistisch  wie  human 


W.  Mevs,  Die  ersten  griechischen  Stunden  in  der  Untertertia.  657 

bildet.  Man  schafft  keine  Lebensroutine,  sondern  wie  man  schön,  gut  und  wahr 
lebt;  dazu  braucht  man  ein  warmes  Herz  und  einen  vollen  Geist  nebst  einem  Willen 
wie  Stahl.  Die  Erbschaft  der  Griechen  und  Römer  ist  für  uns  keine  Last,  die 
niederdrückt  und  von  der  wir  zermalmt  zu  werden  fürchten,  sondern  ein  Gewicht, 
das  Schwungkraft  verleiht,  das  Pendel,  das  den  Zeiger  der  Nationalkultur  vor- 
wärtsbringt. Wir  schaffen,  wie  der  Künstler  schafft:  Maler,  Bildhauer,  Gold- 
arbeiter. Wie  wir  es  aber  in  einer  Wohnung  mit  allen  technischen  Errungen- 
schaften ohne  Bilder  und  sonstigen  Kunstschmuck  unmöglich  aushielten,  ebenso- 
wenig ist  es  im  Geisteshaushalte  denkbar,  daß  uns  die  technische  Bildung  und 
der  Unterricht  in  der  Muttersprache  genügen  sollen.  Zu  dem  Naturalismus,  der 
in  der  Übermacht  der  Außenwelt  und  ihrer  Gesetzlichkeit  wurzelt,  tritt  als  Ergän- 
zung der  objektive  Idealismus,  der  von  der  Einheit  von  Körper  und  Geist  ausgeht 
und  der  Welt  einen  seelischen  Zusammenhang  gibt,  und  der  subjektive  Idealismus 
der  Freiheit,  der  die  Unabhängigkeit  des  Geistes  von  der  Natur  behauptet  und 
die  Welt  von  der  sittlichen  Persönlichkeit  aus  verstehen  lernt  und  lehrt.  Hergel 
sagt  einmal:  „Wer  mit  der  Vergangenheit  in  der  Gegenwart  für  die  Zukunft  lebt, 
der  lebt!"*)  „Drum  schaffe  rechtzeitig  für  deinen  Sonntag;  wie  du  deinen  Alltag 
gestalten  lernst,  so  wird  dein  Feiertag  sein!" 

Krumau  in  Böhmen.  V.  S  k  u  p  n  i  k. 


Die  ersten  griechischen  Stunden  in  der  Untertertia. 

Im  Augustheft  dieser  Monatschrift  schlägt  Herold  (Halle)  vor,  mit  dem  Ein- 
üben der  griechischen  Schrift  im  zweiten  Halbjahr  der  Quinta  zu  beginnen  und 
diese  Aufgabe  dem  Schreiblehrer  zu  überlassen.  Gegen  diese  Vorschläge  spricht 
meines  Erachtens  allzu  viel,  als  daß  sie  ohne  weiteres  gutgeheißen  werden  könnten. 

Wer  auf  die  Handschriften  unsrer  Schüler  auch  nur  ein  wenig  achtet,  wird 
sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren  können,  daß  hier  noch  manches  recht  unvoll- 
kommen ist  und  wir  unserm  Kultusministerium  zu  großem  Danke  verpflichtet 
sind,  das  uns  immer  wieder  auf  die  Notwendigkeit  hinweist,  von  unsern  Schülern 
mindestens  eine  leserliche  Handschrift  zu  verlangen  und  uns  u.  a.  ermächtigt, 
für  Schüler  der  IV.  und  III.  mit  schlechter  Handschrift  besondern  Schreibunter- 
richt einzurichten.  Die  Vorbildung  unsrer  Gymnasiasten  ist  eine  zu  mannig- 
faltige, als  daß  man  bei  allen  dasselbe  voraussetzen  darf,  und  ich  glaube,  es  kommt 
auch  anderwärts  der  Fall  vor,  daß  ein  im  übrigen  genügend  vorgebildeter  Junge 
in  die  Sexta  eintritt,  ohne  einen  lateinischen  Buchstaben  schreiben  zu  können. 
Die  beiden  Schreibstunden  der  Sexta  und  der  Quinta  tun  uns  bitter  not  zur  Ein- 
übung der  deutschen  und  lateinischen  Buchstaben;  für  die  griechischen  Buch- 
staben bleibt  da  keine  Zeit  übrig.  Es  kommt  noch  ein  Umstand  hinzu,  der  das 
Einüben  der  griechischen  Buchstaben  auf  dieser  Stufe  verbietet:  wie  soll  die  Kennt- 
nis der  griechischen  Buchstaben  wach  bleiben,  wenn  sie  in  Quinta  erworben  wird, 
der  griechische  Unterricht  aber  erst  in  Untertertia  beginnt?    Denn  die  Mathematik- 


*)  Dr.  G.  Hergel,  Willensstärke  und  Urteilskraft,   S.  53. 
Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VlII.  Jhrg.  42 


658  W.  Mevs,  Die  ersten  griechischen  Stunden  in  der  Untertertia. 

stunden  der  Quarta  sind  doch  sicher  nicht  dazu  bestimmt,  das  Feld  für  das  Grie- 
chische der  Untertertia  vorzubereiten.  Zwar  kann  der  Mathematiklehrer  auch 
in  Quarta  der  kleinen  griechischen  Buchstaben  bis  C  nicht  gut  entraten  (ich  gebe 
das  ohne  weiteres  zu) ;  aber  von  da  bis  to  ist  doch  noch  ein  weiter  Weg.  Auch  der 
Realschüler  verwendet  jene  Buchstaben,  sei  es  in  der  Mathematik,  sei  es  in  den 
Dispositionen  der  deutschen  Aufsätze;  sie  sind  für  ihn  eben  nichts  mehr  und  nichts 
weniger  als  notwendige  Zeichen,  genau  wie  die  Zeichen  für  Gleichheit,  Kongruenz 
usw.  Eine  besondre  Schreibstunde  wollen  wir  dem  Quartaner,  der  eine  leserliche 
Handschrift  sein  eigen  nennt,  auch  nicht  aufbürden;  es  bleibt  also  nichts  weiter 
übrig,  als  den  griechischen  Unterricht  in  der  Untertertia  mit  dem  Einüben  der 
griechischen  Schrift  beginnen  zu  lassen. 

Der  Lehrer  aber,  der  den  Schülern  die  Anfangsgründe  des  Griechischen  über- 
mitteln soll,  ist  auch  allein  dazu  berufen,  sie  mit  den  griechischen  Buchstaben 
bekannt  zu  machen,  während  ich  dem  Schreiblehrer  (von  Ausnahmen  natürlich 
abgesehen)  die  Fähigkeit  dazu  absprechen  muß.  Denn  er  kann  nicht  aus  dem 
Vollen  schöpfen,  sondern  nur  mechanisch  den  Jungen  Buchstaben  für  Buchstaben 
vorschreiben;  die  aber  wollen,  daß  das,  was  ihnen  tot  auf  der  Tafel  oder  auf  dem 
Papier  vor  Augen  tritt,  Leben  gewinne,  d.  h.  sich  zu  Wörtern  vereine,  mit  denen 
sich  bestimmte  Vorstellungen  verbinden  lassen.  Ich  glaube  nicht,  daß  auch  nur 
ein  Altphilologe  sich  findet,  dem  man  die  Fähigkeit  absprechen  müßte,  seinen 
Schülern  das  Schreiben  griechischer  Buchstaben  beizubringen.  Täglich  muß  der 
Lehrer  des  Griechischen  beim  Einüben  der  Deklination  oder  Konjugation  einzelne 
Formen  an  die  Wandtafel  schreiben;  unaufhörlich  sieht  der  Schüler  in  der  Gram- 
matik oder  im  Übungsbuch  die  Buchstaben  in  mustergültiger  Form  wiederkehren: 
wie  sollte  er  sie  sich  da  nicht  aneignen  können,  selbst  wenn  sein  Lehrer  kein  Schreib- 
künstler ist!  Ich  kenne  einen  alten  Herrn,  der  von  seinen  Schülern  im  Griechischen 
eine  tadellose  Schrift  verlangte  und  namentlich  auf  das  kleine  My  großen  Wert 
legte:  zuerst  mußten  sie  die  beiden  Grundstriche  schreiben  und  darauf  mit  einem 
kühnen  Schwünge  von  unten  rechts  nach  oben  links  ausholend  vorn  den  Haar- 
strich anfügen,  damit  das  geschriebene  fx  dem  gedruckten  völlig  gleich  sei.  Er 
hat  ob  dieses  „My-Schwanzes"  eine  örtliche  Berühmtheit  erlangt.  So  peinlich  braucht 
nicht  jeder  unter  uns  zu  sein;  aber  eine  leserliche  Schrift  können  wir  alle  sehr  leicht 
von  unsern  Jungen  auch  im  Griechischen  erzielen. 

Sollte  nun  der  Einwand  geltend  gemacht  werden,  daß  der  Lehrstoff  für  das 
Griechische  in  der  Untertertia  an  und  für  sich  sehr  umfangreich  ist  und  keine  Zeit 
für  Schreibübungen  übrig  läßt,  so  wird  dabei  etwas  Wesentliches  übersehen:  der 
freudige  Eifer  oder,  um  das  Kind  mit  richtigem  Namen  zu  nennen,  die  Begeisterung, 
mit  der  zwölfjährige  Jungen  in  der  Regel  an  alles  Neue  herangehen.  In  der  ersten 
Stunde  werden  die  ersten  8  Buchstaben  den  Schülern  vorgeschrieben  und  dann 
von  ihnen  an  der  Tafel  und  im  Übungshefte  nachgeschrieben;  daran  schließt  sich 
eine  entsprechende  Hausübung  für  den  nächsten  Tag.  An  diesem  erfolgt  die  Ein- 
übung der  nächsten  6  oder  8  Buchstaben,  und  so  kann  das  ganze  Alphabet  mit 
seinen  24  Buchstaben  bequem  in  drei  oder  vier  Tagen  erledigt  werden.  Zweck- 
mäßig werden  die  großen  und  kleinen  Buchstaben  zusammen  eingeprägt,  zumal 
da  jene  mit  wenigen  Ausnahmen  an  die  lateinische  Schrift  erinnern. 


A.  Tilmann,  Die  Reifezeugnisse  d.  Studierenden  d.  außerpreuß.  Universitäten.  659 

Hand  in  Hand  gehen  damit  die  Leseübungen,  mit  denen  schon  am  ersten 
Tage  begonnen  werden  muß.  Wir  sind  ja  beim  Griechischen  in  der  glücklichen 
Lage,  keinen  Unterschied  in  Druck  und  Schrift  zu  haben,  ein  Umstand,  der  unsre 
Aufgabe  wesentlich  erleichtert.  Es  ist  dabei  gleichgültig,  daß  in  den  ersten  Stunden 
bei  diesen  Leseübungen  den  Schülern  dieser  oder  jener  Buchstabe  entgegentritt, 
der  für  die  Schreibübungen  noch  der  Erledigung  harrt.  Ein  solcher  Fremdling 
wird  vom  Lehrer  vorgelesen,  und  die  Bekanntschaft  ist  vermittelt. 

Ferner  beginnen  wir  auch  in  einer  der  ersten  Stunden  mit  dem  Einprägen 
einzelner  Vokabeln  und  der  zweiten  Deklination,  die  ja  mit  der  im  Lateinischen 
so  manche  Berührungspunkte  hat.  Die  Doppellauter  hindern  daran  nicht,  da 
der  Quartaner  bereits  im  Französischen  Vokalverbindungen  kennen  gelernt  hat, 
die  der  deutschen  Sprache  fremd  sind.  Endlich  dürfen  die  schriftlichen  Klassen- 
arbeiten in  den  ersten  Wochen  nur  das  Ziel  verfolgen,  die  griechischen  Buchstaben 
einzuüben.  Ich  lasse  zuweilen  noch  die  Obertertianer  nach  Diktat  schreiben;  um 
wieviel  mehr  ist  dies  für  die  Untertertianer  erforderlich!  Spiritus,  Akzent  und 
iota  subscriptum  spielen  vorläufig  gar  keine  Rolle  dabei;  man  fügt  sie  entweder 
selbst  bei  der  Durchsicht  der  Hefte  hinzu  oder  gibt  sie  während  des  Diktats  den 
Schülern  an. 

Geht  man  von  den  gegebenen  Gesichtspunkten  aus,  so  wird  der  Untertertianer 
nach  meinen  Erfahrungen  bald  Herr  der  griechischen  Schrift.  Man  braucht  wahr- 
lich nicht  zu  fürchten,  ihm  zu  viel  zuzumuten;  denn  auch  hier  gilt  das  Sprichwort: 
Man  muß  das  Eisen  schmieden,  so  lange  es  heiß  ist. 

Königsberg  i.  d.  Neumark.  W  i  1  h.  M  e  v  s. 


Die   Reifezeugnisse   der   Studierenden   der  außerpreuBischen 

Universitäten. 

Erlangen,  Freiburg,  Gießen,  Heidelberg,  Jena,  Leipzig,  München,  Rostock,  Straß- 
burg, Tübingen  und  Würzburg  im  Sommer-Semester  1909. 

Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studierende,  die  nicht  auf 
Grund  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  immatrikuliert  waren,  unberücksichtigt. 
Von  den  nachstehenden  Zusammenstellungen  umfaßt  die  erste  alle  im  Sommer- 
Semester  1909  an  den  genannten  Universitäten  immatrikulierten  Studierenden, 
die  zweite  nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten  Semester  standen. 

I.    Im  Sommer-Semester  1909  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  1085  Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  1074 
„        „  „  „     Realgymnasiums   .   .        9 

„        „  „  einer  Oberrealschule  ...        2 

42* 


660 


A.  Tilmann, 


b)  in  der   Katholisch-Theologischen   Fakultät  815   Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     812 
„        „  „  „      Realgymnasiums   .   .        3 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...      — 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  5396  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  4769 
„        „  „  „     Realgymnasiums   .   .     467 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...     160 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  4963  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  4022 
„        „  „  „     Realgymnasiums   .   .     782 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...     159 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  8964  Studierende,  davon  immatri- 
kuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  5954 
„        „  „  „     Realgymnasiums   .   .  1882 

„        „  „  einer  Oberrealschule   .   .   .  1128 

Hiervon  studierten: 


1.  Philosophie  723  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 

„        „  „  „  Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  *)  2381  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .    . 

„        „  „  „  Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

3.  Neuere  Philologie  *)  1829  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 
„        „  „  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

4.  Geschichte  *)  567  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 
„        „  „  „      Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  2975  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 

„        „  „  „    Realgymnasiums 

einer  Oberrealschule   . 


536 

146 
41 

2239 
99 
43 

904 
639 
286 

438 
79 
50 

1527 
795 
653 


•)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg  bei 
der  Geschichte  nachgewiesen. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten.       661 

6.  Sonstige  Studienfächer  489  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  310 

„        „                 „                „      Realgymnasiums   .   .  124 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  55 

II.  Von  den  unter  I.  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  192  Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     191 
„        „  „  „      Realgymnasiums   .   .         1 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...      — 

b)  in   der   Katholisch-Theologischen    Fakultät   22    Studierende,   davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....      21 
„        „  „  „     Realgymnasiums   .   .        1 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...      — 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  1038  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     872 
„        „  „  „      Realgymnasiums   .    .     128 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...      38 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  601  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....    464 
„        „  „  „      Realgymnasiums   .   .     106 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...      31 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  1384  Studierende,  davon  immatri- 
kuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     818 
„        „  „  „     Realgymnasiums   .   .     367 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...     199 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  81  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....      56 

„  „  „     Realgymnasiums   . 

„        „  „  einer  Oberrealschule   .   . 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  *)  354  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   .  . 

„        „  „  „  Realgymnasiums  . 

„        „  „  einer  Oberrealschule   .  . 

3.  Neuere  Philologie*)  311  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   .   . 

„        „  „  „     Realgymnasiums   . 

einer  Oberrealschule   .   . 


2Ö 
5 

327 

24 

3 


132 
116 
63 


*)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg  bei 
der  Geschichte  nachgewiesen. 


662  P.  Niemann, 

4.  Geschichte*)  116  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  . 

„        „  „  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  471  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  . 

M        >»  M  „     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule 

6.  Sonstige  Studienfächer  51  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  . 

.    ,                    .,        »,  },  H     Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule 

Gr.-Lichterfelde.  A.  T  i  1  m  a  n  n 


81 
18 
17 

204 
166 
101 

18 
23 
10 


Der  zweite  preußische  Oberlehrer-Ruder-Kursus  in  Wannsee 
bei  Berlin  vom  12.  bis  27.  Mai  1909. 

Es  ist  nicht  der  kleinste  Ruhmestitel  der  preußischen  Unterrichtsverwaltung, 
daß  sie  neben  der  Bemühung  um  eine  immer  zweckentsprechendere  Ausgestaltung 
der  höheren  Schulen  in  ihrer  Eigenart  nach  immanenten  Prinzipien  und  neben 
der  Sorge  um  Verbesserung  und  Verfeinerung  der  jeweiligen  Lehrmethode  ein 
wachsames  Auge  auf  die  Entwicklung  und  Vervollkommnung  des  Turnwesens 
und  der  gymnastischen  Ausbildung  unsrer  Jugend  gerichtet  hält.  Beweis  dafür 
ist  die  ansehnliche  Zahl  preußischer  Turnlehrer,  die  in  den  Räumen  der  Turnlehrer- 
Bildungsanstalt  zu  Berlin  alljährlich  eine  gründliche  Ausbildung  erfährt;  nicht 
zu  gedenken  der  zahlreichen  sonstigen  Kurse  und  Veranstaltungen,  die  dem  Zwecke 
dienen,  auch  außerhalb  jener  Bildungsanstalt  brauchbare  Leiter  und  Lehrer  von 
Turnübungen  und  Turnspielen  allerorten  in  preußischen  Landen  zu  gewinnen. 
Zwar  legen  auch  die  andern  großen  Bundesstaaten  in  dieser  Hinsicht  einen  löb- 
lichen Wetteifer  an  den  Tag,  allein  auf  einem  Gebiete  gebürt  Preußen  abermals 
der  unbestrittene  Ruhm,  mit  bahnbrechendem  Beispiele  vorangegangen  zu  sein, 
d.  i.  mit  der  Einrichtung  der  sog.  R  u  d  e  r  k  u  r  s  e  für  die  akademisch  gebildeten 
Lehrer  der  höheren  Lehranstalten. 

Der  erste  dieser  Kurse  hat  im  vergangenen  Jahre  1908  stattgehabt;  es  hatte 
sich  gezeigt,  daß  trotz  der  sehr  knapp  bemessenen  Zeit  die  Ausbildung  der  Teil- 
nehmer einen  befriedigenden  Grad  technischer  Fertigkeit  erreicht  hatte. 

So  waren  denn  heuer  in  den  Frühlingstagen  vom  12.  bis  27.  Mai  zum  zweiten 
Male  18  Herren  aus  fast  allen  Provinzen  der  preußischen  Monarchie  nach  Wannsee 
bei  Berlin  einberufen,  mehrfach  nicht  ohne  namhafte  Unterstützung  von  selten 
des  Herrn  Kultusministers  zur  Deckung  der  immerhin  nicht  unerheblichen  Kosten, 


*)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg  bei 
der  Geschichte  nachgewiesen. 


Der  zweite  preußische  Oberlehrer-Ruder-Kursus  vom  12.  bis  27.  Mai  1909.      663 

Es  waren  durchweg  gesunde  und  kräftige  Gestalten,  die  von  vornherein  die  Gewähr 
dafür  boten,  daß  sie  den  an  sie  herantretenden  Anstrengungen  vollauf  gewachsen 
sein  würden.  Der  Namensaufruf  bei  der  ersten  Zusammenkunft  der  Teilnehmer 
im  Versammlungszimmer  des  Schüler- Bootshauses  Wannsee  ergab  die  Anwesen- 
heit von  14  Oberlehrern  —  auch  die  Königlichen  Seminare  waren  durch  einen 
Herrn  vertreten  —  3  Professoren  und  einem  Gymnasialdirektor. 

Nach  kurzen  Begrüßungsworten  von  selten  des  Vorsitzenden  des  Schüler- 
Rudervereins  „Wannsee",  des  nunmehrigen  Provinzial-Schulrates  Herrn  Direktor 
Dr.  Waßner  legte  Herr  Professor  Wickenhagen,  der  vom  Herrn  Kultusminister 
abermals  mit  der  Leitung  des  Kursus  betraut  worden  war,  sogleich  den  Arbeits- 
plan für  die  Kursisten  vor.  Danach  waren  die  Vormittage  von  9V4  bis  11 14  Uhr 
und  darüber  hinaus  wieder  für  Ruderübungen  teils  im  Kasten,  teils  auf  freier  Fahrt 
im  Boote  angesetzt  sowie  für  praktische  Unterweisungen  und  Besprechungen 
der  einschlägigen  Literatur  etc.,  soweit  man  dafür  bis  zur  Mittagsstunde  nach 
dem  Rudern  noch  Zeit  erübrigen  würde.  Am  Nachmittag  fand  von  4V4  bis  6  Uhr 
abermals  Rudern,  Skullen  und  Steuern  durchweg  in  freier  Fahrt  statt.  Daran 
schlössen  sich  Vorträge  zum  Zweck  theoretischer  Belehrung  über  die  wichtigsten  ein- 
schlägigen Fragen  des  Ruderbetriebes.  Das  von  Professor  Wickenhagen  im  vorigen 
Jahrgang  dieser  Monatschrift  beschriebene  Schüler-Bootshaus,  in  entzückender 
Lage  am  Kleinen  Wannsee  gelegen,  bot  mit  seiner  geradezu  vorbildlichen  Innen- 
einrichtung den  Kursisten  tagsüber  die  denkbar  angenehmste  Unterkunft,  insofern 
als  die  zu  benutzenden  Ruderboote  hier  sofort  zur  Hand  waren.  Zu  den  täglichen 
Vorträgen  diente  das  größere  Versammlungszimmer;  außerdem  waren  kleinere 
Nebenräume  zum  Umkleiden  und  zur  Aufbewahrung  der  Kleidungsstücke  zur 
Verfügung  gestellt.  Für  einfache  Erfrischung  nach  schwerer  Ruderarbeit  sorgte 
in  Gestalt  alkoholfreier  Getränke  und  belegter  Butterbrote  die  freundliche  Ehe- 
frau des  wortkargen  Bootswartes  im  Bootshause.  Die  Mittagsmahlzeit  wurde 
entweder  in  benachbarten  Restaurants  oder  auch  in  den  entfernteren  Vororten 
Berlins  selber  eingenommen. 

Die  Vormittagsarbeit  begann  zunächst  mit  schulmäßigen  Ruderübungen  im 
Kasten,  wobei  der  einmalige  Ruderdurchzug  durchs  Wasser  in  einzelne  Teile  zerlegt 
und  geübt  wurde.  Die  Unterweisung  in  diesen  Übungen  leitete  Professor  Wicken- 
hagen selber,  dem  Professor  Rumland  vom  Königl.  Wilhelms-Gymnasium  (Berlin) 
und  ein  Herr  Scheider  zur  Unterstützung  beigegeben  waren.  Sobald  die  Führung 
des  Ruders  genügende  Fertigkeit  zeigte,  wurde  an  Stelle  des  festen  Rudersitzes 
der  Rollsitz  eingefügt.  Als  auch  dessen  Gebrauch  im  verankerten  Kasten  keine 
Schwierigkeit  mehr  verursachte,  ging's  hinaus  im  schwankenden  Boot  auf  das 
offene  Wasser.  Gewiß  werden  den  diesjährigen  Kursusteilnehmern  die  Maitage 
von  1909  unvergeßlich  bleiben.  Denn  ein  stets  lachender  tiefblauer  Himmel  mitten 
in  der  Pracht  der  rings  blühenden  Natur  ließ  jede  Anstrengung,  mochte  sie  auch 
noch  so  groß  sein,  freudig  und  leicht  ertragen. 

Zu  den  praktischen  Ruderübungen  gesellten  sich  die  theoretischen  Unter- 
weisungen, von  denen  man  sagen  muß,  daß  in  ihnen  jede  wichtige  Ruderfrage 
eine  gründliche  Erörterung  und  erschöpfende  Beantwortung  erfuhr.  So  sprach 
Herr  Oberlehrer  Haagen  über  die  beiden  Themata:  1.  wie  gründe  und  leite  ich 


664  P.  Niemann, 

einen  Ruderverein?  2.  über  Haftpflicht  und  Versicherungswesen.  Herr  Regierungs- 
Baumeister  Stahn  über  das  Thema:  Das  Bootshaus  in  seiner  baulichen  Einrichtung. 
Herr  Oberbaurat  Rettig:  über  „Gutes  und  schlechtes  Bootsmaterial."  Herr  General- 
arzt Dr.  Meisner  über  den  Einfluß  der  Überanstregung  und  Ermüdung  auf  Körper 
und  Geist.  Herr  Sanitätsrat  Professor  Dr.  Schütz  zeigte  praktisch  die  Methode 
der  körperlichen  Untersuchung  an  Schülern,  die  dem  Ruderbetriebe  sich  widmen 
wollen.  Herr  Oberst  von  Diest  teilte  aus  reichster  eigner  Erfahrung  mit,  wie 
Wandertouren  und  Reisen  im  Boote  zweckmäßig  ins  Werk  gesetzt  und  erfolgreich 
durchzuführen  seien.  Endlich  bot  Herr  Professor  Dr.  Kuhse  in  seinem  von  zahl- 
reichen Lichtbildern  unterstützten  Vortrage  in  der  Aula  des  Hohenzollern- Gym- 
nasiums (Schöneberg)  eine  interessante  vergleichende  Darstellung  des  Ruder- 
betriebes in  England  und  Frankreich.  Auch  der  Besuch  der  Bootswerft  von  Deutsch 
in  Stralau  bleibt  unvergessen,  sahen  doch  die  Kursusteilnehmer  in  der  Werkstatt 
selber  sich  ein  Boot  kunstvoll  vor  ihren  Augen  zusammenfügen.  Eindrücke  fröh- 
licher Art,  die  darum  doch  reiche  Belehrung  enthielten,  waren  verknüpft  mit  dem 
Besuche  des  soeben  neu  erbauten  Bootshauses  des  „Berliner  Ruder-Klubs"  wie 
auch  des  Ruder-Klubs  „Hellas"  mit  seinen  mustergültigen  Einrichtungen,  waren 
ferner  verknüpft  mit  dem  Besuche  des  neuen  Gymnasiums  und  den  großen  Internats- 
anlagen in  Dahlem  im  Grunewald  unter  der  liebenswürdigen  Führung  des  Herrn 
Oberlehrers  Dr.  Götze  und  Professors  Dr.  Richter. 

So  kam  der  Tag  des  Abruderns  und  der  behördlichen  Besichtigung  für  jeden 
der  Kursusteilnehmer  leider  viel  zu  schnell  herbei.  Erschienen  waren  zu  dieser 
letzten  Übung  vom  Kultusministerium  die  beiden  Herren  Unterstaatssekretär 
Exzellenz  Dr.  Wever  und  Geheimer  Oberregierungsrat  Tilmann,  außerdem  Ver- 
treter der  höheren  Schulen  und  Seminare.  Das  Wetter  war  umgeschlagen.  Ein 
anfangs  noch  schwacher  Regen,  der  das  Einsetzen  der  Boote  und  das  Schulrudern 
nur  wenig  beeinträchtigte,  artete  zuletzt  in  wahren  Platzregen  aus  bei  gleich- 
zeitig starker  Abkühlung  der  Luft.  Unter  diesen  Umständen  wurde  die  ursprüng- 
lich beabsichtigte  ganze  Umfahrt  durch  den  Großen  Wannsee  an  Potsdam  vor- 
über durch  den  Griebnitzsee  wieder  zurück  zum  Kleinen  Wannsee  aufgegeben 
und  nur  bis  nach  Moorlake  und  wieder  zurück  gerudert.  Die  Herren  der  Besichti- 
gung begleiteten  im  Motorboot  die  Ruderer  und  hatten  von  da  aus  Gelegenheit, 
die  Leistungen  vergleichend  zu  prüfen.  Das  Urteil  Sr.  Exzellenz  des  Herrn  Unter- 
staatssekretärs fiel  anerkennend  aus,  etwas,  was  nicht  wenig  dazu  beitrug,  die 
Unbilden  des  Wetters  leicht  zu  vergessen.  Zum  Abschied  versammelten  sich 
die  Kursusteilnehmer  mit  ihren  Lehrern,  auch  solchen  in  weiterem  Sinne,  zum 
einfachen  Abschiedsmahl  in  den  behaglichen  Gesellschaftsräumen  des  Ruderklubs 
„Wannsee",  in  denen  die  Herren  vom  Vorstand  in  gütiger  Weise  selber  die  Honneurs 
machten. 

