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Monatschrift
für . I
höhere Schulen.
Herausgegeben unter Mitwirkung
namhafter Schulmänner, Universitätslehrer und Verwaltungsbeamten
Dr. R. Köpke, ^^^ Dr. A. Matthias,
WIrkl. Geh. Ober-Reg.-Rat, "" Geh. Ober-Reg.-Rat,
Vortragenden Räten im Königl. Preuß. Kultusministerium.
Für die Redaktion verantwortlich: Geh. Ober-Regierungsrat Dr. A. Matthias.
VIII. Jahrgang.
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1909.
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Inhalt.
Seite
Aufruf für die Friedrich Althoff-Stiftung 65
Bekämpfung der „Schmutz- und Schundliteratur". Auszug aus dem Protokoll der
Hauptversammlung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig
am Sonntag Kantate, den 9. Mai 1909 442
Erste Abteilung.
Abhandlungen.
F. B 0 e s c h , Zur Übungsbücherfrage (Einige Wünsche zum Quartaband der
Ostermannschen Übungsbücher) 426
P. C a u e r , Wie studiert man Philologie? 588
F. C r a m e r , Selbstbetätigung und Selbstverantwortung der Schüler auf erzieh-
lichem Gebiet 495
W. Fries, Das pädagogische Seminar 71
O. Gerhardt, Über die Schülerselbstmorde 129
H. Guhrauer, Zur Reifeprüfungsordnung 29
R. Herold, Das Einüben der griechischen Buchstaben 425
P. Hohlstein, Der Unterricht im Linearzeichnen an den preußischen Real-
anstalten nach der Verfügung vom 14. September 1908 20
C. H ö 1 k , Zu Harnacks Vorschlägen über die Behandlung des Geschichtsunter-
richts auf der Oberstufe der Gymnasien 150
P. Johannesson, Eine Schülerwerkstatt 165
, Über Handfertigkeitsunterricht an höheren Schulen. Verkürzte Wieder-
gabe eines Vortrags 434
G. Junge, Nochmals die Astronomie auf der Schule 234
JVl. Kirchner, Mens sana in corpore sano 1
E. König, Zur Methodik des hebräischen Unterrichts 353
A. Matthias, Das Böttinger-Haus in Göttingen — die letzte Schöpfung Friedrich
Althoffs 7
, Bergers Schillerbiographie 81
W. Meier, Bürgerkunde 162
W. M e V s , Die ersten griechischen Stunden in der Untertertia 657
W. M ü n c h , Pädagogisches aus Paulsens „Jugenderinnerungen" 417
A. Neumann, Der neueste Oberlehrerroman 13
P. N i e m a n n , Der zweite preußische Oberlehrer-Ruder-Kursus in Wannsee bei
Berlin vom 12. bis 27. Mai 1909 662
IV Inhalt.
Seite
J, Norrenberg, Die Wiener Reformvorschläge für den naturwissenschaftlichen
Unterricht 16
, Die naturwissenschaftlichen Schülerübungen an den höheren Lehranstalten
Preußens 481
A. P 1 e i ß n e r , Zur Einführung des Werkunterrichts 498
W. Prinzhorn, Die freiere Gestaltung des Unterrichtes in der Prima des Lyzeums
zu Hannover 289
E. Rosenberg, Zur Bereicherung der Übersetzungssprache aus dem Lateini-
schen und Griechischen 421
G. Schmidt, Ein neues Hilfsmittel für den Sprachunterricht 310
K. Schwarzschild, Über Astronomie auf den höheren Schulen 69
V. S k u p n i k , Die klassische Philologie und die Naturwissenschaften .... 641
W. Thamhayn, Eine Ausstellungsgruppe für Reformschulwesen 75
R. Thiele, Alte Ziele — veränderte Wege im Geschichtsunterricht der Prima 225
A. T i 1 m a n n , I. Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des römi-
schen Rechts. — II. Die Anfängerkurse im Griechischen für Studierende
der juristischen, medizinischen und der philosophischen Fakultät. — III. Reife-
zeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten 303 u. 600
, Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten 306 u. 659
, Statistisches über das Frauenstudium 309 u. 501
, Die Friedrich Althoff-Stiftung 598
M. T ü r k , Ein alter Brauch 26
H. Weimer, Die höheren Schulen und die öffentliche Meinung 577
E. Wernicke, Der biologische Unterricht am Gymnasium in Marienwerder . 312
H. Wickenhagen, Turnen, Spielen, Rudern 171
J. Ziehen, Zur Beurteilung des Gymnasiums nach Frankfurter Lehrplan . . 584
Zweite Abteilung.
Programmabhandlungen.
M. N a t h , Über Lehrpläne und Schulreform 1908 174
H. Schmidt, Religion 1908 319
P. Geyer, Zum deutschen Unterricht 1908 364
F. C r a m e r , Latein 1908 604
O. Preußner, Französisch und Englisch 1908 610
F. M a r c k s , Geschichte 1907 u. 1908 188 u. 666
J. Norrenberg, Mathematik und Naturwissenschaften 1908 85
V. Steinecke, Erdkunde 1908 (Nachträge von 1907 u. 1906) 315
F. Kuhlmann, Zeichen- und Kunstunterricht 1908 92
G. Rolle, Gesangunterricht 1908 93
Berichtigung zu den Programmabhandlungen 1907 576
Dritte Abteilung.
Bficherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Aus den Veröffentlichungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schul-
geschichte (Jahrgang 1908), von Oberiehrer Dr. H. W e i m e r in Wiesbaden 503
Hilfsbücher für den deutschen Sprachunterricht, angez. von Geh. Reg.-Rat
Dr. J. Buschmann, Provinzial-Schulrat in Koblenz 450
Inhalt V
Seite
Zum deutschen Aufsatz, angez. von Oberlehrer Professor Dr. P. G e y e r in Brieg 321
Zur deutschen Literaturgeschichte, angez. von Direktor Professor Dr. A. Biese
in Neuwied 446
Schulausgaben deutscher Klassiker, angez. von Direktor Dr. Paul Lorentz
in Friedeberg 237
Lateinische Übungsbücher und Grammatiken, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. H. F r i t z s c h e in Berlin 378
Neuere Schulausgaben der lateinischen Klassiker und Beiwerk, angez. von Ober-
lehrer Professor Dr. H. Z i e m e r in Kolberg 33
Griechische Grammatiken und Übungsbücher, angez. von Professor Dr. G. S a c h s e
in Charlottenburg 506
Griechische Autoren, angez. von Oberlehrer Dr. C. H ö 1 k in Steglitz 375
Zur französischen Lektüre (Gedichtsammlungen und Verwandtes), angez. von Ober-
lehrer Professor Dr. W. B o h n h a r d t in Düsseldorf 671
Zum Unterricht im Rechnen und in der Mathematik. V., angez. von Direktor Pro-
fessor Dr. M. N a t h in Pankow 525
Schriften aus dem Gesamtgebiet der Biologie und ihrer Behandlung im Unterricht,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. F. Hock in Perleberg 382
Hilfsbücher für den Unterricht in der Physik, angez. von Geh, Reg.-Rat Professor
Dr. J. N 0 r r e n b e r g , vortr. Rat im Kultusministerium in Berlin . . . 533
Erdkunde, angez. von Direktor Dr. V. S t e i n e c k e in Essen a. d. Ruhr . . , 510
Heer-, Flotten- und Kolonial-Literatur für die Schule, angez. von Oberlehrer Dr.
W. Scheel in Steglitz 37
Neue österreichische Lehrbücher für den katholischen Religionsunterricht, angez.
von Oberlehrer Dr. W. C a p i t a i n e in Eschweiler 31
b) Einzelbesprechungen:
Abhandlungen, neusprachliche, s. R. R i e g 1 e r.
Akropolis, die, von Athen und das Forum Romanum, gemalt von MaxRoeder,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. Paul Brandt in Bonn 276
A n t h e s , O., Erotik und Erziehung, angez. von Direktor Dr. Richardjahnke
in Lüdenscheid 635
Arbeiten, philosophische, s. M. Simon.
Asbach, Jul, , Ludwig Freiherr Roth von Schreckenstein, angez. von Professor
Kräh in Düsseldorf 120
Aus einem Leben „voller Leuchten und Wunder" zum Andenken an Martin Brennecke,
angez. von Geh. Ober-Regierungsrat Dr. A. Matthias in Berlin 99
Aus Natur und Geisteswelt, s. Th. B i 1 1 e r a u f und A. Schapire — Neurat h.
B a e n t s c h , B., David und sein Zeitalter, angez. von Oberlehrer H. R i c h e r t ,
Leiter der Realschule in Pleschen 332
B a r d t , C, die Sermonen des Q. Horatius Flaccus, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. L. E h r e n t h a 1 in Schleusingen 53
, Zur Technik des Übersetzens lateinischer Prosa, angez. von Prov.-Schulrat
Dr. Paul Cauer, Professor an der Universität Münster i. W 273
, s. Römische Komödien.
Bartels, Rudolf, Zu Schillers „Das Ideal und das Leben", angez. von Direktor
Professor Dr. P. G o 1 d s c h e i d e r in Cassel 110
Bauer, W., Evangelium, s. Hand-Kommentar zum Neuen Testament.
Bäumer, Gertrud, und Lili Droescher, Von der Kindesseele, angez.
von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 261
VI Inhalt
Seite
Beiträge zur Naturdenkmalpflege, 1. Heft, angez. von Oberlehrer Dr. Fr. Pfuhl,
Professor an der Akademie in Posen 124
,2. Heft, angez. von Direktor Professor E. Stutzer in Görlitz . . . 632
Beiträge zur Weiterbildung der christlichen Religion, s. W. Rein, Religion und
Schule.
B e r g e r , A. E., Die Kulturaufgaben der Reformation, angez. von Oberlehrer
H. R i c h e r t , Leiter der Realschule in Pleschen 334
B e r g e r , K., Schiller, besprochen von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias
in Berlin 81
Bertz, Eduard, Harmonische Bildung, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. E. G r ü n w a 1 d in Berlin : 688
B e z a r d , J., La Classe de Fran^ais, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. B o h n -
h a r d t in Düsseldorf 57
V. Bezold,Fr., F. Gothein, R. Koser, Staat und Gesellschaft der neueren
Zeit, angez. von Direktor Dr. F. Neubauer in Frankfurt a. M 562
Bibliothek, indogermanische, s. M. N i e d e r m a n n.
Bibliothek wertvoller Memoiren, hrsgb. von Dr. E. S c h u 1 1 z e , angez. von Geh.
Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 118
B i e r b a u m , 0. J., s. Goethe-Kalender.
Biese, Alfred, Deutsche Literaturgeschichte, angez. von Geh. Reg.-Rat
Dr. J. Buschmann, Provinzial-Schulrat in Koblenz 106
Bildungswesen, Das gesamte, (mit Ausschluß der Hochschulen) im preußischen
Landtag, Vollständiger stenographischer Bericht usw. Hrsg. von H. S i e r k s ,
angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 456
B i s c h 0 f f , O., Leitfaden beim Unterricht in der Geschichte der christlichen Kirche
für evangelische Schulen, angez. von Direktor Dr. R. G a e d e in Münster i. W. 199
Bitterauf ,\T h. , Friedrich der Große, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. W i 1 h"e 1 m M e i n e r s in Elberfeld , . 699
Bölsche, Wilhelm, Die Schöpfungstage, angez. von Prof. Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 217
Böninger, Eugen, Von der Heerstraße, angez. von Professor Dr. E. R o t h e r t
in Düsseldorf 348
Bornemann, W., Der Konfirmandenunterricht und der Religionsunterricht in
der Schule in ihrem gegenseitigen Verhältnis, angez. von Oberlehrer Professor
R. Peters in Düsseldorf 202
Brennecke, Martin, s. Aus einem Leben.
Bücher der Rose, s. Will Vesper.
Bücher der Weisheit und Schönheit, angez. von Direktor Dr. Paul L o r e n t z
in Friedeberg Nm 396
Budde, Gerhard, Der Kampf um die fremdsprachliche Methodik, angez. von
Geh. Reg.-Rat Dr. W. Münch, Professor an der Universität Berlin ... 112
, Die Theorie des fremdsprachlichen Unterrichts in der Herbartschen Schule,
angez. von Direktor Professor Dr. J o h. Borbein in Altona 114
, Schülerselbstmorde, angez. von Direktor Dr. K- W e h r m a n n in Bochum 193
B u r g a ß , E., Winterliche Leibesübungen in freier Luft, angez. von Direktor Dr.
Edmund Neuendorff in Haspe 636
C a p i t a i n e , W., Lehrbuch der katholischen Religion, angez. von Oberlehrer
Dr. Joh. Noryskiewicz in Schrimm 547
Cauer,Paul, Grundfragen der Homerkritik, angez. von Professor Dr. G u s t a v
Lang in Stuttgart 470
Christlieb-Fauth, Handbuch der Evangelischen Religionslehre, angez. von
Direktor Dr. R. G a e d e in Münster i. W 198
Inhalt. VII
Seite
Chudzinski, A., Tod und Totenkultus bei den alten Griechen, angez. von
Oberlehrer Professor Dr. H. Wolf in Düsseldorf 342
C 0 n w e n t z , H., s. Beiträge zur Naturdenkmalpflege.
Dalcroze, E. Jaques, Der Rhythmus als Erziehungsmittel für das Leben und
die Kunst, angez. von Dr. F. S a r a n , Professor an der Universität Halle 393
Darmstaedter.Paul, Die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihre politische,
wirtschaftliche und soziale Entwicklung, angez. von Direktor Dr. A u g. H ö f e r
in Wiesbaden 404
D e g e n e r , H. A. L., Wer ist's?, angez. von Geh. Oberregierungsrat Dr.
A. Matthias in Berlin 63
Deußen, Paul, Die Geheimlehre des Veda, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. Karl Vorländer in Solingen 255
Diesterwegs deutsche Schulausgaben, s. Sophokles' Antigone.
Dietze, Hermann, Griechische Sagen, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. H. Wolf in Düsseldorf 343
Dippe, Alfred, Naturphilosophie, angez. von Professor Dr. E. Dennert
in Godesberg 477
Dornblüth, O., Hygiene der geistigen Arbeit, angez. von Oberlehrer Professor
Bodo Habenicht in Linden-Hannover 194
D y r 0 f f , A., Einführung in die Psychologie, angez. von Geh.-Rat Direktor
Dr. G. Leuchtenbergerin Zehlendorf bei Berlin 619
V. Eberhardt, Aus Preußens schwerer Zeit, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. Johannes Kreutzer in Cöln 277
E b n e r , E., Magister, Oberlehrer, Professoren. Wahrheit und Dichtung in Literatur-
ausschnitten aus fünf Jahrhunderten, angez. von Direktor Dr. R. J a h n k e
in Lüdenscheid . 48
E c k e r m a n n , J. P., Gespräche mit Goethe, herausgeg. von H. H. Houben,
angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 50
Eichhoff, H., Das Petit Lycee, angez. von Direktor Professor Dr. M a x N a t h
in Pankow 687
Eimer, M., Lord Byron und die Kunst, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. Paul Brandt in Bonn 257
Eisler, Rudolf, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, angez. von Geh.
Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 458
Ekkehards Waltharius, Hrsgb. von Karl Strecker, angez. von Dr. Conrad
B 0 r c h 1 i n g , Professor an der Akademie Posen 268
E r n s t , O., Des Kindes Freiheit und Freude, angez. von Oberl. Dr. H. W e i m e r
in Wiesbaden 195
Evangelien-Synopse, Deutsche, s. A. Huck.
Fahre, J. H., Bilder aus der Insektenwelt, angez. von Professor Dr. F. Pfuhl
in Posen 701
Falkenberg, Wilhelm, Ziele und Wege für den neusprachlichen Unter-
richt, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. B o h n h a r d t in Düsseldorf 215
Fauth, s. Christlieb-Fauth.
Festgesang zu Kaisers Geburtstag, angez. von Gesanglehrer Professor G. Rolle
in Berlin (s, Weinreis) 63
Festschrift des Königl. Joachimsthalschen Gymnasiums, s. Novae Symbolae
Joachimicae.
Festschrift zur 49. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Basel im
Jahre 1907, angez. von Oberlehrer Professor Dr. P. Foerster in Berlin 44
Fetter, Johann, Beiträge zur österreichischen Mittelschulreform, angez. von
Direktor Professor Dr. Max N a t h in Pankow 97
VIII Inhalt.
Seite
Fischer, Raymund, Elementar-Laboratorium, angez. von Oberlehrer Pro-
fessor P. Johannesson in Berlin 280
Flügel, O., s. Religionsphilosophie.
Frank, A., Die Erkenntnis Gottes durch die Natur, angez. von Professor Dr.
E. Dennert in Godesberg 478
F r i t s c h , 0., Delos, die Insel des Apollon und Delphi, die Orakelstätte des Apollon,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. E. W e n d 1 i n g in Zabern i. E. . . . 624
F u r r e r , K., Das Leben Jesu Christi, angez. von Oberlehrer Professor R. P e t e r s
in Düsseldorf 267
Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte, angez, von Direktor Dr. S.
W i d m a n n in Münster i. W 405
Gedenkhalle, Deutsche. Bilder aus der vaterländischen Geschichte von v. P f 1 u g k -
Härtung und v. T s c h u d i , angez. von Oberlehrer Professor Dr. W i 1 h.
iVleiners in Elberfeld 560
Geisteshelden, s. R. M. Werner, Hebbel.
Georges, Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch und Deutsch-lateinisches Schul-
wörterbuch, angez. von Direktor Dr. F. C r a m e r in Düsseldorf 52
Gerber, L., Englische Geschichte, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W i 1 h.
M e i n e r s in Elberfeld 568
Geschichtsmalerei, s. Künstlerische Wiedergaben.
Geyer, Albert, Unsere Kultur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart in
Einzelbildern, angez. von Oberlehrer Professor Dr. Johannes Kreutzer
in Cöln 277
G i e s e , A., Deutsche Bürgerkunde, angez. von Direktor Professor E. Stutzer
in Görlitz 122
Colt her, W., Nordische Literaturgeschichte, angez. von Dr. Fr. Panzer,
Professor an der Akademie für Handels- und Sozialwissenschaften in Frank-
furt a. M 208
Goethe-Gespräche, ausgewählt von Paul Lorentz, angez. von Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 271
Goethes lyrische Meisterstücke, s. Meisterstücke.
Goethe-Kalender auf das Jahr 1910, angez. von Geh. Oberregierungsrat Dr.
A. Matthias in Berlin 696
Graeber, Karl, Ideal-Schulgärten im XX. Jahrhundert, angez. von Ober-
lehrer Dr. Fr. Pfuhl, Professor an der Akademie Posen 282
Grießmann, J., Die gebräuchlichsten Fremdwörter, angez. von Geh. Reg.-Rat
Dr. Jos. Buschmann, Provinzial-Schulrat in Koblenz 550
Grosse, Julius, Ausgewählte Werke, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr.
A. Matthias in Berlin 697
Gruber, Hugo, Zeitiges und Streitiges, angez. von Oberlehrer Professor Dr.
E. Grünwald in Berlin 689
Günther, Konrad, Rückkehr zur Natur, angez. von Prof. Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 477
Günther, Sigmund, Geschichte der Mathematik, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. H. T h i e m e , Dozent an der Akademie Posen 474
Gymnasial-Bibliothek, s. A. Chudzinski, 0. Fritsch, R. Thiele und
H. W 0 1 f.
Hahn, Julius, Die Schlacht im Teutoburger Walde. Ein Gedenkblatt^ angez.
von Direktor Dr. S. W i d m a n n in Münster 564
Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen, s. H, H i r t , Etymologie.
Handbuch zum Neuen Testament, herausgeg. von Hans Lietzmann, angez.
von Oberlehrer Lic. Hans Vollmer in Hamburg 543
Inhalt. IX
Seite
Hand-Kommentar zum Neuen Testament, angez. von Direktor Dr. M. C o n s -
b r u c h in Eisenach 545
Hansen, A,, Haeckels „Welträtsel" und Herders Weltanschauung, angez. von
Professor Dr. E. D e n n e r t in Godesberg 216
Hartmann, A., Grundregeln der Gesundheitspflege, angez. von Oberlehrer
Professor F. Moldenhauer in Köln 64
Hausschatz des Wissens, s. M. V o g t h e r r.
Hebbel, Friedrich, Sämtliche Werke, Briefe, bes. von Richard Maria
Werner, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin . . 335
, Durch Irren zum Glück. Tagebuchblätter, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat
Dr. A. Matthias in BerHn 337
Hebbel-Forschungen, s. Joh. Krumm.
H e i d r i c h , R., Christnachtsfeier und Christnachtsgesänge in der evangelischen
Kirche, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. K. J a n s e n in Gr.-Lichter-
felde 206
Heilmeyer, AI., Die Plastik seit Beginn des 19. Jahrhunderts, angez. von
Oberlehrer Professor Dr. Paul Brandt in Bonn 257
H e 1 1 w i g , P., Lehrbuch der Geschichte für höhere Schulen, angez. von Ober-
lehrer Professor Dr. W. M e i n e r s in Elberfeld 408
Helm, Franz, Materialien zur Herodotlektüre, angez. von Professor Dr.
Gustav Lang in Stuttgart 401
Herders Werke, (Auswahl), s. Klassiker-Bibliothek, Goldene.
Herold, T h. , Das Lied vom Kinde, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A.
Matthias in Berlin 552
Hess, W., Christliche Glaubens- und Sittenlehre, angez. von Oberlehrer Professor
R. Peters in Düsseldorf 205
H e y c k , E., Deutsche Geschichte, angez. von Oberlehrer Prof. Dr. W. M e i n e r s
in Elberfeld 59
Himmel und Erde. Unser Wissen von der Sternenwelt und dem Erdball, Hrsgb.
von J. P 1 a s s m a n n u. a., angez. von Prov.-Schulrat Professor A 1 b r e c h t
T i e b e in Berlin 278
H i p p i u s , A., Der Kinderarzt als Erzieher, angez. von Oberlehrer Dr. H. W e i m e r
in Wiesbaden 395
Hirt, H., Etymologie der neuhochdeutschen Sprache, angez. von Geh. Reg.-Rat
Dr. Jos. Buschmann, Prov.-Schulrat in Koblenz 548
Hirzel, Rudolf, Rede, gehalten zur Feier der akademischen Preisverteilung
am 24. Juni 1905, angez. von Provinzial-Schulrat Dr. P. C a u e r , Professor
an der Universität Münster 394
Hock, F., Lehrbuch der Pflanzenkunde, angez. von Oberlehrer Dr. F r. P f u h 1 ,
Professor an der Akademie Posen 281
Hölderlins Werke, s. Klassiker-Bibliothek, Goldene.
H 0 1 1 z m a n n , H. J., Evangelium, s. Hand-Kommentar zum Neuen Testament.
Holtzmann, O., Christus, angez. von Oberlehrer H. R i c h e r t , Leiter der
Realschule in Pleschen 332
H 0 r a z ' Jamben- und Sermonen-Dichtung, s. K. S t a e d 1 e r.
H 0 r a z ' Sermonen, s. C. B a r d t.
Huck, A., Deutsche Evangelien-Synopse, angez. von Direktor Dr. M. C o n s -
b r u c h in Eisenach 546
Huemer, Kamillo, Auf die Probe kommt's an, angez. von Oberlehrer Pro-
fessor Dr. E. G r ü n w a 1 d in Berlin 394
Jäger, O., Deutsche Geschichte, angez. von Oberlehrer Prof. Dr. W. M e i n e r s
in Elberfeld 628
X Inhalt.
Jahrbuch der Naturwissenschaften 1906 — 1907, angez. von Prof. Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 217
1907—1908, angez. von Geh. Reg.-Rat Professor Dr. J. Norrenberg,
Vortrag. Rat im Kultusministerium in Berlin 573
Janeil, Walther, Ausgewählte Inschriften, griechisch und deutsch, angez.
von Provinzial-Schulrat Dr. P. C a u e r , Professor an der Universität Münster 472
Javal, Emile, Die Physiologie des Lesens und Schreibens, angez. von Pro-
vinzial-Schulrat Professor A. T i e b e in Berlin 412
Jean Pauls Werke, s. Klassiker-Bibliothek, Goldene.
Jessen und Stehle, Kleine Zahnkunde für Schule und Haus, angez. von
Oberlehrer Professor BodoHabenicht in Linden-Hannover 576
I m m i s c h , O., Wie studiert man Philologie?, besprochen von Provinzial-Schul-
rat Dr. P. C a u e r , Professor an der Universität Münster i. W. . . . . . . 588
Ipfelkofer,A., Bildende Kunst an Bayerns Gymnasien, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. P. Brandt in Bonn 257
Junge, Fr., Leitfaden für den Geschichtsunterricht in Real-, höheren Bürger-
und Mädchenschulen, besorgt von A. Lange, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. W. Mein er s in Elberfeld 558
K a 1 ä h n e , A., Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Elektrizität und
ihre Anwendungen, angez. von Oberlehrer Professor Fr. Busch in Arns-
berg i. W. 411
Kaemmel, Otto, Sächsische Geschichte, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. Johannes Kreutzer in Köln 278
K a ß n e r , C, Das Wetter und seine Bedeutung für das praktische Leben, angez.
von Oberlehrer Professor A. 0 1 1 o in Eisleben 573
V. Keppler,PaulWilhelm, Mehr Freude, angez. von Direktor Dr. Josef
Riehemann in Meppen 391
Kerschensteiner, G., Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung, angez.
von Zeichenlehrer Professor Fritz Kuhlmann in Altona 702
K e 1 1 n e r , G., Studien zu Schillers Dramen, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat
Dr. A. Matthias in Berlin 550
Kirchengeschichte in Quellen und Texten, s. G. Schwamborn.
K i r c h n e r , M., Die Tuberkulose in der Schule, ihre Verhütung und Bekämpfung,
angez. von Dr. K. D o e p n e r in Charlottenburg 636
Klassiker-Bibliothek, Goldene, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s
in Berlin 269 u. 463
K 1 a 1 1 , Max, Althoff und das höhere Schulwesen, angez. von Geh. Ober-Reg.-
Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 324
Klein, T h. , Biblische Geschichte für die ersten Schuljahre und für die Mittel-
und Oberstufe, angez. von Direktor Dr. R. G a e d e in Münster i. W. . . . 200
K n 0 k e , F., Neue Beiträge zu einer Geschichte der Römerkriege in Deutschland,
angez. von Direktor Dr. Fr. Cr am er in Düsseldorf 116
Komödien, Römische, Deutsch von C. B a r d t , angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat
Dr. A. Matthias in Berlin 698
K ö n i g , E., Die Poesie des Alten Testaments, angez. von Oberlehrer H. R i c h e r t ,
Leiter der Realschule in Pleschen 332
Kronenberg, M., Geschichte des deutschen Idealismus, angez. von Geh.-Rat
Professor Dr. Chr. Muff in Pforta 691
Krüger, G., Verordnungen und Gesetze für die Gymnasien und Realanstalten
des Herzogtums Anhalt, angez. von Direktor Professor Dr. Max N a t h in
Pankow 193
Krumm, Johannes, Die Tragödie Hebbels, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat
Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 339
Inhalt. XI
Seite
K u h 1 m a n n , F., Bausteine zu neuen Wegen des Zeichenunterrichts, angez. von
Professor Philipp Franck in Wannsee 575
Kultur der Gegenwart, s. v. B e z o 1 d , Staat und Gesellschaft.
Künstlerische farbige Wiedergaben bedeutender Werke deutscher Geschichtsmalerei,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. P. B r a n d t in Bonn 197
Ladenburg, Albert, Naturwissenschaftliche Vorträge, angez. von Professor
Dr. E. D e n n e r t in Godesberg 476
L a n g 1 , Jos., Bilder zur Geschichte für Gymnasien, Realschulen und verwandte
Anstalten, angez. von Oberlehrer Professor Dr. P. Brandt in Bonn . . . 276
Lassar-Cohn, Die Chemie im täglichen Leben, angez. von Professor Dr. P.
Rulf in Dortmund 633
L e h m a n n , R., Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, angez. von Direktor
Professor Dr. Fr. Seiler in Luckau 108
, Der deutsche Unterricht, angez. von Geh. Gber-Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s.
in Berlin 622
Lentz, Ernst, Pädagogisches Neuland, angez. von Oberlehrer Professor Dr.
O. Keesebiter in Charlottenburg 98
Lessi.ngs Werke (Auswahl), s. Klassiker-Bibliothek, Goldene.
Lhotzky, Heinrich, Die Seele deines Kindes, angez. von Oberlehrer Dr.
P a u 1 W ü s t in Düsseldorf 258
V. L i e b e r m a n n , L., An die akademischen Bürger und Abiturienten höherer
Lehranstalten, angez. von Direktor Dr. Richard Jahnkein Lüdenscheid 635
Lietzmann, Hans, s. Handbuch zum Neuen Testament.
Lodge,Sir01iver, Leben und Materie, angez. von Professor Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 477
L ö h r , M., Volksleben im Lande der Bibel, angez. von Oberlehrer H. R i c h e r t ,
Leiter der Realschule in Pleschen 332
L 0 r i a , G., Vorlesungen über darstellende Geometrie, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. H. T h i e m e in Posen 122
Loewenfeld, L., Über die Dummheit, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr.
A. M a 1 1 h i a s in Berlin 620
L u c i a n s Schriften, angez. von Oberlehrer Professor Dr. H. Z i e m e r in Kolberg 553
Luckenbach, H., Kunst und Geschichte, I. Teil, Abbildungen zur alten Ge-
schichte, angez. von Oberlehrer Professor Dr. P. Brandt in Bonn .... 474
Ludwig, A., Schiller und die deutsche Nachwelt, angez. von Geh. Ober-Reg.-
Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 210
M a r X , H., und H. T e n t e r , Hilfsbuch für den evangelischen Religionsunterricht
an höheren Lehranstalten, angez. von Direktor Dr. R. G a e d e in Münster i. W. 201
Matschoß, A., Die preußischen Provinzial- Instruktionen für die Direktoren,
Ordinarien und Oberlehrer der höheren Schulen (1856 — 1885), angez. von Geh.
Ober-Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 539
Meisterstücke der deutschen Lyrik von Johann Wolfgang von Goethe, hrsgb. von
R. M. M e y e r , angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 210
Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums in Wien,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. E. G r ü n w a 1 d in Berlin 46
Mittelschul-Enquete im K. K. Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien,
angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 457
Monatsblätter für den evangelischen Religionsunterricht, angez. von Oberlehrer
Dr. Fr. Fei gel in Duisburg 100
Moral Instruction and Training in Schools, angez. von Geh. Reg.-Rat Dr. W. M ü n c h,
Professor an der Universität Berlin 40
Müller, Hugo, Die Gefahren der Einheitsschule für unsere nationale Erziehung,
angez. von Direktor Professor Dr. Max N a t h in Pankow 96
XII Inhalt.
Seite
Münch, Wilhelm, Kultur und Erziehung, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. E. G r ü n w a 1 d in Berlin 390
Münchhausens wunderbare Reisen und Abenteuer, angez. von Oberlehrer
Dr. K a r 1 Lorenz in Hamburg 212
Muthesius, Karl, Goethe und Pestalozzi, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. Alfred Heubaum in Friedenau bei Berlin 262
Naumann, Fr., Sonnenfahrten, angez. von Geh. Oberregierungsrat Dr.
A. Matthias in Berlin 571
Neubauer, Fr., Kleine Staatslehre für höhere Lehranstalten, angez. von
Direktor Professor E. Stutzer in Görlitz 406
Niedermann, M., und E. Hermann, Historische Lautlehre des Lateinischen,
angez. von Direktor Dr. Franz Cramer in Düsseldorf 627
Nohl, Clemens, Womit hat der höhere Schulunterricht unserer Zeit die Jugend
bekannt zu machen? Was ist von demselben unbedingt fernzuhalten? Wie
ist in dem allein Zulässigen zu unterrichten?, angez. von Provinzial-Schulrat
Dr. P. C a u e r , Professor an der Universität Münster i. W 328
Novae Symbolae Joachimicae, angez. von Oberlehrer Prof. Dr. E. W e n d 1 i n g
in Zabern i. E 329
Novalis' Werke, s. Klassiker-Bibliothek, Goldene.
Ostermann, Chr., Lateinisches Übungsbuch, besprochen von Oberlehrer
Dr. F. B 0 e s c h in Berlin- Wilmersdorf 426
Otto, Berthold, Deutsche Erziehung und Hauslehrerbestrebungen, angez.
von Direktor Professor Dr. M a x N a t h in Pankow 97
, Wie ich meinen Kindern von der Bodenreform erzähle, angez. von Direktor
Dr. Edmund Neuendorff in Haspe 631
Papers on Moral Instruction, angez. von Geh. Reg.-Rat Dr. W. M ü n c h , Professor
an der Universität Berlin 40
Patin, A., Der Lucidus Ordo des Horatius, angez. von Direktor Professor Dr.
Ludwig Ehrenthal in Halberstadt 402
Paulsen, Fried r. , Aus meinem Leben, besprochen von Geh. Reg.-Rat Dr.
W. Münch, Professor an der Universität Berlin 417
, Moderne Erziehung und geschlechtliche Sittlichkeit, angez. von Direktor
Dr. R. J a h n k e in Lüdenscheid 326
Petersen, Eugen, Die Burgtempel der Athenaia, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. E. Wendung in Zabern i. E 344
Pfade, neue, zum alten Gott, angez. von Oberlehrer Professor R. P e t e r s in
Düsseldorf 202
Pfeiffer, Ernst, Schulhygienisches Taschenbuch, angez. von Oberlehrer
Professor F. Moldenhauer in Köln 124
Pfleiderer, Otto, Religion und Religionen, angez. von Oberlehrer Professor
R. P e t e r s in Düsseldorf 265
V. Pflugk-Hartung, s. Deutsche Gedenkhalle.
P h i 1 i p p s 0 n , A., Das Mittelmeergebiet, angez. von Provinzial-Schulrat Dr.
Julius Waßner in Groß-Lichterfelde (Kassel) 570
Pilger, R., Das System der Blütenpflanzen mit Ausschluß der Gymnospermen,
angez. von Oberlehrer Dr. F. Pfuhl, Professor an der Akademie Posen . . 702
P l a s s m a n n , J., s. Himmel und Erde.
P 0 i n c a r 6 , L., Die moderne Physik, angez. von Geh. Reg.-Rat Dr. J. N o r r e n-
b e r g , vortr. Rat im Kultusministerium in Berlin r • • 217
Quellensammlung zur deutschen Geschichte, s. F. S a 1 o m o n.
R a i t h e 1 , R., Maturitätsfragen aus der allgemeinen Geschichte und Maturitäts-
fragen aus der vaterländischen Geschichte, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. W. M e i n e r s in Elberfeld 558
Inhalt. XIII
Seite
Rauschen, G., Lehrbuch der katholischen Religion für die oberen Klassen
höherer Lehranstalten, angez. von Oberlehrer Dr. theol. Joh. Noryskie-
w i c z in Schrimm 693
Reckendorf, H., Mohammed und die Seinen, angez. von Oberlehrer
H. R i c h e r t , Leiter der Realschule in Pleschen 332
Rein, W., Religion und Schule, angez. von Oberlehrer Professor R. P e t e r s in
Düsseldorf 205
, Grundriß der Ethik, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. Koppel-
mann, Dozent an der Universität in Münster i. W 459
Religionsphilosophie in Einzeldarstellungen. Hrsg. von O. Flügel, angez. von
Oberlehrer Professor Dr. W. K o p p e 1 m a n n , Dozent an der Universität
in Münster i. W 460
R e s a , F., Jesus der Christus, angez. von Oberlehrer Professor R. Peters in
Düsseldorf 201
Riegler, Richard, Das Tier im Spiegel der Sprache, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. J. H e i n z e r 1 i n g in Siegen 103
Roeder, Max, s. Akropolis von Athen.
R ö h 1 , H., Entlassungsreden, angez. von Provinzial-Schulrat Dr. P. C a u e r ,
Professor an der Universität Münster i. W 394
Rose, Felicitas, Heideschulmeister Uwe Karsten, angez. von Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 400
S a d 1 e r , M. E., s. Moral Instruction.
Salomon, Felix, Die deutschen Parteiprogramme, angez. von Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 565
Sammlung Göschen, s. L. Gerber, W. Golther,Al. Heilmeyer, Otto
Kaemmel, R. Pilger, W. Staerk und H. S w o b o d a.
SchaarschmidtjC, Die Religion. Einführung in ihre Entwicklungsgeschichte,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. K o p p e 1 m a n n , Dozent an der
Universität Münster i. W 542
Schäfer, Alb., Einführung in die Kulturwelt der alten Griechen und Römer,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. H. Wolf in Düsseldorf 340
Schapire-Neurath, Anna, Friedrich Hebbel, angez. von Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 338
Scheel, W., Das Lichtbild, angez. von Oberlehrer Professor H. B o h n in Berlin 574
S c h e i n e r , J., Populäre Astrophysik, angez. von Provinzial-Schulrat Professor
A. T i e b e in Berlin 278
Schenk, K-, Lehrbuch der Geschichte für höhere Lehranstalten, angez. von
Direktor Dr. Fr. Marcks in Putbus 121
Schiller-Denkwürdigkeiten, angez. von Direktor P. Lorentzin Friedeberg, Nm. 469
S c h m i d , B., Philosophisches Lesebuch, angez. von Professor Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 459
Schnee, H., Unsere Kolonien, angez. von Direktor Gust. Wittenbrinck
in Unna 700
Schneider, Ferd. Jos., Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten in der
Literatur, angez. von Direktor Professor Dr. M. G e y e r in Eisenberg (S.-A.) 272
Schneider, Max, Von wem ist das doch?, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat
Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 695
S c h ö p p a , G., Das Mädchenschulwesen in Preußen, angez. von Geh. Ober-Reg.-
Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 538
Schriften, kleine, des Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und Jugend-
spiele, s. E. B u r g a ß.
Schubert, H., Niedere Analysis, angez. von Oberlehrer Professor Dr. H. T h i e m e
in Posen 349
XIV Inhalt.
Seite
Schultze, Ernst, s. Bibliothek wertvoller Memoiren.
Schultze, Friedrich, Die Franzosenzeit in deutschen Landen 1806—1815,
angez. von Direktor F. Neubauer in Frankfurt a. M 566
Schwamborn, Gregor, Kirchengeschichte in Quellen und Texten, angez.
von Oberlehrer Dr. W. C a p i t a i n e in Eschweiler 333
S e 1 i g 0 , A., Tiere und Pflanzen des Seeplanktons, angez. von Oberlehrer Dr. F.
Pfuhl, Professor an der Akademie Posen 701
Senfft von Pilsach, A., Aus Bismarcks Werkstatt, angez. von Direktor
Professor E. Stutzer in Görlitz 567
S i e c k e , E., Mythus, Sage, Märchen in ihren Beziehungen zur Gegenwart, angez.
von Dr. Fr. Panzer, Professor an der Akademie für Handels- und Sozial-
wissenschaften in Frankfurt a. M 208
8 i e r k s , H., s. Das gesamte Bildungswesen.
S i k 0 r s k i , J. A., Die seelische Entwicklung des Kindes nebst kurzer Charakte-
ristik der Psychologie des reiferen Alters, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr.
A. Matthias in Berlin . 260
S i m 0 n , M., Über Mathematik, angez. von Oberlehrer Professor Dr. H. T h i e m e ,
Dozent an der Akademie Posen 572
Sophokles' Antigone, übersetzt von O. Altendorf, angez. von Oberlehrer Pro-
fessor Ludwig Hüter in Gießen 344
S p i 1 1 e r , G., s. Papers on Moral Instruction.
Stadelmann, H., Ärztlich-pädagogische Vorschule auf Grundlage einer biolo-
gischen Psychologie, angez. von Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias
in Berlin 690
S t a e d 1 e r , K., Horaz' Jamben- und Sermonen-Dichtung, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. L. E h r e n t h a 1 in Schleusingen 55
S t a e r k , W., Neutestamentliche Zeitgeschichte, angez. von Oberlehrer Professor
R. Peters in Düsseldorf 202
Statuen deutscher Kultur, angez. von Direktor P, Lorentzin Friedeberg, Nm. 466
Steinwender, Th., Die Marschordnung des römischen Heeres zur Zeit der
Manipularstellung, angez. von Oberlehrer Dr. H. L e p p e r m a n n in Paderborn 346
S t e u d i n g , H., Denkmäler antiker Kunst, angez. von Oberlehrer Professor Dr.
P. Brandt in Bonn 196
S t r z y g 0 w s k i , J., Die bildende Kunst der Gegenwart, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. P. B r a n d t in Bonn 195
S u c h i e r , H., Les Voyelles Toniques du vieux Fran^ais, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. E. M a c k e 1 , schultechnischer Mitarbeiter am Provinzial-Schul-
kollegium zu Stettin 554
S w 0 b 0 d a , H., Griechische Geschichte, angez. von Oberlehrer Professor Dr.
W. M e i n e r s in Elberfeld 474
Taschenbuch, schulhygienisches, s. E. Pfeiffer.
Tenter, H., s. H. Marx und H. Ten t er.
Thiele, R., Im Ionischen Kleinasien, angez. von Professor Dr. E. W e n d 1 i n g
in Zabern i. E 624
Thilo, C h. A., s. Religionsphilosophie.
T h i m m e , A., Das Märchen, angez. von Gymnasialdirektor Dr. P a u 1 L o r e n t z
in Friedeberg, Nm 623
Thomas, P. F61ix, L'Education dans la Familie (Les P6ch6s des Parents),
angez. von Geh. Reg.-Rat Dr. W. M ü n c h , Professor an der Universität Berlin 327
T h r ä n d 0 r f , E., Die soziale Frage in Prima, angez. von Oberlehrer Professor
R. Peters in Düsseldorf 265
Thrändorf, E., und H. M e 1 1 z e r , Der Religionsunterricht, angez. von Ober-
lehrer Professor R. P e t e r s in Düsseldorf 266
Inhalt. * XV
Seite
Th u 1 i n , C. O., Die Etruskische Disziplin und Die Götter des Martianus Capella
und die Bronzeleber von Piacenza, angez. von Oberlehrer Professor Dr. A.
Kannengießer in Gelsenkirchen 557
T i e c k s Werke, s. Klassiker-Bibliothek, Goldene.
Unbescheid, Hermann, Die Behandlung der dramatischen Lektüre, er-
läutert an Schillers Dramen, angez. von Direktor Professor Dr. P. G o 1 d -
scheider in Kassel 399
Versuche und Vorarbeiten, religionsgeschichtliche, s. C. O. T h u 1 i n.
V e s p e r , W i 1 1 , Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik, angez. von
Direktor Professor Dr. A. B i e s e in Neuwied 107
, s. Statuen deutscher Kultur.
V 0 g t h e r r , M., Die Chemie, angez. von Oberlehrer Professor Dr. P. R u 1 f in
Dortmund 634
Vorträge der theologischen Konferenz zu Gießen, s. W. B o r n e m a n n.
V 0 w i n c k e 1 , E., Pädagogische Deutungen, angez. von Direktor Dr. Fried-
rich Schmitz in Langenberg 540
Wagner und v. Kobilinski, Leitfaden der griechischen und römischen
Altertümer, angez. von Oberlehrer Professor Dr. H. Wolf in Düsseldorf . . 341
Walter, M., Aneignung und Verarbeitung des Wortschatzes im neusprachlichen
Unterricht, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. B o h n h a r d t in Düsseldorf 1 15
W e i n r e i s , P. und H., s. Festgesang zu Kaisers Geburtstag.
Wer ist's?, s. H. A. L. D e g e n e r.
Werner, Richard Maria, Hebbel, ein Lebensbild, angez. von Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 337
W e r t h e r , Dr. med.. Hütet Euch, angez. von Direktor Dr. R. J a h n k e in
Lüdenscheid 478
Wickenhagen, Ernst, Leitfaden für den Unterricht in der Kunstgeschichte
der Baukunst, Bildnerei, Malerei und Musik, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. P. B r a n d t in Bonn 474
W i e 1 a n d s gesammelte Schriften, angez. von Geh. Oberregierungsrat Dr.
A. Matthias in Beriin 395
W i 1 d e r m a n n , M., s. Jahrbuch der Naturwissenschaften.
Wissenschaft und Bildung, s. B. Baentsch,A. Dyroff,0. Holtzmann,
C. Kaßner,E. König, M. Löhr,H. Reckendorf und H. S c h n e e.
W 0 l f , H., Die Religion der alten Römer, angez. von Oberlehrer Dr. T h. G r o b b e 1
in Paderborn 213
W 0 1 f f , Emil, Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volks-
wirtschaftsgeschichte von 1640 bis zur Gegenwart, angez. von Geh. Ober-Reg.-
Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 564
Zeitfragen, soziale, s. B. Otto.
Ziehen, Julius, Über die bisherige Entwicklung und die weiteren Aufgaben
der Reform unseres höheren Schulwesens, angez. von Provinzial-Schulrat
Professor Dr. J o h. B o r b e i n in Kassel 254
, Neue Studien zur lateinischen Anthologie, angez. von Reg.- und Schulrat,
Direktor Professor Dr. A. F u n c k in Sondershausen 626
Vierte Abteilung.
Vermischtes.
Zum Tode Ernst v. Wildenbruchs, von Oberlehrer Dr. Max Georg Schmidt
in Marburg 126
Ein internationaler Neuphilologentag in Paris, von Geh. Reg.-Rat Dr. W. M ü n c h ,
Professor an der Universität Beriin 219
XVI ' Inhalt
Seite
Greifswalder Ferienkurse 219
Aufruf zur Schonung der Pflanzenwelt vom Westpreußischen Provinzialkomitee
für Naturdenkmalpflege 283
50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 284
Aufruf zu einer Stiftung aus Anlaß der 50. Versammlung deutscher Philologen und
Schulmänner 286
Deutscher Verein für Volkshygiene, von Sanitätsrat Dr. K. B e e r w a 1 d in Berlin 287
Ferienkurse in Hydrobiologie und Planktonkunde, veranstaltet von Professor Dr.
Zacharias in Plön 288
Biologische Ferienkurse in Münster i. W 352
Kritische Grillparzer-Ausgabe 414
Böttinger Studienhaus in Göttingen 415
Marburger Ferienkurse 416
Aufruf (Förderung der klassischen Altertumswissenschaft) 479
Voigtländers Künstler - Steinzeichnungen, von Geh. Oberregierungsrat Dr.
A. M a 1 1 h i a s in Berlin 480
III. Ruderkursus im Bootshause Wannsee bei Berlin 1910 704
Fünfte Abteilung.
Sprechsaal.. 128, 220, 221, 222, 223, 351, 352, 639 u. 640
Abhandlungen.
Mens Sana in corpore sano.
Vor mehr als einem Jahr hat Herr Professor Ernst Böhm in der BerHner
Gymnasiallehrergesellschaft einen Vortrag gehalten, dessen Thema unter den Schul-
hygienikern berechtigtes Kopfschütteln erregte: „Mens sana in corpore aegroto?"
in einer Fußnote bemerkte Herr Böhm dazu: „Gegenüber den maßlosen Forde-
rungen, zu denen sich gewisse Hygieniker neuerdings versteigen, mag auch einmal
eine reaktionäre Stimme zu Worte kommen; daß er sich nicht gegen die hygie-
nischen Bestrebungen an sich, sondern nur gegen ihre Einseitigkeiten und Über-
treibungen wendet, betont der Verfasser nachdrücklich genug." Herr Böhm hatte
auf meine Bitte die Freundlichkeit, mir einen Separatabdruck seines Vortrags zu
senden. Ich habe ihn mit Interesse gelesen und den Eindruck gewonnen, daß viele
Gedanken, welchen Herr Böhm Ausdruck verliehen hat, eine gewisse Berechtigung
haben, daß aber der ganze Inhalt des Vortrags zum Widerspruch herausfordert.
Ich möchte mir daher erlauben, in einer für Schulmänner bestimmten Zeitschrift
auf diese Frage etwas gründlicher einzugehen.
Herr Böhm geht von der Bemerkung aus, daß der bekannte Ausspruch des
Juvenal: „Mens sana in corpore sano" von der Mehrzahl derjenigen, welche ihn
anwenden, nicht richtig gedeutet werde; seiner Ansicht nach legten die meisten
den Ausspruch so aus, daß nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist
wohnen könne. In der Tat gebrauchen manche den Ausspruch in dieser Bedeutung;
ich habe dies in einer hygienischen Versammlung, allerdings von einem Laien,
gehört. Die Sachverständigen, namentlich die Schulhygieniker, dagegen stehen
auf einem anderen Standpunkt, und ich selbst habe mich wiederholt dahin aus-
gesprochen, daß das Ziel einer rationellen Erziehung eine gesunde Seele in einem
gesunden Körper sein müsse.
Herr Böhm gerät in seinem Kampf gegen jene falsche Auffassung des
Juvenal sehen Wortes in den entgegengesetzten Fehler und legt, wie es in
früheren Jahrhunderten die Regel war, den Schwerpunkt auf eine ausschließlich
geistige Vollkommenheit; er führt aus, daß eine große Anzahl geistig hervorra-
gender Persönlichkeiten körperlich mangelhaft entwickelt oder gar schwer krank
gewesen sei, und stellt die Gesundheit des Körpers fast als ein Hinderungsgrund
für die gesunde Entwicklung der Seele hin. Seine Beispiele für diese Behauptung
sind nicht glücklich gewählt. Er führt an, daß Homer, Milton und Hieronymus
Lorm blind, Apostel Paulus und Napoleon I. Epileptiker und^Luther von
Monatscbrift L hob. Schulen. VUL Jhrg. \
2 M. Kirchner,
seinem vierzigsten Lebensjahre ein kraniier Mann waren; er weist darauf hin, daß
Geliert von sehr zarter Konstitution, Otto Ludwig jahrzehntelang kränklich
gewesen und Spinoza an der Schwindsucht gestorben ist; er hebt hervor, wie
trauriges in körperlicher Beziehung mit unserem größten Dichter, Friedrich Schil-
ler, gestanden habe; auch der taube Heinrich von Treitschke und die taub-
stumme und blinde Amerikanerin Helen Keller müssen ihm als Beispiele dafür
dienen, daß eine gesunde Seele in einem kranken Körper leben könne. Aber will
Herr Böhm vielleicht damit sagen, daß die großen Geistesgaben, welche die von
ihm angeführten hervorragenden Persönlichkeiten besessen und zum Wohle der
Menschheit betätigt haben, uns verloren gegangen wären, wenn sie sich körperlicher
Gesundheit erfreut hätten? Würde, um nur ein Beispiel herauszugreifen, Schiller
nicht vielleicht noch viel herrlichere Dichtungen hervorgebracht haben, wenn er nicht
solange kränklich gewesen und nicht so frühzeitig dahingegangen wäre? Nicht
viel glückhcher ist der andere Gedanke, welchen Herr Böhm ausspinnt, daß die
modernen Athleten, „die Steher und Flieger, die auf den Radrennbahnen jährlich
Zehntausende als Preise erringen, und über deren Erfolge und Chancen tagtäglich
spaltenlange Artikel in den Zeitungen stehen", häufig genug geistig minder-
wertig sind. Damit deutet er also beinahe an, daß körperliche Gesundheit für eine
gesunde Entwicklung des Geistes sogar ein Hindernis sein könne, was sicherlich
nicht richtig ist.
Herr Böhm wendet sich dann weiter gegen die Statistik, welche den Nachweis
führe, daß leider, namentlich in den großen Städten, die Militärdiensttaug-
Hchkeit der heranwachsenden Jugend namentlich in den gebildeten Klassen mehr
und mehr zurückgeht. Er hält auf der einen Seite diese Statistik nicht für zuverlässig,
hebt aber auf der andern Seite hervor, daß es doch nicht ein so großes Unglück
sei, zum Militärdienst nicht herangezogen zu werden, da man ja noch kein Krüppel
oder Todeskandidat sei, wenn man nicht zu dienen brauche, und seinen Beruf
trotzdem ausgezeichnet erfüllen könne. Auch hier geht Herr Böhm weit über das
Ziel hinaus. Denn wenn auch sicherlich zahlreiche Mitglieder der gelehrten Berufe
ihren Platz völlig ausfüllen, trotzdem sie wegen körperlicher Schwächlichkeit nicht
militärdiensttauglich waren, so wäre es doch sicherlich für das Vaterland und sie
selbst schöner gewesen, wenn diese geistig hochstehenden Männer infolge einer
kräftigen körperlichen Entwicklung in der Lage wären, falls das Vaterland in Gefahr,
zum Schwert zu greifen und in das Feld zu ziehen. Solange Herr Böhm nicht
den Nachweis führt, daß unter den Schulmännern diejenigen, welche gedient haben^
weniger tüchtige Lehrer sind, als die, welche vom Dienst befreit waren, wird man
seine Beweisführung nicht als glücklich anerkennen können. Das, was Herr Böhm
als Ideal hinstellt, ist leider wenig erfreulich. Er sagt: ,Wer durch seinen Körper
in der Ausübung seines Berufes nicht gehindert wird, ist für seine Person gesund
genug." Dies entspricht so wenig dem, was wir im Interesse unserer Volks-
gesundheit wünschen müssen, daß wir es nur auf das tiefste beklagen könnten,^
wenn es auch nur einem Teil unserer Lehrer als Ideal vorschweben sollte.
Auch gegen die weitere Behauptung des Herrn Böhm, daß „nicht patriotische
Erwägung, sondern der Wunsch, die unangenehmen Schmerzen fern und den
Körper möglichst lange arbeitsfähig, vor allem aber genußfähig zu erhalten, die
k
Mens Sana in corpore sano. ^
Mehrzahl der Menschen veranlassen, ihrer Gesundheit besondere Aufmerksam-
keit zu schenken", muß ich mich mit Nachdruck wenden.
Und wenn Böhm schließlich die Mahnung aufstellt: „Trachtet am ersten nach
einer gesunden Seele, dann wird die Gesundheit des Leibes nicht ausbleiben,
wenigstens nicht, soweit die Seele ihrer bedarf," so muß eine solche Mahnung
meines Erachtens als einseitig, unzweckmäßig und als in hohem Grade ungesund
bezeichnet werden.
Wenn man den Aufsatz von Böhm liest, so fragt man unwillkürUch: Ist denn
die großartige Entwicklung der Hygiene, welche wir in den letzten 30 Jahren mit
Staunen und Freude beobachtet haben, vergeblich gewesen, und ist namentlich
alles, was die zahlreichen verdienstvollen Schulhygieniker, und zwar nicht nur
Ärzte, gesprochen und geschrieben haben, an den Lehrern spurlos vorübergegangen?
Wäre dies der Fall, und stände auch nur ein Teil der Lehrer auf dem Standpunkt
des Herrn Böhm, so wäre die heranwachsende Jugend auf das äußerste zu be-
klagen. Allein ich gebe mich der Hoffnung hin, daß Herr Böhm selbst von der
Richtigkeit der in seinem Vortrag geäußerten Ansicht nicht voll durchdrungen ist,
und daß er mit seinem Vortrag nur bezweckt hat, gewisse Auswüchse zu geißeln.
Weil ich diese Ansicht habe, und weil ich den allergrößten Wert darauf lege, daß
zwischen Lehrern und Ärzten auf dem Gebiet der Schulhygiene eine Verständigung
herbeigeführt werde, will ich auf diese Dinge noch einmal eingehend zurückkommen.
Vor einer Reihe von Jahren habe ich im Auftrage des Herrn Kultusministers
vor Berliner Gymnasiallehrern mehrere Kurse in der Schulhygiene halten dürfen.
Hierbei habe ich, wie mir die zahlreichen Teilnehmer an diesen Kursen bestätigen
werden, einen maßvollen Standpunkt vertreten und alles vermieden, was die in
einem so verantwortungsvollen und aufreibenden Berufe stehenden Lehrer verletzen
könnte, habe aber immer und immer wieder darauf hingewiesen, daß das Ziel der
Erziehung eine harmonische Ausbildung von Geist und Körper sein muß. Wie die
alten Griechen in ihren Gymnasien die Jünglinge xaXoc x' d-^a^oq machen wollten,
so darf auch in unseren Schulen die körperUche Entwicklung hinter der geistigen
nicht zurückbleiben. Ich habe einerseits betont, daß das wissenschaftliche Ziel
der Schule unter allen Umständen erreicht, und den Schülern dasjenige Maß von
Kenntnissen und Fähigkeiten, welches sie für ihr Leben brauchen, übermittelt
werden muß, das zu erwerben sie Fleiß und ernste Arbeit aufwenden sollen, ich
habe aber auf der anderen Seite darauf hingewiesen, — und ich möchte es hier
mit Nachdruck wiederholen — , daß die Übermittlung dieser Kenntnisse und
Fähigkeiten in einer Weise erfolgen muß, unter der die körperliche Entwicklung
der Kinder nicht leidet. Die Schulhygiene will gar nicht, wie manche ihrer Gegner
glauben machen wollen, die geistige Entwicklung der Kinder hindern, sie will nur
verhüten, daß während des Unterrichts körperliche Störungen eintreten, welche bei
einer zweckmäßigen Gestaltung der Schuleinrichtungen und Unterrichtsmethoden
gar nicht eintreten brauchen.
Wenn wir wissen, daß die Rückgratsverkrümmung eine Folge unzweck-
mäßiger Sitzeinrichtungen und einer fehlerhaften Schreibhaltung ist, so werden wir
durch eine Verbesserung dieser Einrichtungen jene körperiiche Schädigung ver-
meiden, ohne damit der geistigen Mitteilung zu nahe zu treten; wenn wir weiter
1*
4 M. Kirchner,
wissen, daß die Kurzsichtigkeit durch Naharbeit bei mangelhafter Beleuchtung
bedingt wird, so werden wir durch eine Besserung der Beleuchtung und durch
Gewährung zweckmäßigerer Lehrmittel die Kurzsichtigkeit verhüten, ohne dadurch
die geistige Ausbildung in Frage zu stellen. Wenn die Schulhygieniker behaupten,
daß Rückgratsverkrümmung und Kurzsichtigkeit vermeidbar sind und deswegen
vermieden werden müssen, so tun sie damit nur ihre Schuldigkeit; und wenn man
ihren Ratschlägen folgt, so erreicht man, daß die Mitglieder unserer gelehrten
Berufe, welche in früheren Jahren krumm und kurzsichtig waren, sich künftig neben
ihren geistigen Kenntnissen auch eines geraden Körpers und eines guten Sehver-
mögens erfreuen werden.
Wenn Herr Böhm sich gegen die einseitige Ausbildung des Körpers wendet
und sich über Akrobaten und Seiltänzer lustig macht, so kann man ihm hierin bis
zu einem gewissen Grade beipflichten; auch ich beklage es, wenn in den jungen
Leuten die Neigung zum Sport sich allzusehr entwickelt, und viele von ihnen ihr
Ideal lediglich in einer kräftig entwickelten Muskulatur sehen. Aber weicht eine
solche einseitige Entwicklung von dem, was ich als Bildungsideal bezeichnet
habe, nicht wesentlich ab? Ist eine solche einseitige körperliche Entwicklung bei
Verkümmerung der geistigen Fähigkeiten nicht gleichfalls unvereinbar mit dem
von mir erstrebten Ziel, der harmonischen Entwicklung von Geist und Körper?
Wenn Herr Böhm mit Nachdruck der einseitig körperHchen Ausbildung der
heranwachsenden Jugend entgegentritt, so findet er alle Hygieniker an seiner
Seite. Anderseits aber müssen wir vom Standpunkt der Gesundheitspflege aus
betonen, daß ein zweckmäßiger Wechsel zwischen geistiger und körperlicher Be-
schäftigung nicht nur für unsere Jugend, sondern auch für uns Ältere eine not-
wendige Vorbedingung auch der geistigen Gesundheit ist. Die Verhältnisse in
England sind hierfür vorbildlich. Wer die dortigen Colleges, ich nenne nur
Eton, und die dortigen Universitäten besucht, der sieht mit Freude die Jugend
viele Stunden und manche ganze Tage dem Tennis, dem Croquet, dem Golfspiel,
dem Rudern und Schwimmen widmen und sich dadurch ihren Körper frisch und
ihre Muskeln elastisch erhalten. Hat die englische Nation auf wissenschaftlichem,
politischem und sozialem Gebiete etwa weniger geleistet als wir? Das wird
niemand ernstlich behaupten wollen. Auch wir erstreben — und hierin ist unser
Kaiser vorbildlich — , daß auch bei uns Spiel und Sport mehr und mehr in un-
seren Lehranstalten Eingang finden, damit unsere Jünglinge und Jungfrauen
neben einer möglichst vollkommenen geistigen Ausbildung auch eine schöne und
gesunde körperliche Entwicklung erfahren.
Die Physiologie lehrt, daß Körperteile, welche übermäßig in Anspruch ge-
nommen werden, sich übermäßig entwickeln, während Organe, welche zu wenig
in Tätigkeit versetzt werden, verkümmern. Bei einseitiger Geistesarbeit strömt
das Blut übermäßig zum Gehirn, und Kopfschmerz, Schwindel, früher Haarausfall
sind die Folge davon. Kommt eine dauernde sitzende Lebensweise in mangelhaft
beleuchteten und gelüfteten Räumen hinzu, so bleiben Bleichsucht und Blut-
armut nicht aus, das Herz entwickelt sich nicht, wie es soll, und die Muskulatur
des Rumpfes und der Gliedmaßen verkümmert. Wenn aber die Jugend nach
eifriger geistiger Arbeit ins Freie geführt wird und sich dort in reiner Luft und
Mens Sana in corpore sano. 5
unter sachverständiger Aufsicht tummelt, dann erweitert sich die Lunge, stärkt sich
das Herz, werden Kopf und Gehirn klar, und dann kehren die jungen Leute nach
kräftiger körperlicher Anstrengung mit frischer Lust zur geistigen Arbeit zurück.
Wenn Herr Böhm hervorhebt, daß das Hallenturnen von zweifelhaftem
Werte und die zwischen den wissenschaftlichen Unterricht gelegten Turnstunden
von Übel sind, so muß dies ohne weiteres zugegeben werden. Das spricht doch
aber nicht gegen das Turnen selbst, sondern nur gegen die unzweckmäßige Ein-
richtung desselben. Denn darüber ist kein Hygieniker im Zweifel, daß man durch
körperliche Arbeit nicht sofort wieder geistig leistungsfähig werden kann. Es ist
daher in der Tat im höchsten Grade verkehrt, Turnstunden zwischen zwei wissen-
schaftliche Unterrichtsstunden zu legen. Vermeidet man aber derartige Unge-
schicklichkeiten, legt man die Turnstunden, wie es sich gehört, an das Ende des
Unterrichts oder auf den Nachmittag, läßt man sie, wenn irgend tunlich, im Freien
stattfinden, und gewährt man der Jugend neben dem Turnen Gelegenheit zu Spiel
und Sport, so wird man die heilsame Wirkung der körperlichen Betätigung auch
auf den wissenschaftlichen Unterricht nicht vermissen.
Denn wir dürfen eins nicht vergessen: wir sind nicht wie Lasttiere nur zum
Arbeiten geschaffen. Zwar sollen wir ein Ziel erreichen, und jeder Mensch soll
sich ein möglichst hohes Ziel setzen ; unser Volk soll geistig hoch erhalten werden
und im Wettbewerb der Völker sich womöglich hervortun. Aber wir sollen auch
fröhlich und glücklich sein, eingedenk jenes schönen Wortes: „wer schaffen will,
muß fröhlich sein". Nur in der Stube sitzen und lediglich Bücherweisheit in sich
aufnehmen, das ist nicht der Weg, um glücklich zu werden und glücklich zu
machen. Ein zweckmäßiger Wechsel von Arbeit und Spiel, eine gesunde Ab-
wechselung von geistiger und körperlicher Tätigkeit, eine gleichmäßige Ent-
wicklung von Geist und Körper, das sind allein die Quellen des Frohsinns und
des nicht nur körperlichen, sondern auch des geistigen Glückes.
Woher sollen gesunde Ehen, woher frische und lebensfähige Kinder, woher
mannhafte Verteidiger unseres Vaterlandes kommen, wenn die Jugend durch ein-
seitige Pflege der Büchergelehrsamkeit schwach erhalten und nur zu Stuben-
gelehrten erzogen wird?
Auch bei der Beurteilung des Studentenlebens befinde ich mich mit Herrn
Böhm nicht in Übereinstimmung. Wenn er sich über die Musensöhne lustig
macht, die sich „in den Strudel der großstädtischen und studentischen Ver-
gnügungen stürzen und sich durch allnächtliches Kneipen, täglichen Frühschoppen,
Nachmittagskaffeeskat mit anschließendem Dämmerschoppen in lieblicher Ab-
wechselung mit Raufen, Randalieren und Dirnenverkehr ergehen", so wird in der
Verurteilung eines derartigen Studienganges jeder Verständige mit ihm über-
einstimmen. Aber entspricht die Schilderung wirklich den Gewohnheiten der
heutigen Studenten oder auch nur einer Mehrzahl von ihnen? Müssen wir nicht
vielmehr freudig anerkennen, daß die Mehrzahl unserer Musensöhne eifrig ihren
Studien obliegt und namentlich auf dem Gebiete der Enthaltung vom Alkohol
viele unserer Altvorderen beschämt? Und sollen wir es nicht auf der anderen
Seite begrüßen, wenn unsere Studenten sich nach getaner Arbeit auf dem Tennis-
platz, dem Fechtboden und im Ruderboot ergehen und sich gelegentlich bei
Q M. Kirchner, Mens sana in corpore sano.
fröhlichem Trunk geistigem Gedankenaustausch hingeben? Alles läßt sich von
zwei Seiten betrachten, Einseitigkeit aber muß vermieden werden. So wenig der
Schüler sich nur der geistigen Arbeit widmen soll, so bedauerlich würde ich es
finden, wenn der Student nur am Büffeln seine Freude fände.
Es ist auf das tiefste zu beklagen, daß die Mehrzahl unserer Männer und
Frauen nicht nur in der Jugend, sondern auch in späteren Jahren der Entwicklung
ihrer körperlichen Kräfte und Fähigkeiten viel zu wenig Aufmerksamkeit zuwendet.
Je mehr sich ein jeder von uns durch Waschungen und Bäder, durch körperliche
Gymnastik und Sport elastisch zu erhalten suchte, ein umso kräftigeres und fröh-
licheres Geschlecht würde heranwachsen, um so reiner würde es auch empfinden
und denken lernen, und um so seltener würden Verirrungen, wie sie von Zeit zu
Zeit durch bedauerliche Prozesse bekannt werden, in die Erscheinung treten.
Wenn Herr Böhm sagt, man betone heute viel zu sehr die Bedeutung der
körperlichen Gesundheit, so ist auch dieses richtig. Auch ich bin von der Richtig-
keit des Schillerschen Wortes: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht" durch-
drungen. Deswegen darf man doch die körperliche Gesundheit nicht unter-
schätzen.
Wer sieht, welche wirtschaftlichen und seelischen Schädigungen jede Krank-
heit im Leben des einzelnen und in seiner Familie verursacht; wer mit ansehen
muß, welche Lücke ein zu früh aus dem Leben scheidender Familienvater ver-
ursacht, welchen Schatten der Heimgang eines Vaters oder einer Mutter auf das
ganze Leben der Kinder wirft, der kann es nur als ernste Pflicht jedes einzelnen,
namentlich als Pflicht derjenigen, welche für die Zukunft und das Lebensglück
anderer verantwortlich sind, bezeichnen, alles zu tun, was geeignet ist, die Ge-
sundheit zu erhalten und das Leben zu verlängern.
Sicherlich ist ein kurzes inhaltreiches Leben mehr wert als ein langes taten-
loses! Aber wenn der Leistungsfähige und der Führer eines Volkes durch mangel-
hafte Beobachtung seiner Gesundheit verschuldet, daß er den Seinen frühzeitiger
genommen wird, als nötig gewesen wäre, so begeht er damit keine nachahmens-
werte Tat.
Soll ich auf diese Dinge noch weiter eingehen? Soll ich auf die Jungfrau
hinweisen, welche durch unzweckmäßige Gestaltung des Unterrichts eine Rück-
gratsverkrümmung und ein schiefes Becken erworben hat und nun, wenn sie
Mutter werden soll, keine gesunden Kinder zur Welt bringen kann? Soll ich her-
vorheben, daß ein Jüngling, welcher infolge einseitig übertriebener Geistesarbeit
körperlich schwächlich ist, geschlechtlichen Versuchungen leichter erliegt, keine
gesunde und glückliche Familie begründen kann und, wenn der Feind an die
Tore des Vaterlandes klopft, traurig zurückbleiben muß, während seine kräftigen
Freunde ins Feld ziehen und mit Lorbeer geschmückt heimkehren? Soll ich
darauf hinweisen, daß ein Mann, welcher sich geistig überanstrengt, ohne sich
körperlich zu pflegen, frühzeitig arbeitsunfähig wird und seinen Posten verlassen
muß, während körperlich gesundere Arbeitsgenossen vielleicht noch lange leistungs-
fähig bleiben? Ich meine, das Beispiel von Schiller ist in dieser Beziehung
beweisend genug.
A. Matthias, Das Böttinger-Haus in Göttingen. 7
Wir Hygieniker werden uns durch Äußerungen, wie sie der Vortrag von
Böhm enthält, nicht irremachen lassen, wir werden unentwegt an unserem Bildungs-
ideale festhalten. Hoffentlich lassen sich auch die Lehrer, welchen das Glück
und die Zukunft unserer Jugend in erster Linie anvertraut ist, gleichfalls nicht
irre machen! Im Gegenteil, hoffentlich werden sie je länger je mehr unsere
Bundesgeifossen !
Lehrer und Hygieniker sollen mit gleichem Nachdruck das schöne Wort Ju-
venals zu ihrem Wahlspruche machen: „Orandum est, ut sit mens sana in cor-
pore sano".
Berlin. Martin Kirchner.
Das Böttinger-Haus in Göttingen — die letzte Schöpfung
Friedrich Althoffs.
Nach dem Hinscheiden des Ministerialdirektors Althoff ist von mehreren Seiten
ernstlich erwogen worden, ob nicht eine Biographie des für die Entwicklung
unserer Universitäten und unseres höheren Schulwesens so hochverdienten Mannes
angebracht sei. Verschiedene Persönlichkeiten sind dafür ins Auge gefaßt, die
mit Herz und Verstand genügend ausgerüstet sein mochten, um dieser schwieri-
gen Aufgabe gewachsen zu sein. Aber keiner dieser Männer hatte schon jetzt
den Mut, sich an ein solches Werk zu wagen. Abgesehen von anderen
Schwierigkeiten — auch lebende Zeitgenossen bilden so oder so ein Hindernis —
liegt das größte Hemmnis in der Eigenart des Dahingeschiedenen selber und in
der charakteristischen Art seines ganzen Wirkens. Diese Persönlichkeit läßt sich
eben nicht leicht in ein einheitliches Bild zusammenfassen, das in vollster Ob-
jektivität den Mann wiedergeben könnte, genau, wie er im innersten Kern seines
Wesens war. Wer es miterlebt hat, wie allein an einem Tage seines Wirkens
zahllose in Zickzacklinien sich bewegende und sich kreuzende Entwürfe und Ideen
sowie wirkliche Ergebnisse und Schöpfungen von diesem Manne gefördert worden
sind, der wird schon davor zurückschrecken nur diesen einen Tag getreu wieder-
zugeben, weil eben alles so rasch wechselnd, so kaleidoskopisch verlief, daß es
kaum darstellbar erschien. Um so weniger wird sich jemand anmaßen, schon
jetzt das Bild des ganzen großen inhaltsreichen und wechselvollen Lebens
Friedrich Althoffs zu entwerfen. Aber eines können wir tun, wir können
seine Schöpfungen, die fertig vor uns liegen, in historisch beglaubigter Weise dar-
stellen, und können so ein Stück nach dem anderen zu dem Gemälde zusammen-
ragen, das sich dann schließlich zum Vollbilde gestalten mag.
Ich wähle die letzte Schöpfung Althoffs — die Gründung des Böttinger-
Hauses in Göttingen.
Die Idee, Göttingen wieder mehr mit England-Amerika in Verbindung zu
setzen und alte historische Beziehungen zu erneuern, die mit alten politischen
Zusammenhängen der hannoverschen Dynastie verknüpft waren, war schon längere
Zeit in Göttinger Kreisen gepflegt. Man hat in Göttingen die ruhmvolle Vergangen-
8 A. Matthias,
heit der alma mater Georgia Augusta nicht vergessen und es wohl im Gedächtnis
bewahrt, daß Georg II im Jahre 1737 nicht nur eine beschränkte Landesuniversität,
sondern eine „Weltuniversität" gründen wollte. Schon seit einem Jahre gab es in
Göttingen eine Art von Komitee, aus Göttinger Professoren bestehend, die jene Ideen
und ihre Durchführung in der Praxis pflegen wollten. In diesem Komitee, in welchem
der damalige Prorektor Geheimrat Gramer den Vorsitz führte, vertrat Geheimrat
Knoke die theologische, Professor Verworn die medizinische, Professor Detmold
die juristische Fakultät, Geheimrat Klein die naturwissenschaftlich -philosophische
Seite, Professor Morsbach die historisch-philosophische und die neusprachlichen
Interessen der philosophischen Fakultät. Die Bibliothek war vertreten durch Ge-
heimrat Pietschmann. Ende Juni 1908 besuchte nun Geheimrat Klein den auf
seinem Krankenlager weilenden, gleichwohl mit einer Fülle von Projekten beschäf-
tigten Friedrich Althoff in Steglitz und hier wurde ihm von dem rastlosen Manne
die Idee eines in Göttingen zu begründenden Seminars für Ausländer entwickelt.
Geheimrat Klein machte nach seiner Rückkehr noch in demselben Monat in
einer vertraulichen Sitzung, zu der die Professoren Gramer, Detmold, Knoke,
Morsbach, Pietschmann, Verworn und der in Göttingen weilende Professor Hall von
der Columbia University gebeten waren, die Mitteilung, daß Althoff bei ihm angeregt
habe, in Göttingen (wie es ähnlich in Berlin geplant sei) ein „Studienhaus für
Ausländer" zu begründen. Finanzielle Unterstützung sei in Aussicht gestellt.
In einigen darauffolgenden Sitzungen wurde dann in allgemeinen Umrissen
ein Plan entworfen, der an Althoff durch Geheimrat Klein in einem Schreiben vom
5. Juli 1908 mitgeteilt wurde. Darauf lud Althoff das engere Aktions-Komitee,
welchem die weitere Vorbereitung übertragen war, nämlich die Herren Hall, Klein,
Morsbach auf den 26. Juli 1908 zu einer Besprechung nach Schierke a. H. ein.
An dieser Beratung nahmen außer den Genannten auf Wunsch Althoffs noch teil:
Wirkl. Geheimer Ober-Regierungsrat Dr. Schmidt vom Kultusministerium, Professor
Münsterberg von der Harvard University, dessen Frau eine Göttingerin ist, und
Professor Paszkowsky aus Berlin.
In dieser Sitzung wurden die Grundlinien des Planes festgestellt, nämlich :
daß das Studienhaus unabhängig von der Universität begründet
werden solle, daß es allen studierenden Ausländern, nicht bloß den
Engländern und Amerikanern zugänglich sein solle, daß eine Auskunfts-
stelle damit verbunden werde, die allen Studierenden, In- und Ausländern,
zugute komme, daß durch deutsche Kurse und ähnliche Einrichtungen,
wie sie in Berlin schon erprobt sind, den Ausländern deutscher Sprach-
unterricht und deutsche Kultur vermittelt werde.
Zugleich wurde beschlossen, daß die definitive Gründung des Studienhauses in
einer demnächstigen Sitzung in Göttingen stattfinden solle, wozu der Kurator der Uni-
versität, der Oberbürgermeister und eine Anzahl Universitäts-Professoren eingeladen
wurden. An den Geheimrat Dr. von Böttinger wurde mit liebenswürdigem Hochdruck
ein originelles Telegramm abgesandt, um die nötigen Gelder zur Verfügung zu be-
kommen. Diese Unterstützung wurde von dem in Geldsachen immer getreuen Va-
sallen Althoffs bereitwilligst zugesagt. Denn auch Geheimrat von Böttinger hatte
schon früher an der Idee teilgenommen, hatte vom dem starken Zusammenhalten
Das Böttinger-Haus in Göttingen. 9
der Amerikaner, die früher in Göttingen studiert hatten, gehört und hatte schon
vor anderthalb Jahren mit Geheimrat Klein überlegt, wie man auch das Interesse
überseeischer Kräfte für die Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten
Physik und Mathematik erwecken könnte, um insbesondere durch den Millionär
Morgan Mittel für die Bibliothek zu erhalten. Nach einigen weiteren geschäftlichen
Sitzungen des Aktions-Komitees, dem auch Geheimrat Gramer angehörte, wurde
unter anderem auch mit der Stadt Göttingen wegen der Miete eines größeren, der
Stadt gehörenden Gebäudes Fühlung genommen.
Am 11. September fand dann in Göttingen die konstituierende Sitzung statt,
in der unter Althoffs Vorsitz Geheimrat Dr. von Böttinger, der Universitätskurator
Dr. Osterrath, die Universitäts-Professoren Gramer, Detmold, Klein, Knoke, Körte,
Morsbach, Pietschmann, Schröder, Verworn, Voigt zugegen waren.
Geheimrat Klein gab zunächst eine Übersicht über die bisherigen Verhand-
lungen. Die Einzelheiten des Planes wurden darauf zur Diskussion gestellt und
nach längerer Beratung die grundlegenden Beschlüsse über
Name und Zweck des Instituts, Vorstand und Beirat sowie Ehren-
mitglieder, über die Finanzierung des Unternehmens, die Miete eines
Hauses und Anwerbung von Hilfskräften und über den Haushaltungsplan
für das Geschäftsjahr 1. Oktober 1908 bis 30. September 1909.
An den Herrn Kultusminister wurde ein Begrüßungs-Telegramm abgesandt
mit der Bitte, dem neugegründeten Institut ein freundliches Interesse zuzuwenden.
Darauf ging folgende drahtliche Antwort an die Adresse des Geheimrats
Dr. von Böttinger ein:
„Der neuen Stiftung, welche die Georgia Augusta wiederum Ihnen
verdankt, wünsche ich Blühen und Gedeihen. Das Unternehmen auch
meinerseits zu fördern, wird mir eine Freude sein. Für die telegraphi-
sche Benachrichtigung sehr verbunden, bitte ich auch den anderen Herren
bestens zu danken. Kultusminister Dr. Holle."
Die Finanzierung des Unternehmens war mühelos gesichert: Geheimrat
von Böttinger übernahm die Kosten der ersten Einrichtung und stellte außerdem
für das erste Jahr 5000 Mark für laufende Ausgaben zur Verfügung. Das Haus
bekam deshalb mit Recht den Namen Böttinger-Studienhaus und mit Unrecht
wehrte sich der treffliche Donator gegen diese wohlverdiente Ehrung. Zudem
wurde der Wunsch ausgesprochen, aus disponibeln Mitteln der Universitätsverwal-
tung, bzw. des Ministeriums im ganzen 5000 Mark Zuschuß für das erste Jahr zu
erhalten.
Der konstituierenden Sitzung folgte nun am 28. November die in beschei-
denen Formen sich bewegende Eröffnungsfeier in dem neuangemieteten, an der
Bahnhofstraße liegenden Hause.
Dazu waren außer den Mitgliedern des Beirats insbesondere Mitglieder der
Stadtverwaltung, der Presse und Studierende der verschiedensten Kreise geladen
worden.
Nachdem die Erschienenen in dem Hörsaale Platz genommen, wurden sie von
Herrn Geheimrat Klein in einer Ansprache begrüßt. Der Redner dankte dem
Freund und Gönner des Unternehmens, Herrn Geheimrat v. Böttinger, für sein Er-
10 A. Matthias,
scheinen und gedachte des kürzlich verstorbenen Ministerialdirektors Althoff als
des Mannes, der den Gedanken an die Errichtung eines Studienhauses zuerst ge-
faßt und in die Tat umgesetzt habe. Das Wirken dieses „Universitätsgewaltigen",
wie man ihn nannte, habe vielfach Zustimmung, vielfach Widerspruch gefunden,
man erkenne jetzt dankbar an, daß er die Quellen für mancherlei Neuschöpfungen
auf akademischem Gebiete erschloß. Ganz besonders habe sich die Universität
Göttingen seines Wohlwollens zu erfreuen gehabt. Das Böttinger-Studienhaus sei
seine letzte Schöpfung gewesen, wie es denn auch als ein merkwürdiger Zufall zu
betrachten sei, daß seine Reise nach Göttingen zu der am 11. und 12. September
stattgehabten Gründungsversammlung seine letzte Reise war.
Geheimrat Klein legte dann weiter die Zwecke der neuen Stiftung dar und
erbat sich die Unterstützung des Unternehmens durch die Staatsregierung, Uni-
versität, Stadtverwaltung und Bürgerschaft und gab der Hoffnung Ausdruck, daß
sich ein freundliches Zusammenarbeiten entwickeln möge. Zum Schluß wandte
sich Redner an die Kommilitonen und wies darauf hin, daß die Hingabe an die
eigene Nation so zu fassen sei, daß sie ein Verständnis der Bedeutung der anderen
Nationen und damit für die Stellung der eigenen Nation im Kreise der anderen
einschließt. Die Völker der Erde müßten sich verstehen und kennen lernen, um
einander richtig zu schätzen. Durch die Vermittlung des Studienhauses könnten
die Ausländer lernen, was Deutschland sei, und eindringen in die Art und das
Wesen des deutschen Volkes. Er schloß mit dem Wunsche, daß die ausländischen
Kommilitonen dann nicht allein als Kenner, sondern auch als Freunde von
Göttingen scheiden möchten.
Alsdann ergriff der Geschäftsführer des Hauses, Professor Dr. Tamson, das
Wort und gab seiner Freude darüber Ausdruck, daß nun auch Deutschland eine
Einrichtung besitze, wie sie ähnlicher Art schon in England und Frankreich be-
ständen. Wer jetzt als Ausländer nach Göttingen komme, werde alle Wege ge-
ebnet finden. Das Böttinger-Studienhaus erteile ihm nicht allein gute Ratschläge,
sondern biete ihm auch vielfach Gelegenheit, sich mit deutschem Leben und deut-
scher Bildung vertraut zu machen. Durch ein gegenseitiges besseres Verstehen-
lernen erhoffen wir für die Zukunft ein freundliches Verhältnis der Nationen zu-
einander. Redner schloß mit dem Danke der in Göttingen studierenden Ausländer
an Herrn v. Böttinger.
Herr Kursusleiter de Bra erläuterte die Einrichtungen des Böttinger-Studien-
hauses, wie Auskunfsstelle, Lesezimmer und deutsche Sprachkurse und schloß mit
dem Wunsche, daß von dem Böttinger-Studienhause reicher Segen ausgehen möchte
in dem von dem Stifter beabsichtigten Sinne.
Herr Geheimrat von Böttinger, der dann das Wort ergriff, widmete Exzellenz
Althoff warme Worte der Anerkennung und trat für die Annäherung unter den
stammverwandten Völkern der Deutschen und Angelsachsen ein. Magnifizenz,
Herr Professor von Seelhorst, sprach der neuen Gründung das Interesse der Uni-
versität aus.
Aus Anlaß der Eröffnungsfeier wurde an die Witwe des verstorbenen Mini-
sterialdirektors Ahhoff ein Telegramm abgesandt.
Das Böttinger-Haus in Göttingen. H
Soweit die Entstehungsgeschichte des Böttinger-Studienhauses, das sich nun-
mehr in voller Tätigkeit befindet. Ein eigenes Haus (Bahnhofstraße 24) wurde
für die Zwecke des Institutes gemietet und ausgestattet.
Die geschäftliche Leitung liegt in der Hand eines aus fünf Herren be-
stehenden Vorstandes: dem Herrn Geheimrat von Böttinger und den Universitäts-
professoren Gramer, Klein, Morsbach und Stimming. Die innere Verwaltung haben
die Professoren Morsbach und Stimming, die beiden Vertreter der neueren Sprachen
an der Göttinger Universität, übernommen. Dem Vorstande steht ein Beirat zur
Seite, welchem die folgenden Herren angehören : Herr Geheimer Oberregierungsrat
Dr. Höpfner, Herr Universitäts-Kurator Osterrath, Herr Oberbürgermeister Calsow
und die Universitätsprofessoren: Detmold, Knoke, Körte, Lexis, Pietschmann,
Schröder, Verworn, Voigt.
Die auswärtige Korrespondenz besorgt Herr Professor Dr. Tamson, die übrige
Geschäftsführung liegt in den Händen des Kursusleiters de Bra.
Dem oben erwähnten Zwecke des Böttinger-Studienhauses dienen nunmehr
folgende Einrichtungen :
a) Das Böttinger-Studienhaus enthält eine für In- und Ausländer bestimmte
Akademische Auskunftsstelle. Sie will sachgemäße und kostenlose
Auskunft erteilen sowohl auf Anfragen deutscher Studierender, als auch
auf Erkundigungen ausländischer Gelehrter und Studierender, welche zu
Studienzwecken nach Deutschland kommen. Dahin gehört Erteilung von
Auskunft über die Einrichtungen und Verhältnisse Göttingens, Vermittlung
eines Austausches von Sprachkenntnissen zwischen Deutschen und Aus-
ländern, sowie Nachweis von Familien, welche geneigt sind, Ausländer in
Pension zu nehmen oder ihnen anderweitigen Anschluß zu gewähren.
Weiter wird die Auskunftsstelle mit Hilfe einer zu diesem Zwecke
eingerichteten Bücherei gerne alle Anfragen beantworten, die Bezug haben
auf deutsche Universitäten und technische Hochschulen, deren Einrich-
tungen und Ziele, den Unterrichtsbetrieb, die Einrichtung des Studiums,
die Staatsprüfungen, die Erwerbung des Doktorgrades, die gesetzlichen
Bestimmungen über die Vorbildung für die einzelnen Berufe usw.
b) Zu den ständigen Einrichtungen des Böttinger-Studienhauses gehören
femer die deutschen Sprachkurse, welche den Ausländern eine
schnelle und gründliche Erlernung der deutschen Sprache ermöglichen
sollen. In betreff dieser Kurse werden besondere Programme ausgegeben.
Diplome, die bescheinigen, daß Teilnehmer mit Erfolg die Kurse
besucht haben, werden auf Wunsch ausgestellt.
c) Das Böttinger-Studienhaus besitzt ein Lesezimmer, welches gegen Ent-
richtung einer Gebühr von drei Mark für das Semester zugänglich ist und
welches den Benutzern, besonders den Ausländern die Möglichkeit geben
soll, sich mit den Schätzen deutscher Literatur und deutschen Geistes-
lebens bekannt zu machen, sowie sich über alle Deutschlands Volksleben
und Einrichtungen betreffende Fragen zu unterrichten.
Die Benutzer haben eine Kaution von drei Mark zu hinterlegen.
d) In jedem Wintersemester wird ein Zyklus von Vorträgen veranstaltet, zu
12 A. Matthias,
denen sich eine Anzahl Professoren und Dozenten der Universität bereit
erklärt haben. Diese Vorträge werden die mannigfachsten Gegenstände
behandeln, aber stets das allgemeine Ziel verfolgen, von dem wirtschaft-
lichen, politischen und geistigen Leben des deutschen Volkes in Ver-
gangenheit und Gegenwart anschauliche Bilder zu entwerfen,
e) Um endlich die Kenntnisnahme einzelner bedeutender Kulturstätten Deutsch-
lands durch eigene Anschauung zu vermitteln, wird das Böttinger-Studien-
haus in die nähere und weitere Umgebung Göttingens, z. B. nach den
interessantesten Burgruinen,^ nach Kassel, Weimar, Eisenach, Hannover
Hildesheim, Gandersheim, Goslar, Braunschweig und anderen Orten Aus-
flüge veranstalten, wo unter sachverständiger Führung die Sehenswürdig-
keiten und Einrichtungen von allgemeinem Interesse in Augenschein ge-
nommen werden sollen. Sowohl über die Vorträge, als auch über die
Ausflüge werden besondere gedruckte Mitteilungen ergehen.
Einen Anspruch auf Zulassung zu den Einrichtungen und Ver-
anstaltungen des Böttinger-Studienhauses haben alle diejenigen Ausländer,
, welche an der Universität immatrikuliert oder als Hörer zugelassen sind.
Im Wintersemester 1908/9 finden bereits folgende Deutsche Sprachkurse
für Ausländer statt:
I. Unterkursus (für Anfänger): Übungen im mündlichen und schriftlichen
Gebrauch der deutschen Sprache. Sprechübungen. Diktate. Nacherzäh-
lungen. Lektüre ausgewählter Abschnitte aus klassischen und modernen
deutschen Schriftstellern nach Paszkowskis „Lesebuch zur Einführung in
die Kenntnis Deutschlands und seines geistigen Lebens" (Verlag: Weid-
mann, Berlin). 3 stündig wöchentlich.
II. Oberkursus (für Fortgeschrittene): Übungen im mündlichen und schrift-
lichen Gebrauch der deutschen Sprache. Übungen in dialektfreier Aus-
sprache des Deutschen. Stil- und Aufsatzübungen (Essayschreiben).
Schwierigere Fragen aus der Syntax. Vorträge der Teilnehmer über selbst-
gewählte oder gestellte Themata. Lektüre und Interpretation schwierigerer
Abschnitte aus modernen Schriftstellern nach Paszkowskis Lesebuch.
3 stündig wöchentlich.
III, Über deutsches Leben und deutsche Einrichtungen (Vor-
lesung) : Allgemeiner Überblick über deutsches Wirtschaftsleben, deutsche
Verfassungszustände, im besonderen Organisation des deutschen Bildungs-
wesens, deutsche [Literatur, Kunst und Weltanschauung der Gegenwart.
1 stündig wöchentlich.
Das Honorar für eine wöchentliche Stunde beträgt 5 M. im Semester.
Aus der Entstehungsgeschichte und der Darlegung der Einrichtungen des
Böttinger Studienhauses geht zur Genüge seine Bedeutung hervor. Da aber von
gewissen Kreisen, die sich nicht loszumachen wissen von chauvinistischer Enge,
auch an dieser Schöpfung allerhand genörgelt ist, möchten wir doch noch einige
Worte gerechter Würdigung zum Schlüsse hinzufügen:
Das Böttinger-Haus in Göttingen. 13
Das „Böttinger Studienhaus" in Göttingen ist ein weiteres Glied in der Kette
der Bestrebungen, einen regen geistigen Austausch zwischen den Universitäten und
höheren Schulen der großen Kulturländer zu vermitteln und somit indirekt auch ein
besseres gegenseitiges Verstehen allmählich herbeizuführen, worauf allein wiederum
eine gegenseitige Würdigung und Achtung der Völker beruhen kann. Gerade in unse-
rem Zeitalter, wo nationale Gegensätze leider in ungesunder Schroffheit sich entwickeln
und wo leider auch der Deutsche vielfach mit in diesen ihm von Haus aus fremden
Chauvinismus einstimmt, muß es allen wahrhaft Gebildeten am Herzen 'liegen,
einer Bewegung entgegenzuarbeiten, die auch die Besten der Nationen immer mehr
einander zu entfremden bemüht ist, und in unserem Vaterland den schönen huma-
nen Geist, der mit vagem Kosmopolitismus gar nichts zu tun hat, im Geiste unserer
Väter und im Geiste unserer klassischen Zeiten des Glaubens, der Kunst und der
Wissenschaft zu pflegen. Erworbenen Besitz und erworbene Vorzüge und die
berechtigte Eigenart unseres Volkes wollen wir, wenn's sein muß, auch mit dem
Schwerte uns erhalten, nicht aber die nationalen Unterschiede aufheben, sondern
sie|in ihrem wahren Charakter und Werte schärfer erfassen, um durch diese höhere
Erkenntnis ein freundschaftliches Verhältnis der Nationen zueinander anzubahnen.
In diesen Bestrebungen sind uns manche französische und einige schweizer
Universitäten längst mit gutem Beispiel vorangegangen, indem sie Mittel und Wege
gefunden haben, den Ausländern den Aufenthalt bei ihnen so angenehm und
fruchtbringend als möglich zu gestalten. Und auf der letzten Neuphilologen -Ver-
sammlung in Hannover (Pfingsten 1908) wurde von französischer Seite der Plan
angekündigt, in Paris demnächst mit Hilfe der französischen Regierung ein Institut
einzurichten, das ähnliche Zwecke wie das soeben in Göttingen gegründete
, Studienhaus " verfolgen soll. Daß auch das preußische Kultusministerium die
Tragweite dieser Bestrebungen zeitig erkannt und sie immer mehr in die Tat um-
zusetzen bemüht ist, sollte ihm doch, als hohes Verdienst nicht geschmälert werden,
und es soll dem verstorbenen Ministerialdirektor Althoff und seinem treuen Freunde
von Böttinger nicht vergessen sein, daß sie im Geiste deutscher Vornehmheit hier
eine Schöpfung gegründet haben, die durch den Austausch der Völkerbildung dem
Geiste des deutschen Volkes zugute kommt, weil dieses das Leben aller Welt-
geschlechter in seines einzuschließen stets bemüht gewesen und, ohne Sorge für
die eigene Seele, den fremden Geist kühngemut in deutsches Gefäß gegossen, um
für des eigenen Geistes Kraft und Stärke immer neue Nahrung zu schöpfen aus
der Berührung mit fremder Eigenart. —
Berlin. __ _______ i^- Matthias.
Der neueste Oberlehrerroman.
In Ebners*) statistisch wertvollem, sonst aber ziemlich philiströsem Buche,
»Magister, Oberlehrer, Professoren" (Nürnberg 1908. C. Koch. VII u. 306 S. 8».
5 M.), welches die Spiegelung des höheren Lehrers in der Literatur der letzten
fünf Jahrhunderte mit einer Träne im Auge darstellt, findet sich auf S. 297 eine
Hindeutung auf den neuesten Roman von Wilhelm Arminius (alias: von
*) Jahrg. Vffl, S. 48f. dieser Monatschrift.
14 A. Neumann,
Hermann Schultze), dem fruchtbaren Weimarischen Gymnasialprofessor und Freunde
des Dichterjubilars und ExkoUegen Hans Hoffmann: Stietz-Kandidat (Roman
aus grauer Vergangenheit des Oberlehrerlebens. Berlin 1908. Gebr. Paetel.
2 Bde. 252 u. 243 S. 8».). Es heißt bei Ebner auf Grund der bloßen Ankündi-
gung des neuen Werkes, daß „Lehrer vom alten und neuen Schlage mit dem
sicheren Blicke des Künstlers scharf charakterisiert werden".
Diese Notiz machte mich hungrig. Denn ist auch die Zahl der Erziehungs-
geschichten heutzutage Legion, sind auch die Professoren-Dramen von einst,
trotz Schreyers „Nausikaa", Erlers „Zar Peter" und Lösers „Herostrat von Ephesus",
fast auf der ganzen Linie durch Lehrer -Romane abgelöst worden, so herrscht
doch zumeist in der Zeichnung unseres Standes, anders z. B. wie in der des
Pfarrers, das Unverständnis und die starke Tendenz der Verkleinerung, weil man
die alte Schule mit Stumpf und Stiel ausrotten möchte, weil die gesunde Reform
so oft von den Radikalismen der „Zukunftspädagogik" übertönt wird.
Ich fand bei der Lesung des „ Stietz-Kandidaten" ein wirkliches Kunst-
werk, in dem Tendenzen kaum eine untergeordnete Rolle spielen, ein Kunstwerk,
das freilich ganz im „Milieu" atmet. Arminius hat sozusagen das uralte Dümmer-
lingsmotiv ganz in die Atmosphäre der höheren Schule und der Philologen-
emanzipation versetzt. Statt Siegfrieds oder Parcivals tritt uns ein einfacher Probe-
kandidat entgegen, der in einem reichlichen Probejahre — er wird also noch nicht
ganz modern und normal vorgebildet! — mit feinstem Humor von der Lehrer-
tumpheit über Dutzende von Unfällen zur Lehrer-saelde geführt wird. Natürlich
ist er, wie der Verfasser selbst, Mathematikus, freilich nicht traditioneller, sondern
einer mit einer Fülle von Gemüt und Tiefsinn. Seine äußere Erscheinung mit
strohgelbem, abstehendem Haarschopfe, vulgo „Stutz" oder „Stietz", trägt ihm
den sonderbaren Spitznamen ein, welcher den Titel des Romans bildet. „Der
Spitzname, der einer Äußerlichkeit entstammte und doch etwas von dem innersten
Wesen des Bezeichneten hervorgriff, wurde in die zahlreiche Menkingsche Pension
getragen und gelangte von da aus in die Masse der Gymnasiasten" (1,98). In-
folgedessen wurde er ihn auch nicht durch die Schere des Baders, sondern nur
durch Lebenserfahrung und Selbsterziehung wieder los (II, 127). „Sein Seelchen
wächst an der frischen Winterluft schmerzlicher Erfahrungen" (II, 76). Von Hause
aus steht Malten immer und überall mit der Alltagswelt auf dem Kriegsfuße
und faßt alles am falschen Ende an. Unscheinbarkeit, ja Plumpheit sind seine
Schale; aber ideales Streben, Goldlauterkeit und Charakterstärke sind sein Kern.
Daß er sich als echter Idealist mit einer Fülle von Augengläsern gegen die Außen-
welt verschanzt, ist daher nur natürlich. Allein was die Exposition hierüber in
etwas breiter Ausführlichkeit beibringt, wird erst vom Schlüsse aus wirklich ver-
ständlich. Und das erscheint als ein leichter Schönheitsfehler des köstlichen
Romans, weil er den Leser zu lange im Portale aufhält. Hierbei, wie zuweilen,
namentlich beim Einführen neuer Personen, wirkt Raabe und Otto Ernst nach-
gebildeter Wechsel von kleinmalender Umständlichkeit und verdunkelnder Sprung-
haftigkeit unnatürlich (Klemmermotiv, Barbiermotiv I), so sehr in gemütvoller Be-
leuchtung des Kleinsten die Komik schlummert. Aber im Verlaufe des Romans
wird der Verfasser immer freier von aller Manier, und man kommt zu reinem Ge-
Der neueste Oberlehrerroman. 15
nusse. Die Schlußszene der Verlobung des lieben Tölpels ist ein Kabinettsstück.
Sie zeigt, wie uralte Dinge mit höchst originellem Dufte umwoben werden können.
Die Fabel ist im einzelnen etwa folgende: Ernst Malten, der Sohn eines früh
verstorbenen Steueramtskanzlisten, verläßt nach glänzend bestandener Oberlehrer-
prüfung seine gute, kleinbürgerliche Mutter in der großen Handelsstadt und geht
nach seinem Geburtsorte, einem engen Provinzialstädtchen, um hier am klöster-
lichen Stadtgymnasium in die Elemente der Lehrkunst eingeführt zu werden. Er
studiert hier die beiden Heerlager seiner Kollegen, die Alten oder „Basedower"
und die jüngere Generation oder die „Modernen", ja jeden einzelnen Typus und
seine Lehrmethode, den uniformfrohen Elegant, den faulen Schwätzer, den Meister
in Amouren, den gefühlvollen Enthusiasten, den Musterlehrer der Sekunda, den
skeptischen Witzbold, den methodisch großen Elementarkollegen usf. Es wäre
unhöflich zu sagen, daß man dabei hie und da die Hörnchen eines guten alten
Bekannten hindurchschimmern sieht. Auch ein halbes Dutzend fein durchgeführter
Frauencharaktere tritt dabei auf, die kinderlose Direktrice, welche die Härten ihres
Eheherrn auszugleichen versteht, eine fürsorgliche Phileuse, ein ältlicher Blaustrumpf^
ein liebliches, aber sehr ungleiches Schwesternpaar, eine leichtsinnige Kokette,
der vielen Nebenpersonen bis auf den Schulvogt Beinrich herunter gar nicht zu
gedenken. Am rührendsten aber ist die Figur der ersten „Braut" des Kandidaten,
der an Schwindsucht sterbenden Hausenkelin Dora. Der edle junge Mann hängt
zuerst sein erträumtes Ideal vom Weibe an einem Nagel des Mitleids auf. „Der
Name ,Dora', den er oft vor sich hinsprach, und der unbewußt in ihm schwang,^
bedeutete ihm eine erste, trauliche Begegnung zweier junger Seelen auf den ab-
irrenden Dornpfaden des Lebens, wo es nötig ist, durch gegenseitiges Anrufen
einander nahe zu wissen und sich Mut zu machen. Das hatten sie beide redlich
besorgt, er auf seinem Pfade in die bitteren Enttäuschungen hinein und Dora auf
dem Wege zum bitteren Tode, der die größte Enttäuschung des jungen Lebens
ist" (II, 76 f.). Malten erringt sich bald am Stammtische eine Position, bald aber
auch kommt er mit seinem greisen Direktor, einem ehrwürdigen Philologen alten
Schlages, in Konflikt, bald macht er in städtischer Politik. Mühsam wird er Meister
der Zucht, plagt sich als Tutor, entgleist in Gesellschaft, vergreift sich in der
Liebe, mietet wider Willen eine Familienwohnung, wird Dr. phil. und glücklicher
Bräutigam einer selten klugen und sichern Kollegentochter, Hilde Hallihn, der
edleren der beiden oben erwähnten Schwestern. Dieses starke Mädchen wird den
Weltfremden wie eine kostbare Fracht durchs Leben steuern. Mit dieser hoff-
nungsreichen Überzeugung entläßt uns der Dichter.
Die schlichten Grundzüge der Handlung sind umrankt von ungezählten Ko-
mödien der Irrung, so sehr, daß man zuweilen gar nicht glauben möchte, daß es
solche Eisbären unter Akademikern geben könnte. Trotz des Nebentitels: „aus
grauer Vergangenheit", der von der verlockenden Suche nach einer Stätte der Er-
eignisse in der Gegenwart ablenken soll, wird fast jede Frage dichterisch ange-
schnitten, die heute unseren kämpfenden Stand bewegt: der Kampf zwischen
Humanismus und Realismus (jeder kommt zu seinem Rechte!), Volksschule und
höhere Schule, Methode und Lehrerpersönlichkeit, Schulrede (labor omnia vincit
I, 87—98), Konferenz, Schulandacht (II, 65—67), Reform des naturwissenschaft-
16 J- Norrenberg,
liehen Unterrichts, Tutel, Privatunterricht, Gerechtigkeit, Freude in der Schule,
Schulvisitation.
Und hinter dem Ganzen blickt eine ideale, harmonisch abgeklärte Welt-
anschauung unaufdringlich hervor. „Und gerade bei Ihnen, als Mathematiker,"
sagt Direktor Döhms, „heißt es weiter: Nicht bloß den Verstand wecken, sondern
auch für die Entwicklung der ethischen Fakultäten sorgen ! Ich frage Sie : hat ein
bloß kluger Mensch schon einmal der Menschheit etwas genützt? Schadet die
Klugheit nicht der Tatkraft, dem Unternehmungsgeist? Gibt es nicht Dinge, die
mit dem Herzen erfaßt werden müssen? Nur den Kindern nicht beibringen, alles
sei zu beweisen; dann blast ihr etwas weg von ihrer Seele; das ist nicht zu er-
setzen (II, 124)!" Der Stietz-Kandidat selber aber „hieß jeden wirklich Religions-
losen, dem das Jahr keinen seelischen Feiertag beschert, dem die Natur nichts zu
sagen hat, und dem Vater und Mutter zwei beliebig gute Bekannte sind, einen
gefährlichen Feind der Jugend und des Volkes" (II, 71, vgl. 65—75). Gerade
auf solcher Stimmungsunterlage wird unser Lachen so herzlich. Dutzendfach ent-
fesselt es der Schriftsteller, so, wenn die brave Hauswirtin die laute Präparation
des Kandidaten auf die zoologische Lektion über den bos bubalus für eine Be-
schreibung von Maltens Onkel hält, wenn der Held die Bügelfalte in seiner Hose
bändigt, wenn die bösen Schüler in der Physik ein Tableau schaffen, wenn die
Bestechungswurst gewaltsam vertilgt wird, wenn der Schlafrock der Mildtätigkeit
ein Unheil anrichtet, wenn die verschleppte Visitenkartenschale ein korrektes Haus
ganz in Aufruhr versetzt.
Delectare und prodesse verbinden sich hier also wieder einmal aufs schönste.
Nicht nur der Zunftgenosse, sondern jeder Leser wird, wie ich erprobt habe,
durch diesen Oberlehrerroman in voller Spannung erhalten. Aber von der Liebe
zum Philologus im weitesten Sinne des Wortes geboren, wird er auch am meisten
auf den Philologus wirken; denn es ist viel feine Lehrerweisheit beigepackt
(I, 125. 152. 159. 197 usw.). Alles in allem sehen wir eine höchst eigenartige, aber
bedeutende Lehrerpersönlichkeit werden. Möge an solchen nie Mangel sein!
Apolda. Arno Neumann.
Die Wiener Reformvorschläge für den naturwissenschaftlichen
Unterricht.
Im Anschlüsse an die vorbildlichen Arbeiten der Unterrichtskommission der
Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte haben sich nun auch die Wiener
Hoch- und Mittelschulprofessoren, soweit sie naturwissenschaftliche Fächer ver-
treten, auf Anregung der Wiener zoologisch-botanischen Gesellschaft über die-
jenigen Minimalforderungen geeinigt, die von den Naturwissenschaften an die be-
vorstehende Neugestaltung des österreichischen Mittelschulwesens erhoben werden
müssen. Die Beratungen,*) die im Januar und Februar v. J. in den Räumen der
*) Der naturwissenschaftliche Unterricht an den österreichischen Mittelschulen. Bericht
über die von der k. k. zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien veranstalteten Dis-
kussionsabende und über die hierbei beschlossenen Reformvorschläge. Herausgegeben unter
Die Wiener Reformvorschläge für den naturwissenschaftlichen Unterricht. 17
Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien stattfanden, knüpften an
folgende vier Punkte an: 1. die Stellung der Naturwissenschaften an den Mittel-
schulen, 2. die biologische Richtung im zoologischen und botanischen Unterrichte,
3. die Hilfsmittel des naturgeschichtlichen Unterrichts und 4. die Heranbildung der
Mittelschullehrer.
Das österreichische Mittelschulwesen mit seinem auf das Universitätsstudium
vorbereitenden, achtstufigen Gymnasium und der siebenstufigen Realschule, deren
Maturitätszeugnisse nur zum Besuche der technischen und ähnlicher Hochschulen
berechtigen, unterscheidet sich wesentlich von unserem höheren Unterrichtswesen
mit seinen drei Gattungen gleichwertiger und gleichberechtigter Lehranstalten.
Wenn daher auch die auf den Wiener Diskussionsabenden gefaßten Beschlüsse
auf unsere Verhältnisse nicht bestimmend einwirken können, so sind doch manche
Berührungspunkte in den hier wie dort auf dasselbe Ziel hinauslaufenden Be-
strebungen vorhanden, und trotz der temperamentvollen Ablehnung jedes deutschen
Einflusses durch den streitbaren Professor Dr. No6 sind, da Deutschland auf
dem Gebiete der Unterrichtsreform zuerst durchs Ziel ging, Annäherungen an die
preußischen Verhältnisse in den Wiener Beschlüssen unverkennbar.
Eine solche Annäherung bedeutet es schon, wenn für die Realschulen eine
achte Klasse und demgemäß die Gleichstellung der Realschule mit dem Gymnasium
bezüglich der Berechtigungen ihrer Schüler zum Besuche der Hochschulen ge-
fordert wird. Deutsche Verhältnisse waren auch wohl vorbildlich, wenn Schul-
gärten, insbesondere ein Zentralschulgarten für die Schulen Wiens, und ein Normal-
verzeichnis der für den naturwissenschaftlichen Unterricht unentbehriichen Hilfs-
mittel als notwendig bezeichnet wurden. Und auch manches, was in bezug auf
die Heranbildung der Mittelschullehrer gewünscht wurde, so die Herausgabe einer
Anweisung für die Studierenden der Naturgeschichte nach dem Vorbilde der
Göttinger Ratschläge, eine freiere Bewegung in der Auswahl der Fächer bei der
Staatsprüfung, die Abschaffung der auf den Unterricht an Realschulen beschränkten
Lehrbefähigung, die Einrichtung von praktischen Übungen und Demonstrationen
für Lehramtskandidaten an den Hochschulen usw., alles dies findet in schon vor-
handenen, deutschen Einrichtungen ein nachahmenswertes Vorbild.
Trotzdem war Prof. Dr. Lanner, ein ausgezeichneter Kenner deutscher Schul-
verhältnisse, durchaus im Rechte, wenn er mit Stolz auf den Vorrang hinwies, den
Österreich in bezug auf den Betrieb des naturwissenschaftlichen Unterrichts an
den Mittelschulen auch Deutschland gegenüber stets innegehabt hat. Denn in
dem der Gleichwertigkeit entsprechenden Gleichgewichtszustande zwischen der
geschichtlich-sprachlichen Gruppe der Bildungsfächer und der realistischen Gruppe
(Erdkunde, Mathematik, Naturwissenschaften) ist uns unser Nachbariand —
wenigstens soweit die Realschulen in Frage kommen — weit voraus. Während in
Österreich das Verhältnis der beiden Gruppen in dem wöchentlichen Stunden-
ausmaß sich wie 76 : 84 darstellt, herrscht an unseren Oberrealschulen noch das
Mitwirkung von J. Brunnthaler, Prof. Dr. K. Fritsch, Prof. Dr. Lanner, Prof. P. Pfurtscheller
und Prof. Dr. E. Witlaczil von Prof. Dr. R. v. Wett stein als Präsident der k. k. zoologisch-
botanischen Gesellschaft. Wien 1908. F. Tempsky. 103 S. 8«. 3 M.
Monatschrift f. höh. Schulen. VUI. Jhrg. 2
13 J. Norrenberg,
Verhältnis 124 : 97, oder wenn man sogar das wahlfreie Linearzeichnen bei uns
noch hinzurechnet, das Verhältnis 124 : 107 vor. Und auch an den humanistischen
Anstalten ist die Stundenverteilung in Österreich den naturwissenschaftlichen
Fächern erheblich günstiger als in Preußen. Dort ist das Verhältnis 125 : 52, hier
167 : 61. Trotzdem beschränkten sich die Wiener nicht darauf, eine „klaffende
Lücke* zu konstatieren, sondern sie forderten auch für die Gymnasien eine dem
Bildungsideal der Zeit entsprechendere Gestaltung des Gymnasiallehrplanes und
demnach eine stärkere Berücksichtigung der Naturwissenschaften. Der Zoologie
und Botanik sollen in den beiden untersten Klassen je 3 Wochenstunden, der
Chemie und der Mineralogie in den beiden folgenden Klassen je 1 Semester mit
3 Wochenstunden zugewiesen werden. Auf der Oberstufe des Gymnasiums würde
nach den Vorschlägen der Wiener Beschlüsse dem 5. Schuljahre die Chemie mit
je 2 Stunden, dem 6. die Botanik ebenfalls mit je 2 Stunden, dem 7. die Zoologie,
Somatologie und Hygiene mit je 3 Stunden und dem 8. Schuljahre die Mineralogie
und Geologie wieder mit je 2 Wochenstunden zufallen. Raum für die neuen
Fächer soll durch eine Einschränkung des Unterrichts in den klassischen Sprachen
gewonnen werden. An der Oberrealschule wird für die Oberstufe nur eine ge-
ringe Vermehrung der Stundenzahl zugunsten der Somatologie und Hygiene ver-
langt. Damit würde der Lehrplan der Gymnasien dem der Realschulen in bezug
auf die Naturwissenschaften annähernd gleichgestellt werden, eine berechtigte
Forderung, wenn man auch den humanistischen Anstalten die Aufgabe zuweisen
will, eine moderne Bildung für Gegenwartsmenschen zu vermitteln, die wenigstens
eine Ahnung von all dem Wunderbaren mit von der Schule nehmen sollen, was
in uns und rings um uns lebendig ist.
Die Wiener Forderungen sind nicht soweit gehend als die sogenannten
Meraner Beschlüsse, daher leichter realisierbar als diese. Doch zeigt schon die
Stoffverteilung, die an den Realanstalten der Chemie nur ein Schuljahr, der speziellen
Zoologie und Botanik je 2 Semester, der allgemeinen Biologie einschließlich der
Anthropologie und Hygiene 2 Schuljahre zuweist, daß der Bildungswert der Natur-
wissenschaften in dem engen Rahmen des vorgeschlagenen Lehrplanes an den
Realschulen nicht voll zur Geltung gebracht werden kann. Dazu kommt, daß das
Nacheinander des österreichischen Entwurfes die auch von Höfler geforderte
didaktische Ineinander-Verarbeitung der naturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen
außerordentlich erschwert. Je mehr die Wissenschaft fortschreitet, umso inniger
werden die Wechselbeziehungen zwischen den Teilgebieten, zwischen Physik,
Biologie, Geologie und Chemie. Mit Recht wies Universitäts - Professor
Dr. Hatschek darauf hin, daß unsere gesamte naturwissenschaftliche Welt-
anschauung, die im vergangenen Jahrhundert eine allzu mechanistische war, in
Zukunft einen viel stärkeren, ja wahrscheinlich einen überwiegend chemischen Ein-
schlag erhalten wird. Diese zentripetale Rolle der Chemie kommt aber in den
Wiener Vorschlägen gar nicht zur Geltung. Die Zusammenfassung der getrennt
betriebenen naturwissenschaftlichen Einzelwissenschaften zu einer umfassenden
naturwissenschaftlich orientierten und fundamentierten Philosophie kann nicht der
in die oberste Klasse des österreichischen Gymnasiums eingeordneten Geologie
und Mineralogie zugemutet werden; sie muß der Chemie vorbehalten bleiben, die
Die Wiener Reformvorschläge für den naturwissenschaftlichen Unterricht. 19
deshalb, wie an unseren deutschen Oberrealschulen, durch die ganze Oberstufe
hindurch ununterbrochen betrieben werden muß und dann die Physiologie, Hygiene
und Geologie in sich aufnehmen und mit diesen Fächern zu dem naturwissen-
schaftlichen Gesamtunterricht der Zukunft verschmelzen kann. Sammlung tut not,
noch mehr in der Pädagogik als in der Wissenschaft.
Von allgemeiner Bedeutung für die fernere Entwicklung des naturgeschicht-
lichen Unterrichts sind die Verhandlungen, die sich an die zweite der oben er-
wähnten Fragen anschlössen. Einig war man über die große Bedeutung der
biologischen Methode, die an Stelle der reinen Beschreibung die Erklärung setzt,
die Schüler zum Denken und Beobachten anregt und dadurch Interesse und Ver-
ständnis steigert. Allerdings verhehlte man sich auch nicht die Gefahren, die, wie
bei allen Methoden, durch Übertreibungen hervorgerufen werden können. Durch die
biologische Methode dürfen die deskriptive Darstellung der morphologischen Verhält-
nisse und die systematische Zusammenfassung nicht verdrängt werden, deren Kennt-
nis für das Studium der Zoologie und Botanik die unentbehrliche Grundlage bildet
und die Beobachtungsgabe der Schüler am besten zu üben imstande ist. Auch sollen
nur diejenigen biologischen Verhältnisse im Unterricht dargelegt werden, die sich
ungezwungen ergeben und die nach dem augenblicklichen Stande der Wissen-
schaft als feststehend angenommen werden können. Verfehlungen gegen diese
allzu berechtigten Forderungen sind Kinderkrankheiten, die jeder methodische
Fortschritt zu überwinden hat, sind Schlacken, die erst allmählich abgesondert
werden können, die aber den Wert der biologischen Methode an sich nicht be-
einträchtigen können. Denn dieses Lehrverfahren entspricht nicht nur, wie Prof.
Dr. Witlaczil ausführte, den Anforderungen eines modernen Unterrichts, der sich
an das Verständnis der Schüler zu wenden hat, sondern auch dem Stande der
Wissenschaft, die seit Cuvier mit seinem Korrelationsgesetze, seit Leukart mit
seiner Betrachtungsweise, seit Darwin und den anderen Verfechtern der Ent-
wicklungslehre mehr und mehr zu einer experimentellen und erklärenden Wissen-
schaft geworden ist. Es wurde denn auch von dem Schlußredner ausdrücklich
festgestellt, daß alle Teilnehmer der Wiener Diskussionsabende in der Anerkennung
des Wertes der biologisch-ökologischen Methode einig waren und daß diese als
eine Errungenschaft zu betrachten sei, die niemand mehr missen will.
Überblicken wir den Gesamtverlauf der .Verhandlungen, die sich ferner noch
mit der praktischen Betätigung der Schüler im zoologisch-botanischen Unterricht
eingehender beschäftigte, auch zu der Frage der Abschaffung des Maturitäts-
examens Stellung nahmen, so wird man sich der Überzeugung nicht verschließen
können, daß die Beratungen auch für den Unterricht an unseren preußischen
höheren Lehranstalten eine wesentliche Förderung bedeuten und daß sich das
Studium des an Anregungen reichen Berichtes wohl verlohnt.
Münster. J. Norrenberg.
2*
§0 Hohlstein.
Der Unterricht im Linearzeiclinen an den preußisclien Real-
anstalten nach der Verfügung vom 14. September 1908.
Der Lehrplan für den Zeichenunterricht an höheren preußischen Schulen vom
Jahre 1901 beschäftigt sich vorwiegend mit dem freien Zeichnen. Er hat eine
gewaltige Reform auf diesem Gebiete herbeigeführt, deren Ergebnisse wohl in
jgroßen Zügen feststehen, im einzelnen aber immer noch sorgsamer Kleinarbeit
bedürfen. Infolge der verhältnismäßig kurzen Andeutungen, welche er über das
gebundene Zeichnen enthält und der angestrengten Arbeit, welche nötig war, um
den Unterricht im freien Zeichnen von Grund aus umzugestalten, ist das Interesse
der Zeichenlehrer für das gebundene Zeichnen etwas in den Hintergrund getreten.
Die neu erschienenen Bücher über Zeichnen, die Fachzeitschriften und Jahres-
berichte beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem freien Zeichnen. Ja, es ist
sogar ernstlich erwogen worden, ob nicht das gesamte Linearzeichnen dem mathe-
matischen Unterricht anzugliedern sei und als besonderes Fach ganz von der
Bildfläche verschwinden solle. Eine aufmerksame Betrachtung dieses Zweiges
menschlichen Wissens und Könnens wird aber ergeben, daß es nicht ein rein
mathematisches Fach ist, sondern ein Gegenstand, dessen Unterrichtsergebnisse
zwar in der Mathematik, aber auch in andern Lehrfächern, z. B. in der Physik,
Chemie, Krystallographie, Geographie benutzt werden und daß ihm daher wie dem
freien Zeichnen eine selbständige Stellung gebührt. Es wird bisher als wahlfreies
Fach in den Klassen III— I der Realschule und Olli— Ol der Realgymnasien und
der Oberrealschulen in je zwei Stunden wöchentlich gelehrt, und diejenigen An-
stalten, bei denen es bisher mit weniger Stunden angesetzt war, werden jetzt dazu
tibergehen müssen, ihm die vorgeschriebene Stundenzahl zuzuweisen. Die Teil-
nahme an dem Fache wird eine befriedigende sein, wenn Schüler und Eltern
rechtzeitig und in geeigneter Weise über seinen Wert aufgeklärt werden.
Der Lehrplan teilt den Gesamtunterricht in zwei Teile, einen unteren Kursus,
welcher die Klassen III— I der Realschulen bzw. Olli und Uli der Realgymnasien
und Oberrealschulen, und einen oberen, welcher die Klassen OII— Ol der Ober-
realschulen und Realgymnasien umfaßt.
I. Unterer Kursus.
Der Lehrstoff ist: Maßstabzeichnen, geometrisches Darstellen einfacher Körper
und Geräte in verschiedenen Ansichten mit Schnitten und Abwickelungen. In dem
Lehrplan von 1901 war vorgeschrieben: OIIL Übungen im Gebrauche von Zirkel,
Lineal und Ziehfeder durch Zeichnen von Flächenmustem, Kreisteilungen und
anderen geometrischen Gebilden. Uli. Geometrisches Darstellen einfacher Körper
in verschiedenen Ansichten mit Schnitten und Abwickelungen. Die Realschule
hatte mindestens das Lehrziel der Uli einer Oberrealschule zu erreichen, und die
Verteilung des dort in zwei Jahren zu erledigenden Lehrstoffs auf die Klassen
III, II nnd I war freigestellt. In dem neuen Lehrplan sind also die Übungen im
Gebrauch von Zirkel, Lineal und Ziehfeder durch Zeichnen von Flächenmustern,
Kreisteilungen und anderen geometrischen Gebilden weggefallen. Als Ersatz dafür
sind bereits durch den Lehrplan vom Jahre 1901 vorbereitende Übungen dem mathe-
Der Unterricht im Linearzeichnen an den preußischen Realanstalten usw. 21
matischen Unterricht der Quinta zugewiesen worden. Der Lehrer des Linearzeichnens
findet daher nicht mehr ein unbeackertes Gebiet vor, wenn er mit seinen Tertianern
das eigentliche Linearzeichnen beginnt. Nur auf einige wichtige Punkte hat er zu
achten. Die mathematischen Konstruktionen werden wohl meistens in Hefte
gezeichnet, wodurch der Gebrauch der Reißschiene und der ihr anliegenden Drei-
ecke ausgeschlossen ist. Im Linearzeichnen dagegen, das doch, wie aus dem
ganzen Inhalt des Lehrplans hervorgeht, ganz im Sinne des technischen Zeichnens
zu behandeln ist, kann auf den Gebrauch des Reißbretts und der Reißschiene nicht
verzichtet werden. Es wäre daher sehr zu wünschen, daß bereits die propädeuti-
schen Zeichenübungen und die geometrischen Konstruktionen der Klassen auf
kleinen handlichen Reißbrettern (vielleicht auch Holzrahmen mit Pappdeckeln) aus-
geführt würden. Ferner weichen die Methoden des technischen Linearzeichnens
von denen des geometrischen in einigen Punkten ab, namentlich in dem Teilen
von Strecken und Kreisbogen und in dem Ziehen von Senkrechten und Parallelen.
In der Geometrie wird das Teilen einer Strecke durch das Auftragen gleicher Teile
auf einen von ihrem Endpunkt ausgehenden Strahl und Ziehen von Parallelen be-
bewirkt. Diese Konstruktion ist zwar für die Theorie sehr wertvoll, in der
Praxis aber nicht zu gebrauchen, da sie eine Reihe von Fehlerquellen enthält.
In der Geometrie werden ferner nur ganz bestimmte Kreisteilungen, z. B. die
3., 4., 5., 6., 8., 10. Teilung gelehrt, welche ebenfalls in der Praxis nur um-
ständlich und trotz aller Sorgfalt fehlerhaft auszuführen sind. Der Praktiker da-
gegen führt alle Linienteilungen durch Probieren aus und erreicht so ein möglichst
richtiges Resultat. Gewisse, oft wiederkehrende Teilungen, nämlich die des Kreis-
umfangs in 3, 4, 6, 8, 12, 24 gleiche Teile führt er auch mit Hilfe seiner Dreiecke
aus, wobei allerdings die Richtigkeit der Konstruktion von der Genauigkeit der
Zeichendreiecke abhängig ist. Das Ziehen von Parallelen bewirkt der Techniker
nahezu fehlerlos durch Verschieben eines Dreiecks am anderen, während die Kon-
struktionen durch Winkelübertragungen stets fehlerhafte Resultate ergeben. End-
lich werden bereits im Anfangsunterricht des Linearzeichnens ebene Kurven jeder
Art mit Hilfe des Zirkels oder Papierstreifens gestreckt, während dies in der Ma-
thematik nur mit Hilfe eines großen Aufwandes von Rechnungen möglich ist. Alle
diese Unstimmigkeiten sind dadurch zu beseitigen, daß bereits im geometrischen
Unterricht auf die Unsicherheiten und Umständlichkeiten, denen die rein geo-
metrischen Konstruktionen unterworfen sind, sowie auf die Verfahren, welche der
Praktiker benutzt, hingewiesen wird (s. Lemoines Untersuchungen über Geometro-
graphie). Zu bedauern ist, daß das geometrische Ornament vollständig weg-
gefallen ist, da dieses einigermaßen Ersatz für das aus dem freien Zeichnen be-
seitigte ungebundene Ornament bieten könnte und die Schüler für die ornamentalen
Darstellungen als Übungen, bei denen sie ihre eigene Erfindungskraft auf dem Gebiete
der Form und Farbe spielen lassen können und als praktische Anwendungen geometri-
scher Lehrsätze erfahrungsgemäß stets großes Interesse zeigen. An die Stelle dieser
Übungen ist das Maßstabzeichnen getreten, d. h. das Ausmessen und Nachbilden
gewisser ebener Formen in gleichem, kleinerem oder größerem Maßstabe. Wer
die Entwicklung des freien Zeichnens kennt, wird die Einführung des Maßstab-
zeichnens nur als notwendige Konsequenz der in jenem Fach geltenden Grund-
^ Hohlstein,
Sätze erkennen. Wie dort nicht mehr von abstrakten Grundformen, die den
Schüler wenig interessieren, ausgegangen wird, so ist auch im gebundenen Zeichnen
das Ausgehen von der Wirklichkeit geboten. Unter den flächenhaften Gebilden,
welche sich für die ersten Versuche im Zeichnen eignen, gibt es viele, welche
bei freihändiger Darstellung nie richtig gelingen. Hierhin gehören alle Formen,
welchen ein zusammengesetztes Liniennetz zugrunde liegt, z. B. Türen und
Fenster mit Füllungen, Parkettmuster, Fliesen mit geometrischen Motiven, durch-
lochte Bleche usw., ferner Grundrisse und Pläne von Zimmern, Gebäuden und
Grundstücken. Werden solche Aufgaben in das Linearzeichnen verwiesen, so wird
das Stoffgebiet des Zeichnens in glücklicher Weise bereichert, und es werden Ab-
bildungen erzielt, welche nicht nur über die allgemeinen Formen dieser Dinge
oberflächlichen Aufschluß geben, sondern auch alle Maßverhältnisse so genau
erkennen lassen, daß die dargestellten Gegenstände jederzeit nach den Zeichnungen
angefertigt werden können. Oft wird sich bei diesen Übungen eine Verbindung
des freien und gebundenen Zeichnens herstellen lassen, indem vom Schüler zu-
nächst eine freie Handskizze mit Angabe der Maße gefordert wird, welche der
gebundenen Zeichnung zugrunde zu legen ist. Als Abbildungen wirklicher Gegen-
stände dürften wohl auch Flächenmuster und Kreisteilungen zulässig sein.
Für das Darstellen dreidimensionaler Gegenstände werden in dem neuen Lehr-
plan zunächst — ganz wie in dem Lehrplan von 1901 und dem Ministerialerlaß
von 1902 — einfache Körper in verschiedenen Ansichten mit Schnitten und Ab-
wickelungen verlangt. Der Ministerialerlaß betont dabei noch, daß der Haupt-
nachdruck auf das Lösen praktischer Aufgaben zu legen ist. Wenn man bedenkt,
daß in Uli (=1 der Realschule) die Stereometrie beginnt und dort das Zeichnen
eifrig zu pflegen ist, so wird man nicht fehlgehen, wenn man für das Linear-
zeichnen zunächst solche Lebensformen ausfindig zu machen sucht, welche die
rein geometrische Grundform in augenfälliger Weise enthalten. Hierhin gehören
Kästen, Dosen und Schachteln allerlei Art, Dach- und Turmformen, sowie die
mannigfaltigen Erzeugnisse des Klempnergewerbes. Diese Gegenstände bieten
reiches Material für die Lösung von darstellend-geometrischen Aufgaben. Wie in
der Algebra und in der Geometrie neue Größen aus gegebenen abgeleitet werden,
so sind hier neue Ansichten, Mäntel und Schnitte aus dem durch seine Projektionen
gegebenen Körper zu entwickeln, und da die Bedingungen der Aufgaben in unend-
lich mannigfaltiger Weise variiert werden können, so eröffnet sich dadurch ein weites
Feld interessanter, praktischer Probleme für die Selbsttätigkeit des Schülers. Hierbei
wird sich oft Gelegenheit bieten, auf konstruktivem Wege erhaltene Resultate
durch nachfolgende Rechnungen zu prüfen und zu bekräftigen. Von den ein-
facheren Körpern schreitet der Unterricht zu denjenigen weiter, welche solche
Formen in Zusammensetzungen oder ganz neue Gestalten aufweisen. Unter erstere
gehören Treppen aus Stein und Holz, Möbel in streng geometrischer Auffassung,
die ja dem heutigen Geschmack entsprechen, Holzverbindungen. Neue Formen,
die im mathematischen Unterricht nicht behandelt zu werden pflegen, sind z. B.
Obelisk (Entwicklungsschale), Antiobelisk (Turmform, die aus quadratischem Quer-
schnitt in achteckigen übergeht), Pyramidoid (Turmspitze mit geschweiftem Profil
und eckigem Querschnitt), Gewölbeformen, Maschinenelemente usw. Geeignete
Der Unterricht im Linearzeichnen an den preußischen Realanstalten usw. 23
Vorbilder werden in natura nicht immer vorhanden oder zu beschaffen sein, es
wird daher nötig sein, Modelle zu benutzen. Das amtliche Lehrmittelverzeichnis
für den Zeichenunterricht, Heft 4, Blatt 1 u. 2, führt solche bereits auf. Am besten
lernt der Schüler die Formen verstehen, wenn er das, was er zeichnet, auch selbst
in Karton oder anderem geeigneten Material modelliert. Daß der Schüler dazu
geführt wird, auch Körper, die im mathematischen Unterricht nicht behandelt
werden, wenigstens graphisch darzustellen, ist durchaus gerechtfertigt. Auch der
Techniker löst ja Probleme, die er nicht mit Anwendung der Arithmetik lösen
kann oder mag, auf rein graphischem Wege. — Durch diesen Zeichenunterricht
nach Gegenständen aus dem Gesichtskreise des Schülers wird in ihm ein Interesse
an der Form, ein Eindringen in die Form und schließlich eine Beherrschung der Form
wachgerufen, welche weit über das hinausgeht, was der geometrische Unterricht
auf dieser Stufe zu bieten vermag. Eine mathematische Figur ist stets abstrakt,
die Konstruktion entwickelt sich nach und nach, indem bestimmte Angaben, z. B.
Seitenlängen, Winkelgrößen, Vergrößerungsverhältnisse usw. planmäßig benutzt
werden. Das Resultat dieser Arbeit ist zunächst unbekannt und erscheint erst all-
mählich. Ganz anders bei dem Zeichnen von wirklichen Gegenständen oder
Modellen I Hier ist das Ziel sofort gegeben, nämlich die Herstellung eines Bildes,
aus dem unzweideutig die gestaltlichen Verhältnisse des dargestellten Körpers so
zu erkennen sind, daß der Körper allein auf Grund der Zeichnung jederzeit wieder
nachgebildet werden kann. Ein weiterer Vorzug des Zeichnens nach der Wirk-
lichkeit vor dem mathematischen Zeichnen besteht darin, daß die Gesetze der
Zweckmäßigkeit und Schönheit fast in jedem Gegenstande zum Ausdruck kommen,
während den elementaren mathematischen Figuren kein Zweckmäßigkeitswert und
nur ein beschränkter Schönheitswert beizumessen ist. Die Teilung nach dem
goldenen Schnitt, die regelmäßigen Figuren, der Kreis und die Kegelschnitte be-
friedigen zwar unser Schönheitsgefühl, sind aber doch nicht zu vergleichen mit
den edlen Konturen einer griechischen Vase. Die Kurven höherer Ordnung, welche
einen großen ästhetischen Wert haben, können im mathematischen Unterricht
höherer Schulen nur wenig behandelt werden, während ihrer graphischen Dar-
stellung nichts im Wege steht, und sie fallen daher dem Gebiete des Zeichnens
zu. Mit vorstehenden ^Ausführungen soll nicht der Nutzen des mathematischen
Zeichnens bestritten werden, sondern es soll ihm nur seine Stellung als spezielle
Unterabteilung des die gesamte Formenwelt umfassenden Zeichnens angewiesen
werden. Mit gutem Grunde ist das Linearzeichnen bereits in die Volksschulen
eingeführt (Lehrplan von 1902), nämlich wegen seines hohen Bildungswertes und
zur Hebung der technischen und künstlerischen Leistungsfähigkeit aller Volks-
klassen. Ebenso werden die Lehriinge aller Handwerke, welche mit Zeichnungen
zu tun haben, in den Fortbildungsschulen in dem Verständnis und in der An-
fertigung technischer Zeichnungen unterwiesen. Die höhere Schule, welche ihre
Zöglinge für alle höheren Berufsklassen vorbereitet, kann daher nicht zurückstehen
und muß es wenigstens jedem Schüler, der Neigung für einen technischen Beruf
in sich fühlt oder überhaupt Interesse für die formale Seite der Dinge hat, er-
möglichen, die Sprache des Technikers zu eriernen! Mit den durch den neuen
Lehrplan festgelegten Kenntnissen versehen, wird er, wenn er die Schule mit dem
^4 Hohlstein,
Zeugnis für den Einjährigfreiwilligen Dienst verlassen hat, sich in der Praxis gut
betätigen oder in den Unterricht in jeder Fachschule mit einer guten Grundlage
eintreten können, und es wäre sehr zu wünschen, daß auch solchen Schülern,
gleichsam als Lohn für ihre Teilnahme an dem fakultativen Unterricht die guten
Zeichnungen entsprechend der Verfügung vom 6. Februar 1908 betreffend Be-
scheinigung von Zeichnungen solcher Abiturienten, welche sich den an Technischen
Hochschulen bestehenden Studienrichtungen zuwenden wollen, testiert werden
könnten.
II. Oberer Kursus.
In den oberen Klassen OII — Ol der realen Vollanstalten teilt sich der Unter-
richt im Linearzeichnen in eine mehr mathematische und eine mehr technische und
künstlerische Richtung. Er ist ebenfalls wahlfrei und in jeder Woche mit je einer
Stunde angesetzt. »Den Schülern dieser Klassen, die sich zur Teilnahme melden,
ist freizustellen, ob sie den Unterricht in der speziellen darstellenden Geometrie
usw., oder den in der malerischen Perspektive usw., oder den in beiden Fächern
besuchen wollen. Wer sich zur Teilnahme bereit erklärt, muß mindestens ein
Semester den von ihm gewählten Unterricht besuchen." Mit Rücksicht auf die-
jenigen Schüler, welche den Unterricht in beiden Fächern besuchen, ist daher ein
Zusammenfallen dieser beiden Fächer auf die gleiche Zeit des Stundenplans zu
vermeiden. Aus inneren Gründen, aber auch, um dem Schüler den Übergang von
dem einen zu dem anderen Fach zu ermöglichen, wird es ferner nötig sein, den
ganzen logischen Aufbau beider Fächer gleichartig zu gestalten, jedoch so, daß
die rein theoretischen Unterweisungen des einen Fachs den praktischen Ausfüh-
rungen des anderen zeitlich vorausgehen. Um endlich auch Schüler, welche erst
einige Zeit nach der Versetzung nach Obersekunda in den einen oder anderen
Unterricht eintreten, gebührend fördern zu können, und um den Fähigkeiten und
Wünschen der einzelnen entgegenzukommen, wird es nicht immer möglich sein,
das Prinzip des Klassenunterrichts aufrecht zu erhalten. Da die Einzelunter-
weisungen aber stets längere Zeit in Anspruch nehmen, so sind Kombinationen
mehrerer Klassenstufen möglichst zu vermeiden. Werden z. B. die drei oberen
Klassen zugleich unterrichtet, so kommt, wenn man eine Lehrstunde zu 50 Minuten
annimmt und fünf Minuten für das Herbei- und Fortschaffen der Zeichengeräte
ansetzt, auf jede Klasse nur eine Viertelstunde Unterrichtszeit! Daß für gute Be-
leuchtung des Zeichensaals gesorgt werden muß, ist selbstverständlich. — Die
spezielle darstellende Geometrie, Schattenlehre und Perspektive ist in einer Stunde
wöchentlich zu lehren, und der Unterricht ist einem mit der darstellenden Geo-
metrie vertrauten Lehrer der Mathematik zu übertragen. In dem Lehrplan von
1901 sind für Mathematik an Realgymnasien und Realschulen die Grundlehren der
darstellenden Geometrie vorgeschrieben, und den Oberrealschulen ist eine Weiter-
führung dieser Grundlagen gestattet. Jetzt wird die gesamte darstellende Geometrie
als selbständiges Fach in den fakultativen Unterricht verlegt. Tatsächlich bedeutet
also diese Neuerung eine Erhöhung der für Mathematik angesetzten Unterrichts-
zeit um eine fakultative Stunde. — Der Lehrstoff für den Unterricht in der
speziellen darstellenden Geometrie ist in dem Lehrplan nur in seinen äußersten
Umrißlinien angegeben, und erst die Praxis wird im Laufe der Jahre einen be-
Der Unterricht im Linearzeichnen an den preußischen Realanstalten usw. 25
stimmten Weg durch dieses weite Gebiet bahnen. Vorläufig ist die Auswahl des
Lehrstoffs freigestellt. Jedenfalls wird die Lehre von den Punkten, Geraden und
Ebenen im Räume, welche früher dem geometrischen Unterricht der Uli zuge-
wiesen war, in neuem Gewände wieder auftreten und die Grundlage für den
weiteren Unterricht bilden. Ein weiteres Gebiet, welches sich an die in der Stereo-
metrie der U II zu erledigenden rechtwinkligen Parallelprojektionen anschließt und
auch für arithmetische Untersuchungen reichen Übungsstoff bietet, ist die Lehre
von den schiefwinkligen Parallelprojektionen. Die sphärische Trigonometrie wird
Veranlassung zur Konstruktion dreiseitiger Ecken aus ihren Bestimmungsstücken,
sphärischer Dreiecke auf der Erd- und Himmelskugel, sowie zur Darstellung von
Sonnenuhren geben. Auch die Durchdringungen, welche weder unter dem Lehr-
stoff für die spezielle darstellende Geometrie, noch in dem für malerische Perspek-
tive aufgeführt sind, aber doch sowohl rein theoretisch, als auch praktisch sehr
wichtig sind, dürften mit in den Rahmen dieses Kapitels fallen. Die Schatten-
konstruktionen, welche weiterhin genannt sind, könnten wohl auf den Selbst- und
Schlagschatten geometrischer Körper und ihrer Durchdringungen beschränkt werden.
In der Perspektive wäre von der Abbildung des Punktes und der Geraden auszu-
gehen, dann zu der Darstellung geometrisch begrenzter Flächenstücke fortzu-
schreiten. Eine eingehendere Behandlung würde der Zentralprojektion des Kreises
und damit einer projektiven Ableitung der Kegelschnitte zu widmen sein, hieran
würde sich die Lehre von den stereoskopischen Bildern und die Kartenprojektion
schließen. Als Fortsetzung der graphischen Darstellungen und als Übungsmaterial
für die analytische Geometrie können einige nomographische Übungen eingestreut
werden.
Während dieser Unterricht als Fortsetzung und Erweiterung des von Quinta
ab geübten mathematischen Zeichnens anzusehen ist, soll die andere, von dem
Zeichenlehrer zu erteilende Stunde praktische und künstlerische Wege einschlagen.
Wenn dieser Unterricht auch hinsichtlich der Anordnung mit jenem etwa parallel
laufen wird, so wird die Behandlung des Stoffs doch durchaus verschieden sein.
Er ist als Fortsetzung des wahlfreien Linearzeichenunterrichts der mittleren Klassen
gedacht. An das Darstellen der einfachen Körper und Geräte wird sich zweck-
mäßig die Abbildung von schwierigeren Geräten, Gebäudeteilen und Gebäuden,
Maschinenteilen und Maschinen anschließen. Hiermit kann zugleich die schief-
winklige Parallelprojektion verknüpft werden. Zwischendurch wären vielleicht
leichte statische Konstruktionen auszuführen. Es würden sich dann die Durch-
dringungen anreihen, für die ja ein reiches Aufgabenmaterial in der Technik vor^
banden ist. Auf die Schattenkonstruktion, welche namentlich an architektonischen
Motiven zu üben sein wird, folgt die Beleuchtungslehre, welche mit der Darstellung
der Normalkugel beginnend, zur Schattierung von Drehkörpern fortschreitet. Als
eine Anwendung der Beleuchtungslehre und als notwendige Vorübung und Er-
gänzung zu dem im Lehrplan geforderten Terrainaufnahmen, wäre eine Anleitung
zum Studium und zum Schattieren der von der Königlich Preußischen Landes-
aufnahme herausgegebenen Meßtischblätter zu empfehlen. Das Lesen von Karten
in größerem Maßstab wird im Unterricht der höheren Schulen wohl kaum geübt,
und doch gibt es kein anderes Mittel, die Geländeformen der engeren und weiteren
26 M. Türk,
Heimat kennen zu lernen und sich einzuprägen, als die Durchwanderung an der
Hand einer guten Karte. Noch tiefer haften die auf einer solchen geographischen
Erkundungstour gemachten Beobachtungen, wenn das Gelände nach den An-
gaben der Meßtischblätter modelliert und in Ansichtsskizzen festgehalten wird.
Die Perspektive soll endlich ebenfalls in rein malerischem Sinn gegeben werden.
Geeignete- Motive werden in und an dem Schulhaus, an Kirchen, Rathäusern und
Privatgebäuden in großer Zahl aufzufinden sein. Nach Erledigung der geometri-
. sehen Konstruktionen wird der Entwurf am besten auf ein neues Blatt übertragen
und in irgendeiner Technik weiter ausgeführt. Manche Schüler werden die Blei-
stiftzeichnung bevorzugen, andere zur Feder oder zum Pinsel greifen, um dem
Bilde in einer oder mehreren Farben ein malerisches Gepräge zu verleihen. Neben
diesen Produktionen könnte eine Prüfung vorbildUcher Darstellungen gepflegt
werden, denn das Aufsuchen und Erklären bewußter oder unbewußter Abweichun-
gen von den perspektivischen Gesetzen ist ein sehr wirksames Mittel zur Stär-
kung des Raumgefühls. Ferner wäre auf die Photogrammetrie und ihre Anwen-
dungen auf Architektur und Geländedarstellung einzugehen.
Gegenüber dem Lehrplan von 1901, welcher für das Linearzeichnen der oberen
Klassen nur weitere Einführung in die darstellende Geometrie, Schattenlehre und
Perspektive vorschreibt, ist der Bereich des neuen viel ausgedehnter. Er umfaßt
zusammen mit dem Lehrplan für freies Zeichnen das gesamte Gebiet der wissen-
schaftlichen, technischen und künstlerischen Darstellung und ist daher als eine
durch die Anforderungen der neuen Zeit und ihrer kraftvollen Bestrebungen auf
allen Gebieten theoretischen und praktischen Wissens und Könnens notwendig ge-
wordene Ergänzung des ersteren freudig zu begrüßen I
Remscheid. Hohlstein.
Ein alter Brauch.
Wenn wir älteren Lehrer, die wir vor mehr als 25 Jahren das Zeugnis der
Reife erworben haben, an die eigene Schulzeit zurückdenken und den damaligen
Schulbetrieb mit dem heutigen vergleichen, so werden wir zu unserer Freude
immer von neuem gewahr, welche tiefgreifende Umgestaltung das höhere Schul-
wesen erfahren hat. Für die Leser der Monatschrift bedarf es nicht, die Ent-
wicklung im einzelnen aufzuzeigen; es genügt, auf die veränderten Methoden in
einer ganzen Reihe von Unterrichtsgegenständen hinzuweisen, die in den Neueren
Sprachen, in der Erd- und Naturkunde, sowie im Zeichnen selbst dem Laien, der
an seinen Kindern die Arbeit der Schule beobachtet, ins Auge fallen. Die Schwierig-
keiten der Reifeprüfung sind gemildert, und die Milderung wird noch fühlbarer
werden, wenn erst die Bewegungsfreiheit in den oberen Klassen durchgeführt sein
wird. Der körperlichen Entwicklung, der Schulhygiene wird erhöhte Bedeutung
beigelegt. Spiel und Sport sind in unsere Schulen eingezogen, weniger als früher ist
der Lehrer durch einengende Vorschriften gehemmt, seiner Individualität ist ein größerer
Spielraum gewährt. Ein freierer Geist herrscht in unseren Schulen, und freund-
licher ist ohne Schädigung der Disziplin das Verhältnis von Lehrern zu Schülern
Ein alter Brauch. 2f
geworden. Aber seltsam, gerade da, wo die Behörden den Direktoren und Lehrern
freie Hand lassen, zeigt sich oft eine zähe Neigung, Überkommenes festzuhalten.
Wie so oft im Leben ist auch bei uns die Gewohnheit eine Macht, gegen die
sachliche Erwägungen schwer aufkommen.
Es ist ein alter Brauch in unseren Schulen, die Ergebnisse der Versetzungs-
konferenz den Schülern am letzten Schultage in der Aula bekannt zu geben; die
Konferenz selbst hat wohl in den meisten Anstalten acht bis zehn Tage vor dem
Schlüsse des Semesters stattgefunden, da der Direktor von der künftigen Frequenz
der Klassen für die neu aufzunehmenden Schüler ein Bild haben muß. Die
Schüler kennen im allgemeinen den Tag der Konferenz; wenn er ihnen nicht von
den Lehrern geradezu mitgeteilt wird, so erfahren sie ihn als die Nächstbeteiligten
sicherlich auf indirektem Wege. Weshalb erhält man sie acht bis zehn Tage in
ihrer Unruhe, in ihrer nervösen Spannung? Die Versetzung, das äußere Zeichen
ihres Fortschrittes, ist das Ziel, dem sie zustreben, oft hängt sie von einer vor-
aufgegangenen schriftlichen und mündlichen Prüfung ab: Wo in aller Welt ist es
üblich, Prüfungen das Resultat ihrer Prüfung so viele Tage später mitzuteilen?
Der gegenwärtige Brauch wird damit begründet, daß das wichtigste Ereignis
des Schuljahres mit Feierlichkeit umgeben werden müsse, daß vor der versammelten
Schulgemeinde die Tüchtigen, die das Ziel erreicht, geehrt, die anderen aber durch
öffentliche Namensnennung gestraft werden sollen. Ist das wirklich der richtige
Standpunkt? Dürfen wir die Nichtversetzung als eine Strafe ansehen oder gar zur
Schande stempeln? Wenn wir einen Schüler nicht versetzen, so geben wir doch
nur der wohl erwogenen Meinung Ausdruck, daß die Wiederholung des Pensums
für den Schüler selbst eine unabweisbare Notwendigkeit ist und für ihn von Segen
sein werde, und oft genug kommen wir in die Lage, solchen Schülern, deren
ernste und ehrliche Arbeit wir anerkennen müssen, Trost zuzusprechen und ihnen
zu versichern, daß sie sich des Mißerfolges nicht zu schämen hätten. Ist die
öffentliche Verkündigung nicht in solchen Fällen ein Widerspruch?
Den Schülern, die ihrer Versetzung nicht ganz sicher sind, ist während der
Feierlichkeit in der Aula sehr wenig feierlich zumute. Es ist üblich, vor der Ver-
lesung der Versetzungen an die Schüler eine Ansprache zu richten und ihnen
Mahnungen und Warnungen auf den Weg zu geben. Ich fürchte, daß die Körner,
die der Sämann hier ausstreut, in das Steinigte fallen; denn den Schülern, die der
Entscheidung entgegenharren, fehlt die seelische und geistige Ruhe, um die be-
herzigenswerten Worte in sich aufzunehmen. So oft ich meine Schüler in die
Aula führe, muß ich der Darstellung denken, die Emil Strauss in seiner er-
schütternden Erzählung , Freund Hein' von einem Schulaktus gibt. Man braucht die
Verlesung der Versetzungen nicht mit dem Dichter als roh und barbarisch zu
empfinden, aber dem Leben abgelauscht ist die Schilderung der Schülertypen:
»Einer stand steif da mit erzwungenem Lächeln und blickte nach dem Podium hin, als
ob ihn all dieses nichts anginge und als ob er durch diese Mienen sich unsichtbar
machen könnte, ein anderer blinzelte krampfhaft, um die Tränen zu unterdrücken."
Bei der bisherigen Art, den Schülern die Jahreserfolge- und Mißerfolge am
letzten Schultage mitzuteilen, bleibt eines immer unbeachtet. Sobald die Eltern
aus der Zensur ersehen haben, daß ihr Sohn in der Klasse zurückbleiben müsse,
gg M. Türk, Ein alter Brauch.
vielleicht auf ein ganzes Jahr, haben sie den begreiflichen Wunsch, mit dem
Lehrer über das weitere Schicksal des Sohnes zu beraten: Soll der Knabe das
Pensum von neuem beginnen oder ist es besser, ihn einer anderen Schulgattung
zuzuführen? Was kann geschehen, um seine Lücken auszufüllen oder soll er
völlig auf die höhere Schule Verzicht leisten? All solche Fragen müssen ein-
gehend erwogen werden; aber in den Ferien ist der Lehrer den Eltern sehr
häufig unerreichbar, und eine Entscheidung muß noch vor Beginn des neuen
Schuljahres getroffen werden. Schon aus diesem einen Grunde haben die Eltern
nicht nur ein Interesse, sondern sogar ein Anrecht darauf, vor dem letzten Schul-
tage zu erfahren, wie es um ihren Sohn bestellt ist, und diese Mitteilung müßte
ihnen mindestens eine Woche vor Schluß der Schule zugehen.
Der Einwand, der gegen die vorgeschlagene Neuerung erhoben werden könnte,
daß durch frühzeitige Veröffentlichung der Resultate das Interesse der Schüler an
dem Unterricht abflauen, die Disziplin sogar leiden könnte, verdient kaum eine
Widerlegung. Wäre der Einwand richtig, so müßte er auch jetzt schon zutreffen;
denn die Schüler wissen sehr wohl, daß ihr Schicksal seit Tagen entschieden ist.
Aber der Einwand ist hinfällig. Wir sollten das angeborene und anerzogene
Pflichtgefühl der Schüler nicht zu gering einschätzen. Uns selbst würden wir das
denkbar schlechteste Zeugnis ausstellen, wenn wir nur mit dem Schreckgespenst
der Versetzung die Aufmerksamkeit der Schüler zu erregen und ihren Eifer an-
zuspornen wüßten, unsere Disziplin stünde auf schwachen Füßen, wenn sie nur
durch Drohungen zu erhalten wäre. „Eine gute Didaktik ist die beste Disziplin";
dieses Wort Diesterwegs behält für alle Zeiten seine Gültigkeit.
Und ein letzter, tief ernster Grund spricht für unsern Vorschlag. Am Schlüsse
fast jeden Schuljahres hören wir, daß hier, daß dort ein Schüler aus Verzweiflung
über die vermeintliche Schande des Mißerfolges, aus Furcht vor den sinnlosen
Vorwürfen der Eltern, die früher hätten nach dem Rechten sehen sollen, sein Leben
gewaltsam geendet habe. Dürfen wir da in hilfloser Ergriffenheit wie vor einem
elementaren Ereignis stehen, sollten wir nicht auch nur nach der geringsten Mög-
lichkeit ausschauen, vorzubeugen? Engerer freundlicher Zusammenhang zwischen
Schule und Haus ist immer noch das einzige Mittel, das uns bleibt. Den Mangel
dieser Verbindung empfinden wir, zumal in der Großstadt, oft und tief. Welchem
Lehrer wäre es nicht begegnet, daß ihm bei irgendeiner charakteristischen Mit-
teilung über die häuslichen Verhältnisse eines Schülers der Gedanke durch das
Gewissen zuckte: Bei genauerer Kenntnis der Verhältnisse hättest du dem Schüler
manches ersparen können. Wenn wir nun den Eltern die — schriftliche — Nach-
richt von dem Mißerfolge des Sohnes noch früher zukommen ließen als dem
Schüler, so würden wir ihnen die Möglichkeit geben, auf ihren Sohn besänftigend
einzuwirken, wenn solche Einwirkung nach der Geartung des Schülers nottut.
Darum fort mit dem „Amtsgeheimnis"! Dieses Wort ist nirgend weniger am
Platze als im Leben der Schule. Nicht Lehrbeamte sollen und wollen wir sein, sondern
verständnisvolle Freunde der Jugend. Wenn der alte Brauch, „von dem der Bruch
mehr ehrt als die Befolgung", verschwunden sein wird, dann erst werden unsere
Schüler die Jahresschlußfeier mit innerer Sammlung, mit Andacht begehen können.
Berlin. M. Türk.
rt. Oüh^aüet tat Röifepirüfungsordnüng. 2§
Zur Reifeprüfungsordnung.
§ 4, 2 der Reifeprüfungsordnung vom 27. Oktober 1901 lautet bekanntlich
folgendermaßen: „Wenn ein Primaner die Anstalt wechselt, so entscheidet das
Königliche ProVinzial-Schülkollegium, ob ihm für die Meldung zur Reifeprüfung
das Halbjahr, in welches oder an dessen Schluß der Wechsel der Anstalt fällt, auf
die Lehrzeit der Prima anzurechnen ist " „Unzulässig ist die Anrechnung
in allen Fällen, in denen der Primaner im Disziplinarwege von der früher von ihm
besuchten Anstalt entfernt worden ist, oder sie verlassen hat, um sich einer Schul-
strafe zu entziehen."
Diese Bestimmungen, die ja schon vor 1901 gegolten haben, sind gewiß allen
Direktoren und Kollegien stets sehr willkommen gewesen. Es sei aber zur Er-
wägung gegeben, ob sie nicht vielleicht einen Zusatz vertragen könnten. Wir
sind alle einig, daß es pädagogisch ganz verkehrt wäre, einen Schüler, der für die
nächste Klasse voll reif ist, sitzen zu lassen, weil er sich eines Disziplinarvergehens
schuldig gemacht hat. Nichtversetzung darf unter keinen Umständen eine Dis-
ziplinarstrafe sein; einen Schüler in einer Klasse zurückbehalten, in der er nichts
mehr zu suchen hat, wäre geradezu pädagogischer Mord. Das braucht man vor
Fachgenossen nicht zu beweisen.
Nun ist es doch aber klar, daß, wie ein Oberprimaner, der nach zwei Jahren
die Reifeprüfung nicht besteht, eben in Ol „sitzen bleibt", so auch ein solcher,
der, selbst wenn er voll reif ist, eines früher begangenen Disziplinarvergehens
halber nach zwei Jahren zur Prüfung nicht zugelassen wird, in Ol „sitzen ge-
lassen" wird, obwohl er nach dem Urteil seiner Lehrer das Pensum der Klasse
voll beherrscht. Es setzt sich also ein solches Verfahren in direkten Widerspruch
mit dem oben ausgesprochenen pädagogischen Axiom. Man könnte ja sagen,
daß ein Primaner, auch wenn er reif ist, in einem fünften Prima-Semester immerhin
noch mancherlei lernen könne, mehr mindestens als das z. B. ein Quartaner oder
Sekundaner könnte, der trotz seiner unbedingten Reife nicht versetzt wäre. Immer-
hin aber wird sich für den betreffenden Oberprimaner ein guter Teil des Lehr-
stoffs lediglich wiederholen, er verliert ein halbes Jahr für seine Berufsaus-
bildung usw. Und wie niederdrückend für den Schüler, der vielleicht im Anfange
seiner Primazeit disziplinarisch entfernt worden ist, und der nun lange vorher weiß,
daß er, mag er tun, was er will, doch fünf Semester in Prima bleiben muß! Wir
wissen doch aber, daß manchmal die größten Schlingel gut begabt sind. Welcher
Ansporn dagegen wäre es gerade für einen solchen begabten Übeltäter, wenn
ihm gesagt werden könnte: wenn du dich gut führst und voll reif wirst, kann
dir vielleicht die Verlängerung der Primazeit schließlich doch noch erlassen
werden! Und also, um die Sache ganz kurz zu machen, vielleicht ließe sich zu
§ 4, 2 ein Zusatz etwa folgender Art machen:
„Nur wenn ein solcher Schüler auf der neuen Anstalt sich gut
geführt, und wenn er in der vorgeschriebenen Zeit von zwei Jahren
die volle Reife erlangt hat, kann er auf einstimmigen Antrag des
30 H. Guhrauer, Zur Reifeprüfung5ordnung.
Lehrerkollegiums ausnahmsweise schoq nach zwei Jahren zugelassen
werden. Voraussetzung für einen solchen Antrag aber ist, daß der
Schüler in mindestens einem Hauptfache die Zensur „gut" erhält, in
allen übrigen Prüfungsfächern aber Genügendes leistet."
Ich habe jetzt einen Oberprimaner, der nächste Ostern zweifellos reif sein
wird, aber auf Grund des § 4, 2 erst nächste Michaelis in die Prüfung eintreten
darf. Das hat mich darauf gebracht, die obige Anregung zu geben.
Wittenberg. H. Guhrauer.
II. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Neue österreichische Lehrbücher für den katholischen Religions-
unterricht.
Mit erstaunlichem Fleiße arbeiten die österreichischen Religionslehrer an ihren
Lehrbüchern weiter, und den in ihrer Art vorzüglichen — in der Monatschrift 1907,
S. 182 — 186 und 670—673 besprochenen — bisher erschienenen Werken schließen
sich bereits zwei neue wieder ebenbürtig an. Es sind dies:
1. Kraufi, Eduard, Lehr- und Lesebuch für den katholischen Religions-
unterricht in den oberen Klassen der Realschule und verwandter
Lehranstalten. Unter Mitwirkung des Vereins katholischer Religionslehrer an
den Mittelschulen Österreichs bearbeitet. Zweiter Teil: Sittenlehre mit Einschluß
der Lehre von den heihgen Sakramenten. Wien 1908. A. Pichlers Wwe. & Sohn.
172 S. 80. geb. 2,50 M.
Das neue Buch von Krauß ist das Gegenstück zu seiner Sittenlehre für die
oberen Klassen des Gymnasiums und verwandter Lehranstalten (vgl. diese Monat-
schrift 1907, S. 671); der Inhalt, die Anlage und Durchführung sind in beiden
Büchern durchgängig gleich, doch wird in allem auf die Eigenart der bezüglichen
Anstalten und ihrer Schüler die gebührende Rücksicht genommen. Das zeigt sich
besonders in den Definitionen, der Umschreibung von termini technici und in der
Wiedergabe der Lesestücke. Die Texte der Lesestücke sind für die Gymnasien
meistens in dem Original, also Griechisch und Latein, in dem für Realanstalten be-
stimmten Buche nur in deutscher Sprache wiedergegeben. Unser Gesamturteil
deckt sich mit dem in dieser Monatschrift, S. 671 angegebenen.
Ein Gedanke aber soll dem verdienten Herrn Verfasser und seinen getreuen
Gewährsmännern wenigstens näher gebracht werden. Die österreichischen Lehr-
bücher bringen manches schöne Beispiel und Zitat, und zwar sind die Zitate vor-
wiegend aus der neueren Literatur genommen; auch unsere Klassiker und ihre
Hauptwerke sind gebührend vertreten. Die im „ Lesebuche " angeführten Gedichte
gefallen weniger, sie sind in ihrer Art einfach, ansprechend, kindlich, aber sollten
sie deshalb nicht besser für die mittleren Stufen eines Profan-Lesebuches passen ?
Für Schüler der oberen Klassen läßt sich besseres und tieferes Material
holen. Zudem soll den Schülern der Realanstalten mit ihrem Französisch und
32 W. Capitaine, Neue österreichische Lehrbücher usw.
Englisch im Religionsunterrichte auch der Weg in die religiösen Partien der
ausländischen Dichtung erschlossen werden. Die französische Literatur ist stolz
auf ihre großen Kanzelredner (les grands orateurs de la chaire); sie hat die großen
Moralphilosophen (les moralistes), sie hat aus neuerer Zeit gute Autoren, die über
religiöse Fragen sprechen. Da ließe sich von Bossuet aus dem Discours sur l'histoire
universelle, aus seinen Oraisons funebres, von La Rochefoucauld und La Bruyere,
zumal aus des letzteren Caracteres, von Chateaubriand (G^nie du christianisme; Atala),
von Lamartine, aus dessen Oden, von Frangois Copp^e aus dessen „Rettendes Leiden"
u. a. vieles gar schön verwerten. Aus dem Englischen eignen sich manche Partien aus
Shakespeare, aus Milton u. a. vorzüglich für ein religiöses Lesebuch; vor allem sollte
hier Walter Scotts herrliches Marialied (Hymn to the Virgin in the Lady of the Lake
XXIX) nicht fehlen. An vielen Realanstalten ist Gelegenheit Spanisch oder Italienisch
zu lernen. Das katholische Bekenntnis der meisten Schriftsteller dieser Sprachen
läßt eine Benutzung ihrer Werke gerade für den Religionsunterricht äußerst
fruchtbar erscheinen. Die Werke Calderons und der h. Theresia bieten große Aus-
wahl; im Italienischen ist Dante geradezu unerschöpflich. Seine Auffassung von
Himmel, Hölle und Fegefeuer, seine Charakterisierung der „Schwachheits-" und
„ Bosheitssünden " und ihrer entsprechenden Strafen, seine Auffassung vom Schicksal
der Ungetauften und Heiden (Inf. IV.) ließe sich vorzüglich im Religionsunterricht ver-
wenden; warum sollte nicht in ein solches „Lesebuch" etwa die berühmte Überschrift
über dem Höllentor (Inf. III), die schöne Paraphrase des Vater-Unser (Parad. IX) oder
der gehaltreichste aller Gesänge aus der göttlichen Kommödie, der 33. Paradies-
gesang über die Gottanschauung, gegeben werden können I Zahlreiche Beispiele
bieten sich noch allenthalben in den genannten, wie in anderen Literaturen. Diese
Leistungen gehören zudem großenteils zur Weltliteratur, und ihre Verwertung
im Religionsunterrichte würde die Art und den Wert desselben wie auch die Kon-
zentration des Lehrstoffes bedeutend fördern. Eine eigene Frage wäre, ob die
gewünschten Partien im Originaltexte oder in Übersetzung gegeben werden sollten.
Referent befürwortet die Wiedergabe im Originaltexte; das regt Lehrer wie Schüler
gleicherweise zum Studium der neusprachlichen Literatur an und bietet Anregung
und Genuß, wie die beste Übersetzung es nicht zu geben vermag. (Vgl. des
Verfassers Ausführung über das Lehrbuch in der Abhandlung über den katholischen
Religionsunterricht in Teubners Handbuch für Lehrer höherer Schulen 1905, I,
S. 165, 166.)
2. Deimels „Biblisches Lehr- und Lesebuch der Geschichte der
göttlichen Offenbarung des Alten Bundes wurde Monatschrift 1907, S. 185,
186 besprochen. Das vorliegende Büchlein über das Neue Testament enthält
im ersten Teile, im „Lehrbuch", die Geschichte der göttlichen Offenbarung des
Neuen Bundes mit den Worten der Bibel. Jeder einzelnen Lektion geht aber eine
kurze Erklärung voraus, die die jeweilige Verbindung mit dem Alten Testamente
wie mit den vorhergehenden Ausführungen und auch die nötigsten geschichtlichen
und geographischen Anweisungen gibt. Bis S. 146 zur „Verherrlichung Christi"
läßt der Verfasser hauptsächlich die biblischen Berichte selbst sprechen; die weiteren
Ausführungen über »die Kirche Christi" geben die entsprechenden Berichte
größtenteils im Auszuge. (S. 158—168.) Das „Lesebuch" enthält „Biblische Geo»
H. Ziemer, Neuere Schulausgaben der lateinischen Klassiker und Beiwerk. 33
graphie-, (S. 170-184) und „Biblisch-petristische Chrestomathie" (S. 185—200).
Eine Anzahl meist guter Illustrationen erhöht die Anschaulichkeit des Lehr- und
Lesebuches; zwei Karten sind dem Buche vorausgeschickt.
Deimels Buch zeugt von emsiger Arbeit, regem pädagogischen Eifer und be-
kundet große Liebe zu Amt und Schule. Der „Verein katholischer Religionslehrer
an den Mittelschulen Österreichs* darf mit den bisherigen Erzeugnissen wohl zu-
frieden sein. Wenn Referent in manchen Punkten anderen Prinzipien folgt, ver-
mag er doch den einheitlichen und energischen Arbeiten der österreichischen
Religionslehrer, wie auch den vorzüglichen Einzelleistungen der Verfasser, seine
Anerkennung nicht zu versagen.
Eschweiler. Wilhelm Capitaine.
Neuere Schulausgaben der lateinischen Klassiker und Beiwerk.
Die Lebensfähigkeit der von M. Haupt und H. Sauppe begründeten und von
Gelehrten ihrer Zeit hergestellten Sammlung erweist sich immer aufs neue in den
vielfachen, mit den Fortschritten der Wissenschaft im Einklang sich haltenden
Auflagen, Manche Schriften dieser Sammlung haben im Laufe der Jahrzehnte
wohl ein Dutzend Auflagen erlebt und sind ganzen Geschlechtern segensreich ge-
wesen, allerdings mehr Studierenden und Lehrern, als Schülern. Man sollte die
Herausgeber nicht deswegen tadeln, daß sie in diesen Ausgaben auch der Schul-
schriftsteller weniger das Bedürfnis des Schülers im Auge haben. Höchstens denken
sie an reifere Schüler. Eigentlicher Schülerausgaben gibt es sonst genug. So tut
denn der Weidmannsche Verlag recht daran, daß er den Herausgebern freie Hand
läßt, und diese tun, wie es der Erfolg lehrt, recht daran, ihre Ausgaben auf einer
das Gymnasium überragenden Höhe zu halten. Dieser Sammlung gehören nun
zwei der hier folgenden Schriften an: die Ausgabe von Ciceros Brutus und von
Horaz' Episteln.
Zu Cicero. Otto Jahns wohlbekannte und geschätzte Ausgabe des Brutus
war in 4. Auflage völlig vergriffen. Auf Wunsch des Weidmannschen Verlages
übernahm die Bearbeitung der 5. Auflage W. Kroll, der ursprünglich nur Jahns
Ausgabe des Orator zu bearbeiten gedachte. Mit ihren 236 Seiten (Preis 3 M.)
ist sie umfangreicher als die vierte geworden, obwohl sich Kroll auf eine gründ-
liche Durchsicht beschränkte und in erster Reihe Verfehltes beseitigte, daneben
aber die Erklärung besonders nach der rhetorischen und sprachlichen Seite er-
gänzte und darauf verzichtete, auf dem Gebiete der Textkritik Lorbeem zu pflücken.
Im Kommentare, der den Text an Umfang weit übertrifft, begegnen wir kurzen
Inhaltsüberschriften und neben gelehrten sprachlichen Erklärungen auch manchem,
was ein Primaner von Rechts wegen wissen sollte. Kroll scheint also, obwohl
weder im Titel noch im Vorwort davon die Rede ist, anzunehmen, daß auch ein
Primaner diese Ausgabe benutzen könnte. Dem widerspricht aber die Fassung
der Einleitung und die ganze Haltung des Kommentars. In der Tat wird kein
Schüler zu dieser Ausgabe greifen, um so weniger, als ja zum Gebrauche in der
Prima vortreffliche Auswahlen aus allen rhetorischen Schriften Ciceros vorliegen:
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 3
34 H. Ziemer,
SO die von O. Weißenfels, W. Reeb, P. Verres und R. Thiele. Will man dem
Schüler ein Bild der römischen Beredsamkeit geben, wie sie in Ciceros Geiste
sich spiegelte, grundlegend in der Theorie in De oratore, geschichtlich betrachtet
im Brutus, der Selbstverteidigung Ciceros, ästhetisch in den idealen Zielen ge-
würdigt im Orator, so wird man doch niemals diese Schriften auf der Schule ganz
lesen können oder wollen, am ehesten noch De oratore, dessen Bücher sowohl um
des Gegenstandes willen als durch den Reichtum des Inhalts, auch durch Dar-
stellung und Sprache nicht bloß die übrigen rhetorischen Schriften Ciceros über-
ragen, sondern auch unter allen lateinischen Prosaschriften in dieser Beziehung
ihres Gleichen nicht haben. Vom Brutus wird man gut tun nur die Partien zu
lesen, die gleichsam die Nutzanwendung aus den De oratore festgestellten Regeln
ziehen. Noch weniger kommt der Orator in Betracht, dessen zweiter Teil von
§ 134 an überhaupt auszuschließen ist. Aber für alle Philologen, die sich auf
der Universität und in der Praxis weiter bilden wollen, ist das Studium des Brutus
unerläßlich wegen seines reichen literaturgeschichtlichen Inhalts, der treffenden
Charakteristik der hier behandelten Redner und in formeller Hinsicht wegen der
vorzüglichen Komposition und Sprache. Wir haben sogar schon öfters der Mei-
nung Ausdruck gegeben, daß diese rhetorische Prosa Ciceros in mancher Be-
ziehung der philosophischen noch vorzuziehen ist. Und für junge Philologen ist
die neue Krollsche Ausgabe, welche die verdienstvolle Arbeit Otto Jahns zeit-
gemäß umgestaltet, als sehr brauchbares Buch zu empfehlen.
Zu Ovid. Eine neue Ausgabe für den Schulgebrauch von Ovids Fasti,
Tristia, Epistulae ex Ponto in Auswahl, mit knappen Erläuterungen ver-
sehen, hat der Leipziger Paul Brandt im Verlage der Dieterichschen Buch-
handlung (Th. Weicher) in Leipzig (1908, VIII u. 148 S., geb. 1,80 M.) ver-
anstaltet. Er beklagt die Teilnahmlosigkeit der Untersekundaner bei der Lektüre
der Fasten und Tristien, derselben Schüler, die in der Olli die Metamorphosen
gern und mit Verständnis lasen. Er findet den Grund für dieses mangelnde
Interesse in dem Fehlen eines Kommentars zu diesen Partien, in dem Fehlen
einer passenden, für Schüler berechneten Ausgabe. Eine solche, die in den
Schulen einzuführen sei, die bisher den bloßen Text benutzten, legt Brandt nun
vor. Gibt es aber wirklich keine passenden Ausgaben? Wir könnten mehrere
nennen, so die auch bei uns sehr brauchbare Ausgabe des Wiener Philologen
J. GoUing, Ovid-Auswahl, die schon viele Auflagen erlebt hat und von uns als
für unsere norddeutschen Anstalten vorzüglich geeignet mehrfach empfohlen
worden ist. Sie hat in Österreich solchen Beifall gefunden, daß z. B. die im
Kommentare enthaltenen Bemerkungen „Über einige Eigentümlichkeiten der lateini-
schen Dichtersprache " in der neuen Ausgabe der österreichischen „Instruktionen"
einer empfehlenden Bemerkung gewürdigt wurden. Hier ist die Auswahl aus
Ovids sämtlichen Schriften so umfangreich, daß der Lehrer noch die Freiheit der
Wahl hat. Ferner nennen wir den II. Teil der Ovid-Auswahl von A. Tegge
(Berlin, Weidmann). Sie bringt aus den Fasten des Ovid, diesem für das religiöse
und politische wie für das Volksleben der Römer einzigen Werke, die in den
österreichischen „Instruktionen" empfohlenen Stücke, aus den übrigen elegischen
Dichtungen Ovids diejenigen Partien, welche in den Chrestomathien ständig zu
Neuere Schulausgaben der lateinischen Klassiker und Beiwerk. 35
finden sind, daneben einen sehr sorgfältig gearbeiteten Kommentar, der wie die
Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten alles irgendwie Wissenswerte enthält.
Unter den Chrestomathien nenne ich nur den vierten Teil der Ausgabe von
K. Jacoby mit gut ausgewählten Stücken aus den elegischen Dichtungen Ovids
mit Erklärungen, Ferd. Hoffmanns Auswahl aus römischen Dichtern in zwei Teilen
mit drei Stücken aus den Tristien, neun aus den Fasten, endlich die Chresto-
mathien von A. Biese, Römische Elegiker für den Schulgebrauch erklärt, und von
K. P. Schulze; hier fehlen allerdings die Fasten. Alle diese Ausgaben sind für
den Schüler berechnet; Brandt nennt sie nicht, sondern nur die Ausgabe Peters.
Sonach ist für Brandts neue Ausgabe im Grunde kein Bedürfnis vorhanden.
Sie enthält aber vielleicht manches, das als ein eigentümlicher Vorzug ihr eigen
ist. Auch das ist kaum zuzugestehen: die Stücke, 28 Abschnitte aus den Fasten —
Aus der griechisch-römischen Sage, aus der römischen Geschichte, aus dem römi-
schen Kultus — bieten zu viel Lesestoff, und dasselbe muß von den 33 Stücken
aus den Tristien und Pontusbriefen gesagt werden, dagegen ist der Kommentar
in Fußnoten viel zu knapp und dürftig zugeschnitten, wenige Übersetzungshilfen,
vereinzelte sachliche Bemerkungen und nur selten in ein paar Worten eine Ein-
leitung zu den einzelnen Gedichten — alles das reicht nicht aus, dem Schüler
die Lektüre zu erleichtern, ihm einen tieferen Einblick in die Kulturgeschichte
der ewigen Stadt und in die Mythologie zu verschaffen. Selbst der Zweck, den
Brandt allein im Auge hat, dem Schüler die häusliche Präparation zu erleichtern,
wird nicht voll erreicht. Somit bleibt dem Lehrer zuviel, ja fast alles überlassen,
und die Lektüre kann nicht schnell fortschreiten. Wir glauben also, daß der
Zweck dieser Ausgabe, die an sich kein Bedürfnis war, verfehlt worden ist.
Zu Virgil. Den V. und VI. Gesang von Virgils Äneide hat Ludwig
Hertel in deutsche Strophen übertragen (Arnstadt, Gimmerthalsche Buchhandlung,
1908, 122 S., 1,50 M.). Um die Gedankenwelt, die hier und da modern anmutet,
und den Gestaltenreichtum des römischen Epikers dem heutigen Leser nahe zu
bringen, wählt Hertel die durchaus passende gereimte Schillersche Stanze. Er hat
aber keine Übersetzung, sondern eine ganz freie Übertragung, mehr eine Nach-
dichtung geschaffen. Die gute und gewandte Formgebung, die edle und würdige
Diktion verrät Hertels Talent, aber sie fließt in zu breitem und flachem Bett da-
hin. Die Übersetzer dieser Art stehen dem antiken Muster gegenüber vor der
Alternative, entweder die antike Kürze durch zu engen Anschluß an das Original
nachzuahmen und so undeutlich zu werden, oder im anderen Falle durch Breite,
Dehnung und Weitung der Vorlage sich von ihr zu verlieren und die markige
Prägnanz zu verwässern. Letzterer Gefahr ist Hertel nicht ganz entgangen: die
edle Gedrungenheit und kunstvolle Plastik des Originals geht nur zu oft in der
allzu glatt und breit dahinfließenden Diktion verloren. So gebraucht er für An. VI,
645—655 volle 28 Zeilen, die sich zwar sehr schön lesen, aber durch Breitspinnen
des Stoffes vom Muster sich zu weit entfernen. Will Hertel die Arbeit fortsetzen,
die sonst nahe an Schillers Übertragungskunst heranreicht, so möchten wir ihm
doch empfehlen, kürzere Fassung anzustreben. Eine solche findet er bei E. Irm-
scher, der in den Programmen der Zeidlerschen Realschule in Dresden 1888 und
folgende Jahre die einzelnen Bücher der Äneis gleichfalls in freien Stanzen leicht
36 H. Ziemer, Neuere Schulausgaben der lateinischen Klassiker und Beiwerk.
und glatt und mit wachsender Kraft von Jahr zu Jahr und von Gesang zu Gesang
lesbarer und geschmackvoller übertragen hat, wenngleich man auch bei ihm ge-
legentlich zu viel Pathos und manche subjektive Freiheit in Kauf nehmen muß.
Zu Horaz. Q. Horatius Flaccus. Erklärt von Adolf Kießling.
Dritter Teil: Briefe. Dritte Auflage besorgt von Richard Heinze (Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung, 1908, 363 S., 3,60 M.). Kießlings Ausgabe der
Briefe erschien zuerst 1889; die folgende Auflage besorgte R. Heinze im Jahre
1898; nun ist ihr zehn Jahre später die 3. Auflage gefolgt. Heinzes Zusätze in
der 2. Auflage vermehrten das Buch um 18 Seiten ; er verhielt sich hier noch
möglichst schonend und zurückhaltend, sonst hätte er manche keck hingeworfene
und geistreiche, aber nicht gerade haltbare Bemerkung Kießlings wohl geopfert.
Den Text behandelte er schon damals wie auch nun in der 3. Auflage freier; aber
in dieser neuesten Bearbeitung weicht er doch, so sehr er in allem Grundsätz-
lichen mit Kießling in Übereinstimmung sich befindet, in Einzeldingen so weit
ab und bringt so viel neue Zusätze im Kommentar, daß diese neue Auflage gegen
die zweite um volle 51 Seiten gewachsen ist. Fast jede Seite verrät diesen Zu-
wachs; so ist die Einleitung zu Ep. I, 1 von 54 auf 68 Zeilen gewachsen. Manche
Bemerkung ist fallen gelassen, manches erscheint in geänderter Fassung, sei es,
daß Heinze selbst anderen Sinnes wurde, sei es, daß die Forschung in der zehn-
jährigen Zwischenzeit andere Einsicht schuf. Dem Lehrer wird der gelehrte, auf
der Höhe der Wissenschaft einherschreitende Kommentar gute Dienste leisten.
Er zeigt aber auch, daß trotz der ungeheuren Ausdehnung der Horazliteratur
gerade für die Episteln noch manches zu tun übrig bleibt.
Zu Cäsar. Raimund Oehlers Bilder-Atlas zu Cäsars Büchern de
hello Gallico, unter eingehender Berücksichtigung der commentarii de hello
civili mit mehr als 100 Abbildungen und 11 Karten ist in zweiter verbesserter
und vermehrter Auflage erschienen (Leipzig, Schmidt und Günther, 1907, VIII u.
91 S. Text, XXXVIII S. Karten, brosch. 2,85 M., geb. 4 M.). Nachdem 11 Jahre
seit der 1. Auflage des Bilderatlas verflossen waren, eine Zeit der wichtigsten
Entdeckungen auf dem Gebiete der Cäsarforschung, war der Verfasser gewissen-
haft bemüht, die Ergebnisse für die Schule nutzbar zu machen, und so ist denn
der Text, die Darstellung des römischen Kriegswesens bei Cäsar (Heer und Flotte,
als Anhang Tracht und Bewaffnung der Gallier, dann die Erklärung der Ab-
bildungen) gegen die 1. Auflage um 13 Seiten gewachsen; die Abbildungen
wurden um 20, die Karten um 4 vermehrt. Wahriich, eine Fülle des Anschauungs-
materials und doch eine maßvolle Auswahl, die so recht dem Schulzweck dient,
aber auch dem Lehrer und Fachmann noch lehrreich ist. Jede Seite des Textes
lehrt, daß die schier unübersehbaren Ergebnisse der Cäsarforschung, ein gewaltiger
Stoff, in tadelloser Form zu einem einheitlichen, übersichtlichen Bilde verarbeitet
worden sind, alles in allem eine wissenschaftlich gesicherte, mustergültige Dar-
stellung. Eins ist bemerkenswert: Verfasser zeigt S. 65, daß die Literatur über
Cäsars Rheinbrücke im Verhältnis zu ihrem gewaltigen Umfange bisher nur sehr
wenig gesicherte Ergebnisse aufzuweisen hat. Besonders eingehend sind die
Karten Helvetiorum clades, nach ihrem ganzen Veriaufe, und Ariovisti clades er-
klärt worden. Und noch etwas ist interessant: principes, hastati und triarii werden
W. Scheel, Heer-, Flotten- und Kolonialliteratur für die Schule. 37
nicht übel mit unseren Füsilieren, Musketieren, Grenadieren verglichen. Wurde
schon die erste Auflage mit warmer Anerkennung der Leistung begrüßt und fand
sie wohl in die meisten höheren Schulen wenigstens in einem Exemplare Ein-
gang, so verdient es noch mehr diese neue Bearbeitung, welche sicherlich eine
Reihe von Jahren vorhalten wird, wie sehr man es auch wünschen muß, daß ein
so vortreffliches Werk im Einklang mit dem Fortschritt der Wissenschaft sich von
Zeit zu Zeit verjüngt.
Kolberg. H. Ziemer.
Heer-, Flotten- und Kolonialliteratur für die Schule.
Je zahlreicher die Erscheinungen auf dem Gebiete der Heeres-, Flotten- und
Kolonialliteratur werden, um so mehr ist es geboten, für die Schule und die Bedürf-
nisse ihrer Bibliotheken Passendes vom Unpassenden zu scheiden. Ich versuche
im folgenden eine Zusammenstellung von Werken zu geben, die ich als empfehlens-
werten Bestand von Schulbibliotheken bezeichnen kann.*)
Entsprechend dem Interesse, das unsere Kolonien in weitesten Kreisen des
Volkes und nicht zuletzt im Herzen unserer Jugend erwecken, sind die kolonialen
Werke am zahlreichsten vertreten. Seitdem auf der Königsberger Tagung der
Deutschen Kolonialgesellschaft von 1906 der Gedanke von neuem Ausdruck ge-
funden hatte, koloniales Interesse in die Schule zu tragen, sind nicht weniger als
drei koloniale Lesebücher erschienen. Das erste hat den Referenten selbst zum
Verfasser; es entzieht sich daher hier näherer Besprechung.**) Bald darauf gab die
Deutsche Kolonialgesellschaft Bilder aus den deutschen Kolonien heraus;***)
die kurzen, wohl für Mittelklassen berechneten Abschnitte geben etwa in der Art,
wie A. Seidels Koloniales Lesebuch 1902 eine Zusammenstellung belehrender,
bildender und auch unterhaltender Stoffe aus unseren Kolonien in reicher Fülle.
Die einzelnen Kapitel sind z. T. recht energisch umgearbeitet, und mit Recht.
Denn nur auf diesem Wege konnte bei dem ungleichartigen Material, das aus
fachwissenschaftlichen Werken ersten Ranges und daneben aus Tageszeitungen und
Missionsblättern schöpft, wenigstens eine gewisse Harmonie erreicht werden. Leider
fehlt jeglicher Bilderschmuck.
Noch ein drittes Werk bezeichnet sich als Koloniales Lesebuch; doch unter-
scheidet sich dies Buch des Generals v. Lignit zf) insofern von den vorigen,
als es keine Sammlung von kolonialen Lesestücken bietet, sondern einen selb-
*) Vgl. diese Monatschrift, Bd. VI (1907), S. 186—189.
**) W. Scheel, Deutsche Kolonien. Koloniales Lesebuch zur Einführung in die
Kenntnis von Deutschlands Kolonien und ihrer Bedeutung für das Mutterland. Berlin 1907.
C. A. Schwetschke u. Sohn. VIII u. 226 S. 8». geh. 2,80 M.
***) Bilder aus den deutschen Kolonien. Lesestücke gesammelt und bearbeitet von der
Deutschen Kolonialgesellschaft. Essen 1908. G. D. Baedeker. 187 S. 8». geb. 1 M.
t) v. Lignitz, General d. Inf. z. D., Chef des Füsilier-Regiments v. Steinmetz, Die
deutschen Kolonien, ein Teil des deutschen Vaterlandes. Koloniales Lesebuch für Schule
und Haus. Berlin 1908. Vossische Buchhandlung. 148 S. 8«. geh. 2,50 M.
äg W. Scheel,
ständigen Text zeigt, der auf guten, auch amtlichen Quellen beruhend, einen höchst
instruktiven Überblick über die Kolonien gewährt. Der Verfasser, der auch sonst
als Kolonialschriftsteller in seinem Buche „Produktion, Handel und Besiedelungs-
fähigkeit der deutschen Kolonien" (Berlin 1908) vorteilhaft hervortrat, gibt be-
sonders nach der wirtschaftlichen und politischen Seite hin interessante Zusammen-
stellungen, die durch Anlagen, Karten und zahlreiche Abbildungen Leben gewinnen.
Rühmend zu erwähnen ist auch der übersichtliche Geschichtskalender der deutschen
Kolonien.
Ähnlich ist das Büchlein von Schnee*) angelegt, das ebenfalls auf amtlichem
Material fußend, in gefälliger Darstellung eine gediegene Übersicht über unsere
Kolonien nach geographischer, wie handelspolitischer Richtung für ein größeres
Publikum bietet, die auch für Schulen empfohlen werden kann.
Die Geschichte der Kolonien und der Kolonisation überhaupt hat in Dietrich
Schäfer den berufensten Vertreter gefunden, der seine „Kolonialgeschichte"**)
in der Sammlung Göschen 156 in zweiter Auflage revidiert und bis auf die Gegen-
wart fortgeführt hat. So klein das Büchlein ist, so umfassende Blicke bietet es
in die Geschichte der inneren wie äußeren Kolonisation seit den ältesten Zeiten.
Die Schule kann es nur mit Freude und Genugtuung begrüßen, wenn fachwissen-
schaftliche Größen mehr und mehr beginnen, die Früchte ihrer Forschung auch
weiteren Kreisen, besonders dem nachwachsenden Geschlecht mitzuteilen.
Neben den allgemeineren Übersichten stehen Veröffentlichungen über einzelne
deutsche Kolonien. Im Vordergrund des Interesses steht auch hier die Unterdrückung
des großen Aufstandes in Deutsch-Südwest-Afrika. Das bereits im VI. Jahrgang
(S. 187) rühmlichst genannte Generalstabswerk über die Kämpfe unserer
Truppen***) ist nunmehr vollendet. Der vorliegende zweite Band behandelt den
an den Hereroaufstand anschließenden Hottentottenkrieg, die schwierigen und
blutigen Kämpfe gegen Hendrik Witboi und Morenga. Erhalten wir hiermit eine
Darstellung, die streng kriegswissenschaftliche Form mit gefälliger Popularität ver-
eint, so stellen sich die Reiterbriefe f) aus Südwest als zwangslose Berichte von
Selbsterlebnissen dar, die im ganzen mehr für Soldatenbibliotheken passen dürften,
doch durch die ehrliche Begeisterung für die Sache vielleicht auch unsere Schüler
mitreißen können. Die Abbildungen stehen nicht auf der Höhe.
Mit den Verhältnissen von Deutsch-Südwest beschäftigen sich drei lesenswerte
Aufsätze von Margarete von Eckenbrecher, Helene von Falkenhausen und Ober-
*) Heinr. Schnee, Wirkl. Legationsrat u. vortr. Rat im Reichskolonialamt, Unsere
Kolonien. „Wissenschaft und Bildung." Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens,
herausgegeben von P. Herre. Nr. 57. Leipzig 1908. Quelle u. Meyer. 188 S. 8». geb.
1,25 M.
**) Dietr. Schäfer, Kolonialgeschichte. Leipzig 1906. Göschen. Nr. 156. 151 S.
kl. 8«. geb. 0,80 M.
***) Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika. Auf Grund amtlichen Ma-
terials bearbeitet von der Kriegsgeschichtlichen Abteilung I des Großen Generalstabes.
2. Band: Der Hottentottenkrieg. Berlin 1907. E. S. Mittler u. Sohn. 349 S. 8». geb. 2,25 M.
t) Deutsche Reiter in Südwest. Selbsterlebnisse aus den Kämpfen in Deutsch-Süd-
westafrika. Nach persönlichen Berichten bearbeitet von Fr. Freiherrn von Dincklage-
Campe. Beriin 1908. Bong & Co. 20 Lieferungen ä 0,60 M. Mir lag Lieferung 1—9 vor.
Heer-, Flotten-, und Kolonialliteratur für die Schule. 39
leutnant Stuhlmann im fünften Bande des bekannten Werkes „Auf weiter Fahrt"*),
der auch als ganzes durch Ton und Art seiner Darbietungen wie seine Vorgänger
zu dem eisernen Bestand jeder Klassenbibliothek der Mittelstufe gehören sollte.
Nach Deutsch-Ostafrika führt uns neben anderen Werken die frische, reizvoll
geschriebene Schilderung des Oberleutnants Hans Paasche ,Im Morgenlicht",**)
eine Art Tagebuch aus den Aufstandszeiten von 1905, das in gefälliger Weise
Jagdabenteuer mit mannigfachen kulturhistorisch, wie völkerpsychologisch wichtigen
Bemerkungen zu verquicken weiß. Es ist als Lektüre für Schüler, auch schon der
Mittelstufe warm zu empfehlen. Wer bereits auf der Schule intimere Blicke in die
Wichtigkeit dieser größten deutschen Kolonie und ihre wirtschaftliche Bedeutung
tun will, müßte allerdings zu dem Werke von Hermann Paasche,***) dem
Vizepräsidenten des deutschen Reichstags greifen, das hier nur erwähnt werden kann.
Für die Flotte und die Seeinteressen des Reiches bildet das Kgl. Institut
für Meereskunde durch seine Veröffentlichungen einen literarischen Mittelpunkt.
Die im Vortragssaal mit Lichtbildern gehaltenen Vorträge für ein größeres Publikum
erscheinen als zwanglose Folge von kleinen Heften f), die die Zierde jeder
Schulbibliothek bilden würden. Um einen Begriff von der Reichhaltigkeit dieser
Darbietungen zu geben, setze ich einige der behandelten Themen hierher, die für
Schüler der Oberklassen besondere Anregungen bieten dürften: Konteradmiral
Holzhauer handelt über Unterseeboote, Fr. Bidlingmaier über den Kompaß
in seiner Bedeutung für die Seeschiffahrt wie für unser Wissen von der Erde,
W. Stahlberg über den Betrieb des Hamburger Hafens, W. Vogel über nordische
Seefahrten im frühen Mittelalter, P. Dinse über die Anfänge der Nordpolarfor-
schung, G. W. von Zahn über den Dienst auf der Kommandobrücke bei einer
Ozeanfahrt; der Historiker der Marine, Geheimer Admiralitätsrat Koch, dessen
Geschichte der deutschen Marine ff) bereits in 2. Auflage vorliegt, spricht über
40 Jahre Schwarz-Weiß-Rot u. v. a. Mit weiten historischen Ausblicken behandelt
von Halleftt) als eine Fortsetzung der Gedanken des Amerikaners A. G. Mahan
in dem Werke über den Einfluß der Seemacht auf die Geschichte zwischen
1688 und 1815, der noch nichts von deutscher Seegeschichte zu berichten hatte,
die Frage der Seemacht in der deutschen Geschichte.
Als Lektüre für untere und mittlere Klassen eignen sich die billigen Bändchen
*) Auf weiter Fahrt. Selbsterlebnisse zu Wasser und zu Lande. Deutsche Marlne-
und Kolonialbibliothek, begründet von J. Lohmeyer, fortgeführt von G. Wislicenus.
V. Bd. Leipzig 1907. Wilhelm Weicher. XXIII, 298 S. u. 28 Abbildgn. 8 •. geb. 4,50 M.
**) Hans Paasche, Im Morgenlicht. Kriegs-, Jagd- und Reise-Erlebnisse in Ostafrika.
3. Aufl. Berlin 1907. C A. Schwetschke u. Sohn. 376 S. 8». geh. 10 M,
***) Hermann Paasche, Deutsch-Ostafrika. Wirtschaftlich dargestellt. Berlin 1906.
C. A. Schwetschke u. Sohn. IV u. 430 S. 8». geh. 8 M.
t) Meereskunde. Sammlung volkstümlicher Vorträge zum Verständnis der nationalen
Bedeutung von Meer und Seewesen. Berlin, E. S. Mittler u. Sohn. 1. Jahrgang 1907,
2. Jahrgang 1908, je 12 Hefte ä 0,50 M., mit zahlreichen Abbildungen.
tt) Paul Koch, Geschichte der deutschen Marine. 2. Aufl. Berlin 1906. E.S.Mittler
und Sohn. X u. 169 S. 8«. 3 M.
ttt) E. von Halle, Die Seemacht in der deutschen Geschichte. Leipzig 1907.
G. J. Göschen. No. 370. 0,80 M.
40 Moral Instruction and Training in Schools,
der deutschen Seebücherei*), deren 11. Band über den Prinzen Adalbert von
Preußen und die Begründung der neuen deutschen Flotte mir vorliegt. Über das
Kriegsmarinewesen unterrichtet in populärer Weise C. Lengning, Navigations-
lehrer in Hamburg**).
Auch auf dem Gebiete der Heeresgeschichte sind schließlich einige Werke zu
nennen, die für die Schule in Betracht kommen und dem Geschichtsunterricht
auf der Oberstufe gute Dienste zu leisten vermögen.
Die Lebensbeschreibung Moltkes von Max Jähns*^*) liegt in zweiter Auflage
vor. Sie ist von dem ehemaligen Chef des Generalstabes der Armee, dem Grafen von
Schlieffen, in dem Nachruf auf den inzwischen verstorbenen Verfasser eine glänzend
geschriebene Biographie genannt worden und hat ihren Wert für die Schule beson-
ders in der umfänglichen Heranziehung des Brief- und Redenmaterials, das sonst
dem Primaner leider ferner bleibt. Derselbe Grund läßt auch die Darstellung des
deutsch-französischen Krieges von 1870-71 von Friedr. Regensberg f) für
reifere Schüler als lesenswert bezeichnen. Leichtere Lektüre aus der großen
Zeit sind Chr. Roggesff) Franctireurfahrten.
Steglitz. Willy Scheel.
b) Einzelbesprechungen:
Moral Instruction and Training in Schools. Report of an International Inquiry.
In two Volumes. Vol. I: The United Kingdom, Vol. II: Foreign and Colonial.
Edited, on behalf of the Committee, by Sadler, M. E., Professor of the History
and Administration of Education in the University of Manchester. Longmans,
Green, and Co. London, New York, Bombay, and Calcutta, 1908. XLIX u.
538, XXVII u. 378 S. 8«.
Papers on Moral Instruction, communicated to the First International Moral
Education Congress, held at the University of London, September 25. — 29, 1908.
Edited by Spiller, Gustav, Hon. General Secretary of the Congress. Published
for the Congress Executive Committee. London, David Nutt, 1908. XXX und
404 S. gr. 80.
Verwunderung hat es bei nicht wenigen erregt und mag es noch weiterhin
erregen, welch gewaltiger literarischer Apparat aufgeboten worden ist, um eine
*) Deutsche Seebücherei. Erzählungen aus dem Leben des deutschen Volkes zur
See. Für Jugend und Volk herausgegeben von J. W. Otto Richter (Otto von Golmen).
1906 ff. Altenburg, St. Geibel. 1 u. 2 M.
**) C. Lengning, Unser Kriegsmarinewesen. Mit 70 Illustrationen. Stuttgart o. J.
E. H. Moritz. Bibliothek der Rechts- und Staatskunde. Bd. 17. geb. 1,50 M.
***) Oberstleutnant Dr. M. Jahns, Feldmarschall Moltke. 2. Auflage. Berlin 1906.
E. Hofmann & Co. 715 S. 8». geh. 7,20 M.
t) Friedr. Regensberg, 1870—71. Der deutsch-französische Krieg. Nach den
neuesten Quellen dargestellt. Bisher 2 Bände. Stuttgart, o. J. Franckhsche Verlagsbuch-
handlung, W. Keller & Co. 7,50 M.
tt) Chr. Rogge, Franktireurfahrten und andere Kriegserlebnisse in Frankreich. Kultur-
bilder aus dem Kriege 1870—71. Berlin 1907. C. A. Schwetschke u. Sohn. 162 S. 8».
2,50 M.
angez. von W. Münch. 41
einzelne pädagogische Frage zu erörtern, nämlich die nach Berechtigung und Ge-
staltung eines Moralunterrichts in den Schulen. Und um es sogleich zu sagen,
auch der internationale Kongreß selbst, dem die zwei erstgenannten Bände zur
Vorbereitung und der Inhalt des letzten zur Unterlage für seine Verhandlungen
dienten, war auf gewaltige Maße berechnet und hat sich in solchen Maßen wirk-
lich abgespielt. Es waren 20—25 verschiedene Nationen, von Portugal bis Japan
und von Finnland bis Mexiko, nicht bloß irgendwie vertreten, sondern durch
große Teilnehmerzahlen oder durch ausgezeichnete Persönlichkeiten (ich nenne als
einziges Beispiel den französischen Philosophen Boutroux) oder durch beides zu-
sammen vertreten, und die Gesamtzahl muß zwischen 1000 und 1600 betragen
haben. Aber hinter den zu den Verhandlungen persönlich Erschienenen standen
außerdem zahlreiche und großenteils bedeutende Namen von solchen, die sich
für die Organisation interessiert oder auch schriftstellerische Beiträge geliefert
hatten, und die aufgeführten Mitglieder der verschiedenen, weiteren und engeren
Ausschüsse bilden ganze Heerscharen. Dies alles also, um jene einzige Frage zu
lösen oder gar nur zu erörtern, die vielleicht eine Lösung von allgemeinerer
Gühigkeit überhaupt ausschließt? War nicht vielleicht das tatsächliche Ziel, durch
Ansturm einer überwältigenden Stimmenmenge dem Moralunterricht als solchem
mit einem Male den Raum in den Schullehrplänen der Welt zu erobern, den der
Religionsunterricht, wenigstens noch in den meisten Ländern, bis jetzt einnimmt?
Auf diesen Gedanken konnte man kommen, und bei einem Teil der Ver-
anstalter oder der in irgendeiner Form Mitwirkenden ist er auch vorhanden ge-
wesen. Bei einem gewissen, sehr ansehnlichen Teil brauchte damit gar kein
neues Ziel aufgestellt zu werden: in manchen Ländern ist der Gedanke ja längst
durchgeführt, und diesen konnte nun nur daran liegen, ihn nicht bloß gegen
anders Denkende zu rechtfertigen, sondern womöglich auch seine weitere An-
nahme und Verwirklichung durchzusetzen. In diesem Sinne betätigten sich nament-
lich die Franzosen, und manche Anzeichen deuteten darauf hin, daß die politische
entente cordiale zwischen England und Frankreich Anregung gegeben hatte, sich
auch innerlich immer völliger zu verstehen, zu verständigen, womöglich anzu-
gleichen oder zu verschmelzen. (Steht doch im Dienste dieser selbigen Idee
z. B. auch das ziemlich neue Buch der französischen Schriftstellerin „Pierre de
Coulevain" L'ile inconnue.) Die schriftstellerisch ausgeführten Gedanken darüber
ergaben aber, ebenso wie die mündlichen Verhandlungen, aufs lebendigste die
tiefe Verschiedenheit der französischen und der englischen Volksseele, und wenn
man gegen einander immer möglichst billig und willig, höflich und selbst herz-
lich blieb, so hörte jene Wesensverschiedenheit doch nicht auf, entscheidend zu
wirken. Die übrigen Nationen hielten sich mehr dem einen oder dem andern
Standpunkt nahe, sie nahmen auch im ganzen einen weniger breiten Anteil. Warum
eine solche verhältnismäßige Zurückhaltung auch von uns Deutschen gilt, das
auszuführen wäre wohl nicht uninteressant, hier aber ist nicht der Raum dazu.
Immerhin ging das Zugeständnis von der englischen Seite so weit, daß eine plan-
mäßige und zusammenhängende Unterweisung über sittliche Dinge, sei es nun
im Anschluß an religiösen Unterricht und religiöses Leben, sei es neben dem
ersteren, nicht bloß von nicht wenigen englischen Seiten für etwas Wünschens-
42 Moral Instruction and Training in Schools,
wertes erklärt, sondern vielfach als schon versucht und eingeführt geschildert
wurde. Natürlich in verschiedener Art und Auffassung.
Bei den besten und einsichtsvollsten Pädagogen des Landes erklärt sich das
Interesse dafür aus einem besonderen Gesichtspunkt. Gegenüber der kontinentalen,
namentlich auch deutschen Einrichtung der Schulerziehung, die ganz wesentlich
durch Unterricht und damit sich verbindende Disziplin erfolgen soll, legt man be-
kanntlich in England auf den erziehenden Einfluß eines nach allen Seiten gesund
ausgestalteten Schullebens den größten Wert und hat in dieser Hinsicht ja auch
bedeutende Erfolge weithin aufzuweisen. Aber die Anschauung, daß durch rechte
Kameradschaft und tüchtige Leibesübungen, durch allerlei Abhärtung und Ein-
gewöhnung nebst frühzeitiger Selbstverwaltung, durch den anständigen allgemeinen
Geist der Lebenssphäre schon die rechte, die wünschenswerte und wertvolle
Willensbildung geleistet werde, befriedigt seit kurzem eben die besten der über
Erziehung Nachdenkenden nicht mehr. Sie fühlen, daß es neben und über jenem
doch gilt, dem Willen hohe Ziele zu stecken, diese Ziele als Lebensideale dem
Bewußtsein einzupflanzen und damit erst die Individuen als solche recht zu be-
leben, anstatt sie nur der allgemeinen Bewegungsrichtung anzugleichen; es soll
nicht bloß ein kräftiges persönliches Wollen, sondern auch ein reiches soziales
und ideales Wollen entwickelt werden, und das rechte Maß von Reflexion, von
bewußtem innerem Leben gehört dazu. Man ist in England sehr ernstlich darauf
bedacht, die Schranken der nationalen Pädagogik zu erkennen und zu über-
winden, und daß man dabei vom Kontinent, von Deutschland vielleicht noch mehr
als von Frankreich, Wichtiges zu übernehmen habe, weiß man sehr wohl. Hat
doch der Herausgeber der zwei hier in Rede stehenden Bände, der denn auch als
Präsident den Kongreß geleitet hat, der gegenwärtig hervorragendste englische
Vertreter der Pädagogik, Professor M. E. Sadler, schon vor mehreren Jahren der
Vergleichung englischer und deutscher Erziehung einen mächtigen Band gewidmet,
in dem nach gerechter Abwägung überall gestrebt ist.
Dürfen wir von uns sagen, daß wir in ähnlicher Weise bemüht seien, der ge-
samten Bewegung des pädagogischen Denkens und Suchens im Ausland zu
folgen? Die Gefahr, wesentlich nur die Einzelfragen der Didaktik und Methodik
innerhalb der vorhandenen Organisation zu sehen und für die größeren Probleme
nicht recht wach zu werden oder geworden zu sein, besteht bei uns jedenfalls in
erheblichem Umfang. Daß uns seit vielen Jahrzehnten überhaupt die Fragen des
Unterrichts durchaus im Vordergrund stehen, unterscheidet uns sehr von den
englisch-amerikanischen Pädagogen, deren Interesse vorwiegend der Erziehung im
engeren Sinne, der Charakterbildung, gilt. So sind ja auch, obwohl die Anhänger
Herbarts dessen Zielbestimmung als „Charakterstücke der Sittlichkeit" mit mäßiger
Modifikation immer zu der ihrigen gemacht haben, gerade seine Gedanken über
das, was jenseits des Unterrichts und der Disziplin liegt, die von ihm so ge-
nannte Zucht, am wenigsten ausgenutzt oder ausgebeutet worden. Und es vollzieht
sich denn gegenwärtig die pädagogische Bewegung in Deutschland teils als eine
wesentlich nur ausbauende und teils als eine wesentlich umstürzende, oder
zwischen Fachleuten mit ruhigem Gewissen und Laien voll gereizter Stimmung.
In den zwei Bänden Moral Instruction and Training in Schools, also über
angez. von W. Münch. 43
Moral Unterricht und Schulerziehung, zusammen mit dem Band der Referate für
den Kongreß kommt eine Zahl von mehr als 150 Stimmen aus den verschiedensten
Ländern, doch allerdings mit überwiegender Beteiligung englischer, zum Gehör,
die fast alle positives Suchen vielmehr denn bloße Kritik oder bloße Apologie
verraten. Man will — das ist der vorwiegende Eindruck — treulich miteinander
aufbauen, will an der Lösung der niemals erledigten Frage mitarbeiten, die das
tatsächliche Programm der ganzen Veranstaltung geworden ist, die sich weit über
die ursprüngliche, einfache Frage erhebt und etwa so zu fassen ist: An welchen
Punkten und durch welche Mittel kann Richtigeres und Vollständigeres als seit-
her geschehen, um den zu Erziehenden eine wahrhaft sittliche und als solche
fruchtbare Gesinnung einzuflößen? Diese Erweiterung und Vertiefung der ursprüng-
lichen Frage ist Professor Sadlers Verdienst. Es ist die Frage geworden, auf die
nun ein Chor nicht bloß international gemischter, sondern auch sonst mannig-
faltiger Stimmen antwortete: anglikanische Bischöfe und sonstige protestantische
Geistliche, Jesuiten und andere römische Kleriker, Bibelgläubige und moderne
Religionspsychologen, Universitätsprofessoren für Philosophie und für Pädagogik,
Direktoren und Lehrer von vornehmen höheren und von schlichten Volksschulen
oder von Lehrerbildungsanstalten, Vorstände von mancherlei Gesellschaften, Männer
und Frauen, Politiker und Philanthropen, Idealisten und Empiristen. „Und alle
doch ein großes Brudervolk" hätte man beinahe mit unseres Uhland Worten sagen
können, denn die Gemüter fanden sich eben zusammen auf dem gleichen Wege
des Suchens. Niemand wollte fertig sein, niemand Unbedingtes geben, aber jeder
sein Bestes.
Und so ist denn das Gesamtproblem von allen möglichen Seiten beleuchtet,
und während selbstverständlich manches sich mehrfach wiederholt, findet sich doch
in den gedrängten Beiträgen eine Fülle von anregenden, auch von bedeutenden
Gedanken. Eine Blütenlese daraus zusammenzustellen und hier darzubieten, wäre
dem Unterzeichneten eine Freude. Aber gegenwärtig erlaubt es der Raum nicht.
Es wäre leichter, ein kleines Buch daraus zu machen, als nur einen kurzen Auf-
satz. Wollte ein strebsamer junger Pädagog sich einer einigermaßen vollständigen
Berichterstattung unterziehen, so könnte man's ihm danken. Es könnte ein wert-
voller Spiegel werden zur Prüfung unserer eigenen pädagogischen Bestrebungen.
Der englischen Sprache freilich muß der Beurteiler nicht etwa bloß in äußerlichem,
sondern in eindringendem Maße mächtig sein, nur dann vermag er hier wirklich
zu lesen und wiederzugeben. Aber man kann sich ja überhaupt der Erkenntnis
immer weniger verschließen, daß zu verständnisvoller Teilnahme an dem wissen-
schaftlichen Leben der Gegenwart die Kenntnis der englischen Sprache nicht
mehr zu entbehren ist.
Darf ich übrigens an dieser Stelle über die zum Ausgang genommene Frage
der planmäßigen ethischen Unterweisung in unsern deutschen höheren Schulen
hier eine eigene Meinung andeuten, so bin ich seit lange der Ansicht, daß L der
Religionsunterricht namentlich auf der Oberstufe in zusammenhängende und ein-
dringende ethische Erörterungen, auch von praktischem und aktuellem Charakter,
ausmünden sollte, wofür der Raum dem sonst üblichen Stoff dieser Stunden ge-
trost zu entziehen wäre, daß 2. die zunächst zu formaler Geistesübung bestimmte
44 Festschrift zur 49. Versammlung deutscher Philologen usw.,
Besprechung von Aufsatzthemen (auch nicht auszuführenden) das ethische Gebiet
in fruchtbarer Weise mit einbeziehen kann und möge, daß 3. allerdings alle wirk-
samsten ethischen Anregungen vielmehr gelegentHch als innerhalb eines planvollen
Zusammenhanges zu erfolgen pflegen und das Wichtigste also nicht dem fachlich
Berufenen, sondern dem im ethischen Sinn Bedeutendsten zufällt, daß 4. doch die
bisher erst teilweise durchgeführte Unterweisung über die bestimmten bürger-
lichen Verpflichtungen in vollständiger Weise an allen Schulen verwirklicht
werden sollte.
Um auf die vorliegenden englischen Bände zurückzukommen, so glaube ich
deren Empfehlung den hohen Unterrichtsbehörden vorschlagen zu dürfen und rate
ihre Anschaffung den einzelnen Schulbibliotheken an. In der Zeit, wo die pein-
liche Empfindung einer politischen Isolierung Deutschlands so leicht über uns
kommt, dürfen wir eine geistige Isolierung auf keinem Gebiete selbst verschulden
wollen. Der Londoner Kongreß seinerseits war ja ein großer Friedenskongreß,
eine weithin ergriffene Gelegenheit zu freudigem Zusammenwirken. Freilich waren
da keine Separatinteressen zu opfern, sondern alle konnten gleichmäßigen Gewinn
ziehen. Man findet sich eben am besten zusammen da, wo man gemeinsam die
reine Höhenluft der Ideale atmet.
Berlin. W. Münch.
Festschrift zur 49. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in
Basel im Jahre 1907. Basel 1907. Leipzig. Karl Beck. 538 S. gr. 8°. 15 M.
Der Sammelband enthält 22, zum Teil umfangreiche Abhandlungen zur alten
und neuen Philologie (einschließlich der Mundarten), zur Rechtslehre, auch zur
Medizin und Mathematik. Die Verfasser sind sämtlich Baseler Gelehrte; sie haben
ihrer Stadt und sich selbst mit diesen gelehrten und belehrenden Untersuchungen
ein schönes Denkmal gesetzt, wir schauen in eine Werkstatt eifriger, sachver-
ständiger, dabei sehr mannigfacher Tätigkeit hinein.
Besser wäre es wohl für den Gebrauch solcher Sammelbände zu Ehren einer
festlichen Sitzung, wenn immer das Gleichartige, bestimmten Gebieten Angehörige
zusammengefaßt und in Einzelheften herausgegeben würde.
Unmöglich kann ich hier auf alle Abhandlungen im einzelnen eingehen. Es
genüge nur, die ausgesprochene Anerkennung im großen Ganzen, die Aufzählung
der einzelnen Beiträge zu Nutz und Frommen derer, die darin etwas für ihr Studium
Brauchbares entdecken, endlich wenige Bemerkungen über einige der Arbeiten!
Der altklassischen Philologie und Geschichte gehören zu: Wilhelm
Brückner, Über den Barditus ~ Kaü Joel, Zur Entstehung von Piatons „Staat"
— Alfred Körte, Der Kothurn im 5. Jahrhundert — Friedrich Münzer, Zur
Komposition des Vellejus — Jakob Oeri, Die MspTj xtjc xpaYtuSta? in der Tra-
gödie des 5. Jahrhunderts — Theodor Plüß, das Gleichnis in erzählender Dich-
tung — Hermann Schöne, Markellinos' Pulslehre — Ferdinand Sommer, Zum in-
schriftlichen Nu icpeXxuoxtov — Felix Stähelin, Zu Ciceros Briefwechsel mit
Plancus. Die Philologie der neueren Sprachen betreffen: Albert Barth,
Lefabliau du Büffet — Gustav Binz, Untersuchungen zum altenglischen sogenann-
ten Crist — Charles de Roche, Une source des „Tragigues" — Artur Rossat»
angez. von P. Förster. 45
La poesie religieuse patoise dans le Jura bemois catholique — Ernst Tapyolet,
Zur Agglutination in den französischen Mundarien — Emil Thomm en, Aus Sebast.
Fäschs Reisebeschreibung {1669). — — Der deutschen Philologie und Ge-
schichte gehören an: Albert Geßler, Franz Krutters Bauerndrama — Eduard
Hoffmann-Krayer, Ferndissimilation von r und l im Deutschen — John Meier,
Wolfram von Eschenbach und einige seiner Zeitgenossen. Endlich noch die
vereinzelten Abhandlungen: Rudolf Lugin buhl, Die Anfänge der Kartographie
in der Schweiz — Ernst Rabel, Elterliche Teilung — Otto Spieß, Die Mathe-
matik auf dem Gymnasium — Rudolf Thommen, Die Einführung des gregoria-
nischen Kalenders in der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
Zur Probe endlich wenige Bemerkungen über drei Arbeiten.
Sommer hat recht, wenn er sich zum Nachweise des Gebrauches und der
Entstehung der bekannten Schtilregel von v5 IcpsXxuorixov vor allem auf die sicheren
Inschriften, nicht die unsicheren Handschriften stützt. Seine Arbeit ist von Wert
nicht nur für Feststellung der Sprachformen und der Texte; sie hat auch laut-
wertliche und musikalische Bedeutung.
Plüß nimmt es mit der Wertung des sogenannten tertium comparationis
vielleicht allzu genau. Er erweist aber, daß es für das Gleichnis vor allem oder
allein auf die Anregung des Gemütes, auf die Erzeugung einer gewissen Stimmung
ankommt. Die Sprache des Dichters und seine Kunstmittel wenden sich minder
an den Außensinn des Hörers, als an dessen Innensinn — Die Abhandlung läuft
in eine allgemeinere Betrachtung über Bildung und Erziehung aus; mit voller
Zustimmung unterschreiben wir folgende Schlußstellen: „Was wir im Falle des
Gleichnisses gesündigt haben, das sündigen wir gerade heutzutage in tausend
Fällen unseres Wissenschafts-, Bildungs- und Schullebens. Sehen, Anschauung,
Wirklichkeitssinn schätzen wir mit Recht, aber wir überschätzen Sehen und An-
schauen gegenüber Empfinden und Vorstellen und die Wirklichkeit gegenüber
einer höheren allgemeinen Wahrheit." — „Wir dürfen es uns nicht verhehlen,
was für eine Gefahr von selten eines unwissenschaftlichen Positivismus, wie er
Leben und Bildung beherrscht, jeder tiefer seelischen, geistig menschlichen, wahr-
haft humanen Kultur drohen kann: Diese Gefahr in Wissenschaft und Kunst zu
bekämpfen, wäre ein gerechter Kulturkampf. — Allerdings rufen so viele jetzt
nach künstlerischer Kultur; aber gerade unsere jetzige aufgeregte Liebe zur bil-
denden und zur musikalischen Kunst ist vorläufig oft nur „Die Furcht vor dem
Alleinsein," dem Alleinsein in einem ideenleeren, positivistischen Inhalt, und für
viele, die am lautesten nach Kunsterziehung rufen, ist Sehen, Anschauung und
Wirklichkeitsdarstellung nicht etwa bloß das Erste, sondern auch das Letzte in
der Kunst." Also nicht nur rechnender, beweisender Verstand und nicht nur An-
schauug von außen, sondern dazu die Erfassung der Welt durch das ahnende
Gemüt; nicht nur Wissen, sondern auch Gewissen 1
Der „ßarditus", was ist darüber nicht schon geschrieben worden I Brück-
ners Untersuchung trifft wohl das Richtige: Der Barditus, den die Germanen beim
Beginne der Schlacht anstimmten, war nicht, konnte nicht wohl ein Lied sein, aber
auch nicht nur ein Summen oder Brummen; vielmehr eine Folge musikalischer,
wirkungsvoller und das Ganze bindender Takte oder Rufe. Trotzdem bleiben noch
46 Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums,
immer Schwierigkeiten in der Erklärung der bekannten Stelle (Germania, c. 3);
und Brückner meint nicht, das letzte Wort gesprochen zu haben. Entweder hat
man den Tacitus nicht recht verstanden, oder er selbst hat seine Quellen nicht
wohl verstanden und ist sich nicht klar gewesen : in beiden Fällen keine Empfeh-
lung für ihn, und ein übles Ding seine Lesung in der Schule, wo man sich doch
nicht mit Untersuchungen, wie der Brucknerschen, abgeben kann! Indes über
dergleichen mißliche Einzelheiten hilft der dauernde Wert seiner für uns doch
unschätzbaren Schrift hinweg; es sollte nicht nur erlaubt, nein, geboten sein, die
„Germania" regelmäßig in der Oberschule zu lesen.
Friedenau. Paul Förster.
Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums (in
Wien). 6. u. 7. Heft. Wien und Leipzig 1908. Carl Fromme. 0,85 u. 0,50 M.
Heft 6 steht ganz im Zeichen der österreichischen Mittelschulreform: es be-
richtet über die dritte außerordentliche Versammlung des Vereins, die der Enquete
unmittelbar voranging, und über die vierte, die ihr unmittelbar folgte. Den
Hauptanziehungspunkt der ersteren bildete Gau er s Vortrag über „die Einheits-
schule und ihre Gefahren". Die fesselnden und gedankenreichen Ausführungen
des klugen und hochgebildeten Praktikers und beredten Anwalts der Antike
münden in dem Nachweis, daß den verschiedenen Anlagen der Menschen gegen-
über ein einziges Ideal der Ausbildung unzulänglich und eine Vielheit von Bil-
dungszielen und Bildungswegen zu wünschen sei; daß die richtig aufgefaßte
, allgemeine Bildung" „Fähigkeit und Lust zum Verstehen und Anteilnehmen über
den eigenen Lebenskreis hinaus nach allen Richtungen hin" bedeute und zu dem
Zwecke „die Realien humanistisch zu lehren und die alten Sprachen und ihre
Literatur realistisch zu behandeln seien." Eine durch schlagende Beispiele unter-
stützte Belehrung über Wert und Bedeutung des Sprachunterrichts, die den Vortrag
beschließt, war zugleich ein von der Versammlung wohl verstandener Protest
gegen die bekannten Ostwaldschen Angriffe. In der sich anschließenden Dis-
kussion sekundierten dem jVortragenden geschickt und nachdrücklich die Abgeord-
neten Pernerstorf er und Pattai; dieser erklärte sich für eine ausgedehntere
Kenntnis der Antike auch des Realschülers, wogegen Gau er mehr für intensive
als extensive Berücksichtigung des Humanismus eintrat. — In der vierten außer-
ordentlichen Versammlung gab der Vorsitzende zunächst einen Rückblick auf die
Mittelschulenquete und stellte mit Genugtuung fest, daß der Ansturm auf das
Gymnasium abgeschlagen sei, dagegen den modernen Bildungsbedürfnissen durch
Reformen des Gymnasiums sowohl als der Realschule begegnet werden solle. In
der Diskussion hob Pattai u. a. hervor, daß er aus eigener Erfahrung die (öster-
reichische) Realschule nicht für ein ideales Bildungsinstitut halten könne: erst
durch Verstärkung des humanistischen Elements, besonders durch Einführung des
Lateinischen, wird sie ihm hochschulfähig. — Es folgt ein höchst lesenswerter
Aufsatz des Gymnasialdirektors Tauber (Eger) „über den Wert des Sprachunter-
richtes", der dem besonders in letzter Zeit wieder viel erörterten Thema doch noch
neue Seiten abzugewinnen weiß.
Kaum halb so stark ist das Uhlig, dem unermüdlichen Vorkämpfer für
angez. von E. Grünwald. 47
die Sache des humanistischen Gymnasiums, zu seinem siebzigsten Geburts-
tage gewidmete siebente Heft; aber es enthält einen gewichtigen Beitrag,
den Vortrag Windelbands über , Wesen und Wert der Tradition im Kultur-
leben". Ich kann es mir nicht versagen, seine Hauptgedanken hier wieder-
zugeben. Den Kern der Schulfrage — eins der praktischen Probleme —
haben wir nach Windelband in dem der Philosophie aus dem 19. Jahrhundert
überkommenen, von ihr bisher noch nicht ausgeglichenen Zwiespalt zwischen
historischem und naturwissenschaftlichem Denken. Die Naturwissenschaft solle
nicht vergessen, daß in ihren Theorien viel Tradition stecke, daß diese ein Produkt
der Begriffsarbeit von zwei Jahrtausenden seien und ihre Methoden nicht zu ver-
stehen seien, wenn man sie nicht als Erzeugnis der historischen Arbeit begreife:
daher handle sie voreilig, wenn sie auf einen radikalen Bruch mit unserer histori-
schen Tradition dringe. Aus der Geschichte stammten überhaupt die Wertinhalte
des Menschenlebens; die ganze Erziehung beruhe darauf, aus dem natür-
lichen den historischen Menschen zu machen (wem fällt nicht 1. Cor. 2, 14
ein!) — wenn sie freilich auch nicht den ganzen Kulturprozeß mitmache, sondern
sich mit dem Niederschlag des dauernden Besitzes an Kulturgütern, mit dem, was
nach Herder das Thema der Geschichte sei, der Humanität, begnüge. Den be-
deutendsten Kulturfortschritt aber habe die Menschheit in der Phase getan, die wir
die Mittelmeerkultur nennten, aus der als letztes Ergebnis unsere christliche Kultur
hervorgegangen sei : in diesen Verhältnissen liege das historische Recht der huma-
nistischen Bildung. Von ihren tiefgehenden Einflüssen auf unser deutsches Kultur-
leben hebt der Redner nur die Befruchtung der zweiten Blüteperiode unserer
klassischen deutschen Literatur heraus. Das bedeutsamste Vehikel dieser Tradition
aber ist nach Windeiband die Sprache. Sie ist nicht bloß ein konventionelles
Mitlei der Verständigung, sondern das große Geheimnis des sprachlichen Lebens
liegt darin, daß wir an dem lebendigen Worte viel mehr Wirkliches im Hören er-
leben, als in den bloß lautlichen Zeichen als solchen jemals bedeutet sein kann:
darum wachsen wir durch das Lernen der Ursprache in das geistige Leben von
Jahrhunderten hinein, und darum müssen die Sprachen der antiken Kulturvölker
einen eisernen Bestand in der Ökonomie des Unterrichts bilden, besonders das
an geistiger Modulationsfähigkeit, an Feinheit und Mannigfaltigkeit der Beziehungs-
formen, an durchgearbeitetem und gegliedertem Reichtum der Ausdrucksweise
von keiner Sprache erreichte Griechische. Wird nun aber der humanistische
Einschlag in unserer Kultur auf einen zu kleinen Bruchteil beschränkt und etwa
einer gelehrten Kaste vorbehalten, so muß er nach einem Kulturgesetze in sich
verkümmern: er muß, wenigstens mit einigen seiner Bestandteile, auch in die übrigen
Bildungsschichten hineinragen und, wenn auch in abgestufter Ausdehnung, einer
großen Anzahl von Berufssphären gemeinsam bleiben. So sollte auch eine auf das
technische und naturwissenschaftiche Denken zugespitzte Bildung niemals der Er-
gänzung durch wenigstens eine der klassischen Sprachen entbehren. Sollen doch
aus unsern Mittelschulen auch die künftigen Lehrer hervorgehen: sie müssen ein
möglichst breites Maß gemeinsamer Bildung haben, und dazu muß das wichtigste
und traditionelle Moment unseres gesamten Geisteslebens, das humanistische, ge-
hören. Aus demselben Grunde sind die Vorschläge abzuweisen, mathematische
48 E- Ebner, Magister, Oberlehrer, Professoren,
und naturwissenschaftliche Hochschullehrer bloß auf den technischen Hochschulen
vorzubilden. — Das Heft enthält noch das vom Wiener humanistischen Verein dem
Minister überreichte „Promemoria, die neue Maturitätsordnung betreffend", das
mancherlei Verbesserungen und Ergänzungen der unter dem 29. Februar v. J. er-
lassenen neuen Vorschriften über die Reifeprüfung anregt ,*) und endlich den Be.
rieht über die zweite ordenliche Vereinsversammlung, aus dem sich ein erfreuliches
Gedeihen des musterhaft rührigen Vereins ergibt. Seine „zwanglosen Hefte" sind
bis jetzt immer eine anregende und gehaltvolle Lektüre gewesen und bilden ein
würdiges Gegenstück zum „Humanistischen Gymnasium".
Berlin. E. Grünwald.
Ebner, Eduard, Magister, Oberlehrer, Professoren. Wahrheit und Dichtung
in Literaturausschnitten aus fünf Jahrhunderten. Nürnberg 1908.
C. Koch. XV und 306 S. 8°. geb. 5 M.
In einer Besprechung des vorliegenden Buches ist die Frage aufgeworfen
worden, ob es nicht am besten ungeschrieben geblieben wäre, da es so viel Krän-
kendes für uns Oberlehrer enthält und nicht nur von uns, sondern auch von wei-
teren Kreisen gelesen werden wird. Demgegenüber stehe ich auf dem Standpunkte,
daß wir dem Verfasser für seine fleißige und sorgfältige Arbeit nicht dankbar
genug sein können.
Es ist mit der Entwicklung eines Standes ähnlich wie mit der des einzelnen
Menschen: der Knabe und Jüngling ist empfindlich gegen Tadel und Angriff,
weil er sich seine Stelle im Leben erst erringen muß; der Mann dagegen, der
weiß, was er wert ist, braucht es nicht mehr zu sein. Unser Stand befindet sich
allerdings in dieser glücklichen Lage noch nicht; aber über die Knaben- und
Jünglingsjahre ist er doch auch hinaus, und er tut gut, mit gelassener Ruhe auch
die tollsten Verhöhnungen über sich ergehen zu lassen, jedenfalls sich nicht dar-
über zu ärgern und nicht nach der Polizei zu rufen, daß sie ihm helfe.
Mit Ruhe und Gelassenheit ist denn auch der Verfasser an die Aufgabe
gegangen, die er sich gestellt hatte, und so zeigt er uns, wie der höhere Lehrer
im Mittelalter beurteilt wurde, wie im 16., 17. und 18. Jahrhundert, um dann auf
S. 100 mit dem für die meisten Leser wichtigsten Abschnitte „Der höhere Lehrer im
19. Jahrhundert" zu beginnen. Nur zweimal in dieser langen Zeit hat sich unser
Stand einer freundlichen Beurteilung zu erfreuen gehabt: im Zeitalter der Reformation
und in dem des Neuhumanismus am Anfange des 19. Jahrhunderts. In der Mitte
dieses Jahrhunderts aber beginnt der Kampf gegen die höheren Schulen und ihre
Lehrer, der immer erbitterter wird, bis hinein in unser junges 20. Jahrhundert.
Es sind wenig erfreuliche Bilder, die da vor unsern Augen abgerollt werden,
und wer sich ärgern will, hat Veranlassung genug dazu. Aber es ist besser, sich,
wie es auch der Verfasser tut, darüber klar zu werden, daß es kaum anders sein
kann. Der Schriftsteller kann ja nur von dem berichten, was er selbst erlebt hat, und
über Schulerinnerungen verfügt eben jeder zuerst. Und daß in diesen die schlechten
♦) Die Grundzüge dieser neuen .Vorschriften" mit begleitender Kritik habe ich in der
Zeitschrift für das Gymnasialwesen LXII, S. 486 ff. und hat Morsch in der Deutschen
Literaturzeitung von 17. und 24. Oktober v. J. gegeben.
angez. von R. Jahnke. 49
Lehrer die Hauptrolle spielen, ist auch nur zu begreiflich; prägt sich doch ein
Gegenstand des Hasses und Spottes dem Gedächtnisse fester ein als einer, der
Bewunderung erregt. Erst recht aber werden die Lehrer vergessen, die schlecht
und recht ihre Pflicht getan haben, ohne ihre Schüler für sich zu begeistern oder
sie sonderlich gegen sich einzunehmen; und die bilden doch naturgemäß die
überwiegende Mehrzahl. Freilich sehr viele der angeführten Schriftsteller über-
treiben — auch das ist begreiflich, da ja lebhafte Farben am stärksten wirken
— , sie verallgemeinern und entstellen wohl gar geflissentlich, und die große Menge
der Leser wird sich dadurch in ihrem Urteil bestimmen lassen und uns in einer
Beleuchtung sehen, die uns nicht angenehm sein kann. Aber ganz so gefährlich
ist das auch nicht. Wir Lehrer sind doch auch einmal Schüler gewesen und haben
unsere Schulerinnerungen; auch wir wissen von manchem unserer Lehrer allerlei
schnurrige Geschichten zu erzählen, aber wir verachten sie darum doch nicht und
hassen die Schule nicht, die uns herangebildet hat. Sollte es so nicht bei vielen
der Fall sein und vielleicht gerade bei denen besonders, an deren Urteil uns am
meisten liegt: den Verständigen, Gereiften und wahrhaft Gebildeten? Es hat zu
allen Zeiten in unserm Stande Leute gegeben, die der Herr im Zorn zu Schul-
meistern gemacht hatte, und darüber hinaus auch solche, die in keiner Beziehung
etwas taugten. Warum sollten wir das leugnen? Die gibt's in jedem Berufe. In
dem Schrifttum, das die Schwächen der Menschen geißelt, mögen auch die ihre
Stelle finden. Das trifft die Gesamtheit nicht; und Übertreibung und Entstellung
rächen sich schon von selbst an dem, der solche Mittel nicht verschmäht.
Wenn ich sage, wir sollten die Angriffe auf unsern Stand mit Ruhe ertragen,
so meine ich damit nicht, daß wir uns darum nicht kümmern sollten. Schillers
schönes Wort, der Feind zeige uns, was wir sollen, ist ja nicht bloß zur Bear-
beitung in deutschen Aufsätzen gut, sondern ist auch eine nützliche Mahnung fürs
Leben. Und hier liegt die große Bedeutung des Ebnerschen Buches. Der Spie-
gel freilich, den es uns vorhält, ist nicht eben: er entstellt unsere Züge, und er
ist aus gelblich-grünem Glase: er zeigt uns kein rosiges Bild; aber sehen können
wir uns doch darin und die Flecken gewahren, die wir beseitigen müssen. Auf
die Frage: „Was können wir tun, daß es besser werde?" gibt es vielerlei Antwor-
ten ; sie aufzuzählen, ist hier nicht der Ort. Nur eine möchte ich nennen, weil ich
sie schon früher einmal an einer andern Stelle ausgesprochen habe und weil auch
der Verfasser dieses Buches auf sie hinweist (S. 245): das Prügeln in jeder Form
muß aus den höheren Schulen verschwinden; es geht wirklich auch ohne das.*)
Aber es gibt noch manche andere Antwort, und zum Suchen danach so nach-
drücklich anzuregen wie nichts anderes, ist das große Verdienst Ebners. Es wird
auch dann noch bleiben, wenn es, wie der Verfasser hofft, besser geworden ist,
sobald nämlich unsere Schüler Schriftsteller geworden sind.
Mit welcher Genauigkeit der Verfasser den gewaltigen Stoff durchgearbeitet,
wie übersichtlich er ihn geordnet hat und wie ruhig er zu den Angriffen Stellung
nimmt, kann hier nicht dargelegt werden. Daß sich die Liste der angeführten
Schriftwerke noch vervollständigen ließe, ist selbstverständlich; um wenigstens
*) Der Meinung bin auch ich von jeher gewesen. Unsere ganze Kunst der Erziehung
würde sich ohne Prügel feiner gestalten und — unser Stand nicht minder. Mtth.
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 4
50 J- P- Eckermann, Gespräche mit Goethe,
etwas beizutragen, nenne ich noch die Zaunkönige von Friedrich Jacobsen, Max
Gebhard von Rudolf Huch und das Ärgernis von Wilhelm Hegeler. In dem zuletzt
genannten Romane erscheint ein Vertreter unseres Standes, mit dem wir zufrieden sein
können; sein Urbild ist — das darf hier wohl ausgesprochen werden — der ver-
storbene Gymnasialdirektor Evers in Barmen.
Die Darstellung ist gewandt, wenn auch nicht ganz einwandfrei, die Zeichen-
setzung — oder soll man es Satzbau nennen? — oft recht modern. Ich wenigstens
liebe Sätze ohne Subjekt und Prädikat in ruhigen Abhandlungen nicht. Auch mit
einem Satze wie dem folgenden kann ich mich nicht befreunden: Wollen wir ver-
schiedene Einzelheiten zusammenstellen (S. 280). Ein Versehen liegt vor auf
S. 133. Statt , abstoßender als dieser unwissende Professor ..." muß es dort
heißen „abstoßender als diesen unwissenden Professor"; denn der Satz schließt:
»haben selbst unsere Modernen den Lehrer nicht gezeichnet".
Aber das sind Kleinigkeiten, Im ganzen empfehle ich das Buch jedem
Oberlehrer, besonders den werdenden, aufs wärmste. Ich tue es in dem
Sinne eines Wortes auf S. 305: „Die Anerkennung der Wichtigkeit des Standes
wird auch seine Vertreter nicht minder als das Gefühl der Verantwortung geradezu
zwingen, ihr Bestes einzusetzen, ihr Höchstes zu leisten in dem edelsten aller
Berufe." Wenn das erst bei jedem einzelnen von uns der Fall ist, dann muß auch
das Urteil über uns freundlicher werden, und eine künftige Fortsetzung des Werkes
wird freundlichere Bilder bringen, als es bei ihm selbst leider der Fall ist.
Lüdenscheid. Richard Jahnke.
Eckermann, J. P., Gespräche mit Goethe. Achte und neunte Originalauflage.
Nach dem ersten Druck und dem Originalmanuskript des dritten Teiles
mit einem Nachwort und Register neu herausgegeben von Dr. H. H. Ho üben.
Mit 28 Illustrationstafeln, darunter 3 Dreifarbendrucke, und 1 Faksimile.
Leipzig 1909. F. A. Brockhaus. 805 S. 8 M.
Wem wie dem Rezensenten Eckermanns Gespräche mit Goethe ein unentbehrliches
Lieblingsbuch zu fast täglicher Benutzung für kurze Ruhepausen geworden ist, muß
es mit Freuden begrüßen, daß ein Neudruck erschienen ist, der von den bisherigen
Ausgaben in allen wesentlichen Punkten abweicht und der sie alle übertrifft. Er
muß sich ferner freuen, daß diese Ausgabe in einem so künstlerischen Gewände
auftritt und eine reiche Anzahl von trefflichen Abbildungen enthält, die bei diesem
Werke, wie bei keinem anderen, angebracht sind. Die Unterhaltungen Goethes
knüpfen ja sehr oft an Kunstwerke an, die Goethe seinen noch jetzt erhaltenen
kostbaren Sammlungen entnahm, an Gemälde, Handzeichnungen, Kupferstiche usw.
von Rubens, Claude Lorrain, Rembrandt, Doris d' Angers und vielen anderen. Alle
diese Kunstwerke sind in der neuen Auflage durch vortreffliche Abbildungen
wiedergegeben. Ebenso betreten wir den Schauplatz der Gespräche, die Haupt-
zimmer des Goethehauses, deren neue Originalaufnahmen das Buch bringt. Als
besondere Zugabe sind drei Dreifarbendrucke hervorzuheben, die das Äußere des
Goethehauses, eine Ansicht seines Gartenhauses an der Um und das Sterbezimmer
des Dichters nach zeitgenössischen Aquarellbildern wiedergeben. Das sind die
äußeren Vorzüge des Buches, die für den inneren Wert von nicht geringer Be-
deutung sind. Daß dieser aber so erfreulich gewachsen ist, haben wir dem tüch-
angez. von A. Matthias. 51
tigen Herausgeber zu danken. Der junge Gelehrte, der schon auf die trefflichen
Ausgaben von Laube und Gutzkow stolz sein kann, hat hier mit deutscher Gründ-
lichkeit und mit der aus seiner rheinischen Heimat entstammenden Frische ein
Werk geschaffen, das derjenige mit besonderer Freude begrüßt, der den Werdegang
Houbens in den letzten Jahren mit herzlichem Interesse verfolgt hat. Er ist bei
seiner Arbeit von der Meinung ausgegangen, daß Eckermanns Buch die gleiche
Sorgfalt verdient, wie ein Originalwerk Goethes, daß das „gesprochene Wort
Goethes" den geschriebenen gleich zu achten ist. Es wurde deshalb auf die
Originalausgabe mit Beibehaltung der ursprünglichen Orthographie zurückgegangen.
Das gebot zudem die Absicht des Verfassers, Goethes Ausdrucksweise in allen
ihren Eigentümlichkeiten bis auf die Schreibung selbst des y und der Interpunktion
wiederzugeben, worüber sich Eckermann in einem Briefe an Brockhaus genau
ausspricht (s. Seite 652 des Nachwortes). Besondere Schwierigkeiten ergaben sich
bei dem 3. Bande, der 12 Jahre später in einem andern Verlage erschien. Diese
Schwierigkeit wurde gehoben durch das Auffinden des Eckermannschen Manu-
skriptes zum dritten Teil. Die Texte des Manuskriptes und des ersten Druckes
wurden Wort für Wort verglichen, und so ergab sich der Wortlaut auch des
dritten Teiles genau nach der ursprünglichen Absicht Eckermanns. Eine ganze
Reihe von kleinen Stilfehlern, Druckfehlern usw. waren zu berichtigen, die teils
schon den ersten Drucken angehörten, teils in spätere Ausgaben sich eingeschlichen
haben. Auch gröbere Irrtümer z. B. daß ein ganzer Jahrgang der Gespräche (1826)
falsch datiert und daß ferner im dritten Teil ein Gespräch fälschlich Soret zu-
geschrieben worden ist, wurden beseitigt. Seite 656 ist über die zahlreichen ver-
druckten Stellen ausführlicher berichtet.
Mit derselben Sorgfalt, wie die textliche Revision, ist die Verarbeitung des
historischen Materials behandelt, so besonders der Nachlaß Eckermanns mit seinen
zahlreichen Briefen an Brockhaus, Vamhagen, an Heinrichshofen und an einen
Jugendfreund Trapp. Eckermanns Briefe z. B. an Varnhagen, die S. 675, S. 687f.
und S. 696 zitiert werden, dürfen als wertvolle literarische Dokumente bezeichnet
werden. Anzuerkennen ist in allem das Bestreben des Herausgebers, das Werk Ecker-
manns als ein festgeschlossenes schriftstellerisches Werk zu behandeln, aus dem die
Persönlichkeit Goethes klar und sympathisch, dazu einheitlich hervortreten sollte.
Von diesem Gesichtspunkte geht des Herausgebers Kritik im Nachwort überall aus.
Auch in den Illustrationen zeigt sich die Sorgsamkeit der Arbeit; sie bilden nicht
nur eine äußeriiche Buchausstattung, sondern in manchen Punkten Berichtigungen
von offenbaren Irrtümern Eckermanns. Besonders wertvoll aber ist das Register.
Anmerkungen unter dem Text liebt Houben nicht und am Schlüsse des Buches
auch nicht. Den Lesern sind sie ja entweder lästig oder gleichgültig. Ins Re-
gister eingefügt stehen sie aber am richtigen Ort, weil sie keinen stören, viele
Leser aber, die tiefer dringen möchten, prächtig unterstützen.
Alles in allem — ein Werk deutschen Gelehrtenfleißes, wie selten eines uns
erfreut hat. Die Schule kann nichts Besseres tun, als es den Primanern zu emp-
fehlen, die guter Lektüre würdig und bedürftig sind. Recht wackeren Jünglingen
gebe man es als Prämie mit auf den Lebensweg mit der Widmung: „Ein ganzes
Buch — ein ganzes Leben."
Berlin. A. Matthias.
4*
52 Georges, Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, angez. von F. Gramer.
1. Georges, Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. 10. Auflage. Hannover
u. Leipzig 1907. Hahnsche Buchhandlung. 993 S. 8*. 5,50 M.
2. Georges, Deutsch-lateinisches Schulwörterbuch. 8. Auflage. Ebenda.
864 S. 8». 5,50 M.
Seitdem K. E. Georges, der verdienstvolle Altmeister lateinischer Wortforschung,
sein Schulwörterbuch — neben den größern Handwörterbüchern — in die Welt sandte
(i. J. 1875), hat sich gar vieles im Unterrichtsbetrieb der klassischen Sprachen geändert.
So haben gedruckte „ Präparationen " und Kommentare von allerhand Art unter Appro-
bation hervorragender Schulmänner ihren legitimen Einzug in viele Schulen gehalten :
trotzdem wird das richtig geübte „Lexikonwälzen" stets seinen Wert behalten —
auch für den Tertianer, der seinen Cäsar präpariert. Aber allerdings hat ein
solches Lexikon den Anforderungen, die die heutige Gymnasialpädagogik stellt,
möghchst zu entsprechen. Daß die wissenschaftliche Grundlage bei dem vor-
liegenden Wörterbuch nicht zu kurz kommt, dafür bürgt schon der Name Georges.
Allerdings sind beide Teile von neuem sorgfältig durchgesehen und ergänzt; aber in
einigen Einzelheiten hätte, besonders bei den Eigennamen, die neueste Forschung
mehr Berücksichtigung verdient. In Ali so ist die Länge des i sehr zweifelhaft,
und die Ansicht, daß der Ort an der Mündung der Lise in die Lippe zu suchen
sei, ist völlig haltlos. Wenn das Capitolium „jetzt Campidoglio" genannt wird,
so ist die sprachliche Identität da, aber der moderne Name bezeichnet nur die
Einsattelung zwischen den zwei Erhebungen des Hügels und das dort befindliche
Gebäude. Die Form Moguntia neben Mogontiäcum hat in einem Wörterbuch
der altrömischen Sprache nichts zu schaffen. Wenn Rigodulum (übrigens nicht
„Ricol", sondern Riol bei Trier) zur Tacituslektüre aufgenommen ist, dann dürfte auch
Marcodurum und anderes (z. B. Sunuci, Mattium, Mattiaci, Tolbiacum, Novaesium,
Gugerni, Asciburgium, Tamfana (dea), Albruna usw. usw.) nicht fehlen. Im deutsch-
lateinischen Teil wundert man sich, daß z. B. für Worms die neulateinische Form
Vormatia, statt des echt römischen Borbetomagus gesetzt ist, während doch
Speier nicht mit dem mittelalterlichen Spira, sondern dem antiken Namenswort
Noviomagus benannt ist. Der ursprüngliche Name Kölns ist nicht Colonia
Agrippina, sondern C. Agrippinensis.
Wenn das Buch auch heute noch dem Anfänger dienen soll, so empfehle
ich bei einem Neudruck die Artikel, die für die Cäsarlektüre besonders in Betracht
kommen, durchzusehen: der Tertianer, der z. B. in Buch 1, Kap. 21 auf den Aus-
druck ,legatus pro praetore' stößt, weiß damit von sich aus nichts anzufangen,
und bei seinem Georges findet er weder unter legatus noch unter praetor diesen
Ausdruck verzeichnet.
Lob verdient die (durch Fettdruck bewirkte) Hervorhebung der Stichworte;
auch sind diese groß und klar gedruckt; aber der übrige Text ist doch nach
heutigen Begriffen etwas zu kompreß für Schüleraugen. Freilich würde Billigkeit
und Handlichkeit bei einer Änderung leiden. Bei der Fülle des Gebotenen ist der
Preis sehr wohlfeil, zumal bei dem starken Halbfranzband.
Düsseldorf. Franz Cramer.
Die Sermonen des Q. Horatius Flaccus, angcz. von L. Ehrenthal. 53
Die Sermonen des Q. Horatius Flaccus. Deutsch von C. Bar dt. Dritte ver-
mehrte Auflage. Berlin 1907. Weidmannsche Buchhandlung. 235 S. Nach-
wort mit Namenregister 22 S. 8". 4 M.
Die Bardtsche Verdeutschung der Sermonen des Horaz liegt nun in der dritten,
vermehrten und nahezu vollständigen*) Auflage vor, und weitere Auflagen werden
folgen. Daran ist bei der Vortrefflichkeit dieser Leistung, die in ihrer Art nicht
überboten werden kann, nicht zu zweifeln.
Über die Grundsätze, die den Übersetzer geleitet haben, äußert sich dieser
selbst in einem sehr lesens- und beherzigenswerten Nachworte. Unter verständigen
Leuten kann keine Meinungsverschiedenheit darüber bestehen, daß eine Über-
setzung nicht bloß gelesen, sondern auch genossen werden will. Eine Ver-
deutschung, die, um verstanden zu werden, erst noch eines Kommentars bedarf,
hat, mag sie auch einen gewissen philologischen Wert beanspruchen können,
ihren Zweck verfehlt. Sie ist kein Kunstwerk und verfällt mit Recht dem Schick-
sale, im Laden des Buchhändlers zu verstauben. Eine gute Verdeutschung muß
sich lesen wie ein Originalwerk, muß also reindeutsch und wohllautend sein.
Und diese beiden Vorzüge vereinigt die Arbeit Bardts in einem seltenen Maße.
Sie ist auch getreu im höheren Sinne des Wortes, denn sie gibt bei aller Freiheit
im einzelnen — oder vielmehr gerade deshalb — Geist und Wesen des Dichters
in bewundernswerter Weise wieder.
Bardt verzichtet auf die Beibehaltung des Versmaßes und der Zeilenzahl. In
der Tat ist der deutsche Hexameter, so vortrefflich er sich in der Hand eines
Meisters wie des Lukrezübersetzers Max Seydel (Schlierbach) für die Wiedergabe
von Dichtungen im höheren Stile eignet, viel zu spröde, um mit der wunderbaren
Feinheit und Biegsamkeit, der lässigen Anmut des Verses der horazischen Sermonen
wetteifern zu können. Die Tatsache, daß einem Geibel die Übertragung einiger
weniger Sermonen geglückt ist — und zwar solcher, die der Verdeutschung besonders
geringe Schwierigkeiten entgegenstellten — , beweist nichts. Und ein Eideshelfer
ist Bardt in Blümner erstanden, der, ohne Bardts Arbeit zu kennen, in seiner
Satura gleichfalls den Hexameter als ungeeignet für die Wiedergabe römischer
Satiren verworfen hat. Beide haben nach dem Vorgange Wielands den jam-
bischen Fünffüßler**) gewählt und beide diesen Vers mit dem Reim geziert, ohne
den er zu reizlos sein würde. Bei Bardt folgt gewöhnlich Reim auf Reim, wie Vers
auf Vers, nur selten kreuzt er die Reime. Die Behandlung des Verses wie des
Reimes verdient das höchste Lob und muß auch das verwöhnteste Ohr vollauf
befriedigen; überhaupt zeichnet sich diese Übertragung durch eine wahrhaft
glänzende Form aus und verrät in jeder Zeile den Meister. Die anmutige Schön-
heit, Frische, Schalkhaftigkeit und Liebenswürdigkeit des Originals ist aufs glück-
lichste wiedergegeben, ja häufig ist der poetische Ausdruck gesteigert. Auch
hierin kann ich dem Verfasser nicht Unrecht geben. Denn der deutsche Sprach-
genius ist nun einmal poetischer als der lateinische.
*) Es fehlen nur drei Stücke: Sat. I, 8; II, 4 und 8.
**) Nur für Sat. I, 5 ist der sog. Knittelvers verwandt.
54 Die Sermonen des Q. Horatius Flaccus,
Das Buch trägt als Motto die Worte aus der ars poetica:
Willst du in Wahrheit treuer Dolmetsch sein,
Mußt du zuerst vom Wortdienst dich befrei'n.
So steht er denn seinem Dichter mit der Freiheit und, wenn ich so sagen
darf, mit dem Selbstbewußtsein des gebildeten Deutschen unsrer Zeit gegenüber,
dem die ganze Fülle der durch unsre großen Dichter bereicherten und verfeinerten
Sprache zu Gebote steht. Und hier zeigt sich ein besonderer Vorteil der von ihm
gewählten Form: Sie gibt ihm die nötige Gesichtsweite, den freien und hohen
Standpunkt, der ihn das Wesentliche, den geistigen Gehalt, erkennen und das
Unwesentliche, die einzelnen Worte und Wendungen, nicht überschätzen läßt.
Deshalb ersetzt er Anspielungen auf Personen, Ereignisse und Zustände, die dem
deutschen Leser unverständlich sein müssen, durch Beziehungen auf Bekannteres,
statt eines Bildes, das heute unklar sein würde, setzt er ein verständlicheres.
Satzbau und Ausdruck sind echt deutsch, selten wird einmal ein Vers weggelassen,
öfter einer oder mehrere eingefügt und dadurch ein Gedanke deutlicher gemacht
oder ein Übergang zu dem Folgenden geschaffen. Aber was er so vom eigenen
Geiste gibt, ist immer sachgemäß, witzig, poetisch, sodaß Horaz, wenn er jetzt
als Deutscher lebte, es gedichtet haben könnte. So machen einzelne Stellen den
Eindruck der Umdichtung.
Ganz besonders ist auch der Takt zu loben, mit dem die Derbheiten gemildert
sind, sodaß sie unserm in diesen Dingen nun einmal zarteren Empfinden nicht
widersprechen.
Ungern widerstehe ich der Versuchung, einige Proben der meisterhaften Kunst
dieses Mannes, der nicht nur ein feiner Gelehrter, sondern auch ein echter Poet
st, anzuführen. Man lese das Buch nur selbst, und man wird aus jenem bei-
älligen Schmunzeln nicht herauskommen, das keinen geringen Lohn für die
Mühen eines Schriftstellers bildet. Und wer dann ins einzelne geht und ver-
gleicht, bei dem wird das Ergebnis wohl dasselbe sein wie bei mir: helle, ehr-
liche Bewunderung.
Noch Eines möchte ich hervorheben: Vielleicht sagt man: Bardt setzt zuviel
hinzu, und zur Begründung verweist man vielleicht darauf, daß die Verszahl in
der Übersetzung nahezu doppelt so hoch ist, wie im Urtexte. Man braucht je-
doch nur ein einfaches Rechenexempel anzustellen, um einen solchen Vorwurf
widerlegen zu können: Der Hexameter hat 13—17 Silben, der Bardtsche Vers
10—11. Also läßt sich, angenommen, die deutsche Sprache brauchte zum Aus-
druck eines Gedankens durchschnittlich ebensoviel Raum auf dem Papier wie die
lateinische, im jambischen Quinar erheblich weniger sagen als im Hexameter. Nun
trifft aber jene Annahme nicht zu: Das Deutsche braucht mehr Raum als das ge-
drungenere Lateinische. Infolgedessen setzt Bardt sehr oft statt eines lateinischen
Verses ein deutsches Verspaar, das nun mit seinen 20—22 Silben allerdings reich-
lichen Platz zur Entwicklung des bei Horaz oft zu so großer Kürze zusammen-
geballten Gedankens und auch noch die Möglichkeit kleiner verdeutlichender oder
schmückender Zusätze bietet, die für die Wirkung sehr vorteilhaft sind, und die
Bardt auf das glücklichste anzubringen versteht.
angez. von L. Ehrenthal. 55
Alles in Allem: Als der Verfasser die Feder führte, hat ihm die Muse
lächelnd über die Schulter geblickt, und wenn der selige Horaz wieder auflebte und
in Fleisch und Blut jetzt unter uns weilte, bei niemandem würde er lieber und
häufiger Einkehr halten, als bei dem Manne, der den anmutigsten Kindern seiner
Muse ein neues Leben im deutschen Volke geschenkt hat, bei dem trefflichsten
seiner Übersetzer.
Horaz' Jamben- und Sermonen-Dichtung. Vollständig in heimischen Versformen
verdeutscht von Karl Staedler. Berlin 1907. Weidmannsche Buchhandlung.
VIIl u. 206 S. 8". 3 M.
Die Staedlersche Übertragung, mit der dem Leser nach der früher erschienenen
Odenübersetzung nun ein vollständiger deutscher Horaz geboten wird, wandelt
insofern in denselben Bahnen, wie die Bardtsche, als auch sie überall mit Aus-
nahme der ars poetica das antike Versmaß durch moderne, gereimte Form ersetzt.
Diese ist in den Satiren der sogenannte Knittelvers, während die Episteln die aller-
verschiedensten Formen aufweisen: außer dem genannten Versmaß jambische und
trochäische Zeilen mit 5, 6, 7, 8 Hebungen, darunter auch den Alexandriner. In
Epist. II, 1 wagt es der Verfasser sogar ohne jeden erkennbaren Grund, innerhalb
der 270 Verse des an Augustus gerichteten Gedichtes die metrische Form nicht
weniger als zehnmal zu wechseln, sodaß dem Leser infolge des ewigen Schaukeins
ganz wunderlich zumute wird. Auch die übrigens wohl gelungene Übersetzung
der ars poetica wendet drei verschiedene Versmaße an, darunter zwei antike:
Hendekasyllaben, jambische Trimeter, die mit aristophanischer Freiheit behandelt
sind, und jambische, reimlose Fünffüßler. Der Gedanke, daß Horaz doch wohl
seine guten Gründe gehabt haben muß, um seinen sämtlichen Sermonen dieselbe
Form zu geben, liegt nahe genug. Außerdem hat jedes Versmaß seinen eigenen
Stil, den es demjenigen, der es anwendet, aufzwingt, mag er wollen oder nicht.
Also entsteht durch das von Staedler angewandte Verfahren eine Unruhe im Stil,
die einer einheitlichen Wirkung der Sermonen im ganzen nicht günstig ist. Von
der für die Epoden angewandten Form möchte ich erst am Ende dieser Anzeige
sprechen.
Der moderne Vers drängt mit heilsamem Zwange den Übersetzer eines antiken
Dichters dazu, den Gedanken völlig ins Deutsche umzudenken, während derjenige,
der das Versmaß der Urschrift beibehält, eher Gefahr läuft, zu sehr am Texte
kleben zu bleiben. Wer nun aber erwartet, daß Staedler, der sich von der antiken
Form so weit entfernt, nun auch entschlossen den zweiten Schritt tun und ebenso
radikal in der sprachlichen wie in der metrischen Form sein werde, der sieht sich
leider oft betrogen. In Satzbau, Wortstellung und Ausdruck finden sich störende
Latinismen, manche Stellen sind dunkel und ohne Kommentar unverständlich,
andre hart und undeutsch geraten. In Epist. I, 15 läßt er ebenso wie das latei-
nische Vorbild erst v. 25 den Nachsatz auf die ungeheure Periode folgen, was im
Deutschen nicht zu ertragen ist. S. 128 heißt es: Wo Claudius jetzt des Landes führt
sein Heer. S. 144: Wie sie dir erschienen, laß, Bullaz, mich fragen, Ruhmvoll
Chios, Lesbos. S. 145: mit wegzuwünschendem Schlamm. S. 70: Nicht toller
magst du Holz zum Walde fahren Als mehren der Griechen Dichterscharen. Selbst
56 Die Sermonen des Q. Horatius Flaccus, angez. von L. Ehrenthal.
wo der Text nicht dazu verführt, kommen Dinge vor, wie S. 145: Wenn du dir
von den Früchten machst den richtigen Genuß. S. 115: Bei Nasidien dem reichen
wie hast du dich amüsiert? S. 153: Erlogne Ehr' und Schande freut oder schreckt
nur — wen ? Bildungen wie Kriegesmann, Hufeschlag, Faustesschlag (!), Geist-
kraft, Lachlärm, Feigstamm, Gelübdbild, Fußwaschfaß, Brausesyrte, Zwie-Eintracht,
Frei-Leer-Götterfrau (Vacuna), Amterei, Heiltum (= Heiligtum) und so häßliche
Fehler wie: „'nen Purpurzottentuch (also der Tuch!), trachten aufs Laster, lehrt
er mir" stören recht erheblich. Berolinismen wie „Radau, Musike, ne (= nein, noch
dazu im Reime), bibbern, lachhaft. Nanu, was ist denn los?" passen für den
ästhetisch und weltmännisch fein gebildeten Dichter nicht. Überhaupt ist der
ganze Ton oft zu niedrig, besonders in den Knittelversen, die ja dazu verführen
mögen. Man vergleiche einmal den Anfang der Epistel an Tibull (S. 130) mit
dem Text und darauf mit der Übersetzung Geibels oder Bardts.
Vers und Reim sind mit großer Freiheit behandelt, zuweilen mit glücklicher
Kühnheit, die jedoch manchmal wieder zu weit geht. So S. 104 in den Worten,
die an den bekannten Vers von dem dichtenden Schuhmacher Hans Sachs er-
innern: „Man (im Reim) bringt nimmer sie weg, wie den Hund vom trän — Getränkten
Leder," wo man und trän reimen.
Auf Wohllaut des Verses wird wenig Wert gelegt, und das einem Dichter
gegenüber, der, wie er die Vernachlässigung der Form bei den älteren römischen
Dichtern scharf und nicht immer gerecht rügte, so sich in seinen eigenen Werken
der saubersten Form befleißigte, einer Form, die nicht den geringsten Reiz seiner
Dichtungen ausmacht.
Trotz dieser Ausstellungen muß anerkannt werden, daß dem Verfasser manches
recht gut gelungen ist, daß manche Stellen kräftig und frisch wirken und den
Gedanken zu schlagendem Ausdruck bringen. So die letzten Zeilen von Sat. 1, 8,
dieser derben Posse, für die sich auch das Versmaß besonders gut eignet:
„Und wie man rundum fliegen sah
Hier das Gebiß der Canidia,
Die Perücke dort der Sagana,
Die Zauberkräuter und -knoten — ah,
Das war ein Hauptspaß, hahahal"
So erinnern die in diesem Versmaß geschriebenen Stücke an ihren besten Stellen
bald an Hans Sachs, bald an den jungen, kraftgenialischen Goethe, wenn auch
freilich der wirkliche Horaz weder dem einen noch dem andern glich. Neben
der Bardtschen Übersetzung erscheinen sie wie ein derber Holzschnitt neben einem
feinen Kupferstich.
Die obszönen Partien sind mit großer Offenheit behandelt, sodaß immer das
eigentliche Wort dasteht und der Vorgang völlig nackt erscheint. Aber wir leben
nun einmal in einer Zeit der Hosen und Unterröcke, und was ein Mann von
Bildung und Geschmack zur Zeit des Augustus, ohne Anstoß zu erregen, sagen
und schreiben konnte, das wirkt, wenn unverhüllt ins Deutsche übertragen, leicht
roh. Hier scheint mir eine mehr andeutende und witzig verschleiernde Behand-
lung angebracht zu sein.
J. Bezard, La Gasse de Fran9ais, angez. von W. Bohnhardt. 57
Noch ein Wort über die Übersetzung der Jamben, die der der Sermonen vor-
ausgeht: Ich will mich auf grundsätzliche Erörterungen darüber nicht einlassen,
ob es ratsam sei, die lyrischen Versmaße des Horaz, die, mit einer einzigen Ausnahme,
von unsrer durch Klopstock, Hölderlin und Platen geschulten Sprache trefilich
nachgebildet werden können, fallen zu lassen und durch moderne Reimverse zu
ersetzen. Dies aber scheint mir festzustehen: Wer es wagt, auf den hohen Reiz
des antiken Rhythmus zu verzichten, der muß Ersatz dafür leisten. Er muß den
modernen Vers alle seine Schönheiten entfalten lassen. Er muß, was Wohllaut,
richtigen metrischen Bau, Reinheit und Fülle der Reime anlangt, den höchsten
Anforderungen genügen. Wer der antiken Dichtung den edlen Faltenwurf ihres
rhythmischen Gewandes nimmt und sie dafür mit dem dünnen Röcklein einer
jambischen oder trochäischen Strophe von vier Zeilen mit zwei angenähten Reim-
glöcklein bekleidet, die noch dazu nicht immer rein zusammenklingen, wer Hiaten
nicht vermeidet und Verse mit unterlaufen läßt, die dem Ohre weh tun, dem mag
im einzelnen manches gute Wort gelingen, im ganzen gleicht er dem Knaben, der
einen erprobten Schützen die schlanken, scharfen, klingenden Pfeile in das Ziel
hat schießen sehen und nun nach demselben Ziele seine harmlosen Rohrpfeile
von seinem Flitzbogen schnellt. Die bei Besprechung der Sermonen gerügten
Fehler finden sich nun auch in der Verdeutschung der Epoden, und so stolpert
man denn über Verse wie: „Welch Gift tobt im L^ib mir doch. In Weibsdienst,
in — weh die Nächwelt. Ha, willst noch mehr mir, Himmel!" und über Kon-
struktionen wie: „Daß Du einem Vorgezognen Schenkest Nacht für Nacht, 0 nein I
(wobei der Daß-satz von nein abhängig ist). Sieh, Du selbst ja brennst wiesehr!
Mein wartet welches Ende und welche Buße? sprich!" — eine Frageform, die
leider in der Schulstube noch vorkommt, aber in ein Gedicht wahrlich nicht gehört
Ganz verfehlt ist das Versmaß Epod. 5, eine vierzeilige jambische Strophe in der
V. 1 und 4 reimen, während v. 2 und 3 reimlos und händeringend in der Mitte
stehen. Man vergleiche die wenigen von Geibel im Klassischen Liederbuch über-
setzten Epoden! Bedeutet die Staedlersche Übersetzung der Epoden einen Fort-
schritt und ist sie in höherem Maße geeignet, diese Gedichte dem Verständnis ge-
bildeter Laien zu erschließen? Ich möchte es bezweifeln.
Schleusingen. L. Ehrenthal.
Bezard, J., La Classe de Fran^ais. Journal d'un Professeur dans une
division de Seconde C (latin-sciences). Paris 1908. Vuibert et Nony,
editeurs. 63, Boulevard Saint-Germain. 20/12». 320 S. brosch. 3,50 Frs.
Vorliegendes Tagebuch scheint vielleicht manchem Fachgenossen wegen
der Verschiedenheit der französischen Methode von der unserigen eine beson-
dere Beachtung nicht zu verdienen. Aber gerade weil sich aus dieser ver-
schiedenen Auffassung in beiden Ländern (die in Wirklichkeit gar nicht so groß
sein dürfte, wie der Verfasser dem Referenten schreibt: „rien ne peut m'^tre plus
agreable que de constater entre nous un accord aussi complet") Lehrreiches genug
ergibt, und weil die Schrift unendlich mehr bietet, als der bescheidene Titel ahnen
läßt, wird eine Anzeige nicht unwillkommen sein. Auch in Deutschland haben
wir unter den vielen Arbeiten dieser Art einige, die frei von allgemeinen Urteilen
58 J- Bezard, La Classe de Frangais, angez. von W, Bohnhardt.
und hohlen Phrasen sich auf die Darstellung einer wirklich vollzogenen Lehr-
tätigkeit beschränken und dadurch vornehmlich dem jungen Lehrer nützen können.
Dankbar sei in dieser Hinsicht der von G. Weitzenböck in seinen beiden anspruchs-
losen „Tagebüchern des französischen Unterrichts in der L und II. Klasse" (Graz
1894 und 1896) ausgehenden Anregung gedacht. Ebenso stützt sich Kollege
Bezard nur auf zuverlässige Tatsachen, d. h. auf schriftliche und mündliche Ar-
beiten der Schüler, auf eigene Beobachtung und zeichnet nach der Natur, ohne
etwa geschehene Mißgriffe zu beschönigen, seinen Lehrgang des französischen
Unterrichts in einer Sekunda C, in der ihm bei dem Übergewicht des Latein und
der Naturwissenschaften nur drei Stunden für die Muttersprache zur Verfügung
stehen. Ohne Anspruch darauf zu machen, die Wissenschaft fördern zu wollen,
hofft er aus dem Austausch der gegenseitigen Erfahrungen, wenn seinem Bei-
spiele auch Vertreter anderer Fächer folgen würden, mancherlei Nutzen für seine
und ihre Methode. Aber auch für den deutschen Neuphilologen bietet die Schrift
viele interessante Momente. Zum Beweise hierfür wird die Hervorhebung nur
einiger charakteristischer Kapitel (von 32) genügen. Sie bergen eine Fülle von
wertvollen Beobachtungen und Winken. Kap. 1: Conseils generaux sur la nar-
ration; 9. Lecture methodique d'un auteur; 10. Reflexions sur un tableau;
18. Analyse d'un caractere tire d'une comedie; 20. Une comparaison. In all diesen
Abschnitten läßt sich Bezard auf eine gründliche Kritik der schriftlichen Arbeiten
der 15 bis 16jährigen Schüler ein und zeigt an einer Vergleichung der besten
und schlechtesten, wie der Stil an Klarheit, Schärfe und Leichtigkeit gewinnen
kann und wie durch fortwährenden Hinweis auf die Anforderungen der Ästhetik
der Takt und Sinn für schönen und edlen Ausdruck erfolgreich zu pflegen ist.
Ein solches zum französischen Aufsatz anleitendes Buch mit den nötigen techni-
schen Ausdrücken — über die sich unsere jungen Lehrer meist nicht recht im
klaren sind — erleichtert die Korrektur ungemein, spart Zeit und Mühe und leistet
einem die Gewähr, den Schülern auch wirklich idiomatisch Richtiges zu bieten.
Dabei ist die Anlage derartig, daß sie dem Lehrenden noch genug Selbsttätigkeit
läßt. Wie würde ich eine ähnliche Anleitung begrüßt haben, als Geheimrat Matthias
den Anfänger im Lehramt mit dem französischen Unterricht der Realabiturienten
betraute mit dem Bedeuten, nun schwimmen zu lernen und sich selbst zu helfen.
In dem Abschnitt „Auswahl der Themata" (S. 177 ff.) bekundet der Verfasser
seine Freude über eine gewisse zufällige Übereinstimmung mit P. Cauers „Von
deutscher Spracherziehung" (S. 237) in der Stellung von Themen ganz persön-
lichen Inhalts (sujets personnels) wie: „Que voulez-vous etre, et pourquoi?"
Ma vie u. a. Diese Bekanntschaft vermittelte ihm sein Amtsgenosse, der Fach-
lehrer des Deutschen, als er sich mit der Frage beschäftigte, ob auf den
deutschen Gymnasien ähnliche Aufsätze zur Bearbeitung gelangten. Erwähnung
verdient weiter Kapitel 17: „Lettres familieres: Un chapitre de la civilite puerile
et honnSte." In diesem unterzieht* Bezard die üblichen Wendungen des Briefstils
eingehender Prüfung, führt einfache, kurze, von den Schülern selbst verfaßte
Muster (lettre au professeur, lettre d'affaires) vor und warnt vor zu vielen Phrasen
•und Höflichkeitsformeln. Hier finde ich eine beherzigenswerte Mahnung. Noch
immer legen wir nicht genügend Nachdruck darauf, unsere Schüler mit der äußern
Ed. Heyck, Deutsche Geschiclite, angez. von W. Meiners. 59
Form des französischen (und selbst des deutschen) Briefes bekannt zu machen,
sie zu lehren, nicht nur kurze Erzählungen in die Formen desselben zu kleiden,
sondern auch einfache Gelegenheitsbriefe zu verfassen. Vor allem dürfte es Auf-
gabe der Realsekunda sein, dem ins praktische Leben eintretenden jungen Mann
diese Fertigkeit mitzugeben. — Kap. 33 mit „Vorschlägen für die besten und ge-
eignetsten Bücher als Privatlektüre an Regentagen" zeigt uns die Wertschätzung
mancher in Deutschland beliebten Werke in der Heimat selbst. So werden zur
Kenntnis des Altertums empfohlen Boissier, Cic^ron et ses amis (la vie privee,
Atticus), das in Ausschnitten als Ergänzung der klassischen Lektüre unserem
Realprimanern ein fesselndes Buch war, und die vier ersten Kapitel des hoch-
bedeutenden Fustel de Coulanges: „La Citd antique", die bereits von mir in der
Monatschrift VII, 379 gewürdigt wurde. Unter den Schriften auf dem Gebiete:
„Geographie economique, commerce et Industrie" hebt er besonders den von uns
meist anders beurteilten J. Huret hervor mit seinem „En Amerique" und „En
Allemagne: Rhin et Westphalie". Vor allem möchte der Verfasser Hurets Grund-
satz den Schülern ans Herz legen: „se tenir au courant des dernieres decouvertes,
chercher toujours ce qui est nouveau, et s'en servir avant les autres." Das Nach-
wort verspricht einen Lehrbericht über die Prima. Der Kunst des Schreibens
soll die Kunst des Lesens folgen, d. h. in dem neuen Tagebuch will Bezard
seine Methode in der Erklärung der Autoren der öffentlichen Beurteilung unter-
breiten. Vermag dieser oder jener Fachgenosse dem liebenswürdigen Bericht-
erstatter auch in einzelnen Ansichten nicht zu folgen, er wird in seinem Journal
doch vieles finden, das zum Nachdenken anregt und zur Nachahmung auffordert.
Dem in schöner Sprache geschriebenen inhaltsvollen Buch, das sich bis zur letzten
Seite amüsant liest, bin ich selbst für die Erschließung mir neuer, Beachtung ver-
dienender Gesichtspunkte zu lebhaftem Danke verpflichtet. Sein Wert wird noch
erhöht durch den Schmuck von 5 Drucken nach Photographien (z. B. P^n^lope
endormie, le tombeau de Rousseau, Hoche) als Anschauungsbilder für zu be-
schreibende Gemälde.
Düsseldorf. W. Bohnhardt.
Heyck, Ed., Deutsche Geschichte. Mit zahlreichen Abbildungen, Karten und
Beilagen. 3 Bände. Bielefeld u. Leipzig 1905 u. 1906. Velhagen u. Klasing.
Insgesamt XX u. 1870 S. gr. 8». geb. 43,50 M.
Heyck, durch die „Monographien zur Weltgeschichte" als Herausgeber und
Geschichtsschreiber längst weithin bekannt, verfolgt mit seiner Deutschen Geschichte
denselben Plan wie mit jenen Monographien. Er will der Masse der Gebildeten
eine Geschichte unseres Volkes zugänglich machen, die, wie es im „Plan" der
Monographien von diesen heißt, „befreit von dem Beiwerk gelehrter Spezialerörte-
rungen die Zusammenfassung oder den bisher vollkommensten Abschluß der
Forschung enthalten und in schöner, ebenso anregender wie verständlicher Weise
zur Darstellung bringen soll". Wie in den „Monographien" ist ferner in der
Deutschen Geschichte das Prinzip der authentischen Illustrierung in reichhaltigstem
Maße zur Anwendung gekommen; die Schätze von Sammlungen und Bibliotheken
sind durchforscht und in ausgezeichneten Abbildungen, zu denen Photographien
60 Ed. Heyck, Deutsche Geschichte,
von Landschaften und Baudenkmälern kommen, wiedergegeben worden. Das
Buch ist in dieser Hinsicht eine einzigartige Erscheinung, neben der sich die
Deutsche Geschichte von Stacke nicht mehr sehen lassen kann. Über den Wert
solcher Beigaben wird heute kaum noch einer ernsthaft streiten, und ich stehe
nicht an, dafür dem Verfasser und Verleger in jeder Hinsicht volles Lob zu zollen,
auch das, daß, soweit ich sehe, die Forderung, der Bildschmuck dürfe den Text
nie zurückdrängen, sondern ihn nur sinngemäß begleiten, mit Erfolg beobachtet
worden ist. Ernstliche Bedenken hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der Bildbeigabe
sind mir nur an wenigen Stellen aufgetaucht, so Bd. I, S. 370 bei der Mitteilung
einer Photographie von der abgehauenen Hand Rudolfs von Schwaben oder
Bd. III, S. 243 bei der Wiedergabe eines Gemäldes vom Zwerg Perkeo.
Heyck hat seine Aufgabe selbst umgrenzt, dadurch daß er dem Haupttitel
„Deutsche Geschichte" hinzugefügt hat: „Volk, Staat, Kultur und geistiges Leben."
Er will also nicht bloß eine Geschichte des deutschen Reiches geben. Die Folge
ist, daß er zunächst auf etwa 250 Seiten nach einer kurzen geographischen Ein-
leitung die Praehistorie und Historie der westgermanischen Völker des Festlands
und die Entwicklung ihrer Kultur darstellt bis zu ihrer Vereinigung mit Romanen,
Slawen und Kelten zu dem Universalreich Karls des Großen. Er ist damit zu dem
Begriff gekommen, der das weitere Mittelalter, auch das deutsche, beherrscht, dem
Begriff des universellen Imperiums. Der Streit um dieses zwischen dem mit
Deutschland verknüpften Kaisertum und dem römischen Papsttum und der Sieg
der Kirche, der Hand in Hand mit der Aufrichtung der Herrschaft ihrer Gedanken-
welt über die Gemüter erfolgte, ist der wesentliche Inhalt der mittelalterlichen
deutschen Geschichte. Deren Darstellung nimmt den Rest des I. Bandes (247 S.)
ein und erstreckt sich noch über die ersten 254 Seiten des zweiten, die zunächst eine
Geschichte der mittelalterlichen Territorien enthalten und weiterhin auf 200 Seiten
eine Schilderung der Zustände und Kultur der mittelalterlichen Kaiserzeit. Mit
dem Jahre 1273 beginnt Heyck den zweiten Abschnitt seines Werkes, den er
„das Werden der neuen Zeit" überschreibt und mit 1648 endet. Diese Perioden-
einteilung ist nicht so neu, wie Heyck meint (II, 257): ich finde sie schon in der
1889 erschienenen deutschen Geschichte von Kaemmel. Sie folgt ohne weiteres
aus der vorher gegebenen Charakteristik des Mittelalters, dessen Ende naturgemäß
ausgemacht wird durch die Abräumung des universellen Imperiums und durch das Er-
starken des nationalen Gedankens auf der einen Seite und „der das Irdische in
sein Recht einsetzenden Lebensidee" auf der andern. Alles dies setzt während
der Kreuzzüge ein und ist bis 1648 zum bestimmenden Faktor geworden. Nur
möchte ich die ausführliche Begründung, die Heyck auf S. 255—260 für seine
Periodenteilung gibt, nach zwei Seiten hin etwas ergänzen. Auf der einen würde
ich nicht wagen, der Zeit von 1273—1648 die Aufgabe zuzuschreiben, schlechthin
mit den Trümmern des Mittelalters aufgeräumt zu haben: dazu bedurfte es bis
1789 und noch länger. Sodann sähe ich gern in dieser prinzipiellen Erörterung
ein Moment stärker hervorgehoben, das wie kein zweites der Richtigkeit unserer
Einteilung gerade für die Geschichte Deutschlands das Wort redet. Daß hier der
herrschende Partikularismus das erstarkende Nationalgefühl zu einem staatlichen
Zusammenschluß nicht kommen ließ, hat Heyck betont; ebenso, daß gerade bis
angez. von W, Meiners. 61
1648 der Partikularismus sein zersetzendes Werk so gut wie vollendet hat. Daß
aber auf der anderen Seite wiederum in der Zeit um 1648 der Mann regierte, der
den brandenb.-preuß. Einheitsstaat begründet und damit den Keim zum späteren
deutschen Reiche gelegt hat, dafür vermisse ich an der angeführten Stelle den
Hinweis. In der weiteren Darstellung der Ereignisse selbst tritt freilich die Tat-
sache deutlich genug hervor. Nachdem der II. Abschnitt den Rest des II. Bandes,
d. h. 417 S., gefüllt hat, folgt im dritten von S. 13 an — die ersten 12 Seiten
füllen wertvolle Regententafeln, die freilich besser an das Ende des Bandes gestellt
worden wären — der nächste Abschnitt: „Das Werden des deutschen Reiches",
in den allerdings auf S. 23—111 die Fortsetzung der Geschichte der Territorien
bis ca. 1648 (vgl. II, 1—55) störend eingesetzt worden ist. In diesem Abschnitt
ist nun aber durchweg die Darstellung der brandenb.-preuß. Angelegenheiten in
den Vordergrund gestellt worden in der richtigen Erkenntnis, daß nicht denjenigen
Linien zu folgen sei, „die sich, vom Standpunkt der deutschen Entwicklung
gesehen, tot laufen, sondern denen, die zu der Gestaltung der nationalen Zukunft
führen« (III. 239). Als Schluß des dritten Bandes folgt auf S. 586—639 die Ge-
schichte des neuen deutschen Reiches bis zur Gegenwart, in deren Darstellung
ebenso wie in der der beiden letzten Jahrzehnte vor 1871 manchem hier und da
größere Ausführlichkeit erwünscht sein dürfte. Jeder der 3 Bände enthält ein um-
fangreiches, nach Stichproben zu schließen zuverlässiges alphabetisches Register,
Band I außerdem noch als Anhang eine Darstellung der vorgeschichtlichen Wohnsitze
der Germanen.
Heycks Deutsche Geschichte ist kein Standard -Work, von der Art etwa, wie
Eduard Meyers griechische Geschichte, Dazu fehlt ihr vor allem das eine, daß
Heyck es nicht unternimmt, die großen Gesichtspunkte herauszustellen, die sich
in allem Detail geltend machen, oder, besser gesagt, daß er diese zwar gelegentlich
im Zusammenhange der Darstellung mitteilt, aber nicht von ihnen ausgeht, sie
nicht als Leitsätze hinstellt, um so das Detail dem wahren Verständnis nahezu-
bringen. Damit hängt dann weiter zusammen, daß zwar die Darstellung der
Kultur und des Zuständlichen oft (vgl. Kap. VIII) mit einer Ausführlichkeit
gegeben wird, wie sie in einem Handbuch der deutschen Altertümer am Platze
wäre, daß aber eben die Entwicklung von Volk, von Staat, von Kultur und geistigem
Leben sich zu wenig durchdringen, zu wenig als einheitliche Lebensäußerungen er-
scheinen. Die Rechtfertigung dieser vom Verfasser selbst als „darstellerische Barbarei"
(Bd. III, 316) empfundenen Teilung durch den Hinweis auf ihre praktische Be-
währung will mir nicht einleuchten.
Auf der andern Seite stehe ich nicht an, dem Heyckschen Buche unter den
vorhandenen vollständigen Werken über deutsche Geschichte, soweit sie den
gleichen Zweck verfolgen, die eine hervorragende Stelle zuzuschreiben. Der vor-
geschrittene Primaner, der Student, auch der Geschichtsieh rer und weiter jeder
Gebildete wird gern und mit Nutzen zu dem Buche greifen, wird gern in die Schule
gehen bei einem Manne, dessen Forschungsgrundsatz ist, nicht in das geschichtliche
Bild der Vergangenheit den Maßstab der Gegenwart hineinzutragen (II, 192),
sondern jede Zeit aus sich selbst heraus verstehen zu lernen (II, 249, 605 ; 1, 426),
der seine Stellung gegenüber allem geschichtlichen Werden selbst durch die Worte
62 Ed. Heyck, Deutsche Geschichte, angez. von W. Meiners.
kennzeichnet: „Kein geschichtlicher Zustand hat das Anrecht auf ewige Fossilie-
rung; jeder besteht nur, solange die Kräfte, die ihn herbeigeführt haben, in
lebendiger Stärke fortbestehen. Alle Staatengeschichte ist von je ein unablässiges
Revidieren des Bestehenden gewesen, und nur die politische Degeneration hat
jeweils dem Recht der lebendigen das der toten Kräfte vorangestellt" (III, 124),
und der einen bleibenden, wirksamen geschichtlichen Fortschritt erst dann als
vollzogen ansieht, wenn die Gesamtheit, wenn alle mitgenommen werden (II, 403).
Bei einem Manne endlich, der so hoch und warm von deutschem Sinn und Sein
denkt wie Heyck, der festhält an Geibels Wort: „Es mag am deutschen Wesen
einmal noch die Welt genesen« (vgl. II, 254 u. III, 637/638), und für den Goethe
und Bismarck die Wegweiser zu unsern weitern Zielen sind, zu deren Erreichung
als dritter Schiller mit der ethischen Kraft, die aus ihm quillt, verhelfen werde
(III, 638). Zuverlässigkeit und Gründlichkeit der Forschung, Besonnenheit im
Urteil, treffende Charakteristik von Personen, Ereignissen und Zeitströmungen,
anschauliche, weil vielfach auf Autopsie beruhende Schilderung der Örtlichkeiten
(vgl. II, 441, III, 270), Veranschaulichung der mitgeteilten Vorgänge durch Ver-
knüpfung mit ähnlichen aus Vergangenheit und Gegenwart zeichnen neben der
Lebendigkeit der Darstellung das Buch aus. — Daß sich dabei auch Ausstellungen
gegen Inhalt und Form ergeben werden, ist bei einem Buche von dem Umfange
des vorliegenden, zumal in seiner ersten Auflage, nicht verwunderlich. Von Belang
und den Wert des Buches nicht unbedeutend verringernd sind die, die sich
auf die Form beziehen. Gerade die temperamentvolle Art des Verfassers und sein
Bestreben, den konkretesten, plastischsten Ausdruck zu finden, machen diesen
nicht selten allzu drastisch, gesucht und übertrieben, zuweilen auch unklar und
trivial. Auch ungebräuchliche Neubildungen, Unebenheiten und (bei aller Weit-
herzigkeit) unerträgliche Satzbildungen sind mir an dieser und jener Stelle aufge-
stoßen. Als Beispiele notiere ich „sich verdenken" (I, 367), „die Nichtversehrung
d. Pfalz" (II, 640), „die elende deutsche Rangfexerei" (II, 607), „die kraxelfesten
Bajowaren" (I, 421), „per Schub" (III, 220), „Scherben auf dem Trümmerhaufen
der Geschichte" (I, 415), „eine der aufsehenmachendsten Broschüren" (II, 664),
das „beichtväterlich abgeängstigte" Testament (111,210), „wo die Herzöge abseh-
bar aussterben mußten" (III, 252), „eine menschlich unendlich an ihm interessie-
rende Zeit" (III, 292), „das Vaterlandsgefühl stürm- und drangvoll sich verjüngen-
der deutscher Literatur" (III, 298), „sinneniederhaltende Frömmigkeit erdenflüch-
tigen Wollens ist mehr denn einmal ins enthüllte Unterliegen vor überhitzter
Sinnlichkeit und Erreglichkeit hinausresultiert" (II, 598) sowie Satzganze wie
III, 238: „Weil es eben ein außerordentliches Novum war"; auch III, 268, ZI. 29 v. u.
Ebenso halte ich an einigen Stellen die Polemik gegen heutige Sitten bzw. Un-
sitten, Personen, Ansichten, Tageserscheinungen, nicht am Platze, so II, 98, Abs. 2;
192, Abs. 2; 300, ZI. 25; III, 194, Abs. 2; I, 430, Abs. 2; Solche oft aus einer
Augenblicksstimmung heraus entstandene allgemeine Urteile stören den Eindruck
wissenschaftlicher Objektivität, halten der Kritik in ihrer Allgemeinheit nicht stand
und sind geeignet, diesen oder jenen Leser von vorneherein einem sonst guten
Buche zu entfremden.
Elberfeld. W. Mein er s.
H. A. L. Degener, Wer ist's?, angez. von A. Matthias. 63
Degener, Herrmann A. L., Wer ist's? Zeitgenossenlexikon, enthaltend Bio-
graphien nebst Bibliographien; Angaben über Herkunft, Familie, Lebenslauf,
Werke, Lieblingsbeschäftigungen, Parteiangehörigkeit, Mitgliedschaft bei Ge-
sellschaften, Adresse. Andere Mitteilungen von allgemeinem Interesse. IV. Aus-
gabe, vollkommen neu bearbeitet und wesentlich erweitert. Leipzig 1909.
H. A. Ludwig Degener. CLX u. 1626 S. 8°. geb. 12,50 M.
Schon nach knapper Jahresfrist ist das Buch von Degener, das im Jahrgang
VII, S. 411 eingehender gewürdigt ist, von neuem erschienen — eine bewunderns-
werte Leistung, wenn man alle die Redaktions- und Druckschwierigkeiten in Er-
wägung zieht und wenn man bedenkt, daß an sämtliche neu aufgenommenen
Personen Korrekturen haben versandt werden müssen. Fast 2000 völlig neue
Biographien sind aufgenommen; eine völlig neue Anordnung hat der Teil erfahren,
welche die Staatsoberhäupter betrifft; hier findet man jetzt auch die regierenden
Familien in ihren den Benutzer des Buches am meisten interessierenden Gliedern
zusammen; am Schluß auch die europäischen ehemaligen regierenden Häuser.
Sehr erweitert liegen auch Bibliotheken und Archive vor — eine sehr schätzens-
werte Verbesserung für jeden literarisch interessierten Menschen. In dieser Be-
ziehung sind auch die Lieblingsbeschäftigungen zu kennen von Wert, der Marken-
sammler findet eine große Anzahl von Genossen; auch der Freund von Schiller-
und Goetheliteratur oder kunstgeschichtlicher Studien und Seltenheiten sowie
von seltenen Münzen wird manchen verwandten Liebhaber finden und in Austausch
treten können. Wenn er aber einen Zeitgenossen entdeckt, der als Lieblings-
beschäftigung „Klavier, Orgel, Cello und Alpenhochtouren " angibt, so wird er
sich hüten, mit dem Betreffenden in ein und dasselbe Haus zu ziehen und wird
den Alpenhochtouristen bedauern und die Menschheit zugleich beglückwünschen,
daß jene Lieblingsinstrumente die Alpenhöhen nicht durchtönen können. Wes-
halb lernt denn jener Zeitgenosse nicht das Alphorn? — Zahlreiche Stich-
proben auf der Suche nach bekannten bedeutenden Männern haben die Prüfung be-
standen. Nur zwei Lücken und Versehen habe ich gefunden. Im Nachtrag ist Karl
Reinhardt als Direktor a. D. in den Ruhestand versetzt. Er befindet sich aber in
vielumfassender Tätigkeit im preußischen Kultusministerium als vortragender Rat.
Vermutlich hat Reinhardt den anfragenden Zettel nicht beantwortet und ist zur
Strafe pensioniert. Möge es allen so ergehen, die den fleißigen Herausgeber
H. A. L. Degener ignorieren. Vermißt habe ich den rheinischen Dichter und
Übersetzer Horazischer Oden Friedrich van Hoff s -Wiesbaden. (Gedichte 1883,
Vaterländische Klänge etc. Trier 1883 etc.)
Berlin. A. Matthias.
Festgesang zu Kaisers Geburtstag mit einem zweiten Text: Zur Einweihung
einer Schule. Dichtung von Peter Weinreis, für gemischten Chor mit Be-
gleitung des Pianoforte komponiert von Heinrich Weinreis. Berlin-Groß-
Lichterfelde. Chr. Fr. Vieweg. Part. 1,20 M., Chorstimme 0,20 M,
Wer in der Praxis steht, der weiß, wie schwer es oft ist, passende Gesänge
zu Schulfeiern zu finden, besonders wenn es sich um alljährlich wiederkehrende
Feiern handelt. Die meisten zu solchem Zweck komponierten Chöre sind eben
64 A. Hartmann, Grundregeln der Gesundheitspflege, angez. von F. Moldenhauer.
oft nicht mehr als sogenannte Gelegenheitskompositionen, jedes musikalischen
Wertes bar ; der ernste Gesanglehrer legt sie beiseite, weil er seine Jungen für zu
gut dafür hält, und greift lieber zu altbewährten Werken, auf das Neue verzich-
tend. Obiger Festgesang wird deshalb vielen eine willkommene Gabe sein, da er
in textlicher und musikalischer Beziehung für Schulzwecke durchaus geeignet er-
scheint. Die Musik ist ansprechend, melodiös und volkstümlich, dabei vornehm
und frei von jeglicher Trivialität. Ein a cappella zu singender, choraliter gehaltener
Mittelsatz bringt vortreffliche Abwechselung; der Satz ist gesanglich, und stimm-
lich wie musikalisch durch jugendliche Sänger sehr wohl auszuführen. Die ganze
Musik ist durchweht von einem gewissen singeseligen Hauch, der die beste Bürg-
schaft bietet, daß die Schüler den Festgesang gern singen und etwas davon haben
werden. Auch kleineren Vereinen kann derselbe herzlich empfohlen werden.
Berlin. Georg Rolle.
Hartmann, Arthur, Grundregeln der Gesundheitspflege. Berlin 1907.
R. Stricker. 31 S. 8». geh. 0,40 M.
Wie in Wien der bekannte Hygieniker Prof. Burgerstein in kurzen, gemein-
verständlichen Sätzen die wichtigsten Regeln der Gesundheitspflege aufgestellt hat,
so weiß auch diese kleine Schrift Hartmanns, an der eine große Anzahl von Medi-
zinern, besonders Berliner Schulärzte, mitgewirkt hat, in trefflicher Weise der Schule
und dem Hause bestimmte Anhaltspunkte zu geben für das, was die gesamte
heranwachsende Jugend und das deutsche Volk von der Pflege der Gesundheit
wissen muß. Es werden behandelt Wohnung, Kleidung, Ernährung, Hautpflege,
Pflege einzelner Organe, wie namentlich der Augen und Ohren usw., Bewegungs-
apparat, Blutkreislauf, Nervenapparat, Verhalten bei ansteckenden Krankheiten, erste
Hilfe bei Unglücksfällen und plötzlichen lebensgefährlichen Erkrankungen. An-
geschlossen an diese Ausführungen sind Sprüche, die leicht lern- und behaltbar
das sagen, was das Volk längst als ein Gemeingut von Gesundheitsregeln ge-
schaffen hat, so z. B.:
„Besser einen Tag gefastet.
Als den Magen überlastet;
oder:
Reiner Mund
Erhält gesund."
Köln. F. Moldenhauer.
Aufruf.
Vor dem Heimgange des Wirklichen Geheimen Rats
Friedrich Althoff
war unter Freunden der Gedanke erwogen worden, ihm am 19. Februar 1909, als
an seinem 70. Geburtage, ein durch Sammlungen aufzubringendes Kapital für die
ihm besonders am Herzen liegenden Zwecke zu übergeben. Jetzt, da er nicht
mehr unter uns weilt, tritt in weiten Kreisen der Wunsch hervor, sein Andenken
durch Sammlungen, sei es für sein Denkmal, sei es für einzelne von ihm geförderte
Unternehmungen, zu ehren. Die Unterzeichneten haben sich, um einer Zersplitte-
rung der Gaben vorzubeugen, dahin zusammengefunden, die Sammlungen auf
ein den Intentionen des Verewigten entsprechendes gemeinsames Ziel zu lenken.
Kein Unternehmen hat den Zeit seines Lebens um die Fürsorge für Bedrängte
und insbesondere für Witwen und Waisen bemühten Mann in den letzten Lebens-
jahren mehr beschäftigt, keins seinen innersten Wünschen so entsprochen, wie das-
jenige, das in der kurz vor seinem Hinscheiden Allerhöchst genehmigten Wilhelm-
Stiftung für Gelehrte Leben gewonnen hat. Wenn die zu Ehren Althoffs begründete
und auf Grund vieljähriger Erwägungen ganz nach seinen Absichten gestaltete
Stiftung nicht von Anfang an Althoffs Namen trug, so war dies lediglich seiner
überall auf das Zurücktreten der eigenen Person gerichteten Einwirkung zuzu-
schreiben. Seine Majestät der Kaiser und König haben indes durch Allerhöchsten
Erlaß vom 21. Dezember 1908 zu bestimmen geruht, daß die Wilhelm -Stiftung
für Gelehrte den Namen „Friedrich Althoff-Stiftung" tragen soll. Die Förde-
rung dieser zur Erreichung ihrer Ziele großer Mittel bedürfenden Stiftung wird im
Sinne Althoffs vor allem ins Auge zu fassen sein. Es entspricht aber sicher dem
allgemeinen Empfinden, einen Teil des Sammlungsbetrages zuvor dazu zu ver-
wenden, um auf seinem Grabe ein seiner Schlichtheit entsprechendes einfaches
Denkmal erstehen zu lassen. Sollten einzelne Beitragende daneben aus besonderen
Gründen andere, dem reichen Wirkungskreise Althoffs naheliegende Unternehmungen
bevorzugen, so wird das Komitee auch hierfür bestimmte Beiträge als eine Ehrung
des Verstorbenen mit Dank entgegennehmen können.
Wir wenden uns nicht nur an die unmittelbar an der Stiftung beteiligten
Kreise, sondern an alle, die dem vielseitigen und großzügigen Wirken Friedrich
Althoffs Interesse gewidmet haben, mit der Bitte, zu diesem Werke der Verehrung
und Dankbarkeit sich mit uns zu vereinigen.
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 5
66 Aufruf.
Spenden zu diesem Zwecke nimmt entgegen die Preußische Central -Genossen-
schaftskasse (Konto: Althoff- Ehrung), Berlin C. 2, Am Zeughause 2. Es
ist in Aussicht genommen, die Sammlungen möglichst schon am 19. Februar 1909
zum Abschluß zu bringen. Etwaige Anfragen und Mitteilungen bitten wir zu
richten an die Amtliche Akademische Auskunftsstelle der Königlichen Universität,
Berlin C. 2, Platz am Opernhause.
Fürst von Bülow, Reichskanzler.
Abb, Geheimer Hofrat, Berlin. Dr.phil.Ackermann-Teubner, Hofrat, Leipzig.
Dr. Adickes, Oberbürgermeister, Frankfurt a. M. Eduard Arnhold, Geheimer
Kommerzienrat, Berlin. Prof.Dr.Auwers, Geheimer Oberregierungsrat, Berlin. Back,
Unterstaatssekretär z. D., Wirklicher Geheimer Rat, Straßburg i. E. Dr. v. Behr-
Pinnow, Königlich Preußischer Kammerherr und Kabinettsrat Ihrer Majestät der
Kaiserin, Berlin. Prof, Dr. v. Behring, Wirklicher Geheimer Rat, Marburg. Prof.
Dr. Bezzenberger, Geheimer Regierungsrat, Königsberg i. Pr. Dr. Bode, Wirk-
licher Geheimer Oberregierungsrat, Charlottenburg. Dr. Böhm, Geheimer Ober-
regierungsrat, Karlsruhe. Dr. v. Böttinger, Geheimer Regierungsrat, Elberfeld.
Dr. Bumm, Präsident des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, Berlin, Prof. Dr. Darm -
Städter, Berlin. Prof, Dr. Hans Delbrück, Grunewald. Prof. Dr. Di eis, Geheimer
Regierungsrat, Berlin. Prof. Dr. Dilthey, Geheimer Regierungsrat, Grunewald.
Dr. Dittrich, Dompropst, Frauenburg i. Ostpr. Prof. Dr. Dönitz, Geheimer
Medizinalrat, Steglitz. Graf Henckel Fürst von Donnersmarck, Wirklicher
Geheimer Rat, Schloß Neudeck. Ebbinghaus, Geheimer Regierungsrat, Bonn.
Prof. Dr. Ehrlich, Geheimer Obermedizinalrat, Frankfurt a. M. Dr. Eilsberger,
Geheimer Regierungsrat, Bernburg. Dr. Elster, Geheimer Oberregierungsrat,
Berlin. Prof. Dr. Engl er. Geheimer Oberregierungsrat, Dahlem. Prof. Dr.
Enneccerus, Geheimer Justizrat, Marburg. Dr. Freiherr v. Erffa, Kammerherr,
Wernburg bei Pößneck. Vogel v. Falckenstein, General der Infanterie, Dolzig.
Prof. Dr. Finkler, Geheimer Medizinalrat, Bonn. Prof. Dr. Emil Fischer, Ge-
heimer Regierungsrat, Berlin. Prof. Dr. B. Franke 1, Geheimer Medizinalrat,
Berlin. Dr. Ger mar, Ministerialdirektor a. D., Charlottenburg. Dr. Alfred
Giesecke-Teubner, Verlagsbuchhändler, Leipzig. Ludwig Max Goldberge r.
Geheimer Kommerzienrat, Berlin. Prof. Dr. Gold seh ei der, Geheimer Medizinal-
rat, Berlin. Freiherr v. d. Goltz, Generaloberst, Wilmersdorf. Halley, Kais.
Wirkl. Geheimer Rat, Berlin. Frau Ottilie v. Hansemann, verw. Geh. Kom.-Rat,
Berlin. Prof. D. Dr, Harnack, Wirkl. Geheimer Oberregierungsrat, Berlin. Fürst
V, Hatzfeldt, Herzog zu Trachenberg. Dr. Haug, Sanitätsrat, Schierkeim
Harz. Dr. Heiligenstadt, Präsident der Preußischen Zentral-Genossenschafts-
kasse, Berlin. Prof. Dr, Freiherr v, Hertling, Königlich Bayerischer Kämmerer
und Geheimer Rat, München, Prof, Dr, Oscar Hertwig, Geheimer Medizinalrat,
Grunewald, Prof, Dr, Hillebrandt, Geheimer Regierungsrat, Breslau. Prof. Dr.
Hinneberg, Berlin. Dr. Höpfner, Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat,
Göttingen. Prof. Dr, Dr,-Ing. van't Hoff, Geheimer Regierungsrat, Charlottenburg,
Dr. Holle, Staatsminister und Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-
Angelegenheiten, Berlin, v. Hollmann, Admiral ä la Suite des Seeoffi'zierkorps,
Aufruf. 67
Berlin, v. Hülsen, Generalintendant der Königlichen Schauspiele, Berlin, v. Ihne,
Königlicher Geheimer Oberhofbaurat, Berlin. Dr. v. Ilberg, Generalarzt, Korps-
arzt des Gardekorps, Berlin. Prof. Dr. Irmer, Kurator der Universität, Greifswald,
Emil Jacob, Geheimer Kommerzienrat, Berlin. Dr. Jungeblodt, Oberbürger-
meister, Münster in Westf. Prof. D. Dr. Kahl, Geheimer Justizrat, Berlin. Prof.
Arthur Kampf, Präsident der Akademie der Künste, Berlin. Prof. Dr. Kehr, Ge-
heimer Regierungsrat, Rom. Prof. Dr. Kiepert, Geheimer Regierungsrat, Han-
nover. Prof. Dr. Klatt, Provinzial-Schulrat, Berlin. Prof. Dr. Dr.-Ing. Klein,
Geheimer Regierungsrat, Göttingen. Dr. Knappe, Geheimer Legationsrat, Grune-
wald. Prof. Dr. König, Geheimer Medizinalrat, Grunewald. Dr. Kopp, Kardinal,
Fürstbischof, Breslau. Leopold Koppel, Geheimer Kommerzienrat, Berlin. Dr.
Koser, Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat, Charlottenburg. Prof. Dr. Krüger,
Oberlehrer, Groß-Lichterfelde. Prof. Dr. Kutner, Berlin. Lau dien, Gymnasial-
direktor, Breslau. Prof. Dr. Friedrich Leo, Geheimer Regierungsrat, Göttingen.
Graf v. Lerchenfeld-Koefering, Kgl. Bayerischer außerordentlicher Gesandter
und bevollmächtigter Minister, Berlin. Dr. Lewald, Geheimer Oberregierungsrat,
Berlin. Prof. Dr. Lexis, Geheimer Oberregierungsrat, Göttingen. Prof. Dr. v.
Leyden, Wirklicher Geheimer Rat, Berlin. Prof. Dr. Liesegang, Direktor der
Landesbibliothek, Wiesbaden. Freiherr Rochus v. Liliencron, Wirklicher Ge-
heimer Rat, Berlin. Graf v. Limburg-Stirum, Wirklicher Geheimer Rat, Groß-Peter-
witz bei Kanth. Dr. Lisco, Kammergerichtspräsident, Berlin. Prof. Dr. Loening,
Geheimer Justizrat, Halle a. S. Freiherr v. Man teuffei. Wirklicher Geheimer
Rat, Landesdirektor der Provinz Brandenburg, Berlin. Marx, Oberbürgermeister,
Düsseldorf. Dr. Matthias, Geheimer Oberregierungsrat, Berlin. Prof. Dr. Mell-
mann, Oberrealschuldirektor, Berlin. Ernst v. Mendelssohn -Bartholdy, Ge-
heimer Kommerzienrat, Berlin. Dr. Mertens, Gymnasialdirektor, Brühl. Meyer,
Geheimer Regierungsrat, Kurator der Universität, Halle a. S. ;,Dr. Milkau,
Bibliotheksdirektor, Breslau. Freiherr v. Mirbach, Oberhofmeister Ihrer Majestät
der Kaiserin, Berlin. Frau Rudolf Mosse, Berlin. D. Müller, Konsistorial-
präsident, Kurator der Universität, Kiel.. Dr. Dr.-Ing. Naumann, Ministerial-
direktor, Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat, Berlin. Prof. Dr. Nernst, Ge-
heimer Regierungsrat, Berlin. Prof. Dr. Nietner, Oberstabsarzt a. D., Berlin.
Prof. Dr. Nissen, Geheimer Regierungsrat, Bonn. Graf v. Oppersdorff, Ober-
glogau. Dr. Osterrath, Geheimer Oberregierungsrat, Göttingen. Prof. Dr.
Paszkowski, Berlin. Prof. Dr. v. Renvers, Geheimer Medizinalrat, Berlin. Frei-
herr V. Rheinbaben, Staats- und Finanzminister, Berlin. Prof. Dr. Sachau,
Geheimer Oberregierungsrat, Berlin. Dr. Sachse, Geheimer Regierungs- und
Schulrat, Hildesheim. Prof. Dr. v. Savigny, Geheimer Regierungsrat, Münster.
Prof. Seh aper, Bildhauer, Berlin. Prof. Dr. Schiemann, Berlin. Prof. Dr.
Schjerning, Generalstabsarzt der Armee, Charlottenburg. Prof. Dr. Erich
Schmidt, Geheimer Regierungsrat, Berlin. Dr. Friedrich Schmidt, Wirklicher
Geheimer Oberregierungsrat, Berlin. Prof. Dr. v. Schmoller, Berlin. Prof. Dr.
Schollmeyer, Geheimer Justizrat, Marburg. Prof. Dr. Schwalbe, Berlin,
v. Schwartzkoppen, Wirklicher Geheimer Legationsrat, Berlin. Dr. Schwenke,
Geheimer Regierungsrat, Berlin. Prof. Dr. Sering, Grunewald. Karl Siegis-
5*
68 Aufruf.
mund, Verlagsbuchhändler, Steglitz. Prof. Dr. Siemerling, Geheimer Mediziiial-
rat, Kiel. Dr. Eduard Simon, Geheimer Kommerzienrat, Berlin. Prof. Dr. Dr.-
Ing. Slaby, Geheimer Regierungsrat, Charlottenburg. Frau Franziska Speyer,
geb. Gumbert, Frankfurt a. Main. Stadler, Wirklicher Geheimer Oberregierungs-
rat, Straßburg. Prof. Dr. Stampe, Geheimer Regierungsrat, Greifswald. Prof. Dr.
Stolz el, Wirklicher Geheimer Rat, Kronsyndikus, Berlin. Dr. v. Studt, Staats-
minister, Berlin. Dr. Thiel, Ministerialdirektor, Berlin. Prof. Dr. Thoms, Di-
rektor des Pharmazeutischen Instituts, Dahlem. Dr. Thür, Wirklicher Geheimer
Oberbaurat, Berlin. Tilmann, Geheimer Oberregierungsrat, Berlin. Prof. Tuaillon,
Bildhauer, Berlin, v. Valentini, Wirklicher Geheimer Rat, Geheimer Kabinettsrat
Seiner Majestät des Kaisers und Chef des Geheimen Zivilkabinetts, Berlin. Dr.
Vollert, Verlagsbuchhändler, Berlin. Dr. Waentig, Wirklicher Geheimer Rat,
Ministerialdirektor, Dresden. Prof. Dr. Waldeyer, Geheimer Medizinalrat, Berlin.
Frau Wentzel-Heckmann, verw. Kgl. Baurat, Berlin. Dr. Wever, Unterstaats-
sekretär im Kultusministerium, Wirklicher Geheimer Rat, Berlin. Prof. Dr.
V. Wilamowitz-Moellendorff, Geheimer Regierungsrat, Berlin. Graf v.
Zedlitz-Trützschler, Staatsminister a.D., Oberpräsident der Provinz Schlesien,
Breslau. Prof. Dr. Zorn, Geheimer Justizrat, Kronsyndikus, Bonn.
Dem vorstehenden Aufruf habe ich nur weniges hinzuzufügen: Vor allem den
Wunsch, daß in den Kreisen der unmittelbar an der Stiftung beteiligten akademisch
gebildeten Schulmänner rege und dauernde Teilnahme sich zeigen möge für ein
Unternehmen, das hervorgegangen ist aus ernster Sorge gerade auch für die
leidenden und bedürftigen Mitglieder des Oberlehrerstandes und ihrer Angehörigen
im weitesten Sinne. Große Summen wird der einzelne ja nicht dieser Stiftung zu-
führen können; aber laufende Beiträge sind ihm keine Last; auf diese kommt's
besonders an. Wenn jeder Schulmann alljährlich sein Scherflein spendet, dann
wird der Wunsch des Stifters erfüllt werden, daß vielen Bedürftigen geholfen
werden kann, für welche bisher keinerlei Mittel zur Verfügung standen. Die
Stiftung hat ihren Sitz in Berlin. Von den Delegierten der Provinzial-Vereine
sind in den Vorstand der Stiftung kooptiert worden die Herren Professor Walther,
Direktor des Realgymnasiums in Potsdam, Professor Dr. Lortzing vom Sophien-
Gymnasium, Professor Dr. Krüger vom Luisenstädtischen Gymnasium und Professor
Dr. Möller vom Königstädtischen Gymnasium in Berlin.
Matthias.
[. Abhandlungen.
Ober Astronomie auf den höheren Schulen.
Die Himmelskunde hat auf den höheren Schulen geringere Beachtung ge-
funden, seitdem einer Lehrergeneration, für welche die Astronomie zum Inbegriff
des mathematischen Studiums und Examens gehörte, eine andere gefolgt ist, die
die Astronomie als Prüfungsfach überhaupt nicht verwerten konnte und deren In-
teressen wohl mehr durch die aufstrebende Physik beherrscht waren. Die — zur-
zeit noch probeweise — Wiedereinführung der Astronomie in das Oberlehrer-
examen mag die nächste Generation der Oberlehrer wieder mehr auf die Stern-
kunde hinlenken. Doch darauf mag nicht warten, wer in einiger Kenntnis astro-
nomischer Dinge einen notwendigen und wohltätigen Bestandteil der allgemeinen
Bildung sieht. Daher freue ich mich, auf Veranlassung von Herrn Geheimrath
Matthias als Astronom hier ein paar Worte über die Astronomie im Schulunterricht
sagen zu dürfen. Sie mögen dazu gut sein, wieder einmal an den vortrefflichen
Unterrichtsstoff zu erinnern, der aus der Himmelskunde zu schöpfen ist, und ein
paar flüchtige Anregungen hinzufügen, die vielleicht über das Herkömmliche hin-
ausgehen.
Drei allgemeine Gesichtspunkte können als eigentümliches Ziel der Beschäftigung
mit astronomischen Gegenständen besonders genannt werden: Die freie Betätigung
der Raumanschauung, die Erkenntnis der ungeheuren Größe der Welt verglichen
mit irdischen Dimensionen, die Einführung in den Begriff des Naturgesetzes und
der exakten Naturwissenschaft überhaupt.
Die beiden ersten Punkte lassen sich schon im Unterricht der Unterstufe zur
Geltung bringen. Hier hat wohl bereits allgemein im Geographieunterricht die
Kugelgestalt der Erde, das kopernikanische Weltsystem, die Entstehung der Jahres-
zeiten, Zeitrechnung und Kalender Erwähnung gefunden. Auf diese Dinge, deren
Zugehörigkeit zum Schulpensum selbstverständlich und pädagogisch durchgearbeitet
ist, brauche ich nicht einzugehen. Es würde gut sein, neben der üblichen theore-
tischen Erklärung auf dem Papiere oder an Modellen, die Jugend auch auf das
wirkliche Anschauen des Himmels hinzulenken. Die Vorstellung eines etwa vor-
gezeigten Planetariums tritt allzuleicht an Stelle derjenigen der Wirklichkeit. Doch
kann eine Anzeichnung der Hauptpunkte und -kreise des Himmels an der Decke
des Schulzimmers förderlich sein. Es müßten dann namentlich die wichtigsten
70 K. Schwarzschild,
Sternbilder (etwa großer und kleiner Bär, Cassiopeia, Perseus, Leier, Schwan,
Orion, Fuhrmann) in Bildern vorgeführt und die Schüler zu ihrer selbständigen
Aufsuchung am Nachthimmel mittels einer drehbaren Sternkarte angehaltan werden.
Es könnte versucht werden, etwas von der Vertrautheit alter Hirtenvölker und
Seefahrer mit den Gestirnen, die ihnen den Weg wiesen, auch bei uns wieder
lebendig zu machen. Auch das Gefühl der außerordentlichen Kleinheit der Erde
im Verhältnis zum ganzen uns sichtbaren Universum kann schon hier zur Deut-
lichkeit entwickelt werden. Man kann die große Entfernung des Mondes aus dem
Mitwandern desselben beim Spazierengehen ableiten. Man kann ferner mit Aristarch
konstatieren, daß beim ersten Mondviertel der Winkel zwischen Sonne und Mond
ein rechter ist, und daraus auf die große Entfernung der Sonne im Verhältnis zum
Monde schließen. Man beobachte vielleicht auch die Mißweisung des Kompasses
gegen den Polarstern oder die Mittagssonne. Es wird nicht schlimm sein, wenn
das alles zunächst nur obenauf sitzt. Denn schon die äußerliche Kenntnis einiger
Sternbilder und die spielende Beschäftigung mit ihnen, die Freude, sie am Himmel
wiederzufinden, kann die Grundlage eines tieferen Erfassens der räumlichen Be-
dingtheit unserer Erde und unserer Existenz v/erden.
Auf der Oberstufe sind natürlich die Möglichkeiten für astronomische An-
wendungen und Exkurse viel weiter. Die übliche Behandlung einfacher Aufgaben
der mathematischen Geographie mittels der Elemente der sphärischen Trigono-
metrie kann mehr berücksichtigt werden und namentlich durch eine Beschäftigung
mit der wirklichen Stellung der Gestirne am Himmelsgewölbe und im Räume
ergänzt werden. Man kann im Klassenzimmer fragen: Wo steht jetzt die Sonne?
Wie hat man ein Blatt Papier zu halten, damit es der Ebene der Erdbahn im
gegenwärtigen Augenblick parallel liegt? Deute in die Richtung, in welcher sich
eben die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne bewegt! Man kann die Stellung
eines Planeten aus der Bewegung in einer Kreisbahn berechnen und ihn dann am
Himmel wiederfinden (Schülke). *) Man kann ferner hier die Größe des Weltraums
durch die Parallaxe der Fixsterne, durch ihre Entfernung in Lichtjahren und in
Eisenbahnjahren, durch die Analogie des Andromedanebels mit dem ganzen
Milchstraßensystem verdeutlichen. Man kann ein Bild der Welt, von einem anderen
Planeten oder Fixstern aus gesehen, entwerfen. Man kann, alles in allem, die
Geister zu einem freien Schweben im Räume bewegen, bei welchem sie die Erde
als ihren zwar vertrautesten, aber doch zufälligen Standpunkt empfinden, und so
nicht nur die Raumvorstellung aufs kräftigste fördern, sondern für einen Augenblick
auch eine gewiß heilsame sittliche Erhebung über irdischen Kleinkram zuwege
bringen.
Als Wissenschaft des Gesetzes steht die Astronomie trotz der Fortschritte der
Physik noch immer voran. Sie prophezeit durch Deduktion aus dem Attraktions-
gesetz mit der Genauigkeit, mit der das unbewaffnete Auge beobachtet, viele
Jahrtausende vorwärts und schaut ebenso weit zurück. Die Exaktheit, mit der sie
die Beobachtungen der Gegenwart bearbeitet, wird illustriert durch den Umstand,
daß man zurzeit eine achtstellige Logarithmentafel für den unmittelbaren Gebrauch
*) Die Zahlengrundlagen s. A. Schülke, Vierstellige Logarithmentafeln. B. G. Teubner. 1907.
über Astronomie auf den höheren Schulen. 71
herstellt, da die bisherigen siebenstelligen nicht mehr ausreichen. Der Ersatz der
Induktion durch die Deduktion, welcher das Wesen des Naturgesetzes ausmacht,
findet sein typisches Beispiel in der Ableitung der Keplerschen Gesetze aus dem
Newtonschen Gesetz. Wenn auch die Ableitung der elliptischen Bahnform zu
schwierig ist, so kann doch die Erhaltung der Flächengeschwindigkeit und die
Gültigkeit des dritten Keplerschen Gesetzes für Kreisbahnen aus dem Newton-
schen Gesetz deduziert und damit das logische Prinzip genügend verdeutlicht
werden.
Auch auf dem Gebiet der Astrophysik ist neuerdings manches weit genug
gereift, um auf der Schule Verwendung finden zu können. Man weiß aus der
Bewegung der Doppelsterne, daß die Fixsterne der Masse und Größe nach, aus
dem Studium ihrer Spektren, daß sie auch der Temperatur und Leuchtkraft nach
nicht allzusehr von der Sonne verschieden sind. Wenn man nun beobachtet, daß
der uns nächste Stern a Centauri 40 000 000 000 mal schwächer leuchtet, als die
Sonne, so kann nach dem quadratischen Gesetz der Abnahme der Lichtintensität
auch hieraus wieder die ungeheure Entfernung der Fixsterne (für den nächsten
Stern a Centauri aus der Lichtintensität 200 000, nach den Parallaxenmessungen
280000 Sonnenweiten) erschlossen werden. Das Dopplersche Prinzip kann be-
handelt und verwandt werden, um unmittelbar die Annäherung zwischen uns und
den Sternen des Hercules, die wachsende Entfernung von den gegenüberiiegenden
Sternen und damit die Bewegung des Sonnensystems im Weltraum nachzuweisen.
Die Verfinsterungserscheinungen der veränderlichen Sterne, insbesondere des Algol,
geben die nettesten Übungsbeispiele zur Kreisberechnung. Man vergleiche hierzu
des Verfassers Aufsatz: „Über astronomische Beobachtungen mit elementaren Hilfs-
mitteln."-), in welchem auch auf alleriei Möglichkeiten zu astronomischen Beob-
achtungen auf der Schule hingewiesen ist.
Zum Schlüsse seien noch für den astronomisch interessierten Pädagogen drei
Schriften besonders hervorgehoben. Für die Unterstufe die Programmschrift von
Fr. Edler „Über die Aneignung astronomischer Begriffe auf der Schule", Städtische
Oberrealschule zu Halle a. S. 1903. Für die Oberstufe Diesterwegs populäre
Himmelskunde, neu bearbeitet von W. Meyer und B. Schwalbe, sowie Th. Epstein,
„Geonomie" (Wien 1888).
Göttingen. K. Schwarzschild.
Das pädagogische Seminar.
In Bayern *•=) ist die Frage der seminaristischen Vorbildung des höheren Lehrer-
standes wohl zuerst im Jahre 1888 auf der 15. Generalversammlung des bayerischen
Gymnasiallehrervereins öffentlich besprochen worden. Wenn auch damals die Thesen
*) In »Neue Beiträge zur Frage des mathematischen und physikalischen Unterrichts an
den höheren Schulen." Leipzig 1904. B. G. Teubner. 190 S. 8«. 3,60 M.
*'■) Einführung der Kandidaten der Philologie in die pädagogische
Praxis. Von Dr. Karl Neff, Professor am Königl. Wilhelms -Gymnasium in München.
München 1908. Beck. XI u. 296 S. 8«. geb. 6 M.
72 W. Fries,
des Professors Fleischmann (Hof) nicht die Billigung der Mehrheit fanden, so
war doch damit eine wirksame Anregung gegeben, und die Unterrichtsverwaltung
entschloß sich zur Prüfung der in andern deutschen Staaten dafür bestehenden
Einrichtungen. Die hiermit beauftragten angesehenen Schulmänner, von denen ich
nur den jetzigen Rektor, Oberstudienrat und Mitglied des Obersten Schulrats
Gerstenecker in München nenne, sprachen sich in ihrem Gutachten entschieden
gegen das von Fleischmann empfohlene pädagogische Universitätsseminar aus,
und so richtete man im Jahre 1893 an fünf Gymnasien des Landes pädagogisch-
didaktische Kurse ein, eigentümlicherweise aber nur für die Kandidaten der philo-
logischen Fächer, unter denen man außer den alten Sprachen auch das Deutsche,
die Geschichte und die Geographie mit einbegreift, während man sich bei den
übrigen Kandidaten damit begnügt, daß sie bei der Staatsprüfung selbst ihre di-
daktische Geschicklichkeit an einer geeigneten Mittelschule Münchens nachweisen.
Endgültig wurde die Einrichtung durch die im Jahre 1897 erschienene Seminar-
ordnung, die uns auf Seite 4—9 des vorliegenden Buches wörtlich mitgeteilt wird.
Es gibt jetzt acht bayerische Gymnasialseminare: in München (Max- und Wilhelms-
Gymnasium), Straubing, Erlangen, Nürnberg (Altes Gymnasium), Würzburg (Altes
Gymnasium), Regensburg (Altes Gymnasium) und Speyer.
Über die Arbeit dieser Gymnasialseminare haben unsere süddeutschen Kollegen
im Gegensatz zu den zahlreichen Veröffentlichungen, die bei uns vor allem in den
, Lehrproben und Lehrgängen" erschienen sind, geschwiegen; infolge davon herrschte
bisher sogar in dem eigenen Lande, sofern man nicht etwa durch den Artikel von
Friedrich Gebhard in den Blättern für das bayerische Gymnasialschulwesen vom
Jahre 1896 interessiert worden war, Unkenntnis oder wenigstens Unklarheit, zum
Teil sogar ungünstiges Vorurteil, geschweige denn daß wir Norddeutschen einen
Einblick in die Verhältnisse hätten gewinnen können. Diesem Übelstande wird
nun durch den Verfasser, der in seinem Vorwort das „süddeutsche Schweigen"
mit Recht verurteilt, gründlich abgeholfen; er hofft, durch sein Buch nicht bloß
die heimischen Amtsgenossen zu unterrichten und zu fördern, sondern auch den
bisherigen norddeutschen Lehrmeistern, deren Erfahrungen man gern verwertet
habe, bemerkenswerte Momente darzubieten. Und in der Tat müssen wir ihm für
seine eingehenden und lehrreichen Berichte Dank wissen, der Austausch von Er-
fahrungen, der Vergleich verschiedenartigen Betriebes kann immer nur der guten,
wichtigen Sache zum Vorteil gereichen, und wenn ein Mann wie Neff, der jetzt
schon 6 Jahre lang an dem wohl hervorragendsten Gymnasialseminar des Landes
mit voller Hingebung tätig ist, seine Ansichten und seine Erfolge in offenster
Weise darlegt, so ist das doppelt willkommen.
Er gliedert den Stoff in 12 Kapitel. Die ersten vier handeln von den Gymnasial-
seminaren im allgemeinen, von der Seminarleitung, von den Kandidaten und von
dem Seminarbetriebe. Dann folgen in den Kapiteln 5—9 Vorträge über den
deutschen, den lateinischen, den griechischen, den geschichtlichen und den geo-
graphischen Unterricht. Am Schluß werden dann noch besprochen die pädagogische
Schlußarbeit, die Protokolle und die Beurteilung der Kandidaten.
Die Beschreibung des Verfahrens und der ganzen Einrichtung geht so genau
ins einzelne, daß kaum noch eine Frage offen bleibt, und man gewinnt die Über-
Das pädagogische Seminar. 73
Zeugung, daß Plan und Ausführung im ganzen durchaus gesund und zweckmäßig
ist. Ich darf mich daher in meiner Anzeige darauf beschräniten, einerseits einige
von unserm preußischen Verfahren abweichende Punlite herauszuheben, anderseits
einige gegensätzliche Ansichten zu äußern, wobei ich der im Buche gegebenen
Anordnung folgen will.
Die Leitung des Seminars liegt natürlich wie bei uns in der Hand des
Rektors, diesem aber steht nur ein einziger seiner Lehrer als Gehilfe zur Seite,
der sich dann mit dem Rektor in die Verantwortlichkeit für den Erfolg teilt, somit
eine sehr bedeutsame Rolle spielt, zumal wenn er sich unablässig und in der per-
sönlichsten Art, wie Neff es tut, um die Kandidaten kümmert. Auf die Klasse
des Seminarlehrers konzentrieren sich auch die Übungen der Kandidaten. Hier
hospitieren sie zunächst, hier machen sie ihre Unterrichtsversuche, hier erteilen sie
die Probelektionen, so daß sie recht eigentlich die Übungsschule darstellt und
dadurch eine starke Belastung erfährt, die nur zum Teil durch Heranziehung von
Parallelabteilungen oder von anderen Klassen gemildert wird. Auch die Wahl der
Klassenstufe — es .ist die fünfte, nach unserem System also die Obertertia — er-
weckt Bedenken, weil sie disziplinare Schwierigkeiten bietet. Ich halte in Rück-
sicht des Lebensalters, der geistigen Reife der Knaben und der Aufgaben des
Lehrplanes die Quarta für weit mehr geeignet und verweise zur Begründung auf
die Ausführungen in meinem Buche „Die Vorbildung der Lehrer" (München 1895)
S. 165.
In dem Kapitel, wo von der Vorbildung der Kandidaten die Rede ist, macht
Neff den Vorschlag, diese erst während der Seminarzeit in die Ge'schichte der
Pädagogik einzuführen. Ich möchte meinerseits diese geschichtlichen Vorkennt-
nisse um keinen Preis entbehren, das Verständnis und das Interesse dafür ist auf
der Universität gewiß schon vorhanden, wenn man nur die Geschichte der Päda-
gogik dort als das, was sie ist, nämlich als einen Ausschnitt aus der Kultur-
geschichte behandelt. Der Kursus ist einjährig, dauert aber, genau genommen, nur
8V2 Monate, an Remuneration erhalten die Kandidaten monatlich in München 45 M.,
in den anderen Städten wunderlicherweise mehr, nämlich 60 M. Die Auswahl
aus der pädagogischen Literatur, die Neff in der Bibliothek für unentbehr-
lich hält, ist sehr bescheiden, irrtümlicherweise wird hier Schraders Erziehungs-
und Unterrichtslehre als zweibändig aufgeführt. Die Eröffnungs- und Schluß-
konferenz hat nach der Schilderung des Verfassers für mich etwas zu Feierliches»
in Norddeutschland pflegen wir das natürlicher, gemütlicher abzumachen. Die
praktischen Übungen beginnen naturgemäß, nachdem sie durch die Sitzungen
und das Hospitieren vorbereitet sind, mit den Unterrichtsversuchen, diese Leistungen
sind doch aber wirklich zu geringfügig, wenn sich dabei „wenigstens drei Kan-
didaten" in eine einzige Stunde teilen sollen; für die Schüler wird dann die Lektion
wirklich in Stücke gerissen. Dann folgen Probelektionen in reichlicher Anzahl,
etwa 11—12 für jeden Kandidaten im Jahre, die eingehende Kritik schließt sich
möglichst bald daran an. Endlich wird der Kandidat auch zu selbständiger Unter-
richtserteilung zugelassen.
Mit Recht bewertet Neff die Referate der Kandidaten sehr hoch, sie gelten
ihm mit als die wichtigsten Aufgaben des Seminarbetriebes, und er bedauert nur.
74 W. Fries, Das pädagogische Seminar.
daß über den anderen Leistungen keine Zeit bleibt, jedes Mitglied mehr als ein
Referat halten zu lassen, eine Zahl die allerdings völlig unzureichend ist und hinter
dem preußischen Maße ganz verschwindet. Aber wie wäre es denn, wenn man
sich in Bayern dazu entschlösse, die Vorträge, die der Seminarvorstand und der
Seminarlehrer nach Maßgabe der Instruktion halten sollen, einzuschränken? Ich
will ihnen Sinn und Zweck keineswegs absprechen, sie bilden nach Absicht der
Unterrichtsverwaltung einen wirksamen Abschluß der theoretischen Belehrung und
sollen alle die Einzelheiten, die bei den Besprechungen des Hospitierens und der
Probelektionen vorgeführt worden sind, gewissermaßen systematisch zu einem Ge-
samtbild vereinigen. Aber wie verhalten sich diese Vorträge zu den Referaten
der Kandidaten? Könnten solche Zusammenfassungen nicht auch dem Kandi-
daten selbst zugemutet und dadurch die Vorträge der Seminarleiter verkürzt, ver-
einfacht, zum Teil überflüssig gemacht werden? Und wie verhalten sich die Kan-
didaten bei diesen Vorträgen? Doch nicht etwa nachschreibend wie vordem als
Studenten auf der Universität? Der Verfasser teilt die von ihm gehaltenen Vor-
träge (vgl. die Inhaltsübersicht Seite 3) auf Seite 81—269 wörtlich mit, sie bilden
also den Hauptinhalt des Buches, und sie haben wirklich einen gediegenen Wert.
Neff entwickelt hier wie schon in früheren Teilen des Buches, z. B. auf Seite 21
und auf Seite 44 durchaus gesunde Ansichten und gründliche Fachkenntnisse im
größeren Zusammenhange: Daß man sich in die Gedanken- und Gefühlswelt der
Jugend hinein denken müsse, um die Haupttugenden des Lehrers, Geduld und
Ruhe, zu gewinnen; daß man alles mechanische Wesen zu vermeiden habe;
daß sonniger Humor in das Schulzimmer hineinleuchten müsse und dergleichen
mehr.
Nebenbei bemerke ich, daß die Vorträge, die der Seminarvorstand Ober-
studienrat von Arnold über Erziehung und über den lateinischen Unterricht auf
der Oberstufe gehalten hat, nicht mit abgedruckt sind.
Mit der vorgeschriebenen pädagogischen Schlußarbeit, die ein mit dem
Seminarbetrieb zusammenhängendes Thema behandeln soll, hat sich Neff bisher
nicht befreunden können, er mißt ihr nur einen stilistischen Wert bei (vgl. S. 73
und 271), möchte sie am liebsten anderen Aufgaben opfern. Er scheint sie mir
doch stark zu unterschätzen, in Preußen legen wir ihr eine große Bedeutung bei,
sie wird an die Behörden weiter gereicht und dient diesen mit zur Beurteilung
der Leistung des betreffenden Seminars.
Endlich noch ein Wort über die Protokollführung, auf die in München
sehr große Sorgfalt verwandt wird. Wenn der Kandidat die in seinem Tagebuch
aufgezeichneten Bemerkungen ordnen und stilistisch zu einem Entwurf verarbeiten,
diesen Entwurf dann dem Seminarlehrer und dem Vorstande zur Korrektur vor-
legen, hierauf die Reinschrift anfertigen, endlich auch diese noch durch den Seminar-
leiter durchsehen lassen soll, so erscheint das doch als eine gar zu schülerhafte
Anleitung, über die wissenschaftlich gebildete junge Männer erhaben sein müssen.
Die S. 282ff. abgedruckten Protokollproben sind doch einfach genug und er-
fordern keinen großen Kunstverstand. Auch sonst tritt im Münchener Seminar-
betrieb das Bestreben, die Kandidaten zur Selbständigkeit zu erziehen, nicht genug
hervor, vgl. z. B. S. 13 und 61.
W. Thamhayn, Eine Ausstellungsgruppe für Reformschulwesen, 75
Dem Verfasser mögen meine Bemerkungen beweisen, welches Interesse ich
an seinem gehaltvollen Buche genommen habe, den Kollegen empfehle ich das-
selbe angelegentlich zur Lektüre.
Halle a. S. Wilhelm Fries.
Eine Ausstellungsgruppe für Reformschulwesen.
In der alten Waffenstadt Solingen fand vom 12.— 23. September eine Aus-
stellung für Säuglings- und Kinderpflege statt. Man hatte beschlossen an sie
eine Gruppe für höheres Schulwesen anzugliedern, deren Aufgabe es sein sollte,
einige von den Reformbewegungen, die gegenwärtig auf dem Gebiete der Gym-
nasien und Realanstalten hervortreten, zur Anschauung zu bringen. Die Auswahl
konnte unter den obwaltenden Umständen nicht schwer sein. Da Solingen seit
Ostern dieses Jahres den Umbau seines Gymnasiums in ein Reformgymnasium
vollendet hat, lag es nahe, zunächst an den Altonaer und Frankfurter Lehrplan
zu denken. In enge Beziehung aber zu dem letzteren, wenngleich nicht in not-
wendige Verbindung mit ihm, ist die neusprachliche direkte Methode getreten,
die, mag man nun ihren strengen Vertretern folgen oder nicht, für jeden Neu-
philologen, der ein offenes Auge für die gegenwärtige Entwicklung seines Faches
hat, eine Quelle reichster Anregung bildet; untrennbar verbunden mit ihr ist die
Phonetik in der Schule.
Es galt nun zunächst, durch graphische Darstellungen die Eigenart und Ver-
breitung des Altonaer und Frankfurter Systems zur Darstellung zu bringen, letztere
mit Rücksicht auf den lokalen Charakter des ganzen Unternehmens unter Be-
schränkung auf Preußen.
Die Abweichungen der beiden Lehrpläne von den alten Systemen und unter-
einander, wie sie in der Stundenverteilung für die einzelnen Fächer hervortreten,
wurden in folgender Weise dargestellt. Die irgendwie umstrittenen Fächer —
Deutsch, Lateinisch, Griechisch, Französisch, Englisch, Geschichte und Erdkunde,
Rechnen und Mathematik, Naturwissenschaften — folgten senkrecht aufeinander.
Nicht in Betracht gezogen war also z. B. der Religionsunterricht, der keine Ver-
änderung erfahren hat. Hinter jeder Fachbezeichnung standen vertikal die Klassen-
bezeichnungen la bis VI. In wagerechter Richtung war für jedes Fach und jede
Klasse die Zahl der Wochenstunden am Gymnasium, Reformgymnasium, Real-
gymnasium und Reformrealgymnasium a) Altonaer, b) Frankfurter Systems nach-
einander in der Weise bezeichnet, daß jede Stunde durch ein kleines Quadrat
dargestellt wurde. Es ergab sich danach z. B. für den deutschen Unterricht am
Normalgymnasium (einschließlich der Geschichtserzählungen in Sexta und Quinta)
nachfolgendes Bild:
Aus naheliegenden Gründen waren in einer letzten senkrechten Reihe die
Stundenzahlen für die Oberrealschule angegeben, wenngleich ihre Berücksichtigung
nicht in dem Plane der Darstellung lag.
Mit Hilfe dieser Übersicht war es möglich, jedem, der es wünschte, gelegentlich
der Erläuterungen, die in dieser Abteilung wie in allen anderen zu festgesetzten
76
W. Thamhayn,
Stunden und auch außerhalb derselben stattfanden, das Eigentümliche der ver-
schiedenen Lehrpläne schnell und leicht klar zu machen.
