Monatschrift
für
höhere Schulen.
Herausgegeben unter Mitwirkung
namhafter Schulmänner, Universitätslehrer und Verwaltungsbeamten
von
Dr. R. K5pke, _ Dr. A. Matthias,
und
Wirkl. Geheimen Rat, Exzellenz, Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat
in Berlin. in BerliQ.
Für die Redaktion verantworth'ch : Wirkl. Geh. Ober-Regierungsrat Dr. A. Matthias.
XL Jahrgang.
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1912.
Inhalt,
Seite
Die Friedrich Althoff- Stiftung 310 11. 577
Erste Abteilung.
Abhandlungen.
A. Bahre, Wie können die technischen Fächer mehr als ^bisher der ästhetischen
Bildung der Schüler dienstbar gemacht werden? 157
R. Bürger, Innere Wandlungen und äußere Einflüsse im deutschen Unterricht 365
J. C 0 h n , Die eigene Schulzeit im Urteil der Erwachsenen 3
R. Eule, Weitere und engere Grenzen für das Extemporale 19
H. G i 1 0 w , Ein Berliner Schulmann 32
F. Heinrich, Französischer Sprachunterricht 305
W. H e n s e 1 1 , Die Länge der Schuljahre 289
F. Heussner, Wilhelm Münchs letztes Buch 225
A. H ö f e r , Das Unterrichtswesen der Vereinigten Staaten im ersten Jahrzehnt
des 20. Jahrhunderts 643
R. H 0 1 s t e n , Dezentralisation in der wissenschaftlichen Fortbildung der Lehrer
an den höheren Lehranstalten 133
G. H u m p f , Ein Beitrag zur Frage der staatsbürgerlichen Erziehuiig von einem
Neuphilologen 248
L. Koch, Ein Anti-Ostwald 13
K. K 0 p p i n , Zur Klausur der mündlichen Reifeprüfung 35
F. K u h 1 m a n n , Über die Notwendigkeit einer Reform des Schreibunterrichts 75
J. L e z i u s , Zur Lage des Gymnasiums in Rußland 427
P. Lorentz, Winkelgymnasien? 294
A. Matthias, Zehn Jahre 1
, Rückblick auf Wilhelm Münchs Schaffen 227
H. M 0 r s c h , Ne quid nimis ! 171
W. M ü n c h , Zur Enzyklopädie der Pädagogik 129
R. Pappritz, Der lateinische Unterricht auf dem humanistischen Gymnasium 299
H. Preibisch, Der Hellenismus im Geschichtsunterricht der höheren Schulen 578
C. R 0 t h e , Soll die Homerkritik abdanken? (S. auch D. Mülder, Berichtigung
S. 508) 229
O. Rückert, Bemerkungen zur Erweiterung des Kreises der lateinischen Schul-
schriftsteller 152
F. S c h 1 e e , Die erste Revision der Übungsarbeiten 513
G. Schönaich, Die Annäherung unserer Zeit an die Antike und der Unter-
richt in den altklassischen Sprachen 417
O. Schroeder, Die schriftlichen Arbeiten in den preußischen höheren Lehr-
anstalten 641
M. Schweigel, Bürgerkundliche Vorträge für Schüler in Düsseldorf 256
JV Inhalt.
Seile
H. S 0 mm e r m e i e r , Zum deutschen Unterricht 149
A. Stahl, Neuhumanistische Unterweisung im Lateinunterricht 65
A. Stamm, Der deutsche Aufsatz in der Reifeprüfung 298
H. Strunk, Die Zeitung in den höheren Schulen 516
E. Stutzer, Über Schülervorträge, insbesondere aus dem Gebiete der Staats-
kunde 265
A. Tafelmacher, Der bürgerkundliche Unterricht in der Handels- Real-
schule zu Dessau 261
F. T h ü m e n , Zu Leuchtenbergers „Vademecum" 145
A. T i 1 m a n n , I. Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des
römischen Rechts. — II. Die Anfängerkurse im Griechischen für Studierende
der Juristischen, Medizinischen und der Philosophischen Fakultät ... 81 u. 434
, Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten 177 u. 520
, Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Univer-
sitäten 431 u. 648
, Statistisches über das Frauenstudium 83 u. 434
, Die Verteilung des akademischen Nachwuchses auf die einzelnen Berufe in
den Jahren 1903/04—1911/12 175
E. T i m e r d i n g , Die griechische Mathematik 353
R. U h 1 , Fünfter Ruderkursus für Oberlehrer höherer Lehranstalten Preußens
in Wannsee 1912 435
A. V 0 1 k m a r , Lehrziele und Lehraufgaben 139
H. Weber, Der Unterricht in der älteren deutschen Geschichte im Dienste
der staatsbürgerlichen Erziehung 236
W. Wetekamp, Bessere Ausnutzung unserer Schulhöfe und Spielplätze im
Winter! 79
H. Wickenhagen, Die alte und neue Schule nach Professor Dr. Morsch.. 28
H. W u n d r a m , Ein Beitrag zurj freieren Gestaltung des Unterrichts auf der
Oberstufe durch Gabelung der Primen 362
Zweite Abteilung.
Programmabhandiungen.
M. Wehrmann, Zur^ schulgeschichtlichen Forschung. 1911 mit einzelnen
Nachträgen T. 373
M. N a t h , Über Lehrpläne und Schulreform 1911. X 378
H. Schmidt, Religion 191 1 (1910) 181
F. Gramer, Latein. 191 1 583
R. Preussner, Französisch und Englisch 1910 652
W. Lietzmann, Mathematik 191 1 379
V. Steinecke, Erdkunde 191 1 524
F. K u h 1 m a n n , Zeichen- und Kunstunterricht. 1910 und 191 1 384
A. J u n g b l u t h , Stenographie 1897—1909 183
Dritte Abteilung.
Bficherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Hilfsbücher für den Unterricht in der deutschen Sprachlehre, angez. von Ob.- Reg.- Rat
und Direktor des Provinzial-Schulkollegiums Geheimrat Dr. J. Busch
mann' in Coblenz 385
Inhalt. V
Seite
Zur deutschen Literaturgeschichte, angez. von Direktor Professor Dr. A. B i e s e
in Neuwied a. Rh 311
Deutsche Lesebücher VIII, angez. von Direktor Dr. A. Z e h m e in Berh'n- Wilmers-
dorf 589
Lateinische Grammatiken und Übungsbücher, angez. von Oberlehrer Professor Dr.
F. B 0 e s c h in Berlin-Wilmersdorf 84
Lateinische Schriftsteller, angez. von Direktor Dr. H. B e r n h a r d t in Soest 190 u. 439
Griechische Grammatiken und Übungsbücher, angez. von Professor Dr. G o 1 1 h o I d
Sachse in Charlottenburg 596
Zur französischen Lektüre, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. B o h n h a r d t
in Düsseldorf 194
Hilfsmittel zum Unterricht im Rechnen und in der Arithmetik. VIII, angez. von
Direktor Professor Dr. M a x N a t h in Pankow 386
Sammelbericht über Biologie, angez. von Oberlehrer Professor Dr. F. H ö c k in
Perleberg 601
Bastian Schmids naturwissenschaftliche Schülerbibliothek, angez. von Provinzial-
Schulrat Professor Schickhelm in Münster i. W 599
Populäre naturwissenschaftliche Literatur, angez. von Professor Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 206
Zur Chemie, angez. von Oberlehrer Professor Dr. Hch. Böttger in Berlin-
Grunewald 530
Schriften aus dem Gebiete von Mythus, Sage, Märchen und Altertumskunde, angez.
von Direktor Dr. A. Z e h m e in Berlin- Wilmersdorf 186 u. 593
Jugendliteratur, angez. von Direktor Dr. F. J o h a n n e s s o n in Berlin 671
b) Einzelbesprechungen:
Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland, s. F. K 1 e i n ,
Abhandlungen.
Abhandlungen, Würzburger, s. W. L ö h 1 e i n , Hygiene des Auges./
Adolph, H., Erinnerungen eines niedersächsischen Geistlichen, angez. von
Pfarrer Dr. A. H e u ß n e r in Cassel 408
Amelangs Taschenbibliothek für Bücherliebhaber, angez. von Direktor Dr. P. L o -
r e n^t z in Spandau 461
Anekdotenbibliothek, s. Königsweisheit.
A p e 1 , P., Die Überwindung des Materialismus, angez. von Professor Dr. E. D e n -
n e r t in Godesberg , 684
A p e 1 1 , O., Der deutsche Aufsatz in den oberen Klassen der Gymnasien, angez.
von Oberlehrer Professor Dr. P a u 1 G e y e r in Brieg 107
A r e n d t , R., Technik der anorganischen Experimentalchemie, angez. von Direktor
Professor Dr. W. B r e s 1 1 c h in Beriin 413
V. A s t e r , E., Große Denker, angez. von Pfarrer Dr. Alfred Heußner in
Cassel 390
„Aufwärts"- Bücherei, s. R. D o h s e , Fritz Reuter.
Aus Natur und Geisteswelt, s. P. C a u e r , Altertum, K. K n a b e , Schulwesen, und
R. Neuendorff, Mathematik.
Batiffol, Pierre, Urkirche und Katholizismus, angez. von Oberiehrer H.H o f f -
mann in Breslau 609
Beiträge zur Naturdenkmalpflege, s. H. C o n w e n t z.
B e n d t , F., Grundzüge der Differential- und Integralrechnung, angez. von Direktor
Dr. H. S t e c k e 1 b e r g in Gronau i. W 349
B e r t e 1 , R., Anleitung zu den botanischen Schülerübungen an Mittelschulen und
verwandten Lehranstalten, angez. von Oberlehrer R. Fischer in Duisburg-
Meiderich 124
JV Inhalt.
Seile
H. S 0 m m e r in e i e r , Zum deutschen Unterricht 149
A. Stahl, Neuhumanistische Unterweisung im Lateinunterricht 65
A. S t a m m , Der deutsche Aufsatz in der Reifeprüfung 298
H. Strunk, Die Zeitung in den höheren Schulen 516
E. Stutzer, Über Schülervorträge, insbesondere aus dem Gebiete der Staats-
kunde 265
A. Tafelmacher, Der bürgerkundliche Unterricht in der Handels- Real-
schule zu Dessau 261
F. T h ü m e n , Zu Leuchtenbergers „Vademecum" 145
A. T i 1 m a n n , I. Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des
römischen Rechts. — 11. Die Anfängerkurse im Griechischen für Studierende
der Juristischen, Medizinischen und der Philosophischen Fakultät ... 81 u. 434
, Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten 177 u. 520
, Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Univer-
sitäten 431 u. 648
, Statistisches über das Frauenstudium 83 u. 434
, Die Verteilung des akademischen Nachwuchses auf die einzelnen Berufe in
den Jahren 1903/04—1911/12 175
E. T i m e r d i n g , Die griechische Mathematik 353
R. U h 1 , Fünfter Ruderkursus für Oberlehrer höherer Lehranstalten Preußens
in Wannsee 1912 435
A. V 0 1 k m a r , Lehrziele und Lehraufgaben 139
H. Weber, Der Unterricht in der älteren deutschen Geschichte im Dienste
der staatsbürgerlichen Erziehung 236
W. Wetekamp, Bessere Ausnutzung unserer Schulhöfe und Spielplätze im
Winter! 79
H. Wickenhagen, Die alte und neue Schule nach Professor Dr. Morsch . . 28
H. W u n d r a m , Ein Beitrag zurj freieren Gestaltung des Unterrichts auf der
Oberstufe durch Gabelung der Primen 362
Zweite Abteilung.
Programmabhandlungen.
M. Wehrmann, Zur^ schulgeschichtlichen Forschung. 1911 mit einzelnen
Nachträgen 373
M. N a t h , Über Lehrpläne und Schulreform 1911. X 378
H.Schmidt, Religion 1911 (1910) 181
F. Gramer, Latein. 191 1 583
R. Preussner, Französisch und Englisch 1910 652
W. Lietzmann, Mathematik 191 1 379
V. Steinecke, Erdkunde 191 1 524
F. K u h 1 m a n n , Zeichen- und Kunstunterricht. 1910 und 191 1 384
A. J u n g b 1 u t h , Stenographie 1897—1909 183
Dritte Abteilung.
BOcherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Hilfsbücher für den Unterricht in der deutschen Sprachlehre, angez. von Ob.- Reg.- Rat
und Direktor des Provinzial-Schulkollegiums Geheimrat Dr. J. Busch-
mann' in Coblenz 3g5
Inhalt. V
Seite
Zur deutschen Literaturgeschichte, angez. von Direktor Professor Dr. A. B i e s e
in Neuwied a. Rh 311
Deutsche Lesebücher VIII, angez. von Direktor Dr. A. Z e h m e in Berlin- Wilmers-
dorf 589
Lateinische Grammatiken und Übungsbücher, angez. von Oberlehrer Professor Dr.
F. B 0 e s c h in Berlin-Wilmersdorf 84
Lateinische Schriftsteller, angez. von Direktor Dr. H. B e r n h a r d t in Soest 190 u. 439
Griechische Grammatiken und Übungsbücher, angez. von Professor Dr. G o 1 1 h o 1 d
Sachse in Charlottenburg 596
Zur französischen Lektüre, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. B o h n h a r d t
in Düsseldorf 194
Hilfsmittel zum Unterricht im Rechnen und in der Arithmetik. VIII, angez. von
Direktor Professor Dr. M a x N a t h in Pankow 386
Sammelbericht über Biologie, angez. von Oberlehrer Professor Dr. F. Hock in
Perieberg 601
Bastian Schmids naturwissenschaftliche Schülerbibliothek, angez. von Provinzial-
Schulrat Professor Schickhelm in Münster i. W 599
Populäre naturwissenschaftliche Literatur, angez. von Professor Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 206
Zur Chemie, angez. von Oberlehrer Professor Dr. Hch. Böttger in Berlin-
Grunewald 530
Schriften aus dem Gebiete von Mythus, Sage, Märchen und Altertumskunde, angez.
von Direktor Dr. A. Z e h m e in Berlin-Wilmersdorf 186 u. 593
Jugendliteratur, angez. von Direktor Dr. F. J o h a n n e s s o n in Berlin 671
b) Einzelbesprechungen:
Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland, s. F. K 1 e i n ,
Abhandlungen.
Abhandlungen, Würzburger, s. W. L ö h 1 e i n , Hygiene des Auges.,
Adolph, H., Erinnerungen eines niedersächsischen Geistlichen, angez. von
Pfarrer Dr. A. H e u ß n e r in Cassel 408
Amelangs Taschenbibliothek für Bücherliebhaber, angez. von Direktor Dr. P. L o -
r e n!t z in Spandau 461
Anekdotenbibliothek, s. Königsweisheit.
A p e 1 , P., Die Überwindung des Materialismus, angez. von Professor Dr. E. D e n -
n e r t in Godesberg , 684
A p e 1 1 , O., Der deutsche Aufsatz in den oberen Klassen der Gymnasien, angez.
von Oberlehrer Professor Dr. P a u 1 G e y e r in Brieg 107
Arendt, R., Technik der anorganischen Experimentalchemie, angez. von Direktor
Professor Dr. W. B r e s 1 i c h in Berlin 413
V. A s t e r , E., Große Denker, angez. von Pfarrer Dr. Alfred Heußner in
Cassel 390
„Aufwärts"-Bücherei, s. R. D o h s e , Fritz Reuter.
Aus Natur und Geisteswelt, s. P. C a u e r , Altertum, K. K n a b e , Schulwesen, und
R. Neuendorff, Mathematik.
Batiffol, Pierre, Urkirche und Katholizismus, angez. von Oberiehrer H.H o f f -
mann in Breslau 609
Beiträge zur Naturdenkmalpflege, s. H. Conwentz.
B e n d t , F., Grundzüge der Differential- und Integralrechnung, angez. von Direktor
Dr. H. S t e c k e 1 b e r g in Gronau i. W 349
B e r t e 1 , R., Anleitung zu den botanischen Schülerübungen an Mittelschulen und
verwandten Lehranstalten, angez. von Oberlehrer R. Fischer in Duisburg-
Meiderich 124
VI Inhalt.
Seite
Bettelheim, A., Beaumarchais, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. B o h n -
h a r d t in Düsseldorf 631
B e z a r d, J., De la methode litteraire, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W.
Bohnhardt in Düsseldorf 621
Bibliothek, philosophische, s. W. v. Humboldt.
Bibliothek wertvoller Novellen und Erzählungen, s. O. H e 1 1 i n g h a u s.
Billeter, Gustav, Die Anschauungen vom Wesen des Griechentums, angez.
von Direktor a. D. Geh. Reg.-Rat Dr. F. T h ü m e n in Naumburg a. S. . 624
B i r t , T h.,^ Aus der Provence, angez. von Direktor Professor Dr. M. G. S c h m i d t
in Lüdenscheid 119
B l u t h , H., Wandervögel, angez. von Direktor Professor Dr. M. H e c k h o f f
in Göttingen 409
Böse, E m i 1 i 0 , Die Erdbeben, angez. von Professor Dr. J. R u s k a , Dozenten
an der Universität Heidelberg 57
Brandt, P., Sehen und Erkennen, angez. von Oberlehrer Dr. RichardArndt
in Duisburg 102
B r a u n , O., Studien zur Bedeutungsforschung, angez. von Direktor Professor Dr.
R. Jonas t in Köslin 271
Brecht, W., Heinse und der ästhetische Immoralismus, angez. von Dr. P.
Kluckhohn in Göttingen 398
B r e p 0 h I , Fr. W., Friedrich Nietzsche oder Jesus Christus?, angez. von Ober-
lehrer Dr. H a n s W e i c h e 1 1 in Marburg 46
B r ü c h e r , K., Anschauung in der Arithmetik, angez. von Oberlehrer Dr. W.
L i e t z m a n n in Barmen 632
Brück, s. MoellervandenBruck, Die Deutschen.
Bücherei, Deutsche, 114/5. Hermann Nitzschke, Aus der Hundetürkei, angez. von
Direktor Dr. Woldemar H a y n e I in Linden b. Hannover 462
B u c h n e r s Leitfaden der Kunstgeschichte, angez. von Direktor Professor Dr. P.
Brandt in Düsseldorf 686
B u d d e, G., 1. Aktuelle pädagogische Reformfragen. 2. Allgemeine Bildung und
individuelle Bildung in Vergangenheit und Gegenwart, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. E. G r ü n w a 1 d in Berlin 94
— , Das Gymnasium des 20. Jahrhunderts, angez. von Oberlehrer Professor Dr. E.
Grünwald in Berlin 97
Burnand, Eugene, Die Gleichnisse Jesu, angez. von Direktor Professor Dr.
P. Brandt in Düsseldorf 689
C a p i t a i n e , W., Kirchengeschichte für die Mittelklassen höherer Lehranstalten,
angez. von Oberlehrer Dr. N o r y s k i e w i c z in Schrimm 335
Catullus, s. Gedichte des Catullus.
C a u e r , P., Die Kunst des Übersetzens, angez. von Professor Direktor Dr. L.
Ehrenthal in Halberstadt 112
, Das Altertum im Leben der Gegenwart, angez. von Direktor a. D. Geh. Reg.-
Rat Dr. F. T h ü m e n in Naumburg a. S 556
V. C h r i s t , Wilhelm, Geschichte der griechischen Literatur, angez. von
Dr. K. M ü n s c h e r , Professor an der Universität Münster 478
C I a u s n i t z e r , E., s. Pädagogische Jahresschau.
C o n w e n t z , H., Beiträge zur Naturdenkmalpflege, angez. von Oberlehrer Dr.
W. Günther in Halle a. S 636
Cornelius, H., Elementargesetze der bildenden Kunst, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. Aug. S c h o o p in Düren 609
C u n z , T h., Geschichte der Philosophie in gemeinverständlicher Darstellung.
angez. von Direktor Professor Dr. R. Jonas 1 in Köslin 272
Inhalt. VII
Seite
D a h 1 , F., Anleitung zu zoologischen Beobachtungen, angez. von Oberlehrer
Dr. Pfuhl, Professor an der Akademie Posen 416
Deckelmann, H., Die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts im deutschen
Unterricht, angez. von Wirkl. Geh. Ober- Reg.- Rat Dr. A. Matthias in
Berlin 617
D e s c a r t e s, R., Philosophische Werke, angez. von Direktor Professor Dr. R.
Jonas t »n Köslin 273
D i e k m a n n , F., Das apologetische Lehrverfahren im evangelischen Religions-
unterricht höherer Schulen, angez. von Oberlehrer Professor Rudolf Pe-
ters in Düsseldorf 613
Dohse, Richard, Fritz Reuter, angez. von Direktor Dr. P. L o r e n t z in
Spandau 476
D ö r w a 1 d , P., Der hebräische Unterricht, angez. von Direktor H. R i c h e r t
in Posen 460
D r e g e r , A., Die Berufswahl im Staatsdienst, angez. von Direktor Professor
Dr. Max N a t h in Pankow 318
Eckertz, Erich, Nietzsche als Künstler, angez. von Oberlehrer Dr. Hans
W e i c h e 1 1 in Marburg 46
English Education, angez. von Oberlehrer Dr. Herm. Sommermeier in
Halberstadt 699
E u 1 e r , C, Turnunterricht, s. C. R o ß o w.
Fehrmann, A., und P. M e y n e n , Turnen und Sport an deutschen Hoch-
schulen, angez. von Oberlehrer Professor H. Wickenhagen in Groß-
Lichterfelde 60
F e 1 d h a u s , F. M., Ruhmesblätter der Technik von den Urerfindungen bis zur
Gegenwart, angez. von Geh. Ober- Reg.- Rat Professor Dr. J. Norrenberg,
vortragendem Rat im Kultusministerium in Berlin. (S. auch Berichtigung S. 288) 120
Festschrift, dem König Wilhelm- Gymnasium zu Magdeburg zur Feier seines 25 jäh-
rigen Bestehens Ostern 1911 dargebracht, angez. von Direktor Dr. H. Bern-
hardt in Soest 548
Feuerbach, Ansei m, angez. von Direktor Professor Dr. P. Brandt in
Düsseldorf 49
F i n s 1 e r , G., Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe, angez. von Ober-
lehrer Professor Dr. Carl R o t h e in Berlin- Friedenau 557
Flaxmann, John, Zeichnungen zu Sagen des klassischen Altertums, angez.
von Direktor Professor Dr. P. Brandt in Düsseldorf 47
F 1 0 e r i c k e , K., Säugetiere fremder Länder, angez. von Oberlehrer Dr. G. K 1 a 1 1
in Görlitz 282
F 0 1 1 z , O., Gedanken des Pädagogen und Philosophen Herbart, angez. von Ober-
lehrer Dr. G u s t a v H u m p f in Elmshorn 334
F r a n c k e , K., Die Kulturwerte der deutschen Literatur in ihrer geschichtlichen
Entwicklung, angez. von Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 106
Frank, P., Kleines Tonkünstlerlexikon, angez. von Gesanglehrer Traugott
Heinrich in Berlin 220
Franke, F., J. F. Herbart, Grundzüge seiner Lehre, angez. von Ober-
lehrer Dr. Gustav Humpf in Elmshorn 334
Freudenberg, Alwin, Aphorismen aus der Pädagogik der Gegenwart,
angez. von Direktor a. D. Geh. Reg.- Rat Professor Dr. HeinrichSchröer
in Posen 608
F r e y t a g , H., Aus Ernestinischer Vergangenheit, angez, von Direktor Professor
Dr. H. G e r s t e n b e r g in Hamburg 628
Friedrich der Einzige. Ein Charakterbild des großen Königs in seinen Worten, zu-
sammengestellt von A. Kannengießer, angez. von Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat
Dr. A. Matthias in Berlin 53
Vin Inhalt.
Seite
Gabriel, Paul, Euckens Grundlinien einer neuen Lebensanschauung und sein
Verhältnis zu J. G. Fichte, angez. von Dr. O 1 1 o B r a u n , Dozent an der Uni-
versität Münster i. W 393
G a s c h , R., Geschichte der Turnkunst, angez. von Oberlehrer Professor H.
Wickenhagen in Berlin-Lichterfelde 220
Gedichte des Catullus, übersetzt von W. A m e 1 u n g , mit Einleitung von F r.
Spiro, angez. von Wirkl. Geh. Gber-Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s 559
G e f f k e n , H., M. Rade, K. Seil, F. T r a u b , Die Religion im Leben der
Gegenwart, angez von Direktor H. R i c h e r t in Posen 459
Genethliakon, Carl Robert zum 8. März 1910 überreicht von der Graeca Halensis,
angez. von Oberlehrer Dr. J. M o e 1 1 e r in Halle a. S 278
Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, s. H e 1 m o 1 d.
Gesundbrunnen 1913, angez. von Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias
in Berlin , 618
G i e s e , F., Der Beamtencharakter der Direktoren und Oberlehrer an den nicht
vom Staate unterhaltenen höheren Lehranstalten in Preußen, angez. von Assessor
Irmer, Verw.-Rat und Justitiar beim Provinzial-Schulkollegium in Cassel. 208
Glauning, F., Didaktik und Methodik des englischen Unterrichts, angez. von
Oberlehrer Professor Dr. A. R o h s in Crefeld 406
Gockel, A., Schöpfungsgeschichtliche Theorien, angez. von Professor Dr. E.
Dennert in Godesberg 684
Gomperz, Th., Griechische Denker, angez. von Direktor Professor Dr. R.
Jonas t J" Köslin 322
Gonser, Immanuel, Alkoholgegnerische Unterweisung, angez. von Oberlehrer
Professor B. Habenicht in Linden-Hannover 61
V. Görres, Josef, Ausgewählte Werke und Briefe, angez. von Wirkl. Geh.
Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 696
Goethes sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Registerband, angez. von Wirkl.
Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 n i a s in Berlin 696
G 0 t h a n , W., Botanisch-geologische Spaziergänge in die Umgebung von Berlin,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. K. F r i c k e in Bremen 58
Graebner,Paul, Taschenbuch zum Pflanzenbestimmen, angez. von Oberlehrer
Dr. Fritz Pfuhl, Professor an der Akademie Posen 502
Graf, Alfred, Schülerjahre, besprochen von Dr. JonasCohn, Professor an
der Universität Freiburg i. Br 3
G r i e b e 1 , H., Lehrbuch der Deutschen Geschichte in Verbindung mit der Ge-
schichte Bayerns, angez. von Direktor Dr. F r. N e u b a u e r in Frankfurt a. M. 216
Grimm, LudwigEmil, Erinnerungen aus meinem Leben, angez. von Direktor
a. D., Geh. Reg.-Rat Dr. F r. H e u ß n e r in Cassel 629
Grundzüge der klassischen Philologie von Berthold Maurenbrecher und
Reinhold Wagner, angez. von Dr. K M ü n s c h e r , Professor an der
Universität Münster (S. auch Erwiderung S. 702.) 482
Guenther, K., Tiergarten fürs Haus in Wort und Bild, angez. von Oberleher
Professor Dr. R. v. H a n s t e i n in Gr.-Lichterfelde-Berlin 634
v. G w i n n e r , W., Schopenhauers Leben, angez. von Direktor Professor Dr. R.
Jonas t in Köslin 327
H ä b e r 1 i n , P., Wissenschaft und Philosophie, angez. von Pfarrer Dr. Alf r.
Heußner in Cassel 100
Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, s. W. v. Christ, griechische
Literatur.
Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre, s. Fr. G 1 a u n i g , Didaktik und
Methodik und A. Matthias, Pädagogik.
Handbuch der Kirchengeschichte für Studierende, s. H. Stephan, Die Neuzeit.
Inhalt. IX
Seite
Handel, O., Einführung in die Differential- und hitegralrechnung, angez. von
Direktor Dr. H. S t e c k e 1 b e r g in Gronau i. W 351
H a r n a c k , A., Aus Wissenschaft und Leben, angez. von Wirkl. Geh. Ober- Reg.- Rat
Dr. A. Matthias in Berlin 320
H a r t ni a n n , K-, Humanistischer Unterricht und bildende Kunst, angez. von
Direktor Professor Dr. P. Brandt in Düsseldorf 47
Heimatbücher, Berliner, angez. von Direktor Professor Dr. G. Louis in Berlin 491
H e i n e m a n n , O., Die wichtigsten Bestimmungen der preußischen Staats-
beamtengesetzgebung,^angez. von Direktor Professor Dr. M. N a t h in Pankow 269
Hellinghaus, Otto, Bibliothek wertvoller Novellen und Erzählungen, angez.
von Direktor Dr. Joseph Riehemann in Meppen 477
Helm, G., Grundlehren der höheren Mathematik, angez. von Direktor Professor
Dr. H. T h i e m e in Bromberg 492
H e I m 0 1 d s Chronik der Slaven , hrsg. von B. Schmeidler, angez. von Oberlehrer
fessor Dr. E r i c h Schmidt t in Bromberg 51
H e n s e , J , Griechisch-römische Altertumskunde, angez. von Direktor Professor
Dr. C. F r e d r i c h in Cüstrin 566
H e r b a r t s , J. F., sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge, 15. Bd.: hrsg.
von Otto Flügel, angez. von Oberlehrer Dr. Gustav H u m p f in Elmshorn 335
H e r r i g , L., La France littcraire, s. E. P a r i s e 1 1 e.
Herrmann, P., Aufgaben aus dem Nibelungenlied, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. Paul Geyer in Brieg 109
, Island in Vergangenheit und Gegenwart, angez. von Direktor Dr. S. P. W i d -
mann in Münster i. W 119
FreiherrvonHertling, Georg, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus,
angez. von Oberlehrer Dr. W. C a p i t a i n e in Eschweiler 460
Herzog, Wilhelm, Heinrich von Kleist, angez. von Direktor Professor Dr.
Hermann Gilow in Berlin 464
Hesse, R., und F. D o f l e i n , Tierbau und Tierleben in ihrem Zusammenhang
betrachtet, angez. von Oberlehrer Professor Dr. R. v. H a n s t e i n in Gr.-
Lichterfelde 572
H e u s s i , K., Kompendium der Kirchengeschichte, angez. von Oberlehrer Professor .
Lic. Dr. W. Koppel mann, Dozenten an der Universität Münster i. W. 105
, Dasselbe. 2. Auflage, angez. von Oberlehrer Professor Rudolf Peters
in Düsseldorf ; 612
Heyn, F., Geschichte Jesu, angez. von Direktor H. R i c h e r t in Posen .... 457
H i l b e r t , G., Christentum und Wissenschaft, angez. vonProfessor Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 684
Hildebrand, R., Gedanken über Gott, die Welt und das Ich. Ein Vermächtnis,
angez. von Direktor a. D. Geh.- Rat Dr. F r. H e u ß n e r in Cassel 395
H 0 f f m a n n , O., Geschichte der griechischen Sprache, angez. von Geh. Reg.- Rat
Direktor a. D. Dr. F r. H e u ß n e r in Cassel 210
Hoffmann-Dennert, Botanischer Bilderatlas nach dem natürlichen Pflanzen-
system. Zugleich eine Flora zur Bestimmung sämtlicher in Deutschland vorkom-
menden Pflanzen, angez. von Dr. W. H e e r i n g in Altona 500
Homers Werke, s. Goldene Klassiker-Bibliothek.
H 0 r n e f f e r , Aug., s. Antike Kultur.
Huck, A., Synopse der drei ersten Evangelien, angez. von Direktor H. R i c h e r t
in Posen 456
v. Humboldt, W., Ausgewählte philosophische Schriften, angez. von Dr.
Eduard Spranger, Professor an der Universität Leipzig 101
H u t h e r , A., Über das Problem einer psychologischen und pädagogischen Theorie
der intellektuellen Begabung, angez. von Direktor Dr. F- r i e d r i c h S c h m i t z
in Langenberg 606
X Inhalt.
Seite
J a c 0 b y , A., Die antiken Mysterienreligionen und das Christentum, angez. von
Oberlehrer Professor Dr. H. W o 1 f in Düsseldorf 400
Jahr, W., Quellenlesebuch zur Kulturgeschichte des früheren deutschen Mittel-
alters, angez. von Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 113
Jahresschau, Pädagogische, über das Volksschulwesen, angez. von Wirkl. Geh.
Ober-Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 550
I d e , Praktische Atmungsgymnastik, angez. von Oberlehrer Professor B. H a b e -
nicht in Linden- Hannover 61
Jerusalem, W., Die Aufgaben des Lehrers an höheren Schulen, angez. von
Konrektor Dr. K. N e f f in Bamberg 318
Jonas, F., Heinrich Bertram, besprochen von Direktor Professor Dr. Her m.
G i 1 0 w in Berlin 32
Kabinett, Das, für kirchliche Kunst im Kollegium S. J. zu Kalksburg bei Wien,
angez. von Oberlehrer Professor Franz Moldenhauer in Köln 50
Kehr, C, Volksschulunterricht, s. C. R o ß o w , Turnunterricht.
Kemmerich, M., Die Deutschen Kaiser und Könige im Bilde, angez. von
Direktor Professor Dr. P. B r a n d t in Düsseldorf 53
K e s s e 1 e r , K-, Der Unsterblichkeitsglaube in religionsgeschichtlicher und reli-
gionsphilosophischer Betrachtung, angez. von Dr. Otto Braun, Dozent
an der Universität Münster i. W 398
Kinkel, W., Idealismus und Realismus, angez. von Direktor Professor Dr.
R. J 0 n a s t in Köslin 323
K i n z e 1 , Die bildende Kunst im deutschen Unterricht der Prima, angez. von
Direktor Professor Dr. P. Brandt in Düsseldorf 691
v. K i r c h n e r , O., Blumen und Insekten, angez. von Professor Dr. J. N o r r e n -
b e r g , Geh. Ober- Reg.- Rat und vortragender Rat im Kultusministerium in Berlin 415
Klassiker-Bibliothek, Goldene, Homers Werke in zwei Teilen, angez. von Wirkl.
Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 209
Klein, F., Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutsch-
land, angez. von Direktor Professor Dr. H. T h i e m e in Bromberg 493
Kleist, s. W. Herzog und Meyer-Benfey.
Klinghardt, H., und M. de Fourmestraux, Französische Intonations-
übungen für Lehrer und Studierende, angez. von Oberlehrer Professor Dr.
Ernst Weber in Steglitz 560
Knabe, K-, Geschichte des deutschen Schulwesens, angez. von Wirkl. Geh.
Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 683
Köhler, Brinus, Die Schilderung des Milieus in Shakespeares Hamlet,
Macbeth und King Lear, angez. von Rektor a. D. Geh. Studienrat Dr. M a r t i n
W 0 h 1 r a b in Dresden- Striesen 566
Kolonien, Die deutschen, angez. von Direktor Dr. W. Scheel in Nowawes bei
Potsdam 489
K ö n i g , E., Die Materie, angez. von Direktor Professor Dr. R. Jonas t in
Köslin 276
König, Ed., Hebräische Grammatik, angez. von Oberlehrer Professor R u -
dolf Peters in Düsseldorf 615
Königsweisheit des großen Friedrich, angez. von Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat Dr.
A. Matthias in Berlin 217
Köstlin, Friedrich, Schülerheft zur Kirchengeschichte, angez. von Ober-
lehrer Professor Rudolf Peters in Düsseldorf 610
K r i e c k , E., Persönlichkeit und Kultur, angez. von Direktor Professor Dr.
R. Jonas t «n Köslin 325
Kropatscheck, s. Zeit- und Streitfragen, Biblische.
Küchler, Carl, In Lavawüsten und Zauberwelten auf Island, angez. von
Oberlehrer Professor Dr. Wilhelm R a n i s c h in Osnabrück 571
Inhalt. XI
Seite
K u li n e r t , Wilhelm, Farbige Tierbilder, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. F. Hock in Perleberg 501
Kultur, Antike, hrsg. von den Gebr. H o r n e f f e r , angez. von Oberlehrer Pro-
fessor Dr. H. Wolf in Düsseldorf 403
Kultur der Gegenwart, s. U. v. Wilamowitz-Moellendorff.
Lange, K-, Der Bibliothekar, angez. von Direktor der Universitätsbibliothek
Dr. Fritz M i 1 k a u in Breslau 389
Lehmann, Rudolf, Erziehung und Unterricht, angez. von Wirkl. Geh.
Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 550
Le h m a n n - H a u p t , C. F., Die historische Semiramis und ihre Zeit, angez.
von Direktor Dr. S. W i d m a n n in Münster i. W 486
L e u c h t e n b e r g e r , G., Vademecum für junge Lehrer, besprochen von Geh.
Reg.- Rat Direktor a. D. Dr. F. T h ü m e n in Naumburg a. S 145
Levinstein, Kurt, Die Erziehungslehre Ernst Moritz Arndts, angez. von
Direktor a. D. Geh. Reg.- Rat Professor Dr. Heinrich Schröerin Posen 607
L i 1 1 g e , F., Komposition und poetische Technik der zltourjooj; ctpia-eic?, angez.
von Direktor Professor Dr. D i e t r i c h M ü 1 d e r in Emden 342
Löh lein, Walther, Hygiene des Auges, angez. von Oberlehrer Dr. F. R o s e n-
d a h 1 in Soest 503
L ö n s , H., Da draußen vor dem Tore, angez. von Oberlehrer Professor Dr. R. v.
Hanstein in Gr.-Lichterfelde-Berlin 635
Lorenz, H., Einführung in die Elemente der höheren Mathematik und Mechanik,
angez. von Direktor Dr. H. S t e c k e I b e r g in Gronau i. W 348
L 0 r e y , W., Staatsprüfung und praktische Ausbildung der Mathematiker an den
höheren Schulen in Preußen und einigen norddeutschen Staaten, angez. von
Oberlehrer Professor F. P a h 1 in Berlin 91
Löwy, Emanuel, Die griechische Plastik, angez. von Direktor Professor
Dr. P. B r a n d t in Düsseldorf 687
L u c e r n a , C a m i 1 1 a , Das Märchen, angez. von Geh. Reg.- Rat Professor Dr.
M. H e y n a c h e r in Hannover 692
L u c k e n b a c h , H., Kunst und Geschichte, angez. von Direktor Professor Dr.
P. B r a n d t in Düsseldorf 688
Lutz Memoirenbibliothek. Leben, Fehden und Händel des Ritters
Götz von Berlichingen, durch ihn selbst beschrieben, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. W. M e i n e r s in Elberfeld 116
Manderscheid, Paul, Abriß der Musikgeschichte, angez. von Gesanglehrer
Traugott Heinrich in Berlin 505
Matthias, Adolf, Praktische Pädagogik für höhere Lehranstalten, angez.
von Direktor Professor Dr. E. G r ü n w a 1 d in Friedeberg Nm 552
Maurenbrecher, B. und Wagner, Philologie, s. Grundzüge der klassischen
Philologie.
Meinhold, Hans, Die Weisheit Israels in Spruch, Sage und Dichtung, angez.
von Oberlehrer Professor Rudolf Peters in Düsseldorf 612
Meisterstücke der Bildhauerkunst, angez. von Direktor Professor Dr. P. Brandt
in Düsseldorf 50
Mensch aller Zeiten, der, von H. Obermaier, angez. von Professor Dr. J. N o r r e n -
berg, Geh. Ober-Reg.-Rat und vortr. Rat im Kultusministerium in Berlin 412
Messer, A., Das Problem der Willensfreiheit, angez. von Direktor Professor Dr.
R. J 0 n a s t in Köslin 329
Meßleny, Richard, Teil-Probleme, angez. von Professor Dr. Gustav Kettner
in Weimar 463
M e t h , B., Schulgeschichten aus dem alten Görlitzer Kloster, angez. von Direktor
Professor Dr. M. W e h r m a n n in Greifenberg i. P 454
XII Inhalt.
Seile
Meyer, Chr., Geschichte Frankens, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W.
M e i n e r s in Elberfeld 488
Meyer-Ben fey, Kleists Leben und Werke, angez. von Direktor Professor
Dr. Hermann Gilowin Berlin 464
M i c h e I i s , H., Unsere ältesten Vorfahren, ihre Abstammung und Kultur, angez.
von Oberlehrer Professor Dr. R. v. Hanstein in Gr.-Lichterfelde-Berlin . 628
M 0 c h , G,, Rapport a S. A. S. le Prince Albert \^^ sur une Mission ä l'Etranger en
vue de la Creation d'un Lycee ä Monaco, angez. von Direktor Fr. Kemeny
in Budapest 98
Moeller van den Brück, Die Deutschen, angez. von Wirkl. Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 213
Monatsschrift für Schulgesang, angez. von Gesanglehrer Traugott Heinrich
in Berlin 507
Montgomery, M., Types of Standard Spoken English and its Chief Local
Variants, angez. von Oberlehrer Professor Dr. A. R o h s in Crefeld 347
Monumenta Germaniae Paedagogica, s. K. R e i s i n g e r , Dokumente.
Morgan, Th. H., Experimentelle Zoologie, angez. von Dr. W. Heerin g in Altona 503
M ü I d e r , D., Die llias und ihre Quellen, angez. von Direktor Professor Dr. W.
P r e 1 1 w i t z in Rastenburg i. Ostpn 404
Müller, E., Technische Übungsaufgaben für darstellende Geometrie, angez. von
Direktor Dr. P. Z ü h 1 k e in Landeshut i. Schi 498
Müller, H. F., s. Schrift über das Erhabene.
M ü 1 1 e r , J., Von den Quellen des Lebens, angez. von Professor Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 684
M ü n c h , Wilhelm, Zum deutschen Kultur- und Bildungsleben, besprochen
von Direktor a. D. Geh. Reg.- Rat Dr. Fr. H e u ß n e r in Cassel 225
N a t h a n s 0 n , A., Tier- und Pflanzenleben des Meeres, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. O. J a n s o n in Köln 124
N a t 0 r p , P., Philosophie, angez. von Direktor Professor Dr. R. J o n a s f in Köslin 269
Natur, Die, s. E. Böse, Die Erdbeben.
N e f f , K., Der Examinator, angez. von Wirk!. Geh. Ober- Reg.- Rat Dr. A. M a t -
t h i a s in Berlin 37
N e u e n d 0 r f f , E., Turnen, Spiel und Sport für deutsche Knaben, angez. von Ober-
lehrer Professor H. Wickenhagen in Berlin- Lichterfelde 219
, Hinaus in die Ferne!, angez. von Direktor Professor Dr. H. Gersten-
berg in Hamburg 281
Neuendorff, R., Praktische Mathematik, angez. von Professor Dr. J. N o r r e n-
berg, Geh. Ober-Reg.-Rat und vortr. Rat im Kultusministerium in Berlin 409
Neuwirth,Jos., Illustrierte Kunstgeschichte, angez. von Direktor Professor Dr.
P. Brandt in Düsseldorf 686
N i t z s c h k e , H., s. Deutsche Bücherei.
O b e r m a i e r , H., s. Der Mensch aller Zeiten.
P a r i s e 1 1 e , E., L. Herrig: La France litt^raire. Edition abregee, angez. von Ober-
lehrer Professor Dr. W. B o h n h a r d t in Düsseldorf 346
P ä t z 0 1 d , F., Entwürfe zu deutschen Arbeiten für Tertia bis Prima nebst einigen aus-
geführten Aufsätzen, angez. von Oberlehrer Professor Dr. Paul Geyer in Brieg 108
P a u 1 s e n , F r., Pädagogik, angez. von Direktor a. D. Geh. Reg.- Rat G. L e u c h -
tenberger in Berlin-Gr.-Lichterfelde 39
, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen, angez. von Direktor a. D. Geh.
Reg.- Rat Dr. F r. H e u ß n e r in Cassel 451
Pestalozzi, J. H., Über Gesetzgebung und Kindermord, angez. von Ober-
lehrer Dr. Gustav H u m p f in Elmshorn 333
P e t r i c h , H., Königin Luise. Ihr Leben, Wirken und Denken in 15 Geschichten,
angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. M e i n e r s in Elberfeld 54
Inhalt. XIII
Seite
Pf e i f f e r , H. A., 1. Übersichtskarte des Mecklenburgischen Seengebiets und
seiner Verbindungen mit Ostsee, Elbe, Havel, Oder für Schiffahrt und Wasser-
sport, angez. von Oberlehrer Professor H. Wickenhagen in Berlin- Groß-
Lichterfelde 56
P h i 1 i p p i , A., Die großen Maler in Wort und Farbe, angez. von Direktor Pro-
fessor Dr. P. Brandt in Düsseldorf 48
P i n s k i , F., Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie, angez. von
Dr. Otto Braun, Dozent an der Universität Münster i. W 394
P 0 h 1 e , J., Die Sternenwelten und ihre Bewohner, angez. von Oberlehrer F r.
Rusch in Dillenburg, Nassau 121
v. Pöhlmann, Robert, Aus Altertum und Gegenwart, angez. von Direktor
a. D. Geh. Reg.-Rat Dr. Fr. H e u ß n e r in Cassel 622
P 0 i n c a r e , L., Die Elektrizität, angez. von Oberlehrer Professor H. Hahn
in Berlin 57
P r i e n e , Nach den Ergebnissen der Ausgrabungen der Königlich Preußischen
Museen 1895 — 1898, angez. von Direktor Professor Dr. jur. et phil. Melchior
T h a m m in Montabaur 117
Quellen. Bücher zur Freude und zur Förderung, angez. von Oberlehrer Dr. Karl
Lorenz in Hamburg 698
Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie, hrsg, von W. S i e g-
1 i n , angez. von Direktor Dr. S. P. W i d m a n n in Münster i. W 114 u. 488
Redslob, Ernst, Kritische Bemerkungen zu Horaz, angez. von Direktor a. D.
Geh. Reg.-Rat Dr. H. R ö h 1 in Zehlendorf bei Berlin 560
R e h m k e , J., Die Willensfreiheit, angez. von Direktor Professor Dr. R. Jonas t
in Köslin 274
Rehtwisch, Th., Königin Luise, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W.
M e i n e r s in Elberfeld 54
— , Die Königin, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. M e i n e r s in Elberfeld 54
Reinhardt, Karl, Die schriftlichen Arbeiten in den preußischen höheren
Lehranstalten, besprochen von Direktor Professor Dr. O. S c h r o e d e r in
Charlottenburg ' 641
R e i s i n g e r , K-, Dokumente zur Geschichte der humanistischen Schulen im
Gebiet der Bayerischen Pfalz, angez. von Direktor Professor Dr. M. W e h r -
mann in Greifenberg i. P. 455
R e u k a u f , A. und E. Heyn, Lesebuch zur Kirchengeschichte mit Abriß der
Kirchengeschichte für höhere Schulen, angez. von Direktor H. R i c h e r t
in Posen 459
Rolle-Sering, Gesänge für Gymnasien und andere höhere Lehranstalten,
angez. von Gesanglehrer Traugott Heinrich in Berlin 639
Roller, Adolf Spieß, angez. von Direktor Dr. Edmund Neuendorff
in Mülheim (Ruhr) 491
R 0 ß 0 w , C, Geschichte des Turnunterrichts, angez. von Oberlehrer Professor
H. Wickenhagen in Berlin- Gr.- Lichterfelde 60
— , Zweite Statistik des Schulturnens in Deutschland, angez. von Oberlehrer Pro-
fessor H. Wickenhagen in Berlin-Gr.-Lichterfelde 60
R 0 t h e , C, Die Ilias als Dichtung, angez. von Oberlehrer Professor Dr. E. G r ü n -
w a 1 d in Berlin 110
R u p e r t i , O., Führer für Wanderruderer, angez. von Oberlehrer Professor H.
Wickenhagen in Berlin-Gr.-Lichterfelde 61
S ä e m a n n , Der, Zeitschrift für Jugendwohlfahrt, Jugendbildung und Jugend-
kunde, angez. von Direktor Professor E. S t u t z e r in Görlitz 38
S ä g e r , A., Der menschliche Körper, dessen Bau, Lebensverrichtungen und Pflege,
angez. von Oberlehrer Dr. G. K l a 1 1 in Görlitz 121
XIV Inhalt.
Seite
Sammlung von Abhandlungen zur psychologischen Pädagogik, s. A. H u t h e r,
Problem.
Sammlung Göschen, s. R. G a s c h , Turnkunst, Chr. Meyer, Franken, und
K. W e 1 1 e r , Württemberg.
Sammlung belehrender Unterhaltungsschriften für die deutsche Jugend, s. E.
Neuendorff, Turnen.
S c h i r m e r , K-, Bilder aus dem altrömischen Leben, angez. von Direktor a. D.
Geh. Reg.-Rat Dr. Fr. H e u ß n ej in Cassel 212
S c h m i d , B., Biologisches Praktikum, angez. von Professor Dr. E. D e n n e r t
in Godesberg 701
S c h n e i d e m ü h 1 , G., Handschrift und Charakter, angez. von Wirkl. Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. M a 1 1 h i a s in Berlin 126
Schneider, Alb., Wirklichkeiten, angez. von Professor Dr. E. D e n n e r t in
Godesberg 68a
Schneider, Gustav, Lesebuch aus Piaton und Aristoteles, angez. von Ober-
lehrer B. V. Hagen in Jena 619
Schneider, K- C, Die Grundgesetze der Deszendenztheorie in ihrer Beziehung
zum religiösen Standpunkt, angez. von Professor Dr. E. D e n n e r t in Godesberg 685
Schramm, E., Griechisch-römische Geschütze, angez. von Direktor Professor
Dr. C. F r e d r i c h in Cüstrin 487
Schrift, Die, über das Erhabene, angez. von Direktor Professor Dr. R. M ü c k e in
Hannover 394
V. Schubert, Hans, Grundzüge der Kirchengeschichte, angez. von Ober-
lehrer Professor Rudolf Peters in Düsseldorf 610
Schuppe, Wilhelm, Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik, angez. von
Pfarrer Dr. Alfred Heußner in Cassel 445
Schwabe, K-, s. Die deutschen Kolonien.
S c h vv a h n , W., Deutsche Aufsätze und Dispositionen für die oberen Klassen
höherer Lehranstalten, angez. von Oberlehrer Professor Dr. Paul G e y e r in
Brieg 109
Schwartz, E., Charakterköpfe aus der antiken Literatur, angez. von Dr. P.
W e n d 1 a n d , Professor an der Universität Göttingen 403
Schwartz, J., Die Entwicklungslehre naturwidrig, angez. von Professor Dr.
E. D e n n e r t in Godesberg 685
S e i 1 e r , F., Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen Lehn-
worts, angez. von Direktor Professor Dr. G. B o e 1 1 i c h e r in Beriin 336
Seil, Karl, Katholizismus und Protestantismus, angez. von Oberlehrer Professor
Rudolf Peters in Düsseldorf 555
Sergel, Albert, Du mein Vateriand, angez. von Direktor Dr. A. Z e h m e
in Berlin-Wilmersdorf 618
S e r i n g , F. W., Gesänge, s. R o 1 1 e - S e r i n g.
Skala, R., Die Gemütsbefriedigung als Angelegenheit der Ästhetik, angez.
von Direktor Professor Dr. R. J o n a s t in Köslin 331
S 0 e r g e 1 , A., Dichtung und Dichter der Zeit, angez. von Wirkl. Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Beriin 277
Spieß, Heinrich, Das moderne England, angez. von Oberiehrer Dr. Paul
Rogozinski in Stolp i. Pomm 569
Steinbart, Quintin, 1841—1912, angez. von Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat
Dr. A. Matthias in Beriin 454
Stephan, Horst, Die Neuzeit, angez. von Oberiehrer Professor Rudolf
Peters in Düsseldorf 611
Strunz, Franz, Geschichte der Naturwissenschaften im Mittelalter, angez.
von Direktor Dr. Friedrich D a n n e m a n n in Barmen 634
Inhalt. XV
Seite
Studies in the History of Classical Teaching, angez. von Oberlehrer Dr. Her m.
Sommermeier in Halberstadt 698
Stürmer, F., Exegetische Beiträge zur Odyssee, angez. von Direktor Professor
Dr. Dietrich Mülder in Emden 344
T e e t z , F., Aufgaben aus deutschen epischen und lyrischen Gedichten, angez.
von Oberlehrer Professor Dr. Paul Geyer in Brieg 110
Tesdorpf, W., Bilderatlas zur Einführung in die Kunstgeschichte, angez.
von Direktor Professor Dr. P. Brandt in Düsseldorf 48
T h i e r g e n , O., Methodik des neuphilologischen Unterrichts, angez. von Ober-
lehrer Professor Dr. W. B o h n h a r d t in Düsseldorf 345
Thiersch, Hermann, An den Rändern des römischen Reichs, angez. von
Direktor Dr. F. Neubauer in Frankfurt a. M 568
Trautmann, Moritz, Der Staat und die deutsche Sprache, angez. von
Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 616
T r e u 1 1 e i n , P., Der geometrische Anschauungsunterricht, angez. von Professor
Dr. J. Norrenberg, Geh. Ober-Reg.-Rat und vortr. Rat im Kultusmini-
sterium in Berlin 410
Velhagen und Klasings Volksbücher. Volksbücher der Geschichte, angez. von Wirkl.
Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 280 u. 701
Violets Berufswahlführer, s. K. Lange, Der Bibliothekar
Vogt, Pet3r, Leitfaden der philosophischen Propädeutik, angez. von Direktor
Professor Dr. G. l o u i s in Berlin 446
Volksbücher, Religionsgeschichtliche, s. A. J a c o b y , Mysterienreligionen.
Walde, Adolf, Das Pilzbüchlein für den Sammler und wandernden Naturfreund,
angez. von Oberlehrer Dr. F[r i t z Pfuhl, Professor an der Akademie Posen 501
Wanderjahrbuch, Deutsches, angez. von Direktor Dr. E. N e u e n d o r f f in Mül-
heim (Ruhr) 504
Weber, G., Lehr- und Handbuch der Weltgeschichte, angez. von Oberlehrer
Professor Dr. V/. M e i n e r s in Elberfeld 55
Wege zur Philosophie, s. W. Kinkel, Idealismus, E. König, Die Materie,
A. Messer, Willensfreiheit, und P. N a t o r p , Philosophie. >
W e i c h e r s Architekturbücher. I. Meisterwerke der spanischen Baukunst, angez.
von Oberlehrer Professor Dr. August Schoop in Düren 104
— Kunstbücher, angez. von Direktor Professor Dr. P. B r a n d t in Düsseldorf . . 49
W e 1 1 e r , K-, Württembergische Geschichte, angez. von Oberlehrer Professor
Dr. W. M e i n e r s in Elberfeld 488
Weniger, L., Jugenderziehung und Weiterbildung, von Direktor Dr. L. M a k -
k e n s e n in Gotha 449
Wickenhagen, Geschichte der Kunst, angez. von Oberlehrer Professor Dr.
August Schoop in Düren 319
Wielands gesammelte Schriften, angez. von Wirkl. Geh. Ober-Reg.-Rat Dr. A.
M a 1 1 1;i a s in Berlin 209
Wiese, F. G., Züge und Bilder aus dem Leben König Friedrich Wilhelm III.
und der Königin Luise, angez. von Oberlehrer Professor Dr. W. M e i n e r s
in Elberfeld 54
V. Wilamowitz-Moellendorff,U. Die griechische und lateinische Lite-
ratur und Sprache, angez. von Direktor a. D. Geh.- Rat Dr. Fr. H e u ß n e r
in Cassel 401
Wissenschaft und Bildung, s. Fr. D a h 1 , Anleitung.
Wolter, E., Französisch in Laut und Schrift und Grammatik der französischen
Sprache, angez. von Oberlehrer Professor Dr. E. W e b e r in Steglitz 218
Wulffen, Erich, Shakespeares große Verbrecher, angez. von Rektor a. D.
Geh. Studienrat Dr. M a r t i n W o h 1 r a b in Dresden- Striesen 563
XV\ Inhalt.
Seite
W u n d t , W., Einleitung in die Philosophie, angez. von Direktor Professor Dr. R.
J 0 n a s t in Köslin 43
Zeit- und Streitfragen, Biblische, zur Aufklärung der Gebildeten, angez. von Ober-
lehrer Professor Rudolf Peters in Düsseldorf 613
Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, angez. von Direktor
Professor Dr. M. W e h r m a n n in Greifenberg i. P 452
Z e n z , W., und F. Frank, Logik und Unterricht, angez. von Direktor Professor
Dr. R. Jonas t »n Köslin 44
Z e p f , K-, Experimentelle Einführung in die Grundlehren der Chemie, angez. von
Oberlehrer Professor Dr. K. A. H e n n i g e r in Charlottenburg 123
Ziehen, Julius, Aus der Werkstatt der Schule, angez. von Wirkl. Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. A. Matthias in Berlin 551
Z i 1 1 e r , F., Die moderne Bibelwissenschaft und die Krisis der evangelischen Kirche,
angez. von Direktor Hans Richert in Posen 104
Z i m m e r , H., Führer durch die deutsche Herbartliteratur, angez. von Oberlehrer Dr.
Gustav H u m p f in Elmshorn 334
Vierte Abteilung.
Vermischtes.
15. Allgemeiner Deutscher Neuphilologentag in Frankfurt a. M. vom 28. — 30. Mai
1912 62 u. 285
Zeitschrift für „Religion und Geisteskultur" 221
Vereinigung für staatsbürgerliche Bildung und Erziehung 221
Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts 222
Amerika- Institut 283
Der erste Philologische Fortbildungskursus in Halle a. S., von Oberlehrer Dr. J o h.
M 0 e 11 e r in Halle a. S 284
Aufruf zur Begründung eines Deutschen Germanisten-Verbandes 284
Eine neue pädagogische Zeitschrift 508
Sonderausstellung „Dekorative Schrift" 640
Bekanntmachung des Königlichen Provinzialschulkollegiums Coblenz, Über Turn-
und Schwimmlehrer- Prüfung 1913 702
Fünfte Abteilung.
S p r e c h s a a 1 63. 127. 223. 510
Berichtigungen.
Oberlehrer Professor Dr. Faßbaender in Münster i. W 287
Oberlehrer Professor Dr. B u d d e in Hannover 288
I. Abhandlungen.
Zehn Jahre.
Zehn Jahre sind vergangen, seitdem diese Monatschrift ins Leben getreten ist.
Es geziemt sich deshalb, ein kurzes Wort zu sagen beim Eintritt in das zweite
Jahrzehnt.
Die Monatschrift ist bemüht gewesen, die Aufgaben, die sie sich gesteckt hatte,
nach besten Kräften zu erfüllen. Vor allem wollte sie der Weiterführung der Schul-
reform dienen und an ihrem Teile dazu beitragen, daß die Ausführungen des Aller-
höchsten Erlasses vom 26. November 1900 im Leben der höheren Schule volle Gel-
tung gewinnen. Der leitende Grundsatz des Erlasses — Gleichwertigkeit der Gym-
nasien, Realgymnasien und Oberrealschulen — wurde als maßgebende Richt-
linie auch für dieses neue Organ des höheren Unterrichts angenommen. Desha'b
wurden Vertreter aller Schulgattungen gebeten an gemeinsamer Arbeit teilzunehmen,
um durch gegenseitige Anregung und Wertschätzung und durch den Grundsatz,
daß die drei Anstaltsarten sich nicht in den Bildungszielen, sondern nur in den
Mitteln und Wegen zu gemeinsamen Erziehungsidealen unterscheiden, die Gegen-
sätze zwischen der sogenannten humanistischen und realistischen Richtung zu
mildern und einem versöhnlichen Ausgange entgegenzuführen.
Als weitere Aufgabe hatte die neue Monatschrift sich gesteckt, gleichsam
einen ausführenden Kommentar zu bilden zu den durch Weiterführung der
Schulreform geschaffenen neuen Lehrplänen und Lehraufgaben, sowie zu den
Verfügungen der Zentral- und Provinzialbehörden. Da Verfügungen sich natur-
gemäß nur in kurzen Sätzen und knappen Fassungen bewegen müssen, galt es,
diese knappen Auslassungen ihren Intentionen nach zu verdeutlichen, die Ver-
fügungen mit frischem Geiste zu erfüllen, in lebendige Tat umzusetzen und das
vertrauensvolle Zusammenwirken von Behörden und Lehrerkollegien dadurch
zu fördern. Die gedeihliche Ausführung der allgemeinen Anordnungen sollte durch
die individuelle Überzeugung jedes einzelnen, der zur Mitarbeit an den Aufgaben
der Schule berufen ist, gesichert werden.
Eng zusammen mit jenen Aufgaben hängt ein drittes Ziel: die höhere Schule
in stetiger lebendiger Fühlung mit den Fortschritten der Wissenschaft zu halten,
ihr alles unpädagogische und unwissenschaftliche Banausentum fernzuhalten und
in der alltäglichen Einzelarbeit die großen erziehlichen Grundsätze und die ideale
Auffassung des Berufes zu kräftigen und zu festigen.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 1
2 A. Matthias, Zehn Jahre.
Diese Aufgaben wird die Monatschrift auch in Zukunft sich bewahren. Daß
es nötig ist, das noch einmal zu klarem Ausdruck zu bringen, hat das vergangene
Jahr bewiesen. Hätte man in allen Schulen, besonders in den lateintreibenden,
die Bestimmungen der Lehrpläne und ihre methodischen Bemerkungen gewissen-
hafter und freudiger befolgt, wären nicht immer noch so viele Lehrer vorhanden,
die im alten Schlendrian dahinwandeln, es wäre ein Erlaß nicht nötig gewesen,
der, was die schriftlichen Klassenarbeiten anbetrifft, ernstlich auf die Lehrpläne
hinweisen und nunmehr Bestimmungen treffen mußte, durch welche diejenigen,
die immer noch nicht vom Geiste der neuen Lehrpläne erfüllt sind, nachdrücklich
angehalten werden, sich abzuwenden von falschen Bahnen und in Geschick und
gutem Willen nach denen sich zu richten, die diesen Geist schon immer in an-
gemessenen pädagogischen Formen entfaltet haben und neuer Bestimmungen
deshalb nicht bedurft hätten. „Wer nicht hören will, muß fühlen", das können
diejenigen sich jetzt in ihr Tagebuch schreiben, die ohne Geschick und guten Willen
den Lehrplänen von 1901 gegenüberstanden.
Der Grund, weshalb diese Lehrpläne noch immer nicht von allen so ausgeführt
werden, wie sie ausgeführt werden sollten, ist ja leicht ersichtlich. Sehr viele Leute,
besonders die Freunde der alten Zeit, da eine einzige Schulart und die mit dieser Art
verbundene einseitige Methode und vielfach leblose Didaktik herrschte, haben ge-
meint, mit der Veröffentlichung der neuen Lehrpläne sei nun aber die Ruhe da, in
der sie bis dahin von den Forderungen nach Reform gestört waren. Man habe nun
endlich, wie man sich sinnig auszudrücken beliebte, den Schulfrieden. Ge-
wiß ist der Schulfrieden gut, wo er hingehört; z. B. auf dem Gebiete der Organi-
sation. Aber in der Schule selbst, in ihrer täglichen Arbeit, in ihrer Pflicht, den
Forderungen des Tages entgegenzukommen und sich beständig durch Ablegung
alter Fehler und Sünden neu zu gestalten und zu reformieren, da gibt es keinen
Schulfrieden; da hat das Wort Friede überhaupt leicht einen bö^en Beigeschmack.
Täuschen wir uns doch nicht: Zu Friedensbannern gesellen sich am liebsten die-
jenigen, die Behaglichkeit und Bequemlichkeit über alles lieben und in dieser Geistes-
verfassung nicht gestört sein mögen. Friede macht ja glücklich, aber er macht auch
schwach; zu leicht verkümmert er die Menschen; an einer Kirchhofsttür mag man
sich dieses Wortes freuen. Über den Türen der Schulen ist das Wort angebrachter,
daß das Leben, auch das Leben der Schule, ein Kampf sein soll; ein Kampf ge-
sunder Lehrart gegen ungesunde Pädagogik, ein Kampf gegen alle die kleinen und
großen Mängel, die unserer Methodik noch immer anhaften, ein Kampf gegen die
Hindernisse, die sich noch immer hier und dazwischen Lehrerauftassung und Schüler-
verständnis legen, ein Kampf gegen veraltete Maßnahmen und Mittel der Erziehung,
ein Kampf vor allem gegen die Anschauung, als ob die Schule eine Stätte freud-
loser Arbeit sei und nicht eine Stätte freudig ten Schaffens,
Die Monatschrift wird sich bemühen, diesem Kampfe weiter zu dienen, wo es
nur nötig ist, für die Weiterentwicklung der Schulreform, die noch lange nicht be-
endet ist, da noch nicht alle guten und wertvollen Gedanken der Lehrpläne und Or-
ganisationsforderungen von 1900 und 1901 zur vollen Ausgestaltung gelangt sind.
Und weil diese Monatschrift eine getreue Kämpferin für vernünftige Schulreform
ist, kann sie einen anderen Kampf mit gutem Gewissen immer wieder aufnehmen
J. Cohn, Die eigene Schulzeit im Urteil der Erwachsenen. 3
gegen alle die Reformer, die in der großen Welt da draußen das große Wort führen,
ohne überhaupt Kenntnis davon zu haben, welche Fülle von gesunderArbeit sich
vollzieht in der Schule von heute, und ohne Gerechtigkeit zu üben dieser Arbeit
gegenüber; auch gegen die Reformer, die in den sogenannten exakten Wissenschaften
ihre Verdienste haben mögen, aber an historischer Objektivität einen solchen Mangel
besitzen, daß sie zu exakten Originalen werden; und schließlich gegen alle die Re-
former, die irgendwo und irgendwie Schiffbruch gelitten haben und dieses Unglück,
das sie durch eigenes Mißgeschick sich zugezogen, der Schule, in der sie nichts gelernt
und sich nicht erzogen haben, zuschreiben und in naiver Verallgemeinerung ihr
eigenes Mißgeschick für ein Unglück der Gesamtheit halten.
In diesen Bestrebungen fühlt sich die Monatschrift unterstützt von immer
zahlreicheren Mitarbeitern, die nicht nur aus Preußen, sondern aus ganz Deutsch-
land sich ihr zugesellen, und sie fühlt die Pflicht, diesen und allen denen zu danken,
die ihr im rüstigen Mitschaffen jetzt und in Zukunft helfen, um, wenn auch nicht
in völligster Übereinstimmung, so doch in einem Sinne mit ihr zu wirken für die
Freude an der Schule. Und wenn diese Freude an der Schule, wie doch zu hoffen
ist, ganz allmählich mehr und mehr sich verwirklicht und wenn von dieser schönen
Reform auch in die weiteren Kreise der Tagespresse und des großen Publikums sich
die Kunde verbreitet, dann wird es doch eine schöne Empfindung sein ohne Liebe-
dienerei für die Liebe zu unseren höheren Schulen mit Wort und Arbeit unermüd-
lich gewirkt zu haben.
Berlin. A. M a 1 1 h i a s.
Die eigene Schulzeit im Urteil der Erwachsenen.
In einem Volke, das die Gesetzgebung direkt, die Verwaltung wenigstens
indirekt beeinflußt, ist es für die Zukunft der Schule wesentlich, wie sich die
eigenen Schülerjahre im Urteil des Erwachsenen darstellen. Aber jeder einzelne
fühlt doch, daß seine Erfahrungen nur einen kleinen zufälligen Ausschnitt geben,
er möchte sie ergänzen — am liebsten durch die Erlebnisse solcher Persönlich-
keiten, die auf verschiedenen Lebensgebieten sich einen Namen errangen, die als
Führer des Volkes anerkannt werden dürfen. Wir müssen daher Alfred Graf*)
dankbar dafür sein, daß er eine größere Anzahl solcher Erinnerungen und Urteile
zusammen gebracht hat. Nun jedoch gilt es, das gesammelte Material richtig zu
gebrauchen, und dazu muß man sich darüber klar sein, wie eine solche Erinne-
rung, ein solches Urteil zustande kommL
Der Laie denkt sich die Erinnerung gerne so, als werde gleichsam ein Ab-
klatsch jedes Erlebnisses aufbewahrt und bei passender Gelegenheit herausgeholt.
Er mag wohl zugeben, daß der Abklatsch im Vergleich zum Original verwaschen
und farblos erscheint, daß er vielleicht auch im Lagern noch weiter an Frische
und an Zahl der Einzelheiten verliert, wie etwa allmählich eine Photographie
verblaßt, aber er wird annehmen, daß das Gedächtnisbild wie ein Lichtbild doch
*) Alfred Graf: Schülerjahre. Erlebnisse und Urteile namhafter Zeitgenossen
Fortschritt (Buchverlag der Hilfe), Berlin-Schöneberg 1912.
4 J. Colm,
mindestens in den großen Umrissen erhalten bleibt. — Der Psychologe weiß, daß
diese Vorstellung falsch ist.*) Wohl wirkt irgendwie jedes Erlebnis nach, aber
meist in der Weise, daß es die Auffassung neuer Erlebnisse verändert. Das Kind,
das einige Male ein liebes Spielzeug heruntergeworfen und zerbrochen hat, hütet
sich allmählich davor, solche Dinge auf die Erde zu schleudern. Aber keineswegs
bewahrt es jedes der Erlebnisse, die ihm zu dieser Einsicht verhalfen, mit allen
näheren Umständen im Geiste auf. Nur vereinzelte Erlebnisse, die aus irgend
einem Grunde einen besonderen Eindruck auf uns gemacht haben, bleiben als
einzelne erhalten, aber auch sie keineswegs unverändert. Vielmehr wird die Mannig-
faltigkeit des Erlebnisses vereinfacht, es werden dabei die hervorstechenden Züge
immer mehr betont, die zurücktretenden immer stärker zurückgedrängt. Dem
Dichter gleich, mit dem man sie auch sonst wohl verglichen hat, ist die Erinne-
rung ein Verdichter. — In unserem Falle nun handelt es sich nicht um Erinnerungen
an ein einzelnes Ereignis, sondern um den Nachhall, den lange Jahre hinterlassen.
Wie ein solcher sich aus weiterklingenden Grundstimmungen, aus der Überschätzung
einzelner starker Eindrücke, aus dem Kontrast gegen vorausgehende oder folgende
Perioden, aus dem Urteil über den Wert des in jener Zeit Erreichten zusammen-
setzt, wird sich schwerlich je exakt auseinanderlegen lassen. Daß es sich dabei
z. T. um Erinnerungen an erlebte Gefühle handelt, vereinfacht die Sachlage sicher-
lich nicht. Ich vermute, daß die Gefühle in der Erinnerung noch stärker schemati-
siert werden als die objektiveren Wahrnehmungen und Vorstellungen — und
noch mehr: die Erinnerungsvorstellungen selbst erwecken Gefühle, und diese
Gefühle brauchen durchaus nicht mit den Gefühlen des Erlebnisses übereinzu-
stimmen, an das sie erinnern. Wir können uns einer Freude schämen, einer glück-
lich überstandenen Gefahr, einer schweren Anstrengung freuen. Man beobachtet
nun gar nicht selten, daß dieser Gefühlston der Erinnerung die Erinnerung an
die früheren Gefühle fälscht.
Wenn man die von Graf gesammelten Aufzeichnungen durchsieht, so findet
man darin die Spuren der schematisierenden steigernden Kraft der Erinnerung
überall wieder. Ich habe das besonders bemerkt, als ich mir die Aufgabe stellte,
bei jedem einzelnen Berichterstatter möglichst ein Gesamturteil herauszuziehen.
Ich hatte erwartet, daß sehr viele gemischte Fälle auftreten würden, in denen
man schwanken konnte, ob der Gesamteindruck ein günstiger oder ungünstiger
sei. Aber dieser Vermutung zuwider überwogen die entschiedenen Urteile weit-
aus. Ganz sicher spielt eine Übertreibung des Kontrastes durch die Erinnerung
mit, wenn bei Männern, die zwei Schulen besucht haben, der Aufenthalt an der
einen Schule als ganz rosig, der an der anderen als ganz schwarz erscheint. So ist es
bei den Dichtern Friedrich Huch und Börries v. Münchhausen. Auch mir selbst
erscheinen, allerdings zum Teil aus Ursachen persönlicher von der Schule unab-
hängiger Art, meine ersten Gymnasialjahre (Görlitz) als sehr unerfreulich, während
ich mich der späteren (Askanisches Gymnasium zu Beriin) mit der größten Freude
erinnere. Daß sich endlich verschiedene Temperamente sehr verschieden zur Ver-
*) vgl. zum Folgenden bes. L. W, Stern: Zur Psychologie der Aussage, Berlin 1902
(Aus der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 22). Ferner die von Stern
herausgegebenen „Beiträge zur Psychologie der Aussage" 1903—1905.
Die eigene Schulzeit im Urteil der Erwachsenen. 5
gangenheit stellen, daß die einen sie zu vergolden, die anderen sie anzuschwärzen,
geneigt sind, ist bekannt genug. Auch Theorien, z. B. über den Wert oder Unwert
der humanistischen Bildung, werden die Erinnerung notwendig färben. Gegenüber
dieser Unsicherheit des bewußt Erinnerten mögen sich manche gerne in die Träume
flüchten, die aus dem Unbewußten aufsteigen. Daß uns Angstträume sehr häufig
in Schulstunden zurückversetzen, wird daher oft als Beweis für das Vorherrschen
der Angstgefühle in jenen Jahren angeführt. Meine eigene Erfahrung macht mich
gegen diese Folgerung mißtrauisch. Seit Jahren träume ich mich in Angstzuständen,
als Kolleg lesend. Man könnte daraus schließen, daß ich gewöhnlich mit Angst
in die Vorlesung gehe, und daß ich das Dozieren als eine Last empfinde, während
durchaus das Gegenteil der Fall ist. Was mich im Traum bedrängt, ist zum Teil nie
vorgekommen, zum Teil außerordentlich selten. Man sieht, wie sehr Träume
trügen können.
Trotz allen Mängeln der Erinnerung scheint mir doch einiger Wert gelegt
werden zu müssen auf das Gesamturteil, das sie zurückläßt, das gleichsam ein Teil
unseres geistigen Organismus wird. Wir haben in ihm gewiß keine Spiegelung
des Gewesenen aber doch ein Produkt aus den Eindrücken und aus den Anlagen
des Urteilenden. Freilich auch dieses Urteil ändert sich durch neue Erfahrungen,
aber solche Änderungen sind sehr lehrreich, wenn sie in ihrer Eigenart erkannt
werden. Ein interessantes Beispiel liefert der Naturforscher France; er verließ,
wie er sagt, die Schule mit Groll darüber, daß sie ihm nicht das geboten habe,
was er suchte, was ihn wahrhaft förderte. Im Laufe des Lebens aber hatte er Gelegen-
heit, viele Menschen zu beraten, die ihn um Hilfe in geistigen Nöten baten, und
dieser Einblick in fremdes Geistesleben hat ihn zu einem anderen Urteil über die
Schulbildung gebracht. Er erlangte die Einsicht: „Nicht das Wissen, nicht den
Verstand und Charakter verdanken wir der Schule, sondern die Handhabung des
Wissens." Er fand, daß fast alle, die keine reguläre Schulbildung genossen haben,
der Fähigkeit ermangelten, klar zu denken und richtige Folgerungen zu ziehen.
Es soll nun versucht werden, einige Ergebnisse aus dem Material zu gewinnen,
das Grafs Buch enthält. G af selbst ordnet die von ihm befragten Persönlichkeiten
nach ihren Berufen. Ich habe mich daher gefragt, wie sich die günstigen und un-
günstigen Urteile auf die verschiedenen Berufe verteilen. Natürlich sind für eine
solche Zusammenstellung nicht alle Berichte brauchbar. Manche sprechen nur
über irgend eine Einzelheit, oder berichten von einem von der Norm abweichenden
Bildungsgang und mußten daher ausgeschlossen werden. Ferner können natürlich
auch nur die Urteile miteinander verglichen werden, die sich auf die gleiche Schulart
beziehen.
Die Zahl solcher, die nur eine Volksschulbildung erhalten haben, ist in Grafs
Buch sehr gering, nur bei den bildenden Künstlern ein wenig größer. Es wäre
wünschenswert, sie durch Befragung hervorragender Arbeiterführer zu vermehren.
Die große Mehrzahl aller Befragten kommt aus humanistischen Gymnasien; eine
verhältnismäßig kleinere Zahl aus Realanstalten. Das ist nicht zu verwundern,
da ja die meisten höheren Berufe bis vor wenigen Jahren den Abiturienten der
Realanstalten verschlossen waren. Grafs erste Gruppe bilden Juristen und Männer
des öffentlichen Lebens, d. h. wesentlich Politiker. Dreizehn Urteile kommen hier
6 J- Cohn,
in Betracht von Männern, die sämtlich humanistische Vorbildung erhalten haben.
Von ihnen haben sieben günstig, fünf ungünstig geurteilt; einer steht in der Mitte.*)
Auch die folgenden Gruppen der Philosophen, Philologen und Theologen sind sämt-
lich humanistisch vorgebildet. Es sind zusammen sechzehn, von denen fünfzehn
günstige Urteile über ihre Schulzeit abgeben; nur einer, Ludwig Gurlitt, urteilt
ungünstig. Drei unter den Theologen machen gewisse Einschränkungen bei ihren
günstigen Urteilen.' Die Zahl der Mediziner und Naturforscher ist leider allzu
gering, um hier in Betracht zu kommen. — Groß ist die Zahl der Dichter und
Schriftsteller, die auf Grafs Frage geantwortet haben. Unter 29 humanistisch
Vorgebildeten haben 9'/. überwiegend günstige, M'/g überwiegend ungünstige
Urteile gefällt. Die Halbierung bezieht sich auf einen, der zwei verschiedene An-
stalten besucht hat, und über sie verschieden urteilt. Fünf Dichter haben Real-
anstalten besucht; unter ihnen urteilen drei ungünstig, es sind ehemalige Real-
gymnasiasten. Einer, der eine alte Berliner Gewerbeschule besucht hat, urteilt
günstig. Unter den Schriftstellern finden sich wohl die allerschroffsten Urteile
und die härtesten Ausdrücke z. B. bei Hermann Bahr und Alfred Kerr. Die übelsten
Schulerfahrungen aber haben die bildenden Künstler gemacht. Sie haben auch
relativ häufig die Schulart gewechselt, so daß wir 15 % Urteile dem humanistischen
Gymnasium, 5 /g den Realanstalten zurechnen müssen. Unter den humani-
stisch Vorgebildeten urteilt nur ein einziger, der Architekt Schumacher, günstig
über seine Vorbildung 12 Vg Urteile sind entschieden ungünstig. Die Urteile
über Realanstalten geben ein günstige es Resultat. • Es sind SVg günstige,
Vp ungünstige Urteile. Auch hier finden wir unter den günstig Urteilenden einen
Architekten, Muthesius. — Die letzte Gruppe bilden die Musiker und
Bühnenkünstler. Auch sie urteilen überwiegend ungünstig. Sieben sind
humanistisch vorgebildet; von ihnen gibt einer ein günstiges, vier ein ungünstiges
Urteil ab, die zwei realistisch Vorgebildeten zeigen keine entschiedene Färbung.
Man sieht also, daß die Berufsgruppen sich in ihren Urteilen deutlich unter-
scheiden. Auf der einen Seite stehen Philosophen, Philologen und Theologen, kurz
Arbeiter an Geistes- oder Kulturwissenschaften; auf der anderen Seite die Künstler,
insbesondere die bildenden Künstler. In der Mitte stehen die Praktiker und Ju-
risten. Die Ursachen dieser Verschiedenheit sind leicht zu finden. Zunächst wird
man an das dem Zwange abgeneigte Naturell des Künstlers denken, und sicher
spielt das eine Rolle; aber wenn man erwägt, daß unter den Schriftstellern günstige
Urteile doch häufiger vorkommen, daß z. B. der Maler Wilhelm Steinhausen,
eine milde und abgeklärte Persönlichkeit, sich in seinem Urteil nicht von dem
seiner Berufsgenossen unterscheidet, so muß man doch noch an etwas anderes
denken. Die aufs Anschauliche gerichtete Geistesart des bildenden Künstlers erhält
in der Tat auf unsrer Schule nicht die geeignete Nahrung, am wenigsten auf dem
humanistischen Gymnasium, eher noch auf dem Realgymnasium. Auch fehlt
dem bildenden Künstler auf der Schule jede Ausbildung in den Fertigkeiten, deren
*) Bemerkenswert, weil Urteile von Praktikern so selten sind, ist das günstige
Votum Johannes Kampfs, , das ungünstige Müller-Meiningens. Das Oktoberheft 1911 des
„Säemann" gibt 2 günstige Urteile von Männern der Praxis über die humanistische
Bildung wieder: S. 615 das von Engelbert Pernerstorfer, S. 629 das von Dernburg.
Die eigene Schulzeit im Urteil der Erwachsenen. 7
er bedarf. Durch die Reform des Zeichenunterrichts hat sich hier vielleicht einiges
gebessert, aber das kommt naturgemäß in den Urteilen noch nicht zum Ausdruck.
So, glaube ich, erklärt sich der Unterschied zwischen den Dichtern auf der einen,
den bildenden Künstlern auf der anderen Seite.
Zwei Folgerungen möchte ich aus dieser Zusammenstellung ziehen: eine
methodische für weitere Untersuchungen ähnlicher Art und eine praktische. Es
wäre wünschenswert, wenn bei späteren Umfragen gerade die Berufe stärker
herangezogen würden, deren Urteil schwankt. Das Lob, das Philologen und Theo-
logen der Schule zollen, werden die Gegner nicht hoch einschätzen, da ja ihren An-
lagen der Unterricht einseitig angepaßt sei. Andererseits sind die Künstler Aus-
nahme-Naturen, die in einer für größere M mgen berechn ten Anstalt nicht in erster
Linie berücksichtigt werden können. Maßgebend wäre das Urteil von Männern
des praktischen Lebens, von Kaufleuten und Industriellen vor allem, dann auch
von Medizinern, praktischen Juristen, besonders höheren Verwalt ngsbeamten,
endlich von Offizieren, soweit sie nicht aus dem Kadettenkorps kommen. Auch
Naturforscher wünschte ich mehr herangezogen zu sehen*).
M3ine praktische Forderung richtet sich an die Lehrer. Ich habe betont,
daß die Schule für Künstlernaturen ungeeignet sein muß. Darin liegt kein Vor-
wurf für sie; vielmehr ist das eine notwendige Folge ihrer für alle gleichen An-
forderungen, ihres auf Bildung des Intellekts gerichteten Lehrplans. Aber ein ein-
sichtiger Lehrer vermag diese unvermeidlichen Härten zu mildern. Er kann
einem künstlerisch interessierten Knaben den Stoff von der Seite nahe bringen,
die ihm zugänglich ist. Gerade bei einseitigen Talenten gehört dazu oft weniger
Zeit als man glaubt; denn sie erfassen einen raschen Wink mit dem sicheren In-
stinkte ihres Talentes. Auch das widerspenstige Wesen künstlerischer Naturen
kann durch ein Wort des Verständnisses gemildert werden.**)
Der in dem Grätschen Buche vorliegende Stoff läßt sich natürlich auch nach
anderen Gesichtspunkten als nach dem Berufe der Urteilenden gruppieren, und
solche veränderte Anordnungen ergeben neue Ansichten. Ich will nur zwei an-
führen: die soziale Herkunft der Urteilenden und die Schularten,
die beurteilt werden.
Nach der sozialen Stellung der Eltern kann man natüriich nicht alle Urteile
einteilen, da Angaben darüber häufig fehlen. Bemerkenswert aber ist, daß Männer,
die in ärmlichen und drückenden Verhältnissen aufgewachsen sind, öfters die
*) Nach dem Bericht über die Entstehung seines Buches, den Graf soeben im
Säemann (Oktober 1911) gegeben hat, ist er allerdings an der einseitigen Zusammen-
stellung seines Materials nicht ganz schuld, er hat z. B. an 120 Kaufleute Fragebogen
versandt. Immerhin wiegen schon unter den Gefragten die Gelehrten (450) und Schrift-
steller (250) zu sehr vor. Es wäre in Zukunft vielleicht wünschenswert, den Fragebogen
eine Notiz beizufügen, daß gerade Angaben von Männern des praktischen Lebens er-
wünscht seien. Wieviel Naturforscher und Ärzte unter den befragten Gelehrten waren,
gibt Graf nicht an. An aktive Militärs sich zu wenden, erwies sich ihm, wie er sagt,
schon nach wenigen Proben als „unrentabel".
**) Es ist bemerkenswert, daß die besten unter den Schülerromanen, Freund Hein
V. E. Strauß und die hergehörige Episode aus Th. Manns Buddenbrooks, künstlerisch
begabte Knaben zu Helden wählen. Auch diese Romane, besonders „Freund Hein",
sind geeignet, den Blick des Lehrers für die Eigenart seiner Schüler zu schärfen.
8 J. Cohn,
Schule im Gegensatze dazu preisen. Unter den Malern urteilt ausnahmsweise günstig
Ernst Kreidolf, den ein strenger Großvater zum Bauern erziehen wollte. Er hat
eine Realschule besucht. Aber ganz verwandt ist das Urteil des auf einem huma-
nistischen Gymnasium in Leipzig vorgebildeten Schauspielers Ferdinand Gregori,
das ebenfalls sehr von dem seiner Berufsgenossen absticht. Er sagt: ,,Was mir
die Schule noch heute in freundlichem Lichte erscheinen läßt, das ist der dunkle
Hintergrund, von dem sie sich abhebt. Wir waren sehr sehr arm und pfennigweise
wurde das Brot verdient." Trotzdem er sich auch an viele tote Stunden erinnert,
dankt er dem Gymnasium seine geistige Elastizität. Er hebt dabei seinen willigen
Schulbesuch hervor und fügt hinzu: „wieviele vergällten sich die schönen Jahre
nur, weil sie sich zu nichts zwingen wollen (und das Leben zwingt später jeden)
oder weil sie mit der Herde liefen, die ihnen den Haß gegen einige Lehrer und
Fächer einredete." — „Ich war schon Lehrer in meiner grünsten Schulzeit, ich ver-
stand den Jammer des Lehrerberufes von ganzem Herzen; er ist viel ärger als der
des Schülertums." Ganz anders hebt sich die Schulzeit ab vom Hintergrunde
eines freien Künstlerhauses. Es ist doch bemerkenswert, daß Ludwig Gurlitt
erzählt: „mein lieber Vater erklärte laut vor uns, die Schulen wären Verdummungs-
anstalten und wir sollten die ewige Ochserei lassen. Die Ferien verbrachten wir
in Schloß S. bei G. oder im Thüringer Walde in W. in ungetrübter Lust, im
Sommer mit Bewegungsspielen, im Winter mit allerlei künstlerischem Treiben
beschäftigt." —
Es wird besonders interessieren, wie das Urteil über verschiedene
SchulenundSchularten ausfällt. Freilich läßt uns gerade hier das Mate-
rial vielfach im Stiche. Auf die bemerkenswerten Beiträge zur Geschichte einzelner
Anstalten kann hier natürlich nicht eingegangen werden, die Angaben über Real-
gymnasien und Realschulen sind wenig zahlreich und unergiebig; daher möchte
ich nur einiges anführen, was über Privatunterricht und Volksschulen gesagt wird,
und daran Bemerkungen über einige besondere Gruppen humanistischer Gym-
nasien anfügen.
Eine ganze Reihe Berichterstatter sind anfangs privatim unter-
richtet worden. Bemerkenswert ist das Urteil, das Pfarrer Traub über Einzel-
unterricht fällt, den er drei Jahre lang bei seinem Vater genossen hat. Er hebt
hervor, daß Privatunterricht weit mehr anstrengt als Klassenunterricht, bemerkt
aber zugleich, daß das persönliche Moment unmittelbarer Erziehung im Einzel-
unterricht stärker hervortritt, und daß es eine fröhlichere Sache ist, in luftiger
Gartenlaube Livius zu lesen als im Lehrsaal. Ganz ohne Schulbildung ist die
Dichterin Isolde Kurz aufgewachsen, die Tochter des berühmten Dichters Hermann
Kurz. Sie rühmt die geistige Anregung und Frische ihres Elternhauses, aber sie
beklagt die Unfähigkeit, sich in die Welt zu schicken,, als ein Ergebnis ihrer Er-
ziehung. — Für die heute so viel besprochene Frage der Einheitsschule sind die
Urteile derer bemerkenswert, die in der Volksschule für den höheren Unter-
richt vorbereitet wurden. Sie sind im allgemeinen günstig. Ja mehrfach wird
hervorgehoben, daß das Volksschuljahre schöner waren als die späteren. So sagt
der Maler S 1 e v o g t , daß er die Volksschule gerne und mit Erfolg weil mit Eifer
besucht habe, daß dagegen mit Eintritt in die Lateinschule die Lernbegierde schwand.
Die eigene Schulzeit im Urteil der Erwachsenen. 9
Ähnlich berichtet der Dichter ßusson, daß er seine zwei Volksschullehrer, alte Tiroler,
die noch ganz im alten S'ile mit viel Humor und gutmütiger Strenge unter-
richteten, recht gerne hatte, während im Gymnasium die Stellung zu den Lehrern
sich rasch änderte. Geklagt wird einige Male über P r ü g e 1 d i s z i p 1 i n. Aber
diese Urteile stammen aus älterer Zeit.*) ?.o von Sombart der 1863, von Gurlitt,
der 1865 geboren ist. Noch weniger für heutige Verhältnisse maßgebend ist das
ganz ungünstige Urteil des Juristen Kohler über eine badische Volksschule, die er
während der 50 er Jahre besucht hat. Aus neuerer Zeit finde ich keine Klagen
über allgemeines Prügeln, nur einzelne Prügelpädagogen haben eine üble Erinne-
rung auch bei solchen hinterlassen, die, wie der Zeichner Greiner, sonst der Volks-
schule gerne gedenken. Es ist besonders bemerkenswert, daß gerade im
Gegensatze zu den ungünstigen Urteilen bildender Künstler über höhere
Schulen, die bildenden Künstler, die nur Volksschulen besucht haben, günstig
urteilen oder wenigstens nichts zu klagen haben. Gewiß liegt diese günstige
Stellung zur Volksschule zum großen Teil daran, daß hier der Unterricht mit 14
Jahren aufhört, daß also die große Schwierigkeit in der Behandlung der nach
Selbständigkeit strebenden, jungen, begabten Menschen wegfällt. Trotzdem
scheint mir die wiederholt gemachte Beobachtung, daß die Stellung zu den
Lehrern sogleich bei Eintritt in die höhere Schule sich verschlechtert habe, noch
auf etwas anderes hinzuweisen. Ich vermute doch, daß sich hier die bessere
pädagogische Bildung der Volksschullehrer geltend macht.
Unter den Gymnasien bilden die Fürstenschulen Sachsens und Schulpforta,
das einst auch Fürstenschule war, eine Gruppe für sich. Drei ehemalige Schüler von
St. Afra in Meißen und ein alter Pförtner haben berichtet: es sind wohl die am
meisten für ihre alte Schule begeisterten Urteile. Der alte Pförtner ist U. von
Wilamowitz-Möllendorf, die drei Afraner: Friedrich Naumann, der Theologe Fried-
rich Meyer und der Dichter Franz Adam Beyerlein. Mit zwei Vertretern der Geistes-
wissenschaften sind also ein Politiker und ein Schriftsteller im Preise dieser Schulen
einig. Sie alle sind entschiedene Anhänger der humanistischen Bildung geblieben;
dabei ist Beyerlein, wie sein Roman „Jena oder Sedan" beweist, eine zur Kritik
und Opposition geneigte Natur. Kleinstädtische, streng humanistische Anstalten
werden, besonders in etwas älterer Zeit, nicht selten gerühmt. — Öfters wird auch
hervorgehoben, wie günstig die Verhältnisse in den oberen Klassen kleiner Gym-
nasien lagen, wo die geringe Schülerzahl eine individuelle Behandlung möglich
machte. Der Abgeordnete Basser mann z. B. hebt das im Gegensatze zu
den heutigen überfüllten Klassen hervor.
Gar nicht leicht ist es, den Inhalt der Urteile und Erinnerungen irgend-
wie zusammen zu fassen. Indem ich für anderes, z. B. das Verhältnis zu den Mit-
schülern, auf das Studium des Werkes verweise, beschränke ich mich darauf, die
Urteile über hygienische Verhältnisse, über Lehrstoffe und endlich über die Lehrer
kurz zu kennzeichnen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stehen unter den An-
klagen gegen die Schule im Vordergrund die Vorwürfe über gesundheitliche Schädi-
gungen, bes. Überbürdung. In Grafs Buche zähle ich sieben Fälle, in denen gesund-
*) Ich habe doch auch in neuerer Zeit mancherorts von Prügel-Disziplin gehört. Wir
sollten uns in dieser Beziehung nicht allzusehr in Sicherheit wiegen. Mtth.
10 J. Cohn,
heitliche Schädigung durch die Schule behauptet wird. Eines dieser Urteile (Ludwig
Gurlitt) ist ganz allgemein, eines (Traub) bezieht sich auf eine lokale, seither ge-
milderte Einrichtung, das Württembergische Landexamen, eines (Bruno Wille)
auf eine hygienische Einzelheit (Kurzsichtigkeit). Schwerer wiegen die Fälle, in
denen von eigentlicher Überbürdung, von schwerem Zusammenbruch und tiefen
Depressionen berichtet wird. Es sind v e-: der Mediziner F o r e 1 , der Schriftsteller
Fred, der Maler P i e t s c h und der Musiker Weingärtner. Dem gegen-
über stehen zehn Urteile, die gesundheitliche Schädigungen durch die Schule
in Abrede stellen und erklären, daß von einer Überbürdung auf der Schule nicht
die Rede sein kann. (Hierher u. a. Fürst B. v. Bülow,FriedrichNaumann,
Rein, Windelband, Graf Kaikreuth und H. M u t h e s i u s). Die Zahl
der günstigen Urteile überwiegt also, aber vielleicht wäre über gesundheitliche
Schäden mehr geklagt worden, wenn mehr Mediziner geantwortet hätten. Öfters
beklagt v/ird der Mangel an körperlicher Ausbildung, nicht selten mit dem Zu-
sätze, daß der Betreffende diesem durch Sport und Spiel einigermaßen abgeholfen
habe, öfter auch mit der Bemerkung, daß das seither besser geworden sei.
Unter den Lehrstoffen möchte ich nur die am häufigsten beurteilten, die alten
Sprachen und die Mathematik, erörtern. Nach dem Religionsunterricht und seiner
Wirkung ist zwar ausdrücklich gefragt worden, die Antworten aber sind nicht sehr
ergiebig — es läßt sich ihnen wohl nur entnehmen, daß gerade hier alles auf den
Lehrer ankommt. Die größte Verschiedenheit findet sich in den Urteilen über
die alten Sprachen. Das wird niemand anders erwarten, der irgendwie
die Diskussionen über das humanistische Gymnasium kennt. Nicht ganz
selten, besonders bei Schriftstellern findet man die Bemerkung, daß der Betreffende
erst später wieder zur Lektüre der Alten zurückgekehrt sei, die ihm das Gymnasium
verekelt habe. Die gleiche Anklage wird auch gegen den Unterricht im Deutschen
und in der Religion erhoben. Auf der anderen Seite sind die sprachlichen Fächer
gerade die, bei denen am öftesten eine Förderung, besonders durch einzelne Lehrer,
hervorgehoben wird, und über die manche mit Begeisterung berichten. Daß das
Urteil über die Mathematik sehr häufig ungünstig lautet, liegt zum Teil
an der Auswahl der Urteilenden. Es überwiegen ja weitaus philologisch-historische
oder künstlerische Geister. Wenn die Zahl der Naturforscher, Techniker usw.
größer wäre, so würde wohl das Urteil über den mathematischen Unterricht anders
ausfallen. Immerhin ist bemerkenswert, wie oft von sonst begabten Männern
die Mathematik als ein unzugängliches und qualvolles Fach bezeichnet wird.
Was endlich die einzelnen Urteile über Lehrer und die zahlreichen Lehrer-
porträts betrifft, so scheint mir bemerkenswert, daß gerade strenge Lehrer, und
solche, die hohe Anforderungen stellten, oft gerühmt werden. — Man fühlt sich
stolz, bei ihnen etwas zu leisten, und freut sich nachträglich der Anforderungen,
die sie gestellt haben, und denen gegenüber man sich bewährt hat. Auch an solche,
die private Tätigkeit anregten, erinnert man sich gern. So preist der Architekt
Schumacher den Bremer Direktor K. Bulle, der in den oberen Klassen unter souve-
räner Nichtachtung des Stundenplans hier und da einen ganzen Vormittag der wohl
vorbereiteten Lektüre einer griechischen Tragödie widmete. Im übrigen bestätigt
mir die Lektüre, daß in dem Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler viele ganz
Die eigene Schulzeit im Urteil der Erwachsenen. 11
individuelle Momente mitsprechen. Ich wünschte, daß die Lehrer an den oberen
Klassen der höheren Schulen sich das überlegten; sie würden es dann nicht
so bitter empfinden, wenn ein sonst begabter Schüler in ihrem Unterrichte weniger
Eifer zeigte. Ferner sind solche Erwägungen geeignet, sich gegenüber der st engen
Einförmigkeit, die in der Tendenz der Staatsschule liegt, auch der von der Norm
abweichenden Lehrer anzunehmen, sofern sie nur irgend etwas Positives zu bieten
haben. In diesem Sinne möchte ich eine Erinnerung des Dichters Schaukai her-
vorheben, der einem ,, skurrilen Patron" besonders dankbar ist, weil der mit einem
seltsam ironischen Humor begnadete Kauz seine Griechen und Römer burlesk-
drastisch vorspielte. Was in der Schulzeit nur eine Hetz zu sein schien, gilt dem
Manne als etwas Wichtiges, als ein wirkliches Erleben der Alten.
Da die Aufzeichnungen meist Zustände betreffen, die um mehrere Jahrzehnte
zurückliegen, da ferner einige Beobachter das Einst und das Jetzt vergleichen,
so liegt die Frage nahe, ob sich die Schulen seither geändert haben. Graf meint
in seiner kurzen Einleitung, daß manches besser geworden sei. Das ist sicher
für die Schulhygiene und die körperliche Ausbildung der Schüler richtig; ebenso,
wie einige Beobachter hervorheben, für die Anschaulichkeit des Unterrichts. Aber
sollten diesen Errungenschaften nicht auch Verluste gegenüberstehen? Ich meine
nicht Rückschritte der Allgemeinheit, wohl aber ein Seltenerwerden gewisser
glänzender und für die Heranbildung höherer Intelligenzen höchst wichtiger Aus-
nahmen. Allerwärts, so scheint mir, wächst die Rücksicht auf die, die gerade noch
knapp den Anforderungen höherer Bildung genügen können. Nicht ohne Grund
fürchten sich die Lehrer, ihre Anforderungen höher zu spannen.
Das führt uns zu der Frage, ob aus den Sammlungen Grafs sich praktische
Folgerungen ziehen lassen. Man muß damit, glaube ich, sehr vorsichtig sein, und
ich möchte das Wenige, das ich noch sagen will, durchaus nicht' als wissenschaft-
lich begründete Folgerung, sondern lediglich als persönliche Meinung vorbringen.
Da scheint mir in erster Linie bemerkenswert, daß eine Gruppe höchst bedeutender
Geister für die in so vielen Urteilen angegriffene streng humanistische Bildung
entschieden eintritt. Da wir nun die Gleichberechtigung der drei höheren Schulen
haben, da also niemand mehr gezwungen ist, aus äußeren Gründen das huma-
nistische Gymnasium zu besuchen, so wünsche ich, daß man dieser Schulgattung
Freiheit lasse, ihrer Eigenart wirklich zu pflegen. Was die Mathematik betrifft, so
möchte ich sie trotz aller Gegner niemandem erlassen. Di Strenge dtr Wissenschaft
lernt der junge Geist hier zuerst k nnen, hier zuerst wird ihm die wichtige Lehre zu
Teil, sich nie mit dem Ungefähr zu begnügen. Aber etwas anderes ist es, ob man
wirklich von allen das ganze Gymnasial-Pensum fordern soll. Die vielen Klagen
über Vergewaltigung, das Lob, das so oft Lehrern gespendet wird, die die
Eigentätigkeit förderten, spricht ohnedies für ein Durchbrechen des Klassensystems
auf der Oberstufe, für eine gewisse Wahlfreiheit, wie sie ja heute vielfach erstrebt
wird. In der Mathematik empfiehlt es sich vielleicht, für die Schwachen von der
0 II ab statt des weiterführenden Unterrichts einen Repetitionskurs einzurichten:
sie sollten einfach die Elemente noch einmal durchmachen, wobei im Geiste des
Unterrichts entsprechend dem reiferen Alter eine wissenschaftliche Vertiefung
12 J. Cohn, Die eigene Schulzeit im Urteil der Erwachsenen.
möglich wäre. Dann würde kaum einer das Gymnasium verlassen, ohne den Segen
des strengen mathematischen Erkennens erfahren zu haben.
Im allgemeinen zeigt auch diese Zusammenstellung wieder, wie verschieden
verschiedene Individualitäten in den entscheidenden Jahren der Jugend auf den
Zwang der Schule reagieren. Das sollte Eltern und Lehrer, vor allem aber alle,
die als Verwaltungsbeamte oder Politiker über die Zukunft unserer Schulen zu
bestimmen haben, nachdenklich machen. Eine Hauptgefahr der modernen Ent-
wickelung scheint mir nämlich darin zu bestehen, daß für eine wachsende Zahl
von Berufen das Abschlußexamen einer neunstufigen Vollanstalt gefordert wird.
Ich sehe nicht ein, warum ein Zahnarzt, ein Tierarzt, ein Apotheker das Abiturienten-
zeugnis haben muß. Es sind auch wesentlich unsachliche Standesinteressen, die
zu dieser Forderung führen. Man will anderen Ständen gesellschaftlich gleich-
stehen und man will unbequeme Konkurrenz fernhalten. Der zweite Grund ver-
dient gar nicht berücksichtigt zu werden, der erste dagegen sollte jeden einzelnen zu
einer Revision gesellschaftl eher Vorurteile veranlassen. Viel leichter würden Väter
sich entschließen, Kinder, die sich vielleicht bei hervorragender Begabung nach and.Ter
Richtung hin für die höheren Schulen nicht eignen, aus ihnen zu entfernen, wenn nicht
ein immer vollständigeres Gitter von Berechtigungen dem Wildling fast alle Berufe
verschlösse. Es wirkt auf den Beobachter bei näherer Überlegung geradezu grotesk,
daß auf der einen Seite unsere Schule gar nicht heftig genug angegriffen werden
kann, auf der anderen Seite aber eine maßlose Überschätzung der regelmäßig
Vorgebildeten besteht. Ich weiß wohl, daß der moderne Großstaat das Berechti-
gung-wesen nicht entbehren kann, aber es muß dafür gesorgt werden, daß immer
Lebenswege offen bleiben für die oft sehr tüchtigen Männer, die einmal nicht für
den regelmäßigen langen Schulweg passen.
Ich bin von Schulfragen auf soziale Erwägungen abgeglitten; das war un-
vermeidlich, denn unsere Schule ist viel mehr, als man oft meint, von den gesamten
Zuständen der Gesellschaft abhängig. Es wäre recht gut, wenn Bücher wie das Graf-
sche zum Nachdenken darüber anregten, anstatt zu maßlosen und verbitternden
Angriffen gegen Schule und Lehrer. Überhaupt wünschte ich, daß das Buch von
verschiedenen in sehr verschiedenem Sinne gelesen und benützt würde: Von unseren
Jungen — hoffentlich gar nicht. Von Eltern, überhaupt von reiferen Menschen zur
Ergänzung, nicht zur Bestätigung des eigenen Urteils. Mir selbst hat das Werk
in diesem Sinne genützt. Von den Lehrern aber, den jüngeren zumal, sollte das
Buch gründlich studiert werden, und zwar sollten sie ihre Aufmerksamkeit gerade
den Erzählungen einzelner Schulereignisse schenken, die als fördernd oder schädigend
den Betroffenen ihr ganzes Leben lang im Gedächtnis geblieben sind. Daraus
können sie für ihr praktisches Verhalten ungemein viel lernen, wenn sie sich durch
heftige, selbst abgeschmackte Ausfälle nicht verbittern lassen. Ich weiß, daß
übertriebene Anklagen den Lehrern ihr schweres Amt noch schwerer machen.
Aber ich wünsche ihnen allen so viel humoristische Überlegenheit, daß sie auch
in die bittersten Gegner sich noch hinein versetzen und so aus giftigen Blüten Honig
saugen können.
Freiburg i. Br. J o n a s C o h n.
L. Koch, Ein Anti-Ostwald. 13
Ein Anti-Ostwald.
Die vornehme Zurückhaltung, die die deutschen Oberlehrer in dem seit Jahren
wogenden Kampfe um die Reform der höheren Schulen sich auferlegt haben, ist
ihnen vielfach recht falsch gedeutet worden. Einer der hitzigsten Feinde des be-
stehenden Schulsystems wagte kürzlich das Wort: ,,Die Oberlehrer
schlafen wie überall so auch in H.** Er wußte recht wohl, daß
sie wissenschaftlichem und pädagogischem Schaffen nicht fern stehen, und ihm
war bekannt, welche Summe ehrlicher und ansehnlicher Arbeit auf den mannig-
fachsten Gebieten der Wissenschaft von ihnen geleistet wird, mit welchem Ernste
sie sich an der Lösung der aufgeworfenen pädagogischen, religiösen und sozialen
Probleme beteiligen. Sein Vorwurf galt der Vernachlässigung der höchsten Pflicht
des modernen Staatsbürgers, für seine Überzeugung offen, mannhaft einzutreten.
Es ist in der Tat ein häßlicher Zwang, den die Zeit auf uns ausübt; es ist weder
jedermanns Geschmack noch Anlage, sich aus dem reinen Äther geistigen Ge-
nießens und Schaffens in den schwarzen Staub der Gasse zu wagen und einen
Kampf um seine Ideale mit Gegnern aufzunehmen, denen zur Erreichung ihrer
Ziele jedes Mittel heilig ist. So ist es wohl zu erklären, daß der „weltfremde"
Oberlehrer auf all die schweren, zum großen Teil unberechtigten Vorwürfe, die
gegen ihn erhoben wurden, zu lange geschwiegen hat. Nun aber die Einsicht wächst,
wie großer Nachteil weniger ihm als der Stätte seiner Arbeit, der höheren Schule,
aus der falschen Deutung dieses Schweigens erwächst, mehren sich die Vertreter
der guten Sache unter ihnen. Solange nur ein Schulze, ein A. Bonus, ein G. Bieden-
kapp u. a. m. als Führer der Stürmer und Dränger erschienen und die Sache der
Schulreformer durch ihre verkehrte Taktik eher gefährdeten als förderten, schien
es kaum der Mühe wert, sich zu rühren. Seitdem aber eine Leuchte der Wissen-
schaft, ein Gelehrter von Weltruf, der Chemiker 0 s t w a 1 d , z'um Bannerträger
der fanatischen Gegner unseres höheren Schulwesens sich hergegeben hat, war
es unerläßlich, zu untersuchen und das Ergebnis der Untersuchung offen vor aller
Welt zu verkünden, ob Ostwalds Eingreifen in die Schulhändel berechtigt und
beachtenswert ist oder nicht. Julius Ruska in Heidelberg, der Heraus-
geber des pädagogischen Archivs, hat nun der Tagung der Philologen und Schul-
männer in Posen eine Schrift gewidmet „Schulelend und kein End e",
die eine scharfe, aber gerechte Abfertigung des berühmten Forschers enthält.
Sie ist ein A n t i - O s t w a l d in aller Form. An der Hand der beiden wesent-
lichsten, weitverbreiteten Schriften Ostwalds, „Große Männer** und „Wider das
Schulelend", Leipzig 1909, und einiger seiner Aufsätze, die in Berliner Tages-
blättern veröffentlicht wurden, prüft Ruska die Fundamente, auf denen sich das
weithin strahlende und blendende Gebäude des Zorns wider die Philologen und
das heutige Bildungswesen erhebt. Ruska kommt zu dem wichtigen Ergebnis,
daßSchule undHaus sich durch Ostwald zu Unrecht
haben beunruhigen lassen, „Wer in so skrupelloser Weise mit den
Quellen umgeht, wie es Ostwald in seinen Biographien von Helmholtz, Liebig,
Mayer usw. getan hat, und wer es für überflüssig hält, sich über die tatsäch-
lichen Leistungen der Philologie an unseren Schulen und Universitäten auch
14 L. Koch,
nur obenhin zu informieren, bevor er seine Gehässigkeiten in die
Öffentlichkeit schleudert, der hat den Anspruch verwirkt, auf diesem Felde
ernst genommen zu werden**, und am Schlüsse „Er darf sich nicht wundern,
wenn ihm nach Prüfung seiner Leistungen die Fähig-
keit abgesprochen werden muß, über die höhere Schule
und ihre Lehrer zu Gericht zu sitze n". Wahrlich, deutlicher
konnte nicht gesprochen, schärfer nicht die „Methode" Ostwalds zurückgewiesen
werden als es in diesen Sätzen geschehen ist. Ruska muß seiner Sache sehr sicher
sein, wenn er es wagt, einem so „großen Mann" so fest entgegenzutreten. Ost-
walds Schwächen haben Ruska die Beweismittel an die Hand gegeben.
Das Buch Ostwalds „Große Männer" wird zuerst vorgenommen. Daß es
sich bei ihm nicht um eigene biographische Leistungen Ostwalds handelt, sondern
O. aus einem von andern bearbeiteten Material schöpfte, wird nur beiläufig er-
wähnt. Ruska ist es darum zu tun, den unglaublichen Unsinn über die Philo-
logie und die historischen Wissenschaften, den 0. der 2. Vorlesung gleichsam als
Leitmotiv des ganzen Werkes vorausschickt, ins rechte Licht zu setzen. Die
Schlechtigkeit unserer höheren Schulen, die Unhaltbarkeit der „philologischen
Erziehung" soll sich ergeben aus der Darstellung der persönlichen traurigen Er-
fahrungen, die große Männer der Wissenschaften in der Schule gemacht haben,
welche für ihre Entwicklung nur gefährliche Hemmnisse, aber keine Förderung
gebracht hat. Wer sind die großen Männer, die Ostwald als Demonstrationsobjekte
dienen müssen und welche Wissenschaften vertreten sie?
Da Ostwald die Geisteswissenschaften und ihre Sonderleistungen nicht be-
urteilen kann (so erklärt er selbst), trotzdem aber der Ansicht ist, daß man ihnen
eine erhebliche positive Wirkung auf den menschlichen Fortschritt aberkennen
müsse, schließt er Vertreter dieser philologischen und histori-
schen Wissenschaften als ungeeignet für seine Zwecke aus und be-
schränkt sich für seine grundstürzenden Forschungen auf die Naturforscher, und
zwar auf den engsten Kreis der Physiker und Chemiker. Erweckt
schon diese Einseitigkeit und unbegründete Ungerechtigkeit gegen die historischen
Wissenschaften wie gegen alle anderen Arbeitsgebiete, die einer reicheren Vor-
bildung bedürfen, wenig Vertrauen zu den Fundamenten Ostwaldscher Beweis-
führung, so wendet man sich völlig von ihm ab, wenn man Ruska daran erinnern
hört, daß die Eigenschaften des Charakters, die wir von großen Männern fordern,
und die Bedingungen, unter denen große Männer heranreifen, sich nicht
mit denen decken, die für einseitig begabte Forscher nützlich sein
mögen. Wenn es daher Ostwald auch gelingen sollte, nachzuweisen, daß die von
ihm aufgeführten Forscher unter der Schule an ihrem Geist Schaden ge-
nommen haben, so folgt aus solchen Darlegungen gewiß noch nicht die Notwendig-
keit, auch die Erziehung zukünftiger großer Männer durch die höhere
Schule gefährdet zu glauben. Das ist schon ein gewaltiger Irrtum.
Wie steht es nun aber mit Ostwalds großen Männern, die er als Zeugen gegen
die heutige höhere Schule vorführt. Von den sechs Forschern, H. Davy, Jul.
Robert Mayer, M. Faraday, J. Liebig, Gerhardt und Helmholtz, müssen nach
Ruskas Untersuchungen der Quellen als völlig belanglos für die Streitfrage ab-
Ein Anti-Ostwald, 15
gewiesen werden der Engländer D a v y , der „in den achtziger Jahren des —
achtzehnten Jahrhunderts eine miserable Schule besuchte", richtiger sie
mied und wild aufwuchs; der Engländer Faraday, der „mit notdürftiger
Volksschulbildung sich durch rastlosen Eifer emporarbeitet"; der Schwabe
Mayer, der 1832 seine Reifeprüfung auf dem Gymnasium bestand, nachdem
er auf der Schule nicht, wie Ostwald behauptet, „sehr Schlechtes", sondern wie
andere Durchschnittsschüler, teils sehr A'ittelmäßiges (in den alten Sprachen),
teils Gutes (in der Mathematik) geleistet hatte und der Elsässer Gerhardt, der
auf der Schule keine Schwierigkeiten gehabt hat. Bleibt L i e b i g s , eines ab-
norm einseitigen Forschers vor 40 — 50 Jahren gefälltes Urteil über die Zustände
in der damaligen Schule, das aber durchaus nicht als eine Verurteilung des da-
maligen Gymnasiums ausgegeben werden darf. Liebig fühlte es selbst, daß zu
einer Zeit, wo an den meisten Universitäten noch kein eigener Lehrstuhl für
Chemie bestand, die Schule gewiß nicht verantwortlich gemacht werden konnte,
wenn sie nicht einer so exzeptionellen Leidenschaft für chemische Dinge Rech-
nung trug. Auch er wird also von Ostwald widerrechtlich als Kron-
zeuge gegen die höhere Schule zitiert. Noch gewaltsamer verfährt Ostwa d mit
Helmholtz*) Schulleben und Schulleistungen. Dessen Äußerungen über die
„langweiligen" Autoren Cicero und Virgil sind Ostwald natürlich sehr willkommen,
„um die Abneigung des geborenen Naturforschers gegen die philologische Ver-
schulung" zu erhärten. Daß aber das Primazeugnis Helmholtz' seine Fortschritte
im Latein, Griechisch, Hebräisch, Mathematik und Physik als gut, in Geschichte
und Geographie als recht gut bezeichnet, daß er in der Reifeprüfung glänzend
bestand, glaubt Ostwald einfach verschweigen zu dürfen, ebenso die Worte
des großen Forschers über den Sprachenbetrieb auf der Schule, den
er, Ostwald, ja am liebsten gänzlich beseitigt sähe: „Man bestrebte sich, uns viel
lesen zu lassen, und schließlich konnten wir die Schriftsteller, für die wir etwas
eingeübt waren, mit Leichtigkeit lesen, und haben auch privatim teils dies getan,
teils daneben noch fremde Sprachen getrieben. Ich habe Englisch und Italienisch
auf der Schule getrieben, auch Hebräisch mitgemacht. Sogar Arabisch habe ich
in Prima angefangen, und das alles ging ganz gut nebenbei."
*) Mit Helmholtz hat Ostwald einen recht unglücklichen Griff getan. Auf der Schul-
konferenz vom Jahre 1890 hat Helmholtz von den Männern exakter Wissenschaft wohl
die begeistertsten Worte für klassische Bildung gesprochen. Ich gebe hier nur wenige
Ausschnitte und verweise für gründliches Quellenstudium auf die Verhandlungen über
Fragen des höheren Unterrichts. Berlin 1891. Wilhelm Hertz (Bessersche Buch-
handlung) S. 202 ff. Also: „Als das beste Mittel, um die beste Geistesbildung zu er-
teilen, können wir für bewährt nur das Studium der alten Sprachen betrachten: aber
ich muß sagen: die Zwecke, die ich selbst im Auge haben würde und die mir als die
wichtigsten erscheinen, sind allein mit dem Griechischen verknüpft, auch das Lateinische
scheint mir nur eine Nebenrücksicht zu verdienen Nun muß ich zunächst sagen,
was die Mediziner anbetrifft, so habe ich durchaus gefunden, daß für die Intelligenten,
welche auch meist fleißig gewesen waren, die bisherige Ausbildung auch jn der Mathe-
matik vollkommen genügend gewesen ist Aber ich muß immer sagen, der Wert
der eigentlichen Blüte der klassischen Studien erscheint mir so hoch, daß ich vorziehen
würde, doch auch mit einigen Opfern die klassischen Studien festzuhalten, soweit es
festgehalten werden kann." Ist das „Abneigung gegen philologische Verschulung?"
Mtth.
16 L. Koch,
Schließlich hat Ostwald auch mit Mayers Mißgeschick auf der höheren
Schule ganz und gar kein Glück. Interessant sind die Aufzeichnungen G. Rümelins,
die Ruska in unverkürzter Form den Auslassungen eines RoMfs, Weyrauch und
Ostwald gegenüberstellt. Diesen Passus (S. 35 — 43) muß man bei Ruska selbst
nachlesen, um sich davon zu überzeugen, wie unwissenschaftlich Ost-
walds Methode ist, aus den vorhandenen Quellen herauszugreifen, was seine Mei-
nung stützt, wegzulassen, was sich nicht eignet zur Ausschlachtung gegen die
philologische Erziehung.
Ostwald hat sich gewiß selbst nicht verhehlt, daß sein Versuch, durch seine
„großen Männer" die Organisation der höheren Schulen zu erschüttern und die
Philologen als kulturfeindlich abzutun, noch nicht ausreiche, daß bei Entscheidung
prinzipieller Fragen die unangenehmen persönlichen Erfahrungen einzelner nicht
maßgebend sein können. Er ist darum bemüht, die Gemeinschädlich-
keit des Sprachunterrichts aus den in ihm selbst liegenden Merk-
malen zu beweisen. Gestützt auf ein die „einfältige klassische Erziehung" ver-
dammendes Urteil Darwins, hebt er den unbedingten Gegensatz hervor, in welchem
der Geist der klassischen Schule zum Geist der Entwicklung stehe, da er die Selb-
ständigkeit des Denkens, die Fähigkeit, Tatsachen zu beobachten und aus ihnen
richtige Schlüsse zu ziehen, vernichte, die jener fördere. Ihm erscheint es als eine
Vergewaltigung der jungen Geister, wenn sie bis zum 19. Lebensjahre zurück-
gehalten und gezwungen werden, einen Unterricht aufzunehmen, der ihnen ohne
Wahl und ohne ihre Zustimmung gegeben wird. Er hält es für zweifellos, daß,
wenn den Schulen die Möglichkeit gegeben wäre, durch ein Votum das Latein
abzuschaffen, dieses nicht einen Tag länger bleiben würde. Er nennt das Latein
das schlimmste Hindernis wahrer Bildung, da es von begrifflicher Klarheit ebenso
weit entfernt sei wie eine Schutthalde von geometrischer Regelmäßigkeit.
Ruska hat für Ostwalds Auffassung von dem klassischen Bildungsideal nur
die Bezeichnung „Blödsinn", ein hartes Wort, aber die richtige Antwort auf Ost-
walds Schmähungen gegen die ihm so verhaßten Philologen. Ruska kreidet es
ihm in belustigendem Tone an, daß er zum 3. Male den um 100 Jahre zurück-
liegenden Bildungsgang eines Engländers gegen die heutigen Schulen ausspielt,
die außer Latein und Griechisch doch noch einige andere Kenntnisse ver-
mitteln, während Darwin tatsächlich in seiner Schule von Mathematik und Natur-
wissenschaft nichts zu hören und zu sehen bekam. Gegenüber der Karikatur,
die Ostwald von den höheren Schulen entwirft, erinnert er daran, daß selbst an
den klassischen Gymnasien heute die Schüler bis an die Methoden und Betrach-
tungsweisen der höheren Mathematik herangeführt werden, daß Physik
und Chemie in den Oberklassen auf die beschreibenden Naturwissenschaften in
den mittleren und unteren Klassen folgen, daß der Geschichte auch der
neuesten Zeit ein breiter Raum gegönnt ist, daß man mit ihr lehrplanmäßig
Bürgerkunde verbindet, Geographie nicht ohne Beachtung der geo-
logischen Entwicklung lehrt und in Zeichnen, Singen, Orchesterübungen, Turnen,
Spielen, Rudern Auge und Hand, Kehle und Ohr, Mut und Entschlossenheit
bildet.
Ruska hätte hier schärfer betonen sollen, daß das Verfahren Ostwalds typisch
Ein Anti-Ostwald. 17
ist für die Schulreformer schlimmster Art, daß sie einzelne Vorkommnisse
und Erfahrungen in gröblicher Weise verallgemeinern, daß sie geflissentlich igno-
rieren, was die tüchtigen unter den Oberlehrern — und ihre Zahl ist fürwahr nicht
so klein, wie unsere Feinde behaupten — für die zeitgemäße Umgestaltung des
Unterrichts im letzten Jahrzehnt getan*), wieviel Liebe und Achtung der gute
Lehrer auch heute noch genießt. Sie übersehen, ob absichtlich, ob nicht, daß die
Frage der Schulreform zum guten Teile stets durch die Auslese der Lehrkräfte
bedingt werden wird.
Mag einmal eine Schule kommen mit einem Lehrplan, wie ihn Ostwald und
seine Freunde im Interesse der deutschen Jugend träumen, auch sie werden Lehrer,
Menschen beschäftigen müssen, deren Eigenschaften den Schülern Anlaß
zu Verstimmungen, Reibungen, zu heftigen Angriffen bieten. Auch dann wird es
Schüler geben, die sich von dem in der Zukunftsschule dargereichten Trank nicht
befriedigt fühlen und ihre Vorwürfe gegen das dann geltende System erheben
werden. Ruska trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er (S. 67) ausruft: „Eine
gesunde Jugend läßt sich für alles begeistern; ob für
Latein oder Chinesisch, Mathematik oder Chemie, das
ist ihr ziemlich einerlei, wenn nur der Lehrer zu fes-
seln versteht und die Jugend zu nehmen wei ß.*' An solcher
Begeisterungsfähigkeit, an herzlicher Freude an vielem, was die höhere Schule
von heute bietet, fehlt es, das sei zur Ehre auch unserer heute oft als dekadent
und angefault verschrieenen Jugend ausdrücklich und freudig anerkannt, auch
heute nicht. Das hat das kürzlich erschienene Buch „Schüler jähre" (Hilfe-Verlag)
in zahllosen Dokumenten des Dankes gegen die Schule neben nicht wenigeren des
Hasses gegen Schule und Lehrer deutlich bewiesen.
Am Ende seiner Schrift wendet Ruska sich gegen die Forderung Ostwalds,
den Sprachenbetrieb aus der höheren Schule zu entfernen. Ihre Begründung zeigt
Ostwalds, von ihm selbst eingestandene, Verständnislosigkeit gegenüber dem
Wesen der Sprache in herrlicher Nacktheit: ,, Sprachen sind als Mittel
formaler Bildung absolut wertlos. Der Geist kann durch
sie nicht zur Logik erzogen werden. Damit man an
einem Material Logik lernen kann, ist notwendig, daß
dieses Material selbst logisch is t." Da diese Worte in dem ge-
gebenen Zusammenhang nichts bedeuten können, wenn nicht: Das Material der
Sprache ist unlogisch, das der Naturwissenschaft ist logisch", so stellt Ruska eine
Probe mit der Chemie an, die als Material für die Bildung der Logik großer
Männer von Ostwald in erster Linie herangezogen werden würde. Wundervoll ist
es, wie Ruska Ostwalds Ausführungen (in seiner Schule der Chemie) über die Eigen-
schaften und Veränderungen des Schwefels kommentiert, wie er aus dem Ver-
gleich der Mittel der Verbindungsgewichte von Chlor und Brom und Chlor und
Jod u. a. m., Erscheinungen der Chemie und Botanik, die Tatsache festlegt, daß
*) Daß die freie Wahl der Fächer den Primanern mehrerer sächsischen und
preußischen Gymnasien seit einigen Jahren zugestanden ist und von dieser Freiheit
reichlich Gebrauch gemacht wird, ist eine der Tatsachen, die für Ostwald nicht existieren.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 2
18 L. Koch, Ein Anti-Ostwald.
das Material der Naturwissenschaft nicht logisch, sondern empirisch ist, also sich
um keinen Deut besser als das Material der Sprachen zur formalen Bildung eignet.
Wenn Ruska des weiteren der Behandlung der Sprachen auf den höheren Schulen,
im Vergleich zu der der Naturwissenschaft, einen gleich hohen, wenn nicht größeren
Wert zuspricht, indem er darlegt, daß die Gesetze für die Entwicklung der Sprache
so streng seien als nur ein Naturgesetz sein kann, wenn er die Fülle der inter-
essantesten kulturhistorischen, psychologischen und ästhetischen Beobachtungen,
die sich aus dem Sprachenbetrieb ergeben, preist, so bin ich überzeugt, daß er bei
Ostwald und seinen Freunden kein Gehör findet. Ist doch für sie das Wunder
der Sprache, die höchste Schöpfung des menschlichen Geistes — ein Schutt-
haufen! Oder aber sie bezweifeln zum mindesten, daß der heutige Sprachen-
betrieb seinem Ziel logischer Schulung auch nur nahe kommt. Entgegen dem
Durcheinander von unberechtigten Anklagen und übertriebenen Forderungen
und nach der negativen Mühe der Abwehr stellt Ruska — und das ist der posi-
tive Ertrag seiner Schrift, klipp und klar die Aufgabe der höheren Schule dar,
wie auch unsere Zeit sie fordert. „Sie hat der Bildung unserer Jugend (auch
der in ihr verborgenen dereinstigen großen Männer) zu dienen, indem sie die Schüler
mit den wesentlichen Komponenten des heutigen geistigen Lebens nach Inhalt,
Quellen und Arbeitsmethoden so weit vertraut macht, daß jeder Abiturient in
den Stand gesetzt wird, an diesem geistigen Leben teilzunehmen und nach eigener
Erkenntnis in seine Fähigkeiten sich seinen besonderen Beruf zu wählen." „Sie
dient der Erziehung, indem sie durch Anleitung zu methodischem Arbeiten,
durch Nötigung zur Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt ihnen diejenigen Gewöhnungen
und Charaktereigenschaften in das Leben mitgibt, ohne die nie und nirgends ein
dauernder Erfolg erreicht wird."
Sehr dankenswert ist, daß Ruska einmal die Schwierigkeiten aufdeckt, die
den höheren Schulen im besonderen erwachsen. Während die Volksschule es mit
Kindern zu tun hat, die Hochschule mit jungen Leuten, die sich zumeist über
ihren Beruf klar sind und des Zwanges entraten können, muß die höhere Schule —
und das wird nie anders werden, selbst bei ihren willigen und begabten Schülern
mit den noch so unendlich problematischen Jahren der Pubertät und werdenden
Reife rechnen. Aus dieser Stufe erstehen uns die meisten Nörgler und Feinde,
alle die talentlosen und eingebildeten, die trägen und störrischen Gesellen, die sich
dem so heilsamen Zwang zur Selbstzucht und Arbeit am liebsten entziehen. Sie
und überhaupt alle wider Willen und Anlage in die höheren Schulen durch die
Torheit ehrgeiziger Eltern hineingepferchten Schüler müssen bei der Prüfung
der Beschwerden gegen die höhere Schule ausgeschaltet werden. Für sie bedeutet
ja jede Schule einen unerträglichen Zwang. Jedenfalls sind sie nicht fähig,
aufzunehmen, was die höhere Schule bieten muß, will sie ihren vorhin erwähnten
doppelten Zweck erfüllen.
Ruska behandelt von diesem Gesichtspunkt aus den Wert der einzelnen Fächer,
Religion, Naturkunde, Geographie, Geschichte. Wie sie, will auch die klassische
Philologie nichts anderes als das ganze geistige Leben der Völker in seiner Ent-
wicklung und seinem geschichtlichen Wirken erforschen. „So wenig die Natur-
wissenschaft sich mit Abbildung von Pflanzen und Skizzen von Experimenten
R. Eule, Weitere und engere Grenzen für das Extemporale. 19
begnügen kann, so wenig kann in der höheren Schule auf die Lektüre der Original-
werke der alten und neuen Literatur verzichtet werden." Wir stimmen ihm durch-
aus zu, es ist ein großes Gut, das wir in der Gleichberechtigung unserer höheren
Schulen haben, die jedem Schüler, je nach seiner Anlage, ermöglicht, seine Vor-
bildung in einer historischen oder einer naturwissenschaftlich-mathematischen
Richtung zu gewinnen. Wo infolge der unrichtigen Schulwahl eine solche Wahl-
freiheit dem Jüngling genommen ist, sollte sie, das ist unsere Meinung, durch
Einrichtung von Parallelklassen oder durch Gabelung der Prima ihm baldigst
gewährt werden. Die Durchführung der Ideen Ostwalds aber würde der allein
selig machenden naturwissenschaftlichen Schule das Privilegium übertragen, das
man sich glücklich schätzt, dem humanistischen Gymnasium des 19. Jahrhunderts
eben entwunden zu haben. Das würde für alle, denen die Naturwissenschaften
nichts ihrer Geistesrichtung Korrelates bieten, dieselbe Knechtung bedeuten, die
für die Freunde der Naturwissenschaft der Zwang zur Beschäftigung mit den
Sprachen bedeutet. Eine Einheitsschule für unsere heranreifenden Jünglinge,
eine Uniformierung der Bildungsanstalten für die so verschieden gearteten Geister
würde eine widernatürliche Einrichtung werden, deren Verfall in kürzester Zeit
eintreten müßte. Diese gefahrvollen Folgen der Ostwaldschen Bestrebungen in
aller Schärfe gezeigt zu haben, ist ein unleugbar großes Verdienst des Ruskaschen
Anti-Ostwald.
Bremen. L. Koch.
Weitere und engere Grenzen für das Extemporale.
Zum Erlaß des Herrn Kultusministers.
Ganz unbestreitbar: die höchstgeschätzte und dabei bestgehaßte Arbeit in
der höheren Schule ist das Extemporale.
Es mußte beides werden durch die Art und Weise, wie man es — in den letzten
Jahren sogar gegen die behördlichen Verfügungen — zuweilen handhabte; denn
es war und ist lange nicht mehr das, was im Namen liegt, was es am Anfange auch
war, und was es eigentlich immer hätte bleiben sollen: eine unerwartete Probe
auf das Verständnis des Durchgenommenen ohne hochnotpeinliche Konsequenzen;
sondern es war eine regelmäßig und in kürzeren Zwischenräumen wiederkehrende
Arbeit geworden, die — auf Grund des Durchgenommenen allerdings, aber mit
zu weitgehender Forderung — schließlich einen Beweis dafür erbringen sollte,
ob und wie das junge Gehirn die Sprache aus sich selber heraus nachschaffen könnte.
Eine gewisse Langsamkeit, innere Schwerfälligkeit oder Scheu des Schülers, ein
schwaches Gedächtnis, eine nach anderer Seite hingehende Begabung, wohl auch
zu große Jugendlichkeit bei gleichwohl normaler Beanlagung, alles das zusammen
oder einzeln verhinderten oft einen guten Ausfall solcher Arbeiten. Zudem konnten
diese noch um ein Bedeutendes erschwert werden durch unnütze Gedankentiefe,
durch zu schnelles Diktieren und nicht selten dadurch, daß der Lehrer, wenn
auch in bester Absicht, zu wenig aus dem zur Vorbereitung aufgegebenen Pensum
in die Arbeit hineinbrachte. Es ist wohl bedauerlicherweise auch nicht abzustreiten,
2*
20 R. Eule,
daß ein Lektürestück zur Durcharbeitung aufgegeben wurde, während schließlich
das Extemporale von jener Lektüre nichts brachte. Oder es wurde zur Vorbereitung
zu viel aufgegeben. Oder gar nichts.
Eins war dabei zu tadeln wie das andere, und Verzagtheit, dumpfe Gleich-
gültigkeit, unruhige Sorge konnten sich so in die Klasse einschleichen. Gerade die
gewissenhaften Schüler betrachteten den Extemporaletag oft als diem atrum,
und nicht wenige Eltern — unbewußt mitschuldig durch Vorurteil, Sorge oder
Ehrgeiz — mußten mit Schrecken sehen, wie das Kind vor lauter Extemporale-
angst am Abend vorher nicht einschlafen konnte, am Morgen mit Grauen erwachte.
Und auch moralische Schäden sind hier nicht abzuleugnen: viele Jungen glauben
sich in der Extemporalestunde zum Betrügen berechtigt, und die meisten zeigen
die korrigierte Arbeit nachher zu Hause — aus Furcht vor der elterlichen Ent-
rüstung — nicht vor und haben doch das richtige und peinliche Gefühl, damit ein
Unrecht zu begehen.
Der Erkenntnis dieser Schäden konnten sich doch wohl nur wenige verschließen.
Indessen, die durch das Extemporale gewonnene, allem Anscheine nach klare
Einsicht in den Wissensfortschritt und den Unterrichtserfolg und das sichere und
schnelle Einheimsen von scharf abgegrenzten Prädikaten gegenüber den spärlich
eingehenden und unbestimmten in der Lektüre sicherten dem Extemporale auch
bei seinen ehrlichsten Gegnern einen gewissen Wert; die bequeme Abstufung aber,
die sich durch die Fehlerzahlen ganz ungesucht herstellte, und vor allen Dingen
auch dieses scheinbar außerordentlich gerechte Messen der Schüler mit einem
und demselben Maße und in ein und derselben Zeitlänge veranlaßte sogar viele
Lehrer, für die Beurteilung des Schülers im Laufe und — als Summe — am Ende
des Semesters das Extemporale zugrunde zu legen. Wohl auch manchmal nur
das Extemporale als einzigen Wertmesser, neben dem Leistungen anderer und
nicht so sicher zu buchender Art zurücktraten und sogar bis zu einem Nichts
verblassen konnten. —
Mangelhafte Extemporalien also schienen den Schüler am Aufsteigen in die
nächste Klasse zu hindern, und die Eltern glaubten sich zu der Annahme gedrängt,
daß für die Versetzung ihrer Söhne eben nur das Extemporale maßgebend sei.
Das wirkte natürlich auch tiefer noch zurück auf das Elternhaus: nach dem Aus-
fall dieser Arbeiten wurde der Junge schließlich nicht bloß in der Schule, sondern
auch im Leben der Familie eingeschätzt; Verstimmung und Unfrieden wurden
dadurch in das Elternhaus getragen, und nicht selten gestaltete sich so das Leben
eines armen Schachers von Extemporalisten für viele Jahre seiner Jugend hin-
durch recht freudlos. Dabei leistete das Extemporale für die Wissensent-
wicklung der Schüler doch nur den kleinsten Bruchteil von dem, was nach diesen
Schäden und nach der darauf verwendeten Zeit billigerweise hätte erwartet werden
müssen.
Alle diese Erwägungen nun über das Extemporale und die ungesunde, all-
seitige Nervenanspannung vollends, die — in Schule und Haus — durch seine
übertriebene Bewertung entsteht, mußten über kurz oder lang und nach vielen
Hin- und Herbestimmungen bei der Behörde zu dem Versuche führen, diese Be-
wertung auf ein richtiges Maß herunterzudrücken. Schon die preußischen
Weitere und engere Grenzen für das Extemporale. 21
Lehrpläne von 1882 rügten die einseitig grammatische Richtung des alt-
sprachlichen Unterrichts und das übertriebene Extemporaleschreiben; das Jahr
1891 brachte ganz bestimmte Weisungen in bezug auf das Extemporale, und 1901
wurde nochmals höheren Orts (Lehrpläne 11 1, 6 Abs. 2) in klarer Erkenntnis
der Sachlage vor der einseitigen Wertschätzung dieser Arbeiten eindringlich ge-
warnt. Nur [folgerichtig erscheint es daher, wenn jetzt — nach diesen offenbar
vergeblichen Rügen, Weisungen, Warnungen — das preußische Kultusministerium
die unausrottbaren Schäden dieser Arbeit dadurch aus der Welt schaffen möchte,
daß es das Extemporale selbst beinahe ganz aus dem Lehrplane herauszieht.
Möglichst in jeder grammatischen Stunde sollen nämlich fortan einige Sätze
über den eben durchgenommenen kleinen Pensumsausschnitt schriftlich übersetzt
werden, und erst immer nach etwa vier bis sechs Wochen sind aus dem bis dahin
gewonnenen Sprachmaterial Arbeiten als Extemporalien zusammenzustellen.
Ohne Häufung grammatischer Schwierigkeiten, in zusammenhängendem Text
und zuvor in deutscher Niederschrift gegeben und ohne Wortklauberei und Klein-
lichkeit korrigiert, dürfen diese Arbeiten sogar auch nur dann zensiert werden,
wenn darin und dadurch etwa drei Vierteile aller Schüler das genügende Verständnis
für das absolvierte Klassenpensum bewiesen haben. Mutatis mutandis sollen alle
schriftlichen Klassenarbeiten, auch die in den nicht-sprachlichen Fächern so be-
handelt werden. —
Mag nun jeder ehrliche Preuße über diese ganze Sache vorläufig denken, wie
er will, er muß sich zunächst freuen, daß der Erlaß mit der Erklärung schließt,
daß „durch diese Änderung der Lehrpläne keine Herabsetzung der Anforderungen
beabsichtigt ist, sondern nur ein besserer Weg gesucht werden soll, um die Schüler
zur Sicherheit in der Anwendung des Gelernten und Erarbeiteten zu führen und
sie zu gewissenhafter und erfolgreicher Arbeit anzuleiten." Noch einmal: dieser
Worte und der darin ausgesprochenen Fürsorge und Zukunftsarbeit unserer höchsten
Behörde freut sich jeder in stiller und gehorsamer Dankbarkeit. Das Jubelgeschrei
aber, das sich ob dieses Erlasses allenthalben erhoben hat, so laut und sogar über-
laut bei den Eltern, so gedankenlos bei den Jungen und hier und da überstürzt
zustimmend und sogar lobhudelnd kritisierend bei einigen Kollegen, dieses laute
Jubelgeschrei, sage ich, macht stutzig und zwingt uns zu ruhiger Überlegung.
Die E 1 1 e r n in erster Linie haben den Versetzungsfeind in den weitaus häu-
figsten Fällen n u r in dem Extemporale gesehen. Sie haben dabei aber nicht be-
dacht, daß doch auch andere schriftliche und selbstverständlich auch mündliche
Leistungen neben den Extemporalien standen und für oder gegen die Versetzung
ihrer Kinder sprechen konnten. Sie haben auch nicht bedacht, daß, bei der
täglichen und stündlichen Konkurrenzarbeit mit seinen Mitschülern in der Klasse,
ihr Sohn ich möchte sagen: auf Grund seines Gesamtmenschen, sich im Urteil
seiner Lehrer schließlich auf einen ganz bestimmten Platz stellt. Das Vertrauen
indessen, d'as wir Lehrer in dieser Beziehung von den Eltern billig fordern dürften,
wird uns höchst selten entgegengebracht. Man feilscht im Gegenteil gar zu gern
am Urteil des Lehrers herum und klammert sich selber — oft der Meinung und
dem Rate des Ordinarius entgegen — nur an den Ausfall der Extemporalien, die
man doch sonst verurteilt und geradezu verwünscht hat.
22 R. Eule,
Die Jungen ferner verurteilen das Extemporale.''^ Ich nannte ihr Urteil
gedankenlos. Sie können ja noch nicht wissen, daß man in der Jugend zuweilen
Schweres und freilich persönlich oft Unangenehmes auf sich nehmen, es lange Zeit
geduldig ertragen und sogar überwinden oder sich damit abfinden lernen muß,
um schließHch ein Mann zu werden, der den Härten des Lebens gewachsen ist.
Die Energieanspannung, deren wir später benötigen, kann nun einmal nur durch
einen gewissen Zwang und Drill erreicht werden. Das Extemporale war nicht der
schlechteste Faktor in diesem geistigen Kampfe, und es wird wohl immer wahr
bleiben, daß da Späne fallen, wo gehobelt wird. Gehobelt aber muß die Jugend
werden: zu ihrem Heile wollen wir vorläufig noch auf dieser zwar derben, aber
bisher immer noch recht heilsamen und durchaus nicht lieblosen Erkenntnis stehen
bleiben.
Die Lehrer endlich mit ihrem Jubel über den „Fortfall" des Extemporale!
Diejenigen Kollegen, welche es verstanden, mit ihren Jungen Extemporale zu
schreiben, die jubeln natürlich nicht. Die anderen aber? Ja, haben
denn diese Kollegen jetzt erst und gerade nun durch diesen Erlaß
des Herrn Kultusministers die Schäden solcher Arbeiten erkannt? Ich hoffe nicht.
Wir alle hatten im Herzen unsere schwere Not mit diesem Schmerzenskinde des
täglichen Schullebens, mußten aber mit ihm auskommen und unterrichten und
wußten dann sogar manches Gute daran zu erkennen und wohl auch nutzbringend
auszugestalten. So wie das Extemporale allerdings, besonders in den alten Sprachen
und von Fanatikern oder nicht allzu gewissenhaften Kollegen zuweilen gehandhabt
wurde, konnte es freilich eine Härte und sogar „eine drückende Bürde für die
Schüler" werden; aber die Behörde hätte uns doch umgekehrt dieses Extemporale
nicht so viele, viele Jahre hindurch zur schweren Pflichterfüllung gemacht, und
hätte es nicht heute noch — in freilich sehr milder Form — beibehalten,
wenn es nicht auch sein Gutes ge 'abt hätte.
Und noch hat; denn sein Gutes, das hat das Extemporale sicherlich auch. Es
ist ja zwar eine nur einseitige Schulung der geistigen Kraft; aber es ist doch
unbestritten eine Schulung und eine ernste Sache dabei. Man kann sogar behaupten,
daß es in gewissen Zeiten unserer Schul- und Lehrpersonalentwicklung durch nichts
anderes und sogar durch nichts Besseres hätte ersetzt werden können. Auf jeden
Fall war es ein Zuchtmittel auf den Willen hin und zwang zur Gründlichkeit des
Denkens und zur Sammlung der geistigen Kräfte. Auch die schärfsten Gegner
werden das willig zugeben.
Der neueste Erlaß nun sagt selbst, daß „die schulmäßige Erlernung einer
fremden Sprache nicht möglich ist ohne vielfältige schriftliche Übungen in der
Sprache selbst."
Mit dem so häufig wiederkehrenden Extemporale glaubten die alten Sprachen
eben dieser selbstverständlichen Forderung gerecht werden zu können. Und würde
das für diese eisern gefügten und denkmäßig nachzubauenden Sprachen mit ihrem
Ziel eines stummen Sprachverstehens nicht halb und halb zu rechtfertigen gewesen
sein? Man möchte diese Frage gern bejahen, wäre nur eben die leidige und all-
seitig beunruhigende Über Schätzung des Extemporale nicht gewesen.
Viel besser waren von vornherein die neueren Sprachen daran, so gut sogar.
Weitere und engere Grenzen für das Extemporale. 23
daß redlicher Wille und ein klein wenig Lehrgeschick den Lehrer leicht auf den
Weg führen mußten, den jetzt der Herr Minister vorgeschrieben hat.
Das weitgesteckte Schulziel einer gewissen Fertigkeit im mündlichen und
schriftlichen Gebrauch der Sprache zwang den Lehrer des Französischen und des
Englischen, den Anfangsunterricht sehr langsam, breit und gründlich an-
zulegen und dabei Auge und Ohr der Jungen in Kontribution zu setzen:
orthographische Übungen an der Tafel und im Heft und unaufhörliche, wenn
natürlich auch nur kleinere Satz- und Treffübungen mußten neben dem münd-
lichen Unterricht herlaufen. In den Extemporalien konnte ja auch in diesen Dis-
ziplinen nur das gefordert werden, was schon grammatisch besprochen war, und das
war doch weder im Französischen noch erst recht im Englischen so formenüberreich
und schwierig für das kindliche Auffassungsvermögen wie in den alten Sprachen.
Zudem bekommen die neueren Sprachen die Schüler in höherem, also leistungs-
fähigerem Alter und schon sozusagen in die richtige Denkbahn gezwängt durch das
Lateinische. Die Erfahrung hat denn auch gezeigt, daß die Jungen sich vor einem
Extemporale in den neueren Sprachen nicht so sehr fürchten wie vor einem solchen
in den alten. Man konnte dieses Gefühl sogar ziemlich lange erhalten. Aber nur
dadurch — und hier trifft der neueste Extemporale-Erlaß genau das, was uns die
Erfahrung bei der täglichen Kleinarbeit gelehrt hat — nur dadurch, daß allzu
große Schwierigkeiten aus solcher Arbeit ferngehalten wurden. Gut tat man zu
dem Zwecke auch daran, möglichst bald die redlich durchgearbeitete Lektüre dem
Extemporale zugrunde zu legen: von einigen Zeilen an in den Anfangsklassen
bis zu einer Seite in den oberen. Auf keinen Fall allzuviel des Textes; denn wenn
der Schüler diesen Text bewältigen und nach allen Richtungen hin gut durcharbeiten
konnte — ängstliche Naturen wollten ihn schließlich sogar auswendig wissen — ,
so hatte damit das Extemporale schon den besten Teil seiner Arbeit geleistet. Und
geleistet, noch bevor die Feder am nächsten Tage zur Niederschrift angesetzt wurde.
Die Gewißheit zudem, es bei einem Texte mit etwas in sich Abgeschlossenem und
Feststehendem zu tun zu haben, die Freude weiter an dieser mit Fleiß und Gewissen-
haftigkeit zu bewältigenden Arbeit, deshalb auch die innere Genugtuung nach der
Vorbereitung und vor allen Dingen ferner das Bewußtsein, ein gut Teil zum eigenen
Schicksal in der Extemporalestunde beitragen zu können, alles das gab der An-
lehnung an einen Lektüretext einen hohen, erzieherischen Wert. Aber freilich
gehörte zu solchem Erfolge als andere unumgängliche Vorbedingung auch die
gründlichste Vorbereitung auf solche Klassenarbeit von selten des Lehrers selbst.
Er durfte sich nicht vor die Klasse hinstellen und das Extemporale aus dem Steg-
reif diktieren (fortlaufend vorgekommen!); sondern auf Grund des Aufgegebenen
und in ruhiger Überlegung mußte er die Arbeit zusammenbauen, sie immer wieder
durcharbeiten, unnütze und etwas abliegende Schwierigkeiten herausbringen
und schließlich, aufsteigend von Klasse zu Klasse, eine Arbeit von nur etwa 75
.bis 200 Wörtern für den Raum einer Stunde in der Hand haben. Und fremde
Vokabeln zudem mußten daraus ferngehalten werden: die machen eine Klasse
scheu, erfordern Zeit, ängstigen, können auch besser durch mündliche Übungen
befestigt werden. Gab man dann den Text solcher zusammenhängenden Klassen-
arbeit den Schülern hektographiert in die Hand oder diktierte ihn knapp und schlicht,
24 R. Eule,
dann fiel das Extemporale gewöhnlich auch so aus, daß sich eine Gradatio ergab,
die den mündlichen Leistungen — mit wenigen und dann psychologisch oft recht
interessanten Ausnahmen — entsprach.
Die neueren Sprachen haben außerdem neben dem Extemporale ja noch
andere schriftliche Übungen: Diktate und Fragen und Antworten und später
Analysen und Aufsätzchen und Aufsätze, alles Arbeiten, die den reinen Extem-
poralien gut und gern die Wage halten können.
Zu guter Letzt muß aber noch betont werden, daß alle schriftlichen Leistungen
viel leichter zu gestalten sind, wenn sie der Gesamtheit, als wenn sie dem einzelnen
abgefordert werden. Verschiedenes kann man ergebungsvoll zur Begründung
dieser natürlich nicht willkommenen Erfahrungswahrheit anführen: die Unruhe
in dem Jungen und um ihn herum, die vorhergehende und ablenkende Anstrengung
in den andern Disziplinen, das Bewußtsein der Verantwortung, die ihm mit jeder
längeren Arbeit aufgeladen wird, die wechselnde Stimmung der Jugend und dann
doch auch das Gefühl, ein irrender Mensch zu sein, der außerdem ohne Rast und
Ruh mit jeder neuen Klasse bis an die Grenze seiner jeweiligen Leistungskraft
vorgeschoben wird.
Wir Schulmeister können allerdings mancherlei tun, um solchen unliebsamen
Nebenerscheinungen zu begegnen: wir müssen selber möglichst ruhig sein in Stimme
und Haltung, müssen in möglichst früher Stunde schreiben lassen, müssen etwaige
Schwierigkeiten an den Anfang des Extemporale bringen und es am besten —
mit Rücksicht auf die schnell eintretende Ermüdung des jugendlichen Gehirns —
ausgehen lassen mit Anlehnungen an den durchgearbeiteten Text oder gar mit
wörtlicher Entlehnung daraus. Und ist ein Junge wirklich nicht geschaffen für
schriftliche Plus-Leistungen (unter zehnen sind es mindestens immer zwei), nun,
so sind auch wir Lehrer menschlich denkend genug, ihm öfter als andern noch
Gelegenheit zu geben, den Ausfall durch mündliche Leistungen wieder auszugleichen.
Ganz will ja nun der jüngste Ministerialerlaß das Extemporale auch nicht
beseitigt wissen. Alle vier bis sechs Wochen etwa soll es geleistet werden und dann
auf jeden Fall zufriedenstellend ausfallen. Wenn aber das nun nicht eintritt?
Hier muß man bedenklich werden. Dann sind nämlich schon Fehler gemacht
worden, die sich bei der beschränkten Zeit und dem drängenden Pensum schwer
wettmachen lassen. Und der Termin für diese Arbeiten darf nicht angegeben,
dazu also auch nicht vom Schüler eine häusliche Vorbereitung gefordert werden.
Damit jedoch fällt leider ein Faktor weg, den mancher von uns bis jetzt gerade
sehr hoch angeschlagen haben wird: nämlich der Zwang für den Schüler, das in der
letzten Zeit abgeleistete grammatische Pensum noch einmal zusammenfassend seinem
Geiste in ruhiger Arbeit präsentzuhalten und sich ein Stück der Lektüre nach jeder
Richtung hin zu eigen zu machen. Oben mußte dieser Punkt schon einmal erwähnt
werden, und das gerade schien mir ja immer der Hauptgewinn mit am ganzen
Extemporale. Zudem verfügte der Schüler damit auch über den Vokabelschatz,
der eben zur Abrundung einer so ernsten Arbeit nötig war. Womit ich aber nicht
gesagt haben will, daß der Vokabelvorrat sonst nur aus der Lektüre geschöpft
werden solle. Nein, systematisch und ständig sind Vokabeln auch ganz unabhängig
von der Lektüre einzuprägen. Aber jeder praktische Schulmann weiß doch, daß
Weitere und engere Grenzen für das Extemporale. 25
diese Vokabeln zur Übersetzung aus der Muttersprache in das fremde Idiom trotz-
dem oft fehlen, und daß z. B. ein blankhin diktiertes, im Stoffe und Wortschatz
auch nur etwas abliegendes Extemporale arg verstümmelt oder gar unverständlich
aus der jugendlichen Feder herauskommt. Vokabeln lernen und wissen sollen unsere
Schüler, ausgiebig sogar, und fordert es das Leben von ihnen, so werden sie es
bald verstehen, mit ihrem Wortschatz zu arbeiten. Aber in der Schule das Extem-
porale zur Arena für alle möglichen Vokabelkämpfe zu machen oder gar Vokabel-
extemporalien zu fordern, nein, dazu haben wir heute bei unserm vielgespaltenen
Unterricht nicht mehr so viel Zeit, wie weiland August Hermann Francke vor nun-
mehr zweihundert Jahren sie sich noch in aller Gemächlichkeit für solche Sachen
nehmen konnte.
Immerhin — um darauf zurückzukommen — erfordert ein Extemporale auch
trotz der Vokabelhülfen aus der Lektüre die ehrlichste Arbeit des Jungen. Bei
vorhergehender, sachgemäßer Vorbereitung in der Klasse indessen und bei ernstem
Fleiße im elterlichen Hause kann jeder diese Arbeit zufriedenstellend leisten, und
weil jeder das auch bald merken muß, so leistet er sie gewöhnlich auch. Wie gesagt:
die Aufarbeitung eines bestimmten Pensums der Grammatik und besonders auch der
Lektüre in der oben angeführten Art war für Schüler und Lehrer außerordentlich
erzieherisch. Ja, auch für die Lehrer, die ja, wie schon beschrieben, sich erst ein-
mal selber in den Text hineinzuarbeiten hatten.
Wir werden jetzt in den neueren Sprachen auf eine derartige Vorbereitung
der Klassenarbeiten verzichten müssen. Wenn ich jedoch in ruhiger Stunde meinen
Gedanken jetzt nach diesem Erlaß für das Extemporale so nachgehe, wie ich ihnen
in ähnlicher Weise schon seit Jahren vor diesem Erlaß nachgegangen bin, so
wären diese Gedanken folgende:
1. Für die Unterklassen im Lateinischen und ebenso für das erste Jahr später
im Griechischen und in den neueren Sprachen müßten unablässig 'kleinere schrift-
liche Übungen in Klasse und Haus eintreten, und sie müßten auch genügen. Im
Rechnen und einige Jahre nachher in der Mathematik z. B. besteht ja der gesamte
Unterricht eigentlich nur in solchen Übungen. Und wenn im Rechnen Prädikats-
klassenarbeiten geschrieben werden, so ist das sicherlich die Einwirkung von den
Sprachen her. Ein guter oder vielmehr schlechter Ausfall hängt hier außerdem oft
von so geringfügigen Kleinigkeiten ab, daß mancher Kollege wohl ganz gern auf
seine Rechenextemporalien verzichten und das Kopfrechnen dafür höher einwerten
möchte. Ebenso aber könnte und sollte auf die Extemporalien in den ersten Jahren
des Sprachunterrichtes zugunsten recht ausgiebiger mündlicher und schrift-
licher Übungen in Klasse und Haus verzichtet werden. Die Beobachtungen im Rech-
nen und die angeführten Erfahrungen beim Betriebe der neueren Sprachen bringen
mich auf solche Gedanken. Gerade das Extemporaleschreiben in den Sprachen ist
außerdem eine Kunst, die nicht bloß mechanisches Gedächtnis, Paradedrill und gleich-
mäßiges Temperament, sondern sogar schon eine größere geistige Reife verlangt. Zur
Beurteilung und zur Versetzung aber lernen wir auch ohne die Extemporalien
die Jungen genugsam kennen.
2. In den Mittelklassen dagegen würden — wieder neben zahlreichen vorher-
gehenden Übungen — auch Extemporalien im möglichst baldigen Anschluß an die
26 R. Eule, Weitere und engere Grenzen für das Extemporale.;
Lektüre und mit Zugrundelegung der grammatischen Regeln eintreten müssen.
So wie ich sie oben schilderte. Aber nicht wie bis jetzt: jede Woche oder alle zwei
Wochen; auch nicht, wie der ministerielle Erlaß es will: in größeren Zeiträumen
von etwa vier bis sechs Wochen. Das wäre zu lange, um gemachte Methodenfehler
redressieren zu können. Die Mitte dürfte auch hier das Richtige treffen, also etwa
alle drei Wochen. Eine Wertung außerdem müßte dabei, wie es unser Erlaß ja auch
will, noch eintreten; denn er gebraucht bei dieser Gelegenheit selbst das Wort
„Zensierung". Wie könnte denn sonst auch der Oberflächlichkeit oder Gleich-
gültigkeit der Schüler diesen Arbeiten gegenüber ein Riegel vorgeschoben werden?
Wenn aber das Ministerium — freilich aus anderen und wohlerwogenen Gründen —
nicht will, daß sich die Schüler auf die Extemporalien vorbereiten sollen, so werden
für einen schlechten Ausfall dieser Arbeiten nicht sie, die Schüler, verantwortlich
gemacht, sondern nur der Lehrer. Seine Verantwortung wird größer, die seiner
S c h ü 1 er geringer. Werden die letzteren indessen unter so veränderten Um-
ständen diesen Arbeiten noch den inneren Ernst entgegenbringen, der unbedingt
von ihrer Seite da sein muß, wenn die Beurteilung ihrer Wissensstufe richtig werden
soll? Oder könnte hier nicht etwa wieder der Popanz der übermäßigen Bewertung
eingeschmuggelt werden? Die Versuchung, gerade die wenigen Extemporalien
besonders hochzuwerten, ist freilich da. Hier also liegt etwas Unbestimmtes
oder doch Schwankendes, und eine genauere Ausführung in dem Erlasse des Herrn
Ministers wäre willkommen gewesen.
3. In den Oberklassen endlich würden neben allen anderen Übungen und schrift-
lichen Leistungen auch Extemporalien direkt alten Stils mit einer Steigerung
vom Leichteren zum Schwereren eintreten können; denn die Schüler sollten auf
dieser Stufe und in diesem Alter über hinreichende Geisteskraft, Sprachkenntnis
und innere Schulung verfügen, um auch der Forderung gewachsen zu sein, einen
nicht allzu shchweren Text aus der Muttersprache in die Fremdsprache zu übertragen.
Orammatische Sicherheit und die Fähigkeit, eine Umdeutung und schließlich Um-
denkung aus dem heimischen Idiom in das fremde vornehmen zu können, kommen
den Endarbeiten der Schule und besonders dem fremdsprachlichen Aufsatz viel,
viel mehr zu statten, als der Uneingeweihte je glauben möchte. Und eine Bewertung
ohne jede Rücksicht sonst könnte nicht bloß, sondern sollte hier unbedingt statt-
finden, wo der Ballast der Utilitaritäts-Sekundaner sich verloren hat. Es dürfte
indes solche Arbeit auch in den oberen Klassen nicht nur zum Exerzierplatze
grammatischen Drills zurechtgewalzt werden; aber die Überwindung von angäng-
lichen Schwierigkeiten hat noch immer reinigend und festigend und anregend ge-
wirkt, und die grammatische Gründlichkeit muß meiner Meinung nach auch gerade
für Ober-Sekunda und Prima erhalten werden: sie wird erfahrungsmäßig beim
breiteren Einsetzen der Lektüre leider zu oft in den Hintergrund gedrängt
oder geht gar verloren, trotzdem sie doch für den ganzen Betrieb noch blutnot-
wendig ist.
Das sind bis jetzt meine Wünsche gewesen, und sie sind es noch. Vielleicht
auch die mancher Kollegen? Und würde die Behörde einmal so weit gehen, die schrift-
lichen Klassenarbeiten in dieser oder ähnlicher Weise abzustufen, so würden doch
auch sicherlich manche Vorteile daraus entspringen: die Grammatik würde gründ-
lich genug und ohne den seelischen Druck für die Schüler traktiert werden können;
H. Wickenhagen, Die alte und neue Schule nach Prof. Dr. Morsch. 27
die Lektüre aber als das Fertige, Stützende, Wärmende im Unterricht würde schon
für die mittleren Klassen etwas mehr hervortreten und durch die Anlehnung der
schriftlichen Arbeiten an sie noch mehr geschätzt werden; die Übung ferner zu
strafferer und größerer geistiger Sammlung, wie sie nun einmal das Extemporale
fordert, brauchte nicht aus dem Schulbetriebe verbannt zu werden, würde aber in
seiner strengsten Form für die Oberklassen aufgespart, für ein Alter also, das die
Arbeit treffsicheren und zielbewußten Denkens leisten kann. Die Gefahr dabei,
daß das Extemporale allein den Wertmesser für die Leistungen der Schüler abgeben
könnte, diese Gefahr wird ja in Mittel- und Oberklassen absolut dadurch vermieden,
daß erstens die Extemporalien seltener eintreten, und daß zweitens auch alle
möglichen Übungen schriftlicher und mündlicher Art gleichwertig und in genü-
gender Zahl danebenstehen, mehr, als es eben je in den unteren Klassen
der Fall sein könnte. Und sollte man wirklich fürchten, dem faszinierenden Zahlen-
zwang der gemachten Fehler zu unterliegen, nun, so brauchte ja nicht einmal ein
Anstreichen dieser Fehler am Rande stattzufinden; sondern die Beurteilung könnte
nach dem ganzen Tenor der Arbeit geschehen. Wenigstens in den Oberklassen.
Ähnlich wie bei den Aufsätzen; denn wenn der Schüler auch wirklich viele
Fehler machen sollte, so kann er doch in den Geist der Sprache einge-
drungen sein.
So wie aber der Erlaß des Herrn Ministers nun einmal vorliegt, bedeutet er
nach den Extemporaleverfügungen in den Lehrplänen von 1882, 1891 und 1901
wieder einen Fortschritt. Ich glaube auch nicht, daß der Erlaß, wie man gesagt
hat, die Arbeitsleistung der Lehrer um ein Bedeutendes steigert, wohl aber die Last
ihrer Verantwortung. Vor allem auch die der Direktoren. Was aber in der mini-
steriellen Verfügung besonders erfeulich scheint, ist, daß ein besserer Weg gesucht
werden soll, nicht: um den Verstand oder den Charakter oder gar bloßes Wissen
auszubilden; denn das eine können, das andere wollen wir in der Schule kaum,
sondern „ein besserer Weg soll gesucht werden zur Sicherheit in der Anwendung
des Erlernten und Erarbeiteten". Und das eben ist erreichbar. Das treibt uns Lehrer
auch an, uns selbst zu prüfen; das ermutigt uns und gibt uns das freudige Bewußt-
sein, in einer Entwicklung zu stehen. Wir gehorchen und dürfen in Zukunft auf
noch mehr hoffen.
Berlin. Robert Eule.
Zu vorstehendem Aufsatz sei noch Folgendes bemerkt: Es sind mir gleich
nach Erscheinen des Extemporaleerlasses zahlreiche Aufsätze zugegangen, die
aufzunehmen ich Bedenken trug; zum Teil enthielten sie nur Kritik, sehr über-
eilte Kritik, aber nichts, was der ersprießlichen Arbeit der Schule irgendwelchen
Nutzen hätte bringen . können. Vorstehender Beitrag schien mir das Wesent-
liche und Wichtigste zu enthalten, er ist auf einem sympathischen, hoffnungs-
frohen Ton gestimmt und er weist vor allem auf die Erfahrung und Erprobung
hin, welche uns zukünftige Arbeit noch bringen muß. — Für die Monatschrift
war ja der Standpunkt von vornherein gegeben. Sie begrüßt alles, was das
Leben und die Arbeit in der Schule freudvoller und das Zusammenwirken von
Lehrern und Schülern verständnisvoller gestalten kann, mit aufrichtiger Freude
28 H. Wickenhagen,
und wird alle Erfahrungen im Extemporalebetrieb, die nunmehr gesammelt
werden müssen, gern wiedergeben. Zu diesen bedarf es aber zunächst einiger
Zeit. Ist sie vergangen, so ist die Monatschrift gern bereit, die Beobachtungen
und Erfahrungen verständiger Männer aufzunehmen und weiter zu verbreiten.
Graue Theorieen aber und frische Tatkraft lähmende Bedenken, wetehe die
Praxis noch beseitigen kann, möchte sie nicht gern in ihren Spalten sehen.
Berlin. A. Matthias
Die alte und neue Schule nach Prof. Dr. Morsch.
Im ,, Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand" hat
Prof. Dr. Morsch einen Aufsatz über „Zerstreuung und Zersplitterung im Unter-
richtsbetriebe der höheren Lehranstalten** veröffentlicht, der in den Satz ausläuft:
„Aus der früheren Gelehrtenschule ist eine ,Allerweltsschule' geworden, wo die
Schüler neben Sprachen, Realien, auch Pappen, Kleben, Kurzschrift, Entfernungs-
schätzen, Vereinsmeierei und — Bummeln lernen."
Das ist klar und deutlich ! Der Verfasser hat die Mühe nicht gescheut, eine große
Anzahl von Schulprogrammen durchzusehen und hofft, in einer Musterkarte von
allen erdenklichen Beschäftigungsarten unserer heutigen Jugend den Urgrund
der landläufigen Überbürdungs- und sonstigen Klagen gefunden zu haben. Bei
der engen Aufschichtung von wer weiß wie vielen Beispielen ist begreiflicherweise
ein so gepfeffertes Ragout entstanden, daß man das tadelnde Schlußurteil des
Verfassers fast als natürlich entgegennimmt. Es enthält in der Tat auch einiges
Richtige und wird insofern mittelbar dazu beitragen, die Schulluft da, wo es nottut,
zu reinigen.
Soviel soll anerkannt werden. In seinen subjektiven Beigaben aber schießt
Morsch nicht selten arg vorbei; Besserungsvorschläge und neue Ideen findet man
nicht. Wie ein roter Faden geht durch seinen Aufsatz die Abneigung gegen jede Art
der körperlichen Betätigung, wie er denn überhaupt nur dem wissenschaftlichen
Unterricht und den Schularbeiten Daseinsberechtigung zuzugestehen scheint.
Über Gang und Ziele unserer deutschen Erziehung haben vollwertige Instanzen
ihr Gutachten abgegeben; es soll hier nur an die Weltausstellungen von St. Louis
und Brüssel hingewiesen werden. Die grundsätzliche Pflege der Selbsttätig-
keit gehört zu den glänzendsten Errungenschaften unserer neuzeitlichen Pädagogik.
Daß noch immer Erfahrungen gesammelt, Fehler ausgemerzt werden müssen,
versteht sich von selbst; aber diese Arbeit liegt gottlob in guten Händen! Schon
seit Jahren haben in geregeltem Gedankenaustausch die Direktorenversammlungen
ihr Streben darauf gerichtet, gangbare Wege zu erschließen, die Lehrer zu Führern
vorzubilden, sie anzuregen und zu zügeln, zu treiben und zugleich zur Vorsicht
anzuhalten. Und dann die Oberlehrer- und Fachlehrerkreise! Für die Jugend
bringt der heutige Erzieher bei allem Drucke der Berufspflichten jedes Opfer:
Das sollte man anerkennen! Hinter dem, was die Schule an Betätigungen in
sich vereinigt, steckt ein gewaltiges Stück selbstloser Lehrarbeit I
Die alte und neue Schule nach Prof. Dr. Morsch. 29
Darüber herrscht übrigens heute volle Klarheit, daß Sport und Turnen
als nächstes und wichtigstes Gegengewicht der Lern-
schule zu betrachten und für die Selbständigkeit zuerst zu empfehlen sind.
Leider wird das in der Praxis noch nicht überall beachtet; noch immer gibt es
Schulen, die allem, was die Schüler treiben, ein wissenschaftliches Mäntelchen
umhängen möchten: Lese- und Literaturklubs; physikalische, chemische Kränzchen
und sonstige Sitz- und Stehvereine wuchern neben dem regelmäßigen Unterricht:
von einem planmäßigen Wechsel in der Tagesarbeit ist keine Rede.
Hätte Morsch nach dieser Richtung aufräumend gewirkt, hätte er, statt ewig
zu tadeln, uns gesagt, wie man sich nach seiner Methode eine mens sana und zugleich
ein Sanum corpus erwirbt, dann könnte man ihm nur dankbar sein. Dieses
Kapitel schneidet er nicht an. Das, was er vorbringt, muß mit derselben Schärfe,
mit der er für seine Ideen eintritt, abgewiesen werden; denn es dürfte mehr
Schaden als Nutzen bringen!
„Die folgenden Ausführungen werden vielfach, besonders von den Modernen
unter den Schulreformern bestritten werden. Indessen weiß ich, daß alte wie
jüngere Amtsgenossen, zunächst im geheimen (?!). mir zustimmen.*' So beginnt
Morsch.
Wahrlich ein Geständnis von rührender Offenheit! Eingedenk des „Wer die
Wahrheit kennet und saget sie nicht, der ist fürwahr usw." erscheint er
in der Rolle eines mutigen Vorkämpfers der Schüchternen, Zaghaften, die die Faust
in der Tasche ballen. Ob er für diesen Posten der geeignete Vertreter ist, mögen
die Männer seiner näheren Umgebung entscheiden. Jedenfalls richtet der, der die
Wahrheit nicht kennet und doch zum Reden sich berufen fühlt, noch ebensoviel
Unheil an.
An geheimen Gegnern fehlt es der heutigen Erziehung sicherlich nicht. Wo
gibt es die überhaupt nicht? Mit sachlichen Gründen sie zu bekämpfen, ist verlorene
Liebesmüh; wir wollen es uns also lieber angelegen sein lassen zu prüfen, wie der
Gegensatz zwischen Alten und Modernen sich erklärt.
Wir leben in einer Zeit rastlosen Fortschreitens auf allen Feldern der Arbeit.
Wer die letzten Dezennien der vaterländischen Geschichte kennt, kann den ge-
waltigen Aufschwung, den unser Kulturleben erfahren hat, abschätzen. Wurde
vor den Einheitskriegen in den Schullehrplänen die deutsche Geschichte von 1815
mit allem, was sie enthielt, totgeschwiegen, weil sie für die geistige und sittliche
Bildung Jungdeutschlands keinen Nährstoff enthielt, so befindet sich in der Gegen-
wart unser Sinnen und Schaffen in beständiger Spannung: im edlen Wettstreit
der Völker bewähren sich die Tüchtigsten, und jeder Tag bringt dem Auge, Hirn,
der Geschichte neuen Stoff, Die Früchte rüstiger Arbeit haben das deutsche Herz
gestärkt und auch der Jugend ernste Lebensziele gesteckt.
Es leuchtet ein : wie sich die verflossene Periode mit ihrer inneren Nichtigkeit
von der Kulturfülle der Gegenwart unterscheidet, so unterscheiden sich auch die
Grundsätze und Aufgaben der Schule von sonst und jetzt. Zunächst wird
natürlich die Jugend von den Erscheinungen ihrer Umgebung beeinflußt,
und sie müßte dem Stumpfsinn und der Blödigkeit verfallen sein, wenn sie sich
von ihnen nicht anregen und fortreißen ließe. Darin liegt ein Stück unserer heutigen
30 H. Wickenhagen,
Überbürdung, aber jeder, der für die junge Welt ein Herz hat, muß sich unbekümmert
um die kleine Schar der Weltfremden und Gewohnheitsnörgler, die in der alten Zeit
die gute erkennen möchten, darüber freuen, daß unser reiferer Nachwuchs den edlen
Trieb in sich fühlt, an den ernsten Tagesaufgaben mitzuarbeiten, daß er seine
Erholungsstunden nicht mehr wie vor Zeiten mit Biersitz, Kartenspiel oder gedanken-
losem Flanieren ausfüllt, sondern sie benutzt, sich das Rüstzeug für die gesteigerten
Ansprüche des zukünftigen Berufs zu erwerben. Übertreibungen kommen gewiß
auch hier, wie überall, vor, aber sie bilden nicht die Regel, sondern die Ausnahme.
Im weiteren wird sich jeder darüber freuen, daß bei diesem Entwicklungsgange
ein besseres Sichverstehen, ein gegenseitiges Vertrauen, mehr Wahrheit, kurz
eine immer natürlichere Annäherung von Lehrern und Schülern eingetreten ist.
Das Kapitel „Erziehung" hat unter der Hand weitsichtiger Männer und
bewährter Jugendfreunde eine so glückliche Weiterbildung erfahren, daß man
unser Zeitalter das der „Erziehung" nennen könnte. Ein besonders wertvolles
Kapitel bildet die Reform des Erholungslebens. Ausgehend von dem Grundsatze,
daß die Ruhe eine andere Art der Arbeit sein müsse, ist man darauf bedacht ge-
wesen, den Erholungsstunden, die der Schüler gerade so gut braucht, wie der Er-
wachsene, einen Inhalt nach der Richtung zu geben, daß Arbeit und Ruhe sich gegen-
seitig unterstützen. An der Vertiefung dieses Erziehungsziels schaffen Lehrer
und Schüler gemeinsam. Die Geibelschen Worte
Das ist die Wirkung edler Geister:
Des Schülers Kraft entzündet sich am Meister,
Doch schürt sein jugendlicher Hauch
Zum Dank des Meisters Feuer auch.
finden ihre Bestätigung im Urteil eines erprobten Schulmannes, des Geheimrats
Münch: „Schon ist weit mehr Frische im höheren Lehrerstande vorhanden, als
sie manche Jahrzehnte hindurch gefunden zu werden pflegte; mehr Gefühl für die
Natur der Jugend, mehr Unbefangenheit, mehr Sinn für die berechtigte Freiheit
neben der notwendigen Zucht, weniger frühe Greisenhaftigkeit, weniger grämliches
Mißgönnen, weniger Beschränkung auf das Fordern und Richten, mehr Bemühen
um das Verständnis der einzelnen werdenden Persönlichkeiten."
So ists, wer über die vier Wände seiner Arbeitsstube hinausgeschaut hat,
unterschreibt jedes Wort; ein einziger Beleg dürfte zu ihrer Erhärtung genügen:
Im Bootshause Wannsee allein haben sich im verflossenen Sommer 87 Lehrer
höherer Anstalten wassersportlich ausbilden lassen, um am jugendlichen Ruder-
betriebe ihrer Anstalten teilnehmen zu können. Daneben rudern einige Dutzend
Herren regelmäßig in und mit ihren Riegen; unter ihnen Männer mit ergrauendem,
ja silberweißem Haar!
Und das sind die Modernen! Man soll sich also unter diesem Begriffe
keineswegs eine Schar jugendlicher Stürmer und Draufgänger vorstellen, sondern
Leute, die maßvoll urteilen und nur das vertreten, was sie am eignen Leib und Bein
erprobt und für gut befunden, nicht zweifelhaften Klatschereien entnommen haben.
Ihnen gegenüber stehen die Vertreter der a 1 1 e n S c h u 1 e. Es sind nicht
Die alte und neue Schule nach Prof. Dr. Morsch. 31
allein die im Dienst ergrauten, sondern neben ihnen auch Männer der „frühen
Greisenhaftigkeit und des grämlichen Mißgönnens".
Wer auf dem Gebiete des Turnens und Sports seit der Zeit seines Auf-
kommens Erfahrungen gesammelt hat, ist fast überrascht, wie die letzteren
alle mehr oder weniger denselben Typ zeigen.
Meist sind es solche, die zeitlebens dem praktischen Sport und dem Kamerad-
schaftsleben keinen Geschmack abgewinnen konnten. Sie sind wohl während ihrer
Schulzeit vom knappen Turnbetriebe befreit gewesen, haben sich schon früh in
eine gewisse Einseitigkeit hineingearbeitet, aber in der Abgangsprüfung als fleißige,
ja als Musterschüler bewährt; sind in ihrem Studiengange, der durch die mili-
tärische Dienstpflicht, durch Manöverstrapazen u. a. keine Unterbrechung er-
litten, treulich den ausgetretenen Spuren früherer Geschlechter nachgegangen,
um auf dem kürzesten und erprobtesten Wege zur Anstellung zu gelangen. Mit
dem Brotbriefe treten sie ins Leben und beginnen ihre erziehliche Tätigkeit mit
der Devise, die sie an sich selbst erprobt: Man soll sich nie ablenken lassen!
So erledigen sie ihre Berufspflichten treu und gewissenhaft, gönnen sich keine
Zerstreuung und verbringen, abgesehen von einem steifen Spaziergange, ihre
Freizeit am Schreibtisch mit schriftstellerischen Untersuchungen.
Ist bi? dahin alles schön und glatt gegangen, so stellen sich allmählich un-
gemütliche Gäste ein: die Einseitigkeit nimmt immer bestimmtere Formen an.
Bei der ewigen Stubenarbeit macht sich eine gewisse Empfindlichkeit, Verweich-
lichung bemerkbar, die Nerven wollen nicht mehr, der Blick für die Erscheinungen
der Zeit verengt sich. Die Jugend ist ihrem Wesen nach unbarmherzig, sie hat
eben kein Verständnis für die eintretenden Schwächen des Alters; ganz besonders
ist den vollsaftigen, gesunden Burschen mit der wetterfesten, gegerbten Haut
Weichheit und Verzärtelung zuwider. Der Zwiespalt ist da: Lehrer und Schüler
verstehen sich nicht mehr. Die „neue Richtung", der „Sport" usw. sind schuld.
Dann hört man Äußerungen wie „Wir haben früher nicht gerudert und sind ganz
tüchtige Staatsbürger geworden" oder „Früher kannte man all diese Sportfexereien
nicht, und dabei haben die Früheren die großen Schlachten geschlagen!" — Gerade
die letztere Äußerung ist fast zum Schlagwort geworden, und merkwürdig: Bisher
habe ich sie nur von solchen gehört, die nie einen Soldatenrock getragen und sich
nie mit den ernsten Aufgaben des Wehrdienstes vertraut gemacht haben.
Im vorigen sind nur allgemeine Beobachtungen vorgelegt; ob sie bei dem
Berichterstatter zutreffen, entzieht sich meiner Kenntnis. Das eine steht aber
für jeden Fachmann, der den Aufsatz zu Gesicht bekommt, fest: Morsch bewegt
sich auf einem ihm fremden Gebiete. Wenn einer über einige abgenutzte Alltags-
vorwürfe nicht hinauskommt, kein Wort über die erziehlichen praktischen, gesund-
heitlichen Eigenschaften des Land- und Wassersports zu sagen weiß, dann ist die
Frage am Platze: Wie lange und wo hast du Wassersport u. a. getrieben? In
welcher Weise hast du dich zum Sportkritiker ausgebildet? Denn es ist doch
wohl hier wie auf allen Arbeitsgebieten Ehrenpflicht, daß man erst gewissenhaft
prüft, Kenntnisse und Fertigkeiten sammelt, ehe man mit Urteilen an die
Öffentlichkeit tritt.
Morsch, behaupte ich, gehört zu den gelegentlichen Zaungästen unserer Turn-
32 H. Gilow,
und Übungsplätze. Wer in einer gesunden Freilichtgymnastik Verführungen
zum Alkoholismus erblickt, macht sich im Kreise der Kundigen geradezu lächer-
lich. Wer daran Anstoß nimmt, daß Ruderschüler in den Eisenbahnabteilen auf
der Fahrt Schulbücher vor der Nase haben, der lebt mit seinen Anschauungen
noch im Zeitalter der Postkutschen und Landomnibusse. Und was soll man zum
folgenden sagen: ,,Wir Amtsgenossen erfahren es ja täglich, daß die besten, kräf-
tigsten Turner und Ruderer selten*) auch die besten Schüler sind; auch im späteren
Leben zeigt es sich ja, wie die robusten Naturen mit gebräunten Gesichtern, deren
Nerven und Sehnen durch Wandern wie Stahl sind, nicht immer sich als die besten
Kopfarbeiter erweisen.'' Mit dem ersten Teile dieser Worte stellt Morsch das Urteil
•keines Geringeren als des Herrn Ministers in einer Frühjahrssitzung des Abgeordneten-
hauses auf den Kopf. Aus eingezogenen Gutachten leitete dieser das Ergebnis ab,
daß die Ruderer meist zu den besten Schülern gehörten. Der zweite Teil ist sehr
vorsichtig gehalten; daß Sportsleute immer die besten Kopfarbeiter seien, hat noch
kein Mensch behauptet.
Ist denn übrigens die nach M.s Rezept gebildete Jugend mit der blassen Haut
und den weichen Sehnen in allen Sätteln fest, so daß wir uns auf sie in den Wechsel-
fällen des Lebens verlassen können? Darüber mag er sich die Antwort bei unseren
Heerführern holen. ,,Ist der Körper schlaff," schreibt Gneisenau an seine Frau,
„so ist auch die Seele schlaff, sei auch der Kopf noch so sehr mit Kenntnissen
angestopft; er wird dann nur viel wissen, aber nichts vermögen, nichts ausrichten,
keinen Willen, keinen Entschluß haben. Dergleichen Leute haben wir genug in
Deutschland; nur sie haben dieses Landes Unglück verschuldet."
Nicht von „Kopfarbeitern", sondern vom deutschen Schulmeister, d. h. dem
Meister-Erzieher in Schule und Heer ist die Schlacht von Sadowa gewonnen worden.
Wir wollen gewiß die Verstandesbiidung nicht unterschätzen, solange aber das
preußische suum cuique gilt, soll auch dem Körper sein Recht gewahrt bleiben.
Gerade heute, das hätte M. bedenken sollen, stehen Männer mit zäher Kraft, ge-
stählten Nerven, entschlossenem Mute, geklärtem Wirklichkeitssinn hoch im Werte.
Schule und Heer sind die beiden Säulen, die unser Staatsgebäude tragen. Danach
bestimmen sich unsere Aufgaben; wer ihnen entgegenwirkt, ladet eine schwere Ver-
antwortung auf sich.
Berlin-Groß-Lichterfelde. H. W i c k e n h a g e n.
Ein Berliner Scliulmann.**)
Die von der Familie und den Freunden Heinrich Bertrams mit Bei-
trägen unterstützte, der Stadt Berlin gewidmete Lebensskizze will in dankbarer
Verehrung das Andenken des Mannes erneuern, der von 1874 — 1900 an der Spitze
des Berliner Volksschulwesens stand. Sie ist, abgesehen von dem erhebenden
*) Nach meinen doch ziemlich weitreichenden Beobachtungen stimmt das nicht.
Für einzelne Jahrgänge möchte ich sogar das Gegenteil behaupten. Doch es wird ja
Sache der in Frage kommenden Schulen sein, ihre Statistik aufzumachen. Mtth.
**) Heinrich Bertram, Stadtschulrat in Berlin. Ein Lebensbild von Fritz Jonas.
Berlin 1911. Weidmannsche Buchhandlung, gr. S^. VI u. 202 S. 4 M.
Ein Berliner Schulmann. 33
Eindruck, den die feinsinnig gewürdigte reinmenschliche Seite dieses gesegnetert
Lebenslaufes hervorruft, eine Ergänzung der Berichte über die Gemeindeverwaltung
der Stadt Berlin, die Bertrams Schöpfungen im Rahmen schwer zugänglicher und
zerstreuter Druckschriften schildern. Sie ist auch ein Beitrag zur Schulgeschichte
der Hauptstadt in der Zeit ihres gewaltigen Wachstums nach dem großen Kriege
von 1870/71. Der städtischen Schulverwaltung stellte dieser Aufschwung neue
und schwer zu erfüllende Aufgaben, „aber die große Zeit hob jeden einzelnen über
sich selbst hinaus, erweckte Begeisterung, und bis an seinen Tod hat auch Bertram
aus jenen Tagen ein Hochgefühl sich bewahrt, Zeuge so gewaltiger Ereignisse
gewesen zu sein".
Darin, ,,wie er in dem Vierteljahrhundert seiner Amtstätigkeit allmählich
ohne beunruhigenden Zickzackkurs den Lehrbetrieb . . . geleitet und vervollkommnet
hat, liegt seine bedeutsamste, wahrhaft geniale Wirksamkeit", sagt Jonas, und es
tut wohl, das gemeinhin nur den Baukünstlern, die „schöne" Schulbauten schaffen,
freigebig gespendete Wort genial hier einmal dem hervorragenden pädagogischen
Organisator beigelegt zu sehen, der dem Volksschulwesen der Reichshauptstadt
den Stempel seines Geistes aufgeprägt hat.
Wir begleiten den jungen stud. theol. et phil. Bertram, nachdem er im März
1845 seine Reifeprüfung am Domgymnasium in Magdeburg bestanden, nach Halle,
dann 1847 nach Berlin, wo er bald den Schwerpunkt seiner Studien in die Mathe-
matik und Naturwissenschaft verlegte. Eingeflochtene Briefe zeigen, wieviel mehr
damals noch in Briefen auch der Mitteilung des Empfindungslebens Raum ge-
geben wurde als jetzt. Sie spiegeln uns auch den unmittelbaren Eindruck der
1848 er Märztage auf den Studenten B. wider, der indem „mehr zeitraubenden als
angreifenden Dienst als Nationalgardist" seinen Mann stehen muß. Das wichtigste
Ergebnis der folgenden Jahre war wohl, daß er bald nach bestandener Staats-
prüfung in engere wissenschaftliche und persönliche Beziehungen zu dem nam-
haftesten Mathematiker unter den damaligen Berliner Schulmännern kam: Karl
Schellbach, der 1853 auch sein Schwiegervater wurde. B. nahm an dessen Studien
regen Anteil und wurde auch mit den bedeutenden Freunden Schellbachs, Dirichlet,
Dove, Helmholtz, Du Bois- Reymond, Förster bekannt und in ihre vielseitigen
Interessen mithineingezogen. — Das alte Werdersche Gymnasium in der Kur-
straße, die Wiege so vieler nachmals angesehener Männer, wurde dann die Stätte
seiner eigentlichen pädagogischen Bewährung. Hier wirkte er von seinem 29.
bis 42. Jahre bis 1868, hier machte er sich einen Namen durch die sieghafte Kraft
seines Unterrichts: „Geistige Bedeutung, hohe innere Autorität traten überall
hervor." Wie charakteristisch die folgenden Proben: „Einst trat während seines
Unterrichts der Direktor oder ein Schulrat in die Klasse. Die Primaner erhoben
und setzten sich und blickten eifrig in die vor ihnen liegenden Hefte. Bertram
guckte nach seiner Art einen Augenblick schräg über die Brille hinweg, grüßte,
sah aber dann auch schweigend auf die Klasse. Es herrschte zur Verwunderung des
Vorgesetzten tiefe Stille. Ehe der Vorgesetzte aber noch das Schweigen brach,
erhob sich ein Primaner und sagte: ,Herr Professor, ich habe die Lösung gefunden',
und trug diese dann knapp und klar vor. Das war Unterricht in Schellbachschem
Geiste;" und „Bei Vertretungen schonte er sich am wenigsten, und es wirkte
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 3
34 H. Gilow, Ein Berliner Schulmann.
anregend auf die Kollegen, als bekannt wurde, er habe bei einer Vertretung erfahren,
daß zu dem Tage ein Aufsatz fällig sei, die Aufsätze eingesammelt und schon am
nächsten Tage korrigiert zurückgegeben."
Aus dem engeren Kreise der einzelnen Schule ist dann Bertram, der von
1868 — 1874 Direktor der neu errichteten höheren Sophien-Bürgerschule gewesen
war, an die Spitze des Berliner städtischen Volksschulwesens berufen worden,
auf einen schwierigen Posten also; denn wenn er zu fest an dem Bestehenden ge-
halten hätte, so wäre das Stadtparlament gegen ihn aufgestanden, wenn er zu
radikal sich gezeigt hätte, so würden die Aufsichtsbehörden ihre Genehmigung
versagt haben. Hier kam ihm nun zugute, daß er in den Anschauungen des alten
Liberalismus groß geworden war, und daß es ihm, wie sein Biograph sagt, in der
Kirche und Schule wie in der Politik immer richtig schien, nicht auf einmal sozu-
sagen den ganzen alten Waldbestand abzuschlagen, sondern stückweise zu roden
und neu anzupflanzen. Im Geiste des Ministeriums Falk, das den Volksschulen
in den Städten eben höhere Aufgaben gesetzt hatte, förderte er die Bildung in den
Realien, besonders in den Naturwissenschaften und den Elementen der Geometrie,
trat aber doch einem Vielerlei neuer Unterrichtsgegenstände entgegen, damit
nicht die Gründlichkeit litte. „Soll die Pädagogik, dies sind B.s Worte, den Lehr-
plan belasten mit Gesetzeskunde und Volkswirtschaftslehre, mit Hygiene und
Technologie? Die Schultern der Kleinen würden die Last nicht tragen, die man
ihnen in gut gemeinter Weise mitgeben will für das Leben." Die schon von seinen
Vorgängern Fürbringer und Hofmann eingeleitete Gründung der höheren Bürger-
schulen, später Realschulen genannt, führte er zum Ziele: sein organisatorisches
Geschick, das ihn immer nur das zunächst Erreichbare erstreben ließ, wußte den
Lehrplan so aufzubauen, daß er schließlich die Zustimmung der königlichen
und städtischen Behörden fand: die 1884 eröffnete erste Realschule heißt jetzt
Bertram-Realschule. Auch die Schaffung von nichtgeistlichen Schulinspektoren
gelang im Jahre 1877, trotzdem die auseinandergehenden Meinungen zeitweise
ein Scheitern ernstlich fürchten ließen. An dem Ausbau des auch heute noch
in Bertrams Bahnen sich fortentwickelnden Fach- und Fortbildungsschulwesen
hat er bis zum Abschiede aus seinem Amte im Jahre 1900 unablässig mit ruhiger
Besonnenheit gearbeitet. Ein Anhänger der sozialistischen Ideen war er nicht und
würde sich ungern zu der inzwischen von der Zeitströmung durchgesetzten Zwangs-
fortbildungsschule entschlossen haben. Sehr bezeichnend für seinen individua-
listischen Standpunkt sind die Worte: ,,Wenn Sie die Jugend bis zum vierzehnten
Jahre in die Volksschule, vom vierzehnten bis zum achtzehnten Jahre in die Fort-
bildungsschule und dann noch auf zwei oder drei Jahre in die Armee bringen,
so weiß ich nicht, wann der selbständige Wille und Charakter sich bilden sollen."
Demnach widerstand er auch solchen Bestrebungen, die gar zu viele erzieherische
Elternpflichten auf die Gemeinde übertragen möchten.
Manche Enttäuschungen blieben auch Bertram nicht erspart. Die Angriffe
von rechts und links, auch aus den Kreisen der Lehrerschaft, stellten seinen natür-
lichen Optimismus oft auf eine harte Probe. Man lese die mitgeteilten Briefe nach,
in denen Stellen begegnen wie: ,,die sogenannten Ferien sind abgelaufen, ohne daß
ich zur rechten Sammlung gekommen bin . . . ich ringe förmlich mit den Akten . , .
K. Koppin, Zur Klausur der mündlichen Reifeprüfung. 35
und finde, daß es einem Stadtschulrat schwer gemacht wird sich durchzuschlagen'';
„ich habe für meine Person seit langer Zeit aller Hoffnung auf ferneres glückliches
Leben entsagt, ohne undankbar für früheres zu sein, und empfinde nun, was sich
noch bietet, als ein unerwartetes Geschenk.'* Er faßte eben, wie sein Biograph
sagt, das Leben nicht so auf, als dürfe jeder auf Glück rechnen, sondern als sei
es die Pflicht eines jeden, im Glück und Unglück sich zu bewähren. Die Art, wie
er die Kraft dazu in sich ausgebildet hat, ist das größte in seiner Persönlichkeit
gewesen, und hat ihn auch im Leiden nicht verlassen, obwohl ihm die Resignation
schwerer fiel als die Arbeit. Ergreifend ist der tiefe Schmerz bei dem Tode seiner
sechsjährigen jüngsten Tochter Julie, die ihm 1877 entrissen wurde. „Wie wir
mit allen Fasern, Gedanken mit dem himmlischen Kinde verwachsen waren und
sind, wie keiner von uns je daran gedacht, daß dieses Kind uns entrissen werden
könnte; es verschönte, es adelte unser Zusammensein, ein Blick in seine Augen
war mir für den ganzen Tag Trost in allem Kummer! . . . Mein Amt kann ich ver-
sehen, aber wenn mir Julie vor die Seele tritt — und wie war sie der Mutter ähnlich."
So schrieb er an die geliebte Schwester, und diese Worte lassen uns einen tiefen
Blick werfen in das weiche Herz dieses so starken, gegen Fremde so spröden und
schweigsamen Mannes.
So schnell auch das Rad der Zeit rollt, die Gestalt eines Schulmannes wie
Bertram wird wenigstens in der Berliner Schulwelt noch in eine weitere Zukunft
hineinragen. Das Jonassche Lebensbild sei den Fachgenossen deshalb und wegen
seines schönen menschlichen Gehalts warm empfohlen.
Berlin. Hermann Gilow.
Zur Klausur der mündlichen Reifeprfifting.
Man hat die Ersprießlichkeit dieser Klausur neuerdings in Zweifel gezogen,
wie ich sehe, auch im 11. Heft des Jhrgs. 1910 dieser Monatschrift, und um der
mündlichen Reifeprüfung ihre Schrecken zu nehmen, alle Primaner als Zuhörer
heranzuziehen gewünscht. Es gibt nun allerdings auch andere, weniger äußerliche
Mittel zu diesem löblichen Zweck; aber sie lassen sich wohl nicht überall an-
wenden oder durchsetzen. So sei denn den theoretischen Erwägungen über die
Sache die praktische Erfahrung zur Verfügung gestellt, die ich während eines
Jahrzehnts als Mitglied der Reifeprüfungskommission eines Mecklenburgischen
Gymnasiums, dessen Primanerleistungen ich, beiläufig gesagt, in angenehmster
Erinnerung habe, mit der dort herkömmlichen Zugänglichkeit der mündlichen
Prüfung machen konnte. Sie fügte sich gut ein in deren äußeren Rahmen.
Die Handlung spielte sich ab im Klassenraum der ungeteilten Prima. Die
altehrwürdigen Subsellien, deren zweiten Vorzug einzig noch ihr stark amphithea-
tralischer Aufstieg bildete, schauten gar unvorsichtig direkt in die beiden Front-
fenster. Auf der vordersten der ziemlich langen Bankreihen saßen billiger-
weise die unerschrockenen Opferlämmer. Ihnen gegenüber, an der sog. Spiegel-
wand, thronte der Examinator auf einem hochgebauten, nach allen Seiten ge-
schlossenen Katheder, das sich unschwer in ein Fort Chabrol hätte verwandeln
36 K. Koppin, Zur Klausur der mündlichen Reifeprüfung.
lassen. Rechts davon, im Viertelkreis, die Stühle für die Lehrer der Kommission
und etwaige Hospitanten, links in gleicher Anordnung die für die Scholarchats-
mitglieder eines Hochedlen Rats und für den Großherzoglichen Schulrat, der hier
allerdings nicht als leitender Kommissar waltete, sondern nur als eine Art Epi-
scopus in partibus die Vorgänge beobachtete, und auch das erst seit Einsetzung
der Reichsschulkommission: die alte Hansastadt erfreute sich ja des „Schul-
priviiegs". Eines Tisches für die Protokollführung bedurfte es nicht: einer der
Herren Kollegen in besagter Lünette, mit dem sich der jeweilige Examinator ver-
ständigt hatte, führte das „Protokoll" in der Art, daß er die richtigen und die un-
richtigen bzw. ausgefallenen Antworten mit Strich oder Null auf einem Blättchen
seines Notizbüchel markierte; aber begreiflicherweise wurde bei der Beratung
nur in seltensten Fällen auf diese Mühwaltung zurückgegriffen. Auf der hin-
tersten Bankreihe, auch wohl zweien, des Amphitheaters nahmen die zuhörenden
„Herren" Primaner Platz. Ich darf sie schon so nennen, denn dank der mancherlei
Freiheiten, welcher sie sich erfreuten, wußten sie, bei guter wissenschaftlicher
Zucht, sich dementsprechend zu benehmen, auch in ihrer Eigenschaft als Kri-
minalstudenten, freiwilliger natürlich. Sie haben sich nie lästig gemacht. Ich habe
auch nie — und das ist allerdings die einzige Erfahrung, die ich aus jenem patriar-
chalischen Milieu heraus zur Sache äußern kann — irgendwelche Einwirkung ihrer
Gegenwart auf irgendwen oder irgendwas wahrgenommen, auch nicht, daß sie sich
etwa Notizen machten; wäre das geschehen, so würde ich eine recht verständliche
Mahnung an die betreffenden Examinatoren darin gesehen haben. Aber daß sie
sich stets in leidlicher Anzahl als aufmerksame Hörer einfanden, beweist, daß
sie davon irgendeinen Nutzen, sei es nun der Beruhigung oder der Beratung, sich
versprachen, vielleicht auch gewannen.
Hiernach könnte ich eine solche Öffnung der Klausur wohl befürworten, aller-
dings n i c h t im Sinne einer Verpflichtung zur Anwesenheit. Die würde nur
Abneigung wirken und diese wieder immerhin sich unliebsam bemerkbar machen
können. Beneficia non obtruduntur. Und überhaupt, lieber eine unschuldige Freiheit
mehr als einen neuen Zwang für die jungen Leute!
Wiesbaden. K. K o p p i n.
IL Bücherbesprechungen,
Einzelbesprechungen :
Neu, Karl, DerExaminator. München 1912. C. H. Becksche Verlagsbuch-
handlung. VII u. 43 S. IM.
Gerade zur rechten Zeit für Preußen, wo mit der Jahreswende das Examinier-
vierteljahr beginnt, kommt dieses von Klugheit und Liebenswürdigkeit erfüllte
Büchlein zur Welt. ,,Der Examinator'' ist's betitelt, im Titel liegt aber viel Über-
tragenes aus der Enge und Weite des ganzen Schullebens.
Es werden zunächst die Hauptmomente gegeben, die zu einem korrekten Prü-
fungsverfahren gehören, und dazu skizzenhaft, aber deutlich die charakteristischen
Züge des Examinators. Das sind nach Neff richtige Maßstäbe, Geduld und Mit-
fühlen. Der tüchtige Examinator muß „als Mensch größer sein denn als Gelehrter"
sagt Neff; ich möchte hinzufügen ,,denn als Lehrer und als Schulaufsichtsbeamter''
und stimme Neff bei, wenn er einem solchen Examinator die Vereinigung des
geistigen Adels mit dem des Herzens wünscht. — Zunächst hat Neff das Prüfungs-
verfahren bei der Anstellungsprüfung im Auge und er stellt Grundsätze auf, die
ungemein viel Beherzigenswertes haben. Dann kommt der Lehrer als Examinator der
Schüler an die Reihe, der Direktor und der Ministerialkommissar (in Preußen würden
das Provinzial-Schulräte und vortragende Räte des Ministeriums sein) als Examina-
toren der Lehrer, und der Direktor im Examen des Lebens; also auch als Prüfling
der Schüler, die gleichsam als Examinatoren der Lehrer mit in Aktion treten.
Neff sagt an einer Stelle, daß das patriarchalische Verhältnis zwischen dem
Aufsichtsbeamten und seinem Gymnasium und die größere Bewegungsfreiheit der
Rektoren und Lehrer beneidenswerte Vorzüge des bayerischen Gymnasialwesens
seien. Verstehe ich ihn und sein Buch recht, so bewegt sich in Bayern sehr viel um die
im Mittel- und Kernpunkt stehende Person des Rektors, wie ja sein Buch mit diesem
sich am meisten beschäftigt, und es zieht durch das Kapitel V so etwas wie leise
Wehmut, daß es immer so bleiben möge; ich schließe mich dieser Wehmut für
Preußen an. Denn beurteile ich die Zeichen der Zeit richtig, so erkennt man in
Preußen den Wert jener Weisheit nicht immer in ihrer ganzen Tiefe und in ihrem
Umfange. Das Buch von Neff kann auch in dieser Beziehung viel Gutes stiften.
Berlin. A. Matthias.
38 Der Säemann, Zeitschrift für Jugendwohlfaiirt usw., angez. von E. Stutzer.
Der Säemann, Zeitschrift für Jugendwohlfahrt, Jugend-
bildung undjugendkunde. Berlin und Leipzig 1910. B. G. Teubner.
12 Monatshefte von je 4 Bogen, gr. 8^ Vierteljährlich 2 M.
Unter dem oben angeführten Titel hat die Deutsche Zentrale für Jugend-
fürsorge und die Hamburger Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen
Bildung ihre Zeitschriften zu einer Monatschrift vereinigt, mit deren Leitung
Dr. Fr. Dünsing (für Jugendwohlfahrt), C. Götze (für Jugendbildung) und Dr.
H. Cordsen (für Jugendkunde) betraut worden sind. Die Monatschrift bietet
allen Bestrebungen zum Wohle der Jugend einen Vereinigungspunkt und ge-
währt dem einzelnen wissenschaftlichen oder praktischen Mitarbeiter die Mög-
lichkeit, das ganze Feld verwandter Bestrebungen im In- und Auslande zu über-
blicken. In den zur Besprechung vorliegenden ersten drei Heften finden sich Ab-
handlungen z. B. über die Bedeutung der Gartenstadtbewegung, Lesen und Erklären
der Schriftwerke, die Syphilis, das übernormale Kind, die Nadelarbeit usw. Selbst-
verständlich wird auch die staatsbürgerliche Erziehung nicht übergangen, eine
Forderung, über die wohl genug der Worte gewechselt sind; auf die Taten kommt
es jetzt an! Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit, aber in knapper, jedem Ge-
bildeten völlig verständlicher Form werden die verschiedensten Fragen erörtert,
abwechselnd vom erzieherischen oder künstlerischen, kirchlichen oder staatlichen,
rechtlichen oder ärztlichen Standpunkte. Je nach diesem Standpunkte wird das
Urteil über die vorgetragenen Ansichten verschieden lauten. Im ersten Hefte
z. B. S. 44 stellt Hedler die Forderung: ,,Den jüngeren Schülern Tatsachen, den
älteren Urteile". Ist das nicht zu einseitig? Soll man auf die vielfachen und mit-
unter recht verständigen Fragen jüngerer Schüler nicht eingehen? Der psy-
chologisch betriebene Unterricht — und nur ein solcher ist doch richtig —
berücksichtigt sie, kann also jene Formel nicht als richtig anerkennen. — Die
Psychologie hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, weil ein
besonderer Zweig der Anthropologie, die sogenannte Jugendkunde, das heißt die
Kunde von der Entwicklung des jugendlichen Lebens, ausgebildet worden ist.
Die Fortschritte dieser neuen Wissenschaft werden in außerdeutschen Ländern
schon längst von allen für die Jugendwohlfahrt tätigen Kreisen aufmerksam ver-
folgt und verdienen es, auch bei uns immer mehr gewürdigt zu werden, damit
es immer seltener vorkommt, daß Lehrer in ihrer pädagogischen Wirksamkeit
zu wünschen übrig lassen.
Kurze Mitteilungen, Literaturberichte, „Stimmen des Tages", Rückblicke
und Ausblicke finden sich am Schlüsse jedes Heftes und die verschiedensten Schrift-
steller kommen dabei zu Wort, Bebel so gut („Aus meinem Leben") wie Erich
Marcks (Bismarck, I, Die humanistischen Elemente in seiner Bildung). — Der
sehr gut, auch mit Bildschmuck, ausgestatteten und dabei außerordentlich wohl-
feilen Monatschrift ist weite Verbreitung zu wünschen.*)
Görlitz. E. Stutzer.
*^
») Mit dem 1. Januar 1912 hört die Vereinigung des Säemann mit der Zeit-
schrift für Jugendwohlfahrt wieder auf. Mtth.
F. Paulsen, Pädagogik, angez. von G. Leuchtenberger. 39
Paulsen, Friedrich, Pädagogik. 2. und 3. Auflage. Stuttgart und Berlin 1911.
J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger. IV u. 430 S. 8". 6,50 M.
Für dieses Buch aus dem Nachlaß des verehrten Friedrich Paulsen, des vor-
züglichen Gelehrten und edlen Menschen, gebührt seiner Witwe und dem Heraus-
geber Dr. Willy Kabitz, Privatdozenten an der Universität Breslau, wärmster
Dank, der ersteren, daß sie den Auftrag zur Herausgabe erteilt, dem letzteren,
daß er sich der bei dem Befund des betr. Nachlasses nicht leichten Aufgabe der
Bearbeitung unterzogen hat. Druckfertig oder fast druckfertig, unmittelbar aus
Paulsens Feder, lag bei seinem auch für dieses Werk zu frühen Abscheiden nur
etwa die kleinere Hälfte des jetzigen Buches vor, nämlich die „Einleitung", das
1. Buch: „Die Bildung des Willens", außer Kapitel 13: „Die Heimats- und Vater-
landsliebe und die Humanität", und von Buch 2: „Die Unterrichtslehre" nur
das 1. Kapitel: ,,Die Aufgabe des Unterrichts überhaupt", zusammen etwa 165
von den 430 Seiten des Werkes.
Für die Bearbeitung des übrigen standen dem Herausgeber folgende Mittel
zur Verfügung: 1. Der „Grundriß zu Vorlesungen über Pädagogik", den Paulsen
in den letzten Jahren regelmäßig seinen Hörern in die Hand gab; 2. einige Kolleg-
nachschriften aus den letzten Jahren; 3. Paulsens Vorlesungskonzept. Letzteres
war die Hauptquelle des Herausgebers, sein eigentlicher Leitfaden; die beiden
andern dienten ihm nur „zur Kontrolle". Dagegen hatte er in dem Vorlesungs-
konzept „einen zwar sehr oft nur durch einzelne oder mehrere Stichworte oder ab-
gekürzte Sätze angedeuteten, aber doch meist im Wortlaut und in der Anordnung
reiflich überlegten Text aus erster Hand vor sich, den es zu rekonstruieren galt".
So darf man wohl sicher sein, daß auch d i e Teile des Buches, die durch solche
„Rekonstruktion" — ich will das Wort beibehalten, obwohl es die Sache nicht ganz
trifft — entstanden sind, in den Gedanken und im Gedankenzusammenhang,
teilweise auch im Stil Paulsens Geist und Art in sich und an sich 'tragen. Es sind
dies aber folgende Abschnitte: 1. Die „Anthropologisch-physiologischen Vor-
bemerkungen"; 2. Kapitel 13 in Buch 1: „Die Heimats- und Vaterlandsliebe und
die Humanität"; 3. Das ganze 2. Buch, außer dem 1. Kapitel, also fast die ganze
„Unterrichtslehre", jedenfalls die ganze ,, Spezielle Didaktik" und dreiviertel auch
der „Allgemeinen Didaktik".
Ich, vielleicht auch mancher andere von Paulsens Verehrern, hätte es
gern gesehen, wenn das „Vorlesungskonzept" zu diesen Teilen selbst irgendwo in
dem Buche mit zum Abdruck gebracht worden wäre, einmal weil es doch von
Paulsen selbst stammt, und sodann weil sich die „Rekonstruktion" so hätte am
besten bewerten lassen.
Indessen es ist auch so ein gutes und schönes Buch, die „Pädagogik von
Friedrich Paulsen", und dem Bearbeiter und Herausgeber gebührt ungeschmälerter
Dank dafür, daß er uns einen nach Stil und Geist doch ,, echten Paulsen" gegeben
hat. Er hat auch recht daran getan — das soll zu seiner Ehre gesagt sein — , sich
selbst auf dem Titelblatt des Buches neben Paulsen gar nicht zu nennen. Dr. Kabitz
hofft, ,,den Freunden und Schülern des unvergeßlichen Mannes" mit dem Buche
eine liebe Gabe zu bieten; er hegt auch ,,den Wunsch und die Überzeugung, daß
das mancherlei treffliche Gut an Erziehungsweisheit, das Paulsen hier niedergelegt
40 F. Paulsen, Pädagogik,
hat, auch weiteren Generationen angehender Erzieher und Lehrer, namentlich
den Oberlehrern, nützen möge und werde". Dessen darf der Herausgeber ganz
sicher sein. Aber es ist so vieles in dem Buche, was sein Bekanntwerden auch in
noch weiteren Kreisen sehr wünschenswert macht, was ernst der Aufgabe der
Kindererziehung zugewandten Eltern gute Weisungen und Fingerzeige, und zwar
immer unter schlichter, aber gründlicher und überzeugender psychologischer
Begründung, zu bieten in hohem Maße geeignet ist. Darum wünschen wir, das
Buch möchte nicht bloß in Lehrerkreisen, sondern auch in den Kreisen gebildeter
Eltern Eingang finden.
In der Anlage des Buches ist manches neu, d. h. abweichend von sonstigen
pädagogischen Systemen. Vor allem kennzeichnet den Paulsenschen Standpunkt die
Voranstellung der Willensbildung. Diese, nicht die Verstandesbildung ist
ihm ,,das große Hauptstück" der Erziehung, Darum behandelt sein Buch auch in
dem ersten Hauptteil, der noch fast ganz von ihm selbst ausgearbeitet ist, die Be-
deutung und Aufgabe der Willensbildung, die Mittel dazu und die Tüchtigkeiten oder
Tugenden, die dem Willen zu eigen gemacht werden sollen. Es ist eine
Ethik mit besonderer Beziehung aufdie Jugend.
Auch im einzelnen bietet seine ,, Pädagogik" manches Neue. Hauptsache ist aber
doch: Was es an Ergebnissen bringt, ist so durch und durch vernünftig, trifft
bei Prüfung einander entgegenstehender Ansichten so glücklich den klaren Weg
und das feste Ziel, wird überall durch eine so sichere, folgerichtige, fest
begründete und klare Methode der Untersuchung und Entwicklung ge-
funden, bekundet ausnahmslos so viel tiefe psychologische Erfahrung,
so viel schlichte Wahrheitsliebe, so viel eigne menschliche Güte und eine so
warme Liebe zur Jugend, so viel Sorge um ihr Wohl und Heil und um das der Eltern
und des Vaterlandes, daß die Lektüre des Buches auch dem kundigen und alterfahre-
nen Pädagogen eine wahre Freude ist und das Studium des Buches angehenden
Erziehern, Lehrern zumal, aber auch jungen Eltern, fortdauernd ein Quell des
Segens für ihre Aufgaben an dem jungen Geschlecht sein und bleiben wird.
Ob, wie in so manchem Werke, einzelne Abschnitte besonders empfehlenswert
sind? Etwa aus der ,, Einleitung" und den „Anthropologisch-psychologischen Vor-
bemerkungen" die Urteile über Ansichten von Nietzsche und von Schopenhauer,
oder die empiristische und nativistische Auffassung von der Bildsamkeit des
Kindes oder der Abschnitt von der Theorie und der Praxis in Unterricht
und Erziehung oder die Stelle von der Animalität und Rationalität in der
Kindheit oder die Erörterung über die männliche und weibliche Anlage und
über die Frauenfrage? Oder aus dem 2. Buche, der ,, Unterrichtslehre", etwa aus
der ,, Allgemeinen Didaktik" die Abschnitte über positives und negatives Wissen,
über allgemeine Bildung, über echte Bildung und Halbbildung, über das Verhältnis
der intellektuellen zur sittlichen Bildung, über Aufmerksamkeit und Überbürdung?
Oder aus der ,, Speziellen Didaktik" die Erörterung über den Religionsunterricht?
Gewiß, das sind aus den betreffenden Teilen besonders interessante Abschnitte,
und doch empfehle ich solche Eklektik nicht, weil auch diese Abschnitte erst im
Zusammenhang mit ihren Ganzen ihre volle Wirkung tun. Vom 1. Buche aber —
in welchem ja das 1. Kapitel besonders schön und S. 71 und folgende zusammen
angez. von G. Leuchlcnberger. 41
mit S. 141 und folgenden besonders interessant sind — und von der „Speziellen
Didaktik" im 2. Buche dürfen Erzieher, dort Eltern und Lehrer, hier Lehrer, über-
haupt erstmalig nichts herausheben und bevorzugen. Erstmalig; nach Beendigung
der Lektüre des Ganzen mag jeder zur wiederholten Lektüre, zum gründlichen Er-
wägen, zu eigenster Beherzigung eine Auswahl von Abschnitten oder Stellen treffen.
Soll ich meiner Anzeige des trefflichen Buches überhaupt noch etwas hinzu-
fügen? Nun, was es auch sein mag, es soll und wird seinen Wert nicht schmälern,.
Zunächst die Frage: Sollte Paulsen in seinen Vorlesungen die Studenten nicht auf
wertvolle Werke ähnlicher Art hingewiesen haben? In der vorliegenden Pädagogik
vermissen wir das. Sodann einiges, worin wir Bedenken haben oder anderer Ansicht
sind. So können wir im allgemeinen den Knaben im Alter von 14 — 16 Jahren
,,eine gewisse ruhige Verständigkeit (S. 44)" nicht zuschreiben, und wenn am
Abschluß der Besprechung des Jünglingsalters (S. 49) Goethes Wort aus der ,, See-
fahrt" zitiert wird „Doch er stehet männlich an dem Steuer usw.", so ist zn be-
denken, daß Goethe damals schon 27 Jahre alt war. — Daß Frauen wenigstens in
der Regel früher pensionsbedürftig werden als Männer, war S. 56 oben zu betonen.
— Auf S. 86 hätten wir den Begriff der ,, Strafarbeit" — die ja heute bekanntlich
mit Recht verboten ist — gern genauer bestimmt gesehen. — S. 88 u. 91 wird
von der Prügelstrafe gesprochen. Zuletzt fragt man sich aber doch: Will sie P.
auf den Klassen VI — III beibehalten wassen? — S. 90 weiß ich nicht, was spara
heißt; sollte vielleicht para stehn? - S. 129 „so läßt sich weiter nichts machen"
(vgl. auch S. 135 oben); ich glaube, es läßt sich doch noch etwas machen, und das
muß noch gemacht werden im Interesse der Disziplin (siehe z. B. meiuen ,,Schui-
direktor" S. 57 u. 58).
Nicht zustimmen können wir der Behauptung S. 214: ,,die bisherige Schularbeit
machte sich die Anhäufung von Memorierstoff im Gedächtnis so gut wie ausschließ-
lich zur Aufgabe." Ebenso auf S. 259 der Schilderung, wie verkehrt sich die Schule
verhalte bei den Memorieraufgaben für ihre Schüler. — S. 304 spricht das Buch
von ,, unendlich vielen Fehlern in den lateinischen Extemporalien der Sexta". Das
zeigt keine rechte Kenntnis des h e u t i g e n Gymnasiums. Auch bei der Schilde-
rung des Extemporale-Schreibens (S. 285) schweben längst vergangene Zeiten
vor. — Im Griechischen werden doch oft nicht bloß ,,ein paar kleine Dialoge von
Plato" gelesen (S. 287), sondern auch die eine und andere von den S. 289 empfoh-
lenen bedeutenderen Schriften, namentlich Protagoras, Gorgias, Phaedon (ganz),
Symposion. — Wo die Rede ist vom Französischen (S. 291 u. folgenden) hätten wir
gern gesehen, wenn Paulsen eingetreten wäre für eine Verminderung des Syntakti-
schen und Stilistischen auf dem Gymnasium, wo ja der Betrieb des Lateinischen
und Griechischen genügend für grammatische Schulung sorgt, dagegen für eine
reichlichere Lektüre". — Von Lessings Prosa liest doch wohl ausnahmslos jedes
Gymnasium mehr, erheblich mehr als nur den Laokoon (S. 317). Und was Schillers
„Aufsätze" betrifft, so sind „schwierig" doch nur die philosophischen, obwohl ein
geschickter Lehrer, der den Schülern durch Beispiele zu Hilfe kommt, auch diese
Lektüre lichtvoll gestalten kann. — Herrschte wirklich noch in den ,, fünfziger
und sechziger Jahren vielfach Geringschätzung, ja Verachtung der Philosophie"?
(S. 327). Wir trieben in den fünfziger Jahren in Prima und in den sechziger Jahren
42 F. Pauisen, Pädagogik, ange;j. von G. Leuchtenberger.
auf der Universität (Trendelenburg) sehr gern Propädeutik und Philosophie. —
Auf S. 326 finde ich bei Besprechung der philosophischen Propädeutik eine Lücke.
Sonst bietet Pauisen bei jedem Unterrichtsgegenstand immer zuerst eine „Orientie-
rung über die geschichtliche Entwicklung desselben". Hier fehlt diese Orientierung.
Es heißt in dieser Beziehung nur: ,,Bei der neuen Organisation der Oelehrten-
schule 1812 fiel der philosophische Unterricht ganz aus. Seitdem ist er nicht wieder
zu voller Kraft gelangt." Also übergangen wird nicht nur die C.-Verf. vom 26. Mai
1825 (Min. v. Altenstein), sondern auch die 1837 erschienenen Lehrpläne, durch
welche diese Disziplin in die Reihe der obligatorischen Lehrgegenstände aufgenommen
wurde. Zwanzig Jahre später allerdings wurde in den „Modifikationen des Nor-
malplanes" die Propädeutik nicht mehr „als ein besonderes Unterrichtsfach an-
gesetzt", aber wohl sollte ihr Stoff vom Deutschlehrer (oder vom Lehrer der Mathe-
matik und Physik) mit behandelt werden, wofür dem deutschen Unterricht 1 Stunde
wöchentlich mehr bewilligt wurde. Weitere Etappen bezeichnen dann die C.-Verf.
von 1862, die Lehrpläne von 1882, die von 1891 und die von 1901, von denen nur
die von 1891 die rechte Wertschätzung der Sache vermissen ließen, die übrigen
dagegen ihren hohen intellektuellen und ethischen Wert energisch betonten. — Wo
von der Anfertigung von Versen die Rede ist (S. 405), oder auch wo von den schrift-
lichen Übungen im Deutschen gehandelt wird, hätte man gern ein Urteil darüber
gehört, daß das „Versemachen" (Dichten solLs nicht genannt werden) zur Mobil-
machung des Ausdrucks, des im Innern des Menschen doch vorhandenen, aber
schlummernden Sprachschatzes, sehr nützlich ist, weil man im Verse nicht jeden,
nicht den ersten besten Ausdruck, Phrase usw. brauchen kann und so in seinem
Ausdrucks- und Sprachvorrat nach anderen sich umzusehn genötigt wird. —
Schließlich mögen noch einige Äußerlichkeiten Erwähnung und bei
einer Neuausgabe Beachtung finden. Durch nicht ganz zutreffende
Interpunktion wird der Sinn erschwert oder gestört S. 15, Z. 3 v. o.
vor „wie"; ferner S. 72, Z. 6 v. u. hinter „Patriotismus"; S. 74, Z. 8 v. o. hinter
„großen"; S. 94, Z. 11 v. o. vor „innerlicheren"; S. 264, Z. 15 v. o.; S. 407, Z. 15
V. 0. hinter „Pflege." Oder sollte fortgefahren werden: , »dagegen macht usw"? —
S. 61 findet sich zweimal „zusammen", S. 134 desgl. „für dich", S. 234 desgl. „auch
hier", S.69, Z. 5 v. u. fehlt hinter „sagt" doch wohl ein :? — S.75 „irrlichtelieren",
nicht: „irrlichterieren"? S. 87 und S. 380 „Überlebsel", nicht „Überbleibsel"? —
S. 105, Z. 12 V. u. doch wohl „fände", nicht „finde"? -- S. 118 nicht „Verzärte-
lung" statt „Verzärtlichung"? — S. 141, Z. 5 v. u. nicht „deren" Väter? — S. 154,
Z. 1 V. 0. Stellung des „zuerst"? — S. 197, Z. 10 v. o. entweder „zurück" oder
„in den Hintergrund", nicht beides; jenes würde ich vorziehen. — S. 153 „Philan-
tropinisten" st. th., ebenso S. 338 „Philantropinum; dagegen richtig S. 418. — S. 230,
394, 396 muß Pythagoreisch (nicht maisch) geschrieben werden. S. 379 fehlt 2
vor „Stunden" (Z. 15 v. u.). — S. 412, Z. 8 v. o.: ,,wenns"? oder ,,wanns"? — Sti-
listisch uneben: S. 224 oben; S. 232, Z. 12 v. o. „sich ausreden" statt „sich aus-
sprechen" oder bloß ,, ausreden". — Manches Fremdwort hätte gespart, weil gut
durch ein deutsches ersetzt werden können. Pauisen selbst spricht über das Fremd-
wort S. 320 und folgenden und verlangt, daß ihrem „ungehörigen" Gebrauch
gewehrt werde. Folgende Fremdwörter in dem Buche hätten z. B. vermieden
W. Wundt, Einleitung in die Philosophie, angez. von R. Jonas. 43
werden können : S. 77 manifestieren, S. 78 Sanktion, S. 82 konstruieren (hier nicht
term. techn.), S. 83 absurd, S. 95 malträtieren, S. 101 Applikation, S. 102 Analyse
der Motive, S. 1 10 stereotyp, S. 125 Prosperieren, S. 141 Prodigalität, S. 147 hyper-
trophisch, S. 155 exotische Imitationsliteratur, S. 166 sekundieren, 167 vagierend,
171 antagonistisch, 172 etikettiert, 175 ostensibel, 192 Komplement (hier nicht
term. techn.), 329, Z. 1 1 v. o. Dissidium, 345 laisieren, 360 divinieren, 390 das Unter-
richtsziel formulieren, 405, Z. 4 v. u. assoziert = verbunden. —
Groß-Lichterfelde. G. Leuchtenberge r.
Wundt, W., Einleitung in die Philosophie. Fünfte Auflage. Mit einem
Anhang tabellarischer Übersichten zur Geschichte der Philosophie und ihrer
Hauptrichtungen. Leipzig 1909. Wilhelm Engelmann. XVIII u.471 S. 8». 10 M.
Das Buch ist zum ersten Male im Jahre 1901 erschienen; in einer verhältnis-
mäßig recht kurzen Zeit ist es jetzt bereits in 5. Auflage herausgegeben worden.
Das allein spricht schon für das Werk und zeigt, einen wie großen Beifall und
eine wie weite Verbreitung es gefunden haben muß. Hervorgegangen ist es aus
Vorlesungen, welche der bekannte Leipziger Philosoph an der Universität im Laufe
einer Reihe von Jahren gehalten hat. Diese Vorlesungen waren für Anfänger
bestimmt, denen sie eine Einführung in das weitverzweigte und vielseitige Gebiet
der Philosophie gewähren sollten. Aber diese Vorlesungen sind hier nicht genau
so wiedergegeben, wie sie gehalten wurden, Abweichungen in der Darstellung sind
dabei ganz natürlich und erklärlich. Verf. erklärt selbst, daß er in seinen Aus-
führungen ausschließlich den Weg der geschichtlichen Orientierung gewählt habe,
während die in den letzten Jahren erschienenen Bücher von Paulsen, Külpe und
Jerusalem entweder die eigenen Überzeugungen der Verfasser voranstellen oder
den Gegenstand kritisch beleuchten.
Wundt behandelt seinen Stoff in drei Hauptabschnitten: I. Die Aufgabe und das
System der Philosophie. II. Die geschichtliche Entwicklung der Philosophie.
III. Die Hauptrichtungen der Philosophie. — Mannigfach sind von den ältesten
Zeiten an die Definitionen des Begriffs der Philosophie. Nach Beleuchtung dieser
gilt es sodann, das Verhältnis der Philosophie zu anderen Gebieten darzustellen.
Dabei ergibt sich der Satz: ,, Philosophie ist die allgemeine Wissenschaft, wetehe
die durch die Einzelwissenschaften vermittelten Erkenntnisse zu einem wider-
spruchslosen System zu vereinigen und die von der Wissenschaft benutzten all-
gemeinen Methoden und Voraussetzungen des Erkennens auf ihre Prinzipien zu-
rückzuführen hat." Dann wird das Verhältnis der Philosophie zur Religion und
zur Güterlehre 'erörtert und die Klassifikation der Wissenschaften aufgestellt. —
Der zweite Hauptabschnitt führt den Leser durch die ganze geschichtliche Ent-
wicklung der Philosophie von den ältesten Zeiten der griechischen Philosophie
bis auf die neuere Zeit, beginnend mit der Naturphilosophie, zur Entstehung des
ethischen Problems zur Platonischen und Aristotelischen Philosophie, zum Helle-
nismus und zur christlichen Philosophie. Dann führt uns Verfasser durch die
neuere Philosophie, durch den Kampf der Weltanschauungen der dogmatischen
Systeme (Spinoza, Locke, Leibniz, die Aufklärungsphilosophie und ihre Gegner)
bis Kants Kritizismus und zur Philosophie des 19. Jahrhunderts. — Nachdem
44 W. Wundt, Einleitung in die Philosophie, angez. von R. Jonas.
der Leser so einen Einblick in die geschichtliche Entwicklung der philosophischen
Anschauungen von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart erhalten hat, gibt
der dritte Hauptabschnitt eine Übersicht über die in den philosophischen Schriften
und Systemen zutage tretenden Grundanschauungen und Grundgedanken, in denen
sich drei Hauptrichtungen unterscheiden lassen: Die erkenntnistheoretischen, die
metaphysischen und ethischen. Die erste Klasse gliedert sich in den Empirismus,
Rationalismus und Kritizismus, die zweite in den Materialismus, Idealismus und
Realismus, die dritte enthält nach einer allgemeinen Übersicht der ethischen
Richtungen und ihrer Entwicklung eine Darstellung der heteronomen Moralsysteme,
der transzendenten und immanenten Moralsysteme. — So erlangt der Leser in
dem vortrefflichen Buche nicht nur einen Einblick in das Wesen und den Begriff
der Philosophie, sondern auch eine Übersicht über ihre geschichtliche Entwicklung
und lernt auch den wichtigsten Inhalt der philosophischen Systeme kennen und
ihre Hauptstoffe. Das Werk ist demnach eine Vorhalle für das Studium der
Philosophie, eine Einführung in die wichtigsten in ihr behandelten Gedankenstoffe
und Gedankenreihen. Der für philosophische Fragen interessierte Leser wird sich
mit der Lektüre der Wundtschen Ausführungen kaum begnügen: er wird durch
das Studium desselben zu einer genaueren Beschäftigung mit dem einen oder
anderen Zweige der Philosophie angeregt werden, und er findet in unserem Buche
eine ziemlich eingehende Angabe von der einschlägigen Literatur, die ihm die
besten Quellen eröffnet. So gibt Verfasser auch nach dieser Seite hin eine sehr
willkommene Anregung.
Und nun ein Wort über die Darstellung des Verfassers. Sie ist durchweg
leicht verständlich für einen auf dem Gebiete der Philosophie nicht ganz uner-
fahrenen Leser — und einen solchen müssen wir doch wohl voraussetzen, denn
Interesse und ein gewisses Verständnis gehen doch wohl immer nebeneinander her.
Verfasser besitzt die Gabe, auch nicht ganz einfache Gedanken in eine für den
gebildeten Leser leicht faßliche Form zu kleiden. Auch der innere Zusammenhang
der einzelnen Teile des Buches wird leicht verständlich. So ist denn das Werk
jedem zu empfehlen, der Interesse für philosophische Ideen hat, insbesondere den
Studierenden, aber nicht allein den der philosophischen Fakultät angehörenden,
denn mit philosophischen Problemen, dächten wir, sollte sich eigentlich doch jeder
Studierende beschäftigen, ist doch Philosophie zweifellos zu einer allgemeinen
Geistesbildung notwendig. — Die tabellarischen Übersichten zur Geschichte der
Philosophie und ihrer Hauptrichtungen sind eine sehr dankenswerte Zugabe. Das
Sach- und Namenregister dienen einer leichteren Orientierung und sind für die
Benutzung sehr förderlich.
Ganz besonders eignet sich das Buch auch für die Bibliotheken der höheren
Lehranstalten; es ist auch dem akademisch gebildeten Lehrerstande sehr zu
empfehlen, namentlich den jüngeren Mitgliedern desselben.
Zenz, W. und Frank, F., Logik und Unterricht. Mit Berücksichtigung
der Erkenntnistheorie gemeinfaßlich dargestellt. Wien 1910. A. Pichlers
Witwe u. Sohn. 8». 106 S. 1,70 M.
Die „formale'' Logik, wie man wohl die Zusammenfassung der wichtigsten
W. Zenz und F. Frank, Logik und Unterricht, angez. von R. Jonas. 45
Denkgesetze ohne Rücksicht auf den Denkinhalt zu nennen pflegt, kann, so meinen
die Verfasser des vorliegenden Buches, nicht zu befriedigenden Ergebnissen führen.
Sie wollen vielmehr den Versuch machen, ,,die Logik mit Berücksichtigung der
Erkenntnistheorie darzustellen und zugleich die Beziehungen zwischen der Logik
und Wissenschaft überhaupt, sowie zum Unterricht insbesondere nachzuweisen*'.
Und sie hatten schon Vorgänger auf diesem Wege; da lagen schon die Werke
Richard Schuberts von Soldern, Rudolf Lehmanns, Chr. Sigwarts, A. v. Leclairs
und H. St. Jevons vor. — Hier sollen nun Logik und Erkenntnistheorie miteinander
Hand in Hand gehen, die Logik soll nicht abgesehen von dem Inhalt des Denkens,
sondern immer unter engerer Bezugnahme auf denselben dargestellt werden. Über-
haupt kämpfen sie gegen den Begriff des Formalen, so auch gegen die formale
Grammatik, die ihnen wie ein alter Drache erscheint, von dem die formale Logik
ein Ableger ist. Jene formale Grammatik habe die kostbare Zeit der Bildung fast
allein weggenommen und habe Lehrer und Schüler in maß- und nutzloser Weise
gequält. Ohne auf den Inhalt des Denkens Rücksicht zu nehmen, könne man nie-
mals zu wahren Ergebnissen kommen. Die Logik reiche in ihrem Wesen und in
ihrer Wirkungsweise weit hinaus über bloßen Kenntniserwerb, über ein Spielen
mit Begriffen. Die Wahrheit könne nur in der Tiefe des Inhalts ruhen, nicht in
der Form. In diesem Sinne habe die Logik eine zentrale Stellung in dem gesamten
Unterricht. Hierbei ist das Verhältnis des Begriffs zum Worte von Wichtigkeit,
zum sprachlichen Ausdruck, welcher so vielfach mehrdeutig ist, was die Verfasser
an einer ganzen Anzahl gut gewählter Beispiele zeigen. Recht häufig vollzieht sich
ein Bedeutungswandel in den Wörtern, selbst ohne daß die Lautform wesentlich
geändert wird. Für den Bedeutungswandel lassen sich gewisse Gesichtspunkte
und Gesetze aufstellen. Damit hängen auch die bildlichen Ausdrücke vielfach
zusammen. In den Begriffen läßt sich eine Art von System aufstellen. Dann be-
leuchtet die Schrift die Einteilung und die Definition der Begriffe, wobei die Divisio
oder Einteilung und die Definition in Betracht kommen. Die Betrachtung der Arten
der Urteile ergibt die bekannten Kategorien. Auch der Schluß wird in den von den
Verfassern zugrunde gelegten Ideen erörtert, ebenso die Denkgesetze, dann die
Induktion und Deduktion, der Beweis und seine Arten. Dann wird die Verwendung
der Schlüsse in der Wissenschaft und im Unterricht dargelegt, und zwar auf den
verschiedenen Gebieten desselben. Zuletzt zeigen die Verfasser, wie die Sprache
zu einem Werkzeug wird, wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen und andern
zu übermitteln, die Sprache, über deren Wandelbarkeit und Vieldeutigkeit vorher
die Rede war. Es solle, damit schließen die Verfasser diesen Abschnitt, der historisch-
genetischen Entwicklung der sprachlich fixierten Begriffe auch beim Unterricht
größere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Wir haben in dem Buche eine Darstellung der Logik vor uns von einem ganz
besonderen Gesichtspunkt aus; nicht eine kurze Darlegung der Denkgesetze in der
sonst meist üblichen Form, sondern immer mit Bezugnahme auf den Denkinhalt,
auf die in den Worten ausgedrückten Begriffe und geistigen Vorstellungen. Und
die Anwendung einer solchen logischen Betrachtungsweise auf den Unterricht wird
dann dargelegt; so hat man denn in den Betrachtungen der Verfasser zugleich
eine pädagogische, oder sagen wir besser: eine didaktische Anleitung. Auch die-
46 F. W. Brepohl, Friedrich Nietzsche usw., angez. von H. Weicheit.
jenigen, welche nicht auf dem Standpunkte der Herausgeber stehen, werden durch
das Studium des Werkes ihre Erfahrungen auf dem pädagogischen bzw. didaktischen
Gebiete nicht unwesentlich bereichern. Sie werden höchst dankenswerte An-
regungen daraus entnehmen. In diesem Sinne sei es der Lehrerwelt, namentlich
den jüngeren Mitgliedern derselben, angelegentlichst empfohlen. Gute Dienste
wird es auch in den pädagogischen Seminarien tun können.
Mit einem anderen österreichischen Pädagogen, Eduard Siegert, zusammen
haben die Verfasser dieses Buches kürzlich eine Geschichte der Pädagogik heraus-
gegeben, welche auch hohe Beachtung verdient.
Köslin. R. Jonas.
Brepohl, Friedrich Wilhelm, Friedrich Nietzsche oder Jesus
Christus? Eine kritische Gegenüberstellung und zugleich ein offenes Wort
an die christlichen Gesellschaften. Zweite Auflage. Seegefeld (Bez. Potsdam).
1910. Verlag „Das Havelland''. 51 S. 1 M.
Es ist ein Fluch revolutionärer Geister, daß ihr Auftreten kleine und kleinste
Geister auf den Plan lockt, die zujubelnd oder verdammend sich äußern zu müssen
das dringende Bedürfnis fühlen. Das zeigt auch die Schrift von Brepohl. Ich
will mit dem Verfasser nicht wegen der Menge von Druck-, Rechtschreibungs-
und grammatischen Fehlern rechten. Aber dagegen muß ich protestieren, daß er,
statt eine wenn auch noch so kurze Darstellung von Nietzsches Gedankenwelt
zu geben, lediglich einzelne Stellen aus seinen Schriften herausgreift und ab-
schlachtet. Auf diese Art wird Nietzsche wirklich nicht überwunden. Auch ist
es ein Irrtum des Verfassers, daß der Übermensch, d. h. der Übermensch, wie
Nietzsche ihn meint, nicht wie ihn der verständnislose Leser sich vorstellt, seine
Grundlage in dem „selbstsüchtigen, egoistischen" Geiste der Zeit habe. Die Ver-
wechslung von Übermensch und Herrenmensch droht nachgerade chronisch zu
werden. Gewiß meint es der Verfasser herzlich gut. Aber guter Wille allein ist
noch kein Befähigungsnachweis.
Eckertz, Erich, Nietzsche als Künstler. München 1910. C. H. Beck-
sehe Verlagsbuchhandlung. Oskar Beck. 236 S. 8«. geb. 3,50 M.
Eckertz hat es mit Recht als eine Lücke der Nietzscheliteratur empfunden,
daß noch kein Werk Nietzsches Schaffen eingehend und ausschließlich unter künst-
lerischem Gesichtspunkt würdigt. Aber ich lasse dahingestellt, ob Eckertz diese
Lücke voll ausfüllt. Ohne Zweifel wirken seine Essays mit ihrer Fülle neuer und
wertvoller Einzelbeobachtungen anregend und wegweisend. Aber eine abschließende
Arbeit bedeutet das Buch nicht. Denn es genügt nicht, einzelne charakteristische
Merkmale der Sprache Nietzsches herauszuarbeiten — das hat Eckertz sehr gut
verstanden — , sondern die Sprachkunst Nietzsches ist bis in alle Einzelheiten
zu analysieren: einmal in die Werkstatt des Künstlers geführt, wollen wir auch
seine Technik gründlich kennen lernen. Sodann darf, wer über Nietzsche als den
Künstler schreibt, auch die Grenzen seines Könnens nicht übersehen. So mangelt
Nietzsche — und das gilt nicht nur von dem Aphoristiker Nietzsche, sondern auch
von dem Dichter des Zarathustra — das architektonische Vermögen, das große
K. Hartmann, Humanistischer Unterricht usw., angez. von P. Brandt. 47
organische Zusammenhänge schafft. Dieser Mangel wäre durch die Tatsache zu
beleuchten gewesen, daß Nietzsche überhaupt kein Verhältnis zu den bildenden
Künsten gewonnen hat. In dieser und anderen kritischen Fragen versagt Eckertz.
Trotz dieser Ausstellungen stehe ich nicht an zu bekennen, daß der Nietzsche-
forscher durch Eckertz* Buch wesentliche Förderung empfängt. Es bezieht sich
diese Anerkennung besonders auf die kulturgeographische Betrachtung, in der
der Verfasser überzeugend darlegt, wie fest der Philosoph von Sils Maria und Turin
in seiner obersächsischen Heimat wurzelt, auf deren Boden von jeher eigenartige
und tiefe Geister erstanden. Es ist in der Tat überraschend, was Eckertz hier
an Ursprüngen und Parallelen entdeckt hat.
Zu bedauern ist, daß der Verfasser nicht nur auf spezielle, sondern gelegent-
lich auch auf allgemeine Angaben über den Standort der angeführten Nietzsche-
worte verzichtet und auch nicht durch ein Register und eine übersichtliche Glie-
derung den Gebrauch seines Buches erleichtert.
Marburg. Hans Weichelt.
Harttnann, Karl, Humanistischer Unterricht und bildende
Kunst. Halle 1909. Buchhandlung des Waisenhauses. 84 S. 8«. 2 M.
In anmutig bewegtem Tempo durchwandelt der feingestimmte Verfasser das
ganze Gebiet der humanistischen Fächer, worunter er die literarische Lektüre
und die Geschichte begreift, um überall den Blick ins Reich der Kunst zu lenken,
soweit sie für die Zwecke des Gymnasiums fruchtbar gemacht werden kann, bald
anregend und neue Beziehungen entdeckend, bald erläuternd, bald wiederum
warnend: wohl dem Schüler, der einem solchen Wegweiser und Pfadfinder folgen
kann ! Aber auch der kritische Leser wird für den reichen Inhalt der Schrift mehr
Zeichen der Zustimmung als Fragezeichen haben, und wenn auch J)ei der Übertra-
gung in die Praxis sich manches vielleicht als für den Klassenunterricht zu zart
und zerbrechlich, manches als zu hoch gegriffen erweist — es kommt eben auch
auf die betreffende Schülergeneration an — , so wird er sich doch für den gehabten
Genuß dem Verfasser verpflichtet fühlen. Einer der am Schluß gemachten Vor-
schläge sei ganz besonders zur Nachachtung empfohlen: einen Schaukasten im
Hauptgang der Anstalt aufzuhängen, dessen Füllung sich nach dem Festkalender
richtet, wo in e i n e r Reihe mit Advent, Weihnachten, Dreikönigen, Ostern und
Pfingsten auch der Humor des Nikolasfestes nicht fehlen dürfe, dazwischen in
den festlosen Wochen etwa Porträt, Landschaft, Märchen, Jahreszeiten: ein
ansprechender und leicht ausführbarer Gedanke!
Flaxmann, John, ZeichnungenzuSagendesklassischenAlter-
tums. Leipzig 1910. Insel-Verlag. CXLIII Tafeln. 8«. In Leinen 5 M.
Wer von uns denkt inmitten der Bilderfülle der heutigen Reproduktions-
technik nicht mit einer gewissen Wehmut an die Zeit zurück, wo auf den Knaben
einige wenige in Schwabs klassisches Sagenbuch eingestreute Flaxmannsche Zeich-
nungen einen geheimnisvollen Zauber ausübten? Und wenn auch, was August
Wilhelm Schlegel seinerzeit von ihnen rühmte, daß sie uns hilfreiche Hand böten,
unsere Phantasie auf den Flügeln der alten bildenden Kunst zum.
48 W. Tesdorpf, Bilderatlas usw., angez. von P. Brandt.
Verständnis der griechischen Dichter emporzuheben, heute nach 1 1 1 Jahren nicht
mehr ganz zutrifft: das Recht der Phantasie ist unverjährbar, wenn sie nur, wie
bei diesem englischen Vorläufer von Carstens und Thorwaldsen fast durch-
weg (eine Ausnahme hat Goethe fein angemerkt, CXXI: „die Kinder moderne
Verkürzungen") sich selbst und dem einmal gewählten stilistischen Ausdruck
treu bleibt. Daher wird nicht bloß der Altertumsfreund den vornehm ausgestatteten
Band gern zur Hand nehmen, in dem der Insel-Verlag sämtliche auf klassische Sagen
bezügliche Zeichnungen Flaxmanns zum ersten Male nach den ersten Ausgaben
in unverfälschter Form vereinigt hat; die Bilder zu Hesiod und Äschylos werden
die meisten hier zum ersten Male sehen und genießen.
Tesdorpf, Wilhelm, Bilderatlas zur Einführung in die Kunst-
geschichte. 76 Tafeln mit 324 Abbildungen in Schwarz- und Farben-
druck. Eßlingen a. N. 1909. Paul Neff Verlag (Max Schreiber), geb. 3 M.
Der von dem rühmlich bekannten Verlag trefflich ausgerüstete Bilderatlas
ist zwar in erster Linie für den kunstgeschichtlichen Unterricht in höheren Mädchen-
schulen gedacht, doch ist die Auswahl keine einseitige, so daß er auch in jeder
höheren Knabenschule als Unterrichtsmittel wie in jeder Familie als Hausbuch
willkommen sein wird. Die Zusammenordnung ist fast ausnahmslos geschickt
und fordert öfters zu fruchtbaren Vergleichen verwandter Darstellungen förmlich
heraus, so auf Tafel 36, 37 (dazu Abb. 292 und 311), 41, 42 (Abb. 186 und 189);
nur der Linsenesser von Caracci (Abb. 222) will schlechterdings nicht in diese
ideale Umgebung passen. Die Abbildungen sind mit wenigen Ausnahmen gut,
zum großen Teil sogar vortrefflich. Eine dankenswerte Neuerung sind die farbigen
Bilder, von denen jeder Epoche eins zugeteilt ist.
Philipp!, A., Die großen Maler in Wort und Farbe. Leipzig
E. A.Seemann. 96 u. 120 Textseiten zu 120 farbigen Bildern. Lex.-S». geb. 18 M.
Das Werk stellt das Höchste dar, was in seiner Art zurzeit geleistet werden
kann: ein Buch zu Genuß und Belehrung mit 120 farbigen Abbildungen,
zu jeder auf der Seite gegenüber der einleitende und erläuternde Text, davor in
einer Reihe abgeschlossener Kapitel eine zusammenhängende Einführung in die
Hauptperioden der Malerei, beides aus der Feder eines unserer beliebtesten Kunst-
schriftsteller, das Ganze auf Kunstdruckpapier in geschmackvollem Künstlerein-
band zu dem verhältnismäßig niedrigen Preise von 18 M. Dieser Leistung gegen-
über muß die Kritik verstummen; sie kann nur anerkennen, daß der bisher von
vielen schmerzlich empfundene Notbehelf, ohne Farbe von Farbe reden zu müssen,
damit ein überwundener Standpunkt geworden, daß damit jedem einigermaßen
Bemittelten die Welt der Farbe in einer bis dahin unerhörten Bequemlichkeit
und Handlichkeit erschlossen ist. Und, fügen wir hinzu, in einer Frische, einem
Glanz und einer Schönheit, die auch mit Farbenreproduktionen größeren Formats
den Vergleich auszuhalten vermag. Etwas variieren bei der Technik des Dreifarben-
druckes die Töne immerhin; für den Gesamteindruck ist das unwesentlich, und
das Original kann auch die beste Reproduktion nicht ersetzen wollen. Die zu-
sammenhängende Einführung ist nach Ländern geordnet, sie entwickelt das Werden
A. Feuerbach, angez. von P. Brandt. 49
und Wachsen der italienischen Malerei von ihren Anfängen bis zur Höhe, dann das
der Niederländischen bis zum Rubenstil und den Holländern. Spanisches und
Deutsches sowie ein kurzer Blick auf die französische Malerei des 18. Jahrhunderts
schließt sich an; es liegt an dem Zurücktreten der Farbe in der deutschen Malerei,
daß diese etwas stiefmütterlich behandelt wird. Für den erläuternden Text ist
die zwanglose Essayform gewählt; sie unterhält und belehrt ohne Pedanterie,
setzt freilich ebenso wie die vorausgeschickte Einführung einen in der Kunst einiger-
maßen bewanderten Leser voraus. Wir möchten dem farbenfreudigen Werk in
jeder Lehrerbibliothek eine Stätte wünschen.
Feuerbach, Anselm, 10 Lieferungen in gr. 4*^ mit je 8 Blatt Abbildungen in Kunst-
druckausstattung. Mit einer Einleitung von H. U h d e - Bernays. München
1911. Franz Hanfstaengl. Preis der Lieferung 2,50 M.
Man muß schon bis auf den großen Michelangelo zurückgehen, um einer
Künstlerpersönlichkeit von so ausgesprochen tragischem Gehalt zu begegnen
wie Anselm Feuerbach. Freilich stammen die inneren Hemmungen, die die Tragödie
Michelangelos ausmachen, aus größerer Tiefe, die äußeren aus einer höheren po-
litisch-sozialen Umwelt, wie er auch beide kraft seines unvergleichlichen Genies
siegreich überwand. Aber Feuerbach steht bei kleinerem Talent uns zeitlich um
soviel näher; er ist der Unseren einer; ihm ward außer dem Feingefühl für Linie
und Farbe eine starke Mitgift deutschen, an klassischer Philosophie und Ästhetik
genährten Geistes, die ihn zwar vor dem Versinken in den damals herrschenden
französischen Kolorismus bewahrte, die jedoch mit den in Italien auf ihn einstür-
menden Eindrücken zu einem großen persönlichen Stil schlackenlos zu verschmelzen
seinem hochgespannten Idealismus nur in einigen großen Würfen gelang. Das
sind die Werke, die uns beim Namen Feuerbach zuerst auf den Lippen schweben,
seine Iphigenie, seine Medea, seine Pietä und jenes letzte, unvollendete, uns so
venezianisch anmutende, „die Musik*' der Berliner Nationalgalerie. Die Palme,
die dem unablässig Ringenden und im Kampf mit der eigenen Leidenschaft und dem
widerstrebenden Stoff sich Verzehrenden die Mitwelt aus Mißgunst, oder, was
schlimmer ist, aus Unverstand vorenthielt, sie reicht ihm gerne die einsichtsvollere
und gerechtere Nachwelt, und in diesem Sinne begrüßen wir freudig die im Er-
scheinen begriffene monumentale Feuerbach-Ausgabe, zu der Hermann Uhde-
Bernays einführende Worte geschrieben hat und zum Schluß eine biographische
Würdigung zu geben verspricht. Die vornehm ausgestatteten Lieferungen bringen
außer den ausgeführten Werken auch Handzeichnungen und Studien in Faksimile-
druck; so werden sie den Aufbau seines Stils verstehen lehren und damit einer
gerechteren Würdigung des für seinen Ruhm zu früh Abgerufenen in weiteren
Kreisen die Wege ebnen.
Weichefs Kunstbücher, Berlin 1910, Wilhelm Weicher, bisher etwa 30 Heftchen
in Taschen-S*^ mit geschmackvollem Pergamentpapier-Umschlag, geben zu dem
billigen Preise von 0,80 M. je 60 Meisterbilder, das Handlichste und Bequemste,
was man sich denken kann, um das Oeuvre aller der Sterne erster und zweiter
Größe, darunter so seltener wie des Schotten Raeburn, mit einem Blick zu über-
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 4
50 Das Kabinett für kirchliche Kunst usw., angez. von Moldenhauer.
sehen. Die Abbildungen beruhen durchweg auf photographischen Aufnahmen
erster Firmen, unter denen Franz Hanfstaengl in München der Löwenanteil zu-
fällt, und machen vielfach auch entlegene und bisher fast verborgene Kunstschätze
zugänglich.
Eine Ergänzung dazu bietet für die Plastik ein Unternehmen desselben Verlags:
Meisterstücke der Bildhauerkunst. Ausgewählt von Georg Gronau,
in zwei Heftchen desselben Verlags, gleichfalls zum Preise von 0,80 M. Für die
Gediegenheit der Auswahl, welche alle Länder und Schulen unparteiisch berück-
sichtigt, bürgt der Name des Herausgebers. Die Abbildungen sind höchst plastisch;
einzelnes, wie Rodins Menschen des ehernen Zeitalters oder Tuaillons Amazone,
hat Referent überhaupt noch nicht in so guter Wiedergabe gesehen.
Düsseldorf. Paul Brandt.
Das Kabinett für kirchliche Kunst im Kollegium S. J. zu Kalksburg bei Wien.
Zweites Dezennium 1901 — 1910 von Ladislaus Velics, S. J.Kustos.
Wien 1909. Aus der K. K. Hof- und Staatsdruckerei. 8^. 95 S.
In dem Auszuge aus dem Bericht, den ich an das preußische Kultusministerium
über eine Studienreise in Österreich im Jahre 1901 erstattete, in dem I. Jahrgange
der Monatschrift S. 220 ff., hatte ich auch auf das Kabinett für kirch-
liche Kunst in dem Jesuitenstift zu Kalksburg bei Wien
aufmerksam gemacht. Noch heute ist dies einzig in seiner Art und des Besuches
und genauen Studiums wert. Seine Entwicklung ist seitdem eine so bedeutsame
geworden, daß der um das Kabinett hochverdiente Kustos Ladislaus Velics, dem
ich noch immer für die so hochinteressante Leitung durch die Sammlungen äußerst
dankbar bin, eine neue Darstellung desselben hat erscheinen lassen müssen. Das
Kunstkabinett, eine neue Initiative auf dem Gebiete der Kunstdidaktik, soll nach
dem Vorwort des Kustos keine musealen Zwecke verfolgen, sondern es sind Lehr-
sammlungen der einzelnen Kunstfächer angelegt worden, die in jedem Kunstzweige
den genetischen Gang der Evolution durch die Jahrhunderte anschaulich, hand-
greiflich vorführen und es ermöglichen, in das tiefere Verständnis und den Geist der
besten Kunsttätigkeit vergangener Zeiten einzudringen. Diese großartigen Samm-
lungen nun, die allerdings nicht immer Originalkunstobjekte enthalten können,
wohl aber mit einer erschöpfenden Fülle von typischen wirklichen Musterstücken
versehen sind, die in genauer Nachbildung der alten Originale von den besten
Fachkünstlern der Jetztzeit ausgeführt worden sind, waren zunächst für das Studium
der Priester und Ordensmänner bestimmt, wurden dann aber in wohl nachzu-
ahmender Weise auch zur Hebung des Gymnasialunterrichts verwendet, soweit
sie in den Rahmen des Lehrplanes hineinpassen. Auch in Deutschland ist man
ja in dem letzten Jahrzehnt dazu übergegangen, anstatt der kahlen, trostlosen
Wände der Klassenzimmer und der Flure der höheren wie auch der Volksschulen,
durch geeignete Malereien oder Anbringung von Bildern und plastischen Werken
das Schönheitsgefühl der Schüler zu erwecken und zu fördern, ihnen Freude an
die Schulräume ins Herz zu pflanzen und so wahrhaft erzieherisch zu wirken,
hier aber ist ein Weg vorgezeichnet, der ganz besonders zum Verständnis für echte
Kunst führen muß. Wenn für jede Kunstbranche der Fortschritt und Gang der
Helmolds Chronik der Slaven, angez. von Erich Schmidt. 51
Kunst durch die aufeinanderfolgenden Zeitepochen in genau ausgeführten Muster-
typen vorgeführt werden kann, so wirkt das ganz anders als das bloße Vorzeigen
und Zugänglichmachen von Bildern und Büchern. Die Kunstsammlungen werden
aber auch, und es ist das nicht minder ein wohl zu beachtender Vorgang für Deutsch-
land, durch Wandervorträge der größeren Öffentlichkeit dargeboten. Es ist wohl-
begreiflich, daß, wie Kustos Velics erzählt, nach einem Vortrage über die Geschichte
des Meßkleides und den Entwicklungsgang der Stickereien mit den Bildern und den
vorzüglichen Stickereimustern des Kabinetts ein hervorragender Kunstkenner
sagen konnte: „Ein ganzes Jahr Privatstudium genügt nicht, um sich diese Klar-
heit und Einsicht auf dem Gebiete der Stickereikunst zu verschaffen!" und doch
dauerte der Vortrag nur anderthalb Stunden, wo aber jedem Zuhörenden die ein-
zelnen Stickereien nicht in projizierten Bildern, sondern in kunstgerechten wirk-
lichen Mustern vorgezeigt wurden. Ein Beispiel aus der so reichen Sammlung
möge die treffliche Anordnung der Holztechnik zeigen. Es entfallen zwar bei dem
nicht schmelzbaren, nicht hämmerbaren und dehnbaren Holze alle die reichen
Hilfsmittel der Formgebung der Metalle, das Gießen, Schmieden, Strecken, Ziehen
in Draht, das Löten, dennoch bieten die Holztechniken eine erstaunliche Fülle
des Schönen. Und so führt die erste Gruppe der Holztechniken in zahlreichen
Mustern vor, wie Meißel oder Stecheisen und Messer arbeiten in der Holzschnitzerei,
deren höchste Ausbildung die Holzbildhauerei ist und in der Holzschneidekunst,
d. h. der Formenstecherei und Xylographie. Es folgt die zweite Gruppe der Holz-
techniken, in denen Säge und Hobel die Herrschaft führen; dann in der dritten
die Techniken der Drechslerarbeiten, in der vierten die Muster für natürliche
Holzfarben, künstliche Holzfärbungen und die Techniken der Vergoldung. So
wie die Holztechniken sind behandelt die Bilderdruck- und Reproduktionstech-
niken, die Malarten, die unterstützt werden durch Bilder- und Modellsammlungen,
dann die Metalltechniken, die Techniken der Edelsteinbearbeitung und Edelstein-
fassung, die Emailletechniken, Glas- und Porzellanmalereien, Mosaiken und endlich
die Textiliensammlung. Das Verständnis aller dieser reichen Sammlungen wird
dann noch erhöht durch eine Kunstbibliothek, die in ihren beiden Abteilungen,
der kunstwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen, etwas über 1600 Werke
mit 2500 Bänden enthält. — Bietet so schon diese schriftliche Führung des Kustos
Velics durch das Kunstkabinett eine überaus anregende Lektüre und eine reiche
Fundgrube des Wissens, so ist selbstverständlich ein Besuch desselben ein weit
mehr lohnender. Er wird gern gestattet, wenn um vorausgehende Verständigung
gebeten worden ist.
Köln. Fr. Moldenhauer.
Helmolds Chronik der Slaven. 3. Auflage von B. S c h m e i d 1 e r. (Geschichts-
schreiber der deutschen Vorzeit. 2. Gesamtausgabe. Bd. 56.) Leipzig 1910.
Dyksche Buchhandlung. XIV u. 271 S. kl. 8«. geh. 6 M.
Mehr und mehr bemüht man sich heutzutage, den tausendjährigen Kampf
zwischen Deutschen und Slaven geschichtlich zu erfassen und aus der Betrachtung
der Vergangenheit einen festen Standpunkt für die Beurteilung der gegenwärtigen
4*
52 Helmolds Chronik der Slaven, angez, von Erich Schmidt.
Sachlage zu gewinnen. Es ist deshalb mit Freude zu begrüßen, wenn in der von
Pertz begründeten Reihe der „Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit" Helmolds
Chronik der Slaven, von dem Leipziger Privatdozenten Dr. B. Schmeidler neu
herausgegeben, wieder erscheint: führt doch kein anderer Chronist jener Zeit
mit einer solchen, auf unmittelbarer Anschauung beruhenden Lebendigkeit in das
Hin- und Herwogen des deutsch-slavischen Nationalitätenkampfes im 12. Jahr-
hundert ein. Da hören wir von der Begründung, Zerstörung und Wiederaufrichtung
der Kirchen und Klöster und von dem Opfermut der christlichen Glaubensboten,
von der Kriegstüchtigkeit, aber auch der Härte und Habsucht der deutschen Er-
oberer, von der List und Treulosigkeit, aber auch der Vaterlandsliebe, Gastlichkeit
und dem Familiensinn der Wenden, von der Besiedlung des neugewonnenen Bodens
mit deutschen Kolonisten und dem Verschwinden der Slaven unter der Flutwelle
der deutschen Einwanderung. Das alles führt der Chronist in lebendiger, vielfach
dramatisch wirkender Darstellung vor, die — um es gleich vorauszuschicken —
in der vorliegenden deutschen Übersetzung zur vollen Geltung kommt.
Es ist nicht das erste Mal, daß Helmolds Werk in deutschem Gewände vor der
Öffentlichkeit erscheint. Schon 1852 erschien es in der Sammlung der Geschicht-
schreiber der deutschen Vorzeit, übersetzt von J. M. C. Laurent und mit einem
Vorworte von J. M. Lappenberg versehen. 1888 stellte sich das Bedürfnis einer
verbesserten Neuauflage heraus, die von W. Wattenbach besorgt wurde. 1910
endlich erschien die oben erwähnte dritte Auflage von B. Schmeidler, wohl dem
Berufensten, da er kurz vorher die Chronik in ihrem Urtext (Hannover und Leipzig
1909) unter den Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum neu heraus-
gegeben hatte. Die Übersetzung liest sich gut und erfüllt ihren Zweck vollständig.
Im wesentlichen scheint Schmeidler sich an seine Vorgänger Laurent und Watten-
bach angeschlossen zu haben, die er an den Stellen, die fehlerhaft übersetzt waren
oder nicht dem modernen Sprachgebrauch entsprachen, verbessert. Hierbei hätte
Schmeidler noch gründlicher vorgehen können : gleich im Anfange des Helmoldschen
Vorworts heißt es z. B. „durch welcher Könige und Prediger
eifrige Tätigkeit die christliche Lehre ... in diesen Gegenden begründet
wurde", eine Stelle, die sich zu ihrem Vorteil leicht hätte aktivisch umwandeln
lassen (S. 1); auch der grammatische Fehler „von den Rauen, ... ein
tapferes Slavenvolk" (S. 9) wäre besser vermieden worden. Sinnstörend
ist der schon bei Laurent vorkommende Übersetzungsfehler von „o b s i d e n t e s"
durch „Belagerte" (S. 113 oben); der Ausdruck „Umtriebe machen" (S. 37)
klingt nicht gut. Die — auch auf Laurent zurückgehende — Anmerkung 1 auf
S. 208: „Das Balsemer Land lag im Kreise Halberstadt, wo die Stadt
Stendal" wäre unverständlich, wenn nicht aus der entsprechenden Anmerkung
des lateinischen Textes (in der oben angeführten Ausgabe S. 175 Anm. 1) hervor-
ginge, daß nicht der heutige Kreis, sondern der alte Bischofssprengel
Halberstadt gemeint ist.
Diese kleinen Ausstellungen sollen den Wert des Ganzen nicht herabmindern;
der Auswahl der erklärenden Anmerkungen und die nicht ganz selbstverständliche
Behandlung der vorkommenden Eigennamen kann nur gebilligt werden. Dem
Buch ist die weiteste Verbreitung zu wünschen, namentlich bei allen jenen, die sich
M. Kemmerich, Die Deutschen Kaiser usw., angezeigt von P. Brandt. 53
auf bequeme Weise einen mehr als oberflächlichen Einblick in eine der wichtigsten
Epochen unseres nationalen Kampfes "^an der Ostgrenze des Reiches verschaffen
wollen.
Bromberg. ErichSchmidtf.
Kemmerich, Max, Die Deutschen Kaiser und Könige im Bilde.
Ein Ergänzungsbuch zum deutschen Geschichtsunterricht. Leipzig 1910.
Klinkardt & Biermann. VII u. 60 S. gr. 4^. geb. 2,50 M.
Es ist bedauerlich, daß, wie das Vorwort berichtet, der ursprüngliche Plan,
ein Werk großen Stils zu schaffen, welches alles einschlägige ikonographische
Material umfaßte, aus finanziellen Gründen gescheitert ist; so hat die Geschichts-
forschung ein monumentales Werk verloren, der Geschichtsunterricht dagegen
mit dem jetzt vorliegenden Torso nicht so viel gewonnen, als der Verfasser annimmt.
Referent ist sicherlich der letzte, der nicht jede Belebung des Unterrichts durch
die Anschauung mit Freuden begrüßte, aber es muß auch eine wirkliche Anschauung
gewonnen und nicht erst eine Tätigkeit der sichtenden Kritik und der aufbauenden
Phantasie vorausgesetzt werden, die die Veranlagung manches Geschichtslehrers
und erst recht die unserer meisten Primaner übersteigt. Man lese, mit was für
subtilen Beschränkungen im Vorwort die Benutzung der einzelnen ikonographischen
Quellen, der Siegel, Münzen, Bullen, Miniatur- und Wandmalereien, der Groß-
und Kleinplastik umgeben wird, man gehe das mit eingehender Kenntnis der
gleichzeitigen historischen. Literatur gearbeitete, sehr gut ausgestattete Werk selbst
durch: können etwa die verhältnismäßig besten Kaiserporträts des Mittelalters,
die von Karl dem Kahlen, Heinrich II, Friedrich Barbarossa, eine halbwegs ge-
nießbare Anschauung von der Persönlichkeit des Dargestellten vermitteln? Kaum
daß ein Schimmer des geistigen Wesens aufdämmert! Besser wird es mit Rudolf
von Habsburg und Karl IV., aber völlig atmet man erst auf, wenn man zu Kaiser
Sigismund und seinen Nachfolgern kommt, wo der Stift des großen Albrecht
Dürer, der Pinsel des großen Tizian einsetzt: jetzt erst war die Kunst dieser ihrer
höchsten Aufgabe, der Wiedergabe der geistigen Persönlichkeit, gewachsen. Und
gerade hier bricht dem Plane gemäß der Faden ab. So wenig also geleugnet werden
soll, daß das Werk in der Hand eines Lehrers Nutzen stiften kann, welcher die
spröden und vielfach abstoßenden Züge der Dargestellten durch seinen Vortrag
geistig zu beleben weiß: „den Unterricht der deutschen Geschichte in wesent-
lich neue Bahnen zu lenken", wie der Verlag hofft, wird es schwerlich vermögen.
Düsseldorf. P a u 1 B r a n d t.
Friedrich der Einzige. Ein Charakterbild des großen Königs in
seinen Worten. Zusammengestellt und mit erläuternden Anmerkungen
versehen von Prof. Dr. A. K a n n e n g i e ß e r. Dresden und Leipzig 1912.
C. A. Kochs Verlagsbuchhandlung (H. Ehlers). VII u. 231 S. Geb. 3 M.
Am 24. Januar d. J. gedenken wir des 200 jährigen Geburtstages Friedrich
des Großen. Der Sieger von Roßbach und Leuthen wird es vor allem sein, dessen
gerade in unseren Tagen, da Kriegsstimmung mehrfach unser Volk durchzogen,
mit Stolz und mit der Zuversicht gefeiert wird, daß alter Waffenruhm das preußische
54 H. Petrich, Königin Luise usw., angez. von W. Meiners.
und deutsche Volk wach und stark zu neuen Waffengängen hält. Friedrich des
Einzigen, des Weisen von Sanscouci wird man weniger gedenken. Und es tut doch
unserer Zeit so not, daß die freimütige Gesinnung eines großen Mannes nicht zu
sehr zurück tritt hinter seinen großen Kriegstaten.
Es war deshalb ein guter Gedanke von Kannengießer aus Friedrichs des Großen
Worten und hinterlassenen Werken eine Auswahl von Äußerungen zusammen-
zustellen, welche wegen ihrer Tiefe und Eigenartigkeit und ihrer klassischen Form
dauerndenWert haben und ein getreues Bild von dem Charakter des großen Königs
geben. Der vollendete Staatsmann, der große Feldherr, der tiefsinnige Philosoph
und seine eigenartige Energie des Ausdrucks und der Adel seiner Gesinnung tritt
uns aus diesem Buche entgegen und dazu alle menschlichen und bürgerlichen
Tugenden, glühende Vaterlandsliebe, zarte Eltern- und Geschwisterliebe, selbst-
lose Freundschaft, unentwegte Pflichttreue, unerschrockener Mut und felsenfeste
Standhaftigkeit — also so recht ein Buch für die begeisterungsfähige Jugend. Die
Auswahl ist mit Geschmack getroffen; geschmackvoll ist auch die Übersetzung
der meist ja in französischer Sprache niedergeschriebenen Stellen. — Passende An-
merkungen geben in knapper Form alles zum Verständnis Erforderliche; auch
führen sie geschickt ein in den interessanten Kreis um Friedrich und in seinen
freundschaftlichen Verkehr.
Beriin. A. M a 1 1 h i a s.
Petrich, H., Königin Luise. Ihr Leben, Wirken und Denken
in 15 G e s c h i c h t e n. Mit 3 Abbildungen. Potsdam 1910. Stiftungs-
verlag. 32 S. 8«. brosch. 0,10M.
Wiese, F. G,, Züge undBilder aus dem Leben KönigFriedrich
Wilhelms III. und der Königin Luise in Paretz. Mit 2 Ab-
bildungen. Potsdam 1910. A. Steins Veriag. 62 S. 8». 1 M.
Rehtwisch, Th., Königin Luise. Mit 1 farbigen Kunstbeilage, 12 Voll-
bildern und 12 Textbildern. Braunschweig 1910. George Westermann. 48 S.
8». geh. 0,30 M.
Derselbe, Die Königin. Ein Buch aus Preußens schwerer Zeit. Mit
2 farbigen Kunstbeilagen und 13 Einschaltbildern. Braunschweig 1910. George
Westermann. 175 S. 8». geb. 3 M.