Soll  ich  zusammenfassen,  was  an  praktischem  und  theoretischem  Gewinn 
der  Kursus  jedem  Teilnehmer  erbracht  hat,  so  ist  es  neben  der  technischen  Fertig- 
keit des  Ruderns  selber  eine  vielseitige  und  gründliche  Belehrung  über  die  ein- 
schlägigen Fragen  des  Ruderbetriebes  und  endlich  auch  in  der  unmittelbaren  Be- 
rührung mit  der  rudernden  Schuljugend  Berlins  manche  aus  eigner  Beobachtung 
gewonnene,  wichtige  pädagogische  Erkenntnis  und  Erfahrung.     Dem  verdienst- 


Der  zweite  preußische  Oberlehrer-Ruder- Kursus  vom  12.  bis  27.  Mai  1909.      665 

vollen  Leiter  des  Kursus  Herrn  Professor  Wickenhagen  gebührt  für  die  glänzende 
Durchführung  des  so  reichhaltigen  Programms  der  rückhaltlose  und  freudige 
Dank  aller  Kursusteilnehmer! 

Um  so  mehr  mag  es  in  einem  Schlußwort  zu  diesem  Bericht  erlaubt  sein,  noch 
einige  bescheidene  Wünsche  für  die  Zukunft  zu  äußern: 

1.  Vielleicht  gelingt  es  der  Leitung,  die  Kursusteilnehmer  an  Ort  und  Stelle 
in  Wannsee  in  den  um  diese  Jahreszeit  noch  leer  stehenden  Bootshäusern  der  ver- 
schiedenen Ruderklubs  durch  besondre  Abmachungen  mit  den  einzelnen  Vorständen 
unterzubringen,  was  für  die  Kursisten  zugleich  mit  großer  Zeit-  und  Geldersparnis 
verbunden  sein  würde. 

2.  In  diesem  Falle  nämlich  könnten  die  Ruderübungen  schon  viel  früher,  morgens 
etwa  um  7  oder  8V2  Uhr  beginnen.  Dann  könnten  die  Vorträge  noch  mit  in  die 
Vormittagsstunden  verlegt  werden,  so  daß  mit  dem  Nachmittagsrudern  bis  6  Uhr 
abends  die  gesamte  Tagesarbeit  der  Kursisten  ihren  Abschluß  fände.  In  diesem 
Falle  würde  ihnen  der  Besuch  der  großen  Theater  und  Konzerte  in  Berlin  ermöglicht, 
woran  in  diesem  Jahre  so  gut  wie  gar  nicht  zu  denken  war. 

3.  Es  würde  erwünscht  sein,  daß  zu  den  Unterweisungen  im  Rudern  und  Skullen 
auch  Übungen  im  Segeln  hinzukämen.  Da  aber  hierfür  innerhalb  der  kurz  be- 
messenen 14tägigen  Kursusdauer  auf  keine  Weise  Raum  geschafft  werden  kann, 
so  würde  dadurch  zugleich  der  letzte  Wunsch  seine  tiefere  Begründung  erhalten. 

4.  Es  müßte  der  Herr  Minister  um  seine  Zustimmung  gebeten  werden,  daß 
die  Kursusdauer  in  Zukunft  mindestens  auf  3  volle  Wochen  ausgedehnt  würde.  — 

Aus  den  vorstehenden  Mitteilungen  geht  dies  eine,  wie  jeder  Einsichtige  un- 
bedingt zugeben  wird,  klar  und  deutlich  hervor,  daß  die  Sache  des  Ruderns  an 
unsern  höhern  Lehranstalten  mit  der  Einrichtung  der  alljährlich  wiederkehrenden 
Ruderkurse  in  Wannsee  auf  eine  gesicherte  und  kernige  Grundlage  gestellt  ist. 
Der  preußischen  Unterrichtsverwaltung  gebührt  für  diese  weitsichtige  und  ent- 
schlossene Tat  der  wärmste  Dank  aller  derer,  denen  neben  einer  gründlichen  wissen- 
schaftlichen Ausbildung  die  leibliche  und  geistige  Gesundheit  unsrer  Schuljugend 
und  die  Erhaltung  eines  kraftvollen  und  mutigen  Männergeschlechts  in  Deutsch- 
land als  eine  der  ernstesten  Fragen  der  Gegenwart  erscheint.  So  soll  denn  das 
Wort  unsers  Kaisers  und  Königs,  das  er  einst  in  einer  großen  Stunde  unter  dem 
Eindruck  einer  für  uns  Deutsche  bedrohlichen  Gestaltung  der  Weltpolitik  und  des 
Welthandels  zwecks  Schaffung  und  Ausbau  einer  mächtigen  deutschen  Kriegs- 
flotte gesprochen  hat,  in  bescheidenem  Rahmen  auch  für  den  opferwilligen  Ausbau 
und  die  tatkräftige  Weiterentwicklung  des  Ruderwesens  und  Wassersports  an  allen 
dafür  in  Betracht  kommenden  höheren  Schulen  Preußens  Mahnung  und  Richt- 
schnur bleiben:  navigare  necesse  est! 

Celle.  Paul  Niemann. 


IL  Programmabhandlungen  1908. 


Geschichtliches. 

Trendelenburgy  Adolf,  DieAnfangsstreckederHeiligenStraße 
in  Delphi.     Berlin,  Friedrichs-Gymnasium.    Progr.-No.  65. 

Ausgehend  von  dem  Berichte  des  Pausanias,  den  er  in  Urtext  und  Übersetzung 
bringt,  behandelt  Trendelenburg  die  Verteilung  der  Denkmäler  an  beiden  Seiten 
der  Anfangsstrecke  der  Heiligen  Straße  in  Delphi,  wo  viele  historisch  hochbedeut- 
same Weihegeschenke  auf  engem  Räume  beisammen  standen;  eine  ganze  Anzahl 
von  Statuenbasen  und  Inschriften  hat  sich  bekanntlich  bei  den  französischen 
Ausgrabungen  dort  wiedergefunden.  Trendelenburg  sucht  nun  nachzuweisen, 
daß  sich  alle  Angaben  des  Periegeten  über  die  Lage  der  Denkmäler  ungezwungen 
mit  den  erhaltenen  Resten  vereinigen  lassen. 

Buslepp,  Karl,  De  Tanagraeorum  sacris.  Weimar,  Gymnasium. 
Progr.-No.  886. 

Der  Verfasser  setzt  hier  seine  früheren  Studien  über  das  gleiche  Gebiet  (Jena 
1901)  fort;  in  alphabetischer  Reihenfolge  führt  er  die  in  Tanagra  nachweisbaren 
Kulte  auf  und  gibt  ein  Bild  der  lokalen  Götterverehrung,  das  bei  dem  hohen  Alter 
des  Städtchens  von  besondrer  Bedeutung  ist. 

Kieser,  Friedrich,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Klosters 
Lorsch.    Bensheim,  Gymnasium.     Progr.-No.  825. 

Die  Abhandlung  gibt  einen  Beitrag  zu  einer  Heimatskunde,  welche  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  des  deutschen  Volkes  auf  die  engere  Heimat  projiziert. 

Füßlein,  Wilhelm,  Die  Anfänge  des  Herrenmeistertums  in 
der  Bailei  Brandenburg.  Hamburg,  Realschule  in  St.  Georg.  Progr.- 
No.  964. 

Über  die  Entstehung  des  Herrenmeistertums  in  der  Bailei  Brandenburg  haben 
bisher  verschiedene  Ansichten  einander  gegenüber  gestanden,  ohne  daß  sich  eine 
derselben  quellenmäßig  begründen  ließ.  Die  Auffindung  einiger  für  dieses  Problem 
noch  nicht  ausgebeuteten  Urkunden  hat  es  dem  Verfasser  nun  ermöglicht,  die 
Frage  auf  eine  neue  Grundlage  zu  stellen.  Danach  hängt  die  Entstehung  des 
Herrenmeistertums  in  der  Bailei  Brandenburg  aufs  engste  mit  der  Einführung 
der  neuen  Provinzialverfassung  von   1317  zusammen,  durch  die  der  Großprior 


F.  Marcks,  Geschichtliches.  667 

der  Johanniter  deutscher  Zunge  auf  den  nordöstlichen  Zweig  des  deutschen  Ordens- 
gebietes (Sachsen,  die  Mark  und  Wendland)  beschränkt  und  damit  gleichzeitig 
zu  dessen  Organisation  gedrängt  wurde.  Da  er  sich  aber  der  neuen  Verwaltung 
persönlich  nicht  ausreichend  widmen  konnte,  ernannte  er  einen  ständigen  Stell- 
vertreter, der  zu  großer  Selbständigkeit  und  Unabhängigkeit  gelangte,  die  sich 
dann  erhalten  hat. 

Stoltenburg,  Hans,  DerGlogauerErbfolgestreit,  auch  ein  Kampf 
um  die  Ostmark.     Magdeburg,  Realgymnasium.     Progr,-No.  335. 

Kurfürst  Albrecht  Achilles  wird  als  ein  deutscher  Held  in  trüber  Zeit  geschildert 
und  besonders  der  Glogauer  Erbfolgestreit,  der  eine  Folge  der  Heirat  seiner  Tochter 
Barbara  mit  dem  Herzoge  Heinrich  von  Glogau  war,  in  seinem  ganzen  Verlaufe 
erzählt,  soweit  er  die  Hohenzollern  angeht;  in  Albrechts  erfolgreichem  Kampfe 
gegen  Matthias  Corvinus  und  seinen  Anhang  erkennt  der  Verfasser  ein  Verdienst 
des  Kurfürsten  in  der  Richtung  der  geschichtlichen  Mission  des  brandenburgisch- 
preußischen  Staates  als  Hüters  der  deutschen  Ostmark. 

Frommelt,  Ignaz,  Bernhard  Witte,  sein  Leben  und  die  Handschrift 
seiner  Westfälischen  Geschichte.    Arnsberg,  Königl.  Gymnasium.    Progr.-No.  441. 

Es  ist  nicht  viel,  was  sich  über  das  Leben  des  Benediktinermönches  Bernhard 
Witte  aus  depi  Kloster  Liesborn  ermitteln  läßt;  der  Verfasser  stellt  es  zusammen 
und  behandelt  dann  die  Handschrift  seiner  Westfälischen  Geschichte  und  ihre 
Schicksale. 

Weise,  Julius,  HerzogErichvonBraunschweig,  der  letzte  Komtur 
des  Deutschordens  zu  Memel.  Königsberg  i.  Pr.,  Vorstädtische  Realschule.  Progr.- 
No.  23. 

Herzog  Ernst  war  zuerst  der  Liebling  des  Hochmeisters  Albrecht  und  zu  seinem 
Nachfolger  ausersehen,  bis  ihn  die  Säkularisation  zu  seinem  Widersacher  machte 
und  ihn  bestimmte,  seine  Burg  und  das  Land  zu  verlassen.  Er  darf  daher  unser 
Interesse  in  Anspruch  nehmen.  Die  Abhandlung,  die  den  Umfang  eines  Buches 
gewonnen  hat,  bringt  aus  umfangreichem  Forschungsmaterial  viel  Neues  und  ist 
ein  wichtiger  Beitrag  zur  Geschichte  des  Deutschordens  unmittelbar  vor  seiner 
Säkularisation. 

Streit,  Felix  Edmund,  Christoph  Scheurl,  der  Ratskonsulent 
von  Nürnberg,  und  seine  Stellungzur  Reformation.  Plauen 
i.  V.,  Realgymnasium  mit  Realschule.     Progr.-No.  731. 

Die  Abhandlung  will  weniger  ein  vollständiges  Lebensbild  Scheurls  zeichnen 
als  den  Charakter  des  Mannes  und  vor  allem  seine  Stellung  zu  den  Reformatoren 
und  zur  Reformation  darlegen;  diese  Stellung  ist  in  seinen  späteren  Jahren  eine 
andre  als  in  seinen  früheren  Jahren  gewesen,  und  darunter  hat  die  Unbefangenheit 
des  Urteils  über  ihn  gelitten.  Hier  werden  seine  Anschauungen  und  Leistungen 
auf  Grund  seiner  Schriften  und  Briefe  vorurteilsfrei  gewürdigt,  und  es  erscheint 
danach  verständlich,  wie  Pirckheimer  ihn  mit  Melanchthon  und  Luther  hat  auf 
eine  Linie  stellen  können, 

Wappler ,  Paul ,  Thomas  Münzer  in  Zwickau  und  die 
Zwickauer   Propheten.    Zwickau,  Realgymnasium.     Progr.-No.  734. 

Im  Zusammenhang  mit  der  gesamten  Kultur  Zwickaus  in  der  Zeit  der  Refor- 


668  F,  Marcks, 

mation  wird  das  Wirken  Münzers  und  der  Seinigen  dargestellt.  Die  Abhandlung 
weckt  Interesse,  und  man  würde  sie  noch  lieber  lesen,  wenn  die  Typen  nicht  so 
klein  wären,  daß  das  Lesen  die  Augen  anstrengt. 

Fürsen,  Otto,  Ein  wichtiges  Jahrzehnt  kursächsischer 
Reichspolitik  (1576—1586).  Sonderburg,  Königl.  Oberrealschule.  Progr.- 
No.  385. 

Es  ist  von  der  Regierung  des  Kurfürsten  August  das  letzte  Dezennium,  in 
dem  er  durch  seine  vermittelnde  Tätigkeit  in  wichtigen  Reichsangelegenheiten 
den  Ausschlag  gegeben  und  den  Katholiken  manchen  fast  verlorenen  Posten  hat 
zurückerobern  helfen;  diese  Vermittlungspolitik  hat  in  unheilvoller  Weise  zur 
Erstarkung  der  Gegenpartei  beigetragen. 

Exner,  Hans,  Die  Beziehungen  zwischen  Brandenburg- 
Preußen  und  Polen  von  1640 — 1648.  Ostrowo,  Königl.  Gymnasium. 
Progr.-No.  219. 

Verfasser  stellt  die  im  einzelnen  bereits  bekannten,  aber  teilweise  sehr  ver-- 
streuten  Tatsachen  zu  einem  Gesamtbilde  der  preußisch-polnischen  Beziehungen 
in  der  genannten  Zeit  zusammen  und  zeigt,  welche  Schwierigkeiten  dem  Großen 
Kurfürsten  damals  von  selten  der  polnischen  Regierung  gemacht  wurden  und  wie 
er  sich  demgegenüber  trotz  seiner  ohnehin  schon  bedrängten  Lage  zu  behaupten 
suchte. 

Droysen,  Hans,  Histoire  de  la  dissertation:  Sur  la  littera- 
tureallemande  publieeä  Berlin  en  1780.  Berlin,  Königstädtisches 
Gymnasium.     Progr.-No.  71. 

1786  erschien  die  den  Titel  unsrer  Abhandlung  tragende  Schrift  in  Berlin 
ohne  Angabe  von  Ort  und  Verleger;  durch  sie  ist  die  Vorstellung  verbreitet  worden, 
als  habe  Graf  Hertzberg  an  der  Schrift  Friedrichs  des  Großen  über  die  deutsche 
Literatur  einen  entscheidenden  Anteil  gehabt.  Droysen  verfolgt  die  Entstehung 
der  Schrift  und  weist  nach,  daß  diese  Vorstellung  jeder  Begründung  entbehrt. 
Seine  Untersuchung  bietet  Gelegenheit,  auch  andern  Ansprüchen  Hertzbergs 
nachzugehen,  und  gibt  dadurch  einen  höchst  lehrreichen  Beitrag  zur  Charakteristik 
des  Staatsministers.  Auch  über  die  Entstehungszeit  der  Schrift  des  Königs  wird 
eine  Vermutung  vorgetragen,  die  viel  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat. 

Theobald,  Hermann,  Badenund  Frankreich  1805  und  1806.  Mann- 
heim, Großherzogliches  Karl-Friedrichs-Gymnasium.     Progr.-No.  805. 

Die  bewegte  Zeit  vor  dem  Abschluß  des  Rheinbundes  von  August  1805  bis 
Juli  1806  wird  auf  Grund  des  Materials,  das  in  dem  fünften  Bande  der  politischen 
Korrespondenz  Karl  Friedrichs  von  Baden  veröffentlicht  worden  ist,  dargestellt. 
Die  Arbeit  macht  nicht  den  Anspruch,  für  den  Spezialforscher  Neues  zu  bringen; 
aber  doch  werden  Freunde  vaterländischer  Geschichte  manches  finden,  was  die 
badische  Politik  während  der  genannten  Zeit  in  ein  andres  Licht  rückt. 

Perle,  Friedrich,  Die  Neysche  Erpressung  in  Halberstadt. 
Halberstadt,  Oberrealschule.     Progr.-No.  345. 

Eine  Erpressung  des  Marschalls  für  seinen  eignen  Geldbeutel  lernen  wir  hier 
nach  archivalischen  Quellen  kennen,  ein  lehrreiches  Beispiel,  wie  die  Franzosen 
das  Saigner  ä  blanc  nach  der  Jenaer  Schlacht  in  Preußen  verstanden  haben. 


Geschichtliches.  669 

Puffert,  Bernhard,  Belagerung  und  Einnahme  der  Stadt  und 
FestungNeiße  im  Jahre  1807.  Neiße,  Königl.  Katholisches  Gymnasium. 
Progr.-No.  263. 

Der  Verfasser  gibt  eine  anschauliche  Erzählung  der  Belagerung  Neißes.  "Wie 
ein  Augenzeuge  berichtet,  wurde  die  Stadt  durch  die  Beschießung  noch  ärger  zu- 
gerichtet als  Kolberg;  auf  jeden  Fall  hat  die  Bevölkerung  Schweres  durchzumachen 
gehabt.  Erst  die  vollständige  Arbeit,  die  im  Buchhandel  erscheint  oder  inzwischen 
erschienen  ist,  wird  die  Einnahme  der  Stadt  schildern. 

Chrlstensen,  Heinrich,  Ein  Tagebuch  aus  dem  Belagerungs- 
jahr 1813/14.    Hamburg,  Wilhelm-Gymnasium.    Progr.-No.  952. 

Es  ist  das  Tagebuch  eines  wohlhabenden  Bürgers,  das  für  einen  Verwandten 
geistlichen  Standes  niedergeschrieben  ist.  Die  Tatsachen  treten  so  klar  und  le- 
bendig hervor,  die  Persönlichkeit  des  Verfassers  zeigt  eine  so  gesunde  und  kernige 
Art,  daß  man  dem  Herausgeber  für  seinen  Beitrag  zur  Geschichte  von  Hamburgs 
Franzosenzeit  danken  darf. 

Gerstenberg,  Heinrich,  DieHamburgischeZensur  in  denjahren 
1819—1848.     Hamburg,  Realschule  an  der  Bismarckstraße.     Progr.-No.  966. 

Die  Zensur,  die  seit  dem  Reichstagsabschiede  von  1529  auch  für  Hamburg 
bestand,  aber  im  wesentlichen  nur  dem  Namen  nach,  wurde  zur  Wirklichkeit 
durch  die  Karlsbader  Beschlüsse.  In  dem  freiheitlichen  Gemeinwesen  war  ihre 
Handhabung  im  ganzen  liberal,  aber  zwei  Strömungen  machen  sich  dabei  bemerk- 
bar: in  den  allgemeinen  politischen  Fragen  ist  man  ziemlich  duldsam,  aber  ge- 
hemmt durch  Empfindlichkeit  und  Beschwerden  der  Staaten  des  deutschen  Bundes 
wie  der  europäischen  Mächte;  weit  weniger  Toleranz  zeigt  sich  gegenüber  den 
innerstädtischen  Fragen,  und  da  wogt  der  Kampf  am  heftigsten.  Gerade  diese 
beiden  Strömungen  machen  die  Geschichte  der  Hamburger  Zensur  besonders 
interessant. 

Knapp,  Theodor,  Abriß  der  Geschichte  der  Bauernent- 
lastung in  Württemberg.    Tübingen,  Gymnasium.    Progr.-No.  780. 

Nach  einer  Schilderung  der  Lage  der  Bauern  vor  der  französischen  Revo- 
lution folgt  die  Darstellung  der  Entlastung  von  ihren  Anfängen  unter  König  Fried- 
rich I.  in  den  Jahren  1808—1816  bis  zu  den  letzten  Kämpfen  mit  Standesherren 
und  Rittern  um  ihre  Entschädigung,  die  erst  1865  ihren  Abschluß  fanden,  ein 
lehrreiches  Stück  sozialer  Geschichte. 

Hänel,  Curt,  Skizzen  und  Vorarbeiten  zu  einer  wissen- 
schaftlichen Biographie  Jakob  Burckhardts.  Erste  Folge. 
Leipzig,  2.  Städtische  Realschule.    Progr.-No.  750. 

Die  Abhandlung  gibt  zunächst  eine  kurze  Darstellung  des  äußeren  Lebens- 
ganges Burckhardts  und  seiner  Grundanschauungen  über  Religion  und  Sittlich- 
keit, Staat,  Politik  und  Kultur.  Dann  werden  ausführlicher  seine  Geschichts- 
anschauungen nach  seinen  im  Druck  vorliegenden  Werken  gegeben.  Eine  zweite 
Abhandlung  wird  die  Stellung  der  Anschauungen  Burckhardts  in  der  Entwicklung 
der  Historiographie  und  die  Stellung  seiner  Persönlichkeit  in  seiner  Zeit  unter- 
suchen. 


670  F.  Marcks,  Geschichtliches. 

Auf  folgende  Programme,  meist  Fortsetzungen  früherer,  weise  ich  noch  hin: 

Liebold,  K.,  Die  Ansichten  über  die  Entstehung  und  das  Wesen  der  gentes 
patriciae  in  Rom  seit  der  Zeit  der  Humanisten  bis  auf  unsre  Tage.  11 1.  Teil. 
Meerane  i.  S.,  Realschule.    Progr.-No.  755. 

Friedrich,  Rudolf,  Studien  zur  Vorgeschichte  der  Tage  von  Kanossa.  II.  Teil: 
Die  Wirkungen  der  Wormser  Synode  vom  24.  Januar  1076  in  der  Beleuchtung 
der  Urkunden.     Hamburg,  Realschule  in  Eppendorf.     Progr.-No.  960. 

Schmidt,  Ernst,  Aus  der  Vorgeschichte  der  Altmark.  III.  Teil.  Seehausen 
i.  A.,  Realschule.    Progr.-No.  354. 

Liessem,  Hermann  Joseph,  Hermann  von  dem  Busche,  sein  Leben  und  seine 
Schriften.     Köln,  Königl.  Kaiser  Wilhelm-Gymnasium.     Progr.-No.  588. 

Moritz,  Hugo,  Reformation  und  Gegenreformation  in  Fraustadt.  Teil  II. 
Posen,  Königl.  Friedrich  Wilhelms-Gymnasium.    Progr.-No.  220. 

Schrohe,  H.,  Emund  Rokoch,  ein  Mainzer  Kaufmann  und  Beamter  des 
17.  Jahrhunderts.    II.  Teil.    Mainz,  Großherzogl.  Ostergymnasium.    Progr.-No.  832. 

Marcus,  Willy,  Choiseul  und  Bernstorff.  II.  Teil.  Wohlau,  Königl.  Gym- 
nasium,   Progr.-No.  277, 

Jordan,  Reinhard,  Zur  Geschichte  der  Stadt  Mühlhausen  i.  Thür.  Heft  7. 
Mühlhausen  i.  Thür.,  Gymnasium.    Progr.-No.  316. 

Knaake,  Emil,  Leben  und  Wirken  der  Königin  Luise  im  Lichte  der  Geschichte. 
III.  Teil.  Die  Königin  Luise  während  der  Wiedergeburt  Preußens.  Tilsit,  Königl. 
Realgymnasium.     Progr.-No.  20. 

Wundrack,  A.,  Beiträge  zur  Geschichte  neupreußischer  Kolonisation  in  Posen. 
I.  Teil.     1815—1830.    Tremessen,  Königl.  Progymnasium.    Progr.-No.  227. 

Putbus.  FriedrichMarcks. 


Bücherbesprechungen. 


a)    Sammelbesprechungen: 

Zur  französischen  Lektüre. 
1.   Gedichtsammlungen  und  Verwandtes.*) 

Wasserzieher,  E.,  Sammlung  französischer  Gedichte  für 
deutsche  schulen.  I.  Teil:  Text.  IV  u.  65  S.  kart.  1  m'.  II.  Teil:  Bio- 
graphien, Anmerkungen  und  Wörterbuch.  65  S.  0,40  M.  Leipzig  1902,  R.Gerhard. 
(Französische  Schulausgaben,  No.  8). 

Ricken,  W.,  Einige  Perlen  französischer  Poesie  (36)  von 
Corneille  bis  Coppee.  Für  den  französischen  Unterricht  der  höheren 
Schulen  und  Lehrerseminare.  Nebst  einem  Anhang  von  Übersetzungen  deutscher 
Gedichte  (6),  einer  Verslehre  in  deutscher  und  französischer  Sprache  und  einem 
kurzen  Überblick  über  die  Geschichte  der  französischen  Literatur.  2.  Auflage. 
Chemnitz  u.  Leipzig  1906.    W.  Gronau.    55  S.    geb.  0,85  M. 

Englert,  A.,  Anthologie  des  po^tes  frangais  modernes. 
Blütenlese  französischer  Lyrik  des  neunzehnten  Jahrhunderts.  Zweite  verbesserte 
Auflage.    München  1902.    C.  H.  Beck.    XIII  u.  246  S.    geb.  2,25  M. 

Wershoven,  F.  J.,  Po^sies  frangaises.  Französische  Gedichte  für 
Schule  und  Haus.  Zweite  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  Berlin  1908.  Weid- 
mannsche  Buchhandlung.    X  u.  258  S.    geb.  2,20  M. 

Wershoven,  F.  J.,  Napoleon  P^  Sa  vie,  son  histoire  depuis  sa  mort,  ses 
poetes.    Mit  5  Abbildungen.    Trier  1907.     Jacob  Lintz.     108  S.    geb.  1,10  M. 

Klincksieck,  Fr.,  C  h  r  e  s  t  0  m  a  t  h  i  e  der  französischen  Literatur 
des  17.  Jahrhunderts  (mit  Ausschluß  der  dramatischen).  Leipzig  1906. 
Rengersche  Buchhandlung.    X  u.  293  S.    geb.  4  M. 

Kötz,  0.,  Ausgewählte  Fabeln  von  La  Fontaine.  Mit  bio- 
graphischer und  literarischer  Einleitung,  erklärenden  Anmerkungen,  einer  Übersicht 
über  den  Versbau  und  einer  Charakteristik  der  Sprache.  Berlin  1908.  Weidmannsche 
Buchhandlung.  IV  u.  170  S.  (Sonderheft  mit  Anmerkungen  in  Falte  108  S.)  geb. 
2,60  M. 