Eine zweite Tafel stellte die allmähliche Zunahme der Reformschulen Preußens
in einer aufsteigenden Linie dar. Sie zeigte, wie nach der Einführung der Reform
am Altonaer Realgymnasium (1878), der Annahme ihres Systems durch eine
Abteilung der Guerickeschule in Magdeburg^) (1887), der Übertragung der Reform-
idee nach Frankfurt am Main und ihrer Neugestaltung daselbst (1892) ein lang-
sames Aufsteigen bis 1901 stattfindet (jährlich 1 —4 Anstalten). Dann geht die
Linie bis 1908 senkrechter empor (Jahreszuwachs 6 — 13). Als Gesamtziffer ergab
sich für den 1. April 1908 die Zahl 94.**) Das Ganze zeigt glücklicherweise ein
in keiner Weise überstürztes, wohl aber stetiges und sicheres Wachstum.
I a
Ib
IIa
IIb
III a
III b
IV
V
VI
4
26
Die geographische Verbreitung der Reformschulen in Preußen war auf ein
Exemplar der zu derartigen Zwecken recht gut geeigneten Umrißkarten aus dem
geographischen Schulverlag von H. Wagner und E. Debes in Leipzig eingezeichnet.
Wenn man von Frankfurt a. Main mit 3 Vollanstalten der neuen Richtung absieht,
*) Sie wurde 1897 zum Frankfurter System übergeführt und besteht seit Ostern 1907 als
selbständiges Realgymnasium.
**) Andere zählen etwas mehr. Dies erklärt sich zumeist daraus, daß sie auch die eine
oder andere Anstalt mitrechnen, die erst nach dem oben bezeichneten Termin dem zu-
ständigen Kgl. Prov.-Schulkollegium unterstellt wurde oder ihm auch jetzt noch nicht
unterstellt ist. — Ganz irreführend ist die Übersicht über den Bestand der Reformgymnasien,
welche C. Michaelis in seinem Vortrag: „Die Stadt Berlin und das Reformgymnasium"
(Dürr, Leipzig) S. 8 der 2. Auflage gibt.
Eine Ausstellungsgruppe für Reformschulwesen. 77
ist mit der Umgestaltung weitaus am meisten das rheinisch-westfälische Industrie-
gebiet vorgeschritten. Es besitzt über ein Drittel aller in der Monarchie vor-
handenen Reformschulen. Dazu hat gewiß nicht nur die Dichtigkeit, sondern
auch der regsame, für das Neue leicht empfängliche Geist der Bevölkerung bei-
getragen. Auffallend ist es, daß die unmittelbare Umgebung von Berlin neun
Reformanstalten aufweist, während die Landeshauptstadt selbst auf der Karte
überhaupt nicht erscheint. Sie hat auch mit dem Frankfurter Reformrealgymnasium,
dessen Daseinsberechtigung doch auch von sehr konservativ denkenden Pädagogen
nicht bestritten wird, noch keinen Versuch gemacht. Reger ist das Leben in den
Ostmarken der Monarchie, wie in Schlesien und den beiden Preußen. Nur eine
einzige Anstalt hat die Provinz Pommern (Swinemünde). Die Zahl der in einer
Stadt vorhandenen Reformschulen war auf der Karte durch einfaches, doppeltes
oder dreifaches Unterstreichen des Namens gekennzeichnet, wobei die beiden
Systeme durch verschiedene Farben unterschieden wurden. Daß Frankfurt mit
drei Anstalten an der Spitze marschiert, wurde bereits erwähnt; je zwei besitzen
Düsseldorf, Essen, Elberfeld, Barmen, Dortmund, ferner Charlottenburg und
Schöneberg, dazu Hannover, Magdeburg, Breslau, Danzig. Das Altonaer System
findet sich, von Altona selbst abgesehen, in Osnabrück, Hildesheim, Harburg und
Geestemünde.
Endlich galt es auch die Verbindung zweier Schularten zu Doppelanstalten
der Frankfurter Reformrichtung graphisch darzustellen. Es ergaben sich drei gabel-
förmige Figuren, für welche die Real-, Gymnasial- und Realgymnasialklassen durch
verschiedene Farben gekennzeichnet waren. Auf den gemeinsamen realen Unter-
bau aller drei Verbindungen folgt bei dem ersten System die Gabelung in einen
gymnasialen und einen realen, bei dem zweiten die in einen realgymnasialen und
einen realen Zweig von Untertertia an. Das dritte System weist einen gemeinsamen
Unterbau bis einschließlich III a auf; in der Tertia ist eine Verquickung zwischen
gymnasialem und realgymnasialem Lehrplan eingetreten, mit dem Eintritt in die IIb
entscheidet sich der Schüler, um es kurz auszudrücken, zwischen Griechisch und
Englisch. Diese Verbindung findet sich bisher nur viermal, vollständig durchge-
führt in der Leibnizschule (Hannover) und dem Gymnasium und Realgymnasium
zum Heiligen Geist in Breslau, in der Entwicklung begriffen in Essen und in
Mülheim a. d. Ruhr. Gleichwohl wird man, wie auch schon von anderer Seite
betont worden ist, nicht irren, wenn man ihr eine Zukunft prophezeit. In vielen
Mittelstädten, namentlich des Industriegebietes, wird man die Pflege des Griechi-
schen auf die Dauer kaum anders retten oder vielleicht auch einführen können als
durch Befolgung dieses dritten Systems. Das erste ist in Preußen lOmal, das
zweite nicht weniger als 40mal vertreten. Eine Anstalt, die in einem eigentümlichen
Übergangsstadium begriffen ist, (Mülheim a. d. Ruhr) wurde für diese Übersicht
doppelt gezählt, bei System I und III.
Die Literatur für die Reformschulen war zunächst durch weitere graphische
Darstellungen vertreten und zwar durch Lenssens 7 Tafeln zur Reformschulfrage,
Harnischs Programmabhandlung (Kieler Reformrealgymnasium 1908) „von der
Aufgabe und Eigenart des Reformrealgymnasiums" und Masberg, „Die höheren
Schulen in Düsseldorf". Was die zuletzt genannte Schrift angeht, so bieten ja die
78 W. Thamhayn,
Düsseldorfer Schulverhältnisse einen besonders dankbaren Gegenstand der Betrach-
tung; in den acht in der Stadt vorhandenen höheren Knabenschulen ist der Lehr-
plan des Gymnasiums und Realgymnasiums, des Reformgymnasiums und Reform-
realgymnasiums, der Oberrealschule und Realschule vertreten. Es folgten weiter
erläuternde und methodische Schriften von Blum, Knabe, Lentz, Lexis, Liermann,
G. Michaelis, Nissen, Reinhardt, Schnobel, Steinbart, Wulff, J. Ziehen, sowie Lehr-
pläne des Goethegymnasiums, der Frankfurter Musterschule und des Altonaer
Realgymnasiums. Das Goethegymnasium, das als Mutteranstalt der Reformgym-
nasien für die Solinger höhere Schule besondere Bedeutung hat, war auch im
Bilde vorgeführt.^'') Die Gegner der Neuerung durften selbstverständlich nicht
übergangen werden. Es lagen Schriften von Paul Cauer, Carl Michaelis und
Heinrich Vogt aus. Oskar Jäger und Gustav Uhlig haben ja, soweit die Kenntnis
des Unterzeichneten reicht, ihre gegnerische Auffassung nur in Zeitschriften, be-
sonders im „Humanistischen Gymnasium", und in Versammlungen kundgegeben;
alle Artikel oder Berichte aber, die in Fach- und Tageszeitungen veröffentlicht sind,
mitzuberücksichtigen, war von vornherein vollständig ausgeschlossen; die kleine
Gruppe würde ins Ungeheure angewachsen sein.
Sehr reichlich waren die Lehrbücher vertreten, welche bisher auf dem Gebiet
des Sprachunterrichtes in den Reformschulen geschaffen sind. Eine besondere
Freude ist es dem Berichterstatter immer gewesen, auf die Unterrichtswerke hin-
zuweisen, welche aus dem Kollegium des Goethegymnasiums hervorgegangen sind.
Mag man über System und Einzelheiten der Sprachlehren, welche diese Herren
geschrieben haben, denken, wie man will; sie verdienen die größte Anerkennung,
weil sie die Idee der Parallelsatzlehren in Praxis umgesetzt und zugleich die Aus-
wahl der Beispiele für die syntaktischen Regeln in allerengste Beziehung zu dem
Lesestoff gesetzt haben. Auf diese Weise wird eine Einheitlichkeit und Geschlos-
senheit im gesamten grammatischen Unterricht und andererseits innerhalb der
einzelnen sprachlichen Fächer erreicht, die notwendig reiche und schöne Früchte
tragen muß. Selbstverständlich ist das nicht etwas, was an den Gedanken der
Reformschulen an sich gebunden ist. Die Vorteile, die mit dem Frankfurter Ver-
fahren verbunden sind, könnten und sollten auf alle Arten höherer Schulen über-
tragen werden. Ansätze dazu sind ja bereits vorhanden. Nur das Englische ist
bisher nicht in das System hineingezogen, das dem sonstigen sprachlichen Unter-
richt am Goethegymnasium zugrunde liegt. Aber Reibungen können hier z. B.
durch Benutzung des Tenderingschen Lehrbuches kaum noch entstehen, weil der
Schüler durch die deutsche, französische, lateinische und griechische Satzlehre in
seinem System bereits volle Fertigkeit und Klarheit gewonnen hat und andererseits
die Einführung der Obersekundaner und Primaner des Gymnasiums in die englische
Syntax ein außerordentlich knappes Wissensgebiet umfaßt.
Am meisten Lehrbücher für die Reformlehrpläne sind bisher wohl auf dem
Gebiete des Lateinischen veröffentlicht. Das seinerzeit für das Goethegymnasium
von Wulff und Gillhausen begonnene und dann von Reinhardt, Bruhn und Preiser
fortgesetzte Unterrichtswerk (Berlin, Weidmannsche Buchhandlung) ist z. T. in einer
') Vgl. namentlich das Programm des Jahres 1897.
Eine Ausstellungsgruppe für Reformschulwesen. 79
etwas vereinfachten Ausgabe B von Schmedes erschienen. Der Teubnersche Verlag
war durch die Lehrbücher von Müller und Michaelis (Ostermann) und ferner die
von Vogel und Schwarzenberg vertreten, während das früher von ihm herausge-
gebene Bahnsche Lese- und Übungsbuch nicht mehr im Buchhandel zu haben ist.
Die Freytagsche Firma hatte das Kersten-Nissensche Unterrichtswerk, die Nord-
deutsche Verlagsanstalt in Hannover Wartenbergs Vorschule gesandt. Ferner lagen
die Elementarbücher für Reformanstalten von Lattmann (Göttingen) und Höpken
(Emden) aus. Auch Asmus' Vokabular für den lateinischen Anfangsunterricht am
Reformrealgymnasium in Anschluß an Wellers Lesebuch aus Herodot und Caesar
war beigefügt (Frankfurt a. M., Kesselring).
Den zweiten Teil der Gruppe bildeten, wie bereits erwähnt, Werke und
Lehrmittel zur Veranschaulichung der neusprachlichen direkten Methode und der
Phonetik im Unterricht. Die zur Verfügung stehende Wandfläche deckten die
Vietorschen Lauttafeln für das Französische, Englische und Deutsche, Zünd-Bur-
guets anatomische Darstellung der „ Sprechwerkzeuge " und die „Tafel deutscher
Lautzeichen" von Schnell. Die Literatur war nach den Gesichtspunkten „Metho-
disches und Hilfsbücher" und „Lehrbücher, Lesebücher und Schriftstellerausgaben
von Anhängern der direkten Methode" geordnet. Von deutschen Vorkämpfern
waren natüdich vor allem Wilhelm Victor und Max Walter vertreten, ferner Quiehl
Kühn, Roßmann und Schmidt u. a., von den Franzosen Passy, Schweitzer und
Zünd-Burguet. Die Fehrsche Veriagsbuchhandlung in St. Gallen hatte methodische
Schriften und Lehrbücher zur Algeschen Methode, die sich in der gleichen Richtung
wie die „direkte" bewegt, zur Verfügung gestellt. Vor allem durch die überaus
dankenswerte Liebenswürdigkeit, mit welcher Herr Professor Vietor in Marburg
den Abteilungsleiter durch Rat und Tat unterstützte, wurde es demselben möglich,
die Arbeiten der englischen Vertreter der neuen Unterrichtsweise in einer Zusam-
menstellung vorzuführen, die geeignet war, einen recht guten Überblick über die
einschlägige, jenseits des Kanals veröffentlichte Literatur zu geben; es waren
vertreten M. Brebner, K. Breul, F. Lange, Mackay und Curtis, W. Rippmann,
D. L. Savory, L. Soames, H. Sweet. Nicht weniger als sieben hervorragende
deutsche Firmen hatten ansehnliche Proben ihrer „Reformausgaben" französischer
und englischer Schriftsteller zur Verfügung gestellt; man versteht darunter bekannt-
lich Ausgaben, in welchen auch die Einleitung und die Sach- und Worterklärungen
in der fremden Sprache abgefaßt sind.
Überraschend mag es vielleicht für den einen oder anderen Leser sein, wenn
er hört, daß auch die Sprechmaschine mit in den Plan der Gruppe hineingezogen
war. Der Sachkenner weiß, daß Phonograph und Grammophon bereits ihren Einzug
in Unterrichtsräume der Schulen und Universitätsseminare gehalten haben, wenn-
gleich voriäufig nur in sehr beschränktem Maße. Der Abteilungsleiter glaubte sich
eine Zeitlang der angenehmen Hoffnung hingeben zu dürfen, das Neuste und,
wenn nicht alles täuscht, auch weitaus Beste auf diesem Gebiet in seiner Gruppe
vorführen zu dürfen. Es handelt sich um eine neue, nicht mit Platten oder Walzen,
sondern mit beliebig langen Bändern arbeitende Sprechmaschine, welche die rührige
Elwertsche Firma in Marburg dem Publikum und in erster Linie dem neuphilolo-
gischen als Neujahrsgeschenk darbieten will. Sie wird dann ein weitausschauendes
80 W. Thamhayn, Eine Ausstellungsgruppe für Reformschulwesen.
pädagogisches Unternehmen, das sie vor nicht langer Zeit begann, aber um der
in sicherer Aussicht stehenden neuen Erfindung willen unterbrach, wieder auf-
nehmen. Man wird in der Lage sein vorzügliche, praktisch und theoretisch
geschulte Sprecher des In- und Auslandes durch die Sprechmaschine in hoffentlich
ganz einwandfreier Wiedergabe den Schülern vorzuführen. Wie die Umstände
nun einmal liegen, konnte auf das neue Unternehmen nur durch Prospekte und
mündliche Aufklärung hingewiesen werden. Doch hatte die genannte Firma auch
sechs Phonographenwalzen mit französischen, von Professor Thudichum in Genf
gesprochenen Texten zur Verfügung gestellt. Es handelt sich hier um ein Ver-
suchsgebiet des neuphilologischen Unterrichtes, vor allem auch Selbstunterrichtes,
das vielversprechend ist. Auf der letzten Neuphilologentagung in Hannover
(Pfingstwoche 1908) wurden darüber recht beachtenswerte Aufschlüsse gegeben.
Schließlich lagen in der Gruppe unter der Bezeichnung „Verwandte Bestre-
bungen" noch einige Druckschriften aus, die sich zwar nicht streng in den Plan
des Ganzen fügten, aber ihm doch zu nahe standen und zu wertvoll erschienen,
als daß man sich hätte entschließen können, den freundlichen Anregungen von
außen, durch welche sie dargeboten wurden, nicht Folge zu leisten. Herr M. Mon-
genast, Generaldirektor der Finanzen in Luxemburg, hatte die Liebenswür-
digkeit gehabt, den Gesetzentwurf für die Gymnasialreform des Großherzog-
tums vom 2L April 1908 sowie eine von ihm in der „Chambre des Deput^s"
darüber gehaltene Rede zu senden. Herr Dr. Th. Fritzsch in Leipzig
hatte sein Werk über Ernst Christian Trapp, den Vorläufer der beiden Reform-
bewegungen, welche die Gruppe vorführen wollte, freundlichst zur Verfü-
gung gestellt. Endlich hatte der „allgemeine Verein für vereinfachte Recht-
schreibung" und der für „Altschrift" (d. h. Lateinschrift) eine große Anzahl von
Druckschriften gesandt. Die Bestrebungen der beiden Vereine sind im ganzen wohl
wenig bekannt; sie -verdienen, meinen wir, größere Beachtung, als ihnen bisher
zuteil geworden ist. Wenn man an der Hand der oben erwähnten Schneiischen
Tafel deutscher Lautzeichen einmal studiert — die Macht der Gewohnheit läßt
uns ja nur selten von selbst dazu kommen — , wie wir ein und denselben Laut
oft durch die verschiedenartigsten, ja einander widersprechende Zeichen aus-
drücken, wenn wir ferner bedenken, daß die sogenannte „deutsche" Schrift diesen
Namen im Grunde genommen gar nicht verdient, fragt man mit einiger Ver-
wunderung, warum wir unsere Kinder soviel Arbeitskraft, die viel besser auf andere
Dinge verwandt werden könnte, immer noch nutzlos aufwenden lassen. Und es
handelt sich ja gar nicht um unsere Kleinen allein. Wir stehen im Zeichen des
internationalen Verkehrs. Sollen wir Deutsche, deren Handel und Industrie viel-
verheißend aufgeblüht ist, so ganz und gar die Hoffnung aufgeben, daß auch
unsere Sprache imstande ist ein wenig „Weltsprache" zu werden? Ihrem inneren
Wesen nach bietet sie dem Ausländer nicht geringe Schwierigkeiten. Um so
mehr Veranlassung haben wir altfränkischen Ballast von äußeren Dingen endlich
einmal über Bord zu werfen.
Im Vorhergehenden ist gezeigt worden, was in der Ausstellung vorhanden war.
*Wie stand es nun mit ihrem Erfolg? Es darf nicht behauptet werden, daß man
sie tiberlaufen hätte. Aber doch hat sich eine nicht unbeträchliche Anzahl von
A. Matthias, Bergers Schillerbiographie. 81
Besuchern, Laien wie Fachmännern, gefunden, die dem, was sie zu bieten ver-
mochte, rege Teilnahme entgegengebracht haben, so daß man hoffen darf, daß
die aufgewandte Mühe nicht umsonst gewesen ist. Die Berechtigung aller Aus-
stellungen liegt ja unseres Erachtens weniger in dem unmittelbaren geistigen
Nutzen, den sie dem Besucher bringen, als in den Anregungen, die sie dem
Anregungsfähigen bieten. Übrigens darf mit großer Freude mitgeteilt werden,
daß es durch das dankenswerte Entgegenkommen der Herren Verleger und der
städtischen Behörden Solingens möglich geworden ist, nahezu alles, was in der
Gruppe enthalten war, für die hiesige höhere Lehranstalt zu erwerben.
Solingen, _ W. Thamhayn.
Bergers Schillerbiographie.*)
Vier Jahre nach Vollendung des ersten Bandes erscheint der zweite Band von
Bergers Schillerbiographie, für die, die mit Spannung der Vollendung des Werkes
entgegensahen, eine lange Zeit; für denjenigen, der die Arbeit, die nunmehr vor-
liegt, zu würdigen versteht, eine kurze Frist; denn die Fülle des zu bearbeitenden
Stoffes in vier Jahren zu bewältigen, dazu gehört eine Arbeits- und Willenskraft,
die Bewunderung verdient, besonders wenn man weiß, ein wie hohes Gefühl der
Verantwortlichkeit den Verfasser beseelt und daß er zu den Naturen gehört, die
mit sich selbst und mit ihrer Arbeit niemals zufrieden sind. Selbstzufriedenheit
entsteht ja meist aus Unkenntnis des Gebietes, das man bearbeitet, und wird,
wenn Eitelkeit dazu kommt, zu einer Glückseligkeit des Unverstandes, die eine
Annehmlichkeit für den Träger solcher Empfindungen ausmacht, gründlicher Arbeit
aber selten zugute kommt. Berger ist nun gründlicher Arbeiter, und wir Schul-
männer wollen stolz auf ihn sein, wie wir überhaupt stolz sein können, wenn wir
erwägen, daß Goethe einem Schulmanne seine beste Biographie verdankt und daß
gerade in diesen Monaten eine umfangreiche Preisarbeit eines Schulmannes über
Schiller und die deutsche Nachwelt**) im Druck erschienen ist, die einen Beweis
liefert, daß wir uns noch immer in der Welt der Wissenschaft sehen lassen können
und im Drama, im Roman und in der Presse der Gegenwart doch mit recht un-
gerechtem Maß gemessen werden.
Wer Bergers Arbeit gerecht beurteilen will, muß eins bedenken; es liegt hier
nicht nur eine von ästhetischer Wertung ausgehende Biographie vor, sondern ein
Lebensbild, das auf gründlicher historischer Grundlage aufgebaut ist. Ich habe
dabei nicht etwa nur die äußeren Lebensverhältnisse im Auge, sondern die innere
Genesis der Werke Schillers und die Genesis seines künstlerischen Wesens. Wer
nur von ästhetischen Gesichtspunkten Schillers Wirken und Werke zu beurteilen
*) Berger, Karl, Schiller. Sein Leben und seine Werke. In zwei Bänden. Zweiter
Band mit einer Photogravüre (Schiller im 35. Lebensjahre nach dem Gemälde von Ludovika
Simanowicz). L— 4. Auflage. München 1909. C. H. Beck (Oskar Beck). VII u. 812 S.
geb. 8 M.
**) Ludwig, Albert, Schiller und die deutsche Nachwelt. Berlin 1908. Weidmannsche
Buchhandlung. XVI u. 679 S. geb. 14 M. (Wird demnächst eingehend gewürdigt werden.)
Monatschrift f. höh. Schulen. VIU. Jhrg. 6
82 A. Matthias,
unternimmt, hat es leichter, als derjenige, der von ästhetischen und historischen
Richtlinien sich leiten läßt. Historische Forschungen gerade auf dem Gebiete der
geistigen Entwicklung von Menschen und Zeitströmungen sind mühenreich und
zeitraubend und erfordern starke Widerstandskraft gegen mancherlei niederdrückende
und entmutigende Resignation. Der Forscher sucht oft, ohne zu finden; und die
Lücken, die sich ihm öffnen und nicht schließen wollen, empfindet er voll schmerz-
licher Entsagung. — Nur zwei Beispiele aus Bergers Schillerbiographie. Bei Be-
sprechung von Schillers geschichtlichen Studien und Arbeiten heißt es: „Wie
Schiller den universalhistorischen Faden in seinen Vorlesungen weiterspann, von
der griechischen zur römischen Geschichte und durch die Anfänge des Christen-
tums zur Kaiserzeit, wissen wir nicht: nicht das geringste Bruchstück von seinen
Kollegien über diese oder die späteren Zeiten ist uns geblieben." Das ist nur
ein kurzer Satz! Aber welche Fülle von suchender Arbeit liegt in ihm ein-
geschlossen und wieviel Entsagung, wieviel Schmerz über ungelöste Fragen
mag ihm vorangegangen sein. Wer selber auf anderen Gebieten gesucht und
nicht gefunden hat, weiß das zu würdigen. Der unerfahrene Leser geht arglos
vorüber und ahnt nichts von der Inhaltsschwere solch knapper Sätze.
Ein anderes Beispiel: Im Jahre 1791 verkehrte Schiller in einem kleinen Kreise
talentvoller und strebsamer junger Männer bei den Jungfern Schramm, wo er mit
seiner Lotte den Mittags- und Abendtisch einnahm. Hier wurde immer wieder
das Gespräch über die kantische Philosophie aufgenommen und das half Schiller
rascher und müheloser in das Labyrinth dieser mächtigen Gedankenwelt ein-
dringen, als er es bei einsamem Studium allein vermocht hätte. Hierbei kam ihm
seine ungewöhnliche Kunst der Unterhaltung zugute, seine Gabe, ebenso fein-
sinnig zuzuhören (das können ja nur wenig Menschen und diejenigen, die
es am meisten nötig hätten, am wenigsten) wie jeden Gedanken lebendig zu
erfassen, jedes Thema in heiterer Wechselrede so lange und so gründlich zu er-
örtern, bis ein reiner Gehalt, ein sicheres Ergebnis gewonnen war. „Von allen
diesen gewichtigen Tischgesprächen", so sagt nun Berger, „die zwischen den
höchsten philosophischen Problemen und alltäglichen Lebensfragen sich be-
wegten, ist uns kein Wort erhalten geblieben. Aber zahlreiche Zeugnisse unver-
löschlicher Dankbarkeit lassen uns die geistige Bewegtheit dieser Stunden ahnen."
Wie niederdrückend, daß wir um diesen Besitz gekommen, daß uns die Quellen
nicht mehr fließen, aus denen Schiller so reich geschöpft. Wenn doch nur einer
der Genossen: Fritz von Stein, Bartholomäus Fischenich, Friedrich Immanuel Niet-
hammer, Karl von Fichard, Friedrich von Hardenberg, wenn auch nur der un-
bedeutendste unter ihnen, der schwäbische Magister Göritz, Erinnerungen an diese
Stunden hinterlassen oder brieflich sich Freunden gegenüber geäußert hätte, wieviel
reicher würden wir unterrichtet sein über den Werdegang Schillers, gerade da, wo es am
wichtigsten für uns wäre, auf dem Gebiete seiner philosophischen und seiner ge-
schichtlichen Studien. Das sind nur zwei Beispiele für viele! — Und damit komme
ich zu dem Kernpunkte in der Besprechung des Bergerschen Buches. Die Kapitel,
welche seine „geschichtlichen Studien und Arbeiten" behandeln und die Abschnitte:
„Zwischen Philosophie und Politik", „Philosophische Studien und Arbeiten", „Ge-
dankenlyrik", „Wallenstein", „Maria Stuart", „Braut von Messina" und „Letzte Pläne
Bergers Schillerbiographie. 83
und Schicksale" bilden den Glanzpunkt des Bergerschen Werkes und zugleich eine
Gabe, welche für unsere kleine Zeit so recht wie geschaffen ist. Eine Berücksichtigung
der geschichtlichen und philosophischen Leistungen Schillers war ja von Berger von
Anbeginn vorgesehen. Diese Absicht hat sich bei ihm immer mehr gesteigert,
„zu der Überzeugung, daß eine Biographie, die den Bedürfnissen der Gebildeten
und Strebenden weitester Kreise dienen, die allen ernsthaft Suchenden Schiller in
der Ganzheit und Einheit seines Wesens erschließen möchte, gerade jene Seiten
ausführlich, gemeinverständlich, im besten Sinne volkstümlich darstellen müsse".
„Zu dem Adlerhorste der Schillerschen Kunst ist, nach einem treffenden Worte
des Historikers Richard Fester, nur ein sicherer Zugang gelassen, der durch Ge-
schichte und Philosophie hindurchführt . . , Ohne die Betätigung auf jenen Ge-
bieten wäre Schiller nicht, was er ist, oder besser, was er geworden ist in groß-
artiger Selbstentwicklung. Die Kenntnis seiner historischen Bemühungen, seines
Ringens mit der Philosophie ist zur Erkenntnis seiner Persönlichkeit und zum
Verständnis seiner Dichtungen, die ein Ausdruck dieser Persönlichkeit sind, uner-
läßlich und notwendig. Wer also zu den Höhen vordringen will, auf die sich der
Genius Schillers aufgeschwungen hat, wer ihn in den tiefsten Wurzeln seines
Wesens, in der „Totalität" von Mensch und Leistung erfassen möchte, der darf
den Weg nicht scheuen, den er selbst gegangen ist. Die Wanderung selbst, vor
allem aber das Ziel lohnt die Mühen des Aufstiegs."
Diese Mühen unsere Schüler, besonders diejenigen der oberen Klassen kennen
zu lehren, tun wir gut; denn solche Mühen erscheinen nachahmenswert im Hin-
blick auf die hohen Ziele. Das Bergersche Buch sollte deshalb in recht vielen
Schülerhänden sein. Unser Geschichtsunterricht strebt ja immer mehr dahin, die
„Bürgerkunde" unsern Schülern nahe zu führen, diese zu tüchtigen Männern für
die Erfüllung auch politischer Pflichten zu machen. Aber täuschen wir uns nicht.
Kenntnisse bürgerkundlicher Art tun's nicht allein. Wie viele haben heutzutage nicht
nur Kenntnis in Bürgerkunde, sondern sind auf diesem Gebiet Tag für Tag tätig als Ver-
treter der Bürgerpflichten und des Volkes. Und wie häufig versagen sie, wenn es gilt
Ideale zu erfüllen, sobald diese mit den materiellen Vorteilen des einzelnen in den
leisesten Konflikt geraten. Die echte, rechte Bürgerkunde baut sich auf ganz
anderer Grundlage auf, als auf staatswissenschaftlichen Kenntnissen, sie zieht ihre
Kräfte aus der Nachahmung großer Männer der Vergangenheit. Und keinen
besseren Lehrer wüßte ich auf diesem Gebiet zu nennen als Schiller. „Wenn
Goethes Wort wahr ist, daß der Wert der Geschichte darin besteht, Begeisterung
zu wecken, so wird Schiller von keinem seiner Vorgänger in Deutschland über-
troffen, nur von wenigen seiner Nachfolger erreicht. Schon sein erstes Auftreten
als historischer Darsteller bedeutet einen Sieg des Künstlers über das zünftlerische
Handwerk." Unsere Zeit ist ja gerade auf dem Gebiete historischen und politischen
Denkens eine Zeit kleinlicher zünftlerischer Gesinnung. Es fehlen ihr die weit-
blickenden Geister und vor allem die Männer selbstlosen Denkens und Schaffens
und Schillerscher Mannhaftigkeit; deshalb zurück mit unserer Jugend zu Schillert
Ihm werden alle seine Kenntnisse zu Mitteln der Selbsterziehung und Selbst-
förderung. Mit seinem politisch-historischen Denken reift und vertieft sich seine
gesamte Weltanschauung. Im Ringen mit dem Studium der Vergangenheit tritt
6*
84 A. Matthias, Bergers Schillerbiographie.
sein phantasievoller Idealismus unter die Aufsicht einer ruhigen Betrachtung der
•Wirklichkeiten des Lebens: Vorgefaßte Meinungen und Lieblingsgedankeh
'weichen der besseren Erkenntnis der Tatsachen. Und aus diesen Tatsachen auch
einer fernen Vergangenheit zieht er stets das Ergebnis für die Gegenwart, die ja
so erbärmlich war an politischen Werten. Beim Studium der Geschichte des
'Malteserordens und im Hinblick auf jene Heroen ruft er aus: „Können wir, ihre
Verfeinerten Enkel, uns wohl rühmen, daß wir an unsere Weisheit nur halb so
viel, als sie an ihre Torheit, wagen?" Was wagt unser Geschlecht denn über-
haupt? Die Männer, die unter den mächtigen Einwirkungen Schillerscher Dichtung
heranwuchsen, erwiesen sich in der Stunde der Gefahr zahlungsfähig mit ihrem
Gut und Blut, mit ihrem Leib und Leben. Wir aber sind schon insolvent, wenn es sich
darum handelt, einige Mark mehr alljährlich herzugeben für die Größe und für die
Kraft des Reichs. Sorgen wir nur ja dafür, die Jugend selbstloser und zugleich politisch
klüger und wagemutiger zu machen als wir selber sind. Dazu kann ihr aber das
gelehrte Rüstzeug, das die Schule bietet, allein nicht verhelfen, große Meister
müssen Nacheiferung wecken; und welches Vorbild wäre wohl geeigneter als dieser
klare Verstand, diese mächtige Phantasie, dieses starke Temperament, kurz diese
bedeutende Persönlichkeit, die Berger uns vor Augen führt in dem Historiker
Schiller und in dem Philosophen, dessen Gedanken und Betrachtungen durch seine
Prosa, seine Dramen, seine Balladen und seine reife Gedankenlyrik überall hin
fruchtbare Anregungen getragen haben, und einen viel tieferen Eindruck auf die
Nachwelt ausgeübt haben, als wir uns gemeiniglich bewußt sind. Daß wir
Schiller in der Seele tragen und oft nicht wissen woher, das wird uns bei der
Lektüre Bergers klar und wir sollten uns immer bewußter werden, daß die An-
regungen dieses Geistesgewaltigen „in die zartesten Gefäße unseres nationalen
Bildungsorganismus eingeströmt sind".
Mit Recht sagt Berger in seinem Vorwort, daß es mit der Kenntnis und dem
abgenutzten Gebrauch einzelner Schillerworte nicht mehr getan sei und daß nicht
in herkömmlichem Lobpreis des sogenannten Nationaldichters und nicht in einer
Begeisterung, die an der Oberfläche und an Äußerlichem hafte, sich die rechte
Schillerverehrung und das echte Schillerverständnis erweise. Es gelte, nicht Schiller
zu loben, sondern ihn zu lesen; einzudringen in das Innerste seiner Persönlichkeit
und daraus Halt und Inhalt für die ganze Lebensführung zu schöpfen. Die Willigen
auf dem Wege zu Schiller führen und fördern will Bergers Werk. Es ist ge-
eignet dazu, weil es in Stil und Inhalt meisterhaft ist und weil wir vom bösen
Kraut der Langeweile und der inhaltlosen Phrase nirgendwo eine Spur finden.
Berlin. A. Matthias.
II. Programmabhandlungen. Ostern 1908.
Mathematik und Naturwissenschaften.
1. Mathematik und Astronomie.
Mit einer wohltuenden Begeisterung für den Wert der Mathematik als
Wissenschaft und Unterrichtsfach ist die Abhandlung von M. Gebhardt (Vitz-
thumsches Gymnasium zu Dresden. No. 704) geschrieben. Sie betont in treffenden
Ausführungen die Bedeutung des Geschichtlichen im mathematischen
Unterrichte, zeigt wie die Geschichte der Mathematik eng verknüpft ist mit der
Entwicklung der menschlichen Kultur, wie ihr Studium geeignet ist, die ver-
schiedenen Disziplinen am Gymnasium einander näher zu bringen, auch mather
matisch schwach veranlagte Schüler für dieses Fach zu interessieren, dem mathe-
matischen Unterrichte das Starre, Tote und Abgeschlossene zu nehmen, besonders
aber auch hier zu zeigen, daß die Wahrheit in jeder Form Schritt für Schritt er-
kämpft, durch Mühe und Arbeit errungen werden muß. Die Arbeit wird jedem
Leser Freude machen; nur sollte der Verfasser seine Betrachtungen nicht auf das
Humangymnasium beschränken. Auch für die griechisch- und lateinlosen höheren
Schulen treffen die Ausführungen Satz für Satz zu.
Der Rechenunterricht soll ganz gewiß auch Sachunterricht sein, also auf die
Verhältnisse des bürgerlichen Lebens Rücksicht nehmen, doch nur so weit, als die
Kenntnis der Gepflogenheiten des geschäftlichen Lebens für gebildete Erwachsene
Bedürfnis ist. Auch die Meraner und Stuttgarter Vorschläge lehnen daher mit
Recht eine Einführung in das eigentliche kaufmännische Rechnen ab. Selbst der
zunehmende Scheckverkehr, durch den alle Berufsstände in engere Verbindung
zum Bankwesen getreten sind, macht noch nicht die Kenntnis des bankmäßigen
Rechnens notwendig, und daher scheint mir das, was W. Krimphoff (Gymnasium
zu Warendorf. Progr.-No. 475) über die Grundzüge des bankmäßigen
Rechnens zum Gebrauch beim Rechenunterrichte zusammengestellt hat,
über die Bedürfnisse des Gymnasiums und anderer höherer Lehranstalten hinaus-
zugehen.
Aus dem Nachlasse des Professors Hermann von Schaewen hat E. Wernicke
(Evang. Gymn. zu Marienwerder. Progr.-No. 42) mathematische Aufgaben
gesammelt, und zwar solche aus der Stereometrie. Da sie gute Rechenresultate
liefern und ursprünglich sind, werden sie freundlicher Aufnahme gewiß sein.
86 J- Norrenberg,
Ebenso die Aufgaben aus der analytischen Geometrie für die Prima,
die J. Hinrichs (Gymn. Carolinum zu Neustrelitz. Progr.-No. 869) in üblicher
Weise zusammengestellt und gelöst hat. Zu einem lehrreichen Vergleich mit den
Forderungen und Leistungen unserer preußischen Oberrealschulen geben die von
E. Strenger (Oberrealschule zu Schwab. Hall. Progr.-No. 786) geordneten Ma-
thematischen Aufgaben aus den Reifeprüfungen der württembergi-
schen Oberrealschulen Veranlassung.
Eine Arbeit von H. Weist (Realgymn. zu Görlitz. Progr.-No. 280) betrifft
die Bedeutung und Behandlung der Gleichungen im mathematischen
Unterricht. Der Hinweis darauf, daß es sich lohnt, neben oder vor der Lösung
von Gleichungen durch Rechnung, die durch Versuch oder Näherung zu üben,
ist treffend und gut durchgeführt; die Darstellung der Zahlen durch Dreieck und
Pfeilrichtung ist jedenfalls eigenartig. Methodische Winke sind reichlich einge-
streut und machen die Arbeit lesenswert.
Die Anschaulichkeit im geometrischen Anfangsunterricht der
mittleren Klassen hat K. Liewald (Realschule zu Görlitz. Progr.-No. 298) zum
Gegenstande einer sehr gründlichen, fast erschöpfenden Untersuchung gemacht.
Diese erstreckt sich auf die Zusammenstellung der verschiedenen Veranschau-
lichungsmittel (Zeichnen, Farbendarstellung, graphische Darstellungen, bewegliche
Modelle, unmittelbare Veranschaulichung an Gegenständen des täglichen Lebens)
und auf deren Anwendung auf den einzelnen Stufen des durch die amtlichen
Lehrpläne vorgeschriebenen Lehrganges. Besonders wertvoll sind dabei die Hin-
weise auf die Bezugsquellen der benutzten Modelle.
Auf der letzten westfälischen Direktorenkonferenz 1907 wurde in einem der
angenommenen Leitsätze darauf hingewiesen, daß die Stärkung des räumlichen
Anschauungsvermögens auch durch Heranziehung stereometrischer Beziehungen im
gesamten planimetrischen Unterrichte zu erzielen sei. Die fast ausschließliche
Betrachtung der Ebene im Unterricht der Mittelstufe ist in der Tat durch nichts
gerechtfertigt. Nichts steht im Wege, beispielsweise den ersten Kongruenzsatz
durch die Betrachtung zweier an einer Kante zusammenstoßender Dreiecke eines
quadratischen Quaders vorzubereiten, ihn an diesem Körper gelegentlich auch be-
weisen zu lassen und ihn zum Nachweise der Gleichheit der Flächendiagonalen
dieses Körpers zu benutzen. In ähnlicher Weise wird sich auch an allen anderen
Stellen des planimetrischen Lehrganges dem vielbeklagten Mangel an räumlicher
Anschauungsfähigkeit der Schüler entgegenarbeiten lassen. Eine völlig metho-
dische Verbindung der Planimetrie, Stereometrie und Trigonometrie
zu einer einheitlichen Raumlehre, wie sie J. Schacht (Mariengymnasium zu
Posen. Progr.-No. 251) in seinem Leitfaden für den Unterricht der Mittelstufe
durchführt, scheint aber doch etwas über das Ziel hinauszugehen, da manche Ver-
knüpfungen erzwungen anmuten und der Lehrstoff für die mittleren Klassen stark
überbelastet ist,
Pfitzner, P. (Gymnasium z. heiligen Kreuz zu Dresden. Progr.-No. 703), hat
19 stufenmäßig fortschreitende Aufgaben aus der Planimetrie zusammengestellt,
bei denen es sich um diejenigen Gestaltungen des Apollonischen Problems handelt,
wo ein Kreis zu suchen ist, der drei gegebene Halbkreise berührt; desgleichen
Mathematik und Naturwissenschaften. 87
16 Aufgaben, aus der Trigonometrie, die die Spiegelung eines Lichtstrahles an
den Seiten eines Dreiecks oder Vierecks behandeln. Den Aufgaben sind die
Lösungen hinzugefügt, der letzteren Gruppe auch die Determinationen, die in
ihrer vollständigen Durchführung auch dem Fachmanne recht bemerkenswerte Ein-
blicke gewähren. Zweck dieser Zusammenstellung ist es, den didaktischen
Wert zuammenhängender Aufgabengruppen im mathematischen Unter-
richt darzutun. Durch die Verbindung einer größeren ^ahl von Aufgaben zu
einer Einheit soll den schwächeren Schülern das Gefühl des Rätselratens ge-
nommen werden ; sie sollen sehen, wie im glatten Fortschreiten vom Leichten zum
Schwereren einfache, klare Gedankengänge zu vollziehen sind, und so zum scharfen,
geordneten Denken erzogen werden. Gleichzeitig aber wollen die Determinationen
die besser Begabten zum wissenschaftlichen Denken anleiten.
Einige kleine Beiträge zur Methodik des Unterrichts in der ebenen
und sphärischen Trigonometrie lieferte Schmehl, Chr. (Oberrealschule zu
Darmstadt. Prog.-No. 841).
Eingehendem Studium mag die Arbeit von Prfismann, R. (Leibnizgymnasium
zu Berlin. Prog.-No. 72) über lineare Gravitationsprozesse empfohlen
werden. Wie die in recht deutlicher Sprache abgefaßte Einleitung lehrt, verfolgt
die Abhandlung einen didaktischen Zweck, nämlich an einem Beispiele zu zeigen,
wie man etwas mehr Natur in die Schulmathematik hineinbringen kann, um die
gebildeten Leser an das Verständnis der mathematisch-physikalischen Literatur
wieder heranzubringen. An die Stelle „der Planimetrie mit ihrer Plattheit und
der Stereometrie mit ihrer Starrheit" möchte er eine mathematische Anschauungs-
lehre setzen als formale Vorbereitung für alle Naturwissenschaften, möchte er nur
diejenigen Sätze und Aufgaben der Schulmathematik berücksichtigt wissen, die
unsere Naturerkenntnis zu erweitern imstande sind, und wohl auch erst dann,
wenn die Natur die Lösung der Probleme fordert. Unter Anwendung dieser
methodischen Grundsätze entwickelt der Verfasser in überaus klarer Weise das
lineare Dreikörperproblem.
Die in früheren Programmbeilagen (1898, No. 632 u. 1905, No. 726) begonnenen
Tafeln zum mathematischen Unterricht setzte Sachs, J. (Gymnasium zu
Baden-Baden. Prog.-No. 794) diesmal fort durch Aufstellung der Quadrate aller
ganzen Zahlen von 1—10 500 und durch die überaus wertvolle Zusammenstellung
aller rationalen schiefwinkligen Primdreiecke.
Über die Grenzen der Schulmathematik reichen folgende Arbeiten hinaus:
Morgenstern, A., (Luisengymnasium zu Berlin. Prog.-No. 74) Beiträge zur
numerischen Lösung der Gleichungen fünften Grades.
Kluge, W., (Comenius- Gymnasium zu Lissa i. P. Prog.-No. 216) Be-
sondere Systeme. Ein Beitrag zur Bestimmung von Determinanten.
Klein, H., (Evangelisches Gymnasium A. B. und Realschule zu Hermann-
stadt) Ausführung und Erläuterung von P. G. Lejeune-Dirichlets Ab-
handlung über dieReduktion der positiven quadratischen Formen mit
drei unbestimmten Zahlen.
Uetzmann, R., (Realschule zu Hamm. Prog.-No. 965) Über den Zusammen-
hang der rationalen, trigonometrischen und elliptischen Funktionen.
88 J- Norrenberg,
Braasch, J., (Realschule vor dem Lübeckertore zu Hamburg. Prog.-No. 955)
Historisches über die Simpsonsche Regel und deren Anwendungen.
Haentzschel, E., (Köllnisches Gymnasium zu Berlin. (Prog.-No. 70) Über
ein orthogonales System von bizirkularen Kurven vierter Ordnung.
Lersch, A., (Realgymnasium zu Tarnowitz. Prog.-No. 288) Über Zentrum
und Achse polarreziproker Dreiecke (Fortsetzung).
Schlamp, A., (Neues Gymnasium zu Darmstadt. Prog.-No. 828) Die Ent-
stehung der Kegelschnitte nach Maclaurin und Graßmann.
Dieck, W., (Realprogymnasium zu Sterkrade, Rheinland. Prog.-No. 644)
Zur Klassifikation der Punktepaar- und Kegelschnitt-Büschel.
Kostka, C, (Gymnasium und Realgymnasium zu Insterburg. Prog.-No. 5)
Tafeln für symmetrische Funktionen bis zur elften Dimension mit
kurzen Erläuterungen.
Als Ergänzung seiner vorjährigen Programmabhandlung „Die Osterberechnung
in alter und neuer Zeit" brachte Bach, J., (Bisch. Gymnasium zu Straßburg i. E.
Prog.-No. 688) eine übersichtliche Darstellung der so wenig bekannten, auf der
genauen Beachtung der astronomischen Erscheinungen aufgebauten Zeit- und
Festrechnung der Juden. Besonders wertvoll ist die Arbeit durch eine leicht-
verständliche Ableitung und Vereinfachung der von Gauß im Jahre 1802 auf-
gestellten, für die jüdische Passahbestimmung berechneten Osterformel.
Baldauf, G., (Gymnasium Albertinum zu Freiberg. Prog.-No. 708) brachte
wieder eine Fortsetzung seiner Übersetzung aus Keplers neuen Astronomie,
Plasmann, J., (Paulinisches Gymnasium zu Münster i, W. Prog.-No. 463) weitere
Beobachtungen veränderlicher Sterne.
Die vortreffliche Arbeit über Astronomie in der Schule setzte Gnau, E.,
(Gymnasium zu Sangerhausen. Prog.-No. 324) in diesem Jahre fort. In An-
knüpfung an die anderen Disziplinen, insbesondere an die Mathematik und die
physikalische Erdkunde, aber auch an die humanistischen Fächer, behandelte er
im Anschlüsse an das Lehrpensum der Quarta und Untertertia in sehr ansprechen-
dem Verfahren die Aufgabe, die Erdkugel im Räume und die Orte der Erde nach
ihrer solaren Lage zu orientieren. Auch hier wird an dem geozentrischen Stand-
punkte noch festgehalten. Die Vertreter aller Unterrichtsgebiete mögen aus dem
Schriftchen die Veranlassung entnehmen, auch in ihren Lehrstunden einmal aus
dem Schulzimmer hinaus- und hinaufzublicken zum gestirnten Himmel, dessen
Bewegungen „Zeiten und Zonen, Wetter und Wogen" beherrschen.
2. Physik und Meteorologie.
Die naturwissenschaftlichen Fachlehrer des Realgymnasiums zu Halberstadt
(Prog.-No. 333) Nordmann, M. und Wedde, H. beschrieben in der Programm-
beilage den Anschluß des physikalischen und chemischen Unterrichts-
zimmers an das städtische Elektrizitätswerk.
Zwei Arbeiten beschäftigen sich mit den Erfahrungen, die mit der Einrichtung
von physikalischen Schülerübungen gemacht worden sind. Höhnemann, E.,
(Gymnasium nebst Realschule zu Landsberg a. d. Warthe. Prog.-No. 94: Die
physikalischen Schülerübungen am Gymnasium) zeigt uns, wie man auch
Mathematik und Naturwissenschaften. 89
am Gymnasium ohne Beeinträchtigung oder Verschiebung der Aufgaben und Ziele
dieser Anstalten den Schülern die Freude gewähren kann, Gesetze auf eigene
Erfahrung zu stützen. Er wendet sich namentlich gegen die verbreitete Ansicht,
daß zu den Übungen überall ein besonderer Arbeitsraum erforderlich sei. Am
Gymnasium, wo man sich etwas nach der Decke strecken muß, geht es auch
ohne das, wie die dreijährige Erfahrung des Verfassers beweist, der, von dem
rechten Geiste beseelt, es nicht verschmähte, draußen ein'Vnal mit Theodolith und
Meßkette im freien Gelände Messungen vorzunehmen oder bei Sonnenschein
und blauem Himmel dem Physikzimmer den Rücken zu kehren, geologische
Streifzüge durch die Umgebung zu unternehmen und auf kartographische Gelände-
darstellungen durch Meßtischblätter und Generalstabskarten einzugehen. Neben
dem physikalischen Experimente sind solche Abschweifungen je nach Gelegenheit
und Neigung von ganz besonderem Werte. Nur keine lehrplanmäßige Festlegung
für einen Unterricht, der der freien Selbstbetätigung und Selbsterziehung ge-
gewidmet isti — Auch die andere Arbeit: Die Bedeutung des physikalisch-
chemischen Unterrichts und seine Förderung durch praktische Schüler-
übungen von Milau, P. (Realschule zu Kreuznach. Prog.-No. 666) will er-
mutigen, trotz ungünstiger Umstände einen Versuch mit der Einführung solcher
Übungen zu machen. Der Verfasser hat die Übungen — allerdings bei kleinen
Klassen mit höchstens 16 Schülern — eng an den Unterricht angeschlossen.
Über die Art der Ausführung finden wir in der Arbeit genaue Angaben. Der
Erfolg war hier wie auch anderwärts sehr befriedigend. Sehr deutlich traten während
der praktischen Arbeit bei einzelnen Schülern im Verständnis physikalischer und
chemischer Begriffe und Gesetze Lücken hervor, die wohl ohne die Übungen nie
zutage gekommen, also auch nie beseitigt worden wären. Darin liegt eben die
Erleichterung für Schüler und Lehrer bei praktischer Arbeit am Gerät.
Zur experimentellen Bestätigung des Grundgesetzes der Dynamik,
wonach eine konstante Kraft gleich dem Produkt aus der bewegten Masse und der
Beschleunigung ist, lieferteTroje, O. (Altstädtisches Gymnasium zu Königsberg O.-Pr.
Prog.-No. 8) wertvolle Untersuchungen. Die Ausführung aller Versuche wird bekannt-
lich meistens erschwert durch störende Nebenwirkungen und -Einflüsse (Reibung usw.),
die man gewöhnlich außer Betracht läßt, deren genaues Studium aber erst das
Gesetz mit Präzision in Erscheinung treten läßt. Die genaue Feststellung aller
Fehlerquellen bei den Bestätigungsversuchen des dynamischen Grundgesetzes hat
nun der Verfasser für vier verschiedene Methoden — mit der Atwoodschen Fall-
maschine, mit dem Schienenapparate von Höfler und den Anordnungen von
Pfaundler und Wiechert — vorgenommen. Die besten Ergebnisse bei leichter
Handhabung lieferte immer noch die Atwoodsche Fallmaschine, vorausgesetzt,
daß alle vorhandenen Trägheitsmomente und Reibungskräfte nach zuverlässigen
Methoden vorher genau ziffernmäßig ermittelt wurden.
Kircher, E., (Realgymnasium zu Saalfeld. Prog.-No. 922) berichtete über
seine im Anschlüsse an die Arbeiten von Gockel und von Elster und Geitel (cf.
auch Jahrgang VII, S. 166 dieser Monatschrift) vorgenommenen ergebnisreichen
Messungen der Elektrizitätszerstreuung in Saalfeld im Jahre 1907
90 J- Norrenberg,
und über die Ergebnisse der Untersuchungen über Radioaktivität der
Bodenarten in der Umgebung des Beobachtungsortes.
Von Hochheim, F., (Oberrealschule zu Weißenfels. Prog.-No. 356) liegt der
•erste Teil einer Elementaren Theorie der Wechselströme als „Beitrag zur
Behandlung der Wechselströme in der Oberstufe der Realanstalten " vor. Da die
Darbietung doch wohl recht weit über die Elemente hinausgeht, verlangt der Ver-
fasser zunächst eine Umgestaltung des mathematisch-physikalischen Unterrichts,
in Ausführungen, die seiner Begeisterung für sein Spezialgebiet ein gutes Zeug-
nis ausstellen.
Bunkofer, W., (Gymnasium zu Wertheim a. M. Progr.-No. 810) beschreibt
«inen von ihm konstruierten Apparat für Beobachtung der Luftdruck-
schwankungen mit sehr starker Vergrößerung. Die Hoffnungen, die der
Verfasser an seine Erfindung knüpft, werden sich kaum verwirklichen.
In zahlreichen höheren Lehranstalten findet man jetzt die synoptischen Wetter-
karten ausgehängt, aber trotz des Min.-Erl. vom 19. Oktober 1901, der auf die
Wichtigkeit des Studiums der Meteorologie hinwies, bleiben Fragen, die man an
■die Schüler über Zweck und Inhalt dieser Karten richtet, meistens unbeantwortet.
Die junge Wissenschaft der Meteorologie fand eben die Lehrstunden an unseren
höheren Schulen schon alle reichlich besetzt. Auch mag es den Lehrern selbst
an den nötigen Anleitungen fehlen. Hier hilft die Arbeit von Bauer, G. (Gym-
nasium und Realschule zu Greifswald. Prog.-No. 187): „Ein Beitrag zur
Förderung des Unterrichts in der Meteorologie" in bester Weise aus.
In sehr ansprechender, klarer Darstellung erzählt uns der Verfasser, wie er die
Schüler zu Wetterbeobachtungen anleitet, indem er sie erstens selbst Beobachtungen
-am Barometer, Thermometer, Hygrometer und am Regenmesser anstellen läßt -—
das sind ja auch physikalische Schülerübungen — und sie dann zweitens fort-
gesetzt anweist; die Wetterkarten zur Beobachtung und Erklärung des Witterungs-
ganges und zur rechnerischen Bestätigung der aufgestellten Witterungsgesetze zu
studieren. Nicht nur den naturwissenschaftlichen sondern auch den geographischen
Fachlehrern sei die Arbeit zum Studium bestens empfohlen.
Sassenfeld, M., (Gymnasium zu Sigmaringen. Prog.-No. 608) bot ein in
großen Umrissen entworfenes und auch für Schüler des Gymnasiums leicht ver-
ständliches Bild von den Methoden und Ergebnissen der Erforschung des
Luftmeeres mittels Ballon und Drachen. Es kommen hier vor allem die
Berliner Luftfahrten in Betracht, die Unternehmungen der internationalen Kom-
mission für wissenschaftliche Luftschiffahrt unter Leitung des Straßburger Pro-
fessors Hergesell und die seit 1905 von Richard Aßmann geleiteten Arbeiten des
Königl. preußischen aeronautischen Observatoriums zu Lindenberg.
3. Naturgeschichte.
Der Schwierigkeit, für den Unterricht in der Biologie auf der Oberstufe der
höheren Schulen Raum zu schaffen, will man vielerorts dadurch begegnen, daß
man den biologischen Lehrstoff auf die Physik und die Chemie möglichst zu ver-
teilen sucht. Diesen Versuchen steht Hock, F., (Realgymnasium zu Perleberg.
Prog.-No. 131) in seiner Schrift über Natur- und Erdkunde auf der Ober-
Mathematik und Naturwissenschaften. 91
stufe der Realgymnasien etwas zweifelnd gegenüber. Allerdings lassen sich
auch nach seiner Meinung mancherlei Einzelfragen, so aus der Mineralogie und
Oeologie, der allgemeinen Erdkunde, der Sinnes- und Pflanzenphysiologie, an
Physik und Chemie anknüpfen, aber es bleiben doch auf diese Weise, wie Hock
im einzelnen ausführt, weite Gebiete unberücksichtigt, für die ein selbständiger
Unterricht schließlich nicht entbehrt werden kann. Für diesen verlangt er in jeder
der drei oberen Klassen zwei Wochenstunden, je eine für die Erdkunde und für
die Biologie. Ohne erhebliche Änderung des Lehrplanes würde sich eine dieser
Stunden der Mathematik entziehen lassen. Als Stoff für den biologischen Unter-
richt schlägt er für O II allgemeine Pflanzen- und Tierkunde, für U I Verbreitung
der Lebewesen, für O I Verwandtschaftslehre und Entwicklungslehre vor. Ein Ver-
gleich der gemachten Vorschläge mit anderen ähnlichen schließt die gerade jetzt
gewiß allen Fachlehrern willkommene Arbeit, die durch Angabe eines reichen
Quellenmaterials noch besonders wertvoll ist.
Garbsch, M., (Oberrealschule zu Breslau. Prog.-No. 290) hat aus der be-
kannten Literatur über pflanzenphysiologische Versuche solche für die
unteren Klassen ausgewählt und eigene hinzugefügt. Die Auswahl ist sehr
gut getroffen; die meisten Versuche erfordern nur wenig Zeit, lassen sich daher
innerhalb einer Unterrichtsstunde durchführen. Sie lassen sich am besten an
Pflanzenbeschreibungen anknüpfen, bringen die Haupterscheinungen der pflanz-
lichen Lebensvorgänge zur Darstellung und entlasten so wesentlich das Pensum
der Gymnasial-Untertertia. Der kleinen Arbeit ist die weiteste Verbreitung zu
wünschen.
Geisenheyner, L., (Gymnasium zu Kreuznach. Prog.-No. 592) brachte eine
Fortsetzung seiner Wirbeltierfauna von Kreuznach unter Berücksichtigung
des ganzen Nahegebietes. Der vorliegende Teil, der 14 Famüien der Vögel um-
faßt, zeigt wie auch die früheren Teile des Verfassers vortreffliche Gabe, auch
systematische Lehrstoffe ansprechend darzubieten.
Einen Beitrag zur Molluskenfauna der Umgebung von Kreuzburg
O.-S. brachte Schimmel, F., (Gymnasium zu Kreuzburg O.-S. Prog.-No. 257)
durch den Nachweis von 63 verschiedenen Arten.
Die Floristik hat Bensemann, H., (Ludwigs-Gymnasium zu Köthen. Prog.-
No. 890) auf Grund 20-jährigen Studiums bereichert durch eine Flora der Um-
gegend von Köthen.
Ein Verdienst um die Naturdenkmalspflege hat sich Neumann, R., (Gym-
nasium zu Bautzen. Progr.-No. 701) durch seine Monographie über einen aus-
sterbenden deutschen Waldbaum erworben. Aus Leben, Sage und Geschichte
der Eibe erzählt er in allgemein verständlicher Darstellung so anziehend, daß
seine Arbeit recht viele Leser finden wird. — Das gleiche gilt von der mit Ab-
bildungen reich geschmückten Arbeit Schubes, Th., (Realgymnasium am Zwinger
zu Breslau. Prog.-No. 279): Aus der Baumwelt Breslaus und seiner Um-
gebung. Der Verfasser hat darin zur Belebung des Unterrichts und zur Förde-
rung der Freude an der Natur alle Spaziergänge und Halbtagsausflüge in Breslaus
Umgebung zusammengestellt, auf denen durch Größe, Schönheit oder Eigenart
des Wuchses auffallende Bäume zu beobachten sind. Hoffentlich wird die Arbeit
92 F. Kuhlmann, Zeichen- und Kunstunterricht.
zu ähnlichen Schilderungen in bezug auf andere Städte anregen. — Einen weiterer»
Beitrag zur Naturdenkmalpflege lieferte Votsch, W., (Obereralschule zu Delitzsch.
Prog.-No. 341): Aufbau und Vegetation des Moores von Mockrehna.
Neben weiteren Beiträgen zur Kenntnis der Anpassung der Farne
an verschiedene Lichtstärke hat Lämmermayr, L., (k. k. Staatsgymnasium
in Leoben) uns in einigen Musterexkursionen Leoben und seine Umgebung
im Dienste des naturwissenschaftlichen Anschauungsunterrichtes
geschildert. Unter Hinweis darauf, daß es dem seinen Wirkungsort so oft wechseln-
den Lehrer häufig recht schwer fällt, sich mit der Flora, Fauna und den geologi-
schen Verhältnissen des Schulortes hinreichend vertraut zu machen, machte der
Verfasser den höchst beachtenswerten Vorschlag, an jeder Anstalt alle die Flora
der Umgebung und die Praxis des botanischen Unterrichts überhaupt betreffenden
Beobachtungen und Erfahrungen aufzeichnen und archivmäßig hinterlegen zu
lassen. Damit könnte jeder neueintretende Lehrer auf dem Fundamente, das er
vorfindet, an der Verwertung und Erschließung der heimatlichen Landschaft —
unbeschadet seiner individuellen Neigung — weiterbauen und damit auch der
reinen Wissenschaft nicht zu unterschätzende Dienste leisten,
Beriin. J. Norrenberg.
Zeichen- und Kunstunterricht.
Knobloch, Hermann, Über die Reform im Zeichenunterricht. Breslau
1908. Katholische Realschule. 26 S. 8». Prog.-No. 293.
Die Schrift gibt die lesenswerte Darstellung eines Zeichenunterrichts nach den
neuen Lehrplänen, unter Hinzufügung einiger Schülerzeichnungen. Der Verfasser
läßt es sich zugleich angelegen sein, die mancherlei gegen die neuen Wege er-
hobenen Einwendungen unter Hinweis auf seine praktischen Erfahrungen zu
entkräften. Besonders sei auf die auch in dieser Schrift niedergelegte überall ge-
machte Beobachtung hingewiesen, daß nicht wenige im Zeichnen fleißige Schüler
durch die Erfahrung, daß ihnen ihr Fleiß im Zeichnen nicht in gleicher Weise
angerechnet wird, wie der in den sogenannten Hauptfächern, dem Zefthnen all-
mählich entfremdet werden. Man vergleiche damit die Ausführungen von H. Bor-
bein in Heft 11, 1908, wo sie von leitender Seite eine Bestätigung finden.
Rosenkranz, W., Wie kann das Zeichnen in den anderen Unterrichts-
fächern angewendet werden? Saarlouis 1908. Gymnasium. 16 S. 4°.
Prog.-No. 606.
Der Verfasser begründet eingangs die Forderung sowohl einer Konzentration
als auch der Anschaulichkeit des Schulunterrichts und weist sodann auf die Be-
deutung des Zeichnens in dieser Richtung hin, das neben dem gesprochenen
Worte als Veranschaulichungs- und Ausdrucksmittel größere Beachtung finden
müsse. Es wäre zu wünschen, daß sowohl diese allgemeinen wie die diesen
folgenden Ausführungen über die einzelnen Lehrfächer bei den Vertretern der-
selben Würdigung finden möchten. Sie behandeln: Religion, Deutsch, Latein und
Griechisch, Geschichte, Erdkunde, Mathematik, Naturwissenschaften.
G. Rolle, Gesangunterricht. 93
Schultz, O., Die wichtigste Grundlage der Fähigkeit, nach der
Natur zu zeichnen. Delitzsch 1908. Oberrealschule. 19 S. 4^. Prog.-
No. 341.
Der Verfasser bietet in seiner Arbeit sowohl über das Sehen wie über
Farbenblindheit, über Raum- und Formvorstellung und verschiedenes andere Be-
achtenswertes und so darf sie als lesenswert empfohlert werden. Es muß aber
meines Erachtens zu einer rein äußerlichen Auffassung, zu einem mechanischen
Abschreiben der Natur führen, wenn der Verfasser als Grund- und Eckstein des
Zeichnens nach der Natur die Auffassung der Winkel, des Richtungsverlaufes
aller Linien und Punktreihen, aufstellt und einen Winkelmesser benutzt wissen
will, um das mechanisch richtige Zeichenresultat zu erreichen. Sicher führt des
Verfassers Weg zu einem großen Prozentsatz richtiger Zeichnungen, ob aber zu
einer lebendigen, inneren, die Menschenseele bereichernden Auffassung der Natur,
das erscheint mir doch zweifelhaft.
Kuhlmann, Fritz, Zeichenunterricht und Heimatstadt. Altona 1907.
Realgymnasium. 48 S. 4". Prog.-No. 354. (Zugleich als Buch erschienen im
Verlage A. Müller-Fröbelhaus-Dresden. 2 M.)
Der Unterzeichnete als Verfasser dieser Arbeit ist bemüht gewesen, seinen
Unterricht von den teuren käuflichen, aus der lebendigen Umgebung losgelösten
toten Modellen zu befreien, ihn in direkter Verfolgung seines höchsten erziehlichen
Zweckes als Mittel zu benutzen, die Jugend zur Liebe zu Natur und Heimat und
zur scharfen, lebendigen und zugleich genießenden Auffassung ihrer Umgebung zu
•erziehen. Die Abhandlung sucht unter Beigabe vieler (ca. 60) Schülerzeichnungen
ein Bild dieses Unterrichts zu geben.
Altona. Fritz Kuhlmann.
Gesangunterricht.
Als ein Zeichen der Zeit ist der Umstand freudig zu begrüßen, daß sich die
Programmabhandlungen mehren, welche den Schulgesang zum Gegenstand haben.
Die Gesanglehrer ergreifen selbst das Wort, um dem Gesangunterricht die Wert-
schätzung zu erringen, die ihm gebührt, nicht zuletzt aber auch, um ihre Fach-
genossen anzuregen, ihrem Lehrgegenstande die rechte Behandlung zuteil werden
zu lassen. In dieser Richtung bewegen sich die beiden Abhandlungen: „Zur Me-
thode des Gesangunterrichts an höheren Schulen" von Wenner (König-
liches Gymnasium in Bonn, Prog.-No. 560) und „Die Methode Jaques-Dalcroze und
ihre Verwertung im Gesangunterricht an höheren Schulen" von Julius Steger (Ober-
real- und Landwirtschaftschule in Flensburg, Prog.-No. 379).
Wenner klagt, wie viele es tun, daß der Gesangunterricht in der Schule „zum
Stiefkinde geworden ist", und daß er infolge „der stiefmütterlichen Behandlung in
den Augen unsrer Jugend an Wertschätzung verloren hat." Als Beweis für diese
Behandlung führt er den Mangel „der Feststellung der Lehraufgabe" an. Sollte
dies der einzige Beweisgrund sein? Aber trotzdem ist Wenner kein Pessimist. Er
94 G. Rolle,
hofft zunächst auf das Interesse der Schulbehörden (und damit hat er wohl recht,
D. Red.) und schildert dann frisch und fröhlich in vortrefflicher Weise, wie er den
Gesangunterricht gehandhabt wissen will. Stimmpflege, Stimmbildung, Klang-
bildung, Atmung, Aussprache, Anleitung zum Singen nach Noten, der Übungs-
stoff und schließlich der Chorgesang wird von ihm eingehend besprochen, und es
ist eine Lust, seine Ausführungen zu lesen. Dieselben gipfeln in dem Satze:
„Singen und zwar recht viel singen unter beständiger sorgfältiger Anleitung zum
bewußten Singen, zum Schönsingen: das ist die Arbeit in der Gesangstunde, alles
übrige störendes Beiwerk" (S. 12). Dabei verfällt er nicht etwa in den Fehler der
„Vororgelmethode", sondern das Verständnis unserer Notenschrift ist ihm „die Vor-
aussetzung für die gesangliche und musikalische Ausbildung" der Schüler. Es
kommt ihm nicht nur auf die Leistung an sich an, sondern vor allem darauf, „wie
dieselbe zustande gekommen ist" (S. 7). Besonders bemerkenswert und — aner-
kennenswert ist der Standpunkt: „Die Anleitung (zum Treffen) hat davon auszu-
gehen, den Schüler innerhalb einer bestimmten Skala die Stufen treffen zu lehren."
Erst nachher läßt er die Unterscheidung von ganzen und halben Stufen folgen.
Wenner geht so viel als möglich den rein theoretischen Übungen aus dem Wege:
„Die abgerundete Vorlage, das Lied, tritt in den Mittelpunkt aller Übungen" (S. 12),
und wie das zu geschehen hat, zeigt er in eingehender Weise S. 13 — 16. Endziel
ist ihm bei alledem ästhetische Bildung (S. 16). Zu leicht nimmt er es mit der
Behandlung des Rhythmus (S. 11). Der Raum gebietet mir, mich kurz zu fassen,
doch auf eines möchte ich noch hinweisen. S. 15 sagt Wenner: „Der Lehrer muß
vorsingen, fleißig vorsingen; Beschreibungen versagen hier." Damit trifft er den
Nagel auf den Kopf. Freilich ist wohl hierbei noch hinzuzufügen: Möchten doch
alle Gesanglehrer vorsingen können! Ich bin überzeugt, daß es besser mit dem
Gesangunterricht an den höheren Schulen stehen würde, wenn die Ausführungen
Wenners von allen Gesanglehrern in die Tat umgesetzt würden. Möge es ge-
schehen! Das ist mein aufrichtiger Wunsch.
Eine nicht leichte, aber um so verdienstlichere Aufgabe hat sich Jul. Steger
in seiner Abhandlung gestellt: Er will die Gesanglehrer für die Methode Jaques-
Dalcroze mobil machen. Der Schweizer Jaques-Dalcroze ist bei uns kein Fremder
mehr; seine Methode hat hier viele warme Verehrer und auch manchen Vertreter
gefunden. Aber wie sie selbst in den Schweizer Schulen bisher verhältnismäßig
wenig Eingang gefunden hat, so sträuben sich auch bei uns fast alle Schulgesang-
lehrer gegen ihre Einführung und zwar zum Teil aus Überzeugung, zum Teil auch
aus — Unkenntnis. Der Grund hierfür ist darin zu erblicken, daß diese Methode
sehr viel Zeit und ein ausgesuchtes Schülermaterial erfordert. Sie eignet sich des-
halb in ihrem ganzen Umfange weniger für öffentliche Schulen — Steger be-
hauptet S. 48 das Gegenteil — , als vielmehr für Musikschulen, in denen jenes
Material vorhanden sein kann, und so ist sie auch in vielen solcher Institute mit
bestem Erfolge eingeführt worden. Wer aber diese Methode kennt, ja wer viel-
leicht den Mann Jaques-Dalcroze selbst kennt wie der Unterzeichnete, der wird
von der Auffassung durchdrungen sein, daß auch der Schulgesanglehrer an ihr
nicht ohne weiteres vorüber gehen kann. Sie enthält so viel Ausgezeichnetes, daß
sie von einem Gesanglehrer beachtet werden muß, wenn er sich nicht selbst ins
Gesangunterricht. 9&
Hintertreffen stellen will. Und darin liegt nun das Verdienstliche der Stegerschei»
Abhandlung, daß sie die ganze Methode so kurz als möglich und doch klar und
umfassend in ihren Hauptmomenten dem Lehrer vor Augen führt. Von den Zielen
und Aufgaben des Gesangunterrichts, wie sie Jaques-Dalcroze feststellt, ausgehend,,
bespricht Steger die Hauptpunkte der Methode, die rhyfiimische Gymnastik und
den Solfege-Kursus, um schließlich sich eingehend über „die Eingliederung der-
selben in den Gesangunterricht einer höheren Lehranstalt" zu äußern. Viele wer-
den bei diesem oder jenem Punkte mit dem Kopf schütteln, z. B. bei der For-
derung von 2—3 Jahren für die rhythmische Gymnastik oder bei der Behandlung
der ganzen und halben Tonstufen — siehe vorige Abhandlung — , aber größer
wird die Zahl derer sein, die sich durch Steger anregen lassen, sich genauer mit
der Methode zu beschäftigen, um dann vieles daraus in ihrem Unterricht zu ver-
werten, z. B. die schärfere Heranziehung des rhythmischen Elementes. Steger
will den Unterricht in der Rhythmik in die Vorschule verlegt haben. Wir wollen
mit ihm hoffen, daß dies bald geschehen kann, und ich glaube, wir dürfen es
hoffen. Ist das erreicht, und wird auch in den unteren Klassen der Volksschulen,
aus denen zurzeit noch die größte Zahl unserer Sextaner hervorgeht, der Gesang-
unterricht immer intensiver betrieben — die Anzeichen hierfür mehren sich — , so-
wird in den höheren Schulen manche der Jaques-Dalcrozeschen Forderungen er-
füllt werden können, sicher zum Gedeihen unseres Gegenstandes. Möge die
Stegersche Schrift viele Leser und Beherziger finden.
Berlin. Georg Rolle.
III. Bücherbesprechungen.
Müller, Hugo, Die Gefahren der Einheitsschule für unsere nationale
Erziehung. Gießen 1907. Alfred Töpelmann. VI u. 142 S. 2,40 M.
Im Jahrgang IV, S. 544 dieser Monatschrift ist schon eine Schrift desselben
Verfassers über die Entwicklung des höheren Schulwesens angezeigt worden, die
seine Stellung als Freund des humanistischen Gymnasiums ebenso wie seine ein-
sichtige Beurteilung der letzten Entwicklungsstadien dartat. Das neue Buch hat
es wesentlich zu tun mit der Bekämpfung derjenigen Bestrebungen, die auf eine
Wiederannäherung der Organisationstypen weniger als auf eine gemeinsame, aus
einer Wurzel hervorgehende Vorbildung für die höheren Lehranstalten abzielen.
Diese Bestrebungen, die die allgemeine Volksschule zur einzigen Eingangspforte
für alle Bildungsmöglichkeiten erheben wollen, die daher vor allem die Abschaffung
der Vorschulen fordern, gehen bekanntlich, abgesehen von einigen Theoretikern,
von den Kreisen der Volksschullehrer aus. Der Verfasser ist nun mit Erfolg be-
strebt, das Utopische dieser Bestrebungen nachzuweisen. Er zeigt, wie die kon-
sequente Durchführung des Gedankens ohne einen Umsturz unserer ganzen Gesell-
schaftsordnung nicht möglich sein würde, wie sie weder zur Herstellung des so-
zialen Friedens beitragen, noch einen Zustand höherer sozialer Gerechtigkeit her-
beiführen würde. Er weist nach, wie einzig und allein nach den verschieden-
artigen Anforderungen, die die Mitarbeit an der vielgestaltigen Kulturaufgabe an
die Vorbildung der heranwachsenden Jugend stellt, die Schulen organisiert werden
können, und zeigt, daß, während die Volksschulen für das praktische Leben vor-
bereiten, die höheren SchuJen ihre Zöglinge von unten herauf allmählich zum
wissenschaftlichen Arbeiten tüchtig machen wollen. Die Einheit des gesamten
Unterrichts beruhe daneben auf den allgemeinen Werturteilen, der gleichen patri-
otischen, ethischen und menschlichen Grundstimmung, die sich mit jeder Sonder-
bildung vertrage und durch jede hindurchklingen müsse. Häufig genug seien die
Einheitsschulbestrebungen auch verkappt der humanistischen Bildung feindlich,
während doch die Kenntnis der Antike immer noch die wichtigste Angelegenheit
der abendländischen Menschheit sei. Daraus folge freilich nicht, „daß alle Ge-
bildeten durch die Schule der klassischen Sprachen hindurchgehen müssen, wohl
aber, daß unter ihnen eine genügend große Anzahl von Männern vorhanden sein
H. Müller, Die Gefahren der Einheitsschule usw., angez. von M. Nath, 97
muß, welche die Antike durch eigene Studien kennen und somit auch der Gesamt-
heit eine lebendige Kenntnis des Altertums zu vermitteln und zu verbürgen ver-
mögen« (S. 79).
Wie wenig die Volksschule als solche sowohl wie ai^ch die in ihr verbleiben-
den Schüler durch ihre Bestimmung zur allgemeinen Vorbildungsanstalt für alle
Schichten der Bevölkerung gewinnen würde, wird überzeugend nachgewiesen und
die Erfahrungen, die im Auslande mit dieser Organisation gemacht worden sind,
werden kritisch gewürdigt.
In einem Schlußabschnitte werden „Zukunftsaufgaben unseres deutschen Schul-
wesens" behandelt. Neben der Empfehlung größerer Bewegungsfreiheit für die
Schüler, individueller Ausgestaltung der einzelnen Schulgattungen, Zulassung pri-
vater Erziehungsanstalten von dem Gesichtspunkt als Versuchsstationen, wird be-
sonders auf eine Verminderung der Zahl der Gymnasien gedrungen, die allein
eine Rückwärtsrevision ihres Lehrplans ermöglichen würde. Der Verfasser ist der
Ansicht, daß über kurz oder lang, die Schulverwaltungen sich zu diesem Schritte
würden entschließen müssen. Denn in absehbarer Zeit werde sich unser deutsches
Schulwesen „nochmals und noch ernstlicher als früher vor die schwerwiegende
Entscheidung gestellt sehen, ob Vielheit oder Einheit der maßgebende Grundsatz
einer Schulgestaltung sein soll". Er verlangt strenges Festhalten an den notwendigen
Anforderungen an die Schüler, betrachtet die höhere Schule als Mittel der sozialen
Auslese und, indem er eine übermäßige Erleichterung der Anforderungen als ein
soziales Verbrechen bezeichnet, fordert er Rücksichtslosigkeit gegen unbefähigte
Schüler. Anderseits weist er die Wege, die die Schule gehen kann, um sozial
ausgleichend zu wirken. So sucht er überall zu praktischer Arbeit anzuleiten,
von der Jagd nach Phantomen abzulenken.
Otto, Berthold, Deutsche Erziehung und Hauslehrerbestrebungen. Groß-
Lichterfelde 1907, Dürerstraße 25a. Verlag des Hauslehrers. 50 S. 0,30 M.
Der bekannte Pädagoge entwickelt in dem kleinen Heft die Grundanschauungen
seiner in seiner Zeitschrift und in einer Reihe größerer Werke ausgeführten Methodik.
So erscheint es geeignet, denjenigen zu orientieren, der mit den Bestrebungen
des Verfassers noch nicht näher bekannt ist. Sie gehen darauf aus, daß die Kinder
sich leiblich und geistig so entwickeln sollen, wie ihre natürliche Anlage es er-
fordert. Er sucht daher ihre Lernbegierde zu erwecken. Ist dies gelungen, so
wächst jeder einzelne Geist von selbst aus dem eigenen Volkstum heraus, und
dieses erscheint daher als die Wurzel aller geistigen Entwicklung. Folgerichtig
eischeint dem Verfasser die Wertschätzung des fremdsprachlichen, namentlich des
altsprachlichen Unterrichts für die Geistesbildung als übertrieben, obwohl er sich
keineswegs als einen Feind des lateinischen und griechischen Unterrichts zeigt.
Fetter, Johann, Beiträge zur österreichischen Mittelschulreform. Wien
1907. A. Pichlers Ww. & Sohn. 42 S. 1 Kr.
Lose aneinandergereiht, wenn auch des Zusammenhanges nicht entbehrend,
werden eine Anzahl von Gedanken vorgetragen, die sich auf die als notwendig
erkannte Reform des österreichischen Mittelschulwesens beziehen. Vieles, was ge-
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 7
98 J- Fetter, Beiträge zur österreichischen Mittelschulreform, angez. von M. Nath.
sagt wird, trifft mit Ansichten, Wünschen und Vorschlägen zusammen, die auch in
Deutschland laut geworden sind: die Zusammendrängung des theoretischen Unter-
richts auf den Vormittag, die Vereinfachung des Lehrstoffs, die Abschaffung des
Drills und der Schablone („Der Drill ist bedingt durch die gleichmäßigen, in be-
stimmten Zeitabschnitten zu machenden Fortschritte, durch das im Amtswege vor-
geschriebene Marschtempo". „Je intensiver der Drill, desto seichter und unfrucht-
barer der Unterricht. Je mehr die Schüler gedrillt werden, desto weniger lernen
sie arbeiten"), die Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler,
für dessen Zustandekommen die gemeinsamen Ausflüge von großer Bedeutung
sein würden, die Bedeutung der körperlichen Übungen und dergleichen mehr.
Im besonderen den österreichischen Verhältnissen angehörend sind die Wünsche,
die sich auf die Ausgestaltung der Realschulen zu achtklassigen Anstalten und
auf die Gleichberechtigung ihrer Abiturienten mit denen der Gymnasien beziehen.
Der Grundfehler des öffentlichen Schulwesens scheint dem Verfasser darin zu
liegen, „daß die ganze Jugendzeit nur als Provisorium betrachtet wird, das einzig
und allein dazu dient, sich auf einen anderen Lebensabschnitt vorzubereiten".
Dieser Gedanke, der gar nicht neu ist, könnte wirklich, wenn nicht in den offiziellen
Vorschriften, so doch gelegentlich ihrer praktischen Ausführung noch lebendiger
werden. Er würde bewirken, daß das Urteil über Tun und Treiben der Jugend,
wie die Anforderungen, die an sie gestellt werden, den natürlichen Verhältnissen
besser entsprächen. Ironisch fährt der Verfasser fort: „Das reife Alter soll sich
wieder auf das Greisenalter vorbereiten, und so wird man mit der Vorbereitung
fertig, wenn das Leben zu Ende ist".
Pankow. Max Nath.
Lentz, Ernst, Pädagogisches Neuland. Ausgewählte Aufsätze und Vor-
träge. BerHn 1907. O. Salle. 172 S. 3 M.
Das Buch umfaßt 12 Aufsätze, z. T. Abhandlungen, die zwar aus der Zeit-
schrift für die Reform der höh. Schulen, der Deutschen Welt, dem Pädag. Archiv,
der Monatschrift f. höhere Schulen abgedruckt, aber gerade durch diesen Neudruck
erst zugänglich geworden sind. Deshalb ist dieser Neudruck mit Freude zu
begrüßen. Besonders gilt das von den prächtigen Aufsätzen mit dem Titel: „For-
male, grammatische und sachliche Bildung". Sie bringen den unwiderieglichen
Nachweis, daß das „lateinische Extemporale kein Prüfstein geistiger
Kraft" sei und fordern deshalb seine Abschaffung in der Reifeprüfung. Was das
Extemporale veriangt, kann nämlich auch ein leerer Kopf leisten, weil nicht ein
neuer Stoff mit dem vorhandenen geistigen Besitz in Beziehung zu setzen, sondern
nur einem gegebenen Stoff eine neue Einkleidung zu geben ist. Psychologie
und Sprachwissenschaft haben den Beweis erbracht, daß eine formale, durch
altsprachlichen Unterricht zu erzielende Geistesbildung ein Unding
ist. Die in verschiedenen Sprachen nicht übereinstimmenden Sprachformen be-
weisen schon, daß sie nicht logischer Überlegung ihr Dasein verdanken.
Das Lateinische steht an Bestimmtheit und an Schärfe des Ausdrucks entschieden
dem Deutschen nach. Aus all diesen Gründen sind Übersetzungen ins Latei-
nische auf der Oberstufe und in der Reifeprüfung ebenso entbehriich wie die
E. Lenlz, Pädagogisclies Neuland, angez. von O. Keesebiter. 99
Übersetzungen ins Griechische. — Diese Grundsätze werden noch weiter aus-
geführt im 2. und 3. Aufsatz mit den Titeln: „Gegenwart und Zukunft des latei-
nischen Unterrichts auf den Gymnasien" und „Die Erfolge der lateinischen
Lektüre unter den neuen Lehrplänen ". Im letzteren Aufsatze beweist der Ver-
fasser, daß die Klagen der Amtsgenossen, daß „schon jetzt die nötigen grammatischen
Kenntnisse für das Lesen lateinischer Schriftsteller nicht mehr vorhanden seien',
aus seiner Schulpraxis heraus als unbegründet zu bezeichnen seien.
Im I.Aufsatz wird der Gedanke einer einheitlichen Mittelschule (Reform-
schule) psychologisch begründet, im 6. durch die Geschichte der Pädagogik ver-
folgt und gezeigt, daß gerade die Männer, deren Werk angeblich durch die Idee
der einheitlichen Mittelschule zerstört sein sollte, diese Schulreform selbst
empfohlen haben. — Aufsatz 9 tritt für die Einführung der Schulärzte,
4 (Schulreform und Schulgesundheitspflege) für Entlastung der schwachen Periode
in der Entwicklung des Kindes bis zum 14. Jahre vom lateinischen Unterricht ein
(nach Axel Keys „Die Pubertätsentwicklung und das Verhältnis derselben zu den
Krankheitserscheinungen der Schuljugend").
Aber auch neue pädagogische Vorschläge für die Zukunft enthält das „Päd.
Neuland", z.B. im IL Aufsatz: „Hemmungen geistiger Tätigkeit". Solche
Hemmungen sind zuerst in körperlichen Vorgängen zu suchen, sodann in
Störungen des Empfindungslebens: in Mißerfolgen (Vernichtung des Selbstver-
trauens), Angst (Man störe den Frohsinn des Kindes nicht!), auch im Gegenteil
der Angst: Überschwang der Gefühle, Unruhe im Elternhaus. Als Heilmittel
kommen zur Beseitigung der oben angeführten Übel: L Verminderung des Vielerlei
im Unterricht, 2. das Nacheinander statt des Nebeneinander des Comenius, 3. Wahl-
freiheit des Unterrichts in Betracht.
Ebenso bringt der 12. Aufsatz: „Vorschläge zur Steigerung unserer erzieheri-
schen Tätigkeit" Neues: er empfiehlt, die Klassenlehrer sollten ihre Schüler als
„bleibende Pfleger" durch die ganze Anstalt begleiten, auch wenn sie das Ordi-
nariat in der Klasse vertieren, in die ihre Schüler später aufrücken. Als Haupt-
vorteil dieser Einrichtung wird der jahrelange Verkehr mit Schülern und Eltern
angeführt. Der mitgeteilte Entwurf eines Personalblattes, wie sie hierzu vor-
geschlagen werden, berichtet über 1. körperiiches Befinden, 2. häusliche Verhält-
nisse, 3. eine Charakteristik des Schülers.
Aus all diesem erhält der Leser die Empfindung, daß der Titel „Päda-
gogisches Neuland" sehr berechtigt ist: an den meisten unserer höheren Schulen
ist dies Neuland neu und unbekannt. Das Buch wird dazu beitragen, daß wir
mit unseren Reformen schneller vorwärtskommen.
Charlottenburg. O. Keesebiter.
Aus einem Leben „voller Leuchten und Wunder". Zum Andenken an
Martin Brennecke. Leipzig 1908. J. C. Hinrichssche Buchhandlung. 100 S.
1,20 M. geb. 2 M.
Ein Vater, ein auch in weiten Kreisen bekannter Arzt, gibt hier ein Lebensbild
seines im 21. Jahre verstorbenen Sohnes und Auszüge aus dessen Briefen, vier
Aufsätze des Sechzehnjährigen, dann Blätter aus dem Tagebuche des Schülers
7*
100 Aus einem Leben „voller Leuchten und Wunder", angez'. von A. Matthias.
und Studenten, die Ansprachen am Sarge und bei der Beerdigung, den Nachriif
der Verbindung „Luginsland-* in Tübingen und ein Verzeichnis der Bibliothek des
Verstorbenen.
Auf den ersten Blick kommt einem der Gedanke, als habe diese Veröffent-
lichung mehr nur ein Familieninteresse und habe keine Bedeutung für weitere
Kreise. Je mehr man sich in das Buch hineinliest, besonders wenn man zu den
Briefen und Tagebuchblättern kommt, schlägt der Gedanke in sein Gegenteil um:
man überzeugt sich, daß dieses Buch ein Stück wertvollen Menschenlebens ist,
das anregend und von hoher Bedeutung für alle Erzieher und für die Zöglinge an
unseren höheren Schulen ist. Das kurze Leben dieses Frühvollendeten ist reich
an Segen für jeden, der damit in Berührung kommt. Nicht auf altkluge und
selbstgefällige Gedanken stoßen wir in dem Büchlein, sondern auf bescheidene
Äußerungen eines Kindes- und Jünglingsgemütes seltener Art und seltener Tiefe;
das Ganze durchzieht ein poetischer Hauch, und wir haben das Gefühl, daß auf
diesen Lebenslauf die Worte des Psalmisten: „wir bringen unsere Jahre zu, wie
ein Geschwätz" nicht zutreffen. Eine junge Seele, voll und rein, tönt hier aus und
gibt dem Erzieher von heute zu denken, ob nicht doch in unserer Jugend viel,
sehr viel schlummert, was wir Lehrer nicht erwecken, weil wir so viel die
Unbefangenheit stören und dazwischenreden mit unserer alten und veralteten
Weisheit, während wir besser liebevoll horchen sollten auf jeden Klang, der frisch
und ungezwungen aus jugendlichen Seelen tönt. Das können wir Alten aus diesem
Buche lernen und noch manches andere dazu. Die Seminarleiter sollten doch ja
dieses Buch in die Hände unserer jungen Lehrer geben. Sie werden reichen Ge-
winn daraus ziehen. Und ebenso sollten unsere Schüler es kennen lernen, um
zu sehen, wieviel Seelenglück aus einem so schlichten Idealismus entspringt
und wieviel Segen aus dem Quell echter und gesunder Frömmigkeit sprudelt.
Und wenn unsere Schüler dann sehen, wie dieser junge Genosse schon früh hat
dahingehen müssen vom Glauben zum Schauen, dann wird die Wirkung nicht
ausbleiben, da die wehmütige Sonne des Tragischen über dem Ganzen scheint
und die Seelen empfänglich für ernste und tiefe Eindrücke macht. Wie dieser
junge Mensch sein Verhältnis zu Elternhaus, zur Schule und zur Universität auf-
faßt, das kann vorbildlich wirken: stille Freude an der Arbeit und am Leben wird
das Ergebnis sein. Das Wort, das ein junger Freund des Verstorbenen von ihm auf-
bewahrt hat, gilt von dem Leben, das hier beschrieben ist und mag meinen Hinweis
schließen: „Ein zitternd Harfenspiel, gerührt von einem verborgenen Meister, ist
der Mensch; seine Aufgabe: die Saiten rein zu stimmen, daß sie nur in vollen,
heihgen Harmonien erklingen können." —
Berlin. A: Matthias.
Monatsblätter für den evangelischen Religionsunterricht, herausgegeben von
Heinrich Spanuth in Hameln. Erster Jahrgang Heft 1—7 (Januar— Juh 1908).
Verlag von Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen. 232 S. gr. 8«. Halb-
jährlich 3 M., Einzelheft 0,80 M.
Als „neue Folge der Katechetischen Zeitschrift", die zehn Jahrgänge
erlebt hat, erscheinen seit Januar 1908 die „Monatsblätter für den evangeli-
Monatsblätter für den evangelischen Religionsunterricht, angez. von F. Feigel. 101
sehen Religionsunterricht", Gegenüber der grundsätzlich unparteiischen
»Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht", herausgegeben von Half-
mann und Schuster (Reuther und Reichard, Berlin) zeigen diese Blätter unver-
hohlen die Tendenz freiheitlicher Reform. Die Liste cfer Mitarbeiter enthält nur
Vertreter und Freunde der „modernen" Theologie und Religionswissenschaft, und
das einleitende Wort des Herausgebers („Was wir wollen") läßt keinen Zweifel
darüber, daß der Untertitel der Monatsblätter („Zeitschrift für Ausbau und Vertiefung
des Religionsunterrichts und der religiösen Erziehung in Schule, Kirche und Haus")
dahin zu verstehen ist: Nur auf dem Wege der Freiheit, nicht durch Aufbürdung
der „schweren Last der Dogmatik früherer Jahrhunderte" ist in unserer Zeit ein
Ausbau und eine Vertiefung des Religionsunterrichts zu erreichen. Etwas Neues
bedeuten die Monatsblätter auch insofern, als sie dem Religionsunterricht auf allen
Stufen, vom Elternhaus und der Volksschule bis zur höheren Schule dienen
wollen.
Wer an der Existenzberechtigung eines solchen bewußt modernen Or-
gans für den Religionsunterricht zweifeln wollte, dem sei z. B. die Lektüre
der „Reformation", VII. Jahrgang, No. 23—26, empfohlen! Da wird für
den Religionsunterricht der höheren Schulen rücksichtslose Bindung an das
Bekenntnis, ja volle Verkirchlichung verlangt, eine „Reform", für die der katho-
lische Religionslehrer mit seiner missio canonica Modell gestanden hat. Die Zu-
stimmung, die dieses Programm bei der Partei findet, die vorerst und vielleicht
noch auf lange Zeit in Preußen die Synodalmehrheit ausmacht, läßt keinen Zweifel
darüber, daß es sich hier um mehr handelt als um wunderliche Einfälle. Die
Monatsblätter stellen sich in den Dienst einer hohen Kulturaufgabe, wenn sie der
Gefahr endgültiger Entzweiung von Religion und Wissenschaft, Religion und Kultur
energisch entgegentreten, sie stellen sich auch in den Dienst wohlverstandener
Interessen des Staates, wenn sie ihre Stimme dafür erheben, daß der Staat sich
nicht einen so wichtigen Unterrichtszweig von der Kirche entreißen lasse und
dadurch den Grund lege zu unlöslichen Konflikten.
Bei aller Einmütigkeit in den grundsätzlichen Fragen zeigen doch schon die
sieben zuerst erschienenen Hefte, daß nicht nur der fundamentale Gegensatz
gegen die „dogmatische" Schule, sondern auch Meinungsverschiedenheiten im
eigenen Lager den Monatsblättern immer frischen Wind zuführen werden. Gegen
den wesentlich geschichtlichen Religionsunterricht, für den H. Meltzer in
Heft 1 eintritt, wendet sich in Heft 7 R. Kabisch; er fordert als Abschluß auf
der Oberstuf« eine systematische Unterweisung, d.h. ein „zusammenhängendes
Glaubenszeugnis mit apologetischer Tendenz". Kabisch verlangt für dieses Bekennt-
nis keine Vollständigkeit, und das Bekenntnis soll subjektiv, nicht nur objektiv,
persönlich, nicht nur kirchlich sein (S. 212).— Was bedeutet das „nicht nur"?
Es paßt nur für den glücklichen Fall, daß man das objektive, kirchliche Bekenntnis
als subjektives, persönliches Bekenntnis wirklich bekennen kann, also etwa für
die Leser der oben erwähnten „Reformation". Wenn aber ein Konflikt eintritt?
Es ist doch wohl Kabischs Ansicht, daß dann das Glaubenszeugnis nicht objektiv,
sondern subjektiv, nicht kirchlich, sondern persönlich ausfallen mußl Das
mittelparteiliche Rezept, man solle sich an dem kirchlichen Bekenntnis orientieren,
102 Monatsblätter für den evangelischen Religionsunterricht, angez. von F. Feigel.
ihm aber „durch [rechten (?) freien Gebrauch der Form den Inhalt geben, deren
(doch wohl: dessen) persönliche Aneignung dem Lehrer und seinen Schülern
möglich ist" (S. 213), ist gerade in unserer Zeit höchst bedenklich.
Es handelt sich in diesem Streit gar nicht um eine prinzipielle, sondern um eine
methodische Frage, um eine Frage des Lehrplans. Meltzer verficht nicht etwa
einen trockenen „Historismus", er will auf dem Wege geschichtlicher Belehrung,
vor allem durch die lebendige Darstellung der religiösen Genien, und durch die
Wertung der geschichtlichen Tatsachen religiöses Interesse und Urteil, religiöse
Überzeugung erzielen. Kabisch erhofft dasselbe vor allem von einem abschließenden
„systematischen" Unterricht; aber was Kabisch meint, ist nicht mehr systematisch,
es ist nichts wesentlich anderes als das, was nach Meltzer bei Besprechung
der kirchengeschichtlichen Lage der Gegenwart behandelt werden müßte (vgl.
8. 216—223).
Eine Parallele zu diesem Streit bildet die Auseinandersetzung F. Heucks mit
R. Peters über den „Historismus der neueren Theologie im Religions-
unterricht der höheren Schulen" (Heft 4). In Heft 5 und 6 hat Referent
geschrieben über das Thema: „Der Religionsunterricht der Schule im
Kampfe um seine Existenz" (I. Möglichkeit des Religionsunterrichts.
IL Interesse des Staates am Religionsunterricht der Schule. III. Inter-
esse der Kirche am Religionsunterricht der Schule). In denselben
Heften findet sich ein Vortrag Thrändorfs über „Jesus im lehrgesetzlichen
und im geschichtlichen Religionsunterricht". Der Aufsatz Kabischs über
„Die Lehre von der Heiligen Schrift in der Volksschule" (Heft 1) gibt
B. Otto (Heft 5) und L. Krogmann (Heft 7) Anlaß zu ablehnenden und zustim-
menden Thesen. Fügen wir hinzu, daß in Heft 1 Joh. Weiß das „Leben Jesu"
von D. F. Strauß würdigt und im Anschluß daran die noch ungelösten Aufgaben
der Leben Jesu-Forschung präzisiert, daß in Heft 2 F. W. Foerster-Zürich reli-
gionspädagogische Betrachtungen gibt über „die Persönlichkeit Christi
und die moderne Jugend" und daß in Heft 7 K- Eger -Friedberg eine Ab-
handlung beginnt über das alte Problem des Verhältnisses von Gesetz und Evan-
gelium in der religiösen Verkündigung und Belehrung („die religiöseJugend-
unterweisung und die Freiheit einesChristenmenschen"), so dürfte
bewiesen sein, daß die neue Zeitschrift in wissenschaftlicher Hinsicht einen lebens-
frischen Anfang gemacht hat.
Die „Monatsblätter" bringen auch eine Reihe praktischer Beispiele für den
Religionsunterricht, teils bloß skizziert, teils in vollständiger Durchführung, sie
enthalten Anregungen und Anfragen aus Schule und Haus, machen aufmerk-
sam auf die einschlägige Literatur, berichten über Versammlungen u. a.
und bringen endlich aus der Feder des Herausgebers eine wertvolle Chronik,
die die für den Religionsunterricht bedeutsamen Ereignisse grundsätzlich be-
leuchtet.
Duisburg. Friedrich Feigel.
R. Riegler, Das Tier im Spiegel der Sprache, angez. von J. Helnzerling. 103
Riegler, Richard, Das Tier im Spiegel der Sprache. Ein Beitrag zur vergleichen-
den Bedeutungslehre. Dresden u. Leipzig 1907. C. A. Koch. XX u. 295 S. 7,20 M.
Neusprachl. Abhandlungen aus den Gebieten der Phraseologie usw.
Hgb. von C. Klöpper. XV.— XVI. Heft.
Das vorliegende Werk betrachtet der Verfasser als eine Ergänzung zu einem
von Fr. Brinkmann veröffentlichten, welches den Titel „Studien über den Geist
der neueren Sprachen" trägt, und von welchem der erste Band erschienen ist. Der-
selbe behandelt die Tierbilder in der Sprache und zwar mit Beschränkung auf die
Haustiere. Daher werden von Riegler nur die Namen der übrigen Tiere, „insofern
sie semasiologisch oder phraseologisch von besonderem Interesse sind, in den
Kreis der Betrachtung gezogen", und zwar werden, ebenfalls im Anschluß an
Brinkmann, von den modernen Kultursprachen das Deutsche, Englische, Italieni-
sche, Spanische und Französische, gelegentlich auch das Lateinische, berücksichtigt.
Dialekte fanden, wie gesagt wird, Berücksichtigung, soweit es die spärlich flie-
ßenden Quellen ermöglichten. Von lezteren sind freilich manche unbenutzt ge-
blieben, z. B. Schillers Meklenburg. Tier- und Kräuterbuch oder Frommanns
Zeitschrift: Die deutschen Mundarten.
In den einzelnen Abschnitten ist jedesmal zuerst von der Etymologie des Tier-
namens eingehend die Rede. Hierdurch wird uns oft schon diese oder jene aus
dem Tiernamen sich ergebende Metapher verständlicher, während anderseits letztere
auch auf die Etymologien Licht werfen kann. Wenn z. B. in allen Sprachen das
scharfe Gesicht, die leuchtenden Augen des Luchses eine metaphorische Verwen-
dung erfahren haben, so ist das eine Bestätigung dafür, daß Luchs mit Licht usw.
zusammenhängt.
Unter den angeführten Tiernamen entsprechen sich eine Anzahl in den beiden
hier vertretenen germanischen Sprachen, wie auch im übrigen Germanischen, aufs
genaueste und sind nur in soweit verschieden, als es die Lautgesetze der betref-
fenden Sprache bedingen. Zu diesen Namen gehören unter andern Laus, Wolf
und Maus: das erste Wort nennt der Verfasser daher gemeingermanisch, und das-
selbe drückt er wohl aus, wenn er Wolf germanisch nennt oder Maus usw. auf
ein gemeinsames müs zurückführt. In vielen anderen Fällen, wo das Verhältnis
ganz dasselbe ist, braucht er dagegen den Ausdruck verwandt. Da man aber bei
verwandt zu leicht an Wörter denkt, die nur eine gleiche Wurzel haben, ohne sich
sonst genau zu entsprechen, so wäre auch hier die Bezeichnung gemeingermanisch
besser gewesen.
Bei denselben Tieren, welche einen gemeingermanischen Namen haben, wo
das beim germanischen Urvolk vorhandene Wort bei den einzelnen Stämmen bis
heute nicht geschwunden ist, hat sich auch der lateinische Name in den verschie-
denen romanischen Sprachen ziemlich regelmäßig erhalten. Dies gilt z. B. vom
lateinischen ursus, lupus, lepus, mus, anguilla, vermis, pediculus, pulex, simia usw.
Dagegen zeigen wieder andere Tiere wie Fledermaus, Zeisig, Schildkröte, Schmet-
terling, Heuschrecke, Kröte, Eule usw. im Germanischen sowohl wie im Romanischen
eine mehr oder minder große Mannigfaltigkeit der Bezeichnung, indem die alten
Namen durch Neubildungen ersetzt oder auch bisweilen vertauscht wurden. Weil
in diesen Punkten also eine so auffallende Übereinstimmung zwischen beiden
104 R- Riegler, Das Tier im Spiegel der Sprache,
Sprachgebieten herrscht, so sind die Gründe hierfür weniger lautHcher Art, sondern
müssen im Wesen der betreffenden Tiere gesucht werden. Sie sind in der Tat
vielfach vorhanden und hätten bei der Erklärung der Namen mehr hervortreten
können. So gab man z. B. manchen Tieren mit Vorliebe mehr scherzhafte Bei-
namen, welche oft den alten, gemeinsamen Namen verdrängten, oder eine sehr
auffallende Eigenschaft war Veranlassung, das betreffende Tier von neuem danach
zu benennen, wenn dieselbe im alten Namen gar nicht oder wenigstens nicht mehr
deutlich genug hervortrat.
Da solche Neubildungen späteren Ursprungs sind, scheint es mir nicht ersicht-
lich, warum das an Stelle des altenglischen igl getretene hedgehog ein älteres
englisches Wort sein sollte, als das gleichbedeutende, aus dem Romanischen stam-
mende urchin. Vgl. S. 16.
Eine Neubildung innerhalb des Lateinischen wäre pediculus, wenn es, wie
S. 272 angegeben wird, einfach als Verkleinerungsform von pes aufzufassen wäre.
Aber abgesehen davon, daß Füßchen als Bezeichnung der Laus keinen rechten
Sinn hat, findet sich auch im Lateinischen ein altes und daher schwer zu erklä-
rendes Wort für Laus, nämlich pedis, dessen Verkleinerung eben pediculus ist.
Ein anderes lateinisches Wort mustela wird S. 48 als Verkleinerung von mus
erklärt. Aber abgesehen von den rein lautlichen Bedenken sind doch Maus und
Wiesel zu verschiedene Tiere, um letzteres einfach Mäuschen zu nennen. Der
Verfasser begründet seine Erklärung damit, daß die Alten Wiesel, Marder usw. zum
Mäusegeschlecht rechneten, aber das Volk, vor allem in früherer Zeit bei vertrau-
tem Verkehr mit der Natur, unterscheidet die Tiere viel schärfer, als oft in sprach-
lichen Werken zum Ausdruck gelangt. In letzteren kommen leicht Verwechselungen
vor. So möchte ich vermuten, daß das S. 190 neben Eidechse als gleichbedeutend
angeführte dänische Firebeen, schwedische fyrfota und hennebergische firchebS
nicht der Eidechse, sondern dem Wassermolch gilt. Im Siegerland wenigstens
wie in vielen anderen Gegenden, bezeichnet man mit Viergebein usw. nur den
Wassermolch, niemals die Eidechse, welche eine besondere Bezeichnung hat. Ge-
rade beim Wassermolch, weniger bei der Eidechse, mußten die vier Beine auffallen,
weil er wie ein Fisch ganz im Wasser lebt und einem Fisch auch an Gestalt ähn-
lich ist.
Auch stork und crane hat man im Englischen wohl schärfer auseinandergehalten,
als der Verfasser annimmt; wenigstens möchte ich es nicht für ein Anzeichen von
Vertauschung halten, wenn der Engländer dieselbe Pflanze crane's bill nennt,
welche bei uns den Namen Storchschnabel führt, sondern in beiden Sprachen ist
eben die Pflanze wegen der Gestalt der Frucht nach Vögeln mit langem Schnabel,
nur nicht nach denselben Vögeln benannt worden.
Ferner liegt beim oberhessischen Greinhase nicht, wie S. 85 angenommen
wird, eine einfache Vertauschung, ein Ersatz des Wortes Kaninchen durch Hase
vor. Denn auch in Greinhase steckt das Wort Kaninchen und zwar in der zu Knin
verkürzten unverkleinerten Form, welche noch in manchen Mundarten vorkommt.
Hase wurde in Greinhase, ähnHch wie in Walfisch, Maultier usw. gleichsam erklärend
hinzugesetzt, und auch in dem weiterhin angeführten schweizerischen KüUhase
haben wir einen erklärenden Zusatz zu der ebenfalls von cuniculus herrührenden Form.
angez. von J. Heinzerling. 105
Während also auch in Greinhase eine Entlehnung aus dem Lateinischen vor-
liegt, möchte ich dies weniger bei Grille annehmen. Zwar wäre dies immer noch
wahrscheinlicher als die Annahme des Verfassers, daß gryllus aus dem Lateinischen
in die romanischen Sprachen und von da erst in das Deutsche eingedrungen sei,
denn bei dem uns zunächstwohnenden romanischen Volke hat das Wort die un-
serem Grille unähnlichere Gestalt grillon. Grille halte ich für ein echt deutsches
Wort; denn wie in einigen Gegenden Heimchen usw. ist in anderen z. B. in
Schwaben Grille der im Volk allgemein übliche Ausdruck für die in Häusern
sowohl wie im freien lebende Art, und da für derartige, allgemein bekannte Tiere
sich nirgends in der Volkssprache ein Fremdwort findet, so wäre es unbegreiflich,
warum dies gerade hier der Fall sein sollte. Grille ist eben eine unabhängig von
gryllus entstandene zufällig gleichlautende Bildung, mit welcher das daneben viel-
fach übliche Zeitwort grellen, grillen zusammenhängt, und welche ebenso wie das
lateinische gryllus auf dem vom Tier hervorgebrachten Geräusch beruht.
Wie Grille ist auch Wiedehopf, aber natürlich abgesehen vom ersten Teile des
Wortes, eine onomatopoetische Bildung, und aus dem Rufe hup hat sich ganz
entsprechend den Lautregeln des Hochdeutschen die Form Hopf entwickelt. Wiede-
hopf ist dagegen nicht, wie S. 132 gesagt wird, eine volksetymologische Umdeu-
tung eines Schallwortes, sondern ist nur von den Sprachforschern unrichtig als Holz-
hüpfer gedeutet worden. Noch weniger aber kann das als frankfurtisch angeführte
Wigüggel als solche angesehen werden. Ferner möchte ich Wigüggel nicht als
Weidenhahn erklären; denn Weide lautet frankfurtisch nicht Wi, sondern letzteres
ist ohne Zweifel dasselbe Wort wie Wiede in Wiedehopf, und Wiede ist nach
Woeste das althochd. Witu, welches Krone, Haube bedeutet. Daß der auffallende,
charakteristische Kopfschmuck des Vogels neben dem Rufe ein Ausgangspunkt
der Bezeichnung werden konnte, liegt sehr nahe und findet wieder eine Bestäti-
gung in der metaphorischen Anwendung des französischen huppe.
Unter der Überschrift Grille werden Grille oder Heimchen und Singzirpe oder
Zikade zusammen behandelt, indem der Verfassei letztere Baumgrille, mehrmals
auch einfach Grille nennt. Aber zwischen beiden Tierarten besteht doch ein
wesentlicher Unterschied, und sie werden dementsprechend im Lateinischen durch
die ganz verschiedenen gryllus und cicada, die sich auch in allen romanischen
Sprachen fortgepflanzt haben, bezeichnet. Eine Trennung war um so mehr geboten,
als die Zikade, ein Kind des sonnigen Südens, nur in metaphorischen Wendungen
der romanischen Sprachen vorkommt. Die Grille ist zwar im Norden wie im
Süden zu Hause, aber, abgesehen von einem einzigen Falle, ist ihre metapho-
rische Verwendung von derjenigen der Zikade verschieden.
Die S. 18 angeführte Redensart „saufen wie ein Igel" paßt gar nicht zur
Natur dieses Stachelträgers und beruht sicher auf einer Verwechselung von Igel
und Egel, die sich dadurch leicht erklärt, daß in vielen Mundarten der Name beider
Tiere völlig gleich lautet.
Wenn S, 78 zur Erklärung einiger Redensarten erwähnt wird, daß der Hase
mit offenen Augen schlafe, so steht dies wohl nicht im Einklang mit den neusten
Forschungen. Vgl. Zell, Tierfabeln S. 68.
Die in dem Kapitel Fliege erwähnte Redensart mosca, stille, wird zu dem
106 A Biese, Deutsche Literaturgeschichte, angez. von J. Buschmann.
Satz vervollständigt: che nön si senta una mosca. Vielleicht wäre es hier richtiger
gewesen non wegzulassen, weil es gerade ein Beweis von Stille ist, daß man so-
gar die Fliegen hört.
Etwas gesucht scheint es mir, wenn S. 272 die Bedeutung von lausig als
knickerig damit erklärt wird, daß ein mit Läusen behafteter Bettler gezwungen ist,
mit den mühsam erbettelten Almosen zu knickern, sondern lausig ist nur aus glei-
chem Grunde wie schmutzig zu der Bedeutung geizig gekommen.
So ließe sich noch mancherlei hinzufügen und berichtigen, was hier des be-
schränkten Raumes wegen nicht möglich ist, aber trotzdem bin ich der Ansicht,
daß der Verfasser seine Aufgabe in sehr befriedigender Weise gelöst hat, daß die
Arbeit viele interessante Ergebnisse liefert und nicht nur dem Sprachgelehrten und
Naturforscher, sondern auch weiteren Kreisen warm empfohlen werden kann.
Siegen. J. Heinzerling.
Biese, Alfred, Deutsche Literaturgeschichte. Zweiter Band. Von Goethe
bis Mörike. Mit 50 Bildnissen. Erstes bis achtes Tausend. München 1909.
C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, Oskar Beck. VII u. 693 S. 5,50 M., in
Halbfranz 7 M.
Der längst erwartete zweite Teil der deutschen Literaturgeschichte von
Alfred Biese ist erschienen. Daß nun auch, dem entgegen, was der erste Band
verhieß, ein dritter Band erwartet werden muß, wird wenigen überraschend gewesen
sein. Wie hätte auch der zweite Band bis in die neueste Zeit hinaufgeführt werden
können, wenn ohne die eingehende Behandlung, die schon einem Lessing zuteil
geworden war, die Lebensbilder Goethes und Schillers gar nicht zu denken sind,
und wenn den zahlreichen literarischen Strömungen des 19. Jahrhunderts ihr volles
Recht werden sollte? So umfaßt denn der zweite Band nur die romantisch-klassische
Zeit von Goethe bis etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts. An der Spitze stehen
in berechtigter breiter Ausführung, das Ganze beherrschend, Goethe und Schiller,
auf die zusammen nicht weniger als sechzehn Bogen entfallen. Es folgen volks-
tümliche Unterströmungen in der Zeit der Klassiker, Jean Paul, die Zeit der
Frühromantik, die jüngere Romantik, Heinrich von Kleist, die Dichter der Befreiungs-
kriege, die Schwaben und ihre Freunde, Neben- und Gegenströmungen der
Romantik, das junge Deutschland, die politische Lyrik, Grillparzer und endlich die
Gruppe Lenau, Mörike, Droste-Hülshoff. Der erste Band, dem in zahlreichen
Tagesblättern und Zeitschriften viel Gutes nachgerühmt worden ist, hat sich rasch
in Schule und Familie den verdienten Platz erobert und darf als ein Volksbuch im
besten Sinne des Wortes bezeichnet werden. Die Hoffnungen, die er für den
zweiten Band erweckt hat, erfüllt dieser in umfassendstem Maße. Biese beherrscht
den Stoff unumschränkt und weiß ihn mit Meisterhand zu gestalten. Jede der
vierzehn in sich abgeschlossenen und doch zu einem größeren Ganzen wie Glieder
einer Kette sich verknüpfenden Abhandlungen stellt sich in ihrem Aufbau als ein
nach wohldurchdachtem Plane gefügtes Kunstwerk dar. Sorglich abgewogen
und wohlbegründet ist das Urteil, das in der Liebe zu rechtem Deutschtum und
in der Verehrung alles dessen wurzelt, was künstlerische Vollkommenheit dartut ;
aber selbstsüchtiger Mäkelei und Kritelei abhold, findet der Verfasser ein anerken-
W. Vesper, Die Ernte aus acht Jahrhunderten usw., angez. von A. Biese. 107
nendes Wort auch für minder Wertvolles, wenn dieses nur das Recht seines Daseins
fruchtbringend im Entwicklungsgange der deutschen Dichtung erwiesen hat. Die
Sprache, deren klare Durchsichtigkeit schon am ersten Bande gerühmt worden ist,
zeigt sich im zweiten auf noch höherer Stufe der VolIen,dung durch ihre edle, oft
hinreißende, stets fesselnde Schönheit. Wer Freude an der vaterländischen
Dichtung hat, den wird das Buch kaum wieder loslassen, ehe er es ganz in sich
aufgenommen hat, und wer es liest, der wird es nur mit der Empfindung eines
voll befriedigenden Genusses aus der Hand legen. Es könnte dem Werke keinen
Abbruch tun, wenn hier auch einzelnes aufgezählt würde, was der bessernden
Hand zu bedürfen scheint; doch hat dieses, wenn überhaupt, nur für den Ver-
fasser Wert, dem es auch nicht vorenthalten ist; so darf an dieser Stelle darüber
hinweggegangen werden. Dafür möge lieber der Wunsch Platz finden, daß von
dem Segen, den das Buch spenden kann, das beste Teil auf die heranwachsende
deutsche Jugend entfalle.
Koblenz. Jos. Buschmann.
Vesper, Will, Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik. Düssel-
dorf 1906. Wilhelm Langewiesche-Brandt. 480 S. leicht geb. 1,80 M. (elegant
in Leinen mit Goldschnitt 3 M.)
„Bücher der Rose" nennt die rührige Verlagshandlung Langewiesche in Düs-
seldorf eine Reihe — beispiellos billiger und beispiellos gehaltvoller — Bücher,
von denen eins die „Jugenderinnerungen eines alten Mannes" W. v. Kügelgen,
zwei andere Goethes Briefe und andere eine Auswahl aus E. T. A. Hoffmann und
Hebbel bieten; das erste ist Vespers Anthologie. — Peter Hille singt in einem
Gedicht („Brautseele"): „Alles, was schön ist auf dieser Weltwiese, Ist nur aus
Sehnen und Liebe schön." Dies klingt gleichsam durch das ganze Buch Vespers
hindurch. Und so schließt er auch selbst mit den Zeilen:
Das sah ich heut auf abendlichen Höhn:
(In meinem Herzen brannte alle Glut)
Es ist doch Alles nur aus Liebe schön.
Es ist doch Alles nur aus Liebe gut.
Der Rosenduft der Liebe und der Sehnsucht, des Glücksgefühls, der Gottes-
und der Herzensminne weht durch diesen Liederstrauß, den kundige und findige
Hand gewunden hat, die Echtes von Falschem zu sondern weiß. In der Mannig-
faltigkeit die Einheit: das bedeutet auch hier Schönheit. Das Buch, das von der
Zeit des Minnesanges bis auf die unsrige hinführt, liest sich — möchte man fast
sagen — wie das Werk eines Dichters; und dieser Dichter ist die deutsche Volks-
seele. Ihre Offenbarungen können aber nur so einheitlich und rein und stim-
mungskräftig wirken, weil überall derselbe ordnende Sinn sich kundgibt, der das
Verwandte an das Verwandte anreiht und der mit dem Zauberstabe dichterischen
Feingefühls'auch verborgene Quellen zum Strömen zu bringen wußte. Eine ganze
Reihe unbekannter Dichter, selbst aus dem viel geschmähten 17. Jahrhundert tritt
108 R- Lehmann, Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten.
hier hervor, mit überraschender Liedkraft;*) besonderes Lob verdient die Auswahl
aus Goethe; bei Schiller durfte sein herrlichstes Gelegenheitsgedicht, „Die Ideale",
nicht fehlen; neben Mörike, Eichendorff, Heine sind Liliencron und Dehmel am
reichsten vertreten; gegen Keller und Meyer und Hebbel kommt Storm gar zu
kurz; nicht einmal das „Oktoberlied" hat Gnade gefunden; Greif, Heyse, Lingg,
Hertz müssen sich mit je einer Seite begnügen; Groth und Jensen fehlen ganz;
unter den Neuesten wird Dauthendey bevorzugt. — Das Buch ist jedoch, als
Ganzes genommen, ein wahrer Schatz. Möchten diesen sich recht viele
Primaner zu eigen machen, angeregt und geleitet von ihren Deutsch-
lehrern! Es bildet eine treffliche Ergänzung zu der besten Auswahl für Schulen
die wir besitzen, zum alten „Echtermeyer", den Alfred Rausch verjüngt hat,
(36. Aufl. 1907, 246. bis 255. Tausend). Eine musterhafte Auswahl „religiöser
Lieder und Gedichte für das deutsche Haus" bietet die Sammlung von Rudolf
Günther: „Aus der verlorenen Kirche" (Heilbronn, Eugen Salzer. 1907,374 5.
geb. 3 M.), die sich in ihrer ganzen Art an Avenarius' Hausbuch deutscher
Lyrik anschließt, das auch in kurzer Zeit Tausende von deutschen Herzen und
deutschen Häusern sich erobert hat. Die überaus handliche und billige „Ernte"
Vespers hat sie noch an Erfolg überflügelt mit ihren 60 Tausend in Jahresfrist!
Neuwied. Alfred Biese.
Lehmann, R., Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten. Anhang
für Pommern und Mecklenburg von Dr. O. Alten bürg. Leipzig und Wien 1908.
G. Freytag. 8°. 57, 56 u. 63 S. Heft 1, 2, 3 ä 80 Pf.
Es ist ein überaus glücklicher Gedanke des Herausgebers des „Deutschen
Lesebuchs für höhere Lehranstalten" (vgl. die Besprechungen Monatschrift IV, 554 ff.
V, 404 ff.), mit dessen Verwirklichung in den vorliegenden drei Heften der Anfang
gemacht worden ist. Ein Lesebuch für höhere Lehranstalten muß auf weite Ver-
breitung rechnen und kann nicht einzelne Landschaften oder Provinzen bevorzugen.
Die Vaterlandsliebe kann es fördern und fördert es, nicht aber das Heimatsgefühl.
Und doch ist das Heimatsgefühl der natürliche Mutterboden, auf dem eine gesunde
Vaterlandsliebe erwächst. Wie man schon seit Jahren eine „Heimatskunst" kennt
und schätzt, so sollte allmählich auch eine Heimatspädagogik, wenn ich den Aus-
druck bilden darf, an unsern höheren Schulen Aufnahme und Pflege finden. Vor
kurzem klagte mir ein Herr, der — allerdings schon vor Jahrzehnten — in der
Provinz Preußen unterrichtet worden war, daß er während seiner ganzen Schulzeit
nie etwas von der Marienburg gehört habe. Nun fehlt es aber unsern höheren
Schulen bisher noch fast ganz an Hilfsmitteln, die geeignet wären, Heimatssinn
und Heimatsstolz zu erwecken. Die Volksschule ist uns hierin weit voraus. Diesem
Mangel sollen die Anhänge zu dem Lehmannschen Lesebuche abhelfen. Nach
der Vorrede dürfen wir für die einzelnen Provinzen und Landschaften eine Anzahl
gesonderter Anhänge erwarten, welche Geschichte und Sage, Poesie und Volks-
*) Vergl. Will Vesper, „Deutsche Gedichte des 17. Jahrhunderts". Eine Ehrenrettung
dieser vielgeschmähten Zeit, namentlich Hoffmannswaldaus in den „Statuen deutscher
Kultur«. Bd. 11, München 1907, C. H. Beck (Oskar Beck). 106 S. 1,80 M
angez. von F. Seiler. 109
leben, Landeskunde und Kulturentwicklung der betreffenden Landesteile dem
Schüler in einer guten Auswahl poetischer und prosaischer Lesestücke vor die
Augen führen. Das ist wie gesagt ein überaus ersprießliches, höchst dankens-
wertes Unternehmen. *
Mit Pommern und Mecklenburg ist der Anfang gemacht worden. Daß beide
verbunden sind, kann man nur gutheißen. Zu enge dürfen ja die einzelnen Bezirke
nicht begrenzt werden, schon um den Heften das nötige Absatzgebiet zu sichern,
und wenn irgendwelche deutschen Landesteile durch natürliche Verhältnisse, Ge-
schichte, Eigenart der Bewohner, Sitte und Sprache eng verwandt sind, so sind
es Pommern und Mecklenburg. Dr. O. Altenburg hat seine Aufgabe in glück-
lichster Weise gelöst. Heft I, für die Unterstufe bestimmt, bringt zuerst Gedichte
aus Sage und Geschichte, sowie poetische Erzählungen und Schwanke aus dem
Volksleben, sodann Prosastücke und zwar Märchen, Sagen und Erzählungen und
ein Stück über Pommerns Pflanzen und Tiere. Heft II für die Mittelstufe zeigt
im großen und ganzen dieselbe Einteilung: Gedichte aus der Geschichte und
Heimat sowie aus dem pommerschen und mecklenburgischen Volksleben und
Prosastücke aus Landeskunde und Geschichte, nebst zwei Stücken über den Herings-
fang und die Rauchhäuser auf Rügen. Ebenso gegliedert ist Heft III für die Ober-
stufe. Als letzte Stücke sind hier „Stettins Handel und Industrie" und der 1856
geschriebene Brief Arndts zum 400jährigen Jubelfest der Universität Greifswald
gegeben worden. Man muß anerkennen, daß die Auswahl eine glückliche ist.
Im Vordergrunde stehen bekannte Namen, wie Arndt, W. Müller, Holtei, Reuter,
Giesebrecht, Scherenberg, Prutz, Voß, aber auch weniger bekannte sind heran-
gezogen, darunter ältere, wie Meister Rumeland (1278) und Laurenberg (1650).
Auch alte Volkslieder und Chroniken sind verwertet. Gern vermißt hätte ich I, 3
»Wie die Maränen in den Madüsee gekommen sind". Sehr viel Sinn steckt nicht
darin, und die Moral, daß es ein gutes Werk sei, den Teufel zu betrügen, ist doch
von recht zweifelhaftem Wert. Die Knaben sollen doch vielmehr die Überzeugung
bekommen, daß Betrug unter allen Umständen, auch dem Teufel gegenüber, ein
sittliches Unrecht ist. Sehr interessant war mir das II, 3 gegebene „Kriegslied,
während der Belagerung Kolbergs 1807 von Soldaten gedichtet" (aus den Blättern
für pommersche Volkskunde). Das sangen wir 86 er Füsiliere (Schleswigholsteiner
und Rheinländer) nämlich noch 1870 in erheblich verkürzter und veränderter
Gestalt. Freunden volkstümlicher Kriegspoesie dürfte es nicht unwillkommen sein,
diese Modernisierung des jetzt gerade hundert Jahre alten Liedes kennen zu lernen.
Sie lautete, soweit ich mich erinnere — und gesungen habe ich das Lied Dutzende
von Malen — folgendermaßen:
Es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dem wechselnden Mond,
Der Krieg muß den Frieden vertreiben,
Im Kriege wird keiner verschont.
O Napoleon, du Schustergeselle,
Wie saßest du so fest auf deinem Thron;
In Deutschland, da wärest du so schnelle
Und erhieltest in Preußen deinen Lohn.
110 R- Bartels, Zu Schillers „Das Ideal und das Leben*,
Ach, hättest du mit Preußen den Frieden gemacht
Und nicht an das linke Rheinufer gedacht,
Dann wärest du Kaiser geblieben
Und hättest den allerschönsten Thron.
Wir legen die Waffen nicht nieder.
Bis Deutschland und Preußen ist befreit,
Wir kämpfen mit euch, ihr deutschen Brüder,
Von nun an bis in Ewigkeit.
Eine Vergleichung mit dem Kriegsliede von 1807 zeigt, daß die siebziger
Fassung nicht nur kürzer, sondern dem Zeitgeschmack entsprechend auch weniger
pathetisch und phrasenhaft ist.
Die Heimatspoesie ist naturgemäß zum großen Teil Dialektdichtung. Darum
findet sich in den Heften eine ganze Anzahl plattdeutscher Gedichte. Auch in
den prosaischen Teil sind plattdeutsche Märchen und Abschnitte aus nieder-
deutschen Chroniken aufgenommen. Verständnis des Dialekts konnte ja hier im
allgemeinen vorausgesetzt werden. Darum sind die erklärenden Anmerkungen
mit Recht knapp gehalten, vielleicht hier und da zu knapp. Ob wohl alle pom-
merschen Jungen wissen, was ein „Lewark" (II, S. 23) ist, ob sie sich „vthwysinge"
(III, S. 10) zu deuten vermögen? Und was ein „Eckkabus" (I, S. 36) ist, wird kein Leser
dieser Monatschrift leicht ergründen. Auch mir blieb das Wort lange ein Rätsel. Ich
trennte es in ,Eckkab us" und las: »Hier sucht er sich einen Eckplatz aus". Aber
„Kab" = Platz ist doch sehr fragwürdig, und „aus" heißt plattdeutsch sonst „ut".
Endlich dämmerte es mir. Das Wort ist Femininum und bedeutet „Eckkabuse",
Kabuse niederdeutsch = Kabine, vgl. seemännisch „Kombüse" = Küche. Die „Wate-
moem" (I, S. 10) hätte ich nicht durch das allgemeine „Wassergespenst" übersetzt,
sondern wörtlicher und viel packender durch „Wassermuhme", wie es ja auch eine
Roggenmuhme gibt.
Die Hefte werden ohne Zweifel Erfolg haben. Sie kommen dem Bedürfnis
und dem Geschmack der Zeit entgegen, und — was ein nicht geringer Vorteil
ist, — sie können auch zu jedem andern Lesebuch als Anhänge gebraucht werden.
Mögen sie dazu beitragen, Friedrichs des Großen Urteil über die Pommern (II, S. 49) :
„Sie würden nicht ohne Geist sein, wenn sie besser gebildet wären" zuschanden
zu machen, mögen ihnen bald andre Anhänge für andre Landschaften folgen I
Luckau i. L. Friedrich Seiler.
Bartels, Rudolf, Zu Schillers „Das Ideal und das Leben". Halle a. S. 1907.
Buchhandlung des Waisenhauses. 46 S. 8<^. 1 M.
Bartels wendet sich, was die Klarstellung des Grundgedankens betrifft,
gegen die gesamte bisherige Auslegung. „Fast alle Ausleger fassen in dem Gedicht
das .Ideal' als das Schöne im allgemeinen, oder, wie einige betonen, als das Ideal-
schöne" (S. 25). Bartels dagegen will nachweisen, daß diese Deutungen versagen
und den Schwierigkeiten der Erklärung nicht gerecht werden, weil von dem
Schönen an sich und von den Werken der Kunst hier nicht gesprochen wird. Nach
ihm kommt hier nur das Schöne in Frage, „das aus dem wirklichen Leben, aus
dem was der Mensch lebt, heraus empfunden und geschaut wird." (S. 28.) -
angcz. von P. Goldscheidcr. Hl
Auf dieser Grundlage entwickelt er in Teil I seiner Abhandlung den Gedan-
kengang des Gedichtes folgendermaßen: Die ersten vier Strophen zeichnen das
Reich des Ideals im allgemeinen, die fünfte enthält den Übergang zu den acht
Strophenpaaren, in denen Wirklichkeit und Ideal im einzelnen einander gegenüber
gestellt werden. Die Kämpfe des wirklichen Lebens werden an vier Fällen veran-
schaulicht: An dem Kampfe um Dasein und Fortkommen, an der Mühseligkeit des
Arbeitens, an der sittlichen Unzulänglichkeit und an den Schmerzen und Leiden
des Körpers. In den 4 Gegenstrophen wird überall der Sieg „der schönen Voll-
endung" zur Darstellung gebracht: a) Strophe 7 enthält das Ideal, welches den Gegen-
satz bildet zu den feindlichen Bestrebungen des Lebens. Sehen wir von dem Stoff-
lichen ab, so bleiben die einander ergänzenden Gegensätze der mannigfaltigen Be-
strebungen übrig, b) Strophe 9 stellt das erstrebte Ziel der mühevollen Aufgabe
in schöner Vollendung vor Augen, c) Im wirklichen Leben tritt den Bedrängnissen
des Gewissens die Forderung gegenüber, daß die sinnliche Natur unterdrückt werden
muß, wo sie mit der Sittlichkeit in Widerstreit gerät. Diese Forderung ist in ihrer
Vollkommenheit nicht erfüllbar; und wäre sie erfüllt, so fehlte „die Zustimmung
des sinnlichen Triebes". Das schöne Ideal der Sittlichkeit dagegen besteht in der
harmonischen Übereinstimmung des Naturtriebes mit dem Sittengesetz, d) Leiden
und Mitleiden des wirklichen Lebens treten im Reiche des Ideals zurück und
erscheinen nur als die Unterlage, um „des Geistes tapfre Gegenwehr" zu zeigen,
die Überlegenheit über die Macht des Schicksals. Nur auf dunkler Wolke malt sich
der Regenbogen, nur durch Leiden kann die geistige Unabhängigkeit von der
Naturgewalt bewährt werden.
Die Erhebung zum Ideal hat eine negative und eine positive Wirkung: Der
Mensch wird dadurch nicht dem Kampfe entzogen, sondern vielmehr für ihn ge-
kräftigt. Nicht zu Schwärmerei oder Weltflucht soll ihn die Anschauung des Ideals
veranlassen; ebensowenig zur Schönfärberei; und damit dieses Mißverständnis nicht
aufkommen könne, wird die Wirklichkeit des Lebens in ihrer ganzen Härte geschil-
dert. Der Blick auf das Ideal löst die Heftigkeit der Anspannung. In ihrer Erhe-
bung gleicht die das Ideal schauende Seele dem Herakles.
In dem zweiten, dem kritischen Teil verteidigt der Verfasser seine Auffassung.
Er hat sich bemüht, das Gedicht auf sich selbst zu stellen; er bemängelt, daß sich
die frühere Auslegung zu sehr an die Briefe über die ästhetische Erziehung an-
schließe. Ob zum Verständnis des Gedichts die Kenntnis der Schillerschen Ästhetik
erforderlich sei, wurde schon von Humboldt und Körner erörtert. Nachdem Bartels im
entwickelnden Teile seiner Arbeit absichtlich auf Heranziehung der philosophischen
Abhandlungen Schillers verzichtet hatte, beweist er im kritischen Teile die Über-
einstimmung seiner Auffassung des Gedichts mit der Ästhetik des Dichters. Das
Subjekt schafft das Schöne und zwar als Ideal aus dem Stoffe, den es lebt; es
betätigt sich darin als Künstler.
Bartels' Untersuchung zeichnet sich durch Schärfe und Folgerichtigkeit aus,
als Muster einer Erläuterung möchte ich sie aber nicht hinstellen. Die Gedanken-
entwicklung müßte in höherem Maße von den Bildern ausgehen. Bartels legt alles
Gewicht darauf, den Grundgedanken zu erfassen und die Einzelgedanken diesem
unterzuordnen; und das ist ihm gelungen. Und auch die Schwäche der angewand-
112 G. Budde, Der Kampf um die fremdsprachliche Methodik,
ten Bilder hat er richtig erkannt, nämlich daß sie bei all ihrer sonstigen Schönheit
dem Gedanken nur von einer Seite her gerecht werden können. Am deutlichsten
ist verhältnismäßig die Darstellung des Ideals in Strophe 7: Das Bild des Friedens
und des harmonischen Spiels der Kräfte. In Strophe 9 aber wird, gleichviel was
es bedeuten mag, das schöne Kunstwerk vor Augen gestellt. In Strophe 11 ist
der sittliche Imperativ enthalten; und die Auffassung, welche das Wort „Nehmt
die Gottheit auf in euren Willen" in vielfachen Zitaten als kategorischen Imperativ
verwertet, hat dazu unzweifelhaft ein Recht, wenn man von der Strophe an sich
ausgeht. (Vgl. S. 39.) Vollends bei Strophe 13 muß Bartels selbst bemerken: „So
bleibt in diesem Falle ein Rest von irdischem Wesen, also Unvollkommenheit,
auch im Ideal." Es erscheint denn doch mit der menschlichen Natur des Mtnschen
unvereinbar, daß bei dem Anblick menschlicher Leiden das Mitleiden gänzlich der
Bewunderung weicht, welche durch „des Geistes tapfre Gegenwehr" erregt wird.
(Vgl. S. 20 und 43.)
Wenn man somit erwägt, wie der von Bartels scharf und richtig festgestellte
Grundgedanke im einzelnen ausgeprägt wird, so ergibt sich, daß der Unterschied
zwischen Bartels und den übrigen Erklärern nicht ganz so groß ist, als er annimmt;
der Unterschied zwischen dem Ideal der Vollendung, der schönen idealen Vorstel-
lung und dem schönen konkreten Werke wird von Schiller selbst als ein fließender
behandelt. Die Schwierigkeit des Gegenstandes hat ihn dazu genötigt.
Cassel. P. Goldscheider.
Budde, Gerhard, Der Kampf um die fremdsprachliche Methodik. Sechs
Vorträge, gehalten in Jena, anläßlich der Ferienkurse im August 1908. Hannover
u. Leipzig 1908. Hahnsche Buchhandlung. 121 S. 8^. 2,50 M.
In den Kampf um die fremdsprachliche Methodik auch nur durch die Be-
sprechung einer Schrift nochmals eingreifen zu wollen, liegt mir nachgerade ganz
fern; aber noch einmal mag der Wunsch der Schriftleitung für mich „ein hoher
Wille, dem ich mich ergebe" sein. Der Verfasser überrascht uns in den letzten
Jahren durch die Menge und Mannigfaltigkeit der von ihm ausgehenden Schriften
und Aufsätze, und in der vorliegenden Arbeit kehren denn zum Teil Gedanken
wieder, die von ihm schon anderswo ausgeführt wurden. Aber es galt ja zunächst
Orientierung einer bestimmten Zuhörerschaft durch eine Reihe von mündlichen
Vorträgen, die dann nachher auch für den Druck bestimmt worden sind. Sie
werden sich angenehm angehört haben, wie sie sich auch angenehm lesen:
alles ist lebendig, klar und bestimmt vorgebracht. In gewissem Sinne viel-
leicht z u klar und bestimmt. Der Versuch, die ganze Geschichte des fremd-
sprachlichen Unterrichts und zugleich die grundsätzlichen Fragen auf einige
gerade Linien zu bringen, wird zwar immer willkommen sein, kann aber
doch nicht leicht gelingen. Es lösen nicht so säuberlich „Formalismus, Realismus
und Utilismus" einander ab, weder im altsprachlichen noch im neusprachlichen
Unterricht, und sie treten auch nicht gleichzeitig so sauber auseinander. Von dem
zu einer bestimmten Zeit oder in einer bestimmten Sphäre wirklich herrschenden
Betrieb ist es nicht so leicht, sich eine zutreffende Vorstellung zu machen; zwischen
dem programmäßig Vertretenen und der wirklichen Übung ist oft große Ver-
angez. von W. Münch. 1 13
schiedenheit, und ebenso zwischen der persönlichen Praxis der auf dasselbe Pro-
gramm Eingeschworenen. Oskar Jäger, der hier als ein Hauptvertreter des forma-
listischen Bekenntnisses angeführt wird, war sein Leben lang — im Sinn der
Terminologie unserer Broschüre — Realist: in das Leben des Altertums führte er ein,
so gut wie jemals einer. Daß jeder der grammatischen Seite der Sprache auch
auf oberen Stufen gewidmete Ernst auf öden Formalismus und unfruchtbare Be-
handlung der Lektüre kinauslaufen müsse, ist nicht der Fall.
Zur offiziellen Abschaffung der Hinübersetzung ins Lateinische als Ziel- und
Prüfungsleistung wird es ja sehr möglicherweise kommen, und vielleicht bedeutet das
dann einen Fortschritt. Aber die Behandlung der Lektüre oder der Herübersetzung zu
einer so gründlich bildenden zu machen, wie das dann um so wünschenswerter
und wie es auch an sich möglich ist, bleibt eine Aufgabe, der die Mehrzahl der
Lehrer nur sehr allmählich zu genügen lernen wird. Immerhin dürfte auf dieser
Linie wirklich das künftige Gedeihen des Unterrichts liegen. Daß auch die Aus-
wahl der lateinischen Lektüre neuer Prüfung und weitherziger Entschließungen
harrt, ist meine persönliche Meinung, die hier aber nur angedeutet werden darf.
Ein paar Einzelheiten : Als Zeugen in einer ernstlichen Unterrichtsfrage würde ich
nicht den „bekannten Literarhistoriker" Eduard Engel anführen. Unter den selb-
ständigen didaktischen Denkern einer gewissen Periode ist neben Lattmann und
einigen andern der seiner Zeit sehr lebendig eingreifende Hermann Perthes ver-
gessen. Der langjährige Vertreter der Philosophie an der Universität Bonn,
Jürgen Bona Meyer, wäre nicht als „ein J. B. Meyer" einzuführen gewesen.
(Durchlebte Zeiten weisen immer etwas andere Farben auf, als nach der Lektüre
vorgestellte.)
In der zweiten Hälfte der Schrift, den drei der neusprachlichen Methodik ge-
widmeten Vorträgen, finde ich mich selbst des öfteren namentlich zitiert, und auch
außerdem muten mich manche angeführte Stellen als in früheren Zeiten aus meiner
Feder geflossen an. Das kann mich freuen, da der Verfasser längere Zeit hindurch
mich kurzweg abzulehnen pflegte. Insbesondere finde ich hier auch fast zum
erstenmal, daß jemand gleich mir einen einleitenden Laut- oder Aussprachekursus
bestimmt für das Rechte erklärt. Ganz stimmen wir aber doch nicht zusammen.
Wenn ich an gewissen, hier zitierten Stellen die Schranken des Möglichen hin-
gezeichnet habe, so möchte ich doch anderseits wiederholen, was ich ebenfalls
ausgesprochen habe: Den deutschen Lehrern der Zukunft muß nicht bloß das
möglich sein, was denen in der Vergangenheit immer möglich gewesen ist. Und
ernstlichere Forderungen an die Aussprache, als die meisten zu tun pflegen, stelle
ich trotz allem nach wie vor, namentlich auch je öfter ich mich mit Ausland und
Ausländern berühre, und je mehr ich sehe, was doch auch diese sich darin zumuten
und leisten. Ja, ich möchte hier einen vielleicht überraschenden Satz aufstellen:
Wer sich bei einer lebenden Sprache nicht ernstlich für die Eigenart der Lautbildung
und Betonung interessiert, wird sich auch schwerlich für die feineren Seiten der
inneren nationalen Eigenart interessieren!
Daß das Französische auf den Gymnasien im wesentlichen Einführung in die
Literatur zum Ziel nehmen und damit eine mit der altsprachlichen parallele und
ebenbürtige Aufgabe lösen soll, wird zwar auf den ersten Blick jedem Gebildeten
Monatschrift f. höh. Schuien. VIIF. Jhrg. 8
114 G. Budde, Die Theorie des fremdsprachlichen Unterrichts, angez. von J. Borbein.
sympathisch sein, aber es ist doch vielleicht ein zu großes Wort für eine Sache^
die nach Lage der Verhältnisse dürftig bleiben muß, und ich halte nach wie vor
eine praktisch-sprachliche Vorschulung als Zielbezeichnung für mindestens ebenso
berechtigt — in dem Gedanken allerdings, daß in dieser Sprache (und möglichst
auch in der englischen) die Gymnasiasten dann ihre weitere Ausbildung einschließ-
lich der Lektüre selbst suchen sollen. Wenn man philosophische Lehrstoffe, für
die Ruska in Heidelberg so lebhaft eingetreten ist und der Verfasser unserer Bro-
schüre dann mit ihm, nicht alsbald ebenso freudig begrüßt und empfiehlt, braucht
man noch nicht Banause zu sein. Der Versuch wird keineswegs jetzt zum ersten-
mal gemacht; man begegnete ihm schon in den 70er Jahren und auch später
wieder. Aber bald ward wieder Abstand genommen, weil — um es kurz zu sagen
— die Primaner dabei eigentlich weder Philosophie noch Französisch und Englisch
lernten.
Gleichwohl gestehe ich zu, daß namentlich für die Oberrealschulen Stoffe von
ganz ernstem Gehalt und bildender Wirkung auf das Gedankenleben gewählt werden
müssen, und daß auch an andern höheren Schulen so wenig das spielerisch Unter-
haltende wie das technisch Praktische überwiegen darf. Aber die Schwierig-
keit, in einer lebenden Sprache zu lebendiger Spracherfassung und Bewältigung
eines tiefliegenden Inhalts zu führen, bleibt größer als man sich's zu denken
scheint. Und eigentlich kann man solche gehaltvolle Autoren nur lesen, wenn
man durchaus nicht mehr der regelmäßigen Verdeutschung bedarf, wenn man die
innere Anschauung ohne solche (immer fragwürdige und leicht trügende) Vermitt-
lung gewinnt. Es ist bald gesagt, daß „bei der Übersetzung unweigerlich gutes
und fließendes Deutsch zu verlangen" sei: einen Schriftsteller von eigenem und
bedeutendem Gedankengehalt wirklich treffend in eine andere Sprache zu über-
setzen, erfordert zugleich ein tiefes Sach- und ein feines, zwiefaches Sprachver-
ständnis. Die Allerbesten sind sich bewußt, es immer nur unvollkommen zu
vermögen.
Kurz, ich sehe alle diese Dinge nicht so einfach wie der Verfasser. Ob daran nur
meine innere Schwerfälligkeit, meine ewige Unfertigkeit schuld ist, weiß ich nicht.
In Beziehung auf die Verschiebung des Gewichtes bei der akademischen Vor-
bildung der neusprachlichen Lehrer indessen begegnen wir uns. Und wie ich im
übrigen trotz der hier angedeuteten Zweifel doch der lebendigen Darlegung der
Broschüre mit Interesse gefolgt bin, so schlage ich vielen andern vor, auch ihrer-
seits zu lesen — und nachzuprüfen.
Berlin. W. Münch.
Budde, Gerhard, Die Theorie des fremdsprachlichen Unterrichts in der
Herbartschen Schule. Eine historisch-kritische Studie nebst einem Vorschlag
zu einer Neugestaltung des gesamten fremdsprachlichen Unterrichts nach einem
einheitlichen Prinzip. Hannover 1907. Hahnsche Buchhandlung. 154 S. geh. 3 M.
Der von dem Verfasser gegebene geschichtliche Überblick beweist ebensowohl,
daß die verschiedensten Auffassungen von den Zielen und Wegen des Sprachun-
terrichtes sich mit den Grundlehren des Herbartianismus vertragen, als auch daß
M. Walter, Aneignung und Verarbeitung usw., angez. von W. Bohnhardt. 115
keine dieser Auffassungen sich daraus mit Notwendigkeit ergibt. Dieser Sach-
verhalt schwächt das Interesse für den von Budde gewählten Gegenstand doch
ganz erheblich ab und könnte leicht dazu führen, Zweifel an der Möglichkeit, den
fremdsprachlichen Unterricht überhaupt als notwendiges Glied irgendeines päda-
gogisch-didaktischen Systems hinzustellen, zu erwecken. Die historische Darstel-
lung ist reichlich durchsetzt mit kritischen Bemerkungen nicht nur, sondern auch
mit eigenen positiven Darlegungen des Verfassers; an manchen Stellen ist es schwer,
beide Bestandteile auseinanderzuhalten. Die Ansichten, welche Budde hier vorträgt,
bieten nichts eigentlich Neues, wie er denn auch oft auf frühere Aufsätze verweist
und sich selbst ausgiebig zitiert. Der von ihm am Schluß gemachte Vorschlag läuft
darauf hinaus, auf der Unter- und Mittelstufe die formale Aneignung der Sprache,
auf der Oberstufe die historisch-literarische Bildung in den Vordergrund zu stellen.
Mit Hinblick auf die geltenden Lehrpläne sowohl wie die jetzt meist übliche
Unterrichtspraxis kann man diesen Vorschlag nicht wohl ein neues Prinzip
nennen.
Altona. Joh. Borbein.
Walter, M., Aneignung und Verarbeitung des Wortschatzes im neu-
sprachlichen Unterricht. Vortrag, gehalten auf dem XII. Allgemeinen
deutschen Neuphilologentage zu München, Pfingsten 1906. (In erweiterter Form.)
Marburg in Hessen. N. G. Elwertsche Verlagsbuchhandlung 1907. Mit Vorwort
und Leitsätzen. 36 S. 8^. Geh. 0,75 M.
Die Einprägung eines zum Verstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben der
Fremdsprache ausreichenden Wortschatzes ist nach Münch eine der schwierigsten
Aufgaben des Sprachunterrichts. Ihre Lösung versucht mit großem Geschick und
Erfolg M. Walter in der vorliegenden Broschüre (erweiterter Sonderabdruck aus
den „Neueren Sprachen" Bd. XIV.), die ein würdiges Seitenstück und eine gewisse
Ergänzung ist zu dem Vortrag des geschätzten Reformers über „den Gebrauch
der Fremdsprache bei der Lektüre in den Oberklassen ", der auf dem XL Neu-
philologentag zu Köln (1904) so berechtigten Eindruck gemacht hatte. Aus den Walters
Methode zusammenfassenden Leitsätzen kann hier nur das Wesentlichste hervor-
gehoben werden : 1. „Im Anfangsunterricht insbesondere steht die Einprägung des
Wortschatzes in engster Verbindung mit einem nach sachlichen Gesichtspunkten
geordneten und der Fassungskraft der Schüler entsprechenden Sprachstoff e. " Der
Kernpunkt des Ganzen ist Nr. 2: „Die Schüler sind dazu anzuleiten, die Bedeu-
tung aller auftretenden Wörter und idiomatischen Wendungen durch unmittelbare
Verknüpfung mit der Handlung, dem Dinge oder Bilde (Zeichnung an der
Tafel) oder durch Umschreibung in der fremden Sprache zu gewinnen
oder soweit als möglich aus dem Zusammenhang zu erschließen." (Natürlich will
er neben der Handlung auch das Gedicht, Lied und einfache Lesestück in An-
wendung bringen.) „Die Muttersprache ist nur im Notfalle heranzu-
ziehen." Also vor allem fehlt das Zwischenglied, das Abfragen der deutschen
Bedeutung. In dem dritten Leitsatz empfiehlt Walter den am Lesestücke genom-
menen Wortschatz nach bestimmten formalen und sachlichen Gruppen zu ordnen.
Es ist ein wahrer Genuß, ihm in seinen am französischen Lesestoff entwickelten
8*
116 F- Knoke, Neue Beiträge zu einer Geschichte usw.,
Anleitungen zu folgen über die Form, in welcher die Verbindung zwischen Hand-
lung und Wort auf der Unterstufe durchzuführen ist. Dankenswert ist auch die
Angabe der für diese Übungen zur Verfügung stehenden Hilfsmittel über Anschau-
ung, Vokabularien u. dgl. — Die in München knapp bemessene Zeit verbot die
Erörterung der Leitsätze. Das ist in zweifacher Hinsicht sehr zu bedauern.
Erstens wäre es für uns höchst wertvoll und lehrreich gewesen, den dort an-
wesenden berufensten Verfechter der Interpretation in fremder Sprache, den
allseitig verehrten Prof. Schweitzer aus Paris (dem Walter auch sein Schriftchen
widmet) über die einschlägigen Erfahrungen sprechen zu hören,*) die er in seiner
trefflichen Methodologie des langues Vivantes (Paris, A. Collin) niedergelegt hat.
Sodann aber hätte uns die Stellungnahme der ganzen Versammlung interessiert,
vor allem nach der überaus erhitzten Debatte, die der vorangehende Vortrag über
den augenblicklichen Stand der neusprachlichen Reformbestrebungen hervorgerufen
hatte. Daß Walter mit seinem ausgezeichneten Verfahren glänzende Resultate er-
erzielt, leuchtet ein ; wieviele von uns jedoch nehmen es mit dem großen Reformer
an Geschick und Ausdauer auf? wieviele können sich eines gleich tüchtigen Schüler-
materials rühmen? Eins aber steht unwiderleglich fest: die einzelnen Neuphilologen
mögen der Reform gegenüber einen Standpunkt vertreten, welchen sie wollen, alle,
selbst die hartnäckigen Anhänger der alten Übersetzungsmethode aus der Mutter-
sprache in die fremde werden aus Walters Ausführungen erheblichen Nutzen ziehen.
Sie lernen es, die Aneignung der Vokabeln für den Schüler leichter und weniger
langweilig als bisher zu gestalten. Dies Verdienst darf sich der Vortragende mit
Recht zuschreiben, und darum sollte sich jeder Fachgenosse die Durcharbeitung
der ungemein fesselnden und belehrenden Schrift zur Pflicht machen. In diesem
Sinne sehen wir auch der von N. G. Elwert angekündigten, vielleicht inzwischen
veröffentlichten, Walterschen .Methodik des neusprachlichen Unterrichts" mit ge-
wisser Spannung entgegen.
Düsseldorf. W. Bohnhardt.
Knoke, F., Neue Beiträge zu einer Geschichte der Römerkriege in
Deutschland. Mit 2 Tafeln Abbildungen. Berlin 1907. Weidmannsche Buch-
handlung. 62 S. 80. Geh. 2 M.
Der Verfasser der „Kriegszüge des Germanikus in Deutschland", der seit
20 Jahren unermüdlich forschend und für seine Ansichten kämpfend tätig gewesen
ist, wendet sich in seiner neuesten Schrift abermals scharf wider seine Gegner
und sucht verschiedene Punkte seiner früheren Aufstellungen neu zu erhärten.
Polemik, in scharfem Tone geführt, würde man wohl lieber missen; aber Ver-
fasser selbst gibt nur die Streiche zurück, die gegen ihn geführt worden. Dabei
ist Tatsache, daß die Gegner in diesem oder jenem Punkte schon nachgegeben
haben (z. B. in der Frage, wo die Schlacht des Jahres 15 geschlagen sei, für die
jetzt, nach Knokes Vorgang, Baren au als Schauplatz angenommen wird, vgl.
S. 62); daraus wird man entnehmen dürfen, daß die Forschungen des Verfassers
alles Anrecht auf Beachtung haben.
*) Er hat dies inzwischen auf der Tagung in Hannover (1908) getan.
angez. von F. Gramer. 117
Was Knokes Arbeitsweise auszeichnet, ist die Vereinigung eines gründlichen
Studiums, einer philologisch scharfen Erklärung der antiken literarischen Quellen
mit einer ausgebreiteten und immer wieder neu einsetzenden Arbeit des Spatens.
Das unbedingte Zutrauen in die Aufstellungen der Gegner, wenn sie auch
zum Teil sehr klangvolle Namen aufweisen, wird nicht gestärkt, wenn man sieht,
daß sie selbst in ihren Ansichten hin und her schwanken: so sollte das von Knoke ent-
deckte römische Lager im Habichtswalde, das er selbst dem Varus zuweist, einmal
eine Wallhecke der Forstverwaltung sein, dann wurde ein bäuerlicher „Zuschlagswall"
daraus, d. h. einer der Wälle, welche die Bauern zur Zeit der Markenteilung (in West-
falen) um den ihnen zugeschlagenen Teil anlegten; und schließlich wollte man immer-
hin irgendeine mittelalterliche Befestigungsanlage darin erblicken. Daß aber diese
Anlage im Habichtswalde tatsächlich aus römischer Zeit stammt, hat Knoke nicht
nur durch Gründe bewiesen, sondern durch die in den letzten Jahren (1903—1906)
vorgenommenen Grabungen vor aller Augen sichtbar hingestellt. „Das Ergebnis
der mühevollen Arbeit", heißt es S. 20, „war zunächst die Auffindung von meh-
reren hundert Scherben der verschiedensten Gefäße. DieGegenstände waren
über den gesamten Lagerraum verteilt. . . . Dieser Umstand spricht
dafür, daß der ganze Flächenraum von einer lagernden Masse einst belegt gewesen
ist. In Übereinstimmung hiermit steht auch die Auffindung von Holzkohlen auf
allen Seiten der Befestigung." Was gefunden wurde (und zwar auf dem ge-
wachsenen Boden) ist zum größten Teil La-Tene-Ware oder, besser gesagt,
gallisch-rheinische Provinzialware römischer Zeit. Dieser jüngsten La-Tene-Zeit
gehören an z. B. die innerlich schwarzen, äußerlich rotgebrannten dünnwandigen
Urnen*), die blauschwarzen (belgischen) Terra-nigra-Gefäße, die dickwandigen,
äußerlich ziegelroten, innerlich grauschwarzen Schüsseln, wie sie vom Mont Beu-
vray (Bibracte) her bekannt sind. Dazwischen fanden sich auch kleine Gefäß-
bruchstücke von Ziegel- oder flammroter Farbe, die „völlig den bei Haltern und
in sonstigen römischen Kastellen gefundenen Altertümern gleicher Gattung" ent-
sprechen. Linksrheinische Provinzialware (im Gegensatze zu römisch-italienischem
Import) ist übrigens auch bei Oberadem, in der kürzlich von Pastor Prein ent-
deckten und als Aliso angesprochenen Kastellanlage, zutage gekommen.
Wer noch an der römischen Herkunft des Lagers im Habichtswalde zweifeln
will, muß absichtlich seine Augen vor den Tatsachen verschließen. Eine andere
Frage aber ist es, ob hier nun wirklich gerade ein Lager des Varus
(nach Knoke das zweite während der Schlacht) wiedergefunden ist: Dies
kann m. E. erst im Zusammenhange mit dem allmählichen Fortschritt der Gesamt-
anschauung von jenen römisch-germanischen Kämpfen sicher entschieden werden.
Viel weniger deutlich sind bis jetzt Römerspuren bei Iburg, wohin Knoke
das erste Varuslager verlegt, nachgewiesen (S. 31); doch verdient hier wie auch
bei Mehrholz (nach Knoke die Stätte des „Cäcinalagers") das Gefundene ent-
schieden Beachtung (S. 32). Wichtiger sind die Ergebnisse bezüglich der Moor-
brücken zwischen Brägel und Mehrholz. Unter den acht oder neun Bohlwegen
*) Im Birkenfeldischen werden sie sehr zahlreich angetroffen; eine Urne gleicher
Art befindet sich auch in der Gymnasial-Sammlung zu Eschweiler.
118 Bibliothek wertvoller Memoiren,
jenes Moores glaubt Knoke zwei, die einander parallel laufen, als unzweifelhaft
römisch nachgewiesen zu haben. Die Beschaffenheit der Anlagen, wie auch die
unmittelbar dabei (in gleicher Höhenlage) gefundenen Sachen, besonders eine
silberne Busennadel von römischer Arbeit und die zahlreichen Scherben von
Gefäßen, die nach K. Koenens Urteil der augusteischen Zeit angehören, sind
jedenfalls gewichtige Zeugnisse.
Einen großen Teil der Schrift hat Verfasser dem Versuche gewidmet, seinen
Kritikern eine vielfach willkürliche oder unzulängliche Erklärung der antiken Qellen
nachzuweisen. Von besonderem Interesse sind seine Äußerungen über die bekannte
Tacitusstelle, in der zuerst ein (von Germanicus entsetztes) „castellum Lupiae
adpositum" ohne Namensangabe erwähnt und dann vom castellum Aliso mit den
Worten geredet wird: „et cuncta inter castellum Alisonem ac Rhenum novis limitibus
aggeribusque permunivit." Von den Anhängern der Gleichsetzung Aliso = Haltern
wird die Identität dieser beiden Kastelle naturgemäß verfochten. Knoke wendet
sich lebhaft dagegen; er macht geltend, daß durch diese Annahme eine Schwierig-
keit künstlich geschaffen werde, die gar nicht im Texte liege. Ich neige jetzt zur
Ansicht Knokes, besonders infolge der von ganz anderen Gesichtspunkten aus-
gehenden Betrachtung Ox6s (Der Limes des Tiberius. Bonn. Jahrb. 114, S. 130),
der Aliso im Quellgebiet der Lippe zu suchen geneigt ist.
Weniger befreunde ich mich mit der Ansicht Knokes, daß Aliso von den
Deutschen im Winter 9 auf 10 n. Chr. überhaupt nicht eingenommen worden sei:
er stützt sich u. a. auf den Ausdruck des Dio: olKV oü8' exsivo j^eiptuoaoOai
T^SuvTj^vjoav, der Aorist sei hier für die Auffassung entscheidend: ob aber der
sonst festgehaltene Tempusunterschied zwischen Aorist und Imperfekt noch in
gleicher Schärfe für die Zeit des Cassius Dio (um 200 n. Chr.) gilt, würde doch
genauerer Feststellung bedürfen.
Man mag aber im einzelnen urteilen, wie man will (insbesondere über die
Zuweisung der Lager, Moorbrücken usw. an bestimmte Heerführer und Kriegs-
jahre): Die tatsächlichen Entdeckungen und Feststellungen sind so wichtig, daß
sie ernsteste Prüfung aller Forscher verdienen; sie sind auf alle Fälle un-
verächtliche Glieder in der Kette kriegsgeschichtlicher Forschung im römischen
Deutschland.
Düsseldorf. Franz Gramer.
Bibliothek wertvoller Memoiren. Lebensdokumente bedeutender Menschen aller
Zeiten und Völker. Herausgegeben von Dr. Ernst Schnitze. Band 1: Reisen
des Venezianers Marco Polo im 13. Jahrhundert. Bearbeitet von Dr. Hans Lemke.
543 Seiten, geh. 6 M., geb. 7 M. 1907. — Band 2: Deutsches Bürgertum und
deutscher Adel im 16. Jahrhundert. Bearbeitet von Dr. Max Goos. 1907.
Erster Teil: Erinnerungen des Stralsunder Bürgermeisters Bartholomäus Sastrow.
173 Selten, geh. 3 M., geb. 4M. Zweiter Teil: Erinnerungen des schlesischen
Ritters Hans von Schweinichen. 151 Seiten, geh. 3 M., geb. 4 M. Beide
Teile zusammen in einem Bande geh. 5 M., geb. 6 M. 1907. — Band 3:
Aus der Dekabristenzeit. Erinnerungen hoher russischer Offiziere von der
angez. von A. Matthias. 119
Militär-Revolution des Jahres 1825 (Jakuschkin, Obolenski, Wolkonski). Be-
arbeitet von A. Goldschmidt. 382 Seiten, geh. 5 M., geb. 6 M. - Band 4:
Die Eroberung von iMexiko. Eigenhändige Berichte von Ferdinand Cortez
an Kaiser Karl V. Bearbeitet von Dr. Ernst Schultze. Mit Bildern und
Plänen. 1907. 645 Seiten, geh, 6 M. geb. 7 M. — Band 5: Die Erinnerungen
des Grafen Paul Philipp von Segur, Adjutanten Napoleons I. Bearbeitet von
Friedrich M. Kircheisen, Genf 1908. Mit Kartenskizzen im Text. 472 Seiten,
geh. 6 M., geb. 7 M. — Band 6: Erinnerungen aus dem indischen Aufstand
1857/58. Von Lady Inglis und Sergeant Forbes-Mitchell. Bearbeitet von Elisa-
beth Braunholtz, Cambridge 1908. Mit Bildern und Plänen. 376 Seiten,
geh. 6 M., geb. 7 M. — Band 7: Memoiren aus dem spanischen Freiheitskampf
1808/11 (Grolman, Rocca, Sherer, Brandt, Ducor, Samaniego). Bearbeitet von
Friedrich M. Kircheisen, Genf 1908. 506 Seiten, geh. M. 6., geb. M. 7. —
Band 8: Briefe und Tagebuchblätter des Generals Charles Gordon of Khartum.
Ausgewählt und übersetzt von Dr. Max Goos, Hamburg 1908. 455 Seiten, geh.
6 M., geb. 7 M. Hamburg, Gutenberg-Verlag.
Der durch die deutsche Dichter-Gedächtnisstiftung bekannte Dr. E. Schultze
hat sich durch die Herausgabe der Bibliothek wertvoller Memoiren ein Ver-
dienst erworben — auch um die Schule und um die Belebung des Geschichts-
unterrichts. Goethe hat einmal von der Geschichtschreibung seiner Zeit gesagt,
sie habe „etwas Leichenhaftes" und den „Geruch der Totengruft" an. Im ge-
wissen Sinne kann man das sagen von der Art, wie heute an manchen Stellen der Ge-
schichtsunterricht betrieben wird. Kein Lehrgegestand kann so leicht der Leb-
losigkeit verfallen, besonders wenn der Gedächtnisstoff und das abfragbare Wissen
derart im Vordergrunde des Interesses steht, daß die Vertiefung des Unterrichts
dabei zu kurz kommt. Und diese wird doch nur dann erreicht, wenn der Ge-
schichtslehrer ähnlich wie der Lehrer des Deutschen die Arbeitslust der Schüler
so erweckt, daß sie daheim guter Lektüre sich widmen. Als mir diese Bibliothek
wertvoller Memoiren von Ernst Schultze in die Hand kam, erwachten in mir alte Er-
innerungen an einen lange dahingeschiedenen anregenden Lehrer. Wir hatten
Unterricht in der Geographie bei dem berühmten Hermann Guthe. Als wir Asien
durchnahmen, machte er uns immer wieder aufmerksam auf die Reisen Marco
Polos, von denen ein altes vergilbtes Exemplar in der Schülerbibliothek sich be-
fand. Wie haben wir damals geschwärmt in all den wunderbaren Erlebnissen und
auch in den Wundergeschichten, die von dem naiven Glauben des 13. Jahrhunderts
uns ein so treues Bild boten! Als mir die Reisen des Venezianers jetzt in der
stattlichen Ausgabe dieser Memoiren wieder in die Hand kamen, trat es mir klar
vor Augen, für wie wenig Geld heute doch Vortreffliches geboten wird und wie
gut es unsere Primaner heutzutage haben vergangenen Generationen gegenüber.
Auch die anderen Bände der Memoiren bieten Vorzügliches. Sie sind ja nicht
alle geeignet für Schülerlektüre; aber vieles wird doch auch für diesen Zweck
herangezogen werden können, für den Geschichtslehrer dagegen wird alles wert-
voll sein. Was Goethe vom Hans von Schweinichen (Band 2 der vorliegenden
Memoiren) sagt, dürfte auch auf die übrigen Bände des Schultzeschen Sammel-
werkes anzuwenden sein : „Herr von Schweinichen ist ein merkwürdiges Geschichts-
120 J' Asbach, Ludwig Freiherr Roth von Schreckenstein, angez. von Kräh.
und Sittenbuch; für die Mühe, die es kostet, es zu lesen, finden wir uns reichlich
belohnt; es wird für gewisse Zustände eine Symbolik der vollkommensten Art.
Es ist kein Lesebuch; aber es muß gelesen werden."
Besonders hervorheben möchte ich noch die Erinnerungen (Band 5) des Grafen
Paul Philipp von S6gur, des Adjutanten Napoleons I. Die großen Tage, die jetzt
gerade in hundertjähriger Erinnerung ihre Auferstehung feiern, die Tage von Auster-
litz, Jena, Eylau, Wagram usw. ziehen an uns mit mächtiger Wirkung vorüber,
weil der große Ritt Napoleons von Sieg zu Sieg, der schließlich ein Ritt ins
Unglück wurde, kaum aus einem anderen zeitgenössischen Buche so mächtig her-
vortritt. Meines Wissens ist diese Übersetzung der S^gurschen Erinnerungen wohl
die erste in deutscher Sprache. Zu diesem Buche bieten die Memoiren aus dem
spanischen Freiheitskampfe (Band 7) ein interessantes Gegenstück. Hier bekommen
wir einen tiefen Einblick in die gewaltig erregte Stimmung des erbitterten spanischen
Volkes, das für seine Unabhängigkeit gegen den erbarmungslosen Eroberer mit
Löwenmute kämpfte, wir sehen auch, wie widerwillig im Grunde das französische
Heer seinen Pflichten nachkam. Dazu sind die Persönlichkeiten, die uns ihre
Erlebnisse schildern, Vertreter der verschiedensten Stimmungen und Parteistellungen,
so daß wir in sehr mannigfaltiger Beleuchtung die Ereignisse vor uns sich abwickeln
sehen. Doch der Leser prüfe selbst; es sind ja keine großen Kosten, die ihm
zugemutet werden, da bei der vorzüglichen Ausstattung der Preis als recht gering
bezeichnet werden kann. Den weiteren Bänden (den Memoiren Garibaldis, den Feld-
zugserinnerungen aus dem österreichisch -französischen Kriege 1809 und aus
dem Tiroler Volksaufstand desselben Jahres) muß man mit Spannung ent-
gegensehen.
Berlin. A. Matthias.
Asbach, Jul., Ludwig Freiherr Roth von Schreckenstein. Ein Lebensabriß.
Köln 1907. M. Du Mont-Schauberg. 129 S. 8«. 6 M., geb. 7 M.
Mag auch die eigentliche Beurteilung der kurzen, aber schön ausgestatteten
Biographie, für die leider die Quellen späriich geflossen sind, den Fachblättern
überiassen bleiben, so dürfte ihrer doch auch in dieser Monatschrift mit Lob zu
gedenken sein, um so mehr, als sie zeigt, daß auch eine „ungewöhnliche Persön-
lichkeit" der neueren Zeit sehr wohl in antikem Stile geprägt werden kann. Zwar
ist General von Schreckenstein (1789—1858) der heutigen Generation nur wenig
mehr bekannt, aber in den fünfziger Jahren galt er auch bei Männern wie Roon
als einer der ausgezeichnetsten Korpsführer des preußischen Heeres, dem leider
infolge der unglücklichen Konvention von Olmütz der Ruhm des Schlachten-
siegers versagt blieb. Mit König Friedrich Wilhelm IV., mehr noch mit dem
Prinzen von Preußen und seinem Sohne verband den ritteriich vornehmen und
taktvollen Mann in den späteren Jahren ein seltenes, nicht hoch genug zu be-
wertendes Vertrauensverhältnis. Er war gewiß auch einer der frühesten Einge-
weihten bei dem Heeresreorganisationsplane des nachmaligen Kaisers Wilhelm d. Gr.,
und mit Recht schließt der Verfasser: „Auf der Schwelle des neuen Reiches hat
auch Ludwig Roth von Schreckenstein gestanden."
Düsseldorf. Kräh.
K. Schenk, Lehrbuch der Geschichte usw., angez. von F. Marcks. 121
Schenk, K., Lehrbuch der Geschichte für höhere Lehranstalten. Zweite
Auflage gemeinsam für alle Schularten neu bearbej^tet von Julius Koch. 8°.
IV. Teil: Lehraufgabe für Untertertia. Leipzig u. Berlin 1904. B. G. Teubner.
99 S. 1,70 M. Dasselbe: VII. Teil: Lehraufgabe für Obersekunda. 1905.
206 S. 2,40 M.
Auf die Vorzüge der Schenkschen Lehrbücher ist bei früherer Besprechung
hingewiesen worden. Die bessernde Hand des Herausgebers ist in beiden Büchern
zu spüren: in dem Lehrbuch für Untertertia ist an vielen Stellen gestrichen, um
das Pensum der Klasse zu entlasten. Das ist zu billigen; denn gerade im Mittel-
alter läßt sich von dem Lehrstoff, der traditionell in der Schule behandelt wird,
manches entbehren. Dafür sind aber einige längere Abschnitte über „das Christen-
tum in den ersten drei Jahrhunderten", „die Entstehung des Papsttums und des
Kirchenstaates" und „die Bedeutung der christlichen Kirche im Mittelalter" neu
hinzugefügt worden, so daß der Gesamtumfang des Textes doch noch gewachsen
ist. Wenn nun auch das Lehrbuch dadurch noch nicht zu umfangreich für das
Schuljahr geworden ist, so hätten doch die neu eingefügten Abschnitte gekürzt
werden können. Wie sehr der Überzeugung des Verfassers zuzustimmen ist, daß
die deutsche Geschichte des Mittelalters nur dann dem Schüler historisch von der
richtigen Seite erscheinen kann, wenn er die ungeheuere Wirkung der beiden
Faktoren, Germanentum und Christentum, in ihrer ganzen Bedeutung geradezu
fühlen lernt, so wenig scheint doch die Klassenstufe schon befähigt, die volle Be-
deutung der beiden Faktoren zu erfassen.
Das Lehrbuch für Obersekunda bietet die alte Geschichte bis zum Untergange
des weströmischen Kaiserreichs; der Klassenunterricht ist aber nach den Lehr-
plänen mit Augustus abzuschließen. Die 179 Seiten, die bis dahin reichen, bieten
sehr viel Stoff, so daß ich große Bedenken habe, ob er sich in der gegebenen
Zeit bewältigen läßt. Man nehme z. B. die Abschnitte über Urgeschichte, die
weiße Rasse, die hemitischen und semitischen Kulturvölker: wieviel steht da auf
knappem Räume, und wieviel Zeit wird notwendig sein, um dies alles den Schülern
zum Verständnis zu bringen! Der Herausgeber aber weist in der Vorrede darauf hin,
daß unsere Schüler in Obersekunda zum letzten Male das große Gemälde der
antiken Welt in einem Zuge an sich vorübergehen lassen: „sollte es ein Fehler
sein, wenn dabei einige Farbentöne mehr verwandt werden, als der erklärende
Mentor in die Beleuchtung zu rücken für gut hält?"
Als Druckfehler ist mir in dem Obersekundabuch Burbaneschi statt Bunarbaschi
(S. 24) begegnet. In dem Lehrbuch für Untertertia heißt es fälschlich, Thusnelda
sei mit ihrem Söhnchen in die römische Gefangenschaft geraten; zu jener Zeit
hatte sie das Kind noch nicht geboren. Für die Tüchtigkeit der germanischen
Reiterei wird als Beispiel angeführt (S. 8), daß ihrer 800 ohne viele Mühe 5000
gallische Reiter über den Haufen warfen; der eine Fall der Art, den Cäsar de
bell. Gall. 4, 12 erzählt, hat aber doch seine besonderen Umstände, so daß man
mit ihm nicht exemplifizieren darf.
Putbus. Friedrich Marcks.
122 A. Giese, Deutsche Bürgerkunde, angez. von E. Stutzer.
Giese, A., Deutsche Bürgerkunde. Vierte Auflage. Leipzig 1907. R. Voigt-
länder. VIII u. 168 S. kl. 8«. 1,60 M.
Unter den seit etwa 15 Jahren erschienenen zahlreichen „ Bürgerkunden ",
„Staatskunden" und ähnlichen Schriften ist die Gieses für höhere Schulen ganz
besonders geeignet (geradeso wie seine in dieser Monatschrift I, S. 644 f. an-
gezeigt» Kleine Staatskunde), natürlich nur insofern, als sie es allen Lehrern und
einzelnen Schülern erleichtert, einen Einblick in das Wesen und die Bedeutung
des Staates, sowie in die Anfangsgründe der Volkswirtschaftslehre zu gewinnen.
Unmittelbar kann das ansprechende Büchlein dem Unterrichte in den Fortbildungs-
und Fachschulen zugrunde gelegt werden, die in besonderen Lehrstunden den von
uns nur bei Gelegenheit zu berücksichtigenden Stoff behandeln. Giese gliedert
ihn folgendermaßen: Allgemeine Staatslehre (bis S. 45), Besondere Staatslehre.
A. Das Deutsche Reich (bis S. 89). B. Preußen (bis S. 119). C. Die außer-
preußischen Staaten (bis S. 127), Elemente der Volkswirtschaftslehre (bis S. 151).
Nicht weniger als 73 Paragraphen finden sich im ganzen. Durch verschiedenen
Druck sind allgemeine und Einzelangaben sowie Wichtiges und minder Wichtiges
geschieden. Der Anhang enthält die bemerkenswertesten Artikel aus der Verfassung
des Deutschen Reiches und Preußens.
Nur sehr weniges ist mir aufgefallen. Zwischen Ständen im rein politischen
Sinne und Berufsständen — wofür nicht „gesellschaftliche Klassen" (S. 140) ge-
sagt werden kann — ist S. 5 schärfer zu scheiden; Verfassung muß § 6, 1 durch
einen anderen Ausdruck als „Willen" erklärt werden. S. 142 ist Sozialismus mit
Sozialdemokratie verwechselt. „Kabinett", S. 37, und „Utopie", S. 45, würde ich
näher erklären und wenigstens einige allgemeine literarische Nachweise geben.
Görlitz. E. Stutzer.
Loria, G., Vorlesungen über darstellende Geometrie. Autorisierte, nach dem
italienischen Manuskript bearbeitete deutsche Ausgabe von F. Schütte. Erster
Teil: Die Darstellungsmethoden, Mit 163 Figuren im Texte. Leipzig u. Berlin
1907. B. G. Teubner. XI u. 219 S. gr. 8«. geb. 6,80 M.
Für die Ausbildung des Anschauungsvermögens der Schüler ist anerkannter-
maßen in erster Linie der Unterricht in der konstruierenden Stereometrie von Be-
deutung und in ganz besonderer Weise die wirkliche Durchführung der früher
oft nur mit Worten angegebenen stereometrischen Konstruktionen, wie sie in der
sogenannten darstellenden Geometrie an Zeichnungen in der Ebene geleistet wird.
Deshalb wird darstellende Geometrie in irgendeiner Form, sei es auch nur als
Kavalierperspektive, jetzt wohl an allen höheren Schulen getrieben.
Eine eingehendere Ausbildung in diesem Zweige der Mathematik war bis
vor kurzem an den meisten unserer Universitäten nicht möglich. Damit der
Lehrer in privater Arbeit sich aneignen konnte, was er für den Unterricht brauchte,
waren leicht verständliche Lehrbücher der darstellenden Geometrie wünschenswert.
Gegenwärtig besitzen wir in Deutschland eine ganze Zahl derartiger Lehrbücher.
Trotzdem ist das voriiegende Werk, das der berühmte italienische Geometer
Loria für die im Teubnerschen Vertage erscheinende Sammlung mathematischer
Lehrbücher verfaßt hat, keineswegs als überflüssig zu bezeichnen. Das Werk
Loria, Vorlesungen über darstellende Geometrie, angez. von H. Tliieme. 123
Lorias unterscheidet sich von anderen Lehrbüchern des Gegenstandes durch eine
eigenartige Auffassung von der Aufgabe der darstellenden Geometrie, durch eine
dementsprechende neue Abgrenzung des in dies Gebiet zu ziehenden Stoffes und
durch eine durch die wissenschaftliche Höhe dieses Forschers gegebene ebenso
abschließend fertige Behandlung wie durchsichtig klare Darstellung der Lehren
der darstellenden Geometrie.
Loria rechnet im Gegensatz zu der preußischen Prüfungsordnung die dar-
stellende Geometrie nicht zur angewandten Mathematik, er schließt sich auch nicht
dem Standpunkte Fiedlers an, der die darstellende Geometrie mit der Geometrie
der Lage zu einem großen Ganzen zu verschmelzen gesucht hat; er sieht in ihr
vielmehr einen besonderen Zweig der reinen Mathematik. Für ihn ist die dar-
stellende Geometrie die Wissenschaft, welche lehrt: L räumliche Figuren unter
Benutzung der geometrischen Abbildungsmethoden durch ebene Figuren in gegen-
seitig eindeutiger Weise darzustellen, 2. mit Hilfe dieser ebenen Figuren Auf-
gaben, die sich auf die räumlichen Figuren beziehen, zu lösen, 3. die bezüglichen
Sätze aufzustellen. Bei dieser Auffassung ist die darstellende Geometrie eine not-
wendige Ergänzung der gewöhnlichen Geometrie. Richtig zeichnen ist für die
Mathematik ebenso wichtig wie richtig rechnen.
Seinem Standpunkte gemäß schließt Loria die Theorie der Beleuchtung und
der Schlagschatten von der reinen darstellenden Geometrie aus; diese Dinge
rechnet er zur angewandten Mathematik. Dagegen hat er die Photogrammetrie
in sein Werk aufgenommen; der Verfasser dürfte damit wohl der erste sein, der
eine schulmäßige Bearbeitung dieses jüngsten Zweiges der darstellenden Geo-
metrie bietet.
Der vorliegende erste Teil des Werkes hat die Darstellungsniethoden
zum Gegenstande; er ist in vier Bücher gegliedert. Vorausgeschickt wird eine kurze
Darlegung der Geometrie des Zirkels, die Lösung der planimetrischen Konstruktions-
aufgaben nach Mascheroni allein mit dem Zirkel, und eine ebenso kurze Dar-
stellung der Grundbegriffe der Geometrographie. Dann folgt im ersten Buche
die Methode der doppelten Orthogonalprojektion, der Darstellung der Figuren
durch Grundriß und Aufriß, im zweiten Buche die Methode der Zentralprojektion,
im dritten die Methode der kotierten Ebenen, im vierten die Axonometrie (die
rechtwinklige, die schiefwinklige und die Perspektive) und im fünften die Photo-
grammetrie.
Nach jeder einzelnen dieser Darstellungsmethoden werden die grundlegenden
Aufgaben gelöst. Die darstellende Geometrie wird eben als stereometrische Kon-
struktionslehre betrachtet, und demgemäß werden die einzelnen Aufgaben, zu
denen die Geometrie der Lage und die metrische Geometrie in ihrer naturgemäßen
Entwicklung führen, der Reihe nach für jede Projektionsart gelöst.
Vorkenntnisse irgendwie besonderer Art setzt der Verfasser nicht voraus. Be-
handlung und Darstellung der Lehren zeigen aber überall den Meister geome-
trischer Forschung. Die leitenden Gesichtspunkte und die allgemeinen Methoden,
durch die sich die Einzelprobleme nachher spielend bewältigen lassen, werden
herausgeschält und in leicht faßlicher Weise dargestellt, in einer durchsichtigen
124 Beiträge zur Naturdenkmalpflege, angez. von F. Pfuhl.
Klarheit, über die nur verfügt, wer so hoch über seinem Stoffe steht wie der
Verfasser.
Posen. H. Thieme.
Beiträge zur Naturdenkmalpflege, herausgegeben von H. Conwentz. Berlin
1907. Gebrüder Borntraeger. 1. Heft. 55 S. 1,50 M.
Wie die Vorbemerkung mitteilt, werden diese Beiträge die Veröffentlichungen
der jüngst ins Leben gerufenen Staatlichen Stelle und andere Abhandlungen zur
Naturdenkmalpflege in sich vereinen. Sie werden in zwanglosen Heften von
wechselndem Umfang und zu verschiedenen Preisen erscheinen. Des Interesses
der naturwissenschaftlichen Kreise nicht nur, sondern auch das vieler Laien werden
diese Beiträge sicher sein; handelt es sich doch um eine Sache, die jedem, der
an der Natur Gefallen hat, Herzenssache ist. Der Verfasser berichtet zunächst über
die Einrichtung dieser „Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege" in Preußen, die
einstweilen ihren Sitz in Danzig hat, berichtet ferner über Anregungen, die er zur
Erhaltung dieser Denkmale durch Vorträge, Reisen, Veröffentlichungen gegeben
hat. Dann werden örtliche Maßnahmen aufgeführt, die zum Schutze der Natur-
denkmäler getroffen sind. Sie werden nach Provinzen geordnet. Es handelt sich
dabei um Pflanzen und Pflanzenbestände, wie z. B. Geißblatt, Wintergrün, Eibe,
dann um Tiergenossenschaften (Mandelkrähe, Pirol, Eisvogel, Schwarzstorch), um
geologische Gebilde (erratische Blöcke, Gletscherschliffe), um schöne Landschafts-
bilder. Von Interesse ist es auch, zu erfahren, welche Kosten — wenn es sich
nicht gerade um fiskalischen Besitz handelt — es verursachen kann, ein solches
Naturdenkmal zu erwerben und in geeigneter Weise zu sichern. Der sogenannte
Düppelstein, der nun allerdings mächtige Maße zeigt (8,6 m; 6,7 m; 2,95 m), hat
eine Summe von 1700 M. erfordert. Und das alles ist durch private Beiträge,
durch Vereine, zusammengebracht, da der Staat hierfür Mittel nicht zur Verfügung
stellt. Daß auch der Weg zur Erwerbung der Naturdenkmale ein recht langwieriger
und mühevoller sein kann, dafür gibt uns der Verfasser ein Beispiel an dem Zwerg-
birkenmoor bei Schafwedel in Hannover. Die Zwergbirke gilt hier als Relikt aus
der Eiszeit, was allerdings von andern bestritten wird. Über eine Zeit von mehr
als vier Jahren dehnten sich die Verhandlungen aus, ehe das Gelände, eine 1,6 ha
große Moorfläche, für 3114 M. erworben werden konnte. Als Anlagen bringt die
Schrift dann noch die auf die Sache bezüglichen Verfügungen der betreffenden
Ministerien. Sieben Abbildungen sind diesem ersten Bericht beigegeben, dem hof-
fentlich noch recht viel andere folgen werden.
Posen. Fritz Pfuhl.
Pfeiffer, Ernst, Schulhygienisches Taschenbuch mit Beiträgen von einer
großen Zahl namhafter Ärzte, Schulärzte und Pädagogen, herausgegeben von
Moritz Fürst. Mit 9 Abbildungen im Text und 1 Tafel. Hamburg und Leipzig
1907. Leopold Voß. 384 S. 8o. geb. 4 M.
Das Gebiet der Schulhygiene wächst von Jahr zu Jahr, das Interesse steigert
sich und demgemäß erscheinen immer mehr größere Werke und kleinere Abhand-
lungen über schulhygienische Fragen. Es wird daher allmählich unmöglich, alle
E. Pfeiffer, Schulhygienisches Taschenbuch usw., angez. von F. Moldenhauer. 125
Veröffentlichungen zu lesen und zu prüfen, die großen, meist recht teuren Werke
sind auch nur wenigen zugänglich, so daß schon an und für sich ein Buch zu
begrüßen ist, aus dem man die nötigsten Aufschlüsse über solche Fragen rasch,
ohne große Mühe und klar erhalten kann. Dazu l?ommt aber nun, daß die ein-
zelnen Abschnitte dieses Werkes von ganz speziellen Kennern der betreffenden
Materien bearbeitet worden sind. Ich greife nur, ohne irgendwie dadurch einen
der nicht genannten Verfasser als minderwertig zu bezeichnen, Namen wie Zeu-
buscher-Meiningen heraus, der eine kurze Schilderung der Entwicklung der Schul-
hygiene und des Schularztwesens in Deutschland und eine Übersicht über den
Hauptinhalt der schulärztlichen Verordnungen, Instruktionen und Anstellungs-
bedingungen für Schulärzte gibt. Roller-Darmstadt schreibt über Schulutensilien
und geteilte und ungeteilte Schulzeit, Stundenplan, häusliche Arbeiten: Auguste
Förster- Kassel über Haushaltungsunterricht. Abel-Berlin über Elternabende, Nuß-
baum-Hannover über die Hygiene des Schulgebäudes usw. Das Buch ist sehr
handlich, klar und übersichtlich geordnet, die einzelnen Darstellungen sachgemäß
und doch nicht trocken gehalten. Es ist sehr zu wünschen, daß das Taschenbuch
in keiner Bibliothek, weder den öffentlichen der Städte, Schulen usw. noch in der
privaten fehlen möge.
Köln. F. Moldenhauer.
IV. Vermischtes.
Oberlehrer Dr. Max Georg Schmidt in Marburg schreibt uns:
Zum Tode Ernst v. Wildenbruchs.
Der frühere Direktor der Franckeschen Stiftungen, D. Dr. Otto Frick, war
in seiner Jugend Hauslehrer bei dem damaligen preußischen Gesandten zu Kon-
stantinopel, V. Wildenbruch. Sein Zögling, Ernst v, Wildenbruch widmete sich der
militärischen Laufbahn, gab sie aber bald wieder auf und bereitete sich am Gym-
nasium zu Burg, welches Frick als Direktor leitete, auf das Abiturientenexamen
vor. Ein schöner Beweis für die treue Anhänglichkeit, welche der nun verstorbene
große Dichter seinem Jugenderzieher, dem großen Pädagogen, bewahrte, ist das
folgende Gedicht, mit dem ihm Wildenbruch im Jahre 1874 das Manuskript eines
seiner Werke überreichte:
An alte Zeiten will ich heut dich mahnen,
Laß uns noch einmal heute Hand in Hand
Rückwärts durchmessen unsre Lebensbahnen,
Folg mir in unsrer Jugend schönes Land.
Siehst du das Haus am Meeresufer stehen?
Siehst du das gastlich weit erschloßne Tor?
Spürst du den Hauch des Friedens drüber
wehen?
Hörst du dort drin der frohen Stimmen Chor?
Und sie, die ordnend dieses Haus durch-
schreitet.
Kennst du die unvergeßliche Gestalt?
Die Liebe rings und Segen rings verbreitet.
Zur Ehrfurcht zwingt mit freundlicher Gewalt?
Siehst du die Stube mit den Arbeitstischen,
Den hellen Raum, den Meereshauch durch-
rauscht?
Kennst du den Knaben noch, den jugend-
frischen.
Der willig deinem Lehrerworte lauscht?
Siehst du dich selbst, wie du in Jugendeile
Durchstreifst das alte herrliche Byzanz,
Wo aus dem Grab mit seiner Schlangensäule
Dir Griechenland ersteht in altem Glanz?
Gedenkst du noch der schönen stolzen Wege,
An Bospors Uferbrandungen entlang?
An des Eliasbrunnens Baumgehege,
An Berg und Tal, an manchen stillen Gang?
Steigt dir empor das Bild der Mauerriesen,
Dort der Hissaren alter Festungsring?
Wo du den Ort dem Knaben einst gewiesen,
An dem Darius iiber'n Bospor ging?
Und als mich da vergangner Zeiten Kunde
Zum erstenmal mit tiefer Lust entzückt,
War das vielleicht die erste Weihestunde,
Wo Phantasie mich träumend angeblickt?
Begann er da zuerst sich zu entfalten,
Der tief geheime rätselvolle Drang,
Dem Schöpfer nachzubilden die Gestalten,
Die volle Brust zu lösen im Gesang? i
Vermischtes.
127
Wie nun die Jahre voller öder Plage
Mich trüb umfingen, wohl ist dir's bekannt,
Bis daß mit einem gnäd'gen Wetterschlage
Das Schicksal mich zum rechten Weg gewandt.
Und als ich dann mit durstverzehrter Seele
Zum heil'gen Quell der Weisheit heimgekehrt,
Wer schloß mir auf Olympos' goldne Säle?
Wer hat die Götter mich versteh'n gelehrt?
Du meiner ersten Jugend treuer Hüter,
Du warst's, der meine zweite Jugend schuf,
Der, pflegend meiner Seele beste Güter,
Mich stark gemacht zum lierrlichsten Beruf.
Und jüngst, da ich den Liederkranz gewoben,
Den preisend um das Vaterland ich flocht,
Wie hast die Stimme mächtig du erhoben.
Wie hast du an der Menschen Ohr gepocht !
Wem Dichterworte so zum Herzen dringen.
Der hat des Lieds geheimsten Grund er-
kannt ;
Wer Antwort so dem Dichter weiß zu bringen.
Der wahrlich ist dem Dichter nah verwandt.
Den BUck zurückgewandt zu alten Zeiten,
Laß uns erneuern nie zerrißnen Bund,
Und siehst du mich den Weg des Schick-
sals schreiten.
Sei, Freund, dem Freunde nah mit Herz und
Mund.
Ich seh' nach vorn — wie viel ist zu er-
ringen !
Ich seh' zurück — ein Schritt ist doch getan!
So hoff ich doch zum Ziele durchzudringen :
Ich weiß das Ziel und ich bin auf der Bahn.
V. Sprechsaal.
Herr Dr. Heinrich Fränkel-Halensee schreibt:
Herr Direktor Dr. Lorentz zwingt mich leider, auf unsere Auseinandersetzung
über die von Herrn Dr. W. Scheel und mir bearbeitete neue Schulausgabe von
Wulffs Poetischem Hausschatz zurückzukommen. Er schreibt: »Ich wieder-
hole das nicht widerlegte Urteil, daß die früheren Auflagen einen freieren
Standpunkt vertraten, da sie Gedichte wie Goethes Der Gott und die Bajadere und
Die Braut von Korinth enthielten." Ich darf dazu bemerken:
1. Eine Beweisführung, die das Urteil über den »Standpunkt" einer umfang-
reichen Sammlung davon abhängig macht, ob einige wenige bestimmte Gedichte
aufgenommen sind, ist unzureichend.
2. Die beiden von Herrn Dir. Lorentz wiederholt angeführten Goetheschen
Gedichte sind nicht etwa, wie er offenbar annimmt, durch Herrn Dr. Scheel und
mich aus dem Hausschatz entfernt worden. In dessen seit 1867 erschienenen
Auflagen (der 24. bis 29.) waren sie nicht mehr enthalten.
3. Diese beiden Gedichte befinden sich, soviel mir bekannt, in keiner
gegenwärtig in deutschen Schulen benutzten Sammlung.
4. Daß die Kenntnis der besagten Gedichte „auch für die heutigen Primaner-
Generationen wünschenswert" ist, erkenne ich cum grano salis an; der Primaner
aber, der dafür reif ist, genießt Goethes Gedichte an der Quelle.
5. Der Verlag von Otto Wigand G. m. b. H. in Leipzig stellt den Herren
Direktoren und Fachmännern, die gegebenenfalls die Einführung des in Rede
stehenden Buches beabsichtigen, auf Wunsch Exemplare zur Verfügung. Wer es
mit anderen Sammlungen vergleicht, wird ohne weiteres erkennen, daß der Vorwurf
des Herrn Dir. Lorentz nicht begründet ist. Ich verweise der Kürze halber nur
auf die Aufnahme zahlreicher in dem einen oder andern Sinne einer „freien"
Auffassung entsprechenden Gedichte von Anzengruber, Avenarius, Bewer, Bierbaum,
Cornelius, Dehmel, Dingelstedt, Falke, Fitger, Gilm, Ginzkey, Hamerling, Hauptmann,
Hebbel, Henckell, Hertz, Herwegh, Hesse, Heyse, Hoffmann von Fallersleben,
Huch, Keller, Kurz, Leixner, Leuthold, Lienhard, Münchhausen, Nietzsche, Raabe,
Rosegger, Saar, Salus, Scheffel, Schönaich-Carolath, Spitteler, Storm, Strauss und
Torney, Trojan, Weber, Wildenbruch. Nichts aber ist geeigneter das Lorentzsche
Urteil zu widerlegen, als die von Dr. Scheel und mir gebotene Auswahl Goethe-
scher Gedichte.
Herr Direktor Dr. Lorentz-Friedeberg N.-M. bemerkt dazu:
Auf Grund meiner Erwiderung im letzten Heft dieser Monatschrift begnüge
ich mich damit, die Kenntnisnahme der obigen Zuschrift des Herrn Dr. Fränkel
zu bestätigen.
I. Abhandlungen,
über die Schülerselbstmorde.
(Erweiterte Wiedergabe des auf der 10. Religionslehrer -Konferenz in Berlin
am 14. November 1908 gehaltenen Berichts.)
Das 20. Jahrhundert wurde, schon als es kaum begonnen, als das „Jahr-
hundert des Kindes' bezeichnet. Die Kreise, von denen das ausging, wählten
diese Bezeichnung im vollen Bewußtsein von der Bedeutung ihrer besonderen
Tendenzen. Es waren Männer des Sports und der Technik, der Dichtkunst und
Malerei, der Naturwissenschaften, Pädagogik und Philosophie. Sie alle sind ge-
leitet von dem Schlagwort „wer die Jugend hat, der hat die Zukunft"; sie wollen
die Jugend beiderlei Geschlechts nach neuen Ideen ausbilden und erziehen, in der
besten Absicht, ein glücklicheres Geschlecht zu schaffen: erst die Jugend, danach
das Volk soll kräftiger, frischer, lebensfreudiger und künstlerischer werden, die Be-
herrschung und Verwendung der Naturkräfte im Dienste unserer Kultur soll
mannigfaltiger, leichter und gesteigerter, der menschliche Intellekt umfassender
werden.
Wir wollen hier nicht darüber richten, wie weit die Verwirklichung solcher
Ziele möglich und ratsam ist, wollen auch nicht untersuchen, ob in dieses Pro-
gramm der früher oftmals angestellte Versuch aufgenommen ist, ohne das Christen-
tum fertig zu werden und die Sittlichkeit auf die Forderungen der Natur und der
menschlichen Gesellschaft, auf Erkenntnis und Übereinkunft zu gründen. Jeden-
falls prägt uns ein Blick auf die rauhe Wirklichkeit nachdrücklich die Lehre
ein, daß unserem Geschlecht nichts mehr not tut, als eine auf fester religiöser
Basis ruhende Sittlichkeit. Als wir vor gar nicht langer Zeit in sämtlichen
Kollegien die sexuelle Belehrung der Schüler zu behandeln hatten, da wußten
wir, daß dem gar trübe Dinge zugrunde lagen. Über die Verwilderung unserer
Jugend, über das Schwinden von Pietät und Subordination ziehen sich seit Jahren
durch die Tagespresse und Fachorgane, durch Gerichts-, Synodal- und Parlaments-
verhandlungen bittere Klagen hin. Die Moralstatistik führt erschreckende Zahlen
vor, wenn sie von den jugendlichen Verbrechern handelt. Aber noch düsterer
scheint das Bild durch eine andere Erscheinung zu werden. Was in früheren
Zeiten die letzte Zuflucht eines heimlichen Verbrechers oder eines verzweifelten
Ingeniums war, das verüben jetzt Knaben, Mädchen und Jünglinge, oft mit kühlster
Überiegung und erstaunlicher Berechnung eines ganz bestimmten Momentes.
Unter uns Anwesenden sind wohl nur wenige, die sich aus ihrer Jugend
eines Falls von Schülerselbstmord erinnern. Aber im Anfang des „Jahr-
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 9
130 O- Gerhardt,
Hunderts des Kindes", besonders in den beiden letzten Jahren sind alle Schichten
unseres Volks durch zahlreiche und erschreckende Fälle in Aufregung versetzt
worden. Die Organe, in denen die öffentliche Meinung zum Ausdruck gelangt^
haben nicht selten Schilderungen entworfen, als ob aus der Schulzucht alle Ver-
nunft entwichen wäre und die „Erziehungstorheiten der Lehrer" eine ständige Zu-
nahme der Selbstmorde zur natürlichen Folge hätte. Man verfiel hier in einen
Irrtum, der leider auch an anderer Stelle begangen worden ist: aus dem Um-
stände, daß tatsächlich zahlreiche Fälle von Selbstmord ihre unmittelbare Ver-
anlassung in Vorkommnissen des Schullebens hatten, wurde gefolgert, daß die
Schule auch die ganze Schuld an dieser beklagenswerten Erscheinung habe.*)
Daß hier ein sehr bedeutsamer Unterschied zu ziehen ist, wie später noch dar-
gelegt wird, haben indessen auch in der Tagespresse öfters Männer mit klang-
vollem Namen hervorgehoben und versucht, das Maß von Schuld zwischen der
Schule, dem Hause und der Gesellschaft gerecht zu verteilen. Vom Jahr 1905 an
mehrten sich die Stimmen in den Zeitungen zusehends, obwohl ein Umsichgreifen
dieser Verirrungen der Jugend nicht konstatiert werden konnte. Zu den Schrift-
stellern von Beruf kamen jetzt Politiker, Ärzte und Pädagogen und beleuchteten
diese Vorkommnisse nach allen Seiten hin in Stadt- und Landparlament, in Ver-
einen, Fachzeitschriften und besonderen Broschüren; die höchste Beachtung fanden
die Ausführungen Eulenburgs, nicht nur wegen der allgemein bekannten Ver-
dienste des Verfassers auf dem Gebiete der Schulgesundheitspflege, sondern auch
weil ihm das Aktenmaterial des Kultusministeriums zur Verfügung gestellt wurde.
Seine Darlegungen und Nachweisungen gingen deshalb auch in die Tageszeitungen
über und wirkten in vieler Hinsicht recht aufklärend. Vielleicht hat dieser Um-
stand dazu beigetragen, daß nunmehr des öfteren auch Pädagogen das Wort er-
griffen, um von ihrem Standpunkt aus Angriffe abzuwehren und Vorschläge zur
Besserung zu geben, so entstand eine kleine Literatur über dieses Gebiet, die hier
in aller Kürze vorgeführt werde:**)
Eulenburg, „Selbstmorde im jugendlichen Alter", erschienen in der „Umschau"
(Wochenschrift über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik). Frankfurt a. M.
1904 (2. Juli und 9. Juli).
*) Die Übertreibungen eines nicht geringen Teils unserer Tagespresse haben vielleicht
die nachfolgende Auslassung des weltbekannten Pariser Organs „Les Annales" inspiriert.
Im Anschluß an den Selbstmord eines 12 jährigen Mädchens wird vom Selbstmord unter der
französischen Jugend gesprochen; dann heißt es: »In Deutschland ist es noch schlimmer;
Tausende von Schülern machen ihrem Leben ein Ende, um der Brutalität einer eisernen
Disziplin zu entgehen, und sodann weil ihr Gehirn der schrecklichen Masse von Kennt-
nissen, die sie aufhäufen ohne zu verdauen, nicht Widerstand leisten kann. Das Übermaß
tötet sie." Diese Wochenschrift ist nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa verbreitet
und in literarischer wie auch sozialer Hinsicht ein maßgebendes Organ. Nach einer Angabe
in demselben Zusammenhange sind in Frankreich in den letzten 5 Jahren 1630 Schüler und
Schülerinnen durch Selbstmord umgekommen. (Les Annales, 22. November 1908, S. 481 :
„Suicides d'enfants*.)
**) Von allen diesen Schriften ist in meiner Arbeit nur die zweite Eulenburgsche benutzt
worden; die Tatsachen, die ich schildere, sind ausnahmslos den Akten entnommen; alles
übrige ergab sich aus diesem Aktenmaterial.
über die Schülerselbstmorde. 13|
Derselbe, „Schülerselbstmorde". Vortrag im Berliner Verein für Schulgesund-
heitspflege am 20. Februar 1907, erschienen in der „Zeitschrift für pädagogische
Psychologie, Pathologie und Hygiene", April 1807 (S. 1—31).
L. Gurlitt, „Schülerselbstmorde". Berlin 1908. Concordia. 8°. 59 S. 0,50 M.
A. Lewinneck, „Schülerselbstmorde und Elternhaus". Königsberg 1908. Härtung.
8«. 30 S. 0,50 M.
Wehnert, „Schülerselbstmorde". Hamburg 1908. Schröder & Jeve. 8». 1 M.
Fr. Droop, „Schülerselbstmorde«. Dortmund 1908. Ruhfus. 8". 18 S. 0,40 M.
Gerh. Budde (Professor in Hannover), „Schülerselbstmorde". Hannover 1909.
Jänecke. 8». 59 S. 1 M.
Vgl. auch die Verhandlungen im Reichstag am 5. und am 10. Dezember 1904
und im preußischen Abgeordnetenhause am 19. März 1908.
Die Untersuchungen Eulenburgs schlössen in der Hauptsache mit dem Jahre
1903 ab. Über den Stand der Dinge in der nachfolgenden Zeit wurde es mir
gütigst gestattet, gleichfalls aus dem amtlichen Material des Kultusministeriums
genaue Informationen zu schöpfen, nicht allein um der bloßen Statistik willen,
sondern vor allem, um das Referat, das ich heute vor Ihnen, meine sehr geehrten
Herren, halten darf, in dem Sinn und Geist, der uns alle bewegt, zu vervoll-
ständigen. Und gern erfülle ich auch an dieser Stätte die Pflicht, der hohen Be-
hörde den ehrerbietigsten Dank dafür auszusprechen, daß sie in so überaus ent-
gegenkommender Weise gestattet hat, von dieser ernsten Erscheinung in unserem
gegenwärtigen Schulleben ein getreues Bild zu gewinnen und dadurch die Grund-
lagen zu weiteren Maßnahmen zu bieten.
Ehe ich aber zur Darstellung und Gruppierung der Schülerselbstmorde über-
gehe, möchte ich Ihnen in einem kurzen Rückblick zeigen, daß diese Ver-
sündigung der Jugend nicht etwa erst mit den mannigfachen Übeln der Gegen-
wart aufgetreten ist, sondern schon zur Zeit, als wir selbst noch Schüler waren, sich
häufig genug ereignete. Zu einer besonderen Beruhigung wird es Ihnen ge-
reichen, wenn Sie aus einer tabellarischen Zusammenstellung ersehen, daß unsere
jetzige Schülergeneration hiervon durchaus nicht schwerer heimgesucht wird, als
die früheren Geschlechter. Eine amtliche Statistik kann ich Ihnen über die fast
drei Dezennien umfassende Periode von 1880 bis Ende 1908 vorführen (siehe
Tabelle nächste Seite).
Das sind in 29 Jahren 416 (+ 2) Schülerselbstmorde bzw. -Selbstmordversuche;
der jährliche Durchschnitt beträgt 14,3.
Aus dieser Übersicht erkennen wir zunächst:
1. Daß eine regelmäßige Zunahme des Selbstmords unter unserer
Jugend nicht vorliegt, allerdings auch keine stetige Abnahme. Vielmehr ist
wiederholt auf ein Sinken der Zahl ein schnelles Ansteigen erfolgt.
2. Die Jahre 1882, 1886, 1895, 1898, und 1904 stehen am günstigsten da;
aber die dazwischen liegenden Perioden sind ungleich hinsichtlich der Länge und
des Steigens bzw. Fallens der Ziffern.
3. Das vorige Jahr (1908) scheint mit seinen 28 Fällen das weitaus höchste
Maß erreicht zu haben ; aber diese Zahl hat, wie bald zu zeigen ist, einen anderen
Wert. Sehen wir von 1908 ab, so begegnen wir dem Maximum der übrigen
9*
132
O. Gerhardt,
Obersicht über die von Schülern der höheren Lehranstalten in Preußen
begangenen Selbstmorde (1880—1908).
(Die Schülerinnen höherer Lehranstalten sind hier nicht mitaufgenommen.)
Jahr
Zahl der
FäUe
Jahr
Zahl der
Fälle
Jahr
Zahl der
Fälle
1880
9
1890
11
1900
18
1881
13
1891
14
1901
18
1882
5
1892
19
1902
17
1883
17
1893
15
1903
18
1884
14
1894
18
1904
8
1885
10
1895
7
1905
16*)
1886
8
1896
11
1906
16
1887
18
1897
19
1907
19
1888
11
1898
7
1908
28*)
1889
20
1899
13
28 Jahre i. J. 1889. Dies liegt 19 Jahre zurück, so daß ein verhältnismäßig großer
Zeitraum ein erfreulicheres Bild aufweist als jenes Jahr.
4. Es muß meines Erachtens hervorgehoben werden, daß diese Schülerselbst-
morde sich durchaus nicht gleichmäßig über die Monarchie verteilen, daß vielmehr
eine auffällig große Zahl auf einige Großstädte entfällt. Nur für das letzte Jahr-
zehnt: Anfang 1898 bis Ende 1908, habe ich diese Zusammenstellung gemacht;
sie hat folgendes Resultat gebracht: von den 170 (172) Fällen dieses Dezenniums
kommen 25 auf Berlin; hat man Groß -Berlin im Auge, so entfallen hierauf 341
Von den anderen Großstädten sind zu nennen: Magdeburg mit 7 und Breslau mit
6 Fällen. Diese Zahlen sind bei jeder der genannten Städte bedeutend höher,
als nach der Schülerzahl zu erwarten wäre; das steht aber im engsten Zusammen-
hang mit anderen Vorkommnissen, die sich in den Großstädten häufen.
Eine zutreffende Würdigung aller Zahlen ist indessen nur möglich, wenn man
den Bestand an Schülern hinzuzieht. So gab es z. B. 1889 an sämtlichen höheren
Lehranstalten Preußens 136 908 Schüler, aber 1907 betrug die Frequenz 208 170.
Wäre das Verhältnis zwischen Schüler-Zahl und -Selbstmorde auch nur konstant
geblieben, dann hätten wir 1907 nicht weniger als 30 Fälle erlebt, und das ver-
gangene Jahr hätte uns ihrer 32 gebracht.
Da mithin die bloße zahlenmäßige Zusammenstellung der Selbstmordfälle
nicht erkennen läßt, wie die Anzahl in einem Jahre sich zu dem jedesmaligen
Bestand an Schülern verhielt, habe ich eine zweite Tabelle aufgestellt, welche
zeigt, wieviel Selbstmorde in jedem Jahre auf je 100000 Schüler ent-
fielen. Die Schülerzahl der Jahre 1880—1906 ist entnommen aus der Gesamt-
*) Bei einem 17. Falle (1905) und einem 29. (1908) konnte weder von den Eltern und
der Schule, noch von der Polizei und Staatsanwaltschaft entschieden werden, ob Unfall
oder Selbstentleibung vorlag.
über die Schülerselbstmorde.
133
frequenz des Winter- und Sommerhalbjahres und als das Mittel dieser beiden
Zahlen angesetzt; für die beiden letzten Jahre 1907 jind 1908 liegen indessen nur
die Zahlen des Bestandes am 1. Februar vor:
Selbstmordfälle
Selbstmordfälle
Jahr
Schülerzahl
auf
100000 Schüler
Jahr
Schülerzahl
auf
100000 Schüler
1880
125 023
7,1
1895
142 438
4.9
1881
126 800
10,2
1896
144 955
7.5
1882
131 836
3,7
1897
148 260
12,8
1883
129 971
13,0
1898
152 033
4,6
1884
130 465
10,7
1899
155 965
8,3
1885
133 506
7,4
1900
160757
11.1
1886
132 640
6,0
1901
166 005
10,8
1887
134 784
13,3
1902
172 639
9,8
1888
136 317
8,0
1903
179 947
10,0
1889
136 908
14,6
1904
188582
4,2
1890
135 919
8,0
1905
197 481
8.1
1891
137 993
10,1
1906
205 883
7.7
1892
138 276
13,7
1907
208 170
9,1
1893
139 377
10,7
1908
224 823
12,4
1894
140 828
12,7
Wenn man hiernach vergleicht, daß z. B. von 1884 zu 1885 sich die Schüler-
zahl um rund 3000, von 1903 zu 1904 um rund 9000 vermehrt, dagegen die Zahl
der Selbstmorde jedesmal erheblich verringert hat, wie anderseits die Jahre 1888
und 1889 fast gleichstarke Frequenzen aufweisen und trotzdem ein erstaunliches
Anschwellen der Selbstmorde, so wird es klar, daß dieser traurigen Erscheinung
keine Stetigkeit der Zunahme oder Abnahme zuzuschreiben ist.
Wie in der ersten, so zeigt sich auch in dieser Tabelle das Jahr 1889 als das
unheimlichste mit seinem hohen Satz von 14,6; die 19 darauffolgenden
Jahre bis 1908 inkl. bedeuten dagegen eine Abnahme. Das Minimum
von 3,7 treffen wir 1882; ihm am nächsten stehen die Jahre 1895, 1898 und 1904.
Vergleichen wir diejenigen Jahre, welche auf der ersten Tabelle eine gleich -
hohe Ziffer aufweisen, so finden wir, daß jedes spätere Jahr unter dieser
einen Schritt zum Besseren darbietet: nämlich
1881 weist 13 Fälle auf, das macht auf je 100000 Schüler 10,2
1899 , auch 13 „,,„„„ „ »nur 8,3.
, , - . n n . 13,0
» , , » . , »nur 9,8.
...... . 13,3
. . . . r, . »nur 12,7
. . . . . . . . 11,1
. . n . . . . » 10,8
. . . . . . . . 10,0.
1883
17
1902
, auch 17
1887
18
1894
„ auch 18
1900
. . 18
1901
, . 18
1903
. . 18
134 O. Gerhardt,
Endlich das Jahr 1908: seine sehr hohe Ziffer (28) verliert doch wenigstens
etwas von ihrem erschreckenden Wert, wenn wir jetzt sehen, daß es infolge der
stark angewachsenen Schülerzahl noch zurücktritt hinter manches unter den vor-
angegangenen Jahren, nämlich hinter 1883, 1887, 1889, 1892, 1894, 1897. Immer-
hin bleibt die betrübende Tatsache, daß 1908 in dem Zeitraum der letzten
11 Jahre die höchste Zahl von Schülerselbstmorden aufweist.
Eine vollständige Statistik würde noch folgende Frage beantworten müssen:
ereignet sich der Selbstmord unter den Schülern höherer Lehranstalten
seltener oder häufiger als unter der Gesamtbevölkerung? Der Erledigung
dieser Frage stellen sich aber außergewöhnliche Schwierigkeiten entgegen. Die
Altersgrenzen der Schüler, die sich selbst entleibten, war z. B. 1903 nach unten
123/4, nach oben 21 Jahre, 1907 waren es 12 und 19, 1908 aber 13 und 2OV2 Jahre.
Nun müßte erstlich die Gesamtzahl der Schüler dieser Altersstufen und ebenso
die der männlichen Einwohner Preußens festgesetzt, und sodann die Zahlen der
jedesmal entsprechenden Selbstmordfälle verglichen, d. h. etwa auf den Normalsatz
von 100 000 geführt werden.
Das Material für eine solche minutiöse Detailuntersuchung liegt zurzeit nicht
vor. Das Ergebnis dürfte erheblich zugunsten der Schule ausfallen. Denn im
Jahre 1906 z. B. hatten wir unter 100 000 unserer Schüler 7,7 Selbstmordfälle, aber
unter 100 000 der männlichen Bevölkerung im Alter von 15—20 Jahre waren es 17,83.
Wenn nun auch unter jener Zahl sich ein Sextaner von 10 Jahren befand, so
bleibt doch eine große Differenz zugunsten der Schule. 1905 war der Prozentsatz
(d. h. auf 100000) bei den Schülern 8,1, wovon 2 Schüler unter 15, die übrigen
14 zwischen 15 und 20 Jahren; der entsprechende Satz bei der männlichen Be-
völkerung von 15—20 Jahren war aber 20,30. Demnach ist man zu dem Schluß
berechtigt, daß unter unseren Schülern der Selbstmord bei weitem nicht
so stark grassiert wie unter der gleichaltrigen Gesamtbevölkerung.
Die statistischen Zusammenstellungen schließe ich mit zwei Angaben, deren
ausdrückliche Hervorhebung im Interesse der Schule mir verstattet sein wird:
a) Bei 31 von diesen 170(4-2) Schülern waren Gehirnkrankheiten,
Geistesstörung oder erbliche Belastung, oft schwerer Art, er-
wiesen; daß die Zahl dieser Unglücklichen in Wahrheit noch beträcht-
lich höher gewesen, ist sehr wahrscheinlich.
b) Bei 47 von diesen 170 war in der Schule nicht das geringste
geschehen, was mit dem Selbstmord irgendwie zusammenhing;
vielmehr waren es Schüler, die nicht zurückgeblieben, nicht bestraft, nicht
gehänselt noch irgendwie gekränkt waren, die nicht vor dem Semester-
abschluß und der Versetzung Angst gehabt hatten, sondern zum Teil
waren es Durchschnittsschüler, zum Teil aber auch die besten Schüler
ihrer Klasse.
Was die Gehirnkrankheiten betrifft, so haben zuweilen die Eltern, zuweilen
die Schulbehörden die ärztlichen Zeugnisse darüber erbracht, daß chronische Ent-
zündungen der Gehirnhäute, Eiterungen im Gehirn als Folge von nicht gehobenen
Ohrenleiden, abnorme Schädelbildung infolge schwerer Zangengeburt u. dgl. vor-
lagen. Die Fälle von Geistesstörung habe ich unter jene Zahl (31) nur dann
über die Schülerselbsttnorde. 135
aufgenommen, wenn eine solche tatsächlich erwieserv war. Eine bloß vermutete
Geistesstörung habe ich nicht mit in Rechnung gezogen. Die erbliche Be-
lastung bestand in einigen Fällen darin, daß Blutsverwandte in der Aszendenz
an Geisteskrankheit, Epilepsie u. dgl. litten (bei einem Schüler waren es
nicht weniger als vier solcher Verwandte, ihm selbst war bei der Geburt der
Schädel zusammengedrückt worden!), oder aber darin, daß Blutsverwandte von
Vater und Mutter (Brüder, Großväter, Vettern) gleichfalls durch Selbstmord ge-
endet hatten, nicht selten kurz vorher. Bei einem Primaner im vorigen Jahre
waren es sogar drei solcher Verwandte, bei einem Sekundaner noch mehr, bei
einem Obersekundaner waren es beide Großeltern. In Wirklichkeit wird die Zahl
der erblich Belasteten oder mit einer sich entwickelnden Gehirnkrankheit Be-
hafteten noch größer sein. Denn öfters heißt es in dem Berichte, daß die Eltern
des umgekommenen Schülers auf die Anregung des Direktors, jene Möglichkeit
festzustellen, nicht eingingen — aus Gründen, die sich wohl begreifen lassen. Die
Schicksale dieser 31 jungen Menschen hätten sich bei größerer Obhut und Für-
sorge ganz anders gestaltet.
Man kann es schwerlich als einen Zufall ansehen, daß die öffentliche Meinung
sich fast nie mit den Selbstmorden der Schüler niederer Anstalten und der
Schülerinnen beschäftigt, die doch gleich sehr beklagenswert sind, dagegen oft und
so leidenschaftlich mit denen, die sich an unseren höheren Schulen ereignen. Mir
scheint es vielmehr, daß sich hierin die Überzeugung bekundet — gleichviel ob
bewußt oder unbewußt — , daß die Jugend, die später zu maßgebenden und ein-
flußreichen Stellungen im Volk gelangt, von diesen Verirrungen ganz rein bleiben
müßte.
Und in der Tat, der ganze Ernst dieser Vorkommnisse wird uns erst dadurch
recht fühlbar, daß wir den gewaltigen Unterschied zwischen der geistigen und
sittlichen Atmosphäre, in welcher der Gymnasiast lebt, und derjenigen, die andere
gleichaltrige Bevölkerungsklassen umgibt, erwägen: junge Kaufleute, Subaltern-
beamte, Lehrlinge, Gesellen u. dgl. stehen nicht entfernt unter solcher Obhut, Für-
sorge und Belehrung wie unsere Schüler. In Anbetracht dessen, daß für die
intellektuelle und ästhetische, patriotische, sittliche und religiöse Ausbildung und
Erziehung unserer Jugend das Beste erstrebt wird, was die Schule vermag, könnte
man erwarten, daß Selbstentleibungen unter Schülern überhaupt nicht vorkämen.
Und wenn sie schon zu irgendeiner Zeit einzureißen schienen, hätte da nicht alles
geschehen müssen, was eine stetige Abnahme und schließlich ein Aufhören des
Übels herbeiführte? So wünschenswert auch die Verwirklichung dieses Zieles ist,
erscheint sie doch zunächst noch fraglich, denn die Mächte, die diese Verwüstung
anrichten, wurzeln im Zeitgeist und arbeiten der erzieherischen Tätigkeit der
Schule direkt entgegen.
Es muß aber noch ein anderer Gesichtspunkt hervorgehoben werden, um den
Kontrast zwischen der Schule und den schweren Verfehlungen ihrer Zöglinge ins
rechte Licht zu setzen. Wir leben in einer Zeit der Reformen: um das gesamte
Schulwesen nach der Seite des Unterrichts wie auch der Erziehung von den Ge-
136 O. Gerhardt,
brechen zu heilen, ist in den letzten drei Jahrzehnten vieles ins Werk gesetzt
worden, oft mit unendlichen Mühen und Opfern. Ein Hauptziel war es, den
Jünglingen die Erreichung ihrer Ziele zu erleichtern. Daß dies tatsäch-
lich erreicht ist, verdanken wir einerseits dem rührigen Eifer der wissenschaftlichen
Pädagogik, welche die Anlage der Schulbücher rationeller und das Unterrichts-
verfahren methodischer ausgestaltete; anderseits einer Reihe besonnener gesetz-
licher Maßnahmen, welche das Prüfungs- und Versetzungsverfahren regelten
und besserten. Ein anderes Hauptziel war von den Forderungen nationaler Er-
ziehung bedingt, und als Ziel des Unterrichts in deutscher Sprache, Literatur und
Geschichte wurde normiert, Jünglinge heranzubilden, die mit einer klaren Einsicht
deutsches Fühlen und Wollen verbanden, Waren hiermit die aktuellen Interessen
der Nation befriedigt, so wurden auf anderen Gebieten auch die aktuellen Inter-
essen unserer Jugend an den Errungenschaften der Naturwissenschaften nach Mög-
lichkeit berücksichtigt. Vor allem aber galt es die Körperpflege zu heben: durch
Knabenhandarbeit, Turnen, Turnspiele, Wanderfahrten, Sport verschiedener Art wird
vieles getan, um die Jugend von ungesunden Bahnen abzulenken und ihre Lebens-
freudigkeit zu erhöhen. Gewiß bleibt noch vieles zu tun übrig, aber sicher haben
alle diese Neuerungen dazu beigetragen, das Schulleben gegen früher wesentlich
frischer, froher, freier zu gestalten. Und endlich die Behandlung — ist sie nicht
tatsächlich gegen früher milder und besonnener? Ein Goethe fand noch für seine
Lebenserinnerungen kein trefflicheres Motto als einen Grundsatz griechischer Pä-
dagogik: „6 fi-Yj Sapsk avÖptuTTO? ou iraiSsusxai". Das war aber zugleich die
Grundanschauung einer ganzen Generation von Deutschen, Goethes Epigonen
dachten nicht anders, bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts hinein.
Jedoch das lebende Geschlecht ist von dieser Anschauung weit abgekommen:
Heftigkeit, Bitterkeit, Derbheit, Schimpfen und Schlagen, das alles hat aus der
Schule mehr und mehr weichen und hat gelinderen Mitteln der Zucht und feineren
Formen des Umgangs Platz machen müssen.
Ob diese verschiedenen Faktoren unseres Schullebens nicht etwas dazu beige-
tragen haben, daß die uns hier beschäftigende Erscheinung die Gestalt angenommen
hat, die oben in den verschiedenen statistischen Nachweisungen uns entgegentrat?
Ich vermag es nicht zu entscheiden. Aber das ist uns allen klar: wollen wir die
Mächte bekämpfen, die das Unheil anrichten, so müssen wir sie kennen lernen. Hier-
bei handelt es sich keineswegs um die unmittelbaren Veranlassungen zu den
Selbstmorden. Eulenburg (Zeitschr. f, päd. Psych S. 8—10) hat daraufhin 1117
Fälle untersucht, die sich in den Jahren 1883—1903 an allen preußischen Schulen,
höheren wie niederen beiderlei Geschlechts, ereigneten, und faßt sein Urteil folgender-
maßen zusammen: „Jedenfalls also weit mehr als der dritte Teil aller Schüler-
selbstmorde (nämlich 423 von 1117) wurden aus Furcht vor Bestrafung wegen
Schulvergehen oder wegen geringen Schulerfolgs begangen." So zutreffend und
wertvoll auch diese Berechnung ist, so ist doch diese Formulierung des Urteils zu
knapp und scheint mir einer Ergänzung zu bedürfen : Die Stelle, von welcher bei
diesen 423 Fällen eine Bestrafung drohte, war, was Eulenburg nur andeutet, nicht
immer die Schule, sondern ebenso oft oder öfter noch das Elternhaus, Sodann
lag die Ursache der Katastrophe auch in anderen Affekten als in der Furcht, näm-
über die Schülerselbstmorde. 137
lieh häufig genug in der Enttäuschung und der Erljitterung über den nicht er-
reichten Erfolg, wie auch anderseits in der Wut über eine erlittene Strafe. Diese
letztere hatte wiederum in zahlreichen Fällen mit der Schule nicht den ge-
ringsten Zusammenhang. EndHch sei schon hier vorweggenommen, daß die
besonders bedauernswerten Schüler, die wegen ausgebliebenen Erfolges sich das
Leben nahmen, meist unter den mannigfachsten Umständen, die außerhalb der
Schule liegen, zu leiden hatten.
Dieses Moment des Strafens und Zurückbleibens spielt in der Tagespresse
wie auch in öffentlichen Verhandlungen eine große Rolle. Noch viel mehr aber
ein zweites: wenn Schüler mündlich oder auf einem Zettel oder im Abschiedsbrief
die schriftliche Erklärung hinterließen, sie seien durch Kränkungen, höhnische Be-
handlung, Hänseleien seitens eines Lehrers in den Tod getrieben worden. Dann
erheben sich allerorten die bittersten Klagen über die , Prügelpädagogik" und die
„Erziehungstorheiten " der Obedehrer, Professoren und Direktoren.*) Daß indessen
Bestrafung und Zurückbleiben immer vorgekommen sind und auch immer wieder
vorkommen werden, und daß Hänseleien, höhnische oder ironische Worte, Krän-
kungen mannigfacher Art unter früheren Schulgenerationen sicher weit häufiger
waren, als in unseren Zeiten, das bestreitet niemand. Es ist gewiß auch nicht
von der Hand zu weisen, was in einer Zeitung jemand als die Meinung aller
nüchtern denkenden Männer hinstellte, daß die rauhere Behandlung der Schüler
in vergangenen Zeiten eine gesundere war.
In dem Maße, wie es sich der Überzeugung aller Beteiligten immer deutlicher
aufdrängte, daß alle jene „unmittelbaren Veranlassungen" als hinreichende Er-
klärung dieser unheimlichen Erscheinung nicht betrachtet werden können, und wie
das scheinbare Anwachsen derselben Schrecken und Bestürzung in den weitesten
Kreisen hervorrief, in demselben Maße hat man immer eingehendere und sorg-
fältigere Untersuchungen angestellt, um die tiefer liegenden, oder wie man
auch gesagt, die prädisponierenden Ursachen klarzulegen. Und es ist in
der Tat auch gelungen, bei weitaus dem größten Bruchteil aller Fälle der letzten
Zeit nachzuweisen, welche Mächte an den jugendlichen Seelen ihre
schändliche Arbeit getrieben, die Katastrophe vorbereitet und lang-
sam herbeigeführt haben.
Die nachfolgende Darstellung und Gruppierung behandelt eingehend die
104 (106) Selbstmorde und Selbstmordversuche, die von Schülern höherer Lehr-
anstalten in Preußen in den Jahren 1903 bis Ende 1908 begangen wurden. Die
Vorkommnisse der vorangegangenen Periode von 1883 an habe ich, ebenfalls aus
den Akten, nur vergleichsweise herangezogen; sie würden an dem Gesamtbilde
nichts ändern, nur die Zahlen würden entsprechend größere sein.
*) Auch hierüber hat sich eine kleine Literatur gebildet, bestehend aus .Gymnasiasten-
Tragödien*, .Schülertagebüchern" und Elegien auf Schülerselbstmorde u. dgl. Von den
Werken der modernen Erzählungsliteratur, welche die Qualen und den Verzweiflungskampf
junger Menschenherzen schildern sollen, werden in Zeitungen hervorgehoben .Die Budden-
brocks' von Th. Mann; .Freund Hein" von E. Strauß und .Unterm Rad" von H. Hesse.
Dieses letztere war tatsächlich die bevorzugte Lektüre eines jugendlichen Selbstmörders
(Oberprimaners) vor zwei Jahren.
138 O. Gerhardt,
A. Als erste Gruppe möchte ich Ihnen diejenigen Fälle vorführen, wo die
Knaben und Jünglinge entweder das Opfer des sittlichen Verfalls der Familie wurden
oder in einer Atmosphäre heranwuchsen, die den Wert des Lebens in ständigen
Genuß setzt und sittliche Urteilskraft, Gewissensernst und Gottesfurcht als nichtige
Dinge ansieht. Da war ein Untertertianer (14 Va Jahr alt), dessen Vater, ein noto-
rischer Trinker, mit der Frau in Ehescheidung lag; der Sohn hatte zu befürchten,
er müsse gegen den eigenen Vater als Zeuge auftreten; um dem zu entgehen und der
Mutter die um sich greifenden Nahrungssorgen zu nehmen, entleibte er sich. Ganz
ähnlich lag der Fall bei einem Sekundaner, der obendrein geistig nicht normal war und
sich zeitweise über manche Handlung keine Rechenschaft zu geben vermochte. Ein
Obertertianer (uneheliches Kind) war in geradezu verlotterten Familienverhältnissen
aufgewachsen; was er in der Nachbarschaft sieht, ist das zuchtlose Treiben gewisser
Quartiere in den Seestädten; er hat viel Verkehr mit Mädchen, geht nachts wieder-
holt aus dem Hause. Als er nicht versetzt wurde, brachte er sich, nachdem er
eine Verfluchung seines Religionslehrers zu Papier geworfen, einen tödlichen
Schuß bei; noch lebend nach Hause transportiert, empfängt ihn die Mutter mit
den Worten: „Es ist wohl am besten so," dann stirbt er. —
Was für Anschauungen über den Wert einer sittlichen Lebensführung gewinnt
der Sohn, dem der eigene Vater bei den sich häufenden Klagen des Direktors
über Unfleiß und Unordnung sagt: „Junge, an deiner Stelle schösse ich mir eine
Kugel durch den Kopf." Kann es verwundern, daß dieser Sohn (Sekundaner)
seinen Klassengenossen erzählte, er werde es schon so machen, wenn er das
„Einjährige" nicht erhielte? Und er hielt Wort. — Oder wenn in einem andern
Hause der Selbstmord fast zur Familientradition gehört: Mehrere Verwandte von
Vater und Mutter sind auf diese Weise aus der Welt geschieden, der Selbstmord
ist ein nicht seltenes Gespräch und findet die mildeste Beurteilung bei allen Familien-
mitgliedern. Der einzige Sohn hat als Obersekundaner längst seinen Plan gefaßt
und auch in der Klasse kundgegeben. Als die Versetzung nach Prima aussichtslos
war, schlägt er in der letzten Schulwoche einen wüsten Lebenswandel ein und er-
schießt sich am Tage des Schulschlusses, dem Geburtstage der Mutter (1903).
Was mögen das für Verhältnisse gewesen sein, wenn die Eltern die Nach-
richt vom Schreckensende des Sohnes mit Worten aufnahmen: „Gott sei Dank,
daß er fort ist; es ist gut, daß er geendet hat, ohne vorher zum Verbrecher zu
werden." — Oder wenn beide Eltern die Nachricht, ihr einziger Sohn (Untersekun-
daner) habe sich in der Schule zn erschießen versucht, ohne die geringste Spur
von Schrecken hinnehmen, nicht einmal nach dem Ergehen des Kindes fragen,
sondern beklagen, daß ihr Sohn solche Dummheiten mache und doch mit dem
Tesching nicht umgehen könne! — Füge ich hier noch Fälle an wie die, wo ein
Sohn, der vor der Ehe geboren, aber vom Vater nicht adoptiert war, sondern den
Namen der Mutter führen und die härteste Behandlung, ja Mißachtung vom Vater
erdulden mußte, — oder wo der Sohn als Obertertianer bzw. Untersekundaner vom
Vater bald über alle geschlechtlichen Vorkommnisse des Großstadtlebens aufgeklärt,
bald andererseits von ebendemselben wiederholt am Tage auf offener Straße mit
dem Stocke geprügelt wurde, so dürften diese Angaben, so kurz sie sind, doch
deutlich erkennen lassen, was in der Seele dieser jungen Menschen sich entwickelte.
über die Schülerselbstmorde. 139
Von fünf anderen Beispielen sei nur angeführt, daß die Schüler als Opfer einer
fast unsinnigen Vergnügungssucht bzw. Alkohol- und Nikotingenusses endeten.
Von den 104 Schülern, die in den letzten acht Jahren sich selbst umgebracht oder
umzubringen versucht haben, fällt bei dem sechsten Teil (nämlich 18 von 104)
die Schuld der Stätte zur Last, die auf die Charakterbildung den stärksten Ein-
fluß auszuüben berufen ist. Die Jugend braucht lebendige Vorbilder; wenn sich
der Seele des heranwachsenden Knaben ein reines Vorbild da zeigt, wo Ehrfurcht
und Liebe die Bildung des Willens leiten, das heißt im Elternhause, dann ist der
innere Mensch gefestigt und geschützt gegen die Verführung und die Unbill des
Lebens. Wenn aber diese Stätte so ganz versagt, wie kann die Schule dagegen
ankämpfen? In weitaus dem größten Bruchteil der hier genannten Fälle wußte
kein Lehrer das geringste von den verderblichen Lebensverhältnissen seines Zög-
lings — erst nach dem Schreckensende entrollte sich Zug um Zug das trübe Bild.
B. Eine schwere Schuld hatte auch das Elternhaus auf sich geladen, wenn
es den Sohn jahrelang jene Schundliteratur verschlingen ließ, die sich, Gott sei's
geklagt, immer noch allerorten breit macht. Diese elenden Hefte schaden bekannt-
lich schon, wenn sie gar nicht gelesen werden; denn der Inhalt der Deckel -Illu-
strationen läßt sich in der Hauptsache in drei Worten zusammenfassen: Wollust,
Mord und Selbstmord. Ob nicht ein solches Bild einem Tertianer vorgeschwebt
hat, der vor nicht langer Zeit Hand an sich legte, nachdem er sich selbst gezeichnet
hatte, wie er den Revolver an seine Schläfe hielt? Geradezu entsetzliches Unheil
aber haben diese Schriften im folgenden Falle angerichtet: Ein Untertertianer hatte
sie massenhaft verschlungen, alle darin geschilderten Schauderszenen, besonders
wenn Blut floß, hatte er sich durch Bleistiftstriche angemerkt und vermutlich mehr-
fach gelesen; nach einem solchen Heft hatte er zuerst eine Brandstiftung ange-
zettelt, die indessen rechtzeitig vereitelt wurde; nach einem anderen inszenierte er
eine Schießaffäre, mit der er gleichfalls kein Glück hatte. Endlich verfiel er auf
Selbstmordgedanken, er sprach sie unumwunden zu Hause aus gegen die Geschwister,
dann gegen die Mutter, und in der Klasse prahlte er förmlich damit — er wollte
durchaus, wie die amerikanischen Helden seiner Bücher, etwas bedeuten. Dieb-
stähle hatte er daheim schon mehrfach begangen; schließlich entwendete er eines
Abends wieder Geld, und da er morgens merkte, daß es bald entdeckt sei, erschoß
er sich während des Vormittagsunterrichts in seiner Klasse; er war 13 Jahre alt.
Ist es angesichts solchen Elends nicht höchste Zeit, daß mit diesen Preß-
produkten radikal aufgeräumt wird? Unter dem Einfluß solcher Schriften handelte
wahrscheinlich ein Sekundaner, der sich in der Schule tadellos hielt, aber daheim
ein Verhältnis mit der Stütze seiner Mutter hatte; eines Tags veranlaßte er das
Mädchen durch ein gefälschtes Telegramm, nach der Heimat zu fahren; in der
Nachbarstadt trafen sie zusammen, verbrachten die Nacht gemeinschaftlich im
Hotel, und am Morgen fand man sie beide erschossen auf dem Sofa.
Aber erheblich zahlreicher sind die Beispiele, wo eine Lektüre ganz anderer
Art Herz und Gemüt vergiftet und die Selbstmordpläne langsam aber folgerecht zur
Reife gebracht hat: Schopenhauer, Nietzsche, Dühring; Darwin; Tolstoi, Ibsen, Zola;
von diesen kehren drei immer wieder: Ibsen, Schopenhauer und Nietzsche; die anderen
seltener, einmal auch Häckel. Es ist auf Grund der Aussagen von Eltern, Geschwistern
140 O. Gerhardt,
und Kameraden, Ärzten, Geistlichen, Pensionshaltern, Lehrern und Direktoren, in
einem Fall auch von einem Rabbiner und in zwei Fällen von Rechtsanwälten erwie-
sene Tatsache, daß diese Autoren gar vielen Sekundanern und Primanern, auch drei
Tertianern, den Kopf gründlich verdreht haben. Durch anhaltendes, hier und da auch
gemeinschaftlich betriebenes Lesen solcher Schriften haben sie sich mit den be-
kannten Schlagwörtern des Atheismus und Pessimismus von der Wertlosigkeit des
menschhchen Dasein angefüllt;*) nicht selten haben sie sich ihres aufgeklärten
Standpunktes gerühmt, und die erste beste Gelegenheit fand sie bereit, mit einem
gesuchten 6clat aus der Welt zu scheiden. Meine sehr geehrten Herren, bei dem
achten Teil aller Selbstmörder unserer höheren Schulen in den lezten
acht Jahren ist diese unglückselige Entwicklung nach den aktenmäßigen Dar-
legungen klargestellt. In Wirklichkeit wird dieser Bruchteil noch größer sein, denn
bei mehreren anderen Schülern, die weder in der Schule noch zu Haus sich irgend-
wie vergangen hatten, fanden Angehörige wie Lehrer keine andere Erklärung für
das Unglück als schlechte Lektüre oder das böse Beispiel.
Es entspricht der Bedeutung unserer heutigen Versammlung, daß Sie von
solchen Verwirrungen einige näher kennen lernen. Da ist ein Untersekundaner,
der bis zu dieser Stufe alle Klassen glatt durchgemacht und nie zu Klagen Anlaß
gegeben hat; nun verfällt er auf Tolstoi, Darwin, „die religiösen Strömungen der
Gegenwart"; die Volksbibliothek liefert ihm diese und andere Schriften, die er
nachts verschlingt, ohne daß die Pensionshalter es ihm wehren. In einigen
Monaten ist er so weit, daß er zu seinen Mitschülern sagt „mir ist bange vor der
Zukunft;" endlich bringt er sich, ohne daß etwas Besonderes dazu kam, den
tödlichen Schuß bei, am Abend vor dem Tage, wo ihn die Eltern besuchen
wollten. — Ein Gymnasiast hat sich fleißig und tadellos gehalten bis zur Oberprima,
seine Aussichten für die bevorstehende Reifeprüfung sind recht gut. Aber innerlich
hat er Schiffbruch gelitten, seinen Freunden hat er es gestanden, daß er sich
„zur atheistischen und nihilistischen Anschauung durchgerungen" habe. An dem
Tage, wo das Mädchen, mit dem der 20 Va Jahre alte Jüngling ein Liebesverhältnis
hat, ein Kind gebiert, macht er schnell seinem Leben ein Ende. -- In der Hinterlassen-
schaft eines Primaners fanden sich lange Aphorismen über den Selbstmord, die
er aus den Schriften Schopenhauers, Nietzsches und Dührings sich ausgezogen
und zu Papier gebracht hatte. Ein anderer Primaner hatte sich entsprechende
Glossen amRand derSchriften der nämlichen Autoren gemacht. Im letzten Falle hatten
Lehrer wie Direktor alles versucht, um den jungen Mann von der weiteren Lektüre
abzubringen, aber umsonst. Zwischen ihm und dem Vater herrschte ein gespanntes
Verhältnis: er sollte Jura studieren und wollte nicht. Als nun der Vater versetzt
wurde und dem Sohne Vorwürfe machte, daß er nicht fleißiger gewesen und
*) Was für Anschauungen die Lektüre von Nietzsche und Ibsen hervorgerufen, sei aus
dem Abschiedsbrief eines Unterprimaners an seinen Vater veranschaulicht: „Dummen, kindi-
schen Ideen über mich selbst habe ich, wie du wohl meintest, mich leider nie hingegeben,
sondern ich habe nur allzuklar mich selbst und mein Wesen beurteilt. Das Resultat meines
jahrelangen Selbstprüfens war ein verzweifeltes. Ich bin ein Mensch ohne jede Kraft aktiver
oder auch passiver Art, ein Mensch, der nicht in die Welt paßt .... Sucht schnell zu ver-
gessen und betrachtet mein Leben als eine unangenehme Episode des Eurigen."
über die Schülerseibstmorde. 141
schon das Abiturium hinter sich hätte, da versucht^ der junge Mann sich zu
töten, es gelang aber nicht, und in dauernd unglücklichem Zustand blieb er
am Leben.
Daß auch die Zeitungslektüre oft Unsegen nach sich zieht, haben Eltern,
Ordinarien und Religionslehrer öfters konstatiert, 1908 allein zweimal. Von den
letzteren berichtete einer, daß ihn bei der Erklärung der Bergpredigt die älteren
Schüler seiner Klasse (Jünglinge von 16 und 17 Jahren) aus eigenem Antriebe
um Aufklärung über den Selbstmord ersuchten; sie gestanden, daß sie ihn in
gewissen Lagen des Lebens (bei unheilbaren Krankheiten, Verlust der Existenz-
mittel oder schwerer Kränkung der Ehre) für selbstverständlich hielten,
und bekannten, daß sie solche Anschauungen in den Zeitungen oft zu lesen be-
kämen. Und wer kann das letztere leugnen? Wird da nicht oft ein solcher Vor-
fall mit allen Details geschildert, nach der Lage der Verhältnisse als berechtigt
hingestellt, und wenn es ein großer Mann war, der heroische Entschluß oben-
drein noch gepriesen! Was nun gar die Schülerselbstmorde betrifft, so hat sich
ein nicht unbedeutender Teil der Presse dazu hinreißen lassen, die angeblichen
Opfer einer „unsinnigen Pädagogik" in Schutz zu nehmen, „die schicksal-
bestimmende Disziplinargewalt" der Schulen als drückendes Joch zu schildern und
zu zeigen, daß, wenn „ein junger Mensch in völliger Schutzlosigkeit zum Revolver
greift, die größte Hälfte der Schuld immer der Schule zufällt.* Auf Grund des
Aktenmaterials muß ich aber ausdrücklich hervorheben, daß den Zeitungen zumeist
einseitige oder übertriebene Meldungen, einige Male sogar von den Angehörigen
des Verunglückten direkte Unwahrheiten zugegangen waren. Es würde der Be-
deutung und dem Ansehen der Presse nicht minder wie dem Wohle der Schule
und der Jugend entsprechen, wenn hier große Zurückhaltung beobachtet wird.
Daß solche Mißgriffe tatsächlich Unheil angestiftet, d. h. andere Schüler — in einem
Falle sogar einen Quartaner — zu dieser Schändlichkeit verleitet haben, ist früher
schon konstatiert worden, zum letzten Male im vergangenen Sommer. Hier war
eine ganze Gruppe von Schülern durch die Zeitungsschüderungen eines bestimmten
Falles verführt worden, sich Selbstmordpläne für den Tag des Schulschlusses zurecht-
zulegen ; als einer von ihnen aber schon vor dieser Zeit den Plan auszuführen ver-
suchte, kam zum Glück alles an den Tag, und es wurden alle bewahrt. — In einer
Provinzialstadt erschoß sich ein Obersekundaner, der eine wüste Vergangenheit hinter
sich hatte: Diebstahl im Elternhause wie in der Pension, Kneipereien, Schulden, die
niemand mehr decken mochte, sexuelle Geschichten; im Abschiedsbrief schob er die
Schuld seines Unglücks auf die Schikanierungen des Direktors. Und nun begann gegen
letzteren eine schlimme Hetze in den Zeitungen. Die Untersuchung ergab u. a., daß
ganze Gruppen der oberen Klassen schlechte Lektüre betrieben und sich gerühmt
hatten, „über das Christentum sind wir erhaben." Einer dieser Verführten, der trotz
ärztlichen Verbots täglich 36 Zigaretten geraucht hatte, bis ihm das Nikotingift
aus dem Magen gepumpt werden mußte (gleich darauf trank er 5 Glas Bier!)
betrieb eine förmliche Aufstachelung zum Selbstmord. Zu einem Nachbar sagte
er: „Wenn sich jetzt noch einer hier das Leben nimmt, so kann das dem Direktor
den Hals kosten; tu du's doch, dann sind wir frei." Hier herrschte eine derartige
Gefühllosigkeit, daß, obwohl alle Mitschüler seine Selbstmordpläne kannten, auch
142 O. Gerhardt,
nicht ein einziger einem Lehrer ein Wörtchen sagte, wodurch das Unglück ver-
hütet werden konnte. Erst nach dem Unglück kam alles an den Tag.
Eine Aufstachelung zur Selbstentleibung hatte sich auch anderwärts einmal
ereignet, allerdings unter anderen Verhältnissen, aber mit gleichem Ausgang
wie hier.
C. Ist dies, wie ich ausdrücklich hervorheben möchte, auch nur zweimal
im ganzen Zeitraum konstatiert worden, so ist doch anderseits die ansteckende
Wirkung des Selbstmords innerhalb der Schülerwelt leider sehr viel öfter vorge-
kommen. Außer den genannten sind hier diejenigen Fälle zu nennen, wo die jungen
Leute dem Beispiel ihrer Vettern, Onkel oder Großväter gefolgt sind, ferner die
vielen Gymnasiasten, welche die Waffe oder das todbringende Gift stets bei sich
trugen. An einer Anstalt wurde einst ein Primaner bei einem Täuschungsversuch
abgefaßt; als er deswegen, trotz seines Alters, vom Vater eine körperlicheZüchtigung
erhielt, schied er freiwillig aus dem Leben. Knapp vier Monate später hatte
einer seiner Mitschüler etwas Ähnliches zu erfahren, nur war dieser letztere an der-
selben Anstalt einer der besten Schüler, den Leistungen wie dem Betragen nach.
Aber als er in einem Konflikt mit dem Vater von letzterem eine Ohrfeige erhielt,
schlug er denselben Weg wie kurz vorher der Kamerad. — In einer kleinen
Gymnasialstadt folgte ein Sekundaner, der sich der Fälschung, Täuschung und
Lüge schuldig gemacht, und vom Vater eine maßlose Züchtigung erhalten hatte,
seinem Freunde, der in der Rangordnung und der Weihnachtszensur eine Un-
gerechtigkeit empfand, im Tode — zwischen beiden Unfällen lagen nur drei Monate.
An einer dritten Anstalt folgte auf einen Selbstmord ein zweiter schon nach fünf
Tagen; wieder in einer vierten kleineren Stadt nach einem Monat. Im letzten Falle
handelte es sich um zwei Tertianer, die überaltert waren und nicht nach der Sekunda
versetzt werden konnten. Bei dem ersten lagen verschiedene Dinge vor: ver-
eiteltes Liebesverhältnis; Furcht vor Schwindsucht, an der die Mutter gestorben
war; ungünstiges Verhältnis zur Stiefmutter, Irreligiosität (er rühmte sich, nicht
einmal die zehn Gebote zu kennen) und endlich Eitelkeit, „was würden die Leute
sagen," hatte er am Tage vor seiner Tat zu einem Freunde geäußert, „wenn sich
an unserer Anstalt jemand erschösse?" Mit dem zweiten stand es anders: als er
von der Nichtversetzung schon vor Schulschluß Kenntnis erhalten hatte, und ihm
die Unterbringung an einer Anstalt in einer anderen Stadt bevorstand, wollte er
dem Beispiel seines Kameraden nachahmen, hatte jedoch zum Glück nicht denselben
Erfolg. — Ein vierter Fall darf wegen seiner Eigenart nicht übergangen werden:
Da war ein trefflicher Schüler der Unterprima, bei allen sehr beliebt. Als im
Herbst 1906 ein Freund durch selbstgewählten Tod umgekommen war, konnte
der fleißige und gewissenhafte junge Mann den Gedanken nicht los werden, daß
ihm die nämliche Tat gleichsam auferlegt sei. Das wird ihm ein ständiges
Gesprächsthema im Umgang mit Freunden und Verwandten, ja er versuchte sogar
eine kleine dramatische Bearbeitung des Lebensendes seines Freundes. Am Tage
des Schulschlusses nahm er mit den Kameraden noch das heihge Abendmahl, und
auf der Heimreise entleibte er sich im Eisenbahnzuge. —
D. Wenn ich nun am Schluß dieser Schilderungen angelangt bin, so weiß ich,
daß ich Ihnen in einem größeren Bruchteil aller Fälle die Genesis der Katastrophe
über die Scliülerselbstmorde. 14S
noch nicht skizziert habe. Zum Teil ist dies auch ^nmöghch, nämUch da, wo
von allen betroffenen Kreisen zur Erklärung des Unglücks nichts herbeigebracht
werden konnte: in zehn Fällen standen Schule wie Familie vor einem Rätsel, dessen
Lösung trotz eifrigen Bemühens auch in der Folgezeit niemand gelang. Diese
zehn Fälle bilden beinahe den zehnten Teil aller von mir hier eingehend be-
schriebenen. — Bei dem dann noch vorhandenen Rest konnte allerdings weder
ein schlimmer Geist in der Familie, noch verführerische, seelenverderbende Lektüre,
noch die unheilstiftende Beeinflussung eines anderen Selbstmords nachgewiesen
werden. Dafür aber bieten die näheren Umstände, unter denen hier der selbst-
gewählte gewaltsame Tod erfolgte, meistens eine hinreichende Erklärung. Die Ge-
mütserregungen : Verzweiflung, Lebensüberdruß, Furcht, Angst, Trotz, Erbitterung,
Mut, besonders bei krankhaft überspanntem Ehrgefühl hatten bei diesen Zöglingen
dieselbe traurige Folge, wie auch sonst in der menschlichen Gesellschaft, außerhalb
der Schule. Wenn z. B. ein Untersekundaner beim unvorsichtigen Umgang mit
dem Revolver einen Freund erschießt und unmittelbar darauf sich selbst (1906);
oder wenn ein Obersekundaner seinen Vater durch Schlaganfall, Mutter und
Schwestern durch Schwindsucht, dann noch die heißgeliebte Großmutter verlor
und in Nietzsches Zarathustra den einzigen Trost suchte; oder wenn andere
sich geschlechtlich vergangen, und sie bei der nahe bevorstehenden Entdeckung
ihrer Schande schwere körperliche Züchtigung zu befürchten hatten, so bieten sich
hierzu analoge Fälle unter allen Ständen und Altersstufen zu allen Zeiten. —
Die psychologische Erklärung des Unglücks ist auch bei den Gymnasiasten
nicht schwer, die in der Schule ihre Pflicht in jeder Hinsicht erfüllt hatten, aber
von den Eltern gezwungen wurden, einen Beruf zu ergreifen, gegen den sie eine
innere Abneigung empfanden; ferner bei denen, die wegen ungenügender Fort-
schritte an einer Anstalt nach einem fremden Orte auf eine andere Anstalt gebracht
werden sollten; und nicht minder bei solchen, denen angedroht war „komm mir
nicht mit einer schlechten Zensur nach Haus!" In dieser Hinsicht ist wiederholt
von den Eltern gefehlt worden.
Die seelischen Vorgänge bei Knaben oder Jünglingen, die erst eine Züchtigung
erhalten und dann in ihrer Stube eingeschlossen wurden, erklären sich völlig aus
den Abschiedsworten, die meist ein Zettel neben der Leiche enthielt: „Ich kann
so nicht weiter leben".
Verschlungener war das Spiel der Affekte, wenn der Gymnasiast ein Liebes-
verhältnis hatte. Da haben wir Beispiele, wo der Jüngling mit Wissen beider
Eltern solche Beziehungen unterhielt; andere, wo nur die Familie des Mädchens
einverstanden war; wieder andere, wo die beiderseitigen Eltern mit den eigenen
Kindern in bösen Zwist gerieten; endlich solche, wo dem Schüler von seiner Ge-
liebten eine schnöde Absage zuteil ward. In allen diesen Vorkommnissen kreuzten
sich die Pflichten der Schule mit den Neigungen des Zöglings, nicht selten außer-
dem noch mit der Ehrfurcht und der Liebe gegen die Eltern. War dann das Ver-
hältnis so weit gediehen, daß der Gymnasiast eine Nichtversetzung, eine Rüge,
oder die Einschränkung der Freiheit als die schwerste Kränkung der Ehre
in den Augen seiner Angebeteten empfand, dann war die Katastrophe da! Die
Demütigung, daß sie von ihm etwas Derartiges zu erfahren bekam, wirkte schmerz-
144 O. Gerhardt,
lieber, als alle Auftritte in der Familie. Die Zahl dieser Fälle beläuft sich auf
10 unter 106! Daß hier nicht selten noch verschiedene Dinge dazu kamen: Schul-
den, infolge der Ausgaben für Blumen und Toilettengegenstände, Täuschungen
bzw. Lügen, hitziges Temperament u. dgl. mag nicht unerwähnt bleiben.
E. Wie war an allen diesen traurigen Ereignissen die Schule be-
teiligt?
Schon oben konnte ich Ihnen die für uns gewiß nicht gleichgültige Tatsache
hervorheben, daß bei einem großen Teil aller Selbstmordfälle die Schule nicht nur
frei von jeder Sctiuld, sondern überhaupt gar nicht beteiligt war. Da lagen un-
glückliche häusliche Verhältnisse vor, denen oft genug gute, sogar hervorragende
Schüler zum Opfer fielen. Hier beklagen wir indessen sehr, daß weder der Direktor,
noch der Ordinarius, noch der Religionslehrer in das Vertrauen gezogen waren — ,
es hätte sich sicher manches Unglück vermeiden lassen. Aber daran haben wir
alle, meine hochgeehrten Herren Direktoren und Kollegen, daß größte Interesse,
festzustellen, durch welche Maßnahmen oder Vorkommnisse bei den übrigen Fällen
die Schule beteiligt war. Von den unglücklichen Schülern handelten zwei aus
Angst vor der Reifeprüfung, die Hälfte aller anderen bei dem nichterreichten
Klassenziel aus Erbitterung, oder Wut, oder Verzweiflung (besonders wenn die
Zensur für ungerecht gehalten wurde, oder wenn nun der gewünschte Lebens-
beruf nicht eingeschlagen werden konnte, oder aber wenn eine Versetzung schon
vorher als sicher bezeichnet war), nicht wenige aber aus Furcht vor der Züchtigung
zu Haus. Etwas kleiner ist die Anzahl derjenigen, die schon im Laufe des Viertel-
jahrs an den mangelhaften Klassenarbeiten erkannten, daß sie beim Semesterschluß
nicht zum Ziele kommen würden. Bei dem letzten Bruchteil lagen Strafen vor:
wegen Lüge, Täuschung, Fälschung, Unterschlagung, andauernden Unfleißes, Vergeß-
lichkeit, Unordnung oder mehrfachen Unfugs. In allen diesen Fällen aber wirkten,
wie nochmals hervorzuheben ist, außerdem verschiedene andere Faktoren zusammen,
die ich oben (bei A., B., C, D.) geschildert habe. Sind nun allerdings die hier
aufgeführten Vorgänge im Schulleben unvermeidlich und teilweise auch notwendig,
so wollen wir uns doch nicht verhehlen, daß trotzdem viele Selbstentleibungen
verhütet werden konnten, und zwar von verschiedener Seite auf verschiedenem
Wege.
F. In welcher Weise kann Abhilfe geschaffen werden?
1. Daß unsere Kinder etwas davon erfahren, daß eine Handlung, die so un-
mittelbar gegen die eigene Natur gerichtet ist wie der Selbstmord, von Menschen
überhaupt verübt wird, läßt sich — leider! — nicht vermeiden. Aber so viel halte
ich für sicher, daß es nicht gleichgültig ist, in welchem Tenor ihnen solch unheim-
liches Vorkommnis geschildert wird; der erste Eindruck, den es in der Seele des
heranwachsenden Menschen zurückläßt, ist oft entscheidend für die Zukunft. Den
Wert des Lebens und die Bedeutung einer sittlichen Lebensführung erlernt das
Kind nicht mit dem Verstände, sondern Herz und Gemüt sind ganz davon durch-
drungen. Die Reinheit der Phantasie — ein Faktor, der in der Erziehung nicht
hoch genug eingeschätzt werden kann — , die Lebensfreudigkeit und der Ge-
wissensernst haben einen sehr bedenklichen Schaden erlitten, wenn es heißt:
N. N. konnte nicht anders als seiner unerträglichen Not freiwillig ein Ende machen.
über die Schülerselbstmorde. 145
er hat sich und seinen Angehörigen nur eine Last abgenommen. Oder: M. M. hat
seinen Entschluß, freiwillig diese Welt zu verlassen, mit bewundernswertem Mute
ausgeführt und ist wie ein Held gestorben. Je nach der Stelle, von wo solche
Anschauungen ausgehen, und nach der Häufigkeit, mit der sie auftreten, wird die
sittliche Urteilskraft früher oder später in dieser Richtung vernichtet. Dies zu
verhindern sind in vielen Fällen die Vertreter der Presse berufen; denn an keiner
Stelle liest der Gymnasiast öfter vom Selbstmord, als in der Zeitung. Daß indessen
auch im häuslichen Kreise und im Umgang mit Verwandten, Freunden und Be-
kannten die nämliche Verkehrheit begangen wird, wie so oft in der Zeitung, ist
nicht zu leugnen. —
2. Wie das Elternhaus zur Verhütung dieser beklagenswerten Ereignisse
viel, sehr viel beitragen kann, das dürfte aus den obigen Darlegungen hervor-
gegangen sein. Aber in Anbetracht des Ernstes und der Wichtigkeit unseres
Gegenstandes scheint es nicht unangebracht zu sein, alle Momente noch einmal
zusammenzufassen. Bei weitaus dem größten Teil aller Fälle drängt sich einem
die Überzeugung auf: das Unglück konnte und mußte verhütet werden!
Sorgfältigste Überwachung der Lektüre und des Umgangs, Verbot des Tragens
von Waffen oder Gift, Behütung in geschlechtlichen Dingen, freundliche Berück-
sichtigung der Wünsche in der Berufswahl, Vermeidung des übermäßigen Alkohol-
genusses und studentischen Treibens, sorgsamste Beachtung des Verkehrs mit den
Freundinnen oder den Tanzstundendamen werden den Eltern wie den Kindern
und der Schule vielen Schmerz, Gram und Schande ersparen. Die peinlichste
Fürsorge erfordern die Schüler, die einer erblichen Belastung unterworfen sind,
auch diese können unbedingt vor diesem Übel bewahrt bleiben.
Ferner hat sich gezeigt, daß namentlich überalterte oder schwach-
beanlagte Schüler den Verirrungen unterlagen. In einem Jahre war z. B. der
dritte Teil aller Fälle von Schülern begangen worden, die ihrer Klassenstufe längst
entwachsen waren. Wenn dieses Mißverhältnis Platz gegriffen hat, oder die Ver-
anlagung nicht ausreicht, um den Anforderungen einer höheren Lehranstalt gerecht
zu werden, dann sollen die Eltern unbedenklich ihre Söhne zu einem praktischen
Berufe greifen lassen, oder in anderer Weise ihnen Zeit und Gelegenheit geben,
nur ein einfaches Ziel, etwa das Zeugnis zum einjährigen Militärdienst zu er-
werben.
Sehr zu warnen ist endlich vor den Drohungen: „bring' mir keine schlechte
Zensur nach Haus"; dagegen würde ein gütiges Zureden, ein Vertrösten auf das
nächste Halbjahr, ein rechtzeitiges Erwägen „wenn du sitzen bleibst, so schadet
das nichts" oft sehr heilsam gewesen sein und den Eltern die bitterste Reue er-
spart haben.
3. Was hier vom Hause gesagt ist, gilt fast ausnahmslos von der Schule.
Pathologische Anlagen, wie sie hier zutage getreten, entziehen sich leider fast ganz
der Kenntnis der Lehrer; nur selten sind ein stierer Blick oder ein, ohne beson-
deren Anlaß jäh auftretendes Erröten aufgefallen, aber die Bedeutung dieser Er-
scheinungen klärte sich erst nach dem Unfall auf. Dagegen ist die Kenntnis von
der Lebensführung und der Lektüre der Zöglinge dringend erwünscht, nicht minder
die besondere Beachtung der Überalterten und der Schwachbegabten. Zwar soll
Monatschrift f. höh. Schulen. VIH. Jhrg. 10
146 O- Gerhardt,
nicht verschwiegen werden, daß tatsächlich oft alle diese Dinge von den Direktoren
und Ordinarien beachtet worden sind, daß sie es weder an Mahnung, noch an
freundlichem Zureden, noch an rechtzeitiger Verständigung mit dem Elternhause
haben fehlen lassen, und daß trotz alledem am Tage des Schulschlusses, oder
wenn sonst das Resultat der Versetzung bekannt wurde, die Schüler den Schritt
der Verzweiflung taten. Aber anderseits ist auch erkannt worden, daß manche
Drohung, wenn sie auch den Umständen genau entsprach, eine Anstachelung
des Ehrgefühls durch Ironie oder andre scharfe Worte, eine schnell vorge-
nommeneZüchtigung oder endlich eine allzu scharfe Fassung der Zensur,
wenn sie auch auf die Verstärkung des Fleißes abzielte, unterbleiben konnte und
auch sicher unterblieben wäre, wenn eine Ahnung davon vorhanden war, daß der
Schüler unter unheilvollen Beeinflussungen stand. Von den Zensuren abgesehen,
sind jenes erzieherische Maßnahmen, die jeder Vater seinem Sohne gegenüber an-
wendet. Hatte dieser aber unter dem Einfluß schlechten Umgangs oder solcher
Lektüre oder eines bösen Beispiels den natürlichen Greuel gegen die Selbstent-
leibung abgelegt, dann ereignete sich leider oft genug die Schreckenskatastrophe.
Ebensowenig wie die Eltern die volle Tragweite ihrer Maßnahmen, die
oft ganz gewöhnliche und der Lage nach selbstverständliche waren, übersehen
konnten, ebensowenig auch die Lehrer.-)
Mit Wehmut muß ich aber eine andre, bisher noch nirgends berücksichtigte
Tatsache hervorheben. Aus den Akten ergibt sich, daß bei einem Drittel
aller besprochenen Fälle (genauer: 34 von 106) die Mitschüler vorher gewußt hatten,
daß ihr Kamerad sich seit der und der Zeit mit Selbstmordplänen trug und sie an
dem und dem Termin ausführen würde. Bedenkt man, daß in manchem andern
Falle die Überlebenden sich gescheut haben mögen, ihre Mitwisserschaft einzuge-
stehen, so hat man das erstaunliche Ergebnis, daß in einem sehr hohen Bruch-
teil der Gesamtzahl die Mitschüler es in der Hand hatten, das Unglück
*) Daß eine Rettung tatsächlich, und oft ganz leicht, möglich ist, sei durch zwei Bei-
spiele erläutert: Der Direktor M. in D. erhielt von einer Mutter die Nachricht: mein
Sohn will sich erschießen. Dieser wurde sofort gerufen. „Mein lieber G." redete der
Direktor ihn an, „ich habe soeben von ihrer Frau Mutter erfahren, daß Sie sich erschießen
wollen; haben Sie schon eine Pistole?" — Er stammelte: „Nein". — „Das sind gefähr-
liche Dinge; ich war Soldat, weiß mit Schußwaffen Bescheid. Wenn Sie eine Pistole
haben, will ich Ihnen zeigen, wie man damit umgeht'. Der junge Mann war durch diese,
in aller Ruhe gesprochenen Worte, ernüchtert; es erfolgte eine offene Aussprache, und heut,
nachdem 10 Jahre darüber verflossen, dankt er seinem ehemaligen Direktor noch oft für
diese Errettung. — An einer Realanstalt in B. war ein überalterter Obertertianer; 4 Wociien
vor dem Semesterschluß merkte er, daß an die Versetzung nicht zu denken sei. Da brachte
er eines Tages einen Revolver mit in die Klasse, am nächsten wieder — es war die Zeit
der mündlichen Prüfungen; am letzten Tage brachte er außerdem noch eine Flasche Lysol
mit. In der Schule wagte keiner dem Direktor oder dem Ordinarius etwas zu sagen, aber
daheim verriet es einer doch einem Oberlehrer, der es umgehend dem Direktor M . . n
meldete. Dieser ließ die Mutter und den Hausarzt holen, alle drei setzten freundlich dem
Jüngling auseinander, daß er überarbeitet sei und nach etwa 6—8 Wochen der Ruhe wieder
frisch in der Schule mitarbeiten könne. Jetzt, wo diese Zeilen erscheinen, sieht er ruhig
seiner Versetzung nach Sekunda entgegen. — Alles hängt davon ab, daß rechtzeitig solch ein
unglücklicher Plan entdeckt wird.
über die Schülerselbstmorde. 147
zu verhüten. Die Gründe, die sie abhielten, den Lehrern rechtzeitig zu sagen,
was sie wußten, sind uns von vornherein ja klar: zumeist hielten die Kameraden
die Worte über Selbstmordpläne für leere Redensarten oder auch für Prahlerei —
doch öfters war es allein der Mangel an Vertrauen. Gilt es hier, die Gewissen
aufzurütteln und zu schärfen, so darf doch auch nichts unterbleiben, um
das volle Vertrauen der Schüler zu erlangen. Erinnern wir uns nun, was
ich oben über die tatsächliche Ansteckung des Selbstmords innerhalb der Schüler-
welt ausgeführt habe, so dürfte es einleuchten, daß an einer Anstalt, die von solcher
Katastrophe betroffen wurde, nichts unterlassen werden kann, um ein zweites Vor-
kommen zu verhüten. Den Vorgang, der sich allen unauslöschlich einprägte, der
lange ihr Gesprächsthema bildet, mit Stillschweigen zu übergehen, erscheint geradezu
bedenklich. Neben dem Direktor und dem Ordinarius ist hier in erster Linie
der Religionslehrer berufen zum Amte des Warners, Mahners und väterlichen
Freundes. Denen, die als Mitwisser des bösen Planes herausgefunden werden,
gelten zunächst die ernstesten Vorhaltungen. Wie leicht hätten sie dem Kame-
raden das Leben retten, der Anstalt und der Familie Schmerz und Gram ersparen
können ! Welchen Ruhm erntet von aller Welt ein Lebensretter! Welche innere
Befriedigung für die ganze Lebenszeit bereitet solche Tatl
Alle Schüler fühlen es heraus, daß solch Schreckensende nicht mit einem
Male auftritt, sondern daß es die Folge gewisser Verführungen und Verirrungen,
und in letzter Linie die Nachahmung eines andern Selbstmords ist. Die Auf-
klärung, die sie nun über schlechte Lektüre, bösen Umgang, leichtsinnige Lebens-
führung, Mangel an sittlichem Urteil, Vertrauen, Gewissensernst empfangen, werden,^
unterstützt von dem beklagenswerten Unglück, ihnen allen die Augen Öffnen,
Aber es ist wohl angebracht, dieses ernste Thema noch weiter zu behandeln:
daß ein Selbstmord Feigheit ist, und nicht etwa Mut; daß vielmehr der
mit ungünstigen Verhältnissen Kämpfende zehn mal mehr Mut besitzt, als der, der
zum Revolver greift;
daß ein Selbstmord wirklich ein Mord ist, wie schon die Sprache anzeigt;
daß die heilige Schrift recht hat, wenn sie sagt „was hast du, das du nicht
empfangen hättest";
daß Familie, Gemeinde, Vaterland an dem Leben des einzelnen ein
heiliges Anrecht haben,
das alles ist an sich klar, aber das jugendliche, verführte Gemüt neigt leider
zu leicht dazu, sich andern Einflüssen hinzugeben.
Die Schüler werden es wohl erfassen, daß das Wort der Martha und Maria
„Herr, wärest du hier gewesen, unser Bruder wäre nicht gestorben" hier auch
Geltung hat; daß der Selbstmord den höchsten Grad von Gottentfremdung be-
zeichnet, daß ein Ermordeter zwar den Schritt in die andere Welt wohl vorbereitet
tun kann, nie aber der Selbstmörder.
Diese Gedankengänge können natürlich noch ausgedehnt und belebt werden,
besonders durch den Hinweis auf die Helden der Geschichte und Dichtung und
die Männer, die in Feuers- und Wassersnot, im Krieg und bei Epidemien ihr
Leben einsetzten, um das anderer zu retten. Aber wenn auch alle Darlegungen
gut gelingen, so soll doch nicht vergessen werden, daß eine schwache Stunde
10*
148 O- Gerhardt,
nicht eine Stunde der Erkenntnislosigkeit, sondern der Kraftlosigkeit ist. Es
ist gewiß viel, daß das sittliche Urteil des Schülers geklärt und in gesunde
Bahnen gelenkt wird. Aber wenn die bösen Leidenschaften das Herz bestürmen,
dann müssen edlere und stärkere Kräfte entgegenwirken. Deshalb ist der Höhe-
punkt dieser Arbeit die Schärfung des Gewissens, die Stärkung des Selbst-
vertrauens, das durch Gottesfurcht und das Gefühl der zukünftigen Rechenschaft
geläutert und gehoben ist und im Umgang mit Gott seinen einzigen Halt hat.
Zum Schluß bleibt mir noch die Frage zu beantworten übrig: sollen wir
Religionslehrer fortan, auch ohne unmittelbaren Anlaß, die Selbst-
mordfrage behandeln und in welcher Weise? Für die Unterstufe
sprechen meines Erachtens mehr Gründe dagegen als dafür. Es ist ja wahr, daß
wir auf die Behandlung der Lüge, des Diebstahls, der Verleumdung, des Mein-
eids, des Mords eingehen; es ist auch unstreitig, daß Katechismus wie biblische
Geschichte reichlich Gelegenheit geben, über den Selbstmord zu sprechen. Bei
dem ersten Gebot (Gottvertrauen, Gottesfurcht in jeder Lage des Lebens); beim
fünften Gebot (Selbstmord ist auch Mord); beim ersten Artikel (Ursprung, Erhaltung,
Beschützung unsers Lebens, Dank und Gehorsam gegen Gott); beim dritten Artikel
(berufen zu einem himmlischen Reich, zu einer lebendigen Hoffnung, die uns
Christus in herrlichster Weise verbürgt hat, die uns, wenn mit Blutschuld bedeckt,
verloren geht); bei allen sieben Bitten des Vaterunsers, ebenso beim vierten und fünften
Hauptstück. — Aber trotz alledem kann ich gewisse Bedenken, wenigsten für die
Sexta, Quinta und Quarta nicht unterdrücken. Es gibt Dinge, deren bloße Nennung
im Kinde das Gefühl des Unbehagens, der Scham oder des Entsetzens hervorruft,
so daß die ganze Gemütsstimmung für längere Zeit unter solchem Eindruck ge-
fangen ist. Dieser Zustand der Psyche hat einen großen erzieherischen Wert,
der wohl auch hier für unser Problem ausgenutzt werden kann. Wenn wir neben
der Belehrung und Ermahnung, wozu Katechismus und biblische Geschichte
direkten Anlaß geben, die Zöglinge darauf hinweisen, daß bei gewissen Dingen
ihnen eine innere Stimme ein deutliches „Hüte dichf zuruft, d. h. „Du hast
etwas Häßliches oder Schändliches gesehen oder gehört, trage dergleichen nicht
im Herzen herum! — ", dann ist viel erreicht. Eine sorgsame, mit väterlichem
Ernst und Liebe betriebene Pflege dieser Anlage wird zur Folge haben, daß die
Kinder dieser inneren Stimme als der eines zuverlässigen Ratgebers auch in
späteren Jahren gerne folgen.
Was die mittleren und oberen Klassen betrifft, so vertrat ich früher den
Standpunkt, daß auch da die Behandlung unseres Problems besser unterbliebe.
Jetzt bin ich davon abgekommen und halte es angesichts der geschilderten Tat-
sachen für dringend geboten, die furchtbare Sünde des Selbstmords namhaft zu
machen, den Feind, der sie verschuldet, rückhaltslos bloßzulegen, und vorsichtig,
liebevoll, aber energisch Abwehr zu treiben. Der Kampf hat seine großen
Schwierigkeiten: der Einfluß der häuslichen Umgebung und der Freunde ist so
groß, die Lust an dem, was die Schule als verbotene Frucht hinstellt, so stark
und verführerisch, daß die Schüler ihre Neigungen nicht leicht bloßstellen werden.
Der Sekundaner nnd Primaner, dem materialistische und pessimistische Ideen zu
imponieren anfangen, steht unter dem Eindruck, den eine neue Wahrheit immer
über die Schülerselbstmorde. 149
hervorruft: impulsiv gibt er sich ihr hin, nachzuprüfen, ob es wirklich Wahrheit
sei, fehlt ihm die Anleitung -— und an unzähligen anderen sieht er ja, daß sie
auch so denken! Nun wissen wir, wie bereitwillig die Jugend auf die Opposition
eingeht, besonders gegen das Buch, über welches anscheinend alle Welt so ganz
anders denkt als der Religionslehrer. Die Jugend wird auch zu leicht mit fort-
gerissen von dem Witz und der Keckheit, mit der diese Opposition betrieben
und das neue Evangelium gepredigt wird. Und dann, diese klangvollen Namen
der Männer der Wissenschaft und Dichtkunst, die in aller Munde leben und Ruhm
ohne Aufhören ernten!
Sagen wir dem jungen Mann: diese oder jene Lebensführung, diese oder
jene Lektüre ist eine Gefahr, eine wirkliche, ernste Gefahr — der Geist, der ihm
in der Zeitung, in Romanen, Theaterstücken, wissenschaftlichen Werken entgegen-
tritt, ist der Geist der Verneinung und nicht der der Wahrheit, so wird das
wenig helfen.
Wir werden ihn aber eher interessieren oder gar ganz fassen, wenn wir ihn
vor die Alternative stellen: wie werden die drei großen Fragen, um die jedes
Menschenleben sich dreht: woher? wohin? wie komme ich zum Ziel? von der
naturalistischen Weltanschauung, und wie vom Christentum beantwortet? Die
Konsequenzen, ruhig, sachlich, klar und vollständig gezogen, werden es ihm
fühlbar machen: „Tua res agitur!"
Bewegen wir uns sodann im Anfang auf einer negativen Basis, so ist es
nach der heutigen Lage der Apologetik nicht schwer, dem Atheismus und
Pessimismus seinen ganzen Nimbus zu nehmen. Die Gegnerschaft brauchen wir
gar nicht aus dem Lager der Theologen zu entnehmen, sondern können den
Schülern unbedenklich eine Reihe namhafter Philosophen, Zoologen, Botaniker,
Physiker und Chemiker nennen, die weder mit Darwin und Häckel, noch mit
Schopenhauer, Nietzsche, Dühring, Ibsen, Tolstoi gehen, sondern den Lehren
dieser letzteren den Boden entzogen haben.
Mag es nun auf diesem Wege oder auf einem anderen geschehen, der erste
Erfolg ist meines Erachtens dann sicher errungen, wenn der Schüler merkt,
daß es mit seinen Anschauungen doch nicht stimmt, daß er in seinem Religions-
lehrer jemanden hat, der an seinem inwendigen Menschen ein persönliches Inter-
esse hegt und imstande ist, ihm aus einem gewissen Wirrsal herauszuhelfen.
Von solcher Basis aus wird dann die positive Arbeit leichter vonstatten
gehen, zumal wenn es gelingt, das Elternhaus zu interessieren und heranzuziehen.
Je nach dem Anknüpfungspunkte im Unterricht und dem Stande der Klasse wird
der Verlauf ein verschiedener sein, hier kann er nur in kurzen Zügen geschildert
werden. Aber auf bestimmte Punkte wird man immer wieder kommen müssen.
Wie der Katechismus, der Spruch- und Liederschatz gleichsam der eiserne
Fonds der jungen wie der erwachsenen Christen sind, so könnten wir unseren
Schüler zu einem eisernen Fonds verhelfen, der die Begriffe Leben, Seele, Ge-
wissen, Wille; Ehre, Moral, Glaube und Rechenschaft im Sinne des Christentums
umfaßt. Da lernt er, daß alle geistigen Werte sub specie aeternitatis zu beurteilen
und einzuschätzen sind. Er wird davon durchdrungen, daß zwischen Gut und
Böse, Rein und Unrein, Recht und Sünde feste Unterschiede bestehen, die im
150 c. Höik,
Lichte des Wortes Gottes klar werden, deren Nichtbeachtung uns ungiüclciich
macht; daß wir ferner in allen Lagen des Lebens nicht nur die Abhängigkeit von
Gott verspüren, sondern auch im Verkehr mit ihm bleiben sollen und können;
daß Jesus Christus durch sein Leben, Lehren, Leiden, Sterben und Auferstehen
uns zu einer lebendigen Hoffnung berufen hat, und wir vor aller Welt die herr-
lichsten Dinge voraushaben.
Meine sehr geehrten Herren, ich bin am Schluß. Es ist mein Bestreben ge-
wesen, zu zeigen, daß uns die Umstände zwingen, in unsere Arbeit eine der
traurigsten Erscheinungen unseres modernen Lebens aufzunehmen. Den Naturalismus
und Pessimismus auszurotten vermögen wir nicht; die pädagogischen Sünden des
Elternhauses können wir nicht oder nur teilweise wieder gutmachen. Aber der
kostbarste Schatz, den das Volk besitzt, ist uns zur Behütung, Pflege und Bildung
anvertraut, die edelste Arbeit wird von uns Religionslehrern erwartet; drum
lassen wir nichts unversucht, um unsere liebe Jugend vor der bösesten Verirrung
zu bewahren.
Berlin. O. Gerhardt.
Zu Harnacks Vorschlägen über die Behandlung des Geschichts-
unterrichts auf der Oberstufe der Gymnasien.
Unter den vier Reden, welche von Klein, Wendland, Brandl und Harnack auf
der Baseler Philologen-Versammlung gehalten sind zu dem Zwecke, Mittel und
Ziele zu kennzeichnen, wie der Unterricht auf der Oberstufe der Gymnasien zu
gestalten sei, um die besonders von Paulsen betonte und beklagte Kluft zwischen
dem Lehrbetrieb der Gymnasien und dem der Universitäten zu überbrücken,
zeichnet sich die Harnacksche durch Kürze und feste Formulierung der aus-
gesprochenen Wünsche aus.
Seine Forderungen für den Geschichtsunterricht gehen über das, was jetzt
geleistet wird und im ganzen von ihm anerkannt wird, in fünf Punkten hinaus.
1. in der Zahlenfrage meint Harnack: „Bei dem Vortrag der einzelnen
Geschichtsperioden in den verschiedenen Klassen muß natüriich eine
größere Anzahl von Jahreszahlen vorübergehend und ä fond perdu
memoriert werden; aber bei den Repetitionen, und zumal bei der ab-
schließenden in der obersten Klasse genügt es, festzustellen, daß der
Schüler weiß, ob etwas am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines
Jahrhunderts geschehen ist. Bestimmte Einzelzahlen sind — abgesehen
von der Geschichte der letzten 150 Jahre — nur in bezug auf die alier-
wichtigsten Ereignisse zu verlangen."
2. Die Geschichte des Altertums muß ausgedehnt werden bis über die
Kaiserzeit, die als wichtigste Periode der Weltgeschichte genau und
ausführiich zu behandeln ist.
3. Der Geschichtsunterricht muß dafür sorgen, daß die abgehenden Schüler
unser gegenwärtiges Verfassungsleben und unsere öffentlichen Rechts-
zustände kennen.
Zu Hamacks Vorschlägen über die Behandlung usw. Ij51
f
4. Die Schüler müssen einen Einblick in die Art gewinnen, wie Geschichts-
forschung betrieben wird.
5. Der Gesamtunterricht in der Geschichte soll sich in den Oberklassen nach
Kräften davon frei machen, im politischen Tatsachenmaterial und im
einzelnen stecken zu bleiben; er soll sich bemühen, zu einer Geschichte
des Geistes zu werden.
Ob man Harnack in seiner Ansicht über die Behandlung der Zahlenfrage
beistimmen will, ist eine Sache, die mit der Stellungnahme zu den andern vier
Desiderien nicht unbedingt zusammenhängt. Das ist meines Erachtens eine Frage
der schulmeisterlichen Praxis; es handelt sich darum, wie der Lehrer den Kindern
am besten und leichtesten beibringt, die ungeheure Fülle von Tatsachen und Namen
und Verhältnissen so zu behalten, daß sie nicht leicht sich untereinander verwirren
und dadurch zu bedenklichen Schlüssen Anlaß geben.
Daß es für allgemeine historische Bildung durchaus genügt, wenn man die
vielgestaltigen Dinge, die das Gedächtnis aufbewahrt, an den drei von Harnack
bezeichneten Merkpunkten aufzureihen weiß, nämlich ob Anfang, Mitte oder letztes
Drittel des Jahrhunderts, wird keiner bestreiten. Es fragt sich nur, ob die Gewöhnung
an diese Art von Gruppierung für die Schüler nicht sehr viel schwerer ist als Harnack
meint; daß Erwachsene so am leichtesten behalten oder auf ähnliche Art, etwa
indem man sich daran gewöhnt, eine längere Geschichtsperiode, wie z. B. ein
Jahrhundert, sich in Gestalt einer Kurve graphisch vorzustellen, an der man das
zeitliche Nacheinander aufreiht, das habe auch ich an mir selbst und andern oft
beobachtet, auch gefunden, daß für Repetitionen etwa in der Prima eine solche Art
der Ordnung sich empfiehlt. Aber für den jüngeren Schüler halte ich das nicht
für das am leichtesten zu erreichende und am sichersten wirkende Mittel, Verwirrung
von Tatsachen und Begriffen zu verhindern. Bis zu ziemlich hohem Alter hinauf
ist es den Schülern sehr schwer, gerade die Jahrhunderte festzuhalten; die Zehner
und Einer innerhalb der Jahrhunderte haften nach meiner Beobachtung viel besser,
als die Jahrhundertbezeichnungen. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß es
den Jungen unmöglich ist, irgendeine Längen- und überhaupt eine Raumvorstellung
mit diesen Zahlen zu verbinden, was bei Zehnern und Einern leichter gelingt.
Ich halte es deshalb für praktisch, durch die lange Reihe der Jahrhunderte hindurch
eine sich aneinanderschließende Zahlenreihe zu allererst lernen zu lassen. Ob man
dabei etwa, z. B. beim Mittelalter, sich mit größeren Gruppen, wie Kaiserfamilien,
begnügen will und dann die in die Gruppen einzufügenden Namen ohne besondere
Zahl nur in fester Aufeinanderfolge lernen läßt, oder ob man die deutschen Kaiser
so gut wie nachher — in Preußen — die preußischen Könige (einschließlich den
Großen Kurfürsten) mit ihren Regierungszahlen festhalten läßt, ist eine Frage, die
der einzelne nach der Art seines Unterrichts am besten bestimmt. Auf jeden Fall
meine ich, daß es sich empfiehlt, die lange Spanne eines Jahrhunderts auf diese
Weise in kleinere Abschnitte, die unter sich alle verschieden sind, zu zerlegen;
wird das in den Tertien tüchtig geübt, wo die Jungen an so etwas große Freude
haben, so pflegt es nachher, auch ohne daß das Pauken fortgesetzt wird, ziemlich lange
festzusitzen. Die Harnacksche Einteilung jedes Jahrhunderts in \. und 2. und 3.
Drittel hat die große Gefahr, daß die Jungen wohl innerhalb der Drittel die
152 C. Hölk.
hineingehörenden Namen usw. merken, aber sie dann aus den verschiedenen
Jahrhunderten konfundieren; merkt man dagegen das Jahrhundert in Form einer
Zahlenreihe, die bei jedem Jahrhundert anders aussieht, so verhütet das nach meiner
Beobachtung besser Verwechselung und Irrtum. Im übrigen stimme ich dem voll-
ständig bei, daß die Masse der Einzelzahlen sehr beschränkt werden kann, auch daß
erst die letzten 150 Jahre, also die Zeit von Friedrich II. an, eine reichere Summe
von Zahlen für das Gedächtnis bieten sollen. Daß aber in den übrigen von Harnack
aufgestellten Wünschen gerade das aufs glücklichste formuliert wird, was nötig ist,
um den Geschichtsunterricht von dem Niveau des Paukens auf die Höhe wissen-
schaftlicher Behandlung zu erheben, und auch wieder gerade diejenigen Punkte
bewundernswert klar hervorgehoben werden, die nach den besonderen Zwecken
der Schule, wo Wissenschaft nicht um ihrer selbst willen getrieben wird, sondern
zu bestimmten erzieherischen und bildenden Zwecken, das wird wohl jeder zugeben,
dessen Gedanken diese Bahn gegangen sind. Aber ob es nicht etwa nur ein Ziel
darstelle, wohl aufs innigste zu wünschen, dagegen im Rahmen des Schulunterrichts
leider nicht zu verwirklichen, darüber werden die Meinungen sicherlich weit aus-
einander gehen.
Innerhalb der jetzt bestehenden Organisation der Schulen, bei derjenigen Lehr-
stoffverteilung, welche die geltenden Lehrpläne jetzt vorschreiben, ist es nicht mög-
lich, den vier von Harnack ausgesprochenen Wünschen zu entsprechen; das ist auch
Harnack selbstverständlich nicht entgangen, wie das die kurze Vorbemerkung
zeigt, die er dem Druck seiner Rede vorausgeschickt hat, und das hat jeder Lehrer
erfahren, wenn er den Versuch machte, dem geschichtlichen Unterricht einen
wissenschaftlichen Charakter in dem von Harnack bezeichneten Sinne zu verleihen.
Zu gründlicher Behandlung der römischen Kaiserzeit, etwa bis Justinian hin, ist
absolut keine Zeit, wenn nur ein Jahr dem Unterricht in der alten Geschichte zur
Verfügung steht. Die Lehrpläne schreiben ja freilich die Behandlung der Kaiser-
geschichte vor für den Anfang des Primaunterrichts, aber bei dem riesigen Jahres-
pensum, das der Prima gestellt ist — erstes Jahr bis 1648, zweites Jahr bis zur
Gegenwart, wo noch dazu das zweite Jahr durch den meist frühen Termin des
Abituriums um fast ein Vierteljahr gekürzt wird — kommt man unfehlbar in ein
unüberwindliches Gedränge, wenn man auf die Kaiserzeit die für eine solide
Behandlung nötige Zeit verwendet.
Auch für die politische und staatsrechtliche Unterweisung ist außerordentlich
schwer Zeit zu erübrigen. Unser Geschichtsunterricht vollzieht sich ja in zwei sich
wiederholenden Kreisen: einer von Quarta bis Untersekunda einschließlich, ein
zweiter von Obersekunda bis Oberprima. Wo soll man da die Unterweisung in
dem, was man Bürgerkunde nennt, unterbringen? Quarta bis Olli lassen absolut
keine Zeit, auch bietet sich da keine aus dem Unterricht selbst organisch sich
ergebende Gelegenheit. Beides ist freilich wohl vorhanden in Uli; diese Klasse
hat eigentlich nur das 19. Jahrhundert zu behandeln, wird deshalb wohl an den
meisten Schulen zu Unterweisungen in dem von Harnack gewünschten Sinn benutzt.
Ist sie aber dafür eigentlich der geeignete Platz? Ich meine nicht. Dem aus
eigenem Interesse entspringenden Bedürfnis entspricht bei Untersekundanern höch-
stens eine im allerallgemeinsten orientierende Unterweisung über die politische
Zu Harnacks Vorschlägen über die Behandlung usw. 153
«
Gestalt unseres eigenen Staatswesens; eine wirkliche Einführung in Pflichten und
Rechte der Staatsbürger liegt den Jungen bei ihrem Alter wirklich noch sehr fern.
Das wird Hunderten von Lehrern gerade jetzt wieder sehr deutlich zum Bewußtsein
gekommen sein, wo sie am 19. November auf das Wesen der Stein-Hardenbergschen
Reform hinzuweisen hatten. Wer den Versuch machte, diese Unterweisung in dem
Geist zu geben, der der höheren Schule angemessen ist, wo man doch womöglich
alles durch das Verständnis der Schüler selbst sich gestalten lassen will, der hat,
wenn er es vorher noch nicht wußte, sicherlich hier erfahren, daß die Jungen bis
zur Uli und darüber hinaus für solche Betrachtungen noch nicht reif sind. Nein,
die gegebene Art wäre die Behandlung derselben Periode in Oberprima; aber
woher da zu solchen Betrachtungen, die sich doch nicht im Stil des Kollegvortrags
geben dürfen, sondern die im Hin und Her des Unterrichtens erwachsen müssen,
die Zeit nehmen? Dasselbe Pensum, für das auf der Mittelstufe zwei Jahre zur
Verfügung standen, ist hier auf dreiviertel Jahre angewiesen, und dabei ist der
Unterricht durchTden weltgeschichtlichen Charakter, den er in Prima doch haben
muß im Gegensatz zum mehr landesgeschichtlichen der Mittelstufe, noch mit
eigenen schwierigen Aufgaben genug belastet. Also innerhalb der jetzt geltenden
Organisation ist die Verwirklichung des Harnackschen Ideals nicht möglich an der
Stelle, wo sie naturgemäß eintreten müßte, um wirklichen Nutzen zu stiften. Und
auch der dritte Wunsch Harnacks, bei geeigneten Gelegenheiten in die Methode
der Geschichtsforschung einzuführen, ist bei der überreichen Besetzung der Zeit,
welche dem Geschichtsunterricht zur Verfügung steht, nicht möglich, wenigstens
nicht innerhalb des Geschichtsunterrichts. Freilich wird sachlich dem Harnackschen
Wunsch sicherlich an den meisten Gymnasien an einer andern Stelle entsprochen.
Die alten Autoren, welche unsere Schüler auf der Schule beschäftigen, sind ja zum
großen Teil Historiker und alle historischen Quellen, insoweit sie uns die Kenntnis
des Altertums vermitteln. Daraus ergibt sich von selbst, daß die Schüler eine
ganze Fülle der Grundbegriffe, die für die historische Forschung notwendig sind,
kennen lernen. Nicht nur, was eine Urkunde ist, privater oder öffentlicher Art,
Inschriften, Briefe usw., sondern auch jede Form von künstlerischer Darstellung
historischer Vorgänge: naive und tendenziöse Memoiren, pragmatische Darstellungen,
Biographien, Parteischriften, Anklagen und Verteidigungen, kurz alle nur denkbaren
Formen historischer Darstellung werden ihnen in langsamer, zur Berücksichtigung
aller mit ihnen verbundenen Probleme eingehender Lektüre bekannt, mit philoso-
phischer Betrachtung von Politik und Geschichte werden sie vertraut. Daraus
ergibt sich fast unvermeidlich die Notwendigkeit, methodologische Probleme zu
behandeln und auch an Einzelfällen historische Kritik zu üben. Ebenso werden
Fragen der Chronologie und Topographie und aller der andern Hilfswissenschaften
gelegentlich berührt; kurz, in diesem Punkte wird materiell sicheriich das Gymnasium
den Harnackschen Forderungen gerecht. Freilich, daß die hier gewonnene Fähig-
keit auch auf dem Gebiet der nicht antiken Geschichte betätigt werde, dazu wird
sich, obgleich historische Lesebücher nicht fehlen, kaum je irgendwo die Zeit
finden. Das hat ja an sich nicht so viel zu bedeuten, da es bei der Weckung von
Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten nicht auf die Quantität, sondern die
Intensität ankommt. Ein Übelstand ist dabei unverkennbar: da der philologische
154 C. Hölk,
Unterricht nicht in derselben Hand zu liegen braucht und oft auch nicht in der-
selben Hand liegen kann wie der historische, so ist nicht ausgeschlossen, daß
einerseits der philologische Unterricht gerade den historischen Problemen sein
Interesse nicht zuwendet und anderseits, daß Differenzen in Behandlung und
Beurteilung sich zeigen. Und dann kommt doch noch eins hinzu.
In der modernen Geschichte stehen im Vordergrunde doch oft Interessen,
welche wohl auch im Altertum wirksam gewesen sind, aber sich mehr im
Hintergrund gehalten haben, oder wenigstens für uns mehr den durch ahnende
Intuition als durch bewußte Kenntnis zu erfassenden Hintergrund des Geschehens
bilden. Was wissen wir von den großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen,
die auch im Altertum das Leben der Menschen bestimmt haben müssen, aber uns
nur in höchst beschränktem Maße faßbar sind? Läßt sich an alter Geschichte be-
greifen, welchen ungeheueren Einfluß religiöse und konfessionelle, rassenpolitische,
dynastische Fragen auf die Gestaltung der Dinge haben? Und läßt sich leugnen,
daß ein Verständnis für den Geist der modernen Geschichte ohne die Kenntnis
von den Grundproblemen aller dieser Fragen unmöglich ist? Daß auch die mo-
derne Geschichtsforschung diese Dinge außer der philologischen Erkundung des
Quellenmaterials in den Bereich ihrer Forschung ziehen muß? Wo soll man aber
dazu im Rahmen der heutigen Organisation die Zeit nehmen? Die passende Ge-
legenheit würde dazu sein der Unterricht in Oberprima; daß der aber sowieso
übermäßig belastet ist, habe ich schon vorhin gesagt.
Und ebenso geht es mit der letzten Forderung Harnacks, daß der Unterricht
in der Prima nicht in der Behandlung des politischen Tatsachenmaterials stecken
bleiben dürfe. Die Zahl der Lehrer, die den brennenden Wunsch haben, in der
Prima über die jetzt übliche Form des Unterrichts hinauszukommen zu einer all-
gemeineren Behandlung, ist viel größer als der Draußenstehende meint; aber wie
soll es der Lehrer anfangen, für solche Dinge, die doch auch nur im Hin und Her
des Unterrichts erwachsen dürfen und nicht in rein akademischem Vortrag geboten
werden können, Zeit zu gewinnen? Solange das Abiturientenexamen mit der
Nötigung eine reiche Fülle präsenten Stoffes aus der ganzen Weltgeschichte zu
beschaffen existiert, ist der Lehrer an allen Ecken und Winkeln gebunden.
In einem seiner letzten Aufsätze (demjenigen über den nationalen Charakter
der deutschen höheren Schule und die Tendenz der letzten Schulreform) spricht
Paulsen sehr klar und sehr richtig aus, was ja auch von anderer Seite schon oft
betont ist, daß das Grundübel unseres heutigen Schulbetriebes sei, daß er sich zu
sehr im Geist der Pensenlernschule bewege. Besonders deutlich tritt das im
Geschichtsunterricht der Prima hervor, dessen Aufgabe so belastet ist, daß er zu
innerer Freiheit nicht gedeihen kann.
Fasse ich das Gesamtergebnis dieser Erwägungen zusammen, so meine ich
erklären zu dürfen, daß man sich der Erkenntnis nicht verschließen kann, daß
innerhalb der jetzt geltenden Organisation die Verwirklichung der Harnackschen
Forderungen unerreichbar scheint, daß ihrer Durchführung vorausgehen muß eine
gründliche Änderung in der Art des Geschichtsunterrichts überhaupt. Im persön-
lichen Austausch der Gedanken ist mir deshalb öfter die Meinung entgegen-
getreten, daß man aus diesem Grunde von vornherein darauf verzichten müsse,
Zu Harnacks Vorschlägen über die Behandlung usw. 155
9
dem Unterricht den von Harnack gewünschten Charakter zu geben. Das ist
falsch. Denn die Mittel, welche die Schule in ihrer Organisation anwendet, sollen
sich richten nach dem Endziel, das dem Unterricht gestellt ist, nicht umgekehrt
durch ihr Schwergewicht das Endziel herabziehen. Aber wie soll man es an-
fangen? Auch Harnack verweist in der vorhin schon zitierten Vorbemerkung vor
der Buchausgabe seiner Rede auf das Mittel, das als Panazee empfohlen zu werden
pflegt: er betrachte als Voraussetzung für die Verwirklichung seiner Ideen die
freiere Bewegung des Unterrichts in der Prima und die Bezeichnung gewisser
Unterrichtsfächer als wahlfreier. Über diesen Begriff sind die Meinungen noch
recht wenig geklärt, und es ist auch wohl kaum Aussicht, daß sich eine allgemein
anerkannte Formel, was darunter zu verstehen sei, in Kürze herausbilden sollte.
Soll man deshalb mit dem Versuch, die Harnackschen Ideen zu verwirklichen, warten,
bis durch neue Lehrpläne allgemein gültig festgesetzt sei, was man unter Be-
wegungsfreiheit zu verstehen habe? Ich meine nicht. Auch auf der Basis der
Schulorganisation wie sie heute ist, läßt sich, ohne wahlfreie Fächer, nur durch
innere Freiheit in der Handhabung des Stoffes wohl die Verwirklichung der
Harnackschen Wünsche erreichen.
Es handelt sich darum, Raum zu schaffen: 1. für die ausführliche Behandlung
der Kaisergeschichte; 2. für wirkungsvolle Einführung in die Bürgerkunde; 3. für
den Einblick in die wissenschaftliche Werkstatt des Historikers und 4. für die Mög-
lichkeit, aus der Behandlung des politischen Tatsachenmaterials sich zu erheben
zur Behandlung der Geschichte als „Geschichte des Geistes".
Ich habe vorhin gesagt, daß die einzige Klasse, der ein verhältnismäßig
kleines Pensum zugemessen sei, die Untersekunda sei; in ihr sei deshalb auch
Zeit für die Behandlung der Bürgerkunde. Doch ähnlich wie U I ist nicht über-
lastet die Obertertia. Wenn man nun das Pensum der O III so ausdehnte, daß es
auch die Lehraufgabe der U II umfaßte, dann würde in der Obertertia ungefähr der
Stoff behandelt, den auf der Oberstufe bis jetzt die Ol zu lehren hat. Daß das
möglich ist, ohne die Schüler und die einzelnen Stunden zu sehr zu belasten, wird
kein Lehrer leugnen; bis vor kurzem ist es ja auch so gewesen und gegangen.
Dadurch würde die Möglichkeit eröffnet, die alte Geschichte wie früher auf die
beiden Sekundajahre auszudehnen. Das empfiehlt sich, immer unter dem Gesichts-
winkel, den die Harnackschen Vorschläge angeben, betrachtet, aus folgenden
Gründen.
1. Es wäre dann ein Jahr da für die Behandlung der griechischen Ge-
schichte, nicht bis zur Schlacht von Chäronea und bis zu Alexanders Tod, wo
jetzt die griechische Welt unterzugehen pflegt, sondern bis zum Eingehen der
griechischen Welt in das Weltreich Roms. Ich will nicht behaupten, daß das ebenso
wichtig sei, wie die Behandlung der Kaisergeschichte, aber wenn die ganze ge-
lehrte Tätigkeit der Gegenwart in der Hauptsache der Aufklärung gerade der Zeiten
des Hellenismus gewidmet ist und wenn für diese Zeiten der Kreis unserer Kennt-
nisse riesig erweitert und durch diesen Zuwachs an Erkenntnis unsere Beurteilung
der historischen Bedeutung des Griechentums von Grund aus verändert ist, so darf
sich die Schule der Behandlung dieser Zeit nicht entziehen.
2. Ein weiteres Jahr stände zur Verfügung für die römische Geschichte bis
156 C. Hölk,
Justinian. Da die römische Geschichte eigenthch für uns erst mit den punischen
Kriegen beginnt, so bleibt für die Behandlung der Zeit nach Cäsars Tod ein
volles Halbjahr, wirklich genug, um der Kaiserzeit gerecht zu werden.
Damit wäre für die Erfüllung der einen Harnackschen Forderung, die Kaiser-
geschichte genau zu behandeln, gesorgt. Aber dadurch allein empfiehlt sich diese
Änderung nicht. Harnack legt mit Recht besonderen Wert darauf, daß die Ge-
schichte nützlich wirken müsse für die Vorbereitung der jungen Leute auf ihre
Betätigung im Staat der Gegenwart. Was ist aber dazu nötig? Doch sicherlich
der Besitz klarer bewußtgewordener Begriffe von den Grundformen und Aufgaben
der politischen Welt. Engländer pflegen immer zu rühmen, daß bei ihnen die
politische Vorbereitung der Jugend durch das Elternhaus geschehe und durch die
politisch so stark beeinflußte Richtung der allgemeinen Interessen. Das ist bei
uns in Deutschland noch nicht der Fall. Die Zahl der Familien, wo der Vater
mit seinen Jungen die allgemeinsten politischen Begriffe erläutert, wird klein sein.
Da muß die Schule eingreifen, denn ihre Aufgabe ist es, der Beeinflussung, die
das Kind durch das Elternhaus erfährt, ergänzend zur Seite zu treten. Nun sind
aber die meisten grundlegenden politischen Begriffe, wie ja zum großen Teil
auch noch die für sie üblichen Namen verraten, auf griechischem Boden er-
wachsen, als Abstraktionen von den politischen Schicksalen griechischer Gemeinden
und Staaten und als Resultat griechischer politischer Spekulation. Es ist also
doch das natürliche, auf dem Boden, wo sie erwachsen sind, auch diese Grund-
formen, die das politische Dasein annehmen kann, kennen zu lernen. Natürlich
darf sich die Geschichte nicht in antiquarische Gelehrsamkeit, die sich selbst Zweck
ist, verlieren, sondern muß so orientiert sein, daß die Beziehungen zur Gegen-
wart ständig aus den typischen Erscheinungen des Altertums erläutert werden.
Es soll eben, was auch der Altersstufe der Untersekundaner durchaus angemessen
ist, die allgemeine Grundlage für politisches Denken gelegt werden. Das gilt
übrigens nicht nur für Begriffe wie Oligarchie, Demokratie usw. usw., sondern
auch für die Grundlagen der Verwaltung, wie sie Ägypten ausgebildet hat, für
Kolonisation usw. Ergänzend tritt dann die römische Geschichte hinzu, die ja
gerade für verfassungsgeschichtliche Betrachtungen soviel Gelegenheit bietet und
über das griechische politische Wesen hinaus dem modernen sich nähert.
Die Behandlung dieser grundlegenden politischen Begriffe gerade bei der
alten Geschichte ist viel praktischer als bei sonst einer Gelegenheit, weil die Er-
örterung stattfindet bei einer Geschichte, die der Sphäre des persönlichen Inter-
esses ganz entrückt und so weit entfernt ist, daß eine wirkliche Objektivität mög-
lich wird. Diese begrifflichen Operationen finden statt gleichsam am Phantom;
der persönlichen Sympathie und Antipathie sind sie gleichermaßen entzogen;
ohne bewußte Absichtlichkeit wird der Unterricht zu einer Art politischer Pro-
pädeutik. Dasselbe gilt auch von der Einführung in die historische Kritik. Hat
man je ein Jahr für griechische und römische Geschichte zur Verfügung, so be-
steht die Möglichkeit, etwa an der Hand von Büchern wie den Peterschen Ge-
schichtstabellen in die kritische Behandlung geschichtlicher Probleme einzuführen ;
die Geschichte bietet Gelegenheit, die hier und da als TrapspYov gegebene Be-
lehrung des philologischen Unterrichts zusammenzufassen. Und was vielleicht
Zu Harnacks Vorschlägen über die Behandlung usw. 157
das Wichtigste ist: die Harnacksche Forderung, die 'Geschichte als Geschichte des
Geistes zu behandeln, wo findet sich dafür bessere Gelegenheit, als bei den kleinen
übersichtlichen Verhältnissen der alten Geschichte? Sie hat sich in sich totgelaufen.
Die Entwicklungsmöglichkeiten die den Mittelmeervölkern geboten waren, sind bis
an ihr Ende gediehen. Unsere heutigen politischen Verhältnisse sind ja noch alle
im Fluß, und je nach der Parteistellung werden sie so oder so beurteilt; im Alter-
tum sieht man die Dinge wie in einem Präparat sorgfältig ausgebreitet vor sich.
Die Grundfragen, die das Leben der Menschen bestimmen, lassen sich dort am
klarsten fassen und begreifen.
Man sieht, eine auf zwei Jahre ausgedehnte Behandlung der alten Geschichte
gibt — auf dem Gymnasium, denn um das allein handelt es sich — die Möglich-
keit, den Harnackschen Wünschen nach jeder Richtung hin gerecht zu werden.
Sie ist deshalb als die notwendige Voraussetzung zur Verwirklichung der Harnack-
schen Ideale zu betrachten. Und dieser Verwirklichung stehen ernste Bedenken
nicht gegenüber. Denn daß es heute anders ist, kann man als ernsten Hinderungs-
grund nicht betrachten. Abgesehen davon, daß bis 1892 die Untersekunda noch
der alten Geschichte gehörte und abgesehen davon, daß die Obertertia wirklich
ohne Mühe das Pensum der U II, wenn die Bürgerkunde davon gestrichen wird,
bewältigen kann: so spricht für die Rückgewinnung der Untersekunda für die
alte Geschichte noch eine andere Erwägung, die ich kurz ausführen muß.
Die Untersekunda ist seinerzeit für das Pensum der Tertien verwendet worden
mit Rücksicht auf die beträchtliche Anzahl derjenigen Schüler, die das Gymnasium
nach Absolvierung der U II mit der Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienst
verlassen wollten. Hat aber diese Rücksicht, die damals geboten erschien, heute
noch ihre Berechtigung?
Wenn man sich auf den Boden der Harnackschen Bestrebungen stellt, dann
auf jeden Fall nicht.
Paulsens unbestreitbares und nicht hoch genug anzuerkennendes Verdienst
ist es, daß er die letzte Kraft des weichenden Lebens benutzte, um zu betonen,
daß der wahre Sinn der jüngsten Schulreform der sei, den höheren Schulen un-
seres Vaterlandes den Charakter wieder zu verleihen, den ihnen die Humboldtschen
Reformen gegeben hatten: vorzubereiten auf wissenschaftliche Arbeit und wissen-
schaftliches Denken. Die höheren Schulen — Paulsen nannte alle drei Gattungen
gern mit dem gemeinsamen Namen Gymnasien — sollten nicht Pensenschulen
sein, sondern Vorbereitungsschulen für wissenschaftliche Arbeit. Diesem selben
Zweck sollte jede der drei Schulformen, jede in der Art, die sie nach ihrer wissen-
schaftlichen Grundlage und Struktur vertrat, dienen; Nebenzwecke neben diesem
eigentlichen sollte es nicht geben. Und es ist doch eine alte Weisheit, daß
niemand zwei Herren dienen kann, daß Dinge nur auf einen Zweck vollwertig
angelegt sein können. Da ist es sicherlich falsch, wenn man in den einheitlichen
Organismus der höheren Schulen aus äußeren Gründen Nebenzwecke hineinbaut;
die haben dort kein Recht, weil sie Verderben wirken müssen. Ein solcher Ne-
benzweck war aber der Erwerb der Berechtigung zum Dienst als Einjährig-Frei-
williger. An sechsklassigen Schulen wird diese Berechtigung als Preis für das
bestandene Abgangsexamen gewährt; sicherlich mit Recht; es wäre unrecht, das
158 C. Hölk,
bestreiten zu wollen. Aber ebenso unrecht ist es doch, von denjenigen Schulen,
die einen anderen Plan mit weiteren Zielen folgen, zu verlangen, daß sie nun
ihre aus rationalen Absichten erwachsene Struktur verändern sollen aus Rücksicht
auf eine Einrichtung, die mit ihrem Wesen nichts zu tun hat. Natürlich müssen
auch diese Schulen die Rechte verleihen, welche die Schule mit kürzerem Studien-
gang verleiht; aber dann doch nur ohne daß sie in ihrer Struktur darum Schaden
nehmen. Das tun sie aber zweifellos, wenn sie die alte Geschichte z. B. nicht
auf die Untersekunda ausdehnen, denn das Wesen der humanistischen Gymnasien
ist doch, daß sie das Zentrum ihrer Bildung im klassischen Altertum finden
und das Schwergewicht ihres Unterrichts in das Studium der Alten verlegen. Die
Gymnasien mögen deshalb ruhig die Berechtigung zum einjährigen Dienst nach
sechsjährigem Lehrgang verleihen, aber die Struktur ihres Lehrganges sollen sie
sich durch diese Rücksicht nicht verderben lassen, denn einen natürlichen Einschnitt
bietet der Lehrgang des Gymnasiums nicht in Untersekunda, sondern höchstens erst
in Obersekunda. Man pflegt, um die Notwendigkeit zu erweisen, daß die Unter-
sekunda für die neueste Geschichte zu verwenden sei, gerne darauf hinzuweisen,
daß die mit dem Einjährigenschein abgehenden Schüler einen gewissen Abschluß
ihrer Bildung erreichen müßten, und nannte deshalb auch das jetzt ja wieder ver-
schwundene Einjährigenexamen mit dem schönklingenden Namen: Abschlußexamen.
Mir haben Beobachtungen, die ich seit Jahren mache, starke Zweifel daran erregt,
ob den Eltern, deren Interessen doch wohl die Einrichtung dieses äußeren Ab-
schlusses dienen sollte, überhaupt so viel an dem Abschluß liegt. Es wächst von
Jahr zu Jahr die Zahl derjenigen Schüler, die mit der Erlangung des Einjährigen-
zeugnisses nicht zufrieden sind, sondern durchaus das Zeugnis für die Prima er-
werben wollen, weil, wie die Eltern immer versichern, der Wert des Einjährigen-
zeugnisses in der allgemeinen Einschätzung gesunken sei. Daß dabei der Wert
des Bildungsabschlusses, den die Untersekunda gewährt, wieder ganz zerstört
werde, darüber habe ich ernste Bedenken nie gehört, kaum je Verständnis für
solche Betrachtung gefunden. Man könnte freilich, angesichts dieser Neigung,
auf einen andern Vorschlag kommen, über dessen Richtigkeit ich mir jedoch ein
bestimmtes Urteil nicht erlauben möchte. Warum soll nicht das Gymnasium das
Zeugnis zum einjährigen Dienst erst mit der Absolvierung der Obersekunda ver-
leihen? Das hätte allerdings die Folge, daß diese Berechtigung auf den Gymnasien
erst ein ganzes Jahr später erworben würde als bei den sechsklassigen Schulen
und auch ev. ein Jahr später als bei den beiden andern Vollanstalten, dem Real-
gymnasium und der Oberrealschule, falls denen die innere Struktur ihres Lehr-
planes einen Einschnitt nach sechs Schuljahren gestattet anstatt der sieben Schul-
jahre des Gymnasiums. Aber sollte der Schade so groß sein? Die Zahl der
Gymnasiasten würde sicherlich verringert werden um die Schüler, die nur das
Einjährige erreichen wollen; die würden dann eine Schule besuchen, die das
Recht nach sechs Jahren verleiht. Das würde den Gymnasien eine Minderung
ihrer Schtilerzahl und voraussichtlich auch ihrer Gesamtzahl eintragen: beides
Dinge, die der wahre Freund humanistischer Bildung mit Gelassenheit betrachten
würde. Und diejenigen Schüler des Gymnasiums, die aus irgendwelchen Gründen
das siebente Schuljahr nicht zugeben könnten, hätten ja immerhin die Möglich-
Zu Harnacks Vorschlägen über die Behandlung usw. 159
keit, durch ein Examen vor der bei allen Regierungen eingerichteten Prüfungs-
kommission die Berechtigung ein Jahr früher zu erwerben. Sie werden schwerlich
zu befürchten haben, daß sie durchfallen.
Ich meine also, daß ein ernster Grund, die Untersekunda der alten Geschichte
vorzuenthalten, nicht vorliegt, ja daß vielmehr diese Rückbildung geboten ist,
wenn die Paulsensche Auslegung der jüngsten Schulreform richtig ist, auf der als
Basis die in dem Buch „Universität und Schule" vereinigten Vorträge, darunter
der Harnacksche, sich erst aufbauen.
Aber mit dieser Ausdehnung des Unterrichts in der alten Geschichte auf die
Untersekunda ist für die Durchführung der Harnackschen Ideen noch nicht genug
getan. Auch der Unterricht in der Prima kann nicht in der alten Form bestehen
bleiben; er muß umorientiert werden, um den Forderungen Harnacks gerecht zu
werden. Nachdem in den Sekunden die grundlegenden Definitionen des politi-
schen Denkens gewonnen sind, muß in der Oberprima die Einführung in die Welt
der Wirklichkeit wie sie heute vorliegt, erfolgen. Ferner muß die Gelegenheit
zum Einblick in historische Forschung auch hier geschaffen werden, ebenso wie
der „Geschichte des Geistes" Zugang eröffnet werden muß. Wie soll man das
machen?
Ich glaube, die größte Zahl derjenigen Lehrer, die wiederholt in den Primen
den Geschichtsunterricht gegeben haben, wird mir darin recht geben, daß auch
der fleißigste und unterrichtetste Lehrer, der sich bemüht, im Sinn der Harnack-
schen Forderung den Unterricht aus der Sphäre der politischen Einzeltatsachen
zu einer Geschichte des Geistes zu erheben, nur bei sehr wenigen Schülern einem
selbsttätigen Interesse begegnet. Die jungen Leute verhalten sich auch dem
heißesten Bemühen gegenüber sehr passiv; wäre nicht das drohende Gespenst
des mündlichen Examens beim Abitur, so würde die Mitbetätigung, wenige Aus-
nahmen immer vorausgesetzt, auf ein Minimum herabsinken. Ist es nun aber dem
Geiste, der den Unterricht der Prima beherrschen soll, angemessen, daß nur die
Drohung des mündlichen Examens mit seinen Gefahren, dem Unterricht Interesse
und Fleiß sichert? Doch wohl kaum! Eine Änderung ist also notwendig. Ob
die von Harnack, wie es scheint, anerkannte, daß man Geschichte zum wahlfreien
Fach mache, nützen werde, ist möglich, aber nicht sicher. Da fragt es sich doch
zuerst, ob nicht eine Änderung in der Methode des Geschichtsunterrichts möglich
sei. Ich habe vor einigen Jahren in Geschichtskursen, die ich an einer andern
Schule als dem Gymnasium leitete, einen Versuch gemacht, der mir praktisch zu
sein erscheint, und von dem ich deshalb berichten will. In der Überzeugung, daß
ich mit meinem Versuch auf dem richtigen Wege war, hat mich unterdessen das
Erscheinen von Dietrich Schäfers Weltgeschichte befestigt.
Die heutige Art des Unterrichts leidet an dem Fehler, daß sie sich von der
Behandlung, die derselbe Gegenstand in den Tertien erfahren hat, zu wenig ent-
fernt. Während sonst mit den reiferen Jahren auch die Behandlung eine andere
wird, läßt dazu in der Geschichte die ungeheure Fülle des Stoffes den Lehrer nicht
recht kommen, er muß sich mit Vortrag und Nacherzählen und Repetition be-
gnügen, kann sich auf Diskussion, sowie sie dem Unterricht auf der Oberstufe
sonst ihren Reiz verleiht, nicht einlassen. Höchstens daß er ab und zu Schüler
160 C. Hölk,
zu Vorträgen über kleinere, übersehbare Gebiete anleitet, eine außerordentlich
dankbare Aufgabe, bei der auch Verständnis für die Technik historischer Forschung
geweckt und zur Lektüre historischer Werke angeregt werden kann. Aber jedes
Abweichen vom gewöhnlichen Gang annalistischer Erzählung rächt sich dadurch,
daß die Zeit knapp wird, wenn das Jahresende herannaht und das Lehrziel noch
in weiter Ferne steht. Was auf dem Geschichtsunterricht der Prima lastet, das ist,
wie ich oben schon ausführte, daß er zu sehr vom Geist der Pensenlernschule be-
herrscht ist; ihn davon zu befreien, dafür muß der Hebel eingesetzt werden. Das
hat mich auch seinerzeit zu meinem Versuch bestimmt.
Man stelle dem Primaunterricht nicht die Aufgabe, noch einmal in chronolo-
gischer Reihenfolge die ganze Geschichte von dem Zerfall des römischen Reiches
an bis zur Gegenwart hin abzurollen, sondern mache es umgekehrt: man gehe
vom heutigen Zustand der Staaten aus, suche sie in ihrer historischen Be-
dingtheit zu begreifen, indem man rückwärts ihr Entstehen und Wachsen ver-
folgt, und suche dann von da aus historisches Verständnis für die politischen
Aufgaben der Gegenwart und der nächsten Zukunft zu gewinnen. Dadurch würde
auch Raum geschaffen für eine oft begründete Forderung der Geographen, daß
das Gymnasium auf ihre zu so starker Bedeutung entwickelte Wissenschaft mehr
Rücksicht nehmen müsse. Denn das versteht sich doch von selbst, daß eine solche
Betrachtungsweise auszugehen hätte von der in der Geographie so glänzend aus-
gebildeten Betrachtungsweise, den heutigen politischen Zustand in seiner Bedingt-
heit durch die physische Beschaffenheit der Länder zu begreifen. Dazu müßten
statistische und politische Betrachtungen kommen. Daß junge Leute von 17—19 Jahren
solcher Art der Behandlung mehr selbsttätiges Interesse entgegenbringen, als dem
bisher vorgeschriebenen Gang des Unterrichts glaube ich aus meiner Erfahrung
folgern zu dürfen.
Es wäre dann der Unterprima zuzuweisen die Behandlung der nichtdeutschen
Staaten und Länder; die Oberprima würde frei bleiben für die Behandlung der
deutschen Geschichte.*)
Seit dem Erscheinen von Dietrich Schäfers Weltgeschichte liegt die Not-
wendigkeit einer genaueren Begründung nicht mehr vor; im großen und ganzen
würde sich der Lehrer der Schäferschen Betrachtungsweise anschließen können.
Natürlich reicht aber das was Schäfer bietet nicht aus; aus seiner Weltgeschichte
kann man entnehmen, welche allgemeinen politischen Gedanken man verfolgen
muß; das Material, das sonst nötig ist, muß anderweitig beschafft werden. Und
darin liegt ja sicherlich eine Schwierigkeit. Wir Lehrer sind durch unsere histo-
rische Vorbildung mehr für die Darstellung der Geschichte erzogen, wie sie bisher
üblich ist. Aber auch so kann man sich für den ersten Anfang helfen; später
wird sich schon die genügende Zahl von Hilfsbüchern finden. Ich scheue mich
nicht einzugestehen, daß ich bei meinem Versuch viel Belehrung in den Artikeln
des Brockhaus gefunden habe, ebenso wie in den kleinen, zum Teil ganz vor-
trefflichen Büchern der Göschenschen Sammlung sowie in den ausgezeichneten
*) Sollte es nicht möglich sein, diesen Plan für Prima schon heute zu verwirklichen?
Wenn der Geschichtslehrer der rechte Mann ist, soUte man ihn gewähren lassen. Mtth.
Zu Harnacks Vorschlägen über die Behnndlung usw. 161
Büchern, die Teubner unter dem Gesarattitel „Aus Natur und Geisteswelt" herausgibt.
Vertiefung durch umfangreichere Studien wird sich später schon von selbst einstellen.
Gerade das was Harnack als wesentliche Aufgabe des Geschichtsunterrichts
betont, das glaube ich durch diese Art der Behandlung erreicht zu haben, soweit
das in meinen Kräften stand. Mittelpunkt des Unterrichts werden die großen
Fragen der politischen Gegenwart; sie allseitig in ihrer historischen Bedingtheit
und Notwendigkeit zu begreifen, das ist das Ziel. Das politische Einzeltatsachen-
material reiht sich, von seiner Isoliertheit befreit, großen, umfassenden Gesichts-
punkten ein, weit ausgreifende Rückblicke ermöglichen Repetitionen bis in das
Altertum hinein und wecken das Verständnis für historische Kontinuität; reichliche
Gelegenheit, die Schüler zu eigenen Vorträgen heranzuziehen, einzelne Probleme
in freier Diskussion zu behandeln bietet sich allerorten. Und da das ganze Jahr
der Oberprima frei ist für die deutsche Geschichte, so eröffnet sich hier die Mög-
lichkeit zu wirklich wirksamer Einführung in das politische Leben unseres Staates
und seine Aufgaben.
In der dem Druck seiner Rede vorausgeschickten Vorbemerkung sagt Harnack,
er begrüße es mit Freuden, daß auch Lamprecht die von Harnack als notwendig
empfohlenen Vorlesungen (in zwei bis drei Semestern) über Weltgeschichte, die
jeder Historiker besuchen müsse, empfehle, obgleich er der Meinung sei, daß
seine und Lamprechts Meinungen über die Ausführung dieser Vorlesungen wahr-
scheinlich auseinandergehen werden; man müsse den Gedanken an solche Diffe-
renzen zurückstellen, wo es gelte, das Wichtigere zu erreichen, nämlich daß die
Forderung selbst durchgesetzt werde. Hoffentlich wird er dieselbe Duldung auch
meinem Vorschlag, seine Ideen in die Praxis umzusetzen, zuteil werden lassen,
obgleich sie sich von der Voraussetzung, an die er die Durchführbarkeit seiner
Ideen knüpft, die sogenannte freiere Bewegung im Unterricht der oberen Klassen
und die Gestaltung mehrerer Fächer als wahlfreier, entfernen. Wenn seine Vor-
schläge, daß jedem Studenten die Möglichkeit geboten werden soll, ein über-
sichtliches Kolleg über Weltgeschichte und ebenso eins über den Zustand unseres
modernen Staates zu hören, verwirklicht wird, dann wird die Durchführung seiner
Gedanken den kommenden Lehrern sicherlich leichter sein als uns älteren, denen
sich zu solcher Art der Belehrung keine Möglichkeit bot. Aber den Nachweis zu
liefern, daß auch ohne diese Voraussetzungen schon innerhalb des heutigen
Rahmens, mit leichten Änderungen sich eine Umsetzung seiner Theorie in die
Praxis ermöglichen lasse, und einen Weg dahin zu zeigen, war die Absicht der
vorliegenden Gedanken. Daß sie nicht den Anspruch erheben, die einzige mög-
liche Lösung zu sein und womöglich gleich zum Gesetz erhoben zu werden,
sondern daß meiner Überzeugung nach die Fruktifizierung der Harnackschen Ideen
der Individualität des Lehrers überlassen bleiben muß, der der praktischen Auf-
gabe gegenüber steht, das besonders zu betonen halte ich für unnötig, da es
selbstverständlich ist. Denn Wissenschaft lehren in dem Sinne wie Harnack es
will, dafür ist Voraussetzung weitgehende Freiheit des Lehrers im Schalten mit
seinen Mitteln.
Steglitz. C. Hölk.
iMonatschrift f. höh. Schulen. VHI. Jhrg. H
162 W. Meier,
Bürgerkunde.
Mitte Dezember 1908 fand in Düsseldorf im Park-Hotel eine „bedeutungsvolle
Kundgebung" statt, bei der unter dem Vorsitze des Oberbürgermeisters Marx und
in Anwesenheit der Spitzen der Behörden und hervorragender Männer der
Regierungsrat Negenborn einen sehr anziehenden Vortrag hielt über das Thema,
wie eine bessere staatsbürgerliche Erziehung unserer Jugend herbeizuführen sei.
Nach einer außerordentlich lebhaften Diskussion einigte sich die Versammlung in
einer Resolution (dem Sinne nach) auf folgende zwei Sätze: 1. Wir Deutschen
von heute zeigen einen bedeutenden Mangel an politischem Verständnis; 2. Ab-
hilfe muß in Zukunft durch die Schule geschaffen werden. — In dem offiziellen
Bericht über die Versammlung, der an die Zeitungen und in erweiterter Form an
die Ministerien versandt wurde, hieß es am Ende: „Die Versammlung erkannte
am Schlüsse einmütig an, daß sich ein für unser staatliches Leben und die
Entwicklung des Staates bedenklicher Mangel an staatsbürgerlicher Bildung im
deutschen Volk zeigt, daß diesem Mangel notwendig abgeholfen werden muß und
zwar durch einen geordneten Unterricht in der Bürgerkunde an mittleren, höheren
und Hochschulen aller Art und eine zur Erteilung solchen Unterrichts geeignete
Ausbildung der Lehrer."
Die Resolution zeigt, daß der Mangel auch an unseren höheren Lehranstalten
empfunden wird, und der Verlauf der Diskussion bewies, daß man hauptsächlich
von ihnen Änderung in der bestehenden Art des Unterrichts wünschte. Da ich, wie
ich glaube, der einzige Philologe war, der an der Versammlung teilnehmen konnte,
so hielt ich mich für verpflichtet, mehrfach das Wort zu ergreifen und legte folgendes
dar : 1. es bestehen bereits amtliche Vorschriften darüber, die Dinge, die unter
staatsbürgerlicher Erziehung begriffen werden, besonders im Geschichtsunterricht
an den höheren Lehranstalten eingehend zu behandeln; 2. sowohl in Untersekunda
wie in Oberprima ist reichlich Zeit und auch im sonstigen Unterricht viele Gelegen-
heit gegeben für die Behandlung dieser Punkte; 3. die wirkliche Ursache des
festgestellten Mangels an politischem Verständnis und Interesse liegt tiefer und ist
nicht in der Schule zu suchen; 4. weitergehende politische Belehrungen sind nicht
bloß Sache der Schule, sondern müssen vor allem von den Vätern gegeben werden,
die selbst aus ihrer politisch indifferenten Haltung heraustreten müssen, denn in
erster Linie tut nicht mehr Wissen, sondern mehr Liebe zum Ganzen not; 5. ein
^geordneter Unterricht in der Bürgerkunde " — er wurde nicht in der Resolution
der Versammlung, sondern nur von dem Vortragenden oder einem Diskussions-
redner gewünscht — ist an den höheren Schulen nicht nur unnötig, da bereits
der Stoff an den geeigneten Stellen im gesamten Unterricht vermittelt wird, sondern
kann sogar schädlich wirken, weil vielfach der lebendige und erwärmende Zu-
sammenhang mit dem Geschichtsunterricht fehlen wird. — Was den 4. Punkt an-
geht, so konnte ich zwei Beispiele, die in der Versammlung, allerdings in anderem
Sinne, erwähnt wurden, nämlich die politische Reife der jungen Römer und der
Kinder unserer Sozialdemokraten, für meine Forderung in Anspruch nehmen.
Nach der Versammlung habe ich über ihren Gegenstand weiter nachgedacht,
und ich konnte mich der Erkenntnis nicht verschließen: wenn auch ein , geordneter
Bürgerkunde. ' 163
Unterricht in der Bürgerkunde" für unsere höheren Anstalten abzulehnen ist, so
kann doch mehr geschehen in der Art des Unterrichtsbetriebes.
Zunächst könnte die Ausbildung der Geschichtslehrer selbst stärker gefördert
werden, und zwar durch sie selbst, wie durch die vorgesetzten Behörden. Bei keinem
anderen Lehrfache, wie gerade bei der Geschichte, besteht die dringende Not-
wendigkeit, nicht nur das auf der Universität erworbene Wissen zu vertiefen und
zu erweitern, sondern auch selbst forschend mitzuarbeiten. Einen guten Geschichts-
unterricht kann nur geben, wer nicht nur die politische Geschichte beherrscht,
sondern auch in der Nationalökonomie und Kunstgeschichte gut bewandert ist.
Die Behörden aber könnten helfen, indem sie z. B. Ferienkurse für Historiker
einrichteten oder die Teilnahme an sozialpolitischen Kursen, wie etwa den in Cöln
veranstalteten, veranlaßten oder unterstützten. Es ist ganz sonderbar, wie wenig
Oberlehrer vergangenen Herbst den Internationalen Historikerkongreß in Berlin
und die Cöhier Kurse besuchten. Da ferner für den Historiker namentlich die
Beurteilung der heutigen Verhältnisse und die Kenntnis unseres gesamten Vaterlandes
von Wichtigkeit ist, so möchte ich dafür zwei Vorschläge machen: 1. daß die
Oberlehrer mehr als Schöffen und Geschworene und zu anderen Ehrenämtern zu-
gezogen werden; 2. daß man die jungen Philologen häufiger von West nach Ost
und umgekehrt, wenn auch für kürzere Zeit, versetzt, denn dadurch wird das
Verständnis für innerpolitische Verhältnisse größer werden. Ich persönlich möchte
nicht die Erfahrungen missen, die ich als Rheinländer und Katholik durch längeren
Schuldienst in Berlin und Schlesien gesammelt habe. Mir sind aber viele Fälle
bekannt, daß Herren vom Seminarjahr an bis zu ihrer Pensionierung an ein und
derselben Anstalt tätig waren. Weiter aber sollten die Direktoren nur denjenigen
Herren den Geschichtsunterricht übertragen, die wirklich ganz als Historiker aus-
gebildet sind; denn oft genug hört man die sehr verkehrte Meinung aussprechen,
Geschichte könne, wie Deutsch, jeder Oberlehrer unterrichten.
Der Betrieb des Geschichtsunterrichts erfordert ein ganz besonderes Studium,
Fragen mehr technischer Natur will ich hier nicht berühren. Ganz gewiß aber wäre
die staatsbürgerliche Bildung größer, wenn wir noch stärker Vaterlands- und Heimat-
liebe betonten. Wir Lehrer kommen im Unterricht mit der bloß objektiven
Geschichtsdarstellung, wenn es überhaupt eine gibt, nicht weiter. Etwas anderes
ist die Wissenschaft, etwas anderes die Schule, wo wir erwärmen und begeistern
wollen. Zur Förderung der Heimatliebe aber muß mehr die Heimatgeschichte
herangezogen werden, und darum wünsche ich wie im Deutschen, so auch in der
Geschichte mehr landschaftlich gefärbte Lese- und Lehrbücher. Wann hört man
z. B. an unseren Düsseldorfer Anstalten etwas Eingehendes und Zusammenhängendes
über unsere so alte und wichtige rheinische Geschichte? Wäre es anders, dann würde
es eine fruchtbare Aufgabe sein, festzustellen, was die einzelnen Landesteile der Er-
ziehung durch die brandenburgisch-preußischen Fürsten verdanken, und was umge-
kehrt Preußen gewann durch die Erwerbungen. Um nur ein Beispiel anzuführen, so
würde man auf diese Weise erkennen und hervorzuheben haben, wie die nieder-
rheinischen Lande mit ihrem vielgestaltigen Glaubensleben und ihren weitherzigen
cleve-bergischen Fürsten sofort von 1609 an Brandenburg aus seiner damals eng
konfessionellen Haltung herausgenötigt haben zu einer toleranten Politik. Im Zu-
11*
164 W. Meier, Bürgerkunde.
sammenhang mit dieser stärkeren Betonung der Heimatgeschichte steht eine größere
Beschränkung des Geschichtsstoffes auf unsere deutsche Geschichte und diejenigen
außerdeutschen Dinge, die auf unsere geistige und materielle Kultur von bestim-
mendem Einfluß gewesen sind. In diesem Punkte müssen wir in höherem Grade
bewußt einseitig auf der Schule sein und dürfen hoffen und erwarten, daß der
strebsame junge Mann die fehlenden Kenntnisse selbst sich im Leben erwerben
wird. — Ein weiterer Vorschlag könnte auf den ersten Blick bedenklich erscheinen,
ist es aber tatsächlich nicht. Wie viele, sonst gebildete Menschen stehen den
Behauptungen der, oder besser gesagt, ihrer Zeitung kritik- und hilflos gegenüber,
und zum guten Teil rührt daher auch die staatsbürgerliche Unkenntnis. Da meine
ich nun, wir könnten unsere älteren Schüler darin üben, Zeitungen mit rein sach-
licher Kritik zu lesen. Natürlich dürfte das nur mit sehr feinfühliger Hand geschehen,
und diese Art von Kritik müßte nicht an sogenannten aktuellen, sondern an
historischen oder parteiprinzipiellen Artikeln geübt werden. Nicht minder würde
man das eigene Urteil stärken, wenn man zeigte, wie unsere heutigen Zeitungen
entstanden sind und welche Faktoren bei ihnen tätig sind.
Auch außerhalb des eigentlichen Unterrichts können wir unsere Einwirkung
steigern. Der Geschichtslehrer muß, wie der Lehrer des Deutschen, in besonderem
Maße auch der Berater der Schüler sein, z.B. in der Lektüre; er soll sie hinführen
zu geeigneten öffentlichen Verhandlungen. Berlin ist hierin besonders gut gestellt,
aber auch in allen anderen Städten bringe man sie z. B. zu den öffentlichen
Beratungen der Stadtverordneten gelegentlich und zeige ihnen praktisch, wie das
Selbstverwaltungsrecht ausgeübt wird. Wanderungen zu nahe gelegenen histori-
schen Stätten und industriellen Anlagen oder kunsthistorische Ausflüge müßten
mehr gemacht werden. Seit Jahren fahre ich mit den älteren Schülern nach Cöln,
um ihnen die römische, mittelalterliche und moderne Stadt zu zeigen, an deren
Entwicklung man fast die ganze deutsche Geschichte darlegen kann, und immer
wieder fühle ich mich für die Mühe reichlich belohnt durch die Ergebnisse dieses
schönen Anschauungsunterrichts.
Zum Schlüsse möchte ich noch einen Vorschlag machen, der gegenüber den
bisherigen ein Mehr an Unterricht bedeutet. Wie wäre es, wenn an jeder Anstalt
etwa alle 14 Tage die Schüler der drei oberen Klassen in der Aula versammelt
würden und dann einer der Geschichtslehrer einen Vortrag hielte über staats-
bürgerliche Fragen, der in der Klasse Durchgenommenes zusammenfaßte und
Altes in neue Beleuchtung rückte? Durch diese Zusammenfassung der oberen
Klasse würde jeder Schüler drei Jahre lang diese Dinge hören, ohne fürchten zu
müssen, gefragt zu werden, das Wissen würde durch die verschiedenen Persönlich-
keiten der Lehrer sich vertiefen und durch die öftere Darlegung unverlierbar werden,
die Schüler würden so hinübergeleitet zu den Vorlesungen der Universität, und den
Lehrern wäre eine willkommene Gelegenheit gegeben, vor den gesamten größeren
Schülern über das zu sprechen, was nach Zeit und Gelegenheit das Geeignete ist.