Der Tag der Erinnerung an die königliche Dulderin hat natüriich eine ganze
Reihe von Luisenbüchern und -büchlein entstehen lassen. Vor uns liegen davon
vier. Petrich erzählt für die Kleinen beideriei Geschlechts 15 erbauliche Ge-
schichten aus Luisens Leben. Wiese beschreibt in gefälliger Weise Schloß und
Dorf Paretz und de ;en nächste Umgebung mit ihren mannigfachen „Erinnerungen"
an den einstigen „Gnädigen Herrn" und die „Gnädige Frau" und illustriert deren
Wesen und Leben durch Mitteilung zahlreicher Züge b^ i er in Wort und Tat. Das
dritte Buch ist nichts als ein zum Teil wörtlicher Auszug aus dem inhalt-
reicheren vierten desselben Verfassers, betitelt „Die K ö n i g i n". Dieses
wird sich wohl allein von den genannten — No. 2 wegen seines lokalgeschicht-
lichen Interesses vielleicht ausgenommen — erhalten in der Zeiten Flucht. Der
Grund davon liegt diesmal nicht in erster Linie in der von mir bei anderer Ge-
G. Weber, Lehr- und Handbuch usw., angez. von W. Meiners. 55
legenheit (vgl. diese Monatschrift IX, 472) gekennzeichneten Eigenart von Reht-
wischs geschichtlicher Darstellung, wenngleich diese auch in dem vorliegenden
Buche zu ihrem Rechte kommt (vgl. vor allem das einleitende Kapitel, ferner
S. 29— 30, S. 80— 81, S. 107, S. 127, S. 146 ff.); er liegt darin, daß die Quelle,
die Rehtwisch im ganzen wie im einzelnen hauptsächlich ausschöpft, fast zu stark
ausschöpft für die Selbständigkeit seines Buches, keine geringere ist als Paul
Bailleus Meisterwerk, das übrigens einmal (S. 47) auch zitiert wird. Dessen Be-
nutzung bzw. Popularisierung macht Rehtwischs Buch für den Tertianer und
Sekundaner, für den die Lektüre von Bailleus Werk selbst noch zu schwierig ist,
zu einer wertvollen Quelle für die Kenntnis von Luise und ihrer Zeit.
Weber, Georg, Lehr- und Handbuch der Weltgeschichte.
21. Auflage. Unter Mitwirkung von Prof. Dr. Richard Friedrich, Prof. Dr. Ernst
Lehmann, Prof. Franz Moldenhauer und Prof. Dr. Ernst Schw^tbe. Vollständig
neu bearbeitet von Prof. Dr. A 1 f r e d B a 1 d a m u s. HL Band: Neuere
Zeit. Leipzig 1908. Engelmann. XXII u. 808 S. gr. 8^. geh. 6 M. IV. Band:
Neueste Zeit. Leipzig 1905. Engelmann. XX u. 843 S. gr. 8^. geh. 6 M.
Die Hoffnung, daß der dritte Band des „Neuen Weber" schneller auf den
vierten folgen werde, ließ in mir die Absicht entstehen, die beiden Schluß-
bände des Gesamtwerkes (vgl. meine Besprechungen in dieser Monatschrift II,
219 ff. und III, 626 ff.) gemeinsam anzuzeigen. Dadurch, daß sich dessen Voll-
endung über Erwarten lang hinausgezogen hat, hat auch die Ausführung meiner
Absicht starken Aufschub erfahren. — Verstehen werden wir das verzögerte Er-
scheinen des dritten Bandes ohne weiteres, wenn wir uns klar machen, daß sein
Verfasser — es ist wie für die Geschichte des Mittelalters Baldamus; nur die Ab-
schnitte über Wissenschaft und Kunst stammen wieder aus der Feder von Fried-
rich und Lehmann — diesmal keinen einzigen Paragraphen unverändert aus der
letzten Auflage herübergenommen hat, und daß die Geschichte der neueren Zeit
an Umfang fast auf das Doppelte gewachsen ist. Wir werden die Verzögerung
aber auch gerne entschuldigen, wenn wir uns durch die Lektüre des Buches davon
überzeugt haben, welch gewaltige Stoffmenge in ihm aufgespeichert liegt nicht
bloß zur Geschichte der europäischen Völker, sondern der Völker aller Welt bis
hin nach Indien und Japan, und nicht bloß zur politischen Geschichte, sondern
daneben zu dem, was man „Kulturgeschichte'' nennt, und mit welch strenger
Wissenschaftlichkeit dies ganze Tatsachenmaterial zusammengetragen, dem Leser
jedesmal der heutige Stand der Forschung vorgelegt wird. Dazu gesellt sich durch-
weg verständiges Urteil und treffende Charakteristik von Personen und Begeben-
heiten. Freilich liegt die Gefahr nahe, daß gerade über dem Anschwellen des Textes
der eigentliche Zweck des Werkes, eine Weltgeschichte zu sein für alle Gebildeten,
Abbruch erfährt, daß sein Charakter als „Hand-", d. h. Nachschlagebuch nicht
zu seinem Vorteil zu stark in den Vordergrund tritt. Darauf habe ich schon bei
der Besprechung des ersten der von Baldamus selbst bearbeiteten Bände hin-
gewiesen, wenngleich ich nicht versäumen will hervorzuheben, daß mir die
Schwächen, die in jenem hervortreten — es ist der zweite des Gesamtwerkes —
in dem vorliegenden dritten glücklich überwunden zu sein scheinen. Der Stil
56 H. A. Pfeiffer, Übersichtskarte usw., angez. von H. Wickenhagen.
ist flüssig; die Verschiedenheit des Druckes ist zweckentsprechend verwertet — nur
in § 215 und 208 sind noch Unebenheiten — , so daß der kleinste Druck — der
mittlere ist außer in den Abschnitten über Kunst und Literatur fast ganz ge-
schwunden — wirklich den Einzelausführungen und der Mitteilung von Charak-
teristiken, Urteilen und Kontroversen vorbehalten worden ist. Die Abschnitte
endlich, die die Überschrift „Überschau und Vorblick" tragen, erfüllen durch-
weg, weil sie sich darauf beschränken, den Faden aufzuweisen, der durch die als-
bald folgende Darstellung führt, ihren Zweck besser.
Der vierte Band, der das Gesamtwerk abschließt — ein fünftes Sonder-
bändchen soll nur noch das Register und die Stammbaumtafeln zu Band III
und IV enthalten — führt den Werdegang der Weltgeschichte bis ins Jahr 1904.
Sein Verfasser ist Moldenhauer; nur die Partien über Wissenschaft und Kunst
stammen, außer dem Abschnitt über die französische Literatur des XIX. Jahr-
hunderts den Prof. Ulrich Meier geschrieben hat, wieder aus der Feder von Fried-
rich und Lehmann, und die zusammenfassenden Paragraphen (Überschau und
Vorblick) hat wieder der Herausgeber selbst hinzugefügt, zwei von ihnen, 236 und
317, wie mir scheinen will, mit weniger Geschick. Auch Moldenhauer hat sozusagen
ein ganz neues Buch geschrieben, das freilich nach seinem Umfang trotz seiner Fort-
führung bis zur Gegenwart nicht erheblich über den „Alten Weber" hinausgeht.
Mag es nun eine Folge der sich daraus ergebenden Nötigung zu strengerer Zu-
sammenfassung und Stoffauswahl sein, oder mögen sich diese Vorzüge aus dem
Gang der Ereignisse selbst ergeben, der die Geschicke der Völker aller Welt je
später desto mehr gruppiert um die Geschichte unseres eigenen Volkes, oder mag
es endlich eine Wirkung des Umstandes sein, daß Moldenhauer es verstanden
hat, durch reichliche Mitteilung von Urteilen großer Zeitgenossen und namhafter
Historiker seiner Darstellung eine mehr persönliche Note zu geben: kurz, sein
Anteil an dem Gesamtwerke kommt dessen vorhin mitgeteilter Bestimmung, wie
mir scheinen will, am nächsten. Abgesehen von den Unebenheiten in der Anwendung
der verschiedenen Drucke, die dem Leser wenigstens in dem ersten Drittel des
Buches wieder entgegentreten, vereint dieser die Vorzüge des dritten Bandes mit
denen des ersten und bildet so einen würdigen Abschluß des Gesamtwerkes, dem
wir wünschen zu sein, was sein Vorgänger gewesen: eine Quelle geschichtlicher
Kenntnisse für viele unserer Volksgenossen.
Elberfeld. Wilh. Meiners.
Pfeiffer, H. A., 1. Übersichtskarte des Mecklenburgischen
Seengebiets und seiner Verbindungen mit Ostsee,
Elbe, Havel, Oder für Schiffahrt und Wassersport.
Auf Grund amtlichen Materials und eigener Erfahrung bearbeitet. Berlin
1910. Gea Verlag. 4M. 2. Übersichtskarte der märkischen
Wasserstraßen für Schiffahrt und Wassersport.
Ebenda. 1911. 4M.
Das neuzeitliche Schülerrudern hat eine neue Literatur erzeugt. Der Ver-
fasser ist einer der rührigsten Wanderruderer; seine Arbeiten sollen zur Nach-
folge anregen, und sie werden's tun. Übrigens hat er ein Gebiet angeschnitten,
welches ihm noch manche Aufgabe stellen wird. Wer weiß, ob wir nicht in
E. Böse, Die Erdbeben, angez. von J. Ruska. 57
absehbarer Zeit einen Taschenatlas für Schiffahrt und Wassersport vor uns
haben? Der Verfasser mag das Ziel ins Auge fassen!
Berlin-Lichterfelde. H. W ic k e n h a ge n.
Böse, EmiliOy Die Erdbeben. („Die Natur." Eine Sammlung naturwissen-
schaftlicher Monographien. Bd. 7.) Mit 7 Tafeln und 55 Textabbildungen,
Osterwieck-Harz 1910. A.W. Zickfeldt. 146 S. 8°. geh. 1,75 M., geb. 2 M.
Seitdem die Erdbeben — wie schon längst die meteorologischen Erschei-
nungen — durch ein Netz von Beobachtungsstationen in den Bereich wissen-
schaftlicher Erforschung gezogen sind, hat das Grauen vor den unheimlichen
Kräften der Tiefe auch in weiteren Kreisen einem mehr wissenschaftlich gerichteten
Interesse an ihren Ursachen und Wirkungen weichen müssen. Freilich, bei Kata-
strophen, wie sie in den letzten Jahren erlebt wurden, durchzittert auch heute
noch ein einziges Entsetzen die Menschheit; aber die weit entfernten oder
schwächeren, von den Seismographen registrierten Beben bieten ein reiches Ma-
terial für die Erforschung der Zustände des Erdinnern und sind uns durch die Be-
richte der Erdbebenwarten zu vertrauten Erscheinungen geworden.
So mag manchem, der sich über die wichtigsten Errungenschaften der modernen
Seismologie orientieren will, ein kleineres Werk willkommen sein, das diesen
Gegenstand behandelt. Wir finden in dem vorliegenden Bändchen nach kurzer
Erwähnung der älteren Theorien (auf Grund der bekannten Schriften von Lersch
und Otto) eine Charakteristik der Einsturz-, der vulkanischen und tektonischen
Beben, die durch interessante Bilder vom mexikanischen Beben am 14. April 1907
und von anderen Orten illustriert sind. Ein weiteres Kapitel handelt von der Stärke,
Dauer, Vergesellschaftung und Verbreitung der Erdbeben, von den habituellen
Stoßgebieten und Schütterlinien. Die Instrumente zur Beobachtung der Erd-
beben sind auf 20 Seiten behandelt, von denen noch ein erheblicher, Teil von den
Illustrationen beansprucht wird; es ist zu befürchten, daß auf so beschränktem
Raum ein wirkliches Verständnis der Pendelapparate nicht erreicht wird, zumal
der Leser sich gleich zu Beginn vor das Rätsel gestellt sieht, daß man sich, um
eine absolut unbewegliche Masse zu erlangen, der Pendel bediene. Auf
einer Tafel findet man die schönen Seismogramme der Beben von San Franzisco
und Valparaiso, die auf der Leipziger Erdbebenstation durch das Wiechertsche
Seismometer erhalten wurden, als Textbild das Göttinger Seismogramm des Erd-
bebens von Messina (28. X IL 1908). Die Diskussion der Seismogramme führt
auf die modernen Ansichten über die Natur der Wellen, insbesondere die Schmidt-
xhe Theorie, die Form des Hodographen, die Gestalt der Homoseisten, die Be-
stimmung der Herdtiefe, der Lage des Epizentrums usw. Sehr kurz sind die See-
beben und die praktischen Anwendungen der Erdbebenkunde weggekommen;
eine Erweiterung des Textes in diesem Teile wäre für Neuauflagen ebenso dankens-
wert wie eine etwas faßlicher gehaltene Beschreibung der Instrumente.
Heidelberg. j. Ruska.
Poincar^, L., D i e E 1 e k t r i z i t ä t. Übersetzt von Prof. Dr. A. K a 1 ä h n e.
Leipzig 1909. Quelle und Meyer. VIII u. 262 S. Geh. 3,80 M., geb. 4,40 M.
In diesem eigenartigen Buch stellt Lucien Poincare die Elektrotechnik ohne
58 W. Gothan, Botanisch-geologische Spaziergänge,
Verwendung von Abbildungen dar. Schon dieser Verzicht auf die kräftigsten
Stützen der Anschauung verrät, daß er sich an Wissende wendet, die solcher Hilfen
nicht mehr bedürfen. Trotzdem bedient er sich bei seinen Ausführungen nicht der
strengen und knappen Sprache der Mathematik. Er will also auch kein Buch für
Fachleute schreiben. Sein Ziel ist vielmehr, die Entwicklung und den jetzt er-
reichten Stand der Starkstromtechnik, sowie deren physikalische Grundlagen
unter Weglassung aller kleinlichen Einzelheiten in großen Zügen so darzustellen,
daß der Techniker aus den physikalischen Betrachtungen und der Physiker aus
den technischen Erörterungen reichen Gewinn ziehen kann. Diese schwierige
Aufgabe hat Poincar^ mit Geist und Geschmack in dem reizenden Buch gelöst,
das jeder naturwissenschaftlich Gebildete mit Genuß lesen wird. Für den Lehrer
der Physik ist das Werk in zweifacher Hinsicht wertvoll. Es ermöglicht ihm, bei
der oft schwierigen Stoffauswahl schnell, bequem und sicher die elektrischen Tat-
sachen, Begriffe und Gesetze herauszufinden, die unbedingt im Unterricht zu
berücksichtigen sind, weil ihre Anwendungen das wirtschaftliche Leben und unsere
Weltauffassung tief umgestaltet haben. Das Buch enthält ferner eine Fülle mit be-
geisternden Worten vorgetragener Betrachtungen über den Wert der Elektrizitäts-
lehre und ihrer Anwendungen. Sie zeigen dem Lehrer, wie man mit großem Erfolg
die lebhafteste Teilnahme der Schüler an dem behandelten Stoff erregen kann.
Prof. Kalähne hat sich zwar möglichst treu an seine Vorlage gehalten, doch
die Übertragung mit hervorragendem Geschick so formvollendet ausgeführt, daß
man glaubt, ein Werk in der Ursprache zu lesen.
Berlin. Hermann Hahn.
Gothan, W., Botanisch-geologische Spaziergänge in die
Umgebung von Berlin. Leipzig und Berlin 1910. B. G. Teubner.
VI u. 110 S. 8^. geh. 1,80 M., geb. 2,40 M.
Das vorliegende Büchlein habe ich mit besonderer Befriedigung gelesen, weil
es Bestrebungen unterstützt, die ich seit einem Menschenalter im naturgeschicht-
lichen Unterrichte der höheren Schulen zu verwirklichen gesucht habe. Das be-
zieht sich einmal auf die naturwissenschaftlichen Unterrichtsausflüge über-
haupt, deren Bedeutung leider nicht überall, weder von allen Fachlehrern noch von
den Direktoren, hinreichend gewürdigt wird. Zweitens aber betrifft es die Art
ihrer Ausführung. Für viele haben die botanischen Ausflüge von alters her nur
den Zweck, Pflanzen zu sammeln und in Herbarien aufzustapeln. Demgegenüber
will der Verfasser an konkreten Beispielen eine Einführung geben in die Kenntnis
der Pflanzenvereine und bemerkt mit Recht: „Trotzdem gerade jetzt
so viel von Pflanzengemeinschaften in der botanischen Literatur die Rede ist,
hat die Bedeutung der Beschäftigung mit diesen immer noch nicht die zu erwartende
Verbreitung in den Kreisen der Pflanzenliebhaber gefunden, zum Schaden für die
Betreffenden selbst, denn die Beschäftigung mit der Pflanzenwelt draußen nach
diesen Gesichtspunkten gewährt auch eine entschieden viel höhere geistige Befrie-
digung als das bloße Pflanzensammeln."
Was den ersten Punkt anlangt, so hat auch der Verein zur Förde-
rung des mathematischen und naturwissenschaftlichen
angez. von K. Fricke. 59
Unterrichts in seiner vorjährigen Hauptversammlung (Posen, 1910) nach
einem lichtvollen Vortrage des Herrn v. Hanstein und nach eingehender Debatte
einstimmig die Unterrichtsausflüge als „eine sehr wünschenswerte, durch andere
Mittel nicht zu ersetzende Ergänzung des naturwissenschaftlichen Unterrichts"
anerkannt.*) Ich persönlich gehe in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter.
Wie ich vor zwei Jahren in einer Programmschrift**) dargelegt habe, betrpchte
ich das Verständnis der Erscheinungen und Vorgänge in der freien Natur als d a s
Ziel der gesamten naturgeschichtlichen Unterweisung,
und daher sind mir von jeher die Unterrichtsausflüge ein unentbehrliches
Hilfsmittel gewesen; ich habe a. a. 0. — gleichfalls an konkreten Beispielen
— näher dargelegt, daß auch ich mit Vorliebe die ökologische Betrachtungsweise,
und zwar namentlich für die Ausflüge mit den oberen Klassen, in Anwendung bringe
und die Exkursionen daher in solche Gebiete der Umgegend von Bremen ver-
lege, in denen zu einer bestimmten Jahreszeit die Gegensätze und Eigentümlich-
keiten der Pflanzenvereine besonders scharf hervortreten.
Selbstverständlich ist für den Einblick in den inneren Zusammenhang dieser
Pflanzengemeinschaften die Kenntnis der Bodenbeschaffenheit eine unbedingte
Voraussetzung, und daraus ergab sich für den Verfasser der vorliegenden Schrift
die Notwendigkeit, auf die geologischen Verhältnisse der besprochenen Örtlich-
keiten, auf ihre Bodenarten und Geländeformen, näher einzugehen. Die Unter-
suchung des sogenannten Geschiebemergels, der bei der Zusammensetzung des
Bodens in unserem norddeutschen Flachlande die Hauptrolle spielt, die Frage nach
der Natur und Herkunft der mannigfachen in ihm eingeschlossenen Gesteins-
blöcke, der sogenannten Findlinge, führt zu einer kritischen Besprechung der
ehemals von Lyell aufgestellten Drifttheorie sowie der gegenwärtig allgemein
anerkannten I n 1 a n d e i s t h e o r i e , die der schwedische Geologe 0. T o r e 1 1
zuerst im Jahre 1875 durch die auf der Oberfläche des Rüdersdorfer Muschel-
kalkes nachgewiesenen Gletscherspuren begründete. Des weiteren führt uns die
Betrachtung der Oberflächengestaltung des Geschiebemergels, der „Grund-
moränenlandschaft" mit ihrem welligen und hügeligen Gelände, in dessen Senken
sich die charakteristischen „Solle" befinden, auf die Entstehung unserer dilu-
vialen und alluvialen Bodenarten, die sich aus dem ursprünglichen Geschiebemergel
durch die Wirkung des bewegten Wassers als Kies, Sand, Lehm und feiner Ton-
schlamm abgelagert haben. Zugleich lernen wir die Leitpflanzen dieser Bodenarten
und die Pflanzenvereine kennen, die sich auf diesem Untergrunde angesiedelt
haben. Auf 9 zu verschiedenen Jahreszeiten (von Anfang April oder Ende März
bis Ende September) nach verschiedenen Richtungen unternommenen Exkur-
sionen werden wir mit der Eigenart des Erlenbruchs, der Verlandungs- und Moor-
vegetation bekannt, die an vielen Orten die Solle mit Torf ausfüllen; wir werden
eingeführt in das Verständnis der Bedingungen der Bodenflora des Laubwaldes
*) Vrgl. Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften. XV L
1909. Nr. 4, S. 84 u. f.
**) Biologische Heimatkunde in der Schule. Beilage zum Jahresbericht der
Oberreaischule zu Bremen. 1909. Progr. Nr. 973; auch im Verlag von Quelle &
Meyer, Leipzig, 1909.
60 A. Fehrmann u. P. Meynen, Turnen u. Sport usw., angez. von H. Wickenhagen.
im Frühling und der reichen Bestände des Adlerfarns im sommerlichen Kiefern-
walde, wir lernen die Gewächse feuchter Laubwaldstellen kennen wie auch den
Verein der Steppenpflanzen, die Sand-, Ruderal- und Ackerrandflora bis zu den
„Trampelpflanzen", die sich — wie der große Wegerich und der Vogelknöterich
— mit betretenen Wegen und Wegrändern begnügen müssen. Es kann aber nicht
Aufgabe dieses Berichtes sein auf Einzelheiten und Besonderheiten näher einzu-
gehen; für jeden Kundigen wird das Gesagte genügen, um sich von dem Wesen
der Beobachtungen und der Reichhaltigkeit des Inhalts, der hier in knapper Form
dargeboten wird, einen Begriff zu machen. Die Art und Weise, wie die auf den
Exkursionen gewonnenen Erfahrungen zu einem Gesamtbilde von den geologischen
und botanischen Verhältnissen des heimatlichen Bodens verwoben werden, darf
als eine mustergültige und auch für andere Gegenden nachahmenswerte bezeichnet
werden. Möge in einer späteren Auflage auch der heimischen Tierwelt Beachtung
geschenkt, und somit das Werkchen zu einer allgemein biologisch-geo-
logischen Heimatkunde erweitert werden.
Bremen. K. F r i c k e.
Fehrmann, A. und Meynen, P., Turnen und Sport an deutschen
Hochschulen. Leipzig 1910. G. Kummers Verlag. 256 S. geb. 3 M.
Ein Buch aus der Zeit für die Zeit. Es regt sich auf unseren Hochschulen,
und da ist es gut, daß ein Ratgeber den Arbeitswilligen seine Dienste anbietet.
Was er bringt, kann man mit Vertrauen hinnehmen. Alle guten Übungsarten sind
in übersichtlicher Kürze und Klarheit berücksichtigt, Turnen und Sport sind in
die richtige Verbindung miteinander gebracht, und der letztere Begriff ist so auf-
gefaßt, wie die deutsche Schule es verfangt. Treffend sagt der erste Mitarbeiter,
Prof. Dr. Lamprecht-Leipzig: „Der Sport, der bisweilen unedle Arten des Wett-
bewerbs im Gefolge hat, darf nie den einzelnen vollständig erschöpfen; und wer
vom Sportplatze kommt ohne jenes Gefühl gestärkter Persönlichkeit und gleich-
sam einer guten Tat . . ., der hat verspielt. — So ist's.
Roßow, C, Zweite Statistik des Schulturnens in Deutsch-
land. Mit Unterstützung der Ministerien der deutschen Bundesstaaten usw.
herausgegeben. Gotha 1908. F. Thienemann. 538 S. geb. 16 M.
Das Buch führt uns durch alle Schularten von der Hochschule bis zur Volks-
schule der sämtlichen deutschen Bundesstaaten. Eine ebenso mühevolle wie
dankenswerte Arbeit !
Roßow, C, Geschichte des Turnunterrichts von Schulrat Prof.
Dr. C. E u 1 e r. Neu bearbeitet. Gotha 1907. F. Thienemann. 435 S.
geb. 4 M.
Das Buch bildet den V. Band der Kehrschen Geschichte der Methodik; aus
früheren Auflagen ist es genügend bekannt. Wenn der Herausgeber ältere Perioden
gekürzt, lästige Anmerkungen beseitigt und dafür die neue Schule mit ihren ge-
sunden Fortschritten gebührend vorgeschoben hat, verdient er volle Anerkennung,
Die Arbeit hat nach Gründlichkeit und Zuveriässigkeit ihre erste Stelle behalten.
O. Ruperti, Führer für Wanderruderer, angez. von H. Wickenhagen. 61
Rupert!, 0., Führer für Wanderruderer. Berlin 1910. Wassersport-
Verlag. 507 S. mit zahlreichen Karten und Tabellen. Geb. 6 M.
„Vom Wasser haben vvir's gelernt: das Wandern!" Seitdem das Wander-
rudern in Deutschland gepflegt wird — lange ist's noch nicht — enthüllen sich
uns ganz neue Landschaftsbilder. Der Verfasser führt uns über alle heimischen
Wasserstraßen, nicht plaudernd, sondern belehrend. Sein Buch ist für Bootsreisen
geradezu unentbehrlich; es enthält genaue Angaben über die Art der Gewässer,
Uferverhältnisse, Entfernungen u. a. m. Eine ungemein fleißige Arbeit. Daß in
der ersten Ausgabe mancherlei Ungcnauigkeiten unterlaufen sind, kann bei der
Eigenart des Stoffs kaum wundernehmen. Inzwischen ist durch Nachträge Ab-
hülfe geschafft; und wenn die Wasserwanderer das Ihre tun, wird der Wert
dieses neuarfgen ,, geographischen Leitfadens" immer mehr gewinnen.
Berlin-Lichterfelde. H. W i c k e n h a g e n.
Gonser, Immanuel, Alkoholgegnerische Unterweisung in den
Schulen der verschiedenen Länder. Vortrag, gehalten auf dem XII. Internatio-
nalen Kongreß gegen den Alkoholismus London 1909. Berlin. Mäßigkeits-
Verlag. 24 S. 80. 0,40 M.
Wenn die Gewohnheit die größte Macht im Leben des einzelnen ist, so ist es
ein schwieriges Unterfangen, den Erwachsenen von seinen Trinkgewohnheiten
abzubringen; andererseits — so schließen sehr richtig die Alkoholgegner — gibt
es kein besseres Mittel, den Alkoholmißbrauch aus der Welt zu schaffen, als der
Jugend das Nichttrinken zur Gewohnheit zu machen. Es ist
recht lehrreich aus vorliegendem Vortrage zu erfahren, welche Schritte in dieser
Richtung bereits in den verschiedenen Ländern der Erde getan sind.
Ide, Praktische Atmungsgymnastik zum täglichen Gebrauch
für Jedermann, besonders für Schulenbesucher, Stubenhocker, Berufsredner
und Sänger, Lungen- und Herzschwache. München 1910. Otto Gmelin, Verlag
der ärztlichen Rundschau. 19 S. S^. 0,75 M.
Wer die Gesundheit noch nicht als kostbares Gut erkannt hat, der braucht
keine Hilfe. Aber dem Leidenden tut oft führender Rat not. Da nun die Menxhen
von heute kaum ein mehr geschädigtes Organ besitzen als die Lunge, ist eine durch
Bilder erläuterte Anweisung zur Besserung und Kräftigung der Lunge, wie sie
vorliegende Schrift gibt, gewiß manchem von Nutzen.
Linden-Hannover. B. Habenich t.
III. Vermischtes.
15. Allgemeiner Deutscher Neuphilologentag in Frankfurt a. M.
vom 28-30. Mai 1912.
P. A. Aus einer unter Leitung des Herrn Direktor Dörr stattgehabten ge
meinschaftlichen Sitzung der vorbereitenden Ausschüsse für die in Frankfurt a. M.
nach Pfingsten 1912 stattfindende 15. Tagung des allgemeinen Deutschen Neu-
philologenverbandes verdienen einige allgemein interessierende Punkte Erwähnung.
Die Tagung findet — wie in der Regel alle zwei Jahre — unmittelbar nach dem
Pfingstfest vom 28. bis 30. Mai statt, zugleich als Jubelfeier zur Erinnerung an den
vor 25 Jahren dort abgehaltenen 2. Deutschen Neuphilologentag. Am Vorabend
(Pfingstmontag) ist eine zwanglose Zusammenkunft im oberen Saale der Alemannia
(am Schillerplatz). Vorträge haben bereits eine Reihe Universitätsprofessoren
und Schulmänner des In- und Auslandes zugesagt, u. a. die Professoren Bovet
(Zürich), Brunot (Paris), Morf (Berlin), Sadler (Leeds), Wechssler (Marburg);
ferner die Professoren Curtis und Friedwagner von der Frankfurter Akademie
für Sozial- und Handelswissenschaften. Beiträge zu einer Festschrift sind gleichfalls
in großer Zahl in Aussicht gestellt, zum Teil schon im Druck. Eine Ausstellung
von neusprachlichen Lehrmitteln, im besonderen solcher, die sich mit der Behandlung
des Wortschatzes im Schulunterricht befassen, wird veranstaltet werden; es ist
beabsichtigt, diese Lehrmittel später dem Frankfurter Schulmuseum zuzuführen.
Auch hierfür liegen schon Zusagen vor, so von den Pariser Verlegern Colin und
Delagrave. Die finanzielle Grundlage darf nach dem Berichte des Kassenführers
als gesichert betrachtet werden. Dem Wohlwollen und der Einsicht einiger Frank-
furter Herren verdankt der Neuphilologentag einen Grundstock, um dessen Beschaf-
fung sich besonders die Herren Professoren Curtis, Reichard und Direktor Dr. Walter
mit Erfolg bemüht haben. — Nach des Tages Arbeit — in der Akademie — sind
als Feste des Abends geplant: am Dienstag ein Festmahl im Frankfurter Hof,
Mittwoch Abend eine Vorstellung in einem der städtischen Theater, als Abschluß
am Donnerstag Nachmittag eine Rheinfahrt, vielleicht mit Abschiedsfeier im
Kurhause zu Wiesbaden. Auch ein Empfang durch die städtischen Behörden im
Römer wird sich voraussichtlich ermöglichen lassen. Die Teilnehmerkarte, die
für sämtliche Veranstaltungen gilt, wird 10 M. für Herren, 5 M. für Damen kosten.
— Weitere Auskunft über den Neuphilologentag erteilen die Herren Direktor Dörr
(Liebig-Realschule, Falkstraße) und Professor Dr. Michel, Vorsitzender des Preß-
ausschusses (Realschule Philanthropin, Hebelstraße) in Frankfurt a. M.
IV. Sprechsaal
1. H. von Kleist, Prinz von Homburg II, 2, 85.
Erster Offizier:
Nimm ihm den Degen ab!
Prinz von Homburg:
Den Degen mir?
(Er stößt ihn zurück.)
Ei, du vorwitziger Knabe, der du noch
Nicht die zehn märkischen Gebote kennst,
Hier ist der deinige zusamt der Scheide!
(Er reißt ihm das Schwert samt dem Gürtel ab.)
Erster Offizier (taumelnd):
Mein Prinz, die Tat, bei Gott — .
Die bisher gegebenen Deutungen befriedigen nicht, auch nicht die von Grün-
wald (1904, S. 728 der Zeitschrift für den deutschen Unterricht) verteidigte Er-
klärung Wolfs, mit den zehn märkischen Geboten seien die märkischen Kriegs-
artikel gemeint. Die Vorschriften des Gehorsams und der Subordination sind
allgemeine Kriegsgesetze, nicht im besonderen märkische, auch vergeht
sich der Offizier nicht gegen diese, und selbst wenn er es täte, würde der Prinz sein
eigenes ganz unmilitärisches Vorgehen gegen ihn damit nicht rechtfertigen. Auch
ist nirgends bezeugt, daß es gerade zehn solcher Vorschriften gab.
Mir scheint eine Reminiszenz an Shakespeare, Heinrich VI., Teil 2, Akt I,
Szene 3 vorzuliegen, wo die Herzogin von Gloster zur Königin Margarete, welche
ihr eine Ohrfeige gegeben hat, sagt:
Könnt' ich an euer schön Gesicht nur kommen.
Ich setzte meine zehn Gebote drein.
/ *d set my ten commandments in your face.
Dazu macht Delius die Bemerkung, daß ten commandments auch von anderen Dra-
matikern jener Zeit scherzhaft für die zehn Finger gebraucht wurde. Danach
deute ich die zehn märkischen Gebote als das gewaltsame Zurückstoßen mit dem
Schlag beider Hände nach Art der derben Märker, die auf eine so unerhörte
Zumutung, wie das Abfordern des Degens von selten des Offiziers dem. Prinzen
erscheint, handgreiflich werden ohne Rücksicht auf Stand und Sitte.
64 Sprechsaal.
2. Freiheit, die ich meine.
Diese Worte in dem Gedicht von Max von Schenkendorf erklärt man viel-
fach Freiheit, die ich liebe, sie bedeuten aber Freiheit, wie ich sie mir denke,
wie sie mir vorschwebt, im Gegensatz zu derjenigen Freiheit, welche die fran-
zösischen Umsturzmänner so gern im Munde führten, die sich aber als die schreck-
lichste Tyrannei erwies. Eine feinsinnige Besprechung des ganzen Gedichtes gibt
Prof. Dr. August Döring in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum
1909, S. 510 — 518. Dies Lied sangen mit Begeisterung Reuters Genossen; vgl.
Ut mine Festungstid, Kap. 9.
Herford i. W. ErnstMeyer.
IS
I. Abhandlungen.
Neuhumanistische Unterweisung im Lateinunterricht.
Während der vielseitigen Angriffe auf die Mauern des humanistischen Gym-
nasiums hat sich im altsprachlichen Betriebe selbst ein Aufschwung vollzogen,
der mit völliger Änderung der Methode neues Interesse, neue Freude und fester
gewachsene Früchte am alten Baume gezeitigt hat. Der Kritik der naturwissen-
schaftlichen Gegner kann der moderne Lehrer nur mit Verwunderung zusehen,
denn seine Ziele stehen im Einklang mit den von jenen so betonten Grundsätzen.
So wenig wie die Naturwissenschaft begnügt er sich mit der fertigen Form, der
gegebenen Erscheinung; auch er geht auf die Lebensbedingung und Lebensgemein-
schaft, auf den Ursprung der Sprache und ihr gesetzmäßiges Wachstum in Wirkung
und Gegenwirkung ein. Mit Recht kann man heute von einer neuhumanistischen
Bewegung sprechen.
Sie will nicht bloß humanistischen Wissensstoff bieten, ihre Methode soll dem
Wesen der ,, Humanität'' mehr als früher entsprechen. Sie soll eine glückliche
Erweckung und frohe Entfaltung der elementaren Kraft des menschlichen Geistes
sein. Sie bewegt sich innerhalb der Grenzen, die Paulus in Athen mit ^yjXacpav
und eupsiv bezeichnet hat; vom Tasten zum Finden will sie führen. Die Selb-
ständigkeit, die für den Schüler in den Lebensformen erstrebt wird, muß vor allem
in der geistigen Betätigung verwirklicht werden.
Der Mißklang zwischen dem hohen Ideal des althumanistischen Ziels und seiner
Verwirklichung auf der Schule drängte mit Allgewalt Lehrer der Wissenschaft
wie der Praxis zur Zersprengung der formalistisch-grammatischen Methode, die
auch die lebensvolle Benutzung des Textes mit bleiernem Fuß verhinderte. Die
junge Richtung sieht ihr letztes und gleich zu verwirklichendes Ziel in der Lektüre
des fremdsprachlichen Stoffes. Aber sie will auch, daß der Weg dahin gewinnend,
anregend, fruchtbringend an sich sei. Die historisch-genetische Methode auf Wort-
und Satzlehre angewandt, wird, einmal richtig erkannt, von keinem wieder auf-
gegeben, und vereint mit der psychologischen Durchdringung der sprachlichen
Eigenart muß sie noch für lange hinaus von Erfolg begleitet sein. Das Wort wie
die grammatische Verbindung soll selbständig ergriffen und selbsttätig entfaltet
werden. Das Lernen (mit seinem Üben), auf keinen Fall vernachlässigt, soll doch
erst aus dem Erleben geboren werden. Die Aktion des Verstandes wird geleitet
und begleitet von den frohen Kräften der Phantasie. Der Lehrer kaum mehr als
ein Freund, ein Führer, zuletzt ein Studiengenosse, der sich bemüht, die Quellen
des eigenen Könnens im Schüler zu entfesseln.
Monatschrift f. höli. Schulen. XI. Jhrg. 5
66 A. Stahl,
Nach endlos grammatischen Übungen, erprobt durch heillos gefahrvolle,
stelzenwandelnde Extemporalien, ging die althumanistische Unterweisung an die
Lektüre, um sie gleich nach einer Bestätigung für jene zu durchsuchen. Die neue
beginnt sofort mit dem Satz, so früh wie möglich mit einem sinnvollen Ganzen,
einer kleinen Erzählung. Denn der Inhalt soll verführen, die Form zu erforschen,
zu besiegen und zum gefälligen Mittel zu machen. Und der Inhalt, der Gedanke
und seine besondere Färbung soll vor allem die Form und ihre Mannigfaltigkeit
erklären. Wie das Wort nur innerhalb des Gedankenganzen seinen lebendigen
Sinn bekundet, so vermögen auch Kasus und iVlodus, Konjunktion und Tempus
ihr Leben und Wesen, ihre Kraft und Entfaltung nur im Satzgefüge zu enthüllen.
Endgültig ist gebrochen mit dem alten Schlendrian, in dem man behauptete:
ut oder cum regiert den Konjunktiv. Es wird gezeigt, wie aus der Art, wie der
Schriftsteller seinen Gedanken ausdrückt, der Modus verständlich wird. Aus
der Bestimmtheit, der einräumenden oder zweifelhaften, realen oder potentialen
Sprechweise ergibt sich der Grund für die Anwendung des Indikativs oder Kon-
junktivs, soweit nicht der Gebrauch fest erstarrt ist. Die Behauptung der Gram-
matik, daß im Relativsatz, der durch quidem eine allgemeine Aussage beschränke,
der Konjunktiv stehe, wird durch die Lektüre widerlegt. Der Satz: orationes
CatgniSy quas quidem legerim, hat sein Gegenstück in quae quidem erant expetendae
(Cic. Tusc. II, 3). Das erstere heißt: so weit ich sie gelesen haben mag; das zweite :
so weit sie wirklich begehrenswert sind. Die Regel, als ob nach fuit tempus,
cum und ähnlichen Wendungen der Konjunktiv stehen müßte, ist unhaltbar. Man
liest: Fuit quoddam tempus, cum in agris homines passim bestiarum modo vagabantur
und Fuit tempus, cum rura colerent homines neque urbem haberent. Im ersten Falle
ist die menschliche Urgeschichte mit Gewißheit geschildert, im zweiten als Po-
tentiale Behauptung: Es gab eine Zeit, wo die Menschen das Feld bebauen und
noch ohne festen Wohnsitz leben mochten.
Eine neue Grammatik mußte entstehen durch die Zentralisierung des ge-
samten Unterrichts in der Lektüre, eine Grammatik zum Verständnis des Lese-
stoffs im Gegensatz zu der alten, die ganz und gar auf die Übersetzung ins Lateinische
zugeschnitten war. Für diese Grammatik regen sich zurzeit besonders befähigte
Köpfe, deren Arbeiten leider .noch immer nicht ausreichend gewürdigt werden.
Neben Waldeck, der in seiner praktischen Anleitung wie in zahlreichen Aufsätzen
für das lebensvolle Eindringen in den Geist der Sprache kämpft, ist in neuester Zeit
H. Werner aus Düren zu nennen. Er hat (Neue Jahrb. 1910. 10 H.) dem Zeit-
geist konform die Grundzüge der historisch-genetischen Methode mit einleuchtender
Klarheit und wissenschaftlicher Begründung dargestellt. Hier findet sich auch
eine fruchtbare Benutzung von Wundts entscheidendem Werke ,,Die Sprache".
Werners Aufsatz ist das beste, was in dieser Richtung geschrieben ist. Auf seine
jetzt bei Ehlermann erscheinende Grammatik darf man gespannt sein. Praktische
Richtlinien für den grammatischen Unterricht im Lateinischen sind von Meurer
und Niepmann zusammengestellt (Progr. Bonn 1908). Brauchbare Winke finden
sich in Agahds Latein. Syntax (Teubner 1908). Dittmars Arbeiten über cum haben
keinen rechten Anklang gefunden. Auch glaube ich nicht, daß Rudolf Methner
den Konjunktiv nach diesem lokativen Relativum befriedigend erklärt hat. Aber
Neuhumanistische Unterweisung im Lateinunterricht. 67
mit völlig adäquatem Verständnis und ausgezeichneter Schärfe hat Methner den
Konjunktiv der Folgesätze erörtert. Methners Arbeiten müssen studiert und auf
ihren praktischen Wert erprobt werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen
Franz Stürmers Etymologfsche Arbeiten. Wird der Anfangsunterricht konsequent
nach seinem Etymologischen Wörterverzeichnis zu Osterm.-Müller (Teubner 1911)
gegeben, so wird die denkbar beste Grundlage gelegt. Daran schließt sich für die
mittlere Stufe: Schlee, Etymol. Vokabularium zu Caesar. Die beste historische
Lautlehre für den Schulgebrauch ist meines Erachtens die von Niedermann
(C. Winter, Heidelberg), die manchem alten Zopf den Garaus macht.
In Hoffnung also gehen wir einer neuen Zeit entgegen, wo die Grammatik
im Dienst der Lektüre das belebende Moment der neuen Richtung sein wird. Diese
neuhumanistische Grammatik wird sich von der alten Extemporalien-Grammatik
wesentlich dadurch unterscheiden, daß sie nicht mehr auf Schritt und Tritt in
Widerspruch kommt mit der Lektüre; sie wird eine großzügige Bestätigung ihrer
mannigfachen Erscheinungen sein und weniger ein Regelbuch als ein Spiegel des
fremdsprachlichen Geistes.
Um den Lesestoff also gruppieren wir alle sachliche Unterweisung in Kunst
und Geschichte, Philosophie und Antiquitäten. Zugleich aber sind wir unablässig
bemüht, die Mittel zur Besiegung der Form von Stufe zu Stufe geläufiger und
sicherer zu gestalten. Hand in Hand mit den sachlichen Fragen geht die gram-
matische Erörterung. Früher sollte die Grammatik die Sache lehren, jetzt soll die
Erkenntnis der grammatischen Form aus der Art der Sache kommen. Die sachliche
Fragestellung soll die Notwendigkeit der jeweiligen grammatischen Eigenart er-
schließen.
Der Schüler, auch der Anfänger soll das Bewußtsein haben, daß wir ihm einen
Lesestoff zur Unterhaltung oder Belehrung bieten, dessen fremde Einkleidung kein
Hindernis ist, sondern ein lockendes Geheimnis, das zu erschließen das Werk ge-
meinsamer Sprengkraft ist. Wer es versteht, in anregenden Fragen sachlicher
Art den Inhalt zu zerteilen, die Abschnitte zugleich durch Fragen grammatischer
Färbung geschickt zu verbinden, der wird die Durchnahme zu einem Ereignis
gestalten, in dem jeder den Stoff selber erfunden zu haben sich einbilden wird.
Wir wollen also in erster Linie durch die Mittel des deutschen
Unterrichts wirken. Ein Beispiel von der Unterstufe darf vielleicht . als
Illustration dienen.
Mit Vorliebe wählen wir sagenhafte Stoffe. In einer kurzen Einleitung sind
wir bemüht, den Stimmungszauber zu erwecken, durch den wir Herz und Sinn
in unseren Bann ziehen. Wir haben (Osterm. für Quinta St. 5) von Tantalus'
Schicksal gehört, und nun wird uns (Stück 6) von seiner Tochter erzählt. Im
Sagenreichen Phrygierland, woTroja lag, und wo fast jeder Berg und Fluß ein altes
Geheimnis barg, war auch ein Berg mit Namen Sipylus. Seltsam und rührend war
seine Gestalt; man meinte, dort säße ein kummerbeladenes Weib und müsse be-
ständig weinen. Ganz anders wie der Lurley-Fels, von dem das berückende Lied
erklingt. Tantalus' Tochter sollte es sein, die hier im Leid versteinert saß. Was
hatte sie denn erlebt, das Kind des unglücklichen Vaters? Nioba, Tantali filia,
iixor erat Amphionis, regis Thebanomm sagt der Text. Wohl war sie übers Meer
5*
68 A. Stahl,
gezogen und eines fremden Königs Weib geworden; doch mit ihr ging des Hauses
Verhängnis. Ein großer Vorzug war auch für sie die Ursache ihres unsäglichen
Leids, ihn nennt die Apposition des folgenden Satzes {Nioba, femina pulcherrima),
der zugleich von ihrer Gesinnung erzählt, die sie zu Fall brachte: et dis propter
poenam pairis infesta et propter magnum numeriim liberorum superbis-
s ima erat. Schärfer als im Deutschen werden die beiden Grundzüge ihres Cha-
rakters durch et . . et hervorgehoben. Wohl verständlich ist der Grund,
weshalb sie den Göttern feindlich gesinnt war: propter poenam patris.
Welches war der Grund ihrer maßlosen Überhebung? — propter magnum
liberorum numerum.
W a n n , bei welcher Gelegenheit kam ihr Haß und Hochmut zum Ausbruch?
Cum aliquando mulier es et virgines Latonae, matri Apollinis et Dianae sacrificarent,
Nioba eas vituperavit et Xur\ inquit, 'ignotis dis sacrificatis?' Gleich zeigt sie,
wen sie unter bekannten Göttern versteht: „Cur non mihi sacrificatis, quae
pulchritudine, potentia, divitiis, etiam gener e omnes super o.'' Erst nach der wört-
lichen Übersetzung der Ablative instrum. „d u rc h Schönheit usw.'* ist das bessere
Deutsch a n Schönheit einzusetzen. Welche Göttin besonders will sie im Vergleich
mit sich herabsetzen? — Quis Latonam mecum comparabit, cum ego quattuordecim
liberos habeam, illa duos? Man läßt den Fragesatz in eine Behauptung verwandeln:
Nemo Latonam mecum comparabit, und fragt: Aus welchem Grunde, nicht?
und die Antwort wird gesucht in dem Grundnebensatze : C u m ego habeam. Er
wird der ursprünglichen Bedeutung von cum entsprechend übersetzt: „wo ich
doch h ab e."
Hatte Niobas Rede Erfolg? — Postquam haec dixit, mulieres sacrificare pro-
hibuit. Prohibere nicht hindern, sondern abhalten (pro — nach vorne), daher
der Acc. c. inj. mulieres sacrificare als Objekt dazu. Doch welches Verhängnis be-
schwor sie jetzt herauf? Hac re Latonae iram excttavit. Wie rächte sich die Göttin?
Dea statim liberos suos oravit, ul superbiam Niobae vindicarent, sie möchten
oder sollten doch bestrafen. Wann wurde der Befehl ausgeführt? A 1 s Nioba
und ihre K nder die Burg betraten, hat Apollo die Söhne, Diana die Töchter ver-
mittelst der Pfeile getötet: Cum in arcem Thebarum v enissent , Apollo filios,
Diana filias Niobae s agitt i s necavit. Weshalb sagt der Lateiner im plusqu.
gekommen waren, und durch welches Mittel vermochten die himmlischen Götter
auf Erden der Mutter Befehl zu verwirklichen?
Es folgt ein für diese Stufe stark abstrakter Satz: Ita Niobae superbia ipsi
causa doloris, liberis eius causa perniciei fuit; doch kann er für die grammatische
Erkenntnis fruchtbar gemacht werden. Die Folge des Hochmuts war für die arme
Königin Schmerz, für ihre Kinder war der Hochmut die Ursache des Todes.
Wiederum trieb das Leid die beklagenswerte Frau aus der Heimat; wohin?
Mulier i n Phrygiam migravit ibique in Sipylo sedens perpetuo flevit. Und vor
ihrem Schmerz sank endlich der Götter Zorn. Der Satz: misericordia deorum
Nioba in saxum mutata est (lacrimaeque eius etiam nunc manant) wird zunächst
ohne misericordia übersetzt: Nioba wird in einen Felsen verwandelt, den ver-
steinerten Schmerz mit den nimmer versiegenden Tränen. Und die Ursache
war das endliche Erbarmen der Götter. Mit Nachdruck wird darauf gehalten,
Neuhumanistische Unterweisung im Lateinunterricht. 69
daß die Schüler die so beliebte Übersetzung von misericordia „durch das Mitleid"
in die richtigere „infolge des Erbarmens" vertauschen. Der ewige Abi. instmm,
hat auf unsere Sprache schädlich eingewirkt, und es wird Zeit, daß er auf seine
Grenzen verwiesen wird. Misericord i a ist ein günstiges Beispiel für den Abi.
caiisae, den ursprünglichen, noch in voller Kraft stehenden Ablativus. Seine Prä-
position heißt „infolge von", die des instrumentalis „durch" oder , »vermittelst".
Daran muß sich der Schüler gewöhnen. Der instmm. ist sagittis in dem Ssitz: Apollo
filios sagittis necavit. Das Instrument ist das unselbständige Werkzeug, die Ur-
sache ist selbständig. Der Ablativus causae steht dem lokalen Woher- Begriff des
genuinen Ablativus am nächsten. Wie ich sagen kann: Ich komme von einem
Orte her: Roma venia, loco cedo; kann ich auch bei jedem Ereignis fragen: Woher
kommt es? Was war sein Grund, seine Ursache? Woher kam es, daß sich Niobas
Schicksal wandte, welches war der Grund? — Infolge des göttlichen Mitleids ging
ihre Verwandlung vor sich. Misericord i a ist derselbe Woher-Casus, der in Stück 15
begegnet, wo es von der Nephela heißt: quae d iv i n a o r igine erat.
Dieser Ablativus causae, die zweite Stufe der Entfaltungsstadien des Ablativus,
begegnet so oft, ist ein so wesentlicher Bestandteil der lateinischen Sprache, daß
sein Verständnis so bald und so anschaulich wie möglich angebahnt werden muß.
Freilich galt es in althumanistischer Stilistik für eine Feinheit, zu sagen: miseri-
cordia adductus, impulsus, commotus, aber mit solchen Partizipien wurde doch erst
einer ursprünglichen Kraft eine Stütze verliehen, die sie an sich nicht nötig hatte.
Magnitudine dolorum eiulare sagt Cic. Tusc. II, 7, 19. Socrates (vadit in carcerem)
eodem scelere iudicum, quo tyrannorum Theramenes. Tusculan. I, 40, 97. Ostermann
Stück 199: animi spe metuque pendent, das Herz hängt in der Schwebe infolge
von Furcht und Hoffnung. Concordia res parvae crescunt, discordia maximae di-
labuntur. Indutiis tacitis caesos sepeliverunt — infolge eines schweigenden Waffen-
stillstandes konnten sie die Gefallenen begraben. Welch charakteristisches
Beispiel für die wirkungsvolle Kraft des abl. causael Die wirkende Ursache ist
der Ausgangspunkt für eine andere Erscheinung; das ist eine Erkenntnis, die immer
mehr angebahnt werden soll.
Das rechte Verständnis des Ablativus führt weiter zum natürlichen Gebrauch
des Ablativus absolutus, denn es war Unnatur, ihn als grammatische Formel lernen
zu lassen, um ihn dann vorkommenden Falls nach geübtem Rezept: nachdem usw.
aufzulösen.*) Das aufs Geratewohl aufgeschlagene 24. Kap. des IV. Buches von
Caesars Bellum Gallicum beginnt: At barbari consilio Romanorum cognito ....
nostros navibus egredi prohibebant. Nun zu fragen: was ist consilio Romanorum
cognito für eine Konstruktion, um vom Resonanzboden der grammatischen Schu-
lung den Ablativus absolutus zu vernehmen, ist gewiß ebenso töricht, als es oft ge-
schehen ist. Consilio cognito heißt: , »infolge der Kenntnis des römischen Plans
hinderten die Barbaren die Unseren am Aussteigen". Ebenso Kap. 28: his rebus
pace confirmata . ... ex superiore portu leni vento solverunt, miolge der friedlichen
Lösung konnten sie die Anker lichten. Ebenso Kap. 31: rursus coniuratione facta
*) F. Wagner in seiner neuen lateinischen Satzlehre für Reformrealgymnasien
(Leipzig 1911) sagt richtig: der übliche Ausdruck Ablativus absolutus ist irreführend,
da der Abi. nur im engen Zusammenhang mit dem Satz zu verstehen ist.
70 A. Stahl,
paulatim ex castris discedere etc. Kap. 23: His constituiis rebus tertia fere vigilia
solvit heißt: „infolge dieser Anordnung"; aber weil es der Woher-Casus ist, kann
es auch noch ursprünglicher heißen: „von der Erledigung aus". Und in diesem
„Woher" liegt die B e r e c h t i g u n g für die deutsche Übertragung mit „nach-
dem". Bell. Gallicum VII, 31: qui Auarico expugnato refugerant; die infolge der
Eroberung hatten flüchten müssen, die von dem eroberten Avaricum geflohen
waren, die, nachdem Avaricum erobert war, hatten fliehen müssen. — Das ist ein
Stück unseres retournons ä la nature.
Während der Modus in den Absichts-, Wunsch- und Auftragssätzen sich sehr
bald als konjunktivisch notwendig begreifen läßt, ist das sehr schwer bei cum
causale oder temporale der Fall. Einem begabten Primaner kann ich vielleicht
eine vertiefende Erkenntnis darin verschaffen, im allgemeinen wird man aber auf
ein adäquates Verständnis verzichten müssen. Der Zeitaufwand würde sich kaum
lohnen. Dennoch muß gelegentlich an günstigen Beispielen gezeigt werden, welchen
Sinn der Lateiner mit diesem Konjunktiv verbindet. Der Satz bei Livius XXI,
31, 10: Nam cum aquae vim vehat ingentem, non tarnen navium patiens est heißt
seinem potential-konzessiven Sinne gemäß: Denn mag sie auch (die Durance)
eine große Menge Wasser führen, schiffbar ist sie nicht. Auch kann man in dem
eben gelesenen Satze: Quis Latonam mecum comparabit, cum ego quatiuordecim
liberos habeam, dem lateinischen Geiste entsprechend übersetzen: wo ich doch
14 Kinder habe; aber die konsequente Durchführung der angedeuteten Aufgabe
bedarf einer besonderen Schulung.
Mag es auch oft nicht angängig erscheinen, die intime Logik des einen Gebietes
dem Schüler nahe zu bringen, so kann doch die gewonnene Erkenntnis für ein anderes
Gebiet befreiend wirken. Das gilt z. B. für den Konjunktiv in Konsekutivsätzen.
Er entspricht so wenig unserem Sprachgefühl, daß selbst ein sehr gewandtes und
anpassungsfähiges Denken sich nur schwer in die fremde Erscheinung hinein-
findet. Denn für uns ist die Folge eines Ereignisses genau so wirklich wie seine Ur-
sache: „Der Sturm war so stark, daß die Bäume zerbrachen". Setzt der Lateiner
im Folgesatz den Konjunktiv, so heißt das, er stellt ihn unter den Gesichtspunkt
der Möglichkeit, des nur vorgestellten Eintretens, der erst gedachten Wirklichkeit.
Aus dem Gebiet der reinen Objektivität rückt er die Folge in das der subjektiven
Vorstellung oder Erwartung. Aus dem konjunktivisch-unselbständigen Wesen
des WZ-Satzes ergibt sich, daß der Schwerpunkt auf dem Hauptsatz liegt, der Neben-
satz nur den Wert der erwarteten oder bestätigten Möglichkeit hat. Von einem
potentialis der Erwartung zu sprechen, wie R. Methner es tut, ist deshalb sehr
empfehlenswert. Der Nebensatz hebt eine Erscheinung hervor, die in der Ent-
faltungskraft des Hauptsatzes beschlossen liegt. Diese wissenschaftliche Wahr-
heit bekundet sich dem eindringenden Denken, namentlich wenn noch der Ein-
fluß der künstlerischen Entwicklung der Sprache stärker berücksichtigt wird.
Eine ausgezeichnete Bestätigung findet sich zum Beispiel in Ciceros stilistischem
Meisterwerk pro Sestio 41 : tanta fuit moderatio hominis, tantum consilium, ut con-
tineret dolorem neque eadem se re ulcisceretur, qua esset lacessitus, sed illum
tot iam in funeribus rei publicae exsultantem ac tripudiantem vinculis legum, s i
p 0 sset , CO nstr inger et. An diese Erkenntnis kann wohl der reifere Schüler
Neuhumanistische Unterweisung im Lateinunterricht. 71
bei besonders günstigen Fällen herangeführt werden, z. B. bei dem von Methner
zitierten Satz: tanta vis probitatis est, iit eam vel in hoste diligamus, in den das vel
einen kondicionalen Sinn hineinträgt (wir möchten sie wohl gar am Feinde lieben,
falls sie uns dort begegnete). Und ebensogut erklärbar sind: Ita multa Romae
geruntur, ut vix ea, qiiae jiimt in provinciis, audiantw. Ita natus, ita educatus est,
ita f actus et animo et corpore, ut multo appositior ad ferenda quam au ferenda esse
videatur. Auch an einem Satze wie: Hostes ita perterriti sunt, ut nemo resistere
änderet kann man den Unterschied der Denkweise aufzeigen. Der Deutsche hebt
die Tatsächlichkeit hervor: niemand wagte; der Lateiner: niemand dürfte noch
gewagt haben, sich zu widersetzen.
Indessen muß eine konsequente Durchführung solcher Erklärungen abgelehnt
werden. Eigentlich wertvoll wird aber die gewonnene Einsicht für die Erklärung
einer Gruppe von Relativsätzen. Sagte man früher, der Konjunktiv in den Relativ-
sätzen, die sich anschließen an Redensarten wie sunt, non desunt, reperiuntur,
quotusquisque est, rechtfertige sich durch die Tatsache, daß er eine „Folge'* aus-
drücke, so war das eine jener formalen Erklärungen, die eine Erscheinung auf
eine andere zurückführen, die selbst der Begründung bedarf. Auch hier ist der Kon-
junktiv der Potentialis. Non is sum, qui meiu mortis terrear heißt: Ich bin nicht
der Mann, der sich (gegebenenfalls) durch Todesfurcht erschrecken ließe. Meine
Eigenschaften tragen nicht die Möglichkeit einer Todesfurcht in sich. In demCicero-
nianischen Satz: qui se ultra morti offerant, facilius reperiuntur quam qui dolorem
patienter ferant wird eine Gattung von Leuten vorgestellt, die e t w a die genannten
Eigenschaften haben könnte. Ebenso steht es mit dem Konjunktiv nach dignus,
apius, idoneus, qui: Dignus sum, cui fides habeatur. Und nicht anders verhält es
sich mit den Konjunktiven in den Relativsätzen kausaler und konzessiver Art;
magna vis veritatis, quae contra hominum ingenia facile se ipsa defendat! Der Ge-
danke des Relativsatzes heißt: Sie möchte, dürfte sich wohl selbst verteidigen
können.
Unser Ziel ist, die Grammatik nicht durch Verstümmelung zu kürzen, sondern
durch Zurückführung des Mannigfaltigen auf die einheitliche Grundlage. Durch
innere Vertrautheit mit dem Wesen der fremden Sprache wollen wir größeres Zu-
trauen erwecken.
Dieses furchtvertreibende Zutrauen zu gewinnen ist auch ein Grund, weshalb
wir schon von der untersten Stufe an Etymologie treiben.
Heutzutage noch von etymologischer Spielerei zu sprechen, wäre ein Beweis
von Unkenntnis der großen Werte, welche die Wissenschaft der letzten Jahrzehnte
hier geschaffen hat. In Frankreich, wo früher das Epigramm kursierte:
Alfana vient d'equus, sans doute;
Mais il faut avouer aussi
Qu'en venant de lä fusqu'ici
II y a bien change sur la route.
wird jetzt nicht minder großes geleistet als in England, von dem z. B. Bradleys
Müking of English zu uns gekommen ist. Bei uns sind immer noch die handlichsten
Bücher die Lexika von Vanicek und Walde.
72 A. Stahl.
Schon von der untersten Stufe an treiben wir Etymologie mit völlig wissen-
schaftlicher Begründung, in dreifacher Hinsicht: Die Wurzelbedeutung mit ihrer
sinnlichen Vorstellung wird gelernt, Gruppen nach gemeinsamen Stämmen
werden gebildet, die Verwandtschaft der Sprachen untereinander, soweit sie in
den Bereich der Erfahrung tritt, wird gezeigt.
Macht der Novize gleich die Bekanntschaft einer Anzahl mit den deutschen
gleicher oder verwandter Wörter, wie Anna, Carolas, pater, insula, bestia, porta
(Portal), modus (Mode), metallum, mare (Marine), familia etc., so löst sich in seiner
Seele das freudige Gefühl aus, nicht ganz in terram incognitam zu wandeln.
Möglichst selbsttätig soll er bald lernen, den einheitlichen Stamm zusammen-
hängender Wörter zu suchen und regelmäßige Ablaute anzumerken: rex, regina,
rego, regio, rectus; rogus, rogare. — Aditus, exitiis, reditus, transitus, initium, seditio,
comes, miles, nauta (navita) , contio, comitium, funditus, caelitus etc. Nicht nur Ge-
dächtnisstützen werden so gewonnen, auch der deutsche Stil wird dadurch ver-
bessert. Zu den größten Geschmacklosigkeiten z. B., die wir aus dem Lateinischen
herübergenommen haben, gehören unstreitig die Appositionen: Ich als dein Freund,
Cicero als Knabe, ich als dein Begleiter. Durch Auflösung eines Wortes in seine
Bestandteile wird oft eine glückliche Hilfe geschaffen. Wie steif klingt der Vers
aus Horaz (Epoden I, 17): comes minore sum futurus in metu, qui maior absentes
habet in der Übersetzung: „Als dein Begleiter werde ich in geringerer Furcht leben",
um wie viel gefälliger durch Analyse des comes: Geh ich mit dir, wird meine Angst
geringer sein, die durch die Trennung stärker wird usw.
Dem menschlichen Geiste gerecht werden, der überall hinter der Erscheinung
die konkrete Speise der Phantasie sucht, heißt die Wege der Etymologie wandeln.
Hinter dem spröden Wortlaut erhebt sich die sinnliche Vorstellung, das Bild mit
seinem buntfarbigen Schimmer. Mag immer das Wort nicht das Bild selber sein,
nie völlig im Spiegel sich das Gespiegelte zeigen, mag Rückert recht haben:
Nie dem Gespiegelten entspricht der Spiegelglanz,
Nie dem Versiegelten das äußere Siegel ganz —
für den Schüler ist das hervorstechende, namengebende Merkmal das Moment,
das seine Phantasie erfaßt und das dem unlustigen Geiste die glückliche Kraft des
Gedächtnisses gibt. Lebendige Intuition ist die Sehnsucht des menschlichen Geistes.
Apis das Stacheltier, collis die Erderhebung (cel, columen), tumulus die Schwellung,
adulari mit dem Schweif wedeln, sedulus ohne Betrug tätig, percontari mit der
Ruderstange sondieren, sind wertvollere Begriffe als Biene, Hügel, schmeicheln,
emsig, erforschen. Früher wurde gelernt sagax = scharfsinnig, und natürlich stand
dann der Schüler hilflos vor einer Stelle wie Tacitus' Germania 10: proprium gentis
equorum quoque praesagia ac monitus experiri. Jetzt lernt er „ahnend, witternd",
und weiß, daß das Wort eine unmittelbare Naturkraft, das geheimnisvolle Fühlen
der Seele bezeichnet, das mit dem logischen Denken nichts zu tun hat. Saga, sagana
ist die Zauberin, und Wildenbruch hat in einem Vers das Vermögen der germani-
schen Rosse umschrieben:
Grau-Fuß und Blau-Fuß, die Rosse wert,
Zaubergabe war ihnen beschert:
Neuhumanistische Unterweisung im Lateinunterricht. 7ä
Künftige Dinge, allen verborgen,
Dinge der Freude, Dinge der Sorgen,
Kündeten sie mit menschlichem Munde,
Wenn die Julzeit kam, in nächtlicher Stunde.
Was für das einzelne Wort gilt, wird nicht minder für die Wortverbindung in An-
spruch genommen. Phrasen lernen zu lassen, ohne das Umdenken zu vollziehen
von der fremden, lebendig erweckten Vorstellung in die der eigenen Sprache, ist
im neuen Kurs ein methodischer Elementarfehler. Dabei wird von dem fort-
schreitenden Schüler auch mit starker Inanspruchnahme seines logischen Denkens
Erkenntnis und Verständnis für die Widersprüche in der fremden Wortverbindung^
verlangt. Um das immer zu rügende c o n vocare zu vermeiden, ist bei contionem
advocare darauf hinzuweisen, daß contio schon ein einheitliches Ganze ist, das nur
herangerufen zu werden braucht. Es heißt copias castris continere, weil castra Umr
Schließung heißt {qat, cassis = Sturmhaube). Tumultum, seditionem, superbiam
sedare heißt Aufruhr, hochfahrenden Sinn, zum Sitzen bringen; pugnam detrectare
den Kampf wegziehen, wir: ablehnen. Ineunie vere unterscheidet sich von hieme
inita (nach Beginn) durch die völlig andersartige Vorstellung. Jenes heißt:
wenn der Frühling ins Land kommt, im letzteren ist der Winter das Land, das
selbst betreten ist. Dem oblivione obrui liegt die Vorstellung eines Steinhaufens
zugrunde, unter dem wie im Grabe das Dunkel des Vergessens liegt. Es heißt
ordiri a b aliqua re, weil das Gespinst von einem Punkt aus begonnen wird. In-
iuriam, hostem ulcisci heißt „rächend bestrafen". Meint die ängstliche Stilistik,.
es sei stets zu sagen : occupatum esse in aliqua re = mit etwas beschäftigt sein,
so ist daran festzuhalten, daß occupare „in Anspruch nehmen" heißt, z. B. vita
occupata- das Ursprüngliche also ist occupari aliqua re, wie Livius schreibt. Erst
durch die gleiche Sachvorstellung mit versari in aliqua re ist / n gebräuchlicher
geworden. Liest der Schüler Livius XXI, 32, 13: angustias evadere und ein paar
Zeilen später periculo evadere, so ist darauf aufmerksam zu machen, daß die Kon-
struktion von effugere oder relinquere infolge gleicher Sachvorstellung eingewirkt
und den Akkusativ statt des ursprünglichen Woher-Kasus eingeführt hat. Be-
sondere Schwierigkeit bereiten auch die mit Präpositionen zusammengesetzten
Verben des Sehens, wenn sie transitiv gebraucht werden, daher ist klarzustellen:
prospicio mare ich sehe in der Ferne {pro) das Meer, suspicio astra ich sehe die Sterbe
von unten her.
Die Konstruktion: dubito, an hoc verum s/7=das wird wohl wahr sein —
erklärt sich durch die Bedeutung des Verbums, zwischen zwei Ansichten (utrunt
— an) hin und her schwanken und das Resultat, das in der Hinneigung zur zweiten
Meinung besteht.
Die Notwendigkeit der Heraufbeschwörung der sinnlichen Vorstellung ist
psychologisch begründet. Ein Wortkomplex, zum Aneignen gegeben, begegnet
bestenfalls Gleichgültigkeit, meist der Unlust. Mit Erregung der Phantasie weckt
die bildliche Erklärung Teilnahme und Freude. Die neue Erkenntnis, getragen
von den Begleitmomenten der frohen Gefühle, wird jetzt erst zum geistigen Besitz,
und das neugewonnene Bild zum Spiegel für die vorhandene Vorstellung der Mutter-
sprache. Im Spiegel der fremden Sprache wird die eigene neu erworben.
74 A. stahl, Neuhumanistische Unterweisung im Lateinunterricht.
Läßt man lernen: timor me occupat, terrorem alicui inicere, so wird man einen
gesicherten Besitz nur erreichen, wenn man erklärt, wie dem antiken Denken zu-
folge die Affekte gewappneten Scharen gleich über uns herfallen und uns in Besitz
nehmen, oder wie die Eindrücke der Umwelt Brandfackeln gleichen, die ins Haus
geworfen werden (Cic. Disp. Tiisc. I, 19,44: quomque corporis facibus inflammari
sokamus ad omnes fere cupiditates). Bei occupare möchte ich noch bemerken, daß
,,ob" im alten Latein auch die Bedeutung 'circum' hatte und daß danach obtinere,
occupare^ oblino u. a. zu erklären sind.
Der Unterschied der Vorstellung in desperare salutem und de salute desperare
ist klarzustellen. Jenes heißt aus dem Gebiet der Hoffnung die Rettung fallen
lassen, dieses die Hoffnung selbst aufgeben inbetreff einer Angelegenheit. Das
Avird von Sekunda an, womöglich graphisch illustriert. Das erstere ermöglicht die
Konstruktion des Ablativus absoluius salute desperata sowie den Akkusativ mit
dem Infinitiv: Liv. XXI, 30, 1 1 : cepisse quondam Gallos ea, quae adiri posse Poenus
äesperei. Keinesfalls darf im Lexikon stehen: desperatus = „von dem man alle
Hoffnung aufgegeben hat", sondern „der von der Hoffnung Verstoßene" = de-
iectus spe. Dem desperare aliquid entspricht spe deicere, depellere^ deturbare, dem
desperare de das spem abicere, deponere de aliqua re. Die Sprache interpretiert sich
selbst.
Wie durch das Verschmelzen zweier Vorstellungen oft eine neue Bildung ent-
steht, die offenkundig unlogisches Gepräge trägt, ist wiederholt zu zeigen. In
gratiam redire cum aliquo ist entstanden aus in gratiam alicuius redire -h alicui
gratia est cum aliquo, — die Bewegung und ihr Erfolg ist verschmolzen. Mihi in
mentem venit alicuius, gewöhnlich durch Auslassung von memoria erklärt, erhält
seinen Genitiv durch die sachliche Einwirkung von memini. Desipere mentis ist
desipere -i- mentis expertem esse; animum advertere aliquid = sentire; in dicto audi-
entem esse alicui gilt der Verbalbegriff einheitlich = parere. Sehr schwierig war
aqua et igni, foro alicui interdico. Die Phrase ist eine unbewußte Verschmelzung
von interdico tibi aquam et ignem und prohibeo (oder intercludo) te aqua et igni, foro.
Sie ist ein Produkt der pietätvollen, doch auf das Sinnfällige gerichteten Volksseele.
Das 'interdico' durfte nicht fehlen, denn es war die Erinnerung an den feierlich-
sakralen Akt, die in dem Worte nachklingt; aber mehr als das Wort bedeutet die
Wirkung des Spruches, die in dem ablativus separationis 'foro', 'aqua et igni'
zu ihrer Geltung kommt, und mit dem unwillkürlich die Erinnerung an prohibeo
mitklingt. Solche und ähnliche Bildungen sind kein Akt der wägenden Schrift-
sprache, sondern das elementare Resultat des Schwankens zwischen zwei gleich
wertvollen und gebräuchlichen Ausdrucksweisen, die gleichzeitig im Bewußtsein
erscheinen, um den Vorrang ringen und endlich in ihrer Vereinigung den Sieg eines
Kompaktes darstellen, mit den Mängeln und Vorzügen eines solchen (vergl.
H. Ziemer, Junggrammatische Streifzüge). Auch Luther hat gedichtet: er hilft
lins frei aus aller Not — und meinte: er hilft uns aus der Not und macht uns frei.
Ich hoffe, daß obige Ausführungen den Beweis liefern, daß der Sinn unserer
aufblühenden Bewegung trotz aller Wissenschaftlichkeit ganz auf das Praktische
F. Kuhlmann, Über die Notwendigkeit einer Reform des Schreibunterrichts. 75
gerichtet ist. Noch reiten wir nicht St. Jörgs Roß, unter dessen Hufen die Blumen
sprossen, doch wissen wir, daß jeder Fortschritt durch Rückkehr zur Natur der
Sprache bedingt sein wird.
Wesel. Arthu r Stahl.
Über die Notwendigkeit einer Reform des Schreibunterrichts.
Als höchstes Lob für die durch die menschliche Hand geschriebene Schrift
prägte die Zeit, in der wir heute Alternden das Schreiben erlernten, das Wort:
,,wie gestochen !". Eine Schrift „wie gestochen" zu lehren, galt dem Schreib-
meister als seiner Mühen letztes Ziel; „wie gestochen" schreiben können, wurde
dem Schüler als Ideal vorgehalten. Heute dürfte es im allgemeinen noch genau so
sein.
Schon die Anwendung dieses Wortes als ein Lob für die von Menschenhand
geschriebene Schrift bekundet deutlich, auf wie grundfalschen Wegen sich unser
Schreibunterricht und unser Schriftgeschmack befinden, beweist, daß die krasseste
Unnatürlichkeit als erstrebenswert erachtet wird. Denn ein Werk von Menschen-
hand ist doch nur dann natürlich, wenn es sich als solches ehrlich und deutlich gibt,
und so ist denn die Schrift des Menschen eben auch nur dann als natürlich anzu-
sehen, wenn sie eine von geistigen Kräften und Impulsen geleitete schreibende
Menschenhand und zugleich die Wirkung des Schreibwerkzeuges erkennen läßt.
Auch nur das kann als Handschrift schön genannt werden, was wirklich wie durch
die Hand und das Schriftwerkzeug geschrieben aussieht, nicht das, was
als Geschriebenes „wie gestochen" erscheint, und wäre es an sich noch so schön und
vollkommen. Deshalb darf die gestochene, jedes menschlich persönlichen Ausdrucks
ermangelnde Schrift, die der Lithograph und Kupferstecher mit der Graviernadel
in die Metallplatte oder den Stein gruben, nicht wie bisher Vorbild für das Schreiben
sein. Dadurch, daß man die gestochene Schrift dazu machte und die Schüler zwang,
diese (in den Schulheften oft direkt vorgedruckte) Schrift nachzubilden, und zwar
mit der spitzen Stahlfeder, mit der man sie überhaupt nicht schreiben kann, wurde
im Schreibunterricht unserer Schulen die Unnatürlichkeit in Reinkultur aufgezogen.
Es kann von niemand geleugnet werden, daß die Normalduktusform unserer
Buchstaben, die unsere Schreibhefte enthalten, zum größten Teile nicht ohne
Vergewaltigung der Feder und der Hand, durch unnatürliche Drehung, erzeugt
werden können. Der Kundige weiß weiter, daß die gestochenen Buchstaben von den
Stechern und Schriftkünstlern (besser gesagt: Schriftverderbern) ganz willkürlich
umgestaltet worden sind und zu allermeist in einem starken Gegensatz stehen zu
den durchaus persönlichen und werkzeuggemäßen Formen, die wir in den wirk-
lichen Handschriften der früheren Zeiten finden. Deshalb dünkt den in
das Schriftwesen tiefer Eingedrungenen mit Fug und Recht
die heutige Grundlage des Schulschreibunterrichts in mehr
als einer Beziehung unnatürlich.
Wenn wir die Schrift nehmen als das, was sie ihrem Wesen nach ist, als ein
persönliches Ausdrucksmittel des Menschen, dann erscheint es nicht minder unnatür-
76 F. Kuhlmann,
lieh, in einem Normalduktus einer ganzen Provinz, einer Gesamtheit von vielen
Tausenden, den gleichen Ausdruck aufzuzwingen. Daß die meisten sich später nach
Laune und Geschmack von diesem Zwange frei machen, mindert die pädagogische
Sünde nicht, zeigt aber die volle Unnatürlichkeit und Unzweckmäßigkeit der Ein-
richtung. Es ist selbstverständlich notwendig, im ersten Unterricht an eine über-
lieferte Form (die in gewissem Sinne dann auch einen Duktus darstellt) anzuknüpfen.
Diese Ausgangsform muß aber einfach und natürlich, d.h. vor allem werkzeuggemäß
sein. Diesen Anforderungen entspricht aber, wie schon gesagt, der heutige Duktus
nicht. Aus wichtigen Gründen muß im Laufe der Zeit dem Schüler nicht nur ge-
stattet sein, sich von dieser Ausgangsform frei zu machen, nein, es muß mehr und
Besseres geschehen: er muß behutsam und mit Geschick im Unterricht selbst
angeleitet werden, aus dieser unpersönlichen Normalform heraus sich eine eigene,
mehr kultivierte persönliche Schrift zu gestalten. Nur so kann die Schrift der deut-
schen Nation, die eine Entwicklung durchgemacht hat wie keine andere, zu noch
höherer Vollendung geführt werden. Der heutige Schreibunterricht mit seinem
in Volks- und Mittelschulen bis in die höchste Stufe durchgeführten Normalduktus,
sieht die Schrift als etwas Feststehendes, Totes an und unterbindet ihre Entwick-
lung, während sie etwas Lebendiges, Veränderliches, Wachsendes ist, das jeder ein-
zelne, besonders aber die Schule, als eines der bedeutsamsten Kulturgüter des Volkes
zu mehren berufen ist.
Unsere Schriftkenner sprechen die Überzeugung aus, daß die bisherige Behandlung
der Schrift nicht nur zu einem Rückgang, sondern zu einem Verfall geführt hat,
daß abgesehen von der Verwilderung der Handschrift auch der einst vorhandene Sinn
für Schriftschönheit und Schriftcharakter, ja für das gesamte Schriftwesen selbst
in den gebildeten Kreisen geschwunden ist. Um zu erkennen, was wir verloren haben,
ist es nicht einmal notwendig, erst die alten kunstvoll geschriebenen Urkunden ein-
zusehen. Ein Blick in das rein volkstümliche Schriftwerk des abgeschlossenen
Jahrhunderts genügt dazu. Vor mir liegen mehrere Stammbücher aus Bürger-
familien des vorigen Jahrhunderts. Welch feines Empfinden für Form und Anordnung
der Schrift ist darin niedergelegt. In noch viel höherem Grade sehe ich es vor mir
in den drei Stammbüchern eines Leipziger Studenten, die ich im Altonaer Museum
fand. Heute gilt schlechte Schrift und saloppe Anordnung als Attribut der Gelehr-
samkeit, und die Schüler unserer höheren Schulen sind früh bestrebt, sich dieses
äußere Zeichen „zuzulegen". Zu jener Zeit war es sichtlich anders. In unseren Tagen
wird nur der absichtsvoll arbeitende Schriftkünstler die Buchstaben so geschmack-
voll gestalten und die Schrift so schön ornamental wirkend ordnen, wie es um die
Mitte des 18. Jahrhunderts etwa 100 deutsche Gelehrte in diesen Büchern absichts-
los und aus innerem Bedürfnis getan. Man kommt sich gegenüber so beredten Zeugen
einer dahingegangenen Schriftkultur, die sichtlich nicht nur einigen wenigen, sondern
ganzen Kreisen des Volkes eigen war, als ein Barbar vor. Das Gefühl für Schrift-
schönheit war allgemeiner und feiner zu jener Zeit, da nur ein Teil des Volkes des
Schreibens kundig war, als heute, wo es Allgemeingut ist. Heute findet es sich auch
in den Kreisen der Gebildeten nicht mehr. Das ist sicherlich ein nicht zu verteidigen-
des Mißverhältnis.
Selbstverständlich weiß ich wohl, daß die Eile und Unruhe unserer Zeit-, ganz
über die Notwendigkeit einer Reform des Schreibunterrichts. 77
besonders aber die Vermehrung des Schreibwerl<s auf allen Gebieten zur Vernichtung
der Schriftkultur und zur Verwilderung der Handschrift beigetragen haben und
gewissermaßen beitragen mußten, aber ich meine: um so größer die Gefahren waren,
um so mehr hätte von selten der Schule geschehen müssen, diesem Verfall ein Boll-
werk entgegenzubauen. In der Art ihres Schreibunterrichts hat die Schule aber
nach meinem Gefühl eher an dem Verfall mitgearbeitet. Sicherlich liegt heute aller
Anlaß dazu vor, unsern gesamten Schreibunterricht — ich denke bei all meinen
Ausführungen stets an die Schule im allgemeinen, nicht etwa nur an die höhere —
zu reformieren und zugleich unsern Geschmack in bezug auf die Gestaltung der
Schrift selbst wesentlich zu ändern und zu verbessern. Die Arbeiten unserer mo-
dernen Schriftkünstler bieten Gelegenheit und reichen Stoff dazu.
Die Schulverwaltung besonders auch der höheren Schulen hat in mancherlei
Beziehung der Schrift ihre Aufmerksamkeit zugewandt. Sehr deutlich beweist die
Bestimmung, daß auch den Abiturienten eine Zensur über ihre Schrift ins Leben mit-
begeben werden soll, wie großen Wert sie auf die Schrift legt. Leider ist diese wohl-
gemeinte Anordnung nicht fähig, an der Schriftmisere etwas zu ändern. Aber sie
ist geeignet, die nächstbeteiligten Kreise zu der Überzeugung zu führen, wie groß
die auf diesem Gebiete waltenden Unnatürlichkeiten und Widersprüche sind, und
zu der Erkenntnis, daß dieselben zu Verwirrungen, Konflikten, gelegentlich auch
zu ungerechter Beurteilung führen müssen. Für die Zeugnisabgabe über die Schrift
der Abiturienten fehlt es nämlich heute an den höheren Schulen überhaupt an
einem gleichmäßigen, ja, im Grunde an einem gerechten Maßstab. Die Urteile, über
die Schrift eines Abiturienten differieren nicht selten zwischen 1 — 4, je nachdem der
eine Beurteiler den Normalduktus, der andere das persönlich Charaktervolle der
Schrift, also das strikte Gegenteil, als das Richtige und Höchste ansieht. Man einigt
sich dann wohl auf eine 3 und wird somit keiner Seite gerecht. Eine Norm, nach
der die Schrift zu messen ist, gibt es nicht. Wenn auch das Getühl der Wertung
der persönlichen Schrift in den Kreisen der höheren Schule sehr stark und verbreitet
ist, so besteht doch auch die Beurteilung nach dem Normalduktus voll zu Recht
und darum ist die Zeugnisabgabe über die Schrift jedem Zufall preisgegeben. Des-
halb ist jene wohlgemeinte Bestimmung für die Gestaltung der Schrift prak-
tisch fruchtlos. Die dargelegten Unnatürlichkeiten und Widersprüche, die auf dem
Gebiete des Schriftwesens heute herrschen, können nur auf die Gefahr hin weiter
bestehen, einen immer tieferen Verfall der Schrift herbeizuführen. Die Notwendig-
keit einer Reform des gesamten Schriftwesens der Schule ist um so dringlicher,
je mehr das Schreibwerk durch die neuen Bestimmungen über die schriftlichen
Arbeiten anwachsen wird. Der Verwilderung der Schrift kann nur dadurch Einhalt
getan werden, daß die persönliche Gestaltung nicht dem Schüler selbst, nicht seinen
Launen und seiner Neigung zum Grotesken, wie bisher, überlassen bleibt, sondern
daß er in zweckmäßiger Weise im ordentlichen Schreibunterricht zur Entwicklung
und Befestigung derselben geführt wird. Das wird natürlich im innersten Wesen
ein ganz anderer Unterricht, wie er bisher war, werden müssen; denn es handelt sich
nicht mehr um Einübung einer von außen an den Schüler herangebrachten fertigen
Form, sondern um eine aus dem Inneren entstehende, durch individuellen Ge-
schmack, Hand und Werkzeug gemeinsam beeinflußte persönliche Formenge-
7S F. Kithlmann, Über die Notwendigkeit einer Reform des Schreibunterrichts.
staltung. Sie erfordert vom Lehrer ebensoviel pädagogisches Geschick wie psycho-
logische Beobachtungsgabe und künstlerisches Urteil, ein weises Zurückhalten
und ein tiefes Empfinden für die Gestaltungsäußerungen des Kindes. Da wird
das Schreiben wieder zu einer Kunst und der Unterricht, bisher nur eine mechanische
Einübung konventioneller Formen, zu einem Kunstunterricht und damit zu einem
bedeutungsvollen Bildungs- und Erziehungsfaktor werden. Ein solcher Schreib-
unterricht würde in seinem Verlaufe sich mit dem Wesen des modernen Zeichen-
unterrichts eng berühren, ja mit ihm gleiche Ziele verfolgen.
Diese Wesensgemeinschaft des zu schaffenden Schreibunterrichts mit dem
Zeichenunterricht ist es denn auch, die mich als Zeichenlehrer veranlaßt, ihm mein
Interesse zuzuwenden, und trotzdem ich kein zünftiger Schreiblehrer bin, das
Wort in dieser Angelegenheit zu nehmen. Eine Befugnis, über die Reform des
Schreibunterrichts bescheiden ein Wort mitzureden, dürften mir die speziellen,
mehrere Jahre lang angestellten praktischen Untersuchungen und daraus ge-
wonnenen Erfahrungen geben, die ich vom Zeichenunterricht aus in der Richtung
unternahm, aus dem Duktus und der persönlichen Handschrift der Schüler heraus
eine rein persönliche dekorative Schrift zu entwickeln. Diese Übungen auch un-
mittelbar auf das Gebiet der Gebrauchsschrift auszudehnen, stand mir als Zeichen-
lehrer nicht zu. Wichtig genug aber sind die Erfahrungen, welche ich in der an-
gegebenen Richtung sammelte, und sie erscheinen mir bedeutsam zur Lösung der
auf dem Gebiet des eigentlichen Schreibunterrichts aufsteigenden Fragen; denn der
Weg, den ich mir bahnte, ist im Wesen derselbe, den der Schreibunterricht wird
gehen müssen. Auf Grund der Erfahrungen, die ich auf diesem Wege sammelte,
bin ich überzeugt, daß eine schulmethodische Entwicklung der persönlichen Hand-
schrift aus einer einfachen und werkzeuggemäßen Grundform heraus möglich
und erfolgreich sein wird. Von der dekorativen Schrift aus bin ich weiter zu der
Erkenntnis gekommen, daß eine zweckmäßige und intensive Pflege dieses Ge-
bietes im Zeichenunterricht eine wesentliche Hilfe leisten kann, um der Verwilderung
der Schrift im allgemeinen entgegen zu arbeiten; denn aus der nach künstlerischen
Gesetzen gestalteten dekorativen Schrift heraus, kann der Schüler am sichersten
die Fähigkeit gewinnen, auch seine Gebrauchsschrift den Bedingungen des guten
Geschmacks gemäß selbst zu gestalten.
Es wird durchaus nötig sein, das glaube ich besonders betonen zu müssen,
auch die äußere Gestaltung der Schulhefte im allgemeinen einer gründlichen Re-
vision in der Richtung des guten Geschmacks zu unterziehen, weil sie heute durch
ihr meist geschmackloses Aussehen den Schüler zu gleich geschmackloser Schrift
verleiten, ja reizen. Es ist z. B. völlig verlorene Liebesmühe, eine geschmacklos
umrandete und mit der Reklame des Buchbinders verunstaltete Schuletikette,
wie wir sie auf vielen Schulheften finden, durch Schrift geschmackvoll auszuge-
stalten. Erlaubt nicht nur, sondern erwünscht sollte es sein, da, wo die schriftliche
Arbeit des Schülers die Anwendung einer dekorativen Schrift gestattet, z. B. in
der Überschrift, sie auch zu verwenden,*) Unbedingt gefordert sollte sie da werden.
*) Ich denke dabei nicht an eine mühsam herzustellende Zierschrift (Gotisch
oder Fraktur), sondern an eine schnell schreibbare dekorative Handschrift, wie die
meisten meiner Schüler sie sich selbst aus ihrer Gebrauchsschrift entwickelten.
VV. Wetekamp, Bessere Ausnutzung unserer Schulhöfe und Spielplätze im Winter. 79
wo das Schulheft sie direkt verlangt: auf der Etikette.*) Durch Beachtung der
äußeren dekorativen Schriftgestaltung an den besonders hervorstechenden Stellen des
Schulheftes wird der Schüler ganz unwillkürlich dazu kommen, auch auf die Formung
und Anordnung seiner Gebrauchsschrift innerhalb des Heftes mehr wie bisher zu
achten. Welchen Einfluß schon die äußere Gestalt des Papiers auf die Schrift und
den Schüler hat, können wir im Schulleben oft genug feststellen. Man denke nur
an die beklemmende Wirkung, die der große weiße Bogen auf die Prüflinge ausübt.
Daß der Schreibunterricht allein, und sei er der beste, der Misere abzuhelfen fähig
wäre, glaube ich nicht. Nur dann wird sich eine Wendung zum
Besseren erhoffen lassen, wenn der Schrift im allge-
meinen, auch durch das geschmackvolle Beschriften
aller im Schulleben gebrauchten Hefte und anderer
Ding e**), eine andere und bedeutungsvollere Rolle als
bisher zugewiesen wird. Eine Belastung der Schüler liegt darin sicher
nicht. Es darf vielmehr behauptet werden, daß die Schüler im allgemeinen sehr
gern freiwillig dekorativ schreiben. Sie werden es vor allen Dingen dann noch lieber
tun, wenn ihr Bemühen auch von Seiten ihrer wissenschaftlichen Lehrer Beachtung
und Anerkennung findet. Damit wäre ein gut Stück praktischer Geschmacks-
erziehung ohne viel Mühe geleistet.
Im allgemeinen liegt, das sei noch hinzugefügt, die Sache der persönlicherr
Schriftgestaltung in den höheren Schulen günstiger als in den Volks-, Mittel-
schulen und Seminarien, weil der verbindliche Schreibunterricht hier am frühesten
aufhört. Um so größer ist aber auch die Gefahr der Verwilderung der Schrift an
diesen Schulen.
Der Hauptzweck dieser Zeilen war, eine wichtige, heute brennend gewordene
Frage in Fluß zu bringen. Auf Einzelheiten einzugehen verbietet der Mangel
an Raum.
Altona. FritzKuhlmann.
Bessere Ausnutzung unserer Schulhöfe und Spielplätze
im Winter!
Es ist erfreulich, zu sehen, wie das Verständnis für den Wert körperlicher
Bewegung in freier Luft durch Spiel und Sport immer weiteren Boden gewinnt.
Überall sucht man für hinreichend große Turn- und Spielplätze bei den Schulea
und gesondert von ihnen zu sorgen. Überall werden neben den Turnstunden an
den Schulen Spielnachmittage eingerichtet, an denen die Schüler sich unter Auf-
sicht ihrer Lehrer den verschiedenen Turnspielen, volkstümlichen Übungen usw.
hingeben können, und selbst die Gerätübungen, die besonders auf das Hallenturnen.
hindrängten, werden immer mehr ins Freie verlegt.
*) Hier könnten auch die wirkungsvolleren Buchschriften, wie Kapitalschrift^
Gotisch, Fraktur usw. zur Verwendung kommen.
**> z. B. der Stundenpläne.
^0 W. Wetekamp, Bessere Ausnutzung unserer Schulhöfe und Spielplätze im Winter.
Leider aber gilt das alles fast ausschließlich für den Sommer. Im Winter jedoch,
wo die Bewegung in freier Luft erst recht not tut, da die kurzen Tage längere Aus-
flüge, wie sie im Sommer leicht möglich sind, verhindern, liegen unsere Spielplätze
mehr oder weniger brach.
Woran liegt das? Die Temperatur ist, abgesehen vom Januar und Februar —
und auch da nicht immer — im allgemeinen bei uns im Winter nicht so niedrig,
<iaß nicht im Freien gespielt werden könnte. Noch vor ganz kurzer Zeit sah ich
manche unserer Schüler sich in Hemdsärmeln an den Spielen beteiligen. Nicht
das Klima, sondern die kurze Tagesbeleuchtung trägt die Schuld.
Bis vor wenigen Jahrzehnten, solange wir in der Beleuchtung auf Petroleum-
oder offene Gasflammen angewiesen waren, war es allerdings unmöglich, für ge-
nügende Beleuchtung zu sorgen, man mußte sich wohl oder übel mit Beginn des
Winters in die Turnhallen zurückziehen; heute aber, im Zeitalter des Gas- und
Spiritusglühlichts und der Elektrizität kann das frühe Einbrechen der Dunkelheit
kein Hindernis mehr sein.
: Leider aber haben Gewöhnung und das auch hier herrschende Beharrungs-
vermögen trotz des guten Beispiels der Eisbahnpächter in den größeren Städten
uns davon abgehalten, auf den Turn- und Spielplätzen den Kampf gegen die Dunkel-
heit durch Anbringung geeigneter Beleuchtungskörper in genügendem Maße auf-
zunehmen. An einzelnen Stellen freilich ist schon ein Anfang gemacht. So richtet
seit zwei Jahren die Stadt Schöneberg bei Berlin jährlich auf einigen geeigneten
Schulhöfen ausreichende Beleuchtung ein und wird damit fortfahren, bis alle Schul-
höfe, die für das Spiel in Frage kommen, damit versehen sind. Und der Erfolg
beweist, daß von der Möglichkeit, auch im Winter körperliche Bewegung. im Freien
^u üben, eifrig Gebrauch gemacht wird.
Ich sagte oben, daß die Temperatur bei uns im Winter gewöhnlich nur kurze
Zeit so niedrig ist, daß das Spiel im Freien unterbleiben muß; aber gerade, wenn
das der Fall ist, bietet sich eine weitere Gelegenheit, die Schulhöfe für die körper-
liche Bewegung im Freien dienstbar zu machen. Ich denke an den schönsten, über-
all leicht zu ermöglichenden Wintersport, das Schlittschuhlaufen.
Angeregt durch das Vorgehen des Vereins ,, Volkswohl'' in Leipzig, der seine
^, Spielwiese" imWinter in eineEisbahn umwandeln läßt, habe ich schon vor mehreren
Jahren unter sehr ungünstigen Verhältnissen mehrere Male einen Versuch damit
gemacht, den Schulhof in eine Eisbahn zu verwandeln, die den Schülern zur Ver-
fügung gestellt wurde. Trotz der ungünstigen Vorbedingungen war der Erfolg
jedoch befriedigend genug, um zu einer Fortsetzung zu ermuntern. Äußere Um-
stände und die milden Winter der letzten beiden Jahre zwangen mich, zunächst
davon Abstand zu nehmen, seit über acht Tagen aber konnte ich zu meiner Freude
den Versuch unter günstigeren Bedingungen wiederholen — der größte Teil des
Schulhofes, etwa 900 qm, standen für den Zweck zur Verfügung — und der Er-
folg ist durchaus zufriedenstellend, denn die Eisbahn wird eifrig von den Schülern
benutzt. Eine Anzahl von ihnen läßt keine der 15 Minuten dauernden Pausen
vergehen, ohne sich wenigstens einige Minuten auf den Schlittschuhen umher-
zutummeln. Ferner tritt der Eislauf an Stelle von Turnstunden; es wird damit
besonderer Begeisterung Eishockey gespielt, sicher eine gesunde, den Körper kräftig
A. Tilmann, 81
durcharbeitende Übung. Nachmittags von 3 — "^j^ Uhr steht die Eisbahn dem
Schülerausschuß zur Verfügung, der die Benutzungszeit unter die verschiedenen
Klassen verteilt; jede Klasse kommt an drei Nachmittagen auf die Eisbahn.
Schmale Streifen zur Seite der Schlittschuhbahn stehen zum „Schlittern" zur
Verfügung. Die Aufsicht wird von den Mitgliedern des Schülerausschusses geführt,
die das Recht haben, unbotmäßige Elemente zu entfernen, von diesem Recht aber
glücklicherweise — wie das wohl vorauszusehen war — bisher keinen Gebrauch
machen brauchten. Die Tätigkeit des Schülerausschusses bei einer solchen Ge-
legenheit wird sicher zur Stärkung der Einrichtung der Schülerselbstverwaltung
beitragen. Selbstverständlich wird auch von schlittschuhlaufkundigen Mitgliedern
des Kollegiums von Zeit zu Zeit nach dem Rechten gesehen; aber im wesentlichen
soll die Aufrechterhaltung der Ordnung der Schülerverwaltung überlassen bleiben.
Die Kosten der Anlage und Unterhaltung sind sehr gering. Für die Fläche
von etwa 900 qm genügen jetzt, seitdem die Eisbahn einige Tage im Betrieb ist,
3 — 4 cbm Wasser für das täglich einmalige Besprengen. Am ersten Tage waren
vier, an den beiden folgenden Tagen zwei Besprengungen nötig. Dazu kommt der
Lohn für einen Arbeiter oder eine Vergütung für den Schuldiener oder Heizer,
wenn diese die Instandhaltung übernehmen. Die abendliche Reinigung und Be-
sprengung erfordert etwa zwei Stunden Zeit.
Ich glaube übrigens, daß an Orten, wo etatsmäßige Mittel für den Zweck
nicht vorhanden sind, die Schüler gern ein Scherflein zur Deckung der Kosten
beitragen oder gar selbst die Instandhaltung der Eisbahn übernehmen werden.
Jedenfalls kann ich nach meinen Erfahrungen nur dringend empfehlen, im
Interesse der Freiluftkörperbewegung auf eine ausreichende Beleuchtung der Schul-
höfe hinzuarbeiten und da, wo natürliche Eisbahnen nicht ausreichend zur Ver-
fügung stehen oder nicht bequem und rasch zu erreichen sind, auf den Schulhöfen,
Turn- und Spielplätzen künstliche Eisbahnen anzulegen. An Zuspruch wird es
ihnen wahrlich nicht fehlen und ihre Einrichtung wird ein wichtiges Glied sein
können in der Reihe der gerade in der letzten Zeit mit Recht so sehr betonten
Bestrebungen zur Förderung einer gedeihlichen Jugendpflege.
Schöneberg. W. W e t e k a m p.
I. Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des
römischen Rechts. — II. Die Anfängerkurse im Griechischen
für Studierende der Juristischen, Medizinischen und der Philo-
sophischen Fakultät.
1. Im Sommersemester 1911 haben an den Kursen zur sprachlichen Ein-
führung in die Quellen des römischen Rechts an den preußischen Universitäten
im ganzen 264 Studierende, alle Studierende der Rechte teilgenommen. Das Reife-
zeugnis eines Gymnasiums hatten 58, eines Realgymnasiums 146, einer Oberreal-
schule 59, Zeugnisse anderer Schulen 1. Preußen waren 228, Deutsche aus anderen
Bundesstaaten 30, Ausländer 6. Von den Studierenden der Rechtswissenschaft
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg." 6
82 Kurse.
standen 60 im ersten Semester, 26 im zweiten, 33 im dritten, 30 im vierten, 60
im fünften, 24 im sechsten, 20 im siebenten, 7 im achten, 1 im neunten, 3 im elften.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer wie folgt: Berlin
92, Bonn 41, Breslau 13, Göttingen 11, Greifswald 15, Halle 9, Kiel 32, Marburg 28,
Münster 23.
Im Wintersemester 1911/12 haben an diesen Kursen im ganzen
308 Studierende teilgenommen. Davon studierten 303 Rechtswissenschaft, 1 klassi-
sche Philologie, 2 neuere Philologie, 2 Staatswissenschaften. Das Reifezeugnis
eines Gymnasiums hatten 55, eines Realgymnasiums 175, einer Oberrealschule 76,
anderer Schulen 1. Preußen waren 280, Deutsche aus anderen Bundesstaaten 25,
Ausländer 3. Von den 303 Studierenden der Rechte standen 39 im ersten Semester,
56 im zweiten, 21 im dritten, 61 im vierten, 34 im fünften, 63 im sechsten, 14 im
siebenten, 11 im achten, 2 im neunten, 1 im zehnten und 1 im elften.
An die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer wie folgt: Berlin
137, Bonn 53, Breslau 15, Göttingen 14, Greifswald 15, Halle 13, Kiel 5, Königs-
berg 6, Marburg 25, Münster 25.
n. Im Sommersemester 1911 haben an den Anfängerkursen im Griechischen
für Studierende der Juristischen, Medizinischen und Philosophischen Fakultät
auf den preußischen Hochschulen im ganzen 194 Studierende teilgenommen, da-
von 52 Juristen, 3 Mediziner und 139 Angehörige der Philosophischen Fakultät.
Von letzteren studierten klassische Philologie 4, neuere Philologie 62, Deutsch 46,
Gexhichte 20, Mathematik und Naturwissenschaften 4, sonstige Fächer 3. Von
den Teilnehmern der Kurse hatten 2 das Reifezeugnis eines Gymnasiums, 137
eines Realgymnasiums, 30 einer Oberrealschule und 25 Zeugnisse anderer Schulen.
Preußen waren 178, Deutsche aus anderen Bundesstaaten 13, Ausländer 3, Von
den 52 Studierenden der Rechte, die den Kursus besuchten, standen im ersten
Semester 10, im zweiten 6, im dritten 11, im vierten 9, im fünften 7, im sechsten 3,,
im siebenten 2, im achten 3, im elften 1.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer an diesem Kur-
sus wie folgt: Berlin 82, Bonn 8, Breslau 22, Göttingen 29, Greifswald 5, Kiel 17,
Königsberg 9, Marburg 13, Münster 9.
Im W i n t e r s e m e s t e r 1911/12 haben an diesen Kursen im ganzen 223
Studierende teilgenommen, davon 63 Juristen, 3 Mediziner und 157 Angehörige
der Philosophischen Fakultät. Von letzteren studierten klassische Philologie 8,
neuere Philologie 73, Deutsch 45, Geschichte 9, Mathematik und Naturwissen-
schaften 9, Staatswissenschaften 2, sonstige Fächer 11. Von den Teilnehmern der
Kurse hatten 13 das Reifezeugnis eines Gymnasiums, 165 eines Realgymnasiums,
29 einer Oberrealschule, 1 eines Progymnasiums und 15 von Lehrerseminaren.
Preußen waren 191, Deutsche aus anderen Bundesstaaten 27, Ausländer 5. Von
den 63 Studierenden der Rechte, die den Kursus besuchten, standen im ersten
Semester 15, im zweiten 15, im dritten 8, im vierten 10, im fünften 6, im sechsten 7,
im siebenten 1 und 1 im neunten.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer an diesem Kursus
wie folgt: Berlin 116, Breslau 39, Göttingen 16, Greifswald 14, Kiel 15, Königs-
berg 3, Marburg 10, Münster 10.
Groß-Lichterfelde. A. T i 1 m a n n.
A. Tilmann, Statistisches über das Frauenstudium. 83
Statistisches über das Frauenstudium.
Im Wintersemester 1911/12 studierten an den preußischen Universitäten
2892 Frauen. Im Wintersemester 1910/11 waren es 2639. Auf die Fakultäten
verteilen sie sich wie folgt:
1911/12 1910/11
Theologische Fakultät 43 41
Juristische „ 23 17
Medizinische „ 329 325
Philosophische „ 2497 2256
Von den 2892 im Wintersemester 1911/12 studierenden Frauen waren 1986
immatrikuliert, die übrigen 906 als Gastzuhörerinnen zugelassen. Die 1986 im-
matrikulierten verteilen sich auf die Fakultäten wie folgt:
Theologische Fakultät 11
Juristische ,, 18
Medizinische ,, 312
Philosophische ,, 1645
Groß-Lichterfelde. A. Tilmann.
6=«=
IL Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Lateinische Grammatiken und Übungsbücher.
Hoffmann, Übungsbuch zum Übersetzen aus dem Deut-
schen in das Lateinische für Primaner. I.Teil: Text,Vu.
95 S. II. Teil: Grammatisch-stilistische Bemerkungen
und Wortkunde. 132 S. Berlin 1910. Weidmannsche Buchhandlung,
geb. 3,20 M.
Es gibt keine bessere Verteidigung unseres nur allzu oft angegriffenen Unter-
richts in der lateinischen Grammatik und der daraus sich ergebenden Übersetzungen
in die fremde Sprache und zugleich keine bessere Unterstützung und Hilfe für
die, die diesen Unterricht am Gymnasium zu erteilen haben, als wenn berufene
Leute an praktischen Beispielen zeigen, in welchem Sinne und mit welchen Resul-
taten sie diese Aufgabe lösen. Zu den Berufenen gehört der Verfasser des vorliegenden
Übungsbuches. Wir verdanken ihm schon den weitblickenden, das Problem in
mustergültiger Weise behandelnden Bericht auf die der siebzehnten Direktoren-
Versammlung in den Provinzen Ost- und Westpreußen vorgelegte Frage: Emp-
fiehlt es sich, in der schriftlichen Reifeprüfung am Gymnasium die Übersetzung
in das Lateinische durch eine Übersetzung aus dem Lateinischen zu ersetzen?
(Band 78 der Verhandlungen der Direktoren-Versammlungen, Weidmannsche
Buchhandlung 1907), auf den hingewiesen zu werden gerade in diesen Wochen,
wo man mehr als sonst Veranlassung hat, diese Fragen bei sich durchzudenken,
vielleicht mancher dankbar empfinden wird; er hat in der Beilage zum Inster-
burger Programm 1906 einen ausführlichen Lehrplan des Lateinischen für das
damals unter seiner Leitung stehende Gymnasium und Realgymnasium veröffent-
licht; wären die darin gegebenen Anregungen und Vorschriften Allgemeingut
geworden, uns wäre manches erspart geblieben. Auch in seinem Übungsbuch ver-
tritt er seine Überzeugung, daß die Übersetzungen ins Lateinische nicht nur zur
Befestigung des grammatischen Wissens als der unerläßlichen Vorbedingung für
das Verständnis der Lektüre zu dienen haben, sondern sich als ein selbständiger
Zweig der Gesamtaufgabe des lateinischen Unterrichts angliedern und zu wissen-
schaftlichen Arbeiten anleiten sollen. Scharfes Beobachten, klares konkretes Vor-
stellen, logisch richtiges Denken sollen sie lehren; es gilt einmal, die Sache klar
F. Boesch, Lateinische Grammatiken und Übungsbücher. 85
zu erfassen und dann für die richtig erfaßte Sache den bestmöglichen Ausdruck
zu finden, nicht, mit grammatischen Einzelheiten den Schüler zu Fall zu bringen
oder Worte wiederzugeben. Es ist Schopenhauers Auffassung vom Übersetzen:
,, Daher kann man sehr selten eine bedeutende Phrase aus einer neueren Sprache
wörtlich ins Lateinische übersetzen; man muß den Gedanken von allen Worten,
die ihn jetzt tragen, gänzlich entblößen, daß er nackt dasteht im Bewußtsein,
ohne alle Worte, wie ein Geist ohne Leib; dann aber muß man ihn wieder mit einem
neuen, ganz anderen Leibe bekleiden, in den lateinischen Worten, die ihn in ganz
anderer Form wiedergeben. . . . Die Verwaltung solcher {xstsja'J^u^^ojoi? befördert
das wirkliche Denken." Zugleich aber soll der Schüler überall darauf hingewiesen
werden, daß der Unterschied des sprachlichen Ausdrucks auf den Unterschied
der Völker und ihres Charakters hinweist. La langue c'est la nation, wie Max C. P.
Schmidt das bekannte Wort erweiterte. Die Stoffe, an denen alles das gelernt wird,
sollen aber auch inhaltlich einen Wert haben; sie sollen die fremdsprachliche Lek-
türe begleiten oder ergänzen und wie die Resultate des grammatischen Unter-
richts so die der Lektüre in einer höheren Einheit zusammenfassen.
So sollen auch Hoffmanns Texte zur Einführung in das Geistes- und Kultur-
leben der Alten beitragen. Daß dazu die charakterisierende Anekdote besonders
geeignet, hebt er mit Recht hervor. Die Vorlagen sind vielfach Klassikern und
Neulateinern entnommen und bieten einen durchaus befriedigenden und ange-
messenen, von allzu modernen Wendungen freien Text; dazu kommen Stücke
aus deutschen Schriftstellern über Stoffe aus der alten Welt. Stücke anderen
Inhalts glaubte er ausscheiden zu sollen. Vielleicht wäre ein oder das andere Stück,
etwa aus Schiller oder Lessing, von manchem ganz gern gesehen. Es findet sich dort
manches Geeignete und nicht zu Schwere. Und selbst ein Goethe freute sich, sein
Gedicht Hermann und Dorothea in einer lateinischen Übersetzung wiederzusehen.*)
Vielleicht ist der Verfasser bei einer neuen Auflage bereit, zur leichteren Orientierung
ein Inhaltsverzeichnis und ein Verzeichnis der zugrunde liegenden Stellen hinzu-
zufügen. Alles findet man nicht ohne weiteres; aber wo ich das Original gefunden,
habe ich auch durch Vergleichung der Abweichungen, die überall auf die Frage
nach dem Warum? der Änderung führt, gelernt.
Leicht sind die Stücke nicht, zum Teil recht schwer. Als Vorlagen für un-
vorbereitete schriftliche Übersetzungen können sie nicht dienen; sie erfordern
angestrengteste Arbeit, nicht am wenigsten auch vom Lehrer.
Die notwendigsten Hilfen gibt der zweite Band. Sie bestehen sehr selten in
der Angabe der erforderlichen Übersetzung, meist in Selbständigkeit fordernder,
zum Denken anregender Anleitung. Die Wortkunde will an bezeichnenden Bei-
spielen zur Erfassung der mannigfachen Bedeutungen eines Wortes und der Wahl
des gerade angemessenen Ausdrucks anleiten. Darf ich ein paar Kleinigkeiten
aussetzen, so würde ich pag. 4 den Ausdruck über dubito an ändern, da der Sinn
der ganzen Wendung doch positiv ist, und drei Zeilen weiter das Komma nach
ingenium meum streichen, pag. 6 beim Attribut den abl. qualit. hinzufügen, pag. 9
*) cf. seine treffende Bemerkung über die lateinische Sprache in dem Brief an
L. F. Schultz vom 8. Juli 1823.
86 F. Boesch,
A. 9 weniger apodiktisch fassen, pag. 87 ist arcte wohl ein Drucl^fehler. Bequemer
zu benutzen wären die Anmerkungen, wenn sie nicht mit fortlaufenden Zahlen
versehen wären, sondern die Nummer immer der Zahl der Zeile des deutschen
Textes entspräche. Recht oft regt sich der Wunsch, zu wissen, wie der Verfasser
diesen oder jenen Ausdruck wenden und den Gedanken ausdrücken würde; so
würde ich es mit Freuden begrüßen, wenn er sich, was er im Vorwort schon andeutet,
zur Herausgabe der Übersetzung entschließen könnte.
Ganz andere Ziele verfolgt:
Geist, Übungsstücke zum Übersetzen ins Lateinische
für Oberklassen. Im Anschlüsse an Cicero und Tacitus.
Gießen 1910. Emil Roth. I. D e u t sc h e r T e i 1. VIII u. 189 S.; II. L a t e i -
nischerTeil. VIII u. 142 S. je 2 M. bei Einführung geb. je 2 M.
Der Verfasser gibt 156 kürzere Paraphrasen kleinerer, genau bezeichneter
Abschnitte aus Cicero (pro Arch., pro Lig., pro Deiot., pro Milone, Verr. IV,
Phil. I u. II, Briefe) und Tacitus (Agric. Germ. Annal. I u. II), deren vorhergehende
eingehende Behandlung im Unterricht er voraussetzt. Er hat alle als Vorlagen
zu Klassenarbeiten — zum Teil auch für die Reifeprüfung — erprobt. Die Bei-
fügung des lateinischen Textes erschien ihm wünschenswert, war aber nicht gerade
nötig. Das Vorwort sagt, er sei in enger Verbindung mit dem deutschen Text
entstanden; er hätte vor ihm da sein sollen, dann wäre wohl der Ausdruck oft ein-
facher und der Satzbau übersichtlicher geworden. Das möchte man auch dem
deutschen Text öfters wünschen. Natürlich ist der lateinische Text grammatisch
korrekt; daß andere Formen der Übersetzung möglich sind, bezeichnet das Vor-
wort selbst als selbstverständlich. Es ist eine gute stilistische Übung, die gegebene
Paraphrase kritisch durchzusehen und dann das Original aufzuschlagen.
Helm-Michaelis, Lateinbuch fürOberrealschüler. Mit4Tabellen.
Leipzig 1910. B. G. Teubner. II u. 46 u. 93 u. 16 S. geb. 2,20 M.
Das Buch ist eine Vereinigung der bisher getrennt erschienenen Bücher
„Volkslatein'* von R. Helm und „Lateinische Satzlehre" (ver-
kürzte Ausgabe) von G. Michaelis, veranlaßt durch den Wunsch an Oberreal-
schulen tätiger praktischer Schulmänner. Um eine äußerliche Einheit herzustellen
— nur um eine solche konnte es sich handeln — sind dem ersten Teil die Genus-
regeln und eine Tabelle der sogenannten unregelmäßigen Verba, beiden deutsche
Übungssätze beigefügt worden. Auf die Reimregeln, die selbst in den unteren
Gymnasialklassen nur als „crustula blandorum doctorum'' ihre Rolle spielen dürfen,
würde man bei einem für reifere Schüler bestimmten Buche gern verzichten. Soll
der Primaner „Verse" lernen, wie „Nicht immer auf die Endung schau! Der Mann
bleibt Mann, die Frau bleibt Frau, und Fluß und Wind sieht man als Mann, doch
Baum und Stadt als weiblich an. Neutral ist stets — das halte fest! — was sich
nicht deklinieren läßt"?, abgesehen davon, daß die „Regel" für die Städte wirk-
lich nicht stimmt. Die Übungssätze wollen — sagt das Vorwort — nur praktischen
Zwecken dienen und keinen Anspruch auf wertvollen Inhalt erheben. Dazu ver-
gleiche man etwa p. 34 Z. 11: „durch die mütterlichen Tränen wird deine Wild-
heit erobert werden" oder p. 35 Z. 4: ,,wenn du die fröhlichen Wiesen und die lieb-
lichen Gärten sehn wirst, so wirst du durch das erfreuliche Schauspiel bewegt
Lateinische Grammatiken und Übungsbücher. 87
werden". Ganz andere Art zeigen übrigens die dem zweiten Teile hinzugefügten
Sätze. Der Unterricht, für den dies „Volkslatein" bestimmt ist, verfolgt ja seine
besonderen, von denen des Gymnasiums und auch des Realgymnasiums sich weit
unterscheidenden Zwecke, so unterdrücke ich manches durch meinen gymnasialen
Standpunkt veranlaßte Bedenken, auch ist das Buch ja eigentlich für andere
als Schulkreise bestimmt gewesen. Reifere Schüler werden es hoffentlich als ihrer
wenig würdig empfinden, wenn ihnen in einem — nicht etwa dem ersten — Stück
von 32 Zeilen fünfmal gesagt wird, daß que = et, oder viermal, daß qui = welche
ist, um ein paar Beispiele aus vielen herauszuholen, daß ihnen bis zum letzten
Stück jedes Prädikat durch den Druck hervorgehoben wird, daß man ihnen bis zum
Schluß nicht zutraut, sich wiederholende Formen wie duxit (viermal), wie cepit
und Composita (fünfmal) usw. selbständig abzuleiten, und der an der römischen
Literatur gebildete Lehrer wird sicher bedauern, nicht Stücke behandeln zu können,
die seinem Schüler zugleich eine Ahnung von dem Geiste lateinischer Sprache
geben.
Der zweite Teil enthält in knappster Form das Notwendige aus der Satzlehre.
Besonders gelungen erscheinen mir die Abschnitte über den Gebrauch der Tempora
in Hauptsätzen und über die lateinischen Perioden. Bei einer neuen Auflage
kann vielleicht § 9 (Beispiel) arma durch tela ersetzt werden, § 5 erweitert, § 10
verkürzt, § 23 Caiiis in Gaius verändert werden, § 106 die Anmerkung eine andere
Fassung erhalten und § 107 eine Notiz über die unpersönlichen Ausdrücke hinzu-
gefügt werden.
Wartenberg, Vorschule zur lateinischen Lektüre für Re-
form schulen, Oberrealschulen und Studienanstalten.
1. Auflage, bearbeitet von Bartels. Hannover IQU. Norddeutsche Verlags-
anstalt. IV u. 245 S. geb. 2,80 M.
Es ist die siebente Auflage, die dieses Buch erlebt, dessen frühere Auflagen
auch in der Monatschrift schon angezeigt sind; es sollte also eigentlich wohl nicht
noch einer besonderen, etwas übertrieben anmutenden Empfehlung durch den
Verlag bedürfen. Die Änderungen beziehen sich auf Unwesentliches. Hinzugefügt
ist lateinischer und deutscher Übersetzungsstoff zur Einübung der Pronomina,
Komparation, Adverbia, Numeralia und des Acc. c. Inf.; die dritte Deklination,
die Abschnitte über den Infinitiv und die indirekte Rede sind mehr zusammen-
gefaßt, und — das Wichtigste und Wünschenswerteste — ein Gesamtverzeichnis
ist an die Stelle der bisher nach Wortarten getrennten Wörterverzeichnisse ge-
treten.
Daß sich reifere Schüler mit seiner Hilfe in einem Jahre die Formenlehre und
die Grundzüge der Syntax so weit aneignen, daß sie mit der Cäsarlektüre beginnen
können, bezweifle ich nicht, aber auch nicht, daß es noch besser und vor allem
an besserem Stoffe geschehen könne. Die Fassung der Regeln ist doch noch häufig
unübersichtlich und wenig korrekt, manch guter Ansatz ist nicht recht durchge-
führt; ob die nicht einmal konsequent angewandte Übersetzung der grammati-
schen Termini die Sache erleichtert, bezweifle ich, von allem anderen abgesehen.
DerWoher-, Wovon-, Womit-, Warumfall (füge hinzu: Worin-
88 F. Boesch,
und Wodurchfall), die Zeit der Vollendung in der Leide-
form usf. haben für mich alles gegen sich.
Der Übersetzungsstoff wird erst gegen Ende in den zusammenhängenden
Stücken befriedigend. Oft wiederholen sich gewisse, nicht einmal gute Ausdrücke,
manchmal hat der Verfasser selbst das Bedürfnis, durch ein ut ita dicam einen
stilistisch gewagten Ausdruck zu entschuldigen. Aber es bleibt genug des nicht
Entschuldigten und nicht Entschuldbaren, wo es sich nicht um die Arbeit eines
Schülers sondern eines „Meisters" handelt, die jenem zum Muster dienen soll. Quo
semel est imbuta recens servabit odorem iesta diu. Auf Einzelheiten hier und
im deutschen Texte kann ich nicht eingehen; aber wie will man reifere Schüler
durch die oft so entsetzlich wässerigen Sätze moralisierenden Inhalts interessieren?
Gefallen hat mir — abgesehen von der Überschrift — die Zusammenstellung von
Stamm gemeinschaften von Wörtern zur Wiederholung
(auch auf höherer Stufe). Das ist etwas für reifere Schüler und kann
erweitert werden.
Das führt mich zu:
Hartmanii, Die Wortfamilien der lateinischen Sprache.
FürdenSchulgebrauchzusam mengestellt. Bielefeld und Leipzig
1911. Velhagen & Klasing. VI u. 437 S. geb. 2,80 M.
cf r. Hartmann, Die Aneignung des lateinischen Wort-
schatzes. Monatschrift X, p. 359 ff. und dazu Matthias, Vokabel
lernen, ib. X, 498 ff., wie immer in praktischen Fragen allgemeiner Zustimmung
sicher.
Der Verfasser geht von den richtigen Gedanken aus, daß fruchtbare Lektüre
ohne Vokabelkenntnis nicht betrieben werden kann, daß Vokabeln systematisch
gelernt werden müssen, daß es darauf ankommt, diese Arbeit möglichst schmack-
haft und zugleich geistig bildend zu machen. An Stelle des Einprägens der Vokabeln
nach begrifflichen Gruppen führt er nun konsequent das etymologische Prinzip
durch; er stellt also die Vokabeln zusammen nach Gruppen, in denen der Bedeu-
tungszusammenhang an dem gleichen Wortstamm eine Stütze findet. Vokabel-
lernen nach Wortfamilien lautet die Parole. Sein Buch bringt nun den Wortschatz
der Hauptschulschriftsteller nach solchen Familien geordnet. Angegeben werden
die Grundbedeutungen und die wichtigsten übertragenen Bedeutungen, Kon-
struktionen und Verbindungen fehlen; denn das Buch soll Lexikon und Grammatik
nicht überflüssig machen, sondern deren richtigen Gebrauch fördern. Innerhalb
der einzelnen Familien ist, nicht immer ohne Willkür, die alphabetische Reihen-
folge angewandt; sie läßt zwar das gesuchte Wort leichter finden, trennt aber allzu-
oft eng Zusammengehörendes. Auf die Geschichte eines Stammes und seiner Ab-
leitungen ist nicht eingegangen: Altes und Neues steht durcheinander. Durch den
Druck ist Wichtiges von Unwichtigerem ^anterschieden.
Das Buch bietet wirklich eine höchst interessante und nützliche Zusammen-
stellung, die man gern und nie ohne Anregung zur Hand nimmt, auch wo man,
wie bei so reichem Stoff nicht anders möglich, widersprechen muß. Ich wüßte
nicht, wo man die Familien so bequem und vollständig zusammenfände.
Daß sein Prinzip, auf den Unterricht angewandt, wesentlich zur Steigerung
Lateinische Grammatiken und Übungsbücher. 89
des Interesses, zur Schärfung der Aufmerksamkeit und des Verständnisses, zur
Stütze des Gedächtnisses beiträgt, und zwar schon auf den untersten Stufen, ist
unbestreitbar; daß die andere Art des Lernens dabei nicht vernachlässigt werden
darf, nicht minder. Zunächst wird doch an der Hand der Lektüre oder des Übungs-
buches ein großer Stamm von Vokabeln angeeignet werden müssen, ehe diese ver-
bindende und verknüpfende Tätigkeit einsetzen kann, und nachher erfordert die
Rücksicht auf die Lektüre und die schriftlichen Arbeiten eine Ergänzung nack
sachlichen Gesichtspunkten. (Es fehlt da allerdings ein gutes Hilfsmittel.) Werden,
aber von Anfang an die Bedeutungen und die Funktionen der hauptsächlichsten
wortbildenden Präfixe und Suffixe gezeigt, so ergibt sich vieles von selbst. Und
ich möchte, ich könnte sagen, daß niemand heute die Bedeutung der Komposita
anders lernen oder vielmehr finden ließe.
Aber so gesund das Prinzip des Buches, gegen seine praktische Verwendbar-
keit habe ich ernste Bedenken. Der Verfasser hat es in erster Linie bestimmt für
Studienanstalten und seine Universitätskurse, hofft aber, daß es auch an den
Gymnasien und zwar schon von Hl an benutzt werden kann. Aber um daraus
Vokabeln lernen zu lassen, ist es viel, viel zu ausführlich, und für die Vorbereitung^
auf die Lektüre enthält es zu wenig. Der Verfasser hat eben doch zwei verschiedene
Dinge mit einander verbinden wollen: Vokabular und Präparation. In HI jeden-
falls ist das Sprachgefühl und der Sprachschatz des Schülers viel zu gering, als
daß er das Buch zum Auffinden eines ihm nicht bekannten Wortes benutzen könnte.
Ich habe bei manchem Not gehabt. Für unsere Zwecke wäre ein um viel kürzeres
Buch, das wenige Beispiele enthielte, diese aber in systematischer Ordnung durch-
führte, und zugleich auf die Hauptgesetze der Bildung hinwiese, wertvoller ge-
wesen. Ich habe diese Gedanken mit einer Reihe von Praktikern besprochen und
fand sie auch ausgesprochen in einer mir vom Herausgeber freundlich zur Verfügung;
gestellten nicht gedruckten Besprechung des Buches durch E. Klages (Hannover),
der an den Beispielen von sapere und sanus gut nachweist, wie die Artikel hätten
geordnet sein müssen.
Aber jedenfalls sind wir dem Verfasser für die nachdrückliche Anregung,,
die er uns gegeben, zu lebhaftem Danke verpflichtet.
Auf Einführung bei uns wird kaum rechnen dürfen:
Haulefy Lateinisches Übungsbuch für die erste Klasse
der Gymnasien und verwandten Lehranstalten. Aus-
gab e B. (f. d. G r a m m a t i k v o n D r. A. S c h e i n d 1 e r). 16. Auflage.
Durchgesehen und nach den neuen Lehrplänen eingerichtet von J. Dorsch und
J. Fritsch. Wien 1911. A. Pichlers Witwe & Sohn. geb. 1 K. 40 h.
Das Buch enthält nur lateinischen und deutschen Übungsstoff und die dafür
nötigen Vokabeln. Die lateinischen Sätze bieten, obwohl die Herausgeber betonen,
das Buch sei leichter geworden, noch zu viel erst für eine spätere Stufe geeigneten
grammatischen Stoff und verraten allzuwenig von stilistischer Genauigkeit und
Verständnis für die Unterscheidung der Synonyma. So steht p. 3 innerhalb einer
Reihe von Sätzen, die man vielleicht einem Schüler hingehen lassen würde, das
, »kostbare": diligentia scientiam pretiosam paramus.
90 F. Boesch, Lateinische Grammatiken und Übungsbücher.
Aus Österreich kommt auch:
Call, Lateinisches Lesebuch. Proben zur römischen
Literatur der Republik und der ersten Kaiserzeit. Für
höhere Klassen an Gymnasien und verwandten Lehr-
anstalten. Erster Teil: Text. geb. 3 K. Zweiter Teil: Kom-
mentar, geb. 1 K. 60 h. Wien u. Leipzig 1911. F. Deuticke.
Ein Vorwort fehlt; so ist nicht zu sehen, welche Zwecke der Verfasser verfolgt
Jiat. Dafür, daß sein Buch nur der Ergänzung der Schriftstellerlektüre dienen
soll, scheint das Fehlen von Horaz, Vergil, Tacitus zu sprechen; aber bei dem Um-
fang und den Schwierigkeiten mancher Stücke wird, will man dies Buch ausgedehnt
benutzen, für anderes wenig Zeit bleiben. Die allgemeine Frage nach der Zweck-
mäßigkeit solcher Zusammenstellungen will und kann ich hier nicht erörtern.
Ich verweise auf die Diskussion über das ganz anders wertvolle Lesebuch von
Wilamowitz. Ich persönlich benutze im Unterricht die Weissenfelssche Auswahl
aus Ciceros philosophischen Schriften, würde aber doch die Lektüre einer zu-
sammenhängenden Schrift vorziehen. Bei der Auswahl des zu Lesenden erfreuen
wir uns ja glücklicherweise weitgehender Freiheit. Leos schöner Vortrag über die
römische Literatur und die Schullektüre (Human. Gymnas. 1910. Heft V u. VI)
gibt wertvolle Richtlinien. Die hier gebotene Auswahl, die auch QuintÜian X
85 — 131, Juvenal III 1 — 322, die gckoxoXoxJvtwoi? und die cena Trimalchionis
(mit Auslassungen) bringt, wird weniger befriedigen, abgesehen von einzelnen
Wunderlichkeiten der Benennung. Der Kommentar gibt das Notwendigste in
knapper Form.
Ganz anders das für Realanstalten bestimmte:
Härder, Lateinisches Lesebuch für Realanstalten.
J.Teil: Text. 132 S. geb. 2 M. II. Teil: Anmerkungen. 79 S.
geb. 1,20 M. Leipzig u. Wien 1911. Freytag u. Tempsky.
Die Prosastücke bieten Abschnitte aus der deutsch-römischen Geschichte:
Cimbern und Teutonenkrieg nach Florus, Caesar d. b. G. I 30 — 54, II 15 — ^28,
IV 1—3, V 8—23, VI 11—28, VII, die Teutoburger Schlacht nach Velleius, Ta-
citus Germ. 1 — 27. Der zweite Teil bringt Stücke aus Ovids Metamorphosen und
Tristien — aus diesen würde ich anderes lieber sehen — einige Gedichte von Catull
und Horaz. Nach einigen Bemerkungen über die benutzten Schriftsteller folgen
als Anhang sehr interessante Abschnitte aus Neulateinern: Baco, Kopernikus,
Gauss, Galvani, v. Guericke, Harvey, wieder mit kurzen Angaben über die Ver-
fasser. Die Stücke sind sehr interessant — was schreibt z. B. Baco für ein elegantes
Latein! — , aber nicht leicht und wohl nur für begabte und interessierte Schüler
geeignet. Mit den Erklärungen wird man nicht immer einverstanden sein;z. B.p. 109
Z. 15; 18; p. 113 Z. 21. In dem Briefe des Kopernikus verlangt eine Reihe von
Stellen weitere Erklärung: p. 114 Z. 21 (posteaque), p. 115 Z. 13 (connectat),
Z. 17 (cuique). Auch Z. 44 (Nicetus) verlangte eine Bemerkung. In dem Schluß-
absatz sollte man auf Erklärungen wie die Z. 25 von ausi fuerint und Z. 33 von
cum gegebene verzichten. Ich weiß nicht, wieweit die Baseler Ausgabe zuverlässig ist;
einige Fehler enthält sie; ist sie es in diesem Stücke, so ist zu konstatieren, daß der
Briefschreiber inconcinn geschrieben hat, aber nicht zu erklären. — Überhaupt ist
W. Lorey, Staatsprüfung usw., angez. von F. Pahl. 91
der Kommentar die schwache Seite des Buches. Hartmann (s. o.) würde ihm
viel Stoff zu seinen Anklagen entnehmen können; ich möchte ihn nicht in den Händen
meiner Schüler wissen. Um anderen das Suchen zu ersparen: in dem Abschnitt
aus Gauss p. 116, Z. 6 ist nach iamdudum praecisione ausgefallen.
Zeit wollen wir den Schülern ersparen, keine Arbeit. Daher zum Schluß noch
eine warme Empfehlung von:
Heitiichen, Kleines lateinisch-deutsches Schulwörter-
buch von Blase u. Reeb. XXIV u. 633 S. Leipzig 1911. Teubner.
geb. 5 M.
Das äußerst handliche und bequeme Buch umfaßt den Wortschatz der
tatsächlich auf Gymnasien und Realgymnasien gelesenen Schrift-
steller; danach fehlen, im Vergleich mit Stowasser, Vergils Bucolica und Georgica,
sind vorhanden Terenz (Adelphi u. Phormio), Plautus (auch Menaechmi u. Miles)
und silberne Latinität nach Opitz- Weinhold. Zufällig vermißte ich zu Ovid milium,
Hirse. Der Druck ist klar und übersichtlich; die einzelnen durch die Verschiedenheit
der Bedeutungen bedingten Unterabteilungen der einzelnen Artikel sind klar zu
erkennen, die verschiedenen Bedeutungen durch einige, markante Beispiele belegt,
unstatthafte Übersetzungshilfen, soweit ich kontrolliert habe, dem Schüler
nicht gegeben. Die Einleitung behandelt die Lautlehre, die Wortbildungslehre,
die Bedeutungslehre. Durch regelmäßige Verweisungen, die im Lexikon auf diesen
Teil gegeben werden, soll der Schüler veranlaßt werden, diesen Teil aufzuschlagen
und sich über Bildung und Ursprung der Wörter Rechenschaft zu geben; daher
sind auch die meist auf Walde beruhenden etymologischen Angaben in diese Ein-
leitung hineingearbeitet. Wenn die Kapitel über die Lautlehre mir etwas unüber-
sichtlich und ausführlich erscheinen und ich bezweifle, ob der Schüler immer der
gegebenen Anregung folgt, so wird vielleicht der zukünftige, m^hr auf sprach-
geschichtlicher Grundlage aufgebaute Unterricht diese meine Bedenken als hinfällig
erscheinen lassen.
Berlin-Wilmersdorf. F. B o e s c h.
b) Einzelbesprechungen:
Lorey, Wilhelm, Staatsprüfung und praktische Ausbildung
der Mathematiker an den höheren Schulen in Preußen
und einigen norddeutschen Staaten. Leipzig 1911. B. G.
Teubner. I u. 118 S. gr. 8'\ geh. 3,20 M.
Ein für die Entwicklung unseres höheren Schulwesens bedeutsamer Zeit-
abschnitt liegt hinter uns: am 12. Juli 1910 ist ein Jahrhundert vergangen, seitdem
durch das Königl. Edikt, das die erste Prüfungsordnung für das Lehramt an den
höheren Schulen Preußens enthält, der vierte akademische Stand, der Oberiehrer-
stand, ins Leben gerufen wurde. Als eine nachträgliche Festschrift zu diesem
Gedenktage bezeichnet W. Lorey seine Abhandlung: Staatsprüfung
und praktische Ausbildung der Mathematiker an den
höheren Schulen in Preußen und einigen nord-
deutschen Staaten, kürzlich als 3. Heft des I. Bandes der auf
92 W. Lorey, Staatsprüfung usw.,
Veranlassung der internationalen Unterrichtskonimission von F. Klein
herausgegebenen Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in
Deutschland erschienen ist. Weitaus den größten Teil der ganzen Dar-
stellung, etwa %, nimmt naturgemäß die Besprechung der wissenschaft-
lichen Ausbildung und der sie regelnden Prüfungsordnungen von 1810,
1831, 1866, 1887 und 1898 ein. Der Verfasser begnügt sich jedoch nicht damit,
alles, was in jenen Verfügungen über die an Mathematiker zu stellenden Anfor-
derungen gesagt wird, so vollständig wie möglich zusammenzustellen und einer
vergleichenden Kritik zu unterziehen, sondern er bemüht sich auch, uns ein Bild
von der Art und Weise der Handhabung der Prüfung sowie ihrer Ergebnisse zu
geben. Daher teilt er wortgetreu den Text verschiedener Prüfungszeugnisse mit,
die aus den oben bezeichneten Zeitabschnitten stammen und von den Prüfungs-
kommissionen der einzelnen Provinzen ausgestellt sind. Noch mehr aber ist er
darauf bedacht, uns einen Einblick in die Verhandlungen zu verschaffen, die den
Änderungen der Prüfungsordnung vorangegangen sind, damit wir einsehen, aus
welchen Erwägungen heraus die neuen Prüfungsordnungen entstanden. Die Tätig-
keit der Mathematikervereinigung, die Arbeiten der Unterrichtskommission der
Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte werden gewürdigt; die Verhand-
lungen auf der Schulkonferenz im Dezember 1890, die auf der Pfingstkonferenz
von 1900, die Göttinger Besprechung im Jahre 1907 werden beleuchtet, und indem
wir so die Kräfte kennen lernen, die für die Gestaltung der Prüfungsordnungen
wirksam sind, erhalten wir ein wertvolles geschichtliches Bild ihres Werdeganges.
Auch die in den 1864 und 1866 zu Preußen gekommenen Gebieten, Hannover,
Schleswig-Holstein, Hessen, Frankfurt a. M., vor ihrer Einverleibung bestehenden
Verhältnisse, ebenso die Prüfungsordnungen in Braunschweig und Mecklenburg
werden in den Kreis der Darstellung hineingezogen.
Besonderes Interesse erweckt der Abschnitt über die Zusammensetzung der
Prüfungskommissionen, in dem die Gegensätze in den Meinungen über die Exa-
minatoren zum Ausdruck gelangen; die dort mitgeteilten Anschauungen Lagardes
dürften nur wenigen bekannt sein und doch die höchste Beachtung verdienen.
Nach einer kurzen Statistik über den Ausfall der Staatsprüfungen, der hin-
sichtlich der Mathematiker die von der statistischen Kommission der Mathematiker-
Vereinigung seit 1905 alljährlich herausgegebene Statistik des mathematischen
Studiums zugrunde liegt, wendet sich der Verfasser der praktischen Ausbildung
der mathematischen Kandidaten zu, die von der Zeit Friedrichs des Großen an
bis in die Neuzeit hinein verfolgt wird, wo sie durch die Bestimmungen von 1890
und 1908 ihre heutige Gestalt in der Ableistung eines Seminar- und eines Probe-
jahres gewinnt.
Ist es an sich schon ein dankenswertes Unternehmen, alle Verfügungen über
die Vorbildung der Mathematiker in geschichtlichen Zusammenhang zu bringen,
so gewinnt Loreys Abhandlung noch besonderen Wert durch das von ihm hinein-
getragene persönliche Moment. Wohl jeder Oberlehrer hat ein Interesse daran,
zu erfahren, wer denn die ersten Männer seines Standes gewesen sind. Gewiß
wird mancher erstaunt sein, wenn er hört, daß der erste, der sich einer Oberlehrer-
prüfung unterzog, kein anderer als der Turnvater Jahn war, doch bedarf die Bc-
angez. F. Pahl. 93
nierkung, daß das Ergebnis der Prüfung nicht sehr günstig war, wohl der erklärenden
Ergänzung, daß Jahn sich damals eigentlich nur pro forma einer solchen Prüfung
unterzog. Seine Aussicht, eine Dozentenstelle an der neugegründeten Berliner
Universität zu erhalten, war nicht in Erfüllung gegangen, und als Ersatz dafür war
ihm eine Oberlehrerstelle am Collegium Fridericianum in Königsberg angeboten.
Die Prüfung, die unter Schleiermachers Vorsitz im April 1810 stattfand, sollte
nur eine Formsache sein, um einer vorläufigen Verfügung zu genügen, die der Chef
der wissenschaftlichen Deputation, Wilhelm v. Humboldt, schon im September 1809
erlassen hatte. Infolge der Prüfung gab man dann Jahn den Rat, sich binnen
einem Jahre „noch der Bildung und Schärfung des philosophischen Sinnes, des
Studiums der alten Sprachen, einer licht- und ordnungsvollen Methode des Unter-
richts und der Geschicklichkeit, zahlreiche Klassen von Schülern in Ruhe und Ord-
nung zu erhalten" zu befleißigen, worauf Jahn in das mit dem Gymnasium zum
grauen Kloster verbundene Seminar für gelehrte Schulen eintrat. Auch die Nach-
richten, die Lorey über den ersten Mathematiker unter den Oberlehrern, Otto
Nordmann, bringt, haben großes Interesse, ebenso wie der Brief, in dem Kummer
seiner Mutter über den Gang seiner Oberlehrerprüfung in Halle berichtet. Daß
der Nestor unter den Lehrern der Mathematik, Schellbach, in der Zahl derer, über
die Persönliches berichtet wird, nicht fehlt, ist wohl selbstverständlich. Wohl
wenige dürften wissen, daß dieser berühmte Leiter des mathematischen Seminars
keine Prüfung für sein Lehramt gemacht, sondern auf Grund des Paragraphen 15 des
Edikts von 1810 angestellt wurde, nach dem es der Sektion für öffentlichen Unter-
richt damals freistand, bei anderweitig bewährter Geschicklichkeit ,,des Subjektes"
von allen in der pädagogischen Laufbahn vorkommenden Prüfungen zu dispensieren.
Die Namen der bedeutendsten Teilnehmer des Schellbachschen Seminars sowie
der unter den mitgeteilten Prüfungszeugnissen stehenden Examinatoren werden
gewiß auch bei vielen persönliche Erinnerungen wecken.
Was schließlich der Abhandlung Loreys noch weiter besonderen Wert verleiht,
ist der Umstand, daß bei aller Objektivität der abgegebenen Urteile doch aus der
ganzen Darstellungsweise die Persönlichkeit des Verfassers uns in sympathischen
Zügen entgegenleuchtet. Er ist nicht der einseitige Mathematiker, der sein Fach
in scharfen Gegensatz zu den sprachlichen Unterrichtsfächern stellt, sondern findet,
wie Eratosthenes, den Titel Philologe auch für sich als höheren Lehrer angemessen.
Wie sehr ihm ein umfangreiches allgemeines Wissen das Haupterfordernis für einen
guten Mathematiklehrer erscheint, zeigt seine Besprechung der Prüfung in der
sogenannten allgemeinen Bildung. Aber er verlangt auch von den Altphilologen
Aufgeben der Einseitigkeit und bedauert lebhaft, daß Mathematik und Natur-
wissenschaften nach der Prüfungsordnung nicht zur ,, allgemeinen Bildung" gehören,
was vielleicht jene Mißachtung der Mathematik zur Folge hatte, die sich eine Zeit-
lang in gymnasialen Kreisen zeigte. Durchdrungen von dem hohen Werte der Mathe-
matik für die gesamte Ausbildung des Geistes, der bedeutungsvollen Aufgabe eines
Mathematiklehrers sich voll bewußt, gibt er unwillkürlich seiner Abhandlung etwas
von dem Gepräge der eigenen Persönlichkeit, wodurch sie an Wert und, bei der
Trockenheit des behandelten Stoffes, auch an Reiz gewinnt.
Berlin. F. Pahl.
94 G. Budde, Aktuelle pädagogische Refornif ragen,
1 . Budde , Gerhard , Aktuelle pädagogische Reform fragen
Langensalza 1910. Julius Beltz. 162 S. S«. 4 M.
2. Budde , Gerhard , Allgemeine Bildung und individuelle
Bildung in Vergangenheit und Gegenwart. Langensalza
1910. Julius Beltz. 240 S. 8^ 5 M.
Der Verfasser hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Fruchtbarkeit auf
pädagogischem Gebiete entfaltet, und nicht ohne einen Anflug von Neid sieht man
auf einen Kollegen, der bei seiner schweren Berufsarbeit zu so umfangreicher Schrift-
stellerei in Tagespresse, Fachzeitschriften, zu Broschüren und selbst voluminösen
Werken Zeit findet. Einigermaßen tröstend ist für den, der nur horis subsicivis
und intermittierend zu den jetzt mehr denn je in starkem Flusse befindlichen Er-
ziehungsfragen seine Stimme abgeben kann, daß der Verfasser nur ein ceterum censeo
kennt und Wiederholungen nicht scheut, die denselben Gegenstand für Fachleute
anders als für Laien behandeln — was mir natürlich fern liegt, zu beanstanden — ,
daß er verstreute Aufsätze zu einem Bande sammelt und endlich seine eigenen
Ansichten durch starke Exzerpte aus Vorgängern, beistimmend oder kritisierend,
stützt. Auch dies fetzte tadle ich so wenig, daß mir vielmehr solche historischen
Stücke auch in den vorliegenden beiden Büchern das Wertvollste zu sein scheinen;
zu bemängeln wäre nur, daß es der Verfasser einem nicht immer leicht macht,
Eigenes von Fremdem zu unterscheiden, und mit seinen Reflexionen nicht zurück-
haltender ist. Sonst sind die Auszüge aus der dem Verfasser wohlbekannten Literatur
geschickt und klar; auch Gegner kommen zu Wort. — Das Leitmotiv der in dem
ersten Bändchen vereinigten Aufsätze schlägt die Einleitung so an: „statt
einseitig intellektueller Bildung gleichmäßige Berücksichtigung aller Geisteskräfte,
und statt der sogenannten ^allgemeinen Bildung* wenigstens für die Oberstufe der
höheren Schulen eine möglichst weitgehende individuelle Bildung." Darum will
der Verfasser zurück zu Herbart (I, 1), darum verlangt er, daß die formale Bildung
höchstens Neben-Ergebnis und nicht Ziel des Unterrichts sei (2) und daß die Fach-
wissenschaft durch gründliche pädagogische Vorbildung ergänzt werde (3); das
Abiturientenexamen will er beibehalten, aber die Wissensstoffe sollen zurücktreten
und die Individualität soll durch weitgehende Kompensationen berücksichtigt
werden (4); die Schullüge möchte er durch eine Pädagogik des Vertrauens be-
kämpft wissen (5); in einer Kritik der Kerschensteinerschen ,, Grundfragen der
Schulorganisation" Erziehung nicht zum Staatsbürger, sondern zur Persönlichkeit,
wozu eine freie Gestaltung des Unterrichts auf der Oberstufe nötig sei (6), wie sie
vor allem Paulsen befürwortet habe (7). Diesen Lieblingsgedanken des Verfassers
führt der erste Abschnitt des zweiten Teiles näher aus. Wie schon Herbart (11, A, 1)
und Ziller (2) der Schülerindividualität ihr Recht werden lassen wollten, daß die
Gegenwart auf Persönlichkeitsbildung dringe und wie diese etwa zu denken sei,
führen, zum Teil unter Ablehnung übertriebener Forderungen moderner Freiheits-
apostel, die folgenden Aufsätze aus (3—5). In welcher Weise sich der fremdsprach-
liche Unterricht Herbarts Forderungen anzubequemen habe, und daß schon Latt-
mann und Mager („eine der markantesten und interessantesten Persönlichkeiten
unter den Methodikern des 19. Jahrhunderts") Gegner des Formalismus und
Grammatismus waren, daß endlich auch auf dem Gebiete der neueren Sprachen
angez. von E. Grünwald. 95
gehaltvolle Lektüre ohne Rücksicht auf Sprechübungen zu wählen und das Englische
auf dem Gymnasium obligatorisch zu machen sei, darüber handelt der zweite Ab-
schnitt (II, B, 1—6). Das Extemporale bildet das Thema der letzten Ausführungen
(II, C, 1—3): der Verfasser hält sie für die Unter- und Mittelstufe für angebracht
(in einer Anmerkung freilich meint er, „er glaube jetzt vielmehr auch ohne sie
auskommen zu können"), für die Oberstufe für entbehrlich. Tabellen von Fehlern
der Extemporalien zweier Semester sollen für die vom Verfasser den Schülern bei
Klassenarbeiten gegebenen Hilfen plädieren. — Das zweite, an das erste oft
anklingende Buch hat ausschließlich die Bewegungsfreiheit in den — zwei —obersten
Klassen zum Gegenstande und beleuchtet sie historisch-kritisch, vom Neuhumanismus
anfangend und über Pestalozzi, Herbart und die Herbartianer, Hegel und Joh.
Schulze bis in die Gegenwart (Paulsen, Matthias, Direktorenkonferenzen) führend;
Berichte über einige Versuche ihrer praktischen Durchführung (Straßburg i. W.,
Elbing, Hannover, Elberfeld) machen den Beschluß. Des Verfassers Vorschläge
liest man S. 143 ff., 213, 239.
Daß zwischen der mystischen Überspannung der Staatsidee bei Hegel- Joh.
Schulze und der schrankenlosen Entfaltung des Individuums bei Nietzsche-Ellen
Key eine goldene Mittelstraße führt, die die Erziehung, wenn weder Allgemeinheit
noch Persönlichkeit zu kurz kommen sollen, gehen muß, gibt auch Budde zu: diese
Mittelstraße zu finden sind heute Philosophen und Pädagogen bemüht. „Mehr
Pflege der Eigenart als Massendrill" (A. Biese), soweit das im Rahmen der Gemein-
schaftserziehung möglich ist, möchten wir Erzieher unter den ersten: man lese auch
die dahingehenden von dem vorsichtigen und maßvollen M ü n c h seiner Zukunfts-
pädagogik angehängten Desiderien. Es ist im großen und ganzen auch gewiß richtig,,
was Paulsen sagt, daß die Schule nicht die Kulturentwicklung schaffe, daß diese
vielmehr außerhalb ihrer Mauern entstehe und daß die Schule ihr zu folgen habe.
Aber man redet oft vom Anpassen an die Kultur und meint Rücksichtnahme auf
Zeitströmungen und Tagesmeinungen, die durchaus keinen Fortschritt bedeuten
und gegen die die Erziehung eher ein Gegengewicht bilden sollte. E u c k e n ,
der Persönlichkeitsbildner, findet für den modernen Altruismus schöne Worte
(vgl. S. 92 in Buddes „A. B.") und warnt eindringlich vor den Gefahren des Indi-
vidualismus, der in Subjektivismus ausarten könne (z. B. ebd. S. 103). Wir werden
uns auch fernerhin damit abfinden müssen, daß „keine Erziehung ohne leiseren,
oder stärkeren Zwang möglich ist" (A. B i e s e), werden, unbeschadet der Indi-
vidualitätspflege, damit das Niveau der Volksbildung nicht sinke und die gebildeten
Stände nicht die Fühlung untereinander verlieren, ihnen auf der höheren Schule
eine möglichst breite Bildungsbasis zu geben fortfahren, auf der sich dann die den
Fähigkeiten und Neigungen entgegenkommende und für das wirtschaftliche Fort-
kommen wichtige Berufsbildung aufbaue. Individualisierung führt bei mittel-
mäßigen und wertlosen Individuen zur Vergeudung von Lehrkräften, starke und
leidenschaftliche müssen durch Eingewöhnung in das Ganze eher vor Übermenschen-
tum und sittlicher Anarchie bewahrt werden — alle vor Einseitigkeit. Nichtsdesto-
weniger hat die Bewegungsfreiheit so gewichtige Fürsprecher, daß man die Versuche
damit fortsetzen möge: es wird hauptsächlich darauf ankommen, daß die Kosten
nicht zu hoch sind (vgl. S. 126 der „A. B."), daß die Schülerzahl der einzelnen
96 G. Budde, Aktuelle pädagogische Reformfragen, angez. von E. Grünwald.
Oruppen nicht zu gering ist (wo bleibt der Wetteifer bei 2—3 Teilnehmern!), daß
keine unlauteren Motive die Auswahl beeinflussen, daß die Einheit der Anstalt nicht
gefährdet werde. Beiläufig: ob unser altphilologischer Nachwuchs den höheren
Anforderungen, die die Selekten an den Lehrer stellen, so ohne weiteres zu genügen
vermag? Wir erwarten auch, daß die freiere Gestaltung des Unterrichts auf der
Oberstufe ihre Spitze nicht gegen die alten Sprachen und das Gymnasium richte,
in dem viele — auch Budde — das Hemmnis jeglichen pädagogischen Fortschritts
sehen. Sollte es sich wirklich mit der Braunschweiger Erklärung nur einen Strick
gedreht haben und der November-Erlaß von 1900 nur eine Etappe auf seinem Todes-
wege sein? Nach S. 186 erhofft der Verfasser das baldige Ende des Gymnasiums.
Daß der P a u 1 s e n der letzten Jahre nicht mehr sein Eideshelfer sein kann, ersieht
er übrigens u. a. aus dessen Braunschweiger Vortrage von 1904, besonders S. 21.
Wie sehr in dem heutigen Sprachunterricht des Gymnasiums die formale Bildung
in den Hintergrund tritt, müßte Budde doch wissen: das Extemporale zu verwerfen,
^eil es sich ausschließlich an den Verstand wende, klingt so, als ob der Schule fortan
Arbeit an der Verstandesbildung nicht mehr zukäme. Wir brauchen es, wie das
wiederholt auch Matthias betont hat, in letzter Linie für die Lektüre; es führt —
und das gerade in den Oberklassen, wo gutes Deutsch in gutes Latein (oder Griechisch)
übersetzt werden soll — durch Vergleichung beider Idiome in die scharfe Erfassung
des Sprachgeistes ein, „ohne die ein wirkliches Erfassen (des fremden Volksgeistes)
nicht möglich ist'* (v. W i 1 a m o w i t z). Dazu genügen die bis U H getriebenen
Klassenarbeiten nicht (gegen S. 123 der „Reformfragen"); und wenn gar, wie Budde
will, der grammatische Unterricht überhaupt in U II aufhört, so kann es sich doch
immer nur um die Elementargrammatik handeln, die aber immer noch gelegent-
licher, und zwar systematischer Auffrischung bedürfen wird. Ein Hinweis auf
die Ersetzung des Extemporales durch die Herübersetzung im Griechischen ist ein
drculus vitiosus: di e können wir uns nur gestatten, weil der lateinische Unter-
richtsbetrieb das grammatische Rückgrat stärkt. Zu leicht gemacht, verfehlen die
Klassenarbeiten ihren Zweck, aber für die Unter- und Mittelklassen zumal befolge
man immerhin eine mildere Praxis: mache sie nicht zu lang und nicht zu schwer,
gebe Hilfen und bewerte sie nicht zu hoch. Eine weitere Gefahr für das Gymnasium
sehe ich in der Einführung neuer Pflichtfächer, wie des Englischen, so wertvoll
Sprache und Kultur des Volkes sein mögen. (Darin allerdings stimme ich Budde
zu, daß ein Abbruch des Französischen in Uli, um das Englische an seine Stelle
treten zu lassen, unzweckmäßig ist: beide Sprachen kämen dabei schlecht weg.)
Es ist eine Rückbildung, wenn man die Lehrpläne der drei höheren Schultypen
mit so viel Lehrfächern und Lehrstoff belastet, daß dadurch ihre als notwendig
erachtete Differenzierung aufgehoben wird, und eine Annäherung des einen Typus
an den andern erstrebt: das ist der Weg zur enzyklopädistischen Einheitsschule. —
Beide Bücher bringen eine Fülle von Material und führen besonders in die päda-
gogischen Hauptströmungen des vorigen Jahrhunderts bequem ein; der Stil hat
Fluß und Farbe, die Ausstattung ist würdig. Die Druckversehen des ersten Bänd-
chens verbessert man leicht (S. 90, Z. 8 1. Verkehrung st. Vorkehrung). Im zweiten
streiche S. 21, Z. 17 „aber", 1. S. 105 englische st. griechixhe, S. 130, Z. 4 v. u.
alle hervorragend Begabten, S. 136 erschrickt st. erschreckt, S. 165 füge die Direk-
G. Budde, Das Gymnasium des 20. Jahrhunderts, angez. von E. Grünwald. 97
torenversammlung von Westfalen von 1907 hinzu, S. 118 1. widerspiegeln, S. 225
Euripides; es heißt Monatschrift. Die Zahl der Einzelgymnasien in Preußen ist nach
der neuesten mir zugänglichen Statistik nicht 170, wie S. 105 steht, sondern 137;
darunter sind 61 mit englischem Ersatzunterricht.
Berlin. E. G r ü n w a 1 d.
Budde, Gerhard, Das Gymnasium des 20. Jahrhunderts. Langen-
salza 1910. Hermann Beyer und Söhne. 102 S. 8«. 2,50 M.
Die Schrift ist ein Auszug aus des Verfassers zweibändigem Werke „Die Päda-
gogik der preußischen höheren Knabenschulen unter dem Einflüsse der pädago-
gischen Zeitströmungen vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart".
Das Zukunftsgymnasium des Verfassers macht das Griechische, das nur für Philo-
logen (doch wohl bloß altsprachliche) und Theologen Wert habe, neben englischem
Ersatzunterricht wahlfrei und reduziert die lateinischen Stunden in den drei Ober-
klassen auf 4 Stunden Lektüre: so schafft er Raum für moderne Bildung, Biologie
und Philosophie. Bezüglich des Griechischen denken wir mit Geheimrat K ö p k e
(Abgeordnetenhaus 1909): „Völlig ausgeschlossen ist ein Gymnasium ohne
Griechisch; das wäre wirklich eine contradiciio in adiecto . . . Dem Verlangen der
Bürgerschaft nach Umwandlung einer gymnasialen Anstalt in eine realistische
wird die Unterrichtsverwaltung gern entgegenkommen, in der Überzeugung, daß
sie damit auch im Sinne aller wahren Freunde des humanistischen Gymnasiums
handelt." Durch die Verminderung des lateinischen Unterrichts verlören wir
720 Lektürestunden und wären fast auf den preußischen Realgymnasialplan zurück-
geschraubt. Grammatische Übungen, die Budde auf der Oberstufe für überflüssig
hält, sind nötig, um Unsicherheit und Oberflächlichkeit im Verständnis des Autors
vorzubeugen, auch ständige Unterbrechungen der Lektüre durch grammatische
Exkurse zu verhüten. Diesen Zwecken dient auch das vom Verfasser geächtete
lateinische Skriptum, das aber auch als wahrhaft schöpferische Tätigkeit des Schülers
und logisches Bildungsmittel neben der Übersetzung aus dem Lateinischen seinen
selbständigen wissenschaftlichen und erziehlichen Wert hat. Die Einführung der
Biologie als besonderen Lehrfaches hat manches Bedenkliche, wie das z. B.
Waßmann (Der biol. U. in den h. Seh., Köln 1906), Reinke in dieser
Monatschrift (1902) und Bode (Heft II/III 1909 des Hum. G., S. 49ff.) aus-
geführt haben. Mehr kann man mit der Pflege der Philosophie auf der höheren Schule
einverstanden sein : sie war das ceterum censeo wiederholter W e i ß e n f e 1 s,
scher Ausführungen, und Männer wie Paulsen, R. Lehmann, Euken
traten oder treten dafür ein. Aber auch sie braucht nicht mit besonderen Stunden
bedacht zu werden, soll vielmehr dem Unterrichtsbetriebe der Oberklassen immanent
sein. Einverstanden sind wir ferner mit dem Verfasser in der Zurückweisung über-
mäßiger Ansprüche der Naturforscher und in der Zwecksetzung des neusprachlichen
Unterrichts auf dem Gymnasium. Auch hier findet sich viermal die irrige An-
gabe, daß 170 Provinzstädte Preußens als höhere Schule nur ein Gymnasium
hätten.
Berlin. E. G r ü n w a 1 d.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. J
98 G. Moch, Rapport ä S. A. S. le Prince Albert I^^ usw.,
Moch, Gaston, Rapport ä S. A. S. le Prince Albert P* sur une
Mission ä l'Etranger en vue de la Creation d'un Lycee
ä Monaco. Imprimerie de Monaco 1910. 4^. 270 S.
Der Fürst von Monaco hat seinen „conseiller prive", den ehemaligen Artillerie-
hauptmann und nunmehrigen pazifistischen Publizisten M. M o c h , damit betraut,
ihm einen Entwurf vorzulegen, nach welchem in seiner Landeshauptstadt eine moderne
und nach jeder Hinsicht musterhafte höhere Schule errichtet werden sollte. Wir
können es gleich heraussagen, daß der also Betraute sich seines Auftrages in vorzüg-
licher Weise erledigt hat. Er besuchte zu diesem Behufe insgesamt 34 höhere und
Volksschulen, die seitens der betreffenden Landesbehörde als musterhafte Neu-
schöpfungen namhaft gemacht wurden. Von diesen entfallen auf Deutschland 10
(Stuttgart 4, München 3, Mannheim 3), auf Frankreich 5 (sämtlich in Paris), auf
die Schweiz 16 (Genf 5, Zürich 4, Bern 4, Lausanne 3), auf Norwegen 2 (Christiania).
Die Früchte dieser Studienreisen sind, in sachlich-methodischer Weise aufgearbeitet,
in dem vorliegenden Rechenschaftsberichte niedergelegt, der die Bedeutung einer
Gelegenheitsschrift weit überragt,*) ja zu dem Besten gehört, was auf dem Gebiete
des vergleichenden Schulwesens seit Jahren erschienen ist. Mit 13 zumeist inter-
nationalen schulstatistischen Tafeln und 38 Abbildungen (Handfertigkeitsunterricht
und Schulbauten) ausgerüstet, ist das Werk eine Art Kaleidoskop, das tiefe und
verläßliche Einblicke in das höhere Schulwesen der behandelten Länder gestattet.
Es ist sachlich in 4 Hauptstücke und 128 Abschnitte gegliedert, in denen zuerst
die einschlägigen Verhältnisse der einzelnen Länder kritisch und referierend vor-
geführt werden, dem sich dann als Schlußfolgerung das für die Anstalt in Monaco
jeweilig empfehlenswerte Beste anschließt. Der Plan dieser Musteranstalt ist mit
der größten Umsicht bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Hier behufs Orientierung
bloß eine kurze Skizze. Die Anstalt (Externat) ist als eine Kombination der deut-
schen Realschule und des Realgymnasiums gedacht (die französischen Sektionen
latin-sciences und sciences-langues Vivantes) mit 6 + 2 4- 1 Klassen, die nach unten
eventuell durch einen zweiklassigen Vorbereitungskurs ergänzt wird. Der geographi-
schen Lage Monacos entsprechend hält sich das Projekt, die Lehrpläne, Unterrichts-
methoden, Rekrutierung der Lehrkräfte und deren Belastung und Bezüge betreffend,
an das französische Vorbild, während für die bauliche Anlage, Einrichtung und
Ausrüstung, sowie für die innere Ordnung und Reinlichkeit Deutschland maßgebend
sein soll. Das Hauptgebäude ist mit Souterrain, Hochparterre und 2 Stockwerken
gedacht; ferner 2 besonderen Pavillons für die Vorbereitungsklassen, sowie den Di-
rektor und 2 Höfen, zusammen auf einen Flächenraum von zumindest 5000 qm.
Ohne den Kaufpreis des Grundes sind die Kosten des Baues und der Einrichtung
auf rund 1 Million Frank veranschlagt. Hierzu kommt das auf etwa 200 000 Fr.
bezifferte Jahresbudget, wovon 177 000 Fr. auf die Personalgebühren des Lyc^e
entfallen. Das französische und schweizerische Fachlehrersystem wird dem deut-
*) Im friedlichen Wettkampfe der Völker hat dasjenige die größte Aussicht auf
Erfolg, in dem die Kenntnis fremder Nationen, ihrer Bedürfnisse und Lebensgewohn-
heiten, ihrer Sitten und Einrichtungen, ihrer Mängel und Vorzüge am weitesten ver-
breitet ist (Ad. Matthias: Die soziale und politische Bedeutung der Schulreform vom
Jahre 1900. Berlin 1905. Seite 33).
angez. von F. Kemeny. 99
sehen Klassenlehrersystem gegenüber vorgezogen. Uns dünkt, daß der Verfasser da
und dort in der Be- und Verurteilung des deutschen Schulwesens etwas zu strenge
vorgegangen sei, da selbst ein gebürtiger französischer Schulmann Henri
Bornecque in seinen „Questions d'enseignement secondaire des gargons et des
filles en Allemagne et en Autriche'' (Paris 1909, Delagrave, 306 S.)*) dem inneren
deutschen Schulbetrieb mehr Gutes nachzusagen weiß. Darin jedoch müssen wir
M. Moch recht geben, daß in Deutschland die Belastung von Lehrer und Lernenden
eine ungleich größere ist, als in Frankreich. Und wenn er für seine Schule den
Schülerstand klassenweise mit 30—30 (in den Vorbereitungsklassen mit 36) be-
stimmt, die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden für Schüler zwischen
22 obligaten -h 2 fakultativen und 29 V2 obligaten + 3 fakultativen abwechseln
läßt, schließlich für die Professoren wöchentlich IOV2— 15 Stunden ansetzt, so
hat er hiermit den Forderungen der Vorbildlichkeit genügt. Dabei könnte man
allerdings einwenden : Tu felix Monaco ! Vermag ein Land seine Bedürfnisse mit
einer höheren Schule zu decken, so kann es sich diesen Luxus des Besten gestatten,
was bei einem Schulgroßbetrieb nur durch eine bedeutend größere Inanspruch-
nahme der Zuschüsse der Schulerhalter denkbar wäre.
Den so überaus zeitgemäßen hygienischen Anforderungen genügt der Entwurf
nach jeder Hinsicht. Diesbezüglich enthalten der ganze H. und HL Teil (83—156,
157—180) reiches Material, woraus die folgenden Einzelheiten herausgegriffen
seien: Schulbrausebäder und Schwimmen (63), Lage der Fenster (84), Fußboden (86),
Wandbekleidung (90), Garderoben (93), Beleuchtung (95), Heizung (96), Lüftung
(98), Papierkörbe und Waschbecken (111), Unterkunft für Bicycles (133), Anstands-
orte (138 — 143), Verbandszimmer (129) usw. usw. Neben Unterweisungen in der
ersten Hilfeleistung ist auch für Vorträge aus der Gesundheitslehre, das sexuelle
Problem inbegriffen, vorgesorgt. Triftige Gründe werden gegen den kontinuierlichen
fünfstündigen Vormittagsunterricht ins Feld geführt. (Bornecque zitiert hierfür
S. 31 eine beweiskräftige Stelle aus Münchs „Eltern, Lehrer und Schulen".)
Unsere kritischen Bemerkungen reduzieren sich im Hinblick auf die ideale
Anlage des Werkes auf einige Gesichtspunkte und Einzelheiten, die der Verfasser
zugunsten der Vollständigkeit und Vollkommenheit seines Planes noch wohl hätte
berücksichtigen können. Solche Motive wären: die Selbstbetätigung und Selbst-
verwaltung der Schüler, turnerische und sportliche Wettbewerbe, eine engere Ver-
knüpfung der Familie mit der Schule (Elternabende usw.), die Rolle des Ordinarius,
Schulfeste, gedruckte Jahresberichte usw. Die so wichtige Frage der Berechtigungen
wird wenigstens mittelbar dadurch gestreift, daß der Verfasser die Anerkennung
des livret scolaire seitens der französischen Regierung für unbedingt notwendig
erachtet. Über Schulaufsicht und Kontrolle, diese uneriäßlichen Bedingungen
und zugleich Garantien jeder guten Schule, haben wir leider nichts vorgefunden.
Dies ist um so überraschender, als ja der Verfasser sonst einen feinen Spürsinn
für praktische Bedürfnisse und Friktionen in der Praxis zu besitzen scheint und dies
auch dadurch bekundet, daß er die Notwendigkeit von der frühzeitigen Inangriff-
nahme der Vorarbeiten seitens des Direktors, desgleichen von der Zusammen-
*) Vgl. diese Monatschrift, Jahrg. 1910, S. 647—660.
7*
100 P. Häberlin, Wissenschaft und Philosophie, angez. von A. Heußner.
schweißung des Lehrkörpers betont. In der Tat liegt hier die Brücke von der
Papierform zur Wirklichkeit. Mit jener allein, und wäre sie die schönste und beste
der Welt, ists nicht getan, wenn die Lehrerindividualitäten, diese lebendigen Nerven-
zentren der Schule und die daraus resultierende Seele der Schule, diese ideale
Achse, um die sich der ganze praktische Schulbetrieb dreht, im innersten Kern
nicht gesund sind. Wir möchten das ehrliche Streben des Verfassers und die Opfer-
freudigkeit seines erlauchten Herrn damit lohnen, daß wir ihnen für diese heiklen
und schwierigen Anforderungen recht viel Glück wünschen, damit ein wirklich
vorbildliches Werk erstehe, an dem sich alle ehrlichen Schulmänner und besorgten
Eltern voll und ganz ergötzen können. So hat bereits Kant das Basedowsche
Philanthropinum wärmstens der Teilnahme aller Länder empfohlen. Seinem
Geiste schwebte eine Reformschule vor, die von Kennern in allen Ländern be-
obachtet und beurteilt, aber auch durch den vereinigten Beitrag aller Menschen-
freunde bis zur Erreichung ihrer Vollständigkeit unterstützt werden sollte.
Budapest. F r. K e m e n y.
Häberlin, Paul, Wissenschaft und Philosophie, ihr Wesen und
ihr Verhältnis. Erster Band : Wissenschaft. Basel 1910. Kober C. F.
Spittlers Nachf. ; VI u. 360 S. geh. 6 M.
Das vorliegende Werk bildet in gewisser Weise eine Fortsetzung der kritischen
Studie desselben Verfassers über „Herbert Spencers Grundlagen der Philosophie"
(Leipzig 1908). Das dort am Schlüsse angeschlagene Problem, ob sich der wissen-
schaftliche Charakter der Philosophie mit der Universalität des Systems vereinigen
lasse, wird hier einer gründlichen Untersuchung unterzogen, die nach dem Wunsche
des Verfassers dazu helfen soll, die Widersprüche in unserer Kultur, unter der
wir alle seufzen, zu überwinden und eine harmonische, überzeugungskräftige,
universale Weltanschauung zu begründen. Ist eine solche Weltanschauung möglich?
— das ist die Frage, die der Verfasser zu beantworten unternimmt.
Die erste Hälfte des Lösungsversuches liegt in dem oben angezeigten Bande
vor, welcher sich mit dem Wesen des wissenschaftlichen Erkennens, der Stellung
der einzelnen Wissenschaften zueinander und der Aufgabe der Wissenschaft be-
schäftigt. Der ganzen Problemstellung nach war zu vermuten, daß der Wert der
Wissenschaft zugunsten der Philosophie etwas geringer eingeschätzt werden würde.
In der Tat ist es das offensichtliche Bestreben des Verfassers, überall die Relativität
alles menschlichen Erkennens möglichst deutlich herauszustellen. Alles Erkennen
ist nur Erleben. Alles Erleben ist individuell. Wissenschaft, Regel und Begriff
sind auch Produkte schaffender Phantasie. Das Kausalgesetz ruht im Grunde
nur auf einem Kausalglauben. Nur die Wiederholbarkeit, die innere Widerspruchs-
losigkeit und der Vergleich mit den Erlebnissen anderer gibt dem wissenschaftlichen
Erkennen einige Sicherheit.
Man wird mit einem abschließenden Urteil bis zum Erscheinen des 2. Bandes
zurückhalten müssen, der jedenfalls noch positive Ergänzungen zu diesen wesent-
lich kritischen Ausführungen zu bringen hat. Wir halten jedoch eine so klare,
voraussetzungslose und durchsichtige Untersuchung der Grundlagen unserer
wissenschaftlichen Erkenntnis, wie sie der Verfasser gibt, für sehr zeitgemäß,
W. V. Humboldts Ausgewählte philosophische Schriften, angez. von E. Spranger. 101
verdienstlich und notwendig. Wir haben hier eine der seltenen Darstellungen
der Erkenntnistheorie vor uns, die unter Vermeidung aller überflüssigen Fremdworte,
mißverständlicher Fachausdrücke und gelehrten Ballastes mitten in die Sache
hineinführt und auch dem philosophisch weniger geschulten Laien verständlich
zu machen weiß, um was es sich handelt. Es ist eins der weniger häufigen Bücher,
die zum eigenen Nachdenken nicht nur anregen, sondern auch erziehen.
Cassel. Alfred Heußner.
Wilhelm v. Humboldts Ausgewählte philosophische Schriften.
Herausgegeben von Joh. Schubert. (= Philosophische Bibliothek Bd. 123.)
Leipzig 1910 F. Meiner. XXXIX u. 222 S. 8«. geh. 3,40, geb. 4,00 M.
W. V. Humboldt ist populär geworden durch die Gründung der Universität
Berlin und durch seine liberale Haltung in der Zeit der Karlsbader Beschlüsse.
Der unmittelbare Eindruck seiner Größe hat sich durch eine eigenartige persön-
liche Tradition bis in unsere Tage lebendig erhalten. Als Schriftsteller aber
hat er nie eine breite Wirksamkeit geübt. So gern wir ihn als Dritten im Bunde mit
Goethe und Schiller denken, so unendlich steht er ihnen an produktiver literarischer
Kraft nach. Was ihn mit diesen Geistern verband, war der immer rege Trieb nach
Selbstbildung. Daher hat er denn auch in den entscheidenden Jahren seiner inneren
Entwicklung ausschließlich im Dienste seiner Selbstverständigung geschrieben —
suchend, oft dispositionslos, im Schreiben erst den Gedanken erzeugend. Wir
finden im einzelnen glänzende Durchblicke, aber kaum je etwas auch der Form
nach Fertiges.
Einen solchen Geist, wenn auch nur durch eine Auswahl, weiteren Kreisen
nahezubringen, ist unendlich schwer, ja im vollen Sinne unmöglich. Aber wir dürfen
dem Herausgeber des vorliegenden Bandes rühmend bezeugen, da'ß er das Erreich-
bare erreicht hat. Er hat sich vorwiegend an die Schriften der zweiten, reifen
Periode gehalten und aus ihnen vor allem d i e drei Aufsätze herausgegriffen, deren
klassische Vollendung von allen gekannt zu werden verdient: die Charakteristik
Schillers, die Humboldt der Ausgabe seines Briefwechsels mit dem Dichter
voranschickte und in der sich die Andacht freundschaftlichen Gedenkens mit tiefer,
klarer psychologischer Durchdringung verbindet; die Charakteristik Goethes,
die von einer Rezension des „Zweiten Aufenthalts in Rom" ausgeht und zwei
scheinbar disparate Seiten Goethes feinsinnig auf ihre einheitliche Wurzel in
seiner geistigen Organisation zurückführt; und endlich die berühmte Rede „Über
die Aufgabe des G e sc h ic h t sc h r e i b e r s**, die bis heute das Beste
über historische Geistesart und Auffassung geblieben ist. Daran reihen sich ein
Beispiel aus Humboldts sprachwissenschaftlichen Abhandlungen, der Aufsatz
über die Bhagavad-Gita, aus früherer Zeit die ersten 12 Kapitel der Schrift über
„Hermann und Dorothea" und das Fragment „Latium und Hellas", das die roman-
tische Wendung in Humboldts Auffassung vom Griechentum zeigt, wie sie sich
ihm während der glücklichen Jahre in der Siebenhügelstadt gestaltet hat.
Besonderes Interesse verdient der Aufsatz „Über die innere und äußere Organi-
sation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin", den der Herausgeber
in dem „Zur Pädagogik" betitelten Schlußabschnitt mitteilt, freilich ohne zu
102 P. Brandt, Sehen und Erkennen,
sagen, daß auch er Fragment geblieben ist und daß seine Entstehung mit ziemlicher
Sicherheit auf April bis Anfang Mai 1810 datiert werden kann. So wenig man
natürlich daraus allein ein Bild von Humboldts pädagogischen Ideen gewinnen
kann, so zeigt dieses Fragment doch die idealistischen Grundanschauungen vom
Wesen der Wissenschaft, die Humboldt mit seinen Zeitgenossen Fichte, Schelling
und Schleiermacher teilt. Es ist nicht nur die Grundlage für die Organisation
der Universität Berlin gewesen, sondern es enthält auch die Keime von Ideen, die erst
im zweiten Jahrhundert ihres Bestehens ihre Verwirklichung und Vollendung
finden sollen, wie uns die kaiserliche Botschaft bei der Zentenarfeier verheißen hat.
Den Wert der vorliegenden Auswahl vermehrt Schuberts geistvolle Einleitung,
die nicht nur die innere Verbindung zwischen dem Mitgeteilten herstellt, sondern
auch mit wenigen, aber scharfen Strichen ein Bild vom Leben und Wesen des ganzen
Mannes entwirft. Auch diese Aufgabe war nicht leicht; aber es ist ein reifer Geist,
der sie unternommen hat, und so ist es ihm gelungen, zur Erweckung von Humboldts
Andenken beizutragen, in einer Zeit, die auf so vielen Gebieten zur positiven und
negativen Auseinandersetzung mit ihm Veranlassung hat.
Leipzig. Eduard Spranger.
Brandt, Paul, Sehen und Erkennen. Eine Anleitung zu vergleichender
Kunstbetrachtung. Leipzig 1911. Ferdinand Hirt & Sohn. X u. 272 S. Mit
414 Abbildungen kart. od. geb. 5 M.
Es gibt sehr viele Gebildete, die ein sehr gutes kunsthistorisches Wissen be-
sitzen und trotzdem, wenn sie vor ein bedeutendes Kunstwerk gestellt werden,
nur wenig zutreffende oder unwesentliche Bemerkungen bieten können. Vielleicht
könnte man nun meinen, daß es möglich wäre, daß sie das Schöne wohl fühlten
und nur nicht zum sprachlichen Ausdruck bringen könnten, ja, daß vielleicht durch
eine begriffliche Fassung der ästhetische Eindruck geradezu zerstört werde. Schon
Schiller hat sich mit diesem Einwurfe beschäftigt (in den Briefen über die ästhetische
Erziehung). Er meint, daß die, die sich bei der ästhetischen Betrachtung blindlings
der Leitung ihrer Gefühle anvertrauen, von der Schönheit keinen Begriff erlangen,
weil sie in dem Total des sinnlichen Eindrucks nichts Einzelnes unterscheiden.
Ebensowenig können die einen Begriff von der Schönheit bekommen, die aus-
schließend den Verstand zum Führer nehmen, weil sie in dem Total derselben nie
etwas anderes als die Teile sehen und Geist und Materie auch in ihrer vollkommensten
Einheit ihnen ewig geschieden bleiben. „Jene wollen die Schönheit auch ebenso
denken, wie sie wirkt, diese wollen sie ebenso wirken lassen, wie sie gedacht wird."
Anders gesagt: Zur vollen Auffassung eines Kunstwerkes gehört ein Mehreres,
man muß den Stoff sehen (!), den Gehalt erfassen, die schöne Form fühlend ver-
stehen können. Goethe trifft den Kern der Frage, wenn er sagt: „Den Stoff sieht
jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die
Form ist ein Geheimnis den meisten." Es handelt sich also um das Sehen, Er-
kennen und Fühlen. Will man daher einen anderen zum Kunstverständnis anleiten,
muß man ihn sehen und erkennen lehren und so bildend und läuternd auf sein
künstlerisches Gefühl wirken. Man muß das künstlerische Gefühl durch das ge-
fühlserfüllte Sehen und Erkennen pflegen. Dieses Ziel hat sich Paul Brandt in
angez. von R. Arndt. 103
seinem neuesten Werke gesteckt. Der Verfasser ist den Fachleuten seit einer Reihe
von Jahren als feinsinniger und mit umfassendem Wissen ausgerüsteter Kunst-
historiker bekannt. Er hat das genannte Werk als Ergebnis seiner zwanzigjährigen
unterrichtlichen Betätigung auf dem Gebiete des Kunstunterrichts veröffentlicht,
zu Nutz und Frommen allen, die den Weg zur Kunst suchen. Aber nicht nur der
Kunsthistoriker, der Pädagoge spricht in dem Buche zu uns, sondern auch der
Rheinländer zeigt uns recht oft die herrlichen Kunstwerke unserer Provinz.
Brandt führt den Leser von der Gebundenheit zur Freiheit. Von der an Zwecke
und Gesetze gebundenen Baukunst hebt er an, geht dann zur Plastik über, bei der
Material und Schwerkraft noch mitbestimmend sind, und kommt endlich zur
freiesten der bildenden Künste, zu der Malerei. (I. Baukunst. II. Architektonixh-
plastische Werke der dekorativen Kunst. III. Plastik. IV. Malerei (und Plastik).
V. Einordnung in einen gegebenen Raum. VI. Die Kunst südlich und nördlich der
Alpen. VII. Germanische Kunst. VIII. Das Bildnis. IX. Die Historie in der Kunst.
X. Das Landschaftsbild. Die deutsche Romantik. Die Natur und der Mensch.
XI. Licht- und Luftprobleme.)
Innerhalb der Plastik schlägt er denselben Weg ein. Hier wird zuerst das ein-
deutige Relief besprochen, dann geht er allmählich zum vieldeutigen Rundwerk
über. Die behandelten Kunstwerke sind aus allen Epochen, von der Zeit der Ägypter
bis zur Gegenwart, entnommen. Daß die italienische Kunst einen bedeutenden
Platz einnimmt, ist selbstverständlich.
W i e geht Brandt seinen vorgezeichneten Weg? Er gibt keinen Abriß der Kunst-
geschichte mit Namen und Daten, nur gelegentlich weist er auf den historischen
Zusammenhang hin. Er läßt vergleichen. „Der Vergleich sagt viel ohne Worte,
er macht auch den Stummen beredt, seien die Vergleichspunkte formeller oder
gegenständlicher Natur, mögen die verglichenen Kunstwerke eine fortlaufende
Entwicklungsreihe oder zwei entgegengesetzte Pole bilden, mögen'sie gleichen oder
verschiedenen Zeiten und Völkern entstammen." Durch eine praktische Anordnung
von 410 wirklich guten Abbildungen führt er in das Sehen, Erkennen und Emp-
finden ein. Das zu Vergleichende ist stets mit einem Blick zu überschauen. Er
bespricht z. B. die Darstellung des Noli me tätigere. Da stehen (S. 190 u. 191) neben-
einander Gemälde von folgenden Künstlern wiedergegeben: Duccio (vom Dombild
zu Siena), Andrea del Sarto, Tizian Vecellio, Martin Schongauer, A. Dürer; den-
selben Gegenstand behandelnd: S. 192 u. 193: Hans Holbein der Jüngere, Rem-
brandt, Fritz von Uhde. Oder S. 198 u. 199: Der Sängerchor von Luca della Robbia
und Jan van Eyck. Hervorzuheben ist auch die Darstellung bei dem Thema „Mutter
und Kind". Er stellt nebeneinander: Donatello (Stuckrelief im Kaiser- Wilhelm-
Museum zu Krefeld), Desiderio da Settignano (Marmor im Museum zu Turin),
Raffael: Madonna del Granduca, Madonna vom Hause Tempi, Madonna della
Sedia. Der Verfasser zeigt, wie in der Gruppe „Mutter und Kind" das Christentum
ein Thema stellt, „welches der Antike fremd, zwischen den beiden Polen Gott und
Mensch freien Spielraum ließ". Donatello preßt Mutter und Kind inbrünstig zu-
sammen, keinen toten Raum lassend. Gleichzeitig wird das Menschliche zum Gött-
lichen potenziert. Desiderio nimmt der Gruppe die eckigen Formen und tönt den
tragischen Ausdruck im Antlitz der Mutter zu innigem Mutterglück ab. Raffael
104 Weichers Architekturbücher, angez, von A. Schoop.
stellt in seiner Madonna del Granduca die demutsvolle Gottesmutter dar. Bald
setzt er an Stelle der lyrischen Stimmung Bewegung. Bei der Madonna vom Hause
Tempi herzt die Mutter das Kind, das sich noch etwas von göttlicher Zurückhaltung
bewahrt. Nun kommt in Rom der Einfluß Michel Angelos hinzu. (Madonna della
Sedia.) Massen und Formen werden gesteigert, dabei ist aber der bezaubernde
seelische Einklang von Mutter und Kind in des Künstlers eigenem Wesen begründet.
Diese angeführten Beispiele sollen nur als Proben von Brandts trefflicher
Art der künstlerischen Auffassung und Darstellung zeugen; denn jeder der be-
handelten Gegenstände ist in gleicher oder ähnlicher Weise angefaßt, mag es sich
um das dekorative Grabmal (11 Beispiele) oder um Früh- und Hochgotik, um die
griechische Rundplastik oder um die heroische Landschaft handeln. — Der Anhang
gibt eine Zeittafel und ein Register. Das Buch ist geeignet, „recht vielen Freunden
der Kunst und solchen, die es werden wollen, das Sehen und Erkennen zu erleichtern
und zu helfen, sich emporzuschwingen in das ahnungsvolle Reich, wo die Seele
zum nachschaffenden Genuß nur ihrer selbst bedarf."
Duisburg. RichardArndt.
Weichers Architekturbücher. I. Meisterwerke der spa-
nischen Baukunst. Berlin 1909. W. Weicher. 60 Aufnahmen von
J. Lacoste, 29 Seiten Text von S. H. Capper. \2^. Pergamentband. 0,80 M.
Weichers Kunstbücher bringen im bequemsten Taschenformat in je 60 Bildern
einen geschlossenen Kunstkreis zur Anschauung, das vorliegende Büchlein enthält
Darstellungen aus der spanischen, ganz überwiegend der kirchlichen Baukunst
vom 12. — 18. Jahrhundert. Ausgeschlossen ist die maurische Kunst, den meisten
Raum nimmt ein die Gothik, welche in Spanien ja noch im 16. Jahrhundert eine
großartige Nachblüte erlebte. Die in Netzdruck ausgeführten Bilder sind klar und
scharf umrissen und vermitteln so trotz ihrer Kleinheit eine gute Anschauung. Die
Auswahl ist zweckmäßig. Als Anhang folgen kurze Erläuterungen zu den Bildern,
meist kunstgeschichtlichen Inhaltes. Sie enthalten manche feinsinnige Bemer-
kungen. Diese Vorzüge, der erstaunlich billige Preis und die geschmackvolle Aus-
stattung werden dem Werkchen manche Freunde gewinnen.
Düren. August Schoop.
Znier, F., Die moderne Bibelwissenschaft und die Krisis
der evangelischen Kirche. 123 S. Tübingen 1910. J. C. B. Mohr.
2,50 M.
Der Verfasser will in seiner scharfsinnigen und tiefen Studie zeigen, wie die
moderne Bibelwissenschaft den kirchlichen Begriff des Wortes Gottes allmählich
zersetzt und dadurch eine jetzt akut und offenbar gewordene Krisis für unsere
Kirche herbeigeführt hat. Selbstverständlich konnte und wollte er die bibelwissen-
schaftliche Forschung nicht allseitig beleuchten, sondern nur Licht auf die Linie
fallen lassen, in deren Richtung sich die Wissenschaft bewegt. Da der Verfasser,
wie er sagt, der Vergangenheit gegenüber zu einem rein negativen Resultat kommt,
kann man hier in der Tat die Zersetzung des kirchlichen Begriffes des Wortes Gottes
in scharf pointierter Zuspitzung kennen lernen. Wer sich mit der modernen Bibel-
wissenschaft beschäftigt hat, wird es dankbar begrüßen, einmal all die scharf ge-
K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, angez. von W. Koppelmann. lOS
zogenen modernen Geschütze hier beisammen zu sehen, die gegen den kirchliche»
Begriff vom Worte Gottes aufgefahren sind. Und doch wird ihn mehr der positive
Teil interessieren, in dem der Verfasser zeigen will, wie diese Krisis überwunden
werden kann. Den Ernst der Lage bringt er uns jedenfalls zum Bewußtsein. Der
positive Teil, um dessen willen doch das Buch geschrieben sein will, ist recht kurz.
Der Verfasser wirft hier die Frage auf, ob nicht gerade der Entwicklungsgedanke
in seiner Anwendung auf die Bibel unserer Kirche den Weg weist, auf dem sie die
akut gewordene Krisis zu ihrem Heil zu überwinden vermag. Als lebendiger Bestand-
teil in dem organischen Bildungsprozeß der Menschheit ist die Bibel allen Verän-
derungen unterworfen, die das Leben ausmachen. „Gewisse Bestandteile des
Bibelwortes, von denen einst höchst bedeutsame Wirkungen ausgingen, sind heute
vollständig ausgeschieden oder zu rudimentären, für die Lebenshaltung unbrauch^
baren Gebilden geworden, andere sind unter den Einflüssen der geistigen Um-
gebung immer noch in steter Umwandlung begriffen und immer noch tätig." Iri
dem Strom der Entwicklung aber können bleibende Werte enthalten sein. In-
dem Vorübergehenden offenbaren sich Werte von überzeitlichem Gehalt. Diese
Werte festzuhalten ist Sache des gläubigen Anhängers der Entwicklungslehre,,
denn die Anerkennung der Ewigkeitswerte ist Sache des Glaubens. Daß es aber
möglich ist, auf Grund der Selbstverleugnung ein höheres Leben zu entwickeln,
kann nur eine Tatsache verbürgen. Diese Tatsache aber ist Christus. Darauf also
wird es ankommen, ob es unserer Kirche gelingt, den Christus der Vergangenheit
zu einem Christus der Gegenwart zu machen. In diesen Sätzen liegen zweifellos
entwicklungsfähige Keime. Nur hätte der Verfasser hier ausführlicher, deutlicher,,
faßbarer reden müssen, wenn ihm wirklich dieser Neubau des Protestantismus
so wichtig war. Viele Leser werden nur den Trümmerhaufen sehen. Es wäre zu
wünschen, daß der Neubau über die dürftige Skizze hinaus als ein ausgearbeiteter
Grundriß vorgelegt würde. Erst dann wird auch darüber zu urteilen sein, was maa
sich unter dem Christus der Gegenwart zu denken hat.
Posen. Hans Richert.
Heussiy Karl, Kompendium der Kirchengeschichte. Tübingen
1909. J. C. B. Mohr. 620 S. 8,60, geb. 10 M.
Die „Erste Hälfte'* oder dem Umfang nach das erste Drittel dieses Buches
(„Die Kirche im Altertum und im Frühmittelalter'*) habe ich schon im 9. Jahr-
gang dieser Zeitschrift, S. 116, besprochen. Das dort abgegebene Urteil kann ich^
nachdem ich von dem ganzen Werke Kenntnis genommen habe, nur bestätigen.
Der Verfasser bringt, wie er selbst hervorhebt, wissenschaftlich nichts Neues^
aber er bietet auf Grund der Benutzung der besten wissenschaftlichen Hilfsmittel
in knappster Form unter Verzicht auf alles rhetorische Beiwerk eine sehr sachliche
und eingehende, alle Seiten der religiösen und kirchlichen Entwicklung umfassende,,
dabei recht übersichtliche Darstellung des gewaltigen Stoffes. Wichtiges und weniger
Wichtiges ist durch Anwendung verschiedener Typen kenntlich gemacht. Em
umfangreiches Namen- und Sachregister erleichtert die Benutzung. An dem bei-
gefügten Literaturverzeichnis ist zu loben, daß die angeführten Werke sämtlich
kurz charakterisiert sind. Ohne das haben ja auch Literaturangaben einen nur
106 K. Francke, Die Kulturwerte der deutschen Literatur usw., angez. von A. Matthias.
geringen Wert. Doch ist die Übersicht, welche sich auf die „Literatur zur all-
gemeinen Kirchengeschichte" beschränkt, m. E. allzu knapp. So sollte Nippolds
„Handbuch der neuesten Kirchengeschichte" eigentlich nicht fehlen. Auch die
wichtigsten dogmengeschichtlichen Werke, u. a. Harnack und Loofs, würden
zweckmäßig genannt werden. Desgleichen dürfte es sich empfehlen, die wich-
tigste Spezialliteratur, wobei z. B. für die Reformationsgeschichte auch Janssen
nicht ungenannt bleiben dürfte, entweder am Schluß des Werkes oder vor den be-
treffenden Abschnitten kurz zu kennzeichnen, d. i. zu sagen, was aus den einzelnen
Büchern zu holen ist. Der Umfang des Werkes würde dadurch ganz unwesentlich,
seine Brauchbarkeit erheblich vergrößert werden.
Das, soviel ich es zu beurteilen vermag, auf gründlicher Sachkenntnis auf-
gebaute Buch dürfte sich, wenn auch in erster Linie „für den akademischen Lern-
betrieb" bestimmt, allen Lehrern, welche einige Unterrichtserfahrung haben und die
nötige Auswahl zu treffen wissen, als ein sehr brauchbares Hilfsmittel für die Vor-
bereitung auf den Unterricht erweisen.
Münster i. W. W. K o p p e 1 m a n n.
Francke, Kuno, Die Kulturwerte der deutschen Literatur
in ihrer geschichtlichen Entwicklung. I.Band: Die Kultur-
werte der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1910. Weidmannsche
Buchhandlung, gr. 8«. XIV u. 293 S. geb. 6 M.
Selten habe ich ein Buch gelesen, das so, wie das von Kuno Francke,
für gebildete Kreise und besonders für die heranwachsende und für die studierende
Jugend geeignet wäre, einen tiefen und weiten Blick in die Kulturgeschichte unseres
Volkes zu eröffnen, soweit diese in der Literatur und Kunst sich geltend macht.
Es ist ein interessanter Gang durch das Zeitalter der Völkerwanderung, durch die
Entwicklung der feudal-theokratischen Gesellschaft, durch die Blütezeit der ritter-
lichen Kultur und vor allem durch die Kultur des Bürgertums am Ausgange des
Mittelalters, und es ist ein reiches Ergebnis an Kulturwerten von bleibender und
universeller Bedeutung, welche die deutsche Phantasie des Mittelalters geschaffen
und uns als fruchtbringendes Erbe hinteriassen hat. Was für Schätze hier noch
verborgen liegen, wer ist sich dessen von unseren Gebildeten in vollem Maße be-
wußt? Und noch lange nicht sind diese Schätze ein Bestandteil deutscher Bildung
geworden. Francke versteht es diese Schätze zu heben. Was ihn vor allem be-
fähigt, das in meisterhafter Weise zu tun, ist der Mut der Auswahl. Was uns bei
anderen Büchern beschwert, das ist die Sucht nach Vollständigkeit, die alles bringen
vfiUj Großes und Kleines durcheinander, und die schließlich dem ermüdeten Leser
eigentlich nichts Rechtes, nichts Bleibendes gebracht hat. Dieser Mut richtiger
Auswahl, den wir übrigens bei unseren Lehrstoffen und unseren Lehrzielen endlich
auch einmal zeigen könnten, fließt bei Francke aus dem Verständnis und der feinen
Kunst, zwischen dem Großen und Kleinen zu scheiden und dieses zurücktreten
zu lassen, dafür aber jenes durch vorzüglich ausgewählte Einzelheiten in helle
Beleuchtung zu setzen. Überall muß man den richtigen Griff in der Wahl der Bei-
spiele bewundern, die eine ganze Zeit und ihre Geistesströmung plastisch charakteri-
sieren. Man lese beispielsweise, was über Berthold von Regensburg gesagt wird,
O. Apelt, Der deutsche Aufsatz usw., angez. von P. Geyer. 107
wiediesertief angelegte Mann den Abstand zwischen dem Ideal, das ersieht und sucht,
und der Wirklichkeit, die auf ihm lastet, zu finden bestrebt ist, wie wir hier keinen
literarischen oder kulturgeschichtlichen Rückschritt gegenüber den Vertretern
der höfischen Dichtung haben, sondern in seiner Weise sich Berthold kühn neben
die Kunst Walthers und Wolfgangs stellen kann. Gleich vorzüglich ist die Be-
handlung der übrigen Mystiker, wie sich in Seuse die ganze Erregung einer von
Konflikten zerrissenen Zeit offenbart und in Tauler die mildeste und abgeklärteste
Form des Mystizismus zeigt und die Mystiker des 14. Jahrhunderts als Vorläufer
der Klassiker deutschen Geistes des 18. und 19. Jahrhunderts erscheinen, auch
in dem Stil und der Vollkommenheit deutscher Sprache, die nach der Reformation
vielfach wieder verwildert und abhängig wird von fremdländischen Einflüssen
aller Art. Meisterhaft werden wir auch eingeführt in die Universalität, Natürlich-
keit und Menschlichkeit des Volksliedes und die kräftige Stimmung der historisch
bedeutsamen satirischen Dichtung — kurz: wohin wir blicken, Fülle, Leben und
Bewegung.
Solche Bücher haben für den deutschen und vor allem den geschichtlichen
Unterricht hohen Wert. Dieser Unterricht leidet unter der Fülle des kompendiösen
Stoffes. Das Wissen, besonders das Vielwissen, übt so sehr seine Macht, daß die
lebendige Empfindung für den Geist der Zeiten und die kräftige Anschauung für
das innere Leben der verschiedenen Epochen gar nicht zur Geltung kommen.
Franckes Buch hilft, daß das anders wird. Und da es in der Ferne, an der Harvard
University, geschrieben ist und erfüllt ist von der Sehnsucht nach der deutschen
Heimat, so durchzieht die Wärme der Empfindung die ganze Darstellung. Solche
Wärme tut unserer Jugend not bei dem Rückblick in ihres Volkes Geschichte.
Unsere Jugend leidet vielfach zu sehr bei diesem Unterricht unter dem trockenen Ton
und der Nüchternheit der sogenannten Objektivität. Es ist zu wünschen, daß recht
bald die drei noch ausstehenden Bände nachfolgen; doch bildet 'dieser Band für
sich ein so abgeschlossenes Ganze, daß er für sich eine dankenswerte Gabe ist.
Berlin. A. Matthias.
Apelt, 0., Der deutsche Aufsatz in den oberen Klassen
der Gymnasien. Neue Folge. Leipzig und Berlin 1910. B. G. Teubner.
258 S. 80 geh. 3,40 M., geb. 4 M.
Zugrunde gelegt ist der Jahrgang 1907 — 1908. Verfasser hat den Rahmen,
in dem er sein allseitig geschätztes Buch ,,Der deutsche Aufsatz in der Prima des
Gymnasiums. Ein historisch-kritischer Versuch.** 1883, 2. Auflage 1907 — ge-
halten hat, in dieser Arbeit insofern erweitert, als auch die Obersekunda berück-
sichtigt wird. Ferner werden die Realgymnasien und gelegentlich auch die Ober-
realschulen herangezogen. Auch von den Themen der Facharbeiten wird eine
Auswahl gegeben. — Apelt hat anderseits mit Recht darauf verzichtet, bei
immer wiederkehrenden Aufgaben sämtliche Fassungen und Wiederholungen zu
verzeichnen, auch wohl abgegriffene und gewissermaßen selbstverständliche Themen
ganz unerwähnt gelassen. Trotzdem werden immer noch 4524 Aufsatzthemen —
mit Angabe der Programmnummer — aufgezählt. Davon entfallen auf die
deutsche Literatur 2260, auf die ausländische neuere Literatur 196, auf die antike
108 F. Pätzolt, Entwürfe zu deutschen Arbeiten usw., angez. von P. Geyer.
Literatur 404, auf die Gescliichte 624, auf Natur, Kultur, Kunst, Religion, Schul-
leben und Persönliches, Reisen, Fremde und Heimat: zusammen 196, auf die
Gattung „Allgemeine Themata" 586 Aufgaben. Dazu kommen noch 108 Themen
für Facharbeiten, 7 Themen für „größere freie Arbeiten" und 6 „größere Themen
für längere Zeit". — Man sieht, daß die literarischen Themen immer noch im
Vordergrunde stehen. Im übrigen stellt Apelt fest, daß es an einer gewissen
Entwicklung auf dem Gebiete der Aufsatzpraxis nicht gefehlt hat. Es ist nicht eigent-
lich eine Verschiebung, wohl aber eine Erweiterung des Gesichtskreises eingetreten,
die bestimmten Zeitrichtungen entspricht. Schlimm, wenn es anders wäre! Meines
Erachtens ist es nicht bloß vom schulpädagogischen, sondern auch vom kultur-
historischen Standpunkte aus anziehend und wertvoll, den Verlauf dieser
Entwicklung, Kampf und Ausgleich zwischen dem Alten und Neuen, genau zu
beobachten. Voraussetzung wäre, daß erschöpfende Übersichten, gleich der vor-
liegenden von Apelt, in bestimmten Zeitabständen, etwa alle fünf oder zehn Jahre,
veröffentlicht würden. Wenn das Buch von Apelt schon nach dieser Richtung
hin, als Stoffsammlung, höchst verdienstlich ist, so liegt doch seine kaum zu über-
bietende Trefflichkeit in den ungemein sachlichen und sachverständigen kritischen
Erörterungen, in denen einzelne Themen oder ganze Gruppen von solchen be-
leuchtet und je nachdem empfohlen oder verworfen werden. — Auch dieses Buch
von Apelt verdient demnach wie seine Vorgänger, mag man auch in Einzelheiten
hier und da anderer Meinung sein, höchste Anerkennung und allseitige Beachtung.
Pätzolt, Friedrich , Entwürfe zu deutschen Arbeiten für
Tertia bis Prima nebst einigen ausgeführten Auf-
sätzen. Zweite Auflage. Berlin 1911. Weidmannsche Buchhandlung. 257 S.
8°. geh. 3,60 M.
194 Entwürfe, d. h. eingehende Gliederungen. 80 beziehen sich auf die deutsche
Literatur, je 46 auf die lateinische und griechische Lektüre, 16 auf die neusprach-
liche Lektüre (die Hälfte davon auf Shakespeare), 6 auf die Geschichte. Dazu
kommen 15 ausgeführte Aufsätze, größtenteils Schülerarbeiten. — Das Buch,
dessen Anfänge mehr als dreißig Jahre zurückliegen, zeigt überall den erfahrenen
und besonnenen Schulmann. Leser, die die alten, bewährten, aber immerhin ein
wenig breitgetretenen Pfade der Aufsatzpraxis gelegentlich einmal verlassen
möchten, werden sich freilich enttäuscht fühlen. Lessing, Schiller und Goethe be-
herrschen den Markt, soweit es sich um die deutsche Literatur handelt. Von
Späteren wird bloß Geibel berücksichtigt. Verfasser bemerkt in der Vorrede, daß
ihn Versuche mit sogenannten freien Themen nicht befriedigt hätten. Damit
scheint er übrigens bloß sagen zu wollen, daß die Behandlung eines allgemeinen
Satzes, einer Sentenz auf einer bestimmten literarischen Unterlage erfolgen müsse.
Wenigstens werden einige Aufgaben dieser Art gegeben. Das ist ja auch wirk-
lich die beste Einführung in die Bearbeitung solcher Themen, allerdings bloß
Einführung. Es wird jedem Lehrer anheimgegeben werden müssen, darüber hin-
auszugehen oder nicht. — S. 13 und S. 224 liest man: Darlegung des Grund-
gedankens in Schillers „Kraniche des Ibykus". Ich halte es für richtiger, zu
sagen: in Schillers Gedicht ,,Die Kraniche des Ibykus."
W. Schwahn, Deutsche Aufsätze usw., angez. von P. Geyer. 109
Schwahn, Walther, Deutsche Aufsätze und Dispositionen für
die oberen Klassen höherer Lehranstalten. Ansbach 191 1.
Fr. Seybold. 145 S. 8^. geb. 2,60 M.
Voraus geht eine kurze Anleitung zur Anfertigung von Aufsätzen, in der
die „erzählende", die „erörternde'* und die „beurteilende'' Darstellung unter-
schieden und durch je ein Beispiel erläutert wird. Die 42 Themen aus der
Lektüre bestreiten Lessing, Schiller, Goethe, Homer und Sophokles, abgesehen
von je einem Thema aus Kleists Prinz von Homburg und Reuters Franzosentid.
Shakespeare wird nicht berücksichtigt. 9 Aufgaben sind der Literaturgeschichte,
33 der Geschichte, 9 der Erdkunde entnommen, 53 sind allgemeine Themen, die
sich auf das Naturleben (4), das Staats- und Wirtschaftsleben (10) und im übrigen
auf das geistige und sittliche Leben beziehen. Im ganzen 138 Dispositionen und
8 fertige Aufsätze. — Verfasser erklärt im Vorwort: „Die Einteilung erfolgt stets
nur nach einem Prinzip". Sehr wohl, aber der Standpunkt muß dann eben sehr
geschickt gewählt werden, wenn stilistische oder logische Unzuträglichkeiten ver-
mieden werden sollen. So heißt es S. 128 bei der Gliederung des Themas: „Ein
andres Antlitz, eh' sie geschehen, ein andres" usw. unter B I „Denn vorher sieht
der Täter nur die Beweggründe": a. die inneren Triebe: Zorn, Neid, Rachsucht,
Habsucht, Verblendung, Leichtsinn, b. äußere Einflüsterungen, Verführung durch
andere (Sündenfall), günstige Gelegenheit (Raubmorde, Diebstähle usw.). — Ja,
sieht er denn das alles vorher, seine Rachsucht, seinen Leichtsinn oder gar
seine Verblendung? Das ist ja gerade das Bedauerliche, daß er es nicht sieht.
Unter B H heißt es dann: „Der Täter sieht die Folgen". Das stimmt, das Vor-
ausgehende nicht. — Schillers Wort: „Wer besitzt, der lerne verlieren" usw.
(S. 130) kann in seiner ganzen Tiefe nur dann erfaßt werden, wenn die Ab-
handlung ,Über das Erhabene' herangezogen wird. — Auch die Behandlung des
Themas „Wodurch erregt Philoktet in uns Furcht und Mitleid?" scheint mir
nicht tief und eindringend genug zu sein. Wir haben Mitleid mit Philoktet und
fürchten für Philoktet! Lessing hat die vom Verfasser angeführten Aristotelischen
Ausdrücke eXsog und cp6ßo? jedenfalls anders gedeutet. Auch die Wendung:
„Durch den versöhnenden Schluß des Dramas erfolgt auch die Reinigung von
Mitleid und Furcht (xadapai?), die Aristoteles als die Wirkung der Tragödie be-
zeichnet" — sagt zu wenig. Was heißt Reinigung? — Trotz dieser Ausstellungen
wird das Buch Anfängern im Lehramt gute Dienst^ leisten.
Herrmann, Paul, Aufgaben aus dem Nibelungenlied. Leipzig 1910.
Wilhelm Engelmann. 124 S. 8^. kart. 1,20 M.
Das Buch schließt sich an die ebenfalls von W. Engelmann verlegte bekannte
Sammlung von H. Heinze und W. Schröder an. Es gibt I. Inhalt des N. L. (das
N. L. als Drama aufgefaßt). II. Charakteristiken. III. Kulturgeschichtliche
Aufgaben (das Christentum im N. L., Höfische Sitten und Gebräuche im N. L.).
IV. Ethische Aufgaben (die Treue im N. L.). V. Ästhetische Aufgaben (besonders
im Anschluß an Lessings Laokoon). VI. Vergleiche (Homers Gesänge und das
N. L.). Dazu treten 22 einzelne Aufgaben. — Die außerordentlich fleißige und
gründliche, im besten Deutsch geschriebene Arbeit kann allen, die sich mit dem
1 10 F. Teetz, Aufgaben aus deutschen epischen usw., angez. von P. Geyer.
Nibelungenliede — ganz abgesehen von Aufsatzzwecken — näher bekannt machen
wollen, aufs wärmste empfohlen werden.
Teetz, Ferdinand, Aufgaben aus deutschen epischen und lyrischen Ge-
dichten. Zwölftes Bändchen. Aufgaben aus Schillers Gedankenlyrik.
Erster Teil. Leipzig 1911. Wilhelm Engelmann. 127 S. 8^. kart. 1,20 M.
Dieser erste Teil enthält „Beiträge zur Erklärung und Würdigung" der Gedichte:
Die Künstler, das Ideal und das Leben, der Spaziergang, das Eleusische Fest —
der Niederschlag der Vorarbeiten für die Herausgabe von Aufgaben aus den
einzelnen Gedichten, — Was hier geleistet wird, verdient in Hinsicht auf Gründ-
lichkeit, wissenschaftliche Vertiefung und sprachlichen Ausdruck die gleiche
Anerkennung, die der soeben genannten Arbeit von Herrmann gezollt worden ist,
Brieg. Paul Geyer.
Rothe, Carl, Die Ilias als Dichtung. Paderborn 1910. Ferdinand
Schöningh. 366 S. 8». 5,40 M.
Die Bedeutung, die Homer für die Kultur, insbesondere die Literatur, seines
Volkes gehabt hat, hat im griechischen Schrifttum viele und tiefe Spuren hinter-
lassen. Aber auch auf die Römer und das Mittelalter und dann wieder auf unsere
Klassiker ist er von nachhaltigem Einfluß geworden. Für sein Volk war er 6 TroiyjxTJ?,
für Horaz der qui nil molitur inepte, die großen italienischen und englischen Epiker
wandeln in seinen Fußstapfen, und das alberne Urteil Voltaires „Homire a fait
Virgile, dit-on; si cela est, c'est sans doute son plus bei ouvrage'' wird reichlich auf-
gewogen durch die Wertschätzung, die ihm von Schiller und Goethe zuteil ward.
Des letzteren Äußerung (an Schiller u. d. 29. IV. 1798): „Dieses Gedicht hat die
Wunderkraft wie die Helden Walhallas, die sich des Morgens in Stücke hauen und
mittags sich wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen", spielt auf F. A. Wolfs
Prolegomena an, seit deren Erscheinen die homerische Frage ,,die Sisyphusarbeit
der deutschen Philologie" geworden ist. Bis in die letzten Jahre haben sich die
Gelehrten, und nicht die deutschen allein, zum Teil mit starken Bänden an ihrer
Lösung versucht. Der Verfasser unseres Buches hat seit einem Menschenalter
die Literatur über Homer, soweit es sich um die höhere Kritik handelte, in den
Jahresberichten des Philologischen Vereins kritisch verzeichnet und auch in viel
beachteten Einzeluntersuchungen zu dem homerischen Problem Stellung genommen.
Die Zusammenfassung dieser Kritiken und selbständigen Arbeiten bildet vorläufig
das vorliegende, Vahlen zum 80. Geburtstage gewidmete Buch, das die Frage be-
antworten will (S. 50): „Ist die Ilias in der Gestalt, die sie jetzt hat, das Erzeugnis
eines wirklichen Dichters, oder verdient sie den Namen Dichtung nicht, da sie das
Erzeugnis einer mehr oder minder mechanischen, vorhandenen Stoff nur ordnen-
den, nicht schöpferisch gestaltenden Tätigkeit ist?" — und sie zu beantworten
sucht „nach Grundsätzen, die nicht nur hochangesehene Kritiker wie Haupt,
Vahlen und Wilamowitz, sondern vor allem auch große Dichter selbst für die Beur-
teilung von Dichtungen aufgestellt haben: man soll in erster Linie eine Dichtung
nicht nach den Forderungen des Verstandes meistern, sondern muß der Absicht
des Dichters nachgehen, die Gründe zu erforschen suchen, die ihn gerade zu dieser
C. Rothe, Die Ilias als Dichtung, angez. von E. Grünwald. 11!
Form der Darstellung veranlaßt haben**. Daß dem Dichter hier ein geschickter
Anwalt entstanden ist, kann man nicht leugnen. Nicht als ob der Verfasser verkennte,
was die bisherige Homerkritik geleistet hat (S. 113), als ob er blindlings zu retten
suchte, was nun einmal nicht zu retten ist: er will ja auch nur „eine Versöhnung
der widerstreitenden Ansichten anbahnen und die Aufgabe der homerischen Unter-
suchungen in richtige Bahnen lenken" (S. 354), gibt deshalb eine ganze Reihe von
Versen nicht nur, sondern größeren Stücken mehr oder weniger bedingungslos^
preis (z.B. II, 484—785, VIII, 548, 550—2, XVI, 69—79, 84—90, 306—363,
XVII, 543—592, XVIII, 356—368, 590—606, XX, 156—352, XXI, 129—210,
XXIV, 181—187) und erkennt jedenfalls die Benutzung von schon umlaufenden
Einzelliedern durch den Dichter an (z.B. IX, 529 ff., XI, 668—762). Aber er
wehrt sich dagegen, daß man Homer ,, idealisiere, indem man alles, was einem miß-
falle, auf Rechnung von Nachdichtern oder Rhapsoden oder Redaktoren setze"
(S. 285), weist scharfsinnig den inneren Zusammenhang der Gesänge oder der Hand-
lung, ihre Verknüpfungen nach hinten und vorn, durchgehende gleiche Technik
und Charakterzeichnung nach und erreicht durch glückliche Parallelen mit alt-
klassischen und modernen Dichtungen, daß Homer nicht versagt werde, was anderen
großen Dichtern an Widersprüchen, Unebenheiten, Augenblicksmotivierungen
usw. gestattet, ja von diesen ausdrücklich beansprucht worden ist. Daß unsere
Ilias „das erste größere Hauptwerk ist, das eine Einheit zeigt*' (S. 101), will er
nachweisen, und daß dieser Einheit weder Entstehung, noch Sprache und Metrik
des Gedichts, weder Wiederholungen und Widersprüche noch die verschiedenen
in ihm unterscheidbaren Kulturstufen im Wege stehen; er stellt andere Grundsätze
(als z. B. Kirchhoff, S. 94 f.) für die Analyse des Gedichts auf und zeigt uns einen
Dichter mit individuellen Zügen, die , »bewußtes dichterisches, sich weit über schlichte
Volksdichtung erhebendes Schaffen** (S. 141) erkennen lassen. Die Methode —
sowohl im ersten, allgemeinen Teil, wie in den folgenden Analysen der 24 Gesänge —
ist musterhaft, konsequent und für Studierende vorbildlich; die Beweisführung
oft geradezu spannend. Das Ganze wird zugleich ein Gang durch die neuere Homer-
literatur, deren markanteste Vertreter herangezogen werden. Daß der Verfasser
nicht durchweg überzeugen wird, weiß er selbst; oft werden Gefühl und Geschmack
anders wollen als er: so finde ich z.B. die Häufung der Gleichnisse in XV, 605 — 636
(S. 276) nicht schön, so schön jedes an sich sein mag; so möchte ich Homers Ver-
hältnis zu seinen Sagenstoffen nicht mit dem des Sophokles in seiner Elektra ver-
gleichen (S. 354); so von dem Motiv nachträglichen Einschubs durch den Dichter
nicht so häufig Gebrauch gemacht sehen u. m. a. Die Darstellung ist schlicht,
klar und angenehm, die Sprache selten durch kleine Unebenheiten entstellt (z. B.
S. 67 Z. 3 V. u. l. das Buch st. es; S. 198 Z. 11 1. zu entdecken glaubt; S. 202 Z. 12
1. der St. und). An Druckfehlern merke ich nur an: S.79Z. 7 v. u. 1. bpiyßsov;
85 Z. 16 1. des Helden; 90 Z. 5 v. u. 1. si? o xe . . . TraiTjp aTtooTöat; 112 Z. 18 1.
remontrer; 121 Z. 6 v. u. 1. 446; 129 Z. 2 v.u. 1. 326 und füge hinzu 300 ff.;
181 Z. 14 V. u. 1. 442—44; 307 Z. 6 v. u. 1. 211; 313 Z. 12 1. 208—213. Zu S. 91
(Heidnisches bei Schiller) füge als charakteristisch des Puritaners Paulet Worte
in Maria Stuart: So lang die Götter meines Dachs sie schützen; zu dem angeb-
lichen Widerspruche in der Jungfrau von Orleans (S. 85 f.) zu vergleichen Gaudigs
112 P. Cauer, Die Kunst des Übersetzens, angez. von E. Grünwald.
Wegweiser 11, 164 f., der ihn leugnet; auffallende Widersprüche in Kleists Prinzen
von Homburg sind V. 378 und 743, und die szenische Vorbemerkung zu I, 1 und
V. 1634. Stützen könnte der Verfasser seinen Standpunkt noch durch eine brief-
liche Äußerung Goethes (an Schiller u. d. 6. IV. 1801) und eine ebensolche von
Schiller (an Goethe u. d. 24. IV. 1797). — Der Lehrer, der die Ilias mit seinen
Schülern liest, kann an Rothes Buch nicht vorübergehen; auch wo er dem Ver-
fasser nicht beistimmt, wird er die fruchtbarsten Anregungen für seinen Unterricht
empfangen. Möchte der Ilias die Odyssee recht bald nachfolgen.
Berlin. E. G r ü n w a 1 d.
Cauer, Paul, DieKunstdesÜbersetzens. Ein Hilfsbuch für den lateini-
schen und griechischen Unterricht. Vierte, vielfach verbesserte und vermehrte
Auflage. Mit einem Exkurs über den Gebrauch des Lexikons. Berlin 1909.
Weidmannsche Buchhandlung. VIII u. 166 S. 8^. geb. 4 M.
Das treffliche Buch Cauers von der Kunst des Übersetzens hat nun schon
vier Auflagen erlebt: ein Beweis, daß es einem Bedürfnisse entspricht. Es nennt
sich ein Hilfsbuch für den lateinischen und griechischen Unterricht. Und das ist
€S auch. Denn bei denjenigen, die von Berufs wegen mit dem Übersetzen aus den
klassischen Sprachen zu tun haben, steht es nicht anders als überall : Viele sind
berufen, aber wenige sind auserwählt. Selbst der Meister der Übersetzungskunst
bedarf bei der Anleitung der Jugend neben dem künstlerischen Können auch der
theoretischen Klarheit, die ja nicht immer mit dem Können vereinigt ist. Diese
Klarheit kann er aus Cauers Buche gewinnen. Mit noch viel größerem Nutzen werden
diejenigen, die keine Meister sind, das Buch lesen, das mit begrifflicher Schärfe
tmd sprachlicher Feinfühligkeit an einer großen Fülle von Beispielen die Gesetze
der Übersetzerkunst, sofern von solchen geredet werden kann, erörtert. Der Ver-
fasser selbst sagt hierüber S. 134: ,, Nicht ein System von Regeln wollten wir geben,
die sich einfach und sicher überall anwenden ließen, sondern durch gewählte Bei-
spiele eine lebendige Anschauung vom Wesen der Sprache und ihrem Verhältnis
zum Denken erwecken helfen, aus der dann für jeden, der von ihr durchdrungen
wäre, von selbst im einzelnen Falle ein guter Gedanke erwachsen könnte." Das
Werk Cauers ist ein ernstes Buch, denn es tritt dem Schlendrian entgegen und
mahnt den Leser zur Selbstkritik. Daß bei der großen Zahl von Beispielen der Ver-
fasser nicht in jedem einzelnen Punkte Beifall finden wird, ist ja wohl selbstverständ-
lich. Ich für mein Teil kann nicht bestimmen, wenn er S. 12 Sta ^eacuv durch
Göttin der Göttinnen wiedergibt. Die abgegriffene poetische Scheidemünze, die
uns in dieser Wortverbindung vorliegt, hat bei Homer längst ihre ursprüngliche
Bedeutung, nach der eine Göttin unter den übrigen Göttinnen als eine ganz besondere
hervorgehoben werden soll, verloren. Sonst würden nicht so untergeordnete gött-
liche Wesen wie Kalypso und Kirke so genannt werden können.
Besonders hervorheben möchte ich den beherzigenswerten Exkurs über den
Gebrauch des Lexikons durch die Schüler, sowie drei Register, welche die Brauch-
l)arkeit des Büchleins sehr erhöhen.
Aus Abschnitt IX (Satzbau) führe ich zum Schluß hier eine Stelle an, die mir aus
dem Herzen geschrieben ist (S. 126): „Man schilt gern über den schädlichen Ein-
W. Jahr, Quellenlesebuch zur Kulturgeschichte usw., angez. von A.Matthias. 113
fluß, den der deutsche Stil von der Übung des Lateinischen erfahren habe, über
die schwerfälligen Perioden, in denen Gelehrte und Beamte ihre Gedanken aufzu-
türmen lieben. Aber man vergißt, daß das, was hier als unschöne Übertreibung
erscheint, doch im Grunde eine höchst schätzbare Eigenschaft ist, und daß die
Flucht vor dem einen Extrem gar zu leicht in das andere hineintreibt. Wer den
Periodenbau als undeutsch zu meiden sucht, gerät in Gefahr auch die Kraft einzu-
büßen, die sich in ihm betätigt, jene straffe Konzentration des Denkens, die das
Verwandte erkennt und verbindet, das minder Wichtige dem Wichtigen unter-
ordnet und durch die Fügung der Sätze ein Bild der Verhältnisse zu schaffen sucht,
in denen die Tatsachen ineinander greifen."
Doch ich habe schon zu viel zitiert. Der Leser greife nur nach dem Buche
selbst, er wird seine Freude daran haben.
Halberstadt. L. Ehren thal.
Jahr, W., Quelle nlesebuch zur Kulturgeschichte des frü-
heren deutschen Mittelalters. Erster Teil : Texte. Zv/eiter Teil :
Übersetzungen und Anmerkungen. Berlin 1911. Weidmannsche Buchhandlung,
gr. 8^. VIII u. 232 S. und VI u. 252 S. Jeder Band: geb. 3,60 M.
Das Buch soll quellenkundlichen Übungen dienen und zugleich dem Studenten
in privater Arbeit einen Weg in die historische Quellenliteratur von der Merovingi-
schen Zeit bis zum Ende der Stauferzeit eröffnen. Es hofft, auch über die Grenzen
der Universität und des engeren Faches in weitere Kreise zu dringen und in der
Schule Aufnahme zu finden beim Lehrer, um seine Vorbereitung zu ergänzen
und seinem Vortrag einen anschaulichen Hintergrund zu geben, beim Schüler, um
ihm durch das Hinaufsteigen zu den Quellen selbst das Verständnis des Gehörten
zu vertiefen und den Geschichtsunterricht lebendiger und fruchtbringender zu
gestalten.
Um all diesen Zwecken zu dienen, werden in dem zweiten Teile Übersetzungen
geboten, die nach Möglichkeit wörtlich sind, um eben nur die sprachlichen Schwierig-
keiten zu beseitigen; zu den altsprachlichen Abschnitten sind altsprachliche Er-
läuterungen gegeben, weil diese für das Verständnis ausreichten.
Das Buch wird seine guten Dienste tun. Denn darüber wird man sich doch
immer mehr klar, daß im Geschichtsunterricht die Hilfsbücher allein nicht genügen,
da sie die volle Anschaulichkeit und den vollen Zeitton und den Zeitcharakter
der einzelnen Zeitabschnitte nicht treffen können, sondern immer etwas Ver-
blaßtes an sich haben. Sie sind wie die Pflanzen in einem Herbarium, die die
lebendigen Pflanzen in der lebendigen Natur niemals ganz ersetzen können. Ein
Ausschnitt aus der Quellenliteratur der mittelalterlichen Zeit, mit ruhiger Ver-
senkung in den Inhalt, wird mehr Nutzen für historische Anschauung haben als
viele lehrhafte Stunden und lange doktrinäre Vorträge. Wenn für die Klassen-
bibliotheken der oberen Klassen mehrere Exemplare dieses Buches angeschafft
würden, so könnten diese den Unterricht beständig begleiten und beleben und
häuslicher Tätigkeit eine nützliche Unterlage bereiten. Für diesen Zweck kann
das Buch nicht dringend genug empfohlen werden.
Berlin. A. Matthias.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 8
114 Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie,
Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie, herausgegeben von
W. S i e g 1 i n , o. ö. Professor der historischen Geographie an der Universität
Berlin. Heft 8. Nachtrag. Hefte 12, 17, 18, 22. Berlin. Weidmannsche Buch-
handlung. 8^.
1. Die Entdeckung des germanischen Nordens im
Altertum von D. Detlefsen. Heft 8 Nachtrag: Bemerkungen zur alten
Geschichte der cimbrischen Halbinsel. 1909. 18 S. geh. 0,60 M.
2. Die Anordnung der geographischen Bücher des
Plinius und ihre Quellen von D. Detlefsen. Heft 18. 1909.
VHI u. 171 S. geh. 6 M.
3. Geschichte der deutschen Stämme bis zum Aus-
gange der Völkerwanderung von Dr. Ludwig Schmidt.
I. Abteilung. 4. 5. 6. Buch. Heft 12. 1907. S. 233—366. 7. 8. Buch. Heft 22.
1910. S. 367— 493. geh. 4,60 u. 4,20 M.
4. Die Entwicklung der spanischen Provinzial-
grenzen in römischer Zeit von Franz Braun. Heft 17. 1909.
geh. 5 M.
1. Im Nachtrag zu Heft 8 verwertet Detlefsen aus dem dänischen Liber census
vom Jahr 1231 ein Verzeichnis der alten Landbezirke in Jütland und Schleswig,
der Syssel und Harden, zur Erklärung einiger aus dem Altertum überlieferten Völker-
namen der zimbrischen Halbinsel, zunächst Hymbersysael, das er als Cimbersyssel
faßt. Außer diesem hält er weitere sieben Sysselnamen des mittleren und nördlichen
Jütland für alt, nämlich Harthesysael = Harudenbezirk (?), Salingsysael == Sitz
der Saballingier des Ptolemäus, Abosysael = Bezirk der Avionen Tac. Germ. 40,
ferner Thythaesysael, Vaendlaesysael (der einzige im Vendsyssel erhaltene Syssel-
name), Omungaersysael und Lofraethsysael, diese letzten vier noch unerklärt.
Die Sysselnam.en des südlichen Jütland scheinen ihm jünger. Jedenfalls verdient
das Heranziehen der Bezeichnung Syssel für einen Bezirk Beachtung. Ich er-
innere daran, daß in Island jetzt noch die Bezirke als Sysla bezeichnet werden.
Joh. Anderson „Nachrichten von Island" 1746 S. 139 Anm. gibt ausdrücklich
unter Hinweis auf dänische Vorlagen an Syslumadr = Toparcha von sysla = pro-
vincia, officium. Zu Tastris (Plin. 4, 97) sei bemerkt, daß norwegisch tass Tatze
und Wolf heißt. Sollte die Gestalt der Landzunge den Namen verschafft haben?
Mit der Deutung solcher Namen müssen sich die des Nordischen (Isländischen)
kundigen Gelehrten befassen.
2. Fünfzig Jahre der Forschung über die geographischen Bücher der Naturalis
Historia des Plinius werden in gewissem Sinne durch diese Quellenuntersuchung
zum Abschluß gebracht. Der Verfasser selbst bedauert, daß er die nötige Vorarbeit,
eingehende Untersuchungen über die von ihm noch nicht behandelten Provinzen
des römischen Reiches, nicht erledigt hat, glaubt aber mit den Ergebnissen der
bisherigen Studien nicht länger zurückhalten zu sollen und tut wohl daran. Was er
für den größten Teil Europas, über Afrika, den Pontus und über einige Haupt-
quellen des Plinius in Einzelschriften festgestellt hat, faßt er hier kurz zusammen
und vervollständigt nun das Bild der Alten Welt und ihr Abbild in Plinius und
angez. von S. P. Widmann. 115
seinen Quellen. Von praktischen und patriotischen Gesichtspunkten ausgehend,
betrachtet Plinius als seine Hauptaufgabe die Beschreibung der Länder des römischen
Reiches und läßt daher die Behandlung der außerrömischen Gebiete zurücktreten.
Demgemäß stützt er sich vornehmlich auf Werke römischen Ursprungs, haupt-
sächlich auf Agrippas Erdkarte, auf eine Schrift Varros über die Gliederung der
Länder durch die Meere und auf statistische Übersichten in den formulae pro-
vinciarum (S. 25 ff.), wie Detlefsen sie in seinen ersten Arbeiten über die spanischen
Provinzen bezeichnete. Nach einem Einblick in die geographische Bibliothek des
Plinius stellt der Forscher Einzeluntersuchungen über die Quelle^ für die Geo-
graphie der europäischen, afrikanischen und asiatischen Küsten, Binnenländer
und Inseln an und zieht daraus die Folgerungen für die Arbeitsweise des Schrift-
stellers, der im wesentlichen seine Quellen organisch verarbeitete, die meisten der
von ihm genannten Schriftsteller aber nur durch Zwischenquellen kannte und den
übernommenen Stoff durch neue Mitteilungen erweiterte und ergänzte. Auf die
Ansichten, die A. Klotz in seinen Quaestiones Plinianae geographicae (1906, Heft 11
der Quellen und Forschungen) darlegt, geht Detlefsen nicht ein, weil der grundsätz-
liche Standpunkt eine Einigung beider Forscher ausschließt. Die streitigen Fragen
müssen in Einzeluntersuchungen zur Entscheidung kommen.
3. Heft 7 und Heft 10 brachten die drei ersten Bücher der Geschichte der ost-
deutschen Germanenstämme, nämlich die Geschichte der Ostgoten und die der West-
goten bis zur Begründung des tolosanischen Reiches. Dieses selbst wird im 4. Buche
bis zum Jahre 507 behandelt und zwar zunächst seine äußere, dann seine innere
Geschichte. Das 5. Buch ist den Gepiden, Taifalen, Rugiern, Herulern, Turkilingen
und Skiren, das 6. den Lugiern gewidmet. Das 7. Buch enthält die äußere und innere
Geschichte der Burgunder, das 8. die der Langobarden. In einem Anhang sind die
spärlichen Nachrichten, die wir von den Bastarnen haben, zusammengestellt,
die von den Griechen zuerst für Kelten gehalten wurden, nach Sitte und Brauch
jedoch als Germanen erscheinen. Die Benutzung des bei aller Kürze inhaltreichen,
streng kritischen Werkes erleichtert das beigefügte Sach- und Namenverzeichnis.
Nicht unerwähnt bleibe, daß eine Reihe von Nachrichten, die ohne rechte Prüfung
aus den Quellen in die geschichtlichen Darstellungen der Zeit der germanischen
Völkerwanderung aufgenommen wurden und sich von Buch zu Buch fortschleppten,
hier Richtigstellung erfahren. An Gregor von Tours haben andere schon scharfe
Kritik geübt. Unter den neuen Geschichtschreibern erhält Dahn manche nicht
unbegründete Zurechtweisung. Vielleicht geht aber auch Schmidt mitunter zu weit,
z. B. in der verschiedenen Beurteilung des Burgunderkönigs Gundobad und des
Bischofs Avitus von Vienne S. 423, wenn er jenem trotz seiner Härte gegen Godi-
gisels Ratgeber (S. 386) wiederholt Humanität nachrühmt, des Avitus und anderer
Bischöfe Liebestätigkeit (S. 384 u. 423) nicht als Menschenfreundlichkeit auffaßt.
4. Über die Geschichte der Provinzialeinteilung Spaniens, besonders über
die Zeit der endgültigen Dreiteilung der Kaiserzeit an Stelle der früheren Zwei-
teilung sowie über die Grenzen der Provinzen und ihre Verschiebungen kam bis
jetzt die Forschung zu keinem einheitlichen Ergebnis. Nun weist Braun nach,
daß die Agrippakarte die Dreiteilung hatte, die im Jahre 27 v. Chr. erfolgte, und
legt möglichst die Provinzgrenzen fest. Zu Varros Zeit bestand die Dreiteilung
8*
116 Lutz' Memoirenbibliothek, angez. von W. Meiners.
nicht, auch nicht die spätere von Plinius überlieferte augusteixhe, die in die Zeit
zwischen 7 und 2 v. Chr. fällt.
Münster i. W. S. P. W i d m a n n.
Lutz' Memoirenbibliothek. Leben, Fehden und Händel des Ritters
Götz von Berlichingen, durch ihn selbst beschrieben.
Neu herausgegeben von R. Kohlrausch. Stuttgart. Robert Lutz. 188 S.
80. geb. 3,50 M.
Auf die Bedeutung von Memoiren für den Geschichtsunterricht und auf ihren
Wert für die Förderung der Selbsttätigkeit des Schülers hat bereits im VIH. Bande
dieser Monatschrift (S. 1 19) Adolf Matthias bei Gelegenheit der Anzeige der Schultze-
schen Memoirenbibliothek hingewiesen. Ich brauche daher auf diese Fragen nicht
erst einzugehen, wenn es gilt, auf ein zweites Unternehmen derselben Art
aufmerksam zu machen, das nicht minder Brauchbares enthält. Daß freilich
aus der Lutzschen Memoirenbibliothek nur ein kleiner Teil der bisher erschienenen
25 Werke in die Hand des Schülers gehört, sei gleich von vornherein gesagt, unter
ihnen die vorliegende Selbstbiographie Götzens, die jedem, der Geschichte lernt
und lehrt, warm empfohlen sein mag; sie gehört in die Schulbibliothek der Prima.
Schon der eine Umstand, daß es Götz von Berlichingens Selbstbiographie gewesen
ist, die Goethe so ergriff, daß er dessen Geschichte zu dramatisieren beschloß:
schon dieser Umstand beweist, daß sie doch wohl etwas in sich enthalten muß,
was einen in ihren Bann zieht. Das ist weniger das Spannende des Inhalts der
„Kriege, Fehden und Feindschaften" die Götz als Jüngling und Mann teils in eigener
Sache, teils „für Kaiser und Könige, Kurfürsten, Fürsten und Herren, auch für gute
Freunde und Gesellen in ihren Angelegenheiten" in so großer Zahl unternommen
hat, daß er nicht selten schier „aus einem Krieg in den andern hineingewachsen",
und die er dann als Greis erzählt hat. Sie verlaufen zum Teil ziemlich ähnlich, und
nur wenige gehen über das lokal- und territorialgeschichtliche Interesse hinaus.
Das Anziehende liegt vielmehr in der Persönlichkeit des Erzählers, die hinter all
den Geschichten steht. Es ist der „treuherzig e" Götz, der — und das ist
auch von Einfluß auf die Sprache und die Form der Erzählung — nicht „in der
Meinung, Ruhm oder einen großen Namen damit zu suchen oder zu erwerben",
seine Erlebnisse niederschreibt, sondern um falschen Deutungen gegenüber der
Wahrheit die Ehre zu geben, der sich ferner bewußt ist, stets gelebt und gehandelt
zu haben, „wie es einem frommen, ehrlichen Manne vom Adel geziemt" und den
der Verlauf, den dieses unruhige, mühevolle Lebenswerk für ihn genommen, zu
dem Glauben gebracht hat, „daß der allmächtige Gott seine göttliche Gnade,
Hilfe und Barmherzigkeit mir vielfältig hat zuteil werden lassen und mehr für mich
gesorgt hat als ich selbst". „Reiten und Rauben ist keine Schande; es tun's die Besten
im Lande" ist die Auffassung des ausgehenden Mittelalters; dieselbe Auffassung
spricht aus jeder Seite der Selbstbiographie unseres Ritters. So wird das Bild von
Götzens Leben zu einem Kulturbild vom Leben des deutschen Landadels im
XVI. Jahrhundert überhaupt, als welches Gustav Freytag es längst gewertet hat. —
Daß das Buch auch für den deutschen Unterricht fruchtbar gemacht werden kann,
sei nur in Anmerkung hinzugefügt. Im Interesse der Benutzung durch den Schüler
Priene, angez. von M. Thainm. 117
ist es von Vorteil, daß Kohlrausch das Deutsch des Originals modernisiert hat;
einen weiteren Vorteil, dessen Beobachtung mir für die Zukunft geradezu als not-
wendig erscheint, würde ich darin sehen, wenn der Leser in kurzen erklärenden
Anmerkungen unter dem Text, wie die Schultzeschen Memoirenbände sie haben,
über ihm unbekannte Personen und Sachverhältnisse Belehrung fände. Hoffent-
lich folgt der Verlag dieser Anregung.
Elberfeld. W i 1 h. M e i n e r s.
Priene. Nach den Ergebnissen der Ausgrabungen der Kö-
niglich Preußischen Museen 1895 — 1898 rekonstruiert
von Ad. Zippelius, Architekt in Karlsruhe. Aquarelliert von
E. W 0 1 f s f e 1 d 1910. Ausgabe A ohne Stäbe 7 M. ; Ausgabe B gefirnißt mit
Stäben, zum Rollen 9M.; Ausgabe C aufgezogen, gefirnißt mit Rahmen 13,50 M.
— Reproduktionen der schwarzen Rekonstruktionszeichnung von A. Zippelius
sind zu den gleichen Preisen erschienen. — Als Beigabe wird unberechnet
geliefert Priene. Begleitwort von Dir. Dr. Th. Wiegand. Mit 18 Fig.
im Text und 3 Tafeln. (28 S.)
Wer bei der altsprachlichen Lektüre oder in einer Geschichtsstunde mit seinen
Schülern eine hellenistische Stadtbesprechenundnach dem Grundsatze der Anschau-
lichkeit des Unterrichts ein geeignetes Lehrmittel zu diesem Zweck verwenden will,
der wähle getrost die wohl gelungene Rekonstruktion von Priene.
An Ort und Stelle haben Architekt Zippelius und Kunstmaler Wolfsfeld ihre
besonderen Studien gemacht: der eine, um bei der Zeichnung alle Ergebnisse einer
streng wissenschaftlichen Forschung zu verwerten, der andere, um für die Darstellung
in Aquarelltechnik Licht- und Luftstimmung zu beobachten und* so die Farben
der kleinasiatischen Landschaft getreu wiederzugeben.
Kein Wunder, wenn ein reizvolles, sonniges Bild der alten Kulturstätte ent-
standen ist, die als ein hellenistisches Pompeji Theodor Wiegand und Hans Schrader
in den Jahren 1895 — 1898 vollständig freigelegt und in einem wertvollen Monumental-
werke „Priene" im Jahre 1904 mustergültig beschrieben haben.
Klar und übersichtlich liegt Priene in fein abgetöntem, farbigem Bilde da.
Zwischen zwei von Gebirgsbächen zerrissenen Schluchten ragt im Norden 371 m
über die Stadt der Burgberg, die Akropolis, „die trotzige Marmorstirn", „der
adlerumkreiste Felsensitz" empor, zugänglich auf einem einzigen schwindelnden
Treppenpfad in Zickzacklinien. Am Fuße dieser zur neungipfligen Mykale ge-
hörenden Felsmasse breitet sich in polygonaler Gestalt das berühmte Priene aus.
In einer Länge von 2V2 km zieht sich um Burg und Stadt ein Mauerring mit 28
sägeförmigen Aussprüngen und 26 Türmen, nur durch ein westliches, östliches und
südöstliches Tor unterbrochen.
Dem unebenen Gelände ist nach dem System des Milesiers Hippodamos die
ganze Anlage aufgezwungen worden. Kühn die Schwierigkeiten der Natur über-
windend, gewaltige Felsmassen wegsprengend und den Schutt wieder nutzbar
verwendend, haben die Gründer den Abhang in vier Terrassen geteilt und in dem
Ganzen nach strengem Schema acht lange, wenig ansteigende gerade Straßen
118 Priene, angez. von M. Thamm.
in ostwestlicher und sechzehn kürzere treppenförmig in nordsüdlicher Richtung
mit rechtwinkligen Kreuzungen angelegt.
Auf der obersten Terrasse steht das Demeterheiligtum; die zweite bietet Raum
dem Theater, dem oberen Gymnasium und dem von Alexander d. Gr. gestifteten
Tempel der Athena Polias, der lange Zeit für den jonischen Normaltempel gehalten
wurde; im Mittelpunkte der dritten prangt der Marktplatz, ein von vier Säulen-
hallen eingefaßtes Rechteck, dahinter das Ekklesiasterion, das theaterartige Sitzungs-
haus der Bürgerschaft; die untere, südlichste Terrasse wird bedeckt vom unteren
Gymnasium und dem weithin schimmernden, von hohen Zypressen umsäumten
Stadion.
Welche Fülle von Kunst, von öffentlichen Gebäuden in einer kleinen Landstadt
von kaum 5000 Einwohnern!
Unzählige rotbedachte Privathäuser — viele im griechischen Normalstil —
häufen sich gedrängt in etwa 80 Inseln oder Häuservierteln. Nordnordöstlich
leuchtet einsam dem Beschauer das Klärbassin der Wasserleitung entgegen. Vor
dem Ost- und Westtore sind die Nekropolen leicht zu erkennen.
Dankenswert ist fürwahr die Anregung, die Geheimrat Theodor Wiegand
zur Herstellung dieses lehrreichen Bildes im Interesse der Schule gegeben hat,
mit dem Hinweis auf ein Urteil des bekannten Kunstkritikers Fr. Naumann: „Das
gut gesehene Bild eines geschichtlich bedeutsamen Gegenstandes ist mindestens
so sehr geeignet, den Inhalt einer ernsten Unterrichtsstunde zu bilden, wie eine Ode
von Horaz oder ein Brief des Cicero.**
Ebenso dankenswert ist das treffliche Begleitwort, das Wiegands gewandter
Feder entstammt. In gedrängter Kürze enthält es wohl einen Auszug aus dem oben
erwähnten Prachtwerke „Priene" und erleichtert dem Lehrer die Erklärung, dem
Leser die Betrachtung des schönsten Stadtbildes aus hellenistischer Zeit.
Ja, noch mehr! Im Geiste durchwandern wir beim Lesen unter der bewährten
Führung des besten Kenners von Altpriene Straßen und Plätze, bewundern mit
ihm die herriichen Bauten und sehen die lebensprühende Stadt von ernsten und
heiteren Bewohnern bevölkert, die als rührige Bürger daheim oder als gewiegte
Diplomaten oder fromme Priester des Poseidon Helikonios draußen einzig und
allein dem Gemeinwohl dienten.
Der Wert dieser überaus fesselnden Schrift wird noch erhöht durch die Beigabe
von drei Tafeln — das alte Priene in schwarzer Rekonstruktionszeichnung, die
Akropolis im jetzigen Zustande und ein Plan der Unterstadt nebst Plan der Gesamt-
lage — und durch eine feinsinnige Auswahl geeigneter Textbilder. Erwähnenswert
sind: Ein Blick von der Mykale auf die Mäanderebene, der Brunnen vor dem West-
tore, Pläne des Marktes, des Rathauses, ein Blick in den Sitzungssaal, das Gebälk
des Athenatempels, die Rekonstruktion eines Hauses, eine Jünglingsstatuette,
eine Mädchenbüste und last not least der pausbäckige, verschmitzte Schusterjunge
als Karikatur eines Dornausziehers.
In summa: Rekonstruktion von Priene und Begleitwort, zwei Meisterstücke
in Wort und Bild, zu Nutz und Frommen der Schule geschaffen, verdienen die
wärmste Empfehlung und die weiteste Verbreitung.
Montabaur. Melchior Tham m.
Th. Birth, Aus der Provence, angez. von M. G. Schmidt. 119
Birt, Theodor, Aus der Provence, Reiseskizzen. Berlin W. 57. 1911 Verlag
der deutschen Bücherei, Otto Koobs. 168 S. 8^. 1 M.
In dem vorliegenden Hefte schildert der Marburger Professor eine fünfwöchent-
liche Herbstreise, die ihn im Jahre 1905 durch die ansehnlichsten Plätze der Provence
führte. Gern folgen wir seiner Leitung durch das behagliche Kleinstadtleben von
Dijon nach Lyon, der Großstadt der Arbeit, dem zweiten Rom für die römischen
Kaiser, und nach Avignon mit seiner Burg, dem zweiten Rom für die Päpste.
Vaucluse, die Heimat Petrarcas, Orange, Arles und Nimes, reich an altklassischen
Erinnerungen und großartigen Monumenten, St. Remys, in dessen Nähe Frederi
Mistral, der Homer der modernen Provence, haust, Les Baux, die abenteuerliche
Felsenstadt, Aigues Mortes und schließlich Marseille nebst der Riviera tauchen
vor uns empor. Das sind nicht Reiseschilderungen gewöhnlichen Zeitungsstils;
Birt bleibt sich immer gleich: amüsant plaudernd, geistreich spöttelnd, voll ka-
priziöser Einfälle, doch immer anregend, nie langweilig, mit dem Auge des Dichters
und mit dem Herzen des feinsinnigen Ästheten, des Vielgereisten und vielseitig
Gebildeten die Welt und was in ihr ist, schauend, ob er nun seine kleinen Wander-
abenteuer zum besten gibt, oder die stimmungsvollen Reize der südlichen Land-
schaft malt oder ob er von dem Hauptzweck seiner Reise berichtet — in dem
Menschenschlag der Gegenwart dem Griechentum der Antike nachzuspüren. Gerade
nach dieser Richtung hin sind seine Beobachtungen besonders anziehend.
Lüdenscheid. Max Georg Schmidt.
Island in Vergangenheit und Gegenwart. Reise-Erinnerungen
von P a u 1 H e r r m a n n. HL Teil. — Zweite Reise quer durch Island. Mit
29 Abbildungen im Text, einem farbigen Titelbild und einer Übersichtskarte
der Reiserouten des Verfassers. Leipzig 1910. W. Engelmann. X u. 312 S.
gr. 80. geh. 7 M.
Dank der Anregung des tatkräftigen Förderers so vieler wissenschaftlichen
Unternehmungen und Forschungen, des ,,zu früh verewigten" Ministerialdirektors
Exzellenz Dr. Althoff, und der Unterstützung des Ministeriums der geistlichen,
Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten konnte der Verfasser zum zweitenmal
,,das trotzige Ende der Welt" besuchen. Obwohl das Buch den Schlußband des
großen Werkes über das feuerdurchglühte Eisland bildet, ist es doch auch wieder
ganz selbständig, insofern die Reisebeschreibung den Leser über die sturmum-
brausten Höhen, durch die öden, wegelosen Lavawüsten, vorüber an den grünen
Mooren zu den Stätten der lebenden Sagen führt. Man versteht es beim Lesen recht
wohl, daß der wundersame Zauber der „Ultima ThuW den Besucher trotz aller
Reisestrapazen fesselt, und es dürfte nicht wundernehmen, wenn das Buch manchen,
dem die Mittel zu Gebote stehen, zur Fahrt dorthin verlockt. Ihm wird das Werk
ein wertvoller Ratgeber und Führer, ein zuverlässiger Geleiter und lieber Begleiter
sein, ihm ist vornehmlich das erste Kapitel ,,Rund um Islands Küsten" gewidmet,
allen Lesern aber bietet es reiche Belehrung und mannigfachen Genuß, weil bald
der Gelehrte, bald der Mensch berichtet und beide in dem schlichten, anziehenden
Tone der Wahrheit. Auf S. 88 ff. erfahren wir auch die wahrscheinliche Ursache
des Todes der beiden Forscher Dr. von Knebel und Rudioff. Am 10, Juli 1907
120 F. M. Feldhaus, Ruhmesblätter der Technik usw., angez. von J. Norrenberg.
ruderten sie mit undichtem Faltboot aus Segeltuch über den Askjasee. Nach der
begründeten Vermutung des Führers ögmundur, des jetzigen Rektors der Schule
in Hafnarfjördur, ging wohl ein Bergsturz nieder in den See, der so zum Grabe
der allzukühnen Männer wurde. In ,,Isafold, Reisebilder aus Island** (Berlin 1909),
hat Ina v. Grumbkow dem Berliner Gelehrten, ihrem Bräutigam, ein würdiges
Denkmal errichtet. Die geschäftige Saga aber webt schon ihre Nebelschleier um
die Verunglückten, denen Islands Schwäne die Totenklage singen. Den eigentlichen
Schwanengesang hörte Herrmann nur ein einziges Mal in der dämmernden Früh-
sommernacht bei Bordeyri. Aus der Ferne klang er wie verworrene Glockentöne
(S. 163). So dringen zu uns die seltsamen Sagas, die in den Übertragungen „die
eigenartige Schönheit und herbe Lebenswahrheit" der Originale ahnen lassen,
und wir verstehen die Sehnsucht des Erzählers.
Münster i. W. S. P. W i d m a n n.
FeldhauSy F. M., Ruhmesblätter der Technik von den Ur-
erfindungen bis zur Gegenwart. Mit dem Bildnis Leonardo da
Vincis und 231 Abbildungen und Tafeln nach den Originalen. Leipzig 1910.
Fr. Brandstetter. 631 S. geh. 8 M., geb. 10 M.
Aus dem an Umfang wie an amüsanten und kuriosen Dingen so überaus reichen
Buche der Erfindungen hat der Verfasser des vorliegenden Werkes einige Blätter
ausgewählt, die er wohl mit Recht als Ruhmesblätter der Technik bezeichnet.
Sie sind allerdings etwas willkürlich zusammengestellt, nicht nach sachlichen
Gesichtspunkten, sondern anscheinend so wie es die Vorarbeiten des Verfassers
geboten sein ließen. Die Werkzeuge der Alten und ihre gewaltigen Leistungen,
die mannigfachen Arten der Kriegswaffen, die Wasser- und Windmotoren wie
auch die kalorischen Kraftmaschinen, die Verkehrsmittel und schließlich die
verschiedenen Einrichtungen zur Übermittlung von Worten und Gedanken
sind zwar gewiß Erfindungen, deren geschichtliches Werden und Gestalten
der Nachforschung wert sein dürfte, doch stehen sie in einem nicht leicht
erkennbaren Zusammenhange zueinander und stellen doch auch nicht gerade den
Höhepunkt in dem Wunderbaue der Technik dar. Und dieselbe feuilletonistische
Willkür macht sich wie bei der Auswahl so auch bei der Ausarbeitung der einzelnen
Kapitel geltend und gereicht dem sonst fleißigen Werke nicht zum Vorteil. Jeden-
falls wird das in dem Titel gegebene Versprechen, daß der Leser von den Urerfin-
dungen bis zur Gegenwart geführt werden soll, in den Einzeldarstellungen nicht
erfüllt. Meist geht der Verfasser allerdings bis zu den unsicheren Mitteilungen
griechischer und römischer Schriftsteller zurück, bald aber läßt in den einzelnen
Abschnitten die Intensität der Darstellung nach und schließlich werden dann
die neuzeitlichen Leistungen, die doch erst recht den Ruhm der Technik begründeten,
mit einigen allgemeinen Reflexionen abgetan. Nichtsdestoweniger ist das, was
der Verfasser an wertvollem Material so eifrig gesammelt hat, des Lesens wert,
doch bietet es schon durch die Wiedergabe zahlreicher älterer Originalabbildungen
mehr kulturhistorischen als fachwissenschaftlichen und technischen Wert. Für
die Hand des Lehrers wird noch immer Darmstaedters „Handbuch zur Geschichte
J. Pohle, Die Sternen weiten und ihre Bewohner, angez. von F. Rusch. 121
der Naturwissenschaften und der Technik", für die Schülerbibliothek das leider
etwas veraltete „Buch der Erfindungen" von Samter vorzuziehen sein.
Berlin. J. Norrenberg.
Pohle, Joseph, Die Sternenwelten und ihre Bewohner. 6. AufL
Köln 1910. J. P. Bachern. 539 S. 81 brosch. 8 M., geb. 10 M.
Der Verfasser will die gebildete Welt ,,für die schöne Wissenschaft der Astro-
nomie lebhaft interessieren". Er benutzt dabei als anlockende Methode die An-
lehnung der modernen Ergebnisse an die Hypothese von „Astralgeschöpfen" wie
eine „Art von Staffage". Das Werk stellt die wissenschaftlichen Ergebnisse im
ganzen einwandfrei dar, wenn der kundige Leser ja auch ständig den Nichtfachmann
herausfühlt. Auch sickert doch so viel von jenem unwissenschaftlichen Problem
der ,, Bewohnbarkeit der Welten" in die Darstellung, daß das Buch kein rein astro-
nomisches mehr bleibt: spekulative Philosophie und Theologie, speziell katholische
Theologie können mit Recht Anspruch darauf erheben, daß Pohles Werk mehr
oder ebenso in ihren Bücherschatz eingeordnet wird wie in die Bibliothek eines
Astronomen. Allen Laien, die zur Spekulation neigen, und besonders denen, die
erkennen möchten, daß kein Ergebnis der Astronomie mit katholischem Christentum
und wahrer Frömmigkeit in Widerspruch steht, kann das Werk empfohlen werden.
Leider hat der Verfasser einige Härten des Ausdrucks nicht beseitigt, die trotz
ihrer geringen Zahl doch stören. „Derselbe" und seine Angehörigen sind in der
Bedeutung von „fs" sogar aus der Amtssprache verbannt. Ein feinfühlender Schrift-
steller wird sie vermeiden. Bei Pohle findet man sie recht häufig. Eine große Zahl
von Fremdwörtern hätte sich ausmerzen lassen, zumal bei einem Buch, das sich an
Laienkreise wendet. So sagt Pohle mehr als einmal ,, Eklipse", „Dignität", ,, Radia-
tionen", „Distorsion", „Index" und viele andere statt der oft so naheliegenden
deutschen Ausdrücke. Bei Zitaten aus anderen Schriftstellern muß man lieber auf
das Zitat verzichten, als Härten in sein Buch aufnehmen. Wenn U 1 e sagt, Köper-
nikus vollbrachte ,,eine kühne, aber gefahrvolle Tat", braucht Pohle diese
Stelle nicht gerade herauszuziehen.
Dillenburg, Nassau. Franz Rusch.
Säger, Albert, Der menschliche Körper, dessen Bau, Lebens-
verrichtungen und Pflege. Karlsruhe 1910. J. Lang. X u. 160 S. 8^
geb. 1,50 M.
Das Buch verquickt nicht, wie es sonst in Schulbüchern das Gewöhnliche ist,,
die Besprechung des Baues und der Verrichtung der Organe, jeder Abschnitt ent-
hält vielmehr getrennt einen anatomischen und einen physiologischen Teil, in einem
dritten Teil folgt jedesmal das Wichtigste aus der Hygiene. Eine solche Anordnung
ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, freilich führt der Verfasser — be-
greiflicherweise! — die Trennung nicht ganz scharf durch. Eine gewisse Reich-
haltigkeit ist anzuerkennen, besonders in den physiologischen und hygienischen
Abschnitten. Kurze Zusammenstellungen der wichtigsten gesundheitlichen Vor-
schriften machen diese noch eindringlicher. Ein Vorzug des Buches ist das aus-
122 A. Säger, Der menschliche Körper usw., angez. von G. Klatt.
führliche Kapitel über Nahrungsmittel, das auch eine Tabelle über den Nährwert
der Nahrungsmittel gibt. Im Anhang behandelt der Verfasser die Gefahren des
Alkoholismus, bespricht das Wesen ansteckender Krankheiten und gibt Anweisungen
für die erste Hilfeleistung bei Unfällen.
Zeigt das Buch so nach mehreren Richtungen hin einen modernen Geist, so
ist der Verfasser in seiner Zimperlichkeit gründlich unmodern. Wir natur-
wissenschaftlichen Lehrer glauben im modernen erzieherischen Sinne zu wirken,
wenn wir durch unbefangene Behandlung von Themen, die dem Ungeschickten
iieikel erscheineUj die Schüler zur Harmlosigkeit zu erziehen streben. In der aus-
führlichen Aufzählung der äußeren Teile des Rumpfes wird das Gesäß über-
gangen, was natürlich sofort auffällt, und die Schwanzwirbel macht die
Zimperlichkeit zu E n d w i r b e 1 n.
^•;t Dem pädagogischen Geschick des Verfassers, daß sich in der Anlage des Buches
in manchen Punkten zeigt, steht leider nicht das entsprechende fachliche Wissen
zur Seite. Der Verfasser stellt sich in schlimmster Weise als Nichtfachmann bloß.
Daß manche Abschnitte durch die Anordnung einen Mangel an gründlicher Durch-
arbeitung verraten, ginge noch an, auch manche Schiefheiten und Unklarheiten
könnte man sich gefallen lassen. Was soll man aber dazu sagen, daß das Buch, be-
sonders in den anatomischen Teilen, geradezu von Fehlern wimmelt? An Stelle
weiterer Worte einige Proben. Das Wort „Protoplasma" wird mit „Zellstoff'
übersetzt (S. 10), alle Knochen sollen aus Knorpeln entstehen (S. 13), Krön- und
Stirnnaht hält der Verfasser für dasselbe (S. 14). Die Fontanellen nennt er knorpelige
B ä n d e r (S. 15), auf derselben Seite läßt er die Nasenflügel an den Nasenmuscheln
befestigt und die Nasenscheidewand nur vom Vomer gebildet sein, auf derselben
Seite schließlich fehlt in der Beschreibung des Zahnes das Zement. Die Wurzel
der Backenzähne wird allgemein als gabelig beschrieben (S. 16), die Nervensubstanz
soll aus Röhrchen und Zellen bestehen (S. 51), das Weiße im Auge ist nach der An-
gabe auf S. 53 die Bindehaut, die Iris hat ihre Lage zwischen Corpus striatum
und Cornea usw. Woher hat der Verfasser nur all diese Dinge? Aus den Büchern,
die er, um seine Studien zu beweisen, anführt, doch gewiß nicht. Wem diese Fehler
etwa noch geringfügig erscheinen sollten, der dürfte durch die folgenden beiden
Stellen überzeugt werden, die ich zum Schlüsse noch dem Buche entnehme. Auf
S. 147 steht schwarz auf weiß, daß das Sumpfgas das Wechselfieber erzeugt, und
weiter, daß die bei der Fäulnis sich bildenden (!) mikroskopischen Pilzchen mit der
Luft eingeatmet werden und gefährliche Krankheiten erzeugen können. „Solche
Bakterien (also die bei der Fäulnis sich bildenden! D. Ref.) werden als Ursache
ansteckender Krankheiten (Typhus, Cholera, Tuberkulose, Diphtherie u. a.) an-
gesehen ..."
Kann man ein Buch, das solche Verkehrtheiten enthält, zur Einführung in
einer höheren oder niederen Schule empfehlen? Würde diese Empfehlung angesichts
der angeführten groben Mängel noch Geltung haben? Obendrein ist dieses Buch
nicht ein Versuch, sondern erscheint in vierter „vermehrter und verbesserter"
Auflage.
Görlitz. Georg Klatt.
K. Zepf, Experimentelle Einführung usw., angez. von K. A. Henniger. 123
Zepf, K., Experimentelle Einführung in die Grundlehren
der Chemie mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen im täg-
lichen Leben nebst kurzen Anleitungen zum Anstellen von
Schulversuchen mit einfachen Hilfsmitteln. Lehrbuch für die Hand
von Lehramtskandidaten. Mit 66 Abbildungen. Karlsruhe i. B. 1910. G. Braun-
sche Hof buchdruckerei und Verlag. XVI u. 392 S. S>\ geb. 5 M.
Der allgemeine Titel und namentlich der Zusatz Lehrbuch für die
Hand von Lehramtskandidaten erwecken die Vorstellung, als ob
in dem vorliegenden Buche dem angehenden Chemielehrer bis dahin im wesent-
lichen unbekannte theoretische und praktische Unterweisungen geboten würden.
Davon kann jedoch, mindestens nach der theoretischen Seite hin, keine Rede
sein, da die Anforderungen, welche z. B. in Preußen an den vollberechtigten Chemie-
lehrer in der Staatsprüfung gestellt werden, derart sind, daß er den in dem Buche
behandelten theoretischen Stoff völlig beherrschen muß. Auch über die
Methode, nach welcher der für den Schulunterricht in Betracht kommende Stoff
den Schülern darzubieten ist, soll der junge Lehrer bei uns während seiner beiden
ersten praktischen Dienstjahre durch erfahrene Lehrer hinreichende und
zweckdienliche Unterweisung erhalten. Eine weitere, wesentliche Unterstützung
findet er in den besseren chemischen Lehrbüchern und Leitfäden, die an unseren
höheren Lehranstalten in Gebrauch sind. Sonach könnte man das vorliegende Buch
für überflüssig halten. Aus dem Vorworte erfahren wir jedoch, daß der Verfasser,
welcher als Professor an der Großherzoglichen Baugewerkschule in Karlsruhe
wirkt, zunächst die zukünftigen Chemielehrer an gewerblichen Anstalten
im Auge hat. Diese will er durch sein Buch in den Stand setzen, die im praktischen
Leben sich allerorts abspielenden chemischen Vorgänge zu verstehen und in ihrer
Bedeutung für das tägliche und wirtschaftliche Leben zu würdigen und von einem
erweiterten Gesichtspunkte aus zu überblicken. Diesem Zwecke wird das Buch
zweifellos gerecht, da der Verfasser infolge seiner reichen praktischen Erfahrung
und Betätigung in der Lage ist, alles das, was der Kandidat während seiner Studien-
zeit gelegentlich gehört hat, zweckdienlich zu gruppieren und an geeigneter
Stelle hervorzuheben.
Da es dem Referenten in erster Linie darum zu tun ist, den Inhalt und den
Zweck, dem das vorliegende Buch dienen soll, zu skizzieren, so kann, insbesondere
auch aus Rücksicht auf den ihm zu Gebote stehenden Raum, von der Aufzäh-
lung stilistischer und sachlicher Ausstellungen im einzelnen hier Abstand genommen
werden. Nur im allgemeinen sei bemerkt, daß einerseits verschiedene Abstriche und
Kürzungen dem Werte des Buches nur förderlich sein dürften, und daß andererseits,
trotz der Fülle des Gebotenen, hier und da doch noch wichtige Angaben und
Erläuterungen vermißt werden.
Der Verfasser behandelt auf S. 1—227 die anorganische, auf S. 229
bis 348 die sogenannte organische Chemie und bespricht auf S. 349 — 355
die hauptsächlichsten analytischen Reaktionen mit Einschluß derjenigen einiger
organischen Säuren. In der anorganischen Chemie sind die Nichtmetalle bezüglich
ihrer Gewinnung, Eigenschaften und Anwendungen sehr ausführlich, die Leicht-
metalle ziemlich dürftig und die Schwermetalle als solche überhaupt nicht berück-
124 A. Nathanson, Tier- und Pflanzenleben des Meeres, angez. von O. Jason.
sichtigt. Einer verhältnismäßig eingehenden Behandlung erfreut sich dagegen
die organische Chemie, deren Bedeutung für das tägliche und wirtschaftliche Leben
in größerem Umfange gewürdigt wird. Als besonders bemerkenswert sind noch die
chemisch-physikalischen Aphorismen, hervorzuheben deren In-
halt durchweg auch im chemischen Unterrichte unserer höheren Lehranstalten
Berücksichtigung verdient, sowie zwei Verzeichnisse der notwendigsten
Chemikalien und Apparate mit Angabe der Preise. Da das Buch im übrigen auf dem
Boden der modernen physikalischen Chemie steht und eine Fülle zweckdienlicher
Angaben und beachtenswerter Winke, insbesondere auch in experimenteller Be-
ziehung, enthält, so kann es der Aufmerksamkeit der einschlägigen Kreise empfohlen
werden.
Charlottenburg. K. A. H e n n i g e r.
Nathanson, A., Tier- und Pflanzen leben des Meeres. Leipzig 1911.
Quelle und Meyer. 128 S. geb. 1,25 M.
In dem vorliegenden Bändchen der Sammlung „Wissenschaft und Bildung"
behandelt der Verfasser in großen Zügen die Ergebnisse der modernen Meeres-
forschung. Er bespricht zunächst die Verteilung der Tiere und Pflanzen im Meere
in ihrer Abhängigkeit von Licht, Druck, Temperatur usw. und die Entdeckung
von dem Vorkommen einer Tiefseefauna beim Auffinden eines Bruches des Mittel-
meerkabels im Jahre 1860. Die dann folgende Schilderung der Methoden der ozea-
nischen Forschung schließt sich eng an das bekannte Werk von Jules Richard an.
und ist mit einer Anzahl hübscher Abbildungen, die gleichfalls ersterem entnommen
sind, versehen. Weiterhin werden die Meerespflanzen in ihrer eigenartigen An-
passung an das Wasserleben behandelt, dann die Lebensbedingungen und Lebens-
weise der xhwebenden Meeresorganismen, der Bau der Meerestiere und ihre
Lebensweise, schließlich die Entwicklung und die Wanderungen der Seetiere.
Das Bändchen liest sich gut. Der Verfasser hat mit Recht weniger auf die Schilde-
rung einer möglichst vollzähligen Menge von Einzelheiten Wert gelegt als auf das
Bestreben, diese Einzelheiten von allgemeinen großen Gesichtspunkten aus zu be-
trachten. Er zeigt, daß das reiche Leben, das alle Schichten des Meeres bevölkert,
in seiner Existenz vor allem abhängig ist von den physikalischen Bedingungen und
Verhältnissen seiner Umgebung.
Köln. 0. Jansen.
Bertely Rudolf) Anleitung zu den botanischen Schülerübungen
an Mittelschulen und verwandten Lehranstalten. Wien
und Leipzig 1911. Alfred Holder. II u. 32 S. kl. 8^ geh. 0,50 M.
Die „Anleitung" gliedert sich in 1. Mikroskopierübungen, 2. Physiologische
Versuche, 3. Pflanzenphänologische Beobachtungen und 4. Schlußwort.
Einen sehr großen Raum im Rahmen dieser kleinen, für die Hand des Schülers
bestimmten Broschüre nehmen die Erörterungen über Mikroskope, sowie die Ab-
bildungen von optischen Instrumenten und Systemen ein. Sie hätten zugunsten
der anderen Abschnitte, in denen der einzelne Stoff manchmal etwas zu kurz kommt,
auf einige kurze Angaben beschränkt werden können. Vor allem ist die speziell
R. Bertel, Anleitung usw., angez. von R. Fischer. 125
für das Reichertsche Mikroskop bestimmte, ausführliche Tabelle der Vergrößerungen
von 10—2000 entbehrlich, da der Effekt von Okular und Objektiv doch bei jedem
Mikroskope wechselt und übrigens bei den verschiedenen Systemen angegeben zu
sein pflegt. Sehr wichtig und lohnend erscheint mir dagegen im ersten Abschnitte
die Anleitung zum Zeichnen des projizierten Bildes ohne Zeichenapparat: „M a n
legt ein Stück Zeichenpapier neben den Fuß des Statives
auf eine etwas erhöhte Unterlage. Blickt man nun mit
dem linken Auge ins Mikroskop, mit dem rechten Auge
auf d i e P ap i e rf l äch e , so projiziert sich das ganze Ge-
sichtsfeld samt dem Objekt auf die letzter e." Abgesehen
von dem Werte dieses Verfahrens für die Vergleichbarkeit der Größenverhält-
nisse gewöhnt sich der Schüler von Anfang an daran, das rechte Auge offen zu
halten und zu beschäftigen, statt es, wie bei Anfängern üblich, zu schließen.
Die Auswahl der mikroskopischen Objekte ist die übliche, wobei aber an-
erkennenswerterweise die heiklen Schnittpräparate nicht zu stark hervortreten.
Der 2. Abschnitt bringt viele aus „Detmer" und „Oels" bekannte physiolo-
gische Versuche, bei denen manche eigene praktische Modifikation getroffen wurde.
Hinsichtlich des sehr eingehend behandelten Teiles über bakteriologische Arbeiten
als Schülerübungsmaterial bin ich jedoch einer Meinung mit W. Heering, der hier-
über in seiner Abhandlung „Über den Unterricht in der Naturbeschreibung und
Biologie"*) sagt: „Diese (Kulturversuche) gehören aufdie Uni-
versität. Das Ergebnis steht zu der aufgewandten Zeit
in keinem Verhältnisse." Für Demonstrationen des Lehrers ist das Ge-
biet natürlich sehr fruchtbringend, aber schon hierzu gehören, wie der Fachmann
weiß, viel Mühe, Geschick und großer Zeitaufwand.
Das folgende Kapitel leitet zu pflanzenphänologischen Beobachtungen an.