*)  Vgl.  Monatschrift  VII,  378. 


672  W.  Bohnhardt, 

Appel)  L.,  LaFontaine:  Fable  s.  München.  J.  Lindau  er.  (Französisch- 
englische Klassikerbibliothek  No.  54.)  58  S.  Text  u.  42  S.  annotations  et  voca- 
bulaire.    kart.  1  M. 

Weissenf  eis,  0.,  Auswahl  aus  Victor  Hugo.  Berlin  1905.  Weid- 
mannsche  Buchhandlung,    geb.  2,20  M. 

Wasserzieher  berücksichtigt  in  54  Gedichten  nur  das  19.  Jahrhundert 
(außer  No.  28)  und  La  Fontaine.  Ihm  und  B^ranger  als  den  „beiden  charakteristi- 
schen Vertretern  des  echt  französischen  Geistes"  fällt  mit  der  Hälfte  der  Löwenanteil 
zu;  sonst  kommen  hauptsächlich  V.  Hugo,  Musset  und  Coppee  zu  Wort.  Den  Schluß 
bilden  einige  Übertragungen  aus  dem  Deutschen,  so  zwei  vom  Erlkönig,  eine  von 
„Schloß  Boncourt"  usw.  Durch  die  einseitige  Bevorzugung  des  mir  persönlich 
sympathischen  Chansonniers,  der  aber  selbst  der  heutigen  französischen  Jugend 
ein  Fremder  ist,  verliert  er  den  Raum  für  die  neueren  und  neuesten  Lyriker,  von 
denen  die  Lektüre  auf  der  Oberstufe,  wenn  auch  nur  summarisch,  Notiz  nehmen 
muß.  Die  Sammlung  eignet  sich  zum  Gebrauch  an  Realschulen;  diesen  mögen 
auch  die  voraussetzungslosen  sachlichen  und  grammatischen  Anmerkungen  nebst 
Wörterbuch  (darin  die  Stammformen  der  unregelmäßigen  Verben  und  unpädagogische 
Bildungen  wie  que  je  boive,  vor  denen  man  den  Schüler  stets  warnt)  angemessen  sein. 

Bei  Ricken  finden  wir  aus  der  klassischen  Periode  einige  Stücke  lyrischen 
Charakters  (Don  Rodrigos  Monolog  und  die  herrlichen  Chöre  aus  Athalie  I,  4  und 
II,  9)  sowie  La  Fontaine,  aus  dem  unfruchtbaren  18.  Jahrhundert  je  eine  bewährte 
Gabe  von  Florian  und  Andrieux,  die  Marseillaise  und  La  jeune  Captive,  die  mit 
Recht  auf  unserm  Kanon  steht.  Ob  die  spärlichen  Proben  von  wenigen  Haupt- 
vertretern des  19.  Jahrhunderts  dem  Schüler  die  von  Ricken  erwünschte  Vorstellung 
von  der  Eigenart  und  Bedeutung  dieser  Dichter  verschaffen  können,  bleibe  dahin- 
gestellt; ein  vollständiges  Bild  war  nach  dem  Titel  nicht  beabsichtigt;  dazu  gehörte 
die  Aufnahme  einiger  der  originellen  lyrischen  Erzeugnisse  der  letzten  Jahrzehnte. 
Ein  Anhang  „mit  sechs  wahren  Perlen  poetischer  Übertragung  aus  dem  Deutschen 
ist  beigefügt,  weil  es  für  die  empfängliche  deutsche  Jugend  einen  eignen  Reiz  hat, 
bekannte  kleine  Meisterwerke  der  Poesie  des  eignen  Volkes  in  den  anmutigen 
Rhythmen  fremdsprachiger  Verse  wiederzufinden"  (u.  a.  Mignon,  La  Charge  guerriire 
de  Lutzow,  Mai  hous  est  revenu).  Erwähnt  seien  noch  die  Remarques  additionnelles 
sur  la  versification  nach  Larive  et  Fleury  und  eine  auf  eignen  Arbeiten  des  Heraus- 
gebers beruhende  gedrängte  Darstellung  der  französischen  Verslehre,  schließlich 
ein  Coup  d'ceil  sur  Vhistoire  de  la  litttature  frangaise  von  etwas  über  zwei  Seiten, 
der  die  durch  Vertiefung  in  die  Gedichte  gewonnenen  literarischen  Eindrücke  zu- 
sammenfassen und  gelegentlich  vervollständigen  soll.  Das  Fragmentarische,  das 
in  der  Natur  eines  solchen  Überblickes  liegt,  ist  dem  Herausgeber  nicht  zum  Vorwurf 
zu  machen.  Erfreulich  ist  seine  Verzichtleistung  auf  Glossar  und  jegliche  Noten. 
Anstalten  mit  nur  geringer  Stundenzahl  im  Französischen  wird  das  Heft  gute  Dienste 
tun.  —  Viel  weitergehende  Ansprüche  suchen  die  folgenden  zwei  Anthologien  zu  be- 
friedigen: Einen  recht  gediegenen  Eindruck  (schöner  Druck,  glattes  Papier)  macht 
die  Sammlung  von  E  n  g  1  e  r  t.  Das  Bild,  das  er  in  der  ersten  Auflage  von  den 
Entwicklungsstufen  und  Haupterscheinungen  der  neueren  Poesie  entwarf,  will  er 
vollständiger  gestalten  durch  Neuaufnahme  von  Autoren,  die  erst  in  den  letzten 


Zur  französischen   Lektüre.  673 

Jahrzehnten  sich  zu  Ansehen  durchgerungen  haben  (z,  B.  H6r6dia,  Verlaine)  oder 
durch  Vermehrung  der  Stücke  der  früher  bereits  vertretenen  und  zwar  auf  Kosten 
mancher  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  angehörender  Erzeugnisse,  die  ihres 
schwulstigen,  rührseligen  Inhalts  wegen  ohne  Schaden  wegfallen  konnten.  Der 
Titel  „Blumenlese  des  19.  Jahrhunderts"  scheidet  La  Fontaine,  A.  Chenier,  Rouget 
de  Lisle  (den  ich  auch  in  dem  so  vollkommenen  Choix  von  Engwert  vermisse)  aus; 
soll  aber  der  Schüler  um  ihretwillen  sich  eine  zweite  Chrestomathie  anlegen?  Möge 
sich  der  Herausgeber  dieser  auf  keinen  Fall  zu  vernachlässigenden  Autoren  bei  einer 
Neuauflage  erbarmen !  Über  das  Leben  und  die  Schriften  der  etwa  70  chronologisch 
geordneten  Dichter  berichtet  uns  eine  kurze  französische  Notiz,  Willkommen  ist 
auch  die  summarische  Einleitung  (21/2  S.)  über  die  Lyrik  des  19.  Jahrhunderts, 
von  der  die  bei  Rickens  Coup  d'ceil  gemachte  Bemerkung  gilt.  Ein  Spezialwörter- 
buch  fehlt.  In  seinen  Anmerkungen  (S.  223 — 246)  möchte  Englert  gleich  F.  Unruh 
(Monatschrift  VII,  383)  durch  Hinweise  auf  verwandte  deutsche  und  englische 
Dichtungen  anregend  wirken  und  die  Literaturgeschichte  unterstützen.  In  den 
Übersetzungshilfen  und  dem  Eifer  zu  belehren  (über  die  Todesjahre  von  Schiller 
und  Goethe  S.  233,  über  die  Garonne,  S.  235,  über  Hunnen)  geht  er  zu  weit,  für  die 
Schüler  ebenso  wie  für  die  Kreise  außerhalb  der  Schule,  in  denen  die  Sammlung  viele 
Leser  gefunden  haben  soll.  Sie  wird  sich  auch  in  der  jetzigen  Gestalt  neue  Freunde 
erwerben.  Ihr  möge  die  jüngste  Erscheinung  angereiht  werden,  ohne  daß  jedoch 
in  die  überflüssige  Erörterung  eingetreten  werden  soll,  welcher  von  beiden  der  Vor- 
rang gebührt:  die  Poesies  frangaises,  die  Professor  Wershoven  1897  in  erster 
Auflage  unter  etwas  verändertem  Titel  bei  R.  Gaertner  veröffentlicht  hatte,  wollen 
uns  die  Bekanntschaft  in  erster  Linie  mit  den  Gedichten  des  19.  Jahrhunderts  ver- 
mitteln, füllen  aber  zu  unsrer  Freude  die  bei  Englert  gezeichnete  Lücke  völlig  aus. 
Für  die  Auswahl  des  Stoffes,  teils  alter  und  bewährter,  teils  ganz  neuer  wertvoller 
waren  die  bekannten  Gesichtspunkte:  Verwendbarkeit  im  Unterricht  und  literarische 
Bedeutung  maßgebend.  Das  äußerlich  und  innerlich  sich  vornehm  präsentierende, 
ganz  dem  Weidmannschen  Verlag  entsprechende  Buch  zerfällt  in  zwei  Teile.  In 
den  ersten  32  leichten,  der  Unterstufe  angepaßten  Gedichten  ist  methodischer  Fort^ 
schritt  zum  Schwereren  und  ein  gewisser  inhaltlicher  Zusammenhang  angestrebt. 
Den  größeren  Raum  umfaßt  der  II.  Teil.  Mit  durchschnittlich  zehn  oder  mehr 
Stücken  erscheinen  La  Fontaine,  Böranger,  V.  Hugo  und  Coppee,  dem  immer  noch 
unsre  Schule  mit  zu  großer  unverdienter  Hochachtung  begegnet;  mit  mehreren 
Proben  treten  in  der  stattlichen  Reihe  von  nahezu  40  zeitlich  geordneten  Autoren 
Th.  Gautier,  Sully  Prudhomme  und  H^r^dia  auf.  Weshalb  gehört  aber  neben 
Richepin,  den  talentvollsten  Nachfolger  Baudelaires,  nicht  der  Meister  selbst,  und 
sind  die  hervorragenden  belgischen  Lyriker  in  der  Schar  großer  und  kleiner  Talente 
Frankreichs  nicht  eines  bescheidenen  Platzes  würdig?  —  Sechs  Seiten  bringen  das 
Wesentlichste  über  die  Verslehre;  zu  weit  gehen  die  Erklärungen  der  Gedichte  für 
die  Unterstufe  (z.  B.  über  die  Akkusative  der  Zeit  in  le  jour  u.  ähnl.  St.  1 ;  über 
cela  dit,  St.  14,  über  den  Wert  eines  Sou)  da  doch  die  Präparation  gemeinsam  in 
der  Klasse  geschieht.  Der  Erwachsene  aber,  der  selbständige  Lektüre  treibt,  vermag 
auch  in  schwierigeren  Fällen  solcher  Hilfen  zu  entraten. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    VIII.  Jhrg.  43 


674  W.  Bohnhardt, 

Zur  Unterstützung  beim  Gebrauch  der  eignen  und  andrer  Gedichtsammlungen 
macht  Wershoven  auf  sein  Hilfsbüchlein  aufmerksam  (gr.  8°,  VII  u.  88  S., 
Weidmannsche  Buchhandlung,  1898,  kart.  1  M.).  Es  umfaßt  dieselbe  Verslehre, 
metrische  Übersetzungen  deutscher  und  französischer  Gedichte,  sowie  Prosabe- 
arbeitungen. Vom  anfänglichen  bloßen  Nacherzählen  kürzerer  Fabeln  schreitet  es 
zu  Inhaltsangaben  schwerer  Gedichte,  endlich  zu  Aufsätzen  über  die  Stoffe  der 
Gedichte  selbst  fort.  Von  demselben  Herausgeber  rührt  weiter  her  der  Band  Na- 
polion  I"''.  Er  setzt  sich  zusammen  aus  einer  Biographie  des  Kaisers,  einer  Abhand- 
lung von  Legouve  über  den  Einfluß,  den  jener  nach  seinem  Tode  auf  Geschichte 
und  Literatur  Frankreichs  ausgeübt  hat,  endlich  aus  19,  Dichtungen  von  neun 
verschiedenen  Autoren  (darunter  Hugos  L'Expiation  und  Lui  vollständig),  die  den 
Korsen  und  seine  Taten  teils  bewundern,  teils  verdammen.  Da  bei  dieser  Be- 
urteilung Licht  und  Schatten  ziemlich  gleichmäßig  verteilt  sind,  so  gewinnt  der 
Schüler  kein  einseitiges  Bild.  Zur  Illustration  dient  ein  Tableäu  g6n6alogique  und 
eine  französisch  geschriebene  Erläuterung  der  fünf  beigegebenen  Abbildungen  (das 
dem  Primaner  aus  Taine  bekannte  Porträt  Bonapartes  von  Guerin,  H.  Vernets 
Napoleon  bei  Jena,  Napoleon  in  Fontainebleau  nach  P.  Delaroche,  der  Triumph- 
bogen und  die  Vendomesäule).  Am  Schluß  sachliche  Anmerkungen,  „Napoleon 
in  der  Dichtung"  ist  zweifelsohne  ein  für  Prima  sehr  passendes  Thema,  das  den 
Unterricht  in  der  Geschichte  vertieft.  Referent  hat  damit  seit  mehr  als  einem 
Jahrzehnt  bei  jeder  Generation,  die  er  bis  zur  Reifeprüfung  führte,  allseitiges 
Interesse  erweckt.  Es  seien  ihm  daher  einige  Vorschläge  erlaubt.  Er  befürwortet 
statt  Wershovens  chronologischer  Anordnung  der  Gedichte  nach  den  Verfassern 
eine  solche  nach  dem  Inhalt,  An  die  Spitze  würde  Hugos  weggelassenes  „Les 
deux  tles"  zu  rücken  sein.  Dann  hätten  die  Stücke  zu  folgen,  die  die  Hauptereignisse 
im  Leben  Napoleons  behandeln,  schließlich  die  den  Mythus  darstellenden.  Außerdem 
wird  dem  Schüler  mit  der  Anschaffung  von  zwei  Gedichtsammlungen  im  Preise  von 
3,30  M.  zu  viel  zugemutet.  Die  in  Frage  kommende  Lektüre  ließe  sich  mit  Leichtigkeit 
an  der  Hand  von  „Gropp  und  Hausknecht"  erledigen,  in  dem  nur  einige  belanglose 
Stücke  von  Wershoven  fehlen,  sie  ist  gleichfalls  mit  Engwers  Choix  möglich,  der 
merkwürdigerweise  gleich  Wershovens  Po^sies  keinen  Abschnitt  aus  dem  Epos  von 
Barthelemy  und  Mery  bietet.  Seine  beiden  Ausgaben  muß  der  Herausgeber  ver- 
schmelzen im  Hinblick  darauf,  daß  unsre  Primaner  bei  der  Kürze  der  Zeit  über- 
haupt nur  die  wichtigsten  Dichtungen  lesen  können.  Die  Neuauflage  der  Po^sies 
möge  die  größeren  Stücke  V.  Hugos  und  Lamartines  Bonaparte  an  Stelle  einiger 
unbedeutender  setzen,  die  ohne  Schaden  fehlen  dürfen.  Wershovens  Prosastoff, 
überhaupt  die  für  Napoleons  Leben,  für  die  Entstehung  der  Legende,  für  die  sich 
bekämpfende  Kritik  der  neueren  Dichter  und  Historiker  notwendigen  geschicht- 
lichen Unterlagen  liefert  der  Lehrer  durch  mündlichen  Vortrag  oder  in  Form  von 
Extemporalien  und  Diktaten.  Mit  der  Durchnahme  der  Gedichte  ist  die  Aufgabe 
überhaupt  noch  nicht  gelöst.  Der  Lehrer  wird  den  ganzen  gewaltigen  Stoff  be- 
herrschen und  die  deutsche  und  englische  Poesie  heranziehen  müssen.  So  läßt  sich 
dank  der  immer  reicher  anwachsenden  Literatur  das  Thema  zur  eignen  Freude 
vertiefen  und  ausbauen.  Einige  Veröffentlichungen,  die  der  allgemeinen  Aufmerk- 
samkeit, die  sie  in  so  hohem  Maße  verdienen,  noch  zu  wenig  teilhaftig  geworden 


Zur  französischen  Lektüre.  675 

sind,  mögen  dem  Neuling  auf  diesem  Gebiete  nützen:  Professor  Dr.  Carl 
Voretzsch,  Gaudys  Kaiserlieder  und  die  Napoleondichtung  (Preußische  Jahr- 
bücher, 95  Band,  3.  Heft)  und  Paul  Holzhausen,  Heinrich  Heine  und 
Napoleon  I.  (Diesterweg,  Frankfurt  a.  M.  1903).  Die  zur  Charakterisierung  und 
zum  Verständnis  der  Dichtungen  nötigen  Bilder,  die  recht  reichlich  heran- 
zuziehen wünschenswert  ist,  wird  man  den  Schülern  aus  dem  Prachtwerk  von 
Armand  Dayot,  Napoleon  I.  in  Bild  und  Wort,  übertragen  von  0.  Marshall 
von  Bieberstein  (Leipzig  1897,  H.  Schmidt  u.  Günther)  oder  aus  J.  T.  Herbert 
B  a  i  1  y  Napoleon,  illustrated  with  prints  from  contemporary  and  other  portraits  (London 
1908,  The  Connoisseur  Magazine)  vorführen.  Diese  und  ähnliche  Werke,  die  in  der 
Bibliothek  keines  Neuphilologen  fehlen  dürften,  der  sich  eingehender  mit  Napoleon 
beschäftigt,  erhöhen  bei  dem  Schüler  das  Verständnis  und  den  Genuß  dieser  Lektüre. 

Unter  den  aufgeführten  Gedichtsammlungen  hatten  wir  die  Genugtuung,  einige 
ganz  achtungswerte  Leistungen  verzeichnen  zu  können.  Im  allgemeinen  bestätigen 
auch  sie  das  in  Monatschrift  VH,  S.  385  gefällte  Urteil.  Fast  alle  sollten  größere 
Beschränkung  in  den  Anmerkungen  erstreben,  sich  auch  ablehnender  verhalten 
gegen  Dichter  wie  Coppöe,  die  ungeachtet  der  wiederholt  geäußerten  Bedenken 
der  berufensten  Literarhistoriker  und  Schulmänner  sich  noch  breit  machen.  Zum 
Schluß  noch  einen  Wunsch,  Es  möge  für  die  nächste  Zeit  in  der  Massenproduktion 
ein  Stillstand  eintreten,  damit  die  Anthologien  erst  ihre  praktische  Prüfung  be- 
stehen können.*)  Fast  scheint  es  —  und  das  wäre  nicht  zum  letzten  im  Interesse 
der  die  Anstalten  wechselnden  Knaben  zu  bedauern  —  als  ob  einzelne  Schulen 
es  für  eine  Ehrensache  halten,  aus  ihrem  Schoß  für  den  eignen  Gebrauch  Gedicht- 
sammlungen erwachsen  zu  lassen. 

Als  Ergänzung  zu  der  Sammelbesprechung  Monatschrift  VII,  S.  328  ff.  darf 
man  hier  anreihen :  Die  Chrestomathie  derfranzösischen  Lite- 
ratur des  17.  Jahrhunderts  von  Professor  Dr.  Fr.  K  1  i  n  c  k  s  i  e  c  k, 
das  Seitenstück  zu  der  des  19.  Jahrhunderts.  Sucht  sie  auch  ihre  Leser  in  erster 
Linie  unter  den  Studierenden  und  Freunden  der  französischen  Literatur  überhaupt, 
so  möchten  doch  manche  ihrer  leichteren  philosophischen,  literaturhistorischen  und 
naturwissenschaftlichen  Stücke  angemessene  Lektüre  für  eine  gute  Oberprima  einer 
Realanstalt  bilden.  Wir  denken  z.  B.  an  Saint- Evremond,  den  Vorläufer  Montes- 
quieus  {Reflexions  S.  142)  oder  Malebranche  (Entretiens  sur  la  mäaphysique  S.  75). 
Jedenfalls  ist  die  Sammlung  für  den  Lehrer  nicht  ohne  Bedeutung  als  Nachschlage- 
buch und  durch  den  Umstand,  daß  viele  Autoren  allerersten  Ranges  selbst  auf 
unseren  Universitätsbibliotheken  nur  schwer  zugänglich  sind.  Überdies  dürfte  sie 
die  erste  wirklich  wissenschaftliche  in  Deutschland  sein,  die  sich  ausschließlich  mit 
Frankreichs  Literatur  im  17.  Jahrhundert  befaßt.  Bei  der  Auswahl  der  aus  den 
besten  Quellen  geschöpften  Texte  bestimmten  Klincksieck  —  mutatis  mutandis  — 
dieselben  Gesichtspunkte  wie  in  der  älteren  Chrestomathie. 

Sein  Bemühen,  die  charakteristische  Seite  eines  jeden  Schriftstellers  zur  Geltung 
zu  bringen,  tritt  recht  deutlich  bei  La  Fontaine  hervor,  dessen  Vielseitigkeit  man 


*)  Inzwischen  ist,  „um  dem  Mangel  an  guten  Gedichtsammlungen  abzuhelfen", 
eine  neue  von  Paßmann  <S  Voß,  Hannover  1909,  Carl  Meyer,  erschienen. 

43* 


676  W.  Bohnhardt, 

in  Deutschland  noch  längst  nicht  gerecht  wird.  Während  die  meisten  Sammlungen 
sich  mit  dem  Abdruck  der  ersten  sieben  Bücher  seiner  Fabeln  begnügen,  kommen 
hier  durch  Proben  aus  den  letzten  die  ganze  Schärfe  des  Satirikers  und  auch  die 
lyrische  Kraft  des  Fabeldichters  zum  vollen  Durchbruch.  Kurz  veranschaulicht 
wird  die  Entwicklung  des  Romans  in  seinen  wichtigsten  Phasen  an  Beispielen  aus 
d'Urf^,  Scarron,  Fureti^re  und  M^e  de  Scud^ry  (deren  Abschnitt  aus  Clelie  durch 
den  bekannten  Farbendruck  „Carte  de  Tendre"  geschmückt  ist);  die  berühmten 
Vertreter  des  Briefstils  kommen  in  den  interessantesten  Partien  zum  Wort.  Weshalb 
ist  auch  diesem  Buch,  das  jede  französische  Literaturgeschichte  erläutern  und  ver- 
tiefen wird,  kein  Kommentar  angefügt?  Es  hinterläßt  in  uns  das  Bedauern,  daß 
wir  nicht  einen  ganz  kleinen  Teil  der  uns  auf  der  Oberstufe  zur  Verfügung  stehenden 
Zeit  der  Lektüre  seines  mannigfaltigen  und  gedankentiefen  Inhalts  widmen  können. 

La  Fontaine,  der  wie  angedeutet  wurde,  ein  ganz  vorzüglicher,  noch  zu  wenig 
geschätzter  Lesestoff  ist,  auch  einem  weiteren  Publikum  und  daneben  den  Mittel- 
und  Oberklassen  höherer  Schulen  lieb  und  wert  zu  machen,  setzt  sich  OttoKötz 
zum  Ziel,  Eine  wissenschaftliche  Ausgabe  gleich  der  seinen  ist  Bedürfnis,  seitdem 
die  ehemals  trefflichen  von  Laue  und  Lubarsch  überholt  und  im  Buchhandel  kaum 
mehr  erhältlich  sind.  In  der  Wertschätzung  des  Dichters  und  in  den  Grundsätzen 
für  die  Auswahl  begegnet  sich  Kötz  mit  Klincksieck.  Auch  er  hat  die  bedeutenden 
Stücke  aus  Buch  8 — 12  herangezogen  und  zwar  nach  dem  Text  der  Ausgabe  in 
den  Grands  Ecrivains.  Voraus  geht  den  etwa  60  Nummern  die  Preface  de  La  Fon- 
taine als  bezeichnend  für  des  Dichters  eigne  Auffassung  vom  Wesen  der  Fabel. 
88  Seiten  Einleitung  berichten  über  sein  Leben,  seine  Werke  und  seine  Stellung  in 
Deutschland.  Der  Kommentar  von  108  Seiten  (in  einer  Falte)  ist  mit  Rücksicht 
auf  den  außerhalb  der  Schule  stehenden  Leserkreis  nach  hohen  Gesichtspunkten 
verfaßt.  An  der  vorzüglichen  Ausgabe  wird  keiner,  der  sich  eingehender  mit  der 
französischen  Fabel  beschäftigt,  achtlos  vorübergehen  können.  Mit  ihr  vermag  sich 
naturgemäß  Band  54  der  französisch-englischen  Klassiker-Bibliothek  von  J.  Bauer 
und  Th.  Link  nicht  zu  messen,  da  Dr.  L.  A  p  p  e  1  seine  Auswahl  auf  die  drei  ersten 
Bücher  beschränkt.  Ob  die  französisch  geschriebenen  Erklärungen  der  veralteten 
und  selteneren  Ausdrücke  des  Dichters  bei  dem  der  ganzen  Sammlung  eignen  fran- 
zösisch-deutschen Wörterbuch  am  Platze  sind,  bleibe  dahingestellt. 

Den  Schluß  dieses  Abschnittes  bilde  ein  Hinweis  auf  die  Auswahl  aus 
V.  Hugo:  Gedichte,  Dramen  (nur  Akt  V.  aus  Ruy  Blas)  und  Romane  (kaum 
30  Seiten).  OskarWeissenfels  war  sich  der  schwierigen  Aufgabe,  von  einem 
so  fruchtbaren  und  so  wandlungsreichen  Autor  durch  eine  knapp  bemessene  Aus- 
wahl ein  vollständiges  und  klares  Bild  zu  geben,  wohl  bewußt.  Er  hat  sie  ge- 
schmackvoll und  mit  feinem  Verständnis  gelöst.  Das  schließt  nicht  aus,  daß  mancher 
Fachgenosse  in  diesem  oder  jenem  Fall  lieber  eine  andre  Probe  als  charakteristischer 
für  die  Form  von  Hugos  Dichtungen  gesehen  hätte.  Die  Vorbemerkungen  zu  den 
einzelnen  Stücken  und  die  sehr  lesenswerte  Einleitung  (48  Seiten)  ermöglichen  es 
dem  Leser,  sich  aus  diesen  Teilen  ein  Ganzes  zusammenzusetzen  und  erleichtern 
zugleich  dem  Lehrer  die  Vorbereitung  für  die  Klasse.  Die  sich  auf  das  nötigste 
beschränkenden  sachlichen  Anmerkungen  sind  gut  geraten.  So  lockt  in  allen  Einzel- 
heiten die  schöne  Ausgabe  zu  einem  Versuch  auf  Oberprima. 


Zur  französischen  Lektüre.  677 

2.  Neue  Sammlungen  von  Schulausgaben. 

Französische  Schriftsteller  aus  dem  Gebiete  der  Philosophie,  Kulturgeschichte 
und  Naturwissenschaft.  Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  J.  R  u  s  k  a.  Heidelberg  1907. 
Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung. 

1.  Band:  Jouffroy,  Th.,  Mäanges  philosophiques.  Auswahl  mit  An- 
merkungen von  Prof,  Dr.  E.  Dannheisser.    8«.    134  S.    In  Leinwand  geb.  1,60  M. 

2.  Band:  Descartes,  Ren6,  Discours  de  la  Mähode.  Mit  Einleitung 
und  Anmerkungen  von  P.  Ziertmann.    8".     120  S.    geb.  1,60  M. 

3.  Band:  T  a  i  n  e  ,  H.,  Philosophie  de  l'art  (premi^re  partie).  Mit  Einleitung 
und  Anmerkungen  von  Dr.  M.  Fuchs.  Mit  8  erläuternden  Abbildungen,  8^  121  S. 
geb.  1,60  M. 

4.  Band :  Montesquieu,  De  l'esprit  des  lois.  Auswahl  mit  Einleitung 
und  Anmerkungen  von  Dr.  K.  Schewe.    8".     124  S.    geb.  1,60  M. 