Noch einmal aber möchte ich für unsere höheren Lehranstalten mich gegen einen
„geordneten Unterricht in der Bürgerkunde" aussprechen; denn unsere Schüler
sollen nicht nur wissen, wie die Verhältnisse sind, sondern auch, wie sie geworden
sind, und beides zusammen muß und kann im Geschichtsunterricht gegeben werden;
P. Johannesson, Eine Schülerwerkstatt. 165
um noch einmal ein Beispiel anzuführen: was würde es helfen, wenn einer alle
deutschen Staaten kennt, aber nicht auch aus dem Verlauf der deutschen Geschichte
gesehen hat, wie diese erst allmählich aus dem Amte zum Landesfürstentum er-
wachsen sind?
Düsseldorf. Wilhelm Meier.
Eine Schülerwerkstatt.
Am Sophienrealgymnasium in Berlin sind die praktischen physikalischen Übungen
mit einem Handfertigkeitsunterricht verknüpft; ein Teil der Schüler stellt physika-
lische Geräte her. Versuche solcher Art sind bekanntlich wiederholt gemacht
worden; aber von Physiklehrern, so hoffnungsfreudig sie für praktische Übungen
einzutreten pflegen, wird der Gerätebau der Schüler wohl meistens abgelehnt.
Auf die Gründe für oder wider jene Ansicht soll hier nicht eingegangen
werden. Vielmehr berichten diese Zeilen schlicht, welche Form der Handfertig-
keitsunterricht bei uns gewonnen hat; zugleich wollen sie den Leser an eine Stätte
führen, die reicher vom Licht der Freude bestrahlt ist, als dies bei Schulstuben
der Fall zu sein pflegt.
Nicht aus erziehungstheoretischen Erwägungen ist unser Handfertigkeitsunter-
richt erwachsen; auch trieb mich keine rauschende Begeisterung; den Ausschlag
gab der einfache Gedanke, daß unseren Schülern keine Anregung vorenthalten
bleiben dürfe, die etwa anderwärts geboten wird. Dazu kam das Bedürfnis, die
seit langer Zeit geübten physikalischen Messungen durch Zuführung frischen
Blutes zu beleben; daneben wollte ich mit den Schülern von mehr technischer als
wissenschaftlicher Begabung in nähere Berührung kommen und sie so für den
Physikunterricht auch innerlich gewinnen.
Zunächst freilich war eine Vorarbeit zu leisten. Als ich Michaelis 1904 den
Handfertigkeitsunterricht begann, stand mir nur eine sehr geringe Sachkenntnis zur
Seite. Zwar war ich als Knabe von einem Tischler unterwiesen worden, hatte
Laubsägearbeiten getrieben und überhaupt gern gebastelt, eine Neigung, die mir
später, als ich nämlich Physik zu lehren hatte, gelegentlich von Vorteil war; dazu
hatte ich, um mich im technischen Zeichnen für den Unterricht zu üben, zwei
Jahre hindurch die Handwerkerschule besucht und die Grundzüge der Glas-
technik in einer Werkstätte erlernt; aber die erworbenen Fertigkeiten befähigten
mich nicht, die Herstellung auch nur einfacher physikalischer Geräte sachgemäß
zu überwachen. Daher war plump und ungeschickt, was wir zuerst geschaffen
haben; vieles blieb halbfertig liegen, weil der Verfertiger erlahmte; vermochte ich
doch nicht das ästhetische Bedürfnis zu befriedigen, welches als eine der Haupt-
triebfedern den Jüngling an Beschäftigungsspiele fesselt. Auch hatte ich, die
Schwierigkeiten unterschätzend, das Ziel zu hoch gesteckt. Jeder der ersten Teil-
nehmer — es waren 18 Primaner und Obersekundaner — sollte nach eigener
Wahl oder, wenn er deren Qual nicht überwinden konnte, nach meinem Vorschlag
eine besondere Vorrichtung erbauen; eine große hölzerne Schublehre mit Zenti-
166 P- Johannesson,
meterteilung und Millimetervernier, eine hölzerne Teilmaschine, eine Libelle, Papp-
figuren zur Bestätigung der Schwerpunktsätze, ein sehr großer eiserner Halbkreis
mit Winkelteilung, Spalt und drehbarem Spiegel zur Erläuterung des Spiegel-
gesetzes, ein Elektroskop, ein Amperemeter, ein hochempfindliches und sehr nied-
liches Galvanometer sind wohl fertig gestellt worden und werden zum Teil noch
jetzt im Unterricht benutzt; aber eine Federwage, ein Reflexionshebel, eine optische
Bank, ein Stromwender, eine Bussole, eine wheatstonesche Brücke, ein Mikrophon,
ein Akkumulator, ein Vorschaltwiderstand und Nebenschluß, mehrere Galvanometer,
Amperemeter und Voltmeter haben den Tag der Vollendung nicht erlebt, sei es,
daß der Verfertiger vorher seine Schullaufbahn beendet hatte, oder daß seine Aus-
dauer versagte, oder daß es uns nicht gelang, die Vorrichtung in regelrechten
Gang zu bringen.
Um diese Mißerfolge zu verringern, bedurfte es vor allem einer besseren Aus-
bildung für mich. Die Gelegenheit dazu fand ich in den Werkstattkursen, welche
der Mechaniker Herr Hintze in der alten Urania vortrefflich leitet und deren regel-
mäßigen Besuch der Vorsitzende der Uraniakurse Herr Geheimrat Vogel mir seit
drei Jahren höchst dankenswert gestattet hat. Nachdem ich hier die Grund-
verrichtungen der mechanischen Kunst, Weich- und Hartlöten, Metall- und Holz-
dreherei und schließlich genaue Feilarbeit, erlernt hatte, ist mir Herr Hintze be-
hilflich, nach den Regeln der Werkstatt ein Differentialgalvanometer herzustellen;
und erst jetzt, wo ich die Notwendigkeit würdigen gelernt habe, auch das unschein-
barste Stück mit voller Sorgfalt zu behandeln, fühle ich mich allmählich mehr im-
stande, die Schüler erfolgreich anzuleiten.
Zweitens ergab sich das Erfordernis, unsere Werkzeuge bedeutend zu ver-
mehren und vor allem mit Liebe auszuwählen. Nicht als ob die Werkzeuge den
Meister machten; verrät sich doch gerade der wahre Künstler durch die Gering-
fügigkeit der Mittel, mit denen er seine Wirkungen erzielt. Aber unsere Schüler
sind nicht mechanische Künstler, sondern wollen sich zunächst nur als Liebhaber
betätigen, und solchen darf man wohl durch Vollkommenheit der Werkzeuge er-
setzen, was ihnen an Kunstfertigkeit gebricht. Freilich hat es für den Beharr-
lichen einen eigenen Reiz, mit mangelhaften Werkzeugen auszukommen; so war
der Schüler, dem es gelang, allein mit der Dreikantfeile einen optischen Spalt in
ein Eisenblech von mehreren Millimetern Stärke einzubringen, mit Recht auf seine
Leistung stolz. Aber solch Maß von zielbewußter Ausdauer und Geschicklichkeit
ist selten. Daher habe ich unserer Werkzeugsammlung besondere Fürsorge zu-
gewendet sowohl hinsichtlich der Zahl wie auch der Güte der einzelnen Stücke;
und ich glaube, daß ein Mechaniker in unserer Werkstatt jetzt wohl die üblichen
Aufträge zuwege brächte. Drei reich behängte Wandbretter tragen die Werkzeuge
für die Hobelbank, die Drehbank und den Schraubstock; dazu kommen noch ein
weiterer Werkzeugschrank, ein Glasblasetisch, eine Bohrmaschine, die erforder-
lichen Schleif- und Abziehsteine, die Einrichtungen für Löt-, Klebe- und Papp-
arbeiten, auch eine große Richtplatte zum Schleifen des Glases; recht notwendig
war es, die anfänglich beschaffte Schlosserkluppe nebst Zubehör durch genau ge-
arbeitete, übrigens recht kostspielige Schneideisen und Gewindebohrer zu ergänzen.
Eine Schülerwerkstatt. ♦
167
Von vielen sonstigen Kleinigkeiten sei noch eine stattliche Sammlung von Sägen
und Bohrern für Holz und Metall erwähnt; und daß es auch an den nötigen Meß-
vorrichtungen nicht fehlt, um unserer Arbeit die unumgängliche Genauigkeit zu
geben, an Winkel, Schublehre und Taster, versteht sich wohl von selbst.
Drittens erwies sich die Notwendigkeit, die Zahl der gleichzeitig arbeitenden
Schüler auf höchstens sieben zu beschränken. Die Übersicht über die bisherigen
Teilnehmerzahlen gibt die nachstehende Tafel:
Halbjahr
T e i
1 n e h m e r
Vom
Hundert
der vor-
handenen
Schüler
Wi. 1904/5
5 Obersekundaner -+- 13 Primaner = 18 arbeiteten
in 3 Gruppen
36 7o
So. 1905
5
„
4- 7
/ =12
„
«2 „
20 ,
Wi. 1905/6
12
„
+ 7
. =19
„
n 2 „
30 .
So. 1906
8
„
-f- 5
„ =13
„
n 1
22 ,
Wi. 1906/7
5
„
-h 8
. =13
„
. 1 .
22 „
So. 1907
6
„
4- 4
= 10
„
« 1 r
16 „
Wi. 1907/8
7
„
+ 4
n =11
„
n 1 n
18 „
So. 1908
10
„
4- 3
„ =13
„
.2 „
20 ,
Wi. 1908/9
10
n
+ 4
. =14
»
„2 „
22 ,
Durchschnitt
: 8 Obersekundaner -4- 6Primaner=14; in
jeder Gruppe 8
23 7o
Aus der letzten Spalte darf nicht geschlossen werden, daß gegenüber den
Ziffern 36 und 30 7o die Lust zur Teilnahme nachgelassen hätte. Es melden sich
stets mehr Schüler, als ich beschäftigen kann; die mitgeteilten Zahlen sind also
nur der Rest nach Abzug der Zurückgewiesenen. Dazu beachte man, daß die in
der Handfertigkeit Tätigen nur einen Bruchteil der zu den praktischen physika-
lischen Übungen überhaupt Zugelassenen bilden; so nehmen z. B. in diesem Halb-
jahr an den freiwilligen Übungen 48 Schüler — wieder nach Abzug der Zurück-
gewiesenen — gleich 65 7o cler Gesamtzahl teil, wobei jeder Schüler einfach ge-
zählt ist, obgleich 7 Schüler zwei, einer sogar drei Kurse besucht. — Die erwünschte
Höchstziffer 7 für die Teilnehmer einer Handfertigkeitsgruppe ist dadurch be-
dingt, daß, abgesehen von den Anfängern, jeder Schüler seine besondere Aufgabe
hat. Daher müssen die Anleitungen stets in knappster Form, häufig wortlos ge-
geben werden, damit die unzähligen Wünsche der Schüler ohne Stauung in ihrer
Arbeit befriedigt werden können. Bedenkt man ferner, daß viele Werkzeuge um
ihres Preises willen besonderer Schonung bedürfen, daß manche Arbeiten, z. B.
am Blasetisch und an der Drehbank, für den Ungeschickten sogar nicht ungefähr-
lich sind, daß ferner der Leiter alle in Arbeit befindlichen Stücke gleichzeitig im
Kopf haben, alle Schwierigkeiten durch eine plötzliche Entscheidung beseitigen,
immerwährend besondere Kunstgriffe der Herstellung erfinden und ausüben muß,
erfährt man schließlich, daß diese Ansprüche an die Umsicht und die Tatkraft des
Lehrers drei ununterbrochene Nachmittagstunden dauern und häufig genug in Ge-
währung des Wunsches unermüdlicher Schüler vier volle Stunden überschreiten, so
wird man die erforderliche Beschränkung der Teilnehmerzahl verständlich finden.
168 P- Johannesson,
Aber trotz der beschriebenen Anspannung, welche die geistigen Kräfte des Lehrers
nahezu erschöpft, ist für diesen jener Schaffensreichtum eine Quelle des Glücks
und der Verjüngung; daher habe ich den Eifrigen, welche den Kursus häufiger
besuchen wollen, als ihnen von Rechts wegen zusteht, die bezügliche Bitte noch
nie versagt, obgleich dadurch die Sollziffer 7 nicht selten überschritten wird.
An letzter Stelle erwähne ich die Nötigung, unsere Ziele niedriger zu wählen.
Nur zu oft haben wir erfahren müssen: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken;
doch hart im Räume stoßen sich die Sachen." So sind wir denn von der Reich-
haltigkeit unserer schon angedeuteten Arbeitsliste zurückgekommen. Die Viel-
seitigkeit hat bescheidener Vertiefung Platz gemacht. Gewöhnlich beginnen wir
jetzt mit einer leichten Glasarbeit: Röhren werden geteilt, ausgezogen und ge-
bogen als Vorübung zur Herstellung einer Spritzflasche, die noch das Bohren eines
Korks erfordert. — Anregender bereits ist die zweite Aufgabe, ein Thermometer an-
zufertigen. Vor der Gebläselampe der Kapillaren eine Kugel von bestimmter
Größe und ausreichender Wandstärke anzublasen, gelingt schon nicht beim ersten
Anlauf; die sachgemäße Füllung mit gefärbtem Weingeist stellt die Geduld ein
wenig auf die Probe ; auch geht so manches fast fertige Rohr in Stücke, wenn es
beim Austreiben einer Luftblase ungeschickt geschleudert wird; dann kommt die
Klippe, die Röhre abzuschmelzen und dabei zu einer rundlichen Erweiterung auf-
zutreiben. Zwei Fixpunkte werden durch Vergleich mit einem Normalthermometer
gewonnen und die Teilung dann sauber auf Papier zu Hause angefertigt, wo dem
Schüler nicht nur Zirkel und Ziehfeder, sondern auch Zeit und Ruhe zur Ver-
fügung stehen. Noch fehlt das Brettchen aus Lindenholz, das an der Hobelbank
geschnitten, behobelt, befeilt und geglättet wird, bis die Schnittlinien gerade, die
Winkel Rechte und die Kanten der Vorderfläche hübsch abgerundet sind; das Loch
für die Thermometerkugel wird mit der Winde gebohrt und nachgefeilt, die Bohr-
löcher für die Befestigungsdrähte mit rückseitigen Versenkungen versehen. Nun
geht es an den Schraubstock und die Bohrmaschine; aus starkem Messingblech
wird die Aufhängungsöse geschnitten, flach gehämmert, rechtwinkelig oder in
anderer Form gefeilt und schließlich dreifach durchbohrt, wobei die beiden Löcher
der Befestigungsschrauben genau bis zur Schraubendicke aufgerieben werden.
Sind noch aus dickem Messingdraht mit der Rundzange zwei Befestigungsösen
für das Thermometerrohr gebogen, an den geraden Enden mit Gewinden aus-
gestattet und die zugehörigen Muttern auf der Drehbank vorgerichtet, danach
durchbohrt und mit Gewindebohrungen versehen, so naht die Stunde, wo der
Künstler sein Werk in der Vollendung schaut. Nach Festschrauben der Auf-
hängungsöse wird die sorgfältig beschnittene Papierteilung genau und sauber —
und das ist schwerer, als mancher glauben wird — auf das dunkel gebeizte Brett
geklebt und bis zum nächsten Tag gepreßt; zur Aufnahme der Kugel wird das
Papier mit einem Korkbohrer und einem sehr feinen Messer, wie es die Augen-
ärzte für ihre Operationen brauchen, ausgeschnitten und danach das Rohr mit Hilfe
seiner Befestigungsösen auf das Brett gebracht. Und werden nun die uns wohl-
gesinnten Leser nachempfinden, daß der Besitzer sein meistens hübsches Werk
mit dem Gefühl der Leistung und des Glücks nach Hause trägt? Auch merkten
sie wohl, warum die Entstehung der kleinen Sache so ausführlich beschrieben
Eine Schülerwerkstatt. 169
worden ist: Damit sie nämlich die Erfahrung würdigen, welche der Schüler bei
seiner scheinbar so kleinen und doch so großen Arbeit macht; damit sie ihm die
Verwunderung darüber zugestehen, daß ein einfaches Thermometer soviele müh-
same Verrichtungen erfordert, und daß sie schließlich mit ihm fühlen, wie das
Schaffen der Teile die Hoffnung aufs Ganze belebt und allmählich bei manchem
zur Begeisterung wird. — Als dritte Arbeit habe ich mehrfach Chromsäureelemente
herstellen lassen. Hier wurden das Absprengen einer Weinflasche, das nachfolgende
Schleifen, das Auflöten von Kupfer auf Zink und von Kupfer auf Kupfer, das
Amalgamieren des Zinks und die Herstellung der Chromsäure als neue Arbeiten
geübt; auch ist die Leistung der so geschaffenen Elemente sehr befriedigend;
aber sie haben eine unschöne Form und entbehren der Liebe und Vertiefung, so
daß ich die Anfertigung entweder aufgeben oder umgestalten werde. — Die Spntz-
flasche, das Thermometer und das Element wurden von dem Durchschnitt der
Schüler in einem halben Jahr, also in rund 20 Stunden beendet und bildeten in
den letzten Jahren die Vorstufe für die Pläne der Ehrgeizigen. Diesen Geübteren
lasse ich, wie früher, in der Wahl ihrer Arbeit freie Hand; nur mache ich natur-
gemäß von vornherein auf etwaige Schwierigkeiten aufmerksam, fordere bei be-
sonders hochfliegenden Zielen den Schüler zur Selbstbesinnung und zur Prüfung
seiner Ausdauer und Umsicht auf und bezeichne, wo der Plänemacher sich augen-
scheinlich überschätzt, seine Absicht als nicht durchführbar. Gegenwärtig sind
einige Amperemeter und Dubois-Reymondsche Schlittenapparate in Arbeit; doch
werden zugleich nach meinen und der Schüler Entwürfen mehrere galvanische
Widerstände und ein Widerstandssatz für verschiedene Zwecke und eine Vor-
richtung mit drei Rollen auf gemeinsamer Achse zur Bestätigung des Satzes von
der Erhaltung der Arbeit, das letzte nach dem Wunsche eines Amtsgenossen, her-
gestellt. Und gerade diese Arbeiten der Geübteren werden fast durchgängig mit
außerordentlicher Sorgfalt und beträchtlichem Ehrgeiz ausgeführt. So läuft die aus
einer mittelstarken Stricknadel gefeilte Achse unserer Amperemeter, angestoßen, in
ihrem ungeölten Spitzenlager trotz ihres winzigen Trägheitsmomentes mehrere Se-
kunden; so sind die erwähnten drei ziemlich großen Rollen, deren Durchmesser
sich wie 1:2:3 verhalten müssen, aus Buchenholz so genau gedreht und ge-
schliffen, daß der größte Fehler nur 0,2 mm beträgt, ein Ergebnis, das ich nach
wirklich redlichen Bemühungen des Herstellers habe gelten lassen, obgleich ich
ursprünglich 0,1 mm Genauigkeit gefordert hatte. Den Gipfel des von uns Er-
strebten bilden einstweüen die Schlittenapparate, deren einer schon recht aner-
kennenswert gefördert ist.
Noch einiges über die räumliche, die zeitliche und die sachliche Einnchtung.
Räumlich besteht bei uns der sehr empfindliche Mangel, daß wir kein besonderes
Zimmer für unsere Werkstattarbeiten zur Verfügung haben. Vielmehr sind fast
alle unsre Hilfsmittel, auch Holz-, Metall- und Pappvorräte, dazu die zahlreichen
Schülerarbeiten in einem der beiden Räume untergebracht, welche unsere physi-
kalische Sammlung bergen. Der Übelstand liegt auf der Hand; hier gilt das
Sprichwort „wo gehobelt wird, da fallen Späne" buchstäblich; aber abgesehen da-
von, daß der Aufenthalt in dem nicht immer hinreichend gesäuberten Zimmer außer-
170 P- Johannesson, Eine Schülerwerkstatt.
halb der Handfertigkeitsstunden wenig behaglich ist, leiden durch den Staub auch
die zur Sammlung gehörigen Instrumente, die für die physikalischen Messungen
der Schüler teilweise frei auf den Tischen aufgestellt sind. Die Abhilfe ließe sich
nur durch die Gewährung eines besonderen Werkstattraumes schaffen.
Zeitlich ist festgesetzt, daß jeder Teilnehmer im Durchschnitt wöchentlich eine
Stunde arbeitet; dabei kommt jede Gruppe meistens alle drei Wochen einmal zu
einer dreistündigen Übung heran; doch bedingen auch in manchen Halbjahren
unsere sonstigen praktischen physikalischen Übungen, daß jede Handfertigkeits-
gruppe vierzehntägig je zwei Stunden arbeitet. Entgegen dieser Festsetzung in-
dessen erbitten sich, wie schon angedeutet, gerade die Geübteren sehr häufig die
Erlaubnis, zwei oder drei, manchmal sogar sechs Stunden in der Woche an ihrem
Apparat zu schaffen, zu Zeiten nämlich, wo die Schüler der anderen Handfertig-
keitsgruppe ihren Unterricht erhalten oder sonst praktische Physik getrieben wird
Die sachliche Einrichtung ist im großen und ganzen schon beschrieben
worden. Weder stellt jeder Schüler eine besondere Vorrichtung her, noch arbeiten
alle Schüler in gleicher Front. Vielmehr hat sich mir als vorteilhaft das gemischte
Verfahren erwiesen, wobei Geübte und Anfänger zu einer Gruppe vereint sind und
zwar so, daß die Geübten Einzelunterricht erhalten, während sämtliche Anfänger
die gleichen Arbeiten herstellen. Das Geschaffene gehört in der Regel dem Ver-
fertiger; nur solche Stücke, welche besonders für den Klassenunterricht bestimmt
sind — und für manchen Schüler ist diese Verwendung seines Werkes eigentüm-
lich verlockend — , verbleiben der Schule. Die Rohstoffe werden ebenso wie die
Werkzeuge durchgängig aus den Physikmitteln der Anstalt beschafft und den
Schülern unentgeltlich geliefert; doch überlasse ich bei den Rohstoffen die Ein-
kaufsgänge meistens den Schülern, selbst auf die Gefahr hin, daß ein Umtausch
nötig wird, während ich die Werkzeuge natürlich stets persönlich aussuche.
Übrigens werden, wie dies an den Berliner städtischen höheren Schulen üblich
ist, die praktischen physikalischen Übungen einschließlich des Handfertigkeitsunter-
richtes, im ganzen sechs Wochenstunden, auf meine Pflichtstundenzahl angerechnet;
nur in der ersten Zeit war meine Leistung freiwillig.
Zu Schluß ein kurzes Glaubensbekenntnis. Den Hauptsegen unserer Hand-
arbeit, abgesehen von vielen Nebenwirkungen, sehe ich in der so ermöglichten
Selbstprüfung der Schüler. Die theoretische Begabung unserer Söhne ist gegen-
wärtig in Deutschland für ihr Fortkommen in der Schule ausschlaggebend. Nach
diesem Maßstabe der Leistungsfähigkeit entwickelt sich vornehmlich die gegen-
seitige Einschätzung der Schüler und die Selbsteinschätzung. Durch diese Ein-
seitigkeit des Wertmaßstabes aber setzt sich die Schule in Gegensatz zum Leben.
Das Leben verlangt nicht nur Männer, die theoretische Regeln mit Schärfe er-
fassen und in allen Fällen richtig anzuwenden wissen, oder Phantasievolle, die
Reichtum und Wärme ins geistige Leben tragen, sondern auch harte Köpfe, die,
mit Umsicht, Tatkraft und Wagemut begabt, ihr Handeln den jeweiligen Verhält-
nissen anzupassen vermögen, die trotz mannigfacher Mißerfolge nicht erlahmen,
die fühlend und mit seherischem Schauen die scheinbar unbeugsamen Widerstände
zwingen. Diese praktisch schaffenden Naturen sind bisher auf der Schule nicht
H. Wickenhagen, Turnen, Spielen, Rudern. 171
nach Gebühr, nach den Bedürfnissen des Lebens nämlich, ausgewertet worden;
ja sie fanden nicht einmal die Gelegenheit zur Selbsterkenntnis d. h. zur Auf-
findung des Pfundes in sich, mit dem sie wuchern sollen; den Theoretischen und
Phantasievollen allein ward diese Gelegenheit geboten. Und die Handfertigkeit
sollte hier Wandel schaffen? Ich glaube, daß sie dazu helfen kann. Wer einen
der schwierigeren Apparate, deren Ausführung manche unserer Schüler sich vor-
setzen, trotz aller Hindernisse fertig bringt, der erfährt dabei, daß er aus hartem
Holz geschnitzt ist; daneben kommt ihm die Erkenntnis, daß die „Handarbeit"
mit Unrecht ihren Namen führt, daß auch hier vielmehr Klarheit und Schärfe des
Erfassens, Sinn für das Einfache und Selbstverständliche, Begeisterung und Selbst-
beherrschung, mit einem Worte Kräfte des Geistes und Gemütes allein ent-
scheiden; er weiß, daß er zum Techniker befähigt, wenn nicht gar berufen ist.
In dieser Möglichkeit der Auslese für das Leben sehe ich den Hauptsegen unserer
„Handarbeit", wie sich mir nicht als gedanklicher Vorläufer unseres Unter-
richtes, sondern im Laufe unserer Tätigkeit je länger desto zuversichtlicher
ergeben hat. Aber diese Betrachtungen sind Philosopheme, und deren wollte ich
mich ja enthalten.
Berlin. P. Johannesson.
Turnen, Spielen, Rudern.
Zukunftsplan für die höheren Schulen von West-Berlin.
In den Januartagen dieses Jahres sind nach langer und planmäßiger Vorarbeit
drei Gründungen in West -Berlin zum Abschluß gebracht worden, welche der
körperlichen Erziehung an den höheren Schulen neue Bahnen öffnen. Da sie
Vorbildliches bieten dürften, sollen sie hier dargelegt werden.
1. Durch die Fürsorge des Unterrichtsministeriums sind zwei große Spiel-
plätze im Grunewald vom Forstfiskus gewonnen, der eine beim Stadtbahnhof
Eichkamp, der andere auf dem Waldgelände von Dahlem. Sie werden demnächst
eingezäunt, für schulgerechten Betrieb hergerichtet und bieten sodann 25 höheren
Anstalten, welche genau nach Art des Rudervereins „Wannsee" zu einem Organis-
mus auf der Basis der Selbstverwaltung verbunden sind, ein Unterkommen.
2. Am 15. Januar hat ein auf Einladung zusammengetretener Kreis von
Direktoren und Lehrern die Errichtung eines Verbandes für geregelte
Pflege von Land- und Wasserwettkämpfen beschlossen. Auch er wird
seine Satzungen denen des Rudervereins „Wannsee" anpassen. Beigetreten sind
sofort zwölf Anstalten; vier haben ihren Anschluß in Aussicht gestellt (Schulen der
Stadt Berlin werden nicht aufgenommen). Die Jahr um Jahr wechselnden Land-
und Wasserturnfeste sollen auf den 1. und 2. September — Nachmittag der Herbst-
parade und Sedantag — verlegt werden und in ihren aktuellen Bildern diesen
Tagen einen immerfrischen nationalen Inhalt geben.
Der Gründungsakt fand seine Weihe durch die Mitteilung, daß von einem
Freunde der Bestrebung ein wertvolles Wanderbanner gestiftet sei.
172 H. Wickenhagen,
3. Am 16. Januar ist in der Hauptversammlung des Rudervereins „Wann-
see" der Ankauf des ausgedehnten Nachbargeländes zur Erweiterung
der Anlagen einstimmig beschlossen. Der geplante großzügige Ausbau wird für
etwa 800 Schüler von 20—25 höheren Anstalten Raum schaffen und sich als
Erziehungsheim, einzig in seiner Art, darstellen.
Die drei neu erschlossenen Wege sollen unter Voraussetzung behördlicher
Genehmigung zur folgenden einheitlichen Betriebsform führen:
Land- und Wasserturnen gehen parallel nebeneinander. Jede Anstalt
hat mit ihrem gesamten Schülerbestande an einem Nachmittage der Woche Anspruch
auf Benutzung des Spielplatzes. Weitere Spielübungen nach freier Verabredung
sind zulässig, soweit der Platz reicht. Auf denselben Nachmittag werden die
Übungen ihrer Ruderer verlegt; er wird freigehalten von Unterricht und Haus-
arbeiten: Die „Landjungen" gehen zum Spielplatz; die „Wasserjungen" besteigen
in Wannsee das Boot. Für die Gruppe der letzteren kommen in der Regel nur
Obersekundaner und Primaner in Betracht.
Auf den Plätzen werden unter Leitung aller Turnlehrer mit Unterstützung
von „Spielkaisern" aus den oberen Klassen erprobte Turn spiele und volkstümliche
Übungen vorgenommen, auf dem Gelände von Wannsee Gemeinübungen im
Kasten, Stil- und Dauerrudern, Landungen u. a. m.
Der Spiel- und Rudernachmittag ersetzt eine oder ein und eine
halbe Stunde des pflichtmäßigen Turnunterrichts.
Das Sedanfest wird zu einer allgemeinen Schulfeier mit turnerischen
Vorführungen ausgestaltet. In einem Jahre werden Land-, im andern Wasser-
übungen angesetzt, und den Schülern bietet sich Gelegenheit, in einem gesunden
Wettkampfe ihr Können zu zeigen. Die Kranzverteilung erhebt sich zu einem
weihevollen Akte mit zündender, vaterländischer Ansprache, begeisternder Musik.
Alle Schulfahnen sind zur Stelle.
Vorteile. 1. Durch den aufgerollten Plan soll das Problem gelöst werden,
wie die körperliche Erziehung den Ansprüchen der Zeit entsprechend vervoll-
kommnet und durch Mannigfaltigkeit belebt, gleichzeitig die Schule bei der
Erledigung ihrer feststehenden Pflichten entlastet werden kann. Ersetzt der
Spielnachmittag eine der drei Turnstunden, so werden durch ihn bei einer Anstalt
von 12 Turnabteilungen 12, ersetzt er 1V2 Turnstunden, dann 18 Stunden der
Woche erledigt. Die Aufstellung des Stundenplans erfährt eine bedeu-
tende Erleichterung; alle Unterrichtsstunden lassen sich auf den Vormittag
verlegen; die Angriffe auf die dritte Turnstunde und auf den — Wassersport (!)
hören auf, und die Vertreter eines besonderen obligatorischen Spielnachmittags
ziehen sich zurück.*)
2. Mit der Verlegung des Spielbetriebs auf besondere Plätze verstummen die
Klagen über Störungen des Klassenunterrichts durch lärmende Riegen ; andererseits
*) Mit dem Plane tritt das in die Erscheinung, was ich — im Gegensatz zur Forderung
eines besonderen obligatorischen Spielnachmittags — in Monatschrift für höhere Schulen 1907,
S. 27 als allein erstrebenswert und erreichbar hingestellt habe.
Turnen, Spielen, Rudern. # 173
fällt die Unnatur weg, daß der Jugend nach dem Schweigen und Stillsitzen in der
Klasse weiteres Schweigen im Turnkampfe vorgeschrieben werden muß.
3. Die sportlichen Feste verlangen keine Abtretungen mehr von der Lern-
schule, keinen besonderen Stundenausfall; andererseits erhält das Sedanfest ein
natürliches, ewig neues Programm.
4. Das Spielplatzleben entspricht dem Bedürfnis der Zeit. Es lenkt das
Interesse der Öffentlichkeit mehr denn bisher auf die Erziehung der Schulen und
bringt der letzteren mehr Sonnenschein: Einmal zum wenigsten in der Woche
genießt der Großstadtschüler Waldluft mit vollen Zügen.
Gr. Lichterfelde. H. Wickenhagen.
Programmabhandlungen 1908 u. 1907.
Ober Lehrpläne und Schulreform. VII.*)
1908.
Bei Beginn der diesjährigen Besprechung der Programmabhandlungen kann
man füglich nicht mit Stillschweigen übergehen das vortreffliche Buch, in dem
R. Ullrich „Programmwesen und Programmbibliothek der höheren
Schulen"**) erschöpfend behandelt hat. Zwar hat kein geringerer als Fr. Paulsen
ihm schon im letzten Jahrgange (S. 233 ff.) das Wort der Empfehlung gesprochen,
das es verdient, aber vom Guten kann nicht oft genug die Rede sein. Die Be-
deutung, die die Einrichtung der „wissenschaftlichen Beilagen" für das höhere
Schulwesen und für die Lehrer an den höheren Unterrichtsanstalten besitzt, hat
nirgends eine eingehendere, umsichtigere, objektivere Darstellung gefunden, die
zugleich eine so vollständige Rechtfertigung ist, daß alle Anfeindungen, alle
Stimmen der Mißachtung und Herabsetzung verstummen müssen.
An neuen Erscheinungen, die die Lehrpläne betreffen, liegen diesmal vor:
Neudruck des Lehrplans des Königl. Friedrich - Kollegiums zu
Königsberg i. Pr. (No. 6, 4<', 23 S.). — Oberrealschule zu Bochum (die des
Deutschen, Englischen und Französischen hrgb. von Dr. Wehrmann. No. 488, 4°,
43 S.). — Lehrpläne des Friedenauer Gymnasiums II (No. 87, 4», 23 S.).
— Dr. Max Prollius, Lehrpläne und Lehraufgaben für die Schiller-
schule zu Jüterbog. I.Teil: Religion, Deutsch, Geschichte, Erdkunde (No. 168,
40, 21s.). — Lehrpläne (Gymn. u. O.-R.-S. zu Stolp i. Pomm. No. 200, 40).
— Grundlehrplan im Lateinischen, a) für Sexta (Sprottau Rpg. No. 287,
4°, 3 S.). — Dr. W. Schwarz, Ausführliche Lehrpläne für das Gymnasium
zu Bochum. III. Lehrplan für das Lateinische [2. Teil] (No. 445, 8«, 80 S.). —
Dr. Schenk, Grundlehrpläne des Königl. Gymnasiums und Real-
gymnasiums zu Rendsburg. III. Der lateinische Grundlehrplan der Prima des
Gymnasiums (No. 368, 4°, 28 S.). — C. Meurer und E. Niepmann, Richt-
linien für den grammatischen Unterricht im Lateinischen (Bonn, städt.
Gymn. und Realgymn. No. 561, 8^, 40 S.). — Grundlehrplan für den eng-
*) Vgl. Jahrg. I, S. 670, III, S. 316, IV, S. 37, V, S. 95, VI, S. 31, VII, S. 34.
**) Ullrich, Richard, Programmwesen und Programmbibliothek der höheren Schulen
in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Übersicht der Entwicklung im 19. Jahrhundert
und Versuch einer Darstellung der Aufgaben für die Zukunft. Berlin 1908. Weidmannsche
Buchhandlung. XXIV u. 687 S. 12 JVU
b
M. Nath, Über Lehrpläne und Schulreform. 175
lischen Unterricht (Kiel O.-R.-S. I. No. 381, 4», 20 S.) — Görlitz, Gym-
nasium Augustum. Lehrpläne. IV. Teil : Turnen (No. 250, 8°, 62 S.). *)
Der Königsberger Lehrplan ist schon durch seinen Titel gekennzeichnet.
Es ist ein Neudruck einer schon vor geraumer Zeit verfaßten Arbeit. Er enthält
sämtliche wissenschaftlichen und technischen Fächer der Hauptanstalt und der mit
ihr verbundenen Vorschule, und gibt, im besonderen für die Lektüre im Deutschen
und in den fremden Sprachen, zu den im wesentlichen unveränderten amtlichen
Vorschriften genauere Anweisungen über Auswahl und Ausmaß. Von den tech-
nischen Fächern ist das Turnen ausführlicher behandelt. Der Lehrplan der Ober-
realschule zu Bochum enthält für sämtliche Fächer die Angabe des Klassenziels
in klarem Ausdruck, was der Leiter der Anstalt als Hauptzweck solcher Veröffent-
lichung bezeichnet. Die Schüler müßten „genau wissen, was von ihnen am Ende
des Schuljahrs verlangt wird, was sie wissen und was sie können müssen, um die
Reife für die nächste Klasse darzutun. " Ausführlicher sind die Lehrpläne für das
Deutsche, Französische und Englische behandelt, und allen voran geht eine Vor-
bemerkung über den allgemeinen Stand des höheren Schulwesens, in der z. B.
darauf hingewiesen wird, wie es eine eigentümliche Sache sei, „daß alle höheren
Schulen in ganz Preußen, im Norden, im Süden, wie im Westen und Osten, nach
einem Lehrplane sich richten sollen; schon die Stammesunterschiede der Schüler
und die dadurch gegebenen verschiedenen Anlagen müßten grundsätzlich in Be-
tracht gezogen werden. . . . Die Lehrpläne gestatten aber bis jetzt noch nicht,
solche Unterschiede zu berücksichtigen." Wehrmann betont dann, wie es darauf
ankomme, daß die Schüler an wenigen Fächern ihre Geisteskräfte üben und schulen,
und darin ein vollständiges Können sich aneignen, daß sie daher weit mehr als
bisher zu freier Selbstbetätigung in den Wissenschaften, zu denen sie ihre eigenen
Anlagen und Neigungen hintreiben, angeregt und angeleitet werden müssen. —
Was die Form der Lehrpläne angeht, so muß besonders für größere Anstalten mit
starkem Lehrerwechsel ein festes, sicheres Gerüst errichtet werden, in welches die
neu eintretenden Lehrer hineinbauen können. Methodisch darf aber nur das Not-
wendigste einheitlich festgelegt werden, da sonst ihr direkter, praktischer Wert sich
verringert, weil es keinem Lehrer möglich ist, sich an viele Einzelheiten zu binden.
Im deutschen Unterricht wird die Berücksichtigung mit der Literatur der Gegen-
wart befürwortet, um das Wertvolle von der Spreu zu sondern, und der Bedeutung
gedacht, die die Schülerbibliothek, richtig gewählt und richtig verwaltet, hier haben
kann. Der Wert der „kleinen Ausarbeitungen" wird klar bestimmt. Die grammatische
Terminologie ist dieselbe (die deutsche) für alle drei Sprachen, philosophische
Propädeutik soll im Anschluß an die Lektüre von Prosaschriften getrieben werden.
Sangbare Lieder sind zu pflegen und zu lernen, z. B. auch zur Weihnachtszeit.
In VI und V werden die Geschichtserzählungen vom Lehrer vorerzählt, nicht etwa im
*) Von Beilagen, die für dief Biesprechung hätten nach dem Teubnerschen Verzeichnis
in Frage kommen können, sind nicht erschienen: No. 134 (Reinickendorf Rpg.) Siebert,
Umfang, Bedeutung und Lehrpläne der Reformschule. — No. 178 (Tegel R.-S.) Köhler,
Die Entwicklungslehre und der biologische Unterricht an höheren Schulen. — No. 348
(Magdeburg O.-R.-S. [Guerickeschulej), Die Lehrpläne für Rechnen, Mathematik, Physik,
Chemie und Mineralogie und Naturbeschreibung).
176 M. Nath,
Buche gelesen. In den fremden Sprachen liegt der bildende Wert der Gram-
matik in der Ausbildung der logisch-konstruktiven Tätigkeit. Aber „der sogenannte
grammatische Drill wird im Englischen, namentlich im Vergleich zum Französischen,
sehr zurücktreten; doch ist auch hierin auf Sicherheit in den Formen zu halten."
Als praktisches Lehrziel gilt zunächst : Das Verständnis eines nicht zu schwierigen
Textes; dann erst das freie Sprechen und das Verstehen der Umgangssprache.
„Das Werk ist ganz zu lesen" oder doch in Teilen, die durch vermittelnde Inhalts-
angabe zum Ganzen ergänzt werden können. Sehr beherzigenswert sind auch die
Schlußbemerkungen über die Methodenkünstelei und die ihr gegenübertretende
»einfache, natürliche Lehrmethode, welche der Persönlichkeit des Lehrers ihr volles
Recht bewahrt" und über die letzten Ziele des fremdsprachlichen Unterrichts, ein
solider systematischer Unterricht in der Grammatik und ein eindringliches
Studium von einigen hervorragenden Schriftstellern. — In der Veröffentlichung von
Friedenau sind diesmal die Lehrpläne des Deutschen, Französischen, des (wahl-
freien) Englischen, des Hebräischen, des Rechnens und der Mathematik, der Natur-
wissenschaften und die der Vorschule enthalten. Auch hier tritt der Gedanke her-
vor, philosophisch-präpodeutische Belehrungen im Anschluß an die Prosastücke
des Lesebuches vorzunehmen. Im Französischen sollen in IV „alle grammatischen
Erscheinungen auf induktivem Wege aus den Übungsstücken abgeleitet" werden.
Im Englischen wird auf die Lektüre eines Shakespearestückes im Urtext verzichtet,
und es wird dagegen eine Lektüre empfohlen, die in die englische Verfassungs-
geschichte und in die Entwicklung der englischen Kolonialmacht einführt. Im
übrigen schließen sich die Angaben den amtlichen Plänen an. ~ Jüterbog gibt eine
leicht übersichtliche, scharfe Einteilung des Lehrstoffes, zugleich in Anmerkungen
einige wohl durchdachte methodische Bemerkungen und Anregungen. Es ist eine
sehr erfreuliche Arbeit, deren Vollendung im nächsten Jahre man mit Interesse
entgegensehen kann. — Stolp hat für Gymnasium wie für Oberrealschule Pensen-
einteilung und Lektürestoffe, Aufsatzthemata usw. in der üblichen Weise, wie die
Jahresberichte sie bringen, zusammengestellt. Methodische Weisungen fehlen
infolgedessen ganz. — Von den vier Lehrplanveröffentlichungen, die das Lateinische
betreffen, behandelt Sp rottau nur den Unterricht in Sexta. Neben dem Abdruck
der amtlichen Vorschriften bringt es das Verzeichnis der eingeführten Lehrbücher
und die Verteilung des Stoffes auf die einzelnen Vierteljahre, endlich aber eine
Reihe methodischer Hinweise unter dem Titel „Die Stoffbehandlung". Energisch
wird die induktive Methode empfohlen, gleichzeitig aber das Ausgehen vom Verb
wie für die Erlernung jeder Fremdsprache so auch der lateinischen verworfen.
Die Erlernung der Konjugation beginnt nach der Behandlung des Substantivs.
„Zunächst werden aus leichten lateinischen Sätzen in gemeinsamer Arbeit zwischen
Lehrer und Schülern die numeri und casus der einzelnen Deklinationen unter be-
sonderer Hervorhebung der Endungen gewonnen. Hierauf erst erfolgt energische
Einübung und dauernde Wiederholung der Deklinationen." „In den Vordergrund
hat die Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche zu treten, nicht umge-
kehrt." „Zusammenhängende Stücke verdienen den Vorzug vor einzelnen Sätzen."
Sehr gediegene, richtige Grundsätze! — In dem dritten Teil seiner ausführlichen
Lehrpläne behandelt Schwarz die lateinische Lektüre. Wieder eine Fundquelle
über Lehrpläne und Schulrefornf. 177
trefflicher Bemerkungen, und als Ganzes betrachtet, — wenn der Nichtfachmann
ein Urteil wagen darf, — eine allseitig überlegte Anleitung. Das letzte Urteil
nachzuprüfen, wird man aber zu der Abhandlung selbst greifen müssen. Es zu
beweisen, würde schließlich einen Bericht fordern, der weit über die hier gesteckten
Grenzen hinausgeht. Sehr gefallen hat dem Berichterstatter die am Schluß ge-
gebene „Übersicht über die Ausnutzung der Zeit", die für jede Klasse die Zahl
der für die einzelnen Schriftsteller in Betracht kommenden Stunden festsetzt, eben-
so die für die einzelne Stufe gebotene: Übersicht über den Verlauf einer
Lektürestunde. Der Wert und die Bedeutung der Stegreifübersetzungen, die
Notwendigkeit sorgfältiger Pflege der Herübersetzungen wird stark hervorgehoben.
Über die Eigenart der gelesenen Schriftsteller fallen charakteristische Bemerkungen
(Nepos S. 112 — Livius S. 138 — Sallust S. 147 — Tacitus S. 157 usw.). — Bei
der Dichterlektüre wird davor gewarnt, Ovid und Vergil „für die Realien auszu-
schlachten." Zwar sollen die Schüler mit den Sagen der antiken Götter- und
Heroenwelt bekannt gemacht werden, und deshalb spielt das Mythologische eine
gewisse Rolle, „aber viel wichtiger ist es, in den Zöglingen die Freude an Ovid
zu wecken" (S. 174). Sehr richtig wird S. 164 über die ästhetische Erklärung ge-
sprochen, ebenso wie S. 192 über die Wiederholung des Gelesenen auf der Ober-
stufe. Kurz, ohne vielfache Anregung und Zustimmung wird wohl niemand die
Abhandlung aus der Hand legen. — Mancherlei Ähnlichkeit mit der eben be-
sprochenen hat die Arbeit Schenks. Auch sie ist ja die Fortsetzung und der
Abschluß früherer Veröffentlichungen. Besprochen wird zunächst die Lektüre,
dann die Behandlung von Grammatik, Wortschatz und schriftlichen Übungen. Den
Beschluß macht eine Anzahl von Vorlagen für die schriftliche Übersetzung in das
Lateinische. Was die „Einführung in das Kulturleben des klassischen Altertums"
betrifft, so wird davor gewarnt, zu viel zu geben. Dieselbe Stellung nimmt der
Verfasser gegenüber den Anschauungsmitteln ein, wie ja auch „die jetzt geltenden
Lehrpläne sie mit einer heilsamen Einschränkung empfehlen." Aus den Werken des
Tacitus wird ein Lektürekern herausgeschält, über die Behandlung seiner Latinität
und seines historischen Urteils wird gesprochen. Die Bedeutung der Horazischen
Episteln und Satiren gegenüber den Oden wird hervorgehoben. Auch hier ein
ins einzelne gehender Kanon. Empfohlen wird, bei Gelegenheit der Horazlektüre
die Unwissenheit der Schüler in der Heroensage zu bekämpfen. Gewarnt wird vor
zu eingehender Beschäftigung mit den Horazischen Metren. Es folgen Auseinander-
setzungen über die Privatlektüre. Für die Wiederholung und Sicherung des gram-
matischen Wissens wird die Benutzung von anziehenden aus der Lektüre ent-
nommenen Beispielen empfohlen, da die ewigen Wiederholungen der Grammatik-
paragraphen ermüdend sind. Doch muß systematisch verfahren werden, denn er-
fahrungsgemäß zeigt sich auf dem ganzen Gebiete der Syntax Unsicherheit, und
es genügt nicht mehr, diese mit gelegentlichen Wiederholungen zu bekämpfen.
Gewarnt wird vor der Bewertung der schriftlichen Übungen als Leistungsproben.
Überhaupt finden sich über den Betrieb der stilistischen Unterweisung und die
Art, wie die schriftlichen Übungen angewendet werden, eingehende Mitteilungen,
die vielleicht nicht unbedingte Zustimmung finden werden, aber doch zum Nach-
denken Veranlassung geben. Verbreitung und Beachtung verdient gewiß auch
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 12
178 M. Nath,
die Arbeit Schenks ebenso wie die von Schwarz. — Meurer und Niepmann
machen den Versuch, für den Unterricht im Lateinischen die Ergebnisse der
historischen Sprachforschung zu verwerten und dem Schüler die sprachlichen Er-
scheinungen historisch, d. i. in diesem Falle ursächlich näher zu bringen und ver-
ständlich zu machen, ihm zu zeigen, wie die Sprache ein Gewordenes und noch
Werdendes ist, wie physiologische und psychologische Gesetze ihre Gestaltung-
bestimmen. Das Maß dessen, was davon in den Schulunterricht hinüberzunehmen
ist, bestimmt sich dann danach, ob es dazu dient, das Interesse zu beleben und
das Verständnis zu erleichtern und zu vertiefen. Auszuscheiden ist alles, was
lediglich Hypothese ist, was nicht allgemeine Bedeutung hat, und was außerhalb
des Gesichtskreises der Schule und des Schülers liegt. — Die Kieler Lehrpläne
geben für den englischen Unterricht Anweisungen in derselben Übersichtlichkeit,
wie Schwarz und Schenk es für das Lateinische tun. Der Verfasser des Bochumer
Lehrplanes wird sich also mit ihnen nur wenig einverstanden erklären können.
Indessen ist der Geist, in dem sie abgefaßt sind, so gleicher Art, wie der der
Bochumer Pläne, daß die Mißbilligung nicht so arg wird sein können (vgl. S. 7
oben über Hausaufgaben und Auswendiglernen von Regeln, S. 6 über die Bewer-
tung der mündlichen Leistungen, S. 13 über die Gestaltung der Lektüre, S. 20 über
die Bedeutung der Kenntnisse, die den Schülern beizubringen sind, gegenüber
ihrer Erziehung zu tüchtigen Menschen, über die Gewährung von Freiheit und
Selbständigkeit an die Schüler der Oberstufe). Eine besonnene, gemäßigte Me-
thodik und Pädagogik tritt hier wie dort hervor. Sehr richtig gefaßt ist die
Forderung bei den Sprechübungen, „die unter allen Umständen der Lektüre und
der Grammatik gegenüber zurücktreten und nur als Nebenzweck des eigentlichen
Unterrichts betrachtet werden müssen," die Schüler an schnelles Fragen zu ge-
wöhnen, „da es beim praktischen Gebrauch der fremden Sprache weniger darauf
ankommt zu antworten, als richtig und schnell zu fragep". — Görlitz bietet in
der Vorbemerkung zu einem Lehrplan des Turnens bemerkenswerte Ausführungen
über die Dispensation vom Turnen, den Betrieb in der Vorschule, das Klassen-
turnen, Gesang und Turnen, die Lage der Turnstunde.
Über „Die Konzentration des Unterrichts und ihre Anwendung in
der Quarta des Gymnasiums" schreibt Seh uchm an n (Metz, Lyceum. No. 680,
4", 60 S.) eine fleißige Arbeit, die in der engeren Heimat des Verfassers gewiß un-
mittelbar benutzt werden kann, an anderen Stellen aber als Vorbild für gleichartige
Arbeiten dienen mag, indem an die Stelle der im Elsaß eingeführten Lehrbücher
und Lehrmittel die jedesmal im Gebrauch stehenden mit der gehörigen Rücksicht
auf ihre Eigenart gesetzt werden. Reichliche Literaturangaben erhöhen für diesen
Zweck noch die Brauchbarkeit.
Im besondern beziehen sich auf die Reformschulen P. Treutlein, Geschichte
des sogenannten Reformgymnasiums während des ersten Jahrzehnts
seines Bestehens. II. (Karlsruhe i. B., No. 814, 4», 30 S.), Kuhfuß, Zur
Gründung des selbständigen Reformrealgymnasiums (Magdeburg, No. 336,
4», 36 S.), A. Harnisch, Von der Aufgabe und Eigenart des Reform-
realgymnasiums (Kiel, No. 374, 4", 12 S), Rohleder, Zum Ausbau der
bisherigen Realschule zur Oberrealschule (Stargard i. Pom., No. 204, 4°,
über Lehrpläne und Schulrefcfrm. 179
21 S.). Endlich auch Häußer, Mündlich -grammatische Sprach- und
Sprechmethode für den Schulunterricht in den lebenden Sprachen
(Mannheim, Realgymnasium, No. 817, 4«, 20 S.).
Von weiteren Kämpfen um die Ausgestaltung und Anerkennung seiner An-
stalt berichtet Treutlein, bis zum glücklichen Ende nach vielfacher Not. Eine
große Zahl wertvoller Tabellen belehrt über die mannigfachsten, für die Entwicklung
und das Gedeihen der Anstalt maßgebenden Verhältnisse. Besonders hervorzuheben
ist dabei der große Zudrang zu der untersten Klasse, seitdem dem Realgymnasium
die reformgymnasiale Nebenanstalt angegliedert war. In Zustände, wie sie nicht
sein sollten, erhält man Einsicht durch die Mitteilung, daß in Baden die Zahl der fest-
angestellten Professoren zu den unständigen Praktikanten sich wie 4 : 1 verhält, daß
Mangel an Lehrern und an weiteren Schulzimmern Klassenteilungen verhinderte.
Schmerzlich vermißt man die Mitteilungen aus dem »inneren Leben der Schule",
die der hochverdiente Verfasser für die Zukunft verspricht. — Kuhfuß und Roh-
leder haben gleichfalls von mancherlei Kämpfen und Widerstand zu erzählen, den
die ihnen unterstellten Schulen bei Ausgestaltung als Reformrealgymnasium bzw.
als Oberrealschule erfuhren. Für den engeren Leserkreis ihres Elternpublikums
fügen sie dann allerlei hinzu über Verbreitung und Berechtigung des Typus.
Darüber hinaus bietet Kuhfuß auch noch einen historischen Überblick über die all-
gemeine Entwicklung des Reformschulgedankens und verbindet damit kritische
Bemerkungen über seinen Wert. Er ist der Ansicht, daß die Zeit kommen wird,
wo nicht nur sämtliche Realgymnasien, sondern auch die humanistischen Gymnasien
mit Französisch oder Englisch als erster Fremdsprache beginnen werden, daß der
gemeinsame Unterbau auf modern-fremdsprachlicher Basis sich siegreich durch-
ringen wird. Er erörtert weiter die Vorzüge, die der Beginn mit dem Französischen
hat und widerlegt die Gründe der Gegner. Er stellt fest, daß sowohl bei den
Schülern als auch bei den Lehrern an dieser Schulart eine größere Afbeitsfreudig-
keit herrscht. „Es ist ein frischer Hauch, der durch den Unterricht weht." —
Ohne Fachmännern etwas Neues sagen zu wollen, stellt Harnisch in seiner An-
trittsrede die wichtigsten Gesichtspunkte für die richtige Beurteilung des Reform-
realgymnasiums zusammen. Die überkommene Schulform sei in Einklang zu
bringen mit den veränderten Zeitbedürfnissen. Mit der wachsenden Selbständig-
keit des modernen Geisteslebens vollziehe sich unaufhaltsam eine größere Ab-
wendung vom Altertum. Ein neues Bildungsideal verlange Berücksichtigung im
Schulwesen. Denn die Schule müßte der allgemeinen Kulturbewegung notwendig
folgen. Ein Verdienst der deutschen Stadtverwaltungen sei es, wenn dies geschehen
sei. Der Staat habe sich wesentlich ablehnend verhalten. Die jetzt gegebene
Freiheit in der Wahl der Studien wege müßte zu rückhaltloser gegenseitiger An-
erkennung dem Elternpublikum gegenüber führen. Sei doch das Ziel dasselbe,
die Ausbildung des einzelnen zu einer geschlossenen, im Dienst des Ganzen
tüchtigen Persönlichkeit. Das trete hervor im Betrieb der neuen Sprachen, deren
praktische Anwendung zwar gründlich zu üben sei, während das letzte Ziel des
neusprachlichen Unterrichts nicht das sprachlich-technische bilde, sondern das
historisch-kulturelle, die Einführung in das Geistesleben der großen Nachbarvölker
an der Hand eines tiefgründigen Lehrstoffes. So auch im naturwissenschaftlichen
12*
180 M. Nath,
Unterricht, wo es sich darum handle, die in der Erforschung der Natur geleistete
gewaltige Geistesarbeit nachzudenken. Müssen auch für die Bekanntschaft mit der
griechischen Literatur Übersetzungen herangezogen werden, so wäre dies für die
Erschließung des geistigen Gehaltes der Schriftstellen belanglos, während
freilich zuzugeben sei, daß an ästhetischer Wirkung auch die beste Übersetzung
nie das Original erreiche. Recht einleuchtend wird dann (S. 8) erklärt, warum der
lateinische Unterricht, wie er in Tertia einsetze, die Schüler leicht voranbringt. Und
auch Harnisch hat eine gesteigerte Lernfreudigkeit der Schüler beobachtet, für die
er die Erklärung findet in dem Gefühl schnelleren Hinwegkommens über die
Schwierigkeiten der Grammatik. Eine eigenartig ausgeführte Übersichtstabelle über
die Lehrpläne und die Schultypen ist der Arbeit beigegeben. — Auf die Arbeit
Häußers hinzuweisen ist die Pflicht des diesjährigen Berichterstatters. Und am
besten findet dieser Hinweis hier seine Stelle. An der Hand mehrerer Lehrproben
verdeutlicht der Verfasser seine Absicht. Er kritisiert zunächt sehr heftig die
Absichten der Reformer, die Unmögliches verlangten, er weist darauf hin, daß die
alte Buchmethode gut war, solange man damit einverstanden war, daß die leben-
den Sprachen wie die toten gelehrt werden sollten. Aber sie versagte, als man
an die Schüler die Forderung stellte, die neuen Sprachen auch sprechen zu
lernen. Dies Ziel zu erreichen, in bestimmten Grenzen, aber immer grammatisch
korrekt, hat Häußer sich vorgenommen. Wie er es zu verwirklichen gedacht hat,
mag aus der Arbeit selbst ersehen werden. Ob ihm ein Gelingen geworden wäre, —
soll dahingestellt bleiben.
Gehen wir zu Reformbestrebungen im weiteren Sinne über, so ist zu nennen:
Wetekamp, Selbstbetätigung und Schaffensfreude in Erziehung und
Unterricht mit besonderer Berücksichtigung des ersten Schuljahres
(Schöneberg bei Berlin, Werner -Siemens -Realgymnasium, No. 137, 8^ 46 S.,
10 Tafeln).*) — Milau, Die Bedeutung des physikalisch-chemischen
Unterrichts und seine Förderung durch praktische Schülerübungen
(Kreuznach, Realschule, No. 666, 8°, 40 S.). — Höhnemann, Die physikali-
schen Schülerübungen am Gymnasium (Landsberg a.W., No. 94, 4°, 12 S.). —
Scheel, Das Lichtbild und seine Anwendung im Rahmen des regel-
mäßigen Schulunterrichts (Steglitz, Gymnasium, No. 104, 8», 52 S., 2 Taf.).**) —
Schoenichen, Natur und Schule in den Vereinigten Staaten von Nord-
Amerika (Schöneberg bei Berlin, Helmholtz- Realgymnasium, No. 136, 8°,
87 S.).***) — Knobloch, Über die Reform im Zeichenunterricht (Breslau,
katholische Realschule, No. 293, 80, 26 S.). — Rosenkranz, Wie kann das
Zeichnen in den anderen Unterrichtsfächern angewendet werden?
(Saarlouis, Gymnasium, No. 606, 4", 17 S.). — Wenner, Zur Methodik des
Gesangunterrichts auf höheren Schulen (Bonn, Königl. Gymnasium,
No. 560, 4°, 19 S.).
Eine anziehende, eigenartige Leistung bietet W. Wetekamp. Er erzählt von
einer neuen Art, wie er die kleinen A-B-C-Schützen, die die Bänke der dritten
*) Verlag von B. G. Teubner, Leipzig u. Berlin, kart. 1,80 M.
**) Verlag von Quelle u. Meyer, Leipzig, 1,20 M.
***) Verlag von B. G. Teubner, Leipzig u. Berlin, kart. 1,80 M.
über Lehrpläne und Schulreform. 1$1
Vorschulklasse drücken, in die Elemente der Wissenschaften einführen läßt, sehr
abweichend von den Gepflogenheiten der großen Menge, möglichst angepaßt der
körperlichen Eigenart und dem Standpunkt der geistigen Entwicklung bei dem
jungen Volk, mit großem Beifall und Erfolg in den Kreisen der beteiligten Eltern.
Auf den beigegebenen Tafeln sehen wir allerhand Erzeugnisse der Kinder, Blei-
stiftzeichnungen, Abbildungen ihrer Fertigkeit im Formen in Plastolin, wir sehen
die Kinder selbst eifrig bei der gerngetanen Arbeit, wir erblicken endlich auch in
einer Anzahl von Schriftproben die Ergebnisse des neugestaltenen Unterrichts, die
am Schlüsse des Schuljahres trotz des neuen Weges doch denen gleichen sollen,
die auf dem gewöhnlichen Weg erreicht werden. Ein Vorgang, der zur Nach-
ahmung reizen kann. Man wende sich an den jedem Kinde innewohnenden Be-
schäftigungstrieb und gebe Gelegenheit zur praktischen Betätigung, indem man
insbesondere im Anschauungsunterricht sich nicht auf das Anblicken der Bilder be-
schränkt, sondern die Kinder die ihnen bekannten Gegenstände formen und zeichnen
läßt. Das Formen als das Körperliche und damit Konkretere und Einfachere muß
dabei dem auf die Fläche beschränkten und damit schon abstrahierenden Zeichnen
natürlich vorangehen. An das Formen schließt sich die Betrachtung der Umrisse
an, die zunächst mit größeren und kleineren Stäbchen gelegt und späterhin mit ein-
fachen geraden Bleistiftstrichen nachgezeichnet und mit Buntstiften gefärbt werden.
Daneben geht die Übung des Ohres einher. Auf deutliches Sprechen und damit
verbunden deutliches Hören wird großes Gewicht gelegt. Allmählich geht es dann
auch an die Darstellung der Laute durch Buchstaben. Es werden Buchstaben-
täfelchen (der lateinischen Schrift) hergestellt und mit ihnen Lese- (und Schreib-)
Übungen vorgenommen. Mit der Zeit entsteht (durch Druck mittels einer kleinen
Tiegelpresse) ein selbst hergestelltes kleines Lesebuch. Mit den Legeübungen
werden gleich von Anfang an praktische Rechenübungen verknüpft, indem zunächst
an den Stäbchen das Zählen gelernt wird. Allmählich lernt der Schüler auch das
allereinfachste Addieren und Subtrahieren, die Zahlbegriffe prägen sich fest ein.
Das verpönte Abzählen an den Fingern wird verteidigt. „Es ist jedenfalls unver-
gleichlich viel besser, wenn der Schüler eine Aufgabe, die er noch nicht gedächtnis-
mäßig kann, an den Fingern sich ausrechnet, denn er ist dabei doch wirklich tätig,
als wenn er sich infolge des Nichtwissens gar nicht beteiligt." (S. 20.) Sind dann
Augen und Hände der Kinder durch Formen, Stäbchenlegen, Lesen und Zeichnen
im Anschauungs- wie Rechenunterricht gut geübt, dann ist es Zeit, zum wirklichen
Schreiben überzugehen, und zwar sofort mit Tinte und Feder. Das Schreibenlemen
geht dann sehr schnell vorwärts. Geübt wird die Steilschrift. Sehr hübsch ist die
Bemerkung: „Die Einübung der Hand durch das Zeichnen und Formen hat auch
noch den Vorteil, daß der Lehrer hierbei viel weniger streng in der Beurteilung
sein kann. Er kann mehr lobend und aneifernd tätig sein, während er beim Schreiben
gezwungen ist, auf eine möglichst korrekte Form zu halten, da ja sonst niemals
eine gute Schrift herauskommen kann" (S. 22). An die Darstellung des von ihm
angegebenen Verfahrens knüpft Wetekamp noch eine Reihe von Betrachtungen,
die das Prinzip dieses Verfahrens in das Ganze des Unterrichts eingliedern.
Diese Betrachtungen verdienen ebenso wie die Darstellung selbst die Beachtung
jedes Pädagogen. Die Erörterungen über Handfertigkeitsunterricht als Unterrichts-
182 M. Nath,
fach und Unterrichtsprinzip, die Verbindung von Handfertigkeitsunterricht mit der
Anfertigung physikalischer Apparate und der Zusammenhang mit den Schüler-
übungen, über den Verzicht einer erschöpfenden Darstellung aller Gebiete auf
naturwissenschaftlichem Gebiete, über eine mögliche Änderung in der Methode
des sprachlichen Unterrichts, über die Wahlfreiheit auf der Oberstufe und die da-
mit zusammenhängende Änderung der Reifeprüfung, über die Notwendigkeit einer
Verkürzung der Studien. Eine solche ist „aus volkswirtschaftlichen Gründen auf
die Dauer unumgänglich nötig, unsere jungen Leute kommen jetzt viel zu spät
in den Beruf (S. 42). Es ist eine gedankenreiche, höchst beachtenswerte Arbeit,
die den Weg zur Neugestaltung weist und ein Wegweiser sein kann, wo guter
Wille und Stetigkeit des Wollens vorhanden sind. — Wie der Gedanke der physi-
kalischen Schülerübungen immer weiteren Boden faßt und praktisch ausgestaltet
wird, zeigen die Arbeiten von Milau und Höhnemann. Die zweite berichtet,
wie ein eifriger Lehrer unter ungünstigen Verhältnissen sich zu helfen sucht, um
das Mögliche zu leisten. „Denn wollten alle Physiklehrer sich diese Forderungen
(sei. eines gut ausgestatteten Arbeitsraumes) zu eigen machen, so würde die für so
dringend wünschenswert gehaltene Ergänzung des Demonstrationsunterrichts durch
praktische Übungen auf Jahre hinaus ein Privilegium mit reichen Mitteln ver-
sehener oder neu eingerichteter Schulen bleiben." So geht er frisch ans Werk und
da das Arbeiten „in gleicher Front" nicht möglich ist, begnügt er sich mit der
„regellosen Arbeitsweise", der er auch einige Vorteile nachrühmt, z. B. den, daß
sie es ermöglicht, persönliche Wünsche einzelner Schüler bezüglich bestimmter
Übungen zu berücksichtigen. Er befürwortet die Einführung praktischer Übungen
auf der Unterstufe, und zwar innerhalb der Pflichtstunden, was bei einfachen
Mitteln, passender Auswahl und entsprechender Beschränkung des Lehrstoffs mög-
lich sein würde und er begründet den Vorschlag mit der Erfahrung, daß auf dieser
Stufe der Drang nach praktischer Betätigung besonders stark sei. Wenn er ferner
berichtet: „Als die Staatsregierung wiederholt in sehr dankenswerter Weise Be-
träge gewährte, die allein für die Schülerübungen bestimmt waren . . . erfolgten
diese Zuwendungen stets unvorhergesehen und waren mit der Bedingung ver-
knüpft, in sehr kurzer Frist, ja von einem Tage bis zum nächsten, eingehende
Vorschläge über die Verwendung der Mittel einzureichen", so trifft er damit einen
wunden Punkt, einen nicht selten empfundenen Übelstand, dessen Beseitigung
doch nicht außerhalb des Möglichen liegen dürfte. — Allseitiger als Höhnemann
behandelt Milau sein Thema. Seine Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. Im
ersten behandelt er die wachsende Bedeutung des naturwissenschaftlichen Unter-
richts und betont dessen formale und ästhetisch-ethische Bedeutung, im zweiten die
praktisch-heuristischen Unterrichtsmethoden im allgemeinen, wobei er wie Höhne-
mann auf der Unterstufe eine innige Verschmelzung des Klassen- und Labora-
toriumsunterrichts als dringend wünschenswert bezeichnet, weil die Übungen gerade
die Grundbegriffe vermittelten. An Wetekamps Gedanken anklingend wünscht er
einen Handfertigkeitsunterricht in Quinta und Untertertia, der die Schüler in den
Besitz aller der Handfertigkeiten bringen solle, die sie zu dem späteren Praktikum
bedürfen. Im dritten Kapitel spricht der Verfasser über Schülerübungen an kleineren
Anstalten, über die eigenen Erfahrungen, im vierten endlich stellt er eine Aus-
über Lehrpläne und Schulreform. 183
#
wähl von Übungen zusammen. — Eine sehr ansprechende Darstellung der Förde-
rung, die die Reform des Zeichenunterrichts diesem Lehrgegenstande gebracht
hat, gibt Knobloch. Er stellt die Vorteile der neuen Methode in ein helles Licht
gegenüber den Mängeln des Althergebrachten, er verteidigt ihre Eigenart gegen
die Angriffe der Gegner und Zweifler und illustriert seine Ausführungen durch eine
große Zahl anmutender Bilder. Die Arbeit ist wohl geeignet, in den Kreisen der
Eltern wie auch in denen der höheren Lehrer selbst die ganz veränderte Lage und
Bedeutung dieses Faches zur Erkenntnis zu bringen. So kann es denn auch
Rosenkranz unternehmen, das Zeichnen als ein vorzügliches Mittel für die Kon-
zentration des Unterrichts in Anspruch zu nehmen, das zur Veranschaulichung
eines durchzunehmenden Stoffes dienen und somit beim Unterricht als Erklärung
neben das gesprochene Wort treten soll. Nach Erörterung der Fragen: l. Wer
soll zeichnen? 2. Wie soll gezeichnet werden? 3. Was soll gezeichnet werden?
geht der Verfasser dazu über, für die einzelnen Unterrichtsgegenstände einen Kanon
dahin zu entwerfen, was durch Zeichung zu erläutern sei. Man wird, trotz aller
Anerkennung für die Richtigkeit des Prinzips und für das Streben des Verfassers,
nicht umhin können, bezüglich der Ausdehnung dieser Bestrebung und der An-
gemessenheit in einzelnen Fällen abweichender Ansicht zu sein. — Scheel ver-
sucht durch den Lichtbildapparat die Anschaulichkeit des Unterrichts zu heben.
Zwar besitzen wir einige größere literarische Publikationen über die Verwendung
von Lichtbildern im Unterricht, indessen wird diese kleinere Veröffentlichung, die
alle Seiten der Frage bespricht, für die erste Orientierung sehr nützlich sein und
sollte in jeder Anstalt den Lehrern leicht zur Hand sein. Auch sie bietet einen
Überblick, wie in jedem Fache der Projektionsapparat mit Nutzen verwendet
werden kann, aber sie geht nicht so ins einzelne wie Rosenkranz es tut, und, da
bei dem Vorhandensein eines Skioptikons die Vorstellung der Bilder weniger Zeit
in Anspruch nimmt als die von Zeichnungen, die der Lehrer in der Stunde ent-
werfen soll, sind die Vorschläge leichter zu befolgen und haben mehr Aussicht
benutzt zu werden. — Schoenichens Arbeit beruht auf eingehenden Studien,
die der Verfasser in Amerika gemacht hat. Sie behandelt ohne Voreingenommen-
heit weder für die dortigen, noch für die heimischen Verhältnisse den Stand des
biologischen Unterrichts in den Vereinigten Staaten und legt dar, was von uns dort
gelernt werden kann. Der Verfasser kommt zu Beginn seiner Darlegungen auf
den Unterschied zu sprechen, den der Amerikaner zwischen Nature-study (der Auf-
gabe der Volksschule) und natural-science (der der höheren Schule) macht. „Nicht
einen abgeschlossenen Schatz sicherer Kenntnisse will die Volksschule ihrem
Schülermaterial mit auf den Lebensweg geben, sondern die Fertigkeit, dereinst im
Lebenskampfe selbständig sich weiter zu bilden; nicht einen toten Besitzstand an
Wissen will sie übermitteln, sondern lebendige Entwicklungsenergie zum Weiter-
streben". (S. 5, vgl. dazu den Lehrplan S. 63—72.) Sehr treffend ist seine Unter-
scheidung von dreierlei Arten des Beobachtens, des konstatierenden, des registrieren-
den, des entdeckenden, von denen das letzte für die Zwecke des Unterrichts das
bedeutsamste ist. Von hier aus wird das Lehrverfahren bei Berücksichtigung des
biologischen Prinzips als ein doppeltes charakterisiert, entweder als ein Lehrverfahren
mit voraufgehender Denkübung und nachfolgender Beobachtung erster Stufe, oder
184 M. Natb,
als ein solches mit voraufgehender Beobachtung dritter Stufe und nachfolgender
Denkübung. Die Überlegenheit des zweiten Lehrverfahrens wird hervorgehoben,
zugleich auf die Gefahren einer hyperteleologischen Naturauffassung hingewiesen.
»Wenn wir beobachten, daß irgendein Organ zu einer bestimmten Funktion
wohlgeeignet ist, so folgt daraus keinesfalls mit Notwendigkeit, daß die Er-
füllung jener Funktion auch der beabsichtigte Zweck der Natur sei" (S. 17).
Das richtige Verfahren werde nun, bei dem Mangel an geeigneten Lehrern
keineswegs überall in Amerika angewendet, ein Verbalismus herrsche teilweise, der
übrigens auch in Europa keineswegs ganz ausgestorben sei. Auf die Verbindung
des Handfertigkeitsunterrichts mit dem naturkundlichen wird auch von Schoenichen
hingewiesen, ein Verhältnis, das der Verfasser in dieser Form für nicht übertrag-
bar auf die deutschen Schulen hält (S. 26). Im zweiten Kapitel „das Prinzip der
Anschaulichkeit" betitelt, wird behandelt: 1. Das Naturobjekt, das soweit irgend
angängig als lebendes verwertet wird, so daß auf gute Schulsammlungen von ge-
stopften Tieren und Präparaten ein geringes Gewicht gelegt wird. 2. Die An-
schauungsbilder, mit denen die amerikanischen Anstalten durchweg geradezu
dürftig ausgestattet sind. 3. Das Zeichnen, das bei der „beneidenswerten Zeichen-
fähigkeit der Lehrer" viel geübt wird, vor allem das selbständige Zeichnen nach
der Natur und das nach dem Gedächtnis. „Was für den Sprachunterricht die
Vokabeln bedeuten, das ist in der Naturkunde der Inhalt des Formgedächtnisses".
(S. 37.) 4. Die Exkursionen, die planmäßig nach den Museen der großen Städte,
nach den zoologischen Gärten usw. unternommen werden. Die großzügigen
Einrichtungen, die die amerikanischen Institute dieser Art besitzen, werden
rühmend betont. 5. Der Schulgarten und das Praktikum. Bei ersterem wird
neben dem didaktischen Nutzen auch der erziehliche Wert hoch geschätzt. Bei
der Besprechung der Arbeiten im Laboratorium wird vor zu starker Bevorzugung
der mikroskopischen Übungen gewarnt. Der makroskopische Kursus hat den Vor-
teil, daß er weniger kostspielig ist. Dann aber „Wenn wir auf der Oberstufe
einem höheren Schüler wieder Biologie lehren dürfen, so ist damit keineswegs ge-
stattet, Dinge, die dem Hochschulstudium vorbehalten sind, für die Mittelschulen
vorweg zu nehmen. Vielmehr haben wir hinreichend zu tun, wenn wir uns darauf
beschränken, unseren Schülern die grundlegenden Kenntnisse von der Organismen-
welt zu übermitteln, und wenn wir stetig dafür Sorge tragen, daß die Beobachtungs-
kunst nicht zum geistigen Rudiment degeneriert". Im letzten Abschnitt spricht
Schoenichen über die Vorbildung der Lehrer. Er weist zunächst darauf hin, daß
es in Amerika eine strenge Scheidung in akademisch und seminaristisch ausge-
bildete Lehrer nicht gebe. Der amerikanische Lehrer erlangt seine berufliche Vor-
bildung in der Regel auf einer Normal School. Der Eintritt in eine derartige An-
stalt hat den vollständigen Besuch einer High School zur Voraussetzung, so daß
in der Union der Lehrer die gleiche allgemeine Bildung aufweisen kann wie die
übrigen gelehrten Stände. Die Ausbildungszeit auf der Normal School umfaßt in
der Regel zwei Jahre. Schoenichen berichtet, was auf anderen dieser Schulen an
naturwissenschaftlichen Belehrungen geboten ist. Ebenso von denTeacher's Colleges,
deren Besuch 4—5 Jahre in Anspruch nimmt und dem Studierenden eine um-
fassendere und wissenschaftlichere Vorbildung sowohl in den Spezialfächern als
über Lehrpläne und Schulreform. 185
auch in der Pädagogik verschaffen soll. Als Vorzüge der amerikanischen Ver-
hältnisse betrachtet der Verfasser einmal das offenkundige Bestreben, den Stu-
denten mit der Natur selbst bekannt zu machen und dann die außerordent-
liche Wertschätzung, die man in den Vereinigten Staaten der Methodik der
einzelnen Lehrgegenstände, insbesondere auch der Naturwissenschaften, ent-
gegenbringt. Man betrachtet sie als eine Wissenschaft und räumt ihr daher
innerhalb des Studienplanes den ihr gebührenden Platz ein. Auch für die euro-
päischen, im besonderen die deutschen Schulen und deren Lehrer wünscht Schoe-
nichen die gleichen Vorbedingungen. Der Schluß seiner Arbeit ist einer Aus-
einandersetzung A. E. Bungers gewidmet, der (diese Monatschrift VI, S. 500ff.)
gegen des Verfassers Darlegungen im Novemberheft des Jahrgangs 1906 polemisiert
hatte. Die kurze Skizze der Schoenischenschen Abhandlung zeigt schon, wie viel
an reformatorischen Gedanken in ihr enthalten ist. Möge sie also einen weiten
Leserkreis finden. *) — Wann er bespricht die Fragen des Gesangunterrichts,
Stimmpflege und Stimmbildung, vor allem dann die Anleitung zum Singen nach
Noten, „das vom Blatte Singen", die theoretischen Belehrungen, den Übungsstoff
und seine Behandlung, den Chorgesang, so daß auch ein dem Fach Fernstehender
dafür Verständnis und Interesse zu gewinnen vermag.
*) Bei der Besprechung aller dieser Arbeiten, die eine mehr oder minder bedeutende
Wandlung des höheren Unterrichts anstreben, kann schließlich nicht ganz unerwähnt bleiben,
was aus Kreisen, die außerhalb des offiziellen Schulwesens stehen, zur Lösung dieser Fragen
herbeigetragen wird. Und so sei heute hingewiesen auf den „Ersten Jahresbericht
der freien Schulgemeinde Wickersdorf« (1. September 1906 bis 1. März 1908), die die
Leiter Paul Geheeb und Dr. G. Wyneken bei Eugen Diederichs in Jena veröffentlicht
haben (8», 30 S.). Die bei Saalfeld in Sachsen-Meiningen gelegene Erziehungsanstalt hat
sich abgespalten von dem durch Dr. H. Lietz begründeten Landerziehungsheim (Pulver-
mühle, Haubinda, Schloß Biberstein) und arbeitet, wenn auch in völliger Unabhängigkeit,
nach gleichen Grundsätzen. Die mit 18 Knaben und 1 Mädchen im Herbst 1906 eröffnete
Anstalt zählte schon Ostern 1907 65 Zöglinge, darunter 9 Mädchen. Von der gemein-
samen Arbeit in ländlichen Stillen erzählt nun der Bericht, von dem Leben in Wald und
Feld und der körperlichen Arbeit ebenso wie von Leben und Arbeit in der Schulstube, von
den Ausflügen und Reisen, von den Aufführungen und Vorträgen, von dem Gemeinschafts-
leben der Lehrer und der Schüler. Denn als Schulgemeinde bezeichnet sich die Anstalt
als ein Ganzes, dem Lehrer wie Schüler gleichmäßig angehören. Jeder Schüler wird zum
Gefühl seiner Verantwortlichkeit für das Ganze erzogen, indem er an den Ordnungen des
Ganzen mitarbeitet und zur Gesetzgebung und Beratung von dessen Verfassung heran-
gezogen wird. Der Geist der Schule soll sich offenbaren in einem freundlichen, ja freund-
schaftlichen Verhältnis zwischen Lehrern und Zöglingen. Gepflegt wird dieses im besondern
durch die Institution der .Kameradschaften", indem um einen Lehrer eine Anzahl von
Schülern nach eigener Wahl sich gruppieren, ihn zu ihrem besonderen Vertrauten erwählen,
der sich dann für das Wohlverhalten und Wohlergehen seiner Tutel im besonderen verant-
wortlich fühlt. Im Unterricht soll die Selbsttätigkeit der Schüler besonders gepflegt und
entwickelt werden. Der Bericht gibt von den Versuchen Kunde, die besonders im neu-
sprachlichen und im mathematischen Unterricht gemacht wurden und sich besonders auf die
oberen Klassen bezogen. „Sobald der Schüler fähig ist, nach einem Buch zu arbeiten, darf
unseres Erachtens kein Unterricht mehr erteilt werden, bei dem der Lehrer nur das Buch
reproduziert. Er ist dann lediglich Examinator; allerdings ein Examinator, der nach ge-
taner Arbeit die gewonnenen Kenntnisse unter sich und mit denen anderer Gebiete ver-
knüpft und neue Perspektiven eröffnet. Der Primaner kann schon so arbeiten, wie der
186 M. Nath,
Einige Einzelheiten sind weiter zu erwähnen. In den Rahmen der Schulreform
gehören ja auch die Schülerreisen. So berichtet diesmal Otto Richter über Er-
fahrungen von sieben Schülerreisen nach Rom (Schöneberg b. Berlin, Prinz
Heinrichs -Gymnasium. No. 99, 4^, 14 S., 1 Tafel). Wer dem Verfasser die ge-
wiesenen Pfade nachgehen will, findet auf den wenigen Seiten vielfache Belehrung
auf Grund der langen Bekanntschaft, die diesen mit Rom verbindet. Es ist ein
Vergnügen, die Blätter zu lesen und die Lust kommt einem an, unter solcher
Führung und einer Lehrgabe, an die der Berichterstatter dankbaren Herzens aus seiner
Schulzeit sich erinnert, die ewige Stadt in frischer Jugend kennen zu lernen.
A. Schaefer teilt zum andernmal „Erfahrungen aus der Sexta eines
Gymnasiums ohne Vorschule" mit (Rössel, Gymnasium. No. 16, 4", 14 S.),
gefällige Plaudereien, die doch des pädagogischen Wertes nicht entbehren und
immer wieder gelesen werden können, vom jungen Probanden und Oberlehrer, der
die Freuden solcher Tätigkeit zum erstenmal genießt, wie auch von manchem
andern, der schon weiter voraus ist. Denn was der Verfasser sagt, ist beherzigens-
wert auch für weitere Kreise. — Die Schule im Dienste sozialer Erziehung
behandelt H. Grein (Neunkirchen, Realgymnasium. No. 641, 8«, 98 S.). Es ist
eine tiefgründige, erschöpfende Untersuchung, die oft zu Rate gezogen werden
kann, wo im Augenblick das Verhalten des Lehrers nicht von vorn herein fest be-
stimmt ist, wie auch ihr Studium dem Anfänger vielfach für die Zukunft das Ver-
halten wird festlegen können. Den Inhalt auch nur andeutungsweise zu skizzieren,
läßt der Raum nicht zu. Hinzuweisen ist z. B. auf die Forderung, daß die Schule,
„der ja die Disziplinar- und Straf gewalt in ihrem Bereiche ohne weiteres ein-
geräumt wird, auch mit größeren Untersuchungsrechten ausgestattet werde, die im
öffentlichen Leben nur den staatlichen Ordnungsbehörden zustehen (Recht der
Haussuchung, des Verhörs und des Zeugniszwangs, anwendbar nicht nur auf
Schüler, sondern auch auf Angehörige derselben und andere der Schule fern-
stehende Personen [S. 33]). S. 53 wird gezeigt, wie die Individualität des Schülers
zu benutzen sei, um sein im ganzen unsoziales Verhalten zu bessern (Benutzung
besonderer Talente etc.). „Jedenfalls muß die Schule, je unsozialer ein Schüler
veranlagt ist, mit desto größerem erzieherischen Interesse ihm näher treten. Die
Verschärfung der Disziplinarmittel wird hier wenig oder gar nichts helfen." „Die
Schule hat in der Begeisterungsfähigkeit und dem Autoritätsglauben der Jugend
zwei überaus mächtige Hilfskräfte zur Verfügung." „Lehrt doch die Erfahrung,
daß die begeisterte Jugend selbst gegenwirkenden häuslichen oder andern nahe-
stehenden Einflüssen gegenüber oft mit Stolz und Mut den Standpunkt der Schule
verficht, verteidigt und hoch hält" (S. 75). „Je einfacher und schlichter die Jugend
Student auf der Hochschule arbeiten soll; wenn wir den einen so arbeiten lassen, wird es
der andere dereinst auch können, und der Übergang von der Schule zur Hochschule wird nur
einen Wechsel der Lehrer bedeuten, nicht ein Aufhören oder ein erstes Anfangen der
Arbeit." (S. 16.) Diese Grundsätze werden auch sonst und vor allem da zur Geltung
kommen können, wo mit der »freien Gestaltung auf der Oberstufe" Ernst gemacht wird.
Ein ansprechendes Bild des Lebens in Wickersdorf entwirft übrigens aus eigener Anschauung
W. Heine im .März", 2. Jahrgang, Heft 5, S. 444-456.
über Lehrpläne und Schulreform. \^J
0
die Natur genießt, desto inniger und lockender ist der Genuß. Demgemäß läßt
sich komplizierte, Geist und Körper für sich in Anspruch nehmende sportlich^
Betätigung nicht mit reinem Naturgenuß verbinden" (S. 78). Wenn S. 89
„die vielfach angestrebte und durchgeführte Gründung von . . Schüler-
vereinigungen . . vom Standpunkte der sozialen Erziehung aus nicht vollständig
gebilligt" wird, weil „die Jugend vor den vielfachen unverkennbaren sozialen
Schädigungen, die das so sehr ausgebildete und daher die Menschen nicht
nur vereinigende sondern auch trennende Vereinswesen unserer Zeit mit sich
bringt, bewahrt werden muß," so möchte der Berichterstatter, da er ja schrift-
stellerisch für die Förderung der Schülervereine eingetreten ist, nicht verfehlen',
auch im Hinblick auf die Bemerkung in dieser Monatschrift Jahrg. V, S. 484 hier
seine Stellung dahin zu präzisieren, daß er niemals die Gründung von Vereinen
empfohlen hat, nur damit Vereine da seien, sondern nur, wo der Wunsch danach
aus Schülerkreisen sich geltend macht, ihm nachzugeben geraten hat, um
Schlimmeres (geheime Schülerverbindungen) zu verhüten. Fürsich selbst ist
er einer der wenigen „ vereinsfeindlichen " Deutschen und glaubt einen ziemlich
hohen Rekord zu schlagen, wenn es darauf ankommt nachzuweisen, zu welchen
Vereinen er nicht gehört.
Auch einige Biographien liegen vor. Ein anspruchsloses Bild vom Leben
Johann Julius Heckers zeichnet Kiehl (Berlin, Kaiser Wilhelm-Realgymnasium.
No. 109, 40, 7S.), C. Rethwisch erzählt von Leopold v. Ranke als Ober-
lehrer in Frankfurt a. O. (Charlottenburg, Kaiserin Augusta-Gymnasium. No. 79,
8°, 51 S.), Haupt schreibt „Zur Erinnerung an Franz Devantier" (Eutin,
Gymnasium. No. 875, 8^ 39 S.). Ein fesselndes Bild von dem Leben des Menschen,
des Lehrers und des Forschers Ranke während der sieben Jahre, die er als Gym-
nasiallehrer in Frankfurt a. O. verlebte, auf dem Hintergrunde der Verhältnisse, die
die damals 15000 Einwohner zählende Provinzialstadt mit sich brachte, und eben-
so im Hinblick auf die politischen und wissenschaftlichen Zustände Deutschlands
zeichnet Rethwisch in seiner Programmarbeit. Und wenn wir in ihr gewisser-
maßen das Vorleben des großen Historikers kennen lernen, die stille Zeit, da er
sich die Kräfte für seine eigentliche Lebensarbeit schulte, so schildert Haupt uns
das gleichmäßig stille Dahinleben eines wahren Schulmannes, für den sein Beruf
im Mittelpunkte seines Denkens stand, so wenig dieses sich doch auf ihn be-
schränkte, vielmehr der Wissenschaft, der hehren Kunst der Musik sich zuwendete.
Wie Freud und Leid, entsagungsreiches Universitätsleben und siegreiches Vorwärts-
kommen, freudiger Erfolg und schmerzreiches Entsagen sich im Leben Devantiers
ablösten, sieht der Leser an sich vorbeiziehen und wird menschliche Teilnahme
auch dem bescheidenen Geschick nicht versagen.
Schon einige Male ist am Schlüsse dieser Übersicht auf die Veröffentlichung
von Schulreden hingewiesen worden, in der Überzeugung, daß sie so recht ein
Gegenstand der Beilagen zu den Jahresberichten sind, weil sie, falls sie nur ein
wenig über das Legale sich erheben, ein Zeichen von dem Geiste sind, der in der
Anstalt lebt, von dem ein Hauch und hoffentlich mehr als wie ein Hauch die
Schüler berührt. So mag auch heute auf die Abschiedsrede hingewiesen werden,
die A. Biese seinen Abiturienten gehalten hat (Neuwied, Gymnasium. No. 601,
188 F. Marcks,
4^, S. 28—31), die Th. Storms Vermächtnis „An meine Söhne" zum Thema nahm
und in der Mahnung dieser Dichtung gipfelt:
„Was du immer kannst, zu werden
Arbeit scheue nicht noch Wachen,
Aber hüte deine Seele
Vor dem Karriere-Machen."
Und mit noch lebhafterer Gebärde möchte der Berichterstatter auf die „Aus-
gewählten Schulreden" weisen, die Heinrich Anz geboten hat (Nordhausen,
Gymnasium. No. 319, 4^, 35 S.), geboten zu einem Zeitpunkt, ,wo er allgemach
nach der Feierabendstille ausschauen" wollte, um „mit solcher Auswahl und Zu-
sammenstellung ein Bild davon zu geben, wie er eine seiner amtlichen Aufgaben
faßte", und weil doch „schnell verklingt . . das gesprochene Wort, dem später
noch nachsinnen zu können, doch vielleicht diesem und jenem, der's vormals hörte,
willkommen ist." Wer ihnen einst gelauscht, wird wie der Berichterstatter, der fast
ein Jahrfünft hindurch mit dem Verfasser Tür bei Tür unter demselben Dach in
Frieden und Freundschaft des gleichen Amtes waltete, wünschen, daß mancher
Leser den Redner aus seinen Worten kennen und lieben lerne als feinsinnigen
Menschen, als vom Geist der Klassiker erfüllten Lehrer, als humorvollen Philo-
sophen, als gottergebenen Christen.
Pankow. Max Nath.
Geschichte.
1907.
König, Johannes, Mitteilungen aus dem assyrisch-babylonischen
Altertum. Zweiter Teil. Dramburg, Kgl. Gymnasium. Progr. No. 169.
Der Verfasser legt zunächst dar, wie die Entzifferung der Keiltexte er-
möglicht worden ist und wie die Babylonier zu ihrer Schrift gekommen sind; dann
zeigt er, welche Erweiterung unsere Geschichtskenntnis durch die Entzifferung der
Keiltexte gewonnen hat; zum Schluß wendet er sich gegen den von namhafter
Seite gemachten Versuch, die Religion Israels mit ihrem Monotheismus gegen
das, was Babel hatte, zurückzusetzen oder aus Babel abzuleiten, einen Versuch,
den er als völlig mißlungen ansieht.
Baumgarten, Fritz, Knosos. Freiburg i. B., Bertholdsgymnasium, Progr.
No. 764.
Auf Grund persönlicher Kenntnis der Örtlichkeit und der englischen Aus-
grabungsberichte entwirft Baumgarten ein Kulturbild von Knosos, das unser leb-
haftes Interesse erregt und des Dankes der Fachgenossen um so sicherer sein darf,
als der Stoff weitschichtig, wenig verarbeitet und nicht für jedermann leicht zu-
gänglich ist. Die Darstellung fesselt den Leser um so mehr, als sie ihn die
Fahrt des Verfassers von Athen nach Kreta miterleben läßt. Bildertafeln dienen
zur Veranschaulichung des Gegenstandes.
Richter, Otto, Beiträge zur Römischen Topographie. III, Die Allia-
schlacht. Berlin, Prinz Heinrichs-Gymnasium. Progr. No. 95.
Geschichte. # 139
Richter verteidigt seinen Ansatz der Alliaschlacht auf dem linken Tiberufer,
den er im ersten Teile seiner Beiträge gemacht hat und der in dieser Monatschrift UI
(1904), 176 zustimmend besprochen ist, gegen die von E. Meyer erhobenen Be-
denken.
Kaiser, Bruno, Untersuchungen zur Geschichte der Samniten. I.
Pforta, Landesschule. Progr. No. 303.
Der Verfasser will den Versuch machen, den Verlauf des Kampfes zwischen
Römern und Samniten darzustellen, durch den Roms Herrschaft in Mittelitalien
entschieden wurde, und gibt in der vorliegenden Arbeit die Einleitung dazu.
Nach einem Überblicke über unsere Quellen geht er auf die Herkunft der Samniten
ein, stellt den ^Umfang des Gebietes der samnitischen Eidgenossenschaft fest, legt
die Verfassung des Bundes dar und verfolgt dann die ältere Geschichte der
Samniten und den Einfluß, den sie auf die Geschichte Roms schon in einer Zeit
ausgeübt haben müssen, aus der von unmittelbaren Beziehungen der Römer zu
den Samniten noch nirgends die Rede ist. Der Verfasser hat die Überlieferung
der alten Schriftsteller ausgiebig verwertet und auch die neueren Darstellungen
und Forschungen sorgfältig zu Rate gezogen.
Dissel, Karl, Der Opferzug der Ära Pacis Augustae. Hamburg,
Wilhelm-Gymnasium. Progr. No. 914.
In der Anordnung des Opferzuges und der Deutung der dargestellten Per-
sönlichkeiten weicht der Verfasser nicht unwesentlich von Petersen ab und sucht
seine neue Auffassung geschickt zu begründen; die Entscheidung über die
Richtigkeit seiner Hypothese kann aber nur durch eine Fortsetzung der Aus-
grabungen und durch erneute Untersuchung von Rehefplatten, die hierfür erst
zugänglich zu machen sind, herbeigeführt werden.
Luckenbach, H., Archäologische Ergänzungen. Donaueschingen,
Großherzogliches Gymnasium. Progr. No. 762.
Drei Bilder geben eine Ansicht der Mitte Roms, der Kaiserfora und des
Forum Romanum; neben ein Bild der unergänzten Laokoongruppe werden vier
Ergänzungsversuche gestellt; der Apoll von Belvedere erscheint so, wie er im
Vatikan steht und in einer Ergänzung mit dem Bogen. Drei Gigantensäulen aus
Merten, Schierstein und Heddernheim machen den Schluß, dem drei kleine nicht
ergänzte griechische Grabsteine aus dem Karlsbau in Donaueschingen als donum
superadditum angefügt sind. Man wird die Gabe des verdienten Verfassers mit
Dank entgegennehmen.
Schmidt, Ernst, Aus der Vorgeschichte der Altmark. Zweiter Teil.
Seehausen i. A., Realschule. Progr. No. 337.
In Fortsetzung seines früheren Programms behandelt der Verfasser die Zeit
Heinrichs I. und Ottos des Großen.
Gulhoff, Franz, Der deutsche Ritterorden in der deutschen
Dichtung des Mittelalters. Zaborze O.-S., Gymnasium. Progr. No. 262.
Verfasser behandelt zunächst die Reimchroniken, die im Schöße des Ordens
selbst entstanden sind, und die Berichte der sogenannten Wappendichter, die von
Preußenfahrten ritterlicher Herren singen und sagen; dann verfolgt er die Rolle,
die der Orden in der moralisierenden Dichtung spielt; hier ist das Material aber
190 F. Marcks,
minder reich als in der historischen Dichtung, allerdings dafür insofern auch
interessanter, als er ein Streiflicht auf die Bedeutung wirft, die man dem Orden
zuerkannte.
Ottemeyer, Gustav, Die bäuerlichen Rechtsverhältnisse in den
Luxemburger Weistümern. I.Teil. Borna, Realgymnasium. Progr. No. 690.
Dieser erste oder allgemeine Teil handelt von Territorium und Landeshoheit,
Regierung und Ständen, Verteilung der Gewalten und der Weistümer, von Bann-
rechten und Gemeinde. Die Untersuchung gewinnt dadurch an Bedeutung, daß
sie sich auf eine Gegend bezieht, die einen großen Teil der Kolonisten entsandt
hat, die in Siebenbürgen eine Hochburg des Deutschtums begründeten, und daß die
bunte Mannigfaltigkeit der dortigen territorialen Bildungen eine fasi unglaubliche
Vielseitigkeit der bäuerlichen Verhältnisse hervorgerufen hat.
Löwisch, M., Die alten Steinkreuze in der Gegend der mittleren
Saale. Weißenfels, Oberrealschule. Progr. No. 339.
Der Verfasser sucht das Alter und den Zweck der Steinkreuze, deren er eine
ganze Anzahl in der Gegend der mittleren Saale nachweist, zu bestimmen.
Die meisten sind zur Sühne für einen Mord oder Totschlag errichtet; kein anderer
Zweck ist durch Urkunden so sicher bezeugt; doch ist es nicht ausgeschlossen,
daß manche eine andere Bestimmung gehabt haben. Nur die Ausdehnung der
urkundlichen Untersuchung der erhaltenen Steinkreuze über ganz Deutschland
kann die Frage endgültig lösen.
Moritz, Hugo, Reformation und Gegenreformation in Fraustadt.
Teil I. Posen, Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. Progr. No. 205.
Die Arbeit bietet einen Baustein zur Geschichte der Reformation und Gegen-
reformation im ehemaligen Königreich Polen. Außer literarischen Quellen zieht
sie reichen archivalischen Stoff heran, in erster Linie die zahlreichen Urkunden
der Stadt, sodann zwei Chroniken aus Fraustadt, die sich in der Danziger Stadt-
bibliothek und im Posener Staatsarchiv befinden und die der Verfasser der Ab-
handlung noch besonders veröffentlichen will. So gewinnt er eine feste Grund-
lage für seine Darstellung, die zunächst das katholische Kirchenwesen vor der
Reformation, dann den Untergang desselben und die ersten Jahrzehnte der evan-
gelischen Gemeinde umfaßt.
Finder, Ernst, Die Vierlande um die Wende des 16. und 17. Jahr-
hunderts. Eilbeck bei Hamburg, Realschule. Progr. No. 919.
Von ähnlichem Wohlstande wie heutzutage sind die Vierlande schon einmal
vor 300 Jahren gewesen, bevor der 30 jährige Krieg das Land erschöpfte. Der
Verfasser findet daher Gelegenheit, ein interessantes Kulturbild zu entwerfen, indem
er Haus und Hof, Erwerbsverhältnisse, Lebensweise und Trachten, Kirche und
Schule, Recht und Rechtsprechung wie auch den Aberglauben in diesem Teile
Niedersachsens schildert.
Hitzigrath, Heinrich, Die politischen Beziehungen zwischen Ham-
burg und England zurZeit Jakobsl., Karls I. und der Republik 1611—1660.
Hamburg, Realschule in Hamm. Progr. No. 927.
Den Anfang einer größeren Arbeit über Hamburg und England veröffentlicht
der Verfasser in diesem Programm, in dem er die Wiederaufnahme der Kompagnie
Geschichte. * 191
der Merchant Adventurers und das politische Verhältnis zwischen dem mächtigen
Seestaat und der kleinen Handelsrepublik unter dem Einfluß der englischen
Kaufmannsgilde darlegt. Einige Aktenstücke sind im Anhange hinzugefügt.
Schrohe, H., Edmund Rockoch. Mainz, Großherzogliches Gymnasium.
Progr. No. 798.
In Edmund Rockoch lernen wir einen bedeutenden Bürger des altenMainz kennen,
der als Kaufmann und Beamter in der Geschichte seiner Heimatstadt seinesgleichen
nicht hat. Durch seine Geschäftsgewandtheit und sein organisatorisches Talent
hat er einen erstaunlichen Reichtum erworben, sich eine Stellung im Rate der
Stadt verschafft und lange Jahre als kurfürstlicher Rentmeister und Kammerrat
gewirkt. Treffend charakterisiert ihn der Verfasser als einen hervorragenden Vertreter
des älteren deutschen Bürgertums.
Schirrmacher, Bruno, Esaias Pufendorf und seine Denkschrift über
den Zustand des Königreichs Schweden. Hamburg, Realschule vor dem
Lütreckertore. Progr. No. 917.
Samuel Pufendorfs älterer Bruder Esaias ist über dem Ruhm seines Bruders
fast vergessen und, schlimmer noch als das, ungerecht behandelt worden. Jetzt
hat ein unerwarteter Fund Gelegenheit geboten, das Bild des schwedischen
Kanzlers von Bremen durch manche wesentliche Züge zu bereichern. Unter
den Manuskripten der Rostocker Universitätsbibliothek befindet sich eine Abschrift
seiner Denkschrift über den Zustand des Königreichs Schweden im Jahre 1682,
die Schirrmacher hier veröffentlicht und erläutert, so daß wir nun ein gerechteres
Urteil über den Kanzler gewinnen.
Hamtnann, W., Das Leben des Landgrafen Kasimir Wilhelm von
Hessen-Homburg 1690 — 1726. Darmstadt, Ludwig-Georgs-Gymnasium. Progr?
No. 793.
Der genannte Markgraf ist ein Sohn des aus der Schlacht bei Fehrbellin be-
kannten Landgrafen Friedrich von Homburg und ein Vetter der Herzogin
Elisabeth-Charlotte von Orleans, die er auch in Versailles besucht hat; bei seinem
zweiten Sohn übernahm Prinz Eugen, der edle Ritter, Patenstelle. Er gehört also
in ein nicht uninteressantes Milieu. Des Vaters Tapferkeit war auch auf die Söhne
übergegangen: zwei Brüder Kasimir Wilhelms fielen vor dem Feinde, er selbst
bewährte sich bei Malplaquet, hat aber sonst weder im spanischen Erbfolgekriege
noch im nordischen Kriege Glück gehabt. Schon mit 36 Jahren starb er.
Marcus, Willy, Choiseul und Bernstorff. Erster Teil. Wohlau, Königl.
Gymnasium. Progr. No. 261.
Der Verfasser, der in einem früheren Programm die Beilegung des Jansenisten-
streites durch Choiseul dargelegt hat, verfolgt hier seine Beziehungen zu dem
dänischen Minister Grafen Bernstorff. Wir lernen in letzterem eine frühzeitig
fertige Natur kennen, die aber darum auch keiner Weiterentwicklung fähig war,
während ersterer mit seinen größeren Zwecken wuchs; die engen Beziehungen
zwischen beiden haben lange bestanden, sind dann aber allmählich erkaltet, da sie
die tiefgehenden Charakterunterschiede beider am letzten Ende nicht zu unter-
drücken vermochten. Der vorliegende erste Teil der Abhandlung endet mit
Choiseuls Sturz.
192 F. Marcks, Geschichte.
Holzapfel, Wilhelm, Das Grenadierbataillon von Hallmann im Feld-
zuge des Jahres 1806. Liegnitz, Wilhelms-Realschule. Progr. No. 284.
Nach einem Tagebuche des Leutnants Johann Baptist Ferdinand von Wrede
und anderen Quellen schildert der Verfasser die Beteiligung des genannten Bataillons
an dem Feldzuge von 1806; Wrede nahm an der Schlacht bei Jena teil, wurde
mit dem Blücherschen Korps bei Ratkau gefangen genommen, auf Ehrenwort in
seine Heimat entlassen und erhielt 1808 unter Beförderung einen ehrenvollen
Abschied aus der preußischen Armee.
Lorenz, Hermann, Quedlinburger Denkwürdigkeiten aus der
Kriegszeit vor 100 Jahren. Quedlinburg, Guts Muths-Oberrealschule. Progr.
No. 335.
Der Verfasser schildert die Erlebnisse Quedlinburgs 1806 im Rahmen der
allgemeinen Zeitgeschichte: die unheilvollen Kriegsereignisse spiegeln sich auch
in dem engen Bereiche der heimischen Bataillone und Bürgerkreise klar und an-
schaulich wieder. Die Akten des Staatsarchivs und der Tribunalberichte des
Großen Generalstabes haben den Stoff zu der Darstellung geboten.
Drees, Heinrich, Wernigerode in der Franzosenzeit. Wernigerode,
Fürstlich Stolbergsches Gymnasium. Progr. No. 311.
Die Abhandlung zeigt ähnlich der vorhergehenden, wie die Schicksale der
großen Welt auf das Leben einer Kleinstadt zurückwirken. Es ist erwünscht, wenn
Geschichtsbilder solcher Art für den Geschichtsunterricht nutzbar gemacht werden.
Fröhlich, Franz, Fichtes Reden an die deutsche Nation. Charlotten-
burg, Kaiserin Augusta-Gymnasium. Progr. No. 75.
Nicht bloß die Jahrhunderterinnerung an die Reden an die deutsche Nation
bringt Fichte weiteren Kreisen wieder nahe, sondern auch das Gefühl, daß Männer
von solcher sittlichen Größe wie er auch gegenwärtig unserm Volke besonders
not tun. Mit Dank nimmt man daher die Untersuchung über die Entstehungs-
geschichte jener Reden entgegen, der auch Erich Schmidt in seiner Zentenarrede
über sie eine ehrenvolle Erwähnung gegönnt hat.
Putbus. Friedrich Marcks.
III. Bücherbesprechungen.
Krfiger, 0., Verordnungen und Gesetze für die Gymnasien und Real-
anstalten des Herzogtums Anhalt. Erstes Ergänzungsheft. (No. 570—801,
Januar 1902 — Mai 1907.) Dessau 1907. C. Dünnhaupts Verlag. VI u. 190 S.
3 M.
Wie die Verfasser der entsprechenden Sammlungen für Preußen und Hessen,
so hat auch Krüger die von ihm im Jahre 1902 herausgegebene Übersicht der für
Anhalt geltenden Verordnungen durch die Hinzufügung eines Ergänzungsheftes
bis zur Gegenwart herangeführt. Auch dieses Heft bietet wie das Hauptwerk dem
Leser vielfach Gelegenheit, festzustellen, wie die Schulverwaltung eines kleinen
Bundesstaates, indem sie sich den durch das Jahr 1900 in Preußen geschaffenen
Verhältnissen anpaßte, doch bestrebt gewesen ist, in selbständiger Modifizierung
und Spezialisierung hier und da die bessernde Hand anzulegen. Hinweisen möchte
der Berichterstatter dafür auf S. 34, bez. der Lage der französischen Unterrichts-
stunden für die Ulli und Olli, auf S. 40, wo die Verfügung vom 1. April 1902
schon den biologischen Unterricht auf der Oberstufe gestattet, auf S. 46, (An-
weisungen für das Verfahren bei dem erweiterten Schreibunterricht für IV und III),
auf S. 106 (Revers bez. des Verbleibens von Kandidaten des höheren Schulamts
im anhaltischen Staatsdienst), auf S. 125 ff. (Bestrebungen bez. der Erziehung zur
Kunst), u. a. m.
Pankow. Max Nath.
Budde, Gerhard, Schülerselbstmorde. Hannover 1908. Max Jänecke. 59 S.
80. 1 M.
In diesem Büchlein zeigt Budde, wie unendlich verkehrt es ist, wenn man
die Schuld für die Schülerselbstmorde einseitig der Schule allein zuschieben will;
er sucht und findet die Gründe auch anderswo: in erblicher Belastung, in der
häuslichen Erziehung und in der Lebensweise. Die Art, wie er dies zu beweisen
sucht, befriedigt einen kritischen Leser nicht immer; es ist auch recht schwierig,
im einzelnen darzutun, wie erbliche Belastung, die Erziehung in der Familie oder
die Lebensweise die Schuld an einer so tief bedaueriichen und herzergreifenden
Erscheinung, wie es die Selbstmorde junger Menschen, die doch eigentlich mit
Lebensfreude und Lebensmut geladen sein sollten, sind. Doch sind es bei der
Schule zwei Faktoren, die hier, nach Budde, in Betracht zu ziehen sind und die
zuweilen verhängnisvoll auf das innere Leben der Schüler gewirkt haben: die
Furcht vor Strafen und die Furcht vor dem Mißlingen der Arbeit, also besonders
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 13
194 Q- Budde, Schülerselbstmorde, angez. von K. Wehrmann.
bei dem Nichtbestehen von Prüfungen und NichtVersetzungen. Ich persönlich
glaube, daß allerdings auch hier sehr oft eine falsche Erziehung in der Familie
die Hauptursache trägt, insofern als ein übertriebener Ehrgeiz der Eltern ganz
falsche Vorstellungen über Strafen und Nichtversetzung den Schülern einflößt und
ihnen einimpft. Die Pflicht der Lehrer an unseren höheren Schulen ist es, hier
auf das vielgerühmte und auch vielgeschmähte Elternhaus aufklärend zu wirken,
wann und wo wir nur können, im persönlichen Verkehr wie in öffentlichem, in Wort
und in Schrift. Leider kennen wir genaue Einzelberichte über Schülerselbstmorde
nicht, da sie aus erklärlichen Gründen zurückgehalten werden; es wäre aber doch
sehr wünschenswert, wenn solche Berichte erstens ohne jeden Namen von Ort
und Person und auch dann noch streng vertraulich den Direktoren und den
Lehrerkollegien bekannt würden; dadurch erhielten wir mehr Einblick in die
wirklichen Ursachen als durch alle kritische und schöngeistige Produktionen auf
diesem Gebiete.*) — Die Schreibweise Buddes ist leicht und natürlich; man merkt
es ihm an, daß er ein Herz für die Jugend hat; dadurch wirkt das Schriftchen
sehr sympathisch. Störend wirken die sehr häufigen und allzu langen Zitate aus
anderen Schriften. — Zum Schluß bemerke ich: die Schülerselbstmorde wie die
Selbstmorde überhaupt sind nur das Symptom eines modernen krankhaften Zustandes,
nicht aber die Krankheit selber. Der tiefere Grund liegt darin, daß die modernen
Menschen zu sehr geneigt sind, das Leben als ein äußeres Gut aufzufassen, das
für sie keinen rechten Wert mehr hat, wenn äußere Güter, wozu doch auch Ver-
setzungen und Prüfungen gehören, nicht erreicht werden. Das Leben aber ist
ein Teil des ewigen Gutes, das uns anvertraut ist und das wir in voller Ver-
antwortlichkeit vor uns selbst und vor Gott zu verwalten haben und das wir daher
nicht freiwillig veräußern dürfen. Durch die Erziehung in der Schule sollte den
Schülern zum festen Bewußtsein kommen, daß die höchsten Güter sind: ein zu-
friedenes Gemüt, ein entschlossener Glaube an eine göttliche Vorsehung und ein
kräftiger Wüle und Körper. Vielleicht kommen diese höchsten Güter in unserer
jetzigen Erziehungsweise bei dem Vorwiegen des Intellektualismus nicht zu der
richtigen Wertschätzung in den Gedanken der Schüler; daher wird es ein wichtiges
Ziel unserer Erziehungsarbeit sein, solche Lebensauffassung ihnen so tief und fest
einzuprägen, daß sie ein Teil ihres innersten Wesens wird. Nur so kann die un-
heimliche Erscheinung der Schülerselbstmorde gebannt werden.
Bochum. Karl Wehrmann.
Dornblüth, Otto, Hygiene der geistigen Arbeit. 2. Auflage. Berlin 1907.
Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt. 258 S. 8 <>. Geb. 4 M.
Man kann nicht behaupten, daß die Schrift sonderlich Neues bringt. Aber
sie reiht Tatsachen und Ratschläge in solch leicht verständlicher Form so hübsch
folgerichtig aneinander, daß man das Buch mit gutem Gewissen empfehlen kann.
Es behandelt die geistige Hygiene der Erwachsenen und Kinder, betont die
Wichtigkeit der systematischen Schulung des Willens und zeigt, wie eine den
menschlichen Anlagen entsprechende Erziehung vorgehen muß: Anfangs nur durch
*) Vgl. den Aufsatz von O. Gerhardt Jhrg. VIII, S. 129 dieser Monatschrift. Mtth.
O. Ernst, Des Kindes Freiheit und Freude, ang^. von H. Weimer. 195
die Sinne eine Vorstellungsarbeit erzielen! Nicht zu früh mit Fremdsprachen be-
ginnen, sondern erst gehen können, ehe man reiten lernt! Die Kinder fröhlich
zur Arbeit machen! In oberen Klassen Bewegungsfreiheit geben! Mit Kurz-
stunden arbeiten! Nachmittags Schulspiele! Kein Abitur! Beobachten und
denken lehren, aber nicht Worte einpauken! Keine körperlichen Strafen!
Schließlich wird Überangestrengten ein Sanatorium angeraten, das durch ziel-
bewußtes Vorgehen wieder Arbeitsmöglichkeit, Frohsinn, festen Willen und Schlaf
verschaffen könne.
Linden -Hannover. Bodo Habenicht.
Ernst, Otto, Des Kindes Freiheit und Freude. 1. — 3. Tausend. Leipzig 1907.
H. Haessel. 50 S. 8». 1 M.
„Man tut nachgerade so, als wäre jeder Eingriff in die kindliche Freiheit, auch
der notwendigste und vernünftigste, ein Ausfluß bornierter Herrschsucht und ein Ver-
brechen am Allerheiligsten; man sieht das Kind nur noch auf einem Gottesthrone und
mißt den Erwachsenen nur noch die Berechtigung zu, ihm ohne Unterbrechung
Gold, Weihrauch und Myrrhen darzubringen." So spricht am Eingange seines
Büchleins der Mann, der von des Kindes Freiheit und Freude reden will. Er
schüttelt die Erziehungsphantasten energisch von sich ab, die immer schon mit
zwei Schritten beim letzten Ideale sind und so tun, als ob man in drei Tagen ein
Paradies auf Erden haben könnte, wenn man nur wollte. Der Leser darf also
sicher sein, daß er in dieser kleinen, herzgewinnenden Schrift auf keine unerfüll-
baren Forderungen stoßen wird. Aber wie sich der Verfasser gegen die wirklich-
keitsfremden Idealisten wendet, so zieht er auch nachdrücklich gegen die eng-
herzigen Schulmeisterseelen los, die in einseitiger Überschätzung ihrer Erziehungs-
arbeit glauben, die Kinder um jeden Preis zu Ebenbildern ihrer eigenen werten
Persönlichkeit machen zu müssen. Mit gleichem Eifer kämpft er gegen alle Gleich-
macherei in Erziehung und Unterricht sowie gegen die übermäßige Einschätzung
der schulmäßigen Leistungen bei der Beurteilung des Gesamtwertes eines Menschen.
Entlastung der Kinder von überflüssigem Gedächtniskram, der für ihr inneres Leben
doch keine fördernde Bedeutung gewinnt, gerechtere Bewertung der Extemporalien,
die noch zuviel als Prämien für die jugendliche Schlagfertigkeit angesehen werden,
vor allem aber eine viel intensivere Pflege des kindlichen Anschauungsvermögens
und Förderung seines Tätigkeitsdranges, das sind die wichtigsten positiven Forde-
rungen, die Otto Ernst in dieser Schrift aufstellt. Sie werden gewiß in weitesten
Kreisen Zustimmung finden.
Wiesbaden. Hermann Weimer.
Strzygowski, J., Die bildende Kunst der Gegenwart. Ein Büchlein für
jedermann. Leipzig 1907. Quelle und Meyer. XVI u. 279 S. 8°. geh. 4 M.
geb. 4,80 M.
Wer in dem verwirrenden Labyrinth moderner Kunstrichtungen eines Führers
bedarf, — und wer bedürfte eines solchen nicht? — wem auch zugleich die Kunst
nicht ein müßiges Spiel der Phantasie, sondern tiefstes Herzensbedürfnis ist, dem
kann das „Büchlein für jedermann" als wegzeigend und zu den wahren Quellen
13*
196 J- Stfzygowski, Die bildende Kunst der Gegenwart, angez. von P. Brandt.
künstlerischer Erquickung leitend nur aufs wärmste empfohlen werden. Insbesondere
wer als Lehrer sich berufen glaubt, andern die Wege zum Verständnis der Kunst
zu weisen, wird sich diesem Führer um so lieber anvertrauen, als die Schrift aus
Vorträgen für Lehrer erwachsen ist (Österreichische Universitätsferialkurse für
Lehrer, 1906 in Bielitz). So rechtfertigt sich auch das lehrreiche Intermezzo über
Zeichenunterricht und künstlerische Erziehung (S. 132 ff). Weite des historischen
Blickes verbindet sich durchweg mit liebevoller Versenkung ins einzelne, und
obwohl stets von dem Kunstwerk ausgegangen wird, leuchtet doch ein klares
System hindurch, das schließlich (S. 181 ff) zusammenfassend dargestellt wird.
Danach sind die eigentlichen künstlerischen Qualitäten die des ausdrucksvollen
Inhaltes und der wirkungsvollen Form, für welch letztere Raum, Masse, Licht
und Farbe nur die vier optischen Voraussetzungen sind. Durch diese beiden
Forderungen ist über den Naturalismus, wie über den l'art pour /'ar/-Standpunkt
der Stab gebrochen, und die Pleinairisten und Pointillisten, die in das Innerste
des Heiligtums eingedrungen zu sein glaubten, finden sich in der Vorhalle wieder.
Für die Malerei sieht der Verfasser in Puvis de Chavannes und Hans von Mar6es
Propheten, in Böcklin, dessen „Ruine am Meer" den Titel schmückt, schon fast
den Messias einer neuen monumentalen Kunst. Auch über die modernen Rich-
tungen in der Baukunst, im Kunstgewerbe, in der dekorativen Kunst, in der
Bildhauerei und in der Griffelkunst wird man den die Frische und Unmittelbarkeit
des mündlichen Vortrags nicht verleugnenden Ausführungen des Verfassers meist,
mit innerer Zustimmung folgen. Überall sucht er das Gewagte, Problematische
von dem bleibenden Gewinn zu scheiden und wählt dazu gelegentlich ein dem
Referenten sehr sympathisches Mittel, die Vergleichung mit der Antike. So wenn
er unsere endlich zur Einsicht kommende Monumentalkunst (Denkmal für die
Leipziger Völkerschlacht von Bruno Schmitz) mit dem Monument von Adamklissi,
wenn er das Hegesorelief in seiner Linienführung mit Meuniers Mäher, diesen mit
Myrons Diskobol vergleicht und bei Chavannes und Maries, wie bei der Hegeso
das Höchste der Kunst erreicht findet, daß der Mensch sich zu seiner in sich
ruhenden Existenz, zu dem hinter allem Werden und Geschehen liegenden Sein
erhebt. — Der Verfasser scheint berufen, uns eine Methodik der Kunstbetrachtung
zu schenken, zu der er in seinen leider nicht veröffentlichten Innsbrucker Vorträgen
vom Jahre 1905 bereits die Vorarbeit geleistet hat.
Steuding, H., Denkmäler antiker Kunst, für das Gymnasium ausgewählt
und in geschichtlicher Folge erläutert. Zweite, umgearbeitete Auflage. Leipzig
1907. E. A. Seemann. 66 Tafeln und 21 S. Text. 4 «-Querformat, kart. 1,80 M.
Das sehr brauchbare Hilfsmittel für den Gymnasialunterricht erscheint hier in
zweiter, umgearbeiteter Auflage. Die bessernde Hand ist überall, in Tafeln wie Text,
zu spüren, wenn auch manches noch zu wünschen bleibt. So wird beim Apoll vom
Belvedere gegen Benndorf-Schöne noch an der Ansicht fe.stgehalten, als habe der
Gott eben den Pfeil abgeschossen; Demosthenes müßte mit gefalteten Händen
erscheinen; die richtige Ergänzung der Laokoongruppe ist, etwas unbehilflich,
daneben in Holzschnitt angedeutet. Gern will ich den Herausgeber in das mir von
Luckenbach verratene Geheimnis einweihen : man läßt die jetzt ja so gut wie sicher
H. Steuding, Denkmäler antiker Kunst, angez^ von P. Brandt. 197
feststehende Ergänzung auf einer Bromsilberkopie der Marmorgruppe von Künstler-
hand vornehmen; der Raster gleicht die Unterschiede völlig aus. Luckenbach
hat auch gezeigt, wie man aus dem labyrinthischen Gewirr der Tirynther Königs-
burg die Hauptbauten für das Auge heraushebt. Nicht einverstanden bin ich auch,
wenn statt des lebensvollen Torsos der Londoner Köre vom Erechtheion die
trockne römische Replik des Vatikans gegeben wird: was man an äußerer Voll-
ständigkeit gewinnt, geht an innerem Reiz rettungslos verloren; auch mußte die
streng architektonische Vorderansicht gegeben werden. Dagegen hätte auf den
Skopaskopf von Tegea als zu verstümmelt verzichtet werden können. Die Anord-
nung sucht, soweit es die Ausnutzung des Raumes verstattet, methodisch zu Werke
zu gehen. Manches freilich bedarf der Verbesserung, so namentlich die Zusammen-
stellung der Porträtbüsten : ungut steht das Idealbild des Homer neben Tiberius
und Titus, unerträglich ist der barbarische Konstantinskopf neben Cäsar, Cicero
und Augustus ; hierher hätte der äußerst drastische Pompeiuskopf gehört, der jetzt
durch sein böses Schicksal, genannt Raumverwertung, gar an die allerletzte Stelle
des Buches unter „Vermischtes" geraten ist. Soweit ist es Sache des Herausgebers,
Abhilfe zu schaffen; viel erheblicher aber sind die Desideria dem Verleger gegen-
über. Es muß einfach ausgesprochen werden: es geht heute nicht mehr an, die
Schule mit dem Abhub des Mahles zu speisen. Alte, längst verbrauchte Klischös,
die nut ein eben noch erkennbares, oft aber auch ein geradezu abstoßendes Bild
des Gegenstandes bieten, gehören nicht in ein Werk für unsre Jugend. Hier soll
doch alles reizen, locken, soll gewissermaßen sprechen: „Siehe, wie schön ich binl
möchtest du mir nicht durch deine Sinne den Eingang in dein Herz verstatten ?"
Reichlich ein Dutzend Klisch^s hervorragender Werke, z. T. mit harten, überaus
störenden Lichträndern (z. B. Tafel XXXIII 1) müssen durch neue ersetzt werden.
Daß es auch anders geht, das zeigt Tafel XLVI mit der Athenagruppe und dem
Gigantenkopf vom pergamenischen Altar gegenüber der fast ganz verunglückten
Tafel XLV, das zeigen neuerdings die von Max Sauerlandt herausgegebenen
«Griechischen Bildwerke" des rührigen Verlags von Karl Robert Langewiesche,
der auf 118 Seiten feinsten Kunstpapiers geradezu Vollendetes bietet, und zwar,
obwohl sämtliche Druckstöcke neu gearbeitet wurden, zum gleichen Preise von
1,80 M. Ein Beispiel buchhändlerischer Großzügigkeit, das Nacheiferung verdient I
Künstlerische farbige Wiedergaben bedeutender Werke deutscher Geschichts-
malerei. Verlag der Kunstanstalt Trowitzsch und Sohn, Frankfurt a. O. Preis:
im Karton 25 M., in breitem Eichenrahmen mit Goldeinlage 45 M.
Neben der mit einer gewissen Einseitigkeit, wie sie an sich erklärlich und
durchaus nützlich ist, auftretende neueren Bewegung für künstlerischen Wand-
schmuckbraucht doch die ältere, auf hochbedeutsame patriotischeMomente eingestellte
Richtung für die Ausschmückung unserer Schulen nicht ganz in den Hintergrund
zu treten. Einen gewichtigen Beitrag hierzu liefern die von der genannten Kunst-
anstalt im Farbenlichtdruckverfahren hergestellten Reproduktionen nach Originalen
der Berliner Ruhmeshalle: Röber, Ansprache Friedrichs des Großen an seine
Generale vor der Schlacht bei Leuthen; Bleib treu, Freiwillige von 1813 in
Breslau, Blücher bei Belle- Alliance, Erstürmung von St. Privat; Schuch, die ver-
198 Christlieb-Fauth, Handbuch usw., angez. von R. Gaede.
bündeten Monarchen in der Schlacht bei Leipzig; Hunten, Königgrätz;
A. V. Werner, Kaiserproklamation von Versailles. Die neuere Richtung bedenkt
bisweilen nicht genug, daß zuerst der Stoffhunger der Jugend befriedigt werden
muß, ehe sie für die höheren künstlerischen Werte gewonnen werden kann. Diese
Beobachtung, welche aufmerksame Verwalter von Volksbibliotheken gemacht haben,
trifft auch auf die bildende Kunst zu, und höhere künstlerische Qualitäten fehlen
ja überdies den angeführten Werken keineswegs. Unter diesen Gesichtspunkten
möchten wir das neue Unternehmen, das nach dem uns vorliegenden letzten großen
Blatt zu schließen wirklich Hervorragendes leistet, der Beachtung empfohlen haben.
Bonn. Paul Brandt.
Christlieb-Fauth, Handbuch der Evangelischen Religionslehre. Zum Ge-
brauche an höheren Schulen nach den neuesten Lehrplänen völlig umgearbeitet
von Rudolf Peters. 3. Heft: Die Kirchengeschichte. 4. Aufl. Leipzig und
Wien 1907. Freytag und Tempsky. I u. 123 S. S». geb. 1,60 M.
Ganz neu gestaltet sind, wie in der Vorrede angegeben ist, der Abschnitt
l. Das apostolische Zeitalter, III. Die Reichskirche und die Papstkirche des Mittel-
alters und besonders VI. Die Entwicklung der protestantischen Kirche bis zur
Gegenwart. Die ausführlichere Behandlung dieses letzten Abschnitts, der in dem
Christlieb-Fauthschen Buch viel zu kurz war, ist dankenswert. Er ist, wie Peters
mit Recht hervorhebt, für die Schule viel wichtiger als die Einführung in die
dogmatischen Streitigkeiten der ersten Jahrhunderte, und ich fürchte, diese nehmen
in der Praxis noch immer einen zu großen Raum ein, was dann zur Folge hat,
daß in der Neuzeit ungebührlich gehastet werden muß. In Einzelheiten vermisse
ich noch manches. Die Heidenmission müßte ausführlicher behandelt sein. Daß
die Pietisten neben der inneren auch die äußere Mission zuerst wieder auf-
genommen haben, wird in dem betreffenden Abschnitt (§ 58) gar nicht erwähnt.
Von der äußeren Mission ist in unseren höheren Schulen, glaube ich, überhaupt
zu wenig die Rede. Es müßte systematisch im erdkundlichen Unterricht, im An-
schluß an die Lektüre der Apostelgeschichte und bei anderen Anlässen manches
Wissenswerte über sie mitgeteilt werden. Material dazu bietet das Buch von
Warneck: „Die Mission in der Schule". Hinter dem bekannten Briefe des PHnius
an Trajan (S. 15) sähe ich gern auch die Antwort des Kaisers mitgeteilt. S. 43
hätte es sich nach meiner Ansicht empfohlen, ein größeres Stück aus den für die
Herrschaftsansprüche der mittelalterlichen Kirche so charakteristischen Bullen
Bonifatius' VIII. „Unam sanctam" und „Clericis laicos" im Urtext zu geben, wie
das S. 91 beim Syllabus mit Recht geschehen ist. Calvins Bedeutung ist S. 76
zu wenig betont; dafür hätte Zwingli, dessen Wirksamkeit doch viel weniger
nachhaltig war, kürzer behandelt werden können. Unter den Wünschen, die S. 98
aus Speners „Pia desideria" aufgezählt werden, fehlt der doch sehr wichtige, daß
Hausgottesdienste abgehalten werden möchten. Daß der Geist, der aus E. M. Arndts
Liedern und Schriften spricht, auf dem Boden der Aufklärung erwachsen sei,
glaube ich dem Verfasser nicht. Der „Geist der Zeit" z. B. mutet an, wie die
Schriften der alten Propheten, und durch viele seiner Lieder weht der Geist bibel-
gläubigen Christentums.
O. Bischoff, Leitfaden beim Unterricht usw., ang«z. von R. Gaede. 199
Nicht ganz selten kommen Unebenheiten im Stil vor, die in einem für Schüler
bestimmten Buche sorgfältiger vermieden sein müßten. So S. 11 „der Ermordung
durch die Volksmassen durch einen römischen Offizier entzogen, wurde Paulus
nach Cäsarea gebracht," S. 55: „Luther . . . lernte die lateinische Sprache be-
herrschen, besonders geschickt wurde er im öffentlichen Disputieren . . Doch hat
er auch in Freundeskreisen die Musik nicht vergessen" statt „er hat auch die
Musik nicht vergessen und pflegte sie in Freundeskreisen"; S. 56 „auch fühlte
Luther mit seinem Gott sich versöhnt" statt „auch fühlte sich Luther mit seinem
Gott versöhnt"; ebendort in der Anmerkung schwebt der indirekte Satz „damit
habe sich ihm die Pforte des Paradieses erschlossen" in der Luft, S. 62 wirkt in
dem Satze: „Hütten und Sickingen sind auch, da sie zum Schwerte griffen,
zugrunde gegangen, während Luthers Geistesschwert unbesiegt Siege errang",
das ,auch' sinnstörend, S. 90 ist in dem Satze „die Richtung, die das alte
Episkopalsystem befürwortet und welche Nationalkirchen . . . angestrebt hatte,
wurde ganz zurückgedrängt," das .welche' hart. — Einzelne sinnstörende Druck-
fehler sind stehen geblieben.
Es wäre zu wünschen, daß diese Mängel bei einer neuen Auflage beseitigt
würden. Im übrigen ist das Buch eine tüchtige Leistung und kann empfohlen
werden.
Bischoff, O., Leitfaden beim Unterricht in der Geschichte der christ-
lichen Kirche für evangelische Schulen. Vollständig umgearbeitet und
fortgesetzt von D. Dr. G. Buchwald. 17. Auflage. Leipzig 1907. J. Tr. Wöller.
Vorwort und Einleitung. VIII u. 141 S. kl. 8°. 1 M.
Das Buch scheint mir, da es ganz auf griechische und lateinische Quellen-
zitate verzichtet, auch nicht immer den genetischen Zusammenhang zwischen den
einzelnen Paragraphen wahrt, mehr für Mittelschulen und Lehrerseminare als für
höhere Schulen berechnet, bietet aber einzelnes Wissenswerte, was sich in anderen
so kurzen Abrissen der Kirchengeschichte nicht so vollständig zusammenfindet
und kann daher hier und da auch dem Lehrer an höheren Schulen einen guten
Dienst leisten. Daß jedoch bei der Behandlung der evangelischen Kirche in der
Neuzeit Männer wie Herder und Schleiermacher überhaupt nicht erwähnt werden,
ist ein offenbarer Mangel für alle Schulen. Ein grober Irrtum ist die Behauptung
S. 17, daß „in Nicäa 325 das apostolische Glaubensbekenntnis durch
ausführliche Zusätze zu dem nicänischen Bekenntnis erweitert wurde".
„Betrachtungen über sich selbst" ist eine ungeschickte Übersetzung des Titels der
Schrift des Kaisers Markus zU kauxov. Kindlich klingt S. 118 der Satz: „Nicht
bloß der König, sondern auch der liebe Gott wurde abgesetzt und an die Stelle
Gottes die Göttin der Vernunft erhoben." Mehrfach kommen sehr lästige Wieder-
holungen vor, so S. 14 „Und diese Verfolgung dauerte gegen 10 Jahre", und
zehn Zeilen weiter „Zehn Jahre hatte die furchtbare Verfolgung gedauert."
Stilistisch läßt das Buch viel zu wünschen übrig. Otto Schröders Buch „Derselbe"
kennt der Verfasser offenbar nicht; dies unglückselige Pronomen kommt recht
häufig an falscher Stelle vor. So S. 12 „Origenes setzte durch seine tiefen
Fragen oft seinen Vater Leonidas in Verlegenheit. Als derselbe ins Gefängnis
200 Th. Klein, Biblische Geschichte usw., angez. von R. Gaede.
geworfen wurde . . . ." S. 4 fangen von vier aufeinanderfolgenden Sätzen drei
mit „Als" an. S. 14 heißt es: , Diokletian zog sich, vom Fluch der Christen be-
laden, ins Privatleben zurück" statt „mit den Flüchen" u. a. Das Buch ist nicht
sorgfältig genug gearbeitet und kann demnach nicht empfohlen werden.
Klein, Th., Biblische Geschichte für die ersten Schuljahre. 4. Aufl.
Gießen 1904. E. Roth. VI u. 88 S. S". Brosch. 0,50 M., geb. 0,60 M.
, Biblische Geschichte für die Mittel- und Oberstufe. 2. verb. Aufl.
Gießen 1906. E. Roth. VI u. 298 S. 8». Brosch. 1,60 M., geb. 2 M.
Beide Bücher sind mit bildlichen Darstellungen von Schnorr von Carolsfeld
geziert, das erste mit 42, das zweite mit 73, und mit einem Anhang versehen, der
in dem ersten Gebete, Lieder, die zehn Gebote und die drei Artikel, in dem
zweiten einen Abriß der Bibelkunde, Notizen über das Kirchenjahr und die Geo-
graphie des heiligen Landes nebst Ortsansichten und vier Karten enthält; das
zweite Buch bietet außerdem im Anfang noch eine Sammlung von Gebeten, die
geschickt ausgewählt sind.
Mit den Grundsätzen, die in dem Vorwort zu der Biblischen Geschichte für
die ersten Schuljahre ausgesprochen sind, kann man sich durchaus einverstanden
erklären. Es heißt dort u. a.: „Die Sprache muß einfach und möglichst biblisch
sein. Zu vermeiden sind schwerverständliche Konstruktionen, sowie veraltete Rede-
wendungen und Ausdrücke." Soviel ich sehe, sind diese Grundsätze auch befolgt.
Wenn das doch überall im Religionsunterricht geschähe! Er wäre dann wirksamer
und würde weniger mit Recht angefeindet. Die Geschichten sind mit richtigem
Takt ausgewählt. So ist die für den Unterricht in den unteren Klassen nicht
fruchtbar zu machende Richterzeit übergangen ; von Moses zu Saul leitet der Ver-
fasser mit folgenden kurzen Worten über: „Als Moses tot war, führte Josua das
Volk Israel. Er eroberte das Land Kanaan, und die Kinder Israel wohnten da-
selbst. Später herrschten Könige über Israel. Der erste König hieß Saul." Die
Geschichten des Alten Testamentes schließen mit Salomo ab, die des Neuen
Testamentes mit der Ausgießung des heiligen Geistes. Die Bilder sind meist
geeignet, die kindliche Phantasie in der richtigen Weise zu beeinflussen. Das
Buch erfüllt meines Erachtens seinen Zweck sehr gut.
Das zweite Buch ist die Fortsetzung des ersten und ist für die Mittel- und
Oberstufe der Volksschule, sowie für die unteren Klassen höherer Lehranstalten
bestimmt. Es kann ebenfalls durchaus empfohlen werden. Die Geschichten sind
alle so bemessen, daß in einer Lehrstunde immer eine durchgenommen werden
kann. Jeder Geschichte ist ein Lehrstoff aus Katechismus, Bibel und Kirchenlied
beigegeben, zur verständigen Auswahl für den Lehrer, nicht etwa zum wahllosen
Auswendiglernen. Mit Recht finden sich darunter auch weltliche Gedichte z. B. bei
der Geschichte von Jakobs Betrug der schöne Vers: „Vor allem eins, mein Kind,
sei treu und wahr, Laß nie die Lüge Deinen Mund entweih'n, Von altersher im
deutschen Volke war Der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein." Auch der
Inhalt des Anhangs verrät überall den erfahrenen Lehrer, der mit dem Herzen der
Jugend Fühlung hat. Der Druck ist gut. ,
H. Marx u. H. Tenter, Hilfsbuch usw., angfc. von R. Gaede. 201
Marx, H. u. Tenter, H., Hilfsbuch für den evangelischen Religions-
unterricht an höheren Lehranstalten. III. Teil. Stufe der christlichen
Welt- und Lebensanschauung. Obersekunda bis Oberprima. Mit 2 Abbildungen.
Leipzig und Frankfurt a. M. 1907. Kesselringsche Hofbuchhandlung. VI u.
325 S. 8«. Geb. 2,75 M.
Dies Buch ist entschieden das beste Hilfsbuch für den Religionsunterricht der
oberen Klassen, das ich kenne. Auf jeder Seite hat man die wohltuende Emp-
findung, daß hier gründliche wissenschaftliche Durchbildung und pädagogisch-
didaktische Erfahrung sich zu schönem Bunde die Hand gereicht haben. Das
Buch zerfällt in drei Hauptteile: 1. Das Evangelium Jesu Christi im apostolischen
Zeitalter, 2. Kirchengeschichte, 3. Glaubens- und Sittenlehre. In einem Anhang
sind die Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche abgedruckt. Für einen
ganz besonderen Vorzug halte ich es, daß im zweiten Hauptteil die Geschichte
der christlichen Liebestätigkeit im Anschluß an das bekannte Uhlhornsche Buch
weit mehr als bisher üblich war behandelt ist, ferner die eingehende Berücksichti-
gung der Stellung unserer Klassiker zur Religion und der neueren Entwicklung
der Philosophie und der Naturwissenschaften. So muß die Kirchengeschichte be-
handelt werden, dann wird sie ein lebhaftes Interesse bei unseren Schülern er-
wecken. Auch die Mission kommt zu ihrem Recht. Die Ergebnisse der theo-
logischen Forschung werden überall in sehr besonnener Weise mitgeteilt, so daß
Andersdenkende kaum daran Anstoß nehmen können. Erfreulich ist es, daß auch
die katholische Charitas S. 223—226 eine eingehende wohlwollende Behandlung
erfährt. Sehr richtig und für weite Kreise sehr nötig ist die Anmerkung S. 168:
»Die Unklarheit über das Wesen des viel mißbrauchten Begriffes ,Glauben' ist
noch heutigentags der eigentliche Krebsschaden des evangelischen Christentums."
Die beiden Abbildungen, Raffaels „Disputa" und Kaulbachs „ Reformationszeit "
sollen dazu beitragen, dem Schüler das Verständnis für den charakteristischen
Unterschied des Katholizismus und des Protestantismus zu erschließen.
Ich glaube, das Buch kann auch außerhalb der Schule viel Segen stiften und
manchem Leser für die Aufgaben unserer Zeit das rechte Verständnis eröffnen.
Münster i. W. R. Gaede.
Resa, Fritz, Jesus der Christus. Bericht und Botschaft in erster Gestalt.
Leipzig und Berlin 1907. B. G. Teubner. 8<^. 111 S. 0,80 M.
Resa bietet hier ein Seitenstück zu seinen Liedern aus den Propheten. Die
erzählenden Stücke der ursprünglichen Quellen, herausgeschält nach den Prinzipien
der historischen Forschung, sind zum »Bericht", die Aussprüche Jesu ebenso zur
»Botschaft" zusammengestellt in der Weise, daß jeder einzelne Abschnitt unter einer
Überschrift ein in sich abgeschlossenes Ganzes darstellt. Für viele, die in unserer
religiös wieder mehr interessierten Zeit zum Neuen Testament greifen mögen, um
an der Quelle zu schöpfen, wirkt der Eindruck befremdend, daß doch auch in den
drei ersten Evangelien sich schon viel zeitgeschichtlich Bedingtes, vor allem viel
Mirakelglaube findet: Für solche ist es sehr wertvoll, eine Zusammenstellung der
ursprünglichen Stücke vom Leben und der Lehre Jesu vor Augen zu haben.
Allerdings steht dem Unternehmen die Schwierigkeit entgegen, daß gerade die
202 W. Staerk, Neutestamentliche Zeitgeschichte, angez. von R. Peters.
historische Forschung der letzten Zeit (ich nenne nurWrede) die Annahme stark
erschüttert hat, als könnten wir das Evangelium „in erster Gestalt" so sicher her-
ausschälen, wie das z. B. auch v. Soden (vgl. Monatschrift V, 547) getan hat.
Der Verfasser gibt auch zu, daß in den Einzelheiten hier vieles strittig ist. Aber
abgesehen davon, bleibt sein Versuch doch verdienstlich, die ältesten Zeugnisse über
Jesus uns vor Augen zu stellen und ihn selbst zu uns reden zu lassen. Daß bei
den Aussprüchen Jesu oft die Zeilen abgebrochen sind, soll den Rhythmus der
Ursprache markieren. Man könnte das Bedenken dagegen geltend machen, daß
dadurch der Eindruck erweckt werde, als habe Jesus seine Verkündigung auch in
der Form von Liedern gegeben.
Staerk, W., Neutestamentliche Zeitgeschichte. (Aus der Sammlung
Göschen No. 325, 326.) I. Bdchen. 192 S., IL Bdchen. 168 S. Leipzig 1907.
G. J. Göschen, geb. je 0,80 M.
Die beiden Bändchen bieten in gedrängter Kürze einen guten Überblick über
den historischen und kulturgeschichtlichen Hintergrund des Urchristentums und
über die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter. Der erste Teil
zeichnet ein Bild der politischen und kulturellen Entwicklung in der Zeit des
Hellenismus und stellt die äußere Geschichte des Judentums bis auf Hadrian dar,
das zweite Bändchen schildert die Zustände der jüdischen Kirche, deren Kenntnis
für das Verständnis des Neuen Testaments so bedeutungsvoll ist. Zeitgeschicht-
liche Tabellen, ein geographischer Anhang, ein Abriß der Literaturgeschichte jener
Zeit u. a. bieten zum Schluß gute Übersichten. Heutzutage, wo die wissenschaft-
liche Forschung über das Urchristentum so weite Beachtung findet, wird mancher
beim Studium dieser oder jener Schrift auf politische, kulturhistorische oder religions-
geschichtliche Verhältnisse stoßen, die ihm ein Nachschlagebuch über Einzelheiten
oder eine allgemeine Orientierung wünschenswert machen. Dazu sind die beiden
Bändchen gut geeignet.
Bornemann, W., Der Konfirmandenunterricht und der Religionsunter-
richt in der Schule in ihrem gegenseitigen Verhältnis. (Vortr. d.
theol. Konf. zu Gießen, 26. Folge.) Gießen 1907. Alfr. Töpelmann (vorm.
J. Ricker). 83 S. 1,80 M.
Der Vortrag faßt in vortrefflicher Weise alles zusammen, was in der letzten
Zeit über das schwierige Problem verhandelt und geschrieben worden ist. In
zahlreichen Anmerkungen wird auf die reichhaltige Literatur über die Frage Bezug
genommen und dieser oder jener Punkt durch den Widerstreit der Meinungen
weiter verfolgt. Die Einzelbemerkungeu erhöhen ebenso wie die Beilagen den
Wert der Veröffentlichung für Pfarrer und Religionslehrer und gestalten sie für
jeden, der sich mit der Sache beschäftigt, zum trefflichen Hilfsmittel.
Neue Pfade zum alten Gott. Herausgegeben von Pfarrer F. Gers tu ng. Freiburg
i. B. und Leipzig, Paul Waetzel. 8^. Neun Bändchen gebunden zusammen
19,60 M. 4. Bändchen 3,20 M., 7. Bändchen 2,40 M., jedes andere 2 M.
1. Karl König, Gott, Warum wir bei ihm bleiben müssen. 154 S. o. J,
Neue Pfade zum alten Gott, angez. vo«f R. Peters. 203
2. Ferd. Gerstung, Die Welt. An sich — für mich. 100 S. o. J.
3. Karl Neumaerker, Der Mensch. Wie er sich selber findet. 176 S. o. J.
4. Arno Neumann, Jesus. Wer er geschichtlich war. 206 S. 1904.
5. Alfred König, Jesus. Was er uns heute ist. 128 S. 1903.
6. Dietrich Graue, Die Religion des Geistes. Wie der Gebildete denkend
zu ihr Stellung nimmt. 114 S. 1903.
7. Leonh. Ragaz, Du sollst. Warum dies Wort bestehen bleibt.
8. Günther Wohlfarth, Beten und moderner Mensch sein. Wie sich beides
zusammenreimt. 172 S. 1902.
9. Otto Hering, Persönliches Christentum. Das Eine, was uns not ist. 1905.
Die Schriften führen uns in die großen Lebensfragen der christlichen Welt*
anschauung hinein. Ihr Zweck ist, die Erkenntnis wahrer Religiosität und Sittlichkeit
unter den Gebildeten unses Volkes zu fördern und das unantastbare Recht dieser
Geistesmächte gegenüber allen ihren Gegnern und Verächtern mit scharf geschlif-
fener Waffe zu verteidigen. „Die Sammlung trägt bei völlig freier Entfaltung des
Individuellen in den einzelnen Arbeiten doch den Charakter der inneren Einheitlich-
keit. Man verspürt überall den Pulsschlag persönlichen Lebens; und es ist doch ein
Geist, der diese Schriften durchweht. Die Verfasser eint die Begeisterung für die Auf-
gabe, Frömmigkeit und Sittlichkeit in ihrer Lebensnotwendigkeit, Herrlichkeit, Hoheit
und Macht, damit aber zugleich die christliche Religiosität und Sittlichkeit in ihrer
ganzen schlichten Größe zu erfassen und den Suchenden unserer Tage vor die Augen
zu stellen." Es eint sie der freudige Glaube, daß in unserer Zeit, in der der Blick
freier ward für das Große in seiner ursprünglichen Einfachheit, „auch das Evangelium
wieder in seiner ganzen hehren Größe und erhabenen Einfalt begriffen werden und
seine herzbezwingende Macht offenbaren" werde. Die alten dogmatischen Geleise
sind verlassen. Neue Pfade sollen gewiesen werden dem Geschlecht unserer Tage,
aber nicht zu einem selbstkonstruierten Gott oder Jesus, wie so oft vorwurfsvoll
gegen die moderne Richtung der Theologie gesagt wird, sondern zu dem alten
Gott; d. h. was der bleibende religiöse Kern des überlieferten christlichen Glaubens
ist, soll dem modernen Menschen nahe gebracht werden. Die Bedenken und
Zweifel, die er vom Standpunkt der heutigen, durch die Fortschritte der natur-
wissenschaftlichen und geschichtlichen Erkenntnis bestimmten Weltanschauung aus
empfindet, werden freimütig und ohne Ausflüchte erörtert. Deshalb sind die
Schriften allen nach Wahrheit und Klarheit Ringenden warm zu empfehlen. Ihre
Tendenz richtet sich einmal gegen einen starren Buchstabenglauben, gegen die
Macht des durch die bloße Tradition Geheiligten ; der ehrliche Zweifler ist den Ver-
fassern lieber als der gedankenlose Gewohnheitschrist, und der durch solche Geister
entfesselte Sturm erscheint ihnen minder verderblich für die Kirche, als die träge
Windstille. Dann aber auch gegen die Seichtigkeit eines naturphilosophischen
Monismus, der sich über die Schranken der reinen Vernunft hinwegsetzt und auf
dem Gebiet der religiös-sittlichen Werturteile aburteilend und negierend sich breit
macht. Gegen diese Seite streitet trefflich die Schrift von Karl König: Gott,
die den christlichen Gottesglauben vor dem an den Naturwissenschaften orientierten
Denken zu rechtfertigen unternimmt. Sie handelt zunächst von dem Rechte des
Glaubens überhaupt, des Glaubens, der der große Lebenswille der Seele ist. Die
204 Neue Pfade zum alten Gott, angez. von R. Peters.
Erfahrungen der um sich selber ringenden, sich selbst gestaltenden Menschenseele
werden in das rechte Licht gesetzt gegenüber der rein verstandesmäßigen
Erkenntnis. Dann wird der Gottesglaube erwiesen als eine normale und charakte-
ristische Lebensbetätigung des Menschen, als eine Kraft seines geistig-sittlichen
Wesens, als eine zum Bestand unserer Gattung gehörende und deshalb unverHer-
bare Ausrüstung der menschlichen Natur, ja als die Offenbarung unseres tiefsten
Wesens selbst. Von hier aus steigt die Betrachtung schließlich auf zu dem Gottes-
glauben Jesu, und es wird klargestellt, was der christliche Gottesglaube, der Glaube
an den Vatergott, für uns bedeutet.
In der zweiten Schrift behandelt F. Gerstung „die Welt an sich", d. h.
als Inbegriff der reinen Kausalität, und „die Welt für mich", d. h. als Inbegriff
aller Kausalität, insofern alle Kausalität teleologisch bestimmt ist, Weltbeurteilung
unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit für ihre eigene Existenz und auch für
die Geistesentwicklung des Menschen in der Richtung der Intelligenz und des
Willens, der Religion und Sittlichkeit. Diese beiden Arten der Weltbetrachtung
werden von vielen schmerzlich als unversöhnliche Gegensätze empfunden; der
Verfasser will, indem er die Unzulänglichkeit der rein kausalen Auffassung dartut
und das Recht der teleologischen aufweist, der Sehnsucht nach einer Kopf und Herz
befriedigenden Weltanschauung dienen und zeigen, daß diese auch praktisch gegen-
über der rauhen Wirklichkeit der Welt und des Lebens sich behaupten und bewähren
läßt. Mit den von König und Gerstung behandelten Gegenständen berührt sich
aufs innigste die Schrift von C. Neumaerker, deren Ausführungen unter die
Gesichtspunkte gestellt sind: Wer bin ich? Wo komme ich her? Was soll, was
will ich hier? Der Verfasser bringt mehr Einzelheiten der naturwissenschaftlichen
Forschung, er nimmt mehr Bezug auf die reiche Literatur dieses Gebietes und ist
in seiner Polemik gegen materialistische und monistische Behauptungen etwas
schärfer. Das Streben nach Frische der Darstellung, die der ganzen Sammlung
eigen ist, führt hie und da an die Grenze des bewußt Geistreichen. Arno Neu-
mann, Jesus ist in dieser Monatschrift schon besprochen worden (V, S. 546). Die
Ergänzungsschrift von Alfred König will die Bedeutung der geschichtlichen
Persönlichkeit Jesu für das religiöse Suchen unserer Zeit dartun (vgl. Bousset, Arn.
Meyer u. a.). Sie zeigt, daß nur der praktische Materialist in absolutem Gegensatz
zu Jesus steht, daß aber der Mann „der modernen Weltanschauung" und der
weltfreudige Kulturmensch trotz aller scheinbaren Anstöße ihm den höchsten Wert
beimessen muß, wenn er nur sein wirkliches Wesen und Wirken recht verstehen
will, und daß Jesus auch dem Menschen zum rechten Verhältnis zu Gott, zu sich
selbst, zur Welt und zum Nächsten verhilft. Ausgehend von einer feinsinnigen
Kennzeichnung des Wesens echter Religiosität und der Eigenart des modernen
Menschen stellt Dietrich Graue die Religion des Geistes dar als Funktion des
menschlichen und zugleich als Wirkung des göttHchen Geistes. Der Abschnitt, in
dem der Verfasser die Eigenart der Sprache der Religion, wie sie der Ausdruck
ihres inneren Wesens ist, belauschen lehrt, leistet ebenso wertvolle „Pförtnerdienste
am HeiHgtum", wie die Ausführungen über die Religion als persönliches Erlebnis.
G. Wohlfarth weiß wohl, daß Beten und „moderner Mensch sein" sich für gar
viele schlecht zusammenreimt. Aber er zeigt, daß das Gebet recht verstanden, d. h.
W. Hess, Christliche Glaubens- und Sittenlehre, »ngez. von R. Peters. 205
nicht als wunderhafte Beeinflussung des göttlichen Willens gefaßt, sondern als
Atemholen der Seele in der Lebensluft, aus der sie stammt, begriffen, auch für
den Menschen der Gegenwart Bedürfnis ist und von ihm als reale Macht seiner
religiös-sittlichen Entwicklung erlebt wird, wofern Gott selbst ihm lebendige
Realität ist. Den Abschluß der Sammlung bildet O. Herings „Persönliches
Christentum", worin überaus wirkungsvoll der in allen Schriften anklingende
Grundgedanke zum Ausdruck kommt, daß unsere Zeit ein heißes Verlangen nach
persönlichem Erfassen und Verarbeiten der religiösen Werte innewohnt, das fernab
liegt von allem dogmatistischen Wesen und durch die Überlieferung Geheiligten.
Unsere Primaner nehmen an dem geistigen Suchen unserer Zeit Anteil. Die
„Neuen Pfade zum alten Gott" halte ich für trefflich geeignet, ebenso ihnen
Berater zu sein in ihrem Ringen um eine Weltanschauung, wie den „Gebildeten
unseres Volkes", die sich nach dem Vorwort die Sammlung als Leser wünscht.
Der niedrige Preis ermöglicht jedem leicht die Anschaffung der empfehlenswerten
Schriften.
Hess, W., Christliche Glaubens- und Sittenlehre. Einführung in Wesen
und Inhalt des Christentums für humanistische Lehranstalten. 3, Auflage.
Tübingen 1907. J. C. B. Mohr. 8°. VIII u. 93 S. 1,40 M.
Die Grundsätze der Behandlung der Glaubens- und Sittenlehre sind in der
neuen Auflage beibehalten. Dem Bestreben, die Glaubenslehre vom breitesten
kulturgeschichtlichen Boden aufzubauen, dienen zalreiche Zitate aus Schriftstellern
alter und neuer Zeit. Unfruchtbarer Dogmatismus wird vermieden durch Zurück-
gehen auf die heilige Schrift. Die neuere theologische Wissenschaft wird offen
und zugleich maßvoll verwertet. Nach einer religionsgeschichtlichen Einleitung
ist für die Glaubens- und Sittenlehre der Reichsgottesgedanke zum leitenden Prinzip
gemacht. Der Religionslehrer der Prima wird den Leitfaden für die zusammen-
fassenden und abschließenden Besprechungen gut verwerten können, wenn auch
für preußische Anstalten wenigstens die Behandlung in dieser Vollständigkeit
sich nicht durchführen läßt.
Rein, W., Religion und Schule. (Aus „Beiträge zur Weiterbildung der
christlichen Religion". 5 M.) München 1905. J. F. Lehmann. 8". 22 S.
Der erste Teil der Abhandlung bringt eine Kritik des evangelischen Religions-
unterrichts, bei der manche oft gehörte Anklage wiederholt, manch gutes Wort
gesagt wird. Viele Religionslehrer an höheren Schulen werden sich allerdings
durch die Vorwürfe (u. a.: der Religionsunterricht bisher nur Übermittelung kirch-
licher Lehrsätze, Einpauken von Pensen, nur Dogmatik, aller Psychologie Hohn
sprechend) nicht getroffen fühlen. Sie werden auch in Erinnerung an recht erfreuliche
Erfahrungen im Unterricht der Oberstufe nicht mit R e i n einstimmen in das Urteil,
daß, was nach dem vierzehnten oder fünfzehnten Jahre von Religion vordemonstriert
werde, vom Geiste unserer Jünglinge ablaufe wie das Wasser vom Regenmantel.
Aber der starke Beifall, den solche Kritik (auch wenn sie nicht von so berufener
Seite herkommt) bekanntlich findet, beweist immerhin, daß der Schäden noch genug
da sind, die „Bureaukratie und Hierarchie im Bunde miteinander' verschulden.
206 R- Heidrich, Christnachtsfeier und Christnachtsgesänge usw.
Auch der zweite Teil bietet manches Gute, so vor allem die Forderung eines
historisch -genetischen Ganges des Unterrichts in den späteren Jahren. Für die
ersten Jahre fordert Rein Wegfall des Religionsunterrichts in der Schule; dafür
sollen Sagen und Märchen eintreten, wie er dies praktisch durchführt in Jena.
Seinem Vorschlag stehen doch ernste Bedenken entgegen, ebenso seiner Befür-
wortung der Simultanschule. Er sagt selbst, daß später „alles Simultane in die
Brüche" gehe. Das ist, wenn man sich nicht ideale Verhältnisse in Schule, Kirche
und Elternhaus konstruiert, sondern die tatsächliche Lage berücksichtigt, auch in
den früheren Jahrgängen der Fall.
Düsseldorf. R. Peters.
Heidrich, R., Christnachtsfeier und Christnachtsgesänge in der evan-
gelischen Kirche. Nach den Akten der Konsistorien und der Überlieferung
der Gemeinden. Göttingen 1907. Vandenhoeck & Ruprecht. 194 S. 8^.
geh. 4,80 M.
Wenn in der Christnacht die Festglocken zur Mette rufen, dann eilt — so
ist es von alters her Brauch in der katholischen Kirche — Alt und Jung, Groß
und Klein dem in hellem Lichterglanze erstrahlenden Gotteshause zu, und die
weiten Räume hallen wider von den zum Teil uralten Weihnachtsliedern, denen
die Länge der Zeit nichts von ihrem Zauber und ihrer Wirkung auf die Menschen-
herzen hat rauben können. In vergangenen Jahrhunderten gehörte zur Weihnachts-
feier auch die dramatisch-liturgische Darstellung der Geburt des Heilandes, von
der als älteste Probe das Freisinger Weihnachtsspiel aus dem 12. Jahrhundert uns
erhalten geblieben ist. Was in der alten Kirche entstanden war, davon sind Reste
in die evangelische Kirche übergegangen, und noch heute gibt es eine Anzahl
evangelischer Gemeinden — der Verfasser zählt deren 167 innerhalb des Deutschen
Reiches — in denen der Christnachtsgesang in Übung ist, oder doch bis ins
19. Jahrhundert in Übung gewesen ist. Angeregt durch die in der evangelischen
Gemeinde seines Heimatsortes Fraustadt bestehende Feier hat der Verfasser e&
unternommen, durch Rundfragen bei kirchlichen Behörden und Privaten, durch
Einsichtnahme einschlägiger Akten, Durchmusterung von Kirchengesangbüchern
u. dgl. das weit zerstreute Material zu sammeln und zu einer übersichtlichen
Darstellung der Christnachtsfeier und des Christnachtsgesanges in der evangelischen
Kirche nach historischen und sachlichen Gesichtspunkten zusammenzufassen. Eine
besondere Aufmerksamkeit ist dabei dem sog. Quempasgesange gewidmet (Das
Wort „Quempas" gebildet aus den beiden Anfangssilben des lateinischen Weihnachts-
liedes Quem pastores laudavere).
Das recht interessante Buch ist nach des Verfassers Absicht zunächst ein wissen-
schaftliches Buch. Aber „wer eine Sache wertvoll findet, der möchte doch gern auch
praktisch wirken" (Vorrede); der Verfasser wünscht daher, „daß die alte Sitte der
Christfeier und des Christnachtsgesanges zunächst erhalten bleibt, wo möglich sich
weiter ausbreitet", wobei er auf die Mitwirkung der Schule und der Kirche sein
Augenmerk richtet. Übrigens betrachtet der Verfasser seine Arbeit noch nicht
als abgeschlossen, bittet vielmehr sowohl in der Vorrede wie auch im Texte selbst
(S. 56) um weitere Zusendung von Christnachtsgesängen und von Berichten über
angez. von K. Jansen. 207
die Christnachtsfeier. Das veranlaßt mich auf einige Punkte hinzuweisen, die bei
einer späteren Überarbeitung der Berücksichtigung empfohlen seien.
Auf Seite 2 sagt der Verfasser: „Der heilige Martin und der heilige Nikolaus
sind dadurch mit dem Weihnachtsfeste in Verbindung gekommen, daß ihre Tage,
der 11. November und der 6. Dezember, der Zeit vor Weihnachten angehören.*
Das klingt nicht sehr warscheinlich, zumal der 11. November und der 25. Dezember
doch mehr als sechs Wochen auseinanderliegen. Die Sache erklärt sich vielmehr
so, daß, wie manche anderen Feste der christlichen Kirche und wie das Weih-
nachtsfest selbst, so auch die Martins- und Nikolausfeier an bereits vorhandene
germanisch-heidnische Feste und Gebräuche angeschlossen sind. Wenn die Frucht
des Feldes eingetragen, der Wein gekeltert worden war, folgten die Dankesopfer
für Odin; das geschah in den nördlichen Gegenden gegen das Ende des Sep-
tember (St. Michaelstag), in den südlichen im November (St. Martinstag). Der
Nikolaus unserer Kinder mit dem Knecht Ruprecht im Gefolge ist wiederum kein
anderer als der Gott Odin; aber er erscheint jetzt (6. Dezember) als Wintergott
und ihm, zu dem alle Toten eingehen, wurden Kuchen aus Mehl und Honig,
Äpfel und Nüsse, die sogenannten Totenopfer, dargebracht. Ganz im Gegensatze
dazu wurde gegen den Jahresschluß, um die Zeit der Wintersonnenwende das
„Erwachen der Sonne" gefeiert, und das ist es, was in unserem heutigen Weih-
nachtsfest noch anklingt. Daß diese verschiedenartigen Feste nach ihrem äußeren
Verlaufe manche Übereinstimmungen zeigten und in ihren wenig mehr verstandenen
Überbleibseln heute noch zeigen, braucht nicht aufzufallen; namentlich Umzüge
und Umgänge durch die Fluren wurden zu verschiedenen Jahreszeiten in Ver-
bindung mit dem religiösen Kultus veranstaltet.
Wenn der Verfasser S. 14 sagt, daß in der katholischen Kirche noch heute
nicht, wie in der evangelischen Kirche, drei Weihnachtstage gefeiert werden,
sondern nur einer, daß dafür aber am eigentlichen Weihnachtstage drei Messen
gelesen würden, so ist das für den Zusammenhang, in dem es vorkommt, zwar
ganz belanglos und bedarf daher hier keiner weiteren Erörterung; dagegen mag
wenigstens die Bemerkung Platz finden, daß die gegebene Darstellung auf einer
in mehr als einer Hinsicht schiefen und ungenauen Vorstellung des Verfassers
von den tatsächlichen Verhältnissen beruht.
Eine etwas klarere Darstellung wäre bei einer Neuauflage dem Kapitel „Die
Weihnachtslieder" (S. 23 f.) zu wünschen. Gleich im Anfange wird dem
Leser der Gedanke nahe gelegt, als sei Luthers Lied vom Jahre 1524 „Gelobet
seist du Jesu Christ" unter den Weihnachtsliedern der christlichen Kirche
das älteste Kirchenlied gewesen, was der Verfasser gewiß nicht hat sagen wollen.
Später werden den vom Verfasser seinem Thema gemäß ins Auge gefaßten „Christ-
nachtsliedern" der evangelischen Kirche die „volkstümlichen Weihnachtslieder und
Christnachtsgesänge" in der katholischen Kirche gegenübergestellt und daran Be-
merkungen geknüpft, die der Leser um so mehr auf die „volkstümlichen Weihnachts-
lieder" mitbeziehen muß, als der Verfasser unmittelbar vorher die „Christnachts-
lieder" von den „geistlichen Volksliedern" der Weihnachtszeit unterschieden hat.
Bei dieser Gelegenheit sei deshalb darauf hingewiesen, daß schon im Jahre 1167,
als Erzbischof Christian von Mainz in der Schlacht bei Tuskulum mit dem Banner
208 E. Siecke, Mythus, Sage, usw., angez. von F. Panzer.
voranstürmle, vom Heere das Lied , Christ, der du geboren bist" gesungen wurde;
ferner, daß aliein für das 15. Jahrhundert die Zahl der dem Weihnachtskreis an-
gehörigen und auf uns gekommenen Gesänge sich auf beinahe Hundert beläuft,
darunter auch das bekannte „Es ist ein ros entsprungen" und das von Luther zi-
tierte „Ein Kindelein so lobelich ist uns geboren heut". Allerdings gehörten
die vom Volke gesungenen deutschen Lieder damals so wenig wie heute zu der
durch kanonische Vorschriften festgelegten Liturgie; aber nichtsdestoweniger
wurden sie bei den sogenannten stillen Messen, bei Nachmittags- und Abend-
andachten und selbst während der von dem liturgischen Choral nicht in Anspruch
genommenen Teilen des Hochamts gesungen, und wie es damals war, genau so
ist es noch heute.
Für eine zweite Auflage wäre dem Verfasser zu empfehlen, den allgemeinen Teil
seines Buches stofflich noch mehr zu verarbeiten und innerlich zu verbinden, statt ihn
durch allzuviele Unterabteilungen (I, 1, A, B, C, a, b, c und dgl.) zu zersplittern.
Groß-Lichterfelde. Karl Jansen.
Siecke, Ernst, Mythus, Sage, Märchen in ihren Beziehungen zur Gegen-
wart. Leipzig 1906. J. C. Hinrichssche Buchhandlung. 25 S. 8". 0,50 M.
Der Verfasser zerlegt in seinem Schriftchen, dem Abdrucke eines Vortrags,
seinen Vorwurf in drei Teile, die von den Beziehungen der Mythologie zur
Wissenschaft, Kunst und Religion handeln sollen.
Der erste Abschnitt spricht kurz von der Entstehung der Mythen, die aus den
Erfahrungen eines primitiven Zeitalters über die „zunächst unbegreiflichen und
unbegriffenen Vorgänge der uns umgebenden Natur" abgeleitet werden. Daß die
Mondsagen dabei „ein merkwürdiges Übergewicht" über alle andern behaupten,
wird schon hier nachdrücklich hervorgehoben; vergessen aber ist, daß die für den
primitiven Menschen und nicht bloß für ihn nicht minder als die der äußeren
Natur unbegriffenen und unbegreiflichen Vorgänge seiner eigenen menschlichen
Natur eine wohl noch viel wichtigere Quelle der Mythenbildung gewesen sind. Aus-
führlicher wird dann über das Verhältnis von Mythus, Märchen und Sage gehandelt.
Für den Verfasser besteht zwischen diesen dreien „von Hause aus gar kein Unter-
schied. Ein solcher hat sich erst im Laufe der Zeiten herausgebildet". Es geschah
das nämlich auf diese Weise, daß „diejenigen, in denen die handelnden Personen
als Helden der Vorzeit erschienen und an die sich wirkliche historische Erinne-
rungen der Völker anlehnten, zu sogenannten Sagen wurden. Die, welche die
Beziehung auf historische Vorgänge ganz fallen ließen, dabei aber scheinbar von
einfachen Menschenkindern handelten, in eine niedere menschliche Sphäre hinab-
stiegen, hießen Märchen". Das sind Anschauungen, an denen die Entwicklung
der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten spurlos vorübergegangen scheint; aber
auch J. Grimm, der ungefähr auf dem Standpunkte des Verfassers stand, hätte sich
wenigstens wesentlich anders ausgedrückt.
Nachdem noch in sehr vager Weise ausgeführt ist, welchen Nutzen die litera-
rische und historische Wissenschaft aus mythologischen Einsichten gewinnen kann,
erörtert der Verfasser die Beziehungen von Mythologie und Kunst. Er nennt seine
Ausführungen hier selbst „höchst oberflächliche und abgerissene Andeutungen",
W. Golther, Nordische Literaturgeschichte, angtz. von F. Panzer. 209
und der Rezensent hat die Pflicht, diese Attribute zu unterstreichen. Man kann
wirklich nicht oberflächlicher als hier geschieht über ein Thema sprechen, das, wo
man es auch packt, in die Tiefen menschlichen Seins und Sinnens führen müßte.
Der ausführliche letzte Abschnitt handelt über das Verhältnis von Mythus und
Religion. Ihr Verhältnis in der Gegenwart macht dem Verfasser berechtigte Be-
denken, und er wirft in Hinsicht auf unseren Unterricht die ernste und wohl zu er-
wägende Frage auf, „ob es ein wünschenswerter Zustand ist, daß unsern Kindern in
der Schule für Religionsunterricht die Unterweisung in jüdischer Mythologie in
so ausgedehntem Umfange und in so scholastischer Weise geboten wird". Leider
sind diese Ausführungen verquickt mit der aus anderen Schriften bekannten Leiden-
schaft des Verfassers, alle Mythen und Sagen auf den Mond zurückzuführen. Ob
Zeus oder Herakles, Hera oder Danae, Adam oder Eva und selbst der Apfel am
Paradiesesbaum : es ist der Mond und wiederum der Mond, der allen diesen und
hundert anderen mythischen Gestalten zugrunde liegt. Einen Anhänger hat diese
Theorie freilich bisher nicht gefunden und es steht zu befürchten, daß ihr auch
die Ausführungen dieser Schrift keinen Gläubigen zuführen werden.
Golther, Wolfgang, Nordische Literaturgeschichte. 1. Teil: Die isländische
und norwegische Literatur des Mittelalters. Leipzig 1905. G. J. Göschen'sche
Verlagshandlung. Sammlung Göschen No. 254. 123 S. 12 «. geb. 0,80 M.
Richard Wagners Werke haben dafür gesorgt, daß ein gewisses Interesse an
altnordischer Literatur unter den Gebildeten Deutschlands immer rege blieb. Was von
diesem Interesse erreicht wurde, waren aber doch im wesentlichen nur die Eddalieder
und was mit ihnen zusammenhing; die Kenntnis der alten, wunderbar reichen und
eigenartigen Prosaliteratur unserer nordischen Brüder blieb dagegen wesentlich
den Germanisten vorbehalten. Es möchte das um so auffälliger erscheinen, als
hier nicht nur Kunstleistungen vorliegen, die wohl um ihrer selbst willen eine leb-
haftere Teilnahme verdienten. Ist es doch deutlich, daß gerade unsere literarische
Gegenwart oder, richtiger vielleicht schon, die Literaturperiode, die wir soeben durch-
laufen haben, eine tiefe innere Verwandtschaft aufweist mit dem scharfen Realismus
nordischer Erzählungskunst und sichtbar genug haben ja durch Björnson und
Ibsen sich auch direkte Fäden von dort unmittelbar zu uns herübergesponnen.
In unseren Tagen erst scheint ein Umschwung eintreten zu wollen, da Männer
wie Arthur Bonus sich mit leidenschaftlichem Eifer bemühen, lange Versäumtes
nachzuholen. Da wird es doppelt willkommen scheinen, daß in dem vorliegenden
Büchlein den größeren, eindringlichem Studium dienenden Werken von F. Jonsson
und E. Mogk eine kurze populäre Darstellung der altnordischen Literatur zur
Seite tritt.
Ihr Verfasser hat sich selbst seit Jahren um die Erforschung der alten Literatur
Skandinaviens verdient gemacht; es versteht sich also, daß er überall zuverlässige
Nachricht von den behandelten Erscheinungen gibt, wenn man sich auch in manchen
schwierigen und umstrittenen Fragen anders entscheiden könnte als er getan.
Seinen Stoff hat er nicht nach Perioden abgeteilt, sondern die einzelnen Gattungen
werden für sich behandelt, sodaß drei Abschnitte, Eddalieder, die Skaldendichtung,
die Sögur überschrieben, entstehen, unter welch letzterem Titel die Prosa überhaupt
MonaUchrift f. höh. Schulen. VIU. Jhrg. 14
'210 Die lyrischen Meisterstücke usw., angez. von A. Matthias.
begriffen wird. Im einzelnen ist wieder so verfahren, daß jedes Denkmal, im
zweiten Abschnitte jeder Dichter für sich behandelt wird. Dabei pflegen gut
geschriebenen kurzen Inhaltsangaben Bemerkungen über Zeit, Ort und sonstiges
zur Kritik des Denkmals zu folgen.
Vielleicht wird man finden, daß der Verfasser in der Auflösung seines Stoffes
ins einzelne zu weit gegangen ist; den zusammenfassenden Betrachtungen sollte
etwas mehr Raum gegönnt sein. Die ästhetische Beschreibung und Wertung tritt
überhaupt allzu stark hinter der philologischen Kritik zurück. Besonders ungern
vermißt man eine Schilderung der geographischen, nationalen und kulturellen
Grundlage, auf der diese Literatur sich aufbaut, aus der allein ihre Eigenart ver-
standen werden kann.
Frankfurt a. M. Friedrich Panzer.
Die lyrischen Meisterstüclie von Joliann Wolfgang von Goethe. In zwei
Bänden. Mit Einleitung und Anmerkungen von Richard M. Meyer. Leipzig.
Wilhelm Weicher. 12». Je 142 S. kart. je 0,75 M.
Man muß dem feinsinnigen R. M. Meyer herzlich dankbar sein, daß er in
einer so hübsch ausgestatteten und gefälligen Ausgabe zwei so interessante Bänd-
chen für unseren Hand- und Hausgebrauch uns darbietet: Eine Auswahl aus dem
Reichtum Goethescher Lyrik, die alles echt Lyrische sammelt und dafür die di-
daktischen Zutaten aussondert, die man (nach Goethes eigenem Vorgang) unter
seinen lyrischen Gedichten zu finden gewöhnt ist. Ferner sind größere episch-
lyrische Dichtungen fortgeblieben: der „Ewige Jude" und „Hermann und Dorothea" ;
die Balladen dagegen, bei denen zu stark lyrischer Färbung die liedähnliche Form
kommt, sind aufgenommen. Die Anordnung ist nicht chronologisch, wie die
Harnacks, sondern in ästhetischer Absicht nach dem künstlerischen Gesichtspunkt
geordnet, so daß Goethes Durchbildung zu lyrischer Totalität als Leitfaden seiner
lyrischen Entwicklung erscheint. ,So schreiten wir von gelegentlichen Einzel-
gedichten zu anwachsenden Sammlungen fort, erreichen in dem von Goethe selbst
bewirkten Gedichtbuch die Höhe und gleiten durch spätere Gedichtreihen wieder
zu den lyrischen Einzelergüssen der letzten Jahre herab." Die Anmerkungen be-
schränken sich auf das zum Verständnis durchaus Wesentliche. Wir können an
ihnen lernen, was wir in der Schule bieten und was wir am besten nicht bieten.
Denn gemeiniglich wird viel zu viel an unseren Dichtern heruminterpretiert und
dadurch die Poesie unserer Jugend nicht gerade lieb und wert gemacht.
Ludwig, Albert, Schiller und die deutsche Nachwelt. Von der kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften zu Wien gekrönte Preisschrift. Berlin 1909.
Weidmannsche Buchhandlung. XII u. 679 S. geb. 14 M.
Bei der Besprechung von Bergers Schillerbiographie in dieser Monatschrift habe
ich S. 84, Jahrg. 1909 darauf hingewiesen, daß der Dichter, der Philosoph und der
Historiker Schiller durch seine Prosa, seine Dramen, seine Balladen und seine reife
Gedankenlyrik überall hin in die Welt der Deutschen seine fruchtbaren Anregungen
getragen, daß er einen viel tieferen Eindruck auf die Nachwelt ausgeübt habe, als
A. Ludwig, Schiller und die deutsche Nachwelt, ^gez. von A. Matthias. 2 1 1
wir uns gemeiniglich bewußt seien, daß wir heute Schiller in tiefster Seele tragen
und oft nicht wissen woher und daß die Gedanken dieses Geistesgewaltigen in
die zartesten Gefäße unseres nationalen Bildungsorganismus eingeströmt seien.
Daß dem so ist und wie das so gekommen ist, weist uns Albert Ludwig in
seinem Buche nach, das von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu
Wien auf das Urteil von zwei so bedeutenden Männer wie Minor und Schönbach
mit dem Preise gekrönt worden ist. Mit gutem und vollem Recht; denn diese
Arbeit ist das Werk ungewöhnlichen Fleißes, einer beneidenswerten Arbeitskraft
und der feinsinnigsten und zugleich großzügigsten Auffassungsgabe. Dabei ist
es von einer Vielseitigkeit, die als erschöpfend bezeichnet werden kann.
Wir durchwandern mit dem Verfasser die letzten Jahrzehnte des achtzehnten
und das ganze neunzehnte Jahrhundert, immer die Blicke auf Schiller und seine
Werke gerichtet und auf die Kulturmission, die der Geist, der von ihnen ausströmt,
zu erfüllen berufen ist. Es kommen trübe und frohe Zeiten, Zeiten des Nieder-
ganges und der Erhebung, Zeiten der Abkehr von Schiller und der liebevollen
Zuwendung zu ihm, Zeiten, von denen wir sagen müssen, daß wir sie nicht ver-
stehen, und Zeiten, denen unser volles Verständnis und unser ganzes Herz
gehört.
Es ist nicht möglich, mit kurzen Worten dem Inhalt des Ludwigschen Buches
gerecht zu werden, weil sich in jeder Zeit, die uns vorgeführt wird, die Urteile
über Schiller vielfach kreuzen und entgegenstehen und einen ganz einheitlichen
Grundzug nicht enthalten; aber die jedesmal herrschende und überwiegende An-
schauung der einzelnen Zeitabschnitte weiß Ludwig uns mit gutem Geschick klar
zu machen. So faßt er den Stand der Dinge bei Schillers Tode dahin zusammen,
daß die Kritik dem Dichter zwar meist ohne rechtes Verständnis, aber auch ohne
Übelwollen gegenüberstand, daß dafür der Dichter unter den Gebildeten, vor
allem unter der akademischen Jugend ein großes und begeistertes Publikum be-
saß, daß aber sein früher Tod ihn mit einem Schlage dem Herzen der Deutschen
näher brachte als irgendeinen Dichter jener oder früherer Zeiten. Die kriegerische
Periode des ersten Jahrzehnts freute sich dann der vielen verwandten Töne, die
Schiller anschlug, und Schiller vor allem löste in den Jahren der Not der patrioti-
schen Begeisterung die Zunge. Dann kommt die Herrschaft der Romantik und
mit ihr eine Zurückdrängung des Ansehens und des Einflusses Schillers. Das
dauert bis gegen die Mitte der dreißiger Jahre, von wo ab dann, allmählich stärker
und stärker werdend, wieder eine Reaktion zu seinen Gunsten einsetzt: die Zeit
der politischen Knechtschaft bringt vor allem Schillers Jungfrau und Schillers Teil
zu Ehren; die Zensur setzt gegen Schiller ein; die Hoftheater beteiligen sich an
dem Kampfe gegen manche der Schillerschen Dramen; in den Kreisen der höher
Gebildeten stellte Goethe mehr und mehr Schiller in den Schatten. Doch Hegel
sorgte dafür, Schiller in seiner philosophischen Bedeutung wieder auf den ge-
bührenden Platz zu stellen, und die dreißiger und vierziger Jahre taten das Ihre,
Schiller wieder in den Mittelpunkt des deutschen politischen Denkens und Fühlens
zu rücken. „Wenn die gebildete Jugend der dreißiger und vierziger Jahre sich
als Vorkämpferin einer neueren, besseren Zeit der Freiheit und des Fortschrittes
betrachtete, wenn sie dann von den Tagen des Hambacher Festes und des Frank-
14*
212 Wunderbare Reisen und Abenteuer usw., angez. von K. Lorenz.
furter Wachensturmes bis zu den akademischen Legionen des Jahres 1848 ein
hervorstechendes und sicher eins der sympathischsten Elemente der Bewegungen
dieser wilden Jahre war, so trug dazu nicht zuletzt bei, daß sie sich von früh an
am Klange der Schillerschen Verse berauscht hatte und ihr dabei naturgemäß das
der Zeit so besonders verständliche Freiheitspathos in Fleisch und Blut über-
gegangen war." Dann kommt die Abkehr des jungen Deutschlands von Schiller
und der Ansturm gegen ihn, sowie die Angriffe der orthodoxen evangelischen
Kirchenzeitung, der gegenüber der Liberalismus Schiller auf den Schild erhebt
und die großen Tage von 1859 in Szene setzte, die zugleich das Präludium bilden
zu den Ruhmestagen, da sich die Deutschen durchkämpften zu starker und ein-
heitlicher Gestaltung. Und wiederum kommen schlimme Tage: der Schopen-
hauersche Pessimismus, die Fechnerische Ästhetik und die Angriffe Nietzsches
setzen ein, um den gewaltigen Ansturm der Moderne vorzubereiten, der Schiller
am liebsten gänzlich den Garaus gemacht hätte. Doch binnen kurzem wird's an-
ders und das große Jubiläumsjahr 1905 mit der Begleitarbeit starker wissenschaft-
licher Tätigkeit und Vertiefung zeigt uns, was für ein geistiger Reichtum in
Schillers Werken wie altes Gold unvergänglich lagert. Das alles schildert uns
Ludwig mit seltener Kunst: die Führer hüben und drüben läßt er zu Worte
kommen, die Strömungen im Publikum sucht er darzustellen, die Schillerfeste
zeigen uns das deutsche Bürgertum in seinen politischen, literarischen und reli-
giösen Interessen, den Buchhandel, das Theater, die Stätten der Kunst und Wissen-
schaft läßt er Zeugnis ablegen, die Schillerbiographen, die Literaturhistoriker, die
Philosophen, die deutsche Presse treten mit ein in die Äußerungen der Zeit, Ver-
gleiche der Schillerverehrung zur Goethe- und Shakespeareverehrung werden ge-
zogen, bis schließhch das Schlußkapitel, das Schillerrenaissance überschrieben ist,
in vollen Akkorden alle die Klänge voll austönen läßt, die im Verlauf des Buches
wiederholt angeschlagen sind.
Das Buch ist jedem Geschichtslehrer und jedem Lehrer des Deutschen aufs
wärmste zu empfehlen; auch allen anderen Bildnern der Jugend ist es sehr nütz-
lich zu lesen, und wenn unsere Primaner es kennen lernen, so wird es ihnen auch
nichts schaden. Sie können daraus erfahren und beherzigen, an welchen Idealen
sich ihre Väter und Großväter zu ihrem Glücke und zu des Vaterlandes Erstarkung
genährt haben.
Berlin. A. Matthias.
Wunderbare Reisen und Abenteuer des Freiherm von Münchhausen. Für die
Jugend bearbeitet von Mitgliedern des Dresdener Jugendschriften-Aus-
schusses. Dresden-A., Weißegasse No. 5. Verlag Alexander Köhler. 75 S. 4*^.
3,50 M.
Diese Münchhausen-Ausgabe ist allerdings teurer, als wir sie in unserer Kinder-
zeit hatten. Aber für das, was hier geboten wird, ist der Preis außerordentlich
niedrig und kein Lob zu groß. Das Äußere des Buches ist künstlerisch vornehm
und macht den Herausgebern, sowie dem Künstler William Krause, Dresden, und
der Kunstanstalt von Meisenbach, Riffarth & Co. alle Ehre. Acht Vollbilder im
frischen Vierfarbendruck, aber auch jede einzelne Randleiste entsprechen dem
H. Wolf, Die Religion der alten Römer, angez. von Th. Grobbel. 213
übersprudelnden Humor des Inhalts. Für vorzügliche Schrift und ganz besonders
gutes Buntdruckpapier ist mit Recht Sorge getragen worden. Auch der Text selbst
ist in dieser neuen künstlerisch abgerundeten und für Kinder verständlichen Form
ein Kunstdruck zu nennen. Wenn man das Buch durchblättert, bekommt man
wieder Lust, sich in diese Abenteuer noch einmal zu vertiefen und damit die
eigene Kindheit an sich vorüberziehen zu lassen. Solche Bücher bleiben ewig
jung und machen selbst die Ältesten wieder frisch, besonders wenn auch das Auge
seine Freude hat, wie es hier der Fall ist.
Hamburg. Karl Lorenz.
Wolf, H., Die Religion der alten Römer. Gütersloh 1907. C. Bertelsmann.
104 S. 8''. geh. 1,50 M. Gymnasial -Bibliothek (herausgeg. von Hugo Hoff-
mann). Heft 42.
In der Einleitung (S. 9—10) geht Wolf von der gegensätzlichen Entwicklung
der griechischen und römischen Religion aus — dort qualitative Ausgestaltung der
Götter, hier quantitatives Wachstum — und hebt sodann den Charakter der römi-
schen Religion als Staatsreligion hervor. Demgemäß gliedert er seinen Stoff
nach den drei Perioden der politischen Geschichte, der Zeit des Königtums, der
Republik und des Kaiserreichs.
L Die Königszeit behandelt er S. 11 — 31 und führt hier vor: A. die Sonder-
götter der einfachen Hirten- und Bauernreligion samt Renates, Lares,
Genii, di manes; B. die auf Numa Pompilius zurückgeführte Einsetzung des
Kultus der fünf alteinheimischen Gottheiten: Janus, Jupiter (nebst Juno), Mars,
Quirinus, Vesta und die Einsetzung der wichtigsten Priestertümer; C. die unter
den drei letzten Königen erfolgten sakralen Maßnahmen, namentlich die Er-
werbung der Sibyllinischen Bücher gleichzeitig mit der Rezeption des Apollokultes
und der Einsetzung des Priesterkollegs der (späteren) decemviri sacris faciundis
für den bald mehr und mehr in Aufnahme kommenden griechischen Gottesdienst.
II. Der Besprechung der republikanischen Zeit (S. 32— 61) schickt er die
für mehrere Jahrhunderte maßgebende Unterscheidung zwischen di indigetes (ein-
heimischen) und di novensides (neueingeführten Gottheiten), zwischen ritus patrius
und ritus graecus und zwischen intra pomerium und extra pomerium (ob der
Gott innerhalb oder außerhalb der alten Weichbildgrenze verehrt wurde) voraus.
Er zerlegt diese Zeit in drei Abschnitte. A. Die Zeit bis zum zweiten Puni-
schen Kriege bringt die Aufnahme neuer Gottheiten entweder itahscher oder
griechischer Herkunft. B. Die Hannibalische Not veranlaßt, da man mit den
alten Sühnmitteln, die die eigene Religion an die Hand gibt, nicht mehr auszu-
kommen vermeint, eine völlige Hellenisierung der römischen Religion im
Götterbestande und im Kulte. C. Der Verfall der Religion (von 200—31 v. Chr.)
wird herbeigeführt durch die zunehmende Völkerverschiebung mit ihren verschie-
denen Kulten, gefördert durch die zersetzende Arbeit der griechischen Philosophie
(des Euripides, Euhemeros) und beschleunigt durch die hundertjährige Revolution
in Italien und den Unglauben der römischen Geistlichkeit selbst.
III. Die Kaiserzeit, die S. 63—103 behandelt wird, beginnt A. mit den
an innerer Unwahrhaftigkeit leidenden Reformbestrebungen des Kaisers
214 H. Wolf, Die Religion der alten Römer, angez. von Th. Grobbel.
Augustus, der in bewußter Absicht — vgl. auch E. Meyers Aufsatz über „Kaiser
Augustus« in der Hist. Zeitschr. 1903 (Bd. 91) — die Staatsreligion mit Hilfe eines
Stabes von Literaten (Varro, Livius, Dionys von Halikarnaß, Vergil, Horaz) zu
einer Hofreligion umzugestalten sucht. B. Für die Zeit von Augustus bis
Konstantin wird als charakteristisch die fortschreitende Religionsmischung und
die Sehnsucht nach einer allumfassenden Gottheit, das Verlangen nach einer Welt-
religion und das allgemeine Heilsbedürfnis hervorgehoben. 1. Weder die stoische,
noch die neuplatonische und neupythagoreische (so zu schreiben!) Philosophie
erhebt auf einen höheren Standpunkt, sondern schleppt den ganzen Ballast der
Volksreligion weiter mit sich. 2. Außerdem nimmt das Eindringen der orien-
talischen Kulte überhand, a) Das Judentum entfaltet in der Diaspora eine
gewaltige Propaganda, b) Der Isiskult mit seinen geheimnisvollen Ceremonien
(nicht Cärimonien zu schreiben I) verbreitet sich von Ägypten aus über den Orient
und dann auch nach Italien und Rom, genießt aber erst seit Vespasian kaiserliche
Gunst und erfreut sich besonders bei der Damenwelt allgemeiner Beliebtheit,
c) Der Mithrasdienst, dem Wolf, gestützt besonders auf die Arbeit von Cumont-
Gehrich (1903), eine eingehendere Darstellung widmet, wird für das römische
Weltreich im 3. und 4. Jahrhundert die Universalreligion unter dem Schutze des
Kaisers: das Beispiel der buntesten Religionsmischung aller Zeiten. Auch das
Christentum ist von ihr — nebenbei bemerkt — vielfach verzerrt und nachgeäfft.
Wolf beschreibt des weiteren die Einrichtung eines Mithrastempels — in der
Krypta das große Altarbild mit einer Darstellung des stiertötenden Mithras (siehe
das Titelbild) — und die nur Männern zugänglichen Mysterien dieses Kultes mit
ihren sieben Graden, d) Auch der Kaiserkult ist orientalischen Ursprungs. An-
fangs erst nach ihrem Tode auf Senatsbeschluß als Divi konsekriert, sind die
Kaiser seit Commodus schon bei Lebzeiten göttlich verehrt worden. C. Das
Christentum tritt nun gegenüber dem Heidentum mit all seinen Religionen und
Kulten in die Welt ein mit dem Anspruch, die absolute Religion zu sein. Es hat
sich daher mit dem Judentum, der griechisch-römischen Religion, dem römischen
Staate und der Philosophie auseinanderzusetzen und bleibt Sieger.
Es ist eine der wichtigsten Erscheinungen im Geistes- und Kulturleben des
klassischen Altertums, deren Kenntnis der Verfasser mit diesem Büchlein — sowie
mit dem gleichartigen über die Religion der Griechen (Gymnasial-Bibliothek Heft 41,
besprochen in dieser Monatschrift VI., S. 542—546 (1907) von G. Schneider-Gera) —
der studierenden Jugend vermitteln möchte. Seine Berechtigung trägt es also in
sich selbst. Zumeist auf Wissowas ausgezeichnetem Werke über „Religion und
Kultus der alten Römer" (J. Müllers Handbuch V, 4. 1902) fußend, gibt Wolf nun
wirklich auch im großen und ganzen eine lichtvolle Übersicht über die geschicht-
liche Entwicklung der religiösen Verhältnisse des römischen Volkes. Aber er bietet
im wesentlichen eben nur Religionsgeschichte. Der Inhalt und die Form
der Religion, d. h. also die Götterlehre und die Formen der Götterverehrung oder
der Kultus, kommen dabei entschieden zu kurz. Während Wissowa in seinem
Werke auf einen kürzeren historischen Teil, in dem er einen allgemeinen
„Überblick über den Entwicklungsgang der römischen Religion" entwirft, einen
fünfmal stärkeren besonderen systematischen Teil folgen läßt, worin er die
W. Falkenberg, Ziele und Wege usw., angez. von W. Bohnhardt. 215
, Götter! ehre", also die objektive Seite der Religion, und deren subjektive Seite,
den , Kultus", in den verschiedenen Einzelerscheinungen, jedem einzelnen Punkte
natürlich wieder, soweit möglich, in zeitlicher Folge nachgehend, betrachtet und
zusammenstellt, verwendet Wolf auf die Kultformen, abgesehen von dem Mithras-
kult, der allein seine sechs Seiten erfordert, kaum ein Zehntel, auf die Götterlehre
etwa ein Siebentel seines ganzen Buches: ein Mißverhältnis, das sich dadurch noch
steigert, daß diese Fragen nicht etwa im Zusammenhange behandelt, sondern daß
die Bemerkungen darüber vielmehr vielfach zerstreut oder auch den einzelnen
historischen Abschnitten als „Zusätze" bloß lose angehängt werden. Schon die
Wahl der Fassung des Themas „Die Religion der alten Römer" hätte dem Ver-
fasser auf der einen Seite eine größere Vollständigkeit in dem, was die
eigentliche Religion ausmacht, in der Götterlehre und im Kultus, nahe legen
müssen, wobei dann die systematische Darbietungsweise unumgänglich
war; auf der andern Seite erheischte dieser Umstand eine größere Beschränkung
der Religionsgeschichte, die namentlich in der Behandlung der Grenzgebiete,
wie der Literatur und Philosophie, in der Besprechung der Mithrasreligion, in den
Ausführungen über das Christentum, ferner auch in den langen wörtlichen Zitaten
aus Livius (auf S. 33, 34, 35, 38, 39, 41, 42-48, 49—50) ohne Schaden für das
Ganze Platz greifen konnte. Für die Zwecke der Schule gar wäre beides meines
Erachtens doppelt geboten, und dadurch würde die Klarheit und Übersichtlichkeit
des Ganzen in jedem Falle nur gewinnen. Die Ausführungen über die christtiche
Religion, die fast ausschließlich auf den Arbeiten Harnacks zur Urgeschichte des
Christentums beruhen, vertreten zudem Ideen, denen weite Kreise nicht zustimmen
können. Fast jeder Satz bedürfte hier der einen oder andern Einschränkung, um
allen christlichen Auffassungen gerecht zu werden. Wenn es schon zweifelhaft
erscheinen kann, ob diese rein theologischen Fragen überhaupt hierher gehören,
soviel steht sicher fest, daß sie in einem Schulbuche in dieser einseitigen Richtung
und in einer für den Standpunkt des Primaners mehrfach zu philosophischen
Fassung nicht vorgetragen werden durften. Zum Schlüsse möchte ich noch be-
merken, daß man neuerdings wieder die Herleitung des Wortes „Religion* von
religere, „rücksichtlich beachten" (schon bei Gell. 4, 9, 1) — also „die beachtende
Rücksichtnahme", nämlich auf die Gottheit — der von Wolf beliebten Herleitung
von relegare vorzuziehen scheint.
Paderborn. Th. Grobbel.
Falkenberg, Wilhelm, Ziele und Wege für den neusprachlichen Unter-
richt. Methoden und Lehrpläne für den neusprachlichen Unterricht an höheren
Lehranstalten und Fachschulen. Der Privat- und Selbstunterricht und der
Aufenthalt im Auslande. Cöthen 1907. Otto Schulze. Mit Vorbemerkung und
Einleitung. 108 S. 8°. geh. 1,25 M.
In zehn Kapiteln stellt Falkenberg, der sich als Lehrer für französische Sprache
einschließlich der Handelskorrespondenz an den Unterrichtsanstalten des Vereins
„Merkur" in Nürnberg zu erkennen gibt, die Entwicklung des neusprachlichen
Unterrichts dar, um weiteren Kreisen die noch fehlende Aufklärung über die
Reformbewegung und über die Fortschritte auf diesem Unterrichtsgebiet zu bringen.
216 A. Hansen, Haeckels „Welträtsel" usw., angez. von^E. Dennert.
Sodann möchte er Lehrern und Lehrerinnen mit seminaristischer Bildung ein brauch-
bares Hilfsmittel bei der Vorbereitung zur Prüfung bieten. Rein praktischer Natur
ist, wie der Titel schon andeutet, der letzte Teil. In ihm finden wir nützliche
Ratschläge für alle möglichen Unterrichtsarten, Besprechungen der gangbarsten
Lehrbücher mit Heranziehung der bekannten Literatur über den Aufenthalt im
Ausland, über Ferienkurse und dgl. Im Interesse der didaktischen Zwecke hätten
wir im ersten Kapitel „Kurzer Abriß der Geschichte der beiden Sprachen* gern
einen Hinweis auf die allerwichtigsten ältesten Sprachdenkmäler gesehen. Es
schließt sich an eine objektive Kritik der einzelnen Methoden seit der Mitte des
18. Jahrhunderts, als die neueren Sprachen erst durch die Begründung der Real-
schulen Beachtung fanden; so der Methoden von Meidinger, Seidenstücker und
ihres wichtigsten Bearbeiters Plötz (!!) und weiter bis zu Berlitz. In dieser
Charakteristik folgt der Verfasser teils eigenen Erfahrungen, teils den Ansichten
hervorragender Schulmänner. In der Überzeugung, daß der sich auf extremen
Bahnen bewegende Reformunterricht nie für Schüler und Lehrer gleichmäßig erfreu-
liche Resultate erzielen kann, befürwortet er die vermittelnde Methode, die gegen-
wärtig die verbreitetste sei, auch schon deshalb, „weil die Lehrpläne sie zur
Voraussetzung haben". Unangenehm redselig wird Falkenberg in manchen seiner
Ausführungen, so wenn er sich gegen die Auswüchse des Privatunterrichts wendet,
der von Unfähigen oder Unbefugten erteilt wird. Diese Heranziehung humoristisch
wirkender, ganze Seiten füllender Beispiele — und bisweilen in einem wenig einwand-
freien, mit zahlreichen Fremdwörtern versetzten Stil — bleibt in einem Buche, das
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit macht, besser fort. Das Ganze ist nach Inhalt
und Sprache recht populär gehalten (man vergleiche das über Phonetik Gesagte) ; es
ist, um Bekanntes heranzuziehen, etwa nicht auf eine Linie zu stellen mit den aus
dem Ende der achtziger Jahre stammenden kleinen Encyklopädien des französischen
und englischen Unterrichts von Rektor Otto Wendt. Die Absicht Falkenbergs, der
nichts Neues bringen will und kann, den Bedürfnissen derjenigen entgegenzu-
kommen, die vom Studium der größeren Werke absehen müssen, ist löblich. Diesen
wird das Büchlein die gewünschten Dienste tun.
Düsseldorf. W. Bohnhardt.
Hansen, A., Haeckels „Welträtsel" und Herders Weltanschauung. Gießen
1907. A. Töpelmann. 40 S. 8». 1,20 M.
Eine vorzügliche Studie des Gießener Botanikers. Sie bietet auf der einen
Seite eine scharfe, ja vernichtende Kritik Haeckels und auf der andern versucht
sie mit Erfolg das Interesse für Herder wieder zu erwecken, und das ist in der
Tat ein sehr dankenswertes Unternehmen; denn wenn man sich an den großen
Geistern der Vergangenheit bildet, so wird man um so besser die kleinen Geister
der Gegenwart durchschauen. Hansen hat wahrlich recht, wenn er urteilt, „daß
Herder um so viel höher steht als die modernen ,Monisten', als er bescheidener ist
als sie". Die Lektüre dieses Schriftchens ist eine Erquickung, zu bedauern ist
nur, daß der Verlag seinen Preis nicht auf die Hälfte ansetzte, damit es eine
weite Verbreitung finden kann.
W. Bölsche, Die Schöpfungstage, angez. jvon E. Dennert. 217
Bölsche, Wilhelm, Die Schöpfungstage. Umrisse zu einer Entwicklungs-
geschichte der Natur. Mit 10 Bildern. Dresden 1906. Karl Reißner. 88 S. 8°.
2 M.
Bölsche gehört wegen seines einschmeichelnden Stils und seiner lebhaften
Phantasie zu den beliebtesten Schriftstellern der Gegenwart. Oft muß man sich
wundern, daß er mit seiner mystisch-pantheistischen Neigung begeisterter An-
hänger Haeckels ist; es will uns scheinen, als ob er nicht dahin gehörte. Das
zeigt uns auch obiges Buch, in welchem er eine dichterisch ausgeschmückte Ent-
wicklungsgeschichte des Weltalls gibt im Anschluß an die — biblische Schöpfungs-
geschichte. Im Grunde genommen kann es wohl für letztere kaum eine bedeut-
samere Ehrenrettung geben als dieses Zeichen der Zeit. Eigentlich braucht man
in diesem Buch nur an geeigneter Stelle einige Hinweise darauf einzuflechten,
daß es Gottes Wille ist, der diese Welt ins Dasein rief, und jeder Christ kann es
getrost unterschreiben. Das gibt zu denken.
Jahrbuch der Naturwissenschaften 1906—1907. 22. Jahrgang. Herausgegeben
von M. Wildermann. Freiburg 1907. Herdersche Verlagsbuchhandlung.
XII u. 484 S. gr. 8«. 6 M., geb. 7 M.
Wir möchten die Anschaffung dieses bekannten und schon lange weit-
verbreiteten Jahrbuchs für jede Lehrerbibliothek lebhaft empfehlen. Hier findet der
Fachlehrer kurze Berichte über die wichtigsten neuen Ergebnisse auf allen Ge-
bieten der Naturwissenschaft. Dem Buch sind außerdem beigegeben: ein Über-
blick über die Himmelserscheinungen des nächsten Jahres, ein Totenbuch und ein
sehr dankenswertes ausführliches Namen- und Sachregister. Wer die ganze Reihe
der Bände dieses Jahrbuches besitzt, kann mit Hilfe dieser guten Register leicht
die wichtigste Literatur über eine in Rede stehende Frage finden.
Godesberg. E. Dennert.
Poincar6, L., Die moderne Physik. Übertragen von Privatdozent Dr. M. Brahn
und Dr. B. Brahn. Leipzig 1908. Quelle und Meyer. 268 S. 8«. geh. 3,80 M.
geb. 4,40 M.
Das Werk erreicht nicht die Bedeutung der von dem gleichnamigen Instituts-
mitgliede herausgegebenen Arbeiten,*) aber es hat vor diesen letzteren doch den
großen Vorzug, daß es wegen seines leichtverständlichen Inhaltes und der Materie,
die es behandelt, einem größeren Leserkreis angepaßt ist, als die naturphilosophischen
Gedankengänge, die sich in Henri Poincar^s Werken finden. In überaus klarer und
eleganter Darstellung gibt der Verfasser des hier vorliegenden Buches einen Ein-
blick in die modernen Anschauungsweisen der Physik, die um so deutlicher und
*) Poincare, Henri, Wissenschaft und Hypothese. Autorisierte deutsche Aus-
gabe mit erläuternden Anmerkungen von F. und L. Lindemann. Zweite Auflage. Leipzig,
B. G. Teubner. geb. 4,80 M.
Poincare, Henri, Der Wert der Wissenschaft. Ins Deutsche übertragen von
E. Weber. Mit Anmerkungen und Zusätzen von H. Weber, Professor in Straßburg. Ebenda
geb. 3,60 M.
218 L. Poincarö, Die moderne Physik, angez. von J. Norrenberg.
lichtvoller sich zeigen, als sie hier stets als Entwicklungsstadien eines historisch
gewordenen und immer noch werdenden Forschungsprozesses erscheinen. So
behandelt L. Poincar6 in anregendem Plaudertone die verschiedenen, zu immer
größerer Genauigkeit entwickelten physikalischen Messungsmethoden und die Haupt-
prinzipien der Physik, um dann durch eine Darlegung der neuesten Anschauungen
über die Theorie der Lösungen, der elektrischen Erscheinungen bei Gasen und die
Beziehungen zwischen Materie und Äther die Gebiete zu durchwandern, die dem
Nichtfachmanne noch naturwissenschaftliches Neuland sind, und die er in sein
bisheriges physikalisches Wissen kaum schon einzuordnen vermochte. Die gewandte
Darstellungsweise, die ohne Anwendung mathematischer Hilfsmittel und ohne
Eingehen auf Einzelheiten, die für das Verständnis entbehrlich sind, von den
Grundtatsachen ausgeht und einen geschichtlichen Aufriß von dem gibt, was die
moderne Physik beschäftigt, erinnert sehr an Ostwalds Richtlinien der Chemie. Die
Übersetzung ist gut, ebenso die Ausstattung.
Berlin. J. Norrenberg.
IV. Vermischtes.
Ein internationaler Neuptiilologentag in Paris soll, wie vielleicht den meisten
deutschen Philologen schon bekannt geworden ist, vom 14. bis 17, April d. J. stattfin-
den, und zwar in den Räumen der Sorbonne, veranstaltet von der Social^ des Profes-
seurs de Langues Vivantes de V Enseignement public. Immerhin möchte ich durch Hin-
weis an gegenwärtiger Stelle mit dazu beitragen, daß diesem Congris International
von Seiten der deutschen Fachleute möglichste Beachtung geschenkt werde. Einen
gewissen internationalen Charakter haben ja schon die deutschen Neuphilologentage
allmählich erhalten, und von Ausländern haben gerade Franzosen besonders lebhaft
teilgenommen. Es ist schon deshalb erwünscht, daß der Gegenbesuch von
deutscher Seite numerisch nicht zu schwach ausfalle. Um so mehr aber, als die
Pariser Tagung ausdrücklich als eine internationale veranstaltet ist und als voraus-
sichtlich andere Länder eine starke Teilnehmerschaft stellen werden. Für wie viele
hat Paris immer eine starke Anziehungskraft!
Für die Anmeldung eines in Vortrag oder These zu behandelnden Themas ist
es jetzt allerdings schon zu spät; das mußte nach dem Rundschreiben bis zum
15. Februar geschehen. Aber es muß ja auch viel mehr Hörende als Redende geben.
Von den drei für die Verhandlungen gebildeten Sektionen wird die erste die Frage
der Lehrerbildung behandeln, und zwar die „literarische und philosophische" Vor-
bildung, die philologische und die „professionelle", d. h. also pädagogisch-didaktische.
Die zweite Sektion ist den Fragen der Lehrpläne und Methode gewidmet und wird
diesmal wesentlich die große Frage der Behandlung der Grammatik erörtern. Die
dritte beschäftigt sich mit der Erlernung lebender Fremdsprachen außerhalb
des regelmäßigen Schulunterrichts, sowie mit der später folgenden Fortbildung.
Einzusenden ist an Monsieur Dupre, Professeur au Lycie Montaigne, Tresorier
du Congr^s, 52, boulevard de Vaugirard, Paris der sehr mäßige Betrag von 10 frcs,
wofür unter anderm der gedruckte Bericht geliefert wird. Unter anderm: denn auch
Festlichkeiten sind in Aussicht gestellt. Ich glaube wirklich, man darf zur Teil-
nahme ermutigen.
Berlin. W. Münch.
An der Universität Greif swald findet auch in diesem Jahre vom 5. Juli bis
24. Juli ein Ferienltursus (XVI. Jahrgang) statt. Die Fächer sind folgende: Pho-
netik (Prof. Heuckenkamp), Deutsche Sprache und Literatur (Prof. Heller, Privat-
dozent Dr. Baesecke), Französisch (M. Plessis), Englisch (Mr. Montgomerie), Re-
ligion (Konsistorialrat Prof. Haussleiter), Philosophie (Prof. Rehmke), Geschichte
220 Sprechsaal.
Prof. Bernheim), Kunstgeschichte (Prof. Semrau), Geologie (Prof. Jaekel), Chemie
(Privatdozent Dr. Strecker), Physik (Prof. Starke), Biologie (Prof. Kallius), Botanik
(Prof. Schutt), Physiologie (Privatdozent Dr. Mangold), Hygiene (Geheimrat Prof.
Löffler). Den Vorlesungen zur Seite gehen zoologische, botanische, physikalische
Übungen bzw. Exkursionen, psychologisches Seminar, französische, englische,
deutsche Sprachübungen. Ausführliche Programme sind gratis unter der Adresse
«Ferienkurse Greifswald" zu erhalten.
V. Sprechsaal.
1. Zu Xen. Mem. 3, 5, 9 vgl. Juliheft, S. 414.
Herr Prof. Schliack scheint mir das Richtige gefunden zu haben, indem er er-
kannte, daß dxouetv mit dem Infinitiv hier in dem Rufe stehen bedeutet. Eins jedoch
erregt Bedenken, dvafiijxvT^oxto mit doppeltem Akkusativ der Person; deshalb ist
dxTjxooxag nicht als appositives Partizip zu fassen, sondern prädikativ zu dvain-
jAVi^oxotfAsv zu konstruieren: wenn wir sie daran erinnerten, daß ihre Vorfahren in
dem Rufe stehen, sehr vortrefflich gewesen zu sein. — Im übrigen bemerke ich,
daß es doch ein wesentlicher Unterschied ist, ob jemand sagt: ich erinnere euch,
daß eure Vorfahren trefflich gewesen sind, oder ich erinnere euch daran, daß ihr
(von Jugend auf von Eltern, Lehrern, Rednern und Dichtern) gehört habt, sie
seien trefflich gewesen; im letzten Falle läßt er sich aus dem Spiele und beruft
sich auf Autoritäten, das ist wirksamer und objektiver; dadurch wird aber das Ge-
hörte nicht ohne weiteres als „bloßes Gerede" hingestellt, sondern der Redner
sieht von seiner Person ab und überläßt die Verantwortung für die Behauptung
anderen; deshalb ist auch der Infinitiv nach dxouo) in diesem Falle berechtigt.
Vgl. ibsXv '(äp I7re{>t5ij.£i ("AoTudYT]? Kupov), Sxi -^xoüe xaX^v xocYadöv aöxov eivai.
Xen. Cyr. 1, 3, 1.
2. Weber, Demokrit Bd. 9, S. 22 liest man, Anaximandrides habe in dem
Verse des Eunpides 7; cpuoi? IßouXed', -^ vojjicuv oiihhv ixsXsi das Wort <p6oi? in
TToXi? geändert und sei deshalb zum Tode verurteilt worden. Woher stammt diese
Behauptung?
3. In einem Übungssatz, der einer griechischen Quelle entnommen zu sein
scheint (v. Bamberg, Übungsbuch II, S. 36), wird der Ausspruch diem perdidi
dem Kaiser Trajan zugeschrieben. Woher stammt die Angabe? Vielleicht findet
man Auskunft in dem Kommentar des Casaubonus zu Sueton (Titus 8).
4. In der deutschen Kunstgeschichte von H. Knackfuß (Velhagen & Klasing)
Bd. I, S. 548 findet sich unter dem Bilde des Kurfürsten Friedrich des Weisen
von Dürer die Abbreviatur: B. M. F. VV. Wie ist sie zu deuten?
5. Auf einem Silberstück des Königreichs Westfalen in der Größe eines
Talerstückes steht auf der einen Seite J^rome Napol6on, auf der andern: König
von Westfalen FR. P. R. Was bedeuten die letzten Worte?
Sprechsaal. * 221
6. In Dr. Karl Schmidts Geschichte der Pädagogik (2. Aufl. von Dr. Wichard
Lange) Bd. III, Köthen 1870, S. 368 steht: Meine Bibliothek soll aus dem drei-
fachen Buche Gottes bestehen. Was ist damit gemeint?
Herford i. Westf. Ernst Meyer.
Herr Professor Dr. Bünger-Görlitz schreibt:
In dem Aufsatze: „Die Überbürdung auf der Mittel- und Unterstufe
der höheren Lehranstalten und die Mittel zu ihrer Abhilfe" fordert Herr
Direktor Professor Dr. Borbein, daß die Lehrpläne unserer höheren Schulen mehr
den Bedürfnissen der Schüler angepaßt werden, die mit dem Einjährigen die Anstalt
verlassen.
Er begründet dies damit, daß von 100 Schülern auf den Gymnasien nur 20,
auf den Realgymnasien nur 13, auf den Oberrealschulen nur 5, auf allen höheren
Schulen zusammen nur 14 den oberen Klassen angehören; denn wo fände sich
sonst im Staatsleben ein Beispiel dafür, daß 86 Menschen sich richten nach 14,
oder gar 95 nach 5 vom Hundert?
Diese Darstellung zeigt die tatsächlichen Verhältnisse in falschem Lichte.
Wenn von der Gesamtzahl der Schüler 14 7o den Oberklassen angehören, so rücken
doch von den mittleren und unteren Klassen nachher etwa ebensoviel in die oberen
Klassen, wie das bisher der Fall war, d. h. zu den 14 % müssen wir noch zweimal
147o zurechnen, so daß also nur 58 Schüler sich nach 42 vom Hundert zu richten
haben.
Für die Gymnasien insbesondere, wo nach Borbein 20 7o in den Oberklassen
sich befinden, würden noch zweimal 20 aus den Mittel- und Unterklassen aufrücken
und Borbeins Forderung bedeuten, daß die 60 Besten sich nach den 40 Schlech-
teren richten.
Aber auch diese Zahlen sind noch zu tief gegriffen, da die folgenden Jahrgänge
stärker zu sein pflegen als die vorhergehenden, also den jetzigen Mittel- und Unter-
klassen nach drei bzw. sechs Jahren stärkere Oberklassen entsprechen werden, als die
jetzigen sind; das gilt schon für die Gymnasien, ganz besonders aber für die
Oberrealschulen.
Nebenbei sei bemerkt, daß durch die Einrichtung der Realschulen doch schon
erheblich den von Borbein vertretenen Wünschen entgegengekommen ist.
Dazu bemerkt Herr Direktor Dr. Borbein-Altona:
Herrn Professor Bünger bin ich dankbar für seinen Hinweis auf einen von mir
begangenen statistischen Fehler. Doch glaube ich, daß auch die Multiplizierung
mit drei nicht zum Ziele führt. Die Frage, wieviel Prozent der die Unter-
und Mittelstufe besuchenden Schüler Nutzen ziehen aus der Oberstufe, ist, na-
mentlich wenn man dabei an das Bestehen der Reifeprüfung denkt, sehr viel ver-
wickelter, als es auf den ersten Blick scheint, und läßt sich mit dem im Zentral-
blatt und sonst gedruckt vorliegenden statistischen Material wohl überhaupt nicht
genau beantworten. Im übrigen weise ich darauf hin, daß ich bei der Abfassung
222 Sprechsaal.
hieines Aufsatzes durchaus von inneren Gründen ausgegangen bin und die kurze
statistische Erörterung über die Zahlen der Schüler auf den verschiedenen Stufen
der höheren Lehranstalten erst angestellt habe, nachdem alles Vorhergehende
druckfertig niedergeschrieben war. Es kommt ihr für die ganze Frage der Über-
bürdung nur eine nebensächliche Bedeutung zu.
Herr Oberlehrer Dr. Fr. Bender-Cöln schreibt:
Im ersten Hefte dieses Jahrganges der Monatschrift wendet sich Herr Prof.
Türk S. 26—29 mit Recht gegen den alten Brauch, die Resultate der Ver-
setzungskonferenzen am letzten Tage in der Aula bekannt zu geben. Den von
ihm angeführten Gründen wird wohl billig kein einsichtsvoller Schulmann wider-
streiten. Im übrigen steht es mit jenem Brauche gottlob nicht so schHmm, wie
er anzunehmen scheint; jedenfalls ist, soviel ich weiß, hier in Cöln seit langem
mit jenem Verfahren gebrochen, wenn es überhaupt je in Übung gewesen ist; auch
habe ich von anderen rheinischen Anstalten nie etwas derartiges gehört. Vielleicht
dürfte es angebracht sein, einmal kurz den hier seit langem üblichen Modus zu
skizzieren, mit dem auch Herr Türk wohl einverstanden sein dürfte.
An den meisten hiesigen höheren Schulen treten nach Ablauf der Hälfte des
Tertiais die Fachlehrer unter dem Vorsitz des Direktors zur sog. „Mittelkonferenz"
zusammen, so ganz besonders auch im letzten Tertial. Einige Tage vor deren
Beginn teilen die Lehrer der einzelnen Klassen dem Ordinarius mit, in welchen
Fächern die Schüler nicht auf dem Standpunkt der Klasse stehen. Das Gesamt-
urteil über die Leistungen wird dann in der Konferenz festgestellt und so auch
zur Kenntnis des Direktors gebracht, der auf diese Weise auch immer hinreichend
über die Schüler unterrichtet ist. In wenigen Minuten ist dank der vorhergehenden
Orientierung des Ordinarius die Sache erledigt; es heißt einfach nach Namens-
nennung: guter, genügender Schüler — bzw. mangelhaft oder schwach in dem
und jenem Fache. In letzterem Falle wird bemerkt, ob der Rückgang in den Lei-
stungen auf Mangel an Fleiß oder sonstige Gründe, wie Krankheit, häusliche Ver-
hältnisse usw., zurückzuführen ist. Gerade diese Aussprache schützt manchen
Schüler vor wenn auch nicht gewollter ungerechter Beurteilung. Die Eltern der
schwachen Schüler erhalten dann ein Formular etwa folgenden Inhalts zugestellt:
„In der heutigen Konferenz stellte sich heraus, daß Ihr Sohn (folgt Name und
Klasse) in (folgt Fach) nicht auf dem Standpunkt der Klasse steht — sowie daß
er es an dem nötigen Eifer fehlen läßt." (letzteres im Bedarfsfall durchstrichen.)
Der Ordinarius.
Im dritten Tertial tritt bei dem Formular hinzu:
„Voraussichtlich (möglicherweise) wird er Ostern die Versetzung nicht erreichen."
Es liegt auf der Hand, daß so den Eltern rechtzeitig Gelegenheit zur Rück-
sprache mit den Lehrern geboten wird, und tatsächlich geschieht dies auch fast
regelmäßig. Ebenso wird der schwache aber strebsame Schüler vor entmutigendem
Tadel bewahrt, und dem faulen geschieht kein Unrecht.
Das Ergebnis der eigentlichen Versetzungskonferenz wird dann die Eltern und
Schüler kaum noch überraschen. Zudem wird auch den Eltern der nichtversetzten
Sprechsaal. 223
Schüler vor dem Schulschlusse eine diesbezügliche Mitteilung gemacht, die allerdings
gewöhnlich zur Folge hat, daß ein Teil der Zurückgebliebenen am letzten Tage
der Anstalt fern bleibt. Das ist aber weiter auch nicht schlimm. Die dennoch
Erscheinenden sind gewöhnlich die mit gutem Gewissen. Und daß ihnen beim
Schulschlusse — eventuell auch in der Aula — einige tröstende und ermunternde
Worte gesagt werden, ist viel eher angebracht, als den ohnehin Glücklichen durch
die öffentliche Quittung den Gedanken der Überhebung nahe zu legen.
Herr Professor Dr. Ludwig Gurlitt-Steglitz schreibt:
Zur Abwehr.
Im Novemberhefte 1908 dieser Monatschrift S. 609 brachte Oberlehrer Professor
Dr. Paul Brandt in Bonn eine Anzeige von Friedrich Fischers Abhandlung
„Anregung zur Kunstpflege an Gymnasien" (Beilage zum Jahresbericht des Dom-
gymnasiums zu Merseburg 1906) und benutzte diesen Anlaß, die verletzende Kritik,
die Fischer gegen einen kleinen Aufsatz meiner Hand veröffentlicht hatte, in ihren
kräftigsten Worten zu wiederholen.
Es ist an sich eine ungewöhnliche Erscheinung, daß mein kurzer plaudernder
Feuilleton-Aufsatz fünf Jahre nach seiner Veröffentlichung — er erschien am
18. Juli 1903 in der Wiener Wochenschrift „Die Zeit" — in einer wissenschaftlichen
Zeitschritt so eingehend und schroff behandelt wird. Ich habe inzwischen über
das gleiche Thema eine ausführliche Abhandlung, sogar in Buchform, erscheinen
lassen, an der sich mit besserem Grunde der Scharfsinn meiner Gegner messen
könnte. So aber nimmt es sich aus, als wenn es dem Kritiker weniger darauf
ankomme, meine Stellung zur Kunstpflege auf höheren Schulen zu beleuchten,
als einen Anlaß zu persönlichen Anfeindungen zu finden.
Ich muß die von beiden Herren ausgesprochenen Worte, daß mein von ihnen
kritisierter Aufsatz .dreiste und unwahre Behauptungen enthalte" als eine
unberechtigte Unterstellung abweisen.
Auch Selbstüberhebung und blinde Wut gegen das klassische Gymnasium
wird ein unbefangener Leser nirgends in meinem Aufsatze spüren, er müßte denn
das Betonen einer eigenen starken Überzeugung so bezeichnen wollen. Von irgend-
welchen eigenen Leistungen und Verdiensten spreche ich dort mit keinem Worte.
Auch ist es mir nicht eingefallen, meine Urteile zugunsten einer stärkeren
Betonung des Beobachtungsvermögens unserer höheren Schüler als, Orakelsprüche
hoher Weisheit" auszugeben. Ich habe nur von dem mir verfassungsmäßig
zustehenden Rechte Gebrauch gemacht, öffentliche Angelegenheiten mit den meiner
Überzeugung entsprechenden starken Worten zu kritisieren. Meine Kritik wandte
sich gegen ein System, nirgends gegen bestimmte Personen und vorwiegend gegen
Vertreter der Schulen, die „uns" Erwachsene erzogen haben, deren Wirkung und
Leben also um Jahrzehnte zurückliegt.
Es ist auch nicht wahr, daß ich ein doch gewiß nicht so bitter ernst zu
nehmendes derbes Urteil meines Vaters über die Philologen mir selbst zu eigen
gemacht hätte. Ich betonte ausdrücklich, daß mein Vater von seinem Künstler-
224 Sprechsaal.
Standpunkte aus zu einem solchen Urteil kommen konnte und auf Grund von
Beobachtungen, die zumeist schon ein halbes Jahrhundert zurückliegen, also der
Geschichte angehören. Daß ich, der ich selbst Philologe bin und dessen ältester
Bruder auch Philologe war, dieses derbe Wort, das ich obendrein in Anführungs-
strichen gab, zu einer Beleidigung des heutigen Philologenstandes stempeln wollte,
das kann auch nur Voreingenommenheit herauslesen und seine ausdrückliche Be-
tonung hat, wenn nicht den Zweck, so doch die Wirkung, zwischen mir und meinen
Wissenschaftsgenossen Unfrieden zu stiften.
Es kann sich hier nicht darum handeln, meine Stellung zu dem vorliegenden
pädagogischen Problem zu begründen und die Kritik meiner Gegner als hinfällig
nachzuweisen. Das letzte Wort hierin zu sprechen, darf ich getrost der starken
Bewegung selbst überlassen, die sich zugunsten des Anschauungs- und Hand-
fertigkeitsunterrichtes und im Kampfe gegen den ererbten Verbalismus und
Formalismus auf der ganzen Erde vollzieht. Aber selbst wenn ich mit meinen
Ausführungen sachlich und formell im Unrecht wäre, so durften meine Kritiker
daraus nicht ein Recht für sich herleiten, eine gegen meine Person gerichtete Miß-
achtung öffentlich zum Ausdruck zu bringen.
Solange diese Angriffe in einer der weiteren Öffentlichkeit sich entziehenden
Programmabhandlung versteckt lagen, konnte ich sie als gleichgültig unbeachtet
lassen. Da sie jetzt aber an weithin sichtbarer Stelle wiederholt worden sind, muß
ich ihnen an gleicher Stelle mit aller Entschiedenheit widersprechen.
Ich bemerke zu den vorstehenden Worten, daß die Redaktion sich den ver-
letzenden Angriff gegen Herrn Professor Dr. Ludwig Gurlitt nicht aneignet. Auch
hat sie gar keinen Anlaß, an der Wahrhaftigkeit des Herrn Professor Gurlitt irgend-
welchen Zweifel zu hegen. Herr Professor Dr. Brandt ermächtigt mich zu erklären,
es habe ihm ferngelegen, Herrn Professor Gurlitt bewußter Unwahrheit zeihen zu
wollen.
Berlin. A. Matthias.
I. Abhandlungen.
Alte Ziele — veränderte Wege im Geschichtsunterricht
der Prima.
Mit jedem Jahrzehnt erweitert sich der Schauplatz der Weltgeschichte. Mit
jedem Jahrzehnt vergrößert sich der Umfang des geschichtlich Gewordenen und
Abgeschlossenen.
In den Jahren unserer Kindheit — vor 1870 — schloß der Geschichtsunterricht
mit dem Wiener Kongreß, bisweilen schon — horribile dictu — mit der französi-
schen Revolution oder gar mit Friedrich dem Großen ab.
Das vergangene Jahrhundert hat die menschliche Kulturentwicklung, das
Staats- und Völkerleben mehr gefördert als die drei vorangehenden Jahrhunderte
zusammen.
Die jüngsten Reformen der preußischen Lehrpläne haben dem Bedürfnis
Rechnung getragen und die Fortsetzung des Geschichtsunterrichts bis 1871 bzw.
1888 geboten.
Die Teilnahme aller Kreise der Bevölkerung am öffentlichen Leben erfordert
heute ein viel tieferes Verständnis der neueren und neuesten Geschichte als vor
wenigen Jahrzehnten. Die Ausdehnung der politischen Beziehungen und der
wirtschaftlichen Interessen der europäischen Mächte über die Ozeane hinaus macht
heute ein — wenn auch nur flüchtiges — Eingehen auf die Beziehungen ähn-
licher Art in den früheren Perioden notwendig. Mit andern Worten, das Gesamt-
gebiet des Geschichtsunterrichts ist so ausgedehnt, die Fülle des Stoffes so ver-
mehrt worden, daß die Frage heute nicht zu umgehen ist: Wie kann in den wenigen
Unterrichtsstunden alles Wissenswerte mitgeteilt, eingeprägt, wiederholt, vertieft
>yerden? Wo kann in früheren Perioden Minderwichtiges übergangen oder ver-
kürzt werden? Wie kann der Geschichtsunterricht, indem er — wie doch vor-
geschrieben ist und angestrebt wird — die Vergangenheit in Beziehungen zur
Gegenwart setzt, für das Verständnis der Gegenwart fruchtbar gemacht werden?
Wie kann die Gefahr einer mechanischen Einprägung oft kaum in ihrem Zusammen-
hang und ihrer Bedeutung verstandener Tatsachen vermieden werden?
Jeder Lehrer, der nur wenige Jahre auch in den oberen Klassen unterrichtet
hat, wird die gleichen unerfreulichen Erfahrungen gemacht haben:
1. Selbst tüchtige Schüler, die mit dem Urteil II in der Geschichte nach
Prima (oder Oberprima) versetzt sind, haben oft nach wenigen Monaten das
Monatschrift f. höh. Schulen. VUI. Jhrg. 15
226 R- Thiele,
früher Gelernte und Gewußte zum großen Teil vergessen. Ein Versuch, die Oster-
Abiturienten nach ihrem ersten Studiensemester in der Geschichte zu prüfen, —
in der Art der Reifeprüfung — , würde, wenn er sich überhaupt ausführen ließe,
ein sehr viel ungünstigeres Ergebnis haben als im Lateinischen oder in der Mathe-
matik. Der selbstverständliche Einwand, daß die den fremden Sprachen und der
Mathematik verdankte geistige Schulung und Bildung ein unverlierbarer Besitz für
das Leben bleibt, wenn auch die Kenntnis vieler Sprachregeln, Vokabeln, mathe-
matischer Formeln und Deduktionen dem Gedächtnis fast spurlos entschwindet,
trifft für den Geschichtsunterricht nicht in demselben Maße zu, da hier in weit
höherem Grade die Kenntnis der Tatsachen, der kausalen und chronologischen
Zusammenhänge, der Kontinuitäten oder Unterbrechungen der Entwicklungsreihen
die unerläßliche Bedingung des Verständnisses ist.
2. Minderbefähigte Schüler, auch in Prima, die mit der beneidenswerten, aber
unter Umständen gefährlichen Gabe eines guten Gedächtnisses ausgestattet sind,
wissen — oft noch nach längerer Zeit — einzelne Abschnitte des Lehrbuches
fast wörtlich auswendig; sie versagen aber völlig bei jeder das Verständnis der
Tatsachen voraussetzenden oder eigene Denkarbeit erfordernden Frage; nament-
lich wenn ihnen zugemutet wird, zu kombinieren oder selbst Vorstellungsreihen
zu bilden.
3. Auch gute Schüler gewöhnen sich oft schwer und langsam an begriffliche
Klarheit und an Präzision des Ausdrucks; selbst da, wo durch das Fehlen der-
selben arge Verwechselungen und Unklarheiten entstehen. Nicht nur Begriffe wie
Vertrag, Bündnis, Friedensschluß werden teils aus Gedankenlosigkeit, teils aus Un-
sicherheit verwechselt. Ich habe sogar Bundestag und Bundesrat in Oberprima
verwechseln hören! Über einfache geschichtliche und staatsrechtliche Begriffe,
wie Reichs- und Landstände, Territorium, Säkularisation, Konföderation, Staats-
streich, Revolution, Konstitution, Aristokratie, Demokratie, Timokratie usw. begegnet
man oft noch in Prima ganz unklaren Vorstellungen.
4. Ein ganz gewöhnlicher Fehler sind Anachronismen. Vorstellungen der
Gegenwart werden in der naivsten Weise auf entlegene Zeiten übertragen ; die Ge-
setze der Kausalität, der geschichtlichen Entwicklung, die Macht des Beharrungs-
gesetzes, die den Primanern aus der Naturlehre bekannt ist, kommen ihm in der
Betrachtung des geschichtlichen Werdens und Vergehens nur oberflächlich und
unklar zum Bewußtsein. Welcher Geschichtslehrer hätte nicht auf diesem Gebiete
die seltsamsten Erfahrungen gemacht I
5. Unter der Fülle des Tatsächlichen, das der Geschichtsunterricht bietet und
bieten muß, kommt das persönliche Element nicht immer zu seinem Recht. Es
ist gewiß eine berechtigte und notwendige Forderung der Lehrpläne, daß in den
oberen Klassen auch kulturgeschichtliche und wirtschaftsgeschichtliche Belehrungen
gegeben werden sollen. Aber man bedenke: Was in der Geschichte auch den er-
wachsenen Schüler am meisten fesselt und interessiert, sind doch Persönlichkeiten
und Tatsachen.
In einer Zeit, da das öffentliche Leben an den einzelnen Mann höhere An-
forderungen stellt, ihm ernstere Pflichten auferlegt als jemals früher, sollte auch
das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit mehr gestärkt werden. Das kann aber.
Alte Ziele — veränderte Wege im Geschichtsunterricht der Prima. 227
nur geschehen, wenn die geschichtliche Betrachtung den Menschen selbst in den
Mittelpunkt stellt, wenn die Kraft, der Wille, das Genie des Menschen als der
Hauptfaktor der Geschichte angesehen und bewertet wird. Es gibt nichts für die
Zukunft Gefährlicheres, als die bei der sogenannten gebildeten Jugend ziemlich
weit verbreitete Resignation, die den Menschen lediglich als Produkt sogenannter
„Verhältnisse" ansieht und fatalistisch „geschehen läßt, was man doch nicht ab-
wehren oder ändern kann", also eine persönliche Verantwortlichkeit nie zum rechten
Bewußtsein kommen läßt.
Wie kann der Geschichtsunterricht die aus den mitgeteilten und wohl überall
gemachten Erfahrungen entstehenden Aufgaben erfüllen?
Der Verfasser gestattet sich, den Herren Fachgenossen folgende Gedanken
bzw. Vorschläge zur Erwägung vorzulegen.
I. Unterschiedliche Behandlung des Stoffes in der Weise, daß von minder-
wichtigen Perioden nur ein chronologisches Gerippe mitgeteilt wird, während die-
jenigen Lehrabschnitte, die in ihrer Aufeinanderfolge — vielleicht in ganz un-
gleichen Zeitintervallen — den wirklichen Fortschritt der Geschichte zur An-
schauung bringen, in breiter Ausführlichkeit und mit wissenschaftlicher Genauig-
keit behandelt werden. Statt weiterer Erörterungen mögen einige Beispiele folgen:
a. Aus dem Pensum der Unterprima.
Das X. und XI. Jahrhundert.
Bis 936 dürfte eine kurze Übersicht — nicht mehr als eine Unterrichts-
stunde! — genügen. Hauptsachen: die Bildung der Stammesherzogtümer; die
endgültige Trennung des ostfränkischen und westfränkischen Reiches (der ge-
schichtliche Fortschritt um 911 gegen 8841); Konrads I. vergebliche Versuche, das
Herzogtum zu beseitigen; Heinrichs I. kluge Anerkennung des geschichtlich Ge-
wordenen; seine Abwehr der Magyaren, Beginn der Slawenkriege, Sicherung der
Erbfolge: alles in kurzer Erwähnung der Tatsachen, ohne ausführliche Erzählung I
Ottos I. Regierung wird eingehend erzählt werden müssen (in etwa drei Unter-
richtsstunden), weil sie für die Geschichte der folgenden Jahrhunderte grundlegend
ist: das Wiederaufleben des Partikularismus; die Erwerbung der longobardischen
Krone; die Beziehungen zu Burgund, Frankreich, Byzanz; die Beschränkung der
herzoglichen und Erweiterung der bischöflichen Macht; die Slawenmission; die
Versuche, die politische und kirchliche Vorherrschaft über Polen, Böhmen, Ungarn
auszudehnen ; die Erneuerung der römischen Kaiserwürde und der Herrschaft über
das Papsttum; die Sicherung der Erbfolge, auch im Kaisertum; die Verbreitung
römisch -kirchlicher Bildung, Gelehrsamkeit, Kunst in deutschen Landen: Lauter
Keime der späteren geschichtlichen Entwicklung zu guten und bösen Früchten I
Hier ist eine ausführlich erzählende Darstellung erforderlich.
Die folgende Zeit, bis 1056, also fast ein Jahrhundert, läßt sich ganz kurz
darstellen; zwei Stunden genügen.
Ausführlich wird dann wieder die Zeit Heinrichs IV. erzählt. Von den Hohen-
staufen braucht nur die Regierung Friedrichs I. und II. eingehend dargestellt zu
werden.
15*
228 R. Thiele,
b. Aus dem Pensum der Oberprima.
Die Scheidung ist hier natürlich viel schwieriger, wegen der weit zahlreicheren
Beziehungen der beiden letzten Jahrhunderte zur Gegenwart.
Im Zeitalter Friedrichs des Großen läßt sich die Kriegsgeschichte sehr ver-
kürzen; z. B. für den dritten schlesischen Krieg genügt eine ausführliche Er-
zählung der beiden ersten Jahre 1756 und 57. Von 1758 an ist eine kurze Dar-
stellung der wichtigsten kriegerischen Tatsachen und der politischen Wendungen
ausreichend. Dadurch wird die Zeit gewonnen, auf die innere Politik, Staats-
verwaltung usw. ausführlicher einzugehen, als es meistens geschieht.
Die französische Revolution braucht nur bis zum Königsmord zusammen-
hängend und eingehend erzählt zu werden, weil die für die Zukunft entscheiden-
den Tatsachen und Beschlüsse vorher erfolgt sind. Eine ebenso eingehende Dar-
stellung der späteren Verfassungsänderungen usw. kann nur ermüden und ver-
wirren und ist für das Verständnis der Gegenwart minderwichtig. Auch die beiden
ersten Koalitionskriege können auf die Angabe der wichtigsten Tatsachen ein-
geschränkt werden. Erst mit 1804 mag dann die ausführliche Darstellung wieder
einsetzen, muß dann allerdings bis zum Wiener Kongreß durchgeführt werden.
Später läßt sich vieles kürzen, bloß andeutungsweise erwähnen. Aus der un-
erfreulichen Periode von 1849 bis 52 sind außer dem preußischen Staatsgrund-
gesetz nur das zweite Londoner Protokoll und die Olmützer Punktation von ent-
scheidender Bedeutung für die Zukunft; die vergebliche Einigungspolitik Friedrich
Wilhelms IV. — Gotha, Erfurt, Berlin, Dresden — braucht nur summarisch er-
wähnt zu werden. Dasselbe gilt von Kämpfen 1866 nach der Schlacht bei König-
grätz auf beiden Kriegsschauplätzen.
II. Reichlichere Benutzung von Urkunden und andern Quellen ist seit Jahr-
zehnten lebhaft gewünscht, aber wohl nur ausnahmeweise erreicht worden. Die
Texte sind heut leichter zugänglich als vor wenigen Jahrzehnten. Wir haben sehr
gute Sammlungen von Urkunden und andern Quellenabschnitten: Altmann und
Bernheim; Rinn und Jüngst (zur Kirchengeschichte); Zurbonsen; Schilling; Richter
und andere. Sie sind leider zu wenig bekannt.
Der Einwand, daß die Zeit zum Gebrauch nicht ausreiche, ist nicht ganz zu-
treffend: Ob ich von den Verfassungs-, Rechts- und Kriegsgebräuchen und dem
Wirtschaftsleben der alten Germanen erzähle oder ob ich nach sorgfältiger Aus-
wahl und Ordnung die einschlägigen Stellen aus Tacitus' Germania vorlese (natür-
lich deutsch I), erfordert die gleiche Zeit; ebenso ob ich von Karls des Großen
Persönlichkeit und Lebensgewohnheiten selbst erzähle oder seinen Biographen
Einhard erzählen lasse.
Ich verspreche mir von diesem Verfahren, das ich seit Jahren angewendet habe,
einen zweifachen Gewinn: Erstens werden die Primaner mehr gefesselt und für
die Sache interessiert, wenn ein Zeitgenosse und Augenzeuge entlegener Zeiten
selbst zu ihnen redet. Zweitens werden sie auf diese Weise in die Werkstätten
der wissenschaftlichen Arbeit selbst eingeführt oder erhalten doch eine Ahnung da-
von, wie die ihnen mitgeteilten Tatsachen sicher überliefert und beglaubigt sind.
Wo es sich um Willens- und Meinungsäußerungen einzelner großer Männer handelt.
Alte Ziele — veränderte Wege im Geschichtsunterricht der Prima. 229
ergibt sich noch drittens der Vorteil, daß das Bild bedeutender Persönlichkeiten
sich aus ihren eigenen Worten dem Schüler fester einprägt, als aus dem, was über
sie gesprochen wird. Diesen Wert haben beispielsweise bekannte Stellen aus den
Briefen Luthers, Friedrichs des Großen, die Proklamationen Napoleons I., Stellen
aus den Reden Mirabeaus, Bismarcks, Aufrufe und Ansprachen Friedrich Wilhelms III.
und Wilhelms I. Ähnliches gilt von vielen Vertrags-, Gesetzes- und Friedens-
urkunden, deren Form und Sprache außerdem meistens für die Zeit ihrer Ab-
fassung charakteristisch ist. Das ist beispielsweise der Fall bei den Kapitularien
Karls des Großen, dem Papstwahlgesetz, dem Wormser Konkordat, den Reichs-
gesetzen Friedrichs I. und IL, der Kurfürsteneinigung von Rense, der Goldenen
Bulle.
III. Zu dem, was oben P. 2 unter N. 2 erörtert worden ist, wage ich, viel-
leicht im Widerspruch mit der Mehrzahl der Herren Fachgenossen, zu behaupten,
daß die gebräuchlichen Lehrbücher, auch die anerkannt guten, der Erziehung des
Schülers zur geistigen Freiheit und Selbsttätigkeit nicht günstig sind, einfach wegen
ihrer zusammenhängend erzählenden Form. Welche Gefahr in dieser — einmal
durch die Lehrpläne vorgeschriebenen, also wohl nicht zu umgehenden — Form
für geistig träge und gedankenarme Schüler liegt, bedarf keiner Erörterung. Aus-
geführte Tabellen von sorgfältiger Anordnung, auch äußerlich für das Auge über-
sichtlich gegliedert, würden, meine ich, für die Schüler ein heilsamer Zwang sein,
dem Vortrag des Lehrers mit gespannterer Aufmerksamkeit zu folgen; sie würden
ihm die Wiederholung erleichtern und ihn nötigen, in der folgenden Stunde den
Inhalt mit seinen eigenen, nicht mit den Worten des Lehrbuches wiederzugeben.
Wenn einzelne Schüler nach dem Vortrag des Lehrers dessen Ausführungen teil-
weise nachschreiben (ja nicht nachstenographieren !), dann sehe ich darin keinen
Nachteil, vielmehr eine gute Vorbereitung für das später unvermeidliche Nach-
schreiben nach akademischen Vorträgen.
Für zweckmäßig halte ich, daß in solchen Lehrbüchern von tabellarischer Form
die wichtigsten Gesetze, Verträge, Friedensschlüsse usw. in urkundlicher Form
(natürlich nur die entscheidenden Sätze; verkürzt, aber im Wortlaut) mitgeteilt
würden; die mittelalterlichen lateinisch. Der Umfang eines solchen Buches braucht
trotzdem den der jetzt gebräuchlichen nicht zu überschreiten.
An zwei Beispielen versuche ich zu zeigen, wie ich mir etwa die Form eines
solchen Lehrbuches denke.
1. Aus dem Pensum der Unterprima.
1314—47. Ludwig der Bayer.
Zerrüttung im Reiche: Streit der Habsburger (Albrechts I Söhne Friedrich und
Leopold) und Witteisbacher (zwei Linien: a) Oberbayern und Pfalz; b) Niederbayern) um
die Vormundschaft in Niederbayern: 1313. Sieg der Witteisbacher bei Gammelsdorf.
I. 1314. Zwiespältige Wahl bei (nicht in) Frankfurt. Ludwig von Ober-
bayern (t 1347). Friedrich (der Schöne) von Österreich (t 1330), Vettern, beide
Rudolfs I. Enkel. Langer Bürgerkrieg ohne Entscheidung.
Ludwig gewann die Schweizer Eidgenossen (deren Sieg über Leopold bei Morgarten
1315), Friedrich den Papst Johann XXII.
230 R- Thiele,
1322. Schlacht bei Mühldorf. Friedrich besiegt und gefangen. Bann des
Papstes und Prozeß in Avignon gegen Ludwig. Johann XXII: Vacante imperio
Imperator i nos succedimus!
Beginn der Familienpolitik Ludwigs.
a) 1324: Übertragung der Mark Brandenburg (Aussterben der Askanier 1320;
Waldemar der Große schon t 1319) mit der Erzkämmererwürde auf seinen acht-
jährigen Sohn Ludwig. (Urkunde ohne fürstliche Unterschriften; Anarchie in der
Mark.) Ludwigs Vergleich mit Friedrich (Trausnitzer Vertrag 1325), dessen Mit-
regentschaft trotz des päpstlichen Protestes.
II. 1327 — 30. Ludwigs Romfahrt. Literarische Opposition gegen die päpst-
lichen Anmaßungen; die Franziskaner {Fratres minores, Minoriten).
Des Marsiglio von Padua Buch Defensor pacis 1325: ,Die Priester sind die Diener des
göttlichen Gesetzes . . . richterliche Strafgewalt kommt ihnen nicht zu . . . Exkommunikation
kann nur die Gemeinde der Gläubigen oder ein allgemeines Konzil aussprechen . . . Alle
Priester haben gleiche Gewalt; die .Bischöfe, der Papst keine höhere als der einfache
Geistliche."
Kaiserkrönung Ludwigs durch Kardinäle. [Fortdauer des Streites; ganz
Deutschland auf Ludwigs Seite. Landfriedensgesetze. (Ulm 1331.)
1338. Die Kurfürsteneinigung (der vier rheinischen Kurfürsten) zu Rense.
Beschluß : Dixerunt judicaverunt . . hoc esse de jure et antiqua consuetudine
imperii approbata, quod, posiquam aliquis a principibus electoribus imperii vel a
majori parte numero eorundem principum etiam in discordia pro rege Romanorum
est electus, non indiget nominatione approbatione confirmatione assensu vel auc-
toritate sedis apostolice super administratione bonorum et jurium imperii.
Zusatz: , . . Wir Heinrich von gotes gnaden erzbischof zu Mainz .... ver-
jehen offenlichen mit disem brief ... daß wir mit derselben buntnusse und ver-
ainung . . . meinen unsern herren den Kaiser Ludwigen von Rom und das Römi-
schen rieh, das er inne hat, und nieman anders.
III. Entfremdung der Fürsten durch Ludwigs Familienpolitik:
b) (1342) Tirol erworben: Margareta vermählt mit dem viel jüngeren Ludwig
von Brandenburg.
c) Holland und Seeland erworben (durch Aussterben des Grafenhauses).
Bildung einer päpstlich -klerikal -luxemburgischen Partei zum Sturz Ludwigs
(fünf Kurfürsten!).
1346. Markgraf Karl von Mähren (Heinrichs VII. Enkel) zum Gegenkönig
gewählt (wieder ein „ Pfaffenkönig " durch päpstlichen Segen in Avignon 1346;
vgl. 1246!), aber der französischen Unterstützung beraubt (nach der französischen
Niederlage durch die Engländer bei Crecy) und erst 1347 (Ludwig f) als Karl IV.
allgemein anerkannt.
2. Aus dem Pensum der Oberprima.
Die Regierung Friedrichs III. (L).
(Vorausgesetzt ist die Kenntnis des spanischen Erbfolgekrieges, der Raubkriege Lud-
wigs XIV., der zweiten englischen Revolution.)
Alte Ziele — veränderte Wege im Geschichts»nterricht der Prima. 231
Häusliche Irrungen am Hofe des Großen Kurfürsten (dessen zweite Gemahlin
Sophie Dorothea) entfremdeten ihm den Kurprinzen Friedrich; dessen Geheim-
vertrag mit dem Wiener Hofe.
I. 1688. Kurfürst Friedrich Wilhelm der Große f-
1688—1701—1713. Friedrich III. (I.) Anschluß an die oranische und habs-
burgische Politik:
a) Unterstützung der Invasion Wilhelms (III.) in England.
b) Beitritt zum Bündnis gegen Ludwig XIV. (Dritter Raubkrieg) und persön-
liche Teilnahme am Kriege.
c) Brandenburger Truppen im Türkenkriege.
Der Fortgang entsprach dem Anfang nicht:
a) Rückgabe des Kreises Schwiebus an Österreich 1695 (womit die schlesi-
schen Erbansprüche wieder rechtskräftig wurden!).
b) Übergehung der brandenburgischen Ansprüche in Ryswik 1697.
c) Sturz des verdienten Ratgebers E. v. Dankelmann (dessen Stelle Höflinge
und Schmeichler einnahmen!).
II. Des Kurfürsten Streben nach der Königswürde war ein Gebot der Zeit-
umstände: Notwendigkeit eines festeren Zusammenschlusses der zerstreuten Landes-
teile, einer selbständigen europäischen Politik; Zeremoniell und Rangstreitigkeiten
auf Reichstagen, Kongressen usw.; Beispiele deutscher Fürsten auf europäischen
Thronen: Sachsen-Polen; Pfalz-Zweibrücken-Schweden; bald Hannover-England;
dazu des Kurfürsten Vorliebe für äußeren Glanz.
1700. Der preußische Krontraktat. Der Kurfürst-König verpflichtet sich
zur Unterstützung der spanischen Erbansprüche des Kaisers mit 8000 Mann.
Artikel VII: „Alß auch S. K. D. (Seine Khurfürstl. Durchlaucht) Ihrer Kay serl.
Maytt underthgst vorstellen lassen, was massen Sie . . . ihr absehen gefasset
heften, ihrem mit vielen landen von Gott gesegneten hohem hauß den königlichen
titui zu acquiriren, und danenhero Ihre Kayserl. Maytt ersuchet haben daß Sie
Ihre dazu behülfflich zu seyn, . . . haben Ihre Kayserl. Maytt . . . resolvirt, eine
solche wohlmeritirte dignitet Ihrer Khurfürstl. Durchl. beyzulegen. Erklären sich
auch hiemit aus Kayserl. macht und Vollkommenheit, daß, von S. K. D. hier-
nechst . . . wegen ihres herzogthumbs Preußen sich vor einen König proklamiren
und crönen lassen, Ihre Kayserl. Maytt . . . S. K. D. soforth ... auf Ihro der-
selben davon thuende notification ... vor einen König in Preußen ehren, würdigen
und erkennen . . . zwischen Sr. K. D. und andern europeyischen königen, in specie
denen königen von Scheden, Dennemark und Pohlen, in der titulatur und anderen
ehrenbezeigungen keinen unterschied machen . . . wollen."
Nur der Papst versagte dem protestantischen Königtum (in dem alten Ordens-
lande, kirchlichem Besitz!) seine Anerkennung.
1701. 18. Januar: Krönung in Königsberg. Friedrich I. König in Preußen.
(Der Hohe Orden vom Schwarzen Adler: Suum cuique.)
Auszeichnung preußischer Truppen im spanischen Erbfolgekriege (Leopold
von Dessau bei Turin; Kronprinz Friedrich Wühelm bei Malplaquet); aber Neu-
tralität in dem (Preußens Interesse unmittelbarer berührenden) Nordischen Kriege.
232 R. Thiele,
III. Erstes literarisches und künstlerisches Zeitalter des Hohenzollernstaats.
1692. Universität Halle (Thomasius; A. G. Franke, Chr. Wolff).
1699. Akademie der bildenden Künste: Das Zeughaus (Nehring, Schlüter);
Denkmal des Großen Kurfürsten (Schlüter); Friedrichsbau des königlichen Schlosses
(Schlüter); Schloßkapelle (E. von Goethe); Schloß Charlott^enburg (nach der Königin
Sophie Chadotte).
1700. Sozietät der Wissenschaften: Leibniz, Pufendorf, Spener, Thomasius.
Prachtliebe und Aufwand des Hofes beförderten Handel und Gewerbe (vor-
übergehend!); die Kehrseite: Zerrüttung der Finanzen, Rückgang des Ackerbaus
(besonders durch die bedenkliche Vererbpachtung der Domänen), innere Krisis
und Gefahr des Staatsbankerottes.
1713. Friedrich I. f. Seinem Nachfolger waren die Aufgaben vorgezeichnet.
Eine vergleichende Prüfung nach den hier ausgeführten Beispielen zeigt, daß
ein Buch von dieser tabellarischen Form — in der sich übrigens noch manches
kürzen und streichen ließe — den Umfang der gebräuchlichsten Lehrbücher nicht
überschreiten und dem Lehrer mehr Freiheit lassen würde, zu übergehen, was ihm
entbehriich scheint. Dem zusammenhängenden und kausal verknüpfenden Vortrag
würde der Schüler mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu folgen genötigt sein.
IV. Auf die Gefahr hin, daß ich eine Eule nach Athen zu tragen scheine,
aber auf Grund eigener erprobter Erfahrung mache ich noch einen Vorschlag:
Wiederholungen — sowohl des Pensums der vorigen Stunde wie längerer
Perioden — sollen doch nicht nur das Wissen des Schülers kontrollieren, sondern
auch sein Urteil bilden, seine Kombinationsgabe entwickeln, das früher Gelernte
vertiefen und erweitern, neue Vorstellungsreihen bilden, kurz zu eigener geistiger
Arbeit anregen. Das ist wohl am besten zu erreichen, wenn eine Anzahl be-
stimmter Fragen gestellt, vielleicht sogar am Anfang der Stunde diktiert wird, die
dann in zusammenhängendem, kurzem Vortrag beantwortet werden müssen; bei
schwächeren oder befangenen Schülern werden meist einzelne Ergänzungen,
Hilfen und Verbesserungen nötig sein. Natüriich kommt alles auf sorgfältige Aus-
wahl und bestimmte Formulierung der Fragen an.
Einige Beispiele — alle aus eigener Erfahrung des Verfassers — mögen das
Gesagte erläutern.
a. Unterprima.
1. Erzählt war der Beginn der ostgermanischen Wanderung bis 410.
Fragen der folgenden Stunde:
1. Der Verfall des römischen Heerwesens im III. und IV. Jahrhundert.
2. Die germanischen Völkerbündnisse.
3. Die Grenzkriege am Rhein und an der Donau im IV. Jahrhundert.
4. Die Reichsteilung und ihre Folgen.
2. Erzählt war die deutsche Reichsgeschichte 1555 bis 1609.
Fragen der folgenden Stunde:
1. Die Loslösung der Grenzländer aus dem Reichsverbande.
2. Die Verschärfung des religiösen Gegensatzes.
Alte Ziele — veränderte Wege im Geschichtsinterricht der Prima. 233
3. Wiederholung der Periode 900 bis 1272.
Fragen :
1. Wahlsystem oder Erbfolge des deutschen Königtums?
2. Kämpfe zwischen deutschen Königen und ihren unbotmäßigen Söhnen.
3. Hohenstaufen und Welfun.
4. Allgemeine Ursachen der Kreuzzüge.
5. Entwicklung des Territorialfürstentums.
6. Begründung der hohenstaufischen Herrschaft in Italien.
7. Ursachen des Untergangs der Hohenstaufen.
4. Wiederholung der Periode 1300 bis 1500.
1. 2. 3. Begründung und Erweiterung der Hausmacht der Habsburger,
der Luxemburger, der Witteisbacher.
4. Der Verfall der Hansa im XV. Jahrhundert,
5. Beziehungen zwischen der Mark Brandenburg und dem Deutschen
Orden im XIV. und XV. Jahrhundert.
6. Die Kaiseridee im XIV. und XV. Jahrhundert.
b. Oberprima.
1. Erzählt war die Zeit 1740 bis 42.
Fragen der folgenden Stunde:
1. Preußens Anrecht an Jülich und Berg geschichtlich zu begründen.
2. Preußens Anrecht an Niederschlesien geschichtlich zu begründen.
3. Die politischen Kombinationen des Jahres 1741.
4. Die Kaiserwahl 1742.
2. Erzählt war die Zeit 1803, 1804, 1805.
Fragen der folgenden Stunde:
1. Napoleons Kaisertum; sein Ursprung und seine Idee.
2. Entstehung der dritten Koalition.
3. Preußens Verhältnis zu Frankreich 1803 bis 1805.
4. Auflösung der dritten Koalition.
3. Wiederholung der Geschichte Friedrichs des Großen.
Fragen :
1. Friedrichs II. Beziehungen zum Hause Witteisbach.
2. Friedrich II. als Bundesgenosse und als Feind Frankreichs.
3. Ist Friedrich II. der Urheber des deutschen Dualismus?
4. Friedrichs II. fünf (genau genommen sieben) Einfälle in Österreich.
5. Das geschichtliche und das sittliche Recht der gewaltsamen Erwerbung
polnischen Gebietes.
4. Wiederholung der Periode 1815 bis 1860.
Fragen :
1. Fortschritte des deutschen Einheitsbewußtseins, bzw. Betätigung des-
selben im öffentlichen Leben.
2. Warum mußte der Frankfurter Versuch zur Wiederherstellung des
Reiches mißlingen?
3. Die Gründung nationaler Staaten in Europa in der genannten Periode.
234 G. Junge.
Daß solche Fragen für Klassenarbeiten — sogenannte , kleine Ausarbeitungen",
die in den oberen Klassen doch wohl immer die ganze Unterrichtsstunde ausfüllen
müssen — höchst passende Aufgaben sind, liegt auf der Hand. Mehr als zwei
oder drei — manchmal nur eine — Fragen wird man freilich nicht zur Bearbeitung
stellen können.
Der Verfasser verhehlt sich nicht, daß der letzterörterte Vorschlag streng ge-
nommen den amtlichen Lehrplänen nicht ganz entspricht, weil vorgeschriebener-
maßen die Fragen zur schriftlichen Bearbeitung so gestellt werden sollen, daß der
Stoff zur Beantwortung den Schülern ganz geläufig und gegenwärtig ist.
Er glaubt jedoch, daß auch im Sinne*) und Geiste der Lehrpläne hier für den
Unterricht in Prima dem Lehrer einige Bewegungsfreiheit gestattet ist, und wagt
es daher, die vorstehenden Ausführungen der Erwägung und dem Urteil der
Herren Fachgenossen und der maßgebenden Autoritäten anheimzustellen.
Stettin. R. Thiele.
Nochmais die Astronomie auf der Sctiule.
Das Februarheft der „Monatschrift für höhere Schulen« bringt (S. 69—71)
einen Artikel von Herrn Professor Schwarzschild, dem Direktor der Göttinger
Sternwarte: „Über Astronomie auf den höheren Schulen." Erfreulicherweise wird
darin betont, daß, um mit H. Hahn zu sprechen, eine „Kreide- und Schwamm"-
Astronomie an der Wandtafel wenig Wert hat, daß vielmehr die Schüler auf das
wirkliche Anschauen des Himmels hingelenkt werden müssen. „Die Vorstellung
eines etwa vorgezeigten Planetariums tritt allzuleicht an Stelle derjenigen der
Wirklichkeit," sagt der Verfasser. Vor dem Planetarium und ähnlichen Dingen ist
seit Rousseau schon sehr oft gewarnt worden, leider mit geringem Erfolge. Man
kann nur froh sein, daß es für Botanik, Physik und die anderen Zweige der Natur-
wissenschaft nicht auch solche Quintessenz gibt wie die kopernikanische Lehre für
die Astronomie: eine Quintessenz, die nur einmal mit gehöriger Betonung den
Schülern beigebracht zu werden braucht, um ihnen ein für allemal die natürliche
Auffassung des Anfängers, nämlich die geozentrische, als Kleinkinderkram er-
scheinen zu lassen.
Also es ist höchst wünschenswert, daß die Schüler von vornherein den Himmel
wirklich ansehen. Die Frage ist nur: Wie soll der Lehrer erreichen, daß sie es
tun? Man kann ja versuchen, in der Klasse Anregungen zum Beobachten zu geben
und etwa gemachte Beobachtungen gleichfalls vor der Klasse zu kontrollieren.
Ich denke dabei zunächst an sehr einfache „Beobachtungen". Ich habe selbst
in den Klassen von Sexta bis Untertertia gelegentlich die Schüler aufgefordert, zu
Hause den Umriß des Mondes abzuzeichnen, mit Angabe seiner Stellung und der
Zeit. In der Klasse wurden die Beobachtungen besprochen und im Laufe einiger
*) Sobald diese Arbeiten den Charakter von Extemporalien und gedächtnismäßigen
Prüfungsarbeiten annehmen, entsprechen sie wohl nicht mehr dem Sinne und Geiste der
Lehrpläne. Mtth.
Nochmals die Astronomie auf der Schule. 235
Wochen die Veränderungen, so gut es ging, erklärt. Oder wenn ein Schüler das
Sternbild des Orion aus dem Kopf an die Tafel zeichnet und auch angibt, wann
und in welcher Richtung er es gesehen hat, so bin ich nicht nur sicher, daß der
Schüler selbst den Orion recht genau betrachtet hat, sondern wahrscheinlich werden
durch diese Leistung auch andere Schüler zum eigenen Beobachten angeregt. Ein
Lehrer von philologischem Interesse mag dabei auch aus den alten Sagen über die
Sternbilder einiges erzählen. Leider ist es ja abgekommen, in den gedruckten
Tafeln zu den Sternbildern die Umrisse der von der Sage ihnen beigegebenen
Gestalten zu zeichnen, etwa wie es Bode in seinem , Gestirnten Himmel' getan
hat.*) Mindestens als mnemotechnisches Hilfsmittel sollten doch die alten Sagen
beachtet werden: wem einmal davon erzählt ist, wie der Jäger Orion dem Stier
zu Leibe geht, der wird die gegenseitige Stellung dieser Sternbilder nicht so bald
vergessen.
Aber, wieviel wirksamer als alle mündlichen Unterweisungen ist ein gemein-
sames Anschauen des Himmels! Überall sonst im naturkundlichen Unterricht, in
Physik und Chemie, in Zoologie und Botanik, überall wollen wir nicht von ab-
wesenden Objekten reden, nicht auf die Erinnerung der Schüler allein uns
stützen, sondern Belehrung und Anschauung sollen zusammenfallen, die Dinge,
von denen gesprochen wird, sollen da sein, sollen wahrgenommen werden! Wie-
viel leichter und selbstverständlicher werden die Sternbilder gefunden, wenn der
Lehrer sie am Himmel zeigt, wieviel leichter wird so der tägliche scheinbare Lauf
aller Gestirne beobachtet, der die einen in großen, die anderen in kleinen Kreisen
herumführt!
Auf solchen astronomischen Abenden würde auch das Schulfernrohr zu der
verdienten Ehre kommen — heute weiß niemand recht, wozu es eigentlich da ist.
In der Tat, man sollte eine Statistik aufnehmen, wem auf der Schule der Mond,
Jupiter, Saturn oder die Sonne mit ihren Flecken gezeigt sind!
Man wird mir antworten: »Ein Lehrer, der durchaus den Schülern Sterne zeigen
will, kann sie ja abends kommen lassen!" — Ja, aber wer tut es denn? Die Sache
ist eben gegenwärtig doch nicht so einfach. Zunächst ist es fraglich, ob der
Direktor zu solchen abendlichen Unterweisungen seine Einwilligung gibt. Außer-
dem opfert der Lehrer seine freie Zeit und nimmt den Schülern ihre freie Zeit:
sind denn unsere Schüler durch die Schule nicht schon übergenug belastet?
Den Lehrern, die sich bereit erklären, sollte es ein für allemal gestattet sein,
astronomische Abende einzurichten, aber unter der grundsätzlichen Bedingung, daß
keine Mehrbelastung der Schüler eintritt. Sowie es jetzt schon gelegentlich zum
Zwecke einer botanischen Exkursion geschieht, sollte alle ein oder zwei Monate
eine Vormittagsstunde, womöglich die letzte, zugunsten einer abendlichen Astrono-
miestunde ausfallen. Freilich wie bei den physikalischen Übungen, so wird auch
hier nicht eine ganze Klasse zugleich teilnehmen können. Sollen mehrere Ob-
jekte von ungeübten Schülern durchs Fernrohr gesehen werden, so sind vielleicht
zehn Schüler schon zu viel. Die Klasse wird also im allgemeinen geteilt werden
müssen. Dies kann auf zwei Wegen geschehen. Entweder man erhöht in dem
*) Wenigstens in einigen Auflagen. Vor mir liegt die sechste von 1792.
236 G- Junge, Nochmals die Astronomie auf der Schule.
Fach, das der Astronomie Obdach bietet, die Stundenzahl des Lehrers um ein ge-
ringes und richtet es so ein, daß trotz der Teilung durchschnittlich auf jeden Schüler
anstatt einer ganzen Unterrichtsstunde ebensoviel Zeit abendlicher Astronomie ent-
fällt. Oder aber man läßt die Stundenzahl für den Lehrer bestehen, dagegen die
Schüler verlieren einige Unterrichtszeit: jedesmal wenn eine Vormittagsstunde aus-
fällt, also etwa alle Monat, nimmt immer nur ein Teil der Klasse an der astronomi-
schen Abendstunde teil.
Solche astronomischen Übungen würden, wenn ein Fernrohr vorhanden ist
und die Stundenzahl des Lehrers nicht erhöht wird, keinerlei Kosten machen, —
ein vorteilhafter Unterschied gegen die physikalischen Übungen, die zum Teil
wohl wegen der hohen Kosten bei uns so langsam in Gang kommen.
Ob die Astronomie an die Naturwissenschaft oder an Mathematik resp. Rechnen
oder ob sie an die Geographie angegliedert werden soll, darüber wird sich vor-
läufig, bei der Spärlichkeit des astronomischen Interesses unter den Oberlehrern,
keine allgemeine Regel geben lassen. Auch darüber möchte ich keinen bestimmten
Vorschlag machen, ob die eingestreuten astronomischen Übungen über die ganze
Schulzeit zu verteilen oder ob sie auf ein oder einige Jahre zusammenzudrängen sind.
Ernsthafte Schwierigkeit kann, wenigstens in großen Städten, die Auswahl
eines Beobachtungsortes bereiten. Einen Turm für astronomische Zwecke haben
meines Wissens nur einige wenige Berliner Schulen und ein Breslauer Gymnasium.
Doch einige Aussicht auf den Sternhimmel wird man auch vom Schulhof oder
einem Klassenfenster aus haben. Ja, in einer Stadt wie Berlin wird ein frei und
hoch gelegenes Klassenfenster für manchen Schüler der beste Ort für astronomische
Beobachtungen sein, der ihm überhaupt zugänglich ist. Hoffentlich kommen wir
indes einmal so weit, daß für jeden Schulneubau in einer größeren Stadt ein Turm
selbstverständlich ist !
Jedenfalls sehe ich kein Hindernis für eine probeweise Einrichtung astronomi-
scher Abende in der vorgeschlagenen Form, ja ich halte einen solchen Versuch
für das beste, was gegenwärtig zur Belebung der Astronomie auf der Schule ge-
schehen kann.
Berlin. Gustav Junge.
II. Bücherbesprechungen.
a) Satnmelbesprechungen:
Schulausgaben deutscher Klassiker.
I. Textausgaben mit Erläuterungen,
1. Bibliothek deutscher Klassiker für Schule und Haus. Mit Lebens-
beschreibungen, Einleitungen und Anmerkungen. Begründet von Dr. Wilhelm
Lindemann. Zweite völlig neu bearbeitete Auflage, herausgegeben von Prof.
Dr. Otto Hellinghaus, Gymnasialdirektor. Goethes Werke. 3 Bände. Frei-
burg im Breisgau 1906. Herder, geb. 9 M.
Über die Grundzüge dieser Bibliothek siehe die Besprechung der Schiller-
Ausgabe in dieser Monatschrift VI, S. 386—387.
Die Lebensdarstellung bietet auf knappem Raum eine gute Einführung an
der Hand der besten Quellen, aber auch z. B. der von Baumgarten, und unter
recht geschickter Benutzung von Goethes eigenen Äußerungen. In der Auf-
führung der einzelnen literarischen Erscheinungen sowie der Personen, mit denen
Goethe zu tun hatte, ist des Guten etwas zu viel getan worden. Der dadurch
beanspruchte Raum wäre wohl vorteilhafter für eine genauere Würdigung etwa
Hamanns und Jung-Stillings zu verwenden gewesen. In der vortrefflich dar-
gestellten ersten Epoche in Weimar sähe ich gern noch die Erzieherrolle betont,
die Goethe dem Herzog gegenüber ausgeübt hat. Auch die Beziehungen zu Schiller
sind recht gut herausgekommen, wie überhaupt alle Wende- und Höhepunkte in
Goethes Leben und Schaffen zu klarer und eindringlicher Anschauung gelangen.
Nur bei der Beurteilung des Verhältnisses zu Christiane und der Beziehungen zur
kantischen Philosophie waltet eine gewisse Unfreiheit und Befangenheit ob, die
weder dem Primaner noch der Familie gegenüber angebracht ist. Eine ähnliche
Befangenheit beobachte ich in der Darlegung von Goethes Religiosität und Welt-
anschauung, für die wir heute so vortreffliches Material besitzen in den Arbeiten
von Vogel, Paulsen, Siebeck, Haynacher u. a. So wäre z. B. die ausführliche Dar-
stellung der Beziehungen Goethes zur Fürstin Gallizin zu ergänzen gewesen durch
weitere Ausführung des S. 105 erwähnten Gesprächs mit Eckermann vom 11. März
1832: „Je tüchtiger wir Protestanten in edler Entwicklung voranschreiten, desto
schneller werden die Katholiken folgen. So bald sie sich von der immer weiter
238 P. Lorentz,
um sich greifenden großen Aufklärung der Zeit ergriffen fühlen, müssen sie
nach usw. usw." Der Text ist nach der Weimarer Sophienausgabe gegeben und
von hervorragender Sorgfalt, im Mignonliede aber ist doch wohl die Lesart „o mein
Gebieter", nicht Geliebter jetzt als „echt" durchzusetzen. Daß in der Anordnung
der Gedichte in die von Goethe selbst gegebene Reihenfolge die chronologisch
hingehörigen dazwischen geschoben sind, hat doch seine Bedenken.
In der Auswahl der Gedichte herrscht anerkennenswerte Weitherzigkeit, aber
statt so mancher poetisch recht wenig bedeutender an Personen gerichteter, hätte
ich lieber die indischen Balladen mit ihrer tiefchristliehen Grundidee und die Ge-
heimnisse aufgenommen gesehen oder auch die Braut von Korinth, Weltseele, das
Prooemion u. a. Bei der durch die Dreizahl der Bände gebotenen Beschränkung
haben außer den Gedichten natürlich nur die poetischen Meisterwerke Platz finden
können von Götz bis zum Faust, die Benutzer dieser Goetheausgabe müssen sich
also die Kenntnis von Wilhelm Meister, Dichtung und Wahrheit, der Wahl-
verwandtschaften, der Italienischen Reise, von denen für die Schule nur eine Aus-
wahl, für das Haus natürlich alles in Betracht kommt, aus andern Goetheausgaben
verschaffen. Abänderungen des Textes haben nur im Werther und im Faust statt-
gefunden. Daß da die romantische und die klassische Walpurgisnacht ganz fehlen,
ist durchaus zu billigen. Freilich hätte das Fehlende durch Inhaltsangabe ersetzt
werden sollen. Nicht scharf genug aber kann die willkürliche Änderung des
Textes verurteilt werden, wie sie durch Auslassung von ganzen und halben Versen,
in mehrern Szenen des Faust vorgenommen ist. Die Einleitungen in die ein-
zelnen Dichtungen erfüllen ihren Zweck, sind aber nicht ganz gleichmäßig,
gehen z. B. da, wo es sich um religiöse Fragen handelt, wie bei Orests Sühnung
und Fausts Schuld und Erlösung, nicht bis auf den tiefsten Grund, sie halten sich
da mehr innerhalb des Kirchlichen statt in das Psychologische zu gehen. Die
Anmerkungen sind außerordentlich sorgfältig, und für den Zweck, den sie ver-
folgen, auch nicht zu zahlreich, selbst nicht beim Faust. Die Ausstattung ist
wieder ganz vortrefflich, besonders auch durch den Bilderschmuck, der das Jugend-
bild von May, die Büste von Trippel, das Altersbild von Stieler wiedergibt. An
Druckversehen ist mir nur in III, 304 unten aufgefallen 1857 für 1587.
2. Sammlung Göschen. No. 364. Deutsche Literaturdenkmäler des
17. und 18. Jahrhunderts bis Klopstock. I. Lyrik. Ausgewählt und er-
läutert von Dr. Paul Legeband. Leipzig 1908. 171 S. geb. 0,80 M.
Durch diese Auswahl wird die Möglichkeit, den Zeitraum zwischen Luther
und Lessing durch charakteristische Proben reichlich zu illustrieren, in sehr er-
freulicher Weise verstärkt. Denn auch für den Lehrer war früher das Material
doch noch zu vielfach verstreut, für die Schüler kam nur die Auswahl in Böttichers
und Kinzels Denkmälern der älteren deutschen Literatur in Betracht. Diese neue
Sammlung von Legeband scheidet die geistliche Lyrik, die aber doch ganz un-
entbehrlich für den Charakter jenes Zeitraumes ist und die im Religionsunterricht
kaum nach ihrem literaturgeschichtlichen und ästhetischen Wert behandelt werden
dürfte, fast ganz aus; nur von Scheffler, Zinzendorf, Geliert, DroUinger findet sich
je ein Lied. Um so reicher ist dafür die weltliche Lyrik vertreten. Die beiden
einzigen Dichter, die wohl eigentlich diesen Namen verdienen, Fleming und Günther,
t
Schulausgaben deutscher Klassiker. 239
kommen, jener mehr als dieser, gut zur Geltung, ebenso Logau und Hagedorn,
auch sonst schwerer zugängliche Poeten wie Spee, Moscherosch, Hoffmannswaldau,
Lohenstein, dann besondes Haller, Brockes, Kästner sind durch charakteristische
Proben vertreten. Mehr kulturgeschichtlichen als dichterischen Wert haben natür-
lich die Verse von Zesen, von Katharina Regina von Greiffenberg, der Gott-
schedin u. a. Aber die Sammlung gehört durchaus auch in die Hand des Ge-
schichtslehrers. Daß die Rechtschreibung der Zeit der Dichter selbst beibehalten
worden ist, konsequent wenigstens für das 17. Jahrhundert, erscheint mir nicht
unwichtig, da hier die Einwirkung auf das Auge den Barockcharakter verstärken
hilft. Die ganz wenigen Anmerkungen rechtfertigen aber nicht die Bezeichnung
„erläutert", eine ganze Reihe sprachlicher und sachlicher Bemerkungen würden
das Verständnis noch bedeutend fördern. Die literaturgeschichtliche Einführung
erfüllt ihren Zweck recht gut. Das Buch verdient recht weite Verbreitung und
macht auf den IL Teil, der die Prosa des 17. und 18. Jahrhunderts enthalten
muß, begierig.
3. Schöninghs Ausgaben deutscher Klassiker mit ausführlichen Er-
läuterungen. VIL Ergänzungsband, Poesie und Prosa aus dem 16., 17., 18.
Jahrhundert von F. Weicker, Seminarlehrer in Wittlich. Paderborn 1906»
230 S. geb. 2,10 M.
Eine recht umsichtige praktische Auswahl, die freilich für evangelische Schüler
von Luther zu wenig enthält, obwohl die Proben seiner Prosa wie Poesie charak-
teristisch genannt werden müssen. Von andern evangelischen Kirchenliederdichtern
sind vertreten Decius, Hermann, Mathesius, Nicolai, Gerhardt und Geliert, von
katholischen nur Spee, denn Scheffler gehörte ja beiden Konfessionen an. Außer-
dem sind, was in die Sammlung nicht mehr hineingehörte, geistliche Lieder aus
der Zeit vor der Reformation aufgenommen, wo der Herausgeber mit Unrecht
bereits „die" Blütezeit des deutschen Kirchenliedes konstatiert. Hans Sachs, Brant,
der Murner, Fischart sind vertreten, weiterhin Opitz, Dach, Fleming, Gryphius,
Grimmeishausen, Abraham a Santa Clara, Haller, Hagedorn, E. v. Kleist, Gleim,
Lichtwer, Pfeffel, die Dichter des Hains. Vermißt wird bei Scheffler die mystisch-
pantheistische Spruchpoesie und vor allem wird vermißt der bedeutendste
Lyriker zwischen Walther v. d. Vogelweide und Goethe, Christian
Günther; Raummangel kann doch nicht der Grund für seinen Fortfall gewesen
sein? Und erfreuliche Weitherzigkeit und Freimut herrscht doch in der Auswahl
von Volksliedern im Anhang. Die kurzen literaturgeschichtlichen Einteilungen
treffen im allgemeinen das Richtige. Luther aber soll „ohne Beruf" in das Kloster
gegangen sein? und zwischen 1517 und seinem Tode war nichts von ihm zu
erwähnen? Bei Hans Sachs ist ein Wort über seine Stellung zur Reformation, in
der ein großes Stück seines dichterischen Schaffens wurzelt, gar nicht zu ent-
behren, so wenig wie bei Fischart. Und warum wird J. H. Voß' Gemüt und
Phantasie so ganz abgesprochen und Stollbergs „Geschichte der Religion Jesu
Christi" so stark gewürdigt? Auch sind Claudius' komische Balladen gar nicht
so platt, wie der Herausgeber meint. Die sprachlichen Anmerkungen erfüllen ihren
Zweck gut, sie sind stets sachlich und prunken nicht mit übel angebrachter Ge-
lehrsamkeit. — Ergänzungsband VIIL Der Schwäbische Dichterkreis von
240 P. Lorentz,
Chr. A. Ohly. 1907. geb. 1,50 M. Eine reiche, vielseitige Auswahl, in der mit
Recht auch die jüngeren Schwaben vertreten sind, wie Gerok, Fischer und Vischer;
Uhland fehlt, weil er einen Band für sich allein erhält. Von den älteren ist doch
so manches Gedicht aufgenommen, auf das Goethes hartes Urteil über Pfizer von
den „deprimierenden Unpotenzen" zutrifft. Auch hätte bloße Vollständigkeit
nicht angestrebt zu werden brauchen, Grüneisen und Krais konnten ohne Schaden
fehlen. Im übrigen ist es erfreulich, bei aller Gemeinsamkeit doch auch in dieser
Sammlung die Mannigfaltigkeit und Eigenartigkeit der Schwaben zu beobachten.
Der allzu reich bedachte Schwab aber hätte zugunsten des gar nicht hoch genug
zu bewertenden Mörike, von dem der unvergleichliche Turmhahn leider fehlt,
etwas eingeschränkt werden können. Die reich bemessenen Literaturangaben sind
recht willkommen, aber wer D. F. Strauß, Hegel, Schelling waren, bedürfte doch
der Erläuterung. Die Anmerkungen halten sich frei von Selbstverständlichkeiten.
Daß aber bei den Gedichten selbst die Gliederung der Teile äußerlich kenntlich
gemacht werde und die leitenden Gedanken durch den Druck hervorgehoben wurden,
war recht überflüssig. — Uhland, Ludwig der Baier von Dr. H.Schneider,
<3ymnasialprofessor in Regensburg. 1906. Geb. 1,30 M. Die Ausgabe könnte
neben der von Weismann bei Cotta mit Recht als ein Wagnis bezeichnet werden.
Ihr Hauptverdienst ist nun die aktenmäßige Darlegung des Schicksals des Dramas
in der bairischen Preiskommission: es wurde abgelehnt, weil der päpstliche Legat
darin allzu deutlich zum Wortbruch aufforderte, ein Hochaltar und ein funktio-
nierender Geistlicher auf die Bühne gebracht und die Vertreibung eines Gespenstes
durch kirchliche Zeremonien als Spiel vorgenommen wird. Der geschichtliche
Hintergrund wird ausführlich nach Riezlers Geschichte Baierns gegeben, der Bau
des Stückes genau gegliedert, was berechtigt ist, da gerade dies Drama als eins
der ersten gelesen zu werden pflegt. Die Anmerkungen sind leider ein ab-
schreckendes Beispiel durch ihre Überladung mit Stoff, kaum 10 Zeilen hinter-
einander sind ohne Anmerkungen geblieben, die auch das Allergewöhnlichste
glauben „erläutern" zu müssen und nicht selten auf zehn Zeilen Text 30 eng-
gedruckte Zeilen Kommentar liefern. — Schillers Don Carlos von Dr. M. Gorges,
Gymnasial-Oberlehrer in Münster i. W. 1907. geb. 2 M. Eine neben den bereits
vorhandenen, bei Velhagen & Klasing und bei Freytag erschienenen, recht brauchbare
Schulausgabe. Der Schüler wird in wünschenswerter Form, ohne Anhäufung gelehrten
Apparates in die Entstehung und den Ideengehalt des Stückes eingeführt. Unver-
ständlich bleibt freilich, daß die Wendung in Schillers äußerem Geschicke, die durch
Körner eintrat, „ein bedauernswerter Umschwung" genannt wird. Hervorgehoben ist
die geschickte Inhaltsangabe dieses weitschichtigen und zwiespältigen Stückes,
dessen Einheit tatsächlich doch nicht so gelungen ist, wie der Verfasser der Briefe
über den Don Carlos es darstellt. Für die Charakteristik der Personen und Würdi-
gung der Hauptscenen ist Gorges mit Recht bei Kühnemann und Bellermann in
die Schule gegangen. Die Anmerkungen halten sich in sehr vernünftigen Grenzen
und benutzen gleichfalls schon vorhandene Erklärungen. Ganz vorurteilsfrei ist
die Erörterung über die „Gedankenfreiheit" und der mehrfach betonte Sieg der
Ideen des Posa gehalten. Die Ausgabe wird mit großem Nutzen gebraucht
werden können.. — Friedrich Hebbel, Die Nibelungen von C. Schmitt,
Schulausgaben deutscher Klassiker. 241
Seminarlehrer in Osnabrück. 1906. Geb. 2,20 M. Nach den vortrefflichen Aus-
gaben von Gaudig, Neumann und Jahnke war es nicht leicht, eine neue mit
eigenen Vorzügen zu geben. Daß der Text der vorliegenden einzelne Kürzungen
erfahren hat, ist ihm nicht nachteilig geworden. Die Fußnoten bieten, trotz-
dem sie nicht überwuchern, noch manches Überflüssige: z. B. zu I, 29 Kumpan
ist es völlig gleichgültig, zu erfahren, daß Goethe, nicht etwa Hebbel, auch die
Form Comp an hat, bei den Robben I, 59 brauchte nicht die ganze Natur-
geschichte dieser Tiere verzeichnet zu werden; II, 179, wo Kriemhild ein
Veilchen pflückt, brauchte nicht in 13 enggedruckten Zeilen des Kommentars, Hebbels
Vorliebe für diese Blume, Novalis blaue Blume der Romantik und eine Stelle aus
Schillers Wallenstein herangezogen zu werden u. a. m Im Anhang, auf den der
Verfasser das Hauptgewicht legt, wird über Leben und Schaffen Hebbels gut be-
richtet. Aber ein Plätzchen war da auch Elise Lensing zu gönnen, sie hat doch
nun einmal eine sehr große Bedeutung für den Werdegang des Dichters, und
ebenso Hebbels Stellung zu den großen öffentlichen Fragen seiner Zeit. Die Be-
deutung Hebbels für die Epoche der realistischen Dichtung des 19. Jahrhunderts
durfte nicht übergangen werden. Sehr ausführlich wird dann der Stoff der „Nibe-
lungen" erörtert, nach Herkunft und Verhältnis zu den Bearbeitungen durch andere
Dichter: Fouque, Raupach, Wagner, Geibel. Daß Hebbel gerade die Braunsche
Übersetzung des Nibelungenliedes benutzt hat, ist für eine Schulausgabe unwesent-
lich. Auch die sehr ausgedehnte Widerlegung einer Programmabhandlung von
Röpe aus dem Jahre 1865 und einer Abhandlung von Meinck aus dem Jahre 1905
treffen ja meist das Richtige, gehören aber in dieser Ausführlichkeit keinesfalls in
eine Schulausgabe, und bei Siegfried eine wirkliche Schuld finden zu wollen, geht
doch nicht an. Der Aufbau der einzelnen Akte und Szenen ist gleichfalls von
eingehendster Genauigkeit, ebenso die Beantwortung der etwa 70 Fragen über
das Stück, 35 Themata sind außerdem zur Auswahl für Aufsätze gestellt. Das
Ganze stellt eine außerordentlich fleißige Arbeit dar. — Von Schönnighs Aus-
gaben ausländischer Klassiker ist mir zugegangen XI: Homers Ilias, nach
der ersten Ausgabe der deutschen Übersetzung von J. H. Voß von Dr. J. A. Kilb.
1906. geb. 1,30 M. Ehe wir nicht eine völlige Neudichtung Homers haben, zu
der die Nachdichtung von Hans Georg Meyer eine sehr hoch zu bewertende
Etappe bildet, wird sich die Schule, hier also die Realschule, an Voß halten
müssen, wie das schon Hubatsch und Weißenborn mit mehr oder weniger Ab-
änderung, wie sie unsere Zeit und die Ergebnisse der Homerforschung bedingen,
getan hatten. Sie benutzt auch mit Recht Kilb. In seiner Auswahl hat er 21 eigene
Gesänge zu je 150—300 Versen zusammengestellt, die nur das Wesentlichste der
Handlung, d. h. also des ,Liedes vom Zorn des Achilles' enthalten. Freilich ist
da nicht viel mehr als das bloße Skelett übrig geblieben, von dem blühenden
Fleisch der homerischen Dichtung ist nicht viel zu spüren. Nicht nur so herrliche
Episoden wie Diomedes und Glaukos, Die Doloneia, Die Hoplopoiia u. a. hat
wegfallen müssen, sondern auch so wichtige Stücke wie der Zweikampf zwischen
Paris und Menelaus, zwischen Aias und Hektor, Thersites und der Volksaufstand,
durch dessen Ausfall sogar der Zusammenhang zerrissen wird. Es ist in
allen solchen Fällen durchaus geratener, selbständige ganze Stücke
MonaUchrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 16
242 P- Lorentz,
zu geben und das Ausgelassene durch Prosaerzählung zu ergänzen.
Einleitung und Anhang entsprechen dem Bedürfnis und verwenden die Ergebnisse
der heutigen Forschung. Über 100 Themata zu schriftlicher Bearbeitung werden
angegeben, aber für manche von ihnen kommen als Stoff kaum 20 Zeilen des Epos
in Betracht.
Die Schulausgaben des Schöninghschen Verlages sind übrigens jetzt fast die
einzigen, die noch die unpraktische und hygienisch bedenkliche Drahtheftung bei-
behalten haben,
4. Von Freytags Schulausgaben (Leipzig und Wien) liegen in unver-
änderter Gestalt, aber in neuer Rechtschreibung vor: Auswahl aus den höfi-
schen Epikern 1. Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg von P. Hagen
und Th. Lenschau. 1906. geb. 0,80 M. — Goethe, Aus meinem Leben.
2. Bd. von Hachez. 1906. geb. 0,80 M. — Hebbel, Die Nibelungen von
Neumann. 1907. geb. 1,50 M. — Kleist, Prinz von Homburg von Bene-
dict. Mit einem Plan der Schlacht bei Fehrbellin. 3. Aufl. 1907. geb. 0,60 M.
— Lessing, Emilia Galotti von O. Langer. 2. Aufl. 1908. geb. 0,70 M. Die
Ausstattung hat in den Bändchen seit 1907 durch den Leinenband und Aufdruck
des Titels erheblich gewonnen, in der Güte des Papiers wird sie von andern
übertroffen.
5. Sammlung deutscher Schulausgaben von Velhagen & Klasing.
Bielefeld und Leipzig. Lief. 84: Friedrich Hebbel, Die Nibelungen von
Dr. W. Haynel, Oberlehrer in Linden bei Hannover. 1907. geb. 1,30 M.
An Stelle der früheren gekürzten Ausgabe von Gaudig ist die neue voll-
ständige von Haynel getreten. Die Einleitung gibt in ganz vortrefflicher Weise
auf äußerst knappem Raum ein Bild des Dichters, dieses tapfersten Kämpfers
im „heiligen Kriege" um seinen Beruf und seine Weltanschauung, von dieser
selbst die Grundzüge, die zugleich das Verständnis für seine Dichtung ab-
geben. In der Einführung in den Stoff wird besonders gut herausgestellt Recht
und Unrecht in der Selbständigkeit der Charaktere und die innere Berechtigung
des Sieges des Christentums, das bekanntUch dem Dichter selbst keineswegs von
ausschließlichem Werte gewesen ist. Die Anmerkungen enthalten nicht nur
sachliche und sprachliche Erläuterungen, sondern auch willkommene Winke
für das Verständnis der dramatischen Entwicklung. Das Ganze ist eine recht
gute Schulausgabe auch für den Gebrauch in der Klasse. Der diskrete
und geschmackvoll verwendete Buchschmuck in Anlehnung an den
Empirestil verdient ebenso Anerkennung wie die prächtigen neuen
Druckertypen, die die Verlagshandlung jetzt verwendet. Den An-
sprüchen auch des Schulbuchs auf Kunstwert ist gerade auch durch
den Druck erfreulich Rechnung getragen. — Lief. 118: Anthologie
mittelalterlicher Gedichte, zusammengestellt von Prof. Dr. H. Löschhorn.
1906. geb. 1 M. „Für Schulen, die der mittelalterlichen Dichtung nur geringe
Zeit zu widmen vermögen, und denen es nur auf eine allgemeine Übersicht an-
kommt," ist nach des Herausgebers Angabe diese Zusammenstellung gemacht
worden. Freilich geht ja wohl das Bestreben aller Gattungen unserer höheren
Schulen heute dahin, die Kenntnis dieser nationalen Dichtungen eher zu erweitern.
Schulausgaben deutscher Klassiker. 243
und vor allem auch die Bekanntschaft mit dem Urtext mehr und mehr herbeizu-
führen. Für den bei weitem umfangreichsten Teil dieser Zusammenstellung konnte
der Text den Lieferungen 46, 91, 107 entnommen werden, nämlich für den
Armen Heinrich, Parzival, Walther von der Vogelweide, neu sind hinzugekommen
Chamissos Lied vom Thrym aus der Edda, die Merseburger Zaubersprüche mit
dem Urtext, Hildebrandslied, drei Stücke aus dem Heliand und einiges aus dem
Waltharilied, die letzteren von Löschhorn übersetzt, nicht ohne Härten, aber
lesbar. Die literaturgeschichtliche Übersicht, in der doch auch Ansätze zu innerer
Vertiefung vorhanden sind, ist praktisch. — Lief. 120: Wieland, Oberon, her-
ausgegeben von Prof. Dr. E. v. Sallwürk. 1908. geb. 1 M. Wieland bleibt für
die Schüler in der Regel eine unbekannte Literaturgröße, jedenfalls wird das in
der Literaturgeschichte ihnen gegebene Bild durch eigene Lektüre nicht recht an-
schaulich. Das liegt natürlich an der Art der von Wieland behandelten Stoffe.
Der Oberon ist nun ohne Frage besonders geeignet, die Bekanntschaft zu ver-
mitteln, und das wird durch die vorliegende Ausgabe vortrefflich gelingen. Die
Dichtung ist bis auf mehrere unkünstlerische Längen und einige aus pädagogischen
Gründen ungeeignete Stellen — so fiel mit Recht der ganze 11. Gesang fort —
vollständig abgedruckt, die fortgelassenen Stellen sind durch kurze Prosaerzählung
ersetzt. Die Einleitung gibt ein klares Bild von Wielands Leben und Persönlich-
keit und namentlich auch von seiner Stellung innerhalb der Entwicklung der
deutschen Literatur, die Anmerkungen beseitigen natürlich nur die Schwierigkeiten
im Sach- und Wortverständnis. Die Ausgabe dürfte sich recht viel Freunde er-
werben. Ich halte nun aber auch eine Auswahl aus den Prosa-Dichtungen
Wielands nicht nur für möglich und wünschenswert, sondern geradezu
für notwendig. Denn die Stellung Wielands als Vorklassiker, gerade
wegen seines Prosastiles, ist doch zu bedeutend, als daß man seiner
Bekanntschaft entbehren dürfte. Und der Agathon, die Abderiten,
der goldene Spiegel und durchaus auch der Aristipp bieten auch
höchst wertvollen Stoff für ein solches Lesebuch. Der Schüler würde
daraus selbständig die Überzeugung gewinnen, wie , Wieland, mitten
inne zwischen Lessings Ernst und Klopstocks Überschwenglichkeit"
stehend, durch seine an dem modernen französischen Griechentum
geschulte Grazie zu dem Stil Goethes hinüberleitet und würde dadurch
erst das hohe Urteil Goethes in seiner Rede auf Wieland bei der
Logenfeier und im Gespräch mit Falk an seinem Begräbnistage als
gerechtfertigt erkennen. — Lief. 121: Annette von Droste-Hülshoff,
eine Auswahl aus ihren Gedichten, herausgegeben von Prof. Dr. Schmitz-
Mancy. 1908. geb. 1 M. Eine besonders willkommene Bereicherung der Samm-
lung! Deutschlands größte Dichterin ist zugleich eine der charakteristischsten
Gestalten der nachklassischen Epoche, für die die Bezeichnung des silbernen
Zeitalters zutrifft. Ihre bleibende Bedeutung mit markanten Strichen zu zeichnen,
ist dem Herausgeber recht gut gelungen. Die Auswahl berücksichtigt erstens die
subjektive Dichtung, wie sie in Naturschilderungen, Stimmungsmalerei, Gedanken-
dichtung sich ausprägt, also Lyrik im engeren Sinne, und zweitens die objektive
Dichtung, wie sie die erzählenden Gedichte und Balladen darbieten, also
16*
244 P. Lorentz,
epische Dichtung. In beiden sind die bei aller inneren Einheit doch erfreulich
mannigfaltigen Züge der Dichterin geschickt zur Geltung gebracht worden, auch
der verhältnismäßig seltene Humor fehlt nicht ganz. Von „des alten Pfarrers Woche"
hätte ich aber alle sieben Tage aufgenommen, gerade die vom Herausgeber fort-
gelassenen enthalten menschlich recht wertvolle Züge. Nach meinem persönlichen
Geschmack dürften auch in keiner Sammlung von Annettens Gedichten die beiden
selten charakteristischen „Die Krähen" und „Der Dichter" fehlen. Aus der größeren
epischen Versdichtung, die „Schlacht am Loener Bruch" sind zwei größere Stücke
aufgenommen. Die Auswahl verdient recht weite Verbreitung.
6. Denkmäler der älteren deutschen Literatur, herausgegeben von
Bötticher und Kinzel. Halle a, S. Buchh. d. Waisenhauses. III. 2. Martin
Luther. L Teil von Prof. Dr. Richard Neubauer. 1908. Vierte, vielfach
verbesserte Auflage, kart. 2,80 M.
Den unermüdlichen Herausgeber hat der große Erfolg der bisherigen Auflagen
dieses allseitig als hervorragend anerkannten Lutherbuches zu immer erneuter
Prüfung des Textes und der Erläuterungen veranlaßt. Namentlich ist in der
Schreibung eine immer größere Konsequenz beobachtet, in der Erläuterung auf
die einschlägige Literatur, soweit es zweckdienlich war, immer mehr Bezug ge-
nommen. Es ist durchaus erwünscht, daß diese handliche, vielseitige Ausgabe
nicht nur von den Primanern tüchtig gelesen, sondern auch allen an deutschen
höheren Schulen mitwirkenden Lehrern, gleichviel welcher Fachwissenschaft, gründ-
lich bekannt werde, soweit sie nicht zu noch erweitertem Sonderstudium der
Schriften Luthers gelangen; und auch dazu bildet sie die denkbar beste Ein-
führung. — Ein erfreuliches Zeichen regen Bedürfnisses ist es, daß aus derselben
Sammlung die Literatur des 18. Jahrhunderts vor Klopstock von Bötticher
in 3. Auflage, 1908, geh. 1,10 M., erscheinen konnte. Wer sie aus langjähriger
Benutzung im Unterricht kennt, wird ihren Wert zu schätzen wissen und sie allen
Fachgenossen angelegentlich empfehlen.
7. Graesers Schulausgaben klassischer Werke. Leipzig o. J. B. G.
Teubner. Anastasius Grün, Spaziergänge eines Wiener Poeten. Auswahl
aus „Schutt", herausgegeben von Dr. Valentin Pollak. kart. 0,50 M.
Da die Bedeutung dieses Österreichers vornehmlich in seiner Gedanken-
dichtung, in seinen politischen Zeitgedichten liegt, seine Bekanntschaft von dieser
Seite aber nicht gut durch die Aufnahme einzelner Gedichte in den Lesebüchern
der mittleren Klassen vermittelt werden kann, so war es ein glücklicher Gedanke,
in einem Sonderheft eine Auswahl darzubieten. Sie wird in der biographisch-
iiteraturgeschichtlichen Einleitung dem Dichter und Politiker, weniger dem Menschen
in dem Grafen Auersperg gerecht. Seine Gestalt hebt sich da gut von dem kultur-
geschichtlichen Hintergrunde des vormärzlichen, Metternichschen Wien ab, indem
sie für Luft und Licht der Gedanken der neuen Zeit tapfer kämpfend eintritt. Und
wenn dem Herausgeber natürlich auch darin beizustimmen ist, daß die Fragen, die
den Dichter bewegten, heute nicht mehr Leidenschaften auszulösen vermögen, so
ist dieses Stück Zeitgeschichte, aufgefangen im Spiegel der Dichtung, doch ein höchst
schätzbares Dokument. Aus den „Spaziergängen" sind außer der Widmung an
Uhland zwanzig der wirksamsten Gedichte aufgenommen, aus dem Gedanken-
Schulausgaben deutscher Kl/ssiker. 245
Zyklus „Schutt" von den beiden letzten der Teile „Cincinnatus" und „Fünf Ostern"
zwölf bzw. fünf, die fehlenden sind ihrem Inhalt nach in den Anmerkungen wieder-
gegeben. Die Ausgabe ist als Ergänzungsheft der deutschen Literatur des 19. Jahr-
hunderts, also vor allem zu Vortragszwecken geeignet und wird auch von dem
Geschichtslehrer beachtet werden müssen.
8. Die Meisterwerke der deutschen Bühne, herausgegeben von Prof.
Dr. Georg Witkowski. Leipzig. Max Hesse. Über Art und Einrichtung dieser
Ausgaben, die zu ungewöhnlich wohlfeilem Preise ganz besonders Wertvolles dar-
bieten, ist von mir in dieser Monatschrift bereits 1905, IV, S. 526 und 1907, VI,
S. 386 gesprochen worden. Die neuen Erscheinungen rechtfertigen nicht nur das
Lob der früheren, sondern verstärken es noch. No. 54. Otto Ludwig, Der Erb-
förster von Prof. Dr. Ad. Stern. 1907. geh. 0,30 M.
Dem feinsinnigen Literaturhistoriker und Dichter Adolf Stern verdanken wir
bereits eine sehr wirksame Darstellung des Lebens O. Ludwigs sowie die Mit-
herausgabe seiner gesammelten Schriften. So steht denn auch die Einführung in
dieses Dramas, eines Hauptwerkes der realistischen Dichtung des 19. Jahrhunderts, auf
der zu erwartenden Höhe. Die Würdigung, die das Drama erfährt, besonders auch
in der richtigen Abwägung seiner Vorzüge und Fehler, eröffnet dem, der es noch
nicht kennt, den richtigen Zugang, und versteht dem, der es kennt, seinen Wert
erheblich zu vertiefen. No. 53 Hebbel, Herodes und Mariamne von Prof.
Dr. Max Koch. Universität Breslau 1907. geh. 0,30 M. Den besonderen Vor-
zug dieser Ausgabe des bekannten Literaturhistorikers sehe ich in der genauen
Berücksichtigung der eigenen Vorrede Hebbels zu diesem Stück, die auch mit-
abgedruckt wird, sowie in dem einleuchtenden Hinweis auf die persönlichen Be-
ziehungen zu Hebbels Ehe und in der Parallele mit Ibsens Problemdramen, von
denen Hebbels Dramen sich doch wieder so charakteristisch unterscheiden. Sehr
willkommen ist auch die Gestaltung des Textes durch Abdruck der früher von
Hebbel ausgeschiedenen Verse. — No. 45, 46, 47, 48. Goethe, Faust I. Band.
Der Tragödie 1. und 2. Teil. Urfaust, Entwürfe und Skizzen, geh. 1,20 M.
II. Band. Kommentar und Erläuterungen, geh. 1,20 M., von Prof. Dr. Georg
Witkowski. 1907. Der rühmlichst bekannte Goetheforscher bietet hier dem
größeren Publikum zum ersten Male die Gesamtheit der Goethischen
Lebensarbeit am Faust, den Text auf wissenschaftlicher Grundlage, aber natür-
lich ohne den kritischen Apparat, Einführung und Erklärungen nach dem gegen-
wärtigen Stande der unablässig fortschreitenden Beschäftigung der Wissenschaften
mit jener unserer nationalsten Dichtung. Die Fähigkeit, die Witkowski schon viel-
fach kundgegeben hat, wissenschaftliche Forschungen in einer im besten Sinne
populären Form darzubieten, kommt hier aufs neue zu wirksamster Geltung. Die
Einleitung unterrichtet kurz über Richtung und Ergebnis der Faustforschung, die
seit 1886 mit der Entdeckung des „Urfaust" in ein ganz neues Stadium getreten
war. Es folgt die Behandlung der Faustsage und Faustdichtung vor Goethe und
eine eingehende Darlegung der Entstehung der einzelnen Teile der Goetheschen
Dichtung. Einen besonders wichtigen Teil bildet der Abschnitt über die Handlung
des Dramas und seine Idee, weiterhin wird über die Form der Dichtung, die
Charaktere und die Bühnengeschichte gehandelt. Wer mit der Faustliteratur ver-
246 P. Lorentz,
traut ist, erkennt bald, daß kaum eine wichtige Frage unberührt geblieben ist, daß
der Verfasser zu allen eine selbständige Stellung einnimmt, auch ohne daß weit-
schichtige persönliche Auseinandersetzungen erfolgen. Eine geschickte Zusammen-
stellung von 160 der wichtigsten Schriften über den Faust geben das Material für
die nähere Beschäftigung mit den Einzelheiten. Die Erläuterungen zu einzelnen
Versen der Dichtung selbst und der Entwürfe, besonders also des Urfaust, auf
221 enggedruckten Seiten vervollständigen diesen neuen Faustkommentar, der ein
mindestens ebenbürtiger Rivale seiner Vorgänger i§t. Wenn ich etwas an den mit
vollster Beherrschung des Materials und seiner völlig selbständigen Durchdringung
gegebenen Darstellung vermisse, so ist es das klare deutliche Aussprechen der
Tatsache, daß die Goethesche Faustdichtung nur auf der Grundlage der abend-
ländischen Kultur, die durch die Idee des Christentums geschaffen wurde, möglich
war, ja, daß diese Idee in ihrem Reingehalt, losgelöst von jeder kirchlichen und
konfessionellen Einkleidung, zum guten Teil das innere Leben der Dichtung aus-
macht; und weiter der Nachweis, daß das Faustische Ringen und sein Ausgang
eine Besonderheit deutschen Geistes darstellt. Die Witkowskische Faustausgabe
ist jedem Lehrer an höhern Schulen als Handbuch zu wünschen und wird auch
manchem Primaner schon helfen können, sich den Weg zum Verständnis und Ge-
nuß, was hier sehr nahe sich berührt, dieser Weltdichtung zu bahnen.
9. Deutsche Schulausgaben, herausgegeben von Dr. J. Ziehen, Stadt-
schulrat in Frankfurt a. M. Dresden o. J. Ehlermann. Ich erwähne zunächst
eine Reihe im Berichtsjahr oder schon früher erschienener neuer Auflagen, die alle
als durchgesehene bezeichnet sind und soweit tunlich, kleinere Verbesserungen
gegenüber früheren aufweisen. Ihre z. T. sehr rasche Aufeinanderfolge ist der
beste Beweis für die große Brauchbarkeit. No. 19. Die Dichtung der Be-
freiungskriege von J. Ziehen, geb. 0,80 M. Sie ist zugleich eine vermehrte
und trägt dem bezüglich der ersten Auflage geäußerten Wünschen Rechnung.
No. 21/22. Homers Odyssee von demselben, geb. 1,20 M. No. 34. Quellen-
buch zur deutschen Geschichte seit 1815 von demselben, geb. 1,45 M.
No. 35. Goethes Gedankenlyrik von P. Lorentz. geb. 1,40 M. Sie verbessert
vor allem störende Druckfehler und berichtigt einiges Sachliche in den Anmer-
kungen. No. 36. Körners Zriny von Schladebach. geb. 0,80 M. No. 38.
Homers Ilias übersetzt von J. H. Voß, in verkürzter Gestalt herausgegeben von
J. Ziehen, geb. 1,45 M. Von Neu-Erscheinungen sind mir folgende zu-
gegangen: No. 41. Schillers Wilhelm Teil von Hellwig. geb. 1,20 M. Die
Einleitung enthält vor allem die sehr anschaulich gehaltene Einführung in das Wesen
der dramatischen Dichtkunst, die so recht aus dem Unterricht hervorgegangen
ist und eine gute Vorbereitung für die theoretischen Erörterungen in Prima
bildet. Bei der Tragödie werden hier mit Recht nur die geläufigen Typen des
Tragischen in Betracht gezogen. Besonders bemüht ist der Herausgeber, Teil als
Helden des ganzen Dramas hinzustellen, die Einheit des Dramas wird aber
trotz der Bemühung Schillers durch die Teilhandlung doch nicht erzielt. Über-
zeugend ist dagegen nachgewiesen, warum Teil nicht ein politischer Held werden
durfte. Das eigenartige des Teildramas ist doch eben, was als vorausdeutend auf
Hauptmanns „Weber" aufzufassen ist, daß das Schweizervolk als solches gewisser-
Schulausgaben deutscher Klasstker. 247
maßen den Helden des Stückes abgibt. Die Karte des Vierwaldstätter Sees wird
die Brauchbarkeit des Buches noch erhöhen, das so recht zum Gebrauch in der
Klasse geeignet ist. No. 42. Shakespeare, König Lear von Dr. E. Waßer-
zieher. geb. 1,20 M. Der Text wird nach der Schlegel-Tieckschen Übersetzung
gegeben mit dem durch die Ergebnisse der Forschung notwendig gewordenen
Veränderungen. Was die Einleitung ausführt über die Entstehung und das künst-
lerische Problem der Dichtung — der Lear die Tragödie des Undanks, wie des
Macbeth die des Ehrgeizes, der Othello die der Eifersucht — ferner über die
Einheit der Handlung trotz der vorhandenen Doppelhandlung, ist sehr gut geeignet,
in das Verständnis der Dichtung einzuführen, da sie die wesentlichsten Gesichts-
punkte aufstellt, unter denen sie mit nachhaltigem Erfolge gelesen werden kann.
Einleuchtend ist die knappe Charakteristik der Personen, recht praktisch die von Shake-
speares Sprache. — No. 46. Begleitstoffe zur deutschen Literaturgeschichte
des 16.-18. Jahrhunderts, augewählt und eingeleitet von Prof. Dr. Kinzel.
1. u. 2. Aufl. geb. 1,45 M. Diese Auswahl ist, soweit ich sehen kann, ohne
Konkurrenz — vgl. aber oben die Ausgabe von Weicker und Legeband. Denn auf
192 Seiten gibt sie eine Zusammenstellung des Lesens- und Wissenswürdigsten
von Hans Sachs bis Gleim unter Zusammenziehung der in den „Denkmälern"
bereits veröffentlichten Stoffe, wobei dann freilich die charakteristische geistliche
Lyrik ganz fortfallen mußte. Die klare, tiefgreifende, knapp gehaltene Einleitung
in das Ganze, wie die in die einzelnen Abschnitte zeugen von langjähriger Er-
fahrung im Unterricht. In künftigen Auflagen muß aber durchaus noch
für Schefflers Sprüche Raum geschaffen werden: wir haben außer in
den Goethischen Sprüchen kaum irgend etwas, das sich damit ver-
gleichen ließe. — No. 47. Sophokles, König Ödipus, übersetzt von
Martin Wohlrab, Geh. Studienrat in Dresden, geb. 0,60 M. Die Einführung
verwendet das, was der Verfasser in seiner Monographie über das Drama gegeben
hatte, auf dessen bleibende Bedeutung hier wiederholt hingewiesen worden ist
(s. Monatschr. IV, 529/30, 1905. VI, 382, 1907 u. s.). Die Übersetzung ist in fünf-
füßigen Jamben gegeben, die lyrischen Partien im Versmaß des Urtextes; durch
jenes gewinnt das Deutsche, durch dieses verliert es, denn es führt zu harten
Wendungen, der Erfolg steht hier nicht im Verhältnis zu der aufgewandten Mühe.
Die Dialogpartien und zumal die monstichischen lesen sich erfreulich glatt und
treffen nicht selten mit glücklicher Wendung den Sinn des Urtextes, z. B. v. 67,
532, 975, 979, 1184/85, selten begegnen Härten wie „den Übermensch" 873; „ihr,
die hier wohnhaft sind" 1048, v. 1022—1024 würde ich mit Nauck umstellen,
1169/70 ist axooaTsov kühn, aber sinngemäß übersetzt: ich will hören. Die Über-
setzung tritt der von Hubatsch bei Velhagen u. Klasing würdig an die Seite. —
No. 49. Aus Goethes Prosa von Prof. Dr. Kinzel. geb. 1,45 M. Diese
Auswahl will dem Bedürfnis der Schüler entgegenkommen, Goethe aus eigenen
Darstellungen auch als Kunstschriftsteller und Biographen kennen zu lernen,
also von den beiden Seiten, die seine Bedeutung als Dichter gut ergänzen.
Der Abschnitt „Zur Kunst" bringt Goethes Rede und Abhandlungen über
Shakespeare, über die deutsche Baukunst, über Winkelmann und Laokoon, über
Lionardo da Vincis Abendmahl und, was eine durchaus erwünschte Ergänzung bildet,
248 P- Lorentz,
die über das Erwachen der niederrheinischen und niederländischen Malerei. Der
Abschnitt „Aus Goethes Leben" entnimmt seinen Stoff der zweiten Schweizerreise,
der Campagne in Frankreich, gibt nach den Annalen die Bekanntschaft mit
Schiller, anderes minder Wichtige, dann aber auch „Dankbare Gegenwart 1823".
Ganz aus dem Rahmen heraus fällt Abschnitt I, der die „Novelle" und „Ferdinand"
aus den Unterhaltungen der Ausgewanderten bringt. Diese beiden Dichtungen
gehören besser zusammen mit ähnlichen, wie sie Sallwürk bei Vel-
hagen & Klasing, Lief. 114 zusammengestellt hat. Dann würde auch
Platz für andere Seiten Goethescher Prosa, vor allem könnte Goethe
als Naturforscher zur Geltung kommen, eine Seite, die doch noch in
ganz anderer Weise den Dichter in ihm ergänzt hat. Ein vortrefflicher
Schmuck nicht nur, sondern eine ganz unentbehrliche Unterstützung der Lektüre
sind die sechs Bilder zu dem Abschnitt über Kunst. Das Büchlein sei den
Fachgenossen zur Beachtung empfohlen. — No. 50. Goethes Italienische
Reise in verkürzter Gestalt, herausgegeben von Dr. Julius Ziehen,
geb. 1,50 M. Die Einleitung erörtert auf knappem Raum außer der Ent-
stehungsgeschichte und Goethes Selbstzeugnissen über das Buch vor allem die
pädagogische Bedeutung seiner Lektüre auf den höheren Schulen: „Es kann
nichts Erfreulicheres, nichts Bedeutenderes geben, als den Äußerungen eines
derart gesteigerten Daseins nachzugehen" — „Scheuklappen tragender Einseitig-
keit mag bange werden vor der Fülle der Gesichte, die ihr aus dem Reisebericht
entgegentritt, aber gerade dadurch gewinnt ja dieser Teil von Goethes autobio-
graphischen Aufzeichnungen seinen großen geistigen Nährwert, daß er mit einer
Weltauffassung bekannt macht, auf die Natur und Menschendasein in harmonischem
Nebeneinander einwirken." Ausgeschieden sind aus dem Text außer kleinen,
weniger wichtigen Bemerkungen, größere selbständige Ausführungen, wie der Be-
such beim Prinzen Pallagonia, bei der Familie Cagliostros, dem Gouverneur von
Messina, dann besonders aus dem zweiten Teil die Materialien zu der beabsichtigten
kulturgeschichtlichen Landesbeschreibung Italiens. Die Briefe vom 23. 8. 1787,
vom 6. 9. 87 und 14. 3. 88 hätte ich in größerer Ausführlichkeit gegeben, den vom
28. 8. 87 hätte ich nicht fortgelassen, weil alle diese ganz notwendige Züge für
den Goethe der Italienischen Reise aufweisen. Der Bilderschmuck ist eine präch-
tige Zugabe, er umfasst den Campo vaccino nach Piranesi, die Goethe-Palme in
Padua, die schiefen Türme in Bologna, den Minervatempel von Assisi und einige
Goethesche Handzeichnungen. Die Ausgabe ist durchaus geeignet, den Gewinn,
den Ziehen von der Lektüre der Italienischen Reise für den Primaner erwartet,
in vollstem Maße zu erzielen. — No. 56. Hebbel, Agnes Bernauer von
Dr. Berthold Schulze, Oberlehrer am Schillergymnasium zu Groß-Lichterfelde.
geb. 1 M. Die Einleitung enthält Entwicklung und Würdigung der dramatischen
Gestaltung und den Aufbau. In recht geschickter Weise wird Vorbereitung, Ent-
faltung und Austrag des Konflikts „aufgerollt, nicht lehrhaft erklärt", wie sich der
Verfasser vorsichtig ausdrückt. Die Zweiteilung 1 — 111,9 und III, 10 —V, 10 ist
praktisch und richtig. Die ganze Methode des Verfassers hat etwas von der Art,
mit der „der ideale Zuschauer" eine dramatische Handlung verfolgt. Sehr ein-
leuchtend ist der Hinweis auf des Großen Kurfürsten Verfahren gegen den Prinzen
Schulausgaben deutscher Klassiker. 249
in Kleists Drama, dessen Parallele ja manchem Erklärer bei der Behandlung des
Stückes vor den Schülern schon aufgefallen sein wird. Die Idee : «die deutsche
politische Religion, — ein etwas gesuchter Ausdruck — mit der das rein Mensch-
liche in Konflikt gerät", konnte noch nach der Seite weiter ausgeführt werden,
daß eben auch die starke und ausschließliche Bewertung des rein menschlichen
Gefühlslebens etwas besonders deutsches ist. Praktisch ist es, daß der Anhang
Zeugnisse Hebbels zur Entstehungsgeschichte und Idee des Dramas enthält sowie
das alte Volkslied von der Agnes Bernauer. Hoffentlich trägt auch diese Schul-
ausgabe kräftig dazu bei, dies Hebbelsche Drama, ohne dessen Kenntnis ich
keine Primaner-Generation lasse, der Schule näher zu bringen.
10. Deutsche Schulausgaben, herausgegeben von Gaudig undFrick.
Leipzig. B. G. Teubner. Goethe, Dichtung und Wahrheit von Dr. O. Kästner,
Direktor der höheren Mädchenschule zu Landsberg a. W. 1907. kart. 1,20 M.
Richtiger müßte der Titel lauten „ein Lesebuch aus Dichtung und Wahrheit".
Wo man es nicht vorzieht, ganze Bücher, aber natürlich nicht alle, von Goethes
Selbstbiographie lesen zu lassen, was ich doch stets tue, da wird die Auswahl
recht gute Dienste leisten. Sie ist aber eben eigentlich ein neues Buch geworden
infolge der Ausscheidungen und Zusammenrückungen, die als solche nirgends ge-
kennzeichnet sind. Natürlich wird, wie bei allen solchen Auswahlen der eine dies,
der andere jenes vermissen bzw. missen wollen. Aber der aus dem Anhang er-
sichtliche Gesichtspunkt, zu zeigen, wie Goethe das, was er geworden ist, wurde,
kommt durch die getroffene Auswahl gut zur Geltung. Der „Durchblick durch
den Roman" zeichnet sich vor allem durch frische, fröhliche, den Nagel auf den
Kopf treffende Bezeichnungen für Goethes Entwicklungsstufen aus sowie durch
geschickte Hinweise auf zusammenfassende, zu schriftlicher Bearbeitung geeignete
Gesichtspunkte. — Von Dr. G. Fr ick sind in der vorliegenden Sammlung bearbeitet:
Lessings Emilia Galotti. 1906. geb. 0,65 M. Grillparzers König Otto-
kars Glück und Ende. 1906. geb. 0,80 M. Goethes Egmont. 1907. kart.
0,60 M. Schillers Don Karlos. 1907. kart. 1,20 M. Schillers Kabale und
Liebe. 1907. kart 0,70 M. Die Ausgaben verwerten alle die Arbeiten, die in
dem ausführlichen Werke „Aus deutschen Lesebüchern" niedergelegt sind, sind
mit Recht sehr sparsam mit Anmerkungen und geben hübsche praktische Beilagen,
zu denen besonders auch die Zeittafeln gehören. Bei dem „Rückblick auf den
tragischen Gehalt" der einzelnen Stücke waltet ein gewisses Schema vor. Zum
Gebrauch in der Klasse sind alle diese Ausgaben hervorragend geeignet. —
Homers Ilias in Auswahl nach der Übersetzung von J. H. Voß von Dr. Georg
Finsler, Rektor. 1906. geb. 0,80 M. Auch dieser Herausgeber hat sein größeres
Werk über Homer, das dem Lehrer des Griechischen eine Fülle von praktischen
Fingerzeigen für die Behandlung im Unterricht darbietet, für eine Schulausgabe
benutzen können. Die Auswahl berücksichtigt B. 1, 3—6, 9, 16, 18, 22—24, läßt
aber die weniger wichtigen Episoden darin fort; alles Fehlende wird durch Prosa-
erzählung ersetzt. Der Anhang enthält außer einer Tafel der Götter und Helden
in knapper, klarer und eingehende Durcharbeitung verratender Darstellung das
Wichtigste über den Dichter, seine Sprache, die Ökonomie der Dichtung, innere
Form der Darstellung, Charakteristik der Personen und Kulturverhältnisse. —
250 P- Lorentz,
Sophokles Antigone übersetzt von Joh. Geffken und Jul. Schultz. 1907.
kart. 0,40 M., geb. 0,65 M. Welchen Anteil jeder der beiden Übersetzer hat, ist
nicht zu ersehen, der größere scheint Geffken zu gehören, dem wir ja ein Buch
über das griechische Drama verdanken. Die Übersetzung hält die Mitte zwischen
solchen poetischen Nachdichtungen, wie wir sie Wilamowitz und Wilbrandt ver-
danken, und solchen für Schulzwecke gegebenen wie der von Hubatsch bei Vel-
hagen & Klasing, von Veit Valentin bei Ehlermann und der Bearbeitung der
Donnerschen von Martens bei Freytag. Die vorliegende macht sich eben auch
vom Wortlaut möglichst frei, außer wo es auf prägnanten Ausdruck ankommt.
Als Metrum der Dialogpartien ist der fünffüßige Jambus gewählt, offenbar in der
Überzeugung, daß er uns heute noch allein im Drama wohlansteht, die lyrischen
Stellen, von denen eine geradezu als Arie bezeichnet wird, sind durchweg freie
Nachdichtungen in gereimten Versen, unter Anlehnung an das griechische Metrum.
Als besonders gelungene Wiedergabe nenne ich V. 34, 89, 237, 719/20, 781. Zu-
weilen sind doch auch recht ungewöhnliche Ausdrücke verwendet worden wie
Trautgesellin, Harst, mähnig. Besondere Einführungen in das Drama,
Würdigung seines Gehaltes u. dgl. enthält die Ausgabe nicht.
11. Dürrs deutsche Schulausgaben. Die Ausgaben sind zunächst für
den Gebrauch an Lehrer- und Lehrerinnen-Seminaren bestimmt, für den in Dürrs
Deutscher Bibliothek ein vollständiges Lehrmittel für den deutschen Unterricht
vorliegt, das jene Textausgaben voraussetzt. Die mir zur Besprechung zugegangenen
beiden Bändchen könnten die Verwendung aber auch durchaus an höheren Schulen
finden.
1. Die deutschen Dichter von Luther bis Klopstock von Liz. Friedr.
Mich. Schiele. 4. Auflage. 1908. kart. 0,60 M. 2. Die Zeitgenossen
Goethes von demselben. 3. Auflage. 1908. kart. 0,60 M.
Beide Auswahlen sind mit sicherem Blick für das Charakteristische getroffen.
Daß in der ersten auch Übersetzungen von Lotichius (1528—1560) aufgenommen
sind, könnte Bedenken erregen, indessen die Persönlichkeit dieses ehemaligen
Klosterschülers und Studenten und späteren Landsknechtes, der als Professor der
Medizin in Heidelberg an den Folgen eines vergifteten Liebestrankes starb, recht-
fertigt es durchaus. Ebenso ist es richtig, daß von Klopstock auch Sprüche auf-
genommen wurden. Einen hübschen Schmuck bilden die beiden Holzschnitte:
das Schlaraffenschiff aus Brants Narrenschiff und das Titelblatt von Murners
Lutherbeschwörung. Die Zeitgenossen Goethes umfassen die Dichter des Hains,
dann Schubart, Claudius und Hebel, die Romantiker und die Dichter der Befreiungs-
kriege. Sehr brauchbar ist die Angabe der Vertonungen der lyrischen Gedichte
durch Schumann, Mendelssohn, Brahms, die Volksweisen im Kommersbuch.
12. Cottasche Handbibliothek. No. 141. Ausgewählte Balladen
von Theodor Fontane. Stuttgart und Berlin o. J. geh. 0,40 M.
Ein prächtiges Büchlein, durch dessen Veröffentlichung sich die berühmte Ver-
lagshandlung gerade so um die deutsche Jugend verdient gemacht hat, wie durch
die Auswahl aus den Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Das Vorwort
gibt in raschen Zügen eine gute Skizze des Dichters. Aufgenommen sind vier
Balladen aus dem Nordischen, elf aus dem Englisch-Schottischen, fünf frei n?ch
Schulausgaben deutscher Klassiker. 251
dem Englischen und 21 aus dem deutsch-preußischen Leben. Das Büchlein ver-
dient die allerweiteste Verbreitung.
13. Die Dichter der Befreiungskriege von Friedrich Arnold. I. Teil:
Einführung in die Dichtungen, eleg. geb. 2 M. II. Teil: Auswahl aus den
Dichtungen Arndts, Körners, Schenkendorfs, Rückerts. eleg. geb. 2. M. Beide
Teile in einem Leinwandband 3 M. Der II. Teil auch besonders unter dem Titel
Auswahl aus den Dichtern und Sängern der Befreiungskriege, kart. 1 M. C. Vin-
cent. Prenzlau 1908.
Das Werk ist als praktisches Handbuch für den Lehrer, zur Vorbereitung auf
die zweite Lehrerprüfung und das Mittelschullehrer-Examen gedacht und wird
diesen Zweck jedenfalls recht gut erfüllen. Die Liebeslyrik und die Übersetzungen
Rückerts täte man doch besser, abzutrennen, um dafür noch diesen und jenen
anderen Sänger der Freiheitskriege zu Gehör zu bringen, wenn auch nur mit
einzelnen Liedern. Daß von Arndt auch recht viel aus seiner Prosa aufgenommen
ist, ist sehr willkommen zu heißen. Der 1. Teil enthält auch, was gleichfalls sehr
brauchbar ist, historische Volkslieder jener Zeit, und dann auch Dichtungen von
Kleist, Eichendorff, Fouque und Uhland. Die reichlichen Literaturangaben sind
eine recht dankenswerte Zusammenstellung. In den Erklärungen wird die kultur-
geschichtliche Grundlage meist richtig getroffen, die didaktische Darlegung reiht
die einzelnen Gedichte in den Lebenslauf des Dichters ein und gibt Inhaltsangaben,
die zuweilen freilich geradezu Auflösungen der Gedichte in Prosa sind. Die
ungeheure Fülle von Fleiß, die in dem Buche steckt, verdient die vollste An-
erkennung.
II. Selbständige Erläuterungsschriften.
1. Heinrich Dünzer, Erläuterungen zu den deutschen Klassikern.
1. Bändchen: Goethes Hermann und Dorothea. 9. Auflage. Besorgt von
Dr. E. Ellinger. Altenburg S.-A. 1906. Wartigs Verlag, geh. 1 M.
Daß Erläuterungen zu Schriftstellern über ein halbes Jahrhundert lang auf-
gelegt werden, ohne wesentliche Veränderungen zu erfahren, spricht für sie.
Dünzers Kommentare, die stillschweigend viel benutzt wurden und werden, seit
sie ein ungewöhnlich reiches Material zum ersten Male darboten, waren zuletzt
doch in der Geltung zurückgetreten, weil die vielfach zu redselige Breite und die
unnötig heftige Polemik abstieß. Ellinger hat durch Beseitigung dieser beiden
Hauptmängel die Benutzung der Erläuterungen zu Hermann und Dorothea wesent-
lich erhöht. Die Polemik aber z. B. gegen Humboldt S. 78/80 wäre auch noch
richtig zu stellen gewesen. Außerdem hat er natürlich inzwischen unhaltbar ge-
wordene Auffassungen Dünzers durch die jetzt fast allgemein angenommenen er-
setzt. — Dasselbe. Bd. 5—6: Schillers Räuber. 2. Auflage. Besorgt von
Dr. Otto Ladendorf, Oberlehrer in Leipzig. 1906. geh. 2 M. Hier haben die
Erläuterungen eine sehr viel durchgreifendere Bearbeitung erfahren müssen, zumal
in dem Abschnitt über die Entstehung der Tragödie, über die inzwischen sicherere
und genauere Angaben bzw. Auffassungen möglich geworden sind. Auch hier
sind die Kürzungen nur zum Heil gewesen, wenn auch 2V2 Hundert enggedruckte
Seiten noch recht reichlich sind. Die knappen Inhaltsangaben von den einzelnen
252 P- Lorentz,
Akten und Szenen haben dadurch gewonnen. Im einzelnen ist die Auffassung
nicht immer zu billigen, wenn z. B. die Szene zwischen Franz Moor und Pastor
Moser in der Ökonomie des Dramas auch entbehrlich ist, so muß doch die außer-
ordentUch starke Wirkung hervorgehoben werden.
2. Schillers ästhetisch-sittliche Weltanschauung, aus seinen philo-
sophischen Schriften gemeinverständlich erklärt von Dr. Paul Geyer,
Professor am Kgl. Gymnasium zu Brieg. I. Teil. Zweite verb. Aufl. Weid-
mannsche Buchhandlung 1908. kart. 1,60 M. Den Kern der Schrift bilden die
Gedankenzüge der Abhandlungen über das Erhabene, Anmut und Würde, Grund
des Vergnügens an tragischen Gegenständen, die tragische Kunst, das Pathetische.
In der Einleitung werden die Begriffe des Schönen und Erhabenen im Umriß der
geschichtlichen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung Kants erörtert, zum
Schluß Schillers Theorie der Tragödie und ihr Verhältnis zur Lehre des Aristoteles
und zu neueren Anschauungen behandelt. Der erste Teil der Schrift, S. 1 — 64,
ist in der neuen Auflage (die erste erschien 1896) fast unverändert geblieben, hier
und da ist ein Ausdruck schärfer gefaßt bzw. gemildert, eine Anmerkung ergänzt
u. dgl. Der zweite Teil, S. 65—81, hat durchgreifendere Änderungen erfahren.
An Stelle der Auseinandersetzung mit Dühring, die mit Recht fortfiel, und der
schematischen Übersicht der Hauptbegriffe, die ich nicht gern misse, ist die Wir-
kung über die Katharsis und den Begriff des Tragischen eingetreten, vor allem die
Auseinandersetzung mit Volkelt, wobei ich nicht immer auf der Seite Geyers stehe.
Für künftige Auflagen würden noch die Abhandlung von Knoke, Programm
Osnabrück 1906, und das Buch von Engel, Schiller als Denker, zu berücksichtigen
sein. Ich benutze das Büchlein schon seit seinem ersten Erscheinen und habe
es sehr brauchbar gefunden; die Brauchbarkeit wird durch die neue Auflage
noch erhöht.
3. C.Rethwisch, Der bleibende Wert des Laokoon. 2. Aufl. Berlin 1907.
Weidmannsche Buchhandlung. 1 M. Auch dieses Schriftchen hat sich mir von
Anfang an, als es i. J. 1899 im Programm des Kgl. Gymnasiums zu Frankfurt a. O.
erschien, vortrefflich bewährt. Mit seltener Klarheit und ruhiger Objektivität stellt
Rethwisch, von der deutlich herausgehobenen Tendenz des Laokoon ausgehend,
die Hauptgedanken jedes Kapitels fest, unter Kennzeichnung, auch durch die
Schrift, des Bleibenden und des Irrtümlichen. Besonders wichtig ist, daß auch die
Fragmente des zweiten und dritten Teiles benutzt werden. Das Ergebnis des
Ganzen faßt Rethwisch zum Schluß dahin zusammen: „Das Gedankengefüge als
Ganzes bewährt sich als so sicher begründet und festverbunden, daß man im ein-
zelnen manches, was der Abänderung bedürftig erscheint, durch anderes ersetzen
kann, ohne daß dadurch die Hauptergebnisse des Werkes an ihrer Wahrheit
irgendeine Einbuße erführen. Im Gegenteil, sie treten damit vielfach erst in ihr
volles Licht."
4. Lessings Laokoon in gekürzter Fassung, herausgegeben von
Geheimrat Prof. Dr. A. Schmarsow. Leipzig 1907. Quelle & Meyer, geh. 0,40 M.
Erläuterungen und Kommentar zu Lessings Laokoon von A. Schmarsow.
1907, ebenda, geh. 1,60, geb. 2,20 M. Hier spricht der Akademiker als Fachmann
vom kunsttechnischen und kunstgeschichtlichen Standpunkt aus zu dem Zweck,
Schulausgaben deutscher Klassiker. 253
für die Schulbehandlung Richtlinien zu geben. Er hat die Literatur des Laokoon
damit erheblich bereichert. Textauswahl und Erläuterungen sind nach dem Ge-
sichtspunkt gegeben, daß in erster Linie das Verständnis der Plastik und Malerei
angebahnt und gefördert wird. Der Text hat zum Zweck leichtern Verständnisses
kleinere Abänderungen erfahren, durch Beseitigung von Fremdwörtern, ungewöhn-
lichen Redewendungen u. dgl.; die fremdsprachlichen Zitate sind auch übersetzt.
Der Kommentar gibt zunächst in zusammenhängender Form allgemeine Erörterungen
über Körperlichkeit, Ausdruck, wobei Winckelmanns Auffassung mit Recht ausgiebig
herangezogen wurden, über Natur und Menschengeist in der Kunst, Nacktheit
und Bekleidung, organisches Gewächs und fremde Zutat im Bildwerk, über die
poetischen Faktoren in der bildenden Kunst u. dgl. Alles wird mit der an
Schmarsow bekannten Frische und Lebendigkeit vorgetragen, wozu besonders noch
die fortwährende Bezugnahme auf gegenwärtige Probleme beiträgt. Für die di-
daktische Behandlung werden auf Schritt und Tritt höchst wertvolle Winke gegeben.
Schmarsow könnte uns keinen größeren Dienst erweisen, als wenn er
uns nun auch selbst das bilderreiche Anschauungsmaterial zusammen-
stellte, worauf er so oft hinweist. Die Schrift wird von keinem Er-
klärer des Laokoon künftig übergangen werden dürfen.
III. Hilfsbücher.
Hilfsbuch zu Homer. Zum Gebrauch für die Lektüre der deutschen
Odyssee und Ihas an Realgymnasien, zusammengestellt von Dr. H. Mudrau,
Professor an den vereinigten Gymnasien zu Brandenburg a. H. Mit 24 Abbildungen.
Bielefeld 1907. Velhagen & Klasing. Lief. 119. geb. 1,80 M.
Das Buch hat den sehr großen Vorzug, durchweg aus -der Handhabung des
Unterrichts, dem es dienen will, selbst hervorgegangen zu sein. Auf jeder Seite
merkt man dem Verfasser den sichern Blick für die Bedürfnisse des Schülers an,
der den deutschen Homer mit Erfolg lesen soll. Vorausgesetzt wird der Text
in der Gestalt, wie ihn die Lief. 37, 49, 110 dieser Sammlung zeigen. Unter
selbstverständlicher Benutzung solcher Bücher, wie Retzlaffs Vorschule zu Homer,
Henkes Hilfsheften, Helbigs und Kammers sich gegenseitig trefflich ergänzenden
Kommentaren werden in ansprechender Weise folgende Gebiete behandelt: Die
Entstehung der Epen, die Metrik und Poetik, Inhalt der Ilias und Odyssee, die
Götter und Helden, die Homerische Mythologie im Zusammenhang mit den Helden-
sagen der nordischen und orientalischen Völker, die Kultur des Homerischen Zeit-
alters, die Wiederentdeckung Trojas und der Homerischen Königsburgen, die Be-
deutung Homers für die Griechen, sein Einfluß auf die römische Dichtkunst und
auf die Neuzeit bis auf Goethe. Bei Benutzung der Homerforschungen scheint
mir Drerups Buch übersehen worden zu sein, sonst aber herrscht löbliche Voll-
ständigkeit, aber auch die sehr gebotene Vorsicht bei Festsetzung von Resultaten.
Nur bei den Beziehungen zur nordischen Mythologie ist mit allzu großer Sicherheit
verfahren. Daß die literaturhistorische Würdigung Homers von Christ, Bergk,
Scherer, Vilmar, Leixner entlehnt wird, ist zu loben, aber Wilamowitz ist jetzt auch
zu berücksichtigen. Bei den Kulturverhältnissen waren die verschiedenen Schichten
der . Dichtung getrennt zu betrachten. Daß den Verdiensten Schliemanns und
254 J. Ziehen, Über die bisherige Entwiclilung usw., angez. von J. Borbein.
Dörpfelds eine sehr ausführliche Darstellung zuteil wird, ist für die jugendlichen
Benutzer des Buches durchaus wünschenswert. Für Homer in der Renaissance
ist jetzt noch Finslers Vortrag in der Philologenversammlung in Basel 1907 zu
benutzen. Der Nachweis der Benutzung Homers durch unsere Klassiker ist sehr
stark übertrieben, auch die Schlußbemerkungen gehen in den Bestrebungen,
Homerische Einflüsse sogar in Auerbachs Dorfgeschichten und Frenssens Romanen
nachzuweisen, ganz unnötigerweise zu weit. Dagegen mußte der Einfluß auf die
bildende Kunst einmal schon durch Hinweis auf antike Bildwerke, dann aber auch
auf die Arbeiten von Flaxmann, Carstens, Thorwaldsen, Cornelius, Preller, Genelli und
warum nicht auch von Slevogts Achilleus, sehr viel nachdrücklicher gegeben werden.