Der Verfasser erklärt den Ausdruck Pflanzenphänologie als „jenen Zweig
der Botanik, der den Eintritt der für das Pflanzenleben
wichtigen Entwicklungsphasen zeitlich feststellt" und
hat mit dem Hinweis auf dies Gebiet meines Erachtens einen sehr glücklichen
Griff getan; denn der Schüler vermag durch diese ständige Kontrolle an einer Reihe
von lebenden Objekten auch außerhalb des Unterrichts selbständig während
des ganzen Jahres eine Menge zur Ergänzung und Vertiefung des biologischen
Unterrichts nützlicher Beobachtungen auszuführen. Übrigens ist diese Methode
auch geeignet für die unteren und mittleren Stufen. Hier eine kurze Skizze dieser
biologischen Buchführung: Der Schüler legt sich eine Tabelle mit mehreren Ru-
briken für Name, Blatt, Frucht, Blüte usw. an und beobachtet nun an etwa fünf
im Freien an verschiedenen Standorten wachsenden Objekten alles, was ihm be-
merkenswert erscheint, z. B. Eintritt des Laubfalles, Ansatz der Winterknospen,
Schutzeinrichtungen gegen Kälte und Nässe, Blattentfaltung, Blüte usw. usw.
Wichtig sind dabei die Notizen über Witterungsverhältnisse und Charakter des
Standortes, so daß die am Schlüsse auszuführenden Vergleiche interessante Auf-
schlüsse über Wirkung von Temperatur, Licht und Feuchtigkeit auf die beobach-
teten Pflanzen geben.
*) Monatschrift für höhere Schulen, X. Jahrgang, 6. Heft, S. 295.
126 G. Schneidemühl, Handschrift und Charakter, angez. von A. Matthias.
Der 4. Abschnitt, das „Schlußwort", weist auf die Wichtigkeit des
Pflanzenbestimmens hin und nennt einige hierzu verwendbare Schulfloren. Ver-
fasser empfiehlt auch die Anlegung eines Herbars, betont aber, — und damit
charakterisiert er die meines Erachtens einzig mögliche Form eines
Herbars — daß es nicht der Sammelwut dienen solle, sondern nur biologisch
interessante Objekte, Seltenheiten und Charakterpflanzen bestimmter Gebiete
zu beherbergen habe.
Wie schon zu Anfang angedeutet, hätten die Abschnitte über mikroskopische
und physiologische Übungen etwas genauere Anleitungen enthalten können. Dies
gilt besonders für den physiologischen Teil. Der Fachmann weiß, wie schwierig
oft noch so einfach scheinende physiologische Versuche auszuführen sind und von
wie geringfügig erscheinenden Kleinigkeiten das Gelingen oft abhängt. So ist
denn in einer für die Hand des Schülers bestimmten Anleitung unbedingt eine
größere Ausführlichkeit dringend zu wünschen. Verfasser sagt beispielsweise S. 17:
„Nun stelle man sich 200 ccm Rohrzucker-Pepton-Gela-
tineher "; und weiter unten : ,, undfiltriereindiese
(20 Eprouvetten) die beiden Nährlösungen (Gelatine)"; und endlich:
„Bei der Abkühlung muß die Gelatine durchsichtig sein
und erstarre n." Das sind Angaben für den erfahrenen Laboranten, aber
nicht für Schüler; denn die Bereitung der Nährgelatine und ihre Filtration (etwa
durch Heißwassertrichter) bieten manche Schwierigkeit. Ein anderes Beispiel
für nicht ganz einwandfreie Anleitung sei aus Seite 21 herausgegriffen: Bei dem
bekannten Experiment der Sichtbarmachung des Wurzeldruckes wird angegeben,
an der Schnittfläche der dicht über dem Erdboden abgeschnittenen Pflanze
ein dünnes Steigrohr (evtl. Quecksilber manometer) zu be-
festigen. Da die nebenstehende Abbildung merkwürdigerweise eine ganz andere
Apparatur, als angegeben, zeigt, so wird der Schüler wohl erst nach einigen miß-
lungenen Versuchen auf die richtige Art der Befestigung kommen, die bekannt-
lich einen vollkommen hermetischen Abschluß ringsherum bilden muß. Kurz,
mit einigen anleitenden Worten könnte viel Zeit gespart werden. Man könnte ein-
wenden, die weiteren Erörterungen blieben dem Lehrer überlassen; aber, wo bleibt
dann die Erleichterung, die der Lehrer durch die „Anleitung" laut Vor-
wort haben soll.
Alles in ?llem ist das Büchlein jedoch für den Fachmann recht bemerkens-
wert, bietet bei sachgemäßer und verständiger Anordnung eine Fülle von Material
zur Auswahl und wird daher — nicht zum mindesten auch wegen seines billigen
Preises — seinen Weg in den ihm bestimmten Wirkungskreis finden.
Duisburg-Meiderich. R i c h a r d F i s c h e r.
Schneidemühle Georg, Handschrift und Charakter. Ein Lehrbuch
der Handschriftenbeurteilung. Auf Grund wissenschaftlicher und praktischer
Studien bearbeitet. Mit 164 Handschriftenproben im Text. Berlin 1911. Th.
Griebens Verlag, gr. 8». XIV u. 318 S. brosch. 10 M. geb. 11 M.
Der von Kuhlmann in dieser Monatschrift XI,S. 75 enthaltene Aufsatz über die
Notwendigkeit einer Reform des Schreibunterrichts, der ja leider von den höheren
Schulen etwas stiefmütterlich behandelt wird, gibt mir Gelegenheit, auf ein Buch hin-
Sprechsaali 1 27
zuweisen, das es verdient, auch im Zusammenhang mit jener Reformfrage in weiteren
Kreisen bekannt zu werden, um so mehr, als wissenschaftliche Zeitschriften das
Buch unverdienterweise einer Besprechung nicht für würdig erachtet haben und als
ganz zweifellos die Wissenschaft der Graphologie in den letzten Jahrzehnten einen
unverkennbaren Aufschwung genommen hat. Es scheint, als ob die Herrschaft der
charakterlosen Schreibmaschine uns mahnt, doch die charaktervolle Handschrift
etwas mehr zu beachten. Wer an der Wissenschaft der Graphologie naserümpfend
vorübergeht, macht sich die Sache leicht. Schon der Geist unserer Sprache, der
von „charakteristischer" Handschrift spricht, sollte ihn stutzig machen und ihm
die Frage nahelegen, ob nicht doch zwischen Handschrift und Charakter und
zwischen Handschrift und Lebenseindrücken gewisse Beziehungen bestehen und
ob nicht, ebenso wie in den Linien und Furchen des Gesichts, in den Linien und
Furchen, welche die Hand auf dem Papiere zieht, sich ein Stück des menschlichen
Charakters widerspiegelt für denjenigen, der auf diesem Gebiete jahrelangen
Studien sich gewidmet hat. Jedenfalls bin ich erstaunt gewesen, wie Professor
Schneidemühl aus meiner Handschrift eine Fülle von Schlüssen gezogen hat, die
sich bei objektivster Selbstprüfung als zutreffend erwiesen. Diese Schlüsse hier
mitzuteilen, werde ich mich hüten; jedenfalls aber möchte ich aus dem reichen
Inhalt des Buches folgende Hauptabschnitte nennen: Geschichtliches, wissen-
schaftliche Grundlage der Lehre von der Handschriftenbeurteilung, Einwände
gegen die Handschriftenbeurteilung, pathologische Handschriften, Bedeutung und
Aufgaben der Lehre von der Handschriftenbeurteilung für die Wissenschaft und
für das Leben, Schriftenvergleichung, Methode der wissenschaftlichen Forschung,
allgemeine Grundlehren der Handxhriftenbeurteilung, Handschriften gebildeter
und ungebildeter Personen, Handschriften der Verbrecher, männliche und weib-
liche Handschriften, das Alter der Schreibenden, Kinderhandschriften, Hand-
schriften der verschiedenen Völker, Handschriften verschiedener Zeitalter, Grund-
züge des praktischen Verfahrens für die Ermittelung der wichtigsten Charakter-
eigenschaften, über die Bedeutung wichtiger Merkmale der Handschrift, die Ge-
stalt der Buchstaben, die Handschriftenmerkmale einiger wichtiger Charakter-
eigenschaften. Das sind interessante Kapitel, in denen auch der ungläubigste
Thomas viel Anregendes finden kann. Auch für die Pflege der Schrift in der Schule
bietet sich viel Nützliches und für das Interesse an den Handschriften bedeutender
Persönlichkeiten. Vor allem wird das Buch auch Autographenfreunden manche
genußreiche Stunde bereiten.
Berlin. A. Matthias.
III. Sprechsaal.
Prof. Dr. E. Grünwald, Berlin, schreibt:
Zu Kleists Prinzen von Homburg II, 2, 485.
,, Shakespeare war der Boden, der ihn genährt hat", sagt W. Herzog von
Kleist in seiner neuen Biographie des Dichters (S. 475), macht auch öfter auf tech-
nische, gedankliche, ja wörtliche (z. B. 217) Reminiszenzen an sein großes Vorbild
128 .Sprechsaal.
bei ihm aufmerksam. Daß, wie Meyer im Sprechsaal des vorigen Heftes will,
auch in der oben bezeichneten Stelle eine solche vorliegt, bezweifle ich, jedenfalls,
daß Kleist den Ausdruck „die zehn märkischen Gebote" im Shakespearischen Sinne
gebraucht. Folgendes ist die Situation: Ohne die vom Kurfürsten in Aussicht
gestellte „Ordre" abzuwarten, befiehlt Homburg den Angriff; Kottwitzens Wider-
stand überwindet er durch höhnende Anzweiflung seines Mutes. Da wenden sich
nacheinander Golz, der zweite Offizier und der erste Offizier an den Alten, um
ihm Vorstellungen wegen seiner Nachgiebigkeit zu machen, der erste Offizier mit
den Worten: ,,Nimm ihm den Degen ab!" Diese Aufforderung veranlaßt beim
Prinzen einen Zornesausbruch, ,,er stößt ihn zurück", „reißt ihm den Degen samt
dem Gürtel ab" und gibt den Befehl: „Führt ihn gefangen ab ins Hauptquartier!"
Mit diesem Befehl ahndet er offenbar eine Insubordination — ohne zu bedenken,
daß jener nur gesprochen hat, um eine folgenxhwerere des Prinzen zu verhindern:
das ist aber gerade die feine tragische Ironie der Stelle. Als Homburg den Of-
fizier zurückstößt, sagt er die zur Diskussion stehenden Worte: „Ei, du vorwitz'ger
Knabe, der du noch nicht die zehn märkischen Gebote kennst !" —
<iie mir zu bedeuten scheinen: Ich will dich Subordination lehren. Meyers Ein-
wendungen gegen diese Deutung sind nicht stichhhaltig. Freilich „sind die Vor-
schriften des Gehorsams und der Subordination allgemeine Kriegsgesetze",
aber doch — gegen Meyer — im besonderen märkische, insofern ja das ganze Stück,
zumal nach der doch schließlich siegenden Theorie des Kurfürsten (vgl. V. 1750 ff.),
unbedingte Subordination predigt, die der Kurfürst als „die Mutter seiner Krone"
(V. 1568, vgl. V. 734) bezeichnet. Daß der Offizier sich nicht gegen die Subordination
vergehe, ist eine unverständliche Behauptung Meyers: erhebt sich doch gegen
den Befehl des Prinzen: „Führt ihn gefangen ab ins Hauptquartier" von keiner
Seite Einspruch. Und naiv klingt Meyers Bedenken, „es sei nirgends bezeugt,
daß es gerade zehn solcher Vorschriften gegeben habe": die zehn märkischen
Gebote sind ein religiöses Bild für den unbedingten Gehorsam des Märkers seinem
Vorgesetzten gegenüber und haben gewissermaßen als Kehrseite die V. 787 ge-
nannten „märkischen Kriegsartikel". Es handelt sich hier nicht um eine Alle-
gorie, wo man jedes Wort muß deuten können, sondern um ein Gleichnis; dort
heißt es Travxa ojioiGt, hier Sv 6}ioi6-aiov. Meyers Erklärung der Stelle, „die zehn
märkischen Gebote" bedeuteten die zehn Finger und „das gewaltsame Zurück-
stoßen mit dem Schlag (?) beider Hände nach Art der derben Märker", scheint
mir gesucht und zu viel Gewicht auf einen Nebenumstand zu legen, ja, geradezu
etwas wie Roheit in den Text zu bringen.
Endlich bemerke ich, daß auch Erich Schmidt in seiner kritischen Aus-
gabe unter den fraglichen Worten „den ungeschriebenen Soldatenkatechismus"
versteht.
m
1. Abhandlungen.
Zur Enzyklopädie der Pädagogik.
Man kann bei einer wohlentwickelten Wissenschaft von Tiefe und Breite,
aber auch von Länge und Höhe reden. Und bei einer zu vollerer Entwicklung
strebenden Wissenschaft wird Bewegung in allen diesen Richtungen das
Natürliche sein. Es gilt, immer gründlicher das einzelne zu untersuchen und auch
immer sicherer die Grundlagen zu legen; es gilt, den Gesamtumfang zu durch-
dringen oder auch forschend zu erweitern; es gilt ferner, die gesamte bisherige
Entwicklung verstehend im Auge zu halten, die Continuität zu wahren, anstatt
stoßweise neu anzuheben; und endlich gilt es doch auch, zusammenfassend und
aus der Höhe überblickend nicht bloß das Ganze zu ordnen, sondern es auch mit
den höchsten Tendenzen zu durchdringen. Die einzelnen Arbeiter innerhalb des
Gesamtgebietes dürfen sich selbstverständlich auf die eine oder die andere der
Linien beschränken; jede von ihnen bietet unendliche Aufgaben. Arbeiter übrigens
mögen die einen in vollerem Sinne heißen, während andere sich über die bloße
Mitarbeit hinaus als leitende Geister erweisen.
Auf dem Gebiete der Erziehungswissenschaft leistet wohl das Umfassendste
in der Erforschung der Vergangenheit die nun seit etwa 20 Jahren bestehende
Deutsche Gesellschaft für Erziehungs- und Schulgeschichte. Auch eine Sammlung
„pädagogischer Klassiker" wie die von Beyer und Mann zu Langensalza (oder die
ihr ähnlichen) hat das Verdienst, den Gedankenschatz der Vergangenheit zugänglich
und damit lebendig zu erhalten. Wieder auf andere Weise verfolgt ein Werk wie die
Schmidsche Geschichte der Erziehung den Zweck einer aufs Ganze gehenden histori-
schen Aufhellung. Von der Höhe eines persönlichen Standpunkts die Gesamtaufgabe
gewissermaßen mit dem Lichte eigener Ideen zu beleuchten, ist die Sache einerReihe
philosophischer Geister gewesen, wobei der Begriff philosophisch nicht etwa sich
damit decken muß, daß jemand in der Geschichte der Philosophie als Träger eines
Systems seine feste Stelle hat. Zwischendurch freilich, und in der Gegenwart
mehr als je zuvor, glauben manche von einem zufällig in ihnen aufflammenden Ge-
danken aus das gewaltige Ganze des Erziehungsproblems ganz neu ins rechte
Licht zu setzen; aber mit einem solchen Aufblitzen von irgend einer Seitenstelle
her wird keine wirkliche Klärung gewonnen. Weit weniger noch fehlt es an der das
einzelne der erzieherischen Betätigung immer neu und wo möglich immer gründ-
licher prüfender Arbeit: da ist der unübersehbaren Menge der durch alle die Zeit-
schriften gehenden Aufsätze namentlich zur Didaktik zu gedenken, der nie er-
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 9
130 W. Münch,
schöpften Themata für amtliche oder freie pädagogische Versammlungen usw.
Und andrerseits gehört hierher die moderne Arbeit an der exakten Erforschung
der Kindheit und Jugend nach der anthropologischen, physiologisch-psycholo-
gischen, auch pathologischen Seite. Es fehlen ferner ja nicht die großen Versuche,
ein alles umfassendes oder alles recht einordnendes System als solches aufzustellen :
das nunmehr in neuer Bearbeitung erscheinende Werk von W. Rein steht mit
dieser Tendenz gegenwärtig im Vordergrund.
Neben alledem aber geht die wissenschaftliche Arbeit eben doch auch in die
Breite und soll in die Breite gehen. So entstehen die Enzyklopädien, deren erste
Tugend es ist, keinen irgend Auskunft Suchenden unbefriedigt zu lassen, viel-
mehr über jede einzelne Frage in zuverlässiger und übersichtlicher Weise zu orien-
tieren, während auf Zusammenhang der Themata verzichtet wird und eine äußere
Aufreihung der Artikel dem Ganzen den Charakter eines Lexikons gibt. Das Be-
dürfnis solcher enzyklopädischen Werke wird wohl zumeist dann empfunden,
wenn ein Gefühl für die Fülle des an Ideen wie Tatsachen, an erkannten Problemen
wie Versuchen und Feststellungen Vorhandenen bei den Sachkundigen zusammen-
trifft mit einem weithin — sei es mehr subjektiv oder objektiv — lebendigen Be-
dürfnis der Belehrung, des Sichklarwerdens. Übrigens kann doch mehr die Genug-
tuung über den erreichten Stand der Erziehung einem solchen Unternehmen zu-
grunde liegen, oder aber mehr der Wunsch, all dem theoretisch wie praktisch noch
Vermißten aufzuhelfen. Ich glaube, daß die große Schmidsche Enzyklopädie,
in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unternommen, mehr den ersteren
Ausgangspunkt gehabt hat und die vierzig Jahre später in Angriff genommene
Reinsche mehr den letzteren. Ein anderer Unterschied zwischen beiden ist wohl
der, daß in dem Schmidschen Werk vor allem eine Anzahl bedeutender Persönlich-
keiten zum Wort gerufen wurden, während bei Rein vor allem die mannigfachen
Themata zur Erörterung gelangen sollten, womöglich natürlich in dem gleichen
Geist moderner pädagogischer Wissenschaft, aber nicht ohne Zulassung auch von
dissonierenden Stimmen. Bekanntlich ist diesen beiden, vielbändigen Werken
(von denen das letztere sich ja noch immer weiter ergänzt) seit 1906 das Enzy-
klopädische Handbuch der Erziehungskunde von Joseph Loos gefolgt, dem übrigens
dasjenige von G. A. Lindner vorhergegangen war, so daß jenes eigentlich nur eine
zeitgemäße Erneuerung dieses letzteren hatte sein wollen, während es dann doch
zu einem selbständigen neuen Werke geworden ist. Beschränkung auf zwei, aller-
dings sehr stattliche Bände und (gemäß seiner Entstehung und Bestimmung)
eine gewisse Bevorzugung der österreichischen Verhältnisse, auch Beigabe einer —
zum Glück nicht allzu großen — Anzahl von Illustrationen, unterscheiden das
Loossche Werk von den vorher genannten.
Seit dem vorigen Jahre nun schließt sich an diese Reihe ein amerikanisches
Unternehmen von sehr ansehnlichen Dimensionen und einem reichen Inhalt bei
fester und zum Teil eigenartiger Zielsetzung.*) Zwei mächtige Bände sind davon bis
*) A Cyclopedia of Education. Edited hy Paul Monroe, Ph. D., Profe-^^or of Ihe
Hi^iory of Education, Teachers' College, Columbia üniversity, uith the assistance of De-
partmental Editors and more tJian 1,000 individual contrihutors. Vol. I, A — Chu; Vol. II,
Chu — Fu<. New York: The Macmillan Company. (21 '. net the volume.)
Zur Enzyklopädie der Pädagogik. 131
jetzt erschienen, und fünf scheinen es zum mindesten zu werden. Herausgeber ist
der Professor der Geschichte der Pädagogik an der Columbia-Universität zu New
York, Dr. Paul Monroe. An einer solchen amerikanischen Universität gibt es
nämlich nicht etwa eine einzige pädagogische Professur (wie wir sie bis jetzt
meist noch vergeblich fordern), sondern eine ganze Reihe nebeneinander, an der
genannten Universität z. B. neben der Professur für geschichtliche Pädagogik,
derjenigen für philosophische Pädagogik (die der Präsident des gewaltigen Ganzen
selbst vertritt) und derjenigen für allgemeine Didaktik noch drei andere, aber zu-
sammen mit deren Inhabern wirken an der mit zum Organismus der Universität
gehörigen großen Lehrerbildungsanstalt noch über hundert Lehrkräfte. So ist
es denn dem Herausgeber auch nicht allzu schwer gewesen, aus Amerika selbst
die ganz überwiegende Mehrzahl der (über tausend betragenden) Bearbeiter der
einzelnen Artikel zu gewinnen. Selbstverständlich aber kommt eine Anzahl fach-
kundiger Ausländer aus den verschiedenen Kulturländern hinzu. Erwähnt seien
hier nur aus England M. E. Sadler, aus Frankreich Gabriel Compayr^ (also die ersten
Namen), aus Wien Leo Burgenstein, und von Amerikanern selbst (um nur die auch
bei uns bekanntesten anzuführen) Stanley Hall, John Dewey, A. F. Chamberlain,
Ch. H. Judd, auch Helen Keller. Für Deutschland hat die Hauptarbeit P. Ziertmann
geliefert.
Ob in der Welt der deutschen Pädagogen Interesse für dieses fremde Werk
erwartet werden darf? Man müßte es von vornherein annehmen dürfen, insofern
der Sinn über das persönliche engere Fachgebiet hinaus für das Erziehungsproblem
als Ganzes nicht fehlt, nicht versagt. Wo man mit so gewaltigem Aufwand von
inneren Kräften und äußeren Mitteln der Berufswelt eine neue Quelle oder vielmehr
einen Strom der Belehrung öffnet, kann Gleichgültigkeit nicht leicht vorausgesetzt
werden. Schon eine Art von bibliothekarischem Interesse an einem solchen Bände-
werk darf erwartet werden. Oder wollte man sich vielleicht damit abfinden, daß
wir ja unsere eigenen enzyklopädischen Werke hätten, daß die Amerikaner uns
schwerlich viel Neues lehren könnten, abgesehen davon, daß Kenntnis der eng-
lischen Sprache doch nicht ohne weiteres von deutschen Pädagogen verlangt werden
könne? Die letztere ist immerhin nachgerade in unseren akademisch gebildeten
Ständen verbreitet genug, und man kann eigentlich in keiner Wissenschaft mehr auf
dem Laufenden bleiben, wenn man nicht auch die englisch geschriebene Fachliteratur
zu verfolgen vermag. Aber natürlich kann ja nicht davon die Rede sein, daß man
vielen Einzelnen die Anschaffung eines solchen Werkes ans Herz legen dürfe. Freilich,
die Bereitwilligkeit, seinen pädagogischen Gesichtskreis überhaupt zu erweitern,
muß ja im deutschen Oberlehrerstand noch sehr wachsen und sich verallgemeinern.
Aber wenn nur die nicht allzu bescheiden gestellten Anstaltsbibliotheken sich eine
solche Erwerbung angelegen sein lassen wollten ! Denn es handelt sich hier nicht
darum, neben deutsch geschriebene Enzyklopädien auch eine solche in englischer
Sprache zu setzen : dazu wäre in der Tat nicht Anlaß genug. Vielmehr gilt es, von
dem besonderen hier gebotenen Stoff Kenntnis zu nehmen und Nutzen zu ziehen.
Denn die Eigenart des ganzen Unternehmens weicht doch von der uns gewohnten
erheblich ab.
Daß Knappheit und Bestimmtheit der Fassung bei den einzelnen Artikeln
132 VV. Münch, Zur Enzyklopädie der Pädagogik.
zu den Grundsätzen gehöre, wird man von vornherein glauben. Natürlich haben
sich deswegen doch die einzelnen Mitarbeiter nicht die gleiche Beschränkung auf-
erlegt. Aber es handelt sich dann jedenfalls nicht sowohl um weit ausgesponnene
Betrachtungen als um stoffliche Fülle. Und in der Bestimmtheit und Vollständig-
keit der materialen Angaben darf ein erster Vorzug des Werkes gefunden werden:
es hat einen besonders positiven Charakter, wie das einem nicht bloß amerikanischen,
sondern überhaupt modernen Bedürfnis zu entsprechen scheint. Daß zu der im
ganzen trefflichen Ausstattung auch eine Anzahl von Abbildungen gehört, paßt
nicht minder zu den Bedürfnissen der heutigen Leserschaft. Neben Bildnissen
bedeutender Pädagogen, die man hier am ersten erwartet, auch manchen Faksimiles,
finden sich namentlich zahlreiche Abbildungen von prächtigen amerikanischen
Universitäten, Instituten, Colleges, allerdings auch Kuriositäten wie die verschie-
denen Amtstrachten der Hochschuldozenten und ihres Anhangs aus den ver-
schiedensten Orten.
Daß die Vereinigten Staaten im ganzen am ausführlichsten behandelt sind,
kann man nicht mißbilligen, denn dort muß ein solches Werk ja bei weitem seine
meisten Interessenten erwarten. So sind denn auch zahlreiche, um das dortige
Bildungswesen verdiente, aber draußen in der Welt kaum bekannte Persönlichkeiten
zur Darstellung gekommen, mit denen hier Bekanntschaft zu machen immerhin
auch für uns Ausländer seinen Wert hat. Im ganzen aber ist ein internationaler
Charakter insofern durchaus gewahrt, als die verschiedenen außeramerikanischen
Kulturländer nach ihrem pädagogischen Bestand und Geist wie ihrer fachlichen
Literatur durchaus zu gleichmäßiger Vertretung und Würdigung gelangen. Das
ist wichtig für uns, weil die Pädagogik in Deutschland vielfach in einer gewissen
Naivität oder auch Voreingenommenheit sich fast ausschließlich der deutschen
Erziehung widmet. Es ist aber übel, wenn der Blick nicht genug in die Weite reicht.
Wenn man es versäumt zu vergleichen, wird man leicht auch aufhören sich zu ent-
wickeln. Über das Erziehungswesen fremder Kulturstaaten und namentlich dessen
gegenwärtigen Stand wird man zurzeit sich in dem MonroeschenWerk am besten
zu orientieren vermögen. Natürlich sind auch alle die einzelnen Staaten der United
States, deren ja jeder seine eigene Organisation auch auf diesem Gebiete hat, genau
behandelt. Daß der gegenwärtige Stand der Psychologie, Physiologie, Psychiatric
zuverlässig zur Geltung kommt, versteht sich beinahe von selbst. Die Einbeziehung
der Universitäten nachZielen, Einrichtungen, Geschichte und Geist, an die uns Deut-
schen, wenn es sich um Pädagogik handelt, zu denken fern (viel zu fern !) zu liegen
pflegt, ist bei der andersartigen Auffassung in Amerika wie in England natürlich.
Überhaupt aber, und das mag für uns das Interessanteste an dem ganzen Werke
sein, ist der Begriff education ja hier (wie das überhaupt dem englischen Sprach-
gebrauch entspricht) viel weiter genommen, als wenn wir von Erziehung reden.
Schließt doch education zugleich alles ein, was wir unter Bildung verstehen, ja auch
die bestimmte, technische Vorbildung für die verschiedenen höheren Berufe, die
künstlerischen mit einbegriffen. Und so wird denn die Monroesche Cyclopedia oj
Education zu einer Darstellung nicht bloß des „Bildungswesens*' (welche Über-
setzung immerhin am nächsten liegen wird), sondern der Entwicklung geistiger
Kultur überhaupt. Alle Großen auf dem Gebiete des Geistes finden hier ihre Stätte,
R. Holsten, Dezentralisation in der wissenschaftlichen Fortbildung usw. 133
die großen Dichter, die Philosophen, die Forscher, auch die Staatsmänner von kul-
tureller Bedeutung. Und nicht minder dehnt sich der Bereich des Inhalts auf die
einzelnen Wissenschaften mit ihrem Entwicklungsgang und ihren Problemen aus.
Es reiht sich also sehr Großes durcheinander mit ganz Kleinem, der Beschreibung
etwa eines untergeordneten Unterrichtsmittels aus irgend einer Zeit und Sphäre.
Um eine noch etwas bestimmtere Anschauung zu geben, ließe sich z. B. aus dem
Buchstaben A herausheben, was zu den verschiedenen Hauptgebieten geboten wird.
Eine vollständige Aufzählung würde an dieser Stelle zu weit führen; aber wenn
wir auch auf das Wichtigste uns beschränken wollen, so finden sich behandelt zur
pädagogischen Psychologie: Ability, Acquired char acter istics, Adaptation, Adjustmeni,
Apperception, Aptitude, Assimilation, Association, Automatism. Zur Pathologie:
Abulia, Amnesia, Anaesthesia, Aphasia, Aprosechia nasalis, Astigmatism, Asym-
bolia. Zur Hygiene: Air in the Schoolroom, Alcohol, auch Hygiene of Arithmetic (/),
Zur Schulgeschichte: Abbey Schools, Academies, Adelphi College, Alexandria.
Anglo-Norman Schools, Anglo-Saxon Schools, Apprenticeship, Art Schools, Athens
{School of). Zur Organisation: Abiturienten- Prüfung, Accredited Schools, Adult
Schools, Agencies, Agregation (die französische), Athletics, Attendance (Schulbesuch);
dazu die Organisation der Staaten Alabama, Alasca (interessant!), Arizona, Ar-
kansas, Australia, Austria (denen später Belgium, Brasil, Canada, Chile, China
folgen), ebenso auch Arabic education und Assyro-Babylonians. Zu den Wissen-
schaften: Aesthetics, Algebra, Anglo-Norman Dialect, Anthropology, Arithmetic.
Astrology, Astronomy, Zu den pädagogisch (wenn auch nur indirekt) bedeutenden
Persönlichkeiten: Alexander Magnus, Aristotle, Athenagoras, Ausonius, Aquinas,
Albertus Magnus, Alcuin, Ambrosius, Ar nobius, Athanasius, Augustinus (die beiden);
ferner von Engländern Acland, Adelhart of Bath, Aelfric, Alfred the Great, Thomas
und Matthias Arnold, Ascham; von Deutschen Ackermann (der Pestalozzianer),
Adler, Agricola, Ahn (der Schulbuchverfasser), Erasmus Alberus, Alstedt, Alten-
stein (der Minister), Althoff (der Ministerialdirektor), E. M. Arndt, Aventinus;
aber auch von Arabern Abul Wefa, Averroes, Avicenna, dazu der Hindoo Aryabhatta,
und natürlich zahlreiche Amerikaner, nebst Franzosen usw.
Das Unternehmen schreitet rüstig fort, seine Vollendung wird nicht viele
Jahre erfordern. Zum mindesten ist es der Mühe wert, davon zu wissen. Daß das
Interesse dafür doch weiter gehe, diese Hoffnung sei nochmals ausgesprochen.
Berlin. W. M ü n c h.
Dezentralisation in der wissenschaftlichen Fortbildung der
Lehrer an den höheren Lehranstalten.
„Die höhere Schule hat die Aufgabe, ihre Zöglinge wissenschaftlich
auszubilden", so beginnt die neue Dienstanweisung vom Jahre 1910.
f^ Viele haben an ihr Ausstellungen zu machen, der eine diese, der andere jene;
diesen Satz aber sollten wir alle mit Freuden begrüßen, die wir an höheren Lehr-
anstalten unterrichten. Er sagt freilich auch nur, was uns allen sicher als Ziel
schon immer vorgeschwebt hat, was auch die Lehrpläne von 1901, wenn sie es
134 R- Holsten,
auch nicht deutlich aussprechen, doch durch die Abgrenzung des Lehrstoffes und
durch ihre methodischen Bemerkungen fordern. Aber es ist gut, daß es in einer
Schrift, die in aller Händen ist, an erster Stelle so klar gesagt ist: „Die höhere
Schule hat die Aufgabe, ihre Zöglinge wissenschaftlich auszubilden.*'
Die neue Dienstanweisung zieht hieraus auch auf S. 21, wo sie von den Amts-
pflichten der Lehrer handelt, die notwendige Folge. Als erste Pflicht der Lehrer
wird hier „die eigene wissenschaftliche Vorbereitung" genannt. Selbst-
verständlich! Wer wissenschaftliche Bildung geben will, muß selbst wissenschaft-
lich ausgerüstet sein.
Nun aber ist die Wissenschaft nichts Begrenztes, nichts Abgeschlossenes,
sondern sie befindet sich in stetem Fluß, wird aus immer neuen Quellen gespeist
und strebt unaufhaltsam vorwärts. Die wissenschaftliche Vorbereitung auf die
Erklärung einer Homerstelle sah vor 25 Jahren ganz anders aus als heute, weil auch
die Wissenschaft seitdem ein anderes Gesicht erhalten hat. Die wissenschaftliche
Vorbereitung auf eine Homerstelle ist auch nicht damit abgeschlossen, daß durch
Textkritik, Grammatik und Metrik das Verständnis vermittelt wird; wer aus dem
vollen Strom der Wissenschaft schöpfen kann, wird auch aus scheinbar abseits
liegenden Gebieten, der Altertumskunde, Geschichte, Landeskunde Griechenlands,
ja, der eigenen Heimat, ja, aus jedem Gebiete der Wissenschaft Stoff gewinnen,
um die Erklärung einer Homerstelle fruchtbarer zu machen.
Daher hat ein Lehrer, der sich wissenschaftlich vorbereiten will, um seine
Schüler wissenschaftlich zu bilden, selbst wissenschaftliche Fort-
bildung nötig. Wer glaubt, daß er mit der wissenschaftlichen Bildung, die er
auf der Universität gewonnen hat, jener idealen Forderung wissenschaftlicher
Vorbereitung nach seiner Anstellung als Lehrer voll genügen kann, der irrt; denn
seine Kenntnisse werden nicht einmal dem Stand der Wissenschaft zur Zeit seiner
Staatsprüfung voll entsprochen haben. Wer aber mit seiner Universitätsbildung
jener Forderung auch nach 10, ja, nach 30 Jahren noch genügen will, der ver-
sündigt sich an der Jugend, die er wissenschaftlich bilden soll. Unablässige wissen-
schaftliche Fortbildung ist erste Pflicht des Lehrers an einer höheren Lehranstalt.
Diese wissenschaftliche Fortbildung umfaßt zunächst Altes; denn die Uni-
versitätsbildung wird immer Lücken aufweisen, die auszufüllen sind. Sie umfaßt
aber auch Neues; denn die Wissenschaft schreitet eben unaufhaltsam vorwärts.
Wie kommt diese wissenschaftliche Fortbildung zustande? Das Selbststudium
des einzelnen ist ihre wichtigste und sicherste Grundlage. Aber das Selbststudium
bedarf der Anregung. Für diese zu sorgen, ist Pflicht des Staates, der fordert,
daß seine Lehrer sich wissenschaftlich fortbilden.
Der Staat hat sich auch dieser Pflicht durchaus nicht entzogen; es gibt eine
Reihe von wissenschaftlichen Fortbildungskursen, die an Universitäten und ähnlichen
Instituten abgehalten werden. Diese Kurse müssen unbedingt erhalten und noch
weiter ausgebaut werden. Wer einmal an einem solchen Kursus teilgenommen hat,
der wird der Fülle von Anregung, die er nicht nur aus den Vorträgen, sondern
auch aus dem Besuch der Museen, Sammlungen, Laboratorien, aus dem Verkehr
mit verschiedenen Männern der Wissenschaft, aus dem ganzen Milieu einer solchen
Pflegestätte der Wissenschaft gewonnen hat, stets dankbar gedenken.
Dezentralisation in der wissenschaftlichen Fortbildung usw, 135
Bisher war also die Förderung der wissenschaftlichen Fortbildung durch den '
Staat an die wissenschaftlichen Zentren gebunden, sie war zentralisiert;
es erscheint nun aber als eine berechtigte und notwendige Forderung, daß sie da-
neben auch dezentralisiert werde.
An solchen Fortbildungskursen, wie sie an den Mittelpunkten des wissen
schaftlichen Lebens abgehalten werden, nehmen lange nicht alle Lehrer teil. Die
Zahl der Teilnehmer kann nur beschränkt sein; mancher aber mag sich einer Zu-
rückweisung nicht aussetzen. Die Beteiligung an einem solchen Kursus kostet
Geld, auch wenn der Staat eine Beihilfe gewährt; mancher aber glaubt, das Geld
dazu nicht zu haben, mancher hat es wirklich nicht. Die Beteiligung fordert auch
körperliche und geistige Anstrengung; es ist nicht leicht, täglich am Vormittag und
Nachmittag Vorträge zu hören, in Museen umherzugehen oder weite Exkursionen
zu machen. Mancher hat nicht die Kraft dazu, zumal ältere Herren nicht, wenigstens
nicht in den Ferien, besonders nicht in den Osterferien, deren Ruhe nach der langen
Arbeit des Winters für die Erholung so nötig ist. Groß ist schließlich auch die Zahl
der Bequemen, die wohl über Kraft und Geld verfügen, aber auf die Bequem-
lichkeit — nun, sagen wir der Alltäglichkeit nicht verzichten mögen. Aber auch
sie alle, auch die Alten, die Schwächlichen, die Unbemittelten, die Bequemen, be-
dürfen der Anregung, um sich wissenschaftlich fortbilden zu können.
Daher ist es nötig, daß die wissenschaftliche Fortbildung auch dezen-
tralisiert wird, damit alle ihrer teilhaftig werden; ein jedes Gymnasium sorge
selbst für die wissenschaftliche Fortbildung seiner Lehrer!
Das ist möglich. Es braucht nicht einmal eine neue Einrichtung geschaffen
zu werden; es ist nur nötig, eine schon vorhandene richtig auszunutzen und aus-
zubauen.
Es hat einmal ein Unterrichtsminister den Lehrern an den höjieren Schulen
ein schönes Weihnachtsgeschenk gemacht oder wenigstens machen wollen. In
einem Erlasse vom 24. Dezember 1898 hat der damalige Kultusminister Dr. Bosse
den Wunsch geäußert, daß ein Versuch mit der Abhaltung wissenschaftlicher
Vorträge für die oberen Klassen der höheren Lehranstalten gemacht werde. Zu
diesen Vorträgen sollten auch die Eltern und erwachsene Angehörige der Schulet
sowie der Anstalt sonst nahestehende Personen zugelassen werden können. Diese
Vorträge sollten in der Regel von den Lehrern der Anstalt gehalten werden; es wurde
angenommen, daß sie ihnen eine willkommene Gelegenheit bieten würden, ihr
reicheres und eindringenderes Fachwissen zur Geltung zu bringen und über den
Unterricht hinaus für andere nutzbar zu machen. Doch war auch die Möglichkeit
geboten, auswärtige Fachmänner zu ihnen heranzuziehen.
Diesem Wunsche gegenüber hat sich die Lehrerschaft der höheren Schulen,
so weit mir bekannt ist, zunächst ziemlich ablehnend verhalten. In letzter Zeit
aber scheint man, wenigstens in meiner Heimatsprovinz Pommern, deren Verhält-
nisse allein ich kenne, an diesen Vorträgen doch noch Geschmack finden zu wollen.
Die Programme verschiedener pommerscher Anstalten berichten, daß solche Vor-
träge von Lehrern der Anstalt für die Schüler gehalten sind. Auch am hiesigen
Gymnasium haben wir seit 1908 versucht, auf diese Weise wissenschaftliches Inter-
esse zu fördern. Die meisten Vorträge haben wir Lehrer selbst gehalten; wir haben
136 R. Holsten,
aber auch Lehrer benachbarter Anstalten, einen Kgl. Geologen und einen Stettiner
Arzt, der auf dem Gebiete der Menschen- und Völkerkunde ein bewährter Forscher
ist, heranziehen können. Es sind folgende Stoffe behandelt worden: 1. über die
Entstehung des Pyritzer Weizackers; 2. zur Geschichte von Paß, ein Beitrag zur
Heimatkunde des Pyritzer Kreises; 3. die älteste Kultur auf Kreta nach den jüngsten
Ausgrabungen; 4. die Steinzeit; 5. die Naturdenkmalpflege mit Berücksichtigung
der Erfolge in Pommern; 6. das Weltall und die Kometen; 7. Sehnen und Suchen
in der antiken Welt; 8. die Urgeschichte der Erde und das erste Auftreten des
Menschen auf der Erde. Für den kommenden Winter sind schon 2 Vorträge sicher
gestellt: 1. die Geburt Christi in der älteren italienischen Kunst und 2. die Aus-
grabungen in Palästina.*) Erweiterung und Vertiefung der Heimatkunde, Einführung
in Gebiete, auf denen die neueste Forschung sich bewegt, das sind also u. a. die
Ziele gewesen, welche diese Vorträge verfolgt haben.
Ihren Zweck haben sie erfüllt. Ich habe wiederholt im Unterricht feststellen
können, daß unsere Schüler den Wissensstoff, der ihnen geboten wurde, in sich
aufgenommen hatten. Ich habe auch sehen können, wie sich viele durch diese
Vorträge angeregt zeigten, selbst zu beobachten und zu suchen. Ich habe auch
eine umfangreiche, — ich kann es getrost sagen — wissenschaftliche Arbeit eines
Schülers in Händen gehabt, die durch einen dieser Vorträge angeregt war. Ihren
Zweck haben sie aber auch insofern erfüllt, als das Publikum, das sich anfangs,
unserer Einladung folgend, nur spärlich einstellte, wohl weil die Vorträge für
Schüler bestimmt waren, sich schließlich in immer größerer Zahl einfand. Sie
haben aber noch mehr geleistet, als ursprünglich mit ihnen bezweckt wurde: von
mir wenigstens kann ich sagen, daß ich durch einige unter ihnen Anregung zu
weiterer wissenschaftlicher Forschung empfangen habe, nicht nur durch die von
mir selbst gehaltetien, die natürlich wissenschaftliche Vorbereitung forderten;
wenn die andern mich nicht alle zur Erweiterung meiner Studien angeregt haben,
so hat das nicht an ihnen selbst gelegen, sondern vielmehr an der Beschränktheit
des Gebietes, auf dem ich wissenschaftlich tätig sein kann.
Weil ich aber diesen ursprünglich nicht beabsichtigten Vorteil für meine
eigene wissenschaftliche Fortbildung aus diesen Vorträgen gehabt habe, glaube
ich die Forderung erheben zu dürfen, die wissenschaftliche Fort-
bildung der Lehrer an den höheren Lehranstalten werde
nicht nur wie bisher zentralisiert, sondern daneben auch
dezentralisiert; jede höhere Lehranstalt sorge selbst durch Vorträge,
die im Sinne jenes Ministerialerlasses vom 24. Dezember 1898 gehalten werden,
auch für die wissenschaftliche Fortbildung ihrer Lehrer.
Ich will zeigen, daß e^ geht.
Eine Schwierigkeit scheint zunächst in der Frage zu liegen, w i e Vorträge
beschaffen sein sollen, die Schülern und einem größeren Publikum etwas
bieten und daneben die Lehrer wissenschaftlich fördern sollen. Ich habe mich auf
die Erfahrung, die ich hier an mir selbst gemacht habe, dafür berufen, daß es geht.
Ich will noch eine andere eigene Erfahrung anführen: auf einem archäologischen
*) Der erste ist inzwischen gehalten, außerdem ein anderer : Bilder aus der alten
und neuen Türkei zur Zeit der Revolution.
Dezentralisation in der wissenschaftlichen Fortbildung usw. 137
Ferienkursus habe ich einen bedeutenden Archäologen, der heute noch in voller
Kraft im Amte steht, so sprechen hören, daß jeder ihm folgen konnte, auch wer
von der Archäologie noch nichts verstand, daß daneben aber alle, die schon weiter
vorgeschritten waren, nicht nur in ihrem Wissen bereichert, sondern auch zu
eigenem Forschen angeregt wurden. Diese Vorträge müssen also ohne große Vor-
aussetzungen für jedermann verständlich sein; nur hüte man sich, ein Publikum
von Schülern und Laien etwa zu tief einzuschätzen! Es dürfen keine trockenen
Voriesungen sein; sie dürfen auch nicht bloß, etwa beim Zeigen von Lichtbildern,
die sonst ein willkommenes Mittel zur Veranschaulichung sind, der Unterhaltung
dienen wollen; sie müssen vielmehr in lebendiger Rede die Hörer zu packen wissen.
Sie müssen wissenschaftlich sein, einerseits in dem Stoff, den sie bieten, mögen
sie nun altes Gut der Wissenschaft zusammenfassen, mögen sie neu gefundene
Schätze zeigen, andrerseits in der Art, wie sie ihn bieten, wie sie die Quellen, aus
denen zu schöpfen ist, nachweisen und auf die Gebiete, die durch weitere Forschung
fruchtbar gemacht werden können, hinweisen. Die Vorträge dürfen im allgemeinen
nicht länger als eine Stunde dauern. Wenn sich aber daran noch eine Besprechung
der Lehrer mit dem Vortragenden im engeren Kreise anschließt, so wird der von
mir beabsichtigte Zweck der v issenschaftlichen Fortbildung der Lehrer gewiß
erreichbar erscheinen.
Eine weitere Schwierigkeit bietet die Frage, wer die Vorträge halten soll.
Jener Ministerialeriaß, von dem wir ausgingen, denkt andieLehrerderAn-
s t a 1 1. Ohne Zweifel können die Lehrer einer Anstalt sich untereinander wissen-
schaftlich anregen; nur brauchen dazu nicht Vorträge gehalten zu werden. Aber
jedenfalls kann die Anregung auch in dieser Form erfolgen. Dann können, wie
wir es hier getan haben, Lehrer benachbarter Anstalten heran-
gezogen werden. Jede Provinz hat sicher eine Anzahl von Oberiehrern, die geeignet
sind, solche Vorträge zu halten; ich könnte allein aus Stettin, wo ich'früher 10 Jahre
gewirkt habe, eine ganze Reihe nennen. Vor allem aber müßten auch die Uni-
versitätsprofessoren der Provinz, die sich doch der wissenschaftlichen
Fortbildung der Lehrer im wissenschaftlichen Zentrum so bereitwillig widmen,
sich zu dieser Dezentralisation bereit finden lassen, müßten in die einzelnen Städte
reisen und hier durch Vorträge für die Fortbildung aller Lehrer sorgen, auch derer,
die sich am Zentrum nicht einfinden wollen oder können. Auch das ist möglich.
Bei vielen Anstalten wird so eine Vortragsreise nur einen Nachmittag in Anspruch
nehmen. In meiner Heimatprovinz Pommern liegt die Universität recht ungünstig
im äußersten Westen, und doch könnten, wie das Kursbuch zeigt, alle Anstalten
nach Osten hin bis Stargard einschl. an je einem Nachmittage versorgt werden.
Noch weiter abseits liegen in Pommern 15 Anstalten. Sollten sie nicht, selbst wenn
diese Anstalten alle denselben Vortragenden wünschen sollten, in dem Zeitraum
einer Woche eriedigt werden können? Der Vortrag könnte doch an jedem Tage
in 2 Anstalten gehalten werden. Sollte sich aber eine Woche Urlaub für einen
Universitätsprofessor zu einem so guten Zwecke nicht erwirken lassen?
Ich komme nun zu der Z e i t , in der die Vorträge zu halten wären. Die Uni-
versitätsferien würden sich in Preußen im allgemeinen nicht dazu eignen. Den
Professoren würde wohl der März recht gelegen sein. Aber in diesem Monat stehen
138 R. Holsten, Dezentralisation in der wissenschaftlichen Fortbildung usw.
wir, Lehrer wie Schüler, in so angestrengter Arbeit, daß höchstens noch der Anfang
des Monats in Frage kommen könnte. Geeigneter wären August, September und
die zweite Hälfte Oktober; die erste Hälfte kommt wenigstens dann nicht in Betracht,
wenn auch die älteren Schüler teilnehmen sollen, da dann Schulferien sind. Aber
für Vorträge mit Lichtbildern sind diese Monate meist nicht geeignet; denn die
gegebene örtlichkeit für den Vortrag ist doch die Aula, ihre großen Fenster können
aber meist nicht verdunkelt werden. Freilich ließe sich da eine Vorrichtung schaffen.
Im allgemeinen würden für unsere höheren Lehranstalten wohl die Monate No-
vember bis Februar einschl. am geeignetsten sein; die Beurlaubung von Universitäts-
professoren sollte sich in dieser Zeit, wie gesagt, für eine kürzere Frist wohl ermög-
lichen lassen.
Die Kosten dürften keine Schwierigkeit machen. Wenn ein weiteres Publi-
kum gegen ein geringes Eintrittsgeld zugelassen wird, wie es in jenem Ministerial-
erlaß vorgesehen ist, so wird immer eine Summe einkommen, die zur Deckung der
Unkosten an Reisegeld, Miete für Lichtbilder u. dergl. ausreicht. Ein Honorar
ist für die Lehrer der Anstalt nicht vorgesehen; sie sollen es als Ehrenpflicht ihres
Amtes ansehen, sich an der Abhaltung solcher Vorträge zu beteiligen, und haben
das wohl auch immer getan. Wenn freilich die Universitätsprofessoren herangezogen
werden, so wird ein Honorar ausgesetzt werden müssen, da solche Vorträge ohne
Frage nicht innerhalb des Bereiches ihrer Amtspflichten liegen. Wenn aber ein
angemessenes Grundhonorar mit einem geringeren Zusatzhonorar für jede Wieder-
holung des Vortrages angenommen wird, so wird bei Verteilung der Gesamtsumme
auf die einzelne Anstalt nicht so viel entfallen, daß die Kosten nicht ohne Bewilli-
gung besonderer Mittel aus dem Titel Insgemein bestritten werden könnten. Es
bedarf dazu nicht einmal einer besonderen Genehmigung der Behörde. Wenigstens
heißt es in der neuen pommerschen Kassenordnung § 81: „Unter der Position
„Unvorhergesehene Ausgaben" dürfen nur diejenigen Zahlungen verrechnet werden,
welche bei keinem andern Etatsfond untergebracht werden können. Mit dieser
Beschränkung kann die Anstaltsverwaltung über den in dem Etat hierfür aus-
geworfenen Betrag ohne höhere Ermächtigung verfügen." Ein Honorar für etwa
zwei Vorträge im Jahr wird auf diese Weise immer zu erübrigen sein.
Die Vermittelung zwischen den Vortragenden und den Anstalten,
welche die Vorträge entgegennehmen wollen, würden wohl die Provinzialschul-
kollegien übernehmen müssen. Am Anfang des Schuljahres etwa würden diese
bekannt geben, welche Vorträge im Laufe des Schuljahres, vielleicht mit einer
gewissen Beschränkung der Zeit, gehalten werden können. Nun suchen die einzelnen
Anstalten, ohne daß ein Zwang zur Beteiligung vorliegen dürfte, die Vorträge aus,
die ihnen zusagen. Die Provinzialschulkoilegien hätten dann wieder, wenn nötig,
auszugleichen. Sollte etwa ein Vortrag zu oft gefordert werden, so würde ein Teil
der Anstalten bis zum nächsten Jahr warten müssen. Vielleicht könnten auch
vorher Wünsche der einzelnen Anstalten gehört werden. Nur vor einem möchte
ich warnen, wenn ich auch fürchten muß, deshalb als Ketzer verschrieen zu werden.
Man überlasse die Entscheidung darüber, welche Vorträge gehalten werden sollen,
nicht den Lehrerkonferenzen. Vielmehr mag der Direktor sie aussuchen, nachdem
er sich mit den Lehrern ins Einvernehmen gesetzt hat. Es könnten sonst gewichtige
A. Volkmar, Lehrziele und Lehraufgaben. ' 139
Minoritäten, Männer, bei denen wissenschaftliche Anregung auf fruchtbaren Boden
fallen würde, gelegentlich überstimmt werden. Und schließlich, wenn nun so ein
Vortrag mißrät und billigen Anforderungen nicht entspricht, da ist es doch besser,
wenn auf den Direktor gescholten werden kann, als wenn eine Partei in der Konferenz
der anderen Vorwürfe macht oder etwa gar bei einmütigem Beschluß niemand da
wäre, auf den man schelten könnte. Ist es doch immer eine wichtige Aufgabe des
Direktors gewesen, Blitzableiter zu sein für alle Unzufriedenheit, aie sich in so
einer höheren Lehranstalt ansammelt.
So glaube ich einen Weg gezeigt zu haben, auf dem durch Dezentralisation die
wissenschaftliche Fortbildung der Oberlehrer gefördert werden kann. Ohne be-
sondere Kosten läßt sich eine bestehende Einrichtung zur Erreichung dieses Zweckes
segensreich ausbauen.
Pyritz. Robert Holsten.
Lehrziele und Lehraufgaben.
Wer vor Ostern in die Lehrerzimmer hineinhorchte und jeden Herrn fragte,
ob er mit seinen Lehraufgaben zur eigenen Zufriedenheit ohne Drängen und Hetzen
fertig würde, er bekäme zumeist Klagen als Antwort. Je nach dem Temperament
eine Stufenleiter von milder Ergebung bis zu Ausbrüchen des Zorns. Wer sich
zu Weihnachten einen Überblick über die Gesamtleistungen verschaffte, der fände
wenig wirklich erfreuende Zeugnisse. Aber in einer auffallend großen Zahl läse
er nur oder fast nur die Nummern Mangelhaft und Genügend, darunter eine Fülle
mit größter Vorsicht bedingter Genügend.
Stimmt das nicht nachdenklich? Jeden Freund der Jugend und des Vaterlandes
muß es doch betrüben, daß gerade unter den Knaben, die nach Abstammung,
Vermögen und Bildungsgang berufen sind, Führer und Förderer unseres Volkes
zu werden, so viele unbegabte zu sein scheinen! Oder auch träge und pflichtver-
gessene, denen eine gewissenhafte häusliche Aufsicht und Erziehung fehlt. Doch
wenn man zugleich an die Schulverdrossenheit vieler Schüler und Erwachsener
denkt wächst sie nur in Familien, deren Söhne so dumm oder unfleißig und
leichtsinnig sind, daß sie verdienten, in die große Masse des Volkes zurückzusinken?
Unsere höheren Schulen sind zu sehr Lernschulen geworden. Im Vergleich
zur Fülle der Fächer sind die Lehraufgaben in vielen Klassen und Fächern zu reich-
lich bemessen, und die Leistungen werden zu einseitig bewertet.
Gewiß wurden mancherlei Erleichterungen eingeführt, aber sie werden mehr
als einmal durch andere Dinge wieder aufgehoben. Obwohl diese Dinge jedem
Fachmann bekannt sind, möchte ich sie in kürzester Übersicht meinem Aufsatz
voranschicken. Denn nicht jeder empfindet sie als Mißstände. Gewohnheit stumpft
ab, und nur in gedrängter Zusammenfassung wirken die Tatsachen mit ihrer ganzen
Wucht. Endlich läßt sich nur so eine Grundlage für die Frage gewinnen, was zu
bessern wäre.
Die Nebenfächer! Zu welchen anspruchsvollen Herren haben sich diese be-
scheidenen Leute ausgewachsen ! Früher von den stolzen Hauptfächern verächtlich
140 A. Volkmar,
in die Ecke gedrückt, sehr oft von Lehrern verwaltet, die sich bestenfalls auf der
Universität beiläufig damit beschäftigt hatten und schon deshalb keine übermäßigen
Anforderungen stellten, und jetzt? Jeder Klassenleiter, fast möchte ich sagen
jeder Vater macht die Erfahrung, wie der moderne Fachlehrer, bewehrt mit dem
ganzen Rüstzeug seiner Wissenschaft, gerade sein Lieblingsfach für außerordentlich
wichtig hält und die geringe Stundenzahl, die der Lehrplan ihm törichterweise
gönnt, durch straffsten Unterricht und hochgespannte Ansprüche ein wenig aus-
zugleichen sucht. Die Vertreter der Hauptfächer glauben ihrerseits, das erste
Anrecht auf Zeit und Kraft der Schüler zu haben diese sind die Leidtragenden.
Dazu die sorgfältige pädagogische Ausbildung, die den jungen Lehrer befähigt
und verpflichtet, jede Minute der kostbaren Unterrichtszeit auszukaufen, wie man
so schön sagt, und aus den Jungen das Letzte herauszuholen! Verschwunden
sind die zahlreichen Originale früherer Geschlechter, die fast an jeder Schule als
Sicherheitsventile gegen Überbürdung und Überanstrengung wirkten, für die
kein Schüler arbeitete, in deren Stunden man sich durch Unachtsamkeit und Unfug
erholte. Bei der geringeren Aufsicht durch die Vorgesetzten ergaben sich viele
ältere Herren, aber auch manche jüngere, einem behaglichen Gehenlassen. Jetzt
kann jeder Lehrer in jeder Stunde vor die Notwendigkeit gestellt werden zu zeigen,
ob er den genau vorgeschriebenen Unterrichtsstoff mit Erfolg durchgenonmien
und pflichtgemäß so in die Köpfe hineingepreßt hat, daß der Maiabschnitt noch um
Weihnachten drinsteckt. Die Pflichteifrigen, die Nervösen, vor allem die Ehr-
geizigen, die um jeden Preis die Gefahr einer Rüge vermeiden wollen, suchen dieses
Ziel häufig ohne jede Rücksicht auf die vielen anderen Fächer zu erreichen. Bei
der Zersplitterung des Unterrichts kämpft der Klassenleiter ^inen schweren, oft
vergeblichen Kampf gegen übertriebene Anforderungen. In zahlreichen Fällen
wird er den Dingen nach Verdrießlichkeiten aller Art ihren Lauf lassen.
Endlich eine Fülle von Gegenständen, die die Einfalt vergangener Jahrzehnte
nicht kannte: Sprechübungen im Französischen und Englischen, chemische und
physikalische Übungen, Biologie, Theater und Konzerte für Schüler, vermehrte
Turnstunden, Spiele, Rudern, Wandern usw. Alles vortreffliche Sachen, manche
durchaus notwendig, vor allem die körperliche Ausbildung. Wer weiß, ob nicht
gerade wir Deutsche Zeiten nahe sind, wo ein starker und gewandter Leib für den
einzelnen und das Vaterland wertvoller ist als die schönste Blüte edler Geistes-
bildung? Aber für so viel des Neuen muß doch irgendwo im Alten Raum geschafft
werden! In ausreichendem Maße ist es nicht geschehen.
Darf man sich noch wundern, daß vielen Schülern bei soviel Anforderungen
und Einwirkungen der Atem ausgeht?
Sehr beachtenswert ist doch, daß Sextaner und Quintaner, die nur eine
fremdeSprache zu bewältigen haben, unter schlechten Zeugnissen undSchulverdrossen-
heit kaum leiden. Wohl erfüllt mancher mechanische Kopf die leichteren Pflichten
jener Klassen, der versagt, wenn selbständiges Denken verlangt wird. Aber zu
dieser Gruppe gehört doch nur ein Teil jener Schüler, deren Leistungen von Quarta
an merklich zurückgehen.
Am schlimmsten liegen die Verhältnisse in den Tertien und Sekunden. Das
rasche Wachsen und die geschlechtliche Entwicklung schwächen Körper und Ge-
Lehrziele und Lelirauf gaben. 141
dächtnis. Es ist erstaunlich, daß die Schule darauf nicht die geringste Rücksicht
nimmt, obwohl sie doch mit einer nicht unerheblichen Zahl schwächlicher und
nervöser Schüler rechnen muß, obwohl in diesen gefährlichen Jahren nichts mehr
als Überreizung des Gehirns zu Unarten auf geschlechtlichem Gebiet führt, obwohl
man weiß, daß diese Unarten erschreckend häufig geübt werden. Aber die Zahl
der Fächer schwillt an und das Gedächtnis muß gerade hier Außerordentliches
leisten. In den Sprachen die grundlegende Grammatik, eine Überfülle von Formen,
Regeln, Ausnahmen, Phrasen, Vokabeln. Das Realgymnasium verlangt gar drei
fremde Sprachen im Hauptfach ! In den Sprachgeist des Lateinischen, Französischen
und Englischen soll der unglückliche Junge sich hineinfühlen und hineindenken, als
wäre er ein Sprachakrobat, oft an einem Vormittag nacheinander in alle drei Sprach-
geister! Des Klagens über eine babylonische Sprachverwirrung in zahlreichen
Schälerköpfen ist dann auch kein Ende. Auf dem Gymnasium ist die Lehraufgabe
des Französischen in der Quarta sehr groß; aber sie ist eine Kleinigkeit gegen das
Griechische der Untertertia! Ohne rechts und links und rückwärts zu schauen,
muß der Lehrer vorwärts, immer vorwärts wie der Hauptmann im Sturm auf die
Festung. Wer fällt, der fällt ! Nur äußerste, atemlose Anspannung bringt zum Ziel,
oft ein arg zusammengeschmolzenes Häuflein. Vielfach muß Privatunterricht nach-
helfen. Besonders geschickte und erfahrene Lehrer mögen ja günstigere Ergebnisse
haben, aber es kommt auf den Durchschnitt an. Ein solches Jahr steht an der Pforte
zum Griechischen, der Blüte und Krone des gymnasialen Unterrichts ! Wird es dem
Gymnasium Freunde zuführen? In der Geschichte setzen die Lehrpläne eine so
i^ründliche Einprägung der Tatsachen und Zahlen voraus, daß der vertiefende Unter-
richt der obersten Stufe noch darauf fußen kann. Man prüfe doch, was Tertianer
und Sekundaner um Weihnachten von der Lehraufgabe des vergangenen Jahres
noch wissen ! Wer jenes Ziel erreichen will, muß stets von neueip die Jahres-
abschnitte der vergangenen Jahre wiederholen und die vollbemessene Aufgabe
seines Jahres dazu. Wenn dasselbe in den übrigen Fächern wie Religion, Erd-
kunde usw. geschieht, kann sich dabei die Lehr- und Lernfreude behaupten?
Dazu sind zahlreiche Jungen klägliche Stümper in der deutschen Sprache,
selbst noch in der Sekunda. Ihr unentwickelter Verstand durchdringt viele Dinge
nicht, die reichlich hoch für die Altersstufe sind. Daher müssen sie sie mechanisch
mit dem Gedächtnis erzwingen. Unreif und linkisch wie sie sind, wühlen sie im
dumpfen Halbdunkel unter einem Wust von Einzelheiten, immer in der Gefahr
und Sorge, darin zu ertrinken.
So versteht man, wenn selbst erfahrene Schulmänner, die eigene Söhne zur
Schule schicken, sich zu Äußerungen versteigen wie: ,, Unsere Jungen gehen an
der Tüchtigkeit ihrer Lehrer zugrunde" „Wenn zufällig alle Lehrer einer
Klasse, zumal auf der mittleren Stufe, eifrige, willensstarke und gar noch jugendliche
und ehrgeizige Männer sind, so ist es ein Unglück für viele Schüler** „Wenn
ein Junge offenbar erschöpft ist, wird ihn jeder einsichtige Vater zu Haus behalten.
Nachdem er zwei bis drei Tage den Unterricht versäumte, werden sich seine Lei-
stungen merklich bessern, weil Geist und Körper ausruhen konnten." Ähnlich
-denken Tausende von Eltern.
Gewiß gibt es genug Schüler, die von dieser Not nichts oder nur wenig spüren.
142 A. Volkmar,
Soll die Schule allein auf sie Rücksicht nehmen und die übrigen abstoßen? Der
Zudrang ist ja doch viel größer, als man wünschen kann.
Abgesehen von den Begabtesten, denen alles mühelos zufällt, kommt der
treue Arbeiter, der mit gutem Gedächtnis und ruhig-nüchternem Verstand eine
gewisse geistige Leere und Interesselosigkeit verbindet, in der Schule durchschnittlich
am besten weg. Denn er nimmt alles Gebotene mit demselben Gleichmut ohne
Unterschied hin, verarbeitet es pflichtgemäß und enttäuscht keinen seiner Lehrer.
Dagegen verhalten sich Knaben mit ausgesprochenen Anlagen und Neigungen
häufig ablehnend gegen andere Dinge. Sie sträuben sich unwillkürlich, das ganze
Neben- und Durcheinander der mannigfachen Stoffe in sich hineinstopfen zu lassen,
damit ihre Sondergabe nicht ersticke. Kann man ihnen verargen, wenn sie sich ihr
mit jugendlicher Einseitigkeit hingeben und für sie ein Mehr von Zeit fordern,
das sie anderem entziehen? Manchem stören künstlerische Gaben und überstarke
Einbildungskraft die Treue des Gedächtnisses und die ruhige Klarheit des Denkens.
Das endlose Heer der unbegründeten, zusammenhangslosen Einzelheiten macht ihnen
große Pein. Andere sind langsam, schwerfällig, besitzen nicht die wünschenswerte
Klarheit und Schärfe des Verstandes, haben aber so vortreffliche Charaktereigen-
schaften, Willenskraft, Pflichttreue, hochanständige Gesinnung, daß man gerade
sie als Männer gern in einflußreicher, vorbildlicher Stellung sähe. Nicht aus den
Musterschülern geht die Mehrheit der bedeutenden Männer hervor, sondern aus
jenen anderen Naturen. Daher muß die Schule sie wenigstens soweit berücksichtigen,
daß sie ihnen die Schuljahre oder auch einen Teil davon nicht zur Qual macht.
Gewiß sollen die Jungen lernen, Widerstand zu besiegen und Selbstüberwindung
zu üben. Aber nichts im Übermaß ! Dann wird es Härte, besonders den weichen,
allen Eindrücken offenen Kinderseelen gegenüber. Bieten die Hauptfächer nicht
genug Gelegenheit dazu? Hier ist schärfste Anspannung aller Verstandeskräfte
nötig und gewissenhafte häusliche Arbeit. Hier kein weichliches Nachlassen in dem,
das eine sorgfältige Prüfung als erreichbar und unerläßlich erkannt hat. Wer
zurückbleibt, muß in einem zweiten Jahr nachholen.
Aber dann in den Nebenfächern mit Absicht eine andere Methode ! Man schone
das Gedächtnis und stelle nicht wie in den Hauptfächern als erste Forderung hin,
daß vor Ostern die ganze Lehraufgabe als unverlierbares Gut in den Köpfen stecken
muß und dem Direktor und Schul rat in Parade vorgeführt werden kann! Man
entwickle Gemütsleben und Phantasie, erwecke tiefergehendes Interesse für das
Fach und rufe zur Erholung von dem Kriegszustand der Mathematik- und Gram-
matikstunden eine behagliche Stimmung hervor. Gewiß geschieht es schon viel-
fach. Man sollte es zu einem Grund- und Hauptsatz der ganzen Unterrichtslehre
erheben. Und in den am meisten belasteten Klassen der Übergangs jähre bestimme
man Nebenfächer, in denen nicht ein Wort für das Haus aufgegeben werden darf.
Was dann während des Unterrichts in die Köpfe nicht hineinkommt, bleibt eben
draußen! Diejenigen Schüler, die Interesse und Verständnis haben, werden auch
so viel lernen. Und die anderen? Was sie sich widerwillig einquälen, geht ja doch
in Kürze wieder verloren 1 Aber ohne ganz klare Verfügungen wird man die Schüler
nicht ausreichend gegen übereifrige, überstrenge, unerfahrene, kinderlose Lehrer
schützen. Gegen Pedanten, die alles wie unregelmäßige Verben pauken möchten.
LehrzJele und Lehraufgaben. 143
Unter den herrschenden Verhältnissen sichert sich der Lehrer auf diese Weise
tatsächlich am besten gegen Vorwürfe von Seiten der Vorgesetzten.
Aber auch die Lehraufgaben der Hauptfächer sollten mit Rücksicht auf die
zahlreichen anderen Lehraufgaben derselben Klasse so vorsichtig abgemessen
werden, daß ein normaler Lehrer mit einer normalen Klasse seinen Abschnitt ohne
Drohen und Schelten und Hasten erledigen kann, mit ruhiger Vertiefung, hier
und da Zusammenfassungen und Rückblicken in behaglicher Breite, welche den
Schülern die Überzeugung geben, daß sie den Stoff meis+ern. Das wirkt Freude an
der Arbeit, hebt das Selbstgefühl, schafft aufrechte Geister, während jetzt das Ge-
fühl der Unsicherheit, das Bestreben, die vielen Mängel vor den Lehrern zu ver-
bergen, die Charakterbildung lähmt und schädigt.
Freude an der Arbeit! Jedem normalen Kinde wird Wissenstrieb und
Schaffensdrang angeboren. Ist es nicht eine betrübende Erscheinung, daß diese
Anlage in der Schule so oft ins Gegenteil umschlägt oder sich auf Wegen betätigt,
die von der Schule weitab führen? Freilich liegt es in der Natur der Knaben, daß
sie ein Ding mit Feuereifer angreifen, aber rasch Überdruß empfinden, besonders
wenn die für das spätere Leben unvermeidliche Gründlichkeit und Ausdauer von
ihnen verlangt wird. Und den langjährigen Schulbesuch mit den regelmäßigen
Pflichten und Aufgaben werden sie im Vergleich zu den Ferien immer für uner-
freulichen Zwang halten. Aber damit wird die Schulverdrossenheit nicht erklärt.
Denn andererseits steckt in der Jugend soviel Lebenslust und Kraft und gesunder
Sinn, daß die Schule in der überwiegenden Mehrzahl ihrer Schüler eine gewisse
Freude an der Arbeit und am Weiterkommen erhalten müßte. Der tiefgehende
Überdruß hat andere Gründe: Die Sorge, wegen der Unzulänglichkeit des Ver-
stehens und Wissens täglich die Unzufriedenheit der Lehrer zu erregen — die
Mißerfolge — das verwirrende Vielerlei — das unfrohe Bewußtsein, in keinem
oder kaum einem Fach Gutes zu leisten und den Stoff zu beherrschen — die pein-
liche Wahl, entweder an zahlreichen Tagen von Pflicht zu Pflicht gehetzt auf jede
freie Zeit verzichten zu müssen, die man dem Spiel oder selbstgewählter Beschäfti-
gung widmen möchte, oder wenn man auf dies Recht seiner Jugend nicht verzichten
will, dafür in der Schule büßen zu müssen — das unklare, unwahre Verhältnis zu
den Lehrern, deren Anforderungen man nicht erfüllen kann — Vorwürfe der Eltern
— die Behandlung in der Schule.
Die meisten Jungen leben in einer glücklichen Familiengemeinschaft, die sie
mit Sorgfalt und Liebe umgibt und ihrer Eigenart liebevoll Rechnung trägt. Wie
müssen sie den Unterschied empfinden, wenn sie in der Schule oft kaum mehr als
eine Nummer sind ! Wenn sie gegebenenfalls kaltblütig in den großen Sammeltopf:
Mangelhaft! Unbrauchbar! geworfen werden! Wie oft wird ihr weiches Herz
sich wundstoßen und frieren! Gewiß soll man die Jungen nicht zu weichlich be-
handeln. Das Leben packt auch fest zu. Ebenfalls die Kameraden. Selbst Strenge
leiden sie gern, wenn sie sich mit unbedingter Gerechtigkeit paart. Aber man sollte
bedenken, daß sehr oft der Lehrer der erste Erwachsene ist, welcher durch kalte
Gleichgültigkeit oder Unfreundlichkeit, durch Mißtrauen oder liebeleere über-
strenge Beurteilung den unerfahrenen zarten Menschenkindern einen Vorgeschmack
von den Härten des Daseins zu kosten gibt. Ein solcher Eindruck wird nie vergessen !
144 A. Volkmar, Lehrziele und Lehraufgaben.
Dabei ist die kindliche Natur von Lebensfreude durchtränkt und durchwärmt
und nach Lob verlangt sie wie das Gras nach dem Regen. Auch noch bei dem
zum Jüngling heranreifenden Knaben trifft dies zu. Wer hier einsetzt, wer die Freude
zur Helferin macht, der erleichtert und verschönt sich die Arbeit ganz außerordent-
lich. In jedes Lehrerzimmer sollte man die Worte schreiben: Vergiß das Loben
und Lachen nicht! Müßte es nicht selbstverständlich sein, daß überlegende, vom
besten Wollen beseelte Männer diesen Grundzug des jugendlichen Charakters für
ihre Zwecke nutzbar machen? Wenn es oft so ganz anders aussieht: die Haupt-
schuld trägt das System.
Ich bin weit entfernt, den Lehrern einen Vorwurf machen zu wollen. Ihr ganz
besonderes Verdienst ist es, wenn die Ungunst der Verhältnisse nicht noch weit
größeren Schaden anrichtet. Denn die Lernschule mit den übervollen Klassen
und der Überfülle des Lernstoffes hat kaum Zeit für Betrachtungen jener Art,
für Erkenntnis der Individualität und ihre Berücksichtigung. Trotz redlichsten
Bemühens immer wieder Mißerfolge; der Druck der Sorge, mit dem Stoff nicht so
fertig zu werden, wie es sein sollte; in überfüllten Klassen Tag für Tag äußerste
Anspannung der Kräfte, um die für einen gedeihlichen Unterricht doch einmal
nötige Sammlung und Aufmerksamkeit zu erzwingen; dennoch oft genug Störungen
aller Art, weil die Jungen die Wehrlosigkeit der Lehrer längst durchschaut haben
dabei kann nicht jeder eine fröhliche, gehobene Stimmung behaupten. Mancher
wird nervös und gereizt, wenigstens im Laufe der Jahre. Er verlernt das Lachen
und vergißt zu loben, aber herber Tadel springt rasch über seine Lippen, Die
Jungen erfahren, daß selten eine Klasse so unbegabt und denkfaul war wie diese.
Daß die Hälfte verdiente, sitzen zu bleiben. Daß auch erstaunlich viel sitzen bleiben
werden. Arme Freude!
Ist die Herabsetzung der Summe der Kenntnisse wirklich ein großes Unglück?
Die wertvollsten Leistungen der Schule werden nicht im geringsten dadurch be-
einträchtigt: Die Gewöhnung an regelmäßige und gründliche Arbeit, an logisches
Denken, an Verknüpfen und Zusammenfassen, an Pflichterfüllung und Selbst-
zucht. Die Entwicklung des Charakters, Gemüt und Phantasie werden ohne Zweifel
dadurch gefördert.
Die wichtigsten Eigenschaften, auf denen das Wohl von Staat und Nation
beruht, werden in einem glücklichen Familienleben begründet. Und die höhere
Schule, die ihre Schüler neun Jahr und mehr beansprucht und fordert, daß sie im Tun
und Denken der Knaben den Mittelpunkt bildet? Unmöglich kann sie sich der
Pflicht entziehen, bei jener Entwicklung mitzuhelfen. Zum mindesten muß sie den
Weg dazu freilegen, statt ihn durch Zustände zu verbauen, die so häufig zu einem
unerquicklichen, gespannten, ja feindseligen Verhältnis führen. Unsere Jungen
belügen ihre Lehrer. Gewiß nicht alle, doch auch nicht wenige. Trotzdem ziehen
sie an und für sich die Wahrheit unbedingt der Unwahrheit vor. Gegen einander
sind sie doch ehrlich. Am Lehrer schätzen sie kaum eine Eigenschaft höher als Offen-
heit und Gerechtigkeit. Aber wenn man zu oft kaum oder schwer Mögliches von
ihnen fordert und die Nichterfüllung als strafwürdiges Vergehen behandelt, drängt
man sie — auch gegen ihren Willen — in die Rolle des Schwachen, der im Kampf
mit dem Überstarken alle Mittel für erlaubt hält.
F. Thümen, Zu Leuchtenbergers „Vademecum". 145
Solange die Schule mit Lernstoff überhäuft ist, kann sie diese hochwichtige
und notwendige Aufgabe im besten Fall nur unvollkommen erfüllen, als Mittel-
glied zwischen Familie und Staat die in der Familie geschaffenen Werte zu pflegen
und weiterzuentwickeln und ihre Schüler für die Rechte und Pflichten des staat-
lichen Lebens gründlich vorzubereiten.
Einen tüchtigen Schritt vorwärts auf diesem Wege würde die Einführung
des wahlfreien Unterrichts in der Prima bedeuten. Eine vortreffliche Vorbereitung
für die freie Arbeit der Studienzeit! Zugleich wäre ein ungeahnter Aufschwung
in der Arbeitslust und den Leistungen die Folge, wie bei jedem rechtzeitigen Über-
gang von einer Pflichterfüllung unter äußerem Zwang zu einem Schaffen in innerer
Freiheit. Man sollte es an einzelnen Anstalten erproben, wo Direktor und Lehrer
bereit sind. In kurzer Zeit würden alle Zweifel schwinden.
Also nicht diese übermäßige einseitige Bevorzugung des Verstandes und Wissens,
sondern eine harmonischere Ausbildung. Mehr Zeit für die Berücksichtigung der
jugendlichen Natur im allgemeinen und der Eigenart der einzelnen Schüler. Mehr
Zeit auch für Ausblicke über die Schulmauern hinweg in das Leben, aus dem die
Jungen kommen, und in das Leben, dem sie entgegenreifen.
Gr.-Lichterfelde. August Volkmar.
Zu Leuchtenbergers „Vademecum".
Leuchtenbergers „Vademecum für junge Lehrer" hat, soweit mir bekannt
geworden, überall wohlverdiente Anerkennung gefunden. Weniger pädagogisch-
didaktischen Reflexionen als der Erfahrung, der Anschauung dessen entsprungen,
was junge Lehrer zu bieten und zu leisten, aber auch zu verfehlen pflegen, und
was andererseits von ihnen gefordert werden muß, leitet es sie in trefflicher Weise
zum Verständnis ihrer Aufgabe an und wird voraussichtlich besonders den päda-
gogischen Seminaren wertvolle Dienste leisten. Da mögen den Benutzern des
Büchleins vielleicht einige Bemerkungen und Hinweise nicht unwillkommen sein,
die, auch der Erfahrung eines Lehrerlebens entnommen, Punkte in der Ausbildung
des jungen Lehrers berühren, auf die in dem Büchlein nur knapp und kurz hin-
gewiesen oder ganz verzichtet worden ist.
Zuvor sei eine Bemerkung gestattet. Befremdend wirkt, wenn sie auch an
sogenannte berühmte Muster erinnert, die Du-Anrede, befremdend,*) weil sie in
geradem Gegensatze zu der Praxis des Lebens steht. Läßt sich auch nicht leugnen,
daß darin ein Moment der Herzlichkeit liegt, aus dem die freundliche Absicht
des Lehrenden gegenüber dem zu unterweisenden jungen Manne wie die bestimmte
Erwartung einer ebenso freundlichen Aufnahme des Gesagten seitens dieses hervor-
*) Ich, stehe hier doch zu Leuchtenberger. „Du" ist von dem Tage der Gesetz-
gebung am Sinai die Anrede der Ethik wie Pädagogik und seit dem ersten Liebes-
liede die poetische Anrede. Pädagogik mit Ethik und Poesie im Bunde sprechen für
dieses „Du". Man lasse ihm sein herzliches Dasein ! Einen Kuß braucht man nicht gleich
dabei zu verlangen. Mtth.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 10
146 F. Thümen,
leuchtet: heutzutage ist das patriarchalische Verhältnis, das ein solches „Du"
auslösen könnte, im Verkehr des Vorgesetzten mit dem jungen Lehrer undenkbar.
Als ich vor mehr als 40 Jahren, 22 Jahre alt, auf einige Monate zur Aushilfe an das
Gymnasium einer norddeutschen Stadt verlangt wurde, machte ich, der Sitte
der kleineren Stadt gemäß, sämtlichen Mitgliedern des Magistrats, des Scholarchats,
der Geistlichkeit den üblichen Besuch; einer der letzteren, ein prächtiger alter Herr,
dem die Herzensgüte aus Augen und Worten sprach, beendete die Unterhaltung mit
einem „Du geföllst mi; giv mi n' Kuß!" Kommt dergleichen noch heute vor?
Ebensowenig, meine ich, wie das „Du" des Vademecum. Unter allerhand Einflüssen,
auf die hier nicht eingegangen werden kann noch soll, hat in den verschiedensten
Schichten und Beziehungen der Bevölkerung zueinander der Patriarchalismus dem
gesetzlichen Verhältnis Platz gemacht, unleugbar auch auf dem Gebiete der Schule;
und dem Rechnung zu tragen, empfiehlt sich meines Erachtens mehr als das Fest-
halten an dem, was der Praxis der Gegenwart widerspricht.
Von der Schulzucht im allgemeinen ist in dem Büchlein weniger die Rede
als von der im Unterrichte. Und doch halte ich ein Wort darüber an den jungen,
eben eintretenden Lehrer für durchaus erwünscht, besonders, wenn eigenartige
Verhältnisse wie die der Größe der Stadt und der Anstalt oder gar die Verschieden-
heit des Schülermaterials in nationaler Beziehung, nach Konfessionen oder nach
Ständen ihren Einfluß nach dieser oder jener Richtung geltend machen. Auch
wenn der junge Lehrer nicht der Provinz entstammt, in der er tätig sein soll, wird
ein Hinweis auf die Eigentümlichkeiten in der Anlage und dem Charakter der
Schüler ihm zustatten kommen; denn gelegentlich wird deren Tun und Treiben
im gegebenen Falle sich anders gestalten in Frankfurt a. M. als in Berlin, anders
ihr Verhalten sein, wenn in Vorpommern, Hinterpommern oder Posen ihre Wiege
gestanden hat. Im Hinblick auf eigene Erfahrungen nun habe ich die zahlreichen
und vor allem häufig wechselnden Kandidaten vor Beginn ihrer Tätigkeit etwa nach
folgender Richtung zu unterweisen für meine Pflicht gehalten: „Die Disziplin
an der Anstalt ist gut; Sie werden Gelegenheit haben, sich davon zu überzeugen.
Nichtsdestoweniger weise ich Sie darauf hin, daß für den jungen Lehrer an einer
großen Anstalt mit stark gefüllten Klassen mehr als anderswo die Gefahr besteht,
daß unruhige und zu Übergriffen geneigte Elemente es einmal mit dem neuen Herrn
versuchen werden. Kommt dergleichen vor, so mache ich Ihnen keinen Vorwurf
daraus, da Sie eben in den neuen Verhältnissen, in die Sie eingetreten sind, nicht
gleich in jedem Augenblicke über die einzunehmende Haltung klar sein werden;
aber aus sachlichen Gründen rechne ich es Ihnen als eine Schuld an, wenn Sie ein
solches Vorkommnis verschweigen. Am besten werden Sie ja abschneiden, wenn
Sie mit einem strafenden Blicke oder einem kurzen energischen Worte dem Stören-
fried zum Bewußtsein bringen, daß ihm ein ernster Mann gegenübersteht, der nicht
gewillt ist, seinem Ansehen etwas zu vergeben (Vademecum S.9, Kanon 65: Selber
ist der Mann !). Ist der Zwischenfall von Ihnen selbst derartig abgetan, daß eine
Wiederholung nicht zu befürchten ist, so mögen Sie gelegentlich dem Ordinarius
davon Mitteilung machen, da diesem daran gelegen sein muß, über jegliches Ver-
halten seiner Schüler stets genau unterrichtet zu sein. Gelingt es Ihnen aber nicht,
der vorgekommenen — sagen wir allgemein — Ungezogenheit das wünschens-
Zu Leuchtenbergers ,,Vademecum". 147
werte Ende zu bereiten, wiederholen sich die Fälle bei demselben Schüler, oder
werden andere zur Begehung derselben oder ähnlicher Ungebühr angesteckt, dann
müssen Sie zunächst dem Ordinarius davon Kenntnis geben, damit dieser Ihnen
den rechten Weg der Abhilfe zeige oder selbst, und zwar zumeist unter Benach-
richtigung des Direktors, dem Unfuge steuere. Unterlassen Sie das, so vergehen
Sie sich an der ganzen Anstalt. Denn der Bazillus der Insubordination — um
diesen Sammelnamen für alle Ungebühr zu gebrauchen — ist wegen seiner raschen
Verbreitung höchst gefährlich. Ich könnte Ihnen von eigener Erfahrung aus dem
Probejahre berichten, wo es nur unserem, d. h. der Kandidaten energischem Zu-
sammenschlüsse und Auftreten gelang, die Übertragung des in einer bestimmten
Klasse einem Hilfslehrer gegenüber zur Gewohnheit gewordenen Lärms und weiterer
Ungezogenheit zu verhindern; die Neigung dazu machte sich in der ganzen Gruppe
der Klassen neben, vor und hinter jener breit. Also, außer dem Wunsche, selbst
möglichst bald das Heft in die Hände zu bekommen, macht die Gefahr einer Schädi-
gung der allgemeinen Disziplin es Ihnen zur Pflicht, offen und vertrauensvoll über
solche Vorkommnisse mit dem Ordinarius oder dem Direktor oder beiden zugleich
zu sprechen. Fürchten Sie nicht, daß durch diese offene Darlegung der Verhält-
nisse Ihnen das Zeugnis am Schlüsse des Jahres könnte verdorben werden ; gerade
durch jene soll dem Unfuge gesteuert, sollen Sie zu der erforderlichen Sicherheit
und Selbständigkeit in der Behandlung der Schüler erhoben werden.**
Wiederholt ist es mir vorgekommen, daß der junge Lehrer offenbar der An-
sicht huldigte, er müsse sich zu den Schülern in einer mehr als freundlichen Weise
stellen, die man als kordial bezeichnen muß. Sicherlich darf es an herzlichem
Empfinden seinerseits nicht fehlen; noch immer ist das Wort eines alten Pädagogen
wahr, daß erst „amare'' kommt, welches nach der ersten Konjugation geht, dann
erst „docere'' nach der zweiten. Aber in dem Worte „kordial" liegt auf diesem
Gebiete etwas Fehlerhaftes. Die Gutmütigkeit des Lehrers gestattet' den Schülern
allerhand Dinge, die nicht als grobe Vergehen zu bewerten sind, immerhin jedoch
Disziplin und Unterricht zu stören und schließlich sein Ansehen zu mindern ge-
eignet sind; dahin gehören unberechtigte Zwischenfragen, die Neigung, bei irgend-
einer unpassenden Gelegenheit Erlebtes vorzutragen, ein Umringen des Lehrers
auch im Anfange bei seinem Eintritte in das Zimmer, besonders aber am Schlüsse
der Unterrichtsstunde, namentlich wenn eben eine schriftliche Arbeit angefertigt
worden ist. Und die Gutmütigkeit des Lehrers weiß nicht, die nötige Schranke
aufzurichten und die Aufdringlichen zurückzuweisen, sondern läßt sie gewähren,
bis schließlich — so pflegt nämlich der Ausgang zu sein — ein Krach, durch vor-
lautes oder gar freches Wesen hervorgerufen, dem Unfuge ein Ende macht und den
Lehrer zu der Einsicht führt, daß herzliches Empfinden niemals in Schwäche aus-
arten darf. — Auch über diesen Punkt könnte das„Vademecum" einige Andeutungen
enthalten.
Das Buch behandelt bei der Besprechung der deutschen Aufsätze fast nur
die Frage nach der Art der auf den verschiedenen Klassenstufen zu stellenden
Aufgaben, unteriäßt aber, den jungen Lehrer auf einige sozusagen landläufige Fehler
bei der Korrektur der Arbeiten hinzuweisen. Da gilt es, von Anbeginn der Tätig-
keit den Satz zu befolgen: „Das Urteil über die Arbeit muß in bestimmter und
10*
148 F. Thümen, Zu Leuchtenbergers ,,Vademecum".
klarer Form abgegeben werden", eine Forderung, die trotz aller Selbstverständlich-
keit sehr häufig nicht erfüllt wird. Für die Zensierung pflegen die Nummern der
vierteljährlichen Zeugnisse verwendet zu werden, 1 — 5, hier und da mit dem Zu-
geständnisse, daß bei 2, gut, noch ein „im ganzen gut" und bei 3, genügend, ein
„noch genügend" zugelassen wird. Jenes soll anzeigen, daß die Arbeit nach Inhalt
und Form unbedingt den zu stellenden Anforderungen genügt, nach einer Seite
hin darüber sich sogar erhebt, ohne jedoch das höhere Prädikat voll zu erreichen;
dieses, daß sie nach der einen Seite hin den Anforderungen nicht ganz entspricht,
jedoch in der anderen Beziehung als einwandfrei, im ganzen also als „genügend
mit Einschränkung" oder ,,noch genügend" zu gelten hat. Mit diesen sieben Prä-
dikaten kann die Zensierung in ausreichendstem Maße vorgenommen werden;
werden indessen noch andere beliebt, so mag auch diese Überfülle zulässig sein,
jedoch nur unter der Bedingung, daß hierin an der Anstalt Einheitlichkeit herrscht.
Nun macht sich aber bei jungen Lehrern, sowie in bezug auf die vierteljährlichen
Zeugnisse, das aus einer gewissen Bequemlichkeit oder aus mangelnder Urteils-
schärfe entspringende Bestreben geltend, mit Doppelnummern den Aufsatz zu be-
werten, mit 2/3, 3/4 — diese sind die gebräuchlichsten — oder die einzelnen
Nummern mit Zusätzen zu versehen: „im ganzen noch genügend", „kaum 3/4",
„fast 2", „kaum 2" — letzteres ein, man möchte sagen, unmögliches und doch
vorgekommenes Prädikat. Derartige Urteile sind wegen der Unklarheit, die sie
beim Schüler über seine Leistung hervorrufen, durchaus verwerflich; jene Doppel-
nummern und Zusätze hindern ihn, eine einwandfreie Bewertung seiner Arbeit
zu gewinnen und anzugeben. — Den jungen Lehrer hierauf aufmerksam zu machen,
und ihn für alle Arten schriftlicher Arbeiten zur Abgabe des Urteils in bestimmter
und klarer Form anzuhalten, empfiehlt sich beim Beginn seiner Tätigkeit.
Unter Aufsätzen der Untertertianer fand ich zur Begründung des durch eine
oder zwei Zahlen gegebenen Urteils den Zusatz: ,, Nicht logisch genug". Bei der
Besprechung der Arbeiten mit dem betreffenden Kandidaten richtete ich an ihn
die Frage: ,,Was, glauben Sie wohl, versteht ein Untertertianer unter „logisch"?
Würden Sie in dem Alter gewußt haben, was der Lehrer damit sagen wollte? Also,
wenn Sie löblicherweise bei der Beurteilung der Aufsätze den Schüler nicht mit
einer einfachen Zahl abspeisen, sondern Ihr Urteil näher begründen, namentlich
auf die begangenen Fehler hinweisen wollen, so wenden Sie erstens keine Fremd-
wörter an und zweitens, bleiben Sie bei diesen Ausführungen stets innerhalb des
Verständnisses des Schülers. Mag es auch nicht immer bequem sein, ein Fremd-
wort, das sich auf wissenschaftlichem Gebiete auch in unserer Sprache fest ein-
gebürgert hat, in gleicher Knappheit wiederzugeben: besser ist es, es so zu um-
schreiben, daß seine Bedeutung dem jugendlichen Fassungsvermögen klar wird,
als es in der fremden Hülle zu gebrauchen. Hier also: Die Folge der Gedanken
ist nicht immer richtig; oder ähnliches. — Gerade im deutschen Unterrichte werden
Sie ihr Augenmerk darauf richten müssen, weder selbst Fremdwörter anzuwenden,
wenn Sie deren Kenntnis bei den Schülern nicht voraussetzen können, noch solche
von dieser Seite zuzulassen; ich erinnere an das bei den Primanern beliebte „ästhe-
tisch", das ihnen ein unverstandener Begriff ist, wenn ihnen nicht einmal die
genetische Entwicklung des Wortes, der Gebrauch des aia^dvoiAai auf rein
H. Sommermeier, Zum deutschen Unterricht. 149
sinnlichem bis zu dem auf dem Gebiete der schönen Kunst klar gemacht wor-
den ist*'.
Ich schließe diese Ausführungen, die, ebenfalls der Erfahrung entsprungen,
als ein bescheidener Beitrag zu dem genannten Büchlein angesehen zu werden
wünschen.
Naumburg a. S. F. T h ü m e n.
Zum deutschen Unterricht.
(Einige Bemerkungen zu Buddes Aufsatz gleichen Titels im Dezemberheft dieser
Monatschrift.)
Es handelt sich um die Behandlung der Dramen im Deutschunterricht der
höheren Schulen.
Die Gedanken oder, besser, der Gedanke, den Budde vertritt, ist folgender:
„Das Kunstwerk soll dem Schüler nahegebracht werden durch ausdrucksvolles
Vorlesen des Lehrers und gleiches Nachlesen des Schülers. Nur dadurch wirkt es
unmittelbar auf Gefühl und Anschauung, und das ist seine erste Bestimmung.
Erst wenn das geschehen ist, soll die Erklärung und Inhaltsangabe einsetzen,
und zwar soll die Erklärung sich auf das Allernotwendigste beschränken, damit
der erste unmittelbare Eindruck durch sie nicht gestört wird."
Dieser methodische Gang ist für die Gedichte wohl allgemein angenommen,
wenn man nicht die Erklärung gleich mit der Vorbereitung verbindet, nur
zieht man es vor, die Schüler erst nach der Besprechung lesen zu lassen, aus
dem einfachen Grunde, weil zum ausdrucksvollen, also verständnisvollen Lesen
eben Verständnis gehört, das man nur bei den wenigsten Schülern gleich nach
der Darbietung des Gedichtes durch den Lehrer, und wenn dessen Vortrag auch
noch so vollendet war, erwarten kann.
Warum, muß man sich fragen, ist in den methodischen Bemerkungen zu den
Lehrplänen — denn diese sind es ja, die in dem Standpunkte des Kandidaten
bei Budde unschwer zu erkennen sind — nun bei den Dramen diese Art der Be-
handlung aufgegeben worden? Dort heißt es bekanntlich: „Die gelesenen Epen
und Dramen sind nach ihrem Aufbau und den Charakteren der handelnden Per-
sonen zu einem volleren Verständnis zu bringen. Nicht ratsam ist es,
ein Drama von Anfang bis zu Ende in der Klasse zu lesen.
Das Lesen mit verteilten Rollen ist nur in sehr be-
schränktem Maße bei besonders geeigneten Szenen und
in der Regel erst nach der Besprechung und nach or-
dentlicher Vorbereitung von Nutzen."
Die Gründe für diese verschiedene Behandlung von Geeicht und Drama —
und Epos, das man hier, wie in den „Bemerkungen", auch hinzunehmen könnte —
lassen sich bei einigem Nachdenken klar erkennen: Sie beruhen vor ailem auf
ihrem verschiedenen Umfange. Hier das Gedicht, das in einer Stunde dem Schüler,
als in sich abgeschlossenes Ganzes nahegebracht werden kann, dort das umfang-
reiche Drama, das im Unterricht nur eine bruchstückweise Behandlung zuläßt
150 H. Sommermeier,
hier ein Kunstwerk, das der Schüler schon beim Vortrage des Lehrers leicht über-
blickt, dort eine Folge von Teilen, die durch die Besprechung und Erläuterung
immer wieder in Zusammenhang gebracht werden müssen. Beim Gedicht kleineren
Umfangs hat der Vortrag des Lehrers Zweck, denn da kann wirklich der Stimmungs-
gehalt der ganzen Dichtung wirken, beim Drama könnte dies Ziel nur erreicht
werden, wenn es möglich wäre, das ganze Kunstwerk im Zusammenhang dar-
zubieten. Es könnten hier höchstens Teile in Betracht kommen, die schon in sich
abgeschlossene Kunstwerke mit eigenem Stimmungsgehalt sind. Solche Stellen
recht auszuwählen, muß sich der Lehrer des Deutschen allerdings angelegen sein
lassen.
Zu diesen Erwägungen kommt noch eine rein technische Schwierigkeit, die
auch mit dem Umfang des Dramas zusammenhängt: Man stelle sich vor, daß
ein Werk wie „Wilhelm Teir* oder die „Jungfrau von Orleans", von der „Wallen-
stein-Trilogie*' gar nicht zu reden, nach Buddes Vorschlägen, d. h. Vortrag des
Lehrers, Nachlesen der Schüler und Erklärung, behandelt würde. Ich halte es
für ausgeschlossen, daß dann ein Vierteljahr, d. h. 22 — 25 Kurzstunden zu 45 Mi-
nuten, genügen würde. Und hier ist noch ein langes zu 10 Wochen angenommen
worden, und für die Durchnahme der Aufsätze, die doch nun auch einmal ihren
Platz verlangen, und ihre Besprechung bei der Rückgabe habe ich nur 5 Stunden
angesetzt, ganz zu schweigen von den freien Vorträgen. Wir sehen, auch aus diesem
Grunde muß sich das Lesen, das durchaus nicht verpönt ist — auch nicht in den
Lehrplänen — und auch beibehalten werden muß, schon um die Schönheit der
Sprache voll zu empfinden, beschränken auf besonders geeignete Stellen. Sie
können dann auch von den Schülern, n a c h der Erklärung, mit verteilten Rollen
gelesen werden.
Eine Gefahr, die dem Lehrer beim Vortrag dramatischer Szenen droht, näm-
lich bei der Wiedergabe der verschiedenen Stimmen, die Lachlust seiner Schüler
zu erwecken, soll nur erwähnt werden; sie kann man bei einiger Übung ja ver-
meiden.
Aus diesen zeitlichen Schwierigkeiten ergibt sich umgekehrt die Notwendig-
keit, es der häuslichen A-beit des Schülers zuzuweisen, sich mit dem Inhalt des
Stückes vertraut zu machen. Budde bekämpft diese Art aufs heftigste, denn so
könne die Dichtung nicht unmittelbar auf Anschauung und Gefühl wirken. Ob
ein tieferer Eindruck erzielt würde, wenn, wie Budde verlangt, dem Schüler in
jeder Stunde zwei oder drei Szenen vorgetragen würden, wage ich zu bezweifeln.
Außerdem glaube ich sowieso nicht, daß der Vortrag des Lehrers der erste Ein-
druck ist, den der Schüler von dem Drama empfängt. Ich glaube, daß jeder geistig
einigermaßen rege Schüler, sobald mit der Lektüre des Dramas begonnen worden
ist, dies schon aus Interesse an den bloßen Ereignissen zu Hause durchlesen oder,
besser, durchfliegen wird. Daneben hat diese häusliche Aufgabe auch den Zweck,
den Schüler zu veranlassen, sich einmal ein größeres Stück im Zusammenhange
genau durchzulesen, was bei bloßer Klassenlektüre kaum möglich wäre. Daß durch
diese Inhaltsangabe, die natürlich im fließenden Vortrage zu erfolgen hat, noch
einer anderen Forderung, die an den deutschen Unterricht gesteht wird, genügt
wird, nur nebenbei.
Zum deutschen Unterricht. 151
Mit bitterem Spott wendet sich Budde schließlich gegen die nach seiner An-
sicht wohl allgemein geübte, veraltete rationalistische Methode, die ein Stück
nur Verstandes mäßig dem Schüler näherbringen will. Ich hoffe, man kann ein
Drama auch anders erklären als trocken und rein verstandesmäßig. Hier hat die
Persönlichkeit des Lehrers und die Kunst, ein Dichtwerk nachzuempfinden, ein
ebenso großes Feld zur Betätigung wie bei dem von Budde geforderten Vortrage.
Daß hier viel gesündigt worden ist und vielleicht auch noch wird, will ich durch-
aus nicht leugnen, nun aoer darum eine eingehende Erläuterung zugunsten des
Vortrages und Nachlesens von Grund auf zu verdammen, ist sicherlich zu weit
gegangen. Was kommt denn eigentlich bei der Vorlesung des Lehrers zur Geltung?
Doch die Sprache des Dichters und der Stimmungsgehalt des Werkes, d. h. alle
die Faktoren, die auf das Gefühl des Schülers wirken. Beruht aber auf ihnen allein
oder wenigstens vor allem, wie Budde sagt, der Wert und die Schönheit eines klas-
sischen Dramas? Doch sicher nicht! Der Aufbau der Handlung und die Zeich-
nung der Charaktere muß gewürdigt werden, wir würden sonst unseren gewal-
tigen Dramatikern bitter unrecht tun. Wie bald würde dann ein gefühlsseliges
Drama mit locker zusammengefügten Szenen und nur eben angedeuteten Charak-
teren, dafür aber in hübschen Versen geschrieben oaer origineller Prosa, über
unsere besten gestellt werden. Und vor allem die sittliche Grundidee muß her-
ausgearbeitet werden. Nicht umsonst sollen die größten unserer Nation ihre er-
habensten Gedanken in diese Werke gelegt haben. Wie ist dies alles möglich, vor
allem 'bei Verteilung der Besprechung auf einzelne Stunden, wenn man eine ein-
gehendere Erläuterung ausschließen will? Und eins darf man nicht vergessen:
Die Schüler, mit denen wir diese Dramen lesen, sind mit ihren 15 — 18 Jahren
doch noch keine reifen Menschen, ihnen muß der Lehrer als Führer zur Seite stehen.
Wenn diese Führung mit weisem Maßhalten, in begeisterter und begeisternder
Weise geschieht, so wird unseren Jünglingen dadurch das Stück nicht verekelt,
wie Budde behauptet, sondern es wird jetzt, da all die Schätze, die in ihm ruhen,
gehoben worden sind, erst recht gewürdigt werden. Ich glaube, daß auch eine solche
Art der Behandlung unserer Meisterdramen Kunsterziehung ist und nicht einer
solchen Erziehung systematisch entgegenarbeitet. Denn „die Dichtkunst wendet
sich an den ganzen Menschen, nicht bloß an einen einzelnen Sinn Sie
wendet sich an den ganzen intellektuell, sittlich und ästhetisch empfindenden
Menschen Wir dürfen nicht übersehen, daß mit der ästhetischen Er-
ziehung, und zum Teil sogar durch sie, auch eine starke Willenserziehung unserer
Nation vorhander sein muß, damit nicht bloß schön empfindende Männer und
Frauen unserem Vaterlande erstehen mögen, sondern auch sittlich große Menschen".
(Dr. Kerschensteiner auf dem 2. Kunsterziehungstage in Weimar 1903.)
Daß auch die von mir hier verteidigte Methode dem Drama unserer Klassiker
nicht ganz gerecht wird, gebe ich gern zu: Auch sie muß ergänzt werden durch die
Bühne, denn für das Theater sind diese Dichtungen zunächst geschrieben worden.
Und mit Freude kann man immer wieder sehen, daß bei der Aufführung von
klassischen Stücken der größte Teil der Zuhörerschaft aus Schülern und Schüle-
rinnen besteht. Ich möchte diese Erscheinung nicht, wie man nach Buddes Aus-
führungen meinen müßte, für einen Protest halten gegen die Behandlung, die
diese Dichtungen in der Schule erfahren, sondern eher für die Frucht derselben
152 O. Rückert,
Ich bin am Schluß. Erschöpfend sollten meine Bemerkungen nicht sein, nur
soviel glaube ich gezeigt zu haben, daß Buddes Vorschläge, in so energischem
Tone er sie auch vorbringt, abzulehnen sind. Er begeht den Fehler, eine Methode,
die für einfachere lyrische und kurze epische Dichtungen geeignet ist, auch auf
Dramen anwenden zu wollen, die ihrem Umfang und Gehalt nach doch eine andere
Behandlung erfordern. Mit seinen Angriffen gegen die übliche Art der Lektüre
geht er zu weit. Ich glaube bestimmt, daß die Art, deutsche Dramen zu lesen, wie
er sie vorauszusetzen scheint, jetzt zu den Seltenheiten gehört; denn ich weiß,
daß meine Fachgenossen sich die Fähigkeit bewahren, sich an den Werken eines
Schilder und Goethe zu begeistern, dann aber ist es ihnen unmöglich, ihren Schülern
diese Dichtungen durch öde, rein verstandesmäßige Paukerei zu verekeln.
Neues wollte ich nicht bringen*), ebensowenig, wie ja Budde neue Gedanken
geben wollte. Ich hielt es aber für angebracht, daß, nachdem einmal derartige
Forderungen von neuem in dieser Monatschrift erhoben wurden, auch an diesem
Orte dazu Stellung genommen wurde.
Halberstadt. H e rm. S o m m e r m e i e r.
Bemerkungen zur Erweiterung des Kreises der lateinischen
Schulschriftsteller.
Wenn ich im folgenden den schon öfters erwogenen Vorschlag vertrete, der
Kreis unserer lateinischen Schulautoren möge erweitert werden, so will ich mich
von vornherein zunächst dagegen wenden, daß etwa der bisherige Grundstock
zerstört wird. Die Prosaiker Cicero, Caesar, Livius, Sallust, Tacitus und die Dichter
Vergil, Horaz und (mit Einschränkung) Ovid müssen als die bewährte Grundlage
unseres Lateinbetriebes beibehalten werden. Meine Bedenken richten sich nament-
lich darauf, daß die lateinische Lektüre nach unseren Lehrplänen auf einen engen
Kreis von Schriftstellern ausdrücklich beschränkt ist. Für die neueren Sprachen,
besonders für Französisch und Englisch, geben unsere Lehrpläne in dieser Hinsicht
größere Freiheit. Sie verpflichten zur Behandlung der namhaftesten Klassiker
und gewähren doch die Möglichkeit, auch anderen geeigneten Lesestoff heranzu-
ziehen. Für den Neuphilologen ergibt sich daraus der Antrieb, fleißig Umschau
zu halten in der neueren, auch in der zeitgenössischen Literatur. Das wirkt er-
frischend und anregend auf den Lehrer und damit auch auf den Unterricht. Der
Altphilologe hat nach den Lehrplänen nur für das Griechische einen gewissen
Spielraum. Der Lateinlehrer kann zwar auch, wenn er die Arbeit der Wissenschaft
weiter verfolgt, seinen lateinischen Klassikern neue Seiten abgewinnen, aber ohne
Zweifel gerät durch die Beschränkung des Lesestoffes der lateinische Unterricht
in die Gefahr einer gewissen Erstarrung. Im engen Kreis verengert sich der Sinn.
Es sollten dem Altphilologen, dessen Wissenschaft ohnehin nicht eine so innige
*) Vgl. u.a.; Monatschrift für höhere Schulen IIl, S. 9 u. 10. Matthias, Hand-
buch des deutschen Unterrichts I, 3, S. 8 ff.
Bemerkungen zur Erweiterung des Kreises der lateinischen Schulschriftsteller. 153
Fühlung mit der Gegenwart hat, Wege eröffnet werden, diese Gefahr der Erstarrung
zu meiden.
Freilich soll die alte Wahrheit „nön multa, sed multum'' auch weiterhin unseren
höheren Schulen heilig bleiben. Die lateinischen Schulautoren bieten in ihrer
Gesamtheit ein geschlossenes Ganzes; sie führen in eine an geistigen Werten reiche
zusammenhängende Periode des Altertums ein. Mannigfache Fäden laufen von
einem zum andern. Würde unbeschränkte Freiheit in der Wahl der Lektüre ein-
treten, dann könnte leicht ein Vielerlei ohne Zusammenhang und damit ohne aus-
reichende Möglichkeit der Befestigung und Vertiefung den jugendlichen Geist
verwirren. Auch aus diesem Grunde ist zu wünschen, daß die jetzigen Schulschrift-
steller den Hauptanteil an der Lektüre behalten. Aber daneben sollte die Freiheit
bestehen, auch andere Schriftsteller heranzuziehen.
Ich will unter den Gründen nicht nur die aus dem Wechsel folgende Belebung
der Arbeit anführen. Wesentlich scheint mir auch, daß in den Schulschriftstellern*
manche Seite des antiken Lebens, die der Betrachtung wert ist, nicht ausreichend
zur Geltung kommt. Wenn ein lateinisches Lesebuch in Gebrauch käme, das auch
Abschnitte aus C a t o s Landwirtschaftsbuch oder aus Vergils Georgica
enthielte, so würden unsere Schüler auch ein Bild von römischem Landbau und
Landleben erhalten können; man wird das nicht für unwichtig halten, wenn man
bedenkt, daß die Römer von Haus aus ein Bauernvolk waren, das in seiner großen
Zeit aus dem Zusammenhang mit der Scholle und aus seinen patriarchalischen
bäuerlichen Institutionen immer wieder neue Kraft gewann.
Bedauerlich ist es auch, daß T e r e n z in den preußischen Gymnasien nicht
gelesen wird. Ich meine, daß auch heute oder gerade heute die Bemerkungen
Geltung haben, die Dziatzko in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Phormio-
Ausgabe gemacht hat: „Die Stücke eines Plautus und Terenz sind n^eines Erachtens
für die Schule ein besonders geeignetes Bildungsmittel. Sie gewähren einmal
in anziehender Lektüre ein unmittelbares und anschauliches Bild einer Seite des
antiken Lebens, welche sonst auf der Schule nur gelegentliche Erwähnung findet;
sodann aber bieten sie namentlich in formaler Beziehung einen reichen Stoff, um
in die Entwicklung der lautlichen und syntaktischen Gesetze der lateinischen
Sprache den Schüler einzuführen, ihn zu einer historischen Auffassung der Gram-
matik anzuleiten." Heute könnten wir, da wir gern den Kulturzusammenhängen
zwischen Antike und Neuzeit nachgehen, noch auf den Einfluß hinweisen, den
die römische Komödie auf die Weltliteratur ausgeübt hat. Die Beziehungen zu
Moliere und Shakespeare und schließlich auch zur deutschen Bühne lassen sich leicht
verfolgen. Literarische Zusammenhänge, insbesondere mit dem deutschen Schrift-
tum (Lessing, Goethe, Schiller), lassen sich auch bei der Lektüre von M a r t i a 1 s
Epigrammen nachweisen. Aber auch die Art und Weise, wie Martial römisches
Volksleben zur Kaiserzeit witzig betrachtet und verspottet, ist des Interesses nicht
unwert. Mehr als einige Proben wird man freilich von ihm nicht geben wollen.
Dagegen kann S e n e c a eine eingehendere Lektüre gewidmet werden. An seine
philosophischen Schriften, besonders an die epistulae morales ad Lucilium, läßt
sich die Besprechung von Weltanschauungsfragen anknüpfen. Von hier aus lassen
sich Verbindungslinien zur christlichen Ethik herstellen, die eine gerechte Wür-
154 O. Rückert,
digung der antiken Sittlichkeit ermöglichen, die aber auch erkennen lassen, daß
selbst die ernstesten Verfechter derselben von der christlichen Ethik noch durch
eine weite Kluft getrennt sind.
Von Q u i n t i 1 i a n , dessen geistschärfenden Wert bekanntlich Friedrich
der Große als für die Schule bedeutsam erkannt hat, würde zwar nur das X. Buch
zu empfehlen sein, aber dieses mit gutem Grunde, weil es einen Einblick eröffnet
in die Rhetorenschulen und ihre Bildungsbestrebungen und überhaupt in die Werk-
stätte antiker Geistesarbeiter. Besonders schätzbar ist auch, daß wir hier einen
Überblick über das antike Schrifttum vom Standpunkte des antiken Lehrers er-
halten, wie wir ihn sonst in dieser Weise überhaupt nicht besitzen.
In die mit Augustus anhebende und von den tüchtigsten Caesaren in recht
ernster Weise fortgeführte Kulturarbeit der Kaiserzeit, die sich aus Horaz und auch
aus dem politisch dissentierenden Tacitus durchaus nicht genügend erkennen läßt,
insbesondere in die im allgemeinen als segensreich erkannte Pro vinzial Verwaltung
führt uns des P 1 i n i u s Briefwechsel mit T r a j a n. Von Trajan gilt in höchstem
Maße, was v. Domaszewski (Geschichte der römischen Kaiser. Leipzig 1909.
I, S. 5) von den besten Caesaren sagt: „Der Kaiser ist nicht nur der erste Diener
des Staates, sein ganzes Leben ist die Hingabe an die Last eines Amtes, das nur
durch die strengste Pflichterfüllung zu tragen war." Auf unsere nach realpolitischem
Denken strebende Zeit kann schon die schlichte, streng sachliche Sprache Trajans
ihre Wirkung nicht verfehlen. Nicht minder eindrucksvoll aber ist die ruhige
Sicherheit und die tiefgehende Sachkenntnis, mit der er seine Entscheidungen
trifft, und die wahrhaft friderizianisch anmutende Pflichttreue. Jede Anfrage
des Statthalters läßt den interessierten Leser mit Spannung erwarten, in welcher
Weise der kaiserliche Entscheid erfolgen wird. Diese Lektüre kann ich unseren
reiferen Schülern nur aufs dringendste wünschen.
Voraussetzung für die hier angedeutete Erweiterung des Kanons ist aller-
dings, daß in einem lateinischen Lesebuch geeignete Abschnitte aus den genannten
Schriftstellern zusammengestellt werden, wie wir ja ähnliche Werke für die neueren
Sprachen und fürs Griechische in dem rühmlichst bekannten Werk von Wilamowitz
bereits besitzen. In Verbindung mit den in den Kanon aufgenommenen Schrift-
stellern würde es den Schülern ein ausreichendes Gesamtbild vom römischen Schrift-
tum in seinen charakteristischen Vertretern zur Verfügung stellen können.
Durch solche Ergänzungen der Schullektüre wird aber auch das Bestreben
gefördert, unserem humanistischen Unterricht wieder reichere Beziehungen zur
Gegenwart zu verschaffen. Eine Arbeit nach der Weise ,,1'art pour l'art*' würde
allmählich das Absterben des altsprachlichen Unterrichts herbeiführen. Was dem
altsprachlichen Unterricht nottut, und wie ihm geholfen werden kann, zeigt uns
Cauers „Palaesira vitae'\ „Es gilt — so heißt es im Vorwort (2. Aufl.) S. VII f. — ,
dem altklassischen Unterricht innerlich neuen Boden zu gewinnen, den Geist des
Altertums mit dem ganz modernen Geiste, der heute lebt und als lebender sein
Recht hat, in engste Beziehung zu bringen, daß sie sich gegenseitig befruchten."
Das Altertum h a t in der Tat engere Beziehungen zur Gegenwart, als der Ober-
flächliche ahnt und der Befangene zugeben will. Diese Beziehungen fühlbar
zu machen und dadurch den altsprachlichen Unterricht mit Licht und Leben zu
Bemerkungen zur Erweiterung des Kreises der lateinischen Schulsciiriftsteller. 155
erfüllen, ist unsere Aufgabe. Ähnlich also wie etwa der Grundsatz der Anschauung
oder der logischen Entwicklung muß im Unterricht auch das Gegenwartsprinzip
eine maßgebende Bedeutung erlangen. Die ,,Palaestra vitae'' zeigt uns an einer
Reihe von Beispielen aus wichtigen Lebensgebieten eine eigenartige Behandlung
der Lektüre, die überall an die Antike Fragen des gegenwärtigen Lebens anknüpft.
,, Latein und Leben*', so läßt sich die hier ausgesprochene Notwendigkeit für den
hier vorliegenden Zweck kurz festlegen. Ist diese Notwendigkeit aber anerkannt
und wird ihr durch die Behandlung der Lektüre Rechnung getragen, dann
muß auch schon die Auswahl der Lektüre danach bemessen werden.
Unergiebige Schriften oder Abschnitte, aber auch Einförmigkeit wird man ver-
meiden. Caesars Bürgerkrieg würde ich daher am liebsten ganz entbehren. Dagegen
ist der Gallische Krieg eine Fundgrube für lebensvollen Unterricht. Freilich kann
er auch unfruchtbar werden, wenn man sich nach der recht äußerlichen Bücher-
einteilung richtet und nun einen gallischen „Aufstand'* nach dem anderen durch-
arbeitet, anstatt aus dem Ganzen charakteristische Bilder herauszuheben. Nimmt
man dagegen einzelnes heraus, also etwa: Bilder vom Landkrieg und Seekrieg,
die ethnographischen Abschnitte über Kelten und Germanen, sowie die römisch-
germanischen Kämpfe, endlich das Wesentliche vom letzten großen Freiheits-
kampf — dann hat man immer wieder Gelegenheit, Beziehungen zu den Belangen
unserer heutigen Kultur herzustellen. Für Realgymnasien gewinnt man nebenbei
noch den Vorteil, daß die Schüler einen Durchblick durch das ganze Werk erhalten,
während ihnen sonst Wertvolles verborgen bleibt, weil sie eben die bestimmten
Bücher von A — Z lesen müssen, mit allem Wichtigen und Unwichtigen.
Besteht nun die Freiheit, auch nichtkanonische Schriftsteller heranzuziehen,
dann wird bei der Auswahl auch die Frage zu berücksichtigen sein: Bietet dieser
Schriftsteller Beziehungen dar zur Gegenwart? Der Unterricht soll freilich Mode-
meinungen ruhig ihre Wege dahinflattern lassen, aber große Gedanken, die die Zeit
bewegen, kann er nicht ungestraft mißachten. Als Beispiel führe ich den Gedanken
der staatsbürgerlichen Erziehung an. „Erziehung zum bewußten Staatsbürgertum",
das ist zweifellos ein ernstes, von den großen Völkern anerkanntes Streben unserer
Zeit; es ist notwendig geworden und als notwendig — übrigens nicht erst seit zwei
oder drei Jahren — erkannt, weil eben die Völker politisch geworden sind. Wie man
Gedanken aus diesem Gebiet an die Schriftsteller des griechischen und römischen
Altertums anknüpfen kann, zeigt uns auch wieder die „Palaestra vitae*'. Im Be-
reich der lateinischen Literatur geben Cicero, Caesar, Sallust, Tacitus jetzt und
von jeher vielfache Anregungen zum politischen Denken. Wenn man aber außer-
dem auch gelegentlich zu den Trajansbriefen oder zum Monumentum Ancy-
ranum, vielleicht auch, wie Professor Krückmann in Münster empfiehlt, zu Ab-
schnitten aus römischen Juristen (Voraussetzung: das lateinische Lesebuch!)
greifen kann, so wird das doch eine wertvolle Bereicherung des lateinischen Unter-
richts werden. In entsprechender Weise würden aber auch die anderen vorhinge-
nannten nichtkanonischen Schriftsteller zur Belebung des Unterrichts beitragen.
Wenn wir aber den Zusammenhang zwischen Altertum und Gegenwart ver-
folgen und diese Wege auch unseren Schülern zeigen wollen, dann liegt es in der
Natur der Sache, daß wir da und dort auch noch weiter über den bisherigen Bereich
156 O. Rückert, Bemerkungen zur Erweiterung des Kreises usw.
des altsprachlichen Unterrichts hinausgehen. Das Fortwirken der Antike in das
Mittelalter und in die Neuzeit hinein, zeigt sich namentlich auch auf literarischem
Gebiet, sowohl in der Gedankenwelt und in der inneren Gestaltung der literarischen
Erzeugnisse, als auch äußeriich in dem literarischen Fortleben der lateinischen
Sprache in der mittelalteriichen und auch wieder in der neuzeitlichen Literatur.
Wichtige Perioden unserer nationalen Geschichte sind nur in lateinischer Sprache
dargestellt. Einige dieser Geschichtswerke sind bedeutend genug, um ein Bedauern
zu wecken, daß sie, wenigstens im Urtext, kaum über den Kreis der Fachleute
hinaus bekannt geworden sind. Darauf, daß dies anders wird, und daß das Interesse
für die ältere deutsche Geschichte verstärkt wird, können die höheren Schulen
durch Privatlektüre und Klassenlekttire hinarbeiten. Bei der Auswahl geeigneter
Werke müßte man in erster Linie die Schriftsteller der karolingischen und der
ottonischen Renaissance berücksichtigen, also etwa Einhard, Nithard, Alcuins
Briefe, Widukind von Korvey, außerdem vielleicht auch Wipo.
Grammatische und stilistische Bedenken werden ja dem mittelalteriichen Latein
gegenüber leicht auftauchen. Im Wortschatz, in den Formen, im Satzbau wird
der Schüler auf Ungewohntes, Absonderiiches, Unrichtiges stoßen. Für seine eigene
lateinische Stilbildung muß ihm gewiß das Latein einer bestimmten Periode, bzw.
einer bestimmten literarischen Gruppe, maßgebend bleiben, nach unserem Brauch
die Sprache Ciceros, ergänzt durch die Sprache zeitlich nahestehender Autoren.
Eine Störung oder Verwirrung kann aber hierin kaum eintreten, wenn zeit-
weilig Schriftsteller aus anderen Zeiträumen, auch mittelalterliche, soweit sie
einigermaßen sprachgewandt sind, gelesen werden. Es kann dem Schüler leicht
zum Bewußtsein gebracht werden, daß er hier eine viel spätere Entwicklungs-
periode des Lateinischen vor sich hat; ja, aus den Abweichungen kann ihm mancher
stilistische und grammatische Brauch der klassischen Zeit deutlicher bewußt werden.
Wenn wir auch nach dieser Seite hin den Kreis der lateinischen Schulschrift-
steller erweitern, so erhebt sich allerdings eine Schranke vor uns, wenn wir in Be-
tracht ziehen, daß die amtlichen Lehrpläne als Lehrziel für das humanistische
Gymnasium aufstellen: „auf sicherer Grundlage grammatischer Schulung ge-
wonnenes Verständnis der bedeutenderen klassischen Schriftsteller Roms und da-
durch Einführung in das Geistes- und Kulturleben des Altertums".
Knüpfen wir aber hieran die Frage: Warum Einführung in die Antike?
so muß nach der heutigen Sachlage die Antwort lauten : doch wegen des tiefgehen-
den Einflusses, den sie auf die Gestaltung unserer eigenen nationalen Kultur und
der gesamten europäischen Kultur ausgeübt hat und noch jetzt ausübt. Ein histo-
risches Verständnis dieses Einflusses zu gewinnen und damit sozusagen den Kultur-
blick zu schärfen und Rüstzeug zu gewinnen für unsere gegenwärtige nationale
Arbeit — das ist der Zweck unseres heutigen Humanismus. Also jedenfalls ein
kulturerhaltender und damit kulturfördernder Zweck. Wenn der altsprachliche
Unterricht auf diesen Zweck hin arbeitet, wird er auch lebenskräftig bleiben. Er
muß Gegenwartsmenschen erziehen, und darum kann die „Einführung in die An-
tike" nicht sein letzter Zweck sein, sondern — bei aller Würdigung dieser bedeu-
tenden Aufgabe und ihrer allgemein menschlichen Wirkungen sei es gesagt — nur
Mittel zum Zweck.
A. Bahre, Wie können die teclinischen Fächer mehr als bisher usw. 157
Daß diese Betrachtungsweise auch Innerhalb des Rahmens unserer jetzigen
Lehrpläne möglich ist, zeigt auch die den griechischen Unterricht betreffende
Bemerkung derselben (S. 34): „Das in II und I etwa in Gebrauch zu nehmende
Lesebuch hat die Aufgabe, neben der ästhetischen Auffassung auch die den Zu-
sammenhang zwischen der antiken Welt und der modernen Kultur aufweisende
Betrachtung zu ihrem Rechte zu bringen."
Aus der erörterten Auffassung des altsprachlichen, insbesondere des lateinischen
Unterrichts, folgt aber auch, daß die Lektüre die Freiheit haben muß, über den
Bereich der Klassiker hinauszugehen, selbst bis in solche literarische Erzeugnisse
des Mittelalters hinein, die es augenfällig erkennen lassen, wie die Antike ihre
Wirkungen in die neu emporwachsende europäische Kulturarbeit hineinerstreckt.
Solange wir das lateinische Lesebuch für II und I noch nicht haben,
wird man freilich nur den einen oder anderen nichtklassischen Schriftsteller für die
Lektüre heranziehen können. Schon das ist ein Ziel, aufs innigste zu wünschen.
Ein volleres Gesamtbild vom römischen Altertum kann erst das die Klassiker
ergänzende Lesebuch bringen. Von ihm aus wird auch auf den Zusammenhang
zwischen Altertum und Gegenwart, zwischen antiker und deutscher Kultur noch
reicheres Licht fallen.
Unna. Oskar Rücker t.
Wie können die technischen Fächer mehr als bisher der
ästhetischen Bildung der Schüler dienstbar gemacht werden?
Wenn wir zurückblicken auf die Zeit vor 30 — 40 Jahren, uns vergegenwärtigen,
wie damals der Schulbetrieb gestaltet war und damit vergleichen, wie er jetzt
geworden, so müssen wir sagen, daß auf allen Gebieten große Veränderungen
stattgefunden haben, und mit Freuden dürfen wir hinzufügen, daß die Neuerungen
wohl alle Verbesserungen bedeuten. In fast alle Unterrichtsfächer drangen sie
ein, am bemerkbarsten und durchgreifendsten aber in die technischen. Daß in ihnen
die Umwälzungen am größten waren, ist leicht zu verstehen, standen sie doch
auf einer Entwicklungsstufe, die nur aus dem Mangel an Wertschätzung erklärlich
ist. Weder praktischen noch erziehlichen Wert maß man ihnen bei, deshalb waren
sie sowohl in den Augen der Lehrer, wie der Schüler eine quantite negligeable, auf
die nicht allzuviel Zeit und Mühe verwandt zu werden brauchte.
Das hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewaltig geändert, und zwar mit Bezug
auf alle technischen Fächer. Daß dieser Wandel mit dem wirtschaftlichen Auf-
schwung unseres Volkes zeitlich zusammenfiel, ist kein Zufall, sondern eine folge-
richtige Entwicklung. Die höheren Ansprüche, die die verfeinerte Technik und die
schwierigeren kulturellen Aufgaben an die Ausbildung der deutschen Jugend
stellten, wirkten zurück bis in die ersten Bildungsstätten, die Schulen. Überall
regte sichs, um mit verbesserten Methoden und Lehrmitteln größere Erfolge zu
erzielen, und auch der Ruf „Mehr Kunst in der Schule", der von den verschie-
densten Seiten so eindringlich ertönte und auch überall lebhaften Widerhall fand,
hing eng mit diesen Bestrebungen zusammen. Mehr oder weniger hatten aber alle
158 A. Bahre,
diese Verbesserungsbestrebungen einen einseitigen, einen utilitarischen Charakter.
Der Wunsch danach entsprang aus der Einsicht der Notwendigkeit, und infolge-
dessen trugen die Neuerungen alle den Stempel der Zweckdienlichkeit. Die tech-
nischen Hochschulen verlangten eine andere Vorbildung, so schälte sich das Zeichnen
aus den verknöcherten Formen des Vorlagenzeichnens heraus, um in den Gebilden
der Natur und Kunst bessere Lehrmeister zu suchen. Das Turnen fand mehr Be-
achtung und Wertschätzung, weil man einsehen lernte, daß das erstarkende deutsche
Reich zu seinem Schutze und zu seiner Erhaltung einer gut geschulten Heeres-
macht bedürfe, und daß der Grund dazu schon in der Schule bei der körperlichen
Ausbildung gelegt werden müsse. Auch wurde man sich bewußt, daß eine Stählung
des Körpers notwendig sei, wenn er der erhöhten* geistigen Anspannung stand-
halten sollte; daneben erkannte man, wie sehr das Turnen dazu dienen könne,
den Charakter zu bilden. Das Schreiben wurde mehr beachtet, weil Handel und
Wandel zunahm, und die Kaufleute eine deutliche, gute Schrift zur Erleichterung
des Verkehrs für notwendig hielten. Auch der Handfertigkeitsunterricht fing an,
Beachtung zu finden, weil man darin eine gute Vorbildung für allerlei technische
und kunstgewerbliche Berufsarten erblickte.
So rückten die Stiefkinder, die technischen Fächer, die bisher unbeachtet
und unbewertet in der Ecke gestanden hatten, allmählich zu geachteteren Stel-
lungen auf, man entdeckte in jedem vor allem seinen Nützlichkeitswert und suchte
jedes in seiner Art mehr zur Geltung zu bringen und auszunutzen. Das Gemeinsame
aber, das den technischen Fächern innewohnt, die Goldader, die sich durch das
ganze Gebiet zieht, blieb zunächst ziemlich unbemerkt. Daß sie zu allgemeiner, ver-
tiefter Bildung beitragen könnten, wollte ihnen niemand zugestehen. Und doch ist es
so, heute hat man erkannt, daß in ihnen Bildungsfaktoren liegen, die man nicht
länger unbeachtet lassen darf. Wir haben einsehen lernen, daß sie berufen sind,
in hohem Maße geistig und seelisch fördernd auf unsere Schüler einzuwirken.
Sie sollen dem Schüler nicht nur Nutzen bringen für sein späteres Leben und seinen
Beruf, sondern auch seinen Geist befruchten und vor allem ihn ethisch beeinflussen,
indem sie sein künstlerisches Empfinden fördern, die Freude am Schönen erwecken
und vertiefen, sie müssen mehr wie bisher der Ästhetik dienstbar gemacht werden.
Darüber ist eine solche Flut von Büchern und Abhandlungen geschrieben
und veröffentlicht, auf so vielen Kunsterziehungs- und Philologentagen ist darüber
gesprochen worden, daß ich mir im voraus sagen mußte, meine Zeit würde nicht
ausreichen, sie alle zu lesen und zu verarbeiten. Ich habe mich deshalb an das
sichere Ufer der Praxis geflüchtet und von hier aus die Frage betrachtet und über-
dacht. Zufällig bot sich mir da eine Gelegenheit zu praktischer Belehrung über
diesen Gegenstand, die sich als eine gute Fundgrube für mancherlei Anregungen
und Ideen erwies, nämlich ein Besuch der Brüsseler Weltausstellung.
Diese großen Ausstellungen kann man als Gradmesser ansehen für die
Intelligenz und Arbeitskraft eines Volkes. Ich habe in den letzten Jahrzehnten
ihrer mehrere besucht, Paris 1889, 19Ö0, St. Louis 1904 und Brüssel 1910, und habe
mit Stolz beobachten können, wie Deutschland auf eine immer höhere Kultur-
stufe gelangt ist. Bei der letzten Ausstellung aber gesellte sich zu den erwähnten
Wertfaktoren in auffallender Weise ein dritter, die Ästhetik, das Kunstempfinden.
Wie können die technischen Fächer mehr als bisher usw. 159
Nicht nur die einzelnen Erzeugnisse standen unter diesem Zeichen, auch die ganze
Art der Anordnung und Darbietung war eine durchaus künstlerische, das ist selbst
von den Ländern rückhaltlos anerkannt, die bisher den guten Geschmack in Erb-
pacht zu haben glaubten, von Frankreich und Italien.
Wenn nun der Erzieher der Entwicklung, dem Werden nachspürend fragt,
wie sich ein solcher Fortschritt auf dem Gebiete künstlerischer Betätigung voll-
ziehen konnte, was dazu mitgeholfen hat, so gab auch darauf bis zu einem gewissen
Grade die Ausstellung Antwort. Bot sie doch nicht nur ein Bild des Fertigen,
Gewordenen, sondern sie zeigte auch in der Darstellung der Schulen, ihren Be-
strebungen und Leistungen, wo und wie die Kräfte für solche Betätigungen ihre
erste Vorbildung erhalten.
Nicht nur die deutschen, sondern auch die ausländischen Schulen — namentlich
Belgien hatte ein ausgedehntes Material zusammengetragen — gaben ein deut-
liches Bild, was erstrebt und was erreicht ist, und mit welchen Mitteln. Viel schöne
Früchte des Fleißes und der Intelligenz habe ich da gesehen, daneben zwar auch
solche, denen man die Treibhauskultur zu sehr anmerkte, oder solche, die trotz
schöner Außenseite einen häßlichen Wurm im Innern bargen; aber auch diese
waren mir lehrreich, zeigten sie mir,doch, daß oft die beste Pflege, das ernsteste
Streben nicht den gehofften Erfolg oder nur einen Scheinerfolg haben.
Das Resultat dessen, was ich auf dieser Ausstellung beobachtete, möchte
ich nun zusammenfassen mit dem, was eigene Beobachtung im Beruf mich gelehrt,
mit den Ideen, die mir durch die Arbeiten der Fachlehrer verschiedener Anstalten,
sowie aus dem Studium einiger Schriften zugeflossen sind, und mit diesem Material
die Frage zu beantworten suchen: Wie können die technischen Fächer mehr als
bisher der ästhetischen Bildung der Schüler dienstbar gemacht werden?
Die Antwort können wir kurz zusammenfassen in die Worte: „Das erreichen
wir durch geistige und seelische Vertiefung, indem wir die Freud'e am Schönen
wecken durch die Pflege des Schönen in Natur und Kunst.**
Wir unterscheiden zwei Arten, die rezeptive und die reproduktive Beschäftigung
mit der Kunst. Die Freude am Schönen fällt unter die rezeptive, die Pflege des
Schönen unter die reproduktive, beide aber beruhen auf sinnlicher Wahrnehmung,
deshalb ist für beide die Grundforderung: Auf die Ausbildung der Sinnesorgane
muß mehr Wert gelegt werden, als bisher geschah, vor allem auf die des Auges,
des Ohres und des Tastsinnes.
Wie das in den einzelnen Fächern geschehen kann, will ich im folgenden näher
erläutern.
In erster Linie dienen der ästhetischen Bildung von den technischen Fächern
Zeichnen und Singen, dann aber auch Turnen, Spiel und Sport, Schreiben, Hand-
fertigkeitsunterricht.
Im Zeichenunterricht kommt es bei der rezeptiven Einwirkung hauptsächlich
auf die Ausbildung des Auges an, d. h. darauf, daß der Schüler nicht nur etwas
sieht, sondern schauen, das Gesehene geistig und seelisch erfassen lernt. Wie viel
hat ein Sehender vor einem Blinden voraus, nicht viel weniger ein Schauender
vor einem Sehenden. Der Sehende geht nur sinnlich beeinflußt, aber empfindungslos
vorüber an allem Schönen, das täglich und stündlich sich ihm darbietet; welche
160 A. Bahre,
Fülle der Freude, des ästhetischen Genusses erwächst daraus dem Schauenden.
Aber das will erlernt und anerzogen sein.
Mancherlei Mittel gibt es nun, der Einführung in das Verständnis der Natur
und Kunst zu dienen. Vor allem sind kleine Ausflüge unter der Leitung des Zeichen-
lehrers in die Umgebung der Schule von großem Wert. In kleineren Städten gibt
es wohl vielfach in der Nähe Punkte, die leicht erreicht werden können und die
irgend etwas Schönes bieten, irgend einen landschaftlichen Reiz, der in Farbe,
Form oder Beleuchtung zum Ausdruck kommt, der sich zeigt in einem Wald oder
auch einem einzelnen Baum, in Wiese und Feld, in hügeligem Gelände oder einer
weiten Ebene, in einer alten Mühle, einem schönen Tor, einem Gehöft. Für jegliche
Schönheit kann dem Schüler Auge und Sinn geöffnet werden, und zwar am leich-
testen und wirksamsten, wenn der Führer selbst die Schönheit tief im eigenen
Innern empfindet. Das ist bei allem Schauen ein Fluidum, das leicht auf die Schüler
übergeht und ihre Seelen mehr öffnet, als viel schöne angelernte Worte. Auch das
flache Dach eines Schulhauses kann benutzt werden, den Schülern einen Rund-
blick zu gewähren, ihnen die Konturen der Gegend, der Höhenzüge zu zeigen;
zugleich kann er sie lehren, eine Gegend sozusagen aus der Vogelperspektive zu
betrachten, den Lauf eines Flusses, die Lagerung der Höhenzüge usw. zu beob-
achten. Neben den Naturschönheiten bietet wohl jede Stadt mehr oder weniger
gute Baudenkmäler und architektonische Schönheiten, zu denen die Schüler hin-
geführt werden sollten. Dazu kommen in den großen Städten, denen die Natur-
schönheiten wegen der großen Entfernungen schwerer zugänglich sind, die Kunst-
denkmäler und Museen. Meist kennt und würdigt der Eingeborene die Kunst-
schätze der eigenen Stadt nicht, und das ist leicht erklärlich. In der Jugend hat er
sie nicht genug schätzen und lieben gelernt, um sich im späteren Berufsleben die
Muße zu ihrem Genuß zu gönnen. Glücklich der, der schon früh an der Hand eines
feinsinnigen Führers sich des Schönen freuen lernte, in dem mit dem Kunstemp-
finden auch die Heimatliebe vertieft wurde; aber dazu gehört ein geschickter Lehr-
meister. Es ist völlig wertlos, wenn die Schüler einfach durch die Museen durch-
getrieben werden, um viele schnell vergängliche Eindrücke, aber keinen Genuß
zu haben. Der Führer muß sich vor allem zu beschränken wissen. Es kann ein
einziges Kunstwerk das Ziel eines Museumsbesuches sein, nicht daß der Lehrer
das Kunstwerk in theoretischen Erklärungen zerpflücken und den Schülern lang-
weilig machen soll, aber er kann z. B. eine Kunstform und ihre Eigenart und Schön-
heit, eine Periode und ihre Erzeugnisse, eine besondere Art, einen Zweig des Kunst-
gewerbes vorher erläutern und dann ein Werk oder eine Gruppe, eine kleine Samm-
lung als Typen den Schülern vorführen. Dann muß er aber das Wort möglichst
unterdrücken, das Werk an sich auf sie wirken lassen und mehr durch Frage und
Antwort dahin streben, daß der künstlerische Eindruck vertieft und nachhaltiger
wird. In gleicher Weise sollten die Kirchen, Denkmäler und architektonisch schönen
Gebäude der Stadt behandelt werden. In großen Städten sollte man auch die Schau-
fenster bedeutender Geschäfte, die kleine wechselnde Museen darstellen, nicht
unbenutzt lassen. Die Schüler können dort moderne Kunst in feinem Porzellan,
Teppich- und Tapetenmustern, Buchschmuck und Einband und vielen anderen
Erzeugnissen des Kunstgewerbes sehen und genießen. Die Kunst des Dekorierens
Wie können die technischen Fächer mehr als bisher usw. 161
der Schaufenster hat eine solche Bedeutung gewonnen, daß es z. B. in Berlin eigene
Dekorationsschulen dafür gibt. Der Lehrer sollte die Schüler darauf hinweisen
und ebenso die Reklame, die für ihre Schilder und Anpreisungen oft bedeutende
Künstler in ihren Dienst genommen hat, der künstlerischen Ausbildung der Schüler
nutzbar machen.
Für die Anstalten, denen das alles nicht erreichbar ist, gibt es eine Menge
guter Reproduktionen, die immerhin des Schülers künstlerisches Empfinden be-
fruchten können, wenn auch nicht in dem Maße wie die Wirklichkeit. Am wirk-
samsten sind die Lichtbilder, schon weil sie gemeinsam genossen werden können.
Aber selbst Postkarten können ein gutes Anschauungsmaterial bieten, in letzter
Zeit sind künstlerisch ausgeführte Serien erschienen, die z. B. die architektonischen
Schönheiten vieler Städte (Dresden, Nürnberg, Trier usw.) in anschaulicher Weise
vorführen.*)
Wenn so dem Schüler die mannigfaltigste Gelegenheit geboten ist, künst-
lerische Eindrücke in sich aufzunehmen, so soll nicht weniger dafür gesorgt werden,
daß er sie in sich verarbeitet und durch Wiedergabe vertieft, er soll nicht nur
rezeptiv, sondern auch reproduktiv sich betätigen. Von produktiver, selbstschöpfe-
rischer Tätigkeit ist in der Schule ganz abzusehen, sie soll keine Künstler bilden,
sondern ästhetisch empfindende Menschen. Daß in der Zeichenmethode ein großer
Fortschritt gegen früher sich vollzogen hat, ist bekannt, die Vorlagen sind wohl
überall aus den Schulen verschwunden, und das Zeichnen nach der Natur wurde
eingeführt. Indessen nicht überall ist damit ein künstlerischer Fortschritt verbunden,
oft ist nur eine größere zeichnerische Fertigkeit damit erreicht, aber keine Ein-
wirkung auf Geist und Gemüt, kein ästhetischer Gewinn. Was wird denn nach der
Natur gezeichnet? Irgend welche Gegenstände, die die Anstalt geschenkt bekam
oder billig erwerben konnte, die aber durchaus keine künstlerische Anregung bieten.
Alle diese Modelle sind zu verwerfen, wenn sie nicht in Form oder Farbe eine künst-
lerische Note haben, die man oft in den einfachsten Dingen findet.
Ganz vermeiden sollte man das Stilisieren, das Umbilden der Naturformen
mit ihren Unregelmäßigkeiten zu geregelten Stilmustern, was einem Ertöten der
Natur gleichkommt. Weder nach seiner Art noch nach seinen Resultaten hat das
Stilisieren Nutzen, auch grenzt es schon an produktive Betätigung, die in der Schule
keinen Raum finden soll und nur von fertigen Künstlern mit Erfolg geübt wird.
In belgischen Schulen wird es ja in umfangreichem Maße getrieben. Ich hatte aber
den Eindruck, daß dadurch dem Zeichenunterricht das Leben, der künstlerische
Schwung genommen wird.
Dagegen ist sehr zu fördern das Skizzieren in der Natur. Was ich oben an-
führte als geeignet, des Schülers ästhetisches Empfinden zu befruchten, das soll
nicht nur geschaut, sondern auch wiedergegeben werden. Eine noch intensivere
Geistesarbeit erfordert es, wenn der Schüler mit Augen und Sinnen etwas auf-
nimmt und erst später wiedergibt, ohne die ständige vergleichende Kontrolle des
Auges, ich meine das Gedächtniszeichnen. Hierbei, wie auch beim Skizzieren
*) Hingewiesen wird auf die Werkstätte für moderne Lichtbildkunst von Susanne
Homann in Darmstadt.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 1 1
162 A. Bahre,
nach der Natur soll dem Schüler möglichst freie Wahl des Gegenstandes gelassen
werden, um die Freude daran und damit das ethische Moment zu erhöhen. Auch
schärft es seinen Blick, wenn er selbst sich suchen darf, was er schön findet, —
die Rechenschaft darüber kommt ja in dem Produkt zutage, in dem mehr oder
weniger zum Ausdruck gebracht ist, was dem Verfertiger besonders gefallen hat —
und außerdem wird der individuellen Neigung Rechnung getragen. Einen ge-
wissen künstlerischen Wert hat sogar das Photographieren, der Schüler muß dabei
die Motive richtig wählen, Licht- und Schattenverteilung beurteilen können und
auch die übrige Arbeit daran möglichst gut und vor allem selbst ausführen.
Neben dem Zeichnen steht als gleichwertiger ästhetischer Bildungsfaktor
das Singen. Auch hier soll der Schüler rezeptiv und reproduktiv sich betätigen.
Um der rezeptiven Betätigung gerecht werden zu können, ist es von großem Nutzen,
wenn der Lehrer eine geschulte Stimme besitzt. Nicht jeder hat einen schönen
Stimmklang, aber eine gewisse Schulung kann sich jeder aneignen. Auf den Semi-
naren sollte darauf mehr Wert gelegt werden statt der starken Betonung der Har-
monielehre. Bei richtiger Vorbildung kann der Lehrer dem Schüler Anleitung
geben in Stimmbildung, Atmung, Rhythmus, Aussprache und Vortrag, und das ist
von unendlichem Wert. Man glaubt nicht, wie ungeschult das Ohr des Menschen
ist, wie schwer die Jungen einen Klang mit dem Ohr richtig erfassen und darum
auch wiedergeben können. Auch wir Neusprachler leiden täglich darunter und
können nur wünschen, daß die Fähigkeit, Laute richtig zu hören, gefördert wird.
Für den weitaus größten Teil der Schüler ist der Gesangunterricht in der Schule
der einzige, den sie im Leben genießen, und was darin versäumt ist, wird selten nach-
geholt. Finden sich unter den Schülern einige, die schöne Stimmen haben, so sind
sie zu Einzelgesang heranzuziehen, damit die anderen daran nicht nur ein Vorbild,
sondern vor allem auch Genuß davon haben. Um ihnen diesen zu verschaffen,
sollte man beim Chorsingen die Schüler nacheinander einmal zuhören lassen, damit
sie am Zusammenklang der Stimmen sich erfreuen, während sie sonst immer nur
ihre eigene hören. Wenn der Lehrer ein Instrument beherrscht, und das Klavier
ist der Geige vorzuziehen, weil es bei den Liedern nicht nur, wie die Geige,
die Melodie gibt, sondern auch die Begleitung, so trage er den Schülern öfter kleine
Kunstwerke vor. Einen Schritt weiter gehen musikalische Vorführungen, die
gelegentlich, bei Schulfesten usw., oder aus eigenem Anlaß gegeben werden, und
zwar instrumentale und gesangliche, bei denen Lehrer, Schüler, und sonst musi-
kalische Dilettanten und auch Künstler mitwirken. Die sollen dem Schüler nicht
nur einen ästhetischen Genuß bieten, sondern ihn auch aneifern zu eigener Be-
tätigung. Zum tieferen Verstehen und darum Genießen trägt es bei, wenn der
Lehrer, anfangend bei einfachen Kompositionen und Volksweisen, Erläuterungen
gibt. Mit dem Alter und dem Verständnis der Schüler fortschreitend können
die Erläuterungen immer vertiefter gestaltet werden, d. h. die Werke sollen nicht
musiktheoretisch erklärt werden, sondern die Freude am Werk und das Verstehen
dessen, was mit den Tönen ausgedrückt werden soll, muß gefördert werden durch
eine kunstsinnige Interpretation. Ich denke noch mit Befriedigung an den großen
Gewinn, den die älteren Schüler meiner Anstalt aus der allerdings von besonders
berufener Seite, durch Herrn Professor Sternfeld, Berlin, gegebenen Interpretation
Wie können die teciinischen Fächer mehr als bisher usw. 163
der Meistersinger und des Parzival mit Erläuterungen am Klavier gezogen haben.
Auch Hinweise auf das Leben und Schaffen der Komponisten wird das Interesse
für ihre Werke fördern und beleben.
Zum Chorgesang sollten viel einstimmige Lieder und hauptsächlich Volks-
lieder gewählt werden. Mehr als dreistimmige Lieder gehören eigentlich nicht
in den Rahmen der Schule und dürften nur in Ausnahmefällen in Vollanstalten
geübt werden. Beim Einüben der Chöre achte der Lehrer sorgfältig auf Rhythmus,
Aussprache, Vortrag, Vokalisation, Artikulation und Atmung. Von großem Nutzen
ist es hier, wenn der Lehrer stimmlich geschult ist und die einzelnen Partien vor-
singen kann. Ein einmaliges, richtiges Vorsingen hilft mehr, als eine Flut von Vor-
schriften und Anleitungen. Bei den Chorälen ist mehr auf den Rhythmus zu achten,
die meist übliche schleppende Art, sie zu singen, ist zu verwerfen, denn sie sollen
kein Grabgesang, sondern eher ein Weckruf sein.
Ich komme nun zum Turnen, bei dem naturgemäß die reproduktive Betätigung,
verglichen mit der rezeptiven, überwiegt, wenn auch nicht in dem Maße, wie ge-
wöhnlich angenommen wird. Auch im Turnen liegt ein großer Schatz von Ästhetik,
den zu heben wir uns mehr wie bisher bemühen sollten. In erster Linie geht alle
Turnerei darauf aus, Kraft zu entwickeln, und das ist zweifelsohne eine wichtige
Aufgabe. Aber es soll nicht eine rohe Kraft sein, die wir erstreben, sondern Anmut
und Geschicklichkeit sollen sich mit ihr paaren. Gerade uns Deutschen fehlt,
verglichen mit den romanischen Völkern, weniger die Kraft, als Grazie und Beweg-
lichkeit. Alle Äußerungen der Kraft möglichst schön, ästhetisch wirkend darzu-
stellen, sei deshalb unser Ziel. Dazu ist aber nötig, daß in dem Schüler die' Emp-
findung geweckt wird für das, was schön ist; er lerne die Schönheit des mensch-
lichen Körpers und seiner Bewegungen kennen. Dafür wäre ja das Nacktturnen
günstig, aber sowohl unser Klima als auch andere Gründe sprechen dagegen, immer-
hin sei die Kleidung so, daß die Körperformen möglichst zu sehen sind. Außerdem
bieten ja auch die Schwimmanstalten und Luftbäder Gelegenheit, den menschlichen
Körper zu beobachten.
Um weiter den Schülern eine rezeptive Ausbildungsmöglichkeit zu geben,
ziehe man sie bei den Freiübungen nacheinander einzeln oder paarweise vor und
lasse sie zusehen, um ihnen an den Kameraden zu zeigen, was man will, und worin
die Schönheiten der Bewegungen bestehen. Wenn sie selbst beobachtet haben,
wie schön der Rhythmus in den Bewegungen einer größeren Schar wirkt, wie
störend ungeschickte Wendungen, wenn sie selbst einmal die Freude beim An-
sehen einer vollendeten Leistung empfunden haben, dann ist es ihnen auch ein
gewisser Genuß, als Glied des Ganzen zum guten Gelingen beizutragen. Beim
Geräteturnen bilden die gerade nicht beschäftigten Schüler ja von selbst die Zu-
schauer, sie können aber dann auch hin und wieder aktiv mit tätig sein, indem
sie die Leistungen nach der ästhetischen Art der Ausführung mit beurteilen und
für sich selbst die Nutzanwendung ziehen.
Bei allen turnerischen Übungen ist in erster Linie darauf zu sehen, daß sie
einfach sind. Es sollen keine Verrenkungen und Verzerrungen vorkommen, die
das ästhetische Gefühl verletzen. Darunter braucht die Kraftentwicklung nicht
zu leiden, denn es gibt genug Übungen, die Kraft und Ästhetik gleichermaßen
11*
164 A. Bahre,
berücksichtigen. Beim Geräteturnen verlange man keine Gipfelleistungen, sie
können in den Vorturnerstunden erzielt werden oder bei den Kürübungen. Bei
den Übungen an Reck, Barren, Sturmspringel, Ringen und Trapez, die alle vor-
züglich geeignet sind für eine harmonische Körperausbildung, ist immer Wert
auf eine exakte, aber auch auf eine elegante Ausführung zu legen, auch kann selbst
in diese Übungen ein gewisser Rhythmus gebracht werden, was durch gleich-
zeitiges Turnen mehrerer Schüler erhöht wird. Der Rhythmus, der in hohem
Maße dazu beiträgt, Kraft in Grazie zu verwandeln, denn er bindet sozusagen
die Kräfte, er regelt, er lenkt sie, kommt besonders in den Freiübungen zur Gel-
tung, und eine der schönsten dieser Übungen ist das Keulenschwingen, das viel
mehr als bisher geübt werden sollte. Auch sind einfache Reigen, von Musik be-
gleitet, nicht ganz zu verwerfen, jedoch ist darin alles Komplizierte, auf die Aus-
bildung einzelner Körperteile Hinzielende zu vermeiden. Beim An- und Abtreten
soll die militärische Strammheit nicht zu sehr betont werden, eine genaue Takt-
mäßigkeit ist notwendig, aber Übertreibung wirkt unästhetisch. Genaue, xhöne
Bewegungen sind ruckartigen, die an nervöse Zuckungen erinnern, vorzuziehen,
und die Strammheit soll nicht zur Steifheit werden.
Bei Schauturnen und Sommerfesten soll Gelegenheit geboten werden, daß
Schüler und Eltern sich des Gelernten erfreuen, auch hier sollen keine Gipfel-
leistungen vorgeführt, sondern gezeigt werden, wie der Körper durch das Turnen
zu schöner, harmonischer Ausbildung gelangt.
Bei Spiel und Sport beschränkt sich die Förderung der Ästhetik mehr auf
Einwirkung nach rezeptiver Seite, auf Beschränkung und Beschneidung von Un-
schönem. An sich ist Spiel und Sport ja auch schon Ästhetik, lösen doch diese
Betätigungen Freude und Lust an etwas Schönem und Gesundem aus. Es geht
ein so starker Strom der Freude von ihnen aus, daß nicht nur die Beteiligten
unwiderstehlich davon ergriffen werden, sondern auch die Zuschauenden, und es
müßte schon ein ganz verknöcherter und verbitterter Mensch sein, dem nicht das
Herz aufginge beim Anblick von Spiel und Sport treibender Jugend. Welch hohen
ethischen Wert Spiel und Sport haben, ist ja bekannt, um auch der Ästhetik mehr
äußerlichen Nachdruck zu geben, müssen die Auswüchse beschnitten werden.
Um eine reine Freude zu empfinden, muß der Schüler lernen, in guter Manier zu
unterliegen, nicht den Gegner und seine besseren Leistungen zu hassen, sondern
mit sich selbst unzufrieden zu sein und weiter zu streben. Er muß sich dem Schieds-
richter willig fügen und andere anerkennen, dann wird das Zanken und Streiten
beim Spiel vermieden. Auch ist auf ein möglichst ruhiges Spiel zu halten, alles
Toben und Schreien, Ausrufe des Ärgers und der Freude, laute Kommandorufe usw.
sind zu unterdrücken. Wo die Wahrnehmung des eigenen Vorteils zu Roheiten
führt, ist Einhalt zu tun. Neben Fußball, Schlagball, Rudern usw. sollte Eislauf,
Schwimmen und Tennis gefördert werden. Auch ist das Fechten ein Mittel zur
Entwicklung von Kraft und Grazie, namentlich das französische Stoßfechten, das
gegenüber dem deutschen Hiebfechten den Vorzug hat, daß es den ganzen Körper
zur Mitarbeit heranzieht und durch die Forderung größerer Beweglichkeit und
Gelenkigkeit ästhetischer wirkt.
In der Bekleidung muß bei allem Spiel und Sport natürlich in erster Linie
Wie können die technischen Fächer mehr als bisher usw. 165
auf Zweckmäßigkeit gesehen werden, aber dahinter braucht doch die Ästhetik
nicht ganz zurückzustehen, wenn man darauf hält, daß weder geckenhafte Über-
treibung noch saloppes Sichgehenlassen einreißt.
Wenn wir beim Schreiben Ästhetik fordern, so kommen wir in erster Linie
immer wieder auf die Leserlichkeit. Sie ist die Grundbedingung für die Schön-
heit, denn wenn man etwas nicht lesen kann, so erweckt das Unlustgefühl, und
das widerstrebt der Ästhetik. Ob man aber im Verfolg dieses Grundsatzes bei
der geschriebenen und der Druckschrift so weit gehen soll, wegen der größeren
Deutlichkeit die lateinische Schrift ganz an die Stelle der deutschen zu setzen
und diese zu verbannen, das scheint sehr fraglich. Es sprechen da zu viel ethische
Erwägungen mit. Ob Schräg- oder Steilschrift vorzuziehen ist, ist Sache des indi-
viduellen Geschmacks. Wenn bei der Handschrift ein bestimmter, charakteristischer
Zug erzielt werden kann, der die Deutlichkeit nicht beeinflußt, so ist das ent-
schieden ein Gewinn gegenüber der farblosen, kalligraphischen Schreibermanier.
Der Handfertigkeitsunterricht ist meines Erachtens bis jetzt bei uns noch
lange nicht genug bewertet und geübt. In Amerika, England und Belgien sind
viel schöne Erfolge damit erzielt, wie man auf den Ausstellungen sehen konnte.
Aber auch Auswüchse habe ich dort beobachtet. Wenn z. B. in St. Louis die
Schüler ein Porzellanservice vollständig selbst herstellen, vom Formen und Brennen
des Tones bis zum Glasieren und Bemalen, so geht das entschieden zu weit und
gehört in eine Fachschule, auch ist das wirklich nur eine utilitarische Vorbildung
für das Kunstgewerbe. Wir wollen auch in der Handfertigkeit das ästhetische
Moment nicht vergessen. Durch Vorzeigen schöner kunstgewerblicher Gegen-
stände soll der Formen- und Farbensinn geweckt werden, durch die Bekannt-
machung mit den verschiedenen Rohmaterialien, den verschiedenen Hölzern, mit
Eisen usw. die Freude am Echten, Gediegenen lebendig werden. '
Zur Bearbeitung dienen nicht fertige Produkte, die man nur verziert, z. B.
Holzgegenstände, die durch Brandmalerei, Kerbschnitt usw. eine manchmal sehr
fragliche Verschönerung erhalten, sondern möglichst Rohstoffe, wie Holz und
Eisen, aus denen die Schüler einfache Gegenstände bilden, die durch Form und
Verhältnis wirken. Auch Papparbeiten und Buchbinderei sind geeignet für den
Handfertigkeitsunterricht. Bei all diesem erwerben die Schüler nicht nur eine
Geschicklichkeit der Hand, die ihnen auch von großem Nutzen ist bei den physi-
kalischen Übungen, sondern sie empfinden Freude am Schönen, am Werdenden
und Fertigen. Zugleich erwerben sie bei dem oft mühseligen Selbstschaffen Achtung
vor dem Gewordenen, was die Nachlässigkeit und Unachtsamkeit der Schüler
gegenüber Kunstgegenständen oder empfindlichen physikalischen Apparaten wohl-
tuend einschränkt.
Wenn ich in Vorstehendem erläutert habe, wie die einzelnen technischen
Fächer mehr für die Allgemeinbildung der Schüler ausgenutzt werden können,
wie ihr ästhetischer Wert mehr betont und hervorgehoben werden muß, so möchte
ich jetzt noch darauf hinweisen, wie eine Verbindung der Fächer unter sich und
mit den wissenschaftlichen gleichen Zwecken dienen kann. Vor allem ist eine
Verbindung von Singen und Turnen sehr vorteilhaft. Es hat sich ja jetzt eine
eigene Methode herausgebildet, ausgehend von dem Genfer Professor Dalcroze,
166 A. Bahre,
die alle Bewegungen des menschlichen Körpers rhythmisch gestalten will mit Unter-
stützung durch die Musik, und umgekehrt das in der Musik Enthaltene durch
Bewegungen des Körpers ausdrückt. Es würde zu weit führen, hier näher auf
die Methode einzugehen, und selbstverständlich läßt sich auch nur ein kleiner
Teil in den Unterrichtsbetrieb der Schulen aufnehmen; ich möchte nur auf einige
Möglichkeiten hinweisen. Daß, wenn wir im Turnen mehr Ästhetik erzielen wollen,
der Rhythmus viel mehr wie bisher gepflegt werden muß, ist fraglos, und diesen
kann nur die Musik in das Turnen bringen. Man kann natürlich jede Übung takt-
mäßig mit Zählen ausführen, aber ungleich ästhetischer wirkt sie, wenn der Rhyth-
mus begleitender Musik sie regelt. Dafür eignen sich natürlich in erster Linie Frei-
übungen und unter diesen, wie ich vorhin schon erwähnte, das Keulenschwingen,
auch können zu manchen Übungen Lieder gesungen werden. Die vorerwähnten
Reigen sollen nicht in Geziertheit und Affektiertheit ausarten, sondern einfach
in den Formen sein und durch den Rhythmus und die Gleichheit in den Bewe-
gungen einander gegenüber gestellter Glieder wirken. Tanzschritt und Tanzbewe-
gungen sollten ganz den Mädchenschulen vorbehalten sein. Aber selbst in Geräte-
übungen kann durch Musikbegleitung ein gewisser rhythmischer Schwung gebracht
werden, deshalb sollte in keiner Turnhalle ein Klavier fehlen.
Mit dem Sport vereinigt sich die Musik naturgemäß weniger leicht und har-
monisch, aber z. B. ein Radreigen, den ich beim Sommerfest verschiedentlich mit
Musikbegleitung fahren ließ, hat bei Mitwirkenden und Zuschauern gleiche Freude
erweckt.
Dem Deutschen sollte sich das Singen anfügen, indem nach Möglichkeit die
gelernten Gedichte, soweit sie vertont sind, auch gesungen werden. Es trägt zur
Vertiefung des Verständnisses bei, wenn die Schüler sehen, wie nicht nur durch
das Wort, sondern auch durch die Musik die in den Gedichten enthaltenen Emp-
findungen zum Ausdruck gebracht sind. Balladen sind z. B. dafür sehr geeignet.
Das Turnen kann den Zeichenunterricht insofern unterstützen, als durch
gleichmäßige Ausbildung der Arme die freie Linienführung mit beiden Händen
gefördert wird.
Inniger und vielgestaltiger ist die Verbindung von Deutsch und Zeichnen,
die gelesenen Gedichte können in der Zeichenstunde illustriert, oder doch die
Szenerie für die Handlung in Gedichten und Geschichten, von denen sich jeder
Schüler eine mehr oder weniger lebhafte Vorstellung macht, in bildlicher Dar-
stellung wiedergegeben werden. Auf der Oberstufe ist das auch auf den fremd-
sprachlichen Unterricht zu übertragen. Hier hat es nicht nur den Wert, daß es
das Gehörte lebendiger macht, sondern auch fremde Art und Sitten veranschau-
lichen hilft. Ich erinnere mich mit Freude der Lektüre von „T/ze cricket on the
hearth'\ das ich in der Prima in Elberfeld lesen ließ mit gleichzeitiger Anfertigung
von Illustrationen. Durch die Erzählung selbst und aus Beschreibungen gewannen
die Schüler einen Begriff von englischen Einrichtungen, die sich ihnen durch die
Verbildlichung tiefer einprägte als durch das Wort. Einige Schüler stellten sogar
durch ein einfaches Verfahren Diapositive her, so daß die Bilder mit dem Ski-
optikon wiedergegeben werden konnten.
Auch das Singen kann die Fremdsprachen wesentlich unterstützen. Die Schu-
Wie können die technischen Fächer mehr als bisher usw. 167
lung der Stimme im Gesangunterricht kommt der Bildung der Fremdlaute, Nasal-
laute usw. sehr zugute, wie auch die stärkere Betonung und Herausarbeitung des
Rhythmus das Gefühl dafür in den Fremdsprachen verschärft. Er ist so ver-
schieden von dem der deutschen Sprache, daß er nicht genug geübt werden kann,
und um ihn auch in Liedern recht fühlbar zu machen, sollten nur Originallieder
gesungen werden. Es ist zu verwerfen, deutsche Lieder mit deutscher Vertonung
in fremden Lauten singen zu lassen, wie z. B.: j'avais un camarade.
Selbst das Turnen kann dem fremdsprachlichen Unterricht von Nutzen sein.
So habe ich das Zehnminutenturnen, die Atemübungen dafür nutzbar gemacht,
indem ich die Jungen nicht stumpfsinnig den Atem habe einziehen und ausstoßen
lassen, sondern beim Ausstoßen bilden und üben sie die ihnen schwer werdenden,
fremdsprachlichen Laute. Im Französischen unterstützt man dadurch besonders
die Vokalisation, im Englischen die Artikulation.
Von großer Bedeutung ist die Verbindung des Zeichnens mit dem naturwissen-
schaftlichen Unterricht. Über die verknöcherte Methode der Naturkunde von
früher, der grauen Theorie des Schematisierens und Einreihens in Klassen und
Systeme sind wir ja längst hinaus. Wir lernen das Leben, die Entwicklung in der
Natur kennen, und die Freude und das Interesse kann durch das Zeichnen noch
wesentlich erhöht werden. Die Formen und Farben der Tierkörper und Pflanzen
gehen ganz anders in das Vorstellungsvermögen der Schüler über, ihre Beobach-
tung bietet ihnen einen viel vertiefteren Genuß, wenn die Wiedergabe mit Stift
und farbiger Kreide dazu kommt.
Nicht weniger kann der erdkundliche Unterricht durch das Zeichnen bereichert
werden. Der Ausblick von einem flachen Dach oder von sonst einem erhöhten
Punkt, soll die Schüler nicht nur orientieren, sondern ein vertiefteres Anschauen
soll ihnen die Möglichkeit geben, danach Reliefkarten und Krokis herzustellen.
Ich habe in Vorstehendem kurz ausgeführt, wie die technischen Fächer jedes
für sich und in den verschiedensten Verbindungen mehr zur Allgemeinbildung
der Schüler herangezogen und zur Entwicklung ihrer ästhetischen Empfindung
ausgenutzt werden können. Um das zu erreichen, bedarf es aber auch verbesserter,
äußerer Mittel, auf die ich in Nachfolgendem hinweisen möchte.
Bei der Gestaltung des Unterrichtsbetriebes ist dem Lehrer möglichste Frei-
heit zu lassen, sowohl was Lehrpensum als auch was Lehraufgaben und Methodik
anbelangt. Die Materie ist so vielseitig, namentlich im Zeichnen und Singen, daß
dem Lehrer ein großer Spielraum gelassen werden muß. Nur ist darauf zu halten,
daß die allgemeinen pädagogischen Grundsätze für ihn leitend und bindend sind.
Wie beim Singen, sollten auch beim Zeichnen verschiedene Klassen zusammen-
genommen werden, d. h. aus verschiedenen Klassen nach der Begabung, nicht
nach der Klassenstufe, Gruppen gebildet werden. Einzelnen begabten und fleißigen
Schülern dürfte auch einmal gestattet werden, draußen in der Natur allein ein
ihnen besonders zusagendes Motiv zu zeichnen, wobei die Kontrolle erst später
beim Nachsehen der Arbeit geübt wird. Die Schüler, und es kommen natürlich
nur solche in Betracht, die schon ein vertieftes Verständnis und Interesse für die
Kunst haben, werden mit einer solchen Arbeitsstunde ohne Aufsicht um so weniger
Mißbrauch treiben, je mehr der Lehrer es versteht, sie zu der Erkenntnis zu erziehen,
168 A. Bahre,
daß sowohl Kunstverständnis wie ausübende Kunst etwas Hohes, etwas Schönes
sind, das nur durch Ernst, Disziplin und treue Arbeit erreicht werden kann.
Befreiungen von dem Unterricht sollten in technischen Fächern eigentlich
nicht zulässig sein, jedenfalls nur in sehr beschränktem Maße. Wo der Stimm-
wechsel oder sonst ein Mangel die Teilnahme ganz unmöglich macht, kann der
Schüler als Zuhörer und Zuschauer aus vielen Stunden Nutzen ziehen, denn gerade
das, was wir mehr wie bisher erzielen wollen, die Fähigkeit, das Schöne zu emp-
finden und zu genießen, was auch dem Nichtausübenden zuteil werden kann, soll
in allen Schülern geweckt werden. Wie eine, wenn auch nur beschränkte Teil-
nahme der nicht aktiven Schüler an den technischen Fächern eingerichtet werden
könnte, ohne daß dadurch Störung hervorgerufen wird, diese Frage wäre wohl
der Überlegung wert.
Der Gesang- und der Zeichenunterricht sollte durch die ganze Schule durch-
geführt werden. Daß in der Sexta bei den Schülern, die in der Volksschule schon
Zeichnen hatten, eine einjährige Unterbrechung des Unterrichts stattfindet, ist
ebenso unbegreiflich wie bedauerlich. Wenigstens könnte dafür Modellierunterricht
eingeschoben werden. Auch halte ich es für einen großen Fehler, daß die oberen
Klassen der Gymnasien vom verbindlichen Zeichenunterricht ausgeschlossen sind,
meines Erachtens hinterläßt das eine große Lücke in der Allgemeinbildung der
Schüler. Die Zeit, die die Fortführung des Unterrichts beanspruchen würde, wäre
zum Teil schon dadurch genommen, daß die technischen Fächer, wie ich vorhin
kurz erläuterte, zur Unterstützung der wissenschaftlichen herangezogen werden.
Auf die Lehrmittel für alle technischen Fächer ist großer Wert zu legen. Alle
Modelle seien aus echtem, gutem Material. Im Zeichnen sind alle unkünstlerischen
Gegenstände zu verwerfen. Der Zeichensaal muß nach Norden liegen und gute
Beleuchtung haben. Die Fenster müssen ev. durch Vorhänge abgeteilt werden.
Um zunächst das Empfinden für das, was schön ist, zu wecken, stelle man die
künstlerischen Modelle in Vitrinen auf, damit der Schüler sich schon an ihrem
Anblick erfreue. Wo eine Anstalt Gönner hat, deren Freigebigkeit sich auf
kunstgewerbliche, schöne Gegenstände erstreckt, könnte man sozusagen ein kleines
Museum von diesen Dingen anlegen und ein Zimmer zu einem Kunstzimmer her-
richten, wo kunstgewerbliche Erzeugnisse, Reproduktionen von Kunstwerken,
Stiche usw. vereinigt würden. Wo das nicht möglich ist, behänge man die Wände
der Aula, der Gänge usw. mit dem vorhandenen Bildschmuck, die Vitrinen stelle
man in von den Schülern viel benutzten Räumen, z. B. der Aula auf. In diesem
Raum wird ein Klavier wohl immer vorhanden sein, besser noch ist ein Flügel
wegen seiner größeren Klangfülle, wie eine Orgel selbstverständlich einem Har-
monium vorzuziehen ist. Auch mechanische Musikinstrumente können von Nutzen
sein, um den Schülern etwas zu demonstrieren und vorzuführen. Erwähnen möchte
ich auch noch die Sprechmaschine, die nicht nur musikalische Sachen reproduziert,
sondern durch Wiedergabe von Gesprochenem in Französisch und Englisch den
fremdsprachlichen Unterricht wirksam unterstützt.
Die Turnhallen brauchen bei aller Betonung der Zweckmäßigkeit durchaus
nicht das ästhetische Moment ganz zu entbehren. Statt des tristen Grau, sollten
die Wände einen fröhlichen Farbenton, etwa rosa oder hellgrün erhalten. Die
Wie können die technischen Fächer mehr als bisher usw. 169
hoch angebrachten Fenster müssen viel Licht hereinlassen. Die unteren Teile der
Wände sollten immer mit Holz bekleidet sein, schon um das Zerstoßen der Wände,
was einen häßlichen Eindruck erweckt, zu vermeiden. Der Bodenbelag sollte
Linoleum sein, das am besten sauber zu halten und bei sachgemäßer Behandlung
nicht zu glatt ist. Der Raum und die Geräte, die alle aus gutem Material sein
müssen, sollten immer möglichste Ordnung und Sauberkeit zeigen, um ästhetisch
zu wirken. Das gleiche gilt von den Geräten, die beim Spielen benutzt werden,
sowie von den Bootshäusern, Spielplätzen usw. Gute Instandhaltung und Sauber-
keit bilden den Hauptbestandteil ihrer Schönheit.
'■ Beim Schreiben sehe man auf praktische Bänke und gutes Schreibmaterial.
Füllfederhalter sollten nicht gestattet sein.
Für den Handfertigkeitsunterricht könnte man in vielen Schulgebäuden den
meist unbenutzten Keller zu praktischen und reinlichen Werkstätten herrichten.
Aber die besten Lehrmittel und Anleitungen können nur Erfolg haben, wenn
die technischen Lehrer auch mitgehen in den Bestrebungen, die technischen Fächer
mehr zur Allgemeinbildung heranzuziehen und auf eine höhere Stufe zu heben.
Nicht äußere Mittel sind dazu nötig, in ihrer inneren Gestaltung muß ihnen mehr
Wert verliehen werden, dann kommen sie auch zu größerer, äußerer Wertschätzung.
Sie bei den Zensuren höher zu bewerten, halte ich nicht für angebracht, noch
weniger, gegebenenfalls einen Schüler an den mangelhaften Leistungen in einem
technischen Fach bei Examen und Versetzungen scheitern zu lassen, weil solche
Leistungen oft auf gänzlicher Talentlosigkeit beruhen. Wohl aber sollen positive
Leistungen mit in die Wage geworfen werden können, um Lücken in weniger
wichtigen wissenschaftlichen Fächern zu kompensieren, da hervorragende Leistungen
in einem technischen Fach, auch bei guter Beanlagung, nur durch Fleiß und Tüchtig-
keit erreicht werden.
Auf einen Mangel bei der Ausbildung der Lehrer auf den Seminarien habe ich
vorhin schon hingewiesen, die Vernachlässigung der Stimmbildung. Wie darin
mehr getan werden müßte, so auch bei der Heranbildung der Zeichenlehrer, in
deren Unterweisung kunstgeschichtliche und archäologische Belehrungen mit
hinein gezogen werden sollten. Wenn sich mehr als bisher Künstler, die erziehe-
rische Anlagen hätten, in den Dienst der Schule stellten, so wäre das sehr zu be-
grüßen. Vor allem aber sollten mehr akademisch gebildete Lehrer außer in
wissenschaftlichen auch in technischen Fächern unterrichten und dafür vorgebildet
werden. Dies ist leicht möglich in den Städten, die neben der Universität zugleich
die Vorbildungsanstalten für technische Fächer, Kunstakademien usw. besitzen,
wie Berlin und München. An den anderen Universitäten sollten Zeichen- und
Gesanglehrer angestellt werden zur Unterweisung für die Studenten. Abgesehen
davon, daß vielen Studierenden, Medizinern, Kunstgeschichtlern, Naturwissen-
schaftlern usw. ein gewisses Maß von Zeichenfertigkeit von großem Nutzen sein
würde, könnten vor allem angehende Lehrer von dieser Einrichtung Nutzen ziehen
durch Vorbildung für die technischen Fächer. Gesangliche und andere Musik-
studien würden auch dem Neusprachler sehr dienlich sein.
Für die Ausbildung der Turnlehrer sorgt die Turnlehrerbildungsanstalt, jedoch
170 A. Bahre, Wie können die technischen Fächer mehr als bisher usw.
habe ich an derselben sehr die Anleitung zu Spiel und Sport vermißt, es gab weder
Plätze noch sonstige Vorkehrungen dafür, was ich für einen großen Mangel halte.
Warum bemühen wir uns nun so um die Hebung der technischen Fächer?
Ist die ästhetische Bildung ein so wichtiges Moment, um so viel Mühe und Arbeit
zu rechtfertigen? Geschieht das alles nicht nur, um einen Zeitvertreib zu schaffen,
um einige Liebhabereien zu fördern? Nein, der Wert dieser Fächer ist ein viel
höherer. Wie beim einzelnen Menschen, so ist es im Leben der Völker. Solange
der Mensch mühsam um seine Existenz ringt, richtet er alle seine Kräfte und Inter-
essen nur auf das Vorwärtskommen, er bildet sich nur einseitig aus, aber das Re^
sultat ist dann auch ein unausgeglichener Mensch. Zu einer harmonischen Bildung
gehört die Pflege des Schönen, des Ideals, und danach sehnt sich der Einzelmensch
wie ein Volk, wenn es sich bessere Existenzbedingungen geschaffen und Zeit hat,
sich nach einem Ausgleich zwischen Arbeit und Muße umzusehen. In diesem
Stadium ist jetzt unser Volk, wir sind nicht mehr das arme Volk, das von der Hand
in den Mund lebt, sondern wir können und dürfen auch genießen. Aber das Ver-
langen nach Genuß muß in die rechten Bahnen gelenkt werden, der unkultivierte
Mensch geht nur den materiellen nach, der verfeinerte sucht seine Ideale in geistigen
und ästhetischen Genüssen. Um das zu verstehen, muß schon in der Jugend das
Gefühl für das Schöne, Wahre und Hohe geweckt werden. Die Freude am Schönen
ist ein Talisman, der der Jugend reinen Genuß schafft und vor den Häßlichkeiten
des Lebens sie bewahren hilft. Und das, was die jungen Menschen mit ihrem frischen
Empfindungsleben in sich aufgenommen, was sie aufgesogen aus tausend kleinen
Quellen, das bleibt in ihnen lebendig und ist ihnen eine Mitgabe, die sie ins Leben
mit hinaus nehmen. Aus dem Boden, der von der Schule schon so vorbereitet
ist, erwächst dann von selbst eine gesunde Jugendpflege. Was trieben früher
die jungen Leute in ihren Mußestunden? Meist wurden diese mit Trinken und
Kartenspielen ausgefüllt, höchstens betätigte man ihr ästhetisches Empfinden
noch mal durch den Eintritt in einen Gesangverein, seltener in einen Turnverein,
Sportvereine kannte man früher überhaupt nicht. Mit großer Mühe und wenig
Erfolg habe ich mich schon als junger Student um das Zustandekommen eines
solchen Vereins in meiner Heimat bemüht. Die jungen Leute hatten es ja nicht
gelernt und empfunden, daß und wie man sich des Schönen freuen kann. Wenn
ihnen aber schon in der Jugend Auge und Seele dafür geöffnet sind, wenn sie in
allerhand freiwilligen Vereinigungen, die man unterstützen und für deren Leitung
und Überwachung der Lehrer willig seine Zeit opfern sollte, ihr Interesse bekundet
haben, in Ruder-, Fußball- und Schwimmklubs, im Mitwirken in Schülerkapellen,
in Quartetts und Trios, in Malervereinigungen und Leseabenden, dann liegt es
nahe, daß solche Bestrebungen von den jungen Leuten, je nach ihrer Beanlagung
und Neigung, weiter gepflegt werden; dann ist es kein fremdes Reis, das ihnen
zu einer Zeit, wo die Früchte der Arbeit schon von ihnen gefordert wurden, noch
aufgepflanzt werden soll. Dann sind sie aber auch fähig, in ihr Leben und ihre
Umgebung, die sie nun selbständiger zu gestalten anfangen, mehr Ästhetik hinein-
zutragen, und in ihren Wohnungen, ihrem Auftreten, ihrer Kleidung wird sich
ein verfeinerter Geschmack geltend machen. Und das kommt nicht nur für die
Bemittelten in Betracht, auch im Einfachsten kann sich Geschmack offenbaren.
H. Morsch, Ne quid niniis! 171
und an dem Freitisch der Natur kann sich ja jeder erquicken, der das Genießen
gelernt hat.
Von dem Segen, der dem Menschen aus einer solchen harmonischen Aus-
bildung erwächst, geht ein Glanz durch sein ganzes Leben, und ein freundlicher
Wiederschein verklärt selbst noch das Alter. Wir sehen oft alte Leute, die, wenn
sie ausgespannt werden aus dem drückenden Geschirr ihrer Berufsarbeit und Be-
xhäftigung, nicht wissen, was sie mit der großen Mußestunde, die jetzt nur noch
ihr Leben darstellt, anfangen sollen, und verbittert und lebensunlustig werden.
Bei dem aber, der einmal Freude am Schönen gehabt und sie gepflegt hat, mag
sie auch manchmal durch Arbeit und Streben lange zurückgedrängt sein, erwacht
sie wieder, und wo die Kräfte nicht mehr ausreichen, sich ausübend zu betätigen,
da macht ein stilles Mitgenießen noch das Alter heiter und glücklich.
Kreuznach. August Bahre.
Ne quid nimis!
Zunächst habe ich auf den Aufsatz von Prof. Wickenhagen, vergl. Januarheft
der Monatschrift f. h. Seh. 1912, S. 28—32, folgendes zu erwidern:
1. Meine Ausführungen im ,, Korrespondenzblatt" No. 32, 33, 41 von 1911
unter dem Titel: ,, Zerstreuung und Zersplitterung im Unterrichtsbetriebe der
höheren Schulen" waren im ganzen nur ein Mrfik\^ a^av — ne quid nimis! Nicht
bloß die Ruderübungen, sondern das Linearzeichnen, sowie die übrigen wahlfreien
Fächer, Handfertigkeit, Stenographie, fremdsprachliche Konversationsübungen,
femer die zahlreichen Feste und Feierlichkeiten nebst den Vorbereitungen dazu
nähmen die Zeit, so führte ich aus, und die geistigen Kräfte vieler Schüler zu
stark in Anspruch. Die Arbeiten für die Pflichtfächer träten sehr zurück, da
zahlreiche Schüler auch des Nachmittags durch die wahlfreien Fächer beschäftigt
seien. Den Nachmittagsunterricht hat man abgeschafft, aber in den wahlfreien
Fächern wieder eingeführt, und viele Schüler haben so statt der 30 (bzw. 29) Wochen-
stunden deren 42 (bzw. 37). Das ist doch gewiß ein großer Übel-
stand. Es existiert eigentlich bis jetzt keine behördliche Anordnung, die die
Anzahl der Wahlfächer, an welchen ein Schüler teilnehmen darf, fest-
setzt. Und so kommt es denn vor, daß einige Schüler, besonders solche der Ober-
klassen, stark überbürdet werden. Daß dies überhaupt eintreten muß, ist
sonnenklar, ebenso wie, daß 2x2 = 4. Das hat schon etwas vor Erscheinen
meines Aufsatzes das Programm von Lüdtke (Altona, Realgymnasium, Oster-
programm 1911) festgestellt. Zu diesen Überbürdungen tragen natürlich die frei-
willigen Ruderübungen reichlich bei, da bei den weiten Entfernungen der Boots-
häuser von den Anstalten die Schüler des Nachmittags kaum Zeit haben, auch
ein nur geringeres Arbeitsmaß zu erfüllen, so daß sie gezwungen sind, auf der Eisen-
bahnfahrt dorthin noch Schulbücher vor der Nase zu haben, ein Umstand, der
beweist, wie hastig, eilfertig an solchen Rudernachmittagen die Pflichtfächer
„erledigt" werden, ein Umstand, den eben nur Herr Wickenhagen so völlig miß-
verstehen konnte. — Da Herr Wickenhagen an ein Wort des Herrn Ministers
172 H. Morsch,
appelliert, so bin ich ebenfalls in der Lage, mich auf ein solches in der Frühjahrs-
sitzung 1911 des preußischen Abgeordnetenhauses zu beziehen: „Denn in
der Tat, diese Dinge können auch übertrieben werde n."*)
Gegen solche Übertreibungen hat mein Aufsatz anzukämpfen versucht.
Mit Herrn Wickenhagen, der die Menschen, insbesondere die Kollegen und
Schüler, einteilt in selche, oie Wassersport treiben und in solche, die keinen
Wassersport treiben, mich über die Vorzüge desselben zu unterhalten, unterlasse
ich natürlich. Im übrigen wird die Mehrzahl der wassersporttreibenden Kollegen
wie derer, die es nicht tun, der Meinung sein, daß der Ruderunterricht wie aer
Turnunterricht und jeder andere Unterricht auch seine Schattenseiten hat, auch
in gesundheitlicher Hinsicht, wenn man nicht genug acht gibt.
So hat erst kürzlich Du Bois-Reymond nachgewiesen, daß beim Rennrudern doch
150 — ^220 Herzschläge gezählt werden (Jahrbuch 1911 für Volks- und Jugend-
spiele S. 79), und wenn er weiter hinzufügt : ,, Während früher allgemein angenommen
wurde, daß das Herz auts äußerste erweitert sei, sc daß bleibende Herzerweiterung
befürchtet werde, wird jetzt angegeben, das Herz werde bei Muskelarbeit merk-
lich kleiner", so schließt er doch diesen Absatz: „Unter diesen Umständen muß
es weiteren Erfahrungen vorbehalten bleiben, für diesen Teil der Phy-
siologie des Ruderns eine „sichere Grundlage zu schaffen". Also: adhuc sub iudice
lis estl In hygienischer Hinsicht ist die Sachlage noch
nicht klar.
2. Herr Wickenhagen spricht mir die Fähigkeit ab, über die Ruderei über-
haupt zu urteilen, da ich doch nur ein , »Zaungast" der Turn- und Übungsplätze
sei. Welche unlogische Schlußfolgerung ! — Ich und alle die etwa 8927 Oberlehrer
sind ja mit Ausnahme der verhältnismäßig geringen, sehr geringen Anzahl von
Ruderlehrern, ebenso wie fast alle diejenigen, die darüber in Gutachten berichtet
haben — worauf er sich besonders beruft — nur ,, gelegentliche Zaungäste" und,
was die Hauptsache ist, wir urteilen ja gar nicht über das Technische des Ruderns,
was wir allerdings nicht können, sondern über die Wirkung des Ruderns
auf die Arbeiten und das geistige Fortkommen unserer Schüler. Dabei habe ich
und gewiß andere mitunter keinen besonders günstigen Einfluß wahrgenommen.
Einzelheiten stehen jedem zur Verfügung. Doch sei nur
die eine, in der Reichshauptstadt allgemein bekannte Tatsache hier hervorgehoben,
wie die Rudermannschaft einer hiesigen Königl. höheren Lehranstalt jüngst sich
so widerspenstig und renitent benommen hat, daß die Königl. Behörde sie von
der Teilnahme an der nächsten Regatta ausschloß. Relata refero. — Also als
sakrosankt darf man den Ruderunterricht doch nicht be-
trachten, wie es so viele tun möchten, gibt es doch schlaffe und tüchtige Ruder-
lehrer, wie schlechte und gute Turnlehrer! Schon deswegen wird es doch wohl
*) Die Stelle lautet im Wortlaut des stenographischen Berichtes so: „Sie können
aber auch versichert sein, meine Herren, daß ich dafür sorgen werde, daß auf unseren
Schulen das richtige Maß gehalten wird, denn in der Tat können diese
Dinge auch übertrieben werden, und dann wird derVorteil
in Nachteil umgewandel t." (Sitzung vom 17. März 1911, stenogr. Bericht
S. 4301.)
Ne quid nimis! 173
gestattet sein, auf Mängel auch in diesem Unterrichtsfach aufmerksam zu machen,
möge es auch sonst im allgemeinen wohltätig wirken.
3. Herr Wickenhagen behauptet, mein Aufsatz enthielte nur „Nörgeleien",
keine positiven Vorschläge. Er kann eben in seiner wassersportlichen Begeisterung
den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Ich habe nämlich vorgeschlagen :
1. Die Ruderschüler müßten nicht bloß beim Eintritt in die Vereine, sondern
alle 4 — 5 Wochen ärztlich untersucht werden.*)
2. Die Ordinarien müßten Listen führen über die Vereinsschüler, die, jedes
Semester von neuem zusammengestellt, vorn im Tagebuch einer jeden Klasse
lägen und von jedem Lehrer eingesehen werden könnten (jetzt liegen solche meist
nur beim Direktor).
3. In jedem Semester soll in einer Konferenz über die Vereinsschüler verhandelt
werden.
4. Die Regatten sollen wegfallen,**) das letztemal nahmen überhaupt nur 13
höhere Lehranstalten daran teil, die Strecke betrug nur 1000 m statt 1200 m,
wie es früher der Fall war. — Möge das Wanderrudern in maßvoller Weise, wie es
Du Bois-Reymond in dem oben erwähnten Aufsatz haben will, eifriger gepflegt
werden !
5. Ich hatte gewünscht und wünsche es auch noch im Interesse der höheren
Schule, daß bald die Sache der wahlfreien Unterrichtsfächer von den Behörden
geregelt würde, daß nämlich festgesetzt würde, an wie vielen Wahlfäclern ein
Schüler teilnehmen darf.
Und da redet Herr Wickenhagen von mir als „Gewohnheitsnörgler" und ver-
mißt positive Vorschläge!
Soll ich auf Herrn Wickenhagens Worte weiter eingehen? Eines „Kollegen",
der, bedeutend älter als ich, es gewagt hat, eine ganze Klasse von Amtsgenossen,***)
deren Laufbahn geregelter als die seine verlief, als „einseitig", „verweichlicht",
„deren Nerven nicht mehr wollen" usw. öffentlich hinzustellen nur deshalb, weil
sie nicht Sport treiben? — Wer die verflossene Kulturperiode eine solche „i n -
nerer Nichtigkeit" nennt, macht sich im Kreise geschichtlich Denken-
der geradezu lächerlich. — Wahrscheinlich meint er die „vorwassersportliche",
die er die „Periode innerer Nichtigkeit" nennt!! Die Nerven
gehen etwas bei ihm durch, ebenso wie die Gedanken; sagt er doch selbst: „Daß
*) Dies fordert jetzt auch Meilmann, „Blätter f. höh. Schulwesen" No. 8, v.
2\. Febr. 1912, (Mellmann nennt in seinem Aufsatz die Monatschrift für höhere Schulen
„Norddeutsche Allgem. Pädagogische Zeitung'*. Ist das nicht erstaunlich witzig? Matth.)
**) Auch von ruderfreundHcher Seite ist dies ernstlich schon in Erwägung ge-
zogen, vergi. C. Heinze, Deutsches Philologenblatt, 7. Febr. 1912. No. 6.
***) Etwas vorsichtig äußert sich Wickenhagen hier: „Im vorigen sind nur allge-
meine Betrachtungen niedergelegt; ob sie bei dem Berichterstatter zutreffen, entzieht sich
meiner Kenntnis." — Nun, aufmerksame Leser dieser Monatschrift werden mich und
meine Ansichten ja kennen, u. a. auch aus der Besprechung der zweiten Auflage meines
Buches: „Das höhere Lehramt in Deutschland und Österreich" (Teubner 1910), welche
zu lesen ist S. 538—542 des Jahrganges 1911 dieser Monatschrift; hier heißt es am Schluß:
„ aber man wird, wenn man dem Verfasser zuhört, in ihm einen Mann
von g e s u n d e m U r t e i 1 , ernster L e b e n s a n s c h a u u n g und hoher
Auffassung von der Würde des Lehramts kennen lernen."
174 H. Morsch, Ne quid nimis!
Sportsleute immer die besten Kopfarbeiter sind, hat noch kein Mensch behauptet."
Das hatte auch ich gesagt.
Jedenfalls, wenn das Rudern und der Wassersport solche Gedankenblasen
hervorquellen läßt, wie sie der Aufsatz von Wickenhagen zeigt, wird mancher
Amtsgenosse mit mir ausrufen: „Gott sei Dank, daß ich nie Wassersport ge-
trieben habe!" —
Zum Schluß, auch damit diese Polemik noch etwas Tatsächliches bringt,
muß ich darauf hinweisen, daß auch unsere Schulbehörden in meh-
reren Verfügungen vor Übertreibungen auf dem Gebiete der wahlfreien Schüler-
leistungen eigentlich schon gewarnt haben, wenn sie auch leider eine feste Zahl
noch nicht angaben.
Die Ministerialverftigung betr. Einführung der Kurzstunde vom 18. Nov. 1909
(Zentralblatt 1909, S. 811) enthält nämlich am Schluß folgenden Satz:
„Hierbei nehme ich Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß es
nicht zu billigen ist, wenn die Schüler zur Teilnahme an den
wahlfreien Fächern gedrängt oder gar gezwungen werden
oder, wenn für die Nichtbeteiligung eine ausdrückliche Be-
gründung von Seiten der Eltern erfordert wird."
Das sollten sich doch manche heißblütigen Kollegen von der Mathematik, welche
die Schüler zur Teilnahme am Linearzeichnen zwingen, und auch solche der Natur-
wissenschaft gesagt sein lassen; ebenso Neuphilologen, die mit allen möglichen
Mitteln zur Teilnahme an fremdsprachlichen Übungen ihre Schüler drängen.
Recht beherzigenswert erscheint auch eine jüngere Ministerialverfügung
vom 13. Juni 1910 (Zentralblatt S. 697/98) über die Schülerübungen im natur-
geschichtlichen Unterricht: „Die Schülerversuche im naturgeschichtlichen Unter-
richt sind je nach der Klassenstufe in planmäßiger Weise i n d e n
Unterricht einzuordne n." — Hiernach ist es eigentlich gar nicht er-
laubt, daß besondere Nachmittage für solche freiwilligen Übungen
in Anspruch genommen werden. Sie sind eben in planmäßiger Weise in den Unter-
richt einzuordnen, besagt die obige Verfügung. — Nun, man weiß ja, daß
Verfügungen oft auf dem Papier stehen, man weiß aber auch, daß die Provinzial-
behörden von der Befolgung solcher Forderungen der Zentralbehörden entbinden,
in diesem Falle vielleicht deshalb, weil ein Erfolg solcher Schülerübungen nur bei
nicht zu vollen Klassen gewährleistet werden kann und deswegen wohl oft der
geringere Teil der Schüler, der sich dafür besonders interessiert, auf den sonst
schulfreien Nachmittag bestellt wird.
Immerhin, wenn beide Verfügungen richtig innegehalten würden, es würde doch
wohltätig wirken, und Zerstreuung und Zersplitterung der geistigen Kräfte beim
Arbeiten unserer Schüler könnten sich wohl etwas mindern.
Schließlich noch ein Satz aus den ,, Allgemeinen Bemerkungen zu den Lehr-
plänen von 1901, bei Beier\ S. 128: „Um an den Gymnasien eine Über-
b ü r d u n g der Schüler mit Unterrichtsstunden zu verhüten, ist dar-
an festzuhalten, daß derselbe Schüler in der Regel nur an dem wahlfreien neu-
sprachlichen oder an dem hebräischen Unterricht teilnehmen darf, und daß
A. Tilmann, Die Verteilung des akademischen Nachwuchses usw. 175
eine Beteiligung anbeiden Fächern von dem Direktor nur ausnahmsweise ge-
stattet werden kann."
Muß man diese Worte nicht sinngemäß z. B. auf das Rudern über-
tragen? Denn auch das Rudern ist „wahlfreier Unterricht". — Aber wieviele
Schüler nehmen außer am wahlfreien Ruderunterricht auch noch an anderen
wahlfreien Fächern teil! — Also auch von selten der Behörden heißt es: ,,Ne
quid nimis!"*)
Beriin. H. Mo rsch.
Eine allgemeine Verfügung dürfte doch kaum wünschenswert sein. Kann sie
überhaupt so gefaßt werden, daß sie alle provinziellen und lokalen Verhältnisse be-
rücksichtigt? Sind nicht, wo Mißstände sich zeigen, Direktor und Lehrer Manns
genug, diese zu beseitigen? Und kann nicht da, wo die Behörden Übelstände be-
merken, die einzelne Schule gehemmt werden in ihrem Übermaß von Vereins-
bestrebungen ? Müssen gleich die Unschuldigen, die doch stark in der Mehrheit sind,
durch eine Verfügung darunter leiden, daß eine verschwindende Minderheit vielleicht
eine Torheit begeht. Wer aber absolut nach Hilfe von oben sich sehnt, der kann ja
seinen Hilferuf ertönen lassen. Es wird ihn niemand daran hindern. Matthias.
Die Verteilung des akademischen Nachwuchses auf die
einzelnen Berufe in den Jahren 1903/04—1911/12.
In dieser Monatschrift von 1907, 6. Jahrgang, S. 301, sind die Zahlen zusammen-
gestellt, aus denen die Verschiebungen des studentischen Nachwuchses in Preußen
für die verschiedenen Berufe in den Jahren 1903/04 bis 1906/07 sich ergeben.
Im folgenden sollen diese Zahlen ergänzt werden durch die inzwischen ermittelten
Ergebnisse der Jahre 1907/08 bis 1911/12.
Die Zahl der Füchse betrug:
1. bei den evangelischen Theologen
1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12
232 239 236 242 248 185 266 270 368
oder in Prozenten der gesamten Füchse:
7% 1% 1% ^% T% ^% 6% 6% 8%
Die Zahlen sind im allgemeinen gleichbleibend. Im letzten Jahre jedoch zeigt
sich absolut und relativ eine immerhin nicht ganz unwesentliche Erhöhung.
2. bei den katholischen Theologen.
Die Zahl der Füchse betrug in den Jahren:
1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12
236 272 268 264 265 275 285 280 274
*) Vergl. jetzt auch Huckert im „Pädag. Archiv" No. 2, S. 85: „Zudem hat
die Zersplitterung im Unterrichtsbetriebe, die Teilnahme der Schüler an den Schüler-
vereinen, am Spielen, Rudern u. a. in der neueren Zeit so zugenommen, daß die
Erlangung der Versetzung bzw. des Reifezeugnisses nicht erleichtert, sondern erschwert
worden ist.
176 A. Tilmann, Die Verteilung des akademischen Nachwuchses usw.
oder in Prozenten der gesamten Füchse:
7% 80/0 1% 1% 1% 7% 70/^ 6o/^ 60/0
Hier sind keine wesentlichen Verschiebungen wahrzunehmen.
3. bei den Juristen.
Die Zahl der Füchse betrug in den Jahren:
1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12
1095 1191 1108 1131 1115 1038 995 1010 1016
oder in Prozenten der gesamten Füchse:
34% 3504 320/0 3104 300/0^ 26 o/^ 23% 23% 22 O/^
Hier liegt ein deutlich erkennbarer dauernder Rückgang vor sowohl in den
absoluten Zahlen wie auch namentlich in den relativen Zahlen. Die Überfüllung
des juristischen Berufs hat offenbar das Nachlassen in dem Zugang zum juristischen
Studium zur Folge gehabt.
4. bei den Medizinern.
Die Zahl der Füchse betrug in den Jahren:
1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12
329 328 377 493 528 659 635 ' 652 781
oder in Prozenten der gesamten Füchse:
10% 90/^ 110/^ 130/^ 140/^ 16 o/^ 150/^ 150/^ XI %
Hier ist sowohl absolut wie relativ eine allmähliche und stetige Zunahme
festzustellen.
5. bei den Angehörigen der Philosophischen Fakultät.
Die Zahl der Füchse betrug in den Jahren:
1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12
1331 1425 1527 1565 1596 1882 2118 2233 2177 :
oder in Prozenten der gesamten Füchse:
41% 41% 430/0 420/^ 42 0/^ Al% 490/^ 500/^ 470/^
Man sieht aus diesen Zahlen, daß der Zudrang zum philosophischen Studium
recht erheblich gestiegen ist. Den Höhepunkt erreicht das Jahr 1910/11 mit
2233 Füchsen und 50 % der gesamten Füchse. In dieser Bewegung kommt die
günstige Beurteilung der Aussichten des philologischen Studiums zum Ausdruck,
welche in den Mangel an Anwärtern und der günstigen Gestaltung der ökono-
mischen Verhältnisse in diesem Beruf seinen Grund hat. Es bleibt abzuwarten,
ob das im Jahre 1911/12 zum erstenmal wieder beobachtete Nachlassen anhalten
wird. Im allgemeinen wird man sagen können, daß die Beteiligung der Philo-
sophischen Fakultät an dem studentischen Nachwuchs sich zu einer Höhe ent-
wickelt hat, die als außergewöhnlich bezeichnet werden kann.
Für die einzelnen Studiengebiete, die bei der Philosophischen Fakultät be-
sonders in Betracht kommen, sind die Zahlen folgende:
A. Tilmann, Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten. 177
a) Klassische Philologie und Deutsch.
Die Zahl der Füchse betrug in den Jahren:
1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12
380 533 574 525 618 644 697 637 569
oder in Prozenten der gesamten Füchse:
12% 15% 16 <% 140/^ 16% 16% 16% 140/^ 120/^
b) Neuere Philologie.
Die Zahl der Füchse betrug in den Jahren:
1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12
243 259 249 254 278 401 425 511 519
oder in Prozenten der gesamten Füchse:
8% 1% T% T% ^% ^0% 100/0 110/^ 110/^
c) Mathematik und Naturwissenschaften.
Die Zahl der Füchse betrug in den Jahren:
1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08 1908/09 1909/10 1910/11 1911/12
460 407 413 477 446 539 648 695 680
oder in Prozenten der gesamten Füchse:
14% 12% 120/^ 130/0 120/^ 130/^ 15% 16 0/^ 150/^
Es sei noch bemerkt, daß die vorstehenden Zahlen sich auf die an preußischen
Universitäten ihr Studium beginnenden jungen Leute beziehen. Das in Preußen
immatrikulierte Studentenkontingent des ersten Semesters ist nicht identisch mit
dem für Preußen in Betracht kommenden Nachwuchs. Denn es sind auch außer-
preußische Deutsche dabei und es fehlen die Preußen, welche an anderen Univer-
sitäten beginnen. Trotz dieser Mängel scheint die Statistik verwertbar, einmal
weil kaum anzunehmen ist, daß das hinzutretende und das fehlende Element eine
Änderung der Resultate herbeiführt, da im allgemeinen die hier wirkenden Ur-
sachen gleich sind, sodann aber auch deswegen, weil der Schwerpunkt im Vergleich
der einzelnen Jahre und der dabei beobachteten Entwicklung liegt, bei dem Vergleich
aber vorhandene Fehler sich aufheben würden.
Groß- Lichterfelde. A. Tilmann.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen
Universitäten.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten im
Winter-Semester 1911/12. Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studie-
rende, die nicht auf Grund Reifezeugnisses einer Vollanstalt immatrikuliert
waren, unberücksichtigt. Von den nachstehenden Zusammenstellungen umfaßt
die erste alle im Winter-Semester 1911/12 an den preußischen Universitäten im-
Monatschrift f. h5h. Schulen. XL Jhrg. 12
176 A. Tilmann,
matrikulierten Studierenden, die zweite nur diejenigen, welche zur Zeit der Er-
hebung im ersten Semester standen.
I. Im Winter-Semester 1911/12 waren insgesamt immatrikuliert;
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 1408 Studierende,
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1404
„ ,, ,, M Realgymnasiums . . 4
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 920 Studierende,
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
c) in der Juristischen Fakultät 5978 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 4748
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 892
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 338
d) in der Medizinischen Fakultät 4378 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 3349
„ „ „ ,, Realgymnasiums . . 741
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 288
e) in der Philosophischen Fakultät 1 1 702 Studierende, davon immatri-
kuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 7317
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 2519
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 1866
Hiervon studierten:
1. Philosophie 262 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 172
„ ,, „ „ Realgymnasiums . . 64
„ „ ,, einer Oberrealschule ... 26
2. Klassische Philologie und Deutsch 3651 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 3220
„ „ ,, „ Realgymnasiums . . 306
„ „ „ einer Oberrealschule ... 125
3. Neuere Philologie 2452 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 962
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 883
„ „ ,. einer Oberrealschule ... 607
4. Geschichte 858 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 675
,, ,, ,, ,, Realgymnasiums . . 137
., ,. „ einer Oberrealschule ... 46
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten. 179
5. Mathematik und Naturwissenschaften 3502 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1684
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 896
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 922
6. Sonstige Studienfächer 977 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 604
„ „ „ Realgymnasiums . . 233
„ „ „ einer Oberrealschule ... 140
II. Von den unter I. aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 99 Studierende, im-
matrikuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums. [^ ;\
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 26 Studierende, immatri-
kuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums. ^-^-^"'^ \
c) in der Juristischen Fakultät 303 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 215
„ „ „ Realgymnasiums . . 62
„ „ einer Oberrealschule ... 26
d) in der Medizinischen Fakultät 213 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 153
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 49
„ „ einer Oberrealschule ... 11
e) in der Philosophischen Fakultät 552 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 267
„ „ „ Realgymnasiums . . 190
„ „ „ einer Oberrealschule ... 95
Hiervon studierten:
1. Philosophie 20 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 9
„ ,, „ Realgymnasiums . . 9
„ „ einer Oberrealschule ... 2
2. Klassische Philologie und Deutsch 125 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 88
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 30
„ ,, „ einer Oberrealschule ... 7
3. Neuere Philologie 119 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 32
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 58
„ „ „ einer Oberrealschule ... 29
12*
180 A. Tilmann, Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten.
4. Geschichte 33 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 24
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 9
5. Mathematik und Naturwissenschaften 164 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 62
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 61
„ „ „ einer Oberrealschule ... 41
6. Sonstige Studienfächer 91 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 52
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 23
„ „ „ einer Oberrealschule ... 16
Gr.- Lichterfelde. A. Tilmann.
II. Programmabhandlungen
Religion.
1911 (1910).
Anz, Heinrich, Prof. Dr., Literaturgeschichte des Alten
Testaments im Abriß. Wiss. Beilage zum Jahresbericht des Kgl. Kaiserin
Augusta-Gymnasiums in Charlottenburg. 1911. Progr.-No. 79.
Die Schrift stellt das Alte Testament zunächst in den Zusammenhang der
orientalischen Kultur und Literatur und schildert dann die Entstehung der ein-
zelnen Schriftwerke im Rahmen eines Geschichtsabrisses, indem im wesentlichen
die gesicherten Ergebnisse der heutigen Forschung zugrunde gelegt werden. Die
Schrift dürfte in den Händen von Schülern der oberen Klassen den stiefmütteriich
bedachten Unterricht im Alten Testament gut unterstützen und Verständnis und
Schätzung desselben fördern.
Starcke, Carl, Dr., Die Rhetorik des Apostels Paulus im
Galaterbrief und die TirjXixa 7pa[xjiaxa. Gal. 6, 11. Beilage zum
Programm der Oberrealschule in Stargard i. P. 1911. Progr.-No. 221.
Die Studie sucht zu erweisen, daß der Galaterbrief nach den Regeln des Rhetors
Hermogenes von Tarsus (rekonstruiert nach Aphthonius) disponiert sei, und der
Apostel mit dem Ausdruck TuyjXixa ^pa'ixaaT« auf die angewendete rethorische
Kunst hinweise.
Hoffmann, Friedrich, Dr., Proben einer Erklärung des Jo-
hannesevangeliums für Primaner. Beilage zum Jahresbericht
des KgL Kaiserin Auguste Viktoria-Gymnasiums in Linden. 1911. Progr.-No. 423.
Erläutert sind der Prolog, das Nikodemusgespräch und das Gespräch mit
der Samariterin. Das Streben des Verfassers geht dahin, durch möglichste Lebendig-
machung der einzelnen Situationen den Inhalt auf das Gemüt wirken zu lassen.
Nach meiner Ansicht muß dabei doch viel eingetragen werden, was im Text wenig
Anhalt hat. Auch ist mir namentlich in der Prologerklärung fraglich, ob nicht über
den Standpunkt des Primaners hinausgegangen ist. Immerhin sind gerade solche
Arbeiten für den Religionslehrer besonders nützlich, weil sie mindestens zu immer
neuer Prüfung des Verfahrens anregen.
Piske, Max, Oberiehrer, Gedankengang und Gliederung des
ersten Johannesbriefes. Wiss. Abhandlungen zu dem Jahresbericht
des Kgl. Bugenhagen- Gymnasiums. 1911. Progr.-No. 216. B.
Die Schrift bietet eine scharfsinnige und eindringende Analyse des Briefes,
doch scheint mir auch diese Disposition noch nicht zwingend. Vielmehr regt sie
182 H. Schmidt, Religion.
nur neu die Frage an, ob man durch solch eine strikt durchgeführte Disposition
dem Sendschreiben nicht überhaupt Gewalt antut. Die orientalische Eigenart,
einige Grundgedanken ohne strenge logische Folge immer neu zu wenden, wie
sie uns namentlich in den erbaulichen Schriften der syrischen Kirche so oft ent-
gegentritt, scheint mir auch in den johannischen Schriften erkennbar zu sein.
Rostalski, Friedrich, Oberlehrer, Sprachliches zu den apokry-
phen Apostelgeschichten. II. Teil : Die Casus obliqui in den Thomas-
akten (nebst textkritischen Bemerkungen). Wiss. Beilage zum Jahresbericht des
Gymnasiums Myslowitz. 1911. Progr.-No. 283.
In statistischer Methode stellt der Verfasser in Fortsetzung seiner vorjährigen
Untersuchungen das sprachliche Verhältnis der Thomasakten zur Koine fest.
Hönn, Carl, Dr., Studien zur Geschichte der Himmelfahrt
im klassischen Altertum. Großherzogl. Karl Friedrichs-Gymnasium
Mannheim. 1910. Progr.-No. 846.
Die sehr wertvolle Skizze bewegt sich auf dem Gebiet der Religionsgeschichte
und hat daher mit vielen Unsicherheiten noch zu kämpfen. Sie arbeitet aber in
anschaulicher Weise die Geschichte der Vorstellungen von Vergöttlichung und
Himmelfahrt heraus, wie sie sich von der homerischen Zeit bis in den Hellenismus
verfolgen läßt. Wenn auch manche Lücke noch klafft, fällt doch auf die Vorstellungs-
welt des entstehenden Christentums manches bedeutsame Licht.
Wrampelmeyer, Hermann, Prof. Dr., Ungedruckte Schriften
Philipp Melanthons. Beilage zum Jahresbericht des Kgl. Gym-
nasiums zu Clausthal. 1911. Progr.-No. 412.
Es wird die Fortsetzung des im vorigen Jahre Veröffentlichten geboten. Be-
sonders beachtenswert sind die Eriasse des Rektors Melanthon an die Studenten.
Maire, Siegfried, Prof. Dr., Ober württembergische Walden-
serkolonisten in den Jahren 1717 — 1720. Wiss. Beilage zum Jahres-
bericht des Askanischen Gymnasiums zu Beriin. 1911. Progr.-No. 62.
Die sorgfältige Schrift zeigt die langen fruchtlosen Verhandlungen, die Leiden
und Enttäuschungen einiger Waldenserfamilien, die in Preußen Zuflucht suchten.
Neumann, Robert, Prof. Dr., Herder und der Kampf gegen
die kantischen Irrlehren an der Universität Jena. Wiss.
Beilage zum Jahresbericht des Sophien-Gymnasiums zu Beriin. 1911. Progr.-No. 76.
Die Schrift gibt ein anschauliches Bild der Stellung, die Herder in den gei-
stigen Kämpfen eingenommen hat, die durch das Aufkommen der kantischen
Philosophie in Jena entstanden waren. Die vornehme Haltung Herders und seine
praktische Arbeit werden treffend gewürdigt.
Petersdorff, Rudolf, Dr., Kgl. Gymnasialdirektor, Die Unterstützung
der Kirche und Schule in d e r r e 1 i gi ose n Jugenderzie-
hung durch das christliche Haus. Kgl. Kaiser Wilhelms-Gym-
nasium zu Strehlen. 1911. Progr.-No. 296.
Die Arbeit, zunächst als Referat für die Kreissynode bestimmt, gibt eine
Fülle beherzigenswerter Anregungen. Nur zwei Punkte hätten sich zu noch stär-
kerer Herausarbeitung empfohlen: einmal die Pflicht und Verantwortung des
Elternhauses, dann aber auch die Betonung der Grenzen, die der Erziehung, be-
F. A. Jungbluth, Stenographie. 183
sonders der religiösen, gesteckt sind. Hier herrschen noch viel unklare Vorstel-
lungen, und daher stammt auch eine Reihe von unbilligen Anforderungen an die
Schule.
Hartmann, Karl, Oberlehrer Dr., Englische Frömmigkeit eine
Studie. Bes. Beilage zum Jahresbericht des Prot. Gymnasiums zu Straßburg.
1910. Progr.-No. 726.
Eine höchst dankenswerte und anziehende Schilderung der englischen Frömmig-
keit nach ihrer eigentümlichen praktischen Energie und Kraft, aber auch in ihrer
Begrenztheit gegenüber tieferen Problemen. Besonders gelungen ist der Ver-
gleich englischer und deutscher Frömmigkeit.
Johne, Hugo, Prof., Zur Charakteristik des Islam. Beilage
zum Jahresbericht des Kgl. Friedrichskollegiums zu Königsberg i. Pr. 1911.
Progr.-No. 6.
Die Schrift gibt zunächst ein Bild der mohammedanischen Frömmigkeit, dann
der Sittlichkeit, stellt ferner das feindselige Verhältnis zum Christentum dar und
würdigt den Islam als Kulturfaktor. Das Urteil bemüht sich, möglichst gerecht
zu sein, kann und will aber nicht die Schwächen des Islam verschweigen.
Roßleben. H. Schmidt.
Stenographie.
1897—1909.
Seit einigen Jahren sind bekanntlich unter Führung der Reichsregierung Ver-
handlungen im Gange, welche die Vereinheitlichung der Kurz-
schrift in Deutschland zum Ziele haben.*) Das Ergebnis dieser Ver-
handlungen wird nicht ohne Einfluß auf den Unterricht der Steno-
graphie an den höheren Schulen bleiben ; gelingt es, eine deutsche
Einheitskurzschrift zu schaffen (und das ist die Hoffnung aller derer, die in der
Stenographie als Verkehrs schritt einen Kulturfaktor von nicht zu unter-
schätzendem Werte sehen), so wird dadurch die Stellung der maßgebenden Be-
hörden zur Frage des stenographischen Unterrichts vielfach eine Änderung er-
fahren. Diese Erwägung legt den Gedanken nahe, gerade jetzt einmal zusammenzu-
stellen, was in den letzten Jahren in Schulprogrammbeilagen über diesen Punkt
geschrieben worden ist. Soweit ich feststellen konnte, liegen zu dieser Frage vier
Arbeiten vor:
1. Henke, Osk., Der Unterricht in der Stenografie auf
höheren Schulen. Gymnasium zu Bremen. 1897. Progr.-No. 751. 16 S.
und eine Schrifttafel.
2. Horstmann, Wilh., Die Stenographie und die höhere
Schule. Gymnasium Georgianum in Lingen. 1897. Progr.-No. 323. 11 S.
*) Eine übersichtliche Darstellung der Vorgeschichte und des bisherigen Verlaufs
dieser Verhandlungen findet sich in den Aufsätzen von Mager: „Geschichte der
sten. Einheitsbestrebungen" (Verl. Gerdes & Hödel) und „Die sten. Einheitsbestrebungen
in den Jahren 1906—1909" im „Archiv f. Stenogr." 1909 und in den Mitteilungen
des gleichen Verf. in den späteren Jahrgängen des „Arch. f. Stenogr.".
184 F. A. Jtingbluth,
3. Corsenn, Über die Möglichkeit, die Stenographie
in die unteren Klassen der höheren Lehranstalten ein-
zuführen, nebst einer Anleitung dazu. Stadt. Realgymnasium zu Lennep.
1898. Progr.-No. 505. 84 S. und 17 S. Stenogr.
4. Gese, Joh., Über den stenographischen Unterricht
an den höheren Schulen. Gymnasium zu Gartz a. 0. 1908. Progr.-
No. 185. 40 S.
Der wesentliche Inhalt der Schriften gliedert sich in die Beantwortung der
Fragen: Welche Gründe sprechen für die Einführung des kurzschriftlichen Unter-
richts? Sind die Einwände gegen eine solche Einführung stichhaltig? Auf welcher
Stufe und in welcher Form soll der Unterricht erteilt werden?
Die grundlegende Frage, ob die höhere Schule die Pflicht
habe, stenographische Kenntnisse zu vermitteln, wird
von Horstmann nur nebenher berührt. Henke und C o r s e n n behandeln
sie ausführlicher, alle in bejahendem Sinn. Mit kritischer Gründlichkeit beleuchtet
sie nur Gese. Auch er fordert die Einführung der Kurzschrift und zwar haupt-
sächlich wegen ihres großen praktischen Nutzens; er meint damit aber nicht
den Nutzen, den im späteren Leben Parlamentsstenographen, Sekretäre und kauf-
männische Diktatstenographen daraus ziehen können (solche Stenographen aus-
zubilden sei Sache der Fachschulen), vielmehr den Gewinn an Zeit und Kraft,
den sie Jedem, der viel zu schreiben hat, bietet. Da dieser Nutzen schon den
Schülern der Oberklassen in ihren häuslichen Arbeiten vielfältig zugute kommt,
so ist der stenographische Unterricht auch um der Schule selbst willen ein-
zuführen. Im späteren Leben aber „ist die Kurzschrift dazu berufen, bei der ohne
ihre Verwendung oft niederdrückenden Schreibarbeit die Leistungsfähigkeit ganz
erheblich zu steigern und die Arbeitslast zu mildern, wohl gar in Arbeitslust zu
verwandeln."
Dieser Nutzen wäre aber teuer erkauft, wenn die E i n w ä n d e , die man
gegen die Einführung des Unterrichts geltend macht, auch nur zum
Teil stichhaltig wären. Deshalb sehen die Verfasser teilweise ihre Hauptaufgabe
darin, solche Bedenken als hinfällig nachzuweisen. So Horstmann, dessen
Abwehr allgemein gehalten ist, und C o r s e n n , der sich darauf beschränkt, zu
zeigen, daß die Einwände der Preußischen Unterrichtsverwaltung für das System
Stolze-Schrey nicht zutreffen. Am sachlichsten behandelt diesen Punkt wieder
Gese; er gibt die vollständigste Zusammenstellung aller erhobenen Bedenken,
widerlegt aber eingehend nur die schwerwiegendsten (Die Stenographie gefährde
Orthographie und Grammatik, verschlechtere die Handschrift, fördere die Kurz-
sichtigkeit, sei schwer zu erlernen und schwer wiederlesbar). Das Ergebnis seiner
gründlichen Untersuchung lautet: „Alle Schäden, die man der Stenographie vor-
wirft, lösen sich bei näherer Betrachtung in nichts auf oder verwandeln sich wohl
gar in Vorzüge".
Ebenso einig wie in der Wertung des Für und Wider sind sich die Verfasser
in der nun aufsteigenden Frage: wie soll der Unterricht eingeführt werden, obli-
gatorisch oder fakultativ? Hier sind sie einstimmig der Meinung:
der Unterricht muß verbindlich sein, denn nur durch einen solchen werden die
Stenographie. 185
Schäden der jetzigen Unterrichtsart, die vielfach „Halbwisser züchtet", vermieden
(Henke und Gese); auch hat die Schule „die Pflicht, dafür zu sorgen, daß alle ihre
Zöglinge ohne Ausnahme des vielseitigen und großen Nutzens der Stenographie für
Schule und Leben teilhaftig werden" (G e s e).
Bleibt noch zu entscheiden, auf welcher Stufe dieser verbindliche
Unterricht eingeführt werden soll. Henke fordert aus guten Gründen einen
propädeutischen Kursus nach Art des Schreibunterrichts auf Sexta und Quinta
und eine systematische Durchnahme auf Quarta. C o r s e n n schließt sich dieser
Forderung vollkommen an und weist eingehend nach, daß eine solche Lehrmethode
für das Einigungssystem Stolze-Schrey möglich ist. Seine ausführlichen „Er-
läuterungen zu den kurzschriftlichen Schreibheften" (S. 25 — 84) sind methodisch
sehr wertvoll. Gese ergänzt diese Anregungen durch die Vorschläge, auf Quarta
an Stelle der Schreibstunde für Schüler mit schlechter Handschrift und auf Tertia
(der Zeit des Stimmwechsels) die Gesangstunde durch Stenographiestunden zu
ersetzen.
Zu der Frage schließlich, welches unter den bestehenden Systemen
zur Einführung als Pflichtfach in die Schule besonders geeignet sei, nehmen nur
Henke und C o r s e n n Stellung; sie entscheiden sich beide für das Einigungs-
system Stolze-Schrey/ [^j }]
Außer diesen Schriften, die sich mit dem stenographischen Unterricht be-
fassen, sind in den letzten Jahren noch zwei andere Programmbeilagen kurz-
schriftlichen Inhalts erschienen:
5. Klöpel, Das Duployesche Stenographiesystem und
seine Metagraphie. Realschule zu Pirna. 1909. Progr.-No. 784. 22 S.
u. 4 S. Stenogr.
6. Resl, Wlad., Geschichte der polnischen S.tenographie.
K. K. zweites Staatsgymnasium in Lemberg. 1908. 21 S.
Klöpel gibt einen gründlichen Einblick in den Aufbau des gegenwärtig
verbreitetsten französischen Stenographiesystems, von dem Victor Hugo weis-
sagte: „Elle sera Tecriture populaire et universelle du vingtieme siecle".
Das Studium dieser Schriftart ist für uns deshalb von besonderem Reiz, weil
Duploye, wie fast alle anderen außerdeutschen Stenographieerfinder, geometrisches
Zeichenmaterial benutzt. Die Arbeit kann allen, die sich mit der ,, vergleichenden
Morphologie" der Stenographiesysteme befassen wollen, nur empfohlen werden.
Resl unterrichtet uns über die wichtigsten Entwicklungsstufen der polni-
schen Stenographie. Wir erfahren da u. a., daß heute im polnischen Sprachgebiet
eine Übertragung des Systems Gabelsberger die am häufigsten verwertete Kurz-
schrift ist. Sie ist auch an den Mittelschulen als wahlfreier Lehrgegenstand
eingeführt und wird an den Universitäten Krakau und Lemberg unterrichtet. An
der Universität Lemberg besteht auch schon seit 1868 eine eigene Prüfungs-
kommission für K a n d i d a t e n d e s Lehramtes der Steno-
graphie (in Deutschland gibt es solche staatlichen Kommissionen bekanntlich
nur in München und Dresden).
Bonn. F r a n z A. J u n g b I u t h.
III. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Schriften aus dem Gebiete von Myttius, Sage, Märchen.
Richard M. Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte.
Leipzig 1910. Quelle & Meyer. XX u. 645 S. gr. 8". geh. 16 M., geb. 17 M.
F. von der Leyen, D a s M ä r c h e n. Ein Versuch. Leipzig 1911. Quelle &
Meyer. 154 S. 8». geh. 1 M., geb. 1,25 M. (Wissenschaft und Bildung Nr. 96).
G. Klee, Die deutschen Heldensagen. Volksausgabe. Gütersloh.
J. Bertelsmann. VI u. 431 S. 8». geb. 3 M.
J. Stuhrmann, Die Ideeunddie HauptcharakterederNibe-
lungen. 3. Aufl. Paderborn 1910. F. Schöningh. 109 S. 8». geh. 1,60 M.
Viktor Junk,T annhäuser inSage undDichtung. München 191 1.
C. H. Beckscher Verlag (O. Beck). 51 S. 8°. geh. 1 M.
F. Ranke, Der Erlöser in der Wiege. Ein Beitrag zur deutschen
Volkssagenforschung. München 1911. ebenda. 78 S. 8^. geh. 2,80 M.
Die germanische Mythologie von Rieh. M. Meyer hat
insofern einen irreführenden Titel, da sie weniger eine religionsgeschrchtliche Ent-
wicklung der mythologischen Vorstellungen der altgermanischen Stämme, ihrer
Abhängigkeit voneinander und von dem religiösen Glauben anderer Völker bietet
und bieten will, als vielmehr eine Darstellung der germanischen Mythologie über-
haupt, nach dem Vorgange der bekannten Werke von Mogk, E. H. Meyer, Golther
usw. Das 1. Kapitel handelt von dem Wesen und dem Begriff der Mythologie,
ihrer „Formenlehre", ihrer typischen Entwicklung; letztere sieht Verf. in dem
Aufsteigen der Vorstellungen der sogenannten niederen Mythologie (1. Augenblicks-
götter. 2. Fetischismus. 3. Animismus. 4. Dämonismus) zu denen der höheren
Mythologie (5. Götterverehrung. 6. Ethisierung. 7. Kodifikation). Das 2. Kapitel
erörtert das indogermanische Erbe, den „germanischen Faktor", die Quellen der
germanischen Mythologie, das 3. Kapitel die Gestalten der niederen Mythologie
(„Augenblicksgötter", Fetische, Seelen, Ahnengeister, Naturgeister, Dämonen,
Riesen und Zwerge, „Zaubermenschen", zu denen Alpreiter, Werwolf, Berserker,
Gestaltentauscher, Bilwis, Hexen, Zauberer und Wahrsager gerechnet werden).
Das 4. Kapitel nimmt den größten Raum ein und spricht über die „halbgöttlichen
Wesen" (Nornen, Walküren, Schwanenjungfrauen und im Anschluß an „Schwanen-
Jünglinge" (?) über die Wielandsage, Mimir), die Götter (Tyr, Ingvo, Isto, Irmino,
A. Zehme, Schriften aus dem Gebiete von Mythus, Sage, Märchen. 187
Saxnot, Frey, Njord und Nerthus, Skadi, Freyja, Wodan, Frigg, Thor, Sif, Thors
Mutter, Balder), die „Gegengötter" (Hod, Loki und seine Sippe, Nidhögg, Surt,
Hrym, Hräsvelg), die „eddischen Nebengötter" (Heimdall, Hönir, Widar, Wali,
Ullr, Forseti, Bragi, Idun, Loki und Hod, die Wanen), die nacheddischen Gott-
heiten" (Hei, Ran, Ägir, Thorgerd Hölgabrud, Sol), die „außereddischen Gott-
heiten" (Alces, Tanfana, Nehalennia, Baduhenna, Requalivahanus u. a.), die
„angeblichen Göttinnen" (Eostra). Das 5. Kapitel ist dem Kultus gewidmet,
das 6. („Weltanschauung") der Lehre von Weltuntergang und Weltschöpfung,
der Einteilung und Ordnung der Welt (die Welten, geographische Beziehungen
der Welten, Alltagsleben und große Momente in der Götterwelt). Das 7. und 8.
Kapitel gibt Beiträge zur Geschichte der altgermanischen Religion in der urger-
manischen und „junggermanischen" Periode (altdeutsche, angelsächsische, alt-
nordische Religion), zur Systembildung (Genealogie, Zählung, Klassifikation), zur
altnordischen Theologie (Moralisierung, Götternamen, Charakteristik der Götter,
Kodifikation). Das 9. und letzte Kapitel bringt eine gute Übersicht über die
Geschichte der germanischen Mythologie und die verschiedenen Methoden und
Richtungen der Forschung, wobei u. a. Saxo, Mallet, Rühs, Grundtvig, Uhland
besprochen werden, sodann die Vertreter der „beschreibenden Mythologie" (J.
Grimm, W. Müller, die beiden Petersen), der „historischen M." (Müllenhoff), der
, »vergleichenden M." (Max Müller; Hahn, Köhler, Bolte), der ,, folkloristischen M."
(Mannhardt, Tylor), der „adaptionistischen M." (Gruppe), der ,,folkloristisch-
adaptionistischen M." (Bugge, E. H. Meyer), der „folkloristisch-historischen M."
(Usener, Ed. Meyer, E. Rohde), der „psychologischen M." (Wundt) und endlich
der „gegenwärtige Betrieb" (Überschätzung der niederen Mythologie, Überschätzung
der ursprünglichen Gleichheit). Den Schluß bilden eine „Chronologie" von 5000 v. Ch.
(„Beginn der menschlichen Kultur") bis 1909 (v. der Leyen, Deutsches Sagenbuch)
(sie!), Nachträge und Berichtigungen, Verzeichnisse der besprochenen Stellen,
Mythen und Motive, und ein Register. — Schon diese Inhaltsangabe dürfte die
Licht- und Schattenseiten des Werkes erraten lassen. Die Vorzüge liegen in der
gewohnten Reichhaltigkeit des Materials, welches mit dem bekannten Sammel-
fleiß des sehr belesenen Verfassers von allen Seiten unermüdlich zusammengetragen
ist und in den zahlreichen bibliographischen Zitaten (Fußnoten) zum Ausdruck
kommt. Dieser Umstand macht das Buch zu einem bequemen Nachschlagebuch
zwecks schneller Orientierung über einschlägige Fragen und Probleme, über die
verschiedenen wissenschaftlichen Methoden usw. Aber wer es zum Nachschlagen
gebraucht, muß über ein selbständiges Urteil und ein sachkundiges Auge verfügen,
denn das Buch — und darin liegen die Nachteile — ist sehr subjektiv geschrieben,
ganz besonders auch in den ersten beiden Kapiteln, in welchen „allgemeine und
spezielle Voraussetzungen" gegeben werden. Daher hat ein Rezensent für das
Buch eine Formel gefunden, die ebenso witzig als treffend ist, wenn er mit Beziehung
auf den Verlag sagt, es sei „m e h r M e y e r a 1 s Quell e". Der Verfasser will
sich im allgemeinen auf den Boden der vergleichenden Mythologie stellen, welche
eine überwiegende Gleichartigkeit sowohl der Völker, wie der Entwicklungs-
faktoren voraussetzt. Er verfolgt die Tendenz, lieber psychologisch zu erklären
als symbolisch zu deuten, lieber die Einzelerscheinungen aus den größeren histo-
188 A. Zehme,
rischen, kulturellen und literarischen Zusammenhängen zu verstehen und zu ent-
wickeln. Aber er vermeidet dabei nicht die Gefahr willkürlicher Erklärungen,
namentlich wenn bei Beurteilung schwieriger Fragen der „gesunde Menschen-
verstand" die letzte Instanz bildet. So kommt es, daß das Werk an gewagten
Hypothesen keinen Mangel hat, Hypothesen, die nicht immer von jener „mytholo-
gischen Anschauungskraft" der Grimm, Kuhn, Rohde, Usener, Müllenhoff zeugen,
welche der Verfasser als Befähigungsnachweis für grundlegende mythologische
Forschung fordert. Solche eigenartigen Auffassungen sind es, wenn Verf. z. B.
den Kult von Felsen (Versteinerungssagen), Bäumen, Hainen, Wäldern nicht auf
Naturbeseelung, sondern auf den Fetischismus zurückführt (S. 68 ff.), wenn er eine
fetischistische Verehrung von Sonnenscheiben annimmt und deren weitere Evolution
aufstellt (S. 105) oder Watzmann und Frau Hitt nicht als versteinerte Bergriesen
und Berggeister, sondern als Zauberer und Hexen erklärt (S. 101), wenn er Frey
als einen „Dämon des Getreidebaus" auffaßt (S. 197) oder „an einen primären
Himmelsgott nicht zu glauben vermag" (S. 179) u. a. m. Doch Referent will damit
nicht bestreiten, daß diese neue, pointiert, teilweise auch bizarr geschriebene Mytholo-
gie eine vielseitig anregende, Interesse erweckende Lektüre bilden kann, wenn man
sie mit der nötigen Vorsicht liest. — VonderLeyen,der Verfasser der Schrift
,,DasMärche n", ist den Lesern der „Monatschrift" bereits vorteilhaft bekannt
aus seinem schönen „Deutschen Sagenbuch" (IX, S. 49). Das vorliegende Werkchen
ist ganz vortrefflich und sehr empfehlenswert auch für weitere Kreise, an die es
sich, wie alle Schriften aus „Wissenschaft und Bildung", wendet. Es will die Be-
deutung des Märchens, seinen Wert für die Völkerpsychologie, die Aufgaben der
gegenwärtigen Märchenforschung zeigen, welche die Geschichte und den Organismus
des Märchens, die Bedingungen seines Lebens und Wirkens, die Grenzen zwischen
Volks- und Kunstmärchen, die Befruchtung der Dichtung durch das Märchen
umfaßt. Der Verfasser hat sein Ziel auf das glücklichste gelöst. Ein einleitendes
Kapitel schildert die Geschichte und Probleme der Märchenforschung, die nächsten
Abschnitte stellen dar die Entstehung des Märchens aus den Vorstellungen und
Einrichtungen der Urzeit, seine Spuren und Hinterlassenschaft bei den alten Kultur-
völkern (Babyloniern, Ägyptern, Juden, Griechen, Römern), den Einfluß der
indischen Märchen und ihre Wanderung über die Welt, die große arabische Märchen-
sammlung (Tausend und eine Nacht), endlich einen Umriß der Geschichte des
deutschen Märchens, seinen Zusammenhang mit der deutschen Götter- und Helden-
sage, sowie mit geschichtlichen, kultur- und literaturgeschichtlichen Erscheinungen
der späteren Zeit. Zum Schluß folgen literarische Quellennachweise und ein aller-
dings nicht recht vollständiges Register. Der Verfasser nimmt gegenüber den oft
entgegengesetzten Ansichten der gegenwärtigen Märchenforschung einen verstän-
digen, maßvollen Standpunkt ein und verkennt nicht die vielen, zum Teil unlös-
baren Schwierigkeiten, z. B. bei Ergründung des Ursprungs und der Art der Märchen-
motive und ihrer Zusammensetzung zu ganzen Märchen (Varianten). Einige Druck-
fehler sind aufgefallen, so S. 24 (5. Z. v. unten), 25 (3. Z. v. oben), 29 (12. Z. v. unten),
sowie einige stilistische Härten wie S. 71 (17. Z. v. unten). Das inhaltreiche, an-
regende, dabei gemeinverständlich, anschaulich, klar und lesbar geschriebene
Büchlein des sein Gebiet beherrschenden Verfassers gibt einen guten Überblick
Schriften aus dem Gebiete von Mythus, Sage, Märchen. 189
über alles Wesentliche und ist geeignet, das Interesse, welches man gegenwärtig
dem Märchen als der „höchsten und ältesten Poesie'' entgegenbringt, kräftig zu
fördern. — Die Volksausgabe der bekannten, weit verbreiteten „Deutschen
Heldensagen" von Klee verdankt ihr Erscheinen dem oft geäußerten
Wunsche, die auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende Nacherzählung unserer
Heldensagen von Klee noch weiteren Kreisen, insbesondere auch der Schule und
dem Volke, zugänglich gemacht zu sehen. Der niedrige Preis ist ermöglicht durch
Fortfall des Bilderschmucks und Kürzung des Inhalts. Doch handelt es sich bei
letzterer nur um einige abseits liegende Erzählungen. Die Volksausgabe bringt
nur schlichte, treue Erzählung ohne weitere Belehrungen. Und keiner versteht es
besser, die deutschen Sagen unverfälscht und quellenmäßig, zugleich anschaulich,
fesselnd und liebenswürdig zu erzählen, als unser Klee. Daher ist das Buch vor-
züglich geeignet, unserer Jugend und dem Volke den reichen Schatz der heimischen
Sage zu eröffnen, den alten deutschen herzhaften Sinn zu wecken und zu stärken
und dadurch der nüchternen Blasiertheit entgegen zu wirken, die sich heute mehr
als früher breit macht. Es sei darum allen Schüler- und Volksbibliotheken sowie
als Geschenk und Prämie auf das wärmste empfohlen ! — Die Abhandlung
von Stuhrmann will zum Verständnis und zur ästhetischen Würdigung des
Nibelungenliedes beitragen, und das ist ihr auch wohlgelungen. Sie setzt zunächst
Grundgedanken und Idee des Liedes sowie sein Verhältnis zum Sagenstoff aus-
einander und entwickelt dann die Charaktere der Hauptpersonen (Brunhild, Sieg-
fried, Kriemhild, Hagen, Günther, Rüdiger, Volker). Die Erörterung der Tragik
macht mit Recht kräftig Front gegen die veraltete Schuldtheorie und „Schuld-
schnüffelei". Sie folgt darin der Auffassung in Volkelts „Ästhetik des Tragischen",
dem bahnbrechenden Werke, welches leider in den Fußnoten nicht zitiert ist. Diese
rein menschliche Beurteilung aller Motive der handelnden Personen, welche nicht
pharisäisch richtet, sondern erklärt und mitfühlt, berührt den Leser sehr wohltuend.
Die Annahme, daß Siegfried ursprünglich unfrei und darum einer Königin nicht
würdig war (S. 64 ff.), ist unbegründet. Hagen ist nach Ansicht des Referenten
zu günstig beurteilt. Der Vorwurf des Neides und der Selbstsucht ist ihm kaum
zu ersparen, wie überhaupt fast alle die Träger der Handlung im N. L. in ihrer Art
individuelle, ja egoistische Interessen verfolgen. Darin hat Hebbel die Charaktere
wohl richtig aufgefaßt, wie Referent in Lyons Ztschr. f. d. d. U. (XXIII, 1909,
S. 241 ff.) und in seiner Schulausgabe von Hebbels Nibelungen (Ehlermann) nach-
zuweisen versucht hat.
Junks Schrift überTannhäuser läßt die Sage vor unsern Augen
entstehen, wachsen und blühen. Sie zeigt ihren historischen Kern, die Verbindung
desselben mit mythisch-märchenhaften Motiven, die literarischen Anspielungen
und Bearbeitungen in Volksliedern mit ihren Varianten und Versionen und in der
Kunstpoesie (Tieck, Grimm, Burckhardt, Jul. Wolff, Heine, Rieh. Wagner). An-
merkungen am Schluß enthalten bibliographische Angaben. Das anspruchslose
Büchlein will in populärer Form das charakteristische Weben und Werden mittel-
alterlicher Sage an einem Beispiele erläutern und Interesse für die Tannhäusersage
erwecken. — Der Verfasser der Abhandlung „D erErlöser in derWieg e",
Fr. Ranke, ist besonders durch seine ,, Deutschen Volkssagen" (von der Leyens
190 H. Bernhardt,
Deutsches Sagenbuch IV. Teil) bekannt, welche vom Referenten in der „Monat-
schrift" (IX, S. 613 f.) empfohlen wurden. Der nicht gerade glückliche Titel wirkt
fast wie ein Orakel, wird aber bald aufgeklärt. Gegenstand der Untersuchung ist das
Weissagungsmotiv, daß die Erlösung einer armen Seele an das Aufwachsen eines
Baumes und an seine Verzimmerung zu der Wiege des Erlöserkindes gebunden ist.
Die Behauptung Weinholds, daß dieses Motiv aus der ähnlichen Kreuzholzlegende
stamme, sucht Verfasser durch den Nachweis der Zwischenglieder in dieser Ent-
wicklung zu stützen, indem er das Motiv auf seine Quelle zurückführt und darauf
die Veränderungen bespricht, welche es auf seinem Wege von der Quelle bis zu
seinen letzten Ausläufern durchgemacht hat. So wird die Abhandlung zu einem
wertvollen Beitrag zur deutschen Volkssagenforschung, jenem hoffnungsvollen
Sprößling der germanischen Wissenschaft, der sich nicht mehr mit Handlanger-
diensten begnügt, sondern nach Selbständigkeit strebt. Die vorliegende Schrift
zeigt, daß dieses Streben berechtigt ist. Ihr Verfasser betritt den vielversprechenden
Weg der sagengeschichtlichen Betrachtung und entwickelt mit wissenschaftlicher
Gründlichkeit, Scharfsinn und logischer Konsequenz, wenn es dabei auch ohne
Hypothesen nicht abgeht. Eine lückenlose Beweisführung, eine restloseJEntscheidung
ist auf diesem schwierigen Forschungsgebiete eben nicht möglich. Auch methodisch
ist die Abhandlung lehrreich und anregend. Daher sind die methodologischen
Ergebnisse (S. 72), nach denen z. B. weder aus der Zahl der Belege einer Fassung
noch aus der Zeit ihrer Niederschrift ohne weiteres auf ihre Altertümlichkeit ge-
schlossen werden darf, beachtenswert. —
Außerdem ist noch erschienen und dem Referenten zugegangen:
E. L u c a r d i s , „W u n s c 0" (Leipzig 1909, F. Eckardt. 551 S. 8«. geb. 7 M.),
eine erdichtete Erzählung aus der deutschen Vorzeit in gebundener Rede, welche
für Schulzwecke wohl weniger in Betracht kommt.
Nordhausen. Arnold Zehme.
Lateinische Schriftsteller.
Etymologisches Vokabularium zum Caesar, eingerichtet zum Nachschlagen
und zum Lernen. Nebst einer Sammlung von lateinischen Beispielen und einer
Zusammenstellung der Konjunktionen zur Repetition der Syntax. Von Dr.
Ernst Schi ee. 6. Doppel-Auflage. 8^ 65 S. Altona 1911. J. Härder. IM.
Nach Angabe des verstorbenen Verfassers im Vorwort zur 4. und 5. Auflage
hat die von ihm angewandte Methode immer mehr Nachahmung gefunden, wie
andere ausgesprochenermaßen nachgebildete kleine Wörterbücher zu Nepos und
Caesar erwiesen. Jedenfalls ist es allein der etymologische Gesichtspunkt, der die
Gefahren solcher SpezialWörterbücher etwas abschwächt, indem er die Schüler
zu selbständigem Denken zwingt.
Wenn der Herausgeber der neuen Auflage mit Recht caespes von caedere ab-
leitet, war es unnötig, die schlechte Schreibart cespes noch besonders zu bringen,
das gleiche gilt von sepes, cetra, cetratus, teter. Zur Unsicherheit verführt die Schreib-
art exilium (S. 14) neben exsilum (S. 44), impetrare gehört nicht zu potis, sondern
Lateinische Schriftsteller. 191
zu patrare, planicies ist falsch. Überaus störend wirkt vor allem in dem syntak-
tischen Repetitorium die durchgehende Anwendung des ganz unlateinischen /,
das längst aus allen guten lateinischen Texten verschwunden und auch im Wörter-
buch verständigerweise vermieden ist. Der schüchterne Ansatz, bei ambactus zur
Belebung und Erklärung verwandte Sprachen heranzuziehen, bleibt leider ver-
einzelt, das gleiche gilt aber zum Glück auch von dem Druckfehler S. 62 furtuna
für fortuna.
Q. Curti Ruf! historiarum Alexandri Magni Macedonis libri qui supersunt.
Für den Schulgebrauch von Paul Menge. I. Bändchen: Buch III-V.
Mit zwei Karten. Erklärt von Paul Menge und Dr. Fr. Fried. 8». IV u. 218 S.
Gotha 1911. F. A. Perthes, geh. 2,40 M.
Menge, dem Fried seine zahlreichen Anmerkungen zur Verfügung stellte,
verdankt seinen Kommentar der Praxis von Schulpforta, wo Curtius an den
wöchentlichen Studientagen zur Privatlektüre der Tertia gehört. Das erklärt
eine Reihe von Hilfen, die bei gemeinsamen Erarbeiten unter einem Lehrer über-
flüssig sein würden, doch gehen sie auch bei Berücksichtigung dieser Tatsache
meines Erachtens stellenweise zu weit und setzen zu wenig beim Schüler voraus.
So z. B. III 2, 15 studio, IV 1, 14 consulere alimi, 15, 3 quo plures, V 4, 13 etiam
atque etiam u.a. Wohl ais der im Vorwort bedauerten Unterlassung einer noch-
maligen Durchsicht und Verarbeitung beider Kommentare erklären sich zahlreiche
Wiederholungen, so quis = quibus III 2, 4 neben 3, 1 und IV 9, 3. III 12, 17 et hie
neben 9, 9 et ipsi, IV 14, 25 timidissimum quemque und 1, 24 diuitissimus quisque,
IV 14, 6 und 16, 2 ni = nisi, V 12, 11 ite consulite neben IV 15, 7 abi nuntia und
11,21 ite nuntiate, V 9, 10 interfecturus videbatur und 6,7 facturus hostis vide-
batur, V 7, 4 auidior quam potentior neben III 8, 11 magni ficentius quam uerius,
IV 6, 14 acrius quam constantius und 16, 29 prudentius quam auißius. Desgleichen
die dreimalige Erklärung von mare rubrum IV 12, 9, V 1, 15 und 4, 5, fortuna als
uox media V 10, 2 und 1 1, 5, potiri c. genet. IV 1, 29 und V 10, 5. Zu secundis IV 6, 31
möchte ich ungezwungener rebus ergänzen, als es von secunda = „glückliche Er-
folge" abzuleiten. Inkonsequent ist die (weniger gute) Schreibung Melkarth S. 71,
73, 82 und 87 neben Melkart auf der Nebenskizze der 2. Karte, während mir an
Druckfehlern uuentuti S. 88, uiu latu S. 152 und S. 161 sequientbus aufgestoßen sind.
Doch diesen Kleinigkeiten gegenüber möchte ich als Vorzüge der Ausgabe
in erster Linie die treffliche und übersichtliche „Anleitung zum Übersetzen" hervor-
heben, dann den Schlachtenplan S. 139 und nicht zuletzt die Fassung des gründ-
lichen, der Altersstufe angepaßten und kulturgeschichtlich anregenden Kommen-
tars, Vorzüge, die hoffentlich dem zurzeit unverdienterweise etwas vernachlässigten
römischen Schriftsteller wieder zu der ihm zukommenden Stellung auch an anderen
Gymnasien verhelfen.
Ciceros ausgewählte Reden. Erklärt von K. H a 1 m. I. Band. Die Reden
für Sex. Roscius aus Ameria und über das imperium des Cn. Pompeius. 12. Aufl.
Besorgt von W. Sternkopf. 8^'. VIII u. 173 S. Berlin 1910. Weidmannsche
Buchhandlung, brosch. 1,60 M.
Die neue Ausgabe bringt eine Reihe Abweichungen von der Laubmannschen
des Jahres 1896, nicht so sehr in den ausführlichen historischen Einleitungen zu
192 H. Bernhardt,
beiden Reden, als vor allem in Text und Kommentar. Der Herausgeber ist überall
bemüht gewesen, möglichst auf die Überlieferung der codd. zurückzugehen, und
nur wenn diese unhaltbar ist, Verbesserungen vorzuschlagen. Als solche äußerst
glückliche Konjekturen möchte ich vor allem nennen pro Roscio § 1 1 sanguini
inimicissimam, 24 inuidiosa possessio, 107 indicii iure und de imperio § 18 nos amissa
uectigalia postea victoria recuperare; neque enim isdem publicanis redimendi facultas
erit, während die Änderungen pro Roscio 31 minae et terrores, 55 non inimicus,
de imperio 15 pascua — nach Halm — nicht gerade zwingend erscheinen. Seiner
Erklärung von et ipsi (pro Roscio 4S), fr aus (ibid5S), ipsum{7\), quod ausus est{\A\)
und ullum alium magistratum {de imperio 62) kann man nur beipflichten.
So bedeutet die neue Ausgabe einen wesentlichen Fortschritt auch im Ver-
gleich mit dem Clarkschen Text (Oxford 1908) und ein wertvolles Hilfsmittel für
die Cicerolektüre, das den Wunsch erweckt, dieselben Grundsätze auch in den
weiteren Bänden verwirklicht zu sehen.
Hauck, P., L. A n n a e u s S e n e c a. Ausgewählte moralische Briefe als
Einführung in die Probleme der stoischen Philosophie. 2 Bde. 8'\ Bd. I, Text,
VII u. 196 S. Bd. II, Kommentar, 156 S. Berlin 1910. Weidmannsche Buch-
handlung. 1,80 und 1,60 M.
Die wachsende Aufmerksamkeit, die man Seneca zuwendet, ist ein erfreuliches
Zeichen für den neuen Geist in unserem altsprachlichen Unterricht. Zwar in Süd-
deutschland ist er immer als Schulautor gelesen, auf den preußischen Schulen aber
mit wenigen Ausnahmen bisher recht stiefmütterlich behandelt worden. Es waren
wohl in erster Linie formale Gründe, die ihn hinter einem Cicero zurückstehen
ließen, denn sonst ist es zweifellos, daß er durch Vielseitigkeit der Bildung und als Haupt-
vertreter einer Periode, die fast alle Keime der heutigen Kultur birgt, uns oft wie
ein moderner Mensch vorkommt, der sicher unser Interesse in ungleich höherem
Maße verdient als der vielbewunderte Arginate. Endlich ist er im Gegensatz zu
diesem nicht selten unklaren Eklektiker ein ausgeprägter Vertreter der Stoa, des
fruchtbarsten aller antiken Systeme, und so hervorragend zur Einführung in die
philosophische Propädeutik geeignet, die neuerdings wieder mehr Anhänger ge-
winnt.
Diese Erwägungen veranlaßten Hauck zu der vorliegenden Ausgabe der
epistulae morales und zwar, und das ist sein Hauptverdienst, in einer Anordnung,
die ein geschlossenes Bild der gesamten stoischen Lehre bietet. Die sorgfältige
Auswahl bringt nach einer geschichtlichen Einleitung zunächst die Briefe über
die Philosophie als Ganzes und über ihre Einteilung, dann Senecas Ansichten
über Moralphilosophie, Psychologie und Metaphysik und endlich seine Gottes-
lehre. Ergänzt werden sie in dem trefflichen Anhang durch verwandte Stücke
aus Diogenes Laertius, Plutarch, Descartes, Marc Aurel, Justinians Institutionen,
dem Römerbriefe des Paulus und endlich durch den Zeushymnus des Cleanthes.
Seiner Behandlung des Textes kann ich zustimmen, so der Emendation der
schwierigen Stellen ep. 124, 5 (Haase), 74, 33 (ibid.), 22 13 und 28 3, er ver-
spricht, demnächst in einer besonderen Abhandlung Rechenschaft darüber ab-
zulegen. Ob jedoch im Kommentar, der doch wie das ganze Werk für ältere
Lateinische Schriften. 193
Schüler bestimmt ist, Erklärungen wie S. 55 indotata, 56 (jiXag und 103 condiunt
nötig waren, bezweifle ich.
Sehr vermisse ich dagegen im Text eine Einteilung in Paragraphen oder doch
wenigstens Zeilennumerierung auf den einzelnen Seiten, eine dieser Hilfen ist
unbedingt erforderlich, um den Kommentar bequemer benutzen zu können, als
es jetzt möglich ist.
Endlich würde ein Neuauflage, die ich der verdienstlichen Arbeit bald wünsche,
auf eine Beseitigung der zahlreichen Druckfehler bedacht sein müssen, deren ich
jetzt im Text (abgesehen von den nachträglich berichtigten) 14, im Kommentar
nicht weniger als 20 angetroffen habe.
A. Persii Flacci, D. Junii Juuenalis, Sulpiciae saturae. Editionem quartam
curauit F r i d e r i c u s L e o. 81 XXIV u. 304 S. Beriin 1910. Weidmannsche
Buchhandlung, geh. 3,40 M.
Die 1868 von 0. Jahn, 1886 und 1893 von F. Bücheier bearbeiteten Satiren
m't den zugehörigen Scholien liegen hier in 4. Auflage vor. Der Herausgeber hat
die Forschungen der letzten 17 Jahre berücksichtigt und in der Erkenntnis von
der Unzulänglichkeit des Apparates Jahns und Büchelers, von denen nicht alle
codd. verglichen waren, diese Lücke nach Kräften auszufüllen sich bemüht, ohne
jedoch, wie er vorausschickt, Anspruch auf Vollzähligkeit zu erheben. Immerhin
bürgt sein Name im Verein mit denen seiner großen Vorgänger dafür, daß wir
in dem voriiegenden den besten, einwandfreisten Text besitzen, der außer den
genannten Dichtern auch noch am Schluß aus luuenal schol. I 71 das emendierte
Fragment des Turnus mit Belegstellen bringt. Von den alten Scholien sind nur
die zur Textrekonstruktion notwendigen und die inhaltlich wertvollen beibehalten,
ihre Auswahl ist sorgfältig und einwandfrei. Eine Verbesserung bedeutet das
Fortlassen ihrer Überschriften, und vor allem wird die Benutzung der Ausgabe
durch die neuhinzugefügten indices nominum erleichtert.
Römische Elegiker. Eine Auswahl aus Catull, Tibull, Pro-
perzund 0\ id. Für den Schulgebrauch bearbeitet von Dr. K. P. Schulze.
8*. XI u. 408 S. Beriin 1910. Weidmannsche Buchhandlung. 5. Auflage
geh. 3,40 M.
Daß diese neue Auflage, ohne mehr Lieder im Text zu bringen, ihre Vor-
gängerin um 54 Seiten übertrifft, erklärt sich aus der Vermehrung des trefflichen
Kommentars durch Berücksichtigung der neuesten Forschungen. Diese haben dem
Herausgeber auch sonst stellenweise zu Änderungen veranlaßt, so in dem, was
er S. 4 über den Ursprung der Satire, S. 13 über die griechische Beeinflussung
der römischen Elegie sagt, ferner in den Textänderungen bei Cat. 1 i. 76 i7,
96 5. 116 6, und in den Anmerkungen zu Cat. 3 i, 14 i9, 51 7, 64 i04, i7i.
Vor allem aber sind die Parallelstellen aus der deutschen Literatur, deren Heran-
ziehung schon den früheren Ausgaben ihren eigenartigen Wert verlieh, wieder
bedeutend (allein bei Catull um 34) vermehrt worden. Ebenso ist bei Catull 62
die Herdersche Nachdichtung zu sehr wirkungsvollen Vergleichen herangezogen,
was ich für Geibel bei Tibull 13, IV 2, Properz I 14 und 0 id am III 9 auch
gern in ausgedehnterem Maße gesehen hätte. Wenn man da den hervorragenden
Einfluß gerade der römischen Elegiker auf unser Geistesleben sieht, vor allem
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 13
194 W. Bohnhardt,
auch auf Goethe (vgl. z. B. außer zahllosen anderen Stellen besonders die An-
merkungen zu Catull 62, 36 und Ovid, trist I 3), so kann man den in der Vorrede
zur 1. Auflage geäußerten Wunsch des Verfassers nur berechtigt finden, ihnen
möchte auch in den oberen Klassen unserer Gymnasien ein bescheidenes Plätzchen
gegönnt werden, und zwar wäre wohl das 1. Tertial der U I der geeignetste Zeit-
raum dafür. Enthalten sie, wie Properz, auch manche formale Schwierigkeiten,
so wird das durch den Inhalt reichlich aufgewogen, und eine so vorzügliche Aus-
gabe wie die vorliegende bietet die besten Mittel zu ihrer Bewältigung.
Soest. H. Bernhardt.
Zur französischen Lektüre.
Teil III.*)
1. Klassenlektüre.
1. Petits, Fran^aiSy Seen es de la vie f a m i 1 i e r e par AI. et Ch.
Robert-Dumas. Frankfurt a. M. 1910. Diesterwegs Neusprachliche Reform-
ausgaben, Bd. 17. 81 VI u. 80 S. geb. 1,40 M. (Ausgabe ohne Kommentar 1,20 M.).
2. Normand, Ch., Biographies et scenes historiques des
temps anciens et modernes. Für den Schulgebrauch erklärt von
M. Schmitz-Mancy. Mit 25 Abb. Leipzig u. Wien 1908. Freytags Sammlung
franz. und engl. Schriftsteller. 93 S. geb. 1,20 M. Hierzu Wörterbuch 0,30 M.
3. Demoulin, M"^^- Gustave, Fran^ais illustres. Im Auszuge mit
Anmerkungen zum Schulgebrauch herausgegeben von Franz Schürmeyer. Mit
3 Karten und 6 Abbildungen im Text. Bielefeld und Leipzig 1910. Velhagen &
Klasing. Prosateurs fran^ais, Lfg. 182. Ausgabe B. IV u. 171 S. In einem
Anhange 71 S. Anmerkungen, geb. 1,60 M. (Außerdem Wörterbuch 0,30 M.)
4. Lame-Fleury, L'histoire de France racontee ä la jeu-
n e s s e. Premiere Partie: Depuis les origines jusqu'ä Tavenement des Valois.
Für den Schulgebrauch herausgegeben von Fr. Weyel. Mit Anmerkungen, Question-
naire und Wörterbuch. Dresden 1909. Gerhard Kühtmann. Bd. 86 der Biblio-
th^que frangaise. 97 S. geb. 1,20 M.
5. Derselbe, Deuxieme Partie: Depuis Tavenement des Valois jusqu'ä
Napoleon III. (ohne Questionnaire). Bd. 87. 142 S. geb. 1,20 M.
6. Chalamet, A., A traversla France. In gekürzter Fassung und
mit Kommentar herausgegeben von Max Pflänzel. Mit 1 Karte und 12 Bildern.
Berlin 1907. Weidmannsche Buchhandlung. Bd. 58 der Schulbibliothek franz.
und engl. Prosaschriften. VIIu. 109 S. (Dazu gesondert ein Wörterbuch.) geb. 1,40 M.
7. Rousset, L., Histoire de la guerre franco-allemande.
Extraits et episodes. Im Auszuge mit Anmerkungen zum Schulgebrauch heraus-
gegeben von O. Leichsenring. Mit 6 Karten. Bielefeld und Leipzig 1910. Velhagen &
Klasing. Prosateurs fran9ais. Lfg. 181. Ausgabe B. (Wörterbuch dazu 0,20 M.)
192 S. geb. 1,20 M.
8. Zola, E., Le Cercle de fer (episode de „La Debäcle"). Für den
*) Vgl. Monatschrift VII, 378 u. VIII, 671.
Zur französischen Lektüre. 195
Schulgebrauch herausgegeben von Eugene Pariselle. Mit 2 Karten. Leipzig und
Wien 1908. Freytags Sammlung franz. und engl. Schriftsteller. 139 S. geb. 1,50 M.
Hierzu Wörterbuch 0,40 M.
9. Verly, Albert, Les Etapes Douloureuses (L'Empereur, de Metz
ä Sedan). Im Auszuge für den Schulgebrauch bearbeitet von Walter Kirschten.
Mit 6 Kartenskizzen. Gotha 1910. Perthes' Schulausgaben engl, und franz. Schrift-
steller. N. 60. V u. 80 S. geb. 1,— M. Sonderwörterbuch 0,40 M.
10. L*Empire 1805 — 1809. L'Allemagne napol^onienne. Aus
der Histoire generale von Lavisse und Rambaud. Für den Schulgebrauch aus-
gewählt, bearbeitet und mit Anmerkungen herausgegeben von Theodor Haas. Mit
2 Kärtchen. 2. verbesserte Auflage. Berlin 1909. Weidmannsche Buchhandlung.
Band 48 der Schulbibliothek franz. und engl. Prosaschriften. VH u. 160 S. geb.
1,60 M. Wörterbuch hierzu 0,40 M. Dazu als Seitenstück:
11. L'Empire 1813 — 1815. L'Allemagne anti-napoleonienne.
(Aus derselben Geschichte und von demselben Herausgeber.) Mit 1 Karte und
2 Plänen. Berlin 1905. Band 54 der Schulbibliothek franz. und engl. Prosaschriften.
VII u. 168 S. geb. 1,80 M. Wörterbuch hierzu 0,40 M.
12. Bernhardt, F. W., Auswahl aus Alfred de Musset. Mit bio-
graphischer Einleitung und Anmerkungen versehen. Mit einem Porträt. Berlin 1910.
Weidmannsche Buchhandlung. 135 S. (Sonderheft mit Anmerkungen in Falte.
24 S.) geb. 1,60 M.
13. Wershoven, F. J., Alfred de Musset, Pages choisies. Ausgewählt
und erklärt. Dresden 1905. Gerhard Kühtmann. Textausgaben franz. und engl.
Schriftsteller für den Schulgebrauch. No. 39. X u. 103 S. (Anmerkungen gesondert
18 S.) geb. 1,20 M.
14. Rousseau, J. J., Pages choisies. Ausgewählt und mit Anmer-
kungen für den Schulgebrauch herausgegeben von Albert Wüllenwfeber. Berlin 1909.
Weidmannsche Buchhandlung. IV u. 125 S. (Sonderheft mit Anmerkungen in
Falte 39 S.) geb. 1,60 M.
15. Diderot, Denis, Sur la peinture. Pages choisies et annot6es par
L. Petry. Frankfurt a. M. Diesterwegs Neusprachliche Reformausgaben, Bd. 7.
XI u. 68 S. (Annotations in Sonderheft 26 S.) geb. 1,40 M. Ausgabe B ohne
Kommentar 1,20 M.
16. Hugo, Victor, Morceaux choisis. Ausgewählt und erklärt von
F. J. Wershoven. Dresden 1907. Gerhard Kühtmann. Textausgaben franz. und
engl. Schriftsteller für den Schulgebrauch. N. 37. XV u. 139 S. (Anmerkungen
gesondert 29 S.) geb. 1,20 M.
17. Tocqueville, Alexis de, L'Ancien regime et la Revolution.
Pages choisies et annotees par Louis Andre. Frankfurt a. M. Diesterwegs Neu-
sprachliche Reformausgaben, Bd. 13. X u. 80 S. (Annotations in Sonderheft 48 S.)
geb. 1,60 M.
18. Aulard, A., Histoire politique de la Revolution fran-
9 a i s e. Mit Anmerkungen zum Schulgebrauch herausgegeben von Wilh. Kalb-
fleisch. Bielefeld und Leipzig 1910. Velhagen & Klasing. Prosateurs fran^ais.
Lfg. 180. Ausgabe B. IVu. 165S. In einem Anhange 35 S.Anmerkungen, geb. 1,30 M.
13*
196 W. Bohnhardt,
19. Nodier, Charles, Souvenirs de la Revolution et de TEm-
pire. Für den Schulgebrauch erklärt von Johannes Römberg. Leipzig 1910.
Rengersche Buchhandlung. Französische und englische Schulbibliothek, Bd. 162.
XIV u. 125 S. geb. 1,30 M,
20. Hanotaux, Gabriel, Le Gouvernement de M. Thiers et la
lib^ration du territoire. Auswahl aus Histoire de la France con-
temporaine. Für den Schulgebrauch erklärt von Bernhard Völcker. Leipzig 1911.
Rengersche Buchhandlung. Französische und englische Schulbibliothek, Bd. 166.
IX u. 117 S. geb. 1,30 M.
Maßgebend für die Beurteilung der im folgenden zusammengestellten Aus-
gaben der letzten 4 Jahre, die noch nicht alle in die vom Neuphilologen- Verband
oder den einzelnen Provinzialschulkollegien veröffentlichten Kanonlisten Auf-
nahme gefunden haben, waren wiederum die Grundsätze (alte und allerneueste)
in Münchs Didaktik, 3. Aufl. Sie bietet uns gerade in den umfangreichen Zusätzen
„Neuester Stand der Lektürefrage" (S. 114 ff.) wertvolle Winke. Neue, für Knaben-
schulen bemerkenswerte Sammlungen französischer Schulautoren sind seit der
letzten Besprechung (Monatschrift VIII, 621) glücklicherweise nicht ins Leben
getreten, an Einrichtung und Ausstattung hat sich nichts geändert (die Sonder-
wörterbücher vor allem behaupten sich weiter; selbst neue, gediegene Ausgaben
glauben ihrer nicht entraten zu sollen). Somit war bei der Erörterung über das
Für und Wider erfreuliche Kürze möglich. Nur eine neue Einrichtung sei gleich
anfangs ein für allemal berührt, deren pädagogischen Zweck man nicht recht zu
erkennen vermag. Einige der letzten Bändchen von Diesterwegs Neusprachlichen
Reformausgaben (siehe Privatlektüre No. 6 — 8) enthalten arguments analytiques.
Bei der knappen Zeit, die dem Lehrer zur Kontrolle der Hauslektüre zugemessen
ist, wird er im allgemeinen von dem Schüler nicht viel mehr als eine kurze Inhalts-
angabe des Gelesenen verlangen können. Der Herausgeber hat nun die Arbeit
des gründlichen Durchlesens des Textes mit seinem argument analyüque (oft 1 Seite
bei einer Novelle von kaum 20) dem Schüler erspart; vielen werden einige flüchtige
Einblicke in das Buch selbst daneben genügen. Für spätere Auflagen scheint mir
nur Beibehaltung derjenigen Stellen des argument berechtigt, die sich als eine
literarische Würdigung des Stoffes darstellen. — Es ist der Versuch gemacht
worden, die Ausgaben dem Inhalte nach möglichst in Gruppen zu ordnen und sie
den einzelnen Klassen zuzuweisen, wobei man sich wohl bewußt ist, daß solcher
Verteilung vorerst eine rein theoretische Bedeutung zukommt wegen der ungleichen
Anforderungen und mancher anderen Verhältnisse an den verschiedenen Schul-
gattungen und innerhalb derselben an den einzelnen Anstalten.
1. Klassenlektüre.
„Wirklich Jugendliches für die Jugend" ist die Mahnung, die manche Heraus-
geber von Lesestoffen für die Anfangslektüre wohl oft gehört, aber nicht zu be-
herzigen verstanden haben. Daher trotz der Fülle der Ausgaben eine verhältnis-
mäßige Armut an passendem Material für die Tertien. Um so willkommener ist
deshalb der von den Gebrüdern Dumas zurechtgestutzte kleine Roman (No. 1),
der in einem einfachen Rahmen die Leiden und Freuden eines französischen col-
Zur französischen Lektüre. 197
legien im Laufe seines ersten Schuljahres schildert. Wir werden mit den Ver-
hältnissen der Klasse vertraut, folgen dem Helden auf seinen Ausflügen in Wald
und Feld, nach Paris, zum Ferienaufenthalt an die See. Die Sprache des Alltags-
lebens ist schlicht und gefällig, nirgends fällt die störende Sucht auf, recht viele
Realien unterzubringen. Einen großen Vorzug muß man dem einsprachigen,
äußerst geschickt angelegten Kommentar nachrühmen, gegenüber vielen anderen,
die, wie oft zu beklagen ist, in ihren Umschreibungen das Klassenniveau weit über-
schreiten. Jeder Tertianer wird ihn verstehen. Auf das treffliche Bändchen mögen
hauptsächlich Realanstalten hingewiesen sein. Nach demselben Grundsatz ist in
Petiies Franraises (Bd. 20 bei Diesterweg) der wesentliche lernenswerte Wortschatz
auch für Mädchenschulen verarbeitet. Hier sind in den Text kleine Dialoge, sowie
Lieder nebst Noten eingestreut. (Ausgabe B ohne Kommentar 0,85 M., Annotations
und französisch-deutsches Wörterbuch dazu 0,50 M.) — Nicht so unbedingt wage
ich das zweite Bändchen zu empfehlen: Lebensbeschreibungen tapferer Helden
und hervorragender Männer auf allen Gebieten aus C h. N o r m a n d , die in
einfacher, ungekünstelter Sprache verfaßt sind. Als Leser sind Tertianer, viel-
leicht schon Quartaner hauptsächlich lateinloser Anstalten gedacht. Nicht all-
gemeine Billigung wird der Herausgeber finden, wenn er zu dem alten Stand-
punkt zurückkehrt, für die Anfangslektüre zum Teil Biographien aus dem klassi-
schen Altertum (von Leonidas bis Cäsar) und Beschreibungen, z. B. von Rom,
herbeizuholen. Andererseits gehen Stücke aus der französischen Geschichte, wie
der Eid im Ballspielhause, oder Stellen aus V. Hugos Expiation über
das Verständnis des 13 — 14 jährigen Knaben. Geringe allgemeine Bildung setzen
die weitschweifigen Anmerkungen bei dem Lehrer voraus; die bildlichen Darstellun-
gen lassen, milde gesagt, recht viel zu wünschen übrig.