Diesterwegs  Neusprachliche  Reformausgaben.  Herausgegeben  von  Prof.  Dr. 
Max  Friedrich  Mann.     Frankfurt  a.  M.  1908.    Moritz  Diesterweg. 

1.  Band:  G  o  b  i  n  e  a  u  ,  Les  Amants  de  Kandahar,  annotes  par  M.  F.  Mann. 
8».    59  S.  und  Annotations  in  Sonderheft  16  S.    geb.  1,20  M. 

3.  Band  :Ar^ne,Paul,  Contes  de  Provence,  choisis  et  annotes  par  L.  Petry. 
72  S.  und  Annotations  56  S.    geb.  1,60  M. 

4.  Band :  Gobineau,  La  guerre  des  Turcomans,  annot^e  par  M.  F.  Mann. 
64  S.  und  Annotations  24  S.     geb.  1,40  M. 

5.  Band :  Contes  de  France,  Recueil  pour  la  Jeunesse.  Annot6  par 
A.  Robert  Dumas  et  Ch.  Robert  Dumas.  62  S.  und  44  S.  Annotations.  geb.  1,20  M. 

Die  Ausgaben  B  ohne  Kommentar  sind  0,20  M.  billiger. 

Violets  Sprachlehrnovellen: 

1.  Band:  L  a  g  a  r  d  e  ,  L.,  La  lutte  pour  la  vie.  Nouvelle  syst^matiquement 
r^dig^e  pour  servir  a  l'^tude  de  la  langue  pratique,  des  moeurs  et  des  institutions 
fran^aises  a  l'usage  des  ecoles  et  de  l'enseignement  priv6.  Avec  un  appendice: 
Notes  explicatives.  Stuttgart  1906.  W.  Violet.  VIII  und  144  S.  Anmerkungen 
gesondert  29  S.    geb.  1,80  M. 

3.  Band :  Toreau  de  Marney,  Toujours  Pret.  Avec  un  abr6g6  de 
grammaire  et  un  vocabulaire  fran^ais-allemand.  Stuttgart  1907.  W.  Violet.  97  S. 
geb.  1,20  M. 

Von  allen  Neuerscheinungen  auf  dem  Gebiet  der  Schullektüre  hat  die  R  u  s  k  a  - 
sehe  Sammlung  das  allseitigste  Interesse  erregt,  und  mit  Recht  ist  ihr  eine  pro- 
grammatische Bedeutung  beigelegt  worden  (Vorwort  zu  Band  1).  Es  ist  über- 
flüssig, die  so  lebhaft  erörterten  Anschauungen,  denen  sie  ihr  Entstehen  verdankt, 
hier  ausführlicher  zu  entwickeln.  Wenige  bekannte  Sätze  genügen  zum  Verständnis. 
Wenn  die  Oberrrealschule  gleich  dem  Gymnasium  und  Realgymnasium  auf  wirk- 
liche Durchbildung  des  Geistes  und  Denkvermögens  hinarbeiten  soll,  so  haben  in 
ihr  die  lebenden  Sprachen  die  erziehende  Rolle  zu  spielen,  die  am  Gymnasium  den 
klassischen  obliegt.  Die  Beschäftigung  mit  den  großen  Dichtern  und  Philosophen 
Frankreichs  und  Englands  soll  daneben  den  Sinn  der  Schüler,  die  sich  für  tech- 


678  W.  Bohnhardt, 

nische  Fächer  vorbereiten  und  später  bei  der  Ausübung  dieses  Berufes  allzu  leicht 
Kunst  und  Poesie  vernachlässigen,  für  das  Hohe  und  Schöne  erwärmen.  Gerhard 
Budde,  der  durch  seine  beiden  philosophischen  Lesebücher  für  den  französischen 
und  englischen  Unterricht  die  Aufnahme  der  Philosophie  geradezu  als  ein  Fach 
in  der  Schule  fordert,  ist  am  weitesten  gegangen.  Seine  ideale  Forderung,  die  für 
das  große  Publikum  und  Theoretiker  unter  den  Neuphilologen  zweifelsohne  viel 
Verführerisches  hat,  ist  mit  der  Praxis,  die  mit  anderen  Faktoren  zu  rechnen  hat, 
schwerlich  in  Einklang  zu  bringen.  In  maßvolleren  Grenzen  hält  sich  Prof.  Ruska, 
der  nun  das,  was  er  in  Wort  und  Schrift  eifrig  —  und  mehr  oder  weniger  über- 
zeugend —  verfochten  hat,  in  die  Tat  umsetzt.  Seine  Sammlung  will  nachweisen, 
daß  die  neueren  Sprachen  durch  die  Lektüre  nicht  nur  philosophischer,  sondern  auch 
kulturgeschichtlicher  und  naturwissenschaftlicher  Schriften  diese  humanistische 
Bildung  auf  der  Öberrealschule  zu  übermitteln  in  der  Lage  sind.  Das  Unternehmen 
fand  die  Billigung  des  badischen  Oberschulrats  und  mancher  hervorragender 
Pädagogen.  So  von  P.  Cauer,  „nicht  allein  wegen  des  guten  Grundgedankens, 
sondern  auch  wegen  der  Art,  wie  die  einzelnen  Stücke  für  den  Schulgebrauch  be- 
arbeitet sind",  vor  allem  auch  deshalb,  weil  mit  der  verderblichen  Herrschaft  der 
SpezialWörterbücher  gebrochen  ist.  Den  Kommentar  ersetzen  Fußnoten,  aber  solche 
sind  von  gewissen  Aufsichtsbehörden  seit  langem  untersagt  (wie  z.  B.  das  Rheinische 
Provinzial-Schulkollegium  nur  die  B-Ausgabe  von  Velhagen  u.  Klasing  zuläßt). 
Außerdem  ist  diesen  Noten  —  und  wir  sind  in  diesem  Standpunkt  noch  extremer 
als  Cauer  —  der  Vorwurf  nicht  zu  ersparen,  daß  sie  allzureichlich  und  ohne  Grund 
die  dem  Lexikon  fertig  zu  entnehmende  Übersetzung  der  Vokabel  mundgerecht 
liefern,  während  doch  Cauer  bei  ihrer  nicht  sofort  durchsichtigen  Bedeutung  die 
Schüler  durch  verständiges  Nachschlagen  und  Überlegen  zu  einer  tieferen  psycho- 
logischen und  historischen  Erfassung  der  Sprache  führen  möchte.  Im  Interesse 
der  Einführung  der  Bändchen  auch  in  rheinischen  Anstalten  empfiehlt  sich  also 
weise  Beschränkung  in  den  Fußnoten  und  ihre  Zusammenfassung  am  Ende  oder 
in  einem  Sonderheftchen.  Die  vier  Ausgaben  lassen  schon  einen  Schluß  auf  die 
Gesamtrichtung  und  den  Wert  des  Ganzen  ziehen;  sie  erwecken  Wohlgefallen  an 
sich  durch  das  handliche  Format  von  der  Größe  und  Farbe  der  Rengerschen,  den 
deutlichen  und  äußerst  sorgfältigen  Druck.  Ein  Verzeichnis  der  Wort-  und  Sach- 
erklärungen erleichtert  das  Nachschlagen.  Ruska  hat  sich,  wie  es  bei  einem  so  ge- 
diegenen Unternehmen  selbstverständlich  ist,  einen  Stab  tüchtiger  Fachleute  als 
Mitarbeiter  an  die  Seite  gestellt.  Und  nun  zur  Prüfung  ihrer  Verwendbarkeit  in 
der  Klasse!  Ein  begeisterter  Lobredner  ist  Band  1  und  3  in  Otto  Driesen  (Zeit- 
schrift für  französische  Sprache  und  Literatur,  Band  33;  Heftl  und  2  der  Referate 
und  Rezensionen  S.  105  ff.)  erstanden.  Seinen  Ausführungen  stimme  ich  im  all- 
gemeinen zu  bis  auf  e  i  n  e.  Er  findet  für  den  Augenblick  noch  Schwierigkeiten  darin, 
daß  die  Gymnasien  wohl  dem  Stoff,  aber  nicht  der  Sprache  gewachsen  sein  werden 
und  daß  den  Realanstalten  das  Bezwingen  der  Form  leichter  fallen  werde  als  die 
Aneignung  des  Inhalts.  Langjähriger  Unterricht  auf  der  Oberstufe  des  Gymnasiums 
wie  des  Realgymnasiums  hat  mich  felsenfest  überzeugt,  daß  die  klassischen  Sprachen 
die  Gymnasiasten  befähigen,  trotz  geringerer  Stundenzahl  auch  die  schwierigsten 
französischen  Autoren  schnell  und  sicher  zu  erfassen  und  gewandt  zu  übertragen. 


Zur  französischen  Lektüre.  679 

Driesen  betrachtet  es  als  ein  Zeichen  guter  Vorbedeutung  für  die  Sammlung,  daß 
Ruska  für  den  Philosophen  Jouffroy  (Band  1),  der  die  Jugend  durch  seine  edlen 
Gedanken  gewaltig  zu  packen  weiß  und  durch  klare,  farbenprächtige  Sprache  und 
meisterhafte  Darstellung  hinreißt,  keinen  geistesverwandteren  Herausgeber  als 
Dannheißer  sich  wählen  konnte.  Aus  den  Mäanges  philosophiques  sind  verständnis- 
voll sieben  Kapitel  genommen,  das  achte  „Comment  Jouffroy  devint  philosophe" 
wird  am  meisten  interessieren.  Knapp  zwei  Seiten  geben  über  des  Autors  Leben 
und  Schriften  Aufschluß.  An  die  Bewältigung  nur  der  Hälfte  des  Textes  (132  S.) 
ist  in  einem  Semester  nicht  zu  denken.  Nur  wenige  Druckfehler  fielen  auf 
(85,  1;  128,  30;  129,  10;  undeutlich  le  in  65,  11).  —  Ein  außerhalb  unsres  üblichen 
Schulbetriebes  liegendes  Gebiet  hat  in  No.  3  M.  F  u  c  h  s  betreten.  Bei  der  wachsen- 
den Bedeutung  der  bildenden  Künste  für  die  moderne  Kultur  hält  er  es  für  eine 
Pflicht  und  Notwendigkeit,  unsre  reifere  Jugend  mit  diesem  wichtigen  Faktor 
unseres  Geisteslebens  bekannt  zu  machen.  Taines  Lehre  vom  Wesen  der  Kunst, 
sein  genialer  Versuch,  jede  Kunstform  aus  ihrem  Milieu  zu  erklären,  wird  auch 
unter  Primanern  auf  empfängliche  Gemüter  stoßen,  zumal  Fuchs  ihrem  Gesichts- 
kreis ferner  Liegendes  beiseite  läßt.  Die  Ausgabe  setzt  sich  zusammen  aus  einer 
Einleitung  (S.  7 — 16)  über  Taines  Leben  und  Schriften  und  seine  Kunstphilosophie, 
aus  zwei  Kapiteln  Text  und  einem  Anhang  (111 — 119),  darin  u.  a.:  Rubens  und 
die  vlämische  Malerei;  die  Mediceergräber  Michel  Angelos,  die  Seele  des  Menschen 
im  Mittelalter,  in  der  Renaissance  und  in  der  Neuzeit.  Zum  Beleg  des  geschriebenen 
Wortes  sind  acht  gediegene  Nachbildungen  dem  Bändchen  angefügt  (die  erwähnten 
Gräber,  das  Innere  der  Sainte  Chapelle  zu  Paris,  Rubens  vlämische  Kirmes  usw.). 
Noch  mehr  Anschauungsmaterial  heranzuziehen  ist  natürlich  wünschenswert.  Zu 
viele  Vokabeln  in  den  Fußnoten  erleichtern  die  Präparation;  ein  Druckfehler  (63,  25). 
Vielleicht  darf  von  uns  hingewiesen  werden  auf  die  autorisierte  Übersetzung  von 
Taine  (2.  Aufl.,  Jena  1907,  Eugen  Diederichs,  geb.  9,50  M.).  Der  von  dem  Erfolg 
seiner  Anthologie  des  prosateurs  frangais  in  guter  Erinnerung  stehende  Herausgeber 
bietet  eine  prächtige,  streng  wissenschaftliche  Gabe.  Von  einem  guten  Lehrer 
erklärt  wird  dieses  Bändchen  Taine  einer  verständigen  Prima  Freude  machen. 

Über  die  Ausschnitte  ausMontesquieusD^  l'esprit  des  lois  spricht  sich 
K.  Schewe  im  Vorwort  aus;  als  Leser  der  Leben  und  Werke  des  Philosophen  be- 
handelnden Einleitung  (S.  9 — 34)  ist  wohl  nur  der  Lehrer  gedacht.  Bei  der  Auswahl 
des  Textes  galt  es  vor  allem,  durch  Zusammenrücken  der  wesentlichsten  Teile  die 
verloren  gegangene  Einheit  des  Werkes  wiederherzustellen.  Auf  die  geringfügigen 
Abweichungen  der  Syntax  und  Wortbedeutung  von  der  heutigen  machen  die  Fuß- 
noten aufmerksam.  Warum  ist  aber  der  Trait  d'union  nach  tr^s  beibehalten,  den 
doch  das  D^scör/^s- Bändchen  unterdrückt  hat?  Zahlreiche  grammatische  Bemer- 
kungen sind  zu  streichen  {distinguer  d'avec,  esp^rer  de  u.a.,  die  auch  in  Band  2  fehlen; 
die  Erscheinung  S.82,  A.2  soll  sich  der  Primaner  durch  eignes  Nachdenken  deuten), 
einer  Aufklärung  über  Domitian  zu  79,  3,  die  übrigens  schon  70,  13  am  Platze 
gewesen  wäre,  bedarf  es  nicht,  wohl  aber  über  Gravina  48,  22  u.49,  9.  Druckfehler 
wurden  bemerkt  (41,  8,  43,  4,  122,  7.  21  A.  lies  der  priface);  der  Verfasser  der 
Citi  antique  ist  überall  (S.  20  Text  u.  a.  nebst  Glossar)  Coulanges  zu  schreiben. 
Der  Esprit  des  lois,  der  nachhaltig  die  Historiker  der  Romantik  und  Taine  be- 


680  W.  Bohnhardt, 

einflußt  hat,  ist  nicht  rein  philosophischen  Charakters,  den  in  das  Ganze  Abwechslung 
bringenden  geschichtlichen  Abschweifungen  wird  es  zu  danken  sein,  wenn  die  Aus- 
gabe in  der  Hand  eines  philosophisch  geschulten  und  geschickten  Lehrers  die  Schüler 
auf  längere  Zeit  zu  fesseln  vermag.  Weise  Auswahl  aus  den  beinahe  90  Seiten  ist 
aber  geboten. 

Sehr  starke  Zweifel  beschleichen  uns  über  die  Verwendbarkeit  von  Band  2 
im  Unterricht.  Schon  vor  Jahrzehnten  ist  der  Versuch,  Descartes  in  der  Schule 
einzubürgern  gescheitert.  Heute  liegen  die  Verhältnisse  nicht  viel  anders.  P.  Ziert- 
mann  empfiehlt  den  Discours  de  la  methode  als  eine  treffliche  Einführung  in  philo- 
sophisches Denken  und  hat  den  deutschen  Text  außerhalb  der  Schule  mit  seinen 
Primanern  (wahrscheinlich  in  einem  philosophischen  Kränzchen)  besprochen.  Wir 
möchten  von  Erfahrungen  mit  der  französischen  Ausgabe  Inder  Schule 
hören.  Die  Lektüre  von  Descartes  bedeutet  ohne  Frage  eine  offenkundige  Ver- 
kennung der  vielen  Aufgaben,  die  der  französische  Unterricht  in  vier  wöchentlichen 
Stunden  auf  der  Oberstufe  der  Realanstalten  zu  leisten  berufen  ist.  Diese  Lektüre 
erfordert,  um  nur  Einiges  hervorzuheben,  die  Zurücksetzung  der  klassischen  Meister- 
werke, vornehmlich  Moli^res,  der  großen  Historiker,  der  neueren  Lyrik  u.  a.,  wenn 
in  dem  Zeitraum  von  zwei  Jahren  auf  Prima  mindestens  zwei  Tertiale  der  Be- 
handlung rein  philosophischer  Schriftsteller  geopfert  werden.  Wie  kommt  ferner 
in  der  Lektüre  von  Descartes  die  für  eine  moderne  Sprache  so  wichtige  formale 
Seite  zu  ihrem  Recht?  Wie  kann  sie  dem  Aufsatz  dienen,  wie  Stilgefühl  wecken? 
Jeder  Lehrer  der  Realprima  bedauert  die  geringen  Erfolge,  die  trotz  jahrelangen 
Hinarbeitens  im  Aufsatz  erreicht  werden,  und  niemand  wird  leugnen,  daß  die  schwer- 
fällige, altertümliche  Sprache  des  Philosophen  in  dieser  Hinsicht  nur  schädlich  wirken 
kann.  Ziertmann  war  sich  ähnlicher  Einwürfe  gewärtig.  Wie  begegnet  er  ihnen? 
Unsern  Schülern  traut  er  genügend  Kentnisse  im  Neufranzösischen  zu,  um  sich 
solchem  Einflüsse  entziehen  zu  können  und  zweitens  hofft  er,  sie  durch  diese  Ab- 
weichungen vielmehr  zu  anregenden  Vergleichen  und  Ausblicken  in  die  Entwicklung 
der  Sprache  anzuleiten  (!),  überdies  hält  er  die  Interpretation  in  der  Fremdsprache 
durch  den  Lehrer  für  wünschenswert.  Darauf  möge  die  Antwort  mit  zwei  Fragen 
gegeben  werden.  1.  An  welchen  Anstalten  findet  er  so  tüchtiges  Schülermaterial? 
2.  In  welcher  Zeit  denkt  er  sich  die  Umformungen  in  die  heutige  Sprache  möglich, 
wieviel  braucht  er  z.  B.  um  die  ganze,  eine  Periode  bildende  S.  92  zu  zerlegen, 
erklären  und  in  Münchs  Sinne  zu  übertragen?  Die  exakte  deutsche  Interpretation 
ist  nach  unsrer  Ansicht  der  einzig  mögliche  Weg  zum  richtigen  Erfassen  eines  so 
tief  angelegten  Werkes,  bei  welchem  jede  einzelne  Stelle  und  jeder  einzelne  Begriff 
klar  geworden  sein  muß.  Dies  Zugeständnis  macht  selbst  Walter  in  seiner  neuesten 
Methodik  (Marburg  1909,  H.  G.  El  wert,  S.  46),  fügt  aber  hinzu,  daß  er  Ober- 
primaner einer  Oberrealschule  sich  n  u  r  in  englischer  Sprache  über  philosophische 
Fragen  aus  Herbert  Spencer  habe  fließend  und  zusammenhängend  ausdrücken 
sehen.  Die  Behandlung  einer  hochliegenden  Lektüre  nach  der  extremen  Reformer 
Methode,  zu  der  sich  dann  auch  Ziertmann  bekennt,  sind  und  bleiben  Ausnahmen, 
sie  heißt  die  Leistungsfähigkeit  der  Lehrer  und  Schüler  überschätzen.  Solche  Resul- 
tate sind  unmöglich  bei  dem  häufigen  Lehrerwechsel,  den  manche  Schülergenerationen 
erfahren.   Bei  dem  heutigen  Betrieb  vermag  mit  dem  besten  Willen  der  vielbeschäf- 


Zur  französischen  Lektüre.  681 

tigte  Neuphilologe,  der  sich  stets  im  fremden  Idiome  fortbilden  soll,  sich  nicht  auch 
die  erforderlichen  philosophischen  Kenntnisse  anzueignen  oder  aufzufrischen,  wie 
sie  die  kunstvolle  Lektüre  Descartes  erheischt.  Man  erinnere  sich  weiter,  daß  ge- 
wichtige Stimmen,  wie  die  Oskar  Jägers  laut  geworden  sind,  die  sich  bei  der  knapp 
bemessenen  Zeit  und  der  ungemeinen  Schwierigkeit  der  lehrhaften  Behandlung 
philosophischer  Gegenstände  von  einer  Lektüre  selbst  Schillers  philosophischer 
Schriften  im  Deutschen  wenig  Ersprießliches  versprechen.  Sind  überhaupt  viele 
Schüler  an  sich  für  einen  solchen  Unterrichtsgegenstand  befähigt?  Uns  scheint 
vielmehr  natürlich,  daß  das  Vorwiegen  von  mathematisch-physikalischen  und  natur- 
wissenschaftlichen Problemen  aller  Art  auf  der  Oberrealschule  in  den  Schülern  ein 
Bedürfnis  nach  Abwechslung  und  einen  gewissen  Heißhunger  in  der  Lektüre  der 
neueren  Sprachen  nach  anderer  Kost  erzeugt.  Ruskas  Sammlung  sollte  daher 
historische,  literarische,  kulturgeschichtliche,  ästhetische  Schriften  mehr  bevorzugen. 
Das  Herausarbeiten  des  Gedankeninhalts  erklärt  Geheimrat  Matthias  (Praktische 
Pädagogik,  2.  Aufl.,  S.  47)  auch  für  eine  erhebliche  und  wertvolle  Leistung  und  an 
modernen  Autoren,  an  denen  diese  Geistesarbeit  geschehen  kann,  haben  wir  eine 
solche  Fülle,  die  einen  Verzicht  auf  Descartes  sehr  wohl  zuläßt.  Zu  unserer  Freude 
sehen  wir  in  allerletzter  Stunde  uns  in  den  gegen  ihn  erhobenen  Bedenken  durch 
Münch  gestützt,  der  in  einer  Besprechung  Buddes  (Monatschrift  VHI,  114)  fürchtet, 
daß  in  der  philosophischen  Lektüre  die  Schüler  weder  Philosophie  noch  Französisch 
lernen.  —  Die  Aussetzungen  waren  grundsätzlicher  Art,  Ziertmanns  Ausgabe  gebührt 
wegen  ihrer  Gründlichkeit  und  Sachkenntnis  alles  Lob.  Ohne  Schaden  dürfen  die 
Fußnoten  gekürzt  werden,  für  eine  neue  Auflage  mögen  einige  Druckfehler  gekenn- 
zeichnet werden  (36,  8.  50,  5.  55,  8.  89,  13.  89,  29).  Alles  in  allem:  ob  durch  die 
Lektüre  eines  rein  philosophischen  Schriftstellers  der  französische  Unterricht,  in 
welchem  auch  wir  eine  stärkere  Betonung  der  inhaltlichen  Seite  dringend  wünschen, 
gehoben  werden  kann,  bleibt  sehr  fraglich.  In  der  Theorie  gehören  alle  vier  Bändchen 
nach  Oberprima.  Soviel  ist  sicher,  für  den  Augenblick  hat  mit  der  Ruskaschen 
Sammlung  die  neusprachliche  Lektüre  einen  gewissen  Höhepunkt  erreicht. 

Eine  neue  Sammlung  seit  Herbst  1908 !  Diesterwegs  Neusprach- 
liche Reformausgaben  als  Seitenstück  zu  seinen  deutschen  Schulaus- 
gaben. Gleich  Ruska  will  der  Herausgeber,  Professor  Dr.  Max  Friedrich 
Mann,  den  Nachweis  liefern,  daß  die  dem  neusprachlichen  Unterricht  zu  Gebote 
stehenden  Bildungsmittel  denen  der  klassischen  Sprachen  „mindestens  gleichwertig" 
sind.  Die  Sammlung  richtet  in  erster  Linie  ihr  Augenmerk  auf  bisher  in  Schul- 
ausgaben nicht  veröffentlichte  Stoffe,  sie  gedenkt  die  Meister  der  Gegenwart  und  der 
jüngsten  Vergangenheit  der  Jugend  zuzuführen,  berücksichtigt  besonders  die  An- 
fangslektüre und  will  nicht  zuletzt  die  Anforderungen  befriedigen,  die  die  Neuordnung 
des  höheren  Mädchenschulwesens  an  die  neusprachlichen  Lehrmittel  stellt.  Soweit 
in  kurzen  Worten  ihr  Programm.  Die  Kommentare  im  Sonderheftchen  nebst  Glossar 
der  erklärten  Vokabeln  sind  einsprachig  gemäß  dem  Verfahren,  das  Mann  zuerst 
in  seiner  Cäsar-Ausgabe  befolgt  hat.  Die  Ausstattung  der  dauerhaft  gebundenen 
bordeauxroten  Bändchen  (etwas  größer  als  die  Velhagenschen),  der  große  und  sorg- 
fältige Druck  (nur  in  Band  4  fiel  S.  10,  21  ne  statt  en  auf)  sind  mustergültig.  Der 
kaum  70  Seiten  zu  30  Zeilen  überschreitende  Umfang  gestattet  die  Durcharbeitung 


682  W.  Bohnhardt, 

in  einem  Semester.  In  Band  1  und  4  nimmt  Mann  den  bereits  1904  von  Professor 
Völcker-Köln  in  seiner  Ausgabe  des  Alexandre  (siehe  „dramatische  Lektüre)  ge- 
machten Versuch  wieder  auf,  den  Schüler  mit  Gobineaus  Lebensarbeit  vertraut  zu 
machen  durch  zwei  Stücke  aus  seinen  Nouvelles  asiatiques,  in  denen  der  Niederschlag 
seiner  Rassenphilosophie  deutlich  erkennbar  ist.  Auf  neun  Seiten  Einleitung  skizziert 
er  Gobineaus  Leben,  die  Stellung,  die  seine  Werke  sich  seit  einem  Jahrzehnt  in 
Deutschland  errungen  und  hebt  Prof.  Schemanns  erfolgreiche  Bemühungen  um  die 
Begründung  der  Gobineausammlung  hervor.  In  Les  Amants  de  Kandahar  ist  das 
uralte  und  beliebte  Motiv  von  Romeo  und  Julia  auf  orientalische  Verhältnisse  über- 
tragen und  zu  einer  tiefergreifenden  Geschichte  verarbeitet.  Auch  hier  werden  die 
Liebenden,  die  durch  den  Zwist  der  Familie  getrennt  sind,  im  Tode  vereint.  Für 
den  köstlichen  Humor  und  die  feine  Ironie  des  Denkers  und  Dichters  in  La  Guerre 
des  Turcomans  (Band  4)  wird  der  Schüler  nicht  in  dem  Maße  empfänglich  sein 
wie  der  Erwachsene.  Inhalt  und  Darstellung  der  uns  ganz  fremden  Kultur  mutet 
zu  seltsam  an.  Wer  die  Vorzüge  entbehrt,  etwas  vom  Orient  zu  kennen  und  Go- 
bineau  zu  lieben,  dem  ist  die  Lektüre  nicht  allzu  sehr  anzuraten.  Bei  aller  persön- 
lichen Hochachtung  vor  Gobineau  glaube  ich  daher  die  beiden  sich  durch  leichte 
und  elegante  Sprache  auszeichnenden  Novellen  für  eine  statarische  Lektüre  ablehnen 
zu  müssen.  Schüler  der  Oberstufe  mit  Zeit  und  Verständnis  werden  an  der  Privat- 
lektüre Genuß  haben;  sie  wird  übrigens  durch  die  Übersetzung  bei  Reclam  erleichtert. 