Die 24 Abbildungen, meist nach Dörpfeld und Schliemann, unterstützen die An-
schaulichkeit in vorzüglicher Weise. Das Hilfsbuch wird mit großem Vorteil
benutzt werden.
Friedeberg (Neumark). Paul Lorentz.
b) Einzelbesprechungen:
Ziehen, Julius, Über die bisherige Entwicklung und die weiteren
Aufgaben derReform unsereshöherenSchulwesens. Frankfurt a. M
1909. M. Diesterweg. 58 S. geh. 1,40 M.
Die Schrift gibt im wesentlichen einen am 10. Oktober 1908 auf der Haupt-
versammlung des Braunschweiger Philologenvereins gehaltenen Vortrag wieder.
Die im Druck hineingefügten Anmerkungen enthalten wertvolle bibliographische
Nachweise über die vom Verfasser besprochenen Fragen. Ziehen berichtet zuerst
über die bisherige Entwicklung der Schulreformbewegung während der letzten
hundert Jahre, besonders verweilend bei der Konferenz von 1900 und dem durch
diese geschaffenen Zustand. Als die wertvollsten Früchte dieses Kampfes erscheinen
ihm: freiere Formen der Schulverfassung und infolgedessen eine größere Selbst-
verantwortung aller Beteiligten und ein größerer Kulturwert der höheren Schulen.
Der zweite Teil spricht von den Aufgaben der Zukunft. Ziehen wünscht eine noch
weitere Ausdehnung der realen Bildung, besonders an kleineren Orten, wobei das
Frankfurter Reformsystem sich immer mehr als ein höchst wertvoller Helfer erweisen
werde. Im losen Zusammenhange damit vertritt er die Verknüpfung der Berechtigung
für den einjährigen Dienst mit der Reifeprüfung an einer Vollanstalt, eine Forderung,
die, wie mir scheint, mehr das Leben nach der Schule beurteilt, als umgekehrt.
Gegen die Differenzierung des Unterrichts auf der Oberstufe der Vollanstalten hegt
Ziehen schultechnische und pädagogische Bedenken, anderseits spricht er sich,
bei vorsichtigem Gebrauch, für einen wahlfreien Lateinkursus an Oberrealschulen
aus, die sich aber auch nicht sträuben sollen, wo das Bedürfnis vorliegt, einen
Zweig für die Zwecke des höheren Kaufmannsstandes auszubauen. In bezug auf
die innere Arbeit der Schule hält Ziehen für die wichtigsten Zukunftsaufgaben : die
stärkere Betonung der Selbsttätigkeit der Schüler und eine engere Verbindung der
sachlichen mit der sprachlichen Belehrung.
Cassel. Joh. Borbein.
r
Die Geheimlehre des Veda, angez. von K. Vorländer. 255
Die Geheimlehre des Veda. Ausgewählte Texte der Upanishads, aus dem
Sanskrit übersetzt von Dr. Paul Deussen. Zweite Auflage. Leipzig 1907.
F. A. Brockhaus. XXIV u. 221 S. 3 M.
Was hat die Geheimlehre des Veda, was haben die Upanishads der alten
indischen Weisen mit der Monatschrift für höhere Schulen zu tun? wird mancher
erstaunt fragen. Nun, doch mehr, als man beim ersten Blick auf den Titel denkt.
Das lehrt uns schon die Lektüre des klar und warm geschriebenen Vorworts.
Deussen, ohne Zweifel heute der erste, ja, soviel wir wissen, einzige genaue Kenner
altindischer Weisheit unter unseren deutschen Philosophie-Professoren, führt etwa
folgendes aus: Die Upanishads sind für den Veda, was für die Bibel das Neue
Testament. Während eine kindliche Stufe der Religion ihren Hauptinhalt in Ge-
boten und Verboten mit Verheißung bzw. Androhung von Lohn und Strafen
sucht, so bringt uns eine höhere Stufe zu der Erkenntnis, daß die höchste Auf-
gabe des Daseins nicht in einer Befriedigung des Egoismus, sondern in einer
völligen Aufhebung desselben besteht. So lehrt das Neue Testament die Wert-
losigkeit, lehren die Upanishads sogar die Verwerflichkeit aller, auch der guten
Werke. Beide aber suchen das Heil in einer völligen Umwandlung des natür-
lichen Menschen, in seiner Erlösung: von der Sünde, wie die Bibel, von dem
Irrtum, wie der Veda sagt. Die christliche Lehre appelliert vor allem an den
Willen, die indische an die Erkenntnis. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie
dich selbst", fordert die Bibel; „weil dein Nächster in Wahrheit dein eigenes Selbst
und, was dich von ihm trennt, bloße Täuschung ist", fügt der Veda erklärend
hinzu. So bedeutet dieser (nach Deussen) keinen Gegensatz zum Christentum,
sondern seine schönste Ergänzung, seine Höherbildung. Denn Paulus' av^pwT.oi:
rveuixatixo? und Kants kategorischer Imperativ sind nur „schüchterne und tastende
Versuche gegenüber der großen, auf jeder Seite der Upanishads durchblickenden
Grundanschauung des Vedanta, daß der Gott, welcher allein alles Gute in uns
wirkt, . . . unser eigenstes metaphysisches Ich, unser bei allen Abirrungen der
menschlichen Natur in ungetrübter Heiligkeit verharrendes, ewiges, seliges, gött-
liches Selbst, — unser Atman ist" {Vorwort S. XI).
So setzt Deussen das uralte, heilige Wissen der Inder in unmittelbarste Be-
ziehung zur Gegenwart. Und in der Tat, wenn wir etwa die den Anfang des
Buches bildende Hymne aus dem Rigveda in der formschönen Übersetzung
Deussens lesen, so spüren wir nicht, daß zwischen ihrer Entstehung und heute
mehr als zwei Jahrtausende liegen. Wir können uns nicht enthalten, aus der vom
Ursprünge der Dinge handelnden Hymne die erste und die letzte Strophe als
Probe hierher zu setzen.
„Damals war nicht das Nichtsein noch das Sein,
Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her. —
Wer hielt in Hut die Welt, wer schloß sie ein?
Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?
Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,
Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,
Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,
Der weiß es! — oder weiß auch er es nicht?"
256 Die Geheimlehre des Veda, angez. von K. Vorländer.
Das ist in der Tat eine hehre reUgiöse Poesie, die in ihren ersten Zeilen
übrigens ein wenig an unser althochdeutsches Wessobrunner Gebet erinnert, aber
weit weniger dogmatischen, weit mehr philosophischen Charakter hat als dieses.
Allerdings ist nicht alles ebenso schön, aber noch viele herrliche Stücke finden
sich in Deussens Auswahl wie: „das Suchen nach dem unbekannten Gott", „Ur-
sprung der Welt aus dem Atman", das „Tat twam asi" (= das bist Dul), „der
Atman im Herzen und im Weltall", „die Unerkennbarkeit des Atman", „Naciketas
und der Todesgott", „der Atman und die Maya" (= Blendwerk, Schein) u. m. a.
Übrigens wiederholen sich in anderer Form oft dieselben Grundgedanken, da der
Herausgeber seine Auswahl auf die zwei wichtigsten Lehrstücke des Veda, vom
Atman als weltschöpferischem Prinzip und von der Seele in ihren Zuständen der
Wanderung und Erlösung, beschränkt hat und jeder Text, wie er selbst sagt, mehr
oder weniger die ganze Atmanlehre enthält. Und die drei Kardinaltugenden: Selbst-
bezähmung, Almosengeben und Mitleid (S. 69) erscheinen als Inbegriff der Ethik
doch etwas dürftig, ebenso die „Schlußermahnung an den scheidenden Veda-
schüler", das Vedastudium weiter zu betreiben, Fromme zu erziehen, alle seine
Organe im Atman zum Stillstand zu bringen und kein Wesen zu verletzen (S. 122),
während die „goldenen Regeln für den Schüler" (S. 123f.) allerdings inhaltsreicher
sind. Jedenfalls aber trägt diese ganze indische Anschauungsweise bei allem Tief-
sinn und aller Erhabenheit einen weichen und weltfremden Zug an sich, der uns
Abendländern fern liegt. Dazu kommt das Fremdartige vieler Worte und Begriffe,
die nur zum Teil in dem kurzen Register erklärt werden.
Wir möchten im Anschluß daran nicht verfehlen, die Leser, welche tiefer in
die indische Weisheit einzudringen wünschen, auf die beiden bedeutenden wissen-
schaftlichen Werke unseres Indologen aufmerksam zu machen: L Das System
des Vedanta, 2. Auflage 1906, und 2. Allgemeine Geschichte der Philo-
sophie, mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, in drei Ab-
teilungen (2. Aufl. 1906 — 1908, beide im Verlag von F. A. Brockhaus, Leipzig er-
schienen), die freilich über die Philosophie der Inder noch nicht hinausgelangt ist.
Das wird Deussen sich allerdings nicht verhehlen dürfen, daß das Interesse für
die von ihm so sehr verehrte und in der Tat auch verehrungswürdige altindische
Weisheit immer auf ein kleineres Publikum beschränkt bleiben wird; und schon
deshalb, ganz abgesehen von dem mir auf diesem Felde mangelnden Spezial-
studium, konnte ich seinem an dieser Stelle gegebenen wohlgemeinten Rate nicht
folgen, in der seitdem erschienenen zweiten Auflage meiner Geschichte der Philo-
sophie ein volles Sechstel (d. h. ca. 140 Seiten) auf die orientalische Philosophie
zu verwenden. Zitiert er selbst doch in einem der beiden seinem neuen Buche
vorgesetzten Motti die Worte: „Darum soll diese Lehre nur dem ältesten Sohne
sein Vater als das Brahman kundmachen, oder auch einem vertrauten Schüler, aber
keinem andern, wer es auch sei". Trotzdem möchten wir das vorliegende — auch
äußerlich vom Verlage geschmackvoll ausgestattete — Buch zur Fruchtbarmachung
im deutschen oder Religionsunterricht durch Vorlesen besonders schöner oder
treffender Stellen lebhaft empfehlen; vor allem freilich zur eigenen Lektüre im
stillen Kämmerlein oder, noch besser, zusammen mit einer gleichgestimmten Seele,
gemäß den Worten des anderen Mottos : „Da sprach Yaj&avalkya: „Faß mich, mein
A. Heilmeyer, Die Plastik seit Beginn des 19 Jahrhunderts, angez. v. P. Brandt. 257
Teurer, bei der Hand; darüber müssen wir beide unter uns allein uns verständigen,
nicht hier in der Versammlung".
Solingen. Karl Vorländer.
Hellmeyer, AI., Die Plastik seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Mit 41
Abbildungen. Sammlung Göschen 321. Leipzig 1907. 108 S. 8«. 0,80 M.
Ein vorausgeschickter allgemeiner Teil orientiert kurz und treffend über die
einschlägigen ästhetischen Fragen und gibt damit dem Leser einen Maßstab in die
Hand zur Beurteilung der nun eingehender aufgeführten Hauptvertreter der deut-
schen, französischen und belgischen Plastik des 19. Jahrhunderts und ihrer Werke,
von denen eine Auswahl in guten Abbildungen beigegeben ist. Für den gesunden
nationalen Standpunkt des dem Münchener Kunstkreise nahestehenden Verfassers
ist es bezeichnend, daß er A. Hildebrands Kugelspieler dem Titelblatt vorgesetzt hat.
Eimer, M., Lord Byron und die Kunst. Beilage zum Jahresbericht der Ober-
realschule in Straßburg i. E. 1907. 37 S. 4«.
Eine Ehrenrettung des Dichters gegenüber dem voreingenommenen und
schiefen Urteil seines Biographen Elze. Die lesenswerte Studie stellt auf Grund
einer umfassenden Stellensammlung vor allem eine Entwicklung in dem anfangs
sehr spröden Verhältnis Byrons zur Kunst, insbesondere zur Malerei, fest, eine
Entwicklung, die während des italienischen Aufenthaltes 1816-1819 einsetzte
und ihn schließlich zu Hymnen begeisterte, wie die auf die Venus von Medici und
den Petersdom. Auch der Verfasser ist gelegentlich (S. 31) nicht vorsichtig genug
in der Bewertung der Stellen. Wenn Byron von der Gesellschaft bei Lord Amun-
deville sagt (Don Juan XIII 110):
But all was gentle and aristocratic
In this our party; polished, smooth, and cold,
As Phidian forms cut out of marble Attic,
so liegt darin kein abgünstiges Urteil über die Parthenonskulpturen, deren rohe
Entführung durch Lord Elgin er eine Barbarei nannte; die Worte besagen nach
der individualisierenden Art der Dichter bloß: Alles war glatt und kalt wie Marmor.
Ipfelkofer, A., Bildende Kunst an Bayerns Gymnasien. Erwägungen, Er-
fahrungen und Vorschläge. Progr. des Luitpoldgymnasiums, München 1907.
131 S. 8».
„Der Worte sind genug gewechselt, laßt mich auch endUch Taten sehnl"
Wenigstens an den bayrischen Gymnasien, denn Archäologie ist in Bayern seit
lange Prüfungsgegenstand im philologisch-historischen Examen, so daß es nicht
an geeigneten Lehrkräften, und dort stehen für die zweite Durchnahme der Ge-
schichte nicht wie bei uns nur drei, sondern vier Jahreskurse zur Verfügung, so
daß es auch nicht an Zeit fehlt. So kann der Verfasser auf Grund langjähriger
eigener Erfahrung die organische Eingliederung des Kunstunterrichts in den Ge-
schichtsunterricht verlangen, indem eine fortlaufende Besprechung einer Auswahl
hervorragender Kunstwerke jeweils an kulturhistorische Rückblicke über unterrichtlich
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 17
258 H. Lhotzky, Die Seele deines Kindes,
abgeschlossene Geschichtsperioden angefügt werden soll. Dieser Kunstunterricht
(wohl zu scheiden von der auf allen Stufen zu pflegenden Anschauung) soll auf
die drei oberen Klassen beschränkt bleiben, mit Hilfe des Skioptikons akroamatisch,
nicht katechetisch erteilt werden und neben der alten Kunst auch die romanische
und gotische Periode, sowie die italienische und deutsche Renaissance berücksich-
tigen, gelegentlich auch moderne Werke zum Vergleich heranziehen. Dies Programm
wird mit großer Sachkenntnis und bajuvarischem Humor eingehend und im wesent-
lichen überzeugend begründet, Ref. freut sich, dem ihm von Athen und Venedig
her persönlich bekannten Verfasser hier zum dritten Male auf den Wegen d-'r
Kunst zu begegnen; auch darin ist er mit ihm einig, daß für die Pflege dieses
Faches die Schulbehörde nur die Bedingungen des Gedeihens schaffen, die Durch-
führung im einzelnen aber der frei wirkenden Persönlichkeit des Lehrers über-
lassen soll.
Bonn. Paul Brandt.
Lhotzky, Heinrich, Die Seele deines Kindes. 222 S. kl. 8^ Düsseldorf-
Leipzig 1908. K. R. Langewiesche. Kart. 1,80 M.
„Ein Buch für Eltern" nennt der Verfasser seine Schrift; sie ist vor allem
auch eins für Lehrer — für alle, denen werdende Seelen anvertraut sind. Das
Wort , Erzieher* liebt er nicht; es ist ihm damit zu eng verknüpft der Begriff des
„methodischen" Arbeitens an dem Kinde nach bestimmten vorgefaßten „Prinzipien",
des Beschneidens und Einschränkens: „Nie habe ich mir Mühe gegeben, die Jugend
zu erziehen. Im Gegenteil kann ich kein junges Menschenkind mitleidlos ansehen :
Ich fürchte, man könnte es erziehen." Es kommt ja auf Worte nicht an; gerne
folgen wir Lhotzky auf einem Wege, der uns über die „Erziehung" in jenem Sinne
hinwegführt, um mit ihm zu lernen» Seelen werden zu lassen.
Es ist das Geheimnis alles Erziehens — ich kann mir nicht helfen und muß
den neuen Wein wieder in die alten Schläuche gießen — daß dem Werdenden , zu
Bildenden das Gesetz des eigenen Wesens abgelauscht werden muß, um es all-
mählich zu einer höheren Stufe d^s Seins emporheben zu können. Die Freiheit
der Persönlichkeit ist für Lhotzky das Ziel des Werdens der jungen Seele — aber
in seiner feinen und tiefblickenden Art ist er weit entfernt, für alle und jede
Wesensäußerung des Kindes schrankenlose Entwicklungsmöglichkeit zu fordern
wie unsere modernen ,Individual'pädagogen. Der Weg zu jenem Ziele ist ihm
vielmehr die Erziehung zum Gehorsam. Die beiden Schwerpunkte unseres per-
sönlichen Lebens: Freiheit und Notwendigkeit werden zuvörderst auf dem
sittlichen Gebiete zueinander in das rechte Verhältnis gesetzt. Die freie Entfaltung
der Seele des Kindes ist zu gewähren durch ein Verzicht der Eltern auf ein Eigen-
tumsrecht an dem Kinde: Lhotzky findet hier ebenso herzliche wie scharfe Worte
für den Elternegoismus in jeder Form, mag er sich nun in dem Auf quälen eines
der Eigenart des Kindes nicht gemäßen Berufes äußern oder seine Entwicklung
zur sittlich freien Persönlichkeit durch ängstliches Behüten vor den Wirklichkeiten
des Lebens unterbinden. Das Ziel aber zeigt seine Umrisse in voller Klarheit
erst dann, wenn der Seele des Kindes die Unterordnung des eigenen Ich unter
einen höheren, edlen Zweck als Notwendigkeit klar geworden ist. Eine Forderung,
angez. von P. Wüst. • 259
die ihre Fruchtbarkeit in aller Menschwerdung von je bewiesen hat, deren Be-
tonung aber gerade heute mehr als je nötig ist.
Diese Ideen allein schon würden dem Buche Wert verleihen — denn
Ideen sind ja im tiefsten Sinne das wahrhaft Reale im bunten Getriebe der
Wirklichkeiten; eine Auffassung, in der ich mich mit Lhotzky eins weiß, wenn
er es vielleicht auch nirgends mit diesen Worten ausspricht. Sie geben allem, was
in dem. Buche steht, Lebenskraft, denn sie bilden seine Wurzeln. Und all die
vielen und reichen, in alle Tatsächlichkeiten und Geschehnisse des Verhältnisses
hitern und Kinder' hineinleuchtenden Winke, die Lhotzky gibt, sind hieraus er-
wachsen. Daß er sie gibt, erhöht nun die Fruchtbarkeit des Werkchens ungemein:
es befriedigt nicht nur den Menschen der Idee, sondern wird auch allen Wirklich-
keitsmenschen, sofern ihnen nicht jedes Dasein in bloß äußerlichem Leben aufgeht,
in allen Fällen ein gediegener, praktischer Wegweiser sein können, ein Handbuch
gar zum täglichen Gebrauch. Ich habe das Büchlein denn auch nicht nur in der
periodischen Erziehungsliteratur oft mit Anerkennung genannt gefunden, sondern
auch von manchen Eltern dankbare Worte darüber gehört. Daß Wirklichkeit
und Idee sich als feindliche Mächte gegenüberstehen, hat von jeher alles Leid
und jeden Schmerz tief angelegter Menschen ausgemacht. Daß sie sich die Hände
reichen müssen, daß ein werdendes Leben zur Reife persönlichen Lebens heran-
gebildet werden kann nur durch ein harmonisches Bündnis dieser beiden Grund-
mächte alles Seins, macht den besten Erwerb aus, den uns Lhotzkys Buch zuteil
werden läßt.
Soll ich Einzelheiten herauslesen? Der Verfasser ist Arzt, und darum gehören
die Kapitel, welche den Körper des Kindes behandeln, der gesund sein muß,
wenn die Seele es sein und bleiben soll, zu den besten des Buches; die Aus-
führungen ,Über das geschlechtliche Geheimnis' bilden einen Teil davon. Feine
und wahre Worte sagt Lhotzky über das Verhältnis zwischen Haus und Schule.
Nicht nur in der genannten Frage: ein besonderes Kapitel (V) ist auch dem Pro-
blem „Kinder und Wissenschaft" gewidmet; es wird die Leser dieser Monat-
schrift natürlich besonders fesseln. In den Abschnitten: ,Schule und Haus', ,Schule
und Gehorsam' finden sich wahrhaft herzerquickende Aussprüche: »Die Stellung
des Lehrers ist überaus schwierig;" seine „ganze schwere Arbeit wird geleistet
zwischen gefährlichen Klippen. Zwischen Schulbehörde, Schulaufsicht, Schul-
gewaltigen aller Art und zwischen der vielköpfigen Elternmenge. Wenn diese
Mächte nicht einigermaßen im Gleichgewicht sind, vermag auch der
beste Lehrer nichts zu leisten." (S. 166.) „In der Regel stehen diejenigen
Häuser mit der Schule im grellsten Widerspruch, in denen es an der nötigen Zucht
fehlt." (S. 168.) „Man bedenke doch dieses: Die Schule ist eine Einrichtung,
über deren fortwährender Verbesserung seit Jahrhunderten die besten Köpfe ge^
sonnen, und an deren heilbringender Umgestaltung die edelsten Menschen Hand
angelegt haben . . ." (S. 169.) „Vollkommen ist keine einzige Schule. Aber , . .
auch der Lehrer leidet unsagbar unter deinen Schwächen, also stelle dich nicht
so ungebärdig, wenn du auch die seinen bemerkst. Meine Mutter pflegte immer
zu sagen, wenn ich als kleiner Bursche behauptete, der Lehrer habe dies und das
anders gelehrt als sie: Dann wird wohl der Lehrer recht haben. Weißt du,
17*
260 J- A. Sikorski, Die seelische Entwicklung usw., angez. von A. Matthias.
er versteht das besser als ich." (S. 170.) „Aus Gewinnsucht ist jedenfalls nie-
mand Lehrer. . . Es ist nicht die Ehre der menschlichen Gesellschaft, daß es so
ist. . . Eigentlich müßten die Lehrer die weitaus bestbesoldeten Beamten sein,
denn ihnen ist das Teuerste anvertraut, was wir haben . . . unsere Kinder.'
(S. 165.)
Das kleine Zitat zeigt sogleich, wie sich bei Lhotzky feiner Humor und tiefer
Ernst verflechten und durchdringen. Er bleibt nie beim .bloßen' Humor stehen.
Wer das glauben mag hie und da beim Lesen, der wird zu denen gehören, die
Lhotzkys Ernst auch nicht verstehen werden, weil sie seinen ,Spaß' nicht be-
greifen. Es ist ein Humor, der immer im Takte bleibt, der an Dinge her-
anreicht und Gefühle trifft, die für bloß begrifflichen Ernst kaum zugänglich wären.
Wo er Hohles und Gemachtes geißeln, platte Nüchternheit und leeren .Idealismus'
in ihrer ganzen Unzulänglichkeit aufdecken will, da tut ihm sein Humor die besten
Dienste. Und er ist niemals bloß zersetzend. Immer weiß er die wahren Wurzeln
echter Seelenbildung zu finden.
Sein Schlußkapitel „Kinder und Religion" zeigt das auf einem vielumstrittenen
Gebiete. Sollen die jenseitigen Fragen hier die oberste Rolle spielen? — Viel-
leicht. Lhotzky wird für jede Überzeugung hier einen Weg weisen können.
Aber der Ausgangspunkt für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Kind und
Gott wird doch in dem einfachen, ersten Verhältnis zwischen Kind und Eltern
liegen. „Du liebst dein Kind, und dein Kind liebt dich. Siehe, so ist Gott! Wo
Liebe ist, da ist göttliches Wesen. Wo Wahrhaftigkeit ist, da ist Gott." „Es
ist nicht draußen — da sucht es der Tor; Es ist in dir, du bringst es ewig her-
vor." Man fühlt sich sogleich zu Hause in diesem Buche.
Möge das Buch ein rechtes Haus- und Handbuch werden für alle Eltern, und
auf daß der Same auf einem weiteren Felde aufgehe, auch für recht viele Lehrer
und — Sit venia verbo — Erzieher.
Düsseldorf. Paul Wüst.
Sikorski, J. A., Die seelische Entwicklung des Kindes nebst kurzer
Charakteristik der Psychologie des reiferen Alters. Zweite vermehrte
und verbesserte Auflage. Mit 16 Abbildungen. Leipzig 1908. Joh. Ambr. Barth.
VI u. 159 S. 3,60 M.
Das vorliegende Buch verfolgt in erster Linie den praktischen Zweck, dem
Leser die Grundtatsachen aus dem für Eltern, Erzieher und für jeden gebildeten
Menschen so wichtigen Gebiete der seelischen Entwicklung des Kindes mitzuteilen.
Die Einleitung bringt einen Abschnitt über die Grundtatsachen aus der Zoo-
psychologie : die reiche, vielseitige Seele des Kindes wird hier mit der einseitigen
schablonenhaften Tierseele verglichen. Diese Kapitel sind den Lehrern zu emp-
fehlen, welche Biologie zu lehren haben. Sie werden reiche Anregung daraus
schöpfen. Der eigentlichen Abhandlung schließt sich ein kurzer psychologischer
Abriß der späteren Lebensalter an, damit die Besonderheiten der Kindesseele und
ihrer Entwicklung in dem Rahmen der reifen menschlichen Seele deutlicher und
plastischer hervortreten. Die Mitte des Buches bildet den Kern. Und in dieser
Mitte steht als ergebnisreichster Abschnitt die Erörterung, welche die Entwicklung
G. BÄumer u. L. Droescher, Von der Kindesseele, angez. von A. Matthias. 261
der Kindesseele vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahre umfaßt; sie bildet
fast ein Drittel des ganzen Buches und zugleich den Glanzpunkt des Werkes.
Was wir hier über die Entwicklung des Gefühls, des Verstandes und der Aufmerk-
samkeit, des Willens, der Persönlichkeit und der Individualität des Kindes und über
die Unregelmäßigkeiten im Gange der individuellen Entwicklung sowie über die
psychischen Züge des normal entwickelten Kindes zu lesen bekommen, gibt reiche
Ausbeute für die praktische Pädagogik des späteren Lebensalters des Kindes.
Und innerhalb dieser Erörterungen über den bedeutsamsten Lebensabschnitt
(vom 2. bis zum 6. Jahre) des jungen Erdenbürgers heben sich die Darlegungen
über die Bedeutung der Spiele für die geistige Entwicklung des Kindes ganz
besonders ab und werden jedem, der sich mit Erziehungsfragen eingehender
beschäftigt hat, viel neue Anregungen bieten. Das Buch kann aufs wärmste
allen Erziehern empfohlen werden.
Als eine Art von poetischer Illustrierung zu dem streng wissenschaftlich ge-
haltenen Buche von Sikorski sei die Besprechung eines Buches von ganz anderem
Charakter angefügt:
Bäumer, Gertrud und Droescher, Lilf, Von der Kindesseele. Beiträge zur
Kindespsychologie aus Dichtung und Biographie. Leipzig 1908. R. Voigt-
länders Verlag. VIII u. 429 S. 6 M., geb. 7 M.
Das Buch enthält eine Sammlung von dichterischen und biographischen Bei-
trägen zur Kindespsychologie, es ist ein Archiv der Individual-Psychologie des
Kindes, zusammengestellt aus den Beobachtungen von Dichtern, die ja am tiefsten
in menschliches Wesen einzudringen pflegen und seine Eigenart in schönster Form
darzustellen imstande sind. Die Auswahl ist getroffen nach dem Maßstabe der
psychologischen Treue der Beobachtung. Stücke von künstlerischem Wert, die den
Regungen der Seele bis in ihre feinsten Verzweigungen nachgehen und meister-
hafte Darstellungen bieten, haben den Vorzug. Auf literarisch Mittelmäßiges oder
doch weniger Wertvolles ist aber auch nicht verzichtet, insofern es interessante
psychologische Aufschlüsse gibt und psychologisch Wahrhaftiges bietet. Es ist
möglichst jede Seite des kindlichen Seelenlebens berücksichtigt; für manche Fälle
liegt nicht nur ein, sondern mehrere Beispiele vor; auch die ausländische Literatur
(Tolstoi) ist hineingezogen, um Vielseitigkeit zu zeigen. Die Anordnung ist nicht
starr systematisch, sie folgt, soweit es möglich, dem Einteilungsschema der
Psychologie, hält sich aber auch in loserer und freierer Form an irgendeine
besonders charakteristische Gemeinsamkeit. Nur einige Namen und Buchtitel
brauchen genannt zu werden, um den Inhalt anzudeuten : Ludwig Richters Lebens-
erinnerungen; Friedrich Hebbel, Meine Kindheit; Otto Ernst, Asmus Sempers
Jugendland; Gottfried Keller, Der grüne Heinrich; Emil Strauß, Freund Hein;
Bogumil Götz, Buch der Kindheit; Theodor Storm, Von Kindern und Katzen;
Peter Rosegger, Waldheimat. Die Anmerkungen, die dem Buche beigegeben sind,
geben Rechenschaft über Auswahl und Zusammenstellung; sie verbinden damit
Hinweise auf die Art der Benutzung des Buches und nennen weiteres Beob-
achtungsmaterial — eine reiche Fundgrube des Besten, was auf dem Gebiete der
schönen Literatur über die Jugend, ihr Werden und ihre Entwicklung zu finden ist
Berlin. A. Matthias.
262 >. K. Muthesius, Goethe und Pestalozzi,
Muthesius, Karl, Goethe und Pestalozzi. Leipzig 1908. Dürrsche Buch-
handlung. VIII u. 275 S. 4,50 M.
Es ist ein treffliches Buch, das ich nur aus voller Überzeugung zum Studium
empfehlen kann. Der Literarhistoriker wie der Pädagog wird es gleich befriedigt
aus der Hand legen. Was der Verfasser über die gegenseitige Beziehung der
beiden großen Geister aus der Literatur und aus den Archiven hat herbeibringen
können, ist zusammengetragen und in anziehender Darstellung verarbeitet. Mit
dem lebhaftesten Interesse folgt man dem Gange der Untersuchung, die zum ersten
Male auf sicherer Grundlage und man darf wohl sagen erschöpfend das wechsel-
seitige Verhältnis der beiden Männer behandelt.
Es verlohnt sich, etwas näher auf das Buch einzugehen, um einen Begriff
von der Behandlung des Gegenstandes und von der Fülle der neuen darin ent-
haltenen Belehrung zu geben. Die Anlage des Buches zeigt einen kunstgerechten
Aufbau mit unverkennbarer dramatischer Steigerung, die die Lektüre zu einem
hohen Genüsse macht.
Die beiden ersten Kapitel suchen uns zu zeigen, wie weit jeder der beiden
Männer die Werke des andern gekannt und gelesen hat. Läßt sich über das
Thema: Goethe in Pestalozzis Werken nichts Neues sagen, so ist anderseits merk-
würdig und überraschend, daß die Art, , wie Goethe die Bücher seiner Bibliothek
behandelte, einen Schluß darauf zuläßt, welche Beachtung er ihnen schenkte, und
daß sich daraus eine starke Gleichgültigkeit Goethes Pestalozzis Werken gegen-
über ergibt. Das dritte Kapitel erörtert, bevor es an die Frage herantritt, ob
beide Männer persönlich miteinander bekannt geworden sind, zunächst den
schwierigen Punkt über die Reisen Pestalozzis, die er nach Deutschland unter-
nommen haben soll. Ich bin durchaus der Ansicht des Verfassers, daß der im
Briefwechsel zwischen Lavater und Goethe 1775 genannte Pestaluz nicht der unsere
ist, weil die dort gegebene Charakteristik auf ihn nicht zutrifft, und daß daher der
Aufenthalt Pestalozzis in Frankfurt a. M. in jener Zeit aus seiner Lebensgeschichte
verschwinden muß. Ebenso hat Muthesius zweifellos recht, wenn er die neuer-
dings ausgesprochene Vermutung, Pestalozzi sei im Mai 1786 in Dresden und in
der sächsischen Schweiz gewesen, ins Reich der Fabel verweist. Vor allem
sprechen dagegen die von ihm übersehenen Stellen in den Briefen Pestalozzis an
den Grafen Karl von Zinzendorf. Am 26. Mai 1787 schreibt jener: ,Ich hoffe
innert einem Jahr — die Reise durch Teutschland die ich schon Lang vor hatte
machen u: dan mit mehreren Menschen Freunden über die ausführbarkeit meiner
Ideen mich unterhalten zu Konen." Und am 17. Januar 1788: „Nach Wien werde
ich gewiß Komen, so bald mein Schicksahl es mir möglich macht meiner so lang
vorgehabten Reise durch Teutschland mit Ruhe einige Monate zu gönen." (Pä-
dagogium, herausg. von Dittes, 3. Jahrg., 1881, S. 482 u. 539.)
Eingehend untersucht der Verfasser die bekanntlich auf Blochmann zurück-
gehende und von diesem bejahend beantwortete Frage, ob Pestalozzi im Anschluß
an seine sicher feststehende Reise von 1792 auch nach Weimar gekommen und
mit den Größen der Literatur, insbesondere mit Goethe bekannt geworden sei.
Seine Darlegungen zeigen meines Erachtens mit Glück, daß jedenfalls mehr für
als, wofür man sich neuerdings gern entscheidet, gegen diese Annahme spricht.
angez. von A. Heubaum. 263
Bleibt die persönliche Berührung zwischen Goethe und Pestalozzi immerhin einigem
Zweifel ausgesetzt, so erweisen sich die indirekten Beziehungen, wie das folgende
umfangreichste Kapitel des Buches zeigt, um so reicher und mannigfaltiger. Mit
kundiger Hand deckt Muthesius die Fäden auf, die sich von Weimar nach Zürich
und umgekehrt spannen. Auch hier weiß er uns mit einzelnen völlig neuen Tat-
sachen zu überraschen. Vor allem treten die Beziehungen zwischen Pestalozzi
und Herder deutlicher als früher hervor. Ein bisher übersehener Dankbrief des
erstem an Herder aus Anlaß von dessen bekannter Rezension der Nachforschungen
enthüllt uns die interessante Tatsache, daß sich Pestalozzi mit dem Gedanken
einer Fortsetzung dieses Werkes trug. Auch mit einem an Herder und Goethe
gerichteten Rundschreiben Pestalozzis, in dem er 1803 um Unterstützung seines
Erziehungsunternehmens bittet, werden wir zum ersten Male bekannt gemacht. Die
auffällige Sicherheit von Schillers Urteil über Pestalozzis mangelnde Befähigung zum
Historiker führt Muthesius, wir mir scheint, mit Recht auf die Lektüre von Lien-
hard und Gertrud und auf einen, wenn auch nur einige Tage währenden persön-
lichen Umgang mit unserem Pädagogen zurück. Übrigens trete ich ihm durchaus
bei, wenn er Natorp gegenüber das abfällige Urteil Schillers für begründet er-
klärt. Pestalozzis Begabung lag nicht auf historischem Gebiete. Es folgen dann
die zahlreichen Beziehungen, die Goethe mit vielen Freunden und Bekannten
Pestalozzis verbanden, mit Bäbe Schultheß, dem Dr. Hotze, Lavater, Pfenninger,
Joh. Heinrich Füßli dem Maler, Zimmermann, dem Arzt und Philosophen. Sie
alle waren Mittelglieder zwischen den beiden Männern und werden dem einen
vom andern erzählt haben.
Den größten Gewinn für die Frage des Verhältnisses zwischen Goethe und
Pestalozzi bringen die beiden folgenden Kapitel. Im Herbst 1803 begann die neu-
gegründete, von Goethe mit lebhaftem Anteil begleitete Jenaische allgemeine
Literaturzeitung der bekannter werdenden Methode Pestalozzis einen breiten Raum
zu widmen. Die Besprechung der von und über Pestalozzi erscheinenden Literatur
übernahm Joh. Gottl. Spazier, ein bekannter, auch in pädagogischen Fragen be-
wanderter Schriftsteller. Wie mehrere Bemerkungen zeigen, verfolgte Goethe seine
umfangreiche, überwiegend recht verständige und das Wesentliche gut heraus-
hebende Darstellung von Pestalozzis Lehrsystem, sowie seine Anzeigen von dessen
Schriften mit dem größten Interesse. Anfangs hält er mit seinem Urteil zurück,
indem er eingesteht, von der Pädagogik so fern zu sein, daß er „in das Pesta-
lozzische Wesen noch nicht ernstlich habe eingehen können". Bald aber ist er
sich im klaren, und es macht sich eine leise Ablehnung bemerkbar. „Pah!" rief
er einmal aus, „eine Rose von einer Nelke zu unterscheiden ist das Abc der An-
schauung, nicht das geheimnisvolle Dreieck oder Viereck." Am merkwürdigsten
dafür ist aber eine von Muthesius hervorgehobene Anmerkung, die, wie der Ver-
fasser aus dem Archiv festgestellt hat, Wilhelm von Humboldt an Goethe über-
sandte und deren sich gegen die Methode wendender Inhalt Goethe zu seiner
Ansicht machte. Es war Ende 1804, daß sich der Dichter gegen die Pestalozzische
Methode entschied. Trotzdem hat er sich später immer wieder, wie wir schon
bisher aus seiner Lebensgeschichte wußten, um sie bekümmert und auch sonst
den pädagogischen Bewegungen der Zeit seine Aufmerksamkeit geschenkt. Von
264 K, Muthesius, üoethe und Pestalozzi, angez. von A. Heubaum.
höchstem Interesse ist hierbei, was Muthesius über den Plan zur Gründung des
Archivs deutscher Nationalbildung von Passow und Jachmann und Goethes Ver-
halten dazu erzählt. In dem Bestreben jener beiden Männer kam eine Auffassung
von der Aufgabe der Schule und dem Zweck der Bildung zum Ausdruck, die dem
weltfrohen Geiste des Dichters nicht zusagen konnte. Sie konstruierten einen reinen
Vernunftbegriff von der Schule, die im Gegensatze gegen die Welt bestehen
müsse, die aus dem Dienst der Welt heraustreten und den Geschäfts- und Werk-
stätten die berufliche Vorbildung überlassen, selbst aber nichts anderes als Bildnerin
zur Humanität sein und Kunstentwicklung, intellektuelle, ästhetische und moralisch-
religiöse Kultur befördern müsse. Es ist das Programm, das dann das ganze
19. Jahrhundert hindurch die Aufgabe unserer höheren Schule bestimmt hat.
Muthesius entwickelt sehr treffend, wie wenig Goethes Bildungs- und Erziehungs-
ideal um diese Zeit mit diesem allgemein menschlichen, formalistischen von
Passow und Jachmann harmonierte, wie er vielmehr in einer tüchtigen, zum
Handeln erziehenden Berufsbildung die Vervollkommnung des Menschen erblickte.
Aus diesem Grunde vermochte er auch, so oft er sich wieder bemühte, kein Ver-
hältnis zu der intellektualistischen Methode zu gewinnen, die die Anhänger Pesta-
lozzis ausgestaltet hatten und für die wahre Meinung des großen Pädagogen er-
klärten. Es ist sehr wahr, was Muthesius darlegt, daß im Grunde zwischen dem
ursprünglichen Wollen Pestalozzis und dem Erziehungsideal Goethes kein Wider-
spruch bestand. Auch jener hatte die Verbindung von Leben und Lernen ange-
strebt und in der Ausbildung zu einem tüchtigen beruflichen Leben das wahre
Ziel der Erziehung gesehen. Aber über der Entdeckung seiner Methode verlor er
sein ursprüngliches Ziel aus dem Auge, und seine Anhänger betonten den Formalis-
mus der Methode so stark, daß Pestalozzis Wollen ins gerade Gegenteil verkehrt
wurde. Niemand hat diesen Widerspruch zwischen seinem Wollen und Voll-
bringen stärker zum Ausdruck gebracht als Pestalozzi selbst. Muthesius hat den
Gegensatz klar herausgearbeitet und richtig als die Tragik in dem Geschick des
großen Pädagogen bezeichnet. Ich halte diese Beurteilung von Pestalozzis Lebens-
werk für durchaus zutreffend.
Noch einmal hat dann Goethe, wie uns das siebente Kapitel des Buches ein-
gehend darlegt, Gelegenheit gehabt, sich mit Pestalozzis Lehrweise bekannt zu
machen. Es war in den Jahren 1814 und 1815, wo er am Main und Rhein weilte,
in Wiesbaden die Schule des Pestalozzi-Schülers de l'Aspee besuchte und sich
besonders mit seiner Rechenmethode auch bekannt machte. Der Enderfolg war
derselbe wie vor zehn Jahren. Der Formalismus der Methode stieß ihn ab. Goethe
verhielt sich von nun ab ablehnend gegen Pestalozzi.
Das letzte Kapitel des Buches beschäftigt sich nur noch indirekt mit Pesta-
lozzi und seinem Verhältnis zu Goethe. Es behandelt die schon häufiger er-
örterte Frage, wem der Dichter die in der pädagogischen Provinz des Wilhelm
Meister dargelegten Gedanken schuldet. Bielschowsky hat hierin noch Pestalozzis
Einfluß verspüren zu müssen geglaubt; wenn schon die ganze bisherige Unter-
suchung von Muthesius dies unwahrscheinlich macht, so zeigt nunmehr Dr. Jung-
manns Aufsatz (Euphorien, hersg. von Aug. Sauer, 14. Bd., 2. u. 3. Heft) zweifel-
los, daß wir das Vorbild für die pädagogische Provinz in Fellenbergs Institut in
O. Pfleiderer, Religion usw. und E. Thrändorf, Die soz. Frage usw., angez. v. R. Peters. 265
Hofwyl, nicht aber in Pestalozzi zu suchen haben. Auch der umsichtigen und
fleißigen Forschung Jungmanns hat Muthesius noch eine neue nicht unwesentliche
Tatsache hinzufügen können. Er weist nach, daß außer der , vorläufigen Nach-
richt" Fellenbergs, ja mehr als diese der „Rapport presentd ä sa Majest^ l'em-
pereur Alexandre, par S. Ex. Mr. le comte de Capo d'Istria sur les etablissements
de M. de Fellenberg ä Hofwyl en Octobre 1814" Goethe zur Grundlage des in der
pädagogischen Provinz entworfenen Bildes gedient hat.
Mit diesen Bemerkungen glaube ich hinreichend mein im Anfange aus-
gesprochenes Lob des Buches begründet zu haben; ich wünsche ihm, daß es
recht fleißige Leser finden möge.
Friedenau bei Berlin. Alfred Heubaum.
Pfleiderer, Otto, Religion und Religionen. München 1906. Lehmann. 249 S.
8^ geb. 5 M.
Es ist selbstverständlich, daß, wenn der hochverdiente Forscher auf dem Gebiet
der Religionsgeschichte und der Religionsphilosophie die Resultate seiner lang-
jährigen Arbeit in populären Vorträgen zusammenfaßt, das auch für den Religions-
lehrer der oberen Klassen eine sehr willkommene Gabe bedeutet. Manche Partien
möchte man in dieser knappen, alles Wesentliche zusammenfassenden Form den
Primanern direkt darbieten; bei dem lebhaften Interesse, das sich auch bei der
heranwachsenden Generation für diese Fragen geltend macht, eignet sich das Buch
trefflich für die Schülerbibliothek der Prima. Die Zeiten, wo man gegen religions-
geschichtliche Betrachtungen und Vergleichungen mißtrauisch war, sind doch vor-
über. Zeigt sich doch, je länger, je mehr, daß die christliche Religion solche
Vergleiche wahrlich nicht zu scheuen hat, wie dies auch aus der vorliegenden
Darstellung überall hervorleuchtet. Und wenn dadurch der Blick erweitert, das
Urteil auf eine breitere Basis gestellt wird, so kommt dies entschieden einem Zuge
entgegen, der in den aufwärts ringenden Geistern sich kundgibt.
Die ersten Abschnitte behandeln das Wesen der Religion und ihr Verhältnis
zur Moral und zur Wissenschaft; daran schließt sich in zwölf Vorträgen ein Über-
blick über die einzelnen Religionen, der über den gegenwärtigen Stand der all-
gemeinen vergleichenden Religionswissenschaft vorzüglich orientiert.
Thrändorf, E., Die soziale Frage in Prima. Beiträge zur Methodik des
Religionsunterrichts an höheren Schulen, l. Heft. Dresden 1905. Bleyl u.
Kämmerer. 69 S. 8". 1,20 M.
Der rührige Vorkämpfer für den Fortschritt des evangelischen Religions-
unterrichts hat hier ein schwieriges Problem in den Kreis seiner methodischen
Bearbeitungen hineingezogen. Die berechtigte Scheu vor dem auf dem Gebiet der
sozialen Frage ganz besonders gefährlichen Dilettantismus, den die höhere Schule
gewiß nicht Anlaß hat zu verbreiten, macht viele mißtrauisch gegen alle derartige
Versuche, namentlich im Religionsunterricht. Anderseits aber wird man nicht
leugnen wollen, daß angesichts des so weit verbreiteten verständnislosen Ab-
urteilens über die Verhältnisse und Bestrebungen der sogenannten unteren Stände
die höhere Schule eine ernste Pflicht hat. In dieser Hinsicht sind die einleitenden
266 E- Thrändorf und H. Meltzer, Der Religionsunterricht, angez. von R. Peters.
Bemerkungen des Verfassers sehr beherzigenswert. Er weist mit Recht darauf hin,
daß die ethischen Unterweisungen im Anschluß an das Neue Testament vielfach
völlig unfruchtbar bleiben müssen, wenn der große Unterschied zwischen den da-
maligen und den jetzigen sozialen Zuständen nicht beachtet wird, und daß auch
die Behandlung der inneren Mission für die vorliegende Frage nicht ausreicht, da
ihre Bestrebungen ohne Kenntnis der sozialen Verhältnisse nicht zum rechten
Verständnis gebracht werden können. Fraglich dagegen ist mir trotz der Geleit-
worte Thrändorfs geblieben, ob solche selbständigen und ausführlichen Belehrungen
über die soziale Frage gerade im Religionsunterricht am Platze sind und ob dafür
die nötige Zeit vorhanden ist. Thrändorf schließt sie an einen Überblick über das
Leben Gustav Werners, über die christlich-soziale Bewegung in England, ferner
an die Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 und die Arbeiterschutzerlasse
Wilhelms II. an. Dieser ganze Abschnitt ist unter dem Titel „Soziales Christen-
tum" auch selbständig gedruckt (0,25 M.) und als Beiblatt zum kirchengeschicht-
lichen Lesebuch gedacht. Den Schluß bilden ausführliche Präparationen zu diesen
Stoffen. Die Form dieser nach Stufen gegliederten Präparationen wird mancher
wohl für den Primaunterricht als entbehrlich betrachten; sie hat hier jedenfalls das
Gute, daß sie bis ins einzelnste zeigt, wie der Verfasser sich die Durchführung der
von ihm geforderten Belehrungen denkt.
Thrändorf, E. und Meltzer H., Der Religionsunterricht. Bd. II. Mittel-
stufe; Heft I. Von Moses bis Elias. 2. Aufl., bearb. von E. Beyer. VIII
u. 141 S. Geb. 2,75 M. Dresden 1906. Bleyl und Kaemmerer. Bd. III. Mittel-
stufe; Heft II. Der Prophetismus und das nachexilische ludentum.
2. Aufl., bearb. v. d. Herausgebern. XII u. 179 S. Geb. 3,40 M. Ders. Verlag 1907.
Der Anfänger, der mit dem alttestamentlichen Unterricht in VI oder IV betraut
wird, tritt oft mit einer gewissen Scheu an seine Aufgabe heran; er hat leicht das
Gefühl, als müsse er nun alles, was er an der Universität auf diesem Gebiet sich
erarbeitet hatte, dahinten lassen und sich wieder zurückversetzen in Anschauungen,
die längst er überwunden geglaubt. Einem solchen kann man die Präparationen
von Thrändorf und Meltzer nicht warm genug empfehlen; er wird daraus ersehen,
wie ohne Verleugnung des wissenschaftlichen Standpunktes die religiösen Schätze
des Alten Testaments für die Jugend fruchtbar gemacht werden können. In der
Neuauflage des II. Heftes besonders werden ihm die [alten Bekannten von der Uni-
versität her (Cornill, Stade, Smend, Wellhausen, Gunkel, Duhm u. a.)
immer wieder begegnen. Denn über jedem Hauptabschnit sind kurze, sachliche
Einleitungen und über jedem Einzelabschnitt Sacherklärungen in der Weise ge-
geben, daß bezeichnende Stellen aus den Werken der hervorragendsten Forscher
zitiert werden. Das ist nicht nur für den vortrefflich eingerichtet, dem eingehende
theologische Studien nicht möglich waren (— die Bücher sind zunächst für den
Lehrer der Volksschule bestimmt — ), sondern auch für den Theologen, der das
Wichtigste übersichtlich beisammen findet. Vielleicht hätte an geeigneter Stelle
auch hier und da auf das abweichende Urteil anderer Richtungen verwiesen
werden können als Aufforderung zum Selbstabwägen. Mit der wohlbegrün-
deten Auswahl des Stoffes wird man sich durchweg einverstanden erklären
K. Furrer, Das Leben Jesu Christi, angez. von R. Peters. 267
können; für die entsprechenden Klassen der höheren Schulen ist sie allerdings
etwas reichlich bemessen. Die methodische Anlage ist im allgemeinen beibehalten,
nur sind in beiden Heften bei der Stufe der Vertiefung die erarbeiteten Gesichts-
punkte zum Schluß in Zusammenfassung gegeben.
Im 2. Heft sind die Texte, weil gesondert erschienen, weggelassen. Überhaupt
ist die neue Auflage dieses Teiles stark umgearbeitet, weniger die des I. Heftes,
das im Geiste der Herausgeber Oberlehrer E. Beyer neu bearbeitet und das bei
den Abschnitten aus dem Richterbuch einige Erweiterungen erfahren hat.
Der Religionslehrer der unteren und mittleren Klassen wird, auch wenn er
sich nicht an die fünf Stufen binden möchte, aus den Präparationen für seinen
Unterricht reichen Gewinn ziehen können.
Furrer, K., Das Leben Jesu Christi. Leipzig (J. C. Hinrichs) und Zürich.
(Müller, Werder & Gie.) 1905. 2. Aufl. VII u. 261 S. 8o. geb. 4 M.
Der Verfasser will kein neues wissenschaftliches „Leben Jesu" bieten, seine
Schrift verfolgt, wie die Vorträge, aus denen sie entstanden ist, den praktischen
Zweck, den Ertrag ernster wissenschaftlicher Arbeit dem Volke zu vermitteln
Deshalb sieht sie ab von allem gelehrten Apparat und allen dogmatischen Aus-
sagen über Jesus. Man verspürt aber überall den Einfluß der neueren protestan-
tischen Theologie und der religionsgeschichtlichen Betrachtung. Stets bleibt das
Bestreben im Vordergrund, positiv zu zeigen, was uns heute Jesus ist; auch da,
wo der Verfasser vom Hergebrachten abweicht, wie z. B. betreffs der Geschicht-
lichkeit der Weihnachtserzählung, will er nicht „mit groben Händen das feine
goldene Gewebe geistiger Wirklichkeit anfassen", es gilt ihm „Geistiges mit Geist
aufzunehmen und mit andachtsvoller Freude zu verehren".
Auf allseitige Zustimmung zu allen Einzelheiten wird Furrer auch bei freier
Gerichteten nicht rechnen. Dazu sind so manche Fragen noch zu wenig geklärt;
was dem einen als Resultat der wissenschaftlichen Forschung erscheint, stößt bei
dem anderen auf ernste Bedenken. So werden gewiß nicht alle mitgehen, wenn
die Personen des Johannesevangeliums symbolisch gefaßt werden, die Mutter Jesu
etwa die „Stillen im Lande" bezeichnen soll. Den synoptischen Evangelien liegt
überall geschichtliche Wirklichkeit zugrunde, aber es hat sich darüber „gleichsam
ein allegorischer Duft gelagert" CS. 143). In diesem Allegorisieren geht Furrer
manchmal recht weit. An anderen Stellen erinnert seine Erklärung an die rationa-
listische Art, so bei der Stillung des Sturmes und der Speisung der Fünftausend.
Die Messiasidee tritt zu sehr zurück. Die Selbstbezeichnung Menschensohn und
die Aussagen über das Weltgericht werden nicht zu ihr in Beziehung gesetzt.
Hier erweckt die Darstellung den Zweifel, ob das wirklich das historische Jesubild
ist. Ob z. B. Petrus bei seinem Bekenntnis eine so abstrakt geistige Auffassung
vom Messias hat aussprechen wollen? (S. 174). Bei der Erklärung der einzelnen
Aussprüche und Situationen flickt Furrer sehr häufig ein, was er von der Eigenart
des Landes und seiner Bewohner selbst beobachtet hat; meist in sehr glücklicher
Weise, nur hat man hier und da den Eindruck, daß dieses Beiwerk sich zu sehr
in den Vordergrund dränge. Manche dieser Bemerkungen sind trefflich geeignet,
auch im Unterricht die Erklärung anschaulicher und lebendiger zu gestalten.
Düsseldorf. R. Peters.
268 Ekkehards Waltharius, angez. von C. Borcbling.
Ekkehards Waltharius. Herausgegeben von Karl Strecker. XVI u. 109 S.
8«. Berlin 1907. Weidmannsche Buchhandlung. 2,40 M.
Der Waltharius manufortis Ekkehards I von St. Gallen muß im späteren Mittel-
alter ein sehr beliebtes Buch gewesen sein, davon zeugen die zahlreichen Ab-
schriften des Werkes, die auf uns gekommen sind oder sich mit Sicherheit als
einst vorhanden erweisen lassen. Nur einen Teil dieses Materials konnte Jakob
Grimm 1838 für seine Ausgabe des Waltharius in den „Lateinischen Gedichten
des X. und XI. Jahrhunderts" benutzen. Erst Peiper hat 1873 die gesamte Über-
lieferung des Gedichtes herangezogen und in sorgfältigen Kollationen vor uns
ausgebreitet. Als eine Neubearbeitung der Peiperschen Ausgabe stellt sich der
vorliegende Band dar, allein es ist ein ganz neues Buch daraus geworden, so daß
der Bearbeiter mit Recht den Namen Peipers auf dem Titelblatte fortlassen durfte.
Peipers Text war auf einer ganz verkehrten Bewertung der verschiedenen Hand-
schriftenklassen aufgebaut, so daß man bei ihm den richtigen Text nur in den
Lesarten unter dem Texte finden konnte. Noch im selben Jahre 1873 zeigte dann
Wilhelm Meyer den richtigen Weg für die Recensio des Walthariustextes, indem
er den höheren Wert der sogenannten Geraldus-Klasse (d. h. derjenigen Hand-
schriften, die dem Gedichte den Prolog von Ekkehards Lehrer Geraldus voran-
setzen) nachwies. Wenn er aber innerhalb dieser Geraldusklasse die Brüsseler
Handschrift allen übrigen voranstellte und auf ihr allein den Text aufgebaut wissen
wollte, so darf diese Hypothese heute als abgetan gelten, zumal Wilhelm Meyer
sich selbst in einer neueren Arbeit davon losgesagt hat. Trotzdem hielt aber
Hermann Althof in seiner dickleibigen Ausgabe des Waltharius (Band 1 [Text]
Weimar 1899, Band 2 [Kommentar] 1905) an dieser Überschätzung der Brüsseler
Handschrift fest, ja er überbot Wilhelm Meyers früheren Standpunkt noch. Dem
gegenüber hatte bereits P. von Winterfeld seiner 1897 erschienenen Übersetzung
des Waltharius in Stabreimen einen auf der gesamten Geraldusklasse beruhenden
Text zugrunde gelegt. Diesen Text auch für seine geplante Ausgabe des Wal-
tharius in den Poetae Latini medii aevi kritisch herzustellen, hat ihn leider sein
allzufrüher Tod verhindert. Die notwendige Arbeit hat jetzt erst Strecker in der vor-
liegenden Ausgabe besorgt, sie verleiht dem Bande, der zugleich die genauen Kolla-
tionen Peipers beibehält und ergänzt, einen besonderen Wert. Neu ist an Streckers
Beurteilung der Handschriften die Einordnung der wertvollen alten Innsbrucker
Bruchstücke, die erst 1889 bekannt gemacht worden sind und bisher fast allgemein
der Geraldusklasse zugerechnet wurden. Strecker vermutet S. XV, daß diese Inns-
brucker Bruchstücke vielmehr mit den Auszügen des Waltharius im Chronicon No-
valiciense zusammen eine ältere Stufe der durch die Karlsruher und Stuttgarter
Handschrift repräsentierten Klasse darstellen. Diese für die Textgeschichte sehr
wichtige Feststellung hat Strecker jetzt in seiner Besprechung des Althofschen
Kommentars (Göttingische Gelehrte Anzeigen 1907, S. 846 ff.) ausführlich und über-
zeugend bewiesen; der Wert der Geraldusklasse ist aber dadurch nur noch verstärkt
worden. Streckers Ausgabe bringt ferner auf jeder Seite des Textes unter den
Lesarten auch die vom Dichter des Waltharius benutzten Stellen des Vergil, des
Prudentius und der Vulgata. Auch diese sorgfältige und sehr erwünschte Sammlung
findet sich erst zum kleinen Teile bei Peiper vor; zu ihr haben Wilhelm Meyer
Goldene Klassiker -Bibliothek, angez. von A. Matthias. 269
für den Prudentius und Strecker selbst für den Vergil und die Vulgata in früheren
Aufsätzen das Beste beigesteuert. Die Einleitung orientiert auf 12 Seiten in aller
Kürze, aber klar und sorgfältig, über den Dichter, die Handschriften und ihre Be-
urteilung. Dem Texte folgen S. 74—76 diejenigen Lesarten der Wiener Hand-
schrift und der Engelberger Bruchstücke, die nicht in den Lesartenapparat auf-
genommen worden sind, weil sie eine spätere Umarbeitung des Gedichtes reprä-
sentieren. Im Verzeichnis der Eigennamen S. 77—79 sind alle handschriftlichen
Varianten gebucht. Das Glossar S. 80—92 ist ganz neu gestaltet und trotz aller
Knappheit zu einem ausgezeichneten Hilfsmittel für die Erkenntnis schwierigerer
Stellen des Textes geworden. Den Band beschließt endlich ein Anhang, der die
altenglischen Waldere-Bruchstücke (nach HoUhausens Ausgabe) nebst Weinholds
Übersetzung und die bisher nur einzeln publizierten Bruchstücke des mittelhoch-
deutschen Waltherepos bequem vereinigt. Alles in allem ist also Streckers Ausgabe
des Waltharius eine äußerst praktische Handausgabe, die in ihrem engen Rahmen
dennoch alles Wissenswerte in kritischer, sorgfältig abgewogener Darstellung bei-
bringt und deshalb weitester Verbreitung empfohlen sei.
Posen. Conrad Borchling.
Goldene Klassiker-Bibliothek. Lessings Werke (Auswahl). Herausgegeben von
R. Boxberger, Chr. Groß, E. Große, R. Pilger, C. Chr. Redlich, A. Schöne,
Th. Vatke, G. Zimmermann, neu bearbeitet, mit Biographie und Einleitungen ver-
sehen von F. Budde, Dr. Waldemar Oehlke, Dr. Waldemar Olshausen, Dr. Julius
Petersen, Dr. W. Riezler, Prof. Dr. Eduard Stemplinger. I. Lebensbild. Gedichte
und Fabeln. Miß Sara Sampson. Philotas. LH u. 328 S. IL Minna von Barn-
helm. Emilia Galotti. Nathan der Weise. 314 S. IIL Jugenddramen: Dämon.
Der junge Gelehrte. Der Misogyn. Die alte Jungfer. Die Juden. Der Frei-
geist. Der Schatz. 344 S. IV. Briefe, die neueste Literatur betreffend. Laokoon.
511 S. V. Hamburgische Dramaturgie. 431 S. VI. Ernst und Falk. Die Er-
ziehung des Menschengeschlechts. 309 S. 6 Teile in 3 Leinenbänden 5 M.
In 3 Halbfranzbänden 7,50 M. Prachtausgabe in 3 Goldleinenbänden 7 M.
Prachtausgabe in 3 Luxus-Halbfranzbänden 10 M.
Herde r s Werke. (Auswahl.) Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu herausgegeben,
mit Biographie, Einleitungen und Anmerkungen versehen von Prof. Dr. E. Naumann.
I. Lebensbild. Fragmente über die neuere deutsche Literatur. CXXXI u. 318 S.
II. Kritische Wälder. Von deutscher Art und Kunst. Von Ähnlichkeit der
mittleren englischen und deutschen Dichtkunst. 249 S. III. Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit, 1. Teil. 204 S. IV. Ideen, 2. Teil. V. Ideen,
3. Teil. 188 S. VI. Ideen, 4. Teil. VII. Volkslieder. 331 S. VIII. Der Cid.
285 S. 8 Teile in 3 Leinenbänden 6 M. In 3 Halbfranzbänden 9 M. Pracht-
ausgabe in 3 Goldleinenbänden 9 M. Prachtausgabe in 3 Luxus-Halbfranz-
bänden 12 M. Berlin-Leipzig o. J. Deutsches Verlagshaus Bong & Co.
Wer das Leben der Schule und die Interessen unserer Schüler aufmerksam
verfolgt und auch noch die geistigen Bedürfnisse derjenigen Kreise, die man die
bessern zu nennen pflegt, beobachtet, kann sich einer betrübenden Wahrheit nicht ver-
schließen : Es ist die Gefahr vorhanden, daß unsere Jugend in Herder und Lessing, ja
270 Goldene Klassiker-Bibliothek, angez. von A. Matthias.
selbst in Goethe und Schiller literarische Antiquitäten zu sehen sich gewöhnt und
daß sie solche Ansichten mit in eine Welt hinausnimmt, in welcher man sich in
den oberen Schichten an unseren Klassikern zu langweilen pflegt. Unsere ganze Zeit
ist ja Idealen nicht ganz günstig, bei der Jugend kommt die Sehnsucht hinzu,
die Stätten, wo Ideale gepflegt werden sollen, möglichst bald hinter sich zu haben,
und dem Druck zu entrinnen, der nun einmal mit allem, was mit gesunder Er-
ziehung zusammenhängt, notwendigerweise verbunden ist. Das ist so und läßt sich
im Grunde nicht ändern. Und doch wird die Schule, was den deutschen Unter-
richt, was die Pflege der Klassiker anbelangt, manches vermeiden können, wo-
durch sie der Liebe und Lust der Jugend zum Studium und zur Lektüre unserer
Klassiker geschadet hat. Die Schule hat an manchen Stellen zuviel getan, zu-
viel mit der Einzelinterpretation, zuviel mit dem Zerpflücken unserer Klassiker, zu
viel mit der breiten und an einem einzigen Klassikerwerke haftenden Erklärung, zuviel
mit der Ausschlachtung unserer Klassiker zu Aufsatzthemen, zuviel auch mit der
Herausgabe von Schulausgaben und Schulkommentaren zu den Klassikern; sie hat
damit den Schulstaub auf unser bestes Literaturgut gehäuft und der Jugend die
Klassiker nicht gerade sympathisch gemacht. Dem Übermaß folgt dann der Über-
druß. Darin sollte Wandel geschaffen werden, und die Schule vor allem sollte
sich freuen, wenn unsere Klassiker in schönem Gewände, gleichsam im Feiertags-
kleide und Sonntagsstaate vor uns wieder erscheinen und wenn man diesen Sonn-
tagsgenuß für verhältnismäßig sehr geringes Entgelt jedem verschaffen kann,
auch dem, der die Nachlaßsteuer nicht im allergeringsten zu scheuen hat.
Die alte Hempelsche Ausgabe, die uns Älteren so lieb und wert geworden ist, aber
doch an manchen Stellen z. B. bei Lessing, ein ganz wunderliches Aussehen hatte, er-
scheint zu rechter Zeit und guter Stunde in neuem Gewände, um das Interesse an un-
seren besten Denkern und Dichtern neu zu beleben. Sie nimmt Geringwertiges nicht in
sich auf, sie vermeidet eine zu sehr ins einzelne gehende Behandlung. Die Ein-
leitungen sind einfach und in freundlicher Lesbarkeit gehalten, sind übersichtlich
und bieten das, was man nötig hat, um in des betreffenden Dichters Lande unter
guter Führung eine erquickliche Wanderung zu tun. Wissenschaftliche, literar-
historische Einzelheiten, die den Gelehrten interessieren mögen, fehlen; die An-
merkungen dienen in knapper und klarer Form dem Verständnis dessen, der eine
gute Schulbildung genossen hat.
Vor mir liegt Lessing und Herder. Lessings Herausgabe leitet Julius Petersen
mit geschickter Hand. Er hat das Lebensbild entworfen, hat sich die hambufgische
Dramaturgie vorbehalten und die Arbeitsteilung am Werke geschickt in die Hand
genommen. Das ist manchmal sicher keine leichte Arbeit gewesen; sie ist aber
recht gut gelungen. Alle Anerkennung verdient z. B. das Register, das am
Schlüsse der sechs Bände steht, dem alle Erklärungen, die sich an die Namen
historischer Persönlichkeiten knüpfen, zugeteilt sind und in dem die Einzelheiten
durch die Gesamtredaktion miteinander in freundlichen Einklang gebracht sind.
Daß im Register und in den Anmerkungen eine Fülle anregender literarischer
Quellen an passende Stellen sich verteilt, wird demjenigen, der sich weiter unter-
richten möchte, willkommen sein. Das Lebensbild, das Petersen vorausschickt,
soll nur eine Skizze sein, die sich mit einer knappen Chronologie begnügt, in die
Goethe-Gespräche, angez. von A. Matthias. 271
man die Werke mühelos einreihen kann; das zum Verständnis der einzelnen
Schriften Notwendige überläßt sie den Einleitungen, in denen die einzelnen Her-
ausgeber miteinander möglichst im Einklang zu bleiben suchen. Die Einheitlich-
keit des Ganzen ist im wesentlichen, trotzdem sechs Herausgeber mitgearbeitet
haben, gut gewahrt. — Volle Einheitlichkeit herrscht in der Herder-Ausgabe, die
Ernst Naumann allein übernommen hat. Nur bei der Bearbeitung der Anmerkungen
haben ihm Emil Dickhoff, Alfred Kinne und Adalbert Silbermann hilfreich
zur Seite gestanden, indem sie Zusammenstellungen darboten, die Naumann
selber redigierte. Das Lebensbild Herders, fast dreimal so umfangreich als das
Lessings von Petersen, liest sich ungemein fließend und es ist wohl geeignet, Herder zu
vollem Leben zu rufen und den vollen Wert der Lebensarbeit eines Mannes uns deut-
lich zu machen, der erst heute, da wir wirklich ein Volk geworden, in seinem ganzen
Umfange uns klar wird. Denn je mehr wir uns in Herders „Ideen" vertiefen, um
so klarer wird es uns, wie sehr die still fortgehende Wirkung seiner Gedanken
die Kultur der Gegenwart und die geschichtliche Größe des neuen Reiches be-
einflußt und zum Teil geschaffen hat. An diesem Segen sollten wir doch ja unsere
Jugend teilnehmen lassen. Je mehr sie herderfest wird, um so sattelfester wird
sie in deutscher Eigenart. Da das Lebensbild Herders so umfangreich und so
eingehend ausgestaltet ist, kann sich Naumann in Einleitungen zu den Einzel-
schriften kürzer fassen. Gleichwohl erhalten wir alles, was zum Verständnis nötig
ist und was die Wanderung durch die reiche Welt Herderscher Gedanken uns lieb und
angenehm machen kann, Porträts von Lessing und Herder in Photogravüre und
Faksimiles sind in technisch vollendeter Ausstattung beigefügt; vorzügliches Papier,
tadelloser Druck und dazu der geringe Preis geben der goldenen Klassiker-Bibliothek
einen Vorzug, wie er kaum einer anderen Ausgabe unserer Klassiker zukommt.
Die deutsche Schule und das deutsche Haus muß für eine solche Gabe dankbar
sein. Auf weitere Teile des Sammelwerkes kommen wir noch zurück.
Goethe -Gespräche, ausgewählt von Dr. Paul Lorentz. Mit zehn Kunstdrück-
beilagen und einer Heliogravüre. Dresden, 1908. L. Ehlermann. 208 S. 8».
geb. 2,75 M.
Der Löwenanteil dieser Goethe-Gespräche fällt Eckermann, dem Kanzler von
Müller und dem Philologen Friedrich Wilhelm von Riemer zu, deren , Gespräche",
, Unterhaltungen" und Mitteilungen ja auch die ergiebigsten Quellen bilden, wenn
man Goethe in seinen Äußerungen vernehmen will, die die Gelegenheit und die
glückliche Stunde erzeugte. Dazwischen eingestreut sind Gespräche mit zahl-
reichen anderen aus der Goethezeit bekannten Persönlichkeiten, so mit Schiller,
mit Heinrich Voß (dem Sohne des Homerübersetzers), mit Bertram, Creuzer,
Sorel, Falk, dem Großherzoge Karl August und mit Napoleon. Eine vortreffliche
Einleitung und knappe, aber reich belehrende Anmerkungen geben uns über
die einzelnen Personen Auskunft, auch über die gesellschaftlichen Kreise, in
welchen die Gespräche gepflogen wurden und über die Gelegenheiten, bei
welchen sie stattfanden.
Auch auf den Schauplatz der Gespräche werden wir geleitet, vor allem in
272 F- J- Schneider, Jean Pauls Jugend usw., angez. von M. Geyer.
Goethes Wohnhaus in Weimar, in dessen einzelne Räume uns anschaulich ein-
zuführen die beigegebenen Illustrationen treffliche Dienste leisten.
Die Gegenstände der Gespräche ergeben sich vor allem aus der Dichtung
aller Zeiten und Völker, vor allem aus der Dichtung unseres Volks, sodann aus
dem weiten Gebiete der bildenden Kunst, ferner aus allen Teilen der Wissen-
schaft, insbesondere aus der Naturwissenschaft und Philosophie. Aber auch das
volle Leben der Wirklichkeit mit seinen tausend Problemen, Forderungen und
Äußerungen tritt in den Gesichtskreis der Teilnehmer an der Unterhaltung und damit
auch in unseren Gesichtskreis.
Die Art, wie Goethe sich bei diesen Gesprächen gab, ist nach Beschaffenheit,
Gelegenheit und Personen außerordentlich verschieden; derEindruck ist immer
reich, reif und vornehm und er rückt uns allemal auf eine höhere Stufe der Betrach-
tung der Dinge. Goethes einfache, lichtgebenden Worte haben stets einen eigen-
tümlichen Reiz; er war eben, wie Jean Paul einmal gesagt hat, „der klarste Mann von
Europa". Es klingen bei seinen Worten eine Menge verborgener Saiten in uns
an, die zum ersten Male in uns tönen. Es ist eben der Widerhall des Rein-
menschlichen in Goethe, das zugleich aus dem Reiche des Idealen und dem Reiche
der schlichtesten Gedankenwelt zu stammen scheint. In besserer Gesellschaft
können wir uns gar nicht unterhalten; wir werden das besonders merken, wenn
wir aus den Unterhaltungen, auf die wir durch unsere Umgebung und unseren
Verkehr angewiesen sind, uns in den Frieden dieser Gespräche flüchten, von denen
keins trivial ist, jedes in seinen besonderen Anregungen uns zu langem Nachdenken
Anreiz bietet — eine gesunde Lektüre für unsere Primaner.
Berlin. A. Matthias.
Schneider, Ferd. Jos., Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten in der
Literatur. Ein Blatt aus der Bildungsgeschichte des deutschen Geistesim 18.
Jahrhundert. Berlin 1905. B. Behr's Verlag. XII u. 369 S. S». brosch. 8 M.
Den Forschungen über Jean Paul schienen die Schriften Nerrlichs einen ge-
wissen Abschluß gegeben zu haben. Diesen Glauben erschütterte Jos, Müller in
einigen Schriften, die zwar etwas formlos geschrieben waren, aber doch zu neuen
schönen Ergebnissen führten. In Müllers Bahnen wandelt mit größerer Umsicht
F. J. Schneider, der 1901 ein tüchtiges Buch über Jean Pauls Altersdichtung (Fibel
und Komet) schrieb. Das vorliegende, von hoher Begeisterung getragene Buch
Schneiders hat dieselben Vorzüge wie sein Vorgänger: unverdrossenes Durchspüren
der Quellen, sorgfältiger Nachweis der Beziehungen zwischen Jean Pauls Leben
und Werken, weitausholende Untersuchungen, um Jean Pauls Weltanschauung,
namentlich in religiöser und philosophischer Beziehung, als Erzeugnis seiner Zeit
darzulegen. Aufdecken der schriftstellerischen Abhängigkeit von seinen Vorbildern,
besonders den Engländern.
Jean Paul hat für den Unterricht an den deutschen höheren Schulen kaum
ein unmittelbares Interesse, und die in der Vorrede ausgesprochenen Hoffnungen
des Verfassers, die Deutschen aufzurütteln, daß sie fühlen, was der 14. November
1905 (80. Todestag Jean Pauls) für sie bedeutet, können uns fast ein leises Lächeln
abgewinnen. Man wird in der Prima auf den Einfluß hinweisen, den Jean Paul
I
C. Bardt, Zur Technik des Übersetzens usw., angez. von P. Cauer. 273
^uf die Entwicklung des deutschen Romans ausgeübt hat (vgl. besonders Köster,
Gottfr. Keller S. 59), man wird seiner stilgeschichtlichen Bedeutung einige Worte
widmen und des Vergleichs wegen ihn bei Raabe heranziehen. Gelesen wird voti
ihm schwerlich etwas. Aber allgemein menschliches Interesse hat das Ringen des
jungen Jean Paul mit Not und Armut selbst für Schüler, und in diesem Sinne
wäre das breit angelegte Buch Schneiders stellenweise für Primaner lesenswert.
Den Fehler Schneiders, daß er aus einer lateinischen Zensur des Hofer Gymnasiums
genau das Gegenteil herausliest von dem, was gemeint ist (S. 251), wird hoffent-
lich der deutsche Primaner nicht mitmachen.
Eisenberg (S.-A.). M. Geyer.
Bardt, C, Zur Technik des Übersetzens lateinischer Prosa. Leipzig und
Berlin 1904. B. G. Teubner. II u. 67 S. 0,60 M.
Legio bedeutet eigentlich die Verlesung, dann die verlesene Mannschaft,
oratio das Reden, dann die als Kunstwerk vorliegende Rede. Bardt erinnert an
diese Beispiele, in denen er eine Neigung der Abstrakta erkennt, in konkrete Be-
deutung überzutreten, und knüpft daran die Beobachtung, daß wir vielfach lateinische
Konkreta durch Abstrakta wiedergeben, die bei uns schon konkreten Sinn an-
genommen haben: dicta Äußerungen, instituta Einrichtungen (S. 48). Sicher ist
das Deutsche hierin weiter fortgeschritten; besonders die Verbalsubstantiva auf
ung werden oft da gebraucht, wo von dem Resultate des Vorganges die Rede ist,
den sie ursprünglich bezeichneten. Es ist ja so viel leichter das Geschehene zu
registrieren, als ein Geschehendes aufzufassen. Eine „Anmerkung" wird kaum
noch gemacht wie einst von dem Kammermädchen des Fräuleins von Barnhelm,
sondern steht schwarz auf weiß da. Eine „Verhandlung" soll — nach neuestem
amtlichem Jargon — nicht mehr geführt werden, sondern vorgelesen, unterzeichnet
und zu den Akten gelegt. Daß jedes organische Wesen in immer wechselnder
Bildung begriffen ist, hat man längst vergessen, und meint in „Bildung", gar
, allgemeiner Bildung", einen Besitz zu haben, der angeeignet und weitergegeben
werden könne. Etwas Konkretes ist ja auch dies nicht, wahrlich nicht I Der Gegen-
satz steht ein wenig anders: zwischen Abgeschlossenem und Werdendem, Leben-
digem und Erstarrtem. Der inneren Gefahr, die in solchem Wandel des Sprach-
gebrauches sich äußert, ist nun auch die Übersetzung ausgesetzt: man möchte sie
gern fertig haben, sei es gedruckt als Gegenstand der Lektüre, oder, im Unter-
richt, fließend vorgetragen, um den Schüler zu loben. Einen Protest für die un-
fertige, sich bemühende, suchende, und eine Anleitung, wie man suchen und sich
bemühen soll, enthält das Schriftchen von Bardt; ursprünglich nur ein Hilfsheft zu
seiner — nicht genug zu rühmenden — Schulausgabe von Ciceros Briefen, dann
sehr mit Recht auch selbständig herausgegeben. Die Beispiele stammen nun frei-
lich alle aus dieser einen literarischen Gattung; aber dadurch ist dem Ganzen ein
lebensvoller Zusammenhang geschaffen und zu mancher tiefer dringenden Beob-
achtung erst der rechte Anlaß gegeben.}
Und ins Innere zu führen, um aus vertieftem Verständnis die Mittel des Aus-
drucks hervorzuheben, ist der Verfasser durchweg bestrebt. Der prosaische Sinn
der Römer achtete am liebsten auf die Quantität und unterschied manches einfach
Moaatschrift f. hfih. Schulen. VIII. Jhrg. \%
274 C. Bardt, Zur Technik des Übersetzens lateinischer Prosa,
als groß und klein, was dem empfänglicheren Blick anderer Völker in bunter
Mannigfaltigkeit bestimmter Beziehungen erscheint; so sprechen wir von wichtigen
Fragen, reicher Frucht, starkem Schutz, lebhafter Erinnerung, tiefem Leid, wo das
Lateinische mit einem nüchternen magnus, tantus, maximus auskommt (S. 37).
Daß, wenn ein Gütiger etwas erlaubt, die Erlaubnis an sich doch nicht gütig ist,
daß eine Erwägung nicht besonnen sein kann, sondern nur der, der sie anstellt:
das ist im Grunde richtig gedacht, aber pedantisch. Wenn also der Römer ge-
nötigt war die Begriffe auseinanderzulegen : illius concessu et beneficio, summa tua
ratione et continentia, so brauchen wir das nicht mitzumachen, sondern können
die leise Personifizierung, die uns natürlich ist, getrost anwenden (S. 38). In der
Scheu vor einer solchen liegt auch ein Grund zu der Vorliebe des Lateinischen für
passive Wendungen („deren Intrigen es zuwege gebracht haben", quorum arti-
ficiis effectum est), die wir um so mehr vermeiden werden, als bei uns das Passiv
eine schwerfällige Umschreibung erfordert. In diesem Punkte zeigt sich die alte
Sprache überlegen; Bardt weist gern und mit Stolz auf die Vorzüge des Deutschen
hin. Sätze aus Goethe, Ranke, Mommsen, Ernst Curtius nimmt er als Muster, um
an ihnen die Eigenart deutschen Satzbaues zu zeigen, der bei aller Schlichtheit
des parataktischen Gefüges doch der Gliederung und festen Zusammenfassung
nicht entbehrt. Vom Satze, nicht vom einzelnen Wort, geht die stilistische Be-
trachtung aus. Aufgabe des Übersetzers ist es, Perioden aufzulösen ohne sie zu
zerstören, d. h. anstatt der lateinischen Infinitivkonstruktionen, Participia, Neben-
sätze andere Mittel zu finden, die das logische Verhältnis der Gedanken aus-
drücken und in geänderter Form ein Ganzes herstellen, wie es dem Charakter der
deutschen Sprache gemäß ist. Von solchen Mitteln handelt, nach einer kurzen
Einleitung, das erste Kapitel; in den folgenden bespricht der Verfasser geläufige
Begriffspaare, Bilder, Wortarten, Flexionsformen, und die Art, wie sie beim Über-
setzen vertauscht oder verschoben werden müssen.
Von dem geistvollen Nachdichter horazischer Sermonen, plautinischer Lust-
spiele wird jeder mit Vergnügen lernen; ein paar kleine Einwendungen seien doch
gestattet. Daß man im Deutschen manchmal etwas mehr Worte gebraucht, um den
lateinisch knapp gefaßten Gedanken befriedigend auszudrücken, ist freilich wahr
(S. 21). Das ist ein notwendiges Übel; immer ein Übel, nicht immer notwendig.
Papirius Paetus hat den Cicero mit einem Zitat aus dem „Önomaus" des Accius
zu trösten gesucht; jener antwortet: „Deinen Önomaus kann ich nicht gebrauchen."
Sollen wir wirklich dafür sagen : „Von dem von dir angeführten Önomaus kann ich
keinen Gebrauch machen?" Das heißt erklären; und wir wollen doch übersetzen.
C. Matius schilt über die Tyrannei der Republikaner, die verlangen, daß auch
Cäsars Freunde sich über dessen Tod freuen; ad fam. XI 28, 3: at haec etiam
servis semper libera fuerunt, timerent gauderent dolerent suo potius quam alterius
arbitrio; quae nunc, ut quidem isti dictitant libertatis auctores, metu nobis extor-
quere conantur. Natürlich ist gemeint „diese angeblichen Befreier"; aber auch
wir schreiben, so besser wie kürzer, „diese ,Befreier'", und bedienen uns — sicher-
lich im Briefe — des bequemen Mittels der Anführungszeichen, um ein Miß-
verständnis auszuschließen. Nos ab initio spectasse otium nee quidquam aliud
libertate communi quaesisse exitus declarat: so schreiben Brutus und Cassius an.
angez. von P. Cauer. 275
Antonius (ad fam. XI 2, 2). „Die Lage, in die wir schließlich geraten sind", wäre
ja deutlicher; aber verständlich ist auch „der Ausgang", und er steht hier doch
dem „Anfang" gegenüber. So würde ich ad fam. IX 16, tuae litterae, in quibus
amavi amorem tuum, nicht übersetzen: „in dem ich deine Liebe mit Vergnügen
erkannt habe"; denn damit wird ein Wortspiel unterdrückt. „In dem deine Liebe
mir lieb gewesen ist", dürfen wir wagen. Ein wichtigeres Element des Gedankens
geht verloren in dem Satze (ad fam. IX 14, 8) neque solum ad tempus maximam
utilitatem attulisti sed etiam ad exemplum, wenn die Übersetzung bloß von „vor-
übergehendem und dauerndem Nutzen" spricht. Die Gegenüberstellung von tempus
und exemplum ist ja auffallend; aber wenn dazu im Kommentar bemerkt wird,
der vorschwebende Gegensatz der nur zeitweiligen und der dauernden Förderung
habe hier einen nicht ganz konzinnen Ausdruck gefunden, so ist damit schlecht-
weg ein Mangel bezeichnet, während in der Ablenkung des Gedankens aus der
vorgeschriebenen Bahn gerade ein Überschuß hervortritt. Unwillkürlich hat sich
die Vorstellung hereingedrängt, daß der bleibende Gewinn in dem Vorbild bestehe,
das der Angeredete — Dolabella — gegeben hat.
Im ganzen hat Bardt ja recht, daß der Briefstil der guten Gesellschaft, in der
wir uns bei Cicero und seinen Freunden bewegen, seine Vollendung in der Glätte
sucht, daß er nichts Ungewohntes, nichts Gewagtes bringt, keine Knorren und
Ecken hat (S. 43). Um so mehr wollen wir uns hüten, die wenigen Ecken, die
sich doch etwa finden, nicht wegzuschleifen und so einen Rest charakteristischer
Redeweise zu tilgen. Eine Übersetzung soll so viel [als möglich den Eindruck
wieder hervorrufen, den das Original auf die Zeitgenossen des Autors machte: ein
so hohes Ziel wird auch der Künstler nie ganz erreichen, aber auch die Schule
darf ihm von ferne zustreben; ja, sie hat besonderen Grund dies mit Bewußtsein
zu tun. Denn gerade in ihrem regelmäßigen Betriebe ist Gefahr, daß die „aus-
gefahrenen Geleise", in denen sich „jede Sprache bewegt" (S. 17), immer aus-
gefahrener. Ausdrücke, Satzformen, Wendungen immer alltäglicher werden, daß die
Kraft frischer und selbständiger Gedankenprägung abstirbt. Um diese Kraft
lebendig und wirksam zu erhalten, gibt es kein besseres Mittel {nihil rectius, S. 61),
als daß wir versuchen, das Eigentümliche in dem Stil eines großen Fremden, die
Schönheiten aber auch die Härten, mit den Mitteln der eigenen Sprache zum Aus-
druck zu bringen. Damit wird unserer Sprache etwas zugemutet; aber sie kann
es vertragen, und sie weiß es zu belohnen. Gewiß, unsere Schüler sollen in ein
geläufiges Deutsch übersetzen; aber zugleich soll das ihnen geläufige Deutsch
sich entwickeln, soll, indem es nach hohen Vorbildern sich aufrichtet, besser, freier,
ursprünglicher werden. Das sind zwei Forderungen, die sich entgegenwirken, ihr voll-
kommener Ausgleich wieder eine unlösbare Aufgabe, die doch stetig fortschreitende
Annäherung gestattet (vgl. S. 16, 35, 44). Den Reiz des Irrationalen auf diesem
Gebiete vermag wohl niemand besser zu würdigen als der Verfasser des vor-
liegenden Heftes.
Auf dem Titelblatte steht „Zur Technik des Übersetzens", scheinbar im Gegen-
satz zu dem Worte „Kunst", das ich an ähnlicher Stelle gebraucht habe. Im
Grunde ist hier nur eine Verschiedenheit des Ausgangspunktes. Wer von eigener
künstlerischer Tätigkeit, in der er Bedeutendes geleistet hat, wieder der mühsamen
18*
276 J- Langl, Bilder zur Geschichte, angez. von P. Brandt,
Alltagsarbeit des Unterrichtes sich zuwendet, muß das Gefühl haben, daß er aus
dem weiten Bereiche freien Schaffens in die Enge eines handwerksmäßigen Be-
triebes hinabsteige, in dem höchstens technische Fertigkeit erzielt werden könne.
Wer umgekehrt gerade diesem engeren Kreise immer gedient und sich, hier und
da erfolgreich, bemüht hat ihn wohl zu pflegen, mag hoffen, daß es gelingen
könne das Handwerk zu adeln, wenn etwas von Kunst ihm zugeführt werde.
Praktisch werden beide oft auf dasselbe hinauskommen. So sind nicht nur die
Grundanschauungen, aus denen Bardt hier Regeln ableitet, fast durchweg die
gleichen, zu denen ich mich bekenne; auch die Regeln selbst kann ich größten-
teils unterschreiben. Nur würde ich etwas mehr, als von ihm geschehen ist, be-
tonen, daß es sich hier nie um unverbrüchliche Gesetze handelt, und daß, wenn
Übersetzen ein lebendiges Tun bleiben oder werden soll, die Fähigkeit, Ausnahmen
zu erkennen und zur Geltung zu bringen, wichtiger ist als die Sicherheit im An-
wenden von Regeln. Gewöhnung, durch die der Lehrer erziehen will, wird so
leicht zur Gewohnheit, die das Denken in Fesseln legt. Damit diese üble Wirkung
nicht eintrete, wäre es doch vielleicht kein schlechter Gedanke, schon die Lernen-
den mit der Einsicht zu erfüllen, die stolz klingt, doch bescheiden machen kann,
daß sie nicht zu einer Technik angeleitet werden, die zu beherrschen sie hoffen
könnten, sondern zu einer Kunst, in der es kein Ende gibt und in der nur dem
reifsten Können und Verstehen eine Vollendung beschieden ist.
Münster i. W. Paul Cauer.
Langl, Jos., Bilder zur Geschichte für Gymnasien, Realschulen und verwandte
Anstalten. W. Hölzel, Wien. Jedes Blatt unaufgespannt 2 M., auf starken Deckel
gespannt 3 M.
Das verdienstliche wohlfeile Anschauungswerk ist um vier weitere Tafeln
vermehrt worden: No. 72: Die Thermen des Caracalla (hauptsächlich nach
A. Thierschs Rekonstruktion), No. 73: Der Tempel von Karnak, No. 74: Der Palazzo
Bargello in Florenz, No. 75: Die K. K. Hofbibliothek in Wien. Die drei ersten
Tafeln sind in Zeichnung, Perspektive und Farbengebung trefflich gelungen,
weniger genügt die alles in bräunUche Töne tauchende Sepiamanier zur Wieder-
gabe der farbenprächtigen Innenausstattung von Fischer von Erlachs Barockbau.
Von den beigegebenen Texten bedürfte der zu No. 74 einer stilistischen Revision.
Zu No. 72 und 73 wäre die Beigabe eines Grundrisses der Gesamtanlage sehr
erwünscht.
Die Akropolis von Athen und das Forum Romanum, nach der Natur gemalt
von MaxRoeder in Rom. Phototypische Reproduktionen. B. Kühlens Kunst-
verlag, M.-GIadbach. Imperial-Hochformat. Jedes Blatt 6 M.
Zwei Gemälde, in der Gymnasialaula eines rheinischen Industriezentrums von
einem kunstbegabten Sohne der Stadt und früheren Zögling der Anstalt aus den
Mitteln der hochherzigen Stiftung eines Bürgers geschaffen — fürwahr ein schönes
Bekenntnis zu den in diesen Bildern verkörperten Idealen, doppelt erfreulich in
einer Umgebung, wo das werktätige Treiben des Tages sie nur zu leicht übertäubt.
Die hohe Aufgabe konnte keiner berufeneren Hand vertraut werden. Für die Burg
von Athen wählt Roeder mit feinster künstlerischer Berechnung seinen Standpunkt
A. Geyer, Unsere Kultur von den ältesten Zeiten usw., angez. von J. Kreutzer. 277
am Fuße der Pnyx, so daß er nur den Zügen der freien Natur zu folgen braucht,
um durch die vor- und zurücktretenden Linien des Areshügels, durch die Krüm-r
mungen der zum Vordergrunde herabführenden Wege und Schluchten das Auge
sacht emporzuleiten zu der hochthronenden, tempelgekrönten Götterburg Athens,
hinter der in sanfter Schwingung der Rücken des Hymettos den Horizont abschließt.
Schwieriger war die Wahl des Standpunktes für das römische Forum. Der Künstler
hat recht getan, auf das viele Verwirrende zu verzichten, um weniges Bedeutsame
zum packenden Ganzen zusammenzuschließen. Drei mächtige Merksteine sind
hier gesetzt, an denen der Beschauer die Tiefe des Raumes gleichsam im Zickzack
abtasten kann: die Trümmer des Saturntempels links im Vordergrund, die bekannten
drei Säulen des Castortempels im Mittelgrund, der hellschimmernde Titusbogen im
Hintergrund, alles rechts überragt von den steilen Massen des palatinischen Hügels
und abgeschlossen durch das hinter den Pinien und Zypressen des Caelius in bläu-
licher Ferne sanft emporstrebende Zeltdach des Monte Gavo. „Le due civiltä!" —
so faßte der König von Italien, im Anschaun der Bilder versunken, seinen Eindruck
treffend zusammen. Von der einheimischen Kunstanstalt auch in den Farbenwerten
der Originale trefflich wiedergegeben, werden sie überall da, wo der Sinn für die
Ideale dieser beiden Kulturen noch nicht erloschen ist, im Heim des Lehrers und
Gelehrten, in den Räumen unserer Bildungsanstalten, einen vornehmen, zu ernstem
Sinnen wie zu stimmungsvollem Betrachten anregenden Wandschmuck bilden.
Bonn. Paul Brandt.
Geyer, Albert, Unsere Kultur von den ältesten Zeiten bis zur Gegen-
wart in Einzelbildern. Gießen 1908. Emil Roth. 352 S. 8^. geh. 2.40 M.,
geb. 3 M.
Der Verfasser macht den Versuch, Abschnitte aus größern Werken zu einem
einheitlichen Bilde der deutschen Kulturentwicklung zu vereinigen. Seine Absicht
— den Lehrern an Volkschulen und den gebildeten Laien ein Hilfsmittel zu
kulturgeschichtlicher Belehrung darzubieten — kann man anerkennen und auch
zugeben, daß sein Buch für den genannten Zweck brauchbar ist; jedoch mit
einer Einschränkung: Weil die einzelnen Abschnitte nicht aufeinander abgestimmt
sind, wird dem Leser manches unverständlich bleiben; daher würde auch ein
Lehrer an der Volksschule, der sich auf diesem Gebiete zu unterrichten wünscht,
mit der Lektüre des Geyerschen Buches sich nicht zufrieden geben dürfen.
V. Eberhardt, Aus Preußens schwerer Zeit. Briefe und Aufzeichnungen
meines Urgroßvaters und Großvaters. Mit 4 Porträts und 1 Schlachtenbild.
Berlin 1907. R. Eisenschmidt. 168 S. 8o. geh. 2 M., geb. 3 M.
Das Buch enthält urkundliche Nachrichten aus dem Leben des bei Jena ge-
fallenen Majors und Kommandeurs Friedrich Wilhelm Magnus v. Eberhardt und
seines Sohnes Wilhelm, der als fünfzehnjähriger Fähnrich wegen seines in der:
selben Schlacht bewiesenen Heldenmutes den Orden pour le mörite erhielt, in der
Leipziger Schlacht das linke Bein verlor und später Jahrzehnte hindurch am Potsdamer
Kadettenhause, zuerst als Lehrer, von 1826—1850 als Kommandeur, vorbildHch
gewirkt hat. Das Buch, das von der Lebens- und Denkweise einer Offizierfamilie
in jener bewegten Zeit Kunde gibt, vermehrt die Beweise für die Ungerechtigkeit
278 O- Kaemmel, Sächsische Geschichte, angez. von J. Kreutzer.
mancher Schmähungen, die das preußische Offizierkorps nach dem Unglüclt von
Jena über sich ergehen lassen mußte. Wegen seines Inhaltes und der schlichten
braven Gesinnung, die aus den Aufzeichnungen spricht, verdient es namentlich in
Schülerbibliotheken Aufnahme.
Kaemmel, Otto, Sächsische Geschichte. 2. Aufl. Leipzig 1905. Sammlung
Göschen. G. J. Göschen. 160 S. 8». geb. 0,80 M.|
Das Buch behandelt die sächsische Geschichte in vier Zeiträumen, deren
Grenzen die Jahre 1485, 1694 und 1830 bezeichnen. Der erste Zeitraum umfaßt
die unter vielen Hemmnissen sich vollziehende Entstehung des meißen-sächsischen
Staatswesens, der zweite, in dem Kursachsen vorübergehend eine führende Rolle
im geistigen, religiösen und politischen Leben der Nation spielte, die Ausbildung
des ständisch-territorialen Staates, der dritte die aus der polnischen, antipreußischen
und napoleonischen Politik der Dynastie sich ergebenden Verwicklungen, der
letzte Zeitraum den zum Teil unfreiwilligen Eintritt in die unter Preußens
Führung erfolgte wirtschaftliche und politische Einigung Deutschlands. Die mannig-
fachen Beziehungen, die den Staat der Wettiner mit der Geschichte seiner Nach-
barländer und vorübergehend mit der großen europäischen Politik verflochten,
machen die knappe und klare Darstellung Kaemmels auch für weitere Kreise be-
achtenswert, zumal die Kulturentwicklung des wirtschaftlich bedeutenden Landes
nach Gebühr gewürdigt wird.
Köln. Johannes Kreutzer.
Himmel und Erde. Unser Wissen von der Sternenwelt und dem Erd-
ball. Herausgegeben unter Mitwirkung von Fachgenossen von J. Plassmann
und J. Pohle, P. Kreichgauer und L. Waagen. Berlin-München-Leipzig,
Allgemeine Verlags-Gesellschaft m. b. H. 2 Bände größt. 8*^ in 28 Lieferungen
zum Preise von je 1 M. Mit zahlreichen Textabbildungen und vielen mehr-
und einfarbigen Tafelbildern und Beilagen.
Scheiner, Populäre Astrophysik. Leipzig und Berlin 1908. B. G. Teubner.
VI u. 716 S., 30 Tafeln, 210 Figuren im Text. 8». geb. 12 M.
Die Zahl der populären Astronomien ist Legion, und schon wieder neue?
Hören wir, wie ihr Erscheinen begründet wird.
Das erste der oben angezeigten Werke soll sich nach der Ankündigung
,vor allen anderen ähnlichen Publikationen" dadurch auszeichnen, „daß es nur das
beste und gesichertste aus dem großen Bereiche der neuesten mühevollen For-
schungsarbeiten zu bieten sucht, indem es sich in seinen Schlußfolgerungen nur
auf sicher bewiesene Tatsachen und in seinen Annahmen nur auf gutbegründete
Hypothesen stützt"; es will die Methoden der Wissenschaft befolgen und sie
, ohne Voreingenommenheit und ohne tendenziöse Nebenabsichten" so handhaben,
„wie es das rein wissenschaftliche Interesse erheischt". Das sind etwas stolze
Worte. Lassen wirklich die anderen ähnlichen Publikationen in ihrer Gesamtheit
oder auch nur in ihrer Mehrzahl das gleiche Bestreben vermissen ? Und ist ein
Werk wirklich ganz frei von tendenziöser Nebenabsicht, das ausgesprochener-
maßen darauf ausgeht, der Naturforschung gerade aus den christlich-gläubigen
Kreisen neue Freunde zuzuführen?
»
Himmel und Erde, angez. von A.**Tiebe. 279
Die bis jetzt erschienenen sieben Lieferungen bringen zunächst aus der Feder
des Prof. Dr. Pohle in Breslau eine „Allgemeine Einleitung in die Naturwissen-
schaften", der Abbildungen wie „Die Philosophie. Nach Rafael", „Brandung an
der Riviera bei aufgehender Sonne", „Großglockner und Johannesberg mit dem
Pasterzengletscher", „Ein Beispiel von Mimikry" u. a.; beigegeben sind ~ Bilder,
die man in einer Astronomie gemeinhin nicht sucht. Der Artikel ist glänzend
geschrieben und trägt Anschauungen vor, die alle Billigung verdienen, er wäre
aber m. E. in einer Biologie weit mehr am Platze als hier. —
Die folgenden Abschnitte behandeln „das Weltsystem in seiner ge-
schichtlichen Entwicklung" (Verfasser Schumacher und Hoelling), „die
Sonne" (Verfasser Pohle) und „das Sonnensystem" (Verfasser Plassmann).
Allenthalben tritt hier das Bestreben hervor, den Leser zu einer wirklichen Ein-
sicht zu führen, doch wiegt im besonderen im ersten Teile das „Mitteilen" bei
weitem vor, während der Zweck doch nur erreicht werden kann, wenn man den
Leser unmittelbar an die Beobachtungen heranführt und ihn lehrt, wie man aus
diesen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt. Wer einen tieferen Blick in den
Wunderbau des Weltalls tun soll, der muß vor allem die Stellung und die schein-
baren Bewegungen der Gestirne gründlich kennen lernen und eine klare An-
schauung von den Grundbegriffen Pol, Äquator, Ekliptik usw. gewinnen. Wie
soll jemand, der nichts weiß von Frühlingspunkt, hello- und geozentrischer Länge,
die Gedankenarbeit Keplers bei der Aufstellung seiner Marstheorie verstehen?
Was nützt es dem Leser, von der Entdeckung der Rezession der Nachtgleichen
durch Hipparch zu hören, wenn er nicht weiß, was diese sind? Wie soll er zu
einer klaren Vorstellung gelangen, wenn ihm die wechselnde Stellung Merkurs
zur Sonne geschildert wird und es dann einfach weiter heißt: infolge dieser
Unregelmäßigkeiten der Bewegung beschreibt der Planet Schleifen am Himmel?
Günstiger liegen die Verhältnisse bei den astrophysikalischen Teilen, die denn
auch eine ansprechende Bearbeitung erfahren haben. Auf neue und neueste
Forschungen wird gebührend Rücksicht genommen, in Hypothesen Maß gehalten.
Zur Veranschaulichung sind meist vortreffliche Abbildungen in größerer Anzahl
beigegeben; doch hätten m. E. manche wegbleiben können, die entweder für den
vorliegenden Zweck bedeutungslos oder ohne eingehende Erläuterung für den
Leser unverständlich sind, wie „der Astrolog", „astrologische Tafel", „arabisches
Astrolabium".
Der zweite Band, verfaßt von Dr. Waagen, an der k. k. geologischen
Reichsanstalt in Wien, unter Mitwirkung von Geh. Reg.-Rat van Bebber in Altona
und P. Kreichgauer S. V. D. in St. Gabriel-Mödling bei Wien, soll den „Werde-
gang des Erdballs und seiner Lebewelt, seine Beschaffenheit und seine Hüllen"
schildern. Das Buch kommt dem in weiteren Kreisen tatsächlich vorhandenen
Bedürfnis nach einer gemeinverständlich geschriebenen Geologie und Paläontologie
entgegen; wünschen wir ihm, daß es den Erwartungen auch entspricht.
Das Werk von Scheiner liegt bereits abgeschlossen vor. Es behandelt
den jüngsten Zweig der Astronomie ausführlicher und eingehender, als es sonst in
populären Lehrbüchern dieser Wissenschaft geschieht und geschehen kann. Schon
hierdurch würde sich sein Erscheinen rechtfertigen lassen. Sein Hauptvorzug je-
280 R- Fischer, Eletnentar-Laboratorium, angez. von P. Johannesson.
doch' besteht darin, daß es den Leser zunächst auf das sorgfältigste mit den astro-
physikalischen Methoden und Instrumenten vertraut macht; fast die Hälfte des
Buches ist diesem Zweck gewidmet. Dadurch ist es aber nicht etwa zu einem
Handbuche für den Fachmann geworden, nein, es ist eine gemeinverständliche
Darstellung im besten Sinne des Wortes für den großen Kreis der Gebildeten.
Mathematische Betrachtungen, die nun einmal nicht zu entbehren sind, werden
nicht ängstlich vermieden; sie gehen aber nirgends über den Standpunkt eines
Gymnasialprimaners hinaus. Überall schöpft der als hervorragender Forscher be-
kannte Verfasser aus dem Vollen. Die Bilder sind vorzüglich. — Nach allem
kann das Werk auf das wärmste empfohlen werden.
Friedenau. Albrecht Tiebe.
Fischer, Raymund, Elementar-Laboratorium. Eine Anleitung zur billigsten
Herstellung von Apparaten aus dem Gebiet der Naturkunde in schematischer
und perspektivischer Darstellung mit erläuterndem Text. Mit einem Begleit-
wort von Schulrat Dr. Kerschensteiner. — Verlag der Jugendblätter (Carl Schnell)
München II. — Begleitwort, Einleitung und allgemeine Ausführungen 14 S.,
außerdem 40 Tafeln mit ebensoviel Seiten Text. Längliches Format, geb. 4 M.
Das Werk gibt eindringliche Kunde von der Tatkraft, mit welcher der Ver-
fasser den Physikunterricht auf der Volkschule zu heben sich bemüht ; durch
einen farbigen Atlas mit begleitendem Text lehrt er, 125 Apparate aus den- denkbar
einfachsten Mitteln herzustellen. Die Rumpelkammer des Haushalts mit ihren Blech-
büchsen, Flaschenkapseln, Garnrollen und ähnlichen Abfällen, ergänzt durch äußerst
geringfügige Ankäufe, genügt dem Verfasser, um daraus seine physikalische
Sammlung entstehen zu lassen; und wenn er auch entsprechend Bescheidenes von
den Werkzeugen und den Fertigkeiten seiner Zöglinge fordert, so ermutigt er die
Schüler gleichwohl, sich selbst an verwickeitere Vorrichtungen zu wagen. Stoßen
wir doch in der Mechanik auf die mannigfaltigsten Anwendungen des Hebels, auf
Pumpen und Flaschenzüge, in der Wärmelehre auf ein Modell der Dampfmaschine ;
auch die Inklinationsnadel, der Multiplikator, der Morsetelegraph, der Schlitten-
apparat zur Faradisation und die .optische Kamera sind in den Bereich der ju-
gendlichen Kunstfertigkeit gezogen ; dazu spricht aus alledem ein solches Maß von
Fleiß und begeisterter Hingabe des Verfassers, daß es kleinlich wäre, auf die ver-
einzelten Irrtümer des Inhalts hinzuweisen.
Und welche stumme Mahnung erwächst aus dem angezeigten Werke für den
Physiklehrer der höheren Schule? Er halte sich nicht für zu vornehm, die dort
gelehrte Tätigkeit zu üben und auch bei seinen Schülern die Freude an prak-
tischem Schaffen zu beleben. Nur denke er daran, daß ihm reichere Mittel zur
Verfügung stehen, daß seine Zöglinge älter und anspruchsvoller sind, daß Primaner
und Sekundaner von einem physikalischen Apparate größere Genauigkeit und eine
gewisse Harmonie der Form verlangen. Solchem verwöhnteren Geschmack ge-
nügen die Vorschläge des Verfassers im allgemeinen nicht; doch können sie zur
Nacheiferung und Vervollkommnung anreizen und so nicht nur der Volkschule,
sondern auch der höheren Schule nützen.
Berlin. P. Johannesson.
Hock, Lehrbuch der Pflanzenkunde, an^z. von F. Pfuhl. 281
HÖck, Lehrbuch der Pflanzenkunde. Teil I. Unterstufe (112 S.), geb. 1,60 M.
Teil II. Oberstufe (220 S.), geb. 3,20 M. Eßlingen und München 1908.
J. F. Schreiber.
Die Anordnung, in der die Pflanzen geboten werden, ist nicht die „methodische",
sondern die des Systems. Denn der Herr Verfasser, der in weiten Kreisen als
pflanzen -geographischer Schriftsteller bekannt ist, meint, daß aus den Beschrei-
bungen — welche Pflanze nun auch der Lehrer wählen mag — sich jedesmal das
für den Unterricht erforderliche Material entnehmen läßt. Die so einfach und klar
gebauten Monokotylen sind in I auf S. 85—92 vertreten, in II von S. 2 — 28.
Die Dikotylen nehmen in I die Seiten 9 — 85, in II S. 29—62 ein. Dann folgen
in II die Nacktsamer bis 71, dann Farne und Moose, endlich die Lagerpflanzen.
Natürlich enthält diese Zusammenstellung auch eine große Anzahl exotischer Pflanzen.
Besonders in I, aber auch in II hat Verfasser reichlich dafür Sorge getragen, aus-
führliche Beschreibungen zu liefern für solche Pflanzen, die sich etwa zur Unter-
suchung und zu eingehenderem Durchnehmen empfehlen; so für die Vogelmiere
eine Seite, Kuckucks -Lichtnelke dgl., Busch -Windröschen über eine Seite. Aller-
dings birgt diese Einrichtung den Übelstand in sich, daß für die auf der untersten
Klassenstufe zu besprechenden Arten doch zu vielerlei zusammenkommt. Am
Anfang des ersten Teils befindet sich eine kurze Übersicht über Bau und Leben
der Pflanze und am Ende werden die Resultate (S. 93—112) zusammengestellt,
z. B. a) Wurzeln, b) Sprosse, e) Blüten, f) Bestäubungseinrichtungen. Der zweite
Teil bringt S. 110—156 einen Abschnitt über Bau und Lebensvorgänge der Pflanzen,
endlich bis S. 210 einen anderen über ihre Verbreitung. Jegliches Gebiet der
Botanik, das für den Unterricht in Betracht kommt, ist in diesen Abschnitten berück-
sichtigt. Der Text wird durch eine große Anzahl z. T. kolorierter Abbildungen
erläutert; von allen kann zwar nicht gesagt werden, daß sie ganz genügen. So ge-
nügen die Pilzbilder (II, Tafel 20) wohl kaum ; seit Erscheinen des Michaelschen Pilz-
buches ist man in der Hinsicht verwöhnt. Abbildung 146 (II) ist verzeichnet, auch ist es
nicht gut zu heißen, daß dieser schreckliche Giftpilz „Eichenblätter -Champignon"
genannt wird, denn dadurch wird erst recht die Verwechslung mit dem Champignon
unterstützt, die schon so oft verhängnisvoll geworden ist, abgesehen davon, daß
der Pilz ganz und gar — wenigstens in der Provinz Posen — kein Eichenbegleiter
ist. Beim giftigen Pfefferling hätte auf den (meist) grauen Stiel hingewiesen
werden können, und das Geflecht im echten Zunderschwamm ist weich und nicht
holzig. Die Abbildungen der Welwitschie (II, 192) ist unklar, wie auch manches
der aus Schimper entnommenen Klischees. Die Kernteilung ist doch (II, 112) etwas
zu schematisch dargestellt, und die Centrosomen hätten in einem botanischen
Lehrbuche wohl fortbleiben können; auch wäre statt des bikollateralen Gefäßbündels
ein kollaterales besser gewesen, und die Tracheide der Kiefer (11,114) hätte wohl
auch normaler gehalten werden können. Manche Abbildungen wären zu entbehren,
andere wären vielleicht erwünscht, wie z. B. der Vorkeim eines Farns, die Befruch-
tung der Samenknospe einer Angiosperme in größerem Maßstabe (II, 193). Doch,
wie gesagt, diese Wünsche bezüglich einer Abänderung betreffen nur einzelne
der sehr zahlreichen Abbildungen. Der Druck des Buches (Antiqua) ist klar, leicht
leserlich, das Papier gut.
282 K. Qraeber, Ideal-Schulgärten im XX. Jahrhundert, angez. von F. Pfuhl.
Oraeber, Karl, Ideal-Schulgärten im XX. Jahrhundert. Mit 19 Plänen und
Skizzen und 140 Abbildungen. VIII u. 309 S. Frankfurt a. O. 1907. Kgl.
Hofbuchdruckerei Trowitzsch u. Sohn. 3,50 M,
Zunächst legt Verf. die Notwendigkeit für die Einrichtung von Schulgärten
dar. Denn die Exkursionen, die manche Lehrer eingeführt haben, hätten keinen
Erfolg ergeben, trotzdem sie in der Literatur so manchmal rühmend gepriesen
werden, und das Pflanzenholen aus der Umgegend wäre mit vielen Unzuträglich-
keiten verknüpft. Die Schulgärten sollen nun nach Ansicht des Verf. von den
Schülern klassenweise besucht werden, sogar während der Zwischenstunden, und der
Unterricht soll zum großen Teil dorthin verlegt werden. Graeber sucht zu beweisen,
daß durch diesen Besuch des Schulgartens vieles geleistet werden kann, was die
Beobachtung abgeschnittenen Pflanzenmaterials im Klassenzimmer nicht leisten
kann. Aber, warum kann denn nicht der Unterschied zwischen der Blüte des
Alpengänsekrauts und des Goldlacks (S. 9), der Unterschied zwischen Hundspeter-
silie, Küchenpetersilie und Schierling (S. 15), zwischen den Blättern der Königs-
kerze und des Fingerhuts auch in der Klasse ermittelt werden? Die Anhängsel
der Staubblätter, die in den Sporn des Veilchens Honig absondern, wird der
Schüler in der Klasse, wenn er seine Nadel benutzen kann, viel sicherer und ge-
nauer beobachten können, als draußen, stehend, im Garten — usw. Verf. bringt
dann (S. 34—135) unter Beigabe von Plänen Vorschläge für Gartenanlagen, wie
sie sich dem bei den Schulhäusern gegebenen Raum anpassen könnten, und sollte
gar kein freier Platz vorhanden sein, so empfiehlt er die Kultur von Pflanzen
in Kästen. „Der vollständige Ideal -Schulgarten einer größeren Schule" ist eigent-
lich ein botanischer Garten einer heutigen Hochschule — aber ganz im kleinen
(25x20 qm). Waldpartien sind da, eine Wiese, ein Alpinum, die Systematik ist
durch die häufigsten Familien vertreten, denn Kultur-, Nutz- Giftpflanzen, Un-
kräuter, Gartenzierpflanzen, Zwergobst. Pflanzen, zum Verteilen an die Schüler
während des Unterrichts, liefert er nicht, das soll der , Zentral -Schulgarten" tun.
Doch ist diese, für einen geordneten Unterricht so überaus wichtige Aufgabe auf
knapp 2 Seiten behandelt. In dem „Abc der Schulgartenpraxis" (S. 166 — 309)
werden die zur Anpflanzung empfohlenen Gewächse meist mit kurzen Zusätzen
über ihre Pflege aufgeführt, auch werden die häufigsten Gartenarbeiten beschrieben
(Ableger, Anbinden, Aussägen, Okulieren usw.). Übrigens wird der Lehrer so
manchmal mit dem Verf. über die Notwendigkeit einer zu kultivierenden Pflanze
nicht übereinstimmen (Iberis sempervirens, Gypsophila repens usw.). Die deutschen
Pflanzennamen sind meist mit Geschick gewählt, doch ist mancher nicht allgemein
verständlich, ohne daß die botanische Bezeichnung hinzugefügt ist (blaues Sperr-
kraut, Beerapfelbaum usw.). Jedenfalls wird das Buch manchem Lehrer Anregung
und Belehrung geben können.
Posen. Fr. Pfuhl.
IV. Vermischtes.
Aufruf zur Schonung der Pflanzenwelt.
Wer mit aufmerksamem Blick am Abend eines schönen Frühlingstages die
heimkehrende Menge betrachtet und die Fülle von z. T. großen Sträußen sieht,
die mitgebracht werden, wer außerdem bedenkt, daß erfahrungsgemäß noch viel
mehr Blumensträuße vorzeitig fortgeworfen oder achtlos liegen gelassen werden,
der wird zugeben müssen, daß an jedem solchen Tage ganze Wagenladungen von
Pflanzen aus der Pflanzendecke geraubt werden. Und er wird verstehen, was
jeder Pflanzenkundige bestätigen kann, daß besonders in der Umgegend der Städte
die Pflanzenwelt immer mehr und mehr verödet, und daß seltenere, durch große
Blüten ausgezeichnete Pflanzen allmählich ganz verschwinden.
An alle diejenigen, welche beim Wiedererwachen der Natur ins Freie eilen,
um sich an buntfarbigen Frühlingsblumen, am frischen Grün des Waldes, am zarten
Weiß der Obstblüte zu erfreuen, richtet das Westpreußische Provinzialkomitee für
Naturdenkmalpflege daher die dringende Bitte, nachstehende Mahnungen sorgfältig
zu beachten und nach Kräften dafür einzutreten, daß sie überall befolgt werden.
1. Schone die Pflanzen, schone vor allem die Frühlingsblumen.
Bedenke stets, daß jede Pflanze am schönsten in ihrer natürlichen Umgebung, an
ihrem Standort, ist und daß die Blumen am besten dort ihren Lebenszweck, die
Erhaltung und Vermehrung der Art, erfüllen können.
2. Willst Du aber etwas davon mitnehmen, um Dein Heim zu schmücken,
so beherzige des Dichters sinniges Wort: »Brichst Du Blumen, sei bescheiden,
nimm nicht gar so viele fort! . . . Nimm ein paar und laß die andern in dem
Grase, an dem Strauch. Andere, die vorüber wandern, freu'n sich an den Blumen
auch" (Trojan). Ein „Sträußlein am Hute" ziert den Wanderer, aber nicht ein
Riesenbusch von Blumen, welche in der Hand zerdrückt werden und bald verwelken.
3. Pflücke die Blumen behutsam von der Pflanze ab, oder noch besser
schneide sie vorsichtig mit einem scharfen Messer ab. Dadurch leidet
die Pflanze am wenigsten, und die übrigbleibenden Teile können sich weiter ent-
wickeln. Hingegen werden bei heftigem und rücksichtlosem Abreißen von Blüten
oder Blütenzweigen gewöhnlich auch die benachbarten Zweige beschädigt und
vielfach die ganzen Pflanzen geknickt und zugrunde gerichtet.
4. Reiße oder grabe nie Pflanzen mit Wurzeln aus. Gerade die Früh-
lingsblumen gehören fast alle zu den ausdauernden Gewächsen. Wenn nur die
284 Vermischtes.
Blütenzweige sorgfältig abgeschnitten werden, kann der Stamm weiterwachsen und
sich langsam wieder erholen, wogegen beim Herausnehmen auch der unterirdischen
Teile die ganze Pflanze verloren geht. Bei vielen selteneren Pflanzen, z. B. den
meisten Orchideen (Knabenkräutern), ist das Ausgraben mit den Knollen um so
schädlicher, als sie sich meist nur durch die Knollen, weniger durch Samen vermehren.
5. Reiße auch keine Zweige von den Bäumen ab. Wenn Du Dir ein
paar grüne Zweige behutsam mit dem Messer abschneidest, wird wohl niemand
etwas dagegen sagen, anders aber, wenn ganze Gesellschaften den Wald rücksichts-
los plündern. Beim gewaltsamen Abreißen von Zweigen werden nicht nur diese,
sondern oft auch größere Äste abgebrochen, so daß dem Waldbesitzer ein erheb-
licher Schaden entstehen kann. Bedenke auch, daß alle später an solch
eine geplünderte Stelle Kommenden die geknickten Äste und kahlen Aststümpfe
vorfinden und dadurch ebensosehr in ihrem Naturgenuß gestört werden, wie durch
hingeworfene Reste der Mahlzeit, als da sind Frühstückspapier, Eierschalen und
leere Flaschen.
6. Benütze nicht die Rinde der Baume als Stammbuch. Das Ein-
schneiden von Buchstaben und Zeichen schädigt nicht nur den Baum, ein über und
über mit Narben und frischen Wunden bedeckter Stamm muß auf jeden Natur-
freund verletzend wirken.
Danzig, den 30. März 1909.
Westpreußisches Provinzialkotnitee für Naturdenkmalpflege.
V. Jagow,
Oberpräsident.
50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner.
Die 50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner wird von
Dienstag d. 28. September bis Freitag d. 1. Oktober 1909 in Graz stattfinden.
Vorsitzende: Univ.-Prof. Dr. Heinrich Schenkl, Maria-Trost bei Graz,
Regierungsrat Gymnasialdirektor Dr. Otto Adamek, Graz, Licht enfelsgasse 3.
Als Obmänner haben die vorbereitenden Geschäfte übernommen:
Für die philologische Sektion: Gymnasialdirektor Dr. Albin Nager,
Graz, Kaiserfeldgasse 20, Univ.-Prof. Dr. Richard C. Kukula, Graz, Ruckerl-
berggasse 5; für die pädagogische Sektion: Landesschulinspektor Dr. Karl
Tumlirz, Graz, Wormgasse 8, Univ.-Prof. Dr. Eduard Marti nak, Graz, Zinzen-
dorfgasse 21, Gymn.-Prof. Dr. Johann Ranftl, Graz, Grabenstraße 27; für die
archäologische Sektion: Univ.-Prof. Dr. Hans Schrader, Graz, Parkstraße 17,
Gymn.-Dir. Dr. Hans Gut seh er, Leoben, Gymn.-Prof. Dr. Rudolf Wi mm er er,
Graz, Rosenberggürtel 25; für die germanistische Sektion: Univ.-Prof. Dr.
August Sauer, Prag, Smichow 586, Univ.-Prof. Dr. Konrad Zwierzina, Inns-
bruck, Glaudiaplatz 3, Regierungsrat Direktor i. R. Dr. Karl Reißen berger,
Vermischtes. 285
Graz, Katzianergasse 7; für die historisch-epigraphische Sejttion: Univ.-
Prof. Dr. Adolf Bauer, Graz, Heinrichstraße 97, Univ.-Prof. Otto Cuntz, Graz,
Kroisbachgasse 4, Gymn.-Prof. Dr. Artur Ledl, Graz, Kopernikusgasse 20; für
die romanistische Sektion: Hofrat Univ.-Prof. Dr. Julius Cornu, Graz,
Laimburggasse 11, Realschul-Prof. Georg Weitzenböck, Graz, Leonhard-
straße 131; für die geographische Sektion: Univ.-Prof. Dr. Robert Sieger,
Graz, Leonhardstraße 109, Handelsakademie-Prof. Dr. Richard Marek, Graz,
Pestalozzigasse 31; für die anglistische Sektion: Univ.-Prof. Dr. Alois
Pogatscher, Graz, Harrachgasse 16, Realschul-Prof. Ferdinand Kroier, Graz,
Wickenburggasse 7; für die indogermanische Sektion: Univ.-Prof. Dr. Rudolf
Meringer, Graz, Universitätsstraße 27, Gymn.-Prof. Anton Lantschner, Graz,
Parkstraße 7; für die orientalische Sektion: Univ.-Prof. Dr. Johann Kirste,
Graz, Salzamtsgasse 2, Univ.-Prof. Dr. Nikolaus Rhodokanakis, Graz, Mandell-
straße 7; für die mathematisch-naturwissenschaftliche Sektion: a) mathe-
matisch-physikalische Abteilung: Landesschulinspektor Dr. Karl Rosen-
berg, Graz, Luthergasse 4, Realschul-Dir. Josef Frank, Graz, Keplerstraße 1;
b) biologisch-chemische Abteilung: Realschul-Dir. Dr. Anton Schwaighofer,
Graz, Schützen hofgasse 39, Univ.-Prof. Dr. Franz Hemmelmayr Edl. v.
Augustenfeld, Graz, Laimburggasse 8; für dieSektion für Bibliothekswesen:
Univ. -Bibliothekar, kais. Rat Dr. A. Schi ossär, Graz, Nibelungengasse 8,
Bibliotheks-Kustos Dr. Ferdinand Eich 1er, Graz, Burgring 11.
Außerdem ist die Gründung einer Sektion für sachliche Volkskunde in Aus-
sicht genommen.
Vorträge für die allgemeinen Sitzungen sind bis zum 1. Juni bei einem der
beiden Vorsitzenden, für die Sektionen bei einem der Herren Obmänner anzu-
melden. Im Laufe des Monats Juli wird eine zweite Einladung mit dem voll-
ständigen Verzeichnis der angemeldeten Vorträge und der Ankündigung der in
Aussicht genommenen festlichen Veranstaltungen versendet werden.
Gemäß den Beschlüssen der Basler Versammlung wird sich diesmal die
Durchführung des Hamburger Programmes (Verhältnis zwischen Wissenschaft und
Schule und Ausbildung der Lehramtskandidaten) auf die deutsche Sprache und
die Geographie erstrecken. Als Referenten sind für die deutsche Sprache Univ.-
Prof. Dr. Elster (Marburg) und Gymnasialdirektor Dr. Lück (Steglitz), für die
Geographie Univ.-Prof. Dr. Brückner (Wien) und Oberlehrer Dr. Lampe (Berlin)
gewonnen; der Diskussion wird ein voller Halbtag eingeräumt werden.
Am Sonntag den 26. und Montag den 27. September 1909 findet in Graz die
Jahresversammlung des deutschen Gymnasialvereines statt; ebenso wird in her-
kömmlicher Weise mit der orientalischen Sektion die Sitzung der deutsch-morgen-
ländischen Gesellschaft verbunden werden.
Die Unterzeichneten ersuchen besonders um freundliche Berücksichtigung des
dieser vorläufigen Einladung beigedruckten Aufrufes.
Graz, im März 1909.
Schenkl. Adamek.
286 Vermischtes.
Aufruf zu einer Stiftung aus Anlaß der 50. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner.
Im Herbste des laufenden Jahres wird in Graz die 50. Versammlung deutscher
Philologen und Schulmänner stattfinden. Von mehreren Seiten ist die Anregung
gegeben worden, aus Anlaß dieses bedeutsamen Jubelfestes eine Stiftung ins Leben
zu rufen, deren Ertrag zur Förderung der klassischen Altertumswissenschaft ver-
wendet werden soll. Die Unterzeichneten, welche derzeit den ständigen Ausschuß
der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner bilden, erachten es für
eine Ehrenpflicht, diese Anregung aufzunehmen und in die Tat umzusetzen. So
möge denn an alle Freunde des klassischen Altertums und der humanistischen
Bildung der Ruf ergehen, durch Beiträge das Zustandekommen dieser Stiftung, die
den schönsten Schmuck und die würdigste Verherrlichung der Jubiläumsversammlung
bilden wird, zu sichern.
Um dem erstrebten Zwecke möglichst reiche Mittel zuzuführen, bedarf es einer
ausgebreiteten und regen Werbetätigkeit, die selbstverständlich genaue Kenntnis
der örtlichen Verhältnisse voraussetzt.
Die Unterzeichneten richten daher an die Empfänger dieses Aufrufes die
dringende Bitte, ihrerseits, ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten, möglichst
bald Ortsausschüsse einzurichten, denen es obliegen wird, die Sammlungen in
geeigneter Weise einzuleiten und an diejenigen Persönlichkeiten und Körperschaften,
von denen Beteiligung an dem geplanten Unternehmen zu erwarten ist, heranzu-
treten. Die erfolgte Konstituierung der Ausschüsse möge dem ersten Präsidenten
der Grazer Versammlung, Universitäts-Professor Dr. Heinrich Schenkl, Maria-Trost
bei Graz, baldigst mitgeteilt werden. Als Termin für den Schluß der Sammlungen
und die Ablieferung der eingegangenen Beiträge (abzüglich der durch die Sammlung
verursachten Kosten) ist der 1. September 1909 in Aussicht genommen; Einzahl-
stelle ist die Wechselstube der Steiermärkischen Escomptebank, Graz (Konto: Philo-
logenstiftung), welche Einzahlungen von Teilbeträgen, sowie von Einzelbeträgen
aus Orten, wo kein Ausschuß gebildet wird, auch vor dem angegebenen Termine
entgegen nimmt.
Ein Mindestmaß der Beitragsleistung ist nicht festgesetzt; jede Spende wird
mit Dank entgegengenommen.
Die Beschlußfassung über die Verwendung der Stiftung auf Grund des Vor-
schlages einer vorberatenden Kommission bleibt der Grazer Versammlung vorbe-
halten. Die Namen der Spender werden in einem der Versammlung vorzulegenden
Berichte verzeichnet werden.
Regierungsrat Gymnasialdirektor Dr. O. Adamek (II. Präsident, Graz). Schulrat
Professor Dr. M. Brütt (I. Präsident, Hamburg). Geheimer Regierungsrat Dr.
J. Francke (II. Präsident, Straßburg). Geheimer Regierungsrat Dr. W. Fries
(I. Präsident, Halle). Universitätsprofessor Dr. F. Münzer (I. Präsident, Basel).
Rektor Dr. F. Schäublin (IL Präsident, Basel). Universitätsprofessor Dr. H. Schenkl
(I. Präsident, Graz). Geheimer Hof rat Universitätsprofessor Dr. E. Schwartz
(I. Präsident, Straßburg). Universitätsprofessor ;Dr. P. Wendland (II. Präsident,
Hamburg). >
Vermischtes. 287
Deutscher Verein für Volkshygiene.
Mit der Entwicklung der Hygiene trat mehr und mehr die Erkenntnis hervor,
daß zu der öffentlichen Gesundheitspflege auch die private als deren notwendige
Ergänzung sich gesellen müsse, da sonst aus Unkenntnis und Unverstand leicht
im Hause und in der Familie wieder verdorben werde, was Staat und Kommune
zur Erhaltung der Gesundheit durch öffentliche Einrichtungen genützt haben. Um
diese Bestrebungen der persönlichen Gesundheitspflege und Krankheitsverhütung
zu zentralisieren und zu einer systematischen Entwicklung zu bringen, wurde vor
ca. 10 Jahren der Deutsche Verein für Volkshygiene gegründet, welcher
durch praktische Einrichtungen, durch Vorträge und Herausgabe einer Zeitschrift,
der „Blätter für Volksgesundheitspflege", seine Aufgabe zu lösen sucht. Seine
Zeitschrift ist in der Zwischenzeit ein Familienblatt vornehmster Art geworden,
das in keinem Hause fehlen sollte, wo die große Bedeutung der persönlichen Ge-
sundheitspflege sowohl für das Wohl des Einzelnen als der ganzen Familie er-
kannt ist. Nach Möglichkeit passen sich stets die Artikel der Zeitschrift den
Jahreszeiten und den augenblicklich interessierenden Verhältnissen an. So erfährt
der Laie durch sie, was die Erkältung ist und wie man sie bekämpft, wie man
die Entwicklung des Schulkindes leiten und überwachen soll, welche Ernährung
die beste und billigste ist, welche Kleidung die zweckmäßigste, wie sich die Mutter
vor und nach der Geburt zu verhalten hat, damit ihr und ihres Kindes Leib nicht
Schaden nehme, wie wichtig die Reinlichkeit ist, wie deren Betätigung auch zur
Reinheit der Seele und des Herzens führt, und wie diese vielen Themen alle
heißen mögen. Die besten Männer haben sich in dieser Zeitschrift zur Mitarbeit
vereinigt: Geheimrat Goldscheider schreibt über Erkältung und Erkältungsfurcht,
Eugen Zabel über Goethe als Lebenskünstler, Geheimrat Professor Dr. Schottelius
über Ernährungsfragen, Peter Rosegger, Dr. Avenarius, Richard Nordhausen be-
handeln ethische und pädagogische Probleme, wir finden Arbeiten von Rudolf
^ Eucken, A. H. France, dem Münchener Hygieniker Gruber, Praussnitz, Münster-
^m^ berg, Rubner, Heubner und vielen anderen. Bei einem solchen Inhalt ist es wohl
^H berechtigt, auch an dieser Stelle eine warme Empfehlung für diese Zeitschrift
^H auszusprechen. Sie sollte in den Kreisen unserer Gymnasiallehrer weiteste Ver-
^H breitung finden, da sie nur segensreich wirken und wesentlich dazu beitragen
^^K wird, die Lehrerschaft dauernd über die verschiedenen Fragen der Gesundheits-
^^m pflege zu belehren und aufzuklären. Die Zeitschrift erscheint in monatlichen
^^B Heften von je IV2 Bogen im Deutschen Verlag für Volkswohlfahrt, Berlin W. 30,
^^m Nollendorfstraße 29/30, und kostet jährlich 4 M. Probeexemplare werden sowohl
^B von dem Verlag als auch von der Geschäftsstelle des Deutschen Vereins für Volks-
^^m hygiene, Berlin W. 30, Motzstraße 7, stets gerne auf Wunsch versandt.
^B, Berlin. K. Beerwald.
L
288 Vermischtes.
Ferienkurse in Hydrobiologie und Planktonkunde will Prof. Dr. Zacharias
in Plön (Biolog. Station) von jetzt an jährlich veranstalten. Es soll in diesen ein
Hinweis auf die Geschichte dieses Wissenszweiges gegeben werden, die Lebens-
bedingungen der Schwebewesen geschildert werden, vor allem aber Bekanntschaft
mit den Fangmitteln, mit der Untersuchung und Aufbewahrung der Kleinwesen
und ihre Verwertung im Unterricht gelehrt werden. Da die Lehrer, welche Bio-
logie auf der Oberstufe unterrichten, von dieser Art der Belehrung Gebrauch
machen können, sei an dieser Stelle kurz darauf hingewiesen. Näheres wird der
Veranstalter selbst auf Wunsch mitteilen.
Perleberg. F. Hock.
1. Abhandlungen.
Die freiere Gestaltung des Unterrichtes in der Prima des
Lyzeums zu Hannover.
über den Versuch einer freieren Gestaltung des Unterrichts der Prima, wie er
im verflossenen Schuljahre an dem von mir geleiteten Gymnasium gemacht ist,
habe ich in der letzten Versammlung des Philologen-Vereins der Provinz Hannover
auf Wunsch des Vorstandes einen Vortrag gehalten, der allem Anscheine nach
großes Interesse fand. Wenn ich meine Ausführungen im folgenden veröffentliche,
so hoffe ich, auch bei dem weiten Leserkreise der Monatschrift für höhere Schulen
auf Interesse rechnen zu dürfen, einmal weil das Problem, um das es sich handelt,
seit einigen Jahren aufs lebhafteste erörtert wird, zum andern, weil auf diesem
Gebiete jede Erprobung der Theorie durch die Praxis höchst wertvoll und förder-
lich erscheint, und endlich drittens, weil die am Lyzeum getroffene Einrichtung
sich von den übrigen, die dem gleichen Zwecke dienen, erheblich unterscheidet.
Ich setze voraus, daß der Gegenstand der Erörterung selbst, die freiere Gestal-
tung des Unterrichts oder die Bewegungsfreiheit im Unterrichte, bekannt ist; denn
seitdem von oben her der erfrischende Wind der Freiheit über das Feld der Päda-
gogik der höheren Schulen fährt und die starre Decke der Lehrpläne gelockert
hat, haben sich vielerorten Keime geregt und ans Licht gewagt, von deren Dasein
man nichts wußte und deren Entwicklung man früher für unmöglich gehalten
hätte. Die pädagogische Fachpresse und die Tagespresse haben sich mit der
Frage beschäftigt, auf Direktorenkonferenzen ist sie verhandelt — so auf der letzten
hannoverschen und der letzten rheinischen — und bei der Tagung des Vereins-
verbandes akademisch gebildeter Lehrer Deutschlands zu Braunschweig war sie
das Thema eines ausführlichen Vortrages.
Ich begnüge mich daher mit der Erklärung, daß das Ziel selbst, dem wir zustreben,
das gleiche ist wie bei den andern Gestaltungen der Bewegungsfreiheit, nämlich
durch Berücksichtigung der Neigungen und Anlagen der Schüler ihre Arbeit
freudiger und damit den Schulbesuch ersprießlicher zu gestalten, zugleich auch
die Kluft zwischen der Arbeit der Schule und dem Studium auf der Universität
nach Möglichkeit zu überbrücken. Wie die Freunde der Bewegungsfreiheit —
denn es gibt natürlich auch Kollegen, die sich ablehnend verhalten — in diesem
Ziele einig sind, so herrscht im ganzen auch Einigkeit über die Zeit, in der die
Monatichrift f. höh. Schulen. VUI. Jhrg. 19
290 W. Prinzhorn,
größere Freiheit am Platze ist; nur die Prima der Vollanstalten gilt als die ge-
eignete Stufe, auf der man den Jünglingen die Möglichkeit geben möchte, die
Schwingen des Geistes freier zu regen und auf Tage oder Stunden wenigstens
dem Gängelbande zu entfliegen, an dem sie zehn Jahre festgehalten und ge-
leitet sind.
Desto mannigfacher sind aber die Meinungen und Vorschläge, wenn es
sich um die Art und Weise der Ausführung handelt. Das Feld ist noch so wenig
angebaut, daß es für viele Versuche Raum bietet. Der eine will der Jugend durch
Studientage mit oder ohne Aufsicht helfen, der andere mit freien Arbeiten, ein
dritter mit Schülervereinigungen; daneben gibt es Gruppensysteme in verschieden-
artiger Zusammensetzung, Selektenbildung, Wahlfreiheit zwischen mehreren Fächern,
ja selbst das Fachsystem ist der Vergessenheit wieder entrissen worden.
Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, die Frage im allgemeinen zu be-
handeln und das Für und Wider bei den mannigfachen Vorschlägen zu erörtern,
glaube mich vielmehr im wesentlichen auf die am Lyzeum getroffene Einrichtung
beschränken zu sollen.
Eine Voraussetzung muß vorliegen, will man bei einem Versuche auf Erfolg
rechnen: es muß Lust und Interesse daran unter den Kollegen vorhanden sein.
Schon im Namen der neuen Einrichtung liegt es, daß Zwang oder Druck sich da-
mit schlecht verträgt. Jene Voraussetzung traf bei uns zu, das erforderliche Inter-
esse war da, wie sich in Unterhaltungen und bei Besprechungen in der Konferenz
zeigte. Zwei Mitglieder des Kollegiums sind auch literarisch für die Sache auf-
getreten, die Professoren Hornemann und Budde, deren Aufsätze den Lesern, zum
Teil wenigstens, sicherlich bekannt geworden sind. Zudem fand sich ein er-
mutigender Vorkämpfer in einem Meister der Schule und der Wissenschaft, der
uns besonders nahe stand, dem früheren Direktor des Lyzeums, Heinrich Ludolf
Ahrens, auf dessen im Schulprogramm von 1857 ausgesprochene Gedanken Hornemann
in einem Aufsatze in den Neuen Jahrbüchern 1906 nachdrücklich hinwies. Ahrens
beklagt es dort, daß die freie Selbsttätigkeit auf der obersten Stufe der Gymna-
sien zu wenig gefördert werde, und empfiehlt als Abhilfe Selektalektionen in
verschiedenen Unterrichtsfächern, die neben dem gewöhnlichen Unterrichte her-
gehen sollen. Hornemann konnte hinzufügen, daß er mit dem Unterrichte in Se-
lektakursen schon wiederholt die besten Erfahrungen gemacht habe.
So lagen wertvolle Gedanken und Versuche vor, an die wir anknüpfen konnten
und gern anknüpften.
Nach eingehenden Erörterungen in der Konferenz war bereits ein Plan aus-
gearbeitet, der dem Königlichen Provinzial-Schulkollegium eingereicht werden sollte,
als sich mit unserer Absicht eine neue sehr beachtenswerte Anregung kreuzte. Der
Herr Stadtdirektor von Hannover, der ebenso wie der Herr Stadtsyndikus, Dezer-
nent für das Schulwesen, sich lebhaft für eine freiere Gestaltung des Unterrichts
interessierte, trat an mich heran mit dem Wunsche, im Lyzeum möge ein dahin-
gehender Versuch gemacht werden, bei dem die Mathematik in den oberen Klassen
wahlfreies Unterrichtsfach würde. Ich war mir darüber klar, daß solche Bestimmung
ein zu starker Eingriff in die bestehenden Verhältnisse wäre und auch mit der
Reifeprüfungsordnung schwerlich in Einklang gebracht werden könnte, und ver-
Die freiere Gestaltung des UnterrfJhts usw. 291
faßte meinerseits eine Denkschrift für den Magistrat, in der ich die Bewegungs-
freiheit im allgemeinen behandelte und schließlich unsern oben erwähnten Plan
besprach, jedoch ohne ihn als den einzig möglichen oder wünschenswerten hin-
zustellen. Zu diesem Aufsatze ist dann durch Vermittlung des Herrn Oberpräsi-
denten, der der Sache warme Teilnahme entgegenbrachte, von einem — inzwischen
verstorbenen — Mitgliede des Königlichen Provinzial-Schulkollegiums ein Gut-
achten verfaßt, und nach neuen Beratungen und Verhandlungen habe ich schließ-
lich einen Entwurf eingereicht, der vom Herrn Minister im wesentlichen genehmigt
worden ist.
Ich glaubte das Gesagte vorausschicken zu sollen, um zu zeigen, wie reiflich
die von uns getroffene Einrichtung erwogen ist, ehe sie wirklich eingeführt wurde;
dies gab uris von vornherein ein gewisses Gefühl der Sicherheit, daß wir uns nicht
auf einem Irrwege befänden. Damit verband sich die Freude über das Interesse,
das nicht nur die Schulbehörde, sondern ebenso der Magistrat für den pädagogi-
schen Versuch zeigte.
Ich lasse nun den Entwurf folgen, zu dem ich im voraus bemerke, daß der
Name Sonderunterricht gewählt ist, um ein Bedenken zu zerstreuen, das im Laufe
der Verhandlungen geäußert wurde, nämlich die Teilnehmer an Selekten oder
Selektakursen möchten auf diese Bezeichnung stolz werden und sich über ihre
Mitschüler erhaben dünken.
Der Entwurf lautet unter Weglassung einiger inzwischen bedeutungslos ge-
wordenen Stellen folgendermaßen:
1. Neben dem lehrplanmäßigen Unterrichte wird den Primanern Gelegenheit
geboten, an Sonder-Unterrichtskursen teilzunehmen, und zwar sind solche Kurse
in Aussicht genommen für: a) philosophische Propädeutik, b) Deutsch, c) die
alten Sprachen, d) die neueren Sprachen, e) Geschichte, f) Mathematik, g) Natur-
wissenschaften.
2. Von diesen Kursen treten, soweit es im Rahmen des gesamten Schul-
betriebes tunlich erscheint, in jedem Jahre diejenigen in Tätigkeit, für die sich ge-
eignete Schüler finden und zu deren Leitung sich Mitglieder des Kollegiums
bereit erklären.
Der Unterricht findet in je zwei Wochenstunden, getrennt für Unter- und Ober-
prima, statt. Die Stunden werden tunlichst in die gewöhnliche Unterrichtszeit ge-
legt. Soweit das nicht geht, finden sie außerhalb derselben statt, und es können
dann die beiden für ein Fach bestimmten Stunden zu einer P/a bis 2 stündigen
Unterrichtszeit zusammengelegt werden.
3. Wer an einem Sonderkursus teilnimmt, wird von zwei Stunden mathe-
matischen oder von zwei bis drei Stunden lateinischen Unterrichts befreit; wer an
zwei Kursen teilnimmt, von je zwei Stunden in beiden genannten Fächern. Auf
die Entlastung kann unter Umständen verzichtet werden.
4. Über die Teilnahme am Sonderunterrichte und über die Entlastung behält
sich die Schule in jedem einzelnen Falle das Recht der Entscheidung vor, doch
sollen die Wünsche der Schüler bzw. der Eltern, soweit sie nicht nach dem Urteile
der Schule dem wahren Interesse der ersteren entgegenstehen, weitherzige Be-
rücksichtigung findet).
19»
292 W. Prinzhorn,
5. Es ist zunächst in Aussicht genommen, daß die Schüler, die in Sonder-
kursen unterrichtet werden, in den betreffenden Fächern mit den übrigen an dem
lehrplanmäßigen Unterrichte teilnehmen.
Sollte sich dieser Versuch durch die Erfahrung nicht als zweckmäßig erweisen,
so müßte ein anderer Weg eingeschlagen werden.
6. In den Vierteljahrszeugnissen wird im Lateinischen und in der Mathematik
für die Leistungen der Schüler, die in diesen Fächern entlastet sind, ein ent-
sprechend geringerer Maßstab zugrunde gelegt, ebenso in der Reifeprüfung.
Dafür kommt in den Fächern, in denen sie am Sonderunterrichte teilnehmen, ein
entsprechend höherer Maßstab in Anwendung. Dies wird in den Reifezeugnissen
und den an Primaner erteilten Abgangszeugnissen zutreffenden Falles bei den
Unterrichtsfächern vermerkt.
7. Für jeden Sonder -Unterrichtskursus erhält der betreffende Leiter eine
Renumeration von 300 M. fürs Jahr.
Wie schon bemerkt, lautete der Bescheid des Herrn Ministers zustimmend,
abgesehen von einer — oben fortgelassenen — Bestimmung des Entwurfes, nach
der es in Ausnahmefällen gestattet sein sollte, einen Primaner von einem Unter-
richtsfache ganz zu befreien gegen entsprechende Ersatzleistungen in anderen
Fächern; dies wurde nach der Vereinbarung mit den deutschen Staatsregierungen
über die gegenseitige Anerkennung der Reifezeugnisse als unzulässig bezeichnet.
Weiter heißt es in dem Ministerialerlasse: „Ob es sich empfiehlt, diejenigen
Schüler, welche den Vollunterricht in Mathematik oder Latein genießen, mit den-
jenigen Schülern, die nicht an allen Stunden dieser Fächer teilnehmen, gemeinsam
zu unterrichten, erscheint nicht zweifelfrei. Es wird deshalb nötig sein, besondere
Aufmerksamkeit dieser Frage zuzuwenden und, falls es sich als notwendig her-
ausstellen sollte, in Mathematik und Latein für die beiden Schülergruppen ge-
trennten Unterricht einzurichten.
Erwünscht erscheint es auch, daß, falls im Deutschen, im Griechischen oder
in einer neueren Fremdsprache ein Sonderkursus eingerichtet wird, die Ent-
lastung im Lateinischen, nicht aber in Mathematik gesucht wird."
Es galt nun, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Da sich der Wunsch
geltend machte, auch den zu Ostern 1908 beginnenden Jahrgang der Oberprima
an dem Vorteile der neuen Einrichtung teilnehmen zu lassen, so blieb der Versuch
nicht, wie ursprünglich fürs erste Jahr beabsichtigt gewesen war, auf die Unter-
prima beschränkt, sondern wurde auf beide Primen ausgedehnt. Durch ein Rund-
schreiben setzte ich den Eltern der in Frage kommenden Schüler auseinander,
um was es sich handle, und forderte sie auf, die Sache mit ihren Söhnen ernstlich
zu erwägen und der Schule ihre etwaigen Wünsche mitzuteilen. Mit den Schülern
selbst wurde der Plan in den Klassen besprochen.
Indem die geäußerten Wünsche nach Möglichkeit berücksichtigt wurden, kam
schließlich folgendes Resultat zustande:
In der Oberprima traten fünf Sonderkurse ins Leben, je einer für philosophische
Propädeutik mit fünf Teilnehmern, von denen einer im Herbste nach bestandener
Reifeprüfung abging, für Griechisch mit drei Teilnehmern, für Englisch mit fünf
Teilnehmern, für Geschichte mit fünf Teilnehmern, für Mathematik mit drei Teil-
Die freiere Gestaltung des Unterrichts usw. 293
nehmern. Wenn ich die drei zu Michaelis entlassenen Oberprimaner nicht mit-
rechne, so beteiligten sich von vierundzwanzig Oberprimanern im ganzen sechzehn,
während acht bei dem lehrplanmäßigen Gange blieben. Unter jenen sechzehn
waren acht von zwei Stunden lateinischen Unterrichtes befreit, sechs von zwei
Matheraatikstunden, einer, der an zwei Kursen teilnahm, von je zwei Latein- und
Mathematikstunden, einer verzichtete mit Genehmigung der Schule auf Entlastung.
Drei Schüler nahmen bei Entlastung in einem Fache an zwei Kursen teil, einer
wollte ohne jede Entlastung an zwei Kursen teilnehmen, das wurde ihm jedoch
nicht gestattet.
In Unterprima kamen drei Sonderkurse zustande, je einer für Englisch mit
drei Teilnehmern, für Geschichte mit vier Teilnehmern, für Naturwissenschaft mit
vier Teilnehmern. Von zwanzig Unterprimanern beteiligten sich zehn, während
die andere Hälfte bei dem gewöhnlichen Lehrplan geblieben ist. Jene zehn waren
auf ihren Wunsch sämtlich von zwei Stunden Latein-Unterrichts befreit; ein
Schüler durfte an zwei Kursen teilnehmen ohne Entlastung für den zweiten.
Von diesen acht Sonderkursen, die zu Ostern 1908 eingerichtet wurden,
konnten vier in die gewöhnliche Unterrichtszeit gelegt werden, je zwei der Ober-
prima und der Unterprima, die übrigen vier, drei der Oberprima und einer der
Unterprima, wurden an Nachmittagen abgehalten, und zwar je an einem Nach-
mittage in anderthalb Stunden.
Wenn ich mich nun zu den Gegenständen des Sonderunterrichtes und ihrer
Behandlung wende, so muß ich dabei natürlich zu gutem Teile die Angaben, die
die Leiter der Kurse mir gemacht haben, wiedergeben.
Der propädeutische Unterricht Inder Philosophie (Oberprima) hatte nicht
das Ziel, die Schüler in bestimmte Gebiete der Philosophie, wie etwa Logik und
Psychologie, einzuführen, auch nicht, ihnen eine bestimmte Weltanschauung zu
übermitteln. Er wollte sie vielmehr allgemein zu tieferem Nachdenken über
Fragen des Lebens und der Wissenschaft anregen, ihre geistige Regsamkeit und
Selbständigkeit wecken, ihre Lust und Kraft zu eigenem Prüfen und Urteilen
fördern, ihnen zeigen, wie manche Probleme, die die höchsten Interessen der
Menschheit berühren, von der Wissenschaft nicht gelöst sind und auch wohl nie
gelöst werden können, kurz, ihnen eine vorbereitende Anleitung dazu geben, in
den ernsten Fragen, die an den Menschen herantreten, einen festen Standpunkt
zu gewinnen.
Um dieses Ziel zu erreichen, wurde eine Einführung in einige Hauptprobleme
der Philosophie im Anschluß an Windelbands Präludien versucht. Zuerst wurde
der einleitende Aufsatz „Was ist Philosophie?" gelesen und besprochen; dann die
Frage der Willensfreiheit im Zusammenhang mit der Lektüre des Aufsatzes
„Normen und Naturgesetze" behandeU. Bedenken gegen Windelbands Determinismus
wurden dargelegt und zur freiwilligen Lektüre gab der Leiter den Schülern Joels
Schrift „Der freie Wille", nachdem die Auffassung dieses Philosophen erläutert
war. Es folgte aus den Windelbandschen Präludien der Aufsatz „Vom Prinzip
der Sittlichkeit", dessen wesentlicher Inhalt mit den Ansichten Kants und Schillers,
die im Unterricht vorgekommen waren, verglichen wurde. Endlich gab der Aufsatz
294 W. Prinzhorn,
»Das Heilige« nebst einigen Stellen aus der Schlußbetrachtung „Sub specie
aeternitatis« Veranlassung zur Einführung in das religiöse Problem.
Für jede Stunde hatten die Schüler das in der vorhergehenden Stunde Ge-
lesene in kurzer Zusammenfassung schriftlich auszuarbeiten. Zuletzt wurde ihnen
als Thema eines freiwilligen „ Abschiedsaufsatzes " gestellt: «Die Hauptbegriffe
der Ethik Kants, Schillers, Windelbands vergleichend entwickelt.« Zwei Schüler
bearbeiteten dieses Thema mit gutem Erfolge, von denen einer am Schluß den
Gedanken als allgemeines Ergebnis hinzufügte, Kant befriedige am meisten sein
ethisches, Schiller sein ästhetisches, Windelband sein logisches Bewußtsein.
Das in die Reifezeugnisse aufgenommene Urteil lautete bei zwei Schülern sehr
gut, bei einem gut, beim vierten genügend.
In dem griechischen Sonderkursus für Oberprima wurde der Gesichtskreis
der Teilnehmer durch Lektüre griechischer Dichtungen erweitert, die im Klassenunter-
richte keinen Raum finden. Der größte Teil des Jahres war den Lyrikern gewidmet, und
zwar wurde die Auswahl von Biese zugrunde gelegt. Solernten die Schüler ein
Gebiet näher kennen, das ihnen sonst fast ganz fremd geblieben wäre und doch
großes Interesse bietet, nicht nur an sich, sondern auch wegen der engen Be-
ziehungen zur Lyrik der Römer. Außerdem wurde ein Äschyleisches Drama ge-
lesen, nämlich der Prometheus, Die Lektüre eines Dramas von Äschylus neben
den im Unterrichte behandelten Sophokleischen schien zur Einsicht in die Ent-
wicklung der Tragödie sehr förderlich und ließ zudem das Wissen von dem
eigentlichen Schöpfer der Tragödie nicht auf seinen Namen und seine Teilnahme
am Kampfe bei Salamis beschränkt bleiben, wie das doch für gewöhnlich der Fall
ist. Bei längerer Zeit würde zweckmäßig auch ein Stück von Euripides gelesen
sein. Für die Wahl dieses Sonderkursus ist bei zwei Teilnehmern vermutlich das
in Aussicht genommene Studium mit ins Gewicht gefallen, und es will mir scheinen,
als ob für diese beiden künftigen klassischen Philologen eine eingehendere Beschäf-
tigung mit dem Griechischen besonders wertvoll gewesen sein könnte; denn in
der griechischen Sprache und Literatur sind die angehenden Studierenden durch-
weg wohl weniger bewandert, als im Lateinischen. Daß von einer philologischen
Behandlung der Lektüre nicht die Rede sein kann, brauche ich kaum zu erwähnen;
die soll dem Studium vorbehalten bleiben. Dadurch ist natürlich nicht aus-
geschlossen, daß gelegentlich eine Frage der Überlieferung oder Kritik etwas ein-
gehender besprochen wird, znmal wenn man bei den Teilnehmern auf Interesse
dafür stößt.
In Geschichte fand je ein Sonderkursus für Oberprimaner und für Unter-
primaner statt; bei den Teilnehmern an dem erstgenannten konnte das mit den
Unterprimanern bearbeitete Pensum vorausgesetzt werden, da es mit ihnen im vor-
hergehenden Schuljahre in einer privatim eingerichteten Selekta für Geschichte
durchgenommen war. Der Unterricht hatte den Zweck, die Schüler in den allge-
meinen Zusammenhang der Kulturentwicklung Deutschlands einzuführen. Als
leitender Gedanke wurde (mit Lamprecht) der Übergang von vollkommener Ge-
bundenheit der Persönlichkeit zu immer größerer Freiheit angenommen und dar-
nach sowohl die Periodenteilung wie die Ausführung im einzelnen gestaltet.
Auf die Anhäufung umfangreichen Gedächtnisstoffes sowie auf Einzelschilde-
Die freiere Gestaltung des Unterrichts usw. 295
rungen wurde kein Gewicht gelegt; alle angeführten Einzelheiten sollten nur den
allgemeinen Gedanken anschaulich und klar machen.
Jede Epoche wurde nach ihren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen,
nach ihrem künstlerischen und wissenschaftlichen Leben, nach ihren staatlichen
Zuständen, nach ihrer sittlichen und religiösen Eigentümlichkeit geschildert; überall
wurde versucht zu zeigen, welche Mächte die Lösung der Persönlichkeit förderten
oder hemmten, und worin der erreichte Stand der Entwicklung auf allen Kultur-
gebieten sich zeigte. Besonders ausführlich wurde in dieser Beziehung der Über-
gang vom Mittelalter (d. h. dem Zeitalter der gebundenen Persönlichkeit) zur
Neuzeit (d. h. dem Zeitalter der befreiten Persönlichkeit) betrachtet.
Der Gegenstand des ersten Jahres des Sonderunterrichts war die Kultur-
geschichte unseres Volkes bis zum Ausgange des Mittelalters; im zweiten Jahre
kam dazu der Übergang zur Neuzeit und diese selbst bis zur Mitte des 18. Jahr-
hunderts. Für die Behandlung der neuesten Geschichte (d. Zeitalter des Sub-
jektivismus) fehlte leider die Zeit. Jeder Teilnehmer lieferte einen Abschieds-
aufsatz, in welchem ein Thema aus der deutschen Kulturgeschichte, meist mit sehr
gutem Erfolge, bearbeitet war. Die Themata lauteten: Loyola und sein Orden.
Das Prinzip der Reformation und ihr Einfluß auf die Geschichte der europäischen
Völker im 16. und 17. Jahrh. nach Chr. (nach Dietrich Schäfer). Deutsches Leben
zur Zeit der Reformation (nach Gustav Freytag). Die Gliederung der wirtschaft-
lichen Arbeit und deren Einfluß auf die soziale Klassenbildung (nach Karl
Bücher).
Ich komme zu den beiden englischen Sonderkursen, und zwar zunächst
dem für die Oberprimaner. Die fünf Teilnehmer wünschten sämtlich, nicht Lektüre
zu treiben, sondern in den Gebrauch der Sprache eingeführt zu werden, und der
Leiter erklärte sich bereit, diesem Wunsche nachzukommen. Dementsprechend
wurde auf ein dreifaches Ziel hingearbeitet:
1. Die Aneignung eines möglichst großen Wort- und Phrasenschatzes, der
nicht nur der Buchsprache entnommen wurde, sondern vor allem der niederen und
höheren Umgangssprache.
2. Gewöhnung des Ohres an den fremden Klang.
3. Gewöhnung an den eigenen, möglichst glatten und fließenden mündlichen
Gebrauch der englischen Sprache mit besonderer Rücksicht auf die Erwerbung
einer möglichst deutlichen und korrekten Aussprache.
Der Stoff wurde entnommen aus Stiers englisch-deutschem Vokabular, Berlitz,
First book for adults, ferner aus englischen Tageszeitungen und Texten aus
modernen englischen Schriftstellern.
Die Vokabeln und Phrasen aus dem nach sachlichen Gesichtspunkten geord-
neten Vokabular wurden mit Auswahl gelernt und dann unter Ausschaltung der
Muttersprache durch Fragen des Lehrers und durch gegenseitiges Fragen der
Schüler festgelegt. Dabei wurde, um die Teilnahme zu erhöhen, das persönliche
Leben der Schüler in Schule, Haus und Gesellschaft möglichst herangezogen.
Ähnlich wurden die in dem Berlitzschen Buche enthaltenen Stoffe benutzt.
Bei der Behandlung englischer Tageszeitungen kam es darauf an, den Schülern
die ganze Einrichtung und Stoffgruppierung nahe zu bringen, überhaupt sie in
296 W. Prinzhorn,
einer solchen Zeitung heimisch zu machen. So wurden einzelne Artikel, die be-
sonderes Interesse boten, gelesen und besprochen und Tagesfragen, die den
Schülern schon aus deutschen Zeitungen bekannt waren, in englische Beleuchtung
gerückt.
Die Texte aus modernen englischen Schriftstellern endlich sollten hauptsächlich
dazu dienen, die Schüler noch mehr zu befähigen, die vorgesprochene Fremd-
sprache richtig zu hören und aufzufassen. Zu diesem Zwecke wurden ganz un-
bekannte Texte von dem Lehrer ausgewählt und nach Erklärung unbekannter
Vokabeln von dem Lehrer oder einem Schüler diktiert.
Mit dem Erfolge war der Leiter des Kurses recht zufrieden.
Ein anderes Ziel verfolgte der englische Sonderkursus, der in Unter-
prima begann, aber für zwei Jahrgänge berechnet ist; nämlich das Einlesen in be-
deutende englische Autoren und dadurch Einführung in die englische Geschichte,
Poesie und Philosophie. Daneben auch eine gewisse Geübtheit im freien münd-
lichen und schriftlichen Gebrauche des Englischen. Die Fähigkeit mündlichen
Ausdruckes wurde angestrebt dadurch, daß während des Unterrichts die Mutter-
sprache ausschied, soweit es das Verständnis des Inhaltes zuließ, denn dieses sollte
nicht durch Rücksicht auf praktische Sprechfertigkeit beeinträchtigt werden. Aber
wenn der Inhalt sicher verstanden und aufgefaßt war, wurden Zunge und Ohr geübt
durch Fragen und Antworten und kürzere zusammenhängende Referate im An-
schlüsse an die Lektüre. Alles, was sich auf den äußeren Gang des Unterrichts
bezog, wie Auffordern zum Übersetzen u. dgl., wurde in englischer Sprache erledigt.
Eine gewisse Geübtheit im freien schriftlichen Gebrauche des Englischen wurde
angestrebt durch Aufsätze im Anschluß an das Gelesene.
Im verflossenen Schuljahre wurde ein allgemeiner Überblick über die englische
Geschichte von ihren Anfängen bis zur Gegenwart mit Einschluß der Kolonial-
geschichte gegeben an der Hand von Chambers Englisch History und eine ge-
nauere Einführung in einen Hauptabschnitt der englischen Kolonialgeschichte an
der Hand von Macaulay, Lord Clive; für das Oberprimajahr ist die Einführung in
die Höhenlagen der englischen Poesie und in Gedanken bedeutender englischer
Philosophen in Aussicht genommen. Der Lehrer war mit den Erfolgen sehr zu-
frieden und hofft, daß die Schüler mit Abschluß des Kursus etwa den Bildungs-
stand der Abiturienten des Realgymnasiums erreichen werden.
Das Ziel des Sonderkursus in der Mathematik (Oberprima) war Einführung in
die Differential- und Integralrechnung. Zu diesem Zwecke wurden anfangs graphische
Darstellungen von ganzzahligen rationalen Funktionen einer Veränderlichen verwandt;
diese dienten auch dazu, algebraische Gleichungen höherer Grade annäherungsweise
aufzulösen. Daran schloß sich die Entwicklung des Begriffes des Differential-
Quotienten und der Differentiale, sowie die Ableitung der wichtigsten Differential-
formeln. Ferner wurden die Taylorsche und Mac Laurinsche Reihe abgeleitet und
ihre Anwendung zur Berechnung der goniometrischen Funktionen, der Logarithmen
und der Zahlen e und tc gezeigt, ebenso zur Berechnung der Maxima und Minima.
Der Begriff des Integrals wurde als Umkehrung des Differentials eingeführt
und die wichtigsten Integralformeln wurden abgeleitet, ferner Integrationen durch
Substitution durchgeführt und partielle Integrationen. Der Begriff des bestimmten
Die freiere Gestaltung des Unterricftts usw. 297
Integrals wurde abgeleitet und angewandt zur Rektifikation und Quadratur ebener
Kurven, zur Berechnung der Oberflächen und Rauminhalte von Rotationskörpern,
zu Schwerpunktsbestimmungen und zur Berechnung von Trägheitsmomenten. Der
Gang des Unterrichtes richtete sich im wesentlichen nach Lesser, Einführung in
die Infinitesimalrechnung. Die Teilnehmer haben mit Lust und Eifer gearbeitet
und es zu erfreulichen Leistungen gebracht.
An dem Sonderkursus in Chemie nahmen vier Unterprimaner teil. Der
Unterricht sollte den Schülern Kenntnis und Verständnis der wichtigsten Vorgänge
und Erscheinungen auf dem Gebiete der anorganischen Chemie und im Anschluß
daran Einsicht in die allgemeinen Gesetze und Regeln, nach denen die chemischen
Prozesse vor sich gehen, verschaffen. Der Unterricht wurde so erteilt, daß die
Schüler die Versuche selbst anstellten, meistens jeder für sich allein, bisweilen, ins-
besondere bei umständlicheren Versuchen, je zwei zusammen arbeitend. Sie mußten
darüber Buch führen und wurden angehalten, sorgfältig zu beobachten und aus
dem Beobachteten vorsichtig Schlüsse zu ziehen.
Da aus dem Klassenunterrichte nur geringe Kenntnisse mitgebracht wurden,
so mußte anfangs, um nicht allzu langsam weiter zu kommen, der Leiter öfter
theoretische Erörterungen geben; da aber der Kursus sich über zwei Jahre er-
strecken soll, so ist zu erwarten, daß im zweiten Jahre die eigene Tätigkeit der
Schüler noch mehr hervortreten wird. Bislang sind behandelt die Elemente, ihre
binären Verbindungen, Hydrate und einige Salze, daneben stöchiometrische Be-
ziehungen und Rechnungen. Der Kursleiter hofft, daß es gelingen wird, gegen
Ende des Kursus auch einige Kapitel der organischen Chemie, soweit sie biologi-
sche Bedeutung haben, zu behandeln.
Anfangs machten sich Mangel an Handfertigkeit und Ordnungssinn störend
bemerkbar, doch wurde es damit allmählich besser. Die Schüler liebten es durch-
weg mehr, neue Versuche anzustellen, als aus den angestellten Schlüsse und Re-
sultate zu ziehen, arbeiteten aber durchweg mit Lust und Interesse.
Ich hoffe durch diese Darlegungen die Geduld der Leser nicht über Gebühr
in Anspruch genommen zu haben. Sollte einmal der am Lyzeum unternommene
Versuch behandelt werden, so schien es mir richtig, nicht nur Umrisse zu ziehen,
sondern diese auch mit einigen Linien auszufüllen.
An die Mitteilung des Tatsächlichen schließe ich eine Erörterung über die
Gründe, die uns gerade zu dieser Gestaltung der Bewegungsfreiheit geführt haben,
und über andere Fragen, die damit zusammenhängen ; dabei werden auch Vorteile
und Nachteile der Einrichtung hervortreten.
An die Spitze möchte ich das Prinzip stellen, das uns bei unseren Maßnahmen
geleitet hat: wir woHten Freiheit gewähren, soweit das im Rahmen der Schule
irgend möglich war.
Deshalb haben wir zunächst, abweichend von anderen Anstalten, den Schülern
den lehrplanmäßigen Weg offen gehalten. Er ist doch nun einmal der gewohnte
und gebahnte, und die Freiheit, auf anderen Wegen zu gehen, würde etwas Ge-
zwungenes haben, wenn man den Hauptweg versperren wollte. Erschien seine
Freihaltung an sich als recht und billig, so sprach dafür auch die Erfahrung, daß
manche Schüler nach keiner Seite hin eine so ausgesprochene Begabung oder
298 W. Prinzhorn,
Neigung haben, um deshalb die Bildung, die sie nach dem lehrplanmäßigen Unter-
richte erwerben können, in einer Richtung zu beschränken. Bei anderen liegt die
Begabung auf künstlerischem Gebiete und kann von der Schule nicht entsprechend
gepflegt werden, wieder andere können doppeltes Futter brauchen und ohne Ent-
lastung ihren besonderen Interessen nachgehen. Der Erfolg hat uns bis jetzt recht
gegeben, denn von beiden Primen wollte ein erheblicher Teil — in der Unterprima
die Hälfte — auf dem lehrplanmäßigen Wege bleiben.
Aus dem vorangestellten Prinzip folgt zweitens, daß die Fächer, die den
Schülern zur Auswahl geboten werden, möglichst zahlreich sein müssen, soll anders
der Hauptzweck, die Schüler ihrer eigenen Begabung und Neigung entsprechend
über das gewöhnliche Ziel der Schule hinaus zu fördern und dadurch zu freier
und freudiger Selbsttätigkeit anzuregen, erreicht werden. Mag man auch mit Recht
zwei oder drei Hauptgruppen von Anlagen aufstellen, so zeigen sich innerhalb
dieser Gruppen doch wieder erhebliche Verschiedenheiten, und noch mehr gehen
die Interessen auseinander, die nicht immer allein durch die Beanlagung bedingt
zu sein brauchen, sondern auch in dem Lebenskreise, in dem der einzelne auf-
gewachsen ist, oder in guten Erfolgen auf den früheren Unterrichtsstufen oder in
dem erwählten Lebensberufe ihren Grund haben können. Der eine fühlt sich von
der Naturwissenschaft angezogen, ohne darum ein Jünger des Euklid zu sein, ein
anderer wünscht seine Kraft besonders einer der modernen Fremdsprachen zu
widmen, während er sich mit der Sprache Ciceros nur beschäftigt, weil er muß.
Gerade den eigenen Neigungen und Wünschen der Schüler aber wollten wir ent-
gegenkommen und haben deshalb den Kreis der Sonderfächer möglichst weit ge-
zogen. Jeder Wunsch kann natürlich doch nicht erfüllt werden, das ist hier so,
wie überall in der rauhen Wirklichkeit des Lebens, aber es schien uns richtig, den
Schülern so weit entgegenzukommen, wie es die Verhältnisse gestatten. Man
könnte vielleicht daran denken, auch das Zeichnen unter die Sonderfächer einzu-
reihen; sein Wert für die Bildung im allgemeinen und für bestimmte Berufe wird
heute weit höher eingeschätzt, als noch vor wenigen Jahrzehnten, und wenn die
Teilnahme am Zeichnen durch eine Entlastung auf anderem Gebiete aufgewogen
würde, so läge darin vermutlich ein stärkerer Anreiz, als in den Aufforderungen
und Empfehlungen der Schule. Ich bemerke übrigens, daß mir dieser Gedanke
erst bei der Ausarbeitung des Vortrages gekommen ist; mag er auf den ersten
Blick etwas Ungewohntes haben, so scheint er mir immerhin diskutabel zu sein.
Auch Kunstgeschichte als Sonderfach würde meine volle Zustimmung finden, vor-
ausgesetzt, daß ein geeigneter Lehrer vorhanden ist; denn die Kunst wird meiner
Meinung nach auf den höheren Schulen stiefmütterlich behandelt.
Drittens soll möglichst große Freiheit herrschen im Sonderunterrichte selbst.
Über den zu behandelnden Stoff und die Art der Behandlung sollen nicht im
voraus Pläne festgelegt und Vorschriften aufgestellt werden, sondern der Leiter
des Kursus soll darüber selbst befinden, nachdem er sich mit den Teilnehmern
besprochen und ihre etwaigen Wünsche gehört hat. Bei der geringen Zahl der
zu Unterrichtenden kann man wirklich auf geäußerte Wünsche eingehen, und eine
solche Rücksichtnahme entspricht durchaus dem Sinne der ganzen Einrichtung.
Selbstverständlich will ich damit nicht einem willkürlichen Hin- und Herschwanken
Die freiere Gestaltung des Unterricftts usw. 299
und -Tasten ohne festes Ziel das Wort reden; aber eben das Ziel kann ver-
schieden bestimmt werden, und zu demselben Ziele können verschiedene Wege
führen. Darüber muß die Einsicht und Umsicht des Leiters entscheiden, der die
Freiheit schon nicht ausarten lassen wird, und schließlich findet diese ihre Grenze
an dem Bannkreise der Schule, den auch die Wellen der Bewegungsfreiheit nicht
überfluten dürfen.
Eine so ausgedehnte Wahlfreiheit wie bei den Gegenständen der Sonderkurse
kann in bezug auf die Entlastung nicht gewährt werden. Um mich nicht in weit-
läufige Einzelbetrachtungen zu verlieren, möchte ich hier zusammenfassend sagen,
daß nach unserer Ansicht die Religionslehre, die deutsche Sprache, die neueren
Fremdsprachen, die Geschichte und Erdkunde, die Naturwissenschaft als Ent-
lastungsfächer — wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf — nicht in Betracht
kommen, teils wegen ihres ethischen Bildungswertes, teils wegen ihrer Bedeutung
für die sogenannte allgemeine Bildung. Vielleicht werden nicht alle Kollegen diese
Ansicht in vollem Umfange teilen. Insbesondere könnte eingeworfen werden, daß
ja das Englische in den preußischen Provinzen außer Hannover fakultativer Lehr-
gegenstand ist und daher in erster Linie zur Entlastung heranzuziehen sei; ich
würde darauf erwidern, daß ich schon wegen unserer politischen, wirtschaftlichen
und Verkehrsverhältnisse einige Kenntnis des Englischen auch für den Gymnasial-
abiturienten als höchst wünschenswert ansehe und mich darüber gewundert habe,
daß es in den letzten Lehrplänen nicht auch in den übrigen Provinzen unter die
verbindlichen Lehrfächer eingereiht ist.
Es bleiben übrig die lateinische Sprache, die griechische Sprache und die
Mathematik. Von diesen drei Lehrfächern haben wir das Griechische nicht ange-
tastet. Nicht etwa, weil wir es an sich höher einschätzten als die beiden andern;
aber es setzt im Vergleich mit dem Lateinischen recht spät ein, und seine wert-
vollsten Früchte reifen erst in der Prima, so daß es unverhältnismäßig viel an
Wert einbüßen würde, wenn man die Unterrichtszeit in Prima verkürzte. Lieber
würde ich es dann für den einen oder anderen Schüler, dem es Plage statt Wohl-
tat ist, ganz aufgeben und durch andere Lehrstoffe zu ersetzen suchen, aber diese
Möglichkeit ist uns nicht zugebilligt worden.
Somit mußten das Lateinische und die Mathematik den höheren Zwecken ge-
opfert werden.
Das Lateinische kann ohne Frage eine Verkürzung in der Prima eher ver-
tragen als das Griechische, da es von Sexta an mit Nachdruck betrieben wird und
sein bildender Einfluß sich auch in den unteren und mittleren Klassen aufs
kräftigste geltend macht. Es hätte nahe gelegen, die lateinischen Grammatik-
stunden zur Entlastung heranzuziehen, wie es z. B. in Strasburg geschieht, wo dann
die betreffenden Abiturienten eine Übersetzung aus dem Lateinischen statt in das
Lateinische zu liefern haben. Hiervon hielt uns einmal die Überzeugung zurück,
daß die grammatischen Übungen höchst wertvoll sind, auch in der Prima, wo sie
den Schüler mehr noch als in anderen Klassen zu scharfer Auffassung der Unter-
schiede in der Anschauungs- und Ausdrucksweise beider Sprachen, zum Umdenken
und Umformen nötigen. Sie sind durch das Übertragen aus der fremden Sprache,
bei dem die Muttersprache die Einkleidung der Gedanken sozusagen fertig liefert,
300 W. Prinzhorn,
schwerlich zu ersetzten. Und der lateinische Unterricht ist der einzige, in dem sie
wirklich bis oben hin energisch betrieben werden. Auch in den Lehrplänen von
1901 hat die Wertschätzung des grammatischen Unterrichtes deutlichen Ausdruck
gefunden in der Verdoppelung der für ihn in den oberen Klassen bestimmten
Zeit.*)
Ein Bedenken kam hinzu, das von Gegnern der Bewegungsfreiheit stark be-
tont und auch meiner Überzeugung nach nicht ohne weiteres von der Hand zu
weisen ist, die Gefahr nämlich, daß die Bewegungsfreiheit von weniger eifrigen
Schülern anders aufgefaßt und benutzt wird, als die Schule beabsichtigt, und so
dazu dienen könnte, die Leistungen noch mehr herunterzudrücken, als es nach
der Ansicht vieler bereits geschehen ist und noch fortgesetzt von manchen
Seiten versucht wird. Eine solche Gefahr kann in der Tat unter Umständen ein-
treten, am ersten in einer größeren Stadt, in der die Beobachtung der Schüler
seitens der Schule sich im wesentlichen auf die Unterrichtszeit beschränkt. Des-
halb wollten wir den bahnbrechenden Strasburger Plan nicht nachahmen, nach dem
die Primaner alle von zwei Unterrichtsstunden befreit sind und diese Entlastung
durch freigewählte Arbeiten ausgleichen sollen. In Strasburg hat sich diese Ein-
richtung bewährt, aber sie ohne weiteres in andere Verhältnisse zu übertragen
wäre doch bedenklich. Unsere Primaner arbeiten nach der Ansicht des weit über-
wiegenden Teiles des Kollegiums zu Hause im Durchschnitt keineswegs zu viel,
eher zu wenig, und bedürfen einer Erleichterung in dieser Richtung nicht. Ge-
wiß, die Stundenzahl ist reichlich groß, namentlich für die, die von der Muse des
Gesanges begnadet sind und womöglich noch dazu am Zeichnen oder am hebräi-
schen Unterrichte teilnehmen, und wenn eine Verminderung der Stunden statt-
finden könnte unter gleichzeitiger sicherer Erhöhung der Selbsttätigkeit, so würde
ich mit Freuden zustimmen. Aber leider gibt es neben tüchtigen und eifrigen so
viele Schüler, denen es in erster Linie gar nicht darauf ankommt, etwas Ordent-
liches zu lernen, sondern nur, die Schule durchzumachen, und je weniger An-
strengung sie dazu nötig haben, desto lieber ist es ihnen. Um diesen Elementen,
die einen gar nicht unerheblichen Prozentsatz bilden dürften, keine neue Hand-
habe zur Bequemlichkeit zu geben und dadurch indirekt auch die Leistungen im
ganzen zu drücken, scheuten wir uns davor, die Möglichkeit zur gleichzeitigen Be-
freiung vom lateinischen Grammatikunterrichte und von der Hälfte des Mathe-
matikunterrichtes zu bieten. Denn gerade in diesen beiden Fächern bedarf es
energischer eigener Anstrengung, um Erfolge zu erzielen und den Anforderungen
der Schule gerecht zu werden. So haben wir eine Befreiung von einem Teile
der lateinischen Lektüre eintreten lassen; aber die Bestimmung in dem Entwürfe
ist so allgemein gefaßt, daß wir, wenn wir wollen, auch den Grammatikunterricht
zur Entlastung benutzen können. Daß von der Lektüre zusammenhängende Stücke
ausgeschaltet werden müssen, halte ich für selbstverständlich und erwähne es hier
nur, weil in den Verhandlungen darüber doch auch der Gedanke an eine andere
Möglichkeit auftauchte, an eine Entlastung nämlich in der Weise, daß die be-
*) Wie erfreulich der Erfolg dieser Maßregel gewesen ist, zeigen die Gutachten der
Wissenschaftlichen Prüfungskommissionen über die vor Ostern 1908 angefertigten lateinischen
Reifeprüfungsarbeiten.
Die freiere Gestaltung des Unterrichts usw. 301
treffenden Schüler z. B. heute bei der Horaz- oder Cicerolektüre fehlten und in
der nächsten Stunde doch wieder daran teilnähmen. Mir erscheint ein solcher
Weg ausgeschlossen, wofür ich die Gründe hier wohl nicht näher darzulegen
brauche. Im letzten Schuljahre ist für die Oberprimaner die Horazlektüre aus-
gefallen, weil sie diesen Dichter schon in der Unterprima kennen gelernt hatten
und der Lateinlehrer die Lektüre von Ciceronischen Briefen für förderlicher hielt.
Darüber kann man natürlich verschieden denken, auch unter Umständen im Laufe
des Jahres einen Wechsel eintreten lassen, nur muß daran festgehalten werden,
daß alle Schüler mit Horaz und Tacitus bekannt werden. So haben in der letzten Unter-
prima die Entlasteten im Sommerhalbjahre an der Horazlektüre, nicht aber an der
von Ciceros Briefen teilgenommen; im Winterhalbjahre waren sie dagegen von
der Horazlektüre befreit und an der Tacituslektüre beteiligt.
Über die Verteilung des mathematischen Lehrstoffes auf die beiden Gruppen
der Entlasteten und Nichtentlasteten ist seinerzeit ein Plan aufgestellt und dem
Entwürfe zur Erläuterung beigegeben. Danach werden alle Schüler in den ersten
drei Quartalen der Unterprima in die Stereometrie eingeführt, im letzten Quartale
in die arithmetischen und geometrischen Reihen, sowie die Zinseszins- und Renten-
rechnung; für die Vollmathematiker geht daneben her eine Erweiterung der Trigo-
nometrie, stereometrisches Zeichnen, Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitslehre,
Koordinatengeometrie und Grundlehren von den Kegelschnitten. In Oberprima
sollen die Halbmathematiker nur in der Arithmetik und Algebra weitergebracht und
dann durch Wiederholungen aus allen Gebieten in dem Erlernten befestigt werden,
während für die Volimathematiker noch die übrigen in den Lehrplänen vorgeschrie-
benen Stoffe hinzukommen.
Es erhebt sich hier naturgemäß die Frage, welche Erfahrungen mit dem ge-
meinschaftlichen Unterrichte der Schülergruppen gemacht sind, und ob der zu-
nächst eingeschlagene Weg als der richtige festgehalten werden kann. Das Urteil
darüber wird zwar durch die Kürze der Versuchszeit an Umfang und Sicherheit
beschränkt und kann natürlich auch erheblich beeinflußt werden durch Stoff und
Art des Sonderunterrichts, doch will ich, was ich darüber glaube sagen zu können,
nicht zurückhalten.
Der philosophisch-propädeutische und der geschichtliche Kursus können nur
befruchtend auf den Unterricht der gesamten Klasse einwirken, dem das größere
Interesse und Verständnis einzelner Schüler für philosophische Fragen oder Kultur-
verhältnisse bei manchen Gelegenheiten Anregung und Förderung bringen muß.
Im lateinischen Unterrichte hat die Gruppenbildung keinerlei Schwierigkeit
gemacht, ebensowenig im Griechischen, denn die Zahl der ausfallenden oder hin-
zukommenden Stunden war nicht so groß, daß der Bildungsunterschied im gemein-
samen Unterrichte irgendwie störend empfunden wäre. Anders steht es im Eng-
lischen. Zwar nicht in der Oberprima, wo der Sonderkursus mit dem Ziele der
Fertigkeit im Gebrauche der Umgangssprache und den dazu angewandten, oben
genannten Mitteln ohne Beeinträchtigung für beide Teile neben dem Klassenunter-
richte hergehen konnte, der in der Hauptsache doch ein anderes Ziel verfolgt.
Dagegen ist der Leiter des englischen Sonderkursus der Unterprima allerdings der
Ansicht, daß Ziel und Art dieses Unterrichtes eine völlige Trennung der Teilnehmer
302 W. Prinzhorn, Die freiere Gestaltung des Unterrichts usw.
von den übrigen Schülern bei weiterem Fortschreiten wünschenswert machen
würde.
Im Mathematikunterrichte der Oberprima bestanden drei Gruppen, eine der
Sonderkursisten mit 6 Stunden, eine mittlere mit 4 Stunden und eine der Ent-
lasteten mit 2 Stunden; in diesen 2 Stunden trafen alle drei Gruppen zusammen.
Trotzdem haben sich nach dem Urteile des Lehrers aus dem gemeinsamen Unter-
richte keine Nachteile ergeben, doch ist hierbei zu berücksichtigen, daß sich jene
Teilung nur auf das eine letzte Schuljahr erstreckte. Ob die Vereinigung der ver-
schiedenen Gruppen auch während der beiden Primajahre unbedenklich wäre,
darüber zu entscheiden müssen wir der Zukunft überlassen, deren Erfahrungen
wir gern beherzigen wollen.
Erwähnen möchte ich hier, daß bei der Reifeprüfung zwei mathematische
Aufgaben für alle Schüler gemeinsam gestellt wurden; bei den beiden anderen
wurden die Schüler mit verkürzter Unterrichtszeit von den übrigen getrennt,
und von diesen bekamen wieder die mathematischen Sonderkursisten eine Auf-
gabe allein.
Durch eine weitergehende Trennung in dem einen oder anderen Fache würden
die Schwierigkeiten natürlich wachsen, und es könnte insbesondere der Vorteil
verloren gehen, daß der Lehrer, der den Klassenunterricht erteilte, auch der Leiter
des Sonderkursus wäre. Denn unter Umständen würden die Stunden der ver-
schiedenen Abteilungen in mehrere Hände gelegt werden müssen.
Dadurch würde auch der Punkt berührt, den ich doch hier nicht ganz mit
Stillschweigen übergehen darf, der Geldpunkt. Die Kurse bringen für die Leiter
eine nicht unerhebliche Arbeit, und so schien es recht und billig, wenn dafür eine
Entschädigung gezahlt würde. Wir hielten das für um so wünschenswerter, da
der Erfolg großenteils von dem Interesse und der Hingabe der Leiter abhängt,
und glaubten deshalb alles vermeiden zu sollen, was die Freudigkeit bei der über-
nommenen Aufgabe beeinträchtigen könnte. Ich gebe unbedingt zu, daß es idealer
wäre, die Arbeit ohne Entgelt zu leisten, aber man muß doch auch hier mit den
Verhältnissen rechnen, wie sie nun einmal sind, und danach dürfte der eingeschla-
gene Weg richtig sein.
Die Stadtverwaltung hat sich dankenswerterweise ohne Zögern bereit erklärt,
ihr Interesse auch praktisch zu betätigen und die erwachsenden Kosten zu tragen,
so daß die finanzielle Frage keine Schwierigkeiten gemacht hat. Außer dem Honorar
für die Leiter der Kurse wurde auch eine Summe von 200 Mark für Beschaffung
der notwendigen Unterrichtsmittel in Chemie ohne Anstand bewilligt, so daß die
Gesamtkosten im verflossenen Schuljahre 2600 Mark betragen haben. Das ist zwar
keine hohe Summe im Verhältnis zum ganzen Schuletat, aber immerhin wird die
Tatsache, daß die Einrichtung überhaupt Kosten erfordert, nicht gerade zur Emp-
fehlung dienen.
Diesem Nachteile steht aber der bedeutende Vorzug der Mannigfaltigkeit des
Sonderunterrichts und die dadurch den Schülern gebotene große Wahlfreiheit
gegenüber. Darin liegt überhaupt das Charakteristische des Versuches.
Und wenn man einmal zugibt, daß es wünschenswert ist, in der Prima auf
die Neigung und Begabung der Schüler mehr einzugehen, als es im gewöhnlichen
I
A. Tilmann, Kurse. • 303
Gange des Unterrichts geschehen kann, so wird eine Vielseitigkeit des Angebotes
jener Forderung am besten entsprechen.
Soweit ich weiß, hat auch die Einrichtung bei Eltern und Schülern Anerkennung
und Zustimmung gefunden.
Ich bin damit zum Schlüsse meiner Ausführungen gekommen. Allzugroß ist
die Freiheit nicht, die den Schülern der obersten Klasse gewährt wurde, aber
immerhin kann schon die Tatsache selbst und das Bewußtsein der Schüler, ihre
Kraft auch einmal an selbstgewählte Arbeit setzen zu können, einen erfrischenden
Einfluß auf ihre Lust und Tätigkeit ausüben.
Mag längere Erfahrung neue Belehrung und die Zukunft freiere Formen des
Unterrichts bringen, die die Selbsttätigkeit und eigene Kraft der Schüler stärker
zur Entfaltung kommen lassen und sie auf die Hochschule und das Leben besser
vorbereiten, als es nach der Ansicht mancher jetzt geschieht, einstweilen haben
wir es mit bescheidenen Anfängen zu tun, die von den Umsturzgedanken der
pädagogischen Stürmer und Dränger weit entfernt sind. Dazu rechne ich auch
unseren Versuch, und es würde mich freuen, wenn er zur Lösung des Problems
beitrüge. Verschwinden wird dieses meiner Ansicht nach sobald nicht wieder,
nachdem es einmal aufgeworfen ist, da es etwas Gutes und Wertvolles enthält;
aber welches Resultat bei den Wünschen und Versuchen schließlich herauskommen,
und was sich als dauernd lebensfähig erweisen wird, läßt sich zurzeit noch nicht
übersehen. Hoffen wir, daß die Bewegung der Jugend zum Heile dient und dazu
hilft, unser Volk nicht nur im Kampfe um die äußeren Lebensgüter zu stärken
sondern auch an Gütern innerer Kultur zu bereichern.
Hannover. Wilhelm Prinzhorn.
I. Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des
römischen Rechts. — IL Die Anfängerkurse im Griechischen
für Studierende der juristischen, medizinischen und der philo-
sophischen Fakultät. — III. Reifezeugnisse der Studierenden
der preußischen Universitäten.
l. Im Wintersemester 1908/09 haben an den Kursen zur sprachlichen Einführung
in die Quellen des römischen Rechts an den preußischen Universitäten im ganzen
260 Studierende teilgenommen. Davon studierten 257 Rechtswissenschaft, 1 neuere
Philologie, 1 Staatswissenschaften, 1 sonstige Fächer. Das Reifezeugnis eines
Gymnasiums hatten 56, eines Realgymnasiums 159, einer Oberrealschule 44. Preußen
waren 223, Deutsche aus anderen Bundesstaaten 23, Ausländer 14. Von den 257
Studierenden der Rechte standen 18 im ersten Semester, 53 im zweiten, 30 im
dritten, 62 im vierten, 26 im fünften, 48 im sechsten, 10 im siebenten, 4 im achten,
1 im neunten, 3 im zehnten, 1 im elften, 1 im zwölften.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer wie folgt: Berlin 120,
Bonn 30, Breslau 22, Göttingen 4, Greifswald 2, Halle 12, Kiel 22, Königsberg 5,
Marburg 22, Münster 21.
304 A. Tilmann,
II. Im Wintersemester 1908/09 haben an den Anfängerkursen im Griechischen
für Studierende der juristischen, medizinischen und philosophischen Fakultät auf
den Preußischen Hochschulen im ganzen 157 Studierende teilgenommen, davon
1 Theologe, 64 Juristen, 2 Mediziner und 90 Angehörige der philosophischen
Fakultät. Von letzteren studierten klassische Philologie 6, neuere Philologie 35,
Deutsch 20, Geschichte 14, Mathematik und Naturwissenschaften 4, sonstige
Fächer 11. Von den Teilnehmern der Kurse hatten 11 das Reifezeugnis eines
Gymnasiums, 97 eines Realgymnasiums, 41 einer Oberrealschule. Preußen waren 130,
Deutsche aus anderen Bundesstaaten 20, Ausländer 7. Von den 64 Studierenden
der Rechte, die den Kursus besuchten, standen im ersten Semester 7, im zweiten 27,
im dritten 5, im vierten 14, im fünften 4, im sechsten 5, im siebenten 2.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer an diesem Kursus
wie folgt: Berlin 92, Breslau 16, Göttingen 3, Halle 16, Kiel 15, Königsberg 3,
Marburg 7, Münster 5.
III. Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten im
Wintersemester 1908/09. Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studierende,
die nicht auf Grund Reifezeugnisses einer Vollanstalt immatrikuliert waren, un-
berücksichtigt. Von den nachstehenden Zusammenstellungen umfaßt die erste alle
im Wintersemester 1908/09 an den preußischen Universitäten immatrikulierten Stu-
dierenden, die zweite nur diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten
Semester standen.
I. Im Wintersemester 1908/09 waren insgesamt immatrikuliert:
A. In der evangelisch-theologischen Fakultät 1048 Studierende, davon im-
matrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 1047
, , „ „ Realgymnasiums . . 1
B. In der katholisch-theologischen Fakultät 856 Studierende, alle auf Grund
Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
C. In der juristischen Fakultät 6157 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 5211
„ , , , Realgymnasiums . . 695
, „ , einer Oberrealschule . . 251
D. In der medizinischen Fakultät 3072 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 2546
„ „ , „ Realgymnasiums . . 407
, , , einer Oberrealschule ... 119
E. In der philosophischen Fakultät 9141 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
. 6379
„ „ , „ Realgymnasiums .
. 1596
einer Oberrealschule . .
. 1166
Hiervon studierten:
1. Philosophie 224 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
. 179
Realgymnasiums .
33
einer Oberrealschule
12
Kurse.
305
2. Klassische Philologie und Deutsch 3382 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 3095
n M n Realgymnasiums . . 187
, , n einer Oberrealschule ... 100
3. Neuere Philologie 1584 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 685
, , , , Realgymnasiums . . 548
, , , einer Oberrealschule ... 351
4. Geschichte 645 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 557
, , , , Realgymnasiums . . 61
einer Oberrealschule ... 27
5. Mathematik und Naturwissenschaften 2463 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . .* 1312
„ „ , Realgymnasiums . . 582
einer Oberrealschule . . 569
6. Sonstige Studienfächer 843 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums ... 551
m f, „ n Realgymnasiums . . 185
, , , einer Oberrealschule ... 107
II. Von den unter I. aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
A. In der evangelisch-theologischen Fakultät 43 Studierende, davon im-
matrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums ... 42
„ » , Realgymnasiums . . 1
B. In der katholisch-theologischen Fakultät 31 Studierende, alle imma-
trikuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
C. In der juristischen Fakultät 313 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 256
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 37
„ „ „ einer Oberrealschule ... 20
D. In der medizinischen Fakultät 198 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums ... 136
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 53
„ „ „ einer Oberrealschule ... 9
E. In der philosophischen Fakultät 564 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
Hiervon studierten:
1. Philosophie 13 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
Monatichrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 20
270
186
108
306
A. Tilmann,
2. Klassische Philologie und Deutsch 150 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasinms
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule
3. Neuere Philologie 115 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule
4. Geschichte 32 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule
5. Mathematik und Naturwissenschaften 167 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule
6. Sonstige Studienfächer 87 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule
Gr.. Lichterfelde. A. Tilm
116
27
7
29
52
34
20
10
2
56
64
47
41
30
16
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen
Universitäten
Erlangen, Freiburg, Gießen, Heidelberg, Jena, Leipzig, München, Rostock, Straß-
burg, Tübingen und Würzburg im Winter-Semester 1908/09:
Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studierende, die nicht auf
Grund Reifezeugnisses einer Vollanstalt immatrikuliert waren, unberücksichtigt.
Von den nachstehenden Zusammenstellungen umfaßt die erste alle im Winter-
Semester 1908/09 an den genannten Universitäten immatrikulierten Studierenden, die
zweite nur diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten Semester standen.
I. Im Winter-Semester 1908/09 waren insgesamt immatrikuliert:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 950 Studierende, davon im-
matrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 943
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 6
„ „ „ einer Oberrealschule ... 1
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 820 Studierende, davon im-
matrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 816
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 4
einer Oberrealschule ... —
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 307
c) in der Juristischen Fakultät 4767 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 4242
• » n n Realgymnasiums . . 374
, , , einer Oberrealschule ... 151
d) in der Medizinischen Fakultät 4582 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 3810
, , • Realgymnasiums . . 654
, , , einer Oberrealschule ... 128
e) in der Philosophischen Fakultät 7822 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
, . „ n Realgymnasiums
einer Oberrealschule
5330
1561
931
Hiervon studierten:
1. Philosophie 721 und zwar:
auf Grund Reifezeugni
eines Gymnasiums . . . 555
, , Realgymnasiums . . 126
einer Oberrealschule ... 40
2. Klassische Philologie und Deutsch*) 2053 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums
. . . m n » „ Realgymnasiums
, , , „ Oberrealschule
3. Neuere Philologie*) 1591 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums
m „ n „ Realgymnasiums
, , einer Oberrealschule
4. Geschichte*) 426 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .
r, n , t, Realgymnasiums
, , einer Oberrealschule
5. Mathematik und Naturwissenschaften 2610 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .
„ „ „ , Realgymnasiums
, einer Oberrealschule
6. Sonstige Studienfächer 421 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .
» >. n n Realgymnasiums
, „ , einer Oberrealschule
. Von den unter I. aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 127 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 125
„ „ , , Realgymnasiums . . 2
„ „ , einer Oberrealschule ... —
1937
73
43
815
547
229
351
52
23
1401
656
553
271
107
43
*) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg bei
der Geschichte nachgewiesen.
20*
308 A. nimann, Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten.
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 214 Studierende, davon im-
matrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums. . . . 212
n , • • Realgymnasiums . . 2
„ , , einer Oberrealschule ... —
c) in der Juristischen Fakultät 582 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 502
Realgymnasiums . . 47
„ , „ einer Oberrealschule ... 33
d) in der Medizinischen Fakultät 461 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 380
, „ , , Realgymnasiums . . 57
, , n einer Oberrealschule ... 24
e) in der Philosophischen Fakultät 908 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 637
, , „ , Realgymnasiums . . 106
„ n einer Oberrealschule ... 165
Hiervon studierten:
1. Philosophie 124 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 101
n „ n » Realgymnasiums . . 11
„ „ „ einer Oberrealschule ... 12
2. Klassische Philologie und Deutsch*) 212 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 196
n f, „ n Realgymnasiums . . 8
n n » einer Oberrealschule ... 8
3. Neuere Philologie*) 229 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . 143
n n 1. r, Rcalgymnaslums . . 39
„ , „ einer Oberrealschule ... 47
4. Geschichte*) 52 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 43
n , n n Rcalgymnaslums . . 2
n n n cincr Oberrealschule ... 7
5. Mathematik und Naturwissenschaften 247 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 125
, , , , Realgymnasiums . . 39
, , „ einer Oberrealschule ... 83
6. Sonstige Studienfächer 44 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gyipnasiums ... 29
„ , „ , Realgymnasiums . . 7
„ n n einer Oberrealschule ... 8
Gr.-Lichterfelde. A. Tilmann.
*) Siehe Bemerkung S. 307.
*
A. Tilmann, Statistisches über das Frauenstudium. 309
Statistisches über das Frauenstudium.
über die Bedeutung des Erlasses vom 18. August 1908 wegen der Zulassung
der Frauen zum Universitätsstudium herrschen vielfach unklare Vorstellungen. Es
wird nicht genügend gewürdigt, daß schon vor diesem Erlasse, der den Frauen
die Immatrikulation eröffnete, das Frauenstudium auf den preußischen Universitäten
möglich war und in weitem Umfange betrieben wurde. Bekanntlich waren die
Frauen als sogenannte Gasthörerinnen zugelassen. Diese Form der Zulassung
hatte aber nach zwei Richtungen etwas Unbefriedigendes. Einmal war die Stellung
der studierenden Frau, wenn auch mehr in der Theorie, unsicher, prekär, weil das
Belieben des Dozenten bei ihrer Zulassung zu einer Vorlesung in Betracht kam.
Sodann aber war für die Universitäten der Nachteil damit verbunden, daß die An-
forderungen an die Schulbildung geringere waren, als sie für die Jmmatrikulation
gestellt werden und daß [infolgedessen die preußischen Hochschulen von nicht
Vollgebildeten, darunter auch Ausländerinnen in starkem* Maße aufgesucht wurden.
Bei dieser Sachlage bedeutet der Erlaß ivom 18. August v. Js. wegen der damit
verbundenen Verschärfung der Anforderungen für den Eintritt in das Studium eine
Einschränkung des Frauenstudiums. Das muß sich auch in den Zahlen über das
Frauenstudium im Wintersemester 1908/09 im Vergleich zum Wintersemester 1907/08
zeigen. Allerdings kommt ;dabei [in Betracht, daß diejenigen Frauen, welche im
Sommer 1907 als Gasthörerinnen zugelassen waren, nach der Bestimmung des
Ministers ihr Studium beenden durften, auch wenn sie den Anforderungen für die
Immatrikulation nicht entsprachen. Es liegt also bezüglich des Wintersemesters
1908/09 ein Übergangszustand vor. Wie sind nun die Zahlen? Im Wintersemester
1908/09 studierten an preußischen Universitäten 1680 Frauen gegen 1773 im Winter-
semester 1907/08. Der zu erwartende Rückgang im Studium ist also tatsächlich
eingetreten. Was die einzelnen Fakultäten anbetrifft, so stellt sich die Sache
folgendermaßen :
In der theologischen Fakultät 1908/09: 22 1907/08: 33
„ „ juristischen „ „ 17 ,15
„ „ medizinischen , , 188 „ 155
, „ philosophischen „ , 1453 , 1570
Unter den Studentinnen des Wintersemesters 1908/09 sind die Immatriku-
lierten in der Minderzahl, es überwiegen also die Gastzuhörerinnen wie das in
dieser Übergangszeit nicht anders zu erwarten war. Insgesamt waren immatrikuliert
718 Frauen und zwar inskribiert
in der theologischen Fakultät 6
„ „ juristischen „ 6
, , medizinischen „ 140
, '„ philosophischen , 566
Noch ein anderer Irrtum über die Bedeutung der Immatrikulation ist weit ver-
breitet, indem nämlich angenommen wird, die Immatrikulation habe Einfluß auf
die Frage der Öffnung von neuen Berufen für die Frauenwelt. Diese Frage geht
über das Universitätsgebiet hinaus und wird von dem Erlasse, welcher die Imma-
310 Q. Schmidt,
trikulation einführte und dadurch lediglich das vorhandene ungeordnete Frauenstu-
dium in ein geordnetes überleiten wollte, nicht entschieden. Umgekehrt wird von
der Frage, ob neue Berufe den Frauen eröffnet werden, das Frauenstudium beein-
flußt werden, wie denn auch die als Folge der Neuordnung des Mädchenschul-
wesens zu erwartende Vermehrung der Gelegenheit zur Erwerbung des Reifezeug-
nisses auf den Umfang des Frauenstudiums von Einfluß sein wird.
Gr. -Lichterfelde. A. Tilmann.
Ein neues Hilfsmittel für den Sprachunterricht.
Auf der vorjährigen Tagung des Neuphilologen-Verbandes hielt Herr Dr.
Panconcelli-Calzia vom phonetischen Kabinett der Universität Marburg einen Vortrag
mit Demonstrationen über die Verwendung der Phonautographie auf den ver-
schiedenen Stufen des neusprachlichen Unterrichts und fand großen Beifall, auch
von selten pessimistisch angehauchter Kollegen, Ein Freund aller Neuerungen,
von denen man sich Ersprießliches versprechen kann, gedachte ich, mir ein Gram-
mophon zu beschaffen, war aber, offen gestanden, doch etwas mißtrauisch, weil
ich von früher noch den Blechton in Erinnerung hatte, der bei der Wiedergabe
sich so unangenehm bemerklich zu machen pflegte. Um so mehr war ich erfreut und
überrascht, als die von dem Verlag Violet in Stuttgart bereitwillig zur Probe über-
sandte Sprechmaschine allen billigen Anforderungen vollkommen genügte. Die
Erfahrungen, welche ich in der kurzen Zeit vor Ostern mit der Benutzung des
Instruments im Unterricht machte, haben mich sehr befriedigt. Voraussetzung ist
natürlich vorhergehende, genaue Durchnahme der Texte. Erst wenn dies gesche-
hen, tritt die Maschine in Tätigkeit, wobei man es völlig in der Hand hat, langsam
oder schneller sprechen zu lassen, abschnittweise oder den ganzen Text auf einmal.
Schon jetzt gibt es eine große Anzahl Sprachplatten, die recht gut im Klassen-
unterricht Verwendung finden können. Von solchen, die ich kenne und besitze,
oder mir empfohlen worden sind, nenne ich The Charge of the Light Brigade, be-
sprochen von Lewis Waller, die ausgezeichnet gelungen, während die von Rev.
Fleming weniger gut ist. Daneben gibt es einige wundervolle Christmas Carols —
See! amid the winter snow und Good King Wencelas — gesungen von dem
London College of Choristers' Choir, deren Vortrag bei der Besprechung englischer
Weihnachtsbräuche meines Erachtens nicht gegen den Geist gesunder Pädagogik
verstößt. Besser als durch viele Worte und noch so begeisterte Schilderung ver-
mögen unsere Schüler aus solchen Liedern Verständnis für englische Eigenart zu
gewinnen und aus den Tönen, wenn anders sie zu hören verstehen, die Stimmen
der Stammesverwandtschaft zu vernehmen. Schottische Balladen und Volkslieder
reihen sich an, die eine ganz neue Welt erschließen, während die ohrenzer-
reißenden Dudelsäcke der Royal Scotch Guards nicht den Wunsch nach Wieder-
holung auslösen. Von Liedern seien noch besonders erwähnt Rule Britannia —
The Banks of Allan Water — The Minstrel Boy — • My old Dutch — Scots,
wha hae wi' Wallace bled — , während ich My Heart's in the Highlands vermisse.
Ein neues Hilfsmittel für den Sprachunterricht. 311
Besonders für die Oberstufe eignen sich Texte aus Shakespeare (Falstaff s Speech
of Honour, Antony's Lament over the Body of Julius Caesar, Hamlet's Soliloquy
on Life and Death, Address of Henry V to his Soldiers before Harfleur), Byron
(Adieu of Mary, Queen of Scots. Ave Maria — Eternity, Immortality) und Poe
(The Beils).
Im Französischen ist reiche Auswahl vorhanden. Für den Anfangsunterricht
steht ein Lautierkursus in Aussicht. Erschienen sind Texte zu den bekannten
Hölzelschen Bildern, zunächst Le printemps und L'^te, ferner Gespräche aus dem
täglichen Leben auf Sprachplatten der Methoden Schliemann und Toussaint-Lan-
genscheidt. Neben weniger bekannten Fabeln von Florian finden sich von Lafon-
taine: La cigale et la fourmi, Le chSne et le roseau, Les animaux malades de la
peste, während ich der in allen Schulbüchern anzutreffenden Le corbeau et le
renard, Le laboureur et ses enfants, Le savetier et le financier, noch nicht habhaft
werden konnte. Die Oberstufe ist besonders reich bedacht mit Stücken aus Cor-
neille (Le Cid, Horace, Polyeucte), Racine (Andromaque, Phedre), Moliere (Misan-
thrope, Les femmes savantes, Les fourberies de Scapin, Le mddecin malgrö lui,
Le depit amoureux), Victor Hugo (Ruy Blas, Hernani) und Gedichten von Musset
(Le Rhin allemand, La nuit d'octobre, Une soiree perdue) und Richepin (Ocöano
Nox, Achetez mes belles violettes). An Musikplatten besitze ich die Marseillaise
und die lustigen Gas d'Islande, gesungen, ferner Le defile de la Garde und die
Marseillaise als Orchesterstück. Wünschenswert wären noch Volkslieder wie Mal-
brough, Si le Roi m'avait donne, Ma Normandie u. a.
Auch dem deutschen Unterricht stehen Platten zur Verfügung, deren Be-
nutzung man sich nicht entgehen lassen sollte. So von Schiller: Schlachterzählung
aus Wallenstein, Monolog der Marfa aus Demetrius, Stauffachers Rede aus Wilhelm
Teil; Goethe: Schluß des Monologs von Faust I. Teil, 1. Akt; der getreue Eckhart,
der Gott und die Bajadere, Wirkung in die Ferne; Lessing: Ringerzählung aus
Nathan dem Weisen; Heine: Belsazar; Gutzkow: Uriel Acosta; Uhland: Schwäbische
Kunde; LiHencron: Cincinnatus; Eckstein: Das Märchen vom Glück. Eine Samm-
lung der in den Schulen auswendig zu lernenden Gedichte bereitet das Institut
für experimentelle Phonetik und Phonautographie in Wien vor unter Leitung von
Professor Reko an der Franz-Joseph-Realschule, dessen empfehlenswertem Büchlein
über Sprachenerlernung mit Hilfe der Sprechmaschine ich einige der obigen An-
gaben entnommen habe. In den neueren Sprachen erscheint jetzt auch eine
besondere Rubrik „Der Phonolehrer", die Herrn Dr. Panconcelli zum Ver-
fasser hat. —
Es würde mich freuen, wenn diese Zeilen dazu beitrügen, daß der oder jener
Kollege denselben Versuch machte. Freilich, die Ausgabe fällt zunächst dem
eigenen Geldbeutel zur Last, aber die Aussicht auf die bevorstehende, glänzende
Gestaltung unserer finanziellen Verhältnisse stärkt vielleicht manchem den Mut,
es zu wagen.
Arolsen. G. Schmidt.
312 E. Wernicke,
Der biologische Unterriclit am Gymnasium in Marienwerder,
Der biologische Unterricht wurde versuchsweise in der Unterprima während
des verflossenen Jahres erteilt.
In jeder Woche wurde eine biologische Unterrichtsstunde abgehalten. Da
nicht beabsichtigt war, die Wochenstunden der Primaner zu vermehren, gewannen
wir die Zeit in folgender Weise : Außer einigen durch nötig werdende Vertre-
tungen für den biologischen Unterricht freigewordenen Stunden gab im Laufe des
Jahres der mathematische Unterricht 16, der lateinische 7, der griechische 7, der
französische 4, der geschichtliche und der deutsche je zwei Stunden ab. Die Ver-
teilung geschah ohne besondere Anordnungen durch Verabredung der betreffenden
Lehrer unter sich in der Weise, daß auf je zwei ausgefallene mathematische
Stunden eine lateinische, eine griechische und entweder eine französische oder eine
geschichtliche bzw. deutsche für die Biologie verwandt wurde. Die Stundenpläne
brauchten nicht geändert zu werden, obwohl nicht von vornherein auf den biologi-
schen Unterricht Rücksicht genommen war. Keiner der durch den Stundenverlust
betroffenen Herren hat die Beobachtung machen können, daß die genannte Anzahl
von Stunden Bedenken erweckte. Der Mathematiklehrer, der die meisten Stunden
hergegeben hat, hatte die Lehre von den arithmetischen und geometrischen Reihen
in das Pensum der Obersekunda verlegt, ist aber infolge des äußerst regen Inter-
esses, das dem von ihm erteilten biologischen Unterrichte entgegengebracht wurde,
reichlich durch vermehrte Arbeitsfreudigkeit in seinen Stunden entschädigt worden.
Ein Lehrbuch wurde von den Schülern nicht angeschafft.
Im Sommerhalbjahr wurde die Abhängigkeit der Pflanzen von den Einwir-
kungen der Umwelt besprochen:
1. Ihre Abhängigkeit von der Wärme, dem Licht, der Luft, dem Wasser, dem
Erdboden.
2. Ihre Beziehungen zueinander und zum Tierreich.
Aus dem letzten Gebiete wurde das Thema einer „kleinen freien" Arbeit ge-
wählt, die statt derjenigen aus der Physik geschrieben wurde.
Es wurden unter fast vollzähliger Beteiligung der Unterprimaner folgende
Nachmittagsausflüge gemacht:
1. Mit der Eisenbahn nach Rehhof, dann zu Fuß nach Stuhm und zurück
mit der Bahn. Der zu Fuß zurückgelegte Weg betrug 15 km. Betrachtet
wurden der Wald im Frühling, die Zusammensetzung des Untergrundesi
eiszeitliche Bildungen und das Vermooren von Seen, erklärt die Mor-
phologie des durchwanderten Landes.
2. Im August mit der Eisenbahn nach Kurzebrack. Beim Warten auf die
Weichselfähre, während des Übersetzens und der Wanderung durch die
Niederung wurde die Entstehung des Weichseltals, die des heutigen Bettes
der Weichsel, der Steilufer, der Talbildungen und Schwemmkegel erörtert;
eiszeitliche Geschiebe und Terrassenbildungen wurden betrachtet. Waren
wir beim ersten Ausfluge im Kiefernwald gewandert, so kamen wir bei
diesem in Laub- bzw. gemischten Wald. Sein Pflanzenleben und seine
Tierwelt boten reichlichen Stoff zum Fragen und Erklären. In Kleinkrug
Der biologische Unterricht am Gymnasium ^n Marienwerder. 313
wurde eine kleine Rast gemacht (wie sich das für biologische Ausflügler
geziemte) — zu meinem Erstaunen — ohne Alkohol. Dann ging's auf
anderem Wege durch den Wald zur Weichsel zurück. (Marsch von
16 km.)
3. Im September mit der Eisenbahn nach Sedlinen, zu Fuß nach Garnsee,
mit der Bahn zurück (Marsch 18 km). Belehrungen boten die Steilufer
der Weichselniederung mit den vorliegenden Sandflächen und Mooren,
das Leben in einem abgeschlossenen Waldsee, die Pflanzen in ihrer Ab-
hängigkeit vom Boden und der dadurch bedingte Vegetationswechsel.
Bei schon niedrigstehender Sonne betraten wir das 2 km lange und
Vi km breite Kalmuser Moor. Es wurde die Entstehung der verschiedenen
Moore, die Moorlandschaft, die Moorflora (Sumpfbirke, Krüppelkiefer etc.)
und die Moorfauna besprochen. Doch mit dem Gesagten ist längst nicht
alles erschöpft, was auf diesen Ausflügen zur Sprache kam. Es konnten
Wetterbeobachtungen, die wir an die meteorologischen Beobachtungen
in der Schule anknüpften, im Freien gemacht werden, die Alkoholfrage
und andere mehr gaben Rede und Gegenrede.
Außer den Unterrichtsstunden und Ausflügen wurden wöchentlich freiwillige
mikroskopische und makroskopische Übungen abgehalten, an denen sich sämtliche
Unterprimaner (24) beteiligten. Sie nahmen die Mehrbelastung von zwei Stunden
alle 14 Tage sehr gern auf sich. In der physikalischen Sammlung war aus alten
Tagen nur ein etwas mangelhaftes Mikroskop vorhanden. Da uns aber vom Herrn
Minister für die physikalischen und anderen Schülerübungen Unterstützungsgelder be-
willigt worden waren, so schafften wir von einem Teil dieser Übungsgelder ein gutes
Mikroskop, fünf kleine und sechs mikroskopische Bestecke an. Die kleinen Mikroskope
erhielten wir zum Preise von 28 M. bei 50, 100, 200f acher Vergrößerung (drei Objektive,
ein Okular). Infolge dieser Zahl von Mikroskopen konnten zwölf Schüler zugleich
in den Übungen beschäftigt werden. Jeder Schüler mußte von dem im Mikroskop
Gesehenen stets kleine Skizzen anfertigen. So unbeholfen diese auch anfangs
waren, allmählich besserten sie sich, und es schien, als ob die Schüler erst durch
das Skizzenzeichnen sehen lernten. Der Übungsraum, auch benutzt von zwei
andern Klassen zu physikalischen Übungen, befindet sich im Keller. Er ist leider,
wie alle Keller in Marienwerder, etwas feucht, so daß die Geräte nur im physika-
lischen Sammlungszimraer aufbewahrt werden können. Die Lichtverhältnisse sind
naturgemäß schlecht.
Im Wintersemester mußten die biologischen Übungen fast ganz eingeschränkt
werden 1. der Kosten, 2. der Lichtverhältnisse wegen.
Im Unterricht wurden die Tiere in ihrer Abhängigkeit von der Wärme, dem
Licht, dem Boden, dem Wasser, der Luft behandelt. Es stellte sich aber eine
solche Unkenntnis über die Fauna in der Klasse heraus, daß sich der Lehrer ver-
anlaßt sehen mußte, einen kurzen Überblick über die Tierwelt zu geben und vor
allem die Schüler zu eigenem Lesen über die Tierwelt heranzuziehen. Auch er-
boten sich einige Schüler, Vorträge über die Geschichte der beschreibenden Natur-
wissenschaften zu halten.
Da der Überblick zwölf Stunden beanspruchte, kann der biologische Unter-
314 E. Wernicke, Der biologische Unterricht am Gymnasium in Marienwerder,
rieht erst nach Ostern in der Oberprima fortgesetzt werden, vorausgesetzt, daß
auch dort die nötige Stundenzahl freigemacht werden kann.
Wie es nicht anders möglich ist, fehlen uns noch gute Anschauungsmittel.
Wir haben kein Terrarium und kein Aquarium. Wir würden schon sehr zufrieden
sein, wenn wir nur gute Abbildungen bzw. Lichtbilder hätten, an die teuren Prä-
parate wollen wir uns mit den bescheidenen Mitteln der Anstalt nicht heranwagen.
Doch mit der Zeit wird dieser Übelstand gehoben werden: Präparate werden in
den Übungen hin und wieder hergestellt, Photographien von charakteristischen
biologischen Erscheinungen auf den Ausflügen, Mikrophotographien im Physik-
zimmer. — Der biologische Unterricht ist den Schülern liebgeworden. Man kann
es in jeder Stunde von neuem erkennen. Selbst ein durchaus mehr den philo-
logischen als den exakten Wissenschaften zugeneigter Schüler erklärte, daß er den
biologischen Unterricht nicht mehr missen möchte.
Marien Werder. Erich Wernicke.
II. Programmabhandlungen. 1908.
(Mit Nachträgen von 1907 u. 1906.)
Erdkunde.
1. Maack, Rieh., Künstlerische Heimatkunde von Hamburg und
Umgegend. Realschule St. Georg zu Hamburg 1907. Prog.-No. 926. 43 S. 8o.
2. Foerster, Herrn., Heimatkunde von Groß-Strehlitz (O.-S.). Gymnasium
Groß-Strehlitz 1907. Prog.-No. 259. 14 S. 4«.
3. Colbus, Beiträge zum Unterricht in der Heimatskunde. Pro-
gymnasium St. Wendel 1907. Prog.-No. 589. 12 S. 4».
4. Flöckher, A., Die Naturdenkmäler von Hildesheim, welche dem
Pflanzenreiche angehören. Andreas-Realgymnasium Hildesheim 1908. Prog.-
No. 421. 22 S. 80.
5. Breddin, Flurnamen und Flurgeschichte, ein Beitrag zur Heimat-
kunde der Oschersleber Umgegend. Gymnasium Oschersleben 1908. Prog.-
No. 351. 38 S. 8».
6. Winkelmann, Der Schutz der Naturdenkmäler. Schiller-Realgymnasium
Stettin 1908. Prog.-No. 206. 15 S. 4^.
7. Manch, O., Das Erosionstal der unteren Mosel. Realschule Oppen-
heim 1907. Prog.-No. 815. 9 S. 4».
8. Michael, Paul, Beiträge zur Kenntnis der eiszeitlichen Ab-
lagerungen in der Umgegend von Weimar. Realgymnasium Weimar 1908.
Prog.-No. 887. 25 S. 4^.
9. Jung, Die Schotterlager in Arnstadts Umgebung. Realschule
Arnstadt 1907. Prog.-No. 898. 29 S. 4».
10. Stoltz, Karl, Geologische Bilder aus dem Großherzogtum
Hessen. Ludwigs- Georgs- Gymnasium Darmstadt 1908. Prog.-No. 827. 43 S.
8". Mit 1 Profil u. 2 Abb.
11. Crantz, Fritz, Ein Wandertag auf der schwäbischen Alb. Klinger-
Oberrealschule Frankfurt a. M. 1908. Prog.-No. 536. 16 S. 4°.
12. Halbfass, W., Klimatologische Probleme im Lichte moderner
Seenforschung. Gymnasium Neuhaldensleben 1908. Prog.-No. 318. 26 S. 4».
Mit 4 Tafeln.
13. Drewes, Reiseeindrücke von Kunst und Leben in Italien. Teil VI.
Gymnasium Helmstedt 1906. Prog.-No. 865. 26 S. 4^.
316 V. Steinecke,
14. Maier, Albert, Italienische Reiseskizzen. Realgymnasium Köln-
Nippes 1908. Prog.-No. 636. 16 S. 4°.
15. Braun, Reinhold, Sommertage in Griechenland. Gymnasium
Hagen i. W. 1908. Prog.-No. 454. 92 S. 8«.
16. Dingeldein, Otto, Eine Ferienreise nach dem Goldenen Hörn.
Gymnasium Büdingen 1907. Prog.-No. 792. 37 S. 8^.
17. Braun, Fritz, Tiergeographische Fragen, das propontische
Gebiet betreffend. I.Gymnasium Marienburg 1908. Prog.-No. 41. 44 S. 8°.
18. Richter, Otto, Erfahrungen von sieben Schülerreisen nach Rom.
Königliches Prinz Heinrich-Gymnasium Berlin 1908. Progr.-No. 99. 14 S. 4".
19. Knüll, Bodo, Deutschland zu Beginn der sächsischen Kaiserzeit.
Progymnasium Horde 1908. Prog.-No. 458. 34 S. 8«.
20. Dopp, Ernst, Die geographischen Studien des Ephorus. II. Gym-
nasium und Realgymnasium Rostock 1908. Prog.-No. 856. 29 S. 4».
21. Pritzel, Ernst, Vegetationsbilder aus dem mittleren und südlichen
Griechenland. Schiller-Gymnasium und Realgymnasium Groß-Lichterfelde 1908.
Prog.-No. 89. 37 S. 8°.
22. Heckmann, K., Das Hochtal von Mexiko und seine künstliche
Entwässerung. Realschule Nordstadt -Elberfeld 1908. Prog.-No. 656. 26 S.
40. Mit 2 Tafeln.
23. Palleske, Rieh., Zur isländischen Geographie und Geologie.
Realgymnasium Landeshut (Schi.) 1908. Prog-No. 282. 51 S. 8°. Mit einem
Kärtchen.
24. Hoffschulte, H., Aus dem englischen Rechtsleben. Realschule
Münster i. W. 1907. Prog.-No. 476. 13 S. 4».
25. Simroth, H., Natur- und Kulturgeschichtliches aus Oberitalien
und Sardinien. Realschule Leipzig 1907. Prog.-No. 715. 44 S. 4°. Mit 11 Fig.
26. Kuntzemüller, A., Das Wunderland am Yellowstone. Gymnasium
Offenburg 1908. Prog.-No. 806. 40 S. 4». Mit 5 Ansichten und 2 Karten.
27. Lüdtke, Franz, Die Geologie im erdkundlichen Unterrichte
höherer Lehranstalten. Realschule Wollstein 1907. Prog.-No. 217. 13 S. 4°.
28. Schwarz, Adolf, Der geodätische Kursus. Oberrealschule Kiel 1906.
Prog.-No. 363. 16 S. 4«. Mit 4 Tafeln.
Wie in allen Jahren, so haben auch in den letzten Jahresberichten die geo-
graphischen Fachlehrer oder auch das ganze Lehrerkollegium sich der dankens-
werten Aufgabe unterzogen, einen Teil der Heimatkunde ihres Schulortes zu
bearbeiten und dadurch unmittelbar der Schule zu nützen. Um mit einem der
eigenartigsten Beiträge zu beginnen, hat Maack (1) eine sehr wertvolle und an-
sprechende künstlerische Heimatkunde von Hamburg gegeben. Er will dem öden,
herz- und geistlosen Materialismus entgegentreten und den Geschmack auch der
Schuljugend bessern. So bespricht er nach sachlichen Gruppen die in Betracht
kommenden Plätze, Gärten und Gebäude von Hamburg und dient dadurch der
Kunsterziehung in ganz vorzüglicher Weise. Vielleicht hätte den Vorgärten und
dem Blumenschmuck der Balkone und Häuser noch eine eingehendere Beachtung
geschenkt werden können. Den ersten Teil einer Heimatkunde bietet Fo erst er (2),
Erdkunde. 317
indem er aus der Lage und der Bodenform zunächst die geologische, geschicht-
Uche und kulturelle Entwicklung herausarbeitet. Ein sehr hübsches Beispiel dafür,
wie der heimatkundliche Unterricht an Wanderungen angeschlossen werden kann,
die planmäßig mit den Schülern ausgeführt werden, hatColbus (3) durchgeführt.
Seine Darlegungen werden hoffentlich manchen Kollegen veranlassen, in ähnlicher
Weise auch seine eigene Heimat auf Wanderungen den Schülern bekannt und lieb
zu machen. Auch das Bestreben von Flöckher (4), auf Naturdenkmäler der
näheren Heimat aufmerksam zu machen, die entweder durch Alter und außer-
gewöhnliches Vorkommen oder wegen ihrer Seltenheit bedeutungsvoll sind, bzw.
dem Aussterben entgegengehen, verdient Anerkennung und Nachahmung; Flöckher
hat diese Frage für die Pflanzenwelt seiner Heimat vorzüglich durchgeführt. In
anderer Weise gewinnen Direktor und Lehrerkollegium von Oschersleben (5),
indem sie die Chroniken und Flurkarten kritisch studieren, eine wertvolle Bereiche-
rung für Geschichte und Heimatkunde. Eine Übersicht über die verschiedenen
Vorkehrungen, die in den einzelnen Provinzen Preußens und in den Nachbar-
staaten zum Schutz der Naturdenkmäler getroffen worden sind, stellt Winkel-
mann (6) unter besonderer Berücksichtigung von Pommern zusammen.
Drei von den vorliegenden Arbeiten beschäftigen sich eingehend mit geolo-
gischen Fragen der Heimat. Den früheren Lauf der unteren Mosel konstruiert
Münch (7) aus den Schottermassen heraus; im Anschluß daran bespricht er ins-
besondere die Wittlicher Senke und den Einfluß der Eifelzuflüsse. Tiefgründige
Studien bezüglich der Diluvialablagerungen an der Grenze des norddeutschen Ver-
gletscherungsgebietes, besonders in der Umgebung von Weimar, liefert Michael (8).
Jung (9) weist durch seine Untersuchungen der Schotterlager von Arnstadt nach,
wie wichtig die Erosionsstudien sind; seine Arbeit ist auch für den Gebrauch der
Schüler sehr geeignet und hoffentlich der erste Teil einer umfassenden Heimat-
kunde. Meisterhaft versteht es Stoltz (10), aus einer geologischen Betrachtung
seiner Heimat eine ganze systematische Geologie für seine Schüler und überhaupt
für Laien aufzubauen.
Sinnige Betrachtung von Land und Leuten vereinigt Gräntz (11) mit geo-
graphischem Wissen in einer prächtigen Schilderung einer Albwanderung, die den
von Altmeister Ratzel in seinem Buche „Über Naturschilderung" gestellten An-
forderungen in jeder Beziehung gerecht wird. Rein in das wissenschaftliche Ge-
biet begibt sich der bekannte Seenforscher Halbfaß (12); in dem zweiten Teil
seiner Abhandlung über klimatologische Probleme untersucht er mitteleuropäische
und amerikanische Seen auf ihre Beziehung zur Brücknerschen Periode, größten-
teils mit negativem Ergebnis.
Auch ihre Reisen machen viele Schulmänner dem Unterricht dienstbar.
Drewes (13) erfreut uns durch die Fortsetzung seiner schönen Reiseeindrücke
aus Italien, die sich allmählich zu einer Kunstgeschichte ausbauen. Ansprechende,
warm von Poesie durchhauchte Reiseskizzen und Stimmungsbilder liefert Maier (14)
über Italien. Die aus der Schulliteratur bekannten Stätten Griechenlands beleben
sich wieder, wenn man mit Brauns (15) schönheitstrunkenem Auge die von ihm
durchstreiften Gegenden anschauen darf. Dingeldein (16) schildert uns be-
sonders Konstantinopel und Athen und die Griechen. Angenehm berührt es bei
318 W. Steinecke, Erdkunde.
ihm, daß er der „Versuchung, dem Aufsatz ein Mäntelchen von Wissenschaftlich-
keit umzuhängen, erfolgreich widerstanden" hat; den wissenschaftlich gebildeten
Reisenden erkennt man trotzdem und man lernt aus seinen Skizzen vieles, was
man zur Belebung des geographischen Unterrichtes benutzen kann. Dieselbe
Gegend behandelt Fritz Braun (17); seine während eines fünfjährigen Aufenthaltes
in Konstantinopel gemachten feinsinnigen Beobachtungen der Vogelwelt fügt er
zu einer anziehenden tiergeographischen Studie zusammen. Er weist nach, wo-
durch die Verbreitung der in jenem Übergangsgebiete vorkommenden Vögel ver-
ursacht wird, und macht nachdrücklich auf die Bedeutung der meteorologischen
Bedingungen des Vogelzuges aufmerksam.
Über Schülerreisen haben wir noch längst nicht genügend Literatur, ob-
wohl an vielen Schulen jetzt Schülerfahrten unternommen werden, was wegen der
daraus folgenden Weitung des Blickes und der Bereicherung der Kenntnisse warm
zu begrüßen ist. Sind schon Turnfahrten wertvoll, so gewinnen die Reisen noch,
wenn sie auch wissenschaftliche Zwecke verfolgen. Nicht jedem wird es durch
die äußeren Umstände ermöglicht, den klassischen Sinn der Schüler durch eine
Romfahrt zu beleben, wie es Richter (18) bereits siebenmal tun konnte, sondern
mancher wird sich mit dem Inlande begnügen müssen; aber jeder, der überhaupt
eine Fahrt mit seinen Schülern macht, wird sich Anspruch auf lebhaften Dank er-
werben und in jeder Beziehung gute Früchte ernten.
Zur historischen Geographie bringt Knüll (19) auf Grund seiner trefflichen
»Historischen Geographie Deutschlands im Mittelalter" eine übersichtliche und im
Unterricht gut verwendbare Darlegung von Deutschlands und des Deutschtums
Grenzen, von der Bebauung, Besiedelung und Nutzung, von den Siedelungen und
Straßen zu Beginn der sächsischen Kaiserzeit. Aus Vergleichen der Fragmente
des Ephorus mit anderen griechischen Quellen gewinnt Dopp (20) Beiträge zur
alten Geographie, Stammes- und Siedelungskunde Altgriechenlands; ein angehängter
Abschnitt über Bruchstücke einer sizilischen Chronik aus der Zeit um 465 v. Ch.
bietet eine willkommene Ergänzung zu den bei Diodor überlieferten Vorgängen
nach der Beseitigung der Tyrannis.
Eine ganze Reihe von Beiträgen zur Landeskunde des Auslandes liegt
auch in diesem Jahre vor. Pratze 1 (21) schildert eingehend die Vegetation des
mittleren und südlichen Griechenland. Heckmann (22) weist nach, wie die
früher im Wasser liegende Stadt Mexiko durch großartige Entwässerung zu einer
gesunden Stadt gemacht worden ist. Palleske (23) übersetzt landeskundliche
Beiträge von Thoroddsen. Hoffschultes (24) Beiträge aus dem englischen Rechts-
leben sind nicht nur für den englischen Unterricht, sondern auch für unseren
deutschen Geschichtsunterricht und für die Unterweisung in der Bürgerkunde sehr
interessant, indem sie das deutsche und englische Rechtsleben scharf einander gegen-
überstellen. Simroth (25) vergleicht die deutsche und italienische Waldkultur,
wobei er die Pendulationstheorie als Grund für das Hinabschieben der nordischen
Koniferen auf den Boden von Oberitalien heranzieht; eigentümliche Beobachtungen
über zoologische Merkwürdigkeiten und eine hübsche Schilderung von Land und
Leuten Sardiniens sind angehängt; den Nuraghen, den wunderlichen zyklopischen
Bauwerken, widmet er eine besondere, von Bildern unterstützte Untersuchuing. In
H. Schmidt, Religion. 319
Kuntzemüller (26) finden wir jemand, der sich nicht mit Ausrufen des Ent-
zückens über das Wunderland am Yellowstone begnügt, sondern das Ergebnis
seiner Bereisung in einer ausführlichen Beschreibung gibt und nicht nur eine
Schilderung der Entdeckung und wissenschaftlichen Erforschung, sondern auch
über das gewöhnliche Maß hinausreichende Kärtchen und Bilder hinzufügt.
Lüdtke (27) bricht eine Lanze für die Verwertung der Geologie im erd-
kundlichen Unterricht und bietet seiner Schule ein Hilfsmittel, indem er die
Hauptzüge der geologischen Entwicklung von Posen zeichnet und den Wissens-
stoff auf die einzelnen Klassen verteilt. Schließlich führt Schwarz (28) in nach-
ahmenswerter Weise den ansprechenden Gedanken aus, die im mathematischen
Unterricht an der Wandtafel entwickelten und erläuterten Aufgaben auch durch
Messungen im Gelände zu ergänzen. Er hat dazu einen geodätischen Kursus ein-
gerichtet, an dem sich Mitglieder des Lehrerkollegiums und des pädagogischen
Seminars beteiligten. Wenn solche Kurse, wie es wünschenswert ist, an anderen
Schulen auch eingeführt werden, dann lernen die Schüler in der Mathematik nicht
nur, wie man Linien auf dem Papiere zieht, wie man Lote fällt und errichtet, wie
Parallele gezogen, Winkel angetragen und gemessen werden, sondern auch, wie
alle diese Konstruktionen im Gelände ausgeführt werden. Dadurch wird in erster
Linie die Mathematik praktisch verwertet, aber auch die Grundlagen des geo-
graphischen Unterrichtes werden dadurch verstärkt.
Essen, Ruhr. Victor Steinecke.
Religion.
(Nachtrag 1908.)
Tröger, Julius, Zur wissenschaftlichen Rechtfertigung des christ-
lichen Glaubens im Unterricht der höheren Schule. Breslau, Gymna-
sium zu St. Maria-Magdalena. Progr,-Nr. 239.
Verfasser versteht unter Apologetik die wissenschaftliche Rechtfertigung der
Heilstatsachen. Er unterscheidet an ihr zwei Stufen : die erste hat den Glauben an
einen persönlichen Gott als denknotwendig und darum (das Dasein dieses Gottes
als) wirklich zu erweisen; die zweite, christliche Stufe hat die wissenschaftliche
Möglichkeit der Aussagen des Glaubens zu erweisen. Beide Stufen der Apologetik
sind auf der höheren Schule nötig, die erste gegenüber dem Monismus, die zweite
gegenüber Deismus und Rationalismus der alten und »modernen" Theologie. Der
Beweis geht aus vom Begriff der Sünde als gottfeindlicher Macht, die eine über-
natürliche Erlösung notwendig macht; damit ist dann die Notwendigkeit der
Heilstatsachen gegeben. Es handelt sich nun darum, die Möglichkeit dieser Heils-
offenbarung, besonders des Wunders zu erweisen und zwar nicht nur des relativen,
sondern auch des absoluten Wunders. Ist dieses möglich, so entscheidet nur
Bezeugung und Zweck über seine geschichtliche Wirklichkeit. Die Bezeugung
ruht auf der Glaubwürdigkeit der Ew. Die Bestreitung derselben wird wesentlich
320 H. Schmidt, Religion.
durch die Weltanschauung der betreffenden Forscher bestimmt; man kann also ge-
trost an der Echtheit der Urkunden (speziell Joh.) festhalten. Es folgt dann ein
Gang durch die Heilstatsachen: Gottessohnschaft, Menschwerdung, Opfertod, leib-
liche Auferstehung, Geistesausgießung.
Ich bezweifle nicht, daß solche Gedankengänge je nach der Persönlichkeit des
Lehrers auf viele Schüler starken Eindruck machen können. Ich stehe aber selbst
in einer Reihe grundsätzlicher Fragen anders, deshalb kann ich die Argumentation
nicht als beweiskräftig anerkennen und fürchte, daß auch einem Teil der Schüler
jedenfalls ein dementsprechender Unterricht nicht gerecht würde.
Roßleben. H. Schmidt.
III. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Zum deutschen Aufsatz.
Kehrein, Joseph, Entwürfe zu deutschen Aufsätzen und Reden nebst
Einleitung in die Stilistik und Rhetorik und Proben zu den Haupt-
gattungen der prosaischen Darstellung für höhere Lehranstalten.
Nach dem Tode des Verfassers neu bearbeitet von Dr. Valentin Kehrein, Pro-
fessor am Kaiserin Augusta-Gymnasium zu Koblenz. Elfte, verbesserte Auflage«
Paderborn 1907. Ferdinand Schöningh. XXII u. 524 S. gr. 8". 5,40 M.
Die erste Abteilung behandelt auf 78 Seiten die Bestimmung des Themas,
die Auffindung, Anordnung und Einkleidung (Tropen und Figuren) des Stoffes,
die Stilarten und Gattungen der prosaischen Darstellung (dazu auch die übliche
Titulatur nach Geburtsrang, Stand und Würden) und endlich die Teile und die
Hauptarten der Rede. Die zweite Abteilung gibt auf 114 Seiten 49 Proben, die
dritte auf 281 Seiten 327 Entwürfe zu historischen (129), theoretischen (165) und
rhetorischen Themen (33) nebst einem Anhang: Metrische Übungen. Den Be-
schluß bilden weitere 366 Themen, die zum Teil kurz erläutert werden, und ein
alphabetisches Inhaltsverzeichnis. — Daß das Buch seinen ausgesprochen christ-
hchen, genauer positiv-katholischen Charakter seit seinem ersten Erscheinen (1853)
bis heute beibehalten hat, das ist ein Umstand, der hier festgestellt, aber natür-
lich in keiner Weise bemängelt wird. Ich gebe ohne weiteres zu, daß das um-
fangreiche Werk, von seinem Standpunkte aus betrachtet, tüchtig und brauchbar
ist, viel Wissen, Fleiß und Umsicht offenbart. Es fragt sich bloß, ob es sich in
seinen Neubearbeitungen den Bedürfnissen und Interessen der heutigen höheren
Lehranstalten oder doch der großen Mehrheit derselben genügend angepaßt hat.
Das ist meines Erachtens nicht der Fall. Das Buch macht einen etwas altvaterischen
Eindruck. Die neuere Literatur wird viel zu wenig, die neueste gar nicht berück-
sichtigt. Die Namen Lessing und Shakespeare sucht man im Schlußverzeichnis
vergeblich, obgleich sie in den „Proben" und „Entwürfen" im ganzen vier- oder
fünfmal vorkommen. Daß übrigens Lessing heutzutage darum „an Ansehen viel
eingebüßt habe", weil ihm „vielfache Entlehnungen aus anderen (französischen
und englischen) Schriftstellern nachgewiesen seien", ist wohl kaum zu beweisen.
Monatschrift f. höh. Schulen. VHI. Jhrg. 21
322 P Geyer,
Ob Tilly wirklich „unstreitig der edelste Charakter unter den Helden des Dreißig-
jährigen Krieges" gewesen ist? S. 237. Ob Schillers Teil wirklich weiter nichts
ist als ein „selbstsüchtiger, von persönlicher Rache getriebener, mit Gottes Vor-
sehung spielender, eitler und gemeiner Meuchelmörder?" S. 267. Übrigens ein
Zitat aus einem Buche von Günther (Halle 1845), aber es soll doch wohl — so
scheint es — auch Kehreins Meinung wiedergeben. S. 236 liest man: „Daher
ist es sehr zu bedauern, daß ein so großer Dichter wie Schiller den Cha-
rakter der Jungfrau [von Orleans] so verkannt hat, und S. 270 wird dem näm-
lichen Schiller der Vorwurf gemacht, daß er die „in der neueren und neusten Zeit
als durchaus falsch erwiesene Ansicht" von dem verbrecherischen Vorleben der
Maria Stuart zu der seinigen gemacht habe. Auch Goethe muß sich S. 272 sagen
lassen, daß „die schlichte geschichtliche Wahrheit seinem Trauerspiel Egmont
mindestens eine ebenso ergreifende Tragik" verliehen hätte als die Dichtung
[Kehrein schreibt das Wort mit Anführungsstrichen] des großen Meisters es ver-
mocht hat. Ja, diese Dichter! Warum fragen sie nicht immer erst die Schul-
meister, ehe sie sich an geschichtliche Persönlichkeiten heranmachen ? — S. 321
heißt es: „Die deutschen Sprichwörter sind gute Anthropologen (Menschenkenner)."
Genauer und zutreffender wäre es wohl zu sagen: Psychologen.
Dörwald, Paul, Aus der Praxis des deutschen Unterrichts in Prima.
Berlin 1908. Weidmannsche Buchhandlung. 167 S. gr. 8". 3 M.
Inhalt: I. Die Aufgaben des deutschen Unterrichts in Prima, II. Das Deutsche
im Mittelpunkt des Unterrichts. III. Sprachgeschichtliches und Metrisches. IV. Die
Lektüre. V. Die Literatur des Mittelalters und der Neuzeit bis auf Lessing.
VI. Lessing. VII. Goethe und Schiller im Sturm und Drang. VIII. Goethes Lyrik.
IX. Goethes Iphigenie. X. Schillers kulturhistorische Lyrik. XI. Schillers ideale
Lyrik. XII. Die Dichtkunst nach Schillers Gedichten. XIII. Schillers Braut von
Messina.
Dörwald sieht davon ab, sich mit gegenteiligen Anschauungen kritisch aus-
einanderzusetzen, sondern beschränkt sich darauf, dem Leser „die Früchte einer
zwanzigjährigen, dem Verfasser lieb gewordenen Unterrichtstätigkeit" zu bieten.
Und er tut recht daran. Probieren geht über Studieren, Theoretisieren und Kriti-
sieren, und daß der Verfasser reiche Erfahrung auf dem Gebiete nicht bloß des
deutschen Unterrichts, sondern des humanistischen Schulbetriebes überhaupt und
dazu Liebe zur Sache besitzt, das erkennt man auf jeder Seite des Buches. Man
kann ja in diesem oder jenem Punkte anderer Meinung sein. Zum Beispiel möchte
ich, daß die neueste Literatur nicht ganz außer Betracht bleibe, was allerdings
nur möglich ist, wenn die Beschäftigung mit Klopstock und mit Lessings Prosa-
schriften noch mehr verkürzt wird. Aber das hält mich nicht ab, Dörwalds Buch
für einen trefflichen Wegweiser für den deutschen Unterricht zu erklären, der
neben den umfassenderen Werken von Laas und Lehmann von jedermann, auch
von älteren Lehrern, mit Vorteil benutzt werden wird. — Zum Schluß noch eine
bescheidene Anregung, die sich auf den sprachlichen Ausdruck bezieht! S. 19
heißt es: „Ein rechter Schüler dieses [nämlich Horazens] ist Klopstock",
S. 53: „Der Laokoon fordert — dazu auf, auf Einteilung und Wesen dieser
[nämlich der schönen Künste] einzugehen." Ich muß gestehen, daß ich die Ab-
Zum deutschen Aufsatz. 323
neigung Wustmanns gegen diese nackten Genetive dieses und dieser im vollen
Maße teile. — Vielleicht trägt die zweite Auflage meinen Gefühlen Rechnung.
Ewald, Georg, Wegweiser zur Erzielung eines selbständigen deut-
schen Schüleraufsatzes. Frankfurt a. M. 1907. Moritz Diesterweg. 112 S.
gr. 8». geh. 1,80 M.
Verfasser ist der Meinung, daß der frische Kindersinn durch die „schablonen-
mäßige Schreiblesedressur" der ersten Schuljahre für gewöhnlich erstickt werde,
während doch „jedes normal begabte Kind die größte Freude daran finde, seine
Gedanken über angeschaute Dinge, selbstverrichtete Tätigkeiten, miterlebte Familien-
feste, Spiele und Spielsachen, Ausflüge u. a. m. selbständig ausdrücken zu dürfen".
Was dann vorgeschlagen wird, diese Selbständigkeit im Beobachten, Vergleichen,
Ordnen und Gliedern von der ersten Schulwoche an anzubahnen und immer mehr
zu festigen, ist im allgemeinen recht verständig und beherzigenswert. Eben des-
halb, weil es sich wirklich um eine systematische Anleitung zur Selbständigkeit
handelt, also um — Unselbständigkeit, wie die gründlichsten Aufsatzreformer sagen
würden! Um so überraschender ist es, daß einer der letzten Abschnitte des
Buches die Überschrift trägt: „Vermeidung jeglichen Zwanges in bezug auf die Dis-
position." In dieser Allgemeinheit ist der Satz schief und irreführend. Daß sich
jeder vernünftige Lehrer jede vernünftige Disposition gefallen läßt, ist selbst-
verständlich, aber es gibt schließlich auch einen Zwang der Logik, d. h. für die Be-
handlung eines bestimmten Themas steht eine bestimmte, oft sehr begrenzte Aus-
wahl von Möglichkeiten zu Gebote, die dem Schüler — mindestens an verwandten
Themen — klargemacht werden können und müssen. Aber Verfasser hat geglaubt,
von seinem — seminaristischen — Standpunkte aus dem kurzsichtigen, pedan-
tischen „Herrn Professor" etwas am Zeuge flicken zu müssen. Die Lehrer des
Deutschen an höheren Lehranstalten sind gern bereit, von der Praxis der Volks-
schule zu lernen, halten sich aber im übrigen an den Spruch: „Jeder kehre vor
der eigenen Türe!"
Bargmann, A., Anleitung zum Aufsatzbilden. Lehrplan und An-
schauungsbeispiele. Mit einem Bilderanhang. Leipzig 1907. Quelle
und Meyer. VIII u. 175 S. gr. 8«. geh. 2,60 M.
Das Buch ist wie das eben besprochene zunächst für die achtklassige Volks-
schule bestimmt, gibt aber auch für die Praxis der höheren Lehranstalten brauch-
bare Anregungen und Fingerzeige. Eine durchaus eigenartige und selbständige
Arbeit, die den Aufsatz auf die breiteste Grundlage stellt, d. h. ihn in die engste
Beziehung zu dem gesamten Lehrplan der Volksschule, genauer der sächsischen
Volksschule, setzt. In Hinsicht auf die — bisweilen fast beängstigende — Gründ-
lichkeit, mit der Methodik und Systematik behandelt werden, erinnert sie mich an die
Bücher von Johannes Boock. Aber die schwere Rüstung der Methodik und Systematik
hat ja immerhin bloß der Lehrer zu tragen, nicht der Schüler, und der mag sie lockern,
wenn sie ihn drückt und beengt. — Verfasser unterscheidet zunächst Vorgänge,
die durch Ursachen, und Handlungen, die durch Beweggründe bestimmt werden,
und demnach Vorgangsfächer (Erdkunde, Naturgeschichte und Naturlehre) und
Handlungsfächer (Religionsgeschichte und Profangeschichte). Das sind die Fächer,
die für seine Aufsatzlehre in Betracht kommen. Dabei handelt es sich entweder
21*
324 M. Klatt, Althoff und das höhere Schulwesen,
um ein Nebeneinander im Räume oder um ein Nacheinander in der Zeit. Für das
Nebeneinander folgen die Vorstellungen so: links, Mitte, rechts oder Vordergrund,
Mittelgrund, Hintergrund oder unten, Mitte, oben oder umgekehrt. Für das Nach-
einander ist der feststehende Gang: Anfang, Mitte, Ende — Ursache, Vorgang,
Wirkung oder Beweggrund, Handlung, Folge. Das sind also zwei Aufsatztypen,
in denen die Ordnung (Disposition) mit der Bestimmung des Typus unmittelbar
gegeben ist. Zu dem Nebeneinander und Nacheinander tritt als dritter Aufsatz-
typus das Durcheinander (Betrachtung oder Abhandlung). Hier ist die Ordnung
nicht gegeben, sondern erst zu schaffen. Endlich wird auf allen Stufen die ge-
legentliche Aufsatzbildung von der absichtlichen (systematischen) Aufsatzbildung
streng unterschieden. Der Ausdruck „gelegentlicher Aufsatz" wird verständlich,
wenn man weiß, daß Bargmann schlechtweg jede geordnete Reihe von Vor-
stellungen oder Vorstellungsgruppen, mag dieses Ordnen auch nur mündlich oder
gar nur in Gedanken vorgenommen werden, einen „Aufsatz" nennt. Wenn man
also die leidige Systematik beiseite läßt, so lautet Bargmanns Forderung dahin,
daß der eigentliche (für gewöhnlich so benannte) Aufsatz in allen Unterrichts-
fächern von allen Lehrern vom ersten Schuljahr ab dadurch vorzubereiten sei,
daß der Schüler sowohl Geschautes wie Gedachtes in bestimmter Ordnung aufzu-
nehmen lerne. Der Gedanke ist nicht neu, aber vortrefflich, und Bargmann hat
ihn an Beispielen aufs sorgsamste erläutert.
Brieg. Paul Geyer.
b) Einzelbesprechungen:
Klatt, Max, Althoff und das höhere Schulwesen. Vortrag, gehalten am
19. Dezember 1908 im Berliner Gymnasiallehrer-Verein. Berlin 1909. Weid-
mannsche Buchhandlung. 42 S. 0,60 M.
Es ist kein geringes Verdienst, daß Klatt sich entschloß, den Vortrag zum An-
denken Althoffs im Berliner Gymnasiallehrer-Verein zu halten, den andere zu halten
Bedenken trugen wegen der Schwierigkeit der Aufgabe, ein Bild zu entwerfen, das
so ungemein schwer schon jetzt mit voller Objektivität und Sicherheit zu zeichnen
ist. Daß Klatt es getan, verdient Anerkennung, noch mehr, wie er es ausgeführt.
Es beweist, daß die Wahl die richtige Persönlichkeit getroffen hat. Denn der Vor-
tragende stand dem verstorbenen Ministerialdirektor nahe genug, um ihn richtig
einzuschätzen, d. h. hoch zu schätzen und diese Hochschätzung auch weiteren Kreisen
übermitteln zu können. Er stand ihm aber nicht zu nahe, um in die Gefahr zu
kommen, an kleinlichen Dingen Anstoß zu nehmen. Denn zu leicht nimmt der
Mensch an, bedeutende Eigenschaften müßten das Kleinliche und Alltägliche ver-
zehren, oder von diesem verzehrt werden. Das ist ein Irrtum; denn das Kleine
kann neben dem Großen sehr gut bestehen; unter Umständen kann es das Große
sogar verschönern und interessant charakterisieren. Für den Biographen liegt die
Gefahr zu nahe, das zu vergessen. — Klatt war auch sonst in erster Linie berufen
zu seinem Vortrag. Er hat schon früher in zahlreichen Versammlungen über Althoff
gesprochen und er kann es sich zum Verdienst anrechnen, immer gerecht und so
angez. von A. Matthias. 325
gesprochen zu haben, daß man in Philologenkreisen die Bedeutung Althoffs für
die höheren Schulen und für den höheren Lehrerstand frühzeitig erkannt hat und
daß dieses Bewußtsein beim Tode in einer Weise zum Ausdruck kam, die dem
Bewunderten und den Bewunderern alle Ehre macht. Man kann es nach Verlauf
einiger Monate getrost behaupten, daß die praktischen Schulmänner Preußens in
dem Punkte der Einschätzung Althoffs den Universitätslehrern den Rang abgelaufen
haben. Die Zeit wird kommen, wo diese Wahrheit noch deutlicher als heute er-
kannt wird. — Was nun das Lebensbild Althoffs anbelangt, das Klatt uns zeichnet,
so darf man es als wohlgelungen bezeichnen. Wenn an manchen Stellen manches
im unklaren bleibt, wenn „für die Entscheidung darüber, welchen Anteil an der
Entwicklung des höheren Schulwesens im einzelnen Althoff gehabt hat, die Grund-
lage fehlt und die Methode versagt", wenn diese Monatschrift mit ihren Äußerungen
über Althoff den eigentlichen Zusammenhang zwischen manchen Vorgängen nicht
aufgedeckt hat, wenn vor allem für die historischen plötzlichen „Umschwünge" die
Gründe nicht ganz erkennbar gemacht sind, so möge sich Klatt und die Welt zu-
nächst damit trösten, daß eben ein bedeutender Mensch in seinem Wesen stets
einige Rätsel hat, und daß nur der unbedeutende Flachkopf, der Schaumschläger
oder der Philister sofort erkannt wird in seinen Motiven und Entschlüssen. Wenn
auch einige Rätsel vorliegen, besonders aus dem Mai 1900, so kommt man viel-
leicht der Lösung näher, wenn man in Erwägung zieht, daß Althpff ein großer
Taktiker, daß er weniger ein Praktiker war; jedenfalls kein pädagogischer Praktiker.
Er wußte ja kräftig zu schulmeistern, d. h. Aufgaben zu stellen, Gutachten aufzu-
geben, so daß noch heute eine Fülle dieser Extemporalien daliegen, an denen mancher
Pädagoge von Ruf sich erfolgreich beteiligt hat. Aber ein praktischer Pädagoge
war Althoff nicht. Das beweist eine Geschichte, die bezeichnend für ihn und für
sein gutes Herz zugleich ist. Er hatte einen Neffen zur Erziehung in sein Haus
genommen. Dieser Knabe hatte nun einmal etwas versündigt; zur Strafe sollte
ihm am nächsten Sonntag die süße Speise, die Althoff selbst für sein Leben gern
aß, entzogen werden. Als der Sonn- und Straftag und die Stunde der süßen
Speise nahte, konnte Althoff die Strafvollziehung nicht über sich gewinnen; er
verließ das Lokal, rief seine treffliche Frau vor die Tür und gab Marien den Auftrag,
dem Neffen die Speise zu geben, damit er nicht inkonsequent erscheine. Man
sieht, ein großer Taktiker, aber kein pädagogischer Praktiker. In dieser Linie
liegen denn auch die „Umschwünge", die er wohl mit dem klassischen Motto aus-
zuschmücken verstand: „Was gebe ich auf mein dummes Geschwätz von gestern",
einem Worte, das er einem Studienfreunde früherer Zeiten zu verdanken versicherte.
Also grübeln wir nicht. Die Taktik und die Rücksicht auf retardierende Faktoren
hat manches auf dem Gewissen in der Entwicklung der Dinge vom l. Februar bis
1. Juni 1900. Das aber ist sicher: Wäre Althoff nicht gewesen, so stünden wir mit der
wichtigsten Frage, der der Berechtigungen und Gleichwertigkeit der höheren
Knabenschulen noch auf demselben Fleck wie anno 1899. Bei dieser Frage hat
Althoff mit seiner vielgewandten Taktik alle Beteiligten nach seiner Pfeife tanzen
lassen und hat es mit Humor angesehen, wie dieser Tanz von diesem und jenem
mit größtem Widerstreben und sogar unter Zornesäußerungen ausgeführt wurde.
So etwas konnte nur eine große Persönlichkeit fertig bringen und als solche hat
326 F- Paulsen, Moderne Erziehung usw., angez. von P. Jahnke.
ihn Klatt gezeichnet; er befindet sich damit in Übereinstimmung mit dem Urteil
eines klugen Schafherdenbesitzers aus Australien. Als Althoff nämlich eines Tages
mit einem vortragenden Rat seiner Abteilung von Berlin nach Halle fuhr in der
bekannten grauen vorsintflutlichen Reisejoppe und der unglaublichen Kopfbedeckung,
von der man auf alles andre als auf das Kultusministerium schließen konnte, saß
im Speisewagen, wo Althoff, wie gewohnt, erkleckliche Speisevorräte zu sich nahm,
ein kluger, vielgereister Schafherdenbesitzer aus Australien ihm gegenüber und
verwickelte sich in ein lebhaftes Gespräch, in dessen Verlauf Althoff die drollige
Aufforderung an ihn richtete, zu raten, welchem Beruf er angehöre. Die knappe
Antwort lautete: „Das weiß ich nicht; jedenfalls sind Sie ein bedeutender Mann."
So war es. Am besten merken es die Freunde Althoffs an der Lücke, die sein
Tod gelassen hat.
Berlin. A. Matthias.
Paulsen, Friedrich, Moderne Erziehung und geschlechtliche Sittlichkeit.
Einige pädagogische und moralische Betrachtungen für das Jahrhundert des
Kindes. Berlin 1908. Reuther & Reichard. 95 S. 8«. geh. 1 M.
Wenn Friedrich Paulsen, der warmherzige Freund der höheren Schulen, ihrer
Lehrer und ihrer Schüler, das Wort ergriff, um in seiner milden und doch kraft-
vollen Art Stellung zu nehmen zu irgendeiner Frage der Erziehung und des
Unterrichts, dann konnte er gewiß sein, viele dankbare und aufmerksame Zuhörer
und Leser unter uns zu finden. So waren wir ihm, dem nun leider allzufrüh
Dahingeschiedenen, auch dafür zu Dank verpflichtet, daß er in dem vorliegenden
Büchlein einige zuerst in Zeitschriften veröffentlichte Aufsätze vereinigt und be-
quemer zugänglich machte
Der erste , Väter und Söhne" sucht die Frage zu beantworten, wie es
komme, daß gerade heutzutage der Gegensatz zwischen^ Jungen und Alten so
scharfe Formen angenommen habe, wo doch in der Schule wie im Elternhause
der Jugend die größte Rücksicht bewiesen, ihrer Entwicklung die größte Teilnahme
entgegengebracht werde. Er findet die Ursache in dem Umstände, daß wir uns
auf allen Gebieten, dem kirchlich-religiösen wie dem staatlichen und gesellschaft-
lichen, in einer Zeit des Übergangs befinden. Es herrsche noch eine Kampfes-
stimmung, die „ruhigen Selbstbesitz und sichere Bewegung innerhalb anerkannter
und selbstgezogener Schranken" nicht aufkommen lasse. Darum sieht er nicht
mutlos in die Zukunft, sondern hält dafür, daß man der Jugend die Erkenntnis
dieses Zieles der Charakterbildung erleichtern müsse. Darum begrüßt er es mit
Freude, daß im Schulleben der „östliche Typus" des Vorgesetzten „in raschem
Zurückweichen" begriffen sei. Das sei auch bei der Reifeprüfung nötig; denn
»bleibt es dabei, daß am Ende der Schulzeit das gebotene Maß regelrechter Ziegel-
steine gebrannt sein muß, dann wird es nichts mit der Freiheit der Oberstufe".
Insbesondere sei beim Religionsunterricht dem Lehrer wie dem Schüler ein größeres
Maß von Freiheit zuzubilligen. — Den trefflichen Ausführungen kann man nur
eins entgegenhalten: daß sie selbst wie die in ihnen bekämpften Erscheinungen
und Schriften im wesentlichen auf großstädtischen Verhältnissen beruhen, die
glücklicherweise nicht überall herrschen. Gott sei Dank, es gibt in deutschen
P. F. Thomas, L'tducation dans la Familie usw., angez. von W. Münch. 327
Landen noch genug Schüler, die ihren Lehrern innerliche Hochachtung, willigen
Gehorsam und dauernde Dankbarkeit entgegenbringen!
Der zweite Aufsatz „Schuljammer und Jugend von heute" schildert
nicht ohne grimmigen Humor das Jammern über die Schule und zeigt, worüber
die Schule selbst zu jammern hat, deren Ansehen von allen Seiten erschüttert
wird. Wir wollen uns freuen, daß ein Mann wie Friedrich Paulsen solches Ver-
ständnis für die Schwere unseres Berufes hat, und wollen ihm dankbar dafür
sein, daß er es so mannhaft ausspricht. Aber wir selbst wollen doch auch nicht
vergessen, was einmal der verantwortliche Herausgeber dieser Monatschrift auf einer
Philologenversammlung in Köln ausführte: es gibt auch viele Eltern, die mit der
Schule sehr zufrieden sind und nicht in das allgemeine Klagelied einstimmen;
aber da die Verständigen meist stiller sind als die Unverständigen, so treten sie nicht
hervor. An die sollen wir denken, wenn wir dem Unverstände begegnen, und
sollen uns hüten, uns zu ärgern und uns verbittern zu lassen. Denn sonst könnte
es dahin kommen, daß die Schreier recht hätten.
Der dritte Aufsatz verurteilt die Episode von Anna Bojes Liebesverhältnis mit
dem „Manne vom Heckenweg" in Frenssens Hilligenlei aus künstlerischen und
sittlichen Gründen. — Der vierte „Zum Kapitel der geschlechtlichen Sitt-
lichkeit" steht auf demselben Standpunkt, wie das kürzlich hier besprochene
Buch von Förster „Sexualethik und Sexualpädagogik". Auch Paulsen verspricht
sich nichts von der sogenannten Aufklärung („es fehlt nur noch der Experimentier-
kursus"!), sondern verlangt kräftigeren Schutz der Jugend vor der sittlichen Ver-
seuchung durch Bücher, Zeitungen und Auslagen in den Ladenfenstern. Er schlägt
zur Hebung des sittlichen Ernstes aller Kreise entsprechende Belehrung der Juristen
und Mediziner auf der Universität vor, eine Durchdringung dieser Berufe mit
philosophisch-ethischen Ideen. Er meint, die gesetzlichen Bestimmungen gegen die
Verbreitung unzüchtiger Schriften und Abbildungen reichten aus, wenn sie nur mit
Nachdruck gehandhabt würden. Ob das richtig ist, weiß ich nicht; aber das ist
jedenfalls richtig, daß diese Pest eine der verderblichsten ist, und sie wütet leider
nicht nur in großen Städten.
Der fünfte Aufsatz „Alte und neumodische Erziehungsweisheit" be-
handelt drei Imperative als „die ewigen Leitsterne der wahren Erziehung": Lerne
gehorchen! Lerne dich anstrengen! Lerne dir versagen und deine Begierden
überwinden!
Lüdenscheid. R. Jahnke.
Thomas, P. P^lix, L'feducation dans la Familie (Les P6ch6s des Parents).
Paris 1908, F. Alcan. XI u. 255 S. 8".
Das klar und lebendig geschriebene, von sicherer Lebenskenntnis zeugende,
auf gesunden Grundsätzen aufgebaute Buch des Verfassers (dem wir unter manchem
andern das gute Buch L'^ducation des Sentiments und ebenso eine eingehende
Studie über die Bedeutung der Suggestion in der Erziehung verdanken) verfolgt
einen ganz praktischen Zweck. Zu einer Zeit, wo gegen die Gestaltung der öffent-
lichen Erziehung so unendlich viel Vorwürfe erhoben werden, will es den Familien
wieder einmal zu Gemüte führen, wie viel sie ihrerseits versäumen, verfehlen, ver-
328 C. Nohl, Womit hat der höhere Schulunterricht usw., angez. von P. Cauer.
derben. Naturgemäß wiederholt sich da eine Kritik, wie sie oft genug früher zum
Ausdruck gekommen ist. Die Ratschläge, so sagt Thomas ganz ähnlich wie seiner
Zeit Jean Paul sich äußerte, mag man banal nennen; aber da man sie zu befolgen
bis jetzt immer unterlassen hat, so werden sie immer wieder nötig. Großenteils
hat es der Verfasser mit spezifisch französischen Verhältnissen zu tun. Dahin
gehört die überzärtlich schwache Elternliebe, die übertriebene Ängstlichkeit und zu-
gleich doch die aus Bequemlichkeit erfolgende frühzeitige Verpflanzung der Knaben
in Schulinternate, die sehr mißliche Pflege des Ehrgeizes oder der Eitelkeit, das
Haschen nach äußerlichen Preisen, auch die steten Versuche, durch persönliche
Fürsprache und Bitten Erfolge zu sichern oder Mißerfolge abzuwehren, dann auch
die schroffe Scheidung zwischen den streng kirchlichen und wesentlich religions-
feindlichen Menschen. Vieles aber trifft überhaupt die erzieherischen Gepflogen-
heiten der Gegenwart, namentlich in den Großstädten. Daß die elterliche Autorität als
solche so ziemlich abgedankt habe, hört man ja zurzeit aus allen Ländern. Von
den heutigen parents constitutionnels redet das Buch mit Recht, oder von dem
im „Jahrhundert des Kindes" neu aufgerichteten Königtum der Kinderwelt mit
seinen ausgedehnten und unbedingten Rechten. Dem in der Praxis wichtigsten
Gebiet sind auch die wertvollsten Abschnitte unseres Buches gewidmet, nämlich
der Erziehung des Willens gemäß den psychologisch -pädagogischen Erkenntnissen
der Gegenwart. Übrigens verfolgt der Verfasser, entsprechend der auch sonst ver-
breiteten französischen Auffassung, die Aufgaben der Familienerziehung über die
gesamte Schul- und Studienzeit hinaus bis zur Selbständigkeit, zur Amtsbewer-
bung, zur Verlobung und Heirat. Wesentlich als Sache der Eltern werden auch
alle diese Dinge noch betrachtet, worin wir ihm zu folgen weder Anlaß noch Nei-
gung haben. Wie viel praktische Einwirkung dem Buche beschieden sein wird?
Kenntnis von ihm zu nehmen kann jedenfalls auch diesseits der Vogesen denen
empfohlen werden, die mit Erziehung zu tun haben.
Berlin. W. Münch.
Nohl, Clemens, Womit hat der höhere Schulunterricht unserer Zeit die
Jugend bekannt zu machen? Was ist von demselben unbedingt
fernzuhalten? Wie ist in dem allein Zulässigen zu unterrichten?
Für Eltern und Lehrer. Essen a. R. 1904. G. D. Baedeker. 0,80 M.
Auf 27 Seiten werden die drei Fragen des Titelblattes beantwortet. Der Ver-
fasser selbst bezeichnet das, was er geschrieben hat, mehrfach als „Untersuchungen";
in Wirklichkeit sucht er nicht, sondern hat längst gefunden, und trägt seine An-
sicht im Tone des Gesetzgebers vor. Zum Beispiel: „Vom Nibelungenlied, von
Gudrun, Parzival, von Heliand und von Krist kann als Lektüre keine Rede sein,
am wenigsten im Urtext." Religion, Deutsch, neuere Sprachen, Geschichte, Geo-
graphie werden einigermaßen ausführlich behandelt; ganz kurz die Naturwissen-
schaften, übrigens mit warmer Empfehlung, dann Mathematik und Rechnen, Latein
und Griechisch. Diesen beiden Gruppen ist der Verfasser gleich sehr abgeneigt.
Von der einen heißt es: „Die Griechen und Römer haben von ihrer früheren Höhe
herniedersteigen müssen, seitdem man nicht mehr zweifelte, daß die neueren Kultur-
völker sie auf allen Gebieten des Denkens und Schaffens überflügelt haben, und
Novae Symbolae Joachimicae, angez. von E. Wendung. 329
daß keine Kulturfrage der Gegenwart aus ihren Schriften Antwort empfängt.* Von
der anderen: »Der großen Herde der Schüler, die dem Rechen- und mathematischen
Unterricht, sobald er die Anfänge verläßt, nicht mehr folgen kann, ist derselbe
schon auf den mittleren Lerngebieten ein nicht ruhender Quell der Überbürdung,
reich an Mühsal und Zeitvergeudung, arm an geistigem Gewinn."
Von dieser Rücksicht auf Lernbegier und Arbeitskraft der großen Menge —
den anderen Ausdruck mag ich nicht nachgebrauchen — ist nun auch bei den be-
vorzugten Fächern das Urteil über Auswahl und Methode bestimmt. So kann man
sich nicht wundern, daß das Niveau der Hoffnungen und Forderungen, so zu-
versichtlich sie ausgesprochen werden, doch dem Inhalte nach ein mehr als be-
scheidenes ist. Im Deutschen erscheint als „Blüte des Grammatikunterrichts in den
oberen Klassen die Satzanalyse, wenn sie an schwierigeren Satzgefügen oder gar
Satzperioden vorgenommen wird und ein gewandter Schulmann sie leitet". Daß
ein solcher Unterricht sich an Lessingsche, Goethesche und Schillersche Prosa
nicht heranwagen will (S. 11), verdient eigentlich nur Lob. „Der ganze Geschichts-
unterricht", so wird das über diesen Gesagte zusammengefaßt, „kann es der Haupt-
sache nach kaum weiter als zu allgemeinen Überblicken über das bringen, was
von den hervorragendsten Völkern in ihren hervorragendsten Zeiten durch ihre
hervorragendsten Persönlichkeiten gewirkt und errungen worden ist. Kaum mehr
als ausnahmsweise darf im Schulunterricht die Welt- oder Volksgeschichte zur
Spezialgeschichte werden".
Die kleine Schrift kann doch Nutzen stiften. Sie mag zeigen, wohin wir
schließlich kommen, wenn wir in der Richtung weiter gehen, daß in allen wichtigen
Fächern alles Wichtigste vom Wichtigen ausgewählt und zu einem für alle gültigen
Bestände allgemeiner Bildung gemacht werden soll. — Erwähnt sei noch, daß sich
Nohl als überzeugten Anhänger, ja ältesten Vertreter (S. 28) des Reformgymnasiums
bekennt.
Münster i. W. Paul Cauer.
Novae Symbolae Joachimicae. Festschrift des Königlichen Joachimsthalschen
Gymnasiums aus Anlaß des dreihundertjährigen Jubiläums der Anstalt veröffentlicht
von 'dem Lehrerkollegium des K. J. G. — Halle a. S. 1907. Buchhandlung des
Waisenhauses. 270 S. m. Fig. u. 3 Taf. gr. 8°. 5 M.
Im Jahre 1880 veröffentlichte das Lehrerkollegium des Joachimsthalschen
Gymnasiums aus Anlaß der Verlegung der Anstalt in ihr neues Gebäude eine
zweibändige Festschrift: Symbolae Joachimicae (zusammen 636 S.). Die Jubel-
feier des vorigen Jahres veranlaßte die Herausgabe neuer Beiträge in bescheidenerem
Umfang. Von den Verfassern der erstgenannten Festschrift sind an der vorliegenden
nur noch zwei beteiligt, O. Schröder und P. Stengel. Als ein Zeichen der Zeit mag
hervorgehoben werden, daß, während 1880 unter 18 Beiträgen 5 lateinische waren,
die 10 Beiträge von 1907 sämtlich in deutscher Sprache abgefaßt sind; der Titel
des Buches zeugt als einzige Säule von der entschwundenen Latinität.
Bei der Verschiedenartigkeit der behandelten Gegenstände muß ich mich im
wesentlichen darauf beschränken, den Inhalt der einzelnen Abhandlungen nach
Möglichkeit zu skizzieren.
330 Novae Symbolae Joachimicae,
C. Bardt, Ein verirrter Brief des Cicero an Cornificius (S. 7—21) weist
nach, daß ad fam. XII 25 aus zwei Briefen besteht: 1) 25,1—2 vom 20. März 43;
2) 25,3—5 vom 26.-29. November 44. Die Untersuchung gibt Gelegenheit, die
Entwicklung des Verhältnisses zwischen Cicero und Oktavian, besonders im Oktober
und November 44 eingehend zu behandeln.
O. Schröders Abhandlung über Griechische Zweizeiler (S. 25—45) gipfelt
in einer neuen rhythmischen Erklärung des elegischen Distichons. Von Horaz aus-
gehend zeigt der Verfasser, daß fast alle griechischen Zweizeiler ursprünglich auf
Dreiheit gestellt sind; also nicht; a:a, sondern: a:a;b, d. h. zwei Stollen und Ab-
gesang, wobei b bald proodisch, bald mesodisch, bald epodisch ist; nach Metren
berechnet (Daktylen- und Jambenpaare sind rhythmisch gleichwertig) meist 1 -»- 1;3.
Beispiel Hör. epod. 15:
Nox erat et caelo fulgebat luna sereno (^ = 3)
inter minora sidera (a -f a = 1 + 1).
Faßt man nun die daktylische Penthemimeres {arboribusque comae) nicht als
Dreiheber, sondern als ursprünglichen Vierheber mit Kontraktion oder fester Pause
(- v.v^ _<^v^^^^), wozu Schröder das Recht aus den Chorhedern des Aischylos
ableitet (S. 35—40), so ergibt sich für das elegische Distichon die Struktur 3 : (2 + 2)
oder b a a. Also „stieg in dem ,Hexameter' des Springquells flüssige Säule nicht,
um in dem ,Pentameter' einfach wieder melodisch herabzufallen, sondern um sich
im Steigen als eine Feuersäule zu offenbaren, die dann, plötzlich verwandelt, in
zwei leuchtenden Sternen langsam niederschwebte, und, noch in der Höhe, erlosch
erst der eine, dann der andere Stern*.
Es folgt eine Studie von J. L. Schultze über Das „Evangelium" im ersten
Thessalonicherbrief (S.49 — 87), die alsMuster gewissenhaftester m/^/-/;/'^/a//o auch
den Philologen fesselt. Das Ergebnis lautet dahin, daß Paulus „unter euaY^eXiov
inhaltlich nicht nur einzelne erweckliche Heilswahrheiten verstanden wissen will,
sondern immer den ganzen Komplex derjenigen Verkündigung, welche zur
Begründung des christlichen Heilsstandes notwendig ist . . und daß er seine ein-
zelnen Briefe nur als fragmentarische Ergänzungen einer solchen Verkündigung
ansieht, die aber sie selbst bei weitem nicht zu ersetzen vermögen".
P. Stengel Zu den griechischen Sakralaltertümern (S. 91—107) behandelt
die Begriffe oizkd-^Yyh to[i.ia und ocpa^tov. Das Essen der inneren Teile (oTcXa^/va) des
Opfertieres, wie es Homer regelmäßig schildert, muß eine sakrale Bedeutung gehabt
haben. Man vermutete in ihnen eine geheimnisvolle Kraft, vielleicht den Gott selber,
mit dem man sich durch das Aufessen mystisch zu vereinigen suchte. Ähnliche
Gedankengänge hat bekanntlich Dieterich in seiner „Mithrasliturgie" verfolgt. Die
bei den Eidopfern häufig erwähnten Toixia sind nach Stengel gleichbedeutend mit
den Evxo[i.a; es sind die Hoden der Opfertiere. So erklärt sich die Tatsache, daß
mit einer Ausnahme, die eine besondere Stellung einnimmt (F 103), bei Schwur-
opfern nur männliche Tiere verwendet werden. Sie wurden vor dem Opfer
kastriert, und der Schwörende zertrat die xofAia, d. h., da diese als Sitz des Lebens
galten, er wünschte sich für den Fall des Meineids den Tod.
angez. von E. Wendung. 331
Die von K. Fuhr zusammengestellten Rhetorica (S. 111—133) interessieren
nur den Spezialisten. Erwähnt sei hier sein Nachweis, daß die unter dem Namen
des Dionys von Halikarnaß überlieferte te/vt) jünger sein muß als Hermogenes,
von dem sie stark abhängig ist. Zwei späte byzantinische Machwerke über Wort-
und Sinnfiguren lassen einen Blick in die Verchristlichung der Schulbücher jener
Zeit tun; an die Stelle von Homer und Demosthenes, aus denen bis dahin die
Beispiele entnommen wurden, tritt Gregor von Nazianz (S. 126 ff.).
W. Nausesters Beiträge zur Lehre vom Deponens und Passivum
(S. 137—168) beruhen auf einem mit großer Selbstverleugnung gesammelten stati-
stischen Material, aus dem sich folgendes ergibt. Die r-Formen des Deponens
(Praes. Imperf. Fut. I) sind bei Plautus, Terenz, Virgil, Seneca ungleich häufiger
als die des Passivums; bei Catull, Horaz, Petron halten sie sich die Wage; bei
Lukrez, Juvenal, Martial und den Prosaikern überwiegt das Passivum. In diesem
Befund spiegelt sich der Übergang von der Volkssprache zur Literatursprache.
Die Verbindung der passiven r-Formen mit a (ab) ist bei allen Dichtern, von Plautus
bis Martial, überaus selten; etwas häufiger erscheint die Präposition a in Verbindung
mit dem Part. Perf. Pass.; bei den Prosaikern ist beides ungemein zahlreich.
Nausester zieht hieraus den Schluß: die Volkssprache sah in laudor nur ein
Intransitivum ; bei laudatus gestattete sie die streng passivische Auffassung, empfand
aber den Zusatz ab aliquo als unschön; laudor ab aliquo ist eine „in den Kreisen
der Gebildeten aufgekommene Sprachunart". — M. E. liegt der eigentliche Grund
tiefer. Die Volkssprache geht von der Anschauung aus; diese aber haftet am
tätigen Subjekt {verberat). Ein Leiden wird zunächst in der Vollendung an-
schaulich {verberatusest); hiermit verbindet sich dann die Frage nach dem Ursprung
des Leidens {ab aliquo). Erst nachträglich, d. h. auf dem Wege abstrakten Denkens,
wird diese Ausdrucksweise auf die Tempora der Dauer (== r-Formen) übertragen.
So erklärt sich auch cpeu-ytu als sog. Passivum zu Skuxo) : die Vorstellung des Ver-
folgens haftet am Situxtuv; der Verfolgte wird nicht als Skdxoixevc?, sondern als
^euYiüv sinnlich wahrgenommen.
R. Schiel handelt von der Anwendung der Kegelschnitte auf physika-
lische Fragen im Gymnasialunterricht (S. 171—196; mit 12 Textfiguren).
R. Bartels gibt eine Analyse von Schillers Gedicht „Das Ideal und das
Leben" (S. 199 — 214), ohne, wie es scheint, die schöne Abhandlung von A. Döring
über den gleichen Gegenstand (Neue Jahrb. f. d. klass. Alt. usw. XVII 1906, 484 ff.)
zu kennen.*)
K. Schmalz beschreibt Pleurotomaria Hirasei, Pilsbry, eine Varietät
von PI. Beyrichi, Hilgendorf (S. 217—219; mit 3 Tafeln).
G. Junge hat sich die Frage gestellt: Wann haben die Griechen das
Irrationale entdeckt? (S. 223—264; mit 4 Textfiguren). Die Antwort lautet:
»Pythagoras hat die Theorie des Irrationalen nicht gefunden; das Irrationale ist
wahrscheinlich erst Jahrzehnte nach seinem Tode entdeckt worden. Von wem es
entdeckt ist, wird sich wohl nie herausstellen (S. 264)."
*) Inzwischen ist die Arbeit von Bartels in erweiteter Form gesondert erschienen und
oben S. llOff. von P. Goldscheider ausführlich besprochen worden.
332 Wissenschaft und Bildung, angez. von H. Richert.
Im Anhang gibt O. Schröder eine Übertragung des HildebrandsHedes in
homerische Hexameter; C. Bardt hat Lucrez III 830—1094 (Vom Wesen der Dinge)
in paarweise gereimten Blankversen verdeutscht.
Zabern i. E. E. Wendung.
Wissenschaft und Bildung. Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens.
Herausgegeben von Privatdozent P. Herre. Leipzig, Quelle u. Meyer. 130 bis
160 Seiten, geh. 1 M., geb. 1,25 M. - Bd. 2. Recken dorf, H.: Mohammed
und die Seinen. Bd. 3. Holtzmann, O.: Christus. Bd. 7. Löhr, M.: Volks-
ieben im Lande der Bibel. Bd. 11. König, E.: Die Poesie des alten Testaments.
Bd. 16. Baentsch, B.: David und sein Zeitalter.
Die Sammlung „Wissenschaft und Bildung", augenscheinlich ein Parallelunter-
nehmen zu Teubners Sammlung „Aus Natur und Geistes weit", „will dem Laien
eine belehrende und unterhaltende Lektüre, dem Fachmann eine bequeme Zusam-
menfassung, dem Gelehrten ein geeignetes Orientierungsmittel sein, der gern zu
einer gemeinverständlichen Darstellung greift, um sich in Kürze über ein seiner
Forschung fernerliegendes Gebiet zu unterrichten". Es liegt in der Natur der
Sache, daß diese drei Aufgaben hier und da sich stoßen, und daß entweder
der Gelehrte oder der Laie zu kurz kommt. Indessen kann über die Nützlichkeit
solcher Sammlungen kein Streit mehr sein, da der Erfolg, nicht nur der buch-
händlerische, allen diesen Unternehmungen günstig ist. Die vorliegenden 5 Bänd-
chen behandeln einzelne Gebiete der Religionsgeschichte. Die Bändchen treten
in erfolgreiche Konkurrenz mit den Religionsgeschichtlichen Volksbüchern, die doch
mehr in der Richtung eines bestimmten Parteistandpunktes liegen. Das Christus-
bild Oskar Holtzmanns kann natürlich nicht mehr sein als eins neben andern.
Darin liegt der starke Reiz dieses Buches und seiner Schranke. Harnacks neueste
Forschungen beweisen, daß wir gerade in der Evangelienkritik von gesicherten
Resultaten noch nicht sprechen können. Aber soviel kann von Holtzmanns Christus
gesagt werden, daß er neben den vielen modernen Christusbildern eine mögliche
Auffassung einheitlich und mit wissenschaftlicher und religiöser Tiefe durchführt. —
Reckendorfs Mohammed füllt nun wirklich eine oft gefühlte Lücke aus. Wer sich
kurz und sicher über Mohammed orientieren wollte, war bisher in Verlegenheit.
Jetzt kann er an der objektiven und feinsinnigen Arbeit Reckendorfs sich schnell
und sicher unterrichten. Die wissenschaftlichen Resultate der Arbeit vermag ich
nicht nachzuprüfen. Ich kann nur sagen, daß ich aus dem Buch reiche Belehrung
geschöpft und es mit wachsender Spannung gelesen habe. — Königs Studie über
die Poesie des alten Testaments erfreut durch klare Anordnung und besonnenes
Urteil. Da gerade hier die Forschung im Fluß ist, muß man sich vielfach mit
einem „wahrscheinlich" begnügen. Aber dem gebildeten Laien wird die Schön-
heit des alten Testamentes erschlossen, die ihm durch dogmatische Behandlung
in der Schule so oft verdeckt geblieben ist. Bei der Lektüre dieses Buches ist
es mir wieder besonders deutlich geworden, daß die unbefangene Anerkennung
der menschlichen Seite der Bibel wohl Raum schafft für eine vertiefte Anerkennung des
religiösen Wertes. Die Formgebung Königs ist nicht immer ganz glücklich. Gut
ausgewählte Anmerkungen reizen zur weiteren Forschung auf diesem Gebiet. —
I
G. Schwamborn, Kirchengeschichte usw., angez. von W. Capitaine. 333
Musterhaft ist Baentsch: David und sein Zeitalter; denn hier kann der Verfasser
den Leser an der Forschung selbst teilnehmen lassen, hier kann der Laie lernen,
nach welchen Grundsätzen die moderne Forschung . aus alten Quellen ein Ge-
schichtsbild rekonstruiert. Mit überraschender Sicherheit entwirrt der Verfasser die
verschlungenen Fäden der sich verwirrenden und kreuzenden Überlieferung. Er
regt dadurch zu eigenem Urteil an und nimmt für die eigene Lösung keine Un-
fehlbarkeit in Anspruch, sondern zeigt nur, warum sein Resultat wohl das wahr-
scheinlichere ist. Aber nicht nur in der methodischen Schulung des Lesers, die
mir selten in einem populären Werk so instruktiv erschienen ist, liegt der Wert
des Büchleins, sondern auch in dem Wert des Geschichtsbildes, in dem auf reizvoll
gemaltem Hintergrund sich das Porträt eines der größten Männer der Vergangenheit
abhebt und mit frappierender Lebenswahrheit zu uns spricht. — Während Baentsch aus
uralten Quellen ein Lebensbild erschließt, geht Löhr den umgekehrten Weg: aus
einer reizvollen Darstellung des modernen Palästina schimmert das Bild des alten
Palästina hindurch. Man wird im heiligen Lande durch dieses Buch heimisch.
Es behandelt: Land und Leute, das häusliche Leben, Stellung und Leben des
Weibes, das Landleben, das Geschäftsleben, das geistige Leben, Jerusalem einst
und jetzt. Bei dem in christlichen und jüdischen Kreisen neuerwachten Interesse
für das heilige Land darf das Büchlein, das überall auf ernsthaften Studien ruht
und doch so interessant plaudert, auf dankbare Leser rechnen. Der Schmuck
durch stimmungsvolle Bilder sei noch hervorgehoben.
Pleschen. H. Richert.
Schwamborn, Gregor, Kirchengeschichte in Quellen und Texten.
I. Teil Altertum und Mittelalter. In deutscher Übersetzung herausgegeben. Verlag
von L. Rutz. Neuss 1908. 147 S. 8». kart. 1,80 M.
Im engsten Anschluß an das in der „Monatschrift" 1908 S. 199—201 be-
sprochene Lehrbuch der Kirchengeschichte und unter völliger Übernahme
der Disposition dieses Buches verfaßte Dr. theol. Gregor Schwamborn ein ganz
neues, aber durchaus nützliches Buch über die Kirchengeschichte. Schwamborn
war in den Religionslehrerkreisen längst durch Herausgabe mehrerer Quellenwerke
über einzelne kirchengeschichtliche Stoffe bekannt, und mit Erwartung durfte man
der Vollendung des von ihm angekündigten größeren Werkes entgegensehen.
Der erste Teil dieses Werkes liegt nun in einer ebenso reichhaltigen wie praktischen
und billigen, dabei gut ausgestatteten Ausgabe vor.
Der Anschluß an die Disposition eines als gut erkannten Schullehrbuches
war sehr zweckmäßig; dadurch ist für viele Benutzer der Gebrauch des Buches be-
deutend erleichtert; aber auch an der Hand eines andern kirchengeschichtlichen
Grundrisses oder Lehrbuches wird man mit der Stoffanordnung Schwamborns gut
auskommen können.
Das Wichtigste für ein Werk ähnlicher Art ist die Auswahl des Stoffes.
Schwerlich werden alle Benutzer des Buches mit der Art und dem Umfang der
behandelten Partien ganz einverstanden sein; jeder wird nach dem Maße seiner
persönlichen Bevorzugung einzelner Partien, oder nach dem Grade seiner Spezial-
kenntnisse auf einzelnen Gebieten hier mehr oder minder, hier dieses statt jenes.
334 A. E. Berger, Die Kulturaufgaben der Reformation, angez. von H. Richert.
wünschen. Es wird Lebensarbeit des Verfassers bleiben, hier fortwährend zu
prüfen, zu sichten, zu kürzen, zu erweitern. Hier und da läßt sich auch an der
Unterordnung unter die Haupttitel noch manches bessern; z. B. § 61 „Wissen-
schaft und religiöses Leben". Hervorzuheben ist jedoch, daß die Stellen und
Texte mit Sorgfalt geprüft und mit Verständnis und kritischem Geiste dem Ganzen
eingefügt sind. Mit Recht hat der Verfasser die kritischen Noten auf das AUer-
notwendigste beschränkt.
Dem Buche darf ein glänzender Erfolg geweissagt werden. Möge der flei-
ßige Verfasser den zweiten Teil bald folgen lassen.
Eschweiler. Wilhelm Capitaine.
Berger, A. E., Die Kulturaufgaben der Reformation. Einleitung in eine
Lutherbiographie. Zweite, durchgesehene und vermehrte Auflage. Berlin 1908.
E. Hofmann & Co. XI u. 483 S. 6 M.
Der Verfasser, dem wir die ausgezeichnete kulturgeschichtliche Darstellung
Luthers in der Sammlung , Geisteshelden" verdanken, deren wichtigsten Schluß-
band er uns endlich für 1909 verspricht, hatte das vorliegende Werk ursprünglich
als das erste Buch seiner Lutherbiographie gedacht. Der Stoff erforderte jedoch
die Darstellung in einem besonderen Werk, das aber nach des Verfassers Wunsch
als eine Einleitung zu einem kulturgeschichtlichen Lebensbilde Luthers aufgefaßt
werden sollte. Die neue Auflage bringt als wesentlichste Änderung Anmerkungen
und literarische Nachweise, die so angelegt sind, daß das Buch „zur Einführung
in das Studium der mittelalterlichen Kulturgeschichte benutzt werden kann". Die
Menge der verarbeiteten Stoffe ist in der Tat staunenswert. Die kulturgeschicht-
liche Betrachtungsweise muß alle Gebiete der geistigen und materiellen Kultur
durchforschen; Weltgeschichte und Literaturgeschichte, Philosophie und Rechts-
geschichte, Wirtschaftswesen und Dogmengeschichte, kurz das gesamte Leben
eines Zeitalters in allen seinen Äußerungen muß berücksichtigt werden. Die lite-
rarischen Nachweise, die 100 Seiten umfassen, geben Kunde von der geleisteten
Arbeit. Ich habe einzelne Gebiete, die mir vertraut sind, auf die Vollständigkeit
nachgeprüft und habe alles Wesentliche mit sorgfältiger Kritik gesichtet gefunden,
auf den andern Gebieten meine bibliographischen Kenntnisse wesentlich bereichert.
Diese Anmerkungen sind für jeden Forschenden eine unerschöpfliche Quelle wissen-
schaftlicher Anregung. Der so gegebene Rohstoff ist nun im darstellenden Teil
mit Künstlerhand architektonisch aufgebaut, so daß die stoffliche Schwere völlig
überwunden erscheint. Durch vier Entwicklungsreihen sind die mittelalterlichen
Kulturideale überwunden, durch die Ausbildung des Nationalbewußtseins, durch
den Sieg einer Laienkultur, durch den Durchbruch einer individualistischen Welt-
anschauung, die die mittelalterliche Wissenschaft zersetzt und in humanistischen
Individualismus sich auswirkt, und schließlich durch die Laienreligion. Es ist
selbstverständlich, daß die Entwicklungslinien der geistigen und besonders der
religiösen Kultur stärker betont sind als die der materiellen. Aber aufs ganze
gesehen, wird die mittelaltediche Kultur in diesem Buche so tief, so reich, so
klar dargestellt, daß ich diesem Buche nichts an die Seite zu setzen weiß, weil
es jede Darstellung einer Sonderdisziplin aufs glücklichste ergänzt, weil es dabei
F. Hebbel, Sämtliche Werke, angez. von A. Matthias. 335
jedem gebildeten Laien nicht nur verständlich wird, sondern auch starke ethische
Impulse gibt und zu geschichtlicher Besonnenheit erzieht. Harnack hat kürzlich
das bemerkenswerte Wort gesprochen, daß der kirchengeschichtliche Unterricht
auf den höheren Schulen kein anderes Ziel sich stecken dürfe „als ein wirkliches,
fundamentiertes Verständnis des heutigen Katholizismus und Protestantismus zu
gewinnen nnd es durch Vorführung einiger großer kirchlicher Persönlichkeiten zu
beleben". Für ein wirkliches, fundamentiertes Verständnis des im Mittelalter wur-
zelnden Katholizismus und des aus ihm mit Notwendigkeit herauswachsenden
Protestantismus ist unser Buch zweifellos ein ganz hervorragendes Hilfsmittel.
Pleschen. Hans Richert.
Hebbel, Friedrich, Sämtliche Werke. Historisch.-kritisch. Ausgabe, besorgt
von Richard Maria Werner. III. Abteilung: Briefe 8 Bände. Berlin 1904—07.
Behrs. Verlag. Bd. I: VIII und 414 S. - Bd: II. VIII und 370 S. — Bd. III:
VII und 355 S. — Bd. IV: X und 425 S. — Bd. V: X und 370 S. — Bd. VI:
X und 366 S. — Bd. VII: XII und 415 S. — Bd. VIII: VIII und 294 S. Jeder
Band 3 M., geb. 4 M.
Im Jahrgang III (1904) S. 429 dieser Monatschrift sind Hebbels sämtliche Werke,
zwölf Bände, nebst vier Bänden Tagebücher eingehend besprochen. Nunmehr liegen
auch die Briefe Hebbels vor. Die Anzahl der Bände, die ursprünglich sieben betragen
sollte, hat sich auf acht erhöht. Band I umfaßt die Jahre 1829—39 und enthält die
Briefe aus Wesselburen, Hamburg, Heidelberg und München ; Band II. 1839 — 1843
aus Hamburg, Koppenhagen, Hamburg und Paris; Band III 1844 — 1846 aus Paris,
Rom, Neapel, Rom und Wien; Band IV. 1847—1852 aus Wien, Berlin, Wien, München;
Band V. 1852—1856 aus Wien, Marienbad, Wien, Gmunden, Wien; Band VI 1857—1860
aus Wien, Gmunden, Weimar, Gmunden, Wien, Paris, Wien; Band VII. 1861—1863
aus Wien, Weimar, Gmunden, Norddeutschland, Wien, Baden, Gmunden,
Wilhelmsthal, Wien, Gmunden, Baden und Wien; Band VIII. 1832—1862 Nach-
träge, Zusätze, Berichtigungen und Ergänzungen; Bemerkungen über unzu-
gängliche und verlorene Briefe und ein umfangreiches Register I über Hebbels Leben
und Wirken und II. ein Namen- und Sachregister, das den köstlichen Schatz erst
ganz erschließt und nutzbar macht. — Schon in der ersten Besprechung vom Jahre
1904 war bemerkt, daß Hebbel an tiefen Gedanken reich war, aber an Kunst in
Prosa zu stilisieren arm, besonders wenn es schriftliche Fixierung galt, während
das gesprochene Wort bei Hebbel leichteren Fluß hatte. Seine Zaghaftigkeit be-
engte ihn vielfach beim Schreiben; diese trat in mündlicher Rede mehr zurück.
Er wurde ängstlich, wenn er das, was er schrieb, der Öffentlichkeit übergeben sollte.
Briefe aber sind zunächst nicht für die Öffentlichkeit und deshalb tritt die Ängst-
lichkeit in ihnen zurück. Und ging schon in den Tagebüchern die Fassung glatter
von statten, so war das noch mehr in den Briefen der Fall. Bürgers Wort trifft
bei wenigen so zu wie bei Hebbel:
Briefe leben, atmen warm und sagen
Mutig, was das bange Herz gebeut.
Was die Lippen kaum zu stammeln wagen,
Das gestehn sie ohne Schüchternheit.
336 F. Hebbel, Sämtliche Werke,
Hebbel entstammt einem harten Volksstamm, in seinem Vaterhaus verlebte er
eine harte Zeit; seine Kindheit war hart und knorrig; das Schicksal, das über den
jungen Jahren Hebbels waltete, war nicht minder hart. Das prägte sich seinem
Wesen auf. Wie oft hat er an diesem Dasein verzweifelt; wie oft mit dem Ge-
danken an Selbstmord gespielt; aber doch flüchtet oder stiehlt er sich nicht fort
aus dieser Welt wie ein feiger Kämpfer, sondern er zwingt sich mit und in ihr zu
leben; erzwingt sich zum Kampfe, den er immer von neuen wieder aufnimmt. Die
Briefe bilden ein sprechendes Zeugnis dieses mannhaften Kampfes ; schon mit den Flegel-
jahren in Wesselburen beginnen sie und tragen geradezu einen gespreizten und selbst-
gefälligen Ton, der offenbar der zwiespältigen Lage entspringt, in welcher sich Hebbel,
in dem schon Künstlerstolz sich regt, als sklavischer Diener des Kirchspiel vogtes
Mohr befand. Vor allem sind alle Briefe Hebbels stimmungsvoll. Er sagt einmal
in einem Brief (11,114) an Elise Lensing: »Ich brauche zu allem Stimmung, zu
einem Brief, zu einer Notiz, ich habe Tage, ja Wochen, wo ich nicht im Stande
bin, eine Zeile zu schreiben". Diese Stimmung gibt vielfach die seltsamsten
Farben ab. Wenn er in seinen Tagebüchern Verzweiflungsausbrüche niederge-
schrieben hat, so kommen in fast gleichzeitigen Briefen Ausdrücke der Selbst-
gefälligkeit, mit welcher er von seinen Erfolgen spricht. Günstige Aussprüche,
die andere über ihn tun, freundliche Bemerkungen, die über ihn fallen, sammelt er
sorgsam, um auf diesem Untergrund rosig gefärbte Zukunftsbilder zu zeichnen,
die er an Kirchenspielschreiber Voß in Wesselburen und Charlotte Rousseau
sendet. In den Heidelberger Briefen mischen sich auch landschaftliche Stimmungs-
bilder ein und von da ab spielt die Natur häufiger in seinen Briefen und bei
seinen Dichtungen mit. Dazwischen wieder spiegelt sich in den Briefen der
grimme Humor, mit dem der Dichter, der Zeit seines Lebens unter den traurigen
Folgen seiner gedrückten Jugend gelitten, sich über sich selbst unbarmherzig
lustig macht, wenn er gesellschaftlichen Formen nicht voll genügt, wo er doch
jede Bangigkeit verlor, wenn er Auge in Auge anderen Menschen im Gespräch
gegenüberstand. Aber dieser Grimm geht tiefer und der Gram dazu, wenn Hebbel
immer wieder schwankt zwischen Selbstanklagen über sein zwiespältiges Wesen,
Trostgründen, Erinnerungen und Entschlüssen, die sich immer von neuem kreuzen
und bekämpfen. Ergreift uns bei diesem martervollen Schwanken innigstes Mitleid,
so freuen wir uns, wenn wir Fortschritte von Hebbels Selbstentwicklung beobachten
und miterleben, wie in den drei Jahren des Heidelberger und Münchener Aufenthaltes
allmählich sein Schwanken und Zagen sich verliert und er eine geschlossene
Persönlichkeit mit festem Urteil nach Hamburg zurückbringt und wie er dieses
Ergebnis in einem Briefe aus München in den zwei Worten: , Selbständigkeit und
Unabhängigkeit" vorausverkündet.
Solche Ausblicke und Erlebnisse, die dann auf sein ferneres Leben wirken,
finden wir häufiger in seinen Briefen, als in seinen Tagebüchern, die mehr an-
schaulichen Charakter tragen. Deshalb sind dann auch die Briefe lebensvoller,
dramatischer und aktueller als die Tagebücher, besonders auch, wenn sie in die
literaturhistorischen Verhältnisse des Tages, z. B. in die Beurteilung des jungen
Deutschland, besonders Gutzkows und Laubes, mit scharfen Worten eingreifen.
Und seiner Weltanschauung verleihen sie an den Stellen einen großartigen Aus-
r
angez. von A. Matthias. 337
druck, wo sie zu ganzen Abhandlungen lebensvoll anschwellen. Also eine treffliche
Lektüre. Vielleicht läßt sich eine geschickte Auswahl auch für die Schüler der
oberen Klassen und für weitere Kreise aus dem Reichtum der acht Bände aus-
sondern, ähnlich wie das mit den Tagebüchern geschehen ist in dem geschmack-
vollen Buch:
Durch Irren zum Glfick. Tagebuchblätter von Friedrich Hebbel. Berlin
1907. Behrs Verlag. VIII u. 405 S. 2 M.
Diese Auswahl hat — ein schönes Bild des Zusammenwirkens von Autor und
Verleger — der Besitzer des Behrschen Verlages, Walter Bloch, veranstaltet, um
eins der bedeutsamsten und ergreifendsten menschlichen Dokumente der weitesten
Allgemeinheit zugänglich zu machen. Diese Tagebücher geben ja, wie der Her-
ausgeber mit Recht bemerkt, neben der Fülle von Aussprüchen voll tiefer Lebens-
weisheit eine fast fortlaufende Selbstbiographie in persönlichen Geständnissen.
Die Auswahl enthält alle bedeutsamen Äußerungen Hebbels über seinen äußeren
und inneren Entwicklungsgang, über Entstehung und Bedeutung seiner Werke,
über seine Auffassung von Kunst und Künstler. Wir sehen ihn mit gewaltiger
Kraft sich durchkämpfen »durch Irren zum Glück". Das Ergebnis spricht er selber
aus in den Versen:
„Götter, öffnet die Hände nicht mehr, ich würde erschrecken,
Denn ihr gabt mir genug, hebt sie nur schirmend hervor!"
Die Tagebücher sind in der Tat das, wozu Hebbel sie machen wollte: „Es soll
ein Notenbuch meines Herzen sein, und diejenigen Töne, welche mein Herz an-
gibt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten, aufbewahren." Nicht nur
ein Erbauungsbuch für den Verfasser, sondern für alle, die Sinn dafür haben, wie er
die Phrase haßt und in die tiefsten Geheimnisse des Menschenherzens mit heiligem
und unerbittlichem Ernst einzudringen versucht.
Im Zusammenhang mit der Besprechung der großen Briefausgabe und der Aus-
wahl der Tagebuchblätter sei noch eine ältere Schuld gelöscht mit dem Hinweis auf
Werner, Richard Maria, Hebbel, ein Lebensbild. Mit Bildnis und Handschrift.
Berlin 1905. Ernst Hoffmann & Co. VII u. 383 S. 4,80 M.
Werner hat sich seine Aufgabe nicht leicht gemacht. Er hat versucht, die
doch zweifellos durch ihre scheinbare Zerrissenheit schwer zu ergründende Natur
Hebbels in ihrem Werden und Wirken so zu erforschen und darzustellen, daß sie
in der Einheit ihres Werdens uns aufgedeckt wird; nicht das anekdotisch Ver-
einzelte, sondern der innere Zusammenhang ist Werner die Hauptsache ; nicht ein
Lebensrepertorium, eine Art Kalender, sondern eine Biographie wollte er schaffen.
Und man kann sagen, daß ihm das gelungen ist, besonders deshalb, weil er bei
den Anfängen Hebbels, bei seiner Werdezeit länger verweilte, als bei den mehr
abgeschlossenen Mannesjahren. Denn die Wander- und Werdezeit umfaßt die
stärkere Hälfte des Buches und man erkennt in ihr die Wahrheit dessen, was
Hebbel einmal von sich gesagt hat: „Wenn sich mein Leben von Jugend an nur
ein klein wenig anders gestaltet hätte, nur ein klein wenig, wie anders würden die
MonaUchrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 22
338 F- Hebbel, Sämtliche Werke,
Resultate ausgefallen sein!" Erfrischend wirkt nun an dieser Biographie, daß wir
nicht mit Zitaten überbürdet und ermüdet werden, daß wir vielmehr beständig an-
geregt werden, den Genuß der Werke, der Briefe und Tagebuchblätter an der
Quelle selbst zu suchen; ebenso wie wir auch nicht durch die Monographie der
einzelnen Werke aufgehalten werden, die wir in der großen Wernerschen Ausgabe
gründlicher studieren können. — Und gleich erfrischend wirkt es, daß der Biograph
sich Hebbels Wort, daß Biographien keine Rezensionen sein sollen, und daß
darum die Liebe sie schreiben müsse, zum Grundsatz gemacht hat oder vielmehr
diese Liebe von Jugend auf durch enge Beziehung zu Hebbel gepflegt hat. So
ist er denn auch befähigt, mit feinem Sinne, ohne blind für die Schwächen
seines Helden zu sein, ein anderes schönes Hebbelsches Wort mit seiner Bio-
graphie zu verwirklichen, das also lautet: „Die Wurzel muß aufgebrochen werden,
denn die Erde verhüllt sie in ihrem Schoß; die Frucht glänzt im Sonnenschein."
An die Wurzel gräbt Werner überall mit zarter Hand und nirgendwo verletzt er
die feinen Wurzelfasern, mit denen Hebbels Natur reiche Nahrung aus der Tiefe der
Erde zieht, mit der er innig verwachsen und von der er sich immer wieder nach
Sonne und Sonnenschein sehnte.
Schapire-Neurath, Anna, Friedrich Hebbel. Mit einem Bildnis Hebbels. Leipzig
1909. B. G. Teubner. II u. 135 S. 1 M., geb. 1,25 M. (Aus Natur und Geistes-
welt, Samml. wissenschaftl. -gemeinverständlicher Darstellungen, 238. Bdch.)
Für die Beurteilung von Dichter und Dichterwerken im allgemeinen und ins-
besondere Hebbels erscheint der Verfasserin die Frage ausschlaggebend: sind Vor-
gänge, Menschen und Form einheitlich? Und ihre Antwort lautet dahin, daß die
ästhetische Erörterung von Hebbels Werken nicht immer leicht, die Verhältnisse oft
ungewohnt und die Psychologie uns fremdartig erscheint und daß wir mitunter
sogar einen Widerspruch in uns bekämpfen müssen. Eine einheitliche Idee ver-
knüpft nach Meinung der Verfasserin Hebbels Dichterwerke nicht, wenn auch mit-
unter Personen und Probleme seiner Dramen eine große Verwandtschaft aufweisen.
Hebbels Werke, so meint sie, entstanden hintereinander, wie sich dem Dichter
Menschen und Dinge nach und nach aufgedeckt und zur Gestaltung gereizt hätten.
Den einheitHchen Hebbel findet sie erst, wenn sie von seinen Werken zu seinen
Anschauungen übergeht. Daher betrachtet sie zuerst den Menschen, also Hebbels
Leben; dann den Dichter und seine Werke und schließlich den Denker und seine
Weltanschauung. So wickeln sich denn drei parallele Linien vor uns ab, die zwar
durch die Einheit der Persönlichkeit verknüpft sind, deren Verbindung aber so enge
ist, daß sie sich in jedem gegebenen Falle mit Bestimmtheit aufdecken ließ; es
wird der Versuch gemacht, dem Leser Hebbel von all diesen drei Seiten näher zu
bringen, ohne künstlich Zusammenhänge zu konstruieren, wo wir selbst sie nicht
zu sehen vermögen.
Das Büchlein wird also nach seiner ganzen Anlage demjenigen, der zuerst an
die Hebbellektüre herantritt, eine Art von Elementarkatechismus zur Einführung in
die nicht leichte Lektüre bilden. Je weiter der Leser dann aber kommt, je
mehr er sich von Werner führen läßt, vor allem von seinen trefflichen Einleitungen,
die in die einzelnen Werke einführen, um so mehr werden sich die parallelen
h
angez. von A. Matthias. 339
Linien zu ineinander greifenden Wellenlinien verwandeln, die schließlich eine einzige
Bahn laufen, auf welcher Mensch, Dichter und Denker als einheitliche Gestalt uns
erscheint. Zu diesem Prozeß wird wesentlich noch beitragen die Vertiefung in
eine wertvolle Hebbelstudie, die an letzter Stelle besprochen sein mag:
Krumm, Johannes, Die Tragödie Hebbels. Ihre Stellung und Bedeutung in
der Entwicklung des Dramas. Berlin 1908. B. Behrs Verlag. II u. 124 S. 2,50 M.
(Hebbel-Forschungen. Herausgegeben von R. M. Werner u. W. Bloch-Wunsch-
mann III).
Die Studie, die ursprünglich für einen weiteren Kreis bestimmt war und des-
halb einen populären Zug an sich trägt, der ihr aber nicht schlecht steht, sucht
die Antwort auf die Frage nach der entwicklungsgeschichtlichen Stellung und Be-
deutung der Tragödie Hebbels. Sie geht dabei aus von einem Worte Hebbels (Briefe
IV, S. 207) mit Beziehung auf Herodes und Mariamne: „Dabei habe ich mir die
Aufgabe gestellt, die Form möglichst zu vereinfachen und die größten histo-
rischen Massen sowohl, die die Faktoren des psychologischen Prozesses bilden, als
auch das Detail der Nebenpersonen und der Situationen in den Hintergrund zu
drängen, da ich überzeugt bin, daß aus dem Stil der Griechen und dem Shakespeares
durchaus ein Mittleres gewonnen werden muß." Krummes Meinung nach paßt
das, was hier zunächst nur auf die Form bezogen und als Ziel aufgestellt ist,
ebenso auf das Wesen der Tragödie Hebbels und ist von ihm nicht nur erstrebt,
sondern auch erreicht worden. Denn diese Tragödie stellt sich in der Tat als ein
Mittleres dar zwischen der Tragödie der Alten und der Shakespeares. Zunächst
sucht nun Krumm eine allgemeine, möglichst auf der Basis der konkreten Kunst
ruhende Verständigung zu gewinnen über das Wesen der früheren Formen der
Tragödie, des klassisch-antiken und des klassisch-modernen Dramas. Er bespricht
in einem ersten Kapitel die These des antik-klassischen und die Antithese des
modern-klassischen Dramas von Äschylus Agamemnon ausgehend über Sophokles
Ödipus und Antigone, die Schicksalstragödie, das moderne Drama bei Euripides,
die dramatische Anschauung bei Shakespeare (Macbeth und Othello), das deutsche
Drama bei Lessing, Goethe und Schillers Wallenstein und Braut von Messina,
Kleist und Grillparzer (Jüdin von Toledo) bis an die Schwelle Hebbelscher Dichtung
gelangend, über der wir, in Beziehung auf die Schicksalstragödie, Hebbels Wort
als Richtlinie finden, daß die Unklarheit des Wallenstein nach dieser Richtung hin
das ganze Irrwisch- und Nachtfeuerwerk der Schicksal- und Ahnungstragödien ent-
zündet habe. Hebbel hält daran fest, daß der Charakter ganz allein die Basis
des dramatischen Schicksals bilden müsse. Das Schicksal entsteigt bei ihm einzig
der menschlichen Brust. In einem zweiten Kapitel behandelt Krumm in diesem Sinne
die Synthese der Tragödie Hebbels, um in zwei weiteren Kapiteln die philo-
sophische und die ästhetische Bedeutung der Tragödie Hebbels darzulegen. Wie
das geschieht, kann eine kurze Rezension nicht wiedergeben. Nur das sei gesagt:
Krumm erschließt das Verständnis Hebbels in klaren Erörterungen weiteren Kreisen,
er stellt als zweifelloses Ergebnis hin, daß Hebbel an Tiefe und Geschlossenheit
der Kunstauffassung, an Gewissenhaftigkeit und Reinheit des künstlerischen
Strebens nicht leicht einer gleichkommt, daß er als künstlerische Persönlichkeit
22*
340 A. Schäfer, Einführung in die Kulturwelt usw., angez. von H. Wolf.
vollberechtigt neben unsere Klassiker treten kann und daß kein Mißverstehen und
kein Verdrehen der künstlerischen Absichten Hebbels an dieser Tatsache etwas
ändern kann.
Berlin. A. Matthias.
Schäfer, Alb., Einführung in die Kulturwelt der alten Griechen und
Römer. Für Schüler höherer Lehranstalten und zum Selbstunterricht. Hannover
und Berlin 1907. Karl Meyer (Gustav Prior). VIII u. 270 S. 3 M., geb. 4 M.
Das Buch soll als Lese-, Lehr- und Nachschlagebuch benutzt werden und ist
für die erwachsene Jugend bestimmt. Der Titel ist etwas irreführend; denn
der Verfasser beschäftigt sich der Hauptsache nach nur mit den griechischen Mythen
und Sagen. Diese werden nicht einfach nacherzählt, sondern die alten Schriftsteller
kommen selbst zu Wort. Es ist ein Quellen buch. Der Inhalt ist sehr reich-
haltig und legt rühmliches Zeugnis ab von der umfangreichen Belesenheit und
dem gediegenen Wissen des Verfassers.
Den ersten großen Abschnitt bildet ein Gang über den „klassischen Boden"
Altgriechenlands. Hier würde ich mich viel mehr beschränkt haben. Da das
Buch für solche bestimmt ist, welche „die griechische Sprache oder auch beide
alten Sprachen nicht kennen", so muß die Fülle der Namen verwirren und ab-
schrecken: Epirus und Ambrakia, Molosser und Pelasger, Phthiotis und Pelas-
giotis, Pindus und Othrys, Akarnanen und Lokrer, Pentelikon und Hymettus, Deke-
lea und Amyklä, Erymanthus und Kyllene etc. etc. Wozu?
Das Buch erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Da wäre es doch wohl
nötig gewesen, auf die Entwicklung, den Ursprung, das Wachsen und Wandeln
der Mythen und Sagen einzugehen; denn die Mythen und Sagen haben
ihre Geschichte. Ich würde z. B. die Herakles-Sage in folgender Weise
behandeln: Im Vordergrund stehen die berühmten zwölf Arbeiten, dazu die the-
banischen und ätolischen Sagen. Mit der Erweiterung des geographischen Hori-
zontes der Griechen wächst die Zahl der Taten, nehmen die Abenteuerfahrten eine
immer größere Ausdehnung an. Später erfolgt eine innere Umgestaltung der
Sage: die Philosophie bemächtigt sich des Stoffes; der Sophist Prodikus dichtet
im 5. Jahrhundert die schöne Geschichte von „Herakles am Scheidewege". Mit
großer dichterischer Freiheit formt Euripides in seiner Tragödie „Herakles" den
Stoff um: einerseits zeigt er uns den größten Menschen Griechenlands in seiner
Schwäche; anderseits veranlaßt ihn sein athenischer Patriotismus dazu, Theseus als
Retter auftreten zu lassen.*)
Eine „Einführung in die Kulturwelt" müßte es sich zur Aufgabe machen, zu
zeigen, wie die Griechen, der eigenen Kulturstufe entsprechend, ihre Vorstellungen
von den Göttern und Heroen fortwährend umgewandelt haben. Statt dessen gibt
uns der Verfasser ein buntes Mosaik aus Quellen, die um 1000 Jahre auseinander-
liegen. Daraus wird eine Art Lebensbeschreibung zusammengestellt; die
schönste und herriichste Dichtung, die wir über Herakles besitzen, die Tragödie
des Euripides, wird ganz unerwähnt gelassen; auch die Tragödie Alkestis.
*) Vgl. Heinrich Wolf, Einführung in die Sagenwelt der griechischen Tragiker. Leipzigs
Bredt. 1902.
Wagner und v. Kobilinski, Leitfaden der griechischen usw., angez. von H. Wolf. 341
In dem „Quellenbuch" spielen meiner Ansicht nach Diodor, Pausanias, Plutarch,
Hygin, Appollodor eine viel zu große Rolle. Doch will ich rühmend hervorheben,
daß viele herrliche Stellen aus Homer, Hesiod, Pindar, Äschylos, Sophokles, Euri-
pides, Vergil und Ovid in trefflicher Übersetzung wiedergegeben sind.
Wagner und v. Kobilinski, Leitfaden der griechischen und römischen
Altertümer, für den Schulgebrauch zusammengestellt. Dritte verbesserte Auf-
lage von Wagner. Berlin 1907. Weidmannsche Buchhandlung. XVI u. 192 S.
3,20 M. Mit einem Sonderheft, enthaltend 24 Bildertafeln und Pläne von
Rom und Athen.
Daß dieses Buch in dritter Auflage erscheint, ist ohne Zweifel eine große
Empfehlung. Es soll ein Lehrmittel, ein Leitfaden sein, um die sachhche Erklärung
der Schriften des Altertums zu fördern und die Schüler in das Geistes- und Kultur-
leben der Griechen und Römer einzuführen. Alles, was zum öffentlichen und
privaten Leben der Griechen und Römer gehört, wird in allen seinen Teilen be-
sprochen: Staatsaltertümer, Gerichts-, Kriegs- und Religionswesen; Haus und
Hausrat, Kleidung, Ehe, Erziehung der Kinder, das tägliche Leben, Bestattung;
dazu Athen, Olympia, Rom. Die Verfasser sind der Meinung, daß dieser Leitfaden
in der Hand jedes Schülers sein müsse. Es heißt im Vorwort: „Mag man nun
die wichtigsten Abschnitte systematisch durchnehmen oder die Kapitel für die
jeweilige Lektüre auswählen wollen, immer ist für den Lehrer, wie für den Schüler
die Aufgabe wesentlich erleichtert, wenn als Stützpunkt dieser Belehrung ein
Hilfsbuch gebraucht werden kann, das dann freilich in der Hand jedes Schülers
sein muß."
Das Buch enthält eine Fülle von vortrefflichem Material; soviel ich sehe, fehlt
nichts von den sogenannten Realien. Aber gerade dieses Streben nach Voll-
ständigkeit erscheint mir hochbedenklich. Wenn ein derartiger Wert auf
die „Realien" gelegt wird, so entsteht die große Gefahr, daß die Schüler nicht in
„das Geistes- und Kulturleben der Griechen und Römer" eingeführt, sondern durch
Kleinigkeitskrämerei davon abgelenkt werden. Wenn nun gar im Abiturientenexamen
über Beamte, Finanzen, Münzen, Maße und Gewichte, Waffen, gottesdienstliche
Handlungen, Hausrat, Kleidung, Mahlzeiten etc. geprüft wird, so führt das zum
Einpauken von Dingen, die doch wahrhaftig nicht die Hauptsache sind.
Unter „Einführung in das Geistes- und Kulturleben der Griechen und Römer"
verstehe ich etwas ganz anderes. Vor allem dürfen die Schüler nicht den Eindruck
haben, als ob auf irgendeinem Gebiet des öffentlichen und privaten Lebens dauernde
Einrichtungen bestanden hätten; vielmehr ist alles in beständigem Werden.
Die historische Entwicklung ist überall die Hauptsache. Da haben wir
die verschiedensten Staatsformen; hierbei ist der Gegensatz zu besprechen
zwischen Orient und Okzident, zwischen Sparta und Athen, zwischen Griechenland
und Rom. Bei den Griechen entwickelt sich die Freiheit: sie führte zur höchsten
Höhe der Kultur; ihre Entartung war schuld am Untergang. Zwischen Sparta und
Athen entstand eine immer größere Kluft; ganz verschiedene Bildungsideale; hier Ent-
artung zu der engherzigsten Oligarchie, dort zu einer Ochlokratie; die verschiedenen
Wirkungen der athenischen und der spartanischen Hegemonie. Verhängnisvoll
342 Chudzinski, Tod und Totenkultus usw., angez. von H. Wolf.
wurde, daß die griechisch-römische Welt nicht fähig war, aus den Formen des
Stadtstaates herauszukommen.
In der Religion ist nichts Fertiges, Dauerndes, sondern fortwährend Werdendes.
Die Griechen steigen von der niedrigsten Stufe bis zu bedeutenden Höhen religiösen
Denkens und Empfindens; die Entwicklung geht von unten nach oben. Bei den
Römern geht das Wachsen in die Breite; ihre Religion wächst mit dem Staat.
Bei der Zeitrechnung ist der Widerstreit zwischen Mond- und Sonnenjahr
zu betonen: nicht Mangel an astronomischen Kenntnissen, sondern Rücksicht auf
den Kultus hat die Einführung des Sonnenjahres so lange gehindert. Ist es nicht
heute noch ebenso?
Über den antiken Kommunismus und Sozialismus muß gesprochen werden,
über die Entstehung des „vierten" Standes.
„Geistes- und Kulturleben der Griechen und Römer": Hauptsache muß doch
immer das Erwachen des wissenschaftlichen Denkens bleiben, die gewal-
tigen Fortschritte auf allen Gebieten. Und neben der Wissenschaft die Kunst!
Aber auch hier gilt es, weise Beschränkung zu üben. Das Streben nach Voll-
ständigkeit ist auch den Bildertafeln schädlich gewesen. Wir müssen zufrieden sein,
wenn unsere Abiturienten etwas von dem Besten kennen; wenn sie eine Vorstellung
von der Akropolis, von Olympia, Pergamum und dem Forum Romanum haben.
Non multa, sed multum.
Chudzinski, Tod und Totenkultus bei den alten Griechen. 44. Heft der
Gymnasialbibliothek. Gütersloh 1907. C. Bertelsmann. 83 S. 1 M,
Der Verfasser hat den Stoff in folgender Weise eingeteilt:
1. Der Tod und seine ethische Bedeutung bei den Griechen.
2. Der Zustand der Seele nach dem Tode. Der Hades.
3. Das Schicksal. Der Dämon des Todes. Die unterirdischen Gottheiten.
Die Mysterien.
4. Der Tod. Die Bestattung.
5. Totenverehrung. Gräber und Friedhöfe.
6. Der Aberglaube innerhalb des Glaubens an ein jenseitiges Leben.
7. Zusammenhang zwischen der Pflanzenwelt und der Welt der Toten.
In überaus interessanter Weise knüpft Chudzinski an Schillers wundervolle
Elegie „Die Götter Griechenlands" und an Lessings Abhandlung „Wie die Alten
den Tod gebildet haben" an und bemerkt mit Recht, daß wir die Ansichten Schillers
und Lessings wesentlich einschränken müssen. Wer das Büchlein liest, empfängt
eine Fülle von Anregungen ; wir werden mit den mannigfachen Vorstellungen und
Gebräuchen bekannt gemacht; der Verfasser führt uns durch die vielen Jahrhunderte
bis zum Sieg des Christentums. Mit Recht betont er die religiöse Bewegung des
6. Jahrhunderts v. Chr.; erst seit dieser Zeit kann man von einer Unsterblichkeit
der Seele, von Lohn und Strafe nach dem Tode, von einer Erlösungsreligion sprechen.
Das Büchlein kann warm empfohlen werden. Vielleicht hätte bei der Anordnung
und Besprechung des umfangreichen Stoffes noch mehr die historische Entwicklung
der Gebräuche und Anschauungen in den Vordergrund treten müssen. Totenkultus
ist ein Stück Religion, und zwar eins der ältesten Stücke. Er fließt vielfach mit
H. Dietze, Griechische Sagen, angez. von H. Wolf. 343
dem Götterkultus zusammen, weil in den ältesten Zeiten die Götter wesentlich
chthonische, unter der Erde wohnende Gewalten sind. Furcht ist in erster Linie
die Triebfeder für die Leistungen gegenüber den Toten. Totenorakel, Traumorakel,
chthonische Orakel gehören zu den ältesten Stücken der Mantik. Pluton und Plutos
sind ursprünglich identisch: »Der Reichtum spendende, unter der Erde wirkende und
herrschende Gott."
Den gefallenen Feinden gegenüber ist man nicht von vornherein so milde ge-
wesen, wie es nach dem Büchlein erscheint. Ist ja gerade die Frage der Bestattung
gefallener Feinde der Stoff für mehrere Tragödien geworden.
Dietze, Hermann, Griechische Sagen, l. Band mit 3 Abbildungen. Berlin
1908. Hermann Paetel. X u. 213 S. 8". geb. 1,75 M.
Dieser erste Band der „Griechischen Sagen" enthält folgende Abschnitte:
1. Weltentstehung und Götterkämpfe.
2. Die Götter.
3. Anfänge der Menschen.
4. Geschlecht des Äolus (Argonautensage).
5. Arkadische Sagen.
6. Ätolische Sagen.
7. Geschlecht des Inachos und Belos (Perseus und Herakles).
8. Thebanische Sagen (Thebanische Urgeschichte und Geschlecht des
Ödipus).
Das Buch ist der Hauptsache nach für Quintaner bestimmt; doch sind für
reifere Schüler und aucl^ für Lehrer wertvolle Abschnitte über Sagengeschichte
und dichterische Quellen hinzugefügt. Die Erzählung ist knapp, gewandt und
für die Schüler der unteren Klassen recht angemessen.
Im Vorwort heißt es: „Besonderes Gewicht ist darauf gelegt, durch Vereinigung
der einzelnen Geschichten zu [größeren Zusammenhängen ^eine fortlaufende Dar-
stellung zu gewinnen." Darin sehe ich gerade die Schwäche des Buches; die Ge-
nealogien der Götter und Heroen sind etwas Sekundäres und können größtenteils
fehlen. Die Götter sind ursprünglich einfach da, werden nicht geboren, und man
sollte die Schüler damit verschonen, aus welcher von den zahlreichen Verbindungen
des Zeus dieser oder jener Gott und Held hervorgegangen ist. Die Geschichte
des Herakles würde ich beginnen: „Herakles war ein Sohn des Zeus"; von Elek-
tryon, Sthenelos, Amphitryo, von der Doppelehe der Alkmene, die gleichzeitig
einen Sohn von Zeus und von Amphitryo gebärt, braucht gar keine Rede zu sein.
Um zu der Geschichte des Jason zu gelangen, haben wir den Stammbaum des
Deukalion, die Erzählungen von Keyx und Alkyone, den Kindern der Ino, von
Salmoneus und Thyro nicht nötig.
Für eine Neuauflage des Buches würde ich also eine andere Anordnung und
vor allem eine sorgfältigere Sichtung des überreichen Stoffes empfehlen. Zahl-
reiche Geschichten können meiner Ansicht nach fehlen, z. B. Selene und Endymion,
Meergott Glaukos, Alpheios und Arethusa, die Taten des Dionysos, viele TCotpepifa
des Herakles u. a.
Düsseldorf. Heinrich Wolf.
344 Sophokles' Antigone, angez. von L. Hüter.
Sophokles' Antigone übersetzt von O. Altendorf. Frankfurt a. M. 1908. Moritz
Diesterweg. Diesterwegs Deutsche Schulausgaben. Band VII. geb. 1 M.
Eine gute und die damit von einem höheren Gesichtspunkte aus treueste
Übersetzung soll, nach der eigenen Kennzeichnung Altendorfs, ,,die Hauptsache
treu wiedergeben"; das will besagen, sie soll „im ganzen und in allen kleineren
und größeren Unterteilen möglichst den Eindruck, den das Werk auf den
kunstverständigen Sprachkenner macht, in der Sprache der Übersetzung wieder
hervorrufen".
Die vorliegende Antigoneübersetzung entspricht nach meinem Urteil in bisher
nicht erreichtem Maße dieser wohlbegründeten Forderung. Auch hat sie, das
kann ich versichern, in gewissem Sinne eine bemerkenswerte Probe daraufhin
schon bestanden. Der Verfasser fertigte sie gelegentlich der Dreihundertjahrfeier
des Gießener Gymnasiums im Oktober 1907 für eine Schüleraufführung an, und
ich darf bestätigen, was er selbst bemerkt: „Die Einprägung des Textes hat sich
mit einer Leichtigkeit vollzogen, die die Deklamatoren selbst in Erstaunen setzte."
Daraus folgert er aber mit Recht, „daß der vorliegende Text dem Sprach-
gefühl und der Sprachkenntnis von Schülern und Schülerinnen der
obersten Klassen der höheren Lehranstalten, denen das Buch ja zu-
nächst dienen soll, angemessen ist*.
Im Dialoge ist der uns vertraute fünffüßige Jambus zur Anwendung ge-
kommen. Eigenartig und anziehend wirkt die Lyrik; die Chorlieder, in einem
Versmaß geschrieben, das dem Original in manchen Rhythmen verwandt ist, haben
den Endreim erhalten.
Die mit drei anschaulichen Bildern geschmückte Einleitung gibt eine zweck-
entsprechende Einführung in die Haupttatsachen der Tragödie und des Theaters
der Griechen, sowie in das Leben des Sophokles und die Vorgeschichte zur
Antigone. Anmerkungen am Schlüsse enthalten notwendige oder wünschenswerte
Erklärungen inhaltlicher, sagengeschichtlicher, metrischer Natur u. dgl. Eine wohl-
gelungene Wiedergabe der Lateranischen Statue des Sophokles bildet das Titelbild
des schönen Büchleins, das sich auch sonst durch ein gefälliges Äußere aus-
zeichnet.
Es sei gestattet, als kleine Probe den Anfang des berühmtesten Chorliedes
mitzuteilen.
»Vieles Gewaltige gibt es auf Erden,
zum Gewaltigsten wachsen und werden
sollte der Mensch auf dem Erdenball.
Er durchquert in des Winters Stürmen,
wenn ihn des Südwinds Wogen umtürmen,
selbst des schäumenden Meeres Schwall."
Gießen. Ludwig Hüter.
Petersen, Eugen, Die Burgtempel der Athenaia. Mit vier Abbildungen.
Berlin 1907. Weidmannsche Buchhandlung. 147 S. 8». 4 M.
Als Dörpfeld vor einigen zwanzig Jahren zwischen Parthenon und Erechtheion
die Fundamente eines alten Tempels entdeckte, dessen Name Hekatompedon in
E. Petersen, Die Burgtempel der Athenaia, angez. von E. Wendung. 345
einer später gefundenen Inschrift zutage trat, geriet der alte Ruhm des Erechtheions
als der ursprünglichen Kultstätte der Burggöttin Athene in Gefahr, nicht sowohl
durch die schöne Entdeckung selbst als durch die Hypothese des Entdeckers, das
Hekatompedon sei der „alte Tempel" der Göttin, das Erechtheion dagegen ledig-
lich ein Heiligtum des Erechtheus gewesen. Petersen erneuert in seiner scharf-
sinnigen Untersuchung den gegen Dörpfelds Lehre sofort von ihm erhobenen
Widerspruch und führt ihn siegreich durch.
Bei Homer erscheint Athene in fester Kultgemeinschaft mit Erechtheus (B. 546
7) 80 — beide Stellen nach Petersen zur pisistratischen Redaktion gehörig); sie
geht in sein „Haus"; sie erzieht ihn in ihrem vtjo?. Herodot scheint neben dem
Erechtheion (VIII 55) mit dem aSutov der Göttin (V 72) das Hekatompedon (V 11
VIII 53) zu kennen. Die schon genannte Inschrift unterscheidet das letztere
deutlich von dem vstu^, d. h. dem Erechtheion.
Das wichtigste Zeugnis aber findet Petersen in dem „Reliefbild des Urtempels",
d. h. einigen zusammengehörigen Bruchstücken eines Porosreliefs von der Akropolis.
Trifft seine Rekonstruktion zu, so haben wir uns im Ostgiebel des Hekatompedon
folgende Darstellung zu denken: Links ein Tempel, hinter dem (weiter links) in
ummauertem Raum ein Ölbaum steht, also: das alte Erechtheion mit dem Kekropion.
Am Tempel vorbei bewegt sich nach der Mitte des Giebelfelds zu eine Prozession
zum Altar der Göttin. In der Mitte thronen Zeus und Athene, denen von andern
Gottheiten (von rechts her) Herakles zugeführt wird; hier ist also die Szene im
Olymp. Die beiden Giebelecken werden von zwei Schlangendämonen (Erechtheus
und Kekrops) ausgefüllt.
Da das Kekropion, welches im Relief hinter dem Erechtheion liegt, später
südlich von diesem genannt wird, so folgert Petersen, daß der Urtempel nach
Norden orientiert war, wofür ja heute noch die Nordhalle Zeugnis ablegt. Wie mir
scheint, spricht dafür auch folgender Umstand. Wer die Abbildung des Urtempels
im Ostgiebel des Hekatompedon beschaute, brauchte nur einige Schritte nach rechts
zu machen, um das Bild in Wirklichkeit umgesetzt zu sehen, nämlich die (ange-
nommene) östliche Längswand des Erechtheions mit dem, wie wir wissen, ans
Hekatompedon anstoßenden Kekropion. Die Nordfront mit dem Altar war allerdings
freie Zutat des Künstlers.
Über den Grundriß des Urtempels ist nichts mehr zu ermitteln. Wir wissen
also nicht, in welcher Weise die Cella der Athene mit dem Heiligtum des Erechtheus
verbunden war. Im sechsten Jahrhundert beschloß man, unter dem Einfluß der
homerischen Dichtung, der Landesgöttin ein würdigeres, ihr ausschließlich gehöriges
Gotteshaus zu bauen, das Hekatompedon ; man legte es so dicht an den Urtempel
heran, daß das Kekropion beide berührte, und richtete es, neuer Weise entsprechend,
nach Osten.
Über die ältesten Kultbilder der Athene kann man, wie Petersen selbst sagt
(S. 60), nur Vermutungen aufstellen. Vielleicht hatte die Göttin ursprünglich über-
haupt kein Bild, weil sie im heiligen Ölbaum gegenwärtig war. Später scheint
man ihren Sitz verehrt zu haben, einen Thron oder ein Ruhebett, auf dem man sie
unsichtbar sich niederlassend dachte; hierfür spricht nach Petersen der spätere
spezifisch attische Gebrauch von 2öo; = Götterbild. Das älteste wirkliche Bild,
346 Th. Steinwender, Die Marschordnung des römischen Heeres usw.,
ein ^oavov, stellte die Göttin stehend dar, mit den Attributen der homerischen
Pallas Athene, an welche die alte „agrarische" Athene immer mehr angeglichen
wurde (um 600).
Tief in die Urzeit attischen Glaubens führt das Kapitel über Erechtheus-Poseidon.
Ungeahnten Aufschluß gewährt hier die 1902 im Erechtheion gemachte Entdeckung,
daß über dem Felsmal, das vom Dreizack des Poseidon herrühren sollte, im Dach
der Nordhalle von Anfang an eine Öffnung gelassen war, wie sie in römischen
Kultstätten sich über Blitzmalen (bidentalia) findet. Unter Anlehnung an Gedanken
Rohdes (in der „Psyche") kommt Petersen nun zu folgendem Ergebnis. Erechtheus,
der „Erdaufreißer", ist ursprünglich der vom Himmel kommende Blitz, der in den
Felsen einschlägt, der xatsißatr];, der chthonische Zeus. Als Unterirdischer wurde
er, in Schlangengestalt gedacht, in dem geheimnisvollen -^do^a. verehrt. Ursprüng-
lich identisch mit dem Feuergott Hephaistos, der im homerischen Mythus vom
Himmel auf die Erde geschleudert wird, d. h. als Blitz herabfährt, wird er später
in der Doppelung Erichthonios zum Sohn des Hephaistos und der Ge = Pandrosos-
Beim Eindringen der homerischen Theologie wurde Pandrosos zur jungfräulichen
Athene, die Mutter des Erechtheus zu seiner Pflegerin. Erechtheus aber wurde
mehr und mehr von Poseidon verdrängt: an die Stelle des vom Blitz geschlagenen
/aofjLa trat die durch den Dreizack hervorgerufene Salzquelle.
Die beiden letzten Abschnitte des Buches behandeln das neue Erechtheion
(um 400) und die Cella der Polias in demselben. Auch hier wird über viele
wichtige Punkte neues Licht verbreitet. Hervorgehoben seien die Inschriften, die
S. 124 ff. abgedruckt und kommentiert, uns das Bild der Polias und seine nächste
Umgebung greifbar vor Augen führen. —
Wer das Glück gehabt hat, unter Petersens Führung die Altertümer Italiens
kennen zu lernen, der erinnert sich, daß es kein müheloser Genuß war, seinen
Darbietungen zu folgen. Das war kein glatter, ein für allemal fertiger Vortrag;
da drängte ein Gedanke den andern, und es gehörte oft die gespannte Aufmerksam-
keit dazu, um über den zahlreichen Nebenfragen, denen der Redner nachging, den
Faden nicht zu verlieren. Und doch war es von hohem Reiz, den Forscher so
recht eigentlich bei seinem geistigen Schaffen zu beobachten und ihm durchs
Gestrüpp der Einzeluntersuchung zur lichten Höhe geschichtlicher Erkenntnis zu
folgen. So sind denn auch Petersens Schriften keine leichte Lektüre; aber wer sich
hindurcharbeitet, findet seine Mühe reichlich belohnt.