Einen in mehrfacher Hinsicht recht schätzenswerten Auszug' aus dem für die
französische Jugend bestimmten Werke Les Francais illustres von M'"^ G. D e -
moulin hat (in No. 3) Schürmeyer besorgt. Die 16 Lebensbeschreibungen,
die die wichtigsten Epochen der französischen Geschichte vom 11. bis zum 19. Jahr-
hundert in charakteristischen Vertretern würdigen, sind bis auf die zwei ersten
mit feinem Verständnis ausgewählt und werden wegen ihrer klaren Sprache und
anschaulichen Darstellungsweise sowie wegen der Wirkung, die die Verfasserin
auf die Einbildungskraft und das Gemüt der Jugend hat, eine nützliche und an-
genehme Lektüre für die Untersekunda bilden. Sie wird auch den französischen
Aufsatz historischen Inhalts, für den wir nicht genug Vorbereitung haben können,
ungemein fördern. Solcher Stoffe besitzen wir nicht allzu viele. Endlich bieten
auch manche Texte Themata für Vorträge. — Als Anfangslektüre erfreut sich die
Histoire de France von Lam^-Fleury, die schon seit Jahren auch auf dem
Rheinischen Lektürekanon ihren Platz behauptet, wachsender Beliebtheit. Der
bekannte Stoff liegt nun in einer neuen Ausgabe von 2 Bänden (No. 4 und 5) von
Fr. Weyel vor. Ihre Aufgabe ist, schon existierende, teils nach einem veralteten
Original verfaßte, teils zu sehr zusammengestrichene Schulausgaben zu ersetzen.
Der auszugsweise gegebene Inhalt des ersten Bandes deckt sich vollständig mit
dem Geschichtspensum der Untertertia und wäre somit in Obertertia eine vorzüg-
liche Ergänzung und Vertiefung dieses Pensums. Band II, der die Geschichte
198 W. Bohnhardt,
bis zum Jahr 1869 führt, wo Lame-Fleury seine Erzählung abgebrochen hat, würde
in eine Sekunda gehören, an die man sprachlich keine hohen Anforderungen stellen
darf. Weyel hat aus praktischen Rücksichten die umfangreichen Kapitel in kleine
Abschnitte zerlegt mit fortlaufenden Nummern zur Erleichterung der Sprech-
übungen. Für die Anlage des Wörterbuches und vor allem des dem 1. Teil bei-
gefügten Questionnaire ist der Herausgeber wohl nicht verantwortlich, da er sich
den im Verlage Kühtmann herrschenden Brauche nicht entziehen konnte. Die
mit Fleiß verfaßten Bändchen werden hoffentlich nicht vergeblich an weiteren
Schulen um Einlaß bitten.
Abwechslung in das bisher von Brunos Tour de la France beherrschte Ge-
biet der Lektüre, die Einführung in die Kenntnis von französischem Land und
Leuten erstrebt, möchte M. Pflänzel (No. 6) bringen. Er hat aus dem in Frank-
reich sehr beliebten (schon in mehr als 50 Auflagen vorliegenden) und vom franzö-
sischen Kultusministerium warm empfohlenen Buch „Jean Felber, Histoire
d'une famille alsacienne. La guerre franco-allemande. Excursion ä travers la France.
Descriptions'' des Geschichtsprofessors A. Chalamet einen Auszug mit dem
kürzeren Titel A travers la France herausgeschnitten. Einzelne chauvinistische
Ergüsse, geschichtliche und industrielle Abschweifungen, die für deutsche Jungen
ohne Interesse sind, blieben fort. In dem Umstände, daß Chalamet eine größere
Anzahl von Personen als Bruno zur Verfügung hat und diese durch ganz Frankreich
führt, auch den Krieg mit hinein spielen läßt, mag mancher mit dem Herausgeber
dis Vorzüge des Bändchens erkennen. Das Ganze ist in 38 kurze Kapitel gegliedert;
ob diese wirklich unsere Schüler mehr als Bruno fesseln werden, lasse ich dahin ge-
stellt sein. Viele überflüssige sprachliche Bemerkungen dürften in einer Neu-
auflage schwinden, dafür den bildlichen Darstellungen etwas mehr Liebe zuge-
wandt werden. Das Buch eignet sich in 0 III einer Realanstalt, in jeder Sekunda
als Klassenlektüre oder privatim in O II. — Gleichfalls finden Verwendung auf der
Mittelstufe die drei Ausgaben (No. 7—9): Kriegsgeschichte von 1870, für die immer
neue Autoren herangezogen und entdeckt werden. R o u s s e t Histoire de la guerre
franco-allemande ist hier nicht zum ersten Male bearbeitet. Im Gegensatz zu
dem deutschen Generalstabswerk behandelt er bekanntlich die einzelnen Kriegs-
schauplätze gesondert und verfolgt der Reihe nach das Geschick der verschiedenen
französischen Armeen von ihrem Auftreten bis zu ihrer Vernichtung. So ließen
sich geschickt verschiedene Momente aus solchen Kämpfen (Wissembourg, Froesch-
weiler, Bataille de Sedan, Entrie des Allemands dans Paris u. a.) herausnehmen,
für die unsere Schüler besonderes Interesse haben und die sie auch verstehen können,
ohne das Vorhergehende gelesen zu haben. Überdies orientiert eine knappe Ein-
leitung zu jedem Abschnitt in den (sonst sehr reichlich bemessenen) Anmerkungen
über die Lage. Zeitgemäß ist auch im Schlußkapitel {la guerre sur mer) der Abriß
über die Tätigkeit der beiden Marinen. Manche Abschnitte wirken geradezu
dramatisch, die Sprache ist leicht und elegant und hat — im Vergleich mit anderen
Kriegsdarstellungen — keinen unnötigen Ballast von seltenen Vokabeln. Eine
bedenkliche Seite des Buches darf jedoch nicht verschwiegen werden. Ein nicht
geringer Grad von Chauvinismus beseelt den von glühender Vaterlandsliebe be-
geisterten Franzosen, der unsern Truppen wenig Anerkennung zollt und dem Ge-
Zur französischen Lektüre. 199
danken an Revanche oft Ausdruck verleiht (S. 79 u. 80). Wem jedoch dieser
Umstand von geringerem Gewichte erscheint, dem wird die Lektüre Roussets
mehr Freude machen als die oft langweilig wirkenden, sich wiederholenden
Schlachtenschilderungen bei Chuquet und Genossen. Mehr fesselt überhaupt die
Kriegsgeschichte, wenn sich ihre rein historische Darstellung mit dem Novellistischen
verwebt. So in dem Bändchen (8) aus Zola, das auch in chauvinistischer Be-
ziehung einwandfrei ist. Pariselle hat den Versuch unternommen, La Debäcle unter
möglichster Wahrung seiner Eigenart als eines historischen Romans der deutschen
Schule zugänglich zu machen. Die vom Dichter geschaffenen lebenswahren Ge-
stalten steigern in ganz anderem Maße das Interesse des jugendlichen Lesers für
den verhängnisvollen Marsch, den die Armee von Chälons von Reims nach Sedan
vollführt und für ihre vergebliche Kraftanstrengung, um den durch unsere über-
legene Kriegskunst gebildeten ,yCercle de Fer'' zu sprengen. Die romanhafte Ein-
kleidung bringt manche Unwahrscheinlichkeiten mit sich, mit denen wir nicht
zu rechten haben. Der Anlage der Freytagschen Ausgaben entsprechend ist mit
sachlichen und grammatischen Noten nicht gekargt. Der trefflich ausgewählte
Text, ohne irgendwelche sprachliche Schwierigkeiten, wird in jeder Untersekunda
und als Hauslektüre gute Dienste tun. Dasselbe Lob dürfen wir dem dritten
Kriegsbändchen(No.9) spenden, das ebensowenig diese Epoche in neuer Beleuchtung
erscheinen lassen will. In Les Etapes Douloureuses des Barons V e r 1 y stehen vor
allem, wie schon der Untertitel andeutet, Napoleon III. selbst und die Ereignisse,
an denen er in den letzten Wochen seiner Regierung mittelbar oder unmittelbar
Anteil hatte, im Mittelpunkt. Der Autor hat aus den hier zum ersten Male ver-
öffentlichten Privatbriefen seines Vaters, des Obersten der kaiserlichen Leibwache,
und anderen mündlichen und schriftlichen Berichten von Augenzeugen geschöpft.
Wie der Inhalt, so sind auch Ausdrucksweise und Form reich an willkommener Ab-
wechslung: Briefe, Schilderungen der Ereignisse, oft in Gesprächsform, amtliche
Bekanntmachungen, Stimmungsbilder usw. greifen in anregender Mannigfaltigkeit in-
einander. Gerade dieser Umstand, sowie die klare, anschauliche Sprache und der
sich schriftlichen Klassenarbeiten vorzüglich anpassende Inhalt bewogen uns in
diesem Jahre (191 1) zur Wahl des Bändchens in den Sekunden. Man kann mit dem
Erfolg wohl zufrieden sein; der erheblich gekürzte Text läßt sich in einem Schul-
jahr durcharbeiten. Gehässige Äußerungen sind ausgemerzt, und Veriys Abneigung
gegen unser Vateriand erscheint uns in einem milderen Lichte, wenn wir ihn (z. B.
S. 15) ernst und nachdrucksvoll seine Landsleute zu all den Tugenden ermahnen
sehen, die auch wir unserer Jugend unermüdlich ans Herz legen sollten. Sehr viele
seiner Auseinandersetzungen sind für die heutige Zeit von besonderer Bedeutung.
Weiser Beschränkung befleißigen sich auch die Anmerkungen. — Den besprochenen
Ausgaben für Sekunda mögen hier 2 (allerdings schon ältere) Bändchen angereiht
werden, die nach einstimmigem Urteil mit zu dem Besten gehören, was in den letzten
Jahren für unsere Schullektüre auf den Markt gekommen ist. Es war ein dankens-
wertes Unternehmen von Dr. Haas in der Weidmannschen Sammlung (I, 48)
unter dem Titel: L' Empire 1805—1809: UAllemagne napoleonienne für uns
hochbedeutsame Abschnitte aus der Geschichte des ersten Kaiserreichs zu ver-
öffentlichen, die bisher im französischen Unterricht dem Schüler gar nicht, oder
200 VV. Bohnhardt,
nur durch den parteiischen und leidenschaftlichen L a n f r e y bekannt wurden,
dessen Auffassung und Resultate obendrein durch die wissenschaftliche Forschung
der letzten 30 Jahre eingehende Berichtigung erfahren haben. Die Texte dieser
Ausgabe, die rasch eine zweite Auflage erlebte, sind der Histoire generale von L a -
risse und Rambaud entlehnt, in der objektivere und leidenschaftslosere
Historiker zu Worte kommen, Autoritäten auf ihrem Gebiete. Die gehaltvollen
Abhandlungen sind alle in glänzender, formvollendeter Sprache geschrieben. Der
reiche Stoff läßt sich zu schriftlichen Arbeiten aller Art verwerten. Die Anmer-
kungen der gediegenen, mit Schlachtenskizzen geschmückten Ausgabe sind sorg-
fältig. Die Fortsetzung bildet Bändchen I, 54: L ' E m p i r e 1813—1815: UAlle-
magne anti-napoleonienne. Dort die Periode des succes, hier die Periode des revers.
Diese Kapitel sind für uns von um so höherem Interesse, als in ihnen zugleich ein
fesselndes Bild von der Zeit der Freiheitskriege entworfen wird. Man lese z. B.
im I. Kapitel die besonders reizvolle Würdigung der Tätigkeit und Erfolge unserer
großen preußischen Patrioten im Munde von Ernest Denis, eines nach
objektivem Urteil strebenden Franzosen. Praktisch ist auch der Umstand, daß
jedes der (4 — ^5) Kapitel der beiden Bändchen ein in sich abgeschlossenes Ganze
bildet, das unabhängige Behandlung zuläßt. Mit großer Freude habe ich die Auf-
nahme der Bändchen auf unserm Rheinischen Kanon begrüßt, und ihre Lektüre
brachte nach Absolvierung der neueren Geschichte in Untersekunda derselben
Scbülergeneration von mir im folgenden Jahre viele Anregung. — Die Bändchen
No. 12 bis zum Schluß können nur Anspruch auf Berücksichtigung in Prima machen.
Zuerst zwei neue, mit dem Bilde des Dichters geschmückte M u s s e t -Ausgaben,
da die bei Velhagen und Klasing (Bd. 157) von E. B. Rüssel veröffentlichte,
allein dem dringenden Bedürfnis nicht zu genügen schien. Die mit einem ausführ-
lichen Lebensgang des Dichters (von 21 S.) eingeleitete Ausgabe Bernhardts möchte
auch der Privatlekttire dienen und zur künftigen Beschäftigung (?) mit dem Dichter
anregen. Ganz knapp gehalten ist die I n t r o d u c t i o n bei Wershoven. „Gehört
wirklich ein Bändchen Musset in die Schule?" Ich glaube mit Münch, daß trotz
seiner unvergänglich schönen Lyrik der Dichter auch in Bruchstücken nicht unseren
Primanern zugänglich gemacht zu werden braucht und daß wir mindestens keiner
Sonderausgabe benötigen. Bei der Auswahl des Stoffes verfahren naturgemäß beide
Herausgeber nach gleichen Gesichtspunkten. Die lyrischen Gedichte, z. T. die-
selben, bieten zu Ausstellungen wohl kaum Anlaß. Schwere Bedenken erweckt
jedoch die aufgenommene Prosa. Die stimmungsvolle Momentaufnahme Un
Souper chez Mademoiselle Rachel hat anstößige Stellen: Wershoven S. 37: „IJne
femme qui a un amour infame, mais qui se meurt plutöt que de s'y livrer usw. Kom-
mentar überflüssig! Bei Bernhardt ist diese Stelle glücklicherweise gekürzt. Auch
möchte ich im Mal du Siede (Wersh. S. 30) einen Satz an rheinischen Schulen nicht
lesen. Weiterhin läßt sich in dem Weidmannschen Bändchen die Aufnahme der
Histoire d'un Merk Blanc, an sich eine feine und geistreiche Lektüre, wegen der
dem Schüler völlig fremden Beziehungen zur zeitgenössischen französischen Literatur
(um 1830) und besonders wegen des Verhältnisses von Musset zu G. Sand nicht
befürworten. Endlich zum Theater! Was bezwecken beide Ausgaben mit F a n t a -
s i 0? Soll zugunsten dieses Stückes mit einem unnatürlichen Inhalt, in dem sich
Zur französischen Lektüre. 201
die Jugend durch die tollsten Phantasien über die innere Öde hinwegtäuschen will,
und mit seinem albernen Schluß die Lektüre wertvoller Dramen, für die wir die
mangelnde Zeit vergeblich ersehnen, fortfallen? Also: der Prosaiker und
Dramatiker Musset sind für unsere Schulen abzulehnen. Immerhin würde der
Ausgabe von Bernhardt der Vorrang gebühren. Doch genügen für Schulzwecke
die in E n g w e r s Choix de Poesies frangaises abgedruckten (8) Gedichte völlig.
— Neben der trefflichen Auswahl aus V. Hugo von Oskar Weißenfels (Monat-
schrift VIII, 676) sucht sich die im großen und ganzen zweckentsprechende Ausgabe
von Wershoven (No. 16) Geltung zu verschaffen. Man findet in der Hauptsache
die in den landläufigen Chrestomathien vertretenen Gedichte wieder; auf die Be-
schreibung des mittelalterlichen Paris hätte für unsere Schüler verzichtet werden
können. Die Anmerkungen sind von der bekannten Weitschweifigkeit (sie belehren
einen Primaner über Korsika, Elba, „Shakespeare, der berühmte englische Dichter").
— Zu der „Auswahl aus Rousseau" von Rudolph (Velhagen & Klasing No.
159 B.), die schon an vielen Anstalten sich eingebürgert hat, hat sich diejenige
von Wüllenweber (bei Weidmann) gesellt. Man wird ihr manches Gute nachrühmen
dürfen, so die mit Überlegung zusammengestellten guten Anmerkungen. In der
Bearbeitung des Stoffes gehen beide Ausgaben weit auseinander. Wüllenweber
druckt umfangreiche Stellen aus den Hauptwerken der Reihe nach ab, in denen
jedoch nicht immer das für den Autor und seine Schrift Charakteristische in wün-
schenswerter Weise hervortritt. Einen klareren Begriff von der Gedankenfülle
Rousseaus gewinnt man aus dem Velhagen-Bändchen, das den ganzen Stoff logisch
gruppiert {nature,societe,Etat u. ähnl.) — Von R o u s s e a u zu D i d e r o t ist der
Weg nicht allzuweit. Von seiner Bedeutung als Kunstkritiker wünscht
das Bändchen Diesterweg (15) dem Primaner einen Begriff zu verschaffen. Viel-
leicht hat die Ausgabe von T a i n e , Philosophie de l'art bei Rusl^a (Monatschrift
VIII, 679) L. Petri zur Bearbeitung von D i d e r o t s Essai sur la Peinture, den
bekanntlich Goethe hochschätzte und kommentierte, angeregt. Dürfen wir die
Lektüre dieser Ausgabe nach Form und Inhalt als einen Gewinn für reifere Schüler
betrachten? Die Beschreibung der vier Bilder (dazu die nötigen Abbildungen
im Beiheft) bietet sprachlich keine Schwierigkeiten und wird am Ende auch fesseln.
Anders urteile ich über den eigentlichen Essai. Zu seinem Verständnis hätte auch
nach der Meinung anderer Fachgenossen (z. B. N. Spr. 18, 112) mehr unerläßlich
notwendiges und zwar farbiges Anschauungsmaterial herangezogen werden müssen.
Manche Behauptungen Diderots haben heute ihre Gültigkeit verloren; für viele
seltene Vokabeln und technische Ausdrücke, die die Präparation aufhalten, hat der
Schüler im Aufsatz oder sonst keine Verwendung. Die recht anstößige Stelle (S. 36,
22): „Une femme garde-t-elle le meme teint dans Vattente du plaisir, dans les bras
du plaisir, au sortir de ses bras7' hat wohl mit dazu beigetragen, daß fürs erste
der Ausgabe kein Platz auf dem Rheinischen Lektürekanon eingeräumt worden ist.
Die annotations lassen ab und zu im Stich (zu S. 20, 9; 21,1). —
In den folgenden drei Ausgaben wird selbst einem tüchtigen Oberprimaner
recht schwere geistige Kost vorgesetzt und an das Wissen und Können des Lehrers
hohe Anforderungen gestellt. Die Stoffe aus der Geschichtederfranzö-
sischen Revolution, die dem Gesichtskreis deutscher Schüler zu fern
202 W. Bohnhardt,
liegen, verlangen vorher eine Einführung in die eigentliche Geschichte
selbst an der Hand eines zweiten Bändchens. Dazu fehlt die Zeit; wann und wo
soll zweimal derselbe Stoff traktiert werden? Der schöne Auszug aus der großzügigen
Geschichtsphilosophie von Alexis de Tocqueville, der weit umfassender
und tiefer ist als Guizot, setzt eine bei dem Primaner nicht zu erwartende geistige
Reife voraus. Trotzdem soll hie und da der Versuch der Einführung gemacht
worden sein, über dessen Erfolg noch nichts verlautet. Jedenfalls war die tüchtige
Leistung Andres würdig der Aufnahme in unsern Kanon. — Die Auswahl aus
A u 1 a r d (18) berücksichtigt hauptsächlich die innerpolitische Geschichte
Frankreichs in ihren Einzelheiten bis zum 9. Thermidor. Um einen Einblick auch
in die ä u ß e r e n Geschehnisse dem Schüler zu gewähren, die nur soweit berührt
werden als sie für jene von Bedeutung sind, schlägt der Herausgeber selbst eine
„ergänzende Lektüre" (Bändchen 147 der Prosateurs frangais bei Velhagen und
Klasing) vor. Dieser Vorschlag bedarf keiner Erörterung. Die Lektüre der i n n e r e n
Geschichte Frankreichs wird, so fürchte ich, nicht den Eindruck bei unseren jungen
Leuten von 18 — 19 Jahren erwecken, den sich Kalbfleisch verspricht. Die aus-
führlich behandelten Fragen über Wahlrecht, Verfassung u. a. dienen auch kaum als
Mittel zur Einführung in deutsche Staatskunde. Gewiß ist Aulard heute in Frankreich
der beste Kenner der ganzen Epoche, aber viele werden nicht mit der Richtung
dieses Gelehrten — des leidenschaftlichen Gegners aller Religion — sympathisieren,
die nur wenige Schritte von der kritiklosen Verherrlichung getrennt ist, die die
Generation eines Michelet und eines Lamartine der Revolution widmete. — Zu dem
bei Tocqueville und Aulard angeführten Grunde (fernliegender Stoff) kommen
noch einige andere, die es verbieten, für N o d i e r: Souvenirs de la Rivolution et
de VEmpire eine Lanze zu brechen. Soll ein ganzes Semester vergeudet werden
(der Ausdruck ist kaum zu hart) mit der Durcharbeitung von Abschnitten wie
Euloge Schneider, Real, des trockenen Kapitels (5) Reaction Thermidorienne, wo
wir es immer wieder bedauern, daß wir in den paar französischen Lektürestunden
so viele edle und bildungsreiche Stoffe unserer Jugend vorenthalten müssen?
Daß in der Auswahl auch einige Stücke (P i c h e g r u , Ch. C o r d a y) lesenswert
sind, sei gerne zugestanden. Und endlich! Unsere Primaner sollen in diese gewal-
tige Epoche an der Hand der großen Historiker eingeführt werden, nicht
durch Romantiker zweiten oder dritten Ranges, durch den weitschweifigen,
häufig kritiklosen Nodier. Brauchen in den Anmerkungen dem Leser eines solchen
Buches, das gründliche Kenntnis der Zeit und Menschen voraussetzt, Kari Moor
oderCicero vorgestellt zu werden? — Und nun zum Schluß dieOstergabe von 1911,
ein wohl zu beachtendes Bändchen (20.) Bernhard Völcker schlägt gerne neue
Bahnen ein, wie schon seine G o b i n e a u -Ausgabe (Monatschrift VIII, 684)
bekundet. In der richtigen Erkenntnis, daß, wenn wir dem Geschichtsunterricht
neue Ziele für die Gegenwart stellen, wir zugleich die Lektüre nach den neuen
Gesichtspunkten orientieren müssen, will er Verständnis für die politischen Fragen
der Vergangenheit und Gegenwart, an deren Lösung der Schüler später als Mann
mitwirken soll, wecken durch seinen Auszug aus Gabriel Hanotaux Histoire
de la France contemporaine. Dieses Werk hat bekanntlich wegen seiner klaren,
leichten und lebendigen Sprache, seines objektivem, auf gewissenhafter Benutzung
Zur französischen Lektüre. 203
eines reichen Quellenmaterials beruhenden Inhalts (darin z. B. auch rückhaltlose
Anerkennung der großen Eigenschaften unserer Nation und ihrer Führer) un-
geteilten Beifall gefunden. Völcker versucht, dem deutschen Schüler in den 7 Ka-
piteln, die einen Einblick in eine der schwierigsten Perioden Frankreichs gestatten,
zugleich die für jene Zeit und noch für die Gegenwart entscheidenden charak-
teristischen Momente zum Bewußtsein zu bringen. Die mit feiner Überlegung
getroffene Auswahl aus den 4 Bänden wird ihm nicht leicht geworden sein. Was
er bietet, ist stets lehrreich, meist auch interessant; so die Kapitel: Vers la libiration;
la liberation du territoire; la (Emission de Tfiiers. Ich verspreche mir von der Lektüre
dieses mit vieler Liebe und Sorgfalt zusammengestellten Bändchens — soweit
man theoretisch ein Urteil abgeben kann — für Realoberprimaner inhaltlich und
sprachlich bedeutsamen Gewinn. Der Ausgabe*) sind beigegeben eine biographische
und eine geschichtliche Einleitung, eine praktische Zeittafel. Die ausführlichen
Anmerkungen sind dieses Mal angebracht.
2. Hauslektüre.
1. Hollardy Henriette, Pauvre Gar^on. Für den Schulgebrauch bear-
beitet von August Eckermann. Leipzig 1909. Rengersche Buchhandlung. Franzö-
sische und englische Schulbibliothek, Band 158. VI u. 114 S. geb. 1,60 M.
2. Laude, Andre, Le capitaine Trafalgar. Für den Schulgebrauch
bearbeitet und erklärt von Benno Diederich. Leipzig 1908. Rengersche Buch-
handlung. Französische und englische Schulbibliothek, Band 157. VI u. 108 S.
geb. 1,20 M.
3. Ferry, Gabriel, Vier Erzählungen. Für den Schulgebrauch heraus-
gegeben und erklärt von J. Peronne. 2. Aufl. Berlin 1908. Weidmannsche Buch-
handlung. Schulbibliothek franz. und engl. Prosaschriften, Band ^8. VI u. 112 S.
(Dazu gesondertes Wörterbuch 0,50 M.) geb. 1,20 M.
> 4. Au bruit du canon, Recits etNouvelles (1793 — 1815) annotes par
A. et Ch. Robert-Dumas. Frankfurt a. Main 1909. Diesterwegs Neusprachliche
Reformausgaben, Band 6. VIII u. 52 S. (Annotations in Sonderheft 54 S.)
geb. 1,20 M.
5. L'Annee terrible. Morceaux choisis et annotes en collaboration avec A.
Sturmfels par H. Cointot. Avec quatre gravures et une carte. Leipzig et Berlin
1910. B. G.Teubner. (CoUectionTeubner publice ä l'usage de l'enseignement secon-
daire par F. Doerr et L. Petry), Bd. 7. IV u. 118 S. (Notes in Sonderheft 52 S.)
geb. 1,60 M.
' 6. Maupassant, Guy de, Contes etNouvelles. (T^ Recueil) annotes
par Charles Robert-Dumas. Frankfurt a. Main o. J. Diesterwegs Neusprachliche
Reformausgaben, Band 12. XV u. 56 S. (Annotations in Sonderheft 35 S.)
geb. 1,40 M.
7. Derselbe: IV""" Recueil. 1910. Band 15. XIV u. 67 S. (Annotations in
Sonderheft 36 S.) geb. 1,40 M.
*) Sie hat inzwischen die Anerkennung des Rhein. Prov.-Schulkollegiums gefunden.
204 W. Bohnhardt,
8. Balzac, Honor6 de, Trois Nouvelles. Prec^dees d'une etude sur la
vie et les oeuvres de Tauteur et annotees par Charles Robert-Dumas. Frankfurt
a. Main 1909. Diesterwegs Neusprachliche Reformausgaben, Band 11. XXXIII
u. 60 S. (Annotations in Sonderheft 44 S.) geb. 1,60 M.
9. Chätelain, A., Ausgewählte Erzählungen. Für den Schul-
gebrauch erklärt von K. Sachs. Berlin u. Glogau 1908. Carl Flemming. Englische
und französische Schulschriftsteller der neueren Zeit. Bändchen 49. Ausgabe A.
VII u. 74 S. geb. 1,30 M.
10. Stael, Madarr.e de, Auswahl aus ihren Schriften. Erklärt
von H. Quayzin. Berlin 1907. Weidmannsche Buchhandlung. V u. 210 S. (Sonder-
heft mit Anmerkungen in Falte 34 S.) geb. 2, 20 M.
1 1 . France, Anatole, Pages choisies. Herausgegeben von J. F. Le Bourgeois.
Mit einem Plane von Paris. Berlin 1908. Weidmannsche Buchhandlung. Band 59
der Schulbibliothek französischer und englischer Prosaschriften. XII u. 210 S.
geb. 2,20 M.
Bei den Vorschlägen für die Klassenlektüre war immer das Hauptaugenmerk
auf ernsten und gediegenen Inhalt gerichtet worden; daher schien es geboten,
viele der neuesten Erscheinungen (manche in wirklich guten Ausgaben) aus der
immer mehr anschwellenden Flut moderner Erzählungen wegen ihrer geringen
literarischen Qualitäten der Privatlektüre zuzuweisen. Dabei fanden sich einzelne
Stoffe, gegen die man sich grundsätzlich ablehnend verhalten muß. Andererseits
möchten sich auch die jüngsten literarischen Größen Frankreichs, Meister in der
Kunst der Darstellung und originell in ihren Ideen und Erfindungen, Geltung
in der Schule verschaffen. Die knappe Zeit erlaubt nur ihr Auftreten in Gastrollen.
Doch kann der Schüler seinem Geschmacke folgend unter Anleitung eines fein-
sinnigen Lehrers durch gründliche Lektüre zu Hause mit ihnen in ein engeres
Verhältnis treten. Fast überall aber verdient der richtige Standpunkt der meisten
Herausgeber, das wirklich Lebendige, das der Gegenwart Entsprossene, möglichst
in der allermodernsten Sprache Verfaßtes sofort unserer Schule zugänglich machen
zu wollen, Anerkennung. — In Pauvre Gargon (1) schildert Henriette
H 0 1 1 a r d in klarer und gefälliger Sprache die Erlebnisse eines vornehm denken-
den, begeisterungsfähigen collegien und späteren Seekadetten, der von seinem 13. bis
18. Jahre viel Trübes erlebt. Nach Ausbruch des Krieges tritt er in das Landheer
ein und stirbt den Heldentod vor Paris. Der letzte Teil, der in anschaulichen Bildern
die Belagerung vorführt, ist unstreitig der beste. Den Kriegsschauplatz und die
Umgebung der Hauptstadt illustrieren zwei Kärtchen. Der Ton der fesselnden
Erzählung ist nach meinem Empfinden gar zu weichlich und larmoyant für unsere
Sekundaner. Nur stillen, beschaulichen Gemütern unter ihnen wird das Bändchen
in Mußestunden zusagen, das sich aber für Mädchenschulen vorzüglich eignet. —
Vergebliches Bemühen, bei dem Vielschreiber A n d r 6 L a u r i e (2) literarische
Vorzüge suchen zu wollen. Flott geschrieben ist aber dieser Abenteuerroman
Le Capitaine Trafalgar, der stark an Jules Verne oder A. Dumas erinnert. Bis
zum Ende steigert er auch des Erwachsenen Spannung und entbehrt obendrein
durch einige köstlich gezeichnete komische Nebenfiguren nicht des humoristischen
Beigeschmacks. Aber das gewünschte Bildungsmittel für Obertertianer oder
Zur französischen Lektüre. 205
Untersekundaner während eines ganzen Semesters ist er nicht. Unbedenklich
jedoch kann man ihn zum Privatvergnügen Schülern von Realanstalten in die
Hand drücken, um so mehr, als er sich bequem zu Sprechübungen ausschlachten
läßt. — Auf dieselbe Stufe (0 11) gehören die „Vier Erzählungen** Gabriel
F e r r y s (Weidmann). Sie sind eine Privatlektüre, die durch ihren höchst packenden
Inhalt auch zugleich die leichtere Aneignung der fremdsprachlichen Form vermittelt.
Wir hören von den großen Kämpfen, die im Jahre 1810 für die Unabhängigkeit
Mexikos vom spanischen Joch begannen. Lebensvoll treten uns Land und Leute
entgegen, denen der Verfasser durch längeren Aufenthalt vertraut wurde. Trotz
des südländischen Milieus ein verhältnismäßig einfacher Wort- und Phrasen-
schatz; die Anmerkungen sind auf ein bescheidenes Maß beschränkt. Wird sich
jemand daran stoßen, daß die Geschichten nichts zur Einführung in das franzö-
sische Volkstum beitragen?
Die Sammelbändchen Au bruit du canon (Diesterweg) und L' a n n e e
t e r r i b 1 e (Teubner) fassen äußerlich unter einem gemeinsamen Titel mehrere
Erzählungen aus der Zeit der Revolution und Napoleons sowie des deutsch-
französischen Krieges zusammen. In beiden entdeckt man inhaltlich wenig
Bedeutendes. Bei Diesterweg die Jugendgeschichte des General Hoche, die
bekannten Stücke V EnLvement de la Redoute von M e r i m e e und Waterloo
von Stendhal. Am beachtenswertesten scheint die letzte Nummer:
VEnvers de la öloire von E. S o u v e s t r e. In der Ausgabe Teubner treffen
wir alte Bekannte wieder: Novellen von Daudet, Maupassant,
C 0 p p e e (La Veillee), aber nicht erstklassige. Am meisten gefällt wegen der
unvergleichlichen Schilderung der Örtlichkeit und der Personen Z o 1 a s ['Attaque
da moülin. Getrost können auch die teilweise läppischen Kriegslieder fortbleiben.
Geradezu abstoßend wirkt Maupassant mit seiner albernen Karikatur
der deutschen Soldaten (S. 88). Den gleichen Vorwurf muß ich 'gegen desselben
Autors Contes et Nouvelles I (Diesterweg) erheben. Ist es mit unserer nationalen
Würde vereinbar, der Jugend Novellen vorzulegen wie Vaventme de Walter
Schnciffs (!!), in der wiederum unsere braven Krieger als feige, gefräßig (S. 10, 16)
hingestellt und verhöhnt werden? Trauriger Bildungsstoff! Auf die überall (auch
bei Teubner) sich breit machende M,re Sauvage kann man gern verzichten, des-
gleichen auf Erzählungen, in denen verschlagene Personen durch verwerfliche
Mittel ihren Zweck erreichen. Wer unbedingt Maupassant lesen will, greife zu dem
Band II, der empfehlenswerter scheint. Gehaltvoller, gedankenreicher sind
die drei Novellen Balzacs (Diesterweg), eine treffliche, aber schwere Lektüre
für Oberprimaner. In der Legende „Christus in Flandern**, in der der feste Glaube,
die wahre und schlichte Frömmigkeit der Armen und Enterbten dem Egoismus
der Reichen und Mächtigen entgegengehalten wird, in der Schilderung des tra-
gischen Geschickes des alten flämischen Malers, den Verzweiflung über sein un-
zulängliches Können zum Selbstmord treibt, bekunden sich des Schriftstellers
bewunderungswürdige Menschenkenntnis und seine großartige Darstellungskunst.
Am leichtesten verständlich wird unseren Schülern die dramatisch wirkende Episode
aus den Kämpfen der großen Armee an der Beresina. Erhebliche Schwierigkeiten
sind stilistisch oft zu überwinden; die undurchsichtigen Perioden sind für die Stil-
206 E. Dennert,
bildung im Hinblick auf den französischen Aufsatz ein wenig erwünschtes Muster.
Also: Privatlektüre nur für eine tüchtige Prima, aber das geistige Niveau selbst
einer solchen hat der Herausgeber mit seiner Etüde sur Balzac (33 Seiten) ganz
aus den Augen verloren. — Mit der Bearbeitung der „Ausgewählten Erzählungen**
des tiefempfindenden Schweizer Arztes C h ä t e I a i n hat unser Nestor Karl Sachs,
so sehen wir mit einer gewissen Rührung, sein reiches Lebenswerk beschlossen.
Die ersten acht contes (in einfachem, aber gefälligem Stil) bringen nicht gerade
bedeutenden Inhalt, geben aber viele schöne Gedanken und sinnige Beobachtungen
über den Ernst des Lebens wieder. Anziehend ist, gleichsam als ein Bild der guten
alten Zeit, die Beschreibung einer Besteigung des Vesuvs um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts. Das Bändchen kann in der Obersekunda von Realanstalten gelesen
werden. — Zum Schluß genügt ein kurzer Hinweis auf zwei für Primaner be-
rechnete Ausgaben (Weidmann). Sie als Semesterlektüre vorzuschlagen, verbietet
die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit. Die Auswahl aus den Schriften
der Madame deStael umfaßt nicht weniger als 210 Seiten Text. Aus ihnen
können nur wenige Teile, vornehmlich aus De VAllemagne im Anschluß an Kapitel
aus der Literaturgeschichte, gelesen oder für Vorträge herausgegriffen werden.
Daß die aus Corinne und Delphine gewählten Proben nicht immer das Charakte-
ristische dieser Romane erkennen lassen, wird behauptet. Die Anlage der Ausgabe
ist etwas eigentümlich. Die jedenfalls nur für Lehrer bestimmte Einleitung über
Leben und Werke der Schriftstellerin (35 S.) ist deutsch verfaßt, an der Spitze der
einzelnen Abschnitte stehen französische Überschriften. Ist dieses Deutsch selbst,
dem in Ausdruck und Satzbau vielfach Gewalt angetan wird (für Schüler daher nicht
besonders empfehlenswert), etwa ein Produkt der Übersetzung? Endlich erwartet
man in einem Buche für reifere Leser keine elementaren, historischen und geogra-
phischen Anmerkungen über Moskau, die Neva, den Frieden von Tilsit. Dieselbe
Bemerkung gilt auch von den grammatischen Erklärungen in den Pages choisies
ausAnatoleFrance. Sonst aber liegt hier eine gute, mit vieler Überlegung
und gründlicher Kenntnis des Autors zusammengestellte Ausgabe vor. Von der
Eigenart dieser gegenwärtigen literarischen Berühmtheit Frankreichs, die ein vollen-
deter Meister der Form ist und über eine glänzende Phantasie verfügt, erhalten
wir zweifelsohne ein klares Bild. Wann und wo jedoch bietet sich die Gelegenheit,
nur einen bescheidenen Teil des 159 Seiten füllenden Textes zu behandeln? Daß
unsere Primaner Anatole France näher treten, ist höchst wünschenswert. Nur
muß ihnen bei der Lektüre ein Lehrer zur Seite stehen, der selbst den Schriftsteller
liebt und versteht.
Düsseldorf. W. Bohnhardt.
Populäre naturwissenschaftliche Literatur.
Von populären naturwissenschaftlichen Zeitschriften
haben wir heute eine ganze Reihe. Da sind zunächst die Zeitschriften dreier großer
Organisationen zu nennen; die älteste ist der Kosmos (Stuttgart, Franckhesche
Buchhandlung, jährlich mit Buchbeilagen 4,80 M.), sie ist von den zu nennenden
wohl die am volkstümlichsten gehaltene, aber deshalb auch am wenigsten in die
Populäre naturwissenschaftliche Literatur. 207
Tiefe gehende, in meist kurzen, gut illustrierten Aufsätzen aus allen Gebieten,
sucht sie ihre Leser über die Dinge der Natur zu unterrichten. Ihren monistischen
Standpunkt hat sie in letzter Zeit wohl etwas revidiert, was nur zu begrüßen ist,
dagegen wird seitdem vielfach geklagt, daß sie langweiliger geworden sei. Jeden-
falls wird sie geschickt redigiert. — Vor I14 Jahren hat sich vom Kosmos infolge
eines recht unerquicklichen Streits (in Teil der Mitarbeiter abgetrennt und eine
neue „Gesellschaft" gegründet, die nunmehr auch eine Zeitschrift „Die Natur"
(Leipzig, Th. Thomas, jährlich mit Buchbeilagen 6 M.) herausgibt. Dieselbe hat
einen mehr wissenschaftlichen Charakter und steht auf dem Boden des Monismus
und der Entwicklungslehre. Sie besitzt eine Reihe tüchtiger Mitarbeiter. — Der
„Keplerbund zur Förderung der Naturerkenntnis" gibt
seit 3 Jahren ebenfalls eine Zeitschrift heraus „U n s r e Welt" (Godesberg,
Naturwiss. Verlag, jährlich 4,80 M., für Mitglieder des Bundes gratis), welche im
populär-wissenschaftlichen Ton Fragen aus allen naturwissenschaftlichen Gebieten
behandelt, als besondere Abteilungen bringt sie „Aus der Welt des Mikroskops",
sowie naturphilosophische Aufsätze. Daneben gibt der Keplerbund noch eine
kleine Monatsschrift „Für Naturfreunde" (Godesberg, Naturwiss. Ver-
lag, jährlich 1,20 M.) heraus, welche namentlich für die Jugend berechnet ist und
ihren Zweck vorzüglich erfüllt. Sie kann, wenn sie in der Hand der Schüler ist,
dem Lehrer sehr gut zur Vertiefung des Unterrichts dienen. — Endlich sei noch
auf die Monatsschrift „Aus der Natur" hingewiesen (Leipzig, Quelle u.
Meyer, jähriich 8 M.). Diese Zeitschrift setzt mehr als die bisher genannten vor-
aus und wird daher besonders Naturwissenschaftlern dienen, die sich weiter fort-
bilden wollen.
Groß ist die Zahl der populären Broschüren aus allen Gebieten
der Natur. Sowohl der „Kosmos" als auch „Die Natur" geben solche heraus,
ebenso auch der Keplerbund, und zwar liegen von diesem 2 Serien vor: „Natur-
wissenschaftliche Zeitfrage n", die etwas mehr voraussetzen, und
„Naturstudie n", die in kleinen Heften (ä 20 Pf.) mannigfache Fragen be-
handeln und auch wieder ganz besonders der lernenden Jugend (aber auch Er-
wachsenen) dienen sollen (z, B. „Wer singt da?", „Der Mensch der Eiszeit", „Die
Fahrzeuge der Motor-Luftschiffahrt" usw.). — Eine sehr brauchbare Sammlung
gibt K. Lampert unter dem Titel „Naturwissenschaftlicher
Wegweiser" heraus (Stuttgart, Strecker & Schröder), dieselbe enthält in
2 Serien größere und kleinere Broschüren (ä 2 M. bzw. 1 M.), welche einzelne Grup-
pen von Lebewesen oder einzelne naturwissenschaftliche Fragen behandeln, aber
auch Dinge der praktischen Naturliebhaberei. — Ähnlich ist die „Natur-
wissenschaftliche Bibliothek" von K. H ö 1 1 e r und G.Ulm er
herausgegeben (Leipzig, Quelle & Meyer, pro Band geb. 1,80 M.). Die in der
Sprache einfachen Bändchen behandeln allgemeine Fragen (z. B. Büsgen, Der
deutsche Wald; Schwanter, Aus Deutschlands Urzeit usw.) oder auch praktische
(z. B. Heller, Das Aquarium). — Von sonstigen populären naturwissenschaftlichen
Büchern seien hier nur noch die prächtigen „Naturstudien von K.
K r a e p e 1 i n genannt (Leipzig, B. G. Teubner, 3,60 M.), von denen ein neuer
Band „Naturstudien in fernen Zonen" voriiegt, sie sind in Ge-
208 F. Giese, Der Beamtencharakter der Direktoren usw., angez. von Irmer.
sprächsform gehalten, M. Bach, „Studien und Lesefrüchte aus
dem Buche der Natur" (Köln, Bachern), das Professor Dr. Borgas
in vorzüglicher Weise umgearbeitet hat nach dem neuen Stand der Wissenschaft,
sowie endlich noch W. Pfalz, „Naturgeschichte für die Groß-
stadt** (Leipzig, B. G. Teubner, 2 Bde. ä 3 M.), ein gutes Buch, der 2. Band
behandelt Aquarien, Gärten, Anlagen.
Godesberg. E. D e n n e r t.
b) Einzelbesprechungen:
Giese, Friedrich, Der Beamtencharakter der Direktoren und
Oberlehrer an den nicht vom Staate unterhaltenen
höheren Lehranstalten in Preußen. 2. Aufl. Leipzig und
Dresden 1912. CA. Kochs Verlagsbuchhandlung (G. Ehlers). II u. 108 S.
8«. 1,50 M.
Der Verfasser behandelt die Frage, welchen staatsrechtlichen Charakter die
Oberlehrer und Direktoren an den sogenannten nichtstaatlichen Anstalten, d. i.
an den nicht vom Staate unterhaltenen Anstalten, haben, ob sie mittelbare oder un-
mittelbare Staatsbeamte seien. Nach einer kurzen Darstellung der äußeren Ent-
wicklung der Streitfrage behandelt er den Rechtsstoff und seine bisherige Wertung
in der Verwaltungspraxis, der Rechtsprechung und der Literatur. Darnach prüft
er die gesetzliche Grundlage, gibt die Unterschiede zwischen unmittelbaren und
mittelbaren Staatsbeamten an, um dann die Unterscheidungsmerkmale zwischen
beiden Beamtengruppen im einzelnen zu prüfen. Er gelangt zu dem Ergebnis,
daß für den Beamtencharakter allein die Art der Dienstfunktion ausschlaggebend
sei. Da nun nach preußischem Staatsrecht die sogenannten nichtstaatlichen Ober-
lehrer reine Staatsangelegenheiten erfüllten, so seien alle Oberlehrer, auch die an
den nicht vom Staate unterhaltenen höheren Lehranstalten, als unmittelbare
Staatsbeamte zu bezeichnen.
Die Arbeit behandelt eine neuerdings viel erörterte Frage und wird vor allem
in den Kreisen der „nichtstaatlichen" Oberlehrer Beifall finden. In klarer Weise
führt der Verfasser seine Ausführungen zu seinem Ziele. Der Schwerpunkt der
Beweisführung liegt vor allem in den beiden Sätzen, daß allein die Dienstfunktion
den Beamtencharakter bezeichne, und daß der Begriff des mittelbaren Staats-
beamten mit dem Begriffe des Gemeindebeamten identisch S:^i. Die Verwaltungs-
praxis vertritt die entgegengesetzte Ansicht, daß jene Oberlehrer den Charakter
mittelbarer Staatsbeamten hätten. Daß die Giesesche Schrift diese Meinung wider-
legt hat, können wir noch nicht sagen; es bleiben auch jetzt noch ungelöste Fragen,
so z. B.die, ob nicht mehrere Funktionen zusammen, nicht bloß die Dienstfunktionen
ganz allein, den Beamtencharakter bezeichnen, ob nicht ferner neben die Kommunal-
beamten im Sinne der Kommunalgesetze infolge einer selbständigen Rechtsent-
wicklung auch eine besonders geartete Beamtengruppe getreten sei, ob nicht eine
Aufteilung der Funktionen des Dienstherrn zwischen Staat und Kommune möglich
ist und stattgefunden hat. Gern hätten wir auf diese und andere Fragen noch
Antwort. Trotz allem ist die Schrift als ein äußerst wertvoller Beitrag zu dieser,
allerdings mehr theoretischen Frage zu begrüßen.
Cassel. Irmer.
Wielands gesammelte Schriften, angez. von A. Matthias. 209"
Wielands gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Deutschen Kommission
der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften. I. Abteilung: Werke.
7. Band. Verserzählungen, Gedichte und Prosaschriften. Herausgegeben von
Siegfried Mauermann. Berlin 1911. Weidmannsche Buchhandlung.,
484 S. 9M.
Jahrgang VHI S. 395, Jahrgang X S. 117 u. 549 dieser Monatschrift sind
die ersten 6 Bände von Wielands gesammelten Schriften besprochen. Es folgt
jetzt der 7. Band, der abgesehen von kleineren Stücken Aspasia oder die platonische
Liebe, das romantische Gedicht Idris und Zenide, vor allem aber die Verserzähiung
Musarion, der Wieland seine schriftstellerische Berühmtheit verdankte, den Nach-
laß des Diogenes von Sinope und die Beiträge zur geheimen Geschichte derMensch-
heit bringt. Es ist erfreulich, daß diese Wielandausgabe so rasch vorschreitet,
und man kann nur wünschen, daß dem großen Werke fernerhin die Arbeitskraft
seiner Mitarbeiter erhalten bleibt.
Goldene Klassiker-Bibliothek. Homers Werke in zwei Teilen. Über-
setzt von Johann Heinrich Voß. Mit Einleitung, Anmerkungen, Namenregister
und einer Darstellung der Homerischen Welt. Herausgegeben von Eduard
Stemplinger. XLVIII u, 406 S. u. 569 S. In 2 Leinenbänden. 4M.
Berlin, Leipzig, Wien und Stuttgart. Deutsches Verlagshaus Bong & Co.
Zum ersten Male erscheint hier ein vollständiges Sammelwerk über Homer,
wie es in deutscher Sprache bisher noch nicht vorliegt. — Für alle Schulen jeder
Art, für jeden Studierenden und für jeden Gebildeten eine höchst willkommene
Gabe.
Es ist in dem Werke eigentlich alles enthalten, was man zum Verständnis
Homers, der Homerischen Dichtung, ihrer Geschichte und fhrer Wirkung
in der Kultur nötig hat. In einer eingehenden Einleitung erhalten wir
die Entstehungsgeschichte der Homerischen Werke und die wichtigsten wissen-
schaftlichen Probleme, die sich an die Homerische Dichtung anschließen.
Ferner wird die Kunst Homers zur Darstellung gebracht und ihr Einfluß auf alle
Folgezeit. Der zweite Teil der Einleitung gibt eine Geschichte der Homerüber-
setzungen, eine Würdigung der Vossischen Übertragung und eine Vergleichung
mit sonstigen Versuchen. Am Schlüsse des Werkes bringt uns der Verfasser eine muster-
hafte, auf gediegenen Studien beruhende systematische Darstellung der Home-
rischen Welt, die über Glauben, Naturanschauung, Staatseinrichtungen, Familie
und häusliches Leben der Homerischen Griechen uns unterrichtet. Dazu kommt
dann noch eine Fülle von sachlichen Anmerkungen und dankenswerte ausführliche
Register.
Aus diesen Angaben mag man erkennen, welcher Reichtum von Belehrung
und Anregung in dem Buche enthalten ist. Es ist ein Zeugnis dafür, daß unsere
Zeit, in der nicht mehr ein jeder die Kenntnis der alten Sprachen sich zu ver-
schaffen Gelegenheit hat, doch das Bedürfnis nach der Kenntnis der Antike
sich bewahrt hat, ja dieses Bedürfnis noch in weitere Kreise zu tragen be-
müht ist.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 14
210 O. Hoff man, Geschichte der griechischen Sprache,
Daß Ausstattung, Druck und Einband gediegen und geschmackvoll sind, versteht
sich bei der Goldenen Klassiker-Bibliothek von selbst. Willkommene Beilagen
bilden die Reproduktion aus dem Mailänder Bilderkodex und ein Porträt des Über-
setzers J. H. Voß. Zu bemerken ist noch, daß der Herausgeber mit richtigem Blick
die Übersetzung nach den Erstausgaben gebracht hat, in denen die späteren stören-
den Seltsamkeiten noch fehlen.
Berlin. A. M a 1 1 h i a s.
Hoffman, Otto, Geschichte der griechischen Sprache, I. Bis zum
Ausgange der klassischen Zeit. Sammlung Göschen, Leipzig 1911. 159 S. ki. S^.
In Leinenband 0,80 M.
Die Sammlung Göschen hat uns schon manches treffliche Bändchen geliefert,
hier ist sie um eine bedeutungsvolle Einzelerscheinung bereichert worden. Der
Verfasser ist auf dem Gebiete der griechischen Sprach- und Dialektforschung
schon rühmlich bekannt durch seine Schriften: De mixtis Graecae linguae dialectis
(1888), 3 Bände über Griechische Dialekte (1891—98) und die Makedonen, ihre
Sprache und ihr Volkstum (1906). ,,In engem Rahmen, auf streng wissenschaft-
licher Grundlage und unter Berücksichtigung des neuesten Standes der Forschung
bearbeitet, soll jedes Bändchen in klarer, leichtverständlicher Darstellung zu-
verlässige Belehrung bieten." Diese Bedingungen erfüllt das vorliegende in vollem
Maße.
Der erste Teil, „Die Frühzeit", schildert uns, wie das Griechische die Balkan-
halbinsel erobert, dabei von den vorgriechischen Sprachen, besonders den Pelasgern
und Lelegern (s.S. 14 über dadiiiv^oc), vielleicht auch von Semiten (s. S. 17 über
/iTtüv) beeinflußt wird, dann die drei Spracheinheiten des Jonischen, Achäischen
und Dorischen sich bilden, durch die Wanderungen der Volksstämme sich ausbreiten
und mit einander mischen. Auch wird der Einfluß der Illyrier und Thraker sowie
die Bedeutung der achäischen Makedonen kurz besprochen. Der zweite Teil, „Die
klassische Zeit", schildert zunächst den Charakter dieser neuen Sprachperiode,
die Umgangs- und Schriftsprache, die Volkssprache, die Staats- und Gemeinsprache
und verfolgt dann die Geschichte der verschiedenen Literatursprachen von Homer
an bis zur attischen Prosa. Zwei Register, nämlich 1. ein Namen- und Sachregister
und 2. ein grammatisches Register sind am Schluß beigefügt, dem sich noch als
drittes eine Zusammenstellung bemerkenswerter Worte anschließt. Dieses letzte
dürfte noch etwas vollständiger sein.
Beachtenswert ist der Abschnitt über die Quellen der ältesten (prähistorischen)
Sprachgeschichte, für die sich ergänzen müssen die volkstümliche Überlieferung
von den Ereignissen der Vorzeit und die kleinen Bausteine der ältesten Inschriften,
aus denen die Kritik den Bau der ältesten griechischen Sprachgeschichte mühsam
zusammenfügt (S. 7). Für die klassische Zeit bilden sichere Quellen die Inschriften,
die Literaturwerke und die Beobachtungen, welche die alten Grammatiker und Dialekt-
forscher an der lebenden Sprache ihrer Zeit machten (S. 55). Aber wie schwer ist
es oft, festzustellen, was der Schriftsteller wirklich geschrieben und inwieweit durch
spätere Abschriften die Sprachformen verändert worden sind!
angez. von Fr. Heußner. 211
Während in größerem Druck besonders die wichtigsten Eigentümlichkeiten
der drei DiaJektgruppen zusammengestellt, dann im zweiten Teil die sprachlichen
Formen vorgeführt werden, in denen sich die Eigenart der Literaturgattung und der
einzelnen Persönlichkeit ausprägt, wird in kleinerem Druck das einzelne erläutert
und erwiesen in einer Menge sorgfältig zusammengestellter Formen unter Nach-
weis der Stellen, wo sie sich finden. Am Schluß jedes Abschnittes steht in demselben
Druck ein Verzeichnis der Literatur über denselben. Der noch kleinere Druck der
Register ist für empfindliche Augen freilich ein schlimmes Augenpulver. Aber das
handliche Format des Büchleins macht es zu einem bequemen Vademekum auf
Spaziergängen und Touren, wo sich der Studiosus oder Lehrer bei gegebenen Ruhe-
punkten in gar angenehmer Weise in den einen oder anderen Abschnitt vertiefen
kann.
Unter der Literatur nehmen immer noch einen Ehrenplatz ein die Arbeiten
des Begründers und Altmeisters der griechischen Dialektforschung H. L. Ahrens,
besonders die zwei Bände „De Graecae linguae dialectis" (1839 — 43) und in den
„Kleinen Schriften" die Abhandlung von der Mischung der Dialekte in der grie-
chischen Lyrik. Das Handbuch der griechischen Dialekte von Thumb (1909) gibt
einen reichen Literaturnachweis.
Unter den „Literatursprachen" interessiert uns u. a. besonders Homer, bei
dessen Betrachtung die in allerjüngster Zeit wieder von „einem gewichtigen Ver-
treter" (gemeint ist v. Wilamowitz) behauptete Ansicht, daß Äoler und Joner
gleichzeitig und gemeinsam an einem Orte, wo äolisches und jonisches Volkstum
zu einer einheitlichen Kultur verschmolzen war, das Epos und seine Sprache ge-
schaffen, mit sprachlichen Gründen widerlegt wird (S. 73 ff.). Besonders interessant
und belehrend ist es auch noch, mit dem Verfasser zu verfolgen, wie in all den
nachfolgenden Literaturgattungen und bei allen Schriftstellern Formen und Wörter
des homerischen Epos mehr oder weniger wiederkehren. Nur die klassische Prosa
Athens ist im ganzen frei davon.
Anerkennung verdient noch der trotz der oft recht kleinen Lettern so reinliche
und klare Druck und das Freisein von Druckfehlern und Versehen. Ich könnte
auch in der großen Menge sich häufender und klein gedruckter griechischer Wörter,
abgesehen von einigen Kleinigkeiten, sowohl dem Verfasser wie dem Drucker rMk
7p5, ouös oxpißiX'xi^c (s. S. 129), „auch nicht das Geringste" vorwerfen, und das
will bei der vielen Kleinarbeit etwas heißen.
Was ich noch als besonders interessant betonen möchte, ist die Darstellung
der Wanderungen und Siedlungen der Stämme, die Bestätigungen durch Inschriften
und Papyri, die Anologiebildungen der Sprache, Zusammenstellung mit Sanskrit,
Gotisch u. a.
Luther sagt im Brief vom Dolmetschen: ,, Läuft einer itzt mit den Augen durch
drei oder vier Blätter und stößt nit einmal an, wird aber nit gewahr, welche Wacken
und Klötze da gelegen sind, da er itzt über hin geht wie über ein gehofelt Brett."
So auch hier. Studenten der Philologie und Lehrer des Griechischen sei das Büch-
lein angelegentlichst empfohlen.
14*
212 K. Schirmer, Bilder aus dem altrömischen Leben, angez. von Fr. Heußner.
Schirmer, Karl, Bilder aus dem altrömischen Leben. Ein Lese-
buch für die oberen Klassen höherer Lehranstalten. Mit 30 in den Text gedruckten
Abbildungen. Berlin 1910. Weidmannsche Buchhandlung. VHI u. 148 S. kl. 8o.
2,50 M.
Ein Büchlein so ganz nach meinem Geschmack: beruhend auf eigener An-
schauung des Landes, gestützt auf das Studium der besten Quellen, populär im
besten Sinne des Wortes, knapp, einfach, anschaulich, frisch und fesselnd geschrieben,
oft auch mit einem anmutenden Humor gewürzt, voll interessanter Einzelheiten
und kleiner Exkurse, reich an Parallelen und Vergleichen zum modernen Leben und
Treiben, interessant und belehrend auch durch die zahlreich eingeflochtenen Ety-
mologien und gut veranschaulicht durch die beigefügten Abbildungen. Es ist einer
Freundin gewidmet „zur Erinnerung an gemeinsame Wanderungen in Italien",
als Quellen werden namhaft gemacht 20 Werke, wie Guhl und Koner, Cybulski,
Becker, Friedländer, Birt und sechs Hefte der Gymnasialbibliothek. Das Buch
zerfällt in sechs Teile: 1. Das alte Rom und seine Bewohner, 2. Von der Wiege
bis zum Grabe, 3. Der Tag eines Römers, 4. Römische Spiele, 5. Militärisches,
6. Auf Reisen. Nr. 2 ist an das Leben Ciceros angeknüpft, Nr. 5 an die Saalburg,
und so werden sie in dieser konkreteren Fassung noch besonders anschaulich und
interessant. Ein Register von 4 Seiten ermöglicht es, Einzelheiten leicht aufzu-
finden.
Es hat schon eine gewisse Feuerprobe durchgemacht, indem es eine Zusammen-
fassung von Abhandlungen bietet, die in drei Jahresberichten des Magdeburger
Realgymnasiums erschienen und die schon öffentliche Besprechung fanden; auch
wurde der erste Abschnitt (Teil 1 und 3 der vorliegenden Sammlung) nochmals
in der „Sammlung von Vortragsstoffen für Volks- und Familienabende" abgedruckt.
Wie es jetzt vorliegt, ist es noch durch mehrere kleinere Nachträge erweitert. Zu-
nächst waren die Abhandlungen für Schüler des Realgymnasiums bestimmt, damit
sie auch auf diesem Gebiet neben den Schülern des humanistischen Gymnasiums
mit Ehren bestehen könnten, dann, wie oben gesagt, zu einem Vortragsstoff für
Volks- und Familienabende, und weiter hofft der ' Verfasser, daß das Buch nun
„als ein brauchbares Lesebuch bei den Schülern der oberen Klassen, den weiblichen
nicht weniger als den männlichen, eine freundliche Aufnahme findet." Auch ich
empfehle es und wünsche ihm reichen Erfolg.
Nur hätte ich für den genannten Zweck manches, um es ganz verständlich
zu machen, noch etwas vollständiger gegeben, anderes genauer erklärt, hätte die
griechische Schrift ganz vermieden oder doch die Formen in lateinischer Schrift
daneben gesetzt und zu angeführten lateinischen Stellen die deutsche Übersetzung
beigefügt. Welcher Schüler oder welche Schülerin wird z. B. S. 65 die Inschrift
auf dem Grabmal des Eurysaces leicht und richtig übersetzen? In einem solchen
Buch — ich denke mir, daß es auch abends in der Familie vorgelesen wird — muß
alles eben, klar und ganz verständlich sein und nicht etwa noch ein Lexikon dabei
gewälzt werden müssen. Die Anmerkung auf S. 120: ,,turturilla: locus in castris
extra Valium^ in quo scorta praestanV mußte wegbleiben, selbst auf die Gefahr hin,
daß manche Fachgenossen um diese interessante Bereicherung ihres Wissens gebracht
worden wären, ebenso S. 140 oben, daß in einem Wirtshaus für Brot 1 As, für
Moeller van den Brück, Die Deutschen, angez. von A. Matthias. 213
Zukost 2 As, für das Mädchen (1) 8 As, für Heu 2 As berechnet worden seien.
Verfasser meint, man könne das Mädchen für „Bedienung** nehmen. Credat Judaeus
Apellal Man werfe mir keine Prüderie und Engherzigkeit vor. Die Stellen sind nicht
nötig, um unsere Jugend in die Kulturwelt der alten Römer einzuführen. Sonst
hätten noch ganz andere Dinge erörtert werden müssen. Und je mehr in der Jetzt*
zeit durch „den Schmutz in Wort und Bild" das Schamgefühl der Jugend gefährdet
und abgeschwächt wird, um so mehr haben wir die Pflicht, die natürliche Scham-
haftigkeit, die frühere Zierde unseres Volkes, bei ihr zu schützen und zu wahren.
Ich bin überzeugt, daß, wenn Vater und Mutter mit ihrer Tochter, die das Mädchen-
gymnasiumm besucht, sich dieses Buch vorlesen, solche Stellen nur Mißbehagen und
Mißstimmung hervorrufen werden. S. 79 a. E. muß in „Servietten, die wir selbst
mitbringen" und auf der folgenden S. in „Brot, mit dem wir die Finger trocknen
können" die Gäste oder man eingesetzt werden. S. 101 steht: „Jener (Birt), ein
munterer armerTeufel". Das klingt sehr mißverständlich! Warum nicht wenigstens
(nach Birt), oder dies in einer Anmerkung. S. 126 steht aus Versehen in hastam
immuta {Vmks — um — kehrt) für in scutum i. S. 6 Z 4 ist sich zu streichen, S. 80 Anm.
ist statt meam nee Falernae zu lesen mea, S. 110 Z. 2 muß es statt der Mimus
heißen dem Mimus. Andere Druckfehler lasse ich unerwähnt.
Die Arbeit enthält manche Beziehungen auf die Bibel und auf Horaz und
Zitate aus ihnen. Da hätte ich auch bei dem Bilde der Großstadt Rom die male-
rische Strophe aus Hör. Od. III 29 v. 9 — 12 herangezogen:
Fastidiosam desere copiam et
Molem propinquam nubibus arduis;
Omitte mirari beatae
Fumum et opes strepiiumque Romae.
Bei der Schnelligkeit der Verkehrsmittel (S. 135 f.) hätte ich doch auch er-
wähnt, wie langsam andererseits nach unseren jetzigen Begriffen Nachrichten zu
ihrem Ziel gelangten. So kam die Nachricht von dem Tode der Kleopatra, die sich
am 13. August 30 tötete, erst Ende September nach Rom, also nach 1^2 Monaten.
Bei gar vielem kommt einem der Gedanke: tout comme chez nöus, manches ist für
uns vorbildlich, vieles abschreckend, schön aber bei der Betrachtung des Einflusses
griechischer literarischer Vorbilder auf Rom und auf uns die bei dem jetzigen
Kampf der Prinzipien wertvolle Schlußbemerbung S. 107: „An den Vorbildern
des Altertums hat sich die moderne Bildung herangebildet; aus ihnen wird auch
weiter die Welt Kräfte der Verjüngung schöpfen müssen und können."
Kassel. Fr. H e u ß n e r.
Moeller van den Brück. Die Deutschen. Unsere Menschengeschichte.
2. Ausgabe. Erweitert und teilweise verändert. I. u. II. Bd.: XIV u. 164 S.
u. 253S. III. u. IV. Bd.: 225 u. 262 S. V.u. VI. Bd.: 281 u. 200 S. VII. Bd.:
318 S. VIII. Bd.: 298 S. Minden i. Westf. o. J. J. C. C. Bruns Verlag. Zus.
25 M., geb. 33 M.
Eine große Anzahl führender Geister führt Moeller van den Brück in acht
Bänden an uns vorüber. Die einzelnen Männer sind zu Gruppen zusammengefaßt,
welche unter einem auf den ersten Blick manchmal seltsam erscheinenden Sammel-
214 Moeller van den Brück, Die Deutschen,
titel stehen. Ich führe die Bände und Gruppen an, um zunächst eine Übersicht
zu geben und den Inhalt des Werkes zu zeigen:
Erster Band: Verirrte Deutsche. Einleitung: Von der Größe eines Volkes
und vom Deutschen und Problematischen: Christian Günther, Reinhold Lenz,
Maximilian Klinger, Christian Dietrich Grabbe, Georg Büchner, Hermann Con-
radi. Zweiter Band: Führende Deutsche. Eingeleitet durch: Vom Dogmatischen:
Ulrich V. Hütten, Martin Luther, der Große Kurfürst, Friedrich Schiller, Otto
V. Bismarck, Friedrich Nietzsche. Dritter Band: Verschwärmte Deutsche. Vom
Mystischen: Meister Ekkehard, Theophrastus Parazelsus, Jakob Böhme, Angelus
Silesius, Friedrich Hölderiin, Novalis, Gustav Theodor Fechner. Vierter Band:
Entscheidende Deutsche. Vom Kritischen: Friedrich der Große, Winckelmann,
Lessing, Herder, Kant, Fichte, Moltke. Fünfter Band: Gestaltende Deutsche.
Vom Monumentalen: Karl der Große, Heinrich der Löwe, Friedrich der Zweite
(Romanische Zeit), Wolfram, Walter, Wilhelm (Die Gotik), Dürer, Holbein, Cra-
nach (Die Renaissance), Leibniz, Bach, Klopstock (Der Protestantismus), Mozart,
Beethoven, Wagner (Übergangszeit), Neue Zeit, Deutsche Zeit (Der Stil des Reiches).
Sechster Band: Goethe. Der Verirrte, der Führende, der Verschwärmte, der
Entscheidende, der Gestaltende. Siebenter Band: Scheiternde Deutsche. Vom
Tragischen: Armin, Alarich, Friedrich der Erste, Maximilian der Erste, Stein.
Scheiternde Gegenwart. Achter Band: Lachende Deutsche. Vom Humoristisch-
Heroischen: Grünewald und Rembrandt. Sachs und Grimmeishausen. Jean
Paul und Hoffmann. Böcklin und Liliencron. Lachende Ewigkeit.
Diese Zusammenstellungen muten uns, ganz abgesehen von ihrer Originalität,
etwas fremdartig an. Sie werden uns vertrauter, sie werden natürlicher, wenn wir
uns der Geschichtsauffassung Moellers nähern und uns in sie vertiefen. Dann ist
es uns, als könnten die Gestalten unserer Geschichte und Kultur gar nicht anders
gruppiert werden. Folgender Gedankengang wird uns Moellers Geschichtsauf-
fassung klar machen: „Ein Volk ist ein Mittel zu den Zwecken Gottes auf Erden",
den Satz stellt er an den Anfang seines Werkes. Mit jedem Volke ist seiner Meinung
nach ein bestimmter Anteil an der Weltgeschichte verbunden, den kein anderes
erfüllen könnte, und ein jedes darf sich für auserwählt halten, das sein Leben und
seine Zukunft mit suchendem Bewußtsein an dasjenige Ziel setzt, das es als das
Seine erkannt hat und für das es zu kämpfen berufen ist, um einen Vorrang zu er-
ringen, der tief innerlich ein Vorrang der Gottes- und Geistesnähe ist und dem
betreffenden Volke, je vollkommener es ist, ein Anrecht auf geschichtliche Unsterb-
lichkeit sichern soll. Das Recht zu einem solchen Kampfe haben wohl alle, weil es
der Kampf um die Selbstbehauptung ist, den man niemandem verwehren kann.
Aber äußeres Recht ist nicht gleichbedeutend mit innerer Berechtigung.
Wenn alle siegen würden, dann müßten auch alle gleichberechtigt sein, während
sich in dem großen Rassen- und Nationalitätenkampf doch gerade entscheiden soll,
wer nun eigentlich der tiefer, der organischer, der natüriicher und historischer
Berechtigte ist. Der Glaube an diese Berechtigung stützt sich auf den Glauben
an die großen Völker als die Urheber, Krieger und, wenn wir von dem Mittel auf
den Zweck schließen, als die eigentlichen Ziele der Geschichte. Die Größe eines
Volkes besteht nun nicht in der räumlichen Ausdehnung, in der be trächtlichen
angez. von A. Matthias. 215
Kopfzahl und einem entsprechenden Landbesitz, auch das Alter macht die Größe
eines Volkes nicht aus, ebensowenig wie seine Jugend. Es hängt vielmehr von
dem Volke selbst ab und von einem Etwas in dem Volke, einem Wert, den das
eine eben hat, das andere nicht, ob es die Anwartschaft besitzt, einmal ein großes
Volk auf der Erde zu werden.
Dafür ist es nun heute als Selbstverständlichkeit erkannt, und es ist als unab-
weisbar in unser Bewußtsein übergegangen, daß es ausschlaggebend für eine Nation
sein muß, von welcher Rasse sie stammt, und daß wir, wenn wir die Handlungen
einer Nation verstehen wollen, vor allem auf das Wesen ihrer Rasse zurückzugehen
haben, und daß wir weiter noch eine tiefere, volkspersönliche Ursache suchen müssen,
die es auf dem Grunde der rassepersönlichen erst aufzufinden gilt. Wenn auch die
Größe eines Volkes abhängt von der Größe der Rasse, von der es abstammt; ge-
bildet, errungen, bestätigt wird diese Größe doch immer nur von der einzelnen
Nation und dem Wert, mit dem diese begabt ist. Denn jedes Volk verkörpert
einen besonderen Gedanken, der ein unteilbares Ganzes ist und ihm so angehört,
wie es selbst ein unteilbares Ganzes ist und sich angehört. Mit diesem Gedanken
ist es geboren worden, mit diesem Gedanken hat es sich als Horde, Stamm, Nation
von dem Mutterschoß der Rasse und der Erde losgelöst und in die Geschichte ge-
worfen. Dieser Gedanke ist seine Größe als Volk, ist das, was es von anderen
Völkern und deren Größe unterscheidet, ist die Äußerung der ganz bestimmten Ab-
sicht, die der Weltgang mit ihm vorhatte.
Wie steht es nun mit dieser Größe um das deutsche Volk? Es hat eine lange
und ruhmvolle Geschichte hinter sich; der Verfasser hofft, daß wir noch eine ebenso
lange Geschichte vor uns haben; es sei sehr wohl möglich, daß wir erst in der Mitte
unserer Entwicklung stehen ; denn wir haben seit vielen Jahrhunderten, fast kann man
sagen, nach zwei Jahrtausenden, eine geistige, seit einem Menschenalter erst eine
starke staatliche Grundlage unter uns, die einen Ausbau all der ^erke und Dinge
sehr wohl zu tragen vermöchte, die wir in den wechselvollen Geschicken, die wir
zu durchlaufen hatten, bereits angelegt haben. Die Hälfte, die wir hinter uns
haben, sieht der Verfasser als die unbewußte an; heute aber seien wir in die be-
wußte eingetreten, und diesen Teil können wir siegend nur durchschreiten, wenn
wir bewußte Deutsche sind, die ihr Ziel auf Erden kennen. Um dieses Ziel zu er-
kennen, müssen wir unsere großen Männer kennen; denn sie vor allem machen
die Größe des Volkes aus. Ein Volk zum Bewußtsein seiner selbst zu erziehen,
ist deshalb gleichbedeutend mit der Erziehung des Volkes zu seinen großen Männern.
Und in diesen wie im Volke ist der Geist doch immer das Wesentliche. Das sollte
das deutsche Volk als Geistesvolk wissen. Man spricht heute soviel von den Mög-
lichkeiten künftiger Kriege, man rechnet peinlich die Aussichten heraus, zählt die
Heeresstärken, vergleicht die Flottenbestände. Derlei gibt aber niemals den Aus^
schlag. Gewiß wird ein großes und gut geleitetes Volk für alle Möglichkeiten vor-
bereitet und gerüstet sein. Aber um was es sich schließlich handelt in kriegerischen
Ereignissen, das ist der Geist des betreffenden Volkes, der im Ernstfalle alle pa-
piernen Berechnungen einfach durchstreichen und aus eigener Machtvollkommen-
heit siegen wird ; das ist die Weltanschauung. Ob ein Volk siegen soll, das eine große
Weltanschauung hat, oder eines mit einer kleinen und kleinlichen oder mit einer
216 H. Griebel, Lehrbuch der Deutschen Geschichte usw., angez. von F. Neubauer.
entarteten, oder überhaupt keiner, das ist die Hauptfrage. „Nur die Äußerung
ist, wie immer auf Erden, irdisch, menschlich, und das ist hier eben kriegerisch.
Aber was in der Weltgeschichte schließlich siegt, das ist im letzten Grunde, neben
der inneren Nötigung, doch immer nur der treibende Geist, der hinter einem Volke
steht und an dessen Größe man seine Größe erkennt."
Diese Grundanschauung liegt dem großen Werke des Verfassers, in dem ein
überwältigendes Material verarbeitet ist, zugrunde. Von dieser Grundanschauung
aus müssen wir die Titel und die ganze Gruppierung seiner einzelnen Teile und Ka-
pitel beurteilen. Manchmal mag es auf den ersten Blick uns so scheinen, als sei
die Auffassung der einzelnen Männer, die vor uns auftreten, einseitig und ihre Grup-
pierung willkürlich. Aber lesen wir uns erst hinein, dann zwingt uns der Verfasser
in seine Bahnen, als hätten wir diese ungezwungen selber erwählt. Und beim Lesen
nötigt uns der Verfasser auch hinein in seine Grundstimmung, die in einem stolzen
Optimismus besteht d. h. in einem felsenfesten Vertrauen in die Weltmission des
deutschen Volkes. Solche Stimmung findet man heutzutage selten, weil die meisten
Betrachter unserer Zeit an der Oberfläche mit ihren Augen hängen bleiben und
nicht in die Tiefen des Volksgeistes zu schauen wagen, in denen ganz andere Kräfte
vorhanden sind als in den Teilen unseres Volkes, die man als die herrschenden
Stände bezeichnet. Moellers Werk, das stolzen Optimismus und tapferen Idealismus
atmet, ist eine Art von Sonntagsbuch. Und Sonntagsbücher sollten vor allem
Eingang in die Schulen finden.
Berlin. A. Matthias.
(iriebel, Heinrich, Lehrbuch der Deutschen Geschichte in Ver-
bindungmitder Geschichte Bayerns, vom Beginn des Dreißig-
jährigen Krieges bis zum Tode Wilhelms L Für den Unterricht an Mittelschulen.
2. Auflage. Erlangen u. Leipzig 1910. A. Deichertsche Verlagsbuchhandlung Nachf.
(Georg Böhme). VIII u. 275 S. 8». 3,20 M.
Das vorliegende Lehrbuch ist in erster Linie für bayrische Lehrerbildungs-
Anstalten bestimmt und faßt den Lehrstoff zusammen, der dort in den beiden
oberen Klassen behandelt wird; durch diese Rücksicht auf den Lehrplan erklärt
sich auch, daß der Band mit einem Ereignis beginnt, das sonst nicht als Anfang
einer größeren Periode zu gelten pflegt, mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges.
Die im Erzählungston gehaltene Darstellung schließt ab mit dem Jahre 1871;
die nachfolgende Zeit wird auf 2V2 Seiten erledigt. Angefügt ist eine Übersicht
der bayrischen Geschichte.
Das Buch empfiehlt sich durch guten Vortrag und klare, einfache und wohl-
gegliederte Darstellung, öfter sind recht zweckmäßige Zitate in den Text auf-
genommen. Erfreulich ist die nationale Haltung; der Verfasser schreibt als guter
Bayer und als guter Deutscher. Die Ausführlichkeit geht an manchen Stellen
meines Erachtens etwas weit; ich führe einiges an: die Erzählung von den Göt-
tinger Sieben, der Bericht über die Frankfurter Reichsverfassung von 1849, die
Darstellung des dänischen Krieges von 1864 und anderes könnte vielleicht gekürzt
werden. Die Stellen, an denen man sachlichen Anstoß nehmen müßte, sind nicht
häufig: Friedrich Wilhelms I. Bedeutung als des Schöpfers der preußischen Ver
Königsweisheit des großen Friedrich, angez. von A, Matthias. 217
waltung wird nicht gewürdigt; die Darstellung des preußischen Heeres vor 1806
entspricht nicht der heutigen Auffassung; durch Steins Bauernbefreiung wurde
kein „unbelastetes Eigentum" geschaffen, auch sein Sturz ist nicht richtig dar-
gestellt; von Rousseau wird man kaum sagen, daß er „Nüchternheit des Emp-
findens" gefordert habe, überhaupt bedarf wohl die Schilderung der französischen
Zustände vor der Revolution der Nachbesserung.
Wichtiger als diese Ausstellungen erscheint mir etwas anderes. Ich glaube,
daß die innere Geschichte stärker betont werden müßte, daß die Jahrzehnte nach
1871 nicht vernachlässigt werden dürften, sondern ausführlich dargestellt und durch
ein Bild unserer jetzigen politischen Zustände abgeschlossen werden müßten,
endlich, was damit zusammenhängt, daß noch planmäßiger, als es im Buch ge-
schieht, darauf hinzuarbeiten ist, dem Schüler das zu bieten, was man heute unter
Bürgerkunde zu verstehen pflegt. Es handelt sich doch um die letzten beiden
Schuljahre des künftigen Lehrers; er muß ein möglichst klares Bild von unseren
jetzigen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsverhältnissen mit ins Leben
hinausnehmen. Von der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Volkes im 19. Jahr-
hundert findet sich in dem Buche doch recht wenig, vom Welthandel, von Aus- und
Einfuhr, von der Entstehung des Arbeiterstandes, vom Sozialismus ist nicht viel die
Rede, Von Reichs- und Staatssteuern, von Schutzzoll und Freihandel müßte meines
Erachtens ausführlicher die Rede sein. Ebenso meine ich, daß auch die auswärtige
Politik der letzten Jahrzehnte eine sorgfältigere Schilderung verdient.
Ich glaube, daß das sicherlich auch jetzt empfehlenswerte Buch wesentlich
gewinnen würde, wenn den angeführten Dingen stärkere Beachtung geschenkt
würde.
Frankfurt a. M. F. N e u b a u e r.
Königsweisheit des großen Friedrich. Von Leo Loßburg. (Anekdoten-
bibliothek, XII. Band.) 2. Aufl. VIII u. 286 S. Stuttgart o. J. Robert Lutz,
brosch. 2 M., geb. 3 M.
Dieses Buch bildet eine Art von Seitenstück zu dem S. 53 dieses Jahrgangs
der Monatschrift erwähnten Sammlung von A. Kannengießer. Dort waren mehr
außeramtliche Aussprüche des großen Königs zusammengestellt, hier handelt es
sich um eigentliche Begierungsweisheit aus seinen Kabinettsbefehlen, Erlassen
und den berühmten köstlichen Randbemerkungen. Dort bekommen wir ein Bild
des Menschen in seiner ganzen Weite und in seiner Milde, hier das Bild eines fest-
geschlossenen und knorrigen Herrschers, der auch einmal als Despot grob da-
zwischen fahren kann ; als aufgeklärter Despot, der inmitten verwerflicher Willkür-
und Klassenherrschaft manches verfügen und befehlen muß, was er neute nicht
mehr verfügen würde, da die Zeiten andere geworden. Friedrich müssen wir aus
seiner Zeit verstehen und aus dem Worte heraus, das man ihm zuschreibt: „Ich
bin es müde, über Sklaven zu herrschen". Sklaven regiert man eben anders als
freie Bürger.
In einer Zeit, da das politische Leben an langen Reden krankt, ist es besonders
erquicklich, wie Friedrich „mit den Leuten nicht soviel Redens und Perorierens
macht". Fest und wuchtig sind seine Worte, und wenn er einen Menschen einen
218 Eugen Wolter, Französisch in Laut und Schrift, angez. von E. Weber.
„dummen Kerl" nennt, so können wir überzeugt sein, er war es auch ! Denn Friedrich
besaß in seiner Menschenkenntnis viel salomonische Weisheit, an der unser Buch
reich ist.
Berlin. A. M a 1 1 h i a s.
Wolter, Eugen, Französisch in Laut und Schrift, ein Lehrbuch
für höhere Schulen. Erster Teil mit einer Münztafel. XVIII u. 288 S. geb. 3 M.
Zweiter Teil, XV u. 291 S. geb. 2,40 M. — Grammatik der französischen
Sprache. VIII u. 215 S. geb. 1,80 M. Berlin 1910/1911. Weidmannsche
Buchhandlung. 8^
Der erste Teil dieses Lehrbuches erschien im August 1910; im September 1911
ist der zweite Teil und die Grammatik gefolgt; mit einem Übungsbuch für die Ober-
stufe soll dann im Sommer 1912 der ganze Lehrgang abgeschlossen werden. Das
gediegene und wohlgelungene Werk vereinigt in sich in der glücklichsten Weise
gründliche Kenntnis der Sprache mit langer Unterrichtserfahrung und sicherer
Einsicht in das für die Schule Nötige, Mögliche, Erreichbare. Das Buch lehrt
gutes reines modernes Französisch, das sich jedoch, wie der Verfasser mit Recht
betont, von jenen Nachlässigkeiten und Inkonsequenzen in der Aussprache und
der Wahl der Wendungen freihält, denen man wohl in der zwanglosen Umgangs-
sprache begegnet, die aber nicht in Schulbücher gehören. Die Warnung vor diesem
Mißgriffe ist nicht so überflüssig, wie es vielleicht scheint: begegnet man doch in
deutschen Schulbüchern immer wieder Redensarten, die vom boul' Mich' oder noch
anderswoher stammen mögen. Dergleichen Vulgarismen fliegen einem schon
bei kurzem Aufenthalte in Paris nur zu schnell ganz von selbst an, und auch
dann kann man nur raten, recht sparsamen Gebrauch davon zu machen, wenn
man nicht bei der auch im günstigsten Falle noch recht unsicheren Kenntnis der
Sprache arge Mißgriffe begehen will. Wie selten hat ein Deutscher das Recht und
die Gelegenheit, sich mit einem Franzosen vertraulich zu unterhalten ! Und vieles,
was der Deutsche wohl noch für familier hält, gilt dem Franzosen schon als popu-
laire {peuple im Gegensatz zu gens bien eleves genommen), vulgaire, bas, ignoble,
was bekanntlich ein viel schärferes Verwerfungsurteil ausspricht, als man nach der
Etymologie des Wortes meinen sollte. Wie echtfranzösisch kommt sich mancher
schon vor, wenn er immer ga sagt; in den allermeisten Fällen täte er entschieden
besser, hübsch deutlich und zweisilbig cela zu sprechen.
Die Lesestücke bieten unterhaltenden, abwechslungsreichen Stoff, der mit
Vorliebe den verschiedenen Gebieten des heutigen Lebens entnommen ist. Er-
zählungen, Briefe, Beschreibungen, Gespräche, Prosa, Gedichte wechseln in richtiger
Mischung miteinander ab. Reichliche Berücksichtigung haben Frankreichs Ge-
schichte und Landeskunde, seine Sitten und Gebräuche gefunden. DieJ Stücke
sind im ersten Teile leicht und bieten auch im zweiten Teile nur mäßige Schwie-
rigkeiten.
Den deutschen Übungsstücken, die zum Übersetzen ins Französische bestimmt
sind, hat der Verfasser mit gutem Bedacht großen Raum bewilligt. Diese Stücke
sind in methodischer Hinsicht sehr sorgfältig durchgearbeitet und wohl überiegt.
Wenn auch die zusammenhängenden Stücke bei weitem überwiegen, so werden
E. Neuendorff, Turnen, Spiel und Spott usw., angez. von H. Wickenhagen. 219
doch auch Einzelsätze nicht grundsätzlich, etwa einer grauen Theorie zuliebe, ge-
mieden. Diese deutschen Stücke besitzen den großen Vorzug, leicht zu sein, und
das ist hier noch weit nötiger als bei den französischen Abschnitten, damit selbst
schwächere Schüler die sich ganz allmählich steigernden Schwierigkeiten bewäl-
tigen können. Der oft wiederholte Ausspruch, das Übersetzen in die fremde Sprache
sei eine Kunst, die die Schule nichts angehe, kann, wenn er überhaupt einen Sinn
haben soll, nur die druckfähige Nachschöpfung eines Originaltextes meinen. Sieht
man von dieser selbstverständlich ganz außerhalb der Schule liegenden Leistung
ab, so ist und bleibt unter den mannigfachen Mitteln, die zu Gebote stehen, um
die Schüler im sicheren Gebrauch der Sprache zu festigen und zu fördern, eines
der wirksamsten, die regelmäßige und nicht zu seltene sorgfältig vorbereitete oder
extemporierte, mündliche oder schriftliche Übertragung geeigneter Texte in die
fremde Sprache. Dieses Fundamentalaxioma gründlicher Spracherlernung gilt
in gleichem Maße von den neuen Sprachen wie von den alten.
Die Grammatik zeichnet sich durch klare, scharfe Fassung der Regeln
aus, sie ist übersichtlich angeordnet und leicht verständlich gehalten, verzichtet
dagegen, wie es den Bedürfnissen der Schule entspricht, auf mancherlei Feinheiten
und abgelegene Einzelheiten. Die Verständlichkeit der Regeln und damit die
Brauchbarkeit des ganzen Werks wird durch treffende reichliche Beispiele außer-
ordentlich erhöht. Die wohlüberlegte Wahl dieser Beispiele verdient uneinge-
schränktes Lob. Sie bringen nicht hochliterarische, tiefe, abstrakte Gedanken,
die dem Schüler nicht verständlich sind, und das um so weniger, als sie aus dem
Zusammenhang gerissen sind; sie geraten aber auch nicht in triviale Alltäglich-
keit. Vielmehr bietet jedes dieser Beispiele einen leicht verständlichen, in sich
abgeschlossenen, interessanten Inhalt. Und solche Beispiele allein können den Zweck
erfüllen, dem sie dienen sollen.
Zu rühmen ist endlich die schöne Ausstattung der Bücher 'das gute Papier,
der feste Einband, der sorgfältige, saubere, übersichtliche, korrekte Druck. Druck-
fehler finden sich auf diesen mehr als 800 Seiten nur ganz vereinzelt, und diese
wenigen stören nicht geradezu den Sinn.
Steglitz. Ernst Weber.
Neuendorff, E., Turne n,SpielundSportfürdeutscheKnaben.
Beriin 1911. H. Paetel. 143 S. Mit vielen Abbildungen, geb. 1,75 M.
Der Verfasser hat es verstanden, sich in die Gedankenwelt der Jugend zu ver-
setzen. Er knüpft eine so anregende Unterhaltung an, daß man sich nicht gern
von ihm trennt. Das Buch liest sich wie ein Jugendroman; es will anregen, enthält
dabei aber auch viel Belehrendes. Die Stoffanreihung ist einwandfrei : die natürlichste
Betätigung, das Wandern, hat die erste Stelle erhalten ; dann folgen die Spiele, die volks-
tümlichen Übungen usw. Mit dem Titelbilde, Vierergig auf freier Fahrt, stellt sich
uns der Verfasser als begeisterter Verehrer des Wassersports dar, und in dem Bilde
S. 136, welches dem Wassersportbetriebe in Wannsee entnommen ist, will
er diesem seine Hochachtung darbringen. In Einzelheiten findet man einige Un-
genauigkeiten. Der erste Ruderverein ist in Rendsburg gegründet; in
Ohlau der zweite; nicht umgekehrt. — Die Zahl der Vereine beträgt heute nach
220 P. Frank, Kleines Tonkünstlerlexikon, angez. von T. Heinrich.
einer Umfrage des Ministeriums weit über 200, darunter solche mit 50, 60 und
mehr Mitgliedern. In Wannsee allein rudern gegen 700 Schüler; dazu gesellten
sich im letzten Sommer gegen 100 Lehrer!
Gasch, R., Geschichte der Turnkunst. 1 Leipzig 1910. Göschensche
Verlagshandlung. 104 S. Mit 17 Abbildungen, geb. 0,80 M.
An turngeschichtlichen Darstellungen fehlt es nicht. Wer zu dem Guten,
was uns Euler-Roßow, Angerstein-Kurth, Rühl, Cotta u. a. geboten, noch etwas
hinzufügen will, hat keine leichte Aufgabe. Das vor uns liegende Büchlein geht
über das, was wir längst wissen, nur wenig hinaus. Das Wort „Turnen" ist begriff-
lich so begrenzt, wie es vor etwa 20 — 30 Jahren geschah. Mit solchen Darbietungen
ist wenigen gedient!
Berlin-Lichterfelde. H. Wickenhagen.
Frank, Paul, Kleines 'Tonkünstlerlexikon. Elfte, revidierte und
vermehrte Auflage, bearbeitet von Karl Kipke. Leipzig 1910. C. Merse-
burger. 505 S. geb. 2,50 M.
Das Buch feiert mit dieser Auflage seinen 50. Geburtstag — „ein immerhin
bemerkenswertes Zeichen gesunder Lebenskraft" — wie der Herausgeber in
seinem Vorworte sagt. Mit Befriedigung dürfen auch wirklich Verlag und Heraus-
geber auf ihre Arbeit blicken; das haben wir durch eine große Anzahl vorgenommener
Stichproben bestätigt gefunden. Unter den Vertretern der Wissenschaft fehlen
natürlich H e 1 m h o 1 1 z und sein berühmter Vorgänger C h 1 a d n i nicht. Aber
schon vor Helmholtz wirkten auch Gesanglehrer in derem Sinne, u. a.
vornehmlich Wötzel (1815) und Markwort (1827). Die Anregung, diese
Namen nachzutragen, kann für den Herausgeber nicht den Vorwurf einer Ver-
säumnis in sich schließen, da die Schriften dieser Männer bisher versunken und
vergessen in Bibliotheken schlummerten. Wir erwähnen sie nur um des Verlages
Streben nach immer weiterer Ausgestaltung seines verdienstvollen Werkes
— dessen neueste Auflage wir im übrigen aufs wärmste empfehlen — zu unter-
stützen.
Berlin. TraugottHeinrich.
IV. Vermischtes.
Die Zeitschrift „Religion und Geisteskultur" (Herausgeber Lic. Th. Stein-
mann, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, jährlich 4 Hefte, 6 M.),
die eben ihren 6. Jahrgang antritt, hat, um ihr Arbeitsfeld genauer abzugrenzen,
einen bezeichnenderen Untertitel als den bisherigen auf ihren Umschlag geschrieben.
Als „Zeitschrift zur Förderung der Religionsphilosophie und Religionspsychologie**
betrachtet sie es als ihre Aufgabe, grundsätzliche Fragen der Religionswissen-
schaft, der Religionsphilosophie und der Religionspsychologie zu behandeln, in
Darstellungen, die auf wissenschaftlicher Höhe stehen und zugleich den Vorzug
haben, auch dem Gebildeten, der der Wissenschaft folgen möchte, ohne sich in
SpezialStudien einlassen zu können, verständlich zu sein. (Damit ist sie gegen-
wärtig das einzige Organ, das sich diesen Gebieten ausschließlich zuwendet, denn
das „Archiv für Religionswissenschaft" pflegt lediglich die detaillierte Einzel-
forschung, und die theologisch-systematischen Zeitschriften behandeln in der
Hauptsache spezifisch theologische Fragen.)
Aus dem Inhalt des ersten Heftes sei der Beitrag Prof. Edv. Lehmanns
hervorgehoben, der „Die Stellung der Religionsgeschichte im ganzen der Religions-
philosophie" behandelt. Lic. Dunkmann beschäftigt sich mit der heute viel
diskutierten Frage: Wie kann das Christentum geschichtliche und zugleich ab-
solute Religion sein? In eine sehr fruchtbare Auseinandersetzung mit Prof. Wend-
lands Buch über den Wunderglauben tritt mit einem großen Aufsatz Lic. Th.
Steinmann hervor. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit J. Böhmer, dem
Propheten der deutsch-evangelischen Innerlichkeit und mit dem Glauben und
Wirklichkeitssinn im Alten Testament. Die religionsgeschichtliche, exegetische
und dogmatische Arbeit der Gegenwart wird in der Form von Berichten verfolgt.
Die Vereinigung für staatsbürgerliche Bildung und Erziehung versendet soeben
ihren neuesten Tätigkeitsbericht. Wir entnehmen daraus die folgenden Angaben,
die für weitere Kreise, insbesondere für Lehrer, Schulleiter und Vereinsvorstände
von Interesse sind: 1. Die Vereinigung hat durch eine Rundfrage an die
deutschen Staatsregierungen festzustellen versucht, was bisher
in Deutschland von Seiten der Schulverwaltungen in der Richtung staatsbürger-
licher Unterweisung geschieht. Die von den deutschen Staatsregierungen eingelaufe-
nen Auskünfte sollen in einer zusammenfassenden Darstellung bekannt gegeben
werden. 2. Die Vereinigung hat auf ihre Kosten sachkundige Männer zu Studien-
reisen ins Ausland gesandt, um die dort vorhandenen staatsbürgerlichen Erziehungs-
einrichtungen zu erforschen. Bisher liegen drei solcher Auslandsunter-
suchungen vor: über die Schweiz, Holland und Dänemark. Eine Arbeit
über Frankreich ist in Vorbereitung. 3. Die Vereinigung wird in diesem Jahre ein
Literaturverzeichnis zur Frage der staatsbürgerlichen Erziehung
222 Vermischtes.
veröffentlichen. 4. Bemerkenswert sind neben den Auslandsuntersuchungen die
methodischen Schriften zur Frage der staatsbürgerlichen Erziehung,
welche die Möglichkeiten untersuchen, die heute in höheren Schulen, Volks- und
Fortbildungsschulen und Lehrerseminaren für die Berücksichtigung staatsbürger-
licher Unterweisung gegeben sind. Eine kleine Lehrprobe: Rosenthal,
„Unser täglich Brot** dürfte besonders für Volks- und Fortbildungsschullehrer
anregend sein. 5. Die Vereinigung veranstaltet von Januar 1912 ab im Charlotten-
burger Rathaus „Politische Abend e", die der freien Aussprache von
Männern und Frauen aller Parteirichtungen über wichtige Fragen des öffent-
lichen Lebens dienen. 6. Eine in Vorbereitung befindliche Vortragsver-
mittlungsstelle soll an Vereine aller Richtungen Vorträge aus dem Ge-
samtgebiet der Staatswissenschaften und über die Methodik der staatsbürgerlichen
Erziehung vermitteln. 7. Von Januar 1912 ab gibt die Vereinigung „Mittei-
lungen" heraus, in denen über die neuesten Erscheinungen auf dem Arbeitsgebiet
der Gesellschaft laufend berichtet wird. Die Vereinigung hält streng an den Grund-
satz parteipolitischer und konfessioneller Neutralität fest. — Satzungen und
Werbematerial versendet die Geschäftsstelle der Vereinigung (Charlottenburg,.
Giesebrechtstraße 19) auf Wunsch kostenlos.
Der Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen
Unterrichts hält in diesem Jahre in der Pfingstwoche vom 27. bis 30. Mai seine
Hauptversammlung in Halle a. S. ab. Während die letzten drei Versammlungen
in Freiburg i. Br., Posen und Münster stattfanden, ist diesmal ein mehr in der
Mitte des Reiches gelegener Ort gewählt worden, der auch wegen seiner bequemen
Bahnverbindungen als sehr günstig zu bezeichnen ist. Zu gleicher Zeit tagt auch
in Halle die Versammlung deutscher Zoologen. Unter dem Vorsitz von Herrn
Geh. Rat Prof. Dr. Wangerin hat sich bereits ein Ortsausschuß zur Erledigung
der nötigen Vorarbeiten gebildet, und es haben auch schon eine große Reihe von
Universitätslehrern und Schulmännern Vorträge zugesagt. Wir nennen: Dr.
ßungers, Thema vorbehalten. Geh. Rat Prof. Dr. Dorn, Über Radioaktivität;
Prof. Grimsehl, Physikalischer Experimentalvortrag; Prof. Dr. Karsten, Vortrag
im botanischen Garten; Prof. Dr. Krüger, Psychologisches Thema; Dr. W. Lietz-
mann, Über einheitliche Bezeichnungsweisen in der Elementarmathematik; Prof.
Dr. Löwenhardt, Der chemische Unterricht in den Oberklassen; Dr. Möhle, Mathe-
matischer Unterricht an höheren Mädchenschulen; Prof. Dr. Oels, Biologisches
Thema; Prof. Dr. K. Schmidt, Über elektrische Wellen in der drahtlosen Tele-
graphie; Dr. Schoenichen, Lichtbildervortrag: Biomechanische Modelle; Dir.
Dr. Schotten, Die Tätigkeit der IMUK; Prof. Schrader, Synthetische und ana-
lytische Behandlung der Kegelschnitte; Prof. Dr. Scupin, Anleitung zu geologischen
Beobachtungen im Freien; Prof. Dr. Spies, Physikalischer Experimentalvortrag;
Prof. Dr. Walther, Lichtbildervortrag: Die algonkischen Urwüsten; Prof. Dr.
Vorländer, Chemischer Experimentalvortrag. Ferner sind außer interessanten
Besichtigungen von wissenschaftlichen und industriellen Einrichtungen bei ge-
nügender Beteiligung auch Fortbildungskurse in Aussicht genommen.
V. Sprechsaal
Erwiderung.
(v. Kleist, Prinz von Homburg II, 2, 85.)
Auch bei der S. 127 gegebenen Erklärung des Herrn Prof. Dr. Grünwald
bleiben beide Anstöße bestehen, daß der Dichter ein ganz allgemeines Kriegsgesetz
ein märkisches nennt und von zehn Geboten spricht, was doch nur berechtigt
wäre, wenn es wirklich zehn festbestimmte märkische Kriegsartikel gegeben hätte,
und selbst dann erwartete man eher „der du das erste Kriegsgesetz nicht kennst",
sie werden doch nicht alle von der Subordination gehandelt haben, sondern auch
von Tapferkeit, Pünktlichkeit und anderen Pflichten. Der Prinz ist es, der den
Gehorsam versagt und sich außerdem gegen die militärische Disziplin vergeht,
wenn er sich an dem Offizier tätlich vergreift, indem er ihn zurückstößt — mit
den Händen ! — und ihm Schwert und Gürtel abreißt; der Offizier dagegen, welcher
dem mehrfach eingeschärften Befehl des Kurfürsten, nicht eher anzugreifen, als
bis ein ausdrücklicher Befehl dazu überbracht werde, Geltung zu verschaffen
sucht, vergeht sich nicht gegen die Subordination.
Herford i. W. ErnstMeyer.
1. Shakespeare, König Heinrich VI. Teil 1, Aufzug 1, Szene 1 meldet der Bote:
Paris, G u i s 0 r s , Poitiers sind ganz dahin. —
Wer kann über Guisors oder, wie Delius schreibt, Guysors Auskunft geben?
2. Aus deutschen Lesebüchern, herausgegeben von Dietlein-Polack. III. Bd.-,
S. 32: In welchen Zügen gleicht Bertran de Born dem Dichter S i m o n i d e s ,
dersich durch seinen Gesang aus den Händen der Räuber
befreite? — Worauf gründet sich diese Behauptung?
3. Heineccius, Fundamenta stili cultioris. L. 1736 S. 69: D eli o nat a-
1 0 r e opus est ad solvenda illius (d. i. Lipsii) acnigmata. Münchener Allgemeine
Zeitung (vom 12.4. 1902, Beilage No. 84 S. 81): Er (d.i. Kuno Fischer) ist der
delische Taucher, dessen es hier (die Philosophie Hegels wieder in Aufnahme zu
bringen und zu erklären) bedarf. Diogenes Laertius II, 5 No. 7 § 22 und IX, 1
No. 7 § 12 sagt Sokrates von einer Schrift des Heraklit, die ihm Euripides zur Be-
gutachtung übergeben hatte: Was ich verstanden habe, ist trefflich, ich glaube
aber auch, das, was ich nicht verstanden habe, übrigens AtjXiou ^i xivo? Seixat
xoXüjxßr^ToO. Wohlrab zu -fj fXaüxou ts/vt} Plato. Phaedo cap. 58, 108 d: Von
224 Sprechsaal.
allem, dessen Auffassung und Ausführung viel Scharfsinn und Einsicht erforderte,
sagte man sprichwörtlich, es gehöre die Kunst des Glaucus (des Schutzpatrons der
Fischer und Taucher) dazu. Über diesen Glaucus, nach dem ein Ort FXauxou Tzrfiri\L(i
genannt wurde und der dem Aeschylus Stoff zu einem Drama gegeben hat, ver-
gleiche noch Pausanias, descriptio Graeciae, IX, 22. 754 (298 ed. Sylburg). —
Wo findet man Näheres über diesen delischen Taucher?
4. Das Aneroidbarometer, auch Feder- oder Dosenbarometer genannt, wurde
zuerst 1847 von dem Engländer Vidi konstruiert; Bourdon verfertigte bald darauf
ein ähnliches Metallbarometer, und später verbesserten Naudet und Hulot dieses
Instrument Vidis, welches nun als barometre holosterique (d. i. ganz starr, ohne
Flüssigkeit) weite Verbreitung fand. — In den Lehrbüchern der Physik wird der
Name abgeleitet von vvjpoc feucht und a privativum, so auch von Littre im Anhang
zum Dictionnaire S. 2571 und Webster, Complete Dictionary. London 1889.
Ich halte diese Ableitung für unrichtig. Erstens kommt das Wort vr^po? in der
klassischen Gräzität gar nicht vor (es soll sich in einer Schrift des Arztes Xeno-
crates finden), so daß es ganz unwahrscheinlich ist, daß der Erfinder auf dieses
Wort sollte verfallen sein. Zweitens bleibt bei dieser Abteilung die Endung id
(slSoc) völlig unberücksichtigt, diese ist aber den Mathematikern ganz geläufig,
vgl. Ellipsoid = ellipsengestalteter Körper, Cissoide = epheugestaltete Linie
u. V. a. Ich meine, das Wort muß abgeleitet werden von dvVjp Mann und slSo?
Gestalt und bedeutet manngestaltetes Barometer. Sollte nicht die ursprüngliche
Form eines solchen Aneroidbarometers in England noch existieren, durch welche
meine Deutung Bestätigung oder Widerlegung fände? In dem Programm der Real-
schule zu Wasselnheim (Unterelsaß) 1889, No. 504 S. 15 liest man: „barometre
anaeroide, meist barometre metallique (de Bourdon) genannt." Der Verfasser will
es also von 6ir^p Luft ableiten. Diese Namensänderung scheint aber willkürlich von
ihm vorgenommen zu sein; sie kann als eine Verbesserung nicht gelten; denn ab-
gesehen davon, daß auch bei ihr die Endung id nicht zur Geltung kommt, würde
sie den Unterschied mit dem Quecksilberbarometer gar nicht hervorheben, bei dem
ja auch der luftleere Raum ein wesentlicher Faktor ist.
Herford i. W. ErnstMeyer.
t^
I. Abhandlungen.
Wilhelm Münchs letztes Buch.*)
Wir schulden dem Verfasser und der Verlagsbuchhandlung Dank für die
Herausgabe dieser neuen Sammlung von Aufsätzen. Münch ist uns schon vertraut
durch die früheren Sammlungen, von denen die ,, Vermischten Aufsätze über
Unterrichtsziele und Unterrichtskunst an höheren Schulen" bereits in zweiter
Auflage vorliegen. Manche von den jetzt in einem neuen Bande zusammengestellten
18 Arbeiten (denen noch ein Anhang „Gelegentliche Betrachtungen" beigefügt
ist) werden auch, da sie schon in Zeitschriften veröffentlicht waren, manchem be-
kannt und von ihm mit freudiger Zustimmung gelesen sein. Nun freuen wir uns, daß
auch diese so zerstreuten und zum Teil wenig zugänglichen Aufsätze uns hier zu-
sammen geboten werden, dazu noch vermehrt durch einige neue, bisher noch
ungedruckte wertvolle Beiträge. Viele der Arbeiten sind mehr für eine päda-
gogisch-philologische Leserschaft bestimmt, manche, mehr allgemein kulturellen
Inhalts, für ein weiteres Publikum, und so konnten sie zusammengefaßt werden
unter dem Titel: „Zum deutschen Kultur- und Bildungsleben.'*
Schon in älteren Jahren, der unmittelbaren Beziehung zur Schule längst ent-
rückt, blickt der Verfasser in abgeklärter Lebens- und Berufsauffassung gleich-
sam von hoher Warte herab auf die Entwicklung und den Stand unserer Kultur
und Jugendbildung. Viel Wohlbekanntes und Anerkanntes ist zusammengestellt,
aber mit tiefgehender psychologischer, physiologischer und logischer Beobach-
tung, Scheidung und Begründung. Manche Betrachtungen sollen nur eine Be-
leuchtung der Wirklichkeit bedeuten, „eine Beleuchtung mit dem schlichten
Kerzenlicht der Empirie". Der Verfasser versetzt sich gern in eine vergangene
Periode seines Lebens zurück, „mit Inspektionsrechten, aber auch mit viel Ge-
legenheit geistiger Anregung". ,, Erinnerungsbilder", sagt er, „vermögen sich in
größerer Deutlichkeit vor dem Blick zu gruppieren, als sie der unmittelbaren Wahr-
nehmung eigen war". Oberall werden wir gefesselt durch feinsinnige, oft mit
einem herzgewinnenden Humor gewürzte, in schöne Form gekleidete Entwick-
lungen, und wir bekommen mehr als ein bloßes Wissen: auch reichen Gewinn
für Herz und Gemüt, denn Liebe und Gerechtigkeit verbinden sich bei ihm in
♦) Münch, Wilhelm, Zum deutschen Kultur- und Bildungsleben. Fünfte Samm-
lung vermischter Aufsätze. Berlin 1912. Weidmannsche Buchhandlung. VI u. 338 S.
geh. 6,50 M., geb. 7,50 M.
Monatschrift f. höh. Schulen. XL Jhrg. 15
226 Fr. Heußner, Wilhelm Münchs letztes Buch.
schöner Harmonie, mag er nun seine Beobachtungen über Kulturfortschritt und
Gegenwart, die Lebensalter, das Glück der Kindheit oder die Seele der Reichs-
hauptstadt mitteilen, worin er uns an den trefflichen Riehl erinnert, oder seine
Gedanken über Wortkunde und die gegenseitige Annäherung oder Entfernung
der Kultursprachen, worin er unserem Rud. Hildebrand gleicht, oder in seinem
eigensten Gebiet, der Pädagogik, uns reiche und tiefgehende Erklärung und Be-
lehrung geben (so über Schule und Eigenart der Schüler, Unterricht und Inter-
esse, Universität und höhere Schule, die Pädagogik unter den Universitätswissen-
schaften, die Vorbildung der Lehrer neuerer Sprachen und den lebendigen Sprach-
unterricht in diesen usw.). Ein überreicher Inhalt; und dabei ist vieles nur an-
gedeutet, was nicht zu weiterer Ausführung gekommen ist, zu manchem nur eine
Anregung gegeben, Probleme mitgeteilt (zu S. 328) und S. 316 noch über ein
Dutzend Fragen, die nicht beantwortet werden, aber der Beantwortung wert
sind, aufgezählt.
Aus den Stellen voll kostbaren Humors hebe ich just (um dies von M. gern
gebrauchte Wörtchen hier auch einmal anzuwenden) die eine, S. 227, heraus über
die jetzige jüngere Frauenwelt und ihre Bismarck-Handschrift. Viele goldene
Regeln enthält das Buch für Lehrer und Laien, treffende Bilder und Vergleiche,
sentenziöse Gedanken und unter den ,, Gelegentlichen Betrachtungen" schöne Sen-
tenzen. Ich teile eine solche Stelle (S. 330) mit. „Läßt sich die oft schroffe persönliche
Polemik deutscher Gelehrten durch den Hinweis rechtfertigen, daß nur der sie
ganz erfüllende Eifer um die Wahrheit dabei über alle persönliche Rücksicht ob-
siege? Ach, die Wahrheit ist viel zu wenig grobschlächtig, als daß sie in dieser
Weise ihre Sache geführt sehen möchte. Sie ist von zartem, stillem, empfindlichem
Wesen, ist eine Muhme der Gerechtigkeit, die auch ihrerseits nur mit feinem Tritt
und Griff zu finden und zu fassen ist." In einer stillen ,, Stunde der Kontem-
plation" versenken wir uns mit ihm in den ,, Geist der Zeit", eine Betrachtung
über den ,,Haß der Elemente" und die Dezemberbetrachtung „Dem Licht ent-
gegen", und wir kehren davon zurück innerlich reicher und besser. Wie schön
ist der Schluß der letztgenannten Betrachtung! „Ehedem wirkte der Weihnachts-
baum in der trauten Familienstube mit dem stillen Glanz seiner Wachslichtchen
wie das Herüberleuchten aus einer Feen- und Märchenwelt. Man hat seinen Licht-
glanz sehr gesteigert, und man stellt nun gern gigantische Tannenbäume auf in
Vereinssälen, vor Massenversammlungen, in Wirtshäusern. Aus dem Stillen ist
Lautes geworden, aus dem Traulichen Imponierendes. Vergrößerung ist hier immer
in Gefahr, zugleich Aushöhlung zu bedeuten. Die Wachslichter waren und bleiben
doch das Schönere, so wie Liebe und Treue und Echtheit und Herzensfriede das
Kostbarere bleiben gegenüber allem Festrausch und Geistesglanz und Ruhmes-
streben, und wie in dem Wert der Einzelleben der eigentliche Wert der Nation
begriffen ist. Und wenn es sein muß, kann sich an der Wachskerze auch mäch-
tiges Feuer entzünden, Feuer, das in die Weite glüht und ins Große wirkt. Aus
stiller Wärme mag begeisterte Tatkraft werden. Ist es nicht schon einmal so bei
uns gewesen, vor nun hundert Jahren? Möchten wir dem Geschlechte von damals
nicht allzu unähnlich geworden sein. Wenn wir nicht solchen Lichtes in uns er-
mangeln, können wir unsere Wege schreiten, auch dem Dunkel entgegen" (S. 326).
A. Matthias, Rückblick auf Wilhelm Münchs sonstiges Schaffen. 227
Mindestens jede Lehrerbibliothek nehme das Buch in ihren Bestand auf,
man sorge auch in pädagogischen Seminarien dafür, daß die angehenden Lehrer
sich mit dem Inhalt vertraut machen und des reichen Segens, den es ihnen bieten
kann, teilhaftig werden, um so für ihren Beruf als „nationale Erzieher, Hüter
und in gewissem Maße Bürgen der Zukunft der Nation" (S. 191) immer vertiefter,
klarer, besser, wärmer und vollkonunener zu werden.
Cassel. Fr. Heußner.
Rückblick auf Wilhelm Münchs sonstiges Schaffen.
Die vorstehende Besprechung war niedergeschrieben kurz vor dem Dahin-
scheiden Wilhelm Münchs, der uns am 25. März durch den Tod entrissen ist; es
ist mir ein Bedürfnis, noch einige schlichte Worte des Gedenkens an Münch und
sein reiches Schaffen hinzuzufügen. Denn mit ihm ist ein Freund und Berater der
pädagogischen Welt heimgegangen, den wir noch lange schmerzlich vermissen
werden, weil sein feines Urteil, das von der Höhe des Lebens kam, in den Unruhen
und alltäglichen Sorgen des Daseins immer etwas Beruhigendes und Sonntägliches
an sich trug. Das letzte Buch trägt einen den ganzen Mann charakterisierenden
Titel: ,,Zum deutschen Kultur- und Bildungsleben", wie auch schon sein vorletztes
Werk (erschienen bei Beck in München 1909), das ,, Kultur und Erziehung" sich
betitelte. Gegenwartskultur und Erziehung, Gegenwartskultur und Bildung;
das waren die beiden Pole, um welche Münchs Gedankenwelt sich drehte. Münch
war Schulmann und Weltmann zugleich. Die Probleme, die er stellte, sie erwuchsen
aus dem Unterricht und verbanden sich mit Fragen der Erziehung, der Bildung
und der Kultur unseres Volkes. Und die Gedanken über Kultur der Gegenwart, über
Menschenbildung und Erziehung wurden angewandt auf Unterrichtsfragen und
erhoben diese auf höhere Zinnen aus der Niederung der Schulstube hinaus. Dieser
größeren Weite des Blicks und der großzügigen Betrachtung der Dinge wuchs
Münch ganz allmählich zu. Sein erstes Buch, die vermischten Aufsätze über Unter-
richtsziele und Unterrichtskunst an höheren Schulen (1888 erschienen bei Gaertner,
Berlin, später in die Weidmannsche Buchhandlung übergegangen, 2. Auflage 1896),
bewegten sich noch mehr im Gebiete des Unterrichts und zwar der Muttersprache
sowie der neueren Fremdsprachen. Auch die neuen pädagogischen Beiträge (Gaertner,
Berlin 1893) und seine Didaktik und Methodik des französischen Unterrichts in dem
großen Baumeisterschen Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre (Beck,
München 1898) hielten sich in den Grenzen des Unterrichts und der Schule; doch
gingen die Gedanken "der „Nachlese" in den pädagogischen Beiträgen schon philo-
sophierend in die weite Welt und unter die Menschen jenseits der Schulmauern. Und
mit dem Buche Menschenart und Jugendbildung (Berlin 1900, Gaertner und Weid-
mannsche Buchhandlung), stand er schon ganz auf dem Boden, auf dem er sich in
seinem letzten Buch so gewandt, so gerecht, so voll von Geist und schönem Humor
innerhalb und außerhalb der Schule bewegt.
Sein Hauptwerk war und bleibt in Zukunft das Buch „Geist des Lehramts"
(1903, Georg Reimer, in 2. Auflage 1905), ein Buch reich an Inhalt und fein und
15*
228 A, Matthias, Rückblick auf Wilhelm Münchs sonstiges Schaffen.
eigenartig in seiner Form. Dieses Buch gleicht einem stattlichen Baume, dessen
zwei mächtige Stämme „Erziehung" und ,, Unterricht" darstellen, dessen Äste
und Verästelungen sich vielgestaltig weit dehnen in Welt und Menschenleben
hinaus; und jedes Blatt ist lebenskräftig und zeigt seine besondere Schönheiten,
die sorgsamster Prüfung standhalten.
Neben seinem Hauptwerk steht die „Zukunftspädagogik" als eine beachtens-
werte Erscheinung da (Berlin 1904, Georg Reimer; in 2. Auflage 1908). In diesem
Buche, das den Nebentitel trug ,, Utopien, Ideale und Möglichkeiten", hielt Münch
gleichsam Parade ab über die Reformer und Zukunftspädagogen beiderlei Ge-
schlechts, über maßlose und maßvolle von Ellen Key bis Rudolf Lehmann. Der
Inhalt aller Schriften (auch das gar nicht Lesenswerte hatte Münch gelesen) wurde
mit großer Objektivität wiedergegeben und Kritik mit der Münch eigenen Zurück-
haltung geübt. An positiven Vorschlägen fehlte es in der ersten Auflage; die zweite
brachte Münchs eigenes Programm, das von reicher Erfahrung und weiser Maß-
haltung zeugt. — Einen ähnlichen Gang wie in der Zukunftspädagogik vollzog
Münch in seinem Buche von der Fürstenerziehung (München 1909, Beck), indem
er sich mit großer Geduld durch den Wust von Gedanken, die von den ältesten
bis in die neuen Zeiten abgelagert waren, durcharbeitete und die Spreu von dem
Weizen zu sondern suchte, wobei dann die Ernte kaum der Mühe wert sich zeigte.
Neben diesen größeren Werken hat Münch dann noch kleinere Werke ge-
schrieben wie „Eltern, Lehrer und Schulen in der Gegenwart" (Berlin 1906, Alexander
Duncker) und Jean Paul, der Verfasser der Levana (Berlin 1907, Reuther
& Reichard).
Durch alle diese Werke, die großen wie die kleinen, zog sich viel philosophisches
und poetisches Rankenwerk, das Münch hier und da auch wohl als Nachlese oder
,, gelegentliche Betrachtungen" anfügte; dieses gelegentliche Nebenwerk ist ganz
besonders erquicklich, weil hier der Künstler und geistreiche Mann uns persönlich
recht nahe tritt durch das, was er auf seinem Lebenswege hier und dort erfahren
und erlebt. Köstliche Gaben, die für die Familie feine Kost bieten; Sonntagsbücher,
die nach der Arbeit zur. Ruhe einladen und zur Erholung dienende Lektüre: Es
sind das die „Gestalten am Wege" (Berlin, deutsche Bücherei, Bd. 42), „Die Leute
von ehedem" (Leipzig 1908, Amelang), die ,, Seltsamen Alltagsmenschen" (Mün-
chen 1910, Beck), „Allerlei Menschliches" (Berlin, deutsche Bücherei, Bd. 37)
und schließlich — last not least — die köstlichen Anmerkungen zum Texte des
Lebens (Berlin 1904, Weidmannsche Buchhandlung), in denen sich das volle Leben
widerspiegelt, wie es Münch gelebt. Der Buchtext, dem sie dienen sollen, ist wirklich
gehaltvoll und reich und vieldeutig. Dieser Buchtext ist jetzt geschlössen.
Wie Münch daran gedacht, sagt er uns in der« letzten Anmerkung
in seinem Buche Kultur und Erziehung: ,,Wir spielen auf einer grünen Wiese,
die von einer Dornenhecke umzäunt wird. Und wir wissen, daß wir eines Tages
durch diese Hecke hindurchmüssen, hinaus in ein dunkles Land. Mitunter führt
unser Spiel uns der Hecke nah, oder auch ein wenig in sie hinein, aber oft fühlen
wir uns weit von ihr entfernt, sehen sie nicht und vergessen beinahe, daß sie da
ist. Dann kommt plötzlich von außen eine gewaltige Hand, faßt uns und zerrt uns
durch die Dornen hindurch, manchen an einer besonders dichten Stelle, so daß
C. Rothe, Soll die Homerkritik abdanken? 229
es lange währt und die Stacheln ihm bitter wehe tun, einige da, wo es undicht ist
oder eine Lücke gelassen scheint, so daß sie leicht und schmerzlos hindurchgezogen
werden auf die andere Seite. Und jedesmal, wenn der Griff der furchtbaren Hand
einen aus unserer Mitte erfaßt, erschrecken wir und klagen. Aber dann spielen
wir auf unserer gemeinsamen großen Wiese weiter." Wilhelm Münch ist nun auch
nicht mehr unter den Spielenden. Er ist schmerzlos hindurchgezogen durch die
Dornenhecke in das dunkle Land des Todes.
Berlin. A. Matthias.
Soll die Homerkritik abdanken?
In den Neuen Jahrbüchern 1912, S. 98 — 111, hat Cauer einen Aufsatz unter
der Überschrift: ,,SolI die Homerkritik abdanken?" veröffentlicht. Dieser enthält
weder eine klare Bestimmung dessen, was der Verfasser unter Homerkritik ver-
steht, noch gibt er eine deutliche Antwort auf die aufgeworfene Frage, sondern er
beschäftigt sich nur mit meinem Buche ,,Die Ilias als Dichtung" (s. diese Monat-
schrift S. 110 — 111), von dessen Inhalt er ein Bild entwirft, das ich nicht wieder-
erkenne. Bevor wir darauf eingehen, wollen wir das von Cauer Versäumte hier nach-
holen, da die Beantwortung der Frage ebenso im Interesse der Wissenschaft wie der
Homererklärung in der Schule liegt. Unter Homerkritik hat man die längste Zeit
des vorigen Jahrhunderts das Aufspüren von Widersprüchen und Unebenheiten
der Darstellung, von seltenen Worten und Formen, von verschiedenen Auffassungen
in bezug auf religiöse, geschichtliche und geographische Verhältnisse u. ä. ver-
standen. Diese Kritik sah in den homerischen Gedichten nicht Kunstwerke, sondern
Erzeugnisse eines überaus plumpen und geschmacklosen Menschen, dem man
Ehrentitel wie 'Flickpoet', 'Bearbeiter', 'Redaktor' u. a. gab. Dies,e kleinliche Kritik
hat sich nicht auf Homer beschränkt, wie ich ,, Ilias" S. 112 — 113 gezeigt habe,
sondern auch andere Dichter, z. B. Sophokles und Horaz, haben in gleicher Weise
darunter gelitten. Sie hat dem Ansehen der deutschen Philologie im Auslande,
das sich an diesen Untersuchungen fast gar nicht beteiligt hat, nicht wenig^ge-
schadet; das Wort „critique allemande" hat im Auslande etwa denselben Klang
wie vor 25 Jahren auf industriellem Gebiete das „made in Germany'\
Mindestens ebenso großen Schaden hat diese Kritik für die Erklärung Homers
in der Schule veranlaßt. Es sind mir in der Tat von gebildeten Männern die härtesten
Urteile gerade über den Homerunterricht, den sie empfangen haben, ausgesprochen
worden. Wo soll auch Begeisterung für einen Unterricht herkommen, wenn man
die Dichtung für ein elendes Machwerk hält? Ja, läge die Sache wirklich so, dann
müßten wir es geradezu für eine Versündigung an unserer Jugend ansehen, wenn
man auf den Gymnasien vier Jahre und auf den Realanstalten mehrere Monate
einem Dichter widmete, der diesen Namen gar nicht verdiente, in dessen Werk
wenig Gold neben viel Schlacke und wertlosem Metall zu finden wäre. Ein solcher
Unterricht könnte nur Unheil stiften, da er die Schüler geradezu irre werden ließe
an dem Kunstverstande des kunstsinnigsten Volkes des Altertums, das diese Dich-
tungen für vollendete Kunstwerke ansah und dem Dichter eine Bedeutung gegeben
hat wie keinem zweiten.
230 C. Rothe,
Der Schaden, den diese Kritik angerichtet hat, ist klar. Sind die Ergebnisse
derart, daß sie den Schaden aufwiegen und angenommen werden müssen? Ich
habe seit nunmehr 40 Jahren alle wesentlichen Schriften zur 'Homerischen Frage'
gelesen und seit länger als 30 Jahren in regelmäßigen Jahresberichten die neu er-
scheinenden besprochen, auch verschiedene kleinere Beiträge dazu geliefert. Ich
■darf mir also wohl ein Urteil gestatten. Für dieses Urteil sind folgende Punkte
bestimmend gewesen. Einmal befremdete es mich, daß die Ergebnisse der streng
wissenschaftlichen Untersuchungen, namentlich Kirchhoffs, jedem natürlichen
und künstlerischen Empfinden widersprachen — so wurde ich irre an der Richtig-
keit der Grundsätze, auf denen diese Kritik aufgebaut war (s. ,,Ilias" S. 93—95).
Mehr noch forderte zum Widerspruch heraus das gewaltsame, willkürliche Ver-
fahren dieser Kritik. Statt objektiv den Tatbestand, das Vorkommen älterer
und jüngerer Anschauungen, älterer und jüngerer sprachlicher Formen festzustellen,
verfuhr diese Kritik so, als ob schon erwiesen wäre, daß ältere und jüngere Gesänge
in derllias und Odyssee vereinigt seien, und änderte nun entweder gewaltsam den
Text oder verwarf an sich untadelige Versreihen, wenn diese ihrem Prinzip wider-
strebten. Wenn aber in jüngeren Teilen des Gedichtes ältere Vorstellungen sich
fanden, so griff sie zu dem Auskunftsmittel: der Dichter ,, archaisiere". Dabei
stimmten die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen durchaus nicht über-
ein (s. „Ilias" S. 21). Besonders führte der aus „Wiederholungen'' erschlossene
Beweis zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen, und es zeigte sich nicht selten,
daß recht beweiskräftige Stellen 'zufällig' von dem einen oder den anderen über-
sehen, daß Zahlen ungenau oder durch ein falsches Verfahren gewonnen oder von
anderen ohne jede Nachprüfung übernommen waren. Gegen eine solche unwissen-
schaftliche Kritik habe ich zuerst in der Abhandlung „Die Bedeutung der Wieder-
holungen für die Homerische Frage" (Festschrift d. Französ. Gymn. 1890) Ein-
spruch erhoben und dann immer wieder in den Jahresberichten auf das Fehlerhafte
und Unbefriedigende dieses Verfahrehs hingewiesen. Aber ich stand allein oder
fast allein, und die Anhänger der herrschenden Kritik haben, wie es in solchen
Fällen gewöhnlich geschieht, meine Einwände, die schwer zu widerlegen waren
(über die beiden Versuche, die gemacht sind, s. ,,llias" S. 43 — 44), einfach un-
beachtet gelassen. Erst in den letzten Jahren habe ich kräftige Unterstützung
gefunden bei J. A. Scott, der in einer Reihe kleinerer Aufsätze mehrere für ganz
sicher gehaltene Ergebnisse des „sprachlichen" Beweises nachgeprüft und dabei
in geradezu verblüffender Weise und ganz in Übereinstimmung mit meinen Unter-
suchungen das Fehlerhafte und Irreführende dieser Methode nachgewiesen hat.
Es sei mir gestattet, hier nur ein bezeichnendes Beispiel anzuführen, das ich schon
„Uias" S. 19—20 erwähnt habe. Cauer (GF^ S. 392— 393) führt aus, daß ab-
straktes Denken der homerischen Zeit noch fern lag, und schließt die Betrachtung
nach Anführung einzelner Beispiele mit den Worten: „Wenn wir an solchen Stellen
zu empfinden glauben, wie das Bedürfnis nach einem abstrakten Substantivum
sich meldet, so dürfen wir vermuten, daß in dieser Beziehung innerhalb der beiden
Epen ein Fortschritt erkennbar sein werde. Und das trifft zu. M. Croiset (Hist.
de la litt, grecque I [1887] p. 389) hat beobachtet, daß von den Substantiven auf
— lY], — ouvYj und — '6; die Ilias 39, die Odyssee 81 hat. Dies Verhältnis^von
Soll die Homerkritik abdanken? 231
1 : 2 überrascht — aber es beruht zunächst auf einem gemeinen Rechenfehler, den
Croiset selbst schon in der 2. Auflage (1898 S. 368) verbessert hat. Croiset hat näm-
lich bei den Substantiven auf — ouvt;, den zahlreichsten, die der Ilias und Odyssee
gemeinsamen nur der Odyssee, nicht aber auch der Ilias zugerechnet**. Geschieht
das, was nötig ist, so steigen die Substantiva in der Ilias auf 58, das Verhältnis
wird also ungefähr wie 3 : 4. Aber auch dies Verhältnis entspricht nicht dem wahren
Sachverhalt. Denn aus Gehrings Index homericus hat Scott festgestellt, daß Croiset
die abstrakten Substantiva sowohl auf — ouvyj wie auf — irj für die Ilias zu gering
angegeben hat. Eine genaue Zählung ergibt 79 (nicht 58), d. h. sie sind in beiden
Epen fast gleich; an dem geringen Unterschied kann leicht der Inhalt schuld sein.*)
Andere Beispiele mit dem gleichen Erfolge, daß eine gründliche Nachprüfung
die sichersten Beweise hinfällig macht, habe ich ,, Ilias" S. 345 — 347 und Jahresb.
1910 S. 361—368 angeführt. Andere wird der Jahresb. 1912 bringen. Denn nicht
nur Scott, sondern auch M. S t a w e 1 1 (Homer and the Iliad, London 1909) ist
mir zu Hilfe gekommen und hat lange für gesichert gehaltene Ergebnisse er-
schüttert; ebenso hat A. S h e w a n , The Odyssean books of the Iliad 1910 (The
classical Quaterly S. 73 — ^79) an einem anderen Beispiel diesen Nachweis geführt.
So sind allmählich auch andere Homerforscher meiner Ansicht beigetreten (s.
Jahresb. 1910 S. 368).
Genau so willkürlich ist die Kritik in der Ausnutzung der verschiedenen 'Kultur-
stufen' verfahren, die zweifellos in der Ilias und Odyssee zum Ausdruck kommen.
Ich habe darüber Ilias S. 72 — 81 gesprochen, und Cauer stimmt mir in der Be-
kämpfung der falschen Methode dieser Kritik bei und muß es tun, da er selbst wieder-
holt in der Besprechung solcher Schriften das Verkehrte dieser Methode betont
hat. So erklärt er a. a. 0. S. 100: ,,Daß ein Beweis für das Alter eines Gesanges,
eines unserer 2 x 24 Gesänge, sich schlechthin aus der Bewaffnung oder irgend einem
anderen kulturgeschichtlichen Merkmal nicht herleiten läßt, wie Rothe wiederholt
erinnert (S. 79, 82, 90), wird ihm heute wohl jeder zugeben"; und S. 101: „So
naiv wird doch wohl heute niemand mehr sein, daß er um der einleitenden Formel
willen (fl, 233), die aus Nordgriechenland stammt, das ganze Gebet des Achilles
<II, 233—^248), in dem der Zwist mit Agamemnon vorausgesetzt wird, für ein sicher
*) Hier gleich ein Beispiel, mit welcher Geschicklichkeit Cauer Sinn und Form
meiner Worte in seiner Besprechung zu ändern versteht, um mir Vorwürfe machen zu
können. Ich habe in der Freude über diese und ähnliche Nachweise Scotts, die meine
Ansicht bestätigten und mir erst beim Schreiben meines Buches bekannt wurden, zu
„II." S.21 die Anmerkung gemacht: „Daraus erhellt auch, daß ich Jahresb. 1909, S. 226 be-
rechtigt war, den Ergebnissen Wittes (Sing. u. Plural, Leipzig 1907) gegenüber
sehr mißtrauisch zu sein, da ich sie im einzelnen nicht nachprüfen konnte und sie auffallend
von anderen „Ergebnissen" abweichen. Es müßte z. B. danach das „ganz späte" w auf
einer Stufe stehen mit z oder •/'." Was macht Cauer daraus? Er schreibt a. a. 0., S. 99:
„Kurt Witte erwähnt er in einer Anmerkung, doch nur um zu erklären, daß er sich für
berechtigt halte, dessen Ergebnissen gegenüber sehr mißtrauisch zu sein: *da
ich sie im einzelnen nicht nachprüfen konnte, und sie auffallend von anderen Ergebnissen
abweichen'. So leicht wird Rothe mit dem Beweise fertig, daß von
fortgesetzter Analyse der Sprache für eine Abstufung der Schichten im Epos nichts zu
erwarten sei." Jeder Zusatz ist für einen unbefangenen Leser überflüssig.
232 C. Rothe,
ältestes Stück der llias halten wird." Wenn Cauer aber fortfährt: ,,Nur diesen
Irrtum trifft Rothes Abwehr (S. 85), nicht den ernsten Forschersinn, der, wie Erwin
Rohde es vermocht hat, den Spuren älteren Glaubens und veralteten Gebrauchs
bei Homer nachgeht", so habe ich völlig in Übereinstimmung mit Cauer die Berechti-
gung, ja den Wert dieser Kritik ausdrücklich anerkannt (S. 1 13) und nur ihre Grenzen
näher bestimmt (S. 354): ,,Wir finden in der llias wie in der Odyssee zahlreiche
'Rudimente' sowohl älterer Vorstellungen wie älterer sprachlicher und metrischer
Formen. Diesen nachzugehen und sie zu erklären, wird noch lange Gegenstand der
Untersuchung und Forschung sein; aber diese wird nur dann in den richtigen
Bahnen wandeln, wenn sie dabei völlig absieht von der sogenannten höheren Kritik
und nur rein objektiv den Tatbestand feststellt"; dazu führe ich einige Beispiele
an, wie es zu geschehen hat. Wer diese Bemerkung mit den eben angeführten Sätzen
Cauers vergleicht, wird zugeben, daß kaum ein merklicher Unterschied in der
Beurteilung dieser Untersuchungen besteht.
Wie ist es nun verständlich, daß Cauer mit den härtesten Ausdrücken meine
Ansicht angreift, mir 'kritischen Nihilismus' (S. 105) vorwirft, obwohl ich gerade
in dem ganzen Buche, besonders aber in dem Abschnitt S. 92 — 110, eine sichere
Grundlage für die Kritik habe gewinnen und nicht zerstören, wie der Nihilismus
es tut, sondern aufbauen wollen, daß er ferner meine Ansicht falsch wiedergibt,*)
ja, mir Vorstellungen unterschiebt, die ich gerade entschieden bekämpfe? Meine
Darstellung kann kaum schuld an Cauers Mißverständnis sein; denn mit seltener
Einstimmigkeit hat die öffentlich wie private Kritik des Inlandes wie Auslandes
die Klarheit meiner Darstellung anerkannt (z. B. ,,was dieses Werk besonders
auszeichnet, ist, daß es für jeden Laien absolut verständlich ist", oder: ,,was noch
besondere lobende Erwähnung an dem Rotheschen Buche verdient, ist die überall
verständliche, von keiner Stubengelehrtheit getrübte, lebensfrische Sprache", und
A. Shewan schreibt: the book is written in a clear and simple style that distinguishe^
it from many German treaiises on Homeric matters). Die Anerkennung gilt der Sache;
denn octtXoüc 6 jxö^o? xr^? dXvjöstots Icpu. Für diese hat Cauer kein Verständnis.
Dies erklärt alles: Cauer hat eine ganz unklare, unfaßbare Vorstellung von der
Eigenheit der homerischen Gedichte. Seine Gedanken sind so sehr auf das Ein-
zelne gerichtet, daß er den Blick auf das Ganze völlig verloren hat. Er verwechselt
fortwährend — und er hat dabei viele Gesinnungsgenossen — das Material, die
Bausteine, aus denen der Meister den kunstvollen Bau aufgeführt hat, mit dem
Kunstwerk, ja mit dem Meister selbst. Denn er schreibt in einem langen, schwer
verständlichen Satze (S. 108—109): „Von den ältesten Göttermythen an, von
denen der lepo? ^ccfio?, Poseidons Meerfahrt noch Zeugnis geben, von der in Thessa-
lien erwachsenen Sage, daß die Himmlischen auf dem Olymp ihre Wohnung haben,
*) Ich habe am 8. März eine 'Berichtigung' der sieben schwersten Fälle von Ent-
stellung an die Redaktion der Jahrbücher eingesandt mit der Bitte, sie im nächsten (April-)
Heft zu veröffentlichen, weil ich glaubte, daß ich dies auf Grund des Preßgesetzes ver-
langen könne. Die Redaktion aber hat mir leider erklärt, daß die nächsten Hefte mit
Stoff besetzt seien, sie aber 'vielleicht' im Sommer den Aufsatz bringen werde. Bis dahin
erscheint vielleicht auch mein neuer Jahresbericht, in dem ich^die Frage eingehend be-
handeln werde. '
Soll die Homerkritik abdanken? 233
von den dort entstandenen Liedern . . . weiter zu einem rein menschlichen Helden-
gesange usw.: das ist alles 'Home r\ Damit tut Cauer zweifellos unserem Sprach-
gefühl Zwang an, das in Homer einen wirklichen Menschen, nicht die Entwicklung
der griechischen Götter- und Heldensage, nicht den epischen Gesang selbst sieht;
ja der Relativsatz, den Cauer auf 'Homer' folgen läßt, wirft seine eigene Deutung
um und nähert sich unserer Auffassung in den Worten: ,,von dem allen findet
sich in mannigfaltig verschlungenen Zügen ... ein wunderbares Gemisch in den
beiden großen Werken die seinen Namen tragen". Diese Werke aber sollen, wenn ich
Cauer recht verstehe, gewissermaßen mit der Zeit von selbst entstanden sein, ganz
wie andere Kritiker große Schönheiten in den Gedichten von selbst entstehen
lassen. Denn Cauer schreibt (S. 101): „Etwas anderes wollen wir auch bei Homer
nicht, als Ursprung und Gang der Überlieferung aufsuchen, durch welche zeitlich
und räumlich geschiedene Elemente zu Bestandteilen einer einheitlich anmutenden
Dichtung geworden sind." Wenn ich Cauer richtig verstehe, so sieht er in den
homerischen Gedichten Gebilde, die ähnlich nirgends in der Weltliteratur existieren.
Zwar finden wir in unzweifelhaft einheitlichen Werken — ich habe ,,Ilias" S. 82 — 85
mehrere Beispiele aus älterer und neuerer Zeit angeführt — religiöse und andere
Vorstellungen vereinigt, die aus ganz verschiedenen, oft weit auseinanderliegenden
Zeiten stammen, aber immer ist es e i n D i c h t e r , der das Kunstwerk geschaffen,
der diese verschiedenen Vorstellungen nur als Bausteine seines Werkes benutzt
hat — und diese bestimmte dichterische Persönlichkeit ist mir bei fortgesetzter
und vertiefter Beschäftigung mit Homer auch aus seinen Werken mit immer klareren
Zügen hervorgetreten, und ich habe ein ganz individuelles Bild von ihm, ,,Ilias"
S. 119 — 141, zu entwerfen versucht.
Andererseits führte mich der deutsche Unterricht in den oberen Klassen dazu,
tiefere Einblicke in die Werkstatt unserer Klassiker zu tun und aus ihren Ge-
sprächen und Briefen Aufschluß über die Entstehung ihrer Meisterwerke zu erhalten;
ich fand zu meiner eigenen Überraschung, daß ,, unter dem Zwange der Kompo-
sition", um einen Ausdruck A. Römers zu gebrauchen, sie Widersprüche und Un-
ebenheiten nicht vermieden, ja sich ihrer voll bewußt gewesen waren, aber sie zu-
gelassen hatten, „um eine höhere Schönheit zu erreichen". Dadurch fiel für mich
Licht auf die Komposition der homerischen Gedichte; eine große Anzahl Anstöße
der Dichtung, die von der Kritik aufgedeckt sind, erklärte sich auf diese Weise
durchaus einfach und natürlich. Ich habe meine Gedanken darüber in einem Pro-
gramm (1894) auseinandergesetzt und seitdem immer wieder in den Jahresberichten
auf andere Fälle hingewiesen. Seitdem sind schon mehrere vortreffliche Arbeiten
über die 'Technik' in den homerischen Gesängen erschienen, welche uns ein tieferes
Verständnis homerischer Kunst gebracht haben. Zweifellos gehören auch solche
Untersuchungen zur 'Homerkritik', und es ist ein Mangel des Cauerschen Aufsatzes,
daß er unter 'Homerkritik' allein die 'auflösende' oder 'negative' versteht — die
Engländer sprechen von 'dissecters' und die Franzosen neuerdings auch von
'dissecteurs' — und nicht auch die 'ästhetische' oder 'positive* bei der Frage:
„Soll die Homerkritik abdanken?" behandelt.
Damit komme ich zum schwersten Vorwurf, den ich gegen Cauer wegen der
Besprechung meines Buches erheben muß. Mein Buch ist veranlaßt worden durch
234 C. Rothe,
die seit Veröffentlichung meines Programms immer wieder an mich gerichteten
Aufforderungen von Kollegen, die Homer zu erklären hatten, einmal die ganze
Ilias und Odyssee so zu behandeln, wie in jenem Programm und in meinen Jahres-
berichten einzelne Stellen erklärt waren. Ich bin sehr zögernd an die
Aufgabe gegangen; denn ich war mir über ihre Schwierigkeit vollkommen klar.
Aber meine Mühe, und sie ist nicht gering gewesen, ist reichlich belohnt worden
durch die Anerkennung, ja, den warmen Dank, den meine Arbeit gerade in den
Kreisen gefunden hat, die ich bei der Abfassung in erster Linie im Auge hatte.
Ich kann die Leser dieser Monatschrift auf die Besprechung E. Grünwalds (S.llO — 1 1 1
dieses Jahrganges) hinweisen, mit der im wesentlichen die bisher erschienenen (18)
öffentlichen Kritiken des In- und Auslandes übereinstimmen, selbst solche, die
Einsprüche erheben gegen meine Stellung zu der herrschenden Homerkritik, wie
z. B. Hennings Berl. phil. Wochenschrift 1911, Sp. 449—450. Von den vielen Zu-
schriften aber, die ich zum Teil von mir ganz unbekannten Fachgenossen erhalten
habe, will ich — man möge es mir nicht übel deuten — wenigstens eine Steile an-
führen, weil sie am schärfsten den Punkt bezeichnet, auf den ich den höchsten Wert
gelegt habe. Die Stelle stammt aus dem Briefe eines Gymnasialdirektors, den ich
bis dahin, wie ich ausdrücklich bemerken muß, nicht kannte: „Ihr vortreffliches
Buch 'Die Ilias als Dichtung' habe ich nicht nur selbst mit größtem Interesse gelesen,
sondern auch mit bestem Erfolge im Unterrichte verwertet. Ich bin ihnen für diese
schöne Gabe aufrichtig dankbar .... (ich) sehe bei der Schulinterpretation, daß
den Primanern die Ilias jetzt, wo sie überall auf Zweck und
Kunstmittel des einen großen Dichters hingewiesen werden, ein ganz
anderes Interesse erregt als früher, wo sie auf Widersprüche und Un-
ebenheiten hingewiesen wurden." Das ist wirklich der schönste Lohn meiner Arbeit.
Wie verhält sich dazu Cauer? Von dem Hauptinhalt meines Buches, von
dem eben bezeichneten, von allen anderen erkannten Zweck — schweigt er
vollständig, ja noch schlimmer, er stellt mich geradezu auf den vorwolf-
fischen Standpunkt (S. 109 Mitte, ich komme darauf im Jahresb. zurück), obwohl,
ich in meinem ganzen Buche gerade die kritiklose Würdigung Homers bekämpfe
und namentlich im Anschluß an Jacob Grimm davor warne, in Homer einen ' Ideal-
dichter' zu sehen, den es nie gegeben habe; endlich aber faßt Cauer sein Urteil über
mein Buch (S. 102 — 103) so zusammen: „Rothe rechnet sie (die xoXo? jxaxTj) nicht
nur nicht zu den jüngsten, sondern zu den älteren Teilen der Ilias, vor 17, wahr-
scheinlich auch vor A gedichtet (S. 226 f.). Wer so urteilt, in diesem und manchem
ähnlichen Falle, stellt sich eigentlich außerhalb der Wissen-
schaft. Trotzdem könnte er . . . nicht nur die Einzelerklärung fördern, sondern
auch, für solche Leser, die sich ungestört an dem Kunstwerk erfreuen wollen, eine
gerundete und wohltuende Gesamtanschauung bieten. Aber dieses Zweite
jedenfalls hat Rothe nicht erreich t." Man dürfte leicht in dem
'jedenfalls' des letzten Satzes einen hohen Grad von Anmaßung finden; es handelt
sich doch hier um ein rein subjektives Urteil, und da darf doch Cauer nur für sich,
nicht aber für alle sprechen. Tatsächlich steht auch dieses Urteil in auffallendem
Gegensatze zu allen Urteilen, die über das Buch ausgesprochen sind. Es wird nicht
nur in der öffentlichen Kritik, sondern auch in Zuschriften besonders hervorgehoben.
Soll die Homerkritik abdanken? 235
daß es eine „Freude ist, das Buch zu lesen", selbst von Ausländern. So nennt es
Miß Stawell (Journ. of Hellen. Stud. 1911 p. 126): „most delightful and instruc-
iive*\ und Musee beige 1911 p. 186—187 sagt A. Gregoire: „Encore un livre qui
satisfera les admirateurs d' Homere, ceux que genent dans leurs jouissances esthiti-
^ues , . . les temirites impertinentes des diascevastes modernes ... Onressent
beaucoup de p lai sir ä lir e le livre de M. Rothe/' Cauer hat nicht selten
in seinen Kritiken darüber gespottet, daß, je unsicherer eine Sache sei, um so zu-
versichtlicher die Worte von Homerforschern („bekanntlich", „sicher ist") seien.
Sollte er nicht hier mit seinem 'jedenfalls' sich in gleicher Lage befinden?
Wenn mit diesem Urteil Cauer so ziemlich allein stehen dürfte, so liegt die
Sache anders mit dem Vorwurf der 'Unwissenschaftlichkeit'. Cauer spricht hier
zunächst das Urteil Mülders über die 'Unitarier' nach (vgl. Jahresb. 1907, S. 294 u.ff.),
und zweifellos hat er noch eine ganze Zahl Gesinnungsgenossen, die die Krone
philologischer 'Wissenschaft' nur im Aufstellen kühner Vermutungen {'temirites
impertinentes') sehen und sie durch fünf oder noch mehr Gründe zu stützen suchen,
um durch die Zahl zu wirken, da jeder einzelne anfechtbar ist ('10 schlechte Gründe',
pflegte Moritz Haupt zu sagen, 'machen noch lange keinen wirklichen'). Indes zu
denken gibt doch zunächst die Ansicht A. van Genneps, der (Mercure de France 1912
p. 154) am Schluß einer in jeder Beziehung zustimmenden Besprechung meines
Buches bemerkt: ,,// serait bon d'en piiblier une traduction frangaise pour les pro-
fesseurs de nos lycees et les etudiants de nos universites. (v. G. hat selbst ein Buch
La question d'Homere Paris 1909 herausgegeben!) lls verraient que la vraie
sei e nee alle mande (so !) n'est nullement caracterisee par l'abus de l'erudition,
Vhorreur des idees generales et la lour dem du raisonnement. Ces defauts se rencon-
trent, certes, aussi dans la science en Allemagne . . . mais ils ne sont pas germani-
ques . . . ; ils sont la transposition ä la science moderne des procedes scolastiques, eux-
memes d'origine Orientale, et plus precisement palestinienne/' Der Artikel ist Anfang
März dieses Jahres erschienen, Cauers Kritik im Februar; es wäre interessant zu
wissen, ob er eine Antwort auf Cauers vernichtendes Urteil sein sollte. Die Ansicht
über die 'wahre deutsche Wissenschaft' ist bezeichnend; sie rief mir ein Urteil zu-
rück, das ein von mir hochgeschätzter Mann mir als ersten Eindruck meines Buches
schrieb: ,,Ihr Buch ist eine Tat, sie war notwendig, wenn nicht die deutsche
Wissenschaft durch die Behandlung der 'Homerischen Frage' im Auslande um alles
Ansehen kommen sollte."
Und wie sieht denn sonst das Urteil über die Wissenschaftlichkeit meines
Buches aus? Ich will nur einige Männer anführen, die Cauer, selbst in seiner jetzigen
Stellung, wird anerkennen müssen. Ein deutscher Universitätsprofessor, D r e r u p
in München, den ich persönlich bis dahin nicht kannte, hat die letzte entscheidende
Anregung zur Abfassung des Buches gegeben und nach dem Erscheinen mir seine
freudige Zustimmung ausgesprochen. Gewidmet ist das Buch V a h 1 e n , dem
Nestor unter den deutschen Philologen, und er hat die Widmung nicht nur 'an-
genommen, sondern, nachdem er das Buch gelesen, mir ausdrücklich erklärt, daß
er 'die von mir angewandte Methode der Untersuchung für wissenschaftlich aliein
berechtigt halte' — und das ist nicht wunderbar, da ich ja wirklich nur seine Grund-
sätze der Kritik (ich bin sein Schüler) angewandt habe. J. van L e e u w e n ,
236 H. Weber,
Professor an der altberühmten Universität Leiden, bringt mir am Schluß einer äußerst
liebenswürdigen Besprechung (Museum 1911, p. 323) 'een eeresaluut' für meinen
mutigen Kampf dar und fährt dann fort: 'Zijn uitnemend werk was inderdaaä
waardig aan den grijzen Vahlen als eeregave fe worden opgedragen op diens tachtigsten
verjaardag'. J. A. Scott, Professor an der Northwestern Universität (Evan-
stone) in N.-Amerika schließt seine unbedingt zustimmende Rezension mit den
Worten (The class. Weekly 1911, p. 134 — 135): 'he has written a safe giiide for
all Homeric students. In my judgment this is t he best fruit of H omeric
s cholar shi p and no other book on Homer is so indispensable.' Endlich be-
merkt Nie. F e s t a , Professor an der Universität Rom, am Anfange des Auf-
satzes Dalla 'questione omerica' al poeta Omero (La Cultura 1911, No. 10): „Carl
Rothe, Die Ilias'als Dichtung, e l'opera piü ragguardevole di questi Ultimi tempi in-
torno alla questione omerica.'' Es wäre schlimm um die Wissenschaft bestellt,,
wenn ihre Hauptvertreter so über die Arbeit eines Mannes urteilten, der, wie Cauer
schreibt, sich „eigentlich außerhalb der Wissenschaft stellt'*. Doch nun Schluß.
Ich habe Cauer stets hochgeschätzt, ja zeitweilig geglaubt, ihm etwas näher
zu stehen, da wir beide gleichzeitig zu den Füßen unseres Meisters Kirchhoff ge-
sessen haben und seit dieser Zeit durch unsere Homerarbeiten in einer gewissen Ver-
bindung geblieben sind; aber er wird es mir nicht übel nehmen, daß ich trotz seiner
hohen Stellung sein Urteil über mein Buch sehr niedrig einschätze und den Ton
seiner Worte ebenso unbegreiflich finde wie die Entstellung des Sinnes, ja des
Wortlautes meiner Ausführung. Denn es kennt wohl keiner besser als Cauer
meine und ich seine Ansicht.
Friedenau. Carl Rothe.
Der Unterricht in der älteren deutschen Geschichte im Dienste
der staatsbürgerlichen Erziehung.*)
Die Ansicht, es fehle dem deutschen Volke noch sehr an der nötigen staats-
bürgerlichen Erziehung, verbreitet sich in immer weitere Kreise; Politiker aller
Parteien sind darüber einig. Ich möchte jedenfalls nicht wie Gymnasialdirektor
Prahl in Prenzlau in einem lesenswerten Aufsatz der „Preußischen Jahrbücher"**)
die staatsbürgerliche Erziehung kurzweg für eine „Zeitphrase" erklären. Sein
Satz: „Die Angst vor der Sozialdemokratie ist die Mutter der staatsbürgerlichen
Erziehung" scheint mir einseitig; er trifft allenfalls für die ersten Anfänge der Be-
wegung, die auf Einführung einer besseren Heranbildung der Jugend in jener Richtung
abzielt, zu; indessen hat sich jene Bewegung denn doch seitdem wesentlich vertieft
und erweitert.
Wie ich über die prinzipiellen Fragen denke, habe ich in einem Aufsatz der
„Monatschrift für höhereSchulen"***) dargetan, auf den ich im wesentlichen verweisen
*) Vortrag, gehalten auf der 51. Versammlung deutscher Philologen und Schul-
männer in Posen 1911.
♦*) „Staatsbürgerliche Erziehung und die Schule." April 1911. S. 1—14.
♦**) „Staatsbürgerliche Erziehung und Bürgerkunde." März- Aprilheft. 191k
S. 141—153.
Der Unterricht in der älteren deutsciien Geschichte usw. 237
muß. Danach besteht die bessere staatsbürgerliche Erziehung, deren das deutsche
Volk bei den schweren seine Zukunft bedrohenden Gefahren dringend bedarf,
nicht nur in der Verbreitung besserer Kenntnisse und tieferer Einsicht in diese
Gefahren, sondern auch, und zwar noch viel mehr, in der Erweckung lebhafteren
Interesses und Pflichtgefühls gegenüber den staatsbürgerlichen Aufgaben. Man
darf den Einfluß der Schulen hierauf nicht überschätzen; doch haben sie, nament-
lich auch die höheren, immerhin in beiden Richtungen noch mehr zu leisten, als
sie schon immer geleistet haben. Ein Mittel zu diesem Zwecke ist die Unterweisung
in der sogenannten „Bürgerkunde*', die meist ganz vorwiegend als Kenntnis der
rechtlichen, besonders staatsrechtlichen, und der nationalökonomischen Grund-
begriffe und Haupttatsachen aufgefaßt wird ; richtiger wäre es, den Begriff uni-
verseller zu fassen: Bürgerkunde ist die Kenntnis alles dessen, was ein Staatsbürger
von den Lebensfragen seines Volkes wissen sollte und müßte. Die Einführung der
Bürgerkunde in dem üblichen Sinne ist weder erforderlich noch wünschenswert,
auch nicht die Ansetzung besonderer Lehrstunden für sie; doch könnte vielleicht
die Vermehrung der Geschichtstunden in Oberprima um eine in Erwägung
gezogen werden, für die etwa eine Gesangstunde fortfallen könnte. Denn wenn
auch sämtliche Lehrfächer dem Zwecke der staatsbürgerlichen Erziehung dienstbar
zu machen sind, so doch in erster Linie der Unterricht in der Geschichte.
Ich freue mich, mich in den allgemeinen Grundfragen in Übereinstimmung
mit Prahl, mit H. Wolf, mit Fr. Neubauer, vor allem auch mit A. Matthias zu
befinden.
Als Grundirrtum bezeichnet z. B. Prahl mit Recht den, „bloßes Wissen müsse
auf die Gesinnung wirken" (S. 4). „Beibringen von Kenntnissen ist niemals Er-
ziehung; ein Unterricht in der Bürgerkunde ist noch keine Erziehung zum Staats-
bürger'' (S. 6). H. Wolf weist im Vorwort seines beachtenswerten Buches „An-
gewandte Geschichte"*) mit Recht „die wunderbare Auffassung" zurück, „die
Schule müsse die jungen Leute in a 1 1 e Einzelheiten unserer Heeres-, Verwaltungs-,
Gerichts-, Polizei- und Schulorganisation, in das Finanzwesen und die Sozial-
gesetze usw. einführen. Das würde eine unerträgliche Überbürdung sein, dazu
unglaublich langweilig. Soll denn für das spätere Leben nichts zum Lernen übrig
bleiben?" (Vorwort S. V, Anmerkung.) Der Titel seines Werkes soll bedeuten,
daß überall mit Bewußtsein Gegenwart und Vergangenheit in Verbindung gebracht
wird . . . „Vor allem müssen wir den Mut haben, für die wichtigen Fragen
unserer Zeit aus der Vergangenheit zu lernen, Folgerungen und Forderungen
zu ziehen." Dies versucht Wolf in der universellen Weise, auf die ich den größten
Wert lege.
Aus den Darlegungen von A. Matthias in der „Internationalen Wochenschrift
für Wissenschaft, Kunst und Technik"*) möchte ich hier besonders die vielfach
immer noch nicht genug beachtete scharfe Unterscheidung der Worte „Bürger-
kunde" und „staatsbürgerliche Erziehung" hervorheben. „Bei Bürgerkunde
handelt es sich um ein Wissen ... Die staatsbürgerliche Erziehung ist ein viel
*) Prof. Dr. Heinrich Wolf „Angewandte Geschichte. Eine Erziehung zum po-
litischen Denken und Wollen". Leipzig 1910.
**) „Bürgerkunde und staatsbürgerliche Erziehung." 5. Jahrgang. 1911. No. 1, 2, 3.
238 H. Weber,
weiterer Begriff; sie ist Charakter- und Willensbildung . . . .,
Schärfung des sozialen und nationalen Gewissens...'*
Die Schule hat, „damit Btirgerkunde nicht zu Spießbürgerkunde werde, jenes
Wissen vom Staat, das der Bürgerkunde gilt, umzusetzen in ethische Werte, die
das Gewissen schärfen, den Willen kräftigen und den Mut festigen" (S. 86). Es
gilt, „die großen Männer und die großen Ideen der Vergangenheit als die besten
treibenden Kräfte aller Bürgertugenden darzustellen". Die Einführung einer
systematischen Bürgerkunde nach Lehrbüchern, wie in Frankreich Paul Berts
„Instruction civique ä l'ecole" ,, brächte ödeste Langeweile oder oberflächliche
Phrasen macherei" (S. 83).
Ob es wünschenswert und möglich wäre, dem Geschichtsunterricht für seine
neue Aufgabe eine größere Stundenzahl einzuräumen?
Die meisten, die sich zu dieser Frage geäußert haben, sind, soweit ich sehe,,
nicht dieser Meinung. Ich stimme mit diesen darin überein, daß weder ein wissen-
schaftliches Lehrfach zugunsten des Geschichtsunterrichts verkürzt, noch die Zahl
der Schulstunden erhöht werden sollte, halte aber, wie schon erwähnt, die Frage
für erwägenswert, ob es nicht anginge, die Zahl der Geschichtstunden in Ober-
prima um e i n e zu vermehren, wogegen etwa eine Gesangstunde in dieser Klasse
ausfiele; man würde dann das recht umfangreiche Pensum der Unterprima ent-
lasten können, indem man etwa die Reformationsgeschichte, ganz oder voa
1555 an, nach Oberprima hinübernähme und so mehr Zeit für die ältere deutsche
Geschichte gewönne, während doch auch die neuere noch etwas eingehender behandelt
werden könnte. Ein so sachkundiger Beurteiler wie Friedrich Neubauer*) beantwortet
die Frage, ob der Geschichtsunterricht, so wie er heute, wenigstens in Preußen,
organisiert ist, alles das leisten könne, was zu wünschen wäre, mit einem ent-
schiedenen Nein. Schon jetzt könne das Lehrfach nur mit Mühe das Pensum
bewältigen; kaum ein anderes Lehrfach müsse so mit der Minute rechnen, so alle
Nerven anspannen; eine neue Belastung — durch systematische Zusammenfassung
des bürgerkundlichen Lehrstoffes am Schluß des Kursus, wie er sie vorschlägt —
könne der Unterricht der Oberprima „kaum ertragen" (S. 29). Die von Neubauer
empfohlenen Mittel der Abhilfe, wie z. B. eine Änderung des Verfahrens bei der
Reifeprüfung, würden nach ihm selbst nur „einigermaßen der jetzigen Not ab-
helfen". — In der Tat, die Not ist groß und zwingt, auf Hilfe zu denken!
In welcher Weise können nun die drei Perioden, in die man herkömmlich
die Geschichte einteilt, im Unterricht dem Zwecke der staatsbürgerlichen Er-
ziehung dienstbar gemacht werden?
Wie die historischen Grundbegriffe bei den einfacheren Verhältnissen der
antiken Welt den Schülern, schon in Quarta, besonders leicht klar gemacht werden
können und daher die alte Geschichte besonders fruchtbar für jenen Zweck gemacht
werden kann, ist oft, besonders gut von Oskar Jäger, dargelegt worden. Die neuere
und^^neueste deutsche, besonders die brandenburgisch-preußische Geschichte steht
uns so nahe und wir leben so in ihren Ergebnissen, daß es verhältnismäßig leicht
ist, Interesse und Verständnis für sie bei den Schülern zu erwecken und die An-
0 „Die höheren Schulen und die staatsbürgerliche Erziehung." 1911
Der Unterricht in der älteren deutschen Geschichte usw. 239
Wendung auf die Gegenwart zu finden; weniger günstig scheint es um die ältere
deutsche Geschichte zu stehen. „Das griechische und römische Altertum tritt**
— wie sich Matthias ausdrückt — „in den Vordergrund, weil gerade dort eine
Propädeutik der Bürgerkunde ist, wie sie nicht besser erfunden werden könnte,
wenn sie nicht vorhanden wäre; das Mittelalter tritt zurück, und erst die neuere
Zeit bietet wieder reichere Erträgnisse für staatskundliche Anregungen und Be-
lehrungen" (a. a. 0., S. 23).
In der Tat ist dem modernen Menschen nicht nur die neueste Zeit, in der
er selbst lebt und in die die Erinnerung an seine nächsten Vorfahren zurückführt,
und die „neuere Zeit" in dem üblichen Sinne des Wortes, sondern auch die Zeit
des klassischen Altertums in wichtigen Beziehungen leichter verständlich, liegt
ihm innerlich näher, als die dazwischen liegende Zeit. Zwar haben wir in dem
deutschen Bauernstande, wo er sich noch unberührt erhalten hat, noch einen hoch-
wichtigen Rest des alten deutschen Menschentums lebend um uns; dennoch wird
es dem heutigen Gebildeten — dem protestantischen vielleicht noch mehr als dem
der römischen Kirche angehörigen — überaus schwer, sich in die Zustände, nament-
lich die seelischen Zustände, des deutschen heidnischen Altertums, und vielleicht
noch schwerer, sich in die des christlich gewordenen deutschen Mittelalters hinein
zu versetzen. Mönchswesen und Rittertum, die beiden historischen Gebilde, in
denen sich der Geist des Mittelalters nach den beiden Richtungen der asketischea
Weltverneinung und der freudigen Weltbejahung am eigentümlichsten und groß-
artigsten verkörpert hat, sind uns fremdartiger und weniger verständlich nicht
nur als die uns umgebenden geschichtlichen Gestaltungen, sondern auch als die
des griechischen und römischen Altertums.
Andererseits aber beruht ja unser heutiges Volkstum auf dem früheren und
sind unsere heutigen Zustände, wie tief auch der Bruch mit der Vergangenheit
einschneidet, ohne Einsicht in jenes gar nicht zu verstehen. Selbst das Lehnswesen
des Mittelalters, das uns so seltsam anmutet^ lebt noch in immerhin nicht ganz
unbeträchtlichen Resten fort; die Entwicklung des modernen Staates, erst der
absoluten, dann der konstitutionellen Monarchie, läßt sich nur auf dem Hinter-
grund des Feudalstaates, aus dem er herausgeführt hat, begreifen. Und wer wollte
sich von den kirchlichen Verhältnissen der Gegenwart eine angemessene Vor-
stellung bilden ohne genauere Kenntnis der mittelalterlichen Kirche? Aber auch
noch in allen möglichen anderen Beziehungen weist die ältere deutsche Geschichte
auf die moderne hin und begründet die Einsicht in sie ein tieferes Verständnis
für die neuere Zeit. Wenn also auch das Mittelalter zurücktritt, so scheint mir doch,
als ob es keineswegs arm sei an Erträgnissen für staatskundliche Anregungen
und Belehrungen.
Ich verstehe unter der älteren deutschen Geschichte, über deren Ergiebigkeit
für die staatsbürgerliche Erziehung ich zu sprechen beabsichtige, den ganzen
Zeitraum von der germanischen Urzeit bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges^
also das deutsche Altertum, das deutsche Mittelalter und den ersten Abschnitt
der sogenannten „Neueren Geschichte". Prinzipiell mag das „Mittelalter" in
Deutschland und anderswo mit dem Auftreten Luthers gegen die Universalkirche zu
Ende sein, tatsächlich endet es doch eigentlich erst mit dem Jahre 1648. In dem
240 H. Weber,
grauenvollen großen Kriege ist das alte Deutschland zugrunde gegangen; nach ihm
beginnt das neue.
Die methodische Forderung, die heute für die Behandlung aller Geschichts-
perioden im Unterricht gilt, alles, was nur von antiquarischem Interesse ist, aus-
zuschalten, um für die staatsbürgerlichen Unterweisungen mehr Zeit zu gewinnen,
gilt in besonderem Maße für jenen Zeitabschnitt. Freilich ist, was für die eine
deutsche Landschaft nur antiquarischen Wert hat, vielleicht für eine andere von er-
heblicher Bedeutung. Wer z. B. in Thüringen wohnt, interessiert sich für die Wart-
burg und alles, was Sage und Geschichte vom eisernen Landgrafen, vom Sängerkrieg
und der heiligen Elisabeth, von Albrecht dem Unartigen und seiner Fehde mit
seinen Söhnen erzählt, lebhaft, während diese Dinge, soweit sie nicht etwa durch
die deutsche Kunst geweiht sind, für die Bewohner anderer Gegenden nur anti-
quarischen Wert haben. Jedenfalls müssen wir Älteren, die wir in unserer Jugend
Giesebrechts „Geschichte der deutschen Kaiserzeit '* mit heißem Bemühen studiert
haben, uns daran gewöhnen, mit unbarmherzigem Messer sehr Vieles aus dem Pensum
auszuschneiden, dessen Kenntnis uns wohl früher unumgänglich schien. Die Per-
sönlichkeiten der späteren deutschen Karolinger z. B. seit Ludwig dem Frommen
sind meist für uns so schattenhaft, daß es kaum noch lohnt, ihre Regierungszahlen
zu lernen. Gleiches gilt von den Namen der deutschen Herzöge, die sich gegen
Otto den Großen verschwuren, überhaupt von unzähligen Namen und Einzelzügen
aus Fehden und Kriegen der deutschen Kaiserzeit. Die besten neueren Lehrbücher,
wie z. B. die von Brettschneider und Neubauer, haben in dieser Hinsicht einen guten
Anfang gemacht, werden freilich fortab auch noch manches ausmerzen müssen.*)
Gute Winke gibt in dieser Beziehung die „Deutsche Geschichte*' von Einhart.**)
Das Buch enthält mancherlei Irrtümliches in Einzelheiten, auch dürfte der „all-
deutsche*' Standpunkt des Verfassers nicht jedem sympathisch sein, aber es ist
jedenfalls der große Zug, der Sinn für das Wesentlichste, der durch die Darstellung
geht, zu rühmen. Gleiche Anerkennung gebührt dem schon oben erwähnten Werke
von Heinrich Wolf „Angewandte Geschichte". Es gilt, die großen Hauptgesichts-
punkte, die eine praktische Anwendung auf die Gegenwart enthalten, recht heraus-
zuarbeiten und den Schülern so einzuprägen, daß sie ihnen in Fleisch und Blut über-
gehen.
Ich muß mich bei der Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung steht, darauf
beschränken, eine Anzahl solcher wichtiger Gesichtspunkte, die vielleicht zum Teil
noch nicht allgemein die wünschenswerte Berücksichtigung im Unterrichte finden,
andeutungsweise hervorzuheben.
Schon der erste Zusammenstoß der Germanen mit den Römern, die Kimbern-
schlacht bei Noreja, bietet Gelegenheit, auf eine der schätzenswertesten Eigen-
tümlichkeiten deutscher Art aufmerksam zu machen, den ,yfuror teutonicus'\ Diese
„deutsche Wut", die uns zu befallen pflegt, wenn wir durch tückische Hinterlist
*) Übrigens führt Neubauer in seiner Schrift „Die höheren Schulen und die staats-
bürgerliche Erziehung" 1911 treffend aus, daß man dabei doch auch nicht zu weit gehen
darf, ohne das Interesse am Unterricht zu vermindern, und daß durch Streichungen im
Lehrstoff aliein die Zeit, die nötig wäre, kaum gewonnen werden kann. (S. 26 — 28.)
♦*) Leipzig. 1909. 2. Auflage. 426 Seiten.
Der Unterricht in der älteren deutschen Geschichte usw. 241
oder freche Nichtachtung aus unserm Gleichmut aufgescheucht werden, zeigt,
daß wir trotz aller angeborenen Gutmütigkeit eins der leidenschaftlichsten Völker
sind, und wie albern das früher übliche Zerrbild des , »deutschen Michels" mit der
Zipfelmütze ist. Die letzte gewaltige Entladung der ,, deutschen Wut", die unseren
Feinden durch alle Jahrhunderte hindurch furchtbar gewesen ist, fand 1870 gegen
Frankreich statt; dies sollte sofort erwähnt werden.
Das planlose Hin- und Herziehen der Kimbern und Teutonen, ehe sie ihr eigent-
liches Hauptziel, Italien, aufsuchen, und daß sie gegen dieses erst aufbrechen,
als die rechte Zeit und Gelegenheit vorüber ist, bietet gleich im Anfang der deut-
schen Geschichte Anlaß, auf das Tragische in dieser hinzuweisen — man kann sie
ja geradezu in""gevvisser Hinsicht als eine Geschichte der versäumten Gelegenheiten
darstellen ! — sowie auf die eigentümliche politische Unfähigkeit, die leider ein Grund-
zug unseres Wesens ist. Diese zeigt sich besonders auch in der Feindseligkeit der
deutschen Stämme gegeneinander, dem mangelnden Gefühl für die Zusammen-
gehörigkeit. Schon Tiberius hat diesen urwüchsigen Par'ikularismus zu unserem
Verderben benutzt. Indem er die Stämme gegeneinander hetzte und in sie selbst
mitten hinein Feindschaft einer romfreundlichen gegen eine romfeindliche, nationale
Partei trug, hat er die schlaue Politik begonnen, die später am großartigsten
und erfolgreichsten von Ludwig XIV. und Napoleon 1. fortgesetzt worden ist.
Arminius und Segest sind Typen der deutschen Geschichte bis in die neueste
Zeit hinein.
Dieser politische Partikularismus, unser Unglück, ist die Folge derselben
Grundeigentümlichkeit deutschen Wesens, die auf dem Gebiete der geistigen
Tätigkeit, der Kultur im weitesten Sinne, gerade unser Charisma ist, des trotzigen
Selbständigkeitssinnes, des Individualismus; daher die Deutschen nächst den
geistesverwandten Griechen das genialste Volk auf dem Gebiete von Wissenschaft
und Kunst; daher bei uns die Reformation Luthers, bei dem „Volke geborener
Ketzer", wie uns Treitschke zu nennen liebte, auch unsere bei der römischen Kirche
verbliebenen Volksgenossen darin einbegreifend! — Der Romane der Herden-
mensch, durch große Führer leicht zu großen, gemeinsamen Leistungen fortzu-
reißen, der Germane, besonders der Deutsche, der Einzelmensch, sehr schwer zu
großem gemeinsamen Tun mit anderen zusammenzubringen ! Hier das Tragische
im Tode Armins, den seine Sippe erschlug, da er ,,regnum affectans'' seine Cherusker
und andere Stämme zum Kampfe gegen das römische Weltreich zusammen-
schließen wollte! — Also aller Segen und aller Fluch der deutschen Geschichte
von der Urzeit bis auf unsere Tage aus derselben Quelle!
Die deutsche Treue — ipsi fidem vocant — , wenn einmal der Mann sein Wort
gegeben hat, gegen den Fremden zum Schaden des eigenen Volkstums! Flavus
gegen den Bruder Armin, Stilicho gegen Alarich und Radagais, und alle die ger-
manischen Feldherren und Staatsmänner, die das römische Reich gegen den An-
sturm ihrer eigenen Volksgenossen geschützt haben ! Die bärenstarken Germanen
der Leibwache, denen die römischen Cäsaren sich lieber anvertrauten als römischen
Kriegern ! So bis auf die neueste Zeit der Rheinbündler, die begeistert Napoleon I.
umjubelten! Noch 1866 standen deutsche nächste Blutsverwandte nicht selten
-im Kampf auf verschiedenen Seiten. Und der tragische Lohn für solche Dienste
Monatschritt f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 16
242 H. Weber,
zum Schaden des eigenen Volkes! Schon Stilichos feige Ermordung, veranlaßt von
dem Imperator, der ihm alles verdankte, zeigt ihn!
Von höchstem hiteresse für die staatsbürgerliche Unterweisung ist die Kenntnis
der germanischen Urzustände. Weist sie doch zurück bis in die graue arische Ur-
zeit; ist doch unser Volk das einzige, dessen Entwicklung wir fast lückenlos von der
Stufe der Jäger und Viehzüchter bis zu den modernsten Zuständen verfolgen
können !
Der Übergang vom Nomadentum zur halben, dann zur ganzen Seßhaftigkeit
— arva per annos mutant — , von der Fleischnahrung, bei der das Wild der Ur-
wälder neben dem Vieh noch eine erhebliche Rolle spielt, zur überwiegend vege-
tabilischen Nahrung bietet das größte Interesse, besonders aber haben die deut-
lich zu verfolgende Entstehung des Staates aus der Familie in der Entwicklungs-
reihe: Familie, Sippe, Völkerschaft, Stamm, Reich und die urgermanischen Eigen-
tumsverhältnisse große Wichtigkeit für die staatsbürgerliche Einsicht. Privat-
eigentum besteht ursprünglich nur an der „Fahrhabe'*, Waffen, Gerätschaften usw.,
und am Vieh; es bildet sich dann zuerst aus an Haus und Hof, dann an dem selbst
urbar gemachten Ackerland; die „Almende*', Wiese, Wald, Wasser, bleibt Eigen-
tum der ganzen Dorfschaft. Ursprünglich also völliger agrarischer Kommunismus,-
der mit fortschreitender Kultur immer mehr beschränkt wird; die Arbeit tritt deut-
lich als Hauptgrund des Privateigentums hervor. Kommunismus also nicht ideales
Endziel menschlicher Eigentumsentwicklung, sondern durch die Kultur über-
wundener Rest barbarischer Urzeit!
Der Landbau erst ganz extensiv betrieben, dann immer intensiver! Wichtiger
Fortschritt die Düngung des Bodens ! Entwicklung des Ackerbaus in den drei großen
Hauptstufen, 1. der Feldgraswirtschaft, 2. der Dreifelderwirtschaft, 3. der Frucht-
wechselwirtschaft, auf die schon hinzudeuten ist ! Auf die überragende Wichtigkeit
der Landfrage ist hinzuweisen. Am meisten Boden braucht, um seinen Lebens-
unterhalt zu gewinnen, ein Volk von Jagdnomaden, weniger eins von Viehzüchtern,
noch weniger eins von seßhaften Bauern. Zunehmende Volkszahl zwingt zur Rodung
des Urwaldes und zu immer intensiverem Ackerbau, sofern nicht Ausdehnung durch
Eroberung fremden Bodens möglich ist. Diese zu versuchen, liegt dem Germanen
der alten Zeit näher als intensiverer Landbau; lieber mit dem Schwert als mit
dem Pflug sucht er der Landnot abzuhelfen. Diese Landnot ist die eigentliche
Hauptursache der sogenannten „Völkerwanderung**, besser „Völkerwanderungen",
die „relative** Landnot; nach unseren Begriffen, die wir immer mehr von Industrie
und Handel zu leben uns gewöhnt haben, wäre damals für die relativ geringe Volks-
zahl Land im Überfluß da gewesen; die früher übliche Überschätzung des ur-
germanischen Menschenreichtums ist nach H. Delbrücks Untersuchungen richtig
zu stellen. — Die „Völkerwanderung**, eine so großartige Leistung germanischer
Kraft sie ist, ist doch vor allem eine ungeheure Verschwendung dieser Kraft, die
fremden Völkern zugute gekommen ist. Die Deutschen gleichen von der Urzeit
her bis auf den heutigen Tag einem großsinnigen, mit ungeheuren Kräften aus-
gestatteten Menschen, der diese mit kindlicher Gedankenlosigkeit in unglaublicher
Weise vergeudet. Alle unsere Reichsgründungen auf römischem Boden sind zu-
grunde gegangen, zum Teil spurios, wie die der Vandalen. Dagegen sind die weiten
Der Unterricht in der älteren deutschen Geschichte usw. 243
Gebiete östlich der Saale und Elbe, die Germanen schon vorher jahrhundertelang
besiedelt hatten, verloren gegangen, zum Teil für alle Zukunft. Die Czechen in
Böhmen und Mähren statt der Markomannen und Quaden! Welche Stellung
hätte heute das Deutschtum ohne jene ungeheuren Verluste! Diese Verschwen-
dung deutscher Kraft dauert fort bis zum heutigen Tage, freilich in anderer Weise,
in der Form der Auswanderung nicht mehr von ganzen Völkern, sondern von
einzelnen; sie alle gehen dem Vaterlande ohne Entgelt verloren und stärken unsere
Nebenbuhler, während z. B. jeder Engländer in den englischen Kolonien, jeder Russe
in Asien sein Volkstum behält und dessen Ausbreitung fördert ! Der Hauptgrund
des Unterganges der Germanenreiche auf römischem Boden ist die geringe Volks-
zahl der Eroberer, ein Nebengrund nur, allerdings ein sehr wichtiger, ihr tieferer
Kulturstand. Das Entscheidende der Volkszahl bei allen solchen Ansiedelungen
in fremdsprachigem Lande ist schon hier hervorzuheben; so wird der Grund ge-
legt für die richtige Beurteilung der späteren deutschen Kolonisation im Osten
und für die Auswanderung in andere Länder, besonders nach Amerika — bis in
unsere Tage hinein.
Der Einführung des Christentums bei den Germanen hat z. B. G. Freytag
im ersten Bande seiner ,, Bilder aus der deutschen Vergangenheit** einen wunder-
vollen Abschnitt gewidmet. Überhaupt ist dieses Werk, in dem die gründliche
Sachkenntnis des Gelehrten, die Intuition des Dichters und das tiefe Gemüt des
kerndeutschen Mannes eine unvergleichliche Verbindung eingegangen sind, für Lehrer
wie für Schüler gleich unschätzbar in Rücksicht auf die staatsbürgerliche Erzie-
hung im tiefsten Sinne. Nur zwei Punkte möchte ich hervorheben. Die edelsten
Germanenvölker, die zuerst von den alten Göttern abfielen, sind sämtlich nicht
Athanasianer geworden, wie die Römer, sondern Arianer, d. h. nach der Auffassung
der „rechtgläubigen** Kirche Irrgläubige, Ketzer, weil es ihrem, frommen, ein-
fältigen Gefühle widersprach, daß Christus „der Sohn** Gott „dem Vater**
wesensgleich, nicht nur wesensähnlich sein sollte; das schien ihnen eine pietätlose
Auffassung. „Die arianische Anschauung von Christus als Gottes eigen Kind,
ein Königssohn, der dem Vater in Sohnestreue Untertan ist, entsprach dem ger-
manischen Volkssini.**, wie K. Hase in seiner „Kirchengeschichte*' (1900. Volks-
ausgabe. 12. Auflage. S. 167) bemerkt. Und ein zweites: gegen die Behauptung
der christlichen Glaubensboten, die ungetauft verstorbenen Vorfahren seien den
ewigen Feuerqualen der Hölle verfallen, empörte sich gerade bei den besten
unter unseren Ahnen das sittliche Gefühl, der herzliche Familiensinn, die Treue
zur Sippe, wie die Geschichte von der Taufe des Friesenfürsten Radbod unüber-
trefflich zeigt.
Die Ausbildung des Lehnswesens beweist die ungeheure Bedeutung der wirtschaft-
lichen Faktoren für die soziale und politische Entwicklung — die wir freilich zurzeit
nk:ht mehr zu unterschätzen, sondern eher zu überschätzen geneigt sind — , und der
Frage der Wehrpflicht, dessen, was man heute den „Militarismus** zu nennen pflegt.
Die urgermanische Einrichtung der allgemeinen Wehrpflicht — auf die man in Preußen
seit 1813/14 und dann fast überall in ganz Europa zurückgekommen ist — Pflicht,
zugleich auch Recht und Ehre der Freien, wird für die Ärmeren unter diesen immer
drückender und schließlich geradezu wirtschaftlich vernichtend, so daß sich die
16*
244 H. Weber,
freien Bauern, um sich wirtschaftlich zu retten, in die Unfreiheit stürzen, und es
bewahrheitet sich dann an ihnen furchtbar das Wort: Wehrlos, ehrlos! Selbst ein
Karl der Große kann diese trostlose Entwicklung nicht aufhalten; es zeigt sich die
Ohnmacht auch des mächtigsten einzelnen gegenüber der Gesamtheit ! Der heutige
, »Militarismus", über den so viel gejammert wird, ist eine Last spielend leicht
zu tragen im Vergleich mit der altdeutschen Heerbannpflicht! Den Kriegsdienst,
den die freien Bauern nicht mehr leisten, übernimmt der neue Kriegerstand der
berittenen Vasallen, der Ritter, vielfach aus dem alten Geburtsstande der Halb-
freien oder Unfreien hervorgehend. Aus ihnen entsteht dann unser niederer Adel.
Die Nachkommen der Unfreien werden, indem sie das Schwert führen, vornehm
und die Herren der Nachkommen der früheren Freien, die das Schwert nicht mehr
führen! G. Freytag hat diese grundlegende Veränderung in unseren ständischen
Verhältnissen in seinen „Ahnen" vortrefflich veranschaulicht. Wenn auch die
„Könige" wehrhaft und frei bleiben, so dünkt sich doch schon in der Reformations-
zeit der Nachkomme des früheren unfreien Marschalls Herrn Ivos als Edelmann
vornehmer denn Marcus König, den bürgerlichen Nachkommen Herrn Ivos, der
um 1220 nahe daran war, in den Fürstenstand emporzusteigen!
Der Kampf des regnum und des sacerdotium ist die Ursache, warum am Ende des
Mittelalters in Deutschland die Monarchie als solche ohnmächtig, die großen Vasallen
Fürsten, das Reich zersplittert ist, während in England und Frankreich die Monarchie
erstarkt, die großen Vasallen Untertanen, die Länder mächtige Einheitsstaaten
sind. Chlodwig, der erste Germanenkönig, der zur athanasianisch-römischen Kirche
übertrat, Winfried, der die deutsche Kirche dem Papste unterstellte, Karl der Große,
der den fränkischen König, Otto der Große, der den deutschen zum römischen
Kaiser machte, sind die Männer des Schicksals für uns geworden. Unermeßlicher
Segen und unermeßlicher Fluch ist aus dieser Verbindung Deutschlands mit Italien
für uns geflossen — jedes ernste historische Urteil ist zweiseitig, wie Treitschke oft
hervorhob. Man muß sich vor einseitig ghibellinischer Auffassung der italienischen
Politik unserer großen Kaiser hüten. Ihre Römerzüge — und im ganzen gilt dies
auch von der Beteiligung der Deutschen an den Kreuzzügen — sind doch überwiegend
für Deutschlands Gedeihen schädlich gewesen, eine ebensolche ungeheure Ver-
schwendung deutscher Kraft zur Erreichung unmöglicher Ziele wie die Völker-
wanderung. Nicht Friedrich Barbarossa, sondern Heinrich der Löwe war doch der
eigentliche Träger einer wahrhaft deutschen Politik. Man muß immer wieder auf
diesen Punkt hinweisen, in einer Zeit, wo wir allen Grund haben, mit unseren
Kräften hauszuhalten, da wir nicht mehr in dem Jugendalter sind, wo ein Volk sich
allenfalls dergleichen Vergeudung leisten kann.
Auch die inneren Zustände Deutschlands litten schwer darunter, daß seine
Herrscher ihr Interesse nicht auf ihr eigenes Land konzentrierten, namentlich ver-
sank die Bauernschaft so immer mehr in Unfreiheit. Daß sich an StelleTdieses
sinkenden alten freien Mittelstandes ein neuer in den aufblühenden Städten erhob,
ist eine Tatsache von fundamentaler Bedeutung für unsere Zukunft; wir ver-
danken ihr, daß Deutschland nicht die trostlose Entwicklung Polens geteilt hat,
wo es nur Herren und Knechte gab. Andererseits ist zu betonen, daß wir Deutsche
im Grunde ein Volk von Land- und Waldbewohnern sind — im Gegensatz zu den
Der Unterricht in der älteren deutschen Geschichte usw. 245
Romanen, den geborenen Städtern. Auch unsere bedeutendsten Städte blieben
im Mittelalter nach unseren Begriffen klein und wir blieben ein Bauernvolk. Man
sollte hinweisen auf das Hochbedenkliche der „Landflucht'* unserer Tage, der
übermäßigen Entwicklung der Städte, namentlich der großen. Die Umwandlung
aus einem mit der Natur in inniger Beziehung lebenden und daher frischen Land-
volk in ein der Natur entfremdetes Volk von großstädtischen Industriearbeitern
ist eine überaus gefährliche Veränderung, die das alte eigentümliche deutsche
Wesen an der Wurzel zu treffen droht! — Bei Besprechung der Zunftverfassung
des Mittelalters wird bereits der Unterschied zwischen dem selbständigen Hand-
werksmeister und seinen Gesellen einer-, dem modernen Unternehmer und den
Fabrikarbeitern andererseits kurz zu erläutern sein.
Während das Reich als solches nach dem Fall der Staufer politisch immer mehr
verfiel, blieb das deutsche Volk voll strotzender Kraft und vollbrachte gerade in
jenen letzten Jahrhunderten des Mittelalters seine großartigsten politischen Lei-
stungen, die Kolonisation der Slavenlande östlich der Elbe und Saale und die
Schaffung der deutschen Seemacht der Hansa — eine Warnung vor Überschätzung
der Regierungsformen als solcher!
Jene Kolonisationstätigkeit, geradezu die politische Haupttat der Deutschen
im Mittelalter, ein Ereignis allerersten Ranges, ist für die staatsbürgerliche Erziehung
von höchstem Werte durch die Lehren, die sie für die preußischen Ostmarken
in der Gegenwart enthält. Auf diese auch nur andeutungsweise einzugehen, muß
ich mir versagen. Des Sieges von Tannenberg sich zu rühmen, haben die Polen
wenig Grund, selbst wenn die Schlacht nicht geradezu durch den Verrat des deutschen
Eidechsenbundes verloren worden sein sollte. Treitschke nimmt diesen Verrat
an (,,Das deutsche Ordensland Preußen"), Delbrück bezweifelt ihn („Geschichte
der Kriegskunst" IV, 542). Übrigens sind die Verluste der Völkerwanderungszeit
damals nur zu einem geringen Teile wieder ausgeglichen worden. Böhmen, dessen
Hauptstadt unter Karl IV. eine wesentlich deutsche Stadt, gewissermaßen die deut-
sche Hauptstadt war, ragt z. B. heute als ein überwiegend czechisches Bollwerk
in das deutsche Land hinein. Daß die Przymisliden, die Plasten, die Könige von
Ungarn u. a. selbst die Deutschen in ihre Länder riefen, um sie zu kultivieren
und ertragreicher zu machen, ist stark hervorzuheben.
Die Erinnerung an die Seeherrlichkeit der Hansa in einer Zeit, wo es eine
englische Seemacht noch nicht gab, wirkt begeisternd in unseren Tagen, wo die
deutsche Seemacht nach jahrhundertelangem Schlaf wieder aufersteht. Noch wich-
tiger aber als die Erweckung stolzen Hochgefühls ist für uns die Einsicht in die
Ursachen des Verfalls der Hansa. Die eigentlich ausschlaggebende Ursache ist
nach Dietrich Schaefer, dem besten Kenner dieser Dinge, daß die Hansa, vom
Reich, um das sie sich selbst freilich nie bekümmert hatte, im Stich gelassen, nicht
imstande war, gegenüber der erstarkenden Macht der skandinavischen Staaten,
vor allem aber Englands, die See zu behaupten. Durch seine kriegerische Wehr-
losigkeit ist der stolze Bund zurückgegangen und hat Deutschland mit der See-
herrschaft seinen Anteil am Welthandel und an der Verteilung der neuentdeckten
überseeischen Gebiete verloren — eine Tatsache, deren Kenntnis von außerordent-
lichster Bedeutung für unsere Tage ist oder wenigstens sein sollte !
246 H. Weber,
Der historischen Größe von Männern wie Augustinus, Winfried, Gregor VIL,
Innozenz III., Loyola muß der Lehrer unter allen Umständen gerecht zu werden
suchen, auch wenn er etwa ihren Einfluß auf die deutsche Entwicklung als vor-
wiegend schädlich, ja geradezu verhängnisvoll ansieht; was für die bedeutenden
Vertreter der Papstkirche gilt, ist natürlich auch für ihre großen Gegner, für Wiclif,
Hus, Luther, Hütten, Gustav Adolf usw. zu fordern. Daß die Schüler aus dem Munde
des Lehrers, der vielleicht einer anderen Konfession als mancher von ihnen angehört,
ein möglichst objektives Urteil, namentlich eine freudige Anerkennung persön-
licher Vorzüge solcher geschichtlicher Persönlichkeiten, hört, deren kirchliche oder
politische Denk- und Handlungsweise jener selbst nicht billigt, ist für ein gedeih-
liches Verhältnis der christlichen Konfessionen, also für eine der Hauptschicksals-
fragen unserer Zukunft, gerade in unserer Zeit der wachsenden konfessionellen
Zwietracht von außerordentlicher Bedeutung.
Seit der Reformation ist zu der schon vollendeten politischen Zersplitterung
Deutschlands noch die kirchliche hinzugekommen. Ein origineller Denker wie
Karl Jentsch*) hält diese trotz alles Furchtbaren, das sie über unser Volk gebracht
hat, nicht für ein Unglück, sondern für ein Glück, da die Konfessionen einander
brauchten und gerade durch ihr Nebeneinanderbestehen sich gegenseitig vor Er-
starrung bewahrten und gesund erhielten. Jedenfalls ist denen, die Luther und sein
Werk für die nach ihrer Ansicht unselige „Glaubensspaltung" verantwortlich machen,
zu erwidern und auch im Unterricht zu betonen, daß diese nicht seine Schuld ist
— er wollte alle Deutschen vom Papsttum losreißen und war auch durchaus auf
dem Wege zu diesem Ziele. Wenn die Hälfte der Deutschen beim Papsttum verblieben
ist und bei uns nicht die Glaubenseinheit zustande gekommen ist, wie — im wesent-
lichen — in den anderen germanischen Ländern, so ist dafür verantwortlich zu
machen die schicksalsschwere Kaiserwahl von 1519 und der Regensburger Konvent
von 1524, der katholische Sonderbund der Häuser Habsburg und Witteisbach
in Bayern; dieser zwang die evangelischen Fürsten, dann auch einen Sonderbund
zu schließen, und so entstand die „Glaubensspaltung"; Ferdinand II. und Maxi-
milian von Bayern haben sie dann vollendet. — Daß Luther uns auf dem hoch-
wichtigen Gebiete der Sprache und später der Literatur im weitesten Sinne des
Wortes die Einigung gebracht hat, sollten auch die, die seine kirchliche Stellung
nicht billigen, und zwar sie besonders, stark hervorheben, nicht nur im deutschen,
sondern auch im geschichtlichen Unterricht!
Nicht, wie man früher meinte, die Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege ist
die traurigste der neueren deutschen Geschichte, sondern die Zeit vorher, nach
dem faulen Frieden zu Augsburg, da Deutschland noch von Kraft und Saft strotzte,
seine Bewohner aber für nichts Sinn hatten als für wüste Völlerei und für dog-
matisches Gezänk. Wir verdanken diese Einsicht bekanntlich J. G. Droysens
„Geschichte der preußischen Politik" und ihre Verbreitung besonders Treitschke.
Ihre Verwertung ist für die staatsbürgerliche Erziehung von höchster Bedeutung.
Auch der schroffste Protestant sollte unumwunden zugeben, daß die restaurierte
*) Karl Jentsch „Geschichtsphilosophische Gedanken" 1892 und „Christentum
und Kirche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" 1909. (736 S.)
Der Unterricht in der älteren deutschen Geschichte usw. 247
römische Kirche damals an geistigen, ja sogar an sittlichen Kräften über dem
verknöcherten, geistlos gewordenen Luthertum stand. Die Hexenbrände lohten
ebenso zahlreich in evangelischen wie in katholischen Landen, und ein edler Jesuit
war einer der ersten Bekämpfer des furchtbarsten Wahnes, der die arme Menschheit
heimgesucht hat.
Die Fortschritte, die die römische Kirche in jenem Zeitalter der ,, Gegen-
reformation" gemacht hat, verdankte sie ebenso sehr der bewunderungswürdigen
Aufopferungsfähigkeit der Jesuiten für die Sache, die sie nun einmal für die Sache
Gottes hielten, wie dem brudermörderischen Gezänk der Lutheraner und Refor-
mierten miteinander.
In diesem ist die eine Hauptursache zu suchen für den wohl größten und schwer-
sten aller Verluste an Land und Leuten, die Deutschland zu beklagen hat, den Ver-
lust der Niederlande, wie Treitschke dies in einem seiner wundervollen Aufsätze
ausgeführt hat.*) Nicht nur die römisch-katholischen deutschen Fürsten ver-
sagten den ,, Ketzern", sondern auch die lutherischen den „sakramentsschän-
derischen" Kalvinisten die Hilfe gegen das spanische Weltreich, um die sie flehent-
lich baten. So halfen die Niederländer sich selbst und wollten dann von dem
alten Mutterlande, das sie in der Todesnot im Stich gelassen, nichts mehr wissen.
So verloren wir die Mündung unseres größten und schönsten Stromes und zu-
gleich die Seemacht und Kolonialmacht, die sich dieser kleine deutsche Volks-
splitter schuf; so verloren wir die letzte große Gelegenheit, einen gewaltigen An-
teil an dem Besten der fremden Erdteile für uns in Sicherheit zu bringen und uns
Siedelungskolonien zu schaffen, in denen Millionen deutscher Bauern und Bürger
leben können, ohne für ihr Volkstum verloren zu gehen, — das „neue Deutschland"
über Meer zu gründen, das eine jährlich wachsende Zahl deutscher Politiker aus
ganz nüchternen realpolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen heraus zur
Rettung unserer Zukunft für nötig hält. Alle diese unwiederbringlichen Einbußen
sind die trostlosen Folgen des konfessionellen Haders jenes Zeitalters; der dreißig-
jährige Krieg aber ist das große Gottesgericht über die Deutschen, die über dem
Dogma das Christentum vergessen hatten; er predigt uns noch heute in erschüttern-
der Sprache die Lehre, daß wir den Frieden der Konfessionen brauchen wie das
tägliche Brot.
Daß aus dem fast mit Stumpf und Stil ausgerotteten alten Deutschland über-
haupt noch etwas Leidliches geworden ist, ist eins der größten Wunder der
Geschichte.
Die religiöse Duldung, die das notgedrungene Ergebnis der furchtbar teuer
erkauften Einsicht war, daß keine der drei christlichen Konfessionen imstande
war, die anderen zu vernichten, und der brandenburgisch-preußische Staat, dessen
größte Fürsten seit Hans Sigismund die Vertreter der Parität dieser Bekenntnisse,
der kirchlich-religiösen Duldung gewesen sind, sind die zwei starken Säulen, auf die
gestützt sich der Neubau Deutschlands über dem ungeheuren Trümmerhaufen
erhoben hat!
*) Treitschke „Die Republik der vereinigten Niederlande. Historische und po-
litische Aufsätze". Band 2.
248 G. Humpf,
Die kurzen ^Andeutungen, auf die ich mich habe beschränken müssen, werden
genügen, um zu zeigen, daß die Behandhmg der älteren deutschen Geschichte
im Unterricht nicht nur Gelegenheit gibt, sondern vielfach geradezu fordert, fast
alle Hauptfragen, (Me den heutigen deutschen Staatsbürger beschäftigen müssen,
in Betracht zu ziehen und für ihre Beurteilung das richtige Verständnis zu be-
gründen.
Posen. Heinrich Weber.
Ein Beitrag zur Frage der staatsbürgerlichen Erziehung
von einem Neuphilologen.
In einem „Zur staatsbürgerlichen Erziehung des deutschen Volkes" betitelten
Aufsatze (Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik 1911, S. 183 — 196)
definiert P. Rühlmann den Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung als die „plan-
mäßige Einwirkung auf den Zögling durch Belehrung und Gewöhnung, um ihn
zu einem möglichst vollwertigen Gliede des modernen Staates zu machen". Diese
Begriffsbestimmung dürfen wir als richtig gelten lassen, wenn auch der Ausdruck
„möglichst vollwertiges Glied des modernen Staates" nicht jedes Mißverständnis
ausschließt. Der Schule müßten demnach zwei einander ergänzende Möglich-
keiten gegeben sein, um ihrer Aufgabe, brauchbare Staatsbürger zu erziehen,
gerecht zu werden. Sie müßte einmal in der Lage sein, mit Hilfe rein intellek-
tueller, andererseits mit Hilfe rein ethischer, den Willen unmittelbar beeinflussender
Mittel in dem angedeuteten Sinne zu wirken. Da drängt sich doch die grundsätz-
liche Frage auf: Welche ethischen Mittel stehen der Schule zur Verfügung? Und
da läßt sich von vornherein sagen: die Möglichkeit unmittelbar erzieherischer
Einw^irkung ist für die Schule verhältnismäßig recht gering. Haus und Leben stehen
ihr in dieser Hinsicht als viel stärkere Mächte gegenüber. Gewiß ist die Schule
in der Lage, durch das Vorbild der Lehrerpersönlichkeit, durch ihre Zucht und die
Eingliederung des einzelnen in ihr wohl organisiertes Gemeinschaftsleben er-
zieherische Wirkungen auszuüben, aber sind diese Mittel von einschneidender Be-
deutung für die Erziehung zu den speziellen Staatsbürgertugenden? Das muß
vorläufig bestritten werden, solange nicht das Ideal des bekannten Münchener
Schulrats Kerschensteiner erfüllt ist und die Schule sich durch eine neue Organi-
sationsform einen tiefer gehenden Einfluß auf die Versittlichung der Jugend und
ihrer Arbeit im Sinne staatsbürgerlicher Erziehung gesichert hat. Man hat ja
bereits in größerem Umfange Versuche mit der Einrichtung der Selbstverwaltung
in mehr oder minder ausgeprägten Formen gemacht. Versuche, gegen die bisher
kein besonderer Widerspruch laut geworden ist und die auch grundsätzlich die
volle Billigung aller einsichtigen Pädagogen verdienen. Ob aber der Schule nicht
auch hierbei enge Grenzen gesteckt sind, wenn sie das Interesse der Schüler nicht
allzu vielseitig in Anspruch nehmen will? Diese Gefahr scheint mir zu bestehen bei
einer den Formen des wirklichen Lebens gar zu sehr angepaßten Autonomie. Und
andererseits kann die Wirkung auf den einzelnen nur gering sein, wenn der Selbst-
verwaltungsapparat bloß ganz einfache Formen aufweist, weil dann die Mitwirkung
Ein Beitrag zur Frage der staatsbürgerlichen Erziehung usw. 249
der Mehrzahl bei dem Verwaltungsgeschäft so gut wie ausgeschlossen ist. Es bleibt
noch der Einfluß des Lehrers, von dem ein Gewinn für die nationale Sache zu er-
hoffen wäre. Er kann rege Anteilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens
zeigen. Dann wird er durch sein Vorbild wirken. Er kann Töne begeisterter Vater-
landsliebe im Unterricht anschlagen: dann wird er durch seinen Enthusiasmus
mit fortreißen. Aber der Eindruck wird im ersten Falle für den Schüler nicht
unmittelbar genug sein, im zweiten Falle wird er rasch verfliegen wie der Schall
der Worte, die wohl augenblicklich Empfindungen wecken, aber nicht dauernd
festhalten können. Ich glaube, die Schule darf sich keiner Selbsttäuschung hin-
geben: in der Hauptsache ist sie auf die Auswahl des Stoffes und die Art seiner
Verarbeitung angewiesen, wenn sie^is in das Innere des Kindes vordringen will,
ja, überhaupt scheint mir die Übermittlung positiven Wissens für die sittliche Er-
ziehung von größerer Wichtigkeit, als man vielfach annehmen zu müssen glaubt.
Was nützt es dem Kinde, und [welche Spuren kann es in ihm hinterlassen,
wenn ihm vom Vaterland in den schönsten Worten geredet wird? Wie kann
es sich für etwas erwärmen, was es gar nicht kennt? Es wird doch in erster
Linie wissen wollen, was dies Vaterland denn eigentlich für ein Ding sei,
wie es aussehe und wozu es nütze. Muß es daher nicht das erste Erfordernis
staatsbürgerlicher Erziehung sein, der Jugend ein Bild zu geben von den Ein-
richtungen der politischen Gemeinschaft, in die sie von Geburt hineingestellt
ist, und ihr vor Augen zu halten, was diese Gemeinschaft für jeden einzelnen wie
für die Gesamtheit bedeutet? Muß ihr nicht gezeigt werden, unter welchen Opfern
an Gut und Blut, an harter Arbeit und heißem Ringen das Vaterland so geworden
ist, wie es ist? Lassen wir vor dem geistigen Auge unserer Kinder die großen Männer
emporsteigen, die unsere Geschichte gemacht haben, lassen wir sie inne werden,
daß der gegenwärtige Staat kein zufälliges, sondern ein organisch gewordenes
Gebilde darstellt, an dessen Ausbau im Sinne des vollkommeilsten Rechts und
der edelsten Kultur gerade die Besten unserer Nation unter Hintansetzung aller
persönlichen Interessen mitgearbeitet haben und an dessen Weiterentwicklung
jeder einzelne mitzuschaffen berufen ist. Das Ziel, dem die Schule auf staatsbürger-
lichem Gebiete zuzustreben hätte, wäre also kurz auf die Formel zu bringen: die
Gegenwart verstehen zu lehren als das Produkt einer geschichtlich-organischen,
von ernster Geistesarbeit getragenen Entwicklung, der Jugend so die Achtung
vor dem Bestehenden abzuringen und in ihr den Willen w^achzurufen, an der fort-
schrittlichen Neugestaltung der Zukunft an ihrem Teile mitzuwirken.
Was aber bedeutet für den zukünftigen Staatsbürger die Gegenwart? Ist
sie ihm identisch mit der unendlichen Fülle von Problemen, die der Politik des
Tages in unablässigem Flusse immer aufs neue erstehen? Wenn diese Gegenwart
gemeint wäre, dann gehörte ihre Betrachtung nicht in die Schule hinein, denn sie
müßte notwendigerweise parteiisch sein, sie würde allein reichlich eines Menschen
Kraft erfordern, und sie könnte schon aus dem Grunde in der Schule keine Berück-
sichtigung finden, weil zahkeiche politische Lehren und Erkenntnisse eine Urteils-
reife und eine Lebenserfahrung voraussetzen, wie sie das junge Menschendasein
nicht hat und wie sie ihm auch die Geschichte nicht geben könnte. Die Fähigkeit,
bestimmt und sachlich Stellung zu nehmen zu den politischen Tagesfragen, macht
250 G. Humpf,
das Wesen politischer, aber nicht staatsbürgerlicher Bildung aus. Jene kann nur
«ine beschränkte Zahl Staatsbürger angehen, die Berufspolitiker, die Führer des
Volks in politischen Dingen, und kann nicht gelehrt werden. Denn Politik ist eine
Kunst, keine Wissenschaft.' Alle geschichtlichen Erkenntnisse haben für den Poli-
tiker oft gar keinen Wert, denn der Politiker handelt nach der jeweiligen Kon-
stellation der Verhältnisse und diese fordert unter Umständen eine Lösung, die
jeder historischen Erfahrung ins Gesicht schlägt. Gewiß ist die Kenntnis der
Geschichte für den Staatsmann, den Parlamentarier unentbehrlich, aber es
wäre doch falsch, würde er sich mehr von den Lehren der Geschichte, die oft genug
gar kein Analogon aufweist, leiten lassen, als von seinem den augenblicklichen
besonderen Verhältnissen Rechnung'tragenden, selbständigen Urteil. Es gibt schwer-
lich ein geschichtliches Gesetz, das für alle Zeiten Gültigkeit besäße, sonst müßte
der größte Historiker auch der größte Staatsmann sein, was bekanntlich nicht
immer der Fall gewesen ist. Staatsbürgerliche Bildung aber, und durch sie staats-
bürgerliche Erziehung, kann sehr wohl zum Gegenstand des Unterrichts gemacht
werden. Denn staatsbürgerliche Bildung besitzen heißt nichts anderes als vertraut
sein mit den Pflichten imd Rechten gegenüber dem Staat und seiner Organisation
und auf Grund der Erkenntnis von der fortschreitenden Entwicklung der Form
des staatlichen Gemeinschaftslebens entschlossen sein, an ihrer Vervollkommnung
tätigen Anteil zu nehmen und auf sie mitbestimmenden Einfluß zu gewinnen.
Welche Aufgabe hat demnach die Schule zunächst zu erfüllen, wenn sie dem werden-
den Staatsbürger das Verständnis der Gegenwart erschließen will? Sie hat dem Zög-
ling ein möglichst getreues Abbild unserer heutigen staatlichen Organisation zu
geben, ihm zu zeigen, wie sie historisch geworden ist, inwiefern sie die Merkmale
einer sittlichen und kulturellen Aufwärtsbewegung aufweist und welche neuen
Forderungen der neu gestaltete und beständig neu zu gestaltende Staatsorganismus
an den einzelnen Staatsbürger stellt.
Das charakteristische Merkmal des modernen Staates ist, daß er auf verfassungs-
mäßiger Grundlage aufgebaut ist. Der Polizeistaat des 17. und 18. Jahrhunderts
schloß das Individuum von der Mitwirkung an den Staatsgeschäften aus, der
Verfassungsstaat macht sie zur Pflicht. Der Staat ist nicht mehr bloß ein Mittel
der Regierenden, sondern gleichzeitig auch Willensorgan der Regierten. Der Macht-
i)ereich von Fürst und Volk hat sich zugunsten des letzteren verschoben. Der
Staat ist nicht mehr bloß eine Angelegenheit des Herrschers, sondern der Gesamt-
heit der Bürger, deren Rechtssphäre der Staat zu schützen hat, soweit es die Förderung
des Gesamtwohles zuläßt. Seit wann datiert dieser Umschwung in der Auffassung
vom Berufe des Staates? Er wurde eingeleitet durch die englische Revolution.
Von dem Insellande nahmen die neuen Ideen von der Freiheit des Individuums
ihren Weg nach Frankreich und bereiteten die gewaltige Umwälzung dort vor.
Von dem westlichen Nachbar drangen sie zu uns und machten dem absolutistischen
-Regiment ein Ende. Das ist in großen Zügen die Linie, auf der sich die Entwicklung
des modernen Staates bewegt hat. Sie veranschaulicht treffend den heutigen
-Staatscharakter, sie erklärt uns die Gegenwart, wie sie politisch ihrem innersten
Wesen nach aussieht. Diese ganze Entwieklungslinie bis zu der heutigen Staats-
gestaltung rnuß meines Trachtens der Schüler in möglichster Breite, Ausführlich-
Ein Beitrag zur Frage der staatsbürgeriichen Erziehung usw. 251
keit und Gründlichkeit kennen, wenn er zum Verständnis der Gegenwart kommen
soll. Die Schaffung des modernen Rechts- und Kulturstaates hat tiefgreifende
Veränderungen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens hervorgerufen, besonders
hat sie die wirtschaftliche Stellung des Individuums entscheidend beeinflußt und
das Problem der sozialen Frage eigentlich erst aufgerollt. Denn sie ist in den Formen,
die sie seit dem Emporblühen der Technik angenommen hat, nur denkbar auf der
Grundlage einer individualistisch gerichteten Staatsauffassung.
Wie soll nun der Schüler in die Geschichte der für das Verständnis der Gegen-
wart so wichtigen letzten Jahrhunderte mit der wünschenswerten Gründlichkeit
eingeführt werden? Ein besonderer Unterricht in der Staatsbürgerkunde liegt
nach dem Gesagten außerhalb unserer didaktischen Absicht. Es leuchtet ein,
und es darf als unbestrittene Wahrheit gelten, daß die Geschichte das hierfür be-
rufenste Fach ist. Kann aber der Geschichtsunterricht bei der Kürze der Zeit
und der Fülle des Stoffes, den er zu bewältigen hat, dieser Aufgabe gerecht werden,
selbst wTnn er sein Pensum so beschnitte, wie es von Huckert*) vorgexhlagen
worden ist? Ich glaube kaum. Und er braucht es auch nicht. Denn der neusprach-
liche Unterricht kann ihm dabei in ausgiebigem Maße zu Hilfe kommen. Ich habe im
Pädagogischen Archiv**) und Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Päda-
gogik***) einen Lektüreplan für die oberen Klassen aufgestellt, der, wie ich
glaube, den Bestrebungen staatsbürgerlicher Erziehung in unserem Sinne in
befriedigender Weise Rechnung trägt. Er sei an dieser Stelle in Kürze wiederholt.
WieMacaulays History of England zurückiührt in die Zeit der englischen
Revolution, von der der Gedanke des Konstitutionalismus auf das europäische
Festland übergegangen ist, so erörtert Locke in seinen Two Treatises of Government
vom Standpunkte der Philosophie die Idee der politischen Freiheit, wie sie von der
französischen Literatur des 18. Jahrhunderts übernommen wurde als die natürliche
Reaktion gegen die Übertriebenheiten und Verstiegenheiten' de^ana^n regime,
das Tai ne in seinen Origines de la France Contemporaine charakteristisch be-
leuchtet.
Durch Montesquieu, Voltaire, Rousseau gewinnt der Gedanke
der persönlichen Freiheit als wichtigster staatsbürgerlicher Grundbegriff einen
breiteren Boden. Gemäßigtere Formen nimmt er an beiMirabeau in seinen
Discours, um unter Napoleon, dessen Persönlichkeit uns gleichfalls Taine in
seiner Biographie des großen Korsen schildert, von neuem dem absolutistischen
Prinzip Platz zu machen.
Aber mit dem Sturze Napoleons nahm auch die von der Revolution aus-
gegangene Freiheitsbewegung wieder ihren Aufschwung und wirkte bestimmend
und gestaltend auf die politischen Verhältnisse in Deutschland zu Beginn des
19. Jahrhunderts ein, und die gesteigerte Bewertung, die das reine Menschentum
durch Rousseaus Lehren erfahren hatte, bildet den Ausgangspunkt der sozialen
Bestrebungen der Gegenwart, in deren Dienst sich vornehmlich die moderne eng-
lische Literatur (Carlyle, Dickens, Thackeray) mit der bewußten Ab-
*) Korrespondenzblatt 1911, No. 33.
♦*) Päd. Arch. 1910, 1. Heft, S. 25 ff.
***) Jahrb. d. V. f. wiss. Päd. 1911, S. 129 ff.
252 G. Humpf,
sieht sozialerzieherischer Wirkung gestellt hat. Eine Fülle von Stoff bietet sich
hier dem Lehrer dar*).
Freilich, ob er auch bei noch so sorgfältiger Stoffauswahl imstande sein wird,
den Inhalt auszuschöpfen? Denn gar mannigfach sind die Aufgaben, die den neu-
sprachlichen Unterricht gerade auf der Oberstufe bei seiner recht geringen Stunden-
zahl neben der Lektüre noch in Anspruch nehmen: Sprechübungen, Realienkunde,
Literaturgeschichte und vor allem der Aufsatz. Der neusprachlichc Unterricht
würde für die staatsbürgerliche Bildung nur dann das bedeuten, was er in Wirk-
lichkeit bedeuten kann, wenn er unter einem ganz anderen erzieherischen Gesichts-
winkel betrachtet würde, als er — leider auch offiziell — betrachtet
wird. Der Unterricht auf der Oberstufe sollte es doch eigentlich nur
mit den Werten zu tun haben, die den allgemeinen Gesichtskreis erweitern,
das Verständnis für die großen Fragen der Menschheit erschließen, innerlich bilden.
Gehört dazu auch Gewandtheit in der gesprochenen Sprache oder Realienkunde?
Und ferner: solange der französische oder englische Aufsatz, auch mit der neuesten
Modifizierung, noch als Zielforderung bestehen bleibt, so lange leistet die Schule
eine Sisyphusarbeit, bei der herzlich wenig herauskommt und deren Kosten der
Lektüreunterricht mit seiner großen Bedeutung für die Allgemeinbildung trägt.
Mit der Bedeutung, die der Sprach- und Sprechmeisterei in weiten Kreisen der
Neuphilologen beigemessen wird, muß gebrochen werden, oder wir erziehen zu
einem Wissen, das ein toter Besitz ist und bleibt trotz seiner anscheinenden Brauch-
barkeit im späteren Leben. Wenn vor einigen Jahren, wie Eickhoff in ,, Weltpolitik
und Schulpolitik****) S. 9 berichtet, der verstorbene frühere Staatssekretär des Aus-
wärtigen Amtes, Freiherr von Richthofen, in der Budgetkommission des Reichs-
tages in „beweglichen Tönen" von seinen Assessoren sprach, die keinen französischen
Brief schreiben und keinen englischen lesen könnten und wenn E. an die Registrie-
rung dieser Äußerung die Bemerkung knüpft, es könne so kein Wunder nehmen,
wenn die Vertreter des deutschen Reiches bei den Verhandlungen, die unsere
Handelspolitik in den letzten Jahren erheischte, trotz ihrer allgemeinen beruflichen
Tüchtigkeit in der sprachlichen Behandlung der Gegenstände nach ihrem eigenen
Bekenntnis hinter den Vertretern des Auslandes zurückstanden, weil nur wenige
von ihnen die französische Sprache, die Sprache der Diplomaten, vollkommen
beherrschten, von der Sprache des Landes ganz zu schweigen, in dem sie gerade
verweilten, so scheint mir darin doch eine bedenkliche Verkennung des Begriffs
der „Bildung" und damit der Aufgabe der Schule zu liegen. Soll denn die Schule
neben den Diplomaten auch noch alle anderen Berufe mit den für jeden einzelnen
nötigen Sprachkenntnissen ausrüsten? Wenn darin die eigentliche Aufgabe des
Schulunterrichts bestände, so dürfte sie nicht mehr als Bildungsstätte in des Wortes
tieferer Bedeutung angesehen werden, und die Sprachinstitute müßten höher
im Preise stehen als sie. Darüber sollten sich doch die extremen Vertreter der
neusprachlichen Reform klar werden, daß sie mit ihrem Sprachdrill ein Ziel erstreben,
dessen Wert weder im Verhältnis zu der aufgewandten Kraft und Zeit, noch im
♦) Jahrb. d. V. f. wiss. Päd. S. 132/133.
**) Sonderabdruck aus dem 19. Jahrg. der „Zeitschr. f. lateinlose höhere Schul.";
Leipzig 1908; B. G. Teubner.
Ein Beitrag zur Frage der staatsbürgerlichen Erziehung usw. 253
Verhältnis zu dem intellektuellen, ethischen und praktischen Nutzen steht, der aus
der Beschäftigung mit der Sprache an sich bei richtiger Methodik zur Not zu ent-
springen vermag.
Doch kehren wir zu unserm Thema zurück. Damit, daß die Schule dem Ver-
ständnis des Zöglings die Gegenwart erschließt, wie sie politisch in ihrem innersten
Kern aussieht, hat sie noch nicht alles getan, was sie im Interesse des Staates zu
tun verpflichtet und befähigt ist. Etwas sehr Wichtiges, was auch von den lautesten
Rufern im Streite um die staatsbürgerliche Erziehung anscheinend als selbstver-
ständlich so ziemlich außer acht gelassen wird, bleibt ihr noch übrig: die Pflege
nationalen Sinnes, der der kräftigste Träger des Staatsgedankens ist. Daher lautet
die zweite Forderung, die an die Schule zu stellen ist: Bewußte und intensive natio-
nale Erziehung.
Mit dem deutschen Individualismus, der bis auf den heutigen Tag die inner-
politische Situation in unserem Vaterlande so schwierig gestaltet, ist sonderbarer-
weise eine auffallende Neigung für alles Fremdländische verbunden, das der Deutsche,
seiner nationalen Würde vergessend, als etwas Vollkommeneres anzusehen sich
gewöhnt hat. Um so mehr müssen wir darauf bedacht sein, unsere kulturelle Selb-
ständigkeit — kulturell im weitesten Sinne der Wortes genommen — gegenüber
dem Auslande zu bewahren. Diese Erkenntnis war es fraglos, die den deutschen
Kronprinzen gelegentlich seiner Investitur als Rector Magnificentissimus der
Universität Königsberg die Worte finden ließ, die jedem Vaterlandsfreund aus
dem Herzen gesprochen waren: „Vielmehr sehnen wir uns nach Betonung unseres
deutsch-nationalen Volkstums im Gegensatz zu den internationalisierenden Be-
strebungen, welche unsere völkische Eigenart zu verwischen drohen." Diese selbe
Erkenntnis ist es, die unseren Schulen mit besonderer Dringlichkeit die Verpflichtung
auferlegt, die Jugend in deutschem Geiste zu erziehen, sie deutsch denken und
empfinden zu lehren, sie teilnehmen zu lassen an den Leistungen und Errungen-
schaften der echt deutschen Kultur und an ihrer Pflege sich alle die nationalen Wesens-
eigentümlichkeiten entzünden zu lassen, die das Bewußtsein völkischer Zusammen-
gehörigkeit zu einem unzerstörbaren und unverlierbaren Besitz machen. Der deut-
sche Unterricht muß daher das zentrale Bildungsfach auf unsern Schulen werden.
Deutsche Sprache, deutsches Recht, deutsche Sitte, deutsche Kunst, deutsche
Dichtung, deutsche Geschichte haben den breitesten Raum im gesamten Unterricht
einzunehmen und mehr oder weniger den Kristallisationspunkt für alle andern
Unterrichtsfächer abzugeben. Nur so werden wir die Kluft der Lebensanschauung
überbrücken, die heute noch bei uns den Studierten vom Nichtstudierten scheidet,
so allein werden wir das den verschiedensten Bevölkerungsschichten gemeinsame
geistige Band schaffen, das alle Glieder der Nation gleich und frei und freudig
bindet, so allein werden wir uns am sichersten vor dem Ansturm fremder Kul-
turen schützen, so werden wir auch am ehesten den verhängnisvollen konfessionellen
Zwist überwinden, wie er ausgeprägter in keinem Lande der Welt zu finden ist,
und ein sich seiner Kraft und Größe bewußtes Deutschtum schaffen. „Wir wollen
nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer;'' aber
auch nicht junge Franzosen und Engländer. Leider scheint es, als ob das manchen
Vertretern der neueren Philologie noch nicht zum Bewußtsein gekommen ist.
254 G. Humpf,
In der „Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen" XX, S. 327 ff. unternimmt
es Ullmann, einem intensiveren Betrieb des Französischen auf der Unterstufe das
Wort zu reden und zwar auf Kosten der übrigen Fächer, denen er mit Ausschluß
des Deutschen je eine Stunde nehmen will. Um für diese Fächer den Verlust nur
wenig oder gar nicht empfindlich zu machen, schlägt er vor, den Sprechübungen
— auf die kommt es U. im wesentlichen an — die entsprechenden Unterrichts-
stoffe zugrunde zu legen, und versteigt sich dabei zu der kühnen, von Reinecke
in der „Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen" XXI, (S. 153 u. 154) festgenagelten
These: „Nur erscheint mir der Nutzen, der durch das von mir angestrebte Ideal
für den ganzen Bildungsgang des Menschen erzielt würde, riesengroß im Verhältnis
zu dem Schaden, der etwa den andern Unterrichtsgegenständen zugefügt werden
würde." Wenn R. in der erwähnten Erwiderung mit aller Entschiedenheit und
deutlichem Unmut gegen solche pädagogische Entgleisung Front macht, so muß
ihm jeder beipflichten, der von der deutschen Schule mehr erwartet als etwas
französische Backfisch-Plapperei. Mit Recht verwahrt sich R. als Mathematiker
und Naturwissenschaftler gegen eine solche Verkennung der Bedeutung des Rechen-
und erdkundlichen Unterrichts, wie sie in dem Vorschlage von U. liegt. Aber nun
denke man sich gar eine Religionsstunde auf Französisch! Wie die erbauend auf
die zarten Kindergemüter wirken muß 1 Der Gedanke ist einfach absurd. Welchen
Eindruck mag wohl, wie es in einer Berliner Anstalt vorgekommen sein soll, die
Deklamation von ,Mon beau sapin . . .' auf die vom Zauber der Weihnachtsstimmung
ergriffenen Zuschauer gemacht haben ! Der Sextaner, der noch so weit davon ent-
fernt ist, seine Muttersprache zu kennen und zu können, der soll schon ganz im
Französischen aufgehen, soll französisch denken, fühlen, beten lernen! Heißt das
nationale Erziehung? Das heißt doch vielmehr gewaltsam den Einfluß der Mutter-
sprache untergraben, das heißt doch schon den Knaben in ein unbekanntes Land
führen, wo er als hilfloser Fremder nichts versteht und wo er nicht verstanden
wird, wo er kein Brot findet, das ihn ernährt, wo ihm keine Sonne scheint, die ihn
erwärmt.
Auch das Kapitel vom fremdsprachlichen Aufsatz muß in diesem Zusannnen-
hang nochmals angeschnitten werden. Er hat nur dann einen Sinn, wenn der Schüler
dahin gebracht werden kann, im fremden Geiste zu denken, denn sonst kommt
doch nur ein deutsch-französisches oder deutsch-englisches Ungeheuer heraus.
Gesetzt, wir erreichen das erstrebte Ziel — ich weiß nicht, ob es irgendwo der Fall
ist — dann haben wir der nationalen Sache einen schlechten Dienst erwiesen.
Unsere Jugend soll deutsch denken lernen, aber nicht deutsch und französisch
und englixh und womöglich gar noch lateinisch (Stilistik!), also antik und modern-
international zugleich.
Anders steht es mit der fremdsprachlichen Lektüre. Wenn wir uns auf der
Schule mit den Erzeugnissen einer fremden Kultur befassen, so ist die Absicht
nicht die, eine fremde Welt- und Lebensanschauung auf unsere eigene aufzupfropfen,
sondern durch vergleichende Betrachtung das Bewußtsein und die Erkenntnis
von der Eigenart deutschen Wesens und deutscher Kultur zu verstärken und aus
der Fremde vor allem das herüber zu nehmen und zu pflegen, was des christlich-
germanischen Geistes einen Hauch trägt und mit deutscher Denkungs- und Emp-
findungsart eine innige, läuternde Verbindung einzugehen vermag.
Ein Beitrag zur Frage der staatsbürgerlichen Erziehung usw. 255
Die vornehmste und wichtigste Aufgabe des fremdsprachlichen Unterrichts
besteht darin, an seinem Teile zu einem volleren Verständnis und tieferen Erfassen
unserer nationalen Kultur beizutragen. Inwiefern er das kann, darüber habe ich
mich gleichfalls im Pädagogischen Archiv und Jahrbuch des Vereins für wissen-
schaftliche Pädagogik a. a. 0. geäußert und wiederhole hier das dort*) Gesagte:.
Die klassische Periode des 18. Jahrhunderts trägt am ausgeprägtesten den
Stempel deutscher Geisteskultur. Daher haben Männer wie Klopstock^
Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Kant den Rahmen abzugeben nicht
nur für die Auswahl der deutschen, sondern auch der fremdsprachlichen Lektüre.
Die Bekanntschaft mit Corneille, Racine, Moliere erschließt dem
Schüler das Verständnis der vorklassischen Periode, läßt ihn die Bedeutung
Gottscheds und seiner Anhänger erkennen und gibt ihm die Möglichkeit, die
Entwicklung des nationalen Dramas im Sinne Lessings historisch zu verfolgen
und Lessings künstlerische Stellungnahme zu den Franzosen zu verstehen.
• Auf Miltons Paradise Lost fußend, leitet Klopstock die Reaktion gegen die
Einseitigkeit französisch-klassizistischer Verstandeskultur ein, und Shakespeare
stellt das erhabene Muster des wahrhaft klassisch-deutschen Dramas dar.
Die deutsche Romantik hat ihren Ausgangspunkt in Rousseau, ohne desser^
Kenntnis das Wesen dieser Seite der klassisch-deutschen Dichtung nicht faßbar
ist, und sie steht ferner unter dem tiefgehenden Einfluß altenglischer und alt-
schottischer Balladen des Bischofs P e r c y und der Lieder Ossians von Macpherson.
Die englische Einwirkung auf die deutsche Romantik setzt sich im 19. Jahr-
hundert fort in den Romanen Scotts und der politisch-freiheitlichen Dichtung
Byrons.
Vor einigen Monaten ging durch die Presse eine Notiz, daß nach dem Beschlüsse
der Stadtverordneten in Düsseldorf für die Primaner der dortigen höheren Lehr-
anstalten Vorträge über Bürgerkunde von höheren Verwaltungsbeamten in Stadt
und Provinz gehalten werden sollen, ein Gedanke, der schon mehrfach im deutschen
Vaterlande Verwirklichung gefunden hat. Die Schule sollte sich gegen solche Veran-
staltungen mit aller Macht wehren.**) Einmal liegt darin doch eine Desavouierung
der Lehrer, und zwar eine völlig ungerechtfertigte. Selbst denjenigen von den.
Kollegen, die sich bisher nur sehr wenig oder gar nicht um bürgerkundliche Dinge
gekümmert haben, ist die Gelegenheit geboten, sich an der Hand einer umfangreichen
trefflichen Literatur — ich erinnere nur an die einschlägigen Bände in den Samm-
lungen Göschen, Kösel, ,,Wisenschaft und Bildung", „Aus Natur und Geistes-
welt" — gründlich in die Materie einzuarbeiten.***) Sodann aber geben jene Ver-
anstaltungen zu nicht geringen pädagogischen Bedenken Anlaß. Sie scheinen mir
auf einer völligen Verkennung des Zieles und des Wesens einer vernünftigen Er-
ziehung zum Staatsbürger wie der Jugenderziehung überhaupt zu beruhen. Mit
einer mehr oder minder umfangreichen Stoffdarbietung aus dem Gebiete unserer
*) Jahrb. S. 131/132.
**) Ich verweise bei dieser Gelegenheit auch auf die fleißige Zusammenstellung
von Prahl: Literatur für die Behandlung politischer und wirtschaftlicher Fragen im
Unterricht; Prenzlau 1911; C. Vincent.
***) Man kann das eine tun und braucht das andere nicht zu lassen ! Siehe den
Aufsatz auf der folgenden Seite. Mtth.
256 M. Schvveigel,
heutigen Staats-, Rechts- und Wirtschaftsordnung ist herzlich wenig erreicht,
wenn der Schüler alle diese Dinge nicht in den historischen Zusammenhang ein-
zuordnen und aus dem geschichtlichen Entwicklungsgang heraus zu erklären ver-
mag. Wir sollten uns doch hüten, Verwirrung in den jugendlichen Köpfen anzu-
richten durch das Darbieten von unverstandenen Einzelheiten, die in das Gebiet
der Fachwissenschaft gehören. Die Jugenderziehung hat es mit allgemeinen,
grundlegenden Werten zu tun, die der eigenen Weiterbildung im späteren Leben
in jeder Richtung ein günstiger Boden sein können. Geben wir unserer Jugend
die Grundlagen zum Verständnis unserer Zeit, und wir geben ihr alles.
Elmshorn. Gustav H u m p f.
Bürgerkundliche Vorträge für Schüler in Düsseldorf.
Nachdem seit einer Reihe von Jahren in Wort und Schrift, von Schulmännern
und Nichtschulmännern immer dringender eine staatsbürgeriiche Erziehung der
Jugend gefordert wird, beginnt sich mehr und mehr die Erkenntnis durchzuringen,
daß hier der Schule, insbesondere der höheren Schule, eine Aufgabe erwächst,
die sie bisher in ausreichendem Maße nicht erfüllt hat. Dem Vorwurf allerdings,
daß sie für die staatsbürgeriiche Bildung ihrer Zöglinge so gut wie nichts getan
haben, können die höheren Lehranstalten leicht mit dem Hinweis auf die Fülle
bürgerkundlicher Belehrungen begegnen, die in den verschiedenen Unterrichts-
fächern enthalten sind. Auch muß denen gegenüber, die glauben, die Schule
könne, wenn sie nur wolle, durch staatsbürgeriiche Belehrungen Staatsbürger er-
ziehen, immer wieder hervorgehoben werden, daß die Vermittlung bürgerkund-
licher Kenntnisse allein noch keine staatsbürgerliche Erziehung ist, daß die spätere
staatsbürgeriiche Gesinnung und Betätigung des Schülers vor allem von seiner
Charakterbildung abhängen wird. Die bürgerkundlichen Belehrungen dürfen
deshalb für die staatsbürgerliche Erziehung nicht überschätzt, andererseits aber
auch nicht zu gering gewertet werden, da ohne tieferes Verständnis für die staat-
lichen Einrichtungen und das wirtschaftliche Leben der Gegenwart ein'reges Staats-
gefühl nicht erwachsen kann. Die höhere Schule wird also zu erwägen haben,
in welcher Weise und in welchem Umfange sie bürgerkundliche Belehrungen vor-
nehmen soll. Hierbei ergeben sich besonders zwei Schwierigkeiten: Es ist nicht
leicht, alle diese Belehrungen so zu gestalten, daß sie das Interesse der Schüler
dauernd fesseln, und selbst der tüchtigste Lehrer der Geschichte — denn dem
Geschichtsunterricht werden die bürgerkundlichen Belehrungen im wesentlichen
zufallen*) — ist kaum imstande, allen Anforderungen, welche dieser Unterricht
an ihn stellt, zu genügen. Dies brachte mich auf den Gedanken, als eine E r -
gänzung des Unterrichtes für die reiferen Schüler bürgerkundliche
Vorträge einzuführen, gehalten von Herren, die mit dem betreffenden Gebiete
durch ihren Beruf bis ins einzelne vertraut sind. Im Einverständnis mit den Direk-
*) Über die Frage, ob im Geschichtsunterricht zu Bürgerkunde in der erforder-
lichen Weise Zeit gefunden werden kann, vgl. Neubauer, „Die höheren Schulen und
die staatsbürgerliche Erziehung*', S. 24 ff. Neubauer verneint die Frage.
Bürgerkundliche Vorträge für Schüler in Düsseldorf. 257
toreii der Düsseldorfer höheren Knabenschulen wandte ich mich an Herrn Ober-
bürgermeister Dr. Oehler mit dem Wunsche, für die Schüler der oberen Klassen
aller höheren Knabenschulen der Stadt, der städtischen wie auch der staatlichen,
bürgerkundliche Vorträge einzurichten. Ich fand das größte Entgegenkommen.
Nachdem das Kuratorium meinen Antrag, mit solchen Vorträgen im Winter 1911/12
einen Versuch zu machen, angenommen hatte, bewilligte die Stadtverordneten-
versammlung für die »entstehenden Kosten (Saalmiete, Druck, Einladungen) zu-
nächst die Summe von 600 M. Da keine Schulaula groß genug war, um die Menge
der Schüler aufzunehmen, sollten die Vorträge in einem Saale der städtischen
Tonhalle stattfinden. Außer den Lehrerkollegien und den Eltern der Schüler
wurden auch eine Reihe von Herren der Stadt eingeladen, unter ihnen der Herr
Regierungspräsident, der Herr Landeshauptmann, der Herr Oberlandesgerichts-
präsident und der Herr Landgerichtspräsident, die der Einrichtung der Vorträge
großes Interesse entgegenbrachten.
Der erste Vortrag fand am 11. Oktober statt, und zwar sprach Herr
Beigeordneter Dr. Matthias über ,, Stadtverwaltun g". Nach-
dem der Redner darauf hingewiesen hatte, daß man, um unsere staatlichen Ein-
richtungen zu verstehen, erst in seiner engeren Heimat Bescheid wissen muß,
begann er mit der Stadtverordnetenversammlung. Sie bestimmt die Grundsätze,
nach denen die Verwaltung gehandhabt werden soll. Sie wählt den Bürgermeister,
sie wird bei der Beamtenanstellung gehört, sie beschließt über die Ausgaben der
Stadt. Wer kann Stadtverordnete wählen, und wer kann gewählt werden? Ein
jeder, der das Bürgerrecht besitzt. Die Bestimmungen über den Erwerb des Bürger-
rechtes in Preußen sind in den verschiedenen Städteordnungen zu finden. Das
Bürgerrecht nach der rheinischen Städteordnung. Die Stadtverordnetenwahl ist
in den meisten preußischen Provinzen eine Dreiklassenwahl. Die Bildung der
Wahlabteilungen durch Dreiteilung und Zwölftelung wurde an Beispielen erläutert
und der Zweck dieser Wahlsysteme erklärt. Die Zwölftelung kann durch Orts-
statut eingeführt werden. Die Stadtverordnetenwahl ist eine öffentliche Wahl.
Vergleich mit den Wahlen zum Reichstag und preußischen Abgeordnetenhaus.
Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl. Absolute Mehrheit. Stichwahl. In
Städten mit Dreiklassenwahl muß jede Abteilung zur Hälfte aus Hausbesitzern
bestehen. Erklärung des Grundes. Verschiedene Größe der Stadtverordneten-
versammlungen. Wahlperiode, Ergänzungswahl, Ersatzwahl. Das Amt der
Stadtverordneten ein Ehrenamt. Die Sitzungen der Stadtverordneten. Der
Bürgermeister oder Stadtverordnetenvorsteher Vorsitzender. Der Redner sprach
weiter über Magistratsverfassung und Bürgermeistereiverfassung. Die Beigeord-
neten. Wahl und Bestätigung des Bürgermeisters, der Beigeordneten und Ma-
gistratsräte. Die Tätigkeit des Bürgermeisters. Kreisfreie und kreisangehörige
Städte. Die Städte haben in dem Regierungspräsidenten eine staatliche Aufsichts-
behörde. Rechte des Regierungspräsidenten der Stadt gegenüber. Bezirksausschuß
und Provinzialrat. Eingehend wurden die städtischen Finanzen behandelt. Das
Vermögen der Städte. Verzinsung und Tilgung der Schulden. Der städtische
Etat. Die Steuern, indirekte und direkte, Umsatzsteuer, Wertzuwachssteuer,
Schankerlaubnissteuer, Einkommensteuer, Kirchensteuer, Grund- und Gebäude-
Monatschrift f. höh. Schulen. XL Jhrg. 1 7
258 1 M. Schweigel,
Steuer, Gewerbesteuer. Die Verwendung der aus den Steuern fließenden Summen
wurde an Beispielen erläutert. Der Redner sprach sodann .ausführlich über die
Straßenanlegung und Bebauung und hierauf über die Fürsorge für die Armen,
Kranken und Schwachen. Eine eingehende Behandlung erfuhr hierbei das Armen-
wesen nach dem Elberfelder System. Der fesselnde Vortrag schloß mit einem
Blick auf das, was die Städte für die Volksbildung durch Unterhaltung von Volks-,.
Mittel- und höheren Schulen, selbst Hochschulen tun, aiif ihre Förderung der
Kunst durch Theater, Museen und Kunstgewerbeschulen und endlich auf ihre
Beteiligung an dem wirtschaftlichen Aufschwünge des Landes, indem sie gewerb-
liche Unternehmungen aller Art betreiben, Häfen und Kleinbahnen bauen und ihre
großen Mittel nutzbar anlegen.
Ein am 3. November vom Herrn Landesrat Adams gehaltener
Vortrag handelte von der,, Staatlichen Verwaltung und Selbst-
verwaltung". Nachdem der Redner einen Blick auf die Staatsverwaltung:
im weitesten Sinne geworfen hatte, ging er auf die Verwaltung im engeren Sinne
oder innere Verwaltung ein. Er erörterte die Verwaltungsorganisation (Gemeinde,
Land- und Stadtkreis, Regierungsbezirk, Provinz) und behandelte die verschiedenen
Ministerien (Ernennung des Ministers durch den König, Staatsministerium, Mi-
nisterpräsident, Unterstaatssekretäre, Ministerialdirektoren, vortragende Räte), die
staatliche Verwaltung in Provinz, Regierungsbezirk und Kreis. Hierauf sprach
er über die Selbstverwaltung und legte ausführlich die Provinzialverwaltung dar.
Provinziallandtag, Provinzialausschuß, Landeshauptmann und Landesräte, Geld-
mittel für die Provinzialverwaltung, ihre Aufgaben: Straßenbau, Landesmelio-
ration, Armenwesen, Fürsorge für Geisteskranke, Epileptische und Idioten, Taub-
stummen- und Blindenanstalten, Fürsorgeerziehung, Arbeitsanstalten für Land-
streicher und Bettler, landwirtschaftliche Winterschulen, Weinbau- und Obstbau-
schulen, Denkmalpflege, Provinzialmuseen.
Am 1. Dezember hielt Herr Regierungsrat Dr. Hoff mann den
dritten Vortrag über ,,Die Verfassung Preußens und des Deut-
schen Reich es".
Nach einigen Worten über den Begriff ,, Staat" und die Staatsformen der
Monarchie und Republik wandte sich der Redner der preußischen Verfassung zu.
Er ging aus von der ständischen Verfassung, wie sie Kurfürst Friedrich L in Branden-
burg vorfand, sprach über das Steuerbewilligungsrecht der Stände, über die lang-
wierigen Verhandlungen des Großen Kurfürsten mit den Ständen, bis es ihm gelang,
sich finanziell unabhängig von ihnen zu machen, und betrachtete dann den absoluten
Staat. Zu unserer heutigen Verfassung übergehend, wies er auf den Unterschied
hin, daß in Preußen dem Könige alle Rechte zustehen, die ihm die Verfassung
nicht ausdrücklich entzieht, während in Ländern, deren Verfassungen auf dem
Grundsatz der Volkssouveränität beruhen, der König nur die Rechte hat, die ihm
die Verfassung überträgt. Einteilung der gesamten Staatstätigkeit in gesetz-
gebende Gewalt, richterliche Gewalt, vollziehende Gewalt und Verwaltung. Aus-
übung der gesetzgebenden Gewalt durch den König, Herrenhaus und Abgeordneten-
haus. Die Wahl zum Abgeordnetenhaus, Zusammensetzung des Herrenhauses.
Ausübung der richterlichen Gewalt im Namen des Königs durch unabhängige
Bürgerkundliche Vorträge für Schüler in Düsseldorf. 259
Gerichte. Das Begnadigungsrecht der Rest der richterlichen Gewalt des Königs.
Einschränkung der vollziehenden Gewalt des Königs dadurch, daß alle Regierungs-
akte zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers bedürfen. Im Gegen-
satz zu anderen Verfassungen kennt die preußische nicht die Ministeranklage
wegen Verfassungsverletzung, sondern die Ministerverantwortlichkeit beschränkt
sich darauf, daß der Minister die Regierungshandlung des Königs, die er gegen-
gezeichnet hat, in der Öffentlichkeit, besonders im Parlament zu vertreten hat.
Diese Bindung der königlichen Exekutive durch die Ministerverantwortlichkeit
erstreckt sich nicht auf den Oberbefehl über Heer und Marine. Beschränkung
der Staatsverwaltung durch die Rechte, die den Selbstverwaltungskorporationen
und ihren Organen verliehen sind. Es folgte die Reichsverfassung. Nach Er-
läuterung der Begriffe Staatenbund und Bundesstaat legte der Redner die gesetz-
gebende Gewalt im Reiche dar, das Entstehen eines Reichsgesetzes durch Zusammen-
wirken von Bundesrat und Reichstag, sprach über die Zusammensetzung des
Bundesrats, besonders über die preußischen Stimmen im Bundesrat, über Reichs-
tagswahlrecht und Legislaturperioden und behandelte ausführlich die vollziehende
Gewalt im Reiche, die Rechte des Kaisers und die Stellung des Reichskanzlers.
Zum Schluß wies er darauf hin, wie jedes neue Reichsgesetz ein neues einigendes
Band um das deutsche Volk schlingt.
In einem vierten Vortrage [behandelte am 19. [Januar 1912 Herr [L a n d -
richter Dr. Frese,, Unser Recht und unsere Gerichtshof e".
Der Redner ging davon aus, was unter Recht im objektiven Sinne zu verstehen ist,
erklärte die Begriffe Staatsrecht (Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht), Kirchen-
recht, Völkerrecht, Strafrecht, Privatrecht, Prozeßrecht und setzte auseinander,
daß nur das Straf- und Privatrecht Gegenstand der Rechtssprechung seien. Er
warf dann einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung. In alten Zeiten stand
im Deutschen Reich die Rechtssprechung dem Kaiser zu, der ihre Ausübung ebenso
wie die Verwaltung der einzelnen Landesteile den Grafen und später den Landes-
herren übertrug oder überließ. Einrichtung von Gerichtshöfen (Reichskammer-
gericht), deren Entscheidung aber von ihrem obersten Herrn, der auch oberster
Richter war, umgestoßen werden konnte. Die gänzliche Trennung von Justiz
und Verwaltung wurde zuerst von Montesquieu gefordert. Nachdem dieses Prinzip
schon in die Verfassungen der Vereinigten Staaten von Nordamerika und Frankreichs
aufgenommen worden war, wurde es auch in Preußen durch die Stein - Harden-
bergsche Reorganisation des Staates zur Durchführung gebracht. Im heutigen
Deutschen Reich ist die Organisation der Gerichte wie auch das gesamte von diesen
zu übende Verfahren seit 1877 durch die Reichsjustizgesetze, nämlich das Gerichts-
verfassungsgesetz, die Zivilprozeßordnung und die Strafprozeßordnung, einheitlich
geregelt. Oberster Grundsatz unserer gesamten Rechtssprechung ist, daß die
richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte
ausgeübt wird. Kein Richter ist bei Ausübung seines richterlichen Amtes an den
Befehl eines Vorgesetzten gebunden. Der Justizminister ist kein Richter, sondern
die Spitze der Justizverwaltung. Ebensowenig ist das dem preußischen Justiz-
ministerium entsprechende Reichsjustizamt eine richterliche Behörde. Ihre Tätig-
keit beschränkt sich auf die Justizverwaltung, die Prüfung der Bewährung der
17*
260 M. Schweigel, Bürgerkundliche Vorträge für Schüler in Düsseldorf.
Gesetze und die Ausarbeitung neuer Gesetze. Dem König ist von seinen richter-
lichen Rechten nur das Begnadigungsrecht geblieben. Der Redner ging dann zu
einer Besprechung des Bürgerlichen Gesetzbuches über, wobei auch das Allgemeine
deutsche Handelsgesetzbuch Erwähnung fand. Er behandelte die Einteilung des
Bürgerlichen Gesetzbuches, natürliche und juristische Person, die Begriffe un-
mündig, minderjährig, volljährig, Rechtsgeschäfte, Vertrag, Kaufvertrag, Miet-
vertrag, Pacht, Dienstvertrag, Werkvertrag, das Sachenrecht, Eigentum, Pfand-
recht, Hypothek, Grundbuch, das Familienrecht, das Erbrecht. Überall erieichterten
Beispiele das Verständnis. Nach dieser Übersicht über das Bürgerliche Gesetzbuch
schritt der Vortragende zu einer kurzen Betrachtung des Strafgesetzbuches. U. a.
erklärte er an Beispielen, was Übertretung, Vergehen und Verbrechen ist. Zum
Schluß sprach er über Staatsanwaltschaft, Schöffengericht, Strafkammer, Schwur-
gericht, Strafprozeß und Zivilprozeß, über die Bedeutung des Oberlandesgerichts
und Reichsgerichts.
Damit bei der hohen Stundenzahl der oberen Klassen eine Überlastung der
Schüler vermieden würde, sollten nur 4 Vorträge stattfinden, von denen wegen der
Reifeprüfung der letzte im Januar gehalten wurde. Als Stunde wurde 6 — 1 Uhr
nachmittags gewählt, so daß die Schüler schon vorher ihre häuslichen Arbeiten
erledigt haben konnten. Hierzu ließ ich den an dem betreffenden Nachmittage
liegenden Turn- und wahlfreien Unterricht ausfallen, und an den anderen An-
stalten werden ähnliche Erleichterungen eingetreten sein. Die Vorträge waren
von 450 — 500 Schülern aller höheren Knabenschulen der Stadt besucht, und zwar
von den Schülern der drei oberen Klassen und vom dritten Vortrage an auf Wunsch
einiger Geschichtslehrer auch von Schülern der Untersekunda. Meine Unter-
sekundaner baten auch selbst darum, zu den Vorträgen zugelassen zu werden.
Eine Anstalt hatte die Untersekundaner von Anfang an geschickt. Außer den
Schülern erschienen zu den Vorträgen auch eine Anzahl geladener Herren, Direk-
toren der höheren Lehranstalten, Mitglieder der Lehrerkollegien sowie Angehörige
der Schüler.
Der Versuch mit diesen Vorträgen darf als gelungen angesehen werden, denn
die Schüler brachten ihnen ein reges Interesse entgegen, und die Besprechung
der Vorträge im Unterricht ergab, daß sie im wesentlichen auch gut verstanden
worden waren. Ein Eingehen auf die Vorträge im Unterricht ist, wenn sie ihren
vollen Nutzen haben sollen, allerdings notwendig, und es ist deshalb sehr erwünscht,
daß der Geschichtslehrer, dem diese Aufgabe in erster Linie zufallen wird, die
Vorträge selbst anhört. Die Vorträge sollen jetzt gedruckt werden, und jeder
Schüler wird kostenlos ein Exemplar erhalten. Auch sollen Exemplare in den
Bibliotheken der höheren Lehranstalten den Lehrern für ihren Unterricht zur Ver-
fügung stehen. Die Vorträge werden voraussichtlich nächsten Winter fortgesetzt
werden, und zwar soll dann auch das Wirtschaftsleben Berücksichtigung finden.
Düsseldorf. M. Schweigel.
A. Tafelmacher, Der bürgerkundjiche Unterricht in der Handels- Realschule usw. 261
Der bürgerkundliche Unterricht in der Handels-Realschule
zu Dessau.
Auf der vom 6. bis zum 9. Juni dieses Jahres in Nordhausen stattgehabten
Versammlung der Direktoren der Provinz Sachsen und der anliegenden Fürsten- und
Herzogtümer stand auch das Thema: ,,Die Belehrungen in der Bürgerkunde und
die Frage der staatsbürgerlichen Erziehung" zur Verhandlung. Man war darüber
einig, daß bürgerkundliche Belehrungen den Schülern aller höheren Lehranstalten
zuteil werden müssen, und zwar im Zusammenhang mit dem Unterricht in anderen
Fächern, hauptsächlich in der Geschichte, und es wurde unter No. 4 der folgende
Leitsatz angenommen: ,,Es ist wünschenswert, daß jede Anstalt einen Plan für
die Einfügung der bürgerkundlichen Belehrungen aufstellt,"
Da die Handels-Realschulen seit ihrer Gründung auf den bürgerkundlichen
Unterricht großes Gewicht gelegt haben und die Lehrer daher Gelegenheit gehabt
haben, auf diesem Gebiete Erfahrungen zu sammeln, so ist es vielleicht von allge-
meinem Interesse, den Betrieb dieses Unterrichts an der von mir geleiteten Handels-
Realschule zu Dessau und vor allem den für die Verknüpfung dieses Unterrichts
mit dem geschichtlichen aufgestellten Plan kennen zu lernen.
Ehe ich jedoch dazu übergehe, sei es gestattet, einige allgemeine Bemerkungen
über Handels-Realschulen vorauszuschicken, um vor allen Dingen dem Vorurteil
zu begegnen, daß diese Schulen Fachschulen seien. Die Handels-Realschulen sind
in erster Linie durch die Tätigkeit des Deutschen Verbandes für das kaufmännische
Unterrichtswesen ins Leben gerufen und gefördert worden, dessen Leitung seit
Jahren in den bewährten Händen des Herrn Geh. Regierungsrat Dr. Stegemann
in Braunschweig liegt. Bei der Gründung dieser Schulen hat man sich hauptsächlich
von den folgenden Erwartungen leiten lassen: Das Deutsche I^eich entwickelt
sich immer mehr vom Agrarstaat zum Industriestaat, demgemäß hat auch der
deutsche Handel einen gewaltigen Aufschwung genommen, und der Handelsstand
bildet einen beträchtlichen Prozentsatz aller Berufsarten in Deutschland. Die
den angehenden Kaufleuten ins Leben mitzugebende Allgemeinbildung darf sich
von dem ähnlicher Berufe nicht wesentlich unterscheiden. Die bisher für die Vor-
bildung besonders in Betracht kommende allgemeinbildende Anstalt, die Real-
schule, dient mehr den Bedürfnissen mittlerer technischer und gewerblicher Berufe.
Es kommt noch hinzu, daß in den größeren Handelsstädten (Hamburg, Bremen,
Lübeck, Cöln, Leipzig usw.) eine große Anzahl der Realschulabiturienten (45 bis
74%) sich seit Jahren dem Kaufmannsstande widmet, so daß diesem Stande
ein gewisses Recht auf die Gründung einer seinen Bedürfnissen Rechnung tragenden
Schulart nicht abgesprochen werden konnte.
Es gibt in Deutschland jetzt 4 selbständige Handels-Realschulen — Cöln,
Frankfurt a. M., Dessau und München und 4 einer Oberrealschule oder Realschule
angegliederte in Mannheim, Schöneberg-Beriin, Essen und Lübeck. Die Handels-
Realschule sucht ihrem Hauptzweck dadurch zu genügen, daß sie ihren Schülern
gleichzeitig mit der Allgemeinbildung kaufmännische Vorbildung zuteil werden
läßt, aber derart, daß die letztere der ersteren unterzuordnen und ihr dienstbar
zu machen ist. Das wird dadurch erreicht, daß die meisten der Fächer, welche die
262 A. Tafelmacher,
Handels-Realschule mit der reinen Realschule gemein hat, von kaufmännischen
Ideen durchdrungen werden und daß außerdem Unterricht in einzelnen besonders
die Erfordernisse des kaufmännischen Berufs berücksichtigenden Lehrgegenständen
erteilt wird, wie in Buchführung, Handelslehre, deutscher und fremdsprachlicher
Handelskorrespondenz, kaufmännischem Rechnen, Stenographie und Warenkunde.
Schon in der Ausschußsitzung des Deutschen Verbandes für das kaufmännische Unter-
richtswesen vom Mai 1900 hat der jetzige Schulrat Dr. Wernicke-Braunschweig
ausgeführt, daß „Allgemeinbildung in objektiver Hinsicht, d. h. in bezug auf die
Stoffe, an welchen die Arbeit des Lehrers und des Schülers haftet, jeder Begrenzung
spottet''. Herr Wernicke erinnert daran, daß Latein ursprünglich kein allgemein
bildendes Fach gewesen ist; wir können außerdem an die allen bekannte Wandlung
denken, welche die Stellung der Naturwissenschaften in den Lehrplänen der höheren
Lehranstalten etwa seit Mitte des vorigen Jahrhunderts erfahren hat. Es ist nicht
unwahrscheinlich, daß es ähnlich den kaufmännischen Fächern ergehen kann, denn
bei näherer Betrachtung überzeugt sich jeder von ihrem allgemeinbildenden Wert.
Auch Wernicke ist der Meinung, daß ,,z. B. die Buchführung ganz ausgezeichnet
dazu geeignet ist, zur Aufmerksamkeit und Ordnung, zur Beobachtung, zum Nach-
denken, zur Übersicht usw. zu erziehen". Bei der Vorbildung der jungen Juristen
wird heutzutage vielfach das Kennenlernen eines größeren kaufmännischen Betriebes
gefordert, und selbst ältere Juristen suchen sich nachträglich die Grundzüge der
kaufmännischen Fächer, besonders der Buchführung, zu eigen zu machen. Aus
dem Gesagten geht wohl zur Genüge hervor, daß die Handels-Realschule nicht als
Fachschule bezeichnet werden kann. Die Schüler, welche das Ziel unserer Anstalt
erreicht haben, erhalten demnach das Zeugnis der Reife für Obersekunda einer
Oberrealschule.*)
Nach dieser Abschweifung gehe ich nunmehr zum eigentlichen Thema über.
Der bürgerkundliche Unterricht wird an unserer Anstalt hauptsächlich mit den
Handelsfächern und der Geschichte verknüpft, er wird aber außerdem, wo es sich
in ungezwungener Weise ausführen läßt, in den Rahmen anderer Lehrfächer,
z. B. der Erdkunde, des Deutschen und der Religion, eingefügt.
Nach einer Aufstellung unseres Handelslehrers, Herrn Fischer, kommen im
kaufmännischen Rechnen, in Buchhaltung, Korrespondenz und Handelskunde
etwa die folgenden Stoffe aus den bürgerkundlichen Belehrungen in Betracht:
Invaliditäts-, Renten- und Krankenversicherungen. Buchhaltung des Privatmanns,
Handwerkers, Landwirts, Kaufmanns, der Gemeinde, des Staates und die dazu
gehörenden Vorschriften und Gesetze. Anfänge des Handels, Arten des Handels
und ihre Stellung und Einwirkungen im bzw. auf ein Volk. Recht zum Betrieb des
Handels, Pflichten der Handeltreibenden, ihre Stellung im Staate, in der Wirt-
schaft des Volkes. Verpflichtungen des Staates dem Handel und der Industrie
gegenüber, Handelspolitik: Zölle, Konsulate, Handelskammern, Handelsgerichte,
Patentwesen, Post, Telegraph, Fernsprecher, Handelsverträge, Schiffahrtsverträge,
Handelssachverständige im Auslande, Freihäfen, Monopole usw. Das Bank- und
*) Ein Jahresbericht unserer Anstalt, der von den Zwecken und Zielen der Handels-
Realschule ein genaueres Bild gibt, wird auf Verlangen gern zur Verfügung gestellt.
Der bürgerkundliche Unterricht in der Handels-Realschule zu Dessau. 263
Börsenwesen mit Betonung der Macht und des Einflusses der heutigen Banken
auf unsere in- und ausländische Politik und die Absatzmöglichkeiten deutscher
Erzeugnisse auf dem Weltmarkte. Die Rückwirkungen auf die heimische Industrie
und unser Volk (Wohlfahrt, Reichtum, Gesittung). Die Geschäftsformen (Gesell-
schaften). Verkehrswesen: Frachtgeschäft, Schiffahrt, Messen, Märkte, Aus-
stellungen. Versicherungswesen. Wirtschaftliche Zusammenschließungen: Ringe,
Syndikate, Trusts, Streiks.
Für die bürgerkundlichen Belehrungen in der Geschichte gebe ich einem
unserer Geschichtslehrer, Herrn Oberlehrer Dr. Walther, selbst das Wort:
„Wo sich Gelegenheit bietet, sind die Einrichtungen in Staat und Gesellschaft
mit entwicklungsgeschichtlich verwandten Stoffen in Beziehung zu bringen.
Der Geschichtslehrer muß zeigen, daß das Gefüge des öffentlichen Lebens das
Endglied eines Werdeganges ist, der stets durch Verbindung des Hergebrachten
mit dem Fortschritt neue Daseinsformen schafft. Auf diese Weise sammelt der
Schüler nicht nur bürgerkundliches Wissen, sondern gewinnt die praktisch überaus
wertvolle Erkenntnis, daß sich die Neueinrichtungen und Reformen an Vorhan-
denes und Gewohntes anschließen müssen.
Unter diesem Gesichtspunkte erteile ich den Unterricht seit 5 Jahren. Wo
es angeht, schlage ich Brücken von der Vergangenheit zur Gegenwart. In dem
folgenden Plan sind die zu behandelnden bürgerkundlichen Stoffe den als Aus-
gangspunkt dienenden (gesperrt gedruckten) geschichtlichen angereiht.
A. Aus dem Stoffplan der III (Unter-Tertia).
1. Die Kimbern und Teutonen und die Völkerwande-
rung: Unsere heutige Auswanderung. Volkszunahme, Umfang der Auswanderung
seit 1800.
2. Arminius; die späteren deutschen Herzogtümer:
Die geographisch bedingten partikularistischen Tendenzen im deutschen Volks-
charakter.
3. Die Stände der Germanen: Die volkswirtschaftlich bedingten
Unterschiede innerhalb unserer Bevölkerung.
4. Bonifatius: Das Verhältnis der deutschen und der französischen
Katholiken der Gegenwart zu Rom.
5. Das Lehenswesen: Die gegenwärtigen Beamtenverhältnisse auf
Grund der Geldwirtschaft.
6. Die Kaisergeschichte: Es wird gezeigt, wie die Grafen und
Fürsten des alten Reiches Recht um Recht erlangen, wie sich langsam ihre Beamten-
rechte zur Fürstenmacht ausbilden.
7. Das Städtewesen: Die städtischen Verfassungen, die Gerichts-
barkeit, das Schulwesen, die Fürsorge für die Armen.
8. Die Hansa: „Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser."
B. Aus dem Stoffplan der II (Ober-Tertia).
9. Die Erhebung der Reichsritter: Über die gegenwärtigen
Adelsverhältnisse.
264 A. Tafelniacher, Der bürgerkundliche Unterricht in der Handeis- Realschule usw.
10. Der große Bauernkrieg: Bauernbündnisse und ihr Zweck in
der Gegenwart.
11. Die Wiedertäufer in Münster: Die Sektenbildung.
12. Die Kulturtätigkeit der Fürsten des Mittelalters
und der Übergangszeit: Die Pflichten, welche die Allgemeinheit den
Fürsten heute auferlegt.
13. Der Dreißigjährige Krieg: Die konfessionelle Zerklüftung
des deutschen Volkes.
14. Joachim I. (Kammergericht, Universität Frank-
furt): Die Rechtsprechung heute. Die Schwierigkeit der Gründung und Er-
haltung von Universitäten.
15. Der spanische Erbfolgekrieg: Die anders gearteten Ur-
sachen der Gegenwartskriege.
16. Die preußischen Könige: Der absolutistische Staat.
17. Friedrichwilhelm I.: Landwirtschaftliche Aufgaben des Staates:
Sumpftrocknen, Moorkultur, Küstenschutz u. a.
18. Friedrich der Große: Die Schutzzölle.
19. Die polnischen Teilungen: Das Wahl- und Erbkönigtum.
Die polnische Frage, Ansiedelungskommission, Volksmischung.
20. Die Entstehung der Vereinigten Staaten: Bundes-
staat und Einheitsstaat. Verfassung der Schweiz und Frankreichs.
21. Die Kulturzustände des 18. Jahrhunderts: Ver-
fassung, Stadt und Land. Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit, Gerichtsbarkeit,
Kirche und Schule, Heer usw.
C. Aus dem Stoffplan der I (Unter-Sekunda).
22. Die französische Revolution: Die Regierungsgewalten im
Staate. Art der Teilung zwischen Fürst und Volk in einzelnen Staaten. Unsegen
einer reinen Volksherrschaft. Widerlegung einzelner Punkte des sozialdemokra-
tischen Programms durch Tatsachen der französischen Revolution.
23. Die Koalitionskriege: Moderne ^^ölkerbündnisse (Vorteile,
Nachteile, Leistungen).
24. Umsturz derdeutschen Reichsverfassung: Die jetzige
Reichsverfassung kurz.
25. Derdeutsche Bund (von 1815—1866): Der Unsegen eines losen
Zusammenhanges der deutschen Staaten.
26. D e r Zo 1 1 v e r ei n: Das deutsche Zollgebiet.
27. Die Stein-Hardenbergsche Städteordnung: Selbst-
verwaltung, Magistrats- und Bürgermeisterverfassung, Gemeindeaufgaben der
Stadt.
28. Aufhebung der Erbuntertänigkeit: Die landwirtschaft-
liche Bevölkerung, die ländliche Arbeiterfrage. Getreidebau in unserer Zeit.
29. Aufhebung des Zunftzwanges: Die heutigen Zünfte. Ge-
werbefreiheit, Fragen des Handwerkerstandes.
E. Stutzer, Über Schülervorträge usw. 265
30. D i e J a h r e 1848—1850: Das Wichtigste aus dem preußischen Staats-
grundgesetz von 1850. Die preußische Provinzial- und Kreiseinteilung. Die
Weiterbildung der preußischen Verfassung. Die Verfassung anderer deutscher
Staaten. Die Verfassung Anhalts.
31. Der Krieg 1870/71: Die Reichsverfassung genau, nach Reclams
Ausgabe.
32. Deutschlands Kolonien: Deutschlands Kolonial- und Wirt-
schaftspolitik.
Außerdem Genaueres über Deutschlands Heer und Marine, über die Reichs-
einnahmen und Steuerverhältnisse, über die soziale Gesetzgebung. Die Parteien
und Parteikämpfe. Die verschiedenen Schulgattungen, Das bürgerliche Gesetzbuch.''
Aus dem Vorgehenden ist wohl ersichtlich, daß den Schülern unserer Handels-
Realschule eine Fülle von bürgerkundlichen Lehren mit ins Leben gegeben wird.
Ich darf hinzufügen, daß die Schüler dem Unterricht im allgemeinen mit Eifer
und Hingabe folgen und daß die erzielten Erfolge dementsprechend günstige sind.
. Dessau. A. T a f e 1 m a c h e r.
Über Schülervorträge insbesondere aus dem Gebiete der
Staatskunde.
Im IX. Jahrgange dieser Monatschrift (1910 S. 34'ff.) habe ich kurz auf
schriftliche Arbeiten hingewiesen als auf ein besonderes Mittel, um ein besseres
und tieferes Verständnis für unser Staatsleben und für unsere öffentlichen Einrich-
tungen überhaupt anzubahnen, habe dabei aber betont, daß ich den Hauptnach-
druck glaube legen zu müssen auf die mündlichen Erörterunger^ und — kurz ge-
sagt — die Schülervorträge, von denen es in den preußischen Lehrplänen vom
Jahre 1901 heißt (S. 21, No. 3): „Überall, besonders auf der oberen Stufe, sind
Übungen in frei gesprochenen Berichten über Gelesenes oder Gehörtes vorzu-
nehmen." Doch über das zweckmäßigste Verfahren bei diesen Übungen herrscht
ebenso große Meinungsverschiedenheit wie über ihre Bedeutung, und diese scheint
mir gerade für staatsbürgerliche Bildung und Erziehung von manchen unter-
schätzt zu werden. Denn in den jüngst erschienenen größeren und kleineren ein-
schlägigen Veröffentlichungen, auch in manchen für die preußischen Direktoren-
Versammlungen erstatteten Berichten (mit Ausnahme der Provinz Sachsen), sind
die Schülervorträge, wenn überhaupt, dann nur sehr kurz behandelt worden;
deshalb möchte ich die Aufmerksamkeit auf diese ebenso wichtige wie schwierige
Frage besonders gelenkt wissen. Zunächst scheinen wegen der Verschiedenheit
der Ansichten einige methodische Bemerkungen im allgemeinen erforderlich zu sein.
Um das in den Lehrplänen bezeichnete Ziel zu erreichen, müssen wir von
Sexta an planmäßig vorgehen. Auf der Unterstufe wiederholt der Schüler kurz,
was er gelesen hat und was ihm vorerzählt worden ist, oder berichtet über die von
ihm erlebten und beobachteten Dinge sowie über Anschauungsbilder; in den mitt-
leren Klassen gewöhnt der Lehrer die Zöglinge allmählich daran, einfache Zusammen-
hänge darzulegen; diese werden auf der oberen Stufe nach und nach größer und ver-
266 E. Stutzer,
wickelter, Vergleiche kommen dazu, und gelegentlich kann man sich mit der nötigen
Vorsicht an bestimmte Probleme wagen. Dem Geiste der Lehrpläne und vielleicht*)
auch der jüngst bei der Frage der staatsbürgerlichen Erziehung mit besonderem
Nachdruck betonten Bedeutung der Arbeitsgemeinschaften dürfte es entsprechen,
wenn bis zur Prima von allen Schülern gleichmäßig ein kurzer Bericht über einen
bestimmten Stoff gefordert wird unter der Voraussetzung, daß entweder alle Schüler
diesen zu Hause durchlesen können oder daß er vom Lehrer in der vorhergehenden
Stunde genau durchgesprochen ist. Unter diesen beiden Voraussetzungen kann
man von allen Schülern verlangen, daß sie über einen bestimmten Stoff berichten.
In der betreffenden Stunde greift man dann einen oder mehrere heraus; wie oft
im Jahre die einzelnen an die Reihe kommen, das richtet sich nach der Stärke der
Klasse und der besonderen Veranlagung der Zöglinge. Zeigen in der Prima ein-
zelne auf geistigem Gebiete Neigung zur Selbstbetätigung, so muß diese auf jede
mögliche Weise unterstützt werden. Den betreffenden Schülern ist also Gelegenheit
zu geben, nach eigener Wahl über Gelesenes und Gehörtes, selbstverständlich nach
vorheriger Rücksprache mit dem Lehrer, zu berichten. Ob alle Mitschüler 'auf-
merksam zugehört haben, davon überzeuge man sich aber stets durch einzelne
Fragen an verschiedene in derselben oder in der nächsten Stunde.