—  Es  ist  nicht  reizlos,  aus  dem  fernen  Osten  ohne  Zwischenstation  gleich  in  den 
äußersten  Westen  zu  schweifen.  Durch  Band  3  macht  uns  P.  A  r  ö  n  e  ,  der  Freund 
und  Mitarbeiter  von  A.  Daudet,  mit  acht  Erzählungen  in  der  Provence  heimisch. 
Sie  entwerfen  in  anspruchsloser  Weise  humorvolle  Bilder  vom  kleinstädtischen  Leben 
und  von  kirchlichen  Volksgebräuchen  oder  geben  die  in  Südfrankreich  so  beliebten 
Legenden  wieder;  in  fast  allen  Geschichten  läßt  sich  ein  gewisser  Zug  zum  Alter- 
tümlichen fühlen,  das  Hauptmerkmal  aller  Landschafts-  und  Heimatkunst.  Leichter 
Stil  und  echt  französische  Ironie.  Eine  kurze  Lebensbeschreibung  orientiert  über 
den  Verfasser.  L.  Petry  schlägt,  wie  uns  dünkt  mit  Recht,  diese  zum  Teil  recht 
frischen  und  herzhaften,  zum  Teil  auch  etwas  gesuchten  Stoffe  als  rasche  Lektüre 
für  die  Oberstufe  vor.  Bisweilen  mißglückt  den  Herausgebern  im  Kommentar,  der 
nicht  allzuselten  die  Selbsttätigkeit  der  Schüler  auf  ein  höheres  Niveau  erheben 
könnte,  die  Umschreibung  der  zu  erläuternden  Ausdrücke.  In  der  Erklärung  selbst 
müssen  doch  unbekannte  Worte  vermieden  werden.  (So  in  Heft  3:  S.  35,  22  massue 

—  bäton  noueux;  45,  24  blutie  —  tris  fine,  comme  passie  dans  le  blutoir  und  öfter; 
35,  25  sind  einige  Vokabeln  erst  bei  36,8  umschrieben.  Das  Lächeln  der  Primaner 
erregt  3,  22  die  Definition  von  bouc  —  male  de  la  chivre.)  Einer  gründlichen  Prüfung 
Band  5  zu  unterziehen,  gebrach  es  an  Zeit.  Nach  Manns  Unterrichtserfahrung 
haben  sich  die  7  Contes  de  France  eindrucksvoll  auf  jugendliche  Gemüter  bewiesen. 
Sie  sind  einfach  geschrieben  und  sollen  frei  von  den  aufdringlichen  Moralisationen 
der  gewöhnlichen  französischen  Kindergeschichten  sein.  Zum  erstenmal  hören  auch 
die  Untertertianer  von  den  großen  Namen  Rabelais  und  Comines  in  den  Erzählungen. 
Perrault  wird  sie  fesseln.  Unverständliche  und  veraltete  Ausdrücke  sind  durch  mo- 
derne ersetzt.  Die  Aufnahme  von  Stoffen  gerade  für  die  erste  Lektüre,  an  denen 
ziemlicher  Mangel  herrscht,  ist  ein  verständiger  Gedanke  des  Veranstalters  der 


Zur  französischen  Lektüre.  683 

Sammlung,  und  sein  Name  bürgt  uns  wohl,  daß  die  weiteren  Bände  etwas  recht 
Brauchbares  bescheren  werden. 

Von  V  i  0  1  e  t  s  in  Mustersätzen  geschriebenen  Sprachnovellen  liegen  Band  1 
und  3  vor.  Sie  bieten  sich  als  ein  Hilfsmittel  zur  Erlernung  der  Umgangssprache 
an,  indem  sie  die  Realien  in  das  Gewand  einer  „lebensvollen  und  spannenden"  (?) 
Erzählung  kleiden.  Die  in  Frage  kommenden  grammatischen  Erscheinungen  sind 
im  Text  fett  oder  gesperrt  gedruckt.  Während  La  lutte  pour  la  vie  mehr  Fort- 
geschritteneren dienen  will,  soll  Toujours  pret,  eine  zurechtgestutzte  moralische 
Kindergeschichte  von  36  Seiten  die  Anfänge  der  Grammatik  lehren.  Die  „Über- 
sicht der  Sprachlehre"  ist  eine  Fundgrube  der  merkwürdigsten  Vokabeln  (z.  B. 
unter  den  Substantiven  auf  -al  und  ail  S.  38  u.  39  oder  bei  den  weiblichen  Formen 
der  Haupt-  und  Eigenschaftswörter  S.  53  u.  54),  mit  deren  Bekanntschaft  der  Her- 
ausgeber den  jugendlichen  Schüler  beglücken  zu  müssen  glaubt,  während  er  die 
Formen  der  unregelmäßigen  Verben  (S.  44  ff),  nicht  aufnimmt.  Wohl  ohne  Vorbild 
ist  das  französisch-deutsche  Wörterbuch.  Neben  dem  in  Teile  zerlegten  fran- 
zösischen Text  der  Geschichte  steht  die  deutsche  Übertragung  {mon  pere  mort, 
als  mein  Vater  gestorben  war,  on  m'envoya  schickte  man  mich!!)  Die  Novellen 
mögen  an  Handels-  und  Fortbildungsschulen  oder  im  Privatunterricht  Nutzen 
stiften,  an  höheren  Schulen  ist  ihr  Platz  nicht.  Einzelne  Provinzialschulkollegien 
haben  sich  schon  früher  gegen  ähnliche  Versuche  ausgesprochen,  so  wenn  wir 
nicht  irren,  gegen  die  bei  Spindler  in  Leipzig  veröffentlichten  Lehrstoffe  zur  Ein- 
führung in  die  Umgangssprache  und  Lebensverhältnisse  des  französischen  (eng- 
lischen) Volkes,  obwohl  in  einigen  wie  Jours  d'^preuve  und  In  the  Strnggle  of 
Life  der  Gedanke,  daß  jeder  Sprachunterricht  auch  Sachunterricht  sein  müsse, 
mit  mehr  Geschick  und  Geschmack  als  in  obigen  Bänden  durchgeführt  ist. 

3.  Dramatische  Lektüre. 

Gobineau,  Alexandre  le  Mac6donien.  Tragödie  en  cinq  actes. 
Für  den  Schulgebrauch  erklärt  von  B.  V  ö  1  c  k  e  r.  Leipzig  1904.  Rengersche 
Buchh.  Französische  Schulbibliothek,  Poesie  Band  30.  XIXu.  84S.  Text  nebst 
Anmerkungen,     geb.  1,10  M. 

Trois  com6dies  modernes.  Recueil  de  commentaires  explicatifs  preced^s 
d'une  courte  introduction  litt^raire  par  P,  B  a  s  t  i  e  r.  Berlin  1906.  Weidmannsche 
Buchhandlung.  Band  57  der  Schulbibliothek  französischer  und  englischer  Prosa- 
schriften.   78  S.    geb.  1  M. 

Chrestomathie  dramatique.  Extraits  relies  par  des  analyses  narratives.  Pr^cedes 
d'une  introduction  litt^raire  et  suivis  d'un  commentaire  explicatif  par  P.  B  a  s  t  i  e  r. 
Berlin  1908.  Weidmannsche  Buchhandlung,  Band  25  der  Schulbibliothek  fran- 
zösischer und  englischer  Prosaschriften.    XV  u.  232  S.    geb.  2,20  M. 

Rostand,  E.,  La  Princesse  lointaine,  Edition  abr^g^e  avec  notes  ä 
l'usage  des  ^coles  par  F,  Kraft  et  L,  Marc  band,  Leipzig  1907,  Renger, 
Französische  Schulbibliothek,  A,  Band  31.  XV  u,  105  S,  Text  und  Notes,  geb,  1  M. 

Rostand,  E.,  La  Samaritaine.  Mit  Anmerkungen  zum  Schulgebrauch 
herausgegeben  von  Th^rfese  Kempf.    Bielefeld  u.  Leipzig  1906,   Velhagen  u,  Klasing. 


684  W.  Bohnhardt, 

Th^ätre  franyais,  Lieferung  71.  Ausgabe  B.  XXVI  u.  83  S.  Text;  24  S.  Anhang, 
geb.  1  M. 

Th^ätre  moderne.  Mit  Anmerkungen  zum  Schulgebrauch  herausgegeben  von 
F.  W.  Bernhardt.  Bielefeld  u.  Leipzig  1909.  Velhagen  u.  Klasing.  Theätre  fran- 
9ais,  Lieferung  72.  Ausgabe  B.  XXII  u.  91  S.  In  einem  Anhange  21  S.  An- 
merkungen.   (Außerdem  Wörterbuch),    geb.  1  M. 

Das  durch  die  Lehrpläne  von  1901  (S.  36)  in  die  Schule  zugelassene  mo- 
derne Drama  spielt  bedauerlich  noch  eine  sehr  untergeordnete  Rolle. 
Außer  der  überall  in  Ehren  gehaltenen  Mademoiselle  de  la  SeigUire  erklärt  der 
vom  allgemeinen  deutschen  Neuphilologentage  zusammengestellte  Lektürekanon 
(Neuere  Sprachen  XVI.)  aus  der  Fülle  der  Erzeugnisse  des  19.  Jahrhunderts  höchstens 
6 — 7  Dramen  für  brauchbar.  Einerseits  harren  noch  manche  wirkliche  Perlen  der 
Auffindung,  anderseits  wird  durch  die  von  dem  lebenden  Autor  verweigerte  Er- 
laubnis der  Herausgabe  viel  Wertvolles  der  Schule  entzogen  (wie  es  der  Bericht- 
erstatter an  sich  mit  Rostands  Cyrano  erfuhr). 

Diese  Lücken  auzsufüllen  machen  sich  mehrere  erwähnenswerte  Schulausgaben 
der  letzten  Zeit  zur  Aufgabe.  Zunächst  soll  das  Interesse  auf  eine  antike  Tragödie 
gelenkt  werden.  Man  muß  es  Prof.  V  ö  1  c  k  e  r  dank  wissen,  daß  er  in  die  Fußstapfen 
Schemanns,  des  opferfreudigen  Verteidigers  Gobineaus  in  Deutschland,  getreten  ist, 
indem  er  dem  in  Frankreich  verkannten,  für  unsre  Kultur  begeisterten  Dichter  und 
Künstler  auf  unsren  Schulen  Bürgerrecht  erwerben  möchte.  Nach  der  Lektüre  der 
streng  klassischen  Tragödie  auf  Obersekunda  geht  Völcker  in  Unterprima  zu  der 
des  Alexandre,  als  gewisse  Fortsetzung  und  Ergänzung  über,  denn  Gobineau  folgt 
den  Romantikern,  indem  er  durch  Nichtbeachtung  der  Einheiten  der  Zeit  und  des 
Ortes  seinem  Stück  Bewegung  und  Leben  verleiht,  ohne  dabei  aber  mit  völliger 
Willkür  im  Sinne  V.  Hugos  zu  verfahren.  Die  Vorzüge  des  so  vielseitigen  Mannes 
als  Dramatiker  treten  im  Alexandre  sofort  zutage.  Bilder  und  gedankenvolle 
Sprache,  hohe  psychologische  Meisterschaft  in  der  Charakterzeichnung  des  überaus 
groß  und  schön  herausgemeißelten  Helden,  zu  dem  Gobineau  ja  im  allerinnigsten 
Verhältnis  steht.  Eine  der  leitenden  Lebensideen  des  Grafen,  wie  einsam  der  Große 
auf  der  Erde  ist,  bildet  auch  hier  den  Grundgedanken.  Ungeteilten  Beifall  wird 
die  Kürze  finden,  der  sich  Völcker  in  den  ausschließlich  Sacherklärungen  bringenden 
Anmerkungen,  auf  bloß  8  Seiten,  befleißigt.  Willkommen  ist  die  nach  dem  Drama 
zusammengestellte  Zeittafel.  Als  einen  ganz  glücklichen  Griff  muß  man  die  Heran- 
ziehung Gobineaus  bezeichnen,  obendrein  in  einer  gediegenen  Ausgabe,  die  aus 
reicher  praktischer  Erfahrung  erwachsen  ist.  Möchte  bald  ihre  Stunde  kommen, 
namentlich  als  angenehme  Abwechslung  für  solche  Lehrer,  die  an  Anstalten  mit 
wenig  Neuphilologen  den  französischen  Unterricht  jahraus  jahrein  auf  der  Oberstufe 
zu  erteilen  gezwungen  sind. 

P.  B  a  s  t  i  e  r  ,  Professor  an  der  Akademie  in  Posen,  hat  im  Band  57  der  Weid- 
mannschen  Sammlung  zu  drei  einaktigen  Lustspielen,  die  zu  geringem  Preise, 
besonders  bei  größeren  Mengen  aus  Paris  zu  beziehen  sind,  kurze  Einleitungen 
und  erklärenden  Kommentar  verfaßt.  Die  Stücke  rühren  von  stilistisch  sich  scharf 
unterscheidenden  Autoren  her.  Obwohl  eigentlich  kein  Stoff  für  die  Schule,  will 
sich  Münch  Le  Village  von  F  e  u  i  1 1  e  t  doch  gefallen  lassen,  das  sich  unseres  Wissens 


Zur  französischen   Lektüre.  685 

an  manchen  Anstalten  eingebürgert  hat.  L'CEillet  Blanc,  ein  lever-de-rideau,  das 
während  der  französischen  Revolution  spielt,  ist  eines  der  älteren  Sachen  von 
A.  Daudet,  verrät  jedoch  bereits  dessen  hervorragende  dichterische  Eigenschaften. 
Die  Blüette  Gringoire  versetzt  uns  in  die  romantische  Zeit  Ludwigs  XL  und  ver- 
mag trotz  ihres  hohen  Alters  (aus  dem  Jahr  1866)  durch  historisches  und 
dramatisches  Interesse  noch  immer  zu  packen.  Sie  ist  V.  Hugo  gewidmet,  der, 
wie  man  weiß,  schon  vorher  dem  Helden  in  seinem  Roman  Notre  Dame  eine  be- 
deutende Rolle  zugewiesen  hatte.  In  Gringoire  bekommt  der  Schüler  zugleich 
eine  Ahnung  von  der  den  Franzosen  eigentümlichen  mittelalterlichen  Ballade,  die 
mit  dem  etwas  archaisch  gefärbten  Stil  harmoniert.  Wem  also  die  zwei  letzten 
Dramen  noch  neu  sind,  der  lasse  sich  durch  die  tüchtige  Leistung  des  Kommentars 
zu  ihrer  Lektüre  anregen.  —  Die  grundsätzlichen  Gegner  jeder  Art  von  Chresto- 
mathie werden  auch  die  dramatische  von  P.  Bastier  nicht  besonders 
sympathisch  aufnehmen.  Mit  ihrem  doppelten  Zweck  ist"  sie  nicht  ohne  gewisse 
Bedeutung.  Sie  beabsichtigt  einen  abwechslungsreichen  und  interessanten  Lehr- 
stoff zu  liefern  und  zugleich  in  die  literarische  Komödie  des  19.  Jahrhunderts  ein- 
zuführen. Von  dieser  gewähren  jedoch  einfache  Auszüge  aus  den  Texten  keinen 
klaren  Begriff,  und  ebensowenig  empfiehlt  es  sich,  die  Stücke  zu  einer  eigentlichen 
Schulausgabe  zurechtzustutzen.  Bastier  verfiel  daher  auf  einen  freilich  nicht  neuen 
Ausweg.  Er  hat  aus  allen  Dramen  einige  der  charakteristischen  Teile  herausge- 
schnitten und  von  den  nicht  abgedruckten  Akten  Inhaltsangaben  verfaßt,  die  eine 
Vorstellung  von  dem  Ganzen  und  dem  in  ihm  pulsierenden  Leben  gestatten. 
A  u  g  i  e  r. ,  der  größte  französische  Dramatiker  nach  Moliere,  dem  das  Lustspiel 
überhaupt  einen  neuen  Aufschwung  verdankt,  eröffnet  den  Reigen  mit  Le  gendre 
de  M.  Poirier.  Auch  Münch  wird  dem  Stücke,  das  ihm  wegen  des  Verhältnisses  des 
jungen  Ehemannes  anstößig  erscheint,  nach  Ausmerzung  der  nicht  einwandfreien 
Stellen  den  Eintritt  in  die  Schule  nicht  mehr  versagen,  nachdem  es  auch  vor  den 
Kanonrichtern  Gnade  gefunden  hat.  Das  von  Bastier  Aufgenommene  ist  völlig 
harmlos.  In  Le  fils  de  Giboyer,  —  von  Paul  Lindau  wegen  des  Verhältnisses  des 
entsagungsvollen  Vaters  zum  Sohn  „Pelikan"  betitelt  —  steht  Augier  ohne  Zweifel 
auf  der  Höhe  des  Schaffens,  aber  es  ist  mehr  als  fraglich,  ob  die  deutsche  Jugend 
für  die  Behandlung  von  überlebten  Problemen  aus  der  Zeit  von  1850  noch  Verständ- 
nis und  Geschmack  besitzt,  nachdem  obendrein  die  Umwälzungen  von  1870  eine 
neue  Gesellschaft  ins  Leben  gerufen  haben.  Gewissermaßen  im  Gegensatz  zu  den 
schwereren  Problemen  und  der  einfachen  kräftigen  Sprache  Augiers  steht  die  form- 
vollendete geistvolle  Konversation  P  a  i  1 1  e  r  o  n  s  ,  dessen  Milieu  der  Pariser  Salon 
ist.  Sein  Le  Monde  ou  Von  s'ennuie,  dem  Femmes  savantes  und  Prkieuses 
ridicules  innerlich  verwandt,  hat  sich  in  der  guten,  nur  unwesentlich  gekürzten 
Ausgabe  von  Werner  (Velhagen  u.  Klasing,  ThMtre  frangais  No.  70)  bereits  einen 
Platz  auf  dem  Kanon  erobert  und  verdient  in  Zukunft  größere  Berücksichtigung. 
Gegen  desselben  Verfassers  Cabotins  (das  letzte  Stück  der  Chrestomathie),  die  in 
Pariser  Künstlerkreise  führen  und  deutliche  Neigung  zur  Satire  hervorkehren,  fällt 
ins  Gewicht,  da  die  diesen  eigentümlichen  jargonartige  Sprache  dem  deutschen 
Schüler  nicht  unerhebliche  Schwierigkeiten  bereitet.  Man  beachte  in  den  An- 
merkungen zu  e  i  n  e  r  Seite  Text  häufig  8 — 10  sprachliche  Erläuterungen  oder  Um- 


686  W.  Bohnhardt,  Zur  französischen  Lektüre. 

deutungen  in  die  Schriftsprache.  Weshalb  eine  derartige  unfruchtbare  Lektüre? 
Sonst  kann  man  sich  an  der  Chrestomathie  erfreuen;  die  knappen  und  klaren  Ein- 
leitungen zu  den  Stücken,  die  Analyse  der  Akte,  die  verständigen  Anmerkungen 
verraten  den  feinen  Kenner  der  französischen  Literaturgeschichte  des  letzten  Jahr- 
hunderts, als  der  sich  uns  Bastier  bereits  in  seiner  Studie  über  ,,V.  Hugo  und  seine 
Zeit"  vorgestellt  hat. 

Will  die  Schule  auch  von  den  neuesten  Erscheinungen  Notiz  nehmen,  so  darf 
sie  an  R  o  s  t  a  n  d  nicht  vorübergehen.  Auf  seine  Princesse  lointaine  ist  der  Neu- 
romantiker von  all  seinen  Werken  am  stolzesten.  Die  rührende  Überlieferung  von 
demTroubadourJaufre  Rudel,  der  auf  seiner  Irrfahrt  Krankheit,  Stürmen  und  Sara- 
zenen mutig  die  Stirn  bietet,  um  die  ferne  Geliebte,  für  die  er  auf  einen  Bericht 
von  Pilgern  hin  entbrannt  ist,  nur  ein  einziges  Mal  lächeln  zu  sehen,  ist  in  alter 
und  neuer  Zeit  vielen  Dichtern  ein  dankbares  Motiv  gewesen.  Dem  Rostandschen 
an  Stimmungsbildern  reichen,  „aus  himmlischer  und  irdischer  Liebe  zusammen- 
geschweißten" Kreuzfahrerstück  mit  der  Idee,  daß  die  große  Liebe  himmelwärts 
führt,  fehlt  die  eigentliche  dramatische  Fabel.  Die  Fülle  der  seltenen  und  archa- 
ischen Ausdrücke,  die  originellen  Konstruktionen  des  Dichters  und  der  ganze  In- 
halt beschränken  die  Lektüre  des  Versdramas,  wenn  es  überhaupt  das  Placet  er- 
hält, auf  die  Oberprima.  In  der  Schulausgabe  sind  die  literarische  Einleitung  und 
die  ebenfalls  französisch  abgefaßten  Anmerkungen  hervorzuheben;  neu  ist  der 
Plan  de  l'adion  (fast  4  S.),  der  dem  Lehrer  zugleich  die  nötigen  Ausdrücke  für  die 
Besprechung  der  Technik  des  Dramas  übermittelt.  In  den  Neueren  Sprachen 
XIV,  207  ff.  und  in  der  Beilage  zum  Jahresbericht  der  Realschule  zu  Worms,  Ostern 
1907  (No.  818),  versucht  Dr.  Kraft  der  Schulausgabe  die  Wege  zu  ebnen.  Seine 
metrische  Übersetzung  der  Princesse  ist  auf  Amerika  beschränkt,  da  kurz  vor  ihrer 
Vollendung  Fr.  von  Oppeln-Bronikowski  seine  von  Rostand  autorisierte  veröffent- 
lichte. In  La  Samaritaine  ist  die  große  himmelwärts  führende  Liebe  noch  in  wört- 
licherem Sinne  Grundgedanke.  Je  schwächer  die  den  Mittelpunkt  bildende  Be- 
kehrung der  schönen  Sünderin  motiviert  werden  kann,  desto  mehr  sucht  Rostand 
durch  ästhetische  Mittel  die  Schwächen  zu  verhüllen.  Zur  Füllung  seiner  Alexan- 
driner ist  er  verstechnisch  oft  gezwungen,  die  erhabenen  Gedanken  der  Bibel 
durch  breitausgesponnene  Reden  zu  verflachen.  Ein  Drama,  in  dem  Christus  auf- 
tritt, —  als  schön  gelockter  abbe  in  der  Auffassung  von  Renan,  der  in  glänzenden 
Tiraden  spricht  —  (Fr.  v.  Oppeln-Bronikowski  in  Westermanns  Monatsheften  1907.) 
wird  wohl  für  immer  vergeblich  um  Einlaß  an  unsren  Schulen  anklopfen.  Selten 
mag  ein  Satz  in  einem  Vorwort  mehr  zum  Widerspruch  gereizt  haben  als  der  von 
Th^rese  Kempf,  „daß  die  Aufnahme  von  La  Samaritaine  nach  den  aus  pädago- 
gischen Gründen  vorgenommenen  Kürzungen  in  die  Sammlung  von  Velhagen  u. 
Klasing  wohl  kaum  einer  Rechtfertigung  bedürfe".  Nach  diesem  grundsätzlichen 
Einwand  gegen  das  Stück  sei  mit  Vergnügen  zugestanden,  daß  wir  von  der  Arbeit 
Fräulein  Kempfs  nicht  ohne  Interesse  Kenntnis  genommen  haben.  Die  Rolle  der 
Photine  ist  für  Sarah  Bernhardt  geschaffen,  möge  nicht  etwa  auch  das  jüngste 
für  sie  zusammengeschriebene  Drama  La  Courtisane  de  Corinthe,  das  wir  vorige 
Ostern  „abgesessen"  haben,  einen  Fachgenossen  zur  Veröffentlichung  für  die  Schule 
begeistern ! 


H.  Eichhoff,  Das  Petit  Lycee,  angez.  von  M.  Naht.  687 

Als  Ostergabe  von  1909  ging  uns  schließlich  noch  Bändchen  72  von  Vellhagen 
und  Klasing  zu:  Theätre  moderne.  Drei  Einakter  in  Versen.  Zuerst  Jean-Marie 
von  T  h  e  u  r  i  e  t.  Diese  reizvollen  Verse  voll  poetischer  Schönheiten  behandeln 
das  Enoch  Arden  Motiv.  Da  das  an  der  Küste  der  Bretagne  spielende  Stück  manche 
typischen  Züge  aus  dem  Leben  ihrer  Bewohner  wiedergibt,  so  empfiehlt  der  Her- 
ausgeber als  eine  wertvolle  Ergänzung  der  Lektüre  Bd.  127  Velhagen  u.  Klasing 
{La  Bretagne  et  les  Bretons).  Weniger  psychologische  Vertiefung  darf  man  von  den 
zwei  Dramen  C  o  p  p  6  e  s  erwarten.  Le  Luthier  de  Cremone,  in  welchem  der  jüngst 
verstorbene  Coquelin  ain^  als  Darsteller  der  dankbaren  Titelrolle  eines  buckligen 
Geigenkünstlers  glänzende  Erfolge  errang,  hat  im  Auslande  Anerkennung  gefunden 
und  ist  auch  schon  bei  Weidmann  (Bd.  I,  20)  veröffentlicht.  Le  Tresor  endlich  ist 
nicht  gerade  das  beste  aus  der  großen  Menge  der  Einakter  Copp^es  und  uns  durch  die 
Reclamsche  Bibliothek  nicht  mehr  fremd.  Ein  auf  sein  verfallenes  Schloß  heim- 
gekehrter Emigrant  findet  statt  der  verborgenen  Reichtümer  den  wahren  Schatz  in 
der  ihn  heimlich  liebenden  Nichte  seines  ehemaligen  Lehrers.  Man  sieht,  die  Stoffe 
sind  einwandfrei.  Das  Wörterbuch  und  der  Anhang  mit  mancher  überflüssigen 
Belehrung  über  Dinge,  die  der  Schüler  aus  der  Grammatik  und  dem  Unterrichte 
kennen  muß,  wollen  wir  gelten  lassen  im  Hinblick  auf  die  Privatlektüre  in  0  II 
oder  U  I,  für  welche  sich  die  Ausgabe  eignet.  Der  Inhalt  mag  zu  Vorträgen  oder 
kleinen  Aufsätzen  verarbeitet  werden.  Vielleicht  beurteilt  heute  der  Altmeister 
Münch  die  neueren  Lustspiele  in  Versen  etwas  milder,  die  er  (bei  Baumeister,  Aus- 
gabe von  1898)  als  dem  Zwecke  der  Erlernung  der  wirklichen  Umgangssprache  nicht 
dienend,  abweist. 

Düsseldorf.  W.  Bohnhardt. 


b)   Einzelbesprechungen: 

Eichhoff,  H.,  Das  Petit  Lycee,  zur  Vergleichung  der  Grund- 
klassen derfranzösischen  Lyceen  mit  unsern  Vorschul- 
klassen.    Berlin  1908.    Trowitzsch  &  Sohn.    8».    54  S.    0,75  M. 
Das  Heft  behandelt  einen  Gegenstand,  der  vielleicht  manchem  nicht  bekannt 
ist,  auch  wenn  er  im  allgemeinen  den  französischen  Unterrichtsverhältnissen  Auf- 
merksamkeit zugewendet  hat.     Gleichzeitig  versucht  der  Verfasser,  mit  der  Dar- 
stellung der  ausländischen  Verhältnisse  eine  Kritik  der  heimatlichen  und  Vorschläge 
für  deren  sachgemäße  Umgestaltung  zu  verbinden.   Er  findet,  daß  die  fünfklassige 
Form  der  französischen  Grundschule,  ihre  rege  Verbindung  mit  der  Hauptanstalt 
als  ein  Vorzug  anzusehen  ist.    „Auf  breiterer  Grundlage  als  bei  uns,  in  langsamerem 
Tempo  und  mit  umfassenderer  Berücksichtigung  der  Ziele  der  höheren  Klassen 
können  die  französischen  Schüler  auf  die  Sexta  vorbereitet  werden."    Er  ist  aber 
keineswegs  ein  bedingungsloser  Lobredner  der  ausländischen  Verhältnisse.     Im 
Gegenteil,  er  hat  an  den  französischen  Einrichtungen  mancherlei  auszusetzen. 