Zabern i. E. E. Wendung.
Steinwender, Jh., Die Marschordnung des römischen Heeres zur Zeit
der Manipularstellung. Danzig 1907. Druck von A. W. Kafemann, G. m. b. H.
42 S. 8«. 0,80 M.
Die Abhandlung umfaßt acht Kapitel. In dem ersten Kapitel schildert der
Verfasser den Aufbruch aus dem Lager. Er ergänzt hier den kurzen Bericht
des Polybius (VI, 40), der nur die Tatsache erwähnt, daß die Truppen auf ein
dreifaches Signal aufbrachen. Die eingefügten Details verraten den genauen Kenner
unseres deutschen Exerzierreglements. Wir gewinnen die Überzeugung, daß die
Legion auf das zweite Signal auf dem Intervallum antrat (mit Ausnahme der
angez. von H. Leppermann. 347
Velites, die den Wachtdienst besorgten und draußen kampierten), und daß dann
auf das dritte Signal der Aufbruch sich in durchaus geordneten Formationen vollzog.
Im einzelnen können ja diese Formationen wohl ein wenig anders gewesen sein,
als Steinwender darlegt, aber im großen und ganzen wird's schon stimmen. In
Kapitel 2: ,Der Heereszug" und Kapitel 3: „Breite und Länge der
Marschkolonne" unterscheidet der Verfasser nach Polybius den Reisemarsch
und die Marschordnung in der Nähe des Feindes. Es wird überzeugend nach-
gewiesen, daß das römische Heer auf der Reise nicht in Frontformation, sondern in
langen Reihen zog (agmen pilatum, von pila = Säule, vgl. Heeressäule), und bezüglich
der Marschordnung in der Nähe des Feindes (agmen munitum) weiß Steinwender
seine Ansicht über die Gefechtsentwicklung und das Gefechtsexerzieren wenigstens
sehr wahrscheinlich zu machen. In Kapitel 4 berechnet Steinwender die Zahl
der Zelte, der Packpferde und der Troßknechte. Das Resultat gibt er mit
den Worten: ,Ein konsularisches Heer von normaler Größe verfügte also, ab-
gesehen von der Begleitmannschaft des [Hauptquartiers, den pedites et equites
delecti, die sich unserer Schätzung entziehen, über 2250 Zelte nebst der ent-
sprechenden Anzahl von Packpferden und Troßknechten zum Transport." Die
„entsprechende" Anzahl bedeutet hier die „gleiche" Anzahl. Für die Zelte wird
die Rechnung wohl annähernd stimmen, aber für die Packpferde scheint mir doch
die Zahl zu hoch gegriffen. Es dürfte überhaupt wohl ein ganz aussichtsloses
Bemühen sein, für diese eine bestimmte Zahl auszurechnen, da wir über das Ge-
wicht der Zelte gar nicht und über den Umfang der großen Bagage (impedimenta)
nur unvollständig unterrichtet sind. Das fünfte Kapitel: „Der Auszug in die
Schlacht" will mir wenig wichtig erscheinen. Da auch Polybius die Marsch-
ordnung, die sich ergab, wenn die Truppen unmittelbar aus dem Lager in die
Schlacht rückten, gar nicht erwähnt, so dürfen wir wohl annehmen, daß das Auf-
exerzieren zum Gefecht in solchem Falle dasselbe gewesen ist, wie das bei dem
oben erwähnten agmen munitum. In dem wichtigen Kapitel 6 versucht Steinwender
den Begriff des von den römischen Schriftstellern oft erwähnten, aber nirgends
beschriebenen agmen quadratum festzustellen. Daß sich von quadrare der Be-
griff des Rechtecks schlechterdings nicht trennen läßt, ist allgemein anerkannt.
Aber Steinwender führt mit Erfolg den Beweis, daß obiges Attribut nicht nur
Geltung hat für das gleich zu Anfang in gerader Front gerichtete, die Form eines
Rechtecks bildende Heer, sondern daß quadrare auch der terminus technicus war,
wenn die ursprüngliche Grundformation, die sich auf dem Vormarsche verschoben
hatte, angesichts des Feindes wiederhergestellt wurde unter Aufnahme der
Richtung in Reihe und Glied; also agmine quadrato = nach Wiederaufnahme der
Richtung. Im siebenten Kapitel ist der Beweis gelungen, daß die Römer den
„Gleichschritt" angewandt haben. Allerdings dürfen wir dabei an unsern
Parademarsch nicht denken. Im letzten Kapitel werden die Nachrichten über die
Leistungen des Legionars als Fußgänger mit gesunder Skepsis einer
genauen Nachprüfung unterzogen. Mit Recht wird dabei betont, daß Vegetius
bei der Feststellung der Zeit, die das Heer zum Zurücklegen der 20 000 bzw.
24000 passus (Doppelschritte) benötigte, die notwendigen Ruhepausen außer acht ge-
lassen hat. Wir gewinnen die Überzeugung, daß die Marschleistungen unserer Truppen
348 E. Böninger, Von der Heerstraße, angez. von E. Rothert.
den Marschleistungen der römischen Legionen nicht nachstehen, sondern daß jene
oft sogar noch höher sind als diese. Denn wenn bei den Römern der Grundsatz
beobachtet wurde, die Truppen am Tage vor der zu erwartenden Schlacht nach
Möglichkeit zu schonen, so leisten unsere Truppen am Vorabende einer Schlacht
nicht selten im Marschieren geradezu Übermenschliches, um nur noch rechtzeitig
in den Kampf eingreifen zu können. In der modernen Schlacht gibt ja nicht mehr
die ungeschwächte Kraft der Truppen allein den Ausschlag, sondern der Erfolg
hängt im wesentlichen von der Feuerwirkung ab. Die in den Text ein-
gefügten Skizzen und Abbildungen erleichtern das Verständnis der stets
interessanten, an vielen Stellen überzeugenden, scharfsinnigen Ausführungen, für
die der Verfasser Anerkennung und Dank verdient.
Paderborn. Herrn. Leppermann.
Böninger, Eugen, Von der Heerstraße. Düsseldorf 1908. Schmitz & Olbertz.
96 S. 2,50 M.
Wieder ist die allgemeine Reisezeit angebrochen und wieder ziehen Hunderte
und Tausende, begünstigt durch die staatliche Eisenbahnpolitik, in die weite Ferne,
um alle die Punkte rasch zu sehen, die nun einmal den Ruf besonderer Groß-
artigkeit genießen und die man deshalb gesehen haben muß. Unsere alles gleich
machende Zeit bringt so in gleicher Weise den Gebildeten wie den Ungebildeten,
den Erwachsenen wie die Kinder sofort zu dem Größten und Erhabensten von
Schweiz und Tirol. Die Fülle der Eindrücke steht aber oft in umgekehrtem Ver-
hältnis zu ihrer Vertiefung und die Ausdehnung der Reisen schädigt nur zu leicht
die Fähigkeit, richtig zu beobachten und auch die Reize der Heimat zu erkennen.
An dieses Mißverhältnis dachten wir, als uns die Böningersche Schrift in die
Hände kam. Sie zeigte uns, wie viele lehrreiche Betrachtungen sich an das rechte
Reisen anknüpfen lassen. Die meisten Touristen geben sich mit dem zufrieden,
was Bädeker sagt, dessen Notizen ja ebenso zutreffend wie ausreichend für
den Augenblick sind. Zu einem selbständigen Nachdenken drängen sie nicht
gerade. Böninger aber bietet noch etwas anderes. Er will anregen zu
eigener Beobachtung. Zu diesem Zwecke knüpft er an das Gesehene Be-
trachtungen buntester Art, wie der Ort sie gerade nahe legt. Den vielgereisten
Verfasser, der sich immer jedoch den Blick auch für das Kleine und Einzelne
offen gehalten hat und dieses dann zum Anlaß seiner Ausführungen nimmt,
führt seine diesmalige Reise von Singen über Konstanz nach Tirol. Nament-
lich sucht er St. Anton, den Brenner und Bozen auf und kehrt dann über Inns-
bruck und München in die Heimat zurück. Das ist eine Reise, wie sie jährlich
viele Hunderte ausführen. Böninger aber macht sie zum Ausgangspunkt für Be-
trachtungen gesellschaftlicher und sozialer, geschichtlicher und politischer Art. So
erörtert er die Einrichtungen der Schutzhütten, die Notwendigkeit des Tier- und
Pflanzenschutzes, die Zweckmäßigkeit indirekter Steuern, den Kampf der Natio-
nalitäten , ja, selbst die Wirkungen des Zölibats auf die Minderung der Intelligenz
des Stammes und vieles andere. Die Belege werden teils aus den unmittelbaren
Beobachtungen, teils aus den Schriften namhafter Männer entnommen. Fast immer
sind es Fragen, die uns alle gegenwärtig beschäftigen. Daß man nicht überall
H. Schubert, Niedere Analysis, angez. von H. Thieme. 349
ihm ganz zustimmen wird, ist selbstverständlich. Immer aber schreibt Böninger
lebendig und anregend. Und daß wir ein dringendes Interesse haben, uns anregen
zu lassen, zeigt beispielsweise der Abschnitt über den deutschen Schulverein. Ist
es nicht beschämend, wie untätig wir Deutschen dem Kampf der Deutschösterreicher
zusehen ? Für die tschechische Schule wurden 701 757 Kronen aufgebracht, für die
deutsche durch den deutschen Schulverein nur 78 781 Mark. Im ganzen verfügten
in Österreich im Jahre 1906 die Vereine zur Bekämpfung des Deutschtums über
2 150000 Kronen, die deutschen Schulvereine aber nur über 950000 Kronen. — Durch
solche Vorhaltungen schärft Böninger unser patriotisches Gewissen, wie er überall
auf unser nationales Empfinden einzuwirken sucht. Das führt ihn allerdings auch
zu Behauptungen , die zu weit gehen. Er vergleicht Ostgoten und Bajuvaren.
Diese rühmt er, denn sie sind deutsch geblieben ; noch in jüngster Zeit konnte an
ihrer südlichsten Warte (in Bozen) dem echt deutschen Walther von der Vogelweide
ein Denkmal errichtet werden. Wenn aber die Ostgoten uns verloren gegangen
sind, so hat hier nicht „lediglich der Grad des nationalen Sinnes die Völkerscheide
bestimmt". Die Bajuvaren sind kompakt beieinander geblieben und haben immer
zur katholischen Kirche freundlich gestanden. Das hat diese dann aus guten
Gründen vergolten. Die Ostgoten aber verschwanden, weil sie etwa im Verhältnis
von 1 zu 15 sich im Lande verteilten und dabei einer Menge gegenüberstanden,
die in der Kultur weit überlegen und durch den Beistand der organisierten, katho-
lischen Kirche um vieles stärker war.
Zu solchen einschränkenden Bemerkungen wird man sich hin und wieder ver-
anlaßt fühlen. Das beweist aber auch, daß die Schrift unser Interesse in Anspruch
nimmt und uns in all den Fragen so oder so Partei ergreifen läßt. Wir können sie
mit Recht empfehlen, namentlich denjenigen, welche die gleiche Reise gemacht
haben oder sie bzw. ähnliche noch zu machen gedenken.
Düsseldorf. E. Roth er t.
Schubert, H., Niedere Analysis. Erster Teil: Kombinatorik, Wahrscheinlichkeits-
rechnung, Kettenbrüche und diophantische Gleichungen. Zweite Auflage
(Sammlung Schubert, V.) Leipzig 1908. G. J. Göschensche Verlagshandlung.
IV u. 181 S. 80. 3,60 M.
Von der bekannten Sammlung Schubert ist der von dem Herausgeber selbst
bearbeitete Band V, erster Teil, der die Kombinatorik, Wahrscheinlichkeitsrechnung,
Kettenbrüche und diophantische Gleichungen enthält, in zweiter Auflage erschienen.
Der in dem Werke behandelte Stoff, der vor einem Jahrhundert in Deutschland
im Vordergrunde des Interesses stand, ist in neuerer Zeit zugunsten der Teile
der Mathematik, die zu den Anwendungen, zu den graphischen Methoden und
zum Funktionsbegriff in näherer Beziehung stehen, mehr und mehr zurückgedrängt
worden und, wie man wohl sagen kann, mit Recht. Für die Mathematik als Mittel
zur Beantwortung von Fragen der Außenwelt ist die Jugend leichter zu gewinnen
als für die rein abstrakten Erörterungen, mit denen es in der Hauptsache die hier
behandelten Stoffgebiete zu tun haben. Wenn trotzdem nach verhältnismäßig
kurzer Zeit eine neue Auflage des Buches notwendig geworden ist, so darf man
daraus wohl schließen, daß der Sinn für mathematische Abstraktion doch nicht ganz
350 H. Schubert, Niedere Analysls, angez. von H. Thieme.
so selten ist, wie zuweilen geglaubt wird. Bedingt ist allerdings der Erfolg des
Buches ebenso durch die methodisch außerordentlich geschickte, durchsichtig klare
Darstellung des Stoffes seitens des als Forscher wie als pädagogischer Schriftsteller
gleich hervorragenden Verfassers.
Der Stoff, den das Buch enthält, ist ziemlich umfangreich. Zur Kombinatorik
sind hinzugenommen der binomische und der polynomische Lehrsatz und die
arithmetischen Reihen höherer Ordnung. Die Aufgaben der Wahrscheinlichkeits-
rechnung sind als Force-maJeure-Piohleme, als Ursachen- und als Glaubwürdig-
keitsprobleme unterschieden und im einzelnen sehr eingehend erörtert. Ebenso
eingehend behandelt werden die Kettenbrüche, endliche und unendliche, und im
Anschluß hieran die sog. diophantischen Gleichungen, zuerst die Gleichungen
ersten Grades und zwar der Reihe nach eine einzige Gleichung mit zwei Unbe-
kannten, Gleichungen, deren Zahl nur um eins kleiner ist als die Zahl der Unbe-
kannten, und solche, deren Zahl um zwei oder mehr kleiner ist als die Zahl der
Unbekannten, darauf Gleichungen zweiten Grades und insbesondere die Feilsche
Gleichung u^ — Dt2=l, die pythagoreische Gleichung x2 = y2 4-z2 und schließlich
die Gleichungen x^ + y^ + z^ = ü^ und x^ 4- y2 = u^ + z».
Den einzelnen Abschnitten sind eine größere Zahl geschickt ausgewählter
Übungsaufgaben beigefügt, die nebenbei den Beweis liefern, daß dies scheinbar
rein abstrakte Gebiet der Mathematik auch seinen praktischen Wert besitzt. Den
Schluß des Buches bilden die Resultate zu den Übungsaufgaben.
Der Verfasser hatte bei Abfassung des Buches als Interessenten vorzugsweise
die Primaner höherer Lehranstalten im Auge. Sicherlich wird jeder Mathematik-
lehrer sich freuen, wenn die besseren seiner Schüler neben dem Unterricht, der ja
nicht soweit gehen kann, noch ein so anregendes Werk durcharbeiten wie das
vorliegende. Der behandelte Stoff bietet eine vorzügliche Gelegenheit zur Übung
in genauerer Analyse komplizierter Sachverhältnisse und zur Schärfung des
mathematischen Urteils. Für derartige Zwecke sei das Buch den Schülerbibliotheken
zur Anschaffung empfohlen.
Posen. H. Thieme.
IV. Sprechsaal.
Professor Dr. Krause-Düsseldorf schreibt:
Die Kurzsichtigkeit unserer Schüler. Schon seit langen Jahren kämpfe ich
einen erbitterten, aber erfolglosen Kampf. Bei allen schriftlichen Arbeiten habe
ich eine ganze Anzahl von Schülern zum Geradesitzen zu ermahnen. Bei dem
einen oder anderen fruchtet es, er richtet sich auf und behält bis zum Schlüsse
der Schreibarbeit eine unschädliche Haltung bei. Die meisten aber sinken bald wieder
zusammen, und es bedarf immer erneuter Zurufe und Aufmunterungen, damit sie
sich wieder aufraffen. Noch andere sind überhaupt nur durch scharfes und schärfstes
Anfahren dazu zu bewegen, für kurze Zeit wenigstens ihre Liegestellung zu ver-
lassen. Wohlgemerkt, ich überzeuge mich stets, ob der Junge in normaler Sitz-
haltung wirklich genügend sehen kann. Bei jeder weiteren schriftlichen Arbeit
geht der Tanz von neuem los. Und je weiter nach oben, desto größer wird der
Prozentsatz der zu ermahnenden Schüler. Manchmal habe ich schon entmutigt
die Sache gehen lassen wollen, wie sie eben will, habe es aber, da ich selber
kurzsichtig bin, nicht übers Herz bekommen und immer wieder meine Anspornungen
ertönen lassen. Einen großen Teil der Schuld an dieser schlechten Gewöhnung
der Schüler trägt sicher das Haus, wo es meist an der nötigen Beaufsichtigung und
Ermahnung fehlen wird. Anderseits habe ich mich davon überzeugt, daß auch
die Schule nicht von aller Schuld freizusprechen ist. Eine ganze Reihe von
Kollegen stehen der Sache völlig gleichgültig gegenüber, sei es, daß sie ihr nicht
dieselbe Bedeutung beimessen wie ich, oder daß sie sich sagen, ihre Bemühungen
seien zur Fruchtlosigkeit verurteilt. Ich für meinen Teil bin davon überzeugt, daß,
wenn alle in derselben Weise, wie ich oben angedeutet, auf die Jugend einwirkten,
bei der großen Mehrzahl der schlecht Gewöhnten doch noch eine korrekte und
gesunde Schreibhaltung zu erzielen ist, wodurch schon recht viel für die Vor-
beugung gegen das Kurzsichtigwerden gewonnen wäre.
Die Kurzsichtigkeit nimmt rapide in den oberen Klassen zu. Es sprudelt dort
eine neue Quelle für diese betrübende Erscheinung. Das ist das Linienblatt. Die
Schüler sollen ja nicht mehr auf Linien schreiben, vermögen aber noch nicht ohne
solche Hilfe auszukommen und benutzen daher in OII fast durchweg ein Linien-
blatt. Das scheint aber je nach der Stärke der Linien, der Dicke des Papiers und
der Belichtung des Platzes, den der Schüler einnimmt, recht verschieden durch,
meist recht schwach, so daß der Schüler geradezu gezwungen ist, von der nor-
352 Vermischtes.
malen Haltung abzuweichen und sich tief auf das Blatt hinabzubücken. Ich
mache daher den Vorschlag, das Linienblatt ganz zu verbieten. Mögen diejenigen,
die nicht ohne Hilfsmittel in geraden Zeilen und in genügendem Zeilenabstande
schreiben können, ruhig liniiertes Papier weiter benutzen. Das ist jedenfalls besser,
als daß sie sich mit dem Linienblatt die Augen verderben.
Ich fasse zusammen. Mögen alle Kollegen in den unteren und mittleren
Klassen auf das konsequenteste zusammenwirken, jede falsche Haltung der Schüler
beim Schreiben zu verhüten. In den oberen Klassen ist das Linienblatt abzu-
schaffen. Werden diese beiden Forderungen erfüllt, dann kann die Schule sagen,
daß sie zwei Hauptquellen der Kurzsichtigkeit ihrer Schüler verstopft habe. Der
Erfolg wird nicht ausbleiben.
Herr Oberlehrer v. Kolbe -Marienwerder schreibt:
Zur Anfrage des Herrn Professor Meyer, wo der Satz diem perdidi auf Traian
bezogen ist, erlaube ich mir auf eine Stelle im Panegyricus des jüngeren Plinius
hinzuweisen. Dort c. 56, 2 heißt es nämlich von Traian : quid est enim in principatu
tuo, quod cuiusquam praedicatio vel transilire vel praetervehi debeat ? quod mo-
mentutn, quod immo temporis punctum aut beneficio sterile aut vacuum laude?
Schon Samuel Pitiscus in seiner Ausgabe des Sueton Leuwarden 1714 (2. Aufl.)
hat diese Stelle angeführt.
V. Vermischtes.
An der Universität Mfinster i. Westf. wird in der Zeit vom 10. bis zum 20. Oktober
dieses Jahres ein biologischer Ferienltursus stattfinden. Das Programm ist mit
Rücksicht auf die Bedürfnisse des naturgeschichtlichen Unterrichts der Oberstufe
zusammengestellt. Im Vordergrunde stehen daher Übungen und Demonstrationen
auf dem Gebiete der Tier- und Pflanzenphysiologie, wobei insbesondere das Süß-
wasserplankton eingehende Berücksichtigung finden wird.
Abhandlungen.
Zur Methodik des hebräischen Unterrichts/)
Da mit meinen Arbeiten zur wissenschaftlichen Erforschung der hebräischen
Sprache, wie sie in dem »Historisch -kritischen Lehrgebäude der hebräischen
Sprache" niedergelegt sind, von Anfang an die Betätigung im hebräischen Unter-
richt Hand in Hand gegangen ist, so ist es natürlich, daß ich auch über die Me-
thode, die bei diesem Unterricht zu wählen sei, mir ein selbständiges Urteil zu
bilden gesucht habe. Dabei ist mir nun der und jener Gedanke gekommen, der
von den bisher zum Ausdruck gebrachten Grundsätzen mehr oder weniger abweicht.
Deshalb drängt es mich, diese Gedanken einmal im Zusammenhang auszusprechen
und zur Diskussion zu stellen.
Die erste Frage, die bei Erwägungen über die richtige Methode des hebräi-
schen Unterrichts aufsteigt, ist natürlich die, ob sie eine andere sein muß, als die,
welche zur Einführung in tote Sprachen überhaupt angewendet werden soll.
Wie man sieht, mache ich bei der Beantwortung der zuerst aufgeworfenen
Frage einen Unterschied zwischen lebenden und toten Sprachen.
Denn bei den ersteren mag es sein, daß die Methode, die gleich mit dem
Sprechen von Sätzen anfängt, auf raschem Wege zu dem zunächst gewünschten
Ziele, sich in der betreffenden Sprache unterhalten zu können, führt, obgleich ich
auch bei der Erlernung von lebenden Sprachen es für richtiger halte, wenn das
Sprechen mindestens mit der Durchnahme einer — wenn auch noch so kurzen —
systematischen Darstellung der Grammatik des betreffenden Idioms parallel geht.
Dies ist, wie ich hinterher sehe, auch von J. Rosenberg stillschweigend anerkannt
worden, der vor einigen Jahren für die in A. Hartlebens Verlag (Wien) erscheinende
»Bibliothek der Sprachenkunde " eine „Hebräische Konversations-Grammatik " ge-
schrieben hat, um „die Kunst, schnell modernes Hebräisch zu lernen", wie der
Nebentitel des Buches heißt, zu lehren. Denn er beginnt mit einem systematischen
Abriß der biblisch-hebräischen Grammatik (S. 1 — 20), der leider ziemlich viele Fehler
*) Da diese Arbeit sich an die Religionslehrer beider Konfessionen an unseren höheren
Lehranstalten wendet, würde ihr Platz in einer Zeitschrift für den konfessionellen Religions-
unterricht nicht der richtige gewesen sein. Auch betrifft die gegebene Auseinandersetzung
keineswegs bloß den Unterricht im Hebräischen, sondern zum großen Teil auch den Sprach-
unterricht überhaupt. Mtth.
Monatschrift f. höh. Schulen. VUI. Jhrg. 23
354 E. König,
enthält, und fügt einen ebensolchen über die biblisch-aramäische, die talmudisch-
hebräische und die talmudisch-aramäische Grammatik hinzu, ehe er mit den prak-
tischen Übungen beginnt.
Bei toten Sprachen aber kann von der Anwendung der Kcnversationsmethode,
wie man sie nennen kann, nicht im Ernste die Rede sein. In bezug auf die Er-
lernung dieser Sprachen habe ich aber auch nie mich mit der Anwendung der
Methode befreunden können, die von der Lektüre zusammenhängender
Texte ausgeht. [Denn entweder muß dieses Verfahren[im Anfang zu einem bloß
mechanischen Aneignen eines Gedächtnisstoffes werden, oder das Foitschreiten
in der Lektüre des zusammenhängenden Textes muß wegen der notwendigen Ein-
schaltung von Erklärungen ein so langsames sein, daß das Interesse am Faden
der Erzählung erlischt und die Lesestunde zur grammatischen Auseinandersetzung
wird. Außerdem kann es doch nicht ausbleiben, daß die gelegentlich aus Anlaß
der Lektüre zu gebenden Bruchstücke von grammatischer Darstellung schließlich
zu einem planvollen Ganzen zusammengefügt werden.
Unter diesen Umständen ist es aber erstens keine Zeitverschwendung, wenn
eine geordnete Übersicht über die grammatischen Verhältnisse der betreffenden
Sprache gleich am Anfang gegeben wird. Zweitens aber ist zu betonen, daß
dieser grammatisch geordnete Unterricht ebensoviel Lebendigkeit und Inter-
esse besitzen muß, wie der an die Lektüre eines zusammenhängenden Textes sich
anschließende Unterricht. Denn die Grammatik einer Sprache ist auch ein Stück
Leben, kräftig vorwärtsdrängendes und vielseitiges Leben. In ihm tritt der
Denkprozeß einer Volksseele als mächtig zeugender Grundfaktor auf und die Laut-
gesetze greifen als gestaltende Kräfte ein. Welch [reiche und bunte Schar von
Sprößlingen rufen sie ins Dasein I Welcher unaufhörliche Wechsel ferner im Ent-
stehen und Vergehen bei diesem Sprachprozeß! Blüten öffnen sich und verwelken,
ja ganze Zweige und Äste sterben ab, und andere sprießen empor. Dies kann
bei den Formen und beim Satzbau beobachtet werden. Man denke nur z. B. an
das Schicksal der Kasusendungen oder an den Übergang von Parataxe zur Hypo-
taxe! Wie deutlich stellt sich dem aufmerksamen Beobachter der Sprache über-
haupt alles als im lebendigen Flusse befindlich dar! Wer also darf behaupten,
daß dem Unterricht in der Grammatik das Interesse und das Leben fehlen müsse?
Nein, dieser Unterricht kann ebenso lebensvoll und anziehend gestaltet werden,
wie der Unterricht z. B. über das organische Leben in der Natur.
Da demnach, wie hier einleitungsweise kurz zu begründen war, die grammati-
kalische Methode auch für den Unterricht im Hebräischen die richtige ist, so ist
nur die Frage, wie diese Methode in bezug auf das Hebräische auszugestalten
ist. Zur Beantwortung dieser Frage meine ich aber auf Grund meiner Erfahrungen
und Erwägungen folgende Sätze darbieten zu können.
I.
Gleich als ich zum erstenmal einen Plan für meine Vorträge über hebräische
Grammatik entwarf, kam ich zu dem Urteil, daß, außer der historischen und kom-
parativen Methode der neueren Sprachwissenschaft, ganz besonders die induktive
Art des Forschens zur Anwendung zu bringen sei. Denn nur aus den einzelnen
Zur Methodik des hebräischen Unterrichts. 355
genau festgestellten Tatsachen kann auch auf dem Gebiete des Sprachlebens das
organisierende Prinzip erkannt werden, das in ihnen waltet. Nur der Blick auf alle
einzelnen Erscheinungen und Vorgänge einer bestimmten Sprache kann die Eigen-
art erkennen lehren, in der die allgemeinen Gesetze der menschlichen Sprache sich
in einem bestimmten Zweige derselben zur Geltung gebracht haben. So gelangte
ich zu der Überzeugung, daß die synthetisch-spekulative Methode, nach welcher
Heinr. Ewald bei seiner Darstellung der hebräischen Grammatik (Lehrbuch 1827
bis 1870) vom Ganzen der Erscheinungen und von den wirkenden Ideen aus-
ging, mit dem analytisch-induktiven Verfahren zu vertauschen sei. Daraus
ergab sich aber mehr als eine Direktive für die Darstellung der hebräischen und
überhaupt aller Spracherscheinungen.
a) Durch die ganze Grammatik hindurch hat jeder Abschnitt und auch die
Auseinandersetzung über jeden einzelnen Punkt nicht mit allgemeinen Er-
wägungen zu beginnen. Z. B. im Abschnitt vom Verbum ist nicht mit all-
gemeinen Darlegungen über Wurzel und Stamm anzufangen, sondern deren Ver-
hältnis im Hebräischen und Semitischen überhaupt ist an einem konkreten Beispiel,
gleich am Paradigma, aufzuzeigen. Weiter ist z. B. nicht im allgemeinen erst über
Tempora und Modi zu sprechen, sondern das im Hebräischen bestehende Ver-
hältnis zur Bezeichnung der Zeiten und Modi ist wieder am Paradigma zu ver-
anschaulichen. Sodann die Ausnahmen, die bei den einzelnen Formationen, wie
z. B. bei der Ausprägung von Numerus, Genus und Person am Verb, beobachtet
werden, sind nicht gleich am Anfang vorzuführen, sondern an den einzelnen
Punkten zu erwähnen, wo sie tatsächlich auftreten. Erst hinterher sind sie alle zu
überblicken und so das quantitative Verhältnis von normalen und abnormen Er-
scheinungen festzustellen. Bei diesem Verfahren wird aber nicht etwa bloß das
Gesetz der Induktion bewahrt, sondern man sieht auch leicht, daß dieses Ver-
fahren für die Erlernung und Einübung der sprachlichen Formen vorteilhaft ist.
Denn indem der Lernende die einzelne Abnormität erst je an ihrem Orte kennen
lernt, wird er veranlaßt, sich an die gesetzmäßige Bildungsweise zu erinnern, und
so befestigt sich in seinem Geiste das betreffende Grundgesetz immer von neuem
gegenüber der einzelnen Abweichung. Außerdem kann die einzelne Abnormität
an dem Platze, wo sie nach diesem induktiven Verfahren auftritt, auch gleich bei
der Anwendung des ganzen betreffenden Verbs oder Nomens in Übersetzungen
eingeübt werden.
b) Die Hauptfolgerung aber, die sich mir aus der Zugrundelegung der rein
induktiven Methode ergab, war eine neue Behandlung der sogenannten Lautlehre.
Denn ihre bisherige Stellung vor der Formenlehre bringt mehrere Nachteile mit
sich. Erstens muß sie dem Lernenden eine Menge von Formen vorführen, die er
noch gar nicht in ihrem genetischen Zusammenhange kennt. Sie muß ja Verbal-
formen und Nominalformen als Belege geben, ohne daß dem Lernenden deren
organische Zugehörigkeit zu einem regelmäßigen oder unregelmäßigen Verbum usw.
bekannt sein kann. Zweitens aber müßte die sogenannte Lautlehre, wenn sie
ihren Beweis auf genaue Art führen wollte, alle normalen und abnormen Er-
scheinungen der Formenlehre vorweg nehmen, oder sie muß wenigstens wegen der
weiteren Belege auf einen späteren Teil der Darlegung verweisen, und das ist
23*
356 E- König,
allemal wenigstens ein formeller Mangel der Darstellung. Drittens aber wird sich
auch in der Praxis des Unterrichts oft gezeigt haben, daß die „Lautlehre" den Fort-
schritt des Erlernens der Sprache mehr unterbricht, als zu ihm gehört. Denn
die Regeln der „Lautlehre" können nicht recht eingeübt werden, da die Kenntnis
der Formenlehre noch fehlt, und gewiss eilt der Unterricht mindestens möglichst
rasch über die Paragraphen dieses Abschnitts der Grammatik hinweg, um schnell bei
der Formenlehre das Gebiet der organischen Entfaltung des Sprachkörpers zu be-
treten.
Aus diesen Gründen ist die „Lautlehre" in ihrer jetzigen Stellung ein Fremd-
körper innerhalb eines wissenschaftlich-praktisch orientierten Systems der Gram-
matik. Nach meiner Ansicht baut sich die Grammatik besser aus folgenden Teilen
auf: Sie gibt in einem ersten Hauptteile eine Lehre von der Schrift und der Aus-
sprache des betreffenden Idioms, und zur Aussprache gehört natürlich auch die
Betonung. — Als zweiter Hauptteil folgt die Formenlehre, wo die Gebilde der
betreffenden Sprache wie Individuen in ihrem Einzelleben und Familienzusammen-
hang vorgeführt werden. Auch sind dabei die Nomina in Flexionsklassen zu
ordnen, sodaß z. B. das Schicksal mancher Endungen, wie der Endung e, in seiner
ganzen Entfaltung an Nominibus von verschiedenster Ableitung veranschaulicht wird.
Denn etwas anderes ist die Lehre von der Nominalderivation und etwas anderes
die Lehre von der Nominalflexion, und so wenig diese beiden Abteilungen der
nominalen Formenlehre z. B. in Kühners großer Griechischen Grammatik zusammen-
geworfen sind, ebenso wenig darf dies im Hebräischen geschehen, und beide Ab-
teilungen sind also von Olshausen und Stade in ihren Lehrbüchern der hebräischen
Sprache mit Unrecht vermischt worden. Es läßt sich bei der Auseinanderhaltung
der beiden Gebiete sogar ein Mittelweg einschlagen, damit die doppelte Vorführung
desselben Stoffes vermieden werde. Nämlich innerhalb der einzelnen nominalen
Flexionsklassen können die Vertreter derselben immer so hintereinander betrachtet
werden, daß die Angehörigen der einfachsten Derivationsklasse vorangehen und
die Vertreter der anderen Nominaltypen folgen. — Als dritter Hauptteil folgt dann
die generelle Gestaltungslehre oder Morphologie. Diese führt ein Dreifaches
vor: a) sie untersucht, wie sich in der betreffenden speziellen Sprache die Idee
als Sprachschöpferin geltend gemacht hat. b) Sie zeigt, wie das Nebeneinander-
ertönen von Konsonanten und Konsonanten, Konsonanten und Vokalen usw. eine
gegenseitige Beeinflussung der Laute verursacht hat. c) Sie weist nach, wie
der Akzent ein wirksamer Faktor im Sprachprozeß gewesen ist. Indem die generelle
Formenlehre aber dies Dreifache vorführt, leitet sie dazu an, einen zusammen-
fassenden Rückblick auf die — hebräischen — Spracherscheinungen zu werfen und
ein tieferes Verständnis der in ihrer Entstehung wirksamen Kräfte zu gewinnen. —
Als vierter Hauptteil endlich folgt die Syntax, deren Disposition keiner Entfaltung
bedarf.
So scheint mir die induktive Seite an den Prinzipien der neueren Sprachwissen-
schaft sich schon bei der allgemeinen Gestaltung und Anordnung des grammatischen
Unterrichts geltend zu machen. Derselbe Einfluß muß aber nach meiner Ansicht
auch noch speziell in einzelnen Partien des Systems der Grammatik wirksam
werden.
Zur Methodik des hebräischen Unterrichts. 357
c) Dies scheint mir zunächst in bezug auf die Vorführung der doppelt un-
regelmäßigen Verba gezeigt werden zu können. Denn auch deren Behandlung
kann nach meiner Ansicht wahrhaft induktiv gestaltet werden. Man braucht nur
die doppelt und dreifach schwachen Zeitwörter allemal erst da zu behandeln, wo
ihre zweite oder auch dritte Schwäche im Laufe der Besprechung der einfach
schwachen Verba erklärt werden kann. Z. B. werden die Verba, die zugleich J<"S
quiescentia und zugleich r\"b sind, richtig als eine Gruppe der doppelt schwachen
n"b besprochen. Denn da ist der Lernende selbst imstande, nicht bloß die erste,
sondern auch die zweite Schwäche dieser Verba in ihrem Einfluß zu würdigen, und
zugleich wird eine erwünschte Gelegenheit geboten, das Wissen von der Behand-
lung der Verba 8<"D quiescentia von neuem zu befestigen. Nach diesem methodischen
Grundsatz wird also nicht nur eine organische Verbindung der mehrfach schwachen
Verba mit den einfach schwachen hergestellt, sondern es wird auch dem Schüler
nicht zugemutet, Sprachformen zu lernen, deren Entstehung er noch nicht nach
ihren einzelnen Bedingungen durchschauen kann.
d) Besonders aber auch der erste Hauptteil des Unterrichts im Hebräischen,
die Besprechung von Schrift, Aussprache und Betonung, verdient es, streng nach
den Forderungen der induktiven Methode geordnet zu werden. Denn gerade die
Grundlegung der Kenntnisse in einem Gebiete ist natürlich nicht nur besonders wichtig,
sondern auch besonders schwierig, aber sie kann wesentlich erleichtert werden, wenn
sie erstens in klarem Fortschritt ohne Vorausnahmen und Wiederholungen und
zweitens so geschehen kann, daß der immer folgende Abschnitt in der voraus-
gehenden Darlegung seine volle Basis besitzt. Einen solchen Gang der Darstellung
aber meine ich ausfindig gemacht und in der vor kurzem erschienenen , Hebräischen
Grammatik für den Unterricht mit Übungsstücken und Wörterverzeichnissen me-
thodisch dargestellt" (Leipzig bei Hinrichs) vorgelegt zu haben. Ich schließe nämlich
an die Paragraphen über Konsonanten und Vokale gleich noch die Regeln über die
Betonung. Denn dann ist die Grundlage vorhanden, um die Offenheit und Ge-
schlossenheit der Silbe zu charakterisieren. Darauf wieder kann die Unterscheidung
der verschiedenen Arten der Seba aufgebaut werden, und damit wird die letzte
Voraussetzung gewonnen, um die Regeln über Dages forte und Dagea lene geben
zu können. Dann endlich kann ein Paragraph über das Qames chatüph die Lehre
vom Lesen des Hebräischen zum Abschluß bringen.
e) Außer diesen vier Punkten, in denen mir der Gang des Unterrichts im Hebräischen
nach den Forderungen der induktiven Methode verbessert werden zu können scheint,
gibt es noch einen Punkt, wo dieser Gang nach meiner Ansicht aus guten Gründen
und mit großem praktischen Nutzen geändert wird. Dies ist die Stelle, wo die
unregelmäßigen oder, wie man ja in den semitischen Sprachen sagt, die schwachen
Verba und Nomina einzureihen sind. Ich schlage vor, hinter der Behandlung
der regelmäßigen (oder „festen") Verba und der von ihnen abgeleiteten Nomina
gleich noch die Zahlwörter und die Partikeln zu besprechen und dann erst die
unregelmäßigen Verba und Nomina folgen zu lassen. Diesen Vorschlag aber mache
ich aus folgenden Gründen.
Zunächst gewinnt man bei Befolgung dieses Unterrichtsganges die Möglich-
keit, bald Übungen auch mit dem flektierten Nomen anstellen zu können, ohne
358 E. König.
daß man sich einer Vorausnahme schuldig macht. Besonders in die Wagschale
fällt sodann, daß durch die erwähnte Anordnung einer der obersten pädagogischen
Grundsätze, immer vom Leichteren zum Schwereren fortzuschreiten, zu seinem
vollen Rechte gelangt. Auch wird durch diese Anordnung des Unterrichtsstoffes
die Gelegenheit, die Flexionsregeln des normalen („starken") Verbs und Nomens
noch einmal in ihrem ganzen Umfange zu repetieren und praktisch einzuüben, zu
einer vollkommenen gemacht. Dies sind wahrscheinHch auch die Gründe, weshalb
dieselbe Disposition des grammatischen Lehrganges, wie ich sie jetzt für den he-
bräischen Unterricht vorschlage, in Lehrbüchern für moderne Sprachen angewendet
wird. Wenigstens weiß ich noch aus lebhafter Erinnerung, daß der sogenannte
„Erste Ploetz" die Konjugation der regelmäßigen Verba darstellte, aber der „Zweite
Ploetz" mit den unregelmäßigen Verba begann.
Jedenfalls läßt sich diese von mir befürwortete Disponierung des Unterrichts
im Hebräischen auch sehr gut mit der Dreizahl der Klassen in Einklang bringen,
die auf den Gymnasien für den Unterricht im Hebräischen bestimmt sind. Denn
die Einübung der Schrift, Aussprache und Betonung, die Erlernung der Pronomina,
des starken Verbums und der von diesem abgeleiteten Nomina samt den Zahlwörtern
und den Grundkenntnissen über die Präpositionen und Konjunktionen dürften ein
in sich abgeschlossenes Pensum für die Obersekunda bilden. Dann folgen die
einfach und mehrfach schwachen Zeitwörter und die von diesen abgeleiteten Nomina
(wieder in fünf Flexionsklassen vorgeführt) samt dem orientierenden Rückblick auf
die Haupterscheinungen der Sprachgestaltung (Assimilation, Ersatzdehnung usw.)
und die in ihnen waltenden Faktoren, zu dem mein Buch in den sechs Paragraphen
der generellen Formenlehre oder Morphologie anleiten will, und dies ist wieder ein
in sich abgerundetes Ganze und das Pensum für die Unterprima. Endlich die
Einübung der Grundlehren der Syntax samt den nunmehr immer dichter einzu-
streuenden zusammenhängenden Lesestücken dürften den größten Teil des Pensums
der Oberprima bilden, bis dann der Übergang zur Lektüre des hebräischen Alten
Testaments selbst erfolgen kann.
Dies sind im wesentHchen die Punkte, in denen mir betreffs der Anordnung
des grammatischen Unterrichts im Hebräischen ein Fortschritt angebahnt werden
zu können scheint.
II.
Eine andere Reihe von Vorschlägen, die ich für die Ausgestaltung des Unter-
richts im Hebräischen machen zu sollen meine, hat es mit den Mitteln zur Ein-
übung des Sprachstoffes zu tun.
a) Zu diesen Mitteln gehört gewiß schon die Leichtigkeit des Hei misch -
Werdens, die das für den Unterricht benützte Lehrbuch ermöghcht. Zur Be-
förderung dieser Leichtigkeit des Sichzurechtfindens und Einheimischwerdens dient
ja selbstverständlich in erster Linie die klare Übersichtlichkeit des Ganges der Dar-
stellung und diese wiederum ist natürlich nicht bloß durch die Art des Aufbaues
der Darstellung bedingt, der im ganzen und einzelnen stets von den Ursachen zu
den Wirkungen und vom Einfacheren zum Zusammengesetzten hinschreiten soll, wie
diese Art des Aufbaues oben in bezug auf mehrere Partien der Grammatik be-
Zur Methodik des hebräischen Unterrichts. 359
sprochen worden ist. Die klare Übersichtlichkeit der Darstellung ist vielmehr auch
durch die Vermeidung von Wiederholungen und durch die strenge Aufeinanderbe-
ziehung oder, noch besser ausgedrückt, Parallelisierung der verwandten Materien
bedingt, sodaß z. B. die Flexion der vom schwachen Verbum abgeleiteten Nomina
genau in ebenderselben Reihenfolge vorgeführt wird, wie vorher die Flexion des
vom starken Verbum abstammenden Nomens. Als ein Mittel, das Heimischwerden
in dem grammatischen Material zu erleichtern, ist aber auch die Verbindung der
Paradigmen mit dem Gange der Darstellung selbst zu betrachten. Denn da
dienen sie nicht bloß an ihrer Stelle dazu, die betreffende Regel zur deutlichsten
Anschauung zu bringen, sondern da werden sie auch ein Mittel, den Lernenden
immer zu der gleichen Stelle im Buche [zurückzuführen. Er weiß dann, wo die
betreffende Sache ein für allemal steht, und jedem ist es wohl aus eigener Er-
fahrung"^bekannt, daß es gar nicht unwichtig ist, in einem Lehrbuch sogar die Stelle
auf der Seite zu wissen, wo ein Gegenstand behandelt ist. Indem die Paradigmen
aber nicht hinter der grammatischen Auseinandersetzung wiederholt werden,
wird der Lernende nur vor dem Hin- und Herblättern bewahrt. Auch das aber ist
ein unverächtliches Mittel, das feste Einwurzeln in den Lernstoff zu befördern.
b) Das soeben berührte Festwerden des Schülers in der Kenntnis des Unter-
richtsgegenstandes, das selbstverständlich das oberste Ziel alles Lehrens bildet, wird
aber beim hebräischen Unterricht, wie beim Erlernen jeder fremden Sprache, ferner
positiv hauptsächlich durch lautes Lernen zuwege gebracht. Das immer wieder-
holte laute Vorsprechen von selten des Lehrers nützt nicht genug. Der Schüler
muß selbst alle zu lernenden Sprachformen unausgestzt laut aussprechen, und wenn
er eine kleine Gruppe oder dann eine lange Reihe zusammengehöriger Sprachformen
gelernt hat, muß er sie immer wieder laut aufsagen. Denn wenn Gehirn und
Sprechwerkzeug und Ohr zusammenarbeiten, entsteht ein so verstärkter Eindruck
auf den Lernenden, daß er ihn leichter und sicherer festhält, als wenn er bloß
psychologisch im Gehirn tätig ist. Nichts empfehle ich daher meinen Hörern in
den Übungsstunden so eindringlich, wie dies, daß sie laut lernen und alles Ge-
lernte laut aufsagen und sich auch dadurch zwingen, ohne Stocken z. B. die
Paradigmata zu reproduzieren. Zu dieser Mahnung füge ich immer, und deshalb
setze ich dies auch hier gleich dazu, den Ratschlag, alles Gelernte zu schreiben.
Schon beim Erlernen des Alphabets beginne ich, diesen pädagogischen Wink zu
geben. Nur mit der Feder in der Hand zu lernen, um jeden Buchstaben
und jede Gruppe von solchen auch sofort schreiben zu können, dies dürfte in der
Tat eine höchst wichtige pädagogische Direktive besonders für den Unterricht in
Sprachen mit einer besonderen Schriftart sein. Es ist ja auch psychologisch ganz
erklärlich, daß, wenn zu den vorher erwähnten drei Faktoren und Kanälen des Ein-
prägens — Gehirn, Sprachorgan und Ohr — nun auch noch das Auge hinzutritt
und aus dem Anblick der geschriebenen Sprachformen noch ein neuer Eindruck
in die Seele strömt, dann die Apperzeption eine um so schnellere und nachhaltigere
werden muß.
c) Natürlich muß das Festwerden des zu lernenden Stoffes auch durch dessen
Einschränkung unterstützt werden, und in der Tat meine ich, die Parole «Wenig,
aber fest lernenl" ausgeben zu können, ohne mich in den Verdacht zu bringen,
360 E. König,
daß ich das Niveau der Schulleistungen herabdrücken oder gar der Trägheit Vor-
schub leisten wolle. Jene Parole dürfte ja schon dann einigermaßen sich als un-
verfänglich und pädagogisch richtig darstellen, wenn sie in der negativen Fassung
„Nicht vieles und das nur unsicher lernen!" auftritt. Jene meine Direktive kann
aber noch auf andere Art empfohlen werden. Denn sie hat zunächst die Absicht,
im Lernpensum die unbedingt erforderlichen und darum unverrückbar fest zu
lernenden Grundlagen bei der Erlernung jeder Sprache und so auch der
hebräischen in den Vordergrund zu rücken. Denn wer z. B. das gewöhnliche
Paradigma der Verba primae gutturalis (oder laryngalis) sicher kann, der besitzt
qualitativ mehr, als wer über das Paradigma nicht fest verfügt, aber von manchen
andern Dingen über diese Verba gehört hat. Sodann will jene meine Parole auch
den Grundsatz zur Geltung bringen, daß der Memorierstoff auch im Hebräischen
auf der ersten Stufe des Unterrichts möglichst auf das Notwendige eingeschränkt
werde. Damit meine ich aber z. B. dies. In erster Linie sollen z. B. beim schwachen
Verbum nur die Gruppen von Verben gelernt werden, die sich nach jaäab und
die sich nach jares (jarah) richten und die den mittleren Stammkonsonanten sich
verdoppeln lassen iyi'\^ jasath) und die in jatab „gut sein' ihr Paradigma besitzen.
Wenn dies bei allen Gruppen der schwachen Verba geschieht, so entsteht schon
ein hinreichend großes Pensum für das Auswendiglernen. Ehe dies Notwendige
ganz bewältigt ist, soll man nicht andere Stoffe zum Auswendiglernen hinzubringen,
und wie gut dies vermieden werden kann, soll gleich im folgenden gezeigt
werden.
d) Bei aller praktischen Einübung der zu lernenden Sprache scheint mir
nämlich dies immer als oberster Grundsatz betont werden zu müssen, daß die in
der Grammatik selbst notwendigerweise darzubietenden Materialien zur
Anwendung zu bringen sind. Die grammatischen Verhältnisse lassen sich ja
auch bei der hebräischen Sprache auch nicht einmal in ihren Grundzügen dar-
stellen, ohne eine gewisse Summe von MateriaHen vorzuführen. Man braucht ja
nur vom Pronomen und Artikel an die einzelnen Redeteile sich zu vergegenwärtigen
und wird zugeben, daß schon der Stoff ziemlich ausgedehnt ist, der bei der Be-
leuchtung dieser Redeteile berührt werden muß. Dieses Material aber nun bei den
praktischen Übungen auch wirklich in allererster Linie zu verwenden, das scheint
mir eine wichtige und noch nicht genug beobachtete Maxime sein zu müssen. Denn
ohne daß Namen genannt werden, darf doch gesagt werden, daß in manchen Übungs-
büchern viel zu viel anderes Material für die Übungen herbeigebracht wird und
so der Schüler mit seinen Gedanken zu sehr von jenem notwendig zu lernenden Stoff
weggelenkt wird. Solches Herbeiziehen von anderem Übungsmaterial ist aber auch
nicht etwa notwendig, um Abwechslung in die Übungen zu bringen. Ich meine
wenigstens, in der oben erwähnten kleinen hebräischen Grammatik gezeigt zu haben,
daß sich ein reichliches Maß von Übungsstücken geben läßt, ohne daß viel anderes
Material verwendet wird, als was bei der grammatischen Darstellung notwendig zu
berühren war.
e) Bei der Darbietung von Übungsstücken meine ich ferner ein wichtiges
methodisches Prinzip in dem Parallelgehen der Übungen mit den Para-
graphen des grammatischen Unterrichts sehen zu müssen. Ich kann kejnen
Zur Methodik des hebräischen Unterrichts. 361',
Vorteil, sondern nur Nachteile für das Erlernen der Sprache darin sehen, wenn in
manchem jetzt vorhandenen Lehrbuch des Hebräischen die Übungsstücke und die
Abschnitte der grammatischen Darlegung sich oftmals auf ihren Wegen kreuzen
und als Fremdlinge nebeneinander herlaufen. Da kann der Lernende nicht zu einem
geschlossenen Eindruck von dem darzubietenden Lernstoff gelangen. Die doppelte
Reihenfolge, die in der Grammatik und im Übungsbuch eingeschlagen wird, be-
schwert und stört vielmehr das Erlernen der Sprache. Ein zwingender Grund,
von der Anordnung des grammatischen Lernstoffs in den Übungsstücken abzu-
weichen, ist aber nicht vorhanden, wie meine langjährige Erfahrung, die in dem.
oben zitierten kleinen Buche niedergelegt worden ist, mir erwiesen hat, und weil
die Abschnitte meines Übungsbuches mit den Paragraphen des theoretischen Teiles
der Grammatik durchaus gleichen Schritt halten, brauchten den Übungsstücken
auch keine sogenannten „Vorbemerkungen" vorangeschickt zu werden, die in
manchem Übungsbuch sich massenhaft finden. Nein, was zur Bewältigung eines
betreffenden Übungsstückes nötig ist, muß der Schüler in dem mit diesem Übungs-
stück gleichlaufenden Paragraphen oder in den vorhergehenden Paragraphen der
Grammatik schon gelernt haben.
Zum Parallelgehen von grammatischer Auseinandersetzung und Übungsstücken
kann methodisch richtig nur die Wiederholung des früher dagewesenen gram-
matischen Stoffes in zusammenfassenden Übungsaufgaben sich hinzugesellen. Aber
ebensosehr, wie das Sichkreuzen der Reihenfolge von theoretischer Darstellung und
praktischem Übungsmaterial, ist auch dies zu vermeiden, daß in den Übungsstücken
solche Teüe des grammatischen Lernstoffs berührt werden, die noch nicht im
Unterricht dagewesen sind. Diese pädagogische Grundregel vollkommen zu
beobachten, ist ja schwer, wie der Blick auf die vorhandene Literatur zeigt, aber
die Durchführung dieser Regel ist doch möglich und muß jedenfalls durchaus er-
strebt werden.
f) Wird aber das Erlernen der hebräischen Sprache, für dessen Erleichterung
im Vorhergehenden mehrfach plädiert worden ist, nicht unnötig erschwert, wenn
bei der Einübung des grammatischen Stoffes auch das Übersetzen aus dem
Deutschen ins Hebräische gepflegt wird? Nein, diese oftmals bei den Lernen-
den begegnende Meinung ist nur auf den ersten Blick berechtigt. Wer die Frage
aber gründlich, und das geschieht wirklich nur an der Hand der Erfahrung, betrachtet,
der wird sie verneinen.
Denn erstens ist das Übersetzen aus dem Deutschen ins Hebräische überhaupt
nicht so schwer, wie es vielen erscheint. Wie sollte es auch schwerer sein, als
das Übersetzen aus dem Deutschen in eine andere fremde Sprache? Zweitens
aber ist dieses Übersetzen insbesondere dann nicht schwer, wenn es nach richtiger
Methode geübt wird. Diese besteht aber bei diesem speziellen Punkte darin, daß
das zu übersetzende Material mit den einfachsten Mitteln gesammelt, d. h. mit
steter Berücksichtigung der fundamentalen Kenntnisse zusammengestellt wird,
die bei dem vorhergehenden grammatischen Unterricht notwendigerweise darge-
boten und vom Schüler angeeignet sein müssen. Die zu übersetzenden Materialien
werden dann gewiß und hauptsächlich beim Beginn der Formenlehre sehr einfach
sein, aber wenn man mit Fleiß sucht, kann man — ich meine, dies aus Erfahrung
362 E. König,
sagen zu dürfen — mehr Abwechslung schaffen, als es auf den ersten Blick
•möglich zu sein scheint. Jedenfalls aber kann — und dies ist das Dritte, was zu-
gunsten der Übersetzungen aus dem Deutschen ins Hebräische bemerkt werden
muß — der Nutzen dieser Übersetzungen gar nicht hoch genug angeschlagen
werden. Die Übertragung eines Satzes aus dem Deutschen ins Hebräische bringt
mehr Gewinn für die Befestigung der Grundkenntnisse in diesem Idiom, als die
Übersetzung von zehn hebräischen Sätzen ins Deutsche.
Dies führt mich darauf, auch ein Wort betreffs der Übersetzungen aus dem
Hebräischen ins Deutsche hinzuzufügen. Da hat nämlich meine ganze Erfahrung,
die ich sowohl bei der eigenen Erlernung fremder Sprachen als auch beim Unter-
richten im Hebräischen gewonnen habe, zu dem Grundsatz geführt, daß während
des Erlernens der Grundlagen einer Sprache, und diese umfaßt doch den größten
Teil des gymnasialen Kursus im Hebräischen, nicht viele hebräische Abschnitte
zu lesen sind. Immer und immer wieder hat sich mir die Überzeugung bewährt,
daß es besser ist, wenig Abschnitte, aber diese bis zur vollen Beherrschung und
gewissermaßen bis zum Auswendiglernen zu traktieren. Denn dann verfügt der
Lernende wirklich über das darin vorkommende lexikalische Material und kann die
Redewendungen, die darin auftreten, überall wieder erkennen. Dann ist er also
durch die Lektüre wirklich in seiner Beherrschung der betreffenden Sprache ge-
fördert. Das ist auch der Grund gewesen, weshalb mein Streben in der schon
oben erwähnten kleinen Grammatik dahin ging, für die Anfangslektüre im Hebräischen
möglichst viel Sätze — Sprichwörter, Fabeln, Gleichnisse usw. — zu wählen, die
auch ihrem Inhalt nach es wert sind, dem Gedächtnis eingeprägt zu werden.
g) So bleibt mir nur noch übrig, über die praktische Einübung des Teiles der
grammatischen Darlegung zu sprechen, bei dessen Einübung es sich füglich noch
nicht um Übersetzen handeln kann. Dies aber ist die Anfangspartie des
grammatischen Kursus, und über die Art, wie ich mir deren praktische Einübung
denke, will ich um so weniger schweigen, als sie bekanntlich und naturgemäß die
schwierigste ist. Um aber auch diese Partie in ihrem methodischen Aufbau, wie
er oben (Nr. I, d) skizziert worden ist, praktisch einüben zu können, bringe ich
erstens den oben erwähnten Grundsatz, alles Gelernte auch schreiben zu lassen,
bei der Anfangspartie — wie ich denke, naturgemäß — am stärksten zur Anwen-
dung. Sodann suche ich auch bei dieser Partie das Prinzip zur vollen Durch-
führung zu bringen, daß bei der praktischen Einübung gerade die Materialien,
welche im theoretischen Unterricht besprochen werden, auch in allererster Linie be-
rücksichtigt werden sollen. Deshalb lasse ich z. B. die Buchstabennamen, die
vom Lehrbuch nur in deutscher Transkription gegeben sind, in hebräischen Buch-
staben mit dazwischen gesetzten deutschen Vokalen schreiben, so lange die he-
bräischen Vokalzeichen noch nicht dagewesen sind, usw. Natürlich findet reich-
liches Material zum Einüben sich wieder z. B. da, wo der Ziffernwert der hebräischen
Buchstaben zur praktischen Einübung gelangt. Ferner ist auch das Buchstabieren
der geschriebenen hebräischen Worte ein treffliches Mittel, um die toten Zeichen
lebendig zn machen. Endlich sind auch das Rückübersetzen und das Fragestellen
4er Schüler untereinander, wobei sie natürlich sich gegenseitig an Scharfsinn über-
bieten wollen, noch Mittel, um auch in diesen Anfangsstunden des hebräischen
Zur Methodik des hebräischen Unterrichts. 363
Unterrichts, die leicht sich etwas starr gestalten, doch den erquickenden Pulsschlag
des Lebens zu erwecken.
Doch genug nun der Andeutungen! Diese wenigen Sätze aber über die Ge-
danken niederzuschreiben, mit denen ich die Methodik des hebräischen Unterrichts
an einigen Punkten fördern zu können meine, war mir endlich ein Bedürfnis ge-
worden. Ist doch die Erforschung der hebräischen Sprache und ihre Stellung inner-
halb des Semitischen überhaupt eines der beiden Gebiete, denen die Arbeit meines
Lebens gegolten hat und gilt. Wie also sollte es mir nicht am Herzen liegen, wo-
möglich etwas dazu beizutragen, daß der Zugang zu dieser Sprache und dann zu-
gleich zum althebräischen Schrifttum erleichtert werde?
Bonn. Ed. König.
k
iL Programmabhandlungen. 1908.
Zum deutschen Unterricht.
stiller, Otto, J. J. Volkmann, eine Quelle für Goethes Italienische
Reise. Mit einer Wiedergabe von Guercinos „Petronilla". Berlin, Gymnasium
zum grauen Kloster. Prog.-No. 63.
Das Buch, das Goethe sowohl während seiner Reise nach Italien als auch
später bei der Ausarbeitung seines Reiseberichts am häufigsten zu Rate gezogen
hat, war die erste Aullage des dreibändigen Werkes „Historisch-kritische Nach-
richten von Italien" von Johann Jakob Volkmann, Leipzig 1770/71. Das von ihm
benutzte Exemplar ist noch vorhanden. Goethe nennt den „guten, trocknen", an
anderer Stelle „ehrlichen" Volkmann wiederholt, aber auch da, wo er auf diesen
seinen ,Bädeker" nicht ausdrücklich Bezug nimmt, zeigt er sich vielfach von ihm
beeinflußt. Stiller hat nun diese — schon in den Ausgaben von Düntzer und
Weber in Einzelheiten belegten — Beziehungen zwischen Goethe und Volkmann
zum Gegenstand einer zusammenhängenden Untersuchung gemacht, die uns einen
anziehenden Einblick in Goethes Arbeitsweise gestattet und zudem beweist, daß
manches, was uns in Goethes Beurteilung der italienischen Kunstwerke befremdet,
auf Volkmann zurückgeht. Die Frage, ob Goethe bei der Redaktion seiner Tage-
bücher und Briefe sich stets die Mühe gemacht habe, die Angaben Volkmanns,
die er in sein Werk aufnahm, auf ihre Richtigkeit zu prüfen, glaubt Stiller ver-
neinen zu müssen. Nun, daß Goethe im Anschluß an Volkmann die Maße des
Salone zu Padua bedeutend zu hoch gegriffen hat u. a. m., wird man ja zugeben
müssen. Ob er sich dagegen samt Volkmann geirrt hat, wenn er meint, auf dem
Bilde des Guercino werde der Leichnam der heiligen Petronilla aus dem Grabe
gehoben — Stiller behauptet, er werde in das Grab gelegt — , das ist doch wohl
noch zweifelhaft. Stiller tut recht daran, die Legende von der heiligen Petronilla
zur Aufklärung der Sache heranzuziehen. Sie berichtet aber, Petronilla sei schon
vor Ablauf der dreitägigen Bedenkzeit, die ihr der ungestüme Flaccus gewährt
hatte, nämlich „am dritten Tage in der Frühe" nach Empfang der heiligen Kom-
munion sanft entschlafen. Wie nun, wenn sie alsbald bestattet worden ist? Wenn
der später eintreffende Flaccus, fest überzeugt, man habe es darauf abgesehen, ihn
zu täuschen, erst durch den Augenschein belehrt werden konnte? Der Künstler hätte
dann den Augenblick dargestellt, in dem die Leiche bis zum oberen Rande der Gruft
P. Geyer, Zum deutschen Unterricht. 365
heraufgezogen wird, um dann sogleich wieder — auf des erschütterten Flaccus
Geheiß — hinabgelassen zu werden. Vielleicht läßt sich eine Fassung der Legende
ermitteln, die zu dieser Erklärung stimmt.
Kurschat, Alexander, Goethes »Italienische Reise" im deutschen
Unterricht der Prima. Tilsit, KönigHches Gymnasium. Prog.-No. 17.
Die lehrreiche Arbeit verbreitet sich über die — nicht immer durchweg zu-
stimmende — Beurteilung, die die I. R. bei Literarhistorikern und Kunstrichtern
(Boisseree, Lewes, Hermann Grimm, Borinsky, Bielschowsky) gefunden hat, geht
auf die Entstehung und die Darstellungsweise des Werkes ein und empfiehlt unter
Berufung auf Laas, Hermann Schiller und Goldscheider und in mehr oder weniger
scharfem Gegensatze zu Apelt, Rud. Lehmann und Paul Cauer die möglichst un-
verkürzte Lektüre in Prima. Ob sich das tun läßt, ohne andere, gleich wichtige
oder noch wichtigere Aufgaben des deutschen Unterrichts ungebührlich in den
Hintergrund zu drängen? — Zum Schluß werden 15 Themen zu schriftlicher oder
mündlicher Bearbeitung samt den dazu gehörigen Stoffquellen mitgeteilt. — Eine
höchst wertvolle Ergänzung zu Kurschats warmherziger Apologie der Italienischen
Reise bildet der Aufsatz, den J. Ziehen im Pädag. Archiv, 1908, 11. Heft, unter
dem Titel: „Richtlinien zur Behandlung von Goethes Italienischer Reise in den
Oberklassen der höheren Schulen" veröffentlicht hat. Ziehen tritt im Unterschiede
von Kurschat für eine Auswahl des zu Lesenden ein. Auf diesem Standpunkte
stehen u. a. die Schulausgaben der Italienischen Reise von Nöldeke (Velhagen u.
Klasing), Freericks (Aschendorff) und von Ziehen selbst (L. Ehlermann).
Hasenclever, Goethes Pädagogik im Wilhelm Meister. Hagen i. W.
Oberrealschule. Prog.-No. 495.
Ich bin kein Freund von aufdringlicher Systematik, aber ich meine, der Leser
wäre dem Herrn Verfasser dankbar gewesen, wenn er das bunte Vielerlei dieser
an sich höchst wertvollen pädagogischen Gedanken unter bestimmte, deutlich her-
vortretende Überschriften gebracht hätte. Also etwa: Allgemeine Erziehungsgrund-
sätze; die einzelnen Fächer: Religion, Geschichte, Sprachen usw.; Knabenerziehung;
Mädchenerziehung usw. Das hätte denn doch die Übersichtlichkeit und damit den
Nutzen dieser sorgsamen Feststellungen beträchtlich erhöht.
Cleve, Carl, Ein Beitrag zur Behandlung von Goethes Gedicht
Mahomets Gesang in unsern höhern Schulen. Schwedt a. O., Hohenzollern-
Gymnasium. Prog.-No. 101.
Verfasser will eine sachliche Erläuterung der Goetheschen Allegorie in der
Form eines Schüleraufsatzes bieten, dessen Thema lautet: „Der Lauf eines großen
Stromes, ein Bild der Entwicklung, Wirksamkeit und Bedeutung großer, epoche-
machender Persönlichkeiten." Mit Rücksicht auf die allgemein menschliche Be-
deutung der Allegorie ist Mohammed durch andere Gestalten ersetzt worden, die
unserer deutschen Jugend näher stehen als der Begründer des Islams. Ich bin der
Meinung, daß eine Umschreibung gleich der hier gebotenen, in diesem Falle eine
amplificatio, das Gedicht in der Tat besser erklärt, als es die genaueste Gedanken-
zergliederung tun könnte.
366 P- Geyer,
Ludwig, Albert, Schiller und das erste Dezennium des neunzehnten
Jahrhunderts. Lichtenberg bei Berlin, Realprogymnasium i. E. nebst Real-
schule i. E. Prog.-No. 126.
Die lichtvolle und anziehende Darstellung macht uns an der Hand eines
reichen Quellenmaterials mit der Aufnahme bekannt, die Schillers Schöpfungen —
vergleichsweise auch die von Goethe und anderen — bei seinen Zeitgenossen ge-
funden haben. Das Verhältnis der romantischen Bewegung zu Schiller ist aus Raum-
mangel vorerst unerörtert geblieben. Die Abhandlung stellt überhaupt bloß das
einleitende Bruchstück dar zu einer umfangreichen Geschichte des Nachlebens
Schillers in seinem Volke, die Ludwig unter dem Titel „Schiller und die deutsche
Nachwelt" inzwischen veröffentlicht hat. (vgl. die Besprechung dieses Buches von
A. Matthias 1909, S. 210 ff. dieser Monatschrift.)
Sänger, Wallensteins Lager. Eine Erläuterung für Schüler der Ober-
klassen. Öls, Königl. Gymnasium. Prog.-No. 266.
Inhalt: Prolog (Gedankengang, Gliederung), Erläuterung von , Wallensteins
Lager", Zusammenfassende und wiederholende Betrachtung (Die Charaktere, Das
„Lager" als Exposition, Haupthandlung und Nebenhandlung, Ästhetische Würdi-
gung des „Lagers"). Verfasser hat die Arbeiten von Bellermann, Frick, Bult-
haupt u. a. benutzt und will dem Schüler „in der für ihn geeignetsten Form,
nämlich vermittels Frage und Antwort, ein Verständnis des Lagers im Sinne der
preußischen Lehrpläne vermitteln". Ganz schön, ich möchte aber dringend davor
warnen, diese Katechese auf gar zu selbstverständliche Dinge auszudehnen, eine Ge-
fahr, die hier nicht immer ganz vermieden ist, wie mich deucht.
Warncke, Zur Behandlung von Schillers Braut von Messina. Myslo-
witz, Gymnasium. Prog.-No. 262.
Warncke nimmt zwischen den Erklärern, die in der Braut von Messina eine
reine Schicksalstragödie sehen, und denen, die das Drama für eine reine Charakter-
tragödie halten (besonders Ernst Bergmann, Braunschweig 1906, Prog.-No. 859;
vgl. meine Anzeige Monatschr. 1907, S. 439) eine vermittelnde Stellung ein, im
Sinne von Kühnemann, Primer (Programm des Kaiser -Friedrichs -Gymnasium zu
Frankfurt a. M. Ostern 1905) und O. Harnack. Danach ist die Braut von
Messina als Schicksalstragödie zu bezeichnen, wenn auch nicht als Schicksals-
tragödie nach der Art des König Ödipus. Vielmehr hat Schiller den eigen-
artigen Versuch gemacht, die Schicksalsidee der Alten im Geiste unserer Zeit um-
zubilden, d. h. neben der Bedingtheit des menschlichen Handelns (dunkle Triebe,
Verhängnis) die aus dem Charakter entspringende volle Verantwortlichkeit fest-
zuhalten, Schuld und Schicksal miteinander zu verknüpfen. — Ziel und Einheit
der Handlung sieht Verfasser in dem greuelvollen Untergange des Fürstenhauses,
ihren Mittelpunkt in der Fürstin Isabella. — Die Programmabhandlung von Warncke
ist neben der obengenannten von Bergmann allen zu empfehlen, die sich mit diesen
schwierigen Fragen und der dazu gehörigen Literatur bekannt machen wollen.
Tieffenbach, Richard, Dispositionen zu einigen ästhetischen Ab-
handlungen Schillers. Königsberg i. Pr., Königliches Wilhelmsgymnasium.
Prog.-No. 7.
Sachverständige Gliederung und gedrängte Gedankenübersicht zu: 1. Die Schau-
Zum deutschen Unterricht. 357"
bühne als eine moralische Anstalt betrachtet. 2. Was heißt und zu welchem Ende
studiert man Universalgeschichte? 3. Vorrede zur Geschichte des Malteserordens.
4. Über Anmut und Würde. 5. Über das Pathetische. 6. Über die ästhetische
Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Urtext. I — VI. Brief. 7. Über
den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten. VI. Brief, Schluß. VII. Brief.
Verfasser bekennt sich mit großer Entschiedenheit zu der Ansicht, daß die
Frage: Was ist tragisch? nur im Anschluß an die Definition des Aristoteles bzw.
an das Handbuch der Poetik von Hermann Baumgart richtig beantwortet werden
könne. Er hält es demnach für verfehlt, daß sich die Lesebücher von Muff und
Spieß in dieser Frage immer noch an G. Freytag, Technik des Dramas, anschließen.
Sei dem, wie ihm wolle. Nur darin möchte ich ihm hier widersprechen, daß es
, nicht ratsam" sei, Schillers Abhandlung »Über den Grund des Vergnügens an
tragischen Gegenständen" und „Über die tragische Kunst" in der Schule zu be-
handeln. Mag doch jeder Lehrer, gleichviel ob er es mit Hebbel, Bernays,
Baumgart, Volkelt oder sonst wem hält, seinen Anschauungen bei der Lektüre
Ausdruck geben! Lessings Prosaschriften sind ja auch noch nicht auf den Index
gesetzt, so zahlreich auch die Punkte sind, in denen eine sachliche Berichtigung
nötig erscheint. Also weg mit dem Sperrbaum und der Warnungstafel! — Zum
Schluß noch ein Wort in eigener Sache. Tieffenbach schreibt: E. Grosse hat in
den Programmen unserer Anstalt und in den sieben bei Weidmann (Berlin 1902
und 1903) erschienenen Heften „Zum deutschen Unterricht" das Beispiel gegeben
mit der vorbereitenden Bearbeitung der Begriffe des Erhabenen und des Schönen.
P. Geyer geht auf demselben Wege weiter usw. Ich bemerke, daß ich es an und
für sich als durchaus unbedenklich, ja als rühmlich betrachten würde, in die Fuß-
stapfen eines so feinsinnigen Erklärers wie Grosse zu treten, möchte aber doch
feststellen, daß mein Kommentar zu den philosophischen Abhandlungen Schillers
durch Grosse? Veröffentlichungen in keiner Weise beeinflußt oder angeregt wor-
den ist. Die erste Ausgabe desselben ist übrigens schon 1896 u. 1898 bei Weid-
mann erschienen, was Tieffenbach entgangen zu sein scheint.
Baumgarten, Der einzelne und die Masse bei Schiller. Magdeburg,
Realschule. Prog.-No. 349.
Die verhältnismäßig kurze, aber trefflich geschriebene Abhandlung empfiehlt
sich schon dadurch, daß sie sich auf Pfaden bewegt, die noch nicht gar zu oft
begangen sind. Sie bespricht 1. Die Bedeutung der Masse in Schillers Gedanken-
welt. 2. Die Rolle, welche die Masse in Schillers Dichtung spielt. 3. Die Technik
der Massenbeherrschung. 4. Der einzelne und die Masse im „ Wallenstein. " —
Übrigens hätte vielleicht die Programmschrift von K. Hißbach, die geschichtliche
Bedeutung von Massenarbeit und Heroentum im Lichte Goethescher Gedanken
(Eisenach, O. 1907, Prog.-No. 847; angezeigt in der Monatschrift 1908, S. 369)
mit Vorteü benutzt werden können.
Ideler, Rudolf, Zur Sprache Wielands. Sprachliche Untersuchungen
im Anschluß an Wielands Übersetzung der Briefe Ciceros. Torgau,
Gymnasium. Prog.-No. 327
Die wertvolle Untersuchung bezieht sich auf die beiden ersten Bände der
fünfbändigen Ausgabe der Briefe vom Jahre 1814 (Stuttgart, A. F. Macklot) und
368 P- Geyer,
behandelt nach einem Abschnitt, der die „Übersetzungsmethode" Wielands an Bei-
spielen veranschaulicht, , Lauteigenheiten " sowie „Wort- und Satzlehre". Die
Arbeit will einen Beitrag zur Charakteristik der Wielandschen Sprache geben, vor
allem aber feststellen, „inwieweit diese Sprache in seiner Ciceroübersetzung von
der heutigen Schriftsprache abweicht." Das ist insofern schwierig, als der Be-
griff Schriftsprache nichts unbedingt Feststehendes bedeutet. Verfasser hat dem-
nach auch solche Ausdrucksweisen verzeichnen zu müssen geglaubt, die heute
zwar nicht allgemein gebräuchlich, aber doch selbst bei anerkannt guten Schrift-
stellern vielfach zu belegen sind. Wer in der Umgangssprache und den Mund-
arten die Quellen sieht, aus denen die Schriftsprache immer wieder schöpfen muß,
der wird ja die Grenzen des sprachlich Zulässigen erheblich weiter ziehen als
mancher unserer grammatischen Gesetzgeber.
Brüggemann, Joseph, Ludwig Tieck als Übersetzer mittelhoch-
deutscher Dichtung. Trier, Königl. Kaiser Wilhelms -Gymnasium mit Real-
gymnasium. Prog.-No. 614.
Die Einleitung dieser ebensowohl gründlichen wie anziehenden Abhandlung
macht uns zunächst mit den Widerständen bekannt, die die Neubelebung des
deutschen Altertums bei Gelehrten und Laien gefunden hat, und würdigt sodann
die Schwierigkeit des Unternehmens, ohne Vorarbeiten, auf Grund eines mühsamer!
Selbstudiums altdeutsche Dichtungen einerseits richtig und anderseits in gemein-
verständlicher, gefälliger Form zu übertragen. Dieser Aufgabe ist Tieck trotz seines
ehrlichen Strebens nicht gewachsen gewesen. Erscheint sich „die meiste Wirkung
von einer sklavisch-wortgetreuen Kopierung der sprachlichen Eigentümlichkeiten"
versprochen zu haben und verwendet daher, wie Verfasser in genauen, übersicht-
lich geordneten Zusammenstellungen nachweist, eine Menge von veralteten und
ausgestorbenen Laut- und Flexionsformen, Worten, Redewendungen und Kon-
struktionen. Trotz alledem sind wir Tieck „für die Förderung, die er der alt-
deutschen Literatur in so reichem Maße hat zuteil werden lassen, noch heute Dank
schuldig", wenngleich seine Übersetzungen nur noch historische Bedeutung be-
sitzen.
Möller, Hans, Hebbel alsLyriker. Cuxhaven, Höhere Staatsschule. Prog.-
No. 950.
Unter den Vorarbeiten, die Verfasser benutzt hat, steht R. M. Werners historisch-
kritische Ausgabe von Hebbels Werken sowie dessen Werk „Lyrik und Lyriker"
in erster Reihe. Die Untersuchung erörtert zunächst den Einfluß, den Uhland
und Heine, vor allem aber Goethe (in Hinsicht auf Vorwurf, Metrum, Wortschatz)
auf Hebbels lyrische Gedichte geübt haben, und behandelt sodann ihre Ent-
stehungsweise, Inhalt und Form, Hauptthemen und oft wiederkehrende Motive.
Auf Balladen, Romanzen und Epigramme wird nicht eingegangen. Dagegen wird
Hebbels Theorie vom Wesen der Lyrik und des Schönen überhaupt berührt.
Hier hätten Schillers Ansichten zum Vergleich herangezogen werden können.
Die Verwendung der Ausdrücke „Stoff" und „Form" u. a. m. weist jedenfalls auf
Schiller zurück. Zum Schluß wird die Frage beantwortet, welche stofflichen und
formalen Gesichtspunkte den Dichter bei der endgültigen Auswahl seiner Ge-
dichte geleitet haben.
Zum deutschen Unterricht. 369
Biese, Alfred, Zur Behandlung Mörikes in Prima. Neuwied, Königl.
Gymnasium. Prog.-No. 601.
Kurze, aber höchst beachtenswerte, feinsinnige Darstellung, die uns mit dem
Lebenslauf des Dichters bekannt macht, ihn im Rahmen der Literaturbewegung
seiner Zeit betrachtet, vor allem aber das Verständnis für die Eigenart seiner
Lyrik — unter anderm auch durch Vergleiche mit Heine, Uhland, Rückert, Platen,
Hebbel, Keller, den Romantikern und besonders Goethe — zu erschließen sucht.
Eingehend behandelt wird auch der Roman „Maler Nolten". Unter den Heutigen
ist kaum einer so zeitig für Mörikes Größe eingetreten wie Alfred Biese, hat er
doch schon im Jahre 1884, also vor 25 Jahren, einen Aufsatz über „Eduard
Mörike und Theodor Storra" veröffentlicht, und wenn neuerdings Mörikes Be-
deutung immer mehr, allmählich auch in den Kreisen der Schule, anerkannt wird,
so ist das nicht zum wenigsten sein Verdienst. Seine hier angezeigte Programm-
abhandlung bietet übrigens mehr, als der Titel verspricht. So macht er, fest über-
zeugt, daß wie Goethe, Schiller und Uhland, so auch Mörike den Schüler von den
unteren bis zu den oberen Klassen begleiten müsse, dankenswerte Vorschläge für
die Verteilung der Gedichte auf die einzelnen Stufen, und gibt schließlich einen,
wie mich dünkt, erschöpfenden Bericht über die Berücksichtigung, die Mörikes
Lyrik bisher in den deutschen Lesebüchern für höhere Schulen und in Anthologien
gefunden hat.
Riehemann, Joseph, Erläuternde Bemerkungen zu Annette von Droste-
Hülshoffs Dichtungen. III. Teil. Meppen, Königl. Gymnasium. Prog.-No. 403.
Verfasser gibt Sach- und Worterklärungen — nicht selten im Widerspruche zu
Kreiten und anderen — zu einzelnen Versen oder Strophen des Zyklus „Das geist-
liche Jahr", der „ Heidebilder " usw. Den Schluß der Arbeit bildet eine Betrachtung
des erst 1905 veröffentlichten Gedichtes „Des Arztes Tod' und der Nachweis, daß
der von H. Cardauns behauptete Zusammhang des Gedichtes mit dem größeren
epischen Gedicht „Des Arztes Vermächtnis" höchstens rein äußerlich ist. — Der
I. und II. Teil der Erläuterungen sind bereits 1896 und 1898 in den Jahresberichten
des Königlichen Gymnasiums zu Osnabrück erschienen.
Wiedenhöfer, Joseph, Maria Lenzen geb. di Sebregondi. Ausgewählte
Gedichte. Aus ihrem handschriftlichen Nachlaß mit einer Lebensbeschreibung her-
ausgegeben. Dorsten, Gymnasium. Prog.-No. 449.
Dem Äußern nach keine Programmschrift der üblichen Art, sondern ein
vornehm ausgestattetes, mit Abbildungen geschmücktes Buch, das der Stadt
Dorsten gewidmet ist. Ein Denkmal der Pietät, das Dorstener Heimatssinn einer zwar
nicht weltberühmten, aber doch immerhin hervorragenden Tochter der kleinen
Lippestadt, der am 11. Februar 1882 verstorbenen Dichterin Maria Lenzen, er-
richtet hat. Wir erhalten ein äußerst ansprechendes Bild von der Persönlichkeit
und dem anspruchslosen, von deutscher Gemütstiefe und schlichter Frömmigkeit
erfüllten literarischen Schaffen dieser Frau, die ja an ihre Landsmännin Annette
von Droste-Hülshoff nicht heranreicht, aber doch wohl größere Beachtung verdient,
als ihr Kritik und Publikum bisher gezollt haben.
Monatschrift I. höh. Schulen. Vllf. Jhrg. 24
370 P. Geyer,
lltz, Johannes, Über Wilhelm Raabes Weltanschauung. Stettin, Stadt-
gymnasium. Prog.-No. 198.
Ein Herz, das für das Leid des Mitmenschen und zumal für die stillen
Schmerzen und Sorgen der Kleinen, Armen und Bedrückten das zarteste Ver-
ständnis besitzt, anderseits aber auch empfänglich ist für die Freude an der Natur,
an der Heimat, für den Segen der Arbeit, für das Glück des Nächsten, der Volks-
genossen: solch ein Herz hat jene tapfere Lebensbejahung, jenen gesunden Humor
geboren, der uns in Raabes Schriften überall entgegentritt. Die prächtige Dar-
stellung von lltz sei allen empfohlen, die Raabe kennen oder ihn erst noch näher
kennen lernen wollen.
Adrian, Gerhard, Beiträge zur Würdigung der Nibelungendichtung.
Dortmund, Städtisches Gymnasium. Prog.-No. 45L
Der erste von den beiden Hauptteilen dieser scharfsinnigen, von voller Be-
herrschung des spröden Stoffes zeugenden Untersuchung ist betitelt: „Die wichtigste
Umformung der Sage im ersten Teile des Nibelungenliedes". Hier wird in ein-
gehender Erörterung der Standpunkt begründet, daß die zahlreichen Widersprüche
und Unebenheiten, die uns im Nibelungenliede entgegentreten, „fast alle durch
die Modernisierung des Stoffs d. h. durch die Einkleidung der alten Sage in die
Formen höfischen Rittertums und des Minnedienstes ihre Erklärung finden." Die
ungünstigen Wirkungen dieser Umgestaltung erstrecken sich nicht bloß auf die
Handlung, genauer auf die dramatisch wirksame Aufeinanderfolge und Motivierung
der einzelnen Ereignisse, sondern auch auf die Charaktere. Daher schreibt sich
vor allem auch das Unsichere, Schwerverständliche im Charakter Hagens, dieses
„Haupthelden" des Nibelungenliedes, das durch ihn „die Tragödie des wilden,
leidenschaftlichen, selbst vor Verbrechen nicht zurückschreckenden Ehrgeizes" ge-
worden ist. — Der zweite Hauptteil der Arbeit gilt dem Thema: „Der dramatische
Aufbau der Handlung des Nibelungenliedes als Grundlage einer Volks- und Schul-
auswahl." Daß die Dichtung dramatisch-tragischen Charakter besitzt, ist ja un-
bestreitbar. Es fragt sich nur, ob sie nach der dramatischen Seite hin als ein
Ganzes zu erfassen ist, oder ob es sich empfiehlt, jeden der gegebenen beiden
Teile, Siegfrieds Tod und Kriemhildens Rache, für sich allein nach den Gesetzen
der dramatischen Technik zu bearbeiten. Adrian] hat sich aus guten Gründen für
das letztere Verfahren entschieden und gliedert jedes der beiden „Dramen" in
zehn Teile, bemüht, „die einzelnen Teile nach ihrer dramatischen Bedeutung her-
auszuheben, die zahlreichen wilden Triebe zu beschneiden und nur das Kernholz
beizubehalten". — Zum Schluß wird eine, wie mir scheint, wohlgelungene Über-
setzungsprobe der ersten Aventiure gegeben. Vivant sequentia!
Bernays, Ulrich, Die Sage vom großen König Alexander für die
Jugend erzählt von Adolf Ausfeld. Aus dem Nachlaß des Verfassers her-
ausgegeben. Lörrach, Großherzogliches Gymnasium. Prog.-No. 804.
Ausfeld hat sich in dieser, hier zum erstenmal veröffentlichten, Bearbeitung
der Alexandersage eng an Pseudokallisthenes bzw. an Julius Valerius und den
Archipresbyter Leo, also an die ursprüngliche Fassung der Sage angeschlossen;
nur die Erzählung von den Blumenmädchen ist dem Alexanderlied des Pfaffen
Lamprecht entnommen. Die Auswahl des Stoffes ist mit Rücksicht auf die Jugend
Zum deutschen Unterricht. 371
getroffen. Der Ausdruck trifft den schlichten Ton des Märchenerzählers und ist
überall glatt und ansprechend. Die Herausgeber von deutschen Lesebüchern
werden meines Erachtens gut daran tun, aus dieser Quelle zu schöpfen.
Oüthling, Otto, Schlesische Kirchenliederdichter. Liegnitz, Stadt.
Gymnasium. Prog.-No. 261.
Verfasser hat sich der dankenswerten Mühe unterzogen, 51 schlesische Kirchen-
liederdichter nebst kurzen biographischen Mitteilungen und den Anfängen der be-
kanntesten Lieder in alphabetischer Ordnung zusammenzustellen. Die be-
deutendsten unter ihnen, Angelus Silesius, Schmolck und Rothe, werden
ausführlicher behandelt.
Jaffe, Siegfried, Die Vaganten und ihre Lieder. Berlin, Lessing-Gym-
nasium. Prog.-No. 73.
Eine gelehrte, auf reiches Quellenmaterial gestützte, dabei sehr anschauliche
Darstellung, jedem zu empfehlen, der sich mit der alten und nicht ganz unrühm-
lichen Geschichte jenes Künstlertums bekannt machen will, das sich in vielfach
verschlechterter Auflage heute noch auf Landstraßen und Jahrmärkten zur Schau
stellt. Die historische Einleitung behandelt zunächst das Verhältnis zwischen den
mittelalterlichen Spielleuten, den Nachfahren der römischen mimi, und ihren vor-
nehmeren Brüdern, den gelehrten, lateinisch dichtenden „Vaganten". Weiterhin er-
halten wir über die Anfänge, die örtliche und zeitliche Verbreitung, die Existenz-
bedingungen und Lebensanschauungen dieses Vagantentums Auskunft, desgleichen
über Stoff und Form der Vagantenlieder. An einer Auswahl systematisch ge-
ordneter Beispiele werden charakteristische Stil- und Kunstmittel (Tropen und
Figuren) sehr eingehend erläutert. Daran schließt sich eine Zusammenstellung
von Zitaten aus der Bibel und römischen Schriftstellern. Endlich werden noch
zwei Themen sorgfältig erörtert, erstens die Frage: Wie ist die Überlieferung der
Vagantendichtungen beschaffen, und welche Handschriften stehen uns zu Gebote?
und zweitens: Was läßt sich von dem Leben und den Werken einzelner Vaganten-
dichter eruieren? Den Löwenanteil an diesem Schlußkapitel haben die beiden
Dichterfürsten, wollte sagen Vagantenfürsten, der Archipoeta und Walter von
Chätillon, erhalten, die nach Jaffe unmöglich identisch sein können, wie andere
vor ihm behauptet haben.
Qombert, Albert, Beiträge zur deutschen Wortgeschichte. Breslau,
Königl. König Wilhelms-Gymnasium. Prog.-No. 24L
Verfasser sucht bei 38 Worten und Redensarten, die (wie Hygiene, Geniezeit,
Schicksalstragödie, Neue Ära) zum Teil als wissenschaftliche Kunstausdrücke ge-
braucht werden, das erste Auftreten, hier und da auch den Wandel der Bedeutung
nachzuweisen, soweit dies in unseren Wörterbüchern oder sonstwo noch nicht aus-
reichend geschehen ist. Wichtig für weitere Kreise, besonders für Geschichtslehrer
ist die unumstößliche, aktenmäßige Feststellung, daß die Benennung „König in
Preußen" durchaus keinen staatsrechtlichen Unterschied von dem „König von
Preußen" zum Ausdruck bringen sollte, sondern einfach dem damaligen Sprach-
gebrauch entsprang, und daß erst unter dem 7. Juli 1797 die preußischen Ver-
treter bei den fremden Höfen von Berlin aus angewiesen worden sind, fortan den
nunmehr allein üblich gewordenen Titel „König von Preußen« zu gebrauchen.
24*
372 P- Geyer,
Holzgraefe, Wilhelm, Das grammatische Geschlecht der Fremdwörter
und fremden Wörter im heutigen Sprachgebrauch. Hamburg, Real-
gymnasium des Johanneums. Prog.-No. 953.
An hunderten von Beispielen, bei denen, wenn nötig, der Fundort angegeben
ist, wird die Tatsache erhärtet, daß in der Geschlechtsbezeichnung nichtdeutscher
Wörter selbst bei Gebildeten zurzeit eine schier unerträgliche Wirrnis zu beob-
achten ist. Verfasser hält alle, sei es instinktiven oder bewußten, Versuche, heute
noch das Geschlecht fremdsprachlicher Ausdrücke dem deutschen Gebrauche mit
Rücksicht auf Klangfarbe oder Bedeutung anzugleichen, für völlig unberechtigt
und will in allen irgendwie noch zweifelhaften Fällen das ursprüngliche Geschlecht
festgehalten wissen. Man kann dieser Forderung im allgemeinen zustimmen, wird
aber doch wohl hier und da dem Usus oder auch Abusus; größere Zugeständ-
nisse machen müssen, als Holzgraefe zugeben will. So ist z. B. die Ossa, die
Ida, der Rhone kaum noch zu retten, eher noch die Peloponnes. Und schließ-
lich: was verschlägt's?
Wirth, Hermann, Gedankengang zur deutschen Etymologie. Tauber-
bischofsheim, Großherzogl. Gymnasium, Prog.-No. 809,
Die „Indogermanische Sprachbeziehungen " betitelten Programmschriften dieses
fleißigen und kenntnisreichen Wortforschers (I. Teil Bruchsal, Ost. 1905, II. Teil
Donaueschingen, Ost, 1906) sind bereits im V. und VI. Jahrgang der Monatschrift an-
gezeigt worden. In di es er Arbeit sind eine Reihe deutscher Wörter nach Bedeutungs-
gruppen behandelt: Deutsche Tiernamen im Lichte der Sprachvergleichung; Zur
Geschichte deutscher Baum- und Pflanzennamen; Namen von Körperteilen; Geräte,
Werkzeuge usw.; Verben der Bewegung. — In allen diesen Gruppen kommt der
Begriff der „Krümmung", dessen Wirksamkeit überdies noch in einem besonderen
Abschnitte nachgewiesen wird, zur Verwendung. Außer dem Sanskrit wird überall,
wo sich das tun läßt, Latein und Griechisch zur Erklärung herangezogen.
Wirth, Philipp, Die Rechtschreibung der Straßennamen und Geschäfts-
aufschriften in Straßburg. Straßburg i. E., Oberrealschule bei St, Johann,
Prog.-No. 698,
Der Leitsatz, in dem Wirths Ausführungen gipfeln, ist allen deutschen Stadt-
verwaltungen zur Beherzigung dringend zu empfehlen. Er lautet: „Nachdem wir
im Deutschen Reiche eine amtlich eingeführte Rechtschreibung besitzen, ist es eine
Pflicht der staatlichen und städtischen Behörden, darüber zu wachen, daß in den
öffentlichen Aufschriften nicht eine Rechtschreibung befolgt wird, die sich mit der
amtlich eingeführten in Widerspruch setzt, und wo sich solche fehlerhaften Auf-
schriften finden, sind sie so rasch als möglich zu beseitigen." Zurzeit liegt die Sache
so, daß kaum in einer deutschen Stadt die Straßennamen völlig richtig geschrieben
sind, von den oft haarsträubenden Geschäftsaufschriften gar nicht zu reden. Daß
es im wunderschönen Straßburg hierin besonders häßlich aussieht, ist begreiflich.
Schnobel, Karl, Zum grammatischen Unterricht im Deutschen auf der
lateinlosen Unterstufe der Reformschulen, Charlottenburg, Reform-Real-
gymnasium, Prog.-No. 120,
Die sachverständigen, durchdachten Darlegungen behandeln: I, Aufgabe und
Ziel des grammatischen Unterrichts auf der Unterstufe, II, Stundenzahl, III. Stoff-
Zum deutschen Unterricht. 373
Verteilung, IV. Lehrverfahren. — Da die gesamte Satzlehre zum Abschluß und zum
vollen Verständnis der Schüler gebracht werden muß, wenn der erst in Untertertia
einsetzende Lateinunterricht Erfolg haben soll, und da diese Aufgabe im wesentlichen
dem deutschen Unterricht der Unterstufe zufällt, so hält es Verf. für erforderlich,
die Stundenzahl für diesen Unterricht zu erhöhen. Das ist an einigen wenigen
preußischen Reformschulen nach dem Frankfurter Lehrplan schon geschehen, im
ausreichenden Maße aber bisher bloß an den Reformschulen des Königreichs
Sachsen. Hier sind dem Deutschen in Sexta sieben, in Quinta sechs und in
Quarta fünf Wochenstunden zugewiesen.
Gemoll,Albert,DieMeditation des deutschen Auf Satzes mitBeispielen.
Striegau, Realgymnasium. Prog.-No. 286.
Fortsetzung der Jahrg. VI, S. 450 angezeigten Programmabhandlung. Geschickt
durchgeführte Meditationen in Form von Frage und Antwort zu sieben Erzählungen,
deren Stoff der poetischen Lektüre der Sekunda entnommen ist.
Netoliczka, Oscar, Aus der Praxis des deutschen Unterrichts. Kron-
stadt in Siebenbürgen, Honterus-Gymnasium.
Ganz vortreffliche Darstellung, die erstens in einer geschichtlichen Orientierung
die Hauptströmungen innerhalb des Aufsatzbetriebes I(mit Berücksichtigung des
siebenbürgisch- sächsischen Gymnasialwesens) scharf und sicher beurteilt und zweitens
mit überzeugenden Beweisgründen dafür eintritt, daß die »Abhandlung" als letztes
und höchstes Ziel des deutschen Aufsatzes anzusehen sei. Hervorragend sind
auch die drei Schülerleistungen, die im Anhang veröffentlicht werden: l. Darf
Banquos Geist auf der Bühne erscheinen? [Dialog], 2. Zum 9. Mai 1905 [Geradezu
meisterhafte Dichtung, die uns die Hauptgestalten der Schillerschen Dramen zu
mitternächtiger Stunde am Grabe des Gefeierten zeigt]. 3. Die Laokoongruppe
[Betrachtung des Kunstwerks]. Besonders erfreulich, ich möchte sagen erfrischend,
wirkt die freie, scheinbar zwanglose Form, in der unter 1 und 3 der Gedankenstoff
(Lessing) zur Darstellung kommt.
Schurig, Aus dem deutschen Unterricht der Prima: Dispositionen
und Meditationen. Höxter, König Wilhelms-Gymnasium. Prog.-No. 459.
Die hier behandelten 19 Aufgaben sind nicht Lektürethemen der üblichen Art
— den unmittelbaren Anschluß an das Gelesene, zumal an die poetische Lektüre,
glaubt Verfasser auf die Facharbeiten beschränken zu müssen — , sondern ihre Be-
arbeitung setzt meist die Kenntnis größerer Wissens- und Gedankengebiete voraus
und stellt deshalb an die Schüler und nicht zum wenigsten auch an den „spiritus
inventor und rector", den Lehrer, recht hohe Anforderungen. Je breiter die durch
Lektüre und sonstwie gelegten Grundlagen sind, auf denen die verlangte Abhand-
lung beruhen muß, um so größer wird ja natürlich auch der Spielraum für selb-
ständige, „produktive" Auffassung und Behandlung des Themas werden. Wer es
wie Referent für angebracht hält, in Pnma gelegentlich auch einmal ein Thema zu
stellen, das andere Unterrichtsfächer tributpflichtig macht, wird aus Schurigs ge-
dankenreichen Dispositionen mancherlei Anregung schöpfen.
Fischer, Der deutsche Aufsatz in den Oberklassen. Stettin, Friedrich
Wilhelms-Realgymnasium. Prog.-No. 205.
Die lehrreiche, mit unverkennbarer Sachkenntnis geschriebene Arbeit behandelt :
374 P- Geyer, Zum deutschen Unterricht.
1. Zweck und Regelung der Aufsatzübung, 2. Die Wahl des Themas (Allgemeine
Gesichtspunkte — die Stoffgebiete — Stilistische Gesichtspunkte — Fassung des
Themas). 3. Vorbereitung und Anfertigung des Aufsatzes. 4. Die Beurteilung des
Aufsatzes (die Korrektur — das Urteil — Rückgabe und Besprechung der korri-
gierten Aufsätze). Wer Fischers Abhandlung zusammen mit der oben angezeigten
Arbeit von Netoliczka liest, erhält unter anderem auch ein vorzügliches Bild von
den Strömungen und Strebungen, die in unserer Aufsatzliteratur bis heute zutage
getreten sind.
Finckh, Theodor, Der Lehrstoff der philosophischen Propädeutik.
Reutlingen, Oberrealschule. Prog.-No. 789.
Eine aus der Schulpraxis hervorgegangene, nach meinem Dafürhalten sehr brauch-
bare Auswahl des philosophischen Stoffs für Oberprima — bis auf Ethik und
Religionsphilosophie, die dem Religionsunterricht zugewiesen werden. Sieben Kapitel :
I. Allgemeine Einleitung. II. Einleitung in die Psychologie. III. Psychophysik.
IV. Erkenntnistheoretischer Anhang zur Psychophysik. V. Metaphysischer Anhang
zur Psychophysik. VI. Eigentliche Psychologie. [Ein Abschnitt behandelt die
psychologischen Grundlagen der Ästhetik.] VII. Logik, einschließlich Methoden-
lehre. — Benutzt sind die anerkannt besten philosophischen Schriften der Gegen-
wart. Die württembergischen Oberrealschulen sind in der glücklichen Lage, in Ober-
prima der philosophischen Propädeutik zwei Wochenstunden widmen zu können.
Daher der Umfang des hier Gebotenen.
Brieg. Paul Geyer.
III. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Griechische Autoren.
Muzik, Hugo, Lehr- und Anschauungsbehelfe zu den griechischen
Schulklassikern. Leipzig -Wien 1906. Karl Fromme. VIII u. 121 S. gr. 8«.
3,50 M.
Ein Buch wie dies entspricht sicherlich einem Bedürfnis, heute mehr als früher,
weil heute manche Philologen die Universität verlassen, ohne sich mit denjenigen
Schriftstellern, die sie nachher auf der Schule zu behandeln haben, ausreichend
beschäftigt zu haben.
Also ist die Zusammenstellung einer Bibliographie an sich dankenswert. Aber
entspricht die vorliegende Arbeit den Wünschen, die man an ein solches Buch
stellen muß? Sie beobachtet folgendes Verfahren: Der Verfasser hat die Zeit-
schriften durchgemustert, die seiner Meinung nach hauptsächlich an den deutschen,
d. h. reichsdeutschen und österreichischen, Gymnasien gehalten werden — es sind:
Zeitschr. f. österr, Gymn.; Zeitschr. f. d. Gymnasialw.; Neue Jahrb. f. Philolog. u.
Pädag. und ihre Fortsetzung: Neue Jahrb. f. d. kl. Altert., Gesch. u. deutsch. Lit.
u. Pädag.; Gymnasium; Österreichische Mittelschule; Wiener Studien; Lehrproben
und Lehrgänge; Bursians Jahresbericht; — , hat aus ihnen die Titel der Aufsätze
exzerpiert und nach bestimmten Rubriken geordnet; dazu sind noch die Programm-
beilagen gekommen. Doch hat Muzik nicht nur die selbständigen Arbeiten auf-
gezählt, nein, er hat auch die bei Gelegenheit von Rezensionen in diesen Zeit-
schriften genannten selbständigen Werke mit ausgeschrieben, in dem er gleich-
zeitig auf die Besprechung hinweist. Diese Fülle von Büchertiteln ist dann nach
folgenden Gesichtspunkten geordnet: 1. nach Autoren, so daß Arrian der erste,
Xenophon der letzte ist; 2. innerhalb dieser Rubriken nach: Biographie, Würdigung
des Autors, Schriften über seinen Sprachgebrauch, Aufsätze über methodische Be-
handlung, Übersetzungen, Übungsbücher, die den Wortschatz der Schulautoren
verwerten; ferner sind angeführt Werke, welche die Realien der einzelnen Schrift-
steller behandeln, und Hilfsmittel für den Anschauungsunterricht. Das bildet den
ersten Teil des Buches (S. 1—69); der zweite enthält, alphabetisch nach griechi-
schen Stichwörtern geordnet, ein Verzeichnis derjenigen Dinge, die sich durch ein
Bild veranschaulichen lassen, mit Hinweis auf die Publikationen in denen diese
376 C. Hölk,
Abbildungen leicht zugänglich sind, also auf Bücher wie Baumeister, Lucken-
bach, Röscher usw.
Ist das hier beobachtete Verfahren richtig? Über die Auswahl der Zeitschriften
will ich nicht sprechen, ihr liegen vielleicht statistische Beobachtungen über das
was die Schulen zu halten pflegen zugrunde; ebenso wenig über die Heranziehung
der Programme; aber wie steht es mit denjenigen Titeln, die weder Programm-
abhandlungen noch Zeitschriftenaufsätze sind? Eine vom Verleger beigegebene
Empfehlung des Buches verspricht, „daß zu jedem der in Österreich oder in
Deutschland üblichen griechischen Schulklassiker die literarischen Erschei-
nungen, welche dem Lehrer für die Behandlung des Autors sowohl
nach der formalen wie nach der realen Seite hin Unterstützung ge-
währen können, zusammengetragen sind." VortreffUch, wenns so wäre,
aber leider ist es nicht so. Es ist doch z. B. höchst merkwürdig, daß man Namen
wie Welcker, Otfried Müller, Usener, Bücheier, Rohde, v. Wilamowitz usw. hier
vergeblich sucht. Der Grund ist, daß die Auswahl die Muzik bietet eigentlich
rein zufällig entstanden ist: was jene Zeitschriften in Rezensionen usw. erwähnten,
und was die Aufmerksamkeit des Verfassers fand, das ist angeführt; was sich
auf diese Weise nicht anbot, hat Erwähnung nicht gefunden.
Ich stehe nicht an zu erklären, daß mir dadurch der Wert der ganzen Samm-
lung stark in Frage gestellt zu sein scheint. Wenn Muzik mehr bieten wollte als
die Aufzählung der in den von ihm exzerpierten Zeitschriften gedruckten Arbeiten,
so durfte er nicht mehr mechanisch verfahren, sondern mußte entweder selbst eine
Auswahl treffen oder sich mit anderen in Verbindung setzen, die ihm hier die
für ein Repertorium notwendigen Werke empfohlen hätten. Es ist denn doch
wirklich eigenartig, wenn man z. B. Cauer mit einigen kleinen Arbeiten zu Homer
erwähnt findet, dagegen von seinen Grundfragen der Homerkritik nichts erfährt;
oder wenn bei Homer Gladstone angeführt wird, aber von Kirchhoff, Wilamowitz,
Kammer usw. nichts gesagt wird. Nicht einmal Wilamowitz' Übersetzungen sind
genannt, um von andern zu schweigen. Ebenso willkürlich ist, was von Schrift-
stellerausgaben erwähnt wird.
Der Gedanke, welchem das Buch seine Entstehung verdankt, ist unbedingt
zu loben, aber die Ausführung müßte anders gestaltet werden. Und Hilfsmittel
gibt es dafür doch mehr als genug.
Eine vortreffliche Literaturauswahl allgemeiner Art enthält z. B. die griechische
Literaturgeschichte von Wilamowitz in der Kultur der Gegenwart; ebenso gibt
Krolls so sehr dankenswerter Überblick über die Fortschritte der Philologie in den
letzten 25 Jahren eine ganze Fülle vortrefflicher Hinweise. Wenn es, wie ich
hoffe, zu einer neuen Auflage des Buches kommt, so wird das hoffentlich eine
Neubearbeitung werden; und wenn sich der Verfasser für diese die Hilfe eines
Universitätslehrers sicherte, so würde das seinem Buche sehr von Nutzen sein.
Sehr dankenswert ist die Zusammenstellung des zweiten Teiles; der verschafft
dem Buche, so wie es vorliegt, schon seinen Wert. Mir wenigstens ist eine so
praktische Übersicht über das Anschauungsmaterial, das in leicht zugänglichen
Werken vorhanden ist, nicht bekannt.
Griechische Autoren, 377
Wolf, H., Homers Odyssee, erläutert und gewürdigt. Leipzig 1904. H. Bredt.
118 S. 8". 1 M.
Wolf, H., Homers Ilias, erläutert und gewürdigt, ebenda 1905. 154 S.
80. 1 M.
Die beiden knappen Hefte bilden das zweite und dritte Bändchen der im
Verlag von H. Bredt erscheinenden, von Hau und Wolf herausgegebenen Sammlung
von Erläuterungen und Würdigungen der ausländischen Klassiker; diese sind in
erster Linie bestimmt, das Selbststudium der durch den Unterricht angeregten
Schüler, besonders der Primaner, zu unterstützen. Die beiden vorliegenden Hefte
kann man mit gutem Gewissen einem noch weiteren Kreise empfehlen: auch dem
jungen Lehrer, der Homer behandeln soll, wird der Einblick in den Umfang der
Dinge, die ein erfahrener Lehrer seinen Schülern bietet, sehr nützlich sein; ebenso
wird der Lehrer des Deutschen an realistischen Schulen reiche Anregung für
seinen Unterricht aus diesen Heften holen können.
Anspruch als wissenschaftliche Leistungen gewürdigt zu werden, erheben die
Hefte nicht, wenn auch unverkennbar ist, daß sie auf solider gelehrter Grundlage
beruhen, und erfreulichen Mut zu selbständigem Urteil zeigen.
Beide Hefte zerfallen in zwei ziemlich gleiche Teile, von denen der erste eine
genaue Darstellung der Handlung bietet, der zweite in kurzen Abhandlungen an-
hangsweise einzelne Gebiete der homerischen Welt behandelt, wie Religion, Kultur,
Sage, homerische Frage usw. Im ganzen ist die richtige Mitte zwischen ge-
lehrter Behandlung und schulmäßiger Einführung getroffen, besonders lobenswert
scheint mir die Art, wie zur Vertiefung des ästhetischen Verständnisses durch
Hinweis auf Lessing, Schiller, Goethe, aber auch Lehrs, Rohde, v. Wilamowitz
brauchbare Winke gegeben werden, ebenso daß religionsgeschichtlichen Unter-
suchungen verhältnismäßig viel Raum gegönnt ist. Dagegen scheint es mir doch
recht zweifelhaft zu sein, ob mit den zahlreichen und nachdrücklichen Hinweisen
auf Mängel der Komposition, auf „Risse" und , Überklebungen ", auf „Flick-
poesie" usw., wie sie sich besonders häufig in dem Ilias-Bändchen finden, für den
Zweck der Hefte das Richtige getroffen ist; jedenfalls könnten sie ruhig vom
Superlativ auf den Positiv herabgestimmt werden.
Bei einer zweiten Auflage, die ich dem brauchbaren Büchlein wünsche, würde
es sich wohl empfehlen, diese Bemerkungen aus dem ersten Teil fortzulassen und
zur Bereicherung des im Anhang gebotenen Abschnittes über Komposition und
homerische Frage zu verwenden. Ebenso würden mir die Übersetzungen in guter
Prosa besser gefallen, als in der altfränkischen und gestelzten Form der Hexameter,
die von dem Reiz der homerischen Verse nichts mehr verspüren lassen.
Schäfer, A., Kleiner deutscher Homer. Ilias und Odyssee im Auszug,
verdeutscht, mit Anmerkungen und Zusätzen. 4. Aufl. in alldeutscher Recht-
schreibung. Berlin-Hannover 1903. C. Meyer (G. Prior), geb. 1 M.
Das an vielen Mädchenschulen gebrauchte Büchlein sucht der Forderung des
preußischen Kultusministeriums nach einer Schulausgabe der homerischen Gedichte
für die zweite Klasse der höheren Mädchenschulen gerecht zu werden und ent-
spricht offenbar, wie seine Verbreitung beweist, einem Bedürfnis. Die Übersetzung
ist z. T. eigenes Werk des Verfassers und liest sich ziemlich glatt; z. T. sind
378 H. Fritzsche,
Schillersche Übersetzungen verwendet. Die einzige Abbildung, die zur lilustrierung
des Bogenschusses dienen soll, ist kaum richtig.
Altendorf, K., Ästhetischer Kommentar zur Odyssee. Gießen 1904.
Emil Roth. 1,50 M.
Ein etwas seltsam anachronistisches Buch! Jegliche Anfechtung der Odyssee,
nicht nur ganzer Teile, wie z. B. der Telemachie, sondern sogar einzelner Verse
und Wiederholungen wird als Unrecht an den Manen des großen Dichters be-
kämpft, jede nicht abzuleugnende Unebenheit zu erklären gesucht. Und doch
liest sich das Buch wohltuend, was zurückzuführen sein wird auf die echte
Liebe des Verfassers zu dem Gedicht und zu dem Bilde, das er sich vom
Dichter Homer gemacht hat. Übrigens mag es auch ganz nützlich sein, ein Buch
über Homer zu lesen, das nicht, wie sonst wohl üblich, einseitig auf die Fehler
eingestellt ist, freilich an Einseitigkeit selbst nichts zu wünschen läßt. In den ästheti-
schen Bemerkungen findet sich mancherlei Hübsches, das für die Erklärung in der
Schule gut zu verwerten ist.
Steglitz. C. Hölk.
Lateinische Übungsbücher und Orammatilten.*)
Der von mir Jahrgang III, S. 403 besprochene zweite Teil von J. Wulff,
E. Bruhn und R. Preiser, Aufgaben zum Übersetzen ins Lateinische ist
durch J. Schmedes in einer Ausgabe B (Berlin 1908, Weidmannsche Buch-
handlung, VII u. 187 S., geb. 2,20 M.) in ähnlicher Weise bearbeitet worden wie
schon früher der erste Teil (vgl. Jahrgang VII, S. 181 f.). Während in den „zu-
sammenhängenden Übersetzungsstücken" nur leichte Änderungen im Text und Zu-
sätze zu den Anmerkungen erforderlich erschienen sind, hat Schmedes, um die
Arbeit des Schülers nicht ohne Not zu erschweren, eine große Anzahl „Einzel-
sätze" vereinfacht oder durch leichtere ersetzt, auch die Zahl der Anmerkungen
erheblich vermehrt. Da der erstrebte Zweck der Aufgaben zweifellos auch mit
der vereinfachten Ausgabe erreicht werden kann, wird sie den Anstalten zu
empfehlen sein, denen sich die ältere Ausgabe als zu schwierig erwiesen hat.
J. Haulers, Lateinische Stilübungen für obere Klassen der Gymna-
sien, die in Norddeutschland ziemlich unbekannt sein dürften, haben in der
6. Auflage (Wien 1907, A. Holder, VI u. 302 S., geb. 3 kr. 20 h.) durch J.Dorsch
und J. Fritsch eine Neubearbeitung erfahren, die ihren Wert zweifellos erhöht
hat. An die Stelle der „Vorübungen", in denen an lateinischen Sätzen die Regeln
der Stilistik zur Anschauung gebracht wurden, und der im ganzen Buche zer-
streuten stilistischen und synonymisch-phraseologischen Anmerkungen ist ein sach-
lich, bzw. alphabetisch geordneter Anhang getreten, auf den in den Aufgaben fort-
laufend verwiesen wird, und ferner ist die Übersetzungsarbeit durch Fußnoten und
Direktiven im Texte und besonders durch ein reichhaltiges Wörterverzeichnis er-
leichtert worden. Die Verbesserungen würden uneingeschränktes Lob verdienen,
wenn der Anhang übersichtlicher geordnet und in der Auswahl mehr Maß ge-
•) Vgl. Jahrgang VII., S. 181 ff.
Lateinische Übungsbücher und Grammatiken. 379
halten worden wäre. Der bisherige Übersetzungsstoff ist teils gekürzt, teils durch
Aufnahme einer Reihe von Aufgaben, die sich an die Klassenlektüre anschließen,
erweitert worden; auch haben sich die Herausgeber bemüht, den deutschen Aus-
druck zu bessern, infolgedessen man selten noch auf Latinismen stößt. Wenn
nun auch durch all diese Änderungen das Buch an Brauchbarkeit gewonnen hat
und mit Nutzen verwandt werden kann, so zeichnet es sich doch nicht so sehr
durch seine Eigenschaften aus, daß es den in Norddeutschland gebrauchten Hilfs-
mitteln vorgezogen zu werden verdiente.
Bei den weit verbreiteten Ostermannschen Übungsbüchern haben sich im
Laufe der Zeit Änderungen als wünschenswert herausgestellt, die bei einer neuen
Auflage aus praktischen Gründen nicht vorgenommen werden konnten und zur
Herstellung einer besonderen Ausgabe C geführt haben. Während die beiden
ersten Teile von H. J. Müller und G. Michaelis bearbeitet worden sind (vgl. Jahr-
gang V, S. 531 f.), hat die Neubearbeitung der übrigen Teile der Berichterstatter
auf Wunsch des bisherigen Herausgebers und der Veriagshandlung übernommen.
Zuerst ist erschienen der für Obersekunda und Prima bestimmte fünfte
Teil (Leipzig und Berlin 1908, B. G. Teubner, VIII u. 400 S., geb. 3 M.), dessen
Umgestaltung seinem Verfasser besonders notwendig erschien. Ich habe mich zu-
nächst bemüht, den Übungsstücken die ihnen noch anhaftende lateinische Färbung
im Ausdruck und Satzbau zu nehmen, und infolgedessen ist vielfach an Stelle
des subordinierenden Satzbaues und verbaler Wendungen Koordination und nomi-
nale Ausdrucksweise getreten; noch häufiger ist das aber geschehen, damit der
Schüler durch die Verschiedenartigkeit der lateinischen und deutschen Ausdrucks-
weise zu Umformungen genötigt werde. Nach Form oder Inhalt weniger ergiebige Ab-
schnitte sind durch Ausschaltung, Ergänzung, Zusammenziehung und durch sonstige
Änderungen fruchtbarer gemacht worden, und auch sonst zeigen die Aufgaben
nach der sachlichen Seite sehr viele kleinere oder größere Umgestaltungen. Wenn
infolge der sprachlichen Umformung des Textes die Denkkraft des Schülers jetzt
mehr als bisher in Anspruch genommen werden wird, so ist doch auch die Zahl
der Übersetzungshilfen in Form von besonderen Zeichen oder Verweisungen auf
den Anhang oder die Grammatik vermehrt. Die „Phraseologie" hat eine voll-
ständige Umarbeitung erfahren. Um eine systematische Behandlung und bessere
Einprägung der in den Anmerkungen der Phraseologie zerstreuten stilistischen
Regeln und synonymischen Unterscheidungen zu ermöglichen, sind die ersteren
in Form deutsch-lateinischer Beispiele, nach den Kategorien der Grammatik ge-
ordnet, die letzteren in alphabetischer Reihenfolge, beide Gruppen nicht unwesent-
lich verändert, vor bzw. hinter die Wortkunde gestellt worden. In dieser ist, da-
mit der Schüler nach einem unbekannten Ausdruck nicht an zwei verschiedenen
Stellen zu suchen braucht, die eigentliche Phraseologie mit dem früheren Wörter-
verzeichnis in der Weise vereinigt, daß sich in der oberen Hälfte der Seiten die
einzuprägenden wichtigeren Wendungen, nach einem einheitlichen Prinzip geordnet,
verzeichnet finden, während die untere Hälfte in kleinerem Druck die alphabetisch
entsprechenden sonstigen Wörter und Wendungen enthält, die für die Übersetzung
der Aufgaben erforderiich sind. Außerdem ist die Phraseologie einer sorgfältigen
Nachprüfung unterzogen worden, und zahlreiche Ausscheidungen, Einfügungen
380 H. Fritzsche,
und andere Änderungen sind erfolgt; ebenso ist das frühere Wörterverzeichnis er-
heblich Vermehrt.
Auch der später erschienene, für Quarta bestimmte dritte Teil (Leipzig und
Berlin 1909, B. G. Teubner, IX u. 310 S., geb. 2,40 M.) unterscheidet sich wesent-
lich von der Ausgabe A. Im „ Lesebuche " zeigt fast jedes Stück, teils in sprach-
licher, teils in sachlicher Hinsicht, kleinere oder größere Änderungen, besonders
gilt dies von „Alexander" und den „Punischen Kriegen". Noch umfangreicher
und einschneidender sind die Änderungen im eigentlichen „Übungsbuche". Aus
didaktischen Gründen sind einige besser für Tertia aufzusparende Regeln aus-
geschieden, andere, besonders die in Quarta vorwegzunehmenden Regeln aus der
Syntax des Verbs, sind an eine andere Stelle gerückt. Vor allem sind aber die
Stücke selbst verändert. Zunächst habe ich mich bemüht, der auch auf dieser
Stufe durchaus berechtigten Forderung, nur gutes Deutsch im Ausdruck und Satz-
bau zu bieten, mehr, als es bisher geschehen ist, gerecht zu werden. Dann aber
bin ich bestrebt gewesen, nicht nur zur Einübung der Regeln genügenden Stoff
zu liefern, sondern auch fortgesetzt Gelegenheit zu bieten, die geübten Regeln
wieder aufzufrischen und zu befestigen. Zu diesem Zwecke sind sowohl die
Einzelsätze, besonders aber die zusammenhängenden Stücke vielfach durch Er-
weiterung oder sonstige Änderungen fruchtbarer gemacht oder durch zweckmäßigere
ersetzt worden. Um endlich zu verhüten, daß in einer Reihe aufeinanderfolgender
Sätze dieselbe Regel in fast mechanischer Weise angewandt werde, habe ich die
Reihenfolge der Sätze vielfach geändert und häufiger mehrere Regeln in einem
Stücke zusammengefaßt. Die zum „Lesebuch" gehörige „Präparation" ist eines-
teils durch Ausscheidung alles dessen, was dem Quartaner aus den vorausgehenden
Teilen des Übungsbuches oder aus der Grammatik bekannt sein muß, verkürzt,
andernteils durch syntaktische Angaben erweitert, das „Wörterverzeichnis" zum
„Übungsbuche" auch auf die Einzelsätze ausgedehnt und erheblich vermehrt
worden. Den Schluß der „Wortkunde" bildet eine Zusammenstellung der in den
unteren Klassen gelernten und in der Quarta häufiger vorkommenden Phrasen in
übersichtlicher Anordnung und ein Verzeichnis der wichtigsten Synonyma, auf
das in den Übungsstücken verwiesen wird. Endlich ist der „grammatische An-
hang" völlig umgearbeitet. Die bisher teils vor den einzelnen Übungsstücken,
teils im Anhang aufgeführten Regeln und die am Schlüsse des Übungsbuches
verzeichneten „ausgewählten Musterbeispiele" habe ich vereinigt, und zwar sind,
um das lästige Umlernen in Tertia zu vermeiden, die Regeln und Beispiele mög-
lichst in der Form gegeben, wie sie sich in der Ausgabe C der Grammatik finden.
Die am Schluß zugefügten stilistischen Regeln, auf die gleichfalls in den Über-
setzungsaufgaben verwiesen wird, sollen die mit Recht gestellte Forderung er-
füllen, mit der Stilistik nicht erst in Sekunda zu beginnen.
Thieme, K., Scribisne litterulas latinas? (Dresden und Leipzig 1908,
Kochs Verlagsbuchhandlung, VIII u. 122 S., 1,60 M.), eine Anweisung, moderne
Postkarten in lateinischer Sprache zu schreiben, dürfte selbst außerhalb der Schule
keinen Anklang finden, und ich erwähne das Buch nur der Kuriosität wegen.
Siedentop, L., Lateinische Formenlehre nebst zahlreichen Übungsaufgaben
(Leipzig 1909, H. Bredt, 168 S., 1,60 M.) kann, da die Übungsaufgaben nur in ein-
Lateinische Übungsbücher und Grammatiken. 381
zelnen Formen bestehen, bloß für häusliche Übungen unter Kontrolle eines Latein-
kundigen in Betracht kommen.
Hesselbarth, H. und Wibbe, H., Lateinische Syntax für Reform-Real-
gymnasien (Gotha 1909, Perthes, VII u. 83 S., 1,25 M.) steht in der Kasuslehre,
was die Auswahl und Anordnung des Stoffes sowie die Verständlichkeit und Ge-
nauigkeit der Regeln angeht, hinter den neueren Schulgrammatiken zurück, und
die Behandlung der Satzlehre entspricht, ganz abgesehen von der Ungenauigkeit
nicht weniger Regeln, sowenig der Fassungskraft der Schüler und besonders dem
praktischen Bedürfnis, daß wohl wenige Anstalten es wagen werden, mit diesem
Buche einen Versuch zu machen. Dagegen wird gerade der eigentümliche Auf-
bau der Satzlehre*) für den Lehrer von Interesse sein, und manches wird er ge-
legentlich auch den Schülern auf einer höheren Stufe vorführen können.
Auch das eigenartige Werk von A. Döhring, Deutsch-lateinische Satz-
lehre für Schulen (Königsberg i. Pr. 1908, Gräfe u. Unzer Verlag, VIII u. 177 S.,
geb. 2,60 M.) wird sich im Schulunterricht nicht verwenden lassen. Der Verfasser
geht durchweg von der deutschen Ausdrucksweise aus und zeigt in überaus zahl-
reichen Beispielen, wie die einzelnen deutschen Satzteile, Wortarten und Wendungen
im Lateinischen wiedergegeben werden. Verwendbar wäre das Buch nur nach Er-
ledigung der elementaren Syntax; aber da fehlt es wieder an Zeit, um den über-
reichen Stoff durchzuarbeiten. Für den Lehrer der oberen Klassen aber wie, über-
haupt für den Philologen, bietet die fleißige, selbständige Arbeit des Interessanten
genug.
In einer Besprechung von H. J. Müller und G. Michaelis, Lateinische Satzlehre
zum Gebrauche in Reformschulen (Jahrgang IV, S. 689 f.) hatte ich es für not-
wendig erklärt, die Müllersche Schulgrammatik, von der die Satzlehre nur eine
wenig veränderte Sonderausgabe war, einer Umgestaltung zu unterziehen, die be-
sonders auch die große Weitschweifigkeit beseitigen müsse. Diese Umarbeitung
ist inzwischen auf Wunsch des Verfassers und der Verlagshandlung vom Bericht-
erstatter in der Ausgabe C der Müllerschen Grammatik vorgenommen worden
(vgl. Jahrgang VII, S. 184). Jetzt hat nun Michaelis auch eine verkürzte Aus-
gabe der oben erwähnten Satzlehre erscheinen lassen (Michaelis, G., Lateinische
Satzlehre. Verkürzte Ausgabe. Leipzig und Berlin 1909, B. G. Teubner,
V u. 124 S., geb. 1,40 M.), in der nicht nur „alles mit dem Deutschen Über-
einstimmende, Unwesentliche und selten Vorkommende ausgeschieden, das Wichtige
durch übersichtliche Gruppierung und verschiedenen Druck hervorgehoben", son-
dern auch die (den Regeln vorausgeschickten) Beispiele auf ein Mindestmaß be-
schränkt und die Regeln unter Verzicht auf eine Erklärung der grammatischen Er-
scheinungen „so kurz gefaßt worden sind, als es möglich war, ohne der deutschen
Sprache Gewalt anzutun". Zweifellos hat der Verfasser damit ein brauchbares
Lernbuch geschaffen, das für Realgymnasien im allgemeinen ausreichen wird, für
♦) Das verbum finitum z. B. wird in folgender Anordnung behandelt: Konjunktiv in
Hauptsätzen, Konjunktiv in Nebensätzen entsprechend dem Gebrauch in Hauptsätzen, Tem-
pora des Konjunktivs, Konjunktiv ausgedehnt auf Wirklichkeitssätze, Tempora des Kon-
junktivs in Wirklichkeitssätzen, Imperativ, Indikativ, Tempora des Indikativs, Abweichung
vom Deutschen in Anwendung der Tempora.
382 F. Hock,
Gymnasien freilich nicht genügt, zumal die Stilistik keine Berücksichtigung ge-
funden hat. An manchen Stellen ist der Verfasser allerdings in seinem Streben
nach Kürze zu weit gegangen, und man vermißt hier eine Regel. An noch mehr
Stellen aber entbehren die Regeln die erforderliche Genauigkeit und Richtigkeit,
und im Interesse der Sache wäre es zu wünschen gewesen, wenn der Verfasser,
der offenbar in vielen und zum Teil wesentlichen Punkten sich der Darstellung der
Ausgabe C angeschlossen hat, noch an anderen Stellen die Fassung der größeren
Ausgabe angenommen hätte. Eine Umarbeitung bedarf der Abschnitt über die
lateinische Periode, der unverändert aus der Originalausgabe übernommen worden
ist. Ganz neu sind in der Satzlehre die steten Hinweisungen auf die französische
und englische Sprache, die der Verfasser der Mitarbeit von K. Rudolph verdankt.
Natürlich muß es dem Takt des Lehrers überlassen werden, wie weit und zu
welcher Zeit er auf die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der modernen Fremd-
sprachen eingehen will.
Berlin. H. Fritzsche.
Schriften aus dem Gesamtgebiet der Biologie und ihrer Behandlung
im Unterricht.
Als wertvollstes Werk für die Methode des naturkundlichen Unterrichts sei in
diesem Sammelbericht vorangestellt:
Der moderne Naturgeschichtsunterricht. Beiträge zur Kritik und Aus-
gestaltung. Von A. Ginzberger, P. Kammerer, F. Kossmat, W. A. Lay,
L. V. Portheim, K- C. Rothe, A. Umlauft, E. Walther und F. Werner.
Herausgegeben von K. C Rothe. Wien u. Leipzig 1908. F. Tempsky & G. Freytag.
235 S. 80. Mit 12 Abbildungen. Geh. 5 M.
Wie aus der großen Zahl von Verfassern hervorgeht, ist es nicht so ein ein-
heitliches Werk wie das im vorigen Sammelbericht (Monatschr. VII, S. 248 ff.)
besprochene Werk von Bastian Schmid. Dafür sind aber Einzelfragen um so
genauer behandelt. Das Werk zerfällt in zwei Hauptteile, einen allgemeinen, „Ge-
schichte, Kritik und Grundsätze der Methodik des Naturgeschichtsunterrichts"
von Lay, und einen von verschiedenen Verfassern bearbeiteten speziellen Teil.
Im ersten Teil wird nach einem einleitenden Abschnitt über „das didaktische
Grundprinzip als Grundlage der Kritik" eine reichlich 30 Seiten einnehmende
„Geschichte der Methodik, im Zusammenhang mit Biologie, Geologie und Philo-
sophie" gegeben und dann auf die Mängel und Gefahren der Reformbestrebungen
hingewiesen. Dieser letzte Abschnitt ist besonders wichtig. Es wird vor allem
darauf hingewiesen, daß die Stoffbehandlung je nach der Natur der Schüler ver-
schieden sein muß, daß aber immer von der Anschauung auszugehen ist. Ebenso
enthält der Abschnitt beachtenwerte AnhaltspunHte über die Anfertigung von
Schulbüchern für den biologischen Unterricht. Der spezielle Teil des Buches ent-
hält die Behandlung zahlreicher Einzelfragen aus der Biologie. Da alle aufzu-
zählen nicht möglich ist, seien hervorgehoben:
Rothe, „Über Schutz-, Warnfarben, Mimikry und Signale".
Schriften aus dem Gesamtgebiet der Biologie usw. 383
Rothe u. Kossmat, „Mehr Geologie" und „Geologie im Geographie-
unterrichte".
Das ganze Werk sei für Lehrerbibliotheken bestens empfohlen.
Ähnlich aus Arbeiten verschiedener Verfasser zusammengesetzt ist:
Pieper, G. R., Beiträge zur Methodik des biologischen Unterrichts.
Gesammelte Abhandlungen Hamburgischer Lehrer. Leipzig und Berlin 1908.
B. G. Teubner. IV u. 96 S. gr. 8«. 1,50 M.
Wie im vorher genannten Buch wird hier auch über naturkundliche Ausflüge,
über das Zeichnen im biologischen Unterricht, doch noch über zahlreiche weitere
Fragen verhandelt, aber in diesem Falle wesentlich mit Rücksicht auf die Volks-
schule. Trotzdem hat auch diese kleine Schrift natürlich Interesse ebenfalls für
Biologen an höheren Schulen. Ähnlich steht es mit:
Thomas, P., 16 Lektionen zur Einführung in die Pflanzenphysio-
logie. Für Volks- und höhere Schulen. Annaberg i. Erzgebirge 1908. Grasers
Verlag. 74 S. 8«. 1,60 M.
Wie es bei Lehrproben aber vielfach der Fall ist, setzen diese auch Schüler
voraus, die über das Mittelmaß hinausgehen. Erklärungen, wie die über Nahrungs-
mittel auf S. 6, oder wie die über die Tätigkeit der grünen Farbkörner auf S. 38,
wird ein Durchschnittsschüler nicht liefern. Trotzdem vermögen natürlich diese
schriftlichen Lehrproben wohl für den Unterricht anzuregen.
Weit über die Interessen des Naturwissenschafters hinaus geht:
Flatt, R., Der Unterricht im Freien auf der höheren Schulstufe.
Mit durchgeführten Beispielen aus verschiedenen Unterrichtgebieten (Naturwissen-
schaften und Geographie, Zeichnen und Mathematik, Geschichte und Sprachen,
körperlicher Erziehung). In Verbindung mit Lehrern der oberen Realschule zu
Basel herausgegeben vom Rektor dieser Anstalt. Frauenfeld. Huber & Co. V u.
146 S. 8". Mit einer Exkursionskarte der Nordwestschweiz, einer geologischen
Reisekarte der Schweiz und neun geologischen Profilen. 3,50 M.
Für diesen Bericht kommt außer der Einleitung über „die pädagogische Be-
deutung der Klassen-Ausflüge auf der höheren Schulstufe" wesentlich der erste
Abschnitt über „botanische Exkursionen" in Betracht. Auf diesen sind die einzelnen
gesammelten Pflanzen nach Standorten geordnet. Doch vermißt Unterzeichneter
einen Hinweis auf Bestäubungsbeobachtungen, die doch auf jedem Ausflug ge-
macht werden können, wenn auch nicht von der ganzen Klasse, so doch von ein-
zelnen sich heranschleichenden Beobachtern. Sehr geeignet sind Ausflüge wie
die geschilderten zur Einführung in die Pflanzengeographie der Heimat, zumal
wenn sie, wie hier, durch geographische und geologische Exkursionen unterstützt
werden. Am Schluß sind anch „kombinierte Klassenausflüge im Dienste ver-
schiedener Unterrichtsfächer unter Leitung eines oder mehrerer Lehrer" geschildert.
Hierbei werden auch Beobachtungen aus der Tierkunde gemacht. Der am Schluß
mitgeteilte Unterrichtsplan der Realschule zu Basel zeigt, daß die Naturgeschichte
da mit mehr Stunden bedacht ist als bei uns an entsprechenden Schulen.
Als Neuauflage eines Schulbuches sei kurz genannt:
Schtneil u. Fitschen, Flora von Deutschland. Ein Hilfsbuch zum Be-
stimmen der zwischen den deutschen Meeren und den Alpen wildwachsenden
384 C. Hock,
und angebauten Pflanzen. Leipzig 1909. Quelle & Meyer, 5. Aufl. 4i8 S. 8«.
Mit 587 Abb. Geb. 3,80 M.
Es ist ein unveränderter Abdruck der Monatschrift VII, S. 252 besprochenen Arbeit.
In vollkommen neuer Bearbeitung, so daß sie fast alsNeuerscheinungen angesehn
werden können, liegen zwei Lehrbücher für den Schulunterricht vor. Am meisten
von der früheren Ausgabe unterscheidet sich von ihnen:
Bokorny, Th., Lehrbuch der Botanik für Oberrealschulen und
Realschulen. Im HinbUck auf den neuen (1907), vom K. B. Ministerium auf-
gestellten Lehrplan für die Schulen bearbeitet. Leipzig 1908, W. Engelmann.
Teil I. VI u. 366 S. 8». 4 M. Teil II. 233 S. 8«. 3 M,
Gegenüber der älteren Ausgabe von 1898, die auch gleichzeitig für Gymnasien
bestimmt war, ist das Buch mehr als verdoppelt; denn es umfaßte damals nur einen
Band von 226 S. Diese starke Erweiterung ist, wie Verfasser ausdrücklich hervorhebt,
mit Rücksicht auf die Einführung pflanzenkundlichen Unterrichts auf der Oberstufe
vorgenommen. Da ein solcher Unterricht auch bei uns jetzt, wenn auch nicht vorge-
schrieben, so doch erlaubt ist, verdient das Werk sicher unsere Beachtung. Da es bei
uns in Preußen wohl wenig bekannt ist, sei erst kurz seine Gesamteinrichtung er-
wähnt. Das Werk beginnt, wie in der ersten Auflage, mit Beschreibung einzelner
Pflanzenarten; doch ist im Gegensatz zur ersten Auflage diese benutzt zur all-
mählichen Einführung in die Lehre von der Pflanzengestalt und dem Pflanzen-
leben, ähnlich wie viele auch bei uns bekannte methodische Bücher verfahren.
Wie bei diesen oft schon herrvorgehoben, hat es natürlich auch seine Schattenseiten,
solche allgemeinen Erörterungen an einzelne Pflanzenarten im Lehrbuch zu binden,
während im Unterricht unbedingt die Einzelbeschreibungen zur allmählichen Ein-
führung in die allgemeine Pflanzenkunde zu benutzen sind. Durch diese Ver-
teilung der „Erläuterungen", wie wir solche allgemeinen Bemerkungen zu benennen
pflegen, wurde der in erster Auflage vorhandene zweite Abschnitt über die äußere
Gliederung der Pflanze überflüssig; und es schließt sich sofort ein solcher über
Anatomie an, der aber eher etwas gekürzt als erweitert ist, gegenüber der früheren
Ausgabe. Stark erweitert ist dagegen der folgende Abschnitt „Systematische
Übersicht des Pflanzenreiches", in der mit Recht das System von Engler zu-
grunde gelegt wird. Den sonst anhangsweise anschließenden Abschnitt über das
Linne'sche System würde ich lieber in einem Schulbuch vermissen, wie ich es
allgemein im Pädagogischen Archiv 1906, S. 455 ff, dargelegt habe; aber es gibt
ja immer noch Lehrer, die für nötig halten, darauf näher einzugehen. Daran schließt
sich als letzter Abschnitt des ersten Teils der ursprünglich das ganze Werk ab-
schließende Bestimmungsschlüssel häufiger Decksamer, der, wie es bei solchen
Schlüsseln immer der Fall ist, den Nachteil hat, daß der Schüler manche Arten ver-
geblich sucht, trotzdem sie in einigen Gegenden häufig sind, aber ja auch nur für
Bestimmungsübungen unter Leitung des Lehrers dienen soll. Der zweite Teil des
Werks beginnt mit einem Abschnitt über Morphologie, der zum Teil den ursprüng-
lich zweiten Abschnitt des ganzen Werks ersetzt, aber mit Recht stark gekürzt
ist. Dann folgt ein Abschnitt über Physiologie (u. Anatomie), sowie einer über
Ökologie, von denen namentlich der letzte gegen die frühere Ausgabe mit Recht stark
erweitert ist. Den Schluß des ganzen Werks (mit Ausschluß des Registers) bildet
Schriften aus dem Gesatntgebiet der Biologie usw. 385
ein Abschnitt, der „Einiges aus der Pflanzengeographie" behandelt, im Wesent-
lichen eine Schilderung der Pflanzenwelt der Erde auf Grundlage von Englers
pflanzengeographischer Einteilung der Erde gibt. Die Einzelaufzählung einiger
pflanzengeographischer Provinzen ohne Anführung von Leitpflanzen hat für ein
Schulbuch keinen Wert. Wo Leitpflanzen genannt sind, hätten solche kurz ge-
kennzeichnet werden müssen. Sonst verdient auch dieser Abschnitt, wenn auch
nicht in so hohem Maße, wie die vorangehenden Abschnitte des zweiten Teils
durchaus unsere Anerkennung. Dieser zweite Teil des Werkes ist es hauptsäch-
lich, den ich den Fachgenossen in Preußen zur eigenen Benutzung empfehlen
möchte, wenn sie biologischen Unterricht auf der Oberstufe erteilen: denn er ist
nach guten Quellen bearbeitet, behandelt den Stoff schulgemäß und doch richtig,
künstelt nicht und weicht nicht von den Ergebnissen der Wissenschaft ab, nur
um dem Schüler eine Ansicht klar zu machen.
In dieser Beziehung ist eine Art Gegenstück aus dem Gebiete der Tierkunde
zu diesem Werk, wenn auch in ganz anderer Einrichtung, das andere in neuer
Bearbeitung vorliegende Schulbuch:
Matzdorff, C, Tierkunde für den Unterricht an höheren Lehr-
anstalten. Ausgabe für Gymnasialanstalten. 5 Teile in 3 Bänden. Erster
Band: Lehrstoff der Sexta und Quinta (Die Wirbeltiere). 255 S. 8». Mit 134
Abbildungen in Schwarz- und Farbendruck. 2,20 M. — Zweiter Band: Lehrstoff
der Quarta und Untertertia (Die Wirbellosen). 320 S. 8». Mit 118 Abbildungen
in Schwarzdruck, sowie zwei Tafeln und einer Karte in vielfachem Farbendruck.
2,80 M. — Dritter Band: Lehrstoff der Obertertia (Der Mensch). 127 S. 8«.
Mit 85 Abbildungen in Schwarzdruck, sowie fünf Tafeln und einer Karte in viel-
fachem Farbendruck. Breslau 1907. F. Hirt. 1,50 M.
Die Ausgabe für Realanstalten, welche 4Vt Jahre früher erschien, wurde von
F. Weiß in dieser Monatschrift (III, 1904, S. 222 f.) besprochen und ihrer ganzen
Anlage nach empfohlen. Nur am Satzbau wurde von dem dortigen Berichterstatter
manchedei getadelt. Die dort als schwer verständlich oder falsch bezeichneten
Sätze habe ich sämtlich in beiden Ausgaben verglichen und meist gefunden, daß
Verfasser sie in der neuen Ausgabe verbessert hat, wenn auch nicht in jedem
Einzelfall, da er offenbar nicht immer mit dem dortigen Berichterstatter gleicher
Ansicht ist. Aber auch an vielen anderen Stellen finden wir wesentliche Ände-
rungen im Text, die nur zum geringen Teil durch den Fortschritt der Wissenschaft
bedingt sind, großenteils auf dem Bestreben des Verfassers nach möglichster Klar-
heit der Darstellung beruhen. Dennoch kann ich aus eigner Erfahrung sagen, daß
auch im allgemeinen schon die Ausgabe für Realanstalten klar geschrieben ist. Seit
reichlich einem Jahr benutze ich sie bei meinem Unterricht und finde, daß im ganzen
die Schüler sie gern benutzen, auch selbständig darin lesen, sie also sicher ver-
stehen. Wie schon Weiß hervorhebt, enthält nämlich das Buch mehr als den
nötigen Lehrstoff. Selbst auf Oberrealschulen wird man kaum allen Lehrstoff be-
wältigen können, und dies gilt auch für die Gymnasialausgabe. Aber das soll
auch der Fall sein. Der Lehrer muß Auswahl haben, da nicht überall gleiche
Anschauungsmittel zur Verfügung stehen. Wenn aber der im Unterricht behandelte
Stoff so dargelegt ist, daß der Schüler ihn wenigstens zum Teil selbständig liest,
MonatKhrift f. höh. Schulen, VID. Jhrg. 25
386 F. Höck,
sich daran erfreut und weiterbildet, dann erfüllt erst das Buch ganz seine Auf-
gabe. Aber noch für einen weiteren Zweck ist die Fülle des Stoffes erwünscht^
nämlich für den Unterricht auf der Oberstufe, wo solcher gegeben wird; denrj
dieser Unterricht soll nicht neuen Wissensstoff in die Schüler hineinpfropfen, sondera
nur zur Vertiefung des auf der Mittelstufe zu flüchtig behandelten Stoffes dienen.
Daher braucht man bei Ausdehnung des tierkundlichen Unterrichts auf die oberer»
Klassen kein neues Lehrbuch einzuführen, sondern wird in diesem noch reichlichen
Lehr- und Übungsstoff finden. Verfasser selbst hat seit mehreren Jahren in der
Prima des Lessing-Gymnasiums zu Berlin Biologie unterrichtet und da, wie er
mir mitgeteilt hat, für die Tierkunde sein Buch benutzt. Auch von der Gymnasial-
ausgabe werden Bd. 2 u. 3 hierfür vorzüglich brauchbar sein, denn sie enthalten so
ausführliche Abschnitte über allgemeine Tierkunde und über die Lehre vom
Menschen, daß sie sich erst dann ganz behandeln lassen, wenn die Schüler über-
haupt reifer sind und vor allem mehr Kenntnisse aus der Physik und Chemie be-
sitzen, wie ein Tertianer sie haben kann. Für eine Neuauflage aber würde ich
Verfasser raten, lange Namenaufzählungen zu meiden; ein Abschnitt wie der letzte
auf S. 303 des zweiten Bandes über deutsche Landtiere, hat gar keinen Wert. —
Wo zur Kennzeichnung der Tiergebiete Einzelarten genannt werden, muß auf ihre
Beschreibung hingewiesen oder diese müssen durch Vergleich mit bekannten
Tieren kurz gekennzeichnet werden. Sonst verdient dieses Buch in jeder Weise
unbedingt die Anerkennung der Fachgenossen, wie sie die Realausgabe vielfach
gefunden hat. Namentlich in der Richtigkeit übertrifft es fast alle für Schulen vor-
liegenden Lehrbücher der Tierkunde.
Ein ganz eigenartiges Lehrmittel, das vor allem zur Unterstützung des natur-
kundlichen Unterrichts außerhalb der Schulen bestimmt ist, stellen dar:
Schulz, Georg E. F., Natururkunden. Biologisch erläuterte photographische
Aufnahmen frei lebender Tiere und Pflanzen, Berlin 1908. Paul Parey. Heft 1 — 4.
ä Heft (einzeln käuflich) 1 M.
Das erste dieser Hefte enthält Darstellungen von Vögeln, das zweite und
dritte solche von Sproßpflanzen und das vierte solche von Pilzen. Jedes Heft
enthält 20 nach Photographien unmittelbar und schön deutlich hergestellte Tafeln
in der Größe des Buches; das eigentliche Bild ist 17:1172 cm groß. Da die
Bilder unmittelbar nach der Natur aufgenommen sind, zeigen sie die Tiere oder
Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung. Das ist ein großer Vorzug, den sie vor
den meisten für Schulzwecke dargestellten Bildern haben. Da diese meist die
Aufgabe haben, das Tier oder die Pflanze möglichst vielseitig kennen zu lehren,
sind sie oft stark gekünstelt. Um gleichfalls verschiedene Stellungen oder Ent-
wicklungszustände zu zeigen, hat Verfasser oft mehrere Aufnahmen des gleichen
Wesens gemacht. So stellt er das Gänseblümchen nachmittags 2 Uhr (mit ge-
öffnetem Köpfchen), morgens 7 Uhr (mit geschlossenem Köpfchen) dar, die ge-
ruchlose Kamille einmal zwischen betauten Kleeblättern, einmal am Rande eines
Roggenfeldes. Die Sturmmöwe hat er brütend, schreiend und seine Eier um-
legend beobachtet und gibt auf einer vierten Tafel noch ein Bild von ihrem Nest
mit dem Gelege. Von der Stinkmorchel liefert er vier Abbildungen in verschie-
denem Entwicklunofszustand. Ähnlich verfährt er bei anderen Tieren und Pflanzen..
Schriften aus dem Gesamtgebiet der Biologie usw. 387
Da auch der erläuternde Text gut bearbeitet ist, wäre sehr zu wünschen, daß dieses
Werk recht weite Verbreitung fände. Es ist vor allem für Schülerbiblotheken zu
empfehlen, wird dann hoffentlich auch vielfach von Eltern ihren Kindern ge-
schenkt, denn es ist ein Werk, das, wie wenige andere, fähig ist, Liebe zur Natur
im Kinde zu erwecken, das Schöne in der Natur ihm vor Augen zu stellen.
Bezüglich der Pflanzentafeln sei noch ausdrücklich hervorgehoben, daß sie
nicht nur Einzelarten, sondern diese in ihrer Umgebung, daher also Pflanzen-
bestände und zwar aus unserer Heimat darstellen. Manche könnten wohl die
Unterlage liefern, auf der Bilder von Pflanzenbeständen auch für den Klassen-
gebrauch angefertigt würden.
Solche Bilder bringen:
Potoni^, H. und Gothan, W., Vegetationsbilder der Jetzt- und Vor-
zeit. Tafel I: Laubwald mit Unterflora, Tafel II: Verlandungsvegetation, Tafel III:
Moorlandschaft der Steinkohlenzeit. Eßlingen und München 1908. J. F. Schreiber.
(Jede Tafel unaufgezogen 4,50 M., auf Leinwand mit Stäben unlackiert 6,50 M.,
lackiert 7 M., begleitender Text 0,30 M.)
Die letzte Tafel ist eine ähnliche, aber weit billigere Darstellung wie die vor
Jahren über den gleichen Gegenstand von Potoni^ im Verlage von Gebr. Born-
träger (Berlin) herausgegebene, trotz ihres hohen Preises recht bekannte Tafel.
Die beiden anderen sind in Wandtafeldarstellung ganz neu, zwar gibt es wohl
Vegetationsbilder, aber sie sind meist Darstellungen aus fernen Ländern oder sie
sind für erdkundliche Zwecke bestimmt, zeigen daher nur massenhaft gemeinsam
wachsende oder einzelne höhere, daher für das Landschaftsbild bezeichnende
Pflanzen. Diese stellen eine ganze Reihe von Pflanzenarten dar, die neben-
einander leben und nebeneinander deutlich erkennbar sind. Das erste Bild zeigt
mehrere unserer wichtigsten Laubwaldbäume (Eiche, Buche, Birke, Ahorn u. a.)
neben Sträuchern (Hasel, Hollunder u. a.), Stauden (Windröschen, Hahnenfuß,
Schlüsselblume u. a.) und Gräsern in dem Zustand, in welchem alle im mittleren
Norddeutschland etwa Ende Mai oder Anfang Juni erscheinen, also wie sie wirk-
lich nebeneinander stehen könnten. Wenn daher auch das Bild keine getreue
Wiedergabe der Natur ist, wie die im vorherbesprochenen Werke, so ist es doch
auch nicht soweit gekünstelt wie viele Schultafeln, daß es Pflanzen nebeneinander
darstellte, die nirgends nebeneinander zugleich in dem dargestellten Zustande vor-
kämen. Ähnlich steht es mit Tafel II. Sie stellt ein Flachlandmoor etwa aus
gleicher Gegend im Juli dar. Sie zeigt Röhrichtbestände mit Schilf und Schachtel-
halm, eine Insel auf Faulschlamm, im Hintergrunde Erlen und Weiden, die ersten
von Hopfen umgeben. Zahlreiche im und am Wasser lebende Pflanzen sind zur
Darstellung gebracht, so daß das Bild nicht nur zeigt, wie die Pflanzenwelt zur
Landbildung beiträgt, sondern auch die wichtigsten unserer Teich- und Moor-
pflanzen in ihrem natürlichen Wüchse vorführt. Es sind daher die vorliegenden
Tafeln das beste Lehrmittel zur Einführung in die heimische Pflanzengeographie,
das wir bis heute besitzen, sind daher aufs angelegentlichste für die Lehrmittel-
sammlungen der Schulen zu empfehlen. Hoffentlich folgen weitere ähnliche
Tafeln, etwa von norddeutschen Strand- und Heidebeständen bald nach. Zum
Teil könnte das vorher besprochene Werk von Schulz dazu eine Unterlage liefern^
25*
388 F- Hock,
Jenem Werke von Schulz läßt sich an die Seite stellen:
Meerwarth, H., Lebensbilder aus der Tierwelt. Sonderheft: Das Tier-
bild der Zukunft. Leipzig 1908. R. Voigtländer. 60 S. S^. Mit zahlreichen Ab-
bildungen. 0,40 M.
Es enthält neben einer großen Zahl nach Photographien hergestellter Ab-
bildungen von lebenden Tieren mit ihrer Umgebung einige wenige Abschnitte Text.
Es werden nur behandelt „das wilde (es müßte wohl heißen „verwilderte")
Kaninchen" von H. Meerwarth und „der Eichelhäher" von H. Löns, sind da-
her nur wenige Beispiele der Lebensschilderung von Tieren gegeben, während
zahlreiche verschiedene Tiere abgebildet werden. Text und die meisten Bilder
sind gut; auf einigen Abbildungen hebt sich das Tier zu wenig von der Um-
gebung ab, was zeigt, daß auch die Abbildung eines Tieres ohne natürliche Um-
gebung doch bisweilen berechtigt ist, nämlich dann, wenn sich das Tier zu sehr
seinem Aufenthaltsorte angepaßt hat. So würde man z. B. die auf Seite 59 ab-
gebildete brütende Waldschnepfe nicht erkennen können, wenn die Erklärung nicht
dabei stände. Dennoch hat natürlich auch ein Bild wie dieses seinen Wert, gerade
da es die Anpassung an die Außenwelt zeigt. Auch dieses Heft kann daher wohl
empfohlen werden.
Dagegen hält Berichterstatter für ziemlich wertlos:
Kenter, J., Morphologisch-biologisches Skizzenbuch für Schüler
mittlerer und höherer Lehranstalten. Eine Anleitung zur Beobachtung des
Pflanzenlebens. Ausgabe A.: Botanik. Arnsberg. Stahl. 86 S. 8°. 1,60 M.
Es ist darin zunächst je Va — 1 Seite Raum zur Eintragung von Beobachtungen
an Samen, Stengel und Blattbildung, Bildung der Knospen und Blüten, Bildung
der Frucht, Bedeutung der Pflanze im Haushalt der Natur und Bemerkungen für
neun Beobachtungspflanzen. Damit sind 48 Seiten eingenommen. Dann kommt
der verhältnismäßig wertvollste Teil des Buches (22 S.) mit einigen vorgedruckten
Faustskizzen und Raum zu ähnlichen Skizzen. Der Schluß enthält Vordruck zu
Gruppenbeobachtungen, wobei Verfasser noch die Fehler hygrophyl (statt hygrophil)
und xerophyl (statt xerophil) durchgeschlüpft sind. Unterzeichneter weiß nicht,
warum solche Beobachtungen nicht genau so gut in jedes andere Heft eingetragen
werden könnten. Wenn auch die Faustzeichnungen einigen Wert haben, so sieht
er doch nicht ein, wie dieses Buch ein Lehrbuch ersetzen soll und hält seine Be-
zeichnung als „Herbarium im modernen Sinn" auch für sehr übertrieben, den Eifer
des Verfassers im Vorwort gegen den Linnöismus mindestens für zu weitgehend.
Wenn wir auch j^tzt nicht mehr Herbarienbotanik treiben, sondern die Pflanzen
als lebende Wesen behandeln, so erschöpfen wir ihr Wesen nicht annähernd an
neun Beispielen und müssen immer noch viel Systematik treiben, um die Einzel-
ergebnisse zu gruppieren.
Von Werken, die das Studium des Lehrers der Biologie fördern können, liegt
leider nur in einer Lieferung vor:
Guenther, Konrad, Vom Urtier zum Menschen. Ein Bilderatlas zur Ab-
stammungs- und Entwicklungsgeschichte des Menschen. Deutsche Verlagsanstalt,
Stuttgart. Vollständig in 20 Lieferungen ä 1 M.
In dieser Lieferung sind enthalten Tafel 47 u. 48 mit Embryonen von Wirbel-
Schriften aus dem Gesamtgebiet der Biologie usw. 389
tieren, zum Vergleich nebeneinandergestellt, Tafel 14: Scyphozoen und Anthozoen
(sehr schön farbig); Tafel 1: Die Zelle und ihre Vermehrung; Tafel 60: Amphibien
der Vorzeit als Vorfahren der Reptilien und Säugetiere. Leider ist der Text auch
nicht zusammenhängend, sondern umfaßt S. 1—6 und S. 31—50. Dennoch lassen
schon die Proben erkennen, daß das Werk wohl geeignet ist, in die Fragen der
Abstammungslehre einzuführen. Wenn diese auf der Schule behandelt werden
soll, können seine Tafeln dem Unterricht unmittelbar dienstbar gemacht werden.
Zum Teil gleiche Fragen behandelt in wesentlich kürzerer Darstellung:
Meisenheiner, J., Entwicklungsgeschichte der Tiere. Leipzig. Göschen.
Teil I: 136 S. mit 48 Fig., Teil II: 134 S. mit 46 Fig. je 0,80 M.
Teil I behandelt die Furchung, Primitivanlagen, Larven, Formbildung und
Embryonalhüllen, Teil II die Organbildung. Es zeigt schon diese kurze Inhalts-
angabe, daß hier nur die Ontogenie, nicht wie im vorigen Werke auch und zwar vor-
wiegend die Phylogenie berücksichtigt wird. Da jene aber die Hauptstütze für
diese ist, kann auch dieses Werk für stammesgeschichtliche Fragen als Ratgeber
dienen. Es ist, wie fast alle Bändchen der „Sammlung Göschen" in ziemlich
leicht verständlicher Weise geschrieben, aber auf rein wissenschaftlichen Beob-
achtungen aufgebaut.
Zur gleichen Sammlung gehört noch ein vorliegendes tierkundliches Werk:
Werner, F., Das Tierreich, IIL Reptilien und Amphibien. Ebenda.
184 S. mit 55 Abbildungen. 0,80 M.
Es kommt wie das im vorigen Bericht (Monatschrift VII, S. 253) erwähnte
Bändchen von Rauther als Ergänzung kurzer Handbücher für Schülerbibliotheken
in Betracht. Es behandelt die im Titel genannten Tierklassen zunächst allgemein
in ausführlicher Weise und dann die einzelnen Ordnungen unter Aufzählung der
wichtigsten Vertreter. Es kann daher auch dem Lehrer vielfach Aufklärung über
Einzelfragen geben, soweit er nicht genauer Fachkenner ist.
Endlich gehört der gleichen Sammlung an:
Diels, L., Pflanzengeographie. 163 S. 0,80 M.
Das vorzüglich durchdachte Werk des in Fragen der außereuropäischen
Pflanzengeographie bekannten Verfassers zerfällt in folgende vier Hauptteile:
L Floristische Pflanzengeographie,
II. Ökologische Pflanzengeographie,
in. Genetische Pflanzengeographie.
IV. Übersicht der Florenreiche.
Der letzte Teil ist besonders eigenartig, da Verfasser nur sechs Florenreiche unter-
scheidet: das paläotropische, kapländische, holarktische, neotropische, antarktische
und australische, während meist mehr, von Engler aber weniger unterschieden
werden. Die gewöhnlich sonst getrennten Reiche erscheinen hier als Gebiete.
Rein wissenschaftlich betrachtet ist dies sicher bis zu gewissem Grade berechtigt.
Für die Schule scheint Berichterstatter eine solche Einteilung nicht zweckmäßig.
Hiervon abgesehen aber kennt Berichterstatter, trotzdem er mehr als ein Viertel-
jahrhundert auf dem Gebiete selbst gearbeitet hat, kein Werk, das eine so kurze
und doch für die meisten Zwecke vollkommen ausreichende Einführung in die
Pflanzengeographie böte wie dieses. Nur ist zu bedauern, daß abgesehen von
390 W. Münch, Kultur und Erziehung, angez. von E. Orünwald.
einer skizzenhaften Übersicht der Florenreiche am Schlüsse des Buches keine
Abbildungen geboten werden, da viele der genannten Pflanzen den Lesern, für
die dieses Buch doch in erster Linie bestimmt ist, unbekannt sind, aber z. T.
durch Abbildungen wenigstens ihrer äußeren Erscheinung nach bekannt werden
könnten. Doch hätten solche vielleicht den Preis zu sehr erhöht. Aber für eine
neue Auflage wäre dem Verfasser zu raten, zwei Bändchen damit zu füllen, etwa
in allgemeine und spezielle Pflanzengeographie zu trennen, an Text nicht viel
mehr, aber möglichst viele Abbildungen zu liefern. Dann könnte das so schon
anerkennenswerte Werk an Wert noch gewinnen.
Perleberg. F. Hock.
b) Einzelbesprechungen:
Münch, Wilhelm, Kultur und Erziehung. Vermischte Betrachtungen. München
1909. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. 285 S. 8°. geb. 4 M.
In diesem vom Verleger geschmackvoll ausgestatteten Bande hat Münch eine
scheinbar bunte Reihe von meist schon in der Tagespresse erschienenen Aufsätzen*)
vereinigt, die aber durch den Titel nicht übel zusammengehalten werden : Erziehungs-
fragen sind ja schließlich immer Kulturfragen, und Kulturfragen werden schließlich
zu Erziehungsfragen. Pädagogisches im engeren Sinne bringt nur etwa die Hälfte
des Bandes, aber durch aufklärende und kritisierende, ratende und warnende Be-
leuchtung der die Gegenwart beherrschenden Kulturwerte und -Probleme wirkt das
ganze Buch erzieherisch und weist einem ernsten und empfänglichen Laienpublikum
die Wege zu rechter Selbstbesinnung und wahrer Selbstbildung. So wird der
Pädagoge Münch hier wie in seinen außerfachlichen Veröffentlichungen so oft zum
dv&po>TraY(o'^6c. Er spricht einmal bescheiden von sich als dem Laien, der
mit einfachen Menschenaugen lange genug ins Leben hineingeblickt habe (S. 225),
aber diese Augen sind mit dem Alter nicht stumpfer geworden, sondern sehen noch
recht scharf, und — um ihn noch einmal zu zitieren — einer Torheit erliegt
wenigstens sein Alter nicht, die alle jugendHchen Menschen bedroht, nämlich sich
von jeder kühnen Neuheit imponieren zu lassen und in jeder Abänderung des Be-
stehenden einen Fortschritt zu sehen (S. 284). Und mag er daher reden von Regeln
und Anomalien in Vererbung und Generationenfolge, von deutscher und fremder
Art und Sitte, deutscher und fremder Erziehung und Bildung, von Lebens- und
Erziehungsidealen, mag er der Psyche der Völker oder der Geschlechter oder des
Kindes nachgehen, mag er Altes oder Neues, Krankes oder Gesundes, Höhen oder
Tiefen des Volkslebens in den Kreis seiner Betrachtung ziehen, mag er vom Glück-
wünschen oder vom Wetter plaudern oder vom Unmusikalischen aus Musiksälen,
oder mag er endlich seine reife Lebenserfahrung in Sprüchen in Prosa kristallisiert
bieten — immer quillt es ihm aus schier unerschöpflichem Borne, folgen wir dem
hochgebildeten, gedankenreichen und sprachgewaltigen Manne mit gespannter und
*) Zum ersten Male gedruckt sind: .Menschen und Jahreszeiten' und .Wandernde Ge-
danken".
P. W. V. Keppler, Mehr Freude, angez. von J. Riehemann. 391
dankbarer Aufmerksamkeit, freilich auch nicht ohne gelegentliche Beklemmung
gegenüber den hohen Anforderungen, die sein vornehmer Bildungsbegriff an uns
Erwachsene, insonderheit die zum Lehren Berufenen, stellt. Humor und Satire,
ernste und nachdrückliche Rede, leichte Causerie und scharfe Logik stehen ihm
mühelos zu Gebote, und gern schließt ein Gedankengang mit einer Maxime oder
doch wenigstens einem epigrammatisch zugespitzten Resümee. Kabinettstücke der
Sammlung sind „Willensmenschen und Willensbildung* und .Wissen und Bildung".
Unsere ungestümen Reformer, die so gerne fremde Götter anbeten, sollten sich des
Verfassers Warnungen vor kritikloser Herübernahme fremder, entweder noch nicht
ausgereifter und bewährter oder uns wesensungleicher Institutionen, vor Preisgabe
des erprobten Alten, vor Unterschätzung des Schulwissens, vor allerhand Schlag-
wörtern und Modernismen zu Herzen nehmen. Von einigen Aufsätzen wünschte
man, daß sie durch Übersetzung auch im Auslande bekannt würden: auch Franzosen
und Engländern wird hie und da gründlich die Wahrheit gesagt — aber wirklich
die Wahrheit. Weh tat mir der Ausfall gegen die Philologen S. 162: ist ihr Eigen-
sinn wirklich größer als der, sagen wir einmal tapfer, der Mathematiker z. B.?
Gegen ein Schulstrafgesetzbuch (S. 98) wenden sich der schöne Aufsatz von
A. Matthias in der Münchener Allg. Zeitung vom 13. Februar 1909 und eine Arbeit
von mir in der Zeitschrift »Jugendfürsorge" vom März d. J. Zu S. 99, wo die
amerikanische Art, der reiferen Jugend der höheren Schulen ein nicht geringes
Maß von Selbstverwaltung einzuräumen, beistimmend erwähnt wird, vgl. meine
eben angeführte Arbeit S. 112 f., aber auch die etwas abkühlende Bemerkung
Schultzes in Heft II u. III d. J. des Humanistischen Gymnasiums S. 77. Endlich
muß es S. 147, Z. 8 v. u. doch wohl heißen »dem amerikanischen"?
Alles in allem: keine Kathederweisheit, sondern Lebensweisheit.
Berlin. E. Grünwald.
V. Keppler, Paul Wilhelm, Mehr Freude. Freiburg 1909. Herder. 5.— 8. Tausend.
199 S. geb. 2,60 M.
Gerade in der „Monatschrift", die so oft und so nachdrücklich das Recht
unserer Jugend auf Freude betont hat, — und alle, auch oder vielmehr ganz be-
sonders diejenigen, die eine „schwere Schule" für notwendig erachten, müssen einer
solchen Forderung zustimmen — verdient die soeben erschienene kleine Schrift
von Dr. P. W. von Keppler, Bischof von Rottenburg, angezeigt und warm empfohlen
zu werden. Ihre Ziele sind freilich, ohne daß dabei die Rücksicht auf die Schule
vernachlässigt würde, weiter gesteckt; sie sucht, erfüllt von echter Menschen- und
Vaterlandsliebe, der Freude in allen Gesellschaftsschichten, sofern sie ihr noch ver-
schlossen blieben, Eingang zu schaffen. Und leicht wird es dem Verfasser zu-
nächst, darzutun, daß unsere Gegenwart wirklich im allgemeinen freudenarm ist,
daß daran, ganz abgesehen von den beiden mächtigsten „Freudenmördern", dem
Alkohol und der Unsittlichkeit, die soziale Entwicklung überhaupt trotz oder viel-
mehr wegen aller Entdeckungen und Erfindungen die Hauptschuld trägt. Die
moderne Kunst aber verkennt allzu oft ihre Aufgabe, das Leben zu verschönern;
das Volkslied, in das unsere Vorfahren ihre Freude ausjubelten und das zu neuer
Freude Anlaß gab, lebt nur noch in wenigen kümmerlichen Resten weiter. Und
392 P- ^- V. Keppler, Mehr Freude, angez. von J. Richemann.
endlich fehlt es sogar der Jugend, was als Schlimmstes erscheint, am belebenden
und erwärmenden Sonnenscheine. Wie ist da zu helfen ? was kann am ehesten der
verdrossenen Unlust ein Ende bereiten? Der Verfasser erkennt als bestes und
sicherstes Heilmittel das Christentum; daher seine Mahnung: „Zurück zum christ-
lichen Glauben; zurück zu gesundem, christlichem Volksleben, zum religiösen
Ernst, zu Demut und Herzenseinfalt, zu schlichtem, edlem, reinem Sinn, zur
Religion, zur Kirche, zu Christus!" Er schildert die „Freude des Christen", zeigte
wie »schon durch die Schriften und das Leben des Alten Bundes sich reichliche
Silberadern der Freude ziehen", wie der Messias zum Bringer und Mittelpunkt der
Freude wurde, und führt uns endlich in eine „Galerie fröhlicher Menschen", bei
denen Heiligkeit und Heiterkeit sich aufs engste verbanden. Dabei hat er wieder-
holt Anlaß, den weitverbreiteten Irrtum zu bekämpfen, daß rechtes Fröhlichsein
christlicher Gesinnung widerspräche, daß Kreuz und Freude unvereinbare Gegen-
sätze bedeuteten. So bestimmt auch in allen diesen Auseinandersetzungen das
katholische Bekenntnis des Verfassers betont ist, so ist doch sorgfältig jedes Wort
vermieden worden, das Andersgläubige irgendwie verletzen könnte, ganz entsprechend
seiner eigenen schönen Mahnung: „Und wir, die wir im Glauben getrennt und
doch auch wieder geeint an Christus, dem Gottessohn, dem Heiland und Erlöser^
festhalten, .... stellen wir den wahnsinnigen Kampf gegeneinander ein. Wenn
kein anderer Beweggrund uns dazu vermögen sollte, stellen wir ihn ein um der
Freude willen." Neben dem Christentum aber, dem Hauptquell der Freude, kennt
und nennt Keppler noch zahlreiche andere Freuden, die zugleich Heilmittel sind,
die Genesung zu bewirken und zu beschleunigen, und hier findet er manches
sinnige und treffende Wort von der Dankbarkeit, der Erziehung, der Kunst, dem
Naturgefühl u. a. m. Alle diese Darlegungen, in denen auch die einschlägige ältere
wie neuere Literatur sorgfältig berücksichtigt ist, sind dargeboten in einer überaus
edlen, oft zu poetischem Schwünge sich erhebenden Sprache.
Um im einzelnen noch ein Wort beizufügen über die Stellung Kepplers zu
den zeitbewegenden Erziehungsfragen, so läßt sich ihm in allem eine ruhige,,
besonnene Mäßigung nachrühmen, die im wesentlichen freilich einen konservativen
Standpunkt wahrt, aber sich durchaus nicht allen Neuerungen abhold zeigt. Manche
wegwerfende Urteile über die moderne Schule, wie von Fr. W. Foerster und Hilty,
registriert er zwar, doch er nimmt Anstoß, sie sich selbst zu eigen zu machen.
Allgemeiner Zustimmung dürfen sicher sein die Worte: „Der Lehrer und Erzieher
steht in der Tat höher, der mit den feinen geist-leiblichen Mitteln, mit Sonnenstrahlen
der Freude, mit scharfen Worten und Blicken dasselbe und mehr erreicht, als ein
anderer mit scharfen Hieben. Der Lehrer, welcher es versteht, dem Schüler Freude
am Unterrichtsgegenstande einzuflößen, hat gewonnenes Spiel; diese Freude wird
ihm eine treuere Bundesgenossin und Lehrgehilfin sein als der Stock." Anderseits
freilich wendet er sich im Anschluß an Paulsen, dessen letzte Schrift wiederholt
die anerkennendste Erwähnung findet, gegen die „törichten Versuche, die Lust am
Lernen zur einzigen Triebfeder aller Arbeit zu machen und so die Freude in die
Schule zurückzuführen"; auch ihm scheint unumgänglich nötig „die Rückkehr zu
den drei großen Imperativen: Lerne gehorchen I Lerne dich anstrengen! Lerne
dir versagen und deine Begierde überwinden l" Sehr berechtigt erscheint ihm die
E. Jaques-Dalcroze, Der Rhythmus als Erziehungsmittel usw., angez. von F. Saran. 393^
Warnung Foersters vor ,der neuerdings Mode werdenden (sexuellen) Aufklärungs-
manie, welche die Gefahr nicht beschwört, sondern heraufbeschwört*. Um so ent-
schiedener aber tritt er ein für die Pflege körperlicher Übungen, auch den Sporte
, sofern letzterer sich in vernünftigen Grenzen hält".
Alles in allem wird das Buch, das sich ungemein rasch verbreitet hat und wenige
Tage nach seinem Erscheinen schon in der 1. Auflage völlig vergriffen war, in
Einzelheiten vielleicht nicht ohne Widerspruch bleiben, seinem eigenartigen Zauber
wird sich aber kein Leser entziehen können. Und so steht zu hoffen, daß, nacfi
der Absicht des Verfassers, die Worte des Titels nicht bloß ein gutgemeinter Oster-
gruß, ein Wunsch und Sehnsuchtsruf bleiben, sondern daß die Schrift auch das Ihrige.
dazu beiträgt, sie zur Wirklichkeit werden zu lassen.
Meppen. Josef Riehemann.
Jaques-Dalcroze, E., Der Rhythmus als Erziehungsmittel für das Leben-
und die Kunst. Sechs Vorträge, zur Begründung seiner Methode der rhyth-
mischen Gymnastik. Deutsch her. v. P. Böpple. Basel 1907. Helbing und.
Lichtenhahn. V und 154 S. 3,20 M.
Die Pflege, welche unsere Zeit — endlich! — durch Turnen, Sport, Luftbad usw.
dem Körper zu teil werden läßt, das Interesse, welches sich dadurch auf die Aus-
bildung des Körpers zu richten anfängt, finden allmählich ihren Widerball in der
Kunst. Das Verständnis für Plastik ist im Steigen begriffen und, wenn nicht die
Zeichen trügen, stehen wir im Beginn einer Erneuerung der Tanzkunst, nicht des
völlig erstarrten französischen Ballets, sondern einer Kunst im Sinne der alten
Orchestik, der die Bewegung des Körpers wirklich Ausdrucksmittel war, wie uns
der Ton. J. Dalcroze fühlt diesen Zug der Zeit und so möchte er die Kunst der
zweckmäßigen und schönen Körperbewegung auch in die Erziehung einführen. Seine
Methode hat erjn einem zweibändigen Werk mit 10 anatom. Tafeln, 80 Zeichnungen^
120 Photographien und 160 rhythmischen Märschen bei Sandoz, Jobinet Co. (Neu-
chätel, Paris u. Leipzig) erscheinen lassen. Diese 6 Vorträge sollen uns in die
Methode einführen und über sie kurz unterrichten.
Verfasser will lehren, wie durch zweckmäßige Unterweisung schon der Kinder
d". h. durch Aufsteigen von einfachen zu verwickelten Bewegungen, Einüben
gleichzeitiger, erst gleichartiger, dann rhythmisch verschiedener u. s. w. volle
Herrschaft über die Bewegungen des Körpers erreicht werden kann. Die Übungen,
sind stets rhythmisch und sollen zur plastischen Schönheit des Körpers führen.
Sie sollen die Grundlage bilden für eine neue Tanzkunst, die den ^Rhythmus
in kunstvoller Zusammensetzung verwendet (Polyrhythmie !) wie jetzt die Musik
den Ton. Verfasser verspricht sich von solchen Übungen auch Herausbildung
eines stärkeren Gefühls für den Rhythmus in der Musik. Vor allem aber wird der
Wille gestärkt, wenn der Mensch lernt seinen Körper zu beherrschen, und so schreibt
D. seiner Methode auch einen großen psychologischen Wert zu.
Man muß D. in diesen allgemeinen Grundsätzen zustimmen und kann nur
wünschen, daß seine Bemühungen das Streben nach schöner Durchbildung des
Körpers verstärken und diese so wichtige Seite der antiken Bildung mit wieder-
erwecken helfen. Ob aber die vorliegenden 6 Vorträge sehr geeignet sind, der
394 K. Huemer, Auf die Probe kommt's an, angez. von E. Grünwald.
Methode Anhänger zu erwerben, fragt sich sehr. Die rhythmischen Begriffe sind
ganz unwissenschaftlich, die Darstellung fällt sicher selten in breites Gerede ohne
Inhalt, man vermißt eine klare und nicht vorwärtsschreitende Gedankenentwickelung,
kurz es ist kein Vergnügen sich durch die 153 Seiten durchzuwinden. Gleichwohl
sei D.'s Methode der Aufmerksamkeit der Lehrer angelegentlich empfohlen.
Halle a. S. F. Saran.
Huemer, Kamille, Auf die Probe kommt's an. Referat über die Frage der
Mittelschulreform. Wien 1908. Alfred Holder. 16 S. S». 0,40 M.
Mit seinem im Verein „Mittelschule für Oberösterreich und Salzburg" zu Linz
gehaltenen Vortrage erstrebt der Verfasser die Versöhnung der Humanisten und
Realisten durch eine uns Reichsdeutschen nunmehr schon geläufige, in dieser Monat-
schrift öfter erörterte und aus der Praxis beleuchtete Berücksichtigung beider
Richtungen, d. h. durch Gabelung des Oberkursus des Gymnasiums in eine
humanistische und eine naturwissenschaftliche Abteilung. Da Österreich das Real-
gymnasium noch nicht hat und ein Abiturient seiner einen nur siebenjährigen
Kursus umfassenden Realschule nicht als ordentlicher Hörer der Universität im-
matrikuliert werden kann, so ist bei unsern Nachbarn eine solchen Organisation viel-
leicht angebrachter als irgendwo; die grundsätzlichen Bedenken, die gegen sie
vorgebracht werden können, gelten freilich auch dort. Das Referat beginnt mit
«inem hübschen Überblick über die Geschichte der deutschen Lateinschule und
-zeugt von warmem Verständnis für die Bedeutung des klassischen Bildungsideals,
enthält auch sonst manch treffenden Gedanken; so werden viele des Verfassers
Bedenken über die Zweckmäßigkeit der altsprachlichen Ergänzungskurse für
Studenten teilen. Daß übrigens den Absolventen der Oberrealschule in Preußen
die juristische Fakultät ohne Ergänzungsprüfung offen stehe (S. 9), ist ein Irrtum.
Berlin. E. Grünwald.
Jlirzel, Rudolf, Rede, gehalten zur Feier der akademischen Preisvertei-
lung am 24. Juni 1905. 24 S. in 4. Jena 1905 (G. Neuenhahn). 1 M.
Röhl, H., Entlassungsreden. 58 S. Leipzig 1904 (B. G. Teubner). 1 M.
Zwei Hefte, deren Lektüre dazu beitragen kann, einem die Beschäftigung mit
dem Altertum und mit der Jugenderziehung durch es froh werden zu lassen.
Hirzel behandelt die Frage, was die Wahrheit war für die Griechen. Er zeigt,
wie bei ihnen das Suchen -nach Wahrheit von der Rechtspflege ausgegangen ist,
sodaß eben hieraus sich die Benennung dXY]i>£ta erklärt, wie dann im Entwick-
lungsgange griechischer Forschung der Begriff immer mehr sich vertieft hat, bis
die Blüte der SpezialWissenschaften und später der praktische Sinn der römischen
Weltherrscher den Gedanken auch der Gelehrten eine andere, mehr dem Richtigen,
praktisch Verwendbaren zustrebende Richtung gaben. — Röhls Abiturientenreden,
im Domgymnasium in Halberstadt gesprochen, lassen wieder erkennen, welche
Fülle von Beziehungen zum wirklichen Leben in dem Gedankenkreise der Schule
enthalten ist und für eine sinnende Betrachtung des Lebens fruchtbar gemacht
werden kann. Mit beweglichem Geist und gutem Geschmack, stellenweise mit
«inem Anflug von Humor, hat der Redner die Sprüche, Erzählungen, Begriffe,
A. Hippius, Der Kinderarzt als Erzieher, angez. von H. Weimer. 395
Gegenstände ausgewählt, um die er seine Gedanken gruppiert. Ernst und doch
heiter, nicht eintönig, aber so, daß alles in einen Ton zusammenklingt, geben
diese Abschiedsworte ein ansprechendes Bild von der Gemeinschaft, aus der sie
erwachsen sind.
Münster i. W. Paul Cauer.
Hippius, A., Der Kinderarzt als Erzieher. München 1909. C. H. Beck'sche
Verlagsbuchh. (Oskar Beck). VI u. 324 S. 8°. 4 M.
Man kann den Verfasser dieses Buches nur beglückwünschen. So wertvoll
die Schrift für Eltern und Ärzte ist, so lehrreich ist sie für den Schulmann. Geht
Hippius auch zu weit, wenn er die Pädagogik kurzweg als einen Teil der Hygiene
bezeichnet, ein Irrtum, auf den ich schon in der Zeitschrift für Kindererforschung
hingewiesen habe — , so muß man es ihm doch als Verdienst anrechnen, daß er
die körperliche und seelische Entwicklung des Kindes als die von der Natur gegebene
Grundlage unserer Erziehungsarbeit mit allem Nachdruck in den Vordergrund rückt und
danach seine pädagogischen Anweisungen gibt. Was er an solchen Anweisungen
vorbringt, dürfte von der Mehrzahl der Berufserzieher gebilligt werden. Wer es
nicht schon weiß, der kann aber auch aus diesem Buche lernen, daß die unter-
richtliche Tätigkeit nur einen bescheidenen Teil unserer gesamten Erziehungsarbeit
ausmacht.
Wiesbaden. Hermann Weimer.
Wielands gesammelte Schriften, herausgegeben von der deutschen Kommission
der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. I. Abteilung: Werke.
Erster Band. Poetische Jugendwerke. I. Teil. Herausgegeben von Fritz Homeyer.
Berlin 1909. Weidmannsche Buchhandlung. XI u. 462 S. 9 M. II. Abteilung:
Übersetzungen. Erster Band. Shakespeares theatralische Werke. Erster und
zweiter Teil. Herausgegeben von Ernst Stadler. 1909 ebenda. 372 S. 7,20 M.
Die gesamten Schriften Wielands werden mit dieser Ausgabe im Umfange
dreier Abteilungen veröffentlicht werden, alles in allem mindesten 50 Bände. Die
drei Abteilungen enthalten die Werke, die Übersetzungen und die Briefe. Da
Zuschüsse nötig sind, hat die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften
die Aufgabe übernommen und diese ihrer Deutschen Kommission überwiesen.
Diese ist mit dem vertrautesten Kenner Wielands, Bernhard Seiffert, in Verbindung
getreten, der den ganzen Briefkorpus übernehmen wird. Er hat seine Richtlinien
dargelegt in den Abhandlungen der Akademie 1904, 1905, und 1908/09 „Prole-
gomena" zu einer Wielandsausgabe. Im Bunde mit Erich Schmidt ist er zu Personen
und Bibliotheken in Beziehung getreten, welche beisteuern können zu der großen
Sammlung. Diese wird nun die erste vollständige Ausgabe bilden. Was bisher
vorlag, konnte höheren Ansprüchen nicht genügen. Die neue Ausgabe wird den
ganzen Entwicklungsgang Wielands vorführen. Sie wird einen Kommentar nicht
bringen, so weit nicht jetzt Unverständliches einer knappen Erläuterung bedarf,
dagegen außer Registern zur Übersicht der Fülle des Stoffes und außer gelegent-
lichen Proben von Bilderschmuck alter Ausgaben einen kritischen Apparat, worin
Handschriften die Reihe der zum Teil sehr seltenen ersten Drucke ergänzen. Nach
396 Wielands gesammelte Schriften, angez. von A. Matthias.
einer knappen Geschichte des einzelnen Werkes wird er die Varianten bieten, so-
weit sie die inneren und äußeren Wandlungen entfalten und allseitig die Kenntnis
der Sprache fördern. Der ganze Apparat wird von den Texten getrennt erscheinen
in besonderen Heften und Bänden. — Die erste Abteilung soll die Werke bringen.
Homeyers erster Band enthält die Poetischen Jugendwerke, von Knabengedichten
bis zum „Schreiben von der Würde und Bestimmung eines schönen Geistes".
Hier finden wir Dichtungen des frühreifen Talents, das schon vom elften Jahre an
eine unendliche Menge von Versen geschrieben hat, die nicht echter Empfindung
entsprangen, sondern Nachahmungen Brockesscher Redseligkeit und Klopstockscher
Dichtung waren: so das Gedicht „Natur der Dinge" (mit 18 Jahren gedichtet),
voll ungewöhnlicher Belesenheit und erfüllt von ganz andrem Schwung als Hallers
Poesie, ferner die im 20. Jahre gedichteten moralischen Briefe, die arm an Poesie»
aber sehr moralisch sind und von einer Menschenkenntnis zeugen, die mehr aus
Gemälden als aus der Wirklichkeit geschöpft war; vor allem aber interessiert der
Antiovid (mit 19 Jahren gedichtet), aus dem schon der Satyr sich zeigt, inhaltlich
sehr moralisch und durchzogen von einer in sinnlichen Bildern schwelgenden
Frömmigkeit, in verführerische Sprache gekleidet. Daneben noch vieles Inter-
essante aus der Jugendzeit.
Die zweite Abteilung beginnt mit den Shakespeareübersetzungen, voran der
Sommernachtstraum; dieser allein in Blankversen, die anderen in Prosa. Diese
Übersetzungen, so große Mängel sie zeigen, haben doch ihren Wert. Die „glück-
liche Wörterfabrik" Wielands, wie Lessing einmal gesagt hat, zeigt sich hier in
den kühnsten Neuschöpfungen der Sprache. Man kann es verstehen, wie Lessing
und Goethe dankbar die Leistungen Wielands anerkannten und wie Lessing nicht
mit seinem Hinweis auf Shakespeare hätte wirken können, wenn Wielands Über-
setzungen nicht gewesen wären.
Den ersten Veröffentlichungen der dritten Abteilung muß man mit Spannung
entgegensehen. Denn hier wird uns die bewegliche, reizbare, enthusiastische
PersönUchkeit, deren konziliante Gespräche lange Zeit ihren Umgangskreis entzückt
und berückt haben, erst in vollem Lichte entgegentreten und uns klar machen, wie-
viel unsere Sprache dem zwanglosen und künstlerischen Plauderer zu danken hat.
Zum Schlüsse sei auch auf „die hübsche Fügung" hingewiesen, auf welche
Erich Schmidt im Vorwort aufmerksam macht, daß Wieland hier dank dem Ent-
gegenkommen des Leiters der Weidmannschen Buchhandlung, Dr. Vollert, zur
Wiedergeburt in den Verlag heimkehrt, aus dem einst die „Musarion" und andere
hervorgegangen sind. — Der Weidmannsche Verlag kann auf diese Ausgabe, wie
auf manch andres Werk, mit gutem Rechte stolz sein.
Berlin. A. Matthias.
Bücher der Weisheit und Schönheit, hrsgb. von J. E. Freiherrn von Grotthuß.
Jeder Band geb. 2,50 M. 12 Bände nach freier Wahl 25 M. Stuttgart o. J.
Greiner und Pfeiffer. 1. Walther von der Vogelweide a. d. Mhd. übertragen,
eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Rieh. Zoozmann. 2. Friedrich
der Große, Auswahl aus seinen Schriften und Briefen nebst einigen Gesprächen
mit de Gatt, hrsgb. von F. Lienhard.
Die Schätze der Weltliteratur unter dem Gesichtspunkt der Weisheit und Schön-
Bücher der Weisheit und Schönheit, angez. von P. Lorentz. 397
heit, d. h. also aus ihrem Reichtum das auszuwählen, was durch seinen ethisch-
religiösen und ästhetischen Wert dauernde Wirkung auszuüben bestimmt ist, war der
fruchtbare Gedanke von Grotthuß, der als Herausgeber des Türmers mit dazu berufen
ist, den Geschmack des deutschen Publikums zu leiten. Für dessen Pflege kommen
natürlich in erster Linie die einheimischen Dichter und Denker in Betracht, die
denn auch in den bis jetzt erschienenen 33 Bänden jenes Sammelwerks bei
weitem überwiegen. Die beiden großen Deutschen, denen die hier zu be-
sprechenden Bände gewidmet sind, haben in Sprachen geschrieben, die, um auf die
größere Masse auch der Gebildeten zu wirken, erst übersetzt werden müssen. Wenn
ein Biograph Walthers von der Vogelweide, Schönbach, behaupten durfte: „So
lange uns Walthers Verse nicht von den Lippen fließen wie dem Italiener Dantes
Terzinen, so lange ist unsere Kultur halb", so hatte er natürlich an die mittelhoch-
deutsche Urform seiner Dichtungen gedacht, aber auch die heute wieder eifrigere
Pflege des Urtextes in der Schule wird jene Möglichkeit für den größten deutschen
Lyriker vor Goethe doch nur einem recht kleinen Kreise verschaffen. Zahlreicher
werden immer noch diejenigen sein, die die Schriften des großen deutschen Königs,
der zugleich eines der größten Genies aller Völker und Zeiten war, in der franzö-
sichen Urform lesen können. Ist aber die Bekanntschaft mit den Dichtungen
Walthers und den Schriften Friedrichs des Großen ein wesentliches Stück deutscher
Bildung, so muß eben zur Übertragung in unsre heutige Sprache gegriffen werden.
Dichter sollten womöglich immer wieder von Dichtern übersetzt werden, aber
freilich nur von solchen, die das wissenschaftliche Rüstzeug ebenso wie die Leyer
zu handhaben verstehen. Richard Zoozmann erfüllt diese Bedingungen gut. In
der kurzen Übersicht des Lebensganges Walthers hat ihn allerdings die dichterische
Phantasie mit zu großer Sicherheit manches schon als Tatsache sehen lassen, was
die Wissenschaft doch nur als Hypothese oder kaum als solche gelten läßt, wie
Walthers Geburt um 1168, sein Erzieheramt bei einem Sohne Friedrichs IL, den
Sängerkrieg auf der Wartburg, seine Teilnahme am Kreuzzuge von 1228. Die Art
der neuhochdeutschen Umdichtung — denn das mußte die Wiedergabe vielfach
werden, die sich mit Recht die Vorarbeiten auf diesem Gebiet, also besonders die
von Simrock, Schröter, Pannier, zunutze macht — zeugt von der Fähigkeit, mit
der Übertragung des Sinnes der in mittelhochdeutscher Sprachform ausgedrückten
Gedanken Walthers in die neuhochdeutsche doch die Gefahr zu vermeiden, ganz
neue Gedichte im Stil des 19. oder 20. Jahrhunderts zu schaffen, was zum Teil
der Fehler Schröters war. Der Stil des mittelhochdeutschen Dichters, und wo es
anging, auch die Reime und das Versmaß sind beibehalten, nur zuweilen sind
mit Recht zur Erhöhung des Wohlklanges Auftakte da weggelassen oder hinzu-
gefügt, wo ein Wechsel von Jamben und Trochäen störend wirkte ; das hätte aber
noch häufiger angewendet werden sollen. Die Übersetzung wird eingeleitet durch
ein stimmungsvolles Gedicht Zoozmanns, das die Dichtung Walthers gut charak-
terisiert. Der ganze Reichtum dieses gedankenreichen, vielseitigen und männlichsten
Lyrikers des deutschen Mittelalters ist übersichtlich geordnet in die Abteilungen:
Minnelieder — Ein fahrender Gesell — In Kaisers Diensten — Gegen die Kutten
— Vom sinkenden Reich — Religion, Lehrhaftes und Spruchdichtung. Von den
Minneliedern, die zu einem guten Teil den heutigen Deutschen doch fremdartig
398 Bücher der Weisheit und Schönheit, angez. von P. Lorentz.
anmuten — es kommt da oft mehr nur das kulturgeschichtliche Interesse, nicht
immer auch das Empfindungsleben auf seine Rechnung — hätten eine Reihe ohne
Schaden fehlen können. Das Verständnis der in ihrer Art ganz unerreichten
politischen Dichtungen Walthers wird durch gute geschichtliche Kenntnisse, für
deren Übermittlung die Anmerkungen zum Teil sorgen, unterstützt werden müssen.
Die lehrhafte Spruchpoesie ist wie die rein menschlich schönen und wahren Stücke
der Minnelieder so modern wie möglich in der Vereinigung des Humanen mit dem
Nationalen. Ein paar Seltsamkeiten im Ausdruck sind mir aufgefallen, die eine
künftige Auflage besser abstellt, so S. 83 dann kusch dich, Mut — S. 104
dein Ehrenschatz-Behalter — S. 116 Bannblitz — S. 120 das Schach
halte Rast — S. 137 niemals pflanzt dieRute... ein dasGute, ferner der
Druckfehler in der Einleitung Heinrich IV. statt VI. Der beste Erfolg, den wir dem
Buche wünschen, ist der, daß es recht viele zum Studium des Originals veranlassen
möchte, denn das wird vor allem eine gute Übersetzung tun, eine schlechte
schreckt ab.
Fritz Lienhard, ein Volksschriftsteller im allerbesten Sinne des Wortes, war
der geeignete Mann, weitere Kreise mit einer Auswahl aus den Werken Friedrichs
des Großen bekannt zu machen. Mit Recht hat er dabei gerade an die Jugend
gedacht, in deren Seelen, durch den Geschichtsunterricht vermittelt, die Gestalt des
großen Königs bereits mit unverlöschlichen Zügen geprägt werden kann, so daß
die Möglichkeit vorhanden ist, daß der später im taten- und leidensreichen Leben
stehende Mann den eigentlichen Menschen und den Denker zu erfassen vermag.
Lienhards Auswahl bietet eine willkommene Ergänzung zu seiner Darstellung
Friedrichs des Großen im dritten Bande der „Wege nach Weimar", die sich bei
der weiteren Fortsetzung immer deutlicher als recht brauchbarer Wegweiser für
unsere nationale Geisteskultur darstellen. Einen Gesamtbegriff von dem Menschen
und Schriftsteller, dem Dichter und Erzieher, die in dem Feldherrn und Philosophen
Friedrich steckten, erhalten wir in der Tat aus Lienhards Buch. Eine Fülle von
Einzelzügen und Situationen werfen ein höchst charakteristisches Licht auf die Art,,
wie der König sich gab, auf die Art, wie er über Menschen und Verhältnisse urteilte.
Als siegreichen wie als geschlagenen Feldherrn lernen wir ihn aus seiner eigenen
Darstellung in Briefen und Gesprächen kennen, die gerichtet sind an seine Schwester^
die Markgräfin von Bayreuth, an Voltaire, an d'Alembert und seinen Vorleser de
Gatt. Der Philosoph, der über den Ursprung des Weltalls reflektiert, über den
Wert und Sinn des Lebens, tritt uns gleichfalls in vollster Deutlichkeit nahe. Sein
Menschentum wächst zu erhabener Höhe empor, wenn der König rückhaltlos seine
eigenen Fehler und Schwächen bekennt, sein nationales Heldentum tut es da, wo
er sein Leben setzt an die Erhaltung der Ehre des Staates. Den Geschichtsschreiber
lernen wir kennen mit der Darlegung seiner Gründe zum Kriege gegen Maria
Theresia und der Schilderung der Schlacht bei Mollwitz, ferner aus der Charak-
teristik Caesar Borgias im Anti-Macchiavell , den Erzieher aus der Instruktion für
Karl Eugen von Württemberg und der für den Erzieher des späteren Königs
Friedrich Wilhelms IL Der Dichter Friedrich der Große wird den heutigen Deutschen
zumal in der übersetzenden Nachdichtung verhältnismäßig wenig ansprechen , da
man doch durch die Rhetorik des Stils stark gestört wird und durch die allzu lehr-
H. Unbescheid, Die Behandlung usw., angez. von P. Goldscheider. S9^
hafte Tendenz. Von den geistvollen und formvollendeten Abhandlungen finden-
wir die über die Schmähschriften und eins der Totengespräche. Mit Recht ganz
aufgenommen ist die Schrift über die deutsche Literatur mit der ebenso charak-
teristisch großartigen Verkennung ihrer Leistungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts wie der durchaus richtigen Beurteilung der Mittel, die eine künftige
Blüte hervorbringen mußten. Das Testament des Königs, das den Schluß bildet,
ist ein schönes Zeugnis der menschlich-patriarchalischen Fürsorge für die, die ihm
im Leben am nächsten gestanden hatten, — Die Übersetzung ist durchweg nach
den besten vorhandenen Ausgaben gegeben mit gelegentlicher Änderung auf
Grund der französischen Gesamtausgabe. Möchte die Auswahl aus dem „Werke"
Friedrichs des Einzigen, dessen Schlachtfelder der Herausgeber sehr richtig als seine
besten Gedichte, dessen straffe Lebensführung er als sein bestes Epos bezeichnet,
recht viel von der deutschen, vor allem der preußischen Jugend gelesen werden!
Die höchst gesckmackvolle Ausstattung, die alle Bände der Bücher der Schönheit
und Weisheit aufweisen, wird hoffentlich auch das ihre dazu beitragen.
Friedeberg Nm. Paul Lorentz.
Unbescheid, Hermann, Die Behandlung der dramatischen Lektüre, er-
läutert an Schillers Dramen. Dritte Auflage. Berlin 1908. Weidmannsche
Buchhandlung. IV u. 189 S. 3,60 M.
In der vorliegenden dritten Auflage seiner „Behandlung der dramatischen Lek-
türe" hat Unbescheid eine Übersicht über „Minna von Barnhelm", „Macbeth" und
„Faust" hinzugefügt; ferner ist ein Verzeichnis der seit 1876 mit den Jahresberichterr
der höheren Schulen veröffentlichten Abhandlungen über Schillers Dramen bei-
gegeben worden.
Unbescheid hatte in der ersten Auflage seines Werkes vorzugsweise Schillers
Dramen berücksichtigt, deren Aufbau er an der Hand Freytagscher Kunstgesetze
entwirft. Er entwickelt nicht ein Drama im Zusammenhange nach seinem Gesamt-
verlaufe, sondern er behandelt die einzelnen dramatischen Gesichtspunkte, wie
charakterisierenden Akkord, Exposition, erregendes Moment und ähnliches, und
belegt sie jedes Mal mit erläuternden Beispielen. Den Abschluß dieses Hauptteiles
bildet von S. 148 ab unter C eine Übersicht, welche Ergebnisse und drama-
turgische Tafeln enthält; die Geometrie der letzteren (S. 151 — 158) artet meines
Erachtens in Spielerei aus. Dagegen pflichte ich den Leitsätzen der „Ergebnisse"
durchaus bei. Jedoch mit Unbescheids Entfaltung der Werke kann ich mich bei
der neuen Auflage ebensowenig befreunden, als es bei den früheren Auflagen der
Fall war. Er bemerkt im Vorwort zur zweiten Auflage (1890): „Fast die sämtlichen
seit 1886 zu den klassischen Dramen erschienenen Erläuterungsschriften haben sich
den (vom Verfasser) ausgesprochenen Grundsätzen und gegebenen Proben an-
geschlossen, und es sei den Herren Verfassern, auch denen, die dies in sehr aus-
giebiger Weise getan haben, an dieser Stelle der beste Dank ausgesprochen." Ich
möchte weder den Abschreibern dafür danken, denen dieses ironische Lob gilt,
noch der sonstigen, zweifellos sehr zahlreichen Gefolgschaft Unbescheids. Diese
dürre, mechanische Abwandlung von Kunstparadigmen hat dem deutschen Unter-
richte schweren Schaden zugefügt. Begreifen läßt es sich ja freilich, daß so viele
400 F- Rose, Heideschulmeister Uwe Karsten, angez. von A. Matthias.
«lach diesen bequemen Hilfsmitteln greifen; gehören doch auch die stets wachsenden
Auflagen der fertigen Dispositionen zu dem Handwerkzeuge der Lehrer — und
Schüler I Dem Geiste einer selbständigen und sinnigen Erklärungskunst entsprechen
diese Schemata nicht; und sie gewinnen nicht dadurch, daß überall unter dem
Strich „die auffälligsten Mängel" der klassischen Dramen nach Düntzer zu-
sammengetragen werden.
Cassel. P. Goldscheider.
I^ose, Felicitas, Heideschulmeister Uwe Karsten. Roman. Berlin 1909.
Deutsches Verlagshaus Bong & Co. 320 S. 4 M. geb. 5 M.
Tagebuchblätter einer Frühvollendeten könnte man diesen Roman auch betiteln.
Denn Ursula Diewen, die reiche Hamburger Patriziertochter, welche den kernigen
Heideschulmeister Uwe Karsten zum Gatten nimmt und mit ihm über die Maßen
glücklich wird, führt die Feder und bildet die Seele des Romans, in welcher sich
das Bild des Heideschulmeisters spiegelt. — Frühvollendet in jedem Sinn ist diese
Frau; deshalb geht sie so früh dahin, weil sie für diese Welt zu edel ist und ein
Glück genießt, das nur im Lande der Sehnsucht eine Heimstätte zu finden hat.
Und nachdem sie geschieden aus ihrem Glück, ist es dem Leser, als sei ein An-
gehöriger dahingegangen, der ihm wie kein anderer ans Herz gewachsen war,
und als ob eine Lücke gerissen sei im Herzen, die unausfüllbar klafft. Die
Oründe für diese Wirkung liegen nahe. Die Künstlerin, die diesen Roman
und das sonnige Wesen der Ursula Karsten geschaffen hat, sieht nicht wie so
viele Künstler unserer Tage nur die Schatten, sie ist ein Sonntagskind und weiß
■die Sonne zu sehen. Sie sieht nicht die Schwächen der Menschen allein und hängt
nicht knechtisch an ihnen; sie sieht die Stärke, die Kraft der Seele, wie sie die
Stillen im Lande hegen, und sie sieht sie nicht allein, sie glaubt an diese Kraft
in einer Zeit, die in der Verherrlichung der Schwächen sich so gern ergeht. Daß
dieser Roman in dieser Monatschrift besprochen wird, hat er seinem Erziehungswert
-ZU danken. Ein idealer Erzieher steht in seinem Mittelpunkt. Der prächtige Uwe
Karsten, dessen Wesen geadelt wird durch Entsagung und Pflichtgefühl, auf den
das Wort Goethes paßt: „Wer andre wohl zu leiten strebt, muß fähig sein, viel zu
entbehren"; dieser Mann, der die Lebensbedingungen der Großstadt klein und den
Horizont der Großstadt eng findet, aber die Heide und die Einsamkeit als Weite
erkennt, ein Schulmeister von echtem Schrot und Korn, der alles mit Güte und
Gerechtigkeit auf die rechten Wege bringt und der seine pädagogischen Ideale in
den Worten zusammenfaßt: „Sechzig Knaben und Mädchen, sechzig Menschenseelen!
Und in jeder ein heiliger Gottesfunken, in jeder ein Durst, ein Verlangen nach Licht.
In jeder eine rührende Bitte, daß man diesen Funken anblase, wachsen lasse, un-
ermüdlich schüre, bis er zur reinen Flamme werde. Und mir gilt diese Bitte; ich
darf ihr Erfüller sein. Gibt es etwas Köstlicheres? Schulmeister! Man spricht es
so gedankenlos hin; und doch sollte niemand so vermessen sein, sich so zu nennen. —
Des großen einzigen Schulmeisters Handlanger, das bin ich." Und neben ihm
seine prächtige Ursula, die immer von der Empfindung belebt wird, viel zu wenig
Pflichten zu haben. Beide ^er verstaubten, dickköpfigen, engherzigen Patrizier-
-herrlichkeit der Hamburger gegenüber erfüllt von dem Stolze, daß es wohl eine
F. Heim, Materialien zur Herodotlektüre, angez. von G. Lang. 401
Kluft zwischen den Anschauungen des Hauses Diewen und denen des Lehrer-
hauses in der Heide gebe, niemals aber zwischen Mensch und Mensch. Doch genug.
Auf Einzelheiten einzugehen, ist hier nicht Raum; und wozu aus der Schule plaudern,
in welcher Uwe Karsten unterrichtet? Auch aus der Schule des ihn umgebenden
Lebens, in welche er so wirksam eingreift? — Alles ist mit so plastischer Kunst
gezeichnet; der Stil so sorgsam und offenbar mit vielem Fleiß geformt und gestaltet,
daß man das Buch getrost in die Reihe mit unseren Klassikern stellen kann.
Sie brauchen sich nicht voreinander zu schämen. Und daß es ein Dorfschulmeister
ist, der hier als Vorbild uns entgegentritt, wird akademischer Bildung, die sich
über Kastengeist erhaben fühlen sollte, gewiß nichts schaden, besonders in
unseren Tagen, da man berechtigtes Standesgefühl und Standesdünkel doch nicht
immer fein säuberlich zu trennen weiß.
Berlin. A, Matthias.
Helm, Franz, Materialien zur Herodotlektüre. Heidelberg 1908. Carl Winters
Verl. XV u. 202 S. gr. 8°. 5 M., geb. in Leinw. 6 M.
,Es steckt viel pädagogischer Stoff und pädagogischer Sinn im Herodot",
dieses Wort Otto Willmanns hat sich der Verfasser zum Motto gewählt, und es ist
ihm in der Tat gelungen, dessen Wahrheit trefflich zu veranschaulichen. Er macht
auf alles aufmerksam, was in erzieherischer Hinsicht bedeutsam ist; er tut dies
aber nicht pedantisch zerpflückend oder durch Einzelerklärung ermüdend, er greift
vielmehr die hervorstechenden Gesichtspunkte heraus und verarbeitet sie zu kleinen
Abhandlungen über die Geschichte im allgemeinen und die behandelten Personen
und Ereignisse im besonderen, dabei werden kultur- und literaturhistorische, auch
ethische Fragen eingehend berücksichtigt.
Das Buch ist frisch und anregend und in aufrichtiger Begeisterung für Herodot
hinreißend und begeisternd geschrieben. Man spürt es ihm an, es ist nicht
gemacht, es ist geworden. Die einzelnen Abschnitte sind aus des Verfassers
Erfahrung herausgewachsen; erst als sie wiederholt im Unterricht durchgearbeitet
waren, wurden sie der Veröffentlichung für würdig befunden. So enthält das
Buch das Beste und Reifste, was nur ein guter Pädagog in jahrelangem Bemühen
zeitigen kann ; es ist ein treffliches Vademecum für Herodotleser, ein pädagogischer
Kommentar voll goldener Worte praktischer Weisheit.
Der Verfasser sieht im Gymnasium die Elementarschule der Wissenschaft und
in diesem Sinne übt und lehrt er die Kunst, die schwierigsten Dinge und Fragen
an der Hand Herodots in elementarer Weise dem Verständnis der Schüler zu
erschließen. Es ist bewundernswert, wie er aus anscheinend nebensächlichen
Notizen und Episoden in pädagogischer Hinsicht Kapital zu schlagen versteht,
ohne der naheliegenden Gefahr zu erliegen, sich in lauter Exkursen zu zersplittern.
Er arbeitet zugleich den künstlerischen Aufbau des Werkes anschaulich heraus,
indem er den großen Gesichtspunkt Herodots, den ewigen Kampf und Gegensatz
von Europa und Asien, Hellenen und Barbaren, Orient und Okzident, zum Richt-
punkt seiner Auswahl, zum Mittelpunkt seiner Exegese macht; in diesem laufen
schließlich alle Fäden seiner Darstellung zusammen.
Um einzelnes noch besonders hervorzuheben, sei hier auf die meisterhafte
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 26
402 A- Patin, Der Lucidus Ordo des Horatius,
Behandlung der Rede des Artabanos (VII, 10) S. 54 — 62 und auf die Charakteristik
des Xerxes am Schluß von Buch VIII (S. 151 — 157) hingewiesen, welche das
durch das ganze Buch sorgsam vorbereitete Material erschöpfend zusammenfaßt.
Besonders anziehend sind die reichlich herangezogenen Parallelen aus der Literatur
verschiedener Völker und Zeiten, die ungezwungen angefügten Ausblicke auf
die Weltgeschichte, nicht zum wenigsten auf Preußens und Deutschlands jüngste
Vergangenheit, die geschickte Hervorkehrung geschichtsphilosophischer, moralischer
und patriotischer Geschichtspunkte, die nirgends aufdringlich werden.
Nur in den Dispositionen und Vergleichen scheint mir der Verfasser des Guten
etwas zu viel zu bieten. Denn hiermit kann man erfahrungsgemäß den Schülern
den schönsten Schriftsteller gründlich verleiden, man braucht noch nicht einmal
ein ungeschickter Pädagoge zu sein. Deshalb warnt auch das Vorwort mit Recht
davor, im Unterricht das Gebotene restlos zu benützen. Individualisierende, den
Gaben von Schüler und Lehrer angemessene Auswahl und weise Beschränkung
gewährleistet allein den vollen Nutzen des Buches. Am meisten wird es derjenige
Lehrer verwerten können, der neben Herodot den Aufsatz in Obersekunda zu lehren
hat. Denn nur so kann er die ganze Fülle der gegebenen Anregungen nach und
nach ausschöpfen. In der griechischen Stunde aber muß man sich hüten, durch
allzuviel lehrhaftes Beiwerk den Eindruck des Originals und das Weiterschreiten
in der Lektüre zu beeinträchtigen.
Da das tüchtige Werk jedenfalls mehrere Auflagen erleben wird, so möchte ich
dem Verfasser empfehlen, künftig zur leichteren Orientierung nicht bloß die jeweils
besprochenen Herodotstellen, sondern auch kurze Stichworte und Inhaltsangaben
am Rande und ein ausführliches Sachregister hinten beizufügen. Man könnte
überhaupt aus dem Buch statt der zusammenhängenden von Herodotkapitel zu
Herodotkapitel weitereilenden Abhandlung eine nach allgemeinen Gesichtspunkten
angeordnete Artikelserie herausschälen. Da aber eine so radikale Umarbeitung
nicht mehr möglich ist, so könnten doch die sich deutlich abhebenden größeren
Abhandlungen durch besondere Überschriften getrennt werden, ein Verfahren^
durch welches das Buch nicht bloß übersichtlicher, sondern auch gefälliger und
einladender erscheinen würde, als dies bei dem fast ungegliederten, endlos sich
fortspinnenden Vortrag der Fall ist.
Stuttgart. Gustav Lang.
Patin, A., Der Lucidus Ordo des Horatius. Ein neuer Schlüssel für Kritik
und Erklärung, gewonnen aus der Dispositionstechnik des Dichters. Gotha
1907. F. A. Perthes. 48 S. 8^. 1,20 M.
Horaz schreibt (A. P. 40 sq.) dem Dichter vor, bei der Abfassung eines Ge-
dichtes lichtvolle Ordnung (lucidus ordo) walten zu lassen, und fügt hinzu, diese
Ordnung bestehe darin, daß er aus der Masse des sich zudrängenden Stoffes
immer nur das Angemessene (debentia dici) auswähle. Diesen Ausdruck bezieht
der unbefangene Leser auf die innere Art, die Qualität des Gedankens. Patin
jedoch wendet ihn auf die Quantität an, d. h. die Verszahl, und behauptet, Horaz
habe seine Sermonen — mit wenigen Ausnahmen — nach einem festen und
künstlichen Zahlenschema gedichtet, wobei einem jeden Teile des Gedichtes bis
angez. von L. Ehrenthal. 403
in die kleinste Unterabteilung hinein immer nur gerade so viel Verse zugewiesen
worden seien, wie auf einen anderen, dem in Frage stehenden Teile entsprechenden
Teil kämen, sodaß dadurch eine bis ins kleinste ausgearbeitete Responsion ent-
stände. Dieser zahlenmäßige Plan ist nach Patin bei den verschiedenen Sermonen
auch verschieden, hier einfacher, dort künstlicher. Beispielsweise sei Sat. I, 1
nach folgendem Plane gearbeitet: E. HVa | A. I2V2, 17, 16 H M. 2 \\ B. 17, 12, 16 | S. 14.
Abgesehen von den beiden überschüssigen Vershälften entspräche hier alles ein-
ander: E (Einleitung) habe ebenso viel Verse wie S (Schluß). Der erste Haupt-
teil der Ausführung A habe dieselbe Verszahl wie B, der zweite, und beide zer-
fielen in je drei Unterabteilungen, die einander hinsichtlich der Verszahl nach dem
Schema a, b, c, b, a, c entsprächen. Zwischen A und B stehe M, das Mittelstück,
das hier, wie auch sonst, den Hauptgedanken enthalte.
Die Verzwicktheit dieses Schemas wird von den für andere Sermonen auf-
gestellten Ordnungen noch bei weitem überboten.
Sind diese Behauptungen richtig, so wird durch sie das ganze bisherige Urteil
über den Dichter der Sermonen über den Haufen geworfen. Es fragt sich nur, ob
sie richtig sind.
Der Verfasser gelangt zu ihnen mit Aufwendung von viel haarspaltendem
Scharfsinn und einer Sezierungskunst, die keineswegs frei ist von Willkür und
Gewaltsamkeit. So soll S. II, 6 (117 Verse) in drei völlig gleiche Teile zu je
39 Versen zerfallen, während in Wirklichkeit das Gedicht, wie jeder Unbefangene
zugeben wird, sich ganz anders gliedert Auf eine Einleitung von 15 Versen folgt
die Ausführung in zwei Hauptteilen von 44 und 58 Versen. Beide setzen sich
aus je zwei Unterabteilungen zu 24 und 20 und zu 20 und 38 Versen zusammen,
von denen die letzte zugleich das Ganze wirkungsvoll abschließt.
Zu besonders lebhaftem Widerspruche fordert eine Stelle der Schrift heraus,
in der Patin dem Dichter zumutet, sich um seines von Patin „neuentdeckten
Kunstgesetzes" willen überaus wunderlich ausgedrückt zu haben. Der Sat. II, 3, 287
erwähnte närrische Menenius soll kein anderer sein, als der wegen seines Un-
glückes gegen die Etrusker durch freiwilligen Hungertod aus dem Leben ge-
schiedene Sohn des bekannten Plebejerfreundes. Horaz soll nun sagen: Nach
stoischer Auffassung gehört der abergläubische Freigelassene, der durchaus nicht
sterben will, ebenso wie ein kurz vorher erwähnter Mörder und Selbstmörder
namens Marius zu der zahlreichen Sippschaft des Menenius. Dieser war aber ein
Selbstmörder. Folglich müßte Horaz behauptet haben, der Freigelassene, der den
Tod fliehe, gehöre zu den Selbstmördern 1 Dies ist nun freilich nicht die Meinung
Patins, der vielmehr so interpretiert: Er ist ebenso närrisch wie Menenius. Aber
eben dies hätte Horaz deutlich sagen müssen, wenn er verstanden werden wollte.
Warum nun also diese seltsame Dunkelheit? Patin antwortet: „Weil ihm das
Dispositionsschema nicht mehr Raum gestattete, weil er aus viel breiterem Ent-
würfe . . . weghobelte, daß die Späne flogen, weil er . . . zusammendrückte bis
alles dem gewollten Maße entsprach." Und doch glaubt Patin, daß dem Dichter,
wenn er sich auch nicht der Illusion hingegeben habe, „die Leser würden die Eben-
mäßigkeit seiner Disposition in ihrer ganzen Strenge erkennen und bewundern,
solche Grundrisse ... ein zuverlässiges und erprobtes Mittel gewesen seien, um
26*
404 P- Darmstaedter, Die Vereinigten Staaten usw., angez. von A. Höfer.
objektiv untadelige Gebilde zu erzielen". Nun, in diesem Falle hat sich das
Mittel nicht eben bewährt, denn es hat den Dichter veranlaßt, etwas Unsinniges zu
sagen. Hätte Patin recht, träfe dann auf Horaz nicht sein eigenes Wort zu: „In-
sanire parat certa ratione modoque?"
Welch eine wunderliche Vorstellung von dem Vorgange der dichterischen
Tätigkeit liegt doch dieser Schrift zugrunde I Mag die Lyrik — und in der Tat
beschäftigt sich der Schluß der Patinschen Arbeit mit einer Anzahl Oden des Horaz.
Doch sieht er selbst die eigentliche Bedeutung seiner Leistung in dem, was sich auf
die Sermonen bezieht — mag also die Lyrik schon wegen ihres Zusammenhangs
mit der Musik eine gewisse zahlenmäßige Responsion vertragen, ja stellenweise
fordern: ganz anders steht es mit den Gebilden der Musa pedestris. Hier waltet
nur das selbstverständliche künstlerische Gesetz, daß Teile von gleicher Bedeutung
für das Ganze auch annähernd gleichen Raum einnehmen. Aber eben nur an-
nähernd! Der Eindruck harmonischer Schönheit, den die Lektüre dieser Dichtungen
erweckt, beruht auf dem Feingefühl für das Ebenmaß des Ganzen und seiner Teile,
das dem Dichter gewissermaßen in den Fingerspitzen saß, nicht auf dem starren
Zwange der Patinschen Versarithmetik. Durch diese können nur Gliederpuppen
entstehen, keine blühenden Gebilde voll warmen inneren Lebens. Welcher Dichter
wird seine gesunde Muse in eine solche Schnürbrust pressen 1 Hat Horaz wirklich
so gearbeitet, so ist er kein Dichter gewesen, sondern nur ein fingerierender
Versifex. War er aber ein Dichter — und er war es, trotz seiner eigenen be-
scheidenen Ableugnung — so hat er nicht nach jenem Rezept gearbeitet.
Wie trügerisch die Methode Patins ist, kaan man leicht erkennen, wenn man
sie auf andere Gedichte ähnlicher Art, beispielsweise auf Goethes beide Episteln
in Hexametern anwendet. Auch da läßt sich bei einigem guten Willen ein Zahlen-
schema herausklügeln, das sich wunderschön auf dem Papiere ausmacht und
dennoch ganz wertlos ist."
Was würde wohl ein Dichter, d. h. ein wirklicher, zu der vorliegenden Schrift
sagen? Oder meinetwegen ein Kollegium von zwölf Dichtern, obgleich es so
viele, die zugleich etwas von Hexametern verstehen, in Deutschland kaum geben
dürfte. Ich möchte wetten, daß die Antwort aller dem Sinne nach dieselbe sein
würde, und daß einer von ihnen, der von der Schulbank her noch einige horazische
Brocken im Kopfe hätte, lächelnd ausrufen würde; Credat Judaeus Apella!
Halberstadt. Ehrenthal.
Darmstaedter, Paul, Die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihre po-
litische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Leipzig 1909. Quelle
und Meyer. VI u. 242 S. geh. 3,60 M., geb. 4 M.
Der gewaltige Aufschwung der Vereinigten Staaten in wirtschaftlicher, politischer
und kommerzieller Beziehung hat in den letzten Jahren eine wahre Flut von Schriften
über amerikanische Verhältnisse hervorgerufen, von denen weitaus die meisten über
mehr oder weniger ausgedehnte persönliche Erfahrungen auf einzelnen Gebieten
berichten. Im Gegensatz zu dieser Hauptmasse der Amerika-Literatur gibt das vor-
liegende Buch eine auf ausgebreiteten Quellenstudien beruhende, in ihrer Form
aber kurz zusammengefaßte objektive Darstellung des Werdegangs der Vereinigten
Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte, angez. von S. Widmann. 405
Staaten unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Ver-
hältnisse, ohne deren eingehende Erforschung die Geschichte gerade dieses Landes
überhaupt nicht zu verstehen ist. Es war keine leichte Aufgabe, in einem so engen
Rahmen das Wesentlichste über die Entwicklung eines so riesigen und so viel-
seitigen Gebietes im Zusammenhang darzustellen; aber der Verfasser hat die Auf-
gabe gut gelöst, und insbesondere das bis auf die neueste Zeit fortgeführte Schluß-
kapitel über die Probleme der Gegenwart verdient alles Lob in seiner meisterhaft
knappen Zusammenfassung der verschiedenartigen großen Aufgaben, vor die das
junge amerikanische Volk gestellt ist. Angesichts einer solchen gigantischen Ent-
wicklung schrumpft die geschichtliche Bedeutung gar mancher europäischen
»Weltbegebenheit" doch stark zusammen, und schon um dieses Maßstabes willen
wäre für jeden Historiker, nicht zum mindesten aber auch für den neuphilologischen
Schulmann, eine gewisse Kenntnis der Entwicklung der Vereinigten Staaten von
großem Nutzen. Das Darmstaedtersche Buch ist für einen solchen Zweck durchaus
zu empfehlen, zumal da es auch ausgedehnte Literaturnachweise gibt. Zu bedauern
ist nur der Mangel einer oder mehrerer Karten, die zum besseren Verständnis der
geschichtlichen Verhältnisse viel beigetragen hätten.
Wiesbaden. Aug. Höfer.
Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte, in Verbindung mit R. Löwe,
W. Schnitze, H. Hahn, K. Köhler, F. Großmann, G. Liebe, G. Ellinger, G. Erler,
G. Winter, A. Kleinschmidt und G. Schuster, neu herausgegeben von Ferdi-
nand Hirsch. I. Band: Von der Urzeit bis zur Reformation. XII u. 724 S.
II. Band: Von der Reformation bis zur Gegenwart. VIII u. 952 S. Union Deutsche
Verlagsgesellschaft in Stuttgart, Berlin, Leipzig o. J. gr. 8°. 17,50 M., geb. in
Halbfrz. 21 M.
Wenn ein in einem verhältnismäßig kleinen Kreis von Abnehmern verbreitetes
Handbuch innerhalb fünfzehn Jahre drei Auflagen erlebt, so zeugt diese Tatsache für
seine Brauchbarkeit, überhebt jedoch nicht den Beurteiler der Aufgabe, zu prüfen, ob es
den Anforderungen entspricht, ob die früher gerügten Mängel beseitigt, ob die
Ergebnisse der neuesten Forschungen berücksichtigt und verwertet sind. Leider
hat über der neuen Auflage ein Mißgeschick geschwebt, weil der Begründer des
Werkes starb, ein anderer seine Arbeit übernehmen mußte und für einen gleichfalls
verstorbenen Mitarbeiter zwei neue Kräfte eintraten. Wie erklärlich übt der neue
Herausgeber gegen das Überkommene eine gewisse Schonung, auch wo sie andern
vielleicht nicht am Platze erscheint. Bei manchen strittigen Punkten, z. B. in
Fragen der germanischen Urzeit ist sie berechtigt. Die Polemik möchte ich aus
einem derartigen Handbuche ausgeschlossen sehen. Es hat die Tatsachen anzu-
geben, Zweifelhaftes als solches zu bezeichnen und höchstens kurz den etwa be-
sonders hervortretenden einseitigen Standpunkt eines Werkes zu bezeichnen, darf
aber den Leser in seinem Urteil nicht voreinnehmen gegen das eine oder das andere
Buch. In dieser Hinsicht kann das Handbuch noch Verbesserung erfahren. Gerne
erkenne ich an, daß die Literatur, soweit ich prüfte, sorgfältig ergänzt ist. Überaus
dankenswert ist die Fortführung der Darstellung bis Ende 1905. Wiederholt nimmt
man in Einzelheiten die bessernde Hand wahr, z. B. II, S. 299 und 330. II, S. 423
Anm. 2 zu § 123 ist zwar geändert, was zu tadeln war, aber zum Schaden der
406 P- Neubauer, Kleine Staatslehre für höhere Lehranstalten.
Sache. Früher stand der seltsam stilisierte Satz : „Auch Nassau-Usingen bekämpfte
letztere (die Reichsritterschaft), mußte darum vom Freiherrn vom Stein die bittersten
Wahrheiten hören und suchte den Grafen Waldbott Reiffenberg zu rauben." Jetzt
ist der Stil gebessert, die Tatsache — vielleicht durch den Druckfehlerkobold — ver-
wischt: „Auch Nassau-Usingen bekämpfte letztere, suchte die Grafen Waldbott
und Reiffenberg zu berauben und mußte darum usw." Statt „und" ist zu lesen
„ um (Reiffenberg) " . Grafen von Reiffenberg gab es nicht, sondern nur Herren von Reiffen-
berg, deren letzter in Mainzischer Gefangenschaft 1686 gestorben war. Seine Herrschaft
fiel an Franz Freiherrn von Waldbott-Bassenheim. Im 18. Jahrhundert starb auch
die Westerwälder Linie des Geschlechts Reiffenberg aus. Auf derselben S. 423,
Anm. 1 steht immer noch der Ausdruck „seitens von". Überhaupt vermißt man
zuweilen die sorgfältige Durchsicht. Obgleich I, S. 199 die neuesten Schriften
über die Bonifatius-Codices angeführt sind, wird S. 198 noch von der „Bibel"
gesprochen, die Bonifatius „beim Tode schützend über sein Haupt" hielt. Der
sog. Ragyndrudis-Codex in Fulda aber ist keine Bibel, sondern ein Sammelband
theologischer Schriften. Das von dieser Handschrift verschiedene Evangeliar in
Fulda, geschrieben vom Iren Cadmug, das keine Spuren eines Schwertstreiches zeigt,
ist mit ihr verwechselt, weil in den alten Berichten von einem „sacer evangelium
codex" die Rede ist. I, S. 338 korrigiere „Ott" in „Otto", wie auf der folgenden
Seite richtig angegeben wird. I S. 530 und 531 finden sich Wiederholungen.
I, S. 716 ist der Ausdruck „dem er nach Königsberg folgte und ihm (1) persönlich
nahestand" zu verbessern durch Streichen des „ihm". II, S. 7 steht immer noch
die „Taxordnung für den Loskauf aller erdenklichen Sünden", wenn auch durch
das zugefügte „gleichsam" etwas gemildert. S. 8 wird Prierias „Meister des
päpstlichen Palastes" genannt; der Titel Magister sacri palatii läßt sich nicht
übersetzen, da die Verdeutschung eine ganz falsche Vorstellung von dem Amte
erweckt. S. 136 steht einmal der 23. März 1609 als Todestag des letzten Herzogs
von Jülich-Cleve-Berg angegeben, einmal der 25. März, und dies ist der richtige
Tag. S. 211 werden noch Reunionskammern zu Breisach und Besangon erwähnt,
während es eine solche nur in Metz gab (seit Oktober 1679). In den beiden
anderen Orten gaben die Gerichtshöfe das Urteil ab. Siehe M. Immich, Geschichte
des europäischen Staatensystems S. 105. Maria Theresia wird S. 314 zu ungünstig
beurteilt. S. 434 ist zu korrigieren: „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung"
in „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung". Zu S. 439: Im Jahre 1807 war
Schill noch nicht Major. S. 445 Anm. 4 steht noch wie in den ersten Auflagen
die falsche Form „verhing", S. 570 wie in diesen „Anna Emmerich" statt des
gewöhnlichen Namens „Anna Katharina Emmerich", S. 79 selbst der alte Druck-
fehler „Adiophora" und der Ausdruck „alle Haltung (?) verloren hatte", S. 9 und
18 „voll und ganz". Bei einer neuen Auflage muß auch solchen Kleinigkeiten
Aufmerksamkeit zugewandt werden.
Münster i. W. S. Widmann.
Neubauer, Fr., Kleine Staatslehre für höhere Lehranstalten. Halle a. d. S.
1909. Buchhandlung des Waisenhauses. 44 S. 8^. kart. 0,50 M.
Der allen Geschichtslehrern bekannte Verfasser hat das Büchlein in der. un-
angez. von E. Stutzer. 407
zweifelhaft richtigen Überzeugung geschrieben, daß besondere Vorkehrungen
nötig sind, um unsern Schülern und Schülerinnen ein besseres und tieferes Ver-
ständnis für unser Staatsleben und für unsere öffentlichen Einrichtungen überhaupt
mitzugeben, und gliedert den Stoff in vier Teile. Der erste (bis S. 15) enthält
Allgemeines über Aufgaben, Formen und Einkünfte des Staates sowie über das
Heerwesen; der zweite (bis S. 25) bezieht sich auf die Verfassung und die Ver-
waltung des Deutschen Reiches, der dritte (bis S. 30) auf Preußen; der vierte
bringt wiederum Allgemeines und zwar über die Volkswirtschaft (Geld, Kredit,
Banken, Kolonien) und ihre Theorien, versucht also auch eine erste Einführung in
die großen Gegensätze Individualismus und Sozialismus. Einige statistische Angaben
finden sich auch in den Anmerkungen, deren Umfang meist klein ist, von dreien
abgesehen; im ganzen sind es 21 Anmerkungen, die entweder kurze Definitionen
oder nähere Erläuterungen enthalten.
Der Verfasser sagt mit Recht, er sei bemüht gewesen, einfach zu sprechen und
alles Komplizierte fernzuhalten; auch darin hat er nicht ganz unrecht, daß er
sein Schriftchen für „sicherlich verbesserungfähig" erklärt, da „der Gegenstand
schwierig bleibt". Nur sechs Punkte seien berührt. Im ersten Abschnitte vermißt
mancher vielleicht eine kurze Bemerkung über den Unterschied zwischen den jetzigen
Weltstaaten und den früheren, die keine gleichberechtigten neben sich anerkannten.
Seite 8 ist der Hinweis darauf am Platze, daß zwischen Volk im weiteren Sinne
(= Regierung und Regierte) und im engeren (= Gesamtheit der Regierten) zu
scheiden ist. Seite 10 würde ich bei den Landständen — Neubauer sagt ungenau
„Vertretung der Stände" — hervorheben, daß sie keine wirkliche Volksvertretung
waren, aber als Vertreter des ganzen Landes galten, und daß es sich um Stände
im politischen Sinne handelt im Gegensatz zu Berufsständen: das muß den
Schülern sofort klar werden. Seite 18 hätte ich die Entschädigungssumme, 3000
Mark, angeführt, auch den eventuellen Abzug von je 20 Mark. Seite 28 muß
Zeile 12 von oben hinzugefügt werden : hier steht an der Spitze der Stadtverwal-
tung kein Magistrat, sondern der Bürgermeister, der zugleich Vorsitzender der
Stadtverordneten ist. Seite 38 endlich im zweiten Absatz des § 19 würde ich bei
den übernommenen Verpflichtungen hinzufügen: einem anderen, dem Gläubiger
gegenüber.
Doch wichtiger als solche Einzelheiten ist die methodische Frage: in welcher
Weise kann dieses „für Schüler geschriebene" Büchlein benutzt werden ? Der Ver-
fasser weist darauf hin: Der Geschichtsunterricht muß das meiste für die staats-
bürgerhche Vorbildung tun und auch durch zusammenfassende Besprechungen
ein Gesamtbild unserer politischen Verhältnisse dem Schüler vor Augen stellen;
am Schluß der Untersekunda läßt sich für die ersten drei Abschnitte ohne Schwierig-
keit Zeit erübrigen, „freilich nur dann, wenn ein Teil des bisherigen Pensums
dieser Klasse, nämlich die Zeit Friedrichs des Großen, nach Obertertia
verlegt wird. Dies ist aber durchaus möglich . . . Vermag es der Lehrer, so
können am Schlüsse der Untersekunda einige Wochen erspart werden, um die
wichtigsten Abschnitte dieser kleinen Staatslehre zu besprechen. Den ganzen In-
halt freilich wird man an dieser Stelle nicht bewältigen können; insbesondere der
vierte Abschnitt gehört noch nicht hierher." Wer an die Lehraufgaben mit freiem
408 P- Hellwig, Lehrbuch der Geschichte für höhere Schulen,
Geiste und weitem Herzen (wie es in dieser Monatschrift 1904, S. 509, Anm. heißt)
herantritt und mit der Zeit sehr haushälterisch umzugehen weiß, für den enthalten
Neubauers Bemerkungen sicherlich Verwertbares. Soweit ich auf Grund der mit
dem Anhange zu David Müllers Leitfaden (14. Auflage 1906) und zu Andräs
Grundrisse (27. Auflage 1907) gemachten Erfahrungen ein allgemeines Urteil
fällen darf, glaube ich, daß in vielen Untersekunden aus dem zweiten und dritten
Abschnitte der angezeigten Staatslehre vieles mit Erfolg durchgenommen werden
kann und daß aus dem ersten und vierten wenigstens manches „gelegentlich" auf
der Oberstufe sich besprechen ließe, für die Neubauer im letzten Teile seines Lehr-
buches schon Übersichten zusammengestellt hat; manches darin stimmt mit seiner
Staatslehre natürlich überein. Doch nicht auf das tote Buch, sondern auf den
Lehrer kommt das meiste an, der wirkliches Interesse zu wecken vermag.
Görlitz. E. Stutzer.
Hellwig, P., Lehrbuch der Geschichte für höhere Schulen. Zweite Abteilung.
Mittelstufe. 1. Teil: Deutsche Geschichte bis zum Ausgange des Mittelalters.
VI u. 125 S. 80. geb. 1,60 M. — 2. Teil: Vom Ausgange des Mittelalters
bis zur Gegenwart. V u. 242 S. gr. 8^. 2,80 M. Leipzig 1908. A. Deichertsche
Verlagsh. Nachf.
Die vorliegenden Bücher (für III u. Uli) stellen den Anfang eines neuen
geschichtlichen Lehrbuches dar, das allmählich zum vollständigen Geschichtswerk
für Quarta bis Prima ergänzt werden soll. Bei dem verständigen Drängen der
Unterrichtsbehörde auf eine gewisse Einheitlichkeit im Gebrauche der Schulbücher
und der gerechtfertigten Warnung von Experimenten, bei der großen Fülle
ferner an vorhandenen Geschichtswerken, die z- T. vielfache Auflagen erlebt haben,
ist es ein großes Wagnis, deren Zahl noch durch ein neues vermehren zu wollen :
ein Wagnis, das nur dann Aussicht hat auf Gelingen, wenn das neue Buch nach
Form und Inhalt etwas ganz Neues bringt, woraus dem Geschichtsunterricht eine
wirkliche Förderung erwächst. Unter diesem Gesichtspunkt soll der erste Band
des Hellwigschen Buches, der Teil für Ulli, geprüft werden. Was für ihn, d. h. für
125 Seiten, gilt, wird auch wohl auf die übrigen 242 passen.
„Zurücktreten jedes toten Gedächtnisstoffes, Abscheidung des Nebensächlichen
und Einzelnen und Zurückbeziehung auf die Hauptvorgänge, die in ihren Ursachen
und Wirkungen dargelegt werden" sollen, ist neben „Schlichtheit des Ausdrucks,
Zurücktreten des Abstrakten, aller Werturteile, kurz aller derartiger Gedanken,
die nur auf dem Boden umfassender und weUschauender Geschichtswissenschaft
entstanden sein können", das Bestimmende für den Charakter des Buches. Mit
beiden Gesichtspunkten erkläre ich mich durchaus einverstanden und zögere nicht
auszusprechen, daß in beiden Hinsichten dem Verfasser Gutes gelungen ist.
Ob er freilich recht daran tut, die Anpassung an das Verständnis des Schülers
so weit zu treiben, daß er oft geradezu in dessen Sprechweise erzählt, ist mir bei einem
Schulbuch mehr als fraglich. Ich fürchte vielmehr, daß dadurch der nicht selten
hervortretenden Neigung des Untertertianers, lieber auswendig zu lernen als selbst
zu denken, Vorschub geleistet wird. Jedenfalls erklärt sich aus dem gekennzeich-
neten Streben des Verfassers die oft ermüdende und logisch nicht immer scharfe
Verknüpfung der Sätze durch „und", der Satzgefüge durch „nun", ebenso die breite.
angez. von W. Meiners. 409
das gesprochene Wort nachahmende Erzählungsweise an Stellen wie auf S. 56,
Abs. 1 : „Als Otto III. unvermählt und kinderlos starb, war der nächste männliche
Sproß des bisherigen Herrscherhauses Heinrich IL, Herzog von Bayern, der Sohn
Heinrichs des Zänkers. Dieser' erhob demgemäß Anspruch auf die deutsche Krone.
Die nördlichen Stämme des Reiches aber forderten einen Mann aus ihren Gauen
als Herrscher und bezeichneten als diesen den tapferen Slawenbezwinger, den
Markgrafen Eckart von Meißen; die Schwaben endlich wollten ihren Herzog Hermann
auf den Thron erheben. Indessen Eckart wurde durch Meuchelmord getötet, und
nun gelang es namentlich dem Erzbischof Willigis usw." Ähnlich S. 64, 2, S. 76,
S. 88, 3 u. ö. Die angeführte Stelle ist zugleich ein Beleg dafür, daß der Verfasser
in seinem Streben, Nebensächliches auszuscheiden, noch nicht immer weit genug
gegangen ist: Hermann und Eckart sind an jener Stelle für den Untertertianer
nichts als Namen, und an dieser Tatsache ändert die Charakterisierung Eckarts als
„tapferen Slawenbezwingers" um so weniger, als der Schüler ihn als solchen vorher
nicht kennen gelernt hat. Zu weitläufig dem Inhalt nach erscheint mir Hellwigs
Darstellung auch noch an einigen anderen Stellen, so wenn er den Nachfolgern
Karls des Großen bis 919 sieben Seiten oder den sächsischen Kaisern nach Otto I.
sechs Seiten widmet. Auch in der Behandlung der Familienstreitigkeiten unter
Otto I. selbst, sowie in der Darstellung der Geschichte Lothars und Konrads III.,
der letzten Hohenstaufen(S. 88) undMaximilian I. (S. 119) hätte gekürzt werden können,
während ich anderseits einen Hinweis auf die verfassungsmäßige Begründung
der römischen Monarchie unter Diocletian (S. 11) oder auf den Höhepunkt des
mittelalterlichen Papstums unter Innocenz III. (Laterankonzil) oder eine kurze Notiz
über die kolonisatorische Tätigkeit der Zisterzienser oder über die Bedeutung der
Feme ebenso ungern vermisse wie ein paar Bemerkungen über die Baukunst im
Mittelalter und über die Geschichte der iberischen Halbinsel. Der Name Walther
von der Vogelweide ist auf S. 93 genannt worden; Leben hat der Verfasser ihm
durch eine Bezugnahme auf die Thronfolgestreitigkeiten nach 1198 nicht gegeben,
ebensowenig wie er, den Mertensschen Büchern und anderen folgend, es unter-
nommen hat, unbeschadet der Wissenschaftlichkeit seines Werkes den dem Schüler
bekannten Gedichtsstoff mitzuverarbeiten. Daß er derartiges nicht im Prinzip ab-
lehnt, entnehme ich aus der Erwähnung von Thorwaldsens Marmorbild Konradins
(S. 89), das der Schüler nicht kennt, aus dem Hinweis auf die Meinung, Barbarossa
werde wiederkehren (S. 91), die sich freilich zunächst auf Friedrich II. bezog, endlich
aus der Belebung des Textes durch die vereinzelte Wiedergabe der Bilder Armins,
Karls des Großen und Barbarossas, von denen auf historische Treue keins An-
spruch machen kann.
Daß auch im einzelnen das Buch noch manche Unebenheit im Ausdruck
und Schiefheit oder Unrichtigkeit im Inhalt enthält, ist bei einer ersten
Auflage nicht wunderbar, fast selbstverständlich. Ich will zum Belege einiges
anführen. Wiederholungen finden sich : S. 12, 1 ZI. 9 = S. 2, 4 ZI. 5; S. 63, 4
ZI. 8 = S. 58, ZI. 10 V. u.; S. 43, ZI. 7ff. = S. 29, ZI. 2 ff.; mit Ausdrücken wie
»soziale Gliederung" (S. 3, 6 vgl. auch 42, ZI. 7 v. u.), wie „eine Umwertung der
bisher üblichen Werte trat ein" (S. 19, 1, ZI. 9), „in der deutschen Volksseele lebte
der Glaube auf" (S. 91, ZI. 6), mit der ganzen Deduktion der Lehre des Marsilius
410 P- Hellwig, Lehrbuch der Geschichte usw., angez. von W. Meiners.
von Padua (S. 99, 4) und der allgemeinen Charakteristik der Nachfolger des
Augustus (S. 9, 1, ZI. 3 ff.) ist dem Untertertianer ebensowenig gedient wie mit der
S. 89, 7 ausgesprochenen Behauptung, mit Konradins Tode habe „ein gewaltiges
Drama der Weltgeschichte seinen Abschluß" gefunden, oder einem nichtssagenden
Zusatz, wie wir ihn S. 6, 5 zu Varus finden, wo es heißt: „der zu seinem Verderben
von der Wichtigkeit und Schwierigkeit dieser Aufgabe keine rechte Vorstellung
hatte" (ähnlich S. 8, 8, ZI. 18) oder endlich den immer noch nicht ganz vermiedenen
Epitheta ornantia (vgl. auch S. 18, ZI. 5 v. u.; S. 30, ZI. 11 v. u.; S. 41, 6, ZI. 1 „jene*)
und den überflüssigen „usw." ,u. a." auf S. 21 und 35. Der Ausdruck ist zu
bessern S. 7, 7 ZI. 2 „erlittene Scharte", S. 8, 9 ZI. 7 (Satzbau), S. 9, ZI. 7 „in
der Gegend", S. 22 unten „alle menschlichen Verhältnisse wurden bestraft", S. 37, 1
ZI. 20 (Zusammenhang), S. 64, ZI. 8 „krönte Heinrich und seine Gemahlin zum
römischen Kaiser", S. 72, ZI. 5 v. u. „erhielt die Kaiserkrönung", S. 89, ZI. 16 v. u.
„unheilt^o//^ Wunden" und „Den Ausspruch" u. öfter. Auch von sachlichen
Fehlern soll einiges notiert werden. In „Rheims" (S. 23, 3 u. 37, 1), „Thassilo"
(S. 31, 4) und „Rhense" (S. 99, 4) ist das h entbehrlich; S. 9, 1 heißt es besser
„Claudier" statt „Salier"; daß das Recht der Kaiserwahl in Rom „eigentlich dem
Senate" zugestanden habe (S. 10, 3, ZI. 3), ist ebenso unhaltbar wie auf S. 11, 5
ZI. 11 ff. die Gleichstellung der Augusti und Caesares; die Schlacht auf den
katalaunischen Feldern bedeutete f ür Attila keine „vernichtende Niederlage" (S. 16 ZI. 7) ;
687 war ein und derselbe Mann Hausmeier in Neustrien undBurgund (S. 24, 1); das
capitulare de partibus Saxonum ist S. 31, ZI. 7 zu spät angesetzt; der S. 33, 10
mitgeteilte Zuruf ist eben der Zuruf des Volkes; S. 40, 3 ist demTeilungsvertrage von
Mersen zuviel Gewicht beigelegt worden; der Zölibat der Priester war im XI. Jahr-
hundert nicht so allgemein üblich, wie es nach S. 58, ZI. 12 v. u. erscheint;
S. 63, 3, ZI. 11 hätten die kirchlichen Festzeiten mit aufgenommen werden müssen;
S. 68, 8 hält die Darstellung der Szene vor Canossa den Ergebnissen der Forschung
nicht stand; S. 80, 11 ist der Name des Reichstags unrichtig und die Verleihung
Westfalens übergangen; der Inhalt der vor Rudolfs Wahl erlassenen Willebriefe
(S. 95, 1) ist zu allgemein wiedergegeben, der Rechtsstreit zwischen Rudolf und
Ottokar (S. 96, ZI. 7) nicht klar dargelegt; der Kurverein zu Rense (S. 99, 4)
war eine Vereinigung lediglich der Kurfürsten und trat vom Kaiser ungerufen
zusammen; woher die Zahl 87 (S. 107) für den Umfang des Hansabundes kommt,
weiß ich nicht; Ruprecht III. ist nicht der Gründer der Universität Heidelberg ge-
wesen (S. 112, ZI. 2); der Abschnitt drei auf derselben Seite (über das würdelose
Leben der Geistlichkeit) scheint mir etwas zu sehr verallgemeinert u. a.
Ich würde es für unrichtig halten, wenn die Einführung eines neuen Lehrbuches
in erster Linie abhängig gemacht würde von der größeren oder geringeren Zahl
von Einzelausstellungen der angegebenen Art, die sich in ihm finden, und die in
einer zweiten Auflage doch leicht gebessert werden können. Die entscheidende
Frage muß vielmehr, wie schon oben gesagt worden ist, sein: „Bedeutet das neue
Buch in seiner ganzen Anlage, in der Stoffauswahl und der Darstellungsweise eine
wirkliche Förderung des Geschichtsunterrichts; geht es über die vorhandenen
Unterrichtsbücher hinaus?" Diese Frage glaube ich für die Hellwigschen Bücher
verneinen zu sollen. Wenn auch mit den Schwächen, die in einer ersten
A. Kalähne, Die neueren Forschungen usw., angez. von F. Busch. 411
Auflage verzeihlich sind, bis zu einem gewissen Grade behaftet, führen
sie zwar auf der einen Seite die Gesichtspunkte, die für ihre Abfassung
bestimmend gewesen sind, im ganzen in anerkennenswerter Weise
durch; auf der andern Seite aber sind diese nicht derart, daß ihr Her-
vortreten allein die Notwendigkeit des Erscheinens der Bücher recht-
fertigen könnte.
Elberfeld. W. Mein er s.
Kalähne, A., Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Elek-
trizität und thre Anwendungen. Leipzig 1908. Quelle u. Meyer. I und
284 S. 8°. 4,40 M, geb. 4,80 M.
Wie der Verfasser in der Vorrede bemerkt, ist sein Buch für weitere Kreise
bestimmt und deshalb elementar gehalten. Aus Vorträgen, die er im Jahre 1906
in Heidelberg bei Gelegenheit eines Ferienkursus gehalten hat, ist es entstan-
den, aber im Interesse einer abgerundeten Darstellung ist der Inhalt bedeutend er-
weitert. Durch eingehendere Besprechung der modernen Theorien der elektrischen
und magnetischen Erscheinungen ist das Buch zunächst für wissenschaftlich
gebildete oder auf anderen Gebieten wissenschaftlich tätige Leser, die
sich für physikalische Theorien interessieren, dann aber auch für Studierende
bestimmt, die sich desselben als Orientierungsmittel auf theoretischem Gebiete be-
dienen sollen.
Der Verfasser behandelt in sieben Kapiteln der Reihe nach folgende Gegen-
stände: 1. die Fluidumtheorie der Elektrizität und des Magnetismus; 2. die elek-
trischen und magnetischen Kräfte und ihre Gesetze. Fernwirkung und Nahewirkung;
3. die Faraday-Maxwellsche Theorie des Elektromagnetismus; 4. die Elektronen-
heorie; 5. die elektromagnetischen Schwingungen; 6. die elektromagnetische Wellen-
telegraphie; 7. die elektrischen Entladungen in Gasen und die Radioaktivität.
96 Figuren veranschaulichen das Vorgetragene.
Seine nicht leichte Aufgabe hat der Verfasser in vortrefflicher Weise erledigt.
Die Darstellung ist recht ausführlich, zusammenhängend und fließend, wodurch
das Buch sich vorteilhaft auszeichnet vor anderen gemeinverständlichen, aber mehr
schulmäßigen Behandlungen desselben Gegenstandes. Die zahlreichen der Elektro-
technik eigentümlichen Begriffe sind durchweg klar entwickelt. Der Verfasser
weiß dabei häufig Anwendung zu machen von Vergleichen mit Erscheinungen
und Vorgängen in der Mechanik. Wenn diese Vergleiche auch nur Analogien
enthalten, die man als erläuternde Beispiele heranzuziehen pflegt, so geben sie
doch der Vorstellung eine feste Stütze, die für recht viele Leser des Buches ganz
unentbehrlich sein dürfte.
Große Anschaulichkeit ist überhaupt eine hervorragende Eigenschaft des
Buches. Diese zeigt sich so recht in der Entwicklung der Faraday-Maxwell-
schen Theorie, deren Behandlung zu den schwierigsten Aufgaben gemein-
verständlicher Darstellung auf physikalischem Gebiete gehört.
Daß das Buch überall den neuesten Standpunkt der Forschung und Technik
wiedergibt, soll nur nebenbei erwähnt werden.
Anderseits darf ich nicht unterlassen, auf einige Punkte hinzuweisen, die wohl
412 E. Javal, Die Physiologie des Lesens und Schreibens,
einer Verbesserung bedürftig sind: da ist zunächst die Art, wie der Proportio-
nalitätsfaktor in die Definitionsgleichungen der elektrischen Maße eingeführt
wird, dem Nichtfachmanne nur schwer verständlich. Dieser Faktor wird zunächst
S. 9 und 10 nur vorübergehend erwähnt, S. 16 wird dann in der Gleichung
e = C • V der Faktor C, der, wie es an der betreffenden Stelle heißt, „offenbar"
die Aufnahmefähigkeit des Leiters I für Elektrizität unter den gegebenen Umständen
bedeutet, ohne weiteres als elektrische Kapazität des Leiters bezeichnet, und
erst S. 23 wird an dem Ausdruck für das Coulombs che Gesetz die Bedeutung
des Proportionalitätsfaktors näher erläutert. S. 24 hätte der Begriff Dyne ganz
gut in aller Schärfe definiert werden können. Die magnetischen Kraftlinien
werden S. 64 etwas sehr kurz behandelt. S. 219 läßt der Verfasser es zweifelhaft,
ob die Wolkenelemente aus Tröpfchen oder Bläschen bestehen, obschon die
sogenannte Bläschentheorie in der Meteorologie doch längst endgültig aufgegeben
ist. Die Theorie der Elektrolyse hätte wegen ihrer großen Bedeutung für die
Entwicklung der Elektronentheorie ausführlicher behandelt werden müssen.
Das sind indessen alles Dinge, die den großen Wert des Buches nicht beein-
trächtigen können und sich bei Bearbeitung einer hoffentlich recht bald notwen-
digen neuen Auflage leicht berücksichtigen lassen. Dem Buche ist eine recht weite
Verbreitung, namentlich auch unter den Fachlehrern an den höheren Schulen
zu wünschen.
Arnsberg i. W. Fr. Busch.
Javal, Emile, Die Physiologie des Lesens und Schreibens. Autorisierte
Übersetzung nach der 2. Auflage des Originals nebst Anhang über deutsche
Schrift und Stenographie von Dr. med. F. Haas, Augenarzt in Viersen, Leipzig 1907,
W. Engelmann. XXXIV u. 352 S., mit 101 Fig. im Text und 1 Tafel. 8«. 9 M.
Das Original ist das letzte Werk des im Januar 1907 verstorbenen französischen
Augenarztes Professor Javal, dessen Name mit dem von ihm verbesserten Ophthalmo-
meter und mit der von ihm in die praktische Optik eingeführten Dioptrie in alle
Welt gegangen ist. Er hat es, seit Jahren völlig erblindet, mit Hilfe seiner Frau,
einer geborenen Deutschen, verfaßt und in ihm seine Anschauungen über die
Hygiene des Sehens und die Physiologie des Lesens und Schreibens, die er wäh-
rend eines Menschenalters in zahlreichen Veröffentlichungen dargelegt hatte, zu
einem einheitlichen Ganzen zusammengefaßt. Das im Jahre 1905 erschienene Buch
hat in Frankreich einen großen Erfolg gehabt, so daß nach Jahresfrist eine neue
Auflage nötig wurde; nach dieser ist die vorliegende Übersetzung angefertigt.
Das Buch wendet sich nicht nur an die Ärzte, sondern an alle, die mit dem
Schreib- und Druckwerk irgendwie zu tun haben, im besonderen auch an die Lehrer.
Sein Schwerpunkt liegt in seinem dritten Teile, in dem aus den vorausgeschickten
geschichtlichen Bemerkungen und theoretischen Betrachtungen die „Schlußfolge-
rungen für die Praxis" gezogen werden. Vor allem handelt es sich um die Frage:
wie kann der Entstehung und Weiterentwicklung der Kurzsichtigkeit vorgebeugt
werden? Die Antwort ergiebt sich von selbst, wenn man die Ursachen dieses mit
der Erlernung und Ausübung der Lese- und Schreibkunst anscheinend untrennbar
verknüpften Übels erkennt. Javal sieht sie in dem „Mißbrauch des Lesens zum Nach-
i
angez. von Tiebe. 413
teil des Denkens und der Beobachtung der wirklichen Tatsachen", in der den
Schülern zu Hause gebotenen ungenügenden Beleuchtung, in der Verwendung
kleinen und gedrängten Druckes, im besonderen für Schulbücher, und in dem
Gebrauch der Schrägschrift. Typen, wie sie seinen Anforderungen entsprechen,
sind für den Druck des Originals und ebenso für den der Übersetzung eigens
hergestellt worden; sie sind so hoch, wie die in dieser Monatschrift verwendeten *),
aber dicker und von einfacher, klarer und gefälliger Zeichnung, spinngewebfeine
Haarstriche sind bei ihnen vermieden. — In dem Kampf gegen die Schrägschrift
begegnet sich Javal mit dem Nürnberger Arzt Schubert, der bereits im Jahre 1880
auf das kräftigste für ihre Beseitigung und für die Einführung der Steilschrift ein-
getreten ist. Seitdem hat der Streit um die beiden Schriftlagen hin- und herge-
wogt. Die Zukunft dürfte der letztgenannten gehören, die schon jetzt auch bei
uns an manchen Schulen gelehrt wird.
Javal ist natürlich ein Gegner der sogenannten „deutschen" Schrift. Ihr widmet
der Übersetzer im Anhange ein besonderes Kapitel, in dem er, ohne damit etwas
Neues sagen zu wollen, auseinandersetzt, wie wenig berechtigt wir sind, diese Schrift
als eine nationale Besonderheit zu betrachten und zu pflegen, wie ihre Erhaltung
vielmehr eine Rückständigkeit in dem Zeitalter des Weltverkehrs bedeutet; er nimmt
dabei zugleich auf die bekannten Untersuchungen Soenneckens und Burgersteins
bezug und stellt durch Nebeneinanderstellung zusammenhängenden Druckes in
Fraktur und Antiqua dar, daß diese leserlicher ist als jene.
Daß in dem Buche auch die Stenographie, die Noten- und die Blindenschrift,
die Tätigkeit der Schreibsachverständigen u. e. a. behandelt ist, sei nur kurz erwähnt.
Über „die Entwicklung der Stenographie in Deutschland" macht der Übersetzer
im Anhange eine Reihe verständiger Bemerkungen, deren Durchsicht denjenigen
empfohlen werden kann, die sich in der Kürze über die Frage: soll die Kurzschrift
auf den höheren Schulen eingeführt werden? orientieren wollen.
Friedenau. Tiebe.
*) Diese Höhe entspricht auch den Forderungen des um die Hygiene des Auges
hochverdienten deutschen Forschers Hermann Cohn.
IV. Vermischtes.
Kritische Grillparzer Ausgabe.
Der Stadtrat der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien hat den Beschluß ge-
faßt, das Andenken des größten österreichischen Dichters, Franz Grillparzers, durch
die Veranstaltung einer würdigen kritischen Ausgabe seiner sämtHchen Werke zu
ehren, und hat den Professor der deutschen Sprache und Literatur an der deutschen
Universität in Prag Dr. August Sauer, den bewährten Kenner von Grillparzers Leben
und Werken, mit der Herstellung dieser Ausgabe betraut, die im Verlage der Buch-
und Kunsthandlung Gerlach & Wiedling in Wien in 25 Bänden erscheinen wird.
Sie soll neben allen abgeschlossenen dichterischen uud prosaischen Arbeiten auch
die Entwürfe und Fragmente, die Studien und Tagebücher, die Briefe von dem
Dichter und an ihn, endlich die von ihm verfaßten Aktenstücke in umfassender
Weise vereinigen.
Zur Vervollständigung des in der Wiener Stadtbibliothek bereits aufgesammelten
bedeutenden Handschriftenschatzes wendet sich der Unterzeichnete hiemit an alle
Besitzer von Handschriften Grillparzers, insbesondere an alle Bibliotheken, Archive,
Theater, Vereine, Verlagsbuchhandlungen, Autographensammlungen etc. mit der
ergebenen Bitte, dem Herausgeber alles zerstreute einschlägige Material gütigst
zugänglich zu machen. In Betracht kommt alles, was sich von Grillparzers Hand
erhalten hat, unter anderen die vielen Stammbuchblätter, Sprüche, Epigramme,
Widmungsexemplare seiner Dramen oder seiner Porträte in Privatbesitz; ferner Druck-
exemplare seiner Werke, in welche er Verbesserungen eingetragen hat, Bücher oder
Manuskripte, welche er mit Bemerkungen versehen hat, auch scheinbar wertlose
Aufzeichnungen, selbst wenn sich ihr Inhalt zur Veröffentlichung nicht eignen sollte,
können unter Umständen in größerem Zusammenhang Bedeutung gewinnen ; ferner
alte Abschriften, die auf Grillparzers Originale zurückgehen, ältere Theatermanu-
skripte seiner Dramen, handschriftliche Sammlungen seiner Gedichte und Epigramme,
Briefe an ihn oder über ihn und seine Werke, Dokumente über sein Leben, De-
krete, Kontrakte usw. ; auch seltene Drucke, besonders Einzeldrucke seiner Gedichte.
Endlich werden auch bloße Hinweise auf erhaltene Handschriften oder versteckte
Drucke erbeten.
Die Zusendung von Handschriften wird an die Direktion der Wiener Stadt-
bliothek (Wien I, Rathaus) erbeten, wo für feuersichere Aufbewahrung und pünktliche
Rücksendung sowie für Vergütung der Kosten Sorge getragen wird. Sollte sich
die Versendung der Originale als unmöglich erweisen, so werden möglichst ge-
naue (am besten photographische) Kopien erbeten.
Jede Förderung der Ausgabe wird in dieser dankbar verzeichnet werden.
Dr. Karl Lueger
Bürgermeister der k, k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien.
Vermischtes. 415
Böttinger Studienhaus in Göttingen,
Deutsches Institut für Ausländer.
Deutsche Ferienkurse für Ausländer unter dem Protektorate der
Herren Universitäts-Professoren Morsbach, Stimming und Weissenfeis.
In dem Böttinger Studienhause, über dessen Zweck und Einrichtungen Programme
zur Verfügung stehen, werden in der Zeit von Donnerstag, dem 12. August, bis
Donnerstag, den 9. September deutsche Sprachkurse abgehalten, welche dazu be-
stimmt sind, Ausländer in deutsche Sprache, deutsche Literatur und deutsches Leben
einzuführen.
Erste allgemeine Zusammenkunft Donnerstag, den 12. August, abends 6 Uhr
im Hörsaale des Böttinger Studienhauses (Bahnhofstraße 24).
Die Zulassung ist nicht au eine bestimmte Bedingung gebunden; gebildete
Ausländer und Ausländerinnen sind berechtigt zur Teilnahme. Es liegt aber im
eigenen Interesse der Teilnehmer, daß sie eine gewisse Kenntnis des Deutschen,
besonders der grammatischen Grundlagen, mitbringen.
In erster Linie denken wir bei der Einrichtung der Kurse an ausländische Lehrer
und Lehrerinnen, sowie an Studierende, die sich etwa in den Ferien für das Ver-
ständnis der Vorlesungen an den deutschen Universitäten vorbereiten wollen.
Zum Unterschiede von anderen Ferienkursen soll diesen Kursen jeder eng fach-
wissenschaftliche Charakter fehlen; sie wollen nur Ausländer in deutsche Sprache
und deutsches Leben einführen. Besonders sei noch hervorgehoben, daß die Aus-
sprache des Deutschen, wie sie in den gebildeten Kreisen der Provinz Hannover
üblich ist, allgemein als gut anerkannt ist.
Göttingen liegt in schöner, waldreicher Gegend, hat gute Bahnanschlüsse und
ist in jeder Beziehung durch Klima und geographische Lage begünstigt. An den
Sonnabenden werden Ausflüge zu den sehenswerten Punkten der Umgegend ver-
anstaltet.
Das Böttinger Studienhaus wird seine Einrichtungen in den Dienst der Ferien-
kurse stellen, besonders die Bibliothek und das Lesezimmer.
Anfragen in betreff weiterer Auskunft über die Kurse sind zu richten an das
Böttinger Studienhaus (Bahnhofstraße 24), das auch gern bereit ist, Göttinger Familien
anzugeben, die Ausländern Familienanschluß gewähren. (Durchschnittliche Preise
der Wohnungen einschließlich voller Pension von 100 M. an; einzelne Zimmer mit
Frühstück etwa 30 M.)
Auch Anmeldungen zu den Kursen bittet man an das Böttinger Studienhaus
zu richten.
Honorare: Der Gesamtkursus dauert vom 12. August bis 9. September; der
erste Halbkursus vom 12. bis 26. August, der zweite Halbkursus vom 27. August
bis 9. September. Die Teilnahme an dem Gesamtkursus kostet 40 M., an jedem
der Halbkurse 25 M.
Die Honorare sind nicht vor der Ankunft zu zahlen.
Vorträge und Übungen.
I. Praktisch-grammatischer Teil.
1. Oberlehrer Dr. Pohlmann, Konversations- und Vortragsübungen im Anschluß
an das Buch von Paszkowski. Zweistündig wöchentlich.
416 Vermischtes.
2. Professor Dr. Gade, Phonetische und grammatische Übungen. Zweistündig
wöchentlich.
3. Professor Dr. Bock, Stilistische Übungen (mit besonderer Berücksichtigung
der Synonymik). Zweistündig wöchentlich.
Das Buch von Paszkowski, „Lesebuch zur Einführung in die Kenntnis
Deutschlands und seines geistigen Lebens" (Verlag Weidmann) wird den
Übungen zurunde gelegt.
II. Literarischer Teil.
L Oberlehrer Dr. Jung, Einführung in die neueste Literatur Deutschlands
(mit Proben). Zweistündig wöchentlich.
2. Dr. Heinrich Meyer, Heinrich von Kleist. Zweistündig wöchentlich.
3. Kursusleiter de Bra, Lektüre und Erklärung von Goethes Faust. I. Teil.
Zweistündig wöchentlich.
III. Pädagogik.
Direktor Heinrich, Probleme der modernen Pädagogik. Zweistündig wöchent-
lich.
IV. Von deutscher Art und deutschem Wesen.
L Dr. Crome, Ausgewählte Kapitel aus der deutschen Kulturgeschichte
(in Verbindung mit dem Besuch der Altertumssammlung). Zweistündig
wöchentlich.
2. Dr. Fischer, Deutsche Architektur (mit Demonstrationen an Göttinger
Fachwerkbauten und Burgen in Göttingens Umgebung). Zweistündig
wöchentlich.
3. Dr. Wesenberg, Über Verfassung und Wirtschaftsentwicklung des modernen
Deutschlands. Zweistündig wöchentlich.
Diplome werden auf Wunsch denjenigen Teilnehmern kostenlos ausgestellt
welche den Gesamtkursus besucht haben.
Die diesjährigen Ferienkurse mit Vorlesungen und Übungen in deutscher,
englischer, französischer und italienischer Sprache finden vom 8. bis 28. Juli und
vom 5. bis 25. August statt und werden aus zwei Teilen von je dreiwöchentlicher
Dauer bestehen.
Alle auf die Kurse bezüglichen Anfragen sowie Anmeldungen sind zu richten
an : Marburger Ferienkurse, Villa Cranston, Marburg a. d. Lahn.
(Führer von Marburg gegen Einsendung von 35 Pf. in Marken.)
Marburg a. d. Lahn, im Mai 1909.
Das Komitee der Marburger Ferienkurse.
Abhandlungen.
Pädagogisches aus Paulsens ,,Jugenderinnerungen'^
Daß jedem an seiner Selbsterziehung gelegen sei, der erzieherische Nonnen
für andere aufstellt, wird sich, obwohl es sehr schön wäre, nicht behaupten lassen;
aber daß der, dem die Fragen der Erziehung überhaupt wichtig sind, gern über
die ihm selbst zuteil gewordene Erziehung urteilt, kann man erwarten. Und wenn
sein Blick hell genug ist und sein Urteil reif, so wird er auch gern den Zusammen-
hang verfolgen zwischen dem, was bei ihm natürlich gegeben war, und dem, was
er an Einwirkungen erfahren hat. Vielleicht gibt es kaum eine Selbstbiographie,
kaum eine wertvolle Biographie überhaupt, aus der nicht für den pädagogischen
Denker Gewinn zu ziehen wäre. Wen nun könnte es wundernehmen, wenn ihm
aus der Darstellung vom Leben eines Theoretikers und Historikers vom Fache
solche Gedanken in Fülle zuwachsen! Dem im Mai d. J. ausgegebenen Buche
unseres edlen Paulsen »Aus meinem Leben" eine Blumenlese dieser Art zu ent-
nehmen, muß nahe genug liegen.*) Neben Urteilen, die der Verfasser unmittelbar
fällt, sind es Bilder aus seiner Erziehungs- und Schulsphäre, und zugleich Zeug-
nisse von dem pädagogischen Geist der Zeiten und der Landschaften, die die Leser
wohl auch gegenwärtiger Monatschrift interessieren können.
Paulsen war auf der Höhe und gegen das Ende seines Lebens in besonderem
Maße gesammelt, seines Weges wie seines Standpunkts sicher, und die recht Neuen
und Jungen haben sich verschiedentlich etwas gereizt gegen ihn erwiesen, weil er
von den die Luft durchschwirrenden pädagogischen Umsturzideen eine ganz ge-
ringe Meinung hatte. Er war durchaus für ein Fortschreiten, nicht bloß in vager
Grundsätzlichkeit, sondern auf ganz bestimmten Linien, aber um so weniger für
irgend ein leichtherziges Springen und Stürmen in die Luft hinein, und er mag
auch für manche wirklich mögliche und wünschenswerte Neuerung allzu un-
empfänglich geblieben sein. Doch sein Spott gegen dergleichen behält etwas
Ruhiges, womit er vielleicht um so mehr Eindruck macht.
Zunächst aber ist da das Bild seiner schleswigschen Dorfschule, die nach dem
Urteil des Erzählers „im ganzen noch den Typus der Volksschule darbot, wie ihn
*) Friedrich Paulsen, Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen. Jena 1909. Eugen
Diederichs. 209 S. gr, 8». 3 M. In allgemeinerem Sinne habe ich mich über dieses Buch
ausgesprochen in der Nummer des »Tag" vom 16, Juni d. Js.
Monatschrift f. hAh. Schulen. VIII. Jhrg. 27
418 W. Münch,
das 16. Jahrhundert geschaffen und das 18. ein wenig ausgebaut hatte". „Pestalozzi
war offenbar noch nicht in den Gesichtskreis des Seminars getreten, wo der
Lehrer seine Ktinste erlernt hatte." Und so hat der Verfasser zu berichten von
endlosem Auswendiglernen in Religion, Geographie, Naturlehre, Auswendiglernen
des Katechismus (nebst regelmäßigen Strafexekutionen bei lückenhaftem Hersagen),
Auswendiglernen der Namen vieler großen, kleinen und kleinsten Städte und sonstiger
Namen und Zahlen, behufs treulicher Kenntnis der beiden wichtigsten Länder der Welt,
also Dänemarks und Palästinas, dann von rein mechanisch betriebenem Rechnen und
völliger Versäumnis des Kopfrechnens, von bloß wortmäßigem Vorsagen und Nach-
beten in der Naturlehre, vom Fehlen aller Anschauungsmittel, sodaß eine Kartoffel
mit eingeschnittenen Ringen den Erdglobus vertreten mußte, vom Fehlen auch
eines deutschen Lesebuchs und von so manchen andern Defekten. Die ab-
stumpfende Wirkung der häufigen Schläge wird hübsch dahin charakterisiert, daß
sie auf manche Schülernaturen nur noch so viel Eindruck machten, wie der Vor-
übergang einer Wolke vor der Sonne. Daß man von Hygiene und Überbürdung
noch nichts wußte, von Hitzeferien nie gehört hatte, an eine sorgsam zu be-
schränkende Unterrichtszeit für die erste Periode des schulpflichtigen Alters gar
nicht dachte; daß auch „die Wissenschaft von den Pausen noch sehr unentwickelt"
war, erwähnt der Verfasser mit einem Humor, der etwas ins Satirische spielt. Ja,
mit tiefer Mißstimmung fügt er hinzu: „Wenn die Widerstandsfähigkeit gegen
Anstrengungen aller Art in gleicher Progression von Generation zu Generation
abnimmt wie in der letzten, dann möchte es noch vor Ablauf des Jahrhunderts
dahin kommen, daß wir von Viertelstunde zu Viertelstunde mit dem Ergographen
die Ermüdungsgröße und mit dem Thermometer die Zimmer- und die Bluttemperatur
der einzelnen Schüler feststellen, auch den Puls fühlen und die Atmung kon-
trollieren und für jedes die Kurve aufzeichnen. Eine vortreffliche Aussicht für die
Ärzte: wir werden dann mindestens ebensoviel Ärzte als Lehrer in den Schulen
brauchen."
Die Verwendung von Unter- und Obergehilfen neben der offiziellen Lehrkraft,
dem , Küster", ruhte offenbar viel mehr auf naiv praktischer als auf psychologisch-
sozialer Grundlage (unter welchem Gesichtspunkt manche sie jetzt wieder einge-
führt sehen möchten); und daß den zu Aufsehern über die Mitschüler berufenen
Obergehilfen manche Konflikte der Pflichten nicht nur, sondern auch der Fäuste
erwuchsen, lesen wir mit gutem Verständnis. Aber gerade in seiner Elementar-
schule hat Friedrich Paulsen doch weiterhin die für sein Leben maßgebendsten
Einwirkungen erfahren. Dem Schulmeister von altem Schlag folgte dann „ein
Lehrer von Gottes Gnaden, klar und sicher, in der Sache lebend, daher heiter und
frei, nicht ohne den notwendigen Ernst und, wenn es sein mußte, die gebührende
Strenge", so daß „alle Begabteren dem Unterricht mit einem spontanen Eifer
folgten", daß „der Verstand gleichsam mobil gemacht wurde", daß in dem Knaben,
aus dem später der weltbekannte Professor der Philosophie und Pädagogik werden
sollte, damals und dort „sich der Erkenntnistrieb entzündete" und mit den
wachsenden Erkenntniskräften „sich das Verlangen zu studieren als natürliche
Folge einstellte".
So setzte es denn der mehr als Fünfzehnjährige durch, daß er noch Latein
Pädagogisches aus Paulsens .Jugenderinnerungen". 419
und die andern Dinge lernen durfte, um auf das Gymnasium überzugehen und für
die Universität reif zu werden. Wie das ehedem so vielfach geschah und damals
so wohl möglich war, brachte Privatunterricht, von einem Landpfarrer erteilt, den
Schüler über die Unter- und selbst Mittelstufe des Gymnasiums hinaus und er-
möglichte ihm, sofort in eine der Oberklassen einzutreten. Und dieser ganze
Weg ward von dem jungen Paulsen in weniger als anderthalb Jahren zurück-
gelegt. Weit entfernt natürlich, den Beginn jedes neuen Faches, mindestens aber
jeder neuen Sprache, immer erst nach erheblichem Zeitabstand eintreten zu lassen,
wurden da Latein, Griechisch, Hebräisch, Französisch, Englisch und Dänisch und
natürlich auch das sonst Erforderliche so ziemlich miteinander begonnen und
betrieben. ,Es wurde eben nach der Möglichkeit nicht gefragt." Der Lehrer hat
auf des Vaters ausdrücklichen Wunsch seinen Schüler „gehörig vorgenommen".
Und dieser „erinnert sich kaum einer Zeit fröhlicherer Arbeit und gedeihlicheren
Wachstums". Dabei hat er nie ein Lob empfangen, „wohl aber mehr als eine
entschiedene Zurechtweisung". Wie ungeheuer ist doch die Verschiedenheit
zwischen dem, was dem einen Individuum gebührt und was dem andern! „Daß
mir die Strenge übel bekommen wäre, kann ich nicht sagen." Und mit J. Stuart
Mill spricht Paulsen: „Ein Schüler, von dem nie etwas verlangt wird, was er nicht
oder noch nicht leisten kann, wird nie alles leisten, wozu er fähig ist." Paulsen
ist überzeugt, daß „von den beiden Fehlern des Lehrers, zu große Strenge und
zu große Nachsicht, der letztere der gefährlichere ist". Habituelle Erschlaffung
werde das Ende sein. Für seine Person ist es ihm unzweifelhaft, „daß der rasche
Gang am scharfen Zügel das seiner Natur Gemäße war".
Übrigens hatte der Unterricht dieser Periode offenbar wesentlich einen streng
formal schulenden, vor allem kraftheischenden Charakter. Von sachlicher Er-
läuterung der fremden Texte ist kaum die Rede; und wenn wir darin schwerlich
ein bewußtes Prinzip, eine pädagogische Überzeugung des Lehrers zu erblicken
haben, so sehen wir doch, daß allerdings auch eine zufällige Einseitigkeit ihre
schätzbare Wirkung tun kann, oder vielleicht, daß, wie den Frommen alles zum
Segen, so den wirklich Begabten alles zum Fortschritt gereichen kann. Daß
übrigens der Inhalt selbst eines Autors wie Homer in dieser und der folgenden
Schulzeit auf den Zögling keinen rechten Eindruck gemacht habe, betont Paulsen
ausdrücklich und fügt hinzu: „Vermutlich ist die Zeit, wo wir als Schüler Homer
griechisch zu lesen pflegen, überhaupt für ihn das undankbarste Alter. Der
Knabe freut sich der bunten Fabeln, der Mann kehrt zu dem Spiel der Phantasie
gern zurück, das Jünglingsalter ist vielleicht am stärksten auf das Reelle gerichtet
und darum für das harmlose Fabulieren am wenigsten empfänglich." Und hier
sei doch auch seines an früherer Stelle gefällten Urteils über die deutsche Privat-
lektüre der Schülerjahre gedacht. „Ich habe viel gelesen, ich gestehe — den
heutigen Reformern der Jugendliteratur zum Trotz sei es gesagt — mit viel Ver-
gnügen, und soweit ich urteüen kann, ohne Schaden an meiner Seele oder meinem
Geschmack zu nehmen. Diese Geschichten haben meinen Gesichtskreis erweitert,
meine Fähigkeit Deutsch zu sprechen und zu schreiben gemehrt, überhaupt in
jeder Hinsicht mich bereichert." Und er findet es geradezu töricht, eine besondere
Jugendliteratur überhaupt zu verwerfen, um der Jugend unvermittelt das Beste,
27*
420 W. Münch. Pädagogisches aus Paulsens .Jugenderinnerungen".
Größte, das Klassische zuzuführen, zu einer Zeit, wo sie das durchaus noch nicht
zu schätzen vermag. „Mit einer Literatur, die die Jugend nicht selbst schätzt,
sie mag im übrigen noch so schätzenswert sein, ist nichts gewonnen."
So also wurde der junge Paulsen für die Sekunda des holsteinischen Gymna-
siums zu Altona reif gemacht, in derselben Zeit wo er übrigens gelegentlich auch
Feldarbeit mit zu verrichten und seine mannigfaltigen Schularbeiten zwischen den
plaudernden und arbeitenden Familienmitgliedern und Dienstboten am großen
Tisch um ein einziges Licht anzufertigen hatte. Paulsen ist dann durch die Ober-
klassen der streng humanistischen Lehranstalt gegangen, die ausdrücklich nur Ge-
lehrtenschule sein, nur zur Universität die Schüler entlassen wollte. Alle Klassen-
lehrer waren klassische Philologen, Lateinschreiben war die nach allen Seiten ent-
scheidende Leistung, und zwar wesentlich Hinübersetzung, viel weniger freie
Aufsätze, von denen Paulsen mit sehr geringer Schätzung spricht: mehr als Zu-
sammenstoppelung von Reminiszenzen aus der Lektüre hätten sie nicht sein
können. Daß ein guter lateinischer Stil die wertvollste Errungenschaft für jede
einzuschlagende Lebensbahn bedeute, war die uns jetzt seltsam dünkende Über-
zeugung der Lehrer, Sie paßt aber zu der mir erinnerlichen Äußerung eines be-
rühmten Philologieprofessors aus der Zeit meiner Jugend, daß „Philologen alles
können", d. h. jedem Amt und Beruf die günstigste Befähigung entgegenbringen.
Wie unendlich weit ist von diesem angenehmen Glauben das Urteil der gegen-
wärtigen Menschen entfernt! Übrigens erwähnt Paulsen, daß allerdings „im
allgemeinen die besten Lateiner auch die fähigsten Köpfe gewesen seien", was
psychologisch zu erklären keine Schwierigkeit machen würde.
Zum Bilde dieser typischen Schule der damaligen Zeit — typisch wenigstens
für das dänische Schleswig-Holstein, wenn auch schon keineswegs mehr für
Preußen — gehört dann ferner das Fehlen nicht bloß von Zeichnen und Turnen
auf der Oberstufe, sondern jeglicher Sorge für leibliche Bildung, die ganz außer-
halb des Gesichtskreises dieser Pädagogen lag, von denen auch keiner je daran
gedacht haben würde, sich auf einem Turn- oder Spielplatz mit den Schülern zu-
sammenzufinden. Ein Sprachbetrieb ohne rechten Sinn für den Inhalt der Autoren,
ein Unterricht in deutscher Literatur durch den trockenen Notizenkram des Leit-
fadens von Pischon, im Englischen eine ganz verfrühte Shakespearelektüre, bei
ungenügenden sprachlichen Vorkenntnissen, nur um der literarischen Vornehmheit
willen (eine Verkehrtheit, deren auch jetzt manche Gymnasien sich schuldig
machen), ein ganz ungenügender Betrieb der Mathematik: diese Züge passen zu
dem sonstigen Bilde. Aber die Themata der deutschen Aufsätze, deren das Buch
gedenkt, haben vor vielen jetzt üblichen den Vorzug, daß sie nichts mit den Fragen
der Poetik, der dramatischen Technik zu tun haben, sondern wesentlich zu leben-
diger Nachempfindung und Darstellung eines menschlich verständlichen Inhalts
anregen. Und indem der Kursus der „Antiquitäten" in wesentlich akademischer
Form abgehalten wurde, war eine (damals auch anderswo nicht vermißte und jetzt
so sehr als wünschenswert erkannte) Zwischenstufe zwischen Schul- und Universitäts-
unterricht hergestellt. Für einen Geschichtsunterricht, der energisches Erfassen,
Einprägen und Bereithalten eines positiven Stoffes forderte, hat Paulsen sich seinem
damaligen Lehrer mit Recht lebenslang verpflichtet gefühlt. Auch sonst hat
E. Rosenberg, Zur Bereicherung der Übersetzungssprache usw. 421
Tüchtigkeit der lehrenden Männer keineswegs gefehlt. Schon jener Lateinlehrer
kann uns Wohlgefallen, der die schweren grammatischen Fehler moralisch leichter
nahm als die anscheinend leichteren Verstöße gegen feinere Sprachgesetze oder
gegen die zu fordernde Sorgfalt im kleinen. Ist es doch wahr, daß die wahrhaft
groben Fehler den jugendlichen Schülern oft nur »passieren", wie uns gänzlich
Ausgewachsenen ja auch in unserer Berufsbetätigung von Zeit zu Zeit sehr un-
zweifelhafte Fehler „passieren".
Zu dem Interessantesten für einen, der selbst Lehrer ist, gehört es wohl, wenn
urteilsfähige ehemalige Schüler die Bilder ihrer früheren Lehrer hinzuzeichnen
wissen. Sicherlich gilt das von Paulsens Porträts seiner Altonaer Lehrer aus der
Zeit um 1865, auf die hier nicht näher die Rede kommen soll. Bei einem in
falscher Vertrauensseligkeit Befangenen heißt es: „Gewiß ist Vertrauen Lebens-
bedingung für das rechte Verhältnis von Lehrer und Schülern: aber es darf dem
Lehrer die Augen nicht für die Wirklichkeit verschließen." Über die Mißlichkeit
des Überspringens einer Klasse, über die Möglichkeit eines sehr schlechten Klassen-
geistes und eines ziemlich verwahrlosten Primanerlebens auch unter einem recht
achtungswerten Lehrerkollegium und über noch manches andere könnte Paulsens
Buch nachdenken lehren. Wie er im ganzen, nach all den Jahrzehnten weiteren
Werdens und Reifens und Aufsteigens, seiner Gymnasiallehrer gedenkt, zeigt die
Stelle : „Gefühle des Dankes sprießen bei Schülern spät. Ich habe lange Zeit mit
Widerwillen an jene Jahre zurückgedacht. Jetzt kann ich nicht ohne dankbare
Empfindung an die Männer denken, die alle mit viel Geduld und Wohlwollen mich
getragen, zum Teil auch mit redlichem Eifer mich gefördert haben."
Es ist, glaube ich, überhaupt eine gute Charakterprobe, wie derjenige, der
seinen Lehrern mit achtzehn Jahren seelenvergnügt und geringschätzig den Rücken
kehrte, einige Jahrzehnte später über diese selbigen Lehrer urteilt. Zum Aner-
kennen von Menschenwert ist es eine gute Hilfe, daß man selber Menschenwert
errungen hat.
Berlin. W. Münch.
Zur Bereicherung der Obersetzungssprache aus dem
Lateinischen und Griechischen.
Ich habe an andrer Stelle (Hirschberg, Gymnasium, Programm 1908) mich eifrig
für eine zeitgemäße Umwandlung der Übersetzungssprache aus dem Lateinischen
ins Deutsche verwandt. Jetzt habe ich etwas anderes im Sinn. Ich möchte
manches aus der älteren Sprache, aus der Luthers und der Kirchenlieder-
dichter, wieder in die Übersetzung hinüberretten, wenn es zur Bereicherung
des gewöhnlichen, blaß gewordenen Sprachschatzes dienen kann, besonders aber
dann, wenn der alte Ausdruck oder die alte Konstruktion zur Aufhellung des
grammatischen Gefüges in der fremden Sprache sich eignet. Man darf keine
Konstruktion einer antiken Sprache lernen lassen, ohne den deutschen Ausdruck
mit ihr genau zu vergleichen und zu untersuchen, wie weit wir ihr in unserer
422 E. Rosenberg,
Sprache folgen oder gerecht werden können. Es ist das tausendmal ausgesprochen
und doch wohl immer noch nicht oft genug, denn sonst könnten sich falsche Kon-
struktionen z. B. die des leidigen persuadere nicht bis zur Prima versteigen. Dafür
ist nun die ältere deutsche Sprache in Bibel und Kirchengesang ganz besonders ge-
eignet. Und ich glaube: wenn ich dem Schüler ein Beispiel vorlege, dessen Wortlaut
ihm zumeist vertraut ist, das er ganz wo anders gelernt hat, da helle ich ihm nicht
bloß den Verstand auf; ich diene dann auch der Konzentration des Unterrichts,
der ja doch schließlich eine Einheit zu bilden berufen ist. Hier und da möchte
ich auch dadurch eines der nichtssagenden, so öden und langweiligen Übungs-
beispiele vertreiben, die Aufmerksamkeit durch ein so anderes und doch ver-
trautes Wort anregen.
Ich beginne mit den Kasus. Ich lehre im Griechischen den Genetiv des
Grundes und erinnere an das Deutsche:
„Des freu sich alle Christenheit
Und dank ihm das in Ewigkeit."
Man erwähnt, wie die deutschen Verba so vielfach ihre alte Genetivkonstruk-
tion aufgegeben und nur in der altersgeweihten Sprache der Dichter sie bewahrt
haben. Ich lasse die gewöhnlichen Beispiele, das Vergessen, das Schenken „des
perlenden Weines": ich erwähne nur:
Lacht der finstern Erdenkluft,
wo „lachen" dem xataysXav entspricht; dann:
„Vor dir niemand sich rühmen kann;
Des muß dich fürchten jedermann
Und deiner Gnade leben":
Genetive der Ursache, die jeder Deutsche fühlt, wenn er auch den grammatischen
Terminus nicht kennt.
Den Dativ ethicus mögen die Schüler sich klar machen an:
Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin
Und ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn.
Wenn ich den Akkusativ bei docere einübe, würde ich es für gut halten zu
erwähnen: „Das wir in Glaubensinnigkeit auch können alle Christenheit dein
wahres Zeugnis lehren."
Zur Erklärung des echten Ablativs bei den Verben des Beraubens schlage
ich den bekannten Vers vor:
„Und daher bist du kommen von deines Leibes Kraft."
zur Erklärung heranzuziehen, und als ein schönes Beispiel des abl. modi, den
man auch abl. absol. nennen kann:
„Mein Herze soll dir grünen in stetem Lob und Preis und deinem Namen dienen".
Aber wir haben uns auch zu sehr an ein Grammatischdeutsch gewöhnt,
das wieder mehr und mehr schwinden muß. Welches Gymansium übersetzt noch
ein ut finale mit „auf daß" oder auch nur mit „daß", „zu" statt mit dem ge-
Zur Bereicherung der Übersetzungssprache usw. 423
wohnten: »damit" oder »um zu"? Und doch gibt es unzählige bekannte Bei-
spiele wie:
„auf daß wir unter deinem Schutz, Begegnen aller Feinde Trutz"
oder: „Doch wird er mich erwecken aus der Erden, daß ich in der Herrlichkeit
um ihn sein mög' allezeit", wo sich auch passend auf die Notwendigkeit des
Konjunktiv in den lateinischen und griechischen Absichtssätzen hinweisen läßt;
oder endlich:
„Liebster Jesu, wir sind hier, dich und dein Wort anzuhören."
So ist auch das „da" fast verloren gegangen, besonders in Relativsäten, wie
„Der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann."
„Es kommen Stund' und Zeiten,
Da man auch wird bereiten
Zur Ruh' ein Bettlein in der Erd." oder:
„Da alleine Hilf und Rat
Ist für meine Missetat."
„Als mir das Reich genommen.
Da Fried' und Freude lacht."
So ist es Sitte geworden, in unserem Grammatischdeutsch in den Konzessiv-
sätzen mit quamvis u. a. ein „auch„ einzuschieben. Es heißt aber in dem be-
kannten Liede bloß:
„wie sauer er sich stellt"
und wird doch richtig aufgefaßt. Ist der Gebrauch von „ob", wie er sich häufig
in Kirchenliedern findet:
„Und ob es währt bis in die Nacht und wieder an den Morgen" oder
„Ob bei uns ist der Sünden viel — bei Gott ist viel mehr Gnade"
noch heute üblich? Das steife: „wenn gleich" und ähnliches hat uns wohl darum
gebracht. Wir sagen jetzt auch wohl überflüssigerweise „als ob", wo „als" auch
genügte :
„denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon."
Droht doch selbst die im Echtdeutschen so kräftige Inversion allmählich vor den
„Wenn"-sätzen ganz zu entfliehen! Wie schön klingt es doch:
„Sterbt ihr, Christus ruft euch wieder!"
„Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehre,
Kind und Weib: Laß fahren dahin! . . ."
„Erwarte nur die Zeit, so wirst du schon erblicken."
Und nun erst gar die schöne Parataxe im natüriichen deutschen Ausdruck!
Es bedarf beim Unterricht kräftiger Mahnung, daß sie zu ihrem Rechte komme:
„Das macht: er ist gericht't: ein Wörtlein kann ihn fällen."
„Ich lag in schweren Banden — du kommst und machst mich los."
„Dieses weiß ich; sollt ich nicht darum mich zufrieden geben?"
424 E. Rosenberg, Zur Bereicherung der Übersetzungssprache usw.
Für die im Griechischen besonders häufige Aufgabe des relativen Gefüges
finde ich passend:
„Der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter
verwelken nicht, und was er macht, das gerät wohl."
Bekanntlich sagt man im guten Deutsch nicht mehr „so wohl", „als auch",
„weder — noch" usw. Einfaches Verbindungswort oder Unverbundenheit genügt.
Darum heißt es:
„Der nicht wandelt im Rate der Gottlosen, noch tritt auf den
Weg der Sünder."
„Daß wir wieder Trost empfinden, alles Unglück überwinden."
Jede Grammatik muß für den prädikativ-proleptischen Gebrauch auch des
deutschen Adjektivs Beispiele anführen. Folgende mögen sich ebenfalls dazu
eignen :
„Er hilft uns frei aus aller Not" —
„Der dich auf Adlers Fittichen sicher geführet".
„Und schenkest mir voll ein".
„Du hebst mich hoch zu Ehren."
Ich habe oft gefunden, daß Schülern die Voranstellung eines Relativsatzes
Schwierigkeiten macht hinsichtlich des sofortigen Verständnisses. Aber wir haben
ja auch:
„Der eure Herzen labet und tröstet, steht allhier."
„Den aller Weltkreis nie beschloß.
Der lieget in Marienschoß."
Immer seltener wird es, daß wir im Deutschen in indirekten Fragesätzen den
Konjunktiv setzen, es sei denn, daß ganz deutlich eine oblique Beziehung hervor-
trete. Darum ist es nicht unangebracht, darauf hinzuweisen, daß wir auch im
Deutschen den Konjunktiv anwenden dürfen:
„weiß und sieht, was gut sei oder schade dem sterblichen Gemüt."
„damit, was dich ergötze, mir kund und wissend sei." —
Zu den bekannten Umschreibungen des Verbums mit habere, teuere, jacere
habe ich mir folgende Beispiele aufgeschrieben:
„damit du alle Welt ... so fest umfangen hast."
„zu dir kommen wir getreten."
Für die Besprechung des Konjunktivus dubitativus scheinen mir seiner Über-
setzung wegen folgende Verse passend:
„Wie soll ich dich empfangen?
Und wie begeg'n ich dir? . . ."
„Warum sollte mir denn grauen?"
R. Herold, Das Einüben der griechischen Buchstaben. 425
Wunschsätze machen im Lateinischen und Griechischen oft Schwierigkeiten
in bezug auf die Wiedergabe mit dem Konj. Präs. oder Konj. Imperf. event.
im Griechischen Optativ und Ind. temp. bist. Man lasse danach betrachten:
,Ach möcht ich, o mein Leben, an Deinem Kreuze hier mein Leben
von mir geben, wie wohl geschähe mir!"
Luise Henriette von Brandenburg wollte sicherlich auch ihr:
„Nur daß ihr den Geist erhebt von den Lüsten dieser Erden I"
als Wunschsatz gefaßt sehen.
Zum Schluß noch eine den Schülern längst bekannte Enallage des Adjektivs,
deren bei der Dichterlektüre im Gymnasium so viele besprochen werden müssen:
„meine starke Glaubenshand wird in ihn gelegt befunden"
und für die Übersetzung des Horazischen (pallida mors I, 4) :
„des blassen Todes Macht hat alles hingerafft".
Hirschberg i. Schi. Emil Rosenberg.
Das Einüben der griechischen Buchstaben.
Die Frage, wann und von wem den Schülern die griechischen Buchstaben zu
lehren sind, gehört zwar nicht zu den Kernfragen des Unterrichts, ist aber doch
einiger Beachtung wert. In den Lehrplänen und Lehraufgaben für die höheren
Schulen wird die Frage nicht berührt und auch in den meisten methodischen Hand-
büchern mit Stillschweigen übergangen. O. Kohl in Reins Enzyklopädischem Hand-
buch der Pädagogik III, 43 empfiehlt das Lesen des griechischen Alphabets für die Ge-
schichtsstunden in Quarta und die Schreibübungen für die ersten Wochen des grie-
chischen Unterrichts in Unter-Tertia, macht aber darauf aufmerksam, daß die kleinen
griechischen Buchstaben, wenigstens bis C. schon vom Mathematiklehrer in Quarta
einzuüben sind. Meines Erachtens fällt das Lehren der griechischen Schrift am besten
dem Schreiblehrer zu; denn dieser ist mehr als mancher Altphilologe oder Mathe-
matiker geeignet, durch seine eigene Vorschrift vorbildlich zu wirken. Als Zeit
möchte ich das zweite Halbjahr der Quinta empfehlen; denn dann ist nach einem
Schreibunterricht von insgesamt 4V3 Jahren einige Sicherheit in den Formen der
deutschen und lateinischen Buchstaben erreicht, und dem Zwecke, Schönheit der
Form zu erzielen, dient auch der griechische Schreibunterricht. Die gegen die
Einübung durch den Schreiblehrer — meistens wohl einen Elementarlehrer — ge-
äußerten Bedenken, daß dieser bei der Nichtkenntnis des Griechischen nicht geeignet
sei, solchen Unterricht zu erteilen, sind hinfällig, da ja der griechische Schreibunter-
richt auf keinen Fall in einen Anfangsunterricht des Griechischen ausarten darf.
Dies ist freilich oft der Fall. Eine mir voriiegende Schreibvorschrift von W. Suckow
(Breslau, E. Morgenstern) bietet eine Sammlung von einigen Dutzend griechischen
Vokabeln nebst Beispielen aus der Deklination und Konjugation und ganzen grie-
426 F. Boesch,
chischen Sätzen nebst darunter gesetzter deutscher Übersetzung. Die Vokabeln
sind ganz willkürlich, nur nach den darin vorkommenden Buchstaben, ausgewählt,
und auch die Gattungsnamen sind oft unrichtigerweise mit großen Anfangsbuch-
staben geschrieben. In ähnlicher Weise verwendet ein Schreibheft (Würzburg,
E. Bauer) beliebige Deklinations- und Konjugationsformen, doch ohne deutsche
Übersetzung. Besser schon sind in den Vorlagen zur Einübung der griechi-
schen Schrift von B. G. Teubner- Leipzig überwiegend Wörter und Eigennamen
verwendet, die dem Sextaner und Quintaner bereits bekannt geworden sind, aber
als nicht vorteilhaft erscheint mir, daß hier mit der Einübung der kleinen griechi-
schen Buchstaben begonnen wird und sich erst an diese die großen Buchstaben
anschließen. Da in jedem Unterricht an Bekanntes angeknüpft werden muß, beginnt
man besser mit den großen Buchstaben, die sich zur Hälfte an die bereits bekannten
lateinischen Kapitalbuchstaben anlehnen. Diese Anordnung ist den „Neuen grie-
chischen Schul Vorschriften" (Halle, Buchhandlung des Waisenhauses) zugrunde gelegt,
und da in recht geschickter Weise auch die Entstehung der kleinen Buchstaben aus
den großen dargelegt ist, wird deren Einprägung und Aneignung neben den großen
sehr erleichtert. Zur Einübung der griechischen Schrift sind die dem Quintaner be-
reits bekannten Fremdwörter ausgewählt worden, wie «cuiAraotov, berjXo'(ia, cptXooo'fta,
Ypa[XjjiaTixT}, [xaOYjjxotxixT^, fxouatxrj, ßtßXtoöi^xvj u. a.; dann folgen allbekannte Namen
von Personen, Städten und Bergen. Mit besonderer Freude aber werden die Schüler
die ihnen aus der Sagengeschichte bereits bekannten Namen der Helden des Argo-
nautenzuges, der Ilias und Odyssee in der Urschrift schreiben und lesen.
Halle a. d. Saale. Richard Herold.
Zur Übungsbücherfrage.
(Einige Wünsche zum Quartaband der Ostermannschen Übungsbücher.)
Wollen die Vertreter des alten Gymnasiums den Bestrebungen, den Beginn
des lateinischen Unterrichts nach oben hin zu verschieben wirksam entgegen-
treten, werden sie mehr als bisher darauf bedacht sein müssen, den Unterricht so
zu gestalten, daß schon auf den unteren Stufen die Erziehung zum Denken als
seine Hauptaufgabe erscheint. Von wesentlicher Bedeutung wird dazu das Übungs-
buch sein. Für seine Anlage soll das folgende einige Wünsche geben. Sie sind
gekleidet in die Form einer ausführlichen Besprechung des neuen Quartabandes
der Ostermannschen Übungsbücher.*) Es wird sich das rechtfertigen durch die
große Verbreitung, die gerade diese Bücher gefunden haben.
Über die vorgenommenen Änderungen gibt das Vorwort Auskunft. Sie be-
treffen im wesentlichen teils die Form der lateinischen und deutschen Texte, teils
die Anordnung des Stoffes. Mit den letzteren wird man im großen und ganzen
einverstanden sein können.
*) Ostermann, Chr., Lateinisches Übungsbuch. Ausgabe C. III. Teil: Quarta. Bearbeitet
von H. J. Müller und H. Fritzsche. Leipzig und Berlin 1909. B. G. Teubner. VI u. 310 S.
geb. 2,40 M.
Zur Übungsbücherfrage.
427
Das Lesebuch hat die Umarbeitung, die nötig gewesen wäre, nicht erfahren.*)
Auch in der neuen Form hat es keinen von den Vorzügen, die wir selbst an dem
schwächsten Original bewundern, dagegen alle die Mängel eines künstlichen, nicht
einmal analysenfesten Surrogates. Schopenhauer würde von Kaffee und Zichorie
sprechen. Das „Ostermanndeutsch" ist berüchtigt; „ Ostermannlatein " ist nicht
besser. Einförmigkeit der Wortstellung und des Periodenbaus, wenig sorgfältige
Anlage vieler Sätze (viel öfter müßte das gemeinsame Satzglied an den Anfang),
geringe Beachtung der sogenannten Synonyma, Aufnahme deutsch gedachter
Wendungen, Vorliebe für manche Ausdrücke, Einschiebung völlig gedankenarmer
Satzglieder und Sätze, Auslassung anderer für das Verständnis notwendiger, Un-
genauigkeit in der Wahl der Tempora, fortwährende unlateinische Wiederholung
des Eigennamens, Zerreißung eng zusammengehörender Sätze, Verkuppelung ganz
verschiedener Gedanken durch et atque sed zu einem scheinbaren Ganzen, geringe
Genauigkeit in der Verbindung der Sätze, häufige Unterbrechung des Zusammen-
hangs, namentlich am Anfang eines Kapitels, bilden seine Hauptkennzeichen.
Innerhalb dieses Rahmens hat C. vieles geändert, manches gebessert. — Um
ein genaues Bild von dem Unterschied der beiden Rezensionen und ihrem Ver-
hältnis zum Original zu geben, wäre eine Gegenüberstellung größerer Abschnitte
erforderlich; die verbietet der Raum. Doch genügen vielleicht folgende, um ihrer
Kürze willen gewählte, Sätze, das, worauf es ankommt, zu zeigen. Absichtlich
habe ich mich auf ganz vereinzelte Zusätze beschränkt.
Cornelius Nepos
I. 3. 3. hie (Miltiades)
cumcrebri*) afferrent nuntii
male rem gerere Darium
premique a Scythis, horta-
tus est pontis custodes, ne a
fortuna datam occasionem
liberandae Graeciae dimit-
terent.
*) crebri und das praes.
gerere bedingen sich gegen-
seitig.
//. 2. 6. Deliberantibus
Pythia respondit, ut moeni-
bus ligneis se munirent.
Id responsum quo valeret
cum intellegeret nemo,
Themistocles persuasit con-
6. Paulo post ad cus-
todes pontis nuntius allatus
estDareum male rem gerere
premique a Scythis, et
equites hostium, qui idem
nuntiantes ad flumen ve-
nerant, Qraecis persuade-
bant, ut pontem rescinde-
rent Quibus rebus cognitis*)
Miltiades custodes pontis
hortatus est, ut consilio et
voluntati Scytharum pa-
rerent.
17. Pythia utilissimum
esse respondit moenibus
ligneis se defendere. Quod
cum Athenienses audivis-
sent, incerti erant, quid
sibi deus praeciperet: alii
*) Quibus?
C.
6. Paulo post profec-
tiönem regis custodibus..
persuadere conati sunt .
17.
dubitabant
*) Der Unterzeichnete hat A. u. C. verglichen ; er muß um Entschuldigung bitten, falls
einiges, was er C zuschreibt, schon in B geändert sein sollte.
428
F. Boesch,
Cornelius Nepos
silium esse Apollinis, ut in
naves se suaque conferrent:
eum enim a deo significari
mumm ligneum.
IL 9. 4. te autem rogo,
ut de eis rebus, quas tecum
colloqui volo, annuum mihi
tempus des eoque transacto
ad te venire patiaris.
III. 3. 2. hie qua fuerit
absiinentia, nullum est
certius indicium quam quod,
cum*) tantis rebus prae-
fuisset, in tanta paupertate
äecessit, ut qui efferretur
vix reliquerit. Quo factum
est, ut filiae eius . .
*) Dieser Satz ist für den
Beweis notwendig.
putabant Apollinem impe-
rare, ut urbs defenderetur,
alii navibusfugiendum esse
credebant;
Themistocles autem naves
esse moenia lignea dixit et
deum imperare, ut, cum
Lacedaemonii aliique pe-
destribus Persarunt copiis
obviam irent, Athenienses
cum hostibus proelium
navale facerent.
27. Oro te, ut vitam
meam tuearis et me ad te
venire patiaris.
33. Quanta probitate et
abstinentia Aristides fuerit,
nullum est certius indicium,
quam quod in summa \ quod is in
paupertate mortuus est. \
Ne tanium quidem liberis
suis reliquit, quo efferri
posset. Ita factum est, ut
et ipse publicis sumptibus
sepeliretur et filiae eius . .
C
ut arx, quae olim lignea
sepe circumdata fuisse
dicebatur, defenderetur.
Themistocles autem dixit
deum sibi (?) impe-
rare, ut navibus velut
moenibus ligneis liber-
tatem defenderent ; itaque
civibus suasit, ut, cum . .
terrestribus . . ipsi
. . navibus pugnarent.
27. Oro te, ut in hac
urbe me manere et linguam
Persicam ita discere sinas,
ut ipse tecum colloqui
possim.
33.
VI. 4. 2. saepe, cum 45. saepe, cum in ho-
aliquem offensum fortunae mines male vestitos inci-
videret minusbenevestitum,
suum amiculum dedit.
VIII. 4. I. huic pro tantis
meritis honoris causa Corona
a populo data est, facta
duabus virgulis oleagineis.
quam quod amor civium
et non vis expresserat,
nullam habuit invidiam
magnaque fuit gloria.
(sc. Corona).
derat, comites vestem suam
Ulis dare iubebat.
71. 72. Pro his in rem
publicam meritis Thrasy-
bulo et reliquis, qui in cas-
tello Phyle a triginta ty-
rannis oppugnati erant, ex
plebiscito singulis Corona
ex virgulis oleaginis facta
data est, universis mille
nummi, qui Graeco voca-
bulo drachmae nominantur,
donati sunt, ut dis immor-
45.
. . aut ipse vestem suam Ulis
dedit aut comites suosumptu
bene vestitos dare iussit.
66.
ceteris
a populo singulaecoronae
ex virgulis oleaginis factae,
universis vero milU
drachmae datae sunt . .
Cornelius Nepos 1 A.
' talibus sacrificarent ei dona
illa igitur Corona conieniusjerrent. Thr. qui Uta
Zur Übungsbücherfrage. 429
C.
Trasyb. neque amplius re-
quisivit neque quemquam
honore se antecessisse
existimavit.
Corona conientus nihil am-
plius requisivit, omni caruit
invidia magnaque fuit
gloria.
Quo praemio contentus
quod Thr. nihil amplius re-
quirebat, omni caruit in-
vidia magnaque gloria
floruit.
Dazu vergleiche man etwa Nep. II. 8. 2, A. 25. 15 ff, C. 25. 15 ff.; Nep. IV. 2. 3 ff,
A. 35. 10 ff., C. 35. 10 ff.; Nep. III. 1.1 f. A. 29, 7 ff, C. 29, 7 ff; A. 31. 1 ff., C. 31. 1 ff.;
Nep. II. 5, A.22, C.22; Nep. III. 1.3, A. 30. C. 30; A.49, C.49. Ich fürchte, der
Vergleich wird nicht zu Gunsten der neuen Ausgabe ausfallen. Der Abstand vom
Original wird noch größer und fühlbarer, und der Wunsch, an einer Stelle zu
bessern, ruft nur zu leicht eine Verschlechterung an anderer Stelle hervor. Der
einzige, der bei dem Vergleich gewinnt, ist Nepos, der viel Geschmähte.
Aus der Menge des Materials gebe ich noch einige, mehr zufällig als planvoll
ausgewählte, Beispiele von Stellen, an denen nach meiner Meinung nicht glücklich
geändert oder eine wünschenswerte Änderung unterlassen ist: 2. 7 eos nicht illos, 3. 6
ut imperio Apollinis pareret (A). nicht ut sibi salutem afferret, 4. 9 (mortuus est et)
wie A. 5. 8 wie A, oder ponte in fl. facto in fines profectus est. 6. 6 (7. 9) cum eis
copiis, quas (Nep.). 9. 1 nicht quae Mardonio duce missa erat, sondern quae
cum Mard. missa erat oder quacum Mardonius missus erat. 13. 4 {et in potes-
tatem suam redigeret) wie Nep. u. A. 13. 12 nicht putaveruni sondern putabant
(A). 14. 1 etwa: cives irati cum . . comperissent . . accusaverunt. 14. 14 solvit
pecuniam . . Cimon. 15. 4 nam cum. 16.4 nicht persuasit, sondern suasit wegen 7
quod cum comprobatum esset. 18.7 mchi Persae eos cum decem milibus militum
transcenderunt, sondern decem milia Persarum etc. 19. 17 nicht navium partem
violatam esse, sondern afflictam, 20. 1 nicht cum Graeci venissent — , nuntiatum
eis est, sondern mit A. Graecis cum venissent nuntiatum est, oder sachlich besser:
cum ibi deliberarent, quid faciendum esset, n.e. 21.2 nicht per fidelissimum ex
servis suis, sondern per servum quendam de suis, quem habuit f. 21. 6 nicht
Persae naves adduxerunt, sondern Xerxes naves adduci iussit (cfr. Nep.)
23. 2 nichtssagend wie 4. 4. 23. 5 nicht dixerunt enim, sondern dicebant autem.
24. 8 nicht Lacedaemonii igitur, sondern itaque Lac. 26. 3 nicht illum, sondern
ipsum. 27. 6 quamdiu necesse fuit, wie Nep. 31. 12 nicht sed cum, sondern at
cum. 33. 8 Der Gedanke muß an anderer Stelle verwertet werden. 34. 15 nicht et
nomina modo, sondern neque aliud quam (nisi) Nep. 36. 5 nicht se sequi iubebat,.
sondern iussit oder sequebantur eum (A). 44. 4 nicht a. 461 testularum suffragio
in decem annos ex patria expulsus est, sondern nam a. 461 t. suffragiis decem
annorum exilio multatus est (Nep.) 52. 3 frustra postulavit; 75. 1 1 nicht pöst-
quam causam comperit, sondern indir. Frage (Nep. causam ostendit).
78. 3 qui cum ipso Epaminonda auctore omnem culpam in illum (sc. Epami-
nondam) transtulissent bringt den Schüler nur in Verlegenheit. 78.8 nicht in
tabulis publicis, sondern in sepulcro suo (A. Nep.) 82. 18 nicht lllyrios a Mace-
donibus Parmenione duce esse superatos, sondern quibus praeerat. 86.7 nicht
in utram partem Victor ia esset inclinatura, sondern fortuna . . oder uiri victores
430 F Boesch,
essent discessuri. 89. 14 nicht quare cum . . Delphos escendisset, casu accidit,
ut eo die, quo advenit, a Pythia responsa non darentur, sondern sed cum escen-
disset, casu eo die advenit, quo . . non dabantur. 94. 9 nicht perstitissent, sondern
perstiterant. 94. 12 corpora suorum, nicht corp. s. mortua. 95. 3 pleraeque urbes
sua sponte ei portas aperuerunt Germanismus. 97. 13 exspectans, num . . esset
animadversurus (!) 100. 21 = 108. 10; 100. 24 . . ut mercennarii quoque et
equites . . ipsi quoque . . peterent; ipsi quoque ist zu streichen, ebenso 108. 17
ipsum (Text: ipso) quoque.
101. 13 stabant ergibt ein unmögliches Bild; Gurt: iacebant in gremio. 104. 2
nicht XXX? ib. 13 nicht ego quoque hoc facerem, si Parmenio essem, sondern
mit Gurt, pecuniam quam gloriam mallem, si (cfr. St. 184 S. 4). ib. 15 deinde
legatis . . revocatis verlangt das legatis . . excedere iussis von A. wie 102. 12
sine pretio das magna pecunia acctpta (A. Gurt.) im Anerbieten des Darius.
109.22 nicht inter mirabilia opera, sondern inter m. op. orbis terrarum. 110. 18
nicht pro merito uniuscuiusque, sondern pro suo cuique merito. 110. 22 nicht
regiam delendam curavit, sondern r. deleri iussit. 123. 11 nicht cum paucis,
sondern solus. 137. 14 Hannibal primus in proelium ibat (Liv. A.), nicht ad pr.
proficiscebatur. 139. 15 nicht quo proelio equestri prope flumen facto, sondern
Proelio etc. . . denn es fehlt das in A. vorausgehende equestri proelio dimicavit.
Ich könnte diese Bemerkungen ad libitum vermehren; allein die Fälle, wo
€in is oder ille zur Wiederaufnahme des Subjekts ganz unnötiger Weise neu ein-
geschoben ist, würden eine stattliche Zahl ergeben, von dem Gebrauch von quidem
zu schweigen. Aber worauf nach meiner Ansicht bei der Neubearbeitung hätte
geachtet werden müssen, wird klar sein. „Der Schüler ist natürlich für solche
Unterschiede noch nicht reif; der Lehrer aber soll daran denken und Beispiele
vermeiden, die bei dem, der sich daran gewöhnt, für spätere Zeiten die Unter-
scheidungsfähigkeiten abstumpfen." (Gauer.) Übrigens gilt nach meinem Urteil
für den Sexta- und Quintaband das Gleiche.
Als Druckfehler sind zu streichen 94.12 in, 112.10 se; als unnötige Hilfen
die noch stehen gebliebenen Quantitätsbezeichnungen, soweit sie dem Schüler das
Erkennen des Kasus erleichtern sollen.
Das Übungsbuch enthält, abgesehen von einem Abschnitt über die Über-
setzung der Participialkonstruktionen (warum fehlt ein Hinweis auf die Wiedergabe
durch einen Hauptsatz?) wenige, z.T. nach Form und Inhalt recht dürftige, latei-
nische und viel deutsche Sätze. Ich würde es umgekehrt wünschen; denn nach
meiner Erfahrung kommt beim Übersetzen gedruckt vorliegender deutscher Sätze
nicht viel heraus, so bequem es auch ist. „Aber das ist ein zu weites Feld."
Sollen aber diese jetzt vorhandenen lateinischen Sätze der Entwicklung oder der
Einübung der sonst irgendwie entwickelten Regeln dienen — und nach ihrer
Stellung scheinen sie doch eins von beiden zu sollen — so müssen alle die Über-
setzungshilfen aus ihnen verschwinden, die dem Schüler gerade das verraten, was
erfinden oder üben soll; z. B. pag. 99, 115, 117, 163. Sollte etwas Nutzbringendes
geschehn, so mußte man etwa pag. 99 denselben lateinischen Satz in doppelter
Fassung (Partie, resp. Nebensatz) wiedergeben und so zum Vergleich anregen, ähnlich
wie es p. 107 gemacht ist. Aber wenn da steht: „T. Manlius filium suum securi
Zur Übungsbücherfrage. 431
percuti iussit. Aber: Livius narrat T. Manlii iussu filium eius securi necatum
esse", so würde es lateinisch doch wohl heißen: Livius narrat T. Manlii filium
iussu patris necatum esse.
In den deutschen Sätzen und Stücken soll das Bestreben, das Ostermann-
deutsch zu beseitigen, ausdrücklich anerkannt werden, wenn man auch noch
manches »daß", manchen Nebensatz und Wendungen wie: die Vorsehung ver-
waltet das Weltall; er wandte eine große Strenge an; Augustus genoß lange die
höchste Gewalt, die Cäsar nur kurze Zeit verwaltet hatte; das Heer entbehrte
mehrere Tage hindurch der Speise; die verzeichneten Buchstaben u. a. m. gern
missen würde.
Aber leider wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle der undeutsche
Ausdruck in Klammern hinzugefügt und damit der ganze Erfolg wieder aufgehoben;
denn naturgemäß werden die Augen und Gedanken des Schülers mehr an dem
schlechteren, aber für ihn wichtigeren, als an dem richtigen Ausdruck haften.
Und wieder wird ihm die Arbeit, die er selbst leisten soll, und noch dazu die
eigentlich bildende und reizvolle Arbeit abgenommen.
Doch das ist nur eine von den zahllosen Hilfen, die ihm für die Übersetzung
gegeben werden und die mich gegen das Buch noch bedenklicher machen, als
die mangelhafte Latinität des ersten Teils. Bewundernswert ist die Sorgfalt der
Verfasser bei dieser entsetzlichen Kleinarbeit, bewundernswerter die rein technische
Leistung eines Schülers, der es fertig bringt, unbeirrt durch diese Menge ver-
schiedener Zeichen sein deutsches Stück fließend vorzulesen. An der richtigen
Stelle freut man sich über einen Wegweiser, wo man selbst den Weg nicht finden
kann und ein Umweg keinen Nutzen gebracht hätte, aber man nehme sich nicht
gewisse, jedem Wanderer verhaßte, Verschönerungsvereine zum Vorbild, die alle
paar Schritt die Bäume bemalen und es für ihre Pflicht halten, überall Wegweiser,
Barrieren, Warnungstafeln u. dgl. anzubringen. Man gebe dem Schüler die Haupt-
regel und dann überlasse man es ihm, ob er sich nun etwa für participium oder
Nebensatz, für perf. oder imperf. entscheiden will, zumal wenn beides in gleicher
Weise paßt. SchließHch gehört das doch auch in das vielerörterte Kapitel von
der Erziehung zur Selbständigkeit und Freiheit.
Von einem Schüler, der zwei Jahre Latein gehabt hat, muß man verlangen,
daß er von selbst das gemeinsame Subjekt an den Anfang stellt, daß er weiß,
wie er sich einem Infinitiv mit „um zu", (St. 181 S. 2), einem finalen Relativsatz
(St. 182 S. 9), oder präpositionalen Wendungen in Fällen wie „für die Lacedä-
monier schimpflich" (St. 185 S. 8) oder „Perikles schmückte die Stadt mit Tempeln"
(St. 184 S. 2; cfr. 186, 25, 28; 187, 14) gegenüber zu verhalten hat. Aber noch
am Schluß des dritten Jahres erhält er Hilfen, wie St. 282 viermal: „zu Schiff",
„auf dem Wagen" (abl), St. 276 zweimal (nb. auch hier in einem zusammen-
hängenden Stücke): „sei überzeugt" (überzeuge didi), ebenda: „zur Kriegführung"
(ger.), in demselben Satze viermal hinter einem Präsens (fut.), bald darauf: „für
die Punier günstig" (dat.) u. s. w. Natürlich erhält auch jedes „sagte er" vor
direkter Rede seinen Stern.
Das muß anders werden; denn wie soll der Schüler sich etwas zutrauen, wenn
wir ihm nichts zutrauen? wie soll er Aufmerksamkeit und Genauigkeit lernen?
432 F. Boesch,
Und wenn die zahlreichen Verweisungen auf die unglückliche zweite „stilistische*
Regel verschwinden, werden viele Sätze auch lateinischer werden.
Ähnliches gilt von der Wortkunde.
Ohnehin schon für den Schüler zurechtgemachte Sätze erhalten eine Menge
unnötiger Obersetzungshilfen, und statt bei den nötigen Vokabeln die Grundbe-
deutung zu geben und durch ein „hier?" das Suchen des Schülers anzuregen,
schlägt man den umgekehrten Weg ein und verzichtet auch hier der Bequemlichkeit
des Schülers zuliebe auf den Hauptnutzen der Arbeit. Zwar wird, wie das
Vorwort rühmt, überall die Frage nach der Grundbedeutung gestellt, aber wozu
soll der Schüler noch suchen, wenn er hat, was er braucht? Auch wird nur eine
leider schon genug verbreitete Nachlässigkeit des Übersetzens gefördert, wenn
man z. B. druckt — es soll übersetzt werden: ut Athenae lumen ac decus totius
Graeciae vocarentur — lumen, hier: der Schmuck. Dazu kommen die zahllosen
Rückverweisungen, nicht nur zwischen den verschiedenen Stücken, sondern im
Rahmen derselben Erzählung, die den Schüler der heilsamen Pflicht, sein Ge-
dächtnis zu befragen, entheben. Habe ich richtig gezählt, ist unter den Vokabeln
zu den Alexanderstücken caput viermal, labor sechsmal (dazu dreimal läborare),
alter-alter, ratus, victoriam adipisci, loci natura, humi prosternere je dreimal,
ipse quoque viermal, ingredi fünfmal vertreten, eine Liste, die beliebig erweitert
werden kann. Denn das macht sachlich keinen Unterschied, ob jedesmal die Be-
deutung wiederholt oder nur durch ein s auf die Stelle, wo die Bedeutung zu
finden ist, hingewiesen wird. Kein Wunder, daß die Klagen über mangelnde
Vokabelkenntnisse so überhand nehmen und wieder besondere , Wörterbücher zu
Ostermanns Lesebüchern" angezeigt werden!
Die dann folgende Zusammenstellung von „Redensarten und anderen
bemerkenswerten Ausdrücken", die von Klassenstufe zu Klassenstufe er-
weitert wird, verschafft den Übungsbüchern Freunde auch unter solchen, die sie
sonst ablehnen; ebenso wird die Sammlung von Sprichwörtern und synonymen
Ausdrücken willkommen sein. Ablehnen muß ich allerdings die Formulierung des
Unterschiedes von propter und causa (S. 282): propter bei vorhandenen Dingen;
causa bei erstrebten Dingen.
Den Schluß bildet der grammatische Anhang.
Unnötige Erklärungen von Konstruktionen und grammatischen Ausdrücken
sind mit Recht vermieden. Sollte der Lokativ erwähnt werden, so gehörte er
folgerichtig in § 1, 1, c zu Corinthi, nicht erst in § 1,3 zu domi. Unzureichend
ist die Erklärung des genetiv. subjectivus und objectivus: Name und Sache sind
mit einem Schlage klar, wenn man zeigt, wie in der Umschreibung durch einen
Satz das jetzt im Genetiv stehende Substantiv einmal Subject, das andere Mal
Objekt wird.
Das Verständnis fördernde Hilfen, wie § 14 der Hinweis auf die Grundbedeutung
von persuadeo, hätten öfter gegeben werden können.
In § 2 vermisse ich einen Hinweis auf die Fälle, wo erst durch die Um-
wandlung des genus verbi eine Participialkonstruktion ermöglicht wird, mit Rück-
sicht auf die im Lesebuch vorkommenden Fälle § 5 iubeor und vetor, § 7 den
Zusatz, daß indirekte Fragen auch als Subjekt zu unpersönlichen Ausdrücken
Zur Übungsbücherfrage. 435
treten können, § 8 einen Hinweis auf ut nemo und ne quis, § 10 auf die im
Vorwort angekündigte coniugatio periphrastica, ib. nach 2 c ein Beispiel für da»
häufige in mit dem Ablativ des Gerundiums. §2,2 steht an verkehrter Stelle;
§ 12, 2, a ist unvollständig und hätte mit b besser gefehlt. § 16, 3 wiederholt
nur § 1, 4 und könnte eine knappere Fassung erhalten; § 14, 2 war früher besser
formuliert. § 18, 14 ist in dieser Allgemeinheit falsch.
Um seines Eigenwertes verteidigen wir den grammatischen Unterricht; von
der untersten Stufe an ist uns „Erziehung zum Denken durch die Grammatik" seine
Aufgabe. Diesem Ziel hat auch das Lehrbuch zu dienen. Es mögen geringe
Ungenauigkeiten sein, wenn wir drucken: adaequo] usw. parco und Genossen
regierten abweichend vom Deutschen den Akkusativ resp. Dativ (§13, §14),
oder gar: transitiv wird gebraucht decet me (§ 13), oder: das letzte Glied
wird (wie im Deutschen) mit que angehängt (§ 18,7), oder: präpositionale Aus-
drücke dürfen nicht von Substantiven abhängen (§ 18,6) oder: der genet.
partit. bezeichnet das Ganze, von dessen Teil (oder Teilen) etwas ausgesagt
wird — aber bei uns wie bei den Schülern müssen wir sie erbarmungslos be-
kämpfen.
Aus demselben Grunde dürfen sich die syntaktischen Regeln nicht auf eine
äußerliche Aufzählung einzelner Fälle beschränken, die man lernen muß; der
Schüler muß hören und verstehn, daß es auf den Inhalt des Satzes ankommt.
Also fort mit Regeln wie §8,3: dass= damit: ut (finale); dass nicht = damit
nicht: ne. Anm. ut finale entspricht auch dem deutschen um zu mit dem In-
finitiv. — oder § 7 (die Überschrift enthält einen Druckfehler), weg mit der
Trennung von § 18, 11, weg mit der Fassung von § 4. In diesem Falle ist die
Aufzählung nicht einmal vollständig; denn in Fällen wie St. 206 Z. 31 oder St. 114
Z. 17 läßt sie den Schüler im Stich.
Als ein Musterbeispiel, wie man es nicht machen soll, erscheint mir § 3:
Viele Verba haben neben einem Objektsakkusativ einen Objektsin-
finitiv nach sich (wirklich?); z.B. video eum fugere (eum timidum esse,
eos timidos esse) = ich sehe ihn fliehn (ihn furchtsam sein, sie f. s.)
= ich sehe, daß er flieht . . (Ein anderes Beispiel hätte sich mehr empfohlen,
mit Rücksicht auf video eum fugientem). Man nennt diese Konstruktion
a. c. i. Sieht man den a. c. i. als einen besonderen Satz an (das geht
nicht!), dann steht sein Subjekt im Akkusativ, sein Prädikat im In-
finitiv, und die nominalen Bestimmungen des Infinitivs richten sich
. . nach seinem Subjekt. Der a. c. i. steht: 1. bei den verba sentiendi
etc. 2. bei . . 3. . . — Daß es sich um Aussagesätze handelt, es also auf den
Inhalt des Satzes ankommt, hört der Schüler nicht. Aber er muß doch c. 28 lesen:
hanc urbem rex ei donaverat, cum diceret ut is (!) ex Ulis panem haberet.
Dem stelle ich ein Beispiel gegenüber, wie man es machen kann. Es stammt
aus den Lehrplänen unseres zweiten humanistischen Gymnasiums, mit dessen Direktor
ich die Fragen des Unterrichts und dieses Übungsbuches oft und gern besprochen
habe: „Der Infinitiv kann Subjekt oder Objekt sein, z. B. navigare necesse est,
vivere non necesse; sentio appropinquare, ich fühle ein Nahen. Tritt zu dem
Infinitiv ein Subjekt, so steht dies im acc, z. B. mortem. Diese Konstruktion
Monatschritt f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 28
434 P- Johannesson,
nennt man a. c. i. Sie gehört also als Subjekt oder Objekt zu einem verbum
finitum; sie ist der Inhalt des Verbums. Macht man aus diesem Infinitiv -Inhalt
einen Satz, so ergibt sich jedesmal ein Aussagesatz. Umgekehrt: Nur Aussage-
sätze stehn im a. c. i. Die Frage lautet also in jedem Falle: Wie heißt der Inhalt
in Satzform ausgedrückt? Z. B.: Ich glaube gesehn zu haben. Inhalt? gesehn
zu haben. Als Satz? ich habe gesehn, ego vidi. Also: puto me vidisse."
Ich sage nicht, daß man es so machen muß; ich selbst habe es anders gemacht.
Aber jedenfalls: xa xctTtuOev layn'^oxoLX sTvai 8st «SsTiep oixta? xat TrXotou xat täv
aXXcUV TÄV TOlOUXfOV.
Berlin -Wilmersdorf. F. Boesch.
Ober Handfertigkeitsunterricht an tiöheren Schulen.
Verkürzte Wiedergabe eines Vortrags.
Unter der Aufschrift „eine Schülerwerkstatt" wurde hier kürzlich über den
Handfertigkeitsunterricht des Sophienrealgymnasiums berichtet. Jene Mitteilung,
die sich auf das Tatsächliche beschränkt, dagegen allgemeinere und darum strittige
Erwägungen nur eben streift, soll heute durch die Darlegung der inneren Trieb-
federn und Ziele ergänzt werden, die meines Erachtens dem Handfertigkeits-
unterricht zugrunde liegen; damit verbinden wir einige Fragen, welche die zweck-
mäßige Gestaltung jenes Unterrichts betreffen.
Welche Vorteile kann an höheren Schulen ein Handfertigkeitsunterricht dem
Zögling bieten? Als ersten Vorteil hat man die Tatsache angesehen, daß durch
die Handfertigkeit die feineren Muskelgruppen in Bewegung kommen, die selbst beim
Turnen und den andern üblichen Verrichtungen ausgeschaltet bleiben; auch wird
ein Zusammenhang zwischen dem Schaffen der Hände und dem Sprechen darin
gefunden, daß beide Vorgänge von derselben Gehirnstelle aus geleitet werden ; so
sollen Sprachstörungen durch geeignete Regelung der Handtätigkeit geheilt worden
sein. Ob diese physiologischen Gründe gegenüber der Mehrzahl der höheren
Schüler irgendwie belangreich sind, lasse ich dahingestellt; für wichtig dagegen
halte ich die ganz bestimmten Anschauungen und Fertigkeiten, die durch den
Handarbeitsunterricht erworben werden; und zwar sind diese ganz bestimmten
Anschauungen und Fertigkeiten die allereinfachsten handwerklichen Arbeiten
etwa das Schneiden und Bekleben von Pappe, das Ineinanderfügen von Holzteilen,
die Herstellung einer Schraube, das Befeilen eines Metallstücks, auch das schon
eher künstlerische Formen in weichem Material. Und welchen Gewinn sollten
diese geringfügigen und oft genug verachteten Künste dem damit Vertrauten bringen?
Sie sollen ihn nicht nur in die Lage setzen, derartige kleine Schöpfungen ge-
legentUch in müßigen Stunden selber zu vollbringen, sondern auch ein Urteil über
gewerbliche Erzeugnisse zu gewinnen. Die Arbeit, welche die leiblichen Bedürf-
nisse befriedigt, liegt fast ausschließlich in der Hand der niederen Stände; daher
'ist die Fähigkeit und das Verständnis solcher Arbeit bei den Gebildeten in be-
über Handfertigkeitsunterricht an höheren Schulen. 436
dauerlicher Art gesunken. Bei vielen häuslichen Verrichtungen sind die Gebildeten
in fast beschämende Abhängigkeit von den Handwerkern geraten und stehen bei
ihren Einkäufen dem Lieferer wehrlos gegenüber. Sie kennen eben nicht die
Merkmale einer gediegenen gewerblichen Arbeit; sie wissen den Pfuscher von dem
Sorgsamen und Umsichtigen nicht recht zu unterscheiden. Trotz aller Schulung
in Sprachen und Begriffen erliegen die Gebildeten nicht selten dem Redeschwall
des Schwätzers oder der zuversichtlichen Haltung des Betrügers; fehlt es doch
gerade den feinsten Köpfen an gewerblicher Sachkenntnis gemeinhin so sehr, daß
sie sich ängstlich vor jeder Berührung mit dem Markte hüten. Die Abhilfe könnte
hier nur die Handfertigkeit erbringen, die neben der Schwierigkeit gewerblicher
Erzeugung auch die Merkmale gediegener Leistung kennen lehrt. Schon um den
Kopfarbeiter aus jenen geistigen Fesseln zu befreien, welche die Handarbeiter um
ihn geschlungen haben, wäre es freudig zu begrüßen, wenn auch in Häusern, die
rein geistigem Schaffen sonst gewidmet sind, die Axt nicht fehlte, die den Zimmer-
mann erspart; ganz abgesehen davon, daß nach der Ansicht der Hygieniker ein-
seitige Belastungen des Gehirns durch anregenden Wechsel, am besten durch eine
fesselnde körperliche Tätigkeit ergänzt und ausgeglichen werden sollen.
Die Förderung gewerblicher Sachkenntnis bei den Gebildeten halte ich für
wünschenswert; aber sie ist mir beim Handfertigkeitsunterricht nur eine Neben-
wirkung. Den Hauptsegen erkenne ich in der dadurch ermöglichten Auslese für
das Leben. Nicht also auf eine Übung der Sinne oder Muskelgruppen, auch nicht
auf eine Ausfahrung der Gehirngeleise oder auf die Vermittelung bestimmten
Wissens, ja überhaupt nicht auf irgendeine Art der Ausbildung kommt es mir
beim Handfertigkeitsunterricht in erster Linie an, sondern auf die Auslese der
Jugend für das Leben. Weist man der Schule die Aufgabe zu, die Auslese für
das Leben zu bewirken, so muß die Schule ein unverfälschtes Bild des Lebens
sein mit all seiner Mannigfaltigkeit, mit seinem Ehrgeiz und seiner Eitelkeit, mit
seinem Hoffen und Befürchten. Da darf es nicht nur Verstandesmenschen geben,
denen aliein Schärfe und Klarheit der Gedanken seelisches Bedürfnis ist, oder
Phantasiebegabte, die mit ihren Schöpfungen Freude und Erholung dem Menschen-
herzen bringen und durch sinnige Vertiefung in die feinsten Regungen die Wunder-
blume des Gemüts in sich erzeugen ; da müssen auch Willensmenschen ihren Boden
haben, die im reinen Erkennen kein Genügen finden, denen ferner das reiche
Lichterspiel phantastischen Gestaltens fehlt, die aber unermüdlich und trotzigen
Sinnes ihre Kraft beweisen, wo starre Widerstände zu besiegen sind. Und diese
Willensstarken, denen Zugreifen und praktisches Wirken ein Bedürfnis ist, sind
bisher in der Schule zur Selbsterkenntnis nicht geführt; nicht einmal sind sie
außer im Turnen zum Wettkampf zugelassen worden; ihre Waffe hatte keine
Geltung; nur dem Denken und der Phantasie ward in der Schule der Platz an
der Sonne gegönnt. Hier ist die Stelle, wo der Handfertigkeitsunterricht eine
Lücke auszufüllen glaubt. Er bietet dem Schüler die Gelegenheit, seine Ausdauer
in praktischer Tätigkeit zu prüfen, seine Umsicht und Geschicklichkeit im Kampf
mit dem spröden Stoff der Dinge zu erproben und, falls er gewerbliche Begabung
hat, den Hebel im Weltgetriebe zu entdecken, für welchen sein Herz am leichtesten
sich öffnet. Nicht also die Ausbildung, welche die Handfertigkeit der Jugend
28*
436 P- Johannesson,
etwa bieten könnte, ist für mich ausschlaggebend; den Hauptvorteil brächte meines
Erachtens ein Handfertigkeitsunterricht dem Einzelwesen dadurch, daß er dem
Jüngling die Frage lösen hilft: Bist du zum höheren Handwerker, zum Ingenieur,
geboren oder nicht?
Ehe wir weiterschreiten, ist hier noch kurz ein Einwand zu beseitigen. Es
könnte darauf hingewiesen werden, daß die Gewerbe, die für den höheren Schüler
als künftiger Beruf zumeist in Frage kommen, rein geistige Tätigkeit erfordern.
Die Technik ist heutzutage eine Wissenschaft. So genügt für den Jüngling der
Prüfstein seiner Geistesfähigkeiten. Wer so spricht, scheint mir, der verkennt
die Wurzel, aus welcher die technische Wissenschaft erwächst. Die Ideen, welche
auch beim gewerblichen Schaffen, genau wie bei der reinen Geistestätigkeit, den
Leitstern bilden, entspringen dem Techniker aus der feinfühligen Durchdringung
seines körperlichen Stoffes, wie dem Gelehrten oder Dichter aus der innigen
Vertrautheit mit dem seinigen. Nicht mathematische oder naturwissenschaftliche
Begabung ist für den Techniker allein entscheidend, sondern die ganz eigenartige
Fähigkeit, mit den Stoffen der Körperwelt zu fühlen. Aus diesem Gefühl ent-
springt das Wogen seines inneren, wechselvollen Schauens, die Schärfe seiner
klärenden Gedanken, die Beharrlichkeit des Folgens seiner Fährte; aus solchem
Gefühl erwuchs im Geiste Michelangelos der Kuppelbau der Peterskirche; daraus
entspringt auch die Erfindungskraft, welche dem Techniker den Vorsprung vor
allen Mitbewerbern gibt, die nur in den ausgetretenen Bahnen des Gelernten
sich bewegen können. Und wenn auch der Mehrzahl der Ingenieure nicht be-
schieden sein kann, eine führende Rolle zu spielen, so wirken jene Gefühle, jene
meist unbewußten Strebungen selbst in das alltägliche technische Schaffen mit
hinein und hauchen dem Geringfügigsten Reiz und Leben ein. Um dieser eigen-
artigen, ich möchte sagen technischen, Gefühle willen sind Mathematik und Physik
keine ausreichenden Prüfsteine für die technische Begabung.
Bisher war allein von dem Vorteil die Rede, welchen der Handfertigkeits-
unterricht dem Einzelwesen bringen kann. Wir fragen jetzt nach dem Nutzen
jenes Unterrichts für die Gesamtheit. Staat und Gesellschaft sind, mathematisch
gesprochen, eine Funktion der Einzelwesen; daher stehen Staat und Gesellschaft
auf der einen Seite und die Einzelwesen auf der andern Seite im Verhältnis der
Wechselwirkung zueinander. Glück und Gedeihen der Einzelwesen fördern zu-
gleich Glück und Gedeihen der Gesamtheit und umgekehrt, wo ein Glied leidet,
da leidet der ganze Körper. Welches sind nun gegenüber der Handfertigkeit die
Bedürfnisse unseres Vaterlandes? Deutschland ist nicht durch den Wunsch und
Willen vereinzelter Machthaber, sondern durch die unwiderstehliche Gewalt der
Umstände zu einer Lebensgemeinschaft geworden, in der Gewerbe und Handel zu
den allerwichtigsten Verrichtungen gehören. Es gibt keine Macht der Erde, welche
diese Entwickelung hemmen könnte; ganz nutzlos würde seine Kraft vergeuden,
wer diesem Lebensstrome sich entgegen werfen wollte; und wenn er mit Menschen-
und mit Engelzungen redete, so könnte er höchstens eine abseits stehende Gemeinde
versonnener Träumer um sich sammeln. Soll daher die Schule nach dem Grund-
satz der Auslese ein Bild des deutschen Lebens sein, so muß sie dem Knaben
auch die Möglichkeit gewerblicher Betätigung gewähren; ganz abgesehen von
über Handfertigkeitsunterricht an höheren Schulen. 437
dem Einzelwesen ist diese Forderung um der Gesamtheit willen aufzustellen, dafi
nämlich ausgelesene Kräfte mit ihrem Geist und ihrer Ausdauer die Führer im ge-
werblichen Leben werden und seine Blüte vonseiten Unberufener keine Hemmungen
erfährt. So würde nicht nur das Glück einzelner gefördert, sondern zugleich die
geistige Gesundheit des Gesellschaftslebens. Woher rührt denn in unserer Zeit die
Mißstimmung so weiter Kreise? Sie wurzelt allemal in der Unfähigkeit der Miß-
gestimmten, ihren täglichen Aufgaben zu genügen. Der herrschende Bildungsbe-
griff preßt die Söhne der Gebildeten in ganz bestimmte Schablonen des Lebens
hinein und macht viele mißgestimmt, die an die falsche Stelle des Lebens geraten.