Von welchem Platze aus sind diese Berichte zu halten? Von Untersekunda
an, wo ja gewöhnlich das Duzen aufhört, stets vom Katheder aus, meine ich. Denn
die Scheu, vor der Öffentlichkeit zu sprechen, legt manch einer vielleicht nur schwer
ab, wenn er immer einzig und allein von seinem gewöhnlichen Platze aus gesprochen
hat. Steht der betreffende Schüler stets auf dem Katheder, so wird der ganzen Sache
kein^ besonderer Anstrich verliehen, wogegen sich z. B. Lehmann in seiner Methodik
des deutschen Unterrichts (3. Aufl. Berlin 1909, Weidmannsche Buchhandlung)
aus triftigen Gründen erklärt. Vor dem Auswendiglernen einer schriftlichen Aus-
arbeitung ist von Anfang an mit dem größten Nachdruck zu warnen, damit es
später als ganz selbstverständlich, vielleicht darf man bei manchen älteren Schülern
sagen: als Ehrensache betrachtet wird, auch bei schwierigeren Aufgaben einzig
und allein eine kurze Inhaltsübersicht mit Stichworten aufs Katheder mitzunehmen
und nur im Notfalle einen Blick hineinzuwerfen — dies ist nämlich nach meiner
Ansicht ausdrücklich zu gestatten, obwohl in den Lehrplänen a. a. 0. von ,,f r e i
gesprochenen Berichten" die Rede ist. In den unteren und mittleren Klassen
dauere der Bericht höchstens 10, in den oberen höchstens 15 Minuten, und niemals
unterbreche ihn der Lehrer ohne zwingenden Grund, sondern erst, wenn der Schüler
fertig ist und wieder auf seinem Platze sitzt, dann frage man, und zwar zunächst
die Klasse im allgemeinen, ob jemandem etwas aufgefallen ist; vielleicht kann
sich derjenige, der den Bericht gehalten hat, selbst verbessern, wenn er durch
Mitschüler aufmerksam gemacht worden ist. Diese dürfen sich unter Umständen
während des Vortrages kurze Bemerkungen aufzeichnen, um auf solcher Grundlage
Unrichtiges festzustellen oder Bedenken zu äußern. Auch dies Verfahren dient zur
♦) Kerschensteiners bekannte Vorschläge nach dieser Richtung hin lassen sicli
auf „höheren" Schulen nur zum geringsten Teile durchführen; in vielen Fällen müssen
wir den im Schüler sehr regen Trieb nach „Arbeitsgemeinschaft" nachdrücklich bekämpfen,
weil er die Selbständigkeit gefährdet.
über Schülervorträge usw. 267
Hebung der Selbsttätigkeit, auf die man gar nicht genug einwirken kann. Weil
Befangenheit und Ängstlichkeit bei manchen Schülern von vornherein jede Frei-
heit des Ausdrucksvermögens schwer beeinträchtigen, so wirkt in dieser Beziehung
ein falsch geleiteter Unterricht sehr nachteilig fürs spätere Leben. Kein Ver-
ständiger allerdings wird von der Schule fordern, daß sie alle ihre Zöglinge zu
Rednern ausbildet; denn dazu gehört natürliche Begabung, die auch der ge-
schickteste Unterricht nicht zu ersetzen vermag. Aber es ist dringend zu wünschen,
daß möglichst viele die Befähigung erlangen, in der Öffentlichkeit vor jedem Zu-
hörerkreise ohne Scheu aufzutreten und die geistige Waffe des Wortes klar, über-
zeugend, unter Umständen anfeuernd und begeisternd zu handhaben. Dies Ziel
muß um so ernster erstrebt werden, weil bekanntlich die sozialdemokratische Partei
bei ihren ebenso eifrigen wie einseitigen Bemühungen um politische Aufklärung
einen beträchtlichen Vorsprung auf dem Gebiet der Redegewandtheit und Dis-
putierkunst vor den staatserhaltenden Parteien gewonnen hat
Damit bin ich auf die mir besonders am Herzen liegende staatsbürgerliche
Bildung und Erziehung gekommen und glaube die Forderung als eine berechtigte
bezeichnen zu dürfen, daß die Schüler der Untersekunda gelegentlich,' die der
drei oberen Klassen regelmäßig, wenn auch nur kurz über Gelesenes auch aus dem
Gebiete der Staatskunde (ich sage absichtlich nicht Bürgerkunde) berichten und
gerade dabei Anleitung zu Disputationen erhalten, wie solche z. B. in England
stattfinden. Am wichtigsten ist beides natürlich in der Oberprima, wo durch sorg-
fältige Sichtung des Stoffes soviel Zeit im Geschichtsunterricht unbedingt erübrigt
werden muß, daß ein ziemlich geschlossenes Bild unseres gesamten jetzigen Staats-
wesens sozusagen von einer Hochwarte aus entworfen wird. Das kann nicht in der
nötigen oder wünschenswerten Weise geschehen ohne die Erziehung zu planvoller
wirklich bildender Lektüre auch auf dem Gebiete der Staatskund^, und in den Dienst
solcher Erziehung stelle man auch die Schülervorträge.
Aber reicht im Geschichtsunterricht der Prima die so außerordentlich knappe
Zeit dazu aus? Über die gerade diesem Fache aufgenötigte Hast und Unruhe wird
jetzt sehr lebhaft geklagt; in der Tat ist mit jeder Stunde zu rechnen. Um so nach-
drücklicher sei daher darauf hingewiesen, daß auch im deutschen Unterrichte bei
den Vortragsübungen einzelne Aufgaben aus dem Gebiete der Staatskunde gestellt
werden müssen, auch wenn Deutsch und Geschichte nicht in einer Hand liegen.
In diesem Falle wäre die Mahnung der Dienstanweisung (ob sie wohl vielen Lehrern
aus der Seele gesprochen ist?), „daß die Lehrer, namentlich die in derselben Klasse
unterrichtenden, Gelegenheit nehmen, sich gegenseitig in ihrem Unterricht zu be-
suchen", besonders auch für die Vorträge zu beachten. Damit die ganze Klasse
sich darauf vorbereiten kann, ist es wünschenswert, daß in den Lesebüchern der
fragliche Stoff etwas reichlicher als gewöhnlich berücksichtigt oder daß ein be-
sonderes Lesebuch zur Staatskunde in Gebrauch genommen wird;
das bei Ehlermann erschienene (2. Aufl. 1909) erwähne ich nur deshalb, weil es
meines Wissens kein zweites dieser Art gibt. Wird ein solches benutzt, dann kann
den Berichten der einzelnen ein zweckmäßig gewähltes Gesamtgebiet zugrunde
gelegt werden. Die Hauptsache ist, daß überhaupt und daß planmäßig'gelesen
wird; die vielen ebenso vortrefflichen wie wohlfeilen Sammlungen, z. B. die deut-
sche Volksbücherei, erieichtern das jetzt sehr.
268 E. Stutzer, Über Schtilervorträge usw.
Welches sind nun geeignete Aufgaben für Vorträge aus dem Gebiete der Staats-
kunde? Um den mir zur Verfügung stehenden Raum nicht zu überschreiten, be-
gnüge ich mich, die Lehrer des Deutschen auf die von G e y e r in seinem Buche
über den deutschen Aufsatz (2. Aufl. München 1911, Beck) S. 302f. angeführten
19 Aufgaben hinzuweisen, von denen sich viele ebensogut für Vorträge wie für
Aufsätze eignen. Auch Wolf, Staatsbürgerliche Erziehung auf den höheren
Schulen (Leipzig und Berlin 1912, Teubner) S. 33ff. gibt eine große Zahl geeig-
neter Aufgaben. Die Geschichtslehrer, denen die Literatur über ihr Fach im all-
gemeinen und über die Staatskunde im besonderen auch nur einigermaßen bekannt
ist, werden mit leichter Mühe viele passenden Aufgaben sich zusammenstellen
können. Zum Schluß will ich aus meiner Erfahrung der letzten Zeit wenigstens
drei ganz neue anführen. 1. „Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen"
— inwiefern und weshalb wird diese Forderung in der deutschen Reichsverfassung
erfüllt? Diese Frage muß die ganze Klasse beantworten können, nachdem über
den Bundesrat und die Reichsgesetzgebung alles Erforderliche besprochen worden
ist, evtl. unter Zuhilfenahme des Lesebuches. 2. Besser als alle seine Mitschüler
weiß der schlaue Sohn eines Kommerzienrates über Handelsverträge Bescheid;
denn er hört von seinem verständigen Vater manches darüber und liest gern und
viel. Dieser Oberprimaner beantwortet in einem kurzen und freien, auch zahlen-
freien, Berichte die Frage: Wie kommt ein Handelsvertrag zustande, und welche
Bedeutung hat er? 3. Der preußische Verfassungskonflikt bietet die^^beste Ge-
legenheit, über das Wesen des konstitutionellen Staates, über den Unterschied
zwischen monarchischer und parlamentarischer Regierung Aufklärungen zu geben.
Die Mehrzahl der Schüler besitzt doch wohl in der Regel eine Auswahl aus Bis-
marcks Reden. Ob sie diese mit Nutzen gelesen haben, können sie durch den Vor-
trag beweisen: Welches Bild der preußischen Verfassung gewinnen wir aus Bis-
marcks Reden?
Treten in solcher Weise neben anderen Mitteln auch die Schülervorträge in
den Dienst der staatsbürgerlichen Erziehung, so ist zu hoffen, daß die von den
höheren Schulen Entlassenen sich als Männer zumeist in den Fragen der Zeit zu-
rechtfinden und ein tätiges Interesse am öffentlichen Leben beweisen werden.
Görlitz. E. Stutzer.
II. Bücherbesprechungen.
Einzelbesprechungen :
Heinemann, 0., Die wichtigstenBestimmungen der Preußi-
schen Staatsbeamtengesetzgebung. Anhang zum Hand-
buch des Verfassers über die Organisation und Verwaltung der öffentlichen
Preußischen Unterrichtsanstalten. Potsdam 1909. A. Steins Verlagsbuch-
handlung. 267 S. Lex.-80. 2,40 M. geb. 3,60 M.
Auf das Erscheinen dieses Anhangs ist schon in Jahrgang 9, S. 104 dieser
Monatschrift hingewiesen worden. Er enthält in 16 Abschnitten die Bestimmungen:
1. Über Anstellung, Vereidigung, Amtsverschwiegenheit, allgemeine Rechte und
Pflichten der Staatsbeamten sowie Merkmale der Staatsbeamteneigenschaft.
2. Grundsätze für die Besetzung der mittleren, Kanzlei- und Unterbeamten-
stellen bei den Reichs- und Staatsämtern mit Militäranwärtern. 3. Besoldungen
und Gnadengebührnisse vom Diensteinkommen. 4. Wohnungsgeldzuschuß. 5. Be-
soldungsordnung, Gehaltsvorschriften und Anrechnung der Militärdienstzeit auf
das Besoldungsdienstalter. 6. Militärverhältnisse der Zivilbeamten. 7. Tage-
gelder und Reisekostenentschädigungen. 8. Umzugskostenentschädigungen.
9. Dienstwohnungen der Staatsbeamten. 10. Disziplinarvorschriften und Be-
stimmungen über die Wartegelder der Staatsbeamten. II. Vermögensrechtliche
Ansprüche der Staatsbeamten aus ihrem Dienstverhältnis. 12. Urlaub und Stell-
vertretung. 13. Nebenämter usw. 14. Eheschließung der Beamten. 15. Pen-
sionswesen, Hinterbliebenenfürsorge und Erziehungsbeihilfen. 16. Besteuerung
und Beschlagnahme des Diensteinkommens der Staatsbeamten.
Besonders wichtig zur jederzeitigen Information wird ja wohl der Abschnitt 5
erscheinen. Aber auch alle übrigen werden gleich ausführlich nicht leicht an anderen
Stellen zusammen gefunden werden. Die Abschnitte 4 und 7 sind freilich durch
die Gesetzgebung des Jahres 1910 überholt.
Pankow. Max Nath.
Natorp, P., Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. Einführung in
den kritischen Idealismus. (Wege zur Philosophie. Ergänzungsreihe: Einfüh-
rungen in die Philosophie der Gegenwart, No. 1.) Göttingen 1911. Vanden-
hoeck & Ruprecht. 172 S. S«. 2 M.
Die Reihe von Heften, in die auch dies Büchlein hineingehört, kommt einem
neuerdings immer mehr zutage tretendem Bedürfnis entgegen, welches sich in
270 P. Natorp, Philosophie, angez. von R. Jonas.
weiten Kreisen der Gebildeten fühlbar macht, nämlich dem Bedürfnis nach philo-
sophischer Erkenntnis. Es gilt hier, in einer nicht allein für den Fachmann ge-
eigneten und verständlichen Weise in die Gedankenwelt der Philosophie einzu-
führen und aus derselben gerade diejenigen Gebiete auszuwählen, welche auf ein
besonderes Interesse Anspruch machen können. Das tut der bekannte Marburger
Philosoph in dem vorliegenden Bändchen.
In dem einleitenden Kapitel, welches von der Philosophie im allgemeinen
handelt, geht Verfasser davon aus, daß man bei der fast jähen Entwicklung auf
so vielen Gebieten ein starkes Bedürfnis nach etwas Neuem, ja vielleicht Uner-
hörtem empfindet; nach einer Wahrheit, die nicht allein den Verstand befriedigen,
sondern auch den geheimsten innersten Zweifeln und Fragen der Seele antworten
soll. Das nenne man ,, Weltanschauung'*. Die Entwicklung der Philosophie geht
mit der aller Wissenschaften, ja der ganzen Kultur, Hand in Hand. Da gibt es eine
Menge von Wechselbeziehungen. So muß denn die Philosophie immer in bezug
zu der stets fortwirkenden Arbeit der Wissenschaft und dadurch der gesamten
Kultur stehen. Man fragt sich aber weiter, wie man zu einer sicheren, den ganzen
Umfang der Philosophie umspannenden Disposition der philosophischen Probleme
gelangen kann. Aus einer genaueren Betrachtung der gesamten Geistes- und Kultur-
arbeit. Zunächst ist die Logik, als die Philosophie der Wissenschaft, Gegenstand
der Behandlung, die Wissenschaft von der Methode, aber nicht nur in Hinsicht
auf die Form, sondern auch auf die Materie. Die logische Gesetzmäßigkeit wird
nun in ihren wichtigsten Bestimmungen dargelegt, d. h. die Logik des Denkens.
Neben ihr hergehen muß aber eine andere Logik, nämlich die des Sollens, des prak-
tischen Erkennens. Und damit gelangen wir zur zweiten Grunddisziplin der Philo-
sophie, zur praktischen Philosophie oder Ethik. Hier handelt es sich um die sitt-
liche Richtung des Willens. Aber auch die Gemeinschaft tritt hier als wichtiger
Faktor ein; diese ganze Seite der philosophischen Betrachtung hat eine wichtige
soziale Bedeutung. Doch auch für die Lebensordnung des Individuums müssen
hier Richtlinien gegeben werden. Das führt zum Begriff der Tugend, zunächst
als der Tüchtigkeit des Einzelwesens, dann der Gemeinschaft, Solcher Tugend gibt
es mehrere Arten. Aber außer dem Problem der Philosophie der Ethik kommen
noch zwei notwendigerweise in Betracht, nämlich der der Kunst, Ästhetik genannt,
und der der Religion. Die Ästhetik bildet eigentlich erst seit Kant neben der Er-
kenntniskritik und der Ethik eine besondere Seite der Philosophie. Wenn man eine
psychologische Charakteristik der ästhetischen Haltung des Bewußtseins anwenden
will, so kann wohl das Wort „Phantasie" da am ehesten gebraucht werden. Der
Stufengang ihrer Entwicklung muß dem der Entwicklung des theoretischen wie des
praktischen Bewußtseins parallel gehen. In einer letzten wichtigen Beziehung
steht die Kunst endlich zur Religion. Diese wird nun in ihren mannigfachen Bezie-
hungen zum Menschen kritisiert. Sie hat im Innenleben ihre Quellen, wofür
Schleiermacher den Ausdruck „Gefühl" eingeführt hat. Ihr Recht möchte darin
zu erkennen sein, daß sie den letzten Grund der Subjektivität und damit das Selbst-
leben der Seele erst zu seiner vollen Geltung bringen will. Zuletzt wird der Mensch
in der Idee des sittlich Guten den geklärten Ausdruck des Letzten, was Religion
von ihm je gewollt habe, zu erkennen glauben. Und damit hängt die Forderung
0. Braun, Studien zur Bedeutungsforschung, angez. von R. Jonas, 271
der Reinheit der Erlösung von der Last der Schuld zusammen. Die Kunst der
religiösen Überzeugung kann dem Menschen aber nicht von außen zugeführt werden;
er muß sie in sich haben, in der religiösen Sprache: der Mensch muß von hier aus
., Gottes Kind" sein, sonst kann er nicht von Gott als Kind wieder angenommen
werden.
Endlich behandelt Verfasser die Psychologie. Sie will die Subjektivität
selbst und als solche erfassen. Die psychologischen Gesetze sind Naturgesetze.
Sind doch manche neueren Philosophen der Grundauffassung, daß sich Psycho-
logie von" Naturwissenschaft und von der Wissenschaft des Objektivs nur nach
der Richtung der Betrachtung, nicht im Betrachteten selbst, unterscheiden,
ziemlich nahe gekommen. Hinsichtlich der psychologischen Probleme setzt sich
Verfasser mit Lipps auseinander, dem er nicht zustimmen kann. Mit dem Be-
griff der Psychologie schließt er den Kreis der philosophischen Probleme. Alle
sind nach ihm Probleme der Methodik, des einigen Prozesses, den wir Erfahrung
nennen.
Wenn man des Verfassers Ausführungen im ganzen überschaut, dann sieht
man wohl, wie er 'in ihnen unter Heranziehung und Besprechung der wichtigsten
Probleme, welche als Grundzüge der Philosophie zu bezeichnen sind, davon er
sich eine bestimmte Anschauung bilden will, eine Einführung in die philosophische
Gedankenwelt bietet.
Braun, Otto, Studien zur Bedeutungsfo^^^rschung. Beiträge zur
Kulturphilosophie als Weltanschauungslehre. I. Heft: Allgemeine Übersicht.
Philosophie als Weltanschauungslehre; Hauptrichtungen der gegenwärtigen
Kulturbewegung. Paderborn 1911. Druck und Verlag von Ferdinand Schö^
ningh. 43 S. S\ 1,40 M.
Verf. will die Frage erörtern: Ist Philosophie eine Einzelwissenschaft neben
anderen oder kommt ihr der Charakter einer Gesamtwissenschaft zu, die auf Welt-
anschauung abzielt? In der ganzen früheren Geschichte der Philosophie haben
die Philosophen stets Weltanschauungen entworfen. Anders ist das im 19. Jahr-
hundert geworden. Während früher Philosophie Gesamtwissenschaft gewesen
war, während der Philosoph früher über alles etwas zu sagen hatte, wurde der
Standpunkt durch die Spezialisierung der Geisteswissenschaften verschoben: die
Philosophie, so meinte man nun, müsse Einzelwissenschaft werden; eine Welt-
anschauung aufzustellen, sei Aufgabe der Religion oder der Dichter.
Nach einer eingehenden Erörterung, die allerdings nur die Geltung einer
orientierenden Einleitung haben soH, kommt Verf. zu dem Ergebnis, daß die Philo-
sophie in manchen Zweigen Einzelwissenschaft sei, daß sie aber dabei auch den
Typus der Gesamtwissenschaft als Weltanschauungslehre habe. Und zwar handle
es sich hierbei um eine Philosophie der Kulturentwicklung und um eine Durch-
arbeitung des heutigen Kulturbewußtseins.
In dem zweiten Hauptabschnitt seines Heftes beleuchtet nun Verf. die Haupt-
richtungen der gegenwärtigen Kulturbewegung. Wie mannigfaltig die Strömungen
in derselben sind, liegt auf der Hand. Das kann jeder verspüren, der mit einiger
272 Th. Cunz, Geschichte der Philosophie usw., angez. von R. Jonas.
Aufmerksamkeit die Welt um sich betrachtet und Anteil an der Geistesbewegung
in ihr nimmt. Die Mannigfaltigkeit jener Strömungen entwickelte sich bereits
nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, namentlich durch die Entwick-
lung des Spezialistentums auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaften.
Aber auch sehr viele andere Faktoren wirkten dabei mit. Die politische und soziale
Entwicklung, welche immer weiter vorwärts strebte und eine Fülle wichtiger Er-
scheinungen zeitigte, das Zeitungswesen, die Gestaltung der Organe der öffent-
lichen Meinung, die Demokratisierung der großen Städte, das Fabrikwesen, durch
welches der Mensch nur zur Maschine wird, alle diese Dinge sprechen in der Ge-
staltung der gegenwärtigen Kulturverhältnisse gewaltig mit und bringen auf dem
Gebiete des philosophischen Denkens Veränderungen und Umwälzungen hervor.
Zu übersehen ist dabei auch nicht die Kunst, die bildende sowohl wie die Musik
und die Dichtkunst.
So berührt Verf. die verschiedensten Geistesgebiete und spricht sie als Ele-
mente für einen Aufbau der sich heute zeigenden Kulturentwicklung an. Diesen
Weg will er in seiner Lebensarbeit gehen. — Nach diesen grundlegenden Gedanken
kann man auf die ausführlicheren Darlegungen des geistvollen Denkers gespannt
sein. Das vorliegende Heft mit seinen sehr interessanten Anregungen können
wir nur aufs beste empfehlen.
Cunz, Th., Geschichte der Philosophie in gemeinverständ-
licher Darstellung. I.Teil: Alte Zeit. Marburg 1911. N. G. Elwertscher
Verlag. 176 S. 8«. 3,25 M.
An Darstellungen der Geschichte der Philosophie, die für die verschiedensten-
Bedürfnisse berechnet sind, fehlt es nicht. Es liegt aber in der Natur der Sache,
daß sie sich meist an solche Leser wenden, welche sich mit philosophischen Fragen
schon beschäftigt haben, und daß sie demnach in ihrer Sprache ein philosophisches
Gepräge zeigen und vielleicht deshalb nicht durchweg leicht verständlich sind.
Von einem ganz anderen Standpunkt aus behandelt der Verf. des vorliegenden
Buches seinen Gegenstand. Er wendet sich „an Laien, Studierende, Schüler der
oberen Klassen höherer Lehranstalten und Seminaristen", und beabsichtigt, ihnen
seinen Stoff „in möglichst klarer, übersichtlicher und vor allem gemeinverständ-
licher Darlegung nahe zu bringen und wert zu machen". Dabei hat er aber die
philosophischen Formausdrücke, die sich wohl durch deutsche hätten ersetzen
lassen, nicht vermieden; und daran tat er recht, denn mit ihnen muß doch nun
einmal jeder, der sich mit philosophischen Dingen beschäftigt, rechnen.
Der 1. jetzt erschienene Band des Werkes behandelt die alte Zeit, d.h. die
Philosophie der Griechen und Römer. Nach einer ganz kurzen Einleitung, welche
den Begriff der Philosophie als die Wissenschaft der „Prinzipien", der Grund-
lagen alles Seins, Geschehens und Denkens bezeichnet, geht Verf. dazu über, die
einzelnen Systeme der alten Philosophen zu beleuchten, nämlich die ionischen
Naturphilosophen, die Pythagoreer, Eleaten, Heraklit, Empedokles, Anaxagoras,
die Atomisten, die Sophisten, Sokrates, Plato, Aristoteles, die Stoiker, Epikureer,
Skeptiker und Neuplatoniker; die wichtigsten Punkte aus den Lehren der ge-
nannten Denker werden in einer auch für das Auge sehr übersichtlichen Art (durch
R. Descartes, Philosophische Werke, angez. von R. Jonas. 273
Anwendung verschiedenen Druckes) hervorgehoben, auch wird der innere Zu-
sammenhang und der Fortschritt, der sich in den einzelnen Systemen nacheinander
bemerken läßt, dargelegt. Verweisungen auf besondere Quellen, welche Verf.
heranzieht, finden sich als Fußnoten; dabei müssen wir aber bemerken, daß nicht
etwa ein umfangreicherer gelehrter Apparat vorhanden ist. Dieser wäre auch
mit der Absicht des Verf. unvereinbar gewesen. Aber eines müssen wir ganz be-
sonders hervorheben, was unser Buch vor so manchen ähnlichen Inhalts aus-
zeichnet: Verf. läßt die Philosophen durchweg, soweit dies irgend möglich ist,
selbst sprechen. Er führt ihre wichtigsten Lehren mit ihren eigenen Worten in
leicht lesbaren und klaren Übersetzungen an. Dies gibt dem Werke einen ganz
besonderen Reiz und erhöht außerordentlich seine Verständlichkeit. Auch diese
Stellen aus den philosophischen Schriften, die übrigens sehr geschickt ausgewählt
sind, sind durch den Druck hervorgehoben.
Wir können unser Urteil über das Buch nur dahin zusammenfassen: es ist
für den Zweck, für den es Verf. bestimmt hat, sehr gut geeignet. Die weiteren
Kreise Gebildeter, an die es sich wendet, werden es mit großem Vorteil benutzen.
Sie gewinnen in einer leicht verständlichen, übersichtlichen und dabei die Haupt-
punkte treffenden Darstellung eine Übersicht über die Geschichte der Philosophie.
Übrigens, das vergaßen wir oben hinzuzufügen, fehlen auch die notwendigen bio-
graphischen Angaben über die Philosophie nicht.
Descartes, Rene, Philosophische Werke. Übersetzt und erläutert von
A. Buchenau. Vierte Abteilung: Über die Leidenschaften der Seele. Dritte
Auflage. Leipzig 1911. Verlag von Felix Meiner. XXXI u. 150 S. 8». 2,20 M.
Es ist sehr dankenswert, daß in den Sammlungen, welche den Titel „Philo-
sophische Bibliothek" tragen (außer der in der Meinerschen Verlagsbuchhandlung
erscheinenden gibt auch die Dürrsche Buchhandlung eine solche heraus), eine
ganze Anzahl sonst schwer zugänglicher philosophischer Schriften weiteren Kreisen
zugänglich gemacht werden. Dazu gehört auch das hier vorliegende Buch Rene
Descartes', des berühmten französischen Denkers. Die zuerst im Jahre 1649
herausgegebene Schrift ist von A. Buchenau in einer sich leicht lesenden Sprache
übersetzt und mit den erforderlichen Erläuterungen versehen. Eingeleitet wird
die Schrift durch zwei Briefe Picots, eines begeisterten Verehrers des Philosophen,
und durch zwei Antwortschreiben desselben. In diesen Briefen wird eine Reihe
philosophischer Fragen behandelt, die wohl geeignet sind, in die Gedankengänge
der Descartesschen Darlegungen einzuführen: der Freund erweist sich hier als
einen guten Kenner des Philosophen. Auch aus dem, was wie ein gegen Descartes
ausgesprochener Tadel aussieht, spricht eine hohe Anerkennung.
Die Abhandlung gliedert sich in drei Teile: 1. Über die Leidenschaften im
allgemeinen und zugleich über die menschliche Natur überhaupt. 2. Die Zahl
und Reihenfolge der Leidenschaften und die Erklärung der sechs ursprünglichen.
3. Über die besonderen Leidenschaften. Die Zählung nach 212 Artikeln erstreckt
sich durch die ganze Schrift hindurch. Diese Art der Gliederung erleichtert die
Übersicht außerordentlich, zumal jeder Artikel eine seinen Hauptinhalt genau
kennzeichnende Überschrift trägt. Es ist ein sehr interessantes Stück Psychologie,
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. jg
274 J. Rehmke, Die Willensfreiheit,
durch welches uns das Buch hindurchführt, höchst lehrreich für jeden, der gern
seine eigenen seelischen Regungen beobachtet. Hier kann er so manchen tieferen
Blick in sein hineres tun. Besonders hervorheben möchten wir die ,, Reihenfolge
und Aufzählung der Leidenschaften" Artikel 53 bis 67. Verf. nennt hier folgende:
die Verwunderung, Achtung und Verachtung, Edelmut und Hochmut, Demut
und Niedrigkeit, die Verehrung und die Verachtung, die Liebe und der Haß, das
Begehren, die Hoffnung, die Furcht, die Eifersucht, die Zuversicht und die Ver~
zweiflung, die Unentschlossenheit, der Mut, die Kühnheit, der Wetteifer, die
Feigheit und der Schrecken, die Gewissensbisse, die Freude und die Traurigkeit,
der Spott, der Neid, das Mitleid, die Selbstzufriedenheit und die Reue, die Gunst
und die Dankbarkeit, der Unwille und der Zorn, der Ruhm und die Schande, der
Ekel, das Bedauern, die Fröhlichkeit. Als ursprüngliche Leidenschaften werden
nur 6 bezeichnet: das Verwundern, die Liebe, der Haß, das Begehren, die Freude
und die Traurigkeit. Alle anderen sind aus einigen dieser sechs zusammengesetzt
oder sie sind Unterarten derselben. An diese Darlegung schließt sich dann eine
genaue Begriffsbestimmung der genannten und die Ableitung der übrigen daraus. —
Man wird der Darstellung des gründlichen Denkers mit dem größten Interesse
folgen. Einer Reihe von Anmerkungen läßt der Herausgeber die Inhaltsübersicht
folgen, sodann ein Personenregister und ein Sachregister. Damit ist alles ge-
schehen, was die Benutzung des Inhalt- und gedankenreichen Büchleins erleichtern
konnte. Wir haben hier ein ansprechendes philosophisches Büchlein für denkende
Leser vor uns, die ihr Interesse gern den Regungen der menschlichen Seele zu-
wenden und in philosophischen Darlegungen wie in einem Spiegel ihr eigenes
Selbst beobachten wollen.
Rehmke, Johannes, Die Willensfreiheit. Leipzig 1911. Verlag von
Quelle & Meyer. 146 S. 8«. 3,60 M.
Der bekannte Philosoph, dem wir schon so viele treffliche Schriften ver-
danken — wir erinnern nur an ein in weiteren Kreisen bekanntes Büchlein: „Die
menschliche Seele" — , hat hier eine Seite des Seelenlebens behandelt, die für
jeden denkenden Menschen von großem Interesse sein muß, und, das sagen wir
gleich hier, in einer Weise, die für jeden verständlich ist und jedem die Möglich-
keit einer Prüfung an seinem eigenen Innern eröffnet.
Die Willensfreiheit ist ein sehr umstrittener Begriff. Indeterminismus und
Determinismus stehen heute wie von jeher einander gegenüber: Der Begriff ,, Wille"
bedeutet ein Doppeltes, nämlich soviel wie „Gewolltes" und ,, Wollendes". Hier
handelt es sich natürlich um den letzteren Sinn des Wortes, allerdings gehört zu
dem ,, Wollenden" auch immer etwas ,, Gewolltes", hier jedoch nicht in dem vor-
hin angedeuteten Sinne, sondern eben nur als Objekt. In dem ersten Abschnitt
seiner Ausführungen betrachtet Verf. nun die Seele als Wille. Sodann erörtert
er das Motiv und den Zweck des Willens. Mit dem Begriff des Willens hängen
jene beiden Begriffe naturgemäß enge zusammen, ebenso wie mit dem Begriff
der Tat, welche ja ein Ausfluß des Willens ist. Die darüber angestellten Erörte-
rungen veranschaulicht Verf. durch Bezugnahme auf naheliegende Beispiele aus
Erfahrungen, die der Mensch leicht an sich machen kann. „Als Wille ist die Seele
angez. von R. Jonas. 275
ein beziehendes Bewußtsein, und zwar eines, das sich selbst ursächlich bezieht,
nämlich auf eine vorgestellte Veränderung; so wechselt sie zwischen ,Wille sein*
und »nicht Wille sein'." Der ursprüngliche Zweck kann aber auch erweitert werden,
dann kommen wir zu dem Begriff des Reihenzweckes; nicht minder können aber
auch Zweckbesonderungen eintreten. In beiden kommt der Begriff der Wahl in
Frage. Und wählen heißt (S. 46): „unter mehrerem dasjenige, das am meisten
im Lichte der Lust steht, also das beste Mittel oder die beste Besonderung des
ursprünglichen Zweckes feststellen, d. h. bestimmen". Der Begriff des Zwanges
kann nur mit einer Zweckerweiterung, mit einem Reihenzweck verbunden sein,
er kann nur das Mittel betreffen. Zwang und Wahl können sich niemals beisammen
finden. So kommen wir denn zu dem Ergebnis: ein Wille hat die Wahl. Dazu
gehört Vergleichen und Bestimmen, Urteilen, Entscheiden. Ein Bewußtsein, das
nicht Wille ist, kann sich auch nicht zu etwas entschließen, für etwas entscheiden.
Wille und Verstand sind immer gemeinsam in der Seele tätig; beide Faktoren
darf man nicht voneinander trennen. Die Trennung beider erklärt Verf. für
geradezu sinnlos. Freilich sei dieser Fehler schon von jeher, auch im Mittelalter
bereits, begangen; Thomas von Aquino und Duns Scotus hätten darüber ganz
verschieden geurteilt. Im weiteren Verlaufe seiner Erörterungen behandelt Verf.
dann die Selbstbestimmung des Willens genauer unter Zurückweisung falscher
Auffassungen und Lesarten der Selbstbestimmung, die von falschen Voraus-
setzungen ausgehen. So ist denn die Entwicklung des Verf. auf dem Wege der
logischen Erkenntnis zu dem Begriff des freien Willens gelangt. In dem Begriff
„frei" liegt aber zweierlei nach unserem Sprachgebrauch, nämlich: 1. ungehindert
und 2. ungezwungen. Und Freiheit des Willens in dem bezeichneten zweifachen
Sinne findet sich, sagt Verf., zweifellos in unserem Seelenleben.
Der letzte (8.) Abschnitt behandelt das Verhältnis der Begriffe Willensfreiheit
und Notwendigkeit zueinander. Notwendigkeit ist dem Verf. ein Beziehungs-
begriff. Notwendigkeit bei einem Gegebenen ist ihm die besondere Beziehung
zu einem anderen Gegebenen. Spreche man von Willensnotwendigkeit, so heiße
dies, daß das Wollen irgend eines Bewußtseins notwendig sei, daß ein Bewußt-
sein hat wollen müssen. In diesem Sinne sei jedes Wollen des menschlichen Be»-
wußtseins ein notwendiges, ein Wollenmüssen. Wenn jedes Wählen Wählen-
müssen ist, oder jeder, der wählen kann, eben wählen muß, dies widerstreite nicht
dem Satze, daß der Wille als wählender mit Recht ein ,, freier Wille" zu nennen
ist; insofern nämlich Freiheit das Ungehindertsein zu wählen ist. Dabei führe
jedoch jedes Vorziehen, jedes Wohlwollen ohne Zweifel eine Art von Notwendig-
keit mit sich. , »Willensfreiheit und Willensnotwendigkeit machen niemals einen
Gegensatz aus." Überall ist, so sagt Verf., im Zwangwollen nichts weniger als
im freien Wollen das wollende Bewußtsein ganz allein, das sich aus Zwang oder
aus Wahl bestimmt.
Soweit eine (allerdings nur kurze) Skizzierung des Inhalts des Buches; wir
hielten sie für notwendig, damit unsere Leser den Gedankengang desselben einiger-
maßen wenigstens überschauen. Die Art der Darstellung ist einfach und klar,
für einen weiteren Kreis gebildeter Leser bestimmt und sehr geeignet. Wer sollte
nicht gern über die in dem Werke behandelten Regungen der Seele nachdenken?
18*
276^ E. König, Die Materie, angez. von R. Jonas.
Das Buch Rehmkes bietet jedem dazu eine sehr willkommene Anregung; er wird
beim Lesen desselben sein eigenes Inneres wie in einem Spiegel schauen. Die
Sprache ist leicht verständlich und frei von schwierigeren philosophischen Aus-
drücken.
König, E., Die Materie. (Wege zur Philosophie. Schriften zur Einführung
in das philosophische Denken, No. 2.) Göttingen 1911. Vandenhoeck & Ru-
precht. 108 S. 8». 1,50 M.
Zu denjenigen Begriffen, welche einer philosophischen Erörterung und Be-
gründung bedürfen, obgleich sie dem natürlichen Verstände ganz selbstverständlich
und unzweifelhaft erscheinen, gehört der der ,, Materie''. So ist es denn ganz richtig,
wenn ihm in der Reihe der Hefte „Wege zur Philosophie", welche dazu bestimmt
ist, weiteren Kreisen ein Verständnis für philosophische Erkenntnis zu erschließen,
eines gewidmet ist.
Der Verf. desselben weist zunächst überzeugend nach, daß jener Begriff
durchaus nicht so selbstverständlich ist, wie er dem Menschen auf den ersten Blick
erscheinen möchte. Das zeigen recht deutlich mancherlei philosophische Er-
wägungen und Betrachtungen. Auch durch die heutige Naturwissenschaft geht
ein stark skeptischer Zug in bezug auf alles, was den Begriff der Materie betrifft.
Nach einer solchen begründenden Einleitung behandelt Verf. 1. Das körperliche
Ding. 2. Die Materie als Objekt der Sinne. 3. Die Materie der mechanischen
Naturlehre. 4. Das Wesen der Materie. 5. Fortgang der metaphysischen Sub-
stanz oder Rückgang zum rein Tatsächlichen? 6. Kritischer Begriff der Materie.
Zunächst werden die wesentlichen Elemente des körperlichen Dinges aufgezeigt,
welches doch trotz der hervortretenden Mannigfaltigkeit ein einheitliches bleibt,
dann werden die Formen und Entwicklungsstufen des Begriffs der Materie dar-
gelegt und die Möglichkeit gegeben, ihren Wert richtig einzuschätzen. Als Gegen-
stand der sinnlichen Wahrnehmung zeigt uns die Materie die Raumerfüllung (die
nicht mit der Undurchdringlichkeit verwechselt werden darf). Ferner tritt die
Teilbarkeit hervor. Die platonisch-aristotelische Philosophie hat zuerst die Begriffe
von Stoff und Form aufgestellt. Plato allerdings gelangte dazu, der Idee, d. h.
dem Begriffe, ein selbständiges Dasein beizulegen. Der Abschnitt ,,Die Materie
der mechanischen Naturlehre" führt uns durch die philosophischen Theorien
darüber, wie sie bereits bei den Atomistikern vorhanden waren. Mag nun auch
der Mensch annehmen, daß Wahrnehmungsbild und Gegenstand identisch sind,
es muß sich doch die Notwendigkeit herausstellen, einen Teil des Inhalts der Wahr-
nehmung für subjektiv zu erklären, einen Unterschied zu machen zwischen den
Erscheinungen und den Dingen an sich. Der nächste Abschnitt kommt zu dem
Ergebnis, daß eine gewaltige Kluft besteht zwischen dem, was wir wahrnehmen,
und dem, was der Annahme nach in Wirklichkeit als Ursache der Wahrnehmung
vorhanden ist.
Nachdem Verf. nach Beschreitung der verschiedensten Wege zu einem greif-
baren Ergebnis hinsichtlich der Erfassung des Begriffs der Materie nicht hat ge-
langen können, muß man annehmen, daß er eine Substanz im letzten abschließen-
den Sinne ebensowenig gibt wie eine absolute Bewegung. Der Begriff der .Materie
A. Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit, angez. von A. Matthias. 277
(oder Substanz) modifiziert nur eine Forderung des Denkens, nach welcher die
Menschen die Erfahrungstatsachen deuten.
Die klaren, von den gründlichsten philosophischen Studien zeugenden Aus-
führungen des Verf., die wir hier nur flüchtig und in einigen Hauptpunkten skiz-
zieren konnten, werden dem für solche Gegenstände interessierten Leser eine
treffliche Beiehrung über die einschlägigen Fragen bringen. Das Heftchen sei
demnach aufs angelegentlichste empfohlen.
Küsiin. : R. Jonas, t
Soergel, Albert, Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung
der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Mit 345 Abbildungen. XH
u. 842 S. 8^. Leipzig 1911. B. Voigtländers Verlag. 10,50 M., geb. 12,50 M.
Der Verfasser nennt sein Buch nicht Literaturgeschichte, sondern Schil-
derung der deutschen Literatur, und er stellt sich damit von vornherein auf den
Standpunkt, daß er keine abgeschlossenen geschichtlichen Werturteile . bringen
will über Literaturerzeugnisse, die uns allen noch zu nahe liegen, so daß ein ob-
jektiv gehaltenes Urteil über das Einzelne und über seine Zusammenhänge noch
nicht geboten werden kann. Eine Schilderung kann mehr persönlicher Natur sein,
und sie gibt mehr als eine Beschreibung, die am Äußeren hängen bleiben darf,
sie wendet sich nicht bloß an Auge, Verstand und Einsicht, sondern zugleich an
Phantasie und Gemüt, und sie will nicht nur deutlich und verständlich sein, sondern
sie darf auch lebendig sein und von persönlicher Wärme erfüllt.
Das Buch zeigt eine ganz erstaunliche Belesenheit, erstaunlich deshalb, weil
so außerordentlich viel — Spreu und Weizen durcheinander — bewältigt werden
mußte und gleichwohl nirgendwo oberflächlich gelesen ist, sondern mit eindring-
licher Tiefe; auch zeigt sich, was ihm nicht zu verübeln gewesen Wäre, beim Ver-
fasser an keiner Stelle Ermüdung und Ermattung; er bleibt frisch im Urteil und
im Gemüt, wo einen anderen die Langeweile gepackt hätte; oder aber die Langeweile
ist für ihn „kein böses Kraut", sondern ,,eine Würze", die viel verdaut. Ferner
hält Soergel bei seiner Arbeit, die uns viel Einzelheiten bietet, um uns selbst prüfen
zu lassen, den Blick immer offen für das Ganze und für die Zusammenhänge, und
er weiß diese Arbeit zu formen zu feinster Charakteristik. Wer den Beweis dafür
haben will, der lese einmal, was er über Isolde Kurz und was er, um aus ganz anderer
Geisteswelt zu wählen, über Karl Schönherr sagt. Was er hier sagt, ist höchst
eigenartig; Nachbeten und Nachtreten kennt Soergel nicht; er ist immer er selbst
und trotz allem Selbstbewußtsein stets bescheiden; dem, der anders urteilen
möchte, bleiben freie Wege immer offen. Und nicht nur die Dichter der Zeit werden
vor uns vorübergeführt, auch die Kreise, in denen sie wirken, die ganze Umwelt,
auf welche sie angewiesen sind; die öffentliche Meinung, von der sie abhängig oder
nicht abhängig sind, wird charakterisiert, auch das Wirken von Vereinen, von
Theaterdirektoren, von „freien Bühnen" und ähnlichen Erscheinungen. Würde
alles dieses in ein Sachverzeichnis am Ende zusammengefaßt, man würde staunen,
was Soergel alles weiß und kennt und klug beurteilt. Und daß diese Zusammen-
stellung eines sehr reichen Materials nicht zur ermüdenden Aufzählung, nichts
Katalogartiges geworden ist, sondern als etwas durchaus Organisches vor uns vor-
278 Genethliakon, Carl Robert zum 8. März 1910 überreicht usw.,
überzieht, das ist mit das Schönste an diesem Buche; es liest sich trotz des bunten
Vielerlei, das in unserer Zeit liegt, durchaus flott, weil der Verfasser den Faden,
an dem wir uns leiten lassen, in jedem Augenblick festhält.
Zu den Verdiensten des Verfassers gesellt sich das der Verlagsbuchhandlung.
345 Abbildungen! Als ich das zuerst las, bekam ich keinen gelinden Schrecken.
Denn was muß man sich — auch in Literaturgeschichten — nicht alles an öden
Bildern bieten lassen. Hier aber ist's anders. Der Verlag hat, soweit das möglich ist,
überall sich bemüht, die Beziehungen zwischen Dichtkunst und bildender Kunst
festzuhalten. Es sind deshalb Bildnisse von Künstlerhand bevorzugt. Wo diese
nicht zu haben waren — und das ist nicht sehr häufig — wurden Photographien
gewählt und zwar die besten. Neben die Bildnisse treten in bescheidener Zurück-
haltung und deshalb in köstlicher Wirkung Karikatur und Satire. Besonders aber
kommt die bildende Kunst zum Ausdruck in dem Buchschmuck, der ja gerade
im letzten Jahrzehnt einen so erfreulichen Aufschwung nimmt. So ist das Bildwerk
keine nur äußere Zutat. Es gehört mit zur „Schilderung" unserer Zeit und der
Zeitdichtung, wie das festliche Gewand zu festlicher Stimmung. Der Verfasser des
künstlerischen Buches kann glücklich sein, daß seine schönen Gedanken ein so
künstlerisches Rankenwerk durchzieht.
Berlin. A. Matthias.
Genethliakon, Carl Robert zum 8. März 1910 überreicht von
der Graeca Halensis. Berlin 1910. Weidmannsche Buchhandlung.
VII u. 246 S. gr. 8«. 6 M.
Dieser Sammelband vereinigt acht Abhandlungen aus den Gebieten der
klassischen Philologie und Philosophie, mit denen ebensoviel Freunde Carl Robert,
dem Gründer der Graeca Halensis, ihre Glückwünsche zum einundsechzigsten
Geburtstage darbringen.
Niese behandelt in drei Kapiteln einige Probleme aus der eleischen Geschichte
(S. 1—47). Zunächst erörtert er das Verhältnis der xo-Xv; "HXu:, der herrschen-
den Gemeinde, zu dem Untertanenland, der Ilspioixic, etwa von der Zeit der Perser-
kriege bis zur römischen Herrschaft. Hierauf untersucht er, was sich aus den
homerischen Dichtungen über die geographischen und politischen Zustände dieser
Landschaft gewinnen läßt, und zum Schlüsse unterzieht er die Tradition über
die frühere Selbständigkeit der Pisaten einer' scharfen Kritik und verwirft sie,
wohl mit Recht, als Tradition.
i^^[,Wissowa prüft die Geschichte, die sich in den Sanctgallener Schollen zu
Ciceros Verrinen I, 29 von der Feindschaft des Naevius und der Meteller findet,
auf ihre Glaubwürdigkeit (S. 49—63). Er erkennt, daß von den beiden bekannten
Streitversen jato Metelli Romae fiunt consules und malum dabunt Metelli Naevio
poetae der erste im letzten Drittel des zweiten Jahrhunderts v. Chr. entstanden
ist und in der Zeit zwischen Cicero und Nero dem Naevius zugeschrieben wurde,
den zweiten aber erst in Neros Zeit Caesius Bassus als Musterbeispiel des Ideal-
saturniers frei erfunden hat. Damit erweist sich jene Geschichte als unglaub-
würdiges Phantasieprodukt.
angez. von J. Moeller. 279
B e c h t e I betrachtet vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte aus mit
Rücksicht auf das Namenwörterbuch die lehrreichsten Personennamen im vierten
Bande der Inscriptiones Graecae (S. 65—85). Hierbei gelangt er oft zu anderen
Ergebnissen als der Herausgeber Fränkel, dem er dazu vorwirft, er sei zu „spar-
sam mit dem Nehmen von Abklatschen gewesen".
Kern, dem es gelingt, einige Namen in orphischen Hymnen auf klein-
asiatischen Inschriften nachzuweisen, glaubt wegen dieser und anderer Beziehungen,
daß die vorliegende Fassung des orphischen Hymnenbuches für einen dionysischen
Mysterienverein Kleinasiens (nicht Ägyptens, wie A. Dieterich vermutete) be-
stimmt sei. Daran anschließend behandelt er den delphischen Orakelspruch von
Tralles auf Grund eines neuen Abklatsches, nach dem die beigefügte Tafel her-
gestellt ist (S. 87—101).
Praechter versucht im Gegensatz zu Zeller die Richtungen und Schulen
im Neuplatonismus schärfer zu bestimmen und die einzelnen Philosophen anders
zu gruppieren (S. 103 — 156). Zu diesem Zwecke beleuchtet er ihre Exegese der
platonischen, aristotelischen, neupythagoreischen und orphischen Schriften, aus
denen sie ihre Dogmen herieiteten, und prüft die Grundsätze, die sie bei der Inter-
pretation dieser Literatur befolgten, auf ihren methodischen Wert. Das Ergebnis
dieser Prüfung zwingt ihn, besonders dem Philosophen Porphyrius und Jam-
blichus, die jetzt in einem neuen Lichte erscheinen, einen anderen Platz zuzuweisen
und die Stellung der übrigen Neupythagoreer sowohl zu ihnen wie zueinander
anders zu bestimmen. Das Resultat der Untersuchung wie ihr Gang verleihen
diesem Beitrag auch inhaltlich eine überragende Bedeutung.
Eduard Meyer legt eine neue interessante und ansprechende Deutung
von Hesiods Erga und besonders von dem Abschnitt über die fünf Menschen-
geschlechter vor (S. 157 — 187). Darnach faßt hier der Dichter >seine Mahnreden
aus der Zeit vor dem Prozeß mit seinen später in tiefem Nachdenken gewonnenen
Ansichten über der Menschen Schicksal zu dem Gedanken zusammen, daß wir auf
redliche Arbeit unsere Existenz gründen müssen. In diese Dichtung flicht er in
freier Behandlung Mythen und Erzählungen nicht nur um ihrer selber willen, sondern
wegen des ethischen Gehaltes, der entweder bereits in ihnen liegt oder den er erst
in sie hineinträgt. Daher besitzt das Gedicht weder einen einheitlichen Charakter,
noch ist es in strenger Gedankenfolge aufgebaut. Wer ihm gerecht werden will,
darf es also nicht logisch zergliedern, sondern muß es psychologisch betrachten.
Diese Erkenntnis, durch die das Verständnis der hesiodischen Dichtung wesent-
lich gefördert wird, und die auch noch auf manches andere Werk der alten und neuen
Literatur wird Anwendung finden müssen, ist meines Erachtens der fruchtbarste
Gedanke in dem ganzen Buche.
W i 1 c k e n vertieft und erweitert auf Grund eingehenden Studiums der
auf der beigefügten Tafel im Lichtdruck wiedergegebenen Originale seine frühere
Deutung zweier kleiner sehr verstümmelter Papyri, die Flinders Petrie 1889 bei
Hawara in Ägypten gefunden hat (S. 189—225). Mit Hilfe seiner scharfen Augen
und seiner glücklichen Kombinationsgabe weiß er den wenigen Worten erstaun-
lich viel zu entlocken. Er gelangt zu der Ansicht, daß uns hier in einer Handschrift
aus dem Anfang des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts von einer attischen
280 Velhagen und Klasings Volksbücher, angez. von A. Matthias.
Periegese aus dem beginnenden dritten Jahrhundert v. Chr. die Beschreibung
besonders der Häfen und Mauern Athens vorliegt. Ist dieses Ergebnis der detail-
lierten Untersuchung richtig, so wäre der namenlose Autor der älteste uns bekannte
Vertreter der periegetischen Literatur.
E r d m a n n stellt Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre
Spinozas an (S. 228—246). Auf einem Gang durch die letzten drei Jahrhunderte
der Philosophie zeigt er, wie das Interesse für Spinoza und das Verständnis seiner
Forschungen und Lehre seit dem Jahre 1785, in dem Fr. H. Jacobis bekannte
Schrift erschien, allmählich wächst und immer mehr der Bedeutung des großen
Mannes entspricht. Doch hat die Zukunft, um den Schatz, der hier vorliegt, völlig
ausschöpfen zu können, noch viele Aufgaben zu lösen. Als solche bezeichnet er
vor allem die Schaffung eines Spinozalexikons und einer kommentierten Ausgabe
der^Ethik und ganz besonders einer analytischen Rekonstruktion seiner Lehre.
Halle a. S. Johann esMoeller.
Velhagen und Klasings Volksbücher. Volksbücher der Geschichte.
Friedrich der Große. I.Teil: Der Kronprinz. Von Dr. M a x H e i n. Mit 38 Ab-
bildungen, darunter einschließlich des Umschlagbildes 8 in farbiger Wieder-
gabe. 34 S. IL Teil: Der Siebenjährige Krieg. Von W a 1 1 e r v. Bremen.
Mit 29 Abbildungen und einem farbigen Umschlagbild, nebst einer Karte und
10 Schlachtplänen. 34 S. IIL Teil: Die Friedensjahre. Von Dr. M a x H e i n.
Mit 42 Abbildungen und einem farbigen Umschlagbild. 34 S. Bielefeld und
Leipzig 1912. Velhagen und Klasing. Jedes Heft kart. 0,60 M.
Die schon im Jahrgang X, S. 551 dieser Monatschrift besprochenen Volks-
bücher finden ihre zeitgemäße Fortsetzung in 3 Heften, die dem großen Könige
gewidmet sind. Die bewegten Schicksale des Kronprinzen erzählt ein eigenes
Heft. Die Tatsachen reden hier selbst und packen uns gerade, weij die Re-
flexion sich nicht aufdringlich dazwischen schiebt, sondern nur vorsichtig
die Frage berührt, inwiefern in dem tragischen Schicksal zwischen Vater und
Sohn Schicksal oder persönliche Schuld verantwortlich zu machen ist. In dem
3. Hefte wird mit Ernst auf Friedrichs Verwaltungsgrundsätze, seine philosophischen
Überzeugungen und die künstlerischen Liebhabereien eingegangen. Was aber
besonders der Belehrung der Jugend zuzugute kommen muß, ist die Geschicklich-
keit, mit der historische Rückblicke auf die Zustände vor dem großen Könige
und sein reformatorisches Eingreifen geschildert werden.
Das 2. Heft von Walter v. Bremen wird unserer Jugend, der denn doch krie-
gerische Schilderungen über alles gehen, besondere Freude machen. Das Große
der Kriege wird in knappen Zügen gegeben. Die Kleinarbeit und die Schlachten
werden mit soviel einprägsamer Einzelplastik versehen, daß die Jugend mit Hilfe
der Karte und der 10 Schlachtpläne mitmarschieren und mitkämpfen kann. Und
das tut sie nur zu gern, wenn sie der Väter gedenkt, und wenn sie empfindet, daß wir
uns für alle Zukunft nichts Besseres bewahren können, als unseren guten Kampfes-
mut und unsere Wehrhaftigkeit.
Berlin. A. M a 1 1 h i a s.
E; Neuendorff, Hinaus in die Ferne!, angez, von H. Gerstenberg. 281
Neuendorff, Edmund, Hinaus in die Ferne! Zwei Wanderfahrten deutscher
Jungen durch deutsche Lande. Leipzig und Berlin IQIL B. G. Teubnen
VHI u. 235 S. 80. geb. 3 M.
Wie eine kerngesunde, innerstem Wesen und Bedürfnisse entsprechende
Auflehnung gegen die Überkultur unserer Tage mutet es an, wenn sich unsere Jugend,
von neuer Wanderlust ergriffen, in den Schulferien dem einengenden Zwange des
Stadtlebens entringt und hinauszieht, um durch die deutschen Lande, durch Heide
und Wald über Berg und Tal, zu schweifen und am Busen der Natur frische Nah-
rung, neues Blut einzusaugen.
Den Rucksack auf dem Rücken, der unter der Fülle seines Inhalts aufgebläht
ist, den Kochtopf, die Schlafdecke, wohl auch eine Zeltbahn übergeschnallt, nicht
selten die Laute übergehängt, so ziehen die jugendlichen Wanderer dahin, die
Herzen und Lippen zu frohem Gesang geöffnet, wenn die Sonne ihnen heiter lacht
und der Bergwald sie in seinen erquickenden Schatten aufnimmt, oder die Zähne
fest aufeinander gebissen und die Lippen trotzig geschlossen, wenn die Sonnen-
glut auf der staubigen Landstraße brütet und das Wegziel den schon Ermüdenden
noch in weiter Ferne liegt oder der Regen schwer an Rock und Mantel hängt und der
Sturm ihnen jeden Schritt vorwärts wehrt. Aus dem verhätschelten, unbeholfenen
Stadtkinde und Muttersöhnchen wird da bald ein selbständiger, frischer Natur-
bursche, der sich die im letzten Dorfe eingekauften einfachen Lebensmittel, am
Bache gelagert, über der Spritflamme zubereitet, der abends sein Zelt am Wald-
hange aufschlägt und die Sterne über sich wachen läßt oder beim Bauern ins warme
Stroh kriecht, nachdem er sich durch seinen Frohsinn, seinen Gesang und seine
Kochkunst die Herzen des Bauern und der Bäuerin erobert hat.
Diese und andere Vorzüge und Freuden des Wanderlebens schildert uns der
Verfasser anmutig aus eigener Erfahrung in frischen Farben. Denn er ist selbst
mit seinen Schülern in den Sommerferien hinausgezogen, von Haspe im Lande
der roten Erde in die Welt hinaus, und wenn er auch nicht, wie Seume, bis Syrakus
gekommen ist, so hat er doch das eine Mal in 19 tägiger Wanderung Berlin, das
andere Mal in 29 Wandertagen Wien erreicht — eine erstaunliche Leistung in
unserer Zeit der Eisenbahnen und Kraftfahrzeuge, in der der Handwerksbursche
und die gemütliche Postkutsche von der Landstraße fast ganz verschwunden sind.
Aber dem Verfasser ist es nicht nur um eine unterhaltsame Schilderung der
vielseitigen Erlebnisse ernster und heiterer Natur, die solche Wanderfahrt mit
sich bringt, lustiger Streiche und Wechselfälle und ernsterer nachhaltiger Ein-
drücke zu tun. Hinter dem launigen, stimmungsvollen Erzähler steht der Freund
und Erzieher der Jugend, die nach Prüfung und Bewährung ihrer Kräfte, nach
eigenem Schauen und Erleben lechzt und doch nicht immer von sich selbst aus
zur richtigen und nützlichen Befriedigung dieses inneren Drängens und Sehnens
zu gelangen vermag.
So lehrt der Verfasser, ohne in lehrhaften, trockenen Ton zu verfallen, aus der
Begeisterung seines eigenen Herzens heraus, welche geheimnisvollen Reize das Wan-
dern durchs deutsche Land auch auf die Jugend ausübt, wie ihnen die Kraft und
Zähigkeit wächst, das Herz aufgeht, der Blick für die Eigenart deutscher Land-
schaft und deutschen Volkslebens geöffnet wird. Und es ist keine Überschätzung
282 K. Floericke, Säugetiere fremder Länder, angez. von G. Klatt.
des Wesens und Wertes der Wanderfahrt, wenn er sie als eine Erziehungsschule
fürs Leben preist.
Nicht jedem mag es gegeben sein, so einfache und entbehrungsreiche Wande-
rungen, wie sie der Verfasser schildert, zu unternehmen. Wer aber ein anschau-
liches Bild davon haben will, wie's gemacht wird, um seine Schüler mit wenig
Geld und vielseitigstem Gewinn durch deutsche Lande zu führen, der nehme
Neuendorffs Buch in die Hand. Es erfrischt, erhebt und erheitert zugleich und
weckt die Lust, es auch einmal so zu versuchen.
Hamburg. Heinrich Gerstenberg.
Floericke, Kurt, Säugetiere fremder Länder. Stuttgart 1911. Kosmos,
Gesellschaft der Naturfreunde. Geschäftsstelle: Franckhsche Verlagshandlung.
104 S. 8«. 1 M.
Es ist ein freundliches Büchlein, durch das der bekannte Verfasser die
Sammlung des „Kosmos" bereichert hat. Zwanglos, im Erzählertone führt er
uns durch die Ordnungen der Säugetiere. Da er in der Lage ist, manche auf
weiten Reisen gemachten Beobachtungen über das Leben der Tiere beizubringen,
so gestaltet sich die Darstellung äußerst lebensvoll. Er erzählt mit Temperament,
und überall merkt man, daß der Verfasser nicht nur Natur beobachter,
sondern von ganzer Seele Natur f r e u n a ist. Seinem Zwecke entsprechend,
betont das Buch mehr das Leben der Tiere und geht trockenen Beschreibungen
aus dem Wege. Dennoch kommt das Körperliche nicht zu kurz. Aber Floericke
faßt dieses Körperliche anders als der Verfasser eines zoologischen Lehrbuches.
Mit einem geradezu künstlerischen Blicke dringt er gleichsam in den Geist des
Körperlichen ein und zeichnet den Charakter des Tieres, wie er sich in der Mo-
dellierung der Glieder und ihren Bewegungen ausdrückt. Das Fremdartige
des Känguruhs, das R a u b t i e r h a f t e des Wüstenfuchses, das Zierliche
der Gazelle setzt sich so aus den Einzelzügen zu einem wirklich künstlerischen Bilde
zusammen. Seine Fähigkeit, das Charakteristische zu sehen und treffend zu bezeich-
nen, zeigt sich zuweilen in. unscheinbaren Kleinigkeiten, so wenn er das Schuppen-
tier mit einem riesigen Tannenzapfen oder den „riesenhaften, wundervoll be-
haarten" Schwanz des Ameisenbären mit einer breiten Fahne vergleicht.
Das Buch behandelt auf 104 Seiten ungefähr 150 Arten. Es besitzt also eine
gewisse Reichhaltigkeit und kann sehr wohl für den Laien, der den zoologischen
Garten besucht, eine Art Handbuch bilden. Große Bücher nehmen die Leute ja
doch nicht in die Hand. Die Abbildungen, 29 an der Zahl, zu denen noch 2 Tafeln
kommen, sind eine willkommene Zugabe.
Görlitz. Georg Klatt.
HI. Vermischtes.
Amerika-Institut.
Eine große Anzahl deutsch-amerikanischer Lehrer und Lehrerinnen, Mit-
glieder des über die Vereinigten Staaten verbreiteten deutsch-amerikanischen
Lehrerbundes, gedenkt im Sommer dieses Jahres gemeinsam ihrem Stammlande
einen Besuch abzustatten und wünscht namentlich mit der gegenwärtigen Ge-
staltung des Schul- und Erziehungswesens bei uns sich an Ort und Stelle bekannt
zu machen. Ihrer Tätigkeit nach gehören dieselben (im ganzen aller Voraussicht
nach mehrere hundert) den verschiedenen Arten und Stufen dortiger Unterrichts-
anstalten an, von der Elementarschule aufwärts bis zum College oder der Uni-
versität. Beabsichtigt ist eine Rundreise durch die interessantesten deutschen
Städte, die in den Tagen vom 10. bis 15. August in Berlin ihren Abschluß und
insofern zugleich den Höhepunkt darstellen soll, als hier die regelmäßige Jahres-
tagung des gesamten großen Lehrerbundes, die sonst abwechselnd in einer der
amerikanischen Städte stattfindet, abgehalten werden soll. Mit den bei dieser
Gelegenheit, und zwar voraussichtlich am 12. und 13. August, zu haltenden und
ohne Zweifel auch für diesseitige Pädagogen interessanten Vorträgen und Verhand-
lungen werden voraussichtlich auch Vorträge deutscher Fachmänner zu einem
Gesamtprogramm vereinigt werden. Mannigfache Besichtigungen hiesiger Er-
ziehungs- und Schuleinrichtungen werden wesentlich die Tage 14. bis 15. August
ausfüllen. Ein festlicher Empfang mit Schülerkonzert ist den Gästen von der
Stadt Berlin im Neuen Stadthause für Sonntag, den 11. mittags, 'zugedacht. Andere
festliche und lehrreiche Veranstaltungen werden Charlottenburg sowie andere
Gemeinden von Groß-Berlin bieten. Ein Ausschuß zur Vorbereitung eines ange-
messenen Empfangs der Gäste sowie zur Ermöglichung eines fruchtbaren Verlaufs
des gesamten Besuches hat sich bereits seit dem Herbst vorigen Jahres gebildet,
an dessen Spitze bisher der jüngst verstorbene Geheimrat W. Münch gestanden
hat und dessen erster Schriftführer Dr. Drechsler vom hiesigen Amerika- Institut
ist. Es ist nun dringend zu wünschen, daß eine möglichst große Anzahl diesseitiger
Oberlehrer, Lehrer und Lehrerinnen sich als Zuhörer und sonstige Teilnehmer an
der interessanten Tagung beteiligen, und wesentlich auch, daß ihrer nicht wenige
sich dem Ausschuß als Helfer bei den weiteren Vorbereitungen, bei der Begrüßung
und während der Tage des Besuches zur Verfügung stellen. Beherrschung der
englischen Sprache ist dabei nicht vonnöten. Daß die in Betracht kommenden
ersten Tage noch mit den letzten Tagen der diesseitigen Sommerferien zusammen-
fallen, wird hoffentlich nicht alle abhalten, sich rechtzeitig einzufinden; auch der
Wiederbeginn des Unterrichts in den Tagen vom 13. an wird sicher nicht jede Be-
teiligung unmöglich machen. Das bestimmtere Programm soll im Mai veröffentlicht
werden. Anmeldungen der Teilnehmer (schriftlich oder persönlich) werden schon
jetzt im Bureau des Amerika- Instituts (Berlin NW. 7, Universitätsstraße 8) will-
kommen geheißen.
284 Vermischtes.
Der erste Philologische Fortbildungskursus in Halle a. S.
Auf Anregung aus Oberlehrerkreisen fand vom 1. bis 3. April d. J. in Halle a/S.
der erste altphilologische Fortbildungskursus statt. Zu ihm hatten auf direkte
Bitte der Oberlehrer einzig um deren Weiterbildung willen sechs Dozenten der
Universität je einen dreistündigen Vortrag zugesagt. Das Programm lautete:
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Robert: Homer; Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Wis-
sowa: Plan und Absicht der Germania des Tacitus; Prof.
Dr. Bechtel: Griechische Dialekte; Prof. Dr. Kern: A'us grie-
chischen Inschriften (mit Lichtbildern); Geh. Reg.-Rat Prof. Dr.
von Stern: Die ägäische Kultur (mit Lichtbildern) ; Prof. Dr.
Abert: Antike Musik ( mit Gesangvortrag und Begleitung). Da Prof.
Dr. Wissowa plötzlich erkrankte, so veranstaltete Prof. Dr. Robert zum Er-
satz des ausgefallenen Vortrags Führungen durch das archäolo-
gische Museum der Universität, wobei er die Anordnung der Bild-
werke besprach und mehrere interpretierte. Zu dem Kursus, der zunächst für die
Oberlehrer der Provinz Sachsen gedacht war, hatten sich 81 Teilnehmer eingefunden,
davon aus Halle 23, aus den anderen Städten der Provinz Sachsen 43, aus dem
übrigen Preußen 7, aus Anhalt 2, aus den thüringischen Staaten 5, aus Bremen 1.
Von diesen waren 5 Direktoren, 26 Professoren, 40 Oberlehrer, 2 wissenschaftliche
Hilfslehrer, 8 Kandidaten. Als Beitrag zur Bestreitung der Unkosten wurden
von jedem Teilnehmer 2 M. erhoben. Am letzten Abend vereinigten sich die Vor-
tragenden mit vielen Zuhörern zu einem gemeinschaftlichen Essen.
Halle a. S. J. M o e 1 1 e r. ,
Aufruf zur Begründung eines Deutschen Germanisten-
Verbandes.;
Mehr und mehr ist in allen Kreisen, denen es um die Zukunft .unseres Volks-
tums ernst ist, die Überzeugung zum Durchbruch gekommen, daß unser deutsches
Geistesleben stärker als bisher auf völkische Grundlagen gestellt werden muß.
Noch findet dies Bestreben keine freie Bahn. Ihm steht vor allem im Wege, daß
der Unterricht im Deutschen an unsern höheren Schulen nicht die Stellung ein-
nimmt, die ihm in Rücksicht auf Volkstum und Erziehung zukommt.
Zwar weist der Wortlaut der Lehrpläne nachdrücklich auf die hohe Bedeu-
tung dieses Unterrichts hin, aber die Erfahrung hat gezeigt, daß die dort aus-
gesprochene Mahnung, es sollten alle Fächer zur Pflege des Deutschen zusammen-
wirken, allein nicht helfen kann.
Wollen die höheren Schulen ihre Pflicht wirklich erfüllen, die ihnen anver-
traute Jugend zu fruchtbringender, auf gediegenem Verständnis begründeter
Mitarbeit an der Ausgestaltung unseres Volkstums und unserer Kultur zu er-
ziehen, so ist eine entschiedenere Betonung des Deutschen unbedingt erforderlich.
Eine Vertiefung des Unterrichts im Deutschen und eine zielbewußte Ver-
knüpfung mit den andern Schulfächern ist aber unter den heutigen Verhältnissen
nicht möglich. Sie zu erreichen, muß der Unterricht im Deutschen verstärkt und darf
auf allen Stufen nur von fachwissenschaftlich vorgebildeten Lehrern erteilt werden.
Diese müssen auf der Hochschule gründlich in alle Seiten ihrer Wissenschaft
eingeführt werden. Zugleich aber müssen an die Lehrer insgesamt bei der Staats-
Vermischtes. 285
prüfung höhere Anforderungen in Kenntnis und V^erständnis des Deutschen ge-
stellt werden.
Endlich ist durch Fortbildungskurse und durch Reiseunterstützungen dafür
zu sorgen, daß die Lehrer im Amte an ihrer Weiterbildung arbeiten können und
die Fühlung mit der stets fortschreitenden Wissenschaft nicht verlieren.
Um dies Ziel zu erreichen, halten es die Unterzeichneten für geboten, nach
dem Beispiel der Religionslehrer, der Neuphilologen, der iVlathematiker und Natur-
wissenschaftler und anderer Fachgruppen einen Zusammenschluß der Germa-
nisten, insbesondere der Vertreter des Deutschen an den Hochschulen und den
Höheren Schulen, zur Förderung des deutschen Unterrichts herbeizuführen.
Der Aufruf ist unterzeichnet von ungefähr 150 Vertretern der germanistischen
Wissenschaften an den Universitäten und höheren Schulen, in staatlichen und
städtischen Verwaltungen oder literarischen Berufen, darunter bekannte Namen,
wie Arnold (Wien), Baesecke (Berlin), Beck (München), K. Berger (Darmstadt),
Bernt (Gablonz), A. Biese (Neuwied), 0. Boetticher (Berlin), Braune (Heidel-
berg), Bremer (Halle), Brenner (Würzburg), Breul (Cambridge), Elias (Berlin),
P. Ernst (Weimar), Geyer (Brieg), Götze (Freiburg), de Gruyter (Berlin), von
der Hellen (Weimar), Helm (Gießen), Hirt (Leipzig), Hofmiiler (München), A.
Horneffer (Solin b. München), Jostes (Münster), Kauffmann (Kiel), Klee (Bautzen),
Kluge (Freiburg), Koch (Breslau), Kosch (Czernowitz), Kossinna (Berlin), Krauß
(Stuttgart), H. A. Krüger (Hannover), Lauffer (Hamburg), Leitzmann (Jena),
v. d. Leyen (München), Lilienfein (Berlin), Litzmann (Bonn), Lyon (Dresden),
A.^Matthias (Berlin), Th. Matthias (Plauen), Maydorn (Thorn), Maync (Bern),
Meißner (Königsberg), Michels (Jena), Minde-Pouet (Bromberg), Mogk (Leipzig),
Muncker (München), von Oettingen (Weimar), Paul (München), Petsch (Liver-
pool), Petzet (München), Porger (Hannover), Sahr (Gohrisch), Saran (Halle)
Sauer (Prag), Schlee (Landsberg), Sievers (Leipzig), Sulger-Gebing (München),
Schüddekopf (Weimar), Schultz (Straßburg), Spiero (Hamburg), Strauch (Halle),
Sütterlin (Heidelberg), Waag (Heidelberg), Walzel (Dresden), Wegener (Greifs-
wald), Weise (Eisenberg), Witkowski (Leipzig), E. Wolff (Kiel), G. Wolff (München),
Wolkan (Wien), Woerner (München), Wustmann (Dresden), Wychgram (Lübeck).
Alle Fachgenossen werden zu einer begründenden Versamm-
lung hierdurch ergebenst eingeladen, die am Mittwoch nach Pfingsten,
29. M a i d. Js., vormittags 10 Uhr, in der Akademie zu Frankfurt a. M.
(Jordanstraße 17) stattfinden soll.
Weitere Auskunft erteilen Direktor Dr. KL B o j u n g a , Dr. Fr. Panzer,
Prof. an der Akademie, und Prof. Dr. J. G. S p r e n g e 1 in Frankfurt a. M.— Mit-
teilungen und Beitrittserklärungen bittet man an den Letztgenannten zu richten.
XV. Allgemeiner Neuphilologentag zu Frankfurt a. M.
27.— 30. Mai 1912. Vorläufige Tagesordnung.
Montag, den 27. Mai, nachmittagsS U h r , in der Akademie für
Sozial- und Handels Wissenschaften, Jordanstraße 17.
Vorversammlung der Delegierten der Vereine, Vortragenden, Hochschul-
professoren und Vorstandsmitglieder.
l. Stimmverteilung. — 2. Geschäfts- und Kassenbericht. — 3. Festsetzung
der Tagesordnung. — 4. Vorschläge für den nächsten Vorort und Wahl
286 Vermischtes.
des Vorstandes für 1913 und 1914. — 5. Wahl zweier Rechnungsprüfer. —
6. Verschiedenes.
Abendsvon 8V2 Uhr ab: Empfang und Begrüßung im Saale der Ale-
mannia (Schiller-Platz 4). Geselliges Zusammensein.
Dienstag, den 28. Mai, v 0 r m i 1 1 a g s 9 U h r c. t., in der Aula der
Akademie (Jordanstraße 17): Eröffnung des 15. Neuphilologentages durch
Herrn Direktor Dörr. — Begrüßungen.
Erste allgemeine Sitzung lOVg Uhr. Vorträge:
1. Herr Prof. M. E. S a d 1 e r , M. A., L. L. D., Vice-Chancellor of the Uni-
versity of Leeds: „England's Debt to German Education."
2. Herr Ferdinand Brunot, Professeur ä TUniversite de Paris:
„L'autorite en matiere de langage."
3. Herr Professor Dr. Heinrich Morf, Mitglied der Königlichen
Akademie der Wissenschaften, Berlin: „Vom linguistischen Denken."
(Zu 1 — 3 keine Diskussion.)
1 Uhr: Empfang durch die städtischen Behörden im R ö m e r.
Nachmittags 3 Uhr: Zweite allgemeine Sitzung.
1. Besuch der Lehrmittelausstellung (für Darbietung und Ein-
übung des Wortschatzes) in der Aula der Viktoriaschule (Hohen-
zollern-Platz 65/67). Einleitender Vortrag von Herrn Professor Dr.
Eggert, Leiter der Helmholtz-Realschule i. E., Frankfurt a. M.;
hierauf Erläuterungen durch die Herren Professor Dr. C a r 0 , Professor
Dr. Hinstorff, Leiter der Herderschule (Lyzeum i. E.), Oberlehrer
Dr. Leicht, Oberlehrer Dr. P e r d i s c h.
Herr Professor Dr. Scheffler, Technische Hochschule, Dresden:
Nationallieder und Flaggen mit Ausstellungen und Vorführungen.
(Singsaal der Viktoriaschule.)
2. Von 472 Uhr ab in der Akademie: Herr Dr. Panconcelli-
C a 1 z i a , Leiter des phonetischen Laboratoriums des Seminars für
Kolonialsprachen, Hamburg: „Über Sprachmelodie und den heutigen
Stand der Forschungen auf diesem Gebiete."
3. Von 5 U h r an Vorführung von Sprechmaschinen usw. durch Herrn
Oberlehrer W. D 0 e g e n , Berlin-Zehlendorf, Herrn Oberlehrer Dr.
K. Wolter, Berlin-Steglitz usw.
Abends 8Uhr: Festmahl im Frankfurter Hof (Bethmannstr. 33).
Mittwoch, den 29. Mai, v 0 r m i 1 1 a g s 9 U h r c. t. in der Aula der Aka-
demie: Dritte allgemeine Sitzung. Vorträge:
1. Herr Professor Dr. Wechssler, Universität Marburg i. H.: „Die
Bewertung des literarischen Kunstwerks." (Keine Diskussion.)
2. (9V4 Uhr) Herr Professor Dr. Varnhagen, Universität Erlangen:
„Über neuphilologische Universitäts- Seminare, ihre Einrichtung und
ihren Betrieb."
3. (1 1 V4 Uhr) Herr Professor Dr. H. Schneegans, Universität Bonn:
„Die Frage der Doktordissertation." (Frühstückspause.)
Nachmittags 2V2 Uhr in der Aula der Akademie: Vierte all-
gemeine Sitzung. Vorträge:
Vermischtes. 287
1. Herr Professor Dr. Bovet, Universität Zürich: „J. J. Rousseau.'*
(Keine Diskussion.)
2. (3\ 4 Uhr) Herr Professor Dr. W. Victor, Universität Marburg i. H.:
,,Über Lautschrift,"
3. (4 Uhr) Herr Professor Dr. G l a u s e r , Rektor der Handelshochschule,
Mannheim: ,,Les assistants etrangers."
Abends 7V2 Uhr: Festvorstellung im Städtischen Schauspielhaus.
Abends von 9 Uhr an : Kommers des Weimarer Kar-
tellverbandes.
Donnerstag, den 30. Mai, vormittags 9 Uhr c. t. in der Aula der
Akademie: Fünfte allgemeine Sitzung. Vorträge:
1. Herr Professor Dr. Max Förster, Universität Leipzig: „Der Wert
der historischen Syntax für die Schule."
2. (IOV4 Uhr) Herr Professor L. Wyplel, Wien: „Eine neue Art der
Sprachbetrachtung." (Diskussion siehe 3.)
3. (10^4 Uhr) Herr Oberlehrer Dr. Zeiger, Frankfurt a. M.: „Bestre-
bungen zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der grammatischen
Bezeichnungen." (Diskussion, zugleich für No. 2.)
4. (12V2 Uhr) Geschäftliches. Schluß der Verhandlungen.
Von IV2 Uhr ab Gabelfrühstück in den Restaurationsräumlichkeiten
des Hauptbahnhofs.
Nachmittags 2V2 Uhr: Rheinfahrt.
Abends ev. Kursaal Wiesbaden.
Berichtigungen.
Der Rezensent meiner Faust- Ausgabe (Schöninghs Ausgaben deutscher Klassiker,
Bd. 42) tadelt in seiner Anzeige, die er im 12. Hefte des 10. Jahrg. der „Monat-
schrift" (S. 658) erstattet, daß in dem einleitenden Vorworte eine gewisse Unfreiheit
und Befangenheit hervortrete, „so in der Auffassung, Goethe habe bei Fausts
Himmelfahrt, die dieser ja nicht verdient habe, die christlich-katholische Heilslehre
zu Hilfe gerufen". Es wird meines Erachtens von allen Kommentatoren als fest-
stehende Tatsache direkt oder indirekt bezeugt, daß Goethe die Rettung Fausts
durch dessen schaffensfreudige Arbeit im Dienste der Menschheit angebahnt und
dann in der Höhe christlichen Gnadenlebens und katholischer Glaubensinbrunst
vollendet habe. Somit richtet sich die erste Beanstandung meines Rezensenten
gegen Goethe selbst, und ich möchte daher an dieser Stelle unter Einführung eines
Eideshelfers noch einmal dartun, wie verfehlt es ist, den großen Dichter wegen
seiner Hinneigung zu den Formen des katholischen Glaubenslebens noch immer
anzugreifen. „Der Schluß ist vielfach wegen seines katholischen Charakters getadelt
worden, aber mit Unrecht. Wollte Goethe die allmähliche Läuterung der Seele,
ihr Aufsteigen zu der himmlischen Gnade poetisch darstellen, so waren überhaupt
keine anderen Symbole dafür vorhanden als die Vorstellungen des christlichen
Mittelalters. Die klassische Mythologie bot für dieses allmähliche Hinüberschweben
aus dem irdischen ins überirdische Dasein keine Hilfsmittel. Ihr fehlt vor allem
die Vorstellung der verzeihenden göttlichen Liebe. Alle anderen Mythologien aber.
288 Vermischtes.
außer der christlichen und der antiken, sind für den deutschen Dichter unver-
wendbar, weil ihre Symbole unverständlich bleiben (Witkowski)/* Vgl. auch
Kuno Fischer, Goethes Faust, 4. Bd., Seiten 1023, 1033, 1042, 1043, und
die Schulausgabe von Goethes Faust II von Steuding (Wien, Tempsky), S. 48,
wo auch die Tatsache, daß die von Goethe gebotene Lösung sich nicht völlig
mit der christlichen Anschauung deckt, gebührend hervorgehoben wird.
„Auch die Erläuterungen, die sachlich vortreffliche Dienste leisten, sind bei
religiösen Dingen recht befangen." So fährt der Rezensent fort ohne Beweis,
ohne jede bestimmte Bezugnahme, in einer durch den wiederholten Vorwurf der
Befangenheit geradezu verblüffenden Behauptung. Die offene Vertretung des
christlichen Standpunktes kann denn doch unmöglich als befangen bezeichnet
werden in Rücksicht auf ein Schulbuch, das als Wegweiser an unseren in ihrer weit
überwiegenden Mehrzahl christlichen Gymnasien dienen soll. Um nur einen Punkt
herauszugreifen, ist es meines Erachtens ganz uneriäßlich, daß bei der Besprechung
des Hexen-Einmaleins mit bestimmtester Deutlichkeit darauf hingewiesen werde,
daß der sonst in religiösen Dingen freimütige und rücksichtsvolle Dichter sich hier
eine Verspottung des Allerheiligsten erlaubt. Es ist geradezu undenkbar, daß ein
Primaner dasselbe Geheimnis der Trinität, das er in feierlichem Gottesdienst
oder in erhebender Schulandacht anbetet, vielleicht schon in der nächsten Unter-
richtsstunde ohne den Widerspruch sachlicher Kritik der Verspottung soll preis-
gegeben sehen.
Faust und Parzival sind die beiden unsterblichen Größen der deutschen Lite-
ratur, aber nur sab specie aeternitatis, nur für den, der seine Stimmungskräfte
von der Erde loszureißen und in höhere Sphären zu erheben vermag. Daher wird
aber auch nur eine in religiösen Dingen vorurteilsfreie Behandlung der größten
Tragödie der Weltliteratur in raschester Folge alle Bedenken zerstreuen, die stellen-
weise vielleicht noch immer gegen die Behandlung des Faust-Problems in der Schule
erhoben werden. Und das wäre denn doch im Interesse unserer höheren Lehr-
anstalten zu wünschen.
Münster i. W. Faßbaender.
Der Verfasser der auf Seite 120 besprochenen „Ruhmesblätter der Technik",
Ingenieur Franz M. Feldhaus, bittet um Aufnahme folgender Berichtigung.
Es ist nicht richtig, daß ich als Verfasser des Buches ,, Ruhmesblätter der
Technik" aus irgendeinem der verschiedenen Werke, die den Titel „Buch der
Erfindungen" tragen, einiges ausgewählt, und zu dem genannten Buch zusammen-
gestellt habe. Richtig ist vielmehr, daß meine Angaben auf mühsamen Quellen-
studien beruhen.
In meiner eben erschienenen Schrift „Der Kampf gegen die Lernschule" habe
ich als Verf. eines in dem „Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik'*
erschienenen Aufsatzes über Selbstregierung der Schüler den vortragenden Rat im
preuß. Kultusministerium, Herrn Geheimrat Prof. Dr. Klatt, genannt. Wie dieser
mir freundlichst mitteilt, stammt der betr. Aufsatz nicht von ihm, sondern von Herrn
Prof. Dr. Willibald Klatt, der an der Oberrealschule zu Steglitz bei Beriin wirkt.
Hannover. Prof. Dr. Budde.
I. Abhandlungen.
Die Länge der Schuljahre.
Das Schuljahr 1912/13 hat bei elf Ferienwochen nur 39, das folgende dagegen
44 Schuiwochen. Diese Tatsache und die andere, daß die Festlegung des Osterfestes
trotz aller dafür sprechenden triftigen Gründe leider wohl noch geraume Zeit auf
sich wird warten lassen, legten mir die Frage nahe, ob nicht schon jetzt durch eine
anderweitige Regelung der Osterferien sich der große Unterschied in der Länge
der Schuljahre vermeiden ließe.
Am einfachsten und glücklichsten wäre natürlich die ganze Frage gelöst,
wenn sich die norddeutschen Staaten dazu verstehen könnten, mit den süddeutschen
Staaten das Schuljahr im Herbste beginnen zu lassen. Allein dafür besteht nicht
die geringste Aussicht, obwohl ein solcher Übergang, wie neuerdings die Um-
wandlung der Herbstgymnasien in Darmstadt und Mainz in Ostergymnasien be-
weist, nicht allzu viel Schwierigkeiten bietet und die Vorteile für den Unterricht
wie für die Gesundheitspflege nicht hoch genug angeschlagen vyerden können.
Ich will nur zwei kurz herausheben. Einmal fallen die längeren Ferien an das Ende
des Schuljahres und ermöglichen dadurch bei Schülern und Lehrern eine gründlichere
Erholung und Kräftigung, als solche die kurzen Osterferien zu geben imstande
sind; zudem fällt das, was die Schüler in den längeren Ferien an Unterrichtsstoff
vergessen, bei dem Übergange von einer Klasse in eine andere nicht in dem Maße
ins Gewicht, wie das bei einem fortschreitenden Unterrichte in derselben Klasse
der Fall ist. Im Zusammenhange damit steht der zweite Vorteil. Die Schulzeit
zwischen Herbst und Weihnachten ist frei von Ferientagen und gewährleistet dadurch
einen stetigen und ruhigen Gang des Unterrichts, wie ihn der Anfangsunterricht
in einem jeden Fache zum Legen fester Grundlagen verlangt. Im Gegensatz dazu
erfährt die Unterrichtszeit von Ostern bis Herbst teils durch die Pfingst- und
Sommerferien teils durch die Tage, an denen der Unterricht wegen allzu großer
Hitze ausgesetzt werden muß, eine derart störende Unterbrechung, daß viel Zeit
mit dem Wiederaufbau dessen verloren geht, was die freien Tage eingerissen haben.
Ich will ganz schweigen von den Zerstreuungen, die der Sommer bietet und die
die Arbeitslust zu fördern wenig geeignet sind.
Aber an diese glücklichste Lösung der Frage ist nun einmal nicht zu denken,
und so gilt es denn, einen anderen gangbaren Weg zu suchen, um wenigstens den
allzu großen Unterschied in der Länge der einzelnen Schuljahre aus der Welt zu*
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 19
290 W. Hensell,
schaffen. Und fünf Wochen sind ein großer Unterschied und fallen für alle Unter-
richtsfächer, insbesondere aber für die, die mit einer geringen Stundenzahl bedacht
sind, schwer in die Wagschale. Vorzugsweise sind es aber die Oberprimaner, die
unter einem solchen Unterschiede zu leiden haben. Man denke nur daran, wie viel
sich in fünf Wochen wiederholen läßt und wie ungünstig die Verhältnisse gerade
für die Prima liegen, wenn, wie das des öfteren vorkommt, zwei Jahre von je 40
oder von 40 und 39 Schulwochen aufeinander treffen.
Diese schwerwiegenden Unterschiede lassen sich ja allerdings im Unterrichte
überwinden. Man braucht nur in den Jahren mit 44 Schulwochen das in den amt-
lichen Lehrplänen geforderte Jahrespensum in der Weise auf die einzelnen Klassen
zu verteilen, daß einer vorhergehenden Klasse bereits der entsprechende Teil der
Aufgabe der nächstfolgenden Klasse zugewiesen wird. Damit wäre dann auch der
Oberprima geholfen, außer wenn der Primakursus in zwei kurze Schuljahre fällt.
Freilich dürfte eine solche Stoffverteilung für die langen Schuljahre nicht dem
Belieben der einzelnen Anstalt überlassen bleiben, sondern müßte in den amtlichen
Lehrplänen als allgemein verbindlich festgelegt werden. Sonst ergeben sich
Schwierigkeiten bei dem Obertritte von Schülern in andere Anstalten.
Ein anderer Mißstand, den die langen Schuljahre mit sich führen, läßt sich
aber nicht beseitigen. Es ist die nach einer längeren Arbeitsperiode naturgemäß
eintretende Erschlaffung der geistigen und körperlichen Kräfte, die nicht nur
während des laufenden Schuljahres sich recht bedenklich geltend macht, sondern
auch im Anfange des neuen Schuljahres in wenig erfreulicher Weise in die Er-
scheinung tritt. Denn die kurzen Osterferien vermögen hier einen Ausgleich nicht
herbeizuführen. Die Einwirkung dieser Erschlaffung auf die Schulzucht mag hier
nur gestreift sein.
Diese Schäden der langen Schuljahre wären ja schließlich zu ertragen, wenn
die letzteren unter den leidlich normalen Schuljahren nur selten aufträten. Das
ist nun aber nicht der Fall. Ich habe die Dauer der Schuljahre für einen Zeit-
raum von 50 Jahren festgestellt, und zwar für die Zeit von 1913 — 1962. Unter
diesen^ 50 Schuljahren haben:
17 eine Länge von 44 Schul wochen =34%
2 4*^ —40/
te 19 „ „ „ 40 „ =38%
12 ,, ,, ,, 39 ,, = 24 /q
Der Durchschnitt ergibt ein Schuljahr von 41,24 Schulwochen. Der Unterschied
zwischen zwei aufeinander folgenden Jahren beträgt:
16 mal je 5 Wochen
19 4
4 3
7 1
Der Anfang des Schuljahres liegt, wenn die Osterferien eine Woche vor dem Feste
beginnen und eine Woche nach ihm schließen, zwischen dem 1. April und 3. Mai.
Die Länge der Schuljahre. 291
Hiernach wäre es die Aufgabe einer Neuordnung der Osterferien,
1. die zahlreichen allzulangen Schuljahre ebenso wie die weniger häufigen
kurzen zu beseitigen und damit den großen Unterschied zwischen den einzelnen
Schuljahren aufzuheben und
2. dem Schuljahre möglichst die Dauer eines Durchschnittsjahres von
41 Schul Wochen zu geben.
Diese Aufgabe zu lösen ist möglich, wenn
1. die Osterferien eine Dauer von 2^/2 statt von 2 Wochen erhalten und
2. der 1. April anstatt Ostern als Bestimmungstermin für den Beginn der
Osterferien gewählt wird.
Die erste Forderung, die sich auf die gewichtigsten hygienischen Erwägungen
und Beobachtungen stützt, wird wohl kaum einem Widerspruche begegnen und
ist bereits in den Provinzen West- und Ostpreußen*) wenigstens im Jahre 1911
erfüllt. Die Frage, ob das Mehr von einer halben Woche bei einer elfwöchigen
Feriendauer dieser hinzugelegt oder in sie hineinbezogen werden soll, lasse ich hier
beiseite, da sie mit meinem Thema nicht in direkter Beziehung steht. Ich muß,
schon um den Vergleich der nachstehenden Daten mit den vorhergegebenen zu
erleichtern, mit einer jährlichen Feriendauer von 11 Wochen rechnen.
Die zweite Forderung wäre bestimmter so zu fassen: Die Osterferien
beginnen an dem dem I.April zunächstliegendenDonners-
tage außer in denjenigen Jahren, in denen das Osterfest
in den Monat März fällt. In diesen istder Gründonners-
tag der erste Ferientag.
Liegt das Osterfest am Ende der Ferien, so beginnt das
neue Schuljahr mit dem ersten Dienstage nach Ostern.
Nach dieser Bestimmung zerfallen die Schuljahre in drei Gruppen: 1. in solche,
in denen das Osterfest am Anfange, 2. in der Mitte und 3. am Ende der Ferien
liegt.
Während der 50 Schuljahre von 1913/14 bis 1962/63 fallen die Ostern in den
Monat März in den Jahren 1913, 1921, 1929, 1932, 1937, 1940, 1948, 1951 und
1959. Das Osterfest liegt dann am Anfange der Ferien. Dasselbe ist der Fall
in den Jahren 1915, 1917, 1918, 1920, 1923, 1926, 1931, 1934, 1942, 1945, 1947,
1953, 1956, 1958 und 1961. Es würden also die Ferien innerhalb dieser 50 Jahre
24 mal an einem Gründonnerstage beginnen, wie das in der Provinz Westfalen
und in der Rheinprovinz**) bereits im Jahre 1911 geschehen ist und als Unan-
nehmlichkeit wohl kaum empfunden sein dürfte. Denn der Gedanke, nach Ostern
über 14 Tage frei verfügen zu können, ohne daß diese durch die mancherlei Ein-
engungen eines Festes unterbrochen werden, hat sicherlich für jedermann etwas
Erfreuliches.
In den Jahren 1914, 1925, 1928, 1936, 1939, 1941, 1944, 1950, 1952 und 1955
fällt das Osterfest wie bisher in die Mitte der Ferien. Dagegen liegt es am Ende
♦) Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen. 1911, Heft
2 u. 3, S. 209.
**) Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 1911, S. 216
und 218.
19*
292 W. Hensell,
der Ferien in den Jahren 1919, 1922, 1924, 1927, 1930, 1933, 1935, 1938, 1946,
1949, 1954, 1957, 1960 und 1962. Das neue Schuljahr müßte dann an dem auf
den Ostermontag folgenden Dienstage beginnen. Das wäre um so unbedenk-
licher, weil an diesem Tage als dem Prüfungstage der neu angemeldeten Schüler
der Unterricht selbst ja doch noch nicht einsetzt. Um auswärtigen Prüflingen
die nötige Zeit zum Reisen zu geben, könnte man die Prüfungen auf den Nach-
mittag legen oder sie bereits vor den Ferien vornehmen.
Soweit wäre nach meinem Dafürhalten alles in Ordnung. Nun aber kommt
der dunkle Punkt in meiner Aufstellung. In dieser fehlen noch die Jahre 1916
und 1943. In dem letzteren Jahre fällt allein in unserem Jahrhundert das Oster-
fest auf den 25. April, in dem ersteren wie auch noch im Jahre 2000 auf den 23. April.
Beide Male würden Ostern in der ersten Woche nach den Ferien liegen, so daß
nach drei Schultagen sofort wieder eine Unterbrechung von nahezu einer Woche
eintreten müßte. Das ist fatal, sollte aber nicht den Grund dafür bilden, nur des-
wegen alle die Vorteile preiszugeben, die nachweislich aus meinem Vorschlage ent-
springen. Im übrigen tritt ein solcher Ausnahmefall in unserem Jahrhundert
nicht wieder ein. Um die Unterbrechung zu vermeiden, könnte man in diesen
beiden Jahren von der von mir aufgestellten Regel absehen und die Ferien eine
Woche später beginnen lassen, 1916 am 6. und 1943 am 8. April. Es würden dann
die Schuljahre 1915/16 42 Schulwochen statt 41, 1916/17 41 statt 42 und die Schul-
jahre 1942/43 42 statt 41 und 1943/44 40 statt 41 Schulwochen bekommen. Die
Schuljahre 1916/17 und 1943/44 hätten nach der Gruppe 3 am Dienstage zu be-
ginnen, weil das Osterfest in ihnen auf das Ende der Ferien zu liegen käme.
Wird nach meinem Vorschlage der Beginn der Osterferien vom 1. April aus
bestimmt, so verschwinden sowohl die allzu langen Schuljahre von 44 wie die
kurzen von 39 Schulwochen völlig, und damit wird auch der große Unterschied
von 5 Wochen zwischen 2 Schuljahren glücklich beseitigt. Unter den 50 Schul-
jahren haben nämlich:
3 eine Länge von 43 Schulwochen - 6%
13 „ „ „ 42 „ ^ 26%
26 „ „ „ 41 „ -^ 52%
8 „ „ „ 40 „ .. 16%
Mehr als die Hälfte aller Schuljahre, deren Durchschnitt 41, 22 Schulwochen er-
gibt, hat also die schon oben berechnete Durchschnittsdauer von 41 Schulwochen,
19 Jahren des alten Systems mit 44 und 43 Schulwochen stehen nur 3 Jahre mit
43 Schulwochen nach dem neuen System gegenüber, während von den 31 Schul-
jahren mit 40 und 39 Schulwochen nur 8 mit 40 Schulwochen übrig bleiben. Neu
erscheinen Schuljahre von 42 Schulwochen, die mit dazu beitragen, den großen
Unterschied zwischen den einzelnen Jahren wesentlich zu verringern.
Dieser Unterschied aber zwischen zwei aufeinander folgenden Schuljahren
beträgt:
2 mal je 3 Wochen
10 „ „ 2 „
26 „ „ 1 „
11 „ „ 0 ,.
Die Länge der Schuljahre. 293
Von den 39 Fällen, in denen der Unterschied zwischen zwei Schuljahren 5 (16 mal),
4 (19 mal) und 3 (4 mal) Wochen ausmacht, verschwinden hiernach 37, während
Schuljahre von gleicher Dauer 1 1 mal statt 3 mal und solche mit einem Unter-
schiede von einer Woche 26 mal statt 7 mal aufeinander treffen. Übrigens sind
auch bei der Festlegung des Osterfestes Schuljahre von gleich langer Dauer nicht
zu erwarten.
Der Anfang des Schuljahres liegt zwischen dem 7. und 24. April, statt wie
bisher zwischen dem 1. April und 3. Mai.
Die 21/2 wöchigen Osterferien dauern vom 20. März bis zum 6. April im Jahre
1913 (die Ostern fallen auf den 23. März), 21. 3.-7. 4. i. J. 1940 (0. 24. 3.), 22. 3.
bis 8.4. i. J. 1951 (0. 25.3.), 24. 3.— 10. 4. i. J. 1921 und 1932 (0. 27.3.), 25. 3,
bis 11.4. i. J. 1937 und 1948 (O. 28.-3.), 26.3.— 12.4. i. J. 1959 (0. 29.3.),
28.3.— 14.4. i. J. 1918 und 1929 (0. 31.3.), 29. 3.— 15. 4. i. J. 1923 (0. 1.4.),
1928 (0. 8. 4.), 1934, 1945 und 1956 (0. 1. 4.), 30. 3.— 16. 4. i. J. 1916*) (0. 23. 4.),
1939, 1944, 1950 (0. 9.4.) u. 1961 (0. 2.4.), 30.3.— 17.4. i. J. 1922 u. 1933 (0.
16.4.), 31.3.— 17.3. i. J. 1955 (0. 10.4.), 31.3.-18.4. i. J. 1927, 1938, 1949
u. 1960 (0. 17. 4.), 1. 4.— 18. 4. i. J. 1915, 1920, 1926 (0. 4. 4.) u. 1943*) (0. 25. 4.),
1.4.-19.4. i. J. 1954 (0. 18.4.), 2. 4.— 19. 4. i. J. 1914, 1925 (0. 12.4.), 1931
(0. 5. 4.), 1936 (0. 12. 4.), 1942 u. 1953 (0. 5. 4.), 3. 4.— 20. 4. i. J. 1941 (0. 13. 4.),
1947 (0. 6.4.), 1952 (0. 13.4.) u. 1958 (0. 6.4.), 3.4.— 21.4. i. J. 1919, 1924 u.
1930 (0. 20. 4.), 4. 4.-22. 4. i. J. 1935, 1946 u. 1957 (0. 21. 4.), 5. 4.-22. 4. i. J.
1917 (0. 8. 4.), 5. 4.-23. 4. i. J. 1962 (0. 22. 4.). Ich habe diese Daten hier gesetzt,
um eine Nachprüfung meiner Aufstellung zu erleichtern. Diese kann nach dem
„Taschenbuche der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit von
Dr. H. Grotefend" S. 89 — 157 leicht vorgenommen werden.
Der Gewinn, den der Unterricht und die Schulhygiene aus cler von mir vor-
geschlagenen Neuordnung der Osterferien ziehen wird, liegt nach meiner Ansicht
so zutage, daß weiter darauf einzugehen sich wohl erübrigt. Damit er nun aber
auch wirklich daraus gezogen wird, darf der Vorschlag nicht Vorschlag bleiben,
sondern muß die Zustimmung der maßgebenden Behörden finden. Diese vermag
um so leichter erteilt zu werden, als die Durchführung des Vorschlages keinerlei
einschneidende Maßnahmen erfordert und jeder Staat für sich die neuen Osterferien
einführen kann, ohne befürchten zu müssen, in die Ferienordnung der Nachbar-
staaten allzu störend hinüberzugreifen.
Es erscheint mir wünschenswert, daß die Herren Kollegen sich in dieser Monat-
schrift zu meinem Vorschlage äußern, ihn auf seine Brauchbarkeit prüfen und in
ihren Kreisen für seine Durchführung eintreten oder andere bessere Vorschläge
machen, die uns noch einfacher aus den bisherigen Mißständen heraushelfen. Viel-
leicht ist das schon früher geschehen, und so wäre ich denn dankbar dafür, wenn
ich darauf aufmerksam gemacht würde. Es genügt ja wohl, die Vorschläge auf die
nächsten 50 Jahre zu beschränken, wie ich das getan habe. Denn es ist doch anzu-
nehmen, daß in diesem Zeiträume endlich eine Festlegung des Osterfestes vor-
genommen und damit die bessere Lösung für unsere Frage gefunden wird.
Gießen. W. H e n s e 1 1.
♦) oder im Jahre 1916 6. 4.-24. 4. und im Jahre 1943 8. 4.-26. 4. aus dem
oben angegebenen Grunde.
294 P. Lorentz,
Winkelgytnnasien ?
„Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört? Willst du nur hören, was
du schon gehört?" Dieses Mephistopheles-Wort kam mir jedesmal in den Sinn,
wenn ich in letzter Zeit in den Anklagen gegen unser heutiges höheres Schulwesen
dem schier mephistophelischen Begriff des Winkelgymnasiums begegnete. Mit
Bezug auf bestimmte Anstalten einer Provinz brauchte ihn Universitätsprofessor
Dr. Krückmann in seinem Aufsatz „Juristenfakultät und Winkelgymnasium'*
in der Zeitschrift „Das Recht'* 1909, er kehrte in dem gehaltvollen Vortrag des
Oberlehrers Dr. Speck auf dem Magdeburger Oberlehrertage Ostern 1910 über
die wissenschaftliche Fortbildung des deutschen Oberlehrerstandes wieder und
wurde von Professor Hesse in Saarbrücken wieder aufgenommen in einem ,, Winkel-
gymnasien" überschriebenen Artikel im Korrespondenzblatt für den akademisch
gebildeten Lehrerstand vom 16. Juni 1911 sowie in seinem Aufsatz der Preußischen
Jahrbücher (Bd. 146, Heft 1) über die Reifeprüfung an den höheren Schulen. Die
herabwürdigende Bezeichnung, nach der Analogie der früheren „Winkelschulen"
gebildet, paßt auf die Sache, die damit getroffen werden soll, gut. Zwar daß es
heute Gymnasien ohne behördliche Genehmigung geben sollte, ist undenkbar,
aber daß es Gymnasien gibt, die die Aufgabe, „durch die Reifeprüfung die vor-
läufige Auslese einer geistigen Aristokratie herbeizuführen" — so formulierte
sie einmal Friedrich Paulsen — so wenig erfüllen, daß sie sich vor Scham verstecken
sollten, daran ist nicht zu zweifeln. In ihren Scheinleistungen hat Hesse sie mit
beißendem Spott gekennzeichnet. Danach ist an solchen Anstalten der gesamte
Unterricht eine einzige großzügig angelegte ,, Vorbereitung auf die Reifeprüfung",
werden die schriftlichen Prüfungsarbeiten ebenso sorgfältig „vorbereitet" wie die
„als reife Früchte des Unterrichts" betrachteten Klassenarbeiten und ist es nur eine
verzeihliche Gedächtnisschwäche gewesen, wenn der Abiturient ihren ungenügenden
Ausfall erst durch eine mündliche Prüfung ausgleichen muß.
Die verhängnisvolle Wirkung solcher Winkelanstalten wird in ihrer Gemein-
schädlichkeit dann erst recht klar, wenn man nach dem Bedürfnis fragt, das ihre
Existenz wünschenswert machte. Nicht darin liegt die Ursache ihres Aufkommens,
daß heute durchschnittlich zu hohe Anforderungen an die Schüler ge-
stellt würden. Gewiß, es gibt auch Gymnasien, die in ungesundem Ehrgeiz mit
Glanzleistungen prunken zu müssen glauben, worunter dann der g e s u n d e Durch-
schnitt leidet, auf den nun einmal alle öffentlichen Schulen zugeschnitten sein
müssen. Vielmehr erwächst das steigende Bedürfnis nach wesentlich leichteren Schulen
aus folgendem Umstände: in immer größerem Umfange besuchen für höhere wissen-
schaftliche Bildung nicht geeignete Schüler aus solchen Familien die höheren Lehr-
anstalten, die gegen ihre gesellschaftliche Stellung sich zu versündigen glauben, wenn
sie ihren Kindern nicht diejenigen „Berechtigungen" verschaffen, die an die Absol-
vierung neunstufiger Anstalten geknüpft sind. Daß diese, nicht w i e sie erlangt
werden, ist ihre einzige Sorge, ob die Bildung, die der Schein beurkundet, durch
natürliches Wachstum zustande gekommen oder nur wie ein Firnis aufgetragen ist,
bleibt ihnen völlig gleichgültig. Daher kommt es dann, daß selbst höhere Schul-
beamte gelegentlich öffentlich zu bezeugen genötigt sind, daß das Schülermaterial
Winkelgymnasien? 295
dieser oder jener Anstalt im allgemeinen minderwertiger sei als an anderen Gym-
nasien (s. Hesse im Korrespondenzblatt a. a. 0., S. 326). Nicht, wenn hier und da
ein Schüler, der wesentlich langsamer arbeitet als seine Genossen und auf den
daher in überfüllten Klassen nicht genügend Rücksicht genommen werden kann,
oder dessen Gesundheit der nervenzerrüttenden Unrast der Großstadt nicht stand-
hält, wenn dieser das kleinstädtische Gymnasium aufsucht, auch nicht, wenn ab
und zu ein Tunichtgut den Verführungen der Großstadt entzogen werden muß,
nicht dadurch entstehen Winkelgymnasien. Vielmehr erst dann blühen sie auf,
wenn die Abwanderungen massenhaft und immer an ganz bestimmte Anstalten
stattfinden. Ein untrügliches Kennzeichnen solcher wird dann der Wasserkopf,
d. h. die ständige Überfüllung der obersten Klassen gegenüber der Leere der
mittleren und unteren, sowie ferner der hohe Prozentsatz der Abiturienten, der in
keinem gesunden Verhältnis zum Gesamtbesuch steht. Und der Ruf solcher An-
stalten wird in den interessierten Kreisen eifrig weiterverbreitet und macht sich,
auch wenn inzwischen längst Änderungen eingetreten sind, durch die nur langsam
abnehmende Zahl der Gesuche um Aufnahme in Prima und Obersekunda fühlbar:
von 30 im ersten Halbjahr aus den verschiedenen Provinzen der Monarchie sinkt
sie dann allmählich bis auf 12 aus der eigenen oder den Nachbarprovinzen zurück.
,,Ich suche für meinen Sohn ein leichtes Gymnasium, und da mir als solches
das Ihrige empfohlen ist" usw., so lautete wörtlich einmal ein Aufnahmegesuch
von verblüffender Offenheit. Wollte sein Verfasser, ein Anwalt des Rechtes, ein
Verbrechen an der menschlichen Gesellschaft begehen? Horribile dictul Er han-
delte nur unter dem Druck gesellschaftlicher Vorurteile ohne Kenntnis des Wortes,
daß eine leichte Schule ein soziales Verbrechen ist. Die Aufklärungsarbeit von Seiten
der höheren Schulen und ihrer Vorgesetzten kann gar nicht energisch genug dahin
gehen, daß eine zu große Zahl von solchen, die nur „mit eiaem Schein des
Rechtes" den Berechtigungsschein erlangen, in die Welt hinausschicken Schäd-
linge produzieren heißt für die Entwicklung des Gesamtwohls. Zumal dadurch
die Möglichkeit gehemmt wird, in wünschenswertem Maße die wirklichen Intelli-
genzen aus den unteren Volksschichten zu höherer Bildung und auf Grund davon
zu einflußreichen Stellen im Staatsleben gelangen zu lassen. Statt dessen melden
sich immer wieder, und das ist noch der günstigste Fall, junge Leute von Großstadt-
anstalten, die sich bis in die oberen Klassen hinaufgequält haben, von rührendem
Fleiß, von prächtigem Gemüt, aber auch von allerbescheidenstem Intellekt. Sehr
viel unangenehmer sind natürlich die anspruchsvollen Naturen, die mit den schä-
bigen Resten ihrer hauptstädtischen Bildung in der Provinz noch Erfolge zu erzielen
hoffen. Sie erinnern mich immer an jene Sänger und Sängerinnen, die das blechern
gewordene Metall ihrer Stimme noch für reizvoll genug halten, um es in den gewiß
nicht großen Konzertsälen der Provinzstädte in klingendes Edelmetall zu ver-
wandeln.
Da jene Ausschußware sich eben in Städten mit Einzelgymnasien anzu-
sammeln pflegt und diese dadurch oft zu wahren Lazarettgymnasien und Siechen-
heimen macht, so hängt die Frage der Winkelgymnasien mit der der Einzelanstalten
enge zusammen. Wir haben, als eine Folge des früheren Gymnasialmonopols,
in Preußen, nicht in den anderen Bundesstaaten, davon noch viel zu viel, nämlich
296 P. Lorentz,
137 Einzel-Vollgymnasien und 20 Einzel-Progymnasien, also 157 gymnasiale Einzel-
anstalten unter 738 höheren Schulen überhaupt, 40 — 50 von ihnen befinden sich in
Städten von unter 10000 Einwohnern, und insgesamt werden sie von 36 000 Schülern
besucht.*) An ihnen selbst würde nun dem Eindringen ungeeigneter Elemente
in die obersten Klassen dadurch erheblich gewehrt werden, daß an allen ohne
Ausnahme in den mittleren Klassen statt des Griechischen Ersatzunterricht im
Englischen eingerichtet würde, wie das im ganzen an 61 von ihnen schon der Fall
ist. Bis Prima hinauf dürfte dieser Ersatzunterricht aber in der Regel nicht gehen,
nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern weil die an solchen Anstalten mit dem
Einjährigen-Zeugnis abgehenden Schüler sich nur ganz selten für die höhere wissen-
schaftliche Ausbildung in den obersten Klassen eignen. Manche Einzelgymnasien
werden aber auch auf sechsstufige Anstalten zurückgeführt werden müssen, da
wir überhaupt noch zu viel rein gymnasiale Anstalten haben im Verhältnis zu den
realen oder gemischten, nämlich 214 von 738. Daß die künstliche Reifung nicht
wirklich geeigneter Elemente dann auch dadurch bedeutend gehemmt werden könnte,
daß bei der Reifeprüfung nach dem Muster der bayrischen Schulverwaltung die
schriftlichen Aufgaben von der Behörde gestellt werden, ist nicht zu bezweifeln.
Nur braucht deshalb nicht eine allgemeine Reform einzutreten. Auch jetzt werden
hier und da schon statt der eingereichten Vorschläge andere Aufgaben gestellt,
und warum sollten nicht die als ,, Winkelgymnasien" zu kennzeichnenden An-
stalten auf das Recht, eigene Vorschläge zu machen, eine Zeitlang überhaupt
verzichten? Müßte das nicht ein Mittel sein, alle Anstrengung zu machen, um sich
das eingebüßte Vertrauen sobald wie möglich wieder zurückzuerobern und um
die Widerstandsfähigkeit bei Abweisung ungeeigneter Elemente erheblich zu kräf-
tigen? Aber um der weniger vertrauenswürdigen Anstalten willen alle höheren
Schulen überhaupt oder auch nur die einer Provinz mit gleichen Prüfungsaufgaben
zu versehen, scheint mir doch recht bedenklich zu sein, denn das müßte zu einer recht
unerwünschten Mechanisierung der Pensen-Durcharbeitung führen und manche
berechtigte Eigenart ersticken. Denn auch an kleinen und kleinsten Einzelgymnasien
kommen jeweilig etwa bei größeren deutschen Ausarbeitungen statt der laufenden
Aufsätze recht hübsche Leistungen heraus.
Die Dienstanweisung für die Oberlehrer und Direktoren, die für die Aufnahme
in die oberen Klassen besonders strenge Maßregeln gibt — auch vor ihrem Er-
scheinen kam es schon gelegentlich vor, daß eine Zeitlang für jede Aufnahme
in jene Klassen die besondere Genehmigung eingeholt werden mußte — bietet
auch noch in einer anderen Hinsicht die Möglichkeit, die Quelle für die Ansamm-
lung unerwünschter Elemente zu verstopfen, nämlich in der Einschränkung des
Haltens von Pensionären durch Direktoren und Oberlehrer. Denn das ist ja gar
nicht zu bezweifeln, daß die in Frage kommenden Schüler sich oft gerade durch
die Wahl solcher Lehrerpensionen die Garantie für das Bestehen der Reifeprüfung
verschaffen wollen. Wie ohne jede Frage immer wieder von neuem der Beweis er-
bracht wird, daß in bestimmten Fällen gerade der Aufenthalt in Lehrerfamilien
der geeignetste Weg ist für die wohlverstandene Förderung der gesamten geistig-
sittlichen Persönlichkeit des Schülers, so unbedingt unwürdig war die zuweilen
*) s. Lück im Humanistischen Gymnasium 1911, Heft V, VI S. 104.
Winkelgymnasien? 297
zu förmlicher Industrie ausartende Produktion von Abiturienten aus Lehrer-
pensionaten. Schlimme Erfahrungen müssen doch in recht bedenklichem Umfange
gemacht worden sein, wenn die für über 12 000 Lehrer geltende preußische Dienst-
anweisung die beschämende Bestimmung treffen mußte, daß es ausgeschlossen ist,
daß Mitglieder einer Prüfungskommission Privatunterricht an Personen erteilen,
die vor dieser Kommission eine Prüfung ablegen wollen.
Und das allmähliche Herabsinken zu minderwertigen Anstalten hat auch
noch einen anderen Grund. Bei den kleinen Einzelanstalten, zumal wenn sie in reiz-
loser Gegend ohne günstige Verkehrsverbindungen liegen — es gibt so manche preußi-
sche Gymnasialstadt, die es wirklich noch nicht zu Wasserleitung und Kanalisation,
Schlachthaus, Krankenhaus, öffentlicher Badeanstalt und ähnlichem Luxus ge-
bracht hat — da besteht die Gefahr, daß auch das Kollegium einen recht hohen
Prozentsatz von solchen Lehrkräften enthält, die in wissenschaftlicher wie päda-
gogischer Hinsicht auch nur sehr bescheidenen Anforderungen genügen. Gewiß,
den dirigierenden Kapelfmeister versöhnt an solchen „schlechten Musikanten"
nicht selten immer wieder ihr prächtiges, goldreines Menschentum: ,, Nicht nur
Verdienst, auch Treue wahrt uns die Person", dies Goethewort scheint ihm wie für
sie ausdrücklich geschaffen zu sein. Aber es soll doch nun einmal Musik gemacht
werden, deren Ausführung einigermaßen dem Geist dessen entspricht, der die
Komposition, will also sagen, die Grundzüge der Lehraufgaben für höhere Schulen
entworfen hat. Helfen tut es da ja bisweilen, wenn man herausbekommt, daß dieser
oder jener Musikant bisher gar nicht vor das gerade für ihn geeignete Instrument
gesetzt war. Ein anderer freilich, der nur auf ein einziges bescheidenes Instrument
eingespielt ist, hat dies, anstatt ein Virtuose darauf zu werden, mit der Zeit so aus-
geleiert, daß es nur noch klappert, nicht mehr tönt. Andere, die bei tüchtigen
wissenschaftlichen Grundlagen und pädagogischem Geschick zu früh in bequeme,
behagliche Verhältnisse gekommen sind, bleiben stehen und verlieren die Fähigkeit,
mit den Fortschritten ihrer Sonder-Wissenschaft und der Pädagogik Fühlung zu
gewinnen, was sich dann vor allem wieder bei der Qualität des Unterrichts in den
oberen Klassen rächt. Alle solche Blutstockungen im Organismus der klein-
städtischen Einzelanstalten, die jeweilig zu häßlichen Geschwüren vereitern, werden
die Aufsichtsbehörden auf Grund ihrer eigenen neuen Dienstanweisung er-
freulicherweise noch viel eingehender kennen und würdigen lernen, als das bisher
der Fall war, und so frühzeitig zu erkennen vermögen, wo etwa die Gefahr des-
Herabsinkens zum Winkelgymnasium einzutreten droht. Es ist immer
und immer wieder in Oberlehrerkreisen von äußeren
Standes- und Titelfragen die Rede. Viel wichtiger
erscheint es mir, daß der gesamte Oberlehrerstand es
ais eine Ehrensache empfindet, daß Name und Be-
griff desWinkelgymnasiums mit der Sache selbst so
bald wie möglich verschwinde, daß er seine Mit-
glieder dazu erziehe, vor allem an sichselbst nicht
zu niedrige Anforderungen zu stellen.
Friedeberg (Neumark). Paul L o r e n t z.
298 A. stamm, Der deutsche Aufsatz in der Reifeprüfung.
Der deutsche Aufsatz in der Reifeprüfung.
Im „Korrespondenzblatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand" No. 47
vom 13. Dezember 1911 hat Herr Oberrealschul-Direktor Dr. Denicke (Char-
lottenburg) den Vorschlag gemacht, den Abiturienten zu gestatten, bei den so-
genannten literarischen Themen den Text der betreffenden Dichtungen einsehen
zu dürfen. Sehr richtig. Ich stimme ihm und seinen Gründen vollkommen bei,
setze nur hinzu (was er vielleicht als eine selbstverständliche Forderung nicht
besonders erwähnt hat), daß in solchen Fällen den Abiturienten die Texte na-
türlich von der Schule geliefert werden müßten.
Indessen bezieht sich der Vorschlag nur auf eine Art von vielen möglichen
und üblichen Themen. Wie nun, wenn der Abiturient ein geschichtliches Thema
bekommt? Soll er da auch erst nachsehen dürfen? Oder wenn einer, der ein gutes
geschichtliches und literarisches Wissen hat und dahin gehörende Arbeiten deshalb
auch gut ededigt, plötzlich in der Reifeprüfung vor ein sogenanntes „freies Thema"
gestellt wird? Wir alle wissen, in wie schwerverständlicher (um nicht zu sagen,
wie ungeschickter) Form oft solche Themen gefaßt werden; vor der Anfertigung
der Arbeit aber den Abiturienten genauere Hinweise über Dispositionen usw. zu
geben, ist mit Recht verboten, in der Tat ja auch sehr bedenklich, denn wo ist da
die Grenze zwischen Zu-wenig, Genug und Zu-viel? Oder — was wohl noch häufiger
vorkommt — ein gut beanlagter Abiturient, von klarem und selbständigem Urteil,
der deshalb die „freien Themen" gut bearbeitet, bekommt ein geschichtliches
Thema? Nun ist er gerade auf diesem Gebiet nicht besonders beschlagen, er leistet
Genügendes, aber nicht mehr, er hat für andere Dinge mehr Interesse als gerade
für Geschichte, oder ihm ist vielleicht gerade das Gebiet, aus dem das Thema ge-
nommen ist, aus irgendeinem Grunde nur mäßig bekannt. Er wird also wahr-
scheinlich, obgleich sonst ein guter Schüler und auch ein guter Aufsatzschreiber,
diese Arbeit „verhauen"; der Kgl. Kommissar und alle, die ihn nicht genau kennen,
werden ein falsches Bild von ihm bekommen usw.
Mit anderen Worten: ich halte für unrecht und nach den Grundsätzen der
modernen Pädagogik für rückständig, die bisherige Forderung bei dem Abiturienten
Aufsatz beizubehalten und bin der Meinung, daß man den Abiturienten auch hier
die Wahl, d. h. eine gewisse Wahl, eine Wahl innerhalb gewisser selbstverständlicher
Grenzen, lassen muß.
Jeder, der deutschen Unterricht in der Prima erteilt hat, weiß, wie ganz anders,
wie unvergleichlich viel besser die Arbeiten ausfallen, wenn der Schüler ein Thema
zu bearbeiten hat, das „ihm liegt", als eines, das ihm nicht liegt und zu dessen
Bearbeitung er widerwillig oder wenigstens gegen eigene Neigung gezwungen wird.
Bei den häuslichen Arbeiten liegt natüriich die Gefahr des Abschreibens nahe,
sehr nahe; aber doch nicht näher, als bei anderen Themen, auch wenn sich die
Herren einbilden, ,,bei ihnen" könnten die Schüler nicht abschreiben, weil sie die
Themen so genau oder in einer so bestimmten Art vorbereitet hätten, daß sie jede
Abweichung (sei es durch lebendige oder durch Bücherhilfe) sofort merken würden.
In diesem Falle hat die Arbeit entweder überhaupt keinen Wert, da eben das Beste,
die selbständige Arbeit des Schülers, fehlt, oder — der Lehrer wird trotz
R. Pappritz, Der lateinische Unterriclit auf dem humanistisciien Gymnasium. 299
seiner Klug- und Weißheit getäuscht. Also dieser Einwand hat schon bei den
häuslichen Arbeiten kein Gewicht. Noch viel weniger natürlich bei den Klassen-
arbeiten und besonders bei denen der Reifeprüfung mit ihren besonderen Vor-
sichtsmaßregeln.
Man gebe den Abiturienten drei Themen zur Wahl, meinetwegen ein geschicht-
liches, ein literarisches, ein freies, oder wie immer. Und damit dem Kgl. Kommissar
sein Einfluß bei der Wahl der Themen ebenso wie bisher des Themas gewahrt bleibt,
reiche der Lehrer des Deutschen sechs oder noch mehr Themen ein, aus denen
der Kommissar drei bestimmt, die den Abiturienten zur Wahl gestellt werden
sollen. So brauchen wir nicht zu befürchten, daß ein Abiturient unsere Erwartungen
enttäuscht; jedenfalls ist die Gefahr ganz erheblich viel kleiner als vorher. Dann
wird er wirklich zeigen können, was er auf diesem Gebiete leistet. Es bleibt ja immer
noch genug Zwang, nur wird dieser jetzt auf ein gerechtes Maß zurückgeführt.
Es scheint mir ungerecht und ungereimt, dem Abiturienten zu versagen, was man
dem Primaner unter so viel günstigeren Bedingungen (bei der Hausarbeit) gestattet.
Es ist kein unberechtigtes Entgegenkommen, kein ,, schwächliches" Heruntergehen
unter bisherige Ansprüche, sondern einfach eine Forderung der Gerechtigkeit,
wenn wir den Abiturienten Gelegenheit geben, wirklich zu zeigen, was sie leisten
können. Bei der bisherigen Einrichtung waren sie sicherlich beim deutschen Aufsatz
sehr häufig nicht in der Lage dazu und konnten es nicht sein.
Mühlheim-Ruhr. Adolf Stamm.
Der lateinische Unterricht auf dem humanistischen Gymnasium.
Im Jahre 1890, nach der Schulreform, wurden die damals angestellten Philo-
logen vor eine schwere Aufgabe gestellt: ohne praktische Anleitung, nur nach theo-
retischen Vorschriften sollten sie den Unterricht völlig umgestalten, sie sollten
bei erheblich verringerter Stundenzahl in der Lektüre dasselbe, in der Grammatik
wenigstens annähernd dasselbe erreichen. Kein Wunder, daß da mancher Miß-
erfolg erzielt wurde, zumal da in vielen Lehrbüchern nicht mit der nötigen Energie
und Umsicht das Wichtige von dem weniger Wichtigen, ja völlig Zwecklosen ge-
sondert wurde. Vor mir liegt die Lateinische Formenlehre zum wörtlichen
Auswendiglernen von Perthes. Ausgabe * B besorgt von Gillhausen.
Berlin 1895. Weidmannsche Buchhandlung. Das Büchelchen ist also fünf (!)
Jahre nach der Schulkonferenz von 1890 erschienen. In dieser Formenlehre
finden wir folgende Regel:
Männlich sind die auf nis und guis
Und noch dreizehn! sonst auf is:
Axis, lapis, orbis, ensis,
FasciSy fustis, vermis, mensis,
Piscis, postis, pulvis,
Endlich callis, collis.
300 R. Pappritz,
In demselben Büchelchen, das, wie erwähnt, zum wörtlichen Auswendiglernen
bestimmt ist, findet sich ferner: sulfur luridum der blaßgelbe Schwefel, vultiir
faustus der glückverheißende Geier, grus callida der schlaue Kranich, sus lutulenia
das schmutzige Schwein. Auch die so ungemein seltenen Worte cardo, cos, verber
erschienen dem Herausgeber wichtig. Sehr hübsch macht sich zweifelsohne zum
Auswendiglernen axis fervidus, fustis magnus, piscis mutus. Erst im zwanzigsten
Jahrhundert ist das Buch umgearbeitet und verkürzt worden.
Aber sind denn jetzt im zwanzigsten Jahrhundert alle unwichtigen Dinge
weggelassen? Nach meiner Erfahrung keineswegs. Noch immer wird auf einigen
Schulen der Vocativus mitgelernt und geübt. Jeder Hinweis darauf, daß
dies eine zwecklose Zeitvergeudung ist, ist überflüssig; ebenso der Hinweis darauf,
daß es für einen Sextaner durchaus nicht gleichgültig ist, ob er bei schriftlichen
Übungen fünf oder sechs Casus zu bilden hat. (Das Entsprechende gilt vom Grie-
chischen.) Überflüssig ist es auch, zu erwähnen, wie widersinnig es ist,
immer den Vokativ sagen zu lassen. Ein Freund von mir hat eine Zusammen-
stellung gemacht, der ich folgendes entnehme:
0 du Ochse, o du Schild,
0 du hehres Götterbild,
0 du Lager, o du Feld,
0 du Schönheit, o du Geld,
O du weiser, guter Plan,
0 du starker, schöner Hahn.
Man überlege doch, wie oft acus in den Schulschriftstellern vorkommen wird,
oder, wer das vorzieht, nehme den Georges zur Hand. In meiner Ausgabe ist eine
einzige Stelle bei Cicero angeführt. Freilich, bei Celsus ist das Wort recht häufig,
aber bis jetzt ist, soviel ich weiß, noch nicht die Absicht vorhanden, Celsus
an Stelle von Cicero oder Caesar als Schulschriftsteller einzuführen. — Wenn
iribus in den oberen Klassen vorkommt, so erwähne man, daß dies Wort Femi-
ninum ist, in Sexta aber lasse man es nicht lernen. Als Lateinlehrer in Obertertia
repetiere ich die unregelmäßigen Verben. Stets muß ich ein Lächeln unterdrücken,
wenn ich mulcere und tergere abfrage. Wie hübsch würde es sich doch machen,
wenn man auch Formen von diesen Verben bildete, z. B., einer, der gestreichelt
werden soll, oder er wird abgewischt werden. Kann jemand ernstlich behaupten,
daß verro, ingemisco, revivisco, pinguesco, repuerasco von Wichtigkeit sind? Eine
ganze Reihe anderer könnte ich auch ohne Schmerz missen, z. B. algeo, madeo,
rigeo, como, oblino; bei einer dritten Gruppe wiederum genügt es, wenn der Schüler
das praesens als Vokabel lernt, ohne Grundformen, wie flecto, necto, texo. Ebenso
ließe sich bei der Kasuslehre manches streichen; so ist es z.B. für einen
Quartaner sehr schwer, nachdem er eben gelernt hat, daß bei den Verben des
Kaufens der ablativus steht, sich einzuprägen, daß die vergleichenden Ausdrücke
im Genetiv stehen. Eine Reihe von Wendungen, wie praetervehi aliquid, tibiis
canere, pila ludere könnten fehlen, andere wie rem obire, cedere possessione fiortorum
alicui passen nur für die oberen Klassen. Wer wüßte nicht, welche Schwierig-
keiten das verbum interest, das verhältnismäßig selten vorkommt, den Schülern
Der lateinische Unterricht auf dem humanistischen Gymnasium. 301
bereitet? Trotzdem bin ich dafür, diesen Ausdruck beizubehalten, denn es ist
sicherlich eine gute Denkübung, wenn der Schüler sich einen Satz völlig umgestalten
muß, aber man lasse die Genetive fort, die stehen dürfen. Zwecklos erscheint
es mir, den potentialis der Vergangenheit mitzulernen, oder ein Musterbeispiel
dafür, daß in einem Relativsatz nach einem Ausruf der Konjunktiv steht. — Dem
Müller-Ostermann für Prima sind 1086 Phrasen vorangestellt. Auf manchen Schulen
wird diese gesamte Anzahl, verbunden mit den Anmerkungen, die sich unter dem
Strich finden, systematisch auswendig gelernt. Richtiger ist es wohl, im
Anschluß an das im Ostermann und Cicero Gelesene die in dem betreffenden Ab-
schnitt vorkommenden Phrasen und Vokabeln zu repetieren mit sorgfältiger
Vermeidung der seltenen.
Verschieden, sehr verschieden sind die Anschauungen der Pädagogen darüber,
was wichtig und unwichtig ist. Ja, ich habe den Eindruck, es gibt einige Herren,
die gegen jede fernere Einschränkung des Lehrstoffes im Lateinischen und Grie-
chischen sind, ganz unbekümmert darum, ob sich nicht manches nur durch Tra-
dition, ohne jede innere Berechtigung, von einer Auflage in die andere forterbt.
Ich erlaube mir nun folgenden Vorschlag: In jeder Provinz tritt eine Kom-
mission zusammen, die festsetzt, 1. welche Regeln nach wie vor gelernt und im
Extemporale geübt werden sollen. 2. Welche Regeln nur gelegentlich erwähnt
und erklärt werden, wenn der betreffende Fall in der Lektüre vorkommt. Diese
Gruppe ist schon durch besonderen Druck kenntlich zu machen. 3. Welche Regeln,
Phrasen und Vokabeln endgültig aus den Lehrbüchern zu streichen sind.
Gerade daraus verspreche ich mir viel Anregung, daß in den verschiedenen
Provinzen gesonderte Kommissionen eingesetzt werden. Geht beispielsweise
die Kommission in Sachsen liberaler vor als in Schleswig-Holstein, so ließe sich nach
Jahren feststellen, ob durch das liberale Vorgehen die Leistungen im Lateinischen
herabgemindert sind.
Aufs strengste müßte es verboten werden, daß ein Lehrer das als Fehler an-
streicht, was die an der Schule eingeführte Grammatik als zulässig bezeichnet.
Eine Reihe von Sachen könnte gestrichen werden, andererseits würde an mancher
Stelle ein Zusatz in der Grammatik den Schülern Erleichterung bringen, z. B.
hie dieser und „letzterer", ipse selbst und ,, gerade", „direkt". Bei volo, nolo, malo,
bei piget, pudet usw., ferner bei fallit, fugit, praeter it müßte die Konstruktion des
abhängigen Satzes gleich dabei stehen. Diese Konstruktion will ich keineswegs
von den Quintanern und Quartanern verlangen, aber, wenn sie der Schüler der
unteren Klassen bei jeder Wiederholung liest, so geht sie ihm allmählich, ohne
jede Anstrengung, in Fleisch und Blut über.
Vor kurzem tauchte das Gerücht auf in der Presse, es sollte beim Abiturienten-
examen im Deutschen das Thema vom Provinzial-SchulkoUegium gestellt werden.
Ich würde es aufs freudigste begrüßen, wenn dieses Gerücht Wahrheit würde,
wenn man auch für das Lateinische dieselbe Neuerung einführte. Ein merkwürdiger
Zufall! In einem Vortrag im Winter 1910/11 hatte ich bereits diesen Vorschlag
gemacht. Sollte es technisch Schwierigkeiten bereiten, für sämtliche Abiturienten
einer Provinz ein Extemporale zu geben, so sollte man gelegentlich den anderen
Klassen eine gemeinsame Aufgabe stellen. Man könnte auf diese Weise feststellen,
302 R. Pappritz,
welches Gymnasium besseres, welches schlechteres als der Durchschnitt leistet;
Fehler im Unterrichtsbetrieb, die vielleicht seit Jahren und Jahrzehnten bestehen,
könnten aufgedeckt werden, der ganze Unterricht könnte neu belebt werden.
Welche Rolle spielt doch das Extemporale in der Schule und in der Familie ! Aufs
lebhafteste würdeich bedauern, wenn wir dem Beispiel Spaniens (!) folgten und
diese nützliche Übung abschafften. Aber die Zahl der Extemporalien, die die Lehr-
pläne von 1901 verlangen, ist nach meiner Erfahrung zu groß. Einem erprobten
Lehrer müßte es gestattet sein, wenn er sieht, das neu durchgenommene Pensum
ist von den Schülern noch nicht recht aufgenommen, an Stelle eines Extemporales
einige Sätze oder Formen ins- Diarium zu diktieren.*)
Auf lateinische Stilübungen wird noch immer übertrieben viel Zeit verwandt.
Noch immer gibt es Pädagogen, die verlangen, ein Schüler soll mit peinlicher Ge-
nauigkeit unterscheiden, ob cum autem oder sed curriy ob existimare oder reri zu
setzen ist. Sollten nicht manche Philologen in ihrer Genauigkeit zu weit gehen?
So streichen es mehrere Herren als Fehler an, wenn der Schüler bei locus „m"
setzt. Cicero war weniger streng als die Philologen des zwanzigsten Jahrhunderts;
denn in der vierten Rede gegen Verres, de signis, finden wir in den ersten 1 10 Para-
graphen die genannte Verbindung achtmal, in einem Paragraphen kommt sie sogar
zweimal vor. Bei Caesar vollends ist sie durchaus nicht selten, so finden wir sie
im fünften Buch des gallischen Krieges viermal. — Manchem Pädagogen erscheint
ein Abstraktum als subiect fehlerhaft. Wie häufig finden wir doch diese Aus-
drucksweise bei Caesar und Livius; z. B. bch. 23 cap. 17 dreimal; bei Cicero ist
es nicht selten, cfr. z. B. die erste Rede gegen Catilina, ferner ad. fam 5, 7;
ad. Att. 9, 5. — Vor kurzem wurde die Bestimmung erlassen, in
den Abiturientenextemporalien seien Knifflichkeiten, selten in der Lektüre
vorkommende Sachen, zu meiden, beispielsweise die abhängigen irrealen
Sätze. Die Herren, die in den Klassenarbeiten noch immer diese Kon-
struktion üben, wissen wohl nicht, wie selten sie im Lateinischen ist; so findet
sie sich in den vier katilinarischen Reden Ciceros nicht einmal, im 23. Buch des
Livius kommt sie einmal vor. In demselben Buch findet sich zweimal die Wen-
dung quod attinet ad. Diese streicht mancher strenge Lateiner als Fehler an; es
gibt eben auf allen Gebieten Leute, die päpstlicher sind als der Papst.
Betrachten wir jetzt die Lektüre, die nach den neueren Bestimmungen im
Mittelpunkt des Unterrichtes stehen soll. Nach meiner Erfahrung werden noch
immer Abschnitte verlangt, die besondere Schwierigkeiten enthalten, oder eine
solche Fülle seltener Vokabeln, so daß der Schüler das Lexikon gar nicht aus der
Hand legen kann. Der Oberbürgermeister von Halle, Dr. Rieve, hat am 27. Mai 1910
im Herrenhause über diesen Gegenstand gesprochen. Diese Rede verdient die Auf-
merksamkeit von uns Pädagogen; es ist doch wenig wahrscheinlich, daß ein Mann,
der in Preußen Oberbürgermeister einer Großstadt und Universitätsstadt wird,
im Herrenhause Behauptungen aufstellt, die jeder Grundlage entbehren. — Sehr
geeignet zum Auslassen ist beispielsweise Caesar bell. gall. bch. 6, Kap. 19, 1 — 2,
*) Die Arbeit wurde der Redaktion eingereicht, bevor die neue Bestimmung
über das Extemporale erfolgte.
Der lateinische Unterricht auf dem humanistischen Gymnasium. SOS-
Wird sich ein deutscher Tertianer für Heiratsgut, Zinsen u. dgl. interessieren?
Derartige Begriffe liegen seinem Ideenkreise so vollkommen fern. Kap. 27 des-
selben Buches ist ganz amüsant; es ist psychologisch interessant, daß sich ein
Genie wie Caesar derartige Märchen aufbinden ließ. Doch man übersetze ein solches
Kapitel den Schülern vor und verlange nicht, daß sie so seltene Vokabeln wie
fl/x, mütilüSy nodus, articulus, applicare, redinare aufschlagen. Wie hübsch ist
in Ovids Metamorphosen der Abschnitt über Phiiemon und Baucis; er wird auch
meistens Tertianern und Sekundanern gefallen. Doch hat es einen Zweck, auch
nur die Nachübersetzung der Schilderung des Mahles zu verlangen?! Ähnlich
steht es mit Vergils Aeneis II, Vers 203 u. f. Auch dieser Abschnitt muß vom Lehrer
vorübersetzt werden. — Nicht mehr zeitgemäß ist es, nach meiner Auffassung,
den Inhalt des Gelesenen vom Schüler in lateinischer Sprache zu verlangen. Mög-
lich, daß einige Herren durch diese Methode Erfolge erzielt haben, möglich, daß
es dem einen oder anderen gelungen, die ganze Klasse zur Mitarbeit heranzuziehen.
Meistens hört man das Gegenteil. Wenn eine Methode einmal erfolgreich war,
steht es nun dogmenartig fest, daß sie es für ewige Zeiten sein muß? Man prüfe
doch einmal, welche Resultate die Herren erzielen, die einen anderen Weg ein-
schlagen ! Wieviel Zeit kostet doch das Lateinsprechen, die Vorbereitung sowohl
wie die Ausführung, die für das Übersetzen bestimmte Zeit wird erheblich verkürzt.
Jede Unterrichtsstunde soll zugleich eine Übung im Deutschen sein. Wodurch
wird nun der Schüler mehr in seiner Muttersprache geübt, wenn er den Inhalt
lateinisch oder deutsch wiedergibt?!
Viele vergebliche Zeit wird, nach meiner Erfahrung, auf den Unterricht im
Horaz verwendet. Ich bin ein großer Freund des heiteren Sängers von Venusia,
aber unbedenklich würde ich aus dem Kanon eine ganze Reihe von Gedichten
streichen, die den Deutschen maßlos übertrieben, gekünstelt und schwerfällig
anmuten, so z. B. I, 2, 28, 35. II, 2. III, 24 u. "25, vor allem auch die lange
Rede der Juno III, 3. Besonderes Gewicht wird gewöhnlich auf die sechs Römer-
oden gelegt, obgleich es Horaz wiederholt ausspricht, daß er für diese Art Poesie
weniger veranlagt ist. Wenn ein Schüler z. B. weiß, daß III, 5 Regulus wegen
seiner Vaterlandsliebe verherrlicht wird, so genügt dies durchaus; zwecklos aber
ist es wohl, eine genaue, ins Detail gehende Inhaltsangabe zu verlangen, womöglich
schriftlich und mündlich. Ein derartiges Wissen von Einzelheiten kann gar nicht
festgehalten werden, wird auch beim Examen niemals verlangt; welchen Zweck
hat es nun, daß sich ein Schüler auf kurze Zeit mit Mühe Einzelheiten einprägt,
durch das Hinschreiben von Inhaltsangaben Augen und Schrift verdirbt?! Bei
einer ganzen Reihe von Gedichten soll der Schüler wissen, wann sie entstanden
sind; von vielen Männern, die Horaz gelegentlich erwähnt, wird eine Biographie
verlangt, womöglich das Jahr, in dem der Betreffende das Konsulat bekleidet.
Es wäre an der Zeit, daß hier einmal gründlich Wandel geschaffen würde. Es mag
bei dieser oder jener Gelegenheit gestattet sein, auf das griechische Original, das
dem Horaz vorgelegen, kurz einzugehen, aber im allgemeinen gehört der Vergleich
mit den griechischen Dichtern in das philologische Seminar der Universität, nicht
in die Prima des Gymnasiums. Wir Pädagogen müssen die ars tacendi üben; in-
dem wir selbst das Wichtige vom Unwichtigen scheiden, werden wir den Schülern
304 R. Pappritz, Der lateinische Unterricht auf dem humanistischen Gymnasium.
wenigstens eine Anleitung geben, dies zu tun. — Eine meiner Lieblingsoden ist
I, 7. Bei der Durchnahme dieses Gedichtes hängt in meinem Unterricht eine Karte
der alten Welt an der Wand. Die erwähnten Städte werden aufgesucht, von man-
chen etwas erzählt, z. B. vom Tempetal. Dieser von den Alten so oft verherrlichte
Erdenfleck ist auch nach modernen Anschauungen schön, weil der Peneus sich
schäumend zwischen den Bergen hindurchwindet, und die grünen Platanen sich
malerisch abheben von den roten Felsen. Ich gehe ferner ein auf das Tivoli der
Gegenwart, zeige, wenn möglich, eine Photographie des Tempels. Nicht unzweck-
mäßig erscheint es mir auch, aus einer Reisebeschreibung vorzulesen; Heinse z. B.,
der Dichter des Ardinghello, hat am Ende des achtzehnten Jahrhunderts Tivoli
schwungvoll und anschaulich geschildert. Völlig verfehlt aber erscheint es mir,
weil hier zufällig ein Plauens erwähnt wird, eine ausführliche Biographie dieses
Mannes zu geben. Bei der Durchnahme von I, 31 hängt eine Photographie des
Apollo von Belvedere an der Wand, ich erzähle den Schülern ein wenig von der
Einrichtung römischer Bibliotheken (in den mit dem Tempel verbundenen Säulen-
hallen waren die ersten Bibliotheken Roms aufgestellt). Aber hat es auch nur einen
Schein von Berechtigung, von den Schülern zu verlangen, daß jener Tempel im
Jahre 28 geweiht ist? Ich hatte bei meinem Horazunterricht durchaus Zeit, eine
ganze Reihe von Gedichten Catulls zu lesen. Die Ausgabe von Biese leistete mir
treffliche Dienste. — Bei der Lektüre der antiken Schriftsteller muß man auf die
Gegenwart Bezug nehmen, dieses Verfahren fördert ungemein die Anteilnahme
der Schüler. In der Untersekunda dispensierte ich einen guten Schüler, bei der
Lektüre von Vergils Aeneis, vom Präparieren auf einige Zeit, dafür mußte er uns
einen Abschnitt der Schillerschen Übersetzung deklamieren. Ein anderer Schüler
in der Oberprima wurde bei der Lektüre von Ciceros Rede de signis auf einige
Zeit vom Präparieren befreit und hielt uns dafür einen Vortrag ,,Aus dem
Sizilien der Gegenwart".
Noch immer wird viel Zeit verschwendet auf das Diktieren von Biographien.
Soviel ich weiß, ist das Diktieren überhaupt verboten, und wenn dies nicht der
Fall ist, so sollte es möglichst bald verboten werden. Wenn ich z. B. in der Unter-
prima Tacitus annales lese, so werde ich doch nie und nimmer von der ersten zur
zweiten Stunde die Biographie dieses Autors aufgeben, sondern den Schülern den
Unterschied von annales und historiae klar machen. Wenn sie dies verstanden,
werde ich sagen, welchen Zeitraum jedes der Werke umfaßt, erst wenn dies alles
in Fleisch und Blut übergegangen ist, werde ich die übrigen Werke aufzählen.
Quaerendo docere müßte noch mehr geübt werden. Streicht man beim Unterricht
in den alten Sprachen das Unnötige, beseitigt man eine zeitraubende Methode,
so wird dadurch, ohne daß die Leistungen in diesen Fächern
beeinträchtigt werden, Zeit gewonnen für andere Lehrgegenstände,
beispielsweise könnte die Zahl der Geschichtsstunden in Oberprima um eine ver-
mehrt werden. Der Lehrer hätte auf diese Weise wirklich Zeit, auf die Bürgerkunde
einzugehen und in der Geographie mit ganz anderer Gründlichkeit als bisher
Repetitionen zu veranstalten. So häufig hört man klagen, daß Deutschland keinen
Platz an der Sonne hat. Vielleicht liegt dies zum Teil daran, weil auf der Schule
bei den jungen Deutschen so gar kein Interesse für die außereuropäischen Erd-
F. Heinrich, Französischer Sprachunterricht. 305
teile geweckt wird. Jeder muß doch zugestehen, daß eine ganze Reihe von Ländern
in den letzten Jahrzehnten eine Bedeutung gewonnen hat, die sie früher nicht
besaßen. Sollen nun nach wie vor die Schüler der oberen Klasse von diesen Län-
dern — z. B. Argentinien, Japan, China, Nordküste von Afrika — nichts oder
so gut wie nichts erfahren? Werden ihnen Feinheiten der lateinischen Stilistik
oder Einzelheiten aus den Rönieroden wirklich ein Ersatz dafür sein? Wir Lehrer
sollten uns neben dem ermüdend oft gesagten: „non scholae sed vitae discimus''
auch bisweilen sagen: „non scholae sed vitae docemus'\
Naumburg a. S. R. P a p p r i t z.
Französischer Sprachunterricht.
Die direkte Methode.
Von dem früheren Direktor des französischen Gymnasiums in Berlin, Dr.
Schnatter, konnten seine Primaner öfters die Mahnung hören: A quoi vous servent
toutes vos itudes, si vous n'apprenez pas ä penser ! Manchem wollte es wohl nicht recht
in den Sinn, daß das Denken, 'eine scheinbar so natürliche Funktion, lernbar
sein sollte, dennoch hat jener Satz recht, wenn man apprendre ä penser in dem
Sinne einer Übung in klarer und treffender sprachlicher Formulierung nimmt.
Dieser Übung begegnet der Deutsche, der sprachlichen Unterrichtsstunden in
Paris beiwohnt, fortwährend. Zunächst bei den Lehrern. Er hört sie in tadellos
geformten Sätzen, in allzeit sicherer Diktion sprechen. Dann nimmt er mit Er-
staunen und Genugtuung wahr, daß auch die Schüler ihre Antworten, selbst längere
Zusammenhänge, in ähnlich korrekter Form und fast immer ohne zu stocken geben.
Der Lehrer duldet nicht Antworten in einzelnen Worten oder Satzfragmenten,
sondern zwingt die Knaben, den einmal begonnenen sprachlichen Akt zu Ende
zu führen, ein Zwang, der sich übrigens kaum bemerkbar macht, da der natürliche
Nachahmungstrieb der Schüler das Gewünschte fast von selber leistet, wenn ihnen
nur der Lehrer durch sein eigenes Sprechen ein gutes Beispiel gibt. Dann stellt sich
eine Gewöhnung an Sauberkeit der Sprache ein. Solche Gewöhnung habe ich bereits
in einer Sexta, wo die Schüler seit einem halben Jahre Deutsch hatten, beobachtet.
Diese kleinen Jungen — am lycee Montaigne in Paris — gaben schon Antworten
in ganzen deutschen Sätzen, was dem deutschen Obertertianer so schwer wird.
In den Klassen Sexta bis Quarta wurde dort mit der direkten Methode, durch
beständige Konversation, ein natürlicher Gebrauch der deutschen Sprache ange-
bahnt, in dem Sache und Wort, Anschauung und Ausdruck bei den besseren Schülern
schon automatisch verbunden waren. Ich habe in diesen Klassen des lycee Mon-
taigne kein französisches Wort in den deutschen Stunden gehört. Nicht die Sprache
„an sich" wurde gelehrt, sondern die Sprache als mündliches Ausdrucksmittel
für bekannte Vorstellungen, in den höheren Klassen für selbstgebildete Urteile.
Nicht auf Einlernen sprachlicher ,, Kenntnisse" ist in Frankreich der Unterricht
in den lebenden Sprachen angelegt, sondern auf Gewöhnung in der mündlichen,
erst in den oberen Klassen schriftlichen, Handhabung der lebendigen Sprache,
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 20
306 F. Heinrich,
nach dem Grundsatz: Des connaissances s'acquierent facilement et se perdent de
mime; des habitudes sont lentes ä s'äablir, mais sont durables. Wenn eine so treffliche
Grundlegung im deutschen Unterricht in Frankreich allgemein wäre, sollte man er-
warten, daß die französischen Primaner es zu einer bedeutenden Fertigkeit im Hand-
haben des Deutschen bringen, und in der Tat schien mir diese Fertigkeit in einer
premiere supirieure die unserer Oberrealschul-Primaner im Französischen zu über-
treffen, aber freilich war diese premiere superieure, wie ihr Lehrer sagte, die in
Paris versammelte Elite von ganz Frankreich.
Die direkte Methode bringt es mit sich, daß der Lehrer sehr viel spricht,
und die Schüler leicht zu wenig zu Wort kommen. In diesen pädagogischen Fehler
verfielen alle Lehrer, die ich in Paris an drei Schulen habe unterrichten hören.
Sie fragten wohl, richteten aber ihre Fragen fast immer an die ganze Klasse, und die
Antworten erfolgten freiwillig oder der Lehrer verzichtete ganz darauf. Wenn
man aber auch nur selten Gelegenheit hatte, die Schüler sprechen zu hören, so
trat doch ihre Bereitschaft zu antworten und ihre Gewandtheit im Ausdruck nur
um so überraschender hervor: unterstützt allerdings durch ihre angeborene sprach-
lich-geistige Regsamkeit, hatte die direkte Methode sie an rasches Erfassen des
Gehörten und an mutiges Ausdrücken des Selbstgedachten gewöhnt. Wie oft mußte
man in diesen Stunden an den Mangel an sprachlicher Selbsttätigkeit denken,
der in unseren deutschen Klassen herrscht, an deutsche Primaner, die nicht dazu
zu bringen sind, sich in ordentlichen französischen Sätzen zu äußern!
Die beiden wichtigsten Vorwürfe, die der direkten Methode gemacht werden,
sind bekanntlich, daß sie zur Spielerei mit der Sprache führe, zu einem Pariieren
nach Art der alten Sprachmeister, und ferner, daß sie nicht die notwendige gram-
matische Korrektheit erziele. Der erste dieser Vorwürfe richtet sich meines Erachtens
gegen den Lehrer, nicht gegen die Methode, und in dieser Ansicht hat mich das
an französischen Schulen Gesehene bestärkt: ein Stück Lektüre, sich der fremden
Sprache bedienend, mit den Schülern in mündlicher Besprechung durcharbeiten,
das ist keine Spielerei, sondern eine in allen Klassen ernste, instruktive, schwere
Aufgabe. Es kommt nur darauf an, daß sie als solche wirklich aufgefaßt wird,
daß dabei Inhalt und Form mit peinlicher Genauigkeit im Detail vom Lehrer
behandelt werden, wie wir das in französischen Schulen sehen können.
Über das Maß von grammatischer Korrektheit, welches der deutsche Unter-
richt nach der direkten Methode in Frankreich erreicht, darf ich mir kein Urteil
erlauben. Man sucht dort, wie mir von mehreren Seiten versichert wurde, nach
einem Mittelwege, auf dem man dazu kommen möchte, beiden Anforderungen,
dem freien Gebrauch der Sprache und der grammatischen Korrektheit, zu genügen.
Die gegenwärtige Inspection generale de Tinstruction publique vertritt unbedingt
die direkte Methode im Unterricht der lebenden Sprachen. Der Unterricht soll
sich dabei in der Progression: Sprechen, Lesen, Schreiben bewegen, so daß in den
unteren Klassen das Sprechen, in den mittleren das Lesen, in den oberen das Schreiben
das Hauptziel ist, ohne daß natüriich auf jeder Stufe ausschließlich eins gepflegt
werden soll. Man ist überzeugt, daß bei voller Anwendung der direkten Methode
die wünschenswerte grammatische Korrektheit vollkommen erreichbar sei.
Französischer Sprachunterricht. 307
Die Übersetzung.
Die zusammenhängende Übersetzung aus der Muttersprache in die fremde
soll in Frankreich erst in den oberen Klassen kultiviert werden. Es wird für zweck-
widrig gehalten, sie früher, als Mittel zur Einübung der Grammatik, anzuwenden.
Erst, wenn der Schüler in den Formen sicher, mit dem mündlichen Gebrauch der
fremden Sprache einigermaßen vertraut ist, soll er in der Übersetzung, sowohl aus
der fremden, wie in die fremde Sprache, Sprachvergleichung treiben. Das Über-
setzen wird sehr weise als die schwerste, nur dem reifsten Schüler zugängliche
Aufgabe, als die fine fleur des Sprachbetriebes, aufgefaßt. Es verlangt Verständnis
stilistischer Unterschiede, setzt eine erhebliche Fertigkeit im Umgehen mit dem
fremden Idiom voraus, lehrt den angehenden Studenten den Geist zweier Na-
tionalitäten vergleichen.
Die Übersetzung aus der Muttersprache hindere, so meint man in Frankreich
mit Recht, die Sache mit dem Wort der Fremdsprache direkt zu verbinden, indem
sie das Wort der Muttersprache dazwischenstellt, sie hindere den automatisch
richtigen Gebrauch der fremden Sprache, halte sie dem Schüler als etwas ewig
Fremdes fern, statt sie ihm vertraut zu machen. „5/ l'äeve doW\ sagt der Dezer-
nent für die lebenden Sprachen M. Hovelaque, „chaque fois qu'il prend la parole,
faire un effort musculaire conscient pour bien prononcer chacun des mots qu'il emploie,
un effort conscient de memoire pour en retrouver la signification precise, Vemploi
exacty un effort conscient de reflexion pour appliquer teile regle de grammaire afin
de les associer correctement, il balbutiera, il ne parlera pas. Si le mot de la langue
maternelle est partout derriere le mot äranger, il en faussera la prononciation, le sens,
l'emploi/' Die Wahrheit dieser Betrachtung können wir täglich in unserem fran-
zösischen Unterricht erproben. Immer, bis in die Prima hinein, bleiben die Schüler
am Deutschen kleben. Selten kommen sie, mündlich wie schriftlich, über ein
kümmerlich dem Deutschen abgerungenes Französisch, über den Germanismus
— diese Qual des korrigierenden Lehrers — hinaus. Beim Übersetzen aus der Mutter-
sprache lernt der Schüler, so ist die französische Ansicht, die Wahrheit vermittelst
des Irrtums, das sprachlich Richtige durch Fehlermachen. Das läßt bei ihm nie
jenes Gefühl der Sicherheit aufkommen, das er beim direkten Anwenden ihm
geläufiger Ausdrücke der fremden Sprache hat. Der rechte Weg ist es daher, ihn
an freie Imitation und an eigene Initiative im Sprechen und Schreiben zu ge-
wöhnen. Daher ist auch der Gebrauch von Lexikon und Grammatik bei der Ab-
fassung schriftlicher Arbeiten methodisch falsch, da sie den noch nicht kritikfähigen
Schüler verwirren und in Unselbständigkeit halten. Diese Art des Arbeitens und
Übersetzens führt zu einem mechanischen Gebrauch der Worte, zu einem
leeren Wortkram, ohne die innere Anteilnahme des Schülers, die eben nur an der
Sache haftet. — Was die Übersetzung angeht, so ist also das französische Prin-
zip: Niemals darf sie Ziel des Unterrichts sein. Sie ist nur ein Mittel der Geistes-
kultur, aber keins, eine fremde Sprache zu erlernen. In deren Besitz gelangt man
nur durch Imitation und durch eigenes Nachdenken.
Die Lektüre.
Alles kommt bei der Lektüre darauf an, daß der gelesene Text vom Schüler
wirklich assimiliert wird. Der natürliche Anfang dieser Assimilation ist sinn-
20*
308 F. Heinrich,
gemäßes Lesen. Auf richtige Betonung, auf sinngemäße Gliederung beim Lesen
wurde daher in allen Stunden, denen ich in Paris beiwohnte, außerordentlich viel
Gewicht gelegt. Schon die Quintaner leisteten darin sehr viel. Man merkte, daß
das gute Lesen keine Abrichtung war, sondern aus dem Verständnis entsprang,
daß nicht Worte, sondern Sachen gelesen wurden. Charakteristisch für die Be-
handlung der Lektüre an französischen Schulen ist es bekanntlich, daß die Stunden
keineswegs mit Lesen und Übersetzen ausgefüllt werden, sondern daß der Text
nach jeder Richtung — sachlich, logisch, grammatisch, ästhetisch — besprochen
wird. Eine solche Lektürestunde ist also eine conversation autour d'un texte. Diese
Konversation soll die Abhängigkeit des Schülers vom Buch, dessen einschläfernden
Einfluß — der ja freilich auch zum höchsten Grade der Unabhängigkeit führen
kann — paralysieren. Es ist leicht, sich zu überzeugen, wie ersprießlich solches
Verfahren ist. Man lasse, nachdem ein Stück gelesen ist, das Buch schließen und
frage nach dem Inhalt des eben Gelesenen. Die Antwort wird meist erhebliche
Schwierigkeit machen. Eine Assimilation des Inhalts ist bei den meisten Schülern
nicht erfolgt, daher seine Reproduktion unmöglich. Würden aber in diesem Punkte
wirkliche Anforderungen an die Schüler gestellt, so dürfte sich daraus eine Unter-
lage für die Zensur ergeben, deren wir, nach der Einschränkung des Extemporale-
betriebes, für die mündlichen Leistungen mehr als früher bedürfen.
Im Mittelpunkt der Besprechung des Lektüretextes steht das einzelne Wort,
in allen seinen Beziehungen, besonders in den synonymischen. On pari sur la piste
d'un mot. On fait une petite enquete autour d'un mot. Es wird praktische Synonymik
betrieben und durch Übung im Differenzieren der Grund zu jenem feinen sprach-
lichen Unterscheidungsvermögen und zu jener Treffsicherheit des Ausdrucks ge-
legt, die die Franzosen auszeichnen.
Die Persönlichkeit des gelesenen Autors sucht man den Schülern durch Inter-
pretation seines Denkens und durch biographisches Detail nahe zu bringen. Das
kann der französische Lehrer besser als der deutsche, weil er bekanntlich nur in
einem Fache und nur sechzehn Stunden wöchentlich unterrichtet, also Zeit hat,
sich in seine Autoren zu vertiefen und mit ihnen zu leben. Wenn er mit seinen
Primanern Goethe liest, so geschieht es in aller Muße. Es ist dann, als gäbe es keine
deutsche Literatur außer Goethe. Der Lehrer wird nicht durch Pensenforderungen
gestört, die ihn zwingen, einen abfragbaren Wissensstoff einzupauken. Sein Ziel
ist: Cultiver Vesprit en itudiant la pensee allemande. Den Besitz eines auch nur
in den Hauptsachen möglichst vollständigen literaturgeschichtlichen Wissens
hält die französische Unterrichtsverwaltung für völlig überflüssig. Mögen die
Schüler wenig wissen, wenn sie nur das wenige „gut wissen", sich assimiliert haben.
Dieser Geringschätzung des vollständigen und des äußerlichen Wissens entspricht
es, daß von Autoren, die der Schüler nicht gelesen hat, überhaupt nicht gesprochen
wird. Wozu auch? Er könnte doch nicht selbst urteilen, und das Urteil des Lehrers
einfach zu übernehmen und kritiklos zu seinem eigenen zu machen, das mutet
man ihm nicht zu.
Sprachliche Kultur.
Im Lektürebetrieb wie im Sprachbetrieb wird in französischen Schulen der
einzelne Ausdruck, das begriffliche, phraseologische, stilistische, synonymische
Französischer Sprachunterricht. 309
Detail mit größter Wichtigkeit behandelt. Es wird ein Kultus des Wortes getrieben,
der den Schüler zum Respekt vor der Sprache erzieht. Er wird gewöhnt, sie als
etwas Edles sorgfältig zu gebrauchen; das wird ihm zur Ehrensache, und klares,
treffendes Sprechen zur zweiten Natur. Jeder gute Ausdruck, den er findet, wird
vom Lehrer gelobt. Lob erzeugt Zufriedenheit, und aus ihr entspringt die geduldige
Aufmerksamkeit, mit der die französischen Schüler dem erklärenden Vortrag
ihres Lehrers folgen. Sie bedürfen weniger als unsere deutschen Jungen der Frage-
peitsche, die bei uns das wichtigste Mittel ist, Aufmerksamkeit und Disziplin auf
der Höhe zu halten. Der deutsche Schüler scheint mir in den Sprachstunden minder
selbsttätig, vor allem minder interessiert zu sein, als sein französischer Kamerad.
Das mag zum Teil größere natürliche Schwerfälligkeit sein, zum Teil aber liegt es
sicherlich daran, daß unsere Jungen nicht in dem Grade wie die französischen
zum Interesse am Gedanken und dessen sprachlicher Form erzogen werden. Bei
uns herrscht eine gewisse Gleichgültigkeit in sprachlichen Dingen. Sie scheut vor
der ernsten Anstrengung sprachlichen Gestaltens zurück und führt zu jenem Habitus
des Unklaren, des Halben, des Unpersönlichen, welchen die sprachlichen Äußerungen
unserer Primaner zeigen. Ein Blick in französische Sprachstunden zeigt, daß auf
höheren Lehranstalten mehr sprachliche Kultur erstrebt werden kann, als wir sie
in deutschen Schulen erreichen. Sprachstutzigkeit, Unklarheit, Gleichgültigkeit
gegen den Ausdruck sind Dinge, die man bei unseren Nachbarn nicht leicht antrifft.
Die Voraussetzung für solche sprachliche Erziehung ist natürlich das vortreffliche
Beispiel, welches der französische Lehrer selbst im Sprechen gibt. Es ist in der
Tat bewundernswert und ladet uns deutsche Kollegen zur Nacheiferung ein. Es
ist ja eine triviale Weisheit, daß man selbst gut sprechen muß, um das Recht zu
haben, von seinen Schülern gutes Sprechen zu erwarten, aber ich glaube, daß wir
doch Veranlassung haben, uns dieser Wahrheit zu erinnern. Gut formulierte Sätze
und Zusammenhänge von Sätzen sicher vortragen hören und selbst mit gutem
Gelingen produzieren, das ist dem Schüler eine Freude und eine Befriedigung,
die dem grammatischen und dem Übersetzungsbetrieb fehlt. Durch solches Können
wird €r sich intellektuell und ästhetisch gehoben fühlen. Nur in dieser Leistung des
Handhabens, Formens, Produzierens scheint mir der positive und dauernde, auf
dem Verständnis der Lektüre beruhende, Gewinn beim Erlernen einer lebenden
Sprache zu liegen. Korrektheit in den grammatischen Formen ist allerdings un-
erläßlich, sie bleibt aber ein, wenn auch notwendiges, so doch elementares Ergebnis,
ein „negatives Verdienst" und darf ebensowenig wie die Fertigkeit im Übersetzen
zum Ziel des Unterrichts werden. Es ist doch betrübend und bedenklich, daß wir
bei unserem Betriebe in einem Zeitraum von neun Jahren, bis in die Oberprima
hinein, aus dem Fehlermachen und Fehlerkorrigieren so wenig herauskommen,
daß selbst der Oberprimaner, bei allen stilistischen Belehrungen, die er empfangen
mag, nicht imstande ist, einige einfache, aber sichere französische Sätze leicht
hintereinander zu sprechen oder zu schreiben. Im Wissen um die Sprache mag er
es weit gebracht haben, in ihrem Gebrauch steht er auf einer erschreckend rudi-
mentären Entwicklungsstufe. Das würde nicht so schlimm sein, wenn seine Sprech-
fähigkeit durch die ganze Schule hindurch besser für die fremde Sprache aus-
genutzt würde. Aller Methodenstreit wird vor der Tatsache Halt machen müssen.
310 A. Tilmann, Die Friedrich Althoff- Stiftung.
daß der Tertianer an sachlichen, mit genügender Beherrschung der fremden Sprache
seitens des Lehrers vorgenommenen Sprechübungen sich mit einem Feuereifer
beteiligt. Der sollte nicht unausgenutzt bleiben, denn in ihm offenbart sich das
Grundelement alles sprachlich-intellektuellen Könnens, die Spontaneität. „Geistige
Kräfte, Kräfte des Sehens, Urteilens, Denkens können nur durch spontane Betäti-
gung zur Entwicklung gebracht werden, nicht durch Zwang und Drang, durch Aus-
wendiglernen und Verhören," sagt Paulsen. Diese Spontaneität des Interesses
und der Ausübung haben die Franzosen und pflegen die Franzosen mehr als wir.
Sie stecken dem Unterricht in den lebenden Sprachen als Ziel die Bildung und das
Können, und im Dienste dieses Zieles nur stehen Wissen und Korrektheit. Lassen
wir der grammatischen Korrektheit ihr Recht, aber dulden wir nicht, daß sie, als
oberstes Prinzip herrschend, dem Sprachbetrieb das freie Können und damit den
Adel nehme.
Berlin. Fritz Heinrich.
Die Friedrich Althoff-Stiftung.
Die Friedrich Althoff-Stiftung hat im Rechnungsjahre 1911 große Fortschritte
gemacht. Am 31. März 1911 betrug die Zahl der Mitglieder 1989, ein Jahr später
ist sie auf 3346 gestiegen. Es hat also eine ganz erhebliche Vermehrung der Mit-
glieder stattgefunden. Im Jahre 1910 wurden 68 Personen, im Jahre 1911 79 Per-
sonen unterstützt und die hierzu verwendete Summe betrug 21 475 M. gegen
19 925 M. im Vorjahre. Das Kapitalvermögen, welches am 31. März 191 1 174 000 M.
betrug, ist auf 189 000 M. gestiegen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß
der in das Jahr 1911 übernommene Barbestand 9848 M. betrug, während der
Barbestand Ende März 1911 sich auf 4418 M. beläuft.
Die Entwicklung, welche die Friedrich Althoff-Stiftung genommen hat, kann
hiernach als eine sehr erfreuliche bezeichnet werden. Im Hinblick auf den Zweck
dieser segensreichen Stiftung ist dies sehr zu begrüßen; nicht zum geringsten ist
das Verdienst daran den Provinzialvereinen der akademisch gebildeten Lehrer
und ihren Vorsitzenden zuzuschreiben, die sich für die Stiftung sehr interessiert
und zu ihrer Förderung wesentlich beigetragen haben.
Berlin-Lichterfelde. A. T i 1 m a n n.
II. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Zur deutschen Literaturgeschichte.
Im VIII. Jahrgang dieser Monatschrift (1909, S. 446 f.) habe ich zuletzt über
die Hefte 12—27 der großen „Illustrierten Geschichte der deut-
schen Literatur** von Anselm Salzer (München, Allgem. Verlags-
gesellschaft) berichtet, nachdem ich im Jahrgang III (1904, S. 470f.) die vor-
aufgehenden elf gewürdigt hatte. Jetzt — im Oktober 1911 — ist das Riesen-
unternehmen, das anfangs auf 20 — 25 Lieferungen ä 1 M. berechnet war, bis zu
44 Lieferungen und zwar bis zu W. Raabe (Seite 1852!) gediehen. Die Lieferungen
28 — 44 sind folgendermaßen gegliedert: Achte Periode. 3. Abschnitt: Der
Göttinger Dichterbund. 4. Der junge Goethe und sein Freundeskreis. 5. Der
junge Schiller. — Blüte der Kunstdichtung: 1. Goethes erstes Jahrzehnt in Weimar.
2. Goethe in Italien und nach seiner Rückkehr. 3. Goethe und Schiller. 4. Goethe
und Schillers dichtende Zeitgenossen. Neunte Periode. Entwicklung und
Ausgang der Romantik (1798— -1830). Deutschland in seiner Erniedrigung. Die
Freiheitskämpfe und Anläufe zur Neugestaltung. 1. Wesen und Bedeutung der
Romantik. 2. Die Dichter der Romantik: a) die Frühromantiker, b) die Heidel-
berger Romantiker, c) Norddeutsche Romantiker. 3. Die Dichter der Befreiungs-
kriege. 4. Das Schicksalsdrama. 5. Goethe und die Romantik. Der alte Goethe.
6. Der schwäbische Dichterkreis. 7. Die österreichischen Dichter. 8. Neben- und
Gegenströmungen der Romantik. Zehnte Periode. Von der französischen
Revolution (1830) bis zur Gegenwart. Die Literatur als Ausdruck des wirklichen
Lebens. 1. Zwischen den Revolutionen (1830—48): a) das junge Deutschland
und die politische Lyrik, b) Nachwirkung Jungdeutschlands und der Romantik.
Wir halten einmal an ! Um einen Begriff davon zu geben, was für Literatur-
Regimenter Salzer aufmarschieren und welchen unnötigen Bücherstaub er auf-
wirbeln läßt, nenne ich die Namen derer, die in dieser Abteilung zu einem un-
endlich bunten und wirren Strauß zusammengereiht werden: Gottschall, Jordan,
Waldau, Strodtmann, Strachwitz, Endrulat, Kinkel, Redwitz, Roquette, Wolfg.
Müller von Königswinter, Simrock, Becker, Pape, Putlitz, Böttger, Rodenberg,
Hörn, Petersen, Gruppe, Bechstein, Bube, Pfarrius, Stolterfoth, Kaufmann, Schnez-
ler, Stöber, Zingerie, Thaler, Hoffbauer, Sailer, Dreves, Blume, Luise Hensel,
Diepenbrok, Geissei, v. d. Heide, Vogt, Waldburg, Zeil,' Smets, Waldeck, des Bordes,
312 A. Biese,
Bornstedt, Schlosser, König Johann, Piringer, Morel, Spitta, Moraht, Garve,
Dörings, v. Meyer, Langen, Stier, Hagenbach, Möwes, Knak, Barthel, v. Strauß,
Sturm, V. Heyder.
Da muß dem Leser doch schwindelig werden, mag er auch sonst durch den
milden versöhnlichen Geist, den weiten Blick, die Anmut der Darstellung, die
Wärme der Gesinnung sich angesprochen fühlen. Wer einen solchen gewaltigen
Stoff meistern will, wie ihn die Geistesgeschichte eines Jahrhunderts darbietet, der
muß das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden wissen und die Kunst des
Vergessens, des Beiseiteschiebens üben. Was soll das deutsche Haus, was die deut-
sche Jugend mit solchem Wust von Namen und Daten anfangen? Werke aber,
die bloß Nachschlagewerke sein sollen, müßten ganz anders gestaltet werden als
dieses. Man bedauert aufrichtig diesen Hauptmangel eines so großartigen, von
ungeheurer Belesenheit und ungeheurem Sammelfleiß zeugenden, in Druck*) und
Bildwerk und in Beilagen ganz vorzüglich ausgestatteten Werkes — auch ist der
Preis, der für jedes einzelne Heft verhältnismäßig nicht zu hoch ist, nach dem
Schluß des Ganzen nur für wenige zu erschwingen. Wer gibt denn heute noch
50 — 60 M. für eine deutsche Literaturgeschichte aus?
Wir fahren in der Inhaltsangabe fort: 2. Von den Revolutionsjahren bis zur
Gründung des deutschen Reiches (1848 — 71). Rückkehr zur Kunst, a) Der poe-
tische Realismus. — In diesem Abschnitt werden abgehandelt: Die Wissenschaft
unter dem Zeichen des Realismus (auch Pessimismus); der historische Roman:
Willibald Alexis; der kulturhistorische: Wilh. Meinhold; der ethnographische:
Sealsfield, Gerstäcker, Bibra, Strubberg, Ruppius, Schorn, Weill, Nicol, Ernst,
Kompert, Steub, Schmid, Silberstein, Noe, Stifter, Annette v, Droste, Hebbel,
Ludwig, Freytag, Reuter, Brinckmann, Groth, Storm, Raabe. — Man sieht,
es werden Gestalten ans Licht gezerrt, deren Wirkung heutigen Tages durchaus
nicht mehr lebendig ist. Auch sonst ist die Darstellung viel zu wortreich und weit-
schweifig; Alltägliches und Selbstverständliches, immer Wiederholtes drängt sich
vor; die künstlerische Gestaltung, die vor allem Verdichtung und Vertiefung sein
muß, fehlt; manche ganz unbedeutende Schriftsteller nehmen den großen Luft
und Licht; so kommt z. B. E. T. A. Hoffmann nicht zu seinem Recht. Doch die
Mehrzahl der wirklich für ihre und die nachfolgende Zeit einflußreichen Dichter
ist mit Sachkenntnis, gesundem Urteil gewürdigt worden, und wenn auch der
katholische Standpunkt (namentlich auch in der Heranziehung manches Un-
bekannten) sich nicht verkennen läßt, so drängt er sich doch fast nirgends störend
auf; warme Worte widmet er der Duldung und Humanität S. 1202. — Jedenfalls
ist Salzers Werk im großen und ganzen eine Achtung gebietende Leistung ernstester
Gelehrsamkeit und jenes Gerechtigkeitssinnes, der den Forscher auch bei den in
Religion und Sittlichkeit „anders Geführten" und Widerstrebenden nicht ver-
*) Druckversehen sind selten und zumeist unerheblich. S. 1055, Z. 10 v. u. lies
Reife statt Reise. 1073, Z. 5 v. u. Ut mine Festungstid statt Stromtid. 1085, Z. 18 v. u.
Treptow statt Trepnow. 1114, Z. 10 v. o. am entzücktesten statt entzückendsten. 1117,
Z. 1 V. o< Philanthropins statt Phiiantropins. 1121, Z. 9 v. o. Geßner statt Gaßner.
1213, Abs. 3 Zueignung statt Zuneigung usw.
Zur deutschen Literaturgeschichte. 313
lassen darf. — Der Reichtum und die Trefflichkeit der Beigaben dieser Literatur«
geschichte spotten jedes Vergleiches.
Wenden wir uns den „Reden zur Literatur- und Univer-
sität s g e sc h i c h t e, Von ErichSchmidt" (Berlin, Weidmann 1911,
120 S., geh. 2,40 M.) zu, so finden wir sogleich in dem bewundernswerten Aufsatze
über „die literarische Persönlichkeit'* Bundesgenossenschaft gegen die Überfülle
kleiner Geister, die Salzer heranzieht, sowie gegen jene Monographien, die künstlich
eine kleine Seele zu einer bedeutungsvollen emporschrauben („und schließlich nur
von dem Verfasser und seinem Setzer völlig gelesen werden") in dem Satze: ,,Wer
keine Persönlichkeit ist, hat in der Literaturgeschichte wie überall nur Anspruch
auf eine Statistenrolle"; und: „Wir haben jeden Dichter zu fragen, wieweit er
an der Entdeckung neuer Welten in uns, um uns, über uns oder auch nur bisher
unbeachteter Winkel beteiligt war, ein Pfadfinder oder bloß ein Trabant." — Die
glänzende Art der Betrachtungs- und Darstellungsweise E. Schmidts brauche ich
nicht mehr zu rühmen; sie ist über jedes Lob erhaben. Jeder Satz ist wie gemeißelt;
er birgt in möglichst großer Knappheit eine solche Fülle von Wissen, ein solches
Maß von Scharfsinn, daß man unwillkürlich innehält, verweilt, um sich keine
Beziehung und Pointe und keine Nüanze entgehen zu lassen; da funkelt und blitzt
alles. In diesem Aufsatz zeigt er besonders glänzend die literarische Porträtkunst,
ob er die Mitarbeiter der Allgem. Dtsch. Biogr., ob er Gervinus, Hagen, Strauß
u. a. kennzeichnet. Er weist Taine mit der — übrigens nicht originellen — Milieu-
theorie (le race, le milieu, le moment) in seine Schranken zurück und drückt die Auf-
fassung der literarischen Persönlichkeit bei seinem unvergeßlichen Meister Wilhelm
Scherer mit den Schlagworten des Ererbten, Erlebten, Erlernten aus, nicht ohne
des — nun, wo ich dies schreibe, auch in hohem Alter und doch zu früh dahin-
gegangenen — Wilhelm Dilthey und seiner epochemachenden Schriften zu gedenken;
und ich bin sicher, daß deren Ruhm mit der zeitlichen Entfernung von ihnen pro-
portional und stetig wachsen wird. Schmidt lehnt mit vollem Recht die über-
triebene Ausnutzung einer Verwandtschaft zv/ischen Genie und Wahnsinn ab und
verwirft die neuerdings beliebten Krankheitsdiarien, zumal das ekle Herum-
*=chnüffeln in sexuellen Dämmerungen. — Rhetorische kleine Meisterstücke sind
die Reden zur Begrüßung der amerikanischen Austausch-Professoren und Theodor
Roosevelts, tief und gehaltvoll die über „Berliner Poesie vor hundert Jahren",
„Jahrhundertfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität", „Fichtes Reden an die
deutsche Nation", „Schiller" und „Karl Weinhold". Es gibt zu denken, wenn Erich
Schmidt in dem Schiller-Aufsatze von dem Schulkommentar spricht, der bald zu
manchem Gedicht Schillers nötig sein werde, und in einem anderen Satz die Worte
der „deutsche Jüngling" in Anführungszeichen setzt und die Bemerkung in Klam-
mem beifügt: „wenn dies edle Wort überhaupt noch laut werden darf." — Be-
sonders wird hier der heroische Charakter Schillers und die Genialität seiner Phan-
tasie gerühmt, die trotz des Mangels an Erlebtem mit wunderbarer Treffsicherheit
Bilder aus Nord und Süd zu zeichnen wußte. — Es sei beigefügt, daß die zweite
Reihe der „Charakteristiken" von E. Schmidt in neuer (2.) Auflage so-
eben erschienen ist (Berün, Weidmann 1912. 389 S. 7 M.); zu den früheren
Aufsätzen traten die über H. Seidel und J. J. David hinzu. —
314 A. Biese,
Für die Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist jene Gruppe
von Schriftstellern, die sich „das junge Deutschland" nannte, besonders wichtig,
wenn auch — von Heine abgesehen — sich merkwürdig wenig von ihnen noch als
lebenskräftig für die Gegenwart erwiesen hat. Doch wird der Lehrer des Deutschen
und der Geschichte in Prima nicht umhin können, sich nach eingehenden, auf
Quellenforschung sich stützenden Untersuchungen umzusehen. Er wird bei Brandes,
besonders aber bei Fester, Frenzel, Geiger, Proelsz, Wehl viel Wichtiges finden;
doch auf diesem Gebiete ist niemand heute unterrichteter als H. H. H o u b e n ,
der nicht nur Laubes und Gutzkows Werke*) (12 Bde. in Ausw.) mit trefflichen
biographischen Einleitungen sowie ein Buch Zeitschriften des „jungen Deutsch-
lands" herausgegeben hat, sondern auch durch seine „Gutzkow- Funde" (Ol) und
zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften und Zeitungen sich als Kenner und zuverlässiger
Forscher erwiesen hat. So ist es denn mit Freuden zu begrüßen, daß er das viel-
fach Zerstreute und schwer Zugängliche nunmehr in einem stattlichen Bande ver-
einigt hat : „Jungdeutscher Sturm und Drang. Ergebnisse
und Studien von D r, H. H. H o u b e n" (F. A. Brockhaus. Leipzig 1911.
704 S. 10 M.). Was hier geboten wird, ist weniger eine fortlaufende Darstellung der
Bewegung als eine großartige Stoffsammlung, die aus Archiven und Privatkorre-
spondenzen viel Neues und Interessantes darbietet; aber auch die vorbereitenden
und zusammenfassenden Erörterungen über die Zeit und Zeitgenossen fesseln
durch Gründlichkeit und geschmackvolle Darstellung; z. B. über die Bedeutung
der Zeitschriften, der Briefe jener Zeit, über die Probleme, die in diesen meist auf-
geworfen werden und noch heute der Lösung harren. Denn jene Jahre (1830 — 40)
erzeugten einen Überfluß von Fragen, deren in literarischer Hinsicht Herr zu
werden weder damals gelang noch heute schon völlig gelungen ist. Der Hauptgegen-
stand des wertvollen Werkes ist die Aufhellung der Anfänge und wechselseitigen
Beziehungen und politischen Verfolgungen jener Männer, die wir — wie zuerst
Laube und Gutzkow, später Wienbarg — als 'junges Deutschland' zusammenzu-
fassen pflegen. Aber auch die kleineren Trabanten, die um diese Sonnen kreisen,
werden beleuchtet, wie es zuvor nicht geschehen ist und doch einmal geschehen
mußte.
Auch in die Zeit Metternichs, des Demagogen- Verfolgers, führt uns eine sehr
ansprechende Veröffentlichung: „Joseph Christian Freiherr von
Zedlitz. Ein Dichterbild aus dem vormärzlichen Öster-
reich. Von Oskar Hellmann" (Verlag Hellmann, Glogau u. Leipzig 1910,
176 S., 4M.). Das Buch entstammt liebevoller Versenkung in das Leben und in
die Art des Dichters der „Nächtlichen Heerschau", der „Totenkränze" u. a., ohne
Verschleierung der Schwächen, sei es seiner dramatischen oder epischen Versuche,
sei es auch seiner politischen Tätigkeit; denn aus dem vormärzlichen Freiheits-
schwärmer, der an der Seite eines Auersperg stand, ward nach und nach ein Günst-
ling Metternichs, ja ein Werkzeug dieses faszinierenden Mannes, bis dann das
*) Eine handliche Ausgabe von Gutzkows Werken, in vier Bänden, mit sehr guter,
wenn auch durch den knappen Raum eingeschränkter Biographie und mit Einleitungen
und Anmerkungen, die sehr sorgsam das Stoffliche herbeitragen, lieferte Dr. Peter
Müller für das Bibliographische Institut.
Zur deutschen Literaturgeschichte. 315
Jahr 1848 den Zusammensturz der Metternichschen Politik herbeiführte und auch
Zedlitz wieder in die Reihen derer zurückleitete, die des Volke? Rechte vertraten.
Die Beziehungen zu den berühmten Zeitgenossen wie besonders zu Grillparzer, Hart-
mann, Laube, zu Kinkel, Simrock, Herwegh u. a., sodann überhaupt das Öster-
reich jener Tage wird in anschaulichen Schilderungen recht lebendig, so daß der
Verfasser in Wahrheit diesem österreichischen Dichter einen würdigen Totenkranz
gewunden hat. —
Zu den beiden großen schweizer Dioskuren leitet uns eine sehr gründliche,
literarisch und psychologisch fesselnde Schrift: „Gottfried Keller und
Conrad Ferdinand Meyer in ihrem persönlichen und
literarischen Verhältnis. Von Paul Wüst" (Leipzig 1911, Haessel.
197 S. 3,50 M.). Bei der Charakteristik des einen pflegt in Literaturgeschichten
und Abhandlungen ein vergleichender Hinweis auf den anderen nicht zu fehlen,
und der Schlagwörter gibt es schon genug, mit denen man sie beide entweder ein-
ander näherte oder voneinander sonderte, zugunsten oder Ungunsten des einen
oder des anderen. Wüst, der freilich kein Schweizer ist und beide nicht persönlich
gekannt hat,*) stellt sich auf den allein richtigen Standpunkt: als Prinzen vom
Genieland sind sie einander ebenbürtig, mögen sie im ganzen wie im einzelnen
noch so verschieden sein. Mit großer Sorgfalt und Ausnutzung aller Quellen, be-
sonders der Briefe, geht der Verfasser rein historisch, chronologisch dem nach,
wie sie einander begegneten, sich anzogen und abstießen und sich wieder näherten,
und forscht den Gründen nach, weshalb ein näheres Verhältnis sich doch nicht bildete,
trotz guten Willens, wie sie eben doch gar zu entgegengesetzt in ihrer Art waren,
wie zugleich der Dämon Zufall mitspielte, ein plötzliches Wort verstimmte, der
Argwohn sich einnistete, Mißtrauen entstand und somit nie wirkliche Freundschaft;
denn deren Wurzeln sind rückhaltloses Vertrauen, neidlose Mittreude und auf-
richtiges Mitleiden. Das Feierliche an Meyer war Keller zuwider, ja jener war ihm
unbequem, wie er neben ihm aufwuchs, immer neben ihm genannt wurde (wie
anfangs Reuter, dann Storm einem Klaus Groth unbequem war). Meyer war durch-
aus ehrerbietig, sich unterordnend, dabei freilich behauptete er auch sich selbst
in Kritik und Bedenken aller Art gegenüber Kellers Schaffen. Das Schlimmste
aber war, daß sie einander nicht voll sagten, was der eine über den anderen dachte,
daß Zwischenträger dies besorgten, oft recht plump, wie Bächtold. So witterte
der eine bei dem andern Hinterhältigkeit. Jedenfalls sprachen sie in Briefen
voneinander nicht in gleichem Tone, wie sie sich zu Freunden äußerten. Gegen-
seitige Achtung, ja Bewunderung hegte der eine Künstler vor dem anderen als
Künstler, aber der eine sonderte sich doch möglichst scharf von dem anderen. —
Unter den lebenden Dichtern steht als Dramatiker immer noch Gerhart
Hauptmann in erster Linie und wird zum Gegenstande mannigfacher Erörterungen
gemacht. Temperamentvoll und fesselnd, wenn auch von einseitig naturwissen-
schaftlichem Standpunkt — unter den das Psycho-, Physio- und Pathologische
*) Sehr interessant äußert sich über Keller und Meyer in warmer Anerkennung des
von Wüst Geleisteten Lina Frey, Deutsche Rundschau, Oktober 1911. Es heißt da:
Meyer suggerierte sich zeitweilig eine Art Liebe zu Keller, für die dieser nicht zu haben war,
und die dann bei Meyer zuletzt in lächelnde Resignation zurücktrat.
316 A. Biese,
untergeordnet wird — beleuchtet die ersten zehn Dramen der durch seine große
Psychologie des Verbrechens bekannt gewordene Staatsanwalt Erich W u l f -
fen: „Gerhart Hauptmanns Dramen. K ri m i n a 1 p s yc h o 1 o -
gische und pathologische Studien" (2. Aufl. Berlin-Lichterfelde,
Dr. P. Langenscheidt. 1911. 20SS. 4M.). Der Verfasser will nachweisen, wie meister-
lich Hauptmann bewußt oder unbewußt es verstanden hat, als Träger der evolutio-
nistischen Weltanschauung ganz neue Probleme in ganz neuer Form zu lösen,
wie „über der ganzen Handlung das Naturgesetz schwebt, das im Weltall und auf
der Erde alles Leben weckt und fördert: Vererbung und Anpassung bilden und
stempeln die Individualität; außer diesen beiden ist nichts wirksam im Himmel
und auf Erden". So heißt es vom „Friedensfest" ; auch in den „Einsamen Menschen"
wird die Tragödie des Schaffenden „eines der höchsten naturwissenschaftlichen Pro-
bleme" genannt, ebenso auch das Wesen des Genius; und wenn es auch einmal
heißt: „Die physikalische Anziehung ist psychisch vertieft", so ist es einleuchtend,
daß wir hier nichts weiter haben als die Verteidigung des materialistischen Natura-
lismus durch materialistischen Monismus. —
Die Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Hauptvertreter finden
immer wachsende Beachtung in der pädagogischen Literatur, in zahllosen Erläu-
terungsschriften, die freilich oft in Breite ersetzen, was ihnen an Tiefe fehlt; man
möchte manchem empfehlen, daß er sich in das herrliche Werk von Viktor Hehn
'Über Goethes Gedichte' versenke, das jüngst aus dessen Nachlaß Ed. v. d. Hellen
bei Cotta herausgegeben hat; da vereinen sich Geistesverwandtschaft, die Grundlage
jener echten künstlerischenEinf ühlung, die zum Nacherleben wird, mit Knappheit und
Abrundung des sprachlichen Ausdrucks in mustergültiger Weise; die Einleitung (aus
den Jahren 1848 — 51), die von den Romantikern wenig wissen will, Mörike mit
einer Zeile als den 'stillen, sinnvollen Schwaben' kennzeichnet, von der Droste,
Hebbel, Keller u. a. noch nichts weiß, ist gerade durch diese Schroffheit, die alles
nur mit Goethischem Maß mißt, interessant; wir unterschreiben nicht mehr den
Satz: „Die ganze schöne Literatur des 19. Jahrhunderts ist nichts als Abglanz,
Nachklang, geschwächter Widerhall, auch wohl Ausartung jener Blütezeit, es ist ein
Nachleben der geistigen Bewegung, in deren Mitte Goethe steht." — Hehn hat,
wie kaum ein zweiter, in die Tiefen Goethischen Wesens hineingesehen und hin-
eingeleuchtet. Aber den Späteren sind wir seitdem gerechter geworden, auf —
Goethes Spuren selbst weiter schreitend. —
Man wird nicht leugnen können, daß für die schulmäßige Behandlung der
Lyriker des 19. Jahrhunderts Gude große Verdienste hat. Sein Werk setzt
würdig E r n s t Linde fort: „Gudes Erläuterungen deutscher
Dichtungen: Sechster Band: Die neuere deutsche Lyrik.
Erste Hälfte" (Leipzig 1910, Brandstetter. 404 S. , geh. 3,50 M.). Da
Gude selbst ohne einheitlichen Plan Gedichte der verschiedensten Dichter in
einem Bande vereinigte, nur weil sie ihm besonders wertvoll für die Schule er-
schienen, so war der neue Herausgeber und Fortsetzer zunächst gebunden und
bietet daher in diesem Bande Dichter des 19. Jahrhunderts, die in dem vierten
Bande des Gudeschen Sammelwerkes fehlen. So erhält man ein etwas bunt-
scheckiges Bild: Hölderlin, Eichendorff, Mörike, Annette v. Droste, Hebbel,
Zur deutschen Literaturgeschichte. 317
Storni, Groth, Keller, Fontane, Strachwitz, Meyer, Scheffel, Heyse, Liliencron.
Auch die Auswahl der Gedichte ist durch die Schulanthologie des Verfassers bzw.
seine „Moderne Lyrik" bedingt und erscheint daher für den Kenner auch recht
willkürlich. Aber was die Hauptsache an dem Buche ist: es ist von frischem,
freudigem, freimütigem Nachempfinden der künstlerischen Eigenart unserer großen
Lyriker erfüllt. Es deckt mit feinem Spürsinn das Ineinanderweben von innerer
und äußerer Form, von Geist und Welt, Natur und Menschenseele auf. —Wohl sagt
er es selbst, daß „bei jedem echten Lyriker es unmöglich ist, das Wesentliche eines
Gedichts in Prosa wiederzugeben", hält er sich trotzdem von weitschweifiger Prosa-
Auflösung (wie sogar bei dem lichten und schlichten „Turmhahn") nicht frei.
Anderseits bietet dieDroste doch mehr Schwierigkeiten, als der Verfasser aufweist.
Er irrt, wenn er bei Storm keine „Seelenkämpfe" voraussetzt und von „wolken-
losem Glück", „duftigster" Poesie spricht; ohne innere Kämpfe, ohne Leiden und
Leidenschaft ist kein Lyriker zu denken; Storm hat schwer gelitten in der Trennung
von der geliebten Heimat, in dem Schmerz um den Tod der Gattin. Tiefere Töne
vaterländischen Gefühls, aus Weh und Wut geboren, und männlicher Trauer hat
kaum jemand gefunden als Storm. Im Hinblick auf „Tiefe Schatten", „Frühlings-
nacht", „Geh nicht hinein", „Ein Sterbender" usw. klingt es wie Phrase, wenn
gesagt wird: „Ein innerer Friede durchleuchtet seine Persönlichkeit" (S. 134),
während später (S. 364) von Storms Dichtungen gesagt wird, in ihnen hülle die
Schwermut uns gleichsam wie in graue Schleier. Holstein wird „düster und nebel-
verhüllt" gescholten, als ob der Norden nicht in jeder Jahreszeit seine besondere,
ja auch leuchtende Poesie hätte ! Storms Vater wird ein „g e w a n d t e r Advokat"
genannt. Worauf sich das wohl stützt? Da kennt der Verfasser die friesische Art
doch gar zu wenig. Auch ist Storm nicht in Husum gestorben (1888), sondern in
Hedemarschen, wohin er 1880 gezogen war.
So ließe sich noch vielerlei bei diesem und jenem Dichter verbessern und nach-
tragen in diesem Buche, das sich nicht überall auf die besten Quellen stützt (z. B.
,Maync,Mörikes Leben* nicht kennt), aber das Gute, ja Treffliche überwiegt und läßt
schöne Wirkungen für Lehrer und somit für die Jugend erhoffen, da es aus echt
dichterischem Nachempfinden geboren ist. Stilistisch sind zu tadeln: die Super-
lative in den Einleitungen, die zahllosen, geradezu schauderhaften Fremdwörter, die
phrasenhaften Übertreibungen und solche Wendungen wie: „daß wir nicht haarklein
erzählt bekommen" (153); „im allgemeinen ernst, herrscht doch in vielen Ge-
dichten ein feiner Humor" (170); „nie mit sich zufrieden, verschlimmerte sich
der Gemütszustand des 27 jährigen" (273); „Vollblutlyriker (?) Keller" (276);
Heyse „entpuppt sich als Tiermaler" (349); „Gegen dieses geliehene Empfinden
der unbeseelten Natur steht das wirkliche der Personen nicht nach" (377) usw.
Inzwischen ist auch der siebente Band „Die neuere deutsche Lyrik. Zweite
Hälfte," (Leipzig, Brandstetter 1912) erschienen; er ist von gleichem Geiste be-
seelt und behandelt „neuere Vaterlandsdichter; Schwaben; Österreicher; Dichter
von der Wasserkante; neuere Balladendichter; neuere Dichterinnen; Lyriker eigener
Art" (d. h. Falke, Dehmel, Spitteler, Avenarius).
Neuwied a. Rh. A 1 f r e d B i e s e.
318 A. Dreger, Die Berufswahl im Staatsdienst, angez. von M. Natli.
b) Einzelbesprechungen:
Dreger, A., Die Berufswahl im Staatsdienst. Eine Zusammen-
stellung der wichtigsten Vorschriften über Annahme, Ausbildung, Prüfung,
Anstellung und Beförderung in sämtlichen Zweigen des Reichs- und Staats-
dienstes; auf amtlichen Quellen beruhend. 10. Auflage, neu bearbeitet und
vermehrt von S. Waidenburg. Dresden und Leipzig 1910. CA. Kochs
Verlagsbuchhandlung (H. Ehlers). VIII u. 358 S. 3,60 M.
In Jahrgang VII, S. 667 dieser Monatschrift ist die 9. Auflage dieses Werkes
angezeigt worden. Indem auf die dort gegebene Charakteristik verwiesen wird,
sei bemerkt, daß die neue auf den gegenwärtigen Stand gebracht ist, besonders
auch die neuen Gehaltssätze angibt.
Pankow. M a x N a t h.
Jerusalem, Wilhelm, Die Aufgaben des Lehrers an höheren
Schulen, Erfahrungen und Wünsche. Zweite, neu verfaßte Auflage der
Schrift „Die Aufgaben des Mittelschullehrers". Wien und Leipzig 1912. Wil-
helm Braumüller. XII u. 392 S. S^ 10 K 80 h = 9M.; geb. 12 K = lOM.
Der Verfasser, Privatdozent an der Universität Wien und seit 30 Jahren
Lehrer an einem Gymnasium, war besonders auf philosophischem Gebiet mit Er-
folg schriftstellerisch tätig. Er verkörpert also selbst die im 1. Kapitel seines Buches
vom Mittelschullehrer geforderte Synthese von Wissenschaft und Pädagogik.
Mit einer reichen Schulerfahrung verbindet er eine genaue Kenntnis des Seelen-
lebens der Jugend und ein tiefes Verständnis für die sozialen Forderungen der
Gegenwart.
Durch die auch in methodischer Hinsicht vorbildlich durchgeführte historisch-
kritische Analyse des Begriffes „allgemeine Bildung" im 2. Kapitel schafft er sich
für die Darlegung der Aufgaben der Mittelschule eine sichere Grundlage. Nur die
Teilung der Lehrfächer in schulende und anregende, d. h. in solche, bei denen die
ganze Arbeit in der Schule selbst geleistet werden sollte, könnte ich aus praktischen
Gründen nicht gutheißen. Er vertritt ja selbst die Anschauung, daß zu der Er-
weckung des Interesses das Arbeitsprinzip hinzukommen müsse (S. 183), wenn man
einen dauernden Unterrichtserfolg erreichen will. Die auch zu den anregenden
Fächern gerechnete, aber von ihm hochgeschätzte Geographie würde von den
Schülern bald sehr vernachlässigt werden (vgl. auch S. 335 oben und S. 170).
Da er an einem Gymnasium und zugleich an der Hochschule als Lehrer tätig
ist, so verdienen seine Äußerungen über die Beziehungen zwischen Universität
und Schule, die er im 3. Kapitel bei der Darlegung der wissenschaftlichen Auf-
gaben des Mittelschullehrers macht, besondere Beachtung. Die produktive wissen-
schaftliche Tätigkeit der Mittelschullehrer bezeichnet er zwar vor allem im Interesse
des Standes als sehr wünschenswert, hält aber mit Recht die rezeptive wissenschaft-
liche Betätigung für vordringlicher „als Abhandlungen zu schreiben".
Die Besprechung der sonst so vielfach behandelten didaktischen Aufgaben
(4. Kap.) weiß er deshalb sehr anregend zu gestalten, weil er die dem Lehrbetrieb
zugrunde gelegten Prinzipien klarer, als es bis jetzt geschah, herausarbeitet. Die
Wickenhagen, Geschichte der Kunst, angez. von A. Schoop. 319
Behandlung der beiden wichtigsten Unterriclitsprinzipien, der Erweckung des Inter-
esses und der Gewöhnung an Arbeit, und besonders die psychologische Analyse
des Wesens und der Wirkungen der Autorität gehören zu den wertvollsten Teilen
des Buches. Die soziologische Betrachtungsweise eröffnet besonders im letzten
Kapitel, wo er die ethischen und sozialen Aufgaben des Lehrers behandelt, neue
Gesichtspunkte. Hiebei zeigt er auch, wie man in der Schule die trefflichen Ideen
Försters praktisch verwerten kann.
Abgesehen von den Vorschlägen für die pädagogische Vorbildung der Kan-
didaten bietet uns Lehrern diese bedeutende literarische Erscheinung untrügliche
Grundsätze. Die klare Darstellung gewinnt dadurch an Reiz, daß er allgemeine
Grundsätze und wissenschaftliche Ergebnisse an praktischen Fällen aus dem
Schulleben veranschaulicht und uns Selbstgefühltes und auch Selbstgefehltes
offenherzig mitteilt. Diese Vorzüge sichern dem Buche einen Ehrenplatz in unseren
Bibliotheken, besonders in den Gymnasialseminaren.
Bam.berg. K a r 1 N e f f.
Wickenhagen, Geschichte der Kunst, mit einem Anhang über die
Musikgeschichte. 13., vermehrte und verbesserte Auflage von Uhde-Ber-
nays. Mit 18 Kunstbeilagen und 363 Abbildungen im Text. Eßlingen a. N.
1912. Paul Neff. VII u. 374 S. geb. 5 M.
Wickenhagens Geschichte der Kunst ist erwachsen aus L ü b k e s Leitfaden
der Kunst, welcher 1868 erschien. Auf Lübke geht in dem heutigen Werke noch
zurück die Dreiteilung in Baukunst, Plastik und Malerei, welche Künste hinterein-
ander behandelt werden von den Uranfängen bis zur Gegenwart, sowie die kurzen
Darlegungen über die Technik und das Material der Kunstgattungen, welche die
Hauptabschnitte einleiten. Es schließt sich an ein Abriß aus ö^er Geschichte der
Musik, bearbeitet von Oskar Schroeter, und in dieser Auflage eine kurze Übersicht
über die Kunst des östlichen Asiens und das Kunstgewerbe der Neuzeit. Die
schwierige Aufgabe — der Verfasser nennt sie ein Wagnis — auf so knappem Räume
aus der unendlichen Fülle des Stoffes das Wesentliche herauszugreifen, kurz und
treffend zu kennzeichnen, hat das Werk gut gelöst, engherzig wäre es, bei ein-
zelnen Erscheinungen über ein Mehr oder Minder rechten zu wollen. Die Aus-
wahl der zahlreichen Abbildungen ist durchaus zweckmäßig, teilweise aber entbehren
sie der nötigen Schärfe. Auf diese wird bei einer Neuauflage vor allem Bedacht zu
nehmen sein, selbst wenn der erstaunlich niedrige Preis des wertvollen Werkes
sich dadurch ein wenig erhöhen sollte, den Goldschnitt des Buchbinders wird man
gerne entbehren. Abgesehen von Zusammensetzungen wie „Wiedergebenskraft"
und ähnlichem ist die Sprache leicht und fließend, der Verfasser befleißigt sich in
seinen Urteilen einer wohltuenden Sachlichkeit und übt besonders der so viel-
deutigen neuesten Kunst gegenüber strenge Zurückhaltung in der richtigen Er-
kenntnis, daß wir ein objektives Urteil über diese zukünftigen Geschlechtern über-
lassen müssen. So stellt sich das Werk dar als ein vorzügliches Handbuch für
Studierende und Unterrichtete, welches ich besonders kunstfrohen Fachgenossen
warm empfehlen möchte. Ein ausführliches Register erleichtert die Benutzung.
Für eine Neuauflage einige kritische Anmerkungen: Zu S. 20. Das Kolosseum
320 A. Harnack, Aus Wissenschaft und Leben,
in Rom umfaßte nach den neuesten Messungen nur 40 — 50 000, nicht 80 000 Zu-
schauer, wie die alte Angabe lautete. Zu S. 50. Das Stalaktitengewölbe findet
sich unter den normannischen Kirchen Siziliens nur in der Schloßkapelle von
Palermo, nicht im Dome von Monreale. Dieser hat auch in der Überhöhung seines
zentralen Teiles ein Satteldach, wie das Langhaus, byzantinische Kuppeln haben
die erwähnte Schloßkapelle und die Martorana in Palermo. Zu S. 111. Man ist
neuerdings geneigt, die berühmte Göttin im Louvre für eine Viktoria zu erklären,
welche einen Sieger krönt. In dieser Auffassung bestärkte mich eine bis jetzt noch
nicht veröffentlichte Bronzestatuette, welche ich vergangenen Sommer in ge-
nanntem Kunstpalast entdeckte. Sie entspricht dem Typus der sogenannten
Venus von Milo und überreicht mit der linken Hand ausgestreckten Armes in der
Tat einen Kraiiz. Es sei noch bemerkt, daß das berühmte Marmorbild in der
Exedra eines Gymnasiums gefunden wurde. Zu S. 204. Die Frage, ob das berühmte
,, Konzert" der Pittigalerie in Florenz dem Giorgione oder dem jungen Tizian zuzu-
schreiben sei, dürfte endgültig nicht zu entscheiden sein. Es empfiehlt sich also,
dieses Bild durch ein unbestrittenes zu ersetzen, besonders da die Frauenfigur an
der linken Seite, welche die Geschlossenheit des Kunstwerkes stört, nachträglich
angefügt ist.
Düren. August Schoop.
Harnack) Adolf, Aus Wissenschaft und Leben. 2 Bände. 1. Bd.
VIII u. 356 S., 2. Bd. VI u. 348 S. Gießen 1911. Alfred Töpelmann (vor-
mals J. Ricker), geh. 10 M., geb. 12 M.
Da sich mit wenigen Worten nicht sagen läßt, welche Fülle von Gedanken
Harnacks Buch uns bringt, auch eine Zusammenfassung der einzelnen Aufsätze
unter Obertiteln nicht mit voller Deutlichkeit dem Leser zeigen kann, was alles
aus Wissenschaft und Leben uns in diesen beiden Bänden begegnet, so gebe ich
zunächst im wesentlichen eine Überschau der Fragen, die Harnack beantwortet,
wieder:
Gedanken über Wissenschaft und Leben. — Vom Großbetrieb der Wissen-
schaft. — Leibniz und Wilhelm von Humboldt als Begründer der Königl. Preus-
sischen Akademie der Wissenschaften. — Zur Kaiserl. Botschaft vom 11. Ok-
tober 1910: Begründung von Forschungsinstituten. — Die Notwendigkeit der
Erhaltung des alten Gymnasiums in der modernen Zeit. — Die Beziehungen
zwischen Universität und Schule in bezug auf den Unterricht in Geschichte und
Religion. — Die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens in Preußen. —
Die Königl. Bibliothek zu Berlin. — Über die Vorzeichen der in der Geschichte
wirksamen Kräfte. — Carnegies Schrift über die Pflicht der Reichen. — Die Nach-
laßsteuer vom sozialethischen Gesichtspunkt. — Eröffnungsrede beim 21. Evan-
gelisch-Sozialen Kongreß. — Bismarck. (Zum zehnjährigen Todestage.) — Deutsch-
land und England. — Der Friede die Frucht des Geistes. — Die Entstehung des
Papsttums. — Protestantismus und Katholizismus in Deutschland. — Die päpst-
liche Enzyklika von 1907. — Religiöser Glaube und freie Forschung. — Die Borro-
mäus-Enzyklika. — Pater Denifle, Pater Weiß und Luther. — Die Lutherbio-
graphie Grisars. — Das Konklave. — Was verdankt unsere Kultur den Kirchen-
angez. von A. Matthias. 321
Vätern? — Internationale und nationale christliche Literatur. — Über das Ver-
hältnis der Kirchengeschichte zur Universalgeschichte. — Der Brief Sr. Majestät
des Kaisers an den Admiral von Hollmann. — Naumanns Briefe über Religion. —
Christus als Erlöser. — Das neue kirchliche Spruchkollegium. — Beunruhigungen
des christlichen Glaubens und der Frömmigkeit. — Soll in Deutschland ein Welt-
kongreß für freies Christentum gehalten werden? Offener Brief an D. Rade. —
Die Theologische Fakultät der Universität Berlin. — Hat Jesus gelebt? — Der
proletarische Charakter des Urchristentums. — Vorfragen, die Glaubwürdigkeit
der evangelischen Geschichte betreffend. — Das doppelte Evangelium im Neuen
Testament. — Hat Jesus das alttestamentliche Gesetz abgeschafft? — Das Ur-
christentum und die sozialen Fragen. — Alte Bekannte. — Die Weihnachtsbe-
trachtung des vierten Evangelisten. — Gloria in excelsis deo ! — Weihnachten. —
Dies ist der Tag, den Gott gemacht. — Eine kurze Betrachtung. — Pfingsten. —
Die Kaiserin Friedrich. — Theodor Mommsen. — Friedrich Althoff. — Oskar von
Gebhardt. — Emil Schürer. — Friedrich Paulsen.
Man sieht, die Sammlung enthält eine erstaunliche Mannigfaltigkeit und
Vielseitigkeit von Fragen. Es gibt kaum etwas, was das geistige Leben unseres
Volkes und der gebildeten Welt in den letzten Jahrzehnten bewegt hat, was hier
nicht zur Behandlung käme. Jedem anderen oder doch den meisten anderen, die
uns so vielerlei böten, würden wir mit dem Verdacht der Oberflächlichkeit begegnen.
Harnacks Universalität schließt jeden Zweifel ihrer Gediegenheit aus; sein Kenntnis-
reichtum ist tiefgründig und, wo er aus ihm schöpft, da ist sein Urteil begründet
und geistvoll, und er versteht es meisterhaft, die Wissenschaft, die er für sich zur
Lehrmeisterin seines Lebens gemacht hat, auch für andere in derselben Weise
fruchtbar zu machen; die Wissenschaft kann er deshalb zum Besitz der Gebildeten
machen, weil er sie nicht entgeistert hat durch Eintrocknen zuV Schulweisheit.
Und nicht nur geistvoll ist alles, was Harnack uns bringt; wo er Persönlichkeits-
bilder zeichnet, wie das Bild Mommsens oder Althoffs, da blicken wir dem Menschen
Harnack ins Herz und ins Gemüt. Dabei ist Harnack ein durchaus moderner
Mensch im besten Sinne des Wortes, er ist nicht zu stolz, auch in der Tagespresse
zu dem großen Kreis von Lesefn zu sprechen, die auch in der täglichen geistigen
Nahrung gediegene Stoffe wünschen.
Daß er das immer so sicher tut, kommt daher, daß seine vielseitige Bildung
von einem Punkte ausgegangen ist und von diesem nach verschiedenen Seiten hin
ausstrahlt. Er sagt selber von sich : „Was ich gelernt habe, habe ich an der Kirchen-
geschichte gelernt, und wenn es mir vergönnt gewesen ist, über ihre Grenzen hinaus-
zuschreiten, so hat sie mir die Wege gewiesen; denn nichts Menschliches ist ihr
fremd." Auf diesem Wege hat er offenbar seinen Stil gebildet, der einfach, schlicht,
klar, energisch und wahr ist, und der frei ist von der Phrase, die sich so leicht ver-
bindet mit allem, was Religion heißt. Auf dem Wege kirchengeschichtlicher For-
schung (ich denke hier auch an Karl Hases Schriften) lernt man, daß es für diese
Wissenschaft nicht auf das Heilige, sondern auf das Wahre ankommt, daß man sich
hüten muß, die Klarheit des Denkens und der Rede unter Weihrauchwolken leiden
zu lassen und daß diese Wissenschaft zu leicht leiden kann unter den theologischen
Hindernissen, von denen sie und die Kultur allezeit nicht wenig in Gefahr gewesen,
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 21
322 Th. Gomperz, Griechische Denker, angez. von R. Jonas.
geschädigt oder gar vernichtet zu werden. Harnacks Reden und Aufsätze aus Wissen-
schaft und Leben sind daher wertvolles Gut für jeden Gebildeten, besonders auch
für die höheren Schulen und ihre Bibliotheken.
Berlin. A. Matthias.
Gomperz, Th., Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken
Philosophie. Erster Band. Dritte durchgesehene Auflage. Leipzig 1911.
Veit <S Co. XII u. 472 S. S^. 10 M.
Es ist eine ganz eigenartige Aufgabe, welche sich der bekannte Philosoph
in diesem Werke gestellt hat: es handelt sich nicht um eine Darstellung, welche
wir mit der landläufigen Benennung Geschichte der Philosophie
bezeichnen. Er wollte ein ganz neues Gesamt-Gemälde des Wissensgebietes ent-
werfen, welches weiten Kreisen der Gebildeten zugänglich sein soll. Dabei wollte
er den verschiedenen antiken Denkrichtungen, die alle ihr Teil zu dem Gesamt-
bau der modernen Geistesbildung beigesteuert haben, gerecht werden. Die Reli-
gion, die Literatur und die Einzelwissenschaften wollte er insoweit in den Kreis
der Betrachtung ziehen, als sie für die philosophischen Disziplinen von Bedeutung
waren. Als Ideal schwebte ihm bei seiner Arbeit eine Gesamtgeschichte des an-
tiken Geisteslebens vor. — Diese Grundgedanken des Verf. entnehmen wir aus
seinem Vorwort zur ersten Auflage seines Werkes. Ihre Angabe erschien uns uner-
läßlich, weil man so das Verständnis für die hochbedeutende Geistesarbeit ge-
winnt, welche Gomperz unternahm und die, wie das verhältnismäßig schnelle
Erscheinen einer dritten Auflage beweist, in den Kreisen der Gebildeten viele
Freunde gewonnen haben muß.
Das Werk ist im ganzen auf drei Bände berechnet, von denen wir hier den
ersten vor uns haben. Dieser umfaßt drei Bücher, nämlich: 1. Die Anfänge. 2. Von
der Metaphysik zur positiven Wissenschaft. 3. Das Zeitalter der Aufklärung.
Wenn man die Entwicklung des griechischen Geisteslebens betrachten will,
so muß man sich zunächst die Lage des Landes und die Verhältnisse seiner Kultur
und ihre Vorbedingungen vergegenwärtigen, dazu die natürlichen Anlagen des
Volkes. Der Gedankenaustausch mit anderen Völkern, der durch die Kenntnis
der Schrift sehr gefördert wurde, bereicherte naturgemäß den griechischen Geist.
Von ganz besonderer Bedeutung war die Ausbildung der griechischen Religion,
welche vor allem eine Verlebendigung der Natur zeigt. Von großer Bedeutung
war ferner die Annahme von für sich bestehenden Geist- und Seelenwesen. Die
religiöse Auffassung der Griechen in der ältesten Zeit können wir nicht besser
kennzeichnen als mit den Worten des Verf. (S. 25): „Der homerische Mensch
glaubt sich immer und überall von Göttern umgeben und von ihnen abhängig."
Verf. verfolgt dann weiter in seinen einleitenden Stadien die Theogonie und Kosmo-
gonie der alten Griechen.
Nachdem so die Grundzüge dargelegt sind, welche für die richtige Erkenntnis
der Entwicklung notwendig sind, geht Verf. zu der Darstellung der griechischen
Geistesentwicklung über und behandelt in den 5 Kapiteln des ersten Buches die
altionischen Naturphilosophen, die orphischen Weltbildungslehren, Pythagoras
und seine Jünger, die Fortbildung der pythagoreischen Lehren und den orphisch-
pythagoreischen Seelenglauben. Mit Benutzung der für jene ältesten Epochen
W. Kinkel, Idealismus und Realismus, angez. von R. Jonas. 323
griechischer Geisteskultur nicht gerade reichlich sprudelnden Quellen entwirft
Verf. in leicht verständlicher Darstellung ein sehr interessantes Bild der hier in
Rede stehenden philosophischen Anschauungen und ihrer Träger. — Das zweite
Buch führt den Leser von der Metaphysik zur positiven Wissenschaft. Seine
6 Kapitel behandeln Xenophanes, Parmenides, die Jünger des Parmenides, Anaxa-
goras, Empedokles und die Geschichtsschreiber. Der Gedankenbau eines jeden
der bezeichneten Philosophen wird erläutert, und zwar im Zusammenhang mit
der ganzen Kulturentwicklung seiner Zeit. Bald zeigt sich der Übergang von der
mystischen zu der mehr auf positivem Boden erwachsenden Anschauung: die
Anfänge der Geschichtsschreibung, namentlich Herodot, bezeichnet das bereits.
Das dritte Buch endlich behandelt in 8 Kapiteln die Ärzte, die atomistischen
Physiker, die Ausläufer der Naturphilosophie, die Anfänge der Geisteswissenschaft,
die Sophisten, Protagoras von Abdera, Gorgias von Leontini, den Aufschwung
der Geschichtswissenschaft.
Ein großes, sich über einige Jahrhunderte erstreckendes Gebiet liegt in
dem inhaltreichen Bande vor uns. Wir durchwandern den ersten Teil der
Geschichte der griechischen Geistesbildung an der Hand eines sehr sach-
kundigen und feinsinnigen Führers, welcher bis in die Tiefen jener Ent-
wicklung gedrungen ist und sie in einer umfassenden, alles Wichtige in der er-
forderlichen Weise betonenden Art uns vor Augen führt. Alle diejenigen Ele-
mente, welche für die Gestaltung unseres heutigen Geisteslebens von Bedeutung
gewesen sind, entnehmen wir daraus. Im zweiten Bande führt Verf. seine Be-
trachtungen fort in den Abschnitten: Sokrates und die Sokratiker, Piaton und
die Akademie, Aristoteles und seine Nachfolger; der dritte behandelt die ältere
Stoa, den Garten Epikurs, Mystik, Skepsis und Synkretismus. — Wir führen
dies hier an, damit der Leser auch einen Überblick über das Ganze gewinnt. —
Doch kehren wir zum ersten Bande wieder zurück. Den Schluß bilden in ihm
„Anmerkungen und Zusätze". Sie enthalten Erklärungen und Erläuterungen
der mannigfachsten Art und Literaturangaben, wo sie dem Verf. erforderlich
schienen. Es ist sehr praktisch, daß alles dies in einen Anhang verwiesen ist und
nicht im Text selbst gegeben wird. Es würde da nicht selten störend wirken und
den Zusammenhang der Darstellung nicht so deutlich hervortreten lassen.
Wir haben hier ein Buch vor uns, welches ganz vorzüglich geeignet ist, in
die Geschichte der Entwicklung der griechischen Geisteskultur einzuführen.
Gerade der Gebildete wird ein großes Bedürfnis haben, sich in dieselbe zu ver-
tiefen, weil die unsrige auf jener beruht. Ihm sei das Werk aufs angelegentlichste
empfohlen: er wird darin finden, was er sucht. Auch für die höhere Lehrerwelt
ist das ausgezeichnete Werk ein gutes Hilfsmittel. Es sollte in den Bibliotheken
der höheren Lehranstalten nicht fehlen.
Kinkel, W., Idealismus und Realismus. Eine Einführung in ihr
Wesen und in ihre kulturgeschichtliche Entwicklung. (Wege zur Philosophie,
Schriften zur Einführung in das philosophische Denken, No. 3.) Göttingen \9\\.
Vandenhoeck & Ruprecht. 112 S. 8». 1,50 M.
Die Reihe von Heften, denen auch das vorliegende angehört, will es sich zur
21*
324 W. Kinkel, Idealismus und Realismus, angez. von R. Jonas.
Aufgabe machen, philosophische Begriffe und Anschauungen weiteren Kreisen
darzulegen. Sie kommt damit einem neuerdings vielfach zutage tretenden Be-
dürfnis entgegen, denn der Sinn für philosophische Dinge ist, wie man das viel-
fach beobachten kann, im Wachsen begriffen.
Hier handelt es sich nun um zwei philosophische Begriffe, welche viele Leute
im Munde führen, aber sicher nicht alle mit ganz klarem Verständnis. Ihnen soll
ihre Bedeutung erschlossen werden, und zwar geschieht dies in einer für die ge-
bildeten Leser sehr leicht verständlichen und faßlichen Weise. Verf. behandelt
seinen Gegenstand in 3 Kapiteln: I. über die Bedeutung der Begriffe ,, Idealis-
mus" und „Realismus" in theoretischer Hinsicht. II. Das Werden des philo-
sophischen Idealismus und Realismus in der Kultur und die praktische Bedeutung
der Begriffe Idealismus und Realismus. III. Die Bedeutung des philosophischen
Idealismus und Realismus für das System der Philosophie (A. Logik. B. Ethik.
C. Ästhetik. D. Psychologie).
Der erste Abschnitt geht zunächst von den Anfängen des philosophischen
Denkens aus, welches nach Plato und Aristoteles seine Quelle in dem Erstaunen
und der Verwunderung hat. In 16 einzelnen Abschnitten machen wir mit dem
Verf. eine höchst interessante Wanderung durch die philosophischen Anschauungen,
welche für die Bildung der hier in Frage stehenden Begriffe von Bedeutung sind.
Das sind für jeden, der für philosophisches Denken auch nur einigermaßen Sinn
hat, sehr interessante Fragen. Handelt es sich doch dabei um die ganze Erschei-
nungswelt und um die Art und Weise ihrer Auffassung durch den menschlichen
Geist und um die Erscheinungsformen. In die ursprünglich natürlich rein naive
Auffassung der Dinge rings um den Menschen wird durch Darstellung ge-
wisser Naturgesetze eine gewisse Ordnung gebracht, sie wird dem Verständnis
nahe gebracht. Da kommt es wesentlich auf eine richtige physiologische bzw.
psychologische Erkenntnis an. Die Vorstellungen und die Begriffe sind durchaus
voneinander verschieden: die ersteren sind subjektiv, die letzteren objektiv und
allgemein. Während die Vorstellungen sehr verschieden sein können, ist der Be-
griff immer nur ein einheitlicher und derselbe. Da kommen wir zu den Fragen:
Was ist das Sein? und: was ist Erkenntnis? Der Mensch ist eben und bleibt von
dem Besitz endgültiger und abgeschlossener Begriffe des Daseins entfernt; „jede
Lösung eines Problems führt zu neuen Problemen". Der Mensch soll aber dazu
kommen, daß er möglichst viele wahre, d. h. wissenschaftlich fruchtbare und unter
sich nicht widersprechende Begriffe denkt; je mehr er das erreicht, desto mehr
bemächtigt er sich auch des Seins, welches er als Vernunftwesen erfassen kann.
Der Unterschied zwischen dem Realismus und Idealismus besteht nun nach dem
Verf. darin, ,,daß für den Realisten die gegenständliche Wirklichkeit vor der Er-
kenntnis und unabhängig von der Erkenntnis vorhanden ist, während für den
Idealisten der Gegenstand der Erkenntnis erst in und mit der Erkenntnis ent-
steht, aber nicht entsteht in der willküriichen Vorstellung und Meinung des ein-
zelnen, sondern in den Begriffen und Gesetzen der Wissenschaft". Dabei werde
der Idealist aber das wirkliche Vorhandensein der uns umgebenden Dinge nicht
etwa leugnen.
Nachdem so Verf. die Begriffe Idealismus und Realismus auf allgemeiner
E. Krieck, Persönlichkeit und Kultur, angez. von R. Jonas. 325
Grundlage, unter Bezugnahme auf das, was jeder Mensch auf Grund seiner eigenen
Erfahrung erfassen kann, dargestellt hat, geht er nunmehr daran, ihr Werden
in der Kultur und ihre praktische Bedeutung darzulegen. Verf. führt den Leser
von dem Mythos bis zu den Kulturepochen, in denen die Menschen allmählich
zu geläuterten Anschauungen von dem göttlichen Wesen und Wirken kommen.
Da werden der Pantheismus, Polytheismus und Monotheismus betrachtet. In
den Anschauungen von dem göttlichen Wesen und in den philosophischen Dar-
legungen sprechen sich am deutlichsten der Idealismus und Realismus aus. Von
großer Bedeutung sind hier auch die großen Erfolge der Naturwissenschaft im
19. Jahrhundert. Auf allen Gebieten der Kultur zeigt sich der Zusammenhang
der allgemeinen Weltanschauung des Idealismus und Realismus.
Im 3. Hauptabschnitt zeigt Verf. die Bedeutung des Idealismus und Realis-
mus für das System der Philosophie, d. h. für die oben bezeichneten Zweige der-
selben. Er legt hier dar, was sich für die einzelnen philosophischen Disziplinen
ergibt, wenn man sie vom Standpunkte des Realismus oder des Idealismus an-
sieht. In diesen Ausführungen, die nun gewissermaßen die Folgerungen aus den
allgemeinen Betrachtungen der vorigen Abschnitte ziehen, zeigt sich der Unter-
schied der beiden Welt- und Lebensauffassungen auf den dem gebildeten Geiste
nahe liegenden und vertrauten Gebieten. Wie in dem ganzen Heftchen, so wird
auch hier vielfach auf die Werke anderer philosophischer Schriftsteller Bezug
genommen und ihr Standpunkt in den einschlägigen Fragen klar gekennzeichnet.
Der Ausblick am Schlüsse zeigt die Mängel beider Lebensauffassungen in
ihren Wirkungen, gibt aber der Hoffnung Raum auf Erreichung immer höherer
Ziele durch den Menschen.
Dies treffliche Büchlein empfiehlt sich, was wir schon anfangs betonten, durch
die Faßlichkeit und Verständlichkeit seiner Darstellung sehr. Es sei allen ge-
bildeten Lesern bestens empfohlen, es kann aber auch unserer vorgeschritteneren
Jugend sehr wohl in die Hand gegeben werden, der im Unterricht (ich erinnere
an die Lektüre von Goethes Tasso) der Unterschied der Begriffe Idealismus und
Realismus bereits nahe geführt ist.
Krieck, E., Persönlichkeit und Kultur. Kritische Grundlegung der
Kulturphilosophie. Heidelberg 1910. Karl Winters Universitätsbuchhandlung.
XVI u. 512 S. 8^. 6,60 M.
Verfasser geht davon aus, daß jeder Abschnitt der Geschichte sein wesent-
liches Gepräge erst durch den Höchstwert erhalte, das Lebensideal des Betrach-
ters, nach welchem dieser seinen Gegenstand bewerten und erkennen müsse. Wenn
jemand die eigene Gegenwart betrachte, mag er noch so stolz auf sie sein, so werde
das Gefühl, in einer Übergangszeit zu leben, notwendig in ihm vorherrschen. Die
Mächte der Vergangenheit seien in der Gegenwart stets wirksam; über ihnen er-
hebe sich aber ein Ideal, eine neue Aufgabe. Dieses Ideal werde sich nie in seiner
Vollkommenheit verwirklichen, aber es sei die Quelle der Bestrebungen und Be-
wegungen des kulturellen Lebens. Im Ideal, in der Kraft, mit der man es zu ver-
wirklichen bestrebe, liege sowohl der Wert der Persönlichkeit als auch der Kultur,
nicht aber im Erreichten, Verwirklichten. Dies Ideal sei die Religion, die Moral,
326 E. Krieck, Persönlichkeit und Kultur, angez. von R. Jonas.
die Weltanschauung des Idealismus, welche von jeher durch das Deutschtum
seine reinste Ausbildung erfahren habe. Diese habe Lessing als sein persönliches
Bekenntnis ausgesprochen, Goethe habe ihr im Faust die mythische Ewigkeits-
form gegeben.
Verf. wolle nun in seinem Buche mitarbeiten an der großen kulturellen Auf-
gabe der Gegenwart, an der Umgestaltung der nationalen Kultur im Sinne einer
Vertiefung und Neubelebung jenes Idealismus. Das oberste Prinzip des Idealis-
mus sei das Transzendentalprinzip, ein Weg zum Quell des Lebens, zum freien
Selbst, zum Ding an sich.
Wir mußten diese einleitenden Gedanken des Verf. im voraus skizzieren,
wenn wir zu seinem Thema, seiner Aufgabe kommen wollten. In dem letzten
Satze ist das Verhältnis der beiden Begriffe „Persönlichkeit" und „Kultur", welches
Verf. darlegen will, gekennzeichnet.
Mit Recht wird das Wiedererwachen der deutsch-nationalen Religion, womit
Verf. den deutschen Idealismus bezeichnet, die deutsche Zuflucht, der deutsche
Glaube genannt, die Rettung vor dem absoluten Nullpunkt.
Der Inhalt des gedankenreichen Buches gliedert sich nun nach dem, was
wir vorhin ausführten, in zwei Teile: 1. Persönlichkeit und 2. Kultur. Der erste
enthält folgende Unterteile: I. Einleitung in 15 Abschnitten, aus denen wir „Bil-
dung" und „Freiheit" hervorheben, welche die Ziele bezeichnen, nach denen der
Mensch streben soll. Die Persönlichkeit des Kulturmenschen wird in dieser Ein-
leitung in ihrem Verhältnis zu den verschiedensten Faktoren dargestellt. II. Das
Wertproblem, in 12 Abschnitten, überieitend zu dem Teil „Persönlichkeit", und
zwar A. Persönlichkeit als philosophisches Prinzip. B. Die handelnde Persönlich-
keit oder die transzendentale Freiheit. C. Die Passivität oder die persönliche
Unfreiheit.
Der zweite Teil umfaßt I. Das Allgemeine als Begriff: Wissenschaftslehre:
A. Objekt. B. Subjekt. II. Das allgemeine Motiv: Ethik. III. Das Ideal: A. Die
Bildung des Ideals: Religion. B. Die Verwirklichung des Ideals: Kunst.
Wenn vielleicht zunächst der Titel des Buches nicht ohne weiteres erkennen
läßt, was er den Lesern bieten soll, so wird man wohl auf Grund dieser Übersicht,
welche wir wiederzugeben für notwendig halten, erkennen, was man von ihm zu
erwarten hat.
Es umfaßt zunächst eine Dariegung des Begriffs der Persönlichkeit nach
Maßgabe der oben ausgesprochenen Idee des freien Selbst, hergeleitet aus dem
Grundwesen des Menschen auf eine durch und durch idealistische philosophische
Weise, die Persönlichkeit in ihren mannigfachen Beziehungen zu den verschie-
densten Ideenkreisen, welche für den Menschen von Interesse sind, das Werde-
problem, welches für alle menschlichen Dinge von der größten Bedeutung ist,
die Darstellung der Persönlichkeit als philosophisches Prinzip, die handelnde
Persönlichkeit oder die transzendentale Freiheit, endlich die Passivität oder die
persönliche Unfreiheit. — In dem die Kultur behandelnden Abschnitte gibt es
drei Gedankenkreise von Wichtigkeit, zuerst die Wissenschaftslehre, die als Ob-
jekt der sie erfassenden Persönlichkeit als Subjekt gegenübergestellt wird, sodann
die Ethik, deren Gesetze auf die ganze Kulturentwicklung von bedeutender Ein-
W. V. Gwinner, Schopenhauers Leben, angez. von R. Jonas. 327
Wirkung sind, und endlich das Ideal, welches gebildet wird durch die Religion
des Idealismus und seine sinnliche Gestaltung findet in der Kunst in ihren mannig-
fachen Formen und Gebilden, auf ihren verschiedenen Gebieten.
Es ist ein ganz eigenartiger Stoff, den Verf. sich zur Behandlung gewählt
hat. Wenn vielleicht auch gelegentlich der eine oder andere der von ihm erörterten
Hauptgedanken zur Darstellung gelangt ist, so haben wir unseres Wissens bisher
noch nicht eine solche zusammenfassende Behandlung des Verhältnisses der beiden
Begriffe, die vereint gewissermaßen die ganze geistige Weltentwicklung ausmachen,
und des Ideals, dem die Persönlichkeit und durch sie die Kultur entgegenzu-
streben hat.
Wenn wir die Bedeutung der durchweg geistvollen Ausführungen des Verf.
zusammenfassen und in ihrem Hauptsinne kennzeichnen sollen, so könnten wir
etwa so sagen: Es handelt sich hier um die hohen geistigen Aufgaben, welche
die kulturelle Entwicklung der Menschen zu lösen hat, und zwar durch die Per-
sönlichkeit des Menschen, die auf die erhabensten Ziele hingerichtet sein muß;
es handelt sich um den großen Anteil, welchen der Mensch infolge der ideal ge-
steigerten Persönlichkeit an der Kulturentwicklung zu nehmen hat. Die Grund-
idee, auf der die ganze menschliche Kulturentwicklung zu ruhen hat, ist die Reli-
gion des Idealismus, wie er in der Geistesgeschichte der edelsten Völker, besonders
des deutschen Volkes, hervorgetreten ist, und wie er sich an eine ganze Reihe von
bedeutenden Namen knüpft, die in der Geschichte des deutschen Geisteslebens
vorhanden sind. Dem Verf. schweben die höchsten Ziele vor, welche die Mensch-
heit auf den verschiedensten Geistesgebieten erreichen soll; durch sein Buch zieht
sich die Zuversicht hindurch, daß sie auch erreicht werden können. Das Buch
ist frei von jedem Pessimismus und wirkt daher erfrischend und aufmunternd
zur Arbeit an der Verwirklichung des Ideals der Persönlichkeit und der Kultur,
So ist sein Werk für jeden idealistisch angelegten Menschen bestimmt und
geeignet, allerdings nur für den, der sich mit philosophischen Materien schon ein-
gehender beschäftigt hat. Dies ist wohl Voraussetzung, denn sonst würde ihm
doch in dem überaus inhaltreichen Buche, welches die gründlichsten philosophischen
Studien und eine sehr reiche Gedankenwelt verrät, jedoch hinsichtlich seines
Stiles an schwierigere Philosophen, wie z. B. Engel, erinnert, manches nicht so
recht klar werden. Aber der denkende Leser, welcher ernste Gedankenarbeit nicht
scheut, wird an dieser trefflichen Apologie des Idealismus und der Darstellung
der Persönlichkeit und Kultur, der höchsten Probleme der Menschheit, seine
Freude haben. Wird doch hier eine große Anzahl von Punkten erörtert, die jeden
ideal angelegten Menschen interessieren müssen.
V. Gwinner, W., Schopenhauers Leben. Dritte, neugeordnete und ver-
besserte Ausgabe. Mit 4 Porträts und 1 Steindrucktafel. Leipzig 1910. F. A.
Brockhaus. XV u. 439 S. 8«. 6 M.
Das aus der Feder des einzigen noch lebenden persönlichen Freundes des vor
50 Jahren verewigten Philosophen stammende Buch war in zweiter Auflage vor
30 Jahren erschienen. Schon bei seinem ersten Erscheinen hat es wegen der in ihm
enthaltenen Fülle von Mitteilungen und Aufzeichnungen Schopenhauers selbst
328 W. V. Gwinner, Schopenhauers Leben, angez. von R. Jonas.
und wegen der eingehenden interessanten Darstellung bei allen Freunden des
Philosophen eine sehr günstige Aufnahme gefunden. Unter Benutzung der in den
letzten drei Jahrzehnten noch hinzugekommenen Schopenhauer-Literatur hat der
Verfasser sein Werk jetzt, nachdem seit Schopenhauers Tode 50 Jahre vergangen
sind, in neuer Bearbeitung herausgegeben und damit seinem Freunde ein treffliches
Denkmal gesetzt und der großen Schopenhauergemeinde eine Quelle für eine Ein-
sicht in das Leben und das Wesen des Philosophen dargeboten, wie sie besser nicht
sein kann.
Nach einer Untersuchung über den Ursprung der Familie Schopenhauer — der
Stammbaum konnte bis ins sechzehnte Jahrhundert festgestellt werden — folgt
die Schilderung der Jugend des am 22. Februar 1788 zu Danzig geborenen Philo-
sophen. Unter Benutzung von mancherlei Aufzeichnungen seiner geistvollen
Mutter über ihren Sohn führt uns das Buch durch die Jugend des hochbegabten
und für geistige Beschäftigung jeglicher Art lebhaft interessierten Arthur Schopen-
hauers. Seine Knabenjahre waren infolge mehrfachen Wechsels des Aufenthalts
der Eltern ziemlich bewegt. In Hamburg trat er nach vollendeter Schulbildung
in ein kaufmännisches Geschäft ein. Später, nach dem Tode seines Vaters, widmete
er sich dem Studium, und zwar dem der Philosophie und der Naturwissen-
schaften. Der ganze Studiengang und die mancherlei Schicksale, sein Leben mit
den äußeren und inneren Kämpfen, sein Verhältnis zu einer ganzen Reihe
von interessanten Persönlichkeiten, alles das wird in 15 Kapiteln in fesselnder
Darstellung geschildert. Von besonderer Wichtigkeit ist auch der Zusammen-
hang der äußeren Erlebnisse mit der inneren Entwicklung. Aus allen solchen
Betrachtungen gewinnt man auch den Standpunkt, von welchem aus man die An-
fänge seiner philosophischen Anschauungen erkennen kann, die mit ihren pessi-
mistischen Auffassungen in mancherlei schon in der Jugend empfangenen Ein-
drücken wurzelten. Alles dies schildert der Verfasser in eingehender Weise, ebenso
die Entstehung der Schriften Schopenhauers, vor allem seines Hauptwerkes: Die
Welt als Wille und Vorstellung. Und das geschieht unter Benutzung und viel-
fach wörtlicher Anführung von Äußerungen des Philosophen selbst oder solcher
Personen, mit denen er in Beziehungen stand. Diese Äußerungen und Mitteilungen
sind zum Teil ziemlich umfangreich, so das an einen ungenannten Engländer ge-
richtete, von einer englischen Übersetzung der Werke Kants ins Englische han-
delnde Schreiben. Die in englischer Sprache verfaßten Schriftstücke Schopenhauers
sind auch in deutscher Übersetzung hinzugefügt.
Wir können auf den reichen Inhalt des interessanten Buches hier nicht näher
eingehen. Es genügt, zu sagen, daß es eine ganz vorzügliche Quelle der genaueren
Kenntnis des bisweilen angefochtenen und viel bewunderten Philosophen ist.
Aus ihr werden alle seine Freunde mit Vergnügen schöpfen, und sie werden dem
Verfasser für seine mühevolle Arbeit sehr dankbar sein. Vier Bildnisse, die dem Buch
beigefügt sind, tragen zur Belebung der Darstellung wesentlich bei; nämlich: Arthur
Schopenhauer im Greisenalter, Floris Heinrich Schopenhauer (sein Vater) im
40. Lebensjahre, Arthur Schopenhauer im 21. Lebensjahre und Johanna Schopen-
hauer (seine Mutter) nach einem Porträt aus der Zeit von 1820. Außerdem bietet
es dreifachen Anhang: I. Drei Umrisse von Schopenhauers Schädel; II. zwei
A. Messer, Das Problem der Willensfreiheit, angez. von R- Jonas. 329
Verzeichnisse Schopenhauers der von ihm gelesenen lateinischen und griechischen
Klassiker und III. Ansprache bei der Enthüllung des Denkmals für Schopenhauer
in Frankfurt a. M. am 6. Juni 1895.
Seltsam ist es, daß das Werk nicht in der jetzt für die Schüler angeordneten
und auch sonst meist angewandten Rechtschreibung gedruckt worden ist.
Messer, A., Das Problem der Willensfreiheit. (Wege zur Philo-
sophie. Schriften zur Einführung in das philosophische Denken. No. 1.) Göt-
tingen 1911. Vandenhoeck & Ruprecht. 102 S. 8«. 1,50 M.
Das in diesem Buche behandelte Problem hat sonst wohl nur selten eine für
weitere Kreise berechnete und geeignete Behandlung gefunden. Wie bei allem,
was seelischer Charakter ist, muß man auch hier auf die Psychologie zurückgehen,
denn sie umfaßt ja alle seelischen Regungen. Es beruht das alles auf Selbstwahr-
nehmung und Selbstbeobachtung. Der Wille entsteht nun aus einzelnen, vorüber-
gehenden Wallungen. Irgend ein Entschluß ist natürlich immer das Ergebnis
desselben. Und alle müssen auch ihre Ursachen haben, in einem Begehren. Diese
und andere damit zusammenhängenden Erwägungen führen naturgemäß zu Über-
legungen, namentlich in Beziehung auf das Können bzw. Nichtkönnen, dann aber
auch weiter darauf, ob das Erstrebte erlaubt ist oder nicht. Die Überlegung wird
nach dem Verfasser auch als Kampf der Motive bezeichnet. Wenn eine Willens-
handlung gelingt, so ist damit in der Regel ein Gefühl der Freude, der Lust, ver-
bunden, und eine Steigerung des Selbstvertrauens wird als eine Folge des Könnens
das Gefühl der Freiheit. — So erörtert Verfasser in seinem ersten Abschnitt die
psychologische Grundlage des Wollens, um dann im zweiten auf die Verwendungs-
weisen der Freiheit überzugehen. Der Darstellung des Begriffs der Freiheit bei den
Menschen widmet Verfasser eine längere Betrachtung, welche zu dem Ergebnis
kommt, daß es mißverständlich sei, wenn man den Gegensatz kurzerhand so be-
zeichnet, daß der Indeterminismus die Freiheit, der Determinismus die Unfreiheit
des Menschen bedeutet. Die Streitfrage sei vielmehr die: in welchem Sinne
dem Menschen Freiheit zuzusprechen sei, ob insbesondere für das Zustandekommen
seines Wollens das Kausalitätsgesetz gelte oder nicht. Des weiteren betrachtet nun
Verfasser das Problem des Indeterminismus zunächst vom psychologischen, dann
vom ethischen und endlich vom erkenntnistheoretisch-metaphysischen Standpunkt
aus. Die psychologische Erörterung führt zu dem Freiheitsbewußtsein. Frei weiß
sich der Mensch von der Nötigung zu einem bestimmten Entschluß, frei weiß er
sich auch im Bewußtsein der Aktivität, die Motive hängen in ihrer Stärke von dem
Ich selbst ab. Alle Strebungen faßt man wohl unter dem Begriff des Charakters
zusammen. Aus diesem heraus werden die Entschlüsse der Menschen erklärt.
Auch Grade der Freiheit sind zu unterscheiden, nach Lebensalter und auch sonst.
Die ethische Betrachtung führt zu dem Begriff der sittlichen Freiheit, welche als
das Ziel jeder Erziehung bezeichnet werden muß. Ob man hinsichtlich der Willens-
tätigkeit und in welchem Umfange man die Geltung des Kausalgesetzes anzunehmen
habe, darüber könne nur die Erfahrung entscheiden. Auch innerhalb des Welt-
geschehens gäbe es ursachlose Vorgänge, diese seien die freien Willensentscheidungen.
— Auch den Determinismus betrachtet Verfasser nach denselben drei Gesichts-
330 A. Messer, Das Problem der Willensfreiheit, angez. von R. Jonas.
punkten. Vom psychologischen Standpunkt ist zuzugeben, daß nach den Deter-
ministen Freiheitsbewußtsein während der Überlegung vorkomme, ebenso, daß
bei Willensentscheidungen das Bewußtsein der Selbsttätigkeit, der Aktivität vor-
handen sein könne, obgleich auch Willensakte mit dem Charakter der Passivität
vorkommen. Auch daß sich der Mensch für sein Handeln verantwortlich weiß, ist
leicht zu erklären. Während aber manche Deterministen erklären, das Ich bedeute
nichts weiter als den einheitlichen Zusammenhang aller Bewußtseinsvorgänge,
meinen andere, der Determinismus sei nicht durchaus an diese „subjektlose" Psy-
chologie gebunden. Die sittlichen Wertschätzungen, die Vorstellung der Pflicht,
der moralischen Norm kommen nach dem Deterministen bei dem Werk der Motive
untereinander nur insofern in Betracht, als in dem Individuum selbst eine Nei-
gung bestehe, jenen Normen entsprechend zu handeln. In der Willensentscheidung
gehe aus der jeweiligen psycho-physischen Beschaffenheit des Individuums mit
Notwendigkeit hervor, die Entwicklung des Charakters sei ein eindeutig bestimmter
Prozeß, der in seinem ganzen Verlauf mit kausaler Notwendigkeit erfolge. Die
ethische Betrachtung führe dazu, daß die sittlichen Normen als absolute Gebote
an uns herantreten und in eigenen Genüssen als solche erlebt werden. Fraglich
sei es, ob dem absoluten Sollen auch ein absolutes Können entspreche, wenngleich
die Fähigkeit sittlich zu wollen und zu handeln vorausgesetzt werden kann. Beson-
ders interessant sind die Ausführungen des Verfassers über die Stellung der Deter-
ministen zu dem Begriff der Zurechnungsfähigkeit unter Bezugnahme auf Schuld
der Strafe nach dem Gesetze: Der Determinist will, daß stets die Vergeltung
im Strafrecht allmählich der Schutz der Gesellschaft und ihrer Rechtsordnung
leitende Idee werde. Wenn die menschlichen Willensakte als kausal notwendig
betrachtet werden, wenn man sie aus Motiven, Charakteren, sozialem Milieu er-
klären will, so verhalte man sich ihnen gegenüber erkennend; es gelte aber für den
Menschen, auch eine weitere Stellung einzunehmen, er müsse auch sittliche Wert-
ideale fassen. Die erkenntnistheoretische Betrachtung gelangt zu dem Ergebnis,
daß der Mensch Freiheit des Wollens besitze, wenn sich diese aus seinem Charakter
ergebe, und daß ihm sittliche Freiheit zukomme, wenn sich die den sittlichen Normen
entsprechenden Tendenzen auch als die stärkeren erweisen. — In den beiden fol-
genden Kapiteln behandelt Verfasser die gegen den Determinismus und den In-
determinismus geltend zu machenden Bedenken, ebenfalls wieder von den drei
oben aufgestellten Gesichtspunkten aus, und zwar durchweg in Gestalt von Satz
und Gegensatz, in scharfer Gegenüberstellung. — Im letzten (7.) Kapitel will er
nun zur Entscheidung kommen; das Urteil soll aber dem Leser nicht abgenommen
werden. Von der psychologischen Seite her kann man nach Ansicht des Verfassers
zu einer allgemein überzeugenden Entscheidung über die Streitfrage nicht kommen.
Könne man doch auch den kausalen Zusammenhang von Bewußtseinsvorgängen
nicht unmittelbar anschaulich wahrnehmen. Hinsichtlich der ethischen Seite des
Problems könne man der Auffassung zuneigen, daß in der Tat in der spezifisch-
sittlichen Wertschätzung die Voraussetzung der Freiheit im indeterministischen
Sinne enthalten sei. Nur unter Voraussetzung der Freiheit habe es Sinn, dem
Menschen das Ideal vorzuhalten, seine natürliche Individualität zur sittlichen
Persönlichkeit umzuschaffen, der religiöse Glaube wie auch der Glaube an einen
R. Skala, Die Gemütsbefriedigung usw., angez. von R. Jonas. 331
absoluten Wert der Wirklichkeit kann sich mit der deterministischen wie der in-
deterministischen Ansicht verbinden. Man könne hoffen, daß durch die Steigerung
und Summierung der im Dienste des Guten stehenden Willensanregung dieses
im Verlauf der Weltentwicklung immer stärker zur Geltung kommt. — Wenn
das, was wir hier bieten, auch nicht eine lückenlose und vollständige Wiedergabe
der Darlegungen des Verfassers ist, so konnten wir der Versuchung doch nicht
widerstehen, sie aus den wichtigsten Punkten zu skizzieren, um dem Leser we-
nigstens ungefähr zu zeigen, was er zu erwarten habe. Eines sei hier zum Schluß
noch besonders hervorgehoben und betont: Verfasser schreibt in einer in der Tat
für jeden Gebildeten verständlichen und faßlichen Weise, und dies Buch wird bei
der Einfachheit und Faßlichkeit seiner Darstellung manchen, der es liest, gewiß
veranlassen, sich noch mehr mit philosophischen Dingen zu beschäftigen, nachdem
er hier Gelegenheit gehabt hat, sich über ein jeden Menschen interessierendes Pro-
blem in so angenehmer Weise zu orientieren.
Skala, Richard, Die Gemütsbefriedigung als Angelegenheit
der Ästhetik zur Stellung der ästhetischen Eindrücke im Weltbilde.
Wien und Leipzig 1911. Wilhelm Braumüller, K. u. K. Hof- und Universitäts-
buchhandlung. 92 S. 8«. 2 M.
Verfasser geht von der unbestreitbaren Tatsache aus, daß in der modernen
Ethik die ethischen Probleme nicht immer mit Klarheit von außerethischen ge-
schieden werden. Auch Kant habe in der „Kritik der. Urteilskraft" gesagt, daß
man die Behandlung von technisch-praktischen Fragen nicht für Sache der Ethik
halten dürfe. Erscheinen sie indes in Verbindung mit irgendwelchen Neigungen
und Gefühlen für andere, dann bekämen sie allerdings eine Art ethischer Bedeutung.
Nach des Verfassers Ansicht hat die moderne Ethik eine Reinigung von manchem
nötig. Er will ihr die Last der Gemütsbefriedigung großenteils abnehmen. Wenn
man diesen Begriff klarlegen wolle, so bedürfe man dazu der Behandlung nicht nur
ethischer, sondern auch ästhetischer Fragen. Die ästhetischen Gefühle kämen aus
der anschaulich gegebenen Welt. — Des weiteren untersucht nun Verfasser die
Natur der Gefühle, wie sie die neuere Psychologie darzustellen pflegt. Sie gibt
keinen wirklichen Grund für den besonderen Wert von „höheren" Gefühlen an;
sie läßt nur Lust und Unlust als Qualitäten aller ungleichen Gefühle zu, während
ein Wertunterschied der Gefühle nur im Inhaltlichen derselben ihren Grund haben
könne. — In der nun folgenden Untersuchung der Natur des Ästhetischen werden
drei Gruppen des „Gefallenden" (denn dies ist das Ästhetische seinem Wesen nach)
unterschieden: 1. Jede Art der unmittelbaren angenehmen Eindrücke, welche wir
durch die Sinne empfangen. 2. Die zweite Gruppe des in der Außenwelt Wohl-
gefälligen ist die des „Charakteristischen". Auch hier sind bestimmte Gegenstände
die Erreger von Gefühlen (der Mensch vermittelt die mannigfaltigsten Eindrücke
des Charakteristischen, aber auch die übrige Natur: Tiere, Pflanzen, Stoffe, wie
das Wasser; vorwiegend allerdings, wie schon gesagt, der Mensch mit den verschie-
densten Gemütszuständen, Mienen, Formen, Stellungen, Bewegungen, Reden).
3. Die dritte Gruppe bilden die durch Anschauung eines Gesamtbildes der Außen-
welt bewirkten Gemütsstimmungen; Verfasser beleuchtet dies durch einige sehr
332 R. Skala, Die Gemütsbefriedigung usw., angez. von R. Jonas.
anschauliche, gut gewählte Beispiele. — Als „höhere" Gefühle pflege man nun
solche zu bezeichnen, die aus sekundären und tertiären Erlebnissen folgen, während
die niederen die aus primären Erlebnissen folgenden sind. In der zweiten und dritten
Gruppe der vorhin genannten Gefühle zeigt sich nach Ansicht des Verfassers ein
gewisser Wertinhalt. Auf diesen habe man keine Rücksicht genommen, wenn man
in der neueren Psychologie die Verschiedenheit der Gefühlsqualitäten außer Lust
und Unlust leugne.
Zur Erklärung des Wohlgefallens an den Dingen braucht man nun nichts
anderes, als was die ,, nüchterne** Betrachtung in ihnen sieht. So werde das Verlangen
nach Wissenschaftlichkeit befriedigt. Die verschiedenen vorhin genannten Arten
der Gefühle sind nun sowohl in den Künsten als auch im Leben von der größten
Bedeutung. Dabei handle es sich um das Verhältnis von Inhalt und Form. Wenn
manche der Ansicht seien, daß bei den Kunstwerken die Form alles ausmache
und der Inhalt nichts bedeute, so würden sie dadurch widerlegt, daß man bei der
Betrachtung von Kunstdingen a) den Gedankeninhalt, b) die formalen Merkmale
und c) den Gesamtcharakter der Dinge ins Auge fasse.
Die folgenden Betrachtungen ergeben, daß Verfasser mit den Anschau-
ungen Konrad Langes, mit seiner Illusionstheorie, die er geschickt an eigenartig
gewählten Beispielen erläutert, nicht übereinstimmen kann. Er glaubt ihm ent-
gegnen zu können, daß es außer dem von Lange Angeführten noch anderes gebe,
worin der Kunstwert bestehen könne, und daß Lange bei seinem Begriff Illusion
teilweise Gefühle mit bezeichnet habe, welche mit Illusion nichts zu tun haben. —
Übrigens beziehen sich die vom Verfasser gekennzeichneten Gefühle nicht allein
auf Gegenstände der bildenden Kunst und der Dichtkunst, sondern auch auf die
Tonkunst. Den von Richard Wagner gemachten Unterschied zwischen unmittel-
barer und mittelbarer Gefühlsmitteilung kann es nicht geben, da das Gefühl einem
anderen immer nur durch sinnliche Mittel mitgeteilt werden kann. Unter Hinein-
ziehung einer Stelle aus Eucken „Der Sinn und Zweck des Lebens" erörtert Ver-
fasser die Bedeutung der Gefühle für die Welt und das Leben und kommt zu dem
Ergebnis, daß die höheren ästhetischen Gefühle über die anschaulich gegebene
Welt mehr als die ethischen sagen. Auch selbst in dem Zeitalter der aufblühenden
Naturwissenschaften, in dem man nur das an den Dingen für Wahrheit gelten
läßt, was der nüchternen Betrachtung standhält, in dem die pessimistische Stimmung
leicht der Grundton der Weltanschauung wird, erlebt man nach der Ansicht des
Verfassers noch jene Kunstgefühle. Ethische Gefühle machen aber dabei nicht alles
aus. Selbst die Beschäftigung mit einer noch so trockenen Wissenschaft kann Be-
friedigung im Menschen hervorrufen. Wenn sich der Mensch aber genauer Rechen-
schaft von seinem Zustand gibt, wird er überlegen, was an wertvollen psychischen
Inhalten überhaupt zu erreichen möglich ist. Dabei müsse er denn auf jene
„höheren" Gefühle achten. Die Folge sei dann vielfach ein Unbefriedigtsein, woraus
der Pessimismus entstehe, in dem mitsprechende Erzeugnisse der Musik und Dicht-
kunst ihren Ursprung haben. Hier setzt sich Verfasser mit Richard Wagner aus-
einander, dessen Auffassungen z. B. von der Baukunst er nicht teilen kann. Für
die Überwindung des Pessimismus handle es sich um die gehörige Berückischtigung
der ästhetischen Eindrücke. Auch die Bedeutung der Religion kommt hier in Frage.
J. H. Pestalozzi, Über Gesetzgebung und Kindermord, angez. von G. Humpf. 333
Da aber in ihr nur ein Streben nach einem jenseitigen Glück zur Geltung kommt,
so ist darin nichts inhaltlich Bestimmtes. „Das Befriedigende, sich selbst genug
Seiende auf der Welt muß in anschaulich gegebenen Inhalten gesucht werden",
es kann nicht allein im Streben liegen. Die ästhetischen Eindrücke haben nicht
nur Bedeutung in der Kunst allein, sondern sie bilden, wie Verfasser mit Recht
sagt, einen wichtigen Bestandteil jedes Bewußtseins im gewöhnlichen Leben.
Verfasser behandelt in seinem tief angelegten von philosophischem Geist
und gründlichem Studium zeugenden Hefte die Natur der ästhetischen Gefühle in
ihrer Bedeutung für die innere Befriedigung des Menschen; er betrachtet in geist-
voller Weise, welche Stellung die ästhetischen Eindrücke im Weltbilde haben.
Wir sehen in der Tat, welchen wichtigen Anteil an der Befriedigung des Gemüts
die ästhetischen Eindrücke haben, daß nicht, wie man wohl vielfach denkt, das
Ethische hier im Vordergrund stehe. Es ist ein Büchlein, welches sich an den den-
kenden Leser richtet und ihm einen Einblick in eine Welt eröffnet, die ihn in psycho-
logischer und in mancher anderen Beziehung interessieren muß.
Köslin. R. J 0 n a s. t
Pestalozzi, Joh. Heinrich, Über Gesetzgebung und Kindermord.
Wahrheiten und Träume, Nachforschungen und Bilder; 1783. Mit einer Einfüh-
rung und Anmerkungen neu herausgegeben von Dr. Karl W i 1 k e r. Leipzig
1910. Johann Ambrosius Barth. X u. 274 S. brosch. 4 M., geb. 4,80 M.
Das Thema scheint etwas abseits zu liegen von dem Interesse des Erziehers,
behandelt es doch eine Frage, die unmittelbar eher den Juristen als den Pädagogen
angeht. Indessen das Wertvolle dieser Pestalozzischen Schrift liegt weniger in dem
aufgestellten Problem an sich und den Vorschlägen zu seiner Lösung, als vielmehr
in der Art und Weise seiner Erörterung, die durchaus pädagogischen Charakters
ist. Sie wirft ein helles Licht auf den warmherzigen Kinder- und 'Menschenfreund,
dessen erhabene Leitsterne bei seinem Erziehungswerk Liebe, Geduld und Ver-
trauen waren, verbunden mit einem edlen Streben nach vollendeter Gerechtigkeit,
die sorgfältig und gewissenhaft alle dem Auge offenen und verborgenen Motive
einer Schuld abwägt, bevor sie ihr Urteil spricht. Wir bewundern den feinen Psy-
chologen, der hineinschaut bis in die tiefsten Tiefen der Seele und ihre zarten Schwin-
gungen erklingen hört wie hell tönendes Geläut. Wir bewundern den Meister der
Sprache, dem die Worte mit seltener Beredsamkeit aus dem Munde fließen, der
packt, hinreißt, begeistert und sich hier und da in seiner Darstellung zu vollendeter
künstlerischer Schöne emporschwingt. „Emporbildungen zu den edleren und
höheren Gesinnungen" ist für ihn das Allheilmittel, das der Staat sich angelegen
lassen sein sollte, der seine Bürger zu sittlicher Reinheit zu führen sich verpflichtet
hält. Welche hohe Auffassung von der Bedeutung des Erzieherberufs liegt in dieser
Mahnung! Alles in allem: ein Buch, das wohl wert ist, daß es Eingang finde in
weiteren Kreisen unseres Volkes.
Nachzutragen wäre unter den auf S. V und VI genannten Biographien Pesta-
lozzis das treffliche Werk von dem leider so früh verstorbenen Alfred Heubaum,
das den 3. Band der von R. Lehmann herausgegebenen Sammlung: Die großen
Erzieher, ihre Persönlichkeit und ihre Systeme, Berlin 1910, Reuther& Reichardt,
bildet.
334 F. Franke, Herbart, J. F., Grundzüge seiner Lehre, angez. von G. Humpf.
Franke, Friedrich, Herbart, J. F., Grundzüge seiner Lehre.
Leipzig 1909. G. J. Göschensche Verlagshandlung. VIII u. 176 S. brosch.
1,50 M., geb. 2,00 M.
Der Streit der Meinungen über Herbart ist in den letzten Jahren wieder leb-
hafter geworden. Die Kritik aber ist dabei nicht immer den rechten Weg gegangen.
Dem Zuge der Zeit entsprechend, hat man dem Bemühen, sich mit Herbart als
Philosophen und Pädagogen auseinanderzusetzen, das Prinzip der Arbeitsteilung
zugrunde gelegt. Man hat Einzelgebiete des Herbartschen Systems mit der Lupe
des Spezialisten untersucht und dabei den Zusammenhang mit dem Ganzen, inner-
halb dessen allein eine gerechte Würdigung der Teile, zumal bei einem Manne wie
Herbart, denkbar ist, außer acht gelassen. Das Büchlein von Franke, der als einer
der besten Herbartkenner der Gegenwart zu gelten hat, soll nun dem Zwecke dienen,
in engem Rahmen einen rasch orientierenden Oberblick über die Lehre Herbarts
in ihrem organischen Zusammenhange zu bieten unter Beobachtung strengster
Sachlichkeit, in möglichst unmittelbarer Anlehnung der Darstellung an Herbarts
eigenes System und unter Vermeidung jeglicher Polemik. Der Verfasser hat mit
seinem Büchlein die Herbart-Literatur um einen höchst wertvollen Beitrag be-
reichert.
Foltz, 0., Gedanken des Pädagogen und Philosophen Her-
bart. Aus Herbarts sämtlichen Werken ausgewählt und zusammengestellt.
Langensalza 1910. Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), kl. 8«. IV
u. 162 S. 1,35 M.
Das geschmackvoll ausgestattete Bändchen bringt eine Sammlung charakte-
ristischer Aussprüche Herbarts, die sowohl seiner Philosophie wie seiner Pädagogik
entlehnt sind und nach des Verfassers Ansicht Anspruch auf allgemeine Gültigkeit
und Anerkennung haben, ganz unabhängig von der persönlichen Stellungnahme
zu dem Herbartschen System. Denn „Herbart hat allen etwas zu sagen, die zum
Nachdenken über die höchsten Angelegenheiten des Lebens aufgelegt und be-
fähigt sind*'. Besonders gern möchte der Herausgeber das Büchlein in den Händen
der Zöglinge unserer Lehrer- und Lehrerinnenseminare sehen, und er denkt sich
seine Verwendung am zweckmäßigsten neben einem Lehrbuche der Pädagogik.
Daher sind die einzelnen Aussprüche, die mit genauer Quellenangabe versehen
sind, fortlaufend numeriert. Die ganze Sammlung darf auch unter Berücksichtigung
ihres weiteren Zweckes als eine vorzüglich gelungene Arbeit bezeichnet werden.
Zimmer, Hans, Führer durch die deutsche Herbartliteratur.
Langensalza 1910. Julius Beltz. VI u. 188 S. brosch. 3,60 M., geb. 4,30 M.
Das Buch verfolgt eine doppelte Absicht. Es will einmal erkennen lassen, welche
weitgehende Beachtung die wissenschaftliche Kritik in den letzten 70 Jahren Herbart
hat zuteil werden lassen und so ein a 1 1 g e m e i n e s prinzipielles Urteil über die Be-
deutung seiner Persönlichkeit auch dem ermöglichen, der mit seinem Interesse bisher
dem großen Pädagogen und Philosophen ferner gestanden hat. Das Buch will sodann
aber ein Führer und Ratgeber allen denen sein, die sich von Berufs wegen oder aus
besonderer Neigung mit Herbart eingehender zu beschäftigen veranlaßt sehen.
Um die zweckmäßige Auswahl der Lektüre rasch zu ermöglichen, schließen sich
J. F. Herbarts sämtliche Werke, angez. von G. Humpf. 335
an die Zitierung der großen einzelnen Werke kurze Referate an, die den gründ-
lichen Kenner der Herbartliteratur verraten. Die Gliederung des Inhalts ist ganz
dazu angetan, den Überblick zu erleichtern. An die Besprechung der Einführungs-
schriften reihen sich die Ausgaben an, dann folgen die Werke biographischen
Charakters, dann die, welche die Philosophie im allgemeinen, die Metaphysik,
Psychologie, Ästhetik und Ethik und Religionsphilosophie erörtern. Den Schluß
bildet die Pädagogik, die wieder nach sieben Gesichtspunkten geordnet ist. Aus-
zusetzen habe ich an dem verdienstvollen Buche des Verfassers, daß er die geg-
nerischen Werke der Herbartschen Lehre grundsätzlich übergangen hat mit der
Begründung, daß er lediglich zu Herbart hinführen wolle. Auch der gegnerische
Standpunkt kann doch sehr wohl dazu angetan sein, das Interesse für eine Lehre
zu erwecken und ihre Richtigkeit nur noch überzeugender darzutun. Und überdies
würde das sonst so treffliche Buch auch bei wissenschaftlichen Arbeiten über Herbart
ein noch willkommeneres Hilfsmittel sein, wenn es die Herbartliteratur ohne die
erwähnte Einschränkung brächte.
Joh. Fr. Herbarts sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Her-
ausgegeben von Karl Kehrbach und Otto Flügel; 15. Band, her-
ausgeben von Otto Flügel. Langensalza 1909. Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann). 295 S. brosch. 5 M., eleg. geb. 6,50 M.
Der 15. Band der von Kehrbach begonnenen und seit dessen Tode im Jahre 1905
von Otto Flügel fortgesetzten Herausgabe der sämtlichen Werke Herbarts bringt
den Schluß der Akten, die das Seminar für gelehrte und höhere Schulen in Königs-
berg betreffen. Sie gewähren uns auf Grund authentischen Materials einen Ein-
blick in das Wesen und den Betrieb des Instituts, wie wir ihn noch nicht gehabt
haben, und lassen erkennen, wie die Existenz der Anstalt mit ^er Persönlichkeit
und dem System Herbarts untrennbar verknüpft war. Der übrige Inhalt des Bandes
bringt alle Urkunden, die auf Herbart während seiner Königsberger und Göttinger
Zeit bis zu seinem Tode Bezug haben. Sie werfen interessante Streiflichter auf
seine Persönlichkeit, sein Wollen und Können, sein Dichten und Trachten. Welches
Namens sich Herbart damals in der gelehrten Welt erfreute, davon legen ein be-
redtes Zeugnis die Anstrengungen ab, die die Göttinger Universität machte, um
ihn für den durch Bouterwecks Tod freigewordenen Lehrstuhl zu gewinnen, da-
mit „er durch Ansehen des Ruhmes und Gewandtheit des Geistes der Wissen-
schaftlichkeit überhaupt aufhelfe".
Elmshorn. Gustav Humpf.
Capitaine, W., Kirchengeschichte für die Mittelklassen
höherer Lehranstalten. Cöln 1910. J. P. Bachern. VI u. 68 S.
brosch. 0,70 M., geb. 0,80 M.
Als Vorstufe zum Lehrbuch der katholischen Religion für die oberen Klassen
hat Capitaine eine Kirchengeschichte für die Mittelklassen erscheinen lassen. Sie
enthält in 21 Charakterbildern die wichtigsten Persönlichkeiten und Entwicklungs-
phasen des innerkirchlichen Lebens. Sorgfältige Auswahl des Stoffes, interessante
Gesichtspunkte der Auffassung und eine edle, stets versöhnliche Sprache kenn-
336 F. Seiier, Die Entwicklung der deutschen Kultur usw.,
zeichnen des Verfassers Arbeit. Auf nebensächliche Abweichungen und vereinzelte
Druckfehler hinzuweisen, erübrigt sich angesichts der Vorzüge, die das kleine
Büchlein aufweist. Der Anhang enthält neben der üblichen Zeittafel eine kurze
Darstellung des Kirchenjahres und der Baustile (die Erklärung der heiligen Messe
und die christliche Tages- und Lebensordnung gehört in den Katechismus) sowie
eine Auslese der schönsten Kirchenlieder in lateinischer und deutscher Sprache.
Die äußere Ausstattung in Druck und Papier ist trotz des niedrigen Preises
eine gediegene; das Büchlein verdient auch in dieser Beziehung allseitigen Beifall.
Schrimm. Noryskiewicz.
Seiler, Friedrich, Die Entwicklung der deutschen Kultur
im Spiegel des deutschen Lehnworts. Halle, Waisenhaus.
L Die Zeit bis zur Einführung des Christentums. 2. Aufl. 1905. XXV u. 118 S.
2,20 M. IL Von der Einführung des Christentums bis zum Beginn der
neueren Zeit. 2. Aufl. 1907. XIX u. 263 S. 3,80 M. III. Das Lehnwort der
neueren Zeit. Erster Abschnitt. 1910. XVI u. 430 S. 6 M., geb. 7,20 M.