Da  alle  irgendwie  bedeutsamen  Verhältnisse,  neben  der  Frage  der  eigent- 
lichen Organisation  die  Vorbildung,  Stellung  und  Entlohnung  der  Lehrer,  die 
Höhe  und  Art  der  Zahlung  des  Schulgeldes,  die  Zeiteinteilung  des  Schuljahres, 


688  E   Bertz,   Harmonische  Bildung,  angez.  von  E.  Grunwald. 

die  hygienischen  Verhältnisse,  die  Einwirkung  auf  die  Schüler  durch  das  Prinzip 
der  Schülerehrungen,  die  Gestaltung  der  Schulbücher  und  der  sonstigen  Lebens- 
mittel zur  Sprache  kommen  und  kritisch,  immer  im  Hinblick  auf  die  deutschen, 
oft  im  besondern  auch  auf  die  Berliner  Verhältnisse,  gewürdigt  werden,  bietet 
sich  auf  knappem  Räume  des  Lehrreichen  genug. 

Pankow.  Max  N  a  t  h. 

Bertz,  Eduard,  Harmonische  Bildung.  Ein  Buch  für  die  Zeit.  Dresden 
1909.  Karl  Reißner.  250  S.  8».  3,50  M. 
Die  Weltanschauung  des  Verfassers  ist  antispiritualistisch  und  ganz  auf  den 
Satz  gestellt:  Schafft  hier  das  Leben  gut  und  schön.  Aber  schon  Piaton  läßt  ja 
im  Euthyphron  durchblicken,  daß  wahrer  Gottesdienst  Dienst  an  den  Menschen 
ist,  und  nach  Lagarde  tut  uns  weniger  not  Ideale  zu  haben  als  mit  diesen  Idealen 
praktisch  Ernst  zu  machen.  Glaubt  der  eine  aus  eigner  Kraft  zu  ihrer  Verwirk- 
lichung imstande  zu  sein,  der  andre  alle  gute  und  vollkommene  Gabe  von  oben 
erwarten  zu  müssen:  das  Wesentlichste  bleibt  doch,  daß  beide  sich  strebend  be- 
mühen, nach  Vermögen  an  der  eignen  Besserung  und  der  der  andern  zu  arbeiten.  So 
wollen  auch  wir  diesen  erklärten  Monisten,  der  solchen,  „die  in  unsrer  innerlich 
schwankenden  und  von  Gegensätzen  zerrissenen  Übergangsperiode  den  Halt  ver- 
loren haben,  ein  Helfer  zu  klaren  Zielen  werden"  möchte,  nicht  ohne  weiteres 
ablehnen,  sondern  gern  anerkennen,  daß  er  unter  Schonung  jeder  ehrlichen  Über- 
zeugung das  Bestehende  prüft  und  seinen  Bildungsbegriff  und  sein  Bildungsideal 
aufstellt.  Harmonische  Bildung  ist  dem  Verfasser  „die  zu  voller  Reife  gediehene 
Übereinstimmung  des  Wollens  und  Strebens  der  Persönlichkeit  mit  den  durch  die 
Wirklichkeit  gegebenen  Bedingungen  alles  persönlichen  Seins".  Wir  müssen  es 
uns  hier  aber  versagen,  den  Gedankengängen  des  Verfassers  kritisierend  oder  auch 
nur  referierend  nachzugehen;  wir  begnügen  uns  zu  versichern,  daß  eine  reiche  Fülle 
von  Beobachtungen,  Betrachtungen  und  Anregungen,  die  die  wichtigsten  Probleme 
und  Aufgaben  der  Erziehung  und  des  öffentlichen  Lebens  erörtern  oder  wenigstens 
streifen,  das  Buch  zu  einer  fesselnden  und  hochziehenden  Lektüre  machen.  Uns 
interessiert  vornehmlich  des  Verfassers  Urteil  über  die  heutige  S  c  h  u  1  e  ,  in  deren 
Betrieb  und  Zielen  er  manche  Hindernisse  findet,  die  seinem  Bildungsideal  im  Wege 
stehen.  Er  beklagt  die  von  ihm  auf  Examina  und  Berechtigungswesen  zurück- 
geführte Überschätzung  des  Gedächtnisstoffes  und  Wissens,  wünscht  das  Haupt- 
gewicht auf  Weckung  des  Wissenstriebes  und  Übung  der  Denkkraft  gelegt,  fordert, 
daß  die  Schule  auf  die  Utopie  der  „allgemeinen  Bildung"  verzichte,  daß  der  Lehrer 
weniger  Handwerker,  aber  eine  Persönlichkeit  sei,  tadelt  die  Überfüllung  der  Klassen, 
die  die  antisoziale  Auslese  befördern,  wünscht  mehr  Erziehung  des  Schülers  zur 
Selbsttätigkeit,  mehr  Körperpflege,  keinen  patriotischen  Drill,  aber  auch  nicht 
bloß  Erziehung  für  die  Zeit,  denn  „der  höchste  Bildungsbegriff  steht  sab  specie 
aeterni"  —  u.  a.  m.  Viele  Vorschläge  des  Verfassers  werden  auch  in  Fachkreisen 
als  nicht  unberechtigt  anerkannt;  nicht  wenige  gehen  langsam  ihrer  Verwirklichung 
entgegen,  andre  stoßen  auf  finanzielle  oder  schultechnische  Schwierigkeiten,  manche 
müssen  wir  aus  grundsätzlicher  Gegnerschaft  gegen  die  religiöse  oder  politische 
Ansicht  des  Verfassers  zurückweisen.     Seine  demagogischen  Ausfälle  gegen  den 


H.  Gruber,  Zeitiges  und  Streitiges,  angez.  von  E.  Grünwald.  689 

Klassenstaat  und  den  Patriotismus  können  wir  nicht  gutheißen,  seine  Behauptung, 
,,daß  der  Schematismus  und  Pedantismus  der  behördlichen  Schablone  die  päda- 
gogische Eigenart  unterdrücke  und  unterdrücken  wolle",  ist  einfach  ungeheuerlich, 
seine  Forderung,  die  Schüler  (!)  in  den  klassischen  Sprachen  —  deren  hohen  Kultur- 
wert er  nicht  verkennt  —  in  zwei  bis  drei  Jahren  dahin  zu  bringen,  daß  sie  die 
griechischen  und  lateinischen  Schriftsteller  selbständig  lesen  können,  zeugt  von 
einem  rührenden  Vertrauen  zu  der  Kunst  des  Lehrers  und  der  Aufnahmefähigkeit 
des  Schülers.  Aber  trotz  solchen  Entgleisungen  bietet  das  Buch  des  reiflich  Durch- 
dachten und  Beherzigenswerten  genug,  um  den  Verfasser  nicht  mit  den  modernen 
Schul-  und  Weltverbesserern  in  einen  Topf  zu  werfen  —  wie  ich  denn  nachträglich 
noch  ausdrücklich  auf  die  wohltuend  gesunde  Stellung  des  Verfassers  in  der  Frauen- 
frage hinweisen  möchte.  Die  Darstellung  ist  die  eines  reich  belesenen,  hochge- 
bildeten Mannes,  der  philosophisch  denkt  und  gern  philosophiert,  die  Sprache 
schön  und  fließend,  am  rechten  Orte  schwungvoll  und  erhebend.  —  An  Einzel- 
heiten ist  mir  S.  56  das  Wort  „preislos"  aufgefallen;  es  soll  doch  wohl  eine  Über- 
setzung des  englischen  priceless  sein,  und  „unschätzbar"  ist  an  jener  Stelle  das 
passende  Wort.  Nicht  nur  in  Piatons  Theages,  wie  der  Verfasser  meint  (S.  151), 
sondern  auch  in  der  Apologie  (31  D)  sagt  Sokrates,  daß  das  Satfiovtov  ihm  nur 
abrate.  Das  an  demselben  Orte  als  Ergebnis  des  Menon  aufgestellte  Oeiqi  \io(ptf. 
Yt^vexai  ^  dpsxT]  ist  natürlich  nicht  die  schließliche  Meinung  des  platonischen 
Sokrates,  gilt  vielmehr  nur  von  dem  gewöhnlichen,  nicht  auf  Wissen,  sondern 
auf  der  dX>]i')Tj?  86$a  beruhenden  sittlichen  Handeln,  das  deshalb  der  Sicherheit 
der  vernünftigen  Überzeugung  und  des  Moralprinzips  entbehrt;  was  der  Verfasser 
will,  wird  freilich  trotzdem  damit  bewiesen,  daß  nämlich  Sokrates  ein  gewisser 
Mystizismus  eigen  gewesen  ist. 


Gruber,  Hugo,  Zeitiges  und  Streitiges.  Briefe  eines  Schulmannes  an 
eine  Mutter.  Leipzig  1908.  Dürr'sche  Buchh.  167  S.  8».  2,40  M. 
Den  modernen  Bildungswirren  und  Übergängen  auch  auf  dem  Gebiete  der 
weiblichen  Erziehung  stehen  selbst  gebildete  und  verständige  Mütter  nicht  selten 
ratlos  gegenüber:  sie  würden  sich  einem  kundigen  Führer  durch  die  Aufgaben, 
Wege  und  Ziele  der  Mädchenerziehung  und  Mädchenbildung  dankbar  anvertrauen. 
Und  wenn  diese  Führung  noch  dazu  ohne  aufdringliche  Systematik,  unter  Ver- 
meidung aller  Fachterminologie,  in  fesselnder,  durch  Beispiele  gestützter  und  be- 
lebter, womöglich  durch  Humor  und  Geist  gewürzter  Form  geschähe,  so  hätten 
wir  ein  nützliches  und  willkommenes  Hausbuch  mehr.  Von  dem  Ideale  eines  solchen 
Buches  scheint  mir  das  Grubersche  doch  nach  Inhalt  und  Form  noch  weit  ent- 
fernt zu  sein.  Allerdings  wird  man  nicht  verkennen,  daß  der  Verfasser  über  päda- 
gogische Erfahrung  verfügt,  über  wichtige  Fragen  der  weiblichen  Erziehung 
nachgedacht  hat  und  manch  praktischen  Wink  zu  geben  weiß,  daß  einige  Kapitel 
(wie  IX,  XX,  XXI)  viel  Ansprechendes  und  Beherzigenswertes  enthalten  —  aber 
das  Ganze  läßt  doch  klare  Disposition,  Folge  und  Übersichtlichkeit  vermissen, 
bringt  zu  viel  Selbstverständliches,  hebt  das  Wesentliche  nicht  immer  nachdrück- 
lich genug  heraus  (wie  die  Pflichten  des  Hauses  der  Schule  gegenüber,  die  Erziehung 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  VIII.  Jhrg.  44 


690    H.  Stadelmann,  Ärztlich-pädagogische  Vorschule  usw.,  angez,  von  A.  Matthias. 

zur  Wirtschaftlichkeit,  die  unerläßlichen  Vorbedingungen  für  das  weibliche  Studium: 
körperliche  Gesundheit,  gute  Begabung,  ausdauernden  Fleiß),  betont  auch 
vor  allem  nicht  den  natürlichen  und  wichtigsten  Beruf 
der  Frau  und  behandelt  endlich  manche  Dinge  in  einer  dem  Laien  nicht  ohne 
weiteres  verständlichen  Weise  (z.  B.  VIII,  XXIII  —  man  lese  auf  S.  141  den  mit 
„Beruht"  beginnenden  Absatz),  wie  es  überhaupt  an  Worten,  Wendungen  und 
ganzen  Perioden  nicht  fehlt,  die  der  Klarheit  und  Bestimmtheit  ermangeln.  Zweck- 
mäßig wäre  übrigens  ein  gedrängter  populär  gehaltener  Überblick  über  die  Neu- 
ordnung des  höheren  Mädchenschulwesens  in  Preußen  gewesen.  Was  die  Form 
angeht,  so  ist  für  ein  leichtes,  anmutiges  Geplauder,  das  belehren  kann,  ohne  gelehrt 
zu  scheinen,  der  zwanglose  Briefstil  wohl  geeignet;  nur  vergesse  man  nicht,  daß 
dieser,  wenn  er  eine  Fiktion  ist,  eine  Kunstform  wird,  die  als  solche  respektiert 
sein  will.  Etwas  doppelt  Persönliches  muß  der  Brief  an  sich  haben,  und  die  Be- 
ziehung auf  den  klugen  Frager  gibt  ihm  einen  eignen  Reiz:  unser  Verfasser  vergißt 
zuweilen  ganz  seine  Fassade  abzuputzen,  und  wenn  er  es  tut,  fällt  der  Stuck  bald 
wieder  ab.  So  fehlt  vornehmlich  seinen  „Briefen"  der  Charme  der  Intimität,  die 
künstlerische  Formgebung  am  Anfange  und  besonders  am  Schlüsse;  ja,  es  kommt 
vor,  daß  der  Schreiber  seine  Empfängerin  ganz  aus  den  Augen  verliert  und  sich 
mit  internen  Schulfragen  beschäftigt,  die  an  eine  ganz  andre  Adresse  gerichtet  sind 
(siehe  z.  B.  S.  11,  letzten  Absatz).  Endlich  muß  das  Buch  auf  Ausdruck  und  Stil 
hin  sorgfältig  durchgesehen  werden, 

Berlin.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d. 


Stadelmann,  Heinrich,  Ärztlich-pädagogische  Vorschule  auf 
Grundlage  einer  biologischen  Psychologie,  Hamburg  und 
Leipzig  1909.  Leopold  Voß.  VIII  u.  291  S.  5  M. 
Auf  Grundlage  einer  „biologischen  Psychologie",  die  von  Naturwissenschaft- 
lichem getragen  ist,  hat  Dr.  med.  H.  Stadelmann,  ein  Dresdener  Nervenarzt,  diese 
„ärztlich-pädagogische  Vorschule"  aufgebaut.  Er  will  die  Ergebnisse  ärztlicher 
Erfahrungen  der  Pädagogik  nutzbar  machen  und  anderseits  als  Arzt  sich  auf  dem 
Gebiete  der  Pädagogik  umsehen,  um  von  dort  womöglich  sich  Methoden  psychischer 
Behandlung  für  seine  Kranken  zu  suchen.  Bei  dieser  Wanderung  auf  dem  Grenz- 
gebiete, das  zwischen  Medizin,  speziell  Psychiatrie,  und  Pädagogik  gelegen  ist, 
kommen  ungemein  interessante  und  für  die  Erziehung  ergebnisreiche  Beobach- 
tungen zur  Geltung,  die  der  Schule  höchst  willkommen  sein  müssen.  Stadelmann 
sagt  sehr  bescheiden,  daß  er  sich  bewußt  sei,  wie  der  Raum  weniger  Druckbogen 
(es  sind  doch  immerhin  ihrer  18)  nicht  ausreiche  für  eine  ärztlich-pädagogische 
Vorschule.  Wenn  man  aber  diese  wenigen  Bogen  liest,  ist  man  erstaunt  über 
die  Fülle  und  Vielseitigkeit  des  Stoffes,  der  geboten  wird.  Ich  weise  nur  hin  auf 
das  16.  und  17.  Kapitel:  von  der  Ermüdung,  die  für  Unterricht  und  Erziehung 
eine  reiche  Quelle  von  Anregungen  bieten.  Und  nicht  nur  an  Einzelerscheinungen 
in  Erziehung  und  Unterricht  haftet  das  Buch.  Man  braucht  nur  die  Themata 
zu  nennen,  um  zu  zeigen,  wie  Stadelmann  seine  Aufgabe  auffaßt.  So  behandelt 
er  Kapitel  XX  die  Kultur,  Kapitel  XXI  die  Psychologie  der  Masse  (sehr  inter- 


M.  Kronenberg,  Geschichte  des  deutschen  Idealismus,  angez.  von  Chr.  Muff.      691 

essant  grade  für  heutige  Frequenzen  wird  in  diesem  Kapitel  die  Schülerklasse 
als  Masse  und  die  Individualisierung  in  der  Schule  behandelt).  Dann  Kapitel 
XXII  vom  vornehmen  Zeitgeist  im  Gegensatz  zur  plebejischen  Massenseele. 
Sehr  anziehend  ist  auch  Kapitel  XXIV,  das  von  Intelligenz  und  Intelligenz- 
prüfung handelt.  Kurz:  „Wo  ihr's  packt,  da  ist  es  interessant".  Und  dabei 
wirkt  es  so  wohltuend,  daß  Stadelmann  nirgendwo  mit  banalen  Phrasen  ins  Land 
fährt,  mit  denen  berühmte  Naturforscher  von  heute  den  Bildungsphilistern  Sand 
in  die  Augen  streuen,  um  die  „Massenseele"  zu  verwirren  glücklicherweise  aber 
wird's  ihnen  nicht  gelingen,  den  „Zeitgeist"  zu  beherrschen.  Auf  diesen  werden 
solche  Bücher,  wie  das  Stadelmanns,  eine  erfreuliche  Wirkung  auszuüben  imstande 
sein  durch  den  erzieherischen  Wert,  den  sie  besitzen. 

Berlin.  A.  Matthias. 


Kronenberg,  M.,  Geschichte  des  deutschen  Idealismus.  Erster 
Band:  Die  idealistische  Ideen- Entwicklung  von  ihren  Anfängen  bis  Kant. 
München  1909.  C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung.  VII  u.  438  S.  8».  geb.  7M. 

Es  ist  kein  Neuling,  der  mit  dieser  Schrift  vor  die  Öffentlichkeit  tritt;  Dr. 
Kronenberg  hat  sich  bereits  durch  mehrere  sehr  beifällig  aufgenommene  und  zum 
Teil  wiederholt  aufgelegte  Schriften,  vornehmlich  durch  sein  „Leben  Kants"  und 
seine  „Ethischen  Präludien"  einen  Namen  gemacht.  Man  durfte  also  erwarten, 
daß  er  etwas  Gediegenes  leisten  würde,  wenn  er  sich  vornehme,  die  Geschichte 
des  deutschen  Idealismus  zu  schreiben.    Und  die  Erwartung  wird  nicht  getäuscht. 

Nur  eine  Ausstellung  muß  ich  von  vornherein  machen,  und  sie  betrifft  einen 
Punkt  von  prinzipieller  Bedeutung. 

,, Geschichte  des  deutschen  Idealismus"  ist  das  Buch  betitelt.  Idealismus 
findet  sich  aber  nicht  nur  in  der  Philosophie,  im  abstrakten  Denken,  sondern  auch, 
wie  u.  a.  auch  ich  in  meinem  „Idealismus"  nachgewiesen  habe,  in  der  Kunst,  im 
Leben  und  vor  allem  in  der  Religion.  Nun  werden  ja  auch  diese  drei  großen  Be- 
tätigungsweisen des  Idealismus  in  Kronenbergs  Buche  berücksichtigt,  aber  doch 
mehr  nur  gestreift  als  eingehend  behandelt,  und  namentlich  kommt  die  Religion, 
in  erster  Reihe  die  christliche  Religion,  nicht  zu  ihrem  Rechte.  Der  Kirche  und 
den  Gläubigen  ist  das  Christentum  Offenbarung,  unserm  Verfasser  ist  sie  Mythus, 
wie  die  anderen  Religionen  auch.  Er  meint,  erst  wenn  die  Religion  sich  von  dem 
Mythischen  freimache  oder  sich  doch  darüber  erhebe,  wie  die  Religion  des  klassi- 
schen Idealismus,  dann  habe  sie  Größe  und  Kraft  der  Wahrheit.  Er  beklagt  es, 
daß  in  den  Anfangszeiten  des  Christentums  der  Mythus  alle  festen  Schranken 
der  Erkenntnis  überflutet  habe;  er  wundert  sich  über  die  gewaltige  Wirkung  der 
jüdischen  Christusgestalt,  der  gegenüber  die  rein  menschliche  Deutung  von  vorn- 
herein völlig  unzureichend  erschien.  Das  Eigenartige,  ja  Einzigartige  der  christ- 
lichen Mythenbildung  sei  es,  daß  bei  dieser  Christusgestalt,  dem  Kristallisations- 
kern und  dauernden  Mittelpunkt  der  neuen  Weltreligion  des  Christentums,  zu- 
nächst griechische  Philosophie  und  jüdische  Religion,  freies  philosophisches  Denken 
und  mythenbildende  Phantasie  zu  einer  einheitlichen  Bildung  zusammenwirkten. 
Die  Vorstellung  von  dem  „Einen"  und  der  eingebornen  Sohnschaft  und  die  Um- 

44* 


692     M.  Kronenberg,  Geschichte  des  deutschen  Idealismus,  angez.  von  Chr.  Muff. 

Wandlungsprozesse  dieser  philosophischen  Begriffe,  das  alles  seien  notwendige 
Entwicklungsstufen  in  der  Geschichte  des  menschlichen  Geistes  und  den  wenigen 
Wissenden  wohl  zugänglich  —  aber  das  Dogma  von  der  Gottmenschheit  —  Gott 
ist  Fleisch  geworden  —  sei  etwas  Unsinniges,  d.  h.  Verstandeswidriges,  ebenso 
wie  das  Dogma  von  der  Erbsünde.  Einmal,  zum  Glück  nur  einmal,  schlägt  der 
Verfasser  diesen  ernsten  Dingen  gegenüber  einen  spöttischen  Ton  an.  Da,  wo 
er  von  Descartes'  Versuch  spricht,  die  beiden  entgegengesetzten  Substanzen  durch 
einen  Willensakt  Gottes  zu  einigen  und  nebenzuordnen,  urteilt  er  zunächst  wie 
Spinoza,  Descartes  habe  sich  in  das  Asyl  der  Unwissenheit  zurückgezogen,  aber 
dann  setzt  er  hinzu,  „als  welches  sich  die  Gottesvorstellung  von  jeher  und  bis  auf 
den  heutigen  Tag  vortrefflich  bewährt  hat".  Ist  das  noch  wahr  und  schön?  —  So 
wenig  der  Verfasser  dem  religiösen  Glauben  und  dem  Christentum  gerecht  wird, 
so  wenig  der  Reformation  Luthers.  So  sagt  er  u.  a.,  daß  die  Mystik  die  eigent- 
liche innere  Triebkraft  des  Protestantismus  sei;  es  geschehe  ganz  im  Geiste  der 
Mystik,  daß  im  Protestantismus  der  religiöse  Glaube  sich  aller  Aufklärung,  aller 
Hinwendung  zur  Mannigfaltigkeit  des  Objektiven  entgegensetze;  ^  kehre  sich  ab 
von  allem  Endlichen  und  Begrenzten  des  Seins  und  des  Tuns,  des  Lebens  und 
des  Denkens,  des  Fühlens  und  des  Erkennens  —  um  den  Glauben  zurückzuver- 
legen  in  seinen  Ursprung,  die  reine  Subjektivität,  die  Seeleneinheit  usw. 

Aus  diesen  wenigen  Bemerkungen  geht  deutlich  hervor,  daß  der  Verfasser 
das  Wesen,  den  Einfluß  und  die  Bedeutung  der  Religion,  insbesondere  der  christ- 
lichen, völlig  verkennt. 

Um  so  mehr  freut  es  mich,  seiner  Entwicklung  des  philosophischen  Idealismus 
warme  Anerkennung  zollen  zu  können.  Es  berührt  angenehm,  wenn  es  gleich  zu 
Anfang  (S.  13)  heißt,  aus  der  idealistischen  Stellungnahme,  die  von  dem  Bewußtsein 
erfüllt  sei,  daß  das  ganze  weite  Reich  des  Objektiven  sich  vom  innersten  subjek- 
tiven Kraftzentrum  aus  beherrschen  und  erobern  lasse  und  daß  jenes  nur  der  Stoff 
sei,  an  dem  sich  die  bildende  Macht  des  Geistes  erproben  und  bewähren  solle,  ent- 
springe ein  Gefühl  der  Erhebung,  der  Begeisterung,  ja  oft  des  Rausches,  das  sich 
nach  allen  Seiten  des  Lebens  mitteile  und  ausbreite.  Dieser  Satz  hat  program- 
matische Bedeutung;  durch  das  ganze  Buch  zieht  sich  helle  Freude  darüber,  daß 
das  Subjekt  nicht  mehr  dem  Objekt  sich  preisgegeben,  sondern  umgekehrt  der 
Aufgabe  sich  gegenübersieht,  alles  Gegebene  in  sein  freies  Eigentum  zu  verwandeln, 
allem  Objektiven  seinen  Stempel  aufzudrücken.  Und  diese  Freude  teilt  sich  dem 
Leser  mit.  Denn,  und  damit  komme  ich  auf  einen  Hauptvorzug  des  Buches,  die 
Darstellung  ist  so  sachlich  und  so  faßlich,  so  licht  und  so  klar,  so  gefällig  und  ab- 
gerundet, daß  man  mit  fortgerissen  wird  und  auf  der  Hut  sein  muß,  nicht  auch 
befremdliche  Dinge  mit  in  den  Kauf  zu  nehmen. 

Um  von  der  Fülle  und  der  Art  des  Inhalts  eine  Vorstellung  zu  geben,  nenne 
ich  kurz  die  wichtigsten  Themata,  die  Kronenberg  behandelt.  Erster  Teil, 
die  geschichtlichen  Vorstufen:  1.  Wesen  und  Grundtypen  des  philosophischen 
Idealismus.  2.  Der  griechische  Idealismus.  3.  Der  christliche  Idealismus.  4.  die 
Naturphilosophie  der  Neuzeit.  Zweiter  Teil,  Übergang  von  der  Natur- 
philosophie zum  Idealismus.  5.  Neuentdeckung  des  idealistischen  Prinzips:  Des- 
cartes.   6.  Der  naturphilosophische  Monismus:  Spinoza.    7.  Die  Philosophie  des 


Rauschen,  Lehrbuch  der  katholischen  Religion  usw.,  angez.  von  J.  Noryskiewicz.    693 

reinen  ideellen  Subjekts:  Leibniz.  8.  Die  deutsche  Verstandesaufklärung.  — 
DritterTeil,  Die  idealistische  Gedankenrevolution.    9.  Die  deutsche  Mystik. 

10.  Renaissance  des  christlichen    Idealismus:   Hamann  und   Fr.   Heinr.   Jacobi. 

11.  Renaissance  des  griechischen  Idealismus:  Winckelmann  und  Lessing.  12.  Auf- 
lösung der  Naturphilosophie:  Kants  vorkritische  Philosophie.  13.  Der  idealistische 
Universalismus:  Herders  Frühzeit.     14.  Sturm  und  Drang. 

Worauf  der  Verfasser  es  absieht,  sagt  er  im  Vorwort.  Er  will  keine  Geschichte 
der  Persönlichkeiten  geben,  welche  Träger  der  maßgebenden  Ideen  waren, 
sondern  die  Geschichte  dieser  Ideen  selber.  Der  vorliegende  erste  Band  bringt 
die  Exposition  des  großen  deutschen  Gedankendramas;  die  Peripetie  soll  im 
zweiten  Bande  zur  Darstellung  kommen. 

Natürlich  geht  der  Verfasser  auf  die  Quellen  zurück,  er  benutzt  aber  auch 
vielfach  die  einschlägige  Literatur.  Daraus  ist  ihm  natürlich  kein  Vorwurf  zu  ma- 
chen, er  hätte  nur  dabei  mit  größerer  Genauigkeit  verfahren  sollen.  Während 
Kuno  Fischer,  von  dem  er  stark  abhängig  ist,  in  seinem  „Leibniz"  das  bekannte 
schöne  Wort  ,,Des  Menschen  Taten  und  Gedanken,  wißt"  usw.  ganz  richtig  Schiller 
zuschreibt,  findet  Kronenberg  es  in  Goethes  orphischem  Vorwort,  und,  was  schlimmer 
ist,  er  bringt  das  Zitat  in  grober  Entstellung.  Auch  sonst  vermißt  man  bei  den 
Literaturangaben  ein  gründliches,  planmäßiges  Vorgehet!.  Aber  trotz  dieser  und 
ähnlicher  Mängel  ist  dem  Buche  ein  hoher  Wert  nicht  abzusprechen,  und  man  darf 
auf  den  zweiten  Teil  gespannt  sein. 

Pforta.  Christian    Muff. 