Nicht Bildung im überlieferten Sinne des Worts, sondern Tüchtigkeit müssen wir
der Jugend zu ihrem Glücke wünschen; und Tüchtigkeit erfordert bei dem hoch-
gesteigerten Wettbewerb unserer Tage für jedermann die richtige Stelle im Leben
und somit frühzeitige Auslese, die für die gewerblichen Berufe vor allem der Hand-
fertigkeitsunterricht gewähren könnte. So aufgefaßt, hat die Handarbeit der Schule
die Bestimmung, die Zahl der Glücklichen zu mehren und damit zu fördern, was
ich die geistige Gesundheit des Gesellschaftlebens nannte.
Zu diesem geistesgesundheitlichen Vorteil des Handfertigkeitsunterrichtes für
den Staat käme ein zweiter, wirtschaftlicher. Jede Auslese ist ein Kampf der Kräfte
und hat eine Ausbildung der Kämpfenden unvermeidlich im Gefolge. Danach
würden die gewerblichen Kräfte der Jugend durch Handarbeit gebildet und gehoben.
Vor allem aber würde die gewerbliche Arbeit in den Augen der Jugend die der
Zeitlage entsprechende Geltung gewinnen. Und die Schulung der Kräfte und das
Werturteil ergeben zusammen allemal den besten Boden für geistige Entwickelungen.
So müßten auch beide Umstände die gewerbliche Phantasie und Tatkraft unserer
Jugend steigern und die gewerbliche Erzeugung unseres Landes heben; und es
wäre damit der Gedanke des wirtschaftlichen Vorteils für den Staat, der in Amerika
zu einem so umfangreich betriebenen Handfertigkeitsunterricht geführt hat, auch
für unser Vaterland als zu Recht bestehend anerkannt.
An dieser vermuteten Hebung des deutschen Gewerbes wären unmittelbar nur
die Kräfte beteiligt, die durch den Handarb«itsunterricht veranlaßt werden, sich
im späteren Leben gewerblich zu betätigen. Aber auch alle andern, die an jenem
Unterrichte teilgenommen haben, würden mittelbar der Hebung des Gewerbes
dienen. Die erworbene Sachkenntnis würde sie dazu befähigen, gewerbliche Arbeit
richtiger einzuschätzen. Nicht die geschminkte Außenseite eines Erzeugnisses oder
die gefällige Form seiner Darbietung, mit einem Worte die Aufmachung ist für den
Sachkenner entscheidend, sondern die Gediegenheit des Rohstoffs, der Herstellung
und des Geschmacks. Aber solche Eigenheiten können den Markt nur halten, wenn
Käufer vorhanden sind, welche die gediegene Leistung von der Pfuscherarbeit unter-
scheiden können. Die durch den Handfertigkeitsunterricht verbreitete Sachkenntnis
würde nach dem Gesetz des Wettbewerbes den Handwerker einfach zu solider Arbeit
zwingen und damit unserem Handwerk zum Segen und neuer Blüte verhelfen; hat
doch das über die deutschen Waren gefällte Urteil „billig und schlecht" noch immer
nicht ganz seine Berechtigung verloren.
Zur Gesundung des deutschen Geisteslebens, zur Steigerung der gewerblichen
Phantasie und Tatkraft, zur Hebung des vaterländischen Handwerks kommt noch
438 P. Johannesson,
ein viertes. Die Handarbeit steht bei den höheren Ständen vielfach in Verruf. Der
Vorschlag, den Sohn Handwerker, selbst Kunsthandwerker werden zu lassen, wird
von gebildeten Familien zumeist als eine Beleidigung empfunden. Unser Wert-
und Schamgefühl ist unter dem Einfluß des herrschenden Bildungsbegriffs völlig
mißleitet. Auch hier ist es wieder die den Gebildeten fehlende Sachkenntnis, welche
eine richtigere Einschätzung zur Folge haben würde. Wer sich einmal um saubere
Handarbeit bemüht hat, der weiß, daß allein der Geist die Bewegungen der Hände
leitet, daß Klarheit und Schärfe der Auffassung, ein feines Gefühl für das Zweck-
mäßige und liebevolle Hingabe an die Sache die unerläßlichen Bedingungen für
achtenswertes Gelingen sind; die gediegene Handarbeit ist eben Kopf- und Herz-
arbeit, die ebenso ihre absonderlichen Anlagen vom Hersteller fordert, wie irgend
eine Geistestat. Diese Tatsache ist in den Kreisen der Gebildeten und bei ihren
Söhnen gemeinhin unbekannt; das Gefühl der Ehrfurcht gegenüber einer erlesenen
Handarbeit wird einen Gelehrten kaum je ergreifen; statt dessen schießt jene Über-
heblichkeit üppig ins Kraut, welche von der liederlichsten Schreibarbeit noch Auf-
hebens macht. Weil die beiden großen Stände unseres Vaterlandes, die sogenannten
Kopfarbeiter und die sogenannten Handarbeiter, einander nicht verstehen, deswegen
ist auch die zwischen ihnen vorhandene Kluft unüberbrückbar. Der Mißachtung der
einen Seite antwortet der Haß von der andern. Dieser sozialen Zerrissenheit unseres
Volkes ließe sich entgegenwirken, wenn der höhere Schüler im Handfertigkeitsunter-
richt an seinen eigenen Erfolgen oder Mißerfolgen spürte, welches Maß von Hoch-
achtung dem gediegenen Handwerk gebührt. Ich wiederhole: Nicht gebildet und
ungebildet, sondern tüchtig und untüchtig sind die wünschenswerten Gegensätze.
Nachdem wir die Vorteile des Handfertigkeitsunterrichtes für das Einzelwesen
und den Staat erwogen haben, stellen wir die Frage: Wie soll der Handfertigkeits-
unterricht eingerichtet sein ? Den vollständigen Plan solchen Unterrichtes zu entwickeln,
bin ich außerstande. Zu jeder praktischen Regelung eines Unternehmens gehören
langjährige Erfahrungen, und die stehen mir nur in der bisher geübten Form meines
Unterrichtes zu Gebote. . So können meine Erwägungen einzig als ein Abtasten
des Zweckmäßigen gelten. Nur Primaner und Obersekundaner sind am Sophien -
realgymnasium zur Handfertigkeit zugelassen worden. Ist diese Beschränkung
vorteilhaft, oder soll man auch Unter- und Mittelklassen zur Handarbeit heranziehen ?
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als wenn die Freunde des Handfertigkeits-
unterrichtes ihn auf allen Klassenstufen wünschen müßten. Wenn Unter- und Mittel-
klassen die Vorstufe für die Oberklassen auch im Handfertigkeitsunterricht bildeten,
so würden die Leistungen naturgemäß gehoben. Andererseits würden manche der
älteren Schüler sich zurückziehen, da ihnen die Lust an der Sache ausgegangen wäre.
Jede Unternehmung, die Beifall findet, wirkt, übrigens nicht nur bei Schülern, zunächst
durch den Reiz der Neuheit; so gibt es wohl keinen neuen Lehrgegenstand, dem die
Schüler nicht erwartungsvoll entgegensähen; bald aber tritt die Ermüdung des
fehlenden Wechsels ein, und diese Tatsache spricht allemal gegen die durch viele
Jahre sich erstreckende Ausdehnung eines Unterrichtes. Bei der Handarbeit freilich
dürfte der Vorteil der größeren Schulung den Nachteil der inneren Abkehr über-
wiegen; ihren Hauptsegen sollte die Handarbeit ja durch die Auslese der Berufenen
über Handfertigkeitsunterricht an höheren Schulen. 439
wirken, und die erfolgreich Strebenden wurden noch stets durch Schaffenslust
belebt und haben daher unter Ermüdungserscheinungen weniger zu leiden, fühlen
sie sich doch dem Felde ihrer künftigen Betätigung innerlich entgegenreifen. Auf
Grund dieser Erwägung würde ich mich für die Heranziehung der Unter- und
Mittelklassen zur Handarbeit entscheiden.
Die nächste Frage ist: Wieviel Stunden in der Woche sollten jenem Unter-
richt gewidmet und sollte er pflichtmäßig oder wahlfrei sein? Bei der Neueinrichtung
eines Unterrichtes ist stets Vorsicht am Platze; deswegen wird man sich mit einer
kurzen Arbeitszeit, etwa einer oder zwei Stunden wöchentlich, begnügen. Aus
demselben Grunde der Vorsicht wird man auch, mindestens einstweilen, die Wahl-
freiheit für richtig halten. Gesunde Erscheinungen im Schulleben wachsen eine
Zeit lang durch ihre eigene Kraft; danach freilich erhebt sich der kühl rechnende
Verstand und läßt den Schüler fragen, ob die Erfolge seines wahlfreien Unterrichtes
ihm auch für seine Schullaufbahn von Vorteil sind. Man weise solche Frage nicht
als unwürdig ab. Oder sollten Knaben und Jünglinge gereifter sein als die Er-
wachsenen, die doch in nicht geringer Zahl ihre Handlungen dem Zweck selbstischen
Nutzens unterwerfen? Nicht unwürdig, sondern durchaus berechtigt wäre die
Frage des Jünglings: Was nützt mir das in dem Kampf, den ich als Schüler aus-
zufechten habe ? So kommt es, daß jeder wahlfreie Unterricht die Neigung zeigt,
im Laufe der Jahre sich in einen pflichtgemäßen umzuwandeln; denn solcher bietet
eine stärkere Gewähr für die belohnende Wertung der aufgewandten Mühe.
Für die Einführung des Handfertigkeitsunterrichtes in die höhere Schule ist
wiederholt die Bedingung aufgestellt worden, daß er nicht zur Unzahl der Lehr-
fächer noch ein weiteres bringe, sondern sich zu anderen Gegenständen, nämlich
den mathematisch-naturwissenschaftlichen, in engere Beziehung setze. Zwar stehe
ich der in Frankreich vertretenen Meinung, welche von geeigneter Betätigung der
Hände eine Hebung des Raum- und Zahlverständnisses hofft, zweifelnd gegenüber;
wohl aber erscheint es mir auf alle Fälle wünschenswert, die verschiedenen Fächer
sich wechselseitig durchdringen zu lassen und als einander ergänzende Glieder
nur eines Geisteslebens aufzuzeigen. So müßte selbstredend auch die Handarbeit
als Vorstufe und Begleiterin der Kunst erscheinen, durch welche die Menschen
das Naturgeschehen meistern, nicht allein in der Physik und ihrer Anwendung,
der Technik, sondern zugleich in der eigentlichen Kunst, Plastik und Malerei,
welche die Schönheit der Form- und Farbenwelt enthüllt.
Schließlich die Frage: Wer soll den Handfertigkeitsunterricht erteilen? Man
könnte meinen, daß der gründlichste Kenner eines Faches auch sein bester Lehrer
sein müßte. Danach wäre der Handwerksmeister der berufene Lehrer des Hand-
fertigkeitsunterrichtes. Wenn indessen schon für eine Wissenschaft dieser Zu-
sammenhang zwischen Kennerschaft und Lehrbefähigung keine allgemeine Geltung
hat, so noch viel weniger in unserem Falle. Der höhere Schüler unterwirft sich
freiwilllig seinem Lehrer nur aus dem Gefühl des Vertrauens und der Hoch-
achtung heraus, und diese Gefühle sind durch die Vorurteile der näheren Um-
gebung und des Zeitgeistes bestimmt. Auf Grund dieses Vorurteiles fordert der
Schüler, daß der Lehrer nicht nur sein Lehrfach leidlich beherrscht, sondern
zugleich über ein gewisses Maß weiterer wissenschaftlicher Kenntnisse verfügt,
440 P> Johantlesson,
über sogenannte allgemeine Bildung nämlich; erst dadurch wird in den Augen
des Zöglings der Lehrer zu einer verehrungswürdigen, als überlegen anerkannten
und weiter auch sittlichen Persönlichkeit. Und diesen im Zeitgeist wurzelnden
Anspruch der höheren Schüler werden die meisten Handwerksmeister nicht er-
füllen. Erst wenn der Zeitgeist sich gewandelt hat, wenn nicht mehr die alt-
hergebrachte Bildung, sondern die Tüchtigkeit in den Augen der Welt den Wert
des Mannes macht, wird das Hochachtungsgefühl des höheren Schülers auch zum
Handwerksmeister eine Brücke finden, so daß dieser als bester Handfertigkeits-
lehrer wohl in Frage käme. Einstweilen aber, wo das Gefühl der Hochachtung
gegenüber dem tüchtigen Handwerk im höheren Schüler sich noch erst bilden soll,
werden die schon vorhandenen Lehrer auch für den Handfertigkeitsunterricht den
Vorzug haben. Am besten wäre es, wenn gerade solche Lehrer, deren vielseitige
wissenschaftliche Bildung außer Zweifel steht und denen die Jugend weitgehendes
Vertrauen schenkt, für den Gedanken und die Ausübung des Handarbeitsunterrichts
gewonnen werden könnten. Sie würden nicht nur die so oft mißachtete Geschick-
lichkeit der Hände mit ihrem Ansehn decken, sondern zugleich die Fäden bloß
zu legen fähig sein, die vom Schaffen der Hände sich zu den Wissenschaften und
den Künsten spinnen; sie könnten am glaubwürdigsten den Nachweis führen, daß
Handarbeit ohne Kopf und Herz das Wirken eines Stümpers bleibt.
Noch fehlt die Antwort auf die Kostenfrage. Am Sophienrealgymnasium, wo
ausgezeichnete Werkzeuge und Maschinen zur Verfügung stehen, kostet die Werk-
statteinrichtung bis jetzt 1500 Mark. Sollte für jede höhere Schule solche Ein-
richtung getroffen werden? Zwar wäre für Preußen und seine Städte der Kosten-
aufwand nicht besonders hoch; aber er ist auch nicht einmal vonnöten. Ohnehin
würden die Hauptausgaben ja für die Erteilung des Unterrichts entfallen; diese
laufenden Ausgaben würden die einmaligen der Einrichtung sicher übersteigen.
Wer aber wollte sich getrauen abzuschätzen, ob solche Anlage öffentlicher Mittel
im Sinne des Kaufmanns wirtschaftlich zu nennen wäre? Die ganzen Schullasten
von Staat und Städten sind ja doch werbendes Kapital, das seine Zinsen in der
Zukunft tragen soll, jene zumeist unwägbaren Zinsen, die nicht nur in Handel
und Gewerbe, in Staatskunst und Wehrkraft, sondern auch in der Blüte von
Wissenschaft und Kunst, im gesamten Geistes- und Gemütszustand des Landes
kenntlich werden. Und ob in diesem Sinne das Geschäft eines Handfertigkeits-
unterrichts an höheren Schulen die Kosten decken würde? Ich meinesteils zweifle
nicht daran.
Trotz aller ideellen Werte aber, die ein Unternehmen bergen mag, wird man
den Weg der Ausführung wählen, welcher die geringsten Geldmittel erheischt.
Und da scheint der Weg der zweckmäßigste zu sein, den man vielfach im
Ausland eingeschlagen hat und den auch der Deutsche Verein für Knabenhand-
arbeit befolgt. Man wird am besten, wenigstens in größeren Städten, Werk-
stätten errichten, die mit den vollkommensten Erzeugungsmitteln ausgestattet sind,
deren Benutzung aber mehreren Schulen gleichzeitig offen steht. Nicht einmal
wäre dabei nötig oder wünschenswert, die höhere Schule von der Volkschule zu
trennen. Der Bildungsbegriff soll ja doch durch den Tüchtigkeitsbegriff ersetzt
werden, und da wird mancher höhere Schüler in dem Volkschüler seinen Meister
über Handfertigkeitsunterricht an höheren Schulen. 441
finden; auch würde bei einer Mischung der Schulgattungen das Herzensband
zwischen Kopf- und Handarbeitern am leichtesten geschlungen. Bei solcher
Zentralisierung des Handarbeitsunterrichts würden Werkzeuge und Maschinen am
stärksten ausgenützt. Diese Zentralwerkstätten müßten zugleich für die erforder-
lichen Lehrkräfte die Bildungstätte, so eine Art von Hochschule, sein.
Ehe ich von der Frage nach der allgemeinen Einrichtung des Handfertigkeits-
unterrichtes scheide, möchte ich einen eigentümlichen Vorzug andeuten, welchen
die Handarbeit vor andern Lehrgegenständen hätte. Die Schule als Bildungschule
bereitet den Knaben und Jüngling auf das Leben vor; sie stellt ihm einen Wechsel
aus auf lange Sicht, den er als Mann erst präsentieren darf. Daher bleibt die
Schule nur ein Bild des Lebens und kann nicht das Leben selber sein. Welches
Maß von Anregung aber läge darin, wenn Ausbildung und Ausnützung nicht
durch eine lange Reihe von Jahren sich voneinander scheiden müßten? Es hegt
mir selbstverständlich durchaus fern, der Ausbeutung der Minderjährigen das Wort
zu reden; aber eine vernünftige, staatlich geregelte Ausnützung der jugendlichen
Kräfte, die zugleich Aussiebung und Ausbildung ist, wäre doch so übel nicht.
Zwar herrschte früher die allgemeine Ansicht, daß die Schule vor jedem Luftzug
des draußen wogenden Lebens behütet werden müsse; nur in der Stille, so hieß
es, enthüllen die Musen ihr Haupt. Diese Anschauung jedoch, so sehr sie der
Stimmung vergangener Zeit entsprach, zerschellt an den stürmischen Forderungen
der lebensvollen Gegenwart. Sors de l'enfance, ami, r^veille-toi ! Diese Saat
Rousseaus geht auf, nicht allein durch ihre eigene innere Kraft, sondern getragen
von unserm nüchternen, der Wirklichkeit zugewandten Zeitgeist. So taucht vor
meinem Auge das Bild einer Zukunft auf, wo jeder Schüler sich mitten im Leben
stehend fühlt, teilnehmend an den Herzschlägen seines Volkes, wo jede Schüler-
tätigkeit nicht nur als Vorbereitung für spätere Zeiten gelten oder den inneren
Segen der Arbeit offenbaren soll, sondern unmittelbar das geistige oder dingliche
Vermögen des Schülers und seines Vaterlandes hebt. Dieses Ziel aber läßt sich,
soweit ich sehe, nur im Handfertigkeitsunterricht erfüllen, wo viele sonst kostspielige
Lehrmittel angefertigt werden könnten, physikalische und chemische Geräte, natur-
kundliche und mathematische Modelle. Oder fürchtet man, daß durch solche Aus-
nützung der Schüler das in die Ferne gerichtete beschwingte Hoffen, der sogenannte
Idealismus, Schaden nehmen würde? Ich glaube nicht daran, daß eine so tief
wurzelnde Charaktereigenschaft durch äußere Umstände merklich beeinflußt
werden kann.
Noch gegen einen Einwand habe ich den Gedanken eines Handfertigkeits-
unterrichts an höheren Schulen zu verteidigen. Man könnte fragen, woher die
Zeit nehmen für eine weitere Belastung unserer Schüler; sind sie nicht schon
geplagt genug? Und wenn die Zeit vorhanden wäre, würde die Handarbeit nicht
bei diesem oder jenem Schüler das Herz gefangen nehmen und ihn abwendig
machen von den Neigungen, die sonst die Schule pflegt? Gewiß wäre ein solcher
Wandel bei einzelnen zu erwarten, und manches Lehrfach würde an Zeit und
Neigung der Schüler Einbuße erleiden. Aber darin sehe ich gerade den Vorteil
des Handfertigkeitsunterrichtes, daß er die Böcke von den Schafen trennen hilft,
442 Bekämpfung der »Schmutz- und Schundliteratur'.
dafi er den rein gedanklich und phantastisch Unbegabten, aber Willens starken
die Möglichkeit gewährt, auch mit ihrem Pfund der Schaffenskraft zu wuchern.
Oder würde durch solche Spaltungen die Einheit des Schullebens gefährdet
werden? Wohl sind vielerlei Gaben, aber es bleibt ein Geist I So lasse man
jeden Menschen seine eigene Sprache reden, nicht die in Worten allein, sondern
die Sprache, die aus seiner ursprünglichen Begabung wächst und darum aus dem
Herzen dringt. Es kann ja keinem Zweifel unterliegen, daß die Sprache im
engeren Sinne das gewaltigste Werkzeug ist, durch welches die Herzen der
Menschen geleitet und dem Willen eines Führers unterworfen werden. Aber
neben diesem Werkzeug gibt es die andere Sprache, welche durch Taten das
Wesen eines Menschen offenbart, und diese Sprache der Tat steht manchem
herrlich zu Gebote, der nach seiner Eigenart verurteilt wäre, in Worten stumm
zu bleiben. Man lasse jeden Menschen die Sprache seines Herzens auch in der
Schule reden. So wird man nicht den Birnbaum zwingen, daß er Kirschen trägt,
sondern ein jedes Gewächs im Garten des Lebens zu seiner Bestimmung
kommen lassen, ein jegliches nach seiner Art. Dann sind Gaben und Sprachen
eins und preisen miteinander die Werke der geistigen Welt.
Berhn. P. Johannesson.
Bekämpfung der ,, Schmutz- und Schundliteratur".
Auszug aus dem Protokoll der Hauptversammlung des Börsenvereins
der Deutschen Buchhändler zu Leipzig am Sonntag Kantate,
den 9. Mai 1909.
Zu dem Punkt „Bekämpfung der Schmutz- und Schundliteratur" erbittet Herr
Alexander Francke-Bern das Wort und führt dazu folgendes aus:
Meine Herren, ich habe mir das Wort erbeten zu dem Passus über die
Schmutz- und Schundliteratur, wo der Vorstand sich folgendermaßen ausspricht:
Im vorjährigen Geschäftsbericht haben wir unsere Berufsgenossen zum
Kampf gegen die immer mehr anwachsende Schmutz- und Schundliteratur
aufgerufen, und wir wiederholen heute die Bitte, daß jeder von uns an
diesem Kampfe teilnehmen möge. In manchen Städten, an erster Stelle
in Göttingen, haben sich Männer aller Berufskreise zusammengetan, um
das öffentliche Ausstellen und das Feilhalten unsittlicher und anderer
insbesondere für die Jugend verderblicher Schriften und Bilder auf dem
Wege der Selbsthilfe zu verhindern, und gleiches wird überall möglich
sein, wo diese Schäden zutage treten, wenn der Anstoß dazu gegeben
wird. Der Buchhandel ist mit verantwortlich dafür, daß unserem Volke
nicht Gift statt gesunder geistiger Nahrung gereicht wird; dessen wollen
wir immer eingedenk bleiben und danach handeln.
Meine verehrten Herren, Sie werden alle dem Vorstand dafür dankbar sein,
daß er diese Frage, die uns alle wohl auf das ernstlichste beschäftigt, hier wieder
einmal vorgebracht hat, und werden mit einstimmen in den Appell, den er an uns
Bekämpfung der .Schmutz- und Schundliteratur'. 443
richtet, daß jeder in seinem Kreise dahin wirken soll, daß womöglich einmal Halt
gemacht wird gegenüber dieser Literatur.
Ehe wir weiter darüber sprechen, glaube ich, sollten wir, um Mißverständnisse
auszuschließen, kurz sagen, was wir wohl unter Schmutz- und Schundliteratur
verstehen. Ich glaube es kurz dahin definieren zu können, daß es einerseits die
Literatur ist — die allerdings den Namen Literatur überhaupt gar nicht verdient — ,
die hervorgeht aus einer lüsternen, perversen Phantasie, andererseits die Literatur,
die in Tausenden und Abertausenden von Exemplaren überall hin verbreitet wird,
die dazu dient, das Verbrechertum zu verherrlichen. Ich darf wohl die Über-
zeugung aussprechen, daß der großen Mehrzahl von uns diese Literatur eigentlich
unbekannt ist, daß wir sie nur vom Hörensagen kennen. Aber wer Ohren hat,
zu hören, der hörel
Besonders aus den Kreisen der Schule und der Familie erklingen immer wieder
wahre Hilferufe; helft uns, daß sich diese Seuche besonders in der Jugend nicht
weiter ausbreitet! Wir wissen es ferner aus verschiedenen Broschüren, — u. a.
aus einer Broschüre von einem Strafanstaltspfarrer, die in Düsseldorf erschienen
ist und wo das an einer ganzen Reihe von Fällen nachgewiesen wird — , daß
ganz direkt verbrecherische Handlungen von Kindern noch und von kaum Er-
wachsenen zurückzuführen sind auf die verderbliche Lektüre; wir wissen es endlich
selber aus zahlreichen Gerichtsverhandlungen, wie verderblich diese Literatur ist
und wie sie Dimensionen angenommen hat, von denen wir uns vor wenigen
Jahren noch gar keinen Begriff gemacht haben und wie es Pflicht eines jeden
denkenden Menschen ist, sein möglichstes zu tun, daß dem Einhalt geboten wird.
Der Buchhandel ist bisher, ich möchte sagen, Gewehr bei Fuß dagestanden gegen-
über dieser Erscheinung, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, indem er sich
gesagt hat : die große Mehrzahl von uns hat ein durchaus gutes Gewissen in dieser
Sache. Es ist ja tatsächlich gar nicht der wirkliche Buchhandel, der diese Literatur
produziert, es ist auch gar nicht der wirkliche Buchhandel, der sie verbreiten hilft.
Aber, meine Herren, wir müssen doch bedenken, daß bei einem großen Teile des
Publikums man sich einfach sagt: Bücher kommen doch vom Buchhandel her,
und daß bei vielen Leuten keine große Unterscheidung gemacht wird, daß man
also mehr oder weniger auch uns dafür verantwortlich machen wird.
Da tritt nun an uns die Frage heran: wie können wir helfen, daß es besser
wird? Die Frage ist ja ungemein schwierig, und Taten werden wir vor der Hand
vielleicht noch nicht tun können; aber immerhin, den Anstoß dazu möchte ich doch
geben, daß wir uns nun einmal aufraffen und wenigstens den Versuch machen,
denen, jdie dagegen kämpfen, zu helfen, und gleichzeitig auch dafür zu sorgen,
daß auch in der breiten Öffentlichkeit man einen Unterschied macht zwischen den
Erzeugern und Verbreitern dieser Literatur und uns Buchhändlern. Wir müssen
dafür sorgen, daß unser Schild rein bleibt und daß allfällige Flecken entfernt
werden. Ich möchte Ihnen im Einverständnisse mit dem Vorstande des Börsen-
vereins, dem ich gestern die Sache vorgelegt habe, den Vorschlag machen, daß
wir durch den Vorstand in möglichst ausgedehntem Maße im ganzen deutschen
Sprachgebiet durch die Zeitungen eine Veröffentlichung ungefähr folgenden In-
halts erscheinen lassen:
444 Bekämpfung der .Schmutz- und Schundliteratur".
Die Hauptversammlung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler
spricht ihr tiefes Bedauern aus über das unheimliche Anwachsen einer
traurigen Schundliteratur, die, durch keine Rücksichten auf das Volkswohl,
durch kein Verantwortlichkeitsgefühl für geistige und körperliche Gesund-
heit der Jugend gezügelt, die niedrigsten Triebe der menschlichen Natur
entfesselt und die sittlichen Grundlagen unserer Kultur ernstlich ge-
fährdet.
Die heute in Leipzig versammelten Vertreter des Buchhandels Deutsch-
lands, Österreichs und der Schweiz lehnen jede Gemeinschaft mit den
Erzeugern und Verbreitern solcher volksvergiftenden Literatur ab und er-
klären es als die selbstverständliche Pflicht eines. rechten Buchhändlers,
sich durch intensivste Vertretung guter, durch Bekämpfung schlechter
Literatur mit allen Kräften an der Ausrottung des unser Volk bedrohenden
Übels zu beteiligen.
Meine Herren, ich verspreche mir von solcher Veröffentlichung erstlich, daß
dadurch einmal vor aller Welt konstatiert wird, wer eigentlich die Verbreiter sind,
und daß wir mit diesen Leuten — in unserer allergrößten Mehrzahl wenigstens —
nichts gemein haben. (Lebhafter Beifall.)
Ich verspreche mir ferner davon, daß diejenigen, die vielleicht hier und da
den Verlockungen der hohen Rabatte erlegen sind und vielleicht ein etwas weites
Gewissen gehabt haben, sich darüber klar werden, daß es so nicht weitergehen
kann, daß sie eine derartige Literatur nicht nur, wie man bescheidenerweise bis
jetzt meistens verlangt, aus ihren Schaufenstern entfernen, sondern aus ihren Läden
überhaupt, daß sie in ihrem Hause überhaupt nicht mehr zu finden ist, und ich
verspreche mir endlich davon, daß dadurch das Publikum darüber aufgeklärt wird,
daß eigentlich die beste und nachdrücklichste Hilfe gerade in dem Kreise des
Buchhandels zu finden ist und daß man doch bei zukünftigen Schritten gegen
eine derartige Literatur sich auch gerade der Buchhändler bedienen soll, indem
sie doch eigentlich Fachmänner ersten Ranges auf diesem Gebiete sind.
Meine Herren, ich wage nicht zu hoffen, daß wir dadurch schon jetzt Großes
erreichen; aber ich hoffe doch, daß damit der erste Schritt getan werde, daß es
anders werden soll auf diesem Gebiete: denn wenn es so weitergeht, wie es jetzt
der Fall ist, dann können wir nur mit der allerernstesten Besorgnis der Zukunft
und der Entwicklung unseres Volkes entgegensehen.
Ich empfehle Ihnen daher aufs wärmste die Annahme dieser Resolution, indem
wir die Bitte aussprechen, daß der Vorstand des Börsenvereins sie — sei es in
dieser oder vielleicht in einer etwas abgeänderten Form — in möglichst aus-
gedehntem Maße zur Kenntnis des ganzen deutschen Volkes, soweit überhaupt die
deutsche Zunge klingt, verbreiten wird. (Lebhafter, anhaltender Beifall.)
Hierauf spricht Herr Justus Pape-Hamburg: Meine Herren, auch ich danke
dem Vorstand, daß er diese so ungemein wichtige Angelegenheit in seinen Jahres-
bericht mit aufgenommen hat, und ich danke namentlich Herrn Francke, daß er
so kräftig dahintergefaßt hat. Meine Herren, es läßt sich auf diesem Gebiete
manches tun. Wenn Sie nach dem Vorbilde von Göttingen überall in Ihren
Städten angesehene Männer sammeln, die sich mit Aufrufen und Flugblättern an
Bekämpfung der „Schmutz- und Schundliteratur*. 445
das sittliche Verantwortungsgefühl der Händler, der Ladenbesitzer usw. wenden^
dann werden Sie Erfolg haben; denn wir haben in Hamburg das auch getan, wir
haben Hunderte von Unterschriften angesehenster Männer gefunden, und es ist in-
folgedessen bei uns schon besser geworden. Wir haben aber auch in Hamburg
noch mehr erreicht. Auf meine Veranlassung hat die Bürgerschaft in Hamburg»
unser gesetzgebender Körper, sich mit der Frage befaßt, und bei der aligemeinen
Zustimmung, die dort ausgesprochen wurde, hat die Hamburger Polizeibehörde
den Straßenverkauf all dieser Schund- und Schmutzliteratur verboten. (Bravo!)
Ich glaube, es ist möglich, in allen Städten die Stadtverordnetenkollegien in
ähnlicher Art und Weise zu beeinflussen. Es kann vielleicht noch mehr geschehen.
Nach dem Beispiel der freien Schweiz, wo ein Gesetzentwurf — ob er schon an-
genommen ist, weiß ich nicht — eingebracht ist, auch das Zurschaustellen solcher
Schmutz- und Schundhefte in den Schaufenstern der Läden zu bestrafen, planen
wir in Hamburg etwas Ähnliches und hoffen auf Grund von Bestimmungen unserer
Hamburgischen Straßenordnung — denn die Gewerbeordnung gibt uns keine
Handhabe — etwas Ähnliches zu erreichen. Bitte, meine Herren, unterstützen Sie
allesamt diese so ungemein wichtigen Bestrebungen. Noch ist unser deutscher
Volkskörper nicht krank, aber er kränkelt schon. Noch können wir dem Übel
Einhalt gebieten. Beteiligen Sie sich sämtlich daran ! (Bravo!)
Der Vorsitzende Herr Dr. Ernst VoUert-Berlin richtet darauf an die Haupt-
versammlung die Frage: Wünscht noch jemand das Wort hierzu? — Es scheint
nicht der Fall zu sein.
Meine Herren, wenn sich kein Widerspruch dagegen erhebt, dann nehme ich
an, daß Sie dem Antrage des Herrn Francke zustimmen, daß diese Kundgebung,
die er eben vorgeschlagen hat, durch den Börsenverein in der von Herrn Francke
gewünschten Weise in der Öffentlichkeit verbreitet wird. — Es erhebt sich kein
Widerspruch, also wird der Börsenvereinsvorstand dieser Anregung mit großer
Freude Folge geben, und wir wollen ihr alle von Herzen den Erfolg wünschen,
den Herr Francke und wir mit ihm davon erhoffen. (Bravo!)
II. Bücherbesprechungen.
a) Samtneibesprechungen:
Zur deutschen Literaturgeschichte.
Im dritten Jahrgange dieser Monatschrift (1904, S. 470f.) zeigte ich die ersten
11 Hefte der großangelegten „Illustrierten Geschichte der deutschen Lite-
ratur" von Anselm Salzer (München, Allgemeine Verlagsgesellschaft) an. Im
Jahre 1905 erklärte Salzer: obwohl er „mit vollem Eifer, mit größter Hingabe und.
warmer Liebe die Bearbeitung übernommen" habe, hätten „die quellenmäßige
Durchforschung und Sichtung des überreichen Materials, das sich bei dieser ersten,
auf dem Boden katholischer Weltanschauung stehenden, illustrierten Literatur-
geschichte besonders notwendig erwies, ein großes Plus von Arbeit" ergeben; in
ca. 25 Lieferungen, einer „Zahl, die äußerstenfalls um ein bis zwei Lieferungen
überschritten" werde, solle die Arbeit „im laufenden Jahr — 1905 — sicher ab-
geschlossen werden." Auch noch auf dem Umschlage des 22. Heftes, das mit
Haller schließt, hieß es: „Vollständig in 25 Lieferungen". Heute schreiben wir
Dezember 1908, die 27. Lieferung, die mit Herder (S. 1048) abbricht, ist er-
schienen; es ist leicht auszurechnen, daß bei gleicher Ausführlichkeit mindestens
noch 20 Lieferungen nötig werden, um bis zur Gegenwart hinzuführen. Dies ist
im Interesse der Subskribenten und der Sache überhaupt zu bedauern. So an-
erkennenswert die Großzügigkeit des Werkes ist, das in bibliographischer Hin-
sicht ein Meisterwerk mit seinen großartigen Illustrationen bedeutet, so sehr zu
beklagen bleibt doch die Weitschweifigkeit und Gelehrsamkeit, die Verstaubtes
und Verblichenes nicht vergessen und übergehen kann, sondern alles am Wege
Stehende, und wenn es auch Unkraut ist, in den übergroßen Strauß sammeln muß.
So bleibt das Werk, das dem Hause und besonders auch der Jugend dienen
möchte, doch im wesentlichen nur ein Werk für Gelehrte. Denn wen kümmert
sonst die Unzahl von unwichtigen Namen und Titeln und Inhaltsangaben? Immer
wieder bedauert man, wenn man die gründlichen kulturhistorischen Einleitungen
und so manche feine Charakteristik der bedeutendsten Träger der Literaturbewegung
mit Freuden gelesen hat, daß die kleineren Geister nicht in das Dunkel, wohin
sie gehören, zurückgescheucht worden sind. Oder man mußte sogleich auf das
Titelblatt setzen: Deutsche Literaturgeschichte in ca. 50 Lieferungen ä 1 M.
Die Lieferungen 12—27 gliedern den Stoff in folgender Weise. Die fünfte
A. Biese, Zur deutschen Literaturgeschichte. 447
Periode (1250—1500) umspannt das ausgehende Mittelalter und den Übergang
zur bürgerlichen Dichtung und teilt sich in Epos, Lyrik, Legende und poetische
Erzählung, geschichtliche Dichtung, Drama; die sechste Periode (1500—1624):
Anbruch der neuhochdeutschen Zeit, die deutsche Literatur im Zeitalter des Hu-
manismus, der Reformation und Gegenreformation. Einsichtig und seiner maß-
vollen Denk- und Ausdrucksweise gemäß weist Salzer die Darstellung des Ver-
laufes der Reformation dem Historiker, die der Lehre Luthers dem Theologen zu
und hält sich in der Beurteilung des Mannes, der der Literatur seiner Zeit das
Gepräge gegeben hat, im wesentlichen von leidenschaftlicheren Ausbrüchen zurück
und würdigt die Größe seiner Übersetzungstat; er leugnet nicht, daß die vor
Luther vorhandenen deutschen Bibelübersetzungen, auf der Vulgata beruhend,
sich meistens mit der einfachen Übertragung der lateinischen Worte begnügten,
während Luther, auf den Grundtext zurückgehend, trotz peinlicher Treue doch
ganz im Geiste des Originals und der Muttersprache zugleich übersetzte. — Wer
im einzelnen sich hierüber unterrichten will, findet in der sorgsam mit Einleitung
und Erläuterungen versehenen Auswahl aus Martin Luthers Schriften von
Richard Neubauer (Erster Teil. Vierte Auflage. Halle a. S. 1908. Waisenhaus.
2,80 M.) alles Nötige in trefflichster Weise beisammen.
Daß Salzer an Hütten und Fischart die Schwächen hervorkehrt — immer
neben den Vorzügen — und Murner besonders eingehend und liebevoll be-
handelt, wird nicht wundernehmen. Nicht minder warm und sachkundig ver-
herrlicht er aber auch den biederen Hans Sachs, den beredten Verkünder der
Lutherschen Lehre. Eine erdrückende Fülle von Namen tritt uns in dem letzten
Abschnitt wieder entgegen.
Die siebente Periode nennt sich „der dreißigjährige Krieg und die Neu-
gestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die Renaissance-
poesie und Ansätze selbständiger Neugestaltung der deutschen Nationalliteratur".
Auch dieser Abschnitt bietet des Trefflichen genug, im allgemeinen wie im be-
sonderen — über Fleming und Gerhardt wie über Spee und Bälde und Abraham
a Sankta Clara, über die Schlesier und Königsberger, über Epigramm, Satire und
Roman und Drama usw., würdigt mit Recht manches innige und schöne Lied
Hofmanns v. Hofmannswaldau, während die schädlichen Einwirkungen des Marinis-
mus, der barocken, höfisch-galanten Schäferdichtung, der Kultus des Fremden über-
haupt, der Schwulst und die Unnatur treffend gegeißelt werden. Den Beginn der
Gesundung, besonders unter englischem Einflüsse stellt dann die Behandlung der
achten Periode dar: das Zeitalter des höfischen und des aufgeklärten Absolutis-
mus, der französischen Revolution und ihrer Folgen für Deutschland. Mit Ver-
gnügen liest man auch hier wieder die Schilderung der Zeitverhältnisse; Joh. Christ.
Günther wird gar zu kurz — im Vergleich zu anderen viel kleineren Geistern —
gewürdigt, während Gottsched und die Schweizer in dem, was sie trennte, und in
dem, was sie einte, trefflich gewürdigt werden. Das Gleiche läßt sich auch ohne
Einschränkung betreffs Klopstocks und Wielands, ja auch im wesentlichen be-
treffs Lessings und Herders sagen, wenn auch Lessings religiöser Standpunkt mit
„Indifferentismus" nicht abgetan werden darf. Man hat bei der gesamten Dar-
stellung Salzers den angenehmen Eindruck, daß ein gründlicher Kenner und warm
448 A. Biese,
für die deutsche Dichtung fühlender Mann die Feder führt und daß er sichtlich
bemüht ist, seinem katholischen Standpunkt doch die Strenge und Schärfe zu
nehmen, ohne in Indifferentismus und seichte Flachheit zu verfallen. Es kann
eben niemand, auch beim besten Willen, nicht ganz aus seiner konfessionellen
Haut heraus. — Der Druck ist bis auf wenige Versehen, besonders in den klein-
gedruckten Stellen, recht gut. Jedem Hefte sind Vollbilder, Text- und Schrift-
proben in vorzüglicher Nachbildung, verschiedenen Zeiten angehörend, beigegeben;
ordnen läßt sich das alles erst nach Vollendung des Ganzen.
Ein sehr glücklicher Gedanke der Elwertschen Verlagsbuchhandlung
in Marburg war es, den seit langem hochgeschätzten „Deutschen Literatur-
atlas von Gustav Könnecke" in einer Auswahl zu ganz billigem Preise (6 M.)
neu herauszugeben; diese bringt nach einer kurzen Einführung von Chr. Muff
826 Abbildungen und zwei Beilagen, in die Gegenwart mit aller Vorsicht hinein-
reichend. Bei einer so wertvollen Gabe ist es nun Sache des deutschen Hauses
und besonders auch der deutschen Schule, sich ihrer wert zu zeigen! —
Ein interessantes Thema jener vergleichenden Literaturgeschichte, die
ein Motiv durch den Wandel der Zeiten hindurch verfolgt, hat Kurt Hille ge-
liefert im 12. Heft der „Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte", die Max Koch
und Gregor Sarrazin herausgeben. Es behandelt „Die deutsche Komödie
unter der Einwirkung des Aristophanes" (Leipzig 1907. Quelle & Meyer.
180 S. 5,75 M.). Den Humanisten blieb der griechische Komiker ziemlich fern;
doch hören wir von Plutus-Aufführungen; erst als man ihn zu übersetzen begann
(Goldhagen, Wolf, Wieland, Voß, Droysen), mehren sich die Nachahmungen. Als
erste Nachbildner werden Fröreisen und Frischlin aufgewiesen; sodann wird das
Einteilungsprinzip nach der Art der Komödien bestimmt: philosophische, soziale,
politische und literarische Komödien. So gewinnen manche bekannte Werke der
neueren Literatur wie Goethes „Götter, Helden und Wieland" u. a., Platens „Ver-
hängnisvolle Gabel" u. a., Vischers Faust III u. a., Hauptmanns „Versunkene Glocke",
„Und Pippa tanzt" usw. eine richtigere Beleuchtung. Platen wird von Hille
überschätzt, nach dem Vorgange Goedekes, der bekanntlich unter dem Pseudonym
Kari Stahl sich nach dem Muster Platens in einer „aristophanischen" Komödie, König
Kodrus, versucht hat. Der wesentlichste Mangel bei Platen besteht darin, daß
der Aufwand von Mitteln in keinem Verhältnisse zu dem trivialen Gegenstande
steht, daß er mit Kanonen nach Spatzen schießt. Auch sonst bedarf manches
Urteil bei Hille der Einschränkung, besonders hinsichtlich bewußter oder un-
bewußter Nachahmung. Immerhin ist die Schrift ein wertvoller Beitrag. — Bei
dieser Gelegenheit sei auf die ausgezeichnete kleine Arbeit von Adolf Müller in
Kiel hingewiesen : „Das griechische Drama und seine Wirkungen bis zur
Gegenwart" (in der „Sammlung Kösel", Kempten und München 1908, 1 M.);
was hier auf knappen 164 Seiten (kl. 8) geboten wird, ist an Inhaltfülle geradezu
bewundernswert und für die Schule vorzüglich verwendbar.
Im Mittelpunkte unserer gegenwärtigen Literaturströmung und Literatur-
forschung steht das neuerwachte Interesse für die Romantik. Man gibt ihre
Schriften neu heraus, veranstaltet Auslesen aus diesen und wendet sich der Aus-
beute ihrer Briefe zu. So legt uns in schöner Ausstattung O. E. Schmidt einen
Zur deutschen Literaturgeschichte. 449
Briefwechsel vor in dem Buche: ,Fouqu6, Apel, Miltitz" (Mit zwölf Illustra-
tionen und zwei Musikbeilagen. Leipzig 1908. Dürr. 219 S. geh. 5,40 M.). In
der Einleitung stellt er der „weichlichen", „tändelnd-philosophischen" Frühromantik
die spätere, „heroische" (mit dem Freiheitskämpfer Fouqu^) entgegen. Man darf
aber dabei nicht vergessen, daß die Schlegel als Denker und Anreger, daß an
dichterischer Kraft Novalis und Tieck einen Fouque bei weitem überragen; an
männlicher Gesinnung und Tatkraft und Charakter muten uns freilich jene Ro-
mantiker, die mit Wort oder Schwert ins Leben der Wirklichkeit eingriffen, mehr
an als die Denker und Träumer. Was uns Schmidt von den Beziehungen der
drei Männer berichtet, ist recht interessant, und manche der Briefe — besonders
auch des geistvollen Apel — sind für die Zeitgeschichte bedeutungsvoll. Fouqu^s
Tragik war es, daß er sich nicht weiter entwickelte, sondern, wie so viele schwächere
Talente, sich unablässig wiederholte, mit seiner Ritterromantik und seinem Säbel-
gerassel und seiner Sagenmystik, und so sich selbst überlebte. So ging auch der
Scharfenberger Freundeskreis sehr bald wieder auseinander. Miltitz erkannte sehr
früh dasjenige, was ihn — den Nüchterneren — von dem Freunde trennte.
Die Einzelschriften über neuere, noch lebende Dichter sind Legion. Mir liegt
zur Besprechung vor: Wilhelm Kosch, Martin Greif in seinen Werken
(Leipzig 1907. Amelang. 174 S. 2,50 M.). Es ist ein Buch tief eindringender
Forschung, ein Buch, das warme Liebe geschaffen hat. Und diese hat vielfach
Treffliches gezeitigt, doch das freundliche Bild gar zu sehr in Licht getaucht.
Mit Freuden habe ich selbst schon zu Anfang der 80er Jahre die zweite Auflage
von Greifs „Gedichten" begrüßt (in der „K. Ztg.") und den Lyriker in dem Buche
„Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker" (1896, S. 152—156) gewürdigt,
indem ich das Bedeutende anerkannte, aber auch seine Schwächen nichfverschwieg.
Kosch wendet seinem geliebten Meister gegenüber zu wenig das Salz der Kritik an.
Er geht zu weit, wenn er den Lyriker Greif so dicht an die Seite von Goethe und
Mörike, ja in manchem noch über diesen stellt, wenn er seine Balladen mit den „schotti-
schen" zusammen nennt, wenn er die unreinen Reime und die Leidenschaftslosig-
keit verteidigt, wenn er ferner die „objektive" Naturlyrik auf Greif zurückführt
und ihn zu einem Vorläufer des Impressionismus macht, wenn er den Dramatiker
Greif an Shakespeare und Ludwig, im Unterschiede von dem „idealisierenden
und reflektierenden Rhetoriker" Schiller rücken will. Auch das Biographische
zerrinnt zu sehr ins Unbestimmte. Sonst findet sich gerade in der Behandlung
der Lyrik, im Anschlüsse an Bayersdorfer, du Prel, Minor u. a. viel Feinsinniges
und Schönes. Bei Greif — auch gerade nach persönlicher Bekanntschaft des
liebenswerten Mannes — muß ich immer eines Wortes von E. M. Arndt gedenken,
der sagt: „Einfalt, Gradheit, Ehrlichkeit — ich unterstreiche diese drei — das
heißt Deutschheit, das ist gottlob bei dem schlichten, unverbildeten und unver-
drehten Deutschen noch da". Bei keinem Lyriker nach Uhland möchte dies Wort
mehr zutreffen als bei Greif. Er ist schlicht, echt, innig; ein Stimmungsbild in
ein paar knappen Zeilen zu entwerfen, darin ist er Meister; seine Naturbeseelung
ist wahrhaft „elementar", sein Volkston rührend und herzenswarm und wahr.
Eine hübsche Auswahl seiner Gedichte für die Jugend gab Julius Sahr
heraus (Leipzig 1905. Amelang).
.Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 29
450 ^' Buschmann,
Über „Das moderne Drama" hat der Wiener Universitäts-Professor Robert
F. Arnold ein vortreffliche Übersichten bietendes Buch geschrieben, das jedem
Lehrer des Deutschen in Prima gute Dienste leisten kann (Straßburg 1907. Karl
J. Trübner. 388 S. 6 M.). Aus Vorlesungen an den Universitäten von Innsbruck
und Wien hervorgegangen, trägt es die Farbe frischen Lebens, scharfer Beobachtung
und eines feinen historischen Sinnes. Der Riesenstoff, der nicht nur die deutsche,
sondern auch die außerdeutsche Bühnendichtung seit 1880 umfaßt, baut sich auf
der Grundlage eines in großen Zügen gezeichneten Bildes der kulturhistorischen
Vorbedingungen auf. Eine Fülle der wertvollsten Tatsachen betreffs Dramatik,
Bühnen- und Schauspielerwesen und Presse usw. ist schon in den ersten Kapiteln
zusammengetragen; doch das Hauptinteresse erweckt jene auf Ibsen und Zola und
Tolstoi zurückweisende Bewegung der Literaturrevolution der 80 er Jahre, die mit
sichtlicher Vorliebe geschildert und in ihre äußersten noch heute erkennbaren Ver-
zweigungen verfolgt wird, mögen auch Symbolismus und Neuromantik und Heimat-
kunst neue Bestrebungen und neue Schlagwörter geschaffen haben. Mit kräftigen
Worten wendet Arnold am Schlüsse sich gegen den „Merkantilismus" unseres lite-
rarischen Betriebes, den er als die Brutstätte von Mittelmäßigkeit und Gesinnungs-
losigkeit bezeichnet, und erhofft den neuen Messias für die deutsche Bühne, der
vielleicht schon unter uns weile, doch noch nicht zur Reife gelangt sei; jedenfalls
will er das letzte Wort über die noch in rüstiger Kraft schaffenden Dramatiker
nicht sprechen, deren Erdenwerk noch nicht abgeschlossen ist. Die Überschau
nach Stoffen, die in den letzten Kapiteln vorherrscht, ist besonders fesselnd, die
Literaturnachweise und die Personen- und Dramenregister sind in hohem Maße
dankenswert.
Neuwieti a. Rh. Alfred Biese.
Hilfsbücher für den deutschen Sprachunterricht.
Rehorn, Dr. Karl, Methodischer Lehrgang für den Unterricht in der
deutschen Grammatik. Nach Klassenstufen geordnet. Siebente Auflage, neu
bearbeitet von Dr. Hermann Werth. Frankfurt am Main und Berlin 1908.
Moritz Diesterweg. VII u. 103 S. geb. 1 M.
Der für höhere Mädchenschulen bestimmte Lehrgang hat sich als brauchbares
Schulbuch bewährt, hält aber vielfach an veralteten Anschauungen fest. Daß sich
die neue Auflage besonders an Sütterlin, die deutsche Sprache der Gegenwart
„orientiert" hätte, wie der Bearbeiter der neuen Auflage sagt, wird sich aus dem
Buche schwerlich feststellen lassen.
Matthias, Prof. Dr. Th., Handbuch der deutschen Sprache für höhere
Schulen. I. Teil: Vorstufe. Methodischer Lehrgang für den Deutschunterricht
der Unterklassen. Leipzig 1908. Quelle und Meyer. VII u. 113 S. geh. 1,20 M.
Matthias' Lehrgang für den deutschen Unterricht ist eigentlich mehr Übungs-
buch als Sprachlehre. Es verzichtet auf Tabellen und Regelwerk und läßt in
Hilfsbücher für den deutschen Sprachunterricht. 451
geistiger Verarbeitung eines im ganzen glücklich gewählten, jedoch nicht selten
über die Fassungskraft der Unterstufe hinausgehenden Übungsstoffes das Ver-
ständnis für die Sprachformen erwachsen, die Gesetze sich erschließen und den
Schülern zu geistigem Eigentum werden. Mechanisches Nachbeten der Fragen
zu erwarten, welche dieser Verarbeitung vorgezeichnet sind, lag sicher der Absicht
des Verfassers fern. Er wollte damit wohl nur den Weg und das Ziel andeuten.
Des Lehrers und der Schüler Eigenart und der den mannigfachen Zufällen unter-
liegende Unterrichtsgang werden eine Abweichung nicht nur von der Reihenfolge
der Fragen, sondern auch von ihrem Inhalt und ihrer Form oft genug erforderlich
machen, auch abgesehen davon, daß viele Fragen kaum die Antwort auslösen
würden, die der Verf. erwartet. Jedenfalls ist aber in diesem Fragenschatz ein
nicht zu verachtendes Mittel gewiesen, wie der Bildungswert des deutschen
Sprachunterrichts in anregender Geistesarbeit lebendig und fruchtbar werden kann.
Der erste Teil des Handbuchs umfaßt die Lautlehre, die Wortlehre und die Satz-
lehre. Die Wortlehre wird aber auf die Bedeutungslehre und die Wortbildungs-
lehre beschränkt; von der Beugungslehre bringt sie nur einiges über die Mittel
der Beugung im allgemeinen. Was sonst im Mittelpunkt der Wortlehre zu stehen
pflegt, die Lehre von den Wortarten und von der Beugung im besonderen, findet
sich auf geeignete Stellen der Satzlehre zweckmäßig verteilt. Die Lehre von der
Rechtschreibung ist in unmittelbare Verbindung mit der Lautlehre gebracht; ange-
schlossen ist Übungsstoff für lautrichtiges Sprechen.
Matthias, Theodor, Handbuch der deutschen Sprache für höhere
Schulen. Zweiter, darstellender Teil. Leipzig 1908. Quelle & Meyer. X und
257 S. geb. 2,40 M.
Die Aufgabe, die der Verfasser sich für den zweiten Teil seines Handbuches
gestellt hatte, alle wesentlichen Erscheinungen der deutschen Sprache in einem
geschichtlich begründeten, übersichtlichen Lehrgebäude zusammenzufassen und
Bilder ihrer Entwicklung zu bieten, ist von ihm aufs beste gelöst, wenn die Ab
sieht war, nicht sowohl ein Lehrbuch für die Schüler als ein Handbuch für den
Lehrer zu veröffentlichen und diesem eine Hilfe zur Belebung und Vertiefung
seines Unterrichts zu bieten. Dem Buche fehlt nirgendwo die klare Durchsichtig-
keit, die für ein Schulbuch unentbehrlich ist; aber es setzt doch vielfach eine
Auffassungskraft voraus, die man frühestens bei fähigen Schülern der oberen
Klassen erwarten darf, und die Durchblicke in die geschichtliche Entwicklung
einzelner sprachlichen Erscheinungen werden ebenso wie das meiste von dem,
was in dem zweiten Teile der Wortbildung an sprachgeschichtlichen Belehrungen
geboten wird, auf der mittleren Stufe kaum rechtes Verständnis und tiefergehende
Teilnahme finden. Einiges, wie z. B. gleich das in der Lautlehre über Schall- und
Drucksilben Gesagte, ist für die Schule mindestens entbehrlich. Mit alledem soll
das Verdienstliche des Buches nicht beeinträchtigt werden; für den Lehrer ist es
ein Hilfsbuch im besten Sinne des Wortes. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß der
Verfasser in der Satzlehre unter Wahrung seiner Selbständigkeit und ohne den
bislang in Gebrauch gewesenen Fachausdrücken Gewalt anzutun, den von Sütterlin
gewiesenen Wegen folgt.
29*
452 J- Buschmann,
Sütterlin, Dr. L. und Martin, Dr. K., Grundriß der deutschen Sprach-
lehre für die unteren Klassen höherer Schulen. Leipzig. R. Voigtlän-
ders Verlag. VIII u. 81 S. kart. 1. M.
Wenn der in dieser Monatschrift wiederholt besprochene, von Sütterlin entwor-
fene Aufbau der Satzlehre sich im Leben der Schule einbürgern sollte, so bedurfte
es nach der mehr für den Lehrer als für Schulen eingerichteten deutschen Sprach-
lehre von Sütterlin und Waag einer für die Fähigkeiten jüngerer Schüler geeig-
neten Verarbeitung der Grundlagen Sütterlins. Der Aufgabe, ein Buch für die
unteren Klassen höherer Schulen zu schaffen, hat sich Sütterlin in Verbindung
mit einem praktischen Schulmann unterzogen, und unterstützt von anderen Schul-
männern Badens haben beide ein treffliches Schulbuch zustande gebracht, welches
allen, die den deutschen Sprachunterricht im Geiste Sütterlins in neue Bahnen
umlenken möchten, gute Dienste leisten wird; sich mit dem Buche bekannt zu
machen, wird namentlich jüngeren Lehrern auch dann zu empfehlen sein, wenn
eigener Trieb oder die Verhältnisse ihnen nahelegen, im Unterricht der deutschen
Satzlehre den bisher vorgezeichneten Weg weiter zu verfolgen. Auch der erste
Teil, „Laute und Wörter", enthält viel Gutes, was in anderen Büchern dieser Art
nicht zu finden ist. In der Satzlehre ist es den Verfassern im allgemeinen aufs
beste gelungen, ihre Neuerungen in eine auch zehn- bis zwölfjährigen Schülern
faßliche Form zu bringen. An Schwierigkeiten fehlt es aber nicht. Dahin gehört
es, wenn in dem Satze „Er kann seinen Namen schreiben" die gesperrt ge-
druckten Worte als Attribut oder auch als Objekt angesehen werden können.
Eine gewisse Verwirrung dürfte dadurch entstehen können, daß nur die näheren
Bestimmungen des Zeitworts als Umstandsbestimmungen bezeichnet werden
sollen, und man in der Verbindung „Der stets singende Knabe" das Wort stets
nicht als Umstandsbestimmung bezeichnen darf, weil singend reines Adjektiv sei.
Daß es sich um Prädikatsätze handelt, wenn ein Nebensatz ohne Verb neben ein
Subjekt gestellt wird (Ein fürchterlich Gedräng [ist], wo er stund), wird jedenfalls
auf der unteren Stufe nicht leicht verständlich zu machen sein. Und warum in
dem Satze „Gretel merkte, was die Hexe im Sinne hatte" der Relativsatz ein
Fragesatz sein soll, nicht auch, wie in dem Satze „Das Mädchen erzählte alles,
was ihm begegnet war", ein Behauptungssatz, wird auch einem Tertianer zu
fassen schwer sein.
Scheel, Willy, Neuhochdeutsche Sprachlehre. 1. Laut- und Wortbildungs-
lehre für die Oberstufe höherer Lehranstalten. Heidelberg 1908. Carl Winters
Universitätsbuchhandlung. VIII u. 89 S. kart. 1,80 M.
Credner, Dr. Karl, Grundriß der deutschen Grammatik nach ihrer
geschichtlichen Entwicklung für höhere Lehranstalten und zur Selbst-
belehrung. Leipzig 1908. Veit u. Comp. XII u. 228 S. geh. 3 M.
Th. Matthias hat in dem zweiten Teil seines Handbuchs ein geschichtlich
gegründetes, übersichtliches Lehrgebäude aller wesentlichen Erscheinungen der
deutschen Sprache nebst Bildern aus ihrer Entwicklung geboten und sieht es
als Aufgabe der Mittelstufe an, die Erscheinungen des heimischen Sprachlebens
klärend zusammenzufassen und geschichtlich verstehen zu lassen. Nun ist ja
nicht zweifelhaft, daß nicht wenige Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache
Hilfsbticher für den deutschen Sprachunterricht. 453
ohne Einblick in ihre Entwicklung unverständlich bleiben, und es gibt schon in
den mittleren Klassen Gelegenheit genug, Verständnis für solche Entwicklung
anzubahnen. Aber mit ausreichendem Erfolge kann dies Verständnis doch erst
dann erschlossen werden, wenn einige Bekanntschaft mit älteren Sprachnieder-
setzungen es ermöglicht, die Entwicklungsgesetze an zahlreichen, im Zusammen-
hang des Schriftwerks lebendig gewordenen Beispielen zu veranschaulichen. Dieser
Absicht wollen die Neuhochdeutsche Sprachlehre von Scheel und der Grundriß
der deutschen Grammatik von Credner dienen. Scheels Sprachlehre, deren erster
Teil erschienen ist, gehört zu der von Dr. Max Niedermann herausgegebenen
Sprachwissenschaftlichen Gymnasialbibliothek, welche eine den heutigen Verhält-
nissen entsprechende wissenschaftliche Gestaltung des grammatischen Unterrichts
und die Erklärung der grammatischen Gesetze auf Grund der gesicherten Ergeb-
nisse der historisch-vergleichenden Sprachforschung anstrebt. Scheel seinerseits
will dem Lehrer das Material bieten, an welches dieser in den oberen Klassen,
soweit dazu der deutsche Unterricht Gelegenheit bietet, seine Belehrungen an-
knüpfen kann. Der vorliegende erste Teil entspricht dieser Absicht vollkommen;
er ist aber inhaltlich und in seiner Darstellung so gehalten, daß Primaner, welche
Freude an ihrer Muttersprache haben, sich auch ohne Hilfe des Lehrers mit dem
Buche beschäftigen können. Für eine neue Auflage möge das Augenmerk des
Verf. auf den letzten Satz in Abs. 2, S. 9 (Neben dem anspruchsvollen Förderer
usw.) und auf Abs. 2, S. 70 (Ebenso wie bei den subst. Ableitungssilben usw.)
gerichtet werden. S. 7 hätte sich die Form „Akkusativ cum Infinitivo" vermeiden
lassen. Auf S. 41 wird gesagt, die Brechung beruhe auf einer falschen Voraus-
setzung. Würden in der nächsten Auflage § 23 u. 24 nicht besser mit § 1 ver-
einigt werden?
Credners Grundriß, ursprünglich als neue Auflage der von Geistbeck im
Jahre 1882 herausgegebenen Elemente der wissenschaftlichen Grammatik der
deutschen Sprache geplant, ist durch Verwendung der neueren Ergebnisse deutscher
Sprachforschung in durchgreifender Umarbeitung der Grundlage ein neues Buch
geworden. Der Grundriß empfiehlt sich als zuverlässiger Wegweiser für Studierende,
doch hat der Verf. zunächst die reiferen Schulen höherer Lehranstalten im Auge,
denen das Buch nicht als Lernbuch unmittelbar für die Schule, sondern als Lern-
und Lehrbuch im Selbstunterricht dienen soll. Es enthält aber auch reichen Stoff
für freie Vorträge, und wo bei freierer Gestaltung der Lehrpläne der deutsche
Unterricht in den oberen Klassen verstärkt ist, würde es zur Vertiefung in die
Geschichte der Muttersprache recht wohl als Schulbuch dienen können. Eine
dankenswerte Zugabe des Grundrisses bildet die Karte der deutschen Mundarten.
Dr. Karl Krauses Deutsche Grammatik für Ausländer neu bearbeitet
von Dr. Karl Nerger. Sechste verbesserte Auflage. Breslau 1908. J. U. Kerns
Verlag (Max Müller). VIII u. 276 S. 3,60 M.
Ein Handbuch für deutsche Lehrer ausländischer Schüler. Ein ausländischer
Lehrer würde, zumal ein alphabetisches Sprach- und Wörterverzeichnis fehlt, auch
wenn er die deutsche Sprache zur Genüge beherrschte, in dem umfangreichen,
im Streben nach Vollständigkeit des Regelvorrats mancher Schulgrammatiker des
vorigen Jahrhunderts ebenbürtigen Werke sich nur mit Mühe zurechtfinden. Das
454 J. Buschmann,
Buch ist in erster Auflage 1867 erschienen; der neuen Auflage würde es als
Empfehlung gedient haben, wenn die Fassung mancher Regeln mehr mit den
Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung der neueren Zeit in Einklang ge-
bracht, manche veraltete Anschauungen beseitigt und manche Regel, die sich
als Gedächtnisballast erweisen muß, ausgeschieden wäre, um das grammatische
Gesetz durch unwillkürliche Aneignung im Geiste der Schüler von selbst sich
bilden zu lassen.
Weyde, Johann, Neues deutsches Rechtschreibewörterbuch. Auf
Grund der neuen, gemeindeutschen Rechtschreibung bearbeitet. 4. vermehrte Auf-
lage. Leipzig, G. Freytag, Wien, F. Tempsky, 1908. 256 S. Geb. 1,50 M. = 2 K.
Das Buch, das sich in der Schreibung der Wörter an das auf Ersuchen der
Buchdruckervereine von Duden verfaßte Wörterbuch mit einheitlicher Rechtschreibung
anschließt, zeichnet sich vor allem durch seine Reichhaltigkeit aus. Diese wird
man sich gern gefallen lassen, wo sie dazu dient, der Mundart zu Ehren zu ver-
helfen ; aber in der Auswahl der Fremdwörter ist des Guten doch zu viel geschehen.
So findet man Wörter wie goalkeeper und good average, ganze Redensarten
wie cherchez la femme, habeant sibi (dies mit der Übersetzung: sie passen
zueinander I), last not least, und gemischte Wendungen wie tabula rasa machen.
Der Verfasser sagt zwar, er biete die Fremdwörter mit den Verdeutschungen, um
dem Fremdwörterunwesen durch passenden Ersatz entgegenzuwirken; tatsächlich
wird aber für zahlreiche Fremdwörter nicht das entsprechende deutsche Wort,
sondern nur der höhere Gattungsbegriff angegeben oder sonst eine Erklärung ge-
boten. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es ein entsprechendes deutsches
Wort nicht gibt; aber in diesem Falle hätte das durch irgend ein Zeichen
angedeutet werden sollen. Gelegentlich ist die Verdeutschung durch ein Komma,
die Erklärung durch den Doppelpunkt von dem Fremdwort getrennt; es wird sich
empfehlen, dies in der nächsten Auflage zu verallgemeinern. Besser noch wird
überall, wo es möglich ist, ein gut deutsches Wort eingesetzt.
Kankeleit, A., Grammatikblätter für die Hand der Schüler. 15. Aufl.
0,15 M. — Orthographieblätter für die Hand der Schüler. 29. Aufl.
0,15 M. — Lehrerheft zu den Orthographie- und Grammatikblättern
mit 175 Diktaten. 5. Aufl. 0,50 M. Gumbinnen 1908. C. Sterzeis Buchhand-
lung (Gebr. Reimer).
Die drei Hefte bilden zusammen ein brauchbares Hilfsbüchlein für den
deutschen Sprachunterricht der Volksschule, lassen sich aber wohl auch in den
Vorschulen höherer Lehranstalten verwenden. Die Grammatikblätter beschränken
sich auf das unbedingt Notwendige und bieten zu dessen Einübung reichlichen
Stoff. Die Orthographieblätter folgen den erprobten Grundsätzen, daß das Auge
die richtige Auffassung des Wortbildes unterstütze, daß die Unterweisung sich an
zweckmäßig geordnete Wörtergruppen anschließe, daß kein Tag ohne Übung
vergehe, daß das Üben aber sorgfältig vorbereitet werde. Das Lehrerheft enthält
außer methodischen Winken einen umfassenden Diktatstoff, der mit gutem Grunde
Zusammenhängendes ausschließt, dafür aber der Volksweisheit des Sprichworts
breiten Raum vergönnt.
Hilfsbücher für den deutschen Sprachunterricht. 455
Scheffler, Karl, Die Schule. Verdeutschung der hauptsächlichsten ent-
behrlichen Fremdwörter der Schulsprache. Dritte, verbesserte und vermehrte Auf-
lage. 90 S. 0,60 M. Berlin 1909. Verlag des Allgemeinen Deutschen Sprach-
vereins (F. Berggold).
Für den, der die Zeit vor der Arbeit des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins
erlebt hat, ist es lehrreich, zu beobachten, wie viele Fremdwörter aus dem Schul-
leben verschwunden sind, die früher als festgewurzelt hätten gelten können, nicht
minder lehrreich, festzustellen, daß gerade im Schulleben noch sehr viel zu tun
bleibt. Es lohnt sich, Schefflers Verdeutschungsbuch von Anfang bis zu Ende
durchzulesen, um sich zu vergewissern, wie viele Fachwörter der verschiedensten
Unterrichtszweige sich durch gut deutsche ersetzen lassen. Besonders aufmerksam
gemacht werden möge auf die zahlreichen trefflichen Verdeutschungen der Fach-
ausdrücke im mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht.
Linde, Friedrich, Onomatik. Sprachliche Untersuchungen über Wortbildung
und Wortbedeutung, angeschlossen an Wortfamilien. Ein Hilfsbuch zur Belebung
und Vertiefung des deutschen Sprachunterrichts. Langensalza 1908. Hermann
Beyer u. Söhne. 144 S. 2 M.
Die Wortkunde — das Fremdwort , Onomatik", das Mayer dafür in seinem
1842 erschienenen Sprachbuch geprägt hat, hätte Linde nicht wieder aufleben
lassen sollen — die Wortkunde hat ihre Stelle ebensowohl im Unterricht der
Volksschule wie in dem der höheren Lehranstalten, und seitdem Rudolf Hildebrand
gezeigt hatte, wie sich die Ergebnisse der Sprachwissenschaft dafür verwerten
lassen, gedankenlosem Wortgebrauch zu steuern und in den Schülern lebhaftere
Teilnahme am deutschen Unterricht zu wecken, hat es an Versuchen nicht ge-
fehlt, den Lehrern für ihre und ihrer Schüler Förderung geeignete Hilfsmittel dar-
zubieten. Von älteren Werken dieser Art hat das unter dem Titel „Familien
deutscher Wurzelwörter " von H. Damm (Berlin 1883) verfaßte Hilfsbuch, trotz
seiner Brauchbarkeit nur eine Auflage erlebt. Neuerdings hat Gustav Rudolph
in seiner „Wortkunde im Anschluß an den Sachunterricht" (1. Aufl. 1898, 2. Aufl.
1906) recht gute „Materialien zu einer elementaren Onomatik und Phraseologie"
geboten. Wertvoll für die Weiterbildung junger Lehrer ist die „Deutsche Wort-
kunde" von Edwin Wilke (1. Aufl. 1893, 3. Aufl. 1905), die auch für den
deutschen Unterricht an höheren Schulen Beachtung verdient. Linde hat in
seiner „Onomatik" aus den Wörterbüchern von Kluge, Heyne und Paul den Stoff
gesammelt, an dessen Hand die Volksschüler mit der Herleitung deutscher Wörter
aus älteren Sprachniedersetzungen bekannt gemacht werden sollen und der
eigentlichen Bedeutung abgeleitete und übertragene Bedeutungen und überdies
Wörter ähnlicher Bedeutung zugefügt. Daß das Buch sich für seinen Zweck ver-
werten läßt, soll nicht geleugnet werden; aber gründlichere Belehrung ist jedenfalls
aus Wiikes Wortkunde zu holen, und an den Früchten ihrer Studien werden ver-
ständige Lehrer ihre Schüler, soweit es sich um die Herleitung aus dem Alt- und
dem Mittelhochdeutschen handelt, in den Volksschulen wie in den unteren und
mittleren Klassen höherer Schulen nur sparsam teilnehmen lassen. Hier gelten die
Grundsätze, die Michel und Stephan in ihrem Methodischen Handbuch zu
Sprachübungen (4. Aufl. 1908) vertreten. Sie sehen in der Etymologie die Würze
456 D^s gesamte Bildungswesen usw., angez. von A. Matthias.
des Sprachunterrichts auch der Volksschüler; aber sie finden keinen Nutzen in
Etymologieen, die sich der Schüler nicht erarbeiten kann. Sie haben den Stoff
nach etymologischen Gesichtspunkten geordnet, scheiden aber überall zwischen
Wörtern, deren Abstammung die Schüler selbst auffinden können, und solchen,
deren Etymon ihnen nicht zugänglich ist. Die Behandlung, die Linde den Wörtern
zuteil werden läßt, geht über den Rahmen derunteren und der mittleren Stufe höherer
Lehranstalten ebenso sehr hinaus wie über den der Volksschule; der Lehrer aber
wird es vorziehen, zu seiner eignen Fortbildung an den Quellen selbst zu schöpfen.
Stöcke!, D., Hermann, Deutsche Sprachlehre auf geschichtlicher
Grundlage zum Gebrauche an höheren Lehranstalten, wie zum Selbst-
unterricht. Bamberg 1908. C. C. Buchners Verlag. XV u. 252 S. 8«. geh.
3,60 M., geb. 4 M.
Stöckel will im Knaben- und im Mädchenunterricht höherer Lehranstalten und
Lehrerbildungsanstalten eine gründlichere, das Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsche
umfassende Kenntnis vom Wesen unserer Muttersprache anbahnen. Damit geht
Stöckel noch über das Ziel, das unter andern auch Credner, Th. Matthias und
Scheel sich gesteckt haben, weit hinaus, indem er den Schülern und Schülerinnen
nicht viel weniger zumutet, als etwa der Studierende der Hochschule an allgemeinem
Wissen von der Geschichte sowie von der Laut- und der Wortlehre seiner Mutter-
sprache benötigt. Dafür bieten wenigstens die höheren Lehranstalten keinen
Raum, und es ist auch kaum abzusehen, daß sie jemals auf einen Unterrichts-
betrieb eingerichtet werden könnten, der Einführung in das Alt- und das Mittel-
hochdeutsche ohne die Unterstützung einer genügenden Kenntnis der Literaturdenk-
mäler verlangte. Soll aber diese Unterstützung nebenhergehen, dann würde zu-
nächst den auf Vermehrung der Stundenzahl abzielenden Wünschen des Vereins
für Schulreform entsprochen werden müssen, und bis das geschieht, werden vor-
aussichtlich noch viele Federn in Bewegung gesetzt und viele Worte dafür und
dawider geredet werden. So wie die Dinge jetzt liegen, sind es nur einzelne
Abschnitte, die sich im Unterricht an höheren Schulen verwerten lassen, unter
anderem das, was unter den Überschriften „Allgemeines" und „Geschichtliches"
zusammengefaßt ist, einiges aus der Wortbildungslehre, besonders die Anhänge
„Bildung der Eigennamen" und „Wortbedeutung". An sich ist Stöckeis Sprach-
lehre ein vortreffliches Buch. Doch haftet die Lehre vom Satze mehr als nötig
am Überlieferten; auch würde gerade hier Berücksichtigung des geschichtlichen
Entwicklungsganges erwünscht gewesen sein.
Coblenz. Jos. Buschmann.
b) Einzelbesprechungen:
Das gesamte Bildungswesen (mit Ausschluß der Hochschulen) im preußisclien
Landtag. Vollständiger stenographischer Bericht über die Verhandlungen der
IV. Session 1907/1908. Hrsgb. von H. Sierks. I. Jahrgang 1908. Wichtig für
alle Volksschulen, Fortbildungsschulen, Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen,
Die Mittelschul-Enquete usw., angez. von A. Matthias. 457
höhere Mädchenschulen, Mittelschulen, Kunstgewerbe-, Maschinenbau-, Bauge-
werbeschulen, Landwirtschaftliche Schulen usw. Kiel und Leipzig o. J. Lipsius &
Tischer. 639 S. gr. 8». geh. 7,50 M.
Für wen in erster Linie dieses Buch bestimmt ist, sagt uns das Titelblatt.
Aber für noch weitere Kreise ist es von Wert, da es in handlicher Form Einblick
gewährt in die Verhandlungen des preußischen Landtags, soweit diese sich mit
höheren Schulen, Volksschulen und Fachschulen beschäftigt haben in der Session
1907/1908. Ein solches Buch fehlte bisher und es ist tatsächlich ein Bedürfnis;
denn die offiziellen stenographischen Berichte sind zu wenig handlich und zu wenig
übersichtlich für solche Orientierung. Diese verschafft uns das vorliegende Buch,
besonders auch dadurch, daß ein ausführliches Sachregister ihm beigegeben ist,
das durch ein Verzeichnis der Redner noch erfreulich ergänzt wird. — Es ist zu
wünschen, daß es reichen Anklang findet; zu wünschen aber auch, daß es noch
vervollkommnet wird. Vor allem vermißt man die Angaben der Sitzungsnummern
und der Sitzungsdaten. Und diese sind doch nötig, wenn man zitieren und den
Leser instandsetzen will, auch im Originalbericht der Verhandlungen wiederzu-
finden, was man angeführt hat. Es könnten mit leichter Mühe am Rande Sitzungs-
nummer und Datum angeführt werden. Dann sähe man zugleich, wie viel Zeit
die Abgeordneten auf die einzelnen Gegenstände verwandt — in manchen Fällen
kann man auch sagen verschwendet — haben ohne Rücksicht auf Sparsamkeit, die
nicht nur für Verausgabung von Geld, sondern auch von Zeit angebracht wäre. Es
erscheint ja auch wünschenswert, die Qualität der Reden mehr im Auge zu
behalten als die Quantität und die einfache Forderung des Mitleids erheischt es,
leeres Stroh nicht mutwilligerweise zu dreschen. — Daß die Hochschulen aus-
geschlossen sind, ist zu bedauern. Würden nicht in einem zweitem Bande die
Universitäten, die technischen Hochschulen, Kunst und Wissenschaft gebracht werden
können? Dann bekäme man auch einen Gesamteindruck von dem umfassenden Ge-
schäftskreise des arg belasteten Kultusministeriums.
Die Mittelschul-Enquete im K. K. Ministerium für Kultus und Unterricht.
Wien 21.— 25. Januar 1908. Stenographisches Protokoll, Referate und Korreferate.
Statistik der mit dem Öffentlichkeitsrechte beliehenen Gymnasien und Realschulen
in betreff ihres Umfanges, ihrer Erhalter und in betreff der Unterrichtssprache
im Schuljahre 1907/08. Herausgegeben im Auftrage des Ministeriums für Kultus
und Unterricht. Wien 1908. Alfred Holder. XIV u. 766 S. gr. 8«. 15,50 M.,
geb. 18 M.
Bereits im VII. Jahrgang dieser Monatschrift S. 484 ist die österreichische
Mittelschulenquete vom Januar 1908 und ihre nächsten Folgen für Österreich von
Direktor Dr. Thumser mit Hinweis auf vorstehendes Werk behandelt. Eine eigentliche
Besprechung sind wir dem Gesamtinhalt, auch in Hinblick auf seine allgemeine Be-
deutung, noch schuldig. Das umfangreiche Druckwerk enthält auf 35 Bogen, die
etwa drei Viertel des Bandes einnehmen, die Protokolle mit der Wiedergabe der
von 57 Rednern gehaltenen 115 Reden. Daran schließen sich die Referate und
Korreferate, im ganzen fünfzehn, die über die vom Ministerium aufgestellten 7 Fragen
vor der Enquete verfaßt wurden. Die 7 Fragen betreffen folgende Punkte: 1. Be-
458 R- Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, angez. von A. Matthias.
dürftigkeit einer Verbesserung der Mittelschulen. 2. Ist ein neuer Mittelschultypus
nötig? Vom Übergang der Realschulabsolventen zu den Universitätsstudien.
3. Beibehaltung der Zweistufigkeit im Unterricht einzelner Disziplinen oder nicht?
4. Die Maturitätsprüfung. 5. Der bedenkliche Zugang zu den Mittelschulen. Revision
des Berechtigungswesens. 6. Übergang von der Volksschule zur Mittelschule, von
der Mittelschule zur Universität. Das bestehende Prüfungs- und Klassifikations-
verfahren; die Disziplinarvorschriften. 7. Die körperlichen Übungen. —
Ein Vergleich mit den beiden preußischen Schulkonferenzen vom Jahre 1890
und 1900 ergibt, daß die Zusammensetzung der österreichischen Enquete eine um-
fassendere und freiere war. Die preußische Schulkonferenz von 1890 trug einen im
wesentlichen schulmännischen Charakter; Schulmänner führten überwiegend das
Wort. Die Konferenz von 1900 war mehr durch die akademischen Vertreter beein-
flußt. Die österreichische Enquetekommission hatte Mitglieder aus sehr mannig-
fachen Berufskreisen ; Banken, Handel und Gewerbe waren vertreten, auch Damen
nahmen daran teil; Mitglieder der Bürger- und Volksschule waren zugegen. Da-
mit war der Kreis der Gedanken uud Erörterungen viel weiter gezogen. Die
öffentliche Meinung in ihren vielseitigen Ausstrahlungen kam mehr zur Geltung.
Der ganze Ton war infolgedessen auch ein freimütigerer, war kritischer, unmittel-
barer und unbefangener; von irgend einer Vorbereitung in der Art einer , General-
probe" war nichts zu bemerken. Dagegen sind feste und greifbare Ergebnisse,
wie bei der letzten preußischen Konferenz in der Gleichberechtigungsfrage, nicht
herausgekommen. Es ist also interessant, Vergleiche anzustellen. Besonders kann
man den Seminaren an unseren höheren Schulen raten, sich mit solchen Vergleichen
eingehend zu beschäftigen. Diese werden um so ergebnisreicher sein, als hier eine
Fundgrube für jeden Pädagogen vorliegt auf dem Gebiete der Erziehung, des Unter-
richts, der körperlichen und geistigen Ausbildung und der gesamten Schuldisziplin.
Es findet sich manch wahres, auch manch halbwahres Wort und manche anregenden
Aussprüche über einseitige humanistische Bildung des Gymnasiasten, über die un-
gerechte Geringschätzung des Realschülers, über den Verkehr zwischen Schule und
Haus und — auch das ist nicht unerfreulich — über die allzu übertriebene Betonung
der körperlichen Ausbildung und über die durch Klassenüberfüllung herbeigeführte
Verhinderung jeder gesunden Individualisierung. Auch darüber hinaus bietet der
überreiche Inhalt noch so viele Einblicke in die Gesamttätigkeit des österreichischen
Schulwesens, daß wir den Schulen nur empfehlen können, dieses anregende Werk
gründlich auszunützen.
Eisler, Rudolf, Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Historisch-
quellenmäßig bearbeitet. Dritte, völlig neubearbeitete Auflage. Berlin 1909. Mittler
und Sohn. Lieferung 1. VIII u. 208 S. 2,50 M.
Das Eislersche Wörterbuch ist in dieser Monatschrift Jahrgang I, S. 580/81 als
ein auch der Schule willkommenes Werk begrüßt, weil es dazu beitragen kann, der
Schule das für philosophische Propädeutik schon verloren gegebene Terrain wieder-
zugewinnen. Es liegt nun die erste Lieferung einer neuen Auflage vor, die völlig
neu bearbeitet ist und eine erhebliche Erweiterung der Schlagworte, Artikel, Zitate
Verweisungen und Literaturnachweise erfahren hat. Die Anordnung des Stoffes
B. Schmid, Philosophisches Lesebuch usw., angez. von E. Dennert. 459
ist außerdem einheitlicher und übersichtlicher gestaltet und es sind namentlich die
neueren Systeme sorgfältig berücksichtigt und die Grenzwissenschaften — Biologie,
Physik, Soziologie usw. — mehr als sonst bedacht. Wir begnügen uns zunächst
mit diesem kurzen Hinweis, um auf das Werk nach vollständigem Erscheinen zurück-
zukommen.
Die Ausgabe der neuen Auflage erfolgt in 14 Lieferungen von etwa je 10
Bogen Umfang zu je 2,50 M., oder in 3 Bänden zum Gesamtpreis von geheftet
35 M., in Halbfranz gebunden 40 M. Die Lieferungen erscheinen in etwa vier-
zehntägigen Zwischenräumen, so daß das Werk voraussichtlich im Oktober 1909,
zugleich mit der Bandausgabe, abgeschlossen vorliegen wird.
Berlin. A. Matthias.
Schmid, B., Philosophisches Lesebuch zum Gebrauch an höheren Schulen
und zum Selbststudium. Leipzig 1906. B. G. Teubner. 166 S. 8«. 2,60 M.
Der Gedanke, der den Verfasser bei dieser Schrift leitete, ist unzweifelhaft
richtig: das philosophische Interesse ist eben im Steigen begriffen, und es ist
wünschenswert, daß es auch bereits in den oberen Klassen der höheren Schulen
genährt wird. Diesem Zweck soll die hier gebotene Auswahl aus philosophischen
Aufsätzen alter und neuer Zeit dienen. Der Verfasser hat den Stoff vielseitig
gewählt, und auch so, daß ein gewisser Zusammenhang erkennbar ist. Im ganzen
ist ihm sein Plan gut gelungen, wenn sich auch nicht leugnen läßt, daß manches
für die Schule zu schwer ist. Die dem Abschnitt „die Seele" von Haeckel bei-
gefügte Kritik hätte noch schärfer sein müssen, und was den „Vitalismus" anbelangt,
so hätte denn doch neben Verworn auch einem Vitalisten das Wort erteilt werden
sollen; denn der kurze Abschnitt aus Verworn beweist wirklich gar nichts und
kann junge Leser nur irreführen. Hier hätte Reinke oder Driesch zum Wort
kommen müssen. So empfindet man auch sonst eine gewisse Einseitigkeit, die
den Schüler in einen Gedankenkreis einzuführen strebt, den jedenfalls sehr viele
Lehrer nicht billigen werden: das Buch muß daher mit Auswahl und Kritik benutzt
werden. Der Verfasser sollte sich entschließen in einer Neuausgabe auch andere
Ansichten zum Wort kommen zu lassen.
Godesberg. E. Dennert.
Rein, W., G r u n d r iß d e r E t h i k. 2. Auflage. Osterwieck 1906. A. W. Zickfeldt.
X u. 336 S. 3,20 M.
Die beiden Grundfragen der wissenschaftlichen Ethik sind folgende. Erstens:
Woher stammen unsere sittlichen Begriffe und Anschauungen? Zweitens: Woher
stammt das Bewußtsein, uns ihnen entsprechend verhalten zu müssen, d. i. das
Pflichtbewußtsein?
Was die erste Frage betrifft, so steht Rein auf dem Standpunkt, daß das Sitten-
gesetz „in der Gemeinschaft geworden" ist, die Bedingungen eines gedeihlichen
Gemeinschaftslebens darstellt. Der oft aus dieser Auffassung gezogenen Konsequenz,
daß mit den wechselnden Bedingungen des Gesamtwohles dann auch die sittlichen
Anschauungen wechseln müßten, also auf dem Gebiet der Sittlichkeit nur von rela-
tiven, nicht von absoluten Normen die Rede sein könne, sucht Rein dadurch zu ent-
460 C. Rein, Grundriß der Ethik, angez. von W. Koppelmann.
gehen, daß er aus der Gesamtheit der ethischen Urteile die »unveränderlichen
ethischen Elementar- oder Stammurteile" ausscheidet. Sie finden ihren Ausdruck in
den , sittlichen Ideen", wie Rein im Anschluß an Herbart sie nennt, der Rechtsidee,
der Idee des Wohlwollens, des sittlichen Fortschritts und der inneren Freiheit. Diese
„Ideen sind die konzentrierten Niederschläge .... einer Arbeit, an der Tausende
von Geschlechtern sich abgemüht haben und noch weiter abmühen werden". (S. 303.)
Mit seiner Ansicht, daß unter unseren sittlichen Anschauungen eine Reihe un-
veränderlicher Elemente sind, hat Rein gewiß recht. Aber mit seiner Grundüber-
zeugung von dem Ursprung des Sittengesetzes dürfte sie schwerlich in Einklang
zu bringen sein, vielmehr führt diese in ihren Konsequenzen rettungslos zum ethi-
schen Relativismus. In der Tat weiß auch Rein für die Existenz seiner „Stamm-
urteile" keine rechte Erklärung. Er meint, durch den Erbgang seien im Men-
schen Funktionen angelegt, die er nicht zu ändern vermag. „Dazu gehört das
Fällen von Wert-Urteilen, und zwar von solchen, die sich gleichbleiben im Wandel
der Zeiten. Das ist etwas Wunderbares." Meiner Meinung nach ist es nicht
nötig, sich in dieser Hinsicht auf das Wunder zu berufen. Aus dem Wesen der
Vernunft ergeben sich a priori gewisse Bedingungen der geistigen Gemeinschaft,
nämlich Wahrhaftigkeit für die theoretische, Zuverlässigkeit für die praktische Vernunft-
gemeinschaft. Daraus entspringen dann sittliche „Stammurteile", die ich allerdings
anders formulieren würde als Rein (vgl. meine „Kritik des sittlichen Bewußtseins"
S. 126 ff. und meine „Ethik Kants" S. 33 ff.).
Die zweite der oben genannten Grundfragen der Ethik sucht Rein, wiederum in
Anlehnung an Herbart, dadurch zu lösen, daß er das Gute mit dem Schönen in
Parallele stellt. Der Böse verletzt sozusagen das ästhetische Gefühl, der Gute be-
friedigt es. Man braucht das Wahrheitsmoment, welches darin liegt, nicht zu ver-
kennen, aber der Wucht des Problems vermag diese Auffassung, wie schon gegen
Herbart öfters geltend gemacht worden ist, keineswegs gerecht zu werden. Man
braucht nur an die oft zur Verzweiflung treibenden Gewissensbisse zu denken, um
sich davon zu überzeugen.
Den größten Teil des Buches nimmt die angewandte Ethik ein, die „Dar-
stellung der sittlichen Ideen" (S. 100—336). Hier bespricht Rein mit Wärme und
Einsicht auch eine Reihe von aktuellen Fragen, die Behandlung jugendlicher Ver-
brecher, christlichen und Staatssozialismus, die Organisation des Schulwesens, die
Frauenfrage usw.
Die Darstellung ist überall klar und gefällig und durch manche interessanten
Zitate belebt.
Religionsphilosophie in Einzeldarstellungen, herausgegeben von O. Flügel.
Langensalza 1905/6. Hermann Beyer und Söhne. Heft I: Kants Religions-
philosophie, von Gh. A. Thilo. 65 S. 1,20 M. — Heft II: Fr. H. Jacobis
Religionsphilosophie, von Thilo. 54 S. 1,20 M. — Heft III: Die Reli-
gionsphilosophie der Schule Herbarts, Drobisch und Hartenstein,
von O. Flügel. 88 S. 1,50 M. — Heft IV: Die Religionsphilosophie
des absoluten Idealismus. Fichte, Schelling, Hegel und Schopen-
hauer, von Thilo. 72 S. 1,20M. Heft V: SchleiermachersReligionsphilo-
Religionsphilosophie in Einzeldarstellungen, angez. von W. Koppelmann. 461
Sophie, von Thilo. 128 S. 2 M. — Heft VI: Die Religionsphilosophie
des Descartes und Malebranche, von Thilo. 76 S. 1,25 M. — Heft VII:
Spinozas Religionsphilosophie, von Thilo. 80 S. 1,25 M. — Heft VIII:
Leibniz' Religionsphilosophie, von Thilo. 36 S. 0,70 M.
Über Zweck und Anlage des Unternehmens gibt das Schlußwort zum VIII. Heft
Aufschluß.
Danach hat die Religionsphilosophie die Aufgabe, den Glauben an Gott, Freiheit
und Unsterblichkeit vor der Vernunft zu rechtfertigen. Für die Leugner jeder
Offenbarung ist die Religionsphilosophie noch ungleich wichtiger als für die
Offenbarungsgläubigen, da sich religiöse Überzeugungen bei jenen natürlich nur
auf Vernunftgründe stützen können. „Vielleicht hängt damit das Interesse zu-
sammen, das unsere so skeptische Zeit an der Religionsphilosophie nimmt."
Was die Anlage betrifft, so heißt es: „Der Kreis der religionsphilosophischen
Gedanken ist in der vorliegenden Sammlung zweimal durchlaufen, einmal ausgehend
von Kant und dann ausgehend von Descartes." Näheren Aufschluß über diese
Bemerkung Uefert Heft VI, S. 1: „In einem ähnlichen Verhältnis wie Kant zu Fichte
und Herbart steht Descartes zu Spinoza und Leibniz. Wie Kants halber Idealismus
und halber Realismus in den ganzen Idealismus Fichtes und den ganzen Realismus
Herbarts übergehen mußte, so trägt die Philosophie des Descartes die Keime so-
wohl zum Monismus Spinozas wie zum Pluralismus von Leibniz in sich. Es ist
beidemal dieselbe Gedankenbewegung, das zweitemal nur weiter
und tiefer." Demnach würden innerhalb der Sammlung enger zusammengehören
einerseits die Hefte, welche Kant, Jacobi, die Schule Herbarts und den „absoluten
Idealismus", andererseits die, welche Descartes -Malebranche, Spinoza und Leibniz
behandeln. Eine Zwitterstellung würde Schleiermacher einnehmen, welcher zeitlich
zur zweiten, sachlich, da er „den Spinozismus in die Theologie eingeführt . . . hat",
mehr zur zweiten Gruppe gerechnet werden mußte. Weshalb bei diesem Plan nicht
mit Descartes begonnen ist, bleibt unklar. Auch weshalb die Scholastik und die
antike Philosophie unberücksichtigt geblieben sind, wird nicht gesagt.
Nach der Versicherung des Verfassers des Schlußwortes ist in der Sammlung
„nicht allein eine historisch-kritische Darstellung der Religionsphilosophie der Neu-
zeit enthalten, sondern auch eine positive Religionsphilosophie selbst",
„Alle einzelnen Punkte einer solchen sind, wenngleich nicht zusammenhängend,
sondern an verschiedenen Orten, zur Sprache gekommen; und wiederum ist jeder
einzelne Punkt nach allen Seiten hin erörtert, nicht allein, was darüber bisher von
den erleuchtetsten Religionsphilosophen gedacht ist, sondern auch, was überhaupt
darüber zu denken möglich ist." Der Verfasser ist nämlich überzeugt, daß
auf diesem Gebiet „schwerlich andere Gedanken oder auch nur andere Gedanken-
verbindungen" zu erwarten sind als die, „die bereits so vielfach erwogen und dar-
gelegt sind".
Die Verfasser der Hefte stehen für ihre Person auf dem Standpunkt Herbarts.
Besonders deutlich tritt dies in dem von O. Flügel selbst bearbeiteten Heft III („Die
Schule Herbarts") hervor, in welchem auch eine kurze Einleitung in die Religions-
philosophie gegeben wird. Bei Kant sei, wie Flügel richtig bemerkt, die Be-
antwortung der großen religiösen Fragen das eigentliche Ziel des Philosophierens
462 Religionsphilosophie in Einzeldarstellungen, angez. von W. Koppelmann.
gewesen. Herbarts Ziel war nach Flügel noch höher. „Was Kant als Ziel vor-
schwebte, war nach Herbart nur Mittel", nämlich Mittel zur sittlichen Erziehung.
Diese Auffassung sei auch in der Schule Herbarts stets herrschend geblieben. Er
schildert dann weiter, welchen Gang eine im Sinne Herbarts betriebene Religions-
philosophie zu nehmen habe. Daß Herbarts Philosophie für die Lösung aller ein-
schlägigen Probleme die beste Grundlage biete, ist für Flügel nicht zweifelhaft.
Für die Verteidigung der Existenz Gottes „bietet unsere Philosophie den
günstigsten Standpunkt". Auch ist „die persönliche Unsterblichkeit nach unseren
Prinzipien ungleich wahrscheinlicher als das Gegenteil". Ebenso dürfte bei der
Lehre vom Bösen „allein das System Herbarts den Anforderungen von selten des
Christentums entsprechen".
Auf den Inhalt der einzelnen Hefte, welche, von dem dritten abgesehen, sämtlich
von Thilo bearbeitet worden sind, kann hier natürlich nicht näher eingegangen,
werden. Nur mit der Darstellung der Kantischen Religionsphilosophie möchte ich
€ine Ausnahme machen, da dieselbe meinem Interesse und Verständnis am nächsten
liegt. Hier habe ich nun allerdings erhebliche Bedenken. Das ablehnende Urteil,
2U welchem Thilo gelangt, gründet sich nämlich auf eine meiner Ansicht nach
durchaus irrtümliche Auffassung der Erkenntnistheorie Kants einerseits, der Prinzipien
seiner Ethik andererseits. So sagt Thilo z. B. a. a, O. S. 18: „Wäre diese Ansicht
richtig, daß die Empfindungen gänzlich unverbunden gegeben würden, und daß
das menschliche Gemüt zunächst nur die beiden allgemeinen und unbestimmten
Formen des Raumes und der Zeit zu ihrer Aufnahme offen hielte, so würde man
nicht begreifen können, wie und wodurch dann die Empfindungen zu den indivi-
duellen Formen gelangten, in denen sie gegeben werden. Wir sind doch nicht
die freien Schöpfer der individuellen Gruppierung der verschiedenen Merkmale, noch
der individuellen räumlichen Gestaltung, noch der bestimmten Zeitfolge und Zeit-
dauer der Dinge, sondern sind im Auffassen der Gegenstände an diese ihre indivi-
duellen Formen vollständig gebunden; solange wir nämlich wirklich anschauen und
nicht etwa phantasieren." Und S. 20 heißt es: „Wenn wir eine Nachtigall hören,
so sollen wir nur die Töne selbst hören, der Rhythmus derselben soll aus
unserem Gemüt stammen? Wer mag's glauben?" Meines Wissens hat Kant
nie und nirgends etwas Derartiges behauptet, und deshalb sind die weitgehenden Fol-
gerungen, welche Thilo aus dieser vermeintlichen Lehre Kants zieht, völlig nichtig?
Die Frage der „Lokalisation" der Eindrücke in Raum und Zeit, um das Problem kurz
anzudeuten, bietet von Kants Standpunkt nicht mehr und nicht weniger Schwierigkeiten
als von jedem anderen, denn daß die räumlichen Bilder der Gegenstände und ihre
Lage, wenn die Außenwelt genau unseren Vorstellungen entspräche, nicht unmittel-
bar in unser Bewußtsein eintreten können, ist selbstverständlich. Kant hat sich
über die Frage der Lokalisation meines Wissens nirgends ausgelassen, aber von
seinem Standpunkt aus würde man etwa sagen, daß die Empfindungen, welche uns
gegeben werden, zugleich etwas an sich tragen, was uns veranlaßt, sie so oder so
zu lokalisieren, oder, mit anderen Worten, daß zwischen den Empfindungen Be-
ziehungen stattfinden, welche an sich nicht räumlich und zeitlich sind, aber von
uns ins Räumliche und Zeitliche übersetzt werden.
Wie das geschilderte Mißverständnis verhängnisvoll geworden ist für die Auf-
l
Goldene Klassiker-Bibliothek, angez. von A. Matthias. 463
fassung der transzendentalen Dialektik mit ihrer Kritik der Beweise für das Dasein
Gottes, so andere für die Lehre Kants von den Postulaten der praktischen Vernunft.
So meint Thilo z. B. : „Der erste Fehler liegt in dem zugrundeliegenden Haupt-
gesetze, daß aus der Gültigkeit seines Sittengesetzes auch die Möglichkeit seiner
Ausführung, oder kurz, daß aus dem Sollen auch das Können folge." Daß
»aus der Gültigkeit der sittlichen Ideen die Möglichkeit ihrer Realisierung
folge", wie Thilo sich im Anschluß an den zitierten Satz ausdrückt, ist aber durch-
aus nicht das, worauf die Kantische Lehre hinausläuft. Ich weise nur hin auf die
bekannte Stelle aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Ein jedes Wesen,
das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben-
darum in praktischer Hinsicht frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze,
die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, ebenso als ob sein
Wille, auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie für frei erklärt würde."
Was Kant beweisen will, ist dementsprechend nichts anders als daß jedes
vernünftige Wesen notwendig unter der Idee der Freiheit handle: „Nun
behaupte ich, daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig
auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle." Wie
sich dieser Grundgedanke zu den „Postulaten" verhält, welche gar keine Beweise
sein wollen, ist hier nicht möglich auseinanderzusetzen.
Selbstverständlich soll mit den Bedenken, welche gegen Thilos Darstellung
der Religionsphilosophie Kants erhoben sind, keinerlei Vorurteil gegen die übrigen
Hefte erweckt werden. Daß die Verfasser von Herbarts Standpunkt ausgehen,
daraus ist ihnen natürlich kein Vorwurf zu machen, von einer mit wissenschaftlichen
Untersuchungen unverträglichen Tendenz sind die Hefte, soviel ich sehe, völlig frei.
Die Sprache ist bei Flügel sowohl wie bei Thilo klar, und beide Verfasser sind
mit den in Betracht kommenden Fragen offenbar von lange her vertraut. Die
Ausstattung der Hefte ist vortrefflich.
Münster i. W. Wilhelm Koppelmann.
Goldene Klassiker-Bibliothek. Jean Pauls Werke. Auf Grund der Hempelschen
Ausgabe neu herausgegeben, mit Biographie, Einleitungen und Anmerkungen
versehen von Dr. Karl Freye. I. Lebensbild. Reise des Rektors Falbel. Schul-
meisterlein Wuz. XXXIII u. 77 S. II. Siebenkäs. 446 S. III. Titan. 739 S.
IV. Flegeljahre. 437 S. V. Schmelzles Reise nach Flätz. Dr. Katzenbergers
Badereise. 194 S. VI. Leben Fibels. 253 S. 6 Teile in 3 Leinenbänden 6 M.
In 3 Halbfranzbänden 9 M. Prachtausgabe in 3 Goldleinenbänden 9 M. Pracht-
ausgabe in 3 Luxus-Halbfranzbänden 12 M.
Hölderlins Werke. Herausgegeben, mit Biographie, Einleitungen und An-
merkungen versehen von Dr. M. Joachim! -Dege. I. Lebensbüd. Gedichte.
LXXXIII u. 308 S. IL Hyperion. 226 S. III. Empedokles. 115 S. IV. Die
Trauerspiele des Sophokles. Theoretische Schriften. 193 S. 4 Teile in 1 Leinen-
band 2,50 M. In 1 Halbfranzband 3,50 M. Prachtausgabe in 1 Goldleinenband
3,50 M. Prachtausgabe in 1 Luxus-Halbfranzband 4,50 M.
Novalis' Werke. Herausgegeben, mit Biographie, Einleitungen und Anmerkungen
versehen von Dr. Hermann Friedemann. I. Lebensbild. Gedichte. XLV u. 137 S.
464 Goldene Klassiker-Bibliothek,
II. Die Lehrlinge zu Sais. Heinrich von Ofterdingen. Entwürfe. 207 S.
III. Fragmente I. 247 S. IV. Fragmente II. Tagebücher. Aufsätze. 212 S.
4 Teile in 1 Leinenband 2 M. In 1 Halbfranzband 3 M. Prachtausgabe in
1 Goldleinenband 3 M. Prachtausgabe in 1 Luxus-Halbfranzband 4 M.
Tiecks Werke. Herausgegeben, mit Biographie, Einleitungen und Anmerkungen
versehen von Dr. Eduard Berend. I. Lebensbild. Gedichte. Die Freunde.
Der blonde Eckbert. Der getreue Eckart und der Tannenhäuser. Der Runen-
berg. Die Elfen. Der Pokal. Abraham Tonelli. Phantasien über die Kunst.
LXXVIII u. 280 S. IL Ritter Blaubart. Der gestiefelte Kater. Rotkäppchen.
151 S. III. Kaiser Oktavian. 279 S. IV. Die Gemälde. Der 15. November.
Das Zauberschloß. Des Lebens Überfluß. 246 S. V. Vittoria Accorombona.
284 S. VI. Kritische Schriften. 278 S. 6 Teile in 2 Leinenbänden 4,50 M.
In 2 Halbfranzbänden 6,50 M. Prachtausgabe in 2 Goldleinenbänden 6,50 M.
Prachtausgabe in 2 Luxus-Halbfranzbänden 8 M.
Für die Herausgabe von Jean Paul sind wohl wenige so berufen wie Karl
Freye. Es ist ein sehr glücklicher Griff, daß gerade ihm der so verschieden
beurteilte Dichter zugefallen ist. Von der genauen Kenntnis, die Freye von Jean
Paul besitzt, sehe ich ganz ab. Er ist vielmehr deshalb besonders der rechte
Mann, weil er zu denen gehört, die Jean Pauls wahre Eigenart immer richtiger
zu erkennen bemüht sind, die ihn wieder zu den ihm gebührenden Ehren
bringen, für die der Dichter wieder so lebendig wird, wie es sein muß, und
die ihn lieben, ohne für ihn von blinder Liebe erfüllt zu sein. Freye hat Jean
Paul für die Goldene Klassiker-Bibliothek nicht nur als ein nobile officium über-
nommen, um ihn in den Rahmen dieser Bibliothek aus literarischem Pflichtgefühl
einzufügen. Er steht nicht kühl dem Dichter gegenüber; sondern jede Zeile des
Lebensbildes, das Freye von Jean Paul gibt, zeugt von teilnahmvoller Wärme.
,Von wem soll die Rede sein? Sollen wir Worte sprechen, wie man sie vor
einem Könige herruft? Sollen wir den Weisen feiern, der allen Geheimnissen
menschlichen Wesens nachsann? Oder von dem Kauz reden, der in vergessenen
Büchern nachgrub und sein Bündel Exzerpte mit sich trug, wenn er zum Schrift-
stellern in das Häuschen vor dem Stadttor wanderte? Doch am besten wird es
sein, rein menschlich und herzlich zu sprechen; so wäre es Jean Paul, dem
sonderbaren, aber herzlichen Mann am liebsten gewesen," so beginnt Freye das
in knappen Zügen entworfene Lebensbild, und er schließt es mit den Worten:
»Viele Vorwürfe gegen seine Werke als Kunstwerke sind einzeln unwiderleglich:
aber sie hindern uns nicht, ein »trotzdem* auszusprechen. Einen solchen Mann
hat es nur einmal gegeben, und diese Tatsache wird siegreich bleiben." Das
stimmt, besonders für unsere Zeit, die so reich an Philistern ist, wie sie von altersher
so zahlreich gewesen sind, sind und sein werden, wie der Sand am Meere. —
Freye hat sich auf die Herausgabe der Dichtungen und zwar der besten be-
schränkt. Er selber empfindet es schmerzlich und wir mit ihm, daß nicht auch
die Vorschule der Ästhetik geboten werden konnte. Aber die gedrängte Auslese
gebot diese Beschränkung, sie hat auch wohl geboten, daß Quintus Fixlein nicht
aufgenommen ist, den man ebenfalls schmerzlich vermißt. Doch seien wir mit
dem Dargebotenen zufrieden, besonders weil es so meisterhaft ausgewählt und
angez. von A. Matthias. 46S
ausgeführt ist; denn die Anmerkungen erfüllen ihren Zweck in vollkommener
Weise, weil sie die fortlaufende Lektüre sehr schön unterstützen, den Inhalt aber
nicht mit störender Kritik unterbrechen, sondern diese, wie es sich gehört, den
Einleitungen überweisen, um von hier aus dem Leser die richtige Stellungnahme
zu seiner Lektüre zu geben.
Daß Hölderlin, dessen Bedeutung als Lyriker sehr nahe an die Goethesche
Lyrik heranrückt, der aber weicher und empfindsamer ist, einem weiblichen Heraus-
geber übergeben ist, scheint ebenfalls ein glücklicher Griff zu sein. Das Lebens-
bild trägt daher einen wohltuend nachempfindenden Charakter. „Ein feiner stolzer
Knabe hatte einst träumend und sinnend vom mondbeschienenen Waldesrand ins
große verheißungsvolle Dunkel des Menschenlebens hineingeblickt, — ein müder,
kranker Dichter, den das Leben zerbrechen, aber nicht hatte beflecken können,
saß jetzt still an seinem Fensterchen und trank zum letzten Male mit sterbenden
Augen den milden Glanz des Mondesfriedens in seine verlassene, schlummermüde
Seele. Dann legte er sich nieder und starb: einsam, wie er gelebt." Damit be-
zeichnet die Herausgeberin Anfang und Ende des Lebensbildes; was sie mit einem
Gedankenstrich andeutet, füllt sie aus mit einem umfangreichen Bilde, das Pauls
Lebensbild um 50 Seiten an Umfang übertrifft — mit gutem Recht. Denn zu
Hölderlins Leben gehören seine Briefe, die auch ausgenutzt sind und die man
nicht kürzen soll auf Kosten ihrer Wirkung, gerade bei diesem tiefangelegten ein-
samen Dichter, dessen Gedichte ja zwar sein Leben waren, dessen Briefe aber
dazugehören. — Daß die Sophoklesübersetzungen aufgenommen sind — andere
Ausgaben enthalten sie nicht — ist sehr zu billigen. Philologischen Ansprüchen
genügen sie ja nicht, als Übersetzungen sind sie keine Muster; aber in ihnen
zeigt sich etwas anderes: die gewaltige Lebenstragödie des Dichters Hölderlin ; es
zeigt sich hier der zarte, innerlich schon gebrochene Geist Hölderlins in engster
Berührung und inniger Verschmelzung mit dem gewaltigen, krafterfüllten, hell-
blickenden Geist des Sophokles, und eine Fülle wunderbarer Schönheiten ent-
quellen der eigenartigen Verbindung. Aus und hinter den Tragödien des ge-
marterten Ödipus und der „ zarternsten " sterbenden Antigone klingt die große
Tragödie eines deutschen Dichterlebens von ergreifender Gegenwärtigkeit und
Wirklichkeit. Man muß deshalb der Herausgeberin dankbar sein, daß sie uns die
Übersetzungen nicht vorenthalten hat. Die Anmerkungen sind knapp, inhaltreich,
belehrend und vielfach von anregender Kraft.
Daß Novalis, der Hölderlin äußerlich so ähnlich war wie ein Bruder dem andern
und der doch in seinem Dichten und Denken so sehr verschieden von jenem ist, in
einer durch das geschickte Lebensbild und die belehrenden Einleitungen des Her-
ausgebers zu den einzelnen Werken ansprechenden Ausgabe uns dargeboten
wird, ist erfreulich, umsomehr, als sie uns die überraschende Ähnlichkeit unserer Früh-
romantik mit der allerjüngsten deutschen Dichtungseigenheit an vielen Stellen
zeigt. Nur mit Unterschied. Dort wahrhafte, hier vielfach gemachte und animierte
Stimmung. Bei Novalis spricht das echt Kindliche in seinem Wesen an, bei den
Jüngsten stößt das Jungenhafte ab; dort ein .träumerisches Hinsterben", hier aber
ein frivoles Spiel und Kokettieren mit dem Leben, das für wertlos ausgegeben und
doch tatsächlich so kräftig ausgelebt wird. — Ein besonderes Verdienst der Aus-
Monat»chrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 30
466 Statuen deutscher Kultur,
gäbe sehe ich in der Art, wie die Fragmente von Friedemann wiedergegeben
sind. Strenge Literarhistoriker werden ja nicht zufrieden damit sein, daß die An-
ordnung nicht den Quellen entspricht, wie sie in den Sammlungen „Blütenstaub"
und , Glaube und Liebe" sich darbieten, sondern daß eine stofflich geordnete
Ordnung gewählt ist nach persönlichen, philosophischen, psychologischen, anthro-
pologischen, religiösen, historischen, ästhetischen, naturphilosophischen, physikali-
schen, medizinischen, mathematischen und magischen Einteilungsprinzipien. Da-
gegen wird ein weiteres Publikum dem Herausgeber dankbar sein für die Mühe,
die er sich gemacht. Der Reiz der Buntheit geht ja verloren; aber die Verständ-
lichkeit gewinnt, da die Fragmente sich gegenseitig edäutern und durch die Zu-
sammenstellung des Gleichartigen schon die Hälfte der Kommentierungsarbeit getan
ist. Und da vieles in den Fragmenten zu dem Feinsinnigsten und Tiefsten gehört,
was die deutsche Prosaliteratur an Sprüchen hervorgebracht hat und da wir hier
den sonst so weltfremden Romantiker als einen feinen Beobachter auch der wirk-
lichen Welt kennen lernen, so wird eine Anordnung allen willkommen sein, die
ohne große Wegschwierigkeiten die Schönheiten einer literarischen Wanderung ge-
nießen möchten.
Was die Ausgabe von Tiecks Werken anbetrifft, so hatte Tieck selber vor,
eine kritische Auswahl zu geben. Er ist nicht mehr dazu gekommen. Hätte er
es getan, so würde er vermutlich zu milde verfahren sein; so hat er es denn der
Nachwelt übedassen müssen, diese Kritik zu üben. Sie ist so hart ausgefallen,
daß kaum eins seiner Werke vor dem Urteil der Nachlebenden seine Stellung hat
behaupten können. Der Herausgeber ist nun bemüht gewesen, hier Gerechtigkeit
zu üben und er hat wohl recht daran getan, den komischen und humoristischen
Dichter ausgiebig zu Worte kommen, die Jugendwerke unberücksichtigt zu lassen,
den Dichtungen aus der romantischen Periode und denen der Dresdener Zeit
ungefähr gleich viel Platz einzuräumen und neben dem Dichter den Kritiker
gründlich zu berücksichtigen. Die Einleitungen rechtfertigen die Aufnahme oder
Fortlassung der einzelnen Werke und charakterisieren über die ausgewählten Stücke
hinausgehend die Hauptgattungen der Tieckschen Poesie im allgemeinen, so daß
wir dadurch ein Gesamtbild Tieckscher Dichtung bekommen. Dadurch wird das
Lebensbild wesentlich entlastet und zu flotter Lesbarkeit ausgestaltet.
Alles in allem — auch diese Bände der goldenen Klassikerbibliothek njachen
ihrem Namen, dem Verlage und den Herausgebern alle Ehre.
Beriin. A. Matthias.
Statuen deutscher Kultur, herausgegeben von Will Vesper. München,
C. H. Becksche Veriagsbuchhandlung (Oskar Beck). IX. Novalis' Märchen,
ausgewählt von Sulger-Gebing. geb. 1,60 M. X. Brentanos Gedichte,
ausgewählt von H. Todsen. geb. 1,80 M. XL Deutsche Gedichte des
17. Jahrhunderts, ausgewählt von Will Vesper, geb. 1,80 M. XII. Gessners
Idyllen, ausgewählt von Will Vesper, geb. 1,60 M. XIII. Die Geschichte
vonGisli dem Geächteten, aus dem Isländischen des 12. Jahrhunderts deutsch
von Friedrich Ranke, geb. 1,60 M. XIV. Jos. Frhr. v. Eichendorff,
Dichter und ihre Gesellen, Novelle, herausgegeben von Alexander
angez. von P. Lorentz. 467
V. Bernus. geb. 2,50 M. XV. Eichendorffs Gedichte, ausgewählt von
Will Vesper, geb. 1,20 M. XVI. Philipp Otto Runge, Gedanken und
Gedichte, ausgewählt und eingeleitet von Sulger-Gebing. geb. 1,80 M.
Die allgemein charakterisierende Würdigung dieser feinen und zeitgemäßen
Sammlung sowie die Einzelbesprechung der ersten acht Bände ist in der Monat-
schrift von 1908, Jahrg. VII, S. 51—53 gegeben. Die weiteren acht Bände, die
jetzt vorliegen, haben sich fast durchweg auf derselben Höhe gehalten, der Inhalt
vermag das Interesse dauernd rege zu erhalten. Mit Ausnahme von Bd. XIII, der
in die altnordische Zeit zurückgreift und von Bd. XI und XII, die das 17. bzw. 18.
Jahrhundert widerspiegeln, bilden die neuen Bände auch eine innere Einheit, da
sie alle ihren Inhalt der Romantik entnehmen. Es ist offenbar kein Zufall, daß
der Herausgeber die verschiedenen Seiten gerade dieser Kulturepoche gleichzeitig
in unseren Gesichtskreis treten läßt. Denn in unserer eigenen Zeit sind so mancherlei
Strömungen vorhanden, die Verwandtschaft mit dem Geist der Romantik auf-
weisen, also dem Stimmungsgehalt jener Epoche, soweit er zum künstlerischen
Ausdruck gekommen ist, verständnisvoller gegenüberstehen, als das in den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Fall sein konnte. Wieweit das auch eine
Gefahr sein kann, davon ist an dieser Stelle nicht zu sprechen. Es genügt hier,
daran zu denken, daß jene überreiche Zeit noch so manchen Keim enthält, den
unsere eigene Zeit zu gedeihlichem Wachstum zu führen bestimmt sein dürfte.
Das Interesse am Romantischen ist also keineswegs nur ein historisches, das wird
ohne Zweifel die starke Wirkung beweisen, die auch von diesen fünf neuen Bänden
ausgeht. Von Novalis bekommen wir in Bd. IX vier Märchen zu lesen, die alle
auf jenen pantheistisch- mystischen Ton gestimmt sind, der den Dichter so unver-
kennbar charakterisiert : Hyazinth und Rosenblütchen — Der Traum von der blauen
Blume aus dem Ofterdingen — Vom Dichter und der Königstochter — Das Märchen
vom Dichter Klingsohr, gleichfalls aus dem Ofterdingen. In allen kommt das
echt romantische Grundgefühl des Dichters, „dem alle Wesen klingen", zu wunder-
vollstem Widerhall, und zumal in dem letzten Märchen wird in phantasievollster
Form aus dem intuitiven Eindringen in das Wesen der Dinge ein ideales Weltbild
geschaffen, gewissermaßen „der Naturzustand der Natur, die Zeit vor der Welt,
die gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt liefert". — Die Aus-
wahl von Brentanos Gedichten in Bd. X hat den Vorzug, daß durch die Zusammen-
stellung in ungefähr chronologischer Reihenfolge die Entwicklung dieses allerindi-
viduellsten Romantikers überschaut werden kann; in den 50 Gedichten kommen
so ziemlich alle Töne zu Gehör, die diesem reichbegnadeten, ewig friedlosen
Dichter zu Gebote standen, von dessen im 20. Lebensjahr geschaffenen Liedern
Caroline Schlegel sagen konnte: »Sie schienen sich vor langer Zeit selbst
gemacht zu haben." — Bd. XIV und XV sind Eichendorff gewidmet, dessen
fünfzigjähriger Todestag im November 1907 manches zu erneuter und auch ver-
tiefter Würdigung den Dichters und Literaturhistoristorikers beigetragen hat. Der
von Vesper gegebene Überblick über sein Leben läßt die zwei so stark verschie-
denen Hälften seines Daseins, den romantischen Dichter und Offizier im Befreiungs-
kriege und den Kgl. preußischen Verwaltungsbeamten gut hervortreten. Die bis-
her unbekannten Gedichte, die die Sammlung enthält, sind doch nicht so bedeutend,
30*
468 Statuen deutscher Kultur, angez. von P. Lorentz.
wie der Herausgeber meint, man sähe an ihrer Stelle lieber alle die Gedichte, die
mit dem Namen Eichendorffs unzertrennlich verbunden sind, wie: „Wer hat dich,
du schöner Wald" — „Es war, als hätte der Himmel die Erde still geküßt" —
„Überm Garten durch die Lüfte" — „Wem Gott will rechte Gunst erweisen". —
Ein besonderes Verdienst ist es dagegen, die ganz vergessene Novelle Dichter
und ihre Gesellen zugänglich gemacht zu haben, die dem Taugenichts durch-
aus ebenbürtig ist, freilich aber, weil in reiferem Alter im Rückblick auf die so
romantische Jugendzeit geschrieben, in mehr bewußter Weise die Kunstmittel der
Darstellung handhabt. Man lebt da wie unter lauter Bildern von Meister Schwind,
Spitzweg, Kaspar David Friedrich, zuweilen auch unter solchen von Rottmann
mit ihren brillanten Beleuchtungen, Alle jene wohl vertrauten, stimmungsvollen
Requisiten der Romantik weben bei der Lektüre „um die gemeine Deutlichkeit
der Dinge den goldenen Duft der Morgenröte": Die mondbeglänzten Zaubernächte,
die verfallenen Schlösser und Klosterruinen, die Einsiedler in der Waldkapelle, die
Zigeuner und Komödianten, Entführungen und Verkleidungen. Und im Mittel-
punkt des Interesses das Schicksal von Dichtern und Musikanten, das sich bald
in verträumten, alten deutschen Kleinstädten abspielt, bald im Lande, wo die
Zitronen blühen. Und nur ganz leise, leise wie um den Zauber nicht zu stören,
schimmert einmal wie Wetterleuchten am fernen Horizont ein wenig von der „neuen
Zeit" herein. Ein eigenartiges ästhetisches Erlebnis widerfährt nach meiner Erfah-
rung dem, der etwa diese Eichendorffsche Novelle unmittelbar nach O. J. Bierbaums
neuestem Roman, dem Prinzen Kuckuck, liest, auch einem Zeitgemälde und auch in
der Form wie in Verwendung so mancher Darstellungsmittel „romantisch". Einen
besonderen Band dem Romantiker Philipp Otto Runge in XVI zu widmen,
wird manchem doch zu anspruchsvoll erscheinen. Zwar zeugen die in Grimms
Kinder- und Hausmärchen aufgenommenen, von Runge zuerst in dieser Form auf-
gezeichneten Märchen „Von dem Machandelboom" und „Von dem Fischer und syner
Fru" ohne Frage von echtem poetischem Geiste, aber die Gedichte lassen doch
nicht gerade eine besonders eigenartige, zu künstlerischem Ausdruck gelangte
Dichterpersönlichkeit erkennen. Der Maler bleibt doch in Runge die Hauptsache,
und der hat jetzt seit Lichtwarcks und Tschudis Bemühungen seinen unbestrittenen
Platz in der Entwicklung der Kunst des 19. Jahrhunderts erhalten. Darum steckt
nun auch' in den Gedanken über seine Kunst das eigentlich Wertvolle von Runges
Schriftstellerei. Darin ist denn der Romantiker ganz unverkennbar, daß er eine
organische Vereinigung von Kunst, Religion und Liebe anstrebt, daß er die Forde-
rung als unabweisbar stellt, es müsse hinter dem Kunstwerk die ganze harmonische
Persönlichkeit des Schaffenden stehen. Von besonderem Wert in kunstgeschichtlicher
Hinsicht sind dann noch Runges Forderung von dem selbständigen Recht der Farben
der Landschaft und seine Einsicht in die spezifische Ausdrucksmöglichkeit der Farben,
in die Bedeutung des Gegensatzes von Licht und Schatten: wie nahe daran war er,
die Bedeutung eines Rembrandt zu ahnen. Aber das alles scheint mir doch nicht
recht auszureichen, ihm auch eine eigene „Statue" im Saal der deutschen lite-
rarischen Kultur zu errichten. — In Band XI ist das Barockzeitalter unserer Lite-
ratur vertreten, soweit die Lyrik und zwar die Liebeslyrik in Frage kommt. Auf
eine Ehrenrettung Hoffmanns v. Hoffmannswaldau ist es Vesper besonders ange-
Schiller-Denkwürdigkeiten, angez. von P. Lorentz. 469
kommen. Sie kann auch als erreicht gelten, aber es bedurfte dazu nicht gerade
17 Gedichte. Denn dadurch sind Dichter wie Simon Dach zu kurz gekommen,
dessen Freundschaftslied „Ännchen von Tharau" in keiner Sammlung des 17. Jahr-
hunderts fehlen sollte. Gern begegnet man hier aber auch weniger gekannten
Dichtern wie Harsdörffer, Greflinger, Schirmer, Stieler. Das Vorwort führt gut
in den Charakter des Barockzeitalters ein. Die ganze Ausgabe wird dazu
beitragen, der Dichtung des 17. Jahrhunderts das unfreiwillig Komische, das
sie für viele noch immer hat, zu nehmen und sie richtiger einzuschätzen, wenn es
auch nicht allzuviel sein kann, was über den literatur- und kunstgeschichtlichen Wert
hinaus einen bleibenden Kunstcharakter beanspruchen darf. Auch aus der Schäfer-
welt des Rokokozeitalters ist für uns heute nur wenig mehr genießbar. Geßners
Idyllen gehören zu dem Wenigen. Zwar die antikische Einkleidung, die bewußte
und für klassisch gehaltene Nachahmung des schon nicht mehr naiv dichtenden
Theokrit können wir unmöglich mehr gelten lassen. Aber bei Geßner ist doch
die in der Einkleidung vorhandene Anmut und Zartheit und Keuschheit selbst
echt, wenn sie auch nicht gerade an der dem Dichter in natura zugänglichen
Schweizer Hirtenwelt studiert sein kann. Und echt sind vor allem auch die tat-
sächlich an seiner Heimat beobachteten Naturstimmungen, die selige Heiterkeit
und das Behagen am einfachen Landleben. Die Kleinmalerei mahnt zuweilen
direkt an Dürer und die Niederländer. — Am allerweitesten der Zeit nach ent-
fernt sich die isländische Erzählung von Gisli dem Geächteten aus dem 12. Jahr-
hundert in Bd. XIII. Diese älteste germanische Kunstprosa ist von erstaunlicher
Wirkung. Man muß in der deutschen Literatur schon bis ans Ende des 18. Jahr-
hunderts hinaufgehen, um etwas annähernd Ähnliches zu finden. Die Gestalt der
mündlichen Form, in der sich zuerst die Geschichte fortpflanzte, wird von dem
Herausgeber in das 10. Jahrhundert verlegt, das ihr zugrunde liegende Ereignis
fällt in das Jahr 964. Die Derbheit dieser bodenständigen Nordländer wirkt wie
ein erfrischendes Stahlbad, manches an der Gestalt des geächteten Helden Gisli
mahnt an den Hagen des Nibelungenliedes. Von zwingendem Eindruck ist die
Unerschütterlichkeit der Urform der Familienehre und des Geschlechterstolzes, die
Blutrache, als deren Opfer Gisli fällt, erhebend die Gattentreue seines Weibes Aud,
erstaunlich die Rücksichtslosigkeit der Tücken und Ränke des Helden. Die charak-
teristische Ausdrucksweise mit den Anspielungen, Verhaltenheiten, ihrer Treffsicher-
heit und dem grimmen Humor kommt in der Übersetzuug von Ranke gut zur
Geltung. Bedeutend ist auch der Gewinn in kunstgeschichtlicher Hinsicht für die
Kenntnis der Zeit des Überganges vom Heidentum zum Christentum. Diese
isländischen Geschichten, wie sie ja auch Artur Bonus uns wieder
erfreulich nahe gebracht hat, verdienen die allerweiteste Verbreitung,
sie sind schlechterdings mit nichts anderm zu vergleichen.
Schiller-Denkwürdigkeiten, für die deutsche Jugend gesammelt und herausgegeben
von Wilhelm von Buttlar-Elberberg. Dresden 1908. F. Emil Boden. Elegant
broschiert 0,40 M.
Schiller der deutschen Jugend nahebringen, heißt den tiefsten Wurzeln unseres
Volkstums Nahrung spenden. Als einen Nachklang der Schillerfeier von 1905 stellt
470 P- Cauer, Grundfragen der Homerkritik,
der Verfasser eine Fülle von Einzelheiten aus des Dichters Leben und Schaffen,
aus dem Kreise seiner Verwandten, der Personen seiner jeweiligen Umgebung
und dergl. zusammen. So entsteht ein vielfarbiges Mosaikbild, das vor allem dem
Menschen in Schiller gerecht wird, dem Dichter nur, so weit das Volk im weitesten
Sinne des Worts ihn verstehen kann. Es kommen dabei auch allerlei Anekdoten
zur Geltung, die recht hübsche Schlaglichter auf Personen und Verhältnisse werfen.
Die Beschreibung von Schillers Begräbnis, seinen Büsten und Bildern sowie Auer-
bachs Eindrücke von der Schillerfeier im Jahre 1859 bilden den Schluß. Für die
Jugend der Volksschule freilich, an die der Verfasser in erster Linie gedacht hat, ist
der Ton nicht durchweg geeignet, die wird mit dem „echten antiken Stil der
Schicksalstragödie" so wenig anzufangen wissen wie mit dem „historischen Kolorit".
Aber Schiller als Idealist und Sozialist wird in der vorliegenden Darstellung auch
ihr verständlich werden. Das anspruchslose, aber wirksam geschriebene Heft
schmücken sieben wohlgelungene Abbildungen, die teils berühmte Schillerstätten,
teils Szenen aus des Dichters Leben darstellen; nur das Geburtshaus in Marbach
mußte nach einer andern Vorlage gegeben werden. Die Schrift verdient Verbreitung,
sie wird Schiller viele Herzen gewinnen, selbst dem Lehrer an höheren Schulen kann
sie so manchen hübschen Fingerzeig zur Verlebendigung der Größe des Mannes
geben, der „sein eigener Bildener und Schöpfer, durch der Tugend Gewalt selber die
Parze bezwang".
Friedeberg Nm. Paul Lorentz.
Cauer, Paul, Grundfragen der Homerkritik. Zweite, stark erweiterte und z. T.
umgearbeitete Auflage. Leipzig 1909. S. Hirzel. 552 S. 8<^. geh. 12 M., geb.
13,35 M.
Eine staunenswerte Arbeit steckt in dem umfangreichen Buche; und man
kann dem Verfasser nicht dankbar genug sein, daß er die unsägliche Mühe nicht
gescheut hat, all dem, was über Homer Maßgebendes und Unmaßgebliches er-
dacht und gesagt worden ist, nachzugehen, es zu sichten und zu ordnen, um
es zu großen kritischen Referaten zusammenzuarbeiten. Er behandelt auf 180 S.
zunächst Textkritik und Sprachwissenschaft (Aristarch, Pisistratus, Äolismen), so-
dann auf 170 S. den Inhalt (historischer Hintergrund der Ilias, geographischer der
Odyssee, Kulturstufen und Göttergestalten), schließlich wieder auf 180 S. die
Fragen über den Dichter und seine Kunst (Homerischer Stil, Grenzen und Be-
rechtigung der Kritik). Den Schluß bildet ein wertvolles Register.
Die Fülle des Gebotenen ist geradezu überwältigend. Man spürt durchweg
das redliche Bemühen, allen Ansichten gerecht zu werden, nach Kräften zu ver-
mitteln und selbst aus den kühnsten Hypothesen etwas Brauchbares zu retten.
Dies gih besonders solchen Theorien gegenüber, die durch Neuheit und Kühnheit
überraschen und blenden. Zu dem im übrigen besonnen abwägenden Charakter des
Buches paßt der Standpunkt schlecht, den Cauer Dörpfelds neusten Hypothesen gegen-
über einnimmt. Er bringt es über sich, zu glauben, daß in Leukas wirklich das ur-
sprüngliche Ithaka wiedergefunden sei, obgleich er S. 255 bekennen muß, daß
diese Hypothese „statt befriedigender Lösung neue Rätsel" bringt. Noch erstaun-
licher ist, daß er auch Dörpfelds Totenröstungshypothese zustimmt, und das nicht
angez. von G. Lang. 471
nur ohne Einschränkung, sondern noch mit dem gänzlich unangebrachten Kom-
pliment, „daß man sich beschämt fühlt, es nicht ohne ihn gefunden zu haben"
Nach der glänzenden Widerlegung, die Dörpfeld u. a. von Rouge (Südwestd.
Schulbl. 1907 No. 9 u. 10 und besonders 1908 No, 10) erfahren hat, sollte man
eine solche Entgleisung nicht für möglich halten. Wenn es schon in diesen Fragen
sichtlich an der nötigen Objektivität fehlt, darf man sich nicht wundern, wenn
Cauer auch seine eigenen Lieblingstheorien, so den thessalischen Ursprung der
Ilias, mit voller Einseitigkeit vertritt: er bringt es fertig, sogar die Gestalt des
Agamemnon von Argolis loszureißen und Thessalien zuzuweisen und im Lauf
der Erörterung diese Gewalttat wie ein gesichertes Ergebnis der Wissenschaft zu
verwerten (S. 433).
Die schwersten Anstöße finden sich in der ersten Hälfte des Buchs, die über-
haupt weniger zu fesseln und zu überzeugen vermag. Man gewinnt im ganzen
aus Cauers Darstellung ein ungünstiges Bild vom gegenwärtigen Stand der Homer-
kritik. Seit mehr als 100 Jahren stellen sich die Gelehrten immer kühnere Fragen
über Homer und die unter seinem Namen überlieferten Gedichte, und mit den
Antworten sind sie auch nicht verlegen. Es leitet sie dabei einerseits ein unbe-
grenztes Mißtrauen gegen alle überlieferten Nachrichten und Vermutungen, andrer-
seits eine maßlose Überschätzung ihres eigenen Scharfsinns und Wissens. Jede,
auch die windigste Hypothese findet Gläubige, freilich um bald wieder von einer
neuen, nicht besser und nicht schlechter begründeten abgelöst zu werden. In
dem Chaos der Möglichkeiten ist aber nicht eine sichere und klare Antwort auf-
getaucht, die irgend auf allgemeine und dauernde Anerkennung rechnen dürfte.
Noch immer ist alles im Fluß, und noch ist keine Aussicht, daß sich die auf-
geregten Fluten so bald beruhigen werden. Und doch ist es höchste Zeit, daß
die Homerphilologie sich wieder ihrer Grenzen bewußt wird, daß sie einsieht,
wie die geistreichste Theorie, wenn sie selbst wieder lediglich nur auf Theorien
gegründet ist, gar keinen wissenschaftlichen Wert hat, und weder Zeit noch Mühe,
ja nicht einmal die Druckerschwärze lohnt, die darauf verwendet wird.
Bei diesem harten Urteil möchten wir jedoch Cauers Buch ausnehmen. Schon
dieses negative Resultat herausgestellt zu haben ist ein großes Verdienst; es weckt
doch vielleicht das wissenschaftliche Gewissen der beteiligten Kreise und ruft der
wilden Hypothesenmacherei ein entschiedenes »Bis hierher und nicht weiter!" zu,
wenn auch der Verfasser, selbst noch allzusehr von dieser Art Homerkritik ge-
blendet, dies nicht ausdrücklich getan hat. Deshalb ist und bleibt das Buch, bei
aller Breite und trotz des Mangels an greifbaren Ergebnissen, doch für jeden
lesenswert, der sich mit den homerischen Fragen auseinanderzusetzen hat. Ganz
besonders ansprechend ist in der zweiten Hälfte das 3. Buch; was hier über
homerischen Stil, über die Natur naiver Dichtkunst gesagt ist, kann nicht oft ge-
nug eingeschärft werden; auch der Charakter der beiden Epen ist meisterhaft
entwickelt. Cauer zeigt hier selbst den richtigen Weg, auf dem allein etwas Er-
sprießliches über Homer gefunden werden kann, die liebevolle Versenkung in die
Eigenart der homerischen Gedichte; viel verstehen heißt auch hier viel verzeihen.
Stuttgart. Gustav Lang.
472 ^- Jaiell, Ausgewählte Inschriften, griechisch und deutsch,
Janell, Walther, Ausgewählte Inschriften, griechisch und deutsch. Mit
einer Titelvignette und drei Abbildungen. BerUn 1906. Weidmannsche Buch-
handlung. VIII u. 148 S. 4 M.
Der Bearbeiter dieses Buches hat sich eine ähnliche Aufgabe gestellt, wie einst
der englische Gelehrte Charles Thomas Newton, dessen zwei Aufsätze über „die
griechischen Inschriften", von Imelmann aus dem Englischen übersetzt, im Jahre 1881
erschienen sind. Nichtphilologischen Lesern soll eine Vorstellung davon gegeben
werden, eine wie reiche Quelle geschichtlicher und kulturgeschichtlicher Erkenntnis
wir in den Inschriften besitzen. In zwei Hauptgruppen — Urkunden aus dem
öffentlichen Leben, Urkunden aus dem religiösen Leben der Griechen — werden
im ganzen 230 Nummern vorgeführt. Für jede einzelne sind griechischer Text
(ohne Andeutung von Korrekturen oder Ergänzungen) und deutsche Übersetzung
nebeneinander gestellt. Erläuterungen finden sich teils als Noten am Fuß der
Seiten, teils verarbeitet in einen zusammenhängenden Text, der das ganze Buch
durchzieht, und in den die Inschriften selbst eigentlich nur als Beispiele eingelegt
sind. Diese Anordnung ist keine glückliche. Besser wäre es gewesen, beides zu
trennen: die Proben, die geboten werden sollten, übersichtlich zu gruppieren, jeder
einzelnen so viel an Erläuterung, als notwendig schien, hinzuzufügen und in einem
für sich stehenden, lesbaren Aufsatz die verschiedenen Arten von Inschriften und
die Methode ihrer Benutzung zu schildern. So wie es jetzt ist, kommt keine Seite
ganz zu ihrem Rechte; weder die Texte, die nicht klar geordnet sind und für die
man das zur Erklärung Gesagte unbequem zusammensuchen muß, noch vollends
die zusammenfassende Darstellung, die, um alle einzelnen Stücke in ihren Rahmen
zu fassen, manchmal seltsame Wendungen und Sprünge machen muß. Bald ist die
Zeitfolge, bald eine sachliche Beziehung, bald sprachliche Ähnlichkeit oder Ver-
schiedenheit (S. 38, 52), bald irgendein ganz nebensächlicher Anknüpfungspunkt
(S. 19) benutzt, um den Übergang zu vermitteln. Die Geschicklichkeit, mit der
die Rede sich hindurchschlängelt, so daß der Eindruck eines Zusammenhanges
erzielt wird, kann man bewundern, mag aber doch wünschen, daß diese Kraft
lieber der lohnenderen Aufgabe dienstbar gemacht worden wäre, den reichen Stoff
sachgemäß zu ordnen und in einem wirklich zusammenhängenden Vortrag von
Gedanken darüber die innere Gliederung deutlich hervortreten zu lassen.
Ob durch die Rücksicht auf einen Übergang hier und da auch die Auswahl be-
einflußt worden ist, läßt sich nicht sicher sagen; man müßte, um darüber zu urteilen,
wissen, wie weit das überhaupt in Betracht kommendeMaterial dem Verfasser vollständig
vorgelegen hat. Einiges von dem, was ich über das Fehlen lehrreicher Stücke bei
Newton vor 27 Jahren bemerkt hatte (Philol. Anzeiger 1882, S. 451 f.), könnte ich
hier wiederholen. Im ganzen hat Janell einmal Athen zu sehr bevorzugt, und dann,
in Athen wie draußen, die spätere Zeit. Abgesehen von dem sprachlichen Interesse,
das Dialekt-Inschriften bieten, ist es doch auch für das politische Leben der
Griechen höchst bezeichnend, wie zähe sie in öffentlichen Urkunden die Mundart
festhalten und wie treu in dieser Beziehung die Kolonien dem Brauche der Mutter-
stadt folgen. Unter 230 Nummern sind nur etwa 60 mundartliche, und von diesen
wieder der größte Teil entweder von ganz geringem Umfang oder mit nur schwachen
Spuren des Dialektes. An Hauptstücken dieser Art ist eigentlich nur eins gegeben,
angez. von P. Cauer. 473
Nr. 42 (=GDI. 1149), der Vertrag zwischen Eleern und Heräern (wie Janeil mit
Boeckh wieder schreibt), den auch Newton übersetzt hatte. Von den Volksbe-
schlüssen der Larisäer (G D I. 345) sind einige Sätze aus dem zweiten Briefe König
Philipps (214 V. Chr.) mitgeteilt (Nr. 56), während hier durch vollständigen Abdruck
des Textes, wenn auch ohne das ganze Verzeichnis der neuen Bürger, zugleich
von dem Verhältnis des Makedonenkönigs zu der griechischen Stadt und von der
Beschaffenheit des äolischen Dialektes in Thessalien eine Anschauung gegeben werden
konnte. Von delphischen Freilassungsurkunden hätten sich leicht charakteristischere
Beispiele finden lassen als die beiden aufgenommenen (Nr. 145, 146), die wohl nur
den Vorzug der Kürze hatten. Daß von der parischen Marmorchronik bloß eine
kleine Probe Platz gefunden hat, wird jeder billigen (Nr. 55). Freigebig behandelt
sind die Orakelfragen von Dodona (Nr. 163—169), die ja wirklich einen über-
raschenden Einblick in antikes Kleinleben gewähren. Schade nur, daß der Verfasser
nicht den Versuch gemacht hat, die Unbeholfenheit der Sprache in der Übersetzung
zum Ausdruck zu bringen; vielmehr die wunderlichen Verrenkungen des Satzbaus
in korrektem Deutsch verschwinden läßt. Z. B. Nr. 166 (= G D I. 1573) : 'H aixoc
Tterajisvo? tav s([x) ttoXi otxi'av xal zb -/(opt'ov ßeXTto'iJL [xoi x'eiVj xal TtoKu cucpeXs-
(<3)-s(p)ov. Das heißt doch nicht: „Ob es für mich vorteilhaft und nutzbringend ist,
das Haus in der Stadt und das Grundstück zu kaufen", sondern etwa: „Ob ich,
wenn ich das Haus in der Stadt und das Gründstück selber besäße, besser für mich
wäre und viel nützlicher." — Von verwandter Art sind die an die dodonäischen
Täfelchen sich anschließenden Heilungsberichte aus Epidauros, auch sie zahlreich
vertreten (Nr. 170—177).
Von historisch wichtigen Dokumenten, die der Sammlung eingereiht sind, sei
die Inschrift der Schlangensäule erwähnt (Nr. 128). Ein paar athenische Volksbe-
schlüsse (z. B. Nr. 20 u. 24) führen in die letzten schlimmen Jahre des pelo-
ponnesischen Krieges; ein anderer, vom Herausgeber mit Recht hervorgehoben
(Nr. 45), enthält die Bedingungen des zweiten attischen Seebundes, 377 v. Chr.
Dazwischen stehen u. a. ein Ehrendekret der Erythräer für Konon den Sieger von
Knidos (Nr. 23), ein athenisches für den Päoner-König Audoleon aus dem Jahre
286 (Nr. 25), die Aufschrift eines Standbildes, das der achäische Bund dem Königs-
sohne Attalos von Pergamon errichtet hatte (Nr. 28), ein hundert Jahre älterer
Beschluß der Athener zu Ehren eines Philippides, der als Freund des Königs Ly-
simachos von Thrakien der Stadt gute Dienste geleistet hatte (Nr. 32) usw. Auch
die Zeit der beginnenden Römerherrschaft und weiter die Kaiserzeit sind durch
reichliche Proben erläutert. Im ganzen empfindet man immer wieder bei der Lek-
türe, was schon zu Anfang gesagt wurde, daß es besser gewesen wäre, die hi-
storisch verwertbaren Stücke auch historisch zu ordnen und eine zusammenfassende
Besprechung der dem Inhalte nach ähnlichen gesondert zu halten. Für gottesdienst-
liche Einrichtungen und Gebräuche und daneben für das Privatleben würden sich
dann wohl kleinere, leicht überschaubare Gruppen ergeben haben, während jetzt ein so
prächtiges Stück wie der auf Blei geschriebene Brief eines Atheners Mnesiergos
an seine Familie in einer Anmerkung hat untergebracht werden müssen (52a), weil
er sich dem System nicht fügte. Auch die Grabschriften sind in das Kapitel „Ur-
kunden aus dem religiösen Leben" doch zum Teil etwas willkürlich eingeordnet
474 H. Luckenbach, Kunst und Geschichte, angez. von P. Brandt.
Viele von ihnen tragen rein privaten Charakter, namentlich die Mehrzahl der me-
trischen (Nr. 200 ff.), deren reiche Auswahl, meist mit sehr freier doch geschmack*
voller Übersetzung, an sich nur willkommen geheißen werden kann.
Auch im ganzen wird das Buch gewiß manchem Leser Freude machen und
Anregung bringen. Möchte der Verfasser bald Gelegenheit bekommen, bei einer
neuen Auflage die hier angedeuteten Änderungsvorschläge in Erwägung zu ziehen.
Münster i. W. Paul Cauer.
Luckenbach, H., Kunst und Geschichte, I. Teil, Abbildungen zur alten
Geschichte. 7. vermehrte Aufl. München und Berlin 1908. R. Oldenbourg.
120 S. 4°. geh. 1,70 M., geb. 2 M.
Das erste Heft des an dieser Stelle vielfach gerühmten Werkes ist von dem
unermüdlichen Verfasser auf Wunsch des Verlegers um einen Bogen vermehrt
worden, der ihm gestattete, die ägyptische und mesopotamische Kunst zu berück-
sichtigen und die ägäische zu erweitern. Das Heft hat damit wohl seine endgültige
Gestalt gewonnen.
Wickenhagen, Ernst, Leitfaden für den Unterricht in der Kunstgeschichte
der Baukunst, Bildnerei, Malerei und Musik. 12.Aufl. Mit 325 Abbildungen.
Esslingen, Paul Neff Verlag. 336 S. 8». Geb. 3,75 M.
Das gut illustrierte Buch wird auch in der neuen Auflage seinem Zweck, die
Ergebnisse des Unterrichts kurz zusammenzufassen und zur Wiederholung sowie
als Nachschlagebuch zu dienen, vollauf gerecht.
Bonn. Paul Brandt.
Swoboda, H., Griechische Geschichte, (Sammlung Göschen 49). Dritte Aufl.
Leipzig 1907. G. J. Göschen. 194 S. 8«. geb. 0,80 M.
Der Kreis, in dem der vorliegende Band der „Kleinen historischen Bibliothek*
aus der Sammlung Göschen seine Leser suchen wird, ist derselbe, den ich bei
Besprechung der römischen Geschichte aus derselben Sammlung (Monatschrift VII,
214) gekennzeichnet habe. Es mag daher in dieser Monatschrift genügen, auf die
Neuauflage des Werkchens hingewiesen zu haben. Eines Werkchens, das übrigens
an Zuverlässigkeit im einzelnen und in der Auffassung der geschichtlichen Ent-
wicklung dem oben genannten Buche überlegen ist, das freilich auf der andern
Seite die — wenn auch absichtliche — Vernachlässigung des geistigen Lebens des
einzelnen wie der Gesamtheit noch mehr vermissen läßt als jenes, und zwar in
demselben Maße, in dem das altgriechische Volk die Römer an Bedeutung für die
Menschheit gerade auf dem genannten Gebiete übertrifft.
Elberfeld. Wilhelm Meiners.
Günther, Sigmund, Geschichte der Mathematik. 1. Teil. Von den ältesten
Zeiten bis Cartesius. Sammlung Schubert XVIII. Leipzig 1908. G. J. Göschen.
VI u. 427 S. 80. 9,60 M.
Auf den Wert, den die Berücksichtigung der Geschichte der Mathematik für
den Unterricht besitzt, ist schon wiederholt hingewiesen worden. Sehen die Schüler,
S. Günther, Geschichte der Mathematik, angez. von H. Thieme. 475
welches Interesse den mathematischen Fragen zu allen Zeiten entgegengebracht
worden ist, z. B. von führenden Philosophen wie Thaies, Pythagoras, Plato,
Descartes, Leibniz, Kant, erfahren sie, in welchem Maße die Fortschritte der
Technik ebenso wie die Ausbildung der jeweiligen Weltanschauung von den
mathematischen Forschungen abhängig gewesen sind, so werden sie ein einiger-
maßen richtiges, wenn auch immer noch unvollkommenes Bild von der Bedeutung
der Mathematik als Kulturfaktor gewinnen.
Der Lehrer, der diesen Anschauungen gemäß seinen Unterricht einrichten will
ist jetzt in einer bei weitem glücklicheren Lage als vor wenigen Jahren. Für
tiefer gehende geschichtlich-mathematische Studien besitzen wir jetzt die für lange
Zeit grundlegenden Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik von
M. Cantor und für den unmittelbaren Gebrauch beim Unterricht die Geschichte
der Elementar-Mathematik von J. Tropfke.
Daneben bleibt aber noch bestehen das Bedürfnis nach einer Geschichte der
Mathematik, die nicht ein so langwieriges Studium erfordert wie das umfangreiche
Werk von Cantor, anderseits aber doch in die Entwicklung der Mathematik bei
den einzelnen Völkern und in die geistigen Strömungen, die mit dieser Entwicklung
verbunden waren, einen tieferen Einblick gewährt als die Darstellung Tropfkes,
der sich für seine besonderen Ziele sehr zweckmäßig eng an die einzelnen Lehren
der Elementar-Mathematik anschließt.
Diesem Bedürfnis will die vorliegende, in der Sammlung Schubert erscheinende
Geschichte der Mathematik entgegenkommen.
Das Werk ist auf zwei Bände berechnet. Den ersten Band, der die Geschichte
der Mathematik im Altertum und im Mittelalter behandelt, hat den bekannten
Münchener Geophysiker Sigmund Günther zum Verfasser, der namentlich in
früheren Zeiten, als er noch nicht die geographische Professur inne hatte, sich
mehrfach mit Geschichte der Mathematik, insbesondere auch mit Fragen des
mathematischen Unterrichts im Mittelalter beschäftigt hatte und nun gern zu seinen
früheren Studien zurückgekehrt ist. Den zweiten Teil, die Geschichte der Mathematik
in der Neuzeit, sollte Anton v. Braunmühl liefern, der sich durch seine Geschichte
der Trigonometrie um diesen Teil der Wissenschaft so große Verdienste erworben.
Hoffen wir, daß wir trotz des frühen Todes dieses hervorragenden Forschers auf
ein baldiges Erscheinen des 2. Bandes rechnen können.
Der vorläufig vorliegende erste Band verfolgt die Entwicklung der Mathematik
von den Uranfängen der Kultur an, gibt anschauliche Schildeiungen der Mathematik
bei den Mesopotamiern, Ägyptern, Chinesen, Indern früherer und späterer Zeiten,
Griechen, Römern, Arabern, im kirchlichen und höfischen Schulwesen des Mittel-
alters, zeigt die Anbahnung neuerer Anschauungen durch Forscher -wie Lionardo
Pisano, Peurbach, Regiomontan, Clavius u. a., schildert die Auffindung der Lösung
kubischer und biquadratischer Gleichungen durch Scipione del Ferro, Cardano»
Tartaglia, Ferrari, die Forschungen von Girard, Harriot, Vieta über die Wurzeln
algebraischer Gleichungen, die Entdeckung der Logarithmen durch Bürgi, Napier,
Briggs, die geometrischen Arbeiten von Vieta, Oresme, Ludolf, Adrian Metius u. a.
Der Band verfolgt die geschichtliche Entwicklung bis zum Jahre 1637, dem Jahre
des Erscheinens der Geometrie von Descartes, von dem aus ganz neue Gedanken-
476 A. Ladenburg, Naturwissenschaftliche Vorträge, angez. von E. Dennert.
reihen, namentlich die Gedanken, die zur Ausbildung der Differential- und Integral-
rechnung führten, Gegenstand mathematischer Forschung werden.
Die Behandlung des Stoffes ist überall ausreichend ausführlich, so daß der
Leser ein wirklich anschauliches Bild der jeweiligen Epoche der Geschichte der
Mathematik erhält. Die Darstellung ist durchsichtig klar und geeignet, den Leser
dauernd zu fesseln. Zitate sind dem Texte nicht beigegeben, dafür sind am
Schlüsse die wichtigsten Literaturnachweisungen beigefügt und diese nach den
einzelnen Kapiteln geordnet.
Das Werk kann den Fachgenossen für die eigene Bücherei empfohlen werden.
Posen. H. Thieme.
Ladenburg, Albert, Naturwissenschaftliche Vorträge in gemeinverständ-
licher Darstellung. Leipzig 1908. Akademischer Verlag. 264 S. 8». 9 M.
Der Breslauer Chemiker veröffentlicht in diesem Bande eine Reihe von Vor-
trägen über chemische Dinge, die er in dem Lauf der Jahre gehalten hat, z. B.
über die Fundamentalbegriffe der Chemie, die chemische Konstitution der Materie,
die Aggregatzustände, die 4 Elemente des Aristoteles, das Ozon, das Radium und
anderes mehr. Der Leser wird angenehm und leicht durch diese Abhandlungen in
die betreffenden Fragen eingeführt. Schade ist, daß der Verfasser zum Schluß
auch seine viel besprochene Rede auf der Kasseler Naturforscher-Versammlung
„Über den Einfluß der Naturwissenschaften auf die Weltanschauung" mit aufnahm,
um, wie er selbst sagt, zu zeigen, daß er heute auch noch ebenso steht. Er gibt
ihr auch einen Epilog. So wenig er damals mit seiner Rede Ruhm erntete, so
wenig wird er es heute tun, zumal der Epilog zeigt, daß er auch heute noch nicht
seine offenkundigen Fehler einsieht; denn er hält unglaublicherweise jene Rede
auch heute noch für „rein wissenschaftlich" und glaubt, er habe mit ihr die Grenzen
der Wissenschaft in keiner Weise überschritten. Dies letztere würde nur dann
richtig sein, wenn Ladenburg als Naturforscher sich lediglich auf den unbedingt
richtigen Satz beschränkt hätte, daß man die Natur so erforschen müßte, als ob es
keinen Gott gäbe ; allein statt dessen hat er seine atheistischen Sätze als direkte
Folgerungen der naturwissenschafrlichen Forschung hingestellt, und das ist nicht
nur eine sehr grobe Grenzüberschreitung, sondern auch ein schwerer logischer Fehler.
Auf die Frage, die in seinem Thema liegt, kann es nur eine klare und wahre Ant-
wort geben: Die Naturwissenschaft ist in Weltanschauungsfragen völlig neutral.
Ladenburgs Folgerungen entsprechen seinen aufallenden Mißverständnissen auf
religiösem Gebiet. Der Tenor im Anfang seines Vortrages kennzeichnet diesen
schon zur Genüge. Er sagt dort: ,Im L Buch Moses steht zu lesen: Gott sprach:
Es werde Licht. Und es ward Licht. Hell in den Köpfen ward es aber erst, als
die Heiligkeit der Bibel bezweifelt und sie wie alle Bücher als Menschenwerk an-
gesehen wurde." — Solche Plattheiten sollte sich ein ernster Naturforscher nicht
leisten. Die kurze im „Epilog" gegebene Verteidigung Ladenburgs ist ebenso
matt wie unzureichend.
A. Dippe, Naturphilosophie, angez. von E. Dennert. 477
Dippe, Alfred, Naturphilosophie. Kritische Einführung in die modernen Lehren
über Kosmos und Menschheit. München 1907. C. H. Becksche Verlagsbuch-
handlung. IX u. 417 S. 8°. geb. 5 M.
Eine recht brauchbare „Naturphilosophie". Der Standpunkt des Verfassers ist
ein transzendentaler Realismus, er ist dualistischer Theist. Mit großer Ruhe und
Sachlichkeit, auch recht klar, entwickelt er seine Probleme, zuerst die Grundbegriffe
der Naturwissenschaft, dann die Entwicklungslehre und die Naturreiche. Am
Schluß fügt er metaphysische Betrachtungen an über den menschlichen Geist und
den Weltgeist. Es ist schade, daß er im vorletzten Abschnitt über den menschlichen
Geist durchaus nicht konsequent bleibt, sorKlern — während er z. B. die
Eigenart des Lebens scharf betont — hin- und herschwankt und die Eigenart
des Geistes mit ihren Konsequenzen nicht recht anerkennt. Ein folgerichtiger
Dualismus ist dies nicht, und man hat unbedingt den Eindruck, daß den Verfasser
wohl der Wunsch, nicht aber der Verstand hier zum Dualismus hinzieht, mit
welchem Recht ist hier nicht zu erörtern.
Lodge, Sir Oliver, Leben und Materie. Haeckels Welträtsel kritisiert. Berlin
1908. K. Curtius. 150 S. 8«. 2,50 M.
Neben den Petersburger Physiker Chwolson tritt hier sein berühmter englischer
Fachkollege auf den Plan, um die Haltlosigkeit der Grundlagen des Haeckelschen
Monismus klar und gut nachzuweisen. Das ist mit Dank zu begrüßen. — Allein
das interessante und anregende Buch bietet noch mehr, nämlich den Nachweis,
daß es in den Vorgängen auf der Erde eine besondere Leitung und Richtung
gebende Kontrolle gibt und daß das, was wir Leben nennen, nicht etwa eine mate-
rielle Energie ist. Lodge ist Vitalist und Dualist. Die Übersetzung ist gut.
Günther, Konrad, Rückkehr zur Natur? Eine Betrachtung über das Verhältnis
des Menschen zur Natur. Leipzig 1907. J. A. Barth. 72 S. 8«. 1,20 M.
Die „Rückkehr zur Natur" wird heute vielfach gepredigt. Der Verfasser (Privat-
dozent der Zoologie) der vorliegenden Schrift behandelt sie von einem besonderen
Gesichtspunkt aus, der zwar manchen Widerspruch hervorruft, aber doch des Inter-
essanten genug bietet. Er ist nämlich ein ziemlich einseitiger Darwinianer und
spricht als solcher der Selektion eine Bedeutung zu, die sie nicht verdient. Die
Kultur hat es nun mit sich gebracht, daß der Mensch sich dieser Selektion entzogen
hat. Die Folge ist ein Umsichgreifen von Krankheiten usw. Wenn man auch
die Selektion als neue Arten schaffendes Prinzip ablehnt, so ist dieser Gedanke in
bezug auf den Menschen freilich richtig, weil bei ihm keine Auslese die Schwachen
und Kranken von der Fortpflanzung ausschließt. Hier zeigt es sich eben sehr deut-
lich, daß die Selektion nicht neu organisierte Arten, sondern höchstens stärkere
schaffen kann.
Der Verfasser glaubt, daß sich der Mensch durch Naturzüchtung aus einem
mit geringem Verstand begabten Wesen entwickelte. Beim Menschen mit höherem
Verstand brauchte die Naturzüchtung hauptsächlich nur ihn weiter zu züchten,
da der Verstand die Weiteranpassung des Körpers bis zu einem gewissen Grade
selbst besorgt. Die Auslese ist also beim Menschen einseitig. Dies ist natürlich
alles rein hypothetisch und auch das Beispiel, das der Verfasser vom Urmenschen
478 A. Frank, Die Erkenntnis Gottes durch die Natur, angez. von E. Dennert.
anführt, ist es durch und durch. Immerhin ist wohl des Verfassers Resultat richtig:
daß die klügeren Völker im allgemeinen (aber durchaus nicht immer!) erhalten
bleiben.
Nun ist die Kultur das Werk des Verstandes, und Rückkehr zur Natur ist daher
Verzicht auf den Verstand. Damit ist jener Devise das Urteil gesprochen. Es
ist dazu auch zu spät, die Kultur-Krankheiten würden dann z. B. nicht ver-
schwinden (I). Der Mensch ohne Kultur und Verstand harmoniert nicht mit den
Lebensbedingungen; ein Zurück wäre gleichbedeutend mit dem Tod. Er kann nur
vorwärts gehen.
Der Leser wird mit mir schon bei dem Gesagten manche Fragezeichen machen,
bei dem Inhalt im einzelnen ließen sie sich noch vermehren. So vor allem, wenn
der Verf. feststellt, daß Naturzüchtung und künstliche Züchtung „prinzipiell ver-
schieden" sind. Das ist nun freilich ganz gewiß richtig, allein damit verliert jene
eben jede Grundlage, jede Berechtigung, da sie bekanntlich an sich nie beobachtet,
sondern da auf sie nur durch Analogie aus der künstlichen geschlossen wurde. Mit
jenem Zugeständnis hebt der Verfasser also auch die Grundlage seiner Erörterungen
einfach auf und sie schweben daher in der Luft.
Frank, A., Die Erkenntnis Gottes durch die Natur. Hannover 1907. C. Meyer.
35 S. 80. 0,60 M.
Verfasser ist der Ansicht, daß bei den heutigen Verhältnissen viele in Gewissens-
not den Kirchenlehren gegenüber geraten sind und daß diesen der Weg zu Gott
nur durch unmittelbare Naturanschauung geöffnet werden kann, die dadurch ge-
wonnene Gotteserkenntnis soll im vollen Einklang mit der Lehre Jesu stehen. Diese
Grundlage des Buches muß ich bereits für irrig erklären; denn Naturanschauung als
solche liefert keine Gotteserkenntnis, sondern nur in Verbindung mit religiös-
ethischen Erfahrungen. Der Gedankengang des Buches ist dann der, daß die Ein-
heitlichkeit und Allweisheit der Naturgesetze das Dasein Gottes und die Lenkung
des Universums durch einen Willen beweisen; ebenso die Entwicklung der Organis-
men (der Verfasser wendet sich dabei mit zutreffenden Bemerkungen gegen Darwin)
und die planmäßige Fürsorge für alle Lebewesen. Im einzelnen finden sich neben
einigen Irrtümern auch viele anregende Gedanken, aber im ganzen bezweifle ich,
daß der Verfasser seinen gut gemeinten Zweck erreichen und viele überzeugen wird.
Godesberg. E. Dennert.
Dr. med. Werther, Hütet Euch! Ärztliche Mahnworte an unsere Söhne beim
Eintritt ins Leben. Rede an die Gymnasial-Abiturienten, gehalten im Auftrage
des Rates zu Dresden. Dresden 1908. Alexander Köhler. 48 S. 8«. 0,90 M.
Der Titel sagt schon genug über den Inhalt. So wird es ausreichen, hinzu-
zufügen, daß in ernster, würdiger Sprache vor allem die ungeheure Gefährlichkeit
und verhängnisvolle Folgenschwere der Geschlechtskrankheiten besprochen wird.
Wo also eine Belehrung der abgehenden Schüler nützlich erscheint, aber eine Auf-
klärung von Auge zu Auge nicht angängig ist, da möge man vertrauensvoll den
jungen Leuten dies Heftchen in die Hand geben. Nur scheint mir der Preis reich-
lich hoch bemessen für 43 Seiten zu 19 Zeilen.
Lüdenscheid. Richard Ja hnke.
IV. Vermischtes.
Aufruf.
Von Graz ist die Anregung ausgegangen, zur Erinnerung an die 50., in diesem
Jalire dort tagende Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner eine Ju-
biläumsstiftung ins Leben zu rufen
zur Förderung der klassischen Altertumswissenschaft.
Genauere Bestimmungen über die Art der Verwendung dürfen wir vertrauens-
voll der Grazer Versammlung überlassen.
So ergeht denn unser Ruf an alle, die ein Herz haben für das Studium der
Alten, ein Herz auch für die Jugend, der besonders diese Studien zugute kommen,
die Jugend des Humanistischen Gymnasiums. Beweisen wir durch die Zahl und
die Höhe der Beiträge, daß Groß-Berlin neben andern Vorzügen auch den hat, eine
echte Philologenstadt zu seini
Die Beiträge wolle man, einzeln oder gesammelt, bis zum 1. Juli einsenden
an den mitunterzeichneten Schatzmeister, Herrn Verlagsbuchhändler Dr. Ernst Vollert,
Berlin SW, Zimmerstr. 94, von da an bis zum 31. August an die Steiermärkische
Eskomptebank zu Graz, Konto: Philologenstiftung.
Berlin, 14. Mai 1909.
Der Ortsausschuß für Groß-Berlin.
Dr. Andresen, Prof. am Askan. Gymn., Redaktor d. Wochenschrift f. cl. Philol.;
Dr. D. Bellermann, Geheimer Regierungsrat, Dir. d. Gymn. zum Grauen Kloster;
Dr. Diels, Geheimer Regierungsrat, Prof. a. d. Universität;
Dr. Fuhr, Prof. am Joachimsth. Gymn., Red. d. Berl. Philol. Wochenschrift;
Dr. Genz, Geheimer Regierungsrat, Provinzialschulrat;
Dr. Ernst Hoffmann, Oberlehrer am Mommsengymn., Schriftführer;
Dr. D. Harnack, Wirkl. Geheimer Oberregierungsrat, Generaldirektor der Kgl. Bibliothek;
Dr. Kekule v. Stradonitz, Geheimer Regierungsrat, Direktor der Königl. Museen;
Dr. Köpke, Wirkl. Geheimer Oberregierungsrat, Vortrag. Rat im Kultusministerium;
Dr. Lortzing, Prof. am Sophiengymn., Ehrenvors. des Gymnasiallehrervereins;
Dr. Lück, Gymnasialdirektor, 2. Vorsitzender der Vereinig, d. Freunde d. Hum. Gymn.;
Dr. Ed. Meyer, Geheimer Regierungsrat, Prof. a. d. Universität;
Otto Morgenstern, Prof. am Schillergymnasium, Schriftführer;
Dr. Herrn. Müller, Geheimer Regierungsrat, Red. d. Zeitschrift f. d. Gymnasialwesen;
D. Scholz, Archidiak. an St. Marien u. Prof., 1. Vors. d. Vereinig d. Fr. d. Hum. Gymn;
Dr. Otto Schroeder, Prof. a. Joachimsth. Gymn., Vors. d. Philol. Vereins;
Dr. Vahlen, Geheimer Regierungsrat, Prof. an der Universität;
Dr. Vollert, Verlagsbuchhändler, Schatzmeister.
480 Vermischtes.
Voigtländers Künstler-Steinzeichnungen.
In der Amelangschen Kunsthandlung zu Berlin, Kantstr. 164, hat R. Voigt-
länders Verlag gegenwärtig eine Heimkunst-Ausstellung veranlaßt, die für Schule
wie Haus von großem Interesse ist. Den Besuchern werden ja viele der Künstler-
Steinzeichnungen schon bekannt sein. Neuartig an der Ausstellung ist vor allem
der Umstand, daß zum ersten Male fast die ganze Kollektion gezeigt wird und
daß in dem geschmackvollen Räume die Blätter voll zu ihrer Geltung kommen.
Über den Wert der Blätter braucht nichts gesagt zu werden: man braucht nur die
Namen Arthur Kampf, Hans von Volkmann, Hans Thoma, Biese, Skarbina,
Kalimorgen zu nennen, um zu zeigen, auf welcher Höhe man sich hier befindet.
Landschaften aus allen Teilen unseres Vaterlandes sind vertreten und ebenso
aus allen Jahreszeiten und Naturlagen; dazu eine reiche Anzahl prächtiger
Stimmungsbilder und figürlicher Darstellungen. Ein sehr geschmackvoller Katalog
dient zur Erinnerung an den Besuch, der für jedermann frei ist.
Berlin. A. Matthias.
1. Abhandlungen.
Die naturwissenschaftlichen Schfilerübungen an den
höheren Lehranstalten PreuBens.
(Ergebnis einer Umfrage.)
I. Zur Statistik der naturwissenschaftlichen Schülerübungen.
Auf den unterrichtlichen Wert naturwissenschaftlicher Schülerübungen
ist in den preußischen Lehrplänen bereits im Jahre 1882 aufmerksam gemacht worden,
doch erst durch die amtlichen Lehrpläne von 1892 wurden sie als ein wertvolles
und unentbehrliches Mittel zur Hebung des naturwissenschaftlichen Erkennens
in den Unterricht einbezogen. „Derartige praktische Übungen haben", wie die
Lehrpläne von 1892 hervorheben, „bei richtiger Leitung einen nicht zu unter-
schätzenden erziehlichen Wert und können unter Umständen auch auf das Gebiet
des physikalischen Unterrichts ausgedehnt werden." Einfache Arbeiten im Labo-
ratorium sind demgemäß im Anschlüsse an die Chemie seit 1892 in das naturwissen-
schaftliche Pflichtpensum der Unter- und Oberprima der Realanstalten, zumal der
Oberrealschulen aufgenommen. Dieselbe Einrichtung ist mit gleicher Begründung
auch in den Lehrplänen von 1901 beibehalten worden. Die Praxis ist allerdings
über die erwähnte bloße Anregung, die Laboratoriumsarbeiten auch auf die übrigen
Gebiete der Naturwissenschaften außer Chemie auszudehnen, wie die nachfolgende
Statistik zeigt, bald und weit hinausgegangen.
• Die im Jahre 1892 erfolgte Aufnahme der naturwissenschaftlichen Schülerübungen
in den lehrplanmäßigen Unterricht der höheren Schulen erfolgte keineswegs unver-
mittelt, sie war das Ergebnis dessen, was pädagogische Einsicht und Erfahrung
schon lange vorher als notwendig erkannt und erprobt hatte. Schon vor 1892 hatten
manche Fachlehrer aus eigenem Antriebe ihrem theoretischen Unterricht durch
praktische Schülerarbeiten einen festeren Halt und eine nachhaltigere Wirkung zu
verschaffen gesucht. Soweit preußische Schulen in Betracht kommen, finden wir
chemische Schülerübungen, ganz abgesehen von ähnlichen Bestrebungen an
den Ritterakademien und an den Realschulen des 18. Jahrhunderts, bereits im Winter
1839/40 am Realgymnasium am Zwinger zu Breslau, im Jahre 1845 erfolgte deren
Einführung am Realgymnasium zu Wiesbaden, 1846 am Düsseldorfer Realgymnasium,
1854 am Realgymnasium zu Potsdam, 1855 am Realgymnasium zu Lippstadt,
1858 am Kaiser Wilhelm-Realgymnasium zu Berlin, 1860 am Realgymnasium zu
Monatschrlft f. höh. Schulen. VIII. Jhr.t;. 31
482 J- Norrenberg,
Grünberg i. Schi. usw. Physikalische Übungen lassen sich in Preußen zuerst
nachweisen 1845—1867 am Wiesbadener Realgymnasium, 1886 am Realgymnasium
zu Reichenbach i. Schi., 1892 am Dorotheenstädtischen Realgymnasium zu Berlin,
1893 an der Oberrealschule zu Aachen, 1894 am Gymnasium zu Osnabrück, 1895
an der Frankfurter Musterschule, 1896 am Sophien-Realgymnasium zu Berlin,
1897 an der Oberrealschule vor dem Clevertore zu Hannover usw. Zur Einführung
von besonderen Schülerübungen im naturgeschichtlichen Unterricht scheint
man zuerst am Falk-Realgyranasium zu Berlin (1894) geschritten zu sein.
Die Ausdehnung der Schülerarbeiten auf die physikalische Unterweisung hat
besonders erfreuliche Fortschritte gemacht, nachdem Bernh. Schwalbe auf der
Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Bremen im Jahre 1893 die
Möglichkeit der Einführung eines physikalisch-praktischen Unterrichts dargetan und
den allgemeinbildenden Wert der physikalischen Schülerübungen nachdrücklich be-
tont hatte. Der reichen Literatur, die sich an den Schwalbeschen Vortrag anschloß,
und der nachhaltigen Anregung, die von den vortrefflich geleiteten Beriiner Urania-
Kursen ausging, ist es zu danken, daß sich die Überzeugung von der Bedeutung
des praktisch-heuristischen Unterrichtsverfahrens, das auch außerhalb Preußens zahl-
reiche Anhänger hatte, immermehr Bahn brach. Nach einer von der Unterrichts-
kommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte im Einvernehmen
mit der Preußischen Unterrichts-Verwaltung im Jahre 1906 erlassenen Rundfrage
waren damals physikalische Schülerübungen bereits an 30 höheren Lehranstalten
(4 Gymnasien, 2 Gymnasien nebst Realschulen, 17 Realgymnasien, 7 Oberreal-
schulen) eingeführt. Chemische Schülerübungen wurden in demselben Jahre an
100 höheren Lehranstalten abgehalten. Naturgeschichtliche Übungen ließen sich im
Jahre 1906 an keiner höheren Lehranstalt nachweisen. Die früheren Versuche, solche
Übungen einzurichten, mußte man fallen lassen, weil bei dem Mangel naturgeschicht-
licher Unterweisung auf der Oberstufe es an jeder Möglichkeit der Anknüpfung
fehlte.
Bei dem hohen erziehlichen Werte, der dem auf eigenen Schülerversuchen
aufbauenden heuristischen Unterrichtsverfahren unzweifelhaft beizumessen ist, er-
scheint die Zahl derjenigen Anstalten, welche sich die Vorteüe dieser Methode zu
Nutze machten, nur gering. Abgesehen von den großen Opfern, die die Leitung
und Vorbereitung der Übungen an die Zeit und die Arbeitskraft der Lehrer stellt,
waren es früher wohl hauptsächlich finanzielle Bedenken, die einen befriedigenden
Fortschritt des bezeichneten Unterrichts-Verfahrens hinderten. Daß aber unter den
Fachlehrern die Notwendigkeit der Einführung der Schülerversuche anerkannt wurde,
geht deutlich daraus hervor, daß bei der Rundfrage des Jahres 1906 74,9% aller
gymnasialen und 82,1 % aller realistischen höheren Lehranstalten sich zur Einführung
der Übungen bereit erklärten, falls, abgesehen von anderen Bedingungen, aus-
reichende Mittel hierzu bereitgestellt würden.
Nachdem nun seit 1906 im Etat der Unterrichtsverwaltung jähriich eine Summe
von 25 000 M. zur Förderung naturwissenschaftlicher Schülerübungen zur Verfügung
steht, hat die Zahl derjenigen höheren Lehranstalten, an denen man von dieser
fruchtbaren Methode Gebrauch macht, ganz erheblich zugenommen. Am 1. Mai
1909 waren naturwissenschaftliche Schülerversuche an 224 Anstalten = 28,7 %
Die naturwissenschaftlichen Schülerübungen an d. höher. Lehranstalten Preufiens. 483
aller höherer Lehranstalten eingeführt. Am weitesten verbreitet finden wir sie in
den Provinzen Sachsen (44,3 %), Westpreußen (41,4 o/o) und Brandenburg (32,7 o/o)»
am wenigsten in den Provinzen Posen (18,5 7o)> Schleswig-Holstein (22,2 7o) und
Schlesien (23,2 7o)- Vergl. Tabelle 1.
Tabelle 1.
Übersicht über die Zahl der höheren Lehranstalten, an denen natur-
wissenschaftliche Schülerübungen eingeführt sind
(nach dem Stande vom 1. Mai 1909).
Provinz
go
Sa.
dar-
unter
staat-
liche
An-
stalten
Sa.
in
%
aller
An-
stalten
1. Ostpreußen
2. Westpreußen . . . .
3. Brandenburg . . . .
4. Pommern
5. Posen
6. Schlesien
7. Sachsen
8. Schleswig-Holstein
9. Hannover
10. Westfalen
11. Hessen-Nassau . . .
12. Rheinprovinz . . . .
29.8
41,4
32.7
29.4
18,5
23,2
44,3
22.2
25,7
25,0
25,9
26,2
Summe
65
77
68
10 224
67
28,7
Unter den 224 Anstalten sind beteiligt 65 = 19,6 7o Gymnasien, 77 = 62,1 %
Realgymnasien, 68 = 90,7 7o Oberrealschulen, 2 = 5 7o Progymnasien, 2 = 5,1 %
Realprogymnasien und endlich 10 = 5,9 7o Realschulen. Für die Vollanstalten be-
tragen die Beteiligungsziffern 210 = 39,5 7o> für die Nichtvollanstalten 14 = 5,6 7o-
Auffällig ist die geringe Zahl der beteiligten Gymnasien. Wenn man bei ihnen
auch gewiß nicht den Wert der praktischen Arbeiten unterschätzt, so neigt man
aber doch der leicht erklärlichen Auffassung zu, daß die Übermittlung einer
gründlicheren naturwissenschaftlichen Bildung den Realanstalten überlassen bleiben
müsse. Auch mag es den Gymnasien wohl vielfach an den geeigneten Lehrern
und an ausreichenden Mitteln zur Durchführung eines auf eigener Beobachtungs-
arbeit der Schüler begründeten Unterrichtsweise fehlen.
So sehr der durch die obigen Zahlen erwiesene Fortschritt in der Methodik
des naturwissenschaftlichen Unterrichts seit 1906 und damit der Erfolg der Unter-
richtsarbeit auch anzuerkennen ist, so bleibt doch die Zahl der Anstalten, die sich
an diesem Fortschritt beteiligen, noch weit zurück hinter der Zahl derjenigen
Schulen, die sich, wie vorhin erwähnt, zur Einführung der Schülerübungen bereit
erklärt haben. Da somit ein weiteres Steigen der Beteiligungsziffer für die Zu-
31*
484 J- Norrenberg,
kunft zu erwarten ist, so ist die dauernde Bereitstellung der bisher zur Förderung
der Übungen bewilligten Mittel dringend erwünscht.
Das Bild, das sich aus den vorhin mitgeteilten Zahlen ergibt, ist allerdings
weniger günstig, als es nach den wirklichen Verhältnissen sein sollte. Unter den
aufgezählten Anstalten fehlen noch diejenigen höheren Schulen, die die Übungen
schon in Aussicht genommen haben, aber aus irgendwelchen Gründen (namentlich
weil die erbetenen Mittel nicht mehr rechtzeitig angewiesen werden konnten) am
1. Mai d. J. noch nicht eingerichtet hatten, also auch diejenigen, die die Übungen
nur für das Winterhalbjahr einzurichten beabsichtigen. Bei manchen Anstalten ist
vielfach auf die Einrichtung vorläufig noch verzichtet worden, weil sie sich noch
in der Entwicklung zu Vollanstalten befinden und an ihnen somit ohnedies an die
Arbeits- und Organisationskraft der Leiter und Lehrer ungewöhnliche Anforderungen
gestellt werden. Vor allem aber sind bei der Zählung alle diejenigen höheren
Schulen außer Betracht gelassen worden, an denen die experimentelle Anleitung
der Schüler nur ganz gelegentlich in den lehrplanmäßigen Unterrichtsstunden erfolgt,
ohne daß gerade von einem Übungskursus zu sprechen an diesen Anstalten eine
Berechtigung vorhanden wäre. Daß dieses Verfahren aber nicht ohne Wert und Be-
deutung ist, bedarf keiner weiteren Begründung. Von einer Statistik über die in
den Unterricht eingeordneten, nur gelegentlichen Schülerversuche mußte aber Ab-
stand genommen werden, da die Ausdehnung derartiger Übungen zu verschieden
sein kann.
Ganz auffallend ist die offenbare Zurückhaltung, die bezüglich der Schüler-
übungen an den sechsstufigen Anstalten trotz der guten Erfolge geübt wird, die
man mit der praktisch-heuristischen Methode gerade im Anfangsunterricht erzielt
hat. Dem Wunsche, der von dem Verein zur Förderung des physikalischen Unter-
richts zu Berlin in seiner der Unterrichtsverwaltung eingereichten Denkschrift aus-
gesprochen wurde, es möchten vor allem für die Realschulen praktische Schüler-
übungen eingerichtet werden, ist man also in Wirklichkeit wenig entgegen-
gekommen. Der Hauptgrund liegt hier augenscheinlich nicht nur an dem Mangel
geeigneter Räumlichkeiten und ausreichender Hilfsmittel — Umstände, die ja an
sechsstufigen Anstalten kleiner Gemeinden wohl hier und da mitsprechen können —
sondern auch daran, daß in der Abschlußklasse, die vor allem in Frage kommt,
das Interesse zu ausschließlich auf den äußeren Erfolg der Schlußprüfung gerichtet
ist. Leider macht sich auch hier wieder eine bedauerliche Überschätzung des aus
dem Lehrbuche angeeigneten Wissens auf Kosten eines selbständigen, wenn auch
auf Einzelgebiete beschränkten wirklichen Naturerkennens geltend.
Nur an wenigen Anstalten sind die physikalischen, chemischen und natur-
geschichtlichen Übungen zu einem allgemein - naturwissenschaftlichen Übungs-
kursus vereinigt. Vielfach werden aber mehrere Spezialgebiete nebeneinander be-
handelt, so daß an den 224 in Betracht kommenden Anstalten im ganzen 355 Übungs-
kurse bestehen. Unter ihnen sind 141 = 39,7 % der Physik, 165 = 46,5 % der
Chemie, 49 = 13,8 % der Naturgeschichte gewidmet. Vergl. Tabelle 2.
Wie sich historisch erklären läßt, überwiegen die chemischen Übungen, aber
auch die jüngeren physikalischen Übungen sind schnell behebt geworden. Die
naturgeschichtlichen Schülerversuche, als die zuletzt eingeführten, stehen iiatur-
Die naturwissenschaftlichen Schülerübungen an d. höher. Lehranstalten Preußens. 485
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486 J- Norrenberg,
gemäß hinter den übrigen noch zurück, obgleich in dem Erlasse vom 19. März
1908 (U II 668), betreffend Einführung des naturgeschichtlichen Unterrichts in den
oberen Klassen, auf den Wert derartiger Übungen ausdrücklich hingewiesen worden
ist. Der Mangel an Erfahrung über Inhalt, Umfang und methodische Behandlung
des Gegenstandes veranlaßt viele Anstalten, eine abwartende Haltung einzunehmen,
und nur wenige Lehrer trauen sich vermöge der unzureichenden Vorbildung zu,
solche Arbeiten zu leiten und fruchtbar zu gestalten. Dies scheint vor allem in
Hessen-Nassau, dann aber auch in Posen, Pommern und Schleswig-Holstein der
Fall zu sein.
An den Gymnasien herrschen, da hier die Chemie kein besonderes Lehrfach
bildet, die physikalischen Übungen vor, doch auch die übrigen Teilgebiete bleiben
da nicht unberücksichtigt. An den realistischen höheren Schulen überwiegen
dagegen die auf eine längere Vergangenheit zurückblickenden und im Lehrplane
vorgesehenen chemischen Übungskurse. Bemerkenswert bleibt es immerhin, daß
von den Oberrealschulen noch 12 7oi von den Realgymnasien noch 44,4 7o keine
besonderen chemischen Laboratoriumsübungen eingeführt haben. Vermutlich werden
hier die lehrplanmäßig vorgeschriebenen „einfachen Arbeiten im Laboratorium",
falls sie überhaupt stattfinden, nur gelegentlich dem theoretischen Unterricht in den
dafür angesetzten Stunden eingefügt. Doch gibt es auch immer noch preußische
Oberrealschulen, an denen tatsächlich der Mangel an Räumlichkeiten die Ein-
richtung praktischer Arbeiten völlig unmöglich macht.
Von den 355 naturwissenschaftlichen Übungskursen sind 137 = 38,6 % in die
verbindlichen Unterrichtsstunden des normalen Lehrplanes eingeordnet, die
übrigen 218 = 61,4 7o sind als besondere fakultative Kurse eingerichet. Erstere
Anordnung überwiegt an den Oberrealschulen, letztere an den Gymnasien und
Realgymnasien. Daß man an den Oberrealschulen die Einrichtung besonderer
freiwilliger Kurse nicht so gerne sieht wie an den übrigen Anstalten, liegt wohl
daran, daß fakultative Stunden an den Oberrealschulen schon in größerer Zahl vor-
gesehen sind (Latein, Linearzeichnen usw.). In Ostpreußen, Sachsen und Hannover
bevorzugt man überhaupt die Eingliederung der Übungen, in Posen, Pommern
und Brandenburg die Angliederung besonderer Stunden.
Die naturwissenschaftlichen Übungskurse verteilen sich (vgl. Tabelle 3) auf
684 Klassen: in 283 Klassen finden physikalische, in 309 chemische und in 92
Klassen naturgeschichtliche Übungen statt. Hierbei ist die Ulli nur ein einziges
Mal und zwar an einem sächsischen Gymnasium beteiligt, wo von den Schülern
in der Naturgeschichte gearbeitet wird. Auf die Olli entfallen die Übungen
20 mal (2,1%), auf Uli 58 (8,4 o/o), auf OII 105 (15,3 o/^), auf UI 256 (37,4%)
und endlich auf Ol 244 mal (35,5%). Vorwiegend sind also die beiden Primen
beteiligt, auffallend gering die Obersekunda, wo doch eigentlich ein hinreichender
Anlaß gegeben wäre, nach Beendigung des propädeutischen Kursus die natur-
wissenschaftliche Erkenntnis auf selbständigem Erarbeiten neu aufzubauen. Für
die geringe Beteiligung der mittleren Klassen gilt dasselbe, was bereits oben über
die zurückhaltende Stellung der sechsstufigen Anstalten gesagt worden ist. In
Hessen-Nassau und Posen ist die Mittelstufe überhaupt nicht zu Übungen heran-
gezogen, in Hannover und Ostpreußen nur einmal, in Pommern zweimal, in West-
falen und Schleswig-Holstein je dreimal.
Die naturwissenschaftlichen Schülerübungen an d. höher. Lehranstalten Preußens. 487
Tabelle 3.
Verteilung der naturwissenschaftlichen Übungen auf die einzelnen Klassen.
Provinz
Zahl der Anstalten, an denen sich die Übungen auf die
einzelnen Klassen verteilen: in
Physik
Ol ui on Uli om
Ol
Chemie
UI OII Un Olli
Natursbeschr.
Ol ui|oii|uii|oni|um
1. Ostpreußen . . . .
2. Westpreußen . , .
3. Brandenburg . . .
4. Pommern
5. Posen
6. Schlesien
7. Sachsen
8. Schlesw.-Holstein.
9. Hannover
10. Westfalen
11. Hessen-Nassau . .
12. Rheinprovinz . . .
8
Summe 83 86 63 34 17 132 136 20 20 1 29 34 22 4 2
Bei den fakultativen Übungen, denen annähernd im gleichen Verhältnisse en
weder 1 oder 2 Wochenstunden gewidmet sind, ist der Prozentsatz der Beteiligung
in den einzelnen Klassen und Fächern außerorordentlich verschieden (vergleiche
Tabelle 4).
Tabelle 4.
Teilnahme an den wahlfreien Übungen.
Provinz
Zahl der Ab-
teilungen, an
denen die
wöchentliche
Stundenanzahl
betrug:
1
Zahl der Abteilungen, an denen die Beteiligung
an den wahlfreien Übungen war:
mehr als
20
bis
30%
bis
100««
1. Ostpreußen
2. Westpreußen . . . ,
3. Brandenburg . . . ,
4. Pommern ,
5. Posen ,
6. Schlesien
7. Sachsen ,
8. Schleswig-Holstein
9. Hannover
10. Westfalen
11. Hessen-Nassau . . ,
12. Rheinprovinz ...
2 2
Summe 146 159
14 31 I 47 30 I 34 19 27 18 15 74
488 ^- Norrenberg,
Irgendwelche Schlüsse aus dem Prozentsatze der Beteiligung zu ziehen, wäre aber
durchaus verfehlt, da diese Ziffern für das Interesse, das die Schüler den Übungen
entgegenbringen, nicht bezeichnend, vielmehr meistens durch die Zahl der ver-
fügbaren Arbeitsplätze bestimmt ist. Ein geringer Prozentsatz — zumal an einer
stark gefüllten Anstalt — kann auch bedeuten, daß der Direktor eine größere An-
zahl von Schülern nicht zugelassen und zahlreiche Meldungen zurückgewiesen
hat, um so entweder den Erfolg der Übungen selbst nicht zu gefährden, oder auch
um einer Überlastung der Schüler vorzubeugen. Letztere könnte besonders leicht
da eintreten, wo, ganz abgesehen von anderen wahlfreien Fächern, neben den
chemischen Übungen noch physikalische und vielleicht auch naturgeschichtliche
Praktika eingerichtet sind. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte muß
anerkannt werden, daß die Schüler sich an den Übungen in höchst erfreulichem
Maße beteiligen.
II. Über den Erfolg der naturwissenschaftlichen Schülerübungen.
Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde es als die Hauptaufgabe des
Unterrichts, auch des naturwissenschaftlichen, angesehen, dem Schüler eine möglichst
große Menge von Wissensstoff mitzuteilen. „Der Vortrag, so berichtete der
Direktor der Berliner Realschule, Spilleke, in seinem Programm vom Jahre 1823,
ist ein beständig fortlaufender. Das Vorgetragene wird kurz diktiert oder nieder-
geschrieben; hieran knüpft sich zu Hause eine eigene Bearbeitung, die zu Anfang
der folgenden Stunde vorgelesen wird."
Mechanik und Optik waren damals die bevorzugten Abschnitte des natur-
wissenschaftlichen Unterrichts, da diese sich ohne Apparate durch Zeichnungen
an der Tafel hinreichend verdeutlichen ließen.
Unter dem Einflüsse der Aufsehen erregenden Entdeckungen und Erfindungen,
die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Schlag auf Schlag die
Welt der Wissenschaft wie auch der täglichen Arbeit in Erstaunen versetzten und
in Spannung erhielten, machte sich auch an den höheren Schulen das Bedürfnis
geltend, über die gewaltigen Errungenschaften der Wissenschaft und Technik den
Schülern nicht nur zu berichten, sondern sie ihnen auch im Versuche vorzuführen.
Abgesehen von einzelnen Anstalten, wo leider noch veraltete Anschauungen
herrschen mögen, wird jetzt im naturwissenschaftlichen Unterricht erfreulicher-
weise dem Experiment die ihm gebührende Bedeutung beigemessen und der ganze
Unterricht auf der Grundlage der Demonstration aufgebaut. Gut ausgestattete Lehr-
zimmer und reichhaltige Sammlungen, welche, wie auch auf der Juni-Konferenz
des Jahres 1900 anerkannt wurde, an der Mehrzahl der höheren Schulen vorhanden
sind, ermöglichen einen durchweg guten Unterrichtserfolg. Aber immermehr ist
man dazu übergegangen, daß der Lehrer die Experimente nicht nur vorführt, son-
dern daß er — wenigstens die einfacheren und grundlegenden Versuche auch von
den Schülern selbst wiederholen läßt. Die Schüler werden demgemäß — besonders
bei Repetitionen — nicht lediglich abgefragt, sondern sie treten an den Experimen-
tiertisch heran und geben an den Apparaten selbst die notwendigen Erläuterungen.
Dieses Verfahren hat sich außerordentlich bewährt. Interesse und Verständnis
Die naturwissenschaftlichen Schülerübungen an d. höher. Lehranstalten Preußens. 489
werden ganz anders erweckt, als dies bei dem früher üblichen, bloß dozierenden,
demonstrierenden und abfragenden Verfahren möglich war.
Dies gelegentliche und wiederholende Experimentieren ist aber nicht das, was
man unter „ Schülerübungen " zu verstehen hat. Die preußischen Lehrpläne von
1901 verlangen mit Recht, daß das Bestreben des Lehrers vor allem dahin zu richten
sei, den Schüler zu eigenem Beobachten und selbständigem Denken anzuleiten.
Er soll also lernen, wie naturwissenschaftliche Erkenntnis zustande kommt, wie
ein naturwissenschaftliches Problem erfaßt und behandelt wird. Dies ist aber nur
möglich, wenn dem Schüler Gelegenheit geboten wird, durch Selbstanstellung von
Versuchen in innige Fühlung mit dem Objekte zu treten und naturwissenschaftliche
Wahrheiten durch eine abwechselnde Inanspruchnahme von experimenteller Prüfung
und logischer Erwägung selbst aufzufinden. Nur dann wird der naturwissen-
schaftliche Unterricht seine volle Kraft entfalten, wenn es gelingt, den Schüler
anzuhalten, „die Eigenart der naturwissenschaftlichen Arbeitsmethoden aus eigener
Erfahrung kennen zu lernen und so zu einer Würdigung ihrer Bedeutung", aber
auch zur Erkenntnis ihrer begrenzten Anwendbarkeit zu gelangen.
Die naturwissenschaftlichen Übungen zielen daher keineswegs auf eine Aus-
dehnung des Lehrstoffes, eher auf dessen Einschränkung, auch nicht auf Einführung
eines neuen Unterrichtsfaches, sondern auf eine methodische Umgestaltung und
damit vielleicht auf eine Zusammenfassung bisher getrennter Unterrichtsgebiete hin.
Diese Bestrebungen gehen ganz parallel mit ähnlichen methodischen Reformen auf
allen anderen Unterrichtsgebieten. Überall läßt sich eine Abkehr vom systematischen
Buchwissen zugunsten eines lebendigen Erfassens der Wirklichkeit erkennen.
Schon im Zeichenunterricht ist an Stelle des schematischen Abzeichnens eine erfolg-
reichere Art des Zeichnens getreten, das vom unmittelbaren Sehen der Dinge aus-
geht, Freude am Schauen und künstlerischen Nachschaffen weckt und zum freien
Nachgestalten der Wirklichkeit erzieht. Das Turnen ist aus einer, nach fein kon-
struierten Regeln betriebenen, im Turnsaale ausgeführten Gymnastik zu einem freien
Spiel geworden, wo jeder seine eigene Persönlichkeit zur Geltung bringen kann.
Und auch im Sprachunterricht beobachten wir dieselbe Erscheinung, das gleiche
Loslösen von der Gebundenheit und Regelherrschaft, wenn an Stelle der zurecht-
gestutzten Einzelsätze, die nur der Einübung einer bestimmten Form oder Regel
dienen, der zusammenhängende Text tritt, der als Erzählung, Anekdote oder
Gedicht ein Stück lebendiger Sprache, ein Wirkliches darstellt, oder wenn das Haupt-
gewicht nicht mehr auf die abstrakte Form sondern auf den konkreten Inhalt gelegt
wird. Und auch die klassische Philologie ist, wie Paulsen einmal eingehender aus-
einander gelegt hat, realistischer geworden und sucht mehr dem Leben zu dienen.
Diesem allgemeinen Aufschwung des Unterrichtsverfahrens kann sich der natur-
wissenschaftliche Unterricht, der mehr als ein anderes Fach die Erkenntnis der Wirk-
lichkeit zur Aufgabe hat, nicht entziehen. Auch er muß das jetzt vielfach noch herr-
schende Buchwissen und Registrieren der Erscheinungen zugunsten des erzieherisch
wertvolleren naturwissenschaftlichen Schaffens zurücktreten lassen, die Methode
muß noch mehr als bisher in Wahrheit eine naturwissenschaftliche werden. Die
Bildung, die die höhere Schule auf dem Gebiete der Naturwissenschaften vermittelt
und die früher auf einem möglichst umfassenden Wissen von der Natur beruhte,
490 J- Norrenberg,
muß, da beim heutigen Umfange unserer Erkenntnis eine systematische Behandlung
selbst der einfacheren Erscheinungen kaum noch möglich ist, sich jetzt auf ein
Verständnis und eine Beherrschung der naturwissenschaftlichen Methode und deren
Anwendung auf einzelne Teilgebiete beschränken. Nicht erlernen, sondern erarbeiten
muß der Schüler.
Bei diesen Schülerübungen, bei denen es sich um eine systematische Anleitung
zur eigenen Anstellung von Experimenten handelt, sind bisher zwei grundsätzliche
Wege erprobt worden. Man läßt nämlich einmal alle Schüler die Übungen zu
derselben Zeit mit denselben Apparaten ausführen oder teilt die Schüler von vorn-
herein in Gruppen, die verschiedene Übungen an verschiedenen Apparaten vor-
nehmen. Man pflegt jetzt diese beiden Verfahrungsweisen kurz als Übungen „mit
gleicher" oder „mit ungleicher Front", letztere auch als die „regellose Arbeits-
weise" zu bezeichnen.
In den Fachkreisen wird die Frage, welcher von diesen beiden Wegen den
Vorzug verdiene, auf das lebhafteste erörtert. Die erste Methode besitzt unzweifel-
haft große Vorzüge, ja sie stellt insofern sogar ein Ideal dar, als hier der ganze
Lehrstoff auf wirklich experimenteller Grundlage durch die Schüler selbst — nur
unter Anleitung des Lehrers — wirklich erarbeitet und nicht nur verarbeitet werden
soll. Demgemäß bilden diese Übungen auch nicht nur eine vollkommene Ergän-
zung des Unterrichts, sondern sie sind mit ihm organisch verschmolzen. Von den
Anhängern der zweiten Richtung werden diese Vorzüge wohl anerkannt, ander-
seits wird aber geltend gemacht, daß bei diesem Verfahren der Unterrichsstoff zu
stark beschränkt werden müsse, da sich sonst die Arbeitsweise in gleicher Front
garnicht durchführen lasse. Bei dieser gleichmäßigen Berücksichtigung aller Schüler
kämen gerade die besseren Elemente entschieden zu kurz. Demgegenüber ge-
währe der zweite Weg, die regellose Arbeitsweise in ungleicher Front, den großen
Vorteil, daß hier die Schüler ihrer ganzen Veranlagung und individuellen Neigung
gemäß angeregt und gefördert werden könnten. Unzweifelhaft liegt hierin viel
Wahres. Beide Wege besitzen eben ihre besonderen Vorzüge. Im allgemeinen
empfiehlt sich das Arbeiten in gleicher Front besonders beim Unterricht der Unter-
stufe (Naturgeschichte) und beim propädeutisch -naturwissenschaftlichen Unterricht
der Mittelstufe, während auf der Oberstufe die gruppenweise Beschäftigung durch-
weg größere Anregung gewährt. Auch die Lehrpläne der bayerischen Oberreal-
schulen vom 15. Juni 1907, die in vorzüglichen Anweisungen den naturwissen-
schaftlichen Schülerübungen einen weiten Raum im Pflichtunterricht gewähren,
empfehlen dieses Verfahren : „Die Anfangsübungen sind durchweg als gemeinsame
Übungen der Klasse auszugestalten, in denen der Lehrer den Fortschritt der Ex-
perimente überwacht und regelt und die Übungen in gemeinsamer Besprechung
durch Frage und Erläuterung ihrem Ziele entgegenführt. Später ist durch Einzel-
arbeit eine größere Selbständigkeit allmählich anzustreben. Hier soll der Schüler
die Methoden der physikalischen Forschung und die Grenzen der exakten experi-
mentellen Arbeit an einigen Beispielen verstehen lernen." Indessen lassen bei der
ersteren Methode sich auch auf der Oberstufe recht gute Erfolge erzielen, wenn
neben dem praktischen Unterricht in den verbindlichen Stunden für die weiter
Fortgeschrittenen noch besondere wahlfreie Übungsstunden eingerichtet werden.
Die naturwissenschaftlichen Schülerilbungen an d. höher. Lehranstalten Preußens. 491
Es empfiehlt sich daher dringend, beide Wege noch weiter zu erproben und —
wo dies angängig ist — sogar miteinander zu verbinden.
Augenblicklich wird an der weit überwiegenden Mehrzahl der Anstalten — so-
viel sich erkennen läßt — die regellose Arbeitsweise bevorzugt. Dazu trägt un-
zweifelhaft der Umstand wesentlich bei, daß bei dem Arbeiten in gleicher Front
größere Aufwendungen erforderlich sind. Bei der gruppenweisen Beschäftigung hin-
gegen lassen sich Übungen schon dann ganz gut vornehmen, wenn nur ein geeignetes
physikalisches Lehrzimmer (mit einem großen Experimentiertische) sowie ein an-
grenzender Sammlungsraura mit mehreren Tischen vorhanden ist. Bei dem ersteren
Verfahren dagegen muß, wenn die Schülerzahl die normale Größe hat, ein besonderer,
mit Gas, Wasserleitung, elektrischem Anschluß und eingerichteten Übungstischen ver-
sehener größerer Arbeitsraum vorhanden sein. Außerdem lassen sich für diese
Übungen in gleicher Front auch nicht die gewöhnlichen Demonstrationsapparate
der Schulsammlungen benutzen; es müssen vielmehr besonders konstruierte, ein-
fache Apparate beschafft werden und zwar in so großer Zahl, daß eben alle Schüler
gleichzeitig an gleichen Apparaten die gleichen Übungen vornehmen können.
Natürlich sind hierzu nicht unerhebliche Mittel erforderlich. So sehr sich die regel-
lose Arbeitsweise für die erste Einrichtung der Schülerübungen empfiehlt, so er-
freulich wäre es, wenn trotz aller Schwierigkeiten, die ja auch mit der Zeit mehr
und mehr wegfallen werden, das Arbeiten in gleicher Front doch weiter zur An-
wendung käme und besonders im Anfangsunterricht zugrunde gelegt würde. Auf
einem Gebiete, auf dem der Naturgeschichte, ist das Arbeiten in gleicher Front
ganz unerläßlich, wo es sich darum handelt, in der Pflanzenkunde die Teile einer
Pflanze sorgfältig zu sondern, in der Tierkunde einen Fisch, einen Maikäfer zu
präparieren, und hier erfordern die Übungen außer einer Lupe, einer Präpariernadel
und einigen Dutzend Stecknadeln kaum weitere Apparate.
Über die Erfolge, welche durch die Übungen — sei es auf dem einen oder
anderen Wege — erzielt worden sind, sprechen sich die Provinzial-Schulkollegien,
insbesondere auch der um die Förderung der naturwissenschaftlichen Lehrmethode
hochverdiente Provinzial- Schulrat Geh. Reg. -Rat Dr. Vogel, sowohl auf Grund
eigener Anschauung als auch der Gutachten der Direktoren ausnahmslos außer-
ordentlich anerkennend aus. Freudigkeit an der Arbeit in der Schule und Ver-
ständnis für den Lehrstoff, beides wird durch die Schülerübungen erhöht.
Diese kommen ungezwungen dem natürlichen Betätigungsdrang der Schüler ent-
gegen. Die Schüler erlangen ein gewisses Maß von Handfertigkeit, größere Sicher-
heit und Genauigkeit in der Beobachtung im Messen, Wägen usw., klareren Ein-
blick in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung und in die Begründung
der Gesetze auf dem den Naturwissenschaften eigentümlichen Erkenntniswege der
Induktion. Die Übungen erziehen zur Selbsttätigkeit und Entschlußfähigkeit, Sorg-
falt und Geduld und nicht zuletzt auch zur Bescheidenheit, da sie den Schüler
die ungeheure Arbeit erkennen lassen, die zur Feststellung der naturwissenschaftlichen
Tatsachen und Gesetze hat geleistet werden müssen. Mehrfach wird mit Befriedigung
festgestellt, daß die Schüler durch den Zwang, über ihre Untersuchungen schrift-
lich zu berichten, eine sichtliche Gewandtheit im Ausdruck gewonnen und sich
— im Gegensatz zu den bei anderen Aufsätzen vielfach üblichen Gepflogenheiten
492 J- Norrenberg,
— daran gewöhnt haben, nur das auf die Richtigkeit streng geprüfte Wissen knapp
und klar darzustellen. Besonders bei den physikalischen Versuchen werden die
Schüler allmählich immer vorsichtiger in der Beurteilung des Gesehenen, sie scheuen
sich mehr und mehr, aus den Einzelbeobachtungen voreilige und allgemeingültige
Schlüsse zu ziehen. Sie erkennen je länger destomehr, daß sie bei allen Beob-
achtungen größere oder kleinere Fehler begehen, daß sie deren Quellen nachforschen
müssen und die Fehlergrößen durch besondere Vorsichtsmaßregeln oder durch
möglichst zahlreiche Versuche einschränken können. Ein Vergleich der am Schlüsse
der Experimente von den einzelnen Schülern erzielten Resultate spornt jedesmal
zu noch größerem Wetteifer an.
Nicht selten zeigte sich auch bei den Schülern, die vorher im Klassenunterricht
wenig hervortraten, ja sogar minderwertig erschienen, eine auffallende Anstelligkeit
und Besonnenheit bei der Arbeit, sodaß sie durch die ihnen gezollte Anerkennung
angespornt sich später auch im Klassenunterricht lebhafter beteiligten und Besseres
leisteten. Eine umfassendere Pflege der Übungen und eine höhere Bewertung des
hierbei Geleisteten bietet jedenfalls die Möglichkeit, die intellektuellen Fähigkeiten
der Schüler gerechter zu beurteilen und auch solche jungen Leute, die nun ein-
mal mehr Freude am Konkreten haben und für das abstrakte Denken weniger be-
anlagt sind, deshalb aber doch hinter ihren für Grammatik und mathematische De-
duktionen empfänglicheren Mitschülern geistig keinesweg zurückstehen, einen
Bildungsweg offenzuhalten, ohne dessen Absolvierung es dem Gebildeten außer-
ordentlich erschwert ist, sich eine geachtete Stellung unter seinen Mitbürgern zu
erringen. Daß solche Unterschiede in der Beanlagung vorhanden sind, ist bei
den Übungen deutlich zu erkennen. Einzelne Schüler bevorzugen die qualitativen,
andere die quantitativen Versuche. Nicht selten hat sich auch gezeigt, daß Schüler
ganz besondere technische Talente und Geschicklichkeit entfalten, ja auch eine auf-
fallende Erfindungsgabe besitzen und zu Versuchsanordnungen gelangen, die ein
hohes, im Klassenunterricht bei ihnen kaum beobachtetes Maß von Verständnis
der physikalischen Erscheinungen und Gesetze verraten.
Einstimmig wird von den Provinzial-Schulkollegien festgestellt, daß die Schüler
mit großer Freude an die praktischen Übungen herangehen und sich in steigender
Zahl an ihnen beteiligen.
Wenn die physikalischen Übungen eine höchst beachtenswerte Ergänzung und
Vertiefung des Klassenunterrichts gewähren, so sind die chemischen Übungen
geradezu als ein unbedingt notwendiger Bestandtteil des Unterrichts selbst zu be-
trachten. Demgemäß sind sie erfreulicherweise an den meisten Oberrealschulen
und an einer großen Zahl der Realgymnasien zur Einführung gelangt.
Hinsichtlich des Verfahrens, das bei diesen Übungen zu beobachten ist,
gehen die Ansichten auch nicht so weit auseinander, wie bei den physikalischen
Übungen. Die beiden möglichen Methoden — Übungen in gleicher und ungleicher
Front — lassen sich hier unschwer vereinigen. Nach den bisher gemachten Erfah-
rungen empfiehlt es sich, die Schüler zunächst gemeinsam mit dem Betriebe der
Arbeiten im Laboratorium überhaupt bekannt zu machen (z. B. Behandlung und
Benutzung der Brenner, Biegen und Schmelzen von Glas, Kochen, Auflösen, Fil-
trieren usw.). Nachdem auf diese Weise die Grundlage gewonnen und die manu-
Die naturwissenschaftlichen Schülerübungen an d. höher Lehranstalten Preußens. 493
eile Fertigkeit der Schüler genügend entwickelt ist — wobei ein besonderes Augen-
merk auf unbedingte Sauberkeit und Genauigkeit zu richten ist — , geht man zu
Gruppenübungen über. Unter Anleitung des Lehrers lernen die Schüler nun die
Apparate selbst zusammenstellen und die Versuche ausführen. Auf der oberen
Stufe üben die Schüler einzeln, indem sie an der Hand des Lehrbuches die ihnen
vorgelegten Analysen und Synthesen selbständig durchführen.
Auch bei den chemischen Übungen sind nach dem einstimmigen Urteile der
Provinzial- Schulkollegien die Erfolge durchaus erfreulich. Die Schüler arbeiten
mit regem Interesse und deutlichem Gewinn für das Verständnis chemischer Vor-
gänge. Wie sehr die praktischen Arbeiten hier dem natürlichen Bildungsbedürf-
nisse entsprechen, geht schon daraus hervor, daß viele Schüler die chemischen
Übungen wie auch die physikalischen zu Hause in einem eigenen Laboratorium
fortsetzen und so das Ergebnis des Schulunterrichts fördern und ausnützen.
So günstig die Urteile über den Erfolg der chemischen Übungen lauten, so
ist doch nicht zu verkennen, daß bei ihnen vielerorts die Neigung besteht, zu
weitgehende Anforderungen zu stellen, ja über das Ziel der Schule hinauszugehen.
Die Schule hat nicht die Aufgabe, Chemiker heranzubilden. Das rein stoffliche
Interesse darf sie daher nicht in den Vordergrund rücken, sondern sie muß unter
möglichster Beschränkung des bloß Stofflichen ihr Augenmerk auf die allgemein-
bildende Seite des Unterrichts richten. Qualitative und quantitative Analysen dürfen
ihr nicht Selbstzweck sein, sondern nur so weit herangezogen werden, als es zur
Erkennung und Begründung der die chemischen Vorgänge beherrschenden Gesetze
notwendig ist. Verliert sie diesen Gesichtspunkt aus den Augen, so stehen die
Erfolge des Unterrichts in keinem richtigen Verhältnisse zu der für sie aufgewandten
Zeit und Mühe. Es ist entschieden zu rügen, wenn hier und da eine spezielle
Fachausbildung bei den Übungen erstrebt wird, die vielleicht später das Lob eines
Hochschullehrers ernten kann, aber doch für die harmonische Ausbildung der
Schüler und damit für die Lösung der eigentlichen Aufgabe der höheren Schule
wenig fruchtbar ist.
Um das rein sachliche Interesse bei den chemischen Übungen nicht über-
wuchern zu lassen, empfiehlt es sich dringend, im Unterricht selbst wie auch bei
den Übungen ein besonderes Augenmerk auf den Zusammenhang mit den übrigen
naturwissenschaftlichen Gebieten zu richten und demgemäß nicht nur die Grenz-
gebiete der Physik sondern auch vor allem die Mineralogie, Geologie und die
Naturgeschichte zu berücksichtigen. Der chemische Unterricht gewinnt durch diese
Erweiterung seiner Lehrziele entschieden an Interesse und an Wert für die gesamte
geistige Ausbildung der Schüler. Es kann mit Befriedigung hervorgehoben werden,
daß an einzelnen Anstalten mit Erfolg der Versuch gemacht wird, dieser Forderung
gerecht zu werden.
Über die naturgeschichtlichen Übungen sprechen sich die Provinzial-
Schulkollegien fast alle sehr zurückhaltend aus mit der Begründung, daß diese
Übungen ja erst seit sehr kurzer Zeit zur Einführung gelangt seien. Offenbar
liegt hier vielfach ein Mißverständnis vor, das leider durch die irreführende Be-
zeichnung , Biologie" veranlaßt worden zu sein scheint und wohl nur diejenigen
naturgeschichtlichen Übungen als solche gelten läßt, die an den neuerdings ein-
494 J- Norrenberg, Die naturwissenschaftlichen Schülerübungen usw.
geführten biologischen, also naturgeschichtlichen Unterricht der oberen Klassen
anknüpfen. Ein Grund mehr die nach jeder Richtung hin mißverständliche Be-
zeichnung „Biologie" in Zukunft durch den eindeutigen Namen , Naturgeschichte"
zu ersetzen. In Wirklickeit sind ja gewiß auf keinem Gebiete die Schülerübungen
mehr verbreitet und seit längerer Zeit erfolgreich gepflegt worden als gerade auf
dem der Naturgeschichte. Gemeinsam in gleicher Front vorgenommene Bestim-
mungsübungen im botanischen Unterricht, Anlegen von Herbarien, von Schmetter-
lings- und Käfersammlungen, die Anlage von Aquarien und Terrarien, Arbeiten
im Schulgarten, Sezieren und Präparieren eines Maikäfers, eines Frosches, eines
Fisches sind doch Übungen, ohne die ein naturgeschichtlicher Unterricht auch auf
der Mittelstufe zum Teil sogar der Unterstufe, kaum denkbar ist oder sein sollte,
und die doch an Wert wenigstens für die Ausbildung der Beobachtungsfähigkeit hinter
einer physikalischen Messung oder einer chemischen Analyse sicher nicht zurück-
stehen. Solche Übungen, die, soweit sich übersehen läßt, an den meisten Anstalten
in weiterem oder engerem Umfange eifrig gepflegt werden, sind infolge des erwähnten
Mißverständnisses, wohl aber auch deshalb, weil sie nicht systematisch eingeordnet
sind, sondern nur gelegentlich stattfinden (s. oben), außer Betracht geblieben.
Aber auch für die eigentlichen naturgeschichtlichen Übungen der Oberstufe haben
sich aus den bisherigen Erfahrungen einzelne wichtige Gesichtspunkte deutlich
ergeben.
Zunächst dürfte es sich auch hier empfehlen, wenn es irgendwie angeht, die
Teilnehmer besonders im Anfange gemeinsam, später aber -in Gruppen zu be-
schäftigen. Voraussetzung ist natürlich, daß die erforderlichen, hier ohne allzu
großen Kostenaufwand zu beschaffenden Einrichtungen und auch die nötigen Mikro-
skope vorhanden sind. Die einzelnen Übungsgebiete (Morphologie, Anatomie,
Physiologie) werden am zweckmäßigsten nicht gesondert, vielmehr in inniger Ver-
bindung behandelt. Unbedingt geboten ist es, sich auch hier vor jedem Übermaß
in stofflicher Hinsicht zu hüten. Die Schüler werden am besten gefördert, wenn
sie einige gut ausgewählte Übungsbeispiele recht gründlich und allseitig erarbeiten.
Endlich müssen sie noch dazu angeleitet werden, ihre Beobachtungen wenigstens
teilweise schriftlich niederzulegen und durch Zeichnungen zu illustrieren. Zuweilen
veranstaltete Exkursionen können nicht nur dazu dienen, den erforderlichen Übungs-
stoff zu sammeln, sondern auch den Blick der Schüler auf das Naturganze hin-
zulenken und die im Laboratorium gemachten Erfahrungen auf die Erklärung der
Erscheinungen draußen im Freien anzuwenden. Wenn die Übungen in dieser
Weise geleitet werden, ist ihr Erfolg gesichert. Der Gesichtskreis der Schüler
wird gerade durch die hier geübte Art der Beobachtung außerordentlich erweitert.
Es geht ihnen nach und nach ein immer tieferes Verständnis auf für dieses wunder-
bare Reich des Lebens mit seinem unendlichen Reichtum an Formen; sie gewinnen
auch einen immer genaueren Einblick in unsere eigene Organisation und in die Be-
dingungen, die für unsere körperliche Entwickelung maßgebend sind, d. h. sie
werden in wirklich eindringlicher Weise mit den hygienischen Anforderungen vertraut
gemacht. Die Gefahr, daß der Unterricht zu einer einseitig naturalistischen Auf-
fassung des Lebens hinführen kann, wenn er in der Hand ungeeigneter Lehrer
liegt, ist allerdings nicht ausgeschlossen, jedoch liegt diese Gefahr auch bei den
F. Gramer, Selbstbetätigung und Selbstverantwortung der Schüler usw. 495
meisten anderen Unterrichtsfächern, jedenfalls in gleichem Maße bei der Physik
und Chemie vor. Derselbe Takt, der für eine wirksame Ausbildung und Erziehung
der Schüler in diesen Gebieten oder etwa im geschichtlichen und religiösen Unter-
richt bedingungslos Voraussetzung ist, muß auch beim praktischen Unterricht in
der Naturgeschichte von dem Lehrer erwartet werden. Gerade eine an der Hand
von selbständigen Schülerübungen erlangte ernste und sorgfältige Vertiefung in
die naturgeschichtlichen Probleme kann vor der Annahme oberflächlicher An-
schauungen und vor allem vor der landläufigen Verwechslung von bloßen Hypo-
thesen und feststehenden Tatsachen behüten.
Zusammenfassend ergibt sich, daß die SchülerObungen auf den drei Haupt-
gebieten der Naturwissenschaft sich vortrefflich bewährt haben und daß ihre weitere
Entwicklung und Ausgestaltung unbedingt im höchsten Maße erwünscht ist. Es
ergibt sich aber auch ferner, daß die naturwissenschaftliche Unterrichtsmethode an
den preußischen höheren Lehranstalten dank der Freiheit, die die preußischen
Lehrpläne gewähren und dank der Leistungsfähigkeit und Arbeitsfreudigkeit der
naturwissenschaftlichen Fachlehrer eine solch erfreuliche Entwicklung genommen
hat, daß die preußische höhere Schule auch auf diesem Gebiete einen Vergleich
mit den Schulen des Auslandes nicht zu fürchten hat.
Berlin. J. Norrenberg.
Selbstbetätigung und Selbstverantwortung der Schüler
auf erziehlichem Gebiet.*)
In seinem bekannten Buche „Erziehung und Erzieher* berichtet Rudolf
Lehmann von einem Schulgespräche mit Primanern, in dem diese ganz offen und
ernsthaft den Betrug in der Schule als etwas durchaus Erlaubtes und Selbst-
verständliches bezeichneten. Daß hier nur mit wünschenswerter Offenheit aus-
gesprochen wurde, was mehr oder weniger als Grundton der Schülerstimmung
überhaupt durchklingt, das wissen wir alle. Woher diese Erscheinung? Zu einem
Teile ist sie die Folge des staatlichen Berechtigungswesens. Die höhere Schule
gilt einem Teile der Allgemeinheit als eine Art Berechtigungsautomat, der gegen
das nötige Kleingeld die Berechtigungsscheine pflichtgemäß zu verabreichen hat:
hier etwas nachzuhelfen, gilt als erlaubt, wenn's gelingt. Auch mag das über-
moderne Streben nach jeder Art von Lebenserleichterung, der leichte Lebensgenuß
um jeden Preis mit hineinspielen. Aber diese Erklärungen können allein nicht
ausreichen, da doch Gottlob das deutsche Volk in seiner Gesamtheit als Träger
einer ernsten sittlichen Lebensauffassung erscheint. Es bleibt meines Erachtens
nichts übrig, als ein gewisses Maß der Schuld auch innerhalb der Schule selbst
zu suchen: Die Schüler verstehen unsere Schule nicht recht, weil dieser selbst
nicht immer gelingen mag, ihren Zöglingen die sittlichen Zwecke, den weitern
ethischen Horizont allen »Reglements" und aller Zucht zu eröffnen. Jedenfalls
*) Nach einem Berichte auf dem 3. Rheinischen Philologentag zu Düsseldorf am
3. Juli 1909.
496 F- Gramer,
darf es sich bei unserer Scliulerziehung nicht handeln um eine Art Repressiv-
system, also um das bloße Zurückdrängen von Unordnung und um das Er-
zwingen äußerlicher Ordnung.
Das Erstrebenswerte vielmehr ist die innere Mitwirkung des Zöglings an
seiner äußerlichen Beherrschung, also der innerlich freiwillige Gehorsam.
Viele von uns werden es sicherlich aus eigener Erfahrung bestätigen, wie hellhörig
und interessiert meistens die Schüler, kleine wie große, aufhorchen, wenn in ge-
eigneter Weise an ihr eigenes Urteil und an ihre eigene sittliche Verantwortung
appelliert wird.
Diese Erziehung zur Selbstüberwindung, zur innern Freiheit der Seele hat
nichts zu schaffen mit dem übertriebenen und mißverstandenen Kultus der Indivi-
dualität, wie er seit einigen Jahren nach amerikanischem Muster auch in Deutsch-
land gepredigt wird. Die beiderseitigen Anschauungen fliehen sich vielmehr wie
Feuer und Wasser. Und grade dies kann ich, etwaigen Mißverständnissen gegen-
über, nicht scharf genug betonen.
Jene angeblichen Freiheitsapostel verwechseln trotz allem Gerede von ,Per-
sönlichkeits-Kultur" durchaus die natürliche, sinnliche Individualität mit der
Innern, geistigen Persönlichkeit. Der alte Aberglaube Rousseaus an die mensch-
liche Natur lebt in ihnen wieder auf; sie säen die individuelle Willkür und Launen-
haftigkeit des Kindes und ernten die geistige Knechtschaft statt der geistigen
Freiheit des Jünglings und Mannes. Nein, der Weg zur wahren Freiheit geht
nach wie vor durch Zucht und Überwindung. Aber diese Zucht und Überwindung
muß übersetzt werden in die Welt der sittlichen Selbstbestimmung.
„Aber," so tönt es mir nun wohl entgegen, „was ihr da redet von freiwilligem
Gehorsam, von der Vermählung von Zucht und Freiheit, das ist ja gar nichts
Neuesl" Ach nein, es ist nichts Neues, es ist sogar etwas sehr Altes; schier
tausend und neun hundert Jahre ist es her, daß auf diese alte Lehre das ewige
Siegel der Vollendung gedrückt worden ist. Aber entspricht in unserer heutigen
Schule allerwegen die Praxis dieser alten und anerkannten Theorie? Kein Zweifel
— damit wir uns nicht mißverstehen — daß wir alle die ethischen Werte nicht
unterschätzen wollen. Die Frage dürfte nur sein, ob wir bei unserer Erzieher-
arbeit immer die zweckmäßigsten Mittel angewandt haben. Auch da, wo der
Drill nicht gleich handgreiflich wird, erscheint doch bisweilen das Regime des
äußeren Zwanges, des starren Gebietens und Verbietens so festgewurzelt, daß wir
daneben mit unsern Bemühungen, auch eine ethische Grundlage zu schaffen, den
Schülern unverständlich bleiben. Ebenso wenig vermag die Anstachelung des
Ehrgeizes zur wahren Selbstbezwingung und Selbstbefreiung zu führen. Und
womöglich noch schwächlicher sind die Versuche, der Erziehungsaufgabe durch
Weckung des Interesses gerecht zu werden, d. h. durch das bloße Gefesseltsein
der Schüleraufmerksamkeit durch den Stoff und seine Darbietung.
Nur das freudige Selbstwollen des Schülers, der aktive Wille zur Be-
herrschung des äußern Menschen, das Bewußtsein der Verantwortlichkeit
vor sich selber vermag zu helfen. Hier liegt der springende Punkt unserer
Forderung. Man hat gesagt, das Charakterbildende liege schon in dem Lernzwang,
in dem festen, wohlüberlegten Antrieb des Unterrichtenden. Charakterbildung
Selbstbetätigung und Selbstverantwortung der Schüler auf erziehlichem Gebiet. 497
stelle sich da von selbst ein. Aber wie ist es denn mit dem Antrieb? Wenn
dieser Antrieb nicht gleichwohl wieder zur Dressur werden soll, so muß dem
Zögling doch das Verständnis für den Eigenwert der zeitweiligen Selbstverleugnung
aufgehen; die Forderungen des Antriebes müssen mit der innersten Persönlichkeit
des Menschen, mit seinem sittlichen Wollen verbunden werden: kurz, der Zwang
soll in freudige Mitwirkung des Schülers zur Verwirklichung des sittlichen Gesetzes
verwandelt werden.
„Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, der es verschmäht."
Was aber sollen wir nun zunächst tun, um das Ziel zu erreichen? Sollen wir
gleich hingehen, um überall alle äußern Experimente des sogenannten Schul-
staates*) (school-city) vorzunehmen? Ich spreche es mit allem Nachdruck aus:
Diese Dinge allein wären ein Körper ohne Seele! Diese äußern Ver-
anstaltungen sind meines Erachtens nicht die Hauptsache, vor allem sind sie nicht
das Ziel. Sie sind ein Mittel zum Zwecke, aber keineswegs das einzige, und
zunächst sind sie nicht einmal das unbedingt Erforderliche. Unsere heutige
Schülergeneration wird ohnehin hier und da wohl noch nicht reif sein zum Mittun ;
ist ja doch ein Volk nicht ohne weiteres dadurch reif zum Verfassungsleben, daß
ihm die Politiker die Urkunde einer Konstitution in den Schoß legen. Da wird
es gewiß noch vieler vorbereitenden Arbeit bedürfen. Gewiß sind Versuche an
geeigneter Stelle und unter zweckmäßiger Leitung durchaus wünschenswert; läßt
es sich doch nicht verkennen, daß gerade bei solcher Mitarbeit der Schüler diesen
selbst ihre Verantwortung sinnfällig vor Augen tritt, und daß gerade so das Ge-
meinleben der Schüler in gesunde, offene Bahnen geleitet wird. Freilich alle solche
Versuche müssen getragen und durchdrungen sein vom Geiste gegenseitigen Ver-
trauens zwischen Lehrern und Schülern und von dem Geiste wahrer, sittlicher
Freiheit. Grundlegend dagegen und geradezu unerläßlich erscheint mir dies: Möchten
wir alle uns mit der Überzeugung erfüllen, daß die gekennzeichnete Freiwillig-
keit des Gehorsams ein erstrebenswertes Ziel und daß sie — die unvermeid-
liche Unvollkommenheit alles Menschlichen abgerechnet — ein erreichbares
Ziel sei. Wo ein Wille ist, wird sich ein Weg zeigen. Die Einkehr bei uns selbst
macht uns zur Umkehr fähig. Dieser Weg braucht nicht — wie ich im Gegensatz
zu Förster glaube — notwendig durch besondere Besprechungen ethischer
Grundfragen zu gehen.**) Das Wesentliche ist vielmehr, daß von der untersten
Stufe an immer dann, wenn das konkrete Schulleben bestimmte Gelegenheiten von
*) Über diese Art der Selbsttätigkeit der Schüler, d. h. ihre Beteiligung an der Schul-
verwaltung hatte vorher auf dem genannten Philologentage Herr Prof. Dr. Heckmann
(Elberfeld^ berichtet und auch bereits eine von ihm entworfene Ordnung vorgelegt; ver-
gleiche die folgende Anmerkung. Auch von der Oberrealschule zu Aachen lag bereits eine
solche Ordnung vor.
**) Fr. W. Förster, Schule und Charakter (Zürich, 1908). Dies Buch gab den Anstoß
zu den Verhandlungen auf dem Philologentage, nachdem das Rheinische Provinzialschul-
kollegium schon vorher auf dies Werk aufmerksam gemacht und zu praktischen Ver-
suchen eingeladen hatte. Vgl. übrigens auch: Herm. Weimer, Der Weg zum Herzen
des Schülers, (München, 1907.)
iMonatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 32
498 A. Pleißner,
selbst bietet, der Erzieher sich erinnere, er sei nicht der Gendarm des Zwanges,
sondern der Anwalt sittlichen Wollens. Im Anfange wird es uns selbst wohl hier
und da etwas Überwindung kosten, folgerichtig den Ton zu finden. Aber der
Erfolg wird uns ermutigen. Und mit der Kraft, die das Ideal dem strebenden
Geiste gibt, wollen wir dem Sänger „des Ideals und des Lebens" folgen:
, . . flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist entflohn,
Und der ewige Abgrund wird sich füllen;
Nehmt die Gottheit auf in euern Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron. "
Versuchen wir es, diesen Weg zu gehen:
es ist der Weg zum Herzen des Schülers.
Leitsätze:
1. Den sichern Grund für die Gesamtaufgabe der Schule legt die Er-
ziehung zum freiwilligen, auf sittlicher Einsicht beruhenden Ge-
horsam.
2. Das wirksame Mittel hierzu ist das stetige und planmäßige Bestreben,
in dem Schüler das Gefühl der Selbstachtung und das Bewußt-
sein der Verantwortlichkeit vor sich selber zu wecken und zu
festigen. Dienlich mag diesem Bemühen die zweckmäßig geleitete Be-
tätigung des Schülers auf dem Gebiete der Schulverwaltung sein.
Düsseldorf. Franz Gramer.
Zur Einführung des Werkunterrichts.
Es war ein verheißungsvolles Zeichen für die äußere Entwicklungsmöglichkeit
des Werk- (Arbeits-) Unterrichts an unserer Schule*), als sich im Winterhalbjahr
1908/09 — wir hatten keinen besonderen Raum, sondern waren auf Klassenzimmer
angewiesen — aus freier Wahl 65 Prozent aller Schüler an Lehrgängen für Papp-
arbeiten und Tonformen beteiligten. Auch jetzt im zweiten Halbjahre (Sommer
1909) sind alle Kurse voll besetzt, trotzdem der Direktor der Anstalt unter Hinweis
auf den nahenden Frühling und Sommer den Schülern dringend geraten hatte,
sich den Eintritt wegen des unvermeidlichen Opfers an Lust und Spiel draußen
in freier Luft doppelt zu überlegen. —
Im eignen Gebäude haben wir eine im Erdgeschoß gelegene Werkstätte, einen
Raum von nahezu 60 qm Bodenfläche. Er enthält elektrisches Licht und Wasser-
leitung. Der Fußboden ist mit Linoleum belegt. An der Decke befindet sich für
elektrischen Kraftbetrieb eine Transmission, an die später einmal zwei Drehbänke
*■) Arndt-Gymnasium in Dahlem.
Zur Einführung des Werkunterrichts. 4^9
und ein Schleifstein angehängt werden sollen. Ausgestattet ist der Arbeitsraum
mit zehn Hobelbänken*); das vollständige Werkzeug dazu befindet sich gemein-
sam in einem Schranke. Durch Auflegen von Linoleuraresten (Geschenk der Firma
Quantmeyer & Eicke, Berlin, Wilhelmstr.) eignen sich die Bänke auch im Betriebe
der Papp- und Modellierkurse. Eine innen mit Zink ausgeschlagene Kiste enthält
den Modellierton. Jedem Teilnehmer im Tonformen steht ein mit eingeschobenen
Gratleisten versehenes kiefernes Brett**) (gebaut von einem ansässigen Tischler)
zur Verfügung. An den Längsseiten des Arbeitsraumes bieten Bänke Gelegenheit
zu vorübergehendem Ausruhen. Schließlich ist an der den Schülern zugekehrten
Wand eine schwarze Tafel (für Zeichnungen) angebracht. Nach und nach wird
die Einrichtung mehr und mehr vervollkommnet werden. Besondere Schränke zur
Aufnahme von Vorbildern (z. B. Natur- und Lebensformen für das Modellieren)
enthält der Arbeitsraum nicht; sie werden je nach Bedarf den Sammlungen für
den naturwissenschaftlichen und den Zeichenunterricht entnommen. Die von den
Schülern angefertigten Gegenstände werden in einem Räume neben dem Zeichen-
saal untergebracht.
Bis jetzt sind vier Kurse eingerichtet: je einer für Hobelbankarbeit und für
Modellieren und zwei für Papparbeiten. Die Kurse sind wahlfrei, dauern jedesmal
ein halbes Jahr und werden wöchentlich in zwei Stunden am späteren Nachmittag
abgehalten. Es bestehen Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene. Papparbeiten
sind berechnet für Schüler aus Sexta und Quinta (Höchstzahl der Teilnehmer 15);
Modellieren (15) und Holzarbeiten (10), je nach Neigung und Körperkraft für
Schüler aus allen Klassen von Quarta an aufwärts. Im Laufe der Jahre sollen
noch Kurse eingerichtet werden für Metallbearbeitung und Anfertigung physikali-
scher Apparate. Eine besondere Schulordnung für den Werkunterricht halten wir
nicht für nötig.
Sämtliche Rohstoffe (Papiere und Pappe***), Klebstoff, Holzf), Tonft), dazu
das gesamte Werkzeug für Holzarbeiten bekommen die Schüler geliefert. Für die
Papparbeiten muß sich jeder Schüler ein Pappmesser und ein Falzbein (35 Pf.)
anschaffen; ebenso hat für das Modellieren jeder einzelne sein eigenes Handwerks-
zeugt}-}-). Als Entschädigung für die Materialien bezahlen die Teilnehmer beim
Modellieren und bei den Papparbeiten je 4 M. vierteljährlich, bei den Hobelbank-
arbeiten je 7 M. Es ist beabsichtigt, diesen Betrag herabzusetzen, sobald kein
Überschuß für Neuanschaffungen mehr nötig ist; der Betrieb soll sich dann nur
selbst erhalten. Am Ende jedes Halbjahres bekommen die Schüler ihre Arbeiten
als ihr Eigentum zurück. Den Abschluß eines Kursus soll eine öffentliche Aus-
stellung bilden, deren wirkungsvolle Herrichtung die Schüler selbst lernen sollen.
Die Neueinrichtung der Hobelbankwerkstatt kostet gegen 550 Mark; die Neu-
*) Geliefert von J. G. Degner, Berlin, Gertraudtenstr.
**) Verschiedene Größen; Stück durchschnittlich 0,90 M.
***) Winckler, Leipzig, Seeburgstr. 47.
t) Aus der nächsten Holzhandlung,
tt) Belitzer Ton von Gebrüder Baentsch, Dölau bei Halle. 50 kg 1,40 M. inkl. Sack.
ttt) Modellierkästchen (mit Pinsel, Schwämmchen und drei Hölzern; liefert das
Albrecht Dürer-Haus, Berlin. 1,50 M.
32*
500 A. Pleißner, Zur Einführung des Werkunterrichts.
anschaffungen und Unterhaltungskosten für Papparbeiten (Leim, Buntpapiere, Ösen
Haken, Pausleinen) rund 30 Mark, für Modellieren (Ton) rund 10 Mark und Hobel-
bankarbeiten (Holz, Nägel, Schrauben, Schleifen der Werkzeuge) rund 40 Mark
werden reichlich durch das von den Schülern erhobene Schulgeld gedeckt. Der
den gesamten Werkunterricht erteilende Lehrer ist auf dem Lehrerseminare für
erziehliche Knabenhandarbeit in Leipzig vorgebildet und gibt den Unterricht als
Überstunden, deren einzelne mit 90 Mark jährlich bezahlt wird. Diese Stunden
sollen später zu seinen Pflichtstunden gehören.
Für uns ist der Werkunterricht ein wichtiges Erziehungs- und Unterrichts-
mittel. Er ist kein „technisches" Fach. Er steht in fortwährender Beziehung zum
Erkenntnis- und Zeichenunterricht und zum praktischen Leben, er ist angewandte
Kunstpflege und will ein Gegengewicht sein gegen die rein intellektuelle Arbeit
der Lernschule. Gearbeitet wird nicht ausschließlich nach einem der vorliegenden
Lehrgänge*). Möglichst bald und oft wird individualisiert; Aufgaben werden durch-
geführt, die sich die Schüler selbst stellen. Die einzelnen Gegenstände, die stets
einen praktischen Wert haben und nicht bloß Übungen darstellen, werden nach Größe,
Form und Ausstattung verschieden angefertigt. Unter äußerster Wahrung des
Prinzips der Selbsttätigkeit wird bei der Anfertigung eines neuen Gegenstandes
folgender Lehrweg durchschritten:
1. Was soll ich bauen?
Namen des Gegenstandes; Untersuchung des kindlichen Gedanken-
inhaltes darüber, Zeichnen an die Wandtafel.
2. Wie groß soll der Gegenstand werden?
Selbstfindenlassen der entsprechenden Maße und Eintragen in die
Zeichnung; die Zeichnung lesen lernen.
3. Welche Rohstoffe und Werkzeuge brauche ich?
Material- und Werkzeugkunde; Wertberechnungen; Wert der eignen
Arbeit.
4. Welche Arbeiten muß ich der Reihe nach ausführen?
Ökonomie in Zeit und Kraft.
5. Wie könnte ich meinem Gegenstande einen Schmuck geben?
Schmuck, entwickelt aus dem Zweck des Gegenstandes. Beizen,
Wachsen, Polieren. Anwendung der verschiedenen Ziertechniken (Schnitzen,
Brennen, Intarsia).
6. Welche Fehler kann ich vermeiden?
Falsche Behandlung des Materials und des Werkzeugs; wobei könnte
ich mich verletzen?
7. Herstellen des Gegenstandes.
Noch haben wir bis jetzt keine anderen Erfahrungen gesammelt als diese:
daß auch an unseren Schülern der Werkunterricht seine altgewohnte, werbende
*) Wie Grimm, Lehr- und Modellgang etc. — Die Vorlagen der Leipziger Schüler-
werkstatt. Leipzig, Frankenstein & Wagner. Koch-Knutzsch, Lehrgang und Anleitung etc.
Leipzig, Hahn.
A. Tiltnann, Statistisches über das Frauenstudium. 501
Kraft ausübt und daß er im Schüler alle die hohen Lustgefühle auslöst, die der
unmittelbare, sichtliche Erfolg bereitet.
Bei mehreren Schülern, die wegen Kränklichkeit vorübergehend von einem
Teile des wissenschaftlichen Unterrichts befreit werden mußten, war es gerade
„das schaffende Lernen", der Arbeitsunterricht, der ihr Selbstvertrauen und die
Freude an der Schule wach erhielt. Und das halten wir für das Beste an unserem
Fache, daß es Freude und Begeisterung und Zuversicht bereitet im Leben des
Schülers. Deswegen stehen wohl ausnahmslos die Eltern unserer Jungen dem
Arbeitsunterrichte mit regem, dankbarem Interesse gegenüber. Ihnen soll von Zeit
zu Zeit Gelegenheit geboten werden, dem Betriebe in unserer Werkstatt bei-
zuwohnen.
Dahlem. A. Pleißner.
Statistisches über das Frauenstudium.*)
In den Bestimmungen über die Immatrikulation der Frauen ist eine Änderung
eingetreten: sie bezieht sich auf solche Frauen, welche die Universität mit dem
Ziele der Oberlehrerinnenprüfung besuchen. Bisher wurden diese Frauen unter
§ 3 der Vorschriften für die Studierenden subsumiert und erhielten die sogenannte
kleine Matrikel; deshalb bedurfte ihre Zulassung der besonderen Genehmigung des
Ministers. Dies hat mehr eine formelle als materielle Bedeutung gehabt, denn alle
Frauen, welche die Schulbildung, die erfordert wird für die Zulassung zur Ober-
lehrerinnenprüfung, nachwiesen, wurde die ministerielle Genehmigung anstandslos
erteilt. Die Änderung, welche der Erlaß vom 11. April dieses Jahres gebracht hat,
besteht nun darin, daß diese Frauen unter § 2, Absatz 2 der Vorschriften gestellt sind.
Dort werden diejenigen Kategorien behandelt, von welchen — wie den Apothekern,
früher auch den Zahnärzten und Tierärzten — Universitätsstudien gefordert werden,
ohne daß sie das Reifezeugnis einer neunstufigen höheren Lehranstalt nachzuweisen
haben. Hierdurch werden jene Frauen der sogenannten großen Matrikel teilhaftig.
Die praktische Bedeutung der Änderung besteht in der Hauptsache darin, daß die
Notwendigkeit der ministeriellen Genehmigung für die Immatrikulation fortgefallen
ist. Für die statistische Untersuchung über das Frauenstudium ist dieser Erlaß
ohne Bedeutung. Ob die gleichzeitig angeordnete Steigerung der Anforderungen
des Oberlehrerinnen -Examens einen Einfluß auf das Frauenstudium ausüben wird,
bleibt abzuwarten. Es sind nämlich durch einen Erlaß vom 3. April dieses Jahres
jene Anforderungen bis auf das Maß der Prüfung pro facultate docendi erhöht worden;
das Oberlehrerinnen -Examen ist also erheblich schwerer geworden. Was aber die
Zahlen selbst betrifft, so studierten im Sommersemester 1909 an preußischen Uni-
versitäten 1464 Frauen gegen 1188 im Sommersemester 1908; es hat also eine
Vermehrung der studierenden Frauen stattgefunden. Für die einzelnen Fakultäten
stellt sich die Sache folgendermaßen:
*) Vgl. Seite 309 des Jahrgangs 1909.
502 A. Tilmann, Statistisches über das Frauenstudium.
In der theologischen Fakultät 1909: 26 1908: 32
„ „ juristischen „ „ 13 „14
„ „ medizinischen „ „ 183 „ 142
„ „ philosophischen „ „ 1242 , 1000
Unter den Studentinnen des Sommersemesters 1909 sind die immatrikulierten
in der Mehrzahl, die Gastzuhörerinnen in der Minderzahl. Insgesamt waren imma-
trikuliert 935 Frauen, und zwar inskribiert
in der theologischen Fakultät . 8
„ „ juristischen „ 8
„ medizinischen „ 155
„ philosophischen „ 764
Gr.-Lichterfelde. A. Tilmann,
II. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Aus den Veröffentlichungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs-
und Schulgeschichte. (Jahrgang 1908.)
1. Bolte, Johannes, Andrea Guarnas Bellum Grammatieale und seine
Nachahmungen. Berlin 1908. A. Hofmann & Co. 92 u. 307 S. 8°. 11 M.
In dieser Ausgabe erscheint bereits der 43. Band der Monumenta Germaniae
Paedagogica. Bolte bietet darin eine mit bewundernswertem Fleiße ausgeführte Zu-
sammenstellung des Originals und der zahlreichen Nachahmungen dieses eigen-
artigen und für die Schulgeschichte hochwichtigen Werkes. Sein Verfasser, der
Humanist Andrea Guarna, entstammt einer italienischen Soldatenfamilie. Sein
Großvater hatte in Francesco Sforzas Diensten gestanden, und zwei seiner Brüder
lebten ebenfalls vom Schwerte. Solch kriegerische Umgebung — auch an Bürger-
kriegen war Italien nicht arm — erklärt es wohl, daß Guarna auf den Gedanken
kam, die Entstehung der Unregelmäßigkeiten in der lateinischen Sprache aus einem
Streite zu erklären, den einst die Könige Amo, der Beherrscher der Verba, und
Poeta, der Gebieter der Nomina, ausgefochten hätten. Jene Unregelmäßigkeiten
werden als die Spuren der Wunden und Verluste dargestellt, die dieser Krieg mit
sich brachte. Das Werkchen hatte einen gewaltigen Erfolg: das beweisen schon
die 107 Ausgaben, die Johannes Bolte festgestellt hat und von denen der Löwen-
anteil Deutschland zufällt; das beweisen ferner die Übersetzungen und die zahl-
reichen epischen und dramatischen Nachbildungen, die das von Guarna erfundene
Motiv den verschiedensten Zwecken dienstbar machen. Man kann Boltes prächtige
Einleitung und die übersichtliche Zusammenstellung der Texte dem geschichthch
interessierten Pädagogen wie dem Kultur-, Literar- und Musikhistoriker — auch
zu musikalischen Lehrzwecken wurde das Werk umgearbeitet — in gleicher Weise
empfehlen.
2. Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schul-
geschichte. XVIII. Jahrgang. 1.— 4. Heft. 340 S. S». Preis für Nichtmitglieder 8 M.
Die „Mitteilungen" des vergangenen Jahres leitet Georg Kampf fmey er mit
einem Aufsatz über den niederländischen Humanisten Nicolaus Clenardus ein
(S. 1—22). Clenardus war ein geborener Pädagoge und zudem eine durchaus
eigenartige, eindrucksvolle Persönlichkeit. In Löwen vorgebildet, lehrte er dort
504 H. Weimer,
von 1520—31 mit großem Erfolge Griechisch und Hebräisch. Sein Ideal aber war
die Erlernung der arabischen Sprache, die er später in seinem geliebten Löwen
als erster Europäer seine Zeitgenossen lehren wollte. Mit unendlicher Mühe
arbeitete er sich an der Hand eines polyglotten Psalteriums, das auch eine ara-
bische Kolumne enthielt, in die Geheimnisse dieser Sprache ein, reiste dann nach
Spanien und schließlich auch nach Marokko, starb aber nach mehr als einjährigem
Aufenthalt daselbst in Spanien, ohne sein Heimatland wiederzusehen. Die sprach-
unterrichtlichen Versuche des Clenardus, von denen uns Kampffmeyer eine an-
schauliche Probe gibt, sind sehr interessant. — In die Zeit des Humanismus ver-
setzen uns auch Friedrich Meyers Angaben über den Schulplan, den die Huma-
nisten Leichius und Velsius (letzterer auch ein Niederländer und früherer Lehrer
am Collegium trilingue in Löwen) 1552 für das Dreikronenkolleg in Köln
ausgearbeitet haben (S. 23—32). Ging diese Anstalt auch schon nach vierjährigem
Bestand in die Hände der Jesuiten über, so ist der Lehrplan doch schon wegen
seiner mannigfachen Berührungspunkte mit den in Löwen und von Sturm ver-
tretenen Anschauungen der Beachtung wert. — Johann Michael Reu, der durch
sein groß' angelegtes Werk „Quellen zur Geschichte des Katechismusunterrichtes •
die Geschichte der religiösen Jugendunterweisung so hervorragend gefördert hat,
weist in einem Aufsatz über die deutsch-lateinische Magdeburger Schulaus-
gabe des kleinen Katechismus Luthers auf die große Verbreitung und den
tiefgehenden Einfluß hin, den diese Fassung (in erster Ausgabe von Georg Major
stammend) gewonnen hat, und sucht unter gleichzeitiger Kritik von einschlägigen
früheren Arbeiten Knokes und Albrechts die zeitliche Reihenfolge der bis jetzt
bekannt gewordenen Drucke dieser Ausgabe festzustellen (S. 33—43). — Max
Schneider liefert in seiner Zusammenstellung der Themata der lateinischen
Schülerreden vom Gymnasium Illustre in Gotha die Fortsetzung zu der schon
im 17. (nicht 18.1) Jahrgang veröffentlichten Liste von Schülerdisputationen der-
selben Anstalt (S. 44—56). Wenn wir auch keinen Einblick in die Reden selbst
gewinnen können — nur einige davon sind gedruckt worden — , so ist doch schon
die Wahl der Themen für ihre Zeit höchst charakteristisch und daher ihre Zu-
sammenstellung für die Schulgeschichte wertvoll. Mir ist eine besondere Vorliebe
für die Wahl aktueller Themata aufgefallen: mehr oder weniger berühmte Persön-
lichkeiten der Zeitgeschichte werden häufiger zum Gegenstand oratorischer Er-
örterungen gemacht. Schneider sollte jedoch der Klarheit wegen die Mitteilungen
(abgekürzt Mitt.) nicht als »Zeitschrift" zitieren.
Die umfangreichste Abhandlung dieses Jahrgangs bildet die Schilderung, die
Heinrich Willemsen von der Entwicklung des bergischen Schulwesens unter
der französischen Herrschaft gibt (S. 65—95 und 153—209). Die fleißige
Arbeit baut sich in erster Linie aus dem Material auf, das dem Verfasser die ein-
schlägigen Akten des Staatsarchivs zu Düsseldorf boten. Die bergische Regierung
hatte die besten Absichten, die in ihrem Machtbereich liegenden höheren und
niederen Schulen zu fördern, und eine Reihe von Erlassen und Entwürfen sprechen
deutlich für ihren Eifer um die Hebung des arg daniederliegenden Unterrichts-
wesens. Galt es doch die Schulen aus den verschiedensten Gebietsteilen (Bayern,
Preußen und Kurköln) zu einem einheitlichen Organismus zu verschmelzen. Aber
Aus den Veröffentl der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- u. Schulgeschichte, 505
wenn man die ständigen Veränderungen im Besitzstand des ephemären Staaten-
gebildes und die durch die vielen Kriege Napoleons hervorgerufenen drückenden
Militärlasten in Betracht zieht, so versteht man, daß alle Arbeit der Bergischen
Regierung um die Förderung des Schulwesens eine Sisyphusarbeit sein mußte.
Willemsen verzeichnet mit Genugtuung eine gewisse Aufwärtsbewegung des Volks-
schulwesens, die sich in der energischeren Durchführung des Schulzwanges, in
bescheidener pädagogischer und teilweise auch materieller Förderung des Volks-
schullehrerstandes kundgibt; aber das ist auch alles, was sich an positiven Ergeb-
nissen feststellen läßt. Wie kläglich steht dagegen das höhere Schulwesen des
bergischen Landes da, wenn man es mit der gleichzeitigen glänzenden Ent-
wicklung desselben Bildungszweiges in dem äußerlich niedergetretenen Preußen
vergleicht!
In den Osten der preußischen Monarchie führen uns Gustav Bauchs Bei-
träge zur älteren Liegnitzer Schulgeschichte (S. 96—135), deren Ver-
öffentlichung durch die sechshundertjährige Jubelfeier des evangelischen Gymna-
siums zu Liegnitz, der ehemaligen Pfarrschule zu St. Peter und Paul, mitveranlaßt
worden ist. Ältere Versuche, einer Geschichte dieser Anstalt sind wohl vorhanden,
aber besonders die letzte dieser Bearbeitungen von A. H. Kraffert (1869) ist sehr
dilettantisch und fehlerhaft. Bauch liefert nun in seinen Beiträgen wertvolles Ma-
terial für eine Neubearbeitung dieser Anstaltsgeschichte. Er stellt zunächst die
spärlichen urkundlichen Daten über die Geschichte des Kollegiatstiftes zum hl. Grabe,
dann die kaum zahlreicheren über die Entwicklung der Marienschule zusammen
und verfolgt endlich im Hauptteil seiner Abhandlung die Geschichte der wichtig-
sten der drei alten Liegnitzer Bildungsanstalten, der Pfarrschule zu St. Peter und
Paul, die durch Stiftungsurkunde vom 31. Dezember 1908 vom Bischof Heinrich von
Breslau zum Range einer Partikularschule erhoben und im 16. Jahrhundert mit der
Marienschule zum heutigen städtischen Gymnasium vereinigt wurde. Besonders reiche
historische Angaben liefert Bauch über die Rektoren und Lehrer dieser Schule von
der Mitte des 16. bis ins erste Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. — Georg Huth
bringt neues Material zur Geschichte des neusprachlichen Unterrichts
in den Ländern deutscher Zunge (S. 210—223). Er teilt den Stoff ein nach Ländern
und Landschaften, bestimmten Schulen und einzelnen Personen. Besonders inter-
essant sind die aus Schwarzens Buch über die „Neumärkischen Schulen am Aus-
gang des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts" entlehnten Bemerkungen über die
französischen Aufsätze der preußischen Abiturienten dieser Zeit, in denen ebenso
gern aktuelle Themata behandelt weiden wie in den von Schneider aufgezählten
lateinischen Schülerreden des Gothaer Gymnasiums.
Das vierte Heft bietet als erste größere Abhandlung den Abdruck eines Vor-
trags von Wilhelm Münch über die Theorie der Fürstenerziehung im Wandel
der Jahrhunderte. Eine gewaltige Fülle von Abhandlungen ist im Laufe der
Jahrtausende in allen möglichen Sprachen über dieses Problem geschrieben worden.
Sie harren noch einer zusammenfassenden, eingehenderen geschichtlichen Be-
trachtung. Münch stellt in seinem Vortrag die großen Richtlinien auf, die für eine
Einteilung des riesigen Stoffes maßgebend sein werden, und hebt geschickt die
Haupterscheinungen heraus, an denen er den Wandel der Anschauungen auf diesem
506 G. Sachse,
Efziehungsgebiete seinen Hörern nahe bringt und auch die geschichtlichen Zu-
sammenhänge andeutet. — Für die Praxis der Fürstenerziehung liefert das folgende
von H. Wäschke zusammengestellte Archivinventar zur Geschichte des an-
haltischen Schulwesens gelegentlich auch wertvolles Material. Sein Haupt-
zweck ist freilich ein anderer. Wissenschaftliche bildungsgeschichtliche Forschungs-
arbeit ist nur möglich, wenn die zahllosen schulgeschichtlichen Akten der staatlichen
und städtischen Archive dem Forscher leichter zugänglich gemacht werden. Wäschkes
Inventar ist nun als Muster einer fachmännisch brauchbaren Archivregistrierung ab-
gedruckt worden. Wer die Zusammenstellung auch nur einmal flüchtig durch-
arbeitet, der wird staunen über die Fülle des Stoffes, die noch wissenschaftlicher
Bearbeitung harrt.
Auf den Inhalt der kleinen Beiträge, die sich am Ende der einzelnen Hefte
befinden, können wir nicht näher eingehen. Hingewiesen sei nur auf den warm
empfundenen, dem Andenken Friedrich Paulsens gewidmeten Nachruf von
Alfred Heubaum, der Paulsens wissenschaftliche Bedeutung als Philosoph und
Pädagog eingehend und bei aller persönlichen Verehrung durchaus sachlich
würdigt.
3. Historisch - pädagogischer Literaturbericht über das Jahr 1907.
17. Beiheft der Mitteilungen der Ges. f. deutsche Erziehungs- u. Schulgeschichte.
VI u. 248 S. 80. 3 M.
Der große Sammelbericht über die bildungsgeschichtliche Literatur des
Jahres 1907 ist an Umfang seinem Vorgänger fast gleich. Die Einteilung des
Stoffes ist mehrfach geändert, die Zahl der zu besprechenden Kapitel vermehrt
worden. Die Fröbelliteratur hat einen besonderen Referenten erhalten, die Berichte
über historisch-pädagogische Arbeiten aus dem Gebiete des katholischen Religions-
unterrichts, des deutschen, geschichtlichen, geographischen, sowie des Anschauungs-,
Zeichen- und Turnunterrichts sind neu hinzugekommen. Auch der Abschnitt über
territoriale Bildungsgeschichte hat durch Besprechung der Arbeiten über Bayern,
Baden, Mecklenburg und Braunschweig Zuwachs erhalten. Neben Sonderschriften
über das Studentenleben werden endlich die großen Enzyklopädien von Rein und
Loos kritisch gewürdigt. Besonders zu begrüßen ist das (im Vorjahre fehlende)
Sachregister, das nun für beide Jahrgänge angefügt worden ist. So wächst sich
der Literaturbericht in erfreulicher Weise zu einem immer vollkommeneren Orien-
tierungswerk aus.
Wiesbaden. Hermann Weimer.
Griechische Grammatiken und Übungsbücher.
Die Frage, ob es ratsam sei im Unterricht Chrestomathieen zu verwenden,
wird verschieden beantwortet. Es scheint mir nicht richtig, sie ohne Einschränkung
zu bejahen. Man wird stets darauf bedacht nehmen müssen, dem Schüler eine
vollständige Schrift, etwas Abgerundetes vorzulegen; denn nur dann kann er die
Folgerichtigkeit der Durchführung eines Themas und die Kunst der Darstellung
erkennen. So wird man Reden auch von größerem Umfange nicht im Auszuge
bieten dürfen.
Griechische Grammatiken und Übungsbücher. 507
Anders scheint es bei geschichtlichen Darstellungen zu sein; doch auch hier
dürfte, wenn man an Thukydides, Livius, die Annalen und Historien des Tacitus
denkt, eine Auswahl nicht zweckmäßig sein, nicht etwa weil jemand auf den Ge-
danken kommen könnte, ein oder zwei Bücher unverkürzt, ohne Rücksicht auf
den Zusammenhang oder auf die Vollständigkeit der geschilderten Zustände oder
erzählten Ereignisse, lesen zu lassen, sondern weil den Erwägungen des Lehrers
über das für die jeweilige Schülergeneration Notwendige und über die Ergänzung
und Bereicherung der in anderen Lehrstunden angeregten Gedanken eine nach
andern Gesichtspunkten getroffene" Wahl entgegentritt.
Wie steht es mit Schriften philosophischen Inhalts? Auch hier halte ich es
aus den oben angeführten Gründen für notwendig, daß die Schrift unverkürzt ge-
lesen wird. Aber selbst wenn sie den Umfang hat, wie Ciceros tuskulanische Er-
örterungen oder seine Schriften über die Pflichten oder über das höchste Gut und
das höchste Übel, ist es zweckmäßig, wenn jeder Lehrer selbst den Lehrstoff aus
der ganzen Schrift bestimmt; es gibt ja noch eifrige, wißbegierige Schüler, die,
da sie die unverkürzte Schrift in Händen haben, die Gelegenheit benutzen, ihr
Wissen durch private Lektüre der ausgelassenen Stellen zu vervollständigen. Bei
der beschränkten Stundenzahl kann jedes Jahr nur eine solche Schrift in dieser
Ausführlichkeit behandelt werden; andere Schriften, die ähnliche Gedanken er-
örtern, können schon wegen der Anschaffungskosten, die bei manchem Schüler
sehr ins Gewicht fallen, zur Bereicherung der Kenntnisse von den Anschauungen
des Verfassers über den behandelten Gegenstand nicht herangezogen werden.
Diesem Übelstande wird durch eine Zusammenstellung der in anderen Schriften
ausgesprochenen Gedanken des Schriftstellers über die in Betracht kommenden
Fragen abgeholfen.
Diese Fragen sind meist ethischer Natur. Dies entspricht einmal den An-
schauungen des Altertums, das solche, das Zusammenleben der Menschen beför-
dernde Erwägungen gern angestellt hat, und dann erregen sie, in genauer Um-
grenzung dargeboten, das Interesse der Schüler am lebhaftesten.
Eine solche Auswahl aus den Schriften Ciceros oder Piatos kann zweitens die
Kenntnisse von der Art, wie sie derartige Dinge behandeln, bereichern und ver-
tiefen. Für Plato verweise ich auf den Aufsatz von E. Höttermann in der Zeit-
schrift für das Gymnasialwesen LXIII (1909), S. 81—102.
Ich habe schon vorhin bemerkt, daß einige Schriften unverkürzt von den
Schülern gelesen werden müssen. Dazu rechne ich Apologie und Kriton. Ich
kann es nicht billigen, daß Weißenfels in seinem Buche: „Auswahl aus Plato"
diese beiden Schriften im Auszuge darbietet. Alles übrige, was diese „Auswahl"
enthält, ist trefflich, nur hätte ich es lieber gesehen, wenn er die aus verschie-
denen Schriften ausgewählten Abschnitte nach bestimmten Gesichtspunkten ge-
ordnet hätte. Dies hat Schneider in seinem Lehrbuch aus Plato getan; der Schüler hat
die in verschiedenen Schriften über denselben Gegenstand angestellten Erwägungen
zusammen. Doch vermisse ich bei ihm anregende Stellen aus der Politeia. Sie
hätten Aufnahme finden können, wenn die Apologie und der Kriton nicht abge-
druckt worden wäre. Dadurch wird der Argwohn geweckt, als ob das Lehrbuch
mit dieser Auswahl für die Platolektüre ausreichen soll. Sollte dies wirklich die
508 G- Sachse,
Ansicht des Herausgebers sein, so bedauere ich, bei aller Wertschätzung des ver-
dienten Verfassers der „Hellenischen Welt- und Lebensanschauungen ", dieser An-
sicht nicht beipflichten zu können; aber ich begrüße diese Zusammenstellung
freudig, weil sie Gelegenheit bietet, die aus der üblichen Klassenlektüre gewonnenen
Kenntnisse zu ergänzen und zu vertiefen.
Werden die Chrestomathieen zu diesem Zweck zusammengestellt und in dieser
Absicht benutzt, so sind sie ein wertvolles Hilfsmittel für den Unterricht. Die
von Wilhelm Münch in dieser Monatschrift VIII (1909), S. 114 bei der Besprechung
der während eines Ferienkursus von Gerhard Budde gehaltenen Vorträge „der
Kampf um die fremdsprachliche Methodik" mit bezug auf seine Zusammenstellung
von Ausschnitten aus den Schriften französischer und englischer Philosophen aus-
gesprochene Befürchtung trifft bei solchen Chrestomathieen nicht zu.
Ich habe oben gesagt, daß bei der beschränkten Stundenzahl neben den an-
deren Lektürestoffen jährlich nur ein größerer Platonischer Dialog gelesen werden
kann. Das macht für die Primazeit zwei. Die Studienordnung für die höheren
Mädchenschulen und Lyceen, wie sie im Zentralblatt für die gesamte Unterrichts-
verwaltung i. J. 1908 (im Dezemberheft) abgedruckt ist, setzt für einen zwei-
jährigen Zeitraum 2 — 4 Dialoge fest. Diese Zahl soll, wie es mir nach den Aus-
führungsbestimmungen (S. 941) scheinen will, dadurch erreicht werden, daß nicht
allen Schülerinnen dasselbe Pensum zur Präparation aufgegeben wird, sondern
abwechselnd einzelne Schülerinnen die Erklärung und Übersetzung zusammen-
hängender Abschnitte übernehmen, während die übrigen zur nachträglichen Be-
sprechung herangezogen werden. Nach meinen Erfahrungen halte ich dieses Mittel
zur Erledigung größerer Lektüreaufgaben nicht für zweckmäßig. Ich lasse viel extem-
porieren; aber das Tempo des Übersetzens ist kein übermäßig schnelles und das
Verständnis wird allen gleichmäßig vermittelt. Präpariert sich aber nur einer, so
geht das Übersetzen schneller, die Befürchtung liegt nahe, selbst wenn die Über-
setzung das richtige Verständnis des Übersetzenden bekundet, daß es schwächeren
Schülern schwer fällt, in das Verständnis einer zu Hause nicht vorbereiteten Stelle
einzudringen und daß dadurch das Fortschreiten aller verlangsamt wird.
Nach diesen Bemerkungen, zu denen mich das Studium der im Jahre 1908
der Schriftleitung zur Besprechung eingesandten Unterrichtswerke für den Unter-
richt im Griechischen und Erwägungen über den Lehrplan für die höheren
Mädchenschulen veranlaßt haben, wende ich mich zur Berichterstattung.
Harries, Lehrgang des griechischen Unterrichts in Unter- und Ober-
tertia. Leipzig 1908. Quelle und Meyer. 50 S. 8». geh. 0,80 M.
Eine so ausführliche Anleitung erscheint mir bei der sorgsamen Einführung
der Kandidaten in die Methodik des Unterrichts während des Seminarjahres nicht
notwendig. Davon abgesehen erhält der Anfänger manch wertvollen Fingerzeig
für erfolgreiche unterrichtliche Tätigkeit. Die Auswahl der syntaktischen Regeln
ist wohl erwogen.
Klement, Schulgrammatik der griechischen Sprache. Auf Grund von
V. Hintners Griechischer Schulgrammatik bearbeitet. Wien 1908. Alfred Holder.
IV u. 191 S. 80. geh. 2 K. 50 h., geb. 3 K.
Verfasser führt neben den häufig sich findenden Formen auch weniger oft
Griechische Grammatiken und Übungsbücher. 509
gebrauchte an, gibt auf jeder Seite unter dem Strich bei den betreffenden Para-
graphen die Abweichung des homerischen und herodoteischen Sprachgebrauchs
vom attischen an und fügt sprachgeschichtliche Erläuterungen an geeigneter Stelle
hinzu. Die Grammatik ist sehr brauchbar; nur wird in einer neuen Auflage
manches Überflüssige wie die Definition schon dem Sextaner geläufiger gramma-
tischer Begriffe weggelassen, manches geschickter dargestellt werden müssen.
Klement, Elementargrammatik der griechischen Sprache. Auf Grund
der Griechischen Schulgrammatik von Hintner-Klement. Wien 1909. Alfred Holder.
100 S. 80. geh. 1 K 30 h., geb. 1 K 80 h.
Die Grammatik ist ein Auszug aus der Schulgrammatik. Sehr viele Para-
graphen sind verkürzt, nicht wenige ganz oder zum Teil weggefallen, manche
Bemerkungen sind durch kleinen Druck wiedergegeben, manches in der Schul-
gramraatik klein Gedruckte ist hier in großem Druck wiedergegeben. Ganze
Paragraphen oder Teile sind umgestellt, einige Regeln anders gefaßt, auch neue
Zusätze gemacht. Nicht alle Zusammenziehungen betrachte ich als Verbesserungen
(cf. § 165 und § 192). Ein großer Teil der Erläuterungen unter dem Texte auf den
einzelnen Seiten ist, wenn auch verkürzt, beibehalten. Die Grammatik ist auch in
dieser Bearbeitung brauchbar.
Maurenbrecher, B. und Wagner, R., Grundzüge der klassischen Philo-
logie. Band II, 1. Abteilung: Griechische Grammatik von Reinhold
Wagner. Stuttgart 1908, Wilhelm Violet. 218 S. 8". geh. 3,50 M.
Diese, die einschlägigen Schriften sorgfältig benutzende, für die einzelnen
Abschnitte die Literatur vollständig gebende, gesicherte Ergebnisse bietende Schrift
kann den Studierenden warm empfohlen werden.
Stürmer,F.,Wörterverzeichnis zu den griechischen Übungsbüchern von Prof.
Dr. O. Kohl. Teil I u. II (Stück 1—30) etymologisch bearbeitet. Halle a. S. 1908,
Buchhandlung des Waisenhauses. 80 S. 8°. geh. 1 M.
Verfasser hat aus den Kohlschen Wörterverzeichnissen geeignete Wörter aus-
gewählt und eine Reihe davon abgeleiteter oder damit zusammengesetzter Wörter
mit Erklärungen hinzugefügt. Eine teilweise Wiederholung ist unvermeidlich ge-
wesen. Die Hoffnung, daß diese Zusammenstellung im Unterricht Nutzen stiften
werde, teile ich leider nicht.
Schneider, Gustav, Lehrbuch aus Piaton. Für den Schulgebrauch heraus-
gegeben. Leipzig 1909, G. Freytag G. m. b. H. 136 S. 8». geb. 1,50 M. =
1,80 K.
Dem Texte ist vorangeschickt eine Darstellung der vorsokratischen Philosophie
der Griechen, des Wesens der Sophistik und des Lebens und der Lebensanschau-
ungen des Sokrates und des Piaton. Den Schluß bildet eine Reihe selbständiger
Textänderungen und ein Verzeichnis der Eigennamen.
Die nach religiös-ethischen Gesichtspunkten hergestellte Gruppierung des aus
den in Betracht kommenden Schriften gewählten Lesestoffes verrät den in Piatons
Anschauungen mit Liebe sich versenkenden Gelehrten und Schulmann.
Charlottenburg. Gotthold Sachse.
510 V. steinecke,
Erdkunde.
I. Zeitschriften.
1. Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik. 31. Jahrgang.
Wien 1908. A. Hartleben. Viele Abbildungen und Karten.
2. Schlesien. Illustrierte Zeitschrift. 2. Jahrgang. Breslau u. Kattowitz 1909.
F. u. K. Siwinna. Mit Abbildungen.
3. Deutsche Erde. Zeitschrift für Deutschkunde. 7. Jahrgang. Gotha 1908.
Justus Perthes.
Unter den geographischen Zeitschriften hat sich die „Deutsche Rundschau
für Geographie und Statistik" (1) wegen der Vielseitigkeit ihrer Mitteilungen, ihres für
ein wissenschaftlich gebildetes Publikum berechneten Textes und wegen der Schnellig-
keit, mit der sie den statistischen und wissenschaftlichen Ergebnissen folgt, auf ihrer
alten Höhe gehalten. Eine große Zahl von Bildern ergänzt die Aufsätze, mit denen die
Zeitschrift über alle im Vordergrund des Interesses stehenden Gebiete, über die jüng-
sten Forschungsreisen und die Fortschritte der geographischen Wissenschaft fort-
laufend berichtet. Auch die Karten sind sorgfältig ausgeführt und dabei ist die
inhaltreiche Zeitschrift sehr billig. In neuem Gewände erscheint die Zeitschrift
„Schlesien" (2). Sie umfaßt neben einer Abteilung Kunst und Kunstpflege auch
eine schlesische Chronik und einen Teil „Schlesien", der beachtenswerte Beiträge
für schlesische Heimatkunde, schlesische Kultur und für Folklore enthält. Eine
große Zahl von sehr hübsch ausgeführten Zeichnungen und Photographien erhöht
den vornehmen Eindruck, den die Zeitschrift äußerlich macht. Die von Lang-
hans herausgegebene „Deutsche Erde" (3) hat sich während ihres siebenjährigen
Bestehens eine führende Stellung unter unseren wissenschaftlichen Zeitschriften
errungen. Schon der Name des Herausgebers und der Umstand, daß die Zentral-
Kommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland an ihr mitarbeitet,
bietet für den wissenschaftlichen Inhalt volle Bürgschaft. Sie will den kaiser-
lichen Ausspruch vom „größeren deutschen Reich" verkörpern und bringt um-
fangreichen Stoff zur Frage der Betätigung des deutschen Volkes herbei. Mit
suchender Liebe folgt sie dem deutschen Volkstum allerorten und hat auf diesem
Gebiete eine ganz einzigartige und alles überragende Stellung erreicht. Die der
Zeitschrift beigefügten Karten verdienen wegen ihrer zweckmäßigen Ausführung
und ihres wertvollen statistischen und wissenschaftlichen Materials besondere An-
erkennung. In keinem gebildeten deutschen Hause dürfte diese Zeitschrift fehlen,
die für das Deutschtum und für die Wissenschaft so Außerordentliches leistet.
Wer auf dem Gebiete der deutschen Landeskunde oder des Deutschtums Forschun-
gen anstellt, wird der Zeitschrift keineswegs entraten können.
IL Hilfsmittel für den Unterricht.
1. Fischer, Heinrich, Schulatlas für Anfangsunterricht und Mittel-
stufen. Bielefeld u. Leipzig 1907. Velhagen & Klasing. 47 Haupt- und 74 Neben-
karten, brosch. 1,50 M.
2. Müller, Alois, Bilder-Atlas zur Geographie von Österreich-Ungarn.
Wien 1905. A. Pichlers Ww. u. Sohn. 29 u. 48 S. 8°. 96 Abbildungen, steif geh. 2 Kr.
Erdkunde. 511
3. Letoschek, Emil, Sammlung von Skizzen und Karten. Wien.
G. Freytag u. Berndt. 13 und 18 Karten mit Text. 8". 2,50 M.
4. Boock, Johannes, Zeichenschule für den Unterricht in der Erd-
kunde. Ausgabe A. für höhere Lehranstalten. 3 Hefte Unterstufe und 3 Hefte
Oberstufe, je 0,45 M. 4°. Berlin 1907. D. Reimer. Mit Lehrerheft I, 31 S. 8».
5. Wild, Josef, Wandtafel zur Veranschaulichung geographischer
Grundbegriffe. Eßlingen u. München. J. F. Schreiber, unaufgezogen 3 M.
6. Lehmann, Richard, Die Bedeutung des erdkundlichen Unter-
richtes. Bielefeld u. Leipzig 1908. Velhagen & Klasing. 33 S. 8°. 0,60 M.
7. Lampe, Felix, Zur Einführung in den erdkundlichen Unterricht.
Halle 1908. Buchhandlung des Waisenhauses. 225 S. 8«. 3 M.
8. Lampe, Felix, Zur Erdkunde. Leipzig u. Berlin 1905. B. G. Teubner.
151 S. 8°. geb. 1,20 M.
9. Pädagogisches Magazin. Langensalza 1906. Hermann Beyer u. Söhne.
a) Haustein, A., Der geographische Unterricht im 18. Jahrhundert.
58 S. 80. 0,80 M.
b) Kohlhaase, Fr., Die methodische Gestaltung des erdkundlichen
Unterrichts. 48 S. 8°. 0,60 M.
c) Fritzsche, Richard, Die neuen Bahnen des erdkundlichen Unter-
richts. 121 S. 80. 1,50 M.
d) Heine, Heinrich, Über thüringisch-sächsische Ortsnamen. 21 S. 8».
0,25 M.
Unter den neuen Atlanten ist der von Fischer (1) herausgegebene Schul-
atlas für die Unter- und Mittelstufen sehr beachtenswert. Es wird bei ihm vor
allen Dingen betont, daß er für deutsche Schüler bestimmt ist, deshalb nehmen
die deutschen Karten einen sehr großen Raum ein und auch auf den Ausland-
karten werden deutsche Arbeit und deutsche Siedelung besonders deutlich ge-
macht. In zweiter Linie legt Fischer Wert auf die wirtschaftlichen, industriellen
und Verkehrsverhältnisse, und so finden wir in dem Atlas eine erfreulich große
Zahl von Haupt- und Nebenkarten, die sich mit diesem täglich wichtiger werden-
den Zweige unseres Volkslebens beschäftigen. Außerdem hat er sich bemüht,
die Vergleichung der Flächenmaßstäbe zu vereinfachen und zu erleichtern, und
benutzt anerkennenswerterweise die Merkatorprojektion nur für das Wasser-
gebiet der Erde, während er bei allen die Landmasse betreffenden Darstellungen
Hammers flächentreuen Entwurf der Planisphäre ven\'endet. Die Auswahl der
Karten ist gut, ihre Ausführung klar, und der Preis des Ganzen billig. Daß eine
große Zahl von Karten der Darstellung von Land- und Siedlungsformen ge-
widmet ist, wird in den Augen vieler Fachmänner ein Vorzug sein. — Der Bilder-
atlas von Österreich-Ungarn, den Alois Müller (2) herausgegeben und mit einer
einfachen, klaren Beschreibung versehen hat, enthält nahezu 100 typische Bilder,
von denen sich viele durch ihren klaren Druck und durch die Bedeutung des
dargestellten Gegenstandes auszeichnen. Eine ganze Reihe dieser Bilder eignet
sich auch für den erdkundlichen Unterricht bei uns in Deutschland. — Einen
eigenartigen Versuch, die geographischen Karten dem Schüler näherzubringen,
macht Letoschek (3). Er bringt für den Zweck der Repetition die einzelnen
512 V. steinecke,
Landschaften in schematischen Formen, um dem Schüler das Nachzeichnen und
das gedächtnismäßige Erfassen der wichtigsten Punkte zu erleichtern. Die Samm-
lung leidet, ebenso wie die meisten derartigen Versuche, daran, daß schließlich
vor der Unmenge von Hilfslinien die Grundformen der Karte kaum mehr ge-
sehen werden. — Die Zeichenschule von Boock (4) beschränkt sich deshalb mit
Recht darauf, die einzelnen Naturlinien zu vereinfachen und dadurch das Bild für
den jüngeren Schüler klarer und eindringlicher zu machen. Dadurch dient die
Zeichenschule demselben Zwecke wie die Zeichenatlanten von Debes, nur daß sie
kleinere Landschaftseinheiten zur Darstellung bringt, Sie kann deshalb dem
Lehrer als ein gutes Muster dienen, wie er an der Wandtafel einfache Skizzen
entwerfen und sie nachher bei der Wiederholung von seinen Schülern verlangen
kann. — Schreibers Wandtafel zur Veranschaulichung geographischer Grund-
begriffe (5) hat mit den meisten derartigen Versuchen das gemein, daß unmögliche
Verbindungen der verschiedensten Landschafts- und Siedelungsformen auf kleinem
Räume miteinander vereinigt werden. Wenn man allzu viel auf kleinem Räume
darstellen will, dann kommt man naturgemäß in die Schwierigkeit, daß man statt
der Natur die Unnatur zeichnet.
Über den erdkundlichen Unterricht und seine Gestaltung liegt ein kleines
Schriftchen von Richard Lehmann (6) vor, worin der erfahrene Meister über
den lehrhaften Wert des geographischen Unterrichtes goldene Worte spricht und
wertvolle praktische Folgerungen zieht. Er kommt zu dem unabweisbaren Schluß,
daß er die Ausdehnung des erdkundlichen Unterrichtes bis in die oberen Klassen,
die Veranstaltung von erdkundlichen Ausflügen und die Vermehrung der Unter-
richtsmittel fordert. Daneben macht er aufmerksam, daß auch die Geographie-
lehrer ordentlich vorgebildet sein müssen und daß die Methodik des Unterrichtes
noch an vielen Stellen der Besserung bedarf. — Zur Einführung in den erdkund-
lichen Unterricht gibt Lampe (7) nicht nur wertvolle Anregungen und Winke,
sondern er faßt auch die sämtlichen Auffassungen über die Bedeutung der Erd-
kunde als Fach und über die erdkundliche Methode zusammen. Kraftvoll vertritt
er die Meinung, daß der Mensch der Mittelpunkt des erdkundlichen Unterrichtes
sein muß, und weist an verschiedenen Beispielen nach, wie auch scheinbar fern-
Uegende Naturerscheinungen auf den Menschen einwirken. Eine genauere Aus-
einandersetzung widmet er nach Herbartscher Methode den verschiedenen Seiten
des kindlichen Geistes, die von der Erdkunde beeinflußt werden, und bespricht
so die Erdkunde als Bildungsfach recht eingehend. Auch die Persönlichkeit des
Lehrers und die Art des Lehrens findet eine eingehende Besprechung. Mit den
mancherlei Arten des Unterrichts setzt er sich dann auseinander und kommt
hier auf den jetzt allgemein durchdringenden Gedanken, daß an Stelle des Karten-
zeichnens nur die Skizze treten soll. Darauf bespricht er die Lehrmittel, unter
denen er die Verwendung der Bilder sehr hervorhebt, und schließlich auch das
Lehrbuch und den Atlas. Das Werk wird neben den früheren methodischen An-
weisungen von Kirchhoff, Günther, Fischer und Lehmann für jeden Lehrer der
Erdkunde ein unentbehrliches Hilfsmittel sein. Lampe zieht auch (8) gleich die
praktische Folgerung aus seinen methodischen Darlegungen, indem er unter dem
Titel „Zur Erdkunde" ausgewählte Aufsätze von Humboldt, Ritter, Peschel, Barth,
Erdkunde. 513
Richthofen, Drygalski, Kirchhoff, Ratzel, Partsch und von den Steinen zusammen-
stellt. Die Darlegungen sind im allgemeinen gut ausgewählt, hätten aber teil-
weise etwas gekürzt werden können, damit der Leser nicht auf allzu viele ihm
fremde Namen stößt. — In dem , pädagogischen Magazin" sind mehrere Hefte
erschienen, die sich mit der Erdkunde beschäftigen. Haustein (9a) bietet eine
auf gründlichen Quellenstudien beruhende Skizze des geographischen Unterrichts
im 18. Jahrhundert, in der er der Bedeutung des Pietismus, der Philanthropen, der
Aufklärer gerecht wird und schließlich den durch Herder gewonnenen Fortschritt
würdigt. Er kommt zu dem Schluß, daß das 18. Jahrhundert für die Entwicklung
des geographischen Unterrichtes bedeutungsvoller ist als das 19., das eigentlich
nur stoffliche Erweiterungen und Berichtigungen gebracht habe. — Kohlhaase (9b)
weist auf diejenigen wichtigen Gesichtspunkte des Geographieunterrichtes hin, die
nach den Forderungen der modernen Geographie und Pädagogik beobachtet
werden müssen, damit das erforderliche Unterrichts- und Erziehungsziel erreicht
wird. Er bespricht besonders eingehend die Kulturgeographie und die Wirtschafts-
geographie und legt großen Wert darauf, daß auch durch Anschauungsmittel und
durch Karten und Zeichnungen der Unterricht entsprechend unterstützt wird. —
Wenn Fritzsche (9c) von neuen Bahnen im erdkundlichen Unterricht spricht,
so meint er damit ebenfalls, daß die Kulturgeographie in den Vordergrund ge-
stellt werden muß, daß es nicht auf Ansammlung toten Wortwissens, sondern auf
die Anbahnung einer Erkenntnis der natürlichen Grundlagen menschlicher Kultur
ankommt. Er verlangt außerdem, daß die Landschaftskunde höher stehen soll
als die Staatenkunde, daß die Heimat bei allem Unterricht den anschaulichen
Hintergrund bietet und daß die geschichtlichen und naturgeschichtlichen Elemente
in der Erdkunde durchdringen müssen. Im allgemeinen ist das Buch für die
Bedürfnisse der Elementarschule geschrieben. — Heine (9 d) weist in einem
kurzen Schriftchen die Abstammung thüringischer und sächsischer Ortsnamen aus
dem Slawischen und aus den verschiedenen deutschen Wortstämmen nach. —
IIL Lehrbücher.
1. Langenbeck, R., Leitfaden der Geographie. L Unterklassen. Leipzig
1908. W. Engelmann. 5. Auflage. 135 S. 8°. Mit 6 Figuren, geb. 2 M.
2. Pahde, Adolf, Erdkunde für höhere Lehranstalten. Mittelstufe 2.
Glogau 1906. 2. Auflage. Carl Flemming. 172 S. 8°. Mit 8 Bildern und sechs
Figuren, geb. 2,40 M.
3. Pahde, Adolf und Lindemann, Heinrich, Leitfaden der Erdkunde.
Ebenda. 5 Hefte mit vielen Abbildungen, kart. je 0,60 M.
4. Schlemmer, Karl, Leitfaden der Erdkunde. Berlin 1906. Weid-
mannsche Buchhandlung. Unterstufe, 3. Auflage. 63 S. 8°. Mit 3 Abbildungen.
0,80 M. — Mittelstufe, 3. Auflage. 296 S. 8°. Mit 84 Abbildungen. 2,80 M.
— Oberstufe 1908. 86 S. S". Mit 26 Abbildungen. 1,40 M.
5. Pütz, Wilhelm, Lehrbuch der vergleichenden Erdbeschreibung.
Freiburg 1905. Herder. 18. Auflage. Bearbeitet von Ludwig Neumann, 392 S.
8°. 3M. — Derselbe, Leitfaden, 27. u. 28. Auflage. 1906. V u. 260 S. 8°. 2M.
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 33
^14
V. steinecke,
6. Seydlitz, E. von, Geographie, bearbeitet von A. Rohrmann. Breslau
1908. Ferdinand Hirt. Ausgabe D: 7 Hefte; Ausgabe G: 5 Hefte und 1 Ergän-
zungsheft. Mit vielen Bildern. Vollständig 4,70 M.
7. Fischer, Heinrich und Geistbeck, Erdkunde für höhere Schulen.
Berlin und München 1908. R. Oldenbourg. Ausgabe in 6 Heften, 2. Auflage.
4,35 M. — Buchausgabe 1907. 3 M.
8. Rüge, Sophus, Kleine Geographie. 8. Auflage, von Walther Rüge.
Leipzig 1909. Dr. Seele & Co. VIII u. 304 S. 8".
9. Regel, Fritz, Geographie für Handels-, Real- und Fortbildungs-
schulen. Stuttgart 1907. Wilhelm Violet. 484 S. 8». 3,20 M.
10. Ludwig, Kari, Lehrbuch der Handels- und Verkehrsgeographie.
Wien 1907. A. Pichlers Wwe u. Sohn. 494 S. 8". Mit 129 Abbildungen. 6 M.
11. Weighardt, E., Leitfaden für den geographischen Unterricht.
Weinheim 1907. F. Ackermann. VI u. 46 S. 8°. 0,50 M.
Langenbecksin dieser Monatschrift bereits besprochener Leitfaden (1) hat in
den neueren Auflagen einige Abänderungen, die insofern zu begrüßen sind, als
sie den Merkstoff in den außereuropäischen Erdteilen einschränken und dem deut-
schen Mittelgebirge eine weit klarere Ausarbeitung haben zuteil werden lassen. —
Die Erdkunde von Pah de (2) zeichnet sich durch die klare zusammenhängende
Darstellung und durch die wissenschaftlich hohe Stufe aus, auf der ihr Verfasser
steht. Vielleicht bringt er in den mittleren Stufen zuviel wissenschaftliche Einzel-
heiten. Auf der Oberstufe zeigt sich, wie wertvoll es ist, daß die mathematische
Erdkunde einmal von jemand behandelt wird, der den Stoff sowohl von der ma-
thematischen wie von der geographischen Seite aus vollständig beherrscht. Pahdes
Oberstufe wird sich als vorzügliches Hilfsmittel für den Lehrer auch in denjenigen
Schulen bewähren, wo man wegen der in der Mathematik gestellten hohen An-
forderungen das Buch vielleicht nicht einführen sollte. Die Durcharbeitung des
gesamten Stoffes ist bei Pahde vorzüglich, wie bei einem so erfahrenen Lehrer
der Erdkunde nicht anders zu erwarten ist. Neben dem „großen Pahde" besteht
bereits eine von Lindemann (3) herausgegebene kleinere Ausgabe, die die
wissenschaftlichen Vorzüge des großen Pahde hat, aber bezüglich des Stoffes eine
schärfere Auswahl trifft, deshalb allen denen willkommen sein wird, die den großen
Pahde deshalb ablehnen, weil er zu „schwer" ist. — Schlemmers Leitfaden der
Erdkunde (4) ist in vielen Schulen eingeführt, obwohl er vielfach das induktive
Verfahren vermissen läßt, nach dem die Erdkunde von den meisten Lehrern heute
aufgebaut wird. Es ist daraus ersichtlich, daß der Text nach Inhalt und Form so-
wie auch bezüglich der Auswahl des Lehrstoffes vorzüglich durchgearbeitet ist;
besonders für Gymnasialanstalten ist das Buch zu empfehlen. — Das Lehrbuch
der vergleichenden Erdbeschreibung von Pütz (5) hat heute noch viele Anhänger,
besonders auf der altgymnasialen Seite. Es ist zwar von Neumann in den neueren
Auflagen vollständig umgearbeitet und bietet namentlich viele Tabellen, läßt aber
in der Oberstufe in bezug auf die allgemeine Erdkunde und die Kartenprojektions-
lehre zu wünschen übrig. Der einleitende, von Neumann neu verfaßte Abschnitt
über die allgemeine Erdkunde in der Unterstufe verfolgt einen selbständigen, sehr
vernünftigen Gedankengang. Die Länderkunde scheidet ziemlich scharf zwischen
Erdkunde. 5J5:
der physischen und politischen Erdkunde und zeichnet sich durch weise Be-
schränkung auf die notwendigsten Namen vorteilhaft aus. — Eine Neubearbeitung
hat die Seydlitzsche Geographie (6) gefunden. Der Ausgabe D in 7 Heften
ist eine Ausgabe G in 5 Heften und einem Ergänzungsheft gefolgt, die durch Be-
schränkung des Stoffes und vereinfachte Darstellung in erster Linie denjenigen
höheren Lehranstalten dienen will, die in den mittleren Klassen nur eine wöchent-
liche Unterrichtsstunde haben. Die Neubearbeitungen von Rohrmann haben den
SeydHtz in jeder Beziehung sehr gehoben. Der früher etwas banale Text hat jetzt
einen wertvollen Inhalt bekommen und außerdem hat die Verlagshandlung sich
ungemein angestrengt, durch die Ausstattung der Hefte, besonders aber durch
ganz vorzügliche Bilder, dem Werke einen Vorsprung vor seinen Mitbewerbern zu
geben. — Dieses Vorgehen hat vorbildlich auf andere Leitfäden gewirkt. Das
sieht man besonders an dem neu von Fischer und Geistbeck (7) heraus-
gegebenen erdkundlichen Werke, das bereits in zweiter Auflage vorliegt. Auch
dieses Werk bringt den Stoff für die einzelnen Klassen in gesonderten Heften,
was für die Erdkunde ja sehr notwendig ist, weil der Stoff allzu schnell veraltet.
Es gibt aber auch eine Ausgabe, die alles in einem Bande vereinigt. Methodisch
ist das Buch gut durchgearbeitet. Durch den Satz sind die einzelnen Teile der
Darstellung klar voneinander geschieden, ohne daß die Einheitlichkeit des Textes
zerrissen wäre. Das Buch steht auf einem sehr modernen Standpunkt insofern,
als es die Beziehungen Deutschlands zum Auslande hervorkehrt, auf die Wirt-
schafts- und Verkehrsverhältnisse Rücksicht nimmt und bei jeder länderkundlichen
Einheit einen umfassenden Rückblick anfügt, der eine eingehende Würdigung des
Landes bietet. Da auch die Bilder recht gut sind, wird das Buch den bisherigen
Lehrbüchern ein scharfer Konkurrent werden, besonders wenn Fischer noch mehr
daran mitarbeitet. — Die kleine Geographie von Sophus Rüge (8) unterscheidet
sich in ihrer achten, von Walter Rüge bearbeiteten Auflage von den früheren Auf-
lagen vorteilhaft dadurch, daß der Lehrstoff von Deutschland nicht mehr wie früher
nach politischen Ländern, sondern nach natürlichen Landesteilen geordnet ist.
Außerdem hat sie eine beachtenswerte Neuerung, indem sie im Anhange nach den
Vorschlägen von Matzat und H. Fischer unter den Zahlentabellen auch Platz für
eigene Messungen der Schüler bietet, damit Zahlen für den Schulhof, für Plätze
des Heimatortes, für Turm- und Haushöhen, sowie für meteorologische Beobach-
tungen eingetragen werden können. — In erster Linie für Handelsschulen ist die
Geographie von Regel (9) bestimmt. Sie bringt eine große Menge von wissen-
schaftlich wertvollen Angaben und ist besonders in ihrem allgemeinen Teil sehr
gut durchgearbeitet. Die Länderkunde ist ebenfalls sehr gut, hat aber leider, was
bei ihrem Zweck nicht gut zu vermeiden war, eine große Zahl von Namen. —
Namentlich durch ihre scharfe und übersichtliche Gliederung ist die Wirtschafts-
geographie von Ludwig (10) ausgezeichnet. Eine große Menge von Zahlen und
Einzelangaben macht das Buch sehr wertvoll. Wenn auch in erster Linie die öster-
reichischen Verhältnisse als Maßstab angenommen werden, so wird doch genügend
Rücksicht auf die Handels- und Verkehrsgeographie von Deutschland geübt. Das
Buch kann deshalb trotz mancher kleinen Versehen und Druckfehler denjenigen
Lehrern bestens empfohlen werden, die in ihrem Unterricht auf die wirtschaftlichen
33*
516 V. Steineckc,
Verhältnisse näher eingehen wollen. — Der Leitfaden von Weighardt (11) ist sehr
geschickt in Art eines Lernbuches ausgeführt und bemüht sich mit Erfolg, die
Frage zu lösen, ob den Schülern der untersten Klassen überhaupt ein Lehrbuch
in die Hand gegeben werden soll; wenn die Bücher in dieser Weise bearbeitet
sind, läßt sich jedenfalls nichts dagegen einwenden.
IV. Landeskunde.
1. Linde, Richard, Die Lüneburger Heide. Bielefeld 1905. Velhagen
und Klasing. 153 S. 8°. Mit 114 Abbildungen und einer Karte, geb. 4 M.
2. Sammlung Göschen, kl. 8°. Jedes Bändchen 0,80 M. — a) Greim, Georg,
Landeskunde des Großherzogtums Hessen. 1908. 158 S. 13 Abb., eine
Karte. — b) Zemmrich, J., Landeskunde des Königreichs Sachsen. 1905.
138 S. 12 Abb., 1 Karte. — c) Grund, Alfred, Landeskunde von Öster-
reich-Ungarn. 1905. 139 S. 10 Abb., 1 Karte. — d) Philippson, Alfred,
Landeskunde des europäischen Rußlands. 1908. 148 S. 16 Abb., eine
Karte. — e) Walser, Hermann, Landeskunde der Schweiz. 1908. 146 S.
16 Abb., 1 Karte. — f) v. Ihering, Rodolpho, Landeskunde der Republik
Brasilien. 1908. 167 S. 12 Abb., 1 Karte. — g) Fischer, Heinrich, Landes-
kunde der Vereinigten Staaten. 1908. I. 115 S. 22 Karten, 14 Tafeln;
IL 103 S. 20 Abb., 1 Karte. - h) Hassert, Kurt, Australien. 1907. 184 S.
8 Abb., 6 Tabellen, 1 Karte. — i) Kölscher, Gustav, Landes- und Volkskunde
Palästinas. 1907. 8 Bilder, 1 Karte.
3. Landeskunden zur Ergänzung der Schulgeographie von Seydlitz. Breslau,
Ferd. Hirt. — a) Wormstall, Josef, Provinz Westfalen. 4. Aufl. 1907. 48 S.
22 Abb. 0,70 M. — b) Lullies, H., Ost- und Westpreußen. 6. Aufl. 1907.
64 S. 2 Karten, 24 Abb. 0,70 M. — c) Gild, A, Provinz Hessen-Nassau.
5. Aufl. 1907. 48 S. 20 Abb. 0,55 M.
4. Der Harz und das Kyffhäusergebirge. Harzburg 1908. R. Stolle. 236 S.
78 Abb., 41 Karten. 0,50 M.
Unter den Beiträgen zur Landeskunde Deutschlands ragt die Bearbeitung der
Lüneburger Heide durch Linde (1) weit hervor. Macht das Buch schon äußerlich
einen prächtigen Eindruck dadurch, daß es eine große Zahl von schönen eigenen
Bildern aufweist, die freilich leider ohne Plan im Buche verstreut sind, so gewinnt
es noch durch den herrlichen Text. Was da geschildert wird, ist nicht mehr die
alte Heide, die wir aus Lesestücken des vorigen Jahrhunderts kennen, sondern ein
aufblühendes Wirtschaftsgebiet der Zukunft. Schnell schreitet die Kultur in jenem
Gebiet fort, in dem Torf, Kalisalz und Erdöl ausgebeutet werden. Aber der Ver-
fasser zeigt auch feines Verständnis für die eigenartige Schönheit der Heide, die
er sehr genau kennt und die er wissenschaftlich eingehend durchforscht hat. Er
verwendet eine reiche Statistik in zweckentsprechender Weise und weist beispiels-
weise nach, wie das Waldgebiet und die Zahl der gehaltenen Schweine allmählich
zunimmt. Unter den wissenschaftlich interessanten Forschungsergebnissen sind
wohl vor allen Dingen zwei Punkte herauszuheben: Linde erklärt den Bau des
Einhauses aus der Empfindlichkeit der Schnucken und stellt die weit verbreitete
Erdkunde. 517
Ansicht, daß die Lüneburger Heide früher ein zusammenhängender Wald gewesen
sei, dahin richtig, daß sie zwar sehr viel Holzungen, aber wohl niemals einen
großen zusammenhängenden Wald aufgewiesen habe. Wir stehen nicht an, dies
Buch über die Lüneburger Heide, das gerade rechtzeitig erscheint, bevor der me-
lancholisch schöne Landstrich der Kultur zum Opfer fällt, zu dem Schönsten zu
rechnen, was in den letzten Jahrzehnten über deutsches Land geschrieben worden
ist. — Die Sammlung von Göschen erscheint mit einer größeren Zahl von Einzel-
abhandlungen auf dem Plan, die sämtlich von guten Sachkennern und Fachleuten
bearbeitet sind und in Anbetracht des billigen Preises nicht nur wissenschaftlich
sehr viel leisten, sondern auch gut ausgestattet sind. Die Göschensche Sammlung
kommt ihrem Ziel, eine klare, leichtverständliche und übersichtliche Einführung zu
geben, immer näher und zeichnet sich vornehmlich dadurch aus, daß gutes und
neues Zahlenmaterial benutzt worden ist und daß, wenigstens bei den meisten
Heften, auf überflüssige Namen mit vollem Recht Verzicht geleistet wurde. Dies
gilt besonders bezüglich der Landeskunde von Hessen (2a), die wissenschaftlich
vorzüglich durchgearbeitet und doch lesbar geschrieben ist. — Auch Sachsen
(2 b) ist durchaus vom Standpunkt der modernen Erdkunde bearbeitet, die ihr
Schwergewicht in die wissenschaftliche Landeskunde verlegt, und beweist das
Ratzeische Wort, wonach Sachsen eine Kulturlandschaft ist, voll von den Zeichen
der Arbeit, die ein Volk in seinen Boden rodet, hineingräbt und hineinpflanzt.
Dem eigentümlichen Volkscharakter, der Völkermischung und dem wirtschaftlichen
Leben ist der Verfasser in jeder Beziehung trefflich gerecht geworden. — Die
Landeskunde von Österreich-Ungarn (2c) bietet vornehmlich eine geologisch-
morphologische Beschreibung des Landes nach den einzelnen natürlichen Land-
schaften. Für jede Einheit wird eine Darlegung des Klimas angeschlossen. Die
Staatenbildung und die Entstehung der heutigen Nationalitätsverhältnisse finden
eine eingehende Betrachtung, die auf gründlichen Studien beruht; und schließlich
sind auch die Siedelungen mit der durch den engen Raum des Buches gebotenen
Beschränkung, aber doch ausführlich genug geschildert. — Eine systematische
Landeskunde Rußlands, wie sie Philippson (2d) teilweise auf Grund eigener
Anschauungen bietet, ist um so mehr willkommen, als über dieses Land, das in der
letzten Zeit eine so tiefgreifende UmwaTidlung seiner politischen und sozialen
Verhältnisse durchmacht und auch in wirtschaftlicher Beziehung vor einer Um-
wandlung steht, noch viel Unkenntnis herrscht. Der größte Teil des Buches ist
selbstverständlich der Landesnatur gewidmet, aber überall geht der Verfasser auf
die wunderliche Zwiespältigkeit zwischen dem slawisch-orientalischen und dem mo-
dernen westeuropäischen Wesen ein und schildert ebenso anschaulich die sklavisch
unterwürfige, schweigend duldende, opferwillige und ungebildete Masse der Mu-
schik, wie das neu entstehende städtische Proletariat und das Beamtentum. —
Beschreibungen der Schweiz gibt es wie Sand am Meer, aber die meisten sind
zu sehr touristisch gefärbt und eine kleine Minderheit viel zu sehr wissenschaft-
lich. Zwischen beiden die richtige Mitte zu halten, ist Walser (2e) gelungen.
Vor allem hat er das Gebiet in seine natürlichen Abschnitte zerlegt und schildert
nun bei jedem die ungebändigte wilde Natur und die zähe Kraft des Menschen,
der dem Lande allmählich sein Gepräge aufzwingt und die Elemente unter seinen
618 V. Steinecke,
Willen beugt. Während man sonst gewöhnlich nur mit der Fremdenindustrie be-
kannt gemacht wird, schildert uns das Werkchen auch die großartige wirtschaft-
liche Entwicklung der Schweiz auf dem Gebiete der Landwirtschaft und des
Fabrikwesens. — Unter den außereuropäischen Ländern hat Brasilien für uns des-
halb eine ganz besondere Bedeutung, weil es das Wirtschaftsfeld für zahlreiche
dort angesessene Deutsche und eins unserer wichtigsten Handelsgebiete ist.
Von Ihering (2f), der Abkömmling einer deutschen Gelehrtenfamilie und mit
seinem neuen Heimatlande von Geburt an vertraut, hat auf Grund eigener An-
schauungen und durch Verwertung der ungemein reichhaltigen Literatur ein Bild
des großen und in seinen entlegeneren Teilen noch so unbekannten Landes ge-
zeichnet, wie wir es in solcher umfassenden Vollständigkeit und in so knapper
Beschränkung auf das Wichtigste noch nicht besitzen. Daß die deutschen Teile
des Landes mit besonderer Liebe ausgearbeitet sind, wollen wir ausdrücklich her-
vorheben. Von höchstem Wert sind die statistischen Angaben, da sie aus Quellen
genommen sind, die uns schwerer zugänglich sind, und in wenig Zahlen ein klares
Bild der unerschöpften Schätze bieten, die in diesem reichen Lande verborgen
liegen. — In zwei Bänden hat Heinrich Fischer (2g) die Vereinigten Staaten
behandelt. Mit der Gründlichkeit, dem eindringenden Fleiße und dem wissen-
schaftlich scharfen Urteil, das wir an ihm gewohnt sind, schildert er den riesigen
Stoff anschaulich und klar und auf Grund der neusten Quellen. Hochinteressant
sind vor allem die geschichtlichen Streiflichter und die Folgerungen, die er aus
wissenschaftlich geographischen Beobachtungen auf die künftige Entwicklung zu
ziehen versteht. Daß er dem Deutschtum in der Union besonders eingehend
nachspürt, braucht nicht eigens gesagt zu werden. — Auch Hassert (2h) be-
handelt sein Thema in anziehender Weise, indem er die Wechselwirkung zwischen
dem Sonderling unter den Erdteilen und dem daran arbeitenden Menschenvolke,
besonders die wirtschaftliche Entwicklung und die eigenartigen anthropogeographi-
schen Einflüsse mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und doch in angenehm les-
barer Form darstellt. Auch die politische Entwicklung des Erdteils, der ursprüng-
lich nur eine Verbrecherkolonie war und jetzt am Handels- und Wirtschaftsleben
der ganzen Welt in so hervorragender Weise teilnimmt, wird in schönen Einzel-
bildern skizziert und dann zu einem Schlußgemälde zusammengefaßt. — Eine
vollständige Landeskunde von Palästina in so engem Raum, wie sie Hölscher
(2i) darbietet, haben wir trotz der reichhaltigen Palästinaliteratur noch nicht; man
muß vielmehr, um das Gelobte Land und damit die Wiege des Christentums
kennen zu lernen, große Bände durchlesen. Um so willkommener ist diese auf
guter Kenntnis beruhende Landeskunde, die in scharfer Gliederung das Land und
das Volk so zeichnet, wie es heute ist, und dabei der Hinblicke auf die geschicht-
liche Entwicklung nicht ermangelt. Von den sämtlichen Bänden der Göschen-
Sammlung soll hervorgehoben werden, daß die äußere Ausstattung gegen früher
bedeutend besser geworden ist und alles leistet, was bei dem billigen Preis ver-
nünftigerweise gefordert werden kann. — Für die Schule bestimmt sind die
Landeskunden aus dem Hirtschen Verlage, die zunächst als Ergänzung zur
Schulgeographie von Seydlitz dienen sollen (3). Daß sie fortwährend in neuen
Auflagen erscheinen, ist ein Zeichen für ihre Brauchbarkeit. Daß aber der Text
Erdkunde. 519
und die Ausstattung mit Bildern und Karten bei jeder neuen Auflage besser werden,
gereicht dem Verlage und den Verfassern zur größten Ehre. Die Landeskunden
sind in dieser Monatschrift bereits besprochen worden und sind bekannt genug, als
daß noch ein besonderes Wort zu ihrer Empfehlung gesagt werden müßte. Wenn
sie auch nicht alle gleichwertig sind, so zeichnen sich doch die meisten dadurch
aus, daß sie die wissenschaftliche Forschung in einer für die Schulzwecke passen-
den Form vorbringen. — Der seit zwei Jahren erscheinende sogenannte „blaue
Harzführer" (4) ist die offizielle Vereinsschrift des Harzer Verkehrsverbandes und
bietet eine übersichtliche, durch viele Routenkarten und Wegebeschreibungen unter-
stützte Hilfe bei den Wanderungen durch unser schönes Waldgebirge. Das Vor-
wort, aus der Feder des Dichters Hans Hoffmann, ist eine wanderfrohe Skizze der
wichtigsten Punkte und Siedelungen. Für alle Lehrerzimmer wird das Buch gegen
Einsendung von 10 Pfennig Porto durch den Harzer Verkehrsverband kostenfrei
geliefert.
V. Zur Länderkunde.
1. Fontane, Theodor, Wanderungen durch die Mark Brandenburg.
Herausgegeben von Hermann Berdrow. Stuttgart, J. G. Cotta Nachf. 228 S. 8°.
geh. 1 M.
2. Friedemann, Hugo, Reichsdeutsches Volk und Land im Werde-
gang der Zeiten. Stuttgart 1906. Strecker u. Schröder. 483 S. 8". geh. 4 M.
3. Langenbeck, Wilhelm, Geschichte des deutschen Handels. Leipzig
1909. B. G. Teubner. (Aus Natur und Geisteswelt.) 183 S. 8°. geb. 1,25 M.
4. Heilborn, Adolf, Die deutschen Kolonien. Ebenda 1906. 168 S.
8°. Mit vielen Abbildungen und 2 Karten, geb. 1,25 M.
5. Scheel, Willy, Deutsche Kolonien. Berlin 1907. Schwetschke u. Sohn.
226 S. 8". brosch. 2,80 M.
6. Hettner, Alfred, Grundzüge der Länderkunde. I. Europa. Leipzig
1907. O. Spamer. 737 S. 8''. Mit 8 Tafeln und 347 Kärtchen. 16 M.
7. Philippson, Alfred, Europa. 2. Auflage. Leipzig 1906. Bibliographi-
sches Institut. Mit 145 Abbildungen, 14 Karten und 22 Tafeln, geb. 17 M.
8. Sievers, Wilhelm, AllgemeineLänderkunde! Kleine Ausgabe. Leipzig
1907. Bibliographisches Institut. I. 496 S. 8«, Mit 19 Karten, 16 Profilen, zwölf
Kartenbeilagen und 15 Tafeln. 10 M.
9. Passarge, Siegfried, Südafrika. Leipzig 1908. Quelle u. Meyer. 355 S.
8". Mit 47 Abbildungen, 34 Karten und vielen Profilen, geb. 8 M.
10. von Seydlitz, E., Handbuch der Geographie. Breslau 1908. Ferd.
Hirt. 25. Auflage. 844 S. 8°. Mit 400 Profilen, Figuren, Karten und Bildern,
4 farbigen Karten und 30 farbigen Tafeln, in Leinen 6,50 M.
An ersterstelle soll des prächtigen Buches von Fontane (1) gedacht werden,
dessen Wanderungen durch die Mark Brandenburg den poetischen Hauch einer
Zeit bewahren, die unwiederbringlich dahin ist. Sie sind aus Liebe und Anhäng-
lichkeit an die Heimat geboren, jeder Fußbreit Erde belebt sich und längst vergangene
Zeiten, längst verschollene Gestalten tauchen yor unserem Auge auf. Doch war das Buch
wegen seines großen Umfanges in letzter Zeit nicht mehr so bekannt, wie es verdient;
520 V. .steinecke,
es ist deshalb höchst anerkennenswert, daß Berdrow den Versuch gemacht hat,
das klassische Werk in verkürzter Form dem Deutschen und der deutschen Schule
wieder näherzubringen. Bei einer neuen Bearbeitung wäre wohl zu wünschen,
daß den vielen Fremdwörtern nach Kräften der Garaus gemacht würde. Das
Büchelchen enthält eine Chronik der märkischen Ortschaften und Herren-
geschlechter, aber auch wunderschöne Naturschilderungen. Hübsche Anekdoten
von Berühmtheiten der Welt- und Ortsgeschichte durchranken die Schilderungen
der kleinen Städtchen, Gutshöfe, Herrenhäuser und Klöster. Für Schülerbüchereien
eignet sich das Werk in dieser Form sehr gut, in erster Linie natürlich im Gebiet
von Mitteldeutschland. — Das reichsdeutsche Volk und Land im Werdegang der
Zeiten zu schildern, ist die dankbare Aufgabe, der sich Friedemann (2) unter-
zogen hat. Von der Vorzeit an verfolgt er den Zug des deutschen Volkes durch
die Weltgeschichte bis zum Auftreten der Einheitsbestrebungen und bis in unsere
Tage hinein, wo sich Reichsdeutschland auf neuen Bahnen bewegt. Ein kurzer
Blick wird auf die kulturellen Beziehungen von Deutschlands Lage und Grenzen,
auf die Bildung des Volkes, die Verfassung des Reiches und die Bodenbildung
von Deutschland geworfen und darauf führt uns der Verfasser durch das ganze
Land hindurch, beschreibt die Eigentümlichkeiten der Landschaft, die Geschichte
der Siedelungen, den Stand der Landwirtschaft und Industrie und das Leben des
Volkes. Besonders in letzterer Beziehung weiß der Verfasser viele anziehende
Einzelheiten zu erwähnen, so daß einem die Wanderung an der Hand dieses
Führers an keiner Stelle langweilig wird. Das Buch ist auch im allgemeinen zu-
verlässig und bietet nur selten Gelegenheit, Druckfehler oder kleine sachliche Ver-
sehen zu rügen. In den hübschen Schlußabschnitten wird von Deutschlands
Wetter, von den Erzeugnissen des Berg-, Land- und Waldbaues, von der Vieh-
zucht und eingehender von dem deutschen Handel gesprochen. Die von dem
sonstigen Schema abweichende Darstellung erhebt zwar nicht den Anspruch
einer besonderen wissenschaftlichen Tiefe, kann aber für Schülerbüchereien gut
empfohlen werden. — Tiefer in die Einzelheiten dringt L an gen b eck (3) bei
seiner Geschichte des deutschen Handels. Er verarbeitet die reichhaltige Literatur
in wissenschaftlich tadelfreier Weise und doch in leicht lesbarer Form. Die An-
ordnung des Stoffes ist nach geschichtlichen Rücksichten vorgenommen: die vor-
geschichtliche und älteste Zeit mit ihren Beziehungen zu den Römern und ihrem
ersten Aufblühen im Frankenreich, die Blüteperiode von der Karolingerzeit bis zum
Ausgang des Mittelalters und schließlich der wechselnde Auf- und Niedergang in
der Neuzeit finden der Reihe nach eingehende Würdigung. Natürlich konnten bei
dem geringen Umfang der Schrift einzelne Gebiete nur angedeutet werden, wäh-
rend andere eingehender gezeichnet sind. Für die Hand des Lehrers im geographi-
schen Unterricht, dem ja meistens die größeren Quellenwerke nicht zur Verfügung
stehen, sei das Buch warm empfohlen. — Ebenso wie das vorhergehende Buch
ist auch Heilborns Schilderung der deutschen Kolonien (4) aus einer Reihe von
Vorträgen entstanden, die der Verfasser vor einem gebildeten Publikum gehalten
hat. Es bietet eine sehr gute Übersicht unserer Kolonien unter mannigfaltiger
Benutzung reicherer, teilweise schwer zugänglicher Quellenschriften, deren Ver-
zeichnis eine wertvolle Zugabe des Schriftchens ist. Die Landeskunde unserer
Erdkunde. 521
Kolonien wird bis in ihre kleinsten Teile behandelt und außerdem werden sehr
viele Einzelheiten erwähnt, unter denen wohl das interessanteste die Proben des
Volksgesanges mit den dazugehörigen Noten sind. Auch dieses Buch sei Lehrern
warm ans Herz gelegt. — Einen anderen Zweck verfolgt Scheel (5). Er will in
seinem kolonialen Lesebuch Deutschlands überseeische Interessen der deutschen
Jugend und dem deutschen Volke vertraut machen. Dazu hat er eine Reihe von
Aufsätzen zusammengestellt, die in ihrer Gesamtheit die Geschichte unserer
Kolonien, unserer kolonialen Lehrjahre von der Zeit des Großen Kurfürsten bis
heute, und einzelner Siedelungen, Vegetationsbilder, wirtschaftliche und meteorologi-
sche Verhältnisse der Kolonien in hübscher Weise und lesbarer Form vorführt.
Das Buch eignet sich vortrefflich für Schülerbüchereien und auch als Prämienwerk.
— Auf dem Gebiete der Länderkunde herrscht augenblicklich ein großer Wett-
bewerb. Mit einem ganz neuen Werke erscheint Hettner (6). Seine Grundzüge
der Länderkunde sind ursprünglich der Text zu Spamers Handatlas und nach der
Horazschen Vorschrift: „nonum prematur in annum" nunmehr in veränderter Form
herausgegeben. Es ist weder ein Schulbuch noch ein Nachschlagebuch für den
praktischen Gebrauch, sondern eine kurze wissenschaftliche Darstellung der Länder-
kunde für Lehrer, für Studierende und überhaupt für alle Gebildete, die nach
geographischer Belehrung suchen. Hettner versteht es, seinen reichhaltigen Stoff
geistig zu durchdringen und den Zusammenhang der Landschaften unter sich
sowie die gegenseitige Beeinflussung von Land und Volk zu klarer Darstellung
zu bringen. Wenn auch der Stoff nach natürlichen Landschaften gegliedert ist,
so finden doch die staatlich abgegrenzten Landgebiete ebenfalls ihr Recht. Daß
Hettner sich überall bemüht hat, Einzelheiten unter große Gesichtspunkte zu
ordnen und auch bei den wissenschaftlichen Darlegungen den Text so zu gestalten,
daß man ihn ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse versteht, verdient lebhafte An-
erkennung. Selbständige bzw. neue Kärtchen für meteorologische und andere
Verhältnisse gereichen dem Werke zum Schmuck und erhöhen seine wissenschaft-
liche Bedeutung. Mitteleuropa findet eine eingehendere Schilderung sowohl nach
der Landesnatur als auch in bezug auf die Menschenwelt. Das Buch reiht sich
in die besten Erscheinungen unserer geographischen Literatur ein und eignet sich
vorzüglich als Handbuch für die Vorbereitung zum Unterricht. — Die zweite Auf-
lage von Philippsons allgemeiner Landeskunde von Europa (7) gibt ebenfalls
ein treffliches Hilfsbuch. Die Bearbeitung ist vollkommen neu und legt in erster
Linie Wert auf die physikalische Geographie. Aber auf dieser Grundlage ersteht
ein lebensvolles Gesamtbild unseres Erdteiles, in dem sich die einzelnen Teile und
Beziehungen, Bodenart, Klima, Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt gegenseitig
durchdringen. Die Weltwirtschaft und die Weltkultur findet die ihr in heutiger
Zeit gebührende ausführliche Darlegung. — Neben der großen Ausgabe der
Sieversschen allgemeinen Länderkunde erscheint jetzt noch eine kleine Ausgabe,
die Sievers selbst besorgt hat (8). Auf diese Weise ist es möglich geworden,
das wichtige umfangreiche Werk seinem Inhalte nach weiteren Kreisen zugänglich
zu machen. Weggefallen ist eigentlich nur die Entwicklungsgeschichte der ein-
zelnen Erdteile. Die Ausstattung ist ebenso vortrefflich wie die der großen Aus-
gabe und nicht nur die Studierenden, sondern auch die Lehrer werden dieser
522 V. Steinecke,
Ausgabe ein wissenschaftliches Interesse entgegenbringen, um so mehr, als das
überaus wertvolle Verzeichnis der Quellenschriften auch dieser kleinen Handaus-
gabe beigefügt ist. Wer nicht in der Lage ist, das größere. Werk zu beschaffen,
kann nunmehr für seine Hand- oder Schulbücherei den wissenschaftlichen Inhalt
auf diese bequemere Weise in zwei Bänden erwerben. — Eigene Bahnen wandert
Passarge (9). Er schildert zuerst die allgemeine physische Geographie ein-
schließlich der Tier- und Pflanzenwelt und gibt dadurch ein anschauliches Bild der
natürlichen Landschaften. Darauf folgt die allgemeine Kulturgeographie und
schließlich die Staatenkunde. Die Abhängigkeit der verschiedenen Erscheinungen
von der Natur des Landes steht stets im Vordergrunde der Betrachtung, dagegen
sind solche Verhältnisse, die von dem Lande unabhängig sind, wie die national-
ökonomischen, politischen und statistischen, nur ganz kurz berücksichtigt worden.
Der Verfasser, der wegen seines langen Aufenthaltes in Südafrika für die Behand-
lung dieses Gebietes wie wenige geeignet ist, der für die Kalahari geradezu der
wissenschaftliche Bahnbrecher geworden ist, hat in dem vorliegenden Werk eine
sehr eingehende Landes-, Volks- und Wirtschaftskunde geschrieben, die ein har-
monisches Bild des Landes und seiner Bewohner bietet. Namentlich reizvoll sind
seine Angaben über die vorgeschichtlichen Kulturen und über die verschiedenen
europäischen Kolonien, wobei er die Gebiete der Gold- und Diamantenfunde ein-
gehender behandelt. Anschauliche Karten und zahlreiche Profile und Abbildungen
unterstützen den Text, der nur bezüglich der wirtschaftlichen Absätze nicht voll-
ständig auf der Höhe steht. Das Schlußwort über die Schwarzen und Weißen
verdient für unsere Zeit und für unser künftiges Verfahren in den Kolonien ernste
Beachtung: den Schwarzen Respekt nnd Gehorsam beizubringen, sie streng, aber
gerecht zu behandeln und nicht in falsche Humanität zu verfallen. Wer sich ein-
gehender mit den Kolonien bekannt machen will, wird dieses Buch durcharbeiten
müssen. — Vom Großen Seydlitz sind die Bearbeitungen einander schnell
gefolgt. Die Jubiläumsausgabe (10), die 25. Bearbeitung, ist ein außerordentliches
Zeugnis für die tatkräftigen Bemühungen des Verlages, seine Bücher nicht nur
auf der Höhe zu halten, sondern sie immer weiter zu vervollkommnen. Der Hirt-
sche Verlag, der auf dem Gebiete der geographischen Bilder stets eine führende
Stellung einnahm, hat fast sein gesamtes Anschauungsmaterial neu umgearbeitet
und bietet jetzt Bilder, die durch ihre Natürlichkeit und Klarheit die meisten ähn-
lichen Unternehmungen überragen. Aber auch der Text ist nach Inhalt und Aus-
dehnung durch die Bearbeitung Oehlmanns bedeutend voUkommner geworden,
und da das Buch außerdem beispiellos billig ist, wird der Große Seydlitz sich zu
seinen vielen alten Freunden sehr viel neue erwerben. Wir wünschen zu dieser Jubel-
feier des Werkes, die zugleich eine Jubelfeier des Verlages ist, auch weitere Erfolge.
VL Allgemeine Erdkunde. Verschiedenes.
L Löwl, Ferdinand, Geologie. Leipzig 1906. F. Deuticke. 332 S. 8°. Mit
266 Figuren. 11,60 M. (Klar, Die Erdkunde, XI.)
2. Günther, Siegraund, Physische Erdkunde. Sammlung Göschen. Dritte
Auflage. 1905. 147 S. 32 Abb. 0,80 M.
Erdkunde. 523
3. Oppermann, Edmund, Geographisches Namenbuch. Hannover 1908.
Carl Meyer. 2. Auflage. 248 S. 8°. brosch. 3 M.
4. Craraer, Franz, Afrika in seinen Beziehungen zur antiken Kultur-
welt. Gütersloh 1907. C. Bertelsmann. 134 S. 8°. Mit 34 Abb. und 3 Karten.,
geb. 3 M.
5. Forke, Alfred, Die Völker Chinas. Berlin 1907. Carl Curtius. 90 S.
8". 1,50 M.
6. Korodi, Lutz, Deutsche Vorposten im Karpathenland. Berlin 1908.
Hermann Paetel. 107 S. 8°. geb. 1,25 M.
Das Lehrbuch der Geologie von Löwl (1) weicht insofern vom gewöhnUchen
Schema ab, als es auf die vielen paläontologischen Einzelheiten der historischen
Geologie verzichtet und nur die wichtigeren Leitfossilien und geologischen Zonen
bespricht. Durch das Weglassen der sinnbetörenden und den Anfänger verwirren-
den Menge von Namen wird nicht nur eine größere Klarheit erzielt, sondern auch
Raum für die dynamische Geologie und die Besprechung der Oberflächenform ge-
spart. Auf diesen beiden Gebieten liegt denn auch der Hauptvorzug des Buches
vor vielen anderen Lehrbüchern. Löwl geht bei jedem Abschnitt von Beobach-
tungen aus, bespricht diese unter kritischer Würdigung der aufgestellten Theorien
und Hypothesen, verwebt dabei die von den einzelnen Forschern eingeführten
Fachausdrücke allmählich und erzielt dadurch eine gute Erklärung der physikali-
schen Bedingungen, die auf die Erdrinde ihren Einfluß ausüben. Die geologischen
Verhältnisse der besser erforschten Erdschollen werden genau dargelegt und so
erhält der Leser — das ist für den Geographen sehr angenehm und nützlich —
die geologische Darstellung der wichtigeren Erdräume, besonders Mitteleuropas.
Wenn man auch dem Verfasser nicht bei allen Darlegungen Recht gibt, sondern
etwa bei seiner Schilderung der Erde als eines kosmischen Vulkanherdes lieber
auf der „alten Lehrmeinung" stehen bleibt, so soll dem Verfasser daraus kein
Vorwurf gemacht werden, denn er erstrebt und erreicht bei seinen Lesern
Selbständigkeit des Urteils und scheut niemals davor zurück, die Erörterung einer
Frage mit einem „non liquet" abzuschließen. So ist das ganze Buch, das sich
übrigens auch durch sorgfältige Überarbeitung, geschickt ausgewählte Bilder und
ein treffliches Verzeichnis der Fachausdrücke auszeichnet, dem Geographen bestens
zu empfehlen. — Die physische Geographie von Günther (2) bringt in geo-
graphischer Form alles Wissenswerte über die Erde als Weltkörper, über die
physikalischen Eigenschaften der Erde, ihr Inneres und ihre Rinde, über Vulkane
und Erdbeben und über elektro-magnetische Kräfte und schließt eine Betrachtung
der Lufthülle, des Meeres und der Gewässer an, wobei die Wirkungen von Schnee
und Eis herausgehoben werden. Eine Morphologie der Erdoberfläche bildet den
Abschluß des trefflichen Werkes. Es ist selbstverständlich, daß Günther bei seinen
Darlegungen durchaus eigene Wege geht; das tritt besonders bei den Abschnitten
über das Erdinnere hervor. Eigenartig ist seine Anwendung der Elektronentheorie
auf meteorologische Vorgänge. — Oppermann (3) will in seinem geographischen
Namenbuch in erster Linie der Schule dienen und hat deshalb den Stoff nicht
alphabetisch geordnet, sondern behandelt die zu erklärenden Namen nach den
Landgebieten, zu denen sie gehören, so daß man bei der Vorbereitung auf den
524 V. Steinecke, Erdkunde.
Unterricht den nötigen Stoff bequem beieinander findet. Die Auswahl ist eben-
falls nach dem Bedürfnis der Schule getroffen. Soweit bei reichlichen Stichproben
festgestellt werden konnte, sind die Erklärungen zuverlässig, und bei zweifelhaften
Erklärungen ist ein Fragezeichen hinzugefügt worden. Daß der Verfasser sich auf
solche Namen beschränkt hat, die wirklich nicht nur eine taube Nuß, sondern die
Hülle für einen bedeutungsvollen Kern sind, ist anzuerkennen. In einem An-
hange werden auch die in der allgemeinen Erdkunde vorkommenden Fachausdrücke
erklärt, und ein alphabetisch geordnetes Verzeichnis sämtHcher im Buch erklärten
Namen bildet den Schluß. — Ebenfalls für die Bedürfnisse der Schule bzw. der
Lehrer ist die Abhandlung von Gramer (4) bestimmt. Er schildert, zunächst für
die Gymnasien, das Vordringen der Aegypter in die oberen Nilländer, das Nilgebiet
unter selbständiger Verwaltung und unter römischer Herrschaft, das sagenhafte
afrikanische Goldland, den Verkehr an der Ost- und Westküste in alten Zeiten
und schließlich das Vordringen der Römer und ihre Kulturarbeit im nördlichen
Afrika. Die alten Kultureinflüsse werden auf Grund eines sehr gründlichen Quellen-
studiums dargelegt und bei allen Ergebnissen finden sich Hinweise auf die mo-
derne Entwicklung. Eine Reihe von interessanten Skizzen und Bildern veran-
schaulicht den frisch lebendig geschriebenen Text. — Je mehr wir von einer gelben
Gefahr sprechen, um so mehr haben wir auch die Pflicht, unsere Kenntnisse über
die Völker zu erweitern, bzw. richtigzustellen, die nach langem Scheintod jetzt
so energisch vordringen, um an der ferneren Kulturentwicklung der Erde mitzu-
arbeiten. Uns dabei zu helfen, ist Forke (5) als Professor am orientalischen
Seminar in Berlin vor anderen berufen. Es ist ihm gelungen, in gedrängter Form
über China und seine Bewohner, die uns doch in Wirklichkeit noch als ein un-
gelöstes Problem gegenüberstehen, eine umfassende Aufklärung zu geben. Eine
feingeistige Darstellung zeichnet das Büchelchen aus, das es verdient, in die
Schülerbücherei aufgenommen zu werden, damit unsere Kenntnisse über das stärkste
Volk der Welt sich endlich einmal über das gewöhnliche Maß des Dilettantismus
hinausheben. — Korodis Werk (6) bemüht sich ebenfalls, Lücken in unserem
Wissen über solche Völker auszufüllen, von denen man viel spricht, aber wenig
weiß. Wie mancher bezeichnet den Südosten als den Wetterwinkel von Europa
und widmet den Vorgängen an dem alten Einfallstore der asiatischen Völker eine
gespannte Aufmerksamkeit, ohne über die dort auf der Grenzwacht stehenden
Völker, namentlich aber über unsere deutschen Vorposten Genaueres zu wissen.
Korodi hat als geborener Siebenbürger und als deutscher Vertreter seiner Vater-
stadt Kronstadt im ungarischen Reichstage mit den dortigen politischen Verhält-
nissen in engster Fühlung gestanden und schildert uns nun, nachdem er aus seinem
Vaterlande vertrieben und bei uns eine Zuflucht gefunden, den Schauplatz des
erregten Kampfes. Er zeichnet seine kulturhistorischen, politischen, literarischen
und sozialen Bilder unmittelbar nach dem Leben, er beleuchtet scharf die Eigenart
der verschiedenen dort aufstrebenden Völker und wird bei aller Wahrung des
deutsch-politischen Standpunktes auch dem magyarischen Volkscharakter völlig
gerecht. Gerade jetzt, wo so manche politischen Utopien auftauchen und gläubig
hingenommen werden, ist es von Wert, daß ein so gewiegter Kenner der Verhält-
nisse uns auf den Boden der Wirklichkeit stellt. Umso erfreulicher ist es, daß
M. Nath, Zum Unterricht im Rechnen und in der Mathematik. 525
Korodi den felsenfesten Glauben an die Zukunft unserer deutschen Vorposten hat,
und wir empfinden es dankbar, daß er diesen Glauben auch anderen mitzuteilen
weiß. Nicht nur wegen der anziehenden Ausführungen der Schrift, sondern auch
um das vaterländische Gefühl für unsere Brüder jenseits der Grenze zu wecken,
wäre zu wünschen, daß das Buch von Korodi die weiteste Verbreitung, vornehm-
lich in Schüler- und Lehrerkreisen findet.
Essen a. Ruhr. V. Stein ecke.
Zum Unterricht Im Rechnen und In der Mathematik. V.*)
I. Lafsant, A., Einführung in die Mathematik. Allen Kinderfreunden
gewidmet. Autorisierte deutsche Ausgabe von S. J. Schicht. Leipzig u. Wien 1908.
Franz Deuticke. XI u. 199 S. 2 M.
Dölker, Franz und Richter, Max, Sammlung von Rechenaufgaben für
höhere Lehranstalten. II. Band: Gemeine und Dezimalbrüche. III. Band:
Wiederholung der Bruchrechnung. Das bürgerliche Rechnen. Stutt-
gart 1906. Adolf Bong & Co. II: VI u. 156 S. geb. 2 M. III: VIII u. 248 S.
geb. 2,40 M.
Westnick, F. A. und Heine, G., Rechenbuch nebst Aufgaben zur ersten
Einführung in die Geometrie für höhere und mittlere Lehranstalten.
12. u. 13. Auflage. Münster i.W. 1908. Aschendorffsche Buchhandlung. VIII u.
308 S. geb. 3 M.
II. Dolinski, M., Algebra und politische Arithmetik. Wien u. Leipzig
1908. Karl Fromme. IV u. 340 S. geb. 5 Kr. = 4 M.
Heis, E., Sammlung von Beispielen und Aufgaben aus der allge-
meinen Arithmetik und Algebra zum Gebrauch an höheren Schulen.
112. Auflage, nach den zeitgemäßen Anforderungen des mathematischen Unter-
richts neu bearbeitet und erweitert von J. Druxes. Teil I: Pensum der Ulli,
Olli, Uli. V u. 280 S. 2,80, geb. 3 M.; Teil II: Pensum der O II und L 2,40,
geb. 2,80 M. Köln 1908. M. Du Mont-Schauberg.
Jakob, J., Lehrbuch der Arithmetik für Obergymnasien. Wien 1908.
Franz Deuticke. IV u. 292 S. 3,30, geb. 3,80 Kr.
Jakob, J. und Schiffner, Fr., Lehrbuch der Arithmetik für Unterreal-
schulen. I. Abteüung: Lehrstoff der 1. Klasse. Wien 1907. Franz Deuticke.
96 S. 1,30, geb. 1,60 Kr. II. Abteilung: Lehrstoff der 2. Klasse. Ebenda
1908. 57 S. 1, geb. 1,40 Kr.
Kambly, L., Mathematisches Unterrichtswerk. L Teil: Arithmetik
und Algebra. Nach den preußischen Lehrplänen von 1901 umgearbeitet von
Albrecht Thaer. Ausgabe B : Für Oberrealschulen, Realgymnasien und Gymnasien
mit Reformunterricht. Breslau 1908. Ferdinand Hirt. 248 S. geb. 2,40 M.
*) Vgl. Jahrgang V, S. 264, 534; Jahrgang VI, S. 393; Jahrgang VII, S. 540.
526 M. Nath,
Mehler, F. 0., Hauptsätze der Elementar-Mathematik. Neu bearbeitet
von A. Schulte-Tigges. Ausgabe A. 25. Auflage des Stammbuches. Berlin 1908.
G. Reimer. XII u. 280 S. geb. 2,40 M.
Pietzker, F., Lehrgang der Elementar-Mathematik in zwei Stufen.
Teill: Unterstufe. Teil II: Oberstufe. Teil IIb: Kegelschnittslehre. Leipzig
1907 bzw. 1908. B. G. Teubner. I: XII u. 318 S. geb. 3,60 M. II: VII u. 442 S.
geb. 4,40 M. IIb: IV u. 96 8. kart. 1,80 M.
Schmehl, Chr., Arithmetik und Algebra nebst Aufgabensammlung.
II. Teil: Ausgabe A für die Oberstufe der Gymnasien. Ausgabe B für die Ober-
sekunda der realistischen Lehranstalten. Gießen 1908. Emil Roth. A: VI u. 196 S.
B: V u. 164 S. je 1,60, geb. 2 M.
Schmehl, Chr., Sammlung von Aufgaben aus der Algebra und alge-
braischen Analysis im Anschluß an das Lehrbuch: Die Algebra und algebraische
Analysis mit Einschluß einer Elementaren Theorie der Determinaten. Für die
Prima der realistischen Anstalten. Gießen 1909. Emil Roth. VI u. 136 S. nebst
Anhang: 19 S. geh. 1,60 M.
Schulze, Edin. und Pahl, Fr., Mathematische Aufgaben. Ausgabe für
Realgymnasien, Oberrealschulen und Realschulen. Teil II: für die Ober-
stufe. Leipzig 1908. Dürrsche Buchhandlung. VIII u. 304 S. geb. 3,60 M.
III. Borel, E., Die Elemente der Mathematik. Vom Verfasser genehmigte
deutsche Ausgabe, besorgt von P. Stäckel. Erster Band: Arithmetik und Algebra.
Leipzig 1908. B. G. Teubner. XVI u. 431 S. nebst 3 Tafeln, geb. 7,60 M.
Behrendsen und Götting, Lehrbuch der Mathematik nach modernen
Grundsätzen. A: Unterstufe. Leipzig 1909. B. G. Teubner. VII u. 253 S.
geb. 2,80 M.
Bruno, K., Die Grundlehren der Integral- und Differentialrechnung.
Wien 1908. Alfred Holder. 54 S. 1,25 M.
Dintzl, E., Einführung in die Funktionentheorie. Für Schüler der
oberen Klassen an Mittelschulen. (Sonderabdruck aus dem Jahresbericht des k. k.
Erzherzog-Rainer-Gymnasiums in Wien). Wien 1908. 49 S. 1,80 Kr.
Dreßler, H., Die Lehre von der Funktion. Theorie und Aufgabensammlung
für alle höheren Lehranstalten. Leipzig 1908. Dürrsche Buchhandlung. 93 S.
geb. 1,60 M.
Düsing, K., Die Elemente der Differential- und Integralrechnung in
geometrischer Methode. Ausgabe A: für Gymnasien, Realgymnasien und
Oberrealschulen, sowie zum Selbstunterricht. Hannover 1908. M. Jänecke. X u.
74 S. 1, geb. 1,30 M.
Lesser, O. und Schwab, K., Mathematisches Unterrichtswerk zum
Gebrauch an höheren Lehranstalten. Im Sinn der neueren Lehrpläne be-
arbeitet. I. Band: Arithmetik und Algebra. I. Teil: Für die mittleren Klassen.