„Die Kultureinflüsse, denen wir im Laufe der zwei Jahrtausende, auf die
wir zurückblicken können, von andern Völkern her ausgesetzt gewesen sind, haben
in unserer Sprache ihre deutlichen Niederschläge zurückgelassen, und wir können
an der Hand der Lehnwörter unserer Sprache einen Einblick in die Reihenfolge
und Art der ausländischen Einflüsse gewinnen, denen wir im Verlauf unserer
Volksgeschichte ausgesetzt gewesen sind**, so bezeichnet der Verf. näher den Leit-
gedanken seines Werkes und zugleich das Interesse, das nicht bloß Germanisten
und Kulturhistoriker, sondern auch die weiteren Kreise aller wissenschaftlich
Gebildeten an diesem Werke nehmen müssen. Letztere um so mehr, als Seiler
es verstanden hat, bei gründlichster gelehrter Beherrschung des Stoffes doch die
Gelehrsamkeit nie weiter hervortreten zu lassen, als es das Interesse allgemeineren
Verständnisses erlaubt, und das Ganze in zusammenhängender, stets fesselnder
Darstellung vorzutragen. Es ist ein auf der Höhe der neueren Sprachforschung
stehendes populär-wissenschaftliches Werk im besten Sinne. Von besonderer
Bedeutung ist es aber für die Lehrer an höheren Schulen, und zwar nicht bloß
für die der sprachlich-historischen Fächer, des Deutschen, der Geschichte, der
alten und neuen Sprachen, sondern auch für den Religionslehrer und die Ver-
treter der Naturwissenschaften. Es gibt kein Unterrichtsgebiet, das nicht durch
gelegentliche kultur- und sprachhistorische Ausblicke in vorteilhaftester Weise
belebt und befruchtet würde.
Im 1. Bändchen, das sich auf die ersten 7 Jahrhunderte unserer Zeitrech-
nung beschränkt, gibt Verf. zunächst einen Einblick in die wissenschaftlichen
Grundlagen der Untersuchung, indem er auseinandersetzt, wie das Alter der Lehn-
wörter, je nach ihrer Teilnahme an der Lautverschiebung, zu bestimmen sei.
Insbesondere für die ältere Zeit ist nicht das Vorkommen in der Literatur das
Entscheidende, sondern der Lautbestand. So ist Pfirsich erst im 12. Jahr-
hundert belegt, muß aber wegen der Verschiebung des p von persicum bereits
vor der ahd. Lautverschiebung eingedrungen sein, ebenso Pflanze von planta u. a.
Diese Wörter geben also sichere Anhaltspunkte für die Zeit des Eindringens der
angez. von G. Boetticher. 337
südlichen Garten- und Obstkultur; es ist das 5. Jahrhundert. Welche Erschei-
nungen der Lautverschiebung im einzelnen in Betracht kommen, wird umsichtig
dargelegt. Für die n a c h der Lautverschiebung eingedrungenen Kulturwörter
sind wir dagegen im wesentlichen auf ihr Vorkommen in der Literatur ange-
wiesen, und dies gibt hier auch ein im ganzen richtiges Bild, da das lite-
rarische Schaffen immer umfangreicher wird und das Vorkommen der Wörter
viel weniger dem Zufall unterliegt.
Die eigentliche Stoffbehandlung beginnt dann mit einem Blick auf die Wander-
zeit der Germanen, die sie aus der russischen Steppe — der Verf. weiß natürlich
sehr wohl, daß über die Urheimat sehr gestritten wird — in das Land zwischen
Weichsel und Elbe führte. Aus ihr leitet er Wörter, wie Pfad, Silber, Pflug, Hanf,
Lein, Schiff, Erbse, Rübe, Affe her, die nicht urgermanisch sind, aber auch keiner
noch bekannten Sprache entlehnt sind. Auf den Weg der Wanderung lassen
sich also aus der Sprache keine Schlüsse ziehen. Dann aber läßt sich deutlich
die Berührung mit den Kelten feststellen, die so innig wurde, daß viele Kultur-
wörter noch vor der Lautverschiebung vermutlich von beiden gemeinsam ge-
bildet wurden, wie Eid, Geisel, Wechsel, Furt u. v. a., die also nicht als Ent-
lehnungen anzusprechen sind, während sich später die Kelten selbständig weiter
entwickeln und dann den Nachbarn spenden, so das Eisen und damit die Be-
zeichnungen der Gerätschaften, wie Gabel, und staatlich-politische Bezeichnungen,
wie vor allem Amt und Reich. Alle diese Entlehnungen sind aber gering
gegenüber dem Einflüsse der Römer von Beginn unserer Zeitrechnung an. Diesen
betrachtet der Verf. nunmehr in drei großen Abschnitten: 1. Kriegswesen, Ver-
waltung und Handel, 2. Steinbau und Weinbau, 3. Landwirtschaft und Gewerbe.
Eine vollständige Revolution des häuslichen und wirtschaftlichen Lebens der
Nation, der Übergang vom Natur- zum Kulturvolke zieht an unserem geistigen
Auge vorüber, bezeugt von den Lehnwörtern, deren Fülle auch den philologisch
gebildeten Leser überrascht. Den Schluß des ersten Bandes bilden die ersten
kirchlichen Entlehnungen: Kirche, Pfinztag (der 5. Tag), Samstag, Pfaffe, Teufel,
Engel, Pfingsten, die sämtlich auf das Griechische und somit auf den Arianismus
weisen, der sich von den Goten aus verbreitete. Durch sie werden die geschicht-
lichen Berichte in bedeutsamster Weise ergänzt, denn die unausrottbare Ein-
bürgerung dieser Wörter, die sich auch unter dem Hochdruck der lateinischen
Terminologie (ecclesia, clericus, sabbatum) behaupteten, wirft ein Licht auf die
Bedeutung und Verbreitung des Arianismus unter den deutschen Stämmen. Aber
auch Entlehnungen aus der lateinischen Kirchensprache sind schon vorhanden,
wie Mönch, Pfarre, Pfründe, von denen letztere die erste Stufe der Lautverschie-
bung mitgemacht haben (p: pf), also schon um 600 angenommen sein müssen,
ein Beweis, daß die christlichen Einflüsse bereits vor der eigentlichen Bekehrung
der Deutschen mächtig waren.
Damit treten wir in die zweite große Kulturperiode ein, die, von der Ein-
führung des Christentums in Deutschland bis zum Ausgange des Mittelalters rei-
chend, zunächst ganz unter dem Einflüsse der lateinischen Kirchensprache steht,
eine Gelehrtensprache bildet, in den Klöstern die mächtigsten Förderer auch
materieller Zivilisation besitzt, bis einerseits die Kreuzzüge und das Rittertum
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 22
338 F. Seiler, Die Entwicklung der deutschen Kultur usw.,
Frankreich und den Orient, anderseits die kaiserliche Politik Italien zu schier
unerschöpflichen Quellen neuer Kulturwerte und Kulturbegriffe machen. Dieser
Periode ist der zweite Band gewidmet; näher auf den reichen und immer inter-
essant vorgetragenen Inhalt einzugehen, ist hier unmöglich.
> Der dritte Band gibt in den ersten drei Kapiteln mehr allgemeine und theo-
retische Erörterungen über die Einwirkung des Latein im Zeitalter der Reformation
und des Humanismus (Kap. I), über lateinische und französische Elemente in
der Wortbildung (Kap. II), z. B. Latinisierung französischer Laute (luxe — Luxus,
type — Typus), entlehnte Suffixe (Tischlerei, Autorität, buchstabieren), Ver-
bindung deutscher Suffixe mit fremden Wortbildungselementen (amerikanisch,
stilistisch, reformatorisch), Pluralbildung auf s in Nieder- und Mitteldeutschland
(Kinners, Jungens), und in Kap. III über den dem Französischen entnommenen
Wortschatz und dessen Kulturbedeutung. Die folgenden vier großen Kapitel
behandeln dann im Zusammenhange die Entlehnungen nach den großen Lebens-
und Kulturgebieten, das häusliche Leben (Kap. IV), das wirtschaftliche (Kap. V),
Literatur und Kunst (Kap. VI), Wissenschaft (Kap. VII) in allen ihren Be-
ziehungen und Verzweigungen.
Die drei Bände des Werkes bieten schon äußerlich in ihrem Umfang ein Bild
der drei großen Perioden, die es behandelt. Die viel ausgedehnteren Kultur-
beziehungen der zweiten Periode mit ihren viel umfangreicheren Entlehnungen
stellen sich in dem um die Hälfte stärkeren Buche dar, und die Verkehrsentwick-
lung der Neuzeit mit ihrer Hochflut von neuen Kulturwerten, die verwickelten
und für die kräftige Entwicklung bodenständiger Kultur ungünstigen politischen
Verhältnisse, die Wirkungen der Reformation, des Humanismus und der Buch-
gelehrsamkeit, das alles ließ den dritten Teil auf den fast vierfachen Umfang an-
schwellen. Der Verf. hat daher diesen Teil nur der Bequemlichkeit wegen und
nur äußerlich in zwei Bände zerlegt, von denen der zweite noch aussteht. Es dürfte
sich empfehlen, künftig den 1. und 2. zu einem Bande zu vereinigen, um drei Bände
von ungefähr gleichem Umfange herzustellen.
Jedem einzelnen Bande ist ein Wörterverzeichnis beigegeben, jedem auch
ein Verzeichnis der einschlägigen Literatur. Hoffentlich läßt sich der Verf. die
Mühe nicht verdrießen, dem noch ausstehenden letzten Bande ein Gesamtver-
zeichnis der behandelten Wörter für das ganze Werk beizugeben.
Von besonderem Interesse wird Seilers Werk schließlich dadurch, daß er
sich in seinen Vorreden in gründlichster Weise mit den Sprachreinigungsbestre-
bungen der Gegenwart auseinandersetzt.
Die Veranlassung gab ihm die Besprechung der ersten Auflage des ersten
Bandes in der Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins XVI (1901) von Karl
Scheffler, einem Führer der Sprachreinigungsbestrebungen, der eben diese
zur Geltung brachte. Seiler hat sich demgegenüber in den Vorreden zur 2. Aufl.
des 1. und 2. Bandes und ebenso wieder in der zum 3. Bande, sowie an mehreren
Stellen in diesem selbst (S. 109—115, 191—197, 336—338) ausführlich ausge-
sprochen. Er ist ein entschiedener Gegner der gewaltsamen Reinigung, wie sie
unter dem Einflüsse des Sprachvereins von den Behörden, besonders der Militär-,
Eisenbahn- und Postbehörde, betrieben wird, erst recht natürlich Gegner der
angez. von G. Boetticher. 339
z. T. puristischen Bestrebungen dieses Vereins selbst. Er erklärt sich zwar ganz
einverstanden mit dem Kampf gegen die fremdländischen Ladenaufschriften,
Annoncen u. dgl. (robes et manteaux), aber die Übernahme von Fremdwörtern
mit dem Eindringen der sie bezeichnenden Gegenstände oder Ideen hält er für
eine notwendige, nützliche und angenehme Bereicherung unserer Sprache, ja für
ein Lebenselement, dessen Beseitigung einen gewaltsamen Eingriff der Buch-
gelehrten in die natürliche geschichtliche Entwicklung bedeutet und daher nur zu
Geschmacklosigkeiten und Verleugnung des Sprachgeistes führen kann. Das
Reinigungsgeschäft — und daß dieses eine gewisse Berechtigung hat, leugnet
auch Seiler nicht — will er ausschließlich dem Sprachgeiste selbst überlassen,
der von selbst in seinen literarischen Erzeugnissen das ihm Widerstrebende ab-
stößt, das anpassungsfähige Fremde aber behält und allmählich sich einordnet.
Diese Anschauungen sind im Prinzip ganz gewiß richtig, und eine Fülle von
Beispielen stützen sie. Man denke nur an die Sprachmengerei des 17. und 18. Jahr-
hunderts und die Beseitigung ihrer Auswüchse nicht durch die Sprachgesellschaften,
sondern durch die Literatur. Aber ist es nicht auch eine berechtigte Regung des
Sprachgeistes, wenn neben den Dichtern und sonst führenden Schriftstellern ge-
bildete Männer darüber nachdenken, wie Fremdwörter, die noch nicht zu all-
gemein verständlichen Lehnwörtern geworden sind, durch deutsche Bildungen
ersetzt werden können? Diese Versuche brauchen keineswegs immer den Cha-
rakter des Tintendeutsch zu tragen, sie können sehr wohl aus gesundem und
schöpferischem Sprachgefühl hervorgegangen sein. Ich wüßte nicht, was sich
gegen Bahnsteig, Abteil, Warenhaus, Kundgebung, Dienstunterricht, Geschäfts-
stelle, Ausschuß, Straßenbahn, Speisehaus, Trauerspiel u. v. a. einwenden ließe.
Solche Verdeutschungen sind tatsächlich schon durchgedrungen und beweisen
dadurch ihre Berechtigung, auch wenn sie von den Behörden oder vom Sprach-
verein ausgegangen sind. Allerdings sind es Zusammensetzungen,'und es ist zweifel-
los wahr, daß wir neue Begriffe, insbesondere Verdeutschungen von Fremd-
wörtern meist nur durch Zusammensetzungen bilden können, die leicht schwer-
fällig oder geschmacklos klingen können und den eigentümlichen Vorstellungs-
inhalt des Fremdworts oft nicht treffen. Aber hier wird das Sprachgefühl eben-
falls seine Schuldigkeit tun. Es m u ß ja nicht um jeden Preis verdeutscht sein,
und man wird ein Fremdwort gern behalten, das seinen nur ihm eigentümlichen
Vorstellungsgehalt hat, z. B. Explosion, um dessen Verdeutschung sich der Sprach-
verein (s. Seiler II, Vorrede S. IV) vergeblich bemüht hat. Nur gegen die Wieder-
gabe von Fremdwörtern durch deutsche Komposita an sich ist nichts zu sagen,
denn das ist nun einmal eine eigentümlich deutsche Art der Wortbildung im
Gegensatz zu der französischen Umschreibung mit de. Die oben genannten Ver-
deutschungen sind genau so gut wie Haustür, Gartenhaus, Hofhund, Tischdecke,
Schreibtisch usw., und die wird Seiler gewiß ausnehmen, wenn er I, S. XXIV,
zum Kampfe gegen den Kompositionsunfug, „das Erbübel unserer Sprache",
aufruft. Dieser Kampf dürfte vergeblich sein, denn er richtet sich gegen den
Sprachgeist selbst. Schließlich spielt hierbei doch auch die Gewöhnung eine große
Rolle. Warum z. B. das einfache „Offizierhaus" nicht allmählich ganz dieselbe
Vorstellung auslösen sollte wie Offizier-Kasino, vermag ich nicht einzusehen.
22='=
340 F. Seiler, Die Entwicklung der deutschen Kultur usw.
Nennen doch z. B. studentische Korporationen ihr „Kasino*' einfach ihr ,,Haus"
und meinen damit ganz dasselbe. Nun gar den Spott der Ausländer über unsere
„Wortungeheuer" oder ihre Klagen darüber, daß „in Deutschland immer alles
anders heiße", ins Feld zu führen (Seiler I, S. X u. XIX), geht wirklich nicht an.
Wir haben doch keine Veranlassung, unsere Sprache dem Bedürfnis der Aus-
länder anzupassen, wie Seiler I, S. XXIII, unten zu wünschen scheint, und des-
halb eine ihrer wesentlichen Eigentümlichkeiten zu bekämpfen, eine Eigentümlich-
keit, die wir mit keiner geringeren als der edlen griechischen Sprache teilen, der
die Mannigfaltigkeit ihrer Zusammensetzungen (man denke nur an die mit cpiXo?,
immer als ein besonderer Vorzug nachgerühmt ist. Niemand wird leugnen, daß
geschmacklose und schwerfällige Zusammensetzungen vorhanden sind und be-
sonders bei den Verdeutschungsbestrebungen auftreten, aber ihnen gegenüber
wird der Sprachgeist seines Amtes ebenso walten wie gegenüber Fremdwörtern,
die nicht anpassungsfähig sind. Da wird auch keine amtliche Vorschrift helfen.
,, Truppenstandort" oder bloß „Standort" für „Garnison" und „Unterkunft"
für Quartier wird sich wahrscheinlich nie einbürgern, weil diese Wörter bereits
volle Lehnwörter mit Bürgerrecht geworden sind. Auch der ,, Kraftwagen" oder
„Selbstfahrer" wird das „Auto" vermutlich nicht verdrängen, wenn man auch
Seilers Freude an dessen Abkürzungen und Ableitungen (I, S. XIX) Moppelchen,
Autler, autlen nicht teilen wird. Dagegen haben „Flugzeug", „Flieger" zweifellos
schon jetzt den Sieg über „Aeroplan" und „Aviatiker" davongetragen und damit
die Reihe guter Verdeutschungen von Fremdwörtern, die vom Sprachverein und
den unter seinem Einfluß stehenden Behörden ausgegangen sind, vermehrt; dafür
gebührt ihnen Dank.
Noch einen andern Gesichtspunkt Seilers kann ich mir nicht zu eigen machen.
Er findet, daß der Gebrauch von Fremdwörtern eine erfrischende Abwechslung
in die Rede und einen sonoren Klang in das eintönige Grau unserer tonlosen e-
Endungen bringe (S. XIII), findet daher auch Abwechslung zwischen gleich-
bedeutenden deutschen und fremden Wörtern sehr empfehlenswert. In seinem
Sinne wäre es also, etwa ,, Terrain" und ,, Gelände", „Lisiere" und „Saum", „equi-
pieren" und „ausstatten" gegebenenfalls abwechselnd zu gebrauchen, wie man
Synonyme gebraucht, aber ist es wirklich berechtigt, fremde Worte, die die Mutter-
sprache vollgültig ersetzt hat, für Liebhabereien zu erhalten? Mit dem sonoren
Wohlklang hat es auch seine eigene Bewandtnis. Mag das hier und da richtig
sein, wie besonders bei den militärischen Ausdrücken, aber „Expropriation",
„Obstruktion", „Konstitution" u. v. a. sind doch wirklich keine ohrerfreuenden
Bildungen. Führt Seiler diese auch nicht an, so kann er sie doch von seinem
Standpunkte aus nicht ablehnen. Und endlich, wenn Fremdwörter verschwinden,
die einst neue Kulturwerte bezeichneten, so wird dadurch noch lange nicht das
Verständnis unserer eigenen Vergangenheit — dies ist ein weiterer Gesichtspunkt
Seilers — gehemmt, denn für den Verkehr ist das gleichgültig, und der Gelehrte
und höher Gebildete wird ja wohl die Fremdwörter der Vergangenheit verstehen,
auch wenn sie nicht mehr zur Umgangssprache gehören. Als Wegweiser zum Ver-
ständnis der Vergangenheit können sie überdies bei ihren so eigenartigen Wand-
lungsprozessen nur in beschränktem Maße gelten. Man denke nur an das aus-
angez. von G. Boetticher. 341
gestorbene Chaise und dessen Ersatz durch das schwerfällige und unschöne Equi-
page, das sich neben dem einfachen, jetzt wohl von Gebildeten allgemein ge-
brauchten ,, Wagen" wie gespreiztes Gigerltum ausnimmt und gar keine geschicht-
liche Bedeutung hat.
Zum Schluß noch eins. Seiler führt zugunsten der Fremdwörter auch an,
daß z. B. die Engländer weit mehr Fremdwörter, nämlich den romanischen Ein-
schlag, in ihrer Sprache haben, der mindestens die Hälfte des Wortschatzes aus-
macht. Diese Parallele darf man, glaube ich, nicht ziehen, denn durch die roma-
nische Eroberung Englands ist wirklich eine Mischsprache entstanden, die der Misch-
bevölkerung entspricht und von ihr einheitlich gestaltet ist. Der romanische Wort-
schatz des Englischen fällt ausnahmslos unter den Begriff des „Lehnworts", d.h. der
vollständigen Einfügung in die Muttersprache derart, daß man den fremden Ur-
sprung nicht mehr empfindet. Im Deutschen ist das anders. Eine ganz scharfe
Grenze kann man allerdings zwischen Lehnwort und Fremdwort auch hier nicht
ziehen, und manche Wörter sind auch in ihrer fremden Form tatsächlich schon
Lehnwörter geworden, wie Interesse, Chaussee, Omnibus. Das beachten wohl
die Sprachreiniger nicht immer. Aber der Kampf des Sprachvereins richtet sich
im Grunde doch nur gegen die unnötigen, noch nicht allgemein heimisch
gewordenen Fremdwörter, z. B. nicht gegen die internationalen wissenschaftlichen
Termini, wenigstens grundsätzlich nicht. Karl Scheffler mißbilligt mit
Seiler ausdrücklich Preisausschreiben für Übersetzung (oder besser Ersatz) unüber-
setzbarer Fremdwörter und betont nachdrücklich, daß nur gute und geschmack-
volle Verdeutschungen Berechtigung haben. Er beklagt sich in seinen Erwide-
rungen (Zeitschrift 1905, No. 3, 1912, No. 3) mit Recht darüber, daß es nach
Seilers Darstellung den Anschein habe, als betreibe der Verein „Fremdwörter-
hatz" um jeden Preis. Daß Obereifer und Geschmacklosigkeiten vorkommen,
bestreitet er nicht, und gewiß wird er auch zugeben, daß Behörden mit dem „heil-
samen Zwang" zur Anwendung von Verdeutschungen vorsichtig sein müssen.
Die in Rede stehenden amtlichen Vorschriften sind ja im Grunde nur Versuche,
Verdeutschungen auf ihre Lebensfähigkeit hin zu prüfen und werden eingebürgerte
und bequeme Fremdwörter wie Garnison und Quartier nicht verdrängen. Man
spanne also auch im Sprachverein den Bogen nicht zu straff und halte die Puristen
in Schranken.
Einen Weg zur Verdeutschung des Lehngutes gibt übrigens auch Seiler an:
man solle die Fremdwörter nur ausnahmslos deutsch schreiben, also wie Offizier,
Militär, Scheck, auch Redaktor, Schossee, Basseng usw., aber das ist doch nur
ein äußerlicher Notbehelf. Wir werden immer wirkliche Verdeutschungen, wo
sie sich zwanglos bieten, also hier Schriftleiter, Becken — und warum nicht auch
nach Goethe, Hermann und Dorothea I, ,, Dammweg", oder wie in Österreich
„Straße"? — vorziehen.
Der Kern der Ansichten Seilers läßt sich in wenige Sätze zusammenfassen,
mit denen er in der Vorrede zu 11 ^ gewisse in der Zeitschrift des Sprachvereins
wiederkehrende Anschauungen wissenschaftlich bekämpft: Die Entlehnung sei
ein durchaus volksmäßiger, natürlicher Vorgang, die Übersetzung dagegen habe
etwas Buchmäßiges, Gelehrtes, Pädagogisches an sich, nicht umgekehrt, und von
342 F. Lillge, Komposition und poetische Technik usw.,
nationaler Kraft oder Schwäche könne in dieser Frage nicht geredet werden —
natürlich abgesehen von der Fremdwörtersucht der Halbbildung. Das ist ganz
richtig, und er hat auch recht, wenn er aus dem Schweigen der Gegner folgert,
daß sich nichts Erhebliches gegen diese Sätze sagen lasse, aber trotzdem braucht
man daraus nicht zu folgern, daß es Pflicht sei, die Fremdwörter möglichst zu
erhalten. Seiler hat nur eine wissenschaftliche Erklärung des Eindringens
der Fremdwörter gegeben und dargelegt, daß Stärke und Schwäche des National-
gefühls mit ihnen an sich nichts zu tun habe. Aber der Versuch, sie allmählich
durch gute Verdeutschungen zu ersetzen, ist davon offenbar ganz unabhängig;
wenn dieses Bestreben im Volke erwacht und Erfolg hat, so hat es auch seine volle
Berechtigung. Dafür eben tritt der Sprachverein ein. Scheffler hätte daher in
der Besprechung des 3. Bandes eine Widerlegung der genannten Ausführungen
nicht damit ablehnen sollen, daß eine Verständigung doch nicht möglich sei, son-
dern damit, daß diese Wideriegung unnötig sei, weil die Sprachreinigungsbestre-
bungen — mag man in ihnen Betätigung des Nationalgefühls sehen oder nicht —
ihre geschichtliche Berechtigung unabhängig davon haben. Seine Ausführungen
behalten also selbst bei Anerkennung der Auffassung Seilers vom Wesen des Fremd-
worts ihre volle Bedeutung, und wer sich mit der Frage beschäftigt, darf sie nicht
ungelesen lassen. ~ ;
Aber diese ganze Auseinandersetzung geht ja bei diesem Werke nur neben-
her; die Vortrefflichkeit der Arbeit selbst erkennt auch Scheffler in vollem Um-
fange und rückhaltlos an. Und so sei dem Verfasser zum Schluß aufrichtigster
Dank ausgesprochen für seine gediegene und in so anmutiger Form belehrende
Gabe. Dem Schlußband kann man nur mit freudiger Erwartung entgegensehen.
Berlin. • Gotthold Boetticher.
Lillge, F., Komposition und poetische Tech]]nik der: Aio[xtj6oü?
dpioTcLot. (Ein Beitrag zum Verständnis des homerischen Stils.) Gotha 1911.
Fr.A. Perthes. 116 S. 2 M.
Die Abhandlung, ein unveränderter Abdruck aus einem 'Jahresbericht (1911)
des neuen Gymnasiums zu Bremen, berührt, wie der Verfasser selbst betont, die
eigentliche homerische Frage nur wenig. Die Stellung des fünften Buches im Ge-
samtepos (wie Lillge sich ausdrückt S. 2) wird überhaupt nicht erörtert, ebenso-
wenig, was die Überschrift 'Apiaisia eigentlich will. Solche Fragen darf man
meines Erachtens nicht aus den Augen lassen, wenn man wie der Verfasser
Buch E als geschlossene Einheit faßt und behandelt. Er bleibt bezüglich der
Herkunft der alten Überschriften bei Wilamowitz stehen, der annimmt, daß diese
aus alexandrinischer Zeit und zwar von Zenodot herstammen. Lillge schließt
daraus auf ihre Sachgemäßheit, da ja die Alexandriner dem Dichter noch so viel
näher standen als wir. Nun wohl ; aber kann man daraus wirklich auch folgern,
daß E ein einheitliches Kunstwerk sei? Und wenn man das folgert, müßte man,
überzeugt auch von des Gesamtepos Einheit und Einheitlichkeit wie der Verfasser,
nicht zunächst nach dem dichterischen Zweck (oder den Zwecken) der ganzen
Dichtung fragen? und dann erst nach der Stellung und Bedeutung des fünften Gesanges
angez. von D. Mülder. 343
innerhalb des Ganzen? Wie kann man einen Teil eines Ganzen als geschlossenes
Kunstwerk ansprechen, wie kann man untersuchen, was für eine Art Kunstwerk
es ist, bevor man nicht Natur und Zweck des Ganzen und das Verhältnis der Teile
und besonders dieses Teils zu ihm festgestellt hat? Z. B. ist die Ilias Tatsachen-
erzählung? Ist sie Heldenpreis? verschiedener oder eines einzigen Helden Preis?
Wo ist hier die Einheit in der Vielheit und besonders, wie ist mit dieser Einheit,
mit diesem oder jenem Ziel der ganzen Dichtung eine Aristie des Diomedes an
dieser Stelle und in dieser Breite zu vereinen? Es ist noch nicht lange her, daß
man das fünfte Buch als „Eindichtung*' (das Wort ist so fürchterlich wie der
Begriff) ansah. Diese Hypothese setzt voraus, daß das E eine inhaltlich und for-
mell gegen seine Umgebung sich abhebende geschlossene Einheit sei, die man eben
deshalb leicht ausscheiden könne. Daran glaubt Lillge so wenig wie ich; aber wohin
gerät nun die Möglichkeit, das E als ein Kunstwerk für sich allein zu betrachten?
Man wird bei unbefangener Überlegung und Untersuchung finden, daß vieles
in E notwendiger Bestandteil dessen ist, was ich den Gesamtrahmen der Dichtung
nenne (stelle ich mir doch das Verhältnis der Teile (der Szenen) zum Ganzen ganz
anders vor als Lillge; vgl. meine Ilias bes. S. 319 ff.), aber man wird fragen
dürfen, warum die Handlung gerade so, gerade durch Diomedes fortgeführt wird.
Innerhalb des auch in E allerorts erkennbaren Gesamtrahmens bilden sich zahl-
reiche Szenen, welche ihn zwar zur Voraussetzung haben, auf ihn sich beziehen,
auch immer wieder zu ihm zurückkehren, aber doch selbständigen Wert gewinnen.
Hier (bei den Einzelszenen) taucht denn auch die Frage nach den Quellen auf;
aber es ist eine petitio principii, wenn man für eine bunte Szenenreihe, die nur unter
einer Überschrift zusammengefaßt worden ist, eben um dieser Überschrift willen
eine Quelle erschließt — eine Diomedesquelle, wie man vor Lillge getan und
wie er selber tut. (Anders in meiner Ilias; vgl. Stellenregister zu E.)
Für diesen lautet die Eingangsfrage: Was ist des Diomedes Aristie? Schlacht-
schilderung oder Hejdenpreis? „Heldenpreis", antwortet er, „Preis des Diomedes"
und entwirft dann eine bewundernde Schilderung der Tektonik dieses den Dio-
medes preisenden Kunstwerks (zwei Höhepunkte, bestehend in Kämpfen des
Diomedes gegen Götter mit je zwei Vorstufen und zwei Ausblicken, die dann wieder
in Unterstufen (Teilvorgänge) zerlegt werden). Hier wird von Auf- und Abstiegen,
von Steigerungen, von Symmetrie, „die aber nicht schematisch ist" und derlei
gehandelt, sodaß man überrascht ist, wenn es in Teil II bei der Prüfung der
Herkunft des Stoffes heißt (S. 70) : Bei der Darlegung der Komposition des E
war von der Fiktion ausgegangen worden, als ob der Dichter den Stoff des
Gesanges frei aus sich herausgestaltet habe. Das hat er trotz seiner Tektonik,
die in ihrer hohen Wertschätzung der Symmetrie, in der Strenge des Auf baus „an
den geometrischen Stil der Vasenmalerei erinnert" (S. 45), nicht getan und zwar
hat er eine Vorlage benutzt, die in einfachem, volkstümlichem Geiste die Kämpfe
des Diomedes mit Aphrodite, Apollo und Ares erzählte. Ihr Inhalt läßt sich noch
wiedergewinnen . . . . (S. 68). Die kritische Analyse in diesem zweiten Kapitel
verhält sich zu der schulmäßigen Verhimmelung im ersten wie Wasser zu Feuer.
Verbunden werden dann die Ergebnisse beider in dem Satze, daß die Komposition
(d. h. das Aneinandersetzen der Teile) des ganzen Gesanges E jedoch dem
344 F. Stürmer, Exegetische Beiträge usw., angez. von D. Mülder.
Dichter zuzutrauen sei. Wichtige Stücke desselben, die Pandarosszene, die olympi-
schen Szenen u. a. seien sogar seine eigenen Erfindungen.
Die im ersten Abschnitt erweckte Vorstellung von einer glänzenden dichte-
rischen Leistung des Dichters von E sinkt dann noch weiter durch die Betrachtung
seiner „Stilmittel" im dritten. Es werden geprüft die schmückenden Beiwörter,
die Gleichnisse, die Monologe, Dialoge, Schlachtschilderungen, in HIB aber auch
,,die allgemeinen Gesetze, welche die volkstümliche Erzählungskunst beherrschen"
(nach Lillge in lapidarer Form aufgestellt von dem Dänen Axel Olrik, Ztschr. f.
d. A. 1909, S. Iff.), als da sind „Eingangsgesetz" und „Gesetz des Abschlusses",
Gesetz der Wiederholung und der szenischen Zweiheit, des Gegensatzes, der Zwil-
linge, das Gesetz vom Topp- und Achtergewicht, der Einsträngigkeit usw.
Das Endergebnis ist: 1. dem E zugrunde liegt ein Märchen vom „starken Hans*',
2. das Märchen wurde Sage, der starke Hans wurde Diomedes, 3. aus der Sage
wurde improvisierter Heldengesang, 4. Gesang berufsmäßiger Sänger, 5. die Sänger
traten in den Dienst des Adels; der Heldengesang wurde aristokratisch, nachdem
er bereits vorher Rezitation geworden war (auf dieser Stufe stand die alte Diomedes-
dichtung, die Vorlage für das E). 6. der Schöpfer unseres E erweiterte diese Vor-
lage, gestaltete sie um und stellte sie in einen neuen Zusammenhang, sodaß sie
ein Bestandteil eines umfänglichen Leseepos, der Ilias, wurde. Dieses Leseepos ist
schon nicht mehr recht aristokratisch, die Hochachtung vor dem Adel ist im
Schwinden; bald wird (7.) das bürgerliche Epos, die Odyssee, entstehen.
Also die Ilias ist ein Leseepos und das den Diomedes preisende Kunstwerk E
ein Bestandteil desselben — das ist alles, was der Verfasser über das Verhältnis des
Teils zum Ganzen weiß. Und unangerührt bleibt das eigentliche Problem: wie
kommt eine solche Dichtung, ein solcher Heldenpreis des Diomedes (wofür Lillge das E
hält) in die Ilias? Oder ist die Ilias nichts als eine bunte Sammlung von
epischem Lesestoff? Und für das dramatische Pathos, das die ganze Ilias durch-
rauscht, das nicht blos Rezitation, sondern überall {xt^iTjoi? in Geste und Ton ver-
langt, laute und leidenschaftliche [xijxr^oi? von der ersten Szene an, wo der Dichter
sich nach einem möglichst kurzen orientierenden Proömium sofort mit Leidenschaft
mitten in die Dinge stürzt, (vgl. meine Ilias S. 343) bis zu dem so mißverstandenen
Schlußvers, (nach welchem man eine Fortsetzung r^'kx^s 8' 'AjxocCwv für möglich ge-
halten hat und noch möglich hält), hat Lillge gar kein Gefühl. — Wie sollen wir
Homer lesen? Daß diese Frage für das Gymnasium längst dringend geworden ist,
das lehren solche Abhandlungen immer wieder aufs Neue; leider kann man nicht
behaupten, daß sie 0. Jäger (Homer und Horaz im Gymnasialunterricht) gelöst
habe. —
Stürmer, F., ExegetischeBeiträgez urOdyssee. Buch I. Paderborn
1911. Ferd. Schöningh. 120 S. 2 M.
Der Verfasser gehört zu den Leuten, deren philologisches Bemühen charakteri-
siert wird durch den Brauch, sich in ein ausschließliches Verhältnis zu dem Schrift-
steller hineinzudenken, dem sie ihre Tätigkeit geweiht haben ('Unser Dichter,
unser Held, unser Homer') und die sich nun für berechtigt und verpflichtet halten,
Andersurteilende, denen sie nicht einmal an die Schuhsohlen reichen, ohne
O. Thiergen, Methodik des neuphilologischen Unterrichts, angez. von W. Bohnhardt. 345
Ausnahme gar apodiktisch und anmaßlich abzukanzeln. Mit solchen Leuten ist nun
einmal nicht zu diskutieren. Grundsätzlich deckt Stürmer „seinen" Dichter gegen
alle „Vorwürfe", gegen allen „Tadel", gegen alle Nichtswürdigkeiten der „nega-
tiven" Kritik. Wenn er so von negativer Kritik spricht, will er damit nicht etwa
auch das Vorhandensein einer positiven Kritik anerkennen — bewahre 1 alle wissen-
schaftliche Homerkritik von Aristarch bis auf unsere Tage ist ihrem Wesen nach
negativ. Positiv ist nur das, was der Verfasser und seinesgleichen an Homer aus-
üben — was sie bescheiden und loyal „Exegese" zu nennen belieben.
Daß die Homerkritik viel Spreu enthält, vielleicht mehr Spreu als Weizen,
kann unbedenklich zugegeben werden — es ist wirklich nicht mehr nötig, Düntzer
zu widerlegen — ; aber Stürmer fegt wahllos den Weizen fort wie die Spreu. Es
fehlt ihm offenbar jede kritische Ader, jedes Unterscheidungsvermögen — es trifft
auf ihn uneingeschränkt das Urteil zu, welches ich (die Ilias und ihre Quellen S. 8)
über diese Art der Homerbehandlung gefällt habe, daß sie mehr mit Sentiments
fechte als mit Gründen, daß sie der Aufzeigung von Anstößen mit starker Betonung
der Bewunderung des (naiven und genialen, „unseres") Dichters entgegenzutreten
pflege, daß Überhebung und Unwissenschaftlichkeit ihr Kennzeichen sei.
Wie man übrigens eine Exegese des 1. Buches in Angriff nehmen kann, ohne
vorher seine Stellung zu dem Ganzen, zu gewissen grundsätzlichen Fragen fest-
zulegen und zu begründen, ist mir unerfindlich. Wie will man auch nur gelegentlich
des allerersten Verses die Frage der Nichtnennung des Namens des Odysseus
beurteilen, ohne das Problem des Verhältnisses der Odyssee zu älterer Odysseus-
dichtung zu behandeln? Entweder ist Odysseus zum 7:oXu-po7ro? av-/jp, 8? jxaXa
TToXXa -Id^yßri erst durch den Dichter der Odyssee (wie ich glaube) geworden —
dann ist die Nichtnennung doch wohl eine Ungeschicklichkeit, oder er war, wie
Stürmer hier, wo es ihm paßt, einmal mit der „negativen" Kritik annimmt, es
bereits in älterer Literatur. Wenn wir nun gleich schon im allerersten Verse einen
so starken Einfluß älterer Poesie auf unseren Text zugeben, wie sollte man nicht
allerorten auf Ähnliches verdacht sein müssen ! Somit führt ein solcher Verteidi-
gungsversuch geradewegs in die Schlingen der — Gott sei bei uns! — negativen
Kritik! Den Verfasser freilich schützt vor völligem Verderben seine glückliche
Ahnungslosigkeit gegenüber der Tragweite solcher Fragen und Antworten.
Nach dem Vorwort ist das Buch vor allem für Gymnasiallehrer und für Studenten
der klassischen Philologie bestimmt. Für diesen Zweck ist es ganz ungeeignet und
ganz unzulänglich.
Emden. Dietrich Mulde r.
Thiergen, Oscar, Methodik des neuphilologischen Unter-
richts. Zweite Auflage mit 4 Abbildungen im Texte. Leipzig und Berlin 1910.
B. G. Teubner. VH u. 159 S. geh. 3 M., geb. 3,60 M.
Das Buch, „neben der klassischen Didaktik und Methodik Münchs eine prak-
tische Pädagogik" (Engwer), ist in der ersten Auflage (1903) von der Kritik sehr
beifällig aufgenommen worden. Es bezweckte in erster Linie die Ausführung der
Bestimmungen der neuen Lehrpläne vom Jahre 1901 und eine vermittelnde Methode
346 E. Pariselle, L. Herrig: La France litteraire, angez. von W. Bohnhardt.
zu sein, die die Vorzüge der grammatischen und der Reformmethode vereint,
ihre Schwächen aber zu vermeiden sucht. Münch bekundet in dem Vorwort der
dritten Auflage der „Didaktik** seine große Wertschätzung der Thiergenschen
Arbeit und greift gerne in vielen seiner Kapitel auf sie zurück. Die vorliegende
Auflage ist etwas weniger umfangreich (159 S. gegen 183). Die Art und Weise,
wie Thiergen die Lehrmethoden charakterisiert und den Lehrgang in den ein-
zelnen Disziplinen darlegt, fordert zum Nachdenken, meist auch zur Nachahmung
auf. Wir erkennen den erfahrenen Praktiker, der durch seine fast ein Menschen-
alter umspannende Wirksamkeit an den verschiedenen Schulgattungen Sachsens
und durch den Verkehr mit hervorragenden Fachgenossen reiche Erfahrung und
tiefes Verständnis für alle möglichen Fragen gewonnen hat. Der Rahmen der Schrift
(4 Kapitel: Vorbereitung des Neuphilologen auf seinen Beruf, seine Arbeit, Lehr-
methoden und Lehrgang) ist derselbe geblieben; gekürzt wurden die Erörterungen
über Auslandsreisen, erweitert die Kapitel Transskription und Phonetik. Selbst-
verständlich haben die Ausführungsbestimmungen des Preußischen Kultusmini-
steriums zu dem Erlasse von 1908 über die Neuordnung des höheren Mädchenschul-
wesens Beachtung gefunden. — Dieser kurze Hinweis auf das wegen einer Fülle
von gesunden und treffenden Anschauungen bemerkenswerte und sich durch guten
Druck auszeichnende Buch möge hier genügen. Es wird nach des Verfassers Wunsch
dem Anfänger ein Wegweiser sein in dem Labyrinthe methodischer Fragen, das
bei seinem Amtsantritt vor ihm liegt.
Pariselle, Eugene, L. Herrig: La France litteraire. Edition
abregee. Morceaux choisis des grands ecrivains frangais du XV 11^ au XX*
siecle. Brunswick 1910. George Westermann. 8«. IV u. 369 S. geb. 3,50 M.
Dem häufig geäußerten Wunsche nach einer gekürzten, allen neuesten An-
forderungen genügenden Ausgabe des alten Herrig-Burguy-Tendering, der in
seiner 47. Auflage in der Monatschrift IV, 562 angezeigt wurde, hat Pariselle
zu unserer Freude entsprochen. Den von der Kritik gegen die alte Sammlung
erhobenen Einwänden hat er verständig Rechnung getragen und hat, wie es von einem
so feinen Kenner der französischen Literatur und erfahrenen Pädagogen wohl zu
erwarten war, seine Aufgabe mit Geschick gelöst. Die neue Anthologie dürfte
lebensfähig sein. Von dem ehemaligen Riesenband finden wir nur den Namen und
die großen Umrisse wieder; die 708 Seiten Text sind auf 280, der Kommentar von
122 auf 90 Seiten zusammengezogen. Einverstanden sind wir mit den in der Pr^face
angedeuteten Grundsätzen, welche Auswahl der Autoren und Umfang der Frag-
mente bestimmen. Maßgebend waren charakteristische Eigenart nach Form und
Inhalt; Kürzungen geschahen oft aus didaktischen Rücksichten. Unerkläriich
bleiben uns nur die Gründe für die Beibehaltung der Bruchstücke aus den klassischen
Dramen, die im Unterricht als Ganzes zu behandeln und obendrein in billigen Sonder-
ausgaben zu haben sind. Hier wäre mancher Raum für andere lesenswerte Stoffe
gewesen. Anders liegt der Fall bei dem Monolog des Figaro und der bekannten
Nasenszene im Cyrano de Bergerac. Mehr von diesen Stücken in der Klasse zu
lesen, verbietet die der Lektüre des Dramas knapp zubemessene Zeit. Den größten
Veränderungen bezüglich des Stoffes wurde das 19. Jahrhundert unterworfen,
M. Montgomery, Types of Standard usw., angez. von A. Rohs. r] 347
und das ist der Hauptvorzug der neuen Chrestomathie. Vor allem läßt Pariselle
mit wenigen Ausnahmen die für die Schule wertvollen Prosaiker (fast 30^Namen),
von denen die meisten früher schmerzlich vermißt wurden, jetzt zu Worte kommen.
Die Auswahl ist recht ansprechend. Für die Lyrik wird man jedoch am besten
wieder zu einer der neuen vorzüglichen Anthologien greifen, die durch die ganze
Oberstufe den Schüler begleiten. Zeitgemäß dünkt uns der Abdruck von Sully-
Prudhommes „Les Aeronautes". Weiser Beschränkung befleißigt sich auch der in
französischer Sprache abgefaßte Kommentar, der in ästhetisch-kritischer Beziehung
dem Lehrer freien Spielraum gewährt. Er bringt nur eine kurze für das Verständnis
der Stelle notwendige orientierende Angabe, geschichtliche und geographische
Notizen und umschreibt in Fällen, wo die Wörterbücher vielleicht in Stich
lassen, veraltete oder volkstümliche Formen. Einzelne Erscheinungen sollten^aber
den Primanern vertraut sein. Nicht immer wird auch bei den französischen Er-
klärungen eines Begriffs das Wörterbuch unentbehrlich für den Schüler (z. B.'202,
54 claie = tr eillis servant ä passer le sable). Als Ersatz für eine selbständige
französische Literaturgeschichte, von der Pariselle wegen des Umfangs der Samm-
lung absah, hat er sich auf eine chronologische Aneinanderreihung der Autoren
beschränkt und den Anmerkungen knappe biographische Einleitungen voraus-
geschickt, die er zum großen Teil seiner Histoire sommaire de la litterature frangaisejihel
Freytag-Tempsky) entnahm. Systematische Anordnung der Autoren^nach Gruppen
wäre zum besseren Verständnis der Tendenzen einer Epoche, einer Gattung, eines
einzelnen Schriftstellers viel zweckentsprechender gewesen. Auf diese Weise ließe
sich an der Sammlung, wenn auch in beschränktem Maße, Literaturgeschichte
betreiben. Durch 16 sehr gut gelungene Abbildungen von berühmten Bauwerken
(hauptsächlich aus Paris) und Landschaften, deren die Texte Erwähnung tun,
sowie durch 1 Karte und Skizze zu Thiers, la bataille des Pyramides, einen Plan von
Paris und eine farbige Karte {la France politique) kommt auch die Anschauung zu
ihrem Recht. Die inhaltlich so vielseitig ausgestaltete und, wie wir sahen, ganz neue,
aber unter der alten Flagge segelnde Chrestomathie liegt in einem geschmackvollen
und handlichen Bande vor. Der Herausgeber denkt ihn sich als ein Lektürebuch
für Anstalten, an denen dem Studium der französischen Sprache und Literatur
nur wenige Stunden zur Verfügung stehen; er verdient nach allem einen nicht so
eng begrenzten Leserkreis. -_
Düsseldorf. ' - Z f W. Bohnhardt.
Montgomery, Marshall, Types o f Standard S p o k e n E n g I i s"h and
its Chief Local Variants. Straßburg 1910. Karl Trübner. 8». 80 S." 2 M.
Das zu tieferen Studien anregende Buch enthält vierundzwanzig phonetische
Umschriften aus dem 2. Teil der von Max Foerster neu bearbeiteten 'British Classical
Authors*. Obwohl es in erster Linie für Studierende bestimmt (und auch aus den
praktischen neuenglischen Seminarübungen an der Gießener Universität hervor-
gegangen) ist, sei es doch auch in dieser Monatschrift allen Fachgenossen warm
empfohlen, die das Lesen phonetischer Texte auch im späteren Leben noch für
eine nicht ganz unnütze Beschäftigung halten, oder die sich einmal wieder in das
Studium englischer Dialektkunde versenken möchten, wenn ihnen die Gelegenheit
348 H. Lorenz, Einführung^ in die Elemente usw., angez. von H. Steckelberg.
dazu an Ort und Stelle — wie leider meistens! — nicht geboten ist. Und wer in der
glücklichen Lage ist, den Herrig-Foerster in den Händen seiner Schüler zu wissen,
wird auch für die eigentlichen Zwecke des Unterrichts reichen Nutzen aus diesen
Texten ziehen können. Sie gliedern sich in drei Hauptgruppen, von denen die erste
die sorgfältig kunstvolle, akademische Aussprache des Redners und Deklamators
{Elaborate Pronunciation), die zweite die normalen Lautbilder der Sprache der
Gebildeten (Normal Pronunciation), die dritte die schnelle, familiäre und zwang-
lose Sprache des Alltagslebens (in der z. B. die unbetonten Silben eine allgemeine
Neigung zu dem kurzen schwachen d zeigen) darstellt. Diese dritte Gruppe enthält
zunächst Umschreibungen in mustergültigem (Standard) Englisch, sodann ein
Stück aus Kingleys Xharity' in neun verschiedenen Dialekten, mit Zusammen-
stellungen der wichtigsten Kennzeichen. Die Umschrift lehnt sich — sehr zweck-
mäßig — eng an die des Grieb-Schroerschen Wörterbuchs an. Natürlich mußten,
da es sich sehr oft um feinere Unterscheidungen in Lautschattierung und Be-
tonung handelt, besondere Zeichen gefunden werden, die solche ermöglichen. Ob
deren Wahl immer glücklich gewesen ist, läßt sich hier nicht erörtern; aber es sei
doch bemerkt, daß es sehr schwer ist, zu einer Einigung über diese Einzelheiten
zu gelangen, die übrigens für die Schule ziemlich belanglos sein dürften. Selbst-
verständlich darf uns das treffliche Büchlein nicht verführen, auch in den englischen
Schulunterricht die 'Rapid Pronunciation' eindringen zu lassen; denn: 'The English
language sounds much better when properly pronounced; and foreigners are very api
to make mistakes in using contractions' (The English Scholar).
Crefeld. Alfred Rohs.
Lorenz, Hans, Einführung in die Elemente der höheren Ma-
thematik und Mechanik. Für den Schulgebrauch und zum Selbst-
unterricht. 126 Figuren. Berlin und München 1910. R. Oldenbourg. 8^ IV u.
176 S. geb. 2,40 M.
Der Verfasser, Professor an der Technischen Hochschule zu Danzig, stellt
hohe Anforderungen an die Primaner, wenn er meint, daß sie den reichen Stoff,
den das Buch bietet, bewältigen könnten. Er führt den Leser, indem er Punkt,
Gerade und Ebene im Räume, sowie krumme Oberflächen (Ellipsoide, Hyper-
boloide, Paraboloide, Zylinder- und Schraubenflächen) und Raumkurven behandelt,
recht weit in die analytische Geometrie des Raumes ein; ebenso erscheint das Kapitel
über Mechanik für den Durchschnittsprimaner selbst an Realanstalten zu reich-
haltig. Hat an einer Anstalt eine Trennung der Prima in eine sprachlich-historische
und mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung stattgefunden, dann mag die
letztere tiefer in die Geheimnisse der höheren Mathematik und Mechanik eindringen;
dann hat man es aber auch mit Schülern zu tun, die ein besonderes Interesse und
eine besondere Befähigung für diese Wissenschaften mitbringen und mit ihrem
Hunger nach neuem Wissensstoff auch größere Schwierigkeiten überwinden werden.
Das Buch eignet sich danach weniger für die höheren Lehranstalten als viel-
mehr für den angehenden Studenten. Dieser findet neben trefflichen Erläuterungen,
welche die einzelnen Kapitel der analytischen Geometrie, der Differential- und
Integralrechnung sowie der analytischen Mechanik einleiten, eine Fülle von Übungs-
F. Bendt, Grundzüge usw., angez. von H. Steckelberg. 349
Stoff, dessen Durcharbeitung die theoretischen Kenntnisse sichern und befestigen
wird. Hierbei geht der Verfasser vielfach eigene Wege; er führt z. B. frühzeitig
Polarkoordinaten ein und entwickelt mit deren Hilfe auf einfachste Weise die
Differentialquotienten der trigonometrischen Funktionen; er leitet, indem er einen
Kreiskegel durch eine Ebene schneidet, die allgemeine Kegelschnittsgleichung
ab und findet nachher die besonderen Eigenschaften der einzelnen Kegelschnitte.
Überflüssig erscheint die sogenannte elementare Ableitung der Gleichung einer
Kreistangente, da ja später mit Hilfe der Differentialquotienten die Tangenten
beliebiger Kurven bestimmt werden. Überhaupt wäre zu erwägen, ob nicht zweck-
mäßig das Kapitel über Differential- und Integralrechnung demjenigen über ana-
lytische Geometrie voranzustellen wäre.
In der Mechanik werden die Begriffe Geschwindigkeit und Beschleunigung
als Differentialquotienten entwickelt und darauf die Kapitel über Zentralbewegung,
über Kraft und Masse, über Kräftepaare und statische Momente, über die Be-
wegung starrer Körper und über die Arbeit behandelt.
Der endliche Zuwachs Ax und Ay findet sich in den Ableitungen an keiner
Stelle; so kommt es, daß in den Figuren die unendlich kleinen Differentiale dx
und d y stets als endliche Größen auftreten müssen. Im übrigen sind Druck und
Ausstattung des Buches nur zu loben; Druckfehler sind nicht gefunden worden.
Das Buch kann allen Interessenten warm empfohlen werden.
Bendt, Franz, Grundzüge der Differential- und Integral-
rechnung. Vierte, verbesserte Auflage mit 39 in den Text gedruckten Ab-
bildungen. Leipzig 1910. J. J. Weber. XVI u. 267 S. 3 M. (Aus der Samm-
lung von Webers illustrierten Handbüchern.)
Der Verfasser wendet sich in der Vorrede an „Leser, die die Mathematik nur
als Mittel für ihren besonderen Zweck betreiben; er meint daher auf strenge Beweis-
führung verzichten zu dürfen. Er rechnet und hofft nicht auf die
Gunst derMathematiker; er ist befriedigt, wenn es ihm gelingt, seinen
Lesern in kurzer Zeit das Studium der Schriften zu ermöglichen, in denen die höhere
Mathematik verwendet wird".
Man sollte nun meinen, daß ein Buch, welches in vierter und verbesserter
Auflage erscheint, weniger Anhaltspunkte zu berechtigter Kritik bieten müßte
als das vorliegende. Die Gunst der Mathematiker wird es allerdings nicht erringen;
denn es enthält Falsches, Unklares, Unkorrektes in Fülle. Im folgenden mögen
einige Fälle herausgegriffen werden:
Wenn es heißt (S. 27) : „ ^'^^ ^ = 1 ; denn die Figur läßt erkennen, daß im
Augenblick des Verschwindens für x=0 auch sin x=0 wird," so müßte aus dem
gleichen Grunde jeder Differentialquotient = 1 sein, da sein Zähler und Nenner
gleichzeitig zu 0 werden; d. h. die ganze Grundlage der Differentialrechnung wäre
hinfällig. • 1
Falsch ist (S. 84), daß der Ausdruck ^&^ übergeht in ^^f'^ ; es müßte
vielmehr heißen ^ |^'^ .
TM
?(Xi)
350 F. Bendt, Grundzüge usw., angez. von H. Steckelberg.
In Figur 5 hat die Kurve in E eine Spitze; die Tangente in diesem Punkte
steht zur Abszissenachse senkrecht. Denkt man sich die Kurve nur ein wenig
gedreht, so ändert sich die Lage des Maximums bei A und des Minimums bei B;
dagegen bleibt die Spitze E ein höchster Punkt; die Tangente in diesem Punkte
steht jedoch nicht mehr senkrecht. Damit fällt auch die Schlußfolgerung, daß ein
extremer Punkt an der Stelle liegt, wo der erste Differentialquotient gleich 0
oder 00 ist.
Falsch ist es ferner, wenn (S. 78) in dem Ausdruck für f" (x) und nachher
f"(0) der Exponent (n— 1) beim Faktor (—1) fehlt, und wenn (S.83) als erstes Glied
i(x)
der rechten Seite der Quotient —- \ genannt wird.
Unklar ist (S. 4) die Gleichung, welche die Beziehungen zwischen den Bino-
mialkoeffizienten der n ten und (n+ 1) ten Potenz eines Binoms ausdrücken soll.
Sie wird dem ungeschulten Leser auch trotz der folgenden Erläuterungen nicht
verständlicher, und sie läßt sich so leicht ausdrücken in der Form: (""^M = (") +
Das beigefügte Beispiel enthält die unkorrekte Ausdrucksweise „der 3. Koeffizient
von (a + b)^ ist gleich dem 2. und 3. Koeffizienten von (a + b) ^", anstatt zu sagen
,, gleich der Summe aus . . . .".
Ein krasses Beispiel von Unklarheit ist die — sonst so einfache — Ableitung
der Tangentengleichung (S. 102). Hier ist die Rede von den „Koordinaten einer
Tangente"; hier wird die Gleichung y=ax+m, worin y und x die Koordinaten
des Berührungspunktes, also bestimmte, sein sollen, differentiiert. Dies Diffe-
rentiieren ist überflüssig; es muß vielmehr aus der Gleichung der Kurve, deren
Tangente bestimmt werden soll, der Differentialquotient abgeleitet und dieser
dann als Richtungskonstante in die Tangentengleichung eingesetzt werden, wie
es auf S. 31 vorbereitet war und wie es auch im nachfolgenden Beispiel von der
Parabel gemacht worden ist.
Unverständlich ist ferner § 92, welcher von der Bildung der Differential-
quotienten impliziter Funktionen handelt. Hier sind anfangs u und v Funk-
tionen von x; dann wird plötzlich als spezieller Fall u= x und v= y gesetzt, und
aus diesem speziellen Falle sollen sich wieder allgemeine Regeln ergeben ! Warum
wird nicht von vornherein x und y benutzt? Die Größen u und v sind überflüssig
und bringen nur Unklarheit. Das Resultat konnte übrigens direkt aus dem totalen
Differential auf S. 131 entnommen werden.
Unkorrekt ist die Figur 16, worin in Übereinstimmung mit dem Texte QQ^
= QQ2 gemacht werden muß; unkorrekt ist (S. 113) das Weglassen der höheren
Potenzen in Gleichung 6; unkorrekt ist es (S. 120), von der Entfernung einer Linie
von einer Achse zu sprechen und (S. 201) a s als Sehne zu bezeichnen.
Zu tadeln sind außerdem mancherlei Nachlässigkeiten in der Darstellung
und unschöne Ausdrücke. Es heißt z. B. S. 48: „Der Differentialquotient eines
Bruches ist gleich dem Nenner mal dem Differentialquotienten des Zählers,
vermindert um den Zähler mal dem Differentialquotienten des Nenners; die
Differenz dividiert durch das Quadrat des Nenners."
Ferner vergleiche man das Satzgebilde (S. 60): „Differentiiert, d.h. bilden
O. Handel, Einführung usw., angez. von H. Steckelberg. 351
wir das Differential", und S. 97: ,, Diese Ausdrücke müssen entgegengesetzte
Vorzeichen haben, d a ß ein Maximum oder Minimum eintreten kann," und S. 146,
letzte Zeile: , »ergibt gleich."
Aus dem Vorstehenden ist wohl ersichtlich, daß das Buch vor den Augen des
Mathematikers — wie der Verfasser nach der Vorrede bereits zu vermuten scheint —
nur schlecht bestehen kann, und daß der ungeübte Leser es nur mit größter Vorsicht
gebrauchen sollte. Anzuerkennen ist die Fülle des gebotenen Materials; es werden
alle wichtigen Rechnungsmethoden der Differential- und Integralrechnung mit-
geteilt; auch die Differentialgleichungen werden behandelt. Umfangreiche Formel-
tafeln erleichtern die Benutzung des Buches.
Handel, Otto, Einführung in die Differential- und Integral-
rechnung. Zum Gebrauch an höheren Lehranstalten. 64 Figuren. Berlin
1910. Weidmannsche Buchhandlung. IVu. 116S. 2 M.
Auf Erfahrungen fußend, die vom Verfasser selbst im Primaunterricht ge-
macht wurden, will das Büchlein zur weiteren Klärung der Frage, inwieweit die
Infinitesimalrechnung in den Schulunterricht eingeführt werden könne, beitragen
und für dahin gehende Versuche einen Anhalt bieten.
Das Buch kann für solche Versuche nur empfohlen werden. Ein erfahrener
Pädagoge spricht aus ihm, der es versteht, auch schwierige Ableitungen in voller
Klarheit darzulegen. Ein Vorzug des Buches ist neben der Fülle des Stoffes die
^ürze und Knappheit des Ausdrucks, die dennoch strenge Beweisführung liefert
und nichts Wesentliches vermissen läßt. Ein Schüler, der unter Anleitung eines-
tüchtigen Lehrers das Büchlein durcharbeitet, erwirbt damit ein sicheres Funda-
ment, auf dem er weiterbauen kann, und ein Rüstzeug, mit dem er manche Auf-
gaben des praktischen Lebens zu lösen vermag. Wer ein sicheres Verständnis
des mathematischen Pensums der mittleren Klassen mitbringt, wer mit Potenzen
und Wurzeln und mit dem Lösen von Gleichungen völlig vertraut ist, der kann be-
reits in 0 II den Begriff des Differentialquotienten erfassen und in I von dessen
vielseitigen Anwendungen Gebrauch machen.
Im ersten Kapitel des Buches wird eine Zusammenstellung des auf früheren
Klassenstufen gebotenen Lehrstoffs über den Funktionsbegriff und die graphische
Darstellung der Funktionsgleichungen gegeben. Es schließt sich eine elementare
Bestimmung von größten und kleinsten Werten, sowie eine Betrachtung von Grenz-
werten und deren Anwendung zur Flächen- und Raumberechnung an. So bietet
dieses Kapitel eine treffliche Einleitung in die Differential- und Integralrechnung.
Nachdem dann der Begriff des Differentialquotienten auf geometrischem
Wege gefunden ist, werden die Regeln des Differentiierens der verschiedenartigsten
Funktionen entwickelt und die Resultate zur Lösung von Aufgaben aus der Geo-
metrie und Physik benutzt. Maxima und Minima, Kurventangente und Kurven-
normale, Geschwindigkeit und Beschleunigung, der Krümmungskreis, die un-
bestimmte Form — und selbst die Differentiation unentwickelter Funktionen
o
werden behandelt.
352 O. Handel, Einführung usw., angez. von H. Steckelberg.
Es folgt ein Kapitel über die unendlichen Reihen. Die Konvergenzbedin-
gungen werden festgestellt, der binomische Lehrsatz wird mit Hilfe der höheren
Differentialquotienten zunächst für positive ganze, dann für beliebige Exponenten
entwickelt. Aus der Mac Laurinschen Formel ergeben sich die Reihen für e^, sin x
und cos X. Die logarithmische Reihe wird gefunden mit Hilfe des Satzes, daß zwei
Funktionen gleich sind, wenn ihre Differentialquotienten gleich sind. :;
Die Integralrechnung, welche als Umkehrung der Differentialrechnung ent-
wickelt wird, bringt Anwendungen auf Quadratur und Kubatur, auf Rektifikation
und Komplanation; auch einige Aufgaben aus der Mechanik werden behandelt,
^Eine Reihe von Aufgaben, die den theoretischen Erörterungen beigegeben
sind, erleichtert das Verständnis; außerdem findet sich auf den letzten 24 Seiten
eine große Zahl von nicht durchgerechneten Aufgaben als willkommener Übungsstoff.
Für eine zweite Auflage möge auf einige Druckfehler aufmerksam gemacht
werden: In Figur 19 ist h zu lang geraten; in Figur 22 fehlt die Gerade y'"= 2;
auf Seite 18 muß es heißen: v=2rT..-Y - • •; auf Seite 20, 5. Beispiel: yi= 2 x^-
— 5; auf Seite 29, 5. Beispiel: fi(Xi + 6) = + 3 o . (o + 2); auf Seite 48: Die Krüm-
mung eines Kreises ist um so stärker, je kleiner der Radius; auf Seite 90:
Xi=X ^1 ^ Xi=X Xi X
Alles in allem: Das Buch ist ein vorzügliches Hilfsmittel für den Unterricht
und für die Wiederholung. Der Wunsch des Verfassers, „es möge einigen Nutzen
stiften und sich manchen Freund erwerben", wird hoffentlich in Erfüllung gehen.
Gronau i. W. HeinrichSteckelberg.
^5^
I. Abhandlungen,
Die griechische Mathematik.
Der Gedanke einer Behandlung der griechischen Mathematik auf dem Gym-
nasium ist in der letzten Zeit mehrfach aufgetaucht. Ich will nur auf zwei Schriften
hinweisen, die ihn energisch vertreten: den Vortrag von Alois Riehl
„Humanistische Ziele des mathematischen und natur-
wissenschaftlichen Unterrichtes" (Berlin 1909) und das kleine
Buch von Max Schmidt „Realistische Stoffe im humani-
stischen Unterricht** (2. Auflage Leipzig 1910). Diese Schriften zeigen
schon in ihrem Titel, von welchen verschiedenen Seiten aus man an die Frage
herantreten kann. Entweder handelt es sich nämlich um die humanistische Er-
gänzung des mathematischen Unterrichts durch ein Eingehen auf die antiken
Quellen oder um die Förderung des realistischen Interesses im altsprachlichen
Unterricht und die Hervorhebung der Bedeutung, welche die mathematischen
und naturwissenschaftlichen Schriften der Griechen für das volle Verständnis der
antiken Kultur besitzen.
Das entscheidende Moment scheint mir aber damit noch nicht getroffen.
Dieses ist meiner Meinung nach die Überbrückung der Kluft, die sich innerhalb
des Gymnasialunterrichts zwischen den humanistischen und den realistischen
Fächern auftut. Alle beanspruchen für sich die volle Anteilnahme des Schülers,
ohne zu bedenken, daß sie damit eine Vielseitigkeit des Interesses fordern, die
an das Übermenschliche streift. Das alte Sturmsche Gymnasium besaß gerade
in seiner Einseitigkeit den gewaltigen Vorzug, daß es die Ausbildung der unsrigen
gegenüber viel einheitlicher und geschlossener ließ. Der eine Zielpunkt, die Er-
ziehung der literata pietas, lenkte den ganzen Unterricht und dieser zerfiel nicht wie
bei uns in eine Anzahl untereinander zusammenhangloser Lehrfächer. Die Schüler
wurden nicht von Stunde zu Stunde einem anderen Spezialisten ausgehändigt,
der nicht bloß einen neuen Gegenstand behandelt, sondern auch eine neue Arbeits-
art und Gedankenrichtung verlangt, vielmehr vereinigte jeder Lehrer in sich die
Gesamtheit alles Wissens, das dem Schüler übermittelt werden sollte.
Die Vielgestaltigkeit des modernen Unterrichts gegenüber dem alten Bildungs-
ideal hat man nicht so lebhaft empfunden, solange noch der Gedanke der formalen
Schulung allen Fächern eine gewisse innere Einheitlichkeit gab. Je mehr aber die
sachliche Durchdringung der einzelnen Lehrstoffe in den Vordergrund rückt, um
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 23
354 H. E. Timerding,
SO mehr erkennen wir, daß abgesehen von aller Verschiedenartigkeit des Gegen-
standes drei völlig verschiedene Prinzipien nach Berücksichtigung verlangen:
der reale Gehalt, die geschichtliche Entwicklung und
der sprachliche Ausdruck.
Diesen drei Prinzipien entspricht allerdings auch im großen und ganzen die
Einteilung der Wissenschaften. Wir werden in den realistischen Fächern das
erste Prinzip, in der Geschichte das zweite und in dem Sprachunterricht das dritte
Prinzip vertreten finden. Es ist aber selten ein Mensch für die drei Seiten der
menschlichen Geistestätigkeit gleich aufnahmefähig, und sein Interesse wird sich
naturgemäß den Wissenszweigen zuwenden, in denen die seiner Veranlagung zu-
sagende Auffassungsweise zum Durchbruch kommt. Wenn wir daher in allen
Fächern jeden Schüler fesseln wollen, so müssen wir suchen, in allen die drei Prinzipien
in gleicher Weise zur Geltung zu bringen, denn so wird bei aller stofflichen Ver-
schiedenheit eine Gleichartigkeit des methodischen Gehaltes gewährleistet, die
den Schüler den ganzen Unterricht als etwas Homogenes und Geschlossenes
empfinden läßt. Er wird wohl immer noch dem einen oder anderen Fache ein
größeres Interesse entgegenbringen, es wird aber jedes Lehrfach auf irgendeine
Weise seine Teilnahme zu erwecken wissen. Er braucht nicht immer von einer
Stunde zur anderen ein neues Register der geistigen Tätigkeit aufzuziehen, es
schließen sich ihm vielmehr alle Fächer zu dem erschöpfenden Ausdruck der
menschlichen Kultur zusammen.
Was ich hier geschildert habe, ist aber eine bloße Utopie, und jeder besonnene
Schulmann wird es auch so empfinden. In der Wirklichkeit ist die geistige Rich-
tung der einzelnen Lehrer selbst derart verschieden, daß sie auch beim besten
Willen nicht imstande sind, die drei Prinzipien in gleicher Weise zur Geltung
zu bringen. Das würde vielmehr eine Allgemeinheit der Begabung und eine Höhe
der Auffassung voraussetzen, die nur einzelne besonders begnadete Menschen be-
sitzen können. Vielmehr drängen wenigstens vorläufig alle Fächer auf die Be-
tonung ihrer spezifischen Besonderheit.
Zunächst hat sich in dem Sprachunterricht immer ein großes Widerstreben
gezeigt, neben dem sprachlichen Ausdruck auch auf den sachlichen Gehalt ein-
zugehen. Dies zeigt sich schon in der Auswahl der Lesestoffe, die fast ausschließ-
lich aus der schönen Literatur gewählt werden, also keine besonderen Sachkennt-
nisse voraussetzen. Nur geschichtliche Darstellungen sind hiervon ausgenommen,
sie zeigen aber auch, wenigstens bei den Griechen und Römern, eine große Ver-
wandtschaft mit der schönen Literatur. Was mag nun der Grund dieser bei
näherem Zusehen doch einigermaßen befremdenden Tatsache sein? Zunächst
werden wir an die ästhetische Grundstimmung des ganzen modernen Humanismus
denken: der Zweck der klassischen Bildung ist die Durchtränkung des Schülers
mit der Schönheit der antiken Kultur. Sodann kommen sicher aber auch äußere
Momente in Frage: alle realistischen Stoffe bringen besondere Fachausdrücke
mit sich, deren Erlernen als eine unnütze Belastung des Unterrichtes empfunden
wird. Ferner ergibt sich die Notwendigkeit von sachlichen Erklärungen, die viel
Zeit kosten und den Unterricht von seinem eigentlichen Ziel ablenken. Diese
sachlichen Erklärungen können zudem ziemlich wertlos erscheinen, weil sie sich
Die griechische Mathematik. 355
auf einen überwundenen Kulturstandpunkt beziehen, während das in den Dich-
tungen lebende Ewigmenschliche von aller Zeit unabhängig ist.
Gegenüber dem ersten der vier hier angeführten Gründe erhebt sich
die unabweisbare Forderung, der humanistischen Bildung ihre Bedeutung auch
den Ansprüchen der Gegenwart gegenüber zu sichern, damit sie nicht durch die
immer mächtiger anstürmende äußere Kultur hinweggeschwemmt werde. Diesen
Gedanken hat besonders PaulCauer(Palaestra vitae. Das Alter-
tum als Quelle praktischer Geistesbildung, 2. Auflage
Berlin 1907) zur Geltung gebracht.
Die übrigen Gründe sind allerdings nicht ebenso einfach zu widerlegen. Wir
können zunächst nur sagen: Wenn die sachliche Belehrung auch für die Gegen-
wart ihren Wert besitzen soll, so müssen wir eben nach solchen Gebieten greifen,
auf dem die Alten zu Resultaten von bleibendem Wert gelangt sind. Dies ist
aber auf keinem Gebiete mehr der Fall als auf dem der Mathematik. Ein großer
Teil des heutigen mathematischen Schulpensums ist so gut wie unmittelbar den
griechischen Quellenschriften entnommen. In England sind bis in unsere Zeit
hinein die Elemente des Euklid das Schullehrbuch für die Geometrie geblieben.
Hier fällt auch die Schwierigkeit der Fachausdrücke weg, denn die griechischen
Ausdrücke sind den unsrigen aufs engste verwandt, ja diese sind überhaupt nur
aus jenen richtig zu verstehen.
Damit ist aber ein Einwand noch immer nicht beseitigt, der Einwand nämlich,
daß wir den Sprachunterricht nicht für andere Zwecke, wie hier für die mathe-
matische Belehrung, nutzbar machen können und dürfen. Schon die Beschaffung
geeigneter Lehrkräfte, die in genügender Weise philologische und mathematische
Bildung vereinen, dürfte erhebliche Schwierigkeiten verursachen. Man ist des-
wegen von vornherein auf solche Abschnitte aus griechischen > Mathematikern
beschränkt, bei denen die sachliche Erklärung keinerlei Schwierigkeit verursacht,
außerdem kann es sich aber auch nur um einzelne Stichproben handeln, denn
sonst würde der griechische Unterricht in ungebührlicher Weise aufgehalten und
belastet. Solche Stichproben scheinen mir aber wirklich von großem Nutzen
zu sein. Wir besitzen sie in dem vorhandenen Material für die Schullektüre bereits
in genügender Menge. So gibt Wilamowitz-Möllendorff in seinem
Griechischen Lesebuch Abschnitte aus Euklid und Archimedes;
Max Schmidt hat in seine Realistische Chrestomathie mathe-
matische Stücke von Euklid, Ptolemäus, Nikomachus, Diophant, Eratosthenes,
mit Einleitungen, Anmerkungen und Figuren versehen, aufgenommen. Durch
solche kurze Abschnitte, die nicht viel Zeit erfordern und eine angenehme Ab-
wechslung bieten, wird dem Schüler zur lebendigen Anschauung gebracht, daß
die Begriffsbildung und Denkweise der modernen Mathematik durchaus eine
Schöpfung des griechischen Geistes ist und daß wir überhaupt in dem klassischen
Altertum nicht den Moderstaub vergangener Jahrhunderte, sondern die Grund-
lage unserer eigenen Kultur zu suchen und zu verehren haben. Solche Stich-
proben bilden aber auch in rein sprachlicher Hinsicht eine wünschenswerte Er-
gänzung. Die Griechen haben den Ausdruck in ihren mathematischen Schriften
mit der größten Sorgfalt behandelt, diese Schriften sind wahre Muster des wissen-
356 H. E. Timerding,
schaftlichen Stils. Max Schmidt sagt von der Sprache Euklids: „Sie ist rein,
klar und schlicht. Man dürfte kaum eine Wendung oder ein Wort treffen, wie sie
nicht die klassische Prosa auch gebrauchen würde. Die bewußte Verbannung
aller synonymen Vokabeln, wie aller synonymen Bedeutungen, ist ein Meister-
werk."
Proben mathematischer Darstellung kommen nun auch schon durch die
Lektüre des P 1 a t o n in den griechischen Schulunterricht hinein und man wird
vielleicht geneigt sein, diese Proben für genügend zu halten. Insbesondere wird
man an die Stelle im Menon denken, wo Sokrates dem ganz ungebildeten Diener
den einfachsten Fall des pythagoreischen Lehrsatzes klarmacht. Diese Stelle ist
auch von Wilamowitz-Möllendorff ebenso wie von den Professores
A f r a n i (im 13. Bändchen ihres Florilegium graecum) aufgenommen
worden. Es kommen aber noch andere Stellen in Betracht, so die Ableitung der
regulären Körper im Timäus, ferner die Stelle im Theätet, wo die Scheidung der
rationalen und irrationalen Zahlen ausgesprochen ist, die Definition der geraden
Linie im Parmenides u. a. m. Doch sind diese Stellen keineswegs besonders leicht
verständlich.*) Sie datieren aus einer Zeit, in der die definitive Terminologie
der griechischen Mathematik noch nicht ausgebildet war, und sie setzen der Er-
klärung erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Deswegen sind, wie ich glaube,
gerade um dem Schüler das richtige Verständnis dieser Stellen zu vermitteln,
ein paar Proben der endgültigen Darstellungsform mathematischer Dinge in grie-
chischer Sprache wohl am Platze. Man handelt damit sicher im Sinne des Philo-
sophen, der von seinen Schülern gefordert hat: dYea>jj.£Tp7jioc firjösU elakio [xoi
TTjv oTSYT^v, wer zu mir ins Haus kommt, soll etwas von Geometrie verstehen.
Ich bin vielleicht persönlich befangen, wenn ich diese Worte nicht bloß auf
die platonische Akademie, sondern auf die griechische Bildung überhaupt be-
ziehen möchte. Was später der Unterricht in der lateinischen Sprache, das war
für die Griechen der Unterricht in der Mathematik. Die Griechen holten ihre
Bildung nicht aus dem Studium fremder Zungen und Literaturen, sie schöpften
sie aus den Wissenschaften, die sie selbst mit dem Ausdruck (Aa^yjfiaxa bezeichneten
und die der pythagoreischen Schule ihre Entstehung verdanken. Sie werden
durch die später schulmäßig eingeführte Teilung in Zahlenlehre, Raumlehre,
Sternlehre und Tonlehre gut charakterisiert. So nennt Sokrates im Theätet,
als er den Bereich der allgemeinen Bildung umspannen will, Geometrie, Astronomie,
Harmonie und Proportionenlehre.
Was der griechischen Mathematik ihren unvergänglichen Wert gibt, das ist
neben der zielbewußten Klarheit des Denkens auch das sichere ästhetische Gefühl,
das sie trägt. Die griechische Geometrie ist ein ebensolches Kunstwerk wie die
griechische Plastik und die griechische Poesie. Hier wie dort ist die freiwillige
Beschränkung des Gegenstandes und der Darstellungsmittel, um in den so ge-
steckten Grenzen das Vollkommenste zu leisten, das bezeichnende Merkmal. Eine
*) Über die mathematischen Stellen in Piatons Schriften handelten: Joh. Wolfg.
Müller, Kommentar über zwei dunkle mathematische Stellen im Piaton, Nürnberg
1797, Blass, De Piatone Mathematico, Bonn 1861, Rothlauf, Die Mathematik
zu Piatons Zeit und seine Beziehungen zu ihr, München 1878.
Die griechische Mathematik. 357
spätere Zeit konnte vielleicht etwas Besseres schaffen, aber sie hätte dasselbe
nie besser machen können. Die Bedeutung der griechischen Mathematik liegt
keineswegs allein im sachlichen Inhalt, sondern auch in der Form der Darstellung.
Die Schöpfung der mathematischen Sprache bedeutete die Schöpfung einer wissen-
schaftlichen Sprache überhaupt. Die mathematische Darstellung verwendet nur
einen geringen Wortschatz, aber sie verlangt die größte Schärfe in dem Ausdruck
der Gedanken und in der Bloßlegung ihrer logischen Verknüpfung. An diese
zugleich sprachliche und logische Schulung hat Piaton neben der Vorbereitung
auf die Erkenntnis der ewigen Seinsformen vielleicht auch gedacht, als er die Not-
wendigkeit einer geometrischen Vorbildung betonte.
Es sollen, wie ich noch einmal wiederholen möchte, die im Original gelesenen
Stichproben aus den mathematischen Schriften der Griechen nur den griechischen
Unterricht vervollständigen, nicht aber nebenbei auch die Übermittlung mathe-
matischer Kenntnisse bezwecken. Sie sollen nur die Brücke schlagen zwischen
dem mathematischen und dem griechischen Unterricht und den Schüler vor dem
verhängnisvollen Irrtum bewahren, daß nicht auch wissenschaftliche Darstellungen
zu den ästhetisch wertvollen Literaturdenkmälern gehören können. Für einen
solchen Zweck sollten sich, wenn man auf die Lektüre des Homer annähernd
500 Stunden verwendet, doch gewiß etwa 5 Stunden wohl erübrigen lassen! Wie
wichtig das ist, kann jeder Hochschullehrer ermessen, der einmal die beklagens-
werte Interesselosigkeit der Studierenden realistischer Fächer für den sprach-
lichen Ausdruck, ja selbst für die orthographische Richtigkeit zu beobachten
Gelegenheit hatte.
Soll aber mit ein paar im Original gelesenen Stichproben das Eingehen auf
die griechische Mathematik erschöpft sein? Und wenn nicht, wie soll sie weiter
zur Geltung gebracht werden? Zunächst wäre an die Benutzu/ig guter Über-
setzungen zu denken. Hierbei lassen sich aber gewisse Bedenken nicht unterdrücken.
Man wird zunächst sagen, daß die Auswahl des mathematischen Lehrstoffes durch
rein sachliche Gründe bestimmt werden muß und sonach die Schriften der griechi-
schen Mathematiker nur insofern Berücksichtigung finden können, als sie in diese
Umgrenzung hineinpassen. Aber auch dann werden sie mehr eine Belastung
als eine Erleichterung des mathematischen Unterrichtes bilden, denn der Schüler
muß sich an eine ihm ungewohnte Darstellungsweise gewöhnen; manches ist in
zu großer Weitschweifigkeit dargestellt, an anderen Stellen wieder bleiben klaffende
Lücken, die der Lehrer ausfüllen muß, um den Unterricht einigermaßen den
modernen Forderungen anzupassen. Viele Gebiete, die für die Gegenwart un-
entbehrlich sind, könnten so überhaupt nicht berührt werden, anderes, was man
sonst auslassen würde, muß mitgenommen werden, damit der Zusammenhang
nicht verloren geht. Deshalb ist wohl die Empfehlung einzelner Schriften als
Privatlektüre und vielleicht gelegentlich einmal die Durchnahme einer besonders
wichtigen Schrift in der Klasse, wenn sie für billigen Preis zu haben sein sollte,
alles, woran man im besten Falle denken kann. Eine solche gelegentliche An-
regung ist aber sicher nicht alles, was die griechische Mathematik für das huma-
nistische Gymnasium leisten kann. Was man erreichen will, ist eine Durchtränkung
des ganzen Unterrichtes mit humanistischem Geiste. Da dieses Ziel, wie wir ge-
358 H. E. Timerding,
sehen haben, beim mathematischen Unterricht weder durch die Lektüre der
griechischen Originale noch durch die Benutzung von Übersetzungen zu erreichen
ist, so bleibt nichts anderes übrig als die Lösung der Aufgabe in jedem Fall der
Persönlichkeit des Lehrers anheim zu geben. Der Lehrer muß eben verstehen,
beim Durchnehmen des vorgeschriebenen Lehrstoffes dessen Zusammenhang mit
der griechischen Bildung richtig hervorzuheben und dem Schüler deutlich zur
Anschauung zu bringen. Ein solches Eingehen auf die historische Entwicklung
der vorgetragenen Lehrsätze muß man meines Erachtens vom mathematischen
Unterricht auf dem humanistischen Gymnasium unbedingt verlangen. Wenn z. B.
der pythagoreische Lehrsatz durchgenommen wird, so ist es nicht genug, die
alte dumme Anekdote von der Hekatombe, die Pythagoras den Göttern nach
Entdeckung seines Lehrsatzes opferte und dem Abscheu, den seit dieser Zeit alle
Ochsen vor dem Lehrsatze haben, wieder aufzuwärmen. Man kann verlangen,
daß der Lehrer auf die wirkliche Geschichte des „Magister Matheseos", die gewiß
interessant genug ist, sein Aufkommen bei den Ägyptern, seine Ausbildung bei
den Griechen und seine anschauliche Durchdringung bei den Indern, etwas ein-
gehe. Ich entsinne mich aber aus meiner Schulzeit, daß ich höchst überrascht
war, vor einer Aufgabensammlung, die wir neu bekamen (Wöckel), den Titel
„Geometrie der Alten" zu sehen. Daß die Geometrie, die wir lernten, von den
Griechen stammte, war uns nie gesagt worden.
Es handelt sich hierbei nicht bloß um eine äußere Rücksichtnahme gegen
den historischen Geist, der in dem Schüler durch den humanistischen Unterricht
erweckt werden soll. Die Elementarmathematik hat auch in sich sehr dadurch
gelitten, daß sie sich von Lehrbuch zu Lehrbuch fortpflanzte, aber wenige sich
die Mühe gaben, bis zu den Quellen hinaufzusteigen. Wenn wir das nun aber
von den Mathematiklehrern eines humanistischen Gymnasiums fordern, so werden
uns diese sicher den Einwand machen: wir armen Mathematiklehrer haben so-
wieso Mühe genug, in der uns zur Verfügung stehenden StundenzahL das vor-
geschriebene Lehrziel zu erreichen. Wir sind froh, wenn die Schüler die einzelnen
Beweise, Konstruktionen und Rechnungsarten gehörig begriffen haben, und haben
wahrlich keine Zeit, ihnen iioch viel von der historischen Entwicklung dieser
Kenntnisse zu erzählen.
Es ist eben die Frage, was der mathematische Unterricht überhaupt bezweckt,
ob er in den Vorübungen für ein späteres mathematisches Studium seine Aufgabe
erblicken will oder ob nicht eher die Klarlegung der mathematischen Begriffe
in ihrem allgemeinen Kulturzusammenhang die Hauptsache bilden soll. Von
dem letzten Standpunkt aus liegt, was den Unterricht selbst betrifft, in dem Ein-
gehen auf die historische Entwicklung keine Erschwerung, sondern eine Erleich-
terung. Wenn wir sagen, was die Mathematik für die Griechen bedeutet hat, so
legen wir auch dar, was sie für uns bedeuten kann. Es muß dabei noch besonders
beachtet werden, daß die rasch ansteigende Entwicklung der modernen Mathematik
im 17. und 18. Jahrhundert zunächst ein Zurückweichen von der Klarheit und
Exaktheit der griechischen Mathematik bedeutet hat. In demselben Maße, wie
die Fülle der mathematischen Erkenntnisse sich häufte, wurde man gleichgültiger
gegen die scharfe Präzisierung der Begriffe und die logische Durcharbeitung der
Die griechische Mathematik. 359
Beweise. Euler ist dafür ein redendes Beispiel, Aber diese Mathematik ist es
gerade, die unseren Schulunterricht beherrscht. Wie man daher in der geometri-
schen Forschung an der Hand des Euklid sich in jüngster Zeit zu der Exaktheit
der Griechen zurückgefunden hat, allerdings um nun auch über Euklid wesent-
lich hinauszugehen, so sollte man ebenfalls für den Schulunterricht die Muster
exakt mathematischer Darstellung, die uns die Griechen hinterlassen haben, zu
verwerten suchen.
Um auch auf das rein Persönliche zu sprechen zu kommen, möchte ich sagen,
daß, wenn man zunächst die Forderung eines Eingehens auf die mathematische
Forschungsarbeit der Griechen als eine Belastung des Lehrers empfindet, sie
andererseits auch als eine Förderung und Erquickung des in der mühevollen Lehr-
arbeit sonst Versinkenden angesehen werden kann. Der junge Lehrer, der von
der Hochschule kommt, ist mit wissenschaftlichen Idealen angefüllt und sieht
häufig nicht ohne innere Kämpfe die tätige Anteilnahme an der wissenschaft-
lichen Forschungsarbeit unter dem Andrängen der täglichen Pflichten in sich ab-
sterben. Da glaube ich nun, daß ihn nichts mehr in seinem Berufe erheben kann
als die wissenschaftliche Vertiefung und Durchdringung des Unterrichtsstoffes
selbst, die er in dessen quellenmäßiger Durchforschung findet. So wird er auch
an diesem elementaren Stoffe die Würde und Höhe empfinden, die er zunächst
nur den Gegenständen seiner Universitätsvorlesungen zuzuschreiben geneigt ist.
Der Betrieb unserer Universitäten ist ja nur zu sehr geeignet, das Vorurteil fest-
zusetzen, daß die wissenschaftliche Würde im Gegenstand und nicht in der Art
der Behandlung zu suchen ist.
Um für den Geist, der die griechische Mathematik durchzieht, und die Fäden,
die sie mit der Gegenwart verknüpfen, das richtige Verständnis zu gewinnen,
scheinen mir die Bücher von Zeuthen (Geschichte der Mathematik
im Altertum und Mittelalter, Kopenhagen 1896, und Die Lehre
von den Kegelschnitten im Altertum, Kopenhagen 1886)
vorzüglich geeignet. Ich kann ihnen das etwas ältere, geistvolle Buch von Her-
mann Hankel (Zur Geschichte der Mathematik in Alter-
tum und Mittelalter, Leipzig 1874) anreihen, das zum erstenmal die
Mathematik der Alten von höheren Gesichtspunkten aus zu betrachten gelehrt
hat. Man kann aus diesem Buche die Rolle, die sie im antiken Geistesleben spielt,
ebenso wie ihren Zusammenhang mit den modernen mathematischen Ideen und
auch die Wichtigkeit der ersten mathematischen Ableitungen für die Begründung
der wissenschaftlichen Methode überhaupt aufs deutlichste erkennen. Das große
Werk von M. Cantor (Vorlesungen über Geschichte derMathe-
m a t i k , 1. Band, 3. Auflage, Leipzig 1907) ist dazu bei aller Gründlichkeit und
Ausführlichkeit viel weniger geeignet. Dagegen bietet das außerordentlich knapp
gehaltene Bändchen von J. L. Heiberg, Naturwissenschaften
und Mathematik im klassischen Altertum (Aus Natur und
Geisteswelt, Leipzig 1912) gerade in dem von mir hier vertretenen Sinne außer-
ordentlich reiche Belehrung. Schließlich möchte ich auch nicht verfehlen, die
allgemeine Übersicht, die T r o p f k e in seiner Geschichte der Elemen-
tarmathematik (Leipzig 1902—1903) gibt, mit Achtung zu nennen. Speziell
360 H. E. Timerding,
für das Studium des Euklid bildet das Buch von M. Simon, Euklid und
die sechs planimetrischen Bücher (Leipzig 1901), das eine deutsche
Übersetzung mit ausführlichen Erläuterungen enthält, eine angenehme Erleich-
terung. In ähnlicher Weise hat G. Wertheim des Diophantus von
Alexandria Arithmetik und die Schrift über Polygonal-
zahlen (Leipzig 1890) herausgegeben.
Die griechische Arithmetik wird meistens der griechischen Geometrie
gegenüber bedeutend unterschätzt. Die geometrische Darstellungsform, welche
die Griechen für ihre Zahlenlehre teilweise gewählt haben, hat vielfach zu einer
völligen Verkennung ihrer Leistungen auf diesem Gebiete geführt. Trotzdem
gibt es z. B. kaum eine bessere Einführung in die Arithmetik als das 7. Buch der
euklidischen Elemente. Nirgends tritt die Bedeutung und das Wesen der arith-
metischen Operationen klarer zutage. Das richtige Verständnis hierfür ist jedoch
erst in der neuesten Zeit erwacht, nachdem die arithmetischen Begriffe ihre volle
Ausgestaltung erfahren hatten. Erst dann hat man auch die Leistungen des
Diophant völlig zu würdigen verstanden.
Der populärste unter allen griechischen Mathematikern ist zweifellos A r c h i -
m e d e s. Von seinen Schriften existiert meines Wissens aber keine brauchbare
deutsche Übersetzung, so daß der Lehrer, der sich in seine Werke vertiefen will,
wesentlich auf die Originalausgabe (von H e i b e r g , in der Teubnerschen Bi-
bliothek) angewiesen ist. Das ist sehr zu bedauern, denn gerade Archimedes ist
für die Entwicklung der modernen Mathematik und Mechanik von der größten
Bedeutung gewesen. Seine (fragmentarische) Schrift über die Kreismessung ist
von F. R u d i 0 in seiner interessanten Geschichte des Problems von
der Quadratur des Zirkels (Leipzig 1892) in deutscher Sprache ver-
öffentlicht worden. Gleiche Veröffentlichungen sollten wir aber auch für die
Schriften über die Quadratur der Parabel, über Kugel und Zylinder, über Konoide
und Sphäroide, ferner über das Gleichgewicht am Hebel und über das Gleich-
gewicht schwimmender Körper besitzen. Die zuerst genannten geometrischen
Schriften sind die Grundlage des Zweiges der mathematischen Analysis geworden,
den man heute als Integralrechnung bezeichnet; die beiden letztgenannten mecha-
nischen Schriften bilden ebenso die Fundamente der modernen Statik. Die Be-
handlung der Integralrechnung auf der Schule ist heute eine heißumstrittene Frage,
obwohl sie wenigstens für das humanistische Gymnasium von den praktischen
Schulleuten meist entschieden zurückgewiesen wird. Statt dessen haben aber
gewisse Vorstufen der Integralrechnung auch auf dem humanistischen Gymnasium
immer Eingang gefunden. Dabei sind nun manche Mängel in der Art der Dar-
stellung, Ungenauigkeiten, Unrichtigkeiten und Widersprüche gegen die strenge
wissenschaftliche Auffassungsweise, unvermeidbar gewesen. Aus diesem Wirrsal
kann das Zurückgehen auf Archimedes auf einfache Weise herausführen, denn die
Methoden, die Archimedes anwendet, sind durchaus exakt und einwandfrei, ohne
andere Hilfsmittel als die der elementaren Mathematik zu benutzen. In ihnen
sind aber die späteren Methoden der Integralrechnung bereits deutlich erkennbar
vorgebildet, und wenn man so den Schüler auch nicht in die Integralrechnung
einführt, so kann man ihm doch einen Begriff davon geben, um was es sich bei
Die griechische Mathematik. 361
ihr handelt. Dieses Zurückgehen auf die antike Quelle, das wir, wohlverstanden^
nur von dem Lehrer, nicht von dem Schüler fordern wollen, ist deswegen fast
notwendig geworden, weil es gegenüber der Leichtherzigkeit, die z. B. bei der
Bestimmung des Rauminhalts geometrischer Körper allmählich Platz gegriffen
hat, beinahe unmöglich ist, auf andere Weise ohne das Aufnehmen der vollen
Integralrechnung eine lückenlose Exaktheit zu erreichen. Es ist in dieser Hin-
sicht auch das Studium des zwölften Buches der Euklidischen Elemente, das (auf
Eudoxos fußend) die Volumbestimmung für die ebenflächigen Körper enthält,
nicht dringend genug zu empfehlen, denn es ist dies, wie ich glaube, der einzige
Weg, der an der Eselsbrücke des Cavalierischen Prinzipes vorbeiführt.
Was ich hier gesagt habe, wird, so unvollständig es ist, doch einen ungefähren
Begriff davon geben können, welche Bedeutung für den Unterricht die griechische
Mathematik haben kann. Diese Bedeutung wird aber erst dann voll zur Geltung
kommen, wenn der Lehrer dem Schüler überall gewissenhaft angibt, was von
den Griechen selbst geleistet und was durch spätere Zeiten hinzugefügt worden
ist. Es soll nicht bloß die bewundernswürdige Leistung der Griechen in das rechte
Licht gesetzt werden, es muß auch die Erklärung dafür gegeben werden, warum
es einer so langen Zeit bedurfte, bis die von den Griechen gepflanzten Keime zur
vollen Entwicklung kamen, warum zwischen Archimedes und Galilei (ebenso wie
zwischen Phidias und Michelangelo) ein Zeitraum von nahezu zwei Jahrtausenden
liegt. Die antike Kultur hatte ihre bestimmten Grenzen, über die sie nicht hinaus
kam. In der Mathematik lagen sie im Fehlen einer mathematischen Formel-
sprache, ebenso wie das Rechnen durch die Mängel der antiken Ziffernsysteme
an gewisse enge Schranken gebunden war. Bis zur Schöpfung der mathematischen
Formelsprache aber brauchte es einen weiten Weg, der über die Inder und Araber
nach Italien zurückführt, eben dahin, wo in der pythagoreischen Schule die Wiege
der Mathematik gestanden hatte. Es wäre deswegen natürlicfi verkehrt, eine
Rückkehr zu der griechischen Mathematik predigen zu wollen. Im Gegenteil,
um den Abstand von ihr richtig ermessen zu können, wollen wir sie uns klar vor
Augen halten, und ihr Aufgreifen hat deswegen nicht allein den Zweck, unser
Verständnis für das Geistesleben der Griechen zu vervollständigen, sondern uns
auch die ungeheuren Fortschritte empfinden zu lassen, die unsere Kultur über
das Altertum hinaus gemacht hat. So und nicht anders können wir ja heute über-
haupt den Humanismus verstehen. Nicht um in die antike Kultur zurückzutauchen,.
greifen wir zu dem Studium des klassischen Altertums, sondern um die Gegenwart
durch den Gegensatz gegen eine in den äußeren Mitteln ärmere, aber dafür in
der ästhetischen Abklärung reichere Zeit richtig verstehen zu lernen und sie durch
das reine Schönheitsgefühl dieser vergangenen Zeit zu erhellen und durchleuchten.
Braunschweig. H. E. T i m e r d i n g.
362 Wundram,
Ein Beitrag zur freieren Gestaltung des Unterriclits auf der
Oberstufe durch Gabelung der Primen.
über den Nutzen der Gabelung der Primen und die Erfolge dieser Einrichtung
sind in den Fachblättern und auf Versammlungen Urteile gefällt, die nicht immer
von einem unparteiischen und objektiven Standpunkte abgegeben wurden und
die teilweise auch von Beurteilern stammten, die das Ganze des Unterrichts nicht
zu überschauen vermochten oder gar nur aus den Beobachtungen bei der Reife-
prüfung Schlüsse zogen.
Ich beabsichtige nun nicht, heute meine eigenen Beobachtungen und Erfah-
rungen mitzuteilen, sondern die Versuche an meiner Anstalt, die auf weitere zwei
Jahre genehmigt sind, fortzusetzen und mein Urteil noch weiter zu prüfen. Dagegen
war mir die Frage interessant, wie urteilen die ehemaligen Schüler über die Ein-
richtung. Ich habe deshalb während der Weihnachtszeit, wo ich hoffen konnte,
daß ich die ehemaligen Abiturienten am leichtesten erreichen konnte und nicht
zu fürchten brauchte, daß Beeinflussungen versucht werden könnten, eine Um-
frage bei ihnen veranstaltet.
Von 163 bisherigen Abiturienten (die von Ostern 1911 sind die letzten, die
befragt sind) ist einer gestorben, 140 — 86,4]% haben geantwortet. Die 22, welche
nicht berichtet haben, sind durchaus nicht alle als Gegner zu zählen; von dem
einen oder andern weiß ich, daß er der Einrichtung sehr freundlich gegenübersteht
und für das dankbar ist, was ihm die Schule geboten hat. Aus der sprachlich-histo-
rischen Abteilung (A) antworteten 83,6 %, aus der mathematisch-naturwissenschaft-
lichen Abteilung 88,8 %. Bei den Abstimmungen kommen z. T. höhere Zahlen
heraus, als der Zahl der Beantworter entspricht, da unter Umständen mehrere
Gründe z. B. für die Wahl der betreffenden Abteilung angegeben und demnach
auch besonders gezählt worden sind.
Aus Neigung oder ihrer Begabung entsprechend wählten die Abteilung A 68,8,
B 62%, weil sie die Abteilung für vorteilhafter für ihren späteren Beruf hielten,
aus A 47,5%, aus B 38%, weil sie die dort vermittelte Allgemeinbildung für besser
hielten aus A 3,3 %, aus B 10,1 %, aus äußeren Gründen aus A 4,9, aus B 12,7 %,
aus Zwang, weil keine ungeteilte Prima vorhanden war aus A 3,3%, aus B 0%;
einer gibt allerdings an, daß ihm eine ungeteilte Prima lieber gewesen sein würde.
Bei B gibt einer an „Faulheitsgründe, die nachher zu Wasser wurden**.
Die wichtigste Frage war die folgende: „Hat sich die Ihnen übermittelte
Allgemeinbildung bewährt? Darauf antworten mit einem glatten Ja aus A 85,2 %,
aus B 78,5%, wobei aus A sich 3,3%, aus B 5,1 % der Abstimmung enthalten
haben. Zählt man nur die Abstimmenden, so sind es aus A 88,1, aus B 82,7 %;
direkt mit nein aus A 4,9, aus B 7,6 %. Das ist gewiß ein beachtenswertes Ergebnis,
besonders in einer Zeit, wo es Mode ist, so viel wie möglich an der Schule zu tadeln.
Bei den aus der A-Abteilung hervorgegangenen, die mit ihrer Allgemeinbildung
nicht voll zufrieden sind, wird 5 mal der Mangel an philosophischen Kenntnissen
beklagt, bei B 3 mal ; der Mangel an Kenntnissen in den Fächern, die zurückgetreten
sind, wird bei A 2 mal, bei B 5 mal hervorgehoben. Einen gewissen Mangel in
der Allgemeinbildung soll es auch ausmachen, daß die Schule sich nicht mit Politik
Ein Beitrag zur freieren Gestaltung des Unterrichts usw. 363
beschäftigt, ein anderer wünscht die neueste Literatur stärker hervorgehoben
zu sehen, ein Dritter erhält zu viel klassische Dichtung, ein Vierter vermißt die
Grundlagen der Nationalökonomie, ein Fünfter die eingehende Behandlung der
Rassenfrage usw.
Eine weitere Frage lautete: „Haben Sie von der Einrichtung der Gabelung
bei Ihren Berufsstudien Vorteile gehabt?" Dieser Frage schlössen sich dann noch
einige später zu behandelnde Unterfragen an, falls die Hauptfrage mit Ja beant-
wortet wurde. Leider ist diese Frage häufiger nicht beantwortet. Rechnen wir
nur die Abstimmenden, so beantworteten die Frage mit Ja aus A 69,4%, aus
B 69,9%, mit Nein demnach aus A 30,6, aus B 30,1 %. Die Verschaffung solcher
Vorteile ist ja aber garnicht der eigentliche Zweck der Einrichtung, wird trotz-
dem ein solcher Vorteil erreicht, so ist das ein weiterer Grund, der für die Gabelung
spricht.
Von den mit Ja abstimmenden wird ein Vorteil für ein tieferes Erfassen der
Aufgaben des Berufes hervorgehoben bei A von 29,4, bei B von 35,3 %, für eine
Erleichterung des Studiums durch Vorwegnahme gewisser Kapitel bei A von 47,1,
bei B von 84,3 %, durch schulgemäße Behandlung der Grundbegriffe bei A 29,4%,
bei B 41,2%, durch sonstiges bei A von 47,1, bei B 11,6%.
Zu einer Abstimmung über die Gabelung war nicht aufgefordert, es erklären
sich 77,3 aus A und 81,5% aus B zugunsten der Beibehaltung der Gabelung; das
geschieht, ohne daß diese Frage gestellt war.
Aus den Äußerungen sei doch noch einiges direkt hierher gesetzt, trotzdem
es vorher schon gezählt ist, zunächst aus A.
„Ich halte das System für glücklich und wertvoll. Es wirkt der Allgemein-
bildung nicht entgegen und bietet gleichwohl dem einzelnen Erleichterungen
und die Möglichkeit zu freudiger Teilnahme am Unterricht. Könnten beide Ab-
teilungen nicht in einem philosophischen Kolloquium vereinigt werden?"
„Ich halte die Gabelung nicht für vorteilhaft, weil sie leicht eine zu frühe
Entscheidung für einen bestimmten Beruf veranlaßt!"
„Ich halte das System für gut."
„Ich halte die eingeführte Trennung für sehr vorteilhaft."
„M. E. bringt der Besuch der sprachlichen Abteilung solchen, die sich später
der Rechtswissenschaft widmen wollen, manchen Vorteil und ist jedenfalls dem
gewöhnlichen Realgymnasialunterricht vorzuziehen."
,,Die Gabelung habe ich seinerzeit sehr willkommen geheißen und werde sie
immer wieder befürworten."
„Ich spreche mich gegen das System aus, weil nicht alle in der Auswahl ihrer
Lehrer vielleicht so glücklich sein werden wie gerade mein Jahrgang." Um Gründe
dieser Art auszuschließen, erfolgt seit zwei Jahren die Wahl der Abteilung schon
vor der Unterrichtsverteilung für die Primen.
„Die Gabelung der Primen ist m. E. sehr erwünscht, die Einrichtung ist gut
gewählt."
„Die Gabelung selbst ist . . . eine durchaus das Streben der Schüler belebende,
ihre Neigungen weckende und stärkende Einrichtung."
„Höchste Zufriedenheit mit dem jetzigen System."
364 Wundram, Ein Beitrag zur freieren Gestaltung des Unterrichts usw.
„Auf jeden Fall muß die Gabelung bestehen bleiben."
„Ich halte die Gabelung der Primen für sehr vorteilhaft und würde es im Inter-
esse meiner früheren jüngeren Kameraden bedauern, wennn die Einrichtung auf-
gehoben werden sollte."
Mediziner, Studierende des Bergfaches und Mathematiker bekunden, daß sie
den Vorträgen auf der Universität durchaus haben folgen können, sogar noch nicht
zu unterschätzende Vorteile gegenüber den Gymnasialabiturienten hätten, ein
anderer Mediziner bedauert, daß er nicht der mathematisch-naturwissenschaft-
lichen Abteilung angehört habe.
Ebenso einige Äußerungen aus der Abteilung B.
„Der eingehende und die Hauptprobleme anzeigende und herauslösende
Unterricht in der Biologie setzte mich in den Stand . . . schon Ende des 6. Semesters
. . . zu promovieren . . . bejahe ich unbedingt die Gabelung."
„2 Stunden Latein hätten genügt."
„Vor allen Dingen bin ich dankbar für die objektive, ruhige und bescheidene
Lebensauffassung, die man als junger Mensch durch ein intensives Naturstudium
erhält im Sinne des Goetheschen Spruches: Verhandelt man mit menschlichen
Angelegenheiten, so kommt nichts ins Reine, hält man sich an die Natur, so ist
alles getan."
„Die Gabelung ist sehr zweckmäßig."
„Ich halte das Gabelungssystem für segensreich."
Ein Referendar schreibt: „Ob ich die Gabelung an und für sich für sehr vorteil-
haft halten soll, weiß ich nicht recht. Die bedeutsamste Neuerung scheint mir
darin zu liegen, daß den Schülern Gelegenheit geboten wird, sich mit den neueren
biologischen Forschungen bekannt zu machen."
„M. E. liegen etwaige Mängel nicht an dem System . . ."
„Ich halte die Gabelung für sehr angebracht."
„Dabei war mir die Teilung von vornherein sympathisch, da sie mich selb-
ständiger machte, indem sie mich meinen Wünschen gemäß selbst wählen ließ.
Mit der Wahl trat bei mir auch neben einem Gefühl der Verantwortlichkeit eine
größere Lust zur Arbeit auf und ich bin jetzt dankbar, daß die Teilung bestand."
„Für die Seeoffizierslaufbahn erachte ich den Eintritt in die mathematische Ab-
teilung als sehr günstig." Die allerhöchste Belobigung für den ersten Fähnrich
zur See ist allerdings einem Abiturienten der sprachlich-historischen Abteilung
meiner Anstalt zuteil geworden.
„Ich halte die Gabelung für durchaus zweckmäßig."
„Im 4. Semester (Dienstjahr eingerechnet) erhielt ich meine Promotions-
arbeit ... Es muß hervorgehoben werden, daß die zur Literaturkenntnis notwendige
englische und französische Sprache allein durch die Schulbildung in durchaus
genügender Weise ausgebildet war, und meine Leistungen waren unter dem Durch-
schnitt der Klasse," i
und aus demselben Jahrgang:
„Die Vernachlässigung der neueren Sprachen macht sich beim Studium der
Fachliteratur unangenehm bemerkbar."
„Die Gabelung ist für mich von sehr großem Vorteil gewesen."
R. Bürger, Innere Wandlungen und äußere Einflüsse im deutschen Unterricht. 365
„. . . zumal eine eingehende Kenntnis der Naturwissenschaften zum Ver-
ständnis der heutigen Weltanschauung unbedingt notwendig ist."
„Die Teilung ist von mir und meinen Klassenkameraden freudig begrüßt
worden und hat sich nach meiner Meinung durchaus bewährt.**
„Die Gabelung der Primen war mir damals recht unangenehm und auch heute
kann ich einen Vorteil darin nicht erblicken." Die Allgemeinbildung hat sich bei
ihm bewährt und er hat auch Vorteile beim Studium von ihr gehabt.
„. . . glaube ich, daß für jeden späteren Techniker die Erhaltung der mathema-
tischen Abteilung zu wünschen ist."
Daß durch eine solche Umfrage die Berechtigung oder Nichtberechtigung der
Gabelung nicht entschieden werden kann, darüber bin ich mir durchaus klar. Ich
habe aber geglaubt, einen beachtenswerten Beitrag zur Klärung dieser Frage zu
schaffen. Es wird mir eingeworfen werden, die Zeit, seitdem die Schüler die Anstalt
verlassen haben, sei noch zu kurz, um zu einem objektiven Verhältnis zu kommen,
deshalb habe ich auch bei den Urteilen der letzten Jahrgänge in bezug auf die Ver-
öffentlichung mir Zurückhaltung auferlegt, bei der Berechnung der Prozentzahlen
war das natürlich nicht zulässig. Im übrigen muß betont werden, daß nicht wenige
von den Beantwortern schon ihre akademische Studien abgeschlossen haben,
darunter eine ganze Reihe mit glänzendem Erfolg, und daß gerade diese sich zu-
-stimmend geäußert haben.
Elberfeld. Hugo Wundram.
Innere Wandlungen und äußere Einflüsse im deutschen
Unterricht.
Von den drei Gebieten, die die letzten Lehrpläne auch wieder in den Mittel-
punkt der Jugenderziehung gestellt wissen wollen, dem Deutschen, der Religion
und der Geschichte, hat der Unterricht im Deutschen in den letzten zehn Jahren
wohl die am wenigsten offen zutage liegende Entwicklung durchgemacht. In der
religiösen Unterweisung sind, wenn auch abgeschwächt, die Krisen, die wir durch-
lebt haben, nicht ohne Einfluß geblieben, und die Geschichte durfte sich, wie stets,
der lebendigen Mithilfe der gerade das politische Denken bewegenden Ideen er-
freuen. Anders im deutschen Unterricht. Die einschlägigen Handbücher, die den
Durchschnitt des besten Könnens geben, suchen aus naheliegenden Gründen allen
Richtungen gerecht zu werden, und zeigen so, wie wenig sich hier eine mit allem
fortschreitenden Leben verbundene Einseitigkeit hat einstellen können. Die Rat-
schläge für die Gestaltung der schriftlichen Arbeiten gleiten noch immer von der
alten Rhetorik über die stark abstrakt philosophische Deutung unserer Klassiker
zur Empfehlung eines freieren Gewährenlassens sanft hinüber. Gleichwohl scheint
auch hier das Neulernen und Erleben wichtiger gewesen zu sein als das gewissen-
hafte, aber recht genügsame Vermitteln zwischen den verschiedenen, der Vergangen-
heit angehörenden Methoden. Man sieht z. B. aus Kommentaren, die den Jahren
1880 — 90 entstammen, wieviel sich hier in der Bewertung des Gegenstandes,
in der Betrachtungsweise und in den Möglichkeiten praktischen Übens seither
verschoben hat.
366 R. Bürger,
1. So sonderbar es klingen mag, die Bewertung des Deutschen als Bildungs-
fach ist in den letzten zehn Jahren weniger von der jeweiligen Stärke des National-
gefühls {obwohl auch dies nicht unterschätzt werden darf) abhängig gewesen, sie
beruhte vielmehr auf der Anerkennung, die andere literarische Werte auf unseren
höheren Schulen genossen. Es ist kein Zweifel, daß die Einführung der „Gleich-
berechtigung" und das Anwachsen der realistischen Anstalten den deutschen
Unterricht vielfach ganz von selbst von der der Antike gewidmeten Verehrung
abbringen mußte. Wer kennt ihn nicht aus seiner Jugend, den Deutschlehrer,
der die Kenntnis der Alten und unserer Klassiker mit gleicher Andacht vermittelte,
in dessen Interpretation selbst an geringfügigster Stelle sich der gleiche gehobene
Zusammenhang einstellte, kurz, dessen gesamte Unterweisung getragen zu sein
schien von einer Selbstsicherheit, die jeden Zweifel an ihrem sozialen Werte über-
legen ablehnen konnte? Zweifellos kam dabei die Eigenart unserer Klassiker zu-
weilen zu kurz, und die Behandlung der ihre Arbeit bedingenden Zeitverhältnisse
ließ alles zu wünschen übrig. Aber da die großen Dichter unfehlbare Autorität
genossen, so war auch der formale Gewinn, den man aus ihnen für eigenes Sprach-
können zog, sicherer als heute, wo wir historisch besser über sie unterrichtet sind.
Die Vorwürfe gewisser Kreise, die ein Deutschtum in Reinkultur dem Gymnasium
entgegensetzen wollen, richten sich somit von selbst. Man vergesse auch nicht,
daß die Entstehung des modernen Gymnasiums und das Durchbrechen der Erkennt-
nis, daß unsere Klassiker für die Nation notwendige Bildungswerte vermitteln,
zeitlich sowohl wie in Hinsicht auf die beteiligten Persönlichkeiten zusammen
gefallen sind. Würde jemand wirklich imstande sein, dem einen oder dem andern
Bildungselement die Priorität und damit die für uns noch ausschlaggebende Be-
deutung zu sichern? Es genüge, auf das jetzt neue Verhältnis zu der Bewertung
literarischer Bildung, wie sie in der Gabelung der höheren Schulen äußerlich sich
zeigt, hingewiesen zu haben. Noch steht die Mehrzahl der akademischen Lehrer
auf dem Boden der älteren Bewertungseinheit, aber auf die Dauer wird der deutsche
Unterricht den Wandel wohl fühlen»
Viel zu wenig hat man sich demgegenüber im neuphilologischen Lager mit
derselben Frage der Anlehnung an die beiden Literaturen, deren Sprachen gelehrt
werden, beschäftigt. Schuld hieran war meist die einseitig praktische Bedeutung,
die die Reformer diesem Unterrichte gaben. Gleichwohl verdient sie ernsteste
Aufmerksamkeit. Ist es etwa gleichgültig, wie der Schüler die Literatur des fremden
Volkes bewertet, dessen Sprache er lernt? Oder soll etwa der neusprachliche Unter-
richt mit der geringen Bewertung alles fremden Volkstums auf den dummen Patrio-
tismus lossteuern, zu dem man uns zuweilen schon führen wollte? Die Frage ist
für den Kundigen keineswegs müßig. Wer einmal vor einem Schülerpublikum
ohne literarische Interessen unterrichtet hat, wird zugeben, daß der deutsche
Unterricht trotz feierlichster Hinweise auf die ihm eigene vaterländische Bedeutung
doch für sich allein eine geringe Rolle spielt, sobald ihm nicht die Stütze einer
hohen Bewertung literarischer Bildung in den beiden Ländern, deren Sprachen
gelernt werden, zur Seite steht. Das Problem des deutschen Unterrichts ist so
hier, wie man sieht, dasselbe wie beim Gymnasium. In beiden Fällen sind die
zwei in Betracht kommenden Literaturen von verschiedenem Werte. Der stark
Innere Wandlungen und äußere Einflüsse im deutschen Unterricht. 367
gestiegenen Bewertung des Griechischen entspricht bei den Realanstalten die
hohe Stellung, die literarische Bildung in Frankreich genießt. Man sehe sich nur
einmal an, was aus den beiden Literaturen, der französischen und der englischen,
bei uns gelesen wird, und man wird sehen: der französische Kanon geht auf eine
noch heute stark lebendige literarische Tradition zurück; die Auswahl englischer
Schriftsteller — das Schmerzenskind der Neuphilologen — ist allen höheren An-
sprüchen gegenüber von einer Hilflosigkeit und zeigt die Launenhaftigkeit, die
dem Engländer in literarischen Dingen eigen ist, eben weil eine klassische Literatur
als feste Norm in seinem Lande nicht besteht. Die Verehrung der großen eng-
lischen Dichter läuft auf die Erhaltung der Stätten, wo sie gelebt, und der Dinge,
die sie um sich hatten, hinaus, und ähnlich kleinlich geht es in den Biographien
zu. Von einer Anknüpfung großer literarischer Bewegungen früherer Zeit an die
Gegenwart ist nirgends etwas zu finden. Der Engländer ist über seiner kommerziellen
und kolonialen Ausbreitung ganz unliterarisch geworden. Mit Entsetzen sieht
der Deutsche drüben den Tiefstand des englischen Theaters. Selbst Gebildete
sprechen es dort mit einer gewissen Selbstgefälligkeit aus, daß sie nie ein Buch
lesen. Wäre es in England denkbar, daß jemand der klassischen Literatur Waffen
für die religiösen und politischen Kämpfe der Gegenwart entnähme, wie es der
größte französische Literaturhistoriker des letzten Dezenniums getan hat? Ja,
auch seine Fachgenossen haben eben auf Grund ihrer in literarischen Dingen er-
worbenen Autorität politische Führerrollen übernehmen müssen, und selbst die
jetzige Bekämpfung der französischen Romantik und die Erörterungen der crise
du Irangaiü hängen mit tiefliegenden politischen Hoffnungen zusammen. Dabei
ist die klassische Literatur nicht etwa in den Schmutz der Demagogie herabgezogen
worden; vielmehr hat sich ihre lebendige Geltung nur noch erhöht, und dieses Inter-
esse hat nun auch unserer Literatur gegenüber zugenommen und hat zu schönen
Arbeiten geführt. Wir Deutsche haben uns zwar an eine recht unpolitische Art
des literarischen Denkens gewöhnt, aber das ist, wenn wir uns z. B= nur der Schiller-
begeisterung von 1840 — 59 erinnern, wohl nur historisch bedingt und wird nicht
einmal stets wünschenswert sein. So wird der deutsche Unterricht da, wo die
neueren Fremdsprachen im Vordergrunde stehen, gar nicht umhin können, diesen
Zuwachs an Interesse, den wenigstens die französische Literatur ihm bietet, in
Rechnung zu setzen. Es gibt in literarischen Dingen — das dürfen wir Philologen
aus reinem Eifer an unserer Sache überhaupt nicht vergessen — im Grunde nur
wenig Lebendiges, so daß ein ständiges Umschauhalten im Garten des Nachbars
geradezu geboten erscheint.
Wenn diese Bewertung der fremden Literaturen zunächst nur mittelbar auf
den Platz, den wir unseren Dichtern in unserer Kultur zuweisen, Einfluß hat, so
ist nun zu erörtern, ob nicht auf unserem eigensten Gebiete eine „Umwertung
der Werte" erfolgt ist. Es ist keine Frage, daß sich immer noch eine starke Bevor-
zugung Goethes geltend macht. Trotz des Jubels über den Idealismus des Jahres
1905, wo der 100 jährige Todestag eine Schillerrenaissance versprach, ist das Interesse
nur erst tastend zu dem Dichter des Wallenstein zurückgekehrt. Den Schülern
Scherers hatte neben ihrem Meister bereits Koberstein bestimmte Wege gewiesen,
die zu Goethe hinführten. Leider wird die Meinung, daß Schiller für uns „historisch'^
368 R. Bürger,
geworden sei, auch schon von Männern geteilt, auf deren jetzige Forschungen
über ihn man später einmal dankbar zurückgreifen wird. Die neudeutsche Dichter-
schule vollends hat (wie einmal L. Fulda feinsinnig ausführte) zu Schiller kein Ver-
hältnis finden können. Es wiederholt sich so heute die etwas ungezogene Art,
wie die Romantik über ihn absprach. Das bleibt, wenn man sich bewußt auf dieses
Beispiel beruft, eine arge Verkennung seiner Bedeutung. Wo ist aber der roman-
tische Dichter, der so unmittelbare Fühlung mit den großen Ereignissen seiner Zeit
gehabt hätte wie Schiller? Besser als aus Kleist wäre aus ihm ein ganzes bürger-
kundliches System abzuleiten, und was mehr ist, es träte stets hinzu das hin-
reißende Schauspiel einer Persönlichkeit, die der großen Gegenwart etwas wirklich
Gewolltes entgegenzusetzen wußte. Sind die Glossen, mit denen die Romantik
die Wandlungen ihrer Zeit begleitete, auch nur zu vergleichen mit der Fassung
z. B. des Demetriusproblems, das er inmitten einer um Recht und Unrecht der
Dynastien streitenden Gesellschaft gestaltete? Wie schnell hat man die große
Tendenz von Treitschkes deutscher Geschichte vergessen, für den eine Wiedergeburt
Deutschlands nur in politisch-militärischem Kraftaufgebot verbunden mit
philosophisch-religiöser Arbeit denkbar war! Schiller war uns ein Stück politischen
Denkens in den Jahren des Hoffens (von 1840—60); er war aber für seine Zeit —
weit mehr als Goethe — ein Mann, der in seiner Arbeit einen lebendigen Protest
gegen die um ihn her spielende Politik bildete. Er lief nicht grollend weg und ver-
grub sich nicht in einen unfruchtbaren Ästhetizismus, der gegenüber den großen
Mächten seiner Zeit kein Verdienst war, denn ein solches Verhalten zeugte von
nur wenig Charakter. Die kommenden Jahre, die uns die Erinnerung an die Be-
freiung Preußens besonders wieder wecken werden, tragen hoffentlich dazu bei,
den Blick von dem kleinen Preußen, das 1795—1806 so sträflich abseits stand,
auf die ganze Reihe der Ereignisse der Revolution und des Empire zu lenken.
Die politische Geschichte hat das schon längst getan, aber die Literaturgeschichte
hat sich dem bisher verschlossen. Sie ist zu sehr dem im Grunde schüchternen
Wesen der Romantik gefolgt. Dann wird sich auch Schillers Gestalt riesenhaft
herausheben, und das Beispiel einer selbst unter widrigen Verhältnissen groß-
wollenden Persönlichkeit, das wir in Deutschland so nötig brauchen, wird dem
deutschen Unterrichte als willkommene Wohltat zufließen.
Dies braucht der Würdigung Goethes keinerlei Abbruch zu tun. Nur wird sich
bei ihm das Interesse noch ausschließlicher der Zeit von 1770 — 1786 zuwenden;
die wirklich anregenden Publikationen der letzten Goetheliteratur gelten dieser
Epoche, und besonders die kulturhistorische Betrachtung hat ihre Kenntnis wesent-
lich gefördert. Eine rein ästhetisch-formale Würdigung ist ja bei dem engen Zu-
sammenhang von Dichtung und Leben, wie wir ihn in Goethe beobachten, nicht
einmal wünschenswert. Das 18. Jahrhundert überhaupt wird, im Gegensatz zu
der herabsetzenden Art, wie die französischen Literaturkritiker es noch jüngst
behandelten, noch eine Fülle historischer Belehrung zeitigen, je mehr wir uns
von ihm entfernen; denn bisher stand diesem Wunsche der kleinliche Fortschritts-
hochmut, mit dem jedes Jahrhundert auf das vorhergehende zurückblickt, im
'Wege.
Dann wird auch die Begeisterung, die heute die Romantik in Wissenschaft-
Innere Wandlungen und äußere Einflüsse im deutschen Unterricht. 369
liehen wie in Laienkreisen entfacht, wieder verfliegen. Ich halte diese Verehrung
für einen Ausfluß der gewiß Achtung gebietenden künstlerischen Arbeit des letzten
Jahrzehnts. Sie greift ja auch, wie die Philosophen längst gemerkt haben, (vgl.
0. Ewalds Jahresberichte in den Kantstudien) weit über das eigentliche literarische
Gebiet hinaus und sucht ältere Weltanschauungswerte wieder einzubürgern. Die
Fülle der Neuausgaben und Monographien, die dieses Interesse gezeitigt hat, ist
jedenfalls dankbar zu begrüßen. Auch daß die Literaturgeschichte hierbei wieder
philosophisch zu denken gelernt hat, bleibt ein hoffentlich dauernder Gewinn.
Gleichwohl wird der inhaltliche Wert dieser Epoche überschätzt; das wird sich
noch mehr zeigen, wenn erst einmal alle praktischen Anregungen der Romantik —
z. B. auf dem Gebiete der politischen Verhältnisse — geprüft und an der eigentlich
politischen Arbeit der Zeit gewertet werden. Die Romantiker waren selbst viel
zu sehr literarisch-historisch gerichtet, um positive Gegenwartsarbeit zu leisten.
Ihre Theorien gingen aus von Beispielen, die nicht mehr lebendig sein konnten,
und erweckten daher den Eindruck, als hätten sie abseits von jeder eigenen pro-
duktiven Arbeit geschrieben. Während Schiller nach subtilen Erörterungen mit
Goethe doch noch den Weg zum Schaffen fand, sind die Romantiker nie aus der
Dürre ihrer Klügeleien herausgekommen. Sie sind die Vertreter einer vom Leben
losgelösten Kunst, des l'art pour l'art gewesen. Diese Ideen sind aber heute nicht
mehr so modern wie vor zehn Jahren. Selbst der Nietzschekultus, der die ganze
Neuromantik beherrschte, hat sich in rein ästhetischen Gedankengängen bewegen
müssen und hat heute Mühe, wieder Anschluß an seine alte moralische Heimat
zu gewinnen. Wie schnell haben erst seine Epigonen, die uns ein paar schöne Renais-
sancegestalten (Schnitzler: Schleier der Beatrice, Herzog: Der Condottiere,
v. Hoffmannsthal : Das gerettete Venedig) schenkten, andre Wege eingeschlagen!
Neue Kunstformen, darunter die neoklassischen von P. Ernst und' Stucken, haben
der Neuromantik den Krieg erklärt, und es ist nicht abzusehen, wie sich diese
Änderung für die Bewertung unserer Klassiker geltend machen wird. Vielleicht
zieht unsere Kenntnis des 18. Jahrhunderts etwas von der jetzigen Rokokomode
Nutzen. Es ist ja nicht entscheidend für eine geistige Bewegung, ob die Schule
mit ihr etwas anfangen kann. Aber die schwache Seite der Romantik tritt doch
erst in diesem Zusammenhang klar zutage. Eine literarische Bewegung, die nicht
auch gleich in den Kreisen der Jugend Pflege finden kann, mag kurze Zeit eine
glanzvolle Existenz haben, aber ohne eine breitere Basis zu ihrer Aufnahme geht
sie leicht wieder ein, und dies scheint mir bei der Romantik der Fall zu sein. Die
Schule, auf die man heute so kritiklos losschlägt, hat in dieser Hinsicht ihre nicht
zu verkennende Bedeutung auch für die Fortpflanzung geistiger Anregungen.
II. Ist so der Gegenstand des deutschen Unterrichts starken Wandlungen
ausgesetzt gewesen, so darf auch nicht übersehen werden, daß ebenso die Betrach-
tungsart und die Arbeitsmethoden, die sie zu stützen haben, andre geworden sind.
Die geflissentliche Vernachlässigung der neueren Literaturgeschichte, unter der
noch die älteren Vertreter des Deutschen während ihrer Studien zu leiden hatten,
ist ins Gegenteil umgeschlagen. Schon hat ein bedeutender Germanist, der noch
die ältere und die neuere Zeit beherrscht, eine Rückkehr zum eigentlichen Gebiet
der deutschen Philologie, dem Mittelhochdeutschen, empfohlen. Auch die neuere
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 24
370 R. Bürger,
Literaturgeschichte steckt mehr voller Krisen als der Außenstehende denkt, wenn
ihm neue Ausgaben mit schönen Einleitungen geboten werden. Einer der besten
Faustkommentatoren hat sein Werk den Philologen des 20. Jahrhunderts gewidmet,
indem er damit sich abwandte von der häßlichen Manier nur Zettelkästen statt
wissenschaftlicher Erörterungen zu bringen. Dieses Urteil ist wohl zu hart; denn
je nach der Bedeutung des behandelten Schriftstellers ist die monographische
Behandlung an innerem Werte gestiegen. Daß die Literaturgeschichte nicht mehr
die geschlossene Methode wie zur Zeit H. Hettners (nach H. Spitzers eingehenden
Darlegungen 1903) hat, ist nicht anders zu erwarten, so lange nicht eine über-
ragende Gelehrtenpersönlichkeit hier wieder die Führung übernimmt. Neue Wege
sind gleichwohl genügend eröffnet worden. Von den kulturgeschichtlichen Interessen,
die jetzt in die Biographien hineinragen, war schon die Rede. Der Wunsch nach
größerer Berücksichtigung der Geschichte der Revolution und des Empire bleibt
noch zu erfüllen.
Bei der großen Bedeutung, die letzthin das Interesse für die Arbeitsart der
bildenden Künste erlangt hat, ist der Einfluß der kunsthistorischen Methoden
auch in dem literaturgeschichtlichen Nachbargebiet zu spüren. Man wird an
den in unser Gebiet mehr oder weniger hineinreichenden Arbeiten von Helene
Stöcker, Aubert, Wölfflin, Hildebrand, Utitz usw. nicht mehr vorbei können. Die
starke Betonung der technischen Seite der Kunst, die sie kennzeichnet, ist jedoch
eine Einseitigkeit, zu der die Kunstgeschichte ein größeres Recht hat als die
Philologie; denn erstens wird bei dieser Kunst die technische Seite stets größeres
Interesse beanspruchen und dann hat die Kunstgeschichte weit mehr als die Nach-
barin in verstiegener Inhaltsdeutung gesündigt. Vorsicht ist daher geboten. Man
bedenke auch, daß um 1800 allein die redenden Künste zu höchster Höhe empor-
stiegen, während auf dem Nachbargebiet nur ein beachtenswerter Durchschnitt
erzielt wurde.
Noch vorsichtigeres Zuwarten scheint geboten,wenn sich die heute anschwellende
philosophische Bewegung auf unserm Gebiet geltend machen will. Man weiß,
daß sich jetzt eine Wiederholung der großen Systemreihe vollzieht, die vor 100
Jahren das gebildete Denken in Deutschland durchmachte. Man geht von Kant
über Fichte zu Schelling und Hegel über. Die Neuromantik hat für jede Etappe
dieses Weges mit Reminiszenzen oder neuen Anregungen aufwarten können, ob-
wohl ihr Abgott Nietzsche so recht ein Beweis dafür ist, wie tief das Ansehen der
Metaphysik in Deutschland sinken konnte. Dem Neukantianismus verdanken wir
eine vertiefte Kenntnis der Staatsphilosophie Rousseaus. Shaftesbury hat die
mit der Romantik verknüpfte Literaturforschung gewürdigt. Der Rationalismus
seit Bayle und die Philosophie vor Kant seit Leibniz, alles das hat jetzt an Deut-
lichkeit gewonnen. In die Behandlung Schillers greift schon der noch nicht
entschiedene Streit zwischen Psychologismus und Logik ein, wie ja selbst alle
die genannten historischen Arbeiten an lebendige Gegenwartskämpfe anknüpfen.
Das Geheimnis der Wirkung aller großen Historiker liegt hier offen. Die ausschließ-
lich objektiv berichtende Art, wie sie Zellers Philosophie Friedrichs des Großen
charakterisierte, sucht man heute glücklicherweise umsonst. Man ist auch viel mehr
darauf aus, das philosophische Problem bei jedem Denker nicht mehr bloß als ein
Innere Wandlungen und äußere Einflüsse im deutschen Unterricht. 371
Produkt von so und so viel Abhängigkeiten zu fassen, sondern in jedem System
möglichst ein individuell künstlerisches Gebilde zu sehen. Hierin gibt wieder die
Literatur der Philosophie bedeutsame Fingerzeige, die wertvoll sein werden,
wenn die Philosophie noch stärker als bisher Sitz und Stimme im Rate der Schule
erhält. Die Ausführungen der propädeutischen Handbücher, so wertvoll sie für
den orientierenden Anfang sind, werden der Ergänzung durch das Studium einer
großen Denkerpersönlichkeit bedürfen. Ja, vielleicht wird die Schule mit ihrer
Gewohnheit des Interpretierens da besser fahren als mit weitläufigen systematischen
Zusammenstellungen. Ein Nebengewinn dieser Bedeutung, die die Philosophie
für den deutschen Unterricht somit gewonnen hat, ist schon jetzt in der Anlage
der Biographien zu spüren: Sie verlieren mehr und mehr ihren enzyklopädischen
und oft kleinlichen Charakter zugunsten einer mehr von einer leitenden Idee ge-
tragenen Betrachtung.
Gerade die philosophische Erweiterung, die so der deutsche Unterricht er-
möglicht, hat seinen Wert unendlich gesteigert. Die Unterweisung in den fremden
Sprachen wird, schon um der Erlernung der Sprache willen, zeitweilig ganz auf
inhaltliche Bewußtseinswerte verzichten. Der Religionsunterricht wird bei dem
Zunehmen der religiösen Krisen heutzutage Zurückhaltung üben müssen und
mehr historisch objektiv werden. So bleibt dem Lehrer des Deutschen (neben dem
der Geschichte) die schöne Freiheit und zugleich die Aufgabe, gleichsam am Wege
einige große Fragen wenigstens mit zu streifen und so den Schülern das Beispiel
einer sicher in der Gegenwart wurzelnden Persönlichkeit zu geben, der das Suchen
unserer Zeit und besonders das der Jugend nicht fremd ist.
III. Diese Erörterung des deutschen Unterrichts wäre unvollständig, wenn
nicht schließlich auch der Möglichkeiten des praktischen Gebrauchs der Mutter-
sprache gedacht würde. Man weiß, welche Not die Schüler mit' den Aufsätzen
haben. Aber alle Mittel, die man zur Erleichterung der Schwierigkeit vorgeschlagen
hat, werden nur teilweise helfen. Ein Aufsatz wird immer eine Leistung bleiben,
die zu besonderer Anstrengung aufruft und gerade dadurch ausnehmenden Wert
erhält. Er allein läßt den ganzen Aufbau eines Unterrichts durchblicken. Träumen
wir also nicht von einer Zeit, wo die Schüler ihn gern schreiben werden. Ein gehalt-
voller deutscher Unterricht verhindert von selbst, daß sich die Klagen häufen.
Hat man je gehört, daß Kobersteins Schüler in Schulpforta unter dem Aufsatze
seufzten? Nutzbringender ist darum, daß sich der Lehrer nach den für diese Arbeit
gültigen Mustern umsieht. Was ihm seine Schüler aus den Seiten der heutigen
impressionistischen oder gar zur Ironie neigenden symbolistischen Schriftsteller
als Lesefrüchte mehr oder weniger bewußt bringen, zeigt nur, daß sie das Leben
vorschnell in das Gebiet der Schule hineinziehen. Hier muß die Schule im besten
Sinne etwas weit- und lebensfremd bleiben. Sie ist eine Einrichtung zu bestimmter
sittlicher und wissenschaftlicher Einwirkung auf bildungsfähige junge Gemüter,
aber nicht, oder nur in ganz geringem Maße, die Stätte der Freiheit und der
Selbständigkeit; sie ist der Ort, wo eine ältere Generation autoritativ und selbst
mit Anwendung des Zwanges Gefühle und Lebensanschauungen dem nachfolgenden
Geschlechte übermittelt. Darum wird sie vom Schüler auch alles inhaltlose und
besonders das unbescheidene Pathos fernhalten. Das gilt namentlich von den
24*
372 R. Bürger, Innere Wandlungen und äußere Einflüsse im deutschen Unterricht.
Einflüssen, denen sich unsere Schüler infolge der Zeitungslektüre hingeben. Da
wirkt heute viel zu sehr das blendende Beispiel Treitschkes, das bei seinen Epigonen
für einige wenig tiefe Gedanken eine blendende Form so bequem auslöst. Den
moralisierenden Aufsatz, den man stets als Beispiel für jugendlichen Hochmut
anführt, wird man da, wo noch lebendige Predigttradition besteht, ruhig weiter
gewähren lassen; vielleicht haben die religiösen Kämpfe unserer Tage das Gute,
in dieser Hinsicht neue Kräfte an die Oberfläche zu bringen, die dann auch der
Schule wieder wirkungsvolle Vorbilder abgeben könnten. Je mehr man das Sinken
der politischen Beredsamkeit beklagt, um so mehr darf die Sprache der Kanzel
wieder auf Anerkennung hoffen. Nur dürfte sie nicht zu dem launisch stillosen
Geplauder werden, das heute die Schreibweise so vieler Autoren recht ungenieß-
bar macht für den, der feste Kost genießen will. Vielleicht kommen wir dann
auch einmal wieder zu höherer Wertung der alten Rhetorik, aus deren Schule
unsere Klassiker stammten.. Sie hatte das Gute, jeden Sprung ins Freie erst nach
Erledigung einer Reihe bestimmter Etappen zuzulassen. Der Aufsatz der fran-
zösischen Schulen sucht hierin noch seine Stärke, und der große Unterschied in der
Handhabung der Muttersprache macht sich da sehr zu unsern Ungunsten fühlbar.
So steht der deutsche Unterricht heute zu wichtigen Wandlungen unseres
geistigen Lebens in Beziehung. Je mehr die alten Inhalte in diesen wie in anderen
literarischen Unterrichtsfächern an Ansehen eingebüßt haben, um so mehr ist
es nötig, die ganze Lehrerpersönlichkeit einzusetzen, damit der Jugend wenigstens
ein Teil des Reichtums verbleibe, zu dessen Erwerb sich noch unsre Väter als zu
einer selbstverständlichen Ehrenpflicht bekannten. Es gibt nichts, was den Verlust
dieser Schätze je wieder zu ersetzen imstande wäre.
Kattowitz, R. B ü r g e r.
IL Programmabhandlungen 1911.
Zur schulgeschichtlichen Forschung.
(1911 mit einzelnen Nachträgen.)
Festschriften zur Feier von Schuljubiläen erscheinen namentlich seit einigen
Jahren in so großer Zahl, daß es schwer ist, von allen Kenntnis zu nehmen. Sie
sind unter sich gar sehr verschieden nach Art und Wert, aber immer wohl enthalten
sie eine Darstellung der Geschichte der jubilierenden Anstalt oder Beiträge zu einer
solchen. Das ist recht und billig, denn der Vergangenheit gilt das Fest, und von
ihr zu erzählen gebührt sich dabei. Daß diese schulgeschichtlichen Arbeiten nicht
immer den Forderungen wissenschaftlicher Forschung entsprechen, ist schon wieder-
holt hervorgehoben worden, und es scheint sich eine Besserung anzubahnen. Die
früher allgemein übliche Sitte, bei einer solchen Gelegenheit eine Sammlung wissen-
schaftlicher Arbeiten, die von Mitgliedern des Lehrerkollegiums verfaßt sind,
zu veröffentlichen, kommt, wie es scheint, mehr und mehr ab,^ wenigstens ist
die Zahl solcher Veröffentlichungen, die gewissermaßen specimina industriae et
eruditionis der Lehrer sind oder sein sollen, verhältnismäßig seltener geworden.
Man mag das einerseits bedauern, andererseits aber muß man sich klar machen,
daß solche Festschriften kaum der rechte Platz für gelehrte Abhandlungen sind;
sie werden doch niemals während der Jubelfeier und sehr selten nach ihr gelesen
und finden heute, in dem Zeitalter der Zeitschriften, besser anderswo ihren Platz.
Neu ist, soviel ich sehe, die Art, in der das Gymnasium in Landsberg a. W. 1909
sein 50 jähriges Jubiläum in einer Veröffentlichung gefeiert hat. Neben einer
Geschichte der Anstalt von 1859 — 1909, die von Direktor Dr. Schi e e klar und
anschaulich verfaßt worden ist, ist ein zweiter Teil erschienen, der Festgaben von
Lehrern und früheren Schülern der Anstalt enthält*); es werden 11 Abhandlungen
veröffentlicht, von denen 5 ehemalige Schüler zu Verfassern haben. Der Gedanke,
auf solche Weise den Zusammenhang mit der Vergangenheit aufrecht zu erhalten,
ist recht hübsch, und man wünschte, daß viele solcher Jugenderinnerungen, wie
sie hier Otto Franz Gensichen erzählt, veröffentlicht würden. Daraus kann auch
die Schul geschieht e reichen Nutzen und Belehrung ziehen. Gerade von selten
♦) Festschrift zur Feier des 50 jährigen Jubiläums des Kgl. Gymnasiums mit Real-
schule zu Landsberg a. W. \. Teil: Geschichte der Anstalt von 1859—1909. IL Teil:
Festgaben von Lehrern und früheren Schülern der Anstalt. — Landsberg a. W. 1909.
374 M. Wehrmann,
solcher Männer, die einst die Schule besucht haben, das Leben und Treiben in ihr ge-
schildert zu sehen, hat einen eigenen Reiz und besonderen Wert. Deshalb ist schon
oft darauf hingewiesen worden, daß Memoiren und Biographien für die Schul geschichte
mehr, als es gewöhnlich geschieht, herangezogen werden müssen; Paulsen hat in
seiner Geschichte des gelehrten Unterrichts ein Beispiel für die Verwendung solcher
Quellen gegeben. Von ähnlichem Werte sind bekanntlich auch Schülerarbeiten
namentlich aus der äfteren Zeit, wie sie z. B. E. F a u 1 s t i c h in der Festschrift
zur Feier des 350jährigen Bestehens des Gymnasiums zu Stralsund (Stral-
sund 1910) aus dem 17. und 18. Jahrhundert veröffentlicht und bespricht. Sie
geben uns einigermaßen einen Maßstab für das, was in früheren Zeiten in den
Schulen geleistet wurde. Nur muß man Vorsicht im Urteil üben, da sehr viele, wenn
nicht die meisten solcher Arbeiten nur scheinbar von Schülern herrühren, in Wahr-
heit aber als Prunkstücke von den Lehrern verfaßt worden sind. Dafür gibt Franz
M ü 1 1 e r ein Beispiel, indem er eine Demminer Schulschrift von 1611 ausführlich
behandelt*). In ihr haben Lehrer und Schüler Glückwunschgedichte zur Feier
einer Hochzeit zusammengestellt. Die Stralsunder Festschrift bringt ebenso wie
die zum 200 jährigen Jubiläum des Realgymnasiums zu L a n d s h u t **) Dar-
stellungen der Geschichte der Anstalten in den letzten Jahrzehnten; beide enthalten
auch wissenschaftliche Abhandlungen. Lauenburg i. Po.***) beschränkt
sich auf eine Geschichte der Schule und Lehrer- und Abiturientenverzeichnisse.
Kurz und übersichtlich sind in der Festschrift des Kgl. Gymnasiums zu
Marienburg einige Angaben über die Jahre von 1885 bis 1910 gemacht.f)
0. Klose wirft einen Rückblick auf die mannigfachen Schicksale, die die jetzige
Oberrealschule zu Weißenfels ff) seit 1861 durchgemacht hat, und gibt
damit ein Beispiel von den Schwierigkeiten, die höheren Schulen in kleinen Städten
häufig entgegengetreten sind. Ganz kurz sind die 25 Jahre behandelt, die das
Realgymnasium in Erfurt unter königlich preußischer Verwaltung steht.fff )
Über den Rahmen dieser Programmenschau hinaus verdient Erwähnung die aus-
führliche Arbeit von H. Entholt§) über die Bremische Hauptschule von 1817
bis 1858, in der uns auf Grund sehr sorgfältiger Studien eine Darstellung der eigen-
artigen Entwicklung dieser bedeutenden Unterrichtsanstalt gegeben wird. Besondere
Beachtung verdient die Reform von 1833.
Unter den Programmabhandlungen des Jahres 1911 befinden sich einige
Arbeiten, die nicht lokalgeschichtlichen, sondern allgemeinen Inhalts sind. Recht
*) Franz Müller, Eine Schulschrift von 1611. Demmin 1909.
**) Festschrift zum 200 jährigen Jubiläum des Realgymnasiums zu Landshut.
Landshut 1910. Pr.-No. 305.
***) Festschrift zur 50 jährigen Jubelfeier des Lauenburger Gymnasiums am 29.
und 30. September 1910. Pr.-No. 205.
t) C. G r u b e r , Geschichte des Kgl. Gymnasiums zu Marienburg während der
Jahre 1885—1910. Festschrift. Marienburg 1911. Pr.-No. 42.
tt) O. Klose, Rückblick auf die Geschichte der Oberrealschule zu Weißenfels.
Weißenfels a. S. 1911. Pr.-No. 380.
ttt) 1911. Pr.-No. 355.
§) H. Entholt, Die bremische Hauptschule von 1817 bis 1858. Bremisches
Jahrbuch XXIII, S. 1—130.
Zur schulgeschichtlichen Forschung. 375
dankenswert ist 0. V o 1 s b u r g s*) l^urze Übersicht über die Lateinschulen in
den Ländern der HohenzoUern (1412—1713). Er benutzt freilich nur gedrucktes
Material (auch das nicht ganz vollständig), so daß die Zusammenstellung kaum
alle vorhandenen Lateinschulen enthält. In zahlreichen kleinen Orten bestanden
solche Anstalten, die Anspruch auf den stolzen Namen machten, wenn sie auch
sehr wenig Latein trieben und sich nur zum Schein ein Mäntelchen der Gelehr-
samkeit umhängten. Daher wird sich die Zahl, die für 1713 in dem damaligen
Königreiche auf 91 angegeben wird, beträchtlich erhöhen. Trotzdem begrüßen
wir diese Vorarbeit mit Freude und hoffen, daß sie fortgesetzt und weiter geführt
wird. 0. Wetzstei n**) bringt eine Fortsetzung seiner ausgezeichneten Arbeit
über die Geschichte des Realschulwesens in Deutschland und behandelt im 6. Ab-
schnitte die Bestrebungen auf dem Gebiete der Schulreform in den Jahren 1882 bis
1890. Seine Darstellung dieser bewegten Zeit berührt in ihrer maßvollen und
verständigen Weise durchaus sympathixh, er hält mit seinem Urteile nicht zurück,
hütet sich aber vor Übertreibungen und Einseitigkeiten, die uns in anderen Werken
über die neueste Schulgeschichte recht häufig begegnen. Einen Beitrag zur Ge-
schichte der Fürstenerziehung, die neuerdings mit Recht eingehendere Beachtung
erfährt, gibt 0. Hahn e***). Die Gutachten, Vorschläge und Erinnerungen, die
um 1720 für die Erziehung des jungen Herzogs Karl I. von Braunschweig gegeben
wurden, die Anleitung und Instruktion, die der Prinzenerzieher J. G. Schlüter
erhielt, die Berichte usw. enthalten viel Material, das für die ganze Zeit-
anschauung höchst beachtenswert ist; nur der Raum verbietet es, hier Näheres
mitzuteilen.
In die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts führt uns der 2. Teil der Geschichte
des Kneiphöfischen Gymnasiums zu K ö n i g s b e r g i. Pr. von R. Armsted t.f)
Er behandelt zunächst das Partikular, das 1541 gegründet nach nicht zweijährigem
Bestehen unter dem Namen Pädagogium zu einer Vorbereitungsanstalt für die
Universität gemacht wurde und bis 1619 bestand. An dieser Schule, die wie ähnliche
ihrer Art eine unglückliche Zwitterstellung einnahm, war der bekannte Wilhelm
Gnapheus tätig, dessen Schulordnung von 1545 für die Kenntnis der damaligen
Verhältnisse wichtig ist. Daneben bestand die Domschule, deren Schicksale in
den Jahren von 1543 bis 1602 nicht sehr erfreulich sind; es waren aber auch an ihr
tüchtige und gelehrte Pädagogen tätig. Die kurzen Biographien, die Arnstedt
gibt, führen uns recht das Wanderleben jener Schulmänner vor Augen; die meisten
waren in den verschiedensten Teilen Deutschlands tätig, und das entlegene
Königsberg zog gar manchen aus weiter Ferne herbei. Das Gymnasium in J e v e r
geht in seinen Anfängen bis ins Jahr 1573 zurück, wie die Übersicht über seine Ge-
*) 0. Volsburg, Lateinschulen in den Ländern der HohenzoUern. Zaborze O.-S.
Königin Luise- Gymnasium 1911. Pr.-No. 300.
♦*) O. W e t z s t e i n , die geschichtliche Entwicklung des Realschulwesens in Deutsch-
land. Abschnitt VI. Realschule in Neustrelitz 1911. Pr.-No. 958.
***) 0. Hahne, Die Erziehung Herzog Karls I. von Braunschweig- Lüneburg in
den Jahren 1720—22. Hzgl. Wilhelm- Gymnnasium in Braunschweig. 1911. Pr.-No. 993.
t) R. Armstedt, Geschichte des Kneiphöfischen Gymnasiums zu Königsberg i. Pr.
2. Teil. 1911. Pr.-No. 10.
376 M. Wehrmann,
schichte von 0 m m e n*) zeigt; sie bietet nicht gerade viel Material von allgemeiner
Bedeutung. 25 Jahre bestehen das Schiller-Realgymnasium in Charlotten-
b u r g**) und die Kaiser Friedrichs-Schule in E m d e n.***) Die Geschichte
beider Anstalten ist für die Entwicklung des Realschulwesens nicht ohne Interesse.
Das Schiller-Realgymnasium ist die älteste städtische höhere Lehranstalt Charlotten-
burgs, das heute ein reich ausgebildetes Schulwesen besitzt. Die städtische Ober-
realschule in L i e g n i t z hat sich, wie F. W. F r a n k e n b a c h f) darstellt, seit
1855 allmählich aus einer Bürger-, Mittel-, höheren Bürger- und Realschule ent-
wickelt. Recht ausführlich berichtet W. H ö h 1 e r ff ) über das Realgymnasium
in Mannheim, das als höhere Bürgerschule 1840 eröffnet worden ist; auch
hier überwiegen indessen statistische Nachrichten. Wertvoll ist die Darstellung,
die B. T h 0 m a s fff ) über die Geschicke des Lyceums in Straßburg i. E.
während der Jahre 1765—1804 gibt. Die politisch bewegte Zeit macht sich natür-
lich auch in der Entwicklung des Schulwesens geltend, und man verfolgt gern
die Erzählung von den Vorgängen im College national, der ecole centrale oder
dem Lyc6e Imperial. Schon in den Namen treten die verschiedenen Wandlungen
der Anstalt zutage.
Von der Veröffentlichung der alten Schulordnungen, die nach einer langen
Zeit der Überschätzung etwas in Mißachtung geraten sind, ist man sehr zurück-
gekommen. Trotzdem ist es durchaus interessant und lehrreich, diese gesetzlichen
Bestimmungen für eine alte Schule kennen zu lernen; es spiegelt sich in ihnen ein
gutes Stück der alten Anschauungen wieder. Deshalb ist die Zusammenstellung,
die W. D e d e k i n d §) für das Katharineum zu Lübeck gemacht hat, mit Freude
zu begrüßen; die acht Schulordnungen, die er aus den Jahren von 1531—1891 ab-
druckt, bieten eine Schulgeschichte in nuce. Kurz erzählt B. Eschenburg §§)
die Geschichte dieser alten Anstalt und gibt hauptsächlich Lebensbilder der meisten
Rektoren und Direktoren, unter denen sich Männer wie Hermann Bonnus, Fr.
Jacob, Joh. Claßen, E. Deecke befinden. Einige genauere Angaben werden über
den lateinischen Unterricht aus den Jahren 1530 — 1911 gemacht, sonst aber Nach-
richten über das innere Leben und die Arbeit in der Anstalt nur in geringem Um-
fange gegeben. Als Übersicht über die Schulgeschichte ist die gut ausgestattete
Schrift anerkennenswert. Von der lateinischen Schule in S c h 1 a w e , die
*) O m m e n , Abriß der Geschichte des Großherzogl. Mariengymnasium zu Jever.
1911. Pr.-No. 964.
**) 0. H u b a t s c h , Das Charlottenburger Realgymnasium in dem ersten Viertel-
jahrhundert seines Bestehens. Schiller- Gymnasium in Charlottenburg. 1911. Pr.-No. 120.
***) F. Niemöller, Geschichte der Kaiser Friedrichs- Realschule zu Emden
während ihres 25 jährigen Bestehens. 1911. Pr.-No. 454.
t)F. W. Frankenbach, Entwicklungsgeschichte der städtischen Oberreal-
schule in Liegnitz. 1911. Pr.-No. 326.
tt) W. Höhler, Das Realgymnasium Mannheim 1840—1910. Mannheim 1911.
Pr.-No. 892.
ttt) B. T h 0 m a s , Zur Geschichte des Lyceums in Straßburg i. E. II. Teil. Straß-
burg i. E. 1911. Pr.-No. 736.
§) W. Dedekind, Die Schulordnungen des Katharineums zu Lübeck von 1531
bis 1891. 1911. Pr.-No. 1031.
§§) B. Eschenburg, Das Katharineum in Lübeck. Ohne Ort und Jahr!
Zur schulgeschichtlichen Forschung. 377
zuerst in der Mitte des 16. Jahrhunderts erwähnt wird, berichtet W. Hoff-
mann*) allerlei beachtenswerte Einzelheiten, die uns ein Bild davon
geben, wie man sich in einer kleinen Stadt bemühte, eine sogenannte Gelehrten-
schule zu erhalten; hier hat man unwillkürlich den Argwohn, daß die in dem Lehr-
plane von 1590 aufgeführten Unterrichtsgegenstände kaum alle in Wirklichkeit
behandelt worden sind. Der Plan von 1774 sieht etwas praktischer aus.
Als ein Beitrag zur Schul geschichte ist auch anzusehen die Arbeit von J.
S t e e n ,**) der davon berichtet, wie die Sammlung vorgeschichtlicher Altertümer
1874 an die S c h 1 e s w i g e r Domschule kam und wer sie begründet hat. Über
die Feier des 350 jährigen Jubiläums des Gymnasiums in Stralsund berichtet
P.Trommlitz ***); die verschiedenen dabei gehaltenen Reden enthalten reiches
historisches Material. Neue Gebäude sind u. a. in Sprembergf) und Eß-
1 i n g e n ff) eingeweiht worden, worüber die Programme berichten. Die Abi-
turienten des Gymnasium illustre zu Gotha aus den Jahren 1653 — 1694 stellt
M. Schneide rfff) zusammen, wobei wir erfahren, daß bereits 1653 durch Herzog
Ernst den Frommen ein Abiturientenexamen eingeführt worden ist. Aus der
alten Gymnasialmatrikel von Hermannstadt teilt R. Briebrecher§)
die Namen der Schüler mit, die in den Jahren 1654 — 1719 eingetragen sind; man
sieht, welch eine Bedeutung die alte Anstalt für das geistige Leben Siebenbürgens
hatte.
Endlich sei noch auf einen Beitrag zur allgemeinen Geschichte der Pädagogik
hingewiesen. H. G i I o w§§) macht Mitteilungen aus dem Tagebuche Karl Spaziers,
der von 1782—1785 am Philanthropinum in Dessau tätig war, und bringt damit
einen nicht unwichtigen Beitrag zur Geschichte dieser Schulanstalt. Wir erfahren
von verhängnisvollen Mißständen, die größer waren als man bisher dachte, von
der Art des Unterrichts und der Erziehung, die sich auch nicht frei von argen
Schäden und Fehlern hielt.
Greifenberg i. P. MartinWehrmann.
*) W. Hoffmann, Zur Geschichte der lateinischen Schule zu Schlawe. 1911.
Pr.-No. 209.
**) J. S t e e n , Die Sammlung vorgeschichtlicher Altertümer in der Königl. Dom-
schule zu Schleswig und ihre Begründer. 1911. Pr.-No. 393.
*♦*) P. Trommlitz, Bericht über die Feier des 350 jährigen Jubiläums des Gym-
nasiums zu Stralsund. 1911. Pr.-No. 215,
t) 1911. Pr.-No. 148.
tt) 1911. Pr.-No. 828.
+tt) M. Schneider, die Abiturienten des Gymnasium illustre zu Gotha aus M.
Andreas Reyhers und Georg Hessens Rektorat von 1653 — 1694. Herzogl. Gymnasium
Emestinum zu Gotha 1911. Pr.-No. 1009.
§) R. Briebrecher, Mitteilungen aus der Hermannstädter Gymnasialmatrikel.
Fortsetzung. Evangel. Gymnasium A. B. zu Nagyszeben (Hermannstadt) 1911.
§§) H. G i 1 0 w , Karl Spaziers Tagebuch 1781—1783. Beiträge zur Geschichte
des Dessauer Philanthropinums. Kölln. Gymnasium zu Berlin. 1911. Pr.-No. 70.
378 M. Nath, Über Lehrpläne und Schulreform. X.
Über Lehrpläne und Schulreform. X.
Steglitz, Gymnasium: Beilagen zum Jahresbericht: 1. Lehraufgaben
der Klassen Sexta bis Ober-Tertia im Anschluß an die amtlichen Lehrpläne (8^
16 S.). 2. a) Lehrplan für das Turnen, b) Übungen für das tägliche Turnen (8«.
16 S.). 3. Lehrplan für die Vorschulen der höheren Lehranstalten zu Steglitz.
(No. 104).
Mühlhausen in Thüringen (0. R. S.): Lehraufgaben für Fran-
zösisch und Englisch. (No. 374. 8«. 16 S.).
P 1 e 1 1 e n b e r g (R. S.) F. S c h n e 1 1 : 1. Lehrplan für den evangelischen
Religionsunterricht. 2. Lehrplan für den englischen Unterricht. (No. 529. 30 S.).
Die Steglitzer Lehrpläne bieten in ihrem ersten Teil meistens den
Text der amtlichen Vorschriften, nur ergänzt durch die Aufzählung der für die
Einprägung bestimmten Kinderlieder und Bibelsprüche und der deutschen Gedichte.
Auch die Vorschriften namentlich für die alten Sprachen, die Geschichte und
Erdkunde auf der Unterstufe sind etwas ausführlicher gefaßt. Den Beschluß bildet
die Aufzählung der eingeführten Lehrbücher. Auch der zweite Teil schließt sich
im ganzen eng an die offiziellen Lehrpläne an. Bei dem dritten ist die klare und
wohlabgemessene Bestimmung der Lehrziele hervorzuheben. — Die M ü h 1 -
hausener Pläne stellen an die Spitze methodische Bemerkungen, die den
Unterricht als einen gemäßigt reformierten kennzeichnen. Die Lehrpläne selbst
sind ziemlich knapp. Eigenartiges findet sich trotzdem, so für jede Klasse bis zur
U II die Hervorhebung der bei den schriftlichen Übungen in Betracht kommenden
Gesichtspunkte. Bei der Lektüre auf der Oberstufe fällt die Stoffbeschränkung auf.
— Der Verfasser der P 1 e 1 1 e n b e r g e r P 1 ä n e hat mit Geschick den Versuch
gemacht, mit der Aufzählung der Lehraufgaben, Lehrbücher etc. eingehende Winke
für die Behandlung zu verbinden. Die Arbeit ist interessant zu lesen.
Sevelsberg, Festschrift bei Gelegenheit der Feier des fünfundzwanzig-
jährigen Bestehens der Anstalt (Aachen, Königl. Kaiser Wilhelms- Gymnasium.
No. 586. 4«. 64 S.).
Engelhardt, Die Abiturienten des Marburger Gymnasiums von seiner
Neugründung 1833 bis Ostern 1910. (Voran gehen: Nachträge und Berichtigungen
zu dem Verzeichnis der Direktoren und Lehrer des Marburger Gymnasiums 1833
bis 1910 im Jahresbericht 1910.) (Marburg, Königl. Gymnasium No. 549. 4^.
62 S.).
Franke, Geschichte des Verwaltungsrats des Königl. Gymnasiums zu
Emmerich von seiner Einweihung bis zu seiner Auflösung, zugleich eine Geschichte
des Emmericher Gymnasiums von seiner Neugründung im Jahre 1832 bis zum Jahre
1910. (Emmerich, Gymnasium. No. 614. 8«. 28 S.).
In stattlichem Gewände erscheint der Bericht aus A a c h e n , mit einer großen
Zahl von Abbildungen geschmückt, die die Anstalt und den Bilderschmuck ihrer
Aula, die Dezernenten und Leiter, sowie das Lehrerkollegium bei der Eröffnung
und in seinem gegenwärtigen Bestände dem Leser vorführen. Auch eine Anzahl
Klassenbilder mit den Ordinarien sind zu sehen. Von dem Wachsen und Gedeihen,
das allem Anscheine nach ein sehr erfreuliches gewesen ist, wird erzählt und Ver-
W. Lietzmann, Zur Mathematik. 379
zeichnisse der Lehrer, die an der Anstalt gewirkt, nebst Nachrichten über ihr Leben,
wie Tabellen der von ihr entlassenen Reifeprüflinge sind beigegeben. — Das Ver-
zeichnis der Marburger Abiturienten auf den Stand zu bringen, in dem er uns
vorliegt, hat sicher große Mühe gekostet. So schlicht und unscheinbar das Ergebnis
sich uns darstellt, so darf seine Bedeutung doch nicht unterschätzt werden. Können
die Nachrichten als zuverlässig angesehen werden, so bieten sie wertvolles Material
für mancherlei wissenschaftliche Untersuchungen. — Von engen Verhältnissen,
mannigfachen Kämpfen, vielfach gehemmter Entwicklung, doch auch von un-
verdrossener Mühe, von endlich befriedigender Ausgestaltung des Erstrebten erzählt
die Geschichte der E m m e r i c h e r Anstalt.
0. Lutsch, Fünf Entlassungsreden an Abiturienten (Kreuznach, Königl.
Gymnasium. No. 626. 8«. 26 S.).
R. Bunte, Antrittsrede (Elmshorn, Realgymnasium. No. 396. 4«. 4 S.).
J. Spicker, Unser Neubau, seine Beschreibung und Weihe (Werl, Pro-
gymnasium. No. 501. 4^ 14 S.).
Daß die Schulreden nicht als ein bedeutungsloses Akzidenz, vielmehr als eine
von der Eigenart des Schullebens zeugende Kundgebung zu betrachten seien, ist
an dieser Stelle schon mehrfach betont worden. Auch für die in den oben angeführten
Beilagen veröffentlichten Ansprachen läßt sich das sagen.
Pankow. M a x N a t h.
Zur Mathematik.
Jancke, E., Das Ferrolsche Rechenverfahren und seine
Anwendung in der Schule. Stadt. Oberrealschule PCönigsberg i. Pr.
Progr.-No. 24.
Zickerow, G., DasabgekürzteRechnen. Kgl. Gymnasium Rawitsch.
Progr.-No. 242.
Junge, G., Über den Fehler bei logarithmischen Rech-
nungen. Kgl. Gymnasium nebst Realschule Landsberg a. W. Progr.-No. 94.
Der Verfasser der an erster Stelle genannten Abhandlung gibt an der Hand
zahlreicher Beispiele eine klare Einführung in die Schnellrechenmethoden, deren
sich Herr F e r r o 1 bei der Multiplikation, Division und Quadratwurzelziehung
bedient. Die Algorithmen finden dann Anwendung auf verschiedene Gebiete
der rechnenden Mathematik, z. B. auf die Auswertung von Dreiecken und Viel-
ecken, von Potenzen der Zinsfaktoren, von Gleichungen mit vielziffrigen Koeffi-
zienten, von Logarithmen usf. Leider fehlen geschichtliche Angaben; der Leser
wird den Eindruck gewinnen, als handele es sich hier um vollkommen neue Ver-
fahren. Es ist aber z. B. die angegebene Multiplikationsmethode nichts anderes
als das symmetrische Verfahren, dessen Geschichte bis zu den Indern zurück-
reicht, für zweistellige Zahlen als multiplicafio per crocetta im Mittelalter viel benutzt,
als ,, Blitzmethode** noch heute manchmal in Rechenmethodiken der Volksschule
erwähnt wird. Lohnend wäre es auch gewesen, über die Geschichte der Ver-
wendung negativer Ziffern im dekadischen Zahlsystem, auf die meines Wissens
380 W. Lietzmann,
zuerst C a u c h y hingewiesen hat, Näheres zu sagen. — Es war vom Verfasser
sehr verdienstHch, einen Einblick in einige Schnellrechenmethoden zu geben;
das Schnellrechnen bietet auch vom arithmetischen Standpunkte aus außerordent-
lich viel Interessantes. Allerdings möchte der Berichterstatter, wenn auch nicht
vor einer Erwähnung, so doch vor einer „Anwendung in der Schule", wie sie auf
dem Titel der Abhandlung steht, warnen; die höhere Schule ist seines Erachtens
nicht dazu da, Schnellrechner zu erziehen, dazu ist ihre Zeit zu knapp und zu
kostbar.
In der Arbeit von Z i c k e r o w werden die Methoden des abgekürzten Multi-
plizierens, Dividierens und Quadratwurzelziehens in Verbindung mit der sogenannten
österreichischen Rechenmethode an passend gewählten Beispielen erklärt. Den
Beispielen werden die ohne Abkürzung und nach der sogenannten norddeutschen
Methode errechneten Lösungen gegenübergestellt. Die Schrift bringt nichts Neues,
macht auch nicht Anspruch darauf. Ihr Hauptzweck ist, Schülern und Eltern
das Zweckmäßige und Berechtigte des abgekürzten Rechnens praktisch, ohne
alle theoretische Erörterung, vor Augen zu führen.
Die an dritter Stelle genannte Arbeit kommt nicht für den eigentlichen Unter-
richt in Betracht. Es genüge daher die Bemerkung, daß in ihr im Anschluß an
frühere Untersuchungen von Bremiker, Stadthagen u. a. die beim
logarithmischen Rechnen, z. B. bei der Addition mehrerer Logarithmen auftre-
tenden Fehler empirisch und theoretisch diskutiert werden.
Berkhan, G., Aus dem geometrischen Anfangsunterricht.
Realschule Eppendorf-Hamburg. Progr.-No. 1054.
Heinrich, M., VereinfachterGangdesAnfangsunterrichts
inderPlanimetrie,analytischenGeometrieundTrigono-
metrie. Kgl. Luisen- Gymnasium Berlin. Progr.-No. 74.
Michels, P., Einiges über die Anwendung der ähnlichen
Abbildung. Kgl. Gymnasium Meseritz. Progr.-No. 236b.
Rudolphi, W., Analytische Geometrie des Punktes, der
Geraden und der Ebene in Verbindung mit darstellender
Geometrie. Gymnasium und Oberrealschule Neumünster. Progr.-No. 389.
Die Arbeit von B e r k h a n behandelt vier Kapitel aus dem Quartapensum:
die Winkelsumme eines Vielecks, das gleichschenklige Dreieck, das Viereck und
Rhombus, Rechteck, Quadrat. An diesen Beispielen werden die Methoden der
modernen Schulmathematik im Gegensatz zu dem früheren, eng an das Euklidische
Vorbild sich anschließenden Verfahren gezeigt: Selbstbetätigung der Schüler,
um das Wichtigste vorweg zu nehmen, Benutzung der Beweglichkeit der Figuren,
der axialen und zentrischen Symmetrie und eine sorgfältig abwägende Berück-
sichtigung des empirischen und logischen Gehaltes der Geometrie. Die Darstellung
lehnt sich an das allen diesen Gedanken sehr entgegenkommende Lehrbuch von
Schuster an. Hat der Verfasser seine Abhandlung auch in erster Linie für die
Eltern geschrieben, so wird doch auch der Lehrer sie nicht ohne Anregung lesen.
Heinrich sucht die Vereinfachung des planimetrischen Anfangsunterrichtes
zunächst in formaler Weise durch die Einführung einer großen Zahl neuer Aus-
drücke und Begriffe zu erreichen. Er benutzt z. B. für eine knappere Fassung
Zur Mathematik. 381
der Sätze und Beweise Endlot (dem Mitteliot entsprechend), Teiler für Transversale,
wobei dann Höhe, Mittellinie, Mittellot und Winkelhalbierende als Hauptteiler
zusammengefaßt werden, Überwinkel für gegenüberliegende Winkel, Gegner für
axial-symmetrische Gebilde usw. Dabei und daneben begegnet man vielen Ver-
deutschungen, z. B. Mitt- und Umwinkel für Zentri- und Peripheriewinkel, Stützen
für Katheten, Kette für Hypotenuse, Balken für Koordinatenaxen u. dgl.
Inhaltlich ist für Heinrichs Lehrgang charakteristisch die Betonung der axialen
Symmetrie, die frühe Behandlung des Kreises (gleich nach der Geraden!), die
Verschiebung der Parallelenlehre nach U HI (die Winkelsumme des Dreiecks
wird in IV nach dem vereinfachten T h i b a u t sehen Verfahren erhalten). Neu
ist die Einführung und frühe Benutzung des Zweikreises, der aus zwei sich schnei-
denden Kreisen gebildeten Figur. Der Zweigleichkreis (die beiden Kreise haben
gleichen Radius) spielt die Rolle des Rhombus bei den Fundamentalkonstruktionen;
außerdem können jetzt auch für den 3. und 4. Kongruenzsatz Deckungsbeweise
erbracht werden. — Was die übrigen Ausführungen anlangt, so genüge die Be-
merkung, daß sich die ebene Trigonometrie auf eine kurze in Olli zu gebende
Einführung in die analytische Geometrie stützt.
Ob die vom Verfasser vorgeschlagenen Vereinfachungen durchgreifend sind,
das möge der einzelne selbst bei der Lektüre entscheiden. — Ich selbst bin
hinsichtlich der Einführung neuer, die mathematische Sprache abkürzender Aus-
drücke sehr skeptisch. — Störend sind manche Druckfehler.
Michels wendet die direkt ähnliche (OPi : 0P2= =t m) und die umgekehrt
ähnliche (OPi . 0P2= ± m) Abbildung auf die Lösung zahlreicher Konstruktions-
aufgaben an.
Einer der Grundgedanken der neueren Bestrebungen im mathematischen
Unterricht ist die „Fusion" verwandter Disziplinen, die Abwendung von dem
früher mehr als nötig beliebten „Purismus**. Man braucht dabei nicht nur an
die Vereinigung von Planimetrie und Stereometrie zu denken, eine bei den propä-
deutischen Kursen fast durchweg, sehr selten jedoch im systematischen Lehrgang
durchgeführte Fusion. Hierher gehört vielmehr auch die Fusion von synthetischer
und analytischer Kegelschnittlehre, die Durchsetzung der Algebra mit graphischen,
und umgekehrt der Geometrie mit analytischen Methoden. In letzter Zeit hat eine
enge Verbindung von Stereometrie und darstellender Geometrie Anklang gefunden.
Diese Fusion trifft von der darstellenden Geometrie eigentlich nur den mit be-
grenzten Geraden, Ebenen und Körpern sich befassenden Teil. R u d o 1 p h i
unternimmt nun den Versuch einer Fusion der darstellenden Geometrie, soweit
sie sich mit unbegrenzten Geraden und Ebenen beschäftigt, mit der
analytischen Geometrie des Raumes. Es ist in der Tat sehr verlockend, daß man
so an jedes Problem mit Zeichnung und Rechnung gleichzeitig herangehen kann.
Bedenklich ist nur, daß die Einführung dieser Fusion eine nicht unwesentliche
Erweiterung des Oberrealschulpensums um die Anfangsgründe der analytischen
Geometrie des Raumes mit sich bringt. Es gibt nur wenige Anstalten in Preußen
und in Deutschland überhaupt (in der Schweiz ist es anders), die sich mit der
analytischen Geometrie des Raumes befassen. Die allgemeine Durchführung dieser
Forderung wird vielfach auf Widerstand stoßen, nicht im Hinblick auf stoff-
382 W. Lietzmann,
liehe Schwierigkeiten, sondern mit Rücksicht auf die Kürze der zu Gebote
stehenden Zeit.
Frenzel, C, Die Fundamente für eine elementare Einlei-
tungindieDifferential-und Integralrechnung. Gymnasium
Lauenburg i. P. Festschrift zur 50jährigen Jubelfeier am 30. September 1910.
Progr.-No. 205.
Richter, A., Differential-und Integralrechnungfür Gym-
nasial-Oberprima. Kgl. Matthias Claudius-Gymnasium mit Realschule
Wandsbeck. Progr.-No. 394.
Diesing, M., Einführung in die Differentialrechnung und
Anwendung derselben auf Maxima, Minima, unendliche
Reihen und Quotienten in der unbestimmten Form ^.
Stadt. Oberrealschule Halle a. S. Progr.-No. 370.
Von den drei Lehrgängen der Infinitesimalrechnung, welche die diesjährigen
Programme der großen Zahl von Vorgängern hinzufügen, kommen zwei vom Gym-
nasium, einer von der Oberrealschule. Für die Oberrealschulen ist die Frage, ob
Infinitesimalrechnung oder nicht, durch die Praxis wohl schon entschieden. Beim
Gymnasium ist die Zustimmung aber noch nicht eine allgemeine, insbesondere
nicht bei der Integralrechnung, die übrigens in beiden vorliegenden Ar-
beiten mit berücksichtigt ist. — Man darf in diesen schulmäßigen Lehrgängen,
von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht stofflich Neues erwarten; die Aus-
wahl und Gestaltung des Stoffes ist es, die diese Arbeiten pädagogisch wertvoll
macht; es gibt in dem neuen Gebiet sehr viele noch ungelöste didaktische Probleme.
Frenzel geht in seiner ausführlichen Darstellung gleichzeitig von dem
Geschwindigkeitsbegriff und vom Tangentenproblem an die Differentialrechnung
heran. Er benutzt nur Differentialquotienten, keine Differentiale. Von der Ex-
ponentialfunktion und ihrer Umkehrung sieht er ab, ebenso von der Reihenent-
wicklung. Seine Einführung in die Integralrechnung reicht für eine Integration
einfacher Funktionen aus. Gerade diese Beschränkung auf wenige Funktionen,
auf wenige Differentiationsregeln und die Vermeidung der Differentiale gestatten
eine reinliche Darstellung der Grundgedanken der Infinitesimalrechnung.
Auf ganz anderem Standpunkt steht Richter in seiner leider im Text
etwas knapp gehaltenen Abhandlung. Er tritt mehr als Physiker denn als Mathe-
matiker an die Infinitesimalrechnung heran. Er benutzt durchweg Differentiale,
die für ihn sehr kleine Größen sind ; er setzt z. B. dx = | q(^ qqq- Auf den eigent-
lichen Grenzübergang legt er gar keinen Wert (vgl. seine Definition des Differential-
Quotienten). Seine Differentialrechnung ist im wesentlichen eine Methode des
angenäherten Rechnens.
Auch bei D i e s i n g , dessen Abhandlung sich auf die Differential-Rechnung
beschränkt, spielt das Differential eine Rolle; er bevorzugt aber den Differential-
quotienten. Wie das für eine Oberrealschule selbstverständlich ist, bringt er weit
mehr Stoff als die beiden anderen Arbeiten. Bemerkenswert erscheint mir dabei,
daß er sich nicht auf explizite Funktionen beschränkt und daß in seiner ausgedehnten
Darstellung der unendlichen Reihen auch Restgliedabschätzungen nicht fehlen.
Zur Mathematik. 383
Riehm, G., Zur Didaktik des mathematischen Unter-
richtsindenMittelklassendesGymnasiums. Stadtgymnasium
und Reformrealgymnasium Halle a. S. Progr.-No. 333.
Der Verfasser stellt sich gleich im Anfang als ein energischer Gegner der
„Neuerer*' vor. Und: „Schützen wir vor allem unsere Gymnasiasten vor den Re-
formgelüsten jener Neuerer", so klingt auch seine Schrift aus. Ein prinzipieller
Gegensatz zwischen dem Verfasser und den „Neuerern" besteht in den Anschau-
ungen über den Zweck der Schulmathematik. Riehm sagt: „Es kommt nun
einmal auf der Schule nicht auf die Wissenschaft als solche an, sondern lediglich
auf deren Erziehungswirkung gegenüber dem Schüler, und diese übt die Mathematik
infolge ihrer Eigenart aus, die jeder beliebige Ausschnitt ebensogut besitzt
wie ein natürlicher Abschnitt." Er betont damit einseitig den formalen Zweck
und läßt den praktischen als unerheblich beiseite. Was seinen anderen
Einwurf anlangt, den Zeitmangel in der Unterstufe der Gymnasien, so ist dieser
nirgends schärfer betont, als in den Meraner Vorschlägen. Der Verfasser folgert:
also ist der gegenwärtige Umfang der Schulmathematik herabzusetzen, die Meraner
Vorschläge folgern: also muß die Stunden-Einschnürung in den Tertien fortfallen.
Das dürften die prinzipiellen Gegensätze sein. Was Einzelheiten anlangt,
so ist zu bemerken, daß H ö f 1 e r s Buch, das der Verfasser als die Bibel der
„Neuerer" ansieht, nicht einfach identisch mit deren Anschauungen ist. Es ist
von einer einzelnen Persönlichkeit, und zwar erfreulich individuell geschrieben
worden, während die Meraner Vorschläge die Gesamtanschauung vieler darstellen
und schon deshalb nicht bis in die Einzelheiten hinabsteigen konnten. Auch die
Väter der Meraner Vorschläge hatten ihre individuellen, zum Teil recht erheblich
voneinander abweichenden Ansichten. Im übrigen schließt H ö f 1 e r seine aller-
dings durchaus im Geiste der Meraner Vorschläge gehaltenen ^Ausführungen an
einen für österreichische Verhältnisse gedachten, 1909 ziemlich genau verwirk-
lichten Lehrplan an, der in manchen Dingen, besonders mit dem dreijährigen,
Planimetrie und Stereometrie verschmelzenden Vorkurs, direkt von den Meraner
Vorschlägen abweicht.
Es war nötig, diese Gegensätze hervorzuheben. Im übrigen aber wird die Arbeit
von jedem Mathematiklehrer, ob „Neuerer" oder nicht, mit großem Genuß gelesen
werden. Eine reiche Lehrerfahrung spricht zu uns in den vielen, nicht selten humor-
vollen didaktischen Bemerkungen aus allen Teilen des Lehrpensums der Unter-
stufe; möge es sich nun um die mathematische Sprache, um die Auswahl des Stoffes
oder seine besondere Gestaltung handeln. Nicht in allen Einzelheiten wird jeder
Leser mit dem Verfasser gehen, aber anregend werden alle diese Bemerkungen
wirken. Es wäre im Interesse unserer mathematischen Schulmethode nur zu
wünschen, wenn öfter lehrerfahrene Kollegen aus ihrer Zurückhaltung heraus-
träten und ihre Anschauungen zusammenfaßten, wie es hier der Verfasser getan
hat. Das sind doch wohl die wertvollsten Programmabhandlungen.
Brües, M., Zur Theorie der desmischen Flächen vierter
Ordnung. Kgl. Gymnasium Neuß. Progr.-No. 635.
Birckenstaedt, M., Zwei neue allgemeine Differentia-
tionsgesetze. Kgl. Christianeum Altona. Progr.-No. 382.
384 F. Kuhlmann, Zeichen- und Kunstunterricht.
Ziegler, Elementare Untersuchungen über denFermat
sehen Satz. Stadt. Realschule Calbe a. S. Progr.-No. 364.
Diese drei Arbeiten gehen über den Bereich der Schulmathematik hinaus;
es muß daher hier die Angabe der Titel genügen.
Barmen. W. Lietzmann.
Zeichen- und Kunstunterricht.
Programme 1910 und 1911.
Greiner, F., ZeichenexkursionenamBertholdsgymnasium
z u F r e i b u r g i. B. Ein Beitrag zur Praxis des Naturzeichnens mit authentischen
Abbildungen von Schülerzeichnungen. Progr.-No. 839. 1910.
Der Verfasser schildert in lebendiger und anschaulicher Weise die mit den
Schülern unternommenen Zeichenexkursionen und gedenkt auch besonders der
Vorbereitung derselben. Was er in dem Abschnitt, der über die Praxis der Übungen
handelt, bezüglich des Ausschneidens der Motive, der Korrektur, der kulturgeschicht-
lichen Beobachtungen u. a. sagt, ist, wenn schon es für keinen Fachlehrer etwas
Neues bieten wird, lesenswert. Zahlreiche Schülerzeichnungen erläutern das Dar-
gebotene.
Müller, Franz, Ziele und Wege des Zeichenunterrichts an
höheren Schulen. Beilage zum Jahresbericht des König Wilhelm-Gym-
nasiums zu Stettin. Ostern 1911. Progr.-No. 211.
Die Arbeit stellt als Ganzes genommen eine treffliche und überzeugende Be-
gründung der Wege dar, die die Reform des Zeichenunterrichts gegangen ist. Wenn
sie darum, ganz naturgemäß, auch nichts absolut Neues bringt, so beleuchtet sie
doch manche Punkte in ganz ausgezeichneterweise, so daß das Studium jedem Schul-
manne und selbst dem erfahrenen Fachmanne empfohlen werden darf. Der letztere
dürfte für manches, was er bisher unbewußt getan, hier die tiefere Begründung finden.
Grabow, W., Wie fördert der Zeichenunterricht die Er-
reichung des B i 1 d u n gsi d e al s unserer höheren Lehran-
stalten? Beilage zum 57. Jahresbericht des Königl. Wilhelms-Gymnasiums
zu Krotoschin. Progr.-No. 234. 1911.
Nach einer kurzen allgemeinen Aufklärung über die gestellte Frage zeigt der
Verfasser in mehreren charakteristischen Lektionen, wie der Zeichenunterricht
wertvolle Beiträge zur Erreichung des Bildungsideals zu liefern vermag. Es soll
kein Tadel sein, wenn dazu gesagt wird, daß die Wege, die der Verfasser
in seinen Unterrichtsbeispielen geht, keine neuen und auch keine persönlich eigenen
sind. Bedauert muß aber werden, wenn in diesen wie in allen anderen heute erschei-
nenden Arbeiten über den Zeichenunterricht, nicht in irgend einer Weise zum Aus-
druck gebracht wird, woher die Gedanken und die Anregungen zu den Beispielen
kommen. Der dieser Arbeit beigegebene Literaturnachweis, der nur allgemeine
pädagogische Werke aufzählt, hätte doch wohl gerechterweise um die Schriften
vermehrt werden müssen, die dem Verfasser die Anregung zu seinen praktischen
Lehrbeispielen gegeben haben.
Altona. Fritz Kuhlmann.
III. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Hilfsbücher für den Unterricht in der deutschen Sprachlehre.
Zupitza, Julius, Einführung In das Studium des Mittel-
hochdeutschen. Zum Selbstunterricht für jeden Gebildeten. 2. unveränderte
Auflage. Chemnitz und Leipzig 1910. Wilh. Gronau. VI u. 120 S. 3,50 M.
Das im Jahre 1868 zum ersten Male erschienene Buch, das in Anlehnung an
die 42 Strophen des Nibelungenlides, welche von der Werbung Günthers um Brunhild
handeln, nach und nach mit den wichtigsten Gesetzen der mhd. Grammatik bekannt
macht, hat schon manchem Studierenden den Weg zum Verständnis des Mittel-
hochdeutschen gebahnt und kann auch heute noch, da des Verfassers Sohn bemüht
gewesen ist, das Werk auf der Höhe zu erhalten, als Führer gute Dienste leisten.
Mangold, Karl, Oberlehrer, Abriß der deutschen Sprachlehre
für höhere Schulen. Frankfurt a. M. 1911. Moritz Diesterweg. 76 S.
geb. 0,90 M.
Der Verfasser hat durch Ausscheiden alles Überflüssigen dasjenige, was den
Schülern zu wissen nötig ist, auf verhältnismäßig engem Räume zusammengefaßt.
Doch hätten auch ohne Schaden die Musterbeispiele zur Deklination und Konju-
gation fortgelassen werden können, und statt der Zusammenstellung des süd-
deutschen und klassischen mit dem norddeutschen Sprachgebrauch für den Modus
der Objektsätze hätte die Feststellung der hochdeutschen Schriftsprache genügt.
Daß unweit, während und wegen wohl auch mit dem Dativ verbunden werden,
wäre besser in eine Anmerkung verwiesen. Aus B 19, S. 9 muß man annehmen,
daß die Substantiva auf -el und -er im Dativ Singular eine Endung haben. Warum
wird die auf S. 25 vorgeschlagene Bezeichnung „einpersönlich" später, z. B. S. 45,
wieder fallen gelassen?
V. Banden, Deutsche Sprachlehre für höhere Schulen.
11. Aufl. Breslau 1911. Ferd. Hirt. 100 S. 1 M. — Paul Beer, Übungs-
buchzuv. SandensdeutscherSprachlehrefürhöhereSchu-
len. Breslau 1911. Ferd. Hirt. 56 S, 0,60 M.
Über die bewährte Sprachlehre v. Sandens, die stetig zu vervollkommnen
und den Bedürfnissen der Schule entsprechend zu ergänzen der Verfasser ernstlich
bemüht gewesen ist, habe ich an dieser Stelle schon wiederholt anerkennend mich
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 25
386 M. Nath,
ausgesprochen. Die neue Auflage verdient alles Lob. Ihr ist von Beer als Be-
gleiter ein Übungsbuch mit auf den Weg gegeben. Daß an den Sprachunterricht
vielfache Übungen sich anschließen müssen, auch an den Unterricht in der Mutter-
sprache, kann keinem Zweifel unterliegen. Aber ebensowenig müßte zweifelhaft
sein, daß ein Übungsbuch für den deutschen Sprachunterricht sich besser
nicht in den Händen der Schüler befinden sollte.
Werth, Hermann, Deutsche Grammatik für die Ober-
klassen höherer Lehranstalten und für Seminare. Mit
einer Karte der deutschen Mundarten. Frankfurt a. M. und Berlin 1911. Moritz
Diesterweg. VIII u. 161 S. geb. 1,80 M.
Das zunächst für die Oberstufe der Studienanstalten und für höhere Lehre-
rinnenseminare bestimmte Buch, das aus der deutschen Sprachlehre mit Aus-
scheidung alles Elementaren diejenigen Abschnitte herausgreift, an denen das
Werden und Wesen der Muttersprache veranschaulicht werden kann, verrät auf
jeder Seite den gründlichen Kenner und mit den vornehmsten Aufgaben des
deutschen Unterrichts vertrauten Lehrer. Die Ergebnisse wissenschaftlicher
Forschung werden schlicht und leicht verständlich vorgetragen und werden in
dieser Form nicht verfehlen, die Freude an der Muttersprache zu wecken und
zu mehren. So darf man sich dem Wunsche des Verfassers anschließen, daß sich
auch die Pforten der höheren Knabenschulen dem Buche öffnen möchten.
Nicht unerwähnt darf hier bleiben, daß das bahnbrechende Werk „D i e
deutsche Sprache der Gegenwart, ein Handbuch für Lehrer,
Studierende und Lehrerbildungsanstalten" von Ludw. Sütterlin (Leipzig, R.
Voigtländers Verlag, Preis 7 M., geb. 8 M.) im Jahre 1910 in dritter Auflage er-
schienen ist.
Coblenz. Jos. Buschmann.
Hilfsmittel zum Unterricht im Rechnen und in der Arithmetik. VIII.
A., Gerlach, Des Kindes erstes Rechenbuch. Mit Zeichnungen
von Th. Hermann. Leipzig 1911. Quelle & Meyer. 99 S. kart. 0,70 M.
Glöser, Moritz, Lehrbuch der Arithmetik für die erste Klasse der
Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen. Wien 1910. A. Pichlers Witwe u.
Sohn. IV u. 64 S. geb. 1,20 Kr.
Glöser, Moritz, Lehrbuch der Arithmetik für die zweite Klasse.
IV u. 46 S. geb. 1,00 Kr.
Thaer, Albrecht und Rouwolf, R., Rechenbuch für höhere
Schulen. 4 Hefte. Breslau 1911. Ferdinand Hirt. — 1. Heft (für Sexta).
95 S. kart. 1,00 M. — 2. H e f t (für Quinta). 96 S. kart. 1,00 M. — 3. Heft
(für Quarta und Untertertia). 96 S. kart. 1,00 M. — 4. H ef t (Ergänzungs-
heft für Obertertia und Untersekunda). 102 S. kart. 1,00 M.
In gar lustiger Weise sucht A. G e r 1 a c h den kleinen A-B-C-Schützen die
Anfangsgründe des Rechnens beizubringen. An den verschiedenartigsten, bild-
Hilfsmittel zum Unterricht im Rechnen und in der Arithmetik. VIII. 387
lieh dargestellten Gegenständen aus ihrem Vorstellungskreise lernen sie allmählich
die Zahlen kennen und deren Verhältnis zueinander, lernen sie die Rechnungs-
arten anschaulich kennen und ausführen, gewöhnen sie sich allmählich an die
hergebrachte und korrekte Sprechweise, bis sie es schließlich nur noch' mit den
Zahlzeichen zu tun haben und eine schöne Geschichte Gelegenheit gibt, die er-
langte Fertigkeit anzuwenden. — G 1 ö s e r s Bücher umfassen das Pensum unserer
Sexta und Quinta. Sie sind abgefaßt in dem behaglich weitschweifigen Stil, der
hier schon für manches aus österreichischer Feder stammende Lehrbuch als cha^
rakteristisch hervorgehoben worden ist. Aber es soll damit kein Vorwurf gegen
sie erhoben werden. Sie sind für das Verständnis des Anfängers gewiß geeignet
und das Aufgabenmaterial ist verständig beschränkt und vor Ausschweifungert
in das Gebiet der großen Zahlen bewahrt. Methodisch kann aus ihnen der An-
fänger im Lehrfach manches lernen. — Die vier Hefte, die A. T h a e r als Er-
gänzung zu seiner trefflichen Neubearbeitung des Kamblyschen Unterrichtswerkes
vorlegt, werden sich gewiß überall da bald einbürgern, wo der Kambly-Thaer
benutzt wird. Aber hoffentlich auch über diesen weiten Kreis hinaus an mancher
Stelle mehr oder weniger brauchbare Hilfsmittel verdrängen. Dem erfahrenen
Leser offenbart sich auf jeder Seite, daß sie aus langjähriger Erfahrung und Übung,
auf Grund weitblickender methodischer Einsicht gearbeitet sind. Dem Bericht-
erstatter will es zurzeit als das geeignetste Hilfsmittel erscheinen, um dem Seminar-
kandidaten die Technik des Rechenunterrichts praktisch vorzuführen. Seiner
Stoffausdehnung nach geht es freilich weit über den Rahmen des Rechenunter-
richts, wie dieser für gewöhnlich gespannt ist, hinaus. Bringt das dritte Heft
schon einen Anhang über „die rechnerische Behandlung der Arbeiterschutzgesetze'*,
der vielleicht nur hie und da an realistischen höheren Lehranstalten eine kurze
Berücksichtigung finden kann, so wird der Inhalt des Ergänzungsheftes doch
nur auf Fachschulen, vor allem kaufmännischen Fortbildungsschulen, Gegenstand
des Unterrichts sein können. Für sie ist es allerdings wohl auch in erster Linie
bestimmt.
Geipel, G., Lehrbuch der Mathematik und Aufgaben-
sammlung (nach den Ausführungsbestimmungen zu dem Erlaß vom 18. August
1908 über die Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens bearbeitet). — I. Teil
(Kl. III u. IV der höheren Mädchenschule) VI u. 176 S. — II. Teil (Kl. II) IV
u. 145 S. Bielefeld und Leipzig 1910. Velhagen & Klasing. geb. 1,80 bzw.
1,50 M.
Kambly-Thaer, Mathematisches Unterrichtswerk. I. Teil.
Arithmetik. Ausgabe C für Realschulen. Breslau 1911. Ferdinand Hirt.
96 S. geb. 1,25 M.
Behrendsen-Götting, Lehrbuch der Mathematik nach mo-
dernen Grundsätzen. Unterstufe B für Realschulen. 2. Aufl. Leipzig
1911. B. G. Teubner. VIII u. 327 S. geb. 2,80 M. — Dasselbe, Unterstufe A
für Gymnasien. 2. Aufl. Ebenda. VIII u. 277 S. geb. 2,80 M.
Reinhardt, W. und Mannheimer, R., Arithmetik und Algebra
für die oberen Klassen höherer Lehranstalten. Frank-
25*
388 M. Nath, Hilfsmittel zum Unterricht im Rechnen und in der Arithmetik. VIII.
fürt a. M. 1911. Franz Benjamin Auffarth. 1. Teil. VIII u. 140 S. kart. 1,80 M.
— 2. Teil. VI u. 108 S. 1,50 M.
Die Arbeit G e i p e 1 s enthält den planimetrischen Lehrstoff bis zum pytha-
goreischen Lehrsatz, den arithmetischen bis zu den Proportionen einschließlich,
dazu eine den heutigen Bedürfnissen entsprechende Aufgabensammlung. Sie
berücksichtigt die Vorschläge der Meraner Naturforscherversammlung und dürfte
wohl ein geeignetes Lehrmittel darbieten. — T h a e r s Buch ist eine Verkürzung
der Ausgabe der Arithmetik für Realgymnasien und Oberrealschulen, die hier
Jahrg. VIII, S. 525 ff. besprochen worden ist. Beibehalten sind, wenn auch in ver-
kürzter Form, die Abschnitte, die an einigen Realschulen zur Ergänzung heran-
gezogen werden, so die Lehre von den komplexen Zahlen und von den einfachen
Reihen. Auch die auf quadratische Gleichungen zurückführbaren Gleichungen
sind kurz behandelt. Der graphischen Darstellung von Funktionen ist im Anschluß
an die Gleichungen mit zwei Unbekannten ein kurzer Abschnitt gewidmet. — Die
beiden Bücher von Behrendsen und G ö 1 1 i n g liegen nun in zweiter Auflage
vor. Das für Gymnasien bestimmte ist hier Jahrg. VIII, S. 531 schon besprochen
worden. Der Charakter der Bücher hat sich natürlich in der neuen Auflage nicht
merklich geändert, obwohl die Verfasser in der Vorrede mit Recht hervorheben,
daß sie bemüht gewesen seien, die Prinzipien der Meraner Vorschläge noch stärker
zur Geltung zu bringen. In der Realschulausgabe sind den Lehrplänen entsprechend
kurze Abschnitte, die die ersten Anfänge der Trigonometrie und Stereometrie
betreffen, angefügt. — Reinhardt und Mannheimer behandeln die für
die Oberstufe, auch der Realanstalten in Betracht kommenden Kapitel in klarer,
dem Stoff nach verständig beschränkter Form. Die Lehre von den Reihen ist ele-
mentar behandelt, obwohl das Buch auch der Differentialrechnung keineswegs aus
dem Wege geht. Eine ausreichende Zahl an Aufgaben ist den einzelnen Abschnitten
beigefügt.
Hack, Fr. W a h r s c h e i n 1 i c h k e i t s o r d n u n g. 122 S.
Fischer, Paul B., Koordinatensysteme, 125 S.
Beutel, Eugen, Algebraische Kurven. Teil II (Theorie und Kurven
3. und 4. Ordnung). 135 S. Leipzig. Sammlung Göschen, geb. ä 0,80 M.
Schaeffer, Andreas, 1400 mathematische Abiturientenauf-
gabenund 700 LösungenundAnleitungenzurLösung. Zabern
1910. A. Fuchs. XVI u. 240 S. geh. 3,80 M.
Donadt, A., Repetitorium der Schulmathematik. I. Teil :
Arithmetik. Leipzig 1911. Fr. Brandstetter. 197 S. geb. 3,00 M.
Die drei Bändchen der Sammlung Göschen sind gewiß gelungene Leistungen.
Sie fordern für ihr Verständnis aber auch Leser von nicht mehr bloß elementarer
mathematischer Bildung. Andererseits bringt es die durch den Charakter der Samm-
lung bedingte Beschränkung des Umfanges mit sich, daß auf kleinem Gebiet der
Stoff auch nicht annähernd erschöpft werden kann. Immerhin muß man die Fülle
des Gebotenen und die Zweckmäßigkeit der Auswahl anerkennen. Für eine erste
Kenntnisnahme oder eine nicht zu tief gehende Orientierung sind die kleinen Kom-
pendien ein zweckmäßiges Hilsmittel. Hack bringt in sechs Abschnitten die Grund-
lehren der Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren Anwendung auf spezielle Probleme,
K. Lange, Der Bibliothekar, angez. von F. Milkau. 389
z. B. das Problem des Moivre, das Problem der Spieldauer, das Petersburger Problem,
das Nadelproblem usw., dann das Gesetz der großen Zahlen, die Wahrschein-
lichkeit auf Grund der Erfahrung, Theorie der Beobachtungsfehler, Anwendung
der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Statistik. Fischer behandelt in vier Ab-
schnitten die Descartes-Plückerschen Koordinaten, die projektiven Koordinaten,
die krummlinigen Koordinaten, die Koordinatenbestimmung in der mehrdimen-
sionalen Geometrie. Beutel beschäftigt sich in 5 Abschnitten mit den Polaren und
Hessischen Kurven, mit dem Dualitätsprinzip in der analytischen Geometrie der
Ebene, mit höheren Singularitäten, endlich mit Kurven dritter und vierter Ordnung.
— Schaeffer hat in seiner Sammlung Aufgaben, die in Elsaß-Lothringen bis
zum Jahre 1910 für die Reifeprüfung gestellt worden sind, zusammengestellt, ge-
ordnet und mit Lösungen bzw. Anleitungen dazu versehen. Bei näherer Prüfung
wird man erkennen, wie überaus verschiedenartig nach Art, nach Kompliziertheit
der Einkleidung, nach den Anforderungen, die an die rechnerische Geschicklichkeit
gestellt werden, die Aufgaben sind. Zum Teil würden sie den modernen Ansichten
über Gestaltung und Auswahl der Reifeprüfungsaufgaben gar nicht mehr ent-
sprechen. Immerhin ist durch die Zusammenstellung ein ganz brauchbares Übungs-
buch entstanden, obwohl es hinter Sammlungen, wie sie Martus und Treutlein
geliefert haben, an Bedeutung zurücksteht. — D o n a d t bietet ein sehr empfehlens-
wertes Hilfsmittel für die selbständige, zusammenhängende Repetition der Schüler.
Der Stoff ist kurz und übersichtlich disponiert, eine große Zahl praktischer Hin-
weise ist eingefügt, alle Teile sind gleichmäßig berücksichtigt und die Darbietung
erstreckt sich bis in die Infinitesimalrechnung hinein.
Berlin-Pankow. M a x N a t h.
b) Einzelbesprechungen:
Lange, K., Der Bibliothekar. Eine Darstellung seines Werdegangs mit
Einschluß der Bibliothekarin unter Berücksichtigung des Dienstes an Volks-
bibliotheken. (Violets Berufswahlführer). Stuttgart 1911. W. Violet. 115 S.
8«. geb. 1,20 M.
Das ist innerhalb eines knappen Jahrzehnts das dritte Schriftchen*), das
den vor der Berufswahl stehenden Jüngling — durch die Kühnheit des Titels er-
mutigt füge ich hinzu — mit Einschluß der Jungfrau darüber unterrichten will,
was die Bibliothek an Anforderungen verlangt und was sie an Aussichten bietet.
Man sieht, die Bibliothek hat aufgehört, das Veilchen im Verborgenen zu sein.
Nicht ohne Stolz registriert der Referent diesen Wandel, obwohl er bescheiden
sich dessen bewußt bleibt, daß es im wesentlichen die Volksbibliothek ist, der das
Verdienst daran zufällt. Etwas von dem neu eroberten öffentlichen Interesse
fällt doch auch für die alte gelehrte Bibliothek ab, zumal die vor kurzem begonnene
Einführung mittlerer Beamter und die zunehmende Feminisierung dieser Kategorie
*) Wilh. Paszkowski, Der Bibliothekar (Mein künftiger Beruf Nr. 63). Leipzig 1902,
C. Bange. — Der Bibliothekar. Mit einem Anhang: Die Bibliothekarin (Aus der Reihe:
Was willst du werden?) Leipzig 1909, P. Beyer.
■390 E. V. Aster, Große Denker,
ihr die Aufmerksamkeit von Kreisen zugezogen hat, für die sie früher nur eine dem
Namen nach bekannte Größe war.
Das Bedürfnis nach Orientierung ist also vorhanden. Und alles in allem darf
man sagen, daß der Verfasser ihm gerecht geworden ist. Nur alles in allem. Denn
so sehr die Wärme, mit der von dem Beruf und seinen Aufgaben gesprochen wird,
imstande ist, das alte Bibliothekarherz des Referenten einzunehmen, so gebietet
ihm doch die Unparteilichkeit festzustellen, daß die tatsächlichen Angaben des
Verfassers nicht immer korrekt sind. Wenn man es als ein Zeichen von Wohlwollen
hingehen lassen kann, daß er dem Direktor der Breslauer Stadtbibliothek eine
Dienstwohnung zubilligt, die er nicht hat, so kann man doch mit seinem Tadel
nicht zurückhalten, wenn er den preußischen Bibliotheksbeamten die mühsam
errungenen Gehälter so energisch beschneidet wie er's auf S. 76 tut. Und dann
z. B. die Behauptung, Aug. Wilmans habe im Zentralblatt für Bibliothekswesen
XV, 193 die Grundsätze über die Ausbildung der Volontäre an den preußischen
Staatsbibliotheken mitgeteilt! Welch eine Vermessenheit! Erstens schreibt sich
der Mann Wilmanns, mit nn; zweitens ist an dem angegebenen Orte nichts über den
angedeuteten Gegenstand zu finden, und drittens ist es Wilmanns nie eingefallen,
sich über die Ausbildung der Volontäre in dem genannten Journal zu äußern, und
wo anders erst recht nicht.
Die Kardinaltugend des Bibliothekars ist Ordentlichkeit. Wer daher über
den Beruf unterrichten will, der sollte in diesem Punkte weniger angreifbar sein.
Breslau. Fritz Milkau.
von Aster, E., Große Denker. Unter Mitwirkung von E. v. Aster,
0. Baensch, M. Baumgartner, 0. Braun, F. Brentano, M. Falkenheim, A. Fischer,
M. Frischeisen-Köhler, R. Hönigswald, W. Kinkel, R. Lehmann, F. Medikus,
P. Menzer, P. Natorp, A. Pfänder, R. Richter, A. Schmekel, W. Windelband
herausgegeben von E. von Aster. Leipzig o. J. Quelle & Meyer.
2 Bände. Lex. 8«. 385 u. 381 S. geh. UM., geb. 16 M.
Eine'^neue Geschichte der Philosophie in monographischer Darstellung von einer
solchen Fülle und Vielseitigkeit, daß es schwer fällt, den Reichtum der Bilder
und Gestalten in den engen Rahmen einer Besprechung zu bannen. — Als Ein-
leitung zur Geschichte der alten Philosophie gibt A. Fischer: „Die Grundlehren
der vorsokratischen Philosophie." Das verbindende Band, das die Philosophie
vor Sokrates trotz der Vielheit der Denker und der Verschiedenheit ihrer Richtungen
zu einer Epoche eint, ist die Grundfrage nach dem einheitlichen Wesenskern aller
Wirklichkeit, bis im Zusammenhang mit dem allgemeinen Kulturwandel das Inter-
esse für die Probleme der Naturphilosophie im griechischen Volke abnahm und
der Mensch und die Gesellschaft in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Diese
neue Epoche ,, Sokrates und die Sophistik" führt R. Richter in lebendiger, oft
scharf pointierter Darstellung vor, von der man nur bedauert, daß sie sich mit
dem kurzen Raum von 12 Seiten begnügt. Mit Vergnügen würde man noch mehr
von der geistreichen Schilderung der Sophisten hören, als deren Gegenbilder aus
moderner Zeit Thode, Harden und Horneffer genannt werden — gern auch noch
mehr von dem athenischen Sonderling, der sich auf dem Markt herumtreibt vom
angez. von A. Heußner. 391
Morgen bis zum Abend und die Menschen ärgert, indem er sie zur Selbstprüfung
anleitet und auf dem Wege der Induktion sie zu den „Begriffen*' zu führen sucht,
um sie dadurch besser zu machen. Denn „Tugend ist Weisheit, Tugend ist Wissen*'.
— Das Verdienst, die Ansätze seines Lehrers zum geschlossenen System ausgebaut
zu haben, gebührt jedoch erst seinem Schüler Piaton, mit dessen Betrachtung
wir an der kundigen Hand P. Natorps nicht nur auf die höchste Höhe des grie-
chischen Denkens, sondern auch zugleich zu den allertiefsten und schwierigsten
Fragen aller Philosophie überhaupt geführt werden. Nicht "unrichtig bemerkt
Eucken, daß jeder seinen eigenen Piaton hat. Das Dunkel, das über seinen Schriften
und seiner Entwicklung liegt, läßt ja kaum eine andere Wahl, als nachfühlend
und nachschaffend den Versuch zu wagen, aus den uns überlieferten Bruchstücken
einen eigenen Bau aufzuführen. Dies ist auch der Weg, den Natorp einschlägt,
indem er eine „genetische** Vorführung der platonischen Ideenlehre versucht.
Der Wert einer solchen Konstruktion ist in erster Linie daran zu messen, ob sie
die vorhandenen Schwierigkeiten beseitigt und eine innerliche Einheit des Ge-
dankens herstellt. Dies leistet nun Natorps Hypothese in hohem Grade. In immer
größerer Klarheit schält sich aus der halbpoetischen Darstellung in den Dialogen
der mittleren Periode bei Piaton die Erkenntnis der Altersschriften heraus, daß die
Ideen nicht selbständige Wesen, sondern Gesetze des Denkens sind. Die „Statik**
der Ideen wandelt sich in eine „Dynamik**. Es ist zu hoffen, daß diese kurze und
doch erschöpfende Zusammenfassung der Ergebnisse seiner größeren Piatonstudie
der Auffassung Natorps weitere Kreise erobern wird. — Leider ist der nachfolgende
Aufsatz Brentanos über den andern großen Meister der Griechen aus Redaktions-
gründen ein Torso geblieben. Er behandelt nur die Gotteslehre des Aristoteles
und verweist für die unendlich viel wichtigeren erkenntnistheoretischen und onto-
logischen Lehren auf die „gleichzeitige Ausgabe der ganzen ursprünglich für dieses
Werk bestimmten Abhandlung'*, was freilich für den nachsichtigsten Leser .ein
schwacher Trost ist, zumal auch nicht verraten wird, wo man diese Ergänzung
suchen darf. — Allmählich beginnt der Stern des Griechentums zu sinken. Eine
neue Weltansicht steigt herauf und wirft ihre Schatten voraus. Auf der einen Seite
wächst die Skepsis, auf der anderen Seite der Glaube. Mit der Darstellung dieser
Entwicklung in der „hellenistisch-römischen Philosophie", in der pyrrhonischen
Schule und der mittleren Akademie, in der Stoa und dem Neuplatonismus aus der
Feder des kundigsten Kenners dieser Zeit, A. Schmekel, findet die Geschichte der
alten Philosophie ihren natürlichen Abschluß.
Um jedoch auch das Mittelalter, das in der Geschichte der Philosophie meist
nur als dunkle Unterbrechung des philosophischen Gedankenstroms erscheint,
in seinen Hauptvertretern vorzuführen sind hier zwei Abschnitte über Augustinus
und Thomas von Aquin von M. Baumgartner eingeschaltet, die zu de.n besten des
ganzen Werkes gehören und aus einer selten eingehenden Kenntnis der Werke
Augustins eigene Forschungen über dessen philosophische Gedankengänge geben,
die diesen Kirchenvater dicht an die Schwelle der modernen Zeit in die Nähe Des-
cartes' rücken. — Von gleich besonnenem Geist ist die Schilderung des thomistischen
Systems getragen, das zwar „keine originale Leistung nach Art der antiken und
modernen Systeme ist", aber einen uaerreichten wissenschaftlichen Organisator
392 E. V. Aster, Große Denker, angez. von A. Heußner.
und Systematiker zeigt. Ihm ist es gelungen, die schöpferischen Leistungen eines
Plato, Aristoteles und Augustin mit den Gedankenwerten der christlichen Glaubens-
lehre zur Einheit zu gestalten und in ein mächtiges System zu bannen. ,,Das war
seine Tat und seine Leistung, die durch die Geschichte der folgenden Jahrhunderte
schritt, von vielen bekämpft, von ebensovielen bewundert."
Zwar kein Reformator der zeitgenössischen Philosophie, aber in Gedankenarbeit
und Lebensgestaltung der treueste Spiegel der Kulturstimmung der Renaissance
ist nach R. Hönigswald „Giordano Bruno". Er liegt noch durchaus im Bann der
mittelalterlichen Überlieferung, aber er sieht mit genialer Intuition die Fesseln,
die ihn binden. Doch er ist unfähig, sie zu sprengen, denn der Geist exakter Wissen-
schaftlichkeit ist ihm fremd. Er deutet nur die Natur, anstatt sie zu erforschen.
Ihm mangelt die logische Schärfe des ,, Begriffs'' und das Verständnis für Mathematik.
— Umso stärker hebt sich daher von seinem leidenschaftlichen Enthusiasmus
und seiner ungezügelten Phantasie das Bild der beiden großen Vertreter der mathe-
matischen Weltanschauung ab: „Descartes" (M. Frischeisen-Köhler) und „Spinoza"
(von 0. Baensch). Hier hat der Geist der modernen Naturwissenschaft, die in
stärkster Einseitigkeit nur Kausalität und Substanz kennt und diese Begriffe
auf alle Dinge anwendet, ihre erste und wohl auch großartigste Abklärung zu einer
metaphysischen Lebens- und Weltanschauung gefunden. — Desto schärfer sticht
von dem einsamen Denker im Haag der vielgewandte Hofmann Leibniz in seinem
Leben und in seiner Lehre ab. Walter Kinkel stellt ihn dar als Vertreter des pla-
tonischen Idealismus in Natorps Auffassung, damit den Fußstapfen Cassirers
folgend, aber die Darstellung sieht sich doch überall gezwungen, selbst darauf
hinzuweisen, daß die idealistischen Gedankengänge nur sporadisch auftreten und
immer von dogmatisch-realistischen Gedanken unterbrochen werden.
Das eigentlich kritische Zeitalter der Philosophie wird eingeleitet durch Locke-
Hume aus der Feder des Herausgebers E. v. Aster, worauf P. Menzer das schwere
Werk unternimmt, die Bedeutung Kants auf 44 Seiten klarzulegen. Dieser Auf-
satz bildet einen Höhepunkt des ganzen Werkes. Mit einem überaus feinen Ver-
ständnis für das Maß dessen, was allgemein verständlich aus Kants Werken geboten
werden kann, verbindet sich die Gabe einer flüssigen Darstellung, die klar und
scharf die Hauptlinien der Kantschen Gedanken verfolgt und sich in der Dar-
stellung seiner Ethik zu einer bemerkenswerten Wärme und Innigkeit der Dar-
stellung erhebt. Überhaupt möchte ich in der Darstellung des Idealismus ein be-
sonderes Verdienst des Werkes sehen. Die Hilfsmittel zum Eindringen in diese
Eisregionen menschlichen Denkens sind spärlich und meist unzulänglich. Das gilt
jetzt sogar von Kuno Fischers klassischem Werk. Hier bieten sich als kundigste
Führer F. Medikus durch Fichtes Philosophie der Tat, H. Falkenheim durch Hegels
Lehre vom Geist, und Otto Braun durch Schellings, dieses stets sich wandelnden
Proteus vielverschlungene Gedankengänge. Es gibt zurzeit keine Darstellung
dieser klassischen Periode unserer deutschen Philosophie, die so klar, einfach und
verständlich in den Kernpunkt ihres Denkens einführte, wenngleich besonders die
Schilderung des Fichteschen Systems auch in dieser Form dem Leser noch manche
harte Nuß zu knacken gibt. — Die neue Zeit ist durch zwei Beiträge von R. Lehmann
über Schopenhauer und Herbart, sowie einem Aufsatz A. Pfänders über Nietzsche
P. Gabriel, Euckens Grundlinien usw., angez, von O. Braun. 39S
vertreten. Den Schluß macht ein Essay W. Windelbands über „die philosophischen
Richtungen der Gegenwart". Es ist kaum zu glauben, welch umfassenden Über-
blick die Hand des Meisters auf diesen 14 Seiten zu geben weiß. Dabei steht ihm
jede feinste Schattierung des Ausdrucks vom grimmigen Humor bis zum höchsten
Pathos mühelos zu Gebote. Er sieht die Aufgabe der Zukunft in einer ,, kritischen
Kultur-philosophie", welche den Anteil, den die menschliche Vernunft an den
letzten geistigen Gründen aller Wirklichkeit haben kann, nicht aus dem Menschen
als Naturwesen, sondern aus den Errungenschaften des Gesamtgeistes in seiner
geschichtlichen Arbeit nach der Weise Hegels ablesen will.
Überblickt man das ganze Werk, so läßt sich nicht leugnen, daß der hier ein-
geschlagene Weg der Verteilung der einzelnen Denker an die verschiedenen Spezial-
forscher seine großen Vorzüge hat. Jeder einzelne Abschnitt bietet die gediegensten
Resultate der neuesten Forschung. Nicht jeder Denker kann sich auch in jedes
fremde System gleichmäßig hineinfinden. Hier behandelt jeder Mitarbeiter seinen
besonderen Liebling, den er bis in die innersten Falten des Herzens kennt und
wird nicht müde, seine Vortrefflichkeit zu preisen. — Diesem Vorzug stehen freilich
auch erhebliche Nachteile gegenüber. Schon im äußeren Umfang sind die einzelnen
Beiträge unverhältnismäßig verschieden und keineswegs immer der Bedeutung
des betreffenden Denkers entsprechend. Auch in der Darstellungsform macht
sich die Verschiedenheit der Verfasser oft störend geltend. Neben glänzend ge-
schriebenen, allgemein verständlichen Abschnitten stehen andre, die mit dem
gründlichsten wissenschaftlichen Apparat versehen, einem weiteren Leserkreis
verschlossen bleiben müssen. Endlich aber muß die verschiedene Stellung der
Verfasser zu den Grundproblemen der Philosophie auf den ungeschulten Leser
verwirrend wirken. Es gilt das ganz besonders von der ganz verschiedenen Auf-
fassung der Ideenlehre. Dennoch macht der billige Preis, die vortreffliche Aus-
stattung, für welche Professor Georg Belwe gewonnen wurde, und der Schmuck
gediegener, sehr sorgfältig auf ihre Authentizität geprüfter Porträts im Verein mit
dem gediegenen Inhalt das Werk so recht geeignet zum philosophischen Haus-
buch der gebildeten Familie.
Cassel. Alfred Heußner.
Gabriel, Paul, Euckens Grundlinien einer neuen Lebens-
anschauung und sein Verhältnis zu J. G. Fichte. Bunz-
lau 1910. G. Kreuschmer. VI u. 44 S. 8». 1,20 M.
Die kleine Studie, deren größter Teil einer nicht einmal sehr gewandten Inhalts-
darstellung der „Grundlinien" von Eucken gewidmet ist, geht aus von dem Gegen-
satze des ,, neuen Lebens" gegenüber dem Individuum, dem Intellekt und der
Natur. Sie schildert dann die Selbsttätigkeit, Volltätigkeit, Weltbildung, Persön-
lichkeitsart, religiöse Art des neuen Lebens und geht zum Schluß auf die ,, charakter-
bildende Kraft" über. Auf knapp 10 Seiten wird dann das Verhältnis zu Fichte
recht äußerlich charakterisiert und festgestellt, daß die wichtigsten Differenzen
in Methode, Stellung zur Erfahrung, zum Rationalismus und zur Religion sind.
Dabei dringt Gabriel nirgends tief genug, um die Ähnlichkeit der geistigen Gebärde
beider Denker zu erfassen: ihnen beiden ist der Gewinn der geistigen Welt kein
Denkakt, sondern eine Tat.
394 F. Pinski, Der höchste Standpuni<t usw., angez. von O. Braun.
Die Vertiefung und den weiteren Blick vermisse ich an dem Ganzen. Darauf
ist auch der Angriff auf mich (S. 21, Anm. 1) zurückzuführen: ich sehe Eucken
in meiner Interpretation seiner Auffassung von Gott und Mensch im Zusammen-
hange mit den Grundtrieben der deutschen Mystik (Theologia deutsch) und des
Schellings der Freiheitslehre etwa. Daß diese Auffassung nicht korrekt, hat Gabriel
behauptet, aber nicht bewiesen. Ich verweise dafür auf meine Broschüre:
„R. Euckens Philosophie und das Bildungsproblem*' (Leipzig 1909. F. Eckardt).
Pinski, F., Der höchste Standpunkt der Transzendental-
philosophie. Halle a. S. 1911. Hugo Peter. VII u. 151 S. 2 M.
Es handelt sich um eine „Vervollständigung und systematische Darstellung der
letzten Gedanken Kants**, wie dieser sie in seinem nachgelassenen Manuskript,
das Reicke in der „Altpreußischen Monatsschrift" 1882 — 1884 teilweise veröffent-
lichte, formuliert hat. P. ist mit Vaihinger der Meinung, daß das erste Konvolut,
aus den Jahren 1799 — 1800 etwa stammend, viel wichtiger ist, als die übrigen.
Zu ihm kommen noch die Beilagen aus dem 7. Konvolut. Die hier aufgezeichneten
Aphorismen sind die Grundlinien eines Werkes, mit dem Kant sein System ab-
zuschließen und zu krönen gedachte. Es sollte eine Antwort und Überwindung sein
für Schellings „System des transzendentalen Idealismus*' .
Das Ziel, das dem greisen Denker vorschwebte, ist (nach Pinskis Auffassung)
gewesen, „die Bedingungen der Erkenntnis, sofern sie a priori in unserem Geiste
vorhanden sind und als formgebendes, gestaltendes Vermögen wirken, aufzusuchen
und ihre Anwendung auf die von den Dingen der Außenwelt herstammenden Emp-
findungen klarzulegen** (S. 25). In Anbetracht dieser Absicht hat P. entschieden
recht, wenn er meint, daß diese letzte Philosophie Kants die Grundlage für unser
heutiges Denken bilde. Ich erinnere nur an Windelbands Definition der Trans-
zendentalphilosophie: sie hat die allgemeinen Voraussetzungen der Vernunfttätig-
keiten aufzudecken und in ihnen die empirischen Elemente von den apriorischen,
allgemeingültigen Notwendigkeiten zu trennen. (Logos I, 2, S. 190.) Ein System
aller apriorischen Erkenntniselemente (S. 28): das ist allerdings in gewissem Sinne
der höchste Standpunkt des Vernunfterkennens. Daß nun aber das letzte Werk
von Kant diese Aufgabe schon gelöst habe, darin liegt eine Übertreibung von Pinski.
Denn was er in seiner gediegenen kleinen Arbeit ausführt, unter Benutzung häufiger
Zitate aus Reickes Abdruck, geht doch kaum über das hinaus, was Kant in seinen
anderen Werken schon gesagt, und wird durch die scharfe Betonung des Ding-an-sich-
Begriffes nicht bedeutender. Ob z. B. die verschärfte Polemik gegen den Pantheis-
mus, die Einschränkung der göttlichen Immanenz auf den Menschen für uns von
so großer Bedeutung sind, wie Pinski meint, ist doch fraglich. So sehe ich sein Buch
in systematischer Beziehung als verfehlt an und begrüße es nur als gründliche
Studie über den Gedankengehalt von Kants letztem Werke.
Münster i. W. 0 1 1 o B r a u n.
„Die Schrift über das Erhabene." Deutsch mit Einleitung und Erläuterungen von
H. F. Müller. Heidelberg 1911. Carl Winters Universitätsbuchhandlung.
XVIII u. 90 S. 1,50 M.
Die unter des Longinus Namen gehende Heine Schrift Ilepl o^ouq , „das schönste
R. Hildebrand, Gedanken über Gott usw., angez. von Fr. Heußner. 395
stilkritische Buch der Griechen", teilt das Schicksal so manches anderen trefflichen
Werkes: es wird viel gelobt, aber wenig gelesen. Selbst von den Altphilologen
kennen es in der Regel nur diejenigen, die zufällig auf der Universität mit seiner
Interpretation beschäftigt worden sind. Wenn sie später an das Buch zurückdenken,
so liegt es hinter ihnen als ein fragmentarisches Werk mit schweren Kunstaus-
drücken und Vokabeln, bei deren richtiger Deutung die Lexika oft versagten.
Und doch dürfte kein Lehrer des Griechischen, der in den oberen Klassen Unterricht
erteilt, das Büchlein ungelesen lassen. Mit allem Nachdruck sei das hier gesagt.
H. F. Müller will ihm den Weg bereiten, seine Bekanntschaft vermitteln und er-
leichtern, wie er in seiner Analyse unsres Buches es ausspricht, die gleichzeitig als
Beilage zum Jahresbericht Ostern 1911 des Herzogl. Gymnasiums zu Blanken-
burg a. H. erschienen ist: „Das Schöne und Erhabene in den Werken des griechischen
Oeistes zu erkennen, zu empfinden und zu erleben wird uns allen gut tun und eine
Herzensstärkung sein*'. Und wenn einer, so ist er der Mann, das, was er in Aus-
sicht stellt, zu erfüllen. Wie er in seinen „Beiträgen zum Verständnis der tragischen
Kunst" und in seinem Buche über „die Tragödien des Sophokles" den ansprechend-
sten und einwandfreiesten Weg gefunden hat, die hier zu berücksichtigenden
Fragen zu erläutern und zu beantworten, so hat er in seiner auch weitestgehende
Anforderungen befriedigenden Übersetzung der Schrift Flspl o^oo<; das Verständnis
dieses „reizvollen und eigenartigen, gedankenreichen und sprachgewaltigen Buches"
in die rechte Bahn geleitet. Wer es in dieser neuen Gestalt zur Hand nimmt, wird
seine Freude daran haben und es immer wieder gern zur Hand nehmen, um daraus
zu lernen. Die Erläuterungen gehen an nichts Wesentlichem vorüber, die Analyse,
deren zweiter Teil kürzlich veröffentlicht ist, bildet zu ihnen eine ausgezeichnete
Ergänzung.
Hannover. R. Mücke.
Hildebrand, Rudolf, Gedanken über Gott, die Welt und das Ich.
Ein Vermächtnis. Jena 1910. Eugen Diederichs Veriag. gr. 8«. 479 S.
brosch. 8 M., geb. 10 M.
Am 28. Oktober 1894 starb in Leipzig Prof. Rud. Hildebrand, nachdem er noch
am 13. März zu seinem 70. Geburtstage, als schon die letzten Strahlen der Lebens-
sonne sein Haupt umglänzten, zahllose Beweise der Freundschaft und Liebe, Ver-
ehrung und Dankbarkeit empfangen hatte. Galten sie doch dem in freundlicher
Teilnahme und immer bereiter Güte treuen Mann, dem tiefsten Kenner der deut-
schen Sprache, deutschen Fühlens, Sinnens, Denkens und Dichtens, dem Neubegrün-
der des deutschen Unterrichts, dem sicheren Führer und bewährten Meister deut-
scher Sprachforschung. Wieviel verdankt die deutsche Lehrerwelt seinem Buch
„Vom deutschen Sprachunterrich t", das 1867 zuerst als eine Ab-
handlung von 79 S. unter dem Titel „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule
und von etlichem ganz Andern, das doch damit zusammenhängt" erschien. Er
war damals noch Collega Quintus an der Thomasschule in Leipzig. So liegt das
Buch eben noch vor mir und ist mir gerade in dieser Gestalt ein treuer Freund
und Begleiter geblieben. Nun haben wir es in 12. Auflage unter dem Titel „Vom
deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bil-
dung überhaupt; mit einem Anhang über die Fremdwörter und einem über das Alt-
396 R. Hildebrand, Gedanken über Gott usw.,
deutsche in der Schule", und es umfaßt jetzt 279 S. Bei Hildebrands Bestattung
legte der Verein Leipziger Volksschullehrer einen Lorbeerkranz auf seinem Grab
nieder mit der Inschrift: „Seinem Lehrer R. H. der Leipziger Lehrerverein."
Durch dieses Buch ist er der Erneuerer des Unterrichts in der Muttersprache sowie
einer der großen Wegweiser auch im Bereiche nationaler Erziehung geworden, und
es hat ihm den Ehrennamen „Praeceptor Germaniae" gewonnen*). Wie groß und
herrlich ist seine Arbeit am Grimmschen Wörterbuch gewesen,
in der man ein unerreichtes Muster von Lexikographie bewundert, ,,ein Garten,
in dem der warme Lebenshauch der innigsten, zartesten Liebe zur Muttersprache
weht". Seit 1887, als er mehr Muße gewonnen hatte, erschienen seine gedanken-
und wissensreichen Aufsätze in den Grenzboten und seine Beiträgezum
deutschen Unterricht sowie die köstlichen ,,Tagebuchblätter
eines Sonntagsphilosophe n".
Nun hat 15 Jahre nach seinem Hinscheiden sein treuer Schüler und jüngerer
Freund, Studienrat Prof. Georg B e r 1 i t in Leipzig noch ein Werk aus seinem
Nachlaß veröffentlicht, das den Freunden und Verehrern Hildebrands — und
wie groß ist ihre Zahl! — eine willkommene Gabe sein wird, aber auch, so hofft
der Herausgeber, noch andere dankbare Leser finden wird als die, welche Hilde-
brandsche Geistesart längst zu schätzen gelernt haben.
In der Handschrift führten diese Aufzeichnungen die bescheidene Benennung:
,, Einfälle, Gedanken und Fragen" und fallen in die Zeit von April 1881 bis kurz
vor seinem 70. Geburtstag. Der Herausgeber schickt sie hinaus unter dem be-
zeichnenderen oben genannten Titel mit dem Motto des Verfassers aus Goethes
Zueignung: „Warum sucht' ich den Weg so sehnsuchtsvoll, wenn ich ihn nicht den
Brüdern zeigen soll?" An dem Text hat er nichts geändert, sondern hat sich auf
die Aufgabe des Prüfens, Auswählens und Ordnens beschränkt. Voraus geht ein
„Zur Einführung" betitelter Aufsatz von 48 S., in dem Hildebrands Charakter,
Werden und Wirken in den Hauptumrissen schön gezeichnet wird, um ihn so den
Herzen der Leser, die ihm bisher ferner standen, näher zu bringen, und durch den
wir Auskunft erhalten über die Entstehung und Absicht dieser Blätter. Neben
Fußnoten, die dem Text beigefügt sind, sind am Ende des Buches noch auf 17 Seiten
Anmerkungen und Verweisungen des Verfassers beigegeben, mit denen er selbst
den Text begleitet hat. Diese, sowie das auf 9 Seiten folgende Sach- und Namen-
register sollen den Ein- und Durchblick in Hildebrands Denkweise und Gedanken-
welt erleichtern. Zum Schluß steht dann noch eine eingehende Inhaltsangabe
der einzelnen (elf) Bücher.
Es ist ein eigenartiges Werk, das nicht unmittelbar fesselt, in das man sich
erst hineinlesen muß, das dann aber mehr und mehr gewinnt und uns ganz und tief
in Hildebrands Denken und Fühlen hineinführt. Der Herausgeber empfiehlt,
zuerst das 2., dann das 7. Buch zu lesen, um so allmählich in seine Gedankengänge
einzudringen. Vielleicht empfiehlt es sich auch, nach dem Register sich zunächst
das eine oder das andere, das uns näher berührt und interessiert, herauszunehmen
*) Matthias würdigt ihn nach dieser Seite in seiner „Geschichte des deutschen
Unterrichts" schön und eingehend und gibt ihm wegen seiner alle überragenden Zu-
kunftsbedeutung am Ende gleichsam das letzte Wort.
angez. von Fr. Heußner. 397
•>
und so sich in die Schreib- und Denkweise Hildebrands einzugewöhnen und ein-
zuleben. Das 2. Buch (um ein Beispiel anzuführen) handelt „Von dem was sein
soll, werden soll — und wie wir dazu kommen könnten", mit dem Motto: „Weh
dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld (Schiller)." Das 7. Buch ist über-
schrieben: „Von mir und vom Ich überhaupt" und trägt das Motto:
Ich habe nichts als mich studiert,
Nichts, als mein Herz, das mich so oft verführt,
Deß Tiefe sucht ich zu ergründen.
Um meine Ruh und andrer Ruh zu finden."
Geliert, der Polyhistor (1750).
Es bildet dies mit seinen allerpersönlichsten Bekenntnissen ein Stück Selbst-
biographie. Daraus als Beispiel S. 289, an Klopstock erinnernd und an Lessings
Philotas:
Ostermontag 1879.
Eine Erinnerung aus Quarta kam mir neulich wieder, also aus meinem 14. Jahre
(1837): Der Begriff Vaterland ging mir auf, das heißt erfüllte und ergriff mich,
das Größte was ich in mir bis dahin kannte, und das gehörte auch mir! und ich kam
mir bis dahin so klein, so nichtig vor. Auf einmal zuckte durch mich der Gedanke:
fürs Vaterland leben, fürs Vaterland alles tun! Wie groß, wie beseligend — alles,
das schlug auf einmal in die Form um: auf einmal etwas Großes fürs Vaterland tun,
auf einmal das Größte — wie? Durch meinen Tod ! mein ganzes Wesen wie auf einen
Knall dem Vaterland zum Opfer bringen ! Das schien mir selbst zugleich die höchste
Seligkeit, die es geben könne! Daraus wurden ein paar Reime (wohl die ersten,
die ich gemacht), die ich vor mich hersagte, auf der Allee schreitend, an einem
Sommerabend, unter heißen Tränen, bei denen ich mich wohl befand, wonnig ge-
hoben wie noch nie ! Sich opfern mit Wonne, selig in Tränen — und meine Seele
war in sich so gesund, so eigentlich heiter als es nur möglich ist! — Es war der
Drang, der mir später so oft gekommen, alles, was ich als notwendig fühlte, mit
einem Schlage zu erreichen, statt langsam (mit Qual, daß es unmöglich ist), die
Geduld des Weltlebens habe ich mühsam gelernt, und lerne noch daran, sehe aber
nun, daß sie die Haupttugend ist, mit der Kraft, das Heilige, das man in guter Stunde
gesehen, treu und zäh festzuhalten, mit Kinderglauben.*)
Es bieten diese Gedanken und Erinnerungen so viel tiefe Lebensweisheit, so
eindringliche, auch heute noch zeitgemäße Warnungen vor Ab- und Irrwegen in
Leben und Wissenschaft, so nachdrückliche Mahnungen auch zu gesunderer Lebens-
führung und Besinnung auf die inneren Güter unseres Daseins, so feinsinnige Winke
für edlere Lebenskunst, daß wir viel daraus lernen können und sie uns das Bild
Hildebrands wesentlich vervollständigen; dabei locken sie mit dem Zauber der
einzigartigen Persönlichkeit, die allen denen, die ihn im Leben gekannt oder aus
seinen Schriften ein lebendiges Bild von ihm gewonnen haben, aus diesen Blättern
wie aus einem unbewußt und naiv entworfenen Selbstportrait entgegentritt.
*) Die für Hildebrands persönlichen Stil charakteristische Interpunktion ist hier
beibehalten.
398 K. Ketteier, Der Unsterblichkeitsglaube usw., angez. von O. Braun.
Und so sei denn dieses Selbstbildnis oder diese ,, Urkunde der Weltanschauung'*
jenes geistig und sittlich ungewöhnlichen, durch die Originalität und Tiefe seiner
Natur hervorragenden Mannes, des „Predigers mit dem Kindergemüt und dem
Denkergeist" auch weiteren Kreisen herzlich empfohlen und auch dem Heraus-
geber gedankt für seine mühevolle Arbeit.
Kassel. Fr. H e u ß n e r.
Ketteier, Kurt, Der Unsterblichkeitsglaube in religions-
geschichtlicher und r e 1 i gi 0 n s p h i 1 0 s 0 p h i sc h e r Be-
trachtung. Bunzlau 1910. G. Kreuschmer. 56 S. 8». 0,90 M.
Das anspruchslose Heftchen, ein erweiterter Vortrag, stellt zunächst auf 30 S.
Notizen über den Unsterblichkeitsglauben bei den verschiedensten Völkern zu-
sammen und geht dann zur Darstellung und Kritik der Beweise für die Unsterblich-
keit über. Alle drei Arten, die populären, theologischen und philosophischen Be-
weise, werden als nicht zwingend hingestellt: ein wissenschaftlich zwin-
gender Beweis für die Unsterblichkeit ist nicht zu führen (S. 49). Der Verfasser
versucht aber, im Anschluß an Euckens Philosophie, den Glauben an eine persön-
liche Unsterblichkeit zu stützen. Zunächst weist er auf die Existenz eines unsterb-
lichen allgemeinen Geisteslebens hin, und dann dient ihm die Tatsache, daß das
Geistige in seiner höchsten Ausprägung immer nur in charakteristischer Gestaltung
bei den großen Persönlichkeiten erscheint, dazu, auch für die persönliche Un-
sterblichkeit zu plädieren. Hier scheinen christliche Vorstellungen von transzen-
dentem Fortleben einzusetzen. Philosophisch läßt sich nur eine immanente
persönliche Unsterblichkeit rechtfertigen: der Geist der Großen lebt in seiner
eigentümlichen Ausprägung fort, indem immer neue Geister ihn gerade in dieser
Eigentümlichkeit nacherleben.
Münster i. W. 0 1 1 o B r a u n.
Brecht, Walther, Heinse und der ästhetische Immoralismus.
Zur Geschichte der italienischen Renaissance in Deutschland. Nebst Mitteilungen
aus Heinses Nachlaß. Berlin 1911. Weidmannsche Buchhandlung. XVI u. 195 S.
6 M.
Wilhelm Heinse gehört zu den Heimatlosen in der Literaturgeschichte, zu
jenen, die in keine Zeit und keine Richtung sich einordnen lassen, ohne daß wesent-
liche Züge ihrer geistigen Persönlichkeit völlig mißverstanden werden, und die doch
nicht'eigenschaffende Künstler genug waren, als daß ihre Werke für sich, losgelöst
von den geistigen Beziehungen, in denen sie erwuchsen, eine starke Wirkung aus-
üben könnten. Auch nicht eine Seite hat Heinse veröffentlicht, die nicht deutlich
den Sohn des achtzehnten Jahrhunderts verriete — und nur weniges wurde im
18. Jahrhundert geschrieben, das uns heute so modern anmutet, das so unmittelbar
zu unserer impressionistischen Zeit spricht wie manche seiner Tagebuchaufzeich-
nungen. In diesen Notizenbüchern hat er sein Bestes gegeben, nicht in seinen
formlosen Romanen.
Erst seit einem Jahrzehnt etwa beschäftigt sich die Literaturgeschichte ernstlich
mit diesem Manne. Man hat seine Jugendentwicklung eingehend dargestellt —
W. Brecht, Heinse und der ästhetische Immoralismus, angez. von P. Kluckholm. 399
Heinse als Freund der Jakobi und des Gleimschen Kreises' — , ihn als Dichter des
Sturmes und Dranges charakterisiert, seine bedeutsame Stellung zur bildenden
Kunst untersucht und ist seinen Einwirkungen auf das Schaffen und die Theorien
der Romantik nachgegangen. Brecht nun sucht ihn nach rückwärts zu verbinden
und, indem er die Quellen seines Romans „Ardinghello" aufdeckt, zugleich seine
geistige Verwandtschaft mit der Renaissance und die Wirkung der Idee vom souve-
ränen Individuum bis auf unsere Tage darzustellen.
Sein Buch ist eine Frucht langjähriger Forschungen, einer sich reich lohnenden
Durcharbeitung des Heinseschen Nachlasses in Frankfurt und einer eingehenden
Untersuchung der Renaissanceliteratur, die Heinse konnte kennen gelernt haben.
Und das Ergebnis, so überzeugend bewiesen, daß es wohl niemand anzweifeln
dürfte, ist dieses: Heinse hat nicht aus einer gewissen vagen Sympathie seinen Roman
in die Zeit der Renaissance verlegt, so wie Dramen des Sturmes und Dranges im
Italien des Cinquecento spielen, sondern, weil er, „auf einer entsprechenden Stufe
moralischer Auffassung wieder angekommen", die Renaissance als wesensgleich
mit sich erkannte und durch eingehende Studien — er wühlte in den italienischen
Bibliotheken — diese vergangene Welt förmlich zwang, sich ihm zu offenbaren.
Wie dieser Beweis von Brecht im einzelnen mit größter philologischer Akribie geführt
wird, wie er den Historikern nachgeht, die Heinse benutzt hat, auch den ungedruck-
ten, der weitverzweigten Gruppe der Ffl///-/rag/c/-Handschriften, dazu den Novellen
— der erste Teil des „Ardinghello" stellt sich danach als eine echte Geschichte
einer bella Vendetta heraus — , wie aus den Wirkungen dieser Studien allmählich
der Plan zum „Ardinghello" erwächst, in dem von Anfang an die aristokratische
Renaissancemoral die Hauptrolle spielt — Ardinghello der uomo universale der
Renaissance — , wie Brecht den Punkt aufweisen kann, „an dem der ,Ardinghello*^
aus italienischer Quelle entsprang", dem kann hier im einzelnen nicht nachgegangen
werden. Man wird den „Ardinghello" danach doch wesentlich anders wie bisher
beurteilen müssen: kein Abenteurerroman, ein historischer Renaissanceroman r»
der Schluß — die glückseligen Inseln — wird nun erst wirklich verstanden : kein
unorganisches Anhängsel, ein notwendiger Abschluß, aus Heinses Sehnsucht geboren,,
der erst den wahren Aufschluß über das Ganze gibt.
Diese literarhistorische Bewertung des „Ardinghello" ist nur ein Teilergebnis
des Buches. Das stellt zugleich einen Beitrag zu dem jetzt so viel erörterten Probleme
der Geschichte des Renaissancebegriffes dar und knüpft eine der wesentlichsten
Ideen des letzten Jahrhunderts an das Italien des sechzehnten an: die Idee des
souveränen Individuums. Hier fällt Heinse die bedeutsame Vermittlerrolle zu.
Er hat als erster den Renaissancemenschen wirklich verstanden; über das all-
gemeine Verständnis seiner Zeit für die Renaissance führten ihn zwei Ideen weit
hinaus, die des amoralischen Menschen und die einer ausschließlich ästhetischen
Orientierung.
Auch der Nachwirkung von Heinses Immoralismus geht Brecht in knappen,
nur vorläufigen Untersuchungen nach, der Wirkung auf die Romantik, besonders
durch den Frauentypus der Fiordimona — Schlegels „Lucinde" wäre meines Er-
achtens noch schärfer von Heinse zu trennen als wie Brecht es tut; auf diese Pro-
bleme werde ich in einer eingehenden Untersuchung der Frauenauffassung der
400 A. Jacoby, Die antiken Mysterienreligionen, angez. von H. Wolf.
Romantiker noch zu sprechen kommen — , der Wiedererweckung Heinses durch das
Junge Deutschland und der prinzipiellen Übereinstimmung mit Nietzsche; ein
direkter Zusammenhang beider wird noch nicht erwiesen, nur vermutet, ihre Ver-
wandtschaft, doch auch das, was sie trennt, in fein abgewogenen Worten heraus-
gestellt.
Es folgen „Texte und Anhänge*', dem Umfang nach der Hauptteil des Buches,
außerordentlich dankenswerte Veröffentlichungen aus Heinses Nachlaßheften,
aus deren reichem Schatze bisher nur ein Band von Schüddekopf in seiner großen
Ausgabe der Werke herausgegeben war. Brecht bringt aus der Zeit vor der italie-
nischen Reise Reflexionen und Maximen, die Heinse auf dem Wege zum ästhe-
tischen Immoralismus zeigen; von der italienischen Reise Auszüge aus Tiraboschis
Storia della literatiira italiana und italienischen Geschichtsschreibern, Aufzeich-
nungen über Dichter und über Fürsten der Renaissance, über freie Liebe, besonders
bedeutsam Charakterstudien zum „Ardinghello"; aus der Zeit nach der italienischen
Reise Reflexionen des Immoralismus, besonders im Anschluß an Aristoteles (der
jx£YaXotJ>ü/o?) und Machiavell, auch an Darwin erinnernde Gedankengänge, mancherlei
Notizen für Romanpläne u. a. m., sodann den Romanentwurf „Adelheit und Heiden-
blut**, den Brecht aufschlußreich bespricht.
Wer einmal die kleinen Hefte aus Heinses Nachlaß mit den schwer zu ent-
ziffernden, zum Teil schon verwischten Bleistiftnotizen in Händen gehabt hat,
der weiß die philologische Arbeit dieser Publikation sehr zu würdigen. Und es
muß besonders bemerkt werden, daß Brecht auch in den Partien, die schon in
Schüddekopfs als mustergültig geltender Ausgabe publiziert wurden, über diese
Ausgabe hinauskommt, so in dem Romanentwurf ,, Adelheit und Heidenblut"
nicht nur einzelne Worte anders und wohl richtiger liest, sondern auch eine ganze
Reihe Absätze neu bringt. Brechts Publikation läßt uns so viel deutlicher als die
früheren in Heinses Arbeitsstätte hineinblicken und gibt uns höchst dankenswerte
Ergänzungen zu den Untersuchungen des Verfassers. Diese selbst sind in sehr
knappem, doch klarem Stile geschrieben, deuten vieles nur an, was man ausführlich
dargestellt wünschte — so die Theorie des ästhetischen Immoralismus selbst — ;
aber das gerade scheint mir ein Lob zu sein, das schwer wiegt. Besonders mag es
von Brechts Einleitung gelten, die das Problem Heinse gibt und das impressionistische
Moment seines Wesens, namentlich auf Grund der Tagebücher, sehr glücklich
charakterisiert — ein wertvoller Essay für sich.
Göttingen. Paul Kluckhohn.
Jacoby, Adolf, Die antiken Mysterienreligion en und das
Christentum. (Religionsgeschichtliche Volksbücher, III. Reihe, 12. Heft.)
Tübingen 1910. Mohr. 44 S. geh. 0,50 M.
Als sein Thema gibt der Verfasser selbst in der Einleitung an „das Ineinander-
greifen der religiösen Strömungen (in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit-
rechnung): von der einen Seite der, die wir zusammenfassend Mysterienreligion
nennen, und des Evangeliums Jesu Christi von der anderen Seite". Er zeigt, wie
die Kirche allmählich zu einer großen Mysterienanstalt wurde; diese Entwicklung
begann schon unter Paulus, setzte sich bei den Gnostlkern fort, und im 2. und
U. V. Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische usw., angez. von Fr. Heußner. 401
3. Jahrhundert erkannten die Kirchenväter mit Schrecken, wie nahe verwandt
ihrem Christentum die Gebräuche im Kultus des Mithras, des Serapis und der Isis,
überhaupt in den immer weiter sich verbreitenden orientalischen Religionen waren.
Sie behaupteten, daß die Mysterienbräuche der Heiden teuflische Äffungen seien;
von Justin wurde das Wort vom Teufel, dem Affen Gottes, der Gottes Geheim-
nisse durch seine Mysterien nachäffe, in Umlauf gesetzt.
Jacoby spricht von der hochgespannten Jenseitshoffnung, der Menschwerdung
der Gottheit, der Vorstellung vom sterbenden und auferstehenden Gott, der Ekstase,
dem Essen und Trinken geweihter Elemente. Im 3. und 4. Jahrhundert ringen
die Religionen miteinander; die Entscheidung stand lange Zeit auf des Messers
Schneide; das Christentum siegte infolge seiner überlegenen religiösen und sitt-
lichen Kräfte.
Es folgt eine hochinteressante Auswahl von Texten zur Mysterien-
religion. —
Weniger gut gelungen ist der 1. Abschnitt des Heftchens, wo der Verfasser
„in knappen Umrissen die Entwicklung der vorhergehenden Jahrhunderte"
(vor Chr.) zeichnen will. Über die lange Geschichte der antiken Religionen erhalten
wir da keine klare und richtige Vorstellung.
Düsseldorf. Heinrich Wolf.
ü. V. Wilamowitz-Moellendorff, K. Krumbacher (f), J. Wackernagel, Fr. Leo,
E. Norden, F. Skutsch, Die griechische und lateinische Lite-
ratur und Sprache. Teil I, Abt. VIII der von P. Hinneberg her-
ausgegebenen „Kultur der Gegenwart". Dritte, stark verbesserte und ver-
mehrte Auflage. Berlin und Leipzig 1912. B. G. Teubner. VIII u. 582 S. gr. 8»,
geh. 12 M., in Leinwand geb. 14 M.
Im Jahre 1906 erschien das vorliegende Buch als erster Band der von P. Hinne-
berg unternommenen Enzyklopädie „Die Kultur der Gegenwart", und schon im
nächsten Jahr war eine zweite Auflage notwendig geworden. Nun ist nach fünf
weiteren Jahren zu unserer Freude eine dritte und zwar „stark verbesserte und
vermehrte" Auflage gefolgt. War in der zweiten besonders die römische
Literatur des Altertums von Leo vielfach verbessert und um ein Drittel des
Umfangs erweitert worden, so ist in dieser dritten vor allem die Arbeit
von W i 1 a m 0 w i t z , Die griechische Literatur des Altertums, durchgehend
gebessert und um 80 Seiten erweitert (während auf die anderen Arbeiten
zusammen nur noch 8 Seiten kommen). Besonders bereichert sind die Abschnitte
über die lyrische Poesie in der hellenistischen Periode, die attische Poesie und
Prosa und den Hellenismus. Auch die anderen Abhandlungen zeigen die bessernde
Hand der Autoren, nur ist K r u m b a c h e r , der Verfasser der griechischen
Literatur des Mittelalters, inzwischen gestorben, und es hat nur Prof. P. Maas
zu der Literaturangabe am Schluß der Arbeit noch einige seit der zweiten Auflage
erschienene Abhandlungen nachgetragen.
Das Werk ist nach den beiden ersten Auflagen schon reichlich auf seinen
Wert geprüft und in seiner hohen Bedeutung gewürdigt worden. Mit Freude
und zu großem Genuß habe ich mich wieder in die Lektüre verschiedener Teile
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 26
402 U. V. Wilamowitz-Moellendorff, Die griechische usw., angez. von Fr. Heußner.
dieses Bandes versenkt. Schlicht, einfach und in gemeinverständlicher Weise
wird uns von Wackernagel die griechische und von S k u t s c h die römische
Sprache in ihrem Wesen, ihrer Entwicklung, ihrem Einfluß und ihrem Fortleben
vorgeführt, ebenso ist die griechische Literatur des Mittelalters von K r u m -
b a c h e r , die römische Literatur des Altertums von Leo und die lateinische
im Übergang vom Altertum zum Mittelalter von Norden, entsprechend
dem Programm des Gesamtwerkes, für einen weiteren Umkreis der Gebildeten
wohl verständlich. Nicht in demselben Maße läßt sich dies von der Hauptdar-
stellung des Bandes, der Arbeit von Wilamowitz (die schon im äußeren Umfang
mehr als die Hälfte des ganzen Buches einnimmt) sagen. Sie setzt mehr als die
anderen eine philologische Schulung voraus, auf deren Grundlage nun in knapper,
prägnanter, an Gehalt ungemein reicher Darstellung die einzelnen literarischen
Werke vorgeführt, kritisiert, in die mannigfachste Beziehung zu älteren und
neueren Erzeugnissen gesetzt werden. Auch die Ausdrucksweise ist nicht immer
einfach und durch die zahlreichen, zum Teil außer dem gewöhnlichen Gebrauch
liegenden Fremwörter nicht ganz leicht verständlich. Aber hat man sich hinein-
gelesen und an des Verfassers Stil und Ausdrucksweise gewöhnt, so liest besonders
der Philologe diesen Teil des Bandes mit hohem Genuß und zu reichster Belehrung.
Noch eins. Es ist auch anderwärts schon gerügt worden, wie lieblos, hart und
absprechend Wilamowitz oft in seinem Urteil über die Ansichten anderer ist und
wie wenig günstig er vor allem auf die Lehrer zu sprechen ist. Man lese nur S. 4,
5, 13, 18, 751 Möchte Wilamowitz doch bedenken, daß diese „Schulmeister*' von
den Universitätsprofessoren vorgebildet sind, daß sie zum größten Teil sich ernstlich
um ein gründliches, wissenschaftliches Verständnis mühen und gern, soweit es
ihre Zeit erlaubt, die neueren Resultate der Universitätswissenschaften verfolgen
und sich aneignen. Darum verdienen sie nicht eine so wegwerfende Beurteilung
ihres Wissens und Verstehens; und daß die Wahrheitsliebe nach dem Wesen der
Wahrheit sich in milderer und rücksichtsvollerer Form bewegen mag und soll,
darauf weist mit schönen Worten W. M ü n c h in seinem letzten Buch „Zum
deutschen Kultur- und Bildungsleben'' S. 330 hin.
Gern würde ich noch einige Stellen und Partien herausheben, die uns den
Wert einzelner Dichter und Schriftsteller besonders schön charakterisieren oder
die Bedeutung der griechischen und lateinischen Literatur und Sprache auch
noch für unsere Zeit und für unsere Kultur trefflich vor Augen führen, aber in
der „Aporie" n' TTpaiiov xoi eTreiia ti S'uoTaxiov xaxaXe^oj; beschränke ich mich
auf zwei kurze Stellen über P 1 a t o , Wackernagel S. 380: „Vielleicht darf auch die
nüchterne Sprachforschung die Frage aufwerfen, ob nicht Plato ein Höchstes
menschlichen Sprachkönnens darstelle. Wohlklang und Deutlichkeit, begriff-
liche Schärfe und poetische Anmut und Erhabenheit sind bei ihm in unbeschreib-
licher Harmonie vereinigt," und Wilamowitz, der ihn S. 124 ff. so schön würdigt,
S. 307: „Bei Piaton kann und soll jeder auch jene Anschauung von dem Ewig-
Schönen lernen, das ja zugleich das Ewig-Gute ist, welche in ihrer Ausartung
den Klassizismus erzeugt hat, in ihrer Vollkraft aber das Klassische."
So geht das Buch von neuem hinaus und wird, so hoffen wir, sich imtf^er mehr
Freunde gewinnen und in immer weiteren Kreisen in freudiger Hingabe an das-
E. Schwartz, Charakterköpfe usw., angez. von P. Wendland. 403
selbe eine immer gründlichere Kenntnis und tieferes Verständnis für die latei-
nische und griechische Literatur und Sprache und ihre Bedeutung vermitteln.
Möge auch, den Wunsch füge ich zum Schluß noch bei, das gesamte, großartig
angelegte Werk weiter in der begonnenen Weise durch schöne und wertvolle Ar-
beiten eine Zierde unserer neueren populär-wissenschaftlichen Literatur werden.
Mancher treffliche Mitarbeiter ist leider schon dahingeschieden — ich zähle unter
den mehr denn 300, die dafür gewonnen wurden, etwa 15 — ; möge es den noch
lebenden vergönnt sein, ihre Arbeit daran zu glücklichem Ende zu führen.
Kassel. Fr. Heußner.
Schwartz, Ed., Charakterköpfe aus der antiken Literatur.
2. Reihe. 2. Auflage. Leipzig 1911. Teubner. 142 S. geh. 2,20 M. geb. 2,80 M.
Über die 1. Auflage habe ich Monatschrift No. X, S. 458 ff. berichtet. In
dieser rasch nötig gewordenen 2. Auflage sind stärkere Änderungen und Zusätze
nur in dem letzten Vortrage über Paulus vorgenommen worden. S. 124 wird jetzt
anerkannt, daß Paulus vor seiner Bekehrung in Jerusalem gewesen ist*); es folgt
ein längerer Zusatz über den Aufenthalt in Damaskus. Der Aufenthalt in Arabien
(Gal. 1, 17) wird jetzt S. 127 mit dem Wunsche erklärt, sich über die Offenbarung,
klar zu werden und mit seinem Gott allein zu sein. S. 129 f. finden sich neue Be-
merkungen über den Einfluß der hellenistisch-orientalischen Mysterienreligionen,
die durch Reitzensteins Buch veranlaßt sind.
Die Voraussetzungen, besonders die chronologischen, die seinem Paulusbilde
zugrunde liegen, hat Schwartz zum Teil an anderen Stellen entwickelt. Der
Forscher, der den gedankenvollen Vortrag ganz verstehen und nutzen will, möge
den Aufsatz über die Chronologie, Gott. Nachr. 1907, S. 263 ff., aber auch Zeit-
schrift für neutest. Wiss. XI, S. 100 ff. und die Kritik des Deißm^nnschen Paulus,
Gott. Anzeigen 1911, S. 657 ff., hinzunehmen. Schwartz führt, wie wenige, in
den Mittelpunkt und in die Tiefe der Probleme hinein.
Göttingen. Paul Wendland.
Antike Kultur, Meisterwerke des Altertums in deutscher Sprache, herausgegeben
von den Brüdern Horneffer. Leipzig, KHnkhardt.
Eine neue Folge von Bänden liegt vor:
Band XII — XX, Herodots Historien, deutsch von August Horneffer, geh.
je 0,90 M., zusammen 826 S.
Band XXI— XXVII, die Tragödien des Sophokles, deutsch von Heinrich
Schnabel, geh. je 0,75 M.
Band XXVIII, Demosthenes' Olynthische Reden, deutsch von August Horneffer,.
geh. 0,50 M.
Die Übersetzungen reihen sich würdig den bisher erschienenen an und werden
sicherlich mit dazu beitragen, auch denen die Kultur des klassischen Altertums,
und die Schönheiten seiner Literatur nahe zu bringen, die die alte Sprache nicht
verstehen. Ich vermisse eine größere Übersichtlichkeit..
*) S. Schwartz, Zeitschrift für neutest. Wiss. XI 103 f.
26^
404 D. Mülder, Die Ilias und ihre Quellen,
Gerade bei Herodot ist der Inhalt so mannigfaltig, daß Kapitelangaben und Über-
schriften über den einzelnen Abschnitten die Leser sehr unterstützen würden;
aus demselben Grunde wünsche ich bei den Tragödien des Sophokles eine äußere
Hervorhebung der Teile und eine Zählung der Verse.
Mit dem kurzen Vorwort zu Demosthenes' Olynthischen Reden bin ich nicht
leinverstanden. August Horneffer sagt: „Die staatliche Selbständigkeit war auf
die Dauer doch nicht zu behaupten; sie mußte preisgegeben werden, um Größeres,
die geistige Kultur, zu erhalten. Hellas mußte sich die politischen Ideale aus dem
Sinne schlagen; nur so konnte es die große Aufgabe erfüllen, die ihm in der Folge-
zeit zufiel und an deren Erfüllung die Denkmäler griechischen Geistes bis zum
heutigen Tage arbeiten, die Aufgabe nämlich, die hellenische Kultur in die ganze
Welt zu tragen und alle Völker mit hellenischem Geiste zu durchdringen und zu
adeln . . . Wir können Demosthenes den Vorwurf nicht ersparen, daß er die Zeichen
seiner Zeit nicht verstanden hat.** Das heißt doch, sein Urteil gar zu sehr ex eventu
bilden.
Düsseldorf. Heinrich Wolf.
Mülder, Dietrich, Die Ilias und ihre Quellen. Berlin 1910. Weid-
mannsche Buchhandlung. X u. 372 S. 8«. 10 M.
Nachdem die Versuche, durch genaue Untersuchung der Sprache und der Sagen
oder aus vorgefaßten Meinungen der allgemeinen Poetik etwas Näheres über die
Entstehung der Homerischen Gedichte zu erfahren, nur zu einer fast chaotisch
widerspruchsvollen Masse von unerweislichen Vermutungen in der „Homerischen
Frage" geführt haben, schlägt Mülder einen neuen Weg ein, indem er die Ilias
auf das eigentliche dichterische Schaffen hin untersucht. Wie in der Emilia Ga-
lotti Lessing Emilia selbst auf die Erzählung von der Virginia, die ihm das Motiv
liefert, hinweisen läßt, wie Goethe den Götz seine Lebensbeschreibung, die ihm
als Quelle dient, im Drama selbst schreiben läßt, so gibt es auch, sagt Mülder,
bei Homer solche „Quellenzitate**, deren Beachtung uns eine Reihe wichtiger
Schlüsse an die Hand gibt.
Die ersten Verse der Ilias deuten sehr kräftig auf den Zorn des Achill und den
Ratschluß des Zeus als die das Ganze beherrschende, ,, stoffordnende*' Idee. Sie
stammt aber aus einem Meleagerepos, das die Belagerung Kalydons und den Zorn
des stärksten Helden, mehrere Bittgesandtschaften an ihn und seine schließliche
Erweichung behandelt haben muß. Wenn Phoenix den Achill auf das Beispiel
Meleagers hinweist, so haben wir hier eines jener Quellenzitate, in denen der Dichter
Licht auf seine Vorgänger wirft. Freilich, Meleager muß in der eingeschlossenen
Stadt bei den belagerten Seinen, mit denen er hadert, bleiben, während man bei
Achill seine schleunige Abfahrt aus dem Kriegslager erwarten würde. In der Tat
droht er sehr lebhaft damit, und, daß er bleibt, macht nur der Ratschluß des Zeus
verständlich, auf den der Leser oder Hörer daher bereits im Eingange so nach-
drücklich hingewiesen wird.
Durch das Zornmotiv werden nun zwei Stoffgruppen, die innerlich nichts
miteinander zu tun haben, zusammengebracht, die Kriegstaten des Achill und seiner
Achaeer gegen die Küstenbewohner Thraziens und Asiens, und die Belagerung
angez. von W. Prellwitz. 405
einer Stadt, wobei aber der Hörer mit seiner Teilnahme mehr auf Seiten der Be-
lagerten als der belagernden Argiver steht. Die Frauen erflehen die Rettung der
Stadt von der Stadtgöttin Athene, kein Zweifel, sagt Mülder, daß wir es eigentlich
mit einer griechischen Stadt zu tun haben. Nur durch die Machtvollkommenheit
des Dichters, der ganz Griechenland im Kampf gegen Barbaren Asiens zeigen
will, wird sie nach Asien versetzt und von Dardanern, Troern, Paeoniern, Thra-
kern und Lykiern, den Gegnern des Achill, die dasselbe Machtgebot hier vereint,
verteidigt. Eigentlich aber liegt eine Belagerung Thebens durch die Sieben vor,
statt deren hier nur eine jüngere Generation mit mancherlei wunderlicher Per-
sonenverschmelzung auftritt. Der Glaube der späteren Geschichtsschreibung
an die Geschichtlichkeit jenes poetischen Zuges gegen Ilios ist viel naiver als die
nur angeblich „naive Volksdichtung" der Ilias selbst.
Dagegen in den Kriegstaten des Achill einen sagenhaften Niederschlag der
achaeischen Eroberungszüge gegen die Küsten zu finden, an denen später die
durch ihren Dialekt mit Thessalien als engst verwandt erwiesenen Aeoler
sitzen, das erscheint jetzt um so berechtigter. Der Dichter selbst aber konnte
solch einen prosaischen Grund zum Kriege nicht brauchen, er führt daher den
Raub der Helena ein, nach dem Muster der Entführung einer Jungfrau von Sparta
nach Troezen (wie Mülder meint), und der Kampf ihrer Bewerber wird zum Zwei-
kampf des Menelaos und des Paris umgestaltet. Daß Doppelnamen wie Alexandros-
Paris, Skamandros-Xanthos sich bei dieser Entstehung der Dichtung leicht ver-
stehen lassen, daß man jetzt leicht begreift, warum ein Teil der Bewohner von
Ilios griechische, ein anderer dagegen echte, ungriechische Namen trägt, empfiehlt
diese neue Theorie. Wir machen uns also auch mit der Annahme vertraut, daß
für den Fall des Patroklos der Tod des Achilleus selbst die Vorlage war, und daß
im 23. Buche der Held gewissermaßen seine eigenen Leichenspiele leitet.
Nicht Heldenpreis ist die Absicht der Dichtung, sondern starke Wirkung
fast dramatisch belebter Szenen auf das Gefühl und die Einbildungskraft der
Hörer. Wo nun bei der Vereinigung so verschiedener Dichtungen (wir glauben
jetzt das Wort Rhapsode erst recht zu verstehen) die Phantasie und Kunst des
Dichters, die bei der Umformung, Umbiegung, Richtung, Beleuchtung und Färbung
der übernommenen und oft nicht zusammenstimmenden Dichtungselemente eine
ungeheure Arbeit zu leisten hat, vor einer inneren oder äußerlichen Unmöglichkeit
steht, da tritt der Wille einer Gottheit als Hilfsmittel auf. Eigentlich hätten wir
anderes erwartet, aber ein Gott fügte es so, heißt es dann. Die Vorlage für dies
Göttertheater bot nach Mülder eine Heraklesdichtung mit parodistischem Tone.
Ein Quellenzitat aus ihr (0 24 — 30) berichtet, wie Zeus und Hera um Herakles
streiten und Hera den Vater der Götter und Menschen überlistet (vgl. A. 590 — ^594).
Ohne Zweifel sind wir Mülder für seine Kritik großen Dank schuldig und auch
der Dichter verliert nichts, wenn wir uns vorstellen, daß seine Phantasie allein diesen
ersten Kampf aller Griechen gegen Asien veranstaltet, um uns das menschliche Herz
recht kennen zu lehren und uns selbst seine Regungen auf das lebhafteste emp-
finden zu lassen. Tatsächlich wird uns die Persönlichkeit und ihr Schaffen jetzt
erst vorstellbar, und je mehr wir uns dieser Art der Betrachtung hingeben, um so
fruchtbarer dürfte sie werden.
406 F. Glauning, Didaktik und Methodik des englischen Unterrichts,
Im einzelnen freilich bedarf die anregende Arbeit gründlicher Nachprüfung.
Namentlich die Ansicht über den verhältnismäßig jungen Zeitpunkt der Ent-
stehung der Ilias — Schluß des 7. Jahrhunderts, die ionische Elegie sei älter und ent-
lehne nicht aus Homer, sondern liefere umgekehrt ihm Motive — erscheint recht
bedenklich. Im Gegensatz gegen die früheren romantischen Anschauungen von
einem vollkommenen, uralten Volksepos will sich der Verfasser auf den Boden rein
sachlicher Betrachtung der Technik des Dichters stellen, kein Wunder, daß sie uns
manchmal hausbacken anmutet, zuweilen auch spitzfindig. Sicherlich kann z. B.
bei Homer Ijxt] yjvuc ebenso gut „eins meiner Schiffe" wie „mein Schiff" heißen
(S. 316), und daß iSpuvOvjoav (H 56) ein „schillernder" Ausdruck sei, nachdem
schon vorher Helenos xocöioov gebraucht hat, kann ich nicht zugeben (S. 37).
Bei der Besprechung dieser Stelle scheint mir mancherlei verkannt zu sein. Etwa
wie bei uns auf das Signal „Halt" die Infanterie die Gewehre zusammensetzt und
jeder Mann sich hinlegt und den Kopf auf seinen Tornister lagert — so hat das
„Halt" der Führer bei der Schwere und Unhandlichkeit des mykenischen Schildes
sogleich zur Folge, daß alles seinen Hals dieser drückenden Bürde entledigt und
sich setzt, vielleicht eben auf den Schild.
Den Kommentar zur Ilias, den uns der Verfasser verheißt, erwarten wir jeden-
falls mit großer Spannung. Er wird hoffentlich aber auch das Sachliche und Sprach-
liche zu seinem Rechte kommen lassen.
Rastenburg i. Ostpr. W. P r e 1 1 w i t z.
Glauning, Friedrich, Didaktik und Methodik des englischen
Unterrichts. Band III, zweite Abteilung, zweite Hälfte des Handbuchs
der Erziehungs- und Unterrichtslehre, herausgegeben von A. Baumeister. 3. Auf-
lage. München 1910. C. H. Beck. 116 S. 3 M. geb. 4 M.