Rauschen,  G.,  Lehrbuch  der  katholischen  Religion  für  die 
oberen  Klassen  höherer  Lehranstalten.  2.  Teil :  Grundriß 
der  Apologetik.  Bonn  1908.  P.  Hanstein.  VII  u.  84  S.;  geb.  1,50  M. 
Nachdem  Rauschen  im  Oktober  1906  den  ersten  Band  seines  Lehrbuches  der 
Öffentlichkeit  übergeben  hatte,  liegt  jetzt  das  Werk  vollständig  vor.  Es  ist  be- 
arbeitet auf  Grund  der  Preußischen  Lehrpläne  und  nach  den  Leitsätzen,  die  die 
Kommission  der  rheinisch-westfälischen  Religionslehrer  für  die  Abfassung  auf- 
gestellt hatte  (1906;  vgl.  Monatsblätter  für  den  katholischen  Religionsunterricht 
1907,  Heft  1).  Man  kann  dem  Verfasser  Glück  wünschen,  daß  er  seine  Aufgabe 
mit  großem  Verständnis  und  pädagogischem  Geschick  gelöst  hat.  Die  Bearbeitung 
der  beiden  letzten  Teile  (Apologetik  und  Sittenlehre)  bekundet  einen  Fortschritt 
in  der  Behandlung  des  Materials:  die  negative  Darlegung,  der  man  in  der  Kirchen- 
geschichte und  der  Glaubenslehre  noch  mehrfach  begegnet  war  (vgl.  Zeitschrift 
für  das  Gymnasial wesen,  April  1908),  ist  einer  mehr  positiven  gewichen.  Die 
übersichtliche  Anordnung  des  Stoffes,  die  klare,  logische  Gedankenfolge  sowie  die 
stichhaltige  Beweisführung  ermöglichen  es  dem  Anfänger  in  Sekunda  und  Prima, 
dem  Lehrgange  zu  folgen  und  sich  vom  Endresultat  überzeugen  zu  lassen.  Da- 
neben ist  dem  Lehrer  ein  freier  Spielraum  für  Vortrag  und  Erklärung  belassen. 
Was  nun  die  Apologetik  im  besondern  angeht,  so  ist  an  ihr  vor  allem 
die  Gründlichkeit  der  philosophischen  Abhandlungen  anerkennend  hervorzuheben. 
Die  Gottesbeweise  sind  eingehend  entwickelt,  und  die  Lehre  über  die  Kirche  aus- 
führlich behandelt.     Statt  müßiger  Abschweifungen  und  einer  Nomenklatur  aus 


694    Rauschen,  Lehrbuch  der  katholischen  Religion  usw.,angez.  von  J.  Noryskiewicz. 

der  kirchlichen  und  profanen  Literatur  findet  man  durchweg  sachliche  Darlegungen. 
Namen  von  Autoren  und  Büchern  sind  für  den  Anfänger  meist  leerer  Schall;  ein 
treffendes  Zitat  am  richtigen  Ort  führt  ihn  leichter  und  wirksamer  in  die  Lite- 
ratur ein. 

Freilich  vermißt  man  des  öftern  auch  den  apologetischen  Charakter  des 
Buches.  Unsre  Schüler  und  besonders  die  begabteren  bleiben  heute  von  der  glaubens- 
feindlichen Literatur  nicht  mehr  verschont;  jeder  Religionslehrer  kann  sich  davon 
überzeugen,  wenn  er  ihnen  gestattet,  im  Rahmen  des.  vorgetragenen  Gegenstandes 
Zweifel  zu  äußern  oder  Einwände  zu  erheben.  Auch  ist  der  erwachende  Verstand 
nur  zu  leicht  geneigt,  einer  falschen  Autorität  kritiklos  zu  folgen.  Capitaine  hat 
recht,  wenn  er  in  seiner  Apologetik  sagt  (S.  22):  „Gebildete  Leute  treten  meist  in 
der  Jugend  oder  sonst,  wo  irgendwie  die  Leidenschaft  wühlt,  zum  Unglauben 
über."  —  So  bedürfte  einer  gründlicheren  Apologetik  die  Lehre  von  der  Not- 
wendigkeit der  übernatürlichen  Offenbarung  (§  14):  die  Verderbnis  der  heidnischen 
Religionen  sowie  die  Ohnmacht  der  heidnischen  Philosophie  rechtfertigen  die  These 
genugsam.  Die  Kapitel  über  den  Atheismus  (§  8)  und  über  die  Wunder  und  Weis- 
sagungen (§  16)  sind  mehr  skizziert  denn  ausgearbeitet.  Ausdrücke  wie  „Ma- 
terialismus, Pantheismus,  Monismus"  sind  dem  Schüler  längst  bekannte  Worte, 
hier  wäre  die  Gelegenheit  gegeben,  ihm  Ausführlicheres  darüber  zu  sagen.  Es 
könnten  also  §  8  und  §  9  zu  einem  Ganzen  vereinigt  werden  als  die  wahre  und 
falsche  Lehre  über  die  Erschaffung  der  Welt  und  des  Menschen  (Leib,  Seele);  es 
ergäbe  sich  dann  die  wichtige  Anordnung:  L  Abschn.  Das  Dasein  Gottes;  IL  Abschn. 
Das  Verhältnis  Gottes  zur  Welt  und  dem  Menschen  insbesondere;  III.  Abschn. 
Das  Verhältnis  des  Menschen  zu  Gott.  Daß  diese  Einteilung  direkt  gefordert 
wird,  folgt  aus  dem  in  §  11,  1  Gesagten. 

Auch  die  Abhandlungen  über  die  Echtheit  und  Glaubwürdigkeit  der  Offen- 
barungsurkunden (§  18,  50;  22,  23),  über  die  Person  Christi  (§  26)  und  die  Un- 
fehlbarkeit des  kirchlichen  Lehramtes  (§  44,  45)  könnten  den  Argumenten  der 
Gegner  mehr  Beachtung  schenken.  Babel  und  Bibel,  Renan  und  Nietzsche  müssen 
in  einer  modernen  Apologetik  zur  Darstellung  gelangen. 

Endlich  vermißt  man  beim  kosmologischen  Gottesbeweis  (§  6)  die  Hypothese 
von  Kant-Laplace.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  sie  zu  übergehen,  vielmehr  ist 
ausdrücklich  hervorzuheben,  daß  sie  sich  mit  dem  biblischen  Schöpfungsbericht 
sehr  wohl  in  Einklang  bringen  läßt.  Der  Schüler  sieht  auf  diese  Weise,  daß  diese 
rein  wissenschaftlichen  Fragen  auch  im  Religionsunterricht  erörtert  werden,  und 
zwar  nicht  zum  Nachteil  der  Bibel,  und  überzeugt  sich,  daß  zwischen  Glaube 
und  Wissenschaft  kein  Widerspruch  besteht.  „So  kommt  die  Apologetik  mit  der 
heutigen  Denkungsart  in  unmittelbare  Berührung.  Der  Christ  gewinnt  mit  Hilfe 
dieser  Arbeiten  den  Kontakt  mit  seiner  Zeit,  und  die  Folge  davon  wird  sein,  daß 
man  nach  den  Worten  Pius  X.  omnia  instaurare  in  Christol  den  Geist  Jesu 
Christi,  den  Geist  der  Freiheit,  der  .  .  .  die  Keime  für  jeden  Fortschritt  in  sich 
trägt,  unsrer  so  sehr  nach  Wahrheit  sich  sehnenden  und  nach  der  Wahrheit 
ringenden  Epoche  mitteilen  wird"  (Erzb.  Teodorowicz,  Die  Modernismusenzyklika 
und  der  wissenschaftliche  Fortschritt). 

Schrimm.  Johannes    Noryskiewicz. 


M ,  Schneider,  Von  wem  ist  das  doch?  angez.  von  A.  Matthias.  695 

Schneider,  Max,  Von  wem  ist  das  doch?  Ein  Titelbuch  zur  Auffindung 
von  Verfassernamen  deutscher  Literaturwerke.  BerUn  1907.  Eugen  Schneider. 
IV  u.  538  S.     brosch.  8  M.,  geb.  9  M.,  Hlbfr.  10  M. 

Der  Bibliothekar  der  Hamburgischen  Stadtbibliothek  Dr.  Max  Schneider 
hat  sich  durch  dieses  Buch,  das  vom  Jahre  1907  an  in  Lieferungen  erschienen  und 
jetzt  vollständig  geworden  ist,  ein  Verdienst  erworben  für  jeden  Literaturfreund. 
Neben  „Büchmann"  und  Ladendorfs  historischem  Schlagwörterbuch  wird  es  ihm 
ein  unentbehrliches  und  angenehmes  Hilfsmittel  werden.  Nicht  weniger  als  21  435 
Titel  oder  Gedichtanfänge  führt  das  Werk  in  alphabetischer  Reihenfolge  an  und 
gibt  nicht  nur  den  Dichter  und  Verfasser,  sondern  auch  die  Erscheinungszeit,  die 
Art  des  Werkes  und  unter  Umständen  sein  Verhältnis  zu  andern  Literaturwerken. 

Zunächst  wird  uns  das  Buch  dienen  bei  Auffindung  eines  genauen  Titels, 
von  dem  aus  uns  das  Schlagwort  bekannt  ist.  Aber  auch  wenn  dieses  selbst  dem 
Gedächtnis  verloren  gegangen,  wird  uns  Hilfe  durch  ein  zweites  Register,  das  die 
weiteren  Wörter  des  Titels  berücksichtigt.  Ich  gebe  ein  Beispiel :  Mir  ist  der  Titel 
eines  Romans  im  Gedächtnis:  1812,  nicht  der  Verfasser.  Ich  schlage  im  ersten 
Register  mit  den  Hauptschlagwörtern  nach  und  finde  unter  dem  Buchstaben  a 
den  Titel  „1812.  Historischer  Roman  von  Ludwig  Rellstab,  erschienen  1834." 
—  Ebenso  ist  mir  ein  Titel  1813  in  der  Erinnerung.  Ich  finde  unter  dem  Buch- 
staben a  „1813"  Roman  von  L,  F.  Stolle,  erschienen  1838.  —  Nun  schwebt  mir 
aber  ein  andres  1813  vor,  von  einem  andern  Verfasser.  Dazu  hilft  mir  das  zweite 
Register,  durch  welches  ich  unter  a:  1813  auf  Nummer  766  des  Hauptregisters 
verwiesen  werde.  Hier  finde  ich,  was  ich  suchte,  unter  a:  Aus  dem  Kriegs-  und 
Siegesjahr  1813.  1815.  Gedichte  von  Karl  Wetzel.  Bei  Gedicht-  und  Lied- 
anfängen, sowie  bei  Titeln,  die  mit  einer  Präposition  anfangen,  ist  zum  Ordnungs- 
wort das  erste  Wort  des  Satzes  gemacht. 

Ungemein  anregend  und  belehrend  ist  das  Buch  auch,  wo  es  als  Fundgrube 
zur  Ermittelung  von  ähnlichen  und  gleichen  Titeln  dient.  Hier  kann  man  geradezu 
kleine  interessante  Studien  im  Gebiete  der  deutschen  Literaturgeschichte  anstellen. 
Wir  finden  z.  B.  8  fliegende  Holländer  und  zwar  den  bekannten  Wagnerschen; 
dann  ein  Liederbuch  für  Seeleute  von  A.  H.  Th,  Sievers,  ferner  ein  Gedicht  von 
Agnes  le  Grave,  einen  Roman  von  A.  E.  Brachvogel,  ein  Drama  von  Aug.  Ohorn, 
ein  Epos  von  Jul,  Wolff,  ein  Epos  von  Eginh,  von  Barfus  und  einen  Roman  von 
Paul  Walter,  Christus  ist  im  Hauptregister  neunmal  vertreten,  im  Nebenregister 
noch  17  mal.  Auch  andre  Fragen  finden  überraschende  Antworten.  Fragen  wir 
z.  B.,  in  welches  Dichters  Werken  eine  Braut  als  Titel  erscheint,  so  kann  uns  schon 
jeder  Primaner  die  Antwort  geben:  In  Schillers  Braut  von  Messina,  in  Körners 
Lustspiel  „Die  Braut",  in  Goethes  Gedicht  „Die  Braut  von  Korinth".  Daß  aber 
auch  in  Goethes  dramatischen  Werken  eine  Braut  vorkommt,  wissen  wenige. 
Und  zwar  finden  wir  eine  „geflickte  Braut"  in  dem  Stücke,  dem  Goethe  später 
den  Titel  ,,Der  Triumph  der  Empfindsamkeit"  verlieh.  Und  so  könnte  man  noch 
manche  Stichprobe  zum  besten  geben.  Das  Gegebene  möge  genügen  als  Empfehlung 
für  das  Buch,  dem  viele  Benutzer  zu  wünschen  sind  und  viele  Freunde,  die  dem 
Verfasser  Titel  angeben,  die  er  bei  seiner  Riesenarbeit  etwa  übersehen  hat. 

Berlin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 


696  Goethe-Kalender  auf  das  Jahr  1910,  angez.  von  A,  Matthias. 

Goethe- Kalender  auf  das  Jahr  1910.    Zu  Weihnachten  1909  herausgegeben  von 
Otto  Julius  Bierbaum  und  C.  Schüddekopf,  mit  Schmuck  von  E.  R.  Weiß,  einem 
Dreifarbendruck  mit  2  Bildern  von  Margarete  Geibel  und  2  Tafeln  Silhouetten, 
im  Dietrichschen  Verlage  (gegründet  zu  Göttingen  1760)  bei  Theodor  Weicher 
in  Leipzig.     148  S.     geb.   1,80  M.,  auf  Maschinenbüttenpapier,  in  Pappband 
mit  Pergamentrücken  4  M. 
Seit  dem  Jahre  1906  gibt  Theodor  Weiher  diesen  Kalender  heraus  für  die 
Gemeinde  des  Goethe-Kalenders,  die  zwar  nicht  klein,  aber  immer  noch  nicht  groß 
genug  ist,  um  auch  nur  die  Kosten  zu  decken,  die  das  Unternehmen  erfordert. 
Weil  der  Verleger  durch  die  ersten  vier  Jahre  bewiesen  hat,  daß  ihm  beim  Verlage 
des  Kalenders  materielle  Erwägungen  nicht  an  erster  Stelle  stehen,  so  durfte  er 
sich  mit  Recht  an  eine  große  Reihe  deutscher  Männer  von  Namen  und  Bedeutung 
mit  der  Frage  wenden,  welches  Verhältnis  sie  zu  Goethe  hätten,  und  ob  sie  den 
Goethe- Kalender  für  wert  erachteten,  dieses  ihr  Bekenntnis  zu  Goethe  vor  die  Öf- 
fentlichkeit zu  bringen,  und  er  durfte  mit  eben  dem  Recht  in  der  Beantwortung 
seiner  Frage  eine  Art  Anerkennung  seines  Unternehmens  und  damit  mutmachenden 
Zuspruch  für  dessen  Fortführung  erhoffen.    S.  66  bis  S.  136  sind  diese  Urteile  unsrer 
Zeitgenossen  über  Goethe  abgedruckt.    Unter  ihnen  finden  wir  auch  Hans  Thoma. 
Was  er  sagt,  ist  wohl  die  beste  Begründung  für  die  Berechtigung  eines  Goethe- 
Kalenders.     Aus  seiner  umfangreichen   und   schlichten  Äußerung   mögen   einige 
charakteristische  Stellen  selber  sprechen:  „Das  Bestreben  aller  Goethe-Freunde, 
und  ich  hoffe,  daß  dies  noch  einmal  alle  Deutschen  sein  werden,  kann  nur  sein, 
seine  Werke  immer  mehr  bekannt  zu  machen,  seine  Worte  zu  wiederholen,  daß 
sie  allen  bekannt  werden.    Seine  Worte,  auch  wenn  man  unvermutet  auf  sie  stößt, 
sind  immer  eindringlich,  wir  ahnen  meist  auch  aus  dem  einzeln  herausgerissenen 
den  ganzen  Menschen,  wie  er  im  Verhältnis  zu  der  Welt  in  seinem  Wesen  ist. 

Er  baut  kein  System  auf,  an  das  er  sich  anklammert,  er  hat  kein  Prinzip,  das 
ihn  einschränkt  und  in  der  Freiheit  seines  Denkens  hemmt;  er  gibt  sich  dem  Leben 
und  seinen  Mächten  hin  wie  ein  Kind,  und  doch  wird  er  Herr,  von  dem  wir  die  Idee 
haben  können,  daß  er  sein  Leben  selbst  gezimmert  hat,  daß  das  Leben  ihm  gleich- 
sam der  Rohstoff  war,  den  er  künstlerisch  zu  einer  so  schönen  Harmonie  gestaltet 
hat,  die  wir,  wenn  wir  sie  nennen  wollen,  halt  auch  wieder  ,goethesch'  nennen 
müssen. 

Er  hat  hohe  Achtung  vor  allem  Gewachsenen,  auf  dem  die  Menschenkultur  be- 
ruht, nie  will  er  die  Welt  ummodeln — er  nimmt  alles  Gegebene  und  Gewachsene  a  1  s 
Ordnungan,  an  der  er  nicht  berufen  ist, herumzudoktern 
—  Das  will  so  viel  heißen,  als  er  faßt  die  Welt  als  Künstler  auf  —  er  steht  ihr  gegen- 
über oder  in  ihr  als  ordnende  harmonische  Seele,  mit  offenen  Sinnen  betrachtend, 
wägend,  messend,  gestaltend,  ein  sich  seiner  Schöpferkraft  bewußter  Menschen- 
geist. —  Alles  was  über  Goethe  gesagt  werden  könnte,  hat  er  in  seinem  Reichtum 
wohl  selber  und  besser  gesagt  als  es  irgend  ein  andrer  sagen  könnte.  —  Wie  könnte 
man  auch  mitkleinen  Kerzleineinsolches  Lichtbeleuchten 
wollen.  Darum  wird  auch  gern  aufseinen  Schattenseiten 
herumgeleuchtet.  —  Wenn  man  über  Goethe  etwas  sagen  will,  so  kann 
man  eigentlich  nur  immer  wieder  Goethe  zitieren  und  so  ist    d  e  r  G  o  e  t  h  e  - 


J.  Grosse,  Ausgewählte  Werke,  angez.  von  A.  Matthias.  697 

Kalender  ein  gar  schönes  und  nützliches  Unternehmen, 
geeignet,  Goethegeist  im  deutschen  Volke  zu  ver- 
breite n." 

Im  Druck  habe  ich  hervorgehoben,  was  uns  Epigonen  zu  lesen  gut  tut.  — 
Außer  Thoma  spricht  noch  eine  große  Anzahl  von  Zeitgenossen  über  Goethe; 
recht  interessante  Namen  —  auch  Fürst  Bülow  ist  vertreten  —  finden  sich.  Den 
eigentlichen  Kalender  begleitet  Goethe  selbst  in  prächtiger  Auswahl  aus  seinen 
Werken  und  Briefen.  Dann  folgt  ein  Abschnitt:  „Goethe  über  seine  Zeitgenossen." 
Weiter  kommt,  wie  schon  gesagt,  die  heutige  Welt  zum  Wort.  Den  Schluß  bildet 
ein  Aufsatz  „Liliencron  und  Goethe".  —  Der  Kalender  ist  jedenfalls  eine  sinnige 
und  geschmackvolle  Weihnachtsgabe,  die  auf  den  Tisch  aller  derjenigen  gehört, 
die  die  Pflicht  und  Aufgabe  haben,  sich  und  andre  zu  erziehen. 

Julius  Grosse,  Ausgewählte  Werke.  Mit  einer  Biographie  des  Dichters 
von  A.  Bartels,  unter  Mitwirkung  und  mit  Einleitungen  von  A.  Bartels,  J.  Ett- 
linger,  H.  von  Gamppenburg  und  F.  Muncker.  Herausgegeben  von  Antonie 
Grosse.  1  Porträt  und  Faksimile  der  Handschrift  des  Dichters.  Berlin  1909. 
Alexander  Duncker.  3  Bände.  I.:  LVIII  u.  180  S.  u.  XVII  u.  183  S.  II.: 
364  u.  168  S.     III.:  VI  u.  722  S.    geb.  12  M. 

Julius  Grosse  hat  zu  seinen  Lebzeiten  wenig  äußere  Erfolge  zu  verzeichnen 
gehabt.  Daß  das  unverdient  war,  ist  schon  längst  die  Überzeugung  berufener 
Beurteiler.  Es  ist  deshalb  dankenswert,  daß  die  Tochter  im  Verein  mit  aus- 
erlesenen Männern  die  wertvollsten  Schöpfungen  der  Jugend-  und  Mannesjahre 
des  Verstorbenen,  die  bisher  nicht  leicht  zugänglich  waren,  gesichtet  und  zu  einem 
einheitlichen  Ganzen  vereinigt.  Die  Tochter  sagt  von  ihrem  Vater:  „Wer  der  feinen, 
stillen  Gestalt  Julius  Grosses  einmal  im  Leben  begegnet  ist,  dem  blieb  sie  unver- 
gessen, der  mußte  die  Erinnerung  daran  festhalten,  daß  er  in  Dichteraugen  geschaut 
und  einem  echten  deutschen  Poeten  gegenüber  gestanden  hat.  Die  Werke,  mögen 
sie  der  Gegenwart  gewidmet  oder  lieber  in  fernen  Bereichen  angesiedelt  sein,  be- 
stätigen diesen  Eindruck."  Als  ich  diese  Worte  las,  gedachte  ich  an  unsre  Pri- 
manerzeit, an  das  Ende  der  sechziger  Jahre,  in  denen  alljährlich  Robert  Prutz 
in  meiner  Vaterstadt  erschien  und  Vorträge  über  die  deutsche  Literatur  der  Gegen- 
wart hielt,  denen  wir  Primaner  unter  Führung  unsers  Deutschlehrers  W.  Wiedasch 
zahlreich  zuströmten.  In  diesen  Vorlesungen  pries  er  auch  Julius  Grosse  als  einen 
der  besten  Dichter  der  Gegenwart  und  es  ist  mir,  als  hätte  ich  gestern  gehört, 
was  Prutz  über  Grosses  Lyrik  in  seiner  „Deutschen  Literatur  der  Gegenwart" 
geschrieben:  „Was  für  Lingg  und  Gregorovius  der  klassische  Boden  der  alten 
Welt,  das  ist  für  Grosse  die  Romantik  des  Mittelalters.  Grosse  schwärmt  mit 
den  jugendlichen  Pagen  für  die  schöne  Burgfrau,  er  läßt  den  Falken  steigen  und 
tummelt  sich  hoch  zu  Roß  in  ritterlichem  Kampf;  er  vertieft  sich  in  die  Zauber 
der  alten  deutschen  Märchenwelt  und  läßt  Zwerge  und  Kobolde  ihre  schalkhaften 
Streiche  treiben;  er  führt  uns  in  die  kleine,  mittelalterliche,  enge  Stadt,  unter 
das  Dach  des  kleinen  stillen  Bürgerhauses,  zunächst  am  grauen  Stadttor  mit  den 
bröckelnden  Steinen  und  dem  grünen  Efeu,  wo  ehedem  sich  die  Laube  so  dicht 
und  traulich  wölbte,  und  wo  nun  boshafte  Spatzen  zwitschern  von  der  Not  des 


698  C.  Bardt,  Römische  Komödien,  angez.  von  A.  Matthias. 

Mädchens,  das  der  Geliebte  verlassen  hat;  er  ahmt  jene  mittelalterlichen  Maler 
nach,  die  den  Triumphzug  des  Todes  abkonterfeien,  und  schreibt  Phantasiestücke 
aus  den  Memoiren  des  Sensenmannes.  Das  sind  zum  Teil  sehr  düstre,  zum  Teil 
sehr  grelle  Bilder,  aber  sie  sind  mit  kräftigem  und  sicherem  Pinsel  entworfen; 
es  ist  Mark  in  dem  Arm,  der  diese  kecken  Striche  da  so  spielend  an  die  Wand  wirft." 
Was  hier  Prutz  von  der  Lyrik  Grosses  sagt,  das  gilt  in  sinngemäßer  Anwendung 
auch  von  seiner  Epik,  seinen  Novellen  und  Romanen  und  seinen  Dramen.  —  Der 
erste  Band  bringt  in  seiner  ersten  Hälfte  die  Gedichte  Grosses,  von  ihnen  sind 
nicht  wenige  in  unsre  besten  Anthologien  übergegangen  und  zum  Besitztum  unsrer 
Gebildeten  und  auch  der  Schule  geworden.  Ich  nenne  das  Gedicht  „Sehnsucht" 
(„Sehnsucht,  auf  den  Knieen  Schaust  du  himmelwärts  —  Einzelne  Wolken  ziehen, 
Kommen  und  entfliehen.  Ewig  hofft  das  Herz"),  ferner  „Die  weite  Welt  ist  nun 
zur  Ruh",  „Schon  im  Jenseits",  „Notturno",  „Ewige  Jugend",  „Verschollenes 
Glück"  und  „Was  ist  das  Glück?"  In  diesen  lyrischen  Stücken  erquickt 
die  glänzende  Sprache  oder  der  an  das  Volkslied  erinnernde  oft  treuherzige  Ton. 
Der  zweite  Teil  des  ersten  Bandes  bringt  Stücke  aus  den  „Episoden  und  Epilogen", 
„Das  Mädchen  von  Capri",  „Des  Ketzers  Beichte"  und  „Der  graue  Zelter".  Der 
erste  Teil  des  zweiten  Bandes:  „Tamarena",  „Gundel  vom  Königssee",  „Der 
Domdechant  von  Compostella"  und  „Abul  Kazims  Seelenwanderung".  —  Der 
zweite  Teil  des  zweiten  Bandes  enthält  zwei  von  Grosses  Dramen:  „Die  Ynglinger" 
und  „Tiberius".  Der  dritte  Band  zwei  Novellen:  „Der  tolle  Heinze"  und  „Ravens- 
beck"  und  zwei  Romane:  „Das  Bürgerweib  von  Weimar"  und  „Der  Spion".  — 
Die  Vielseitigkeit  der  Dichtungen  in  Vers  und  Prosa  wird  jedem  Geschmack  etwas 
bringen;  dem  einen  wird  tiieses,  dem  andern  jenes  mehr  zusagen.  Alles  ist  erfüllt 
von  reichem  Leben  und  anregender  Beweglichkeit,  so  daß  Langeweile  beim  Lesen 
fern  bleibt.  Vor  allem  aber  erfreut  die  Formsicherheit  Grosses  und  der  saubere 
Stil,  der  heutzutage  doch  nicht  gerade  die  Regel  bildet;  Zügellosigkeit  und  nach- 
lässiges Sichgehenlassen  dagegen  findet  sich  häufiger,  da  mancher  meint,  er 
sei  genial,  wenn  er  nicht  sorgfältig  feilt  und  ausarbeitet.  Vor  allem  aber  spricht 
bei  Grosse  die  Reinheit  des  Herzens  an,  die  überall  seine  Dichtungen  durchzieht. 
Man  muß  sich  deshalb  dieser  Auswahl  freuen.  Solche  Werke  bilden  das  beste 
Gegenmittel  gegen  die  Schmutzliteratur,  der  unsre  Jugend  leider  vielfach  aus- 
gesetzt ist. 


Römische  Komödien.   Deutsch  von  C.  B  a  r  d  t.    I.  Band.    2.,  vermehrte  Auflage. 
Berlin  1909.    Weidmannsche  Buchhandlung.    XXXII  u.  320  S.    8».    geb.  6  M. 

Die  erste  Auflage  von  Bardts  Übersetzung  römischer  Komödien  ist  in  dieser 
Monatschrift  III.  Jahrgang  S.  333  f.  und  VI.  Jahrgang  S.  560  f.  besprochen  worden. 
Was  dort  gesagt  ist,  kann  nur  wiederholt  werden.  Das  Deutsche  der  Übersetzung 
liest  sich  flott  und  leicht  verständlich;  die  genauem  Bühnenweisungen  heben 
noch  das  Verständnis;  die  Stoffe  fesseln  uns  lebhaft,  wenn  wir  uns  in  sie  hinein- 
gewöhnt und  hineingelebt  haben. 