Wien u. Leipzig 1909. F. Tempsky, G. Freytag. 204 S. geb. 2,80 M.
Lesser, 0., Graphische Darstellungen im Mathematikunterricht der
höheren Schulen. Eine Sammlung von Materialien für die Hand des Lehrers.
Leipzig u. Wien 1908. F. Tempsky, G. Freytag. 108 S. 5 M.
Zum Unterricht im Rechnen und in der Mathematik. 527
Noodt, G., Übungsbuch zur Arithmetik und Algebra (für höhere
Mädchenschulen). Bielefeld u. Leipzig 1908. Velhagen u. Klasing. VIII u. 212 S.
geb. 2 M.
Valentiner, S., Vektoranalysis. Leipzig 1907. G. J. Goeschen. 163 S.
kart. 0,80 M.
I. Die beiden Teile des Rechenbuches von Dölker und Richter — der
erste der drei Bände hat dem Berichterstatter nicht vorgelegen — bringen den
Lehrstoff für die Quinta und Quarta der höheren Lehranstalten (Preußens) in ver-
ständiger Auswahl und Begrenzung, gehen nur bei den bürgerlichen Rechnungs-
arten einen Schritt weiter, als die Praxis wohl im allgemeinen mitkommen kann. Das
Buch von Westnick und Heine ist altbewährt. Über die durchaus zu billigen-
den Grundsätze, die bei der Bearbeitung maßgebend gewesen sind, verbreiten sich
die Verfasser im Vorwort. Sehr brauchbar erscheinen die den Jahrespensen bei-
gegebenen Rückblicke und Wiederholungsaufgaben. Der geometrische Anhang
gibt das Landläufige übersichtlich und knapp. Das Büchlein von Laisant beab-
sichtigt einen Weg zu weisen, um „von der ersten Kindheit an bis zum Beginn
des Studiums — sagen wir vom vierten bis zum elften Lebensjahr — dem Kinde
zehnmal so viel im Rechnen beizubringen als jetzt, und zwar in unterhaltender,
anstatt in quälender Weise". „Dann wird es bei einiger Intelligenz mit elf Jahren
mehr mathematisches Verständnis besitzen als jetzt neun Zehntel unserer Abiturienten.
Und was noch wichtiger ist, es wird Freude und Lust am Lernen gewinnen."
Kein kleines Ziel, das hier gesteckt ist! Und wenn nun einige Jahre ins Land
gegangen wären und das Buch fleißige Benutzung gefunden hätte, wie erfreulich
müßte dann die Entwicklung mathematischer Fähigkeiten sichtbar werden! Es ist
auch gar nicht schlecht, was das Werk bietet. Allerhand, häufig ganz geistreiche
Anleitung den jungen Schülern systemlos, anschaulich, spielend, angenehm Be-
griffe, Gedanken, Fertigkeiten der mathematischen Disziplinen zuzuführen und ein-
zuprägen, bis zum Funktionsbegriff, zum graphischen Rechnen, zu den Kegel-
schnitten. Die Auswahl ist manchmal etwas wunderlich. Kann die Veranschau-
lichung des dekadischen Systems durch Stäbchen, Päckchen, Bündel, Packete,
Schachteln, Ballen usw. als ganz pläsierlich und auch als zweckentsprechend be-
zeichnet werden, so erscheint doch die starke Bevorzugung der Dreieckszellen, der
Summen der Quadrate und Kuben nicht recht erklärlich, weder durch den Gegen-
stand noch durch die Art der Behandlung. Die Planimetrie wird z. T. zu sehr
rein in der Form von Erklärungen behandelt, die Formeln der Oberflächen und
Inhalte der Körper werden dem Kinde „vorläufig einfach mrtgeteilt, um es in den
Stand zu setzen, praktische Aufgaben zu lösen." „Doch belaste man nicht das
kindliche Gedächtnis mit diesen Formeln; man lege sie vielmehr dem Schüler
jedesmal, wenn er sie braucht, neuerdings vor. Wenn sie sich von selbst seinem
Geist einprägen, um so besser; wenn nicht, schadet es auch nicht." Nicht jeder
Mathematiklehrer wird diese Grundsätze unterschreiben wollen.
II. Dolinski bietet zunächst eine breite Darstellung des Lehrstoffes bis zu
den Reihen, darauf in sehr ausführlicher Form die Lehre von der Lebensversiche-
rung. Eine alle Teile berücksichtigende Aufgabensammlung macht den Beschluß.
528 M. Nath.
Sterbetafeltabellen liegen in einem besondern Heft vor. »Dem Verfasser schwebt
das Endziel vor, einen wissenschaftlichen Überblick über die Gliederung des auf
den höheren Handelsschulen (Handelsakademien) behandelten mathematischen Lehr-
stoffs zu geben." Diesen kennen zu lernen, mag das Buch auch von einem Lehrer
der höheren Schulen mit Nutzen gebraucht werden. Grundsätzlich aber stimmt der
Berichterstatter Chr. Schmehl zu, ,daß für die Behandlung solcher rein techni-
scher Fragen (die Berechnung der Prämien der Lebensversicherungsanstalten) die
der Schule zugewiesene Zeit nicht ausreicht oder daß dadurch die Zeit für andere
Gebiete des mathematischen Unterrichts beschränkt werden müßte". So findet
sich denn nichts davon in den Fortsetzungen seines Werkes, die dieser Autor
jetzt bietet. In diesen sonst klar und gründlich gearbeiteten Sammlungen fällt
auf, daß die Kunststücke der Lösung von Gleichungen zweiten Grades mit zwei
oder gar mit drei Unbekannten noch so ausführlich behandelt wurde. Demgegen-
über erscheint der der Gymnasialausgabe beigegebene Paragraph über „Funktionen
von veränderlichen Größen und graphischen Darstellungen" ein wenig schmächtig.
Und nichts anderes läßt sich von demjenigen sagen, der in der Ausgabe für die
Prima der realistischen Lehranstalten enthalten ist. Dieselbe Stellung wird man zu
dem entsprechenden Abschnitt in dem Heisschen Buche einnehmen müssen. Frei-
lich, der anerkannte Vorzug des jugendfrisch greisen Buches, interessante „ange-
wandte" Aufgaben zu bringen, kommt auch ihm zu. Der neue Herausgeber ist
im übrigen bestrebt gewesen, die Modernisierung des bewährten Lehrmittels durch
Weglassung überflüssiger Formeln, gekünstelter Aufgaben, ganzer Paragraphen,
die nach Inhalt und Form veraltet erschienen, zu fördern. Im ganzen ist das auch
wohl gelungen. Aber an einzelnen Stellen machen sich doch die Runzeln noch
immer bemerklich, die auf die Abstammung des Werkes aus einer abgeschlossenen
Epoche der Methodik hinweisen. Der Berichterstatter denkt dabei an eine Reihe
von Aufgaben in der Potenz- und Wurzelrechnung, deren Kompliziertheit den
Schülern Schwierigkeiten zu bereiten geeignet ist, ohne daß doch die aus ihrer
Überwindung sich ergebende Einsicht und Übung als entsprechend bezeichnet
werden könnte. Aber der Lehrer, der das Buch benutzt und der gleichen An-
sicht ist, kann sie ja überschlagen. Mancher wird sie immer noch als notwendig
erachten und ihr Dasein begrüßen. Schulze und Pahl haben nun ihrem Unter-
nehmen den Abschluß geben können und die neue Aufgabensammlung wird den
Kampf um das Dasein auf sich zu nehmen haben. Der enge Anschluß an die
offiziellen Lehrpläne, die gleichmäßige Berücksichtigung aller Gebiete, die bewußte
Beschränkung auf solche Aufgaben, die dem Schüler rechnerisch und im Ansatz
nicht zu große Schwierigkeiten bereiten, die besondere Kennzeichnung solcher, bei
denen das zu befürchten ist, die Fülle der Anwendungen, die sich auf Physik
und Chemie wie auf das praktische Leben beziehen, endlich die Sorgfalt, die auf
die Herstellung eines korrekten Druckes verwendet worden ist, lassen erwarten,
daß dieser Kampf erfolgreich sein wird, zumal die Verfasser auch den neuen Be-
strebungen, wie die Meraner Vorschläge sie bringen, Rechnung zu tragen sich
bemüht zeigen.
Von den Veröffentlichungen, die den Namen J. Jakobs tragen, sind die beiden
kleineren etwa für die Sexta bis Quarta unserer höheren Lehranstalten bestimmt.
Zum Unterricht im Rechnen und in der Mathematik. 529
Von ihnen gilt, was für das entsprechend für die Gymnasien geschriebene Buch
hier Jahrgang V, S. 265 gesagt worden ist. Das größere Buch ist die Fortsetzung
der schon früher besprochenen für die Unterstufe bestimmten Arbeiten. Es teilt
mit diesen den Vorzug ausführlicher, klarer Darstellung, hat die Tendenz, die
Zahl der Lehrsätze möglichst zu beschränken und das ganze Augenmerk der
Schüler auf die zu lenken, die in der Praxis gebraucht werden. Über die Multi-
plikation finden sich nur zwei, über die Division drei Lehrsätze, im Ganzen ist
ihre Zahl für alle sieben Rechnungsarten auf 14 reduziert. Die Gleichungen werden
nicht erst nach den Proportionen behandelt, sondern gleich nach der Subtraktion
eingeführt und begleiten von da ab alle Abschnitte des Buches. Besondere Sorg-
falt ist auf die Einführung der neuen Zahlenarten verwendet. Vor allem ist mit
der formalen Einführung der negativen Zahlen gebrochen. Sie geschieht vielmehr,
genau wie in den unteren Klassen, auf Grund des Gegensatzes. Ein besonderes
Kapitel ist, zum erstenmal in einem österreichischen Lehrbuche, den Begriffen
Funktion, Differentialquotient, Integral gewidmet. Über dieses Kapitel wird noch
weiter unten zu sprechen sein.
Unter den Namen Kambly, Mehl er, Pietzker treten zwei altbewährte und
eine neue Darstellung uns entgegen. Die beiden ersten haben in Albrecht
Thaer bzw. August Schulte-Tigges neue Bearbeiter gefunden und sind den
Anforderungen der Gegenwart angepaßt worden. Bei Mehl er ist besonders ein
sehr klarer Abschnitt „Wiederholender Aufbau des arithmetischen Lehrgangs" hin-
zugefügt worden, mit einigen eigenartigen, beachtenswerten tabellarischen Zu-
sammenstellungen. Auch hat eine Umstellung der Paragraphen an mehreren
Stellen des arithmetischen Lehrgangs stattgefunden. Auf die Umarbeitungen der
übrigen Teile des Buches einzugehen liegt außerhalb der Aufgabe dieses Auf-
satzes. Die Arithmetik von Kambly-Langguth hat einmal in dem Tenor ihrer
früheren Auflagen an vielen Stellen durch Änderungen des Ausdrucks und Ein-
fügungen (z. B. der § 57 durch die geometrische Darstellung der Addition usw.
komplexer Zahlen, durch die Anfangsgründe der Vectorrechnung) Verbesserungen
erfahren, außerdem aber bringt ein Anhang von 65 Seiten drei Ergänzungs-
abschnitte: Versicherungsrechnung, Analysis und Differentialrechnung. Die letzten
beiden Abschnitte werden weiter unten noch näher besprochen werden, von dem
ersten kann gesagt werden, daß das Kapitel in dieser vorsichtig beschränkten
Ausdehnung an Anstalten, die durch Lehrer und Schüler besonders günstig ge-
stellt sind, wohl ohne Schädigung anderer Disziplinen wird bewältigt werden
können. Nach des Berichterstatters freilich nicht sehr umfangreichen Erfahrungen
scheitert das Bemühen oft an der Schwierigkeit, das Interesse der Schüler zu ge-
winnen und die Vorbegriffe ihm so klar zu machen, daß die Anwendung auf
Aufgaben geläufig wird. — Die Abschnitte des Pietzker sehen Lehrbuches die
sich auf die Arithmetik beziehen, stellen an die Schüler keine geringen Anforde-
rungen. Besonders tritt das auf der Unterstufe hervor. Die Darstellung schreitet
hier, trotz der Hervorhebung der Sätze durch gesperrten Druck, für das Verständ-
nis dieser Altersstufe zu akademisch vor. Als Lernbuch dürfte es, bei aller Treff-
lichkeit des Inhalts, manche Schwierigkeiten bereiten. In geringerem Maße wird
das bei der Oberstufe der Fall sein, wo der Schüler schon imstande ist, die Dis-
Monatschrift f. höh. Schulen. VIH. Jhrg. 34
530 M, Nath,
Position aus der Darstellung herauszufinden. Sachlich ist das Gegebene ein-
wandsfrei. Die Verwertung der neuen Gedanken, an deren Verwirklichung der
Verfasser hervorragend mitgewirkt hat, ist besonders eigenartig in den beiden
ersten Abschnitten des zweiten Teils, „Gleichungen als Ausdrucksmittel für funktio-
nalen Zusammenhang" und „der Aufbau des Zahlensystems nach der fortschreiten-
den Entwicklung". Von ihnen sollte jeder Lehrer der Mathematik Kenntnis nehmen.
III. Unter den hier zusammengestellten Werken erscheinen die Veröffent-
lichungen von Behrendsen undGötting und vonLesser und Schwab als die
ersten Versuche, schulbuchmäßig die Grundgedanken der Meraner Vorschläge zu
verarbeiten. Die Bücher von Bruno, Dintzl, Dreßler und Düsing geben,
teils methodisch, teils systematisch, den Stoff aus der höheren Analysis, der schon
für die Behandlung an den höheren Lehranstalten in Frage kommen könnte. Allen
voran muß die von P. Stäckel gelieferte Übersetzung des grundlegenden Werkes
von E. Borel gestellt werden. Das Buch ist eine sehr geschickte Bearbeitung und
Verschmelzung dreier Boreischen Publikationen, der „Arithm^tique et notions
d'Alg^bre", der „Algebre, premier cycle", und der »Algebre, second cycle". Es
führt den Leser von den ersten Anfangsgründen des Rechnens bis zu den Grund-
gedanken der Infinitesimalrechnung und hebt im Verlaufe der Darstellung alle die
Untersuchungen, Begriffe und Gedanken hervor, die dazu gehören, die Neu-
gestaltung des mathematischen Unterrichts im modernen Sinne durchzuführen.
Der erste Abschnitt, die Arithmetik, ist freilich etwas breit gehalten, aber der Her-
ausgeber hat doch damit recht, daß er ihn gegenüber der Überlegung, auf seine
Wiedergabe zu verzichten, beibehält und den deutschen Lesern geboten hat. Es
ist in der Tat eine originelle Leistung Boreis, da hier eine ganze Reihe von Sätzen
hergeleitet werden, die sonst in die Buchstabenrechnung gehören, und da diese
Sätze in einer begreiflichen Fassung erscheinen, die ihren Inhalt deutlicher hervor-
treten läßt, als wenn man sich der Buchstaben bedient hätte. Der zweite, aus-
führlichere Teil, die Algebra, enthält dann eng ineinander gearbeitet und in einer
alle Zusammenhänge und Übergangsmöglichkeiten berücksichtigenden und hervor-
hebenden Darstellung die elementaren Lehren der Rechnung mit allgemeinen
Zahlen, die Lehre von den Gleichungen, die Anfangsgründe der Koordinaten-
geometrie, graphische Darstellungen der behandelten algebraischen Formen. Der
Studierende lernt alle diese Disziplinen in erster Linie nicht als gesonderte Teile
eines Ganzen kennen, vielmehr verschlingen sich deren Lehren und Untersuchungen
von Anfang an zu einem Netz von Vorstellungen und Fertigkeiten, das den Über-
gang zu Gedankengängen und Untersuchungsmethoden der höheren Mathematik
anzubahnen wohl imstande ist. Die Kenntnisnahme des Buches erscheint von
diesem Gesichtspunkte aus für jeden Lehrer der Mathematik empfehlenswert und
zwar gerade die Übersetzung, da sie dem Originale gegenüber die Erleichterung
bietet, die französische Terminologie der Elementarmathematik, die dem Deutschen
nicht in gleicher Weise geläufig zu sein pflegt, wie die der höheren Teile, in die
deutschen Bezeichnungen umgewandelt zu finden. Jeder Abschnitt des Buches
ist mit einer guter Auswahl zum Teil eigenartig gebildeter Aufgaben versehen,
die drei angehängten Tafeln bringen eine graphische Eisenbahnkarte und die
Zum Unterricht im Rechnen und in der Mathematik. 531
Logarithmen und Numeri zu vier Dezimalen. — Das Werk von Behrendsen und
Göttin g bietet sowohl den geometrischen wie auch den arithmetischen Lehrstoff
der Unterstufe in einer vom Hergebrachten zwar abweichenden Gestalt, aber doch
sehr vorsichtig mit dem Neuen zurückhaltend. Gerade aus diesem Grunde eignet
es sich wohl besonders zu einem Versuche, den Unterricht umzugestalten. Die
neuen Gedanken und Betrachtungsweisen sind in ihm enthalten und treten viel-
fach zutage, aber sie beherrschen doch den Fortgang nicht in der Art, daß die
Wandlung des Unterrichts zu radikal erschiene. Anderseits sind die Neuerungen
auch nicht, wie bei manchen Neubearbeitungen älterer Werke, als Einschiebsel
oder Anhänge einfach ausscheidbar für den, der zu ihrem Werte kein Vertrauen
hat. Anders verfährt Lesser in dem ersten Teil des im Erscheinen begriffenen
Werkes. Die knappen theoretischen Abschnitte, die das „Übungsbuch" durch-
setzen, heben sofort mit den neuen Betrachtungsweisen an, kürzere graphische
Darstellungen bringen dem Lernenden die Auffassung der Veränderlichen, der Ab-
hängigen nahe und legen sich in bezug auf die Formulierung von Sätzen und
Regeln eine schätzenswerte Beschränkung auf. Dem entsprechend ist denn auch
das Übungsmaterial gewählt. Die Aufgabensammlung vermeidet, die Schüler zu
komplizierten, mechanischen Rechnungen Anlaß zu geben, bietet aber anderseits
doch wohl alles, was als unentbehrlich bezeichnet werden muß, in genügender
Reichhaltigkeit. So wäre nun durch die drei Bücher, das von Börel als Gegen-
stand des Studiums seitens des Lehrers, das Lehrbuch von Behrendsen -Götting,
endlich durch das Übungsbuch von Lesser und Schwab Gelegenheit, im Unter-
richt den Wert der Meraner Vorschläge zu prüfen auch für den gegeben, der auf
eigene Verantwortung Versuche zu machen sich bisher gescheut hat.
Die kleineren Werke von Bruno, Dintzl, Dreßler und Düsing begrenzen
ihren Stoff in ziemlich abweichender Weise, unterscheiden sich auch nicht un-
wesentlich in der Behandlungsweise. Als eine besonders brauchbare und erfreu-
liche Arbeit kann die von Dreßler bezeichnet werden. Sie bietet, eng sich an-
schließend an einen im wesentlichen den üblichen Weg einschlagenden Unterricht
in der Elementarmathematik, für jeden Schritt vorzüglich in der Arithmetik die
Ansatzpunkte, vorbereitenden Hinweise, Übungen und aus ihnen sich ergebenden
Begriffe und Sätze, die allmählich die neuen Gedanken in dem Schüler lebendig
werden lassen können. Was Klarheit, Folgerichtigkeit, Umsicht und Sorgfalt in
der Auswahl des Gebotenen angeht, kann man das Büchlein fast als vollendet be-
zeichnen. Bei Dintzls tüchtiger Darstellung ist der Einfluß von Borel sehr deut-
lich zu merken. Übrigens ist die methodisch gehaltene Form, wie wohl immer,
von einer gewissen Subjektivität nicht frei zu sprechen. Aber die Subjektivität
bietet anderseits für den Leser, der in erster Linie doch wohl als Fachmann ge-
dacht ist, das Interessante. Die Auswahl — es ist keine systematische Vollständig-
keit angestrebt — , die Aufeinanderfolge der Betrachtungen, die herangezogenen
Anwendungen sind strittig. Die eigenen Ansichten und das eigene Verfahren an
dem Dintzls zu kritisieren ist nicht ohne Wert. Bruno geht im Gegensatz zu
allen anderen Bearbeitungen des Stoffes vom bestimmten Integral aus und gelangt
von da aus, gelegentlich nicht ganz ohne Schwierigkeiten, zu den sonst früher be-
handelten Gebieten. Auch seine Behandlungsart kennen zu lernen, lohnt sich
34*
532 M» Nath, Zum Unterricht im Rechnen und in der Mathematik.
wohl der Mühe. Allerdings möchte der Berichterstatter seinen Zweifel nicht unter-
drücken, ob sein Verfahren, selbst wenn die Berechtigung des Ausgangspunktes
zugegeben wird, sich im Unterricht von Neulingen empfehlen würde. — Dintzl
wie Bruno, an österreichischen Mittelschulen wirkend, sind auch bestrebt, die Ein-
fügung des neuen Lehrstoffs in die Lehrpensen der Klassen in die Wege zu
leiten. Ihre Vorschläge zu würdigen ist für den Reichsdeutschen nicht leicht. Die
Stelle, an der das Neue einsetzen soll, erscheint reichlich vorausgeschoben.
Düsing beabsichtigt, die Differentialquotienten der einfachen Funktionen geome-
trisch abzuleiten. Er findet diese Methode anschaulicher, deswegen auch leichter
und interessanter als die algebraische, die leicht zu mechanischer Anwendung von
Regeln werde und keineswegs als exakter wie die erste bezeichnet werden könne.
Als eine weitere Eigenart des Büchleins kann der überall durchgeführte Grund-
satz bezeichnet werden, das gefundene Ergebnis zu besprechen, dem Schüler An-
leitung zu geben, daß er über das Gewonnene nachdenke, vor allem seine Richtig-
keit prüfe. Alle subtileren Untersuchungen werden als außerhalb der Aufgabe der
Schule liegend zurückgewiesen, das Ausgewählte aber wird klar und ausführlich
entwickelt. — Nicht unbesprochen kann an dieser Stelle der Teil der Thaerschen
Bearbeitung von Kambly-Langguth bleiben, der sich mit dem gleichen Gegen-
stande befaßt. Er ist sehr inhaltsreich, klar und übersichtHch, allerdings etwas
knapp gehalten. Hineinverwebt sind die Abschnitte über die Entwicklung des
Zahlbegriffes, über die Lösung der kubischen und biquadratischen Gleichung, sehr
interessant und eigenartig in der Darstellung. An die Ableitung der Differential-
quotienten, die hier ganz und gar auf algebraischem Wege geschieht, schließt sich
ein auf diesen fußender Abschnitt über die unendlichen Reihen. Des Stoffes ist
so viel, daß er wohl nur auf wenigen Anstalten ganz wird bewältigt werden
können.
Lessers „Materialien" sind, schon dem Titel nach, für die Hand des Lehrers
bestimmt. Hatte er schon früher in seinem Buche „Die Entwicklung des Funk-
tionsbegriffes und die Pflege des funktionalen Denkens im Mathematik-Unterricht
unserer höheren Schulen" (4"., 74 S., Frankfurt a. M., Gebr. Knauer) sehr wertvolle
Beiträge für die Unterstufe geliefert, so enthält die neue Arbeit eine kaum zu er-
schöpfende Fülle von Stoff für die oberen Klassen, und dieser Stoff so zu- und
vorbereitet, daß der Lehrer ihn sofort verwenden kann, ohne selbst zu zeitrauben-
der Arbeit genötigt zu sein, dabei eine große Zahl von Figuren im Text wie auf be-
sonderen Tafeln. Ebenso wie für den Unterricht wird das Buch aber gewiß für
viele Lehrer persönlich von Bedeutung werden. Manch einer, besonders von uns
älteren, hat ja diesem Zweige der Wissenschaft zu pflegen früher keine Gelegen-
heit oder Veranlassung gehabt. Er wird gut tun, noch einiges zu lernen, ehe er
ans Lehren geht. Dem Berichterstatter ist es so gegangen und Lessers Buch hat
ihn manche Stunde beschäftigt. — Da die Neuordnung des höheren Mädchen-
schulwesens den Unterricht in der Mathematik an diesen Anstalten erweitert, ist
das Erscheinen besonders für ihn bestimmter Lehrbücher begreiflich. Das Übungs-
buch von G. Noodt ist eine ausgezeichnete Leistung. Es verbindet in trefflicher
Weise den Anschluß an die elementaren Teile mit dem Bestreben, auch seinem
Schülerkreise den Zugang zu den modernen Anschauungen zu bahnen. Die Aus-
J. Norrenberg, Hilfsbücher für den Unterricht in der Physik. 533
wähl der Fragen und der Aufgaben zeigt einen erfahrenen, methodisch wohl ge-
gebildeten Lehrer. Für die Aufstellung der Gleichungen bei eingekleideten Auf-
gaben gibt der Verfasser an vielen Stellen eigenartige Hilfsmittel graphischer Ver-
deutlichung, die kennen zu lernen auch den Lehrern an Knabenschulen Nutzen
bringen wird.
Zu den mancherlei Sammlungen von Reifeprüfungsaufgaben hat jetzt E.Sprenger
.Mathematische Aufgaben aus den Reifeprüfungen der württembergischen Ober-
reaischulen" I. Teil (Leipzig 1908. Quelle u. Meyer. 79 S. 1,25 M.) veröffentlicht.
Das Heft enthält Aufgaben aus der darstellenden Geometrie, der niederen und
höheren Analysis, Trigonometrie und analytischen Geometrie (der Ebene und des
Raumes). Der Herausgeber weist darauf hin, wie die vor nicht anger Zeit ein-
getretene Kürzung der Stundenzahl in allen Mathematikfächern für die Zukunft
Leistungen, wie sie durch die älteren schwierigeren Aufgaben gekennzeichnet
seien, nicht mehr zulassen würde.
Das kleine Buch S. Valentiners führt in ziemlich gedrängtem Vortrag von
den ersten Elementen der Disziplin zu den hauptsächlichsten Anwendungen und zu
Erweiterungen, die jüngste Vergangenheit gebracht hat.
Pankow. Max Nath.
Hilfsbücher für den Unterricht in der Physik.
1. Boerner, H., Lehrbuch der Physik für die drei oberen Klassen der
Realgymnasien und Oberrealschulen sowie zur Einführung in das Studium der
neueren Physik. Mit 393 in den Text gedruckten Abbildungen. Fünfte Auflage.
Berlin 1907. Weidmannsche Buchhandlung. XV u. 525 S. 6 M.
2. Jochmann, E., Hermes, O., Spies, F., Grundriß der Experimental-
physik und Elemente der Chemie sowie der Astronomie und mathematischen
Geographie. Zum Gebrauch beim Unterricht auf höheren Lehranstalten und zum
Selbstudium. Mit 488 Figuren, einer Spektraltafel, einer Dreifarbendrucktafel,
vier meteorologischen Tafeln und zwei Sternkarten. Sechzehnte verbesserte Auf-
lage. Beriin 1906. Winckelmann u. Söhne. XVI u. 512 S. geb. 5,50 M.
Daraus besonders:
3. Hermes, O. und Spies, P., Elemente der Astronomie und mathe-
matischen Geographie. Zum Gebrauch beim Unterricht auf höheren Lehr-
anstalten und zum Selbstudium. Mit 48 Holzschnitten und zwei Sternkarten.
Fünfte verbesserte Auflage. Beriin 1906. Winckelmann u. Söhne. 73 S. 1,20 M.
4. Mach, E., Grundriß der Physik für die höheren Schulen des Deutschen
Reiches bearbeitet von F. Harbordt und M. Fischer. I. Teil: Vorbereitender
Lehrgang. Mit 430 Abbildungen. Dritte verbesserte Auflage. Leipzig 1905.
Freytag. VI u, 226 S. geb. 2 M. — IL Teil: Ausführiicher Lehrgang. Mit
537 Abbildungen. Zweite verbesserte und durch Übungsaufgaben erweiterte Auf-
lage. Leipzig u. Wien 1908. Freytag-Tempsky. 376 S. geb. 4. M.
5. Mach, E., Grundriß der Naturlehre für die unteren Klassen der Real-
534 J- Norrenberg,
schule, bearbeitet von K. Harbart. Mit 349 Abbildungen. Vierte Auflage.
Wien 1905. Tempsky. 192 S. geb. 2,30 K.
6. Höfler, A., Maiss, E., Schilling, G., Naturlehre für die unteren Klassen
der Mittelschulen. Mit 290 Holzschnitten, drei farbigen Figuren, einer lithogra-
phierten Sterntafel und einem Anhange mit 140 Denkaufgaben. Vierte verbesserte
Auflage. Wien 1906. C. Gerold's Sohn. 194 S. geb. 2,60 K.
7. Wallentin, J., Lehrbuch der Physik für die oberen Klassen der Mittel-
schulen und verwandter Lehranstalten. Elfte Auflage. Mit 234 in den Text ge-
druckten Holzschnitten und einer Spektraltafel in Farbendruck. Ausgabe für
Realschulen. Wien 1905. A. Pichlers Ww. & Sohn. 316 S. geb. 3,50 K.
8. Donle, W., Grundriß der Experimentalphysik für höhere Lehr-
anstalten. Dritte verbesserte Auflage. Mit 294 in den Text gedruckten Figuren
und 293 Übungsaufgaben. Stuttgart 1908. Friedr. Grub. VII u. 287 S. geb. 3 M.
Die hier genannten an zahlreichen höheren Lehranstalten bereits eingeführten
Lehrbücher liegen in neuen Auflagen vor. Bei den meisten von ihnen sind der
Lehrgang, der äußere Aufbau, Auswahl und Anordnung des Stoffes im wesent-
lichen unverändert geblieben. Nur bei dem Grundriß von Mach-Harbordt-Fischer
hat eine Vereinigung der bisherigen beiden Ausgaben für Gymnasien und Real-
anstalten stattgefunden. Der vorbereitende Lehrgang enthält jetzt außer dem
astronomisch-meteorologischen Anhange noch einen kurzen Abschnitt über Chemie
und Krystallographie und hat dadurch an Brauchbarkeit für diejenigen Anstalten
gewonnen, die für die letztgenannten Lehrgebiete kein besonderes Hilfsbuch
benutzen. Bei allen Neuauflagen sind Einzelheiten sachlicher und metho-
discher Art vielfach verbessert, die Fortschritte der Wissenschaft und der Unter-
richtstechnik zur schärferen Herausarbeitung der Begriffe und zur methodischeren
Ableitung der Gesetze eingehend berücksichtigt worden, so vor allem bei dem
vielbenutzten Joch mann sehen Buche und dem ausgezeichneten Unterrichtswerke
von Boerner. Das gleiche gilt von den an österreichischen Anstalten benutzten
Lehrbüchern 5 — 7, besonders von der Höflerschen Naturlehre, in der das Kapitel
über die elektrotechnischen Anwendungen eine wesentliche Bereicherung erfahren
hat. Wie die Hilfsbücher von Boerner, Donle und Jochmann so haben auch die
übrigen auf eine reichere Ausstattung mit Abbildungen mit vollem Rechte mehr
Wert gelegt. Die Beziehungen zum praktischen Leben sind von Mach durch Ein-
fügung von zahlreichen gutgewählten Übungsaufgaben gepflegt worden. Ebenso
hat auch Donle außer durch historische Notizen durch die Wiedergabe der an den
bayerischen höheren Lehranstalten in den letzten Jahrzehnten gestellten Absolutorial-
aufgaben den Stoff bereichert. Donles Grundriß hat überhaupt durch eine vorzügliche
Ausstattung und durch eine geschickte methodische Verarbeitung sehr gewonnen.
9. Koppe -Husmanns Anfangsgründe der Physik mit Einschluß der
mathematischen Geographie und Chemie. Für den Unterricht an höheren Lehr-
anstalten, sowie zur Selbstbelehrung. 31. Auflage. Mit 462 in den Text ein-
gedruckten Holzschnitten, einer mehrfarbigen Tafel der Spektren verschiedener
Elemente und Himmelskörper sowie einer mehrfarbigen Sternkarte. Bearbeitet
von K. Knops. Essen 1908. G. D. Baedeker. VIII u. 604 S. geb. 6 M.
10. Heussi, J., Leitfaden der Physik. Sechzehnte Auflage. Mit 199 in
Hilfsbücher für den Unterricht in der Physik. 535
den Text gedruckten Holzschnitten. Neu bearbeitet von E. Götting. Berlin 1906.
O. Salle. XI u. 182 S. 1,80 M.
Heussi, J., Lehrbuch der Physik für Gymnasien, Realgymnasien, Ober-
realschulen und andere höhere Bildungsanstalten. Siebente Auflage, vollständig
neu bearbeitet von E. Götting. Mit 487 in den Text gedruckten Abbildungen.
O. Salle. XII u. 475 S. geh. 5 M.
Beide Unterrichtswerke haben in der neuen Auflage einen neuen Bearbeiter
und damit auch eine wesentliche Neubearbeitung erfahren. Die Knopssche Mit-
arbeit an dem trefflichen Koppe wird dazu beitragen, dem Buche seine alten
Freunde zu erhalten und neue zu erwerben. Der chemische Lehrgang ist wieder
aufgenommen und namentlich der Abschnitt über Elektrizität einer gründlichen
Überarbeitung unterzogen worden, die Text und Abbildungen wieder in Einklang
mit den neuesten Fortschritten der Technik gebracht hat. Von jeher war es das
Bestreben des Verfassers, einen gut lesbaren und leicht verständlichen Text zu bieten.
Dadurch ist der Umfang des beliebten Lehrbuches etwas allzugroß geworden.
Würde es sich zur Erleichterung des Bücherranzens nicht ermöglichen lassen, den
Band in zwei oder drei Teilbände zu zerlegen? Bei geschichtlichen, mathematischen
und andern Unterrichtswerken (Neubauer, Reidt usw.) ist eine solche Teilung ja
längst eingeführt.
Aus dem Heussischen Buche, das als Lehrbuch für höhere Schulen überhaupt
nicht mehr in Betracht kam, ist durch die Bearbeitung von Götting ein fast neues,
recht brauchbares Hilfsmittel für den physikalischen Unterricht geworden. Der
Leitfaden ist für Realschulen und für den propädeutischen Kursus an Vollanstalten
bestimmt. Diesem Zwecke entsprechend ist das Buch ein methodisches, indem es
in der Darstellung möglichst von der Erfahrung des Schülers ausgeht, von dieser
aus zur Fragestellung und zur Antwort durch das Experiment gelangt. Alle Hypo-
thesen sind vermieden, die Lehre von der Umwandlungsfähigkeit der Energie ist
ebenfalls ausgeschlossen, der Stoff überhaupt dem Umfange nach stark ein-
geschränkt, was gewiß allgemeine Billigung finden wird. Angehängt finden wir
einen von Götting neu bearbeiteten Abriß: Elemente der Chemie, in Anlehnung
an Wilbrand. Ganz unabhändig vom Leitfaden und in der Darstellung auch mehr
systematisch als dieser ist das Lehrbuch. In ihm tritt der Energiebegriff stark in
den Vordergrund und beherrscht die Entwicklung. Sowohl den Forderungen der
Wissenschaft (z. B. Abbesche Theorie der optischen Instrumente) wie auch denen
der Methodik wird das Lehrbuch in weitestem Maße gerecht. In letzterer Be-
ziehung ist ein folgerichtiger Aufbau auf der Erfahrung und Beobachtung, eine
reinliche Scheidung der Beobachtungsergebnisse von dem Hypothetischen und von
dessen experimenteller Begründung angestrebt und auch mit Erfolg erzielt worden.
Das Göttingsche Werk wird sicher mit den besseren Lehrbüchern in Wettbewerb
treten. Bei den weiteren Auflagen müßte jedoch auf etwas größeren Druck und Ver-
meidung des Kleindrucks gesehen werden.
12. Kadesch, A., Leitfaden der Physik. Unterstufe. Mit 283 Figuren im
Texte. Wiesbaden 1907. J.F.Bergmann. VII u. 166 S. geb. 1,80 M. — Oberstufe.
Mit 294 Figuren im Texte, einer Spektraltafel am Schlüsse uud 386 Übungs:
aufgaben. Ebenda 1908. VIII u. 312 S. geb. 3,60 M.
536 J- Norrenberg,
13. Klingelhöffer, H., Leitfaden der Physik. Mit 334 Figuren. Gießen
1908. E. Roth. 187 S. geb. 2 M.
14. Bohn, H., Leitfaden der Physiit. Unterstufe. Ausgabe A. Mit che-
mischem Anhang von O. Nitsche. Leipzig 1908. O. Nägele. V u. 221 u. 64 S.
geb. 2,80 M. — Ausgabe B ohne chemischen Anhang, geb. 2,40 M.
15. Roesen, K., Lehrbuch der Physik. Zum Gebrauche für die oberen
Klassen höherer Lehranstalten. Mit 328 Abbildungen. Leipzig 1906. Leiner.
X u. 380 S. geb. 4,60 M. — Dazu: Ergänzungen zum Lehrbuche der Physik.
Mit 61 Abbildungen, geb. 1,20 M.
16. Poske, Fr., Oberstufe der Naturlehre (Physik nebst Astronomie und
mathematischer Geographie). Nach A. Höflers Naturlehre für die oberen Klassen
der österreichischen Mittelschulen, für höhere Lehranstalten des deutschen Reiches
bearbeitet. Mit 442 zum Teil farbigen Abbildungen und drei Tafeln. Braun-
schweig 1907. Fried. Vieweg u. Sohn. XI u. 337 S. geb. 4 M.
17. Zwick, H., Elemente der Experimentalphysik zum Gebrauch beim
Unterricht. Mit 473 Figuren und einer Farbentafel. Berlin 1906. L. Oehmigke.
XXXVIII u. 520 S. geb. 11 M.
18. Rosenberg, K., Lehrbuch der Physik für die unteren Klassen der
höheren Schulen. Mit 336 in den Text gedruckten, zum Teil farbig ausgeführten
Figuren und einer farbigen Tafel. Ausgabe für Realschulen. Leipzig u. Wien
1907. A. Holder. 260 S. geb. 2,60 M.
19. Rosenberg, K., Lehrbuch der Physik für die oberen Klassen der
höheren Schulen. Mit 615 in den Text gedruckten Figuren und einer farbigen
Spektraltafel. Ausgabe für Realgymnasien und Oberrealschulen. Leipzig u. Wien
1906. A. Holder. XIII u. 462 S. geb. 4,80 M. — Ausgabe für Gymnasien. XIII u.
488 S. geb. 5 M.
20. Rosenberg, K., Resultate der Übungsaufgaben aus dem obigen
Lehrbuche für die oberen Klassen. Mit drei in den Text gedruckten Figuren.
Ebenda. 15 S. 0,52 M.
21. Dannemann, F., Naturlehre für höhere Lehranstalten, auf Schüler-
übungen gegründet. II. Teü: Physik, insbesondere für Realschulen und den
ersten Kursus der Vollanstalten. Hannover u. Leipzig 1908. Hahnsche Buch-
handlung. VII u. 204 S. geb. 3,60 M.
Von den für den Hauptlehrgang bestimmten Hilfsbüchern verdient wohl die
Oberstufe von Poske an erster Stelle genannt zu werden. Sie schließt sich an die
von demselben Verfasser herausgegebene Unterstufe an, auf die schon früher
(BJ. V, S. 193) hingewiesen werden konnte. Dadurch daß auf viele in der
Unterstufe bereits behandelte Abschnitte Bezug genommen wird, ist hinreichend
Raum gewonnen worden zur eingehenderen Berücksichtigung der technischen An-
wendungen, auf die in dem sonst als Unterlage der Darstellung dienenden, der
Praxis etwas abholden Höflerschen Lehrbuche (Bd. V, S. 188) früher fast ganz
verzichtet worden war. In sehr erfreulicher Weise hat Poske hier in der Ober-
stufe einmal den Versuch gewagt, ein Buch zu schaffen, das den Stoff nicht in
behaglicher Breite lesebuchartig schildert, sondern in kurzen, leicht einprägbaren
Leitsätzen zusammenfaßt. Diesen Leitsätzen sind die erforderlichen Ausführungen
Hilfsbücher für den Unterricht in der Physik. 537
und Begründungen nachgestellt. Hierdurch nähert sich das Buch der Form, die
man als Lernbuch bezeichnen könnte, und die auf der Oberstufe sicher ihre Be-
rechtigung hat. Die großen Vorzüge, die schon der Unterstufe nachgerühmt werden
mußten, sind auch diesem Hauptlehrgange erhalten geblieben, ja sie sind durch
die angestrebte knappe Fassung noch viel mehr zum Vorschein gekommen. Her-
vorzuheben wären die vorzüglichen Abbildungen und die gute Ausstattung, die
zwar nicht die Hauptsache bei einem Lehrbuche sind, die es aber erleichtern, das
Poskesche Werk ohne jede Einschränkung zu empfehlen.
Österreichischen Ursprungs wie das Poskesche Unterrichtswerk ist auch das
Lehrbuch von Rosenberg. Gründliche methodische Durcharbeitung, gute schema-
tische Abbildungen, ein außerordentlicher Reichtum an guten Aufgaben, die die
technische Seite wie die denkende Verarbeitung der gewonnenen Kenntnisse gleich-
mäßig berücksichtigen sowie die Beachtung historischer Merkpunkte sind die Vor-
züge des Werkes, das auch schon durch die überaus klare Sprache, die trotz der
Einfachheit doch durchweg an Schärfe nichts zu wünschen läßt, angenehm unter
anderen Lehrbüchern auffällt. Die Rosenbergschen Lehrbücher bedeuten in
methodischer Hinsicht einen beachtenswerten Fortschritt und dürfen von den Fach-
lehrern nicht übersehen werden. Die Auswahl des Unterrichtsstoffes könnte wohl
hier und da zweckmäßiger sein. Die beiden Ausgaben für Gymnasien und für
Oberrealschulen sind vollständig übereinstimmend, die erstere ist nur um einen
ganz kurzen Abschnitt über Chemie ergänzt und daher umfangreicher. Beide sind
völlig unabhängig von dem für die unteren Klassen bestimmten Teile, der nicht
ein Auszug aus dem größeren Werke ist, sondern in einer dem propädeutischen
Unterricht angepaßten Weise den Stoff behandelt. Auch hier lernen wir wieder
den Verfasser als einen überaus geschickten Methodiker kennen und schätzen
(vgl. auch diese Monatschrift Bd. V, S. 212).
In der Verteilung des Stoffes auf zwei Stufen, in der knappen Fassung und
in dem Bestreben, zu möglichst klaren Begriffen hinzuleiten, gleicht dem Poske-
schen Hilfsbuche der Leitfaden von Kadesch. Der Stoff ist hier mehr eingeschränkt,
wodurch eine große Übersichtlichkeit ermöglicht wurde; die Figuren sind fast
überall schematisch, vielfach noch verbesserungsfähig aber doch ausreichend, die
Übungsaufgaben der Oberstufe tragen einen überwiegend rechnerischen Charakter.
Vorzüge des Buches sind die übersichtliche Anordnung und der gute Druck, die
mit dazu beitragen, das Buch zu einem gut verwendbaren Lernbuche zu machen,
das da, wo keine allzu hohen Anforderungen im Physikunterricht gestellt werden,
also vorwiegend am Gymnasium, ganz gute Dienste tun wird.
Roesens Lehrbuch ist ein handliches Bändchen, das den Stoff systematisch
darbietet, dabei aber doch im wesentlichen stets vom Versuche, und zwar von recht
glücklich gewählten Versuchen ausgeht, unter denen wir manche finden, denen wir
in anderen Lehrbüchern bisher noch nicht begegneten. Die Stoffauswahl, die
auch die Elektronentheorie, die Wechsel- und Drehstromtechnik berücksichtigt, ist
zunächst wohl für die gymnasialen Forderungen bemessen, wird aber auch den
weitergehenden Bedürfnissen der Realanstalten durch ein Ergänzungsheft gerecht,
das einige schwierigere Kapitel weiterführt.
Für den Anfangsunterricht mögen die Elemente der Experimentalphysik von
538 D^s Mädchenschulwesen in Preußen,
dem verstorbenen Berliner Stadtschulinspektor Zwick, wenn sie auch eigentlich für
die Vorbereitung des Volksschullehrers bestimmt sind, zu Rate gezogen werden.
Sie sind methodisch angelegt, knüpfen an die Erfahrung des Schülers an, lassen
das Experiment da einsetzen, wo jene versagt und stellen daher den Versuch an
die Stelle, wohin er gehört. Die Versuche sind kurz beschrieben und sind
meistens so einfach gewählt, daß sie sich auch als Schülerversuche eignen.
Von den für die Unterstufe bestimmten Leitfäden ist derjenige von Bohn als
eine Ergänzung des biologischen Unterrichtswerkes von Schmeil gedacht. Dem-
entsprechend ist, wie das Vorwort hervorhebt, eine einfache, leichtverständliche
Sprache und eine ausschließliche Ableitung der physikalischen Erkenntnis aus
Anschauung und Versuch angestrebt worden. Es ist aber dem Verfasser doch
nicht ganz gelungen, aus dem deduktiven Schema herauszukommen, so daß bei
ihm Definitionen, vielfach auch reine Nominaldefinitionen im Vordergrunde ge-
blieben sind. Auch die Abbildungen lassen manches zu wünschen. Fast das gleiche
muß von dem Klingelhöfferschen Leitfaden gesagt werden. Sollen etwa die ge-
sperrt gedruckten und vorangestellten Definitionen der Rolle, des Hebels usw.
vom Schüler memoriert werden? Man sollte doch endlich mit diesem Gedächtnis-
ballast aufräumen und dafür wirkliche Physik treiben.
Neue Wege beschreitet dagegen der IL Teil der Naturlehre von Danneman n.
Das Buch ist nach den Gesichtspunkten verfaßt, die Dannemann in seinem Werke
über den „naturwissenschaftlichen Unterricht auf praktisch-heuristischer Grundlage"
(Hannover, Hahn, 1907) näher dargelegt hat. Konsequenter noch als Bremer
(s. diese Monatschrift Bd. V, S. 188) baut der Verfasser den gesamten Unterricht
auf Schülerübungen auf, die den Stoff heuristisch behandeln und zu dem theore-
tischen Unterricht in engster Wechselbeziehung stehen. Laboratoriums- und
Klassenunterricht bilden hiernach eine Einheit. Soweit eine aufmerksame Durch-
sicht es erkennen ließ, sind die Versuche ohne Ausnahme leicht durchführbar und
lehrreich, erfüllen also ihren eigenartigen Zweck in hohem Maße. Ich muß ge-
stehen, daß mich dieser Leitfaden von der Durchführbarkeit des , praktischen"
Verfahrens mehr noch überzeugt hat, als es schon die theoretischen Ausführungen
des genannten Buches vermochten. Dem Bestreben, dem geschichtlichen Momente
eine erhöhte Berücksichtigung zuteil werden zu lassen, gibt der Verfasser Aus-
druck durch die Wiedergabe einiger wertvoller Abschnitte aus den Schriften
solcher Männer, die der Physik neue Bahnen gewiesen haben.
Berlin. J. Norrenberg.
b) Einzelbesprechungen:
Das Mädchenschulwesen in Preußen. Ministerielle Bestimmungen und Erlasse
zusammengestellt von G. Schöppa. 4. Ausgabe. Weitergeführt bis zum 15. De-
zember 1908. Leipzig 1909. Dürrsche Buchhandlung. 302 S. geb. 3,50 M.
kart. 2,80 M.
Die neue Ausgabe ist beträchtlich erweitert. Abschnitt A, der über die Schulen
handelt, enthält unter III alle Bestimmungen, die sich ergeben haben aus der be-
endeten Mädchenschulreform. Fast die Hälfte des Buches wird von diesen Be-
Die preußischen Provinzial-Instruktionen usw., angez. von A. Matthias. 539
Stimmungen in Anspruch genommen. Ein Vergleich ihres Inhalts mit den Lehrplänen
für höhere Knabenschule von 1901 ist ungemein interessant und anregend, da das,
was an den Bestimmungen von 1901 ergänzungsbedürftig war, hier zu amtlichem Aus-
druck gelangt. Der 2. Teil, der die Bestimmungen über die Prüfungen der Lehrerinnen
behandelt, ist im wesentlichen derselbe geblieben, wie in der 3. Ausgabe.
Die preußischen Provinzial-Instruktionen für die Direktoren, Ordinarien und
Oberlehrer der höheren Schulen (1856—1885). Neu herausgegeben und mit
einem Sachregister versehen von A. Matschoß. Bunzlau 1909. G. Kreuschmer.
X u. 189 S. gr. 80. 2 M.
Die zweite Auflage von A. Beier, Die höheren Schulen Preußens und ihre
Lehrer, enthielt noch nicht die preußischen Provinzial-Instruktionen für die Di-
rektoren, Ordinarien und Oberlehrer. Matschoß kam deshalb einem sich an
manchen Stellen geltend machenden Bedürfnisse entgegen, wenn er diese In-
struktionen neu herausgab. Die dritte Auflage des Beier bringt uns die Instruktionen
auch, ein Sachregister in der Ausführlichkeit, wie Matschoß es zusammengestellt
hat, fehlt aber bei Beier, und so wird das Buch von Matschoß für den Hand-
gebrauch immer sehr willkommen sein.
Diese Instruktionen werden ja voraussichtlich bald nur noch ein historisches Inter-
esse haben, wenn es gelingt, eine einheitliche Instruktion für alle Provinzen herzustellen.
Und wünschenswert ist diese Einheitlichkeit, ebenso wie es wünschenswert ist, daß
die Vorbesprechungen in der Fachpresse immer in angemessenen Formen sich be-
wegen und Takt und Gerechtigkeit in der Beurteilung der verschiedenen in Frage
kommenden Faktoren wahren. Dabei würde ein Einblick in die Rechte und
Pflichten der Verwaltungsbeamten und Richter und der Offiziere gute Wirkung
auf Maßhaltung und Gerechtigkeit ausüben und den Wohlklang der Besprechung
wesentlich heben. — Mir haben diese Instruktionen, die ich an der Hand des von
Matschoß aufgestellten vortrefflichen und gründlichen Sachregisters einmal wieder
prüfte, alte schöne Erinnerungen geweckt. Als ich vor langen Jahren als Probandus
eintrat, gab mir mein lieber und würdiger Direktor den Auftrag, für meine päda-
gogische Ausbildung dadurch zu sorgen, daß ich Wiese, Verordnungen und Gesetze
und besonders die Instruktionen für Direktoren, Ordinarien und Oberlehrer fleißig
studiere. Ich habe es mit heißem Bemühen getan, muß aber zu meiner Schande ge-
stehen, daß ich dann später als Ordinarius, Oberlehrer, Direktor und weiterhin statt dieser
Instruktionen in leichten und in schwierigen Fällen stets meinen gesunden Menschen-
verstand gefragt habe, und daß dieser mich bis in meine alten Tage freundlich und
im ganzen erfolgreich geführt und mir jedenfalls die Freude am Leben, am Amt
und wissenschaftlicher Beschäftigung nicht durch bureaukratische Buchstabenweisheit
verdorben hat. Und gleichaltrigen Freunden und Amtsgenossen ist es ähnlich so
ergangen. Doch wir gehören ja zu dem Geschlechte, das allmählich ausstirbt.
Die heranrückende Jugend scheint das dringende Bedürfnis zu haben, sich Leben
und Amt saurer zu machen. Und dazu und zu etwas mehr Bureaukratie kann ihr
ja .wunschgemäß" verholten werden. Es sei aber gestattet, sich bei rein mensch-
licher, nicht amtlicher Betrachtung der ganzen Frage des schönen gegen jegliche
Verknöcherung und alte und neue Zöpfe gerichteten Dichterwortes zu erinnern:
540 E. Vowinckel, Pädagogische Deutungen,
„'s ist eben manchen Leuten eigen,
Daß ihnen Schlichtes nicht gerät:
Sie müssen immer ins Fenster steigen,
Auch wenn die Haustür offen steht."
Berlin. A. Matthias.
Vowinckel, Ernst, Pädagogische Deutungen. Philosophische Prolegomena zu
einem System des höheren Unterrichts. Berlin 1908. Weidmannsche Buchhand-
lung. VII u. 164 S. geh. 3,40 M.
Das vorliegende Buch ist ein Beweis nicht nur für den starken Drang, der
sich — Gott sei Dank — in neuster Zeit wieder geltend macht, der Philosophie
große Wissensgebiete zurückzuerobern oder neu zu gewinnen, sondern auch für
das ernste Streben der Pädagogen, sich immer wieder über die tieferen Gründe
und Zusammenhänge ihrer Wissenschaft und ihrer praktischen Tätigkeit klar zu
werden. In dem lauten Kriegsgeschrei der aufeinander platzenden methodischen
Geister und der für Realismus oder Humanismus streitenden Kämpen ist die philo-
sophische Besinnung auf die der pädagogischen Tätigkeit als Grundlage dienenden
Prinzipien sehr zu kurz gekommen. Dieser Besinnung sollen die Prolegomena
des Verfassers dienen, der gegenüber den Standpunkten der theologischen Ethik,
der naturwissenschaftlich orientierten Psychologie, der realistischen Praktiker und
einseitigen Methodefanatiker die Unabhängigkeit der philosophischen Pädagogik
und die ideale Bedeutung und Würde der pädagogischen Arbeit und die innere
Einheit ihrer Probleme und Aufgaben betont.
Der Verfasser behandelt in seinem fesselnden Buch, das auch in seiner Form
hohen Ansprüchen genügt, zuerst die ethische Grundlegung und den logischen
Aufbau des Unterrichts, geht dann zu dessen Psychologie und Methodik über,
erörtert die Unterrichtsstunde als Kunstwerk und schließt mit der Darstellung einer
sozialen Pädagogik, deren hohe Bedeutung er in einer Untersuchung über die Teil-
nahme der Eltern an der Arbeit der Schule und in der Vorführung zweier zeit-
genössischer Schülertypen, des deutschen und englischen, zum Ausdruck bringt.
Die philosophischen Grundideen des Verfassers knüpfen an Kants Kritik an und
erinnern hier und da an Fichtes idealistische Gedankenformung. Ziel der Erziehung
ist das volle Menschentum oder, um mit Kants eigenen Worten zu reden, Kinder
sollen der Idee der Menschheit und deren ganze Bestimmung angemessen erzogen
werden. Die wichtigsten Fragen sind für den Verfasser die: wie ist in Erziehung
und Unterricht Intellektuelles und Ethisches zu vereinigen, und welche Entwicklungs-
gesetze beherrschen das geistige Wachstum? Ethische Grundlegung und logischer
Aufbau des Unterrichts bilden daher den Grundstock seiner Untersuchungen.
Unterrichten hat im letzten Grunde immer den Zweck, intellektuelle Erlebnisse
herbeizuführen, jene tiefgeheimen, unfaßbaren Vorgänge in der Psyche des unter-
richteten Schülers, die eine Vereinigung von Freiheit und Bedingtheit sind, und die
zugleich in eminentem Sinne sittlich wertvolle Grundakte darstellen. Wenn der
Schüler im intellektuellen Erlebnis eine neue geistige Welt aus sich herausschafft
und dem ihm aus der Fülle des Menschheitsdenkens dargebotenen Wissen selbständig
gegen übertritt, wird jenes Erlebnis zur sittlichen Tat. Zur Herbeiführung dieses
angez. von F. Schmitz. 541
Hauptvorgangs jedes Unterrichts haben an zweiter Stelle auch die Psychologie als
empirische Erforschung der Schülerpsyche, die methodische Technik und die Ästhetik
des Unterrichts, bei deren Charakterisierung der Verfasser in fesselnder Weise
verschiedene Stilarten aufstellt, mitzuwirken. Der Pädagogik Kants und der Kan-
tianer ist von jeher die einseitige Intellektualisierung der Erziehungsarbeit vorge-
worfen worden. Wenn Kant auch die Erziehungsidee aus der Sphäre des praktischen
Empirismus herausgerückt habe, so sei er doch, wie in seiner Philosophie Verstand,
Vernunft und Urteilskraft als die herrschenden psychologischen Grundkräfte er-
schienen, der Einseitigkeit verfallen, in der Erziehung der Entwicklung des Er-
kenntnisvermögens und insbesondere des Verstandes eine überragende und daher
einseitige Bedeutung beizulegen. Derselbe Vorwurf wird dem Verfasser des vor-
liegenden Werkes nicht erspart werden. Eine weitere Einwendung wird ihm in
der Hinsicht gemacht werden, daß sein Erziehungsideal des reinen Menschentums
zu abstrakt, zu transzendent sei und daher notwendigerweise sich zu wenig den
Forderungen des Tages anpasse. Beide Einwürfe erscheinen vom Standpunkt des
Verfassers ungerecht. Nimmt man einmal die kritische Philosophie zum Ausgangs-
punkt und Leitmotiv seines philosophischen und pädagogischen Denkens — und diese
Philosophie erweist ja tagtäglich immer wieder ihre die Zeit überdauernde und in
die Zukunft hinausgreifende Bedeutung und ihre stets neue Ideen und Fragestel-
lungen erzeugende Fruchtbarkeit — dann wird man zugeben müssen, daß der Ver-
fasser in seinen „Pädagogischen Deutungen* die recht solide Grundlage eines pä-
dagogischen Baues gelegt, daß er auch dessen weitere Ausgestaltung in logisch
lückenloser Ideenfolge angedeutet hat, wobei ein offener Blick für wichtige päda-
gogische Erscheinungen der Vergangenheit und die dringenden Erfordernisse der
Gegenwart seine philosophische Gedankenarbeit unterstützt, und daß sein Bildungs-
ideal auch den besten pädagogischen Überiieferungen unserer höheren Schulen
entspricht. Der Verfasser steht manchen modernen Erscheinungen auf dem Gebiete
des Erziehungrechts konservativ und skeptisch gegenüber. Er weist mit Recht die
Angriffe einer maßlosen, jetzt so beliebten Kritik unserer höheren Schulen zurück,
deren Unterricht und Erziehung durchaus nicht dem verzerrten Bilde der Schul-
hasser entspreche. Er hält nicht viel von den tönenden Revolutionen pädagogischer
Reformversammlungen und Tagungen, von den nicht enden wollenden Methode-
streitigkeiten, die ja glücklicherweise abzuflauen begonnen haben, und auch die
Ergebnisse der Experimentalpsychologie müssen ihm, der aus der Fülle des philo-
sophischen, kritisch orientierten Humanitätsgedankens Aufgabe, Richtungspunkte
und Ziel der Erziehungslehre herieitet, für die Begründung und Weiterbildung der
pädagogischen Wissenschaft nicht sonderiich wertvoll erscheinen.
Im letzten Kapitel bespricht der Verf. die Stellung der Eltern zur Schule und
stellt den deutschen Schülertypus dem englischen gegenüber. Hoffen wir, daß ein-
mal in Zukunft unser Vateriand reich an solchen idealen Häusern, an so harmonisch
gegliederten Familien sein möge, wie sie der Verf. (S. 139) beschreibt, Familien,
in denen die Versöhnung praktischer, intellektueller, ästhetischer und religiöser
Interessen in den Gefühlen des Wahren, Guten und Schönen eine tägliche Atmosphäre
schafft, die ein ideales Zusammenwirken von Schule und Haus ermöglicht. Im
zweiten Abschnitt dieses Kapitels wahrt der Verf. dem deutschen Schulideal sein
542 C. Schaarschmidt, Die Religion, angez. von W. Koppelmann.
gutes Recht gegenüber dem englischen, das in der Heranbildung willensstarker,
charaktervoller und muskelkräftiger Persönlichkeiten gipfelt, die nicht allzusehr mit
des Wissens Schätzen beschwert werden, und hält mit Recht den übereifrigen päda-
gogischen Englandschwärmern die nationale und politische Bedingtheit des englischen
Erziehungsideals vor, dessen Aus- und Weitergestaltung, dessen Ergänzung durch
kontinentale Erziehungsgrundsätze drüben übrigens von vielen bedeutenden Geistern
erstrebt werde. Die deutsche Schule müsse ihre Grundlage festhalten, die eines
Kreises für die Bildung zum Allgemein- Menschlichen notwendiger Gegenstände be-
dürfe, und von dieser Grundlage aus sei der Weiterbau des deutschen Schülertypus
zu erarbeiten. —
Alles in allem haben wir hier ein vortreffliches, ernstes, ideenreiches und schön
geschriebenes Buch vor uns. Niemand, dem es um eine philosophische Begründung
der Pädagogik und um eine philosophische Rechtfertigung seines pädagogischen
Standpunktes zu tun ist, wird an den grundlegenden „Pädagogischen Deutungen"
des Verfassers vorübergehen können.
Langenberg (Rhld.) Friedrich Schmitz.
Schaarschmidt, C, Die Religion. Einführung in ihre Entwicklungs-
geschichte. Leipzig 1907. Dürr'sche Buchh. IV und 252 S. 4,40 M.
Der Verfasser ist der Überzeugung — und die religionsgeschichtlichen
Forschungen der neuesten Zeit geben ihm mehr und mehr recht — , daß die
religiösen Anschauungen aller Völker im wesentlichen dieselben Stufen durch-
laufen haben, und daß die vorhandenen Verschiedenheiten darauf zurückzuführen
sind, daß die religiös tiefer stehenden Völker entweder noch auf dem Wege zu
den höheren Stufen sind oder sich im Zustande der Erstarrung befinden und zur
Weiterentwicklung aus eigenen Kräften nicht fähig sind. Eine Hauptstütze dieser
Auffassung ist die, daß auch da, wo höhere Formen der Religion zum Siege
gekommen sind, die primitiven Anschauungen sich vielfach in der Form des Aber-
glaubens noch vorfinden. Auch damit dürfte Schaarschmidt recht haben, daß er
im Christentum, d. i. in der Religion Jesu, nicht allein die höchste bisher erreichte,
sondern die höchste überhaupt erreichbare Stufe der Religion sieht und überzeugt
ist, daß die Lehre Jesu „als die eigentliche Zuflucht alles Strebens nach Sittlichkeit"
zu Recht bestehen und die Religion in ihrer höchsten Form niemals in „reine
Sittlichkeit" ohne Religion sich auflösen werde (S. 223).
Die unterste Stufe der Religion ist nach Schaarschmidt der Naturalismus, und
zwar erstens der „Konkrete" (Totemismus und Fetischismus) und zweitens der
„abstrakte" (Polydämonismus), abstrakt deshalb, weil hier die Vorstellung einer
übersinnlichen Macht von der unmittelbaren Gegenwart eines sinnlichen Gegen-
standes losgelöst wird, während man im Fetischismus seinen Gott „sozusagen in
der Tasche bei sich als Schutzgeist oder Hausmittel tragen kann". Über den
Naturalismus erhebt sich der „Spiritualismus", welcher in den „antropomorphen
Polytheismus" und den Monotheismus zerfällt. Innerhalb des letzteren unterscheidet
Schaarschmidt den „national und nomistisch beschränkten Monotheismus" (die
Religion Zarathustras, den israelitisch-jüdischen Monotheismus und den Islam), und
den „universalistisch und ethisch bestimmten Monotheismus", nämlich das Christen-
Handbuch zum Neuen Testament, angez. von H. Vollmer. 543
tum. Diese Klassifikation veranschaulicht auch, wie der Verfasser sich die historische
Entwicklung oder besser: den Aufbau der Religion denkt. Den Buddhismus in
seiner ursprünglichen Form rechnet er nicht zur Religion und behandelt ihn des-
wegen in einem Anhang.
Daß es bei dieser Behandlung der Religionsgeschichte nicht ganz ohne un-
genügend begründete Konstruktionen abgeht, ist bei den vielen Lücken in unserer
Kenntnis der Religionen erklärlich. Ob z. B. die enge Verbindung, in welche
Schaarschmidt den „konkreten" Naturalismus mit dem Jägerleben, den „abstrakten"
mit dem Aufkommen des Nomadenlebens, den Polytheismus mit der Entstehung
des Ackerbaus bringt, überall den Tatsachen entspricht, scheint mir doch zweifel-
haft. Trotzdem verdient diese Art der Darstellung, welche allein ein tieferes
Verständnis anbahnen kann, m. E. den Vorzug vor der bloßen Aneinanderreihung
von Schilderungen der einzelnen Religionen, wie sie in den Lehrbüchern der
Religionsgeschichte vielfach sich findet.
Münster i. W. Wilhelm Koppelmann.
Handbuch zum Neuen Testament, in Verbindung mit H. Gressmann, E. Kloster-
mann, F. Niebergall, L. Radermacher, P. Wendland herausgegeben von Hans
Lietzmann. Tübingen 1906 ff. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
Von diesem bedeutsamen neuen Hilfsmittel zur Erklärung des Neuen Testa-
ments, dessen Erscheinen ich bereits im vorigen Jahre begrüßte (Monatschrift VI,
472 ff.), liegen mir eine Reihe weiterer Lieferungen zur Besprechung vor.
In der 4. Lieferung (geh. 3,20 M.) behandelt Paul Wendland, dem inzwischen
von Gießen der theologische Ehrendoktor zuteü wurde, in Fortsetzung seiner Dar-
stellung der „Hellenistisch -römischen Kultur in ihren Beziehungen zu
Judentum und Christentum" in drei weiteren Abschnitten „Hellenismus und Juden-
tum", „Hellenismus und Christentum", „Synkretismus und Gnosticismus". Es soll
nicht wiederholt werden, was ich schon früher zum Lobe dieses Buches sagte.
Wendlands „Hellenistisch-römische Kultur" bedeutet ein Ereignis für alle, die sich
irgendwie wissenschaftlich mit der neutestamentlichen Literatur und ihren Grenz-
gebieten beschäftigen. Es gibt keinen Philologen oder Theologen, der nicht eine
Menge Neues aus diesem Buche lernen könnte, sei es nun durch das erschlossene
Tatsachenmaterial oder dessen Beleuchtung. Ein solcher Apparat war in der Tat
notwendig, um ein wirklich geschichtliches Verständnis und eine geschichtliche
Würdigung des Neuen Testamentes anzubahnen. Ich will hier nicht wieder auf
Einzelheiten eingehn. Dem Autor zum Zeugnis, wie mannigfach seine Aus-
führungen anregen, möchte ich nur auf eine Perspektive hinweisen, die sich mir
bei ihm S. 167 eröffnete: Von dem Kampfe guter und böser Geister um die Seele
bei ihrer Rückkehr zur Gottheit, an dessen Vorkommen in der parsischen Escha-
tologie Norden, Aeneis IV, S. 8 Anm., erinnert [vgl. auch im N. T. Jud. 9]*),
führt eine Linie über die lateinische apokalyptische Literatur auch zu Muspilli und
*) Nach Clemens Alexandr. adumbr. in epist. Judae auf eine Assumptio Mosis zurück-
gehend. — Vgl. auch Apocal. Pauli (Tischend. S. 44), dazu Bousset, Relig. des Judent.
1. Aufl., S. 284 f. Nicht hierher gehört der Kampf des Herakles mit dem Thanatos in der
Alkestissage.
544 Handbuch zum Neuen Testament, angez. von H. Vollmer.
zu jenen phantastisch illustrierten mittelalterlichen Sterbebüchern, wo Engel zu
Häupten und Teufel am Fußende des Sterbenden um die abscheidende Seele
streiten,*) und bis zum Faust.
Zwei Sätze Wendlands von allgemeinerem Interesse seien wörtlich mitgeteilt;
sie haben gewissen immer noch nicht verschwindenden hyper- und afterkritischen
Richtungen gegenüber eine besondere Bedeutung, weil sie von einem Kenner der
Zeitgeschichte herrühren, mit dem es nicht viele aufnehmen können. S. 121 sagt
er: ,Wer in den Hauptbriefen des Paulus und in der synoptischen Grundlage nicht
ganz individuelles religiöses Leben zu spüren vermag, der ist für historische
Forschung auf diesem Gebiete verdorben."**) Und S. 130 heißt es: ,Wir haben
auf dem Gebiete der Religion und Spekulation bei den antiken Völkern auffallend
parallele und konvergierende Entwicklungslinien beobachten gelernt und sind skep-
tischer geworden gegen die Annahme einer geschichtlichen Abhängigkeit, wo
Wege und Medien der Vermittelung gar nicht nachzuweisen sind."
Von den Zugaben sei diesmal besonders auf die fünf Abbildungen im Text und
die zwölf Tafeln verwiesen. Sehr lehrreich sind z. B. der Bilderzyklus zu den
Sabaziosmysterien und die Darstellungen aus dem Mithrakult, zu denen der Her-
ausgeber des ganzen Werks, Hans Lietzmann, von Loeschcke beraten, treffliche
Erläuterungen gibt. Vielleicht bewilligt die Verlagsbuchhandlung bei der nächsten
Auflage mehr solcher Bilder, die hier wahrlich nicht nur Schmuck sind.
Auf die Bedeutung des 1. Korintherbrief es für den Religionsunterricht auf der
Oberstufe hat der Schreiber dieser Zeüen wiederholt hingewiesen.***) Hans Lietz-
mann bietet in seinem Kommentar zu diesem Briefe (5. Lieferung des ganzen Werkes,
geheftet 1,60 M.) dem sorgfältig präparierenden Lehrer ein neues, ganz vortreffliches
Hilfsmittel dar. Bei den Erläuterungen erwies sich auch hier wieder der alte
Wetstein als unerschöpfliche Fundgrube; aber ebenso sorgfältig ist in umfassendster
Weise die neuere Forschung benutzt, wie z. B. die Bemerkungen Useners zu
TTspixa&apiia und irepi'tJ^Tjjxa 1. Kor. 4,13. — Zu dem kultur- und sittengeschicht-
lich höchst interessanten Passus 7,36—38 (der allerdings nicht auf die Schule
gehört) ist die Weizsäcker-Grafesche Erkenntnis, daß es sich hier um das Syn-
eisaktentum, die geistliche Ehe, handle, durch eine von Wendland unterstützte
sprachliche Untersuchung über die Bedeutung von YafAi'C«) erhärtet. Zu den tech-
nischen Ausdrücken bei dem Bilde von der Rennbahn 9,24 — 27 hätte noch auf
Lukian Anachars. 13 verwiesen werden können. Sehr bedeutsam und manchem
Benutzer des Handbuches gewiß völlig neu und überraschend sind die Ausführungen
zu 10,21 über Kultmahle und die antike Anschauung vom Genießen der Gottheit.
*) Ein bisher unbekanntes Stück aus dieser Literatur hat der Recensent inzwischen in
der „Christlichen Welt« 1908, 1246 ff. behandelt. In dem dort mitgeteilten Text ist statt
„inderland" „niderland" zu lesen.
**) Das Wort hat mittlerweile großen Unwillen bei dem bekannten Karlsruher Philo-
sophieprofessor Arthur Drews erregt in seinem übrigens ganz dilettantischen Buch „Die
Christusmythe" ; er fühlt wohl, wie es ihn selber trifft.
***) Vom evangelischen Religionsunterricht an höheren Schulen (mit Metz, Rinn, Seyring)
herausgegeben von Hans Vollmer, Tübingen (Mohr) 1900, S. 28 f., 44 ff.; Handbuch für
Lehrer höherer Schulen, Leipzig (Teubner) 1906, S. 112 f.
Hand-Kommentar zum Neuen Testament, angez. von M. Consbruch. 545
Aus der Fülle reichen Material es schöpfend, sprach der unvergeßliche Albrecht
Di et er ich in einem seiner letzten Vorträge in Hamburg kurz vor seinem jähen
Ende über dieses Thema.
Auf Lieferung 6: Marcus, unter Mitwirkung von Hugo Gressmann erklärt von
Erich Klostermann, soll erst eingegangen werden, wenn die von Klostermann in
Aussicht gestellte Einleitung zu den Evangelien, die der Erklärung folgen soll,
gleichfalls voriiegt.
Nur ganz kurz kann hier auf die beiden bisher erschienenen Lieferungen von
F. Niebergall hingewiesen werden (Lieferung 2 und 7), die den Bedürfnissen der
praktischen Auslegung des Neuen Testaments, zunächst des Römerbriefs und des
Markusevangeliums, dienen sollen. Sie kommen mehr für die Kanzel als für die
Schule in Betracht, wenn auch sicher für den Religionslehrer mancher anregende
Gedanke daraus zu holen ist. „Es ist ein sehr billiges Vergnügen, die tote In-
spirationslehre noch einmal totzuschlagen," sagt der Verfasser einmal. Aber uns
will bedünken, daß er doch gar manches sagt, was im Rahmen dieses Handbuchs
nicht noch einmal ausgeführt zu werden brauchte. Sehr willkommen war dem
Rezensenten die folgende Bestätigung seiner eigenen, oft vorgetragenen An-
schauungen über den biblischen Unterricht auf der Oberstufe höherer Schulen
(Lieferung 2, S. 47 f.): »Der Unterricht auf den höheren Schulen ersetze die be-
liebte, dogmatischen Rücksichten dienende Lektüre des Römerbriefs oder Johannes-
evangeliums durch ganz offene, nicht apologetisierende Behandlung der großen
historischen und kritischen Probleme. Wenn die Herren Primaner Respekt vor
der Bibel bekommen, wie vor anderer antiker Literatur, wenn sie gereizt werden
durch eine ihre Bedenken berücksichtigende Kritik, dann wird's besser mit dem
Verhältnis der Gebildeten zur Bibel. Je unerbaulicher, kritischer und geschicht-
licher, desto besser ist es bei diesem erregbaren Geschlecht. Die ersehnte Über-
wachung durch gläubige Oberhirten kann nur noch mehr das Ansehn der Bibel
ruinieren. Auch hier ist freilassendes Gewähren, das auf spätere Jahre der Reife
sieht, besser als die Angst, die für heute und morgen retten will.* Das ist natüriich,
damit nicht wieder Mißverständnis entsteht, pointiert gegen den bloß pektoral-
theologischen Religionsunterricht gesagt und soll ganz gewiß die weckende Wärme,
die TrXTfjpocpopia des Lehrers nicht ausschließen.
Hamburg. Hans Vollmer.
Hand-Kommentar zum Neuen Testament, bearbeitet von W. Bauer, H. J. Holtz-
mann, A. Lipsius, P. W. Schmiedel, v. Soden, Windisch. 4. Bd. Evangelium,
Briefe und Offenbarung des Johannnes; bearbeitet von H. J. Holtzmann,
dritte, neubearbeitete Auflage von W. Bauer. Tübingen 1908. J. C. B. Mohr. V u.
504 S. gr. 8". geh. 9,75 M., geb. UM.
Während die beiden ersten Auflagen des Kommentars von H. J. Holtzmann
zu den Johanneischen Schriften rasch aufeinander folgten, sind 15 Jahre ver-
strichen, bis nun die dritte Auflage voriiegt, zwar noch mit einem Vorwort von Holtz-
mann, aber durchaus selbständig bearbeitet von W. Bauer. Bei der regen wissen-
schaftlichen Tätigkeit, die auf diesem schwierigen, an Problemen reichen Gebiete
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 35
546 Deutsche Evangelien-Synopse, angez. von M. Consbruch.
geherrscht hat, ist es um so erfreulicher, daß einschneidende Änderungen, soweit
ich sehe, nirgends notwendig gewesen sind. Denn als solche kann man es nicht
bezeichnen, wenn auf Grund der neuen Literatur beim Evangelium ein Abschnitt
über den Verfasser und den Zweck des Buches hinzugefügt, bei der Apokalypse
das Kapitel über die „kritische Verarbeitung" umgestaltet ist.
Wenn auch noch viele Rätsel im einzelnen bleiben, so kann man doch sagen^
daß die vor fast 70 Jahren von F. Gh. Baur und der Tübinger Schule angebahnte
Auffassung des Evangeliums als der Lehr- und Streitschrift eines Theologen, die
paulinische Gedankengänge voraussetzt, allen Angriffen gegenüber sich bewährt
hat, ja vielmehr durch vertiefte Untersuchungen zwar hier und da modifiziert, aber
im ganzen nur bekräftigt ist. Daß sie, wie z. B. Zahns Kommentar (1908) zeigt,
immer noch nicht in vollem Umfange durchgedrungen ist, hat meines Erachtens
mehr subjektive als objektive Gründe. Denn sie erfordert eine weitgehende Ab-
straktion von alten, liebgewordenen Anschauungen und ein Maß philologischen
Denkens, das nicht gering ist. Der allegorische Charakter der Schrift würde leichter
anerkannt werden, wenn auch hier gelänge, was bei der Apokalypse geglückt ist: der
Nachweis literarischer Parallelen und Zusammenhänge. Die heute brennende Frage
der literarischen Einheit ist leider nur gestreift; denn die Aufsätze von Schwarte
und das Hauptwerk Wellhausens sind erst später erschienen. — Die neue Auflage
ist bei engerem Druck fast 150 Seiten umfangreicher geworden, einmal durch Beigabe
einer fortlaufenden deutschen Übersetzung, sodann dadurch, daß Bauer mit unge-
meiner Belesenheit nicht nur die neuere Literatur verarbeitet, sondern auch die
Hinweisungen auf die ältere vermehrt hat, oft mit ein paar Worten das Resultat
einer literarhistorischen Untersuchung zusammenfassend. Gerade dadurch unter-
scheidet sich bei Übereinstimmung in den Hauptpunkten dieser Kommentar von
dem von Heitmüller und Joh. Weiß im 2. Band der „Schriften des Neuen Testa-
ments", der für die Gebildeten überhaupt bestimmt ist. Wenn der Religionslehrer
auch für die unmittelbare Praxis dort, namentlich bei Heitmüller, mehr Ausbeute
finden wird, so wird doch, wer eine rechte Einsicht in die Schwierigkeit der Pro-
bleme gewinnen und sich selbst sein Urteil bilden will, zu Holtzmanns Kommentar
greifen müssen.
Deutsche Evangelien-Synopse mit Zugrundelegung der Übersetzung Carl Weiz-
säckers. Ununterbrochener Text mit den Parallelen im vollen Wortlaute unter
Beifügung johanneischer und außerkanonischer Seitenstücke und der wichtigsten
Varianten in der Überlieferung des Textes von Lic. A. Huck. Tübingen 1908.
J. C. B. Mohr. XVI u. 150 S. gr. 8°. brosch. 3 M., geb. 4 M.
Als vor vier Jahren die religionsgeschichtlichen Volksbücher zu erscheinen
begannen, wurden vielfach Zweifel laut, ob das Unternehmen zeitgemäß sei und
auf diesem Wege das religiöse Interesse nachhaltig gefördert und vertieft werden
könne.
Seitdem sind den Volksbüchern außer einer Fülle andrer Heftchen und Bücher
die „Zeit- und Streitfragen" und die „Lebensfragen" gefolgt, und in allen Samm-
lungen für Gebildete, wie sie Göschen, Teubner, Quelle und Meyer u. a. veran-
W. Capitaine, Lehrb. der katholischen Religion usw., angez. v. J. Norysklewicz. 547
stalten, nehmen heute religiöse Probleme einen breiten Raum ein. Oft ist dabei
der Kampf der Vater der Dinge gewesen, aber die wissenschaftliche Darlegung hat
doch die Achtung auch vor dem Gegner erhöht und zugleich gezeigt, daß die
Gegensätze zwischen rechts und links nicht so schroff sind, als man früher wohl,
namentlich außerhalb der Fachkreise, meinte. Freilich bleibt, wie uns jeder Tag
zeigt, zur Versöhnung der Gegensätze noch recht viel zu tun, eine Aufgabe, zu
deren Lösung auch die Lehrer der höheren Schulen sehr erheblich beitragen sollen
und können. Und daß wir trotz vieler unerfreulichen Erscheinungen die Hoffnung
auf ein Fortschreiten in friedlichem Geiste nicht aufgeben, dazu berechtigt uns die
Tatsache, daß es dem wissenschaftlichen Ernst gelungen ist, die Gebildeten zu
den Quellen selbst, d.h. zu der Bibel zurückzuführen; den Beweis dafür bildet der
starke Absatz vor allem der Kautzsch-Weizsäckerschen Übersetzungen, dann der
soeben erschienenen Erklärung des Neuen Testaments von Joh. Weiß. Dazu treten
die Übersetzungen von Stage bei Reclam, die Kommentare von B. Weiß, Schlatter,
Niebergall u. a. Diesem. Streben der Gebildeten, sich im Geiste echten Protestan-
tismus selbst ein Urteil über jene wichtigen Fragen zu bilden, will auch Hucks
Buch dienen. Längst ist seine griechische Synopse jedem Theologen ein unent-
behrliches Hilfsmittel. In seiner deutschen Bearbeitung hat nun Huck den voll-
ständigen Text der drei synoptischen Evangelien, für die Passionsgeschichte auch
den des Johannis Evangeliums gegeben. Von den Textvarianten ist natürlich nur
so viel aufgenommen als auch für den Laien von Wichtigkeit ist. Gerade weil unsere
Lutherische Übersetzung auf dem recht schlechten Text des Erasmus beruht, wird
mancher doch überrascht sein, wie verändert selbst so wichtige Stellen wie das
Vaterunser (nam. Lc. 11, 1 ff.) hier aussehen. Auch aus den apokryphischen Evan-
gelien und den neugefundenen Texten aus Ägypten ist mit bewährter Sachkunde
genug geboten, um ein gewisses Urteil zu ermöglichen. Eine knappe Einleitung
über die verwickelte Überlieferungsgeschichte wird selbst Theologen willkommen
sein. So wird das treffliche, praktisch angelegte Buch jedem nützen, insbesondere
aber den zahlreichen Religionslehrern, die nicht von Hause aus Theologen sind.
Ihrem Unterricht in der evangelischen Geschichte wird es die wissenschaftliche
Grundlage geben, die hier auch schon auf den unteren Stufen unerläßlich ist.
Eisenach. M. Consbruch.
Capitaine» W., Lehrbuch der katholischen Religion für die oberen Klassen
höherer Lehranstalten. 2. Teil: Kirchengeschichte. Köln 1909. J. P. Bachem.
IV u. 296 S., geb. 2,80 M.
Nachdem Capitaine gegen Ende des vorigen Jahres den ersten Teil seines
Lehrbuches der katholischen Religion für die oberen Klassen höherer Lehranstalten
der Öffentlichkeit übergeben hatte, ist jetzt der zweite Teil, die Kirchengeschichte,
gefolgt. Die Vorzüge, die des Verfassers Arbeit auszeichnen, Vielseitigkeit des
Inhalts, lichtvolle methodische Behandlung des Stoffes und eine fesselnde Dar-
stellungsweise, finden sich auch in der Kirchengeschichte, einem Gebiete, das sehr
oft synchronistisch und trocken behandelt wird. Wohltuend wirkt in Capitaines
Lehrbuch die streng durchgeführte pragmatische Darstellung, die da zeigt, „daß
35*
548 H. Hirt, Etymologie der neuhochdeutschen Sprache,
in der Menschheft kein blindes Ungefähr, sondern eine wunderbare göttliche Vor-
sehung herrscht (S. 10)." Dafür gebührt dem Verfasser aufrichtiger Dank.
Was nun den Inhalt im allgemeinen betrifft, so ist das einschlägige Material
— Quellen, Handbücher und Monographien — mit anerkennenswertem Fleiße
gesammelt und durchaus selbständig verarbeitet. Fast nirgends hat man Gelegenheit,
zu dem behandelten Stoffe etwas hinzuzufügen, im Gegenteil, fast will es scheinen,
als ob hier und da manches gekürzt werden könnte, besonders die losen Bemerkungen
im dritten Druck. Es unterliegt zwar keinem Zweifel, daß der Vortrag des Lehrers
sie anstandslos übergehen kann, aber sie vermehren den Umfang des Buches und
erhöhen den Preis, der unseres Erachtens nicht viel über 2 M. für die einzelnen
Teile des Lehrbuches hinausgehen darf. So könnte z. B. die Geschichte der ober-
rheinischen Kirchenprovinz, der engeren Heimat des Verfassers, des öfteren
ausgeschaltet werden, ohne dem Ganzen irgendwie Abbruch zu tun.
Das christliche Altertum, verständnisvoll mit der Missionstätigkeit des heiligen
Bonifatius abgeschlossen, erfährt eine eingehende Darstellung (bis S. 109). In
dem Gedankenkreise des christlichen Altertums liegen die Ideen und keimen die
Motive, die im Mittelalter ihre weltbeherrschende Macht entfalten und in der Neu-
zeit allmählich wieder ihrem Niedergange entgegengehen. — Die Christianisierung
der slawischen Völker (§ 27,2) bedarf einer abermaligen genaueren Durchsicht (auf
den Druckfehler Domorowka sei nebenbei hingewiesen) und in § 29,1 könnten
die Schäden rückhaltloser aufgedeckt und manche Ereignisse ausführlicher besprochen
werden. „Gerade diese traurige Zeit wurde ein neuer Erweis der Göttlichkeit des
Christentums, denn wenn Gottes Beistand die Kirche in diesen gefahrvollen Zeiten
nicht geleitet hätte, wäre sie sicher durch die menschliche Leidenschaft bald zu-
grunde gerichtet worden (S. 122)."
Schrimm. Johannes Noryskiewicz.
Hirt, Hermann, Etymologie der neuhochdeutschen Sprache. (Handbuch
des deutschen Unterrichts an höheren Schulen, herausgegeben von Dr. Adolf
Matthias. 4. Band, 2. Teil.) München 1909. C. H. Becksche Verlagsbuch-
handlung (Oskar Beck). XV u. 404 S. geh. 8 M., in eleg. Leinenbande 9 M.
Die Ergebnisse, welche die Wissenschaft im Gebiete der Etymologie unserer
Muttersprache erzielt hat, in umfassendem Maße zusammenzustellen, war eine
dankenswerte Aufgabe, die zu lösen der Verfasser sich durch seine ins Jahr 1894
zurückgehenden Vorlesungen über deutsche Etymologie und Wortforschung, durch
seine Leistungen auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachwissenschaft und
durch die Bearbeitung der 5. Auflage des Weigandschen Wörterbuches die Wege
geebnet hat. Daß er kein Fremdling ist auf dem Gebiete der neuhochdeutschen
Wortforschung, erweist sich dem, der einigermaßen mit diesem Studium vertraut
geworden ist, fast auf jedem Blatte des inhaltreichen Buches, in der Beherrschung
der einschlägigen Literatur, in der Sicherheit, mit welcher der Verfasser sich auch
auf entlegenen Teilgebieten bewegt, in der geschickten Verarbeitung des für seine
Aufgabe in Betracht kommenden Stoffes und auch in der Aufdeckung der Lücken,
die der Wissenschaft noch auszufüllen übrig bleiben. Daß der Studierende und
angez. von J. Buschmann. 549
daß der Lehrer des Deutschen sich der Führung des Verfassers ruhig anvertrauen
können, lehrt schon ein Blick auf den Inhalt. Nach einer Übersicht über die für
die Wortentwicklung maßgebenden Lautgesetze entwickelt der Verfasser, was von
je zur Sammlung des deutschen Wortschatzes geschehen ist, wobei aus neuerer
Zeit Adelung, Campe und die Brüder Grimm eingehend behandelt und weiterhin
auch die Wörterbücher von Sanders, Weigand, Heyne und Paul gewürdigt werden.
Nachdem dann dargetan ist, wie groß die Anleihen sind, welche die Nachbar-
sprachen bei dem germanischen Wortschatz gemacht haben, folgt eine ausführliche
Betrachtung derjenigen Bestandteile des germanischen und zumal des deutschen
Wortschatzes, die sich als indogermanisch erweisen lassen, derer, die aus den
Grundwörtern durch Ableitung und Zusammensetzung entlehnt sind, und endlich
derer, die als Lehn- und Fremdwörter von der ältesten bis in die neueste Zeit sich
mehr oder weniger Bürgerrecht bei uns erworben haben. Dies gibt Anlaß zu Ein-
blicken in die vielfachen Verdeutschungs- und Sprachreinigungsversuche von der
Tätigkeit der Mönche an, die den Deutschen zuerst das Christentum predigten,
bis auf die Männer im Dienste des Deutschen Sprachvereins. Für die Geschichte
der Entwicklung des deutschen Wortschatzes muß sich der Verfasser bei dem Mangel
an Vorarbeiten auf Bruchstücke beschränken ; er untersucht eine Reihe von Begriffs-
gruppen, wie z. B. die Zahlwörter, die Bezeichnungen der Körperteile, Tier- und
Pflanzennamen, mit teilweise wertvollem Ergebnis, betrachtet die Bereicherung,
welche die Sprache gelegentlich durch Neuschöpfung, durch Übernahme mund-
artlicher Wörter und Neubelebung alter, aus der lebenden Sprache verschwundener
Wörter erfahren hat, und geht besonders der Einwirkung der Hauptmundarten auf
die Entwicklung der Schriftsprache nach. Gern wird man sich in das Kapitel über
die Sondersprachen vertiefen und von dem Verfasser sich darüber belehren lassen,
wie das Kulturleben längst vergangener Zeiten in unserer Sprache noch jetzt fort-
lebt. Es folgen die Kapitel: Sprachliche Versteinerungen, Volksetymologie und
Bildung der Eigennamen. Den Beschluß macht die Lehre vom Bedeutungswandel.
Die Etymologie der neuhochdeutschen Sprache bildet einen Teil in der Er-
kenntnis der Sprache selbst und ihrer Geschichte und somit ein wesentliches Glied
im Studienbereiche des deutschen Fachlehrers. Ihre Bedeutung für den Unterricht
wird von dem Verfasser mit weiser Mäßigung richtig gekennzeichnet, wenn er sagt:
„Es wird keinem Lehrer einfallen, systematisch etymologische Forschungen im
Unterricht verwerten zu wollen; aber er kann den Unterricht mit ihrer Hilfe be-
leben. Er kann und wird auf den Bedeutungswandel hinweisen, da ja schon bei
Schiller und Goethe die Worte oft eine andere Bedeutung haben; er wird da, wo
Schüler verschiedener Gegenden beieinander sind, auf die Verschiedenheit des Wort-
gebrauchs zu sprechen kommen, er kann vor allen Dingen an der Hand der Ge-
schichte eines Wortes die Schüler in den Geist älterer Zeiten versetzen, ihnen
Einblicke in die Entwicklung der Kultur gewähren; denn aus der Sprache erhalten
wir tatsächlich ein Spiegelbild der Kultur, und Sprachgeschichte ist sicheriich ein
Teil Kulturgeschichte." Daß das Buch in diesem Sinne sich fruchtbar erweisen
kann, unteriiegt keinem Zweifel ; in die Hand der Lehrer ist es gegeben, mit dem
Verständnis für das Wesen der Muttersprache die Freude an ihrem Werden und
Wandeln in den Schülern zu wecken und zu nähren.
550 J- Grießmann, Die gebräuchlichsten Fremdwörter usw., angez. v. J. Buschmann.
Oriefimann, Joh., Die gebräuchlichsten Fremdwörter in etymologisch
geordneten Gruppen. Für Schulen ohne Unterricht im Griechischen und
Lateinischen zusammengestellt. Zweite verbesserte Auflage. Deggendorf 1908.
Ernst Bachmann. 190 S. 8». geb. 2,50 M.
Hilfsmittel für das Verständnis und den Gebrauch der Fremdwörter hat die
erfolgreiche Wirksamkeit des Allgemeinen deutschen Sprachvereins und haben die
Wörterbücher, die durch gute Verdeutschung dem maßlosen Gebrauche der Fremd-
wörter wehren wollen, nicht überflüssig gemacht. Neuerdings sind für diejenigen,
die den Weg zur allgemeinen Bildung in lateinlosen Schulen finden, Fremdwörter-
bücher zusammengestellt, in denen der Nachdruck auf die aus den alten Sprachen
entlehnten Fremdwörter gelegt wird. Ob Bücher dieser Art ein Bedürfnis sind,
soll hier nicht untersucht werden; die Forderung, ihnen einen bestimmten Platz im
Unterricht einzuräumen, wird jedenfalls für höhere Lehranstalten nachdrücklichst
abzulehnen sein. Gelegenheit, der Herkunft und Bedeutung wichtiger Fremdwörter
auch ohne Hilfsbucl. -.'if den Grund zu gehen, bietet jedes Lehrfach, und in das
Verständnis zahlloser aus dem Griechischen und dem Lateinischen stammender
Fremdwörter führen nicht nur die alten, sondern auch die neueren Fremdsprachen
zur Genüge ein. Was darüber hinausgeht, muß das Leben oder im Einzelfall
auch ein geeignetes Wörterbuch lehren.
Das Buch von Grießmann erfüllt im allgemeinen seinen Zweck. Wenn die
Fremdwörter in Gruppen geordnet werden sollen, so kann nicht zweifelhaft sein,
daß für die Gruppierung die gleiche Abstammung maßgebend sein muß, und er-
leichtert wird diese Aufgabe dadurch, daß die Mehrzahl der Fremdwörter ihre Ab-
stammung deutlich genug verrät. Wie aber, wenn unter domus ohne Vermittlung
von dominus die Wörter Don, Donna und Domino aufgeführt werden, wenn die
Wörter Schema, Scholar und Epoche unvermittelt zu demselben Stammwort
oxeco gestellt werden, Archiv zu dp'/ato?» Kategorie zu d^opzoo), Philomele
zu [jL^Xov, Comfort zu fero? Ohne Nachweis, auf welchem Wege sich die Be-
deutung des Fremdworts aus der des Stammworts oder eines mit diesem ver-
wandten Wortes entwickelt hat, wird Aktuar unter ago, Analytik unter looi<;,
Historie unter foTwp, Entomolog unter tsjxvu), kapitulieren unter caput,
Mosaik unter Musa, pragmatisch unter irpaYfia genannt und dadurch das Ver-
ständnis dieser Wörter erschwert. Daß Wörter, die ursprünglich auf eine der alten
Sprachen zurückgehen, aus neueren Sprachen entlehnt sind, ist in der Regel, aber
bei weitem nicht immer angedeutet, so daß Wörtern wie Aktiva, Altan, Aquarell,
Externat, Finale, Kapuze, majorenn, Prokura, raffinieren, Repräsen-
tation nur ungenau lateinische Herkunft zugeschrieben wird. Zu wünschen bleibt
auch, daß den in das alphabetische Verzeichnis aufgenommenen Fremdwörtern,
die in den Gruppen sich nicht unterbringen ließen, soweit als möglich Herkunft
und ursprüngliche Bedeutung zugefügt werde.
Coblenz. Jos. Buschmann.
Kettner, Gustav, Studien zu Schillers Dramen. Erster Teil. Wilhelm Teil.
Berlin 1909. Weidmannsche Buchhandlung. X u. 180 S. gr. 8^. 3,50 M.
Der vorliegende Band eröffnet eine zwanglose Folge von Monographien über
G. Kettner, Studien zu Schillers Dramen, angez. von A. Matthias. 55 1
Schillers Dramen. Das Buch schließt sich den früher in demselben Verlage er-
schienenen über Lessings Dramen an (vgl. Monatschrift Bd. IV, S. 404/5) und
verfolgt dasselbe Ziel, das sich heute jede tiefergehende Erklärung setzt: aus der
Entstehung des Werkes, aus seinem Zusammenhang mit der Zeit und der Per-
sönlichkeit des Dichters ein tieferes Verständnis zu gewinnen. — In ihrer zeitlichen
Folge, was ja das Gegebene wäre, werden die Dramen nicht besprochen; die Rück-
sicht auf seine Arbeitskraft und Arbeitsmuße zwang den Verfasser davon abzu-
stehen. Auch ist für die Würdigung der Jugenddramen im ganzen wie im ein-
zelnen schon so viel geschehen, daß im wesentlichen nur eine neue Zusammen-
fassung der bisherigen Untersuchungen herauskäme. Der Teil aber ist bisher ein
Stiefkind der Forschung geblieben; das hat den Verfasser gereizt, mit ihm den
Anfang zu machen. Wir können damit zufrieden sein. Denn was hier geboten
wird, ist in vielen Punkten neu, oder Altes wird in ganz neuer Beleuchtung ge-
boten. Sehr ansprechend ist die Ruhe des Stils und ebenso anregend wirkt der
in erfreulicher Knappheit gebotene, reiche Inhalt, dessen man erst ganz teilhaftig
wird, wenn man die Goldgrube der belehrenden Hinweise in den Anmerkungen
auszuschöpfen sich anschickt. Das Eingangskapitel versucht die Hauptpunkte der
Entwicklung zu zeichnen, zunächst die Wanderungen und Wandlungen der Sage,
die Bedeutung von Tschudis Chronik mit ihrer Kraft anschauender Phantasie,
ihrer ruhigen Gegenständlichkeit, ihrem Reichtum an lebensvollen Bildern, ihrer
Sorgfalt der Motivierung und ihrer Frische der Kontrastfarben ; dann den Wert von
Johannes von Müllers „Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft", mit ihrem
„pathetischen" Gemälde der feierlichen Stiftung eines neuen Volksbundes, mit der
anregenden Kraft ihres ideellen Gehalts und mit der Fülle konkreten Lebens.
Dann noch ein kurzer Einblick in die Telldramen des 18. Jahrhunderts und in
Goethes Tellplan und schließlich die zu poesievoller Klarheit gelangte Auffassung
Schillers. In einem zweiten Kapitel legt uns Kettner die Entstehung des
Planes dar, die äußeren Anregungen, das Reifen und die ältesten Entwürfe,
um dann in einem ebenso knappen, wie anregenden und inhaltreichen Kapitel
die Ausführung zu bringen, wobei die Einwirkung, oft recht drängender Art,
Ifflands, der Einfluß der Aufführung von Julius Caesar (1. Oktober 1803) und
die klare Berechnung der Forderungen der Theatertechnik plastisch hervortritt
und wir mit einer gewissen Wehmut lesen, wie Schiller seine Kräfte immer
neuen Hindernissen gegenüber aufs äußerste anspannen mußte, um schließlich
noch unter der Tragik der Verzögerung bei der Aufführung am Berliner Theater
schmerzvoll zu dulden. — Die weiteren Kapitel (4 und 5) legen dar, wie Schiller
die Aufgabe gelöst hat, ein ganzes Volk zum Träger der Handlung zu machen
und dieses in seiner vollen, durch die umgebende Natur bedingten Eigenart
gleichsam als eine mächtige Persönlichkeit vor uns hinzustellen, wie er in
der Darstellung der Gegenmacht aus künstlerischen Rücksichten sich kluge Be-
schränkung auferlegt und auf jenen Teil des Bildes alles Licht, auf diesen alle
Schatten vereinigt hat. In den letzten fünf Kapiteln (6—10) wird uns gezeigt,
wie Schiller abweichend von der Überlieferung der Quellen einen dramatischen
Gegensatz geschaffen hat, indem er den Adel und Teil vom Rütlibunde ausschloß,
und wie er anderseits der ganzen Entwicklung den Charakter einer äußeren und
552 Th. Herold, Das Lied vom Kinde, angez. von A. Matthias.
inneren Notwendigkeit verlieh, wie er überall den Druck der Verhältnisse, der die
Schweizer vorwärts drängt, uns auf das schwerste empfinden läßt und wie er
zugleich die zwingenden sittlichen Motive ausschöpft, denen sie sich fügen müssen,
und damit die Berechtigung der Empörung über jeden Zweifel stellt. Weiter wird
von Kettner gezeichnet der Gegensatz, in welchen Schiller den Helden mit seinem
ausgeprägten Individualismus und den Adel mit seinem Egoismus zum Volke
setzt, die dadurch hervorgerufene dramatische Spannung und Schürzung des
Knotens und die Wandlung des in den Quellen mehr epischen Verlaufes der
Handlung zu einem dramatischen Prozeß. Und schließlich tritt plastisch hervor,
wie plötzlich der weitere Gang nicht bloß den Helden selbst zu entscheidender
Tat zwingt, wie die Tellhandlung zum Höhepunkte treibt, wie dieser Höhepunkt
zum Wendepunkte der ganzen Handlung wird und Teils Schicksal zu einer
Angelegenheit aller macht, indem der Vertreter des einsamen Individualismus
über sich selbst hinauswächst und der Allgemeinheit dient.
Die ganze Darstellung Kettners ist ebenso schlicht wie überzeugend; nirgendwo
läßt er sich von Schillerschem Pathos zu eigenem Pathos hinreißen, er geht auf
die beste Literatur zurück und auf die Quellen und beherrscht ihre Ergebnisse
mit eigenem, wohlbegründetem Urteil; er charakterisiert Handlungen und Personen
ungemein fein, weil sein Sinn offen ist für die feine Charakteristik des Dichters,
er legt die Handlung in ihren verschlungenen Fäden ebenso klar vor uns dar, wie
in der Einheitlichkeit ihres schließlichen Verlaufs; er zieht geschickte Vergleiche
zu anderen Dichterwerken Schillers, zu Shakespeare und zu den Quellen, aus
denen Schiller geschöpft und läßt bei allem eine ebenso unumwundene wie über-
zeugend gerechte Kritik walten.
Wenn ich dem Buche Kettners hier eine ausführliche Würdigung gewidmet
habe, so ist das geschehen wegen seines Wertes für die Schule. Hier ist kein
vergnügliches, phrasenvolles und weichliches Ästhetisieren, für das unsere Jugend
uns zu gut sein sollte, sondern Anregung zu ernstem und tiefem Nachdenken
über ein Kunstwerk und Versenkung in die dichterische Schöpfung. Große
Probleme werden herbeigerufen, deren Lösung ja unserer Jugend noch nicht zu-
gemutet werden, für das sie aber Interesse gewinnen soll, damit sie für das weitere
Leben kräftig zu denken sich bemüht. Um nur eins zu berühren: Wie viel
„ Bürgerkunde " aus der Behandlung der Rütliszene zu schöpfen ist, davon haben
diejenigen, welche auf dem Markt des journalistischen Lebens augenblicklich mit
diesem Artikel hausieren gehen, gar keine Ahnung, ebensowenig wie sie eine
Empfindung haben, daß Bürgerkunde und Menschenkunde eigentlich dasselbe ist.
Und für echte Menschenkunde öffnet uns Kettner in seinem trefflichen Buche
unsere Augen und unser Herz.
Das Lied vom Kinde. Herausgegeben von Theodor Herold. Leipzig 1909.
Fritz Eckardts Verlag. 281 S. 2,50 M.
Es handelt sich in diesem sinnigen Buche nicht nur um eine gute Auswahl
von Kindergedichten für Erwachsene, es kommt vielmehr das ganze Leben des
Kindes in künstlerisch geschlossener Entwicklung zur Darstellung: von den Tagen
der Hoffnung an bis zum frühen Tode und darüber hinaus, wenn die Kleinen als
Ausgewählte Schriften des Lucian, angez. von H. Ziemer. 553
glückselige Engel sich auf Blütenästen schaukeln und abends goldene Sternlein
schnitzen. Der letzte Abschnitt ,0 wüßt' ich doch den Weg zurück" spiegelt das
Heimweh nach der Kinderzeit wider. — Es ist eine eigenartige Idee, dieser Gang
durchs Kinderland in Begleitung der besten deutschen Dichter — zugleich auch eine
literar-historisch interessante Aufgabe. Denn das Kinderleben ist erst spät zur Geltung
gekommen in unserer Lyrik. Der gemütvolle naive Matthias Claudius beginnt den
Reigen und erst die nachromantische Zeit (Chamisso, Eichendorff, Rückert) setzte
mehr und mehr ein, bis die Moderne in vollen Klängen die Poesie des Kinderdaseins
singt. Hier finden wir die Namen Detlev von Liliencron, Otto Ernst, Gustav Falke,
Carl Busse, Otto Haendler, Hans Benzmann, Albert Geiger, Paul Barsch, Rudolf
Presber, Adolf Ey, Jakob Loewenberg, Paul Heyse, Anna Ritter, Börries von Münch-
hausen, Wilhem Langewiesche, Frida Schanz, Adolf Holst, Fritz Lienhard, Gustav
Schüler und den Herausgeber Theodor Herold, der ja selbst ein ansprechender
Dichter ist und deshalb mit gutem Geschmack, wie das vorliegende Büchlein zeigt,
zu wählen weiß.
Berlin. A. Matthias.
Ausgewählte Schriften des Lucian. Erklärt von J. Sommerbrodt. 2. Bändchen:
Nigrinus. Der Hahn. Icaromenippus. 3. Aufl. Neu bearbeitet von Rudolf Helm.
Berlin 1908. Weidmannsche Buchhandlung. IX u. 135 S. 8". 1,80 M. Haupt-
Sauppesche Sammlung.
Die Ausgaben der Haupt -Sauppeschen Sammlung des Weidmannschen Verlages
— auch die Neuauflagen — sind sich seit Jahrzehnten in ihrem Charakter
im wesentlichen treu geblieben: sie sind keine wirklichen Schülerausgaben, die
dem Schüler in literarischer, sprachlicher und sachlicher Hinsicht das Verständnis
des Schriftstellers erleichtern, obwohl sie philologisch beanlagten Köpfen stets
willkommen waren, sondern wollen mehr den jungen Studierenden und dem Lehrer
dienen. Das gilt auch von dieser Lucianausgabe R. Helms.
Der frühere Herausgeber freilich, J. Sommerbrodt, hatte sich die Lektüre dieses
Bändchens in der Sekunda des Gymnasiums gedacht, und die in ihm enthaltenen
Schriften sind auch mehrfach in dieser Klasse früher gelesen worden. Heute aber, wo
Herodot, Lysias oder Xenophon die Prosalektüre dieser Klasse ausmachen, ist für
Lucian kaum noch Raum, es müßte denn das bis jetzt noch vereinzelt auftauchende
Bestreben der Modernisierung der Lektüre siegreich vordringen. Dieses Streben,
an die Stelle der altklassischen Autoren im Griechischen die hellenistischen und im
Lateinischen z. B. an Stelle Ciceros den jüngeren Plinius zu setzen, hat ja in
Gymnasialkreisen sich bereits erfolgreich betätigt. Aber wer, wie in diesem Falle,
vor die Wahl gestellt wird, das neue Gute gegen das alte und bewährte Bessere
einzutauschen, wird lieber beim Alten bleiben.
Man könnte überhaupt auch kaum dazu raten, die in dieser Ausgabe von
Sommerbrodt -Helm vereinigten Schriften in einer zweiten Klasse lesen zu lassen,
dazu sind sie inhaltlich zu schwer: der Nigrinus ist aus pädagogischen, der Hahn
aus didaktischen Gründen nicht zu empfehlen, und der Icaromenippus, die Parodie der
menippeischen Satire, interessiert mehr den Philologen. Eher würde der Traum und
554 H. Suchier, Les Voyelles Toniques Du Vieux Frangais usw.,
Charon sich eignen, die neuerdings in einer billigen Schulausgabe von F. Pichlmayr
herausgegeben worden sind, doch bietet diese wiederum dem Schüler zu wenig.
Helms Ausgabe zeugt von umfassender wissenschaftlicher Arbeit. Von Sommer-
brodts Werken ist so gut wie nichts stehen geblieben. Der Kommentar hat eine
ganz andere Gestalt gewonnen : er ist nicht nur wesentlich erweitert, sondern auch
inhaltlich neugeschaffen worden, und das geschieht namentlich in den sachlichen
Erklärungen, die bei Sommerbrodt zurücktraten. Nun ist allen Anforderungen
genügt, Wort- und Sacherklärung gleichmäßig berücksichtigt, auch das Grammatische
mit Hinweis auf Kühner- Blaß- Gerth erklärt worden. Für den Nigrinus mit seinen
bunten Kulturbildern aus den verschiedenen Kreisen des römischen Lebens sind
mit Recht Parallelen aus der römischen Literatur herangezogen neben Hinweisen
auf die Abhängigkeit des Ausdrucks von Piaton; am zahlreichsten jedoch sind die
Parallelen aus Lucians eigenen Schriften, der bekanntlich nur zu oft sich wieder-
holt. So bietet der Kommentar viel des Lehrreichen und Interessanten, ja Helm
ist oft gesprächiger als es nötig war. Um so mehr fällt es auf, daß S. 24,2 die
Stelle Kap. 22 Schluß evtot |x^v ^ap, xh xatvoxatov, ou8s voosiv o;(oXaCouatv nur
von der Erklärung begleitet ist: „haben nicht einmal Zeit krank zu sein, weil sie
ihren Klientenpflichten nachkommen müssen." Hier wäre die Parallele Kaiser
Wilhelms L am Platze gewesen.
Lucian hat überhaupt bei Helm ein ganz anderes Gesicht bekommen als bei
Sommerbrodt, und das spiegelt sich auch in den Anmerkungen wider. Die hohe
Meinung, die man noch zu Sommerbrodts Zeit von diesem Schriftsteller hatte, ist
nach den Forschungen der letzten Jahrzehnte verflogen: aus dem Kämpfer für
geistige Freiheit, dem Feinde der Dunkelmänner, des Dünkels und der Schein-
heiligkeit, dem strengen Moralisten ist nun der sophistische Freigeist mit seinem
allerdings glänzenden Redetalent, der geistreiche Kopf mit seinem Talent für Witz
und Satire geworden; statt des früher überschätzten Geisteshelden und Eiferers
sehen wir nun nach der Auffassung Helms einen uns menschlich näher gerückten
witzigen und losen Schalk vor uns, der uns einen Einblick in die geistige Tätigkeit
des griechischen Volkes und in seine Eigenart eröffnet, der sich lohnt. Zu dieser
besseren Erkenntnis des Autors hat R. Helm selbst sehr viel schon durch seine
früheren Schriften beigetragen, und diese von ihm veranstaltete treffliche Ausgabe
leistet alles Nötige zum richtigen Verständnis des Satirikers von Samosata und
seiner drei hier vereinigten Schriften.
Kolberg. H. Ziemer.
Suchier, Hermann, Les Voyelles Toniques Du Vieux Fran^ais, Traduction
De L'Allemand, Augment^e D'Un Index Et D'Un Lexique Par Gh.
Guerlin De Guer, Paris 1906. Honor^ Champion. 230 S. S».
Es wird den Franzosen im allgemeinen schwer, den großen Anteil zu erkennen
und anzuerkennen, den deutscher Forschungsgeist an der Begründung und dem
Ausbau der romanischen Philologie hat, und sie verschließen gerne das Auge vor
der unbequemen Tatsache, daß die romanische Philologie bei uns seit langen Jahren
eine blühende Wissenschaft ist, während sie im eigenen Lande noch immer ein
etwas aschenbrödelhaftes Dasein fristet. Das hat sich noch besonders deutlich
angez. von E. Mackel. 555
bei dem im Jahre 1903 erfolgten Tode des großen französischen Romanisten
Gaston Paris gezeigt. Während dieser ausgezeichnete Gelehrte seiner Verehrung
und Dankbarkeit für seinen Lehrer und Meister Friedrich Diez stets rückhalts-
losen Ausdruck gegeben hat, während er in einem seiner Briefe an den „cräateur
et maitre de la philologie romane' (veröffentlicht von A. Tobler in Herrigs Archiv,
Bd. 1 15, S. 74 ff.) von einer noch anzustellenden wichtigen, aber schwierigen und
langwierigen Untersuchung sagt „mais ce ne sera pas en France qu'on entrepren-
dra quelque chose d'aussi malais^; nous attendrons cela de V Allemagne," ist in
all den Kundgebungen auf französischem Boden, die sein Tod hervorrief, von einem
nennenswerten Verdienst, das sich Deutschland um die Pflege der romanischen
Philologie erworben habe, nur herzlich wenig die Rede. Nach ihnen ist es G. Paris,
der ein für allemal die Grenzen, den Umfang, die Methode der romanischen
Philologie festgelegt, der Frankreich die primaute dans les ätudes romanes ver-
schafft, der die Wissenschaft der altfranzösischen Sprache und Geschichte zu einer
„conquite frariQaise" gemacht hat, wie es in der Rede heißt, die kein geringerer
als Chaumi^, der damalige ministre de V instruction publique, bei Gelegenheit des
Leichenbegängnisses von G. Paris gehalten hat.
Wir sind nun aber in der glücklichen Lage, nicht nötig zu haben, mit Worten
gegen Worte zu kämpfen. Wir können einfach auf die große Zahl von Werken
deutscher Romanisten hinweisen, die zur Hebung und Befruchtung der romanistischen
Studien in Frankreich ins Französische übersetzt worden sind. Und das sind nicht
nur grundlegende Gesamtdarstellungen, sondern auch Einzeluntersuchungen wie
die Haases über die französische Syntax des 18. Jahrhunderts oder D. Behrens'
Bibliographie der Galloromanischen Mundarten.
Unter den deutschen Romanisten nun, deren Schriften die Ehre der Übersetzung
ins Französische zuteil geworden ist, steht Hermann Suchier in der ersten
Reihe. Zu der Übersetzung seiner Darstellung der französischen und provenzalischen
Sprache und ihrer Mundarten in Gröbers Grundriß durch P. Monet (1891), zu der
Übersetzung seiner Ausgabe von Aucassin et Nicolete, die jetzt nur noch in dem
französischen Gewände weitererscheinen wird, das ihr Counson gegeben hat,
ist nun noch die Übersetzung des 1. Teils der großangelegten altfranzösischen
Grammatik getreten, der im Jahre 1893 erschienen, aber bislang zu aller Bedauern
ohne Fortsetzung geblieben, ist. Der Übersetzer, der seinem Buche den Titel
»Les Voyelles Toniques Du Vieux Fran^ais" gegeben hat, Gh. Guerlin
de Guer, ist kein Neuling auf dem Gebiete der romanischen Philologie; er hat sich
durch seine mannigfachen Arbeiten über die normannische Mundart in alter und
neuer Zeit bereits einen guten Namen gemacht. So ist er mit gründlichen Kennt-
nissen an die Übersetzung herangegangen, und das ist ihm sehr zustatten ge-
kommen. Er begnügt sich nicht damit, seine Vorlage wortgetreu und sinngemäß
zu übersetzen. Abgesehen davon, daß er als hochwillkommene Zugaben sowohl
ein Verzeichnis der benutzten altfranzösischen Texte als auch ein Verzeichnis der
besprochenen Wörter hinzufügt, erweitert er auch den Text selbst durch kurze,
aber wertvolle Zusätze, die er aus den seit 1893 erschienenen Veröffentlichungen
schöpft und durch die es ihm gelingt, Suchiers Teildarstellung der altfranzösischen
Schriftsprache auf den heutigen Stand der Forschung zu heben. In diesem Sinne
556 H. Suchier, Les Voyelles Toniqu€s Du Vieux Fran^ais usw., angez. v. E. Mackel.
sind besonders G. Paris' schöne Ausgabe von Ambroise, tEstoire de la guerre
sainte vom Jahre 1897 und die neuen Ausgaben der Marie de France heran-
gezogen worden.
Hat er so Suchiers Text sachlich bereichert, so ist er auch mit Erfolg bemüht
gewesen, ihm eine schöne Form zu geben. Da Suchier mit peinlicher Genauigkeit
arbeitet und wo es geht, auf die Schreibung der Urkunden und Handschriften
selbst zurückgeht, so ist die Lektüre des Buches recht mühsam. Guerlin de Guer
hat nicht nur möglichst genau, er hat auch mit dem jedem gebildeten Franzosen
eigenen Streben nach Klarheit und Deutlichkeit des Ausdrucks möglichst lichtvoll
und durchsichtig übersetzt. Es ist reizvoll, den leichten Änderungen nachzugehen,
mit denen er Unebenheiten und Undeutlichkeiten des Ausdruckes in der Vorlage
beseitigt, so wenn er statt Suchiers
„trotz Romania VII, 125" (S. 25) sagt „quoiqu'en dise G. Paris, Rom. VII,
125" (S.46);
statt: „Die älteren Dichtungen binden noch iär in devier, mercWr, lapiär,
criSr, obUSr, mariär mit e, so Wace und noch G. Giere" (S. 23 u.)
„Les ancienspoites, depuis Wacejusqu'ä G. le Clerc, fönt encore assoner
— ie'r avec e dans devier etc.," (S. 43);
statt: „Besonders Worte der zweiten Gattung schwanken oft in den Texten"
(S. 45) „Les mots de la seconde catägorie, surtoat, prdsentent souveni
les deux formes dans les textes" (S. 85) usf. usf.
Es ist nicht minder reizvoll zu sehen, wie durchsichtig zu lang geratene Sätze
der Vorlage durch kluge Zerlegung gestaltet werden. Es sei mir gestattet, das
wenigstens an einem Beispiele zu zeigen. Der entschieden unübersichtlich gebaute
Satz S. 2, Anm. 3 bei Suchier: „In § 3 ist streng unterschieden zwischen der
ursprünglichen Sprache der Schriftsteller, die, auch wenn sie durch die Schreiber
in den erhaltenen Handschriften vielfach verändert wurde, doch durch beweisende
Reime und durch das Metrum zu ermitteln ist, — und der überlieferten Sprache
der Handschriften und Urkunden, die, wenn sie nicht verschiedene Mundarten
untereinander mengt, im allgemeinen ihrem ganzen Wortlaut nach die dem Ort
und der Zeit der Niederschrift entsprechende Lautform zeigt" lautet bei Guerlin
de Guer (S. 4) : Dans le § 3, on distinguera avec soin la langue qu'dcrivaient les
auteurs mime de celle qui nous est conserväe par les scribes dans les manuscrits
et les chartes. Quand mime la premiere aurait subi, dans les manuscrits, de
nombreuses transformations du fait du scribe, eile peut itre reconstruite gräce
ä des rimes caractäristiques et gräce au metre. La seconde, quand il n'y a pas
mdange de dialectes, presente, en giner al, des formes phonitiques qtii correspondent
au temps et au Heu oü le document a iti ecrit.
Trotz einiger Druckfehler, die aufgestoßen sind, darf auch der Druck als sorg-
fältig bezeichnet werden, und so dürfen wir alles in allem sagen, daß auch der
deutsche Student mit Vorteil zu der Übersetzung greifen wird. Wir aber freuen
uns, daß Suchiers Torso in seinem Schüler Guerlin de Guer einen Übersetzer,
und zwar solch einen Übersetzer gefunden hat. Wie groß würde erst unsere Freude
sein, wenn es dem erfolgreichen Lehrer so Vieler noch vergönnt wäre, den Torso
2u einem vollständigen Meisterwerke auszugestalten.
Stettin. E. Mackel.
C. O. Thulin, Die Etruskische Disziplin, angez. von A. Kannengießer. 557
Thulin, C. O., Die Etruskische Disziplin. 1. Die Blitzlehre (Göteborgs Hög-
skolas Arsskrift 1905, V.). Göteborg. Wettergren & Kerber. XV u. 128 S. gr. 8».
2 Kr. 50 öre. 2. Die Haruspicin (Göteborgs Högskolas Arsskrift 1906, I). Mit
3 Tafeln. Ebenda. 54 S. gr. 8». 1 Kr. 25 öre.
Thulin, C. O., Die Götter des Martianus Capella und die Bronzeleber von
Piacenza (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, hrsg. von A. Diete-
rich und R. Wünsch, Bd. III, Heft 1). Mit 2 Abbildungen und 1 Tafel. Gießen
1906. A. Töpelmann. 92 S. gr. 8°. 2,80 M.
Die letzten Jahre haben uns eine Reihe wertvoller Arbeiten über den Kult
und die sakrale Disziplin der Etrusker von C. O. Thulin gebracht. Er hat in den
ersten beiden der obigen Schriften alles, was uns die Überlieferung über die Blitz-
lehre und die Haruspicin der Etrusker bietet, noch einmal mit großer Sorgfalt wieder
gesammelt und noch manches beibringen können, was in den „Etruskern" von
Müller-Deecke fehlte. Eben so große Anerkennung wie die Sorgfalt in der Samm-
lung des Materials verdient die auf Grund desselben gegebene Darstellung und
kritische Behandlung des Gegenstandes. Auf Einzelheiten der etruskischen Dis-
ziplin hier näher einzugehen kann ich um so mehr unterlassen, als jetzt von Thulin
selbst ein Artikel über die Etrusca disciplina im 11. Halbband von Pauly-Wisso-
was Realenzyklopädie vorliegt (Spalte 725 ff.). Von allgemeinerem Interesse sind
die Resultate, welche Thulins Untersuchungen für die sogenannte etruskische Frage
ergeben haben und die er in den einleitenden Worten mitteilt : „Für alle Zweige
der etruskischen Divination gibt es bei den Babyloniern Anhaltspunkte.* Sowohl
in der Blitzlehre als besonders in der Haruspicin gehen die Übereinstimmungen
bei den Etruskern und Babyloniern so weit, daß eine Übernahme babylonischer
Anschauungen seitens der Etrusker auf dem Wege bloßer Handelsbeziehungen
kaum denkbar ist; vielmehr müssen schon voritalische Berührungen der Etrusker
mit dem Orient stattgefunden haben. ,Mit der von Lehmann (Aus und um Kreta
in Klio, IV S. 387 ff.) ausgesprochenen Annahme, daß die Etrusker vom Osten
des Mittelmeeres nach Italien gekommen sind, verträgt sich zweifelsohne am
besten das orientalisch-griechische Gepräge dieses Volkes." Zu dem nämlichen
Ergebnis der östlichen Herkunft der Etrusker haben die meisten neueren Unter-
suchungen über die etruskische Frage geführt. Die archäologischen Gründe, welche
dafür sprechen, sind neuerdings eingehend von Körte in dem Artikel „die Etrus-
ker" in dem schon erwähnten 11. Halbband von Pauly-Wissowas Realenzyklopädie
eingehend gewürdigt worden. Den sprachlichen Beweis, daß die Etrusker zu der
vorgriechischen, hettitischen Bevölkerung Kleinasiens und Kretas gehören, habe ich
im vorjährigen Programm des Gelsenkirchener Gymnasiums zu erbringen begonnen,
indem ich darlegte, daß das für die vorgriechischen Eigennamen charakteristische
vd-Suffix auch in den etruskischen Eigennamen massenweis Verwendung gefunden hat.
Die letzte der oben verzeichneten Schriften „Die Götter des Martianus
Capella etc." hat zunächst das Verdienst, auf Grund einer von Körte vorge-
nommenen Revision die auch bei Deecke noch vielfach vorhandenen Fehler in der
Wiedergabe der Götternamen, die auf der Bronzeleber von Piacenza stehen, zu
berichtigen. Insbesondere ist nunmehr festgestellt, daß in der 2. Region der Leber
nicht mar (Mars), sondern mae (Malus) steht. Einen Gott Malus verehrte man
558 R- Raithel, Maturitätsfragen aus der allgem. Geschichte, angez. v. W. Meiners.
nach Macrobius (Sat. I, 12, 17) in Tusculum, in ihm haben wir zweifelsohne einen
etruskischen Gott zu sehen, nach welchem der Monat Mai benannt worden ist.
Die auf der Bronzeleber stehenden 30 Götternamen und ihre Verteilung auf
die 16 Randregionen und 24 Innenregionen der Leber vergleicht nun Thulin nach
dem Vorgange von Deecke und anderen mit den Göttern, welche Jupiter bei Mar-
tianus Capeila (De nuptiis Mercurii et Philologiae I, 41—61) aus den 16 Himmels-
regionen zusammenruft, um über die projektierte Heirat des Merkurius und der
Philologia zu beraten. Diese Vergleichung begegnet erheblichen Schwierigkeiten,
weil bei Martian eine Verschiebung gegenüber seiner Quelle stattgefunden hat;
zwar läßt sich eine Anzahl von Götternamen beider Listen ohne weiteres identi-
fizieren, so ani— Janas, uni—Juno, fufluns— Dionysos, ne^uns—Neptunus; bei
andern dagegen ist man auf mehr oder weniger unsichere Kombinationen ange-
wiesen. Thulin hat nun versucht, die Verschiebung bei Martian genau festzustellen
und dann die Götter desselben mit denen der Leber in Einklang zu bringen. Zu
völlig sichern Ergebnissen ist er dabei trotz Aufwendung großen Scharfsinns m. E.
noch nicht gelangt; aber er hat doch für eine Reihe bisher unzureichend erklärter
etruskischer Götternamen wahrscheinliche Deutungen gegeben, die ich hier im
einzelnen nicht weiter verfolgen will. Als völlig gelungen erachte ich den Beweis;
daß Martian eine astrologische Elemente und etruskische Götterlehre vereinigende
Quelle benutzt hat und daß diese Quelle Nigidius Figulus ist.
Gelsenkirchen. A. Kannengießer.
Raithel, R., Maturitätsfragen aus der allgemeinen Geschichte. Zweite
veränderte Auflage. Wien und Leipzig 1908. Wilh. Braumüller. XVI u. 254 S.
80. geb. 3 M.
Derselbe, Maturitätsfragen aus der vaterländischen Geschichte. Wien
und Leipzig 1908. Wilh. Braumüller. VIII u. 74 S. geb. 1,40 M.
Wie v. Filek-Wittinghausen (vgl. Monatschrift VI, S. 341) an seine Maturitäts-
fragen aus der allgemeinen Geschichte solche aus der österreichischen Ge-
schichte und Vaterlandskunde anschließt, so hat auch Raithel nunmehr in einem
besonderen Büchlein die vaterländische Geschichte, der an den österreichischen
Gymnasien im 1. Semester der 8. Klasse als Abschluß des Geschichtsunterrichts
eine besondere, zusammenhängende Darstellung gewidmet wird, unter denselben
Gesichtspunkten und in derselben Absicht behandelt, die bei der Abfassung der
nunmehr in zweiter Auflage vorliegenden „Maturitätsfragen aus der allgemeinen
Geschichte" zugrunde lagen. Unter Bezugnahme auf das, was über dieses Buch
bei Besprechung seiner ersten Auflage (vgl. Monatschrift VII, S. 278) gesagt worden
ist, begnüge ich mich an dieser Stelle damit, auf die beiden genannten Werke
hinzuweisen.
Junge, Fr., Leitfaden für den Geschichtsunterricht in Real-, höheren
Bürger- und Mädchenschulen. Vierte, verbesserte Auflage, besorgt von
Rudolf Lange. Berhn 1907. Franz Vahlen. XVIII u. 284 S. 8». geb. 3 M.
Der Verlag hat leider meiner Bitte um Zusendung eines Exemplars der dritten
Auflage des Buches nicht entsprechen können; ich muß daher auf den Vergleich
Fr. Junge, Leitfaden für den Geschichtsunterricht usw., angez. von W. Meiners. 559
dieser letzten, nunmehr vergriffenen Auflage mit der vorliegenden verzichten. Der
Verfasser nennt diese selbst eine „Umarbeitung", erklärt selbst, daß die dritte Auflage
„auch abgesehen von vielfachen Berichtigungen im einzelnen stark verändert und
auch verbessert worden sei" (S. VI). Den Löwenanteil der Änderungen, so darf
man nach S. VI des Vorworts annehmen, fällt der alten Geschichte oder, wie es
im Texte selbst (S. 2) wenig geschichtlich gedacht heißt, der Geschichte der „vor-
germanischen" Völker zu, der ja durch die seit der letzten Neubearbeitung er-
schienenen Lehrpläne in der Quarta der Realschule eine Stunde mehr zugewiesen
worden ist. Auf sie, das ist auf etwa V? des Ganzen will ich daher meine Be-
sprechung beschränken.
Das Buch ist durchaus (auch in seinen andern Teilen) als Lesebuch oder
besser als Nachlesebuch gedacht, die Darstellung demnach im Stile des Lesestückes
gehalten. Wer sich mit diesem Ziele eines Schulbuches einverstanden erklärt, die
Gefahr gering anschlägt, die es notwendigerweise im Gefolge hat, nämlich den
Schüler zu gedankenlosem Auswendiglernen zu verleiten, der wird in dem vor-
liegenden Buche auf seine Rechnung kommen: die Sprache ist flüssig, der Ton
und Inhalt im ganzen dem kindlichen Verständnis angepaßt. Freilich ist die
Phrase nicht vermieden worden. Die Zahl der schmückenden Beiwörter ist zu
groß: man vergleiche z. B. auf der einen S. 29 die „drohende" Wetterwolke, das
„starke" Heer „auserlesener" Krieger, die „heldenmütigen" Bürger, „alle" ver-
lockenden Anträge des Mardonius, den „mächtigen" Feind, den „tapfersten" Wider-
stand, die „gänzliche" Besiegung der Perser, die „ruhmreichen" Kämpfe, den
„streng rechtlichen" Aristides, der erst 2 Seiten vorher als solcher gekennzeichnet
worden ist und sich auf S. 30 noch einmal dasselbe Lob gefallen lassen muß,
endlich neue, „mächtige" Mauern. Nichts als Phrasen für den Quartaner ferner
sind Sätze, wie wir sie in § 37 finden, wo es heißt: „Die Bildnerei brachte noch
manches treffliche Werk hervor", „Xenophon steht viel tiefer" (als Thukydides),
„An Gedankentiefe, wenn auch nicht an Schönheit der Sprache, steht (dem Plato)
Aristoteles gleich", oder wenn im § 62 gar Tacitus dem Verständnis des Quartaners
nähergebracht wird durch seine Würdigung als eines „der größten Meister des
Stils aller Zeiten, der in seiner Kaisergeschichte jede Saite des Herzens mit un-
nachahmbarer Gewalt zu berühren weiß". Der Schüler will die Sache, nicht das
Wort.
Noch schwerwiegender ist eine zweite Schwäche, die hier und da vielleicht
durch die Rücksichtnahme auf das kindliche Alter erklärt werden, aber nicht ent-
schuldigt werden kann. Es stoßen uns in der Darstellung der alten Geschichte
streckenweise zahlreiche sachliche Ungenauigkeiten und Fehler sowie Schiefheiten
des Ausdrucks auf. So wenn § 13 die spanischen und ungarischen Steppen ganz
außer acht gelassen, § 14 Parnaß und Taygetus an Höhe „wenig" vom Olymp
unterschieden und etwas später Landschaften und Staaten trotz der unmittelbar
vorhergehenden gegenteiligen Ausführungen gleich gesetzt werden. § 15 heißt es:
„die Griechen gehörten dem arischen Sprachstamme (1) an". Lykurg erscheint
(§ 20) als, „ein Mann aus königlichem Geblüt, der für einen unwürdigen König
die Regierung führte", daher auch die sogenannte lykurgische Verfassung viel zu
sehr als einheitliche Schöpfung. Die Messenier wurden nicht bloß Heloten; die
560 Deutsche Gedenkhalle. Bilder aus der vaterländischen Geschichte,
Periöken waren nicht bloß Bauern. Der § 21 stellt Tyrtaeus, Alkaeus, Sappho,
Anacreon, Arion, Ibykus und wohl gar Homer als Zeitgenossen dar; wie aber die
Pythia durch „aus schmalem Erdspalte" aufsteigende »betäubende Dämpfe" „zu
weissagender Rede begeistert" werden konnte, vermag sich der Quartaner nicht zu
denken. In § 22,2 erscheint die griechische Kolonisation von etwa 750—550 als
zeitliche und sachliche Folge der Tyrannenherrschaften. In § 23 wird weder die
wirtschaftliche noch die politische Bedeutung Solons klar; über die Tätigkeit von
Archonten, Rat und Volksgericht verliert der Verfasser kein Wort; falsch ist, daß
die „Schiffer, Kaufleute usw. mit geringem oder keinem Grundbesitz" die vierte
Klasse gebildet haben; falsch auch, daß Solon den Areopag geschaffen hat, „einen
höchsten Gerichtshof, der über alle schweren Vergehen abzuurteilen und zugleich
die oberste Aufsicht über die Sitten und den Staat zu führen hatte". Wieso Kleisthenes
die solonische Verfassung „weiter fortgebildet" und in Athen „die Volksherrschaft
begründet" hat, erfahren wir nicht. Nach § 25 muß dem Schüler als ein Merkmal demo-
kratischer Gesinnung erscheinen, „die Macht auf eine starke Flotte zu gründen und auf
die Entwicklung von Handel und Industrie das größte Gewicht zu legen", als das der
aristokratischen, „vor allem Landbau zu treiben und die Landmacht zu stärken". Aus
§ 28 endlich notiere ich noch zwei Gedankenreihen, von denen jede mehrere Fehler
enthält. „Als sich," so heißt es, „Pausanias als Oberanführer durch seinen Hoch-
mut allgemein verhaßt gemacht und dazu noch verräterische Unterhandlungen mit
dem Perserkönig angeknüpft hatte, übertrugen die Griechen den Athenern für die
Fortsetzung des Krieges den Oberbefehl. Sparta fügte sich zunächst in stillem
Groll", und eine Seite weiter: „Athen mußte gewaltige Anstrengungen machen, um
sich aller seiner Feinde zu erwehren. In Ägypten kämpfte es gegen die Perser,
in Griechenland nicht nur gegen Sparta, sondern auch gegen Korinth, Ägina und
Böotien." Die Fehlertabelle könnte leicht ergänzt werden; ich begnüge mich mit
ein paar Hinweisen auf die römische Geschichte (z. B. auf § 42, wo von der ser-
vianischen Mauer und der servianischen Verfassung Verkehrtes berichtet wird, und
auf § 43, wo eine fehlerhafte Begründung der Unzufriedenheit der Plebs nach 510
gegeben wird) und glaube zur Genüge bewiesen zu haben, daß die angeführten
Schwächen des Buches durch seine Vorzüge, zu denen auch die gelungene Stoff-
auswahl und -anordnung gehören — nur die Sagen (§ 16 — 18) sähe ich gern reinlicher
von der Geschichte geschieden und in einen besonderen Anhang gebracht — nicht
ausreichend gedeckt werden. Hoffen wir, daß die nächste Auflage eine
gründlichere Umarbeitung der alten Geschichte bringt, damit nicht
durch deren Fehlerhaftigkeit von vornherein die Brauchbarkeit des
ganzen Werkes in Frage gestellt wird.
Deutsche Gedenkhalle. Bilder aus der vaterländischen Geschichte. Schrift-
leitung: V. Pflugk-Hartung; Leitung des illustrativen Teiles: v. Tschudi. Berlin
und Leipzig. Verlagsanstalt „Vaterland". Groß-Folio. ä Liefg. 2 M.
Die „Deutsche Gedenkhalle" will in 86 chronologisch aneinandergereihten, in
sich abgeschlossenen Einzeldarstellungen aus der Feder von nahezu 70 namhaften
Fachmännern eine Geschichte unseres Vaterlandes geben. Das Wort soll durch
das Bild unterstützt werden. 50 ganzseitige Heliogravüren (Größe 35 : 46 cm)
angez. von W. Meiners. 561
sollen in künstlerischer Reproduktion die historisch-denkwürdigsten Gemälde älterer
und neuer Meister vor Augen führen. Dem Inhalt soll die äußere Ausstattung
entsprechen, die durch monumental wirkenden Druck, reichen Buchschmuck und
Beigabe farbenprächtiger Kunstblätter das Vollendetste bieten soll, was deutscher
Buchdruck je geschaffen. Von dem Werk soll eine Lieferungsausgabe von 55
Lieferungen zu je 2 M. in etwa 14 tägigen Zwischenräumen erscheinen.
Zwei Lieferungen liegen vor. Sie enthalten außer dem Geleitswort Kaiser
Wilhelms IL, der das Protektorat über das Werk übernommen hat, auf 16 Seiten
die ersten 3 Kapitel des Textes: „Die alten Germanen" von Museumsdirektor
Schumacher, „Römer und Germanen" von Museumsdirektor Schuchhardt und
,Die Hunnenschlacht" vom Schriftleiter selbst, dazu die Wiedergaben von Anton
v. Werners Bild „die Eröffnung des Reichstags durch Kaiser Wilhelm IL am
25. Juni 1888" und Adolph v. Menzels „Begegnung Friedrichs II. mit Kaiser
Josef II. in Neisse".
Wenn die folgenden Lieferungen halten, was die beiden ersten versprechen,
so wird die „deutsche Gedenkhalle" in Wahrheit nach einem Wort ihres hohen
Protektors nach Inhalt und Ausstattung ein „Denkmal Deutscher Buchkunst"
werden, wert in jeder deutschen Familie seine Stätte zu finden. Auch in der
Schule, der höheren wie der niederen. Und das um so mehr, als diese, eingedenk
des Goetheschen Wortes, das der Kaiser zugleich als Geleitwort dem Werke mit-
gegeben hat, von der Schwierigkeit „mit den Augen zu sehen, was vor den Augen
dir liegt", die Kunst des Anschauens auf unmittelbarem und mittelbarem Wege
pflegt und man durch Hineintragen von guten Bildern in die Schule gleichzeitig
ernst macht mit dem Gedanken, diese — wenn auch in bescheidenem Maße —
zu einer Kunststätte zu machen. Welchen schöneren, würdigeren und — last not
least — billigeren Schmuck könnte man sich für unsere Schulen wohl denken als
die Reproduktionen der Geschichtsbilder aus unserem Werke, von denen die beiden
vorliegenden geradezu künstlerisch wirken. Sie, unter Glas und Rahmen, in die
Klassen und Gänge, um möglichst oft von allen gesehen zu werden; der Text, in
schönem Bande, ins Lehrerzimmer oder in die Lehrerbibliothek, um gelegentlich
den Schülern vorgelesen zu werden : führwahr zwei wirksame Mittel mehr, um
durch Auge und Ohr unserer Jugend nahe zu bringen, was unser Volk geleistet
hat und wo es an sich hat fehlen lassen, wieviel wir unsern Vätern schuldig sind
und wo wir es ihnen nicht nachmachen sollen.
Ich will mich heute mit diesen allgemeinen Bemerkungen begnügen; auf den
Inhalt der einzelnen Kapitel vergleichend einzugehen, gibt wohl die Anzeige weiterer
Lieferungen, die, sobald sie erschienen sind, von Zeit zu Zeit erfolgen soll, Gelegen-
heit. Hier nur noch drei Wünsche, soweit deren Erfüllung noch möglich ist. Einer
an die Verfasser: ihren Text möglichst wenig durch Rücksichtnahme auf gelehrte
Kontroversen zu beschweren, die ein großer Teil der Leser, auf die das Werk rechnen
muß, nicht würdigt, sondern lieber aus der ganzen Fülle eigenen Wissens heraus
mit Benutzung zeitgenössischer Autoren, deren Nennung aber nur belastend wirkt.
volle, satte Bilder zu malen von Persönlichkeiten, Begebenheiten und Zuständen,
wie das von den Verfassern der drei ersten Bilder ohne Zweifel am besten Pflugk-
Hartung gelungen ist. Ein zweiter Wunsch an den Schriftleiter: noch besser da-
Mon«t»chrift t. hfih. Schulen. VIU. Jhrg. 36
562 Fr- V. Bezold, F. Qothein, R. Koser, Staat und Gesellschaft der neueren Zeit,
für zu sorgen, daß Wiederholungen vermieden werden (Abs. I von Kapitel III ist
überflüssig mit Rücksicht auf Kapitel I und II), oder daß, wenn sie erfolgen,
wenigstens keine Unstimmigkeiten entstehen zwischen den verschiedenen Dar-
stellungen (wie in Kapitel I Andernach, in Kapitel II richtig Rheinbröhl und in
Kapitel III „ungefähr" Remagen als Ausgangspunkt des obergermanischen limes
angegeben wird). Ein dritter Wunsch endlich richtet sich an den Leiter des
illustrativen Teils, nämlich der, daß die Bildbeigabe den Empfänger der jedesmaligen
Lieferung möglichst in dieselbe Zeit wie der Text führen möge.
Elberfeld. Wilh. Meiners.
V. Bezold, Fr., Gothein, F., Koser, R., Staat und Gesellschaft der neueren
Zeit bis zur französischen Revolution (Kultur der Gegenwart, ihre Ent-
wicklung und ihre Ziele, herausgegeben von Paul Hinneberg). Berlin und
Leipzig, B. G. Teubner. VI u. 349 S. gr. 8». geh. 9 M., geb. 11 M.
Erst vor kurzem haben wir in Dietrich Schäfers zweibändiger Weltgeschichte
der Neuzeit eine gedankenvolle, lebendig geschriebene Übersicht der neuzeitlichen
Entwicklung erhalten, die nach der Absicht ihres Verfassers bei ihrem verhältnis-
mäßig geringen Umfang nicht die Aufgabe haben sollte, erschöpfend über die
Einzeltatsachen zu berichten, sondern vielmehr überall das Charakteristische her-
vorzuheben, die großen Linien aufzuzeigen, die Erzählung mit lebhafter Beurteilung
der Ereignisse zu verbinden. Jetzt haben sich drei andere namhafte Forscher und
Darsteller vereinigt, um das geschichtliche Werden von Staat und Gesellschaft in
der Periode von Anfang des sechzehnten bis zum Ausgang des achtzehnten Jahr-
hunderts zu schildern. Naturgemäß tritt in diesem Werke der Bericht über das
einzelne noch stärker zurück als bei Schäfer. Es handelt sich um die innere ge-
schichtliche Entwicklung, die Entwicklung der politischen und sozialen Ideen; die
geistigen Mächte, die einem jeden Zeitalter sein Gepräge geben, sollen in ihrem
Ursprung, ihrer Wirkung, ihrem Werden und Vergehen dargestellt werden. Die
drei Verfasser haben diese Aufgabe in verschiedenem Sinne aufgefaßt und zu
lösen versucht; aber jeder von ihnen hat etwas fein Ausgearbeitetes, an Ideen und
Anregungen Reiches geschaffen.
Bezold, der über „Staat und Gesellschaft des Reformationszeitalters " handelt,
gibt zunächst eine knappe, orientierende Einleitung, aus der ich nur den gegen
Tröltsch gerichteten Satz zitiere: „Das 16. Jahrhundert ist trotz seiner Wieder-
belebung der scholastisch - theologischen Spekulation, trotz seines vielgestaltigen
und wuchernden Aberglaubens doch die Entstehungszeit der modernen Aufklärung
und Naturwissenschaft." Dann schließt sich ein Abschnitt über „Staatensystem
und Machtverschiebungen ", der eine Übersicht der politischen Ereignisse bis zum
Ausgang Karls V. gibt und nicht nur die leitenden Gesichtspunkte kräftig hervor-
hebt, sondern auch die führenden Persönlichkeiten mit klaren Zügen charakterisiert.
Es folgt, naturgemäß mit Italien anhebend, dem Land, wo „unverhüllter als
anderswo die Verweltlichung des Staates zu tage trat, wo ganz offen die Macht
zum Selbstzweck, die ratio status zum obersten Gesetz erhoben wurde", die Be-
leuchtung der politischen Verhältnisse und Theorien, wie sie sich zu Beginn des
Jahrhunderts herausgebildelt hatten, und wie sie sich dann unter dem Einfluß der
angez. von F. Neubauer. 563
Reformation weiterbildeten. Die Losreißung von der universalen Kirche führt zur
Entstehung von Staatskirchen, d. h. zu einer »neuen Verweltlichung des Religiösen":
aber der neu erwachte Glaube an das freie Recht der Persönlichkeit, so schwer er
sich des Übergewichts des gleichzeitig erstarkten Staatsgedankens zu erwehren
vermag, läßt sich doch nicht ganz überwinden: die Täufer sind die Väter der
Independenten, und „humanistisch und juristisch geschulte Anhänger Calvins sind
es schließlich gewesen, die den Sieg des Naturrechts entschieden haben". Der
Verfasser geht sodann dazu über, „die gesellschaftlichen Wandlungen und die
neue Geisteskultur" zu schildern; er beginnt mit dem Wirtschaftlichen; darauf
schildert er die Erscheinungen des sozialen Lebens und schließlich die ver-
schiedenen Richtungen des Geisteslebens und die neue Wissenschaft. Mit er-
kennbarer Liebe verfolgt er die verschiedenartigen Äußerungen der damaligen
Kultur; und so erhalten wir ein reiches und fesselndes Bild des Zeitalters.
Von einer wesentlich anderen Auffassung aus ist Gothein an sein Thema
»Staat und Gesellschaft des Zeitalters der Gegenreformation" herangegangen. In
selbstgewoUter Beschränkung hat er sich zur Aufgabe gestellt, nur eben die Ten-
denzen der Gegenreformation in ihrem Werden und Wirken darzustellen; die ganze
protestantische Welt wird — wenn ich von wenigen Stellen, z. B. denen, die über
Bacon und Grotius handeln, absehe — ausgeschieden. Man hört also nichts von
dem Staat Elisabeths und den Niederlanden zur Zeit des ersten Oraniers, nichts
von Gustav Adolf oder der inneren Entwicklung der deutschen Territorien. Ja,
man darf hinzufügen, daß überhaupt die Schilderung des Staates stark in den
Hintergrund tritt; die Theorie vom Staat wird dargelegt, von Macchiavelli bis zu
Althusius, Bodinus, Grotius, Hobbes und den Verfassern der Staatsromane; aber
von den damals vorhandenen politischen Zuständen wird wenig gesagt. Man wird
Zweifel daran äußern dürfen, ob diese Behandlungsart ganz den Zwecken der
Enzyklopädie, von der dieser Band ein Teil ist, entspricht; man wird aber
sogleich hinzufügen, daß wir diesem Verfahren ein so fein ausgeführtes Bild der
katholischen Reformbewegung, eine so tiefgehende psychologische Analyse der
Kultur der Gegenreformation verdanken, wie wir sie in dieser Art noch nicht
besaßen. Nacheinander bespricht der Verfasser ihre Philosophie, ihre Dogmatik,
Mystik, Askese, Morallehre, die Organisation der Kirche, um sich dann denjenigen
Bestrebungen zuzuwenden, die auf eine allmähliche Befreiung von der Herrschaft
der kirchlichen Ideen abzielen. Er schließt mit einer Charakteristik der Epoche,
»einer der leidenschaftlichsten und befangensten der Menschheitsgeschichte," einer
Zeit „ungeschlichteten Kampfes ringender Gegensätze*, die er doch hoch bewerten
zu müssen meint: »fast möchten wir glauben, daß keine Epoche der Neuzeit an
neuen, fruchtbaren Keimen so reich ist wie diese."
Den Schlußteil des Buches bilden Kosers Ausführungen über »Staat und Ge-
sellschaft zur Höhezeit des Absolutismus". Der Unterschied zwischen dem Ab-
solutismus Ludwigs XIV. und dem Friedrichs des Großen scheint ihm nicht da
zu liegen, wo man ihn gewöhnlich sucht; auch Ludwig XIV. bekenne sich zu
dem Satze, daß der König allein für das öffentliche Wohl geboren sei und das
Interesse des Staates immer vor seinen persönlichen Neigungen den Vortritt haben
müsse. Das Eigentümliche des »aufgeklärten" Absolutismus Friedrichs findet er
36*
564 Die Schlacht im Teutoburger Walde, angez. von S. Widmann.
darin, daß er „mit der durch die Schule des Naturrechts hindurchgegangenen Auf-
klärungsphilosophie den Ursprung der monarchischen Gewalt aus dem Staatsvertrage
herleite". Demgegenüber wird man doch vielleicht fragen dürfen, ob es nicht zur
Entscheidung dieser Frage mehr auf die Praxis als auf die Theorie beider
Könige ankomme. Stärker als Bezold und Gothein geht Koser auf das rein Ge-
schichtliche ein. Nach einem Überblick über „Tendenzen, Erfolge und Niederlagen
des Absolutismus" wendet er sich den sozialen Zuständen in den verschiedenen
Staaten Europas zu, um dann ausführlicher bei den „Abwandlungen des europäischen
Staatensystems" vom westfälischen Frieden bis zum Beginn der französischen
Revolution zu verweilen, in großen Zügen schildernd, doch so, daß er auch eine
Reihe von Einzelangaben einflicht, die dem Leser einen tieferen Einblick gewähren,
daß die Beziehungen zwischen Volkswirtschaft und Politik gekennzeichnet werden,
daß Streiflichter auf die Persönlichkeiten fallen. Er schließt, in dieser Beziehung
ausführlicher als seine Mitarbeiter, mit vier Seiten Literaturangaben.
Frankfurt a. M. F. Neubauer.
Die Schlacht im Teutoburger Walde. Ein Gedenkblatt von Julius Hahn. Mit
sechs Illustrationen und einer Kartenskizze. Hamburg 1909. Gustav Schloeß-
manns Verlagsbuchhandlung (Gustav Fick). 48 S. kl. 8". 0,50 M.
Die Neunzehnhundertjahr - Feier der Schlacht im Teutoburger Walde will
Detmold vom 15. bis zum 22. August begehen durch Festzug, Festspiel und Ent-
hüllung des Bandeldenkmals. Der Festausschuß erwartet, daß aber auch an anderen
Orten des deutschen Vaterlandes Arminfeiern, besonders durch die höheren
Schulen, veranstaltet werden, die sich in der Tat ohne große Beeinträchtigung des
Unterrichts werden ermöglichen lassen. An literarischen Erinnerungsgaben an den
Befreier Germaniens fehlt es nicht. Die vorliegende ist für die Jugend brauchbar,
weil sie eine schlichte Darstellung des germanischen Freiheitskampfes und eine
kurze Lebensskizze des wackeren Bändel bringt.
Münster. S. Widmann.
Wolff, Emil, Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und
Volkswirtschaftsgeschichte von 1640 bis zur Gegenwart. Dritte ver-
besserte und vermehrte Auflage. Berlin 1909. Weidmannsche Buchhandlung.
VII u. 296 S. geb. 4,50 M.
Das Buch von Wolff, das man als eine deutsch -preußische Bürgerkunde auf
entwicklungsgeschichtlicher Grundlage bezeichnen könnte, hebt sich in zwei Punkten
von manchen Veröffentlichungen auf bürgerkundlichem Gebiete vorteilhaft ab: es
hält sich fern von blassen Begriffsabstraktionen, und es ist nicht überlastet mit
verwirrendem statistischem Material. Da es auf festem historischem Boden fußt
und die volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Gestaltungen in ihrem Werden
behandelt, bietet es lebendige Darstellung, die an Persönlichkeiten anknüpft, und
es liest sich deshalb frisch und anregend. Und da die statistischen Angaben
sorgfältige Auswahl treffen, so hat der Leser nicht erst nötig, unnützen Ballast
zu beseitigen, bevor er seine Fahrt im Buche mit Erfolg fortsetzen kann. Auch
E. Wolff, Grundriß der preußisch-deutschen usw., angez. von A. Matthias. 565
die Gliederung des Stoffes ist klar und übersichtlich. Der erste Abschnitt bringt
die Überwindung der Ständeherrschaft und der Stadtwirtschaft durch das Landes-
fürstentum (Zeitalter des Großen Kurfürsten, 1640 — 1713), der zweite das absolute
Königtum im Dienste des Staates (Zeitalter Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs
des Großen, 1713—1806), der dritte Abschnitt die Befreiung des Staatsbürgertums
und die Gründung der wirtschaftlichen Freiheit Deutschlands (Zeitalter Friedrich
Wilhelms III., 1807—1840), der vierte Abschnitt die Gründung des deutschen Reiches
und das Aufkommen des Arbeiterstandes (Zeitalter Wilhelms I., 1840—1900). —
Diese neue Auflage führt die Darstellung der neuesten Entwicklung bis an die
Grenze der Gegenwart, soweit das möglich war. Neu hinzugekommen ist die
Ausführung über das Fortbildungswesen und über die Frauenfrage. — Das Buch
ist ein gutes Hilfsbuch für den geschichtlichen Unterricht, aber auch ein passendes
Lesebuch für reifere Schüler, die sich für solche Fragen interessieren. Und das
sollten recht viele, das sollten alle tun. Daß ein so gutes und feinsinniges Buch von
1898 bis 1909 gebraucht hat, um zu nur drei Auflagen zu kommen, ist ein Beweis
dafür, daß der Geschichtsunterricht an vielen Stellen nicht so ist, wie er sein sollte.
Alle Welt schreibt und redet über „Bürgerkunde", schweift in die Ferne mit ihren
Gedanken, fordert zu wer weiß welchen Maßnahmen auf und sieht nicht, daß das
Gute so nahe liegt, wie in dem Wolffschen Buche. —
Als auf eine passende Ergänzung zu dem besprochenen Buche sei aufmerk-
sam gemacht auf:
Salomon, Felix, Die deutschen Parteiprogramme. Heft I: von 1814—1871.
Heft II: von 1871—1900. Leipzig und Berlin 1907. B. G. Teubner. VIII u.
112 S. und VI u. 136 S. 1,40 M. u. 1,60 M.
Die beiden Hefte bilden einen Teil der von E. Brandenburger und G. Seeliger
herausgegebenen Quellensammlung zur deutschen Geschichte, die in erster Linie
pädagogischen und in zweiter Linie wissenschaftlichen Zwecken dienen soll. Die
kleinen Sammlungen stellen sich zunächst in den Dienst des Universitätsunterrichts
und wollen die Kenntnis der Zeitgeschichte fördern helfen, indem sie einen ganz
objektiven Überblick über die Entwicklung unserer politischen Parteien verschaffen.
Gewicht gelegt ist auf eine gewisse Vollständigkeit und auf systematische Gliede-
rung und Übersichtlichkeit. Da die Bücher sich in keiner Weise in den Dienst
einer politischen Tendenz stellen, so können sie zu sachlicher Würdigung der
einzelnen Parteibestrebungen anleiten, den BHck schärfen für die Bedingtheit und
Mannigfaltigkeit der politischen Bedürfnisse, die politische Voreingenommenheit
bekämpfen und der Bürgerkunde gute Dienste leisten. Dem Schulunterricht soll
ja der Parteien Haß und Gunst noch fern bleiben; aber wenn die Gelegenheit sich
ungezwungen bietet, so wird die Kenntnis dieses oder jenes Parteiprogrammes,
besonders aus der Werdezeit des deutschen Reiches, manches beitragen zur genau-
eren Kenntnis jener Zeit und zu größerer Achtung vor allen Faktoren, die mit-
gewirkt haben in unserer großen Vergangenheit, die nun schon ein Menschenalter
hinter uns liegt. Voraussetzung ist, daß überall der Geschichtsunterricht vom
feinsten pädagogischen Takt erfüllt ist.
Berlin. A. Matthias.
566 F- Schultze, Die Franzosenzeit in deutschen Landen, angez. von F. Neubauer.
Schultze, Friedrich, Die Franzosenzeit in deutschen Landen 1806—1815.
In Wort und Bild der Mitlebenden. 2 Bände. Leipzig 1908. R. Voigtländer. XII u.
336, IX u. 379 S. 8". Geb. 20 M.
Das vorliegende Buch ist nach der Beilage, die ihm der Verleger mitgegeben
hat, bestimmt, die geschichtlichen Darstellungen, die über die Katastrophe von
1806, den Neubau Preußens und die Befreiungskriege vorliegen, zu ergänzen
durch Mitteilung eines möglichst vielseitigen, gleichzeitigen Quellenmaterials. So
werden denn zahlreiche aus jenen Jahren stammende Abbildungen, auch einige
Faksimiles und Pläne geboten ; und wir erhalten über die Ereignisse, die Zustände,
die Stimmungen, die Persönlichkeiten Berichte, die damals entstanden sind und,
mögen sie zu einem Teil stark subjektiv gefärbt sein, doch den Vorzug haben,
uns in die Zeit hineinzuversetzen und die Dinge mit erleben zu lassen. Die
einzelnen Kapitel werden meist durch eine Art Motto eingeleitet, so z. B. das
Kapitel über die preußische Armee vor 1806 durch die berühmte Bemerkung des
Generals von Saldern, daß 75 Schritt in der Minute besser seien als 76, oder das
über den Erfurter Kongreß durch die Äußerung Goethes über Napoleon, „Dieses
Kompendium der Welt". Dann folgen in buntem Wechsel Stellen aus zeit-
genössischen Historikern und Publizisten, aus Briefen und Berichten, Memoiren,
Tagebüchern. Der erste Band führt uns von dem Beginn des Krieges 1806 bis
zu den Reformen Hardenbergs, der zweite vom russischen Feldzug bis zum zweiten
Pariser Frieden. Anhangsweise werden die benutzten Schriften genauer be-
zeichnet.
Daß der Gedanke des Werkes gut ist, leuchtet ein; auch mit der Art, wie er
verwirklicht worden ist, wird man in den meisten Fällen einverstanden sein.
Einige Einwendungen freilich habe ich zu erheben. Zunächst scheint mir, daß
die Gedanken und letzten Ziele der Reformperiode nicht in völlig genügender
Weise beleuchtet werden. Aus Steins Nassauer Denkschrift ist nichts abgedruckt;
um über das Edikt vom 9, Oktober 1807, das die Bauernbefreiung brachte und
die ständischen Schranken zerbrach, zu orientieren, kann die Stelle aus Beguelins
Denkwürdigkeiten nicht ausreichen ; die Anführung eines Abschnitts aus Steins so-
genanntem politischen Testament wäre sehr nützlich gewesen. Noch weniger klar
ist das Bild, das von Hardenbergs Entwürfen und Schöpfungen gegeben wird ; hier
hat sich wohl der Verfasser die Arbeit etwas zu leicht gemacht. Die herrlichen
Worte Gneisenaus ferner über die Poesie der Vaterlandsliebe aus dem Jahre 1811
durften doch keinesfalls fehlen; ebenso wenig Clausewitz' erhabene Absage an die
»leichtsinnige Hoffnung einer Errettung durch die Hand des Zufalls, an die
dumpfe Erwartung der Zukunft" usw. Auch daß nicht einige der markigen
Äußerungen Steins über den Volkskrieg, die aus dem Jahre 1808 stammen, mit-
geteilt sind, bedaure ich; sie gehören zu dem Ergreifendsten, was damals ge-
schrieben worden ist, ebenso wie seine Niederschriften über die Unsittlichkeit des
napoleonischen Universalreichs (bei Pertz, Bd. II, S. 442 ff.). Es fehlt ferner
der Bericht Metternichs über seine Dresdener Unterredung mit Napoleon im
Juli 1813. Die Briefe der Königin Luise hätten meiner Meinung nach stärker aus-
genutzt werden können, ebenso z. B. Briefe Gneisenaus und Blüchers.
Aber ich breche ab. Trotz der gemachten Ausstellungen ist das Buch sicher-
A. Senfft V. Pilsach, Aus Bismarcks Werkstatt, angez. von E. Stutzer. 567
lieh ein nützliches und empfehlenswertes Buch, wohl geeignet, die Kenntnis jener
gewaltigen Zeit zu vertiefen und zu beleben.
Frankfurt a. M. F. Neubauer.
Senfft von Pilsach, A., Aus Bismarcks Werkstatt. Studien zu seinem Cha-
rakterbilde. Stuttgart und Berlin 1908. J. G. Cotta. 103 S. 8°. 1,60 M.
Was muß Geschichtforschern und Psychologen als der letzte Schlüssel zum
Verständnis Bismarcks gelten? Das eigenartige Vertrauensverhältnis des preußischen
Offiziers und märkischen Landedelmanns zu seinem Könige. Von dieser unzweifel-
haft richtigen Grundanschauung aus beleuchtet der Verfasser den Gegensatz
zwischen Bismarck, »der im gestickten Diplomatenfrack mehr einem verkappten
Kriegsmann glich als im Waffenrock einem verkleideten Minister", und den mili-
tärischen Ratgebern des Königs, einen Gegensatz, der besonders nach der Schlacht
bei KöniggrätZj während der Belagerung von Paris und 1879 zutage trat. Auf
neue Tatsachen oder bisher nicht veröffentlichte amtliche Schriftslücke kann Pilsach
seine Ausführungen nicht stützen, er verwertet aber sehr geschickt die bekannten
Quellen und Darstellungen, namentlich Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen*
sowie Friedjungs Werk, und gibt wiederholt seiner Überzeugung Ausdruck: Das
Deutsche Reich entstand aus Bismarcks vulkanischem Wollen und gestaltendem
Denken und aus Bismarcks Treue, die sein Wollen und Denken in den Dienst
seines Königs stellte. Heben wir das auch für die höheren Schulen Wichtigste
aus diesen Studien über die »Geltendmachung der Individualität" hervor.
Den Schlüssel zum Verständnis der Nikolsburger Vorgänge enthalten die
staatsrechtlich anfechtbaren Sätze aus den »Gedanken und Erinnerungen"
Kap. 20, III: »Ich war der einzige, dem eine politische Verantwortlichkeit als
Minister oblag", und: »Ich war der einzige Anwesende, der gesetzlich verpflichtet
war, eine Meinung zu haben, zu äußern und zu vertreten", Sätze, die das ganze
Selbstgefühl des Staatsmanns atmen, der sich vor aller Welt und vor der Ge-
schichte für Preußens Krieg mit Österreich verantwortlich fühlte. So kämpfte er
denn »um sein Urheberrecht an einer entscheidenden Wendung der preußischen
Geschichte, mehr als das, er kämpfte um seine Stellung", nämlich um sein »ver-
antwortliches Ratgeberamt" beim Könige, und zwar »aus innerstem, sagen wir
ruhig aus selbstischem Antriebe. Wenn darin Egoismus war, so muß ihm Deutsch-
land solchen Egoismus danken". Die Eifersucht der preußischen Heerführer einer-
seits und des Franzosenkaisers anderseits wirkten mit zu der »künstlerischen Ab-
rundung des Bismarckschen Meisterwerkes" (S. 71).
Fast noch deutlicher läßt sich in Bismarcks Stellung zu Rußland die Ein-
wirkung persönlicher Erlebnisse und Eindrücke nachweisen. 1875 erfolgte in über-
raschender Unfreundlichkeit eine »Intervention" des russischen Reichskanzlers Gort-
schakow; sein »Schüler" Bismarck gewann den Eindruck, daß der »Lehrer" eine
diplomatische Kampagne gegen ihn vom Zaun brach, und empfand seitdem „das
Bedürfnis eines Gegenzuges. So betrachtet, mochte der Berliner Kongreß, dem
Gortschakow beiwohnte und Bismarck vorsaß, für diesen eine persönliche Genug-
tuung enthalten". Aber in der selbstgewählten Rolle des „ehrlichen Maklers" be-
schwor der deutsche Kanzler einen gefährlichen Sturm für das von ihm gegründete
568 L. Gerber, Englische Geschichte,
Reich herauf und mußte dann wieder die Erfahrung machen, daß sein Einfluß auf
den Kaiser in einer politischen Angelegenheit ersten Ranges durch unverantwort-
liche militärische Einflüsse erfolgreich durchkreuzt ward. Manteuffel, auf dessen
Rat Wilhelm I. nach Alexandrowo ging, 3. September 1879, ging vier Wochen
später nach Straßburg. „Das Raubtier war in einem vergoldeten Käfig in Sicher-
heit gebracht; der Schaden, den es in den Reichslanden anrichtete, schien Bis-
marck immerhin erträglicher als eine unheilvolle Beeinflussung des Kaisers*
(S. 56).
Was Bismarcks Charakter betrifft, so läßt der Verfasser Licht und Schatten
gleichmäßig hervortreten. Als den besonderen Zug, an den seine geschichtliche
Größe anknüpft, bezeichnet er das „gesunde Selbstgefühl des preußischen Land-
edelmanns" und als einzigartig die Vereinigung von Kühnheit und Verstand; in
der dem Niederdeutschen eigenen Mischung von Schlauheit und Offenheit sieht er
den Charakterzug, mit dessen Hilfe er gegen die Wünsche Wilhelms I. und Franz
Josephs den Krieg von 1^66 herbeiführte. Bismarcks Widerspruchsgeist, die ver-
zehrende Glut seines Hasses und seine Neigung, die Verantwortung für Fehl-
schläge seiner Politik auf andere Schultern abzuwälzen, wird betont; in der Wirt-
schafts- und in der Kolonialpolitik setzte seine Tätigkeit weder rechtzeitig ein,
noch war sie der Größe der Aufgabe gerecht; denn „er sah im wesentlichen nur
Europa; Anschauung war das Element, in dem er lebte und webte" (S. 52).
Wiederholt nimmt der Verfasser auf Goethe Bezug und will dessen Äußerung:
„Das Ausschließende geziemt sich für das Große und Vornehme" auf Bismarck
angewendet sehen. Sachlich und sprachlich erregt es übrigens Bedenken, wenn er
S. 95 den alten Goethe mit einem „schneeigen Gletscher im blauen Firmament*
vergleicht im Gegensatz zum „tätigen Vulkan' Bismarck. War Goethe nicht als
Vierundsiebzigjähriger in leidenschaftlicher Liebe zu Ulrike von Levetzow ent-
brannt? „Schneeig" sind Gletscher immer, aber niemals im Firmament. Auch an
anderen Stellen der Schrift regen sich Bedenken (die Schwierigkeiten z. B., die
sich Bismarcks schleswig-holsteinischer Politik entgegenstellten, werden unter-
schätzt). Doch sie können den günstigen Gesamteindruck nicht beeinträchtigen.
Der Verfasser schließt mit den Worten: „Bismarcks Kraft ist mit ihm dahin-
gegangen; sein Vorbild bleibt. In den Besten unseres Volkes wird seine Ge-
sinnung fortleben." Quod Deus bene vertat!
Görlitz. E. Stutzer.
Gerber, L. Englische Geschichte (Sammlung Göschen 375). Leipzig 1908.
G. J. Göschen. 162 S. 8°. geb. 0,80 M.
Eine englische Geschichte fehlte bisher in der „Kleinen historischen Bibliothek"
der Sammlung Göschen. An dem Bedürfnis nach einer solchen nahm auch der
Schüler der oberen Klassen höherer Lehranstalten, in erster Linie der realen, teil.
Sein geschichtliches Schulbuch reicht durchweg nicht aus, um den Stoff, den ihm
seine englische Lektüre bietet, überall zu ergänzen, in Zusammenhang zu bringen,
unter die richtigen Gesichtspunkte zu rücken. Hierzu, so sollte man meinen, wäre
ein Band der , Sammlung Göschen' gerade das geeignete Buch ; denn wenn man auf
150 Seiten kleinen Oktavs — die 12 Seiten ,Zeittafeln', .Vorbemerkung', ,Inhaltsver-
angez. von W. Meiners. 569
zeichnis' usw. rechne ich ab — die ganze englische Geschichte von den Römer-
zeiten bis auf die Gegenwart darstellen will, wie der Verfasser es getan hat, muß
notgedrungen das Hauptziel das sein, die Entwicklungslinien, die diese Geschichte
aufweist, klar und scharf herauszustreichen und, soweit sie zu verfolgen sind, von
Anfang bis zu Ende durchzuziehen, wobei naturgemäß die bedeutungsvollen
Strecken eine sorgfältigere Ausführung erfahren, die minder wichtigen Ereignisse,
die die Entwicklung lediglich gehemmt oder wenigstens nicht erheblich beeinflußt
haben, übergangen oder kurz skizziert werden müssen.
Über dieses Ziel ist sich der Verfasser entschieden nicht klar geworden. Oder
wie wäre es sonst zu erklären, daß er trotz seines beschränkten Raumes z. B. für
die Erzählung der Schlacht bei Hastings (S. 28—29) einen Platz von IV2 Seiten, für
die letzten Versuche der Stuarts aber, auf den englischen Thron zu kommen (S. 126),
sowie für die Schlacht bei Waterloo (137/138) fast je eine Seite übrig hat? Die
Folge ist, daß anderes unverhältnismäßig stark zurücktreten muß, wie denn z. B.
Wicliff mit noch nicht zwei Zeilen (S. 62 u. 63) abgetan wird. Was von der Dar-
stellung im einzelnen gilt, gilt auch von der Gesamtbehandlung. Das englische
Volk möchte sich noch heute als den Gebieter der Meere und den Herrn der Welt
ansehn. Es ist es eine Zeit lang in der Tat gewesen. Seine Geschichte ist in
ganz hervorragender Weise Weltgeschichte, Kolonialgeschichte, Geschichte des Welt-
handels. Das beginnt sie zu werden etwa seit 1485 bzw. 1558. Die Zeit bis dahin müßte
also eine weit mehr summarische Behandlung erfahren. Und doch nimmt ihre Dar-
stellung 66 Seiten, d. i. beinahe die Hälfte (genau "/«) des Ganzen ein. Keiner
der Herrscher vor 1485 wird uns geschenkt; von jedem erfahren wir den Anteil,
den er an der inneren und äußeren Entwicklung des Landes gehabt hat. Naturgemäß
wird dadurch die Darstellung des wichtigeren Abschnitts der englischen Geschichte
beengt und beeinträchtigt. Eine englische Geschichte ohne Würdigung von Adam
Smith, um nur einen Beleg für meine Behauptung anzuführen, ist mir undenkbar.
Und doch wird von Gerber dieses Mannes mit keinem Worte gedacht. Überhaupt
ist der ganze Gegensatz zwischen dem merkantilistischen und liberalen Wirtschafts-
system, der doch zuerst in England in die Erscheinung trat, so wenig erfaßt, daß
z.B. der Verlust der nordamerikanischen Kolonien auf den „Starrsinn" Georgs III.
geschoben wird (S. 129). Dazu auch in dem zweiten Teile des Buches auch im
einzelnen wieder zu große Gleichmäßigkeit in der Behandlungsweise, zu geringe
Hervorhebung des wirklich Bedeutungsvollen, die Entwicklung Fördernden.
Dazu kommt für diesen Teil ein zweiter empfindlicher Mangel. Der Verfasser
wird den großen Persönlichkeiten und ihrer Bedeutung für England nicht immer
gerecht und legt an geschichtliche Ereignisse zuweilen allzusehr den Maßstab
unserer heutigen Auffassung. Auch hierfür einige Belege. Gewiß ist in unserem
Sinn der Erlaß der Test- Akte eine „unerhörte Gewissensvergewaltigung " der Katho-
liken (S. 111); der merkantilistische Staat dachte indessen anders darüber, wie das
,cuius regio, eius religio' von 1555, die Aufhebung des Edikts v. Nantes 1685, die
Erlasse gegen die Salzburger 1732 zur Genüge beweisen. S. 86 ferner sagt der
Verfasser zur Erklärung der gewaltsamen Religionsverfolgungen Marias der Katho-
lischen: „Aber es war nicht die Zeit, geistige Bewegungen mit geistigen Waffen
zu führen. Wie ihre Vorgänger und Nachfolger gewaltsam dem Protestantismus
570 A. Philippson, Das Mittelmeergebiet, angez. von J. Waßner.
Einführung und Verbreitung verschafften, so verschmähte auch sie dieses Mittel
nicht, um ihrer reHgiösen Überzeugung zum Siege zu verhelfen." Gewiß richtig.
Nur hätte er 20 Seiten weiter Cromwell in seinen irischen und schottischen Kriegen
dieselben mildernden Umstände zubilligen sollen, anstatt sich hier (S. 105 u. 106)
in der Schilderung seiner Grausamkeiten zu gefallen und so das Bild dieses einzig-
artigen Mannes zu trüben. Das geschieht auch durch andere gelegentliche Be-
merkungen, die nicht am Platze sind, wenn es gilt, auf ein paar Seiten Klein-
oktavs — nicht aber in einer Sonderdarstellung — dem Leser seinen Helden nahe
zu bringen (vgl. S. 108, Abs. 3; S. 107, Abs. 2 am Schluß). Freilich wer zur
Charakterisierung der Independenten keine anderen Worte hat als daß ihnen die
Puritaner noch nicht rein genug waren (S. 103, Z. 8 v. u.), kann einen Cromwell
nicht verstehen. Dasselbe gilt von Elisabeth. Weder tritt sie so sehr hinter ihren
Minister Burleigh zurück, wie Gerber uns das glauben machen will, noch ist sie
nur die „eitle, herrschsüchtige" Frau, die sich in ihrer schottischen Politik „im
wesentlichen von persönlichen Motiven" leiten läßt; auch mit der Kennzeichnung
des Zieles ihrer Politik als dahin gehend, „England zur Vormacht des Protestan-
tismus zu machen" (S. 90), kann ich mich nicht einverstanden erklären. — Bei
aller Anerkennung, die wir der Darstellung etwa bis 1485 zollen wollen, werden
wir demnach mitRücksicht auf den zweiten Teil doch die Gerbersche
Englische Geschichte nicht als vollwertige Ergänzung der „Kleinen
historischen Bibliothek" anerkennen können.
Elberfeld. Wilh. Meiners.
Philippson, Alfred, Das Mittelmeergebiet. Seine geographische und kulturelle
Eigenart. Mit 9 Figuren im Text, 13 Ansichten und 10 Karten auf 15 Tafeln.
Leipzig, 1. Auflage 1904. 2. Auflage 1907. B. G. Teubner. VI u. 266 (bzw.
261) S. geb. 7 M.
„Es dürfte kaum auf der Erde ein Ländergebiet von ähnlicher Größe geben,
das sich an Vielseitigkeit der Bedeutung mit dem Mittelmeergebiet messen könnte.
Es ist der so gut wie alleinige Schauplatz der Geschichte während mindestens
zweier Jahrtausende, es ist der Herd eines so scharf ausgeprägten Abschnitts der
Entwicklung der menschlichen Gesittung, daß man geradezu von einem mediterranen
Kulturkreise spricht. Es gibt kaum eine Wissenschaft, deren Geschichte nicht in
die Mittelmeerländer zurückführt, die in ihrer Eigenart und Entwicklung nicht durch
die Eigenart dieses Länderindividuums beeinflußt worden ist." Diese Worte, mit
denen Theobald Fischer einen Aufsatz über das Mittelmeergebiet (in der Inter-
nationalen Wochenschrift I, S. 209) einleitet, können gewissermaßen als Motto oder als
Inhaltsangabe über das vorliegende Buch gesetzt werden, das Ferdinand von Richt-
hofen gewidmet und auf den Arbeiten Theobald Fischers gegründet ist. Sind jene
Worte richtig — und wer wollte es leugnen? — , dann muß jeder gebildete Mensch
mit Spannung nach diesem Buche greifen, das ihm zwar „keine Vollständigkeit in
Einzelheiten, auch nicht neue Forschungsergebnisse oder eine spezielle Länderkunde
der Mittelmeerländer" verspricht, das es sich aber zur Aufgabe macht, „eine zu-
sammenfassende Übersicht über die verschiedenen geographischen Erscheinungen
zu geben, die im Mittelmeer auftreten, aufeinander einwirken und so dieses Gebiet
Fr. Naumann, Sonnenfahrten, angez. von A. Matthias. 571
als einen einheitlichen, wohl individualisierten Erdraum kennzeichnen, der von Natur
zum Schauplatz einer unvergleichlichen Kultur und Geschichte geeignet war". Der
Verfasser hat seine Aufgabe glänzend gelöst und uns in diesem Buche eine aus-
gezeichnete Gabe geschenkt. Gerade an solch einer zusammenfassenden, nicht
in Einzelheiten sich zerfasernden, sondern immer die großen Gesichtspunkte fest-
haltenden Darstellung hat es bis jetzt gefehlt. Hier aber wird der Leser von
sicherer Hand durch die Ergebnisse der neuesten Forschungen hindurchgeleitet
und gewinnt von ihnen aus immer neue Überblicke über die Bedeutung des Mittel-
meergebietes, in seinem weitesten Umfange, der sich sogar bis Mesopotamien er-
streckt.
Von der Weltlage, dem Bau und der Entstehungsgeschichte beginnend,
führt uns der Verfasser nach der Betrachtung des Wassers, der Küsten und des
Klimas zur Pflanzen- und Tierwelt und schließlich zu dem reizvollsten Abschluß,
gewissermaßen der Krone des Ganzen: zum Menschen. Die Sprache ist ruhig und
sachlich, so ganz frei von Phrase, aber nicht frei von Wärme, die an verschiedenen
Stellen auch zu begeisterter Schilderung sich erhebt.
Der Verfasser hat sein Buch in erster Linie für gebildete Leser geschrieben,
die sich sei es durch Studien, sei es durch Reisen für das Mittelmeergebiet inter-
essieren; aber er hofft, daß auch die Geographen es verwenden können. Daß er
sich nicht getäuscht hat, beweisen die zweite Auflage, die der ersten schnell
gefolgt ist, und die glänzenden Anerkennungen» die seine Fachgenossen ihm haben
zuteil werden lassen. Hier mögen nur noch die Altphilologen auf das Buch hin-
gewiesen werden, das für sie eine Fundgrube von interessanten und klärenden Hin-
weisen enthält. Ganz besonders diejenigen, die sich mit Griechenland beschäftigen,
kommen auf ihre Rechnung. Erkennt man doch gerade in den Abschnitten, die
sich auf die griechische Welt beziehen, den gründlichen Kenner Griechenlands
wieder, wie er aus seinem ausgezeichneten Buch über den Peloponnes (Berlin
1892) schon lange bekannt ist.
Die Abbildungen sind vortrefflich, klar und charakteristisch; die Karten geben
eine gute Übersicht, nur möchte man vielleicht im Text häufiger einen Hinweis
wünschen, welche von ihnen gerade gemeint ist. Ein ausführliches Register ist
eine wertvolle Beigabe; Papier und Druck verdienen Lob. Die zweite Auflage ist
im wesentlichen ein Abdruck der ersten, die Verbesserungen beziehen sich meistens
auf die statistischen Zahlen, auf die Ergänzungen einiger Anmerkungen und die
Beachtung von Neuerscheinungen. Sie alle bekunden die Sorgfalt des Verfassers,
dem man noch besonderen Dank dafür wissen muß, daß er Mesopotamien auch
in der neuen Auflage nicht fortgelassen hat, trotz des Widerspruches, den die Her-
einziehung dieses Landes in die Darstellung des Mittelmeergebietes gefunden hat.
Wir möchten auch diese Abschnitte nicht entbehren.
Groß -Lichterfelde. Julius Waßner.
Naumann, Fr., Sonnenfahrten. Berlin-Schöneberg 1909. Buchverlag der Hilfe.
182 S. kart. 3 M.
Ein schlimmer Feind alles Unterrichts ist die Langeweile; im Geographieunter-
richt aber der schlimmste. Hier tritt er besonders dann auf, wenn Anschaulichkeit
572 M. Simon, Über Mathematik, angez. von H. Thieme.
und Phantasie fehlen, die Leben in diesen Unterricht bringen müssen. Ich habe
deshalb immer solche Bücher als Hilfe begrüßt, die mir die Kartenbilder und die
Lehrbücher so erfrischten, daß das in ihnen schlummernde Leben zur Auferweckung
kam. Das vorliegende Buch ist eine dieser erfrischenden Quellen. Schon der
Name „Sonnenfahrten" lockt an. Der Name ist gewählt, weil die Reisen, die der
Verfasser nach dunklen Wintertagen und dumpfer Winterarbeit unternahm, in sonnige
Lande ging, durch die fruchtstrotzende Bretagne, das bunte Algerien, durch Tunis, in
die Wüste, nach Venedig, Assisi und durch die ungarischen Waldgebirge. Nicht nur
fremde Menschen und Landschaften hat der empfänghche Reisende gesehen; er hat
ihren Zusammenhang lebhaft empfunden, hat fremde Kulturen, fremde Kunst, fremde
politische und wirtschaftliche Verhältnisse mit klarem Blicke erkannt, so daß er auch
im einzelnen wertvolle Beobachtungen anstellt, z. B. über die Kolonisationsfähigkeit
der Franzosen in Algerien und Tunis und über französische Gotik in der Bretagne.
Auch an interessanten Abstechern ins geschichtliche Gebiet, die Erläuterungen so-
gar zu unsern Schulklassikern (bei Constantine zu Sallusts Jugurthinischem Krieg)
bringen. Kurz das Mannigfaltigste vereinigt sich in dem kleinen Bändchen in farben-
reicher Darstellung und lebendiger und hübscher Sprache.
Berlin. A. Matthias.
Simon, Max, Über Mathematik. Erweiterung der Einleitung in die Didaktik.
Gießen 1908. A. Töpelmann. 32 S. 8". 0,80 M.
Der vorliegende Aufsatz des bekannten Straßburger Mathematikers Max Simon
bildet das erste Heft des zweiten Bandes der von H. Cohen und P. Natorp
herausgegebenen philosophischen Arbeiten. Das Thema: „Über Mathematik" ist
so allgemeiner Natur, daß darüber jeder Mathematiker recht viel zu sagen hat; in
erhöhtem Maße ist das bei einem so vielseitig tätigen Schriftsteller wie Simon
der Fall.
Der Aufsatz beginnt mit der für alles weitere grundlegenden Frage, für die
allerdings jeder bedeutende Mathematiker seine besondere Antwort hat, mit der
Frage: „Was ist Mathematik?" Mit der Behandlung dieser Frage verknüpft der
Verfasser eine Erörterung der wichtigsten Grundbegriffe der Mathematik. Die
Entstehung und die Natur unserer Raum-, Zeit- und Zahlvorstellungen und Be-
griffe, der Begriff der Größe, der Begriff des Kontinuums, der Grenzbegriff, die
Begriffe des Unendlichgroßen und des Unendlichkleinen, die Mengenlehre, die ver-
schiedenen Arten der Zahl (Kardinalzahl, Ordnungszahl und Beziehungszahl),
Wesen und Unterschied von Geometrie und Arithmetik, die verschiedenen Raum-
formen (die Bolyai-Lobatschefskische, die Riemannsche, die Klein-Cliffordsche) und
noch viele andere Dinge werden an unserem Geiste vorbeigeführt, teils mehr, teils
weniger eingehend besprochen oder auch nur kurz erwähnt.
Der Verfasser setzt sich bei der Erörterung der vielen wichtigen mit diesen
Dingen verknüpften Probleme mit einer sehr großen Zahl von Mathematikern und
Philosophen auseinander und kennzeichnet ihnen gegenüber in seiner bekannten
scharf ausgeprägten Art die eigene Stellung.
Es ist bei der Vielgestaltigkeit des Inhalts der vorliegenden Schrift nicht wohl
möglich, hier den Auseinandersetzungen des Verfassers Schritt für Schritt zu folgen.
C. Kaßner, Das Wetter und seine Bedeutung usw., angez. von A. Otto. 573
Als Einzelheit sei erwähnt, daß Simon nachdrücklich der landläufigen Ansicht ent-
gegentritt, nach der Plato als bedeutender Mathematiker anzusehen sei, der auch
durch eigene Forschungen die Mathematik wesentlich gefördert habe, ferner daß
Simon nicht minder nachdrücklich auf die Bedeutung von Leibniz für die Auf-
klärung des Raumproblems hinweist, darauf daß Leibniz in der Frage unserer
Raumanschauung als ebenbürtiger Vorgänger Kants anzusehen sei, daß die An-
schauungen von Leibniz denen von Kant schon außerordentlich nahe standen.
Wegen der vielseitigen Anregungen, die der Aufsatz von Simon bietet, kann
seine Lektüre jedem, der für mathematisch-philosophische Fragen Interesse besitzt,
empfohlen werden, wenn auch mancher paradoxe Ausspruch des Verfassers — er
sagt z. B., »die Differentialrechnung sei nie und nimmer erfunden" — wohl kaum
auf volle Zustimmung rechnen darf. Wünschenswert bleibt, daß der Leser mit
den von Simon besprochenen Forschungen sich auch selbst bekannt macht, um in
den behandelten Fragen ein unabhängiges Urteil zu gewinnen.
Posen. H. Thierae.
Jahrbuch der Naturwissenschaften 1907—1908. Dreiundzwanzigster Jahrgang.
Herausgegeben von Dr. Max Wildermann. Mit 29 Abbildungen. Freiburg 1908.
Herdersche Verlagshandlung. XII u. 510 S. Lex. 8". geb. 7,50 M.
Das Wildermannsche Jahrbuch erscheint von dem vorliegenden Jahrgange ab
in etwas veränderter Gestalt und in größerem Drucke. Seinen Zweck, die ge-
bildeten Laien mit den Errungenschaften der gesamten Naturwissenschaften, ein-
schließlich der Forst- und Landwirtschaft, der Länder- und Völkerkunde, der
Gesundheitspflege und Heilkunde fortlaufend bekannt zu machen, erfüllt es mit
bestem Erfolge. Für Lehrerbibliotheken hat es an Brauchbarkeit gewonnen, da mit
ihm, wie der Verlag ankündigt, ein Jahrbuch der Zeit- und Kulturgeschichte nun-
mehr verbunden worden ist. Für Fachlehrer reicht der Inhalt nicht aus. Zu
wünschen bliebe außer einer genaueren Angabe der Berichtsperiode eine über-
sichtlichere Darstellung des chemischen Teiles unter Einschränkung der dem Laien
ganz unverständlichen kurzen Notizen. Auch könnte hier und da (cf. Zoologie)
mehr auf die Originalarbeiten zurückgegangen werden. Referate über Referate
entbehren im allgemeinen der wünschenswerten Zuverlässigkeit.
Münster. J. Norrenberg.
Kaßner, Carl, Das Wetter und seine Bedeutung für das praktische
Leben. Leipzig 1908. Quelle und Meyer. 148 S. 8«. geh. 1 M.,
geb. 1,25 M.
Das vorliegende Büchlein bietet in 3 Abschnitten das Wichtigste über die Grund-
lagen der Wettervorhersage. Der erste Teil ist insofern der interessanteste, weil
er in 45 Seiten eine Geschichte der Wettervorhersage gibt. Wenn diese auch nur
kurz gefaßt ist, so enthält sie doch das Wichtigste und zum Verständnis der Ent-
wicklung der meteorologischen Wissenschaft Notwendige in übersichtlicher und
ansprechender Form. Eine solche Darstellung vermißten wir bis jetzt in den meisten
Lehrbüchern der Meteorologie.
Ebenso bietet auch der dritte Teil viel Neues. Von der Bedeutung des Wetters
574 W. Scheel, Das Lichtbild und seine Verwendung usw., angez. von H. Bohn.
für das praktische Leben ist ja jedermann überzeugt; wie stark aber das gesamte
menschliche Leben beeinflußt wird, davon kann, man sich erst eine richtige Vor-
stellung machen, wenn man die Kapitel über die „Bedeutung des Wetters für Land-
und Forstwirtschaft, für Verkehr und Handel, für die Industrie" gelesen hat.
Die meteorologischen Grundlagen für die Wettervorhersage bilden den Haupt-
teil des Buches (Seite 46—113). Er enthält natürlich mehr als der Titel des Ab-
schnittes verspricht, nämlich auch die Grundlagen für die Erkenntnis des Wetters
und seiner Entstehung. Besonders gut haben mir die Schilderungen des Wetters
in den Tief- und Hochdruckgebieten gefallen, Sie sind vom Laien — für den das
Buch doch wohl in erster Linie bestimmt ist — leicht zu verstehen und zu behalten.
Nur hätte die Bedeutung der Randgebilde wegen ihrer Häufigkeit und ihres zu-
meist schädlichen Einflusses mehr hervorgehoben werden können. Dagegen hätte
die neuere Theorie der Entstehung der Hoch- und Tiefdruckgebiete (S. 77) weg-
bleiben können, da sie in der äußerst knappen Form nur schwer verständlich ist.
Von Wetterkarten ist nur eine (vom 21. März 1907) gegeben. Wünschenswert
wäre die Beigabe einer Wetterkarte eines typischen Minimums gewesen. Gerade
eine solche ist in bezug auf Wind-, Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse
am lehrreichsten und anregendsten.
In dem Kapitel über Wetterprognosen ist besonders erfreulich, daß nur das
tatsächlich Richtige betont, dem Aberglauben und den weitverbreiteten Irrtümern
aber kräftigst entgegengetreten wird (Tiere, Pflanzen, Instrumente als Wetterver-
kündiger).
Von Versehen und Druckfehlern hat sich das — auch in bezug auf Druck
und äußere Ausstattung gefällige — Büchlein ziemlich frei gehalten. In der Figur
S. 76 „Querschnitt" verwirren die obenangebrachten Bezeichnungen „Hoch" und
.Tief". S. 77 steht Erstehung statt Entstehung, S. 138 Landstrecken für Land-
straßen, S. 110: „Maximum der Temperatur in den Minimaljahren (der Sonnenflecken),
während die Minimaljahre kühl sind." S. 88 und 98 finden sich Zeilenverwerfungen.
Doch das sind Kleinigkeiten, die bei einer Neuauflage leicht zu beseitigen
sind. Was der Herr Verfasser gebracht hat, bietet ein übersichtliches und ziem-
lich erschöpfendes Bild von dem gesamten Wissen in der Meteorologie, und es
kann eine gute Grundlage für weitere Forschungen abgeben. Auch im Hinblick
auf die vielen Anregungen, welche zu einer selbständigen Beobachtertätigkeit auf-
fordern, kann das Büchlein nur auf das wärmste empfohlen werden.
Eisleben. A. Otto.
Scheel, Willy, Das Lichtbild und seine Verwendung im Rahmen des regel-
mäßigen Schulunterrichts. Leipzig 1908. Quelle & Meyer. VI u. 52 S. 8«. 1 M.
In den letzten Jahren mehrt sich die Literatur über die Verwendung des Pro-
jektionsapparates in der Schule. Das ist ein erfreuliches Zeichen, welches darauf
hindeutet, daß in Zukunft nicht nur der naturwissenschaftliche, sondern auch der
gesamte übrige Unterricht anschaulich gestaltet werden wird. Ohne Anschauungs-
material muß z. B. die Behandlung von Lessings Laokoon in der Prima recht
langweilig und wenig nutzbringend sein. Welche Fülle von Anregung erhalten
aber die Schüler, wenn das fragliche Thema in der Weise behandelt wird, wie der
F. Kuhlmann, Bausteine zu neuen Wegen usw., angez. von Ph. Franck. 575
Verfasser im 12. Kapitel angibt, wenn nicht nur die Laokoongruppe selbst im
Bilde gezeigt, sondern auch mit anderen Bildwerken verglichen wird. Ohne Licht-
bilder ist dies in den meisten Fällen so gut wie unmöglich.
Trotz des geringen Umfanges bietet das Büchlein einen außerordentlich reichen
Inhalt, der um so wertvoller erscheint, da er ganz aus der Erfahrung geschöpft ist;
es ist mit Liebe und Begeisterung von einem Philologen geschrieben, der schon
längere Zeit Lichtbilder in seinem Unterricht verwendet und sich von einem er-
fahrenen und tüchtigen Physiker (Dr. M. Koppen) beraten ließ. Die auf die Natur-
wissenschaften, den Lichtbilderapparat selbst und seine Bedienung während des
Unterrichts bezüglichen Kapitel sind von letzterem geschrieben. So ist ein aus-
gezeichnetes Werk entstanden, dem die weiteste Verbreitung zu wünschen ist.
Als unerläßliche Bedingung für eine gedeihliche Benutzung des Lichtbildapparates
bezeichnet der Verfasser freilich das Vorhandensein eines besonderen Lichtbild-
zimmers. Ich möchte ihm hierin nicht bloß beistimmen, sondern für größere An-
stalten sogar deren zwei verlangen, eins für den naturkundlichen, das andere für
den erdkundlichen Unterricht, weil in diesen beiden Fächern die Lichtbilder fort-
während und in mannigfaltigster Weise gebraucht werden sollten. In den übrigen
Fächern werden sie nur gelegentlich gezeigt, und das kann geschehen, wenn eins
der genannten Zimmer frei ist.
Berlin. H. Hohn.
Kuhlmann, F., Bausteine zu neuen Wegen des Zeichenunterrichts.
VII. Heft. Das lebende Tier. Verlag von A. MüUer-Fröbelhaus. Dresden und
Wien. 40 S. 2 M.
Den Nachweis, daß und wie es möglich sei, im Schulunterrichte nach dem
lebenden Tier zu zeichnen, versucht F. Kuhlmann in dem siebenten Heft seiner
sog. „Bausteine* zu erbringen, und im allgemeinen wird man seinen Ausführungen
willig folgen können. Daß die seither meist im Schulzeichnen gebrauchten aus-
gestopften Tiere fast immer doch nur ganz minderwertige Surrogate sind, daß die
besten außerdem sich im Gebrauch bald abnützen und gräßliche Zerrbilder werden,
hat wohl jeder Zeichenlehrer selbst empfunden.
Kuhlmann führt in überzeugender Weise aus, daß es nicht zu schwierig ist,
nach einer ganzen Anzahl lebender Tiere zu zeichnen. Besonders sind Skizzier-
übungen stets sachgemäßer nach lebenden und veränderlichen Objekten vorzu-
nehmen, als nach den gleichmäßig stillhaltenden, weil das bewegliche Objekt zu
viel intensiverer Beobachtung des Wesentlichen zwingt und die Auffassungsfähig-
keit in ungleich höherem Grade schärft, als das tote. Auch wäre zu betonen, daß
kein Künstler nach dem ausgestopften Tier Tierstudien machen würde, wie dies
auch die großen Tierdarsteller, die Japaner, niemals tun.
Daß indessen dieser siebente , Baustein" ein neues Eindringen in ein bis dahin
unbekanntes Gebiet darstellt, ist ein Irrtum Kuhlmanns. Das lebende Tier war
und ist in englischen und amerikanischen Schulen schon längst ein Zeichen-
objekt. Auch lassen eine ganze Reihe seiner preußischen Kollegen, zum Teil
ganz unabhängig von Kuhlmann, lange schon nach lebenden Tieren im Schul-
unterricht zeichnen.
576 Jessen und Stehle, Kleine Zahnkunde usw., angez. von B. Habenicht.
Zuletzt steht die Forderung, nach lebenden Tieren zu zeichnen, in keiner
Weise im Widerspruch mit den amtlichen preußischen Lehrplänen, die stets das
Zeichnen nach den wirklichen Dingen, nicht nach Nachbildungen, gefordert haben,
bei ihrer knappen Fassung die zu zeichnenden Dinge aber nicht einzeln auf-
zählen konnten.
Wannsee. Philipp Franck.
Jessen und Stehle, Kleine Zahnkunde für Schule und Haus. Zugleich
eine Handreichung zu der Schulwandtafel Gesunde und kranke Zähne.
Straßburg i. E. Ludolf Beust. VI u. 64 S. 8«. 1,40 M.
Es haben 65 deutsche Städte Schulzahnkliniken eingerichtet, in denen jedes
Kind in jedem Semester untersucht und behandelt wird, da festgestellt ist, daß 96 ^/^
aller Kinder kranke Zähne haben, daß diese das Kind allgemein kränklich machen
und daß mit kranken Zähnen meistens schlechte Zensuren verbunden sind. Schlechte
Zähne tragen oft Schuld an Schwindsucht, Bleichsucht, Hals- und Darmkrankheiten.
Gewarnt wird vor dem Zuckerbäcker. Hartes Schwarzbrot als Nahrung ist die
beste Zahnbürste.
Das elementar geschriebene Büchlein bespricht die Krankheiten der Zähne und
ihre Folgen, ihre Verhütung und Behandlung gut und gründlich. Bei genauer
Befolgung wird es in Schule und Haus vortrefflich wirken.
Linden-Hannover. B. Habenicht.
Berichtigung zu den Programmabhandlungen 1907.
Im laufenden Jahrgang S. 190 ist ein Irrtum untergelaufen. Die Abhandlung
im Jahresbericht der Oberrealschule zu Weißenfels über Steinkreuze in der Saale-
gegend ist nicht von Direktor Dr. Löwisch, sondern von Dr. Richard Neumann.
i. Abhandlungen.
Die höheren Schulen und die öffentliche Meinung.*)
„Niemand setzt die Feder gerne für sich selbst an, sogar in gerechter Abwehr",
sagt Jakob Grimm einmal, und alle vornehm denkenden Menschen stimmen gewiß
in dieser Meinung mit ihm überein. Aber wenn man auch nicht gerne in eigener
Sache zur Abwehr greift, so können einen doch die Verhältnisse dazu zwingen.
In solcher Notlage befinden sich in unsern Tagen die Lehrer der höheren Schulen.
Die öffentliche Meinung hat sich in Deutschland zu einer Abneigung, ja sogar
vielfach zu einem Haß gegen das höhere Schulwesen verirrt, der unsre ohnehin so
schwierige Lehr- und Erziehungsarbeit ganz vergeblich zu machen droht. Wer
heutzutage, sei es in der Presse, sei es vom Rednerpult herab, gegen diese Schulen
eifert, der ist des Beifalls der Masse gewiß. Mögen auch seine Anklagen noch so
übertrieben und haltlos sein, man nimmt sie ungeprüft für wahr an, man jubelt
ihnen zu, man betet sie nach. Ein Wilhelm Ostwald konnte vor einer Versammlung
von über 2000 Zuhörern die leidenschaftlichsten Vorwürfe wider das vermeintliche
,, Schulelend" erheben und Vorschläge zu einer Verbesserung machen, die sich
weder durch Neuheit noch durch Bestimmtheit auszeichnen. Aber die Zuhörer
befanden sich offenbar in einem wahren Rausch des Hasses gegen alles, was Schule
heißt; denn sie gaben dem Vortragenden so warm, ja zuweilen stürmisch ihre
Zustimmung zu erkennen, daß er sich zu einem viel tausendfältigen. Abdruck seines
Notrufes ermutigt sah. Und wie sinnberaubend haben erst die beiden Charlotten-
burger Selbstmorde gewirkt! Die amtliche Untersuchung hat keine Be-
ziehungen zwischen den Schul Verhältnissen und der unseligen Tat der beiden Schüler
entdecken können; die städtischen Körperschaften in Charlottenburg haben sich
durch den gleichlautenden Bericht des Direktors Hubatsch für überzeugt erklärt,
und niemand hat nach seinen Darlegungen noch ein Wort der Kritik gewagt. Aber
die öffentliche Meinung, soweit sie durch einen großen Teil der Presse vertreten
*) Ich gebe dem Verfasser des Buches „Der Weg zum Herzen des Schülers" (Beck,
München) gern das Wort zu ernster Mahnung, da Weimer nicht der erste beste ist, der
sich berufen fühlt zu eindringlichem Rat, sondern ein Mann, der seine Berechtigung
durch jenes Buch vollauf erwiesen hat zu einer Anregung, die so oder so gute Früchte
tragen mag. Mtth.
MonatMhrlft (. hfib. Schulen. VUI. Jhrg. 37
578 H. Weimer,
wird, hat sich' bei diesem Ergebnis nicht beruhigt. In die Privatwohnungen sind
die Reporter eingedrungen, haben die Angehörigen der beiden Opfer, die Klassen-
genossen und deren Eltern ausgefragt und ausgehorcht, und als wenn sie aller Logik
bar wären, die seltsamsten „möglichen" Gründe zur Erklärung der Selbstmorde
herausgefunden. Angeblich zu schwere und unvorbereitete Aufsätze, eine vor
einem Vierteljahr — beinahe — verabreichte Ohrfeige, die vorgebliche Be-
quemlichkeit eines einzelnen Lehrers wurden als solche bezeichnet. Ein innerer
Zusammenhang zwischen diesen an den Haaren herbeigezogenen Mängeln und der
Verzweiflungstat der jungen Leute muß für den ruhig Überlegenden als ausge-
schlossen gelten; aber es „rast der See und will sein Opfer haben".
In Nürnberg wirft sich gar ein zur Entlassungsrede aufgeforderter Abiturient
zum Richter seiner Lehrer auf. Nachdem er das Reifezeugnis glücklich in der
Tasche hat, macht er ihnen im Angesicht der ganzen Schule den Vorwurf einer
unzeitgemäßen, allzu beengenden und nivellierenden Erziehung. Ein nicht minder
betrübendes Vorspiel dazu haben wir im vorausgehenden Jahre in Wiesbaden
erlebt. Da benutzte ein eben entlassener Abiturient die Abschiedskneipe, um den
als Gästen anwesenden Lehrern samt dem Direktor in der Begrüßungsrede einige
gutgemeinte Stiche zu versetzen. Wenn auch seine Kameraden sofort gegen ihn
Stellung nahmen und der Missetäter sich später zu einer Bitte um Entschuldigung
dem Direktor gegenüber veranlaßt sah: der Stachel, den man uns ins Fleisch ge-
drückt, er hat verwundet, und es bleibt für immer die Narbe der peinlichen Er-
innerung. Nun haben wohl von jeher gar viele Abiturienten mit ihren vermeint-
lichen Peinigern in geheimem Widerstreit gestanden; aber dieser Gegensatz wurde
doch meist als ein persönlicher, auf bestimmte Individuen beschränkter empfunden.
Den Mut zur offenen Kritik am ganzen Stande und seinen Leistungen hat den
jungen Leuten erst die Gewißheit gegeben, daß die Teilnahme der Erwachsenen
und ganz besonders die Tagespresse hinter ihnen steht; nicht die beste, dürfen
wir hinzusetzen, doch die meistgelesene Presse. Wenn aber erst einmal die Mehr-
zahl der Schüler von dieser Gewißheit durchdrungen ist, wenn sie in unsrer Lehr-
und Erziehertätigkeit nur eine öffentlich verurteilte, zwecklose Tortur erblickt,
dann dürfen wir unsre Schularbeit nicht mehr mit ernsten Augen ansehen, dann
kann man auch uns mit spöttischem Lächeln zurufen: Gute Nacht Basedow!
Woher nun diese kritische, ablehnende, ja häufig gehässige Stimmung gegen
unsre höheren Schulen und ihre Lehrer? Eine erschöpfende Antwort darauf läßt
sich im Rahmen eines kurzen Aufsatzes nicht geben. Aber wir wollen wenigstens
versuchen, die Hauptwurzeln dieser betrübenden Erscheinung im folgenden bloß-
zulegen. Die ganze Entwicklung des höheren Schulwesens im 19. Jahrhundert
hat gewiß ein gut Teil dazu beigetragen und vor allem der Riesenkampf gegen das
Berechtigungsmonopol des Gymnasiums. Dieser Kampf wurde und konnte nicht
in Fachkreisen allein ausgefochten werden. Wollten die Vertreter der minder-
berechtigten Schulgattungen siegen, so mußten sie eine möglichst große Anhänger-
schar zu gewinnen suchen. So trug man die Agitation über den Kreis der Fach-
genossen hinaus, machte durch Versammlungen, durch Bearbeitung interessierter
Berufsvereine, durch Massenpetitionen und vor allem durch die Benutzung der
Tagespresse die öffentliche Meinung gegen das Gymnasium mobil. Auf diese
Die höheren Schulen und die öffentliche Meinung. 579
Weise wurden die mehr oder minder berechtigten Vorwürfe der Weltfremdheit
und Rückständigkeit der Gymnasialbildung, der Vernachlässigung der Realien,
der Muttersprache, der modernen Fremdsprachen, der vaterländischen Geschichte
usw. zum Gemeingut der Masse gemacht. Die Anhänger der humanistischen
Bildung blieben die Antwort nicht schuldig. Sie lehnten von vornherein das Ver-
langen nach Gleichberechtigung der höheren Schulen mit der Behauptung der
Minderwertigkeit der Realschulbildung ab und ließen es auch im Verlaufe des
weiteren Streites an derben Gegenhieben nicht fehlen. Natürlich appellierten
auch sie durch Presse und Versammlungen an die öffentliche Meinung, um sich
möglichst weithin Gehör zu verschaffen. Der ganze Kampf hat gewiß sein gutes
gehabt, und wenn es auch nur das eine wäre, daß das Berechtigungsmonopol
des Gymnasiums erfolgreich durchbrochen wurde. Jedenfalls haben sich die Ge-
müter seit dem Erlaß vom 26. November 1900 erheblich besänftigt. Man will
sich nun die gegenseitige Anerkennung nicht mehr versagen; man gibt auf beiden
Seiten zu, daß auch die von den ^Gegnern gepriesene Bildungsart ihre Zwecke
erfüllt. Wenn das aber heutzutage die ehrliche Meinung der Mehrzahl unsrer
Kollegen ist, dann muß man auch eingestehen, daß — gewiß nicht alle — aber doch
viele der früheren Angriffe übertrieben waren, daß man sich im Eifer des Gefechts
zu Behauptungen hat hinreißen lassen, die man jetzt bei nüchterner Betrachtung
nicht mehr aufrecht erhalten kann. Es schadet unsrer Ehre gewiß nichts, wenn
wir Übereilungen und Übertreibungen von ehedem heute zurücknehmen. Aber
einen Fehler können wir so leicht nicht wieder gut machen: was wir jahrzehnte-
lang dem Publikum als tilgungswürdige Schäden vorgepredigt haben, das können
wir ihm nicht kurzer Hand wieder aus dem Gedächtnis reißen. Es wird die ein-
zelnen Vorwürfe vielleicht vergessen, aber die Gesamtüberzeugung von der Rück-
ständigkeit unserer höheren Schulen überhaupt, die bleibt haften.
Sie bleibt haften, weil neben und nach jenem Streite um die Berechtigungen
auch noch eine ganze Reihe von weiteren Kämpfen um Lehrstoff und Lehrart
geführt worden sind und heute noch geführt werden. Ich erinnere nur an das ge-
waltige Ringen um die Methode des neusprachlichen Unterrichts, das über 1000
größere und kleinere Schriften und Gegenschriften gezeitigt hat; ich erinnere an
die lauten Klagen über die Vernachlässigung unsrer Muttersprache, die Verwerfung
des Sprachunterrichts überhaupt als eines unfruchtbaren Verbalismus; ich er-
innere an die Reformvorschläge auf dem Gebiete der religiösen Unterweisung,
des naturwissenschaftlichen, des Turn-, Gesang und Zeichenunterrichts. Kurz,
es ist fast kein Zweiglein und kein Blättlein am Baum des höheren Unterrichts-
wesens, an dem man nicht zu schütteln und zu rütteln wagte.
Daß man nun Besseres glaubt an die Stelle des Alten setzen zu können und
vielfach auch gesetzt hat, das ist ja gewiß ein Gewinn. Die Stürme und Angriffe
zeugen von Interesse für die Sache der Jugenderziehung, sie zeugen von freudigem
Leben und Streben. Bedenklich ist nur die Art des Kampfes. Man wandte und
wendet sich heute noch in allen diesen Streitigkeiten nicht nur an die Fachkreise,
sondern sucht die Öffentlichkeit für seine Sache zu gewinnen, ruft die Theologen,
die Ärzte, die Künstler, die Väter und Mütter auf den Plan und überschwemmt
die Tagesblätter mit Artikeln und Artikelchen. Und jeder, der etwas Neues zu
37*
580 H. Weimer,
bringen glaubt, der leitet seine Vorschläge mit dem alten Liede von der Rück-
ständigkeit unsrer höheren Schulen ein.
Nun leben wir aber in einer sehr kritikfreudigen Zeit, einer Zeit, die in ner-
vöser Unruhe an allem nörgelt und wühlt, die überall Unzulängliches sucht und
findet. Gerade die führenden Stände haben unter diesem Übermaß der Kritik
Zu leiden. Die Geistlichen, die Ärzte, die Richter, die Verwaltungsbeamten, die
Offiziere können ebensowohl ein Lied davon singen wie wir. Ist doch neuerdings
der deutsche Richterverein mit in erster Linie gegründet worden, um seine Glieder
und deren Arbeit gegen ungerechtfertigte Angriffe von selten des Publikums er-
folgreicher verteidigen zu können. Und haben die literarischen Erzeugnisse eines
Beyerlein, Bilse, Freiherrn von Schlicht u. a. um ihrer künstlerischen Qualitäten
willen einen so großen Leserkreis gefunden oder nicht vielmehr wegen ihrer kri-
tischen Stellungnahme gegen das deutsche Heer und sein Offizierkorps? Ich
dächte, das Schicksal gerade des Bilseschen Machwerkes dürfte uns über diese
Frage nicht in Zweifel lassen. In einer solchen Zeit müssen natürlich auch die
radikalen Gegner unsrer höheren Schulen, ein Ludwig Gurlitt, Arthur Bonus und
Wilhelm Ostwald, leichtes Spiel haben. Sie sind des Beifalls der Masse sicher,
wenn sie die Phrase von der Rückständigkeit, ja Jämmerlichkeit unsrer Schulen
zum Dogma erheben.
Aber mit der Verwerfung unsrer Leistungen allein ist es nicht getan. Jeder
Laie weiß, daß die höheren Schulen als Bildungsstätten für die leitenden Kreise
des Volkes eine sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen haben. Sind sie dieser Aufgabe
nicht gewachsen, so wird man nicht nur mit Geringschätzung auf sie blicken, sondern
mit Unwillen; man wird eine feindliche Stellung zu ihnen einnehmen. Daß diese
sich vielfach zum Hasse steigert, das hat wieder seine besondern Gründe, Um nur
einen zu nennen: unsre Gymnasial- und Realanstalten haben wertvolle Berechti-
gungen zu verleihen. Die wichtigste Absicht der Berechtigungen ist aber die,
daß nur die Leistungsfähigen zu den Staatsämtern gelangen. Je höher daher das
Amt, um so schwieriger die geforderte Leistung, Der reinen Verwirklichung dieser
Absicht steht nun ein bis jetzt unausrottbares Vorurteil des Publikums entgegen.
Nur wer den „Schein" hat, gilt in unserm Vaterlande für gebildet, und wer sich gar
bis zur Universität hinaufgearbeitet hat, der erfreut sich ganz besonderen An-
sehens. Und so zwingt der Ehrgeiz des Vaters auch den unbegabten Sohn zu
einer Schullaufbahn, der er nicht gewachsen ist. Durch muß er, er entehrt ja
sonst die Familie! Wie viel Tausende und Abertausende von Jünglingen sind schon
diesem wahnsinnigen Streben geopfert worden, den Lehrern, den Eltern und sich
selbst zur Qual ! Man hat natürlich meistens nicht den Mut, sich das eigene Unrecht
einzugestehen, sondern man eifert und geifert gegen die Schule mit ihrem welt-
fremden, zwecklosen Lernballast, man schilt auf die Lehrer — denn man trennt
ja nicht die Person von der Sache — mit ihren maßlosen Forderungen, ihrem quä-
lenden Drill und ihrer herzlosen Strenge. Hier hat der Haß gegen die Schule und
ihre Lehrer zuerst Wurzel geschlagen, aus diesem Boden schöpft er noch heute
die reichlichste Nahrung.
Wir wollen uns nun einmal fragen, was wir bis jetzt gegen diese Entwicklung
der öffentlichen Meinung getan haben. Offenbar nicht viel, wenigstens nicht viel
Die höheren Schulen und die öffentliche Meinung. 581
Wirksames, sonst müßten wir den Verlauf der Dinge doch in etwas zu unseren
Gunsten haben lenken können. Es ist wahr, Kämpfer wie der unersetzliche Friedrich
Paulsen, Wilhelm Münch, und Männer in einflußreicher Stellung, wie der verant-
wortliche Herausgeber dieser Monatschrift, haben allezeit mutig auf der Wehr ge-
standen, manchen Schlag pariert und treffende Gegenhiebe ausgeteilt. Wenn Not
an den Mann ging, sind sie auch von andern unterstützt worden. Aber für die
Dauer und gegen die große Schar der Feinde ist das Häuflein unentwegter Streiter
doch zu klein. Hätten wir wirklich keinen größeren Heerbann von Mitkämpfern
aufzutreiben? Ich glaube doch. Die Geister müssen nur zu diesem Kampfe auf-
gerufen werden. Wir haben uns bisher leider zu viel um andre Dinge gekümmert.
Wirtschaftliche Not hat uns bedrückt und uns zu einem dringenderen Kampfe auf
den Plan gerufen. Die Sorge um auskömmliches Gehalt, um Klärung und Besse-
rung der Pensionsverhältnisse und vor allem das Ringen um die längst versprochene
und doch jahrzehntelang vorenthaltene Gleichstellung mit den Richtern: das alles
hat viele Jahre hindurch unser ganzes Interesse und unsre Kraft in Anspruch
genommen. Gott sei Dank, sind wir in diesem Ringen siegreich gewesen und
können uns nun dem wichtigeren Kampfe zuwenden um die Anerkennung
unsrer Lebensarbeit.
Wie aber sollen wir diesen Kampf führen? Die Anweisungen, die ich als
Antwort auf diese Frage im folgenden zu geben habe, finden als unmaßgebliche
Vorschläge vielleicht einige Beachtung. Vielleicht aber auch regen sie andre zum
Suchen nach einer erfolgreicheren Taktik an. Betont habe ich schon die Not-
wendigkeit einer größeren Mitarbeiterschar. Unsre wackeren Vorkämpfer haben
bisher nur wenige Blätter und Zeitschriften von vornehmer Haltung zu Verbrei-
terinnen ihrer Gedanken machen können. Eine größere Zahl von Mitstreitern
könnte durch Heranziehung von andren Zeitungen schon rein räumlich unsrer
Verteidigung einen größeren Wirkungsbereich verschaffen. Sollten sich wirklich
zu wenige freiwillige Helfer auf diesem Gebiete finden — was ich aber nicht glauben
mag — so müßte die gesamte deutsche Oberlehrerschaft sich über die Schaffung
eines Presseausschusses einig werden, der wenigstens im Falle ungerechtfertigter
Anschuldigungen gegen die höheren Schulen und ihre Leser sofort für wirksame
Abwehr sorgte. Die Gründung eines solchen Ausschusses würde dem deutschen
Oberlehrertag zufallen.*)
Übrigens ist die Presse wohl heutzutage das wichtigste, nicht aber das einzige
Organ zur Ideenverbreitung. Vorträge in Vereinen oder ad hoc berufenen Ver-
sammlungen haben sich ebenfalls von jeher als wirksame Mittel zu diesem Zwecke
erwiesen. Freilich müßte — nach meinen Erfahrungen zu urteilen — alsdann in
manchen Fachvereinen eine gründliche Mauserung eintreten. Ich denke dabei
*) Soeben erfahre ich, daß man in Volksschullehrerkreisen denselben Gedanken
zu verwirklichen sucht. Im ,,Tag" wird am 2. Oktober berichtet, daß der deutsche
Lehrerverein eine aus Fachmännern bestehende pädagogische Zentralstelle schaffen
will, die unter anderem durch geeignete Aufsätze in der Presse „der heute leider
üblichen Art, an der Schule Kritik zu üben", entgegenarbeiten soll. Besonders die
kleinere Presse hält man für pädagogisch schlecht unterrichtet und durch Fartei-
standpunkte verwirrt. Auf sie soll sich die Aufklärungsarbeit vor allem erstrecken.
582 H. Weimer,
hauptsächlich an die Lokalvereine akademisch gebildeter Lehrer. Hier haben
in den letzten Jahren die wirtschaftlichen und Standesfragen fast alles Interesse
absorbiert. Was daneben an geistiger Nahrung geboten wurde, das erstreckte
sich meist auf Vorträge, die den wissenschaftlichen Sonderinteressen einzelner
Mitglieder ihren Ursprung verdankten. Fragen rein pädagogischer und besonders
erziehlicher Natur wurden nur selten angeschnitten. Daß das leicht anders werden
kann und unter dem Druck^der Verhältnisse auch anders werden wird, davon dürfen
wir wohl überzeugt sein. Von großer Bedeutung und segensreicher Wirkung können
auch die Elternabende sein, wenn sie unter geschickter, zielbewußter Leitung stehen.
Und wenn neuerdings in Berlin die Lehrer sich mit den älteren Schülern gelegent-
lich zu einem gemütlichen Unterhaltungsabend vereinigen, so wird auch das die
Geister eher zusammenführen als trennen. Aber auch vor der Einladung des
Publikums zu größeren Versammlungen, in denen Erziehungsfragen besprochen
werden, dürfen wir nicht zurückschrecken. Wenn ein Ludwig Gurlitt die deutschen
Städte bereist, um die öffentliche Meinung gegen die Schule mobil zu machen,
dann dürfen wir es an einer ähnlichen Gegenagitation nicht fehlen lassen.
Überhaupt, warum wartet man immer ab, bis man angegriffen wird? Die
Lage ist viel zu ernst, als daß man sich auf die bloße Verteidigung beschränken
dürfte. Wir sollten auch aus der Geschichte wissen, daß der Angreifende dem
Abwehrenden gegenüber meist im Vorteil ist. Der Hieb gilt noch immer mit
Recht als die beste Deckung. Also kehren wir einmal den Spieß um und
greifen selber an! Der Vorschlag klingt manchem vielleicht frivol. Man soll
keinen Streit vom Zaune brechen, wenn die Not nicht dazu zwingt. Die Not!
Das ist es eben; die ist vorhanden, und sie wird von Tag zu Tag größer.
Selbst ein so erfolgreicher Kämpe wie Friedrich Paulsen sah nur mit größter Be-
sorgnis auf die Zukunft unsers höheren Schulwesens. Ich besitze ein Zeugnis von
seiner eignen Hand, in dem er sich verzweifelt über die heutige „verworrene
Zeit" äußert.
Aber wen sollen wir denn angreifen? wird man weiter fragen. Nun die,
die ihrer erziehlichen Aufgabe sich heute am wenigsten bewußt sind, das Haus,
die Gesellschaft. Wir würden gewiß ein Unrecht begehen, wollten wir sie nur
anklagen, um eigne Schuld von uns abzuwälzen. Das sei ferne von uns! Aber
Haus und Umwelt sind so wichtige Erziehungsfaktoren, daß wir ohne ihre Mit-
arbeit nichts Ersprießliches leisten können. Wo sie versagen, da muß auch die Er-
ziehungsarbeit der Schule versagen. Leider entbehren wir ihrer Unterstützung
nur allzu sehr; häufig sogar arbeiten sie mit Bewußtsein heimlich und offen unsern
Absichten entgegen. Die Mängel der Hauserziehung drängen sich uns allen ja
tagtäglich mit erschreckender Deutlichkeit auf. Es ist daher nicht nötig, an dieser
Stelle sie einzeln aufzuzählen. Und wer mit offenen Augen durch die Straßen
unsrer Städte geht, die Auslagen der Buchhändler und Ansichtskartenverkäufer
durchmustert, einen Blick in die Kinematographen und Biophontheater mit ihren
verlockenden Reklamebildern wirft, wer die Kirchweihen, Jahrmärkte und andre
Volksfeste mit ihren „zeitgemäßen" Darbietungen beobachtet (vom gesellschaft-
lichen Nachtleben in den Großstädten ganz zu schweigen), wer sich am Montag
Morgen die schlaftrunkenen Gesichter seiner Zöglinge ansieht und die Knaben
Die höheren Schulen und die öffentliche Meinung. 583
nach ihrem Tun und Treiben am Vorabend fragt: dem tut sich eine schier un-
erschöpfliche Fundgrube von Zeit- und Gesellschaftssünden auf, unter denen die
Jugend zu leiden hat. Gegen sie müssen wir ankämpfen in Wort und Schrift,
in der Öffentlichkeit und in Privatkreisen, den Schülern wie den Eltern gegen-
über. Zu solchem Kampfe kann jeder sein Teil beitragen. Nur sei das eine nicht
vergessen: man warte nicht, wie es bisher meist geschah, erst ab, bis die andern
uns anklagen, sonst macht der Gegenangriff leicht den Eindruck der Ausflucht
und verliert dadurch seine Wirkung. Freilich zu gehässigen oder gar persönlichen
Angriffen darf dieser Kampf in keinem Falle führen; sonst bringt man sich von
vornherein um die beabsichtigte Wirkung. Aber wir haben zwei mächtige Waffen
in diesem Kampfe: Tatsachen und Belehrung. Mit ihrer Hilfe können wir
Haus und Gesellschaft auf die eigenen Fehler und die eigenen Pflichten auf-
merksam machen; mit ihrer Hilfe dürfen wir hoffen sie wieder zur Selbst-
besinnung zu bringen.
Und doch soll dies die einzige und letzte Kampfesart noch nicht sein. Wir
wollen nicht die Rolle des selbstgerechten Pharisäers spielen, die die Schar der
Gegner bisher so gerne gespielt hat. Diese Rolle würde zu den schwersten Schäden,
sie würde zum Stillstand und zur Versumpfung führen. Wir wollen und müssen
vor allen Dingen Selbstkritik üben. Das heißt aber, richtig verstanden, nicht
Kritik an der Gesamtleistung unsres Standes — die ist gar zu schwer und niemals
ganz richtig abzuschätzen, wohl aber Kritik des einzelnen an sich und seiner Arbeit.
Und auch bei ihm darf die Frage nicht nur lauten: Was leistest du? Was lernen
die Schüler bei dir? Man kann ein Meister der Lehrkunst sein und doch eine ewige
Qual und Marter für die Schüler. Es frage sich vielmehr ein jeder: Wie stehst
du zu deinen Schülern? Was sind sie dir bisher gewesen? Was kannst du ihnen
sein? Diese allerpersönlichste Fra^e bildet nach meiner Überzeugung die Kern-
frage der praktischen Pädagogik. Es hat zu allen Zeiten Klagen über Schülernot
und Schulelend gegeben, und sie werden auch in Zukunft nie ganz verstummen;
aber es hat auch nie an Lehrern gefehlt, die den Schülern den Aufenthalt in der
engen Schulstube doch erträglich zu machen, die sie mit einer unzerreißbaren
Kette an sich zu fesseln wußten. Diese Kette war die Liebe zur Jugend. Sie ist
kein Geschenk, das jedem ungewollt in den Schoß fällt, man muß ringen um sie
als um einen kostbaren, unersetzlichen Schatz. In unsrer Zeit ist dieses Kleinod
vielleicht doppelt schwer zu gewinnen, aber auch doppelt vonnöten. Denn wir
leben in einer Zeit, wo die amtliche Autorität des Lehrers ihm nicht mehr allein
weiterhilft; in einer Zeit, wo der M e n sc h im Schüler mehr zur Geltung kommen
will. Da muß man die Quellen der Macht und des erziehlichen Einflusses vor allem
in sich selber suchen. Wenn der jetzige Schulstreit recht viele von uns zu solcher
Einkehr veranlaßte, dann würde er letzten Endes doch ein Segen sein.
Wiesbaden. Hermann Weimer.
5 84 J. Ziehen,
Zur Beurteilung des Gymnasiums nacli Frankfurter Lelirplan,
zugleich ein Gedenkblatt für Waldemar Gillhausen.
Gewiß ist zurzeit noch nicht der Augenblick gekommen, wo über Entstehung
und Weiterentwicklung des Frankfurter Lehrplans die aktenmäßigen und aus der
Privatkorrespondenz der Beteiligten stammenden Quellen sowie die umfangreiche
Literatur der Flugschriften und Zeitungsartikel im Zusammenhang veröffentlicht
werden können; für diese Aufgabe, die der Zukunft zufällt, kann jetzt nur insofern
vorgearbeitet werden, als allen, die dazu in der Lage sind, die Sammlung und
Aufbewahrung des einschlägigen Materials dringend ans Herz gelegt und vielleicht
auch die Schaffung einer Zentralstelle in die Wege geleitet wird, an der ein Archiv
für die Geschichte des Reinhärdtschen Versuches seine Stelle finden kann; es ist
wohl Sache der deutschen Gesellschaft für Erziehungs- und Schulgeschichte, in
dieser Beziehung das Nötige zu tun und damit an einem sehr interessanten Bei-
spiel zu zeigen, wie sich die Sorge für schulgeschichtliche Forschung dem Leben
der Gegenwart gegenüber zu verhalten hat.
Das privatbriefliche Aktenstück, das ich auf Anregung des hochverehrten
verantwortlichen Herausgebers dieser Zeitschrift und mit Genehmigung des
Briefempfängers im folgenden als Beitrag zu einer solchen Sammlung von Quellen-
material über den Frankfurter Lehrplan veröffentliche, stammt aus einem Briefe,
den Professor Waldemar Gillhausen im Frühjahr 1900, also in den Zeiten der hef-
tigen Erregung vor der Berliner Schulkonferenz, an einen der hervorragendsten
Gegner des neuen Lehrplans gerichtet hat; sein besondererWert beruht auf der
Persönlichkeit des Verfassers, die bei dem bedauerlichen Mangel eines biogra-
phischen Jahrbuches hervorragender Schulmänner leider eine ausführliche Dar-
stellung noch nicht gefunden hat; um so mehr ist es mir ein Bedürfnis, über den
dankbar verehrten einstigen Lehrer und späteren Kollegen und Freund hier noch
einige Worte hinzuzufügen. (Vgl. auch Programm des Frankfurter Goethegym-
nasiums Ostern 1903 und Festschrift des Kgl. Wilhelmsgymnasiums in Berlin
V. J. 1908, S. 50 f.)
Waldemar Gillhausen war ein Mann eigner Kraft von geradezu vorbildlicher
Art; am 31. Dezember 1847 zu Elfringhausen im Kreise Bochum geboren, studierte
er nach Absolvierung des Duisburger Gymnasiums von 1865 bis 1868 in Göttingen
und Greifswald klassische Philologie und Geschichte und bereitete sich während
einer zweijährigen Hauslehrertätigkeit auf das Examen pro facultate vor, nach
dessen Ablegung er kurze Zeit am Gymnasium zu Friedland in Mecklenburg-Strelitz
eine Vertretung innehatte. Der Krieg rief ihn zu den Waffen, und als Offizier
der Reserve kehrte Gillhausen aus Frankreich heim, wo er u. a. an der Belagerung
von Paris teilgenommen hatte. Einer einjährigen Tätigkeit als Probandus und
Hilfslehrer am Joachimsthalschen Gymnasium folgte Herbst 1872 der Ruf als
ordentlicher Lehrer an das Kgl. Wilhelmsgymnasium, Ostern 1876 die Berufung
an das Frankfurter Gymnasium. Im Lehrerkollegium dieser Anstalt nahm Gill-
hausen von Anfang an eine hervorragende Stellung ein und hat unter anderm
für die Einführung der Perthesschen Gedanken und die gesamte Gestaltung des
Zur Beurteilung des Gymnasiums nach Frankfurter Lehrplan. 585
Lehrplans der alten Sprachen in Frankfurt Entscheidendes geleistet. Im Jahre
1897 mit an das Goethegymnasium übergetreten, hat er der Anstalt bis kurz
vor seinem Tode (2. Juli 1902) trotz immer wiederholter schwerer gesundheitlicher
Heimsuchung mit bewundernswerter Kraft und schier einzig dastehenden Unter-
richts- und Erziehungserfolgen gedient — ein Mann von hinreißender Begeisterung
für den Lehrberuf und von einer Intensität der Einwirkung auf die Schüler, wie
sie nur einer genialen Erziehernatur möglich ist. Der höchsten Festigkeit im
Hinblick auf die Ziele des humanistischen Unterrichts und ihre Erreichung
trat bei Gillhausen eine Wärme der Empfindung zur Seite, die nur auf dem
Boden edler Vornehmheit des Herzens und schönster Reinheit der Gesinnung
gedeihen kann. Er galt mit Recht als streng; aber klarste Gerechtigkeit
und teilnehmendstes Wohlwollen nahmen dieser Strenge auch für die Auffassung
der Jugend völlig ihren Stachel. Und auf alle, die ihm näher traten, war es von
mächtiger erzieherischer Bedeutung zu sehen, wie dieser von Krankheit und Leiden
innerlich bis zuletzt ungebeugte Mann mit der Bescheidenheit wahrer Größe immer
und immer weiterarbeitete an der Bildung seiner Persönlichkeit und an der Ge-
winnung neuer innerer und äußerer Mittel zur Durchführung seines Lehrberufs.
Mir ist kaum ein Zweiter bekannt, in dem der Geist der Altertumswissenschaft
so zur treibenden Kraft, das humanistische Prinzip so lebendig geworden wäre
wie in Professor Gillhausen; feinste Urbanität durchzog sein Wesen und beherrschte
sein Heim, dem auch in den trübsten Zeiten des Siechtums die Sonne häuslichen
Glücks und vom Glauben an Ideale durchwärmter Lebensauffassung erstrahlte.
Wohl wäre es ein großer Gewinn für sehr Viele, wenn das Wesen und Können
eines Schulmannes wie Gillhausen nicht nur durch persönliche Einwirkung, sondern
auch durch schriftstellerische Tätigkeit in reichstem Maße zur Geltung gekommen
wäre. Eine solche Tätigkeit hat Gillhausen zwar insofern entfaltet, als er die
Perthesschen Lehrbücher mit größter Sorgfalt und Sachkenntnis wiederholt neu
bearbeitet und in seine Lateinische Schulgrammatik gar manche Frucht seiner
Unterrichtserfahrung und Lehrkunst hineingearbeitet hat; aber wie vieles hätte
er sonst noch geben können! Die Übersetzungen der Schulautoren, die er, un-
ermüdlich feilend und vom wissenschaftlichen Standpunkte aus nachprüfend
und verbessernd, seiner Tätigkeit in der Schule mit zugrunde legte, den köstlichen
Reichtum an Erfahrungen seiner von aller starren Systematik und Methoden-
hascherei freien, von genialer Naturanlage getragenen Unterrichtskunst und die
Fülle seiner Gedanken über den wissenschaftlichen Lehrerberuf, für dessen Kämpfe
um richtige ideelle und materielle Wertung er volles Verständnis hatte, dessen
inneren Wert aber hochzuhalten und immer mehr auszubilden gleichsam ein Lebens-
prinzip seines, von allem pädagogischen Banausentum in tiefster Seele angewiderten
Wesens bildete. Waldemar Gillhausen ist nicht dazu gekommen, hatte auch bei
der Höhe der Anforderungen, die er wie an andere so erst recht an sich selber stellte,
kaum das Verlangen, all diese Gaben durch Veröffentlichung einem weiteren Kreise
zu spenden. Und so müssen denn die, auf die er mächtig eingewirkt hat, seine
Schüler wie seine Arbeitsgenossen und Freunde, suchen festzuhalten, was fest-
zuhalten ist von dem Bilde und von den Äußerungen eines Mannes, der ohne Zweifel
unter den bedeutenden Schulmännern unsrer Tage einer der besten war.
586 J. Ziehen,
Wir lassen nunmehr, mit geringen Auslassungen, den Text des oben erwähnten
Briefes folgen, der nebenbei wohl geeignet ist, von Gillhausens ruhig klarer Art
eine wohltuende Vorstellung zu geben.
Professor W. Gillhausen an
Frankfurt a. M., d. 14. Febr. 1900.
Ihre Bemerkungen über Reinhardts Re-
formversuch nötigen mich, darauf einzugehen und wenn auch in aller Kürze meinen
Standpunkt zur Sache klar zu legen Reinhardt drückt sich etwas euphe-
mistisch aus, wenn er in der Bremer Versammlung (vgl. das Humanist. Gymnas.
1899 III-IV, Seite 146) sagt: „Als der Versuch an unserer Anstalt unternommen
wurde, waren fast alle meine altsprachlichen Kollegen gegen diesen neuen Lehr-
plan". Nicht bloß alle altsprachlichen Kollegen, sondern auch die Neusprachler
waren dagegen Nun war es interessant zu beobachten, wie
die einzelnen Kollegen allmählich für die höchst anziehende Aufgabe, in den ein-
zelnen Unterrichtsgebieten den angemessensten Lehrgang zu finden, sich erwärmten
und unter dem bestrickenden Einfluß Reinhardts sich für die Sache selbst be-
geisterten. Ich selbst, der ich mein ganzes Leben diesen Fragen gewidmet, konnte
mich dieser Stimmung nicht entziehen, im Gegenteil, ich fand nun Gelegenheit,
vielen meiner Anschauungen eine breitere Grundlage und eine ausgedehntere
Wirkung zu geben. Die Vervollkommnung des Unterrichts, die Verfeinerung und
Vergeistigung desselben, die früher der einzelne für sich angestrebt hatte, konnte
nun zur Grundlage des ganzen Systems gemacht, von vornherein als Forderung
aufgestellt werden. Für mich persönlich besteht in dieser gründlichen Revision
und Vertiefung des Unterrichts der Hauptfortschritt und Vorzug der ganzen Reform,
von der ich nichts sehnlicher wünsche, als daß sie für die Gesamtheit der huma-
nistischen Gymnasien festgehalten und fruchtbar gemacht werden könnte. Be-
schreiben läßt sich das in der Kürze nicht, das muß man sehen, erleben, beobachten.
Die Art, wie in den drei unteren Klassen das Französische betrieben wird, lockert
und fördert, gestützt durch verstärkten und geschickt ausgekauften Unterricht
in der Muttersprache, das allgemeine Verständnis und das Sprachgefühl insbe-
sondere in einer Weise, daß nun in der Untertertia das Lateinische weder in For-
menlehre noch in Syntax irgend welche Schwierigkeiten bietet, daß man nun end-
lich mit der uralten Forderung, den mechanischen Unterricht auf das denk-
bar geringste Maß zu beschränken, Ernst machen kann. Das schließt natürlich
die Gefahr in sich, daß nunmehr die Sicherheit in der Beherrschung des sprach-
lichen Materials leicht vernachlässigt wird, eine Gefahr, die aber bei gewissenhafter
Amtsführung mit ihrer Erkenntnis eigentlich schon beseitigt ist. Und so sind
denn die Leistungen im Lateinischen bis jetzt unanfechtbar, selbst die Übersetzungen
ins Lateinische stehen in der Reformprima denen alten Stils nicht nach, sind ihnen
eher noch überlegen. Ich selbst konnte das als Leiter der alten absterbenden
Klassen genau verfolgen. Unterstützt werde ich in meinem Bestreben, den Reform-
unterricht genau kennen zu lernen, — von vornherein stand ich dem Gesamtplan
sehr kühl und skeptisch gegenüber, und daran hat sich bis heute nichts geändert
Zur Beurteilung des Gymnasiums nach Frankfurter Lehrplan. 587
— durch den glücklichen Umstand, daß meine Pensionäre in den letzten Jahren
sämtlich der Reform angehören, so daß ich drei verschiedene Generationen
von unten an habe hinauf begleiten können. Zur Ergänzung und Korrektur
meiner häuslichen Beobachtungen habe ich dann meine . . , Stellung an der Anstalt
dazu benutzt, fleißig zu hospitieren. Ich habe mich da nun dem Eindruck nicht
verschließen können, daß der geistige Standpunkt der Schüler am Goethe-Gym-
nasium — und nur von diesem rede ich, von dem, was ich dort selbst erlebt — im
ganzen höher ist, daß sie gewandter und reifer sind als unsre früheren Schüler.
Das zeigt sich wie in der Verarbeitung der Lektüre der alten Klassiker so auch
in den deutschen und Geschichtsstunden. Ganz besonders aber muß ich hervor-
heben die überraschende geistige Frische, Regsamkeit und Aufnahmefähigkeit,
wie auch die stark ausgebildete Selbsttätigkeit der Schüler auf allen Stufen. Ich
habe mich gegen diese Erkenntnis*) naturgemäß gesträubt, mich ihr aber nicht
verschließen können. Es blieb für mich als großes Fragezeichen nur noch das
Griechische übrig, da ich mir nicht denken konnte, wie man in vier Jahren ein
einigermaßen erträgliches Resultat erzielen wolle. Aber auch da ist das bisherige
Ergebnis ein überraschend gutes; alles Sträuben dagegen nützt nichts, es ist so.
Die Formenlehre wird in 114 bis IV, Jahren gut bewältigt, die Syntax durch scharfe
Übungen im Hinübersetzen befestigt und durch Fortsetzungen dieser Übungen bis
in die Oberprima hinein dauernd festgehalten, die Lektüre selbst des Plato macht
in Unterprima keine Schwierigkeiten, worüber Ihnen Herr Professor Diels, der gerade
diesen Teil des Unterrichts mit besonderem Interesse verfolgt hat, wohl genaue Aus-
kunft geben kann. So sind denn meine Zweifel und Bedenken in bezug auf die Mög-
lichkeit der Durchführung der neuen Form allmählich alle beseitigt worden, wenig-
stens bei den Verhältnissen, wie wir sie hier haben. Begünstigt oder überhaupt
erst möglich wurde die glückliche Durchführung bei uns durch den Umstand, daß
unser Lehrerkollegium seit vielen Jahren durch die Durchführung der Perthesschen
Grundsätze ganz vortrefflich für diese Methode vorbereitet war, ferner dadurch,
daß aus dem verhältnismäßig jungen Kollegium des alten großen städtischen
Gymnasiums die gerade für die Reform passendsten Kräfte ausgesucht werden
konnten. Diese vortrefflichen Kräfte entwickelten nun, vor eine neue, ebenso
interessante wie schwierige Aufgabe gestellt, natürlich einen außerordentlichen
Eifer und zwar nicht bloß in der Einzelarbeit, sondern erst recht in der Zusammen-
arbeit, gegenseitigen Mitteilung, Förderung; eine Gemeinsamkeit, wie sie so wahr-
scheinlich nur bei der Bewältigung einer neuen großen Aufgabe sich herausbilden
kann. Denn da macht sich der Gedankenaustausch über alle Einzelheiten des
Unterrichts auf den verschiedenen Stufen ganz von selbst, der wenigstens nach
meinen Erfahrungen bei Kollegen so schwer zu erzielen ist. In dieser bewußten
Zusammenarbeit, die natürlich durch die Angriffe und scharfen Beurteilungen
von Seiten der Vertreter des alten Gymnasiums nur befördert wird, in dieser Durch-
führung eines großen Prinzips, das doch dem einzelnen Freiheit genug läßt, sehe
ich die Grundbedingung des erzielten Erfolges. Dazu kommt dann noch die geringe
♦) Der vorhergehende Satz ist nachträglich eingeschoben. „Diese Erkenntnis" be-
zieht sich auf „gewandter und reifer sind" usw.
588 P. Cauer,
Schülerzahl, zirka 25 von Untertertia aufwärts, die eine unablässige Heranziehung
auch der Schlechten ermöglicht.
So übertreffen denn die Resultate, die ich hier sehe, alle meine Erwartungen;
sie sind auch keine Scheinerfolge, sondern redlich, allerdings in schnellem Schritt,
erarbeitet. Ob aber eine große Verallgemeinerung des Systems möglich und daher
ratsam ist, wage ich nicht zu entscheiden; dabei sprechen zu viele Faktoren mit,
vor allem, wie mir scheint, das Vorhandensein geeigneter Lehrkräfte. Denn es
wird dabei bei dem Lehrer mehr als ein Durchschnittsmaß des Könnens wie des
Wollens vorausgesetzt. Aber auch die finanzielle Seite — geringe Schülerzahl,
durchaus notwendige Entlastung der Lehrer — möchte Schwierigkeiten bereiten.
So ließe sich noch manches anführen. Überhaupt aber läßt sich eine richtige
Gesamtwürdigung der durch die neue Form erzielten geistigen Bildung heute noch
nicht recht gewinnen. Dazu gehören Erfahrungen der Universität und des späteren
Lebens. Und diese sind nur schwer — in reiner Form, die Ursache und Wirkung
klar erkennen läßt, wohl überhaupt nicht — zu erlangen.
Ich glaubte Ihnen, hochverehrter Herr , diese Darlegung meiner
Stellung zur Reform schuldig zu sein, und wenn sie etwas länger ausgefallen ist,
als ich beabsichtigte, so werden Sie das gewiß gern mit der Wichtigkeit des Themas
entschuldigen.
Frankfurt a. M. J u 1 i u s Z i e h e n.
Wie studiert man Philologie?
(Ein kritischer Versuch.)
Wilhelm Freunds „Hodegetik für Jünger der Philologie", 1872 zuerst er-
schienen, war in einer Reihe von Auflagen fast unverändert geblieben und da-
durch so veraltet*), daß der Verleger sich entschlossen hat, sie durch ein ganz
neues Buch zu ersetzen, welches jetzt, von Otto Immisch ausgearbeitet, als einer
von „Violets Studienführern" vorliegt**). Nicht lange vorher war dasselbe Thema
in knapperer Fassung von zwei Seiten bearbeitet worden: von Wilhelm Kroll (da-
mals in Greifswald, jetzt in Münster), zuerst 1905, und von Hanns Zwicker***).
Der Aufforderung des Herrn Herausgebers der Monatschrift, das Buch von Immisch
hier anzuzeigen, glaube ich am besten so nachzukommen, daß ich die beiden klei-
neren Schriften mit heranziehe, um im Anschluß an das Gebotene so viel wie mög-
*) Vgl. meine Anzeige der sechsten Auflage in dieser Monatschrift IV (1905), S.269f.
**) Otto Immisch, Wie studiert man klassische Philologie? Ein Überblick über Ent-
wicklung, Wesen und Ziel der Altertumswissenschaft, nebst Ratschlägen zur zweckmäßigen
Anordnung des Studiengangs. Stuttgart 1909. Wilh. Violet. IV u. 192 S. 2,50 M.
***) Wilh. Kroll, Das Studium der klassischen Philologie. Ratschläge für angehende
Philologen. Zweite vermehrte Auflage. Greifswald 1906. Julius Abel. 24 S. 0,50 M. —
Dr. H. Zwicker, Wie studiert man klassische Philologie? Leipzig 1908. Arthur Roßberg.
74 S. 1,50 M.
Wie studiert man Philologie? 589
lieh diejenigen Gedanken ins Licht zu stellen, die zur Anleitung für Studenten
unsres Faches mir selbst als die wichtigsten erscheinen.
Die zweckmäßige Anlage des alten Freundschen Buches hätte Immisch getrost
beibehalten können, wenn er doch die aufs Praktische gerichtete Fragestellung —
Wie studiert man klassische Philologie? — beibehielt. Aber eben dies ist nur
scheinbar, im Titel, geschehen. Den größten Teil des Raumes nehmen theoretische
Erörterungen ein; „praktische Winke, den Gang und die Einrichtung des Studiums
betreffend," sind in ein Schlußkapitel von 12 Seiten zusammengedrängt. Zer-
streut finden sie sich natürlich auch in den früheren Partien, aber zu sehr versteckt.
Dies gilt namentlich mit bezug auf die Wahl der Lektüre. Gelegentlich werden
Bücher genannt, die der Student lesen solle oder die ein Philologe gelesen haben
müsse, auch wohl ein solches, das sich zur Dedikation an einen Kommilitonen
eigne (S. 156). Aber ein geordnetes Verzeichnis, wie es Freund unter der Über-
schrift: „Die Bibliothek des Philologie-Studierenden" geboten hatte, fehlt. Und
doch wäre dies eine der wertvollsten Hilfen, die ein gedruckter Ratgeber dem
Anfänger leisten könnte: durchdachte Zusammenstellung der fürs Ganze wie für
die einzelnen Disziplinen wichtigsten Bücher und Abhandlungen, vor allem solcher,
die nicht in großen Sammelwerken von selbst sich darbieten. Zwicker hat in dieser
Richtung wenigstens einen Versuch gemacht, der freilich, sei es durch Willkür
oder durch Zufall, in der Auswahl etwas ungleichmäßig geraten ist. Immisch
empfiehlt für das Sprachstudium eine Reihe bekannter Handbücher: Hirt, Sommer,
Kühner-Blaß, Kühner-Gerth, Landgraf u. a. (S. 159, 161). Die könnte einer zur
Not auch ohne Hilfe finden, und sie sind alle mehr zum Nachschlagen als zum
Lesen geeignet. Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte" stehen weniger nah
am Wege und sind so recht ein Buch zum Durchstudieren; Immisch erwähnt es
nicht, während sich in dem kurzen Abriß von Kroll Platz gefunden hat, mit Nach-
druck darauf hinzuweisen*). Manches andre, wie Georg von der Gabelentz,
„Die Sprachwissenschaft, ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse"
(zuerst 1891), oder die einst zwischen Georg Curtius und den Junggrammatikern
(1885), neuerdings zwischen Wundt und Delbrück (1901) gewechselten Streit-
schriften, ließe sich noch hinzufügen. Bei der Metrik gedenkt Immisch zwar der
durch Wilamowitz hervorgerufenen Umwälzung, gibt aber dem Belehrung Su-
chenden wieder nur zwei Titel von Lehrbüchern (Masqueray und Christ). Daß
er Otto Schroeders „Vorarbeiten zur griechischen Versgeschichte" (1908) dem
Studenten nicht zumutet, wird man billigen; sie enthalten wohl im Grunde ge-
borgen manches edle Metall, /aXeiu^v 8e t 6puoosiv av5paoi ^e OvtjtoToi. Da-
gegen sind Wilamowitz' metrische Einzelschriften**) zwar auch keine Unterhaltungs-
lektüre, doch für den verständlich, der ernsten Willen mitbringt sich einzuarbeiten.
Wer dergleichen in dem Augenblick, wo er sich — vielleicht in den Ferien — der
*)Auch z. B. in der „Anleitung zum Studium der französischen Philologie" von Eduard
Koschwitz (2. Aufl. Marburg 1900, S. 93) einem Buche, das freilich bei der Masse seiner
Literaturangaben die nützliche Wirkung der einzelnen kaum recht aufkommen läßt.
**) Commentariola metrica. 1. 1 1. Göttinger Lekt.-Kat. 1895. — Des Mädchens Klage.
Eine alexandrinische Arie. Göttinger Nachr. 1896. — Choriambische Dimeter. Berliner
Berichte 1902.
590 P. Cauer,
Metrik zuwenden will, nicht sofort von einer Bibliothek erlangen kann, mag mit
der Erklärung der Chorpartien in den von Ewald Bruhn herausgegebenen Tra-
gödien (Bakchen und Iphigenie auf Tauris, Antigone und König Ödipus) den An-
fang machen. Überall handelt es sich da um Auffassung und Würdigung be-
stimmter, an sich interessanter Gedichte; Untersuchungen darüber bieten dem,
der in die Wissenschaft eindringen möchte, einen besseren Anhalt als die syste-
matische Darstellung in einem Handbuch. Für genauere Nachweisungen dieser
Art würde, wie in der Metrik so in andren Disziplinen, der Student dem Verfasser
einer Hodegetik sehr dankbar sein.
Auch mit allgemeinen Richtlinien kann man ihm nützen. „Der Herr Kandidat
merke sich eins: daß ein Buch studieren besser ist, als in Journalen blättern" —
so schreibt Oskar Jäger in seinem Pädagogischen Testament. Gilt das gleiche
für den Studierenden? Das läßt sich so einfach nicht beantworten. Das Leben
der Wissenschaft pulsiert zum guten Teil in den Spezialforschungen, die in perio-
dischen Publikationen niedergelegt werden; wer von diesem Leben berührt werden
will, darf hier nicht fern bleiben. Unmöglich aber, was Zwicker (S. 43) zu meinen
scheint und wovor Immisch (S. 136) wenigstens nicht warnt, daß jemand ver-
suchen sollte, alle wichtigeren Zeitschriften mit stetiger Kenntnisnahme zu be-
gleiten. Das mag dem Professor vorbehalten bleiben, bei dem das Mannigfaltige,
was dort geboten wird, schon eine Voraussetzung findet; der Student sollte sich
zur Regel machen, an einzelnen Aufsätzen und Abhandlungen immer nur das
zu lesen, was für ihn einen Zusammenhang hat. Wenn ihn Kolleg oder Lektüre
auf eine Frage führen, die ihn lockt, so mag er ihr mit Gründlichkeit nachgehen,.
vor allem sich bemühen, die Behandlung desselben Gegenstandes bei verschiedenen
Gelehrten kennen zu lernen, Streitfragen mit zu erleben. Im ganzen aber sind
auch für ihn Bücher mehr zu empfehlen als Aufsätze, eben weil sie den Zusammen-
hang von sich aus geben, der eins ans andre knüpft. Nur sei das nicht der Zu-
sammenhang der Einordnung in ein System, sondern der des Fortschrittes leben-
diger Gedanken. Mit andren Worten: der Anfänger lese nicht Handbücher, in
denen ein Wissen dargestellt ist, sondern Monographien, in denen es gewonnen
wird; nicht Christs Literaturgeschichte, sondern Rohdes Griechischen Roman,
nicht Prellers Mythologie, sondern Useners Götternamen und Sintflutsagen. Ein
gutes Wort in diesem Sinne wird bei Immisch vermißt; ja, indem er wiederholt
(z. B. S. 136, 167, 177) die Notwendigkeit allseitiger Orientierung betont, leistet
er, ohne es zu wollen (vgl. S. 175), der schülerhaften Meinung Vorschub, man könne
aus übersichtlichen Gesamtdarstellungen das Wesentliche sich aneignen. Hand-
bücher sind ja gut zum Nachschlagen, zum Nachlesen bei augenblicklichem Bedarf;
als eigentliche Lektüre genossen sind sie langweilig und machen oberflächlich..
Bei der letzten Vorbereitung auf ein Examen mögen sie immerhin ihre Dienste
tun; doch je weniger diese in Anspruch genommen zu werden brauchen, desto
vernünftiger war das Studium, desto besser wird das Ergebnis sein.
Mit der Feder in der Hand zu lesen, ist eine gute alte Regel. Vielleicht nochr
besser: mit dem Bleistift, zu vorläufigem Notieren der Stellen, die merkenswert
erscheinen. Überblickt man sie nachher im ganzen, so treten einige hervor, andre
zurück. Beziehungen werden deutlich, mit deren Hilfe die Wortfassung für den
Wie studiert man Philologie? 59t
Auszug treffender gelingt; was man wörtlich auszuheben und aufzuheben wünschte,
läßt sich schärfer begrenzen und knapper. Denn dies ist nun auch wichtig: daß
man nicht allzu viel aufschreibt, nicht, wie es wohl ein Eifriger anfängt, um nach-
her in der Arbeit zu ersticken, vollständige Inhaltsangaben wissenschaftlicher Werke.
Von einer schwer zugänglichen Abhandlung, deren man glücklich einmal habhaft
geworden ist, mag zu erneutem Gebrauch der ganze Gedankengang fixiert werden.
Im übrigen gelte der Grundsatz, nur das festzuhalten, was dem Leser persönlich
besonders interessant ist, d. h. was den Fragen, mit denen er gerade jetzt an die
Lektüre heranging, am entschiedensten entspricht oder zu neuen Fragen den fühl-
barsten Stachel enthält. Exzerpieren ist eine Kunst, für deren Ausübung der
Student in einer Hodegetik einigen Rat finden müßte, zu der übrigens auch in
den oberen Klassen der Schule schon angeleitet werden kann, eines der natür-
lichsten Mittel, um auf die freiere Arbeitsweise der Hochschule vorzubereiten.
Was vom Lesen gelehrter Schriften gesagt ist, gilt ebenso von dem wichti-
geren der alten Autoren selbst: auch hier Sammlungen anlegen, nicht nach über-
nommenem Schema, sondern nach persönlichem Interesse; und, damit solches
rege bleibe, immer das vornehmen, was eine Anknüpfung hat und eine Folge haben
kann ! Es müßte seltsam zugehen, wenn nicht diese oder jene Vorlesung schon des
ersten Semesters manchen Gesichtspunkt ergäbe: ein Kulturverhältnis, einen histo-
rischen Hintergrund, eine literarische Beziehung, ein Gedankenelement, worauf
überall zu achten wäre, auch wohl eine sprachliche oder stilistische Erscheinung,,
die zu verfolgen sich lohnt. Und wo solcher Trieb noch nicht geweckt ist, da kann
ein Interpretationskolleg, das gerade gehört wird, wenigstens einen äußeren Anhalt
geben. Wird eine Tragödie oder Komödie erklärt, so lese der Student in diesem
Semester nebst nachfolgenden Ferien entweder alle von demselben Dichter —
wie bei Aischylos, Sophokles, Terenz — oder doch eine größere Zahl; sind es Proben
aus einem Historiker, so ist das der beste Anlaß, ihn ganz zu lesen. Immisch emp-
fiehlt, daß sich Freunde zu gemeinsamer Arbeit zusammentun (S. 185); gewiß
praktisch. Aber auf den Gedanken kommen auch Neulinge leicht von selbst;
sind sie doch alle einmal in Prima gewesen. Nötiger wäre in einem gedruckten
Ratgeber die Empfehlung nicht allzu vieler, doch mit Bedacht ausgewählter Kom-
mentare, nicht ohne Angabe des Preises. Eine sehr gute, im Grunde ja selbst-
verständliche, doch keineswegs immer von selbst verstandene Regel gibt Kroll
(S. 12): zur Vorbereitung auf eine genauere Interpretation die Schrift oder den
Abschnitt, der den Gegenstand bildet, schnell im ganzen durchzulesen. Das gilt
nicht nur im Hinblick auf die mündliche Interpretation eines Professors, sondern
auch da, wo man einen gedruckten Kommentar privatim sich vornimmt. Viele
Einzelzüge sind nur im Gedanken an das Ganze zu verstehen, andre gewinnen
doch so erst ein rechtes Leben; und aus den so besser gewürdigten Teilen bildet
sich nachher wieder eine vollere Anschauung des Ganzen. Auch dies ein Ver-
fahren, das schon auf der Schule, wenigstens für deutsche Dichtwerke, geübt werden
kann und soll, und in dem das Grundgesetz alles philologischen Erkennens wirk-
sam wird. Immisch erörtert dieses Gesetz (S. 128, 144), aber ohne entschiedenen
Ansporn zu täglicher Befolgung und ohne Bücheier zu nennen, der doch wohl als
erster (in seiner Rektoratsrede, Bonn 1878) dieses Verhältnis scharf gefaßt hat.
592 P. Cauer,
Daß es, wie für den einzelnen Leser und Denker, so im großen für das Fort-
schreiten der Wissenschaft gilt, ist gewiß richtig; ja, diese Betrachtung verleiht
einer Geschichte der Philologie ihr eigentliches Interesse. Solches aber im Rahmen
einer Hodegetik zu befriedigen, ist wohl unmöglich. Was hier an Geschichte unsrer
Wissenschaft geboten wird, muß praktisch gerichtet sein. Es gibt eine Menge
gelehrter Werke aus älterer und alter Zeit, die sozusagen zum Handwerkszeug des
Philologen gehören; deren genaue Bezeichnung und zeitliche Einordnung, die der
Anfänger oft sucht, bringt man besser in einem knappen Verzeichnis als in einer
Vorlesung. Immischs „Überblick über die Geschichte der Philologie" (Kap. II),
mehr als die Hälfte des ganzen Buches umfassend, macht den Eindruck eines ge-
druckten Kollegheftes. Darin finden sich ja auch jene Angaben, zum Teil — wie
für Photius, Stephanus, Scaliger, Bentley — in brauchbarer Ausführung, zum Teil
jedoch dürftig und unzureichend; so für Aristarch, Varro, Suidas. Festus ist über-
haupt nicht genannt; von Lambin heißt es: „f 1573; seine Art hält etwa die Mitte
zwischen Vettori und Muret." Was hat er geschrieben? fragt der Student. Ihm
hat der Verfasser in diesem und dem folgenden Kapitel („Begriffliche Grund-
legung") das Zurechtfinden auch dadurch erschwert, daß es dem Druck an äußerer
Übersichtlichkeit fehlt; bis zu zehn Seiten muß man ohne Absatz lesen. Viel
zweckmäßiger war doch das Verfahren des alten Freund, für die bedeutendsten
Förderer unsrer Wissenschaft von Eratosthenes bis damals zu Ritschi kurze bio-
graphischet und genaue bibliographische Notizen zu geben. In wie unglaublicher
Gestalt manchmal Bestellzettel eingehen, davon wissen unsre Bibliothekare zu
erzählen. Wir wollen nicht darüber spotten, lieber Sorge tragen, wo guter Wille
vorhanden ist einem empfangenen Anstoß zu folgen, über ein Buch oder einen
Mann, die erwähnt wurden. Genaueres zu erfahren, daß da die Frage, wie das nun
anzufassen sei, keine Schwierigkeit bereite. Das beste ist ja, wenn der Professor
Notizen und Gedanken zu verbinden, notwendige Voraussetzungen in einer Form
zu geben weiß, daß, wer sie nicht könnt, ausreichend belehrt, wer sie schon kannte,
nicht gelangweilt wird. Aber nicht jeder versteht diese Kunst so wie einst Ritschi.
Und bei manchem temperamentvollen und anregenden Dozenten wird man damit
rechnen müssen, daß er über Titelangaben und Jahreszahlen gern schnell hinweg-
geht. Für dergleichen ist dann ein gedruckter Ratgeber da; Reflexionen über die
Entwicklung der Wissenschaft wird man bei ihm nicht suchen.
Vortrefflichen Anhalt für den, der mit philologischer Denk- und Arbeitsweise
innere Fühlung zu gewinnen wünscht, bietet die Lektüre von ausführlichen Bio-
graphien bedeutender Forscher; der Mann, mit dem was er durchlebt hat, fesselt
den Jüngling und zieht ihn mit fort. Das weiß Immisch zu würdigen (S. 20);
interessant wäre es, auch für den Erfahreneren, welche Auswahl er empfiehlt.
„Die Titel der betreffenden Biographien", heißt es statt dessen, „sind leicht zu
finden; die empfehlenswertesten sind zusammengestellt im Anhang von Wilhelm
Krolls kurzgefaßter Geschichte der klassischen Philologie" (Leipzig, Göschen,
1908). Hätte er auf das Vorhandensein dieses nützlichen kleinen Buches lieber
dadurch Rücksicht genommen, daß er den Gegenstand nicht zum zweitenmal in
ähnlichem Umfang behandelte! Und wenn es doch geschehen mußte, warum
hat er nicht wenigstens die Gelegenheit benutzt, den Vorgänger zu ergänzen?
Wie studiert man Philologie? 593
Die Ausschließung der Gegenwart mag in dem Werkchen von Kroll, das eben
als „Geschichte" auftritt, sich rechtfertigen lassen; in einem praktischen „Studien-
führer" gebührte ihr ein reichlicher Raum. Nun ist es so, daß Erwin Rohde be-
handelt wird und Wilamowitz nicht, weil der eine uns entrissen ist, der andre noch
lebt und schafft; in einer neuen Auflage wäre Albrecht Dieterich leider zu berück-
sichtigen; doch um über Diels und seine Arbeiten etwas zu erfahren, müßten die
Studenten noch warten — hoffentlich recht lange. Ist dies gleich eine Methode,
so hat sie doch wenig Sinn.
Besser entsprechen dem eigentlichen Zwecke des Buches zwei mittlere Kapitel:
das schon erwähnte dritte (Begriffliche Grundlegung) und das vierte, „Das Ge-
samtgebiet und seine Gliederung, Übersicht und erste Orientierung". Die ein-
zelnen Disziplinen sind hier gut charakterisiert, das Verhältnis zu verwandten
Wissenschaften, wie Geschichte und Sprachwissenschaft, sachgemäß dargelegt.
Auch über das Wesen der Philologie als solcher und ihre Methode wird Treffendes
gesagt. Boeckhs Enzyklopädie, Useners Rektoratsrede von 1882, „Philologie und
Geschichtswissenschaft", sind benutzt und genannt (S. 119; 115, 125). Aber hier
hätte wieder an Literatur mehr gegeben werden können. Wenn die eigenen Aus-
führungen des Verfassers nur wenig gekürzt wären, so würde Raum gewonnen
worden sein, um die Stellen nachzuweisen — meist in Festreden und Gelegen-
heitschriften — wo überhaupt die namhaftesten Vertreter der Altertumswissen-
schaft sich über deren Aufgaben und die Mittel zu ihrer Lösung ausgesprochen
haben: Bücheier (dessen schon bei der Kunst des Lesens gedacht wurde), Ernst
und Georg Curtius, Moriz Haupt, Gottfried Hermann, Otto Jahn, Adolf Kirchhoff
(Rede zur Feier des 3. August 1884), Lachmann, Mommsen (Über das Geschichts-
studium, 1874) Ritschi, Vahlen, Wilamowitz. Neben den Biographien geben
Schriften dieser Art einen Anhalt, um unter persönlicher Führung in bedeutende
Zusammenhänge einen Einblick zu gewinnen.
Je freier ein junger Philologe sich von Anfang an über das Verhältnis seiner
Wissenschaft zu den Nachbargebieten orientiert, desto sicherer wird er unter diesen
das oder diejenigen treffen, denen er selbst nach persönlicher Neigung und Geistes-
anlage ein bestimmteres Interesse zuwenden will. Wenn auf diese natürliche
Weise die Wahl von „Nebenfächern" zustande kommt, so braucht nicht mit un-
mittelbarer Sorge an das Examen gedacht zu werden. Mit seiner Warnung, nicht
allzu früh auf dieses Ziel den Blick einzustellen, hat Immisch (S. 180) sicher recht.*)
*) Nützlich wirlten könnten nacli dieser Seite hin auch die Prüfungsbestimmungen, wenn
sie mehr, als zurzeit der Fall ist, diejenigen Stellen ins Auge fassen wollten, an denen
wissenschaftliche Vertiefung und pral<tische Verwendbarkeit zugleich gefördert werden
können. Nächst alter Geschichte ist der klassichen Philologie keine Wissenschaft so nahe
verwandt wie die Archäologie, aus keiner würde der Lehrer des Lateinischen und Griechischen
für seine Schüler mehr Nutzen ziehen können; und doch wird die Beschäftigung damit von
Amts wegen geradezu gehemmt, weil keine Möglichkeit vorgesehen ist, von den Erfolgen
solches Studiums anders als innerhalb der lateinischen und griechischen Prüfung Rechen-
schaft abzulegen. Wohl begründet war deshalb eine Resolution, die auf Georg Loeschckes
Antrag von der Pädagogischen Sektion der Baseler Philologen-Versammlung im Jahre 1907
gefaßt wurde: zu befürworten, „daß ein volles Zeugnis erteilt werde, wenn der Kandidat
die Prüfung in Griechisch und Latein für alle Klassen und eine Prüfung in Archäologie, die
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 38
594 P. Cauer,
Doch hat er diesen Punkt etwas zu kurz abgetan; dem Ungeschickten, dem Ängst-
lichen, der mit gutem Willen um Rat sich bemüht, sollen wir helfen. Und der
Verfasser eines „Studienführers" wäre der nächste dazu. Meiner Erfahrung nach
macht nicht so vielen die Gewinnung eines dritten oder vierten Faches Schwierig-
keit, als die Erfüllung der allgemeinen Forderungen in Religion, Philosophie, Päda-
gogik und Deutsch, die sogenannte Sufficit-Prüfung oder „Kultur-Prüfung".
Immisch handelt davon gar nicht, während Zwicker, der die „Examinas" (so!)
überhaupt ausführlicher bespricht, auch hier Winke und Ratschläge erteilt, aller-
dings nicht in sehr ermutigendem Sinne, Auch ein eifriger Student, meint er,
der es mit seinen Fachstudien ernst nehme und sie fern von handwerksmäßiger
Art betreibe, tue doch ganz recht, „wenn er sich bei der Vorbereitung zur Kultur-
prüfung mit dem begnüge, was zu einem guten Bestehen des Examens erforder-
lich ist. Denn ein künstliches Einpauken vieler Zahlen und einzelner unzusammen-
hängender Tatsachen speziell für den Examenstag hat ja nicht den geringsten
Sinn" (S. 65).
Also für jeden, der nicht gerade eine Fakultas in den entsprechenden „Fächern"
zu erwerben gedenkt, ist die Beschäftigung mit deutscher Literatur, mit religiösen
Fragen, mit philosophischen Problemen eine aufgepackte Last? bestenfalls ein
notwendiges Übel? — Unglaublich! Aber nehmen wir einmal an, es sei so: wäre
es da nicht immer noch das Beste, aus der Not eine Tugend zu machen, zu sehen,
ob sich der unbequemen Pflicht etwa doch eine gute Seite abgewinnen läßt?
Wer deutsche Knaben und Jünglinge nicht nur als Spezialist in Fachkennt-
nissen unterrichten, sondern als Lehrer helfen soll sie zu Menschen zu bilden,
muß darauf bedacht sein, mit dem Gedankenkreise, in dem sich seine Schüler be-
wegen, vertraut zu bleiben, möglichst viele ihrer Interessen auch selber zu pflegen.
Nur so wird er finden, von wo aus er sie packen, wie er den Zugang zu ihrem inneren
Leben gewinnen soll. Und welcher Weg wäre da natürlicher, als der durch die
Literatur des eignen Volkes? Von jeder Wissenschaft führen Brücken dorthin-
über, die meisten und breitesten aus der des Philologen. Es ist nicht banausische
Examenvorbereitung, sondern freudige Berufserfassung, wenn ein Student dies von
vornherein ins Auge nimmt und, je mehr er sich in Römer und Griechen — oder
in Engländer und Franzosen — einliest und einlebt, desto mehr den Beziehungen
nachgeht, durch die sie auf deutsche Dichtung und deutsches Geistesleben Ein-
fluß geübt haben. Anlaß und innerer Trieb, weiter zu dringen, werden von selbst
sich einstellen. Brachte der Zug zum Klassischen für Goethe eine Vertiefung
seines Wesens oder eine Entfremdung von angeborener Art? Wie ist in unsrer
von den Alten scheinbar ganz abgewandten Zeit eine Erscheinung wie Hofmanns-
thals Elektra zu verstehen? Wer mit offenem Sinn für solche Fragen der Zeit
des Examens entgegengeht, wird nicht auf den ungeheuerlichen, ihn selbst —
oder seine Examinatoren? — beschämenden Gedanken kommen, durch Repetition
deren Vertreter abzunehmen hat, bestand". — Möchte die oberste Unterrichtsverwaltung es
nicht verschmähen, dieser Anregung nachzugeben; so gut wie philosophische Propädeutik
müßte auch Archäologie, bei einem für die Oberstufe ohnehin voll befähigten Philologen,
als drittes Fach gelten können. (Ich darf wohl hinzufügen, daß ich persönlich diesem
Wunsche von ganzem Herzen zustimme. Mtth.)
Wie studiert man Philologie? 595
aus Kluges Literaturgeschichte seiner allgemeinen Bildung aufzuhelfen.*) Nicht
anders steht es mit der Religion, der evangelischen jedenfalls, von der allein ich
sprechen kann. Daß wir die Unterweisung darin nicht einfach der Kirche über-
lassen, hat doch seinen guten Sinn. Religion soll nicht wie etwas Fremdes, für
sich Abgeschlossenes in der Gedankenwelt eines Menschen stehen, sondern soll
ein Element sein, das mit allen andern sich berührt und verbindet, überallhin
Wirkungen ausübt und empfängt. Dafür, daß sie im Geist und im Herzen eines
Heranwachsenden diese Stellung gewinne, hat vorab der Religionslehrer zu sorgen.
Doch jeder andere kann und soll helfen, indem er in sich das Bewußtsein des Anteils
wach erhält, den seine eigene Wissenschaft am religiösen Leben der Gegenwart
hat, sei es, daß sie, wie die Naturwissenschaft, mit scheinbar bedrohlichen Konse-
quenzen in eine Weltanschauung ausmündet, oder daß sie unmittelbar zum Ver-
ständnis der uns überlieferten Religion beiträgt. Die Probleme, die deren Ur-
sprung umgeben, sind philologischer Art, nicht nur in der Evangelienkritik, son-
dern auch in der Analyse der Vorstellungen, die in das Christusbild der Kirche
eingegangen sind. Ein junger Philologe, der nur ein bescheidenes Maß von Lektüre
nach dieser Seite verwendet,**) daneben — zu notwendiger Ergänzung seiner grie-
chischen Studien — einige Schriften des Neuen Testamentes mit Aufmerksamkeit
liest, öffnet sich überall neue Pforten, findet immer mehr innere Verbindung zwi-
schen der Wissenschaft, der er dient und von deren Geist er seine Schüler einen
Hauch möchte verspüren lassen, und der Religion, die als ein von den Vätern
ererbtes Gut frisch zu erwerben eine große Aufgabe jeder tieferen und freieren
Bildung ist. Will man dies alles „Vorbereitung aufs Kulturexamen" nennen —
der Name soll uns nicht kränken.
Etwas anders steht es für die Philosophie. Hier wird längeres Verweilen,
*) Mit Kopfschütteln lese ich bei Koschwitz, wo er — für das französische Fachstudium
— das Hören literargeschichtiicher Kollegien empfiehlt, diese Mahnung (S. 119): „Beim
Nachschreiben versäume man nicht, auch die vorgetragenen Inhaltsangaben aufzuzeichnen,
die man in den Handbüchern oft schmerzlich vermißt und deren Kenntnis doch bei den
Prüfungen gefordert wird." — Daß Studenten und Kandidaten etwas Nützliches zu tun
meinen, wenn sie den Schein eigener Belesenheit durch Aneignung übernommener Inhalts-
angaben hervorzurufen suchen, erleben wir täglich; aber daß ein Professor dazu anleitet ?
— oh, oh!
**) Ein paar Beispiele mögen deutlicher machen, wie das gemeint ist: von Soden, Die
wichtigsten Fragen im Leben Jesu (Ferienkurs-Vorträge), 1 904; Otto Pfleiderer, Das Christus-
bild des urchristlichen Glaubens in religionsgeschichtlicher Beleuchtung, 1903; Brückner,
Der sterbende und auferstehende Gottheiland in den orientalischen Religionen und ihr Ver-
hältnis zum Christentum, 1908 (aus den religionsgeschichlichen Volksbüchern). — Daß
einem künftigen Mitarbeiter an „höherem Unterricht" Adolf Harnack nicht ganz fremd bleibt,
darf doch wohl, ohne Rücksicht auf irgend welchen Examenszwang, für selbstverständlich
gelten. Nimmt er Hermann Schells „Christus" hinzu (1903, aus der bei Franz Kirchheim in
Mainz erscheinenden ,, Weltgeschichte inCharakterbidern"), so gewinnt er eine Anschauung,
wie sich das Evangelium und sein Stifter in den Augen eines geistvollen und edeldenkenden
Katholiken unsrer Zeit darstellen. Endlich sollte ein Philologe, dem Textvergleichung
und Übersetzen einen Hauptteil der eigenen Lebensarbeit ausmachen, nicht unterlassen,
Paul de Lagardes Streitschrift „Die revidierte Lutherbibel des Hallischen Waisenhauses"
(1885) zu lesen, woraus ihm über das Thema hinaus reicher Gewinn erwachsen könnte.
38*
596 P. Cauer,
selbständiges Eindringen erfordert, aber nicht als etwas äußerlich Hinzukommendes,
sondern als wesentlicher Teil der Beschäftigung mit dem Altertum. Piaton und
Aristoteles gehören zu denjenigen Autoren, mit denen jeder Philologe einiger-
maßen bekannt werden muß; willkommen wäre ihm ein Vorschlag von kundiger
Seite, in welcher Auswahl und welcher Reihenfolge er lesen soll. Nichts der Art
gibt Immisch; auch davon sagt er nichts, daß man wie die beiden Großen so ihre
Vorgänger und Nachfolger aus den Quellen studieren solle, wofür ein so hand-
liches Buch wie Ritters und Prellers Historia philosophiae Graecae et Romanae
zur Verfügung steht. Was der Rat Suchende bei Immisch (S. 176 f.) findet, sind
nur einige halb empfehlende, halb warnende Worte über die Bedeutung zusammen-
fassender Kollegien auf diesem Gebiete. Wichtiger ist es wohl bei der neueren
Philosophie, daß jemand sie nicht bloß aus Büchern kennen lerne, sondern durch
lebendigen Vortrag. Geschieht es, nachdem er sich in die griechische schon ein-
gearbeitet hat, so ist ihm voraus ein leitender Gesichtspunkt gegeben: zu sehen,
wie die uralten Fragen unter veränderter Gestalt immer wieder hervortreten. Auch
einen äußeren Anhalt gibt es, um Altes und Neues fruchtbar zu verbinden, die
gelehrte Terminologie, die mehr Achtung und Beachtung verdient, als Immisch
(z. B. S. 32) für sie in Anspruch nimmt. Zu den nützlichsten Büchern, die ein
Student im ersten Semester lesen kann, gehören, obwohl heute fast vergessen,
Trendelenburgs Elementa logices Aristoteleae, 23 Seiten griechischer Text mit Über-
setzung und inhaltreichen, einst für Primaner bestimmten Anmerkungen. Wer
sie durcharbeitet, sieht nicht nur Logik entstehen, sondern wissenschaftliches Denken
überhaupt, und mag von da den Trieb empfangen, überall in der sich verfeinernden
Begriffsbildung die Entwicklung der Probleme zu verfolgen.
Ein Gespräch von einer halben Stunde über Zusammenhänge dieser Art sollte
für einen, der wirklich gearbeitet hat, etwas Schreckendes sein? auch nur beson-
derer Vorbereitung bedürfen? Denn so wollen wir doch die „allgemeine Prüfung"
ansehen, wie Wilhelm Münch sie einmal treffend bezeichnete, „als ein freies, aber
eindringendes Zwiegespräch zur Ermittlung der allgemeinen geistigen Reife, des
Interesses und des Weltverständnisses des Kandidaten" (NJb. 16 (1905) S. 568).
Daß es Examinatoren gibt, die sie anders verstehen und daraus wieder ein Stück
Fachexamen machen, ist allerdings möglich. Und mehr als möglich, niederdrückende
Wirklichkeit ist es, daß die amtlichen Bestimmungen selber solchen Irrtum be-
fördern, ja beinahe ihn uns aufdrängen, indem sie das Ergebnis eines Gedanken-
austausches, in dem Geistesart und Entwicklungsstand eines Menschen gewürdigt
werden sollten, zu einem „Genügend" oder „Nicht genügend" formuliert ver-
langen. Der Wunsch, daß es hierin besser werde, richtet sich nicht mehr an die,
welche studieren.
Auch für das letzte der „Sufficit-Fächer", die Pädagogik, könnte wohl mehr
geschehen, um guten Willen und Arbeitseifer, die doch meistens vorhanden sind,
auf den rechten Weg zu lenken. Das Entscheidende ist hier, daß der Student
möglichst bald, nicht dies oder jenes Wissen sich aneigne, aber den Stachel be-
komme, darauf zu achten und darüber zu sinnen, wie sich all das Schöne, was er
kennen lernt und im Innern erlebt, dereinst in die hohe Aufgabe einfügen wird,
zur Erziehung der Jugend, zur Veredlung der Zukunft unsres Volkes beizutragen.
Wie studiert man Philologie? 597
Dies ist der Punkt, in dem sich Immischs Ansicht und die meinige am schärfsten
trennen. Ausdrücklich wünscht er durch sein Buch dem Anfänger die Notwendig-
keit klar zu machen, daß Hochschulphilologie und Gymnasialphilologie auseinander
gehalten werden. „Zunächst kommt es vor allem darauf an," so lesen wir S. 19,
„daß er sich der Tatsache des Unterschiedes bewußt sei und weiterhin der daraus
sich ergebenden Folgerung, daß er in seiner Universitätszeit nahezu ausschließlich
mit der Philologie als reiner Wissenschaft und nicht mehr mit ihrer gymnasialen
Anwendung zu tun hat." Genau das Gegenteil erscheint mir als das Richtige.
„Was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen, entdecken sie, ersiegen sie
für euch !" das sei die Gesinnung des Lehrers zur Jugend. Und ihm selbst in seiner
frohen Zeit des Sammeins und Empfangens wollen wir zurufen: Was immer du
lernen magst, du lernst es für deine künftigen Schüler, nicht zu unveränderter
Weitergabe, doch zu mittelbarer, innerlicher Verwertung. An solche denkt wohl
auch Immisch; aber er wirkt ihr mit Kraft entgegen, wenn er da einen äußerlich
hervortretenden Unterschied einschärft, wo alles darauf ankommt, den tiefen
geistigen Zusammenhang aufzudecken und greifbar zu machen.
Daß das Altertum, in dessen historischem Verständnis die Wissenschaft fort-
schreitet, im Unterrichte nach wie vor als etwas Normatives zu behandeln sei,
„klassisch" im Sinne von „vorbildlich", wird immer noch von vielen ernsthaft ge-
glaubt. Immisch möchte vermitteln (S. 132 f.); das kann nicht gelingen, nachdem
er selbst sich zur Trennung bekannt hat. Und allgemein, wie sollen wir unsrer
Lehre Herz zu Herzen schaffen, wenn wir von dem, was im Grunde unser Herz
bewegt, der Jugend nicht sprechen dürfen? Wie soll die Jugend Gedanken, An-
sichten, Urteile annehmen und sich ihrem Einfluß hingeben, die künstlich aufrecht
erhalten werden, deren Überlebtheit dem Primaner zu zeigen ein Blick über die
Mauern der Schule hinaus genügt? Das Altertum, wie soll es als Element eines
unaufhaltsam weiter sich entwickelnden Lebens wirken, wenn es selbst als etwas
Fertiges, Unzugängliches dazwischen steht? Schon einmal (NJb. 14 (1904) S. 182)
habe ich an Heinrich Weinel erinnert, was er in seinem schönen Buche „Jesus im
XIX. Jahrhundert" (1903; S. 64) von der scheinbar zerstörenden, in Wahrheit
bauenden und lebenfördernden Wirkung der Bibelkritik sagt: „Als Strauß seine
Zerstörungsarbeit getan hatte, da ist der historische Jesus mit Macht lebendig
geworden. Kein Jahrhundert vorher hat sich so um ihn gemüht, so heiß danach
getrachtet, seine wahren geschichtlichen Züge zu schauen, keines hat ihn so in
die großen, die Zeit bewegenden Fragen hineingestellt und eine Antwort aus dem
Munde des schlichten Mannes von Nazareth gesucht, wie dieses Jahrhundert der
Kritik." — Kritisches Bemühen ist die Form, in der unser Geschlecht sich mit
den Mächten, die ihm etwas bedeuten, auseinandersetzt. Zu diesen Mächten
gehört das klassische Altertum. Auch dieses wird nur dann, dann aber erst recht,
als eine lebendige Kraft sich erweisen, wenn es von der stark flutenden Bewegung
modernen Daseins und Denkens mit ergriffen wird. Wer es vorsichtig absondert
und in einmal gewonnener Auffassung festlegt, um ihm gleichmäßig dauernde
Verehrung zu sichern, der wirft es zu den Toten. Als Problem unerschöpflich,
als Gegenstand der Forschung immer neu sich darstellend, so soll es unter uns
fortwirken, um unser eignes Leben mit immer erneutem Einfluß zu befruchten.
598 A. Tilmann,
Von dieser Zuversicht durchdrungen zu werden, ist das Erste und das Letzte,
dessen ein Jünger der klassischen Philologie heute bedarf; sie zu wecken und zu
nähren die vornehmste Aufgabe dessen, der lehrend, beratend, leitend an der Bil-
dung eines heranwachsenden Lehrergeschlechtes mitarbeitet.
Münster i. W. P a u 1 C a u e r.
Die Friedrich Althoff -Stiftung.
Diese Stiftung ins Leben gerufen „zum ehrenden Andenken an die Wirk-
samkeit des früheren Direktors im Kultusministerium Wirklichen Geheimen Rats
Dr. Friedrich Althoff" soll nach den Bestimmungen ihrer Satzung allen denjenigen
Berufskreisen zugute kommen, die zu seinem Geschäftsbereich gehört haben.
Wie er, da er noch im Amte war, sich nicht damit begnügte, aus den öffentlichen
Mitteln, wo es not tat, soweit irgend möglich zu helfen, sondern bemüht war, hier-
über hinaus Hilfsquellen zu erschließen, so stellt nach seinem Ausscheiden diese
auf seine Veranlassung durch die hochherzige Entschließung seines Freundes,
des Geheimen Regierungsrats Dr. v. Böttinger begründete Stiftung sich gleichsam
als Denkmal hin seines von warmer christlicher Nächstenliebe getragenen Be-
strebens Bedrängten und Notleidenden, deren es in jedem Stande gibt, tatkräftig
und wirksam zu helfen, zugleich aber auch als ein sichtbares Zeichen der Stärke
des Bandes, das ihn mit den Menschen und Dingen verknüpfte, welche das Amt
ihm näher brachte.
Daß der bei Gründung dieser Stiftung leitende Gedanke die Fürsorge aus
den Mitteln der staatlichen Unterstützungsfonds sowie der lokalen und provinziellen
Hilfskassen zu ergänzen, einem praktischen Bedürfnisse entspricht, beweist die
bisherige Erfahrung. Seit Konstituierung des Vorstandes im Frühjahr d. J. sind
zahlreiche Unterstützungsgesuche eingegangen, die zum größten Teil haben be-
rücksichtigt werden können. Die gewährten Beihilfen sind mit e i n e r Ausnahme
Angehörigen des höheren Lehrerstandes zugefallen. Der Vorstand war bei seinen
Entschließungen beraten durch die Vorsitzenden der Provinzialvereine, die sich
gern bereit fanden, nähere Auskünfte über die Gesuchsteller zu geben. Bisher
sind insgesamt 4400 M. zur Verteilung gebracht, ein schöner Anfang, davon fielen
auf Berlin-Brandenburg 500 M., 500 M., 500 M., 300 M., 300 M., 300 M., 200 M.,
200 M., 200 M., auf die Rheinprovinz 300 M., 300 M., 300 M., auf die Provinz Posen
300 M., auf die Provinz Hessen-Nassau 200 M. Wer die Gesuche gesehen hat,
weiß, in welch trübe Verhältnisse dabei ein warmer Sonnenstrahl gefallen ist.
Vornehmlich waren es Witwen und ältere Fräulein, die durch besondere Umstände
in Bedrängnis geraten waren, denen geholfen werden konnte.
Die Stiftung ist noch nicht genügend bekannt. Das beweist schon die Ver-
teilung der gewährten Beihilfen auf die einzelnen Provinzen, vor allem aber die
Tatsache, daß die Beitrittserklärungen bisher in verhältnismäßig geringer Zahl
(aus Oberlehrerkreisen etwa 520)*) erfolgt sind. Möchten diese Zeilen dazu bei-
*) Am L April 1909 betrug die Gesamtzahl der Stellen für wissenschaftliche Lehrer
einschließlich Direktoren 9219. Die Zahl 520 ist demgegenüber verschwindend. Wenn
Die Friedrich Althoff-Stiftung. 599
tragen, daß hier weitere größere Fortschritte gemacht werden. Was Althoff,
der die einzelnen Bestimmungen der Satzung selbst auf das sorgfältigste erwogen
hat, vorschwebte, war das Ziel, den korporativen Geist, der sich namentlich bei
den Oberlehrern tatkräftig gezeigt hat, fruchtbar zu machen für diese schöne
Aufgabe. Möge das Andenken an ihn, dessen Initiative in der Gestaltung der
inneren und äußeren Verhältnisse der höheren Schulen nicht hoch genug an-
geschlagen werden kann, ebenso dazu beitragen, daß jenes Ziel erreicht wird,
wie die Überzeugung, daß hier etwas Praktisches geschaffen ist, was den be-
teiligten Kreisen zum größten Segen gereichen kann.
Der Geheime Regierungsrat v. Böttinger hat der mit einem Kapital von
100 000 M. gegründeten Stiftung weitere 20 000 M. zugewendet. Hierzu kommen
20 000 M., die für Unterstützungszwecke zur Verfügung standen und auf deren
Verwendung die Delegiertenversammlung der Provinzialvereine zugunsten der
Friedrich Althoff-Stiftung verzichtet hat. Außerdem ist zu erwarten, daß von der
nach Althoffs Tode veranstalteten Sammlung ein Betrag von 30 000 M. der Stiftung
zufließen wird. Das ist gewiß ein ansehnliches Ergebnis, aber wie gering erscheint
es im Verhältnis zu dem weiten Umfange der gesteckten Ziele. Möchten die Ober-
lehrer eingedenk der warmen Beziehungen, die sie mit dem Manne verbanden,
dessen Name die Stiftung ziert, ein besonders gutes Beispiel geben und der Stiftung
zu einer breiten starken Unterlage verhelfen! Dann wird auch der Wunsch in
Erfüllung gehen, den § 1 der Satzung dahin formuliert: „Indem die Stiftung nach
dem Maße ihrer Mittel mit bezug auf diese Berufskreise eine Fürsorge im Geiste
der Botschaft Kaiser Wilhelms des Großen vom 17. November 1881 und der Aller-
höchsten Kundgebungen vom 18. Januar 1896 und 17. November 1906 einleitet,
möchte sie zugleich einen Vorgang zu weiteren Gründungen ähnlicher Art bilden".
Der laufende Beitrag beträgt jährlich 3 M. An Stelle des laufenden Beitrages
kann ein einmaliger Beitrag von 50 M. treten. Die Beitrittserklärungen sind unter
Einzahlung des Beitrages zu richten an die Preußische Zentralgenossenschafts-
kasse Berlin, C. 2, Am Zeughaus 2, Konto der Friedrich Althoff-Stiftung.
Unterstützungsgesuche sind zu senden an den Vorstand der Friedrich Althoff-
Stiftung, Berlin W. 64, Wilhelmstraße 68.
man bedenkt, wie Althoff sich Zeit seines Amtes gemüht hat, daß die Gehälter der
Oberlehrer in die Höhe kamen, auf welcher sie jetzt sind, wie seine Gedanken beständig
darauf gerichtet waren, daß auch dann, wenn Not und Sorge über die Oberlehrer oder
über ihre Hinterbliebenen kamen, vorgesorgt sei, wie seine letzte große Stiftung diesem
Ziele galt und wie selbstlos er in materieller Beziehung an sich und die Seinen gedacht
hat, dann möchte man wünschen, daß der Name Althoff durch eine lebhaftere und
dankbarere Beteiligung an seiner Stiftung geehrt würde. Und ganz abgesehen davon —
wenn man erfahren hat, wie groß oft die Not in Oberlehrerfamilien ist und wie dann
schnelle Hilfe bei mangelnden Mitteln nicht möglich ist, dann muß man dieser
Stiftung eine viel, viel regere Beteiligung wünschen, als ihr bisher aus den zunächst
beteiligten Kreisen zuteil geworden ist. Fernerstehende, die gar keinen Vort.il von
der Stiftung haben, haben aus Pietät für den Dahingeschiedenen große Summen
gezeichnet. Wir möchten wünschen, daß auch sie die Empfindung haben, daß die zunächst
Beteiligten sie nicht imStiche lassen. Aber 520 gegen 921 9! Das ist eine klaffende Lücke!
Mtth.
60Ö A. Tilmann,
Die Vertreter des höheren Schulwesens im Vorstande sind Geheimer Re-
gierungsrat Realgymnasialdirektor Professor Walther in Potsdam, Professor
Dr. Lortzing in Wilmersdorf, Professor Dr. Krüger in Groß -Lichterfelde und
Professor Dr. Möller in Berlin.
Der die Geschäfte führende Ausschuß besteht aus dem Generaldirektor der
Königlichen Bibliothek Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat Professor Dr.
Harnack, dem Abteilungsdirigenten Wirklichen Geheimen Oberregierungsrat
Dr. Schmidt sowie dem Unterzeichneten.
Die Geschäftsstelle befindet sich im Kultusministerium, Berlin W. 64,
Wilhelmstraße 68.
Der Unterzeichnete ist zu Auskünften gern bereit.
Gr.-Lichterfelde. A. Tilmann.
t. Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des
römischen Rechts. -— IL Die Anfängerkurse im Griechischen
für Studierende der juristischen, medizinischen und der philo-
sophischen Fakultät. — III. Reifezeugnisse der Studierenden
der preußischen Universitäten.
I. Im Sommersemester 1909 haben an den Kursen zur sprachlichen Ein-
führung in die Quellen des römischen Rechts an den preußischen Universitäten
im ganzen 247 Studierende teilgenommen. Davon studierten 246 Rechtswissen-
schaft, 1 klassische Philologie. Das Reifezeugnis eines Gymnasiums hatten 50,
eines Realgymnasiums 144, einer Oberrealschule 52. Preußen waren 224, Deutsche
aus anderen Bundesstaaten 14, Ausländer 9. Von den 246 Studierenden der Rechte
standen 46 im ersten Semester, 18 im zweiten, 37 im dritten, 24 im vierten, 82
im fünften, 14 im sechsten, 14 im siebenten, 1 im achten, 4 im neunten, 1 im zehnten,
4 im elften, 1 im zwölften.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer wie folgt:
Berlin 102, Bonn 26, Breslau 14, Göttingen 4, Greifswald 6, Halle 19, Kiel 25,
Marburg 29, Münster 22.
II. Im Sommersemester 1909 haben an den Anfängerkursen im Griechischen
für Studierende der juristischen, medizinischen und philosophischen Fakultät
auf den Preußischen Hochschulen im ganzen 232 Studierende teilgenommen,
davon 82 Juristen, 7 Mediziner und 143 Angehörige der philosophischen Fakultät.
Von letzteren studierten klassische Philologie 11, neuere Philologie 59, Deutsch
35, Geschichte 21, Mathematik und Naturwissenschaften 2, sonstige Fächer 15.
Von den Teilnehmern der Kurse hatten 6 das Reifezeugnis eines Gymnasiums,
124 eines Realgymnasiums, 63 einer Oberrealschule. Preußen waren 189, Deutsche
aus anderen Bundesstaaten 34, Ausländer 9. Von den 82 Studierenden der Rechte,
die den Kursus besuchten, standen im ersten Semester 20, im zweiten 9, im dritten
Die Kurse zur sprachlichen Einführung usw. 601
9, im vierten 10, im fünften 18, im sechsten 6, im siebenten 5, im achten 2, im
neunten 1, im zehnten 1, im zwölften 1.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer an diesem Kursus
wie folgt: Berlin 100, Bonn 11, Breslau 30, Göttingen 32, Greifswald 16, Halle 3,
Kiel 24, Königsberg 1, Marburg 9, Münster 6.
III. Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten im
Sommersemester 1909. Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Stu-
dierende, die nicht auf Grund Reifezeugnisses einer Vollanstalt immatrikuliert
waren, unberücksichtigt. Von den nachstehenden Zusammenstellungen umfaßt
die erste alle im Sommersemester 1909 an den preußischen Universitäten imma-
trikulierten Studierenden, die zweite nur diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung
im ersten Semester standen.
I. Im Sommersemester 1909 waren insgesamt immatrikuliert:
A. In der evangelisch-theologischen Fakultät 1099 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gynmasiums .... 1098
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 1
B. In der katholisch-theologischen Fakultät 965 Studierende, alle auf
Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
C. In der juristischen Fakultät 5555 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 4586
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 687
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 282
D. In der medizinischen Fakultät 3286 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 2691
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 442
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 153
E. In der philosophischen Fakultät 9679 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 6647
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 1726
„ ,, „ einer Oberrealschule . . . 1306
Hiervon, studierten:
1. Philosophie 234 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . .
. 187
„ Realgymnasiums .
38
„ „ „ einer Oberrealschule . .
9
2. Klassische Philologie und Deutsch 3566 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . .
. 3244
„ „ „ „ Realgymnasiums .
. 218
„ ,, ,, einer Oberrealschule . .
. 104
602 A. Tilmann,
3. Neuere Philologie 1762 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 743
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 599
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 420
4. Geschichte 620 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 522
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 73
„ „ „ einer Oberrealschule ... 25
5. Mathematik und Naturwissenschaften 2688 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1429
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 629
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 630
6. Sonstige Studienfächer 809 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 522
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 169
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 118
II. Von den unter I. aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
A. In der evangelisch-theologischen Fakultät 195 Studierende, alle imma-
trikuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
B. In der katholisch-theologischen Fakultät 254 Studierende, alle imma-
trikuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
C. In der juristischen Fakultät 672 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 522
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 107
„ „ „ einer Oberrealschule ... 43
D. In der medizinischen Fakultät 446 Studierende, davon immatikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 341
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 79
„ „ „ einer Oberrealschule ... 26
E. In der philosophischen Fakultät 1590 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 995
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 324
„ „ „ einer Oberrealschule ... 271
Hiervon studierten:
1. Philosophie 31 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 20
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 7
. . . „ ,, „ . einer Oberrealschule ... 4
Die Kurse zur sprachlichen Einführung usw. 603
2. Klassische Philologie und Deutsch 562 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 501
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 43
„ „ „ einer Oberrealschule ... 18
3. Neuere Philologie 342 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 137
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 114
„ ,, „ einer Oberrealschule ... 91
4. Geschichte 76 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 51
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 19
„ „ „ einer Oberrealschule ... 6
5. Mathematik und Naturwissenschaften 493 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 243
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 118
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 132
6. Sonstige Studienfächer 86 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 43
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 23
„ „ „ einer Oberrealschule ... 20
Gr.-Lichterfelde. A. T i 1 m a n n.
II. Programmabhandlungen 1908.
Latein.
Die fruchtbringende Ausgestaltung der Lektüre, die Stellung des gramma-
tischen Betriebes, die wirkliche Einführung in die Kultur- und Gedankenwelt
der Antike — das sind einige Hauptfragen der altsprachlichen Didaktik, die in den
letzten Jahren besonders lebhaft erörtert wurden und deren Widerhall auch in
den Programmabhandlungen, die das Jahr 1908 gebracht hat, lebendig ist. Im
allgemeinen ist bemerkenswert, in wie engem Anschluß an die wissenschaftliche
Forschung die Wege für die Schulpraxis gesucht werden, wie beiderlei Gedanken-
arbeit sich gegenseitig durchdringt und befruchtet und voneinander Licht und
Nahrung gewinnt. Sehr mit Recht wird der Ruf erhoben: Nicht Vernichtung der
grammatischen Übungen, sondern innere Belebung, Durchdringung mit geist-
bildender Kraft. Andrerseits ermöglicht das Durchbrechen der Fesseln, die ein
mißverstandener, den guten Cicero selbst meisternder Klassizismus der unbefan-
genen Würdigung altrömischer Geistesschätze auferlegte, ein freieres Erfassen des
literarischen und kulturellen Entwicklungsganges der römischen Antike. Es ist
m. E. nicht allein der ethisch-ästhetische Humanismus, der
uns den Freibrief zur Einführung der Jugend in die Welt der Alten gibt; daneben
muß zweifellos die geschichtliche Auffassung, die Erkenntnis des gewal-
tigen, die Jahrtausende umfassenden Zusammenhanges unserer Kultureinheit zu
ihrem vollen Rechte kommen. Diesem Gedanken will Professor Dr. Christian
Härder (Neumünster) durch einen bemerkenswerten Vorschlag dienen. Man
kann die Beobachtung machen, daß die Schulpädagogen der Verwertung von
„Chrestomathien" nicht mehr so geringschätzig gegenüberstehen, wie
in dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts. Allbekannt ist fürs Grie-
chische der Versuch Wilamowitz', der freilich seine Auswahl als den Lektüre-
Kanon schlechthin sich dachte; auch für die neueren Sprachen ist ein Umschwung
der Stimmung bemerkbar. Und nun macht H a r d e r in einer sehr kenntnisreichen
und gründlichen Schrift einen „Vorschlag zur Erweiterung der
lateinischen Schullektüre", indem er die Frage eines lateinischen
Lesebuches neu erörtert (Gymn. nebst O.-R. in Entw. zu Neumünster. Nr. 365.
26 S. 4°).*) Sein Lesebuch, wie er es sich denkt, soll nicht die bisherige Klassiker-
*) Schon 1903 hatte in dieser Monatschrift W. Jung die Frage einer Chrestomathie
behandelt.
F. Cramer, Latein. 605
lektüre verdrängen, aber wohl soll es ergänzend hinzutreten und zwar unter Ver-
drängung eines Teiles des bisherigen Lesestoffes.
Mit der Einschätzung, die er diesem und jenem Schulklassiker, z. B. Cäsar^
zuteil werden läßt, bin ich nicht ganz einverstanden; aber im großen Ganzen hat
er recht, und auch wo man andrer Meinung ist, erfreut die Sachkenntnis und der
umfassende Blick des Verfassers. Ich möchte mir namhaften Gewinn für die
Belebung des Lateinunterrichtes von der Verwirklichung einer Zusammenstellung^
wie sie vorgeschlagen wird, versprechen. Über die Auswahl im einzelnen wird
sich natürlich reden lassen.
Einem ähnlichen, doch anders ausgeführten Gedanken will ein siebenbürgischer
Schulmann dienen. Hermann Schuller, Gymnasialprofessor am Gymnasium
zu Mediasch (Siebenbürgen), will uns ein „Lesebuch aus Livius
zur römischen Staatsverfassung" bieten, von dem er zunächst
den I.Teil, „die Bürgerschaft" vorlegt (Gymnasium zu Medgyes (Mediasch),
80 S. 8^). Für unsere preußischen Lehrpläne ist das Buch weniger geeignet..
Auf alle Fälle aber kann man die Sammlung willkommen heißen, da sie
manche brauchbare Zusammenstellung für die Hand des Lehrers (des
Altsprachlers wie des Historikers) bietet (vgl. z. B. den Abschnitt „Patrizier und
Plebejer"). Daß die römische Literatur, auch die Poesie, dem ingenium Romanum
durchaus entsprechend, mehr oder weniger stark im Zeichen der Rhetorik steht,,
ist bekannt.
Oberlehrer Dr. Ranke gibt in seinen „Beiträgen zur Kritik der
Prologe des Terenz" (Gymn. zu Anklam. Nr. 181. 19 S. 8") beachtens-
werte Ergänzungen zu frühern Beobachtungen Leos. Ob freilich die Allitera-
tionen usw. in jedem einzelnen der angeführten Fälle wirklich beabsichtigt
sind, wird sich bezweifeln lassen. Bemerkenswert ist der Hinweis, daß schon
bestimmte Ausdrücke des Gerichtswesens, die in den Prologen sich finden,,
diese als Gerichtsreden charakterisieren (causam dicere, accusare, iudices, rem
cognoscere, indicium facere u. a.).
Unter den römischen Dichtern, die zum eisernen Bestände der Schullektüre
gehören, pflegt vor allem H o r a z nicht ohne Förderung zu bleiben. Auch dies-
mal ist er mit zwei Beiträgen bedacht:
Anziehend geschrieben und sachlich recht dankenswert ist die Horazstudie,.
die uns Oberlehrer Paul Hoppe unter der Bezeichnung „Ein Triobolon
zur Erklärung der Gedichte des Horaz" vorlegt (Kgl.
kath. St. Matthias- Gymnasium zu Breslau Nr. 240. XIV S. 4»). Die Ver-
werfung des hübschen und in seiner versteckten Kunst liebenswürdigen Wein-
liedchens L 20 {Vile potabis), für die auch Kießling entschieden eintrat, hat
mir nie recht gefallen, und Hoppe wendet sich mit Recht dagegen. Die
Art und Weise, wie er den Hauptanstoß, die Lesart Tu bibes, zu entfernen
sucht, ist eigenartig. Leider verbietet der Raum, seinen Ausführungen hier
zu folgen; jedenfalls sind sie, auch wenn man nicht völlig zustimmt, anregend und
fördernd, ebenso wie seine Auffassung von I 28 (Archytasode) und III 26 (Vixi
puellis).
Den Römeroden, dem zumal seit Mommsens bahnbrechender Festrede
606 F. Cramer,
(Sitzungsberichte der Kgl. preuß. Akad. d. W. 1889) immer wieder untersuchten
Zyklus, gilt eine umfassende und sachkundige Schrift von Professor Theodor
Widmann (Die Römeroden des Horaz und die Begründung
des Prinzipats des Augustus, Kgl. Gymn. in Cannstatt. Nr. 768.
45 S. 40.). Ein Hauptanstoß lag für Widmann in der neuerdings auftretenden
Hypothese (v. Domaszewsky, Hiemer), daß die Römeroden ein F e s 1 1 i e d seien
zur feierlichen Aufrichtung des goldenen Ehrenschildes im Senatsgebäude; Verfasser
stellt meines Erachtens mit Recht fest: „Sie sind nicht für musikalischen Vortrag
bestimmt und weder am 13. noch am 16. Januar des Jahres 27 v. Chr. als Fest-
gesang vorgetragen worden." Das ,canto' im Prooemium vergleicht sich mit ,cano'
in Vergils ,arma virumque cano' und unserm , Singen' als dem Tun jedes Dichters.
Daß die Römeroden jedenfalls kein Fest lied waren, scheint mir vor allem aus
dem Subjektivismus dieser Gedichte, dem Horaz hier wie sonst huldigt,
hervorzugehen. Den Ergebnissen des Verfassers kann man fast durchweg zustimmen,
z. B. der Feststellung, daß die Oden zusammengehören, daß sie an die am 16. Ja-
nuar 27 erfolgte Verleihung des Titels Augustus anknüpfen, ferner daß sie n i c h t
in e r s t e r Linie der Person des Cäsar, sondern dessen auf das Wohl des römischen
Volkes abzielenden Bestrebungen gelten und daß „sie daher nur eine mittelbare,
der Ehrung des Senates parallel laufende, von Horaz, als dem Sänger seines Volkes
und Vertreter seines Standes, in vaterländischem Interesse dem Prinzeps dar-
gebrachte Huldigung bilden". Wenn solche Ergebnisse keine neuen Überraschungen
bieten, sondern meist den Schatz der besten neuern Forschung sichern, so liegt
das eben an der besonnenen Art des Verfassers, der nicht mit glänzenden,
aber hohlen Hypothesen spielt, sondern ruhig abwägend seinen Weg geht und daher
mit der wohlbegründeten Forschung der hervorragendsten Horazkenner sich trifft.
Aber für vieles bringt er doch neue Gründe, neue Gesichtspunkte, und alte Er-
kenntnis rückt er in neue Beleuchtung.
In die Zeit der Kirchenväter versetzt uns Professor Dr. Knappe in seiner
Untersuchung: Ist die 21. Rede des heiligen öaudentius {Oratio
B. Gaudentii episcopi de vita et obitu B. Filastrii episcopi praedecessoris sui) echt?
(Kgl. Gymn. Carolinum zu Osnabrück, No. 403, 66 S. 8°). Er tritt in dieser
Abhandlung, die er zugleich einen Beitrag zur Latinität des Gaudentius nennt,
für die Echtheit ein. Das Material, das Verfasser zusammengebracht hat,
ist sehr reich; freilich wenn der Schluß, den er zieht, zwingend sein soll, dann
wäre es nötig, die Autoren, die zu gleicher Zeit und in gleicher Sprachprovinz
wie Gaudentius schrieben, heranzuziehen, um genau festzustellen, wodurch dieser
sich von andern seinesgleichen wirklich unterscheide; manche Übereinstimmung
zwischen der angezweifelten Rede und den übrigen kommt jedenfalls auf Rechnung
des Spätlateins überhaupt.
Für die Kenntnis des Wiedererwachens antiker Einflüsse in Karolingischer
Zeit und die Stellung A 1 c u i n s innerhalb dieser Bewegung ist die gründliche
Arbeit über Alcuins Ars grammatica, die lateinische Schulgrammatik der karolin-
gischen Renaissance, von Oberlehrer Dr. Wilhelm Schmitz willkommen. (Stadt.
Prog. zu Ratingen, Progr.-No. 603.) Es ergibt sich, daß Alcuin mit voller
Absicht, auch im Gegensatz zu Petrus Pisanus, das B i b e 1 1 a t e i n nicht
Latein. 607
berücksichtigt, sondern (in Übereinstimmung mit der besseren
angelsächsischenTradition)zuder altrömischen Grammatik zurück-
kehrt. „Keine Bibelstelle drängt sich als Hüterin der Sprache der Heiden ein,
und kein Kirchenvater tritt neben Vergil und Terenz als Gewährsmann ihrer Worte
auf." Dabei bricht Alcuin auch völlig mit den hohlen Phantastereien eines „Gram-
matikers" wie V i r g i 1 i u s M a r o , der in der Zeit der Söhne Chlodwigs auf
gallischem Boden ein viel benutztes und bis auf Karls des Großen Zeit angesehenes
grammatisches „Lehrbuch" schrieb.
Auch die Kunst des Übersetzens ist nicht leer ausgegangen; zwei
bewährte Meister lateinischen Schrifttums, Emil Rosenberg und Max
Hodermann, haben wertvolle Beiträge geliefert: Dr. Emil Rosenberg,
Professor am Kgl. Gymnasium zu Hirschberg in Schles. geht in seiner Abhandlung
(Der deutsche Ausdruck beim Übersetzen ciceronianischer
Reden. 32 S. 4°. Progr.-No, 253) einem seiner Lieblingsgedanken nach,
„die alten Schriftsteller mehr modernem Fühlen zu
näher n." Er berücksichtigt besonders in Verr. 4. 5, pro Murena, pro Plancio.
Bemerkenswert ist sein Hinweis auf einen alten lateinischen Stilisten der Anstalt,
an der er selber wirkt, Gottfr. Wilh. Koerber (nach 1800), der vor lOOJahren
schon die Erkenntnis aussprach: ,,Wir sind überhaupt ungemein substantivlustig,
weilesunsdurchdiePraxisdesmenschlichenVerstandes
seit Jahrhunderten geläufig geworden, Begriffe abzu-
ziehen und zusammenzubinde n." Rosenberg selbst weiß dies wie
andres Eigenartige des lateinischen Stils lehrreich zu erläutern. Hier ein Beispiel,
wie das Verhältnis des Partizips zum Verbum finitum zum Ausdruck kommt: Verr.
V 5, 27: sie confecto itinere, cum ad aliquod oppidum venerat, eadem lectica usque
in cubiculum deferebatur. „So wurde die Reise zurückgelegt. Kam er nun in
ein Städtchen, so ließ er sich . . ," Ganz besonders stimme ich ihm bei in dem
Urteil, daß richtiges Übersetzen nicht genügt, um dem Schüler den antiken
Autor nahe zu bringen, besonders da nicht, wo Temperament sich kundgibt
{,agitat rem militarem': ,das Militärische ist ihm ein Dorn im Auge', statt: ,er tadelt
das Kriegswesen'). Die alten Schriftsteller dürfen uns „nicht in marmorner Mu-
seumsweiße entgegentreten"; die Schüler müssen sie vom Leben durchpulst, viel-
leicht oft auch geschwärzt und zerzaust sehen.
Professor Dr. Max Hodermann, dessen frühere Arbeiten über Cäsar (Unsre
Armeesprache im Dienste der Cäsar- Übersetzung (Leipzig, Dürr 1899, 2. Aufl. 1903)
über Xenophon (Vorschläge zur Xenophon-Übersetzung im Anschluß an die deutsche
Armeesprache. Festschrift zur 350 jährigen Jubelfeier des Fürstlichen Gymnasiums
zu Wernigerode, 1900) lebhaften Beifall gefunden haben, bringt in einer neuen
Schrift ähnliche Vorschläge für Livius (Livius in der deutschen Heeres-
sprache. Gymn. zu Wernigerode, No. 328. 80 S. 8°). Als Quellen be-
nutzte Verfasser besonders die Dienstvorschriften und die Veröffentlichungen des
Großen Generalstabes; von diesen waren neu hinzugetreten der 4. und 5. Bd. des
Siebenjährigen Krieges und die Darstellung der Kämpfe der deutschen Truppen
in Südwestafrika (Berlin 1906); auch einiges von den kriegsgeschichtlichen Er-
zählungen Taneras wurde herangezogen. Die übersichtliche alphabetische Ordnung
608 F. Cramer,
des Stoffes erleichtert sehr wesentlich die Benutzung; und diese selbst wird oft
genug manchen Lichtblick auch dem erfahrenen Übersetzer gewähren. Man hat
einst Theodor Mommsens Römischer Geschichte zum Vorwurf gemacht, sie kokettiere
zu sehr mit modernen Worten zum Ausdruck antiker Begriffe; im allgemeinen
aber lag hierin ein wirklicher Vorzug, selbst, wenn einmal dies oder jenes Fremd-
wort hineinspielte; Beispiele wie etwa Kavallerie oder Infanterie sind um so weniger
zu tadeln, als doch unsre Armee — selbst, wenn wir lieber „Heer" sagen — in
ihrer Sprache mit Fremdlingen noch gespickt ist, ganz entsprechend der Ent-
wicklung unsres Heerwesens. Hier und da vermißt man wohl das eine oder
andre: so würde, wenn manipulus berücksichtigt wird, auch centuria einen Platz
haben dürfen, ebenso das zugehörige centurio. „Hauptmann" halte ich noch immer
für die geeignetste Wiedergabe dieses Wortes, wenngleich der centurio im Sinne
der heutigen deutschen Wehrordnung nicht zu den Offizieren gehören würde; der
Ausdruck „Feldwebel", wie ihn Eduard Wolff (Lugano) in einer Besprechung der
Hodermannschen Schrift vorschlägt, erweckt meines Erachtens eine durchaus
schiefe Vorstellung: der centurio hat weit mehr selbständige Entschließungsgewalt
als unser Feldwebel. Übrigens gab es eine höchste Klasse von Legionszenturionen,
die auch dem Ritterstande angehören konnten; ebenso verleiht Trajan den Ritter-
rang einem Legionszenturionen. Auch befehligen Zenturionen durchaus selbständig
Kohorten der Auxilien, ebenso oft auch Detachements des Provinzialheeres (vgl.
v. Domaszewsky, Die Rangordnung des römischen Heeres, Bonner Jahr-
bücher, Heft 117, 1. und 2. Heft, S. 81 ff.).
Ebenso erhalten wir für die Behandlung der Sprachlehre und der
Übersetzungen ins Lateinische bemerkenswerte Beiträge. Eine
der willkommensten Erscheinungen dieser Art sind die Richtlinien für
den grammatischen Unterricht im Lateinischen, die
Oberlehrer C. Meurer und Direktor Dr. E. Niepmann zusammengestellt haben.
(Stadt. Gymnasium und Realgymnasium zu Bonn. No. 561; 40 S. 8".) Wir
haben heute eine Fülle gelehrter Untersuchungen und auch systematischer
Darstellungen über die geschichtliche Entwicklung auch der
lateinischen Sprache. Aber der landläufigen Schulgrammatik sind sie, wenig-
stens im allgemeinen, noch nicht so zugute gekommen, wie es auf griechi-
schem Sprachgebiete wenigstens teilweise der Fall ist. Zwar ist dies meines
Erachtens aus Innern Gründen erklärlich; aber jedenfalls kann fürs Lateinische
entschieden noch mehr geschehen. Es ist daher sehr erfreulich, wenn wir hier einen
durchaus praktischen Versuch begrüßen können, dasjenige handlich herauszuheben,
was das Interesse beleben, das Verständnis erleichtern und vertiefen kann. Die
Abschnitte zur Laut- und Formenlehre und zur Kasussyntax sind von Meurer,
die Syntax des Verbums von Niepmann behandelt. Auf Schritt und Tritt
tritt uns die praktische Einsicht und Sicherheit des erfahrenen und klarsehenden
Schulmannes entgegen. Möchten die „Richtlinien" mit dazu helfen, dem gram-
matischen Unterricht die Frische, die Lebendigkeit und Anschaulichkeit zu geben,
die ihm zukommt.
Einen praktischen Beitrag zur vergleichenden Schulgrammatik gibt Professor
Max Zöllner in seinen „Lateinischen Beispielen zur Ein-
F. Cramer, Latein. 609
Übung des verbum infinitum und die oratio obliqua mit deutscher,
englischer und französischer Übersetzun g", die er für das
Realgymnasium i. E. zu N a u e n zusammengestellt hat (Nauen, Freyhoff. Prog.-
No. 128. 19 S. 4°). Die Beispiele sind aus dem Bereiche der Cäsarlektüre genommen,
sind ihrem Wortlaute nach klar und bestimmt gefaßt und berücksichtigen alle
wesentlichen Punkte des bezeichneten Syntax-Abschnittes. Es ist aber, da nur
die Beispiele selbst gegeben sind, nicht ersichtlich, auf welchen Stufen die Zu-
sammenstellung gebraucht werden und ob alles von den Schülern auswendig
gelernt werden soll. Dies würden wir jedenfalls für unnötige Gedächtnisbelastung
halten, so lehrreich auch die Vergleichung an sich ist und so geschickt sie durch-
geführt ist; besonders auch die deutsche Übersetzung erscheint durchweg geschmack-
voll und angemessen.
Dem Übersetzen ins Lateinische will in eigenartiger Weise Oberlehrer
Dr. A. Baltzer in seinen „Lateinischen Studien" zu Hilfe kommen
(Große Stadtschule — Gymnasium und Realschule — zu Wismar. No. 859. 4 S.
8"). Er legt darin als die Frucht „langdauernder Arbeit" die Anfänge einer Schrift
vor, in der er den Lese- und Übungsstoff bis zur Mittelstufe und bis zum
Einsetzen der Schriftstellerlektüre behandelt. Mustern wir die dargebotenen
Proben seines Stoffes, so will uns scheinen, als ob manches, was an um-
formenden Übungen geboten ist, besser dem lebendigen Takte des Lehrers über-
lassen bleibe.
Ich setze den Anfang des ersten lateinischen Lesestückes („Julius und sein
Vater") hierher:
„Julius: Epistolal Pater: Quis pulsat portam? }uVms : Epistolal Pater: Qu w
pulsat portam? Julius: Reddo epistolam. Pater: Quis reddit epistolam? Julius:
Julius reddit epistolam."
Jedenfalls aber ist die Art des Ganzen für den Lateinlehrer durchaus be-
achtenswert; über die Brauchbarkeit des Gebotenen in der Hand der Schüler
halten wir mit dem Urteil zurück bis zum Vorliegen des ganzen Buches.
Einen beachtenswerten Versuch zur Verbesserung des Verfahrens beim
Vokabellernen bringt Professor Franz Stürmer in seinem „W ö r t e r -
Verzeichnis zu Ostermann-Müllers lateinischemÜbungs-
buch für Sexta (Ausgabe A)" (Gymnasium zu Weilburg a. d. Lahn.
No. 524. 48 S. 8"). Nach der Methode, die derselbe Verfasser in seiner Schrift
„Die Etymologie im Sprachunterricht der höheren Schulen" (Halle 1906) vor-
geschlagen hat, knüpft er, nach etymologischen Grundsätzen, die Wörter möglichst
an Bekanntes und Verwandtes an. Dem Grundsatze nach wird dies ja mehr oder
weniger von jedem erfahrenen Lehrer beim mündlichen Unterricht geübt. Wenn
Stürmer geltend macht, es empfehle sich, auch dem Schüler ein etymologisch be-
arbeitetes Wörterverzeichnis in die Hand zu geben, so wird man jedenfalls zuge-
stehen müssen, daß eine Stütze für die häusliche Wiederholung wünschenswert ist.
Auf alle Fälle wird aber des Verfassers Schrift dazu helfen können, daß der Lehrer
seinerseits planmäßiger und in mehr umfassender Weise die Etymologie heranziehe.
Düsseldorf. Franz Cramer.
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg.
610 O. Preußner,
Französisch und Englisch.
Baake, Wilhelm, Moliere et les Tartuffes de son Temps.
Halle a. S., Oberrealschule der Franckeschen Stiftungen. 17 S. 4". Progr.-No. 347.
Während man bisher annahm, daß der Tartuffe gleich dem Avare und dem
Misanthrope eine jener Charakterkomödien sei, deren Gestalten dem Leben und
den Sitten der Zeit abgelauscht sind, stellt der Verfasser die Komödie als eine
poetische Streitschrift hin, die geschrieben ist gegen die heimlich wirkende und
religiös fanatische Gesellschaft des „Saint-Sacrement de l'Autel". Der Verfasser
gibt zunächst eine kurze Geschichte des seinerzeit gefürchteten Ordens, dessen
Aufzeichnungen erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aus dem Staube der
Pariser National-Bibliothek hervorgeholt wurden und auf den C. von Hoiningen-
Huene in der deutschen Rundschau (März 1906) aufmerksam machte. Dann wird
uns gezeigt, wie der Orden scharf und erbittert gegen Moliere und seinen Tartuffe
kämpft, wie es ihm gelingt, die erste öffentliche Aufführung des Stückes fünf Jahre
lang hinauszuschieben, wie er aber schließlich auch in diesem Kampfe unterliegt.
Endlich erfahren wir noch, welche Anspielungen auf den geheimen Bund und
seine Mitglieder sich im Tartuffe finden und wie der ungewöhnliche Erfolg des
Stückes zum großen Teil darauf beruhte, daß das Publikum die mehr oder
minder versteckten Angriffe des Dichters auf die am Hofe wie in der Gesellschaft
gleich verhaßten Frömmler verstand. So haben wir im Tartuffe zwar keine
geschichtliche Darstellung des Treibens der heimlichen Gesellschaft zu suchen,
deren eigentlicher Name wahrscheinlich Moliere und seiner Zeit selbst unbekannt
war, aber die Charaktere der Hauptpersonen passen sicherlich auf die gefürchteten
und gehaßten Hauptvertreter dieses unheimlichen Ordens.
Glaser, Kurt, Montesquieus Theorie vom Ursprung des
Rechts. Marburg, Oberrealschule. 23 S. 8». Progr.-No. 546.
Montesquieu spricht über den Ursprung des Rechts in den beiden ersten Ka-
piteln seines „Esprit des Lois" und richtet in diesen einleitenden, früher viel um-
strittenen Darlegungen einen Angriff auf die von Hobbes in seinen Schriften „De
cive" und „Leviathan" ausgesprochenen Theorien. Der Verfasser entwickelt daher
zunächst die von Hobbes gegebenen Argumente und behandelt dann die von Montes-
quieu gegen den englischen Philosophen gerichtete Polemik. Mit Interesse folgen
wir den die Entstehung des Rechts betreffenden Einzelfragen; wir sehen, wie beide
Philosophen das bestehende Recht aus dem natürlichen Recht herleiten, wie beide
jedoch schon hinsichtlich des Naturzustandes eine verschiedene Auffassung haben,
wie beide zur Erklärung der Ursachen, die zum Verlassen des Naturzustandes
und zum Abschluß einer rechtlichen, staatlichen Gemeinschaft führen, in wesent-
lichen Punkten auseinandergehen.
Noite, Hans, Der wallonische Volksdichter Nicolas De-
frecheux. Papenburg, Realgymnasium i. E. 31 S, 4«. Progr.-No. 426.
Einleitend spricht der Verfasser über die Entstehung und Verbreitung der
wallonischen Sprache, die jetzt nur noch in wenigen Gemeinden als Sprache der
Arbeiterbevölkerung ein trauriges Dasein fristet. Nur ein Dichter, der Bäcker
Nicolaus Defrecheux, geb. 1825, gest. 1874, hat als echter Volksdichter den wallo-
Französisch und Englisch. 61 1
nischen Dialekt noch einmal zu Ehren gebracht. Seine Bedeutung verdankt er
eigentlich nur zwei Liedern, die noch heut im Lütticher Lande allgemein bekannt
sind, einem tief empfundenen lyrischen Gedicht „Liyiz-m' plorer" und einem
wallonischen Tanzlied „L'avez-v' viyou passer?" Beide Lieder sind in wallonischer
Sprache abgedruckt; beigegeben sind eine metrische Übertragung des belgischen
Landsmannes Cuppens, eine französische und eine deutsche Übersetzung,
Runge, H., Moliere und die Kritik seiner Zeitgenossen.
Eisenberg, Herzogl. Christians-Gymnasium. 12 S. 4". Progr.-No. 897.
Der Verfasser macht es sich nicht zur Aufgabe, die Fülle des Stoffs des ge-
wählten Themas zu erschöpfen; er zeigt nur kurz die Kritik von Freund und Feind
an den sechs bedeutendsten Komödien, die ja auch grade am meisten den Kampf
um das Für und Wider herausforderten. Der Verfasser stellt dar, wie Lafontaine,
Racine und der König den Dichter in Schutz nahmen, und verweilt länger bei den
zahlreichen Widersachern Moli^res, den kleinen zeitgenössischen Dichterlingen
und Schauspielern, den Höflingen, die in den Komödien persönliche Angriffe sahen,
den überall Anstoß nehmenden Preziösen, dem hohen Adel, den Moliere oft und
gern in seiner Verworfenheit an den Pranger stellt, den Ärzten mit ihrer wertlosen
Wissenschaft und der gestrengen Geistlichkeit, die mit einem Sturm der Ent-
rüstung gegen den Dichter zu Felde zog.
Sonnekalb, Karl, EinesprachlicheUntersuchungderChan-
son des Saxons. Ilmenau, Realschule. 29 S. 4°. Progr.-Nr. 885.
Der Verfasser der fleißigen und streng wissenschaftlichen Abhandlung kommt
zu dem Ergebnis, daß die Chanson des Saxons der pikardischen Mundart angehört
und um das Jahr 1200 abgefaßt worden ist. Der Dichter nennt sich selbst Jehan
Bordiaus, den man bisher mit Jehan Bodiaus aus Arras, dem Dichter des bekannten
Jeu de Saint Nicolas, für identisch gehalten hat. Im Laufe der sprachlichen Unter-
suchung führt jedoch der Verfasser gewichtige Beweise an, die gegen die Identität
der beiden Dichter sprechen. Eine eingehende vergleichende Sprachuntersuchung
der beiden Dichtungen kann jedoch erst ein abschließendes Urteil über die Ver-
fasserfrage erbringen.
Zabel, Ernst, Die soziale Bedeutung von J. J. Rousseaus
Erziehungstheorie. Quedlinburg, Kgl. Gymnasium. 23 S. 4". Progr.-
No. 321.
Eine Kritik von Rousseaus Erziehungstheorie nach sozialen Gesichtspunkten
ist in unsrer sozial interessierten Zeit ein zeitgemäßes Thema. Aber unsre Zeit,
die im Gegensatz zum Zeitalter der französischen Aufklärung steht, kann nicht mehr
den Kultur- und Naturzustand des Menschen als schroffe Gegensätze auffassen
und muß demnach Rousseaus Erziehungstheorie als im Prinzip verfehlt ansehen.
Diesen Nachweis führt uns der Verfasser in seiner interessanten und klaren Ab-
handlung. Es wird uns gezeigt, wie bereits die Zielbestimmung der pädagogischen
Erziehung Rousseaus nach dem heutigen Stande des Wissens unhaltbar ist und
wie auch die Maßnahmen, die zur Erreichung dieses Zieles dienen sollen, nicht
genügen können.
Unter den neusprachlichen literarischen Arbeiten sei auch hier auf eine Ab-
handlung hingewiesen, die sich mit zwei Dramen Alfieris befaßt.
39*
612 0. Preußner,
Kariowa, Oskar, Über einige Tragödien von Alfieri. Pleß,
Kgl. Gymnasium. 20 S. 4°. Progr.-No. 270.
Der Verfasser, dessen wertvolle literarische Skizzen schon mehrfach an dieser
Stelle besprochen worden sind (vgl. Monatschrift III, 454 und V, 44), veröffent-
licht in der vorliegenden Abhandlung eine interessante Studie über die Merope
und die Antigone Alfieris, den die Italiener gern unter die Zahl der ersten Dra-
matiker der Welt rechnen möchten. Der Verfasser analysiert den Inhalt des italie-
nischen Dramas im Verhältnis zu Voltaires Merope und skizziert dabei meister-
haft das Knappe und Einfache der Handlung und Sprache der italienischen Nach-
dichtung im Gegensatz zu dem gezierten, unnatürlichen Benehmen und den galanten
Reden der Helden des französischen Vorbildes. Und doch ist Alfieris Merope
kaum bühnenfähig; trotz einzelner hochdramatischer Szenen läßt uns das Ganze
kalt. Wir vermissen das Folgerichtige in der Handlung, die Unvernunft trägt
gar oft über die gesunde Vernunft den Sieg davon. Dazu ist die Sprache meist
recht spröde und hart. Noch gewagter und verfehlter ist Alfieris Versuch, die
Antigone des Sophokles zu modernisieren; die Abweichungen von den Überliefe-
rungen der klassischen Sage sind ganz erheblich, entstellen und entwürdigen
aber die klassische Antigone völlig.
Born, Carl, Sammlung französischer und englischer Ge-
dichte. Geeigneter Memorierstoff für Realschulen und die Mittelstufe der realen
Vollanstalten. Kalbe a. S., Realschule. 58 S. 8". Progr.-No. 340.
Den Fachkollegen, die mit der oft stiefmütterlich behandelten Auswahl der
Gedichte im eingeführten Übungsbuch nicht einverstanden sind, sei das kleine
Buch bestens empfohlen. Die Buchhandlung von Quelle & Meyer in Leipzig
hat den Vertrieb der Abhandlung übernommen. Die Sammlung enthält etwa
die doppelte Anzahl des lehrplanmäßig vorgeschriebenen Memorierstoffes, so daß
immer noch das Recht der freien Auswahl gewahrt bleibt. Außer den allbekannten
Dichtungen, die selbstverständlich geistiges Eigentum der Schüler werden müssen,
sind eine Anzahl weniger bekannter, aber doch recht wertvoller Dichtungen ab-
gedruckt. Nur würde ich Thomsons Rule Britannia von deutschen Schülern
nicht mehr lernen lassen. Etwas reichere historische Anmerkungen würden bei
einem etwaigen Neudruck von Vorteil sein. Das beigegebene Druckfehler-Ver-
zeichnis ist auch noch unvollkommen. Der Verfasser bereitet eine Fortsetzung
der Sammlung für die Oberklassen vor; diese müßte aber so reichlich bemessen
sein, daß sie auch den Stoff für die poetische Lektüre der drei oberen Klassen bietet.
Lehmann, Joh., Douze.douzaines d'^nigmes frangaises,
propres ä gtre apprises par coeur par les el^ves des classes superieures. Nakel,
Gymnasium. 31 S. 8». Progr.-No. 218.
Der Verfasser veröffentlicht außer 18 einer französischen Zeitschrift ent-
lehnten Rätsel 144 französische Rätsel, die er selbst verfaßt hat und die er die
Schüler der oberen Klassen auswendig lernen läßt. Die französischen Verse und
die Kunst, Rätsel zu schmieden, machen ja dem Verfasser Ehre; die Fachkollegen
werden sich aber kaum für diese vielfach flachen Gelegenheitspoesien begeistern
und werden den älteren Schülern lieber echt französische Dichtungen darbieten,
Französisch und Englisch. 613
die nach Inhalt und Form unsrer Jugend weit mehr Interesse an der französischen
Sprache abgewinnen.
Schäfer, Bernhard, Englische Gedichte in metrischer Über-
tragung, Lünen a. d. Lippe, Progymnasium i. E. 13 S. 4°. Progr.-No. 461.
Der Verfasser hat 33 englische Gedichte, die sämtlich der Schullektüre ent-
nommen sind, ins Deutsche übertragen; am besten gelungen erscheinen mir die
kleineren bekannten Lieder.
Brüll, Hugo, Beiträge zur französischen Etymologie, zu-
gleich als Probe eines etymologischen Wörterbuchs. Krotoschin, Kgl. Wilhelms-
Gymnasium. 47 S. 8». Progr.-No. 215.
Die Abhandlung, die noch nicht den Buchstaben A bewältigt und nur bis
affüter führt, verrät eine fleißige und mühsame Arbeit. Die einschlägige Literatur
ist nach Möglichkeit herangezogen, schwebende und schwierigere Ableitungen sind
mit Vorsicht behandelt. Vielleicht wäre es ratsam, bei der Fortsetzung der Arbeit
die Bedeutungsentwicklung der einzelnen Wörter noch eingehender nachzuprüfen.
Müller, Zum Bedeutungswandel englischer Wörter. Frei-
berg, Realgymnasium. 28 S. 4°. Progr.-No. 728.
Die Arbeit enthält das Ergebnis der gelegentlichen etymologischen Studien
des Verfassers. Wenn auch gar manches allbekannt ist, so ist doch diese Zusammen-
stellung der in der Schriftsprache am häufigsten vorkommenden Wörter mit ihrer
Bedeutungsentwicklung im Leben und Wandel der Sprache recht dankenswert.
Wir sehen, wie sich gar oft die ursprüngliche Bedeutung abschwächt und ver-
wischt, um sich schließlich zu verengern, zu verschlechtern und zu vergröbern
und nur in seltenen Fällen sich zu heben und zu bessern. Die umgekehrte Er-
scheinung der Erweiterung und Verallgemeinerung des Begriffs ist in weit weniger
Fällen nachzuweisen. Diesen interessanten Prozeß des ständigen Lebens und
Werdens in der Sprache darf auch der Schüler nicht unbeachtet lassen. Darum
fort mit den wertlosen SpezialWörterbüchern, die dem Schüler ganz mechanisch
die passende Bedeutung des fremdsprachlichen Wortes geben und ihn gradezu
zur Denkfaulheit erziehen.
Grundlehrplan für den englischen Unterricht. Kiel,
Oberrealschule I an der Waitzstraße. 20 S. 4«. Progr.-No. 381.
Nachdem der Gesamtlehrplan der Anstalt in großen Zügen bereits in der
wissenschaftlichen Beilage zum Jahresbericht 1906 veröffentlicht worden ist, wird
in der vorliegenden Arbeit die Behandlung der englischen Lehraufgaben in ihren
Einzelheiten gezeigt. Solche Veröffentlichungen sind stets willkommen, zumal
wenn sie mit solcher Sorgfalt und Ausführlichkeit wie das Kieler Programm ab-
gefaßt sind. Hier sind nicht nur die theoretischen Ansichten eines einzelnen
ausgesprochen, es werden uns vielmehr die praktischen Resultate und die mehr-
jährigen Erfahrungen der neusprachlichen Kollegen vorgelegt. Als Lehrbücher
sind die bekannten trefflichen Unterrichtsbücher von Dubislav und Boek ein-
geführt, dazu kommt noch in den Klassen 0 III — I die Gedichtsammlung von
Gropp und Hausknecht. Am eingehendsten ist die Darbietung der Grammatik
behandelt, die nach der sogenannten vermittelnden Methode gelehrt wird. Es
614 O. Preußner,
finden sich hierbei Ratschläge und Winke, die verdienen, immer wieder betont
zu werden und die hoffentlich in noch recht viele Lehrpläne übergehen werden.
Leider verbietet es der Mangel an Raum, hierauf näher einzugehen; ich muß mich
damit begnügen, zu den oft bis ins einzelne gehenden Ausführungen nur einige
Berichtigungen und Ergänzungen hinzuzufügen. Über die Art des Lautierkurses,
mit dem der englische Unterricht zu beginnen hat und der gerade Anfängern nicht
unbedeutende Schwierigkeiten bereitet, vermißt man genauere Angaben. Die
zum Lautieren der schwierigeren und wichtigsten Laute angesetzten zwei bis drei
Stunden können in keiner Weise genügen. Auch über die den einzelnen Quartalen
zugewiesenen Abschnitte der Jahrespensen kann man andrer Ansicht sein; die
Praxis wird auch gewiß schon öfters Abweichungen und Änderungen ergeben haben.
Auf fest anzusetzende Wiederholungen am Schluß eines Semesters oder Schul-
jahres wird man ja bei ausreichender Zeit kaum verzichten. Wichtiger ist aber, daß
bei der Durchnahme jedes Stückes auf eine ständige immanente grammatische
wie sprachliche Wiederholung der größte Nachdruck zu legen ist. Daher kann
ich der Verteilung der Stunden für Klasse Olli nicht zustimmen (1 Stunde für
Wiederholung des U III Pensums, 1 Stunde für Grammatik, 2 Stunden für Lektüre).