Auch in der nunmehr vorliegenden 3. Auflage ist Glaunings englische Didaktik
ein Buch, das gut und nützlich zu lesen, aber doch anderen Schriften ähnlicher Rich-
tung nicht gleich zu achten ist. Vor allem hält es einem Vergleich mit Münchs franzö-
sischer Didaktik nicht mehr stand, seit dieser in der 3. Auflage wiederum eine Fülle
neuer Anregungen dargeboten und die neuesten Strömungen auf dem Gebiete
des neusprachlichen Unterrichts verfolgt hat. Wer Münchs Didaktik kennt,
vermißt bei Glauning sehr viel, und wer sie nicht kennt, lernt bei Glauning nicht
genug. Und doch ist dieser Mangel ein Vorzug, solange man das Buch in der Haupt-
sache nur als eine erste Einführung in die Methode des neusprachlichen Unterrichts
betrachten will, in welchem der Anfänger im Lehramt die Aufgaben, die ihm bei
der Übernahme des englischen Unterrichts gestellt werden und die überhaupt
jeder neusprachliche Unterricht jetzt zu erfüllen hat, kennen lernen und über-
schauen soll; weswegen man auch in der neusprachlichen Abteilung der pädago-
gischen Seminare öfter mit Glauning als mit Münch beginnen sollte. Denn in vielen
Punkten mutet das Buch geradezu wie eine allgemeine Didaktik an, die ihre Bei-
spiele zur Erhärtung der gewonnenen Grundsätze vorwiegend dem englischen Unter-
richt entnimmt*) und niemals die höheren Ziele der Schule aus dem Auge läßt
*) Dafür nur ein Beispiel von den vielen, die in allen Kapiteln reichlich zu finden
sind: Formale Bildung: „Die Schule hat nicht nur zu lehren, sondern auch lehrend
angez. von A. Rohs. 407
und alle zu ihnen führenden Wege zu würdigen weiß. Mag nun ein solches Verfahren
für den Anfänger außerordentlich anregend und lehrreich sein, so wollen doch die
einzelnen Teile des Baumeisterschen Handbuchs mehr bieten als bloße Einfüh-
rungen in die verschiedenen Disziplinen. Darum hatte man — zumal unter dem
starken Eindruck des München Buches — jetzt (nach sieben Jahren) doch mehr
als eine bloße Durchsicht der zweiten Auflage erwartet, um so mehr, als beideSchriften
ganz unabhängig voneinander entstanden sind und also auch jede für sich beurteilt
werden darf. Eigentlich neu sind aber nur: einige Gedanken über den kleinen
Raum, den das Sprechen einer fremden Sprache im Klassenunterricht gegenüber
den vielen anderen Betätigungen und Fächern einnehmen kann; ein Aufruf zur
Einigung zwischen den großen Verlagsfirmen und den neuphilologischen Vereinen
zwecks einheitlicher Regelung der Aussprachebezeichnung; eine Warnung vor allzu
weitgehender Berücksichtigung der Realien und vor der Vernachlässigung der
Übersetzung in das Deutsche, wenn es gilt, den Tiefgang des Unterrichts zu wahren;
die These Steinmüllers (1908) über die Beschränkung des Hinübersetzens und eine
Bemerkung Koschwitzs zugunsten desselben; eine etwas ausführlichere Verteidigung
der Sprechübungen als Mittel zur Sprachaneignung und geistigen Schulung, unter
Anlehnung an Sallwürk und Walther (wobei doch auch Münchs Aufsatz vom
Sprechen fremder Sprachen hätte berücksichtigt werden können); eine Recht-
fertigung der beibehaltenen äußeren Anordnung des Stoffes gegenüber einem
Wunsche Borbeins (Neuere Sprachen VII, Heft 7, 424 ff.); eine Ergänzung des
bibliographischen Anhanges. Das Buch ist dadurch von 110 auf 116 Seiten ange-
wachsen. Von dem aber, was wir in der neuen Auflage vermissen, mögen wenigstens
einige Punkte hier angeführt werden: In dem Kapitel über Aussprachebezeichnung
mußte zu der Transkription des neuen Thieme-Kellnerschen Wörterbuches, die
geeignet ist, neue Verwirrung anzustiften, sowie zu derjenigen der weitverbreiteten
Lehrbücher von Dubislav-Boek und Hausknecht Stellung genommen werden, und
zwei böse Fehler {work bei Sweet weekW und bei Schröer w^rkll) waren zu besei-
tigen. In dem Kapitel „Auswahl der Lektüre mit Rücksicht auf den Inhalt" fehlen
Hinweise auf bedeutsame Neuausgaben, z. B. die Ruskin-, Carlyle- und Rooseveldt-
Bändchen und — besonders befremdlich — eine Stellungnahme zu den Ruskaschen
Bestrebungen, in den Oberklassen der Realanstalten philosophische Lektüre zum
festen Bestandteil des Lektürekanons zu machen. Neben der von Landmann
bearbeiteten Nummer der Times mußte unbedingt jetzt Hamiltons Newspaper
Reader genannt werden. Auch die Wirkung einer Vertauschung der neusprachlichen
Fächer auf der Oberstufe des Gymnasiums (und die neuen Verfügungen über den
englischen Unterricht in Preußen) wären der Erörterung wert gewesen. Vor allem
aber befremdet uns die sehr eilige Erledigung der wichtigen Lesebuchfrage. Die
zu erziehen. Sie hat die doppelte Aufgabe, den Geist und das Gemüt zu bilden. Zur
Lösung derselben können und sollen alle Lehrgegenstände beitragen, so verschieden
auch die Gebiete sein mögen, auf denen sie sich bewegen. Der Bildung des Geistes
und Gemütes hat daher auch der Unterricht in der englischen Sprache zu dienen".
Es folgt eine Seite (4) Text über sprachlich-logische Schulung, in der Hauptsache im
Anschluß an Bemerkungen der Lehrpläne, bis dann endlich S. 5 die Frage aufgeworfen
wird, „ob nicht auch der englische Unterricht eine grammatische Schulung gewähren
kann."
408 H. Adolph, Erinnerungen usw., angez. von A. Heußner.
Entwicklung der Anschauungen scheint doch immer mehr gegen ein Lesebuch
mit vorwiegend sachlichem Inhalt (das Realienbuch) zu sprechen, vielmehr die
literarischen Zwecke als die höchsten anzuerkennnen. Jedenfalls darf die Beschäfti-
gung mit den Realien nicht ,, gedächtnismäßig rezeptiv" werden, sie darf nicht
die Einführung in das Denken, Fühlen und Wollen des fremden Volkes zurück-
drängen, noch der Betrachtung der literarischen Entwicklung Luft und Licht nehmen.
Hausknecht betont ausdrücklich in der Vorrede zu seinen 1911 erschienenen Xhoice
Passages\ daß das Lesebuch neben der sogenannten Schriftstellerlektüre auch die
Bruchstücke in den Rahmen des literar-historischen Zusammenhangs einstellen
müsse, daß es zu einer Höherlegung des Bildungsniveaus beitragen und an ästhe-
tische Betrachtungen gewöhnen, daß es zu einem Einblick in die verschieden-
artigen, die englisch-amerikanische Kulturwelt bewegenden Fragen und zu Ver-
gleichen zwischen dem Fremden und Heimatlichen anleiten soll. Kann man aber
im Ernst wünschen, daß ein Lesebuch mit rein sachlichem Inhalt, Gegenständen
der Wissenschaft und Technik, nun auch noch einen poetischen Teil, eine Gedicht-
sammlung enthalten soll? Der Verfasser hätte dankbare Leser gefunden, wenn
er bei dieser Gelegenheit auf Foersters Neubearbeitung des alten „Herrig", auf
Sängers *Humanists\ auf Aronsteins 'Selections' — um nur diese zu nennen —
eingegangen wäre und sich dann auch über die Frage der literarhistorischen Orien-
tierung und Unterweisung geäußert hätte. Er hätte überhaupt nicht an den Arbeiten
Hausknechts, Thiergens, Borbeins, Buddes vorbeigehen dürfen; denn diese haben
in den letzten Jahren zur Hebung und Vertiefung auch des englischen Unterrichts
wertvolle Beiträge geliefert. Und schon werden wir neuerdings vor di« inhalts-
schwere Frage gestellt, ob wir nicht in Zukunft der englischen Sprache, Kultur
und Geisteswelt den Vorrang vor dem Französischen werden einräumen müssen,
wenn wir gerade durch das Englische eine im tiefsten Sinne ,, humanistische"
Bildung" erreichen wollen 5 weswegen ein Ausblick nach dieser Richtung hin er-
wünscht gewesen wäre. Jedenfalls hätten wir alle in dieser Frage gern die ruhig
abwägende und darum gewichtige Meinung des Verfassers der englischen Didaktik
vernommen. Denn trotz der Ausstellungen an seinem Buche, die nur als der Aus-
druck einer gewissen Enttäuschung oder eines leichten Unmuts darüber, daß es
inhaltlich nicht weiter geführt worden ist, verstanden sein möchten, schätzen
wir alle die gediegene und praktisch angelegte Arbeit, in der in allen schweben-
den Grundfragen des englischen (und neusprachlichen) Unterrichts die richtige
Mittellinie gefunden ist, als ein Glaubensbekenntnis der gemäßigten Reform hoch
ein und holen wir uns immer wieder gern seinen guten Rat. Wer sich im übrigen
noch über den — wie gesagt — unveränderten Standpunkt des Buches unterrichten
lassen möchte, darf wohl auf die Anzeige F. Tenderings auf Seite 210 des
vierten Jahrgangs dieser Monatschrift und auf Borbeins sehr gründliche Besprechung
der 2. Auflage a. a. 0. verwiesen werden.
Crefeld. A 1 f r e d R 0 h s.
Adolph, Heinrich, Erinnerungen eines niedersächsischen
Geistlichen. Bielefeld und Leipzig 1907. Velhagen und Klasing.
VIII u. 296 S. 3 M., geb. 4 M.
Anspruchslose, aber ansprechende Plaudereien aus dem Vaterhause des Ver-
H. Bluth, Wandervögel, angez. von M. Heckhofi. 409
fassers in Nordstemmen und Heiligenfelde, vom Gymnasium in Hildesheim, der
Universität in Göttingen, der Kandidatenzeit in Loccum, vom eignen Heim und
den Kriegslazaretten im letzten großen Kampf. Die gesunde Lebensauffassung,
die warme Begeisterung für die Schule, ihre Studien und seine Lehrer, sowie die
trefflichen Winke über die sittliche Reinhaltung der Jünglingszeit haben dem
Buche in der Provinz Hannover und den angrenzenden Nachbarländern überall
einen Platz in den Schülerbibliotheken gewonnen. Es verdient jedoch über die
engere Heimat hinaus Beachtung. Das eigentliche Lokalkolorit tritt ganz zurück.
Was hier zur Sprache kommt, bewegt ein Knabenherz am Rhein wie in Ostpreußen
ebenso wie in der Lüneburger Heide. Die Erfahrung hat gezeigt, daß der frische Ton
der oft humoristisch gefärbten und von mancher liebenswürdigen Anekdote durch-
zogenen Darstellung das Interesse unserer heranwachsenden Jugend zu wecken
und zu fesseln versteht.
Cassel. Alfred Heußner.
Bluth, H., Wandervögel. Bilder und Gedanken aus Amerika und China.
Beriin 1910. Wilhelm Weicher. 167 S. mit 6 Abb. 8». geh. 2 M., vornehm geb.
2,80 M.
Der Verfasser hat mehrere Jahre seines Lebens als Erzieher in Florida, „dem
Lande der Blumen und Früchte'*, zugebracht und später als evangelischer Feld-
geistlicher an dem Kriegszug in China teilgenommen. In diesen Wanderjahren hat
er gut beobachtet und seine Eindrücke in anspruchslosen, aber flott und nicht ohne
Humor gezeichneten Bildern niedergelegt. Vielleicht wird ein oder der andere
Abschnitt weniger interessieren, dafür sind die anderen von um so größerem Reiz.
Mir hat der letzte Abschnitt : „Aus buddhistischen Klöstern" mit seiner lebensvollen
Schilderung des Buddhismus besonders gefallen. — Reifere Schüler wird das Büch-
lein unterhalten und belehren.
Göttingen. M. Heckhoff.
Neuendorff, R., PraktischeMathematik. I. Teil. Graphisches und nume-
risches Rechnen. Leipzig 1911. B. G. Teubner. (Aus Natur und Geisteswelt.
341. Bd.) VI u. 105 S. Mit 69 Fig. u. 1 Taf. geb. 1,25 M.
Das handliche Bändchen hat sich die dankbare Aufgabe gestellt,
dem Laien eine Vorstellung davon zu geben, welche Bedeutung die als abstrakt
und weltfremd vielfach mißachtete Mathematik für das praktische Leben besitzt.
Insofern kommt es auch den Meraner Reformvorschlägen für den mathematischen
Unterricht entgegen, als auch diese ja unter Verzicht auf praktisch wertlose Spezial-
kenntnisse die Fähigkeit für die mathematische Auffassung in den menschlichen
Lebensverhältnissen wecken und kräftigen wollen. Dem Unterricht wird es daher
wertvolle Fingerzeige geben können. Wenn es auch für den Lehrer nicht ausreicht,
so wird es doch in der Hand des Schülers anregend wirken und kann daher für
Schülerbibliotheken bestens empfohlen werden. Das erste Bändchen erläutert
die Methoden der graphischen Darstellungen, einschließlich der Rechentafeln,
behandelt die Flächenmessungen bis zur Trapezregel und Simpsonschen Regel,
410 P. Treutlein, Der geometrische Anschauungsunterricht usw.,
die Anwendungen der verschiedenen Planimeter, sowie die Körpermessung.
Aus der Arithmetik entnommen sind die Abschnitte über das verkürzte Rechnen,
das Rechnen mit Tabellen und die mechanischen Rechenhilfsmittel, wie wir sie
in den graphischen Logarithmentafeln, den Rechenschiebern und den Rechen-
maschinen kennen.
Treutlein, P., Der geometrische Anschauungsunterricht als
Unterstufe eines zweistufigen geometrischen Unterrichtes an unseren höheren
Schulen. Mit einem Einführungswort von F. Klein und mit 38 Tafeln und 87 Ab-
bildungen im Text. Leipzig und Berlin 1911. B. G. Teubner. X u. 216 S. 8«.
geh. 5 M., geb. 5,60 M.
Ein Hauptverdienst der in hohem Maße beachtenswerten Arbeit unseres
Altmeisters im mathematischen Unterricht ist meines Erachtens darin zu erblicken,
daß sie herz- und kernhaft die beiden Schäden bloßlegt, die dem geometrischen
Unterricht an den höheren Schulen immer noch anhaften: das starre Beibehalten
der Euklidischen Stoffanordnung, die ohne Rücksichtnahme auf die geistigen
Bedürfnisse der Schüler und auf die praktischen Anforderungen des Lebens den
logisch-systematischen Faden sieben Jahre lang ohne Unterbrechung weiterspinnt,
und ferner die unverantwortliche Zurückstellung der Raumgeometrie hinter die
völlig erledigte ebene Geometrie, wodurch es kommt, daß unsere Schüler bis
zur Prima gelangen oder gar nach Abschluß der Sekunda ins Leben treten ohne auch
nur die einfachsten Körper und die Berechnung ihrer Oberflächen und Inhalte
kennen gelernt zu haben. Diesen unverkennbaren Mißständen sucht Treutlein da-
durch abzuhelfen, daß er den Geometrieunterricht in eine Unterstufe und eine
Oberstufe trennt. Die Unterstufe, für die er im Gegensatz zu anderen Verfechtern
einer propädeutischen Geometrie einen längeren Kursus, etwa 214 — 3 Jahre be-
ansprucht, soll ein ,, geometrischer Anschauungsunterricht" sein, der sich an die
Betrachtung und Beobachtung von einfachen Körpern (Würfel, Quader, Zylinder,
Kugel, Pyramide, Kegel) anlehnt, daraus die verschiedenen geometrischen Gebilde
ableitet, umformt oder neu gestaltet. Bei dem reichlichen Zeitausmaß kann Treut-
lein gerade so wie Holzmüller in seiner „Vorbereitenden Einführung in die Raum-
lehre" recht weit in die Geometrie eindringen, nicht nur ebene und körperiiche
Gebilde beschreiben, sondern auch Rauminhalte der Körperformen, Flächeninhalte
der ebenen Figuren bestimmen, Figuren ineinander verwandeln, den pytha-
goreischen Lehrsatz aus dem Satze von den Ergänzungsparallelogrammen ab-
leiten und die gewonnenen Sätze in praktischen Aufgaben vielfach anwenden.
Ganz meisterhaft versteht es der Verfasser, und darin kann er uns unbedingt ein
nachahmenswertes Vorbild sein, die innere Raumvorstellung und Anschauung
zu pflegen durch Vorführung stofflicher Dinge, die von dem Schüler in die Hand
genommen, betastet werden, und in ihrer Mannigfaltigkeit in Größe und Stoff
die Form als die Hauptsache hervortreten lassen. Ebenso trefflich versteht er
es, die Figuren durch Zeichnen, Falten und Ausschneiden nachbilden zu lassen,
sie zusammenzulegen, zu zerlegen und umzuformen und schließlich die Größen-
verhältnisse schätzen und messen zu lassen. Ganz von selbst schieben sich in ein
solch anschauendes Betrachten und Nachbilden der geometrischen Gestalten
angez. von J. Norrenberg. 411
Fragen nach dem „Warum** gewisser Erscheinungen und Gesetze ein, und so führt
der Anschauungsunterricht ganz allmählich auch zum beweisenden Begründen
des Erkannten hin und verschafft langsam und unmerklich eine Vorstellung von der
Notwendigkeit und Nützlichkeit der mathematischen Deduktion, ein Ziel, das ja
auch Börner in seinem „Lehrbuche zur Einführung in die Geometrie" vorschwebte.
Erst dem Oberkursus behält Treutlein die Aufgabe vor, das Lehrgebäude der
elementaren Geometrie als logisch-systematischen Aufbau einer deduktiven Wissen-
schaft aufzurichten. Doch soll auch hier die Betrachtung körperlicher Gebilde
stets in die Entwicklung eingeflochten, also die auch von Brettschneider und anderen
empfohlene Fusion von ebener und räumlicher Geometrie beibehalten werden,
wenigstens insoweit, als Auge und Sinn des Schülers bei planimetrischen Unter-
suchungen immer wieder auf die Raumgestalten hingelenkt werden sollen.
Den Einzelausführungen des Unterrichtsganges seines geometrischen An-
schauungsunterrichts, wie ihn der Verfasser selbst wiederholt durchgeführt hat,
ist eine ausführliche geschichtliche und sachliche Begründung vorangeschickt.
Für die Notwendigkeit eines ausgedehnteren propädeutischen Kursus scheint ja
vor allem zu sprechen, daß ein erfolgreicher Unterricht nur auf sinnlichen Vor-
stellungen aufbauen kann, daß dem streng logischen Aufbau eine durch die Sinne
vermittelte reichliche Wahrnehmung von Außenweltdingen und ihrer Veränderungen
vorausgehen muß, und in dieser starken Betonung der Ausbildung und Stärkung
des räumlichen Anschauungsvermögens begegnet sich Treutlein mit den Meraner
Vorschlägen, gegen deren Art der Einführung in die Geometrie er im übrigen eine
Reihe von Einwendungen erhebt. Namentlich vermißt er in den Meraner Plänen
die Betonung der Selbstbetätigung der Schüler durch Ausschneiden und Modellieren
der Figuren. Denn gerade auch in der Weckung des Selbstvertrauens und des Selbst-
bewußtseins bei einer nach und nach sich entwickelnden Selbständigkeit, wie sie neben
der Sprechfertigkeit auch die Handfertigkeit mit sich bringt, sieht er die Bedeutung
des Anschauungsunterrichts, den auch schon die Rücksicht auf das praktisch-
tätige Leben und auf die Verwendbarkeit geometrischen Wissens und Könnens
außerhalb der Schule und nach Abschluß der Schulzeit mit zwingender Notwendig-
keit fordert.
Der überzeugenden Macht der von Treutlein beigebrachten Gründe wird sich
niemand entziehen können. Nur scheinen sie mir wohl für die neuerdings immer
dringender werdende Forderung einer Fusion ebener und körperlicher Geometrie
wie auch für eine bessere Pflege der Raumanschauung und für ein auf Schätzen,
Messen und Nachbilden sich gründendes genetisches Unterrichtsverfahren zu
sprechen, keineswegs aber für eine Zweistufigkeit des geometrischen Unterrichts
und für die Einführung eines mehrjährigen propädeutischen Einführungskursus
irgendwie bindend zu sein. Alle die von dem Verfasser angestellten Erwägungen weisen
viel mehr darauf hin, auf a 1 1 e n Klassenstufen, im Anfangsunterricht, aber auch
nicht minder auf vorgeschritteneren Stufen alle mathematische Erkenntnis von der
Anschauung ausgehen zu lassen, die anschaulich und später mehr und mehr auch
logisch erfaßten Wahrheiten durch messende Bearbeitung zum vollen geistigen
Eigentum werden zu lassen und ihre Bedeutung für die Wirklichkeit zum Bewußtsein
zu bringen. Gerade bei dem Lehrstoffe, der nach Treutlein der Oberstufe vor-
412 Der Mensch aller Zeiten, angez. von J. Norrenberg.
behalten bleiben soll, ich erinnere an die Proportionalität an Strahlen, ist es be-
sonders wichtig, die Erkenntnis der geometrischen Wahrheiten anschaulich vor-
zubereiten, die Gesetzmäßigkeiten durch Zeichnen, Messen und Schätzen zu er-
fassen, sie dann erst deduktiv zu ermitteln, nicht nur in der Ebene, sondern auch
im Räume ihren Geltungsbereich zu erweisen und ihre praktische Verwendbarkeit
und ihre sich überall aufdrängende Bedeutung für das Leben aufzuzeigen. Und
hauptsächlich auf der Oberstufe läßt man meiner Beobachtung nach es allzu leicht
gerade hieran fehlen, beschränkt sich auf begriffliche Entwicklung und bleibt da
stehen, wo der verarbeitende Unterricht erst anfangen sollte. Die Befürchtung
liegt nahe, daß durch eine Zweistufigkeit, eine Gegenüberstellung von „Anschauungs-
unterricht" und deduktivem Aufbau, dieses Übel noch gesteigert, und daß die
anschauliche Unterrichtsweise wie auch die Pflege der Raumanschauung auf der
Oberstufe noch mehr zurückgedrängt wird.
In Preußen haben wir bereits einen Anschauungsunterricht, wenn auch wegen
seiner kürzeren Dauer nicht im Sinne des Verfassers. Aber auch bei uns soll der
geometrische Unterricht mit einem Vorbereitungsunterricht beginnen, der von der
Betrachtung einzelner Körper ausgehend, das Anschauungsvermögen bildet und
zugleich Gelegenheit gibt, die Schüler im Gebrauch von Zirkel und Lineal zu üben.
Beschränkt man sich in Quarta auf die Lehre vom Dreieck unter Zurückschiebung
der Parallelensätze nach Untertertia, so scheint mir für eine Anschauungsgeometrie
nach Art derjenigenTreutleins auch ohne Zweistufigkeit des Lehrganges ausreichend
Zeit vorhanden zu sein. Auf Verzierungsübungen, so wie sie der Verfasser vorschlägt^
wird man allerdings verzichten müssen.
Aber welche Stellung man auch in der Frage des propädeutischen Unterrichts
einnehmen mag, und die Ansichten gehen ja bekanntlich hier weit auseinander^
man wird dem Verfasser für seine vortreffliche Methodik des Anfangsunterrichts
auf alle Fälle dankbar sein müssen und nur wünschen können, daß seine Ratschläge
überall Gehör finden und den Unterricht auf allen Stufen nachhaltig beein-
flussen.
Der Mensch aller Zeiten von H. Ober maier, F. Birkner, PP. W.
Schmidt, F. Hester mann, Th. Stratmann S.V.D. 3 Bände, gr. 8^
Berlin, Allgemeine Verlags- Gesellschaft. 40 Lieferungen ä 1 M.
Die Verlagshandlung ist eifrig bemüht, auf den Hauptwissensgebieten große
volkstümliche Werke zu schaffen, die in großzügiger Darstellung einen tieferen,
dem jeweiligen Stande der wissenschaftlichen Forschung entsprechenden Einblick
gestatten, nach Form und Inhalt auch wohl so gehalten sind, daß sie der Jugend
unbedenklich in die Hand gegeben werden können. Widmanns Illustrierter Welt-^
geschichte, Plaßmanns Himmel und Erde, die beide bereits vollständig vorliegen.
Salzers Deutscher Literaturgeschichte und Neuwirths Illustrierter Kunstgeschichte,
die noch im Erscheinen begriffen sind, fügt sie nun ein neues umfassendes Werk
hinzu, das die Natur und Kultur der Völker aller Zeiten und Erdteile zur Darstellung
in Wort und Bild bringen soll. Von dem ersten Bande, der den Menschen der Vorzeit
behandelt, liegen eine Anzahl Lieferungen vor, die den Verfasser, den Professor
am Institut für menschliche Urgeschichte in Paris H. Obermeier als vorurteilslosen
R. Arendt, Technik der anorganischen Experimentalchemie, angez. von W. Bresiich. 413
und fesselnden Darsteller paläontologischer Fragen erkennen lassen. Das unab-
hängige und zuverlässige Urteil des Verfassers tritt schon in der allgemeinen Ein-
leitung hervor, in der er die aus Wahrheit und Dichtung, aus richtiger Ahnung
und naivem Irrtum gemischten Kosmologien des Altertums, vom erwachenden
wissenschaftlichen Geiste getragenen Vorstellungen des Mittelalters und der Renais-
sance, die aber unter dem unmittelbaren Einfluß des biblischen Schöpfungs-
berichtes stehend Pflanzen, Tiere und Steine vorab nur als literarische Objekte
betrachten, schildert und dann auch über die immer sicherer sich ausbauenden
Vorstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts von der menschlichen Urgeschichte
einen kurzen Überblick entwirft. Da das erste Auftreten des Menschen nach Ansicht
des Verfassers nicht im Tertiär, sondern erst in der Eiszeit nachweisbar ist, so lag
es ganz im Plane des Werkes von dieser geologischen Periode eine eingehende
Vorstellung zu geben. Auch hier, auf seinem eigentlichen Forschungsgebiete,
erfreut der Verfasser wieder durch die fesselnde Darstellung und die Gründlichkeit
seiner Ausführungen. Die Zahl der Eiszeiten, die Verbreitung auf den verschiedenen
Kontinenten, die geologischen Begleiterscheinungen wie auch die verschiedenen
astronomischen, physikalischen und geologischen Erklärungsversuche sind klar
auseinandergesetzt bis auf die etwas phantastische Theorie Kreichgauers, wonach
sich im Laufe der Zeiten die Erdrinde über den -um eine feststehende Erdachse
drehenden Erdkern langsam hinübergeschoben haben soll. Die vier Eiszeiten und
drei langdauernde Zwischeneiszeiten erkennen wir dann wieder in der wechselnden
Flora und Fauna, und in der 3. Interglazialzeit tritt nun der Mensch auf, dessen
Umwelt und Leben aus den Schilderungen seiner Spuren uns deutlich entgegen-
tritt. So versprechen die bisher vorliegenden Teile des Werkes eine Anthropologie,
die besonders die Jugend fesseln und im rechten Sinne belehren wird.
Berlin. J. Norrenberg.
Arendt, Rud., Technik der anorganischen Experimental-
chemie, Anleitung zur Ausführung chemischer Experimente. Vierte, um-
gearbeitete und wesentlich vermehrte Auflage von Dr. L. D o e r m e r , Ober-
lehrer an der Oberrealschule vor dem Holstentor in Hamburg. Hamburg und
Leipzig 1910. Verlag von Leopold Voß. VI u. 1012 S. gr. 8°. geh. 24 M.,
geb. 26 M.
Arendts Lehrbuch der anorganischen Chemie, dessen
2. Auflage 1872 erschienen ist, hat mir als Student und junger Lehrer mannig-
fachen Nutzen gewährt, und zwar war es besonders der Reichtum an Versuchen,
der mir eine Fülle von Anregung und Belehrung verschafft hat. Derselbe Ver-
fasser gab bald darauf „eine Technik der Experimentalchemie"
heraus, ein Werk, das, wie schon sein Titel sagt, in noch höherem Grade geeignet
ist, als Berater beim Vorbereiten und Anstellen von chemischen Versuchen zu
dienen. Den gleichen Zweck erfüllt auch Heumanns Anleitung zum
Experimentieren, dessen 1. Auflage 1876 erschien. Das Buch bringt
wie das Arendtsche eine große Auswahl von Vorlesungsversuchen und ist eben-
falls sehr geeignet, dem Experimentierenden, bei dem natürlich einige Fertigkeiten
vorausgesetzt werden, die nötigen Ratschläge zu erteilen. Die mehrfachen Auflagen
414 R. Arendt, Technik der anorganischen Experimentalchemie, angez. von W. Breslich.
beider Werke beweisen, daß sich jedes von ihnen in seiner Eigenart eine Menge
von Freunden erworben hat.
Die vorliegende 4. Auflage des Arendtschen Werkes, dessen Titel in „T e c h-
nik der anorganischen Experimentalchemie" umgeändert
ist, hat in der Neubearbeitung von Dr. L. Doermer noch recht erheblich gewonnen.
Zwar ist die Stoffanordnung dieselbe geblieben, aber es sind doch einzelne Teile
völlig umgearbeitet und andere neu hinzugekommen. Die neue Auflage enthält
11 Bogen mehr als die 3., die Zahl der Abbildungen ist um 197 vermehrt und auf
1075 angewachsen. Neu hinzugekommen sind jedoch weit über 200 Abbildungen,
da noch manche veraltete durch bessere ersetzt worden sind.
Der Herausgeber hat die einschlägige Literatur bis in die neueste Zeit verfolgt
und berücksichtigt. Überall findet man in Fußnoten die Angaben darüber. Daß
auch die Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unterricht, die ja häufig
neue und teilweise recht interessante Versuche bringt, ausgiebig benutzt worden ist,
mag besonders hervorgehoben werden.
Der allgemeine Teil des Werks (S. 1 — 350) liefert durch seine Aus-
führlichkeit und vortreffliche Sachkenntnis nicht nur dem Lehrer der Chemie,
sondern auch dem Architekten, der die Räume für den chemischen Unterricht
an einer höheren Lehranstalt erbauen und einrichten soll, sehr schätzenswertes
Material. Pläne von einigen neueren Unterrichtsanstalten, zahlreiche Zeichnungen,
die ein Bild von allen zu einem modernen Laboratorium gehörenden Einrich-
tungen geben, kurz alles, was an Neuerungen geschaffen ist, wird hier gebracht.
Zu letzteren gehören z. B. der gesamte elektrische Apparat, die Projektionsapparate,
die Rühr- und Schüttelwerke. Ebenso wird das erforderliche Inventar mit allen
Neuerungen ausführlich angegeben und besprochen. Man vergleiche z. B. den
Abschnitt „Lampen und Öfen" (S. 115—141).
Der erste Teil schließt mit sehr beachtenswerten „Vorsichtsmaßregeln**
(S. 347 — 350), auf die der Anfänger ganz besonders aufmerksam gemacht werden
möge. Werden sie von ihm im vollsten Maße berücksichtigt, so wird sich nicht so
leicht ein Unfall ereignen oder ein Versuch mißglücken können.
Der besondere Teil (S. 351— 980) zerfällt in fünf Abschnitte, von
denen jeder wieder aus mehreren Kapiteln bzw. Unterabteilungen und Paragraphen
besteht. Die Anordnung des Stoffes folgt nicht dem Lehrgang, der sich in den mei-
sten Leitfäden und Lehrbüchern zu finden pflegt und im allgemeinen üblich ist.
Für die Technik des Experimentierens ist diese starke Abweichung in der stoff-
lichen Anordnung nur von untergeordneter Bedeutung. Das ausführliche Sach-
register ermöglicht alles, was man sucht, schnell aufzufinden. Außerdem
wird diese Abweichung manchen Lehrer anregen, den Stoff beim Durchnehmen
oder auch bei Wiederholungen anders zu gruppieren, methodischer zu gestalten,
wie das ja nicht nur in den Arendtschen, sondern auch in anderen Lehrbüchern
mehrfach erfolgt ist.
Daß die Zahl der im zweiten Teile geschilderten Versuche ungemein groß ist,
dürfte als besonderer Vorzug des Werkes zu betrachten sein. Es kann somit jeder
Lehrer seine Auswahl treffen und sowohl seiner Individualität Rechnung tragen,
als auch den äußeren Umständen, von denen er abhängig ist, so den Räumen,
0. V. Kirchner, Blumen und Insekten, angez. von J. Norrenberg. 415
Apparaten, Chemikalien und der Zeit, die zur Verfügung steht. Recht zweck-
mäßig sind u. a. Hinweise auf die Kosten, die Experimente verursachen (vgl.
S. 408, die Herstellung von Sauerstoff).
Bei den Fortschritten, die gerade die physikalische Chemie in den letzten
Jahren gemacht hat, war es dringend erforderlich, daß auch sie nicht unberücksichtigt
blieb. Es ist darum ein physikalisch-chemischer Teil (S. 880
bis 980) neu hinzugefügt. In ihm tritt natürlich die Elektrochemie in den Vorder-
grund. Die ausführlichen Angaben über die neueste Literatur (vgl. z. B. Ab-
schnitt 17, Kolloide, S. 977 ff.) sind hier besonders dankenswert. Die Versuche
selbst sind vom Verfasser genau nachgeprüft. Vermißt habe ich die Experimente über
die Flammenfärbungen durch Metallsalze, nur die Mischung von bengalischen
Flammen wird S. 748 erwähnt; ebenso fehlt die Spektralanalyse völlig, während
doch die Prinzipien der Maßanalyse (S. 695) angegeben sind.
Am Schluß des Buches finden sich treffliche Angaben über die Größe der
zusammenzustellenden Apparate, die Standgefäße und Chemikalien, sowie über
das für den Betrieb unbedingt erforderliche (eiserne) Inventar. Diese werden
sicher dem jungen Praktiker, der noch wenig Erfahrung besitzt, sehr gelegen
kommen; ihm kann das gesamte Werk nicht warm genug empfohlen werden. Aber
auch der ältere Lehrer der Chemie wird viel Neues in ihm entdecken, manche wert-
volle Anregung gewinnen; er wird das Buch neben Heumann gern zu Rate ziehen.
Vor allem gehört das Werk zum „eisernen Bestände" der Bibliotheken höherer
Lehranstalten, deshalb dürfte es in keiner solchen fehlen.
Berlin. W. B r e s li c h.
Kirchner, 0. v., Blumen und Insekten. Ihre Anpassungen aneinander
und ihre gegenseitige Abhängigkeit. Mit 159 Abbildungen im Text und 2 Tafeln.
Leipzig und Berlin 1911. B. G. Teubner. V u. 436 S. 6,60 M., geb. 7,50 M.
Wenn aus dem großen Bereiche der anmutigsten aller Wissenschaften, der
Botanik, ein Kapitel bei Laien und Forschern von vornherein auf ganz besonderes
Interesse rechnen darf, so sind es die Blütengeheimnisse, die staunenswerten Ein-
richtungen, die sich bei den Blumen zur Ermöglichung der Befruchtung heraus-
gebildet haben, die innigen Wechselbeziehungen, die zwischen Blumen und Insekten
bestehen, die Verschiedenheiten der in der Blüte vereinigten Organe, die die In-
sekten anlocken, ihnen Trank und Speise bieten, um sie für ihre eigenen Zwecke,,
für die wichtigen Vorgänge der Fortpflanzung dienstbar zu machen. Die große
Zahl der Schriften, die gerade über diesen Gegenstand in dem letzten Jahrzehnte
erschienen sind, hat O. v. Kirchner nun noch um eine vermehrt, doch man kann
wohl sagen, in glücklicher Weise, da sein Werk unter den vielen den gleichen Gegen-
stand behandelnden Arbeiten doch eine besondere Stellung einnimmt und somit
seine Daseinsberechtigung beweist. Kirchner bietet hier ein im besten Sinne volks-
tümliches Werk, das in verständlicher Sprache den Stoff doch in wissenschaft-
licher Strenge behandelt. Vollständigkeit, Gründlichkeit, Ausgehen von eigenen,
leicht zu wiederholenden Versuchen und Beobachtungen, das waren die Gesichts-
punkte, die dem Verfasser für die Auswahl und Darstellung offenbar maßgebend
waren. In einigen einleitenden Kapiteln bespricht er daher auch zunächst aus-
416 F. Dahl, Anleitung zu zoologischen Beobachtungen, angez. von Pfuhl.
führlich Bau und Aufgabe der Blüte und ihrer einzelnen Teile, sowie Körperbau,
Benehmen und Lebensgewohnheiten der Blumeninsekten. Sodann behandelt er
in typischen, besonders charakteristischen Beispielen die einzelnen Anpassungs-
stufen, die Pollenblumen, die Blumen mit allgemein zugänglichem, mit teilweise
oder gänzlich verborgenem Nektar, die Blumengesellschaften — alles Pflanzen,
bei denen besondere Anpassungen an einen engeren Kreis von Besuchern noch
nicht hervortreten — und hierauf die Dipteren-, Hymenopteren- und Falterblumen,
bei denen Anpassungen an bestimmte Insektengeschlechter zur Ausprägung ge-
langten. In diesen Einzeldarstellungen der nach H. Müller geordneten Blumen-
klassen zeigt sich v. Kirchner als Meister der Beobachtung, und manchen als un-
wissenschaftlich verpönten Deutungsversuch erkennt man hier als das Ergebnis
einwandfreier auf Induktion beruhender Prüfung. Auch die Blumenstatistik,
deren Ergebnisse der Verfasser kurz skizziert, und die der Forschung noch so
manche dankbare Aufgabe stellt, bewegen sich noch auf dem Boden des Tat-
sächlichen, während die beiden Schlußkapitel, die ,, Ursachen der gegenseitigen
Anpassung von Blumen und Insekten" und die „Hypothesen über die Ent-
stehung der Blumen" in das Reich der Spekulation hineinführen, das aber
zu durchwandern Genuß und Anregung gewährt, und in dem die Paläontologie
uns immerhin ein zuverlässiger Führer und Warner sein kann. — Zweifellos ver-
dient das Kirchnersche Werk neben den Arbeiten von H. Müller und E. Loew
in jede Schulbibliothek aufgenommen zu werden.
Berlin. J. Norrenberg.
Dahl, Friedrich, Anleitung zu zoologischen Beobachtungen.
(Wissenschaft und Bildung, 61). Leipzig 1910. Quelle & Meyer. 156 S. 8«.
geb. 1,25 M.
Ein kleines Buch, das in erster Linie sich an den gebildeten Laien wendet;
doch auch der Lehrer der Naturkunde wird darin manches finden, das ihn inter-
essiert. Die Lebensweise der Tiere und der Zusammenhang zwischen Körpergestalt
und Lebensweise wird berücksichtigt, dann die Beziehungen der Tiere zu den
Pflanzen und den anderen Tieren. Symbiose, Mutualismus, Kommensalismus,
Nekrophagie, Täuschfarben, Trutzfarben, Brutpflege sind einzelne Kapitelüber-
schriften, die den Inhalt des Büchleins charakterisieren könnten. Zur Erläuterung
jener Begriffe werden reichlich Beispiele aufgeführt, die mit Geschick und Sach-
kenntnis aus dem ganzen Gebiete des Tierreichs, auch in geographischer Hinsicht,
gewählt sind. Der größere Teil des Inhalts betrifft Beschreibungen der Lebensweise,
der erste Abschnitt gibt Anleitungen zu Beobachtungen und Experimenten, wobei
auch mancher Hilfsapparat beschrieben wird. Das Buch ist reichlich mit Abbildungen
ausgestaltet, die im allgemeinen deutlich und zweckentsprechend sind. Empfehlens-
wert für eine neue Auflage wäre die Angabe der Betonung bei den wissenschaftlichen
Tier- und Pflanzenbenennungen.
Posen. FritzPfuhl.
^^^
I. Abhandlungen.
Die Annäherung unserer Zeit an die Antike und der Unter-
richt in den altklassischen Sprachen.
Man darf behaupten, daß die ganze Kunst im Banne der Antike steht. Ihr
Einfluß beschreibt Kurven, steigt und sinl<t abwechselnd. Immer aber, wenn die
Phantasie einer Auffrischung, die Kunst einer gründlichen Korrektur bedarf, kehrt
sie zum Studium der Antike zurück. So urteilt ein bewährter Kenner antiker Kunst-
geschichte über die Bedeutung der Antike für die Entwicklung der darstellenden
Kunst*). Solche auf- und absteigende Kurven beschreibt die Antike auch in ihrem
Einfluß auf das Geistesleben der modernen Kulturvölker und die Erziehung ihrer
Jugend. Zuzeiten war das Altertum ein ewig sprudelnder, lebenspendender Quell,
der in goldenen Schalen Klarheit und Schönheit und echte Menschenwürde spendete,
und dann wieder, bereits im 17. Jahrhundert — ,der christliche und notwendige
Unterricht, wie die studia sollten angerichtet werden* des hannoverschen Geist-
lichen Statins Bücher (1625) ist wohl die älteste Schrift gegen Humanismus und
humanistische Erziehung — wähnte man in stolzer Selbstgenügsamkeit oder in
plattem Nützlichkeitssinn, man könne von den Alten nichts mehr lernen, das
Studium der Antike mache weltfremd und sei darum zu nichts nütze.
Ich empfinde fast ein Grauen,
Daß ich Plato über Dir
Bin gesessen für und für:
Es ist Zeit hinauszuschauen
So klagte schon der Schlesier Martin Opitz in einem seiner Gedichte. Auf
Zeiten der höchsten Begeisterung und Verehrung für die Antike folgten Perioden
der Entfremdung: Renaissance, Pietismus und Neuhumanismus, französisch-
höfische Bildung und Rationalismus sind die Etappen dieser so seltsamen Ent-
wicklung in der Geschichte unseres Geisteslebens in den drei Jahrhunderten seit
der Reformation. Und nun nach dem so leidenschaftlich geführten Kampfe um
eine zeitgemäßere Jugenderziehung im 19. Jahrhundert scheint wieder einmal,
es sind mancherlei Anzeichen dafür vorhanden, eine Wandlung, eine Annäherung
an die Antike sich vollziehen zu wollen.
*) Adolf Michaelis im Handbuch der Kunstgeschichte von Anton Springer, I. Alter-
tum. Leipzig 1907. S. 482.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 27
418 G. Schönaich,
Woraus man das schließen darf? Der Streit um die beste Jugenderziehung
kommt auch, nachdem die Gleichberechtigung der drei Schularten ausgesprochen
worden ist, noch nicht zur Ruhe, und er wird auch nimmer zur Ruhe kommen,
weil die Bildungsideale wechseln mit den Menschen und mit den Zeiten und sich
verändern mit dem Stande des Wissens und der Wissenschaft und mit den Zuständen
der Gesellschaft*); auch deshalb nicht, weil bei uns, wie Heinrich von Treitschke
einmal sagte, auch dem schlichten Manne, nichts mehr am Herzen liegt, als die
Erziehung seiner Kinder; aber er hat vornehmere Formen angenommen: man denkt
über vieles sachlicher und ruhiger, und in manchen Dingen, über die harte Worte
auf beiden Seiten gewechselt wurden, ist heute kaum mehr eine Meinungsverschieden-
heit. So dürften die Ansichten über die Bedingungen, unter denen sich Kulturarbeit
und Kulturfortschritt zu vollziehen pflegt, der erweiterte Völkerverkehr und die
dadurch befestigte Vorstellung von einem europäischen Kulturkreise und einer
europäischen Kulturgemeinschaft haben hier Wandel geschaffen, heute kaum mehr
auseinandergehen. Kulturarbeit ist in erster Linie, wie P. Wendland es einmal recht
ansprechend formuliert hat, nicht Produktion eines neuen Kulturgehaltes, sondern
Aneignung, Durcharbeitung, Formung eines gegebenen Inhaltes. Und Kultur-
fortschritt ist ein Austausch der Kulturgüter, er beruht auf der Annahme und
Verarbeitung vergangener Kultur, die Völker stehen gebend und empfangend
nebeneinander, und kein Volk kann auf die überlegene oder ebenbürtige Kultur
eines anderen Volkes verzichten.**) Auf Grund dieser fast zum Gemeingut gewordenen
Anschauungen denkt man auch über das Altertum und seine Bedeutung für die
Kulturarbeit der modernen Völker heute wieder ruhiger und freundlicher. Wenn
auch unsere kulturell so hoch stehende Zeit von der absoluten Vollkommenheit
und der Klassizität der Alten nichts mehr wissen will, als kulturschaffende Kraft
und als befruchtendes Element in unserer Kulturarbeit möchte man die Antike
doch nicht gern entbehren.
Auch in dem Bildungsideal scheint sich eine Wandlung nach dem Altertum
hin zu vollziehen. Zwar läßt sich das Bildungsideal unserer Zeit nicht so scharf
umgrenzen und so genau umschreiben wie das früherer Jahrhunderte***), aber so viel
ist sicher, das intellektualistische Bildungsprinzip, die reine Wissensbildung, die
noch in dem verflossenen Jahrhundert als pädagogisches Evangelium in allen
Tonarten angepriesen wurde, verliert zusehends an Bedeutung und Wertschätzung.
Man kann sich doch der Einsicht nicht verschließen, daß das bloße Wissen für eine
erfolgreiche Lebensarbeit nicht ausreicht, daß die Schulung des Verstandes und
der Sinne, die Fähigkeit, Menschen und menschliche Verhältnisse recht zu beurteilen,
*) Wilhelm Münch, Der Kampf der Bildungsideale (Grenzboten 1911, Heft 28).
**) Paul Wendland, Der Kampf um die Bildungsideale im Altertum und in der Gegen-
wart S. 302, (= Volkmann, Erkenntnis-theoretische Grundzüge der Naturwissen-
schaften und ihre Beziehungen zum Geistesleben der Gegenwart. Leipzig 1910, S. 301 bis
323). — Dazu Kaemmel, Der Kampf um das humanistische Gymnasium, Leipzig 1901.
***) Die Eigentümlichkeiten unserer Zeit (Unausgeglichenheit, Maßlosigkeit, Ruhe-
losigkeit, Sucht zu Probieren und zu Reformieren, erbitterte Interessenkämpfe) vortreff-
lich charakterisiert von Wilhelm Münch, Zeiterscheinungen und Unterrichtsfragen, Berlin
1895, und von Eugen Grünwald, Die antimoderne Tendenz der höheren Schule = Das
humanistische Gymnasium, 1912, Heft I.
Die Annäherung unserer Zeit an die Antike usw. 419
erst Persönlichkeitswert verleiht, daß bloße Kenntnisse und bloßes Wissen das Leben
auch nicht auszufüllen, nicht inhaltsvoll und freundlich zu gestalten vermögen.*)
„Wer in der wirklichen Welt arbeiten kann, und in der idealen leben, der erst hat
das Höchste erreicht" — dies praktisch-ideale Bildungsprinzip, wie es einst Börne
formuliert hat, scheint überall da wenigstens, wo der Sinn für das Ideale in den
Sorgen und im Reichtum dieser Welt noch nicht völlig erstickt ist, zum Bildungs-
ideal der Zeit zu werden. Dementsprechend ist auch im Jugendunterricht ein
allmähliches Zurücktreten jenes Unterrichtsprinzipes zu beobachten, dem es ledig-
lich auf die Übermittelung praktisch verwendbarer Kenntnisse ankommt. Es dringt
doch auch hier mehr und mehr die Überzeugung durch, daß die bloße Mitteilung
von abfragbaren Kenntnissen und von nur nutzbringendem Wissen für eine erfolg-
reiche Betätigung im Leben gar nicht ausreicht, daß es überhaupt keine Schule
gibt, die für das Leben in seiner Vielgestaltigkeit und Mannigfaltigkeit vorbereitet,**)
daß die Willensbildung, das große Hauptstück der Erziehung, wie Paulsen es in
seiner allgemeinen Pädagogik nennt, die Durchbildung der Persönlichkeit, die Hand-
habung des Wissens und die geistige Selbständigkeit das Beste ist, was die Schule
der Jugend ins Leben mitgeben kann. Und auch von Männern, die in praktischen
Berufen stehen, wird es unumwunden zugestanden und dankbar anerkannt, daß
Verstehen und Urteilen, rechte Bewertung von Verhältnissen und Menschen und
was sonst noch dazu gehört, um sich im Leben zurecht zu finden, die humanistische
Bildung und die humanistischen Bildungsanstalten, die Erziehung durch Griechen
und Römer, ebenso gut wie andere Schularten übermitteln, wenn nicht besser.***)
So gestaltet sich, wie es scheint, unser Verhältnis zur Antike freundlicher, wir
selber nähern uns, wenn ich so sagen darf, aus rein praktischen Erwägungen wieder
dem Altertum; aber auch die Antike ist uns näher gerückt, viel näher denn je:
die Antike, so urteilt ein Kenner des Altertums, hat unserer geistigen und sittlichen
Kultur noch nie so nahe gestanden und wir sind noch nie so vorbereitet gewesen,
sie zu verstehen und in uns aufzunehmen.!) Und so ist es in der Tat. Das Altertum
mit seinen klassischen Stätten steht uns heute schon räumlich viel näher als früheren
Generationen: Rom und Athen, Griechenland und Italien sind bei der Leichtigkeit
und Schnelligkeit des Verkehrs — von Bozen aus ist Rom ja in einem Tage zu
erreichen — keine Entfernung mehr; was einst die heiße Sehnsucht des gereiften
Mannes war, eine Reise nach den Ländern antiker Kultur, genießen heute unzählige
*) Über Bedeutung und Wert des Schulwissens auch im späteren Berufsleben,
Wilhelm Münch, Zukunftspädagogik 2, S. 19L — Über Persönlichkeit und Persönlichkeits-
wert handelt vortrefflich F. Niebergall, Person und Persönlichkeit, Leipzig 1911.
**) Alfred Hillebrandt, Staat und Jugend (Dezemberheft der Konservativen Monats-
schrift, 1911).
***) Giesecke, Das humanistische Gymnasium und die Anforderungen der Gegenwart
(Jahrbücher für das klassische Altertum, Leipzig 1908, S. 241). Im Organ des Gymnasial-
vereins (Das humanistische Gymnasium, Jahrgang 1911, Heft IV), sprechen sich Dernburg,
Wechsler, Brunner über die humanistische Bildung sehr günstig aus. Über die Bewegung
zugunsten des altsprachlichen Unterrichtes in Frankreich und sogar in Amerika orien-
tieren die Mitteilungen des Vereins der Freunde des humanistischen Gymnasiums, Wien
1911, Heft IV.
t) Th. Zielinski, Die Antike und Wir. Leipzig 1911, S. 65.
27*
420 G. Schönaich,
in jungen Jahren. Schon durch diese räumliche Annäherung ist das Verhältnis
unserer Zeit zur Antike ein ganz anderes geworden. Die Betrachtung der Antike,
nicht mehr eine rein literarische und nicht mehr ausschließlich auf Buchwissenschaft
gegründet, wird aus der Enge der Schule und der stillen Stube des Gelehrten heraus-
gerückt und mitten hineingestellt in die antike Landschaft mit ihrer Farbenpracht
und ihren reichen Formenschönheiten, ans rauschende Meer, unter den blauen
Himmel und in die leuchtende Sonne des Südens, an die Stätten selbst, wo einst
antikes Leben mächtig pulsierte, an die Kultorte und die Zentren politischen und
wirtschaftlichen Lebens, hinein in die säulengetragenen Tempel der Götter und an
ihre Altäre, in die Theater, auf die Marktplätze, in die Säulenhallen, die Gym-
nasien und Bäder, in die prunkenden Paläste der Vornehmen und in die
bescheidenen Tabernen mit ihren interessanten Einblicken in das alltägliche
Leben und die harte Berufsarbeit einer kleinbürgerlichen Welt. Wenn die
Zahl der Welschlandsfahrer und Griechenlandreisenden von Jahr zu Jahr
im Wachsen begriffen ist, so dürfte das doch nicht nur auf die zur Mode
gewordene Reiselust und auf das Bedürfnis unserer Zeit nach enzyklopädischem
Wissen zurückzuführen sein, sondern auch seine Erklärung finden in dem wieder
lebendig gewordenen Interesse für die reichen Schätze und Bildungswerte der
griechisch-römischen Welt. An der Wiedererweckung dieses Interesses aber hat
die philologische Wissenschaft durch die völlig veränderte Art ihrer Forschung
und ihrer Darstellungsweise ganz besonderen Anteil, in erster Linie die Archäologie.
Seit die Archäologie mit ebenso viel Glück wie Scharfsinn die Welt der Antike
neu entdeckt hat, sind zwischen Altertum und Gegenwart ganz andere Beziehungen
geschaffen worden. So lange die Kenntnis des Altertums gegründet war auf die
literarische Überlieferung über die Antike — nur Redner, Komiker und Briefe
setzen uns ja unmittelbar in antikes Leben hinein — war unser Wissen von der
Antike lückenhaft und durchbrochen und unsere Vorstellungen vom Altertum,
weil wir die Dinge nur durch den Nebelschleier antiker Schriftüberlieferungen
zu sehen gewohnt waren, farblos, verblaßt und unbestimmt. Durch die unermüd-
liche Arbeit archäologischer Forschung sind wir nun in der glücklichen Lage, das
Altertum an den klassischen Stätten selbst in den Antikensammlungen un-
mittelbar zu genießen oder doch griechische und römische Kultur wenigstens im
Bilde auf uns wirken zu lassen. Unsere Eindrücke werden so lebendiger und frischer,
unsere Vorstellungen klarer und bestimmter, dieBilder abgerundeter und geschlossener
auch die Bilderreihen. Wir haben heute eine viel lebendigere Vorstellung von dem
schlichten Bürgerhause und dem Palast der Großen, von ihrer Bauart und ihrer
inneren Ausschmückung, von dem, was man zum täglichen Leben benötigte, was zum
Schmuck des Lebens diente und in den Zeiten der Dekadenz zum zügellosen Lebens-
genuß. Die alten Kultstätten sind wiedererstanden, Olympia und Delphi anschau-
lich im Aufriß rekonstruiert, ganze Städte sind wieder aufgedeckt, Kulturkreise, von
denen wir früher nur unklare Vorstellungen hatten, sind wiedergewonnen worden.
Welchen Gewinn bedeutet doch die Entdeckung der mykenischen Kultur für die
Stammesgeschichte der Hellenen und für die Welt Homers und was bedeuten die
reichen Papyrosfunde für die Aufklärung des Urchristentums und der hellenistischen
Zeit! Die Archäologie hat in der Tat das Altertum interessanter und anziehender
Die Annäherung unserer Zeit an die Antike usw. 421
gemacht, und mit dem zunehmenden Interesse für die Antike geht weiteren Kreisen
wieder eine Ahnung auf von der Größe und dem Reichtum antiker Kultur, von ihrer
Bedeutung und Notwendigkeit auch für die Bildung und die Kulturarbeit unserer
Zeit. Neben der Archäologie hat nun aber auch die so völlig veränderte philolo-
gische Forschung und Darstellungsweise die Antike unserer gebildeten Gesellschaft
näher gerückt. Die philologische Forschung hat dem Zug der Zeit folgend an die
Stelle der den modernen Menschen abstoßenden idealisierenden Betrachtung des
Altertums die wissenschaftlich-kritische und kulturhistorische treten lassen: sie
sucht antike Menschen und antikes Leben in ihrer Wirklichkeit, in ihrem Werden
und Vergehen, mit ihren Licht- und Schattenseiten zu begreifen; sie will die antike
Kultur nicht allein im engen Rahmen ihres Volkstums, sondern im Zusammenhang
der großen Völkergeschichte, als kulturschaffende Kraft in ihren Wirkungen und
in ihrem Fortleben bis auf die Gegenwart verstehen und das Verständnis dafür
übermitteln.*) Und die bedeutendsten Vertreter dieser Wissenschaft haben zum
Unterschiede von den Philologen vergangener Zeiten die glückliche Gabe, unter
Verzicht auf alles gelehrte Beiwerk und auf alles das, was nur von fachwissenschaft-
lichem Interesse ist, antike Stoffe in allgemein verständlicher und fesselnder Weise
in Wort und Schrift zu behandeln und durch geschmackvollere Übertragungen
der Originale in weiteren Kreisen das Interesse und das Verständnis für die Antike
wieder zu erwecken. Die Fülle von populär-wissenschaftlichen Publikationen, die
in den letzten Jahrzehnten erschienen ist über die Kultur der Alten, über Kunst
und Literatur, über die bedeutenden Persönlichkeiten des Altertums, die Staats-
männer, die großen Historiker, die Dichter und Denker, verdankt ihre Entstehung
doch nicht nur einer buchhändlerischen Spekulation, sondern einem allgemein
empfundenen Bedürfnis, und sie ist ebenso sehr ein schönes Zeugnis für die Dar-
stellungskunst unserer Altertumsforscher wie für das neue erwachte Interesse
an der Antike in unserer gebildeten Gesellschaft.
Das Interesse, das unsere Zeit an der Antike hat, ist nun aber, darüber darf
man sich nicht täuschen, kein rein formales mehr, wenn man auch die Bedeutung
des Unterrichtes in den alten Sprachen neuerdings wieder etwas mehr zu würdigen
beginnt; es ist auch kein rein ästhetisch-literarisches mehr, wie zu den Zeiten Goethes
und Winkelmanns, die in der Antike ein Mittel wahrer Menschheitsbildung sahen,
sondern vorzugsweise ein kulturhistorisches: die Anschauung fremden Nationalgeistes
und Kulturlebens steht, wie Münch es in seinem Geist des Lehramtes §452 trefflich
formuliert, über dem Zwecke des Sprachenerlernens, und man will außerdem die Antike
auch zur Gegenwart, zur umgebenden Welt, zum eigenen Volkstum in fruchtbare
Beziehung gesetzt wissen. Es entsteht nun die Frage, inwieweit die humanistische
Schulbildung dieses Verlangen des Tages befriedigt, und auch die andere, ob unsere
*) Paul Wendland, Altertumswissenschaft, S. 16 ff. (= Universität und Schule,
Vorträge auf der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner am 25. September
1907 zu Basel). Leipzig 1907. — Otto Immisch, Das Erbe der Alten. Sein Wert und seine
Wirkung in der Gegenwart. Berlin 1911. — O. Crusius, O. Immisch, Th. Zielinski, Das
Erbe der Alten. Schriften über Wesen und Wirkung der Antike. Heft I, Hellenische
Stimmungen in der Bildhauerei von einst und jetzt. Von Georg Treu. Leipzig 1910. Aristo-
phanes und die Nachwelt. Von Wilhelm Süß. Leipzig 1911.
422 G. Schönaich,
Schulen der so veränderten Art der Altertumsforschung gebührend Rechnung tragen
und den Kontakt mit der philologischen Wissenschaft zu bewahren verstehen. Die
offiziellen Lehrpläne bezeichnen nun zwar neben der sprachlich-logischen Schulung (im
Lateinischen) als Hauptziel des humanistischen Unterrichtes die Einführung in das
Geistes- und Kulturleben der Alten, in Wirklichkeit aber war das Lehrziel bisher viel-
fach noch ein überwiegend formales. Das neuerdings so viel besprochene und nun stark
eingeschränkte Wochenskriptum stand nicht bloß für die Beurteilung der Leistungen
im Mittelpunkt unseres Schullebens, es war im altsprachlichen Unterricht die
Dominante. Es hat den Sprachunterricht über Gebühr in den Vordergrund gerückt
und dem gesamten altklassischen Unterricht jenes eigentümlich mechanische
Gepräge gegeben, das bei den Gegnern der humanistischen Schulart noch heutigen-
tags den schärfsten Angriffen ausgesetzt istj ja sogar auf den Betrieb der Lektüre
und auf die von den Lehrplänen geforderte Einführung in die Kultur des Alter-
tums hat es einen die Methode nachteilig bestimmenden Einfluß ausgeübt. Auch
in der altsprachlichen Lektüre stand doch bisher, eben in Rücksicht auf das Wochen-
skriptum, das sprachliche Interesse durchaus im Vordergrund. Die Übersetzung
mehr grammatisch korrekt als gut Deutsch — was Paul Cauer, Karl Bardt u. a.
für die Methodik der Übersetzungskunst Musterhaftes geleistet haben ist noch
nicht überall in die Praxis übergegangen*) — war vielfach nur ein Aufsuchen der
grammatischen Beziehungen der Wörter im Satze und die Einführung in das Alter-
tum ein umständlicher Realienunterricht, in dem ein reicher Wissensstoff aus den
Privat-, Staats- und Kriegsaltertümern in wohlgeordneten sachlichen Gruppen
mit philologischer Gründlichkeit ganz mechanisch, wie etwa der altsprachliche
Vokabelschatz, in trockenen, datenmäßigen Literaturübersichten und in tabella-
rischer Geschichte übermittelt wurde, oder sie war gar nur eine rein äußerliche
Zierart, ein stolzes Paradestück für Prüfungen und Revisionen, ein lästiges Trapspfov,
mit dem man sich abzufinden suchte, so gut man eben konnte. Hier ist also, wie
wir sehen, ein arger Zwiespalt zwischen Schule, Leben und Wissenschaft: die Schule
hat noch ein überwiegend formales Interesse an der Antike, während unsere gebildete
Gesellschaft und die philologische Forschung ein sachlich-kulturhistorisches Interesse
mit dem Altertum verbindet. Der Erlaß des preußischen Unterrichtsministers be-
treffend die Einschränkung der Klassenarbeiten dürfte nun unseres Erachtens ge-
eignet sein, Wandel zu schaffen und den altsprachlichen Unterricht in andere
Bahnen zu leiten. Wir sehen vollständig davon ab, daß der Erlaß, der doch übrigens
nur die Ergebnisse der Beratungen auf den Direktorenversammlungen von 1907 bis
1909 in die Praxis übertragen will, alte offenkundige Schäden in unserem Unter-
richtsbetriebe endlich einmal beseitigt, und möchten nur nachzuweisen versuchen, wie
durch diese Neuordnung nunmehr die Möglichkeit gegeben ist, den Sprachunterricht
selber methodisch weiter auszubauen, zu vertiefen und zugleich der Einführung in
die Antike dienstbar zu machen, und auch die Möglichkeit, durch einen veränderten
Betrieb in der Lektüre das eigentlich Unterrichtsziel im altklassischen Unterricht,
Einführung in die Kultur der Alten, stärker zu betonen und noch fruchtbringender
■ *) Paul Cauer, Die Kunst des Übersetzens. Grammatica^militans. — K. Bardt,
Briefe aus Ciceronischer Zeit (Hilfsheft). Zur Technik der Übersetzung lateinischer Prosa.
Die Annäherung unserer Zeit an die Antike usw. 423
zu gestalten. Die Einschränkung der altsprachlichen Klassenarbeiten braucht näm-
lich nicht notwendig zu einer Verminderung des Wissens zu führen, eine verbesserte
Methode, die zugleich eine Vertiefung des Sprachunterrichtes und eine Einführung
auch durch die Sprache in die Antike anstrebt, mag dafür sorgen, daß dieser für
unsere humanistischen Schulen so überaus wichtige Unterrichtszweig in der Gründ-
lichkeit der Unterrichtsführung und in der Sicherheit der Leistungen keine Einbuße
erleide. Verliert das Extemporale seine führende Stellung und wird die Lektüre
zum Kernstück des altsprachlichen Unterrichtes, so werden auch die Schriftsteller
noch stärker als bisher für die Auswahl des Lernstoffes maßgebend sein können,
und wenn dann noch eine schärfere Scheidung zwischen grammatischen Lern- und
Lesestoff und eine noch größere Beschränkung auf das Notwendige und didaktisch
Wertvolle eintritt, so wird endlich der unnütze Ballast aus unseren Schulen ver-
schwinden, den wir in Grammatiken, Vokabularien und Übersetzungsbüchern
vielfach nur für die Übersetzung in die Fremdsprache bisher haben mitführen
müssen. An Stelle des mechanischen, gedächtnismäßigen Sprachunterrichtes, auf
einen derartigen Betrieb war ja der fremdsprachliche Unterricht durch das Wochen-
skriptum mehr oder minder bisher noch eingestellt, könnte nun etwas Besseres und
Würdigeres treten. Neben den altbewährten schriftlichen und mündlichen Übungen
könnten auf allen Stufen die aus Mangel an Zeit völlig aufgegebenen Sprech-
übungen, auf der Oberstufe freie schriftliche Ausarbeitungen in bescheidenem
Umfange (Inhaltsangaben, Referate) die Sicherheit in der Beherrschung der alten
Sprachen mit fördern helfen; denn man soll doch nicht glauben, daß man fremde
Sprachen durch mündliche und schriftliche Übersetzungen allein gründlich erlernen
könne, und man möge doch auch nicht vergessen, daß die viel gerühmten schrift-
lichen Übersetzungen leider oft zu rein mechanischen Leistungen werden. An
die Stelle des gedächtnismäßigen Sprachenbetriebes könnte sodann eine mehr
sprachwissenschaftliche Unterweisung treten, die erst neuerdings wieder mit Recht
gefordert worden ist*); neben die gesetzgebende und logisch-systematisierende
Sprachbetrachtung, in der immer noch eine größere Einschränkung, eine bessere
Gruppierung und Zusammenfassung möglich sein wird, ein psychologischer Sprach-
unterricht, der die den Spracherscheinungen zugrunde liegenden psychischen
Vorgänge zum Verständnis bringt und vom Leben der Sprache ein anschauliches
Bild herausarbeitet. Es wird auch die Zeit vorhanden sein für eine gründlichere
Aneignung und eine mehr wissenschaftliche Durcharbeitung des Wortschatzes,**)
und wenn diese Durcharbeitung des Sprachschatzes zugleich zu einer Einführung
in das antike Volkstum würde, wenn den grammatischen Unterricht von der Unter-
*) Niepmann im Bonner Schulprogramm 1908 und 1911 auf der Versammlung der
Freunde des humanistischen Gymnasiums in Posen. Von demselben ist bei Teubner ein
lateinisches Übungsbuch im Druck. — Werner, Zur historisch-genetischen Methode im
Lateinunterricht (Neue Jahrbücher 1910, S. 529 — 548). — Der moderne Grammatik-
unterricht im Lateinischen (Pädagogisches Archiv, Januarheft 1911). — Williges, Grund-
züge einer genetischen Schulgrammatik der lateinischen Sprache. 1908. — Hartmann,
Die Aneignung des lateinischen Wortschatzes (Monatschrift für höhere Schulen 1911.
S. 359). — Die Wortfamilien der lateinischen Sprache, Bielefeld und Leipzig 1911.
**) In einem sehr empfehlenswerten Aufsatze hat der Breslauer Sprachforscher
Schrader das gründliche Vokabellernen wieder warm empfohlen.
424 G. Schönaich,
stufe an ein stärkerer Sachunterricht begleitete, so wäre das nicht bloß ein Gewinn
für das Verständnis der Schriftsteller, sondern auch die beste und gründlichste
Einführung in das Altertum; denn ohne eine solche unermüdliche Kleinarbeit,
ohne eine ganz konkrete Sachanschauung möchte vom Geist des Altertums, wie
Wilhelm Münch einmal sagt, nicht viel Wertvolles auf die jugendlichen Gemüter
übergehen.*) In der Hauptsache aber fällt die Einführung in die Antike der Lektüre
zu. Wie durch eine zeitgemäßere Erweiterung des Schriftstellerkanons und durch
Einschränkung der bisher gelesenen Autoren, durch eine stärkere Rücksichtnahme
auf den Bildungs- und Persönlichkeitswert, auf die Eigenart antiker Schriftsteller
und die Bedürfnisse unserer Zeit schon bei der Auswahl des Lesestoffes die altsprach-
liche Lektüre für die Einführung in die Antike fruchtbarer gestaltet werden kann,
das hat Friedrich Leo auf der 19. Jahresversammlung des deutschen Gymnasial-
vereins für die römische Literatur in geistvoller Weise nachzuweisen versucht**).
Wenn derselbe Gelehrte neben den bisherigen Schulschriftstellern ausgewählte
Stücke anderer Autoren gesetzt wissen will und in den oberen Klassen noch ein
lateinisches Lesebuch aus Plautus, Lukrez, Katull, Tibull, Seneka, Plinius und
Sueton für empfehlenswert erachtet, so zeugt das von feinem Verständnis auch
für das Bildungsideal der Zeit. Chrestomathieen dürften trotz allem, was gegen
sie eingewendet worden ist, neben der herkömmlichen Schriftstellerlektüre
dem enzyklopädischen Bildungsbedürfnis und dem kulturhistorischen Interesse
unserer Zeit mehr entsprechen, und nur eine reiche Auswahl der Lektüre dürfte
unserer Jugend eine rechte Vorstellung geben von der Größe und reichen Mannig-
faltigkeit antiker Kultur. Die Einführung in die Antike an der Hand der Schrift-
steller geschah bisher in zwiefacher Weise. Entweder erhoffte man schon von der
Lektüre selbst, von dem Verkehr der Jugend mit den hervorragendsten Schrift-
stellern***) eine Durchdringung mit dem Geist der Antike oder aber man ließ neben
der Lektüre eine gründliche Unterweisung in den Antiquitäten einhergehen, bei
der es vor allem auf die Aneignung eines nach sachlichen Gesichtspunkten gruppierten
Wissensstoffes ankam. Von diesem formalistischen Betriebe, der sich unter dem
Einflüsse und nach dem Vorbilde des Sprachunterrichtes entwickelt hat, mag sich
nun die Lektüre, da sie nicht mehr Dienerin, sondern Selbstzweck ist, zu einer
höheren Betrachtung des Altertums erheben. Aus der mechanischen, gedächtnis-
mäßigen Unterweisung in den Realien sollte eine verständnisvolle Einführung
in die alte Geschichte und eine literarhistorische Vertiefung werden. Die Lektüre,
stärker in der Historie fundiert, sollte zu einer quellenmäßigen Orientierung und
Deutung der alten Geschichte werden, so daß Religion, Sitte, Staat, Literatur
und Kunst der Alten in ihrem Zusammenhange, als geschichtliche Faktoren und
Lebenskräfte begriffen werden, daß von dem Volkstum der Griechen und Römer,
von ihrer Bedeutung und Größe, wenn auch in großen Zügen, eine Vorstellung
gewonnnen und die Gedanken Begriffs- und Vorstellungswelt der Alten ins Leben
*) Wilhelm Münch, Zeiterscheiiiungen und Unterrichtsfragen, Berlin 1895, S. 35.
♦*) Friedrich Leo, Die römische Literatur und die Schullektüre (Das humanistische
Gymnasium 1910, Heft V und VI, S. 166).
***) Friedrich Paulsen, Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Ent-
wicklung, Leipzig 1909, S, 126.
Die Annäherung unserer Zeit an die Antike usw. 425
mitgenommen werden. Und aus der statistischen Betrachtung über die Literatur
müßte eine literar-historische Vertiefung in die Lektüre werden, die nicht über
literarische Fragen umständliche Erörterungen führt, sondern hterar-historische
Probleme sozusagen als Leitmotive verwendet und in der Schriftstellerlektüre als
Unterrichtsprinzip wirken läßt*), die jedes literarische Werk als Produkt der Gesell-
schaft, aus der und für die es entstanden ist, zu verstehen und aus den literarischen
Denkmälern von den großen Geschichtsschreibern, den Dichtern und Denkern
ihrer Zeit lebensvolle Bilder zu gewinnen sucht.**) Und wie die philologische
Wissenschaft darauf bedacht ist, das Fortleben und Fortwirken der aus der antiken
Welt stammenden Faktoren und Kräfte in unserer Kultur aufzuweisen und das Erbe
und den Ertrag der antiken Kultur zu neuem Leben zu erwecken (Wendland),
so hat auch die Schule die Pflicht, die Antike dem Volkstum und der Gegenwart
nutzbar zu machen. Die Übersetzung der alten Schriftsteller keine bloße gramma-
tische Übung und Leistung mehr, sondern wirklich eine ständige Bereicherung
im Wortschatze der Muttersprache, eine Übertragung nicht im philologischen
Schuljargon, auch nicht in der toten Sprache der Wörterbücher, sondern in wirk-
lichem, lebendigem Deutsch und eine Übertragung, die auch den Geist der Sprache
und die Eigenart jedes Schriftstellers zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen
sich bemüht. Und die Lektüre eine scharfe Durcharbeitung der Gedankengänge,
ein Suchen und Finden des Wesentlichen und Bedeutsamen an Personen, bei Hand-
lungen wie bei zuständlichen Schilderungen; so macht sie schon die Jugend vertraut
mit der Methode wissenschaftlicher und geistiger Arbeit überhaupt und so lehrt
sie auch die Kunst, die im Leben viel bedeutet, Menschen und menschliche Dinge
recht zu bewerten und zu beurteilen. Da aber alles Wissen erst rechten Wert erhält,
wenn es zur Gegenwart lebendige Beziehung hat, so muß die altklassische Lektüre
und der altsprachliche Unterricht überhaupt, das Altertum zur Gegenwart in Be-
ziehung gesetzt werden, der Unterricht in den alten Sprachen muB, was auch von
anderen Unterrichtsfächern gefordert und bereits geleistet wird,***) Gegenwartsarbeit
*) Wie das geschehen kann, zeigt P. Cauer für die homerische Frage Neue Jahr-
bücher 1910 II, S. 130 und für die antiken Geschichtsschreiber Palaestra Vitae VII.
**) Solche Versuche liegen in folgenden Schriften und Werken vor: Jvo Bruns, Das
literarische Porträt der Griechen im 4. und 5. Jahrhundert vor Christi Geburt. 1896.
Jvo Bruns, Die Persönlichkeit in der Geschichtsschreibung der Alten, 1898. — Paul
Wendland, Entwicklung und Motive der platonischen Staatslehre (Preuß. Jahrbücher
1909). — Nestle, Euripides als Dichter der Aufklärung 1901. — Eduard Schwartz, Cha-
rakterköpfe aus der antiken Literatur I — II, zuerst 1902 und dann 1910.
***) Gegenwartsarbeit wird geleistet von der Religion durch religionsgeschichtliche
Betrachtung, durch Erörterung theologischer Fragen und Erziehung zur lebendigeren
Teilnahme am Gemeindeleben; in der Geschichte durch stärkere Betonung der neueren
Geschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Heimatkunde und Heimatgeschichte, der
Bürgerkunde; in der Erdkunde durch das kartographische Herausarbeiten des Landschafts-
bildes und die Erarbeitung des Zusammenhanges zwischen der Natur des Landes und dem
Leben der Völker; in der Mathematik durch stärkere Betonung der Physik und Ausblicke
in die Welt der Anwendung (Mechanik, Technik, Industrie); in den Naturwissenschaften
wird sie angestrebt durch die Forderung eines Unterrichts in der Biologie, in der Gesund-
heitslehre und durch die Forderung einer sexuellen Aufklärung. Daß eine Gegenwarts-
arbeit auch im deutschen Unterricht geleistet werden kann durch die Wahl der Auf-
satzthemen aus dem Gebiet der Bürgerkunde und der neueren Literatur, zeigt Paul
Geyer „Der deutsche Aufsatz", München 1911.
426 G. Schönaich, Die Annäherung unserer Zeit an die Antike usw.
verrichten und Gegenwartswerte schaffen. Neben der für die Erklärung der Schrift-
steller notwendigen Interpretation der Antike muß auch die den Zusammenhang
zwischen der antiken Welt und der modernen Kultur aufweisende Betrachtung
gebührend berücksichtigt werden, damit das Übereinstimmende zwischen Altertum
und Gegenwart, das Fortleben der Antike in der modernen Kultur, im Staat, in
Religion, Wissenschaft, Literatur und Kunst, damit das so veränderte moderne
Weltbild erkannt und die Grundzüge gewonnen werden, aus denen später eine
auf historischer Auffassung und historischer Kritik wohl fundamentierte Welt-
und Lebensanschauung sich aufbauen läßt. Man lese nur die gesammelten Aufsätze
über Altertum und Gegenwart von Ernst Curtius oder Eduard Zellers philosophische
Abhandlungen, oder die drei Spaziergänge eines Laien ins klassische Altertum
von Karl Jentsch und Paul Cauers vortreffliche Schriften (Palaestra vitae und
,Das Altertum im Leben der Gegenwart' 1911), und man wird darüber staunen,
wieviel wir für das Verständnis der modernen Welt von den Alten lernen können.
Eine so veränderte Unterrichtsführung würde die tiefe Kluft, die sich zwischen
dem altklassischen Unterricht mit seinem stark auf das Formale gerichteten Lehr-
ziel und der philologischen Wissenschaft seit lange aufgetan hat, wieder schließen.
Auch die philologische Forschung ist ja, wie bereits gezeigt wurde, nachdem ver-
wichene Generationen die entsagungsvolle Arbeit der Sammlung der Denkmäler
geleistet haben, nachdem die textkritische und die grammatische Richtung ihre
Vorherrschaft verloren haben und die Periode der Mikrologie überwunden worden
ist, immer mehr zu einer historischen Wissenschaft geworden, die das Altertum
in allen seinen Lebensäußerungen genetisch zu erfassen und seinen Wert und seine
Wirkung auch in der Gegenwart zu begreifen und zu ergründen sucht. Eine solche
Unterrichtsführung wäre schließlich auch gleichbedeutend mit einem verständnis-
vollen Eingehen auf die nimmer ruhenden pädagogischen Forderungen der Zeit.
Unsere Zeit mit ihrer ausgeprägten Richtung auf das Nationale, mit ihrem neuen,
von Bismarck begründeten Idealismus der Tat, der Arbeit, der Hingabe an die
großen Zwecke des Vaterlandes, verlangt auch von einer Jugenderziehung durch
die Antike Gegenwartsarbeit, Erziehung zum Volkstum und Hinbildung zum Welt-
verständnis. Wer mit dem Anspruch auftritt, daß eine Erziehung durch Griechen
und Römer noch eine Berechtigung haben soll, der muß nachweisen, worauf Paul
Cauer schon vor nunmehr elf Jahren in einem Düsseldorfer Schulprogramm mit
feinem Verständnis und in dem Kampf für die gute Sache mit taktischer Klugheit
hingewiesen hat, daß sie den jugendlichen Geist von der Welt, die uns umgibt,
nicht ablenkt, sondern tüchtig machen hilft, sie zu begreifen und in ihr dereinst
zu wirken.*)
Breslau. Gustav Schönaich.
*) P. Cauer, Wie dient das Gymnasium dem Leben? Düsseldorf 1900. Man vergleiche
damit, was Cauer in seinem neuesten Werke „Das Altertum im Leben der Gegenwart",
Leipzig 1911, sagt: „Die alten Sprachen und Literaturen werden sich mit der bloß noch
geduldeten Stellung, die sie zurzeit in unserem Bildungswesen einnehmen, auf die Dauer
nicht begnügen. Soll es einmal anders werden, so ist das nur auf dem Wege möglich, daß
sie zunächst an den Interessen, der Lektüre, dem Gedankenaustausch einer geistig be-
wegten Gesellschaft wieder größeren Anteil gewinnen."
J. Lezius, Zur Lage des Gymnasiums in Rußland. 427
Zur Lage des Gymnasiums in Rußland.
In Petersburg hat in der Zeit vom 28. bis 31. Dezember a. St. ein Kongreß von
klassischen Philologen getagt. Seine Aufgabe war nicht wissenschaftlicher Art,
sondern auf den Wunsch des Unterrichtsministers hin hatte die Petersburger
Gesellschaft für klassische Philologie und Pädagogik, an deren Spitze der bekannte
Epigraphiker Latyschew steht, die Lehrer der alten Sprachen an Gymnasien und
Universitäten zu gemeinsamem Gedankenaustausch eingeladen, um sich über die
Notlage des klassischen Gymnasiums auszusprechen und eventuell ihre Wünsche
in Form von Resolutionen dem Ministerium zur Kenntnis zu bringen. Lehrertage
sind in Rußland eine Seltenheit, auch schwer zu organisieren, da in den meisten
größeren Städten noch immer der kleine Belagerungszustand oder etwas ihm
Ähnliches besteht und die Behörden in ihrer Befürchtung, derartige Veranstaltungen
könnten in politische Demonstrationen ausarten, gewiß bisweilen über das Ziel
hinausschießen und nicht ganz im Sinne der Zentralbehörden handeln. Diesmal
ging die Einladung indirekt vom Minister selbst aus, und der Kongreß erhielt sein
besonderes Gepräge dadurch, daß nach einer sehr langen Karenzzeit die klassischen
Philologen es wieder einmal erleben durften, daß sie wenigstens von der zentralen
Unterrichtsverwaltung nicht als eine überflüssige Menschenklasse angesehen werden,
sondern daß man ihnen in der Frage der Bildungsvermittelung doch noch eine
gewisse Bedeutung zuzuschreiben geneigt ist. Dies ist in Rußland etwas völlig Neues,
denn seit der Reform des Unterrichtsministers Wannowski vom Jahre 1901, über
die wir seinerzeit in der Monatschrift berichtet haben, schien es, daß man sich in
Rußland allen Ernstes darauf eingerichtet hätte, ohne das klassische Gymnasium
auszukommen und neben der recht unklar konstruierten siebenklassigen Real-
schule das von Wannowski an die Stelle des Gymnasiums gesetzte achtklassige
Realgymnasium mit 30 Stunden Latein vom dritten Schuljahre an als einzig mög-
lichen Schultypus anzusehen. Dabei hatte die Realschule im Jahre 1905 noch das
Vorrecht erhalten, ihre Abiturienten zur Universität zu entlassen, wenn sie sich
als Externe einer Ergänzungsprüfung im Lateinischen unterzögen. Die an Externe
zu stellenden Anforderungen wurden gleichzeitig dermaßen herabgesetzt, daß man
sich bei einigem Fleiße das nötige Latein in wenigen Ferienmonaten aneignen konnte,
um doch noch nach Ablauf einer siebenjährigen Schulzeit rechtzeitig immatrikuliert
zu werden!
Die durch diese Reform hervorgerufenen Mißstände waren aber allmählich doch
so groß geworden, daß das Ministerium nicht länger vor ihnen die Augen verschließen
konnte. Der Studienbetrieb an den Hochschulen begann immer mehr unter der
mangelhaften Vorbildung der Studenten zu leiden, und am meisten litt natürlich
die historisch-philologische Fakultät. Zwar hatte das Ministerium zuerst verfügt,
die historisch-philologische Fakultät solle nur denjenigen Abiturienten offen stehen,
die im Lateinischen und Griechischen geprüft wären. Doch war damit wenig ge-
wonnen, und die Forderung erwies sich als unausführbar. Einmal waren die von den
Realgymnasien und den wenigen „klassischen" Gymnasien vermittelten lateinischen
Kenntnisse so unsicher und mangelhaft, daß z. B. Livius für die meisten Studenten
ein Buch mit sieben Siegeln ist, und noch schlimmer stand es mit den Kenntnissen
428 J. Lezius,
im Griechischen bei den Abiturienten der Realgymnasien, die während der letzten
vier Schuljahre am fakultativen griechischen Unterrichte teilgenommen hatten. Was
d i e wußten, langte kaum für Xenophon, geschweige fürHomer. Und dabei war dieser
Unterricht längst nicht allen zugänglich ! Denn da etatmäßige Summen zur Bezah-
lung der griechischen Stunden nicht angewiesen waren, sondern die Bestreitung
der Unkosten auf die oft sehr knappen Spezialmittel der einzelnen Anstalten ab-
gewälzt wurde, wurde und wird in sehr vielen Realgymnasien fakultativer griechischer
Unterricht überhaupt nicht erteilt. Beschwerlich genug war er auch für die Schüler,
da er über die normale Stundenzahl hinaus in Extrastunden abgehalten wurde.
So blieb nichts anderes übrig, als den Abiturienten der Realgymnasien auch ohne
griechische Vorkenntnisse den Besuch der historich-philologischen Fakultäten zu
gestatten, denn wenn man sich auf den geringen Zuzug verlassen wollte, den die
wenigen übriggebliebenen „klassischen" Gymnasien liefern konnten, so setzte
man die Fakultäten auf den Aussterbezustand, beraubte die gebildete Gesellschaft
der Möglichkeit, in ihrer Mitte noch Elemente mit wissenschaftlicher historisch-
philologischer Vorbildung zu sehen und schnitt sich die Möglichkeit ab, in Zukunft
sogar Lehrer der Geschichte und russischen Sprache zu haben, da ja auch diese
nur aus diesen Fakultäten hervorgehen konnten. Die Fakultäten hielten nun ihrer-
seits an der selbstverständlichen Forderung fest, daß nicht nur die klassischen
Philologen, sondern auch die Historiker und Slavisten, ebenso die an zwei Universi-
täten vorhandenen Romanisten und Germanisten im Lateinischen und Griechischen
geprüft werden müßten, und richteten für die Abiturienten der Realgymnasien
besondere griechische Vorkurse ein. Doch war das natürlich nur ein kümmerlicher
Notbehelf, und ein erschreckendes Sinken des Kenntnisstandes ließ sich nicht ver-
meiden. Die Studenten bestanden nach Abschluß des einjährigen Vorkursus eine
Rezeptionsprüfung, in der sie die notwendigste Kenntnis der Formenlehre nach-
zuweisen und über die wenigen aus der Anabasis durchgenommenen Abschnitte
Rechenschaft abzulegen hatten. Damit erhielten sie das Recht, ein Interpretations-
kolleg zu belegen. Diese kümmerliche Vorbildung, die kaum dem Niveau der
früheren Obertertianer entsprach, war an die Stelle der bisherigen schon nicht
glänzenden Abiturientenkenntnisse getreten und mußte natürlich den Charakter
der Interpretationsvorlesungen völlig verändern. Sie sind vielfach zu einem sekun-
danermäßigen Vorübersetzen leichter Texte hinabgesunken, wobei einfache Formen
erklärt und Vokabeln diktiert werden. Die lateinischen Kenntnisse sind wieder
dermaßen zurückgegangen, daß Livius, wie schon gesagt, die Kräfte der meisten
jungen Historiker übersteigt und sich an Tacitus kaum jemand heranwagt. Die
Unfähigkeit, einfache Formen zu erkennen, ist bisweilen erstaunlich groß, dafür
sind aber auch in den meisten Realgymnasien alle Übungen im Übersetzen aus dem
Russischen ins Lateinische in Acht und Bann erklärt.
Aber auch in den anderen Fakultäten merkte man ein allgemeines Nachlassen.
Den mangelhaften lateinischen und meist völlig fehlenden griechischen Kennt-
nissen stand durchaus nicht ein Steigen des Kenntnisstandes in der Mathematik
gegenüber, ebenso waren die Leistungen in der Geschichte, im Deutschen und
Französischen und in der Muttersprache (dem Russischen) nicht etwa höher, sondern
niedriger als früher, obgleich man sich auch auf den beliebten modernen Standpunkt
Zur Lage des Gymnasiums in Rußland. 429
gestellt hatte, daß in Rußland natürlich das Russische im Mittelpunkte des Unter-
richts zu stehen hätte. Vor allem machte sich eine bedenkliche Abschwächung der
allgemeinen Leistungsfähigkeit, der Arbeitskraft und Arbeitslust immer mehr
fühlbar. Der Schule, die zur Universität vorbereitete, war der Ernst verloren
gegangen, und sie war nicht imstande, Jünglinge heranzubilden, die mit wirklichem
Erfolge ein wissenschaftliches Studium ergreifen konnten. Die Minister haben wieder-
um seit dem Jahre 1898 so rasch gewechselt, daß keiner von ihnen, selbst wenn
er dazu befähigt gewesen wäre, ein größeres Reformwerk hätte durchführen können.
In Kommissionen wurde schätzbares Material gesammelt, aber die Taten blieben
aus. Etwas Greifbares geschah nur unter dem Amtsvorgänger des gegenwärtigen
Ministers, indem er durch verschiedene, teils praktische, teils unpraktische Maß-
regeln die völlig ins Wanken geratene Disziplin wiederherzustellen suchte. Etwas
Positives, von einem schöpferischen Gedanken Eingegebenes erfolgte nicht, sondern
man ließ die Dinge gehen. Eingegriffen hat erst der jetzige Minister, indem er
eine schon im Jahre 1905 von dem Direktor des römisch-katholischen Gymnasiums
in Petersburg Herren Stephan Cybulski gegebene Anregung aufnahm und den
ersten Kongreß von klassischen Philologen und Schulmännern veranlaßte.
Zahlreich waren Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren dem an sie
ergangenen Rufe gefolgt, und nachdem sie vier Tage versammelt gewesen waren
und nachdem in Reden und Verhandlungen viel graue Theorie und uferloser Doktri-
narismus, aber auch mancher praktische Gedanke zutage gefördert worden war,
einigte man sich auf einige ganz bestimmte Resolutionen, die dem Ministerium
unterbreitet werden sollten. Bei den Verhandlungen zeigte sich ein gewisser Gegen-
satz zwischen der älteren und jüngeren Generation. Während bei den Vertretern
der ersteren ein entschlossenes Eintreten für das Gymnasium im Sinne seiner
Wiederherstellung zutage trat, hatten sich manche jüngere offenbar mit dem
gegenwärtigen Zustande abgefunden. Sie waren wohl selbst schon Zöglinge des
Wannowskischen Realgymnasiums, kannten keinen anderen Schultypus und waren
mit ihrer geduldeten Stellung zufrieden, die sie in den Stand setzte, nicht etwa
in gründlicher Weise Latein zu unterrichten und die Schüler in den Autoren heimisch
werden zu lassen, sondern den sogenannten Geist des klassischen Altertums zu
verzapfen, wobei Deklinationen und Konjugationen nicht gerade verboten sind,
aber als öder Formelkram natüriich das allgemeine Behagen nicht stören dürfen.
Aus ihren Reihen wurden daher auch Bedenken geäußert, als von der anderen Seite
auf die Notwendigkeit eines gründlichen grammatischen Unterrichts hingewiesen
wurde, und gegen die Wiederherstellung des sogenannten Tolstoischen Gymnasiums,
wie es 1871 begründet und 1901 zu Grabe getragen worden war, wurde sogar Ver-
wahrung eingelegt. Doch wurden die Bedenken zerstreut, als sich erwies, daß die
Anhänger des alten Gymnasiums nicht daran dachten, für dieses besondere Vor-
rechte zu beanspruchen oder es gar als den einzig gestatteten Typus einer höheren
Schule (oder Mittelschule, wie man in Rußland sagt) hinzustellen. Es wurde immer
wieder betont, daß man für das Gymnasium nur die einfache Daseinsberechtigung
unbeschadet der anderen Schultypen veriange, damit diejenigen Eltern, die nun
einmal aus irgend welchen Gründen eine derartige Schulung ihrer Söhne wünschten,
die Möglichkeit hätten, sie ihnen zuteil werden zu lassen. Es wurde ausdrücklich
430 J. Lezius, Zur Lage des Gymnasiums in Rußland.
ausgesprochen, daß jeder Zwang ausgeschlossen sein und diejenigen, die eine andere
Bildung wünschten, durchaus die Möglichkeit haben müßten, ihre Söhne ins
Realgymnasium oder in die Realschule zu geben. Damit war der Boden zu einer
Verständigung geschaffen, und die vom Präsidium ausgearbeiteten Resolutionen
wurden in der Schlußversammlung ohne Anstand angenommen. Die wichtigsten
von ihnen lauten:
1. Der Kongreß stellt fest, daß die Schulreform vom Jahre 1901, die das
Griechische als Pflichtfach aus dem Gymnasium beseitigte, nicht nur die Kenntnisse
der Schüler in den alten Sprachen in erschreckender Weise verringert hat, was
durch einmütige Erklärungen von Gymnasiallehrern und Universitätsprofessoren
bekundet wird, sondern daß sie gleichzeitig die Leistungen in den übrigen Unterrichts-
fächern nicht etwa erhöht, sondern im Gegenteil die Arbeitsfähigkeit der Schüler
vermindert, Dilettantismus und Oberflächlichkeit entwickelt und dazu beigetragen
hat, daß die Schüler in weitem Maße von der Schule, die sie besucht haben, un-
befriedigt sind.
2. In allen Städten mit mehreren Mittelschulen verschiedener Typen muß
wenigstens eine von ihnen ein rein klassisches Gymnasium sein mit obligatorischem
lateinischen und griechischen Unterricht, entsprechend dem allgemeinen für Rußland
festgesetzten Gymnasialtypus.
3. In den klassischen Gymnasien muß die für Lateinisch und Griechisch
bestimmte Stundenzahl so bemessen sein, daß das Ziel des Unterrichts erreicht
werden kann.
4. Bei der Abiturientenprüfung müssen die Kenntnisse der Examinanden
den Anforderungen entsprechen, die im Jahre 1890 aufgestellt worden sind. (Unter
anderem eine schriftliche Übersetzung aus dem Lateinischen und Griechischen.
Im Jahre 1900 wurde die schriftliche Prüfung abgeschafft.)
5. Wünxhenswert ist eine derartige Gestaltung des Unterrichts im Latei-
nischen und Griechischen, daß die Schriftstellerlektüre zwar im Mittelpunkte
steht, aber durch eine gründliche grammatische Unterweisung vorbereitet wird,
wobei durchaus Übungen im schriftlichen Übersetzen anzustellen sind.
6. Die Grammatiken der Sprachen, die im Gymnasium gelehrt werden,
müssen miteinander im Einklang stehen und dürfen nicht gegenseitige Wider-
sprüche enthalten.
Das sind die wichtigsten Resolutionen. Die letzte, die auch in manchem anderen
Lande nötig wäre, ist dadurch hervorgerufen, daß die russische Schulgrammatik
noch völlig auf dem Beckerschen Standpunkte steht, und die Schüler natürlich in
Verwirrung geraten müssen, wenn dieselben Spracherscheinungen beim russischen
Lehrer eine ganz andere Erklärung finden, als die vom lateinischen oder griechischen
Lehrer gebotene. Die übrigen Resolutionen waren allgemeinen Inhaltes. Erwähnens-
wert ist eine, worin die Zulässigkeit eines besonderen hellenischen Gymnasiums
als Nebentypus ausgesprochen wurde. In ihm sollte mit dem griechischen Unter-
richte begonnen werden, und das Griechische sollte das Obergewicht über das
Lateinische haben. Der Wunsch erklärt sich aus der Eigenart der russischen Kultur-
entwickelung. Rußland ist nicht von Rom, sondern von Konstantinopel aus christia-
nisiert worden. Die „Kaiserstadt" war für die Russen während des Mittelalters
A. Tilmann, Die Reifezeugnisse der Studierenden d. außerpreuß. Universitäten. 431
nicht die Stadt auf den sieben Hügeln, sondern die schimmernde Residenz der
byzantinischen Kaiser am goldenen Hörn. Die kirchliche Gelehrsamkeit war
byzantinisch, der höhere Klerus lange Zeit zum Teil griechisch, die Kirchen haben
noch jetzt vielfach griechische Inschriften, und daß die Tradition bis heute niemals
unterbrochen worden ist, sieht man daraus, daß die russischen Priesterseminare
bis jetzt an der mittel- und neugriechischen itazistischen Aussprache festhalten.
Rom und die lateinische Sprache sind in Rußland längst nicht dermaßen mit der
allgemeinen Kulturüberlieferung verwachsen, wie etwa bei den romanischen,
germanischen und westslawischen Völkern. Die Resolution, die von einigen Kongreß-
mitgliedern warm vertreten wurde, fand Annahme, doch wurde gleichzeitig die
Ansicht ausgesprochen, daß sie im besten Falle nur ganz vereinzelt praktische
Folgen haben könne. Rußland ist während der letzten zwei Jahrhunderte doch
schon zu sehr in das allgemeine europäische Kulturgetriebe hingezogen worden,
als daß es noch in nennenswertem Umfange durch Vermittelung des Byzantinertums
und mit Überspringung des Rcmertums direkt beim Hellenismus anknüpfen könnte.
Nach der Annahme der Resolutionen wurde der Kongreß geschlossen. Bei der
freundlichen Stellung des Ministeriums hat es den Anschein, daß er wirklich einen
Markstein in der Geschichte der russischen Schule bilden und daß das Gymnasium
in Rußland — niemandem zu Leide — wieder erstehen wird.
Reval. Joseph Lezius.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen
Universitäten.
Erlangen, Freiburg, Gießen, Heidelberg, Jena, Leipzig, München, Rostock, Straß-
burg, Tübingen und Würzburg im Winter-Semester 1 9*1 1/12.
Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studierende, die nicht auf
Grund Reifezeugnisses einer Vollanstalt immatrikuliert waren, unberücksichtigt.
Von den nachstehenden Zusammenstellungen umfaßt die erste alle im Winter-
Semester 1911/12 an den genannten Universitäten immatrikuHerten Studierenden,
die zweite nur diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten Semester
standen.
L Im Winter-Semester 1911/12 waren insgesamt immatrikuliert:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 1259 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1229
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 23
„ „ „ einer Oberrealschule ... 7
b) in der Katholisch -Theologischen Fakultät 843 Studierende, alle
immatrikuliert: auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
c) in der Juristischen Fakultät 4364 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 3586
. tj n „ „ Realgymnasiums . . 569
» ,, ,, einer Oberrealschule . . . 209
432
A. Tilmann,
d) in der Medizinischen Fakultät 6267 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 4832
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 1024
„ „ „ einer Oberrealschule ... 411
e) in der Philosophischen Fakultät 9534 Studierende, davon immatri-
kuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 5977
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 2049
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 1508
Hiervon studierten:
1. Philosophie 847 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
2. Klassische Philologie und Deutsch*) 2240 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
3. Neuere Philologie*) 2006 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
einer Oberrealschule .
4. Geschichte*) 534 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
5. Mathematik und Naturwissenschaften 3233 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
6. Sonstige Studienfächer 674 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . .
„ „ „ „ Realgymnasiums
„ „ „ einer Oberrealschule .
II. Von den unter I. aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 190 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 182
,, „ „ „ Realgymnasiums . . 6
einer Oberrealschule ... 2
617
159
71
1984
160
96
996
638
372
395
103
36
1560
843
830
425
146
103
*) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg
bei der Geschichte nachgewiesen.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 433
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 204 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 204
c) in der Juristischen Fakultät 518 Studierende, davon immatrikuliert:
au! Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 408
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 74
„ „ „ einer Oberrealschule ... 36
d) in der Medizinischen Fakultät 692 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 522
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 85
„ „ „ einer Oberrealschule ... 85
e) in der Philosophischen Fakultät 960 Studierende, davon immatri-
kuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 592
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 150
„ „ „ einer Oberrealschule ... 218
Hiervon studierten:
1. Philosophie 114 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 85
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 15
,, „ „ einer Oberrealschule ... 14
2. Klassische Philologie und Deutsch*) 162 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 139
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 11
„ „ „ einer Oberrealschule ... 12
3. Neuere Philologie*) 247 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 135
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 50
„ „ „ einer Oberrealschule ... 62
4. Geschichte*) 54 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 40
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 8
„ „ „ einer Oberrealschule ... 6
5. Mathematik und Naturwissenschaften 304 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 150
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 53
einer Oberrealschule ... 101
*) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg
bei der Geschichte nachgewiesen.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 28
434 A. Tilmann, I, Die Kurse zur sprachlichen Einführung usw.
6. Sonstige Studienfächer 79 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 43
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 13
„ „ „ einer Oberrealschule ... 23
Gr.-Lichterfelde. A. Tilmann.
I. Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des
römischen Rechts. — II. Die Anfängerkurse im Griechischen
für Studierende der Juristischen, Medizinischen und der Philo-
sophischen Fakultät.
I. Im Sommersemester 1912 haben an den Kursen zur sprachlichen Einfüh-
rung in die Quellen des römischen Rechts an den preußischen Universitäten im
ganzen 233 Studierende der Rechtswissenschaft teilgenommen. Das Reifezeugnis
eines Gymnasiums hatten 44, eines Realgymnasiums 120, einer Oberrealschule 69.
Preußen waren 211, Deutsche aus anderen Bundesstaaten 20, Ausländer 2. Von
den Studierenden der Rechtswissenschaft standen 48 im ersten Semester, 14 im
zweiten, 44 im dritten, 18 im vierten, 65 im fünften, 19 im sechsten, 16 im siebenten,
5 im achten, 3 im neunten, 1 im fünfzehnten.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer wie folgt:
Berlin 87, Bonn 38, Breslau 17, Greifswald 9, Halle 15, Kiel 15, Marburg 31,
Münster 21.
II. Im Sommersemester 1912 haben an den Anfängerkursen im Griechischen
für Studierende der Juristischen, Medizinischen und Philosophischen Fakultät auf
den preußischen Hochschulen im ganzen 230 Studierende teilgenommen, davon
1 Theologe, 47 Juristen, 5 Mediziner und 177 Angehörige der philosophischen
Fakultät. Von letzteren studierten klassische Philologie 9, neuere Philologie 71,
Deutsch 42, Geschichte 28, Mathematik und Naturwissenschaften 6, Staatswissen-
schaften 1, sonstige Fächer 20. Von den Teilnehmern der Kurse hatten 13 das
Reifezeugnis eines Gymnasiums, 143 eines Realgymnasiums, 53 einer Oberrealschule
und 21 Zeugnisse anderer Schulen. Preußen waren 196, Deutsche aus anderen
Bundesstaaten 26, Ausländer 8. Von den 47 Studierenden der Rechte, die den
Kursus besuchten, standen im ersten Semester 14, im zweiten 7, im dritten 8,
im vierten 3, im fünften 10, im sechsten 1 und im siebenten 4.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer an diesem Kursus
wie folgt: Berlin 94, Bonn 8, Breslau 23, Göttingen 21, Greifswald 14, Halle 5,
Kiel 23, Königsberg 15, Marburg 14, Münster 13.
Gr.-Lichterfelde. A. Tilmann.
Statistisches über das Frauenstudium.
Im Sommersemester 1912 studierten an den preußischen Universitäten
2436 Frauen; im Sommersemester 1911 waren es 2312. Auf die Fakultäten
verteilen sie sich folgendermaßen:
A. Tilmann, Statistisches über das Frauenstudium. 435
1912 1911
Theologische Fakultät 21 29
Juristische „ 18 18
Medizinische „ 322 268
Philosophische „ 2075 1997
Von den 2436 studierenden Frauen des Sommersemesters 1912 waren imma-
trikuliert, 1970; die übrigen 466 waren als Gastzuhörerinnen zugelassen.
Die 1970 Immatrikulierten verteilen sich wie folgt:
Theologische Fakultät 10
Juristische „ 15
Medizinische „ 312
Philosophische „ 1633
Groß-Lichterfelde. A. Tilmann.
Fünfter Ruderkursus für Oberlehrer höherer Lehranstalten
Preußens in Wannsee 1912.
Nach den erschöpfenden Ausführungen des Herrn Prof. Stade über den vierten
Ruderkursus im Jahrgang X, Heft 8 dieser Monatschrift kann ich mich über ver-
schiedene Einzelheiten kürzer fassen. Dafür werde ich einiges andere hier mit-
berühren. 28 Herren, darunter 3 Hamburger, fanden sich im Laufe der ersten
Maiwoche im Schülerbootshause am Wannsee ein. Der Altersunterschied war ein
ganz beträchtlicher, er betrug fast 27 Jahre. Wenn Männer von über 50 Jahren
noch sich mit wahrem Feuereifer den anstrengenden Ruderübungen unterziehen,
die sie befähigen sollen, Ersprießliches in der körperlichen Ertüchtigung der Jugend
unserer besten Kreise zu leisten, ist das nicht ein hervorragender Beweis für die
Anziehungskraft, die der Ruderbetrieb besitzt? Wer ihn einmal so wie wir Teil-
nehmer des Kursus kennen gelernt hat, versteht das. Darum sollte der Staat
möglichst vielen Amtsgenossen die Gelegenheit dazu bieten. Ich kann mir deshalb
nicht versagen, hier folgenden Wunsch auszusprechen, der auf Anregung von
Herrn Prof. Wickenhagen, dem verdienstlichen Leiter der Ruderkurse, in einzelnen
Anstalten schon verwirklicht ist: in allen höheren Schulen müßte die Möglichkeit
des Kastenruderns geschaffen werden. Dann könnte und würde jeder Amtsgenosse
am eigenen Leibe erfahren, wie außerordentlich wohltuend und kräftigend die Be-
tätigung gerade der wichtigsten Körperteile beim Rudern auf den ganzen Organismus
einwirkt. Alter und körperliche Anlage würden dabei keine oder nur eine geringe
Rolle spielen, da der Ruderbetrieb es gestattet, daß der eine daran teilnimmt, fast
ohne dem Körper eine Anstrengung zuzumuten, daß ein anderer dagegen sämt-
liche Muskelgruppen mit stärkster Anspannung arbeiten läßt. Die Kosten einer
solchen Anlage sind nicht übermäßig hoch, und da die vorhandene Zeit es erlaubt,
daß neben Schülern und Lehrern auch andere Herren der betreffenden Städte
die Einrichtung gegen eine geringe Entschädigung benutzen, so würde sich sogar
eine geringe Verzinsung des aufgewendeten Kapitals ergeben. Die ideellen Zinsen,
28*
436 R. Uhl,
die diese Anregung zur körperlichen Betätigung so vieler unter den denkbar
günstigsten Bedingungen bringen würde, nämlich die Gesundung der Einzelnen,
würden natürlich allein schon reichlich die Aufwendung der Gelder rechtfertigen.
Da ich die Kostenfrage hier einmal angeschnitten habe, möchte ich gleich noch
folgendes zur Erwägung stellen: wenn ich recht verstanden habe, so müssen die
am Schülerbootshaus Wannsee beteiligten Schulen für die Benutzung seiner Ein-
richtungen jährlich 800 M. bezahlen, und die Herren Protektoren erhalten für ihre
Aufwendungen im Dienste des Schülerruderns eine Vergütung von 500 M. Die
Berliner Verhältnisse bringen es mit sich, daß diese uns Kleinstädtern ziemlich hoch
erscheinenden Summen nur gerade angemessen sind. Und wir freuen uns, daß für
die Berliner Schulen alles so schön geordnet ist, keiner aber wird sich wundern,
daß wir Provinzler den Wunsch hegen, auch in geordnete Verhältnisse zu kommen.
Den Berlinern stehen in ihren Bootshäusern Materialien und vorzügliche Arbeits-
kräfte zu Reparaturen aller Art jederzeit zur Verfügung. In unsern kleinen An-
lagen fehlt alles. Es wäre, denke ich, angebracht, eine Summe in den Etat der
Anstalt einzustellen, die es ermöglicht, nach und nach das notwendige Arbeitszeug
für das Bootshaus zu beschaffen. Das ist um so berechtigter, als die kleinen Boots-
häuser dieser Schulen überhaupt nicht viel mehr kosten als der Jahresaufwand
einer Berliner Anstalt für Ruderzwecke beträgt. Außerdem würden die Reparaturen,
wenn die Boote jedesmal zu einer Bootswerft geschickt werden müßten, den Be-
trieb für die Schüler ungeheuerlich verteuern. In den Etat dieser Anstalten wäre
auch eine Vergütung für die Protektoren einzustellen. Die Festsetzung dieser
Vergütung wäre möglichst einheitlich zu gestalten, wobei die besonderen Verhält-
nisse der einzelnen Städte natürlich berücksichtigt werden müßten. Denn daß
auch die Protektoren in kleineren Orten besondere Aufwendungen für die Teil-
nahme an diesen Schülerübungen machen müssen, ist wohl selbstverständlich.
Zur Begründung der Forderung glaube ich noch anführen zu dürfen, daß der Ruder-
sport das Leben des Lehrers, auch wenn er sehr vorsichtig ist, immerhin in einem
Grade gefährdet, der ihn daran denken lassen muß, seiner Familie durch eine
Lebensversicherung wenigstens eine kleine Sicherheit für den frühzeitigeren Todes-
fall ihres Ernährers zu verschaffen.
Doch wir müssen zurück zu unserem eigentlichen Thema.
Nachdem am 1. Mai, vormittags 10 Uhr, im freundlichen Versammlungs-
zimmer des Schülerbootshauses von Herrn Prof. Wickenhagen mit einer Begrüßungs-
ansprache, Festsetzung einer Arbeitsordnung etc. der fünfte Ruderkursus eröffnet
war, wurde den Mitgliedern durch Angestellte des Welthauses Hertzog Gelegenheit
geboten, sich mit den nötigen Ruderanzügen zu versehen. Der eigentliche Dienst
begann erst am nächsten Tage und spielte sich so ab, wie es Herr Prof. Stade ge-
schildert hat. Vorträge der verschiedensten Art sorgten dafür, daß neben dem
Körper auch der Geist Anregung erhielt. Die Themen der Vorträge mögen hier
eine Stelle finden:
Der Entwicklungsgang des Schülerruderns in Preußen. Organisation des
Schülerrudervereins Wannsee. (Prof. Wickenhagen.)
Eine Bootsfahrt von Leitmeritz nach Wannsee. (Prof. Rumland.)
Haftpflicht und Versicherungswesen. (Prof. Haagen.)
Fünfter Ruderkursus für Oberlehrer höherer Lehranstalten usw. 437
Wanderrudern oder Wettrudern? (Prof. an der Universität Dr. R. du Bois-
Reymond.)
Kameradschaftsleben und Geselligkeit im Ruderverein. (Prof. Dr. Paape.)
Vorteile und Nachteile des Sportbetriebes in den Vereinigten Staaten unter
besonderer Berücksichtigung der höheren Schulen (nach eigenen Beobachtungen).
(Oberlehrer Dr. Brinkmann.)
Wie ist die Schülerregatta mit Nutzen zu veranstalten? (Oberlehrer Dr.
Platow.)
Hilfeleistung bei Unglücksfällen, künstliche Atmung bei anscheinend Er-
trunkenen, Körpermessungen (mit Demonstrationen). (Prof. Dr. med. Schütz.)
Schülerrudern und Heeresdienst. (Oberlehrer Naumann.)
Ein Blick auf den Vortragsplan bei Stade zeigt, daß die meisten Themen
neu sind, ein Beweis dafür, wie der verdienstvolle Leiter des Kursus bestrebt ist,
den Mitgliedern nur das Beste und für die Ausbildung Wichtigste zu bieten. An
die meisten Vorträge schlössen sich Besprechungen an, einzelne regten einen leb-
haften Gedankenaustausch an, indem Herren des Kursus aus ihren Erfahrungen
heraus Einwendungen erhoben oder Auskünfte erbaten. Allen Herrrn, die sich in
den Dienst unserer Belehrung gestellt haben, sei hier nochmals herzlicher Dank
ausgesprochen.
Besonderen Dank verdient auch der Leiter der Handfertigkeitsübungen, Herr
Dr. Pfeiffer. Er verstand es ausgezeichnet, alles, was in dies Gebiet gehört, teils
mit klaren Worten zu beschreiben, teils praktisch vorzuführen; einzelnen besonders
eifrigen Herren wurde auch Gelegenheit geboten, das Vorgeführte nachzuahmen
und zu üben. Dabei möchte ich einen Punkt der Beachtung für die Zukunft emp-
fehlen: diese Uebungen so zu veranstalten, daß zwei Herren die praktische An-
leitung geben, gerade so wie es beim eigentlichen Ruderbetrieb (Jer Fall ist, wo
die Herren Prof. Rumland und der Trainer Herr Rauscher sich gegenseitig außer-
ordentlich glücklich ergänzten. Diese Uebungen sind für alle die Vereine, die
ihre Boote zu Reparaturen weithin verschicken müßten, von allergrößtem Werte
und können nicht ausführlich genug durchgenommen werden. Bei der Menge der
Mitglieder war es oft nicht möglich, in genügende Nähe des Vortragenden oder
Anleitenden zu kommen, um alles genau sehen und auch selbst üben zu können.
Für die in diesen Dingen verwöhnten Berliner Rudervereine, denen der treffliche
Bootshauswart alle derartigen Arbeiten abnimmt, mag es ja weniger bedeutsam
sein. Es muß dabei aber doch gerade auf die Schulen Rücksicht genommen werden,
die nicht so günstig gestellt sind, und diese werden, je mehr das Rudern sich aus-
breitet, bei den Kursen immer mehr in den Vordergrund treten. Ich freue mich,
daß das Gelernte mich vor kurzem in einem ziemlich verzweifelten Falle befähigte,
das Boot soweit zu dichten, daß wir ohne Unfall eine 12 km lange Strecke zum
Heimatshafen zurücklegen konnten.
Herr Dr. Pfeiffer war es auch, der zusammen mit Herrn Rauscher uns eines
Tages auf einer prächtigen Rundtour in den Osten von Berlin führte, wo wir Gelegen-
heit hatten verschiedene Bootswerften und eine Riemenfabrik in ihrer Tätigkeit zu
besichtigen. Am gleichen Tage besuchten wir auch das Bootshaus der nicht am
Wannsee untergebrachten 8 Berliner Schulen und die Häuser des „Wicking" und
438 R. Uhl, Fünfter Ruderkursus für Oberlehrer höherer Lehranstalten usw.
„Hellas,** deren Besichtigung uns ebenso wie an einem früheren Tage die des
Bootshauses des Berliner Ruderklubs am Wannsee von den Vorständen in liebens-
würdigster Weise gestattet wurde. Diesen und besonders den Herren, die sich an
der Führung durch ihre Vereinsräume beteiligt haben, sei auch hier noch unser
herzlicher Dank dargebracht.
Diesen Dank statten wir auch den Herren ab, die uns bei Besichtigung ihrer
Lehranstalten in liebenswürdigster Weise geführt haben.
Von Ruderausflügen möchte ich den zum Pfingstberge erwähnen, der bei
ziemlich stürmischem Wetter stattfand, so daß einige Boote reichlich Wasser über-
nahmen. Die Aussicht von der hier für die Wasserversorgung des Neuen Gartens
erbauten Ruine entschädigte alle Teilnehmer für die anstrengende Fahrt.
Eine Veranstaltung von der Art, wie sie die Berliner Schülerrudervereine an
Stelle des Regattaruderns zu setzen gedenken, möchte ich nicht übergehen: ich
meine die Auffahrt von etwa 70 Booten dieser Vereine vor dem Vorsitzenden des
Jungdeutschlandbundes Sr. Exzellenz dem Generalfeldmarschall Freiherrn
V. d. Goltz. Mit hoher Freude konnten wir hier wahrnehmen, wie die Berliner
Jungen mit wahrer Begeisterung ihre Ruderkünste vorführten. Die Fahrt der
meist vier Boote starken Geschwader bis in die Nähe von Cladow hat denn auch die
volle Anerkennung des hohen Besuches gefunden. Ein solcher friedlicher Wett-
bewerb der Boote dürfte dem für Schüler doch leicht viel zu anstrengenden Regatta-
betrieb, wie er gewöhnlich gehandhabt wird, vorzuziehen sein.
Der Verwaltung der Kgl. Theater für die freundliche Ueberlassung von Einlaß-
karten zu verschiedenen Veranstaltungen an dieser Stelle danken zu können, ist
mir eine besondere Freude.
Nachdem wir so in ungetrübter Arbeitsfreude, die öfter auch noch durch komische
Zwischenfälle erhöht wurde, über 3 Wochen mit unsern Lehrern verbracht hatten,
drängte es uns, sie zum Abschied noch einmal alle bei uns zu einem geselligen Zu-
sammensein zu versammeln. Es erschienen denn auch in einem zu diesem Zweck
im Landwehroffizierskasino gemieteten, sehr gemütlichen Zimmer die meisten der
Eingeladenen. Bei verschiedenen Gläsern Bier verlief der durch ernste und launige
Reden gewürzte Abend zu aller Zufriedenheit. Alle schieden schließlich mit dem
Gefühl, daß sie gern noch drei weitere Wochen dieser gesunden und vielseitig an-
regenden Beschäftigung gewidmet hätten. Möchten wir alle die Frische und
Freudigkeit, die wir dort in uns aufgenommen haben, in die uns anvertraute Jugend
verpflanzen, daß sie Kräfte sammele zum Heile unseres teueren Vaterlandes!
Dramburg. ReinholdUhl.
II. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Lateinische Schriftsteller.
Auswahl aus Vergils Werken. Für den Schulgebrauch herausgegeben und er-
klärt von Dr. W a 1 1 h e r J a n e 1 1. 1 Teil: Text. Heidelberg 1911. Winter. 8«.
XXI u. 120 S. kart. 1,60 M.
Wenn es nach O. Jäger das Ideal einer Interpretation ist, durch die Werke den
Dichter und durch den Dichter die Werke zu verstehen, so wird in dieser Hinsicht
neben Ovid an keinem so viel gesündigt wie an Vergil. Horaz ist der einzige römische
Dichter, in dessen Gesamttätigkeit unsere Jugend eingeführt wird, dagegen bekommt
sie an reichsdeutschen Gymnasien wohl äußerst selten mehr von unserem Dichter
zu hören wie eine Auswahl aus der Aeneis, die dann als Kunstepos den homerischen
Gesängen und dem Nibelungenliede gegenüber leicht in den Hintergrund tritt.
Denn sie will verstanden sein aus der Entwicklung ihres Verfassers, den der furcht-
bare Ernst der Zeit aus einem tändelnden Idyllendichter zu dem religiös begeisterten
Vorkämpfer des Prinzipats umgeschmiedet hatte. Und vollends der Gipfel seiner
Kunst, die Hirtengedichte und die Georgika, werden kaum mit Namen genannt,
die kleinen Gedichte überhaupt totgeschwiegen. Dieser Mißstand in erster Linie
hat den Herausgeber zu seinem Werkchen bewogen, in dem er uns durch eine
Auswahl aus seinen sämtlichen Werken ein Bild der Persönlichkeit dieses wohl
mit bedeutendsten Vertreters der Augustinischen Periode geben will. Er folgt damit
einer auch an dieser Stelle wiederholt geäußerten Anregung, neben der Hora-
zischen Muse doch auch die übrigen lyrischen Erzeugnisse daraus zu ihrem Recht
kommen zu lassen, vor allem aber eben die Vergils, der inhaltlich und formell die
Vorstufe für jenen bildet.
Die Einleitung handelt zunächst vom Leben und den Werken Vergils sowie dem
Verhältnis zu seinen Vorgängern, dann wird seine wohl einzigartige Stellung und
Bewunderung in der Weltliteratur bis auf unsere Zeit beleuchtet, welche er leider
durch unverständige Behandlung in unserer Zeit bitter büßen muß. Es folgen dann
Proben kleiner Gedichte, darauf je eine Blütenlese aus den Eklogen, der Georgika
und der Aeneis, letztere unter Berücksichtigung der preußischen Lehrpläne mit
verbindendem Prosatext. Daran schließt sich ein Verzeichnis der Eigennamen
und eine Übersicht über die abgedruckten Stücke.
440 H. Bernhardt,
Die Auswahl ist durchweg glücklich, sie entspricht stellenweise der in den
österreichischen Lehrplänen vorgeschlagenen, bringt jedoch mehr. Geschmackvoll
und anregend sind auch die deutschen Dichtern entnommenen Mottos zu einzelnen
Stücken,
Dem Text der Buc. Georgica und Aeneis liegt im allgemeinen die Ladewig-
Schaper-Deutickesche Ausgabe zugrunde, ein Kommentar dazu wird als 2. Teil
des Werkes in Aussicht gestellt. Von Druckfehlern hält er sich so gut wie frei (ich
habe deren nur drei gezählt), störend wirkt dagegen die inkonsequente Verwendung
von j neben i inmitten lateinischer Wörter.
Aber sonst bereitet die Lektüre des Büchleins einen reinen Genuß und wird
fraglos auch unsere Schüler fesseln. Möchten ihm doch bald ähnliche Arbeiten
auch für Ovid u. a. folgen, vielleicht verstummen dann angesichts der geschlossenen
großen Persönlichkeiten die laienhaften Urteile von den „trockenen Dichtern
zweiten Ranges, mit denen die deutsche Jugend gequält wird (p. IV)".
Zu Vergils Landsmann Livius führen die beiden nächsten Besprechungen,
dessen römische Geschichte Birt einmal nicht mit Unrecht ein enormes Epos in
Prosa genannt hat.
Livi ab urbe condita libri, W. Weißenborns erste Ausgabe. Neu bearbeitet
von H. J. Müller. 5 Bd., 2. Heft. Buch XXVI. 5. Aufl. Berlin 1911. Weid-
mannsche Buchhandlung. 8^ VI u. 168 S. geh. 2 M.
In dem genannten liegt ein weiteres Heft des von Müller neu herausgegebenen
trefflichen alten Weißenbornschen Livius vor. Die trotz der 31 Jahre seit der
letzten Ausgabe nur spärlichen Textverbesserungen gehen wie der kritische Apparat
zum größten Teil auf die Bearbeitung von A. Luchs zurück.
Kap. 43 Schluß eine Lücke anzunehmen, scheint mir nicht unbedingt nötig,
am Anfang des folgenden möchte ich dann mit Fügner lesen : Mago cum terra ma-
rique eqs.
Der recht brauchbare Kommentar berücksichtigt natürlich die neuesten For-
schungen und gibt nicht selten auch das antike Quellenmaterial in größerem Um-
fange, so zu cap. 7—11, 18—20, 19,3, 24—26, 35—36, 40 und 41—51. Dagegen
macht er in den Übersetzungshilfen den modernen Forderungen nach möglichster
Erleichterung zu große Konzessionen: Erklärungen wie zu 9,4 in inopia, 15,6 de-
nuntiarent, 31,6 maximo argumento est, 38,13 ad ultimum, 39,18 praetoriam
nauem, 41,13 sustinuerunt, 42,3 und 47,5 apparatus, 44,11 adplicant, sollten sich
für Schüler, die Livius treiben, erübrigen.
Druckfehler finde ich nur im Kommentar, u. zw. zu 6,10 elenphanti, 26,5 des
prouinciis, 29,6 postutatum, 49,9 der Geisel (plur.).
Jedenfalls bedeutet diese neue Ausgabe ein für jede Livius- Interpretation
unentbehrliches Hilfsmittel.
Livius, Römische Geschichte, Auswahl aus der 3. Dekade. Auf
Grund der Ausgabe von Fügner neu bearbeitet von Joh. Teufer. Leipzig
1911. Teubner. 8«. Text VI u. 306 S. geb. 2,20 M. Kommentar I. Heft (XXI
bis XXIII) IV u. 132 S. geb. 1,20 M. II. Heft (XXIV— XXX) 153 S. geb. 1,40 M.
Nach dem Vorwort ist die Ausgabe in erster Linie für die weibliche Latein-
treibende Jugend bestimmt, u. zw. möchte sie der Herausgeber im Gegensatz
Lateinische Schriftsteller. 441
zu den Lehrplänen, welche die Liviuslektüre der 4. Klasse zuweisen, in die 3. ver-
legen. Die Auswahl stellt sich die Aufgabe, die besonders scharf gezeichneten
Charaktere der betr. Periode und des Schriftstellers sittlich-politische Gedanken
zu übermitteln, sowie wertvolle Einblicke in das römische Kulturleben tun zu
lassen; entsprechend den methodischen Bemerkungen der Lehrpläne finden sich
zwischen den einzelnen Teilen verbindende Inhaltsangaben.
Die Auswahl kann zweckentsprechend genannt werden, ihre Benutzung wird
schon durch den Druck erleichtert, durch graphische Kennzeichnung der Reden
gegenüber der Erzählung und durch Andeutung des Hauptsatzes in schwierigen
Perioden. Ein weiteres Hilfsmittel bilden neben dem angehängten Namensverzeich-
nis gute Karten und 'Pläne, bei denen freilich derjenige von der vom Herausgeber
fortgelassenen Trebiaschlacht überflüssig geworden ist. Unwürdig erscheint mir
ferner im Namensverzeichnis die besondere Hinzufügung des Adjektivums zu
seinem Nomen, z. B. Africus neben Africa, Canusinus neben Canusia. Die doppelte
Schreibweise Kroto p. 108 und Kroton p. 267 endlich kann irreführen.
Den beiden Heften des Kommentars, die im Druck wie der Text behandelt
sind, ist als Kap. I und H je eine gleichlautende Anleitung zum Übersetzen und eine
Sammlung grammatisch-stilistischer Regeln vorausgesandt, die freilich in derNicht-
voraussetzung auch der einfachsten grammatischen Grundbegriffe des Guten
entschieden zu viel tun.
Dasselbe gilt teilweise von den Anmerkungen zum Text (Kap. HI): Ausdrücke
wie in I p. 73 summa imperii, fallit me, 76 solo aequare, 118 ciuitatem, 131 uinci,
II p. 19 uirtus, fore, 45 in dies, 57 animo def leere, 95 petere, 110 habitus est, um
nur einige besonders prägnante hervorzuheben, müssen Schülerinnen auf dieser
Stufe bekannt sein. Die zahlreichen Wiederholungen dagegen erklären sich wohl
daraus, daß es sich um eine Art Chrestomathie handelt, aus der nach Belieben
gewählt werden soll.
Unrichtig ist die Grundbedeutung von emolumentum (II 52) als „Entlastung",
ebenso ist mir nicht bekannt, daß nicht negiertes alias andere als zeitliche Bedeutung
haben könnte, die betr. Erklärung II 70 also überflüssig.
Gut und sachgemäß sind hiergegen durchweg die Bemerkungen über die Ein-
richtungen und kulturellen Zustände des Römertums, und da Text wie Kommentar
mit einer Ausnahme (II 91 falsche Schreibung für Quid) sorgfältig von Druck-
fehlern gesäubert sind, kann ich mich dem Wunsche des Herausgebers anschließen,
diese Neubearbeitung der Fügnerschen Ausgabe möchte auch an der höheren
Knabenschule Freunde finden.
Ein den bekannten Krafft und Rankeschen Schülerpräparationen ähnliches
Unternehmen beginnt der Verlag C. C. Buchner in Bamberg mit seinen P r ä p a -
rationen zur griechischen und lateinischen Schülerlek-
türe, herausgegeben von Preuß und Reisinger. 8^ von denen bis jetzt 17 Heftchen
vorliegen. Er hat sich, so heißt es in der Ankündigung, vor längerer Zeit gegenüber
einer Anregung zur Herausgabe solcher Präparationen zunächst ablehnend ver-
halten, sie aber jetzt übernommen, nachdem die Überzeugung von ihrem Nutzen
mehr und mehr Boden gewinnt. Sie sollen dem Schüler das zeitraubende mecha-
nische Aufschlagen im Wörterbuch abnehmen und ihn möglichst vor Irrtümern
442 H. Bernhardt,
bewahren. Indem sie ein rascheres Eindringen in den Inhalt der Schriftsteller
ermöglichen, wird die Lektüre erleichtert und fruchtbringend gestaltet werden
können. Um jedoch die Denkarbeit nicht auszuschalten, sind bei den einzelnen
Wörtern neben der Grundbedeutung die verschiedenen Entwicklungsstufen der
Bedeutungen angegeben, aus denen der Schüler die jedesmal zutreffende selbst
finden muß. Knappe Hilfen sollen die Konstruktion schwieriger Stellen erleichtern,
etymologische Angaben Verständnis und Aneignung der Bedeutungen fördern.
Die Erklärung der sogen. Realien bleibt in der Hauptsache dem Unterricht über-
lassen, doch finden sich anregende Hinweise auf heutige Zustände und kurze Fragen,
die zum Nachdenken über den Inhalt auffordern.
So weit die Herausgeber. Ich selbst bekenne mich zu der altmodischen Ansicht,
der Präparation durch eins unserer trefflichen Schulwörterbücher noch immer
den Vorzug zu geben, damit dem Schüler etwas Selbständigkeit und die pädagogisch
unschätzbare Mühe des Suchens und Lust des Findens bleibt, ferner möglichst
viel von der Erklärung dem Lehrer zu überlassen, der doch dazu da ist. Auf keinen
Fall dürfen ferner derartige Hilfen gründliche Vertrautheit mit dem Gebrauch
des allgemeinen Lexikons überflüssig machen. Doch räume ich ein, daß sie unter
Umständen, vor allem für die Privatlektüre oder bei Schülern, die längere Zeit
dem Unterricht fern waren, brauchbar sein können, wie sie ja auch an einer Reihe
von Anstalten nicht nur geduldet, sondern sogar empfohlen werden. Dann sind
aber, um sie nicht zu einer neuen Stütze der Mittelmäßigkeit werden zu lassen,
bei ihrer Abfassung folgende Grundsätze zu beachten:
1. Sie sollen keine Vokabeln geben, die dem normalen Schüler schon bekannt
sein müssen.
2. Sie dürfen jedes andere Wort nur einmal bringen, u. z. etymologisch er-
klärt, mit Grundbedeutung und den verschiedenen Stufen der abgeleiteten Bedeu-
tungen.
3. Sie müssen dazu befähigen, durch die Situation und das richtige Verständnis
der Präpositionen aus dem Simplex die composita selbständig abzuleiten.
4. Die Übersetzungshilfen haben sich auf Konstruktionen und Wendungen
zu beschränken, die wirklich Schwierigkeiten machen.
5. Die bloße Angabe der betr. Übersetzungen ist nur ausnahmsweise statthaft
bei Anhäufungen fremder Vokabeln, deren Aufschlagen lediglich einer mecha-
nischen Tätigkeit gleichkommen würde (z. B. B. G. IV 17).
Diesen Anforderungen entspricht von den Buchnerschen Heftchen am meisten
Johann Hofmann, Präparation zu Ciceros Rede über den
Oberbefehl des Cn. Pompeius. 19 S. brosch. 25 Pfg.
Nach einem Überblick über die politische Lage und das Leben des Pompejus
bis 66 folgt die nach den drei Hauptteilen geordnete Präparation. In ihr sind über-
flüssige Zusätze und Wiederholungen fast völlig vermieden, es wird mit einem
wachsenden Verständnis des Schülers gerechnet und seine Denkarbeit immer
wieder durch geschickt eingestreute Fragen in Anspruch genommen.
Das gleiche gilt in jeder Hinsicht von desselben Verfassers nächstem Heft:
Johann Hofmann, Präparation zu Ciceros Rede für den
Dichter Archias. 18 S. brosch. 25 Pfg. Eine weitere Arbeit zu Cicero
Lateinische Schriftsteller. 443
bietet: Dr. August Steier, Präparation zu Ciceros Reden
fürG. Ligarius und den König Deiotarus. 25 S. brosch. 30 Pf g.
Aber die Fragen zur Anregung der Selbsttätigkeit werden schon spärlicher, auch
sollte man wohl einem Sekundaner die Kenntnis von Vokabeln zutrauen wie z. B.
p. 3 fortasse, 4 voluntas, 6 sensus, 7 repente, 9 constantia, 10 fingere, 14 fides,
15 crimen, 17 labi, 22 domesticus, 23 benignus.
Als besonderen Vorzug von Dr. Bullemer, Präparation zu des
C. Sallustius Crispus Schrift über die Katilinarische
Verschwörung. 17 S. brosch. 25 Pfg., betrachte ich die Angaben über
stilistische Eigentümlichkeiten dieses Schriftstellers, halte hingegen für über-
flüssig die Konstruktionserklärungen p. 5 zu cap. VII, 10 zu XXII, 11 zu XXIV,
sowie die Übersetzungen von p. 9 imparatus und 11 decus. Zu p. 17 in sententiam
discedere wäre ein Hinweis auf 15 pedibus in sententiam ire angebracht gewesen.
Demselben Verfasser gehören an: Präparation zu Curtius Ge-
schichte Alexanders des Großen, 3. Buch 27 S. brosch. 30 Pfg.
und 4. Buch, 38 S. brosch. 35 Pfg. Eine Inhaltsangabe der beiden ersten Bücher
ist dem 1. Heftchen vorausgeschickt. Beide Präparationen halten sich nicht frei
von Wiederholungen, wenngleich sich diese auf seltnere Vokabeln beschränken,
so I p. 3 und 21 petra, 13 und 22 callis, 12 und 24 spado, II 18 und 28 monare,
19 und 34 cicatrix, 19 und 38 ouare. Nicht fehlen durfte I p. 21 bei funditor
der Hinweis auf 9 funda, II 17 uestigo auf 10 uestigium, 26 fastidium auf 3 fasti-
dire, 36 truncus auf 9 obtruncare, und die Zusammengehörigkeit von II p. 19 religo,
ligamentum ibid. und Obligo p. 18 mußte zum Ausdruck kommen. Glaubt schließ-
lich der Verfasser wohl, sein kategorischer Imperativ: I p. 6 ,, Prüfe nach der Karte,
ob die geographischen Angaben richtig sind"! würde von allen Benutzern seiner
Präparation befolgt werden?
Noch einmal zu Cicero führt uns: Ihle, Präparation zu Ciceros
L ä 1 i u s. 16 S. brosch. 20 Pfg. Auch hier möchte ich zunächst als auf dieser
Stufe bekannt und daher überflüssig ausscheiden: p. 2 sententia, 2 liberalitas,
libido, mutuus, 6 cogitatio, 9 temperantia, 10 cultus und 15 fortuna. Nicht genügend
erwiesen ist die Etymologie des zweiten Bestandteiles von augur p. 1, während ich
bei peregrinatio p. 16 den Hinweis auf 5 peregrinus vermisse. Die Verständnisfragen
sind teils stereotyp, so p. 6 und 7, teils, p. 8 und 12, unnötig, weil wohl von jedem
Sekundaner ohne großes Nachdenken zu beantworten, dagegen wird in Dr. Weber,
Präparation zu den Lebensbeschreibungen des Cornelius
N e p 0 s I (Miltiades, Themistocles, Aristides, Pausanias, Cimon, Lysander)
32 S. und II (Alcibiades, Thrasybulus, Conon,Dion, Iphikrates, Chabrias, Timotheus)
32 S. brosch. je 30 Pfg. I 10 eine Zusammenstellung der umschreibenden Ausdrücke
für Tod und Sterben bei den Völkern aller Zeiten angeregt, sicher eine Arbeit mit
reichem kulturgeschichtlichen Ertrag. Sonst finden sich auch hier manche Wieder-
holungen, bei deren Aufzählung ich mich auf solche in derselben vita beschränke,
trotzdem Verfasser gelegentlich von einer Biographie auf die andere verweist
(I p. 11, II 30): I 5 und 7 ualeo, 12 und 15 explico, gradus, II, 7 und 9 uulgus.
Nur lapsus calami sind dagegen wohl I 4 d e r statt d i e Chersones, 32 Kornel
für Nepos. Bei Dr. Kemmerknecht, Präparation zu Virgils
444 H. Bernhardt, Lateinische Schriftsteller.
Ä n e i d e , 1. und 2. Buch, 37 S. brosch. 35 Pfg. beschränken sich die 4 zu eigenem
Nachdenken anregenden Fragen (p. 5, 12, 22, 23) auf die Ableitung von 4 Frequen-
tativen. Umso größer ist die Zahl der als bekannt auszumerzenden Worterklärungen,
z. B. p. 1 uir, inferre, pater, dolere, 9 und 36 iuvat, 11 hospitium, 13 ignotus, 14 rus,
19 fallere, 33 und 34 narrare, 35 paulatim, fons, 36 regio, ein Verzeichnis, das sich
ohne Mühe verdoppeln läßt. Auch Wiederholungen finden sich nicht wenige:
16 und 23 inermis, 21, 23 und 30 fando, 18 und 24 decus, 33 und 36 mens, 7 und
33 pietas. Dagegen durfte nicht fehlen zu p. 15 lustrare die Beziehung auf 1 1 lustrum,
32 tumidus auf 28 tumeo und 36 tumulus, 32 robora auf 26 robur.
Der Cäsarlektüre sollen drei Heftchen dienen: Dr. Reißinger, Präpa-
rationzuCäsarsGallischemKrieg. I. 1. Buch. 21 S. brosch. 25 Pfg.
II. 2. und 3. Buch 27 S. 30 Pfg. III. 4. Buch. 20 S. 25 Pfg. Leider fehlen auch
hier Fragen mit Beziehungen auf moderne Verhältnisse fast völlig, abgesehen
von II p. 7. Die Etymologie von populor II p. 3 deckt sich nicht mit der I 5 ge-
gebenen, die zweite von Aprilis (I 4) habe ich sonst nirgends gefunden, sondern
die Wurzel stets mit aperire (davon auch apricus) in Zusammenhang gebracht.
Die Erklärungen von virtus I 1, 118 und IV 13, ager, ducere, conficere I 2 mußten
als bekannt fortgelassen werden, desgl. waren zu vermeiden die Wiederholungen
I 5 und 13 exemplum, 5 und 16 praesidium, 1 und 20 institutum. 13 und 21 laborare,
II 3 und 1 1 summa, 8 und 1 1 una, 4 und 1 1 nudare, 8 und 15 increpitare, dediticius,
III 8 und 16 plane. Von Konstruktionshilfen erübrigen sich I p. 5 zu I 10, 7 zu
I 14, II p. 3 zu II 5, 14 zu II 27, III p. 9 zu IV 16. Und warum wurde nicht
hingewiesen bei I 20 continuus auf continere und continentes, II 9 munimentum
auf 3 munire, 9 incitatus auf 7 incito, 12 mandare auf 3 mandatum?
Die Horazinterpretation ist mit zwei Heftchen des gleichen Verfassers vertreten:
Dr. Stemplinger, Präparationzu Horaz Oden. 1. Buch. 37 S.
brosch. 35 Pfg. An der Spitze des Büchleins findet sich eine recht brauchbare
synchronistische Zeittafel, doch verlegen wohl die meisten die ars poetica statt
wie es hier geschieht in das Jahr 16, an das Ende der dichterischen Tätigkeit des
Venusiners, d. h. in die Zeit von 13 — 8 v. Chr. Sachliche Versehen finden sich
p. 6, denn der Name Parther ist heute verschwunden, und 20, wo es U'. statt U.
heißen muß. Die Auswahl ist im allgemeinen zu billigen, doch nicht recht ersicht-
lich, warum neben C. 25, 30, 33 und 36 die tiefsinnige Archytasode fortgelassen
wurde. Zum mindesten überflüssig ist hingegen die bei jedem Liede bis zum Schluß
durchgeführte Angabe des Versmaßes. Wiederholungen finden sich ferner p. 9
und 14 nil, 21 und 28 penitus, bimus p. 27 war durch den einfachen Hinweis auf 15
quadrimus zur Genüge erklärt. Sind denn endlich auch noch auf dieser Stufe
Hilfen wie p. 4 zu c. I 11 und 15 nötig? Das zweite Werkchen, Dr. Stemp-
linger, Präpafation zu Horaz Satiren. 1. Buch. 29 S., brosch.
30 Pfg., bringt gleichfalls nur eine Auswahl, indem sat. 1.2,5,7 und 8 aus einleuchten-
den Gründen fehlen. Als besonderes Merkmal und Zeichen der Zeit mache ich unter
den spärlichen (4) Fragen zur Anregung eigenen Nachdenkens auf 2 aus bürger-
kundlichem Gebiet aufmerksam (p. 21 und 28.) Die p. 22 als vermutlich
bezeichnete Ableitung von forsit aus fort sit wird wohl von keinem ernstlich be-
zweifelt.
W. Schuppe, Grundriß der Erkenntnistheorie und Logilc, angez. von A. Heußner. 445
Das 16. und 17. Heftchen schließlich sind Dr. Geyer, Präparation
zu Tacitus Annale n. I. 1. Buch. 34 S. II. 2. und 3. Buch. 36 S. brosch.
je 30 Pfg. In einer Arbeit zur Vorbereitung für Primaner müssen stete Wieder-
holungen geradezu tödlich langweilen und abstumpfen, trotzdem wimmeln die
beiden Hefte von solchen: im ersten habe ich derer nicht weniger wie 22 (!), im
zweiten 18 gezählt. Wo bleibt da die eigene Tätigkeit der Schüler, und was unter-
scheidet solche Hilfsmittel noch viel von den unerlaubten, deren Verdrängung
die gedruckten Schülerpräparationen als eins ihrer Hauptverdienste für sich bean-
spruchen?
Ausstattung und Druck sämtlicher Hefte sind ungeachtet des äußerst niedrigen
Preises vorzüglich, auch ist viel Mühe auf einen sauberen Text verwandt, sind
mir doch insgesamt nur drei Druckfehler begegnet. Aber trotz alles in ihnen stecken-
den Fleißes, trotz der gründlichen Gelehrsamkeit namentlich auf etymologischem
Gebiet, die sie ausnahmslos auszeichnet, haben sie mich nicht von meinem oben
skizzierten Standpunkt abzubringen vermocht, kann ich in ihnen ebensowenig
ein ideales Hilfsmittel erblicken wie in anderen Arbeiten ähnlicher Art.
Soest. H. Bernhardt.
b) Einzelbesprechungen:
Schuppe^ Wilhelm, Grundriß der Erkenntnistheorie und Lo-
gik. Zweite, durchgesehene Auflage. Berlin 1910. Weidmannsche Buchhandlung.
Xu. 189 S. 8«. geh. 3 M.
Die Neuausgabe des Schuppeschen Grundrisses — erste Auflage 1894 —
ist mit Freuden zu begrüßen, denn das Buch ist in seiner meisterhaften Kürze
und durchsichtigen Klarheit nach Inhalt und Form ein kleines Meisterwerk.
Schuppes Bearbeitung der Logik ist eine durchaus selbständige und eigenartige
Leistung, an der man nicht vorübergehen kann, auch wenn man nicht ganz auf
den Standpunkt seiner ,, immanenten" Philosophie zu treten vermag. Da er keine
„formale", sondern eine „erkenntnistheoretische" Logik bietet, ferner aber auch
„bewußt sein" und „wirklich sein", ,, Objekt" und , »Vorstellung" gleichsetzt und
sich nicht auf das individuelle Bewußtsein beschränkt, sondern auf den Zusammen-
hang des Weltganzen als Inhalt des Gattungsbewußtseins richtet, so erweitert
sich die logische Untersuchung zur Darstellung einer Weltanschauung von hin-
reißendem Schwung, ,,wo alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt
und lebt". Gerade dieser „Zusammenhang" alles Wirklichen gibt dann bei der
Beurteilung des Einzelnen das Kriterium der „Wahrheit" ab. — Das Büchlein
verlangt konzentrierte Gedankenarbeit und den Willen zur Vertiefung in die Sache,
aber die ständigen Verweisungen auf des Verfassers größeres Werk, die „Erkenntnis-
theoretische Logik", (Bonn 1878) das ausführliche Inhaltsverzeichnis und das
sorgfältige Sachregister erleichtern das Eindringen sehr.
Cassel. Alfred Heußner.
446 P. Vogt, Leitfaden der philosophischen Propädeutik,
Vogt, Peter, Leitfaden der philosophischen Propädeutik.
Für den Schulgebrauch. Freiburg im Breisgau 1911. Herdersche Verlagsbuch-
handlung. Erster Teil: Logik IV u. 71 S. 8«. 1,20 M. (K. 1,50) geb. 1,60 M.
(K. 2,—). Zweiter (Schluß-) Teil. Psychologie IV u. 77. S 8». 1,20 M. (K. 1,50).
geb. 1,60 M. (K. 2,—).
Der Leitfaden nimmt unter den Schriften über philosophische Propädeutik
eine besondere Stellung ein. Er ist nicht sowohl an der modernen Philosophie,
als an der Scholastik und ihrer Fortbildung in der Neuzeit orientiert und will in die
philosophia perennis einführen. Das tritt dem Leser gleich am Eingang der kleinen
Schrift entgegen. Er findet da in der Weise der Scholastik die logische Wahrheit
von der ontologischen unterschieden und hört, daß einem Dinge etwa einem Baum
insoweit ontologische Wahrheit zukomme, wie er mit der Idee, die wir vom Baume
haben, insbesondere aber mit der vorbildlichen Idee, die der Schöpfer vom Baum
hat, übereinstimmt. Danach wird von den Denkgesetzen, dem Begriff, dem Urteil
und dem Schluß gehandelt. Die Lehre von den Kategorien wird nach Aristoteles
vorgetragen. Im Anschluß daran wird eine Reihe von Aufgaben zur Klassifizierung
von Begriffen, zur Bestimmung ihres Verhältnisses zu einander und zur Definition
von Begriffen nebst allgemeinen Regeln für ihre Lösung gegeben. Die Beispiele,
die da vorgelegt werden, sind seltsam gemischt. Die einen sind sehr einfacher Natur,
die anderen beziehen sich auf die letzten Fragen des Erkennens und greifen entweder
auf die Grundlehren der Scholastik zurück oder haben eine polemische Beziehung
zu modernen Philosophemen. Es mutet wunderlich an, wenn erst als Beispiel
einer falschen Definition die Sätze vorgelegt werden: ,,Die gerade Linie ist jene,
die nicht krumm ist" — „das Sechseck ist eine sechseckige Figur" und unmittelbar
danach die Aufgabe gestellt wird, die Definition der Wahrheit zu prüfen, die in den
Sätzen enthalten ist: „Logische Wahrheit ist die Übereinstimmung unserer Gedanken
mit einander" oder ,,Ein Gedanke ist wahr, insofern er brauchbar ist." Ebenso,
wenn die Frage aufgeworfen wird, ob das Wort „Mut" den eigentlichen Gattungs-
begriff zu seinen Zusammensetzungen wie Kleinmut, Demut, Hochmut bildet,
und gleich darauf eine scharfe Definition des Grundes, des Wesensgrundes und des
Existenzgrundes gefordert und an die aristotelische Lehre von der vierfachen
Ursache angeknüpft wird. Auch auf Induktion und Deduktion wird eingegangen.
Der Verfasser bleibt da bei der Lehre stehen, daß wir zur Erkenntnis allgemeiner
Gesetze auf Grund von Beobachtungen nur darum fortzuschreiten vermöchten,
weil wir das einzelne Geschehen als eine Folge aus dem Wesen der Dinge begriffen,
so daß, wie der Verfasser meint, Induktion und Deduktion im Grunde auf das-
selbe hinauskommen. Wie unzulänglich das ist, braucht nicht dargetan zu werden.
Es rächt sich eben bitter, daß der Verfasser das Wesen der Induktion bei Aristoteles
umschrieben finden will, während es zwar nicht bei Bacon, aber bei Kepler und
Galilei zuerst kräftig zutage kommt. Wieviel Arbeit hätte sich Kepler sparen können,
wenn er, wie das der Verfasser S. 36 empfiehlt, zunächst die elliptische Gestalt
der Erdbahn dargetan, dann sie als eine Folge der Planetennatur der Erde begriffen
und damit für alle übrigen Planeten erschlossen hätte. — Es ist jetzt im ganzen
üblich, die Frage nach der Methode des Erkennens streng von der Frage nach dem
Erkenntniswert des erlangten Wissens — die erkenntnistheoretische Frage von der
angez. von G. Louis. 447
metaphysischen zu trennen, was denn freihch, wie die Dinge liegen, meist dazu
führt, metaphysische Fragen überhaupt zurückzustellen oder ihre Erörterung
doch auf einige wesentliche einzuschränken. Auch hier weicht der Verfasser ab.
Er wirft gleich im Eingang seiner Schrift die Frage auf, ob das Denken sein Ziel
erreichen, ob es die Dinge erkennen kann, wie sie an sich sind. Die Lehrmeinungen,
die darüber hervorgetreten sind, gliedern sich für ihn lediglich in zwei Gruppen,
Er stellt dem Dogmatismus den Skeptizismus gegenüber, in dem er eine radikale
und eine gemäßigte Richtung unterscheidet. Die Beurteilung der beiden entgegen-
gesetzten Grundansichten kann nach den Worten des Verfassers kaum Schwierig-
keiten verursachen. Er meint, „der Dogmatismus mit seiner Behauptung, der
menschliche Geist sei fähig, in den Besitz der Wahrheit zu gelangen, sei im all-
gemeinen unbedenklich anzuerkennen." Mit der antiken Skepsis setzt sich der
Verfasser auseinander, indem er die xpoTcoi des Aenesidemus in der Fassung des
Agrippa vorlegt und empfiehlt, die Schüler in ihrer Widerlegung zu üben. Dem
modernen Agnostizismus begegnet er, indem er über die Sinnesempfindungen die
alte Lehre der Scholastik, die Abbildungstheorie, vorträgt. Die Schwingungen
der Luft, die uns Schalleindrücke vermitteln, die Schwingungsvorgänge im Äther,
die wir als Träger der Lichtphänomene betrachten, üben nach ihr nicht lediglich
eine Wirkung auf unsere Sinnesorgane aus und regen dadurch die Psyche zu einer
Empfindung an, sondern sie vermitteln dem erkennenden Subjekt die objektiv
vorhandenen Qualitäten der Dinge. Wie der Verfasser sich die Vertretung dieser An-
sicht denkt, deutet er nur flüchtig, aber sehr charakteristisch an. Da wird z. B. die
Frage aufgeworfen, warum denn, wenn in der Außenwelt nur Bewegungsvorgänge vor-
handen seien, diese nicht als solche wahrgenommen würden, bald danach aber kommt
die schwerwiegende Frage, ob die in der Empfindung wahrgenommenen Qualitäten,
sowie sie empfunden werden, den Dingen anhaften können, da doch die Empfindungen
der Psyche des Menschen angehören, die Qualitäten der Dinge aber eine Existenz
im Raum haben müssen. Doch der Verfasser fügt gleich hinzu, diese Betrachtungs-
weise lasse sich ebenso gegen die objektive Existenz der primären Qualitäten,
wie gegen die der sekundären wenden und führe damit zum Idealismus. Den aber
vermag der Verfasser nicht ernst zu nehmen. Er meint, man solle ihn nur konsequent
auf irgend einen Vorgang des täglichen Lebens etwa auf eine Ferienreise anwenden.
Dann werde er sich mehr als sonderbar ausnehmen. Überdies widerstreiten
alle Lehren, die die Abbildungstheorie ablehnen, der veracitas Dei. Unstreitig
sind, so läßt der Verfasser diese Theorie ausführen, die Sinne dazu gegeben, daß
man in bequemer Weise mit der Außenwelt in wahrheitsgetreuen Verkehr treten
könne. Wir wollen die Welt kennen lernen, wie sie wirklich ist. Wenn sich aber
die Außenwelt nach den sekundären Qualitäten in Wirklichkeit wesentlich anders
verhält, als sie erscheint, ist es dann nicht der Schöpfer selbst, der allen Menschen,
ja allen Sinneswesen eine Täuschung aufnötigt, der sich niemand entziehen kann?
Hiermit wäre der Inhalt der Logik des Verfassers im wesentlichen charakterisiert.
In welcher Richtung ein Unterricht, der ihr folgt, wirken kann, braucht nicht
erörtert zu werden. Ob er aber eine tiefer greifende Wirkung überhaupt ausüben
wird, das wird nach Ansicht des Referenten davon abhängen, wieweit der Lehrer
imstande ist, die vielfältigen modernen Philosopheme, zu deren Widerlegung die
448 P. Vogt, Leitfaden der philosophischen Propädeutik, angez. von G. Louis.
Schrift auffordert, als sehr ernsthafte, mit einer gewissen Notwendigkeit erwachsene
Gedankenbildungen zu behandeln, deren relative Berechtigung man anerkennen
muß, wenn man sie auch in letzter Linie ablehnt. Es kann kein tieferes Interesse
erwecken, wenn der Unterricht lediglich dazu anleitet, von dem einmal eingenomme-
nen Standpunkt aus, ohne eigentliches Verständnis über entgegengesetzte Ansichten
abzuurteilen. Die vorliegende Schrift gibt indessen keinerlei Fingerzeig, wie diese
Klippe vermieden werden kann.
Noch schwerere Ausstellungen sind an dem zweiten Teil des Werkes, der die
Psychologie behandelt, zu machen. Er soll, wie in der Einleitung gesagt wird,
einen Abriß der empirischen Psychologie geben und sich damit den Instruktionen
für den Unterricht an den Gymnasien in Österreich, für den das vorliegende Werk
in erster Linie bestimmt ist, anpassen. Denn durch sie ist der Psychologie im Rahmen
der philosophischen Propädeutik ausdrücklich die Aufgabe gestellt, „die eigenartigen
Erscheinungen des psychischen Lebens'' darzustellen und ,,in das Wesen psychischen
Geschehens" einzuführen. Aber die empirische Psychologie, die der Verfasser vor-
legt, trägt ein eigenartiges Gepräge. Zwar das Hauptstück der philosophischen
Psychologie der Scholastik, die Lehre von der Substantialität, der Einfachheit
und Unsterblichkeit der Seele wird in den Anhang des Werkes verwiesen und eben
da wird auch die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele zueinander behandelt.
Der Hauptteil gibt auch in der Lehre von den Empfindungen, den Vorstellungen
und ihrer Reproduktion, dem Fühlen und Wollen das Landläufige. Auffallend
ist nur, daß das Webersche Gesetz nicht in der klaren Bestimmtheit, die ihm eignet,
vorgetragen wird, daß wir vielmehr an seiner Stelle eine blasse Allgemeinheit
über die Abhängigkeit der Empfindung vom Reiz finden und daß die Wahrnehmung
überall als ein passives Geschehen betrachtet wird. Aber so charakteristisch das ist,
den wesentlichsten Charakterzug bekommt das Werk durch die Tatsache, daß es
mit Behauptungen und Unterstellungen durchsetzt ist, die mit moderner Wissen-
schaft nichts gemein haben. Diese Lehrstücke hängen sämtlich mit einer Theorie
des Sehaktes zusammen, die einerseits an die in der Antike aufgetretene Lehre er-
innert, daß das Auge mit Hilfe von Sehstrahlen die gesehenen Objekte gleichsam
betaste, und andrerseits an eine noch vor etwa sechzig Jahren weitverbreitete
Ansicht anknüpft, nach der das Sehen dadurch zustande kommt, daß zunächst
ein Bild des gesehenen Gegenstandes auf der Netzhaut des Auges entsteht und
daß dies dann in den Außenraum projiziert wird. Da wird z. B. die Frage auf-
geworfen, ob der Ort, an dem die Wahrnehmungen zustande kommen mit den meisten
Physiologen in dem Zentralorgan oder mit der alten Philosophie und der populären
Ansicht in den Sinnesorganen zu suchen sei. Der Verfasser entscheidet sich
für die letztere Auffassung. Bei der Begründung legt er unter anderem auch
die Frage vor, mit welcher Ansicht sich die Projektion der Netzhautbilder
in den Außenraum am leichtesten vertrage. Ferner wird von den Stäbchen und
Zapfen der Netzhaut gehandelt, von denen wie bekannt nur die Zapfen Farben-
empfindungen zu vermitteln vermögen, während die Stäbchen lediglich für Hell
und Dunkel empfindlich sind. Diesen Stäbchen nun ist bei der Projektion der Netz-
hautbilder nach außen von dem Verfasser eine besondere Rolle zugedacht. Er
merkt deswegen an, daß schon vor mehr als sechzig Jahren bedeutende Physiologen
L. Weniger, Jugenderziehung und Weiterbildung, angez. von L. Mackensen. 449
den Stäbchen der Netzhaut eine katoptrische, d. h. lichtspiegelnde Funktion bei-
gelegt haben und knüpft daran die Aufforderung zu versuchen, ob sich nicht aus
dieser Funktion der Stäbchen das Phänomen erklären lasse, daß bei starker
Steigerung der Belichtung sich die Farben nach Weiß hinändern und daß bei
starker Verminderung der Belichtung die Farben sämtlich zu schwinden beginnen.
Nach diesen Vorbereitungen trägt der Verfasser über die Funktion des Auges
selbst aber etwa folgende Gedanken vor. Das Auge ist ihm ein Apparat, der zwei
völlig voneinander abtrennbare Aufgaben erfüllt. Erstens ist es um des Bildchens
willen, das von einem mit dem Auge wahrgenommenen Gegenstande auf der Netz-
haut entsteht, ein Photographieapparat. Zweitens wirkt es als Projektionsapparat.
Als Lichtquelle, die dazu dient, das auf der Netzhaut entstandene Bild, nach außen
zu projizieren, wird das in die Spiegelapparate des Auges, die Stäbchen der Netz-
haut, eingeströmte Licht in Anspruch genommen, als Auffangeschirm für die
projizierenden Strahlen aber gilt der Gegenstand selbst. Um die Erfassung des
von dem Auge nach außen projizierten Bildes zu erklären, wird an die Tatsache
erinnert, daß wir, um einen Gegenstand abzutasten, ihn nicht selbst zu berühren
brauchen, sondern auch mit einem in der Hand gehaltenen Stäbchen an seiner
Oberfläche entlang tasten können; demgemäß wird empfohlen, die von dem leben-
digen Auge ausgehenden Projektionsstrahlen gleichsam als Taststrahlen zu betrach-
ten. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diese mehr als seltsame Lehre hier ernst-
haft zu erörtern. Wir können nur bedauern, daß dergleichen in einem für die Schule
bestimmten Buch vorgelegt wird. Dies Bedauern wird verstärkt durch die Kühn-
heit, mit der der Verfasser, der Einwände gedenkt die „als experimentell erwiesene
Tatsachen ausgegeben und gegen obige Auffassung ins Feld geführt werden**.
Gemeint ist da vor allem Herings Gesetz der identischen Sehrichtung. Der Ver-
fasser geht dann an eine Widerlegung dieses Gesetzes. Doch beweist dieser Versuch,
daß er weder das empirische Material gehörig kennt, noch von dem Ernst empirischer
Forschung eine zutreffende Vorstellung hat. Denn die Ausführungen, die Herings
Lehre beseitigen sollen, beschränken sich auf vage Andeutungen. Es braucht
hiernach kaum gesagt zu werden, daß das gesamte Werk für den Unterricht nicht
geeignet erscheint.
Berlin. G. Louis.
Weniger, L., Jugenderziehung und Weiterbildung. Gütersloh
19n. C. Bertelsmann. VH u. 134 S. 8«. 2 M., geb. 2,50 M.
: Aus der Fülle der Erfahrungen eines langen und gesegneten Lebens heraus
behandelt der Verfasser, „ein alter Schulmann, der über ein halbes Jahrhundert
auf diesem Felde gewirkt hat", Fragen der Erziehung von der Kinderstube an bis
zur Hochschule und darüber hinaus. Die tiefe Liebe zur Jugend, die wahre Frömmig-
keit und edle Vaterlandsliebe, die aus jeder Zeile des Buches zu uns sprechen,
machen im Verein mit der Zurückhaltung, mit der Übelstände besprochen, und
der bescheidenen Art, mit der Ratschläge dargeboten werden, die Lektüre der
kleinen Schrift zu einem hohen Genuß. Das Büchlein ist für gebildete Christen
bestimmt, für alle Väter und Mütter zunächst, von denen leider so viele zum Schaden
unserer Nation sich ihren Erziehungspflichten zu entziehen suchen, aber auch
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 29
450 L. Weniger, Jugenderziehung und Weiterbildung, angez. von L. Mackensen.
der Berufserzieher, der Schulmann, wird manches aus ihm lernen können, haben
doch drei von den fünf Kapiteln des Buches ihn und seine Aufgabe vorzugsweise
im Auge. Die meisten der Forderungen, die der Verfasser an den Lehrer richtet,
sind alt und selbstverständlich; ob sie deshalb aber auch überall bekannt sind
oder von allen Erziehern beherzigt werden, ist doch recht zweifelhaft. Wenn z. B.
auf Seite 76 gefordert wird, daß jeder Lehrer seine Schüler ordentlich kennen
lerne, seine Eigenart begreife, die kleine Lebensgeschichte des Zöglings wenigstens
in den Hauptzügen in Erfahrung bringe und danach die Behandlung des Kindes,
welches das Haus ihm jeden Tag für viele Stunden vertrauensvoll übergibt, einrichte,
so weiß jeder Eingeweihte, daß gegen diese Forderung, die m. E. bei einigem guten
Willen auch an großen Anstalten und in überfüllten Klassen durchzuführen ist, oft
gefehlt wird. Auch daß auf den alten Grundsatz „maxima debetur puero reverentia''
mit aller Deutlichkeit einmal wieder hingewiesen wird, ist mit Freuden zu begrüßen.
Sehr vernünftig ist ferner, daß der Verfasser von den geschlechtlichen Aufklärungen
unserer Jugend in der Schule nichts wissen will; Belehrungen über das Geschlechts-
leben, noch gar in feierlicher Form, gehören nicht in sie hinein, und die Schule
sollte sich hüten, sie sich von bequemen Eltern aufdrängen zu lassen. Auch darin
wird man dem Verfasser beistimmen, daß die höhere Schule sich gegen die Be-
strebungen, die ihr immer neue Fächer aufladen wollen, ablehnend oder zum
mindesten abwartend verhalten soll; man soll der Weiterbildung in der Zeit nach
Vollendung der Schulunterweisung auch noch etwas übriglassen. Daß dagegen
manche bereits vorhandenen Fächer, wie z. B. die Erdkunde oder die Anthropologie,
einen stärkeren Betrieb, zumal auf dem Gymnasium, verdienten, wer möchte das
bestreiten? Auch daß der deutsche Unterricht eine seiner Hauptaufgaben, die
Erziehung zur Darstellung in der Muttersprache, mündlich und schriftlich noch viel
besser lösen könnte, wer möchte es leugnen? Fände doch das, was in dem vor-
liegenden Büchlein über diesen Gegenstand gesagt ist, allseitige Beachtung !
Nur zu unterschreiben sind auch die Ausführungen des Verfassers über die
Aufgabe der Universitäten (S. 115). Auch sie sollen mitarbeiten an dem großen
Werke der Erziehung, und so richtig es ist, daß an ihnen die Wissenschaft völlig
in den Vordergrund tritt, so verfehlt wäre es, wenn die Erziehung fortan ganz außer
acht gelassen würde. „Universitäten sind keine Akademien, sondern Unterrichts-
anstalten, vom Staate zur Vorbereitung für wichtige Berufszweige bestimmt und
unterhalten. Der Universitätslehrer soll nicht nur seine Vorlesung halten und auf
dem Studierzimmer stolz abgeschlossen seiner Forschung leben, sondern er soll
sich auch des Studenten annehmen, ihn mit gutem Rat unterstützen, ihm in seinen
Geistesnöten förderlich und dienstlich sein. Es ist unbarmherzig, wenn sich keiner
der hochangesehenen Gelehrten um den frisch von der Schule kommenden grünen
Jungen kümmert, mit der vornehmen Ausrede: ,Man werfe ihn ins Wasser, so wird
er auch schwimmen lernen!' Wie viele ertrinken oder ein gutes Stück kostbarer
Lebenszeit einbüßen, steht auf einem anderen Blatte."
Der ,, Weiterbildung", d. h. der Bildung durch uns selbst, der eigenen Erziehung
durch bewußtes Wollen, ist das letzte Kapitel des Buches gewidmet. Auch hier
eine Fülle von anregenden und klugen Gedanken, von denen hier nur die über ein-
seitige und vielseitige Bildung, über das Lesen (warum „Lesung"?) der großen
F. Paulsen, Gesammlte Pädagogische Abhandlungen, angez. von Fr. Heußner. 451
Schriftsteller der Heimat und des Auslandes, über Reisen, über die Pflichten eines
Deutschen hervorgehoben seien.
Das Büchlein, so einfach es anspricht und so schlicht es auftritt, verdient eine
weite Verbreitung, auch in den Kreisen der Amtsgenossen.
Gotha. L. Mackensen.
Paulsen, Friedrich, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen.
Herausgegeben und eingeleitet von Eduard Spranger. Stuttgart u.
Berlin 1912. Cottasche Buchhandlung Nachf. 8. XXXV u. 711 S. geh. 9 M.,
in Leinwand 10,50 M., in Halbfranz 11,50 M.
Friedrich Paulsen starb am 14. August 1908 in Steglitz in einem Alter von
62 Jahren. Auf dem Fichteberge bei Steglitz haben ihm die deutschen Oberlehrer
im vorigen Jahre ein würdiges Denkmal errichtet, und ein neues schönes Denk-
mal für ihn haben wir in der vorliegenden, von berufenster Seite herausgegebenen
und eingeleiteten Sammlung seiner pädagogischen Abhandlungen.
Es ist eine Auswahl aus dem überreichen Material seiner verstreuten Schriften,
und werden uns hier — es sind 48 an der Zahl — nur solche aus seiner schulgeschicht-
lichen, schulpolitischen und allgemein pädagogischen Wirksamkeit, worin seine
Lebensarbeit gipfelte, geboten. Die Anordnung ist die chronologische, und die Ar-
beiten liegen zwischen den Jahren 1889 und 1908. Der erste Aufsatz, ,,Das Real-
gymnasium und die humanistische Bildung'*, der als das Programm von Paulsens
Wirksamkeit gelten darf, die längste der hier aufgenommenen Arbeiten, umfaßt
65 S. und erschien damals als Broschüre; der letzte, über ,, Wissenschaftliche Fort-
bildungskurse für Oberlehrer", erschien, 6 Seiten lang (eine der kürzesten Arbeiten
der Sammlung), im Oktober 1908, als ein op. posthum. im Pädagogischen Archiv als
einleitendes Wort zu einer Reihe von Artikeln über die wissenschaftliche Fort-
bildung der Oberlehrer, ein Beitrag zu der von Paulsen so warm vertretenen These:
Der Oberlehrerstand ein Gelehrtenstand, der auch noch andere Aufsätze der
Sammlung dienen.
In den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften sind Paulsens Abhandlungen
zuerst gedruckt worden, und es ist gar dankenswert, daß die besten und bedeutungs-
vollsten hier so schön zusammengestellt, so leicht zugänglich gemacht und zum
Teil auch auf diese Weise der Vergessenheit entrissen sind. Mit großem Fleiß sind
dann noch am Schluß des Bandes von einem Kand. Pieper in 365 Nummern
alle Schriften Paulsens mit ihren Fundstätten in chronologischer Reihenfolge
vom Jahre 1871 bis 1912 zusammengestellt, sowohl die selbständig erschienenen
wie die in Zeitungen und Zeitschriften, deren sich 36 ergeben, gedruckten. Freunde
und Schüler Paulsens haben den Herausgeber bei dem Werk unterstützt.
Ganz besonderen Dank verdient aber die 27 Seiten umfassende Einleitung
von Professor Spranger, die den sachlichen Zusammenhang der Arbeiten
vermittelt, zugleich auch manche Ergänzungen aus hier nicht abgedruckten Stücken
bringt, ja einiges auch aus dem bisher ungedruckten zweiten Teil der Lebenserinne-
rungen Paulsens, die noch im Besitz seiner Witwe sind, entnehmen konnte. Es
empfiehlt sich, diese Einleitung zunächst zur allgemeinen Orientierung durchzulesen,
dann aber, nachdem man die Aufsätze (alle oder mit Auswahl) gelesen, die Einleitung
29*
452 F. Paulsen, Gesammelte Pädagogische Abhandlungen, angez. von Fr. Heußner.
noch einmal sorgfältig durchzugehen, um so ein recht klares Bild der pädagogischen
Entwicklung, Tätigkeit und Bedeutung des Mannes zu erhalten, der die für die
Pädagogik so wichtigen letzten drei Jahrzehnte als „Kenner der Vergangenheit,
Deuter der Gegenwart und Prophet der Zukunft" begleitet hat, wohl der hervor-
ragendste und wirksamste Führer der pädagogischen und schulpolitischen Bewe-
gungen dieser Epoche gewesen ist und sich um das nationale ßildungswesen so
hohe Verdienste erworben hat. Das wäre so ein Thema für eine größere Seminar-
arbeit eines Kandidaten! Die hier zusammengestellten Aufsätze sind ein wichtiges
Stück deutscher Bildungsgeschichte und Schulpolitik und ein schönes Denkmal
für den Mann, der mahnend, klärend und führend so vielseitig wirkte und ins-
besondere als der getreue Eckart der höheren Schulen, ihrer Lehrer und Schüler,
bezeichnet werden konnte.
Der größte Anteil der Arbeiten fällt dem höheren Schulwesen zu, der zweite
dann den Universitäten. Aber auch der Volksschule sind einige Aufsätze gewidmet
mit Erörterungen über Fortbildungsschulen oder eine „ländliche Hochschule'*
und die Frage der konfessionellen Schule. Dazu kommen noch Abhandlungen
über allgemein pädagogische Fragen, die aus früherer Zeit heitere Spiegelbilder
der Zeit, von einem schönen Optimismus getragen, die aus den letzten Jahren,
der Zeit körperlichen Siechtums, mehr von einer pessimistischen Lebensauffassung
durchzogen. Hervorheben möchte ich aus der Zahl der Aufsätze hier noch einige,
die für die Lehrer und die Schule gegenwärtig mir von besonderer Bedeutung
zu sein scheinen, nämlich: die Philosophie im Unterricht der höheren Lehranstalten,
die Überbürdung der Gymnasiallehrer, die verschiedenen Artikel über den Ober-
lehrerstand als einen gelehrten Stand, über Programmwesen und Programmbibliothek,
zum Kapitel der geschlechtlichen Sittlichkeit. Der Aufsatz über Fr. A 1 1 h o f f
mag dazu dienen, manchem das in seinem Urteil noch schwankende Bild dieses
hervorragenden Mannes zu klären und richtig zu stellen.
Eine schöne Würdigung Paulsens gab kurz nach seinem Tod sein Freund
M ü n c h , der ihm nun am 25. März d. J. im Tode nachgefolgt ist, im Korrespondenz-
blatt für den akademisch gebildeten Lehrerstand. In schöner Klarheit wird durch
unser Buch das Bild dieses ,, Lehrers Deutschlands" weiterhin vor vieler Augen
stehen, seinen Schülern wird dadurch die Erinnerung neu belebt, die Nachfolgenden
werden schon, abgesehen von dem reichen Inhalt, durch die ruhige, einfache, klare,
in Schönheit der Form fesselnder Darstellung und des Verfassers edele Persönlich-
keit, in der ein schöner Idealismus sich mit einem gesunden Realismus verband,
gewonnen werden. Man wird, je nach seiner Stellung, in vielem ihm zustimmen,
manches ablehnen, immer aber seine Ansicht achten. Als ein Archiv von Paulsens
bildungspolitischer Tätigkeit wird das Buch auch für künftige Zeiten einen bleibenden
Quellenwert behalten und sei zur Anschaffung für Bibliotheken warm empfohlen.
Kassel. Fr. Heußner.
Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. Erster Jahrgang
und erstes Beiheft. Berlin 1911. Weidmannsche Buchhandlung. Jahrgang
in 4 Heften 8 M.
20 Jahre hindurch hat die „Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schul-
geschichte" ihre Mitteilungen herausgegeben, die von Kehrbach und Heubaum
Zeitschrift für Geschichte der Erziehung usw., angez. von M. Wehrmann. 453
geleitet wurden. In diesen Bänden ist eine große Fülle von Stoff zur Geschichte
der Erziehung und des Unterrichts enthalten, recht ungleich im Werte, wenig
systematisch in der Sammlung und Zusammentragung, aber doch im ganzen nicht
wertlos oder gar schädlich. Als man vor 20 Jahren anfing, diesem Zweige der deut-
schen Kulturgeschichte größeres Interesse zuzuwenden als bisher, da ging man noch
wenig planvoll vor und sammelte Stoff, ohne immer das Unwichtige von dem
Wichtigen zu scheiden. Allmählich aber hat sich auch für diese Disziplin eine Art
von Methode gebildet, man hat gelernt, planmäßig zu arbeiten und auch an dem
Quellenmaterial Kritik zu üben. Diese Erkenntnis hat nun dazu geführt, der
Zeitschrift der Gesellschaft einen etwas anderen Charakter zu geben, wenigstens
indem man von der nationalen Beschränkung auf die deutschen Verhältnisse für
die allgemeinen und wichtigen Fragen abgehen will. Zugleich soll die Veröffent-
lichung von Arbeiten rein lokalgeschichtlicher Art, die eine Zeitlang in den Mit-
teilungen gar zu sehr hervortraten, eingeschränkt werden und nur dann erfolgen,
wenn sie in irgendeiner Weise das Typische ihres Materials oder ihrer Ergebnisse
betonen oder aber Verhältnisse beleuchten, die vom Typischen abweichen. Das
ist nur mit Freude zu begrüßen und dringend zu hoffen, daß dies Programm auch
eingehalten wird. Der Dilettantismus, der sich schon in so vielen geschichtlichen
Zeitschriften breit macht, ist der Tod ernster wissenschaftlicher Forschung, und
wenn es der vorliegenden Zeitschrift gelingt, einen maßgebenden Einfluß auf die
schulgeschichtlichen Arbeiten, die zu einem großen Teile noch sehr am Dilettan-
tismus leiden, auszuüben und sie in die richtigen Bahnen zu leiten, so wird das ein
großes Verdienst sein und gewiß im Geiste Heubaums gehandelt sein, der sich
um die Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte und um die
Neugestaltung ihrer Zeitschrift besonders verdient gemacht hat. Der vorliegende
1. Jahrgang, der in 4 Heften erschienen ist und den Mitgliedern 'der Gesellschaft
für den niedrigen Jahresbeitrag von 5 M. mit allen Beiheften geliefert wird, enthält
eine Reihe von tüchtigen Abhandlungen, wie von B. Barth über Montaignes
Pädagogik, von A. J o 1 1 e s über Spielzeug vergangener Jahrhunderte, von
P. Schwartz über preußische Schulpolitik in den Provinzen Südpreußen und
Neuostpreußen, von M. Herrmann über Alfred Heubaum u. a. m. Auch
einzelne Quellenstücke, z. B. zur Geschichte der Fürstenerziehung, oder Notizen
und Nachrichten aus alten Rechnungen, werden mitgeteilt. Es fehlen noch mehr
allgemeine Aufsätze besonders auch methodischen Inhaltes; sie tun, wie es scheint,
besonders not. Wir wünschen der Zeitschrift eine weitere glückliche Entwicklung
und vor allem eine recht große Verbreitung, namentlich auch in den Kreisen der
Lehrer an höheren Schulen, die sich zum größten Teile von den Bestrebungen
der Gesellschaft noch recht fern halten.
Das erste Beiheft zu der Zeitschrift ist als ein Beitrag zur Geschichte der Er-
ziehung und des Unterrichtes in Sachsen herausgegeben worden von Prof. Dr.
R. N e e d 0 n und enthält die lectionum praxis des Magisters
J 0 h a n n e s T h e i 1 1. Es ist das ein Tagebuch für die Ratsschule in Bautzen
aus den Jahren 1642— «1679. Johannes Theill (geb. 1608) war von 1641—1679
Rektor an dieser Schule. Über den Unterricht, die Feiern und allerlei Ereignisse hat
er sorgfältig Buch geführt; es ist unzweifelhaft, daß sich in den Aufzeichnungen
454 Quintin Steinbart, 1841—1912, angez. von A. Matthias.
manche wertvolle oder interessante Notiz findet, man muß es indessen bezweifeln,
ob der vollständige Abdruck nötig oder ratsam war. Es gibt auch an anderen
Anstalten solche acta scholastica, wie sie häufig genannt werden; sollen diese auch
veröffentlicht werden? Daß wir unter den Quellenpublikationen zu ersticken
drohen, ist eine alte Klage, deren Berechtigung nicht zu leugnen ist.
Greifenberg i. Po. M. Wehrmann.
Quintin Steinbart, 1841—1912. Blätter der Erinnerung der 29. Delegierten-
versammlung des Allgemeinen Deutschen Realschulmännervereins gewidmet
von Karl Schwabe, Richard Eickhoff, Max Walter. Mit einem Bildnis des Ver-
storbenen. Berlin-Wilmersdorf 1912. Rosenbaum & Hart. 20 S. 8«. 0,80 M.
Am 5. Juni d. J. ist der Geheimrat Dr. Quintin Steinbart, der Di^'eklor des
Duisburger Realgymnasiums, nach kurzer Krankheit gestorben. Ihm, dem Be-
gründer und langjährigen Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Realschul-
männervereins, ist die vorliegende Schrift gewidmet. Schwabes Aufsatz gilt der
Erinnerung an den Verstorbenen. Eickhoffs Worte waren zum 70. Geburtstage
Steinbarts niedergeschrieben; sie kennzeichnen den Dahingeschiedenen im Kampfe
um die Schulreform. Max Walter feiert seinen ehemaligen Rawitscher Direktor
am Tage seines vierzigjährigen Dienstjubiläums als Direktor einer Vollanstalt.
Beigefügt ist noch ein kleines Charakterbild des Lehrers und Menschen Steinbart,
das ein dankbarer Schüler, der selber zum Lehrer geworden, mit liebevoller Hand
gezeichnet hat.
Da Steinbart immerfort als Vorkämpfer für die Gleichberechtigung der Real-
anstalten in erster Linie gestanden hat so bilden diese Blätter zugleich einen Bei-
trag zur Geschichte des höheren Unterrichts der die weitesten Kreise interessieren
muß; und wir können um das Andenken dieses wackeren Streiters, dieses vor-
trefflichen Lehrers und Direktors und dieses herzgewinnenden, wahren und schlichten
Mannes zu ehren, nichts Besseres tun als der kleinen Schrift eine möglichst weite
Verbreitung zu wünschen. Steinbart verdient es, bekannt zu werden, wo die Kennt-
nis seines Wirkens noch nicht vorhanden war, und in lebhafte Erinnerung gerufen
zu werden, wo man ihn schon lange verehrte und liebte.
Berlin. A. M a 1 1 h i a s.
Meth, B., Schulgeschichten aus dem alten Görlitzer
Kloster. Berlin 1909. Trowitzsch u. Sohn. XI u. 189 S. 8". 5,45 M.
Eine eigenartige Veröffentlichung zur Schulgeschichte! In der Prima des
alten Görlitzer Gymnasiums wurde seit 1810 unter dem Titel Memorabilia primae
classis gymnasii Gorlicensis eine Art von Tagebuch geführt, in dem alle möglichen
Ereignisse innerhalb und außerhalb der Schule aufgezeichnet worden sind. Die
beiden ersten Bände dieser Annalen umfassen die Jahre 1810 bis 1838, ein dritter
Band (1839—1853) ist verloren, der vierte, der die neuere Zeit behandelt, enthält
kurze Aufzeichnungen, von denen der Herausgeber nur einige aus den Jahren
1853 bis 1858 mitteilt, während die ersten Teile fast vollständig abgedruckt worden
sind. Der Inhalt dieses Tagebuches läßt uns tiefe Blicke in das Schulleben tun.
Mit Erstaunen, ja fast mit Grausen lesen wir von dem ungebundenen Leben und
K, Reisinger, Dokumente zur Geschichte usw. angez. von M. Wehrmann. 455
Treiben der Primaner, von Kommersen und Kneipereien, von Duellen und Prügeleien,
von Ausbrüchen jugendlichen Übermutes und von einer Disziplinlosigkeit eigener
Art. Wir bekommen dadurch ein Bild von Zuständen, die uns heute ganz unglaub-
lich erscheinen, so daß wir mit Befriedigung ausrufen: ,,Wir, moderne Lehrer und
Schüler, sind doch bessere Menschen!" Das soll die oft gerühmte Blütezeit der
humanistischen Gymnasien sein, das die Jahre, in denen unsere Väter den Grund
zu ihrer Bildung legten! Nun, ganz so schlimm, wie es nach dieser Schilderung
erscheint, wird es nicht gewesen sein. So wertvoll in einzelnen Beziehungen diese
Quelle für unsere Kenntnis vom Schulleben der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
sein mag, so vorsichtig muß sie benutzt werden, um allgemeine Schlüsse daraus
zu ziehen. Die Primaner, die in den Annalen ihre Erlebnisse aufzeichneten, wollten
nicht eine getreue Schilderung der Vorgänge geben, sondern ihre Mitschüler und die
späteren Generationen mit ihren Erzählungen amüsieren und haben deshalb in
der Art einer Bierzeitung Übertreibungen und Ausschmückungen beliebt, die im
einzelnen deutlich erkennbar sind. Ist es doch eine bekannte Eigenart der Jugend,
mit solchen Heldentaten innerhalb und außerhalb der Schule zu renommieren und
sich auch später noch dessen zu rühmen, wodurch sie die Schulordnung verletzt
und ihre Lehrer geärgert oder hintergangen zu haben glauben. Ganz besonders
wird das der Fall gewesen sein in solchen schriftlichen Aufzeichnungen, die sich
in der Klasse forterbten. Deshalb schenke man ihnen nicht zu viel Glauben! Von
dem ernsten Arbeiten und Streben zu sprechen, die Unterrichtstätigkeit ihrer Lehrer
zu schildern, das lag den jungen Schriftstellern fern, ja dazu fehlte es ihnen an
Urteil und Verständnis. So wollen wir diese Aufzeichnungen, deren Veröffentlichung
immerhin dankenswert ist, nur mit Vorsicht als Quelle zur Schulgeschichte benutzen.
Reisinger, K., Dokumente zurGeschichte der humanistischen
Schulen im Gebiet der Bayerischen Pfalz. Mit historischer
Einleitung herausgegeben. Erster Band. Historische Einleitung und Dokumente
der bischöflichen Schulen in Speyer. Zweiter Band. Dokumente zur Ge-
schichte der weltlichen Schulen in Zweibrücken, Speyer und kleineren Orten.
(Monumenta Germaniae Paedagogica Band XLVII, XL IX). Berlin 1910, 1911.
Weidmannsche Buchhandlung. XVIII u. 446 S. IX u. 666 S. 8°. 11,60 u.l7M.
Nach dem neuen Plane für die Fortführung der Monumenta Germaniae Pae-
dagogica (Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schul-
geschichte XX, S. 233—236) sollen „an die Stelle der Quellenpublikationen, denen
nur darstellende Einleitungen hinzugefügt waren, umgekehrt in größerer Zahl
als bisher umfassende Darstellungen treten, die neben dem verarbeiteten Stoff
nur einzelne, besonders wichtige Dokumente vollständig zum Abdruck bringen".
Die vorliegenden Bände, die noch nach den älteren Grundsätzen bearbeitet worden
sind, bilden doch bereits eine Art von Übergang zu den neuen. Die „historische
Einleitung" ist so eingehend und ausführlich, daß sie in dem ersten Bande
den größten Teil einnimmt. Sie bietet für die Territorial- und Lokalgeschichte
eine Fülle von Material, das weiter bearbeitet werden kann, für die allgemeine
deutsche Schulgeschichte ist das Ergebnis minder reich. Man lese die treffliche
Übersicht über die Entwicklung des gesamten Schulwesens der Pfalz (S. 313 — 328)
456 A. Huck, Synopse der drei ersten Evangelien, angez. von H. Richert.
durch, und man wird leicht erkennen, daß sich in ihr wenig Eigenartiges kundtut.
Der Verfasser sagt selbst, daß auf diesem Gebiete „für die Zeit des Mittelalters
alle die Haupterscheinungen im Schulwesen und die Haupteinflüsse von bedeutenden
Männern und Zeitströmungen zu beobachten sind, welche in der allgemeinen Ge-
schichte der Pädagogik die leitenden Gesichtspunkte ausmachen". Nicht anders
ist es in der späteren Zeit, die pädagogischen Anschauungen des 18. Jahrhunderts
2. B. sind auch in der Geschichte der Pfälzer Schule erkennbar. Das ist unzweifel-
haft interessant, aber €s ist nicht zu billigen, daß solche territorialgeschichtlichen
Arbeiten immer noch Aufnahme in die M. G. F. finden, obwohl bereits vor Jahren
ihr Ausschluß erwogen und beschlossen worden ist. Man sollte endlich damit Ernst
machen 1
Sehr ausführlich hat Reisinger im ersten Bande die Geschichte der Dom-
schule in Speyer, für die einige besonders lehrreiche Zeugnisse aus alter Zeit vor-
liegen, und der Gymnasien von Zweibrücken und Speyer behandelt. Dabei wird
namentlich für die Geschichte einzelner Unterrich'tsgegenstände reichhaltiger Stoff
geboten, der recht gründlich ausgebeutet werden sollte. Das geschieht in den
betreffenden Abschnitten des historisch-pädagogischen Literaturberichts noch nicht
in dem Umfange, wie es wünschenswert ist. Eine sehr dankenswerte Zugabe ist
die Zusammenstellung der Lehrbücher, die an den Gymnasien in Speyer und
Zweibrücken in Gebrauch waren.
Der zweite Band enthält eine Sammlung von urkundlichen Nachrichten und
Schriftstücken über die Schulen im Herzogtum Zweibrücken (Hornbach, Lauingen,
Zweibrücken u. a.), über das reichsstädtische Gymnasium in Speyer und Anstalten
an kleineren Orten (Landau, Höningen, Heidesheim). Eine reiche Auswahl von
Schulgesetzen, catalogi lectionum, Stundenplänen, Bestallungen, Visitations-
berichten, Zeugnissen, Schülerarbeiten, Berichten, Instruktionen, Plänen, Entwürfen,
Prüfungsaufgaben u. a. m. wird uns hier geboten. Darunter findet sich viel Stoff,
der beachtenswert ist, aber diesen aus der Menge herauszufinden, ist nicht leicht,
und man muß bezweifeln, ob sich die Forscher auf dem Gebiete der allgemeinen
deutschen Schulgeschichte dieser Mühe unterziehen werden, zumal da das Wort-
und Sachregister kaum dafür ausreichen wird. An dieser Stelle möchte ich auf-
merksam machen auf die Schülerarbeiten von 1631 (Nr. 64) und 1755 (Nr. 78),
die Schülerreden von 1736/68 (Nr. 106 a), die Prüfungsaufgaben eines Lehrers
von 1761 (Nr. 111), den Realschulplan von 1764 (Nr. 112) und Bahrdts Entwurf
zur Einrichtung eines Philanthropins von 1776/77 (Nr. 88, 89). Trotz der Bedenken,
die im allgemeinen gegen das Werk erhoben sind, muß nachdrücklich anerkannt
werden, daß es von sehr großem Fleiße und guter Kenntnis der schulgeschichtlichen
Verhältnisse zeugt.
Greifenberg i. P. M. W e h r m a n n.
Huck, A., Synopse der drei ersten Evangelien. 4. durchgesehene
und verbesserte Auflage. Tübingen 1910. J. C. B. Mohr. XXXVII. 223 S.
4,40 M.
Hucks Synopse bedarf keiner empfehlenden Anzeige mehr. Sie ist nicht nur
ein notwendiges Studentenbuch, sie ist nicht nur für den Religionslehrer unent-
F. Heyn, Geschichte Jesu, angez. von H. Richert. 457
behrlich, sie bietet jedem gebildeten Laien alles Material, um sich über die ersten
drei Evangelien ein Urteil zu bilden. Und wie wünschenswert wäre es, daß in einer
Zeit waghalsigster Theorien die wissenschaftlich gebildeten Männer einmal sich
über den wirklichen Tatbestand der Evangelien aus solcher Quelle informierten.
In den wertvollen Prolegomena führt Huck die ältesten Zeugnisse für die synoptischen
Evangelien im Wortlaut auf, zum textkritischen Apparat werden die griechischen
Handschriften, die Übersetzungen, die kirchlichen Schriftsteller genau namhaft
gemacht, ein weiteres Kapitel ist der apokryphen Evangelien und Agrapha gewidmet,
unter IV findet sich das Parallelen- und Stellenregister zur Synopse. Damit ist
in der Tat alles gegeben, was für eine ernsthafte Beschäftigung mit den Evangelien
wünschenswert ist. Es folgt dann in einer meisterhaften Anordnung und Übersicht-
lichkeit mit dem kritischen Apparat die eigentliche Synopse nach dem Tischen-
dorfschen Text. Man kann über die Sorgfalt, den Scharfsinn und den Gelehrtenfleiß,
der hier solch Werk geschaffen hat, nicht genug Rühmenswertes sagen. Die Ehrung,
die die Straßburger theologische Fakultät dem Verfasser wegen dieses Werkes
hat zuteil werden lassen, ist ein deutlicher Ausdruck der Dankbarkeit, den jeder
theologische Arbeiter dem Verfasser zollen wird.
Heyn, F., G e s c h i c h t e J e s u. 4. u. 5. verbesserte Auflage. Leipzig 1910.
Ernst Wunderlich. XXIV u. 334 S. 8«. 4 M.
Die weite Verbreitung, die Heyns Geschichte Jesu gefunden hat, ist wohl
verständlich, da das Buch große wissenschaftliche und pädagogische Vorzüge besitzt.
Der Verfasser hat die neuere und neueste Literatur über Jesus und die Evangelien
mit eigenem Urteil studiert und gibt dem Leser im Vorwort und in zahlreichen
Anmerkungen ein Bild von dem Gewirr der hier zu nennenden Anschauungen,
wobei allerdings die mehr rechts stehende Theologie mehr oder \yeniger ignoriert
wird. Da der Verfasser seinen Standpunkt klar präzisiert, so kann ihm daraus
kein Vorwurf gemacht werden. Wer, so sagt er, von einem dogmatischen Christus-
bilde ausgeht, wird das Buch getrost aus der Hand legen dürfen. Man kann einem
so ehrlich ausgesprochenen Standpunkte gegenüber nur fragen, ob der hier ein-
geschlagene Weg, nicht theologisch gebildete Leser in die wissenschaftliche Literatur
einzuführen, zum Ziele führt. Ich möchte meinen, daß statt der ausführlichen
Vorreden eine orientierende Einführung den Bedürfnissen solcher Leser mehr
entspräche.
Was dem Buch seine eigentümliche Färbung gibt, ist das Bestreben, mit
Nachdruck die Fühlung der Schule mit der wissenschaftlichen Evangelienforschung
praktisch zu vertreten. Zwar will der Verfasser nicht, daß die Schule alle „neuesten"
vermeintlichen Errungenschaften sofort auch für den Marktgebrauch weitergibt.
Er lehnt also Drews und Kalthoff ab. Aber die Vorreden belehren doch darüber,
daß die neuesten Hypothesen sofort auch auf die Gestaltung des den Schülern
zu übermittelnden Stoffes Einfluß haben. Ich lasse die Richtigkeit dieser wissen-
schaftlichen Sätze ganz unerörtert. Auch Heyns Theorien über diese Fragen sind
natürlich nur eine These neben andern. Mich interessiert hier nur die Frage, wieweit
die Schule für den Volksschulunterricht und für die mittleren Klassen der höheren
Schulen sich in Stoff und Methode des Lebens Jesu nach diesem wissenschaftlichen
458 F. Heyn, Geschichte Jesu, angez. von H. Richert.
Leuchtfeuer orientieren soll. Die Frage ist also, soll für diese Stufen das traditionelle
Christusbild oder das nach der modernen Forschung orientierte Jesusbild den
Schülern geboten werden? Heyn scheidet alle johanneischen Züge radikal aus,
weil die Gedanken des 4. Evangeliums ganz andersartig seien als die, welche der
Schüler bei den Synoptikern kennen lernt. Bei der Wichtigkeit dieser Frage will
ich an einem entscheidenden Punkte zeigen, wie sich die Anwendung dieser Grund-
sätze für die Praxis gestaltet: ich greife die Kreuzigung Jesu heraus. Nur Markus-
stellen werden verarbeitet. Mark. 15,V 20b— 23. V 25—35, v. 40 f. Ort und Zeit
der Kreuzigung werden genannt. Dann heißt es: zählt die Leiden auf, die der Gottes-
sohn ertragen muß! a) die körperlichen Schmerzen; b) die seelischen Schmerzen:
den Mördern ist er gleichgeachtet, verspottet, ohne Trost, verlassen. Und nun
wörtlich: „Ob ihm da nicht in fliegender Eile sein ganzes Leben durch die Seele
gezogen ist und ihn die jetzige Verlassenheit doppelt schmerzlich empfinden ließ?
Als glückliches Kind sieht er sich am Brunnen in Nazareth spielen, als Jüngling
hört er von den Leiden des Volkes, in Kapernaum strecken sich ihm bittend
Arme entgegen, am Galiläischen See folgen die Augen der andächtigen Menge
seinem Blicke auf die Vögel unter dem Himmel, jetzt lächeln ihn holde Kinder-
augen an, immer neue Scharen durch ihn Beseligter drängen sich heran, die Ge-
lähmten, die Besessenen, die Blinden finden sich ein. Hosianna, ruft die Menge,
gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn ! Aber da jagen arglistige, heuchle-
rische Gesichter die Menge auseinander und quälen ihn mit Fragen, und da stehen
sie dicht vor ihm, immer höhnischer und widerlicher werden die Gesichter. Kein
Petrus, kein Johannes in der Nähe, nicht Vater oder Mutter oder Brüder oder
Schwestern stehen ihm zur Seite. Dann wendet er sich zum letzten Male in seinem
Leben im Gebet an Gott, seinen Gott, schreit laut auf und verscheidet. Zusammen-
fassung: Jesus stirbt in gänzlicher Verlassenheit". Hier tritt aus wissenschaftlich-
kritischen Gründen an die Stelle des traditionellen Bildes vom Tode Jesu mit den
weltbekannten Einzelzügen, mit den Kreuzesworten, mit der ehrfurchtgebietenden
Tiefe und der erschütternden Tragik ein in den Evangelien mit keinem Worte
angedeutetes, durch Tiefe nicht ausgezeichnetes Ausmalen von Seelenvorgängen,
die ohne weiteres auf irgend einen sterbenden Romanhelden übertragen werden
könnten. Der Verfasser wird sich der Armut seines Bildes nicht verschließen. Er
wird aber einwenden, daß der schmerzliche Verzicht durch wissenschaftliche
Gewissenhaftigkeit geboten sei. Ich teile seinen wissenschaftlichen Standpunkt
hier nicht. Aber ich konzediere ihn einmal, um die prinzipielle Frage stellen zu
können, ob bei solchem wissenschaftlichen Standpunkt dieses pädagogische Verfahren
geboten ist. Ich verneine diese Frage mit allem Nachdruck. Ich freue mich, hier
auf das ganz entgegengesetzte Verfahren Thrändorfs in seinem Leben Jesu verweisen
zu können. Unsere Kinder haben einen Anspruch auf das Christusbild der Gemeinde,
auf den Christus, der Gegenstand des Evangeliums ist. Die oberen Klassen mögen
von der Forschung, ihren Methoden und Resultaten etwas hören, um sich einst
in diesen Fragen zurechtfinden zu können. Aber so gewiß die Geschichte Jesu
schon für die mittlere Stufe vieles in die Peripherie verweisen wird, so darf doch
solche Verkürzung der überlieferten Stoffe auch von dem für diese Stufe nicht
vorgenommen werden, der in einem wissenschaftlichen Buch über Jesus glaubt,
I
A. Reukauf u. E. Heyn, Lesebuch usw., angez. von H. Richert. 459
nicht mehr sagen zu können. Soweit ich sehe, hat der Verfasser für die biblischen
Geschichten eine solche Reduzierung nicht gefordert. Ich meine, die gleiche päda-
gogische Rücksicht muß auch noch für die Mittelstufe der höheren Schule gefordert
werden. Hier entscheiden pädagogische, nicht wissenschaftliche Überlegungen.
Ich stimme dem Verfasser auch darin nicht bei, daß er doch wesentlich aus Gründen
der Disponierung Jesu Bruch mit der Familie auf eine sehr späte Stelle verweist,
die Versuchungsgeschichte gar erst vor der Verklärung bringt. Beides scheint mir
mit einer ,, Geschichte Jesu" unvereinbar. In vielen Teilen ist das Buch ein aus-
gezeichnetes Hilfsmittel. Aber gerade bei der großen Verbreitung dieses Unterrichts-
werkes schien mir der Ausdruck abweichender Meinung notwendig.
Reukaufy A. u. Heyn, E., Lesebuch zur Kirchengeschichte mit
Abriß der Kirchengeschichtefürhöhere Schulen. 2. Aufl.
Leipzig 1911. Ernst Wunderlich. VI u. 412 S. 8^. 2 M.
Nachdem für die höheren Mädchenschulen Preußens ein kirchengeschichtliches
Lesebuch im Lehrplan vorgeschrieben ist, wird die dringend nötige Reform des
Lehrplans für höhere Knabenschulen zweifellos auch diesen die gleiche Wohltat
eines solchen Lesebuches bringen, denn es kann dank der bahnbrechenden Arbeiten
Thrändorfs heute als ein Gemeinplatz gelten, daß allein auf diese Weise kirchen-
geschichtlicher Unterricht fruchtbar gemacht werden kann. Heyn und Reukauf
haben redlichen Anteil an dem Durchdringen kirchengeschichtlicher Lesebücher.
Das mir vorliegende Lesebuch ist gegenüber der Ausgabe A in drei Bänden mehr
zusammengedrängt. Hier und da scheint mir nach dieser Richtung zu viel getan
zu sein. Vor allem müßte der Abschnitt: Die Vorherrschaft des neueren Protestantis-
mus sehr viel umfassender sein, wenn der Religionsunterricht schon die Kirchen-
geschichte mit der Gegenwartstendenz treiben will, die mir dringend nötig erscheint,
wenn er aber andererseits die auf Kant und Goethe basierende moderne Geistes-
geschichte auch für den Religionsunterricht zur Darstellung bringen will. Wenn,
was herzlich zu wünschen ist, die Gegenwartsfragen im Unterricht der Prima
den ihnen gebührenden Platz erhalten, wird auch das Lesebuch auf diese Fragen mehr
Rücksicht nehmen müssen. Aber diese Zukunftswünsche sollen nicht das Urteil
beeinträchtigen, daß wir in diesem Buch eine sorgfältige, mühsame und gelungene
Arbeit vor uns haben; von der Mühe solcher Arbeiten machen sich wohl nicht alle
Leser die rechte Vorstellung. Die 2. Auflage ist als eine sehr wesentlich verbesserte
zu bezeichnen. Möchte dieses Buch sich immer mehr zu dem kirchengeschichtlichen
Lesebuche auswachsen.
Geffken, H., Rade, M., Seil, K., Traub, F., DieReligionim Lebender
Gegenwart. 4 Vorträge. Leipzig 1910. Quelle & Meyer. VI u. 137 S.
80. 2,40 M.
Vier Vorträge aus der Kölner Bewegung sind hier vereinigt. Im Vorwort
wird diese Bewegung charakterisiert. Sie will rückhaltlos auf alles Veraltete ver-
zichten, das neuzeitliche Wissen freudig bejahen und für die jenseits der Wissenschaft
selbständig gebietende Lebensmacht der Religion begeistern. In den Dienst dieser
Bewegung stellen sich diese Vorträge: Religion und Wissenschaft von Seil-Bonn,
460 P. Dörwald, Der hebräische Unterricht, angez. von H. Richert.
Religion und Moral von Rade -Marburg, Religion und Kirche von Traub-Dort-
mund, Religion und Politik von Geffken-Köln. Die Namen der Verfasser bürgen
dafür, daß sie unter eigener Verantwortlichkeit diese aktuellen Fragen erörtern
und daß daher der Leser nicht etwa die Fragen durch den trüben Dunst einer
Parteipropaganda ansehen muß. Der Standpunkt der Verfasser ist ja bekannt.
Ich rühme den Ernst, den vornehm wissenschaftlichen Ton und die religiöse Wärme
der Vorträge. Sie alle beweisen den Satz Seils, daß wirklich die Frage nach der
Religion auf der Tagesordnung unseres öffentlichen Lebens steht. Selbstverständ-
lich kann man bei dem Umfang der Fragen hier nicht mehr als vielseitige Anregung
erwarten. Für diese Anregung wird auch der dankbar sein, wer in vielen Punkten
von den Vortragenden abweicht.
Dörwald, Paul, Der hebräische Unterricht. Eine Methodik für Gym-
nasien. Berlin 1910. Weidmannsche Buchhandlung. 131 S. 8^. 3,40 M.
Der Verfasser hat fast ein Vierteljahrhundert lang dem hebräischen Unterricht
ein gut Teil seiner Berufsarbeit zugewandt, er hat über diesen Gegenstand mancherlei
Arbeiten veröffentlicht und gibt nun als Abschluß seines Wirkens auf diesem Gebiet
eine Methodik heraus, die in der Tat eine treffliche und sachgemäße Arbeit ist.
Der Verfasser erörtert die Stellung des Hebräischen auf dem Gymnasium, bespricht
das Lehrverfahren im allgemeinen, geht die grammatischen Stoffe im einzelnen
genau durch und behandelt verhältnismäßig kurz die Lektüre auf zehn Seiten,
von denen noch sechs auf ein ausführliches Lehrbeispiel (Ps. 8) fallen. Schon hieraus
ergibt sich, daß für den Verfasser der grammatische Unterricht im Mittelpunkt
seines Interesses steht. Für diesen Unterricht ist das Buch denn auch recht erfreu-
lich. Aber darin weiche ich sehr erheblich von dem Verfasser ab, daß ich diesem
Unterricht literarisch-geschichtliche Aufgaben stelle, die das Buch fast ganz ignoriert.
Freilich will das Buch zeigen, wie der hebräische Unterricht dem Schüler Blicke
in große weltgeschichtliche Kulturbewegungen zu eröffnen vermag. Die hierfür
angeführten Beispiele sind aber wesentlich einige Hinweise, wie die Geschichte
und Erdkunde durch den hebräischen Unterricht bereichert werden kann. Der
Schlußsatz des Buches zeigt, daß diese Beschränkung kein Zufall ist: ,,es sei noch
besonders darauf hingewiesen, daß eine theologische Behandlung des Alten Testa-
mentes nicht in den Gymnasialunterricht gehört, daß der Lehrer im besonderen
den kritischen Fragen der modernen Theologie aus dem Wege zu gehen hat." So
beschränkt sich denn der Verfasser in der Literatur, die dem Lehrer des Hebräischen
für die eigenen Studien und für den Unterricht zur Verfügung steht, auf gramma-
tische Hilfsmittel. Damit aber sind lohnende, notwendige und wertvolle Aufgaben
dieses Unterrichts mit einem grollenden Seitenblick auf die moderne Theologie
und mit einem kategorischen Diktum abgelehnt. Und das ist ein wesentlicher
Mangel dieser tüchtigen Arbeit.
Posen. Hans Richert.
Freiherr von Hertling, Georg, DieBekenntnisscdesheiligenAugu-
s t i n u s. Buch I — X. Ins Deutsche übersetzt und mit einer Einleitung versehen.
Vierte und fünfte Auflage, kl. 12«. Xu. 520 S. Freiburg 1910. Herder, broschiert
2,30 M., in Leinwand 3 M., in Leder geb. 3,80 M.
Der bekannte Münchener Professor und Philosoph — seit kurzem Minister-
Georg Freiherr von Hertling, Die Bekenntnisse usw. angez. von W. Capitaine. 461
Präsident — hat in dem letzten Jahrzehnt seines wissenschaftlichen Arbeitens
sich vorwiegend mit Augustinusstudien beschäftigt. 1902 erschien in der Kirch-
heimschen „Weltgeschichte in Charakterbildern" Hertlings „Augustin" mit dem
Obertitel „Der Untergang der antiken Kultur"; das Buch fand freudigen Anklang,
und die Kritik erwartete weitere Werke über Augustinus aus der Feder des gefeierten
Philosophen. Bereits 1905 ließ Hertling seine „Augustinus-Zitate bei Thomas von
Aquin" und fast gleichzeitig die Übersetzung der zehn ersten Bücher der „Be-
kenntnisse" erscheinen. Auch diese Arbeiten wurden, zumal in der theologischen
Welt, dankbar begrüßt, und die Übersetzung der Bekenntnisse erlebte in kurzer
Zeit Auflage um Auflage.
Die „Bekenntnisse des heiligen Augustinus" gehören zum dauernden Bestand
der theologischen Literatur aller Konfessionen; man kann sie geradezu ein Stück
Weltliteratur nennen. Das Ringen eines gewaltigen, aber verirrten Geistes um
Befreiung von Wahn und Leidenschaft und Erlangung von Ruhe und Seelenfrieden
findet in diesem Werke eine Darstellung, die vorbildlich bleibt. Das Werk lag
schon längst in manchen Übersetzungen vor, aber der Wert des Buches kann immer
aufs neue die Konkurrenz einer neuen Übersetzung ertragen. Die Hertlingsche
Arbeit zeichnet sich durch Glätte der Sprache und Genauigkeit des Ausdruckes
vorteilhaft aus. Interessant war für den Referenten die Vergleichung der Arbeit
von Hertling mit einer 1853 bei Manz in Regensburg erschienenen Übersetzung.
Auf die drei letzten Bücher der Bekenntnisse, die Hertling als nicht zum Zu-
sammenhang gehörig ausscheidet, kann man an dieser Stelle verzichten; wünschens-
wert aber für spätere Ausgaben bliebe die auch in sonstigen Ausgaben beigegebene
Inhaltsangabe, die am Kopfe der einzelnen Kapitel und möglichst auch am Schlüsse
des ganzen in kurzen Sätzchen den Inhalt der Kapitel angibt. Die Theologen
werden dem Verfasser besonders noch für die genaue Angabe der zahlreich ver-
werteten Bibelstellen dankbar sein. Die vornehme Ausstattung, 'die der Verlag
dem Buche gegeben, entspricht durchaus dessen inhaltlichem und wissenschaft-
lichen Werte.
Eschweiler. Wilhelm Capitaine.
Amelangs Taschenbibliothek für Büchcrlicbhaber. I.Goethe, Hermann und
Dorothea. Eingeleitet von Otto Harnack. geb. I M. Leipzig 1910. 2. H e i n e ,
Buch der Lieder. Ohne Einführung. Leipzig 191 1. geb. IM. 3. S h a k e -
speare, Romeo und Julia. Übersetzt von A. W. v. Schlegel. Über-
arbeitet und mit einer Einleitung versehen von Max J. Wolff. Leipzig 1911.
geb. 1 M.
Die Eigenart dieser neuen Veröffentlichungen des rührigen Amelangschen
Verlages besteht zunächst in ihrer äußeren Gestaltung. Das zierliche und hand-
liche Format, der Einband in blauer und in roter Farbe und einem geschmackvollen
Muster des 18. Jahrhunderts entsprechend, das federleichte und trotzdem kräf-
tige Dickdruckpapier, das ein allergeringstes Gewicht ermöglicht, bei Nr. 1 und 3
von etwa 60 g, bei den 208 Seiten von Nr. 2 von etwa 150 g, die schönen Lettern
mit neuer, ansprechender Satzeinrichtung: das alles befriedigt auch einen ver-
wöhnten Geschmack und rechtfertigt auch hier das Bild von der silbernen Schale,
462 Amelangs Taschenbibliothek für Bücherliebhaber, angez. von P. Lorentz.
in der goldene Früchte geboten werden. Ohne ein begleitendes Wort literarhisto-
rischer Würdigung wirken die lyrischen Schöpfungen der Muse Heinrichs Heine
durch sich selbst. Bei Goethes „Hermann und Dorothea" hat Otto Harnack ein
paar Blätter zum Verständnis der Dichtung geschrieben, die er in feinsinniger
Absicht am Schluß hinzufügt, während Max J. Wolff seine Einführung in der
gewöhnlichen Weise Shakespeares ,, Romeo und Julia** voransetzt. Harnack be-
handelt Goethes Epos in der üblichen Weise als die Frucht der in Italien gewonnenen
Einsichten in das Wesen und die Grundsätze der Kunst, verteidigt die Dichtung
gegen moderne Angriffe auf die Form, die keinen Mangel in nationaler Hinsicht
bedeute, und weist die Erfahrungen Goethes nach, die die besondere Färbung von
Ort und Zeit, von Handlung und Personen bedingt haben. Dabei werden die Ver-
dienste Kullners um die Entdeckung der Beziehungen, die Pösneck in Thüringen
zu ,, Hermann und Dorothea" hat, gebührend anerkannt und gewürdigt. Wolff
gibt in seiner Einführung genau Rechenschaft über Entstehung und Quellen von
Shakespeares typischer Liebestragödie, die sein dramatisches Erstlingswerk dar-
stellt, und weist „ex ungue leonem'' nach, geht freilich in der Behauptung der vollen
Tragik und der Verteidigung der Rolle, die der Zufall spielt, doch zu weit. Zu
Grunde liegt seiner Übersetzung die Schlegelsche, deren Härten und doch eben
auch nicht seltene Fehler abgestellt worden; mit Vorteil ist für die Gestaltung des
Textes die Revision von H. Conrad, die Übersetzung von Bodenstedt und Vischers
Arbeit in seinen Shakespeare- Vorträgen benutzt worden. — Auch auf solche Lieb-
haberausgaben soll man die Schüler hinweisen, die beim gegenseitigen Beschenken
nicht selten Fehlgriffe begehen und so auf die anmutigste Weise lernen können,
wie auch mit geringen Mitteln sich der dauernde Besitz eines gehaltvollen Inhalts
in geschmackvoller Form erwerben läßt: das ist auch ein Stückchen Erziehung
zur Kunst, das keine besondere Unterrichtsstunde kostet, deren unsere höhere
Schuljugend wirklich genug hat.
Spandau. P. Lorentz.
Deutsche Bücherei 1 14/5. Hermann Nitzschke, Aus der Hunde-
türkei. 168 S. IM. Verlag deutsche Bücherei Otto Koobs 1910. Berlin W. 57.
Statt einer Leibeskur in einer Sommerfrische macht Herr Balduin Wohlfahrt
aus Buxtehude eine Seelenkur in der ,, Hundetürkei" durch, einer Gegend abseits
von allem Verkehr mit sehr bescheidenen landschaftlichen Reizen. Es schwebt
dem Verfasser die Verherrlichung eines Völkchens voll Selbstgenügsamkeit und
Bescheidenheit vor, das keine Reize moderner Kultur braucht. Ein solcher Schlag
sind die Bewohner der ,, Hundetürkei**. Aber Nitzschke kommt nicht recht über
das Reden hinaus, sein Humor ist gezwungen, seine Gestaltungskraft gering, die
Tendenz blickt aufdringlich durch. —
Das Büchlein gehört zu der „Deutschen Bücherei", deren wertvolle Eigenart
ich schon früher in der ,, Monatschrift*' gewürdigt habe. Sie präsentiert sich dies-
mal — in einem neuen Verlage — äußerlich erheblich eleganter, auf besserem
Papier mit klarerem Druck. Dafür scheint die Sammlung allerdings auch viel
(um das Doppelte?) teurer geworden zu sein: merkwürdigerweise fehlt in dem
angehängten Verzeichnis die Angabe der Preise!
Linden b. Hannover. Waldemar Haynel.
R. Meßleny, Teil-Probleme, angez. von G. Kettner. 463
Meßl^ny, Richard, T e 1 1 - P r o b 1 e m e. Berlin-Zehlendorf 1910. B. Behrs
Verlag. 115 S. 8«. 2,50 M.
Der Verfasser behandelt zunächst die Entstehung der Tellsage. Er meint,
die Wandersage von dem Meisterschützen habe gerade in der Schweiz feste Wurzeln
geschlagen, weil hier die Schützenkunst von jeher eine „Nationalgeschicklichkeit"
gewesen sei. Der Sage von dem Frevel der Vögte, die für Teils Tat die Voraus-
setzung bildet, glaubt er mit ,,der modernen Geschichtswissenschaft' jede geschicht-
liche Grundlage absprechen zu müssen — als ob nicht Forscher wie Oechsli einen
geschichtlichen Kern annähmen! Die Hypothese, daß ,,die Missetaten auf
biblische Muster zurückgehen", gilt ihm als ein „tatsächlicher, unzweifel-
hafter Nachweis". Da nun aber doch „die Volksepik ihre Erzählung niemals ganz aus
der Luft greift", so sucht er nach einem Anlaß, der zu solchen Vorstellungen führte,
und findet ihn in der Machtvollkommenheit, die der feudale Staat seinen Vertretern
gab. „Denken wir an einen preußischen Amtsrichter, der als Berliner Assessor
(umgekehrt!) plötzlich nach einem kleinen, halb deutschen, halb französischen
Landstädtchen ins Elsaß befördert wird: ist er nicht mehr als ein Durchschnitts-
beamter, so sind Konflikte fast unausbleiblich, wie sich jeder Zeitungsleser davon
überzeugen mag. Solcher Vorbedingungen zum Konflikt mangelte es im Mittel-
alter bei dem Volke noch weniger als bei der Verwaltung." Etwas weniger harmlos
werden wir uns den Hergang doch wohl zu denken haben!
Ausführlich schildert Meßleny dann die Ausgestaltung der Sage bis auf Tschudi.
Vischers Untersuchungen bilden seine Grundlage; er greift aber nur die Haupt-
punkte der Entwicklung heraus und sucht sie schärfer zu charakterisieren. Daran
reiht sich eine Besprechung der Darstellung der Sage in J. Müllers Geschichte und
in Schillers Dramen, sowie der Auffassung Gottfried Kellers und eine Würdigung
des Bildes von Hodler, in den Meßleny „den größten linearen Denker der Menschheit
seit Michelangelo" sieht. Da gerade der Abschnitt über Schillers Teil reich an Miß-
verständnissen ist, so gehe ich auf ihn hier noch kurz ein.
Es ist müßig, zu fragen, ,,ob das Drama die poetische Wiedergabe der spezifisch
schweizerischen Staatsbildung sei"; wie hätte Schiller darauf kommen sollen?
Aber Meßleny bestreitet auch, daß Schiller an „eine poetische Symbolisierung
staatlichen Lebens" gedacht habe, ihm ist er „so gut ein Zoon apolitikon wie seine
größten Zeitgenossen". Das ist durchaus falsch. Mag Schiller auch zuzeiten sich
müde vom politischen Leben abgewandt haben: wie er schon in seiner Jungfrau
dazu sich stellte, hat u. a. Kühnemann warm und schön gezeigt, und den politischen
Gehalt des Teil, besonders der Rütliszene, habe ich in meinen „Studien zu Schillers
Dramen" Bd. I W. Teil 72—75, 94—99 eingehend entwickelt.
Genauer geht Meßleny auf die Verknüpfung der Tellhandlung mit der Er-
hebung der Eidgenossen ein. Freilich die Hauptfrage, wie Schiller das Verhältnis
zwischen dem Willen und Streben des Volkes und der tatkräftigen Einzelpersönlich-
keit behandelt, streift er kaum. Neben den Verzahnungen, auf die von jeher hin-
gewiesen ist, zieht er noch einzelne Stellen heran, die er zum Teil recht unklar und
gewaltsam ausdeutet. In den Worten Geßlers (2082):
Ich kenn euch alle — ich durchschau euch ganz —
Den nehm' ich jetzt heraus aus eurer Mitte,
Doch alle seid ihr teilhaft seiner Schuld,
464 W. Herzog, Heinrich von Kleist u. Meyer-Benfey, Kleists Leben und Werke.
soll Teil „als der autochthone (??) individuelle Vertreter des ganzen Volkes klar
bezeichnet sein im Gegensatz zu Stauffacher, der ein sozialer, gewählter Vertreter
ist". Wo steht davon eine Silbe? — Am „innigsten** aber soll „die Verknüpfung
im entscheidenden Moment an Attinghausens Sterbebett werden". „Entscheidend"
sind ihm die Verse:
2420 Ja, dann bedarf es unserer nicht mehr;
Getröstet können wir zu Grabe steigen:
Es lebt nach uns — durch andere Kräfte will
Das Herrliche der Menschheit sich erhalten.
(Er legt seine Hand auf das Haupt des Kindes.)
Aus diesem Haupte, wo der Apfel lag,
2425 Wird auch die neue bessere Freiheit grünen;
Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.
„Nicht allein wird dadurch die neue Freiheit entschieden an den Apfelschuß (?!)
angeknüpft und so Teils Zusammenhang mit der Neubegründung des Staates feier-
lich und unanzweifelbar proklamiert (!), es wird auch ein neuer poetischer (politi-
scher?) Sinn dem Heldenschützen beigelegt. In ihm erblickt Attinghausen im
Gegensatz zum Adel den Vertreter des neuen Demos." Meßleny legt hier gewalt-
sam der Stelle einen Sinn unter, der durch den Zusammenhang der Szene völlig
ausgeschlossen ist; er kümmert sich gar nicht darum, wodurch die Worte 2420 — ^2424
hervorgerufen sind. Eben hat Attinghausen durch die drei Führer von dem Bunde
des Volkes gehört. Wohl erfüllt ihn anfangs dies selbständige Handeln der Land-
leute „ohne Hilf der Edeln" „mit großem Erstaunen", aber rasch gefaßt erkennt
er das Bedeutungsvolle dieser politischen Entwicklung an. Darauf und nicht
auf Teils Apfelschuß beziehen sich die von Meßleny zitierten Verse, wie der von ihm
übersehene, durch einen Gedankenstrich getrennte Vordersatz aufs schärfste sich dem
Leser einprägt. Weniger klar ist die Bedeutung von 2444; jedenfalls aber bezeichnet
er nicht den Heldenschützen als Vertreter des neuen Demos, sondern seinen Sohn.
In dem Knaben, den noch der letzte, furchtbarste Frevel der Gewalt gestreift
hat, erblickt Attinghausen den Vertreter einer neuen, freien und glücklichen
Generation.
Weimar. Gustav Kettner.
Herzog, Wilhelm, Heinrich von Kleist. Sein Leben und sein Werk.
München 1911. C. H. Beck. VI u. 694 S. gr. 8». 7,50 M.
Meyer-Bentey, Kleists Leben und Werke, dem deutschen Volke dar-
gestellt. Göttingen 1911. 0. Hapke. XV u. 392 S. gr. 8°. 4,80 M.
Wir besitzen leider kein befriedigendes Bildnis von Kleists Gesichtszügen.
So gibt es auch bisher keine vollgenügende Biographie im großen Stile. Das Jahr
1911 hat die Zahl der Kleist-Biographien um zwei bedeutsame, unabhängig von-
einander entstandene Arbeiten vermehrt. Sie sind von leidenschaftlichen Ver-
ehrern Kleists geschrieben. Beide, von den Verlegern aufs würdigste ausgestattet,
feiern in Kleist den größten deutschen Dramatiker und wenden sich an das
angez. von H. Gilow. 465
deutsche Volk. Beide geben das Philologische ausdrücklich preis. Aber so sehr
sich jeder von ihnen in Kleist eingefühlt zu haben glaubt — eine objektive
Biographie, geschweige denn d i e Biographie Kleists haben sie uns nicht gegeben.
Herzog sagt, Kleist suche ,,die reine architektonische Form der griechischen
Tragiker mit der individuellen realistischen Charakteristik Shakespeares, die von
Goethe und Schiller ganz vernachlässigt worden war**, zu vereinigen, und beklagt
„die zum Unheil der deutschen Nationalliteratur von Goethe und Schiller betriebenen
Nachahmungen*' der Antike; ebenso Meyer, der dieselbe ablehnende Haltung gegen
den deutschen Klassizismus offenbart. — Kleist, der „es wagte, das ganz und gar
Individuelle, ja das Extreme und Perverse zu schildern", wird von Herzog einmal
an den Anfang einer Entwicklungslinie Kleist — Hebbel — Ibsen gestellt (ähnlich
Meyer-Benfey S. 64), ein andermal heißt es: ,, Rousseau — Kleist — Nietzsche,
drei Punkte einer Linie." Meyer-Benfey S. 288: „Er verkündet als Vorgänger
Nietzsches, das Genie hat seine eigne Ethik." Vollends bei Herzog S. 144 ist Kleist
„der erste Ahn jener verzweiflungsvollen nihilistischen Künstler . . . Dostojewski".
Aber Kleist, dessen reifstes Werk, der Prinz von Homburg, der Majestät des
Staates huldigt, und Nietzsche, der den Staat als Fessel des Herrenmenschen
haßt und sagt: „Dort wo der Staat aufhört, beginnt erst der Mensch, der nicht
überflüssig ist", können meines Erachtens nicht ohne größte Gewaltsamkeit als
Punkte einer Linie angesprochen werden!
Gleich die Einleitung von Herzogs Buch, das nach dem Prospekt Kleists Bild
doch dem Herzen unseres Volkes nahebringen möchte, stimmt irreführend
alles auf einen Unglückston: ,,Als ob es die Aufgabe des Dichters wäre, das Normale,
das Gewöhnliche, das Durchschnittliche, das Gesunde darzustellen . . . Worin be-
steht vor allem das Tragische, wenn nicht im Kranken — im Unheilbaren?" Herzog
wurzelt also auf Nietzsches Boden. Und nicht viel anders Meyer-Benfey in dem
zum Teil recht anfechtbaren Abschnitt ,, Genie und Krankheit". ' Braucht es, um
von Iffland, Kotzebue und Konsorten abzurücken, solcher Übertreibungen, denen
zufolge doch ein großer Teil der Klassiker aller Zeiten eine Wertschmälerung
erfahren müßte, weil sie nicht aufs Klinische gerichtet sind? Vielleicht sind
aber krankhafte Naturen unter den Lesern glücklicher veranlagt als der Bericht-
erstatter und freuen sich solcher Kunst- und Weltanschauung?! — So stehen diese
Biographien absprechend auf einem äußersten Flügel. Herzogs Werk ist das Buch
vom „Martyrium des Genies" und gleichzeitig eines unbedingten Kultus des
Genies. Wieder und wieder wird von dem „Banne des Genius" gesprochen, dem
Kleist verfallen sei (Meyer-Benfey S. 45), von dem Schicksal, das über ihm, ,,der
unter einem Unstern geboren", walte. Man erhebt Anklage gegen die,, Grausamkeit
des Geschicks, das mit ihm gespielt" (Meyer-Benfey Vorrede S. X), und das
unerbittliche Schicksal, das ihm immer wieder den Weg versperrte. Haben solche
vieldeutigen Begriffe Platz in Biographien für das deutsche Volk? Und ist es
wirklich nötig, das dunkle Schicksal zu bemühen? Wenn der leitende Gedanke
jeder Kleistbiographie meines Erachtens das unumwundene Zugeständnis eines
schmerzlichen Mißverhältnisses zwischen dem Genie des Dichters und der Zer-
fahrenheit seines Lebens sein muß, so erfüllen diese Biographien eine solche Auf-
gabe noch nicht. In diesem richtigen Sinne hatte schon einst der Dichter
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 30
466 W. Herzog, Heinrich von Kleist u. Meyer-Benfey, Kleists Leben und Werke,
Eichendorff Kleists Leben im Umriß gezeichnet. Die neuzeitlichen Biographen
aber, Hebbels Wort, an unerhörtem „Unglück" sei keiner Kleist zu vergleichen,
weit übertrumpfend, entäußern Kleist der eigenen Verantwortung.
Wenn man, wie Herzog die rücksichtslose Einseitigkeit, die keine Kompromisse
kenne und die nicht gelernt habe, das äußere Leben nach bestimmtenGesichtspunkten
zu gestalten und das Gleichgewicht zu bewahren, bei Kleist zugesteht, warum
dann dieses tatsächliche Verhältnis gleich bis zur Behauptung der für das Genie
bestehenden Unmöglichkeit, sich hier in dieser Welt zurechtzufinden,
steigern (S. 637)? Herzog, Kleists Über- Individualismus zugestehend, sagt:
„Er gerät in einen Kultus des Ichs, der ihn für die Schranken der Wirklichkeit,
die sich ihm überall entgegenstellen, blind macht." Aber Herzog scheut die Folge-
rung, darin eine Schuld seines Heros zu erblicken. Wenn oftmals das Genie,
und so auch Kleist, schwer leidet, so leidet es unseres Bedünkens nicht immer a 1 s
solches, sondern wegen vieler Nebeneigenschaften, die als Untugenden und
Unarten mit dem Genie so gut wie mit jeder anderen menschlichen Individualität
verbunden sein können, aber nicht verbunden sein müssen. Und sind denn etwa
äußere Verhältnisse wie der frühe Tod seiner Eltern, der unselige autodidaktische
Bildungsgang und die daraus hervorgehende entsetzlich überspannte Geistigkeit seiner
Studentenzeit, sein offenbarer Mangel an wirtschaftlichem Sinne, die zu meßbaren
Quellen des Unsegens für ihn wurden, als untrennbare Eigenschaften seines Genius
anzusehen? Endlich ist man in den Biographien Friedrichs des Großen und
Goethes davon abgekommen, die Väter als bloße Kontrastgestalten zu miß-
handeln: für Kleists Leben erneuert sich immer wieder, und so auch bei Herzog
und Meyer-Benfey, der Versuch, die Schuld von dem Dichter abzuwälzen und der
Gleichgültigkeit der Welt, näher seiner Familie und Freunde, aufzubürden.
Das Wort: „Alles verstehen, heißt alles verzeihen", darf doch aber nicht
bloß dem jungen Kleist, sondern es muß auch seinen Zeitgenossen zugute kommen.
Der „schweren Unterlassungssünde der Zeitgenossen" (Meyer-Benfey S. X und S.
236) stehen doch nicht wenig Unterlassungen seinerseits gegenüber, zumal wenn
er, wie Herzog und Meyer-Benfey (S. 288) annehmen, Nietzsches Gesinnungs-
verwandter sein sollte. Da Kleist selbst erst spät seinen Beruf zum Künstler ent-
deckte, darf man es dann seiner Schwester Ulrike verargen, daß sie es nicht getan
habe? Der Reihe von unglücklichen äußeren Umständen in seinem Leben standen
unzweifelhaft ebenso viele glückliche Fügungen durch Verbindungen seiner Familie
gegenüber und gaben seinem Lebensschiffe wiederholt eine günstige Richtung.
Brockes, Pfuel, Rühle waren hilfreiche Freunde. Die Unterstützung seiner immer
zu Opfern und zur Vermittlung für ihn bereiten Schwester Ulrike versagte nie.
Noch im Herbst 1811 hatte sie bei Frau Marie von Kleist für alle Fälle zugunsten
ihres Bruders Geld niedergelegt. — Kleists wiederholtes Umsatteln im Beruf war
ein zu kostbarer Luxus. Und hätten die „lieben" Verwandten, gegen deren
, »philiströs anspruchsvolle Beschränktheit" seine Biographen sich so sehr ent-
rüsten, nicht gewissenlos gehandelt, wenn sie ihm überhaupt nicht zur An-
nahme eines Amtes geraten hätten, das für Herzog wie für Meyer-Benfey
freilich nur als ein „unwürdiges Joch" gilt. Wenn aber Kleist als französischer
Gefangener auf dem Transport nach Fort Joux „durch den Kampf mit diesen
angez. von H. Gilow. 467
Beschwerden gehoben wird" und „gesunder als jemals" ist (Meyer -Benfey
S. 182), warum sollte da die Betätigung in einem Amte nicht einen ähnlich
heilsamen Einfluß ausgeübt haben? Wer wird gleich, wie Meyer-Benfey tut
(S. 218), von einer „Königsberger Winkelexistenz" sprechen! — Es ist wirklich
nicht jedermanns Sache, so ahnungslos und waghalsig einem Übermaß von
Hoffnungen zu huldigen, wie es Kleist bei Begründung des Phöbus und dann der
Abendblätter getan hatte. Weitere Beihilfen hätten sicher die Kräfte der Familie
auf die Dauer überstiegen. Und wenn ein Goethe noch nicht das rechte Augen-
maß für Kleists dichterische Riesengröße hatte, wie konnten es da die Angehörigen
haben? Hier sollten die Biographen auch eines Wortes des sonst von ihnen so gern
mit Kleist in Verbindung gesetzten Nietzsche sich erinnern: ,, Blitz und Donner
brauchen Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und
gehört zu werden." Darf man spöttisch von der untergeordneten Kritik braver
Schwestern reden, die doch wirklich ebenso wenig Zutrauen zu Kleists — des
noch dazu „immer Verhüllenden" — rascher, die Wirklichkeit überfliegender Art
haben konnten als seine von den Biographen so hart angefaßte Braut („naive
Spießbürgerlichkeit", Herzog S. 170; etwas milder Meyer-Benfey S. 45) zu seinen
Illusionen über ein in der Ferne zu führendes Bauernleben? Muß man wirklich den
gutmütigen General von Köckeritz gleich darum subaltern und armselig schelten,
weil er einem so unstäten Mann wie Kleist nicht ohne weiteres zu Diensten war?
Bei solcher Betrachtungsweise ist es denn auch kein Wunder, daß Kleist, trotzdem
er immer wieder Adam Müllers Angriffe gegen Hardenberg, auf dessen Unter-
stützung Kleist doch rechnete, in seinen Abendblättern zu seinem Schaden duldete,
als der „unglückliche Publizist" (S. 583) hingestellt wird. Und wie die
Einleitung Herzogs so klingt auch der Schluß in eine Anerkennung von Kleists
befreiender ,, Selbstrettung" als einer Notwendigkeit aus. Etwas anderes wäre es ja,
wenn eine solche Notwendigkeit etwa aus Kleists krankhafter Belastung hergeleitet
würde, aber gerade eine solche wollen unsere beiden Biographen nicht Wort haben.
Als ich in Herzogs Vorwort die stolzen Worte las: ,,Es galt, die durch über-
nommene Meinungen, Vorurteile und Mißverständnisse erzeugten Dünste zu zer-
streuen, mit zweifelhaften Hypothesen und herkömmlichen Ansichten, die einer
Prüfung nicht standhielten, aufzuräumen", hoffte ich schon, es würde, nachdem
nun über Kleist in unmännlicher Weise genug geklagt worden ist, mit der Weich-
mütigkeit der Beurteilung seiner Schwächen ein Ende gemacht werden. Wohl
nimmt Herzog gelegentlich Anläufe zur Kritik des Kleistschen Wesens: ,, Alles oder
nichts. So zerstörerisch wütete sein geistiger Radikalismus immer in seinem Leben.**
Und noch deutlicher gesteht er doch an der Stelle, wo er den fundamentalen Unter-
schied Goethes und Kleists darlegt: ,,Der Dichter des Werther, des Tasso und des
W. Meister hatte wie nur einer all diese gefährlichen Tendenzen in sich gehabt,
aber zugleich mit ihnen den Willen und die Kraft, sie umzubiegen . .
Kleist hat diese Abgeklärtheit (Goethes) nie erreicht." — Der durchgehende Zug
beider Biographien ist aber doch die einseitige Ansicht von dem „wehvollen Schauen
und Schaffen des Dichters, das gleich dem Gebären nur unter unsäglichen
Schmerzen sich vollzieht", von der Unversöhnlichkeit und dem ,, tragischen Ver-
hältnis des Künstlers zum Leben" (S. 111). Doch nicht des Künstlers, sondern
30*
468 W. Herzog, Heinrich von Kleist u. Meyer-Benfey, Kleists Leben und Werke,
nur m a n c h e s Ktinstlers! Und es entschlüpft ja Herzog gelegentlich das Wort:
„Im Gegensatz zu vielen anderen Dichtern hat die Art seines
Schaffens nichts Regelmäßiges." Es wäre ja geradezu niederschmetternd, wenn
man den düstern Wahn hegte, das Genie müßte zugrunde gehen. Es gehen doch
aber nur diejenigen Genies unter, denen die tragische „Unfähigkeit zum Kompromiß*',
der Trieb zum Unmöglichen innewohnt, die auch Herzog hervorhebt, ohne sie aber
als Schwäche zu kennzeichnen. Er sagt: „Man könnte einwenden: sein Leben
sei unglücklich, zerrissen, voller Niederlagen gewesen, während seine Kunst eine
Reihe helleuchtender Siege darstelle. Diese Feststellung ist so richtig wie ober-
flächlich." Wieso das? Solange es nicht verpönt ist, einem Menschen aus der Har-
monie seines Daseins ein Verdienst zu machen, muß man auch das Fehlen dieser
Ausgeglichenheit beim rechten Namen nennen. Eine solche unbestechliche Ab-
messung der Licht- und Schattenseiten, die ohne alle Lieblosigkeit zu geschehen
hätte, und eine zusammenfassende Charakteristik Kleists,
in der alles einzelne gipfeln müßte, versuchen beide Lebensbeschreibungen nicht,
ebensowenig wie die Entwicklung seines (bei Herzog nur an zerstreuten Stellen 48,
64, 79, 142, 199, 268, 556 angedeuteten) Wachstums vom Rationalismus
durch das Ästhetentum aufwärts zur höchsten Reife einer zugleich künstlerisch voll-
kommenen und vaterländischen Dichtung. Viele einzelne Beiträge von selten des
Reinmenschlichen sind in Kleists Selbstbeurteilung vorhanden, und, wenn man auch
Goethe als einseitig ablehnen muß, so sind die scharfen Schlaglichter, die durch
Äußerungen Brentanos, Achims, Dahlmanns, Adam Müllers u. a. auf Kleist ge-
worfen werden, nicht so unbrauchbar, wie Herzog meint. Oder sollte etwa der
Genius überhaupt außer Wettbewerb und über jeder sittlichen Bewertung erhaben
sein? Dann dürfte vor allem Herzog selbst nicht wiederholt von Kleists „Bos-
heiten" sprechen, nicht von , »häßlicher Beleidigung" — er m u ß t e (?) sie her-
ausschleudern, sagt Herzog — nicht „von giftiger Ironie" und nicht seine Handlungs-
weise einmal „unfair und zugleich unklug" nennen.
Meyer-Benfey sagt S. 90: „Das Genie ist anormal, das gehört zu seinem
Wesen; es ist anders als die vielen, als alle, denn es ist ein Wesen eigener Art, das
sein Gesetz in sich trägt usw." Seine „Aufgabe aber hat sich das Genie nicht selbst
gewählt, weil sie ihm etwa vorteilhaft oder angenehm oder ehrenvoll erschien".
Wie sehr hier Wahrheit und Übertreibung sich mischen, und wie sehr die Ausschaltung
des Ehrgeizes bei Kleist der Berichtigung bedarf, beweisen (trotz Meyer-Benfey
S. 94) die bekannten Worte Kleists: „Der Himmel versagt mir den Ruhm, das
größte der Güter der Erde; ich werfe ihm wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen
hin." — Nachdrücklich und richtig hebt Meyer-Benfey wenigstens die Grenzscheide
der beiden Hauptabschnitte von Kleists Dichtung, den Übergang von der
individualistisch-ästhetischen zur politischen Dichtung hervor. Nur will es uns
scheinen, als sollte diese Wandlung noch stärker als Fortschritt betont sein. Aber
die Liebe der Verfasser und die panegyrische Verherrlichung in beiden Werken gilt
eben mehr dem Genie Kleist als dem Dichter-Patrioten.
Ja, Herzog möchte dem Dichter ein besonderes Verdienst daraus machen,
daß er von Tendenz frei sei oder, wie es auch heißt, „rein" künstlerische Absichten
habe. Freilich entscheidet ja nun darüber, ob ein Werk Kunstwert hat, der Grad
angez. von H. Gilow. 469
der ästhetischen Vollendung. Aber man sollte aus eines Dichters Absichts-
losigkeit weder ein Verdienst herleiten noch das Gegenteil, zumal diese Frage oft
zu einem bloßen Streit um Worte führen wird. Ist Goethes Faust, ist Kleists
Kohlhaas tendenzfrei oder nicht? Wo wäre die Grenze? Ein großer Dichter
wie Kleist, der gleichzeitig Herz und Kraft hat, um durch seine Dichtungen ein
bewußter politischer Führer seines Volkes in schwerer Zeit zu sein, tut damit seiner
Hünengröße wahrlich keinen Abbruch. Die Unzahl von aufdringlichen Dichterlingen,
denen das künstlerische Vermögen fehlt und die nur eine gutgemeinte Tendenz
haben, darf nicht dazu verleiten, in der Tendenzfreiheit einen Vorzug zu sehen.
Wenn alles, was als hohe Güter gilt, ein würdiger Gegenstand der Poesie ist, also
— außer allgemeinmenschlichen Gütern wie Liebe, Freundschaft, Heimat, Treue
gegen andere und sich selbst — doch wohl auch der Staat, warum sollte dem Dichter
unduldsamerweise verwehrt sein, eine politische Absicht zu haben, wenn er nur
gleichzeitig künstlerisch und politisch zu erheben vermag? So gut der
Dichter, wenn er ein Kosmopolit ist, für Weltbürgertum eintreten mag, wird er
als Deutscher deutsche Sprache, deutsche Frauen, kurz die Sache seines deutschen
Vaterlandes nach Herzenslust feiern dürfen. Gerade die Liebe und Parteinahme
für sein besonderes Vaterland läßt den Dichter die Kraft finden, die allgemeine
Idee der Vaterlandsliebe unwiderstehlich für alle, auch Angehörige eines anderen
Volkes, zu gestalten. — Man verzeihe diese Abschweifung. Aber braucht Kleist
wirklich die Entschuldigung, daß seine Werke „mit einer einzigen Aus-
nahme keine Tendenzen . . . propagieren?'* ,,Nur der Dichter der Hermannsschlacht
und einiger (!) patriotischer Lieder wollte unmittelbar agitatorisch wirken." Das
sind nach meiner Zählung aber schon mindestens zwei Ausnahmen, und wenn
Kleist auch mit politischen Satiren und dann mit dem Prinzen von Homburg
(mit diesem freilich nicht ,, unmittelbar agitatorisch") wirken wollte, so haben wir
doch, da der Dichter dies Werk selbst ein ,, vaterländisches mit mancherlei Be-
ziehungen" nennt, schon vier Ausnahmen, und was für Ausnahmen! Und da
braucht Herzog S. 86 sogar die Übertreibung, Kleists Werke hätten „nie irgend-
eine moralisierende oder lehrhafte Tendenz".
Aber Herzog selbst steht in einem späteren Kapitel, soll man sagen leider
oder zum Glück, im Widerspruch zu seinen eigenen früheren Ausführungen,
gegen die ich mich hier wenden mußte, und findet kräftige Worte (S. 294) gegen
die Romantiker, ,,die — von Goethes Objektivität verführt — nur im Ästhetischen
zu leben trachteten" und alle ,,im Literarischen stecken blieben !" In der Tat, welche
Schmach würde auf der deutschen Dichtung jener Zeiten ruhen, wenn nach Art
des üblen, ja unerhörten Goethe-Epigramms „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft
es, Deutsche, vergebens usw." auch alle anderen Dichter quietistische Weltbürger
und „reine" Literaten geblieben wären. Es ist nicht richtig, daß Kleist nur
mit jener angeblich „einzigen Ausnahme" bewußt vaterländische Werbearbeit ge-
leistet habe, und es geht viel zu weit, wenn Herzog (S. 363) sagt: „Nichts lag
dem Künstler in Kleist Zeit sJnes Lebens ferner als ein solches fabula docet."
Hat derselbe Verfasser das 9. und das 15. Kapitel des Herzogschen Buches
geschrieben?
Dies 15. Kapitel enthält vieles Treffliche, nur wird der Zusammenbruch
470 W. Herzog, Heinrich von Kleist u. Meyer- Benfey, Kleists Leben und Werke,
von 1806 viel zu einseitig — wie übrigens auch bei Meyer-Benfey S. 340, 343, 355 —
auf die Schuld des offiziellen Preußens, des „völlig korrumpierten" (?) Heeres
(S.29) und der niederen Volksschichten zurückgeführt, ohne daß auch die gebildeten
Stände ihren Anteil bekommen, mit ihrer auch die Offiziere ansteckenden seichten
Humanität und dem „Überreiz des Verstandes", den gerade Kleist so sicher im
Katechismus der Deutschen trifft („sie reflektierten, wo sie empfinden oder handeln
sollten"). Es kommt, seit wir den richtigen Abstand eines Jahrhunderts gewonnen
haben, das Urteil doch immer mehr hinaus auf Schenkendorfs „So Fürst als Bürger,
so der Adel, hier ist nicht einer ohne Tadel". Was Herzog mit dem „jämmerlichen
Muckertum des Preußens von 1806/07" (S. 12) meint, ist mir ebenso unverständlich
wie das Wort, „der Patriotismus Kleists, heut schon antiquiert, mag uns zeitlich
bedingt erscheinen" (S. 500). In einer Sintflut wie der damaligen, hat auch Kleists
Haß meines Erachtens nichts „Vorsintflutliches" (S. 500). Das wird man vielleicht
noch mehr Wort haben, wenn wir wieder einmal einen heiligen Krieg führen. Und
weshalb in einem wissenschaftlichen Werke solche Anzüglichkeiten wie „er, der
— wie es so schön preußisch heißt — die Untertanen . . . vorbereiten sollte" (S. 571),
oder der Ausfall gegen die ,, engbrüstigen und beschränkten Freiheitshelden, deren
subalterne Vaterlandsliebe sich ausgezeichnet mit preußischer Dressur und geistiger
Knebelung vertrug?" Weshalb solche Schroffheiten wie: „die Linie von Fichte
endete leider bei Theodor Körner und dem Turnvater Jahn" (S. 297), und
spöttisch (S. 536) „vom Format Theodor Körners"? Man bedenke doch, daß bis
auf diesen Tag die Undeutschtümelei viel mehr Schaden getan hat als die Deutsch-
tümelei. Vor Körners Lichtgestalt sollte der Hohn haltmachen, sie wird wohl auch
die nicht geringe Zahl derer überleben, die seit Hebbels Vorgang jetzt ihr Mütchen
an ihm kühlen. Und in der bei Herzog von der Königin Luise gebrauchten Wen-
dung: „ihre unbedeutende, liebenswürdige Menschlichkeit" sollte das Wort un-
bedeutend doch besser nicht gesagt sein. Es klingt unritterlich.
Herzog und Meyer-Benfey nennen den Prinzen von Homburg mit Recht
Kleists reifstes und vollkommenstes Werk, ja den Gipfelpunkt des deutschen
Dramas. Aber woraus leitet Herzog seine Anerkennung her? Schon gleich anfangs
des Buches hat sich der Leser zu den folgenden über Kleist und seine Helden auf-
gestellten, in dieser Allgemeinheit weit über das Ziel hinausschießenden Sätzen,
ein Fragezeichen gemacht: „Kleist war nie ein großer Intellekt, . . . sein ganzes
Denken ist auf das Gefühl gestellt. A 1 1 (?) sein Dichten ist Naturtrieb . . . seine
Helden sind triebhafte Naturen." Das lautet ja ungemein bestimmt, aber — Herzog
sagt selbst anderswo (S. 210) so ziemlich das Gegenteil: In Kleist „paart sich mit
der Intuition ein strenges Bewußtsein, ein kalter, scharfer Verstand". Richtig!
Die obigen Worte passen keinesfalls auf die reifsten Werke Kleists. Schon für
Hermann reichen sie nicht mehr zu, bei dem einen der beiden Helden des Homburg-
dramas aber, dem Großen Kurfürsten, versagen sie vollkommen; denn bei ihm kann
von ,, Manie" (S. 434) keine Rede sein. Freilich, Herzog sagt, in diesem Drama werde
weder das Gesetz, noch die Leidenschaft des Ichs verherrlicht, noch die Versöhnung
beider. Kleists Werk habe ,, keine solche Tendenz. Er sagt weder ja noch nein ... die
Gewalten, die den Prozeß bestimmen, können weder zu einem Schuldig noch zu
angez. von H. Gilow. 471
einem Freispruch kommen. Es gibt kein absolutes Recht. Aber auch kein absolutes
Ich. Sowohl der Kurfürst, wie der Prinz haben recht." Der Dichter plädiere nach
dem Worte eines geistreichen Kritikers für die „aus der Undurchdringlichkeit der
Kausalität entstehende Unverantwortlichkeit des einzelnen Menschen". — Aber
selbst die Berechtigung des Satzes, es gibt kein absolutes Recht, zugestanden, so
wäre doch Homburgs Tun das unglücklichste Beispiel, um'diesen Gedanken zu ver-
anschaulichen. Denn seine Handlungsweise ist derart, daß der Herrscher min-
destens relativ recht, der Prinz aber unrecht hat. Und — der Anfang von Herzogs
eigener Erläuterung des Dramas verurteilt ja auch den Prinzen nach jeder Richtung
und gibt seine Fehler unumwunden zu! Fast traut man seinen Augen nicht, aber
trotz jenes Wortes von der „Unverantwortlichkeit" wird des Prinzen Tun ganz
richtig von Herzog charakterisiert: Kleist ,, enthebt seinen Helden nicht der
Verantwortun g", der Prinz sei ein „egoistischer Stürmer", „übermütiger
Draufgänger", „übereilt und leichtfertig", „dessen Willkür einen zufälligen Sieg
gebar", von ,, ruchlosem Optimismus", bis er sich der Pflicht unterwerfe, ,, geheilt"
werde. Wo bleibt da jene , »undurchdringliche" Kausalität? Und sollten bei so
klarer Sachlage die Gewalten, die den Prozeß bestimmen, nicht zu einem „Schuldig"
kommen?
Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Herzog — der selbst sagt, der Kurfürst
verkörpere die sittliche Idee (S. 544), das Ganze die Notwendigkeit des Gesetzes
(S. 528) — das Homburgdrama ein Lied vom „Siege der Leidenschaft" (,, Berechti-
gung der Leidenschaft" S. 610) nennen kann, da der Prinz nur einen und zwar zu-
fälligen Sieg erringt, die vom Kurfürsten eingeleitete Vernichtung der Schweden
aber vereitelt und dadurch den schnellen Ausgang des Feldzuges und den Frieden
verzögert hatte, einen Sieg, der die schwerste moralische Niederlage für Homburg
in sich schloß! — Und der Dichter ergreife, so sollen wir mit > Herzog glauben,
,, zwischen den Forderungen des Gesetzes und des Ichs nirgends Partei?" Dann
wäre wohl auch die Hermannsschlacht ohne solche geheime Parteinahme des
Dichters? Und wenn niemand dem Dichter dieses früheren Dramas den Anteil
seines heißen Herzens an der Sache wird rauben dürfen, so bedeutet also etwa der
Prinz von Homburg einen Rückfall in Kleists individualistisch-ästhetische Periode?
Woher nimmt Herzog das Recht zu der Behauptung (S. 533): ,,Als Kleist dieses Werk
zu schreiben begann, dachte er an keine patriotische Verherrlichung"??, während
doch die erste Szene des Homburgdramas unverkennbar die Ausgestaltung der
geharnischten Worte ist, die Kleist 1809 schrieb: „Gilt es (etwa in diesem
Kriege) den Ruhm eines jungen und unternehmenden Fürsten, der, in dem
Duft einer lieblichen Sommernacht, von Lorbeern geträumt hat?" Und der
Dichter sollte wirklich, wie Herzog meint (S. 588), im Dunklen gelassen haben,
wann der Kurfürst sich eines andern besinne und weshalb er den Prinzen
begnadige. Nein! Das „wann" läßt Kleist nicht im Unklaren, vgl. V. 1480 ,,Pritt-
witz! Das Todesurteil bring mir her . . ." Es brauchten also gar keine Gewichte
mehr in die Wagschale der kurfürstlichen Entscheidung zu fallen, am wenigsten
so plumpe wie die von Hohenzollern geworfenen. Und vollends nicht das „weshalb";
denn der Kurfürst begnadigt den Neffen, sobald dieser sich mit des Oheims Hilfe
selbst überwunden hat. Nennt man solchen Akt der Begnadigung aber, wie Herzog
472 W. Herzog, Heinrich von Kleist u. Meyer-Benfey, Kleists Leben und Werke,
(S. 608) sagt: die Leidenschaft „krönen"? — Wenn wirklich auch der Kur-
fürst eine „Wandlung" erlebte (Herzog S. 533, 536, 553), wenn er nachgäbe gegen-
über einem Haltlosen, der aus Ruhmsucht losgebrochen war, und nachgäbe, bloß
weil seine von blinder Liebe erfüllten falschen Freunde ihn als Helden der freien
Entschließung, der er garnicht ist, preisen, — wenn der Kurfürst nicht Partei
ergriffe (S. 591), dann könnte man versucht sein, auch heut wieder — wie viele
Beurteiler und nicht nur in Preußen vor 90 Jahren — zu rufen: Fort mit diesem
Drama von der deutschen Bühne!
So zersetzend wirkt die Überspannung des Gedankens der Tendenzlosigkeit. —
Auch die „gefühllose Objektivität" des Herrschers, mit der ihn Herzog belasten
möchte, fällt platt zu Boden, wenn man V. 1111, V. 1441 u. a. beachtet. — Man
sollte nun meinen, wenigstens über die Ursache der Heilung Homburgs könne
ein Zweifel nicht bestehen. Herzog aber bietet dem Leser drei Lesarten S. 547:
„Der Schmerz stählt und erhebt ihn" (nein, er stimmt ihn höchstens weich),
zweitens S. 548: „An sich selbst hat er sich erhoben." Nein! und erst S. 549
liest man anders und endlich richtig: ,,Des Kurfürsten Weisheit hat des
Prinzen Geist erweckt, geläutert und geheilt."
Etwas mehr als Herzog wird Meyer-Benfeys Deutung dem Homburg-
drama und namentlich dem Charakter des Kurfürsten gerecht, aber auch hier geht
die nebelhafte Vorstellung von einem „höheren Gesetz" der Gnade um, wieder
infolge mangelnder Berücksichtigung der wahren Schuld des Prinzen, der ja gar
nicht aus sachlichen Gründen einer besseren militärischen Überzeugung
gefolgt war, sondern in selbstsüchtigem Ehrgeiz dem Befehle zuwidergehandelt
hatte. Für die ausführliche Begründung dieser vom Berichterstatter seit 1892
wiederholt vertretenen Auffassung verweist er, da der Raum hier gemessen ist
und er sich nicht selbst ausschreiben möchte, auf seine Arbeit „Die Grundgedanken
in Kleists Prinz F. v. Homburg" (Progr. Königstädtisches Gymnasium Berlin
1893), „über die ja doch niemand bisher hinausgekommen ist", wie G. Minde-Pouet
(D. Lit. Ztg., 1903) urteilt. Da Band H von Meyer-Benfeys „Das Drama Kleists"
noch aussteht, ist diesem Gelegenheit gegeben, dem dort schon 1893 über die
Grundgedanken dieser Dichtung Ausgesprochenen beizutreten oder es zu wider-
legen.
Gleich mir werden übrigens viele Leser angenehm überrascht sein, daß Meyer-
Benfey seine frühere Behauptung einer „durchgehenden Entwicklungs-
linie" der Dramen Kleists jetzt aufgegeben hat. Er hatte sich damit im ersten
1911 erschienenen Bande seines eben genannten, in dieser Monatschrift von mir
1911, S. 633 — 635 besprochenen Werkes entschieden zu weit vorgewagt, mindestens
nicht vorsichtig genug ausgedrückt. Jetzt in Kleists Leben gibt er aber schon
für das Käthchen und die Hermannsschlacht ohne weiteres zu, daß Kleist in den
späteren Dramen seinen Frieden mit dem Theater seiner Zeit gemacht hatte und
mit dem Prinzen von Homburg sich wieder „in die gute Tradition" des deutschen
Dramas stelle, ja daß in diesem Drama „die Vorteile der gewöhnlichen Dramen-
form erstrahlen"! Da nun Meyer-Benfey jene ,, durchgehende Entwicklungslinie
und innere Zusammengehörigkeit, die die einzelnen Werke zur Einheit eines
angez. von H. Gilow. 473
Lebenswerkes zusammenfaßt" — Worte Meyer-Benfeys in der
Vorrede XII zu „Das Drama" Bd. I, 1911 — nicht mehr aufrecht erhält, so entfällt
allerdings der eigens dieser angeblich durchgehenden Entwicklungslinie vom
Verfasser entnommene Grund für den Titel „Das Drama" Kleists statt „Die
Dramen" ! — Auch seine in meiner Besprechung im vorigen Jahre bedauerte schroffe
Gegnerschaft gegen Schiller scheint sich etwas gewandelt und abgeschwächt zu
haben; jetzt steht S. X: „Kleist ist als Künstler wie als Mensch ein Geistesverwandter
Schillers." Und das von Rechts wegen!
Da Kleist es vermeidet, von seinen Arbeiten zu sprechen, so sind wir im Un-
klaren darüber, wie weit die erste Anregung zu manchen seiner Werke, namentlich
der Novellen, zurückreicht, und es ist den Vermutungen weiter Spielraum ge-
lassen. Meyer-Benfey sucht jedem Werke den ihm zufolge Kleists äußerer und
innerer Entwicklung zukommenden Platz anzuweisen und stellt danach eine chrono-
logische Tafel auf. Es wird mit vielem Spürsinn der oft ansprechende Versuch
gemacht, die Novellen zu den Dramen in Beziehung zu setzen, und die vermutete
Gleichzeitigkeit der Entstehung soll dann wieder die innere Wesenheit erklären
helfen. Wie Meyer-Benfey in dem ersten Bande („Das Drama" 1911) für jedes
einzelne der früheren Dramen festzulegen versucht hatte, daß es der Ausdruck
eigener Erlebnisse sei, so wird dieselbe Methode hier für die Novellen zur Anwen-
dung gebracht. Das Erdbeben in Chili soll z. B. an die Katastrophe von 1806 an-
klingen. Hypothesen wie die, daß Kleist sich gerade in einem Weibe, Penthesilea,
selbst dargestellt habe, um seine Liebe (zu Goethe) zu verkörpern, sind Versuche,
die nach Lage der Dinge nicht über einen Grad von Wahrscheinlichkeit hinaus-
kommen. — Die Würzburger Reise deutet Meyer-Benfey (anders als Herzog) als
dienstliche Fahrt zur Erkundung von Fabrikgeheimnissen (?).
Druckfehler: S. 135 Reihe (statt Reiche), S. 216 Notenmotive, (statt Neben-
motive), S. 330 Aussage (statt Absage), S. 343 der Steuern (statt den). —
Herzog hat seinem Buche ein bibliographisches Verzeichnis beigegeben und
nennt dies mit Recht einen schüchternen Versuch. Die Literaturangaben in der
Ausgabe von Erich Schmidt, Minde-Pouet und Steig (Leipzig 1905) sind allerdings
schon viel vollständiger. Von 0. Brahms Kleist und H. Bulthaupts Dramaturgie
der Klassiker werden nur die längst überholten ersten Auflagen genannt! Auch
sonst herrscht große Willkür. In das Register wird leider nicht auch der Inhalt
von Vorwort, Literatur und Quellennachweisen einbezogen, ja nicht einmal voll-
ständig der der Anmerkungen. So fehlen z. B. die Namen des Kleistschen Stamm-
baums und so tüchtiger Kleistforscher wie F. Servaes, Albert Fries usw. —
Druckfehler: Czgan statt Czygan 650, Kuhnt statt Kunth S. 71, Sanders statt
Sander S. 520, und das sehr störende Subordination statt Insubordination S. 549
(an einer Stelle, wo in zwölf Zeilen acht bis neun überflüssige Fremdwörter wuchern !).
— Fehler: „den Prinz" S. 548, „dem Kurfürst" S. 558, „den Landgraf" S. 559.
Wenn Herzog von Kleist sagt, man könne keinen Satz bei ihm streichen, so
ist ein Gleiches seiner eigenen Darstellungsweise — im Gegensatz zu Meyer-Benfeys
löblich enthaltsamerem Stile — nicht nachzurühmen. Welche Breite z. B. in dem
Satze (S. 389): „Das Theater fordert Handlung und Aktivität. Berichte und
474 W. Herzog, Heinrich von Kleist u. Meyer-Benfey, Kleists Leben und Werke,
breite Erzählungen hemmen und unterbinden die Wirkung, die der Dichter erzielen
will. Sie sind meistens kontemplativer, beschaulicher Natur usw." — Dieselben
Anführungen erscheinen doppelt: wie das allgemeine Unglück die Menschen erzog
S. 297 und 298; sechs Zeilen von S. 28 stehen auch S. 531 wieder als Zitat; drei-
mal S. 435, 437, 442, das Mädchen mit dem Strohhut auf dem Kopf; Vergißmein-
nicht und Veilchen und Kamillen blühen S. 444 und 448; wie viele Wiederholungen
S. 388 über die Penthesilea! — Jeder von uns kennt das Gefühl, wenn plötzlich
eine sonst gute Rede, ein Konzert den Eindruck des Allzulangen auslöst. —
Herzog hat eine Vorliebe für die Verdoppelung, ja Verdreifachung der Aussagen:
„Elan, Kunst, Kraft;'* ,,nie flach, vag oder banal;'* nichts Spontanes, Unmittel-
bares, es fehlte die Impetuosität, der Wille, der Elan der Leidenschaft (S. 511)."
Warum übrigens nicht einfach deutsch: nichts Unmittelbares, es fehlte die Stoß-
kraft, der Schwung der Leidenschaft?
Ja, wer das verlangt, erwägt nicht, wie sehr Herzog die arme deutsche Sprak,
die plumpe deutsche Sprak mit fremden Zutaten zu überpfeffern liebt. Manchmal
erlebt man reine Sternschnuppenfälle der sprachlichen Ausländerei: ,,Man pole-
misierte und pamphletisierte auf eine subalterne Art;" „er hat die pointillistische
Andeutungskraft eines modernen Impressionisten;" „subjektivistisch-romantische
Amalgamierung." Wenn man die Lage schwarzseherisch beurteilen kann, wes-
halb „die Situation pessimistisch"? Warum nicht äußerste Verkörperung statt
extremste Inkarnation? Auf jeder Seite durchschnittlich 5 — 10 überflüssige Fremd-
wörter, das macht bei 638 Seiten eine wahre Überflutung. Doch endlich drückt
des Fremdworts Schwere, und abgeschüttelt will es sein!
Dabei werden auch die neuzeitlichen Schlager im Ausdruck, wie Milieu, Geste,
Psyche nur zu sehr „ausgeschöpft" (aber eine „Skala ausschöpfen" S. 353 kann
man doch nicht sagen !), und wenn bestimmte Worte, z. B. abseitig, katastrophal,
draufgängerisch wieder und wieder erscheinen, wirken sie manieriert. — Wie übel-
klingend: ,,Im Genie, oder um pathetisch -nie tzschi seh zu sprechen, im Über-
menschen . . . !" — Viele Überschwenglichkeiten z. B. „Kleists Tragödie, sein
Ungeheuer Penthesilea: Das grandiose Symbol des Chaos des Dichters, sein Tanz,
sein Kampf durch die Welten, ... der Sieg des Künstlers über die Abgründe des
Lebens." — Zuweilen aber sinkt auch der Stil: Kleist verkrachte sich (S. 572),
Iffland wurde abgestochen (S. 574, derselbe Ausdruck S. 479), Kleist legte seine
Gefühle auf Eis (S. 268). Was „von pastoraler Schlichtheit triefende Worte"
sind (S. 512), bleibt unverständlich; ebenso, weshalb Zeitschriftentitel wie „Das
Vaterland" und „Der Hausfreund" eine hausbackene Gesinnung kennzeichnen
sollen (S. 510). — Voreilig ist es, Kleist und Bismarck die beiden größten Genies
zu nennen, die Preußen hervorgebracht hat, denn wo bleibt Friedrich der Große?
Übermäßige Behauptungen z. B.: „es gibt nur noch zwei Geister . . ."
(S. 102); „Nie hat ein Dichter das Verhältnis . . . zärtlicher, zurückhaltender
gemalt als Kleist" (S. 597) stören nur.
Milde in Beurteilung'*' anderer ;Jst Herzogs Sache eben nicht: (dies . . .
Motiv in der Novelle die Verlobung von St. Domingo) ,,war nicht nach dem Ge-
schmack des zudringlichen Knaben Theodor Körner, der sich unterstand, diese
angez. von H. Gilow. 475
Novelle zu dramatisieren ... Er hat, ohne Kleists Namen zu nennen, das Ganze
übernommen und zu einem rührseligen Schauspiel versüßt, das er frech Toni be-
titelte" usw. Gemach! Gemach! Namentlich wenn man in einem Glashause sitzt
und selbst ein starker Nehmer ist, „ohne Namen zu nennen". Freilich, gewisse
Ideen — sagt man — liegen in der Luft. Aber wunderbar ist es doch, wenn sie fast
wörtlich ebenso bei jemand stehen, wie sie schon bei anderen gedruckt sind, als wenn
auch der W 0 r 1 1 a u t in der Luft läge. Hat sich Herzog so in einzelne Gedanken
anderer hineingelebt, daß er zwischen seinen eigenen und denen etwas älterer Kleist-
forscher kaum noch zu unterscheiden weiß? Oder liebt er seinen Kleist so, daß
er eifersüchtig darauf ist, wenn auch andere etwas getroffen haben, und möchte
er alles Gute seinem Helden selbst und allein antun? — „Ich wollte nirgends den
philologischen Apparat sichtbar werden lassen", so sagt Herzogs Vorwort, und
gewiß ist jeder berechtigt — seine eigenen Sätze ohne deren literarische Unterlagen
mitzuteilen. Wenn aber bald die Herkunftsstelle angegeben wird, bald nicht, so
wird durch das ungleiche Verfahren der Anschein erweckt, als ob nur jenes über-
nommen, alles andere aber nicht angeeignet sei. So z. B. heißt es S. 662, daß „die
Stelle aus Kant von N. N. zuerst zitiert" sei. Ähnlich S. 41 das in Klammer ge-
setzte „(Hettner)". Gut, das genügt! Auf S. 558 aber wird eine sonst noch nie
in solche Beziehung zu Kleist gesetzte Stelle aus Schiller zum Vergleiche heran-
gezogen, ohne wie es des Landes Brauch ist, zu sagen, daß der Verfasser diese den
Herausgebern der Bongschen Klassikerausgabe III, S. 218 schuldet, und sie
wird auch wörtlich ebenso eingeführt: ,,Was Schiller von dem
Auftreten Kants gegen die Moral seiner Zeit sagt: Erschütterung forderte die
Kur" usw.!
Da diese von Herzog in seiner Literatur-Aufzählung ganz übergangene Aus-
gabe 1907 „ohne Jahr" gedruckt ist, so wäre es doppelt angezeigt gewesen, auch
nur den Schein einer angemaßten Priorität zu vermeiden und diese und eine
Reihe von anderen Anleihen als das kenntlich zu machen, was sie
sind. Wir hörten allerdings (S. 554), ,,es gibt kein absolutes Recht", aber das
relative Recht geistigen Eigentums ist doch wohl anerkannt, und auch „von Un-
durchdringlichkeit der Kausalität" kann hier nicht die Rede sein, da der Tatbestand
offenliegt.
Und schließlich noch etwas aus dem Reiche der Splitterrichterei. Wer anderen,
darunter einem Krafft-Ebing, „unfruchtbare Arroganz" (S. 382) vorwirft, der
sollte nicht so herausfordernd — noch dazu in unserer sozial arbeitenden Zeit —
mit dem Lehrstande um jeden Preis anbinden. ,,Wie ein trockener abstrakter
Oberlehrer" stelle der junge Kleist Fragen (S. 82). Oder: „wie die Schulmeister
sich so köstlich ausdrücken" (S. 479) an einer Stelle, wo der Verfasser sich recht
unnötig gegen die „neunmal weisen Schulpedanten" ereifert, die nämlich in ihren
Anmerkungen auf gewisse Anachronismen in der Hermannsschlacht hinweisen.
Wer in der Unterrichtspraxis steht, weiß, daß solche Anachronismen sehr leicht
von den Schülern gegen manche Klassikerstelle geltend gemacht werden und daß
man ihnen diesen (übrigens harmlosen) Überlegenheitsdünkel am schnellsten
benimmt, wenn man ihnen zuvorkommt und selbst und zwar mit dem Zusätze
darauf hinweist, daß in solchen Fällen der Dichter von seiner Freiheit Gebrauch
476 R. Dohse, Fritz Reuter, angez. von P. Lorentz.
mache. Und welcher Schulpedant hätte denn in anderem Sinne solche An-
merkungen gemacht? Wer? Wann?
Es gibt ängstliche Leute, die, wenn ein der Rede mächtiger Mann in ihrer
Gegenwart auf Spießbürger und Philister, Subalterne und Pedanten losschlägt,
in jedem Falle beifällig nicken, in der Besorgnis, daß sonst dieser furchtbarste
aller Tadel wohl gar auf ihnen sitzen bleiben könnte. Aber es gibt doch zum Glück
noch Männer, die standhalten, näher zusehen und dem Übereifer ein ruhiges
,, Erlauben Sie mal . . .** entgegensetzen.
Berlin. Hermann Gilow.
Dohse, Richard, F r i t z R e u t e r. Ein Bild seines Lebens und Schaffens. Mit
7 Abb. „Aufwärts'-Bücherei Nr. 12. E. Griesen. Frankfurt a. M. geh. 0,30 M.
Auf 71 Seiten wird als Jubiläumsgabe zum 100. Geburtstag der Mensch und
Dichter Fritz Reuter dem deuschen Volk in schlichter, zu Herzen gehender Dar-
stellung geboten. In der Beurteilung der Schöpfungen dieses allerechtesten Ver-
treters der Heimatkunst kann man dem Verfasser fast überall beistimmen. Daß
die Figur des Onkels Bräsig gegenüber der vielfach noch herrschenden flachen
Auffassung des Derbkomischen von selten ihres echten, vollgültigen Humors ge-
würdigt wird, ist doch nicht überflüssig, wenn man bedenkt, daß selbst auf einer
so bedeutenden Veranstaltung, wie es die Reuter- Jubiläums-Ausstellung in Berlin
war, die panoptikumartige Darstellung Bräsigs eigentlich nur „ulkig" wirkte.
Dagegen kann ich mich mit der so ungewöhnlich hoch eingeschätzten Würdigung
von ,,Kein Hüsung", das ganz gewiß heute noch oft unterschätzt wird, doch nicht
einverstanden erklären: das Schuldbewußtsein will mir nicht ganz echt erscheinen.
Die kleine Reuterschrift gibt ihrem Verfasser zugleich höchst erwünschte Gelegen-
heit, für die Würdigung und Förderung der plattdeutschen Literatur nachdrück-
lich einzutreten. Und seine Darstellung ist auch ganz dazu angetan, die Hoffnung
auf Gelingen wachzurufen. Wünschenswert aber ist das in hohem Grade, wie die
zahlreichen Broschüren desselben Verfassers beweisen, deren jüngste ,, Gefahr
im Verzuge" mit Recht wieder vor der Utopie einer allgemeinen platt-
deutschen Schriftsprache warnt, dagegen die bewährte Reutersche Art der An-
passung an die hochdeutschen Lautbilder empfiehlt und eine knappe Übersicht
über den heutigen Stand der niederdeutschen Dichtung wie über die modernen
Bestrebungen zur Pflege der niederdeutschen Sprache und Literatur gibt. Wir
sind noch lange nicht genügend davon durchdrungen — und je weiter nach Süden
in unserm Vaterlande, desto weniger sind wir es — welche Schönheiten diese eben-
bürtige und ältere Schwester des Hochdeutschen in sich birgt, wie sie, um mit
Klaus Groth zu reden, „für alle Töne der Menschenbrust den direkten Ausdruck,
für einen ganzen Menschengeist den artikulierten Leib, für jeden echten Gedanken
das rechte Gewand hat; daß sie nicht etwa naiv oder komisch oder derb oder schlicht
ist, sondern daß sie zum Lachen und Weinen die Gebärde hat, daß sie gar vornehm
und herablassend sein kann, und daß es ihr wohl ansteht."