Sodann  bietet  diese  Übersetzung  einen  trefflichen  Kommentar  zum  lateinischen 
Urtext  und  sie  erweckt  zugleich  das  lebhafteste  Verlangen,  an  der  Quelle  selbst 


Th.  Bitterauf,  Friedrich  der  Große,  angez.  von  W.  Meiners.  699 

zu  schöpfen;  am  liebsten  würde  man  das  tun,  wenn  Bardt  sich  noch  entschließen 
könnte,  aus  der  Fülle  seiner  bei  dieser  Übersetzung  geschöpften  Erfahrung  einen 
Kommentar  zu  liefern. 

Und  schließlich  darf  man  getrost  sagen,  daß  Bardt  die  bisherigen  Übersetzer 
übertrifft.  Denn  so  leicht  gleitet  doch  keine  der  bisherigen  Übersetzungen  an  uns 
vorüber.  Die  zweite  Auflage  ist  um  ein  Stück  vermehrt.  Menanders  Liebes- 
komödie, der  Eunuch,  ist  beigegeben,  „die  dem  Übersetzer  dereinst  ein  schönes 
Geld  einbrachte  und  deren  geflügelte  Worte  noch  zu  des  Cicero  und  Horatius  Zeiten 
auf  sofortiges  Verständnis  rechnen  durften". 

So  haben  wir  denn  im  ersten  Bande  nun  zusammen:  Plautus  Schatz  und 
Zwillinge  und  Terentius:  das  Mädchen  von  Andros,  die  Brüder  und  den  Eunuchen. 

Fast  scheint  es  mir,  als  ob  des  Verfassers  Kraft  mit  den  Jahren  noch  gewachsen 
ist:  denn  der  Eunuch  liest  sich  ganz  besonders  glatt,  und  wenn  schon  Terenz  ver- 
schiedene Stücke  Menanders  geschickt  durcheinander  versetzt,  so  daß  man  die 
Fugen,  wo  es  geschehen,  nicht  merkt,  so  ist  an  Bardts  Übersetzung  das  Charakte- 
ristische, daß  man  Übersetzungsfugen,  die  ja  besonders  durch  Latinismen  un- 
angenehm auffallen  würden,  fast  nirgendwo  bemerkt,  und  daß  das  Deutsche  in 
seiner  eignen  Kraft  selbständig  zutage  tritt. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Bitterauf,  Th.,  Friedrich  der  Große  (Aus  Natur-  und  Geisteswelt  246). 
Leipzig  1909.     B.  G.  Teubner.     116  S.     8«.     geb.  1,25  M. 

In  flüssiger  Sprache,  mit  verständigem  Urteil  und  sachlicher  Richtigkeit  zeichnet 
Bitterauf  auf  Grund  der  vorhandenen  Forschungen  ein  Bild  vom  Leben,  Wirken 
und  der  Bedeutung  seines  Helden,  das  zwar  auf  der  einen  Seite,  entsprechend 
der  Absicht  des  Verfassers,  nur  den  Zweck  einer  knappen  Orientierung  hat,  auf 
der  andern  aber  doch  in  keiner  Weise  des  Lebens  und  der  Farbe  entbehrt.  Dem 
Schüler  der  Prima  der  höheren  Schule,  aber  auch  der  breiten  Masse  der  Gebildeten 
überhaupt  soll  diese  knappe,  in  sich  abgerundete  Biographie,  sei  es  zur  Einführung 
in  ein  tieferes  Studium,  sei  es  als  Zusammenfassung  und  Rekapitulation  ausführ- 
licherer Lektüre  bzw.  Belehrungen  warm  empfohlen  werden;  dem  selb- 
ständigen Forscher,  auch  dem  Geschichtslehrer  wird  sie  für  Friedrichs  Beurteilung 
keine  neuen  Gesichtspunkte  eröffnen,  keine  selbständigen  Forschungsergebnisse 
an  die  Hand  geben.  Nicht  einverstanden  bin  ich  mit  der  Auffassung  von  dem 
letzten  Ziele  des  Fürstenbundes  (1785),  dieses  Notbehelfs,  der  doch  gerade  der 
Konservierung  des  deutschen  Reiches  in  der  Form,  wie  es  seit  1648  bestand,  dienen 
sollte  (S.  104);  etwas  zu  kurz  kommt  die  Darstellung  der  Verwaltungsorganisation 
mit  ihren  aus  der  Geschichte  ihrer  Entwicklung  zu  erklärenden  Gegensätzen  und 
Unfertigkeiten  (S.  51);  endlich  vermisse  ich  ein  etwas  tieferes  Eingehen  auf  die 
philosophischen  Ideen  Friedrichs,  wenngleich  diese,  ganz  anders  als  man  nach 
S.  91  erwarten  sollte,  keineswegs  bestimmend  gewesen  sind  für  den  Politiker 
Friedrich.  Das  hat  Otto  Hintze  in  einem  recht  lesenswerten  Essay  über  Friedrich 
den  Großen,  der  jetzt  auch  in  der  ,, Deutschen  Bücherei"  96/97  abgedruckt  ist, 
hübsch  dargelegt. 

Elberfeld.  '  W.  M  e  i  n  e  r  s. 


700  Schnee,  Unsere  Kolonien,  angez.  von  G.  Wittenbrinck. 

Schnee,  H.,  Unsere  Kolonien.  (Wissenschaft  und  Bildung,  Bd.  57.)  Leil)zig 
1908.    Quelle  &  Meyer.    8°.    196  S.,  geh.  1  M.,  in  Originalleinenband  1,25  M. 

Ein  vortreffliches  Handbuch,  welches  jedem  Kolonialfreunde  große  Freude 
machen  wird,  da  es  ihm  ausgezeichnete  Dienste  leisten  kann,  wenn  er  seine  Kennt- 
nisse in  bezug  auf  unsern  Kolonialbesitz  auffrischen  oder  abrunden  will!  Ohne 
oberflächlich  zu  werden,  hat  der  Verfasser  sich  mit  knapper  Darstellung  alles 
Wissenswerten  begnügt.  Sein  Buch  dient  daher  auch  dem  Neuling,  der  sich  schnell 
und  sicher  über  unsre  Schutzgebiete,  besonders  auch  nach  der  wirtschaftlichen 
Seite  hin,  orientieren  will,  in  hervorragender  Weise.  Der  Verfasser,  seit  länger  als 
einem  Jahrzehnt  in  den  Kolonien  wie  im  Reichskolonialamt  tätig  und  gleichzeitig 
Dozent  für  die  deutschen  Kolonien  am  Seminar  für  orientalische  Sprachen  in 
Berlin,  ist,  wie  das  Werk  zeigt,  eine  für  solche  Darstellung  äußerst  geeignete 
Persönlichkeit,  Nach  Aussage  des  Verfassers  stützen  sich  die  Zahlen  und  sonstigen 
statistischen  Angaben  fast  durchweg  auf  amtliches  Material,  in  erster  Linie  auf 
die  dem  Reichstage  vorgelegten  kolonialen  Denkschriften  und  Haushaltsetats  der 
Schutzgebiete. 

Das  Werk  enthält  zwei  Teile,  einen  allgemeinen  und  einen  zweiten,  jede  ein- 
zelne Kolonie  besonders  behandelnden  Teil.  In  dem  ersteren  gibt  Verfasser  zu- 
nächst eine  kurze  Geschichte  der  Erwerbung  unserer  Kolonien,  sodann  einen  Über- 
blick über  die  Natur  der  einzelnen  Schutzgebiete  und  ihrer  Bevölkerung,  dabei 
eines  jeden  Eigenart  geschickt  hervorhebend.  Es  folgt  nun  eine  genaue  Schil- 
derung der  wirtschaftlichen  Entwicklung  der  einzelnen  Gebiete,  wobei  dauernde 
Besiedlung  mit  Weißen,  die  Produktion  der  Eingebornen,  ihr  Handel  mit  den 
Europäern  und  schließlich  der  Plantagenbetrieb  unter  europäischer  Leitung  be- 
sonders beachtet  und  besprochen  wird.  Der  Leser  wird  hiernach  in  knapper, 
aber  ausreichender  Weise  über  die  Verwaltung  und  Rechtsprechung  in  den  Ko- 
lonien unterrichtet  Nach  einer  Darstellung  der  ausgedehnten  Tätigkeit  der  Mission 
schließt  der  Verfasser  den  ersten  Teil  mit  einer  Betrachtung  über  den  günstigen 
Einfluß  der  Kolonialwirtschaft  auf  die  deutsche  Volkswirtschaft.  Er  berück- 
sichtigt dabei  die  Bedeutung  der  Kolonien  für  die  Auswanderung,  ferner  als  Auf- 
nahmegebiete für  unsere  Industrie-Erzeugnisse  und  als  Lieferantinnen  der  uns  un- 
entbehrlichen Rohprodukte.  Auch  streift  er  noch  den  wichtigen  Umstand,  daß 
durch  den  wirtschaftlichen  Verkehr  mit  den  eignen  Kolonien  das  deutsche 
Geld  mehr  in  den  deutschen  Händen  bleibt  und  so  unsre  eigne  Volkswirtschaft 
belebt  und  befruchtet. 

In  der  geschichtlichen  Einleitung  S.  9  hätten  wir  gern  auch  die  Begleiter  des 
Dr.  Karl  Peters  erwähnt  gesehen,  vornehmlich  den  Grafen  Pfeil,  damit  nicht  die 
Meinung  sich  festsetzt,  daß  wir  die  Erwerbung  Ostafrikas  dem  Erstgenannten 
ganz  allein  zu  verdanken  haben.  Man  vergleiche  auch  im  Buche  des  Grafen  Pfeil 
über  die  Erwerbung  Ostafrikas  die  Seiten  54 — 70.  Desgleichen  dürfte  auch  wohl 
nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  es  beim  Araberaufstande  1888  Gravenreuth  und 
Leue  waren,  welche  die  beiden  letzten  Orte,  die  den  Deutschen  verblieben,  hielten 
und  damit  die  Niederwerfung  des  Aufstandes  und  die  Wiedergewinnung  des  Landes 
bedeutend  erleichterten. 

Mit  Seite  44  beginnt  alsdann  die  Beschreibung  der  einzelnen  Kolonien.    Ost- 


J.  H.  Fahre,  Bilder  usw.;  A.  Seligo,  Tiere  usw.,  angez.  von  F.  Pfuhl.  701 

afrika  als  größte  Kolonie  eröffnet  den  Reigen.  Bei  ihr  wie  bei  den  andern  Kolonien 
hat  der  Verfasser,  je  nach  der  Eigenart  der  einzelnen  Kolonie  den  einen  oder  andern 
Punkt  mehr  betonend,  die  folgende  Anordnung  des  Stoffes  beobachtet:  Zunächst 
wird  das  Land  in  seinem  geologischen  Aufbau  vorgeführt.  Daran  schließt  sich 
eine  Besprechung  des  Klimas  und  der  hauptsächlichsten  Krankheiten.  Es  folgt 
eine  knappe  Angabe  dessen,  was  die  drei  Naturreiche  bieten,  und  zwar  ohne  Zutun 
der  Menschen.  Eingehend  wird  alsdann  die  weiße  und  die  farbige  Bevölkerung, 
deren  Tätigkeit  im  Handel,  in  Eigenproduktion,  in  Plantagen-  und  Farmwirtschaft, 
in  Viehzucht  und  Bergbau  —  wo  vorhanden  —  den  Lesern  vorgeführt.  Darauf 
wird  die  europäische  Besiedlung  und  deren  Aussichten,  wie  auch  die  so  notwendige 
Erschließung  der  Kolonien  durch  Eisenbahnen  betont  und  schließlich  noch  die 
Art  der  deutschen  Verwaltung  in  den  Kolonien  besprochen. 

Überall  offenbart  sich  ein  auf  reiche  Erfahrung  und  sichere  Unterlagen  ge- 
gründetes Urteil.  Ein  jeder  darf  sich  mit  vollem  Vertrauen  der  Lektüre  des  Buches 
hingeben.  Wir  wünschen  dem  klar  und  anregend  geschriebenen  Buche  eine  weite 
Verbreitung,  in  der  Hoffnung,  daß  es  die  in  unsrem  Volke  immer  noch  recht 
schwache  Kenntnis  kolonialer  Dinge  kräftig  mehren  hilft, 

Unna.  Gustav    Wittenbrinck. 

Fabre,  J.  H.,  Bilder  aus  der  Insektenwelt.  Autorisierte  Übersetzung 
aus:  „Souvenirs  Entomologiques" ,  l. — X.  Serie.  Erste  Reihe.  Mit  zahlreichen 
Abbildungen.  Stuttgart  1908,  Kosmos,  Gesellschaft  der  Naturfreunde. 
Franckhsche  Verlagshandlung.  125  S.,  kart.  2  M. 
Ein  prächtiges  Buch  —  nicht  besonders  wegen  der  Abbildungen  (in  Schwarz- 
druck), die  im  allgemeinen  ausdrucksvoll  und  treffend  sind,  als  wegen  des  an- 
sprechenden und  anregenden  Textes.  Der  Text  bringt  nun  nicht  nur,  wie  der 
Titel  sagt,  eine  Beschreibung  der  Insekten,  sondern  in  frischer  und  lebendiger 
Darstellung  entwickelt  er  die  Methode  der  Beobachtung  und  des  exakten  Experi- 
ments, das  die  gestellten  Fragen  allmählich  zur  Beantwortung  bringt,  mit  An- 
wendung einfachster  Mittel.  Und  es  ist  nur  ein  kleines  Fleckchen  Land,  das  dem 
Verfasser  zu  so  vielen  Ergebnissen  reichlichen  Stoff  bietet,  und  stets  wird  das 
Insekt  innerhalb  der  umgebenden  Natur  betrachtet.  Eine  Gegend  Süd-Frankreichs 
ist  es,  in  die  der  Verfasser  uns  mit  seinen  Schilderungen  führt,  und  wenn  da  auch 
manches  Insekt  und  manche  Pflanze  berücksichtigt  wird,  die  unsrer  Heimat 
fremd  sind  (Skorpion,  Gottesanbeterin,  Tarantel  —  der  Begriff  „Insekt"  ist  weit 
gefaßt  =  Gliederfüßer),  so  berücksichtigt  doch  auch  —  abgesehen  von  dem  all- 
gemein gültigen  (z.  B.  Duft  und  Geruchssinn  der  Insekten)  —  manches  der  18 
Kapitel  einheimische  Insekten,  wie  z.  B.  „Die  Schaumzikade  und  der  Kuckucks- 
speichel", dann  „Musikinstrumente  der  Laubheuschrecken",  „Aus  dem  Liebes- 
leben des  Eichenspinners".     Aber  jedes  Kapitel  fesselt  durch  seine  Darstellung. 

Seligo,  A.,  TiereundPflanzendesSeepIanktons.    Mit  einer  Tafel 
und  247  Textabbildungen.     Stuttgart,   Deutsche   mikrologische    Gesellschaft, 
Geschäftsstelle:  Franckhsche  Verlagshandlung.    8».    64  S.,  kart.  2  M. 
Eine  Einleitung  gibt  zunächst  Angabe  über  das  Fischen  und  Präparieren  des 


702  R.  Pilger,  Das  System  der  Blütenpflanzen  usw.,  angez.  von  F.  Pfuhl. 

Planktons.  15  Gruppen  von  Organismen,  von  denen  fünf  Pflanzen  betreffen, 
werden  behandelt,  wobei  besonders  bedacht  sind:  Kopepoden,  Kladozeren,  Räder- 
tiere, Grünalgen,  Kieselalgen,  Spaltalgen.  Jede  Art  wird  beschrieben  nicht  nur 
in  Hinsicht  auf  die  Körperbeschaffenheit,  wodurch  das  Erkennen  erleichtert  werden 
soll,  sondern  meist  auch  hinsichtlich  der  Lebensweise,  der  Art  der  Vermehrung 
und  der  Zeit  des  Erscheinens.  Den  größeren  Gruppen  ist  eine  zusammenfassende 
Übersicht  vorausgeschickt,  dann  folgen  Gattungen  und  Arten,  für  deren  Bestim- 
mung öfter  auch  ein  Schlüssel  eingefügt  ist,  zahlreiche  Maßangaben  sollen  die 
Diagnose  erleichtern.  Dazu  kommen  nun  noch  die  sehr  reichlichen,  meist  sche- 
matisch gehaltenen  Zeichnungen,  die  das  Charakteristische  hervorheben.  Viel- 
fach erscheinen  auch  Literaturangaben,  die  dem,  der  spezieller  sich  mit  der  eigen- 
artigen Welt  des  Planktons  beschäftigen  will,  gute  Dienste  leisten  können.  Wer 
aber  durch  eigne  Untersuchungen  sich  einen  orientierenden  Überblick  über  dieses 
vielfältige  Gebiet  verschaffen  will,  wird  in  dieser  Arbeit  einen  brauchbaren  Führer 
finden. 

Pilger,  R.,  Das  System  der  Blütenpflanzen  mitAusschluß  der 
Gymnospermen.  Mit  31  Figuren.  Sammlung  Göschen.  Leipzig  1908. 
G.  J.  Göschensche  Verlagsbuchhandlung.  140  S.  kl.  8».  0,80  M. 
Im  allgemeinen  Teil  (20  S.)  wird  zunächst  die  Geschichte  der  Systematik 
berührt,  dann  in  klarer  Weise  auseinandergesetzt,  was  über  die  Grundlage  des 
Systems  hauptsächlich  erwähnenswert  ist.  Die  Bewertung  der  morphologischen 
Merkmale  wird  erörtert,  die  Frage  nach  der  phylogenetischen  Einheit  wird  be- 
rührt, desgleichen  die  Tatsache  der  Reduktionserscheinungen  und  der  Analogien. 
Die  Dikotylen,  Dikotyledonen  genannt,  werden  zuerst  behandelt  und  nach  der 
Blumenkrone  —  ob  fehlend,  einfach  oder  doppelt  —  in  drei  große  Gruppen  geteilt. 
Dann  folgen  die  Reihen  mit  den  Familien.  Auf  S.  113  beginnen  die  Monokotyl e- 
donen.  Jede  Reihe,  jede  Familie  erhält  eine  kurze  Charakteristik.  Dann  werden 
einige  Gattungen  mit  ihren  Arten  genannt,  wofür  irgendeine  industrielle  Verwertung 
oder  eine  physiologische  Eigentümlichkeit  (Bestäubungsvorgänge  z.  B.  wie  bei 
Salvia,  Ficus,  Aristolochia  usw.)  bestimmend  waren.  Die  Abbildungen  sind  im 
allgemeinen  deutlich  und  charakteristisch  gehalten.  Eine  zweite  Auflage  könnte 
aber  wohl  die  Abbildung  des  Bienensaugs  (S.  99)  deutlicher  machen,  denn  von 
den  zahnartigen  Seitenzipfeln  der  Blumenkrone  sieht  man  nichts;  auch  Fig.  26 
müßte  geändert  werden.  Die  Artnamen  sind  stets  klein  geschrieben.  Bravo! 
da  ist  doch  Prinzip,  also  nicht:  Rosa  Gallica  und  dann  wieder^osa  canina.  Das 
Büchlein  ist  zwar  klein,  aber  reich  an  Inhalt  und  wird  manchem  gute  Dienste 
leisten. 

Posen.  Fritz  Pfuhl. 

Kerschensteiner,  G.,   Die  Entwicklung  der  zeichnerischen  Be- 
gabung.   Neue  Ergebnisse  auf  Grund  neuer  Untersuchungen.    Mit  800  Fi- 
guren   in    Schwarzdruck    und  47  Figuren    in    Farbendruck.     München  1905, 
Carl  Gerber.     IV  u.  508  S.    4».     12  M. 
Die  ungeheure  Zahl  von  500  000  Zeichnungen  von  zirka  58  000  Schulkindern 


G.  Kerschensteiner,  Die  Entwicklung  usw.,  angez.  von  G.  Kuhlmann.  703 

aller  Altersstufen  aus  300  Volksschulklassen  Münchens  gefertigt,  hat  der  in  weiten 
Kreisen  hochgeschätzte  Pädagoge  —  Leiter  des  Münchener  städtischen  Schul- 
wesens —  auf  seinen  Zweck  hin  untersucht.  Mit  bewundernswerter  Liebe  und 
Ausdauer  schuf  er  die  erste  groß  angelegte  deutsche  Arbeit  über  den  graphischen 
Ausdruck  des  Kindes,  als  Grundlage  für  spätere  umfassendere  Untersuchungen. 
Die  dankbare  Anerkennung  der  Verdienste  des  verehrten  Herrn  Verfassers  um 
die  Erforschung  des  noch  in  Dunkel  gehüllten  Gebietes,  darf  bei  der  außerordent- 
lichen Wichtigkeit  der  Sache  nicht  dazu  führen,  die  tatsächlichen  Mängel  der 
Untersuchung  zu  übersehen.  Der  Herr  Verfasser  sagt  selbst,  daß  für  den  Zweck 
«einer  Untersuchungen  ein  völlig  unbeeinflußtes  Kindermaterial  notwendig  sei. 
Als  solches  kann  aber  das  von  ihm  benutzte  —  Kinder,  die  längere  oder  kürzere 
Zeit  die  Schule  besucht  und  auch  Zeichenunterricht  genossen  haben  —  nicht  an- 
gesehen werden,  selbst  dann  nicht,  wenn,  wie  der  Herr  Verfasser  glaubt,  der  Unter- 
richt völlig  wertlos  gewesen  ist.  Auch  in  diesem,  von  dem  Herrn  Verfasser  an- 
genommenen Falle  hat  der  Unterricht  eine  den  Wert  der  Untersuchung  in  Frage 
stellende  Folge  gehabt:  er  hat  die  ursprünglichen  Fähigkeiten  unbedingt  gemindert, 
wenn  nicht  gar  zum  Absterben  gebracht,  weil  alle  Kräfte  der  menschlichen  Seele 
diesem  Schicksale  verfallen,  wenn  sie  keine  Gelegenheit  zur  Betätigung  finden. 
Die  Ergebnisse  der  Untersuchungen  des  Herrn  Verfassers  stehen  in  wichtigen  Punk- 
ten, so  z.  B.  in  bezug  auf  die  Begabung  für  die  Darstellung  der  Menschengestalt 
einerseits,  wie  in  bezug  auf  die  Begabung  für  das  Ornamentale  andrerseits,  im 
Gegensatz  zu  den  Beobachtungen,  die  andre  ebensowohl  an  Kindern  wie  an  Natur- 
völkern machten.  Da  drängt  sich  denn  wohl  die  Frage  auf,  ob  diese  Gegensätze 
nicht  durch  den  Umstand  verursacht  sein  können,  daß  das  Kindermaterial  des 
Herrn  Verfassers  den  unbeeinflußten  Urzustand  nicht  verkörperte.  Weiter  dürfte 
geltend  zu  machen  sein,  daß  die  Untersuchungen  des  Herrn  Verfassers  bei  aller 
Anerkennung  ihrer  Bedeutung  nicht  eine  Entwicklung  feststellen,  sondern  ihrem 
Wesen  nach  nur  die  Stichprobe  auf  einen  momentanen  Stand  sind.  Der  Gang 
einer  Entwicklung  ließe  sich  doch  nur  durch  eine  fortgesetzte  Reihe  solcher 
Stichproben  sicher  gewinnen. 

Ist  es  nun  auch  aus  diesen  Gründen  nicht  möglich,  von  diesen  Untersuchungen 
aus  sichere  Schlüsse  auf  die  Entwicklung  des  zeichnerischen  Ausdrucks  der  Rasse 
zu  ziehen  oder  sie  —  wie  es  der  Herr  Verfasser  wünscht  —  zum  Ausgangspunkt 
einer  Neugestaltung  des  Zeichenunterrichts  zu  machen,  so  enthält  das  groß  an- 
gelegte und  vorzüglich  ausgestattete  Werk  doch  einen  solchen  Schatz  von  An- 
regungen und  Ergebnissen,  daß  es  —  weil  sie  von  allgemeiner  pädagogischer  Be- 
deutung sind  —  in  keiner  Lehrer-Bibliothek  fehlen  sollte. 

Altona.  Fritz  Kuhlmann. 


IV.  Vermischtes. 


III.  Ruderkursus  im  Bootshause  Wannsee  bei  Berlin  1910. 

Auch  im  Jahre  1910  wird  auf  ministerielle  Anordnung  im  Bootshause  Wannsee 
bei  Berlin  ein  Ruderkursusfür  Lehrer  höherer  Lehranstalten 
abgehalten  werden.  Die  Lehrzeit  ist  behördlicherseits  auf  drei  Wochen  aus- 
gedehnt und  wird  vermutlich  sich  auf  die  Tage  vom  21.  April  bis  12.  Mai  erstrecken. 
Die  Übungen  werden  mit  dem  Kastenrudern  beginnen  und  ihre  Fortsetzung  im 
Riemenboot  mit  festen  und  mit  Rollsitzen  finden.  Hieran  wird  sich  die  Fahrt 
im  Skullboot  schließen.  Die  Kursisten  finden  täglich  Gelegenheit,  sich  mit  dem 
praktischen  Schüler- Ruderbetriebe  bekannt  zu  machen;  auch  für  volkstümliche 
Übungen,  besonders  solche,  die  für  das  „Wasserturnen"  vorbereiten,  sind  Einrich- 
tungen vorhanden. 

Von  Vorträgen  sind  folgende  in  Aussicht  genommen: 

1.  Turnen  und  Rudern  in  ihrer  inneren  und  äußeren  Verwandtschaft  (ein- 
leitender Vortrag):  Prof.  Wickenhagen. 

2.  Bootskauf  und  Bootspflege.    Aus  der  Praxis  für  die  Praxis:  Dr.  Pfeiffer. 

3.  Die  Methode  des  Ruderunterrichts:  Oberlehrer  Dr.  Wegner. 

4.  Vom  Bootstyp.     Das  rechte  Boot  am  rechten  Orte:  Prof.  Dr.  Kuhse. 

5.  Gedanken  über  den  planmäßigen  Ausbau  des  Schüler-Wanderruderns: 
Oberst  a.  D.  von  Diest. 

6.  Schülerrudern  und  Heeresdienst:  Oberlehrer  Naumann. 

7.  Die  körperliche  Überwachung  der  Ruderer:  Sanitätsrat  Prof.  Dr.  Schütze. 

8.  Zur  Frage  der  Haftpflicht:  Oberlehrer  Haagen  und  Generalagent  Firmenich. 

9.  Unsre  Feinde  und  ihre  Angriffe:  Oberlehrer  Dr.  Waterstradt. 

10.  Kameradschaftsleben  und  Geselligkeit  im  Ruderverein:  Prof.  Dr.  Paape. 

11.  Meine  Reise  von  Berlin  nach  Ostpreußen  und  dem  Frischen  Haff:  Prof. 
Rumland. 

An  alle  Vorträge  schließt  sich  ein  erschöpfender  Gedankenaustausch. 
Besichtigungen  werden  den  Unterricht  unterstützen;  so  die 

1.  der  Bootswerft  von  Deutsch- Stralau; 

2.  der  Schülerbootshäuser  in  Nieder- Schöneweide; 

3.  des  Schülerspielplatzes  „Grunewald"  bei  Eichkamp; 

4.  eines  der  neusten  Schwimmbassins. 

Die  L  e  i  t  u  n  g  des  Kursus  liegt  wieder  in  den  Händen  des  Prof.  Wicken- 
h  a  g  e  n ,  Gr.-Lichterfelde,  an  den  etwaige  Anfragen  zu  richten  sind. 


Dnick  von  O.  Bernstein  in  Berlin.