Die vielfach auch in Grammatiken noch übliche Bezeichnung unregelmäßige Verben
für starke Verben ist zu verwerfen. Bei der Besprechung der Reflexiva ist darauf
hinzuweisen, daß die englische Sprache eine beschränkte Anzahl echter Reflexiva
kennt. Der Acc. c. Inf. im Englischen ist nicht so mechanisch zu behandeln, wie
wir es leider von der früher allgemein üblichen Art des Lateinischen gewöhnt sind.
Die Ausführungen über die Behandlung der Lektüre treten hinter denen über die
grammatische Belehrung ziemlich zurück, wahrscheinlich, weil man hier dem
Lehrer die beim Unterricht so notwendige und unentbehrliche Freiheit sichern will,
sich die seiner Art am besten entsprechende Methode zu wählen. Was helfen auch
hier über den Gebrauch der Fremdsprache im Lektüre-Unterricht alle Theorien,
wenn sie doch nicht befolgt werden oder nicht befolgt werden können. Auffallend
ist nur, daß man in 0 III und zum Teil auch noch in U II von einer häuslichen
Präparation absehen will. Der Schüler ist doch bereits im französischen Unter-
richt auf die rechte Art der Präparation hingewiesen worden. Daneben ist aller-
dings die unvorbereitete Übersetzung nach Möglichkeit zu üben. Der Satz „Wün-
schenswert ist in Klasse I ein Überblick über die englische Literatur seit Shake-
speare" wahrt zwar auch hier dem Lehrer jede Freiheit; einige Ausführungen über
die Auswahl des Stoffes sind jedoch in einem ausführlichen Lehrplan unentbehrlich.
Berlit, Otto, Quelques principes sur la lecture ä haute
voix, specialement sur la liaison des mots en fran^ais.
Wiesbaden, Stadt. Oberrealschule i. E. am Zietenring. 13 S. 4". Progr,-No. 550.
Die Kunst des Vortrags ist zwar schwierig, aber doch auch bis zu einem ge-
wissen Grade für jeden durch Übung zu lernen. Der Verfasser, der sich bewußt
ist, daß die Gesetze der französischen Vortragskunst sich nicht ohne weiteres in
bestimmte und allgemein gültige Regeln fassen lassen, da sie vielfach willkürlich
sind und nach der Art des Vortrags, des Lesens oder Sprechens, oft Abänderungen
erfahren, stellt die wichtigsten Richtlinien zusammen und spricht über die Atmung,
die Stimme, die Aussprache, die Betonung, die Interpunktion und am ausführ-
Französisch und Englisch, 615
liebsten über die Bindung. Das Material ist übersichtlich und klar zusammen-
gestellt und nach den maßgebenden Gesichtspunkten erschöpfend behandelt.
Kirschstein, Louis Ferdinand, Ergänzungsregeln zur franzö-
sischen Sprachlehre. II. Teil: Das Verb aller in den gebräuchlichsten
Verbindungen und Konstruktionen. Wehlau, Kgl. Realschule. 36 S. 8". Progr.-
No. 29.
Der Verfasser stellt das Verb aller in den gebräuchlichsten phraseologischen,
syntaktischen, synonymischen und stilistischen Verbindungen zusammen. Den
Hauptteil der Abhandlung nehmen die Germanismen mit dem deutschen Verb
„gehen" ein. Die Zusammenstellung ist übersichtlich und in möglichster Voll-
ständigkeit geboten. Da die Art der Darstellung volle Anerkennung verdient,
würden gewiß weitere Veröffentlichungen über andre gebräuchliche Verben
dankbar begrüßt werden.
Morgenroth, Eduard, Die französischen Verben im Schul-
unterricht. Berlin, Humboldt-Gymnasium. 46 S. 8°. Progr.-No. 68.
Der Verfasser versucht es, den Schülern das Erlernen der französischen regel-
mäßigen wie unregelmäßigen Verben nach Art des im Lateinischen üblichen Systems
der Stammformen zu erleichtern, ein Verfahren, das wohl heut fast allgemein
geübt wird und das das sinnlose Durchkonjugieren der Zeiten ohne Erkenntnis
des inneren Zusammenhangs der einzelnen Formen hoffentlich völlig beseitigt hat.
Es werden außer dem Infinitiv die folgenden vier Stammformen angenommen:
Praesens Ind., Imperfectum Indic, Histor. Perfectum, Partie. Perfecti. Das
Imperf. Ind. ist aber als besondere Form übrig, wenn man hierfür die 1. Person
Plur. Praes. Ind. einsetzt. Neu ist auch die Forderung, in der französischen Sprache
nur zwei Konjugationen zu unterscheiden; ob sich aber diese Forderung in der
Praxis bewährt, ist recht fraglich. Wertvoll erscheint mir das Betonen der Tat-
sache, daß wir auch im Französischen starke und schwache Formen der Verben zu
unterscheiden haben. Da der Verfasser zunächst nur für Latein lernende Schüler
schreibt, wäre es notwendig gewesen, das Latein noch mehr zur Erklärung und
Bildung der Formen heranzuziehen. Ich erinnere nur an die Schreibung mit und
ohne d in den Formen: je crains, je resous, je prends; ebenso an die als Ausnahmen
angeführten Futurformen: j'aurai, je saurai, je voudrai, j'irai usw. Das den Kon-
junktiv nach sich bedingende que muß aus der Formenlehre unsrer Grammatiken
für immer verschwinden. Falsch ist auch die Annahme, daß nur einige intransitive
Verben als Ausnahme mit avoir verbunden werden; es muß umgekehrt heißen:
Die intransitiven Verben werden im Französischen mit avoir verbunden; nur ein-
zelne Ausnahmen, die auswendig zu lernen sind, verlangen etre. Verfehlt ist es
auch, von einem persönlichen unbetonten Genitiv-Pronomen zu sprechen und
die unmögliche Verbindung vas-en lernen zu lassen, anstatt etwa vas en France.
Gern stimme ich aber dem Verfasser zu, daß man recht wohl die regelmäßigen
und die unregelmäßigen Verben zusammen lernen lassen kann, vorausgesetzt,
daß die Stammformen bekannt sind und daß man mehr als vielfach üblich auf
die den einzelnen Konjugationsformen gemeinsamen Endungen nachdrücklichst
hinweist. Neuere Grammatiker üben dieses Verfahren mit gutem Erfolge und
616 O. Preußner,
bringen die Schüler nicht erst nach 3 Jahren zum Wissen der gebräuchlichsten
unregelmäßigen Verben.
Petzold, F., Zur Wiederholung des verarbeiteten Lehr-
stoffs. Mit Zugrundelegung von Gaspard, Les pays de France. Mühlhausen
in Thür., Oberrealschule. 31 S. 8". Progr.-No. 350.
Die Arbeit, die der Verfasser seinen Primanern gewidmet hat, zeigt, mit wel-
chem Eifer der Lehrer mit seinen Schülern die Erweiterung und Befestigung des
Wort- und Phrasenschatzes betrieben hat. Der Wortschatz der Realien ist in
den gebräuchlichsten Verbindungen und Redewendungen zusammengestellt und
befähigt so den Schüler, sich schriftlich und mündlich über das Gelesene in kor-
rektem Französisch zu äußern.
Remus, Beiträge zur Behandlung Shakespeares im eng-
lischen Unterricht der Prima. Düren, Realgymnasium. 19 S. 8".
Progr.-No. 629.
Der Verfasser spricht sich zunächst in einer kurzen Einleitung über die Richt-
linien und Gesichtspunkte aus, nach denen ein neusprachliches Drama als Kunst-
werk zu behandeln ist. Er läßt richtig und energisch betriebenen Sprechübungen
ihren Wert, den Schüler im ständigen Gebrauch der fremden Sprache an die fremden
Laute und Lautverbindungen zu gewöhnen. Nur wendet er sich gegen die extremen
Reformer, die rn der mündlichen Beherrschung der Sprache ihr letztes und einziges
Ziel sehen und die, anstatt ein Drama zu interpretieren und es auf die Schüler
wirken zu lassen, es durch übel angebrachte Sprechübungen den Schülern ver-
leiden. In kurzen Sätzen zeigt dann der Verfasser an Macbeth, welche Aufgaben
der Lektüre eines Shakespearedramas harren. Hierbei verlangt er auch, daß
die Schüler das Notwendigste über die Entwicklung des englischen Dramas bis
Shakespeare erfahren, einen kurzen Abriß des Lebens Shakespeares erhalten und
vertraut gemacht werden mit den damals üblichen Bühneneinrichtungen, wobei
er mit Recht beklagt, daß uns hierzu noch die allernotwendigsten Anschauungs-
mittel fehlen und daß selbst der Regie größerer Bühnen oft noch die grundlegenden
Kenntnisse fehlen. Man vergleiche hierzu die treffenden Bemerkungen, die Her-
mann Conrad gelegentlich der Besprechung einer Aufführung von Shakespeares
Macbeth macht (Preuß. Jahrbücher B. 136, p. 545).
Schumann, Wilhelm, Der französische Anfangsunterricht
nach dem Elementarbuch von G. Ploetz (Ausgabe E). Mar-
burg, Kgl. Gymnasium Philippinum. 28 S. 4°. Progr.-No. 520.
Der Verfasser, der die Ploetzschen Lehrbücher gründlich kennt, gibt für den
Unterricht in der Grammatik wertvolle methodische Anleitungen und Winke.
Er vermeidet sorgsam die gefährliche mechanische Dressur des Schülers, er ver-
sucht vielmehr überall das Gedächtnis nach Möglichkeit zu unterstützen und den
Schüler dadurch zum Denken zu erziehen, daß er nach dem Grunde der Erscheinung
fragt und daß er, wo nur irgend angängig, das Deutsche und besonders das La-
teinische zum Vergleich heranzieht. Dabei zeigt er auch, wie ein Lesestück zu
behandeln ist, wie erst nach dem Übersetzen und Lesen die eigentliche Arbeit
beginnt, die peinliche Durcharbeit zur Wiederholung, Befestigung und Erweiterung
des grammatischen Wissens, des Wort- und Phrasenschatzes. Der Verfasser führt
Französisch und Englisch. 617
uns weiter vor, welch reiches Maß grammatischer Kenntnisse sich der Schüler
bei richtiger Anleitung in zwei Jahren erwerben kann, welche Fülle des
Wissens aus dem Übungsbuch herausgelesen und welche Fülle syntaktischen
Stoffes auf induktivem Wege in den beiden Elementarklassen gelernt werden
kann. Hierbei deckt der Verfasser auch manche Mängel der Regeln, der Lese-
und Übungsstücke auf; er erweitert und bessert vielfach und gibt gleichsam einen
Kommentar zu Ploetz heraus, der sicher bei späteren Auflagen benutzt werden wird.
Zum Schluß klagt der Verfasser mit Recht über die stiefmütterliche Behandlung
des Französischen in der Unter-Tertia des Gymnasiums. Wir bedauern mit ihm
die Herabsetzung der 4 Stunden in Quarta auf 2 Stunden in Unter-Tertia, ein
Verfahren, das sonst in keinem Unterrichtsfach versucht wird und das für das
Französische am Gymnasium die schlimmsten Folgen hat. Unsre Gymnasiasten,
die in Quarta gern Französisch lernen und bei 4 Stunden zumeist auch befriedigende
Leistungen aufzuweisen haben, fallen bei dem plötzlich auf 2 Stunden reduzierten
Unterricht oft genug völlig ab und messen dem mit so geringer Stundenzahl be-
dachten Unterricht auch nicht mehr die rechte Bedeutung bei. Gelingt es nicht,
die Stundenzahl wenigstens in U III wieder auf drei zu erhöhen, so muß der Lehr-
stoff erheblich beschränkt werden. Der Verfasser hat uns ja gezeigt, welche Fülle
grundlegenden grammatischen Wissens zu erledigen ist. Reicht aber die Zeit
in keiner Weise aus, dann kann die grammatische Belehrung nur oberflächlich
erfolgen, und die Übungsstücke müssen durchgejagt werden, ohne daß an Wieder-
holungen oder an eine Befestigung des Wissens gedacht werden kann.
Sörgely Johannes^ Englisch als erste Fremdsprache. Erfurt,
Oberrealschule. 20 S. 4». Progr.-No. 343.
Nach einigen einleitenden Bemerkungen über die Stellung des Englischen im
fremdsprachlichen Unterricht und über die Erfahrungen, die man bis jetzt mit
Englisch als erste Fremdsprache gemacht hat, untersucht der Verfasser objektiv,
welche stichhaltigen Gründe sich gegen den Anfang mit Französisch oder Englisch
anführen lassen, und zeigt dann, daß das Englische in grammatischer Beziehung
sehr wohl das leisten kann, was man allgemein von der ersten Fremdsprache ver-
langt. Für Englisch als erste Fremdsprache spricht vor allem der Umstand, daß
die gesamte Formenlehre einschließlich der wichtigsten syntaktischen Gesetze
infolge ihrer durchsichtigen Klarheit und Einfachheit bequem in den beiden ersten
Schuljahren erledigt werden kann, so daß bereits in den Mittelklassen die Lektüre,
die für unsre Jugend von einem ungleich größeren Wert als die französische ist,
zu ihrem Recht korpmen und in den oberen Klassen völlig in den Vordergrund
treten kann. Für des Verfassers Ansicht, mit Englisch zu beginnen und Englisch
energischer zu betreiben, sprechen dann noch wichtige praktische Bedürfnisse,
die größere politische und kommerzielle Bedeutung der Sprache. Wenn man auch
den in der Abhandlung dargelegten interessanten Ausführungen des Verfassers
vielfach zustimmen kann, so sind doch bei der praktischen Durchführung schwere
Bedenken nicht zu unterdrücken. Schafft man wieder bei den Realanstalten
grundverschiedene Lehrpläne, indem hier Französisch erste Fremdsprache bleibt,
dort aber mit Englisch begonnen wird, dann ergibt sich ein heilloser Wirrwarr
bei den Schülern, deren Eltern ihren Wohnsitz wechseln müssen. Den Luxus
618 O. Preußner, Französisch und Englisch.
zweier Realschulen mit verschiedener Behandlung der beiden modernen Fremd-
sprachen könnten sich gewiß nur wenige größere Städte leisten. Aber auch nach
den jetzigen Lehrplänen der Realschulen erreicht das Englische nicht viel später
die ihm gebührende Bedeutung. In der Unter-Tertia erledigt man bequem die ein-
fache Formenlehre, so daß bereits in Ober-Tertia mit der zusammenhängenden
Lektüre in wöchentlich zwei Stunden begonnen werden kann. Außerdem sind
die neueren Lehrbücher — ich erwähne hier nur das Unterrichtswerk von Dubislav
und Boek — so eingerichtet, daß die Lesestücke auch schon im ersten Unterrichts-
jahr wertvolle Lektüre nach Inhalt und Form bieten und reichlich Stoffe zu Sprech-
übungen über Gegenstände des täglichen Lebens, über Land und Leute enthalten.
Der Nachteil des Zeitverlustes wird also bei den sprachlich schon vorgebildeten
und geschulten Schülern recht bald wieder eingeholt, nur bleibt hierbei die ständige
Voraussetzung, daß man im Englischen die Grammatik wirklich in ihrer Ein-
fachheit und unter Ausschluß alles unnötigen Formenkrams lehrt und englische
Grammatik nur so weit treibt, als sie zum klaren Verständnis der Lektüre un-
bedingt notwendig ist. In Pommern und gewiß auch anderswo haben wir es erreicht,
daß die Endleistungen in Beziehung auf praktische Sprachkenntnisse und Be-
wältigung einer schwierigeren Lektüre hinter denen des Französischen in keiner
Weise zurückstanden, daß sogar öfters die Resultate im Englischen befriedigender
waren als im Französischen.
Stettin. Oskar Preußner.
1. Bücherbesprechungen.
Dyroff, Adolf, EinführungindiePsychologie (Band 37 von „Wissen-
schaft und Bildung"). Leipzig 1909. Quelle u. Meyer. I u. 134 S. kl. S«.
geb. 1,25 M.
Die Sammlung „Wissenschaft und Bildung" will in anregender Darstellung
und systematischer Vollständigkeit die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung
bringen,
Sie will den Leser schnell und mühelos, ohne Fachkenntnisse vorauszusetzen,
in das Verständnis wissenschaftlicher Fragen einführen; sie will dem Laien eine
belehrende und unterhaltende Lektüre, dem Fachmann eine bequeme Zusammen-
fassung und dem Gelehrten, der gern zu einer gemeinverständlichen Darstellung
greift, um sich in Kürze über ein seiner Forschung ferner liegendes Gebiet zu unter-
richten, ein geeignetes Orientierungsmittel sein.
Nicht wenige von diesen Versprechungen erfüllt das unter allen Umständen
wertvolle Buch von Dyroff. Die Sprache ist, abgesehen von hier und da etwas
lang und nicht rasch übersichtlich gebauten Sätzen, sehr angenehm, meist recht
frisch, öfter, auch bei sprödem Stoff, anschaulich. Ergebnisse streng wissenschaft-
licher Forschung, auch in relativ systematischer Vollständigkeit, liegen vor, relativ
d. h. in Anbetracht der zahlreichen noch ungelösten und schwer zu lösenden Fragen.
Auch haben wir es hier unzweifelhaft mit einer für den Fachmann bequemen Zu-
sammenfassung von Ergebnissen und auch von noch offenen Fragen der neuen,
experimentellen Psychologie zu tun. Gleicherweise kann dem Gelehrten, der, ohne
Fachmann zu sein, sich über Wesen, Methode und Erfolge der experimentellen
Psychologie orientieren will, das Buch gute Dienste leisten.
Aber ohne physiologische, und zwar in gewissem Betracht sehr eingehende
physiologische Kenntnisse wird nicht einmal der Gelehrte, geschweige der L a i e,
der im üblichen Sinne gebildete Mann, die gebildete Frau, das Buch, wenigstens
große Partien, ja etwa die erste Hälfte des Buches hinlänglich verstehen können,
und eine „schnelle und mühelose Lektüre, die keine Fachkenntnisse voraussetzt",
ist das Buch wenigstens in diesen Abschnitten keineswegs. Nur für den Leser,
der schon Fachkenntnisse, insonderheit physiologische besitzt, wird die unzweifel-
haft belehrende Lektüre auch eine unterhaltende sein können.
Das liegt aber nicht an dem Verfasser, das liegt an Art und Charakter der
schwierigen, heiß umstrittenen, erst etwa 30 Jahre alten Wissenschaft der ex-
perimentellen Psychologie selbst, die, von bedeutenden Köpfen begründet, ge-
620 A. Dyroff, Einführung in die Psychologie, angez. von Leuchtenberger.
fördert und gepflegt, im gegenseitigen Kampf hochwichtiger Gegensätze, für eine
populäre Darstellung doch noch zu wenig Gesichertes bieten kann, vielmehr
in nimmer ruhendem Streben immer neue Fragezeichen aufstellt und in mühevollen
Untersuchungen vorhandener Rätsel auf immer neue stößt.
Sollte also eine populäre Darstellung der experimentellen Psychologie nicht
wirklich noch verfrüht sein? Daß das Buch von Dyroff ein meines Wissens erster,
ernster und immerhin sehr beachtenswerter Versuch zu solcher Darstellung
ist, wird nicht bestritten; daß er gelungen, in allen Teilen gelungen, kann man nicht
anerkennen. Vielmehr erscheinen gerade die Abschnitte, die möglichst wenig
Physiologisches und Experimentelles an sich tragen, sondern nur auf feiner, reicher
und sorgsamer Beobachtung ruhen, als besonders gelungen und ansprechend, als
im besten Sinne populär und für gebildete Laien in hohem Maße anregend.
Nun ist das Buch der „Monatschrift für höhere Schulen" zur Beurteilung zu-
gegangen. Es wird also wohl auch zu der Frage Stellung zu nehmen sein, ob der
Schrift vielleicht irgendwie eine nähere Beziehung zur höheren Schule zukommen
könnte?
Und ich möchte die Frage nicht schlechthin verneinen. Als Lehrbuch freilich
für Propädeutik kann es nicht zugrunde gelegt werden; darauf ist es auch gar nicht
angelegt. Auch als belehrendes Lesebuch kann es nicht allgemein empfohlen werden
aus dem oben angegebenen Grunde unzureichender Gemeinverständlichkeit. Aber
es gibt hier und da Primaner, die sich für experimentelle Physik besonders inter-
essieren und bei denen man auch für die experimentelle Psychologie durch das
Buch wohl den Sinn wecken und Verständnis schaffen könnte. Es würde also eine
geeignete Anschaffung für die Bibliothek der Prima sein können.
Im einzelnen fällt in dem äußerlich sehr gefälligen Buche weniges auf.
„Erinnern" passivisch: „es wird etwas erinnert" ist nicht Sprachgebrauch
(S. 39). „Nachdenkliche Tatsachen" (S. 30) für Tatsachen, die zum Nachdenken
anregen, ist ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist auch (S, 110) der Plural von Pein:
„die Peinen". S. 78 die Worte des Mephistopheles: „Grau, teurer Freund, ist alle
Theorie usw." erklären sich aus dem Zusammenhang der Stelle und aus dem
Charakter Mephistos anders und sehr einfach. S. 88. Luther vergleicht nicht
„Wort" und „Geist" schlechthin der „Scheide" und dem „Messer", sondern nennt
„die Sprachen" (die alten) „die Scheiden, darinnen das Evangelium („dies Messer
des Geistes") steckt". Was ähnliches bei Ratichius steht, habe ich nicht finden
können. S. 108 bei „ich mag" wäre es doch wohl ratsam gewesen, auch an die
ursprüngliche und nicht bloß an die heutige Bedeutung von „mögen" (vgl. ver-
mögen) zu denken; noch bei Luther „graben mag ich nicht" = oxocttteiv oux lo/utu.
S. 112. Verfasser scheint keinen Unterschied zwischen ,, ideal" und „ideell" zu
machen. S. 118. „Askese" ist uns aber doch heute im „weitesten" Sinn = „Übung":
fremd. S. 117 steht versehentlich „setzte" statt „setze".
Zehlendorf bei Berlin. G. Leuchtenberger.
Loewenfeld, L., Über die Dummheit. Eine Umschau im Gebiete mensch-
licher Unzulänglichkeit. Wiesbaden 1909. J.F.Bergmann. XVu.339S. 8». 5M.
Der Verfasser, Nervenarzt in München, ist zu dieser Schrift veranlaßt durch
L. Loewenfeld, Über die Dummheit, angez. von A. Matthias. 621
die große Zahl der Publikationen, die sich in den letzten Jahren in ärzlichen Kreisen
mit dem Schwachsinn beschäftigt haben. Dummheit und Schwachsinn sind
ja Geschwister; aber jene gehört noch in das Gebiet der Gesundheit, dieser in
den Bereich des Krankhaften. Die Dummheit ist auch verbreiteter als Schwach-
sinn und in sozialer Beziehung viel wichtiger als diese. Sie ist eine Macht im
öffentlichen wie im privaten Leben; vor allem eine Macht in der Schule und im
Elternhause, die zu bekämpfen ist und gegen die der Kampf um so aussichtsvoller
ist, je genauer wir sie kennen. Eine erschöpfende oder systematische Darstellung
beabsichtigte der Verfasser nicht, er hat sich vielmehr bemüht, unter gewissen
wichtigen Gesichtspunkten die Dummheit zu betrachten und in ihren mannig-
faltigen Beziehungen sie zu verfolgen. So behandelt er beispielsweise die Frage
allgemeiner und partieller Dummheit, ferner die Kriterien und besonderen Formen
der Dummheit, Dummheit und Leidenschaft, Dummheit und Aberglauben, die
Verdummung als Folge von Momenten, welche die geistige Entwicklung hemmen,
und die Dummheit als Folge von Erkrankung. Für die Erziehung, die Schule und
den Unterricht finden wir reiche Anregung in dem Kapitel, das die Dummheit
und die Lebensalter behandelt; es handelt über die Kriterien der kindlichen Dumm-
heit, über Aufsatzleistungen als Gradmesser geistiger Begabung, über Leistungen
beschränkter Schüler im Rechnen, in der Orthographie und im Lesen, geht dann
zur Dummheit der reiferen Jugend über, wobei die ungenügende Ausbildung der
hemmenden seelischen Kräfte als Grundquelle aller Jugendtorheiten bezeichnet
und der Einfluß des Alkohols und des erotischen Elements auf die Entwicklung
zur Dummheit behandelt wird.
Doch nicht nur die Jugend mit ihrer Dummheit kommt zu ihrem Recht, auch
uns selber wird ein Spiegel vorgehalten, in welchem wir uns je nach dem Maße
unseres Selbsterkenntnisdranges beschauen können. Dazu bietet sich Gelegenheit
in mehreren Kapiteln, einmal da, wo von der Dummheit der Intelligenten die Rede
ist, das andre Mal, wo die Dummheit in der Wissenschaft behandelt wird. Bei-
läufig und ohne irgendwie anzüglich zu werden: auch der Fall des klugen Hans
wird besprochen; auch wird dargelegt, daß Beschränktheit kein Hindernis für
einen gewissen Grad von Gelehrsamkeit zu sein braucht und daß manche Dumm-
köpfe sogar imstande sind, Stellungen zu erlangen, die in den Augen vieler
wenigstens die staatliche Anerkennung nicht nur ihrer Gelehrsamkeit, sondern
auch ihrer höheren Intelligenz bedeutet. Die geistigen Eigentümlichkeiten dieser
Auserwählten werden so gut charakterisiert, daß man lebendige Modelle dazu bald
finden kann. — Ein besonders anziehender Abschnitt ist der letzte des Buches,
der von der Dummheit in der Vergangenheit, der Frage des intellektuellen Fort-
schritts der Menschheit sowie von der Dummheit der Zukunft und von dem Kampf
gegen diese handelt. — Die Schlußbemerkungen kommen zu dem Ergebnis, daß
bei dem Ausblick in Vergangenheit und Gegenwart nichts entdeckt sei, was uns
zu besonderm Stolze auf den derzeitigen Stand unsrer Kultur und Intelligenz be-
rechtigen könne; aber der Verfasser hält doch einen intellektuellen Fortschritt
unsrer Bevölkerung in nicht zu ferner Zukunft für möglich. Hoffen wir das Beste
und' tun wir das Unsrige in Bekämpfung eigner und fremder Dummheit!
Berlin. A. Matthias.
622 R. Lehmann, Der deutsche Unterricht, angez. von A. Matthias.
Lehmann, Rudolf, Derdeutsche Unterricht. Eine Methodik für höhere
Lehranstalten. Dritte, neu bearbeitete Auflage. Berlin 1909. Weidmannsche
Buchhandlung. XX u. 428 S. 8». geb. 9 M.
Die neue Auflage von Lehmanns wertvollem Buche zur Methodik des deutschen
Unterrichts ist eindringlich durchgearbeitet und an manchen Stellen wesentlich um-
gearbeitet, ohne daß es seinem ursprünglichen Charakter und seinen von Anfang
an genommenen Richtlinien irgendwie untreu geworden ist. Lehmann hat stets
die richtige Mitte gehalten gegenüber Extremen im deutschen Unterricht, die diesem
nicht unerheblich geschadet haben. Er hat dem anschaulichen Verständnis ebenso
zu seinem Rechte verhelfen wollen wie dem denkenden; er hat also Front gemacht
gegen die einseitige verstandesmäßige Richtung, die Laas und Hiecke seinerzeit
vertraten, indem sie in der Ausbildung des kritischen Urteils und systematisch-
rhetorischen Könnens das wesentliche Ziel des deutschen Unterrichts wie der
gymnasialen Bildung überhaupt erblickten. Sein Buch hat der anschaulichen
Auffassung dichterischer Werke wieder Freunde gewonnen, ohne daß der ver-
standesmäßigen Verarbeitung künstlerischer Eindrücke Abbruch geschah. Die
Natur des Knaben- und Jünglingsalters war ihm dabei Richtschnur für taktvolle
Grenzregulierung. Anderseits hat Lehmann aber auch das Verdienst, einer andern
Gefahr frühzeitig entgegengetreten zu sein, nämlich der allzu einseitigen Betonung
der Phantasie und des Gefühls im deutschen Unterricht. Und gerade diese Gefahr
wurde doch in den letzten Jahren zuzeiten recht bedenklich, zumal Elternpublikum
und auch ein Teil der Tagespresse der bezeichneten Richtung, die sich auf Kunst-
erziehungstagen über Gebühr zur Geltung zu bringen suchte, gefangen gab. Es
ist ja so schön, alles was der strengen Arbeit, besonders strenger Gedankenarbeit
sich nähert, von unsrer lieben Jugend fernzuhalten; daß aber gerade im deutschen
Unterricht Arbeit, angestrengteste Arbeit vor allem not tut, das betont die Art,
wie Lehmann die Fragen auffaßt, auf jeder Seite seines Buches. Und gerade hierin
sehe ich den aktuellen Wert des Lehmannschen Buches, daß es uns beschützt
vor den lauten Freunden des deutschen Unterrichts, die im Grunde seine schlimmsten
Feinde sind, weil sie als falsche Propheten Stimmungsduselei predigen und das Heil
der Zukunft sehen in ästhetischen Kunsterziehungskränzchen, in denen wir allen-
falls Selbstmordskandidaten züchten, aber keine mannhaften Jünglinge erziehen,
die mit klarem Kopf dereinst den Gefahren des Lebens trotzen, weil sie innerlich
gegen jeden Sturm, der das Gemüt einmal erschüttert, gefestigt sind. — Noch
nach einer andern Seite hin trägt das Lehmannsche Buch den gesunden Forderungen
des Tages Rechnung; es faßt den Begriff der Klassiker nicht zu eng; wir erkennen
heute mehr und mehr das geschichtlich Bedingte und das dauerndLebendige
ünsrer großen klassischen Epoche und wir scheiden demgemäß das Wertvolle,
das pädagogisch Bedeutsame jener Zeit, von dem weniger Wertvollen. Immer
näher rückt uns Goethe und auch für die Werte, die Schiller verkörpert, erwacht
das Verständnis kräftiger, während bei Lessing, sofern die Jugend davon genießen
soll, für Lehmann die Einseitigkeit seiner Kritik und seines Standpunktes einen
Grund bildet, seine Werke mehr nur als entscheidende Dokumente der geschicht-
lichen Entwicklung deutschen Geistes zu berücksichtigen. Dagegen aber zieht
Lehmann die nachgoethische Zeit weit mehr in den Kreis seiner Methodik, weil
A. Thimme, Das Märchen, angez. von P. Lorentz, 623
diese spätere Entwicklung in viel weiterem Umfange Gemeingut der Gebildeten
geworden ist, als das noch vor zwei Jahrzehnten der Fall war. Das gilt ihm
ebensowohl von der Romantik wie von der Epoche deutschen Schrifttums bis
zum Jahre 1880. Er hat deshalb die Abschnitte, welche die Lektüre in Prima be-
handeln, wesentlich erweitert, die Erörterungen über die Romantik vertieft und
der Behandlung der nachklassischen Zeit einen eigenen Abschnitt gewidmet. Neu
hinzugekommen ist ein eingehender Entwurf zur Behandlung von Goethes Faust.
Dieser Abschnitt scheint vielleicht manchem zu lang geraten; mir nicht. Denn
es ist gut, daß wir an einer Stelle einmal in die Arbeitsstätte deutschen Unter-
richts eingeführt werden, wo die Lösung eines schwierigen didaktischen Problems
uns so vorgeführt wird, daß wir nachahmen können und für unsre Lehrkunst
Gesetze zu finden vermögen. Diese Erweiterung des Lehmannschen Buches und
diese Erweiterung der Unterrichtsaufgaben wird hier und da Bedenken erregen,
besonders an den Stellen, die ängstlich mit den deutschen Stunden rechnen, die
ihnen „lehrplanmäßig" zugewiesen sind. Diesen ängstlichen Gemütern ist der
Abschnitt über Bewegungsfreiheit oder deutlicher gesagt über Lern- und Arbeits-
freiheit gewidmet. Der deutsche Unterricht liegt eben nicht nur in der Schule,
seine Wirkungen sollen weit hinein gehen in die Arbeitsstunden des Hauses, seine
Wirkungen sollen den Schüler im Hause beherrschen und, wenn es geht, auch
die übrigen Mitglieder des Hauses, denen es nichts schadet, wenn sie ihre litera-
rische Bildung vom Sohne Benjamin beständig anregen, erweitern und vervoll-
kommnen lassen.
Da Lehmanns Buch an manchen Stellen eine Erweiterung erfahren hat, so ist
dafür das Kapitel über philosophische Propädeutik in Wegfall gekommen, auch
mit Rücksicht darauf, daß der Inhalt dem Verfasser heute veraltet erschien.
So ist das Buch lediglich seiner nächstliegenden Aufgabe gewidmet und ver-
dient weiteste Verbreitung; jedenfalls weitere Verbreitung, als es bis jetzt gefunden
zu haben scheint. Denn daß ein Buch von dieser Bedeutung für den deutschen
Unterricht 12 Jahre gebraucht (1897 — 1909) hat, um zu einer neuen Auflage zu
gelangen, ist bezeichnend für das Interesse, das der deutsche Unterricht in den
beteiligten Kreisen findet. Alle schönen Worte und Behauptungen auf Tagungen
deutscher Philologen und Schulmänner und alle ironisierenden Bemerkungen
gegenüber Verfechtern einer kräftigeren Hebung und Pflege dieses Unterrichtes
enthalten nichts weiter als eine Selbsttäuschung und schaffen die Tatsache, daß
der deutsche Unterricht vielerorts noch eine Aschenbrödelstellung einnimmt, nicht
aus der Welt. Möge das Lehmannsche Buch dazu beitragen, den Schatz unsres
nationalen Geisteslebens unsrer Jugend zu vollerem Eigentume zu machen.
Berlin. A. Matthias.
Thimme, Adolf, Das Märchen. Handbücher zur Volkskunde. Bd. II. Leipzig
1909. Wilh. Heims. VII u. 201 S. 8». geh. 2 M., geb. 2,75 M.
Einer außerordentlich schweren, aber auch ebenso dankbaren Aufgabe hat sich
der Verfasser der Monographie über das Märchen unterzogen und — mit großem
Geschick gelöst. Die Schwierigkeiten, die es zu besiegen galt, lagen einmal in der
schier unübersehbaren Literatur, zumal der in Zeitschriften verstreut liegenden,
624 R. Thiele, Kleinasien; 0. Fritsch, Delos, Delphi,
die es durchzuarbeiten galt, und dann in der Entscheidung bei den zahlreichen
Fragen, die gerade für diese Literaturgattung noch recht umstritten sind. Dankbar
aber war die Aufgabe in so hohem Grade deshalb, weil das Märchen mehr als vieles
andre einen zuverlässigen Einblick in das Innenleben alles Volkstums, hier also
vor allem unsres eigenen, tun läßt. Bewältigt sind die Schwierigkeiten der Durch-
arbeitung der weitverzweigten Literatur derart, daß man den Eindruck einer recht
geschickten Verdichtung des Stoffes gewinnt. Nachdem der Begriff des Märchens
bestimmt und umsichtig abgegrenzt ist gegen Sage und Mythus, auch Beziehungen
zum Volkslied aufgewiesen sind, und die wichtige Unterscheidung zwischen Märchen-
motiven und Märchennovellen aufgestellt ist, wird in je einem Kapital behandelt:
die Geschichte der Märchenforschung, Märchen und Mythologie, Märchenmotive
und Märchenformeln, märchenhafte Züge, kontaminierte Märchennovellen, einheit-
liche Volksmärchen, mythische Märchenleute, Märchentiere und Tiermärchen, Liebe,
Ehe, Sittlichkeit, nationale Aneignung, Kinderseele und Märchenstimmung. Die
B e n f e y sehe Theorie vom ausschließlich indischen Ursprung aller europäischen
Märchen wird als unhaltbar nachgewiesen, und zwar grundsätzlich, wenn auch die
Gültigkeit für einzelne anerkannt wird, wenigstens für eine bestimmte bekannte
Fassung.
Die Form, in der das Buch vom deutschen Märchen geschrieben ist, kann in
vorbildlichem Sinne volkstümlich genannt werden. Nur der Kundige merkt die
Arbeit, die darin steckt, die nachzuprüfen und weiter fortzusetzen der sehr umfang-
reiche Literaturnachweis am Schluß ermöglicht. Wo da Wacken und Klötze ge-
legen, um mit Luther zu reden, da fährt der Leser jetzt fein säuberlich wie über ein
gehofelt Brett hin. Herzerfreuend berührt der warme innere Anteil, mit dem das
Buch geschrieben ist. Den Deutschlehrern aller Arten von höheren Schulen sei
es aufs beste empfohlen.
Friedeberg, Nrn. Paul Lorentz.
Thiele, R., Im Jonischen Kleinasien. Erlebnisse und Ergebnisse. Mit
drei Karten und 32 Bildern. 160 S. 8». geh. 2 M.
Fritsch, 0., D e 1 o s , d i e I n s e 1 d e s A p o 1 1 o n. Mit 27 Abbildungen. 84 S.
8°. geh. 1,50 M.
.Delphi, dieOrakelstätte desApollo n. Mit 47 Abbildungen.
135 S. 8°. geh. 2,40 M, (Gymnasialbibliothek, herausgegeben von Hugo Hoff-
mann. 45., 47., 48. Heft.) Gütersloh 1907 und 1908. C. Bertelsmann.
Wer über eine antike Ruinenstätte berichten will, sieht sich vor der schwierigen
Aufgabe, ein doppeltes Bild zu geben; er soll den gegenwärtigen Zustand anschau-
lich machen, daneben aber aus den Trümmern das Ursprüngliche vor dem geistigen
Auge des Lesers wieder erstehen lassen. Diese Schwierigkeit steigert sich häufig
noch dadurch, daß verschiedene Kulturschichten übereinanderliegen, also mehrere
Rekonstruktionsbilder erforderlich sind. Ferner hat nicht nur die antike Stätte,
sondern auch ihre Wiederauffindung und Aufdeckung in der Neuzeit ihre Geschichte;
auch hierüber werden geeignete Mitteilungen einzuflechten sein. Endlich kommt
der Berichterstatter häufig in Versuchung, von persönlichen Reiseerlebnissen zu
sprechen, zumal dann, wenn er nicht als Ausgräber dauernd an Ort und Stelle war,
angez. von E. Wendung. 625
sondern als wissenschaftlicher Tourist sich mit einem mehr oder minder flüchtigen
Besuch begnügen mußte. Es ist klar, daß es einer Meisterhand bedarf, wenn diese
verschiedenen Fäden sich zu einem glatten Gewebe vereinigen sollen.
Die Verfasser der drei vorliegenden Hefte scheinen sich der Schwierigkeit und
Kompliziertheit ihres Unternehmens nicht gleichmäßig bewußt gewesen zu sein.
Die Schilderung der jonischen Städte Kleinasiens leidet an einer gewissen Unruhe
und Sprunghaftigkeit, die keinen ungetrübten Gesamteindruck aufkommen läßt.
Freilich ist R. Thiele in der mißlichen Lage, in E. Ziebarths gleichzeitig er-
schienenen „Kulturbildern aus griechischen Städten" einen gefährlichen Kon-
kurrenten zu besitzen; beide treffen in der Schilderung von Priene, Milet und
Didyma zusammen, und der Vergleich fällt hier entschieden zugunsten Ziebarths
aus, der den Leser von Anfang bis zu Ende zu fesseln weiß. Unstreitig beruht
auch Thieles Büchlein auf sehr fleißiger Arbeit; aber man merkt die Arbeit zu sehr.
Zuweilen hat man den Eindruck, als ob der Verfasser nicht recht über seinem Stoff
stünde. Die „Ergebnisse" der Ausgrabungen sind nicht durchweg so verarbeitet,
daß sie dem Lehrer genießbar sind. So werden die „sieben Campagnen" der Aus-
grabung von Milet bis aufs Datum genau mitgeteilt (S. 42). Dagegen sind die
Inschriften, aus denen Ziebarth so farbige Bilder antiken Lebens zu erwecken
weiß, von Thiele allzu spärlich und, wie es scheint, nicht immer aus erster Hand
benutzt worden.
Anderseits erfüllt die Darstellung der „Erlebnisse" des Verfassers den einen
Zweck, dem sie berechtigterweise dienen sollte, die örtlichkeit zu veranschau-
lichen, nur sehr unvollkommen. Wozu diese Erinnerungen, wenn der Verfasser
trotzdem seiner Beschreibung gelegentlich eine „angenommene Wanderung" zu-
grunde legen muß (S. 43)?
Sieht man von diesen Mängeln ab, die den Genuß beeinträchtigen, so darf
gesagt werden, daß Thiele ein zuverlässiger und gründlicher Perieget für die von
ihm geschilderten Stätten (außer den oben genannten noch Ephesos und Smyrna)
ist. Sehr dankenswert sind die geschichtlichen Überblicke (S. 7 ff., 26 f., 32 ff.,
62 ff., 107 f.), die freilich mit dem archäologischen Befund nicht durchweg enge
Fühlung halten.
Die beiden Hefte von 0. F r i t s c h verdienen volle Anerkennung. Hier wird
die Reiseerinnerung wirklich lebendig; ein geschickter Zug ist es z. B., den Leser
gleich nach der Landung in Delos mit auf den Kynthos zu nehmen, ihm dort einen
topographischen Überblick zu geben und daran die sorgfältig ausgearbeitete ge-
schichtliche Skizze zu knüpfen. Nicht minder gelungen ist die Verbindung zwischen
den beiden Heften durch die Schilderung einer Reise von der Geburtsstätte zur
Orakelstätte ApoUons hergestellt. Beide Kultstätten werden erschöpfend ge-
schildert; wir lernen die einzelnen Bauten und plastischen Werke, verlorene und
wiedergefundene, kennen und erhalten einen Einblick in den Betrieb der beiden
Heiligtümer, ihre Verwaltung und ihre Feste. Dazwischen wird an passenden
Stellen das Notwendige über die Wiederentdeckung mitgeteilt. Überall merkt man
hier gute archäologische Schule, so besonders in der Verwertung der Inschriften
und der literarischen Zeugnisse (vgl. den Päan des Aristonoos, Delphi S. 29 ff.).
(Für die zweite Auflage notiere ich folgende Versehen: S. 50 unten fehlt im zweiten
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 40
626 J. Ziehen, Neue Studien zur lateinischen Anthologie, angez. von Funck.
deutschen Hexameter ein Fuß; S. 81 fehlt in der Transskription und Übersetzung
der Inschrift: xal xä OTrXa.)
Die drei Hefte sind mit Plänen, Grundrissen und Ansichten reich ausgestattet.
Von wundervoller Schärfe ist das Titelbild von „Delphi" (Kastaliavorstadt) und
die Gesamtansicht des heiligen Bezirks mit den Phaidriaden (nach S. 12).
Zabern i. E. E. W e n d 1 i n g.
Ziehen, Julius, Neue Studien zur lateinischen Anthologie.
Frankfurt a. M. und Berlin 1909, Moritz Diesterweg. 40 S. 8». 1,80 M.
Wenn der Verfasser dieser Carl Reinhardt gewidmeten Studien in der Vor-
bemerkung, seinen Stoff als spröde bezeichnet, so hat jedenfalls die Art, wie er
hier mehr als 60 Stellen der Anthologie in 24 Abschnitten behandelt, diesem ab-
gelegeneren Literaturgebiete eine Menge interessanter Seiten abzugewinnen ver-
mocht. Die schonende Behandlung des überlieferten Textes weiß durch scharf-
sinnige Erklärung, die mit umfassender Gelehrsamkeit feines Verständnis auch
der bildenden Kunst verbindet, manches Angezweifelte zu retten; mit leiser Hand
rückt öfter schon eine anders gesetzte Interpunktion das Verständnis zurecht;
wo stärkere Mittel unerläßlich erscheinen, stellt der Verfasser mit glänzender
Divinationsgabe meist völlig überzeugend das Richtige her. Was so dem Texte
gegeben wird, gibt er reichlich zurück, indem wir namentlich für die so eigenartige
Kultur des römischen Afrika eine Fülle von neu belebten Einzelzügen gewinnen.
Nur an wenigen Stellen gelange ich in der Kritik und Erklärung des Textes zu
etwas abweichendem Ergebnis. Gewiß ist in dem auf S, 7 besprochenen Gedichte
304 der Salmasianusanthologie die Überlieferung, Hinc nemus, hinc fontes et struda
civilia cingunt Statque velut propriis ipsa Diana iugis unhaltbar; unhaltbar wäre
auch Rieses Schreibung exstruda cubilia, wenn, wie Ziehen annimmt, cubilia die
Schlaf gemacher des Jagdschlosses bedeutete, deren Erwähnung neben dem nemus,
den fontes und der Dianastatue denn doch zu abgeschmackt wäre. Aber cubile
bezeichnet in der Baukunst auch das Lager, in das Steine u. a. eingelassen sind;
kann mit cubilia hier nicht der Sockel gemeint sein, auf dem das Bild der Göttin
so natürlich steht, wie wenn sie auf ihrem eigenen Bergrücken stünde? Auch an
sedilia ließe sich denken, vgl. Corpus gloss. III 238,53 (Herm. Einsidl. de aedibus
sacris) tä dpovia sedilia. — In dem Diskusrelief c. 371 schafft Ziehen eine neue
Pointe dadurch, daß er an der verderbten Stelle v. 4 inridens pariete teste gemere
virum einen derben Witz vermutet, den er in einem nach Analogie von robiginare
gebildeten tentiginare zum Ausdrucke bringt: irridens pariter tentiginare virum.
Man gewinnt dasselbe, wenn mit einfacherer Änderung gelesen wird: irridens
pariter teste tumere virum; der tröstende Cupido lächelt zugleich darüber, daß dem
Satyr der Hoden strotzt. In dem Gedicht auf Bajä c. 271 wird S. 16 zweifellos
richtig der zweite Vers illa natare lacus cum lampade iussit Amorem als Satz für sich
von dem ersten ante bonam Venerem gelidae per litora Baiae getrennt; nun fehlt aber
diesem ein Verbum finitum, und Ziehen kommt von dem Gedanken, mit Recht sei in
Bajä die Venus Gegenstand der Verehrung und des Kultes gewesen, zu der Ver-
mutung: rite boant Venerem gelidae per litora Baiae. Muß man überhaupt ändern?
Läßt sich nicht erant ergänzen? Dann wäre dies der Sinn: Vor der gütigen Venus,
M. Niedermann u. E. Hermann, Historische Lautlehre usw., angez. v. F. Cramer. 627
d. h. bevor die Güte der Venus eingriff, war Bajä ein kalter Ort an der Küste.
Infolge der Sendung des Amor wurde Bajä durch seine warmen Quellen repente
salubres (Cic. fam, 9, 12). Ziehen verzweifelt daran, in c 415,29 f. (S. 30) et qui
decenti iugulo tindoria moto spem, quamvis lecto iam referatur, habet die Worte von
decenti bis moto herzustellen; unter Benutzung seines Gedankenganges könnte
man vermuten: et qui decertat iugulo tindoria vota = „und wer mit seinem
Halse blutgierige Wünsche durchkämpft", d. h. wer den eignen Hals daran setzt,
um die Wünsche blutgieriger Menschen zu befriedigen. — Dem Druckfehler-
verzeichnis auf S. 40 wäre noch hinzuzufügen S. 4, Z. 10 v. u. hellenistisch (statt
hellenistich), S. 17, Z. 19 v. u. S. 7 (statt 17).
Sondershausen. F u n c k.
Niedermann, Max und Hermann, Ed., Historische Lautlehre des
Lateinischen. Heidelberg 1907. Carl Winter. XH u. 115 S. 8». 2 M.
(Indogermanische Bibliothek, herausg.von Herm. Hirtu.Wilh. Streitberg. Zweite
Abteilung: Sprachwissenschaftliche Gymnasialbibliothek
unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen herausgegeben von Max Nieder-
mann. 1. Band.)
Das Büchlein ist eine von Dr. Ed. Hermann (Oberlehrer an der Hansaschule
in Bergedorf) besorgte deutsche Bearbeitung einer französischen Schrift von Dr.
Max Niedermann {Pricis de phonetique historique du latin, avec un avant propos
par A. Meittet, Paris 1906, Klincksieck). Es eröffnet in recht würdiger Weise
eine Reihe für Gymnasialzwecke berechneter Handbücher, die die Ergebnisse
der Sprachwissenschaft in einfacher, brauchbarer Form vermitteln sollen. Um
den weitläufigen Werken von Brugmann, Delbrück und andern, sowie der unüber-
sehbaren Einzelliteratur mit völlig eigenem Urteil gegenüberzustehen, ist ein
Studium des Indischen unerläßlich. Für das hier vorliegende Werkchen aber isl
charakteristisch, daß es zum erstenmal ganz auf die Heranziehung der andern indo-
germanischen Sprachen verzichtet und seine Darlegungen auf die lateinische Sprache
selbst aufbaut. Der Versuch ist im wesentlichen gelungen. Aus jeder
Zeile blickt recht gründliche Kenntnis der gesamten indogermanischen Sprach-
wissenschaft hervor, ohne daß doch der Verfasser mit weitläufigen Herleitungen
aufhält und ermüdet. Da, wo das Lateinische eine Sonderentwicklung durch-
gemacht hat, z. B. in dem Ablaut con-ficio gegenüber facio, der sich durch das
älteste lateinische Betonungsgesetz erklärt, mag jene schlichte Kürze schon weniger
überraschen; aber auch da bewährt Verfasser seinen Grundsatz, wo andere der
Versuchung des Vergleichens und Herleitens wohl nachgegeben hätten: so z. B.
in der Angabe über die Entstehung des -i im Perfectum Activi aus einem ursprüng-
lichen -ai (tütüdl = *tütudai); es war Osthoff, der in langwieriger Untersuchung
zuerst die Herkunft des -i aus medialem -ai (griech. -ai) darlegte.
Alles ist so wohl erwogen, daß an wenigen Stellen Widerspruch herausgefördert
wird. Wenn freilich im Eingang im Abschnitt über die lateinische Betonung der
Auffassung der französischen Gelehrten, die den lateinischen Akzent we-
sentlich als musikalisch betrachten, der Vorzug gegeben wird, so kann die der
deutschen Forscher — nach ihnen überwiegt das exspiratorische Moment — damit
40*
628 O. Jäger, Deutsche Geschichte,
nicht als erledigt angesehen werden. Es wird zwar darauf hingewiesen, daß erst
seit dem Beginn der romanischen Periode (d. h. etwa seit dem Ende des 4. Jahr-
hunderts) Angaben auftauchen, die auf einen exspiratorischen Akzent bezogen
werden müssen. Damals sei ein W a n d e 1 in der Natur der lateinischen Betonung
vor sich gegangen. Es ist aber daraus nur zu schließen, daß damals — mit dem
Sinken oder Verschwinden des hellenischen Einflusses — auch d i e Ü b e r -
tragung g r i ec h i s c h e r A k z e n 1 1 h e o r i e n auf die lateini-
schen Verhältnisse aufhörte.
Für die spätlateinische Verwirrung zwischen b und v wäre für deutsche
Leser (neben dem angeführten franz. Besangon aus lat. Vesontionem) besonders
naheliegend deutsch W o r m s aus lat. Borbetomagus, Bormitomagus
(mit der Zwischenform Wormatia) und B i r t e n aus einer dem latinisierten
V e t e r a zugrunde liegenden (einheimischen) Namensform, die auf einer mero-
wingischen Münze als Bertu- no (wohl gleich Viro-dunum) erscheint.
Das Buch wird seinen Zweck sicher erfüllen. J. Wackernagel, der
ein Vorwort dazu geschrieben hat, bemerkt mit Recht, daß der heutige Sprach-
unterricht eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtungs-
weise fordert, zumal er sie mit den sichersten Tatsachen belegen kann.
Düsseldorf. FranzCramer.
Jäger, Oskar, Deutsche Geschichte. Erster Band. Bis zum westfä-
lischen Frieden. Mit 114 Abbildungen und 7 Karten. München 1909. Becksche
Verlagsbuchhandlung. XII u. 668 S. 8«. geb. 7,50 M.
„Geschichte" definiert Jäger (S. 373) als das, was würdig ist, „im Gedächtnis
der Allgemeinheit aufbewahrt zu werden". Was also von den allgemeinen Ge-
schicken der deutschen Nation bis 1648, bis zu der Zeit, wo ihr „die Einheit, die
Macht, die Freiheit" endgültig verloren gingen, nach des Verfassers Meinung
diesen Anspruch erheben kann, ist in dem vorliegenden ersten Teile des auf zwei
Bände berechneten Werkes erzählt worden. Von Ereignissen der außerdeutschen
Geschichte soll nur das herbeigezogen werden, was für die Entwicklung jener Dinge
von Bedeutung gewesen ist und zu deren Verständnis notwendig ist. Daß die Aus-
wahl des Dargestellten unter solche Gesichtspunkte gestellt worden ist, wird man
ohne weiteres billigen. Daß sie im ganzen richtig getroffen worden ist, soll
ohne Rückhalt ausgesprochen werden ; im einzelnen wird naturgemäß mit
dem Verfasser zu rechten möglich sein. Da wo von dem „unfruchtbaren Ringen"
Ruprechts von der Pfalz die Rede ist (S. 373), gesteht Jäger selbst, daß das „nicht
die Geschichte Deutschlands" sei. Vielleicht läßt sich unter Annahme desselben
Standpunktes auch sonst noch gelegentlich kürzen: so S. 316 — 318, wo ausführlich
die Tat Johann Parricidas erzählt wird, so in Kapitel 25, wo der Reformations-
bewegung in den außerdeutschen Ländern Europas fast 1 1 Seiten gewidmet werden,
oder, wenn man Heinrich I. oder auch Ludwig den Deutschen als Begründer der
politischen Einheit der deutschen Nation ansieht, in dem, was man dann füglich
die Vorgeschichte nennen könnte, die mehr als den sechsten Teil des Buches füllt.
„Nicht auf dem Wege des Friedens und der gütlichen Überredung vollziehen
sich die menschlrchen Geschicke," heißt es auf S. 600. „Dem Auf und Ab der
angez. von W. Meiners, 629
Fehden und Kriege, dem Zank und den Gewaltsamkeiten der hadernden Parteien,
dem Feilschen und Zanken um Landbesitz und Ehrenstellen," der politischen
Geschichte mit einem Wort hat Jäger daher auch den ersten Platz eingeräumt.
Und da ferner der Willensentschluß des Einzelnen den Gang der Ereignisse be-
stimmt, so ist weiterhin sein Buch nicht eine Geschichte der „Ismen"; die Darstellung
ist vielmehr orientiert an der Erzählung von dem Tun und Handeln der führenden
Persönlichkeiten, wie es charakteristischer auch der Form nach kaum hervortreten
kann als z. B. auf S. 584, wo es heißt: ,,Die zwölf Jahre der Regierung Maximilians
waren durch kein größeres Ereignis bezeichnet." Weshalb denn auch auf die
Herausarbeitung von klaren Bildern der Großen dieser Welt — nicht selten auch
der weniger bedeutenden — an der Hand der zeitgenössischen Quellen große Sorg-
falt verwandt worden ist.
Aber der Verfasser ist hierbei nicht stehen geblieben. Er ist tiefer vorge-
drungen zu den Motiven und Prinzipien, die sich in jenem Auf und Ab der äußeren
Ereignisse kundtun; er schildert ferner auch das soziale und wirtschaftliche, das
geistige, künstlerische und religiöse Leben, und zwar um so ausführlicher, je größer
seine Wirkung auf die jedesmaligen geschichtlichen Vorgänge gewesen ist, so daß bei-
spielsweise in den Abschnitten über die Reformationszeit, den schönsten des ganzen
Buches, die politische Geschichte naturgemäß in den Hintergrund tritt. Er wendet
endlich nicht selten „von dem Getümmel der großen Welt, den Ränken und Kämpfen
der Magnaten" den Blick auch ,,dem privaten Leben" zu, der Arbeit und dem
Tun der vielen, die „keinen Anspruch auf die Dauer ihres Namens in der Geschichte
machen", und gibt wieder auf Grund zeitgenössischer Quellen anschauliche Bilder
z, B, von den Kulturzuständen unsrer Vorfahren zu Tacitus' Zeit (S, 19 ff,) oder
von dem Leben des Bürgers in der Stadt (S. 430), von dem Tagewerk eines geist-
lichen Herrn (S. 163), dem Tun und Treiben der Ritter,
Der Anschaulichkeit der Schilderung entspricht die Durchsichtigkeit des
Stils. Flüssig und schlicht in Ausdruck und Satzbau, frei von Trivialitäten wie
von gesuchten Wendungen — nur ein paar Ausnahmen notiere ich: S. 10 u. S. 19
„ungeschmeidigt"; S. 47, ZI. 3; S. 164, Z. 12 und ähnlich S. 551, Z. 4; S. 223 „a 1 s
Kaiser gekrönt"; S. 310 „der nahe und nächst liegende Kandidat"; S. 316 „Scherz-
wort...aufgesetzt"; S. 344 u. 602 „verhaftet" ; S. 492 „die im Fett schwim-
menden Kaufherrn"; S,517 „allem Zwange und Bindung"; S,599, Z,6, 7 und dazu
die Ungleichheit in der Zeichensetzung vor ,und' mit neuem Subjektswort im Haupt-
satze, für die ich einen Grund nicht erkennen kann — geht dieser nur darauf aus,
für die Sache jedesmal den passendsten Ausdruck zu finden, um den Leser zu
über zeugen, nicht zu über reden, ohne daß er deshalb etwa farblos würde.
Es ist etwas Wahres an dem Buffonschen Wort Je style c'est l'homme mime".
Der Mensch Jäger, wenn ich von mir aus schließen darf, erwirkt auch bei flüchtiger
Bekanntschaft den Eindruck einer Persönlichkeit, den Persönlichkeitsbegriff in
der knappen aber scharfen Definition gefaßt, wie Horaz sie lehrt, als „fides" und
„virtus'\ Nun wohl, „Gerechtigkeits- und Wahrheitssinn" und zugleich „Herz
und Charakter" sprechen auch aus seinem Buch, nach Form und Inhalt. Jener
äußert sich in der unbedingten sachlichen Zuverlässigkeit — ein Versehen notiere
ich auf S. 318, Z. 9 v. u. (1296 statt 1295) — , in der verständigen Benutzung der
630 O. Jäger, Deutsche Geschichte, angez. von W. Meiners.
Forschungsergebnisse und dem besonnenen Urteil über Personen und Dinge — un-
gerechtfertigte Härten sind mir nur aufgestoßen auf S.206, Z.IO, 11 u. 551, Z.4, 5 — ,
wobei sich Jäger der Kunst des rechten Historikers befleißigt, das Wesen und
Tun vergangener Zeiten so zu erkennen, wie die Mitlebenden sie erkannt haben,
nicht wie sie von den Menschen des aufgeklärten XX. Jahrhunderts beurteilt
werden, ohne uns übrigens, wo das von Wert ist, deren Urteile zu verschweigen
(vgl. z. B. S. 222, Z. 9 ff.). An solchen Stellen wie aber überhaupt aus dem ganzen
Buche weht uns die andre vorher gekennzeichnete Eigenschaft entgegen, die virtus
Jägers, die starke, auf sich selbst stehende Männlichkeit des evangelischen deutschen
Mannes der Gegenwart, der Front macht gegen alles, was lediglich „auf das Recht
des Überlieferten gestützt" jedem „gottgewollten Fortschritt" zuwider auf „Zwang
und Bindung" des Menschengeistes ausgeht, und der sich nicht scheut, offen als
Wahrheit zu bekennen, was er als solche erkannt hat. Daß ihm hier freilich der
katholische Teil unsrer Bevölkerung überall wird folgen können, halte ich für
ausgeschlossen (vgl. besonders S. 100, Z. 8; 361, Z. 12 ff.; S.460, Z.19, 20; S.461,
Z. 2; S. 509, Z. 16 ff.; S. 510 Ende; S. 565, Z. 10 ff. v. u.; S. 575, Z. 3ff.; S. 601,
Z. 1 ff.; S. 643, Z. 15 ff. v. u.). Was hier für Jäger Wahrheiten sind, sind für jenen
eben keine und werden ihm auch durch die Lektüre des Buches keine werden. Der
Geschichts Schreiber Jäger durfte und mußte hier weitergehen, als der Ge-
schichts 1 e h r e r von Schülern verschiedener Konfessionen es empfohlen und
seinerzeit getan hat.
Unter Mitteilung dieser Beobachtung empfehle ich daher das vorliegende
Buch, das sich zudem einer tadellosen Ausstattung erfreut, auf das wärmste denen,
für die es geschrieben ist: dem Primaner der höheren Lehranstalten und dem ihm
an Auffassung Gleichstehenden als Anregung zum Studium eingehenderer Spezial-
werke und dann weiterhin deutschen Männern und Frauen überhaupt als Quelle
geschichtlicher Belehrung, als ein Buch, das zwar für die Wissenschaft
einen selbständigen Wert nicht hat noch haben soll, aber andererseits
die bisherigen wissenschaftlichen Ergebnisse zusammenfaßt und in vorzüglicher
Weise zur Darstellung bringt.
Daß man im einzelnen hier und da Ausstellungen machen wird, gelegentlich
etwas hinzugesetzt oder gestrichen sehen möchte, mit diesem oder jenem Urteil
sich nicht einverstanden erklären wird, hier und da im Interesse größerer Klarheit
einen Ausdruck geändert wissen will, ist selbstverständlich: diese Ausstellungen
sind nicht derart, daß sie den Wert des Ganzen herabzusetzen vermöchten. Nur
zur Rechtfertigung meiner Behauptung soll das Wichtigste angeführt werden.
S. 5 unten und S. 36 oben vermisse ich einen Hinweis auf die , .Wissenschaft des
, Spatens"; der Name „Germanen" haftete doch wohl zuerst an einem Bund kel-
tischer Völkerschaften („Nachbarn") in Belgien (S. 9, 15); auf S. 44, 45 hätte die
Vernichtung des Reiches der Burgunder und die Verpflanzung ihrer Reste er-
wähnt werden können; S. 119 scheint mir die Bedeutung der Mersener Teilung
auf Kosten derjenigen von 878 überschätzt; zur Zeit des Sieges bei Hohenburg
glaubte Gregor VII. noch an Heinrichs Gefügigkeit, die Erörterung auf S. 180
unten scheint mir daher nicht am Platze; die Frage der „Laieninvestitur" scheint
mir in ihrer Bedeutung für den Ausbruch des Konfliktes (S. 182) überschätzt,
B. Otto, Wie ich meinen Kindern usw., angez. von E. Neuendorff. 631
die Szene von Kanossa (186 unten) zu sehr im Sinne der kaiserfeindlichen Quellen
dargestellt; den Abschluß des Wormser Konkordats (S. 206) beurteile ich weniger
günstig (vgl. S. 210, Z. 7, wo der Zusatz fehlt „oder seines Vertreters", und 214,
Z. 12 V. u.); der S. 303, Z. 10 festgestellte Unterschied zwischen „Billigung" und
„Bestätigung" (approbatio) ist mir nicht klar; S. 349 muß es statt „Siegel" „Siegel-
kapsel" heißen, auch ist das „fremde Gericht" (Z. 5 v. u.) eben das königliche;
die Erklärung von der Bedeutung des Wahlprinzips für die deutschen Königswahlen
aus der Idee von der Erhabenheit des Kaiserberufs heraus (S. 448, 449) billige
ich nicht; die Darstellung des Ablaßgeschäfts des Kurfürsten Albrecht, sowie
sie S.476, Z. 3 v. u. bis 477, Z. 7 gegeben worden ist, halte ich nicht für einwand-
frei; in dem Marburger Religionsgespräch (S. 518) hätte der Verfasser Luther
den Zwang seiner Überzeugung zubilligen müssen (vgl. S. 525 o.), und endlich
tritt mir (S. 642) der Fortschritt von 1648 gegen 1555 hinsichtlich der Toleranz
nicht klar genug hervor, wenn er auch in dem Satze „wo sie nicht allen ihren Unter-
tanen öffentliche Ausübung ihres Kultus gewähren wollten" angedeutet worden ist.
Elberfeld. W. M e i n e r s.
Otto, Berthold, Wie ich meinen Kindern von der Bodenreform
erzähle. Berlin 1908. Buchhandlung „Bodenreform". 31 S. 0,50 M.
Ottos Streben, die Jugend mehr als im allgemeinen geschieht zum Nachdenken
über moderne Lebensfragen anzuregen, verdient auch bei den Lehrern höherer
Schulen durchaus Beachtung. Dazu ist die Art, wie er diese Fragen zu behandeln
versteht, eingehenden Studiums wert. Man kann ein gut Teil methodischer Weis-
heit lernen, wenn man aufmerksam liest, wie Otto in den ersten sieben Kapiteln
des vorliegenden Büchleins die Frage der Bodenreform in immer neue Teilprobleme
zerlegt und seine Zuhörer geradezu zwingt, sie mit ihm zu lösen, wie er in ein-
facher, kräftiger Sprache zu ihnen redet, wie er schwierige Begriffe in lebhafte An-
schauungen umwandelt, wie er an einem Stoffe wissenschaftlich denken lehrt, der
gerade durch seine Behandlung für viele der Kinder persönliche Bedeutung ge-
winnen wird. So meisterhaft die Entwicklung des Problems und der m ö g 1 i c h e n
Lösungen in diesen ersten sieben Kapiteln ist, so matt und in seiner Kürze schwer
verständlich ist das achte, das die Gesamtlösung im Sinne des Programms der
Bodenreformer bringt. Mir scheint aber auch, daß es bei der Behandlung moderner
sozialer, politischer oder religiöser Fragen auf der Schule meistens unnötig, immer
gefährlich ist, fertige Lösungen zu geben. Es genügt, auf die Probleme hin-
zuweisen, sie zu entwickeln. Gefährlich ist der andre Weg schon deshalb, weil
in sehr vielen Fällen die Fassungskraft der Schüler es verbietet, die Probleme
allseitig und erschöpfend zu behandeln, und weil es dem wissenschaftlichen Geist
unsrer höheren Schulen widerspricht, Schüler nach einseitiger Behandlung eines
Problems zu seiner Lösung anzuhalten. So betrachtet auch Otto die Bodenreform-
frage mit den Schülern nur unter dem einen Gesichtspunkte der Volksgesundheit
und der wirtschaftlichen Not der Masse. Das ist methodisch gewiß richtig. Ehe
man aber dann ein praktisches Einschreiten des Staates endgültig empfiehlt, wird
man einem zweiten Gesichtspunkt doch mindestens Nachdenken widmen müssen:
dem Gedanken, inwieweit es gut und nützlich sein kann, das freie Spiel der
632 H. Conwentz, Beiträge zur Naturdenkmaipflege, angez. von E. Stutzer.
Kräfte der einzelnen immer melir durch die Allmacht des Staates zu binden.
An diese Frage rührt Otto garnicht, und er würde sie wohl auch schwerlich
seinen Schülern so verständlich machen können, daß sie zu fertigen Schlüssen
kommen. Aber wie gesagt, deren bedarf es auch nicht. Es ist nur gut, wenn
die Schule, um dem Leben nicht fremd zu werden, moderne religiöse und
politische Fragen in den Kreis ihrer Betrachtung zieht. Aber sie darf sie immer
nur als Problem behandeln. Nirgends so sehr als hier gilt Lessings Wort von
der Wahrheit.
Haspe. Edmund Neuendorf f.
Conwentz, H., Beiträge zur Naturdenkmalpflege. Zweites Heft.
Berlin 1908. Gebrüder Borntraeger. 158 S. gr. 8». 1,50 M.
Für die Erweckung und Belebung des Heimatgefühls können und müssen
auch die höheren Schulen das ihrige beitragen; es gehört zu ihren edelsten Auf-
gaben, in den Zöglingen das feinere Empfinden zu pflegen, „für welches nicht
nur Mitmenschen und Tiere, sondern auch Landschaft, Steine, Pflanzen ein Recht
auf schonende Rücksicht haben und welchem beispielsweise auch das gedanken-
und zwecklose Abbrechen von Zweigen und Ausreißen oder Zertreten von Pflanzen
widerstreben muß, selbst wenn es sich nicht um Seltenheiten oder gar um Reste
einer absterbenden Flora handelt", wie es in einer Verfügung des ostpreußischen
Provinzial-Schulkollegiums heißt. Deshalb wird hoffentlich vielen Lesern der
Monatschrift eine kurze Anzeige des zweiten Heftes der „Beiträge" erwünscht
sein. Vornehmlich für wissenschaftliche Kreise bestimmt, verfolgen sie den löb-
lichen Zweck, zur Erforschung, Pflege und Erhaltung der Naturdenkmäler an-
zuregen und erscheinen in zwanglosen Heften von verschiedenem Umfange. Das
vorliegende zweite, den Zeitraum vom 1. April 1907 bis 31. März 1908 umfassend,
berichtet im ersten Teile (bis S. 65) zunächst über die allgemeine Tätig-
keit der staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege, über die Reisen und die
Vorträge, die der unermüdliche Herausgeber gehalten hat; sodann über die V e r-
öffentlichungen, die von jener Stelle ausgegangen sind und die mit ihr
mehr oder weniger im Zusammenhang stehen; schließlich werden die Bücher,
Karten und Bilder angeführt, die seit dem ersten Berichte durch Ankauf
und Schenkung hinzugekommen sind; „teilweise unbeabsichtigt" ist ein Tausch-
verkehr entstanden.
Der zweite Teil (bis S. 1 16) berichtet über dieFortschrittederNatur-
denkmalpflege, und zwar zunächst über allgemeine Maßnahmen der gesetz-
gebenden Körperschaften (das bekannte Gesetz vom 15. Juli 1907 kommt be-
sonders in Betracht), der Behörden und der Vereine. Außer sechs Provinzial-
komitees sind zwei Bezirks- und ein Landschaftskomitee entstanden. Das Nähere
darüber wird in dem besonderen Abschnitte „örtliche Maßnahmen"
(S. 75 bis 116) mitgeteilt; unter den preußischen Provinzen ist das wenigste zu
berichten über Schleswig-Holstein und Hessen-Nassau.
Den Beschluß machen 15 Anlagen; meist sind es Erlasse von Behörden.
Die letzte Anlage ist ein Bericht des Professors Dr. G ü r i c h in Breslau über
die neueröffnete Tropfsteinhöhle in Attendorn, Kreis Olpe, Westfalen; durch drei
Lassar-Cohn, Die Chemie im täglichen Leben, angez. von P. Ruif. 633
große Abbildungen wird der Bericht erläutert. In ihm nehme ich an den beiden
Sätzen S. 150 sprachlich Anstoß: „Die Höhle bietet eine Fülle sehr bemerkens-
werter Vorkommen von Kalksinter und Tropfsteinbildungen. Diese zeigen
auffällige Ähnlichkeit mit den Vorkommnissen in der Hermannshöhle."
, Funden' muß es heißen, und zwar auch an erster Stelle. , .Vorkommen", Plural
eines substantivierten Infinitivs — heiliger Wustmann, sei gnädig! Das sei die
einzige Kritik, die ich an dem Hefte übe; sachliche ist ja überhaupt ausgeschlossen.
Möge das nächste Heft über erfreuliche Fortschritte berichten können.
Görlitz. E. Stutzer.
Lassar-Cohn, Die Chemie im täglichen Leben. Gemeinverständliche
Vorträge. Hamburg und Leipzig 1905. Leopold Voss. 5. Aufl. VIIu. 32 9S.
80. 4M.
Unter den Büchern, die bestimmt sind, weiteren Kreisen chemische Kenntnisse
zu vermitteln, steht das bezeichnete in erster Reihe. Hat es doch in neun Jahren
die fünfte Auflage erreicht. Es verdankt diesen Erfolg offenbar dem großen Be-
dürfnis, das in weiten Kreisen des Volkes für solche Bücher vorhanden ist und
dem Geschick, mit dem der Verfasser dieses zu befriedigen verstanden hat. In
dem engen Rahmen von zwölf Vorträgen bietet er eine große Fülle von Stoff aus
dem Gebiete der Chemie, soweit sie Vorgänge und Gebrauchsgegenstände des
täglichen Lebens, der Industrie und des Handels betrifft. Dabei verzichtet der
Verfasser allerdings auf eine ausreichende wissenschaftliche Begründung der che-
mischen Erscheinungen. Für Leser ohne entsprechende Vorbildung hat er eine
Einführung in die Chemie in leicht faßlicher Form in dem-
selben Verlage erscheinen lassen. Immerhin hätte auch in dem vorliegenden Buch
ohne wesentliche Vergrößerung seines Umfanges auf eine methodische Einführung
in die Grundbegriffe der Chemie mehr Rücksicht genommen werden können. Was
in dieser Beziehung geboten wird, ist unzulänglich. So wird erst auf S. 23 der
Begriff des chemischen Elementes erläutert, nachdem schon vorher kompliziert
zusammengesetzte Verbindungen besprochen sind. Die Erläuterung der Begriffe
Atom und Molekül, S. 26, könnte die irrtümliche Auffassung hervorrufen, daß nur
die nicht elementaren Körper aus Molekülen aufgebaut sind. Vor allem müßte
die quantitative Bedeutung der Formeln, auf die nur am Schlüsse des Buches in
einer Anmerkung kurz hingewiesen wird, und im Zusammenhang damit das wichtige
Grundgesetz von den konstanten Gewichtsverhältnissen eingehender erörtert werden,
und zwar schon in der ersten Vorlesung im Anschluß an die Besprechung der Ver-
brennungserscheinungen. Im übrigen zeichnet sich das Buch durch eine frische
und anschauliche Art der Darstellung aus; als besonderer Vorzug derselben ist
hervorzuheben, daß sie die geschichtliche Entwicklung der wichtigsten chemischen
Industrien eingehend berücksichtigt, wodurch die volkswirtschaftliche Bedeutung
der letzteren und ihr Zusammenhang mit der Kulturentwicklung wirkungsvoll
hervortritt. Die Fassung des Ausdrucks könnte manchmal sorgfältiger sein, wie
S. 248: „. . . . so wirken sie (die Röntgenstrahlen) durch das Holz des Kästchens,
welches das Tageslicht nicht durchdringt, also abhält," wo dasselbe
Relativpronomen gleichzeitig als Subjekt und Objekt gebraucht wird; oder S. 206:
634 M. Vogtherr, Die Chemie, angez. von P. Ruif,
„der große Unterschied, ob die Fette , . . ., ist, wie wir schon aus den Gleichungen
ersehen," anstatt: worauf bei den Gleichungen schon hingewiesen ist. Auch einige
sachliche Irrtümer seien erwähnt: S. 40 wird der Aschengehalt der Roggenpflanze
mit 6,38% ihres Gewichtes angegeben, statt des Gewichtes ihrer Trockensubstanz.
S. 50 wird das Vorkommen der Kalisalze zu eng begrenzt; die große Ausdehnung
und Bedeutung des Kalibergbaus könnte mehr hervorgehoben werden. S. 53
werden die Ausdrücke Basis und Alkali fälschlich als gleichbedeutend be-
zeichnet. S. 61 wird bei Besprechung der Milchsäuregärung gesagt, daß „Voraus-
setzung für jede Gärung Pilze, heute Bazillen genannt, seien", während an anderer
Stelle richtig die Hefepilze als Ursachen der weingeistigen Gärung bezeichnet sind.
Auch hätten die bedeutsamen Buchnerschen Forschungen über den wirklichen
Anteil der Hefepilze an der weingeistigen Gärung erwähnt werden können. S. 155:
Die Farbe des Chlorgases ist nicht gelb, sondern gelbgrün; bei der Besprechung
der Bleichprozesse hätte auf die elektrolytische Gewinnung der Bleichflüssigkeiten
hingewiesen werden können. S. 273: Die Bezeichnungen „Schmiedeeisen und
Schweißeisen" sind nicht identisch, ebenso wird S. 281 jedes manganhaltige
Roheisen fälschlich als Spiegeleisen bezeichnet. S. 294 heißt es, daß bei der elektro-
lytischen Gewinnung des Aluminiums aus Aluminiumoxyd der Sauerstoff „gas-
förmig entweicht", während er sich mit dem Kohlenstoff der Anode zu Kohlen-
oxyd vereinigt. Die wichtige Verwendung des Aluminiums nach dem Goldschmidt-
schen Verfahren zur Erzielung hoher Temperaturen, z. B. bei der jetzt häufig aus-
geführten Verschweißung der Straßenbahnschienen, hätte erwähnt werden können.
Die gemachten Ausstellungen, die bei einer neuen Auflage leicht berück-
sichtigt werden können, sollen den Wert des Buches nicht herabsetzen. Für den
chemischen Unterricht bietet es mancherlei Anregungen und wertvollen Stoff,
auch den Schülerbibliotheken sei es zur Anschaffung empfohlen.
Vogtherr, M., Die Chemie. Hausschatz des Wissens, Abt. HI, Bd. 5. Neu-
damm 1905. J. Neumann. 847 S. 8«. Lbd. 7,50 M.
Die „Chemie" von Vogtherr weist alle Vorzüge auf, die den mir bekannt ge-
wordenen Werken der Sammlung „Hausschatz des Wissens" eigen sind: eine aus-
führliche Darstellung, die in der rechten Art zwischen dem kurzen Leitfaden und
der erschöpfenden Behandlung des wissenschaftlichen Handbuches die Mitte hält,
eine leicht verständliche und doch von wissenschaftlichem Geiste getragene Schreib-
weise, eine trotz des billigen Preises sehr gute Ausstattung und reiche Illustrierung
mit Textabbildungen und Tafeln.
Die 115 Seiten umfassende Einleitung bietet eine ausführliche Übersicht über
die allgemeine Chemie, die auch die wichtigsten neueren Methoden und Gesetze
der Elektrochemie, der Thermochemie, der Molekurgewichtsbestimmung berück-
sichtigt. In dem speziellen Teil wird die anorganische und organische Chemie in
systematischer Anordnung behandelt. Die von der lonentheorie ausgehende neuere
Auffassung der chemischen Prozesse, die in der Einleitung dargelegt wird, ist in
dem systematischen Teile nicht durchgeführt.
Die Technologie ist eingehend berücksichtigt, wie überhaupt diejenigen Körper
und Vorgänge, die in der chemischen Industrie die Grundlage bilden, besonders
L. V. Liebermann, An die Bürger usw.; O. Anthes, Erotik usw., angez. v. R. Jahni<e, 635
ausführlich behandelt sind. Zahlreiche Tafelbilder und Textabbildungen beleben
gerade diese Abschnitte, meist in sehr guter Ausführung.
Andere Abbildungen erläutern die beschriebenen Experimente. Einen an-
ziehenden Schmuck des Buches bilden zahlreiche Bildnisse berühmter Chemiker,
wie auch der Text die geschichtliche Entwicklung der chemischen Wissenschaft
und Industrie eingehend berücksichtigt.
Einige Irrtümer und Versehen, die bei einer neuen Auflage leicht beseitigt
werden können, seien kurz erwähnt. S. 295, Z. 1 muß, wie in der folgenden Gleichung
richtig angegeben ist, „eine schwarze Fällung von Silbe r", statt „Arsen" gesetzt
werden. Auf S. 428, Z. 6 v. u. muß es heißen: „in der schwerer löslichen Form
des Tricalciumsphosphates", anstatt „leichter löslichen". S. 433 werden die
Kristalle des Kalkspates als „rhombisch", statt „rhomboedrisch" bezeichnet. Auch
sonst sind die an sich schon knapp gehaltenen kristallographischen Angaben öfter
ungenau („rhomboidisches" Arsen S. 293, ,, würfliges" Antimon, S. 300). In den
beiden Gleichungen auf S. 136 muß 2H2O anstatt HjO gesetzt werden; auch die
Gleichung für die quantitative Bestimmung der im Wasser enthaltenen Nitrate
S. 143, bedarf einer Änderung der Koeffizienten (9H2SO4, 8Zn, 8ZnS04). Die Zu-
sammensetzung des gereinigten Leuchtgases ist auf S. 634 unvollständig an-
gegeben, es enthält außer Kohlenoxyd und Äthylen bekanntlich noch mehrere
andere Gase, vor allem Wasserstoffgas und Methan.
Die Angaben über das Acetylen, S. 637, sind ungenau, Acetylen ist nicht
leichter, sondern schwerer als Leuchtgas; die Austrittsschlitze an den Acetylen-
gasbrennern müssen schmal und enge sein, nicht wegen der größeren Ausströmungs-
geschwindigkeit des Gases, sondern wegen seines großen Kohlenstoffgehaltes, da
die erzielte kleine Flamme eine relativ größere Oberfläche besitzt, also auch relativ
mehr Sauerstoff für die Verbrennung enthält, als eine größere Flamme.
Dortmund. P a u 1 R u 1 f .
von Liebermann, L., An die akademischen Bürger und Abitu-
rienten höherer Lehranstalten. Zur Aufklärung in sexuellen
Fragen. Deutsche Ausgabe. Halle 1908. E. Marhold. 23 S. 8». 0,40 M.
Unter den mir bekannt gewordenen Schriften dieser Art würde ich der vor-
liegenden unbedingt den Vorzug geben, wenn nicht im letzten Abschnitt Schutz-
mittel gegen die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten genannt würden. Zweifel-
los ist der Verfasser von der Absicht geleitet worden, auch denen einen guten Rat
zu geben, bei denen die Warnungen nichts gefruchtet haben. Aber ich fürchte,
diese Ratschläge werden bei manchem Leser nur den Eindruck hervorrufen, daß
bei der nötigen Vorsicht die vorher geschilderte Gefahr doch so groß nicht sei.
Anthes, Otto, Erotik und Erziehung, eine Abhandlung mit Zwischen-
spielen. Leipzig 1908. R. Voigtländer. 72 S. 8°. 1 M.
Anthes hat eigne Gedanken und eine eigne Art sich auszudrücken. Was er
schreibt, lohnt die Mühe des Lesens; so auch dieses Büchlein. Sein Hauptgedanke
ist der, daß man die Sinnlichkeit nicht unterdrücken dürfe, sondern sie veredeln,
oder anders: sie mit andern Trieben mischen müsse. Nur in der Vereinzelung
636 E. Burgaß, Winterliche Leibesübungen usw., angez. von E. Neuendorff.
bedeute sie eine Gefahr. Diese Mischung aber erreiche man beispielsweise da-
durch, daß man bei Betrachtung eines Kunstwerkes, das die Sinnlichkeit zu er-
regen geeignet sei, das ästhetische Verständnis wecke, daß man „den Körper als
ein mit den vielfältigsten Bestimmungen versehenes Ding zu betrachten und zu
bewerten" lehre, „so daß das Sinnliche immer nur als ein Bezirk neben vielen
andern ebenso wichtigen erscheinen kann". Das ist gewiß ein Weg, der nicht
nur gangbar, sondern auch schon von manchem von uns begangen worden ist;
und noch einiges andre steht in dem Schriftchen, was im Unterricht Verwendung
finden kann. Aber ich meine, es wäre zweckmäßiger gewesen, wenn der Verfasser
seine Ansichten mit größter Klarheit ausgesprochen und sich weniger mit An-
deutungen begnügt hätte. Wenngleich das Wort am Schluß des „Büchleins"
„Ein Erzieher muß ein Feinarbeiter sein und kein Grobschmied" auch für den
Schriftsteller gilt, so ist doch auch das unbestreitbar, daß, wer andre für seine
Auffassung gewinnen will, gut tut, diese mit der größten Deutlichkeit auszusprechen.
Lüdenscheid. Rieh. Jahnke.
Burgaß, E., Winterliche Leibesübungen in freier Luft. Kleine
Schriften des Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und Jugendspiele in
Deutschland. Bd. 6. Leipzig 1908. B. G. Teubner. X u. 120 S. kart. 1 M.
Ein handliches Büchlein, das mit Fleiß und Sachkunde abgefaßt ist und uns mit
heller Begeisterung von winterlichen Freuden erzählt. Auf 100 Seiten gibt der Ver-
fasser ein umfassendes Bild von dem Wesen, dem Betrieb und der Technik aller
Leibesübungen, die im Winter in freier Luft betrieben werden können. Allen
Lehrern, denen es ein Bedürfnis ist, auch. außerhalb der pflichtmäßigen Unter-
richtsstunden mit ihren Schülern ab und zu Gemeinsames zu erleben, kann man
nur dringend raten, das Büchlein recht oft zu Rate zu ziehen. Sie werden ihm
für manche Anregung dankbar sein. Wenn man auch nur an wenigen Orten unseres
Vaterlandes Schneeschuhlaufen, Schlittenfahren und Rodeln betreiben kann, so
kann man doch überall schneeballwerfen und schlindern lassen, gemeinsames
Schlittschuhlaufen veranstalten oder Schnitzeljagden im Schnee vornehmen.
Haspe. Edmund Neuendorff.
Kirchner, M., DieTuberkuloseinderSchule,ihreVerhütung
und Bekämpfung. Berlin 1909. Richard Schoetz. 16 S. 8«. 0,60 M.
Verfasser weist an der Hand der Statistik auf die Bedeutung der Tuberkulose
für Kinder im schulpflichtigen Alter hin. Während sich in den letzten 30 Jahren
die Sterblichkeit an Tuberkulose fast um 50 Prozent verringert hat, hat sie für das
Alter von 10 — 15 Jahren zugenommen; 1876 war der Anteil der Tuberkulose an
der Sterblichkeit bei den Knaben dieses Alters 10, bei den Mädchen 28,4 %; diese
Zahlen waren bis zum Jahre 1903 auf 18,65% und 29,7% gestiegen. Bis zum
Jahre 1906 nahm dann zwar der Anteil der Tuberkulose an der Sterblichkeit bei
den schulpflichtigen Knaben etwas ab — er betrug 18,41% — bei den Mädchen
aber vergrößerte er sich bis auf 30,08%. Es sind dies in der Tat sehr hohe Zahlen,
deren Bedeutung dadurch nicht vermindert werden kann, daß die absolute Sterb-
lichkeitsziffer an Tuberkulose entsprechend der niedrigen Mortalität dieses Alters
M. Kirchner, Die Tuberkulose in der Schule usw., angez. von Doepner. 637
ziemlich gering ist. Besonders hervorzuheben ist noch, daß die Tuberkulose im
Alter von 10 — 15 Jahren erheblich mehr Todesfälle verursacht als die sogenannten
Kinderkrankheiten — Diphtherie, Scharlach, Masern und Keuchhusten — zu-
sammen, während ihre Mortalität in den Altersstufen von 3 bis 10 Jahren nur
durch die von Scharlach und Diphtherie übertroffen wird.
Aus diesen Feststellungen des Verfassers geht die Notwendigkeit einer ener-
gischen Bekämpfung der Tuberkulose im schulpflichtigen Alter klar hervor. In
dem Ministerial-Erlaß vom 9. Juli 1907 — Anweisung zur Verhütung der Ver-
breitung übertragbarer Krankheiten durch die Schulen — ist daher auch die Tuber-
kulose besonders berücksichtigt worden. In diesem Erlaß wird besonders auf
drei Punkte bei der Bekämpfung der Tuberkulose in der Schule Wert gelegt: auf
die Feststellung der Krankheit, auf vorbeugende Maßregeln und auf die Belehrung
von Lehrern und Schülern über die Krankheit. Die Feststellung der Tuberkulose
ist wesentlich erleichtert in den Schulen, in welchen Schulärzte angestellt sind.
Es sollen nach dem obengenannten Erlaß nur solche Lehrer und Schüler
vom Unterricht ferngehalten werden, bei denen die Ansteckungskeime im Auswurf
nachweisbar sind, und zwar nur so lange, als dies der Fall ist. Die Untersuchung
des Auswurfs in dieser Hinsicht kann kostenlos in allen Medizinal-Untersuchungs-
ämtern und Untersuchungsstellen sowie in zahlreichen staatlichen und städtischen
Instituten vorgenommen werden. Auch im Interesse der Lehrer liegt es, falls
sie von einer tuberkuloseverdächtigen Krankheit befallen werden, möglichst früh-
zeitig sich über die Art der Krankheit Gewißheit zu verschaffen; denn erfahrungs-
gemäß wird durch eine Heilstättenbehandlung im Beginn einer Tuberkulose in
der Mehrzahl der Fälle die Leistungsfähigkeit wieder hergestellt oder sogar völlige
Heilung bewirkt.
Um den Lehrern, soweit sie nicht der Alters- und Invalidenversicherung
unterliegen, den Aufenthalt in Heilstätten zu erleichtern, hat der Staat mit
einigen Heilstätten Verträge abgeschlossen, nach denen diese regelmäßig so-
undso viel Lehrer für ein ermäßigtes Entgelt aufnehmen; außerdem gewährt
er den Lehrern Beihilfen aus Zentralfonds. Da diese Mittel jedoch nicht ausreichen,
wäre es wünschenswert, daß die Lehrer sich selbst helfen durch Begründung eines
Vereins zur Bekämpfung der Tuberkulose, durch den Lungenheilanstalten für
Lehrer und Lehrerinnen begründet und erkrankten Mitgliedern die Aufnahme
in diese Anstalten ermöglicht würde. In den letzten Jahren sind außerdem von
dem Herrn Kultusminister die Quarantäneanstalten an den Küsten der Ost- und
Nordsee für erholungsbedürftige Lehrerinnen während der großen Ferien in dan-
kenswerter Weise kostenlos zur Verfügung gestellt worden. Für wünschenswert
zur Verhütung der Tuberkulose bei den Lehrern hält es Verfasser auch, daß nicht
nur bei der Anmeldung zur Präparandenanstalt, sondern auch vor dem Eintritt
in das Seminar und in den Beruf eine genaue Untersuchung der Lungen statt-
finde und nötigenfalls durch Erteilung von Urlaub und Gewährung von Stipendien
und Unterstützung die Möglichkeit zur Kräftigung der Lungen geboten werde.
Tuberkulöse Schüler könnten, solange Tuberkelbazillen in ihrem Auswurf
fehlen, ohne Gefährdung ihrer Umgebung die Schule besuchen, was monate- und
jahrelang der Fall sein könne. Sobald sich aber Ansteckungskeime im Auswurf
638 M. Kirchner, Die Tuberkulose in der Schule usw., angez. von Doepner.
zeigen, sei die schleunige Entfernung des Schülers aus dem Unterricht geboten.
Es wäre zweckmäßig, für solche Schüler Sonderklassen einzurichten, wie sie vielfach
schon für geistig zurückgebliebene Kinder oder für solche mit Hörresten vorhanden
sind. Nachahmenswert seien auch die Waldschulen, die in den letzten Jahren
in Charlottenburg und andern Orten entstanden sind. Bei Kindern, die von der
Krankheit bedroht sind, wirke ein Ferienaufenthalt an der See, im Wald oder im
Gebirge oft auffallend gut. Zur Verhütung der Übertragung der Tuberkulose
trage auch wesentlich die im Erlaß geforderte regelmäßige Reinigung der Schul-
zimmer bei, nur dürfe diese staubreiche und ungesunde Arbeit nicht von den Schul-
kindern selbst verrichtet werden. Spucknäpfe müßten mit Wasser gefüllt sein
und nicht auf den Boden gestellt, sondern an der Wand aufgehängt werden.
Von großer Wichtigkeit für die Bekämpfung der Tuberkulose sei es schließ-
lich, daß man seit einer Reihe von Jahren unter den angehenden Lehrern und
Lehrerinnen hygienische Kenntnisse, namentlich bezüglich des Wesens und der
Verhütung der Tuberkulose verbreite und daß auch vielfach schon in den oberen
Schulklassen eine Belehrung der Schüler hierüber stattfinde.
Charlottenburg. Doepner.
IV. Sprechsaal.
Herr Oberlehrer Dr. Wilhelm Meier- Düsseldorf schreibt:
Im Juli-Heft der „Neuen Jahrbücher" stellt Prov.-Schulrat Prof. Dr. P. Cauer
u, a. zehn Gebote für Oberlehrer auf, die ich zum Teil für vortrefflich halte, zum
Teil aber nicht billigen kann. So vermute ich, daß bei Gebot 5 („Alles verstehen,
aber nicht alles verzeihen!'*) und 7 („Metuant, dum ne oderint") das Wortspiel
die Wahl und den Sinn beeinflußt hat. Ich setze voraus, daß Gebote möglichst
leicht verständlich und eindeutig sein müssen. Warum nun sollen wir Lehrer
nicht alles verzeihen? Erbitten wir es nicht täglich von Gott selber, daß er uns
unsre Schuld vergibt? Sodann muß ich gestehen, daß das „Gebot": metuant
mir persönlich doch keineswegs wünschenswert erscheint. Meinetwegen mögen
„sie" „Dampf haben" vor mir, aber metuant (als „Gebot" doch zu übersetzen:
sie sollen mich fürchten) — nein! Ferner nehme ich Anstoß an Gebot 9: „Du
sollst von den Schülern nicht verlangen, was du nicht selber leistest." Wenn ich
also einen Aufsatz nicht selbst ins Reine schreibe, darf ich es auch von den Schülern
nicht verlangen? Oder verstehe ich den Satz falsch? Dann ist m. E. der Wort-
laut unklar. Oder ist etwa der Satz wörtlich zu befolgen und sollen wir es machen
wie jener alte Gymnasialprofessor, der allen Ernstes behauptete, er heirate nicht,
rauche nicht und trinke möglichst wenig Bier, weil das auch den Schülern ver-
boten sei.
Im ganzen genommen vermisse ich bei den zehn Geboten eine Gesamtauffassung
für den Stand, wie sie m. E. darin liegen müßte. Ganz unabhängig von den Cauer-
schen Geboten habe ich mir einmal zehn zusammengestellt, die ich mir hierher
zu setzen erlaube. Naturgemäß müssen solche Aufstellungen subjektiv sein und
fordern — wie ich es ja selbst tue — zur Kritik heraus.
1. Arbeite, um zu erziehen, nicht um Dank zu erwerben; findest du ihn,
so freue dich.
2. Arbeite, nicht um in deiner Stellung, sondern um in deinem Wissen vor-
wärts zu kommen.
3. Stelle in erste Linie Jugend und Schule, nicht deine Person und deine
Lebensverhältnisse.
4. Suche ein Künstler zu sein und alles tote Material zu beleben.
5. Laß in allen Dingen Liebe, nicht nur Recht und Logik dich leiten.
640 Sprechsaal.
6. Nimm teil an den Freuden und Leiden deiner Schüler, sie müssen immer
unbefangen zu dir kommen dürfen, suche nicht vor ihnen als Halbgott
zu erscheinen und befolge selbst die Lehren, die du gibst.
7. Bearbeite ein wenn auch noch so kleines wissenschaftliches Gebiet und
hilf es ausbauen.
8. Sei Beamter nur in äußeren Dingen, bei inneren Fragen nur Erzieher.
9. Habe Vertrauen zu deinen Vorgesetzten, vor allem sieh in ihnen die
Männer, die mit dir das gleiche Ziel erreichen wollen.
10. Denke immer daran, daß Vorgesetzte, Kollegen, Eltern und Schüler
Stimmungen unterworfen sind, wie du.
Ich hätte diese Zeilen nicht geschrieben, wenn ich nicht wüßte, daß mein
verehrter früherer Direktor Cauer stets über die Personen die Sache stellt und
den Kampf liebt, den Vater aller Dinge.
Wir gehen an unserer Anstalt mit der Absicht um, für die Schüler Personal-
und Gesundheitsbogen einzuführen, etwa wie sie E. Lenz in der Monatschrift
für höhere Schulen V. 1906, S. 499 vorgeschlagen hat, sowie an die Stelle der bisher
üblichen, klassenweise eingerichteten Bücher für die Zeugnisentwürfe individuelle
Zeugnisbogen zu setzen, die Raum für mehrere Zeugnisse bieten und jedesmal
klassenweise zusammenzufügen sind. Wir erlauben uns daher, an alle Anstalten,
an denen ähnliche Einrichtungen bereits bestehen, folgende Bitten zu richten:
1. uns von den benutzten Formularen je ein Exemplar zu senden,
2. uns über die Art der Verwendung dieser Formulare und
3. über die Erfahrungen, die mit ihnen gemacht sind, gütigst Mitteilung
zukommen zu lassen.
Wir bitten alle Sendungen an den unterzeichneten Vertrauensmann des
Kollegiums gelangen zu lassen.
Dr. L ü d c k e , Professor W i 1 k n e r ,
Direktor. Oberlehrer an der Oberrealschule in Steglitz bei Berlin.
1. Abhandlungen.
Die klassische Piiilologie und die Naturwissenschaften."^)
Nur die Arbeit wird eine erfolgreiche und
nutzbringende sein, die mit der Überzeugung
ihres inneren Wertes und der Zuversicht ihres
Gelingens getan und von hoher, reiner Begeiste-
rung getragen wird.
Die österreichische Mittelschule**) macht soeben unter dem Drucke von Ver-
änderungen jenseits unserer Reichsgrenze eine tiefgehende Umwandlung durch,
die man ganz kurz als den Vormarsch der naturwissenschaftlichen Fächer und
den Rücktritt des altsprachlichen Bildungsstoffes, der bisher die Rolle der Hege-
monie im Gymnasium inne hatte, bezeichnen kann. Die naturwissenschaftliche
Methode hat sich binnen kurzer Zeit durch ihre junge, neue und interessante Lebens-
kraft die Führung der gesamten Wissenschaft angeeignet und droht in ihrem Sieges-
zuge, der durch sein neuartiges Gepränge Sinn und Herz der zusehenden Laienwelt
gefangen nimmt, über alles hinwegzuschreiten, was alt und krank und somit nicht
mehr lebensfähig scheint. Allseits erschallt der Ruf: „Nur der Lebende hat recht"
und infolgedessen auch nur der, der Leben spendet. Wie es aber bei jeder revo-
lutionären Bewegung zu beobachten ist, wird auch vieles Lebenskräftige dem
Tode geweiht, weil man sich im Überschäumen seiner Kraft nicht die Zeit nimmt,
Lebensstarkes und Lebensmüdes sorgfältig zu scheiden. Revolution kennt keine
Gerechtigkeit; in solcher Zeit muß jeder, der leben will, all seine Kraft in sich
sammeln und danach trachten, sich eine solche Stellung zu erwerben, daß er mit
*) Die Voraussetzung dieses Aufsatzes, daß die Vertreter der Naturwissenschaf ten zur
klassischen Philologie in scharfem Gegensatz stünden, trifft für die Mitarbeiter an dieser
Monatschrift nicht zu. Seit dem Jahre 1900, dem Jahr der Anerkennung der Gleich-
berechtigung unserer höheren Lehranstalten und der Gleichwertigkeit der in ihnen gelehrten
Wissenschaften, besteht zwischen den beiden geistigen Mächten ein freundschaftliches und
gleichstrebendes Verhältnis. Gleichwohl ist dem obigen Aufsatz gern Aufnahme gewährt,
weil er ein Stimmungsbild bietet, wie es da aussieht, wo man nicht früh genug für Aus-
gleichung der Gegensätze und eine freundnachbarliche Annäherung gesorgt hat. Auch hat
deshalb der Aufsatz seine Bedeutung, weil er frei von humanistischer Selbstgefälligkeit auf
die Mängel im Unterricht aufmerksam macht und viel dazu beitragen kann, sie zu beseitigen.
Mtth.
**) Wenn auch zunächst an diese gedacht ist, weil ihre Verhältnisse dem Verfasser
durch seine Stellung zu ihr nahe liegen, so sind doch die folgenden Ausführungen für die
Allgemeinheit bestimmt.
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 41
642 V. Skupnik,
der herrschenden Partei gehen kann; die das tun, sind wahrlich nicht die Schlech-
testen. Hat sie die Unbeschränktheit ihrer Macht bisher durch die Ruhe, in der
sie sich dieser freuen konnten, um einen guten Teil ihrer Kraft gebracht, so gibt
ihnen der neue Kampf mit einem Gegner, der erst auf ein Alter von wenigen De-
zennien zurückblicken kann, nicht nur genug Ausdauer und Stärke zum Siegen,
sondern noch ein Plus an Kraft, das ihnen mit dem Siege die Herrschaft für die
Zukunft sichert. Kampf gibt Stärke, Erfahrung und noch mehr: neues Leben,
neue Jugend, freie Bewegung, Selbstbewußtsein. Gerade das braucht jedes Lebe-
wesen, um lebensfähig zu sein.
Ein solcher Kampf spielt sich soeben vor unsern Augen ab: hier die klassische
Philologie, ihr gegenüber das Feindeslager: die Naturwissenschaften. Diese haben
jenen offen den Krieg erklärt. Der ältere Gegner führt als Kämpfer das Recht
auf seine Tradition und die Achtung vor dem Alter in die Schranken, überdies
die Vorzüge der Einfachheit und damit die exemplifikatorische Kraft seines Arbeits-
materials, der Schriftwerke der Griechen und Römer, aber auch das Ideal als die
Hauptcharaktereigenschaft des zur Verarbeitung gelangenden Stoffes, die Ruhe
und Abklärung, die zum Wesen der Vergangenheit gehört und sozusagen die Magnet-
nadel des Gegenwartslebens darstellt, dann aber auch die Eigenartigkeit der Be-
handlung eines fremdsprachlichen Stoffes in linguistischer, intellektueller und
ästhetischer Beziehung von einem solchen Standpunkte aus, der dem naturwissen-
schaftlichen diametral gegenübersteht, insoferne als dieser in der Biologie und
Induktion zwar seine Wege hat, auf denen er zum Verständnis des Mikro- und
Makrokosmus sich emporarbeitet, aber doch nicht den Intellekt und das bewußte
Fühlen der Formenschönheit zu jener Höhe zu führen vermag, die durch das Ver-
senken in die Sprache dem Menschen erreichbar ist, und das ganz einfach deshalb,
weil in der Natur die Phantasie, des Geistes vornehmstes Kind, in der Materie
in feste Formen gebunden ist und nur eine Analyse zuläßt, während sie in der
Sprache keine Grenzen ihrer Bewegung findet. Die Sprache ist schon an sich be-
kanntermaßen das höchste Kunstwerk, das die Menschheit geschaffen hat, was erst
die Vereinigung der einzelnen Teile zum Bilde in Prosa und Poesiel
Wodurch aber imponiert der Gegner? Vorerst durch das Übermaß an Kraft,
das ihm seine Jugend gibt. Diese setzte er in eine neue Form um, die sich im
Fluge zur Geltung brachte: in eine neue Methode, die als die speziell naturwissen-
schaftliche sich zuerst die Achtung, dann die Liebe und heute bereits die aus-
schließliche Anerkennung zu erringen wußte. Das hat auch seinen guten Grund.
Die Welt ist durch die Erschließung ungeahnter Kräfte und Schätze des Universums
ganz Auge und Ohr für das Materielle geworden und verkrallt sich mit allen ihren
Kräften, physischen wie psychischen, in die Materie, während dem Ideal der Ab-
schied gegeben wurde. Die Menschen der Vergangenheit haben zuviel dem Ideale
gelebt; nur ab und zu hat einer den Blick von der Sonne, dem Ziele seiner Sehn-
sucht, tiefer gegen den Horizont gesenkt und sieh da ! Auf einmal nahm er wahr,
daß es viel besser sei, statt am Sonnenglanze zu erblinden, seine Seele dem zu-
zuwenden, dem die Sonne ihr Licht, ihre Wärme, ihre Kraft und damit einen Teil
ihres Wesens leiht, und daran das Auge zu laben. Dabei kam aber der Mensch
mit einem andern Zuge seines Wesens in Konflikt: mit der Neigung, in jedem
Die klassische Philologie und die Naturwissenschaften. 643
Lebensträger, auch dem metaphorischen, gleichzeitig den Grund des geoffenbarten
Lebens zu sehen, die Materie als bewußt Wirkendes aufzufassen, und so verlor
er den Glauben an die Allmacht der Sonne, sagte sich von seiner bisherigen Herrin
los und machte den Menschengeist zum Mittelpunkt seines neuen Kosmos. Stoff
und Form sind ihm zur Ursache und Wirkung, zu Gott und Schöpfung geworden.
Damit gehörte die Zeit auch ihm; deshalb wurde aber auch alles Immaterielle
verworfen und das Dasein nur insoweit als Grundlage für die Wissenschaft, als
Lebensinhalt zugelassen, als es sich, in milliardenfacher Gleichartigkeit existierend,
eine Erfahrung entlocken ließ und die Prägung neuer, auf realer Basis ruhender
Gesetze ermöglichte. Allem anderen wird unablässig die Existenzberechtigung
abgesprochen, ja man konnte es sogar aus dem Munde eines der hervorragendsten
Vertreter der Naturwissenschaften hören, daß Sprachstudium zu überlebtem
Kram geworden sei.
So kam es also zum Krieg zwischen beiden Parteien: die eine hatte ihr Macht-
gebiet zu erweitern, die andere sich ihres alten Besitzrechtes zu wehren. Bald
nach dem Ausbruch der Fehde bewahrheitete sich wieder der alte Erfahrungssatz,
daß man vom Feinde nur lernen könne und solle. Wie allen Fortschritt, begleitet
auch den der Naturwissenschaften eine negative Kritik, die sich in einer Art De-
pression auf die humanistischen Studien an den Gymnasien äußerte; aber durch
ihren Druck erzeugte sie den Gegendruck, indem sie eine verbesserte Philologie
schuf, in deren Geiste sich die antiken Schriftsteller wesentlich anders geben als
früher. Für die klassische Philologie ist es nur ein großes Glück gewesen, daß
ihr ein Gegner mit frischer Kraft erstand, der der Menschheit einen lustigen Quell
aus ihrer eigenen Scholle, an der sie mit so viel Liebe hängt, hervorzauberte, wo
jeder Junge den Nektar des Lebens und jeder Altersmüde und Schwache sich
freudenreiche Jugend und erneuten Anspruch auf Ewigkeit holen kann. Die Feinde
stehen sich zumindest ebenbürtig gegenüber. Man kann es nur mit Freude be-
grüßen, daß von Seiten der Philologie mit aller Macht zu den Waffen gegriffen
wurde und sie sich durch die Annäherung an die Methode der Gegner bis jetzt
auf dem Platze behauptet hat.
,,Und doch, nicht gut ist's um ihr Glück bestellt." Eine Institution kann sich
in bewegter Zeit, wenn man ihr das Recht auf den Besitz streitig macht, nicht
anders gebärden als ein Mensch, der von einem bösen Tier angefallen wird. Der
Schreck fährt ihm in die Glieder, er sucht nach Mitteln, um das drohende Unheil
von sich abzuwenden. Es fehlt ihm die Konzentration und damit die geistige
Verfassung des Angreifenden, so daß er in seiner Abwehr keine Systematik verrät,
sondern stoßweise vorzudringen versucht und sich dabei aller Hilfsmittel, die ihm
der Zufall in die Hände spielt oder die klare Überlegung des Augenblicks als förder-
lich erscheinen läßt, bedient. Das ist aber schlecht. Die Kräfte brauchen Samm-
lung, während sie der partielle Verbrauch nicht bloß um die Summe der einzelnen
Teile vermindert, sondern mit der Zersplitterung die völlige Auflösung herbeiführt.
In dem folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, aus den einzelnen
Steinchen, die als Beiträge zu einer Umgestaltung des philologischen Unterrichtes,
wie er bisher in Übung stand, von allen nöglichen Seiten herbeigeschafft werden,
ein einheitliches Bild fertig zu stellen, wobei wir als Künstler im Zauberreiche des
41*
644 V. Skupnik,
Geistes mit reinem Geistesstoff zu schaffen haben. Denn geradeso wie noch nie
einer ein Künstler geworden ist, wenn er bald dieses, bald jenes Werkzeug zu führen
probierte, sondern alle gleichzeitig und gleichmäßig zu gebrauchen verstand, so
dürfte es auch nicht überflüssig sein, uns einmal unsere Werkzeugreihe anzusehen
und die Verwendungsart der einzelnen kennen zu lernen, aber auch den Beweis
zu erbringen, daß sich damit ein wirkliches Kunstwerk gestalten läßt, das zur
Harmonie des Lebens unentbehrlich ist. Da erst wird es sich zeigen, daß die Arbeit
der klassischen Philologie, insoweit als sie in den Schulbetrieb fällt, wirklich eine
Kunst ist, und zwar keine geringe. Es soll aber auch allgemein bewußt werden,
daß nicht eine Kunst allein das Leben gestalten und verschönern, ja überhaupt
nur lebenswert machen kann, sondern daß in der Variation, die die Teile zu Homo-
genem vereint, die Lebensmöglichkeit, Lebenskraft und Lebenslust gelegen ist.
Nur eine Vielheit von Ursachen und Wirkungen vermag ein so kompliziertes Dasein
zu geben, wie es der Mensch im Laufe seiner Entwicklung zeigt.
Von der alten, überlebten Art der Beschäftigung mit den Griechen und Römern
im philologischen Unterrichte brauche ich nicht weiter des näheren zu reden: es
war die Zeit der Anatomie, des Studiums an der Leiche. Da wurde alles fein
seziert und herauspräpariert: Nerven, Adern, Muskeln. Es war nur die Zeit des
Studiums und selten hat man den Blick von der Leiche weg auf den lebenden Menr
sehen geworfen und sich gefragt: wie kann ich mit den Kenntnissen, die ich mir
hier so systematisch erwerbe, dem Leben nützen? Man hat dabei ganz übersehen,
daß man bei diesem Studium die Beziehung nicht bloß zum eignen Leben, sondern
vor allem zum Leben der Mitmenschen verloren hat. Ab und zu wurde wohl der
Versuch gemacht, sein Kennen in ein Können umzusetzen, aber das blieb doch
nur eine Kuriosität. Es war kein wahres Leben, sondern ein Mechanismus, der
Leben imitierte. Da kam die Naturwissenschaft und zeigte, wie man den Weg
zum Leben finden kann. Sie hat aber noch mehr gebracht: sie gab uns auch die
neue Wahrheit, daß es nicht nur schön sei zu wissen, daß man lebt, sondern noch
viel interessanter sei zu erfahren, wie man lebt. Dabei ist ihr so mancher Eingriff
in die Lebensrichtung geglückt. Mit einem Male bekam der Mensch einen Abscheu
vor der Leiche; er sagte sich: so finde ich mit aller Logik nie den Weg zum eignen
und fremden Dasein. Er begann sich für das Lebensproblem zu interessieren
und aus dem Leichnam, den bisher der lateinische oder griechische Autor in der
Hand des Schülers darstellte, ist ein lebender Mensch geworden, mit Blut in den
Adern, Leben im Nerv und vollen, frischen Formen.
Leichter war dieser Sprung zunächst für die deutsche Sprache. Hier fand
man bald die Stelle, wo man anfassen mußte. „Der Wohlklang der Worte eines
Gedichtes, der Rhythmus der Verse, die verschiedenen Arten des Reims, das melo-
dische An- und Abschwellen des Satztons, die Figuren und Tropen mit ihrem dem
Ohre schmeichelnden Klang, ihrem den Geist aufmunternden Reiz, kurz, all die
Schönheitselemente, welche die Sprache schmücken, führen die empfänglichen
Kindergemüter in die Wunderwelt der Schönheit ein, von der Schiller behauptet:
Ihr Lichtpfad, schöner nur geschlungen, senket
Sich in die Sonnenbahn der Sittlichkeit.
Die klassische Philologie und die Naturwissenschaften. 645
Die ihrem hehren Dienste leben,
Versucht kein niederer Trieb, beugt kein Geschick,
Wie unter heilige Gewalt gegeben.
Empfangen sie das reine Geistesleben,
Der Freiheit süßes Recht zurück."*)
Hier begann der Zauber zuerst zu wirken, weshalb ich ein wenig näher darauf
eingehen will.
Man ist auf einmal mitten im Leben drin: man studiert nunmehr die Teile
am Lebenden, läßt sie schön beisammen ruhen, weil man es als ein zweckloses
Beginnen ansieht, Kuriositäten herauszupräparieren, und einem der Blick dafür ge-
öffnet wurde, daß es eine absolute Schönheit des Teiles nicht gibt, und wenn man
schon an sie glaubt, nur kalte Schönheit ist, die überdrüssig macht, kein Verlangen
auslöst, keine Betätigung der eignen Gestaltungskraft hervorruft, sondern höchstens
nur ein interessantes Spiel mit künstlich geschaffenem Spielzeuge verstattet. Unsre
Muttersprache ist also auf dem besten Wege, zur bewußten Anerkennung ihrer
Schönheit bei allen Menschen zu kommen, die Anspruch auf Bildung erheben
wollen; sie hörte auf, in ihnen nur als Wortkonglomerat, das aus oft unverstandenen,
in ihrer Bildung und Bildungsfähigkeit unbekannten Teilen bestand, und erstarrten
einzelnen Gruppen — z. B. Zitaten — zu existieren, die man wie Edelsteine protzig
zur Schau trägt; aus der Erkenntnis, daß aus der poetischen Form die Erregung
des kindlichen Schönheitssinnes entspringe, ergab sich vielmehr für sie die Be-
rechtigung eines beseelten Daseins. Die ästhetische Richtung setzte hier mit aller
Macht ein. Man konnte gleich das Ganze als solches genießen lernen, weil es sich
nur um Äußerlichkeiten handelte, mit deren Überwindung der Inhalt sich in seiner
ganzen Schönheit darbietet und die Grundlage eine ganz andere war, als es in den
alten Sprachen der Fall ist, insofern als die Muttersprache kein Hindernis bot,
vielmehr einen großen Gegensatz gegen eine fremde Sprache schon dadurch bil-
dete, daß sie sich auf einen weit ausgedehnteren Gebrauch, der in der frühesten
Jugend einsetzt, stützt, so daß eine Unmenge von Sprachmaterial das Seelen-
leben nährt und durch die Menge schon früh gestaltend wirkt, aber auch in steter
Gestaltung tagtäglich beobachtet werden kann, wodurch dem Erfassen selbst des
Schwierigsten in Prosa und Poesie wesentlich vorgearbeitet ist. Das Mittel des
Gegensatzes der dichterischen Darstellung zur prosaischen oder eignen zeigt sich
um so wirksamer, je bekannter die Bestandteile sind, die nur in andrer Setzung
oder feinerem Gebrauche, aber doch als lebende, gute Bekannte zum Herzen reden
und in ihrer Verfeinerung mit um so mehr Reiz wirken, je größer der Gegensatz
von Form und Inhalt ist. Was der Junge dadurch kennen lernt, ist Sprachbiologie
auf induktivem Wege, also rein naturwissenschaftlich. Hier wie dort lernt er
den Wert der Erfahrung, das Beobachten mit Auge und Ohr, das Analysieren
zum Zwecke einer Einsicht in das Lebensprinzip, und daher bleibt die Rückwirkung
auf die eigne Person auch nicht aus: er lernt, sich richtig, gewählt, verständig und
vor allem formvollendet ausdrücken, aus Gold und Silber zuerst Münzen prägen,
•) Aus der Rezension der „Wandbilder zu deutschen Gedichten" in der „Zeitschrift f.
Lehrmittelwesen und pädag. Literatur", IV. Bd., S. 193 f.
646 V. Skupnik,
in der Folge immer meiir die Plastik des Lebens durch die Plastik der Sprache
in ebenbürtige Form kleiden.
Daneben aber leistet die Muttersprache noch durch eigne, gesonderte Arbeit
ihrem stetigen Ausbau gute Dienste: durch die kleinen und größeren Kunst-
werke, die sie von den Jungen in Haus- und Schulaufgaben schaffen läßt. Im
Vergleich zur früheren Übung zeigt sie schon in der Wahl der Aufgaben einen
gewaltigen Fortschritt: Berücksichtigung des Gefühles und Gemütes; der Verstand
darf nur durch das Gefühl reden. Denn nur gefühlsbetonte Vorstellungen haben
die rechte Lebenskraft, die aus sich Leben entwickelt; auf diese Weise bahnen
sie das Verständnis der Literatur an. Die Kinderseele wird von allem Anfange
an so präpariert, daß sie später einmal selbst bedeutenden Männern nachfühlen
und sich einfühlen kann, wodurch allein das rechte Verständnis möglich ist. Lyrik,
Epik und Dramatik finden so in ihren elementaren Formen wie in ihrer Voll-
endung in gleicher Weise Anwendung. Heute ist nicht die reine Logik, kalt und
nüchtern, der Schulgeist, nicht der Aufbau eines Dramas die Hauptsache, sondern
das Interesse an den Spielern ist uns wichtig, weil man so das Spiel versteht und
zum Verständnis der Dramatik der Bühne und des Lebens kommt. Der Junge
hat nicht an dem Helden — im weitesten Sinne des Wortes — seine guten und
schlechten Charaktereigenschaften zu summieren und die kleinere Summe von der
größeren zu subtrahieren, um aus dem Rest das Zuwenig der Lebenskraft zu er-
weisen, sondern er soll sich bewußt werden, wie mannigfach dramatisch das
Leben sein kann, soll die menschliche Wesenheit kennen lernen.
Seinerzeit waren die Aufgaben rein verstandesmäßig: Zuerst Vorarbeit des
Lehrers, dann die Arbeit des Schülers: ein Konglomerat daraus, das durch die
Verstandesarbeit des Lehrers Gebotene, aber oft unverstanden, zu einem Gebäude
zusammengelegt, das so fest wie ein Kartenhaus war. Es war kein Leben darin,
weil ihm das Persönliche fehlte, es waren schlechte Abhandlungen, die in der Seele
nichts Lebensfähiges zurückließen. Man sehe sich einmal dagegen die Themen
von heute an!
Bald wird die Aufgabe gestellt, ,, Poesie und Prosa des Herbstes" zur Dar-
stellung zu bringen oder der Lehrer läßt ein ,, Märchen bilden", eine „Lessingsche
Fabel fortsetzen" — z. B. die vom „zerbrochenen Bogen" — , er beschäftigt den
Jungen mit der „Sprache des Frühlings", ein Ackergaul muß durch das Medium
des Jungen seine Selbstbiographie entwickeln, man läßt „eine Stunde in der Stras-
senbahn" humoristisch schildern, eine Silberkrone ihr Wanderleben erzählen,
läßt „Vers und Prosa" ein Zwiegespräch führen oder Gemälde in Worten ent-
werfen: „Zu spät!" oder „der Tod einer Mutter", läßt aber auch den jungen
Menschen die Unendlichkeit ahnen, wenn man ihm das Thema vorlegt: „Durch
unsre Kultur klingt ein wunderbares Lied, das Lied vom brennenden Stein",
oder es wird der kleine Erdenbürger gefragt: „Welche Wahl träfe ich, wenn mir
Fortuna drei Wünsche freistellte?", damit er uns sein Herz ausschütte; das tut
ja der Große, der Dichter oder Schriftsteller auch.
So steht der Gymnasiast heute nicht mehr als Philister vor den gemalten
Fensterscheiben der Kirche und sieht durch das farbige Glas den Innenraum in
einer anderen unverständlichen Belichtung und Farbe, sondern man führt ihn in
Die klassische Philologie und die Naturwissenschaften. 647
die Kirche hinein und von dort aus sieht er die Natur auch in andern Farben, die
ihm aber verständlich sind, weil das Licht, das durch die Scheiben hindurch in
den Innenraum fällt, in seinem Auge schon in dieser neuen Form das Element
des neuen Sehens bildet, so daß er mit einem andern Lichte sieht und dadurch
der Ästhetik des Lebens nahekommt. Die richtige Behandlung deutscher Gedichte
vor allem vermag den schönen Flor menschlicher Gefühle im kindlichen Herzen
auf diese Weise zu wecken, zu pflegen und zum Aufblühen, zur Produktivität, zu
bringen. So wird schon in die jungen Seelen jenes für das Zusammenleben der
Menschen unentbehrliche Wohlwollen — man beachte den begrifflichen Inhalt der
beiden Bestandteile des Wortes! — gelegt. Indem sich dann unsre Augen in der
Umgebung umschauen, sehen sie beseelend; die seelenlose Natur bekommt so
durch uns Sprache, Wollen und Streben, und die Plastik der Erscheinung verbindet
sich mit der Tiefe des Gefühles zu harmonischer Schönheit. Oskar Blumenthal
sagte einmal trefflich: „Aus der Landschaft — der Natur — sind die Dichtungen
erwachsen und aus der Dichtung wächst wieder die Landschaft hervor. Man
mißt die Kunst des Dichters an der Natur und mißt die Natur an ihrem verklärten
Abbild." Das ist sozusagen eine neue Kunst geworden, die das Eigentum des
Menschen sichern hilft, seine Mühe erleichtert und seine Wirksamkeit verbreitert
und vertieft. „In die Tiefe mußt du steigen, soll sich dir das Wesen zeigen" ist
der Drang, der mit der Kulturentwicklung bei jedem Volke auf einem gewissen
Punkte einsetzen muß. So lehrt man heutigentags die Menschen die Wonne des
Verweilens in jener Welt, die kein andres Interesse als das der voraussetzungs-
losen Schönheit kennt, wo alles um seiner selbst willen, nicht zur materiellen
Ausnützung durch den Menschen besteht.
Dabei kommt aber mit den Jahren auch der Verstand immer mehr zur Geltung
und bekommt an geeigneter Arbeit Gelegenheit zu erstarken; immerhin aber wird
der einmal erkannte Wert der gefühlsbetonten Vorstellung nicht aus dem Auge
gelassen. „Die Sonne als belebende Kraft" gibt gleich dazu Gelegenheit und
manchem Lehrer scheint es nicht zuviel, von seinen Schülern die Bearbeitung des
Themas zu verlangen: „Was ich tat, kann ich vertreten", er läßt ihn „die Land-
straße vor hundert Jahren und heute" schauen, verlangt von ihm eine eingehende
Darstellung der ,, Bedeutung der grünen Pflanze für Natur und Kultur", läßt ihn
auf Grund von Erfahrung — zweifacher: literarischer und eigner — die Bezie-
hungen zwischen den „Jahreszeiten und lyrischer Stimmung" suchen, er macht ihn
auf Irrtümer aufmerksam und verlangt von ihm Stellungnahme zu dem Aus-
spruche: „Nil admirari? Nein, nein! omnia admirari!" Nur so kann es ihm ge-
lingen, seine jungen Leute so weit zu bringen, daß sie ihm bei der schriftlichen
Reifeprüfung den Nachweis für die Richtigkeit der Worte erbringen: „Bildung
erwerben heißt, sich selbst sozial empfinden; sie ist das Bewußtsein vom Zusammen-
hang der Menschen untereinander und mit der ewigen Natur" oder „Seinen Beruf
erkennen und danach handeln, muß ich Freiheit nennen".
In der Literaturgeschichte hat das trockene Durchführen auch ein Ende;
keine bloße Kette von Jahreszahlen mehr, kein Herumwandern von Ort zu Ort
an der Hand der Jahreszahl, sondern pragmatisch. Den Blick nach allen Seiten
gerichtet, erfaßt man den Dichter als einen Fixstern seiner Zeit, als einen beson-
648 V. Skupnik,
deren Menschen, der sein Zeitalter durch seine Person widerspiegelt, dabei aber ein
Mensch bleibt, der von Menschen wieder verstanden werden kann, so daß wirklich
von einer ewigen Existenz gesprochen werden kann, daß er lebt, indem nicht bloß
die von ihm ausgesprochenen Gedanken auf Grund der Autorität, die sich auf
die Überlegenheit seines Geistes gründet, als Dogmen das Menschenleben be-
herrschen, sondern nur Bausteine zu neuen Gebäuden sein sollen, die nicht dafür
bestimmt sind, der bloßen Erbauung zu dienen, nicht der Abkehr von der Welt,
nein, der wirklichen Einkehr in sie, Gebäude für menschliches Leben des Alltags,
der nicht mehr so scharf dem Feiertage gegenübersteht. Die viele Arbeit, die
man heute leisten muß, wird durch die Durchgeistigung, die sie so erfährt, zur Lust
und nicht zur Qual. Der Dogmatismus hat sich überlebt; sogar dort, wo er durch
Jahrtausende einzig geherrscht, ist er im Absterben begriffen und neue Formen
werden aus den Ruinen erblühen.
Der Verschiedenartigkeit der Menschen entspricht man heute dadurch, daß
man ihnen schon in der Schule die Wege der Betätigung nicht vorschreibt und
sie den kürzesten Kurs zum Ziele weist, sondern sie ihre eignen Wege gehen läßt,
weil nur so, nicht aber im Herdentrieb der Mensch „sich entdecken" kann. Das
kannte die Vergangenheit nicht, Sie trieb alles einem von ihr deduzierten Ziel-
punkte zu. Wer mitkommen konnte, für den war's gut; die andern blieben am
Wege liegen und verkümmerten. Das Ziel war aber nur schwer zu erreichen, daher
war die Welt von Krüppeln voll, ja sogar die, welche das Ziel erreichten, waren
in den allermeisten Fällen untauglich geworden, indem durch die Überanstrengung
des Geistes die Entwicklung der Körperkraft lahm gelegt wurde. Daher neuer-
dings „Zurück zur Natur", hinein in sie, das macht stark und groß! Einer Ver-
flachung der Bildung wirkt schon die Unmasse des Stoffes, der zur Bearbeitung
reizt, entgegen, wobei zu bedenken ist, daß sich heute die Stoffe nicht bloß intensiv,
sondern auch extensiv entfalten, wodurch sie die Beziehungen zu allem Benach-
barten suchen; das aber ist das Wichtigste: aus der Wechselbeziehung entspringen
die wahren Lebensmotive.
Diese eingehende Skizzierung des heutigen Unterrichtes in der Muttersprache
war notwendig, weil das die Vorarbeit für die Philologie ist: Man lehrt den rich-
tigen Gebrauch der Sprache, scheidet Originelles von Nachahmung, Brauchbares
vom Unbrauchbaren, führt in den Bau dieser einzelnen Sprache nur einigermaßen
ein und zeigt induktiv-produktiv die ihr eigentümlichen Schönheiten.
Wie verhält es sich nun mit dem antiken Stoff? Die Materie gliedert sich in
Autoren (Prosa und Poesie) und Denkmäler (Statuen, Plastik, Inschriften und
Urkundenmaterial). Das zweite ist dem ersten untergeordnet. Sehen wir einmal
die Autoren an: hier überwiegt naturgemäß die Prosa, aber auch die Poesie nimmt
nicht wenig daran teil. Die Stoffe der Prosa gehören der Historik, Rhetorik und
Philosophie an; das ist die Reihenfolge im Unterrichtsgange, die am Ende eine
Kombination aller drei Elemente in Tacitus und Thukydides aufweist. Epik,
Dramatik und Lyrik stellt die Aufeinanderfolge in der Poesie dar. Das entspricht
dem Gange der Weltgeschichte und dem psychischen Leben: der Mensch inter-
essiert sich zuerst für Erzählungen (auch das Kinderlied ist noch stark erzählend),
dann fürs Redenhalten und zuletzt für die Philosophie, Historik — Epik, Rhe-
Die klassische Philologie und die Naturwissenschaften. 649
torik — Dramatik, Philosophie — Lyrik kommen nebeneinander als Bildungsstoff
zur Anwendung.
Alles, was menschlich ist, d. h. der unbeeinflußten Entwicklung des Menschen
parallel läuft, ist auch richtig. Hier ist gewiß der Mensch das Maß der Dinge,
zu denen er in Beziehung treten soll.
Diese kunstgemäße Anordnung, die eine so naturgemäße Grundlage hat, kommt
freilich dem jungen Menschen nicht zum Bewußtsein; es ist unmöglich, weil er
erst den Punkt erreicht haben muß, wo das Embryonalstadium in das des orga-
nischen Lebens übergeht.
Wie steht es um die Stellung zur Vergangenheit? Hier haben wir es mit einer
andren als der nationalen zu tun. Die nationale Vergangenheit wird nie ganz
Vergangenheit, wie ein Baum sich nie von seinen Wurzeln loslöst, weil das die
Organe sind, die ihm aus der Erde die Elemente seines Daseins zuführen. Doch
dazu kommt all das, was über der Erde als organische Kraftstation existiert:
die Luft mit den chemischen Stoffen, Licht und Wärme, Energien, die jedes Jahr
in neuer Form dasselbe Wesen darstellen, immer einen neuen Frühling, Sommer
und Herbst bringen. Aber wie kein Baum ohne Wurzeln existieren kann, so auch
nicht ohne Luft, Licht und Wärme: kurz, ohne die Umgebung, die ihr Bereich
über der Erdscholle hat. Was für Güter sind nun das in unsrem Falle? Es sind
die Nationen der Umgebung. Die existieren aber nicht für sich, geradeso wie
Luft, Licht und Wärme nicht an sich existieren, sondern durch die Wesen, in denen
sie uns erscheinen, die sie in ihrer Wesenheit bestimmen. Es sind die Völker der
Vergangenheit, die Wesensbestandteile an die Umgebung abgegeben haben, also
auch an unsre Kultur.
Was lehrt aber ein Blick in die Arbeit der Naturwissenschaft von heute? Daß
sie mit allem Eifer daran ist, die Einwirkung der Umwelt auf die Organismen
aufs eingehendste zu studieren; z. B. untersucht sie den Lichtgenuß der Pflanzen
und ist bestrebt, davon die Gestaltung der Blätter in Abhängigkeit zu bringen,
analysiert Luft und Wärme in allen Höhenschichten und schließt auf die Ursachen,
um ihre Wirkungen zu verstehen. Die Naturwissenschaften forschen dem orga-
nischen Leben nach und führen selbst dabei ein organisches Leben. Sie betrachten
biologisch-induktiv, und diese Betrachtungsweise ist allein animalisch.
Warum sind aber die Naturwissenschaften auf uns Altphilologen so übel zu
sprechen? Hauptsächlich wohl darum, weil wir fortwährend scheinbar in der
Vergangenheit arbeiten, während sie ein ewiges Gegenwartsleben führen. Sie
wollen, daß der Mensch nur in der Gegenwart mit seinen ganzen Kräften wurzle,
weil sie ihre Errungenschaften heißhungrig gemacht haben und keiner dem anderen
auf dem gemeinsamen Arbeitsfelde einen Erfolg gönnt. Ja, sie haben es leicht:
Ihre Tätigkeit sagt sich mit jeder Errungenschaft von dem Bisherigen los, es be-
steht nicht mehr für sie, sie haben sozusagen gar keine Vergangenheit! Das ist
aber nur im Reiche der Materie möglich: was der Acker bei der Verwendung neuer
chemischer und technischer Hilfsmittel trägt, interessiert uns allein; hier braucht
man nur die Vergangenheit so lange, als man sie nicht überflügelt hat. Der Prozeß,
der sich da abspielt, ist der des Verdauens, wogegen in den Geisteswissenschaften
die Geburt das Endziel darstellt.
650 V. Skupnik,
Allein, sehen wir zu, ob auch auf dem Felde der antiken Fremdsprachen eine
naturwissenschaftliche Betrachtungsweise möglich ist und vielleicht bereits ange-
wendet wird!
Wir haben einen Autor vor uns: man bereichert sich an ihm intellektuell durch
historische Tatsachen, politische Gedanken und philosophische Probleme, ferner
ästhetisch durch die Übertragung in den eignen Gedanken- und Wirkungskreis.
Eine der Voraussetzungen, die, bevor man an die Arbeit herantritt, nicht aus dem
Auge gelassen werden dürfen, ist der Standpunkt des Autors oder der Person,
durch die er zu uns redet, insofern als daraus ihre Sprache formuliert werden muß,
ferner wächst durch das Suchen die Kraft der eignen Persönlichkeit, indem an
die Erfolge, die man dabei erzielt, eine Beurteilung des eigenen Wertes, eine pro-
gressive Selbsterkenntnis sich anschließt, aber auch dadurch, daß man an die Stelle
der Toten tritt, sich einfühlt, einlebt, selbst zu dem wird, der uns in seiner fremden
Sprache nur ein Hilfsmittel leiht, das ganz eigener Art ist. Die Psychologie des
Übersetzens scheint noch wenig Beachtung gefunden zu haben, obgleich es einen
so wichtigen Faktor im Schulbetriebe darstellt. Der fremde Text ist sozusagen
eine Operationsbasis. In der älteren Zeit herrschte darin ein mathematischer
Betrieb, der sogar zum Mechanismus ausartete. Die fremdsprachlichen Sätze
waren algebraische Gebilde; die Leistung bestand darin, für die allgemeinen Werte
die bestimmten einzusetzen. Darauf passen die Worte: ,,Es wurden durch irgend-
eine Macht dem Auge Brillen aufgesetzt, so daß man die Dinge mit den eignen
Augen zu sehen verlernte." Es entwickelte sich eine ,, steifleinene Redeweise",
eine Sprache, die in einem gewissen Abstände von dem Menschen stand und nichts
weniger als persönlich war: die gleiche Rolle, die der so Gebildete in der Gesell-
schaft, besonders in seinen Beziehungen nach unten spielte. Das ist heute anders
geworden, schon durch den Unterricht in der Muttersprache. Die experimentelle
Psychologie hat einerseits die großen Gegensätze in den Naturen auf ihre Gründe
hin untersucht und dargelegt, anderseits aber das richtige Verständnis für das erste
Kunstwerk des Menschen, die Sprache, erschlossen. Man hat erkannt, daß die
Etymologie keine so überflüssige Sache ist, sondern zum Übersetzen wie
das Brot zum täglichen Leben gehört. Die heutigen Schulwörterbücher haben
bereits diesen Weg betreten. Denn dadurch, daß wir uns die griechische oder
lateinische Form sub specie der Sprachen, die zum indogermanischen Sprachstamme
gehören, ansehen und streng darauf achten, zunächst in der eignen Muttersprache
dasjenige Wort zu suchen, das dem Fremdworte ganz entspricht, indem es partiell
übertragen wurde, z. B. abstrahere = ab - ziehen, uTrep - ßoXV] = Über - schwang,
und dann prüfen, ob der fremde Gedanke sich mit dem deutschen in diesem Worte
deckt, lernt man seine eigne Sprache mit Bedacht gebrauchen und verstehen,
lernt den Gebrauch all der Hilfsmittel, welche die Sprache zu ihren Bildungen
verwendet, und bekommt allmählich einen Einblick in die ganz einfache Hantie-
rung, die in der deutschen Sprachwerkstätte besteht. Das gibt aber eine ästhe-
tische Arbeit; der Junge muß die Wortbildung auf Klang und Begriff prüfen. Im
Wortinhalte offenbart sich ihm die Phantasie und der Wille der Menschheit, in
der Wortform der Verstand. Hier wird ihm die Wahl zur Qual, aus des Geistes
Nöten wird das Lebewesen geboren. Dieses ästhetische Arbeiten aber verhilft
Die klassische Philologie und die Naturwissenschaften. 651
uns zur Glückseligkeit und zum moralischen Adel. Wie not das der deutschen
Sprache tut, hat Herder schon richtig erkannt, wenn er sich darüber äußert:
„Welche Nation in Europa hat ihre Sprache wesentlich so verunstalten lassen
als die deutsche?"*)
Das führt weiterhin zum Staunen: dieses hat den Ursprung in der inneren
Kraft und äußert sich in der Frage, in dem Erstaunen über das scheinbar Selbst-
verständlichste. Wie in den realen Disziplinen, so wird auch in den Geisteswissen-
schaften der Fortschritt in der Erkenntnis in den allermeisten Fällen durch die Art
der Fragen bewirkt, die man an seine Erkenntnis des Lebens in und um sich stellt.
Ganz richtig sagt Jakobs**): ,,Eine Erziehung, bei der das Verwundern keine Rolle
spielt, ist eine mangelhafte Erziehung." Das hat es aber ehedem ebensowenig in
den Naturwissenschaften wie in den Sprachen gegeben: beiderseits nur logischer
Drill, keine Rechte und Pflichten der Persönlichkeit. Nur so aber lernt man das
Denken in den Dienst der Kulturarbeit stellen. Und so ist die Pädagogik hier
heutigentags eine geistige Nationalökonomie geworden. Jeder rechte Lehrer sagt
mit Goethe: „Alles ist mir verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne mich unmittelbar
zu beleben."
Darauf könnte man wieder den Einwand zu hören bekommen: Das kann
der deutsche Unterricht auch! Doch dies ist eine andre psychische Arbeit: es
wäre dasselbe wie ein Unterricht in der Mathematik, ohne daß man Beispiele
rechnet. Nur die Betätigung, d. h. die Begriffsarbeit des Kopfes, kann dauernden
Besitz geben. Tatsachen müssen erlebt, aber nicht als fertige vorgeführt werden ;
denn unser ganzer geistiger Besitz entsteht so aus kleinenSelbstschöpfungsakten.***)
Man setzt nur das Verfahren der Natur in die Schule: aus sich heraus fortwährend
Neues schaffen; wie eine Wiese: ein großes, buntes Allerlei — grün die reine Wissen-
schaft, blumig die Elite am Menschen — : bei jedem Anblick aber doch ein Ganzes !f)
Aus diesem Selbstfinden entwickelt sich das Selbstbeobachten: in sich selbst und
von selbst; damit arbeitet aber die Schule gerade dem Leben vor, wie es die Gegen-
wart verlangt. Und Selbstfinden ist mehr als Selbstdenken: man versetzt sich aus
sich heraus in die Lage andrer, um von da aus die Dinge zu sehen, ff) Wir ver-
langen von den Schülern keine geläufige Übersetzung; wenn es einmal läuft,
dann ist es hier schon schlecht: Maschinenbetrieb ruiniert den Menschen! Dem-
nach bleibt trotz Ostwald das Wort Goethes doch ewige Wahrheit, daß wir mit
der Muttersprache erst durch das Studium fremder Sprachen vertraut werden.
Denn in dem pedantischen Ringen um die Schwierigkeiten der Sprache liegt eben-
soviel Gutes als in dem gleichen Ringen der Menschheit mit der Materie und ihren
Kräften.
Das ist nur der eine Teil. Bekanntlich ist die deutsche Sprache in der Wort-
*) Adrastea VI, 187.
**) Dr. A. Jakobs, Was leistet der Mathematikunterricht für die Erziehung zur Wissen-
schaft? (In der Zeitschrift für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht :
39 Bd., S. 625 f.)
•*•) Siehe R. Hildebrand, Vom deutschen Sprachunterricht, 11. Aufl., S. 7.
f) Ebenda S. 8.
ff) Hildebrand S. 26.
652 V. Skupnik,
Schöpfung und Wortbildung ungemein reich und poetischer als die Fremdsprachen.
Da liegt eine neue Quelle der Lust und des Gewinnes, Gleichzeitig mit der Deckung
der fremden Form durch die deutsche treten vor die Seele diejenigen Wörter, die
wir gleichbedeutend zu nennen pflegen. Jedes hat seine besondere Schönheit;
nun stellt sich das Denken ein: Man hat beispielsweise die redende Person — auch
der Historiker spricht in seinen Erzählungspartien mit und zu uns, die anderen
(Redner und Philosoph) schon gar; in der Poesie offenbart sich mehr ein Egoismus:
der Dichter gibt von seiner Persönlichkeit den größten Teil und vervollständigt
ihn durch die Tendenz, zu den Menschen zu sprechen — im Auge zu behalten und
nach den momentanen Verhältnissen die richtige Wahl zu treffen. Am deutlichsten
zeigt es sich bei einer direkten Rede, z. B. der Hannos in Livius XXI. c. 10. Da
ist die Arbeit für den Jungen doppelt schwer; die Sprache geht sozusagen durch
zwei Personen hindurch: aus der Seele des Historikers in die des Redners zum
Leser. Theodor Heyse gibt für diese Geistesarbeit am lateinischen und griechischen
Autor eine treffende Darstellung in der Vorrede zur Übersetzung des Katull, indem
er sich also äußert: Er habe in doppelter Richtung seinen Dichter gelesen: einmal
an sich und für den fremden Schriftsteller selbst. Durch das Mittel des fremden
Wortes sei er lauschend und sinnend mehr und mehr in das Wesen und Wollen
des Schreibenden hineingegangen, habe sich gleichsam in ihn verwandelt und
nunmehr versucht, von dem inneren Quell- und Lebenspunkte der fremden, geistigen
Einheit und des fremden Sprachcharakters sich wieder zurückwendend und bis an
die einzelnen äußerlichsten Enden seiner Schrift, wie vom Kern zur Schale vor-
dringend, alles dasjenige, was dem eignen Bewußtsein hier als fremdartig und
unecht entgegentreten mochte, hinauszustoßen. Das andre Mal habe er ihn für
sich gelesen, zu seiner Lust und Erweckung, als ein Deutscher des 19. Jahrhunderts.
Er habe den Lateiner in sich selbst verwandelt, habe ihn in sein eignes Emp-
findungs- und Sprachvermögen herübergezogen, habe von jedem Gedichte sich
den schöpferischen Grundgedanken und durchgehenden Klang anzueignen gesucht
und sei mit aufmerksamem Gefühl den Stimmungen des Dichters von Stufe zu
Stufe, von Schritt zu Schritt gefolgt: erst analytisch, das andre war die Synthese
des Lesens.
Darauf wird man einwenden, das mache der Berufsübersetzer: der träfe die
Sache schon gut, aber die Schule! Nun, man möge sich trösten; durch die ge-
diegene philologische Arbeit geschieht das heute in kleinen Grenzen geradeso wie
dort im großen. Wie oft hat man schon den philologischen Lehrern zugerufen:
Non multa, sed multuml Das haben sie sich auch gesagt sein lassen, ohne des-
halb mit der Lektüre auf ein Minimum herabzusinken. Früher freilich las man
multa, nicht multum. Dabei muß man aber die persönliche Sprache, nicht die
Schriftsprache gebrauchen; dann wird es etwas Rechtes. Treffliche Worte Hofers
sollen hier ihren Platz finden: „Gerade das, was aus den Mundarten in die Schrift-
sprache vordringt, ist das Beste an der Schriftsprache; denn es ist cjas, was die
Frische, das Leben, die Eigenart der Schriftsprache eines Stammes oder einer
Persönlichkeit ausmacht."*) Es ist ganz etwas andres als die „destillierte" Schrift-
*) Dr. A. Hofer, Die Mittelschule und die neue Zelt. (Programm des k. k. Staats-
gymnasiums in Triest 1903/4.) S. 24.
Die klassische Philologie und die Naturwissenschaften. 653
spräche. Wer ein nach den neuen Lehrplänen gearbeitetes deutsches Lesebuch
aufschlägt, findet in der Auswahl der Stücke die Bestätigung für das oben Ge-
sagte; sogar der Dialekt findet Eingang in die Räume, aus denen er gesetzlich
ausgewiesen war.
Dieses geistige Exerzitium, mit Bedacht, gutem Willen und ganzer Hingabe
geleitet, ist wohl für die jungen Seelen die höchste Leistung, die sie erreichen können.
Jeder wird Hildebrand recht geben, daß der Augenblick, wo Wort und Sache
sich im Kopfe vermählen, ein eigentümlich wohltuender ist.*) Mit psycholo-
gischem Scharfblicke hat er den Vorgang des Übersetzens in die Worte gefaßt:
,,Wer in ein fremdes Land — das ist in unserem Falle der Autor — kommt, lernt
die Sprache auf diese Weise: er hört unter dem anfangs inhaltslosen Schwall von
Tönen, der sein Ohr umspült, plötzlich von Dingen reden, die er kennt, die ihn
näher angehen oder anzugehen anfangen, und mitten aus der gestaltlosen Reihe
von Klängen heraus faßt er plötzlich einen, ein Stichwort, von dem er merkt, daß
es dem ihm bekannten Gegenstande entspricht, und der Wortklang vermählt sich
in dem Augenblicke in ihm mit der Vorstellung des Dinges: Inhalt und Form,
Kern und Schale haben sich gefunden, und das wird zugleich ein Augenblick
reinster, geistiger Freude, geistigen Genusses, weil es zugleich ein eignes Nach-
schaffen des schon vorhandenen ist, ein kleiner Schöpfungsakt in uns."**)
Wer eine brillante Stunde dieser Arbeit erlebt hat, wird es verstehen; so nährt
das Neue nicht allein das Wissen, sondern auch das freudige Selbstgefühl und
Kraftbewußtsein! Wie die Jungen glühen, wie sich die Wonne in ihren Augen
widerspiegelt, wenn sie zur größten Überraschung das treffende Wort gefunden
haben, wie sich da der Alp von der Seele löst, wenn die Schwierigkeit behoben
ist, wenn man es leibhaftig vor ihre Seele treten läßt! Da ist die Seele gesammelt
und begehrt sofort weiter tätig zu sein; sie fragt gleichsam: was nun weiter damit?
Was die Jungen so mit der Seele erfassen, sehen sie eigentümlich, ergreifen das
wahrhaft Menschliche daran kraft eigner Menschlichkeit und sehen den Himmel
offen, aus dem die Seele kam. Es war ein kleiner Flug in die Ewigkeit und sie
freuen sich ihres Menschentums. Sie lernen die Wahrheit der Worte empfinden:
Nil humani a me alienum puto. Sie erleben einen Kunstgenuß, der nichts anderes
als erlesener und verdichteter Genuß des Lebensgefühles ist; sie schaffen sich das
Lebensglück, das erkämpfte Harmonie ist.
Was Hildebrand vom persönlichen Stil sagt, gilt ebenso gut vom persönlichen
Übersetzen: es erinnert an einen Spaziergang mit einem Menschen, „der beim
Gehen mit uns im lebhaften Sprechen, das ihn auch innerlich in verschiedene
Bewegung versetzt, manchmal stehen bleibt, wohl gar einen Schritt zurück oder
quer neben uns hintritt mit lebhaften Mienen und Handbewegungen und wech-
selndem Stimmton".***) Das Übersetzen ist heute keine „Gedächtnisprobe" mehr,
der Schüler hat Dinge hinzustellen, die schon in seinem Ich Wurzeln gefaßt haben.
In der Aus))ildung des Ich liegt aber die Zukunft des Schülers. So gebraucht der
Lehrer das wahrhaft Menschliche, die höhere Persönlichkeit in seinem Schüler
•) Hildebrand I. c, S. 8.
♦•) Ebenda, S. 7.
►**) Hildebrand 1. c, S. 50.
654 V. Skupnik,
auf Schritt und Tritt zur Inspiration aller Leistungen, auf welchem Gebiet
sie immer liegen. Schulen die Naturwissenschaften vor allem den Verstand, so
ist die Aufgabe der Philologie die Seelsorge. Das ist ein belebtes Denken, während
es in den Naturwissenschaften ein abstraktes ist; beide aber führen zum bedachten
Leben. So erziehen wir, d. h. wir ziehen heraus bis zur Vollendung. Allerdings
macht da die Person des Lehrers alles aus; aber wo nicht?
Unsre Arbeit soll nicht ebenso wertvoll sein, als wenn ein Schüler einen Apparat
für den Physikunterricht in der Schulwerkstätte baut und unablässig probiert,
bis alles leidlich zusammenpaßt? Denn es bleibt immerhin nur eine leidliche Arbeit,
die am Ziele keine höhere Vollendung aufweist als die in den sprachlichen Fächern.
Und wie niemand mit den Naturwissenschaften allein eine Weltanschauung be-
kommen kann — das will man heute in der Mittelschule anbahnen und möglichst
weit fortführen — so wird es auch keinem Philologen einfallen zu behaupten,
der lateinische und griechische Unterricht allein sei für diesen Zweck ausreichend.
„Der Lehrer dieser Sprachen erfüllt den Lernenden mit der Einsicht," sagt einmal
P. Cauer, „die stolz klingt, doch bescheiden machen kann, daß sie (die Schüler)
nicht zu einer Technik angeleitet werden, die zu beherrschen sie hoffen könnten,
sondern zu einer Kunst, in der es kein Ende gibt und in der nur dem reifsten Können
und Verstehen eine Vollendung beschieden ist." Ist es in den Naturwissenschaften
anders? Nur eine wohlwollende Zusammenarbeit in der Geisteswerkstatt und
der für manuelle Betätigung kann den vollendeten Menschen geben.
Man prüfe nur einmal die Arbeit des philologischen Unterrichtes an den For-
derungen, die Jakobs an die Erziehung zur Wissenschaft stellt, die bis zu einem
gewissen Grade das Leben der Gebildeten beherrschen muß, weil man durch ihre
Popularisierung heute sogar die niederste Bevölkerungsschicht, den manuellen
Arbeiter, dauernd auf einem festeren Lebensfundament postieren will. Ihm ist die
Erziehung zur Wissenschaft die Erziehung zur Fähigkeit, wissenschaftlich zu denken
und zu arbeiten. Diese Fähigkeit setzt ein Vierfaches voraus:
1. Die Möglichkeit, eine Materie nach bestimmten Gesichtspunkten zu
übersehen: die Erziehung zur Gedankenzucht, zu logischer Schärfe;
2. Die Erweckung schöpferischer Kräfte im Menschen: die Erziehung zur
Selbstarbeit, zum Selbstfinden;
3. Die Kraft, auch in selbstverständlichen Fragen Probleme zu sehen: die
Erziehung zur Verwunderung, zum Staunen;
4. Die Fähigkeit, die Beziehungen eines Gegenstandes zu verschieden-
artigen Kulturmomenten zu erforschen: die Erziehung zur Einheit des
Kulturbewußtseins.*)
Sobald ein Stück so erarbeitet worden ist, hat man Menschen kennen gelernt,
die dadurch, daß sie Hannibal, Scipio oder sonstwie heißen, uns nicht fremd bleiben,
weil man sich in sie hineingelebt hat. Die Vergangenheit wird zur Gegenwart
durch die neue Idee, die dem Jungen da entgegentritt. Es wird doch niemand
behaupten, daß ein Schüler bei solchem Übersetzen je schon die Vergangenheit
empfunden hat. Es ist die gleiche Gegenwart wie bei einem physikalischen oder
*) Siehe Anmerkung ** S. 65L
Die klassische Pliilologie und die Naturwissenschaften. 655
chemischen Versuch, nur daß dieser ihm eigentlich nie Gelegenheit gibt, mit seiner
ganzen geistigen Person in ein solches Verhältnis zur Funktion der Materie zu
treten wie in der fremdsprachlichen Stunde. Hier sammelt er alle Kräfte: Er-
innerung in ihrer ganzen Fülle, Phantasie im Bunde mit einem rudimentären Denken
geben oft Schlag auf Schlag einen Erfolg: das macht allein die Arbeit interessant,
daß aus kleinen Erfolgen ein größerer und zuletzt ein ganz großer wird.
Das fertige Ganze bietet aber erst oft noch einen hohen Genuß: der intellek-
tuelle Bestandteil, der die stärkste Betonung durch das Gefühl aufweist; die großen,
Gedanken, die Gemeingut der Welt sind und überall, wo Menschen leben, an-
getroffen werden müssen: wohlbegründeter Patriotismus, Ehre, Freiheit, Tugend,
Wohltat, Edelsinn usw., wie die Namen alle für die höhere soziale Funktion des
Menschen lauten, treten ihm nicht bloß als Postulate hier entgegen, sondern ihnen
schließen sich gleich die Folgen an, je nachdem sich die Menschen von ihnen leiten
ließen oder nicht. Was beispielsweise die Griechen bedeuten, vernehme man
von einem Vertreter der realistischen Disziplinen, Dr. A. Jakobs: „Die Griechen
sind deshalb so bewundernswert, weil sie ihrer eigenen Natur gemäß und nicht
nach überkommenen Regeln schufen, weil ihre Kunst der getreueste Ausdruck
ihres Wesens und nur deshalb notwendig und daher groß und original ist,"*) ein
Urteil, das sich mit einem anderen ganz deckt: „Das glänzendste Beispiel der Ent-
wicklung eines Volkes aus barbarischen Anfängen zu einer bis ins kleinste und
unbedeutendste geschmackvollen und dabei völlig ungezwungenen, natürlichen
Kultur bietet die Geschichte Alt-Griechenlands. Auf allen Gebieten der grie-
chischen Kunst können wir diese Entwicklung aus orientalischem Gebundensein
und kindlicher Unbeholfenheit zu immer freierer, tieferer und dabei immer ge-
drängter und knapper werdender Ausdrucksweise Schritt für Schritt verfolgen:
bis endlich in den Giebelfiguren und in dem Cellafriese des Parthenon die Höhe
erreicht ist, auf der der Mensch sich selbst in ungezwungener Würde und einer
durch Harmonie und Rhythmus gehaltenen Freiheit plastisch verkörpert der
Gottheit darbringt."
Da hören wir aber schon den Ruf: Los vom Vorbild, damit wir uns auch unsre
Originalität wahren! In der Nationalgeschichte und -literatur gebe es genug Bei-
spiele für diese oben genannten Triebfedern des gesellschaftlichen Lebens, das der
Mensch als Qt^ov iroXixixöv zu führen hat; wozu brauche man sich diese elemen-
taren Impulse des Lebens erst aus einer fremden Sprache mühevoll in die eigne
Gedankensprache überführen? Wer so spricht, bedenkt mehrfaches nicht. Das
gewaltsame Losreißen geht bei uns nicht mehr oder noch nicht, weil wir uns mit
unsrer Kultur schon im allerfrühesten Stadium an die Vorbilder klammerten.
Das Werk von mehr als zwei Jahrtausenden kann keine Macht aus der Welt schaffen.
Dort sind ebenso die Wurzeln unsrer Kraft wie im angestammten Boden. Ein
technischer Aufschwung kann uns nicht mehr trennen, weil er unsre Lebenskraft
unterbinden würde. Man will uns künstlich ausbrüten und reißt uns dabei zu
früh von der Quelle unsres Lebens, gleichsam von dem Mutterleibe los. Nein,
wir tragen das reine, ewige Feuer Europas, das dort lodert, leuchtet und wärmt,
*) Siehe Anmerkung ** S. 651.
656 V. Skupnik, Die klassische Philologie und die Naturwissenschaften.
fleißig auf den eignen Herd! Ferner aber vergißt man, daß die Dramatik, die in
der Gescliichte der Griechen und Römer liegt, insofern als wir ihren Werdegang
von der mythischen Zeit bis zu ihrem Untergange vor uns als eine fertige Tat-
sache liegen haben, die profunde Kraft ist, die ihr dauerndes Leben gibt. Die
Abgeschlossenheit dieser zwei Schicksale ist das einzig richtige Fundament für
eine sichere Bewertung. Man denke nur daran, ob wir ein Interesse an einem Stoffe
haben, der in sich nicht eine Geschlossenheit darstellt, d. h. nicht bloß die ersten
Folgen, sondern die Kette von Folgen darstellt. Drama und Geschichte sind hier
eins. Alle andren Völker Europas sijid in ihrer Entwicklung durch diese zwei
Völker der Vergangenheit gegenwärtig noch beeinflußt, während bei jenen die
Wirkung ihrer Umgebung auf sie und das Verhalten ihrer eignen Energie dagegen
vollendet dastehen.
Das ist aber nicht das Letzte. Mit dem alten Materiale baut unser Geist
immer wieder Neues. Das einfachere Vorbild ist für den jungen Menschen gleich-
sam die erste Rechnung, die ihn eine kompliziertere verstehen lehrt. Er steigt
nicht vom Einfachen zum Komplizierten auf, sondern geht durch das Tor in den
Park hinein, weil er über die zu hohe Mauer nicht springen kann. Jeder Augen-
blick im philologischen Unterrichte aber, wo ein neuer Gedanke geboren wird
— was für uns Männer schon alt ist, ist für die Jugend ewig neu; indem wir das
immer wieder miterleben, wie diese fundamentale Weisheit in den jungen Herzen
wie ein kleines Flämmchen aufflackert und sich zu einem Lichte ausbreitet, das
immer mehr an Ausdehnung und Stärke gewinnt, bleibt die Jugend des Geistes
auch uns dauernd erhalten — und wo durch die Anpassung der lateinischen und
griechischen Worte an das Deutsche in die Herzen Befriedigung einzieht, ist nicht
bloß groß, weil etwas geleistet wurde, sondern wird noch größer als Geburtsstunde
des wirklichen Lebens!
Mit den deutsch-lateinischen und deutsch-griechischen Übungsbüchern und
den Grammatiken muß es noch anders werden; die neuesten Arbeiten auf diesem
Gebiete zeigen schon ein Verständnis für die Bestrebungen der Gegenwart, sie
stehen aber mit einem Fuße noch tief im Alten.
Als die reale Ergänzung tritt eine gelegentliche oder systematische gemein-
same Betrachtung von Kunstwerken und andern Denkmälern der Antike dazu.
Auch hier erschließt die Induktion das Verständnis; es wird auch sozusagen Bio-
logie getrieben, indem nicht die Figur an sich den Gegenstand der Betrachtung
bildet, sondern den Gründen nachgeforscht wird, die den Boden darstellen, aus
dem das Werk entsproß: Lebensverhältnisse und Material geben den Werken
ihr Gepräge.
So gibt also die klassische Philologie Plastik und Melodie des Lebens. Neben
dem größten Komfort und der behaglichsten Bequemlichkeit im physischen Leben
brauchen wir diejenige Bildung, die uns in dieser Lage Genuß zu bieten vermag.
Ärzte, Advokaten, Richter und alle diese Berufsarten verlangen viel abstrakten
Verstand, aber auch Tiefe des Gemütes. Diese gibt nicht allein die Muttersprache,
weil es da zu schnell geht, so daß zu wenig hängen bleibt, sondern auch die Be-
schäftigung mit den Griechen und Römern, wo man in bedächtiger Arbeit den
Naturgesetzen entsprechend aufbaut und den Menschen humanistisch wie human
W. Mevs, Die ersten griechischen Stunden in der Untertertia. 657
bildet. Man schafft keine Lebensroutine, sondern wie man schön, gut und wahr
lebt; dazu braucht man ein warmes Herz und einen vollen Geist nebst einem Willen
wie Stahl. Die Erbschaft der Griechen und Römer ist für uns keine Last, die
niederdrückt und von der wir zermalmt zu werden fürchten, sondern ein Gewicht,
das Schwungkraft verleiht, das Pendel, das den Zeiger der Nationalkultur vor-
wärtsbringt. Wir schaffen, wie der Künstler schafft: Maler, Bildhauer, Gold-
arbeiter. Wie wir es aber in einer Wohnung mit allen technischen Errungen-
schaften ohne Bilder und sonstigen Kunstschmuck unmöglich aushielten, ebenso-
wenig ist es im Geisteshaushalte denkbar, daß uns die technische Bildung und
der Unterricht in der Muttersprache genügen sollen. Zu dem Naturalismus, der
in der Übermacht der Außenwelt und ihrer Gesetzlichkeit wurzelt, tritt als Ergän-
zung der objektive Idealismus, der von der Einheit von Körper und Geist ausgeht
und der Welt einen seelischen Zusammenhang gibt, und der subjektive Idealismus
der Freiheit, der die Unabhängigkeit des Geistes von der Natur behauptet und
die Welt von der sittlichen Persönlichkeit aus verstehen lernt und lehrt. Hergel
sagt einmal: „Wer mit der Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft lebt,
der lebt!"*) „Drum schaffe rechtzeitig für deinen Sonntag; wie du deinen Alltag
gestalten lernst, so wird dein Feiertag sein!"
Krumau in Böhmen. V. S k u p n i k.
Die ersten griechischen Stunden in der Untertertia.
Im Augustheft dieser Monatschrift schlägt Herold (Halle) vor, mit dem Ein-
üben der griechischen Schrift im zweiten Halbjahr der Quinta zu beginnen und
diese Aufgabe dem Schreiblehrer zu überlassen. Gegen diese Vorschläge spricht
meines Erachtens allzu viel, als daß sie ohne weiteres gutgeheißen werden könnten.
Wer auf die Handschriften unsrer Schüler auch nur ein wenig achtet, wird
sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß hier noch manches recht unvoll-
kommen ist und wir unserm Kultusministerium zu großem Danke verpflichtet
sind, das uns immer wieder auf die Notwendigkeit hinweist, von unsern Schülern
mindestens eine leserliche Handschrift zu verlangen und uns u. a. ermächtigt,
für Schüler der IV. und III. mit schlechter Handschrift besondern Schreibunter-
richt einzurichten. Die Vorbildung unsrer Gymnasiasten ist eine zu mannig-
faltige, als daß man bei allen dasselbe voraussetzen darf, und ich glaube, es kommt
auch anderwärts der Fall vor, daß ein im übrigen genügend vorgebildeter Junge
in die Sexta eintritt, ohne einen lateinischen Buchstaben schreiben zu können.
Die beiden Schreibstunden der Sexta und der Quinta tun uns bitter not zur Ein-
übung der deutschen und lateinischen Buchstaben; für die griechischen Buch-
staben bleibt da keine Zeit übrig. Es kommt noch ein Umstand hinzu, der das
Einüben der griechischen Buchstaben auf dieser Stufe verbietet: wie soll die Kennt-
nis der griechischen Buchstaben wach bleiben, wenn sie in Quinta erworben wird,
der griechische Unterricht aber erst in Untertertia beginnt? Denn die Mathematik-
*) Dr. G. Hergel, Willensstärke und Urteilskraft, S. 53.
Monatschrift f. höh. Schulen. VlII. Jhrg. 42
658 W. Mevs, Die ersten griechischen Stunden in der Untertertia.
stunden der Quarta sind doch sicher nicht dazu bestimmt, das Feld für das Grie-
chische der Untertertia vorzubereiten. Zwar kann der Mathematiklehrer auch
in Quarta der kleinen griechischen Buchstaben bis C nicht gut entraten (ich gebe
das ohne weiteres zu) ; aber von da bis to ist doch noch ein weiter Weg. Auch der
Realschüler verwendet jene Buchstaben, sei es in der Mathematik, sei es in den
Dispositionen der deutschen Aufsätze; sie sind für ihn eben nichts mehr und nichts
weniger als notwendige Zeichen, genau wie die Zeichen für Gleichheit, Kongruenz
usw. Eine besondre Schreibstunde wollen wir dem Quartaner, der eine leserliche
Handschrift sein eigen nennt, auch nicht aufbürden; es bleibt also nichts weiter
übrig, als den griechischen Unterricht in der Untertertia mit dem Einüben der
griechischen Schrift beginnen zu lassen.
Der Lehrer aber, der den Schülern die Anfangsgründe des Griechischen über-
mitteln soll, ist auch allein dazu berufen, sie mit den griechischen Buchstaben
bekannt zu machen, während ich dem Schreiblehrer (von Ausnahmen natürlich
abgesehen) die Fähigkeit dazu absprechen muß. Denn er kann nicht aus dem
Vollen schöpfen, sondern nur mechanisch den Jungen Buchstaben für Buchstaben
vorschreiben; die aber wollen, daß das, was ihnen tot auf der Tafel oder auf dem
Papier vor Augen tritt, Leben gewinne, d. h. sich zu Wörtern vereine, mit denen
sich bestimmte Vorstellungen verbinden lassen. Ich glaube nicht, daß auch nur
ein Altphilologe sich findet, dem man die Fähigkeit absprechen müßte, seinen
Schülern das Schreiben griechischer Buchstaben beizubringen. Täglich muß der
Lehrer des Griechischen beim Einüben der Deklination oder Konjugation einzelne
Formen an die Wandtafel schreiben; unaufhörlich sieht der Schüler in der Gram-
matik oder im Übungsbuch die Buchstaben in mustergültiger Form wiederkehren:
wie sollte er sie sich da nicht aneignen können, selbst wenn sein Lehrer kein Schreib-
künstler ist! Ich kenne einen alten Herrn, der von seinen Schülern im Griechischen
eine tadellose Schrift verlangte und namentlich auf das kleine My großen Wert
legte: zuerst mußten sie die beiden Grundstriche schreiben und darauf mit einem
kühnen Schwünge von unten rechts nach oben links ausholend vorn den Haar-
strich anfügen, damit das geschriebene fx dem gedruckten völlig gleich sei. Er
hat ob dieses „My-Schwanzes" eine örtliche Berühmtheit erlangt. So peinlich braucht
nicht jeder unter uns zu sein; aber eine leserliche Schrift können wir alle sehr leicht
von unsern Jungen auch im Griechischen erzielen.
Sollte nun der Einwand geltend gemacht werden, daß der Lehrstoff für das
Griechische in der Untertertia an und für sich sehr umfangreich ist und keine Zeit
für Schreibübungen übrig läßt, so wird dabei etwas Wesentliches übersehen: der
freudige Eifer oder, um das Kind mit richtigem Namen zu nennen, die Begeisterung,
mit der zwölfjährige Jungen in der Regel an alles Neue herangehen. In der ersten
Stunde werden die ersten 8 Buchstaben den Schülern vorgeschrieben und dann
von ihnen an der Tafel und im Übungshefte nachgeschrieben; daran schließt sich
eine entsprechende Hausübung für den nächsten Tag. An diesem erfolgt die Ein-
übung der nächsten 6 oder 8 Buchstaben, und so kann das ganze Alphabet mit
seinen 24 Buchstaben bequem in drei oder vier Tagen erledigt werden. Zweck-
mäßig werden die großen und kleinen Buchstaben zusammen eingeprägt, zumal
da jene mit wenigen Ausnahmen an die lateinische Schrift erinnern.
A. Tilmann, Die Reifezeugnisse d. Studierenden d. außerpreuß. Universitäten. 659
Hand in Hand gehen damit die Leseübungen, mit denen schon am ersten
Tage begonnen werden muß. Wir sind ja beim Griechischen in der glücklichen
Lage, keinen Unterschied in Druck und Schrift zu haben, ein Umstand, der unsre
Aufgabe wesentlich erleichtert. Es ist dabei gleichgültig, daß in den ersten Stunden
bei diesen Leseübungen den Schülern dieser oder jener Buchstabe entgegentritt,
der für die Schreibübungen noch der Erledigung harrt. Ein solcher Fremdling
wird vom Lehrer vorgelesen, und die Bekanntschaft ist vermittelt.
Ferner beginnen wir auch in einer der ersten Stunden mit dem Einprägen
einzelner Vokabeln und der zweiten Deklination, die ja mit der im Lateinischen
so manche Berührungspunkte hat. Die Doppellauter hindern daran nicht, da
der Quartaner bereits im Französischen Vokalverbindungen kennen gelernt hat,
die der deutschen Sprache fremd sind. Endlich dürfen die schriftlichen Klassen-
arbeiten in den ersten Wochen nur das Ziel verfolgen, die griechischen Buchstaben
einzuüben. Ich lasse zuweilen noch die Obertertianer nach Diktat schreiben; um
wieviel mehr ist dies für die Untertertianer erforderlich! Spiritus, Akzent und
iota subscriptum spielen vorläufig gar keine Rolle dabei; man fügt sie entweder
selbst bei der Durchsicht der Hefte hinzu oder gibt sie während des Diktats den
Schülern an.
Geht man von den gegebenen Gesichtspunkten aus, so wird der Untertertianer
nach meinen Erfahrungen bald Herr der griechischen Schrift. Man braucht wahr-
lich nicht zu fürchten, ihm zu viel zuzumuten; denn auch hier gilt das Sprichwort:
Man muß das Eisen schmieden, so lange es heiß ist.
Königsberg i. d. Neumark. W i 1 h. M e v s.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreuBischen
Universitäten.
Erlangen, Freiburg, Gießen, Heidelberg, Jena, Leipzig, München, Rostock, Straß-
burg, Tübingen und Würzburg im Sommer-Semester 1909.
Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studierende, die nicht auf
Grund Reifezeugnisses einer Vollanstalt immatrikuliert waren, unberücksichtigt.
Von den nachstehenden Zusammenstellungen umfaßt die erste alle im Sommer-
Semester 1909 an den genannten Universitäten immatrikulierten Studierenden,
die zweite nur diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten Semester standen.
I. Im Sommer-Semester 1909 waren insgesamt immatrikuliert:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 1085 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1074
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 9
„ „ „ einer Oberrealschule ... 2
42*
660
A. Tilmann,
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 815 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 812
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 3
„ „ „ einer Oberrealschule ... —
c) in der Juristischen Fakultät 5396 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 4769
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 467
„ „ „ einer Oberrealschule ... 160
d) in der Medizinischen Fakultät 4963 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 4022
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 782
„ „ „ einer Oberrealschule ... 159
e) in der Philosophischen Fakultät 8964 Studierende, davon immatri-
kuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 5954
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 1882
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 1128
Hiervon studierten:
1. Philosophie 723 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
2. Klassische Philologie und Deutsch *) 2381 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
3. Neuere Philologie *) 1829 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
4. Geschichte *) 567 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
5. Mathematik und Naturwissenschaften 2975 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
einer Oberrealschule .
536
146
41
2239
99
43
904
639
286
438
79
50
1527
795
653
•) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg bei
der Geschichte nachgewiesen.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 661
6. Sonstige Studienfächer 489 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 310
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 124
„ „ „ einer Oberrealschule ... 55
II. Von den unter I. aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 192 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 191
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 1
„ „ „ einer Oberrealschule ... —
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 22 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 21
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 1
„ „ „ einer Oberrealschule ... —
c) in der Juristischen Fakultät 1038 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 872
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 128
„ „ „ einer Oberrealschule ... 38
d) in der Medizinischen Fakultät 601 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 464
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 106
„ „ „ einer Oberrealschule ... 31
e) in der Philosophischen Fakultät 1384 Studierende, davon immatri-
kuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 818
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 367
„ „ „ einer Oberrealschule ... 199
Hiervon studierten:
1. Philosophie 81 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 56
„ „ „ Realgymnasiums .
„ „ „ einer Oberrealschule . .
2. Klassische Philologie und Deutsch *) 354 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . .
„ „ „ „ Realgymnasiums .
„ „ „ einer Oberrealschule . .
3. Neuere Philologie*) 311 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . .
„ „ „ „ Realgymnasiums .
einer Oberrealschule . .
2Ö
5
327
24
3
132
116
63
*) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg bei
der Geschichte nachgewiesen.
662 P. Niemann,
4. Geschichte*) 116 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule
5. Mathematik und Naturwissenschaften 471 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .
M >» M „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule
6. Sonstige Studienfächer 51 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .
. , ., », }, H Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule
Gr.-Lichterfelde. A. T i 1 m a n n
81
18
17
204
166
101
18
23
10
Der zweite preußische Oberlehrer-Ruder-Kursus in Wannsee
bei Berlin vom 12. bis 27. Mai 1909.
Es ist nicht der kleinste Ruhmestitel der preußischen Unterrichtsverwaltung,
daß sie neben der Bemühung um eine immer zweckentsprechendere Ausgestaltung
der höheren Schulen in ihrer Eigenart nach immanenten Prinzipien und neben
der Sorge um Verbesserung und Verfeinerung der jeweiligen Lehrmethode ein
wachsames Auge auf die Entwicklung und Vervollkommnung des Turnwesens
und der gymnastischen Ausbildung unsrer Jugend gerichtet hält. Beweis dafür
ist die ansehnliche Zahl preußischer Turnlehrer, die in den Räumen der Turnlehrer-
Bildungsanstalt zu Berlin alljährlich eine gründliche Ausbildung erfährt; nicht
zu gedenken der zahlreichen sonstigen Kurse und Veranstaltungen, die dem Zwecke
dienen, auch außerhalb jener Bildungsanstalt brauchbare Leiter und Lehrer von
Turnübungen und Turnspielen allerorten in preußischen Landen zu gewinnen.
Zwar legen auch die andern großen Bundesstaaten in dieser Hinsicht einen löb-
lichen Wetteifer an den Tag, allein auf einem Gebiete gebürt Preußen abermals
der unbestrittene Ruhm, mit bahnbrechendem Beispiele vorangegangen zu sein,
d. i. mit der Einrichtung der sog. R u d e r k u r s e für die akademisch gebildeten
Lehrer der höheren Lehranstalten.
Der erste dieser Kurse hat im vergangenen Jahre 1908 stattgehabt; es hatte
sich gezeigt, daß trotz der sehr knapp bemessenen Zeit die Ausbildung der Teil-
nehmer einen befriedigenden Grad technischer Fertigkeit erreicht hatte.
So waren denn heuer in den Frühlingstagen vom 12. bis 27. Mai zum zweiten
Male 18 Herren aus fast allen Provinzen der preußischen Monarchie nach Wannsee
bei Berlin einberufen, mehrfach nicht ohne namhafte Unterstützung von selten
des Herrn Kultusministers zur Deckung der immerhin nicht unerheblichen Kosten,
*) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg bei
der Geschichte nachgewiesen.
Der zweite preußische Oberlehrer-Ruder-Kursus vom 12. bis 27. Mai 1909. 663
Es waren durchweg gesunde und kräftige Gestalten, die von vornherein die Gewähr
dafür boten, daß sie den an sie herantretenden Anstrengungen vollauf gewachsen
sein würden. Der Namensaufruf bei der ersten Zusammenkunft der Teilnehmer
im Versammlungszimmer des Schüler- Bootshauses Wannsee ergab die Anwesen-
heit von 14 Oberlehrern — auch die Königlichen Seminare waren durch einen
Herrn vertreten — 3 Professoren und einem Gymnasialdirektor.
Nach kurzen Begrüßungsworten von selten des Vorsitzenden des Schüler-
Rudervereins „Wannsee", des nunmehrigen Provinzial-Schulrates Herrn Direktor
Dr. Waßner legte Herr Professor Wickenhagen, der vom Herrn Kultusminister
abermals mit der Leitung des Kursus betraut worden war, sogleich den Arbeits-
plan für die Kursisten vor. Danach waren die Vormittage von 9V4 bis 11 14 Uhr
und darüber hinaus wieder für Ruderübungen teils im Kasten, teils auf freier Fahrt
im Boote angesetzt sowie für praktische Unterweisungen und Besprechungen
der einschlägigen Literatur etc., soweit man dafür bis zur Mittagsstunde nach
dem Rudern noch Zeit erübrigen würde. Am Nachmittag fand von 4V4 bis 6 Uhr
abermals Rudern, Skullen und Steuern durchweg in freier Fahrt statt. Daran
schlössen sich Vorträge zum Zweck theoretischer Belehrung über die wichtigsten ein-
schlägigen Fragen des Ruderbetriebes. Das von Professor Wickenhagen im vorigen
Jahrgang dieser Monatschrift beschriebene Schüler-Bootshaus, in entzückender
Lage am Kleinen Wannsee gelegen, bot mit seiner geradezu vorbildlichen Innen-
einrichtung den Kursisten tagsüber die denkbar angenehmste Unterkunft, insofern
als die zu benutzenden Ruderboote hier sofort zur Hand waren. Zu den täglichen
Vorträgen diente das größere Versammlungszimmer; außerdem waren kleinere
Nebenräume zum Umkleiden und zur Aufbewahrung der Kleidungsstücke zur
Verfügung gestellt. Für einfache Erfrischung nach schwerer Ruderarbeit sorgte
in Gestalt alkoholfreier Getränke und belegter Butterbrote die freundliche Ehe-
frau des wortkargen Bootswartes im Bootshause. Die Mittagsmahlzeit wurde
entweder in benachbarten Restaurants oder auch in den entfernteren Vororten
Berlins selber eingenommen.
Die Vormittagsarbeit begann zunächst mit schulmäßigen Ruderübungen im
Kasten, wobei der einmalige Ruderdurchzug durchs Wasser in einzelne Teile zerlegt
und geübt wurde. Die Unterweisung in diesen Übungen leitete Professor Wicken-
hagen selber, dem Professor Rumland vom Königl. Wilhelms-Gymnasium (Berlin)
und ein Herr Scheider zur Unterstützung beigegeben waren. Sobald die Führung
des Ruders genügende Fertigkeit zeigte, wurde an Stelle des festen Rudersitzes
der Rollsitz eingefügt. Als auch dessen Gebrauch im verankerten Kasten keine
Schwierigkeit mehr verursachte, ging's hinaus im schwankenden Boot auf das
offene Wasser. Gewiß werden den diesjährigen Kursusteilnehmern die Maitage
von 1909 unvergeßlich bleiben. Denn ein stets lachender tiefblauer Himmel mitten
in der Pracht der rings blühenden Natur ließ jede Anstrengung, mochte sie auch
noch so groß sein, freudig und leicht ertragen.
Zu den praktischen Ruderübungen gesellten sich die theoretischen Unter-
weisungen, von denen man sagen muß, daß in ihnen jede wichtige Ruderfrage
eine gründliche Erörterung und erschöpfende Beantwortung erfuhr. So sprach
Herr Oberlehrer Haagen über die beiden Themata: 1. wie gründe und leite ich
664 P. Niemann,
einen Ruderverein? 2. über Haftpflicht und Versicherungswesen. Herr Regierungs-
Baumeister Stahn über das Thema: Das Bootshaus in seiner baulichen Einrichtung.
Herr Oberbaurat Rettig: über „Gutes und schlechtes Bootsmaterial." Herr General-
arzt Dr. Meisner über den Einfluß der Überanstregung und Ermüdung auf Körper
und Geist. Herr Sanitätsrat Professor Dr. Schütz zeigte praktisch die Methode
der körperlichen Untersuchung an Schülern, die dem Ruderbetriebe sich widmen
wollen. Herr Oberst von Diest teilte aus reichster eigner Erfahrung mit, wie
Wandertouren und Reisen im Boote zweckmäßig ins Werk gesetzt und erfolgreich
durchzuführen seien. Endlich bot Herr Professor Dr. Kuhse in seinem von zahl-
reichen Lichtbildern unterstützten Vortrage in der Aula des Hohenzollern- Gym-
nasiums (Schöneberg) eine interessante vergleichende Darstellung des Ruder-
betriebes in England und Frankreich. Auch der Besuch der Bootswerft von Deutsch
in Stralau bleibt unvergessen, sahen doch die Kursusteilnehmer in der Werkstatt
selber sich ein Boot kunstvoll vor ihren Augen zusammenfügen. Eindrücke fröh-
licher Art, die darum doch reiche Belehrung enthielten, waren verknüpft mit dem
Besuche des soeben neu erbauten Bootshauses des „Berliner Ruder-Klubs" wie
auch des Ruder-Klubs „Hellas" mit seinen mustergültigen Einrichtungen, waren
ferner verknüpft mit dem Besuche des neuen Gymnasiums und den großen Internats-
anlagen in Dahlem im Grunewald unter der liebenswürdigen Führung des Herrn
Oberlehrers Dr. Götze und Professors Dr. Richter.
So kam der Tag des Abruderns und der behördlichen Besichtigung für jeden
der Kursusteilnehmer leider viel zu schnell herbei. Erschienen waren zu dieser
letzten Übung vom Kultusministerium die beiden Herren Unterstaatssekretär
Exzellenz Dr. Wever und Geheimer Oberregierungsrat Tilmann, außerdem Ver-
treter der höheren Schulen und Seminare. Das Wetter war umgeschlagen. Ein
anfangs noch schwacher Regen, der das Einsetzen der Boote und das Schulrudern
nur wenig beeinträchtigte, artete zuletzt in wahren Platzregen aus bei gleich-
zeitig starker Abkühlung der Luft. Unter diesen Umständen wurde die ursprüng-
lich beabsichtigte ganze Umfahrt durch den Großen Wannsee an Potsdam vor-
über durch den Griebnitzsee wieder zurück zum Kleinen Wannsee aufgegeben
und nur bis nach Moorlake und wieder zurück gerudert. Die Herren der Besichti-
gung begleiteten im Motorboot die Ruderer und hatten von da aus Gelegenheit,
die Leistungen vergleichend zu prüfen. Das Urteil Sr. Exzellenz des Herrn Unter-
staatssekretärs fiel anerkennend aus, etwas, was nicht wenig dazu beitrug, die
Unbilden des Wetters leicht zu vergessen. Zum Abschied versammelten sich
die Kursusteilnehmer mit ihren Lehrern, auch solchen in weiterem Sinne, zum
einfachen Abschiedsmahl in den behaglichen Gesellschaftsräumen des Ruderklubs
„Wannsee", in denen die Herren vom Vorstand in gütiger Weise selber die Honneurs
machten.
Soll ich zusammenfassen, was an praktischem und theoretischem Gewinn
der Kursus jedem Teilnehmer erbracht hat, so ist es neben der technischen Fertig-
keit des Ruderns selber eine vielseitige und gründliche Belehrung über die ein-
schlägigen Fragen des Ruderbetriebes und endlich auch in der unmittelbaren Be-
rührung mit der rudernden Schuljugend Berlins manche aus eigner Beobachtung
gewonnene, wichtige pädagogische Erkenntnis und Erfahrung. Dem verdienst-
Der zweite preußische Oberlehrer-Ruder- Kursus vom 12. bis 27. Mai 1909. 665
vollen Leiter des Kursus Herrn Professor Wickenhagen gebührt für die glänzende
Durchführung des so reichhaltigen Programms der rückhaltlose und freudige
Dank aller Kursusteilnehmer!
Um so mehr mag es in einem Schlußwort zu diesem Bericht erlaubt sein, noch
einige bescheidene Wünsche für die Zukunft zu äußern:
1. Vielleicht gelingt es der Leitung, die Kursusteilnehmer an Ort und Stelle
in Wannsee in den um diese Jahreszeit noch leer stehenden Bootshäusern der ver-
schiedenen Ruderklubs durch besondre Abmachungen mit den einzelnen Vorständen
unterzubringen, was für die Kursisten zugleich mit großer Zeit- und Geldersparnis
verbunden sein würde.
2. In diesem Falle nämlich könnten die Ruderübungen schon viel früher, morgens
etwa um 7 oder 8V2 Uhr beginnen. Dann könnten die Vorträge noch mit in die
Vormittagsstunden verlegt werden, so daß mit dem Nachmittagsrudern bis 6 Uhr
abends die gesamte Tagesarbeit der Kursisten ihren Abschluß fände. In diesem
Falle würde ihnen der Besuch der großen Theater und Konzerte in Berlin ermöglicht,
woran in diesem Jahre so gut wie gar nicht zu denken war.
3. Es würde erwünscht sein, daß zu den Unterweisungen im Rudern und Skullen
auch Übungen im Segeln hinzukämen. Da aber hierfür innerhalb der kurz be-
messenen 14tägigen Kursusdauer auf keine Weise Raum geschafft werden kann,
so würde dadurch zugleich der letzte Wunsch seine tiefere Begründung erhalten.
4. Es müßte der Herr Minister um seine Zustimmung gebeten werden, daß
die Kursusdauer in Zukunft mindestens auf 3 volle Wochen ausgedehnt würde. —
Aus den vorstehenden Mitteilungen geht dies eine, wie jeder Einsichtige un-
bedingt zugeben wird, klar und deutlich hervor, daß die Sache des Ruderns an
unsern höhern Lehranstalten mit der Einrichtung der alljährlich wiederkehrenden
Ruderkurse in Wannsee auf eine gesicherte und kernige Grundlage gestellt ist.
Der preußischen Unterrichtsverwaltung gebührt für diese weitsichtige und ent-
schlossene Tat der wärmste Dank aller derer, denen neben einer gründlichen wissen-
schaftlichen Ausbildung die leibliche und geistige Gesundheit unsrer Schuljugend
und die Erhaltung eines kraftvollen und mutigen Männergeschlechts in Deutsch-
land als eine der ernstesten Fragen der Gegenwart erscheint. So soll denn das
Wort unsers Kaisers und Königs, das er einst in einer großen Stunde unter dem
Eindruck einer für uns Deutsche bedrohlichen Gestaltung der Weltpolitik und des
Welthandels zwecks Schaffung und Ausbau einer mächtigen deutschen Kriegs-
flotte gesprochen hat, in bescheidenem Rahmen auch für den opferwilligen Ausbau
und die tatkräftige Weiterentwicklung des Ruderwesens und Wassersports an allen
dafür in Betracht kommenden höheren Schulen Preußens Mahnung und Richt-
schnur bleiben: navigare necesse est!
Celle. Paul Niemann.
IL Programmabhandlungen 1908.
Geschichtliches.
Trendelenburgy Adolf, DieAnfangsstreckederHeiligenStraße
in Delphi. Berlin, Friedrichs-Gymnasium. Progr.-No. 65.
Ausgehend von dem Berichte des Pausanias, den er in Urtext und Übersetzung
bringt, behandelt Trendelenburg die Verteilung der Denkmäler an beiden Seiten
der Anfangsstrecke der Heiligen Straße in Delphi, wo viele historisch hochbedeut-
same Weihegeschenke auf engem Räume beisammen standen; eine ganze Anzahl
von Statuenbasen und Inschriften hat sich bekanntlich bei den französischen
Ausgrabungen dort wiedergefunden. Trendelenburg sucht nun nachzuweisen,
daß sich alle Angaben des Periegeten über die Lage der Denkmäler ungezwungen
mit den erhaltenen Resten vereinigen lassen.
Buslepp, Karl, De Tanagraeorum sacris. Weimar, Gymnasium.
Progr.-No. 886.
Der Verfasser setzt hier seine früheren Studien über das gleiche Gebiet (Jena
1901) fort; in alphabetischer Reihenfolge führt er die in Tanagra nachweisbaren
Kulte auf und gibt ein Bild der lokalen Götterverehrung, das bei dem hohen Alter
des Städtchens von besondrer Bedeutung ist.
Kieser, Friedrich, Beiträge zur Geschichte des Klosters
Lorsch. Bensheim, Gymnasium. Progr.-No. 825.
Die Abhandlung gibt einen Beitrag zu einer Heimatskunde, welche die ge-
schichtliche Entwicklung des deutschen Volkes auf die engere Heimat projiziert.
Füßlein, Wilhelm, Die Anfänge des Herrenmeistertums in
der Bailei Brandenburg. Hamburg, Realschule in St. Georg. Progr.-
No. 964.
Über die Entstehung des Herrenmeistertums in der Bailei Brandenburg haben
bisher verschiedene Ansichten einander gegenüber gestanden, ohne daß sich eine
derselben quellenmäßig begründen ließ. Die Auffindung einiger für dieses Problem
noch nicht ausgebeuteten Urkunden hat es dem Verfasser nun ermöglicht, die
Frage auf eine neue Grundlage zu stellen. Danach hängt die Entstehung des
Herrenmeistertums in der Bailei Brandenburg aufs engste mit der Einführung
der neuen Provinzialverfassung von 1317 zusammen, durch die der Großprior
F. Marcks, Geschichtliches. 667
der Johanniter deutscher Zunge auf den nordöstlichen Zweig des deutschen Ordens-
gebietes (Sachsen, die Mark und Wendland) beschränkt und damit gleichzeitig
zu dessen Organisation gedrängt wurde. Da er sich aber der neuen Verwaltung
persönlich nicht ausreichend widmen konnte, ernannte er einen ständigen Stell-
vertreter, der zu großer Selbständigkeit und Unabhängigkeit gelangte, die sich
dann erhalten hat.
Stoltenburg, Hans, DerGlogauerErbfolgestreit, auch ein Kampf
um die Ostmark. Magdeburg, Realgymnasium. Progr,-No. 335.
Kurfürst Albrecht Achilles wird als ein deutscher Held in trüber Zeit geschildert
und besonders der Glogauer Erbfolgestreit, der eine Folge der Heirat seiner Tochter
Barbara mit dem Herzoge Heinrich von Glogau war, in seinem ganzen Verlaufe
erzählt, soweit er die Hohenzollern angeht; in Albrechts erfolgreichem Kampfe
gegen Matthias Corvinus und seinen Anhang erkennt der Verfasser ein Verdienst
des Kurfürsten in der Richtung der geschichtlichen Mission des brandenburgisch-
preußischen Staates als Hüters der deutschen Ostmark.
Frommelt, Ignaz, Bernhard Witte, sein Leben und die Handschrift
seiner Westfälischen Geschichte. Arnsberg, Königl. Gymnasium. Progr.-No. 441.
Es ist nicht viel, was sich über das Leben des Benediktinermönches Bernhard
Witte aus depi Kloster Liesborn ermitteln läßt; der Verfasser stellt es zusammen
und behandelt dann die Handschrift seiner Westfälischen Geschichte und ihre
Schicksale.
Weise, Julius, HerzogErichvonBraunschweig, der letzte Komtur
des Deutschordens zu Memel. Königsberg i. Pr., Vorstädtische Realschule. Progr.-
No. 23.
Herzog Ernst war zuerst der Liebling des Hochmeisters Albrecht und zu seinem
Nachfolger ausersehen, bis ihn die Säkularisation zu seinem Widersacher machte
und ihn bestimmte, seine Burg und das Land zu verlassen. Er darf daher unser
Interesse in Anspruch nehmen. Die Abhandlung, die den Umfang eines Buches
gewonnen hat, bringt aus umfangreichem Forschungsmaterial viel Neues und ist
ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Deutschordens unmittelbar vor seiner
Säkularisation.
Streit, Felix Edmund, Christoph Scheurl, der Ratskonsulent
von Nürnberg, und seine Stellungzur Reformation. Plauen
i. V., Realgymnasium mit Realschule. Progr.-No. 731.
Die Abhandlung will weniger ein vollständiges Lebensbild Scheurls zeichnen
als den Charakter des Mannes und vor allem seine Stellung zu den Reformatoren
und zur Reformation darlegen; diese Stellung ist in seinen späteren Jahren eine
andre als in seinen früheren Jahren gewesen, und darunter hat die Unbefangenheit
des Urteils über ihn gelitten. Hier werden seine Anschauungen und Leistungen
auf Grund seiner Schriften und Briefe vorurteilsfrei gewürdigt, und es erscheint
danach verständlich, wie Pirckheimer ihn mit Melanchthon und Luther hat auf
eine Linie stellen können,
Wappler , Paul , Thomas Münzer in Zwickau und die
Zwickauer Propheten. Zwickau, Realgymnasium. Progr.-No. 734.
Im Zusammenhang mit der gesamten Kultur Zwickaus in der Zeit der Refor-
668 F, Marcks,
mation wird das Wirken Münzers und der Seinigen dargestellt. Die Abhandlung
weckt Interesse, und man würde sie noch lieber lesen, wenn die Typen nicht so
klein wären, daß das Lesen die Augen anstrengt.
Fürsen, Otto, Ein wichtiges Jahrzehnt kursächsischer
Reichspolitik (1576—1586). Sonderburg, Königl. Oberrealschule. Progr.-
No. 385.
Es ist von der Regierung des Kurfürsten August das letzte Dezennium, in
dem er durch seine vermittelnde Tätigkeit in wichtigen Reichsangelegenheiten
den Ausschlag gegeben und den Katholiken manchen fast verlorenen Posten hat
zurückerobern helfen; diese Vermittlungspolitik hat in unheilvoller Weise zur
Erstarkung der Gegenpartei beigetragen.
Exner, Hans, Die Beziehungen zwischen Brandenburg-
Preußen und Polen von 1640 — 1648. Ostrowo, Königl. Gymnasium.
Progr.-No. 219.
Verfasser stellt die im einzelnen bereits bekannten, aber teilweise sehr ver--
streuten Tatsachen zu einem Gesamtbilde der preußisch-polnischen Beziehungen
in der genannten Zeit zusammen und zeigt, welche Schwierigkeiten dem Großen
Kurfürsten damals von selten der polnischen Regierung gemacht wurden und wie
er sich demgegenüber trotz seiner ohnehin schon bedrängten Lage zu behaupten
suchte.
Droysen, Hans, Histoire de la dissertation: Sur la littera-
tureallemande publieeä Berlin en 1780. Berlin, Königstädtisches
Gymnasium. Progr.-No. 71.
1786 erschien die den Titel unsrer Abhandlung tragende Schrift in Berlin
ohne Angabe von Ort und Verleger; durch sie ist die Vorstellung verbreitet worden,
als habe Graf Hertzberg an der Schrift Friedrichs des Großen über die deutsche
Literatur einen entscheidenden Anteil gehabt. Droysen verfolgt die Entstehung
der Schrift und weist nach, daß diese Vorstellung jeder Begründung entbehrt.
Seine Untersuchung bietet Gelegenheit, auch andern Ansprüchen Hertzbergs
nachzugehen, und gibt dadurch einen höchst lehrreichen Beitrag zur Charakteristik
des Staatsministers. Auch über die Entstehungszeit der Schrift des Königs wird
eine Vermutung vorgetragen, die viel Wahrscheinlichkeit für sich hat.
Theobald, Hermann, Badenund Frankreich 1805 und 1806. Mann-
heim, Großherzogliches Karl-Friedrichs-Gymnasium. Progr.-No. 805.
Die bewegte Zeit vor dem Abschluß des Rheinbundes von August 1805 bis
Juli 1806 wird auf Grund des Materials, das in dem fünften Bande der politischen
Korrespondenz Karl Friedrichs von Baden veröffentlicht worden ist, dargestellt.
Die Arbeit macht nicht den Anspruch, für den Spezialforscher Neues zu bringen;
aber doch werden Freunde vaterländischer Geschichte manches finden, was die
badische Politik während der genannten Zeit in ein andres Licht rückt.
Perle, Friedrich, Die Neysche Erpressung in Halberstadt.
Halberstadt, Oberrealschule. Progr.-No. 345.
Eine Erpressung des Marschalls für seinen eignen Geldbeutel lernen wir hier
nach archivalischen Quellen kennen, ein lehrreiches Beispiel, wie die Franzosen
das Saigner ä blanc nach der Jenaer Schlacht in Preußen verstanden haben.
Geschichtliches. 669
Puffert, Bernhard, Belagerung und Einnahme der Stadt und
FestungNeiße im Jahre 1807. Neiße, Königl. Katholisches Gymnasium.
Progr.-No. 263.
Der Verfasser gibt eine anschauliche Erzählung der Belagerung Neißes. "Wie
ein Augenzeuge berichtet, wurde die Stadt durch die Beschießung noch ärger zu-
gerichtet als Kolberg; auf jeden Fall hat die Bevölkerung Schweres durchzumachen
gehabt. Erst die vollständige Arbeit, die im Buchhandel erscheint oder inzwischen
erschienen ist, wird die Einnahme der Stadt schildern.
Chrlstensen, Heinrich, Ein Tagebuch aus dem Belagerungs-
jahr 1813/14. Hamburg, Wilhelm-Gymnasium. Progr.-No. 952.
Es ist das Tagebuch eines wohlhabenden Bürgers, das für einen Verwandten
geistlichen Standes niedergeschrieben ist. Die Tatsachen treten so klar und le-
bendig hervor, die Persönlichkeit des Verfassers zeigt eine so gesunde und kernige
Art, daß man dem Herausgeber für seinen Beitrag zur Geschichte von Hamburgs
Franzosenzeit danken darf.
Gerstenberg, Heinrich, DieHamburgischeZensur in denjahren
1819—1848. Hamburg, Realschule an der Bismarckstraße. Progr.-No. 966.
Die Zensur, die seit dem Reichstagsabschiede von 1529 auch für Hamburg
bestand, aber im wesentlichen nur dem Namen nach, wurde zur Wirklichkeit
durch die Karlsbader Beschlüsse. In dem freiheitlichen Gemeinwesen war ihre
Handhabung im ganzen liberal, aber zwei Strömungen machen sich dabei bemerk-
bar: in den allgemeinen politischen Fragen ist man ziemlich duldsam, aber ge-
hemmt durch Empfindlichkeit und Beschwerden der Staaten des deutschen Bundes
wie der europäischen Mächte; weit weniger Toleranz zeigt sich gegenüber den
innerstädtischen Fragen, und da wogt der Kampf am heftigsten. Gerade diese
beiden Strömungen machen die Geschichte der Hamburger Zensur besonders
interessant.
Knapp, Theodor, Abriß der Geschichte der Bauernent-
lastung in Württemberg. Tübingen, Gymnasium. Progr.-No. 780.
Nach einer Schilderung der Lage der Bauern vor der französischen Revo-
lution folgt die Darstellung der Entlastung von ihren Anfängen unter König Fried-
rich I. in den Jahren 1808—1816 bis zu den letzten Kämpfen mit Standesherren
und Rittern um ihre Entschädigung, die erst 1865 ihren Abschluß fanden, ein
lehrreiches Stück sozialer Geschichte.
Hänel, Curt, Skizzen und Vorarbeiten zu einer wissen-
schaftlichen Biographie Jakob Burckhardts. Erste Folge.
Leipzig, 2. Städtische Realschule. Progr.-No. 750.
Die Abhandlung gibt zunächst eine kurze Darstellung des äußeren Lebens-
ganges Burckhardts und seiner Grundanschauungen über Religion und Sittlich-
keit, Staat, Politik und Kultur. Dann werden ausführlicher seine Geschichts-
anschauungen nach seinen im Druck vorliegenden Werken gegeben. Eine zweite
Abhandlung wird die Stellung der Anschauungen Burckhardts in der Entwicklung
der Historiographie und die Stellung seiner Persönlichkeit in seiner Zeit unter-
suchen.
670 F. Marcks, Geschichtliches.
Auf folgende Programme, meist Fortsetzungen früherer, weise ich noch hin:
Liebold, K., Die Ansichten über die Entstehung und das Wesen der gentes
patriciae in Rom seit der Zeit der Humanisten bis auf unsre Tage. 11 1. Teil.
Meerane i. S., Realschule. Progr.-No. 755.
Friedrich, Rudolf, Studien zur Vorgeschichte der Tage von Kanossa. II. Teil:
Die Wirkungen der Wormser Synode vom 24. Januar 1076 in der Beleuchtung
der Urkunden. Hamburg, Realschule in Eppendorf. Progr.-No. 960.
Schmidt, Ernst, Aus der Vorgeschichte der Altmark. III. Teil. Seehausen
i. A., Realschule. Progr.-No. 354.
Liessem, Hermann Joseph, Hermann von dem Busche, sein Leben und seine
Schriften. Köln, Königl. Kaiser Wilhelm-Gymnasium. Progr.-No. 588.
Moritz, Hugo, Reformation und Gegenreformation in Fraustadt. Teil II.
Posen, Königl. Friedrich Wilhelms-Gymnasium. Progr.-No. 220.
Schrohe, H., Emund Rokoch, ein Mainzer Kaufmann und Beamter des
17. Jahrhunderts. II. Teil. Mainz, Großherzogl. Ostergymnasium. Progr.-No. 832.
Marcus, Willy, Choiseul und Bernstorff. II. Teil. Wohlau, Königl. Gym-
nasium, Progr.-No. 277,
Jordan, Reinhard, Zur Geschichte der Stadt Mühlhausen i. Thür. Heft 7.
Mühlhausen i. Thür., Gymnasium. Progr.-No. 316.
Knaake, Emil, Leben und Wirken der Königin Luise im Lichte der Geschichte.
III. Teil. Die Königin Luise während der Wiedergeburt Preußens. Tilsit, Königl.
Realgymnasium. Progr.-No. 20.
Wundrack, A., Beiträge zur Geschichte neupreußischer Kolonisation in Posen.
I. Teil. 1815—1830. Tremessen, Königl. Progymnasium. Progr.-No. 227.
Putbus. FriedrichMarcks.
Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Zur französischen Lektüre.
1. Gedichtsammlungen und Verwandtes.*)
Wasserzieher, E., Sammlung französischer Gedichte für
deutsche schulen. I. Teil: Text. IV u. 65 S. kart. 1 m'. II. Teil: Bio-
graphien, Anmerkungen und Wörterbuch. 65 S. 0,40 M. Leipzig 1902, R.Gerhard.
(Französische Schulausgaben, No. 8).
Ricken, W., Einige Perlen französischer Poesie (36) von
Corneille bis Coppee. Für den französischen Unterricht der höheren
Schulen und Lehrerseminare. Nebst einem Anhang von Übersetzungen deutscher
Gedichte (6), einer Verslehre in deutscher und französischer Sprache und einem
kurzen Überblick über die Geschichte der französischen Literatur. 2. Auflage.
Chemnitz u. Leipzig 1906. W. Gronau. 55 S. geb. 0,85 M.
Englert, A., Anthologie des po^tes frangais modernes.
Blütenlese französischer Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts. Zweite verbesserte
Auflage. München 1902. C. H. Beck. XIII u. 246 S. geb. 2,25 M.
Wershoven, F. J., Po^sies frangaises. Französische Gedichte für
Schule und Haus. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1908. Weid-
mannsche Buchhandlung. X u. 258 S. geb. 2,20 M.
Wershoven, F. J., Napoleon P^ Sa vie, son histoire depuis sa mort, ses
poetes. Mit 5 Abbildungen. Trier 1907. Jacob Lintz. 108 S. geb. 1,10 M.
Klincksieck, Fr., C h r e s t 0 m a t h i e der französischen Literatur
des 17. Jahrhunderts (mit Ausschluß der dramatischen). Leipzig 1906.
Rengersche Buchhandlung. X u. 293 S. geb. 4 M.
Kötz, 0., Ausgewählte Fabeln von La Fontaine. Mit bio-
graphischer und literarischer Einleitung, erklärenden Anmerkungen, einer Übersicht
über den Versbau und einer Charakteristik der Sprache. Berlin 1908. Weidmannsche
Buchhandlung. IV u. 170 S. (Sonderheft mit Anmerkungen in Falte 108 S.) geb.
2,60 M.
*) Vgl. Monatschrift VII, 378.
672 W. Bohnhardt,
Appel) L., LaFontaine: Fable s. München. J. Lindau er. (Französisch-
englische Klassikerbibliothek No. 54.) 58 S. Text u. 42 S. annotations et voca-
bulaire. kart. 1 M.
Weissenf eis, 0., Auswahl aus Victor Hugo. Berlin 1905. Weid-
mannsche Buchhandlung, geb. 2,20 M.
Wasserzieher berücksichtigt in 54 Gedichten nur das 19. Jahrhundert
(außer No. 28) und La Fontaine. Ihm und B^ranger als den „beiden charakteristi-
schen Vertretern des echt französischen Geistes" fällt mit der Hälfte der Löwenanteil
zu; sonst kommen hauptsächlich V. Hugo, Musset und Coppee zu Wort. Den Schluß
bilden einige Übertragungen aus dem Deutschen, so zwei vom Erlkönig, eine von
„Schloß Boncourt" usw. Durch die einseitige Bevorzugung des mir persönlich
sympathischen Chansonniers, der aber selbst der heutigen französischen Jugend
ein Fremder ist, verliert er den Raum für die neueren und neuesten Lyriker, von
denen die Lektüre auf der Oberstufe, wenn auch nur summarisch, Notiz nehmen
muß. Die Sammlung eignet sich zum Gebrauch an Realschulen; diesen mögen
auch die voraussetzungslosen sachlichen und grammatischen Anmerkungen nebst
Wörterbuch (darin die Stammformen der unregelmäßigen Verben und unpädagogische
Bildungen wie que je boive, vor denen man den Schüler stets warnt) angemessen sein.
Bei Ricken finden wir aus der klassischen Periode einige Stücke lyrischen
Charakters (Don Rodrigos Monolog und die herrlichen Chöre aus Athalie I, 4 und
II, 9) sowie La Fontaine, aus dem unfruchtbaren 18. Jahrhundert je eine bewährte
Gabe von Florian und Andrieux, die Marseillaise und La jeune Captive, die mit
Recht auf unserm Kanon steht. Ob die spärlichen Proben von wenigen Haupt-
vertretern des 19. Jahrhunderts dem Schüler die von Ricken erwünschte Vorstellung
von der Eigenart und Bedeutung dieser Dichter verschaffen können, bleibe dahin-
gestellt; ein vollständiges Bild war nach dem Titel nicht beabsichtigt; dazu gehörte
die Aufnahme einiger der originellen lyrischen Erzeugnisse der letzten Jahrzehnte.
Ein Anhang „mit sechs wahren Perlen poetischer Übertragung aus dem Deutschen
ist beigefügt, weil es für die empfängliche deutsche Jugend einen eignen Reiz hat,
bekannte kleine Meisterwerke der Poesie des eignen Volkes in den anmutigen
Rhythmen fremdsprachiger Verse wiederzufinden" (u. a. Mignon, La Charge guerriire
de Lutzow, Mai hous est revenu). Erwähnt seien noch die Remarques additionnelles
sur la versification nach Larive et Fleury und eine auf eignen Arbeiten des Heraus-
gebers beruhende gedrängte Darstellung der französischen Verslehre, schließlich
ein Coup d'ceil sur Vhistoire de la litttature frangaise von etwas über zwei Seiten,
der die durch Vertiefung in die Gedichte gewonnenen literarischen Eindrücke zu-
sammenfassen und gelegentlich vervollständigen soll. Das Fragmentarische, das
in der Natur eines solchen Überblickes liegt, ist dem Herausgeber nicht zum Vorwurf
zu machen. Erfreulich ist seine Verzichtleistung auf Glossar und jegliche Noten.
Anstalten mit nur geringer Stundenzahl im Französischen wird das Heft gute Dienste
tun. — Viel weitergehende Ansprüche suchen die folgenden zwei Anthologien zu be-
friedigen: Einen recht gediegenen Eindruck (schöner Druck, glattes Papier) macht
die Sammlung von E n g 1 e r t. Das Bild, das er in der ersten Auflage von den
Entwicklungsstufen und Haupterscheinungen der neueren Poesie entwarf, will er
vollständiger gestalten durch Neuaufnahme von Autoren, die erst in den letzten
Zur französischen Lektüre. 673
Jahrzehnten sich zu Ansehen durchgerungen haben (z, B. H6r6dia, Verlaine) oder
durch Vermehrung der Stücke der früher bereits vertretenen und zwar auf Kosten
mancher dem Anfang des 19. Jahrhunderts angehörender Erzeugnisse, die ihres
schwulstigen, rührseligen Inhalts wegen ohne Schaden wegfallen konnten. Der
Titel „Blumenlese des 19. Jahrhunderts" scheidet La Fontaine, A. Chenier, Rouget
de Lisle (den ich auch in dem so vollkommenen Choix von Engwert vermisse) aus;
soll aber der Schüler um ihretwillen sich eine zweite Chrestomathie anlegen? Möge
sich der Herausgeber dieser auf keinen Fall zu vernachlässigenden Autoren bei einer
Neuauflage erbarmen ! Über das Leben und die Schriften der etwa 70 chronologisch
geordneten Dichter berichtet uns eine kurze französische Notiz, Willkommen ist
auch die summarische Einleitung (21/2 S.) über die Lyrik des 19. Jahrhunderts,
von der die bei Rickens Coup d'ceil gemachte Bemerkung gilt. Ein Spezialwörter-
buch fehlt. In seinen Anmerkungen (S. 223 — 246) möchte Englert gleich F. Unruh
(Monatschrift VII, 383) durch Hinweise auf verwandte deutsche und englische
Dichtungen anregend wirken und die Literaturgeschichte unterstützen. In den
Übersetzungshilfen und dem Eifer zu belehren (über die Todesjahre von Schiller
und Goethe S. 233, über die Garonne, S. 235, über Hunnen) geht er zu weit, für die
Schüler ebenso wie für die Kreise außerhalb der Schule, in denen die Sammlung viele
Leser gefunden haben soll. Sie wird sich auch in der jetzigen Gestalt neue Freunde
erwerben. Ihr möge die jüngste Erscheinung angereiht werden, ohne daß jedoch
in die überflüssige Erörterung eingetreten werden soll, welcher von beiden der Vor-
rang gebührt: die Poesies frangaises, die Professor Wershoven 1897 in erster
Auflage unter etwas verändertem Titel bei R. Gaertner veröffentlicht hatte, wollen
uns die Bekanntschaft in erster Linie mit den Gedichten des 19. Jahrhunderts ver-
mitteln, füllen aber zu unsrer Freude die bei Englert gezeichnete Lücke völlig aus.
Für die Auswahl des Stoffes, teils alter und bewährter, teils ganz neuer wertvoller
waren die bekannten Gesichtspunkte: Verwendbarkeit im Unterricht und literarische
Bedeutung maßgebend. Das äußerlich und innerlich sich vornehm präsentierende,
ganz dem Weidmannschen Verlag entsprechende Buch zerfällt in zwei Teile. In
den ersten 32 leichten, der Unterstufe angepaßten Gedichten ist methodischer Fort^
schritt zum Schwereren und ein gewisser inhaltlicher Zusammenhang angestrebt.
Den größeren Raum umfaßt der II. Teil. Mit durchschnittlich zehn oder mehr
Stücken erscheinen La Fontaine, Böranger, V. Hugo und Coppee, dem immer noch
unsre Schule mit zu großer unverdienter Hochachtung begegnet; mit mehreren
Proben treten in der stattlichen Reihe von nahezu 40 zeitlich geordneten Autoren
Th. Gautier, Sully Prudhomme und H^r^dia auf. Weshalb gehört aber neben
Richepin, den talentvollsten Nachfolger Baudelaires, nicht der Meister selbst, und
sind die hervorragenden belgischen Lyriker in der Schar großer und kleiner Talente
Frankreichs nicht eines bescheidenen Platzes würdig? — Sechs Seiten bringen das
Wesentlichste über die Verslehre; zu weit gehen die Erklärungen der Gedichte für
die Unterstufe (z. B. über die Akkusative der Zeit in le jour u. ähnl. St. 1 ; über
cela dit, St. 14, über den Wert eines Sou) da doch die Präparation gemeinsam in
der Klasse geschieht. Der Erwachsene aber, der selbständige Lektüre treibt, vermag
auch in schwierigeren Fällen solcher Hilfen zu entraten.
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 43
674 W. Bohnhardt,
Zur Unterstützung beim Gebrauch der eignen und andrer Gedichtsammlungen
macht Wershoven auf sein Hilfsbüchlein aufmerksam (gr. 8°, VII u. 88 S.,
Weidmannsche Buchhandlung, 1898, kart. 1 M.). Es umfaßt dieselbe Verslehre,
metrische Übersetzungen deutscher und französischer Gedichte, sowie Prosabe-
arbeitungen. Vom anfänglichen bloßen Nacherzählen kürzerer Fabeln schreitet es
zu Inhaltsangaben schwerer Gedichte, endlich zu Aufsätzen über die Stoffe der
Gedichte selbst fort. Von demselben Herausgeber rührt weiter her der Band Na-
polion I"''. Er setzt sich zusammen aus einer Biographie des Kaisers, einer Abhand-
lung von Legouve über den Einfluß, den jener nach seinem Tode auf Geschichte
und Literatur Frankreichs ausgeübt hat, endlich aus 19, Dichtungen von neun
verschiedenen Autoren (darunter Hugos L'Expiation und Lui vollständig), die den
Korsen und seine Taten teils bewundern, teils verdammen. Da bei dieser Be-
urteilung Licht und Schatten ziemlich gleichmäßig verteilt sind, so gewinnt der
Schüler kein einseitiges Bild. Zur Illustration dient ein Tableäu g6n6alogique und
eine französisch geschriebene Erläuterung der fünf beigegebenen Abbildungen (das
dem Primaner aus Taine bekannte Porträt Bonapartes von Guerin, H. Vernets
Napoleon bei Jena, Napoleon in Fontainebleau nach P. Delaroche, der Triumph-
bogen und die Vendomesäule). Am Schluß sachliche Anmerkungen, „Napoleon
in der Dichtung" ist zweifelsohne ein für Prima sehr passendes Thema, das den
Unterricht in der Geschichte vertieft. Referent hat damit seit mehr als einem
Jahrzehnt bei jeder Generation, die er bis zur Reifeprüfung führte, allseitiges
Interesse erweckt. Es seien ihm daher einige Vorschläge erlaubt. Er befürwortet
statt Wershovens chronologischer Anordnung der Gedichte nach den Verfassern
eine solche nach dem Inhalt, An die Spitze würde Hugos weggelassenes „Les
deux tles" zu rücken sein. Dann hätten die Stücke zu folgen, die die Hauptereignisse
im Leben Napoleons behandeln, schließlich die den Mythus darstellenden. Außerdem
wird dem Schüler mit der Anschaffung von zwei Gedichtsammlungen im Preise von
3,30 M. zu viel zugemutet. Die in Frage kommende Lektüre ließe sich mit Leichtigkeit
an der Hand von „Gropp und Hausknecht" erledigen, in dem nur einige belanglose
Stücke von Wershoven fehlen, sie ist gleichfalls mit Engwers Choix möglich, der
merkwürdigerweise gleich Wershovens Po^sies keinen Abschnitt aus dem Epos von
Barthelemy und Mery bietet. Seine beiden Ausgaben muß der Herausgeber ver-
schmelzen im Hinblick darauf, daß unsre Primaner bei der Kürze der Zeit über-
haupt nur die wichtigsten Dichtungen lesen können. Die Neuauflage der Po^sies
möge die größeren Stücke V. Hugos und Lamartines Bonaparte an Stelle einiger
unbedeutender setzen, die ohne Schaden fehlen dürfen. Wershovens Prosastoff,
überhaupt die für Napoleons Leben, für die Entstehung der Legende, für die sich
bekämpfende Kritik der neueren Dichter und Historiker notwendigen geschicht-
lichen Unterlagen liefert der Lehrer durch mündlichen Vortrag oder in Form von
Extemporalien und Diktaten. Mit der Durchnahme der Gedichte ist die Aufgabe
überhaupt noch nicht gelöst. Der Lehrer wird den ganzen gewaltigen Stoff be-
herrschen und die deutsche und englische Poesie heranziehen müssen. So läßt sich
dank der immer reicher anwachsenden Literatur das Thema zur eignen Freude
vertiefen und ausbauen. Einige Veröffentlichungen, die der allgemeinen Aufmerk-
samkeit, die sie in so hohem Maße verdienen, noch zu wenig teilhaftig geworden
Zur französischen Lektüre. 675
sind, mögen dem Neuling auf diesem Gebiete nützen: Professor Dr. Carl
Voretzsch, Gaudys Kaiserlieder und die Napoleondichtung (Preußische Jahr-
bücher, 95 Band, 3. Heft) und Paul Holzhausen, Heinrich Heine und
Napoleon I. (Diesterweg, Frankfurt a. M. 1903). Die zur Charakterisierung und
zum Verständnis der Dichtungen nötigen Bilder, die recht reichlich heran-
zuziehen wünschenswert ist, wird man den Schülern aus dem Prachtwerk von
Armand Dayot, Napoleon I. in Bild und Wort, übertragen von 0. Marshall
von Bieberstein (Leipzig 1897, H. Schmidt u. Günther) oder aus J. T. Herbert
B a i 1 y Napoleon, illustrated with prints from contemporary and other portraits (London
1908, The Connoisseur Magazine) vorführen. Diese und ähnliche Werke, die in der
Bibliothek keines Neuphilologen fehlen dürften, der sich eingehender mit Napoleon
beschäftigt, erhöhen bei dem Schüler das Verständnis und den Genuß dieser Lektüre.
Unter den aufgeführten Gedichtsammlungen hatten wir die Genugtuung, einige
ganz achtungswerte Leistungen verzeichnen zu können. Im allgemeinen bestätigen
auch sie das in Monatschrift VH, S. 385 gefällte Urteil. Fast alle sollten größere
Beschränkung in den Anmerkungen erstreben, sich auch ablehnender verhalten
gegen Dichter wie Coppöe, die ungeachtet der wiederholt geäußerten Bedenken
der berufensten Literarhistoriker und Schulmänner sich noch breit machen. Zum
Schluß noch einen Wunsch, Es möge für die nächste Zeit in der Massenproduktion
ein Stillstand eintreten, damit die Anthologien erst ihre praktische Prüfung be-
stehen können.*) Fast scheint es — und das wäre nicht zum letzten im Interesse
der die Anstalten wechselnden Knaben zu bedauern — als ob einzelne Schulen
es für eine Ehrensache halten, aus ihrem Schoß für den eignen Gebrauch Gedicht-
sammlungen erwachsen zu lassen.
Als Ergänzung zu der Sammelbesprechung Monatschrift VII, S. 328 ff. darf
man hier anreihen : Die Chrestomathie derfranzösischen Lite-
ratur des 17. Jahrhunderts von Professor Dr. Fr. K 1 i n c k s i e c k,
das Seitenstück zu der des 19. Jahrhunderts. Sucht sie auch ihre Leser in erster
Linie unter den Studierenden und Freunden der französischen Literatur überhaupt,
so möchten doch manche ihrer leichteren philosophischen, literaturhistorischen und
naturwissenschaftlichen Stücke angemessene Lektüre für eine gute Oberprima einer
Realanstalt bilden. Wir denken z. B. an Saint- Evremond, den Vorläufer Montes-
quieus {Reflexions S. 142) oder Malebranche (Entretiens sur la mäaphysique S. 75).
Jedenfalls ist die Sammlung für den Lehrer nicht ohne Bedeutung als Nachschlage-
buch und durch den Umstand, daß viele Autoren allerersten Ranges selbst auf
unseren Universitätsbibliotheken nur schwer zugänglich sind. Überdies dürfte sie
die erste wirklich wissenschaftliche in Deutschland sein, die sich ausschließlich mit
Frankreichs Literatur im 17. Jahrhundert befaßt. Bei der Auswahl der aus den
besten Quellen geschöpften Texte bestimmten Klincksieck — mutatis mutandis —
dieselben Gesichtspunkte wie in der älteren Chrestomathie.
Sein Bemühen, die charakteristische Seite eines jeden Schriftstellers zur Geltung
zu bringen, tritt recht deutlich bei La Fontaine hervor, dessen Vielseitigkeit man
*) Inzwischen ist, „um dem Mangel an guten Gedichtsammlungen abzuhelfen",
eine neue von Paßmann <S Voß, Hannover 1909, Carl Meyer, erschienen.
43*
676 W. Bohnhardt,
in Deutschland noch längst nicht gerecht wird. Während die meisten Sammlungen
sich mit dem Abdruck der ersten sieben Bücher seiner Fabeln begnügen, kommen
hier durch Proben aus den letzten die ganze Schärfe des Satirikers und auch die
lyrische Kraft des Fabeldichters zum vollen Durchbruch. Kurz veranschaulicht
wird die Entwicklung des Romans in seinen wichtigsten Phasen an Beispielen aus
d'Urf^, Scarron, Fureti^re und M^e de Scud^ry (deren Abschnitt aus Clelie durch
den bekannten Farbendruck „Carte de Tendre" geschmückt ist); die berühmten
Vertreter des Briefstils kommen in den interessantesten Partien zum Wort. Weshalb
ist auch diesem Buch, das jede französische Literaturgeschichte erläutern und ver-
tiefen wird, kein Kommentar angefügt? Es hinterläßt in uns das Bedauern, daß
wir nicht einen ganz kleinen Teil der uns auf der Oberstufe zur Verfügung stehenden
Zeit der Lektüre seines mannigfaltigen und gedankentiefen Inhalts widmen können.
La Fontaine, der wie angedeutet wurde, ein ganz vorzüglicher, noch zu wenig
geschätzter Lesestoff ist, auch einem weiteren Publikum und daneben den Mittel-
und Oberklassen höherer Schulen lieb und wert zu machen, setzt sich OttoKötz
zum Ziel, Eine wissenschaftliche Ausgabe gleich der seinen ist Bedürfnis, seitdem
die ehemals trefflichen von Laue und Lubarsch überholt und im Buchhandel kaum
mehr erhältlich sind. In der Wertschätzung des Dichters und in den Grundsätzen
für die Auswahl begegnet sich Kötz mit Klincksieck. Auch er hat die bedeutenden
Stücke aus Buch 8 — 12 herangezogen und zwar nach dem Text der Ausgabe in
den Grands Ecrivains. Voraus geht den etwa 60 Nummern die Preface de La Fon-
taine als bezeichnend für des Dichters eigne Auffassung vom Wesen der Fabel.
88 Seiten Einleitung berichten über sein Leben, seine Werke und seine Stellung in
Deutschland. Der Kommentar von 108 Seiten (in einer Falte) ist mit Rücksicht
auf den außerhalb der Schule stehenden Leserkreis nach hohen Gesichtspunkten
verfaßt. An der vorzüglichen Ausgabe wird keiner, der sich eingehender mit der
französischen Fabel beschäftigt, achtlos vorübergehen können. Mit ihr vermag sich
naturgemäß Band 54 der französisch-englischen Klassiker-Bibliothek von J. Bauer
und Th. Link nicht zu messen, da Dr. L. A p p e 1 seine Auswahl auf die drei ersten
Bücher beschränkt. Ob die französisch geschriebenen Erklärungen der veralteten
und selteneren Ausdrücke des Dichters bei dem der ganzen Sammlung eignen fran-
zösisch-deutschen Wörterbuch am Platze sind, bleibe dahingestellt.
Den Schluß dieses Abschnittes bilde ein Hinweis auf die Auswahl aus
V. Hugo: Gedichte, Dramen (nur Akt V. aus Ruy Blas) und Romane (kaum
30 Seiten). OskarWeissenfels war sich der schwierigen Aufgabe, von einem
so fruchtbaren und so wandlungsreichen Autor durch eine knapp bemessene Aus-
wahl ein vollständiges und klares Bild zu geben, wohl bewußt. Er hat sie ge-
schmackvoll und mit feinem Verständnis gelöst. Das schließt nicht aus, daß mancher
Fachgenosse in diesem oder jenem Fall lieber eine andre Probe als charakteristischer
für die Form von Hugos Dichtungen gesehen hätte. Die Vorbemerkungen zu den
einzelnen Stücken und die sehr lesenswerte Einleitung (48 Seiten) ermöglichen es
dem Leser, sich aus diesen Teilen ein Ganzes zusammenzusetzen und erleichtern
zugleich dem Lehrer die Vorbereitung für die Klasse. Die sich auf das nötigste
beschränkenden sachlichen Anmerkungen sind gut geraten. So lockt in allen Einzel-
heiten die schöne Ausgabe zu einem Versuch auf Oberprima.
Zur französischen Lektüre. 677
2. Neue Sammlungen von Schulausgaben.
Französische Schriftsteller aus dem Gebiete der Philosophie, Kulturgeschichte
und Naturwissenschaft. Herausgegeben von Prof. Dr. J. R u s k a. Heidelberg 1907.
Carl Winters Universitätsbuchhandlung.
1. Band: Jouffroy, Th., Mäanges philosophiques. Auswahl mit An-
merkungen von Prof, Dr. E. Dannheisser. 8«. 134 S. In Leinwand geb. 1,60 M.
2. Band: Descartes, Ren6, Discours de la Mähode. Mit Einleitung
und Anmerkungen von P. Ziertmann. 8". 120 S. geb. 1,60 M.
3. Band: T a i n e , H., Philosophie de l'art (premi^re partie). Mit Einleitung
und Anmerkungen von Dr. M. Fuchs. Mit 8 erläuternden Abbildungen, 8^ 121 S.
geb. 1,60 M.
4. Band : Montesquieu, De l'esprit des lois. Auswahl mit Einleitung
und Anmerkungen von Dr. K. Schewe. 8". 124 S. geb. 1,60 M.
Diesterwegs Neusprachliche Reformausgaben. Herausgegeben von Prof. Dr.
Max Friedrich Mann. Frankfurt a. M. 1908. Moritz Diesterweg.
1. Band: G o b i n e a u , Les Amants de Kandahar, annotes par M. F. Mann.
8». 59 S. und Annotations in Sonderheft 16 S. geb. 1,20 M.
3. Band :Ar^ne,Paul, Contes de Provence, choisis et annotes par L. Petry.
72 S. und Annotations 56 S. geb. 1,60 M.
4. Band : Gobineau, La guerre des Turcomans, annot^e par M. F. Mann.
64 S. und Annotations 24 S. geb. 1,40 M.
5. Band : Contes de France, Recueil pour la Jeunesse. Annot6 par
A. Robert Dumas et Ch. Robert Dumas. 62 S. und 44 S. Annotations. geb. 1,20 M.
Die Ausgaben B ohne Kommentar sind 0,20 M. billiger.
Violets Sprachlehrnovellen:
1. Band: L a g a r d e , L., La lutte pour la vie. Nouvelle syst^matiquement
r^dig^e pour servir a l'^tude de la langue pratique, des moeurs et des institutions
fran^aises a l'usage des ecoles et de l'enseignement priv6. Avec un appendice:
Notes explicatives. Stuttgart 1906. W. Violet. VIII und 144 S. Anmerkungen
gesondert 29 S. geb. 1,80 M.
3. Band : Toreau de Marney, Toujours Pret. Avec un abr6g6 de
grammaire et un vocabulaire fran^ais-allemand. Stuttgart 1907. W. Violet. 97 S.
geb. 1,20 M.
Von allen Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Schullektüre hat die R u s k a -
sehe Sammlung das allseitigste Interesse erregt, und mit Recht ist ihr eine pro-
grammatische Bedeutung beigelegt worden (Vorwort zu Band 1). Es ist über-
flüssig, die so lebhaft erörterten Anschauungen, denen sie ihr Entstehen verdankt,
hier ausführlicher zu entwickeln. Wenige bekannte Sätze genügen zum Verständnis.
Wenn die Oberrrealschule gleich dem Gymnasium und Realgymnasium auf wirk-
liche Durchbildung des Geistes und Denkvermögens hinarbeiten soll, so haben in
ihr die lebenden Sprachen die erziehende Rolle zu spielen, die am Gymnasium den
klassischen obliegt. Die Beschäftigung mit den großen Dichtern und Philosophen
Frankreichs und Englands soll daneben den Sinn der Schüler, die sich für tech-
678 W. Bohnhardt,
nische Fächer vorbereiten und später bei der Ausübung dieses Berufes allzu leicht
Kunst und Poesie vernachlässigen, für das Hohe und Schöne erwärmen. Gerhard
Budde, der durch seine beiden philosophischen Lesebücher für den französischen
und englischen Unterricht die Aufnahme der Philosophie geradezu als ein Fach
in der Schule fordert, ist am weitesten gegangen. Seine ideale Forderung, die für
das große Publikum und Theoretiker unter den Neuphilologen zweifelsohne viel
Verführerisches hat, ist mit der Praxis, die mit anderen Faktoren zu rechnen hat,
schwerlich in Einklang zu bringen. In maßvolleren Grenzen hält sich Prof. Ruska,
der nun das, was er in Wort und Schrift eifrig — und mehr oder weniger über-
zeugend — verfochten hat, in die Tat umsetzt. Seine Sammlung will nachweisen,
daß die neueren Sprachen durch die Lektüre nicht nur philosophischer, sondern auch
kulturgeschichtlicher und naturwissenschaftlicher Schriften diese humanistische
Bildung auf der Öberrealschule zu übermitteln in der Lage sind. Das Unternehmen
fand die Billigung des badischen Oberschulrats und mancher hervorragender
Pädagogen. So von P. Cauer, „nicht allein wegen des guten Grundgedankens,
sondern auch wegen der Art, wie die einzelnen Stücke für den Schulgebrauch be-
arbeitet sind", vor allem auch deshalb, weil mit der verderblichen Herrschaft der
SpezialWörterbücher gebrochen ist. Den Kommentar ersetzen Fußnoten, aber solche
sind von gewissen Aufsichtsbehörden seit langem untersagt (wie z. B. das Rheinische
Provinzial-Schulkollegium nur die B-Ausgabe von Velhagen u. Klasing zuläßt).
Außerdem ist diesen Noten — und wir sind in diesem Standpunkt noch extremer
als Cauer — der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie allzureichlich und ohne Grund
die dem Lexikon fertig zu entnehmende Übersetzung der Vokabel mundgerecht
liefern, während doch Cauer bei ihrer nicht sofort durchsichtigen Bedeutung die
Schüler durch verständiges Nachschlagen und Überlegen zu einer tieferen psycho-
logischen und historischen Erfassung der Sprache führen möchte. Im Interesse
der Einführung der Bändchen auch in rheinischen Anstalten empfiehlt sich also
weise Beschränkung in den Fußnoten und ihre Zusammenfassung am Ende oder
in einem Sonderheftchen. Die vier Ausgaben lassen schon einen Schluß auf die
Gesamtrichtung und den Wert des Ganzen ziehen; sie erwecken Wohlgefallen an
sich durch das handliche Format von der Größe und Farbe der Rengerschen, den
deutlichen und äußerst sorgfältigen Druck. Ein Verzeichnis der Wort- und Sach-
erklärungen erleichtert das Nachschlagen. Ruska hat sich, wie es bei einem so ge-
diegenen Unternehmen selbstverständlich ist, einen Stab tüchtiger Fachleute als
Mitarbeiter an die Seite gestellt. Und nun zur Prüfung ihrer Verwendbarkeit in
der Klasse! Ein begeisterter Lobredner ist Band 1 und 3 in Otto Driesen (Zeit-
schrift für französische Sprache und Literatur, Band 33; Heftl und 2 der Referate
und Rezensionen S. 105 ff.) erstanden. Seinen Ausführungen stimme ich im all-
gemeinen zu bis auf e i n e. Er findet für den Augenblick noch Schwierigkeiten darin,
daß die Gymnasien wohl dem Stoff, aber nicht der Sprache gewachsen sein werden
und daß den Realanstalten das Bezwingen der Form leichter fallen werde als die
Aneignung des Inhalts. Langjähriger Unterricht auf der Oberstufe des Gymnasiums
wie des Realgymnasiums hat mich felsenfest überzeugt, daß die klassischen Sprachen
die Gymnasiasten befähigen, trotz geringerer Stundenzahl auch die schwierigsten
französischen Autoren schnell und sicher zu erfassen und gewandt zu übertragen.
Zur französischen Lektüre. 679
Driesen betrachtet es als ein Zeichen guter Vorbedeutung für die Sammlung, daß
Ruska für den Philosophen Jouffroy (Band 1), der die Jugend durch seine edlen
Gedanken gewaltig zu packen weiß und durch klare, farbenprächtige Sprache und
meisterhafte Darstellung hinreißt, keinen geistesverwandteren Herausgeber als
Dannheißer sich wählen konnte. Aus den Mäanges philosophiques sind verständnis-
voll sieben Kapitel genommen, das achte „Comment Jouffroy devint philosophe"
wird am meisten interessieren. Knapp zwei Seiten geben über des Autors Leben
und Schriften Aufschluß. An die Bewältigung nur der Hälfte des Textes (132 S.)
ist in einem Semester nicht zu denken. Nur wenige Druckfehler fielen auf
(85, 1; 128, 30; 129, 10; undeutlich le in 65, 11). — Ein außerhalb unsres üblichen
Schulbetriebes liegendes Gebiet hat in No. 3 M. F u c h s betreten. Bei der wachsen-
den Bedeutung der bildenden Künste für die moderne Kultur hält er es für eine
Pflicht und Notwendigkeit, unsre reifere Jugend mit diesem wichtigen Faktor
unseres Geisteslebens bekannt zu machen. Taines Lehre vom Wesen der Kunst,
sein genialer Versuch, jede Kunstform aus ihrem Milieu zu erklären, wird auch
unter Primanern auf empfängliche Gemüter stoßen, zumal Fuchs ihrem Gesichts-
kreis ferner Liegendes beiseite läßt. Die Ausgabe setzt sich zusammen aus einer
Einleitung (S. 7 — 16) über Taines Leben und Schriften und seine Kunstphilosophie,
aus zwei Kapiteln Text und einem Anhang (111 — 119), darin u. a.: Rubens und
die vlämische Malerei; die Mediceergräber Michel Angelos, die Seele des Menschen
im Mittelalter, in der Renaissance und in der Neuzeit. Zum Beleg des geschriebenen
Wortes sind acht gediegene Nachbildungen dem Bändchen angefügt (die erwähnten
Gräber, das Innere der Sainte Chapelle zu Paris, Rubens vlämische Kirmes usw.).
Noch mehr Anschauungsmaterial heranzuziehen ist natürlich wünschenswert. Zu
viele Vokabeln in den Fußnoten erleichtern die Präparation; ein Druckfehler (63, 25).
Vielleicht darf von uns hingewiesen werden auf die autorisierte Übersetzung von
Taine (2. Aufl., Jena 1907, Eugen Diederichs, geb. 9,50 M.). Der von dem Erfolg
seiner Anthologie des prosateurs frangais in guter Erinnerung stehende Herausgeber
bietet eine prächtige, streng wissenschaftliche Gabe. Von einem guten Lehrer
erklärt wird dieses Bändchen Taine einer verständigen Prima Freude machen.
Über die Ausschnitte ausMontesquieusD^ l'esprit des lois spricht sich
K. Schewe im Vorwort aus; als Leser der Leben und Werke des Philosophen be-
handelnden Einleitung (S. 9 — 34) ist wohl nur der Lehrer gedacht. Bei der Auswahl
des Textes galt es vor allem, durch Zusammenrücken der wesentlichsten Teile die
verloren gegangene Einheit des Werkes wiederherzustellen. Auf die geringfügigen
Abweichungen der Syntax und Wortbedeutung von der heutigen machen die Fuß-
noten aufmerksam. Warum ist aber der Trait d'union nach tr^s beibehalten, den
doch das D^scör/^s- Bändchen unterdrückt hat? Zahlreiche grammatische Bemer-
kungen sind zu streichen {distinguer d'avec, esp^rer de u.a., die auch in Band 2 fehlen;
die Erscheinung S.82, A.2 soll sich der Primaner durch eignes Nachdenken deuten),
einer Aufklärung über Domitian zu 79, 3, die übrigens schon 70, 13 am Platze
gewesen wäre, bedarf es nicht, wohl aber über Gravina 48, 22 u.49, 9. Druckfehler
wurden bemerkt (41, 8, 43, 4, 122, 7. 21 A. lies der priface); der Verfasser der
Citi antique ist überall (S. 20 Text u. a. nebst Glossar) Coulanges zu schreiben.
Der Esprit des lois, der nachhaltig die Historiker der Romantik und Taine be-
680 W. Bohnhardt,
einflußt hat, ist nicht rein philosophischen Charakters, den in das Ganze Abwechslung
bringenden geschichtlichen Abschweifungen wird es zu danken sein, wenn die Aus-
gabe in der Hand eines philosophisch geschulten und geschickten Lehrers die Schüler
auf längere Zeit zu fesseln vermag. Weise Auswahl aus den beinahe 90 Seiten ist
aber geboten.
Sehr starke Zweifel beschleichen uns über die Verwendbarkeit von Band 2
im Unterricht. Schon vor Jahrzehnten ist der Versuch, Descartes in der Schule
einzubürgern gescheitert. Heute liegen die Verhältnisse nicht viel anders. P. Ziert-
mann empfiehlt den Discours de la methode als eine treffliche Einführung in philo-
sophisches Denken und hat den deutschen Text außerhalb der Schule mit seinen
Primanern (wahrscheinlich in einem philosophischen Kränzchen) besprochen. Wir
möchten von Erfahrungen mit der französischen Ausgabe Inder Schule
hören. Die Lektüre von Descartes bedeutet ohne Frage eine offenkundige Ver-
kennung der vielen Aufgaben, die der französische Unterricht in vier wöchentlichen
Stunden auf der Oberstufe der Realanstalten zu leisten berufen ist. Diese Lektüre
erfordert, um nur Einiges hervorzuheben, die Zurücksetzung der klassischen Meister-
werke, vornehmlich Moli^res, der großen Historiker, der neueren Lyrik u. a., wenn
in dem Zeitraum von zwei Jahren auf Prima mindestens zwei Tertiale der Be-
handlung rein philosophischer Schriftsteller geopfert werden. Wie kommt ferner
in der Lektüre von Descartes die für eine moderne Sprache so wichtige formale
Seite zu ihrem Recht? Wie kann sie dem Aufsatz dienen, wie Stilgefühl wecken?
Jeder Lehrer der Realprima bedauert die geringen Erfolge, die trotz jahrelangen
Hinarbeitens im Aufsatz erreicht werden, und niemand wird leugnen, daß die schwer-
fällige, altertümliche Sprache des Philosophen in dieser Hinsicht nur schädlich wirken
kann. Ziertmann war sich ähnlicher Einwürfe gewärtig. Wie begegnet er ihnen?
Unsern Schülern traut er genügend Kentnisse im Neufranzösischen zu, um sich
solchem Einflüsse entziehen zu können und zweitens hofft er, sie durch diese Ab-
weichungen vielmehr zu anregenden Vergleichen und Ausblicken in die Entwicklung
der Sprache anzuleiten (!), überdies hält er die Interpretation in der Fremdsprache
durch den Lehrer für wünschenswert. Darauf möge die Antwort mit zwei Fragen
gegeben werden. 1. An welchen Anstalten findet er so tüchtiges Schülermaterial?
2. In welcher Zeit denkt er sich die Umformungen in die heutige Sprache möglich,
wieviel braucht er z. B. um die ganze, eine Periode bildende S. 92 zu zerlegen,
erklären und in Münchs Sinne zu übertragen? Die exakte deutsche Interpretation
ist nach unsrer Ansicht der einzig mögliche Weg zum richtigen Erfassen eines so
tief angelegten Werkes, bei welchem jede einzelne Stelle und jeder einzelne Begriff
klar geworden sein muß. Dies Zugeständnis macht selbst Walter in seiner neuesten
Methodik (Marburg 1909, H. G. El wert, S. 46), fügt aber hinzu, daß er Ober-
primaner einer Oberrealschule sich n u r in englischer Sprache über philosophische
Fragen aus Herbert Spencer habe fließend und zusammenhängend ausdrücken
sehen. Die Behandlung einer hochliegenden Lektüre nach der extremen Reformer
Methode, zu der sich dann auch Ziertmann bekennt, sind und bleiben Ausnahmen,
sie heißt die Leistungsfähigkeit der Lehrer und Schüler überschätzen. Solche Resul-
tate sind unmöglich bei dem häufigen Lehrerwechsel, den manche Schülergenerationen
erfahren. Bei dem heutigen Betrieb vermag mit dem besten Willen der vielbeschäf-
Zur französischen Lektüre. 681
tigte Neuphilologe, der sich stets im fremden Idiome fortbilden soll, sich nicht auch
die erforderlichen philosophischen Kenntnisse anzueignen oder aufzufrischen, wie
sie die kunstvolle Lektüre Descartes erheischt. Man erinnere sich weiter, daß ge-
wichtige Stimmen, wie die Oskar Jägers laut geworden sind, die sich bei der knapp
bemessenen Zeit und der ungemeinen Schwierigkeit der lehrhaften Behandlung
philosophischer Gegenstände von einer Lektüre selbst Schillers philosophischer
Schriften im Deutschen wenig Ersprießliches versprechen. Sind überhaupt viele
Schüler an sich für einen solchen Unterrichtsgegenstand befähigt? Uns scheint
vielmehr natürlich, daß das Vorwiegen von mathematisch-physikalischen und natur-
wissenschaftlichen Problemen aller Art auf der Oberrealschule in den Schülern ein
Bedürfnis nach Abwechslung und einen gewissen Heißhunger in der Lektüre der
neueren Sprachen nach anderer Kost erzeugt. Ruskas Sammlung sollte daher
historische, literarische, kulturgeschichtliche, ästhetische Schriften mehr bevorzugen.
Das Herausarbeiten des Gedankeninhalts erklärt Geheimrat Matthias (Praktische
Pädagogik, 2. Aufl., S. 47) auch für eine erhebliche und wertvolle Leistung und an
modernen Autoren, an denen diese Geistesarbeit geschehen kann, haben wir eine
solche Fülle, die einen Verzicht auf Descartes sehr wohl zuläßt. Zu unserer Freude
sehen wir in allerletzter Stunde uns in den gegen ihn erhobenen Bedenken durch
Münch gestützt, der in einer Besprechung Buddes (Monatschrift VHI, 114) fürchtet,
daß in der philosophischen Lektüre die Schüler weder Philosophie noch Französisch
lernen. — Die Aussetzungen waren grundsätzlicher Art, Ziertmanns Ausgabe gebührt
wegen ihrer Gründlichkeit und Sachkenntnis alles Lob. Ohne Schaden dürfen die
Fußnoten gekürzt werden, für eine neue Auflage mögen einige Druckfehler gekenn-
zeichnet werden (36, 8. 50, 5. 55, 8. 89, 13. 89, 29). Alles in allem: ob durch die
Lektüre eines rein philosophischen Schriftstellers der französische Unterricht, in
welchem auch wir eine stärkere Betonung der inhaltlichen Seite dringend wünschen,
gehoben werden kann, bleibt sehr fraglich. In der Theorie gehören alle vier Bändchen
nach Oberprima. Soviel ist sicher, für den Augenblick hat mit der Ruskaschen
Sammlung die neusprachliche Lektüre einen gewissen Höhepunkt erreicht.
Eine neue Sammlung seit Herbst 1908 ! Diesterwegs Neusprach-
liche Reformausgaben als Seitenstück zu seinen deutschen Schulaus-
gaben. Gleich Ruska will der Herausgeber, Professor Dr. Max Friedrich
Mann, den Nachweis liefern, daß die dem neusprachlichen Unterricht zu Gebote
stehenden Bildungsmittel denen der klassischen Sprachen „mindestens gleichwertig"
sind. Die Sammlung richtet in erster Linie ihr Augenmerk auf bisher in Schul-
ausgaben nicht veröffentlichte Stoffe, sie gedenkt die Meister der Gegenwart und der
jüngsten Vergangenheit der Jugend zuzuführen, berücksichtigt besonders die An-
fangslektüre und will nicht zuletzt die Anforderungen befriedigen, die die Neuordnung
des höheren Mädchenschulwesens an die neusprachlichen Lehrmittel stellt. Soweit
in kurzen Worten ihr Programm. Die Kommentare im Sonderheftchen nebst Glossar
der erklärten Vokabeln sind einsprachig gemäß dem Verfahren, das Mann zuerst
in seiner Cäsar-Ausgabe befolgt hat. Die Ausstattung der dauerhaft gebundenen
bordeauxroten Bändchen (etwas größer als die Velhagenschen), der große und sorg-
fältige Druck (nur in Band 4 fiel S. 10, 21 ne statt en auf) sind mustergültig. Der
kaum 70 Seiten zu 30 Zeilen überschreitende Umfang gestattet die Durcharbeitung
682 W. Bohnhardt,
in einem Semester. In Band 1 und 4 nimmt Mann den bereits 1904 von Professor
Völcker-Köln in seiner Ausgabe des Alexandre (siehe „dramatische Lektüre) ge-
machten Versuch wieder auf, den Schüler mit Gobineaus Lebensarbeit vertraut zu
machen durch zwei Stücke aus seinen Nouvelles asiatiques, in denen der Niederschlag
seiner Rassenphilosophie deutlich erkennbar ist. Auf neun Seiten Einleitung skizziert
er Gobineaus Leben, die Stellung, die seine Werke sich seit einem Jahrzehnt in
Deutschland errungen und hebt Prof. Schemanns erfolgreiche Bemühungen um die
Begründung der Gobineausammlung hervor. In Les Amants de Kandahar ist das
uralte und beliebte Motiv von Romeo und Julia auf orientalische Verhältnisse über-
tragen und zu einer tiefergreifenden Geschichte verarbeitet. Auch hier werden die
Liebenden, die durch den Zwist der Familie getrennt sind, im Tode vereint. Für
den köstlichen Humor und die feine Ironie des Denkers und Dichters in La Guerre
des Turcomans (Band 4) wird der Schüler nicht in dem Maße empfänglich sein
wie der Erwachsene. Inhalt und Darstellung der uns ganz fremden Kultur mutet
zu seltsam an. Wer die Vorzüge entbehrt, etwas vom Orient zu kennen und Go-
bineau zu lieben, dem ist die Lektüre nicht allzu sehr anzuraten. Bei aller persön-
lichen Hochachtung vor Gobineau glaube ich daher die beiden sich durch leichte
und elegante Sprache auszeichnenden Novellen für eine statarische Lektüre ablehnen
zu müssen. Schüler der Oberstufe mit Zeit und Verständnis werden an der Privat-
lektüre Genuß haben; sie wird übrigens durch die Übersetzung bei Reclam erleichtert.
— Es ist nicht reizlos, aus dem fernen Osten ohne Zwischenstation gleich in den
äußersten Westen zu schweifen. Durch Band 3 macht uns P. A r ö n e , der Freund
und Mitarbeiter von A. Daudet, mit acht Erzählungen in der Provence heimisch.
Sie entwerfen in anspruchsloser Weise humorvolle Bilder vom kleinstädtischen Leben
und von kirchlichen Volksgebräuchen oder geben die in Südfrankreich so beliebten
Legenden wieder; in fast allen Geschichten läßt sich ein gewisser Zug zum Alter-
tümlichen fühlen, das Hauptmerkmal aller Landschafts- und Heimatkunst. Leichter
Stil und echt französische Ironie. Eine kurze Lebensbeschreibung orientiert über
den Verfasser. L. Petry schlägt, wie uns dünkt mit Recht, diese zum Teil recht
frischen und herzhaften, zum Teil auch etwas gesuchten Stoffe als rasche Lektüre
für die Oberstufe vor. Bisweilen mißglückt den Herausgebern im Kommentar, der
nicht allzuselten die Selbsttätigkeit der Schüler auf ein höheres Niveau erheben
könnte, die Umschreibung der zu erläuternden Ausdrücke. In der Erklärung selbst
müssen doch unbekannte Worte vermieden werden. (So in Heft 3: S. 35, 22 massue
— bäton noueux; 45, 24 blutie — tris fine, comme passie dans le blutoir und öfter;
35, 25 sind einige Vokabeln erst bei 36,8 umschrieben. Das Lächeln der Primaner
erregt 3, 22 die Definition von bouc — male de la chivre.) Einer gründlichen Prüfung
Band 5 zu unterziehen, gebrach es an Zeit. Nach Manns Unterrichtserfahrung
haben sich die 7 Contes de France eindrucksvoll auf jugendliche Gemüter bewiesen.
Sie sind einfach geschrieben und sollen frei von den aufdringlichen Moralisationen
der gewöhnlichen französischen Kindergeschichten sein. Zum erstenmal hören auch
die Untertertianer von den großen Namen Rabelais und Comines in den Erzählungen.
Perrault wird sie fesseln. Unverständliche und veraltete Ausdrücke sind durch mo-
derne ersetzt. Die Aufnahme von Stoffen gerade für die erste Lektüre, an denen
ziemlicher Mangel herrscht, ist ein verständiger Gedanke des Veranstalters der
Zur französischen Lektüre. 683
Sammlung, und sein Name bürgt uns wohl, daß die weiteren Bände etwas recht
Brauchbares bescheren werden.
Von V i 0 1 e t s in Mustersätzen geschriebenen Sprachnovellen liegen Band 1
und 3 vor. Sie bieten sich als ein Hilfsmittel zur Erlernung der Umgangssprache
an, indem sie die Realien in das Gewand einer „lebensvollen und spannenden" (?)
Erzählung kleiden. Die in Frage kommenden grammatischen Erscheinungen sind
im Text fett oder gesperrt gedruckt. Während La lutte pour la vie mehr Fort-
geschritteneren dienen will, soll Toujours pret, eine zurechtgestutzte moralische
Kindergeschichte von 36 Seiten die Anfänge der Grammatik lehren. Die „Über-
sicht der Sprachlehre" ist eine Fundgrube der merkwürdigsten Vokabeln (z. B.
unter den Substantiven auf -al und ail S. 38 u. 39 oder bei den weiblichen Formen
der Haupt- und Eigenschaftswörter S. 53 u. 54), mit deren Bekanntschaft der Her-
ausgeber den jugendlichen Schüler beglücken zu müssen glaubt, während er die
Formen der unregelmäßigen Verben (S. 44 ff), nicht aufnimmt. Wohl ohne Vorbild
ist das französisch-deutsche Wörterbuch. Neben dem in Teile zerlegten fran-
zösischen Text der Geschichte steht die deutsche Übertragung {mon pere mort,
als mein Vater gestorben war, on m'envoya schickte man mich!!) Die Novellen
mögen an Handels- und Fortbildungsschulen oder im Privatunterricht Nutzen
stiften, an höheren Schulen ist ihr Platz nicht. Einzelne Provinzialschulkollegien
haben sich schon früher gegen ähnliche Versuche ausgesprochen, so wenn wir
nicht irren, gegen die bei Spindler in Leipzig veröffentlichten Lehrstoffe zur Ein-
führung in die Umgangssprache und Lebensverhältnisse des französischen (eng-
lischen) Volkes, obwohl in einigen wie Jours d'^preuve und In the Strnggle of
Life der Gedanke, daß jeder Sprachunterricht auch Sachunterricht sein müsse,
mit mehr Geschick und Geschmack als in obigen Bänden durchgeführt ist.
3. Dramatische Lektüre.
Gobineau, Alexandre le Mac6donien. Tragödie en cinq actes.
Für den Schulgebrauch erklärt von B. V ö 1 c k e r. Leipzig 1904. Rengersche
Buchh. Französische Schulbibliothek, Poesie Band 30. XIXu. 84S. Text nebst
Anmerkungen, geb. 1,10 M.
Trois com6dies modernes. Recueil de commentaires explicatifs preced^s
d'une courte introduction litt^raire par P, B a s t i e r. Berlin 1906. Weidmannsche
Buchhandlung. Band 57 der Schulbibliothek französischer und englischer Prosa-
schriften. 78 S. geb. 1 M.
Chrestomathie dramatique. Extraits relies par des analyses narratives. Pr^cedes
d'une introduction litt^raire et suivis d'un commentaire explicatif par P. B a s t i e r.
Berlin 1908. Weidmannsche Buchhandlung, Band 25 der Schulbibliothek fran-
zösischer und englischer Prosaschriften. XV u. 232 S. geb. 2,20 M.
Rostand, E., La Princesse lointaine, Edition abr^g^e avec notes ä
l'usage des ^coles par F, Kraft et L, Marc band, Leipzig 1907, Renger,
Französische Schulbibliothek, A, Band 31. XV u, 105 S, Text und Notes, geb, 1 M.
Rostand, E., La Samaritaine. Mit Anmerkungen zum Schulgebrauch
herausgegeben von Th^rfese Kempf. Bielefeld u. Leipzig 1906, Velhagen u, Klasing.
684 W. Bohnhardt,
Th^ätre franyais, Lieferung 71. Ausgabe B. XXVI u. 83 S. Text; 24 S. Anhang,
geb. 1 M.
Th^ätre moderne. Mit Anmerkungen zum Schulgebrauch herausgegeben von
F. W. Bernhardt. Bielefeld u. Leipzig 1909. Velhagen u. Klasing. Theätre fran-
9ais, Lieferung 72. Ausgabe B. XXII u. 91 S. In einem Anhange 21 S. An-
merkungen. (Außerdem Wörterbuch), geb. 1 M.
Das durch die Lehrpläne von 1901 (S. 36) in die Schule zugelassene mo-
derne Drama spielt bedauerlich noch eine sehr untergeordnete Rolle.
Außer der überall in Ehren gehaltenen Mademoiselle de la SeigUire erklärt der
vom allgemeinen deutschen Neuphilologentage zusammengestellte Lektürekanon
(Neuere Sprachen XVI.) aus der Fülle der Erzeugnisse des 19. Jahrhunderts höchstens
6 — 7 Dramen für brauchbar. Einerseits harren noch manche wirkliche Perlen der
Auffindung, anderseits wird durch die von dem lebenden Autor verweigerte Er-
laubnis der Herausgabe viel Wertvolles der Schule entzogen (wie es der Bericht-
erstatter an sich mit Rostands Cyrano erfuhr).
Diese Lücken auzsufüllen machen sich mehrere erwähnenswerte Schulausgaben
der letzten Zeit zur Aufgabe. Zunächst soll das Interesse auf eine antike Tragödie
gelenkt werden. Man muß es Prof. V ö 1 c k e r dank wissen, daß er in die Fußstapfen
Schemanns, des opferfreudigen Verteidigers Gobineaus in Deutschland, getreten ist,
indem er dem in Frankreich verkannten, für unsre Kultur begeisterten Dichter und
Künstler auf unsren Schulen Bürgerrecht erwerben möchte. Nach der Lektüre der
streng klassischen Tragödie auf Obersekunda geht Völcker in Unterprima zu der
des Alexandre, als gewisse Fortsetzung und Ergänzung über, denn Gobineau folgt
den Romantikern, indem er durch Nichtbeachtung der Einheiten der Zeit und des
Ortes seinem Stück Bewegung und Leben verleiht, ohne dabei aber mit völliger
Willkür im Sinne V. Hugos zu verfahren. Die Vorzüge des so vielseitigen Mannes
als Dramatiker treten im Alexandre sofort zutage. Bilder und gedankenvolle
Sprache, hohe psychologische Meisterschaft in der Charakterzeichnung des überaus
groß und schön herausgemeißelten Helden, zu dem Gobineau ja im allerinnigsten
Verhältnis steht. Eine der leitenden Lebensideen des Grafen, wie einsam der Große
auf der Erde ist, bildet auch hier den Grundgedanken. Ungeteilten Beifall wird
die Kürze finden, der sich Völcker in den ausschließlich Sacherklärungen bringenden
Anmerkungen, auf bloß 8 Seiten, befleißigt. Willkommen ist die nach dem Drama
zusammengestellte Zeittafel. Als einen ganz glücklichen Griff muß man die Heran-
ziehung Gobineaus bezeichnen, obendrein in einer gediegenen Ausgabe, die aus
reicher praktischer Erfahrung erwachsen ist. Möchte bald ihre Stunde kommen,
namentlich als angenehme Abwechslung für solche Lehrer, die an Anstalten mit
wenig Neuphilologen den französischen Unterricht jahraus jahrein auf der Oberstufe
zu erteilen gezwungen sind.
P. B a s t i e r , Professor an der Akademie in Posen, hat im Band 57 der Weid-
mannschen Sammlung zu drei einaktigen Lustspielen, die zu geringem Preise,
besonders bei größeren Mengen aus Paris zu beziehen sind, kurze Einleitungen
und erklärenden Kommentar verfaßt. Die Stücke rühren von stilistisch sich scharf
unterscheidenden Autoren her. Obwohl eigentlich kein Stoff für die Schule, will
sich Münch Le Village von F e u i 1 1 e t doch gefallen lassen, das sich unseres Wissens
Zur französischen Lektüre. 685
an manchen Anstalten eingebürgert hat. L'CEillet Blanc, ein lever-de-rideau, das
während der französischen Revolution spielt, ist eines der älteren Sachen von
A. Daudet, verrät jedoch bereits dessen hervorragende dichterische Eigenschaften.
Die Blüette Gringoire versetzt uns in die romantische Zeit Ludwigs XL und ver-
mag trotz ihres hohen Alters (aus dem Jahr 1866) durch historisches und
dramatisches Interesse noch immer zu packen. Sie ist V. Hugo gewidmet, der,
wie man weiß, schon vorher dem Helden in seinem Roman Notre Dame eine be-
deutende Rolle zugewiesen hatte. In Gringoire bekommt der Schüler zugleich
eine Ahnung von der den Franzosen eigentümlichen mittelalterlichen Ballade, die
mit dem etwas archaisch gefärbten Stil harmoniert. Wem also die zwei letzten
Dramen noch neu sind, der lasse sich durch die tüchtige Leistung des Kommentars
zu ihrer Lektüre anregen. — Die grundsätzlichen Gegner jeder Art von Chresto-
mathie werden auch die dramatische von P. Bastier nicht besonders
sympathisch aufnehmen. Mit ihrem doppelten Zweck ist" sie nicht ohne gewisse
Bedeutung. Sie beabsichtigt einen abwechslungsreichen und interessanten Lehr-
stoff zu liefern und zugleich in die literarische Komödie des 19. Jahrhunderts ein-
zuführen. Von dieser gewähren jedoch einfache Auszüge aus den Texten keinen
klaren Begriff, und ebensowenig empfiehlt es sich, die Stücke zu einer eigentlichen
Schulausgabe zurechtzustutzen. Bastier verfiel daher auf einen freilich nicht neuen
Ausweg. Er hat aus allen Dramen einige der charakteristischen Teile herausge-
schnitten und von den nicht abgedruckten Akten Inhaltsangaben verfaßt, die eine
Vorstellung von dem Ganzen und dem in ihm pulsierenden Leben gestatten.
A u g i e r. , der größte französische Dramatiker nach Moliere, dem das Lustspiel
überhaupt einen neuen Aufschwung verdankt, eröffnet den Reigen mit Le gendre
de M. Poirier. Auch Münch wird dem Stücke, das ihm wegen des Verhältnisses des
jungen Ehemannes anstößig erscheint, nach Ausmerzung der nicht einwandfreien
Stellen den Eintritt in die Schule nicht mehr versagen, nachdem es auch vor den
Kanonrichtern Gnade gefunden hat. Das von Bastier Aufgenommene ist völlig
harmlos. In Le fils de Giboyer, — von Paul Lindau wegen des Verhältnisses des
entsagungsvollen Vaters zum Sohn „Pelikan" betitelt — steht Augier ohne Zweifel
auf der Höhe des Schaffens, aber es ist mehr als fraglich, ob die deutsche Jugend
für die Behandlung von überlebten Problemen aus der Zeit von 1850 noch Verständ-
nis und Geschmack besitzt, nachdem obendrein die Umwälzungen von 1870 eine
neue Gesellschaft ins Leben gerufen haben. Gewissermaßen im Gegensatz zu den
schwereren Problemen und der einfachen kräftigen Sprache Augiers steht die form-
vollendete geistvolle Konversation P a i 1 1 e r o n s , dessen Milieu der Pariser Salon
ist. Sein Le Monde ou Von s'ennuie, dem Femmes savantes und Prkieuses
ridicules innerlich verwandt, hat sich in der guten, nur unwesentlich gekürzten
Ausgabe von Werner (Velhagen u. Klasing, ThMtre frangais No. 70) bereits einen
Platz auf dem Kanon erobert und verdient in Zukunft größere Berücksichtigung.
Gegen desselben Verfassers Cabotins (das letzte Stück der Chrestomathie), die in
Pariser Künstlerkreise führen und deutliche Neigung zur Satire hervorkehren, fällt
ins Gewicht, da die diesen eigentümlichen jargonartige Sprache dem deutschen
Schüler nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet. Man beachte in den An-
merkungen zu e i n e r Seite Text häufig 8 — 10 sprachliche Erläuterungen oder Um-
686 W. Bohnhardt, Zur französischen Lektüre.
deutungen in die Schriftsprache. Weshalb eine derartige unfruchtbare Lektüre?
Sonst kann man sich an der Chrestomathie erfreuen; die knappen und klaren Ein-
leitungen zu den Stücken, die Analyse der Akte, die verständigen Anmerkungen
verraten den feinen Kenner der französischen Literaturgeschichte des letzten Jahr-
hunderts, als der sich uns Bastier bereits in seiner Studie über ,,V. Hugo und seine
Zeit" vorgestellt hat.
Will die Schule auch von den neuesten Erscheinungen Notiz nehmen, so darf
sie an R o s t a n d nicht vorübergehen. Auf seine Princesse lointaine ist der Neu-
romantiker von all seinen Werken am stolzesten. Die rührende Überlieferung von
demTroubadourJaufre Rudel, der auf seiner Irrfahrt Krankheit, Stürmen und Sara-
zenen mutig die Stirn bietet, um die ferne Geliebte, für die er auf einen Bericht
von Pilgern hin entbrannt ist, nur ein einziges Mal lächeln zu sehen, ist in alter
und neuer Zeit vielen Dichtern ein dankbares Motiv gewesen. Dem Rostandschen
an Stimmungsbildern reichen, „aus himmlischer und irdischer Liebe zusammen-
geschweißten" Kreuzfahrerstück mit der Idee, daß die große Liebe himmelwärts
führt, fehlt die eigentliche dramatische Fabel. Die Fülle der seltenen und archa-
ischen Ausdrücke, die originellen Konstruktionen des Dichters und der ganze In-
halt beschränken die Lektüre des Versdramas, wenn es überhaupt das Placet er-
hält, auf die Oberprima. In der Schulausgabe sind die literarische Einleitung und
die ebenfalls französisch abgefaßten Anmerkungen hervorzuheben; neu ist der
Plan de l'adion (fast 4 S.), der dem Lehrer zugleich die nötigen Ausdrücke für die
Besprechung der Technik des Dramas übermittelt. In den Neueren Sprachen
XIV, 207 ff. und in der Beilage zum Jahresbericht der Realschule zu Worms, Ostern
1907 (No. 818), versucht Dr. Kraft der Schulausgabe die Wege zu ebnen. Seine
metrische Übersetzung der Princesse ist auf Amerika beschränkt, da kurz vor ihrer
Vollendung Fr. von Oppeln-Bronikowski seine von Rostand autorisierte veröffent-
lichte. In La Samaritaine ist die große himmelwärts führende Liebe noch in wört-
licherem Sinne Grundgedanke. Je schwächer die den Mittelpunkt bildende Be-
kehrung der schönen Sünderin motiviert werden kann, desto mehr sucht Rostand
durch ästhetische Mittel die Schwächen zu verhüllen. Zur Füllung seiner Alexan-
driner ist er verstechnisch oft gezwungen, die erhabenen Gedanken der Bibel
durch breitausgesponnene Reden zu verflachen. Ein Drama, in dem Christus auf-
tritt, — als schön gelockter abbe in der Auffassung von Renan, der in glänzenden
Tiraden spricht — (Fr. v. Oppeln-Bronikowski in Westermanns Monatsheften 1907.)
wird wohl für immer vergeblich um Einlaß an unsren Schulen anklopfen. Selten
mag ein Satz in einem Vorwort mehr zum Widerspruch gereizt haben als der von
Th^rese Kempf, „daß die Aufnahme von La Samaritaine nach den aus pädago-
gischen Gründen vorgenommenen Kürzungen in die Sammlung von Velhagen u.
Klasing wohl kaum einer Rechtfertigung bedürfe". Nach diesem grundsätzlichen
Einwand gegen das Stück sei mit Vergnügen zugestanden, daß wir von der Arbeit
Fräulein Kempfs nicht ohne Interesse Kenntnis genommen haben. Die Rolle der
Photine ist für Sarah Bernhardt geschaffen, möge nicht etwa auch das jüngste
für sie zusammengeschriebene Drama La Courtisane de Corinthe, das wir vorige
Ostern „abgesessen" haben, einen Fachgenossen zur Veröffentlichung für die Schule
begeistern !
H. Eichhoff, Das Petit Lycee, angez. von M. Naht. 687
Als Ostergabe von 1909 ging uns schließlich noch Bändchen 72 von Vellhagen
und Klasing zu: Theätre moderne. Drei Einakter in Versen. Zuerst Jean-Marie
von T h e u r i e t. Diese reizvollen Verse voll poetischer Schönheiten behandeln
das Enoch Arden Motiv. Da das an der Küste der Bretagne spielende Stück manche
typischen Züge aus dem Leben ihrer Bewohner wiedergibt, so empfiehlt der Her-
ausgeber als eine wertvolle Ergänzung der Lektüre Bd. 127 Velhagen u. Klasing
{La Bretagne et les Bretons). Weniger psychologische Vertiefung darf man von den
zwei Dramen C o p p 6 e s erwarten. Le Luthier de Cremone, in welchem der jüngst
verstorbene Coquelin ain^ als Darsteller der dankbaren Titelrolle eines buckligen
Geigenkünstlers glänzende Erfolge errang, hat im Auslande Anerkennung gefunden
und ist auch schon bei Weidmann (Bd. I, 20) veröffentlicht. Le Tresor endlich ist
nicht gerade das beste aus der großen Menge der Einakter Copp^es und uns durch die
Reclamsche Bibliothek nicht mehr fremd. Ein auf sein verfallenes Schloß heim-
gekehrter Emigrant findet statt der verborgenen Reichtümer den wahren Schatz in
der ihn heimlich liebenden Nichte seines ehemaligen Lehrers. Man sieht, die Stoffe
sind einwandfrei. Das Wörterbuch und der Anhang mit mancher überflüssigen
Belehrung über Dinge, die der Schüler aus der Grammatik und dem Unterrichte
kennen muß, wollen wir gelten lassen im Hinblick auf die Privatlektüre in 0 II
oder U I, für welche sich die Ausgabe eignet. Der Inhalt mag zu Vorträgen oder
kleinen Aufsätzen verarbeitet werden. Vielleicht beurteilt heute der Altmeister
Münch die neueren Lustspiele in Versen etwas milder, die er (bei Baumeister, Aus-
gabe von 1898) als dem Zwecke der Erlernung der wirklichen Umgangssprache nicht
dienend, abweist.
Düsseldorf. W. Bohnhardt.
b) Einzelbesprechungen:
Eichhoff, H., Das Petit Lycee, zur Vergleichung der Grund-
klassen derfranzösischen Lyceen mit unsern Vorschul-
klassen. Berlin 1908. Trowitzsch & Sohn. 8». 54 S. 0,75 M.
Das Heft behandelt einen Gegenstand, der vielleicht manchem nicht bekannt
ist, auch wenn er im allgemeinen den französischen Unterrichtsverhältnissen Auf-
merksamkeit zugewendet hat. Gleichzeitig versucht der Verfasser, mit der Dar-
stellung der ausländischen Verhältnisse eine Kritik der heimatlichen und Vorschläge
für deren sachgemäße Umgestaltung zu verbinden. Er findet, daß die fünfklassige
Form der französischen Grundschule, ihre rege Verbindung mit der Hauptanstalt
als ein Vorzug anzusehen ist. „Auf breiterer Grundlage als bei uns, in langsamerem
Tempo und mit umfassenderer Berücksichtigung der Ziele der höheren Klassen
können die französischen Schüler auf die Sexta vorbereitet werden." Er ist aber
keineswegs ein bedingungsloser Lobredner der ausländischen Verhältnisse. Im
Gegenteil, er hat an den französischen Einrichtungen mancherlei auszusetzen.
Da alle irgendwie bedeutsamen Verhältnisse, neben der Frage der eigent-
lichen Organisation die Vorbildung, Stellung und Entlohnung der Lehrer, die
Höhe und Art der Zahlung des Schulgeldes, die Zeiteinteilung des Schuljahres,
688 E Bertz, Harmonische Bildung, angez. von E. Grunwald.
die hygienischen Verhältnisse, die Einwirkung auf die Schüler durch das Prinzip
der Schülerehrungen, die Gestaltung der Schulbücher und der sonstigen Lebens-
mittel zur Sprache kommen und kritisch, immer im Hinblick auf die deutschen,
oft im besondern auch auf die Berliner Verhältnisse, gewürdigt werden, bietet
sich auf knappem Räume des Lehrreichen genug.
Pankow. Max N a t h.
Bertz, Eduard, Harmonische Bildung. Ein Buch für die Zeit. Dresden
1909. Karl Reißner. 250 S. 8». 3,50 M.
Die Weltanschauung des Verfassers ist antispiritualistisch und ganz auf den
Satz gestellt: Schafft hier das Leben gut und schön. Aber schon Piaton läßt ja
im Euthyphron durchblicken, daß wahrer Gottesdienst Dienst an den Menschen
ist, und nach Lagarde tut uns weniger not Ideale zu haben als mit diesen Idealen
praktisch Ernst zu machen. Glaubt der eine aus eigner Kraft zu ihrer Verwirk-
lichung imstande zu sein, der andre alle gute und vollkommene Gabe von oben
erwarten zu müssen: das Wesentlichste bleibt doch, daß beide sich strebend be-
mühen, nach Vermögen an der eignen Besserung und der der andern zu arbeiten. So
wollen auch wir diesen erklärten Monisten, der solchen, „die in unsrer innerlich
schwankenden und von Gegensätzen zerrissenen Übergangsperiode den Halt ver-
loren haben, ein Helfer zu klaren Zielen werden" möchte, nicht ohne weiteres
ablehnen, sondern gern anerkennen, daß er unter Schonung jeder ehrlichen Über-
zeugung das Bestehende prüft und seinen Bildungsbegriff und sein Bildungsideal
aufstellt. Harmonische Bildung ist dem Verfasser „die zu voller Reife gediehene
Übereinstimmung des Wollens und Strebens der Persönlichkeit mit den durch die
Wirklichkeit gegebenen Bedingungen alles persönlichen Seins". Wir müssen es
uns hier aber versagen, den Gedankengängen des Verfassers kritisierend oder auch
nur referierend nachzugehen; wir begnügen uns zu versichern, daß eine reiche Fülle
von Beobachtungen, Betrachtungen und Anregungen, die die wichtigsten Probleme
und Aufgaben der Erziehung und des öffentlichen Lebens erörtern oder wenigstens
streifen, das Buch zu einer fesselnden und hochziehenden Lektüre machen. Uns
interessiert vornehmlich des Verfassers Urteil über die heutige S c h u 1 e , in deren
Betrieb und Zielen er manche Hindernisse findet, die seinem Bildungsideal im Wege
stehen. Er beklagt die von ihm auf Examina und Berechtigungswesen zurück-
geführte Überschätzung des Gedächtnisstoffes und Wissens, wünscht das Haupt-
gewicht auf Weckung des Wissenstriebes und Übung der Denkkraft gelegt, fordert,
daß die Schule auf die Utopie der „allgemeinen Bildung" verzichte, daß der Lehrer
weniger Handwerker, aber eine Persönlichkeit sei, tadelt die Überfüllung der Klassen,
die die antisoziale Auslese befördern, wünscht mehr Erziehung des Schülers zur
Selbsttätigkeit, mehr Körperpflege, keinen patriotischen Drill, aber auch nicht
bloß Erziehung für die Zeit, denn „der höchste Bildungsbegriff steht sab specie
aeterni" — u. a. m. Viele Vorschläge des Verfassers werden auch in Fachkreisen
als nicht unberechtigt anerkannt; nicht wenige gehen langsam ihrer Verwirklichung
entgegen, andre stoßen auf finanzielle oder schultechnische Schwierigkeiten, manche
müssen wir aus grundsätzlicher Gegnerschaft gegen die religiöse oder politische
Ansicht des Verfassers zurückweisen. Seine demagogischen Ausfälle gegen den
H. Gruber, Zeitiges und Streitiges, angez. von E. Grünwald. 689
Klassenstaat und den Patriotismus können wir nicht gutheißen, seine Behauptung,
,,daß der Schematismus und Pedantismus der behördlichen Schablone die päda-
gogische Eigenart unterdrücke und unterdrücken wolle", ist einfach ungeheuerlich,
seine Forderung, die Schüler (!) in den klassischen Sprachen — deren hohen Kultur-
wert er nicht verkennt — in zwei bis drei Jahren dahin zu bringen, daß sie die
griechischen und lateinischen Schriftsteller selbständig lesen können, zeugt von
einem rührenden Vertrauen zu der Kunst des Lehrers und der Aufnahmefähigkeit
des Schülers. Aber trotz solchen Entgleisungen bietet das Buch des reiflich Durch-
dachten und Beherzigenswerten genug, um den Verfasser nicht mit den modernen
Schul- und Weltverbesserern in einen Topf zu werfen — wie ich denn nachträglich
noch ausdrücklich auf die wohltuend gesunde Stellung des Verfassers in der Frauen-
frage hinweisen möchte. Die Darstellung ist die eines reich belesenen, hochge-
bildeten Mannes, der philosophisch denkt und gern philosophiert, die Sprache
schön und fließend, am rechten Orte schwungvoll und erhebend. — An Einzel-
heiten ist mir S. 56 das Wort „preislos" aufgefallen; es soll doch wohl eine Über-
setzung des englischen priceless sein, und „unschätzbar" ist an jener Stelle das
passende Wort. Nicht nur in Piatons Theages, wie der Verfasser meint (S. 151),
sondern auch in der Apologie (31 D) sagt Sokrates, daß das Satfiovtov ihm nur
abrate. Das an demselben Orte als Ergebnis des Menon aufgestellte Oeiqi \io(ptf.
Yt^vexai ^ dpsxT] ist natürlich nicht die schließliche Meinung des platonischen
Sokrates, gilt vielmehr nur von dem gewöhnlichen, nicht auf Wissen, sondern
auf der dX>]i')Tj? 86$a beruhenden sittlichen Handeln, das deshalb der Sicherheit
der vernünftigen Überzeugung und des Moralprinzips entbehrt; was der Verfasser
will, wird freilich trotzdem damit bewiesen, daß nämlich Sokrates ein gewisser
Mystizismus eigen gewesen ist.
Gruber, Hugo, Zeitiges und Streitiges. Briefe eines Schulmannes an
eine Mutter. Leipzig 1908. Dürr'sche Buchh. 167 S. 8». 2,40 M.
Den modernen Bildungswirren und Übergängen auch auf dem Gebiete der
weiblichen Erziehung stehen selbst gebildete und verständige Mütter nicht selten
ratlos gegenüber: sie würden sich einem kundigen Führer durch die Aufgaben,
Wege und Ziele der Mädchenerziehung und Mädchenbildung dankbar anvertrauen.
Und wenn diese Führung noch dazu ohne aufdringliche Systematik, unter Ver-
meidung aller Fachterminologie, in fesselnder, durch Beispiele gestützter und be-
lebter, womöglich durch Humor und Geist gewürzter Form geschähe, so hätten
wir ein nützliches und willkommenes Hausbuch mehr. Von dem Ideale eines solchen
Buches scheint mir das Grubersche doch nach Inhalt und Form noch weit ent-
fernt zu sein. Allerdings wird man nicht verkennen, daß der Verfasser über päda-
gogische Erfahrung verfügt, über wichtige Fragen der weiblichen Erziehung
nachgedacht hat und manch praktischen Wink zu geben weiß, daß einige Kapitel
(wie IX, XX, XXI) viel Ansprechendes und Beherzigenswertes enthalten — aber
das Ganze läßt doch klare Disposition, Folge und Übersichtlichkeit vermissen,
bringt zu viel Selbstverständliches, hebt das Wesentliche nicht immer nachdrück-
lich genug heraus (wie die Pflichten des Hauses der Schule gegenüber, die Erziehung
Monatschrift f. höh. Schulen. VIII. Jhrg. 44
690 H. Stadelmann, Ärztlich-pädagogische Vorschule usw., angez, von A. Matthias.
zur Wirtschaftlichkeit, die unerläßlichen Vorbedingungen für das weibliche Studium:
körperliche Gesundheit, gute Begabung, ausdauernden Fleiß), betont auch
vor allem nicht den natürlichen und wichtigsten Beruf
der Frau und behandelt endlich manche Dinge in einer dem Laien nicht ohne
weiteres verständlichen Weise (z. B. VIII, XXIII — man lese auf S. 141 den mit
„Beruht" beginnenden Absatz), wie es überhaupt an Worten, Wendungen und
ganzen Perioden nicht fehlt, die der Klarheit und Bestimmtheit ermangeln. Zweck-
mäßig wäre übrigens ein gedrängter populär gehaltener Überblick über die Neu-
ordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen gewesen. Was die Form
angeht, so ist für ein leichtes, anmutiges Geplauder, das belehren kann, ohne gelehrt
zu scheinen, der zwanglose Briefstil wohl geeignet; nur vergesse man nicht, daß
dieser, wenn er eine Fiktion ist, eine Kunstform wird, die als solche respektiert
sein will. Etwas doppelt Persönliches muß der Brief an sich haben, und die Be-
ziehung auf den klugen Frager gibt ihm einen eignen Reiz: unser Verfasser vergißt
zuweilen ganz seine Fassade abzuputzen, und wenn er es tut, fällt der Stuck bald
wieder ab. So fehlt vornehmlich seinen „Briefen" der Charme der Intimität, die
künstlerische Formgebung am Anfange und besonders am Schlüsse; ja, es kommt
vor, daß der Schreiber seine Empfängerin ganz aus den Augen verliert und sich
mit internen Schulfragen beschäftigt, die an eine ganz andre Adresse gerichtet sind
(siehe z. B. S. 11, letzten Absatz). Endlich muß das Buch auf Ausdruck und Stil
hin sorgfältig durchgesehen werden,
Berlin. E. G r ü n w a 1 d.
Stadelmann, Heinrich, Ärztlich-pädagogische Vorschule auf
Grundlage einer biologischen Psychologie, Hamburg und
Leipzig 1909. Leopold Voß. VIII u. 291 S. 5 M.
Auf Grundlage einer „biologischen Psychologie", die von Naturwissenschaft-
lichem getragen ist, hat Dr. med. H. Stadelmann, ein Dresdener Nervenarzt, diese
„ärztlich-pädagogische Vorschule" aufgebaut. Er will die Ergebnisse ärztlicher
Erfahrungen der Pädagogik nutzbar machen und anderseits als Arzt sich auf dem
Gebiete der Pädagogik umsehen, um von dort womöglich sich Methoden psychischer
Behandlung für seine Kranken zu suchen. Bei dieser Wanderung auf dem Grenz-
gebiete, das zwischen Medizin, speziell Psychiatrie, und Pädagogik gelegen ist,
kommen ungemein interessante und für die Erziehung ergebnisreiche Beobach-
tungen zur Geltung, die der Schule höchst willkommen sein müssen. Stadelmann
sagt sehr bescheiden, daß er sich bewußt sei, wie der Raum weniger Druckbogen
(es sind doch immerhin ihrer 18) nicht ausreiche für eine ärztlich-pädagogische
Vorschule. Wenn man aber diese wenigen Bogen liest, ist man erstaunt über
die Fülle und Vielseitigkeit des Stoffes, der geboten wird. Ich weise nur hin auf
das 16. und 17. Kapitel: von der Ermüdung, die für Unterricht und Erziehung
eine reiche Quelle von Anregungen bieten. Und nicht nur an Einzelerscheinungen
in Erziehung und Unterricht haftet das Buch. Man braucht nur die Themata
zu nennen, um zu zeigen, wie Stadelmann seine Aufgabe auffaßt. So behandelt
er Kapitel XX die Kultur, Kapitel XXI die Psychologie der Masse (sehr inter-
M. Kronenberg, Geschichte des deutschen Idealismus, angez. von Chr. Muff. 691
essant grade für heutige Frequenzen wird in diesem Kapitel die Schülerklasse
als Masse und die Individualisierung in der Schule behandelt). Dann Kapitel
XXII vom vornehmen Zeitgeist im Gegensatz zur plebejischen Massenseele.
Sehr anziehend ist auch Kapitel XXIV, das von Intelligenz und Intelligenz-
prüfung handelt. Kurz: „Wo ihr's packt, da ist es interessant". Und dabei
wirkt es so wohltuend, daß Stadelmann nirgendwo mit banalen Phrasen ins Land
fährt, mit denen berühmte Naturforscher von heute den Bildungsphilistern Sand
in die Augen streuen, um die „Massenseele" zu verwirren glücklicherweise aber
wird's ihnen nicht gelingen, den „Zeitgeist" zu beherrschen. Auf diesen werden
solche Bücher, wie das Stadelmanns, eine erfreuliche Wirkung auszuüben imstande
sein durch den erzieherischen Wert, den sie besitzen.
Berlin. A. Matthias.
Kronenberg, M., Geschichte des deutschen Idealismus. Erster
Band: Die idealistische Ideen- Entwicklung von ihren Anfängen bis Kant.
München 1909. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung. VII u. 438 S. 8». geb. 7M.
Es ist kein Neuling, der mit dieser Schrift vor die Öffentlichkeit tritt; Dr.
Kronenberg hat sich bereits durch mehrere sehr beifällig aufgenommene und zum
Teil wiederholt aufgelegte Schriften, vornehmlich durch sein „Leben Kants" und
seine „Ethischen Präludien" einen Namen gemacht. Man durfte also erwarten,
daß er etwas Gediegenes leisten würde, wenn er sich vornehme, die Geschichte
des deutschen Idealismus zu schreiben. Und die Erwartung wird nicht getäuscht.
Nur eine Ausstellung muß ich von vornherein machen, und sie betrifft einen
Punkt von prinzipieller Bedeutung.
,, Geschichte des deutschen Idealismus" ist das Buch betitelt. Idealismus
findet sich aber nicht nur in der Philosophie, im abstrakten Denken, sondern auch,
wie u. a. auch ich in meinem „Idealismus" nachgewiesen habe, in der Kunst, im
Leben und vor allem in der Religion. Nun werden ja auch diese drei großen Be-
tätigungsweisen des Idealismus in Kronenbergs Buche berücksichtigt, aber doch
mehr nur gestreift als eingehend behandelt, und namentlich kommt die Religion,
in erster Reihe die christliche Religion, nicht zu ihrem Rechte. Der Kirche und
den Gläubigen ist das Christentum Offenbarung, unserm Verfasser ist sie Mythus,
wie die anderen Religionen auch. Er meint, erst wenn die Religion sich von dem
Mythischen freimache oder sich doch darüber erhebe, wie die Religion des klassi-
schen Idealismus, dann habe sie Größe und Kraft der Wahrheit. Er beklagt es,
daß in den Anfangszeiten des Christentums der Mythus alle festen Schranken
der Erkenntnis überflutet habe; er wundert sich über die gewaltige Wirkung der
jüdischen Christusgestalt, der gegenüber die rein menschliche Deutung von vorn-
herein völlig unzureichend erschien. Das Eigenartige, ja Einzigartige der christ-
lichen Mythenbildung sei es, daß bei dieser Christusgestalt, dem Kristallisations-
kern und dauernden Mittelpunkt der neuen Weltreligion des Christentums, zu-
nächst griechische Philosophie und jüdische Religion, freies philosophisches Denken
und mythenbildende Phantasie zu einer einheitlichen Bildung zusammenwirkten.
Die Vorstellung von dem „Einen" und der eingebornen Sohnschaft und die Um-
44*
692 M. Kronenberg, Geschichte des deutschen Idealismus, angez. von Chr. Muff.
Wandlungsprozesse dieser philosophischen Begriffe, das alles seien notwendige
Entwicklungsstufen in der Geschichte des menschlichen Geistes und den wenigen
Wissenden wohl zugänglich — aber das Dogma von der Gottmenschheit — Gott
ist Fleisch geworden — sei etwas Unsinniges, d. h. Verstandeswidriges, ebenso
wie das Dogma von der Erbsünde. Einmal, zum Glück nur einmal, schlägt der
Verfasser diesen ernsten Dingen gegenüber einen spöttischen Ton an. Da, wo
er von Descartes' Versuch spricht, die beiden entgegengesetzten Substanzen durch
einen Willensakt Gottes zu einigen und nebenzuordnen, urteilt er zunächst wie
Spinoza, Descartes habe sich in das Asyl der Unwissenheit zurückgezogen, aber
dann setzt er hinzu, „als welches sich die Gottesvorstellung von jeher und bis auf
den heutigen Tag vortrefflich bewährt hat". Ist das noch wahr und schön? — So
wenig der Verfasser dem religiösen Glauben und dem Christentum gerecht wird,
so wenig der Reformation Luthers. So sagt er u. a., daß die Mystik die eigent-
liche innere Triebkraft des Protestantismus sei; es geschehe ganz im Geiste der
Mystik, daß im Protestantismus der religiöse Glaube sich aller Aufklärung, aller
Hinwendung zur Mannigfaltigkeit des Objektiven entgegensetze; ^ kehre sich ab
von allem Endlichen und Begrenzten des Seins und des Tuns, des Lebens und
des Denkens, des Fühlens und des Erkennens — um den Glauben zurückzuver-
legen in seinen Ursprung, die reine Subjektivität, die Seeleneinheit usw.
Aus diesen wenigen Bemerkungen geht deutlich hervor, daß der Verfasser
das Wesen, den Einfluß und die Bedeutung der Religion, insbesondere der christ-
lichen, völlig verkennt.
Um so mehr freut es mich, seiner Entwicklung des philosophischen Idealismus
warme Anerkennung zollen zu können. Es berührt angenehm, wenn es gleich zu
Anfang (S. 13) heißt, aus der idealistischen Stellungnahme, die von dem Bewußtsein
erfüllt sei, daß das ganze weite Reich des Objektiven sich vom innersten subjek-
tiven Kraftzentrum aus beherrschen und erobern lasse und daß jenes nur der Stoff
sei, an dem sich die bildende Macht des Geistes erproben und bewähren solle, ent-
springe ein Gefühl der Erhebung, der Begeisterung, ja oft des Rausches, das sich
nach allen Seiten des Lebens mitteile und ausbreite. Dieser Satz hat program-
matische Bedeutung; durch das ganze Buch zieht sich helle Freude darüber, daß
das Subjekt nicht mehr dem Objekt sich preisgegeben, sondern umgekehrt der
Aufgabe sich gegenübersieht, alles Gegebene in sein freies Eigentum zu verwandeln,
allem Objektiven seinen Stempel aufzudrücken. Und diese Freude teilt sich dem
Leser mit. Denn, und damit komme ich auf einen Hauptvorzug des Buches, die
Darstellung ist so sachlich und so faßlich, so licht und so klar, so gefällig und ab-
gerundet, daß man mit fortgerissen wird und auf der Hut sein muß, nicht auch
befremdliche Dinge mit in den Kauf zu nehmen.
Um von der Fülle und der Art des Inhalts eine Vorstellung zu geben, nenne
ich kurz die wichtigsten Themata, die Kronenberg behandelt. Erster Teil,
die geschichtlichen Vorstufen: 1. Wesen und Grundtypen des philosophischen
Idealismus. 2. Der griechische Idealismus. 3. Der christliche Idealismus. 4. die
Naturphilosophie der Neuzeit. Zweiter Teil, Übergang von der Natur-
philosophie zum Idealismus. 5. Neuentdeckung des idealistischen Prinzips: Des-
cartes. 6. Der naturphilosophische Monismus: Spinoza. 7. Die Philosophie des
Rauschen, Lehrbuch der katholischen Religion usw., angez. von J. Noryskiewicz. 693
reinen ideellen Subjekts: Leibniz. 8. Die deutsche Verstandesaufklärung. —
DritterTeil, Die idealistische Gedankenrevolution. 9. Die deutsche Mystik.
10. Renaissance des christlichen Idealismus: Hamann und Fr. Heinr. Jacobi.
11. Renaissance des griechischen Idealismus: Winckelmann und Lessing. 12. Auf-
lösung der Naturphilosophie: Kants vorkritische Philosophie. 13. Der idealistische
Universalismus: Herders Frühzeit. 14. Sturm und Drang.
Worauf der Verfasser es absieht, sagt er im Vorwort. Er will keine Geschichte
der Persönlichkeiten geben, welche Träger der maßgebenden Ideen waren,
sondern die Geschichte dieser Ideen selber. Der vorliegende erste Band bringt
die Exposition des großen deutschen Gedankendramas; die Peripetie soll im
zweiten Bande zur Darstellung kommen.
Natürlich geht der Verfasser auf die Quellen zurück, er benutzt aber auch
vielfach die einschlägige Literatur. Daraus ist ihm natürlich kein Vorwurf zu ma-
chen, er hätte nur dabei mit größerer Genauigkeit verfahren sollen. Während
Kuno Fischer, von dem er stark abhängig ist, in seinem „Leibniz" das bekannte
schöne Wort ,,Des Menschen Taten und Gedanken, wißt" usw. ganz richtig Schiller
zuschreibt, findet Kronenberg es in Goethes orphischem Vorwort, und, was schlimmer
ist, er bringt das Zitat in grober Entstellung. Auch sonst vermißt man bei den
Literaturangaben ein gründliches, planmäßiges Vorgehet!. Aber trotz dieser und
ähnlicher Mängel ist dem Buche ein hoher Wert nicht abzusprechen, und man darf
auf den zweiten Teil gespannt sein.
Pforta. Christian Muff.
Rauschen, G., Lehrbuch der katholischen Religion für die
oberen Klassen höherer Lehranstalten. 2. Teil : Grundriß
der Apologetik. Bonn 1908. P. Hanstein. VII u. 84 S.; geb. 1,50 M.
Nachdem Rauschen im Oktober 1906 den ersten Band seines Lehrbuches der
Öffentlichkeit übergeben hatte, liegt jetzt das Werk vollständig vor. Es ist be-
arbeitet auf Grund der Preußischen Lehrpläne und nach den Leitsätzen, die die
Kommission der rheinisch-westfälischen Religionslehrer für die Abfassung auf-
gestellt hatte (1906; vgl. Monatsblätter für den katholischen Religionsunterricht
1907, Heft 1). Man kann dem Verfasser Glück wünschen, daß er seine Aufgabe
mit großem Verständnis und pädagogischem Geschick gelöst hat. Die Bearbeitung
der beiden letzten Teile (Apologetik und Sittenlehre) bekundet einen Fortschritt
in der Behandlung des Materials: die negative Darlegung, der man in der Kirchen-
geschichte und der Glaubenslehre noch mehrfach begegnet war (vgl. Zeitschrift
für das Gymnasial wesen, April 1908), ist einer mehr positiven gewichen. Die
übersichtliche Anordnung des Stoffes, die klare, logische Gedankenfolge sowie die
stichhaltige Beweisführung ermöglichen es dem Anfänger in Sekunda und Prima,
dem Lehrgange zu folgen und sich vom Endresultat überzeugen zu lassen. Da-
neben ist dem Lehrer ein freier Spielraum für Vortrag und Erklärung belassen.
Was nun die Apologetik im besondern angeht, so ist an ihr vor allem
die Gründlichkeit der philosophischen Abhandlungen anerkennend hervorzuheben.
Die Gottesbeweise sind eingehend entwickelt, und die Lehre über die Kirche aus-
führlich behandelt. Statt müßiger Abschweifungen und einer Nomenklatur aus
694 Rauschen, Lehrbuch der katholischen Religion usw.,angez. von J. Noryskiewicz.
der kirchlichen und profanen Literatur findet man durchweg sachliche Darlegungen.
Namen von Autoren und Büchern sind für den Anfänger meist leerer Schall; ein
treffendes Zitat am richtigen Ort führt ihn leichter und wirksamer in die Lite-
ratur ein.
Freilich vermißt man des öftern auch den apologetischen Charakter des
Buches. Unsre Schüler und besonders die begabteren bleiben heute von der glaubens-
feindlichen Literatur nicht mehr verschont; jeder Religionslehrer kann sich davon
überzeugen, wenn er ihnen gestattet, im Rahmen des. vorgetragenen Gegenstandes
Zweifel zu äußern oder Einwände zu erheben. Auch ist der erwachende Verstand
nur zu leicht geneigt, einer falschen Autorität kritiklos zu folgen. Capitaine hat
recht, wenn er in seiner Apologetik sagt (S. 22): „Gebildete Leute treten meist in
der Jugend oder sonst, wo irgendwie die Leidenschaft wühlt, zum Unglauben
über." — So bedürfte einer gründlicheren Apologetik die Lehre von der Not-
wendigkeit der übernatürlichen Offenbarung (§ 14): die Verderbnis der heidnischen
Religionen sowie die Ohnmacht der heidnischen Philosophie rechtfertigen die These
genugsam. Die Kapitel über den Atheismus (§ 8) und über die Wunder und Weis-
sagungen (§ 16) sind mehr skizziert denn ausgearbeitet. Ausdrücke wie „Ma-
terialismus, Pantheismus, Monismus" sind dem Schüler längst bekannte Worte,
hier wäre die Gelegenheit gegeben, ihm Ausführlicheres darüber zu sagen. Es
könnten also § 8 und § 9 zu einem Ganzen vereinigt werden als die wahre und
falsche Lehre über die Erschaffung der Welt und des Menschen (Leib, Seele); es
ergäbe sich dann die wichtige Anordnung: L Abschn. Das Dasein Gottes; IL Abschn.
Das Verhältnis Gottes zur Welt und dem Menschen insbesondere; III. Abschn.
Das Verhältnis des Menschen zu Gott. Daß diese Einteilung direkt gefordert
wird, folgt aus dem in § 11, 1 Gesagten.
Auch die Abhandlungen über die Echtheit und Glaubwürdigkeit der Offen-
barungsurkunden (§ 18, 50; 22, 23), über die Person Christi (§ 26) und die Un-
fehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes (§ 44, 45) könnten den Argumenten der
Gegner mehr Beachtung schenken. Babel und Bibel, Renan und Nietzsche müssen
in einer modernen Apologetik zur Darstellung gelangen.
Endlich vermißt man beim kosmologischen Gottesbeweis (§ 6) die Hypothese
von Kant-Laplace. Es liegt kein Grund vor, sie zu übergehen, vielmehr ist
ausdrücklich hervorzuheben, daß sie sich mit dem biblischen Schöpfungsbericht
sehr wohl in Einklang bringen läßt. Der Schüler sieht auf diese Weise, daß diese
rein wissenschaftlichen Fragen auch im Religionsunterricht erörtert werden, und
zwar nicht zum Nachteil der Bibel, und überzeugt sich, daß zwischen Glaube
und Wissenschaft kein Widerspruch besteht. „So kommt die Apologetik mit der
heutigen Denkungsart in unmittelbare Berührung. Der Christ gewinnt mit Hilfe
dieser Arbeiten den Kontakt mit seiner Zeit, und die Folge davon wird sein, daß
man nach den Worten Pius X. omnia instaurare in Christol den Geist Jesu
Christi, den Geist der Freiheit, der . . . die Keime für jeden Fortschritt in sich
trägt, unsrer so sehr nach Wahrheit sich sehnenden und nach der Wahrheit
ringenden Epoche mitteilen wird" (Erzb. Teodorowicz, Die Modernismusenzyklika
und der wissenschaftliche Fortschritt).
Schrimm. Johannes Noryskiewicz.
M , Schneider, Von wem ist das doch? angez. von A. Matthias. 695
Schneider, Max, Von wem ist das doch? Ein Titelbuch zur Auffindung
von Verfassernamen deutscher Literaturwerke. BerUn 1907. Eugen Schneider.
IV u. 538 S. brosch. 8 M., geb. 9 M., Hlbfr. 10 M.
Der Bibliothekar der Hamburgischen Stadtbibliothek Dr. Max Schneider
hat sich durch dieses Buch, das vom Jahre 1907 an in Lieferungen erschienen und
jetzt vollständig geworden ist, ein Verdienst erworben für jeden Literaturfreund.
Neben „Büchmann" und Ladendorfs historischem Schlagwörterbuch wird es ihm
ein unentbehrliches und angenehmes Hilfsmittel werden. Nicht weniger als 21 435
Titel oder Gedichtanfänge führt das Werk in alphabetischer Reihenfolge an und
gibt nicht nur den Dichter und Verfasser, sondern auch die Erscheinungszeit, die
Art des Werkes und unter Umständen sein Verhältnis zu andern Literaturwerken.
Zunächst wird uns das Buch dienen bei Auffindung eines genauen Titels,
von dem aus uns das Schlagwort bekannt ist. Aber auch wenn dieses selbst dem
Gedächtnis verloren gegangen, wird uns Hilfe durch ein zweites Register, das die
weiteren Wörter des Titels berücksichtigt. Ich gebe ein Beispiel : Mir ist der Titel
eines Romans im Gedächtnis: 1812, nicht der Verfasser. Ich schlage im ersten
Register mit den Hauptschlagwörtern nach und finde unter dem Buchstaben a
den Titel „1812. Historischer Roman von Ludwig Rellstab, erschienen 1834."
— Ebenso ist mir ein Titel 1813 in der Erinnerung. Ich finde unter dem Buch-
staben a „1813" Roman von L, F. Stolle, erschienen 1838. — Nun schwebt mir
aber ein andres 1813 vor, von einem andern Verfasser. Dazu hilft mir das zweite
Register, durch welches ich unter a: 1813 auf Nummer 766 des Hauptregisters
verwiesen werde. Hier finde ich, was ich suchte, unter a: Aus dem Kriegs- und
Siegesjahr 1813. 1815. Gedichte von Karl Wetzel. Bei Gedicht- und Lied-
anfängen, sowie bei Titeln, die mit einer Präposition anfangen, ist zum Ordnungs-
wort das erste Wort des Satzes gemacht.
Ungemein anregend und belehrend ist das Buch auch, wo es als Fundgrube
zur Ermittelung von ähnlichen und gleichen Titeln dient. Hier kann man geradezu
kleine interessante Studien im Gebiete der deutschen Literaturgeschichte anstellen.
Wir finden z. B. 8 fliegende Holländer und zwar den bekannten Wagnerschen;
dann ein Liederbuch für Seeleute von A. H. Th, Sievers, ferner ein Gedicht von
Agnes le Grave, einen Roman von A. E. Brachvogel, ein Drama von Aug. Ohorn,
ein Epos von Jul, Wolff, ein Epos von Eginh, von Barfus und einen Roman von
Paul Walter, Christus ist im Hauptregister neunmal vertreten, im Nebenregister
noch 17 mal. Auch andre Fragen finden überraschende Antworten. Fragen wir
z. B., in welches Dichters Werken eine Braut als Titel erscheint, so kann uns schon
jeder Primaner die Antwort geben: In Schillers Braut von Messina, in Körners
Lustspiel „Die Braut", in Goethes Gedicht „Die Braut von Korinth". Daß aber
auch in Goethes dramatischen Werken eine Braut vorkommt, wissen wenige.
Und zwar finden wir eine „geflickte Braut" in dem Stücke, dem Goethe später
den Titel ,,Der Triumph der Empfindsamkeit" verlieh. Und so könnte man noch
manche Stichprobe zum besten geben. Das Gegebene möge genügen als Empfehlung
für das Buch, dem viele Benutzer zu wünschen sind und viele Freunde, die dem
Verfasser Titel angeben, die er bei seiner Riesenarbeit etwa übersehen hat.
Berlin. A. M a 1 1 h i a s.
696 Goethe-Kalender auf das Jahr 1910, angez. von A, Matthias.
Goethe- Kalender auf das Jahr 1910. Zu Weihnachten 1909 herausgegeben von
Otto Julius Bierbaum und C. Schüddekopf, mit Schmuck von E. R. Weiß, einem
Dreifarbendruck mit 2 Bildern von Margarete Geibel und 2 Tafeln Silhouetten,
im Dietrichschen Verlage (gegründet zu Göttingen 1760) bei Theodor Weicher
in Leipzig. 148 S. geb. 1,80 M., auf Maschinenbüttenpapier, in Pappband
mit Pergamentrücken 4 M.
Seit dem Jahre 1906 gibt Theodor Weiher diesen Kalender heraus für die
Gemeinde des Goethe-Kalenders, die zwar nicht klein, aber immer noch nicht groß
genug ist, um auch nur die Kosten zu decken, die das Unternehmen erfordert.
Weil der Verleger durch die ersten vier Jahre bewiesen hat, daß ihm beim Verlage
des Kalenders materielle Erwägungen nicht an erster Stelle stehen, so durfte er
sich mit Recht an eine große Reihe deutscher Männer von Namen und Bedeutung
mit der Frage wenden, welches Verhältnis sie zu Goethe hätten, und ob sie den
Goethe- Kalender für wert erachteten, dieses ihr Bekenntnis zu Goethe vor die Öf-
fentlichkeit zu bringen, und er durfte mit eben dem Recht in der Beantwortung
seiner Frage eine Art Anerkennung seines Unternehmens und damit mutmachenden
Zuspruch für dessen Fortführung erhoffen. S. 66 bis S. 136 sind diese Urteile unsrer
Zeitgenossen über Goethe abgedruckt. Unter ihnen finden wir auch Hans Thoma.
Was er sagt, ist wohl die beste Begründung für die Berechtigung eines Goethe-
Kalenders. Aus seiner umfangreichen und schlichten Äußerung mögen einige
charakteristische Stellen selber sprechen: „Das Bestreben aller Goethe-Freunde,
und ich hoffe, daß dies noch einmal alle Deutschen sein werden, kann nur sein,
seine Werke immer mehr bekannt zu machen, seine Worte zu wiederholen, daß
sie allen bekannt werden. Seine Worte, auch wenn man unvermutet auf sie stößt,
sind immer eindringlich, wir ahnen meist auch aus dem einzeln herausgerissenen
den ganzen Menschen, wie er im Verhältnis zu der Welt in seinem Wesen ist.
Er baut kein System auf, an das er sich anklammert, er hat kein Prinzip, das
ihn einschränkt und in der Freiheit seines Denkens hemmt; er gibt sich dem Leben
und seinen Mächten hin wie ein Kind, und doch wird er Herr, von dem wir die Idee
haben können, daß er sein Leben selbst gezimmert hat, daß das Leben ihm gleich-
sam der Rohstoff war, den er künstlerisch zu einer so schönen Harmonie gestaltet
hat, die wir, wenn wir sie nennen wollen, halt auch wieder ,goethesch' nennen
müssen.
Er hat hohe Achtung vor allem Gewachsenen, auf dem die Menschenkultur be-
ruht, nie will er die Welt ummodeln — er nimmt alles Gegebene und Gewachsene a 1 s
Ordnungan, an der er nicht berufen ist, herumzudoktern
— Das will so viel heißen, als er faßt die Welt als Künstler auf — er steht ihr gegen-
über oder in ihr als ordnende harmonische Seele, mit offenen Sinnen betrachtend,
wägend, messend, gestaltend, ein sich seiner Schöpferkraft bewußter Menschen-
geist. — Alles was über Goethe gesagt werden könnte, hat er in seinem Reichtum
wohl selber und besser gesagt als es irgend ein andrer sagen könnte. — Wie könnte
man auch mitkleinen Kerzleineinsolches Lichtbeleuchten
wollen. Darum wird auch gern aufseinen Schattenseiten
herumgeleuchtet. — Wenn man über Goethe etwas sagen will, so kann
man eigentlich nur immer wieder Goethe zitieren und so ist d e r G o e t h e -
J. Grosse, Ausgewählte Werke, angez. von A. Matthias. 697
Kalender ein gar schönes und nützliches Unternehmen,
geeignet, Goethegeist im deutschen Volke zu ver-
breite n."
Im Druck habe ich hervorgehoben, was uns Epigonen zu lesen gut tut. —
Außer Thoma spricht noch eine große Anzahl von Zeitgenossen über Goethe;
recht interessante Namen — auch Fürst Bülow ist vertreten — finden sich. Den
eigentlichen Kalender begleitet Goethe selbst in prächtiger Auswahl aus seinen
Werken und Briefen. Dann folgt ein Abschnitt: „Goethe über seine Zeitgenossen."
Weiter kommt, wie schon gesagt, die heutige Welt zum Wort. Den Schluß bildet
ein Aufsatz „Liliencron und Goethe". — Der Kalender ist jedenfalls eine sinnige
und geschmackvolle Weihnachtsgabe, die auf den Tisch aller derjenigen gehört,
die die Pflicht und Aufgabe haben, sich und andre zu erziehen.
Julius Grosse, Ausgewählte Werke. Mit einer Biographie des Dichters
von A. Bartels, unter Mitwirkung und mit Einleitungen von A. Bartels, J. Ett-
linger, H. von Gamppenburg und F. Muncker. Herausgegeben von Antonie
Grosse. 1 Porträt und Faksimile der Handschrift des Dichters. Berlin 1909.
Alexander Duncker. 3 Bände. I.: LVIII u. 180 S. u. XVII u. 183 S. II.:
364 u. 168 S. III.: VI u. 722 S. geb. 12 M.
Julius Grosse hat zu seinen Lebzeiten wenig äußere Erfolge zu verzeichnen
gehabt. Daß das unverdient war, ist schon längst die Überzeugung berufener
Beurteiler. Es ist deshalb dankenswert, daß die Tochter im Verein mit aus-
erlesenen Männern die wertvollsten Schöpfungen der Jugend- und Mannesjahre
des Verstorbenen, die bisher nicht leicht zugänglich waren, gesichtet und zu einem
einheitlichen Ganzen vereinigt. Die Tochter sagt von ihrem Vater: „Wer der feinen,
stillen Gestalt Julius Grosses einmal im Leben begegnet ist, dem blieb sie unver-
gessen, der mußte die Erinnerung daran festhalten, daß er in Dichteraugen geschaut
und einem echten deutschen Poeten gegenüber gestanden hat. Die Werke, mögen
sie der Gegenwart gewidmet oder lieber in fernen Bereichen angesiedelt sein, be-
stätigen diesen Eindruck." Als ich diese Worte las, gedachte ich an unsre Pri-
manerzeit, an das Ende der sechziger Jahre, in denen alljährlich Robert Prutz
in meiner Vaterstadt erschien und Vorträge über die deutsche Literatur der Gegen-
wart hielt, denen wir Primaner unter Führung unsers Deutschlehrers W. Wiedasch
zahlreich zuströmten. In diesen Vorlesungen pries er auch Julius Grosse als einen
der besten Dichter der Gegenwart und es ist mir, als hätte ich gestern gehört,
was Prutz über Grosses Lyrik in seiner „Deutschen Literatur der Gegenwart"
geschrieben: „Was für Lingg und Gregorovius der klassische Boden der alten
Welt, das ist für Grosse die Romantik des Mittelalters. Grosse schwärmt mit
den jugendlichen Pagen für die schöne Burgfrau, er läßt den Falken steigen und
tummelt sich hoch zu Roß in ritterlichem Kampf; er vertieft sich in die Zauber
der alten deutschen Märchenwelt und läßt Zwerge und Kobolde ihre schalkhaften
Streiche treiben; er führt uns in die kleine, mittelalterliche, enge Stadt, unter
das Dach des kleinen stillen Bürgerhauses, zunächst am grauen Stadttor mit den
bröckelnden Steinen und dem grünen Efeu, wo ehedem sich die Laube so dicht
und traulich wölbte, und wo nun boshafte Spatzen zwitschern von der Not des
698 C. Bardt, Römische Komödien, angez. von A. Matthias.
Mädchens, das der Geliebte verlassen hat; er ahmt jene mittelalterlichen Maler
nach, die den Triumphzug des Todes abkonterfeien, und schreibt Phantasiestücke
aus den Memoiren des Sensenmannes. Das sind zum Teil sehr düstre, zum Teil
sehr grelle Bilder, aber sie sind mit kräftigem und sicherem Pinsel entworfen;
es ist Mark in dem Arm, der diese kecken Striche da so spielend an die Wand wirft."
Was hier Prutz von der Lyrik Grosses sagt, das gilt in sinngemäßer Anwendung
auch von seiner Epik, seinen Novellen und Romanen und seinen Dramen. — Der
erste Band bringt in seiner ersten Hälfte die Gedichte Grosses, von ihnen sind
nicht wenige in unsre besten Anthologien übergegangen und zum Besitztum unsrer
Gebildeten und auch der Schule geworden. Ich nenne das Gedicht „Sehnsucht"
(„Sehnsucht, auf den Knieen Schaust du himmelwärts — Einzelne Wolken ziehen,
Kommen und entfliehen. Ewig hofft das Herz"), ferner „Die weite Welt ist nun
zur Ruh", „Schon im Jenseits", „Notturno", „Ewige Jugend", „Verschollenes
Glück" und „Was ist das Glück?" In diesen lyrischen Stücken erquickt
die glänzende Sprache oder der an das Volkslied erinnernde oft treuherzige Ton.
Der zweite Teil des ersten Bandes bringt Stücke aus den „Episoden und Epilogen",
„Das Mädchen von Capri", „Des Ketzers Beichte" und „Der graue Zelter". Der
erste Teil des zweiten Bandes: „Tamarena", „Gundel vom Königssee", „Der
Domdechant von Compostella" und „Abul Kazims Seelenwanderung". — Der
zweite Teil des zweiten Bandes enthält zwei von Grosses Dramen: „Die Ynglinger"
und „Tiberius". Der dritte Band zwei Novellen: „Der tolle Heinze" und „Ravens-
beck" und zwei Romane: „Das Bürgerweib von Weimar" und „Der Spion". —
Die Vielseitigkeit der Dichtungen in Vers und Prosa wird jedem Geschmack etwas
bringen; dem einen wird tiieses, dem andern jenes mehr zusagen. Alles ist erfüllt
von reichem Leben und anregender Beweglichkeit, so daß Langeweile beim Lesen
fern bleibt. Vor allem aber erfreut die Formsicherheit Grosses und der saubere
Stil, der heutzutage doch nicht gerade die Regel bildet; Zügellosigkeit und nach-
lässiges Sichgehenlassen dagegen findet sich häufiger, da mancher meint, er
sei genial, wenn er nicht sorgfältig feilt und ausarbeitet. Vor allem aber spricht
bei Grosse die Reinheit des Herzens an, die überall seine Dichtungen durchzieht.
Man muß sich deshalb dieser Auswahl freuen. Solche Werke bilden das beste
Gegenmittel gegen die Schmutzliteratur, der unsre Jugend leider vielfach aus-
gesetzt ist.
Römische Komödien. Deutsch von C. B a r d t. I. Band. 2., vermehrte Auflage.
Berlin 1909. Weidmannsche Buchhandlung. XXXII u. 320 S. 8». geb. 6 M.
Die erste Auflage von Bardts Übersetzung römischer Komödien ist in dieser
Monatschrift III. Jahrgang S. 333 f. und VI. Jahrgang S. 560 f. besprochen worden.
Was dort gesagt ist, kann nur wiederholt werden. Das Deutsche der Übersetzung
liest sich flott und leicht verständlich; die genauem Bühnenweisungen heben
noch das Verständnis; die Stoffe fesseln uns lebhaft, wenn wir uns in sie hinein-
gewöhnt und hineingelebt haben.
Sodann bietet diese Übersetzung einen trefflichen Kommentar zum lateinischen
Urtext und sie erweckt zugleich das lebhafteste Verlangen, an der Quelle selbst
Th. Bitterauf, Friedrich der Große, angez. von W. Meiners. 699
zu schöpfen; am liebsten würde man das tun, wenn Bardt sich noch entschließen
könnte, aus der Fülle seiner bei dieser Übersetzung geschöpften Erfahrung einen
Kommentar zu liefern.
Und schließlich darf man getrost sagen, daß Bardt die bisherigen Übersetzer
übertrifft. Denn so leicht gleitet doch keine der bisherigen Übersetzungen an uns
vorüber. Die zweite Auflage ist um ein Stück vermehrt. Menanders Liebes-
komödie, der Eunuch, ist beigegeben, „die dem Übersetzer dereinst ein schönes
Geld einbrachte und deren geflügelte Worte noch zu des Cicero und Horatius Zeiten
auf sofortiges Verständnis rechnen durften".
So haben wir denn im ersten Bande nun zusammen: Plautus Schatz und
Zwillinge und Terentius: das Mädchen von Andros, die Brüder und den Eunuchen.
Fast scheint es mir, als ob des Verfassers Kraft mit den Jahren noch gewachsen
ist: denn der Eunuch liest sich ganz besonders glatt, und wenn schon Terenz ver-
schiedene Stücke Menanders geschickt durcheinander versetzt, so daß man die
Fugen, wo es geschehen, nicht merkt, so ist an Bardts Übersetzung das Charakte-
ristische, daß man Übersetzungsfugen, die ja besonders durch Latinismen un-
angenehm auffallen würden, fast nirgendwo bemerkt, und daß das Deutsche in
seiner eignen Kraft selbständig zutage tritt.
Berlin. A. Matthias.
Bitterauf, Th., Friedrich der Große (Aus Natur- und Geisteswelt 246).
Leipzig 1909. B. G. Teubner. 116 S. 8«. geb. 1,25 M.
In flüssiger Sprache, mit verständigem Urteil und sachlicher Richtigkeit zeichnet
Bitterauf auf Grund der vorhandenen Forschungen ein Bild vom Leben, Wirken
und der Bedeutung seines Helden, das zwar auf der einen Seite, entsprechend
der Absicht des Verfassers, nur den Zweck einer knappen Orientierung hat, auf
der andern aber doch in keiner Weise des Lebens und der Farbe entbehrt. Dem
Schüler der Prima der höheren Schule, aber auch der breiten Masse der Gebildeten
überhaupt soll diese knappe, in sich abgerundete Biographie, sei es zur Einführung
in ein tieferes Studium, sei es als Zusammenfassung und Rekapitulation ausführ-
licherer Lektüre bzw. Belehrungen warm empfohlen werden; dem selb-
ständigen Forscher, auch dem Geschichtslehrer wird sie für Friedrichs Beurteilung
keine neuen Gesichtspunkte eröffnen, keine selbständigen Forschungsergebnisse
an die Hand geben. Nicht einverstanden bin ich mit der Auffassung von dem
letzten Ziele des Fürstenbundes (1785), dieses Notbehelfs, der doch gerade der
Konservierung des deutschen Reiches in der Form, wie es seit 1648 bestand, dienen
sollte (S. 104); etwas zu kurz kommt die Darstellung der Verwaltungsorganisation
mit ihren aus der Geschichte ihrer Entwicklung zu erklärenden Gegensätzen und
Unfertigkeiten (S. 51); endlich vermisse ich ein etwas tieferes Eingehen auf die
philosophischen Ideen Friedrichs, wenngleich diese, ganz anders als man nach
S. 91 erwarten sollte, keineswegs bestimmend gewesen sind für den Politiker
Friedrich. Das hat Otto Hintze in einem recht lesenswerten Essay über Friedrich
den Großen, der jetzt auch in der ,, Deutschen Bücherei" 96/97 abgedruckt ist,
hübsch dargelegt.
Elberfeld. ' W. M e i n e r s.
700 Schnee, Unsere Kolonien, angez. von G. Wittenbrinck.
Schnee, H., Unsere Kolonien. (Wissenschaft und Bildung, Bd. 57.) Leil)zig
1908. Quelle & Meyer. 8°. 196 S., geh. 1 M., in Originalleinenband 1,25 M.
Ein vortreffliches Handbuch, welches jedem Kolonialfreunde große Freude
machen wird, da es ihm ausgezeichnete Dienste leisten kann, wenn er seine Kennt-
nisse in bezug auf unsern Kolonialbesitz auffrischen oder abrunden will! Ohne
oberflächlich zu werden, hat der Verfasser sich mit knapper Darstellung alles
Wissenswerten begnügt. Sein Buch dient daher auch dem Neuling, der sich schnell
und sicher über unsre Schutzgebiete, besonders auch nach der wirtschaftlichen
Seite hin, orientieren will, in hervorragender Weise. Der Verfasser, seit länger als
einem Jahrzehnt in den Kolonien wie im Reichskolonialamt tätig und gleichzeitig
Dozent für die deutschen Kolonien am Seminar für orientalische Sprachen in
Berlin, ist, wie das Werk zeigt, eine für solche Darstellung äußerst geeignete
Persönlichkeit, Nach Aussage des Verfassers stützen sich die Zahlen und sonstigen
statistischen Angaben fast durchweg auf amtliches Material, in erster Linie auf
die dem Reichstage vorgelegten kolonialen Denkschriften und Haushaltsetats der
Schutzgebiete.
Das Werk enthält zwei Teile, einen allgemeinen und einen zweiten, jede ein-
zelne Kolonie besonders behandelnden Teil. In dem ersteren gibt Verfasser zu-
nächst eine kurze Geschichte der Erwerbung unserer Kolonien, sodann einen Über-
blick über die Natur der einzelnen Schutzgebiete und ihrer Bevölkerung, dabei
eines jeden Eigenart geschickt hervorhebend. Es folgt nun eine genaue Schil-
derung der wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Gebiete, wobei dauernde
Besiedlung mit Weißen, die Produktion der Eingebornen, ihr Handel mit den
Europäern und schließlich der Plantagenbetrieb unter europäischer Leitung be-
sonders beachtet und besprochen wird. Der Leser wird hiernach in knapper,
aber ausreichender Weise über die Verwaltung und Rechtsprechung in den Ko-
lonien unterrichtet Nach einer Darstellung der ausgedehnten Tätigkeit der Mission
schließt der Verfasser den ersten Teil mit einer Betrachtung über den günstigen
Einfluß der Kolonialwirtschaft auf die deutsche Volkswirtschaft. Er berück-
sichtigt dabei die Bedeutung der Kolonien für die Auswanderung, ferner als Auf-
nahmegebiete für unsere Industrie-Erzeugnisse und als Lieferantinnen der uns un-
entbehrlichen Rohprodukte. Auch streift er noch den wichtigen Umstand, daß
durch den wirtschaftlichen Verkehr mit den eignen Kolonien das deutsche
Geld mehr in den deutschen Händen bleibt und so unsre eigne Volkswirtschaft
belebt und befruchtet.
In der geschichtlichen Einleitung S. 9 hätten wir gern auch die Begleiter des
Dr. Karl Peters erwähnt gesehen, vornehmlich den Grafen Pfeil, damit nicht die
Meinung sich festsetzt, daß wir die Erwerbung Ostafrikas dem Erstgenannten
ganz allein zu verdanken haben. Man vergleiche auch im Buche des Grafen Pfeil
über die Erwerbung Ostafrikas die Seiten 54 — 70. Desgleichen dürfte auch wohl
nicht unerwähnt bleiben, daß es beim Araberaufstande 1888 Gravenreuth und
Leue waren, welche die beiden letzten Orte, die den Deutschen verblieben, hielten
und damit die Niederwerfung des Aufstandes und die Wiedergewinnung des Landes
bedeutend erleichterten.
Mit Seite 44 beginnt alsdann die Beschreibung der einzelnen Kolonien. Ost-
J. H. Fahre, Bilder usw.; A. Seligo, Tiere usw., angez. von F. Pfuhl. 701
afrika als größte Kolonie eröffnet den Reigen. Bei ihr wie bei den andern Kolonien
hat der Verfasser, je nach der Eigenart der einzelnen Kolonie den einen oder andern
Punkt mehr betonend, die folgende Anordnung des Stoffes beobachtet: Zunächst
wird das Land in seinem geologischen Aufbau vorgeführt. Daran schließt sich
eine Besprechung des Klimas und der hauptsächlichsten Krankheiten. Es folgt
eine knappe Angabe dessen, was die drei Naturreiche bieten, und zwar ohne Zutun
der Menschen. Eingehend wird alsdann die weiße und die farbige Bevölkerung,
deren Tätigkeit im Handel, in Eigenproduktion, in Plantagen- und Farmwirtschaft,
in Viehzucht und Bergbau — wo vorhanden — den Lesern vorgeführt. Darauf
wird die europäische Besiedlung und deren Aussichten, wie auch die so notwendige
Erschließung der Kolonien durch Eisenbahnen betont und schließlich noch die
Art der deutschen Verwaltung in den Kolonien besprochen.
Überall offenbart sich ein auf reiche Erfahrung und sichere Unterlagen ge-
gründetes Urteil. Ein jeder darf sich mit vollem Vertrauen der Lektüre des Buches
hingeben. Wir wünschen dem klar und anregend geschriebenen Buche eine weite
Verbreitung, in der Hoffnung, daß es die in unsrem Volke immer noch recht
schwache Kenntnis kolonialer Dinge kräftig mehren hilft,
Unna. Gustav Wittenbrinck.
Fabre, J. H., Bilder aus der Insektenwelt. Autorisierte Übersetzung
aus: „Souvenirs Entomologiques" , l. — X. Serie. Erste Reihe. Mit zahlreichen
Abbildungen. Stuttgart 1908, Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde.
Franckhsche Verlagshandlung. 125 S., kart. 2 M.
Ein prächtiges Buch — nicht besonders wegen der Abbildungen (in Schwarz-
druck), die im allgemeinen ausdrucksvoll und treffend sind, als wegen des an-
sprechenden und anregenden Textes. Der Text bringt nun nicht nur, wie der
Titel sagt, eine Beschreibung der Insekten, sondern in frischer und lebendiger
Darstellung entwickelt er die Methode der Beobachtung und des exakten Experi-
ments, das die gestellten Fragen allmählich zur Beantwortung bringt, mit An-
wendung einfachster Mittel. Und es ist nur ein kleines Fleckchen Land, das dem
Verfasser zu so vielen Ergebnissen reichlichen Stoff bietet, und stets wird das
Insekt innerhalb der umgebenden Natur betrachtet. Eine Gegend Süd-Frankreichs
ist es, in die der Verfasser uns mit seinen Schilderungen führt, und wenn da auch
manches Insekt und manche Pflanze berücksichtigt wird, die unsrer Heimat
fremd sind (Skorpion, Gottesanbeterin, Tarantel — der Begriff „Insekt" ist weit
gefaßt = Gliederfüßer), so berücksichtigt doch auch — abgesehen von dem all-
gemein gültigen (z. B. Duft und Geruchssinn der Insekten) — manches der 18
Kapitel einheimische Insekten, wie z. B. „Die Schaumzikade und der Kuckucks-
speichel", dann „Musikinstrumente der Laubheuschrecken", „Aus dem Liebes-
leben des Eichenspinners". Aber jedes Kapitel fesselt durch seine Darstellung.
Seligo, A., TiereundPflanzendesSeepIanktons. Mit einer Tafel
und 247 Textabbildungen. Stuttgart, Deutsche mikrologische Gesellschaft,
Geschäftsstelle: Franckhsche Verlagshandlung. 8». 64 S., kart. 2 M.
Eine Einleitung gibt zunächst Angabe über das Fischen und Präparieren des
702 R. Pilger, Das System der Blütenpflanzen usw., angez. von F. Pfuhl.
Planktons. 15 Gruppen von Organismen, von denen fünf Pflanzen betreffen,
werden behandelt, wobei besonders bedacht sind: Kopepoden, Kladozeren, Räder-
tiere, Grünalgen, Kieselalgen, Spaltalgen. Jede Art wird beschrieben nicht nur
in Hinsicht auf die Körperbeschaffenheit, wodurch das Erkennen erleichtert werden
soll, sondern meist auch hinsichtlich der Lebensweise, der Art der Vermehrung
und der Zeit des Erscheinens. Den größeren Gruppen ist eine zusammenfassende
Übersicht vorausgeschickt, dann folgen Gattungen und Arten, für deren Bestim-
mung öfter auch ein Schlüssel eingefügt ist, zahlreiche Maßangaben sollen die
Diagnose erleichtern. Dazu kommen nun noch die sehr reichlichen, meist sche-
matisch gehaltenen Zeichnungen, die das Charakteristische hervorheben. Viel-
fach erscheinen auch Literaturangaben, die dem, der spezieller sich mit der eigen-
artigen Welt des Planktons beschäftigen will, gute Dienste leisten können. Wer
aber durch eigne Untersuchungen sich einen orientierenden Überblick über dieses
vielfältige Gebiet verschaffen will, wird in dieser Arbeit einen brauchbaren Führer
finden.
Pilger, R., Das System der Blütenpflanzen mitAusschluß der
Gymnospermen. Mit 31 Figuren. Sammlung Göschen. Leipzig 1908.
G. J. Göschensche Verlagsbuchhandlung. 140 S. kl. 8». 0,80 M.
Im allgemeinen Teil (20 S.) wird zunächst die Geschichte der Systematik
berührt, dann in klarer Weise auseinandergesetzt, was über die Grundlage des
Systems hauptsächlich erwähnenswert ist. Die Bewertung der morphologischen
Merkmale wird erörtert, die Frage nach der phylogenetischen Einheit wird be-
rührt, desgleichen die Tatsache der Reduktionserscheinungen und der Analogien.
Die Dikotylen, Dikotyledonen genannt, werden zuerst behandelt und nach der
Blumenkrone — ob fehlend, einfach oder doppelt — in drei große Gruppen geteilt.
Dann folgen die Reihen mit den Familien. Auf S. 113 beginnen die Monokotyl e-
donen. Jede Reihe, jede Familie erhält eine kurze Charakteristik. Dann werden
einige Gattungen mit ihren Arten genannt, wofür irgendeine industrielle Verwertung
oder eine physiologische Eigentümlichkeit (Bestäubungsvorgänge z. B. wie bei
Salvia, Ficus, Aristolochia usw.) bestimmend waren. Die Abbildungen sind im
allgemeinen deutlich und charakteristisch gehalten. Eine zweite Auflage könnte
aber wohl die Abbildung des Bienensaugs (S. 99) deutlicher machen, denn von
den zahnartigen Seitenzipfeln der Blumenkrone sieht man nichts; auch Fig. 26
müßte geändert werden. Die Artnamen sind stets klein geschrieben. Bravo!
da ist doch Prinzip, also nicht: Rosa Gallica und dann wieder^osa canina. Das
Büchlein ist zwar klein, aber reich an Inhalt und wird manchem gute Dienste
leisten.
Posen. Fritz Pfuhl.
Kerschensteiner, G., Die Entwicklung der zeichnerischen Be-
gabung. Neue Ergebnisse auf Grund neuer Untersuchungen. Mit 800 Fi-
guren in Schwarzdruck und 47 Figuren in Farbendruck. München 1905,
Carl Gerber. IV u. 508 S. 4». 12 M.
Die ungeheure Zahl von 500 000 Zeichnungen von zirka 58 000 Schulkindern
G. Kerschensteiner, Die Entwicklung usw., angez. von G. Kuhlmann. 703
aller Altersstufen aus 300 Volksschulklassen Münchens gefertigt, hat der in weiten
Kreisen hochgeschätzte Pädagoge — Leiter des Münchener städtischen Schul-
wesens — auf seinen Zweck hin untersucht. Mit bewundernswerter Liebe und
Ausdauer schuf er die erste groß angelegte deutsche Arbeit über den graphischen
Ausdruck des Kindes, als Grundlage für spätere umfassendere Untersuchungen.
Die dankbare Anerkennung der Verdienste des verehrten Herrn Verfassers um
die Erforschung des noch in Dunkel gehüllten Gebietes, darf bei der außerordent-
lichen Wichtigkeit der Sache nicht dazu führen, die tatsächlichen Mängel der
Untersuchung zu übersehen. Der Herr Verfasser sagt selbst, daß für den Zweck
«einer Untersuchungen ein völlig unbeeinflußtes Kindermaterial notwendig sei.
Als solches kann aber das von ihm benutzte — Kinder, die längere oder kürzere
Zeit die Schule besucht und auch Zeichenunterricht genossen haben — nicht an-
gesehen werden, selbst dann nicht, wenn, wie der Herr Verfasser glaubt, der Unter-
richt völlig wertlos gewesen ist. Auch in diesem, von dem Herrn Verfasser an-
genommenen Falle hat der Unterricht eine den Wert der Untersuchung in Frage
stellende Folge gehabt: er hat die ursprünglichen Fähigkeiten unbedingt gemindert,
wenn nicht gar zum Absterben gebracht, weil alle Kräfte der menschlichen Seele
diesem Schicksale verfallen, wenn sie keine Gelegenheit zur Betätigung finden.
Die Ergebnisse der Untersuchungen des Herrn Verfassers stehen in wichtigen Punk-
ten, so z. B. in bezug auf die Begabung für die Darstellung der Menschengestalt
einerseits, wie in bezug auf die Begabung für das Ornamentale andrerseits, im
Gegensatz zu den Beobachtungen, die andre ebensowohl an Kindern wie an Natur-
völkern machten. Da drängt sich denn wohl die Frage auf, ob diese Gegensätze
nicht durch den Umstand verursacht sein können, daß das Kindermaterial des
Herrn Verfassers den unbeeinflußten Urzustand nicht verkörperte. Weiter dürfte
geltend zu machen sein, daß die Untersuchungen des Herrn Verfassers bei aller
Anerkennung ihrer Bedeutung nicht eine Entwicklung feststellen, sondern ihrem
Wesen nach nur die Stichprobe auf einen momentanen Stand sind. Der Gang
einer Entwicklung ließe sich doch nur durch eine fortgesetzte Reihe solcher
Stichproben sicher gewinnen.
Ist es nun auch aus diesen Gründen nicht möglich, von diesen Untersuchungen
aus sichere Schlüsse auf die Entwicklung des zeichnerischen Ausdrucks der Rasse
zu ziehen oder sie — wie es der Herr Verfasser wünscht — zum Ausgangspunkt
einer Neugestaltung des Zeichenunterrichts zu machen, so enthält das groß an-
gelegte und vorzüglich ausgestattete Werk doch einen solchen Schatz von An-
regungen und Ergebnissen, daß es — weil sie von allgemeiner pädagogischer Be-
deutung sind — in keiner Lehrer-Bibliothek fehlen sollte.
Altona. Fritz Kuhlmann.
IV. Vermischtes.
III. Ruderkursus im Bootshause Wannsee bei Berlin 1910.
Auch im Jahre 1910 wird auf ministerielle Anordnung im Bootshause Wannsee
bei Berlin ein Ruderkursusfür Lehrer höherer Lehranstalten
abgehalten werden. Die Lehrzeit ist behördlicherseits auf drei Wochen aus-
gedehnt und wird vermutlich sich auf die Tage vom 21. April bis 12. Mai erstrecken.
Die Übungen werden mit dem Kastenrudern beginnen und ihre Fortsetzung im
Riemenboot mit festen und mit Rollsitzen finden. Hieran wird sich die Fahrt
im Skullboot schließen. Die Kursisten finden täglich Gelegenheit, sich mit dem
praktischen Schüler- Ruderbetriebe bekannt zu machen; auch für volkstümliche
Übungen, besonders solche, die für das „Wasserturnen" vorbereiten, sind Einrich-
tungen vorhanden.
Von Vorträgen sind folgende in Aussicht genommen:
1. Turnen und Rudern in ihrer inneren und äußeren Verwandtschaft (ein-
leitender Vortrag): Prof. Wickenhagen.
2. Bootskauf und Bootspflege. Aus der Praxis für die Praxis: Dr. Pfeiffer.
3. Die Methode des Ruderunterrichts: Oberlehrer Dr. Wegner.
4. Vom Bootstyp. Das rechte Boot am rechten Orte: Prof. Dr. Kuhse.
5. Gedanken über den planmäßigen Ausbau des Schüler-Wanderruderns:
Oberst a. D. von Diest.
6. Schülerrudern und Heeresdienst: Oberlehrer Naumann.
7. Die körperliche Überwachung der Ruderer: Sanitätsrat Prof. Dr. Schütze.
8. Zur Frage der Haftpflicht: Oberlehrer Haagen und Generalagent Firmenich.
9. Unsre Feinde und ihre Angriffe: Oberlehrer Dr. Waterstradt.
10. Kameradschaftsleben und Geselligkeit im Ruderverein: Prof. Dr. Paape.
11. Meine Reise von Berlin nach Ostpreußen und dem Frischen Haff: Prof.
Rumland.
An alle Vorträge schließt sich ein erschöpfender Gedankenaustausch.
Besichtigungen werden den Unterricht unterstützen; so die
1. der Bootswerft von Deutsch- Stralau;
2. der Schülerbootshäuser in Nieder- Schöneweide;
3. des Schülerspielplatzes „Grunewald" bei Eichkamp;
4. eines der neusten Schwimmbassins.
Die L e i t u n g des Kursus liegt wieder in den Händen des Prof. Wicken-
h a g e n , Gr.-Lichterfelde, an den etwaige Anfragen zu richten sind.
Dnick von O. Bernstein in Berlin.