Das Äußere der kleinen Reuterschrift ist leider wenig sorgfältig ausgefallen:
nicht nur hat offenbar die Eile, sie fertigzustellen, eine Reihe von stilistischen
Nachlässigkeiten stehen lassen, so S. 20/21, 23, 29, 63, sondern auch die Buch-
0. Hellinghaus, Bibliothek wertvoller Novellen usw., angez. J. Riehemann. 477
Stäben taumeln fast auf jeder Seite recht bedenklich. Wegen seines Inhalts und
seiner Tendenz aber ist das Buch doch als ein Gewinn für die Volksbildung zu
bezeichnen und wird auch in den Schülerbibliotheken der höheren Schulen seinen
Zweck erfüllen können. Ihn unterstützen auch die Abbildungen, die Reuter selbst,
seinen Vater, seine Frau, sein Geburtshaus und sein Wohnhaus in Eisenach wieder-
geben. Zum ersten Male in einer Reuterschrift erscheint auch die Wiedergabe
des offenbar recht wohlgelungenen Standbildes von Wandscheider, das am T o d e s-
tage des Dichters im Jahre 1911 in seiner Geburtsstadt Stavenhagen enthüllt
werden sollte.
Spandau. P. L o r e n t z.
Hellinghaus, Otto, Bibliothek wertvoller Novellen und Er-
zählungen. 12 Bände. Freiburg 191 1. Herdersche Verlagsbuchhandlung.
Jeder Band geb. in Leinwand 2,50 M.
,,Die stärkste Wehr gegen die gerade gegenwärtig Familie und Jugend in so
bedenklichem Maße bedrohende Flut der Schmutzliteratur ist die Darbietung
guter Lektüre." Mit diesen Worten begründet der Herausgeber im Vorwort das
Erscheinen der neuen Sammlung, die die bekannte Herdersche Bibliothek deutscher
Klassiker ergänzen soll und nunmehr ganz abgeschlossen vorliegt; und sicherlich
verdient dieser Grundsatz allseitige Zustimmung, da er der unleugbaren Gefahr
gegenüber sich nicht mit untätigen Klagen begnügt, sondern der Jugend, die nach
dem Ausdrucke des Herausgebers ,,in der Regel von unbändigem Hunger nach
erzählender Lektüre ergriffen" ist, eine gesunde, wirklich nährende Kraft verabreicht
wissen will. Daß dabei ,, sittlich oder religiös verwerfliche Erzeugnisse grundsätz-
lich ausgeschlossen bleiben" sollen, ist nicht minder zu billigen, und in dieser Hinsicht
wird die getroffene Auswahl keinerlei Bedenken begegnen. Indes können wir nicht
einen Zweifel darüber unterdrücken, ob die in den 12 Bänden vereinigten 50 No-
vellen oder Erzählungen wirklich alle oder doch der großen Mehrzahl nach das
Interesse unserer Jugend zu erregen und dauernd zu fesseln geeignet sind, so daß
diese nicht mehr daran denkt, zu minderwertiger Lektüre zu greifen. Es mag
ja aus mancherlei Gründen nicht möglich gewesen sein, neuere Novellen, so von
Gottfried Keller, Storm, Heyse, Hans Hoff mann aufzunehmen; aber immerhin
macht die Sammlung hier und da einen etwas antiquierten Eindruck, und gerade
Tieck und Stifter, die die meisten (5 und 6) längeren Beiträge lieferten, dürften,
jener mit seiner Weitschweifigkeit, dieser mit seinen oft überwuchernden Schilde-
rungen, in solcher Fülle nicht ganz den Wünschen unserer Jugend entsprechen,
deren stoffliches Interesse zu wenig befriedigt wird und die für die mancherlei
entschädigenden Vorzüge und intimen Reize beider noch kaum ein völliges Ver-
ständnis besitzt. Auch sonst würde vielleicht das eine oder andere Stück der
Sammlung ohne Bedauern entbehrt werden, so u. a. Goethes Ferdinand (Unter-
haltungen deutscher Ausgewanderten). Daneben bleibt freilich noch unendlich
viel des Wertvollen übrig, das hier geschickt vereinigt und mit kurzen, bisweilen
wohl allzu kurzen Einleitungen und erklärenden Anmerkungen dargeboten wird:
Eichendorff ist viermal vertreten, je dreimal H. v. Kleist, Ludwig, E. T. A. Hoff-
mann und Möricke, je zweimal Brentano, Hebbel, Goethe (außer Ferdinand die
478 W. von Christs Geschichte der griechischen Literatur,
Novelle), Herrn. Kurz und der sonst wenig bekannte Jakob Frey, endlich je einmal
Grillparzer, Fouque, Halm, Droste-Hülshoff, Gottheit, Chamisso, Arnim, Ger-
stäcker, Hauff, Marie Nathusius, Kinkel, Melchior Meyer und Karl Stöber.
Die Ausstattung ist lobenswert.
Meppen. Joseph Riehemann.
Wilhelm von Christs Geschichte der griechischen Literatur.
Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft VH. Unter Mitwirkung von
Otto Stählin, bearbeitet von W i 1 h e 1 m S c h m i d. L Teil. Klassische
Periode der griechischen Literatur. 5. Aufl. XU u. 716 S. gr. 8^. München 1908.
C. H. Beck. geh. 13,50 M., in Halbfranz geb. 15,80 M. Dasselbe 6. Aufl.
XIV u. 771 S. München 1912. C. H. Beck. geh. 13,50 M., geb. 15,80 M.
Über die Neubearbeitung der Christschen Literaturgeschichte durch W. Schmid
gedachte ich nach Abschluß der 5. Auflage (davon Teil I 1908, II 1911 erschienen)
zu berichten. Das inzwischen erfolgte Erscheinen der ersten Hälfte des Werkes
in 6. Auflage veranlaßt mich, diesen ersten Teil jetzt gesondert anzuzeigen.
Die Teilung des Christschen Werkes in zwei (oder mehr) Teile ist bei der Neu-
bearbeitung nötig geworden durch das Anschwellen des Umfanges. Das lehren
die Seitenzahlen: I^ 771 Seiten, P 716, der entsprechende Teil der 4., noch von
Christ selbst besorgten Auflage umfaßte nur 508 Seiten. Dieser Zuwachs entspringt
zum kleineren Teile der Umgestaltung und Erweiterung des Textes. Christs Eintei-
lung und Anordnung ist im wesentlichen beibehalten: kein neues Buch zu schreiben
war die Absicht, sondern das altbewährte zu verbessern. Zwei wichtige Änderungen
in der Stoffverteilung sind zu erwähnen. Christ hatte die fachwissenschaftliche
Literatur neben den christlichen Schriftstellern in einen Anhang am Ende des
Werkes (S. 882 ff .) verwiesen: diese Partien arbeitet Schmid in das Gesamtwerk
hinein. Davon ist im ersten Teile am Schlüsse des Abschnitts, der etwas ungeschickt
betitelt ist, „Die Anfänge der Philosophie" (dabei führt er bis zu Demokritos!),
vor dem Beginne der attischen Periode der Philosophie passend eingeschoben,
was über die Heilkunde (§ 327), Hippokrates (328), die Hygieiniker Herodikos
und Ikkos sowie Diokles den Karystier u. a. (329), endlich über die Anfänge der
Mathematik und Astronomie (330) zu sagen war. Auch die zweite bedeutendere
Änderung der Anordnung, daß die neuere attische Komödie (bei Christ* S. 320 ff.)
von der mittleren abgetrennt und an den Beginn der hellenistischen Literatur
(II 1, S. 25 ff.) verwiesen ist, darf man wohl als Verbesserung begrüßen. Daß
auch sonst ,, tiefer greifende Umarbeitungen" hier und da nötig waren, liegt auf
der Hand; die Vorrede zur 5. Auflage hebt hervor, daß „die Disposition besonders
in den Kapiteln über Euripides, Xenophön, Piaton verändert, in Charakteristik
von geistigen Richtungen und einzelnen Persönlichkeiten dem Buch etwas mehr
Fülle gegeben worden sei". Das Wachstum des Umfanges kommt aber hauptsächlich
auf Rechnung der vermehrten Literaturangaben in den Anmerkungen. Man muß
anerkennen, daß in der 6. Auflage Literatur bis in die neueste Zeit emsig nach-
getragen ist. Mit Recht bezeichnet die Vorrede auch diese Auflage als eine ver-
mehrte, mit Recht auch als eine verbesserte: überall bemerkt man kleine Berichti-
angez. von K. Münscher. 479
gungen in Einzelheiten, Beseitigungen von Unstimmigkeiten zwischen Text und
Anmerkungen u. a.
Mehr und mehr wird Christs Werk durch Schmids Hand das unentbehrliche
Nachschlagebuch für jeden klassischen Philologen auf Schulen und Universitäten.
Doch indem wir seine Unentbehrlichkeit anerkennen, dürfen wir nicht verschweigen,
daß das Werk, auch nur soweit es Nachschlagebuch sein will (es erstrebt ja wohl
auch das Ziel, eine wirkliche Literaturgeschichte zu werden) oder, besser vielleicht
gesagt, eben weil es zunächst Nachschlagebuch sein will, noch immer allzuviele
Mängel in der Genauigkeit und Vollständigkeit seiner Angaben aufweist, noch
weit davon entfernt ist, das ideale Nachschlagebuch zu sein, das wir in der
Teuffel-Schwabe sehen Geschichte der römischen Literatur hatten und,
wie ich überzeugt bin, auch in deren Neubearbeitung durch Kroll und seine
Genossen haben oder haben werden. Daß dies Urteil berechtigt ist, wird" jeder,
der hier und da die Angaben bei Christ-Schmid nacharbeitend prüft, anerkennen.
Um einzelne Ansichten, Behauptungen, Annahmen mit dem Herausgeber
zu rechten, dazu ist eine solche Anzeige nicht der Ort, Wohl aber muß es eigentlich
das Ziel aller Philologen, die wir tagtäglich Christs Literaturgeschichte benutzen,
sein, die Angaben darin möglichst genau und, was die wirklich fördernde und
brauchbare Literatur anbelangt, auch möglichst vollständig zu gestalten. Darum
will ich kurz mitteilen, was ich mir in den Wochen seit Erscheinen der
6. Auflage beim Benutzen des Buches am Rande notiert habe.
S. 109 fehlt: G rösch 1, Text und Kommentar zur homerischen Ba-
trachomyomachie des Karers Pigres, Friedek 1910. — Bei den Lyrikern fehlen
Verweise auf D i e h 1 Supplementum lyricum. — S. 246 zum großen Pindar
von Schröder vgl. die Rezension von Körte GGA. 1901, 960—72. — Bei
Pratinas (S. 282), den Schmid das Satyrspiel in Athen „einbürgern" läßt, fehlt
die Behandlung des Hyporchems durch v. Wilamowitz, Commentariol.
gramm. I, Greifswald 1879, 5. — S. 289 fehlt E. Maaß, de Aeschyli Suppli-
cibus, Greifswald 1890. — S. 292 über Aischylos Glaukos als Quelle Herodots
W r i g h t , in den Transactions der Connecticut Academy XV 1909, 295. — S. 303
gehört Anm. 6 nicht zu den Kaßsipot, sondern zur Auxoüp-fsia; statt 597 ff. rich-
tiger 612. — S. 312,4 (Schmid hält Antigone 905 ff . für interpoliert!) fehlt
Nieberding, Sophokles und Herodot, Progr. Neustadt 1875. Hanna,
Beziehungen des Sophokles zu Herodot, Progr. Straznic 1875. — S. 378 zu den
verlorenen Euripidesstücken vgl. Croiset, Revue de philol. XXXIV, 213.
Zu den Kretern vgl. Kappelmacher, Wiener Eranos 1909, 26. Zum
Telephos: Pilling, quomodo T. fabulam et scriptores et artifices veteres
tractaverint, Halle 1886. — S. 387 zu Schwartz Euripides- Schollen vgl.
V. Wilamowitz, Commentariol. gramm. IV, Göttingen 1890, 10. — Derselbe
23 zu den Ikarioi des Timokles S. 445,9. — S. 461, 1 wird J G A 500 statt C J A
226,12 zitiert. — S. 475 zum Oxyrhynchos-Exzerpt aus Herodot vgl. Fuhr,
Berl. philol. Woch. 1909, 266, wo festgestellt, daß es nicht Theopomp sein kann. —
S. 477 in den reichen Literaturangaben zum Athenerstaate, der mit Recht von
Xenophons Schriften abgetrennt und vor Thukydides eingereiht ist, vermißt man
V. Wilamowitz, Commentariol. gramm. I, 9, sowie Maaß, Parerga Attica,
480 W. von Christs Geschichte der griechischen Literatur,
Greifswald 1889, 11, der rhetorische Bildung des Verfassers zeigen wollte, da-
gegen Norden, Antike Kunstprosa I 27,3. — S. 492 zum Oxyrhynchos- Kom-
mentar des Thukydides vgl. Fuhr, Berl. philol. Woch. 1909, 265. -^ S. 494,5
lies Jahrbb. f. Phil. Suppl. 19, 1893, 151 (statt 156). — S. 496,4 muß zu Paus. I,
2,24 erwähnt werden, daß die Inschriftbasen erhalten sind (Dittenberger Syll. I, 15),
die den Anlaß zu dem Irrtum des Pausanias gegeben haben. — S. 500,10 die bei
Stobaios erwähnte Theognisschrift hat mit Xenophon nichts zu tun, war wahr-
scheinlich von Antisthenes, vgl. v. Geyso, Studia Theognidea, Diss. Straßburg 1892,
29. Joel, der echte und der xenoph. Sokrates III, 349. An Antisthenes hatte bereits
Bergk gedacht, das Fragment aber später auf Aristoteles irepl su^sveia? zurück-
geführt P L G 11^ p. 136. Ebenso Rausch, Quaestiones Xenophonteae, Diss. Halle
1881, 33. — S. 502,9 eine Ausgabe in 8 Büchern ist bezeugt durch den Index einer
Neapeler Handschrift, vgl. Jorio Codici Ignorati nelle Bibl. di Napoli I, Leipzig
(Harrassowitz) 1892. Zur Hellenika-Ausgabe des Harpokration vgl. Simon, Progr.
Düren 1888 (abzulehnen). — S. 511,5 lies Stob. flor. 56,19 (statt 55). — S. 513,
§ 271 ist der erste Satz schlecht gebaut; umstellen: „oder sie haben". — S. 522/3
wird Photios' Ktesiasauszug fälschlich als aus der Epitome der Pamphila in drei
Büchern stammend bezeichnet (Photios cod. 72 dvsYvwoÖTj ßißXiov Kxtjoioü tou
KviStov xa rispoixa Iv ßtßXioi? xy). — S. 526 die Philistosfragmente stehen
F H G IV 639 f. (nicht 369). — S. 552,1 zur 2. Tetralogie fehlt v.Wilamowitz,
commentariol. gramm. IV 16. — S. 554, m. Anm. 8 wird Ps. Lys. VI ganz verkehrt
in die Zeit nicht lange vor Harpokration verlegt. Als Deklamation der Zeit des
Demetrios von Phaleron sah sie an J a n. S 1 u i t e r , Lectiones Andocideae, Leyden
1804, als Epitome Zutt, die Rede des Andokides Trspl täv [AUsXTjpitov und die
Rede des Lysias xax 'Av8oxi8ou I. Progr. Mannheim (Leipzig) 1891. Das richtige
hat V. Wilamowitz zweimal kurz gesagt (Aristoteles und Athen 1 1 74 Anm. 5.
Textgeschichte der griech. Lyriker 83 Anm. 2), daß es die echte Synegorie des Meletos
ist. — S. 557,5 zur Eratosthenesrede fehlt v. Wilamowitz, Aristoteles und
Athen II 218. — S. 560,3 Aristot. rhet. III 10 bezieht sich nach v. W i 1 a m o w i t z
bei D i e 1 s , das 3. Buch der aristotelischen Rhetorik, Abhdlgn. der Berl. Akad.
1886,35 auf Gorgias Epitaphios. — S. 561 zur Rede gegen Philon fehlt ein Hinweis
auf die Zweifel an ihrer Echtheit bei B ü c h 1 e , Progr. Durlach 1894. Vogel,
Analecta aus griech. Schriftstellern I, Progr. Fürth 1901,46. — S. 563 in den
Literaturangaben zu Lysias fehlt Holmes, Index Lysiacus, Bonn 1895, sowie
die neueste Ausgabe des Neugriechen Zakas, 2 Bde., Athen 1911. Cobets
Ausgabe in 4. Auflage von Hartmann, Lugd. 1905. — S. 565 Brück
(nicht Brück) hat eine zweite Schrift verfaßt: Zur Geschichte der Verfügungen
von Todes wegen im altgriechischen Recht, Breslau 1909; zu beiden fehlen die
wichtigen Rezensionen von Thalheim, Berl. philol. Woch. 1909, 877
und 1910, 369. — S. 565,1 daß die anonyme Isokratesvita von Zosimos, ist
bewiesen von H o h m a n n , Gymnasium 1906, 229. — S. 578 über Antisthenes
fehlt die ältere Arbeit von Adolph Müller, de Ant. cynici vita et scriptis,
Diss. Marburg 1860, wie die neuere von Lulofs, de Ant. studiis rhetoricis,
Diss. Amsterdam 1900, wo die Echtheit der Deklamationen erwiesen ist; bezüg-
lich der Rhythmen vgl. Bachmann, Aiax et Ulixes declamationes etc., Diss.
angez. von K- Münscher. 481
Münster 1911 sowie die Selbstanzeige von Wenig, Berl. philol. Woch. 1912,
107. — S. 579 der Text steht Isokrates XI 50 ganz fest, nur ist bei D r e r u p
die hier einzig richtige Vulgatrezension verkehrterweise in den Apparat verwiesen,
— S. 579,2 fehlt Busse, Rh. Mus. 64, 1909, 108, der allerdings S. 128,3 zitiert
wird, aber falsch als Hermes 64. — S. 579 zu Polykrates rspi /uxpas vgl. v. W i -
lamowitz, Commentariol. gramm. IV, 25,1 (Anspielung in Piatos Hipp,
mai. 288 D). — S. 580,2 zur KatTj^opia Itü/.pdzorj^ außer M e s k vgl. M a r k o w s -
ki, de Libanio Socratis defensore, Breslauer philol. Abhdlgn 40, 1910. —
S. 581,3 fehlt die Ausgabe von Plutarchs Demosthenesvita bei Ch. Graux,
Oeuvres II, Paris 1886, 301. — S. 607 zu den Demosthenespapyri fehlt Nicole,
Textes gr. ined., Genf 1909, Nr. 2, und dazu Fuhr, Berl. philol. Woch. 1910,
581. Es fehlen die Ausgaben G o o d w i n s: Dem. on the crown, Cambridge
1901 ; Dem. against Midias, Cambridge 1906. — S. 609 P i n z g e r hat 1824 zwei
Lykurg-Ausgaben gemacht, eine schol. usibus accommodata, und eine mit Einleitung,
Urschrift, Übersetzung und Anmerkungen. Es fehlen die Lykurgausgaben von
Blume, Sundiae 1828. M a e t z n e r , Berlin 1836. — S. 61 1 lies K. Fuhr,
Berl. philol. Woch. 30, 1910, 579 (statt 479). — S. 612 in den Aischines-
ausgaben fehlt die von B e n s e 1 e r , Griechisch und deutsch, 3 Bändchen 1855
bis 1860. Vor der Weidne rausgabe der Ctesiphontea bei Weidmann 1878 er-
schien die bei Teubner, rec. explicuit 1872. — S. 612,2 fehlt Girard, Hy-
peride et le proces de Phryne, Paris 1911. — S. 614 die Hypereidesliteratur
ist sehr unvollständig angegeben, besonders alle Ansätze zur Erklärung sind
unberücksichtigt. Zu nennen wären etwa die Ausgaben Babingtons
1850, 1853 und 1859. Schneidewin, Göttingen 1853. Sauppe, Philol.
Suppl. I 1859,1 ff. Comparetti, Pisa 1861 und 1864. Cobet Lugd. 1877,
R e V i 1 1 0 u t s Veröffentlichungen sind genauer anzugeben. Herwerden, Mnemos.
XXI, 1893, 383. K e n y o n , London 1893. Leop. Wenge;,3 Progr. Cilli
1903. Krems 1905 u. 1906. Westermann, Index graecitatis Hyperideae,
8 Univ. Progr. Leipzig 1860 — 3. — S. 616 zu Stratokies, verspottet vom Komiker
Philippides s. F r a n t z , Hermes 35, 1900, 671. — S. 648,5 in der Literatur über
die sogenannten oiaXscei? fehlt die erste Ausgabe von H. Stephanus 1570 im
Anhang des Sextus. F a b r i c i u s Bibl. gr. XII, O r e 1 1 i opusc. gr. sententiosa
et moralia II, M u 1 1 a c h fragm. philos. gr. I können vielleicht wegbleiben, man
vermißt aber v. Wilamowitz, Commentariol. gramm. III, Göttingen 1889,
7. Ungenau ist die Angabe über T e i c h m ü 1 1 e r , der die Dialexeis S. 97 ff.
im Kapitel über die Schusterdialoge des Simon behandelt und S. 203 ff. eine Über-
setzung gibt.
Der beste Beweis für die Brauchbarkeit und den Gebrauch des Christ-Schmid-
schen Werkes ist es ja, daß die 5. Auflage nach kurzen drei Jahren zur Überraschung
des Herausgebers selbst vergriffen war. Das gibt mir Anlaß, der Verlagsbuchhand-
lung eine dringende Bitte vorzutragen: von einem so viel gebrauchten Werke
müssen die Auflagen so groß sein, daß sie nicht in so kurzer Zeit ausverkauft sind.
Jeder Student, der ernsthaft klassische Philologie treibt, muß sich den Christ an-
schaffen (allen neueren Einleitungen, Grundzügen usw. zum Trotz), und ich habe
bewegliche und berechtigte Klagen von Studenten gehört, daß der eben neu an-
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 31
482 Grundzüge der klassischen Philologie,
geschaffte Christ^ durch das Erscheinen von Christ^ schon wieder veraltet sei.
Die 5. Auflage von Teuffels römischer Literatur hat 20 Jahre vorgehalten, für
10 Jahre sollte auch der Vorrat einer Christauflage reichen. Dann gewinnt auch
der Herausgeber die Möglichkeit, die ,, eingreifende Umgestaltung" vorzunehmen,
die er schon nach der 5. Auflage ins Auge gefaßt hatte und nun notgedrungen
zurückgestellt hat. Und noch einen Wunsch richte ich an den Herausgeber: der
Christ hat geteilt werden müssen in nunmehr schon mindestens drei Teile, die zu
verschiedenen Zeiten und auch schon in verschiedenen Auflagen dem Publikum
in die Hände kommen. Da ist es ein unbedingtes Erfordernis, nicht bloß zur Be-
quemlichkeit der Benutzer, sondern um eine gründlichere Benutzung zu ermöglichen,
daß jedem Sonderteile ein Register beigegeben wird. In I^ sind die Seiten von I^
am Rande wiederholt, damit das Gesamtregister, das II 2^ schließen soll, auch
für I^ benutzbar ist: ein kümmerlicher Notbehelf. Neben den einzelnen Sonder-
indices ist natürlich ein Gesamtregister erwünscht, aber bei dem Nebeneinander
verschiedener Auflagen der einzelnen Teile auf die Dauer schwerlich gut durch-
zuführen und noch weniger bequem zu handhaben.
Grundzüge der klassischen Philologie von Berthold Maurenbrecher
und ReinholdWagner. Bd. III, 1. Abtlg. : Geschichtedergrie-
chischen Literatur. 1. Hälfte: Die Literatur der klassischen
Zeit von Reinhold Wagner. Stuttgart 1911. Wilhelm Violet. 352 S.
geh. 5,50 M.
Die Abiturienten unserer höheren Lehranstalten beziehen die Universität
jetzt vielfach mit recht mangelhaften Kenntnissen, jedenfalls mit sehr viel geringeren
als früher. Das ist eine ziemlich allgemein bekannte und anerkannte Tatsache,
die dadurch nicht beseitigt wird, daß man sie leugnet, auch nicht, wenn das —
leider — der preußische Kultusminister tut. Namentlich der klassische Philologe,
der auf der Universität mit Anfängern lateinische oder griechische Stilübungen
abhält, spürt es mit Schrecken, wie die feste Kenntnis der Elemente mehr und
mehr schwindet. Die mangelhaft vorgebildete Jugend zum Studium der klassischen
Philologie anzuleiten, braucht man aber ein — meines Bedünkens — recht be-
denkliches Mittel: man sucht ihr Handbücher zu schaffen, die möglichst rasch und
bequem in alle Zweige der klassischen Philologie einführen. Immerhin, wenn
namhafte Gelehrte unter Führung von Gercke und Norden eine Einleitung in die
Altertumswissenschaft herausgeben, so darf ein solches Werk im großen und ganzen
unbedingt empfohlen werden. Bei Winter in Heidelberg beginnt eine Bibliothek
der klassischen Altertumswissenschaft zu erscheinen, herausgegeben von Joh.
Geffcken, die auch „in erster Linie bei Behandlung des Stoffes auf die Bedürfnisse
der Studierenden Rücksicht nehmen" soll (Bd. I Mathematik und Astronomie
von Edm. Hoppe bisher erschienen). So kann es denn wohl nicht wundernehmen,
daß auch Freunds Triennium philologicum in neuem Gewände
erscheint.
Maurenbrecher und Wagner bearbeiten es unter dem Titel „Grundzüge der
klassischen Philologie". Wie die Umschlagseiten des mir vorliegenden Teils III, 1
lehren, ist Bd. I Grundlagen der klassischen Philologie sowie II, 1 Grundzüge der
angez. von K. Münscher. 483
griechischen Grammatik bereits erschienen. II, 2 Grundzüge der lateinischen Gram-
matik und III, 2 Geschichte der griechischen Literatur der nachklassischen Zeit
sollen 1912 folgen. Auch diese Grundzüge , »wollen zunächst den Studierenden
als Handbuch und Führer beim Studium und bei der Wiederholung des Stoffes
zur Seite stehen", sie wollen aber „auch den Gymnasiallehrern und anderen Freunden
der Philologie als ein Überblick und Nachschlagewerk dienen, daher ist auf mög-
lichste Kürze und eine übersichtliche Gruppierung besonderes Gewicht gelegt
worden". Diesem ersten Teile des III. Bandes, in dem Wagner die Geschichte der
Literatur der klassischen Zeit vorlegt, ist noch eine Mitteilung beigegeben, die
betont: ,,Die Behandlung mußte, dem Plan des Gesamtwerkes entsprechend,
im ganzen eine pinakographische sein, d. h. sich beschränken auf kurze biogra-
phische und bibliographische Notizen. Daran schließen sich ausführliche, wenn
auch nicht vollständige Verzeichnisse der einschlägigen Literatur; die Titel sind
nach Möglichkeit nachgeprüft worden."
Ein § 1 Einleitende Biographie (ohne Text) stellt zusammen: Zusammen-
fassende Darstellungen, Nachschlagewerke und Jahresberichte, Sammelwerke
zur griechischen Literatur, Beiträge und Untersuchungen von Bedeutung, (Werke
über den) Einfluß der griechischen Literatur. § 2 gibt die Einleitung der grie-
chischen Literaturgeschichte (in einer Anmerkung riesigen Umfangs wird die
Literaturgeschichte im Altertum behandelt). Nun folgt die Literatur selbst: § 3
Eingang: die vorhomerische Zeit; dann werden zwei große Perioden geschieden:
A. Hellenische Periode: Von den homerischen Gedichten (abgeschlossen um 700
v. Chr.) bis zum Ende der persischen Angriffskriege (480). B. Attische Periode:
Vom Beginn des nationalen Aufschwungs (480) bis zum Eintritt der makedonischen
Vorherrschaft (338). Diese Teilung wird nun arg mechanisch durchgeführt, sodaß
z. B. die Anfänge der Tragödie samt Thespis, Pratinas, Phrynichos und Choirilos
der ersten, dagegen der zweiten, attischen Periode Myrtis, Korinna, Praxilla,
Telesilla nicht minder als Pindar Simonides und Bakchylides zugewiesen werden.
Sonst folgt in beiden Perioden 'auf die Dichtungsgattungen (A: epische, lyrische,
dramatische Poesie, §§ 4 — 14, 15 — 23, 24 — 28. B: lyrische, dramatische, epische,
§§ 35—39, 40—48, 49) naturgemäß die Prosa (A: Anfänge der Prosa, Geschieht-,
Schreibung, Philosophie, §§ 29—30, 31—32, 33—34. B: Geschichte und Erdkunde,
Beredsamkeit, Philosophie, §§ 50—59, 60—^5, 66—76).
Solch ein Nachschlagebuch kann natürlich nützlich sein, wenn es das erste,
aber unbedingte Erfordernis erfüllt, daß der knappe Text nur positiv Feststehendes
bringt. Hypothetisches als solches bezeichnet, daß die Literaturangaben alles
bieten, was den Text und seine Fassung begründet, überhaupt das Wichtige
in genügender Vollständigkeit, und selbstverständlich nichts Falsches. An diesen
Forderungen das Buch zu prüfen, habe ich einen mir wohl bekannten Abschnitt
gewählt, den über die Beredsamkeit S. 291 ff.
Von § 60 „Einleitendes" beginnt der Abschnitt a mit dem gänzlich schiefen,
ja falschen Satze: ,,Die Geschichte der griechischen Beredsamkeit beschäftigte
vor allem die alexandrinischen und die pergamenischen Gelehrten." Was die
Alexandriner betrifft, korrigiert das folgende kleingedruckte „Einzelne" den Satz
selbst: „1. Alexandriner: die älteren beachteten die Redner nicht." Dann wird
31*
484 Grundzüge der klassischen Philologie,
von Didymos gesprochen, dagegen ist von Kallimachos pinakographischer Tätig-
keit und den daran anknüpfenden Arbeiten seiner Schüler, wie Hermippos, keine
Rede. Dann folgt: „2. Pergamener: sie behandelten besonders die attischen Redner
literarhistorisch und rhetorisch-ästhetisch'* (eine unbewiesene Hypothese; die
pergamenischen irivaxs? waren gewiß nicht anders als die alexandrinischen) und
dann — man höre und staune — „so Caecilius von Kaie Akte und Dionysios von
Halikarnassos**: das waren also Pergamener! Als erhalten werden dann aufgezählt
Dionys, Ps.-Plutarch, Photios (Hermogenes und Philostratos fehlen; dieser wird
aber S. 293 mit seinen Inhaltsangaben Gorgianischer Reden zitiert), Harpokration,
Pollux (von der Lexikographie der Alexandriner, des Kaikilios u. a. kein Wort):
und das alles figuriert unter der Rubrik: Pergamener! Von atticistischen Bestre-
bungen im I. Jahrh. vor, im II. nach Chr. kein Wort. Als Literatur zu dem aller
folgen zwei Titel (A. Schöne, Ibb. 1871. Zucker, Erlangen 1878); für Photios und
sein Verhältnis zu den Vorlagen sollte wenigstens noch die neueste Arbeit Vonachs,
Innsbruck 1910, angeführt sein. Dann folgt Literatur „zur neueren Geschichte
der griechischen Beredsamkeit: 1. Sammelwerke: Verweis auf § 1 ; 2. Übersetzunger
angekündigt von G. Lehnert (mir unbekannt); 3. Jahresberichte; 4. Untersuchungen:
zunächst Ruhnkens historia critica; diese liest man zumeist in der nicht genannter
Ausgabe des Rutilius Lupus von Frotscher 1831. Spengels ouva^. xs/vaiv 1828,
(nicht 1829 erschienen). Dann folgen nach Westermann und Blaß falsche Angaber
über Volkmann: dessen Rhetorik der Griechen und Römer"^ 1885 ist ein selbständiges
Werk, das Hammer nicht neu bearbeitet hat; Hammer hat nur den gleichfalls
von Volkmanns Hand stammenden kurzen Abschnitt über Rhetorik in Müllers
Handbuch II, 3 (dritte Aufl. 1901) bearbeitet. Zwischen Norden, Navarre, Drerup
(Jbb.-Suppl. XXVII), Süß nimmt sich dann Schodorf, Beiträge zur Kenntnis dei
att. Gerichtssprache etwas seltsam aus. 5. Wörterverzeichnisse: „Indices graecitatis
zu den einzelnen att. Rednern auf Grund von Reiskes Sonderindices vor
T. Mitchell, 2 vol., Ox. 1828'', wörtlich aus Christ.
Folgt Abschnitt b) Anfänge der kunstmäßigen Beredsamkeit. Richtig wird
auf Homer hingewiesen, ebenso auf die Gerichtsszene der Eumeniden; nur fehlt
deren Behandlung durch v. Wilamowitz, Aristoteles und Athen II, sowie ein Hin-
weis auf die homerische Rhetorik desTelephos und die Arbeiten Schraders, Hermes
37 und 38. „Im übrigen die Überlieferung über Solon, Themistokles, Perikles u. a.":
da ist wieder unpassendes zusammengeworfen: bei Solon und Themistokles haben
wir die im wesentlichen durch Cicero vermittelten, lediglich erschlossenen An-
gaben, sie seien tüchtige Redner gewesen (Solon erzielt aber seine höchsten Wir-
kungen nicht durch das prosaische Wort, sondern durch seine Poesie dviaYopTj?),
von Perikles Beredsamkeit dagegen haben wir, durch Aristoteles und Plutarch
(aus Jon und Stesimbrotos), doch eine recht deutliche Vorstellung. Der nächste
Satz ist wieder ganz schief: „Der Spott des Aristophanes über die redenschreibenden
Rechtsbeistände seit 427 trifft zusammen mit der Verbreitung kunstmäßiger Bered-
samkeit von Sizilien aus im eigentlichen Griechenland." 427 spottet Aristophanes
in seinen Daitales über Thrasymachos, ein Beweis, daß bereits rhetorische Kunst-
lehre in Athen getrieben wurde vor Gorgias Eintreffen in Athen im gleichen Jahre.
In Abschnitt c) Gattungen der Beredsamkeit werden die drei genera ge-
angez. von K« Münscher. 485
nannt; welche Vulgärrhetorik (?) das eirioetxxixov dem oujxßoüXsuxixov untergeordnet
haben soll, ist mir unklar. Beim dritten -j-svoc werden die sTruacpiot l6'(oi genannt
, »nachweisbar seit 440 (saniischer Epitaphios des Perikles)". Dieser, allerdings
der erste wirklich bekannte, ist 439 gehalten, die Sitte der staatlichen Leichenrede
bestand aber wahrscheinlich schon seit der Mitte der 70er Jahre des V. Jahrhunderts.
Dann heißt es: „seit dem 4. Jahrhundert wurde in Athen an der jähr-
lichen Totenfeier bei der Akademie der vermeintlich auf Aspasia zurückgehende
(richtig: nach Piatons Fiktion von Aspasia dem Sokrates mitgeteilte) Epitaphios
^:i Piatons Menexenos vorgelesen." Die Ciceronotiz (orat. 151) bezieht sich aber
t'denfalls auf spätere Zeiten. Als Literatur zur Topik dieser Gattung wird nur
Burgess, Chicago 1902, genannt; fehlt Pflugmacher, Greifswald 1909; Literatur
über die Geschichte des Epitaphios (Brückner, Athen. Mitteilungen 35. Elsa Goß-
mann, Jena 1908) fehlt ganz.
§ 61 behandelt die sizilische Beredsamkeit, beginnend mit dem Satze: , »Ver-
treter dieser Advokatenkunst sind Korax und Teisias, besonders aber Gorgias
von Leontinoi" — ganz falsch, da Gorgias zwar Sizilianer, aber kein Advokat
ist und zu seinen Vorgängern vielfach im Gegensatze steht. Ebenso falsch ist's,
bei Gorgias dann (im Kleingedruckten) von einer „durch keine Gewissensbedenken
beeinflußten Beredsamkeit" zu reden. Ganz schief ist wieder die Behauptung,
Gorgias sei „geb. zwischen 500 und 480, gestorben zwischen 391 und 370"; es gab
zwei verschiedene Ansätze im Altertum, zwischen denen wir zu wählen haben,
aber Gorgias ist nicht in der Zeit zwischen den beiden Ansätzen geboren bzw.
gestorben; ebenso verkehrt ist die Angabe über den 'OXüfxTiixo? („vielleicht zwischen
408 und 391")- Unter Gorgias Hauptschülern wird zwischen Polos und Alkidamas
Prodikos genannt (wo ist das überliefert?) und neben „Menon (bei Xenophon)"
(muß heißen : bei Plato Men. p. 70 B, verwechselt mit Proxenos bei Xen. Anab. 1 1, 6, 16)
steht „Kallikles (= Charikles?), ein Politiker (bei Piaton)"! Isokrates dagegen
fehlt. Zu den „unbedeutenden Bruchstücken" gehört auch das Epitaphiosfragment,
das uns von Gorgias Art doch eine ganz deutliche Vorstellung ermöglicht. Zu
Helena und Palamedes heißt es: ,, diese beiden früher für unecht gehalten"; Literatur
darüber fehlt. Der letzte Satz des Abschnitts ist wieder ganz schief: ,, Übertrieben
haben diesen schon von Empedokles vorgebildeten Stil Agathon und Likymnios,
umgebildet Isokrates": Weil Gorgias die Figuren in seiner Prosa übertrieben an-
wandte, galt er als ihr Erfinder, tragen sie seinen Namen; seine getreuen Schüler,
Agathon u. a. machten's wie er; Isokrates ermäßigte den Figurenschmuck. Daß
Empedokles diesen Stil vorgebildet, suchte Diels (Berl. Sitzungs-Ber. 1884) zu
erweisen (der aber nicht zitiert wird); richtiger ist die Anschauung, die Reich vertritt,
daß die Gorgianischen Figuren in der Poesie längst kunstmäßig gebraucht vorlagen;
Reich wird auch zitiert, aber nur Heft I seiner Abhandlung über den Einfluß der
griechischen Poesie auf Gorgias Progr. Ludwigshafen 1908, während der II. Teil,
Ludwigshafen 1909, dafür in Betracht kommt. Sonst wird bez. der Nachwirkung
bei den nächsten Generationen (bez. Xenophon fehlt Seyffert, de Xenophontis
Agesilao, Diss. Göttingen 1909) zitiert „Schacht, E., De Gorgianae disciplinae
vestigiis, Diss. Rostock 1890": Schacht ist Druckfehler statt Scheel und ein alter
Bekannter: er ist ohne Nachprüfung aus Gercke-Norden I 447 übernommen!
486 C. F. Lehmann-Haupt, Die historische Semiramis usw., angez. von S. Widmann.
(dort durch das daneben stehende Zitat H. Schacht, de Xenophontis studiis rhe-
toricis hervorgerufen).
So könnte ich mit meiner Kritik Abschnitt für Abschnitt fortfahren. Nur
noch einiges sei aus den nächsten Seiten herausgegriffen. Über Antiphon heißt
es (S. 294): „Er ist neuerdings mit dem Sophisten A. identifiziert worden (un-
bewiesen)": Literatur für und wider fehlt. Daß die Tetralogien nicht vom Rham-
nusier sind, wird nicht gesagt, Literatur dazu nicht erwähnt: dagegen wird im all-
gemeinen auf Christ-Schmid verwiesen „mit zahlreichen Literaturangaben". Über
Andokides 4 heißt es (S. 295): „AOiTä 'AXxißiaoou (um 418, unecht, im Altertum
z. T. Lysias zugeschrieben)": daß es ein Erzeugnis wahrscheinlich des späteren
IV. Jahrhunderts ist, erfährt man nicht, Literatur fehlt. Lysias soll (S. 296) wieder
in Syrakus geboren sein (ein wohl aus Christ-Schmid übernommener Fehler,
der dort in der 6. Aufl. korrigiert ist). Ob man Lysias' dnoXo^ia Hwxpaxous als ein
irat^viov bezeichnen darf, ist mindestens zweifelhaft; als Übungsstücke, ziyyoLi,
von ihm figurieren neben der fingierten Verteidigungsrede für Nikias die zwei
Reden gegen den jüngeren Alkibiades und gegen den Sokratiker Aischines (das
sind doch Prozeßreden, wenn sie auch für die literarische Publikation überarbeitet
sind!) und „der in Plat. Phaidr. stehende Liebesbrief (Xoyo? Iptüiixo?)", der also
als echt lysianisch angesehen wird: Literatur zu dem allen fehlt. Schlägt man
unter Plato nach, S. 338, so findet man den Verweis „Räder a. a. O. (1905) S. 245 ff.
(Literatur)"; daneben werden zur Ergänzung zitiert Vollgraffs Coniectanea in
Piatonis Phaedrum, Mnemos. 27, und „Thiele, G., Phädrusstudien, in Herm. 41
(1906), S. 562—92" — leider gelten diese dem Fabeldichter Phaedrusü
Ich glaube, die Proben genügen. Die Angaben des Textes sind vielfach schief
und falsch, sie lassen die nötige Vorsicht, aber auch das nötige philologische Urteil
vermissen; die Zitate sind kritiklos zusammengetragen, nicht sorgfältig nach-
geprüft, oft ohne Kenntnis der genannten Arbeit gegeben, oft fehlt gerade d i e
Literatur, die man nach der Fassung des Textes erwarten sollte. Der ganzen Arbeit
fehlt philologische Akribie. Ich kann vor der Benutzung dieses Teiles der Grund-
züge der klassischen Philologie nur warnen.
Münster (Westf.) K. Münscher.
Lehmann-Haupt, C. F., Diehistorische Semiramisundihre Zeit.
Mit 50 Abbildungen. 76 S. 8«. Tübingen 1910. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),
geh. 2 M., geb. 3 M.
Galt Semiramis eine Zeitlang als rein sagenhafte Persönlichkeit, so bewies
das Vorkommen ihres Namens Schammuramat auf mehreren in Nimrud, dem
altassyrischen Kalach, entdeckten Statuen des Gottes Nebo ihre Geschichtlichkeit.
Da sie als „Palastfrau" des Königs Adadnirari bezeichnet war, lag es nahe, sie für
dessen Gemahlin zu halten. Aufschluß über ihre wirkliche Stellung im assyrischen
Königshause brachte ein bei den Ausgrabungen der Deutschen Orientgesellschaft
im Jahre 1909 unter einer größeren Anzahl von Königsstelen in Assur gemachter
Fund, eine Denksäule der Schammuramat. Hier ist sie die „Palastfrau", d. i. die
Gemahlin Samsi-Adads genannt und zugleich als Mutter Adadniraris (IV.) an-
E. Schramm, Griechisch-römische Geschütze, angez. von C. Fredrich. 487
gegeben. Ihre Verwandtschaft zu dem gleichfalls hier erwähnten Salmanassar
ist nicht ganz sicher; doch scheint sie als Schwiegertochter des dritten Königs
dieses Namens bezeichnet zu sein. Schon die Tatsache, daß sie die einzige Frau ist,
der eine besondere Ehre unter den Königen zuteil wird, berechtigt zur Vermutung,
daß sie keine unbedeutende Rolle spielte. Professor Lehmann sucht in seinem
anregenden Vortrage aus der sagenhaften Umhüllung den geschichtlichen Kern
zu gewinnen.
Münster i. W. S. W i d m a n n.
Schramm, E., Griechisch-römische Geschütze. Bemerkungen
zu der Rekonstruktion. Metz 1910. G. Scriba. 37 S., 10 Tafeln und 14 Text-
figuren, gr. 8°. geb. 3 M.
Das vorliegende Buch bedarf eigentlich keiner Besprechung, denn der Inhalt
ist seit Jahren bekannt und anerkannt. Der Text ist ein wörtlicher Abdruck von
drei Aufsätzen des Verfassers in dem „Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische
Geschichte und Altertumskunde" XVI 1904, 142—160; XVIII 1906, 276—283,
und XXI 1909, 86—90. Bei einer Vergleichung ergibt sich, daß hier und da ein Über-
gang gemacht, selten einmal ein Wort oder ein Satz ausgelassen oder geändert
wurde, wie das Zusammenstellen oder ein Fortschritt in der Erkenntnis es mit
sich brachten. Auch die zum Teil recht mäßigen Abbildungen und die guten Tafeln
finden sich alle schon früher bis auf Tafel 9, die, soviel ich sehe, neu ist. Warum
ist dieser Tatbestand an keiner Stelle in dem Buche kund gegeben worden? Der
literarische Brauch hätte es gefordert, und niemand' verdenkt es dem Verfasser,
daß er die in mehreren Bänden einer seltenen Zeitschrift verborgenen Aufsätze
sammelte.
Weggeblieben ist z. B. auf S. 8 die Bezeichnung „trefflich" bei der ersten Er-
wähnung des Werkes von Rüstow und Köchly, Geschichte des griechischen Kriegs-
wesens. Aarau 1852. Dieses Buch, das so lange das deutsche Werk über dieses
Thema war, hätte ein Lob behalten können, auch wenn ein Blick auf die hier zu
vergleichenden Seiten 378 ff. zeigt, wie weit die neuesten Forscher über jene hinweg-
gekommen sind. Neben dem Techniker Schramm steht nämlich als Theoretiker der
Philologe R. Schneider. Mit Nutzen kann man dessen Veröffentlichungen vergleichen:
„Antike Geschütze auf der Saalburg. Erläuterungen zu Schramms Rekonstruk-
tionen." Homburg v. d. H. 1908, und die anderen, die wichtige Anhaltspunkte
für die Rekonstruktionen lieferten : über Geschütze auf antiken Reliefs (Mitteilungen
des K. D. Archäologischen Instituts. Rom 1905) und auf handschriftlichen Bildern
(Metz 1907), ferner die Ausgaben der griechischen Poliorketiker und des in betreff
seines Alters heiß umstrittenen ,, Anonymi de rebus bellicis über". Von R. Schneider
ist nach einer Äußerung auf S. 6 noch ein umfassendes Werk zu erwarten. Schneider
schrieb einmal („Anfang und Ende der Torsionsgeschütze". Neue Jahrbücher
V909, 133 ff.): „Die Torsionsgeschütze sind Kunstwerke einer so ausgebildeten
Technik und die zweiarmigen Geschütze geradezu vollendete Meisterwerke, die
den Vergleich mit den modernen Konstruktionen vollkommen aushalten." Um
so höher ist es zu schätzen, daß es der Praxis und Theorie in schönem Vereine
gelang, jenes ältere deutsche Werk wie die französischen weit zu überholen, die
488 Quellen und Forschungen usw., angez. von S. Widmann.
Grundlage für eine Geschichte der antiken Artillerie zu schaffen, ja die ver-
lorenen antiken Geschütze zu ersetzen.
Es ist sehr zu wünschen, daß die Resultate, die wohl nur in Kleinigkeiten
noch Besserungen erfahren werden, möglichst bald in die Handbücher und Kom-
mentare übergehen, wie sie z. B. schon 1907 in der zweiten Auflage von Dehlers
Bilderatlas zu Caesars Büchern de hello gallico Aufnahme fanden. Übrigens könnten
recht viele Abbildungen dieses brauchbaren Atlasses in einer moderner Technik
entsprechenden Weise einmal erneuert werden!
Cüstrin. C. F r e d r i c h.
Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie. Herausgegeben
von W. S i e g 1 i n , Heft 23.
Plutarchs Leben des Lykurgos. Von Dr. E r n s t Keßler. Berlin 1910. Weid-
mannsche Buchhandlung. VIII u. 132 S. gr. 8°. geh. 4,40 M.
In der Alexander-Vita bittet Plutarch seine Leser um Nachsicht, wenn er bei
der Behandlung großer Taten nicht auf Einzelheiten eingehe, sondern sich da-
bei kurz fasse, und rechtfertigt die Bevorzugung charakteristischer Züge, Handlungen
und Aussprüche seiner Helden mit dem Worte: ,,Ich schreibe ja nicht Geschichte,
sondern Lebensbilder." Er will seinen Lesern geistige Nahrung bieten und auf sie
erziehlich wirken. Darum haben für ihn oft nüchterne Tatsachen geringeren Wert,
als Anekdoten, Legenden und was der Turnvater Jahn ,,Geschichtser* nennt.
Bei den strengen Historikern konnte er diese selten finden, wohl aber in den Büchern
älterer Traditionssammler. Der Forschung nach den Quellen des Plutarch muß
deshalb die Untersuchung der Parallelberichte auf ihre Quellen hin vorausgehen.
Einer Anregung des Straßburger Historikers K. J. Neumann, der selbst über die
Entstehung des spartanischen Staates in der lykurgischen Verfassung schrieb,
folgend, unternimmt Keßler den Versuch, die in der Lykurgvita enthaltenen Be-
richte der Reihe nach zu prüfen und ihnen ,,ihre Stelle innerhalb der Traditions-
geschichte anzuweisen'*. Erst in zweiter Linie fragt er nach den direkten Vorlagen
und nennt mit Recht an erster Stelle den Hermippus, dann den Borystheniten
Sphairos, während die unmittelbare Benutzung Phylarchs zweifelhaft bleibt, ferner
wahrscheinlich Piaton, Thukydides, Theophrast, Aristokrates. Vergleich mit der
Schrift Xenophons über den Staat der Lakedämonier führt zur Vermutung, daß
ein Redaktor aus Plutarch schöpfte. Über Hypothesen kommt die Quellenforschung
bei Plutarch wenig hinaus. In einem Anhang zu der sorgfältigen Untersuchung
behandelt Professor Neumann die spartanischen Königslisten bei Plutarch und
die Entstehungszeit des Ephorats und Theopomp (754).
Münster i. W. S. W i d m a n n.
Meyer, Chr.,^ Geschichte Frankens (Sammlung Göschen 434). Leipzig
1909. Göschen. 153 S. kl. 8«. geb. 0,80 M.
Weller, K., Württembergische Geschichte (Sammlung Göschen
462). Leipzig 1909. Göschen. 176 S. kl. 8". geb. 0,80 M.
Zwei wertvolle Bereicherungen der Göschenschen geschichtlichen Bibliothek.
Das zuerst genannteBüchlein gibt eine Darstellung von der politischen
und territorialen Entwicklung, vor allem des fränkischen Stückes von Bayern,
i
Die deutschen Kolonien, angez. von \V. Scheel. 489
d. h. der drei Kreise Unter-, Ober- und Mittelfranken, eines Gebietes reichlich so
groß wie die Provinz Westfalen, auf dem nicht weniger als 3 Bistümer, 9 Mark-
grafenschaften und Grafschaften, 5 Reichsstädte und dazu eine Anzahl von reichs-
freien Ritterschaften' in buntem Wechsel durcheinander lagen. Es verfolgt deren
Schicksale bis in die napoleonische Zeit, wo sie fast alle durch das Band, das die
wittelsbachische Dynastie um sie schlang, vereint wurden, ein Band, stark genug,
um sie weiterhin zusammenzuhalten. W e 1 1 e r beginnt mit der Geschichte des
Schwabenlandes, die er von ihren Uranfängen an über die Besitzergreifung des Landes
durch die Schwaben hinaus bis zu der Zeit verfolgt, wo ihm mit dem Untergang des
Hohenstaufenhauses die Hoffnung auf einen politischen Zusammenschluß ge-
nommen wurde. Er führt uns von da an in einer doppelten Kapitelreihe neben-
einander die allgemeine Geschichte des heutigen württembergischen Landes vor
Augen — die sich wieder nicht selten zu einer Geschichte Schwabens erweitert —
und die besondere Entwicklung zuerst der Grafschaft, dann des Herzogtums, end-
lich des Kurfürstentums Württemberg, bis seit Ende 1805 infolge der Begründung
des Königreichs und dessen Erweiterung auf seinen heutigen Umfang durch Napoleons
Gnaden das Besondere in dem Allgemeinen aufgeht und dadurch dem Verfasser
seine Darstellung, der er erst mit der Hinabführung auf die Jetztzeit ein Ziel setzt,
vereinfacht wird.
Meyer faßt seine Aufgabe vorwiegend einmal vom politischen und sodann
vom territorialen, nicht selten dynastischen Standpunkt. Bei W e 1 1 e r kommt
neben der politischen Geschichte die Entwicklung des wirtschaftlichen und des
Geisteslebens zum vollen Recht, wird über der Betrachtung der Geschicke der
Territorien und Dynastien nie der Blick aufs Ganze verloren, die Rückwirkung
des Einzelnen auf die Gesamtheit und umgekehrt aus dem Auge gelassen. Dadurch
gewinnt sein Büchlein an Gehalt und Tiefe. — Beide Bücher weisen reiche Stamm-
bäume und ein umfangreiches Register auf; als Wunsch für die zweite Auflage
notiere ich die Hinzufügung einer Karte. Die Verfasser unserer geschichtlichen
Lehrbücher und andere müssen sich mit Meyer auseinandersetzen, wenn er S. 72 und
146 Friedrich VH. 1415 mit Brandenburg belehnt werden läßt (nicht Friedrich VI.);
die Abweichung erklärt sich aus der Unterscheidung von drei Friedrichen zwischen
1200 und 1297 (statt 2).
Elberfeld. W. M e i n e r s.
Die deutschen Kolonien, herausgegeben von Major a. D. Kurd Schwabe,
unter Mitwirkung von Amtsrichter Dr. Fr. B e h m e , Major in der Schutz-
truppe für Südwestafrika B e t h e , Hauptmann ä la Suite der Schutztruppe
für Kamerun Dominik, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Gustav Fritsch,
Direktor der Deutschen Togogesellschaft Bergassessor a. D. Fr. H u p f e 1 d, Ma-
rine-Oberstabsarzt Prof. Dr. K r a e m e r , Stabsarzt im Kommando der Schutz-
truppen Dr. Kuhn, Geh. Regierungsrat Prof. Dr. P a a s c h e , Hauptmann
a. D. H. R a m s a y, Hauptmann a. D. V o 1 k m a n n. Herstellung des Werkes
unter künstlerischer Leitung von BernhardEsch, Farbenphotographische
Aufnahmen von Dr. Robert Lohmeyer, Bruno Marquardt und
Eduard Kiewning. Band I Togo, Kamerun. Deutsch-Südwestafrika.
Mit 126 Farbenphotographien nach der Natur und zwar 20 Tafelbildern und
490 Die deutschen Kolonien, angez. von W. Scheel.
106 Bildern im Text. Band II Deutsch-Ostafrika. Kaiser-Wilhelmsland und
die Inselwelt im Stillen Ozean. Samoa. Kiautschou. Mit 125 Farbenphotographien
nach der Natur und zwar 20 Tafelbildern und 105 Bildern im Text. Verlags-
anstalt für Farbenphotographie. Berlin 1911. Weller und Hüttich. Sub-
skriptionspreis 200 M.
Eine stattliche Reihe bekannter Kolonialfreunde und Kolonialkämpfer haben
sich vereinigt, ein Monumentalwerk über die deutschen Kolonien zu schaffen,
ihre Bedeutung nach politischer wie wirtschaftlicher Seite hin zu beleuchten und
in gedrängten übersichtlichen Aufsätzen und Aufzeichnungen meist aus persön-
licher Erfahrung heraus die einzelnen Kolonien und Schutzgebiete dem Leser
vor Augen zu führen. Nach einem kurzen markigen Geleitwort des ältesten Afrika-
reisenden unserer Tage, des Geh. Medizinalrats Fritsch bespricht Hupfeld die
Kolonie Togo besonders nach ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, versteht es jedoch
auch, die sehr interessanten völkerkundlichen Fragen, die gerade diese Kolonie
berühren, klar zu entwickeln. In die Kolonie Kamerun teilen sich Ramsay und
der kürzlich verstorbene unvergeßliche Hans Dominik, der die ganze Kraft seiner
jungen Tage für die Erschließung und Nutzbarmachung besonders von Süd-Kamerun
einsetzte, dem Deutschland diesen Süden der Kolonie erst recht eigentlich mit
seiner Jaunde-Station zu verdanken hat. Was hier von Kribi bis zum Tschadsee
noch an Werten und Ländern rationeller Erschließung harrt, hat Dominik in
fesselnder sachkundiger Darstellung beschrieben. Es ist die letzte Arbeit seines
kurzen, tatenreichen Lebens gewesen. — In die Geschichte und Landeskunde
von Deutsch-Südwestafrika führen uns die Schilderungen dreier Mitkämpfer aus
dem letzten großen Aufstand, des Majors Schwabe, des Stabsarztes Dr. Kuhn
und des Hauptmanns Volkmann. Unter diesen beanspruchen die Schilderungen
aus dem Hererolande und des Sandfeldes (Omaheke), in dem die letzten Reste
des einst so stolzen Volkes der Herero verdursteten und verkamen, besonderes
Interesse. Bieten sie doch eine lebendige Illustration zu den knappen, markigen
Worten, mit denen das Generalstabswerk über den Krieg in Südwestafrika fern
jeder Ruhmredigkeit von den Heldentaten deutscher Reiter und Offiziere erzählt,
die hier in einsamer Öde, fern der Heimat, treu ihrem Fahneneide gefallen sind.
In dem Abschnitt über Deutsch-Ostafrika bringt Ramsay mit Recht das
Verdienst wieder zu Ehren, das Karl Peters ohne Zweifel an der ersten Erwerbung
dieser unserer wichtigsten Kolonie hat. Nach einer kurzen Landeskunde von Bethe
bespricht sodann der frühere Vizepräsident des Reichstages Paasche, der selbst
einige Zeit in Ostafrika geweilt, im Anschluß an seine Monographie über diesen
Gegenstand die wirtschaftlichen Zustände und Aussichten der Kolonie. Den Be-
schluß machen die Kolonien und Schutzgebiete im Stillen Ozean von Kraemer und
Henoch, sowie Kiautschou von Behme, für das einst der große Geograph Richt-
hofen durch seine berühmte Monographie weitgehendes Interesse erweckt hatte.
Wir würden jedoch dem Werke bei weitem nicht gerecht werden, wenn wir
unsere Besprechung mit einer Durchmusterung der Textaufsätze beschlössen.
Den eigentlichen Wert und seine charakteristische Eigenart erhält das Buch durch
die Beigabe sehr zahlreicher Farbenphotographien, die mit farbenempfindlichen
Platten von Dr. Robert Lohmeyer u. a. an Ort und Stelle aufgenommen uns eine
Roller, Adolf Spieß, angez. von E. Neuendorff. 491
ganz überraschend naturgetreue Wiedergabe besonders der Flora und Fauna, aber
atjch der Bewohner der Kolonien und ihrer Landschaften bieten. Für Geo-
graphie, Anthropologie, Ethnographie, Botanik und viele andere Zweige der
Wissenschaft haben gerade die farbigen Naturaufnahmen ganz anderen Wert
als kolorierte Illustrationen. Hier spielt die individuelle Auffassung des Künstlers
von Farbe und Licht eine gewichtige Rolle; die Farbenphotographien dagegen,
die durch das Miethesche Verfahren zu hoher Vollendung gediehen sind, er-
möglichen eine getreue Darstellung nach der Natur. Ich kann aus der über-
wältigenden Fülle des Gebotenen nur Weniges hier hervorheben. Man betrachte
die Farbenaufnahme des Kibogipfels aus der Höhe des sogen, letzten Lagers
des Erstersteigers Hans Meyer, die Dr. Lohmeyer hergestellt hat, mit ihren
wunderbaren Farbentönen in Gras und Eisdecke (Band II, S. 48) und dem zarten
Wolkenschleier über der mehr als 6000 m hohen Spitze; daneben blicke man
einmal in den Kaufladen eines Inders in Morogoro (Band II, S.40), wo ungefähr
zwölf Trägerkoffer verschiedenster Färbung übereinander aufgestapelt sind. Welche
einfache Schwarzplatte oder welche künstliche Farbengebung könnte einen ähnlich
naturgetreuen Eindruck hervorrufen wie diese Farbenaufnahme? Und so ist es
durchgängig. Die zarten Spitzen des Steppengrases, die leichten Palmenfieder,
die starrenden, von der Abendsonne beschienenen Äste des Affenbrotbaumes,
erscheinen in der Naturaufnahme in so glänzender Wiedergabe, daß man sich
kaum ein besseres Hilfsmittel für die Kenntnis der Kolonien denken kann als dies
Bilderwerk.
Nowawes bei Potsdam. Willy Scheel.
Roller, Karl, AdolfSpieß. Ein Gedenkblatt zu seinem hundertjährigen Ge-
burtstage. Berlin 1910. Weidmannsche Buchhandlung. VIII u. 167 S. 8«. 3M.
Während uns Leben und Wirken Jahns wiederholt in selbständigen Arbeiten
geschildert worden sind, so am gelehrtesten von Euler, am großzügigsten von
Schulthess und am volkstümlichsten von Meyer, sind über Adolf Spieß, den Be-
gründer des deutschen Schulturnens, ersc 1910 als Gedenkblatt zu seinem 100 jähri-
gen Geburtstage zwei selbständige Lebensbilder erschienen. Beide kommen aus
Hessen, der Heimat und hauptsächlichsten Wirkungsstätte von Spieß. Das eine
ist eine einfache Lebensbeschreibung von Schulinspektor Schmeel in Worms. Das
andere, das vorliegende Buch von Roller, stellt nicht nur das Leben von Spieß
ausführlich dar, sondern versucht auf breiterer Grundlage ein Verständnis seines
Wirkens anzubahnen. Es ist als eine fleißige und erschöpfende Zusammenfassung alles
Wissenswerten über Spießens Leben und den Inhalt seiner Schriften für den Turn-
historiker eine wertvolle Arbeit. Wertvoller noch wäre sie geworden, wenn der
Verfasser auf die vielen seitenlangen Zitate verzichtet und Ereignisse bzw. Ge-
danken in eigener lebendiger Form dargestellt hätte, auch wenn er statt der aus-
führlichen Inhaltsangabe der Spießschen Schriften tiefer auf ihre historische Be-
deutung eingegangen wäre.
Mülheim (Ruhr). Edmund Neuendorff.
Berliner Heimatbücher. Herausgegeben von der Diesterweg-Stiftung in Berlin.
1. Spuren der Eiszeit in und bei Berlin von Gustav Kalb.
492 G. Helm, Grundlehren der höheren Mathematik, angez. von H. Thieme.
46 S. geh. 0,25 M. 2. Berliner Sagen und Erinnerungen für
die Berliner Jugend, gesammelt von Otto Monke. Leipzig 191 1.
Quelle & Meyer. 70 S. geh. 0,30 M.
Das Unternehmen, das mit den vorliegenden Bändchen ins Leben tritt, ver-
dient Ermutigung und Beifall. Es will dem Heimatsgefühl, das in der Großstadt-
jugend nicht leicht von selbst erwächst, für seine Entwicklung Stützen bieten,
indem es die Jugend Berlins anleitet, nachdenkend bei einzelnen charakteristischen
Momenten in dem Gesamtbild ihrer ins Riesenhafte gewachsenen Heimatstadt
zu verweilen. Die erste Schrift führt in die Vereisungstheorie von Torell ein und
erinnert daran, daß es dem schwedischen Forscher bei einem Besuch der Rüders-
dorfer Kalkberge zur Gewißheit wurde, daß ganz Norddeutschland einst von
Gletschern bedeckt war. Sie erzählt dann von der ungeheuren Grundmoräne,
die den Äckern der Mark ihre Fruchtbarkeit gibt, von Stirnmoränen und Seiten-
moränen, die hier und da zutage liegen, von den Tonlagern, die die abschmelzenden
Gletscher zurückgelassen haben, von der Entstehung unserer Flüsse und weist
auf Zeichen der Eiszeit hin, die uns überall in der Mark entgegentreten. Manchmal
hätte man wohl den Wunsch, daß die Darstellung etwas mehr bei dem Einzelnen
verweilen möchte, aber im ganzen ist es sicherlich geeignet, die Jugend, an die es
sich wendet, zum Nachdenken über den heimatlichen Boden und seine Gestaltung
anzuregen. Die zweite Schrift gibt in Chronikenstil allerlei Sagen und Geschichten
wieder, die in Berlin unter den von altersher Eingesessenen von Mund zu Mund
gehen und von denen wohl jedem Berliner hin und wieder dunkle Kunde gekommen
ist. Sie erzählt von der weißen Frau, von dem Steinkreuz an der Marienkirche,
vom Großen Kurfürsten auf der Langen Brücke, von der Kuppel der Hedwigs-
kirche, von der Riesenrippe an einem Haus am Molkenmarkt, von dem Bild eines
Mannes, der eine Tür trägt, an einem Haus der Wallstraße und von vielem anderen.
Die Erzählungen sind zuweilen etwas nüchtern, doch finden sich auch solche von
grausiger Romantik oder burleskem Humor. Man kann die beiden Bändchen
freundlicher Beachtung empfehlen.
Berlin. G. Louis.
Helm, G., Grundlehren der höheren Mathematik. Zum Ge-
brauch bei Anwendungen und Wiederholungen zusammengestellt. Mit 387
Figuren im Text. Leipzig 1910. Akademische Verlagsgesellschaft. XV u. 419 S.
8». 14,20 M.
Das vorliegende Buch enthält den Lehrstoff der höheren Mathematik, den der
Verfasser an der Dresdener technischen Hochschule in einer sich über vier Studien-
semester erstreckenden Vorlesung seinen Hörern vorzuführen pflegt. Er will aus
dem Gesamtgebiete der höheren Mathematik das für Techniker Wertvolle tunlichst
in solcher Anordnung bieten, daß auf die Lehren, die für alle wichtig sind, erst die
eingehenderen Untersuchungen folgen, die insbesondere für ein tiefer eindringendes
Studium der gesamten technischen Mechanik, der Elektro- und Thermodynamik
erforderlich sind. Es ist dabei in jenen ersten Teilen ausführlicher gehalten als in
den späteren.
Seinen Zwecken entsprechend enthält das Werk Differential- und Integral-
rechnung, unendliche Reihen, Methoden der unbestimmten Integration, be-
F. Klein, Abhandlungen über den mathematischen usw., angez. von H. Thieme. 493
stimmte Integrale, mehrfache Integrale, die Lehre von den Differentialgleichungen
erster und zweiter Ordnung, daneben einen vollständigen Lehrgang der ana-
lytischen Geometrie der Ebene und des Raumes nebst den Anwendungen der
Differential- und Integralrechnung auf Geometrie bis zum Begriff der Krümmung
von Raumkurven und Flächen. Die Anwendungen der Infinitesimalrechnung
erstrecken sich jedoch nicht nur auf Geometrie, sondern auch auf andere Gebiete
wie namentlich auf Physik und insbesondere auf Mechanik. Die Grundlagen des
Rechnens mit Vektorgrößen sind ebenfalls mit in den Gedankengang aufgenommen
worden.
Daß das Werk für den Zweck, für den es bestimmt ist, nämlich den Hörern
des Verfassers ein brauchbares Hilfsmittel für Wiederholungen und Anwendungen
zu bieten, durchaus geeignet ist, darüber kann kein Zweifel sein. Bei den heutigen
Bestrebungen, die Anfangsgründe der Infinitesimalrechnung in irgend einer Form
in den mathematischen Unterricht der höheren Schulen einzugliedern, kann das
Werk vielleicht auch für diese fruchtbar gemacht werden.
Die Mathematik ist an den technischen Hochschulen nur Hilfswissenschaft.
Der Dozent für Mathematik an den technischen Hochschulen muß in seinem Lehr-
gange ähnlich wie der Lehrer der Mathematik an den höheren Schulen auf einen
streng systematischen Aufbau verzichten, er kann nicht alle Möglichkeiten und
Feinheiten der vollkommenen mathematischen Theorie berücksichtigen, er muß
stets im Auge behalten, daß für den Techniker nicht die abstrakten mathematischen
Lehren an und für sich, sondern deren Anwendung die Hauptsache sein. Der Lehr-
gang, der sich so allmählich an den technischen Hochschulen herausbildet, wird
dem Lehrgange in der Infinitesimalrechnung, der an den höheren Schulen möglich
und zweckmäßig ist, näher stehen als der zuweilen rein abstrakt gehaltene Lehrgang
der Universitäten.
Für die Neugestaltung des mathematischen Unterrichts an de^i höheren Schulen
würden hier namentlich die ersten Abschnitte des Buches verwertet werden können.
Es sei nach dieser Richtung auf die Einführung der Grundbegriffe der Funktion,
des Differentialquotienten und des Integrals hingewiesen.
Diese einführenden Abschnitte erinnern daran, daß der Verfasser auch einmal
Oberlehrer war und aus seiner Tätigkeit an der höheren Schule weiß, was metho-
dische Durcharbeitung des den Hörern zu bietenden Stoffes bedeutet.
Selbstverständlich enthält das Buch auch vieles, wofür auf den höheren Schulen
die Zeit fehlt.
Klein, F., Abhandlungen über den mathematischen Unter-
richt in Deutschland, veranlaßt durch die Internationale Unterrichts-
kommission. Vier Bände in einzeln käuflichen Heften. B. G. Teubner. Leipzig
und Berlin. 8°. Steif geheftet.
I.Band. Die höheren Schulen in Norddeutschland.
Mit einem Einführungswort von F. Klein. 1. Lietzmann, W., Stoff
und Methode im mathematischen Unterricht der norddeutschen höheren Schulen.
Auf Grund der vorhandenen Lehrbücher. XII u. 102 S. 1909. 2 M. 2. L i e t z -
mann, W., Die Organisation des mathematischen Unterrichts an den
höheren Schulen in P r e u ß e n. Mit 18 Figuren. VII u. 204 S. 1910. 5 M.
494 F. Klein, Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland,
II. Band. Die höheren Schulen in Mittel- und Süd-
deutschland. Mit einem Einführungswort von P. Treutlein. 1. Wie-
lei t n e r , H., Der mathematische Unterricht an den Gymnasien und Real-
anstalten nach Organisation, Lehrstoff und Lehrverfahren
und die Ausbildung und die Fortbildung der Lehrer im Königreich
Bayern. XIV u. 85 S. 1910. 2,40 M. 2. W i 1 1 i n g , A., Desgl. im König-
reich S a c h s e n. IV u. 78 S. 1910. 2,20 M. 3. G e c k , E., Desgl. im König-
reich W ü r 1 1 e m b e r g. IV u. 104 S. 1910. 2,20 M. 4. C r a m e r , H., Desgl.
im Großherzogtum B a d e n. XIV u. 48 S. 1910. 1,60 M. 5. S c h n e 1 1 , H.,
Desgl. im Großherzogtum Hessen. VI u. 51 S. 1910. 1,60 M.
III. Band. Berichte allgemeiner Art über den höheren mathe-
matischen Unterricht. Mit einem Einführungswort von F. K I e i n. 2. T i m e r -
ding, H. E., Die Mathematik in den physikalischen Lehrbüchern. Mit 22 Fi-
guren im Text. VI u. 112 S. 1910. 2,80 M.
IV. B a n d. Die Mathematik an den technischenSchulen mit einem
Einführungswort von P. Stäckel. 1. G r ü n b a u m , H., Der mathematische Unter-
richt an den deutschen mittleren Fachschulen. XVI u. 100 S. 1910. 2,60 M.
Als die „Meraner Lehrpläne" ihrer Zeit zum erstenmal der Öffentlichkeit
übergeben wurden, machte man ihnen die Vorwürfe, die den Neuerungen gewöhnlich
gemacht werden. Von der einen Seite wurde den Neuerern entgegengehalten,
sie stellten Forderungen auf, die sich nicht erfüllen ließen; sie verlangten eine
Erhöhung der Unterrichtsziele, und bei den gegebenen Verhältnissen sei es jetzt
schon — namentlich an Gymnasien — schwer möglich, die in den geltenden Lehr-
plänen dem mathematischen Unterricht gesteckten Ziele mit der Mehrzahl der
Schüler zu erreichen.
Von der anderen Seite wieder wurde behauptet, die Meraner ,, Lehrpläne"
brächten nichts Neues. Was in ihnen gefordert werde, sei von Lehrern, die mit der
Methodik des mathematischen Unterrichts ausreichend bekannt seien, schon seit
langer Zeit angestrebt und auch geübt worden. Der methodisch richtig erteilte
Unterricht habe schon lange in allen Zweigen der Mathematik funktionales Denken
gepflegt, im einfachen Rechenunterricht, in der Geometrie und in der Arithmetik
sowie in den mannigfachen Anwendungen, in den verschiedenen Zweigen der Physik,
in der Astronomie. Überall habe man den Schülern die gegenseitigen Abhängigkeits-
verhältnisse der in Betracht kommenden Größen zur Anschauung zu bringen
gesucht, ebenso sei schon immer auf Ausbildung des Anschauungsvermögens der
Schüler hingearbeitet worden, im propädeutischen geometrischen Unterricht,
in Planimetrie, Stereometrie und in der darstellenden Geometrie. Auch graphische
Darstellungen hätten die Schüler kennen gelernt, ebenso die Begriffe des Differential-
quotienten und des Integrals als Grenzwerte von Quotienten und Summen. Daneben
sei man auch bestrebt gewesen, in möglichst weitgehender Berücksichtigung der
Anwendungen den Schülern den Wert der Mathematik für die Beherrschung der
Außenwelt zum Bewußtsein zu bringen.
Bei diesem Widerstreit der Meinungen haben die Reformer das Richtigste
getan, was sie tun konnten. Um für die Beurteilung der Notwendigkeit und Möglich-
keit von Reformen eine brauchbare Grundlage zu schaffen, haben sie sich ent-
angez. von H. Thieme. 495
schlössen, die wirkliche Lage des mathematischen Unterrichts in den einzelnen
Ländern durch eine Reihe von gründlichen Einzeluntersuchungen unparteiisch
feststellen zu lassen.
Es wurde auf dem IV. Internationalen Mathematiker- Kongreß in Rom, Ostern
1908, die Einsetzung einer Internationalen mathematischen Unterrichtskommission
(I. M. U. K.) beschlossen, die den Auftrag erhielt, einen vergleichenden Bericht über
den Stand des mathematischen Unterrichts in allen Kulturländern auszuarbeiten.
Die einzelnen Länder ernannten für diesen Zweck besondere Unterkommissionen.
Die deutsche Unterkommission hatte sich ursprünglich darauf beschränken
wollen, in der von Herrn Schotten herausgegebenen Zeitschrift für mathematischen
und naturwissenschaftlichen Unterricht eine fortlaufende Rubrik „Berichte und
Mitteilungen, veranlaßt durch die Internationale mathematische Unterrichts-
kommission", einzurichten. Es stellte sich indes bald heraus, daß man dem bei
dieser Arbeit zusammenkommenden wertvollen Material innerhalb dieser Rubrik
nicht in einer der Wichtigkeit der Sache entsprechenden Form gerecht werden
konnte. Vielmehr erschien es dringend wünschenswert, die Ergebnisse, die sich
bei den eingehenden Studien der Mitarbeiter herausstellten, den interessierten
Kreisen in ausführlichen Darstellungen darzubieten. Man entschloß sich deshalb,
die Arbeiten als besondere Abhandlungen über den mathematischen Unterricht
in Deutschland herauszugeben.
Das ganze Werk ist vorläufig auf vier Bände berechnet. Der erste Band, dem
ein Vorwort von F. Klein vorangeht, behandelt die höheren Schulen in Nord-
deutschland, der zweite mit einem Einführungswort von P. T r e u 1 1 e i n die
höheren Schulen in Mittel- und Süddeutschland, der dritte wieder mit einem Ein-
führungswort von F. Klein gibt Berichte allgemeiner Natur über den höheren
mathematischen Unterricht und der vierte durch ein Vorwort von P. S t ä c k e 1
eingeleitete Band ist für die Mathematik an den technischen Schijlen bestimmt.
Vorläufig sind von dem ersten Bande zwei Hefte, von dem zweiten Bande
fünf Hefte, von dem dritten und dem vierten Bande je ein Heft erschienen.
Alle bisher vorliegenden Hefte sind als außerordentlich wertvoll zu bezeichnen;
sie stellen ein bequemes Hilfsmittel dar, sich über den mathematischen Unterricht
nach Organisation, Lehrstoff und Lehrverfahren sowie über die Ausbildung und
Fortbildung der Lehrer der Mathematik in den einzelnen Staaten Deutschlands
Klarheit zu verschaffen.
Die beiden Hefte des ersten Bandes, der den höheren Schulen Nord-
deutschlands gewidmet ist, haben W. Lietzmann zum Verfasser; das erste Heft
behandelt Stoff und Methode im mathematischen Unterricht Norddeutschlands
auf Grund der vorhandenen Lehrbücher, das zweite Heft die Organisation des
mathematischen Unterrichts an den höheren Schulen in Preußen.
Das erste Heft gliedert sich in drei Teile. In dem ersten allgemeinen Teile
werden die verschiedenen Arten von mathematischen Lehrbüchern: Leitfaden,
Lehrbuch, systematisches und methodisches Lehrbuch näher charakterisiert, in
dem zweiten Teile werden die Lehrbücher für Planimetrie, Trigonometrie und
Stereometrie, in dem dritten die Lehrbücher für Arithmetik, Algebra und Analysis
eingehend besprochen, naturgemäß besonders mit Rücksicht auf die in den Meraner
496 F. Klein, Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in Deutschland.
Lehrplänen angestrebten Änderungen. Der Verfasser hat selbstverständlich nicht
alle vorhandenen Lehrbücher in seine Besprechung einbezogen, sondern nur solche,
die typische Bedeutung haben; um so wertvoller sind seine an die einzelnen Werke
angeknüpften Darlegungen. Dazwischen finden sich viele beachtenswerte metho-
dische Bemerkungen eingestreut.
Das zweite Heft von Lietzmann, das die Organisation des mathematischen
Unterrichts in Preußen zum Gegenstande hat, gliedert sich ebenfalls in drei Teile.
In diesem behandelt der erste Teil die Organisation des Unterrichts an den höheren
Knabenschulen im allgemeinen. Nach einem kurzen RücW)lick auf den Entwick-
lungsgang des höheren Schulwesens in Preußen charakterisiert er die verschiedenen
Arten von Schulen, die wir jetzt in Preußen haben, bespricht die freiere Gestaltung
des Unterrichts auf der Oberstufe, die Zahl der Stunden an den einzelnen Anstalten,
die häuslichen Arbeiten, Versetzungen und Prüfungen, führt aifch eine mathema-
tische Unterrichtsstunde in Frage und Antwort vor.
Im zweiten Teile werden die mathematischen Lehrpläne und Lehraufgaben
für die höheren Knabenschulen in Preußen im einzelnen behandelt: Zweck des
mathematischen Unterrichts, die Methodik des Rechenunterrichts, des propädeu-
tischen Unterrichts in der Raumlehre, der Konstruktionsaufgaben.
Der dritte Teil dieses Heftes beschäftigt sich mit dem Einfluß der Reform-
bewegung auf die Lehrpläne, insbesondere mit der Frage der Einführung und der
Behandlungsweise des Funktionsbegriffes auf den verschiedenen Stufen der einzelnen
höheren Schulen, mit der Frage der Einführung der Infinitesimalrechnung. Von
besonderem Werte sind die zahlreichen Beispiele aus dem .wirklichen Unterrichts-
betriebe, aus denen der Leser ersehen kann, in wie verschiedener Weise die amt-
lichen Lehrpläne in der Wirklichkeit praktische Gestalt gewonnen haben; weiter
sind besonders von Interesse die genauen Lehrpläne der Unterrichtsanstalten,
an denen Versuche im Sinne der Reformbestrebungen angestellt werden.
Das Material, das Lietzmann zusammengetragen und verarbeitet hat, ist
außerordentlich umfangreich.
Die Darstellung ist in beiden Heften klar gegliedert, lebhaft und leicht lesbar.
Die Mitarbeit an dem zweitenBandeder Sammlung, in dem der mathe-
matische Unterricht an den Gymnasien und an den Realanstalten in Mittel- und
Süddeutschland nach Organisation, Lehrstoff und Lehrverfahren sowie die Aus-
bildung und Fortbildung der Lehrer in diesen Staaten zur Darstellung gelangt,
haben übernommen für Bayern H. W i e 1 e i t n e r , für Sachsen A. W i 1 1 i n g ,
für Württemberg E. G e c k , für Baden H. C r a m e r , für das Großherzogtum
Hessen H. Schnell. Die Namen der Verfasser, die fast durchweg in der wissen-
schaftlichen und in der pädagogischen Welt anerkannte Geltung besitzen, bürgen
schon dafür, daß wir in diesen Schriften ebenso wie in denen von Lietzmann ge-
diegene Leistungen vor uns haben.
Um ein klares, von den subjektiven Auffassungen der einzelnen Berichterstatter
möglichst freies Bild von dem wirklichen Unterrichtsbetriebe in den einzelnen
Staaten zu gewinnen, war es erwünscht, von einer ausreichend großen Zahl an
höheren Schulen tätiger Lehrer Auskunft über ihre Stellung zu den hauptsächlich
in Betracht kommenden Fragen zu erhalten. Es wurde deshalb ein besonderer
angez. von H. Thieme. 497
Fragebogen ausgearbeitet und von den Berichterstattern der einzelnen Länder
einer Reihe von Lehrern an den höheren Schulen zugesandt. Diese veranstaltete
Umfrage bildete die Grundlage für die einzelnen Abhandlungen.
Dieser Art der Entstehung gemäß ist die Arbeit ihrer Anlage nach in den fünf
Heften in der Hauptsache einheitlich durchgeführt. Die Verfasser machen den
Leser zunächst mit der allgemeinen Organisation der höheren Schulen in den be-
treffenden Staaten bekannt, behandeln dann im einzelnen die Gymnasien, die Real-
gymnasien, die Real- und Oberrealschulen und die höheren Mädchenschulen,
sodann insbesondere den mathematischen Unterricht nach Stoff und Methode,
die mathematischen Lehrbücher und schließlich auch die Einrichtungen für die
Ausbildung und die Weiterbildung der Lehrer für Mathematik.
Es ist nicht gut möglich, den reichen Inhalt dieser Schriften hier wiederzugeben.
Auch wer sich schon stets für die Verhältnisse in den außerpreußischen Schulen
interessiert hat, wird noch in jeder dieser Schriften viel des ihm Unbekannten
kennen lernen. So manchen Fachgenossen wird es überraschen, zu erfahren, daß
die höheren Schulen in den einzelnen Staaten Deutschlands noch so große Unter-
schiede aufweisen, wie wir sie hier dargelegt finden.
Besondere Beachtung verdienen auch die längeren oder kürzeren methodischen
Auseinandersetzungen, die in die Darstellung eingefügt sind und so manches wert-
volle Goldkorn enthalten, dann auch die genauen ausführlichen Angaben über die
in den einzelnen Staaten als Zielleistungen gestellten Aufgaben, die dem Fachmann
oft klarer als langatmige Erörterungen ein Bild von dem geben, was die Schule
treibt und leistet.
Von dem dritten Bande der Sammlung ist vorläufig erst ein Heft er-
schienen, die Arbeit von Tim er ding: Die Mathematik in den physikalischen
Lehrbüchern.
Trotzdem die Physik an den höheren Schulen fast stets in den Händen von
Mathematikern gelegen hat und die Mathematik demgemäß oft mehr, als berechtigt
war, in den physikalischen Unterricht hineingezogen worden ist, kann die Mathe-
matik, die wir in den physikalischen Lehrbüchern finden, doch in keiner Weise
als einwandfrei bezeichnet werden. Die Mängel der Darstellung erklären sich,
wie der Verfasser im einzelnen nachweist, historisch aus der Entwicklung der
Mathematik in ihrer Beziehung zur Physik, aus der Entwicklung des physikalischen
Lehrbuchs in mathematischer Hinsicht, insbesondere aus der Scheu, von den
aus alter Zeit ererbten unstrengen mathematischen Herleitungen physikalischer
Lehren abzugehen, und aus der Tatsache, daß die in den höheren Schulen bisher
gelehrte Mathematik überhaupt nicht zur exakten Erfassung der physikalischen
Begriffe und zur strengen Ableitung der mathematisch-physikalischen Gesetze
ausreichte. Allerdings finden sich diese Mängel bis in die neueste Zeit hinein auch
in physikalischen Lehrbüchern, die für den Hochschulunterricht verfaßt sind.
Timerding weist diese Mängel an einer großen Zahl physikalischer Lehrbücher
nach und stellt dann seine Forderungen für eine Darstellung, wie er sie für not-
wendig hält.
Die Infinitesimalbegriffe sind, wie das allerdings schon oft vor Timerding
betont worden ist, in der Physik nicht zu entbehren. Allein die Infinitesimalrechnung
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 32
498 E. Müller, Technische Übungsaufgaben für darstellende Geometrie.
kann das leisten, was^von einer wissenschaftlich und pädagogisch befriedigenden
Darstellung der physikalischen Lehren verlangt werden muß. Nicht weitgehende
Übungen im Differenzieren und Integrieren sind erforderlich; es genügt nach
dieser Richtung die Behandlung der einfachsten Funktionen, der Potenz, der
goniometrischen Funktionen, der Exponentialfunktion und des Logarithmus.
Als vorbildlich für die Art der Behandlung des Stoffes kann das Werk von John
Perry: Höhere Analysis für Ingenieure (Bearbeitung von Fricke und Lüchting)
bezeichnet werden.
Von dem viertenBandeder Abhandlungen liegt die Arbeit von G r ü n -
bäum vor: Der mathematische Unterricht an den deutschen mittleren Fachschulen
der Maschinenindustrie.
Der Verfasser schildert zunächst die historische Entwicklung der mittleren
technischen Fachschulen in Deutschland, ihre Bedeutung und Stellung, die Or-
ganisation und die Unterrichtspläne der einzelnen Anstalten; dann bespricht
er die Art und Stellung, die Methode und den Stoff des mathematischen Unterrichts
an diesen Anstalten, die Lehrbücher der Mathematik und unter ihrer besonderen
Berücksichtigung die Behandlungsweise der mathematischen Einzelfächer und
zum Schluß noch die Ausbildung der Lehrer der Mathematik für diese Schulen.
Da der mathematische Unterricht an den mittleren Fachschulen sich im wesent-
lichen mit demselben Stoffgebiet beschäftigt, das an den allgemein bildenden
höheren Lehranstalten behandelt wird, so ist es für den Fachmann nur von Vorteil,
wenn er sich auch mit der Art und Weise bekannt macht, in der dieser Stoff an den
Fachschulen gestaltet und für die Anwendungen zurechtgelegt wird. Pflege der
Anwendungen im mathematischen Unterricht liegt zudem im Sinne der Meraner
Lehrpläne.
Alles in allem sind wir der internationalen mathematischen Unterrichts-
kommission für das, was sie uns bisher geboten hat. Dank schuldig.
Bromberg. H. Thieme.
Müller, Emil, Technische Übungsaufgaben für darstellende
Geometrie. Leipzig und Wien 1910 und 191 1. Franz Deuticke. 40 Quart-
Doppeltafeln in 4 Heften mit einem Begleitwort (3S.). Preis jedes Heftes 1,25 M.
An unseren höheren Schulen beginnt der Unterricht im Linearzeichnen und
in der darstellenden Geometrie in der Regel mit der Abbildung konkreter Dinge.
In der Tat liegt ja dem Schüler die Behandlung konkreter Aufgaben näher als eine
streng wissenschaftliche Entwicklung abstrakter Wahrheiten, die Praxis näher
als die Theorie, die Beschäftigung mit den Körpern näher als die mit Punkt, Linie
und Fläche. Aber nicht bloß im Anfang, sondern auch im weiteren Verlauf des
Unterrichts bevorzugt man Aufgaben, die in einem erkennbaren Zusammenhang
mit der Praxis stehen. Freilich wird ein verständiger Lehrer das utilitaristische
Prinzip nicht zu Tode reiten, er wird nicht vergessen, daß an unseren allgemein-
bildenden Schulen die von der sinnlichen Anschauung ausgehenden, konkreten,
der Praxis entnommenen Aufgaben sozusagen nur das feste Spalier bilden, an dem
die anfangs schwächliche Pflanze der inneren Anschauung und der abstrakten
Erkenntnis Halt gewinnen soll, doch besteht die von G. H a u c k vor zehn Jahren
angez. von P. Zühlke. 499
auch für die darstellende Geometrie aufgestellte Forderung, daß sich eine gesunde
Pädagogik beständig zwischen Abstraktion und Anwendung hin- und herbewegen
solle, noch immer zu Recht. Wer aber je den Versuch gemacht hat, für den Unter-
richt an unseren höheren Schulen und Hochschulen praktische Aufgaben für die
darstellende Geometrie zu sammeln und dabei „den Wirklichkeitscharakter der
technischen Objekte, trotz der selbstverständlich häufig nötigen Vereinfachungen,
möglichst zu wahren", der wird dem Verfasser Dank wissen, daß er sich der großen
Mühe unterzogen hat, solche Aufgaben in einer Form zu veröffentlichen, die ihre
unmittelbare Verwendung im Unterricht zuläßt. Der Inhalt ist folgender: i. Heft.
Kristallgestalten, Postamente, Säulenfüße, Pfostenköpfe usw., Gerüstböcke,
Gesimse, Hauseingang, zwei einfache Häuschen, Stadttor, Kapelle, Gartenhaus.
— 2. Heft. (Objekte mit runden Flächen). Gesims- und Sockelprofile, Stichkappen,
Grabdenkmal, Erker mit Balkon, romanischer Bogenfries, Gesims, Prellsteine
(Radabweiser), Baluster, Nische mit Urne, gotische Einzelheit. — j. Heft. Zwei
Balkone, Doppelfenster, Gerüstbock, Sprengwerk, Dachstuhl-Einzelheiten, Fenster-
giebel (in zwei Ausführungen), Säulenkapitäle und Säulenbasen, gotisches Kirchen*
fenster, Fenster- und Torbogen (Steinschnittaufgaben), Dachausmittclung, Auf-
gaben zur kotierten Projektion (Dämme, Einschnitte, Plattformen im Gelände). —
4. Heft. Romanische Säule, Turmuhr, 2 Hängezapfen, Kugelgewölbe, gewölbte
Bahnüberbrückungen (3 Beispiele), Flügelmauern (4 Steinschnittaufgaben),
7 Steinschnittaufgaben (Tür- und Fensterbogen, Gewölbe, Giebelmauer),
Knauf, ellipsoidische Nische mit Konsole, Vordach, Fußwegbrücke, Träger-
verbindung, Nietformen, Arkaden, Tempel, Bahnwächterhaus, Landhaus. —
Wie man sieht, sind fast alle Aufgaben der Architektur oder dem Bauingenieur-
wesen entnommen, also jedenfalls für unsere höheren Schulen viel zu einseitig
ausgewählt (man vergleiche z. B. die vielseitige und anregende Auswahl in dem
bekannten Lehrbuche von C. H. Müller und 0. Presler, Ausgabe Ä.). Das darf man
aber dem Verfasser nicht zum Vorwurf machen, denn die vorliegende Sammlung
schließt sich an des Verfassers umfangreiches „Lehrbuch der darstellenden Geometrie
für technische Hochschulen" (1. Bd. 1908 B. G.Teubner) aufs engste an, und demgemäß
sind auch die hier veröffentlichten Übungsaufgaben „aus dem Unterrichtsbetrieb
an technischen Hoch- und Mittelschulen hervorgegangen und daher in erster Linie
für solche Anstalten bestimmt". Immerhin kann man vieles daraus auch in unseren
allgemeinbildenden Schulen zur Belebung des Unterrichts im Linearzeichnen und
in der darstellenden Geometrie benutzen. Natürlich wird man dabei die kompli-
zierten Gebilde nie vollständig zeichnen lassen, sondern man wird irgend eine
interessante Einzelheit daraus in größerem Maßstabe darstellen lassen. Um dies
zu erleichtern, hat der Verfasser alle dargestellten Gegenstände „durch kotierte
Risse und Schnitte vollkommen festgelegt, so daß auch ein nicht technisch gebildeter
Lehrer sich über Gestalt und Größe der Objekte vollkommen Klarheit zu ver-
schaffen vermag". Die Ausführung der Blätter ist im ganzen und in allen Einzel«-
heiten musterhaft. — Der trefflichen Sammlung ist zu wünschen, daß sie auch an
unseren höheren Schulen rechte Beachtung finden möge; sie wird bei verständigem
Gebrauch viel Gutes stiften.
Landeshut i. Schi. P. Zühlke.
32*
500 Hoffmann-Dennert, Botanischer Bilderatlas, angez. von W. Heering.
Hof f mann- Dennert, Botanischer Bilderatlas nach dem natür-
lichen Pflanzensystem. Zugleich eine Flora zurBe-
stimmung sämtlicher in Deutschland vorkommenden
Pflanzen. 3., völlig veränderte Auflage. Unter besonderer Berücksichtigung
der Biologie neu bearbeitet von Professor Dr. E. D e n n e r t. 34 Bogen Text,
86 Farbentafeln und 959 Textfiguren. Stuttgart. E. Schweizerbartsche Verlags-
buchhandlung, kart. 20 M. in einem Band, geb. 22 M., in zwei Bänden 23,50 M.
Das Buch ist für Laien berechnet. Es soll jeden Pflanzenliebhaber instand
setzen, selbständig die in Deutschland vorkommenden Pflanzenarten zu bestimmen.
Der Bearbeiter des Buches geht von dem ganz richtigen Gesichtspunkte aus,
daß mit einer Sammlung von Abbildungen allein dieses Ziel nicht erreicht werden
kann. Ein Abbildungswerk, das nur sämtliche Blüten pflanzen Deutschlands
darstellen würde, müßte schon einen weit beträchtlicheren Umfang haben als das
vorliegende, und der Laie würde gezwungen sein, dies ganze Werk zu vergleichen,
um die Identität einer vorliegenden Pflanze mit einer abgebildeten Art festzustellen.
Deshalb ist der Text der vorigen Auflage umgearbeitet worden und zwar so, daß
er zugleich eine Flora Deutschlands darstellt. In der Anordnung folgt der Ver-
fasser im wesentlichen dem Englerschen System. Der systematischen Aufzählung
wird eine analytische Tabelle zur Bestimmung der Familien vorangeschickt.
Den großen Schwierigkeiten, die diese Bestimmung dem Anfänger bereitet,
sucht der Verfasser dadurch zu entgehen, daß er möglichst in die Augen fallende
Merkmale wählt. Wissenschaftlich ist das Verfahren natürlich nicht. Es steht
auch nicht höher als das verpönte Bestimmen nach dem Linneschen System. Damit
soll allerdings nicht gesagt sein, daß für den vorliegenden Zweck wissenschaft-
lichere Tabellen besser wären. Ich halte es überhaupt für ausgeschlossen, daß ein
Anfänger mit den wissenschaftlichen Familiendiagnosen viel anfangen kann. Ich
möchte deshalb nicht nur betonen, daß für den Laien verwertbare Bestimmungs-
tabellen genau so künstlich sein müssen, wie es die Bestimmungstabellen nach
dem Linneschen System sind. In den letzteren führen sie zur Gattung, in den
ersteren zur Familie. Das ist der ganze Unterschied.
Da es undenkbar ist, daß der Anfänger von jeden der zur Unterscheidung
verwendeten Eigenschaften eine anschauliche Vorstellung besitzt, kommen ihm
hier einfache Zeichnungen zu Hilfe, sodaß er wenigstens in der Lage ist, die vor-
liegende Pflanze mit einem wirklichen und nicht nur mit dem im Gedächtnis oft
nur unklar vorhandenen Bilde zu vergleichen.
Innerhalb der Familie sind die Beschreibungen der Gattungen und Arten in
Form eines Bestimmungsschlüssels angeordnet. Zahlreiche Textabbildungen
und die Tafeln erleichtern das Bestimmen. Für einen Bilderatlas möchte ich aller-
dings an die künstlerische Ausführung höhere Anforderungen stellen.
Der eigentlichen Flora ist ein allgemeiner Teil vorausgeschickt, in dem die
Morphologie, Anatomie, Physiologie, die Pflanze in ihrem Verhältnis zur Tierwelt
(Biologie im engeren Sinne), die Verbreitung der Pflanzen auf der Erde behandelt
werden. Ferner wird eine Anleitung zur Anlage von Herbarien und ein Blüten-
kalender gegeben.
Im einzelnen kann hier nicht auf das Werk eingegangen werden. Die biolo-
W. Kuhnert, Farbige Tierbilder, angez. von F. Hock. 501
gische Betrachtungsweise, wie sie hier angewendet wird, hat wohl unter den wissen-
schaftlichen Botanikern auf wenig Freunde zu rechnen. Glücklicherweise macht
sich doch jetzt das Bestreben mehr und mehr geltend, die Zweckmäßigkeit einer
vorhandenen Eigenschaft nicht als die Entstehungsursache derselben anzugeben.
Bei dem Laien erweckt es jedenfalls eine verkehrte Vorstellung, wenn z. B. gesagt
wird, ein Farn hat zarte, kahle Wedel, w e i 1 er an schattigen Felsenorten wächst;
Ich würde es für richtiger halten zu sagen, weil der Farn zarte, kahle Wedel besitzt,
wächst er nur an schattigen Orten. Berechtigt würde das „weil" sein, wenn eine
Pflanzenart z. B. auf trockenen und feuchten Standorten vorkäme und nun die
Verschiedenheit der Standortsformen durch die Verschiedenheit der Lebens-
bedingungen erklärt würde. In diesem Falle handelt es sich tatsächlich um ein durch
Kulturversuche nachweisbares Kausalverhältnis zwischen Pflanze und Standort.
Altona. W. H e e r i n g.
Kuhnert, Wilhelm, Farbige Tierbilder. Text von Oswald Großmann.
Berlin 1910/11. M. Oldenbourg. Heft 1 u. 2.
Vielen Fachgenossen ist sicher Haacke-Kuhnert, ,, Tierleben der Erde" bekannt,
das nicht nur durch seinen von Haacke bearbeiteten Text, der eine gute Einführung
in die Tiergeographie bildet, den Lehrern ein wertvolles Werk ist, sondern durch
seine schönen von Kuhnert verfertigten Bilder selbst Künstler anzuziehen vermag.
Hier werden nun ähnliche, aber größere Bilder geboten und mit schönem Text
begleitet. Die Bilder sind so herrlich ausgeführt, daß ein Tierliebhaber wohl ver-
leitet werden könnte sie einrahmen zu lassen und an die Wand zu hängen, und
wenn dies nicht zu teuer würde, böten sie auch für Klassenzimmer einen passenden
Wandschmuck. Sie würden, wie der bekannte Direktor des Berliner Zoologischen
Gartens, L. H e c k , in seinem einführenden Vorwort sagt, dazu beitragen können,
dem Großstädter die Natur weniger zu entfremden.
In den vorliegenden ersten zwei Heften, von denen jedes einzeln 2,50 M.,
bei Abnahme aller zehn Hefte 2 M. (die einzelne Tafel 0,60 M.) kostet, sind dar-
gestellt : Steinadler (Aquila chrysaetus), Hamster (C r i c e t u s f r u-
m e n t a r i u s), Tordalk (A 1 c a t o r d a), Königstiger (Felis t i g r i s),
Ameisenbär (Myrmecophaga jubata), Nebelkrähe (C o r v u s c o r n i x),
brauner Bär (U r s u s a r c t o s), Biber (C a s t o r f i b e r), Königsglanzfasan
(Lophophorus impeganus) und Säbelantilope (0 r y x 1 e u c o r y x),
also in jedem Heft 5 Tiere aus verschiedenen Gruppen des Tierreiches.
Wenn die Bilder auch für große Klassen zu klein sind, um als Wandbilder
einer Besprechung der Tiere zugrunde gelegt zu werden, so vermögen sie doch
durch Herumzeigen solche zu unterstützen, da sie wesentlich besser ausgeführt
sind als jene meist.
^ .' 1 Perleberg. F. H ö c k.
Walde, Adolf, Das Pilzbüchlein für den Sammler und
wandernden Naturfreund. Stuttgart, ohne Jahrangabe. Ernst
Heinrich Moritz. 60 S. 8». Mit 10 farbigen Tafeln und mit Textbildern.
Kartonniert 1,20 M.
Mit Recht wird in der Einleitung beklagt, daß der Pilzgenuß im Volke nicht
502 P. Graebner, Taschenbuch zum Pflanzenbestimmen, angez. von F. Pfuhl.
SO verbreitet ist, wie es zu wünschen wäre. Vielleicht ist die allerdings nicht un-
berechtigte Besorgnis vor giftigen Pilzen daran Schuld. Um nun die wenigen
giftigen von den eßbaren Pilzen unterscheiden zu lernen, soll das Büchlein An-
leitung geben. Es tut dies durch Beschreibung der Arten, auch durch Gegen-
überstellung der eßbaren und der giftigen Art, mit der sie verwechselt werden
könnte. Der besseren Uebersicht halber sind Gruppen gebildet, z. B. Basidien-
pilze — Schlauchpilze, Hutpilze — Bauchpilze, Röhrlinge mit Ring, ohne Ring.
Über das Sammeln der Pilze, ihre Zubereitung und ihre Verwertung zu verschiedenen
Speisen sind Angaben gemacht. Die Abbildungen sind geeignet, die Arten für den
Laien zu charakterisieren.
Graebner, Paul, Taschenbuch zum Pflanzenbestimmen. Stutt-
gart. Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde. Franckhsche Verlagshandlung.
185 S. 8°. Mit 11 farbigen, 6 schwarzen Tafeln und 376 Textabbildungen,
geb. 3,80 M.
Der Untertitel gibt das Hauptmerkmal dieses Bestimmungsbuches an: ein
Handbuch zum Erkennen der wichtigeren Pflanzenarten Deutschlands nach ihrem
Vorkommen in bestimmten Pflanzenvereinen. Ein „Schlüssel" also ist nicht vor-
handen und Bestimmungstabellen fehlen. Die Pflanzen sind nach der Gemein-
samkeit ihres Auftretens zusammengestellt. Für den Anfänger, der sich mit Hilfe
des Taschenbuches „eine Kenntnis der häufigeren und wichtigeren Pflanzenfamiiien,
Gattungen und Arten zu verschaffen'* wünscht, werden innerhalb der Pflanzenvereine
weitere Unterabteilungen gebildet ; bei der Flora derGewässer und Ufer z.B. : die unter-
getauchten und die schwimmenden Wasserpflanzen, ohne flache Schwimmblätter
bzw. mit solchen. Dann wird auch innerhalb der ökologischen Gruppen das System
in der Aufzählung berücksichtigt, ohne es jedoch zu nennen. Bei dem angeführten
Beispiele kommen also zunächst die Armleuchtergewächse, dann Brachsenkräuter,
Nixenkräuter, Laichkräuter und andere Monokotylen; mit den Seerosengewächsen
beginnen die Dikotylen usw. Die schwimmenden Wasserpflanzen werden in ent-
sprechender Weise aufgezählt. Daß der Anfänger auf diese Weise eine ganze Reihe be-
sonders hervorstechender Pflanzenarten kennen lernen kann, ist wohl sicher. Doch
so manche der aufgeführten Arten wird sich vielleicht der Ermittlung entziehen, da
vielfach nur wenig erklärende Worte beigefügt sind — und der Wunsch nach Be-
stimmungstabellen wird sich beim Anfänger manchmal einstellen, trotzdem die
Orientierung durch die große Anzahl von Abbildungen unterstützt wird. In den
meisten Fällen bringen sie die Pflanzen gut zur Darstellung (doch: Polygala 13, 8,
Lemna trisulca, Abb. 236, und der Sonnen-Wolfsmilch hätte eine Blütenstand-
drüse beigefügt werden sollen). Auch können vielleicht manche der Gräser-
Abbildungen dem Anfänger nichts sagen, die vergrößerte Abbildung eines
Aehrchens wäre erwünscht gewesen, auch eine ungefähre Angabe der Größe (vgl.
Rohrkolben und danebenstehende Fuchssegge, Abb. 254, 255), desgleichen die
Angabe der Betonung für die botanischen Namen. Eine Erklärung der wichtigsten
Fachausdrücke und Pflanzenfamilien mit Abbildungen ist der eigentlichen Dar-
stellung vorausgeschickt, hinzugefügt ist ein Register der Pflanzennamen und bei-
geheftet das Pilzmerkblatt des Kaiserlichen Gesundheitsamts. So manchem Jünger
Th. H. Morgan, Experimentelle Zoologie, angez. von W. Heering. 503
der Botanik wird das Taschenbuch also sehr willkommen sein, und es ist auch
diesem Werke Graebners im Interesse der Scientia amabilis weite Verbreitung
zu wüuschen.
Posen. Fritz Pfuhl.
Morgan, Th. H., Experimentelle Zoologie. Unter, verantwortlicher
Mitredaktion von L. Rhumbler, übersetzt von H. Rhumbler, vom
Verfasser autorisierte und von ihm mit Zusätzen und Verbesserungen versehene
deutsche Ausgabe. X u. 570 S. Leipzig 1909. B. G. Teubner. geb. 12 M., geh.
11 M.
In dem vorliegenden Werke gibt Verfasser eine Zusammenstellung der Ergeb-
nisse der experimentellen Zoologie mit Ausschluß der experimentellen Embryologie
und des experimentellen Studiums der Regeneration. Das Buch ist auf Grund
einer Reihe von 35 Vorlesungen geschrieben worden. Die Darstellung ist klar und
sehr lesbar. Es ist hier natürlich nicht möglich, auch nur kurz den Inhalt des Buches
anzugeben. Ich will mich darauf beschränken, die wichtigsten Kapitel namhaft
zu machen: Die experimentelle Methode. — Der Einfluß äußerer Bedingungen als
Ursache für die Veränderungen im Bau der Lebewesen. Über erbliche Veränderungen,
die durch äußere Faktoren verursacht werden. Die Erblichkeit erworbener Eigen-
schaften. Experimentelle Bastardierung. Verhalten der Keimzellen bei Kreuz-
befruchtung. Inzucht. Einfluß der Zuchtwahl. Die Evolutionstheorie. — Ex-
perimentelles Studium des Wachstums. Äußere Faktoren, die das Wachstum
beeinflussen. — Pfropfungsversuche. — Experimentelle Studien über den Einfluß
der Umgebung auf den Lebenskreislauf: Wechsel zwischen geschlechtlichen und
parthenogenetischen Formen, Lebenskreislauf der niederen Krustazeen, der Rotifere
Hydatina senta, der Bienen. — Experimentelles Studium der Geschlechts-
bestimmung: äußere und innere Faktoren. — Experimentelles Studium der sekun-
dären Geschlechtscharaktere.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis erleichtert speziellere Studien, ein
gründliches Register das Auffinden der erwähnten Objekte.
Wenn auch die behandelte Materie für den Schulunterricht kaum in Betracht
kommt, so möchte ich es doch allen Biologen angelegentlichst zum Studium emp-
fehlen. Es ist ein ausgezeichnetes Buch.
Altona. W. H e e r i n g.
Löhlein, Walther, HygienedesAuges. Mit 2 Karten im Text. Würzburger
Abhandlungen aus dem Gesamtgebiet der praktischen Medizin. XI. Bd. 3/4.
Heft. Würzburg 1911. Curt Kabitzsch (A. Stubers Verlag). 62 S. 8«. brosch.
1,70 M.
Nach einem kurzen allgemeinen Teile, der besonders durch die beigefügte Karte,
welche die Verbreitung der Blindheit in Europa veranschaulicht, interessant ist,
behandelt der Verfasser in acht Kapiteln Schädigungen, Krankheiten und Fehler
des Auges. Das erste — Schädigungen durch Licht, Wärme, Elektrizität — ist
für den Pädagogen hauptsächlich wertvoll durch den zweiten Abschnitt über die
Verhütung derartiger Schäden, weil darin eingehend die wichtige Frage der natür-
504 Deutsches Wanderjahrbuch, angez. von E. Neuendorff.
liehen und künstlichen Beleuchtung besprochen wird. Das zweite Kapitel ist Ver-
letzungen des Auges, das dritte den Infektionskrankheiten des Auges gewidmet.
Von letzteren wird besonders eingehend die sogenannte ägyptische Augenentzündung,
das Trachom, behandelt. Eine beigegebene, sehr interessante Karte zeigt die
Verbreitung des Trachoms in Deutschland: zwei große Seuchenherde, den einen
östlich von der Oder, den andern im untern Rheintale und Seitentälern, führt sie
deutlich vor Augen. Die Prophylaxe — vor allem peinliche Sauberkeit — kann
in trachomverseuchten Gegenden auch in der Schule wichtig werden. Nach den
beiden folgenden Kapiteln (Augenleiden bei allgemeinen Schwächezuständen,
Schädigungen durch Giftwirkung) ist für das Schulleben wieder das sechste (die
Kurzsichtigkeit) besonders wertvoll. Wir erfahren hier, daß fast immer zu große
Achsenlänge des Auges Ursache der Kurzsichtigkeit ist und daß traurigerweise
die Kurzsichtigen fast ausnahmslos diesen abnormen Langbau ihres Auges durch
übermäßige Naharbeit in den ersten beiden Lebensjahrzehnten erwerben. Nament-
lich bei Schülern höherer Schulen ist dies — vor allem durch Hermann Cohn —
festgestellt. Nicht genug kann also die Schule tun, um übertriebene Annäherung
des Auges an die Sehobjekte zu verhindern. Der Verfasser weist hier u. a. auf die
Schädlichkeit des heute in Büchern und Zeitschriften so häufig verwandten stark
glänzenden Papieres hin. Die beiden letzten Kapitel handeln von Berufskrankheiten
des Auges und von dem alternden Auge. Mit Recht wird hier Aufklärung über
die Notwendigkeit einer rechtzeitigen Altersbrille gefordert. Zum Schlüsse ist eine
Reihe von wünschenswerten Maßnahmen zur besseren Verhütung von Augenleiden
aufgestellt, z. B. wird Augenuntersuchung vor der Berufswahl und für etliche
Berufe Festsetzung einer Mindestsehschärfe empfohlen. Zur Erfüllung der vorletzten
Forderung des Verfassers, nämlich Weckung des Verständnisses für die Forderungen
der Augenhygiene bei Lehrern, Anstaltsleitern usw., trägt die gründliche, klar
und fesselnd geschriebene Schrift selber in trefflichster Weise bei. Ihre Lektüre
wird jedem Lehrer, namentlich dem Naturwissenschaftler, interessante Belehrung
und Anregung bieten.
Soest. F. Rosendahl.
Deutsches Wander Jahrbuch. 1. Jahrgang. Herausgegeben von der Auskunfts-
stelle für Jugendwandern unter Mitwirkung zahlreicher Wanderfreunde durch
Oberlehrer F. E c k a r d t in Dresden. Leipzig 1911. B. G. Teubner. 1,40 M.
kartonniert.
Von allen Leibesübungen erfreut sich seit einiger Zeit keine so liebevoller Pflege
und begeisterter Fürsprache wie das Wandern. Es war von jeher alte schöne Sitte
auf deutschen höheren Schulen, daß jede Klasse mit ihrem Klassenlehrer jährlich
wenigstens 3 Wanderungen ausführte: 2 Nachmittagsausflüge im Frühling und
Herbst, eine ganztägige Wanderung im Sommer. Darüber hinaus unternahmen
tüchtige Turnlehrer von Zeit zu Zeit Nachmittagsausflüge und Sonntagswande-
rungen zu allen Jahreszeiten. Mehrtägige Fahrten, die eigentlich erst die rechte
Lust des Wanderns kennen lehren, waren im ganzen selten, und da sie gewöhnlich
beträchtliche Ausgaben verursachten, war die Zahl der Teilnehmer gering. Die
letzten Jahre haben indessen einen völligen Umschwung gebracht. Nicht nur daß
P. Manderscheid, Abriß der Musikgeschichte usw., angez. von T. Heinrich. 505
unsere deutschen Jungen Pflege und Leitung des Wanderns zum Teil selbst tat-
kräftig in die Hand genommen haben, nachdem erst einmal die Wandervogel-
bewegung entstanden war und sich gewaltig ausgebreitet hatte, nicht nur daß die
Turnlehrer noch mehr wandern als früher, auch unter den Oberlehrern haben sich
erfreulicherweise von Jahr zu Jahr mehr gefunden, die in den Ferien mehr-, ja
vieltägige Wanderungen unternehmen. Sie haben auch für die Technik des Wanderns
mancherlei von den Wandervögeln angenommen, haben vor allem von ihnen gelernt,
billig zu wandern. Sicherlich kann man von ihrer Erfahrung sehr viel lernen.
Wer nicht dazu unmittelbar Gelegenheit hat, dem stehen so treffliche Wander-
bücher, wie das von Raydt-Eckardt eines ist, zur Verfügung, um mit allen Ge-
heimnissen der Wandertechnik vertraut zu werden. Eine Ergänzung zu jenem
ist das vorliegende Wanderjahrbuch. Mit schönen Bildern ausgeschmückt, be-
richtet es über alles Interessante, was aus dem vergangenen Jahre über das Wandern
zu vermelden ist. Es erzählt von neuen Anregungen praktischer Art, von der
Ausbreitung der Wandervereinigungen, von neuer Wanderliteratur, von größeren
Wanderungen des letzten Jahres. So unvollstänidg die Aufzählung dieser gewiß
ist, so ist man doch erstaunt, wie gewaltig viel gewandert worden ist. Da aber
dieses Erstaunen sicherlich manchen bewegen wird, auch seinerseits im nächsten
Jahre mit Schülern hinauszuziehen, kann man die Beschaffung des billigen Büchleins
für die Lehrerbüchereien wohl empfehlen. Es wird sich als das erweisen, was es
sein soll: als ein gutes Werbemittel.
Mülheim (Ruhr). Edmund Neuendorf f.
Manderscheid, Paul, Abriß der Musikgeschichte für höhere Schulen
und Lehrerbildungsanstalten. Düsseldorf 1910. L. Schwann. 35 S. 0,50 M.
„Vorliegender Abriß der Musikgeschichte will dem Leser in möglichst knapper
Form einen Überblick über die Entwickelung der abendländischen Musik von ihren
Anfängen bis zur Gegenwart bieten unter Voranstellung der Geschichte der deut-
schen Musik."
Es ist sehr schwer, eine eingehende Musikgeschichte zu schreiben, und noch
viel schwerer, einen genügenden Abriß der Musikgeschichte zu geben. Einen solchen
bietet für mich auch der Verfasser nicht. Wenn ich dem Heftchen trotzdem eine
etwas eingehendere Besprechung widme, so finde ich die Berechtigung dazu darin,
daß ich gleichzeitig versuche, Wege zu weisen zum Bessermachen, und in diesem
Sinne mögen die folgenden Zeilen aufgefaßt werden.
Das Büchlein erhebt den Anspruch, auch bei „kulturgeschichtlichen Unter-
weisungen dort als Ergänzung herangezogen werden zu können, wo es sich um Fragen
handelt, die das Gebiet der Musik berühren." Bei dem heutigen Stande der Wissen-
schaft empfiehlt es sich aber nicht mehr, kurzerhand von einer „abendländischen"
Musik zu reden. Der Gegensatz, wenn man einen solchen herausarbeiten will,
besteht ja nicht zwischen Westen und Osten, sondern in Europa selbst zwischen
Norden und Süden, dergestalt, daß der Süden zum „Morgenlande" gehört; und
wenn der ältere Süden mit erwähnt wird, dann darf das Heft nicht mit den
Griechen beginnen, sondern muß vorher einen Blick auf Babylon werfen,
das die Lehrmeisterin nicht nur für das gesamte Altertum, sondern fast bis auf
506 P. Manderscheid, Abriß der Musikgeschichte usw., angez. von T. Heinrich.
unsere Zeit gewesen und geblieben ist. Ein Blick auf die Tasten des Klavieres
bestätigt uns das. Zwischen Terz und Quarte und Septime und Oktave (der C-Ton-
leiter) liegt nur ein halbes Intervall, entsprechend den beiden bösen Planeten Ninib
(Mars) und Nergal (Saturn). Das, sowie schon die Siebenzahl der weißen Tasten,
die durch die fünf schwarzen zu einer Zwölfzahl vervollständigt wird, ist etwas
spezifisch Babylonisches. Nach der Anschauung der alten Babylonier erzeugten
die Planeten bei ihrer Umdrehung Töne, ihr Kreislauf am Himmel die Harmonie
der Sphären, und diese Dinge, die uns als Pythagoräische Lehren geläufig sind,
werden alsbald erklärlich, wenn man ihren babylonischen Ursprung ins Auge faßt.
Im Gegensatze zu dieser orientalisch-griechischen Musik
steht in ihrem Tonsysteme, ihren rhythmischen und melodischen Formen die
nordisch-germanische Musik, die zugleich das harmonische Element
neu hinzubringen würde, wenn Manderscheid mit Recht behauptete, die Griechen
kannten mehrstimmige Gesänge nicht. Erst der Ausgleich dieser beiden Musikarten
hat ja das ergeben, was Manderscheid dann weiterhin als ,, abendländische" Musik
behandelt, die Verschmelzung des römischen mit dem gallikanischen
Systeme.
Die „gallikanische" Musik wird bei Manderscheid S. 6 mit den Worten ab-
getan: „Schon die alten Germanen hatten ihre Lieder, in denen sie ihre Götter
und Helden besangen*', und man bekommt fast den Eindruck, als seien die deutschen
weltlichen Lieder überhaupt erst der römischen Kirchenmusik entstammt. Ich
betone, es steht nicht im Hefte ausgesprochen, nur ist der Text so angelegt, daß
er diese Wirkung tut. — Hier fehlt also ein Abrechnen mit der vergleichen-
den Liedforschung und ein Herausarbeiten des Gegensatzes zwischen
dem in verschiedenen Intervallen frei einherschreitenden germanischen Stile und
der römischen Melodie, die sich bewegt wie etwa der König im Schachspiele.
Aus demselben Grunde vermisse ich bei der Behandlung des deutschen
Volksliedes einen Hinweis auf dessen oft so innige Verwandtschaft mit
Liedern der übrigen germanischen Völker, wie sie die vergleichende Liedforschung
reichlich nachgewiesen hat und mehr und mehr nachweist. Im übrigen halte ich
aber den Abschnitt über das deutsche Volkslied für dem Zwecke entsprechend
und stimme in des Verfassers Klage über das Verstummen des Volksliedes in heutiger
Zeit mit ein.
Erst durch das Verstummen der guten Kunst unserer Volksmusik ist das
Hauptgewicht allmählich in das Notenpapier verlegt worden, auf das sich so Vieles
nicht bringen läßt, was gerade zur echten Kunst gehört und was das Ohr allein
völlig erfassen konnte. Mit der Verbreitung durch die eigentlichen heutigen Noten
beginnt aber auch die Zeit, in der man quellenmäßig an eine Geschichte der Neu-
Eroberungen in der Ausdrucksfähigkeit und deren technischen Mitteln heran-
treten kann, und dieses Kapitel hätte in den letzten 20 Seiten denn doch mehr
Betonung verdient als die Musikerbiographien. Dieser Hauptteil des Heftchens
wäre überhaupt nicht in biographischer Anordnung zu geben. Nicht nach Musikern,
sondern nach den Fortschritten der Entwicklung war hier vorzugehen.
In dem Abschnitte ,, Anfänge der Bühnenmusik" hätte notwendig
darauf hingewiesen werden müssen, daß die Anfänge der Oper humanistische
I
Monatsschrift für Schulgesang, angez. von T. Heinrich. 507
Bestrebungen waren, die antike Tragödie neu aufleben zu lassen und daß deswegen
die hier einschlägige Terminologie im wesentlichen antiker Herkunft ist.
Verfehlt ist z. B. im weiteren Verlaufe, was der Verfasser über K. M. v. W e b e r
sagt, daß dieser nämlich als Vorläufer R. Wagners versucht habe, „Wort, Ton und
Handlung so innig zu verschmelzen, daß daraus jenes Kunstwerk entstehe, welches
wir heute , Musikdrama' nennen". Webers meistgesungener ,, Freischütz" ist eine
echte Oper — weit entfernt vom Musikdrama — eingeteilt in Terzett, Arie, Arietta,
Cavatine, Romanze, Chor, Finale — untereinander verbunden durch Recitative.
Und seine musikalische Deklamation ist die des Volksliedes, wie es uns heute als
Strophenlied in seiner Erstarrung und Verkümmerung vorliegt, in dem Wort
und Ton sich gerade nicht innig verschmelzen, sondern in den verschiedenen
Strophen nur zufällig zusammentreffen. Des Verfassers Bemerkungen sind hier
um so verwunderlicher, als er doch bei Richard Wagner das Wesen des Musik-
dramas richtig schildert.
Größere Musikgeschichten, die man kaum kauft und noch weniger liest, haben
vielleicht weniger praktischen Einfluß als ein wohlfeiles Heftchen; daher wäre es
besonders wünschenswert, daß die letztere Gattung möglichst auf die Höhe käme,
die der heutige Stand der Musikforschung erheischt. Für die höheren Schulen
ist diese Frage gerade jetzt von größester Bedeutung, da „der neue Lehrplan des
Gesangunterrichtes an höheren Lehranstalten" auch ins Auge faßt, dem Schüler
„musikgeschichtliche Zusammenhänge" zu geben. Aber nur das Beste ist für den
Schüler gut genug.
Monatsschrift für Schulgesang, herausgegeben von F. Wiedermann und
E. Paul. Essen-Ruhr. G. D. Baedeker. Preis für 3 Hefte vierteljährlich
1 M.
Die Zeitschrift beendete im März d. J. den VL Jahrgang. In dieser Zeit hat
sie getreulich ihr Ziel verfolgt: ,, Hebung und Pflege des Schulgesanges." Mit
Sorgfalt und Umsicht sind ihre Herausgeber bemüht gewesen, möglichst alle hier
einschlägigen Fragen zu berühren. Nach der wissenschaftlichen Seite kamen
Musikgeschichte, Musiklehre, Tonbildung, Phonetik und Lautphysiologie zu Worte;
andrerseits erfolgte ein reger Gedankenaustausch zwischen praktisch erfahrenen
Gesanglehrern. So dürfen Verlag und Herausgeber Genugtuung darüber empfinden,
wie die Gesanglehrer, insbesondere die der höheren Lehranstalten, in dieser Zeit-
schrift das führende Blatt auf dem Gebiete der Pflege des Schulgesanges erblicken.
Das Streben der Herausgeber nach immer weiterer Ausgestaltung der Monatsschrift
begleiten wir mit den besten Wünschen für ihre recht weite Verbreitung.
Berlin. Traugott Heinrich.
III. Vermischtes.
i
Eine neue pädagogische Zeitschrift beginnt als „Archiv für Päda-
gogik" im Oktober dieses Jahres in Leipzig ihr Erscheinen. Sie umfaßt zwei
Abteilungen, die sich der „Pädagogischen Praxis*' und der „Pädagogischen
Forschung" widmen. In den ersten Teil geht die bisher unter dem Namen „Der
praktische Schulmann" erscheinende Monatsschrift auf. Als Herausgeber zeichnen
der bekannte Leipziger Universitätslehrer Dr. B r a h n , wissenschaftlicher Leiter
des psychologischen Instituts des Leipziger Lehrervereins und Direktor des Instituts
für experimentelle Pädagogik an der Universität Leipzig, und der Leipziger Lehrer
M. Döring, der durch psychologisch-pädagogische Studien und durch seine
Arbeit über die „Pädagogische Presse" bekannt geworden ist. Das „Archiv für
Pädagogik" erscheint im Verlag von Friedrich Brandstetter in Leipzig.
Berichtigung.
Zu der Erwiderung C. Rothes auf Cauers Aufsatz: „Soll die Homerkritik ab-
danken?' (Monatschrift 1912, Heft 5, S. 229 ff.), möge mir ein Wort der Richtig-
stellung gestattet sein.
1. Rothe sagt dort S. 235: „Cauer spricht hier zunächst das Urteil Mülders
über die Unitarier nach. Gemeint ist der Satz („Die Ihas und ihre Quellen" S. 8):
„verfochten pflegt sie (die Einheit) zu werden, soweit sie sich literarisch noch hat
halten können, mehr mit Sentiments als mit Gründen; kritischer Aufzeigung von
Anstößen pflegt man unter starker Betonung seiner Bewunderung für den Genius
des Dichters mit der Forderung zu begegnen, einer solchen Größe gegenüber die
Einsicht zu kreuzigen. In einer solchen Forderung steckt ebensoviel Überhebung
als Unwissenschaftlichkeit." Es ist aber nicht richtig, daß dieser Satz sich so all-
gemein auf „die Unitarier" bezöge. Bin ich doch selbst „Unitarier" und zwar,
wie ich meine, ein besserer und konsequenterer als Rothe, der dem Dichter so
unendlich vieles abspricht! Vielmehr bezieht sich mein Tadel nur auf Rothes
Manier, seine Einheitsvorstellung in den Jahresberichten zu „verteidigen". Ich
habe diese an den Besprechungen meiner homerischen Arbeiten seit Jahren mit
steigender Entrüstung zu studieren Gelegenheit gehabt.
Vermischtes. 509
2. Auf S. 231 rühmt sich Rothe der Zustimmung einiger außerdeutscher
Forscher und schließt mit dem Satze: „So sind allmählich auch andere Homer-
forscher meiner Ansicht beigetreten (s. Jahresbericht 1910, S. 368)." Man
schlage den Jahresbericht auf und wird finden, daß diese „anderen Forscher'*
(im Plural) niemand anders ist, niemand anders sein soll als — ich ! Daß er meinen
N a m e n bei dieser Berufung nicht nennt, während er doch jene, nichtdeutschen
Forscher namentlich aufführt, ist allerdings erklärlich ! Denn es gibt keinen Homer-
forscher, der das Rothesche „Verteidigungs^-system und die Rotheschen An-
sichten (die Einheit ist kein Rothesches Reservat; vgl. „die Ilias und ihre Quellen"
S. 8, Mitte) so verurteilte, wie ich ! Ich muß es daher weit ablehnen, als Schwur-
zeuge für die Richtigkeit Rothescher „Standpunkte" oder „Gedanken" irgend in
Anspruch genommen zu werden. Meine wirkliche Meinung von ihm ist jetzt
im Jahresbericht für Altertumswissenschaft Bd. CLVII (1912, 1) — Bericht über
die Literatur zu Homer 1902—1911 von Mülder vgl. bes. S. 272f.; S. 303ff. —
unmißverständlich ausgesprochen.
Emden. Dietrich Mülder.
Auf Seite 398 dieser Monatschrift muß es statt Ketteier, Kurt heißen
Kesseler, Kurt, der Unsterblichkeitsglaube etc.
IV. Sprechsaal,
Zu Professor E. M e y e r: Wo findet man näheres über den ,Delischen Taucher'?
Der ,natator Delius' bei Heineccius a. a. 0. ist gewiß kein anderer als der
bekannte 6ai'|jia)v OaXaooio? Glaukos, über den ein reiches Material sich findet
in Roschers Ausf. Lexikon der griechischen und römischen Mythologie I (1884—90)
Sp. 1678— S6 s. V. Glaukos 7), vgl. auch 12) Sp. 1688—90, und in Paulys Real-
Enzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft, Neue Bearbeitung, begründet
von Wissowa Lieferung 98 s. Glaukos 8—9) = Halbband XIII (1910) Sp. 1408—13,
vgl. auch 23) Sp. 1415 — 16. Der eigentliche Mittelpunkt von des Glaukos Verehrung
liegt allerdings in historischer Zeit in Boiotien, in der Küstenstadt Anthedon.
Mit ätiologischer Deutung dieses Stadtnamens knüpft die Kultlegende an ein dort
wachsendes Wunderkraut an, dessen Genuß Unsterblichkeit verleihe: Dort bemerkte
einst ein Fischer, wie auf den Strand geworfene Fische durch zufällige Berührung
mit einer Pflanze wieder lebendig wurden (s. bes. Ov. met. XIII 936 ff., auch VII
232 und anderswo !). Er kostet selbst davon und wird in einen fisch- oder schlangen-
schwänzigen Meergott verwandelt. Von der darnach FXaüxoü TrVjSr^fxa genannten
Stelle, die noch zu des ,Bädeker'-Pausanias Zeiten (Paus. IX 22,6) Gläubig-Neu-
gierigen gezeigt wurde, die auch Rosz (Wanderungen II 131) feststellen zu können
geglaubt hat, tat er den Sprung ins Meer. (Daher stammt das Sprichwort: rXauxo?
cpaY<«v TToav o?xet ev OaXaxxTfj [z. B. Mich. Apost. V 49J.) Nach einer andern Über-
lieferung gewinnt Glaukos zwar Unsterblichkeit, altert aber und springt in un-
mutiger Verzweiflung ins Meer. Besondere Berühmtheit erhielt unser Glaukos,
der neben dem hehren, unnahbaren Poseidon immer ,ein Gott der kleinen Leute',
der Schiffer und Fischer, geblieben ist, durch seine nimmer trügende Weissagekunst,
als d'^EüÖTj? Oeo? (Eurip. Orest. 360 u. sonst). Er lehrte diese Kunst den Apoll,
ward darum zum Vater der kymäischen Sibylle (Verg. Aen. VI 36), weissagte dem
Menelaos am Kap Malea, den Argonauten wie den Menschen; er übte sein Gewerbe
auch im Umherziehen. Alljährlich hat er — nach jüngerer Sage wahrscheinlich —
einmal alle Meere durchzogen, alle Inseln und Küsten besucht, in weltschmerz-
lerisch-ahasverischer Anwandlung klagend, daß er nicht sterben könne, dabei
stets Zukünftiges, und zwar ausnahmslos leider Unheil, prophezeiend. So erklärt
Sprechsaal. 511
es sich, daß des Glaukos Verehrung nicht auf Boiotien beschränkt blieb; wir begegnen
ihm auch auf Naxos, am Kap Malea, in Korinth, in Gytheion, bei den Aitolern,
ja gar bei den Iberern und noch anderswo. Besonders berühmt scheint das Orakel
des Glaukos auf Delos gewesen zu sein, das er in Gemeinschaft mit den Nereiden
betrieb, die ihm ihre Liebe nicht versagten (Aristot. b. Athen. VI 296 E). Daher
kann Glaukos wohl auch der AVjXio? xoXufjißYjTr^c bei Diog. Laert. a. a. O. sein wie
bei Heineccius der ,Delius natator*. Viel schwieriger, ja unlösbar erscheint mir die
Deutung des Sprichwortes (tj) FXauxou liyyi]. Wenn Wohlrab zu Plat. Phaed. c. 58,
108 D behauptet: ,Von allem, dessen Auffassung und Ausführung viel Scharfsinn
und Einsicht erforderte, sagte man sprichwörtlich, es gehöre die Kunst des Glaukos
dazu*, und er erklärend hinzufügt: ,des Schutzpatrons der Fischer und Taucher*,
so setzt er sich damit in Widerspruch zu der Auffassung der alten Gelehrten. So
bezog Dionysodoros, ein Schüler Aristarchs, die ts^^vy] FXaüxou auf einen Metall-
arbeiter Glaukos aus Chios, der (nach Herod.) jjlouvo? Stj TravTtuv dvOpa»Tra)v oiSi/ipoü
xoXXtjoiv £;£up£, dcr also — ein Krupp des Altertums — die Kunst, das Eisen
zu schweißen, erfand. (Ebensowohl auch andere Parömiographen, wieZenob. II 91.)
Andere verbinden das Wort mit einer uns völlig unbekannten ts/vt] -ypttjAiAaTcüv
eines Glaukos von Samos. In dem Scholion zu unserer Platostelle wird am Schluß
der Samische ^pap-ixaiixo? mit dem Erfinder der oiSvjpou xoXXtjoi? zu einer Person
zusammengeschweißt. Noch andere haben an die musikalische Kunst eines Glaukos
von Rhegion gedacht. (Man vergl. hierzu Pauly-Wissowa Real-Enzyklopädie
s. V. Glaukos 46 Sp. 1421— 22; 44 Sp. 1421; 36 Sp. 1419!) Niemand aber hat,
soweit ich augenblicklich das weitschichtige und zersplitterte Material übersehe,
bei der xs^virj FXauxoü sich an die untrügliche Weissagekunst des Meergottes
Glaukos erinnert, des berühmten ,natator Delius'.
Zu Professor E. M e y e r: Eine neue Erklärung des Wortes ,Aneroidbarometer'.
Ganz allgemein hat man sich bisher, soweit mir bekannt, bei der Ableitung der
ersten Hälfte des Wortes ,Aneroid-barometer' von d privativum und vTjpo? =
feucht, naß beruhigt und anerkannt, daß damit das Wesen des Apparates vor-
trefflich zum Ausdruck gebracht sei. Zu bestreiten ist ja nicht, daß sich für vrjpo?
in der klassischen Gräzität keine Belege finden (,aber väpo? steht doch in je 1 fragm.
des Aischylos und Sophokles!); auch der Attikist Phrynichos tadelt das Wort,
indes sein Herausgeber Lobeck (1820) S. 42 Anmerkung als Zeugnis für das Alter
von vr^pog auf den Namen ,Nereus' hinweist. Kommt es denn wirklich bei einer
modern-künstlichen Retortenschöpfung — als Geburtsjahr des Aneroidbarometers
wird 1847 angegeben — auf ältere oder jüngere Gräzität an? Das Neugeborene
soll einen bezeichnenden und dabei wohlklingend-gelehrten Namen erhalten, da
spielt gewiß auch der Zufall seine neckische Rolle. Schwerer wiegt meines Erachtens
der Einwurf, daß bei der landläufigen Erklärung die Endung -id (von sISo?) nicht
zur Geltung komme. Das ist gewiß richtig; doch sollte da nicht gerade die Mathe-
matikern und Physikern so geläufige Ableitungssilbe zu einer falschen Analogie-
512 Sprechsaal.
bildung geführt haben können ! Als Ersatz für die bisherige Deutung wird nun die
Abteilung: Anero-id (von avTJp und elSo?) = manngestaltet vorgeschlagen. Es
braucht ja ein Physiker kein klassischer Philolog zu sein, aber jene Bildung wäre
sprachlich gar zu ungewöhnlich; es heißt doch ,manngestaltet* dvSpwÖT]? und alle
Verbindungen mit dvT^p, die ungemein zahlreich sind — die Lexika weisen mehrere
Dutzend nach — , beginnen dvSpo-, aber niemals dvTjpo-. Demnach müßte man
schon von einem Android- oder Androd- und nicht von einem Aneroid-barometer
sprechen, wollte man nicht die Philologen gar zu sehr reizen. Und warum sollte
jener bekannte Apparat ,manngestaltet' heißen, während doch ,ohne Flüssigkeit'
ihn so treffend charakterisiert?
Königsberg i. Pr. Dr. Otto Kröhnert.
{IS*
I. Abhandlungen.
Die erste Revision der Übungsarbeiten.
Seit etwa einem halben Jahre sind die sogenannten Übungsarbeiten eingeführt.
Von manchen Direktoren und Lehrern anfänglich nicht ohne Widerstreben auf-
genommen, haben sie sich doch allmählich wohl überall durchgesetzt: ihre Form
und Ausdehnung ist in Konferenzen besprochen worden, jedes Kollegium wird bei
einigem guten Willen auch einen Weg gefunden haben, sie in den Rahmen der
Unterrichtsstunde einzureihen und als Bildungsmittel zu verwerten. Zwar wurden
noch vor kurzem im Abgeordnetenhause bei der Etatsberatung Bedenken gegen
die Neuerung geäußert, aber auch sie verstummten schnell, als der Minister aus-
drücklich erklärte, daß die Leistungen auf keinen Fall herabgemindert werden
sollen. Ja, der Abgeordnete Geh. Justizrat Cassel spendete den Übungen, die er
als gute Bekannte aus seiner Jugendzeit begrüßte, sogar uneingeschränktes Lob.
So darf man hoffen, daß eine Besprechung dieser Arbeiten nicht grundsätzlich
abgelehnt, sondern ruhig und sachlich gewürdigt werden wird.
Ich will keine theoretische Erörterung über ihren Wert anheben. Eigene
Erfahrungen und Beobachtungen sollen vorgelegt werden, wie ich sie beim Hospi-
tieren oder gelegentlichen Versuchen und besonders bei einer Revision der Übungs-
hefte aus den Klassen Sexta bis Untersekunda eines Gymnasiums und einer Real-
schule gemacht habe.
Im voraus einige allgemeine Bemerkungen. Die Übungen sollen in gedrängter
Kürze den Niederschlag aus einer Arbeitsstunde enthalten. „Was der Schüler durch
Auge und Ohr aufgenommen hat, soll er schriftlich genau formen lernen." Die
Selbsttätigkeit des Schülers soll dadurch erhöht, die Gemeinschaftsarbeit mehr
gepflegt werden. Besonders in den Fremdsprachen sollen diese Übungen in engster
Verbindung mit dem übrigen Stoff des betreffenden Faches gehalten werden.
Daraus ergibt sich: 1. Die Arbeiten dürfen nicht nur gelegentlich gemacht werden,
sondern müssen womöglich in jeder Stunde als ein wichtiger Teil der , Anwendung*
den Abschluß bilden. 2. Sie müssen, richtig und konsequent gehandhabt, den Gang
des Unterrichts erkennen lassen. 3. Sie müssen, damit die Aufmerksamkeit nicht
zersplittert werde, sich auf die besprochene Regel beschränken; erst wenn ihre
Anwendung mechanisiert ist, kann sie unbedenklich mit anderen Übungen ver-
knüpft werden.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 33
514 F. Schlee,
Daß bei der vorhergehenden mündlichen Übung die Wandtafel namentlich
in den unteren Klassen ausgiebig benutzt werde, ist selbstverständlich. Weniger
beachtet, ja vielfach verachtet wird das Chorsprechen der Kleinen. Mit Unrecht.
Es ist auch eine Gemeinschaftsarbeit, die der Übung dient, wertlos freilich als
Kontrolle des Verständnisses, aber sie macht dem Zaghaften Mut und rüttelt
den Trägen etwas auf.
Jede Übungsarbeit, sei sie auch noch so klein, muß gleich korrigiert werden,
entweder durch den Lehrer nach der Stunde, oder durch die Schüler selbst —
aber ohne Hefteaustausch — in der Stunde. Immer aber müssen wir auch im
zweiten Falle nachträglich die Arbeit kontrollieren, und zwar nicht zu selten,
damit die Verbesserung für die Schüler nicht zu schwer und umfangreich wird.
Es genügt aber nicht, bloß die Verbesserung der Schüler auf der rechten Seite
der Übungshefte durchzusehen. Die Übung verliert in diesem Fall auch für den
Schüler an Interesse, und es wäre kein Wunder, wenn er solche Nichtachtung seiner
Übungen mit Liederlichkeit quittierte.
Im einzelnen ist mir folgendes aufgefallen: Die lateinischen Übungen
wollen den Sextanern zu Anfang noch nicht recht geraten. Die lateinische Schrift
ist vielen nicht geläufig, deutsche und lateinische Buchstaben gehen durcheinander,
die Hand will dem Kopf nicht schnell genug folgen, daher selbst bei aufmerk-
samen Kindern viele, meist orthographische Fehler. Der lateinische, deutsche und
Schreibunterricht muß bei einer nicht einheitlich vorgebildeten Sexta erst Sicherheit
in der Anwendung des lateinischen Alphabets schaffen. Kleine deutsche Sätzchen
in lateinischer Schrift müssen die ersten Übungen bilden. Ähnlich ist es im g r i e -
c h i s c h e n Anfangsunterricht. Ehe nicht volle Geläufigkeit im Schreiben der
griechischen Buchstaben erzielt ist, sollten Übungssätze nicht gefordert werden.
Man lasse lieber zunächst jeden Tag 2 — 3 Reihen griechischen Text zu Hause
aus dem Lesebuche abschreiben, höchstens diktiere man als Übung in der Klasse
ab und zu ein paar griechische Eigennamen, bis die Schüler in der Schrift ganz
sicher sind. Von solchen einfachen Übungen im Lateinischen und Griechischen
schreitet man allmählich zu gedächtnismäßiger Reproduktion kleiner, an der
Wandtafel und in Sexta auch durch Chorsprechen eingeübter Sätzchen vor. Nach
und nach erst werden geringe Veränderungen vorgenommen. Eine eigentliche
Probearbeit sollten Sextaner erst schreiben, wenn sie an den Übungsarbeiten dazu
erzogen sind. Das kann unter Umständen ein Vierteljahr und länger dauern. Formen-
Übungen sind im Anfangsunterricht sehr beliebt; es genügt m. E., wenn Formen
mündlich eingepaukt werden, der Bildungswert des Formenextemporales ist sehr
gering. Dagegen sollten die Schüler wenigstens von Quarta an im Lateinischen
wieder öfters angehalten werden, den erarbeiteten Inhalt einer Lektürestunde
in lateinische Sätze zu fassen. Ob das in einer Grammatik- oder Lektürestunde
geschieht, ist gleichgültig. Hauptsache ist, daß solche Arbeiten vortreffliche Stil-
übungen sind, um so fruchtbarer, je selbständiger die Schüler in der Anwendung
der Sprache werden.
Den deutschen Übungen stehen manche Lehrer in den unteren Klassen
noch ratlos gegenüber. Was soll an die Stelle des wöchentlichen Diktates zur
Einübung der Rechtschreibung treten? Etwa zwei bis drei kürzere Arbeiten statt
Die erste Revision der Übungsarbeiten. 515
der einen, aber nicht im Diktatheft, sondern im Übungsheft, nicht zensiert, sondern
bloß korrigiert? So geschieht's denn wohl, daß Lehrer am Schlüsse der Stunde,
je nachdem die Zeit es erlaubt, schnell ein paar Sätzchen zur Übung diktieren,
die mit dem Unterricht gar nicht zusammenhängen, nur damit der Vorschrift genügt
werde. Und doch haben wir gerade im Deutschen so hübsche Übungsarbeiten,
die unmittelbar aus dem Stoff herauswachsen. Ist z. B. in der Klasse ein Lese-
stück oder Gedicht besprochen, so können wir durch drei oder vier kurze Fragen
den Inhalt des Ganzen oder eines abgeschlossenen Teils feststellen, diese Sätzchen
einige Male wiederholen und dann niederschreiben lassen. So hat man eine vor-
treffliche Aufsatzvorübung, die zugleich den orthographischen und grammatischen
Stoff der Klasse miteinflechten läßt. Durch Erweiterung des Umfangs und der
Selbständigkeit steigt man allmählich zu den kleinen Aufsätzen empor, die, sorg-
fältig vorbereitet, dem Sextaner und Quintaner die Hilfe der Mutter und des Haus-
lehrers entbehrlich machen. Neben diesen Übungen kann auch gelegentlich die
Aufgabe gestellt werden, eine gelernte Strophe aus dem Gedächtnis mit richtiger
Interpunktion niederzuschreiben. Man kann dabei interessante Beobachtungen
über die Sorgfalt und Aufnahmefähigkeit der Kleinen machen. Übrigens soll
das Diktat ja nicht verbannt werden; auch kleine grammatische Übungen im
Deklinieren und Bestimmen von Satzgliedern können gelegentlich vorgenommen
werden.
Im Französischen und Englischen wird der Anhänger der Sprech-
methode sich mit den Übungsarbeiten ebensowenig befreunden können wie mit
den alten Extemporalien. Er legt ja auf das Schreiben, auf Grammatik und Ortho-
graphie im Anfangsunterricht keinen Wert, er will die fremde Sprache in erster
Linie sprechen lehren. Wer dagegen die grammatische oder die von Münch emp-
fohlene vermittelnde Methode befolgt, wird aus den Übungen denselben Nutzen
ziehen können wie der Lehrer der alten Sprachen. Nur muß er noch langsamer
vorgehen als dieser, weil hier zum fremden Wort auch noch die fremde Aussprache
hinzukommt. Auge und Ohr bedürfen in den neueren Sprachen weit größererSchulung
als in den klassischen. Man muß mit ganz bescheidenen orthographischen Übungen
anfangen und die ersten Sätzchen sehr sorgfältig an der Tafel einüben, sonst erhält
man unkorrigierbare Leistungen. Das Sprachgefühl, das grammatische Verständnis
schärfen solche Übungen freilich zunächst noch nicht, aber sie stärken das Ge-
dächtnis und erziehen vor allem zur peinlich genauen Beobachtung der Wort-
bilder, wodurch das Lernen der fremden Sprache wesentlich erleichtert wird. In
den mittleren Klassen der Realschule sollten zu den rein grammatischen auch
kleine stilistische Übungen in Form kurzer Inhaltsangaben über einzelne Abschnitte
der Lektüre noch hinzukommen. Auf dem Gymnasium ist leider bei der beschränkten
Stundenzahl keine Zeit dazu. Hier hält es sogar sehr schwer, auch nur für die
grammatischen Übungen in der Stunde die nötige Zeit zu gewinnen. Vieles muß
dem häuslichen Fleiß der Schüler überlassen werden, was besser und leichter in der
Klasse eingeübt werden könnte.
In den mathematischen Unterricht haben sich die Übungsarbeiten
leicht eingefügt, wenigstens in das gemeine Rechnen und in die Arithmetik. Hier
besteht wohl allgemein die Sitte, daß der Lehrer oder einer der Schüler an der
33*
516 H. Strunk,
Tafel vorrechnet, während die Klasse im Diarium mit- oder nachrechnet. Dabei
gibt es natürHch immer einige Schlepper und solche, die sich schleppen lassen.
Die Übungsarbeit bringt in diese Form Erfrischung und Abwechslung. Wenn
die Schüler nämlich wissen, daß sie am Schluß der Stunde eine Aufgabe ohne
Vorarbeiter ganz selbständig im Übungsheft lösen müssen, wird das ihre Auf-
merksamkeit bei der Mitarbeit sicher erhöhen. Weniger gut läßt sich die Übungs-
arbeit mit dem planimetrischen Unterricht verbinden. Eine Aufgabe mit Analysis,
Konstruktion und Figuren läßt sich in wenigen Minuten am Schluß einer Stunde
nicht bewältigen. Will man gelegentlich solche Aufgaben stellen, wird man sich
begnügen, wenn die Schüler die Konstruktion an der Figur darstellen oder eine
Analysis bzw. Konstruktion in wenigen Sätzen entwerfen. Der Fachmann weiß,
daß solche Konstruktionsaufgaben Ruhe und Zeit erfordern; sie werden besser
der Hausarbeit zugewiesen. Eine regelmäßige Übungsarbeit möglichst in jeder
Stunde ist in der Planimetrie nicht möglich.
So viel ist wohl klar, schematisch lassen sich die Übungsarbeiten nicht für alle
Klassen und Fächer durchführen. Die Einrichtung aber als solche, verständig
gehandhabt, ist ebenso gut wie alt und wird sich je länger je mehr Freunde erwerben.
Wir müssen nur Geduld haben und uns den freien Blick und den frohen Mut erhalten,
der fähig ist über kleine Anfangsschwierigkeiten hinwegzuschreiten aus Zuversicht
zu dem werdenden Ganzen.
Landsberg a. W. F. S c h 1 e e.
I
Die Zeitung in den höheren Schulen.
Wir gehen bei den folgenden Ausführungen von der Voraussetzung aus, daß
die Presse, von der großen Weltzeitung herab bis zum kleinen Lokalblättchen,
eine Großmacht in unserm öffentlichen Leben ist. Die Zeitung kommt überall
hin, in jedes Haus, in jede Familie, sie kommt auch zu der Jugend. Wir bedauern
diese Entwicklung nicht, fordern vielmehr, daß die Schüler und Schülerinnen
der oberen Klassen unserer höheren Lehranstalten von ihren Lehrern auf den Wert,
ja die Notwendigkeit ständigen Zeitungslesens hingewiesen werden. Denn wenn,
wie wir glauben, die Presse der wichtigste existierende Bildungsfaktor ist, wäre
es weit- und lebensfremd, wenn die höhere Schule ihn nicht mit bei ihrer Bildungs-
und Erziehungsarbeit in Rechnung stellte und verwertete.
Es kommt nur darauf an, daß unsere jungen Männer und Mädchen die rechte
Stellung, das notwendige Distanzgefühl diesem bedeutsamen Kulturfaktor gegenüber
gewinnen. Man darf leider nicht annehmen, daß unsere heutigen Zeitungen in
ihrer Mehrheit sich ihrer volkserzieherischen Bedeutung und Verantwortung bewußt
sind. Auch bin ich nicht der Ansicht, daß unsere Gebildeten die Zeitungen durch-
weg richtig zu lesen wissen; denn dagegen spricht der Umstand, daß Hundert-
tausende sich so stark von ihrem Leibblatt beeinflussen lassen, daß sie darauf
Verzicht leisten, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Daher wird wohl niemand ernst-
haft glauben, daß unsere Jugend von selbst die Zeitung richtig einzuschätzen
und zu benutzen verstände. So bleibt also nur die Folgerung übrig, daß die höhere
Die Zeitung in den höheren Schulen. 517
Schule zu einer kritischen Zeitungslektüre erziehen muß — denn ein Verzicht
auf die Zeitung, dieses Organ der Tagesgeschichte, ist nicht möglich.
Es gibt wohl kaum einen Lehrer der Geschichte, Erdkunde, Religion und des
Deutschen, der noch niemals einen Zeitungsausschnitt im Unterrichte verwertet
hätte. Eine solche .bloß gelegentliche Heranziehung der Presseerzeugnisse, ge-
wissermaßen eine „dekorative Quellenmethode", wie sich Schliebitz neulich in der
Zeitschrift ,,Die höheren Mädchenschulen" ausdrückte, genügt aber bei weitem
nicht, um eine verständnisvolle Beurteilung der Zeitung zu erzielen. Das Ziel muß
sein, daß jeder Absolvent einer höheren Schule eine Zeitung kritisch zu lesen ver-
steht. Dazu reicht noch nicht aus die allgemeine Erziehung zum Tatsachensinn,
zur geschichtlichen Objektivität, die die höhere Schule seit langem leistet. Ohne
die Didaktik des Zeitungsunterrichts, der natürlich kein besonderes Fach sein
soll, näher erörtern zu wollen, möchten wir auf eine Möglichkeit, zum kritischen
Lesen zu erziehen, hinweisen. Der Lehrer könnte z. B. in seinem Zeitungsunterricht,
um die Entstehung und Glaubwürdigkeit eines Presseberichts zu veranschaulichen,
mehrere Zeitungen aus verschiedenen Parteilagern vergleichen und ihre voneinander
abweichenden Ansichten und Behauptungen klarstellen. Durch mehrfache An-
wendung einer solchen „kombinierenden" Quellenmcthode würde der Glaube an
die Allwissenheit und unparteiliche Gerechtigkeit der Zeitungen bald gemindert
oder gar zerstört werden, wodurch schon viel gewonnen wäre. Außerdem müßte
jeder Absolvent einer höheren Schule wenigstens eine Ahnung von dem Gepräge
unserer bekanntesten Zeitungen erworben haben.
Damit soll nicht gesagt sein, daß die Tageszeitung in ihrem jetzigen Zustand
und Umfang von uns als ein Ideal oder eine Notwendigkeit empfunden würde.
Vom Standpunkte des Lehrers und des Volkserziehers sind vielmehr erhebliche
Reformforderungen an die Presse zu richten. Im Kunstwart (z. B. 1911 No. 24
von K. Wilhelm) ist wiederholt darauf hingewiesen, daß die Zeitungen geradezu
als Schundliteratur angesehen werden müssen, soweit sie der Sensation dienen,
soweit ihre Berichte aus dem Gerichtssaal und das „Vermischte" mit seinen Schauer-
mären „auf eine Glorifikation des Verbrechers hinauslaufen". In Oberlehrerkreisen
ist man mit Recht der Ansicht, daß die ausführlichen Preßberichte über die Selbst-
morde Jugendlicher auf manches krankhafte Nervensystem aufreizend eingewirkt
haben. Hier müßte also die Zeitung zugunsten der wirklich bildenden Teile gekürzt
weraen. A. Matthias hat in den „Blättern für Volkskultur" (No. 21, 1911) von
der Presse vermehrte Berücksichtigung der staatsbürgerlichen Erziehung gefordert
und z. B. eigens zu diesem Zwecke herausgegebene Beilagen und verständlichere
Gestaltung der Leitartikel empfohlen.
Ähnlich steht es mit dem Unterhaltungsteil. Wir wollen gar nicht eingehen
auf die verflachende und verbildende Wirkung des typischen Zeitungsromans,
der ein trauriges Zeichen für den Tiefstand der Geschmacksbildung ist. Sozial-
demokratische Zeitungen machen da häufig eine erfreuliche Ausnahme, werden
aber grade darum von den Frauen und andern politisch uninteressierten Familien-
gliedern beiseite gelegt. Ich verweise auf die Uhligsche Preisarbeit: Wie ge-
winnt man das Volk für gute Literatur? (M. Helmert, Schwarzenberg Sa.) Sehr
wichtig ist noch anderes. E. Lorenzen sagt in den ,, Blättern für Volkskultur"
518 H. Strunk,
(15. November 1911) mit vollem Recht: Die vielen Fortsetzungen der Romane,
Novellen usw. verhindern das Entstehen eines einheitlichen Gesamt-
eindruckes, sie erheben das Haschen nach dem Stofflichen zum alleinigen Zweck
und machen die Erfassung des Kunstwerkes zur Unmöglichkeit. An Stelle dieser
täglichen Häppchenliteratur verlangt er die Herausgabe einer wöchentlichen
Unterhaltungsbeilage mit wirklich wertvollem Inhalt.
Damit kommen wir auf einen Vorschlag zurück, den K. Blass im 2. September-
heft des Kunstwarts (1911) erhoben hat. Es ist wohl kine Frage, daß die Über-
fülle des Inhalts unserer Tagespresse von den Schülern und Schülerinnen der
oberen Klassen unserer höheren Lehranstalten kaum ohne ernstlichen Schaden
bewältigt werden könnte. Wo sollen sie schon die Zeit hernehmen? Wichtiger
aber ist, was K. Blass im Kunstwart über den schädlichen Einfluß der Zeitungen
auf die formale Bildung sagt: „Der Kern der Vorwürfe, die im Namen einer geistigen
Volkswirtschaft wider die Zeitungslektüre erhoben werden, steckt in der Gewöhnung
der Leser an Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit, Wahllosigkeit und Zersplitterung
in der Aufnahme des Lesestoffes, während durch die Masse des Dargebotenen und
die scheinbar abschließende, parteimäßig festgelegte Beurteilung die selbständige
Verarbeitung und Ausgestaltung des Aufgenommenen gehemmt wird." So richtig
dieser Gedanke auch ist, so bleibt doch bestehen, daß jeder, der am Leben seines
Volkes teilnehmen will — und dazu gehört natürlich auch unsere reifere Jugend
— ein Organ braucht, das ihm die gleichzeitigen Ereignisse und Zustände mitteilt
Die Berichterstattung braucht aber selbst in unserer schnellebigen Zeit keine täg-
liche, keine „brühwarme" zu sein, sicherlich nicht für unsere Jugend, wenn sie nur
richtig, umfassend und doch knapp ist. Wieviel falsche Nachrichten hat man,
während ich diese Zeilen schreibe, bei dem Untergang des Titanic verschlucken
müssen, bis authentische Kunde eintraf. Wieviel Lesekraft ist da verschwendet.
Blass fordert daher als neuen Zeitungstyp ein Wochenblatt, das in einem ersten
Teile in übersichtlicher Form und Anordnung scharf und klar das wesentliche
Nachrichtenmaterial aus allen Gebieten für die verflossene Woche —
keinen Klatsch und Tratsch! — zusammenstellte und in einem zweiten Teil
vielleicht „Aufsätze mäßigen Umfanges, grundsätzliche Äußerungen der Re-
daktion und fremde Presseäußerungen im Auszuge" enthalten könnte. Es
soll nach seiner Meinung Material geboten werden, dessen Bearbeitung durch
aie Schriftleitung sich im wesentlichen auf scharfe Sichtung und klare
Anordnung beschränkt, während die Weiterverarbeitung, besonders die Be-
urteilung, dem Leser überlassen bleibt. „So erhielte man in kurzer Zeit ein-
maliger konzentrierter Beschäftigung und um ein geringes Geld auf wenigen Seiten
alles wirklich Wesentliche des Inhalts jetziger Tagesblätter geboten, damit aber
bliebe unserer Spannkraft die schauderhafte Sisyphusarbeit erspart, täglich einen
Haufen Makulatur wegen weniger Zeilen von Erfahrenswertem durchzujagen."
Die Bedenken, die Avenarius diesem vorgeschlagenen Zeitungstyp gegenüber
erhebt, sind nicht so schwerwiegend, daß wir nicht mit vollem Ernst vom Stand-
punkte des Lehrers und Erziehers aus die Blasssche Forderung unterstützten.
Man kämpfte damit gleichzeitig gegen die anspruchsvolle Neugier, die jeden
Tag ihr Sensatiönchen verlangt. Mag man ein Wochenblatt für ausreichend
Die Zeitung in den höiieren Schulen. 519
halten oder ein Halbwochenblatt fordern, ein solcher Zeitungstyp wäre der für
unsere reifere Jugend angemessene, da er sie einmal über das gegenwärtige Ge-
schehen und Sein unterrichtet, gleichzeitig Kopfarbeit verlangt und so unmittel-
bar zum nachdenklichen Lesen erzieht, sie aber nicht mit dem papiernen
Ballast des Überflüssigen, Unrichtigen und Raisonnements überbürdet.
Ansätze zu einer solchen Zeitung sind bereits vorhanden. Wir meinen
nicht die dürftige Zeittafel der „Woche**, sondern möchten hinweisen auf die
Wochenblätter der „Frankfurter Zeitung'*, des „Berliner Tageblatts" und der
„Täglichen Rundschau", die neben den umfangreichen Tagesausgaben erscheinen
und für die Deutschen im Auslande bestimmt sind. Es würde zu weit führen, hier
die Anordnung und den Inhalt dieser Wochenausgaben darzulegen; die Interessenten
könnten sich Probenummern von den Expeditionen ausbitten.
Meiner Meinung nach ließe sich nun mit dem Blassschen Vorschlage die An-
regung verbinden, die vor einigen Jahren H. Ehrhard in seiner Broschüre „Unter
dem Reichsbanner" gegeben hat. Denn ein Nachteil der Wochenausgaben der
schon genannten Zeitungen besteht darin, daß sie die politische Färbung ihrer
Hauptblätter tragen. H. Ehrhard fordert ein „Reichsblatt", „das ein auf ver-
fassungsmäßigem Wege durch ein Reichsgesetz ins Leben gerufenes und der Etat-
kontrolle des Reichstages unterliegendes Unternehmen sein würde, einerseits zur
wirksamen Unterstützung und Fortführung der allgemeinen staatsbürgerlichen
Schulerziehung und zur Verbreitung der Bürgerkunde im ganzen Volke, anderer-
seits um den Reichs- und Landesregierungen die Möglichkeit zu gewähren, die
Beweggründe und Ziele ihres politischen und gesetzgeberischen Vorgehens allen
Reichs- und Staatsangehörigen unmittelbar kundzugeben". Das „Reichsblatt"
soll auch ein Wochenblatt sein, das unentgeltlich durch die Post jedem Haushalt
zugestellt werden würde. Eine Verbindung der beiden Vorschläge von Blass und
Ehrhard scheint mir einen Zeitungstyp zu schaffen, der für unsere Schüler und
Schülerinnen als ein idealer erschiene, aber zugleich auch jedem einzelnen sowie
der Allgemeinheit — unbeschadet der Berechtigung der politischen Tagespresse
und der Lokalzeitungen — wertvolle Dienste leisten könnte.
Zwei Anregungen wären noch zu erwägen. Soll die Jugend selbst in dieser
Zeitung zu Worte kommen? Es läßt sich manches dafür anführen. R. Strecker
gibt eine Zeitschrift heraus „Junge Geister", Monatschrift für die geistige Fort-
bildung und Betätigung der reifen Jugend. Ihr Programm lautet: „Das Blatt
will vor allem die Jugend zu Worte kommen lassen. Sie soll sich über literarische,
ästhetische, religiöse und politische Fragen frei aussprechen. Es wird jeder Ansicht
zur Besprechung Raum gewährt, doch ist jeder Nummer ein kritisches Begleit-
schreiben der Schriftleitung beigegeben. Es soll die Jugend in die Probleme der
Zeit eingeführt, in Gebrauch von Feder und Presse ein wenig geübt werden und
zugleich Gelegenheit erhalten, mit weiteren Kreisen in geistig befruchtende Be-
rührung zu kommen." Für die von uns vorgeschlagene Zeitung und den emp-
fohlenen Zeitungsunterricht scheint mir der an sich beachtenswerte Gedanke
Streckers unfruchtbar, da seine Verwirklichung die Höhenlage und damit den
Wert des neuen Zeitungstyps herabdrücken und somit seinen idealen Zweck beein-
trächtigen würde.
520 A. Tilmann,
Ähnlich verhält es sich mit den Gedanken, die seit langem Berthold Otto
in seinem „Hauslehrer** mit großem Geschick verwirklicht hat. Es ist natürlich
ausgeschlossen, im Rahmen unseres Aufsatzes auf das Problem der Altersmundart
einzugehen. Wir können seine Vorschläge in unserm Zusammenhange darum nicht
zu den unsrigen machen, weil sich Otto an K i n d e r wendet und wir die r e i f e r e
Jugend zum Verständnis und zum kritischen Lesen der für Erwachsene
bestimmten Tageszeitungen geführt wissen wollen. Hervorgehoben aber soll werden,
daß das schon oft angegriffene Zeitungsdeutsch fast durchweg tief unter der Klar-
heit, Schlichtheit und Gegenständlichkeit des Hauslehrerstils steht. So könnten z. B.
Ottos Aufsätze über den Marokkovertrag und die Marokkodebatte im Deutschen
Reichstage (No. 46 und 47 des 11. Jahrgangs) unserer heutigen Presse und der hier
vorgeschlagenen Zeitung zum Vorbild dienen.
Das Hauptübel unserer jetzigen Verhältnisse ist das, daß die meisten Schüler
und Schülerinnen nach dem Abgange von der höheren Schule einer rein partei-
mäßigen Belehrung durch die Tagespresse verfallen, d. h. häufig einer Irreführung,
ja Verblendung — wenn sie nicht durch einen Zeitungsunterricht darüber belehrt
werden, wie man eine Zeitung zu lesen hat. Es ist möglich, daß viele sich scheuen,
an diese Sache heranzugehen, da sie die „Politik in der Schule*' fürchten. Doch
scheint mir für einen mäßigen und vorsichtigen Zeitungsunterricht in übertragenem
Sinne das zu gelten, was Berthold Otto von seiner Wochenschrift gesagt hat:
„Der Hauslehrer hat, lange ehe die staatsbürgerliche Erziehung zum gern geführten
Schlagwort wurde, Politik und Volkswirtschaftslehre den Kindern verständlich
gemacht. Gerade dabei hat sich noch eine besondere Wirkung der Kindersprache
gezeigt: es ist unmöglich für sie, mit den gewohnten Phrasen auszukommen, und
es zeigt sich bei der tieferen Betrachtung, zu der eben die Umarbeitung in Kinder-
sprache nötigt, daß keine Partei so grundschlecht ist, wie sie von ihren Gegen-
parteien gemacht wird. So wird durch die Hauslehrerartikel das Kind nicht etwa
in den Parteihader hineingezogen, sondern vielmehr der Parteihader selbst, der
sich vor den unbefangenen Augen des Kindes rechtfertigen soll, von dem gereinigt,
was ihm eigentlich von der Menschenwürde etwas abseits führt. Und das wäre doch
schließlich das beste Stück einer staatsbürgerlichen Erziehung."
Geestemünde. Hermann Strunk.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußisclien
Universitäten.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten im
Sommer-Semester 1912. Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studie-
rende, die nicht auf Grund Reifezeugnisses einer Vollanstalt immatrikuliert
waren, unberücksichtigt. Von den nachstehenden Zusammenstellungen umfaßt
die erste alle im Sommer-Semester 1912 an den preußischen Universitäten im-
matrikulierten Studierenden, die zweite nur diejenigen, welche zur Zeit der Er-
hebung im ersten Semester standen.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten. 521
I. Im Sommer-Semester 1910 waren insgesamt immatrikuliert:
a) in der Evangelixh-Theologischen Fakultät 1678 Studierende,
davon auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1669
,, „ „ ,, Realgymnasiums . . 9
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 1009 Studierende,
alle auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
c) in der Juristischen Fakultät 5764 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 4452
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 932
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 380
d) in der Medizinischen Fakultät 4852 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 3613
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 876
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 363
e) in der Philosophischen Fakultät 12 028 Studierende, davon immatri-
kuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 7319
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 2682
„ „ „ einer Oberrealschule . . , 2027
Hiervon studierten:
1. Philosophie 311 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 195
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 80
„ „ „ einer Oberrealschule ... 36
2. Klassische Philologie und Deutsch 3534 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 3099
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 312
„ „ „ einer Oberrealschule ... 123
3. Neuere Philologie 2538 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 998
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 893
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 647
4. Geschichte 934 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 724
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 161
„ „ „ einer Oberrealschule ... 49
522 A. Tilmann,
5. Mathematik und Naturwissenschaften 3710 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1728
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 989
„ „ „ einer Oberrealschule ... 993
6. Sonstige Studienfächer 1001 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 575
„ ,, „ „ Realgymnasiums . . 247
„ „ „ einer Oberrealschule ... 179
II. Von den unter I. aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 349 Studierende, im-
matrikuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 279 Studierende, immatri-
kuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums.
c) in der Juristischen Fakultät 710 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 498
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 134
„ „ „ einer Oberrealschule ... 78
d) in der Medizinischen Fakultät 787 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 528
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 183
„ „ „ einer Oberrealschule ... 76
e) in der Philosophischen Fakultät 1 380 Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 706
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 405
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 269
Hiervon studierten:
1. Philosophie 45 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 16
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 23
„ „ „ einer Oberrealschule ... 6
2. Klassische Philologie und Deutsch 329 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 270
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 44
„ „ „ einer Oberrealschule ... 15
3. Neuere Philologie 304 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 103
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 122
einer Oberrealschule ... 79
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten. 523
4. Geschichte 91 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 59
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 25
„ „ „ einer Oberrealschule ... 7
5. Mathematik und Naturwissenschaften 451 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 176
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 150
„ „ „ einer Oberrealschule ... 125
6. Sonstige Studienfächer 160 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 82
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 41
„ „ „ einer Oberrealschule ... 37
Gr.-Lichterfelde. A. T i I m a n n.
II. Programmabhandlungen 1911.
Erdkunde.
1 . BruhnSy Dr. B., Abschnitte aus dem Lehrgang der Geo-
graphie in den Oberklassen des Zittauer Realgymna-
siums. Realgymnasium Zittau. 1911. Progr.-No. 789. 40 S. 4«.
2. Nold, Peter, Vorschläge zur Hebung des erdkundlichen
Unterrichts auf der Oberstufe höherer Lehranstalten.
Realschule Kolmar in Posen. 1911. Progr.-No. 250. 12 S. 4°.
3. Stephan, E., Die Notwendigkeit einer Reform des erd-
kundlichen Unterrichts und Vorschläge für ihre Aus-
führung in Hamburg. Stiftungsschule von 1815 zu Hamburg. 1911.
Progr.-No. 1059. 28 S. 8«.
4. Mischer, Dr. Rudolf, Der vorgeschichtliche Mensch im
mittleren Europa. Realschule Seehausen i. A. 1911. Progr.-No. 378.
14 S. 4«.
5. Springfeldt, Das Gradnetz in den Schulatlanten. Gym-
nasium Lötzen. 1911. Progr.-No. 11. 15 S. 4» mit 4 Tafeln.
6. Kienitz, Dr. Otto, Wertheim und seine Umgebung, I. Gym-
nasium Wertheim. 1911. Progr.-No. 868. 30 S. 4\
7. Risse, Willy, Die Verlandung des Grunewaldsees. Real-
gymnasium Schmargendorf. 1911. Progr.-No. 144. 40 S. 8» mit 4 Tafeln.
8. Kurtz, Dr. Edmund, Geologische Ausflüge in die Um-
gebung von Düren. Gymnasium Düren. 1911. Progr.-No. 608. 30 S. 8''
mit 1 Karte.
9. Wilz, Alois, Über Oberflächengestaltung im Spessart.
Städtische Handelslehranstalt Frankfurt a. M. 1911. Progr.-No. 572. 47 S. 8»
mit 1 Karte und 6 Figuren.
10. Meisten, Dr. Robert, Woher stammt dieWeizackertracht?
Gymnasium Pyritz. 1911. Progr.-No. 208. 19 S. 4° mit 1 Karte.
11. Bernatzky, Dr. Viktor, Das Dorf Sucholohna bei Groß
Strehlitz und die Flurnamen seiner Gemarkung. Gymnasium
Groß Strehlitz. 1911. Progr.-No. 297. 18 S. 4« mit 2 Tafeln.
12. Burhenne, Dr. H., Eine geologische Exkursion in die
Schweiz. Oberrealschule Marburg a. L. 1911. Progr.-No. 579. 22 S. 8°.
V. steinecke, Erdkunde. 525
13. Bertheau, W., Wanderungen und Stimmungen. Historisch-
geographische Skizzen aus der Südostecke Englands. Realschule St. Pauli Ham-
burg. 1911. Progr.-No. 1053. 28 S. 8°.
14. Suck, Dr. Walter, Schottland und seine Bewohner. Real-
schule Oschersleben. 1911. Progr.-No. 375. 59 S. 8« mit 1 Karte.
15. Becker, Adolf, Die geologische Beziehung unserer
Heimat zum Norden, mit besonderer Berücksichtigung
Staßfurts. Realprogymnasium Staßfurt. 1911. Progr.-No. 362. 26 S. 4°
mit 12 Bildern.
16. Braun, Fritz, Zur Siedelungskunde der Bosporusufer.
Gymnasium Graudenz. 1910. Progr.-No. 39. 13 S. 4'^.
17. Malguth, Dr., Skizzen und Studien aus Deutsch-Ost-
afrika. Werner Siemens-Realgymnasium Schöneberg. 1911. Progr.-No. 146.
24 S. 8« mit 8 Bildern.
18. Schneck, Dr. Bernhard, Archäologisch eReiseerinnerungen
Akragas-Girgenti. Johannes-Gymnasium Breslau. 1911. Progr.-No. 260.
31 S. 4» mit 1 Karte.
19. Blondeau, Arnold, Delos und Delphi. Reiseerinnerungen. Kloster
Unser Lieben Frauen Magdeburg. 1911. Progr.-No. 336. 29 S. 4".
Die Methodik des erdkundlichen Unterrichts ist trotz vieler Vorarbeiten noch
nicht vollständig geklärt. Zudem weist der Lehrplan unseres Faches bedenkliche
Lücken auf. In wenigen Disziplinen bietet auch die Umsetzung der Theorie in die
Praxis so große Schwierigkeiten, in wenigen ist der Gegenstand und die Betrachtungs-
weise so raschen und tiefgreifenden Veränderungen unterworfen wie in der Erd-
kunde. Der Streit um den Inhalt und die Methode der Schulgeographie erfaßt um
so weitere Kreise, je länger die Erfüllung des unabweisbaren Verlangens, den Unter-
richt an allen Schularten bis zur obersten Klasse fortzuführei}, auf sich warten
läßt, und findet seinen Widerhall mehr als bisher auch in den wissenschaftlichen
Beilagen unserer Schulprogramme.
Über das gewöhnliche Niveau ragt die für die Oberklassen bestimmte Stoff-
sammlung von B r u h n s (1). Was der durch seine methodischen Aufsätze bekannte
Verfasser bietet, ist der Ansatz zu einem Lehrbuche der Allgemeinen Erdkunde,
das er uns hoffentlich später noch bescheren wird. Er erstrebt eine mehr moderne
Behandlung des erdkundlichen Lehrstoffes und verwendet die neueste wissen-
schaftliche Literatur sowie die Forschungs- und Reiseberichte zu einer sehr an-
ziehenden Ausarbeitung des Lehrplanes für Obersekunda und Prima. Die physische
Erdkunde, die Völkerkunde und eine ganz eigenartige Wirtschaftskunde sind in
einer Weise behandelt, die es deutlich zeigt, wie wichtig der geographische Unterricht
für die Schule und ganz besonders für das Leben gestaltet werden kann. Den
zunächst noch ausgelassenen Teilen über Wind und Meer, über das Bodenrelief,
die langsamen Niveauveränderungen und die Kartographie sehen wir gern entgegen.
Die Erdkunde zu einem für das ganze Leben bedeutsamen Unterrichtsfache
zu erheben, ist auch N o 1 d (2) bestrebt. Er erörtert und erweitert die Forderungen
der Schulgeographen und gibt beachtenswerte Winke für den Unterricht und seine
Hilfsmittel. Seine im allgemeinen mit den Wünschen des Lübecker Geographen-
526 V. Steinecke,
tages übereinstimmenden Leitsätze klingen ähnlich wie Hauptmanns „nationale
Erdkunde" aus: „Umgestaltung des geographischen Stoffes durch kräftige Hervor-
hebung der Weltwirtschaft Deutschlands, Erteilung des Unterrichts im Sinne einer
nationalen Konzentration!" Wir geben ihm durchaus recht, wenn er mehr
Lebenspraxis und weniger tote Namen und Zahlen verlangt, und erhoffen, daß
den Lehrern der Erdkunde in Bälde Gelegenheit gegeben werde, sich in dieser Rich-
tung segensreich zu betätigen.
S t e p h a n (3) betrachtet gleichfalls den Wert des geographischen Unterrichts
für das praktische Leben und kommt zu dem Ergebnis: „In der Verwendbarkeit
für eine gesunde Nationalerziehung steht er allen Unterrichtsfächern voran und
verdient daher die fördernde Fürsorge der deutschen Verwaltungen des Unterrichts
und des Heeres." Er verlangt, daß der Unterricht in der Länderkunde von der
Landeskunde ausgehe, und bietet einige Andeutungen, wie er mit seinen Schülern
aus der Heimatkunde Hamburgs wichtige geographische, geschichtliche und wirt-
schaftliche Tatsachen erarbeitet hat. Seine Aufsatzthemen werden manchem Fach-
genossen eine willkommene Anregung bieten.
Die übrigen Beilagen haben einzelne Teile der Erdkunde zum Gegenstande.
M i s c h e r (4) versteht es, bei einem Vortrage über den vorgeschichtlichen Menschen
die heimatlichen Verhältnisse heranzuziehen, und verwendet mit Geschick die
klassische Literatur ebenso wie die neueren Forschungen zu einem lebensvollen
Bilde, das den Menschen von seinem ersten Auftreten an bis in die Morgendämme-
rung der geschichtlichen Zeit nach seinem Aussehen, Leben und Wirken darstellt.
Springfeldt(5) bespricht die verschiedenen Kartenprojektionen zunächst
vom mathematischen Standpunkte aus. Danach kommt er als Geograph zu der
Forderung, daß die Schulkarte nicht der Kartometrie und Kartenkritik, sondern
in erster Linie der Anschaulichkeit dienen soll, und daß deshalb auf manche Art
der Projektion verzichtet werden muß, die im Handatlas ganz angebracht erscheint.
Berechnungen und Zeichnungen machen die lesenswerte Abhandlung noch wert-
voller.
Heimatkundliche bzw. landeskundliche Arbeiten sind auch in diesem Jahre
erfreulicherweise recht zahlreich und werden den Eltern und Schülern gewiß mehr
Freude machen als manche in gelehrtem Küraß daherprangende „wissenschaft-
liche" Beilage anderer Lehrfächer.
K i e n i t z (6) hat die Absicht, nach und nach die natürlichen, wirtschaftlichen
und historischen Verhältnisse des altertümlichen Städtchens darzustellen, das an
der Taubermündung so heimlich liegt und den sinnigen Reisenden anlockt. Er
schildert auf Grund wissenschaftlicher Forschung mit liebevoller Hingabe die
Lage und Umgebung der Stadt Wertheim, die natürliche Abgrenzung des staatlich
recht zersplissenen Gebietes, den geologischen Bau und die technische Verwend-
barkeit des Bodens, die hydrographischen Verhältnisse, besonders die gefährlichen
Hochwasser, und schließlich das Klima. Der Verfasser wird sich Dank erwerben,
wenn er die heimatkundliche Monographie mit derselben Liebe und Gründlichkeit
vollendet.
Die Verlandung des Grunewaldsees durch langsames Vordringen des Pflanzen-
wuchses und allmähliches Sinken des Wasserspiegels hat K i s s e (7) veranlaßt,
Erdkunde. 527
den Gründen für die Veränderung des Landschaftsbildes nachzugehen. Er unter-
sucht die Moorbildung und den Einfluß der Winde, führt Lotungen und Messungen
aus und zeichnet Karten, die die Verlandungsfortschritte festlegen. Das verdienst-
liche Werk gewinnt dadurch an Bedeutung und erheischt unsere Anerkennung
um so mehr, weil Kisse seine Schüler zu den Arbeiten heranzieht und ihnen da-
durch Liebe zur Arbeit und Freude am Forschen einflößt.
Der unermüdliche K u r t z (8), dessen geologische Studien im Rurgebiet
wir schon öfters erwähnt haben, hat jetzt seine Ergebnisse zu einem geologischen
Führer zusammengestellt, der in erster Linie den Schülern bei den Ausflügen zur
Einführung in die Kunde des heimischen Bodens dienen soll. In einem Anhange
bespricht er die wirtschaftlichen Verhältnisse als eine Folge der geologischen Grund-
lagen.
Wilz (9) schildert die geologische Entstehung des waldbedeckten Spessart-
gebirges auf Grund der Quellen und eigener Forschung sehr eingehend und widmet
besonders der Wirkung des Wassers seine Aufmerksamkeit. Die treffliche Arbeit
wird durch eine Reihe hübscher Skizzen und gelungener Profile illustriert, aus
denen die vorzeitlichen Bodenbewegungen und die neuzeitliche Abdeckung sehr
deutlich werden, so daß das Schriftchen als eine notwendige wissenschaftliche
Ergänzung zu jedem Spessartführer gelten kann.
Einen sehr hübschen Beitrag zur heimatlichen Volkskunde liefert H o 1 s t e n
(10) in seiner historisch-kritischen Untersuchung der Volkstracht des Weizackers
bei Pyritz. Er folgt den alten Beziehungen, die zwischen Pommern und der Alt-
mark bestehen, und findet, daß die Colbatzer Mönche im 13. Jahrhundert Kolonisten
aus der Altmark geholt haben und daß ebendaher auch die eigentümliche Pyritzer
Tracht stammt.
Ebenfalls zur Vertiefung des heimatkundlichen Unterrichts und zur Belebung
des Interesses an der Erforschung der heimatlichen Scholle .unternimmt B e r -
natzky (11) seine Untersuchung der Flurnamen. Es gelingt ihm, eine reiche
Fundgrube zu eröffnen und aus den Namen vielfältige Rückschlüsse auf die frühere
oro- und hydrographische Beschaffenheit des Landes, auf den ehemaligen Tier-
und Pflanzenbestand, auf die Ansiedler der Vorzeit, auf die früheren Besiedlungs-
formen und auf die alten Volksanschauungen zu ermöglichen.
Eine größere Zahl von Kollegen macht ihre Ferien- und Studienreisen in löb-
licher Art für die Schule fruchtbar.
Burhenne (12) spricht am Schlüsse seiner trefflichen Reiseskizze, die den
Deckenbau der Schweizer Alpen zum Gegenstande hat, die ideale Richtung seines
schülerfreundlichen Sinnes dahin aus: „Alles dies hat in mir den lebhaften Wunsch
hervorgerufen, das Schöne und Interessante, was ich auch diesmal in den Alpen
gesehen habe, meinen Schülern nicht nur im Unterricht wieder darzubieten, sondern
womöglich an Ort und Stelle zu zeigen. Eine einzige derartige Wanderung dürfte
lehrreicher für unsere für die Natur so empfängliche Jugend sein, als langjähriger
Unterricht in Erdkunde und Botanik." Nun, allenthalben findet ja der Gedanke
der Schülerreisen günstige Aufnahme bei den Eltern und den Behörden, — da
wird es dem Verfasser und anderen opferwilligen Lehrern hoffentlich bald ver-
gönnt sein, mit den Schülern solche Wandervogelfahrten zu unternehmen.
528 V. steinecke,
Einen historischen Führer für solche, die zum ersten Maie Englands „gastliche
und trutzige" Küste betreten, um den Südosten und die Hauptstadt des Landes
zu besuchen, schreibt Bertheau (13). Die alten Zeiten mit ihren großen Be-
gebenheiten und großen Männern läßt er vor unserem Auge erstehen; die Städte
und Straßen beleben sich mit geschichtlichen Gestalten, und aus den Nebelschwaden
tauchen Geister auf und flüstern und raunen dem Fremden wunderliche Dinge
ins Ohr, legen sich wie ein Alp auf seine Brust und lassen sein Herz im Gedenken
an die furchtbaren Ereignisse früherer Tage erbeben.
Skizzen und Studien nennt S u c k (14) seine Reiseerinnerungen an Schottland.
Mit offenem Blick und warmem Herzen hat er das nordische Land und sein tapferes
Volk studiert, und mit ehrlicher Begeisterung schildert er die „menschenfreund-
liche Denkungsweise, den unverfälschten Gemeinschaftssinn und die ehrliche
Gastlichkeit" des keltischen Stammes. Daneben aber bietet er eine eigen-
artige Darstellung der wirtschaftlichen und geistigen Kultur des Landes, auch
des Schulwesens, und stellt manche irrige Vorstellung richtig, so daß man das
in jeder Beziehung sehr anregende Schriftchen sehr wohl zur Vorbereitung auf
den Unterricht oder auf eine schottische Reise verwenden kann.
Die Ergebnisse einer Nordlandfahrt benutzt Becker (15) dazu, die in seiner
Magdeburger Heimat erkennbaren Reste nordischer Einwirkungen in der Tertiär-
und Diluvialzeit allgemein verständlich zu machen. Er will das Interesse für geo-
logische Fragen anregen und seinen Schülern ebenso wie den Erwachsenen einen
Überblick über die Eiszeit geben und führt diese Aufgabe mit großem Fleiß und
Geschick durch.
Ein Nachläufer von 1910, hoffentlich aber ein Vorläufer zu einem größeren
Werke über die Siedelungskunde der Bosporusufer ist die Arbeit von
Braun (16). Das ist eine gedankenreiche, auf guter Beobachtung beruhende
Monographie, die vom geschichtlichen und wirtschaftlichen Standpunkte aus,
unter gebührender Rücksicht auf die Volksart der einzelnen Stämme, die
Siedelungsfrage an dem wichtigen Durchdringungspunkte Europas und Asiens
zu lösen sucht.
Den freundlichen Beziehungen von Schule und Haus hat M a 1 g u t h (17)
seine frischen Wanderskizzen aus Deutsch-Ostafrika gewidmet. Er nahm an der
akademischen Studienfahrt 1910 teil, hat gut beobachtet und entwirft uns mit
der Feder zwei Bilder der Steppe und des Urwaldes, an deren Deutlichkeit und
Farbenpracht die mit der Kamera festgehaltenen Bilder bei weitem nicht heran-
reichen. Die in Aussicht gestellte Schilderung der g a n z e n Reise wird sich sicher
unserer besseren Kolonialliteratur würdig anreihen.
Seh neck (18) bezeichnet bescheidenerweise seine Reiseerinnerungen nur
als einen schwachen Abglanz der geschauten ewigen Schönheit des Griechentums.
Er hat mit klarem Blicke das Land und Volk beobachtet, und seine geschichtlichen
und archäologischen Bemerkungen zeugen von gründlichem Studium sowohl der
klassischen, als auch der mittelalterlichen und späteren Zeit. Der Lage der Akropolis
von Akragas ist ein besonderer Abschnitt gewidmet.
Erdkunde. 529
Eine begeisterte Schilderung bieten auch Blondeaus (19) Erinnerungen
an Delos und Delphi. Voir, c'est avoir ist das Motto des wanderfrohen Kollegen.
Und er hat nicht nur mit dem leiblichen Auge gesehen, sondern mit dem Geiste sieht
er die alten Zeiten wieder aufleben, so daß blühendes Leben wieder die trostlose
Öde umgibt; unvergängliche Schätze trägt er im Herzen heim und schildert beredt
seinen Schülern die Herrlichkeit griechischer Landschaft sowie die Größe grie-
chischer Geschichte und Kunst.
Alles in allem zeigen die Arbeiten der Geographen wieder tüchtiges Streben,
Liebe zum Unterricht und zu den Schülern und eine ehrliche Begeisterung für
das Aschenbrödel unter den Lehrfächern.
Essen-Ruhr. Victor Steinecke.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 34
III. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Zur Chemie.
Im 5. Band dieser Monatschrift wurde Wilhelm Ostwalds SchulederChemie,
Braunschweig 1910, F. Vieweg & Sohn, 441 S., gr. 8^, 5 M., eingehend besprochen.
Das Buch ist nunmehr in nahezu unveränderter Form in zweiter Auflage erschienen
und ist, wie der Verfasser in der Vorrede bemerkt, von seinen Büchern dasjenige,
welches die schnellste Verbreitung gefunden hat. Auf S. 317, Z. 14 v. o. ist das
Wort „nicht" ausgelassen; es muß heißen „und nicht sehr flüchtigen Schwefel-
säure". Ferner steht auf S. 321, Z. 12 v. u. NagHPO statt Na2HP04, und auf S. 352
fehlt die Angabe, daß der zur Porzellanbereitung dienende Kaolin vor dem Formen
mit Feldspat vermischt wird, welcher dadurch, daß er beim Scharfbrennen schmilzt,
die Porosität des Scherbens aufhebt.
Während das soeben erwähnte Buch für weitere Kreise bestimmt ist, soll die
Einführung in die Chemie von Wilhelm Ostwaid, Stuttgart 1910, Francksche
Verlagsbuchhandlung, 239 S. m. Abb., gr. S^\ 3 M., als Lehrbuch für den chemischen
Unterricht an höheren Lehranstalten dienen. Wie der Verfasser in der Vorrede be-
merkt, waren für ihn bei der Abfassung beider Bücher im wesentlichen dieselben
Grundsätze maßgebend, unter ihnen in erster Linie das Bestreben, den Unterricht
in der Chemie so zu gestalten, daß die Schüler, anstatt sie durch eine Fülle von
Einzeltatsachen zu verwirren, durch ihn zu eigener Denktätigkeit angeregt und
erzogen werden, und er hat daher bei der Auswahl des Stoffes „eine energische
Beschränkung durchgeführt". Demgemäß wird eine Reihe von Elementen, von denen
nur die Edelgase, ferner das Bor, Selen, Tellur, Arsen, Antimon, Wismut, Kadmium,
Nickel, Kobalt und Chrom genannt seien, nicht einmal dem Namen nach er-
wähnt, und bei der Beschreibung der Verbindungen, von denen (soweit die be-
treffenden Elemente berücksichtigt würden) keine wichtigere fehlt, beschränkt
sich der Verfasser zumeist auf die Angabe nur weniger, besonders charakteristischer
Eigenschaften. Auch die Technologie, namentlich die Gewinnung der Metalle,
wird nur kurz abgehandelt. Immerhin ist das mitgeteilte Tatsachenmaterial noch
groß genug und kann da, wo es der Fachlehrer für angebracht erachtet, leicht er-
gänzt werden. Dies wird um so leichter möglich sein, als die eingehende Be-
sprechung einer Anzahl von Abschnitten des Buches im chemischen Unterricht
nicht nötig ist, weil ihr Inhalt bereits Gegenstand des an den höheren Lehranstalten
H. Böttger, Zur Chemie. 531
früher beginnenden Physikunterrichtes gewesen ist. Hierher gehören z. B. die
Paragraphen, welche über die Formarten und ihre Umwandlung, das Gewicht,
die Dichte, die Temperatur, die Schmelz- und Verdampfungswärme handeln. Dem
Fachlehrer für Chemie ist es im Hinblick auf die geringe Stundenzahl, mit
welcher diese Disziplin zurzeit noch bedacht ist, gar nicht möglich, Teile des physi-
kalischen Unterrichtsstoffes in der Ausdehnung zu berücksichtigen, wie dies nach
dem Ostwaldschen Buche geschehen soll, und es ist bei einigermaßen gut ge-
leitetem physikalischen Unterricht auch nicht nötig.
Eigenartig ist die Reihenfolge, in der die einzelnen Elemente besprochen
werden. An die Betrachtung des Sauerstoffs, Wasserstoffs und des Wassers schließen
sich die Halogene und ihre Wasserstoffverbindungen, an diese aber sogleich das
Natrium, Kalium und Magnesium an, so daß neben jenen wichtigen säurebildenden
Elementen nicht nur die Basen selbst, sondern auch die sie bildenden Metalle früh-
zeitig den Gegenstand des Unterrichtes bilden. Ebenso werden an den Schwefel
die Erdalkalimetalle angeschlossen; dann folgt der Stickstoff, an dessen Sauer-
stoffsäuren die ähnlich zusammengesetzten entsprechenden Verbindungen der
Halogene angegliedert sind, und weiterhin der Kohlenstoff, bei dessen Wasserstoff-
verbindungen ein Ausblick auf die organischen Verbindungen gegeben wird. Der
Betrachtung der Schwermetalle (Zink, Eisen, Mangan; Blei, Kupfer, Quecksilber,
Silber; Zinn, Gold, Platin) geht ein als „die Erdrinde" bezeichnetes Kapitel voraus,
in dem außer dem Aluminium und Silicium eigentümlicherweise auch der Phosphor
behandelt wird, wiewohl unter seinen Verbindungen kaum eine als gesteinsbildend
bezeichnet werden kann. Dieses Verfahren des Verfassers, bei dem die Metalle
nicht erst, wie es bisher üblich war, nach Absolvierung der Nichtmetalle, sondern
in bunter Reihe mit ihnen betrachtet werden, ist beachtenswert und verdient im
Unterricht praktisch erprobt zu werden. Daß sich auch sonst vieles Originelle
im Inhalt und in der Form der Ausführungen sowie in den mitgeteilten Versuchs-
anordnungen finden, braucht kaum besonders hervorgehoben zu werden. Beim
Durchlesen des Buches sind dem Referenten folgende Versehen bei der Druck-
legung aufgefallen: S. 69, Z. 18 v. u.: einfache und zusammengesetzte Verbindungen
statt Stoffe. S. 95, Z. 2 v. o.: 16« statt 6«. S. 125, Z. 6 v. u.: Mg (OHg) statt
Mg (0H)2. S. 133, Z. 5 V. u. wird das Wort Anion gebraucht, obwohl der Begriff
erst später erläutert wird. S. 134: Na2S04=H20 statt Na2S04H- HgO. S. 141:
Der Unterschied zwischen Kiesen und Glänzen besteht in der Färbung dieser
Mineralien, metallisch glänzend sind beide. S. 151, Z. 24 v. u.: angetrieben statt
ausgetrieben. § 209 ist eine Wiederholung eines Teils von § 106. Die Schreibweise
Karnallit (S. 124) ist, weil der Name des Minerals von einem Personennamen
(v. Carnall) abgeleitet wurde, unstatthaft. S. 175, Z. 13 v. u.: C03 statt CO3. Das
Wort Schwefelkies (S. 210) wird zweckmäßig durch Eisenkies ersetzt. Von dem
S. 215 neben dem Aragonit erwähnten Witherit ist sonst nirgends die Rede. S. 216,
Z. 7 V. 0.: Pb(C2H302) statt Pb(C2H302)2. Treibherde sind noch vielfach, z. B
im Harz im Betriebe. S. 222, Z. 11 u. 13 v. 0. HN3 statt NH3. Bei der auf derselben
Seite folgenden Schilderung der Kupfergewinnung aus dem Kupferkies hätte das
Verfahren zur Entfernung des Eisens wenigstens angedeutet werden müssen.
Ebenso ist die S. 128 sich findende Angabe, daß (im monosymmetrischen System)
34*
532 H. Böttger,
nur eine Drehung von ISO'' um eine Achse, die den schiefen Endflächen parallel
ist, eine Deckbewegung ist, ungenau, da es zu einer Ebene unendlich viele parallele
Gerade gibt. Rührt nicht die Bezeichnung Erdmetalle und alkalische Erdmetalle
von der erdigen (d. h. leicht zerreiblichen) Beschaffenheit des Aluminium- und des
Kalziumoxyds (S. 71), und die Bezeichnung Kohlensäure noch von der Berzelius-
schen Auffassung der Säuren, Basen und Salze (S. 166) her?
Die PrinzipienderChemie vo n Wilhelm Ost wald, Leipzigl907, Akademische
Verlagsgesellschaft m. b. H., 540 S. m. Fig., 8^, 8 M., enthalten in breiterer und wissen-
schaftlich vertiefter Ausführung Betrachtungen, die sich teilweise bereits in mehr
populärer Form in den beiden zuvor erwähnten Büchern des Verfassers finden.
Das Werk ist nicht für die Hand des Schülers, sondern für die des Studierenden und
des Lehrers bestimmt. Dem ersteren soll es, wenn er durch die Bekanntschaft
mit einer nicht zu kleinen Anzahl von wichtigen und charakteristischen Stoffen eine
Grundlage für sein chemisches Wissen gewonnen hat, „Gelegenheit bieten, die
großen Zusammenhänge zu überblicken, durch die alle Einzelheiten zu einer Einheit
verbunden sind; dem letzteren soll es eine Anleitung geben, wie er diese Allgemein-
heiten zu fassen und in seinen Unterricht in Experimentalchemie zu verweben hat**.
Die einzelnen Kapitel des Buches handeln von dem Unterschied zwischen Körpern
und Stoffen, ihren willkürlichen und spezifischen Eigenschaften; von der Charakteri-
sierung der drei Formarten; von dem Unterschied zwischen Gemengen, Lösungen
und reinen Stoffen; von der Umwandlung der Formarten in einander und den sich da-
bei ergebenden Gleichgewichten; von den Lösungen; von dem Unterschied zwischen
Elementen und Verbindungen; von denVerbindungs- und Molargewichten und den
Eigenschaften der verdünnten Lösungen ; von der Reaktionsgeschwindigkeit und dem
Massenwirkungsgesetz; von der Isomerie; endlich von den Ionen. Wie es dem Ver-
fasser gelingt, die oben angegebenen Ziele zu erreichen und ein Lehrbuch der Chemie
zu schaffen, welches ohne Bezugnahme auf die Eigenschaften individueller Stoffe
ein rationelles wissenschaftliches System der Chemie darstellt, kann im einzelnen
und innerhalb des hier zur Verfügung stehenden Raumes nicht näher geschildert
werden. Das Buch erfordert ein gründliches Studium und zu seinem Verständnis
einen in den einzelnen Teilen allerdings verschieden großen Aufwand von geistiger
Anstrengung. Dieser ist nach der Ansicht des Referenten am größten im 6. Kapitel ;
welches durch Hinweise auf besondere Fälle, in denen die dort erörterten all-
gemeinen Gesetzmäßigkeiten zur Anwendung gelangen, wohl leichter verständlich
sein würde. Wer die Mühe nicht scheut, sich den Inhalt des Buches anzueignen —
und im Interesse des chemischen Unterrichts wäre es zu wünschen, daß sich recht
viele dieser Mühe unterzögen — wird reichen Gewinn davontragen.
Die Einführung in die Chemie von Rudolf Ochs, Berlin 1911, J. Springer,
502 S., gr.8^ geb.6 M., ist nicht, wie man vielleicht nach demTitel vermuten könnte, ein
Hilfsmittel für den propädeutischen Schulunterricht in der Chemie, vielmehr ist das
Buch für solche Leser bestimmt, die, ohne besondereVorkenntnisse zu besitzen, einen
tieferen Einblick in die Welt des chemischen Geschehens gewinnen möchten. Der
Verfasser wählt für seine Ausführungen die Form des Vortrags (der Vorrede zu-
folge sind die Vorträge in einem engeren Kreis von Freunden und Bekannten ge-
halten worden), und da seine Sprache gewandt und sein Stil flüssig ist, so folgt man
Zur Chemie. 533
ihm zunächst gern bei seinen Erörterungen, um leider bald zu erkennen, daß die
Korrektheit des Ausdrucks und vor allem die sachliche Richtigkeit an nicht wenigen
Stellen recht viel zu wünschen übrig läßt. Wenn er z. B. S. 31 sagt: ,,Wir können
demnach den Stickstoff als ein giftiges Gas bezeichnen, insofern nämlich, als
lebende Wesen in ihm nach kurzer Zeit zugrunde gehen, müssen aber dabei immer
bedenken, daß nicht dem Stickstoff an sich giftige Eigenschaften zukommen, sondern
daß er nur giftig wirkt, weil er keinen Sauerstoff enthält. Genau ebenso würde
ein luftleerer Raum wirken, ohne daß wir deshalb sagen könnten, daß er giftig sei,"
so wird der Leser mit Recht fragen: Ist denn nun eigentlich der Stickstoff giftig,
oder ist er es nicht? Ebenso wird auf S. 481 nach den Worten: ,,Als Mengen (bei
thermochemischen Reaktionsgleichungen) werden stets Grammoleküle ange-
nommen,** als Beispiel die Gleichung: Hg + 0 = HgO gasförmig -f 58 750 cal.
angeführt, in welcher von einem Gramm a t o m Sauerstoff die Rede ist. Neben
ihm wird allerdings das Zeichen für das Gramm o 1 e k ü 1 Wasserstoff gebraucht;
dann müßten jedoch nach der früheren richtigen Behauptung des Verfassers zwei
Moleküle Wasserstoff an der Entstehung des Wassers beteiligt sein. Nebenbei
bemerkt, ist es in der Thermochemie durchaus nicht üblich, die Zahlenangaben
auf molekulare Mengen der an den Vorgängen beteiligten Elemente zu beziehen;
ein Blick in J. Thomsens Thermochemische Untersuchungen, Berthelots Thermo-
chemie oder ein Tabellenwerk (Chemiker-Kalender, Landolt-Börnsteins Tabellen)
würde den Verfasser davon überzeugt haben. Überhaupt hat über der ganzen
oben angeführten thermochemischen Betrachtung ein Unstern gewaltet. Denn
nachdem die entsprechende Gleichung für die 68 400 cal. betragende Bildungs-
wärme des flüssigen Wassers mitgeteilt ist, fährt der Verfasser S. 482 fort: „Die
Wärmeentwicklung ist also jetzt um 9650 cal. größer. Diese 9650 cal. stecken
als latente Wärme in den 18 g flüssigen (!) Wassers und (das Nachfolgende ist im
Original nicht gesperrt) werden beim Gefrieren wie>derfrei; um-
gekehrtwerdensiezum Schmelzenvon 18 g Eiswiederver-
brauch t." Der Verfasser verwechselt also offensichtlich die Verdampfungs-
wärme des Wassers mit seiner Schmelzwärme, wiewohl ihm eine einfache Über-
legung hätte sagen müssen, daß diese pro Mol. Wasser (rund) 18 x 80 cal. =
1440 cal. beträgt, also von der oben stehenden Differenz sehr verschieden ist, und
daß die Bildungswärme des f e s t e n Wassers um diesen Betrag g r ö ß e r ist als
diejenige des flüssigen, also 68 400 + 1440 cal. = 69 840 cal. beträgt, wenn man
von dem Umstand absieht, daß die Bildungsräume des flüssigen Wassers bei 18°
gemessen wurde, und daß mithin beim Abkühlen auf 0° abermals 18 x 18 cal. =
144 cal. nach außen hin abgegeben werden. Die Zuverlässigkeit des Textes versagt
überhaupt besonders da, wo es sich um die Erörterung oder die Anwendung physi-
kalischer Begriffe handelt. Nachdem S. 2 die Behauptung aufgestellt ist, daß eine
gewisse Menge Quecksilber über 1314 mal so viel wiegt wie eine gleiche Menge
Wasser, versucht der Verfasser nachzuweisen, daß der von einem Körper auf seine
Unterlage ausgeübte Druck von seiner Größe abhängig ist. Es ist nicht ersicht-
lich, was hier unter dem Begriff „Größe" gemeint ist. Das Volumen des Körpers
kann es doch nicht sein, denn eine einfache Überlegung zeigt, daß sich dann das
Gewicht eines Körpers mit seiner Temperatur ändern muß, da hierbei eine Volumen-
534 H. Böttger,
änderung stattfindet. Aus den unmittelbar darauf folgenden Worten: ,,Der zweite
Fall, nämlich daß Körper aus verschiedenem Stoff trotz gleichen Volumens (gleiche
Masse) verschiedenes Gewicht haben usw.*', ersieht man dann, daß der Verfasser
unter Größe die Masse verstanden sehen will, die er jedoch unbegreiflicherweise
mit dem Volumen verwechselt. Infolgedessen mißlingt ihm natürlich die Ableitung
der aus dem zweiten Newtonschen Bewegungsgesetz in der einfachsten Weise sich
ergebenden Gleichung p = m . g, in der p die von der Erde auf die Masse m aus-
geübte Kraft ist, um so gründlicher, als er die Größe g, d. h. die Schwerebeschleuni-
gung (981 cm sec.-2) mit jener Kraft selbst identifiziert (S. 3), wodurch die Begriffs-
verwirrung ihren Höhepunkt erreicht. Nicht ohne bedenkliches Kopfschütteln
werden die Physiker den Satz (S. 3) lesen, welcher das Endergebnis dieser Er-
örterungen bildet: „Wir müssen also zwei Gewichtseinheiten unterscheiden: die
technische und die physikalische. Die technische vernachlässigt den Einfluß der
Schwerkraft und setzt einfach Gewichtseinheit gleich Masseneinheit; um diese
handelt es sich auch in der Chemie, da wir hier nur vergleichen. In der Physik
dagegen, wo man es stets mit absoluten Größen zu tun hat, kann dieser Betrag
nicht vernachlässigt werden. Deshalb ist die physikalische Gewichtseinheit gleich
der Masseneinheit mal der Erdanziehung*'. Auch gegen die Gleichsetzung von Kraft
und Energie (S. 40: Wir wissen nur, daß die Elektrizität eine Kraft, eine Energie-
form ist; S. 1 und an anderen Stellen: Die Wärme ist eine Kraft) dürfte sich all-
seitiger Widerspruch erheben.
Nicht viel besser ist es mit dem rein chemischen Inhalt der Vorträge bestellt.
Sätze wie der S. 44 stehende: „Ein Milligrammatom Wasserstoff, also 1 Milligramm
dieses Elementes, nennt man eine Valenz", oder der S. 53 sich findende: „Wir be-
sitzen im Stickstoffdioxyd ein bequemes Mittel, starke luftverdünnte Räume herzu-
stellen" (weil nämlich Kalilauge auf die genannte Verbindung so einwirkt, daß
das Volumen der Reaktionsprodukte kleiner ist als das der angewandten Verbin-
dung) sind schlechthin unverständlich, während andere geradezu falsch sind. Es
ist indes nicht möglich, in dem Rahmen dieser ohnehin bereits über Gebühr aus-
gedehnten Besprechung weitere Belegstellen für die Richtigkeit der aufgestellten
Behauptung anzuführen.
Als einen besonderen Vorzug seines Buches hebt der Verfasser in der Vorrede
die frühzeitige Einführung des Begriffs der elektrolytischen Dissoziation hervor
(der Verfasser nennt sie unberechtigterweise kurzweg Dissoziation). Tatsächlich
wird der Begriff bereits im 5. Vortrag erörtert, allein von einer Anwendung der
Theorie merkt man in dem Buche nicht viel, und die wenigen Vorgänge, bei denen
die lonenschreibweise gebraucht wird, sind zum Teil solche, bei denen die elektro-
lytische Dissoziation, da es sich nicht um Reaktionen in wässerigen Lösungen
handelt, ganz oder doch nahezu ganz unbeteiligt ist (s. die Darstellung der Chlor-
wasserstoffsäure und sogar der Flußsäure). Andere lonengleichungen wiederum
sind unrichtig, wie z. B. die Gleichung: 2 M* + 2 H' + 2 Cl' = 2 MCI + Hj,
in der M ein einwertiges Metall bezeichnet (S. 59); denn die Gleichung lautet tat-
sächlich: 2 M -f 2 H- + 2 er = 2 M- + 2 er + H2 oder (kürzer): 2 M +
2 H* = 2 M* 4- Hg. Störend und irreführend ist auch die Inkonsequenz, mit der
in den Gleichungen bald die Zeichen für die molekularen Mengen der Elemente,
bald wieder die den Atomgewichten entsprechenden gebraucht werden.
Zur Chemie. 535
Dem theoretischen Teil folgt ein die Hälfte des Buches einnehmender praktischer,
in welchem eine ausführlichere Anleitung zur Ausführung von Demonstrations-
versuchen gegeben wird (eine Anzahl derartiger Versuche wird schon im ersten Teil
beschrieben). Neben wohl brauchbaren Versuchsanordnungen, z. B. denjenigen,
welche das Leuchten des Phosphors betreffen (S. 380 und 381), findet sich auch hier
manches Unrichtige. So muß in Fig. 176 das den Wasserstoff zuführende Rohr
unbedingt bis auf den Boden der Retorte reichen (wenn man nicht überhaupt vor-
zieht, statt der Retorte eine Kugelröhre zu verwenden), und in Fig. 186 ist das
Ableitungsrohr des Fraktionierkölbchens, aus welchem Sulfurylchlorid destilliert
wird, anscheinend luftdicht durch den Pfropfen der Vorlage hindurchführt, welche
zur Aufnahme des Destillats bestimmt ist. Warum die bei etwa 70° siedende
Verbindung im Sandbad erhitzt wird, ist nicht einzusehen, ebensowenig wie die
Anwendung des Sandbades zum Erhitzen des Wassers in Fig. 10 und 11.
Es ist bedauerlich, daß das Buch, welches sich wie alle im Springerschen Verlag
erschienenen Schriften durch eine vorzügliche Ausstattung auszeichnet, durch
so viele sachliche Inkorrektheiten und Fehler entstellt ist. Erstrecken sich doch die
Ungenauigkeiten bis in das Register, in welchem bei Cadmium auf Kadmium
verwiesen ist, der Name des Metalls unter dem Buchstaben K aber fehlt.
Ebenfalls nicht speziell für den Schulgebrauch, sondern für weitere Kreise be-
stimmt ist die Anorganische Chemie von Jos. Klein (No. 37 der Sammlung
Göschen. Leipzig 1911, 5. Aufl., 170 S,, geb. 0,80 M.). Angesichts des Umstandes, daß
dies kleine Buch bereits in der 5. Auflage erscheint, muß es auffallen, daß derVerfasser
bei den wiederholten Revisionen desTextes sich nicht veranlaßt gesehen hat, die zahl-
reichen Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten auszumerzen, die sich darin finden. So
hat die Angabe auf S. 72: „Das Salzsäuregas ist durch einen Druck von 40 Atmos-
phären zu einerFlüssigkeit verdichtbar*'doch gar keinenSinn,wenn nicht die zugehörige
Temperatur angegeben wird, und das Nämliche gilt von dem S. 78 stehenden Satz,
daß der Schwefelwasserstoff sowohl durch Druck (14 Atmosphären) wie durch niedere
Temperatur ( — 74 °) verdichtet werden kann. Der Sauerstoff soll, wie S. 57 mit-
geteilt wird unter hohem Druck (320 Atmosphären) und bei niederer Temperatur
( — 140 «) verdichtet werden, wiewohl der kritische Druck dieses Gases, d. h. der
größte Druck, den das neben dem flüssigen vorhandene gasförmipe Element aus-
üben und der daher für die Verflüssigung in Betracht kommen kann, nur 50 Atmo-
sphären beträgt. Welche Bedeutung soll sonach den 320 Atmosphären zukommen?
Ebensowenig ist die Temperaturangabe ( — 140 ^) verständlich, da als ausgezeichnete
Temperaturen doch wohl nur die kritische Temperatur ( — 118'^) und der Siede-
punkt ( — 181 °) des Sauerstoffs in Betracht kommen können. S. 56 wird das
Kaliumchlorat als zusammengesetztes Oxyd bezeichnet, und als zweites Beispiel
für diese in der Chemie sonst unbekannte Gruppe von Oxyden wird kurz darauf
„eine Mischung von chromsaurem Kalium mit Schwefelsäure" angeführt. S. 70
wird behauptet, das Jod stelle braunrote (!), metallisch glänzende Blättchen von
an Chlor (!) erinnerndem Geruch dar, u. ä. m. Der Raum verbietet, noch mehr
derartige Stellen anzugeben, die dringend der Korrektur bedürfen. Es möge
indes noch bemerkt werden, daß die (vollständige) Dissoziation der Schwefel-
säure nicht durch die Gleichung H2SO4 = Hg" + SO/' (S. 120), sondern durch
536 H. Böttger,
H2O4 = 2 H- + SO4" auszudrücken ist, weil es ein Kation Hg" nicht gibt. Wün-
schenswert ist ferner für eine Neuauflage die Revision des Textes auf seine stilistische
Reinheit hin, wenn anders das Buch auch für die Schüler der höheren Lehranstalten
brauchbar sein soll. Sätze wie der auf S. 114 sich findende: „Sie (die Blausäure)
ist äußerst giftig und in wasserfreiem Zustand eingeatmet wirkt sie schon tödlich",
oder der auf S. 73 stehende: „Charakteristisch für HCl, HBr und HI sowie deren
lösliche Salze ist das Gefälltwerden durch salpetersaures Silber" könnten doch
leicht eine einwandfreiere Form erhalten, während die Umgestaltung anderer
Sätze zwar schwieriger aber um so wünschenswerter ist.
Die rasche Aufeinanderfolge der Auflagen des bekannten, im besten Sinne
populären Buches von Lassar-Cohn: DieChemie im täglichen Leben
Hamburg und Leipzig 1912, L. Voß, VI U.345S. m. 23 Abb., 8«, geb. 4 M., von dem
nun schon die 7. Auflage vorliegt, ist ein Zeichen für das wachsende Interesse, welches
das große Publikum der Chemie entgegenbringt, andererseits aber auch ein Beweis
für die Vortrefflichkeit des Buches, welches auf seinen 20 Bogen außer den für die
Ernährung der Pflanzen und des Menschen in Betracht kommenden chemischen
Vorgängen so ziemlich alle Gebiete der anorganischen und organischen Technologie
in gemeinverständlicher Weise behandelt. Das Buch enthält außerdem eine solche
Fülle von historischen, biographischen, statistischen und volkswirtschaftlichen
Notizen, daß seine Lektüre auch für den Chemiker von Fach genußreich ist.
Insbesondere werden alle, die in Chemie unterrichten, vieles darin finden, was
unmittelbar im Unterricht verwendet werden kann.
Unter den speziell für denSchulunterricht bestimmtenLehrbüchern möge zunächst
das ganz auf dem Boden der modernen Wissenschaft stehende Lehrbuch der
Chemie von Ernst Rotte, Dresden-Blasewitz 1911, Bleyl und Kämmerer, gr. 8^
geb. 10,55 M., erwähnt werden. DerVerf asser will, wie er in derVorrede ausführt, den
Unterricht in der Chemie so gestalten, daß der Nachdruck auf die allgemeinen Gesetz-
mäßigkeitengelegt wird,welche die chemischen Vorgänge beherrschen,und erwill sonach
mit dem bisher zumeist geübten Unterrichtsverfahren brechen, welches der Chemie
mehr oder weniger deutlich den ihr fremden Charakter einer beschreibenden Natur-
wissenschaft aufprägt. Dieser Absicht kann der Referent aus vollster Überzeugung
zustimmen und auf Grund seiner mehr als zwei Dezennien umfassenden Lehr-
tätigkeit versichern, daß bei diesem Unterrichtsbetrieb, der nach seinem Dafür-
halten am besten ein Verständnis für die Eigenart der chemischen Vorgänge zu
geben und sie zur Schärfung des Denkvermögens der Schüler zu verwerten vermag,
keine anderen Schwierigkeiten zu überwinden sind als bei jedem anderen Unterricht,
der bestimmte Anforderungen an die eigene Denktätigkeit der Schüler stellt.
Das Lehrbuch zerfällt in drei Teile, von denen der erste, 205 Seiten umfassende,
als Einführung in die Chemie bezeichnet wird. Der Verfasser beginnt
den Unterricht mit den dem Grenzgebiet zwischen Chemie und Physik angehörenden
Vorgängen der Zustandsänderungen, wobei sich bereits Gelegenheit bietet, den
Begriff des Gleichgewichts an einfachen Beispielen zu erörtern und dadurch das
Verständnis dieses Begriffs in später folgenden komplizierteren Fällen vorzubereiten.
Auch auf die praktische Bedeutung der genannten Änderungen, namentlich zur
Erzielung reiner Stoffe, wird nachdrücklich hingewiesen. An den Verbrennungs-
Zur Chemie. 537
Vorgängen erörtert der Verfasser alsdann das Wesen der chemischen Veränderungen
und betrachtet im Anschluß an jene Vorgänge einerseits die wichtigsten unter den
Oxyden der Nichtmetalle und der Metalle, anderseits die bei der Entstehung
dieser Verbindungen stattfindenden Energieänderungen, so daß der Schüler sehr
frühzeitig mit dem Energiebegriff und dem Energiesatz bekannt gemacht wird.
Eine besonders eingehende Betrachtung wird dem wichtigsten unter den Oxyden,
dem Wasser, gewidmet, dessen bemerkenswerte physikalische Eigenschaften
eingehend geschildert werden. Seine quantitative Zusammensetzung gibt dann
Gelegenheit zur Erörterung der stöchiometrischen Grundgesetze und der Gay-
Lussacschen Volumengesetze. Diese Betrachtungen erfahren eine Ergänzung und
Erweiterung durch die im Anschluß an die Zusammensetzung der Salzsäure ge-
machten Ausführungen über die Molekularhypothese. Das letzte Kapitel handelt
von den Säuren, Basen und Salzen und schließt mit einem Einblick in das Wesen
und die Bedeutung der Theorie der elektrolytischen Dissoziation und in die Vor-
gänge bei der Elektrolyse. Diese kurze Übersicht, welche den Reichtum des dar-
gebotenen Unterrichtsstoffes nur sehr unvollkommen erkennen läßt, war not-
wendig, um zu zeigen, daß hier ein nach Anlage und Ausführung durchaus originelles
Buch vorliegt, welches als Leitfaden für den chemischen Unterricht in dem vom
Verfasser erstrebten Sinn vortrefflich geeignet ist.
In dem zweiten, als systematische anorganische Chemie be-
zeichneten Teil (264 S.) werden die Elemente (außer dem Sauerstoff und Wasser-
stoff) gemäß ihrer Ähnlichkeit nach Gruppen zusammengefaßt und nach den zuvor
erörterten Gesichtspunkten betrachtet, wobei auch die anorganische Technologie
gebührende Berücksichtigung findet. Ferner wird, wie schon im ersten Teil, eine
große Zahl von Demonstrationsversuchen beschrieben, die in ihrer Anordnung
zum nicht geringen Teil neu sind. Einige Bemerkungen mögen hier gestattet sein.
In Fig. 8 (S. 22) taucht die Mündung des Retortenhalses in ^ine in der Vorlage
befindliche Flüssigkeit ein, deren Natur aus dem Text nicht recht ersichtlich ist.
Ferner ist der Trockenturm in Fig. 10 (S. 26) verkehrt geschaltet: das Gas muß
in den oberhalb des Fußes befindlichen Teil, in dem sich kein Trockenmittel be-
findet, eintreten, damit mechanisch mitgerissene Wassertröpfchen infolge der
Verlangsamung der Strömungsgeschwindigkeit zu Boden sinken können und das
Trockenmittel selbst entlastet wird. Vielleicht entschließt sich der Verfasser auch
bei einer Neuauflage dazu, in den Gleichungen nur die an den Vorgängen beteiligten
Ionen anzugeben. Die Schreibweise: Hg" SO/', Nag" SO/' usw. ist irreführend,
weil es Ionen Hg", Nag" usw. nicht gibt.
In dem dritten Teil des Buches (160 S.), der organischen Chemie,
wählt der Verfasser aus der großen Anzahl von Verbindungen in zweckmäßiger
Weise diejenigen aus, welche in theoretischer, technologischer oder physiologischer
Beziehung von einiger Bedeutung sind. Auch hier sucht er den Zusammenhang
mit der anorganischen Chemie und insbesondere mit der Theorie von der elektro-
lytischen Dissoziation herzustellen. Dies ist allerdings verhältnismäßig selten
möglich; es muß aber hervorgehoben werden, daß der Verfasser keine sich darbietende
Gelegenheit unbeachtet läßt. Es braucht kaum besonders hervorgehoben zu werden,
daß auch dieser Teil des Buches gleich den beiden anderen wissenschaftlich voll-
kommen auf der Höhe steht.
538 H. Böttger,
Neue Bahnen der Methodik des chemischen Unterrichtes an den Hochschulen
weist das in zweiter Auflage erschienene Buch von Alexander Smith, Praktische
Übungen zur Einführung in die Chemie, dessen deutsche Über-
setzung von F. H a b e r und M. Stöcker besorgt worden ist. KarlsruhelQ 10,Braunsche
Hof buchdruckerei,VI I u. 1 75 S.,8^ geb., 3,60 M. Die praktischen Übungen in den Uni-
versitätslaboratorien beginnen wie vor Jahrzehnten so auch heute noch fast allenthalben
mit den Vorübungen zur qualitativen Analyse, an die sich dann die Ausführung einer
bestimmten Anzahl von qualitativen und später von quantitativenAnalysen anschließt.
Prof. Haber, der auf einer Studienreise nach den Vereinigten Staaten an den dortigen
Hochschulenein von dem unsrigen wesentlich abweichendes Unterrichtsverfahren
kennen gelernt hat,wendet sich in derVorrede mit Entschiedenheit gegen das erstere und
wünscht es durch das letztere ersetzt zu sehen. Bei ihm wiederholen die Praktikanten
im Laboratorium in zweckmäßig abgeänderter Form die Versuche, welche ihnen in
der einleitenden Vorlesung über Experimentalchemie vorgeführt worden sind,
so daß die hier gewonnenen Eindrücke vertieft und befestigt werden und den
Studierenden von Anfang an Gelegenheit zur Erwerbung einer Fertigkeit im Zu-
sammenstellen und Handhaben von Apparaten gegeben wird, die sich beim ana-
lytischen Arbeiten nur in sehr bescheidenem Umfange gewinnen läßt. Erst wenn
dieses Ziel erreicht ist, sollen die analytischen Übungen beginnen, die sich dann
in einer wesentlich kürzeren Zeit als jetzt absolvieren lassen. Es ist hier nicht
der Ort zu untersuchen, ob eine solche Änderung des Anfangsunterrichts in den
Universitätslaboratorien für die Erreichung der dort gesteckten Ziele von Vorteil
oder von Nachteil ist; das eine kann man jedenfalls behaupten, daß viele Stu-
dierende der Chemie den Unterschied, der bei der bisherigen Einrichtung zwischen
dem Gegenstand der Vorlesung und demjenigen der praktischen Übungen im
Laboratorium besteht, oftmals unangenehm empfunden haben, und man kann
den Worten der Vorrede rückhaltlos beistimmen, in denen es beklagt wird, daß wir
durch unser Verfahren der Neigung des jungen Studenten widerstreben, den der
Zusammenhang der chemischen Erscheinungen und nicht die Methoden der analy-
tischen Lernung anziehen. Aber es muß an dieser Stelle hervorgehoben werden,
daß sich in dem Buch vieles findet, was auch für die praktisch-chemischen Übungen
an höheren Lehranstalten verwendet werden kann, in denen man seit einem Jahr-
zehnt begonnen hat die früher ausschließlich ausgeführten Reaktionen, welche
zum Nachweis der Elemente und ihrer Verbindungen dienen, mehr und mehr
durch Arbeiten präparativer Natur zu ersetzen.
Als Hilfsbuch soll neben den zuvor erwähnten Praktischen Übungen von
Alexander Smith desselben Verfassers die Einführung in die allgemeine
und anorganische Chemie dienen, dessen deutsche Übersetzung unter der
Mitwirkung des Verfassers von Ernst Stern besorgt ist, Karlsruhe 1909. G.Braunsche
Hofbuchdruckerei und Verlag, 677 S., 8^ 9 M. Prof. Haber, der das Vorwort zu der
deutschen Ausgabe geschrieben hat, führt darin aus, daß man große Gebiete der che-
mischen Wissenschaft von drei Standpunkten aus übersehen kann, einmal indem man
die Elemente an der Hand des periodischen Systems untereinander vergleicht, dann
indem man die Reaktionsweise der Stoffe qualitativ durch Strukturformeln dar-
stellt, endlich indem man die Erscheinungen nach physikalisch-chemischen Grund-
Zur Chemie. 539
Sätzen quantitativ behandelt. Wird im Anfangsunterricht einer von diesen Stand-
punkten einseitig bevorzugt, so findet sich der Studierende schwer in die andere
Auffassung hinein und ist geneigt, sie gering zu schätzen. So kommt es, daß physi-
kalische Chemiker ausgebildet werden, denen der Sinn für Aufbau und Struktur
fehlt, und organische Chemiker, die keine physikalisch-chemische Einsicht besitzen,
wobei beide verkennen, daß es nur eine Chemie gibt, in der die verschiedenen
Auffassungsweisen gleich fruchtbar sind und darum gleich viel Berechtigung haben.
Das Smithsche Buch ist in der Absicht verfaßt, dem Leser die drei allgemeinen
Standpunkte zugleich vertraut zu machen, und da es in erster Linie zum Gebrauch
an Hochschulen bestimmt ist, mag dieser Hinweis auf die Eigenart des vortreff-
lichen Buches genügen, welches zwar nicht als Schulbuch verwendet werden kann,
wohl aber dem Lehrer schätzenswerte Dienste zu leisten vermag, und dessen ein-
gehendes Studium allen, die in Chemie unterrichten, nicht warm genug empfohlen
werden kann.
Am Schluß der wichtigeren Kapitel des Smithschen Buches ist eine Reihe
von Übungen zusammengestellt, die sich auf den Inhalt der betreffenden Kapitel
beziehen und die den Leser zu sachgemäßer Anwendung des Gelernten anleiten
sollen. Diese Übungen bestehen in der Beantwortung einzelner Fragen und in
der Lösung von Rechenaufgaben. Wem die letzteren, soweit sie physikalisch-
chemischen Inhalts sind, nicht genügen, der sei auf die vortreffliche, den Band 445
der Sammlung Göschen bildende Auswahl von physikalisch-chemischen
Rechenaufgaben von R. Abegg und 0, Sackur verwiesen, in der eine die
verschiedensten Gebiete der allgemeinen Chemie berührende Zusammenstellung
von 52 Aufgaben gegeben wird, deren rechnerische Durchführung den größeren
Teil des Bändchens ausfüllt. Leipzig 1909, Göschen, 104 S., geb., 0,80 M. Wer
nicht Gelegenheit hat, derartige Rechnungen im Anschluß an Originalabhandlungen
auszuführen, wird in dem Buche die reichste Anregung finden. Man wird die
ersten von der Steigkraft des Luftballons handelnden Aufgaben nicht lesen, ohne
mit Wehmut des erstgenannten Verfassers zu gedenken, der in so tragischer Weise
gelegentlich einer Ballonfahrt viel zu früh der Wissenschaft entrissen wurde.
Reichenübungsstoff aus allen Gebieten der Stöchiometrie einschließlich derMaß-
analyse bietet auch die Stöchiometrische Aufgabensammlung
vonWilhelmBahrdt (Band 452 derSammlungGöschen,Leipzigl909,140S.,geb. 0,80 M.)
Wie durch das erste der beiden zuvor erwähnten Smithschen Bücher eine Reform
des Hochschulunterrichtes in der Chemie herbeigeführt werden soll, so sucht Emil
Löwenhardt in seinem Leitfaden für die chemischen Unterrichts-
übungen, Leipzig und Berlinl909, B. G.Teubner, 1 27S.,gr.8Vb.2,40 M.,eineReform
des chemischenSchulunterrichts dadurch anzubahnen, daß er den Schwerpunkt dieses
Unterrichts mehr und mehr aus derKlasse in dasSchülerlaboratorium verlegen und den
Schülern die chemischen Kenntnisse, wenn nicht ausschließlich, so doch in ersterLinie
durch Versuche, die sie selbst ausführen, übermitteln will. Man kann diesem Gedanken
rückhaltlos zustimmen — der Referent möchte einen derartigen Unterricht geradezu
als ideal bezeichnen — und doch der Überzeugung sein, daß sich seiner Verwirk-
lichung einstweilen noch schwer zu überwindende Schwierigkeiten entgegenstellen.
Es ist damit nicht die Geldfrage gemeint, die bei chemischen Schülerübungen
540 H. Böttger,
wesentlich leichter zu lösen ist als bei den ungleich größere Kosten verursachenden
physikalischen Übungen. Wohl aber bildet die Frequenz der Klassen, wenigstens
an einigermaßen großen Anstalten, ein nicht als gering zu achtendes Hindernis. Der
Verfasser ist selbst der Ansicht, daß, wenn wirklich intensiv gearbeitet werden
und der Lehrer die Gewißheit haben soll, daß jeder Schüler aus richtigen Beob-
achtungen die richtigen Schlüsse herleitet, 12 bis 16 Schüler in 6 bzw. 8 Gruppen
vereinigt, die höchste noch gut zu überblickende Anzahl bilden, und dem Referenten
scheinen nach seinen Erfahrungen diese Zahlen eher zu hoch als zu niedrig gegriffen
zu sein. Wie nun aber, wenn die Schülerzahl 24 oder gar 30 beträgt? Dann bleiben
nur die beiden Möglichkeiten, entweder die Klassen zu teilen, was große Schwierig-
keiten für den Stundenplan mit sich bringt und, wenn die Teilung in einer größeren
Zahl von Klassen stattfinden muß, vielfach unausführbar ist, oder die Schüler
in gleicher Front arbeiten zu lassen, was bei Übungen präparativer Art unmöglich
ist, weil bei ihnen die Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit des einzelnen eine so
wichtige Rolle spielt, daß das Tempo des Fortschreitens fast ebenso verschieden
ist als Schüler vorhanden sind. Eine zweite Schwierigkeit bietet die Bewältigung
des Unterrichtsstoffes. Nimmt schon die Ausführung und Auswertung der Unter-
richtsversuche durch den Lehrer auch bei der sorgfältigen Vorbereitung eine ge-
raume Zeit in Anspruch, um wieviel größer ist der Zeitaufwand, wenn diese Ver-
suche durch die Schüler ausgeführt werden, die über eine weit geringere manuelle
Fertigkeit verfügen und viel weniger die Umstände zu überblicken vermögen, welche
berücksichtigt werden müssen, damit der Versuch gelingt. So bieten die Versuche,
die in dem Leitfaden über Elektrolyse im § 37 auf S. 48 und 49 angegeben sind
(das Beispiel ist beliebig herausgegriffen), nach oberflächlicherSchätzung denübungs-
stoff für drei oder vier Doppelstunden, und andere Versuche, wie z. B. diejenigen
über die Salpetersäure (§ 30, S. 38) lassen sich innerhalb dieser Zeit wohl kaum
erledigen. Daß sich dann aber bei der heute dem chemischen Unterricht zur Ver-
fügung stehenden Zeit das ganze Pensum absolvieren läßt — denn eine gewisse
Anzahl von Stunden muß doch notwendigerweise für zusammenfassende Betrach-
tungen, theoretische Erörterungen, schwierigere Experimente, welche die Schüler
nicht ausführen können, übrig bleiben (der Verfasser nimmt ja selbst auf diese
Verhältnisse Rücksicht) — , erscheint dem Referenten nahezu unmöglich, selbst
wenn man den Umfang des Pensums soweit als irgend möglich beschränkt und über-
zeugt ist, daß es beim chemischen Unterrichte in erster Linie auf die Gründlichkeit
ankommt, mit der ein engeres Gebiet von Erscheinungen mit den Schülern durch-
gearbeitet wurde, um sie mit der Eigenart chemischer Vorgänge und den sie
beherrschenden Gesetzmäßigkeiten bekannt zu machen. Bei der Stellung, welche
der chemische Unterricht an unseren höheren Lehranstalten zurzeit noch einnimmt
— sie ist im Auslande vielfach eine ganz andere und aus diesem Grunde führt
ein Vergleich des dort angewandten Unterrichtsverfahrens mit dem unsrigen leicht
zu Trugschlüssen — scheint daher die Zeit noch nicht gekommen zu sein, um den
Schülerübungen die herrschende Stellung im Schulunterricht einzuräumen; sie
können, bis nicht eine größere Anzahl von Stunden zur Verfügung steht, nur eine
wirksame und äußerst wertvolle Ergänzung des Klassenunterrichtes bilden.
Der Leitfaden, dessen Wert durch die im Vorstehenden ausgesprochenen
Zur Chemie. 541
von denjenigen des Verfassers abweichenden Ansichten natürlich in keiner Weise
herabgesetzt werden soll, zerfällt in vier Abteilungen, einen vorbereitenden Lehrgang
und je eine Abteilung, welche die Chemie der Nichtmetalle, der Metalle und der
organischen Verbindungen zum Gegenstand hat. Die Vorschriften und Anweisungen,
welche der Verfasser in kurzer und prägnanter Weise gibt, sind zuverlässig und
lassen erkennen, daß sie bereits praktisch erprobt sind. Der Leitfaden kann deshalb
zum Gebrauch im Laboratorium bestens empfohlen werden. Da er im Anhang
einen Gang der qualitativen Analyse und Bestimmungstabellen für die wichtigsten
Mineralien enthält, wird er den weitgehendsten Anforderungen gerecht.
Auch in dem umfangreichen Vorbereitungsbuch für den Ex-
perimentalunterricht in Chemie von Karl Scheid, Leipzig und Berlin,
1911, B. G. Teubner, VIII u. 622 S. m. 233 Fig. gr." geb. 14 M., welches als Hilfs-
buch bei der Vorbereitung für den Klassenunterricht wie bei der Auswahl der Auf-
gaben für den Laboratoriumsunterricht dienen soll, erfahren die Schülerübungen
eine weitgehende Berücksichtigung. Die in letzterer Beziehung brauchbaren Ver-
suche sind im Text durch ein besonderes Zeichen hervorgehoben. Dadurch unter-
scheidet sich das Buch von den bekannten Werken von Heumann, Arendt, Lubarsch
u. a., denen es im übrigen an die Seite zu stellen ist. Es handelt zunächst von
der Ausstattung (nicht der baulichen Einrichtung) des Unterrichtszimmers und
des Schülerlaboratoriums, sowie ausführlich von den beim Experimentieren not-
wendigen Glas-, Porzellan-, Metallgeräten, Wagen, Trockenschränken usw. Dann
folgen die auf die Nichtmetalle und die Metalle sich beziehenden Versuche, von
denen die ersteren naturgemäß den breiteren Raum einnehmen; eine Anzahl von
Versuchen aus der organischen Chemie bildet den Schluß. Das Buch ist eine fleißige
nud sorgfältige Arbeit, aus welcher jeder, der in Chemie unterrichtet, mannigfache
Anregung gewinnen kann, wenn er auch da und dort auf Grund seiner persön-
lichen Erfahrung einer anderen Versuchsanordnung den Vorzug geben wird.
In dem Hilfsbuch für den Unterricht in den praktisch-
chemischen Übungen von Franz von Hemmelmayr, Wien 1908, A. Holder,
109 S. gr. 8^. geb. 2M., wird dagegen, dem früheren Unterrichtsbetrieb entsprechend,
das Hauptgewicht auf die Ausführung von analytischen Versuchen gelegt, wenn
sich in ihm auch Vorschriften zur Behandlung von Glas und Kork und zur Darstel-
lung einzelner Verbindungen, wie des Chlorwasserstoff s und des Ammoniaks finden.
Das methodische LehrbuchinderChemie von Levin, Bd. 1 u.2,
Berlin, 0. Salle, gr. 8^ Vollst. 5,45 M. ist in neuer Auflage erschienen. Das Buch
wurde bei seinem ersten Erscheinen im 2. Band dieser Monatschrift eingehend be-
sprochen. Da es in seiner Anlage keine Veränderung erfahren hat, sei auf jene
Besprechung verwiesen.
Zu den methodischen Lehrbüchern der organischen Chemie ist die 0 r g a -
nischeChe mie von Karl Scheid (Leipzig, 1908, Quelle & Mayer, 74 S. gr. 8^.
0,80 M.) zu rechnen. Der Verfasser zeigt an einer der bekanntesten organischen Ver-
bindungen, dem Äthylalkohol, dessen Eigenschaften eingehend beschrieben werden,
das Verfahren zur Ermittlung der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung
der organischen Verbindungen, betrachtet alsdann die Oxydationsprodukte des
Äthylalkohols und gelangt vom Natriumacetat zum Methan, um dann zu zeigen, wie
die Strukturformeln der genannten Stoffe mit ihrem chemischen Verhalten im Ein-
542 H. Böttger,
klang stehen. Ähnlich verfährt er beim Holzgeist. Erst dann gibt er einen Überblick
über die gesättigten und die ungesättigten Kohlenwasserstoffe und deren Derivate,
soweit sie nicht bereits beschrieben wurden. Ausführlich werden dann noch die
Kohlehydrate nach ihrer technischen Gewinnung und ihrer Verwendung betrachtet,
während die Frage nach ihrer Struktur nur flüchtig gestreift wird. (Die S. 52 ge-
gebene Strukturformel ist nicht für den Traubenzucker charakteristisch; sondern
gilt für jede der 16 Hexosen.) Die Schrift, deren Anordnung vielfach an das seiner-
zeit sehr verbreitete, der gegenwärtigen Generation aber wohl kaum noch be-
kannte Kurze Lehrbuch der organischen Chemie von H. Kolbe erinnert, enthält
manchen beachtenswerten Wink in bezug auf die unterrichtliche Behandlung der
Kohlenstoffverbindungen, welche der Verfasser schon dem Pensum der Ober-
sekunda zugewiesen zu sehen wünscht.
Unter den für den Schulunterricht bestimmten Lehrbüchern der Chemie, in
denen der Stoff weniger nach methodischen Gesichtspunkten als rein systematisch
angeordnet ist, befindet sich eine neue (die 19.) Auflage des bekannten Lehr-
buches der anorganischen Chemie von Jakob Lorscheid, welche
wiederum von F. Lehmann besorgt worden ist. Freiburg 1911, Herder. VIII u.
334 S. gr. 8^ geb. 4,20 M. Der Bearbeiter hat es verstanden, das Buch inhaltlich
auf der Höhe zu erhalten, wenn auch ein Einfluß der modernen physikalisch-che-
mischen Forschung auf dessen Gesamtcharakter kaum bemerkbar ist. Im Interesse
des Buches mögen einige Bemerkungen gestattet sein. Das Urteil über Berthelots
Prinzip vom Arbeitsmaximum (S. 302) ist doch wohl zu hart; das Prinzip ist
vielmehr, wie namentlich Nernst betont hat, um so strenger gültig, je niedriger
die Temperatur ist, bei der die Wärmetönung gemessen wurde, und es würde beim
absoluten Nullpunkte streng richtig sein. Die Gleichung 2 H + 0 = HgO + 68 400
cal. (S. 296) ist nur dann richtig, wenn bei HgO der Zusatz „flüssig" steht. Die
Flamme ist nicht ein brenn barer Gasstrom (S. 37), sondern ein brennendes Gas.
Wünschenswert wäre es, wenn die Verlagsbuchhandlung sich entschlösse, bei
einer Neuauflage des Buches eine Anzahl von Abbildungen durch neue zu ersetzen.
Kippsche Apparate, wie der in Fig. 47 (S. 62) abgebildete, werden wohl nirgends
mehr angefertigt, ebenso wenig wie Sicherheitsröhren von der dort gezeichneten
Form und Größe. Auch die Destilliervorrichtung Fig. 31 (S. 50) mit dem ver-
alteten Dreifuß, dem von einem Drahtdreieck getragenen Sandbad und der viel zu
flachen Schale für die Vorlage mutet eigenartig an, und ebenso sind Kolben von der
in Fig. 106 (S. 157) gezeichneten Form schwerlich noch irgendwo käuflich. Übrigens
würde der Inhalt des Kolbens, wenn er diesen soweit erfüllte, wie in der Figur ge-
zeichnet ist, unfehlbar überschäumen; auch ist das Becherglas, welches eigen-
tümlicherweise zum Auffangen des Kohlenoxyds dienen soll (namentlich im Hinblick
auf die Giftigkeit des Gases) viel zu klein. Auch die folgende Figur bedarf der
Erneuerung, da heutigen Tages kaum noch Holzkohlen als Brennstoff in chemischen
Laboratorien, wenigstens nicht bei derartigen Versuchen, Verwendung finden.
Die zu dem Lehrbuch gehörende organische Chemie ist von ihm getrennt
unter dem Titel: J. Lorscheids, Kurzer Grundriß der organischen
Chemie von P. Kunkel bearbeitet, in zweiter Auflage Freiburg 1908, Herder,
124 S., gr. 8^, geb. 2,50 M., erschienen. Der Stoff ist in der in größeren Lehrbüchern der
Chemie der Kohlenstoff Verbindungen üblichenWeise geordnet. ImText ist aber, durch
Zur Chemie. 543
Kleindruck und seitlicheVertikalstriche hervorgehoben, einegroßeZahl vonVersuchen
angeführt, die sich zu Demonstrationsversuchen eignen oder von den Schülern
selbst angestellt werden können. Die sich hier findenden genauen Vorschriften
werden vielen bei der Vorbereitung der Unterrichtsstunden willkommen sein. In
sachlicher Beziehung ist der Text durchaus zuverlässig. Die Angabe (S. 113), die
Synthese des Alizarins sei von Grabe und Lindemann (statt Liebermann) ausgeführt
worden, beruht wohl auf einem Druckfehler. Dulcit und Sorbit sind dem Mannit
nicht untergeordnet, wie man nach dem Wortlaut von S. 76 vermuten könnte.
An dem Lehrgang der Chemie und Mineralogie von Franz Küspert
Nürnberg 1909, C.Koch, 3 Teile, 225,227— 344 u. 68 S.,80, geb. 2,20, 1,50 u. 1,20 M.) ist
besonders der erste, als Einführung bezeichnete, sowie der dritte Teil bemerkenswert.
In jenem wird der Schüler an der Hand einfacher Versuche, zu denen in erster Linie
Mineralien (Gips, Kalkspat) verwendet werden, mit dem Wesen der chemischen Vor-
gänge und mit den Grundgesetzen der Chemie bekannt gemacht (dieser Teil enthält
somit den Lehrstoff bei dem propädeutischenUnterricht in der Chemie); der dritteTeil
behandelt die Mineralogie und zwar zunächst die Kristallkunde, welcher mit Recht
die Symmetrieverhältnisse der Kristalle zugrunde gelegt sind und dann die Mineral-
kunde, die jedoch nicht aus einer Aufzählung und Beschreibung der einzelnen
Mineralspezies, sondern aus einer Anzahl von Tabellen besteht, mittels deren der
Schüler die häufigsten Mineralien nach leicht erkennbaren Merkmalen selbst be-
stimmen kann, wie denn der Verfasser überhaupt bestrebt ist, die Selbsttätigkeit
des Schülers nach Möglichkeit anzuregen. Dies geschieht auch in dem zweiten um-
fangreichsten Teil des Buches, der speziellen Chemie, in dem zahlreiche Versuche mit-
geteilt werden, welche die Schüler mit einfachen Mitteln selbst ausführen können.
Dieser Teil enthält nicht nur die Chemie der Nichtmetalle und Metalle, sondern im
Anschluß an den Kohlenstoff auch einen Überblick über die wichtigsten organischen
Verbindungen. Bemerkt sei, daß sich Wasserstoff und Sauerstoff im Gewichtsverhältnis
1 : 7,94 (nicht 1 : 7,98, S. 49) verbinden, und daß die Fassung des Gay-Lussacschen
Gesetzes (S. 53) unrichtig ist: Das Volumen einer gegebenen Gasmasse wächst bei
der Erwärmung um 1° nicht um 1/273 des vormals eingenommenen Raumes, der
sich ja stetig ändert, sondern des Raumes, den die Gasmasse bei 0° erfüllt. Die
Berechnung der Temperatur der Knallgasflamme (S. 47) ist unrichtig, weil die
spezifische Wärme des Wasserdampfes nur in dem Temperaturintervall 0 bis etwa
200° annähernd V2 ^st; wie diejenige aller Gase wächst sie mit der Temperatur
beträchtlich. In den Tabellen auf S. 104 ist in der letzten Spalte das Verhältnis
der Siedepunkts erhöhungen und Gefrierpunkts erniedrigungen,
nicht das der Siedepunkte und Gefrierpunkte selbst angegeben. Die Zitronen-
säure ist drei- und nicht zweibasisch (S. 211). Auf S. 213 wäre eine scharfe Unter-
scheidung zwischen den Azofarbstoffen und den Diazoverbindungen angebracht ge-
wesen. Wünschenswert ist auch die Beigabe eines Registers oder wenigstens eines
Inhaltsverzeichnisses.
Das Lehrbuch deranorganischen Chemiefürdiefünfte
Klasse der Realschulen von Maximilian Rosenfeld (Wien, C. Fromme)
schließt sich an des Verfassers Buch: „Erster Unterricht in der Chemie und Minera-
logie" an, welches im 2. Jahrgang dieser Monatschrift besprochen wurde, und setzt die
544 H. Böttger,
Bekanntschaft des Schülers mit dem Inhalt dieses Buches voraus. Dies ist insbesondere
für das Verständnis der Einleitung erforderlich, in der auf 21 Seiten die stöchio-
metrischen Grundgesetze, die Atomtheorie, die die Avogadrosche Regel und die
sich aus ihr ergebenden Folgerungen, das Dulong und Petitsche Gesetz über die
Atomwärme, die chemische Zeichensprache, die Gay-Lussacschen Volumengesetze
und die Wertigkeit (deren Einheit auf S.19 irrtümlicherweise als Affinitätseinheit
bezeichnet wird) ihre Erörterung finden. Sollen all diese Betrachtungen, los-
gelöst vom erläuternden Experiment, für den Schüler irgendwie nutzbringend
sein, so muß dieser bereits über ein nicht geringes Maß von chemischen Kenntnissen
verfügen, und es ist zweifelhaft, ob man sie auf der Klassenstufe, für die das Buch
seinem Titel nach bestimmt ist, als vorhanden voraussetzen darf. Auch der übrige
Unterrichtsstoff ist reichlich bemessen, so daß eine hinreichend gründliche Durch-
arbeitung, wenigstens bei der in Deutschland zur Verfügung stehenden Stunden-
zahl, kaum möglich erscheint. Für die Bildungswärme des Wassers sind zwei ver-
schiedene Zahlenwerte (S. 39 und 1 13) mitgeteilt, ohne daß als Grund für diese Ver-
schiedenheit angegeben wird, daß die eine Zahl für flüssiges, die andere für gasförmiges
Wasser gilt. Bei der letzteren müßte außerdem die Temperatur des Wasserdampfes
vermerkt werden, weil bekanntlich die Verdampfungswärme des Wassers mit
steigender Temperatur abnimmt. Übrigens gibt Thomsen für Wasserdampf von
0° 57,9 Cal., Berthelot sogar 58,1 Cal. an. Bei dem auf S. 147 abgebildeten Spektro-
skop fehlt die Angabe, daß die Kombination von Krön- und Flintglasprismen die
Herstellung eines gradsichtigen Spektroskops bezweckt. Die Abbildung bleibt
dem Schüler sonst im Hinblick auf die vorhergehenden Fig. 24 und 25 ganz un-
verständlich. Sehr störend ist die konsequente Schreibweise Frauenhofer statt
Fraunhofer. Barzelius auf S. 6 (statt Berzelius) ist wohl ein Druckfehler.
AlsEigenart vonJohns Schulchemie (Leipzigl909, Erwin Nägele, 215 S., gr.8°,
geb., 2,40 M.) wird in derVorrede hervorgehoben, daß in dem Buche der Energiebegriff
eine schärfere Fassung und weitere Anwendung finden und daß dieser Begriff, „weil
er sich beim Anschauungsunterricht bewährt hat", sehr früh gegeben werden soll.
Das Letztere ist richtig; denn bereits auf S. 14 wird die chemische Energie erwähnt,
die dann sogleich mit der Affinität identifiziert wird, „da eine Strebekraft, also
die Kraft, welche zwei Stoffe zusammenzuführen strebt, in der Regel Energie ge-
nannt wird". Dieselbe Gleichsetzung findet sich auf S. 93. Daß dies eine schärfere
Fassung des Begriffs der Energie, insbesondere der chemischen Energie ist, kann
man gewiß nicht behaupten; denn die Affinität ist nicht gleich der chemischen
Energie überhaupt, sondern ihr Maß ist die freie Energie, d. h. die maximale bei
einem chemischen Vorgang pro Mol gewinnbare Arbeit, wie sie sich nach der bekann-
ten von van't Hoff aufgestellten Formel mittels des natürlichen Logarithmus der
Gleichgewichtskonstante berechnen läßt. Derartige Erörterungen gehören je-
doch nicht in den chemischen Anfangsunterricht ; bereiten sie doch fortgeschritteneren
Studierenden der Chemie Schwierigkeiten genug. Von der weiteren Anwendung
des Energiebegriffs merkt man, soweit der Berichterstatter zu sehen vermag, in
dem Buch nicht eben viel, keinesfalls tritt sie derart hervor, daß man darin etwas
dem Buche Eigentümliches zu erkennen vermöchte. Schärfe und Richtigkeit
der Definitionen lassen an manchen Stellen zu wünschen übrig, so wenn auf S. 14
Zur Chemie. 545
gesagt wird: Verbinden sich die Stoffe, aus denen die Körper bestehen, mit Sauer-
stoff, so entstehen Oxyde. Was soll man sich unter jenen Stoffen denken? Oder
wenn S. 36 die Mineralien als die festen Körper definiert werden, welche die Erd-
rinde zusammensetzen. Das Wesen der Mineralien liegt doch wohl in ihrer Homo-
genität, wegen deren sie bestimmte chemische Individuen darstellen, während die
Baustoffe der Erdrinde Gesteine genannt werden. — Die 88 Seiten umfassende
organische Chemie handelt zunächst von der Pflanzenernährung, im Anschluß
daran von den Kohlehydraten und ihren Umwandlungsprodukten und dann erst
von den Kohlenwasserstoffen und ihren Derivaten. Auch in diesem Teil finden sich
mancherlei Irrtümer, z. B. die Angabe, daß in der Formel der Stärke (CeHioOs)^
der Koeffizient n eine kleine Zahl sei (S. 10), oder daß der Trauben- und der Frucht-
zucker Kristallwasser enthalten (S. 13). Ungebräuchlich ist die Schreibweise
CgHa, OH; CgHs, NHg usw. (S. 31 und 29), (man schreibt vielmehr CgHg.OH, CqH^.
NHo), ferner der Name Glyzeril-Alkohol (S. 43). Den letzten Teil des Buches
bildet die Betrachtung der physiologischen Vorgänge bei der Ernährung der Menschen
und Tiere. — Das Buch ist auch in gekürzter Form als „Kleine Ausgabe der Schul-
chemie" (212 S.) erschienen, ferner sind der anorganische und der organische Teil
getrennt käuflich.
Ein typisch systematisches Lehrbuch sind die in zweiter Auflage vorliegenden
Grundlinien der Chemie für Oberrealschulen von Johann Rippel (Wien
1909, F.Deuticke, 2Teile, 264 u. 199 S., gr.S^, geb. 3 u. 2,80 M.) Die allgemeinen Gesetz-
mäßigkeiten der Chemie sind ebenso wie die theoretischen Betrachtungen in der Ein-
leitung enthalten, die mit einem Abriß derGeschichtederChemie (nach der Koppschen
Einteilung) beginnt. Der Text des Buches ist korrekt und gibt, soweit sich nach den
zahlreichen angestellten Stichproben erkennen läßt, zu keinen Bemerkungen Veran-
lassung. Als ein sehr brauchbares Buch ist die als zweiter Teil der ,, Grundlinien"
getrennt erschienene Organische Chemie desselben Verfassers zu bezeichnen,
die einen guten Überblick über die Kohlenstoffverbindungen gibt und namentlich da,
wo es sich um theoretische Erörterungen handelt, wie bei der Deutung der raum-
isomeren Verbindungen, von anerkennenswerterKlarheit ist. Eine nicht geringe Zahl
von Demonstrationsversuchen wird beschrieben und durch gute Abbildungen er-
läutert. Dankenswert sind auch die biographischen Notizen über Chemiker, die
in der organischen Chemie Hervorragendes geleistet haben; es ist nötig, den Schülern
die Bedeutung auch dieser Männer nachdrücklich vor Augen zu führen. (Ent-
sprechende Notizen finden sich auch in dem ersten, dem anorganischen Teil des Lehr-
buchs.) Vielleicht ist der Rahmen des Buches für den Schulgebrauch etwas zu
weitgespannt; es dürfte indes nicht schwer sein, eine passende Auswahl zu treffen,
und anderseits werden es die Schüler, welche sich dem Studium der Natur-
wissenschaften widmen, dem Verfasser danken, wenn sie sein Buch auch während
ihrer Universitätszeit noch mit Vorteil benutzen können.
Das Lehrbuchder Chemie von Moritz Kitt (Wien 1911, A.PichlersWwe. &
Sohn, gr.8°, geb., 2,40 M.) von dem bis jetzt der 163 Seiten starke ersteTeil vorliegt, ist
speziell für Handelsakademien bestimmt und berücksichtigt vornehmlich diejenigen
Stoffe, welche als Handelsobjekte von Bedeutung sind, während sich die Erörterungen
allgemeiner Art, namentlich diejenigen physikalisch-chemischen Inhalts, auf das
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 35
546 H. Böttger,
notwendigste Maß beschränken. Das mit einer Anzahl guter Abbildungen aus-
gestattete Buch wird als Unterrichtsmittel an den Lehranstalten der genannten
Art gut brauchbar sein. Bei einer Neuauflage sollten Temperaturangaben nach
Reaumur vermieden werden, besonders dann, wenn es sich wie auf S. 23 um den
Sättigungsdruck des Wasserdampfes handelt, dessen Größe in den Tabellen doch
ausschließlich für Celsiusgrade angegeben wird.
Von Lehrbüchern, die bereits früher in dieser Monatschrift besprochen wurden
(Band 2, 717 und Band 5, 415) sind neu aufgelegt worden: Lehrbuch der
Chemie, L Teil, von M. Ebeling (Berlin 1910, Weidmannsche Buchhandlung,
X u. 378 S., 3. Aufl., gr. 8«, geb. 4M.) und Lehrbuch der Chemie und
Mineralogie von A. Henniger (Stuttgart 1912, Grub, VIII u.244 S., gr. 8»,
geb. 2,80 M.) Das letztere liegt außer in der bisherigen Ausgabe (A) in ge-
kürzter Form in der Ausgabe B vor, die auf etwa 15 Druckbogen außer der anor-
ganischen Chemie einen Abriß der Kristallographie sowie das Wichtigste aus der
Chemie der Kohlenstoffverbindungen enthält und außerdem einen Überblick
über die dynamische und historische Geologie sowie über die Petrographie gibt.
Die organische Chemie für die Oberstufe der Real-
schulen von B. König und J. Matuschek (Wien 191 1 , A. Pichlers Wwe. & Sohn,
135 S.gr.8^. geb. 1,70 M.) gibt einen Überblick über die wichtigsten aliphatischen und
zyklischen Verbindungen in der üblichen Anordnung, wobei in erster Linie die Techno-
logie dieser Verbindungen berücksichtigt und durch eine Reihe guter Abbildungen
veranschaulicht wird. Der Text ist leicht verständlich und sachlich einwandfrei.
Bei der Einteilung der Kohlehydrate (S. 59) ist es jedoch auffallend, daß zu den
natürlich vorkommenden auch die Triosen, Tetrosen und Pentosen gerechnet sind.
Für welche von ihnen trifft dies zu?
Das Kurze Lehrbuch der organischen Chemie von William
A. Noyes, ins Deutsche übertragen von WaltherOstwald, mit einer Vorrede
von WilhelmOstwald (Leipzigl 907,AkademischeVerlagsbuchgesellschaft m.b.H.,
722 S., 8^ 10 M.) ist zum Gebrauch an Hochschulen bestimmt. Es weicht von den
gleichen Zwecken dienenden kürzeren Lehrbüchern deutscher Autoren (sein Verfasser,
ein Schüler von W. Ostwald, ist Professor an der Universität Illinois) in zweifacher
Weise ab, einmal durch die weitgehende Berücksichtigung der Ergebnisse der
physikalisch-chemischen Forschung, was namentlich bei der Definition und der
Charakterisierung der einzelnen organischen Säuren hervortritt; sodann durch die
Anordnung des Stoffs, bei welcher die Trennung in aliphatische und aromatische
Verbindungen aufgegeben ist (die heterozyklischen sind als besondere Gruppe bei-
behalten). Demgemäß werden im Anschluß an die gesättigten und ungesättigten
aliphatischen Kohlenwasserstoffe sogleich das Terpentin, das Benzol und seine
Homologen, die mehrkernigen und die kondensierten zyklischen Kohlenwasser-
stoffe, ebenso an die Alkohole die Phenole, an die Aldehyde und Ketone die Chinone
usw. betrachtet. Am Schluß der größeren Abschnitte ist eine Reihe von Aufgaben
zusammengestellt, die zumeist in der Anfertigung von Präparaten bestehen, für
welche jedoch keine besonderen Vorschriften gegeben werden.
Von neu erschienenen Lehrbüchern für den propädeutischen Unterricht in
der Chemie liegt dem Berichterstatter die Vorschule der Chemie von
W. Schwarze (Leipzig 1911, Leopold Voß, X 1 1 u. 1 79 S., gr. 8^=, geb. 1 ,80 M.) vor. In der
Zur Chemie. 547
Einleitung lehnt sich derVerfasser ziemlich eng an die Arendtsche Unterrichtsmethode
an, und eine Anzahl von Abbildungen ist Arendtschen Büchern entnommen. Später
verfolgt er eigene Wege, indem er nicht einzelne Gruppen von Verbindungen (Oxyde,
Sulfide usw.)imZusammenhang betrachtet,sondern seineErörterungen an die einzelnen
Elemente anschließt. Das Ergebnis eines jeden Versuchs wird kurz zusammengefaßt
und, wo es möglich ist, wird aus den Einzelergebnissen ein Gesetz abgeleitet. Eigen-
tümlich ist das Fehlen der chemischen Zeichensprache in einem großen Teil des
Buches; sie wird erst im letzten Drittel in einem zusammenhängenden Abschnitt
erörtert. Der Verfasser hält die Zeichensprache für angewandte Atomtheorie und
meint, daß zu ihrem Verständnis die Kenntnis dieser Theorie erforderlich sei.
Der Referent vermag dieser Ansicht nicht beizupflichten, sondern glaubt, daß
das Verständnis der Zeichensprache schon auf Grund des durchaus anschaulichen
Begriffs des Verbindungsgewichtes gewonnen werden kann. Auch kann er nicht
zugeben, daß — bei einem vernünftig geleiteten Unterricht — die Beobachtung
und die Beschreibung des Beobachteten durch die Anwendung der Zeichensprache
in den Hintergrund gedrängt werden könne, sondern ist der Meinung, daß der
Vorteil, den die Zeichensprache dadurch gewährt, daß sie alle qualitativen und
quantitativen Beziehungen der an einem chemischen Vorgang beteiligten Stoffe
in der kürzesten Form zum Ausdruck bringt, so groß ist, daß man ohne besonders
schwer wiegende Gründe auf ihre möglichst umfangreiche Anwendung nicht ver-
zichten soll. Es ist übrigens nicht richtig, wie ä. 124 gesagt wird, daß Berzelius
das Verbindungsgewicht des Wasserstoffs als Einheit gewählt habe; das hatte
vielmehr vor ihm Dalton getan. Berzelius verließ bei seinen bekannten Atom-
gewichtsbestimmungen sehr bald diese Einheit und wählte statt ihrer das Ver-
bindungsgewicht des Sauerstoffs aus demselben Grunde, aus dem man vor einigen
Jahrzehnten wieder zum Sauerstoff als Bezugselement zurückgekehrt ist; nur
setzte er das Verbindungsgewicht dieses Elements gleich 100. Ungenau ist auch
der auf derselben Seite sich findende Satz, daß die Molekel der gasförmigen Elemente
in der Regel aus 2 Atomen bestehen. Das trifft seit der Entdeckung der Edelgase
nicht einmal mehr für die bei gewöhnlicher Temperatur gasförmigen Elemente
zu und gilt erst recht nicht für Elemente wie Schwefel, Phosphor, Arsen oder die
vergasbaren Metalle. Der berühmte Berliner Chemiker hieß Hofmann und nicht
Hoffmann (Anm. zu S. 14 und auf S. 25).
Die Vorschule der Chemie und Mineralogie von H. Boerner (Berlin
1911, Weidmannsche Buchhandlung, XU u. 88 S., 4. Aufl., gr. 8^, geb. 1,60 M.) bildet
einen Teil des von dem genannten Schulmann verfaßten physikalischen Unterrichts-
werkes für höhere Lehranstalten. Sie ist zum Gebrauch an Gymnasien und Pro-
gymnasien bestimmt und muß daher im Hinblick auf die sehr beschränkte Zeit, welche
für den Chemieunterricht an diesen Anstalten zurVerfügung steht, und angesichts des
Umstandes, daß dieser Unterricht in den meisten Fällen nicht einmal von einem Che-
miker von Fach erteilt werden kann, unter Verzichtleistung auf ein tieferes Eindringen
in das Gebiet dieser Wissenschaft sich mit der Betrachtung einiger wenigen wichtigen
Stoffe und Prozesse begnügen. Die Auswahl, welche der Verfasser in dieser Be-
ziehung getroffen hat und bei der auch die Mineralogie berücksichtigt wird, kann
als eine glückliche bezeichnet werden, wie schon der Umstand beweist, daß das
35*
548 Festschrift,
Buch bereits in der 4. Auflage vorliegt. Für eine Neuauflage mögen im Interesse
des Buches folgende Stellen als einer Verbesserung bedürftig bezeichnet werden.
S. 7: Man kann den Sauerstoff durch Erhitzen vieler Verbindungen darstellen;
tatsächlich gibt es doch nur einige wenige. S. 8: Der Zusatz des Braunsteins zum
Kaliumchlorat soll die Sauerstoffentwicklung gerade beschleunigen, aber nicht
mäßigen, da der Braunstein als (positiver) Katalysator wirkt. Daß gerade das
Wasser der Werra besonders stark gipshaltig sein soll, ist dem Referenten, der
ein Kind des Werratals ist, nicht recht verständlich, weil sich ausgedehntere Gips-
berge längs des Werralaufs nicht finden. Der Schwefel schmilzt bei l^jS"* (S. 23),
erstarrt aber bei 120^ weil der schmelzende Schwefel rhombisch, der aus dem
Schmelzfluß erstarrende monosymmetrisch ist. Unrichtig ist der Satz: Chlor
bleicht, d. h. es zerstört Pflanzenstoffe (S. 29), ebenso die Bezeichnung Natrium-
und Kaliumhydrat (S. 32), die Stoffe hießen vielmehr früher Natron- bzw. Kali-
hydrat, weil man ihre Formeln NagO, HgO und HgO, H2O (oder mit den früher
gebrauchten Äquivalentgewichten NaO, HO und KO, HO) schrieb und die Oxyde
NagO und KoO als Natron bzw. Kali bezeichnete. Man kann auch nicht wohl sagen,
daß die Salpetersäure bei der Einwirkung auf Kupfer zerfällt, wie das S. 36 angegeben
ist. Die beiden Rhomboeder auf S. 51 sind keine Kalkspatrhomboeder, wenigstens
nicht die Spaltungsrhomboeder. Der technisch verwendete gebrannte Gips ist
nicht identisch mit dem Mineral Anhydrit (S. 53), sondern ist das Hemihydrat
CaS04.V2H20, dessen nähere Zusammensetzung noch nicht hinreichend feststeht.
Bei der Porzellanbereitung (S. 56) ist der Zusatz von Feldspat wesentlich. Bei der
Verwitterung der Feldspate entstehen nicht die Silikate, sondern die Karbonate
zum Kalium und Natrium. Die Formel Mg3(Si03)2 auf S. 59 ist unrichtig. Endlich
sind die Figuren 35 und 36 (S. 47), sowie 78 und 79 (S. 64) versehentlich auf den
Kopf gestellt.
Arendts Leitfaden für Chemie und Mineralogie (Leipzig
1909, Leopold Voß, 140 S., gr. 8^ 1,60 M.) ist, wiederum von L. Doermer heraus-
gegeben, in einer neuen, der 11. Auflage erschienen. Ebenso liegt eine neue
Auflage von A. Henniger, Vorbereitender Lehrgang der Chemie
und Mineralogie (Stuttgart 1909 u. 191 1, Grub) vor. Das letztere Buch
ist in zwei Ausgaben (A und B) erschienen, von denen die erstere (109 S., geb.,
1,50 M.) für Oberrealschulen und Realschulen, die letztere (76 S., geb., 1 M.) kürzer
gefaßte, für Anstalten bestimmt ist, an denen die Stundenzahl für den propä-
deutischen Unterricht in der Chemie eine beschränkte ist.
Berlin-Grunewald. Höh. Böttger.
b) Einzelbesprechungen:
Festschrift, dem König Wilhelm-Gymnasium zu Magdeburg
zur Feier seines 25jährigen Bestehens Ostern 1911 dar-
gebracht vom Direktor und Mitgliedern des Kollegiums. Magdeburg 1911.
Karl Peters. 185 S. 4\ 2,50 M.
Die vom Direktor und Mitgliedern des Lehrerkollegiums ihrer Anstalt ge-
widmete Jubiläumsgabe wird vom Direktor Knaub eröffnet durch eine metrische
Übersetzung des König Ödipus. Sie kann im allgemeinen als wohlgelungen be-
angez. von H. Bernhardt 549
zeichnet werden, störend wirken nur gelegentliche bewußte Anklänge an deutsche
Dichter, und manche Verlegenheitshilfen hätten vermieden werden können, wenn
der Übersetzer von vornherein auf eine gereimte Wiedergabe der Chorpartien
verzichtet hätte. Als besonders glücklich möchte ich trotz alledem die Parodos
und das dritte Stasimon bezeichnen.
Das folgende Wortverzeichnis des altmärkischen Dorfes Hohenwarsleben,
von Professor Schaper als Baustein zu dem immer noch fehlenden niederdeutschen
und Ergänzung zum Danneilschen Wörterbuch veröffentlicht, bildet eine Fund-
grube wertvoller kulturgeschichtlicher Einzelheiten und prächtiger Proben der
derb-schalkhaften Ausdrucksweise unseres niedersächsischen Stammes. Interessant
ist ferner z. B. das Schwinden ganzer Wortgruppen, so von Pflanzennamen und
den Ausdrücken für Flachsbau, und das allmähliche Absterben des Nieder-
deutschen wird am besten durch das Verzeichnis am Schluß gekennzeichnet,
wo ursprünglich gut plattdeutsche Ausdrücke nunmehr in hochdeutscher Form
erscheinen.
Professor Philippson untersucht die Frage, ob sich Horaz seine Anschauungen
auf Grund der Philosophie gebildet, oder diese auf Grund jener gewählt hat. Die
angeführten Parallelstellen machen es wahrscheinlich, daß Philodem, das Haupt
der italischen Epikuräer, Horaz die Kenntnis seiner Philosophie vermittelte, ein
Mann, der auch als Mensch und Dichter von großem Einfluß auf ihn gewesen ist.
Eine pädagogische Frage behandelt Professor Röhlecke in seiner Betrachtung:
„Beurteilung des häuslichen Fleißes auf Schulzeugnissen", die freilich ein wenig
breit angelegt ist und dem Fachmann nicht viel Neues bringt.
Die Abhandlung Professor Bradherings „Zur Geschichte des Schiffskompasses",
geht von den Deviationen aus, welche die Kompasse an Bord der mehr und mehr
ausschließlich von Stahl erbauten Schiffe erleiden. So mußte auf den Kriegsschiffen
der Magnetkompaß abgeschafft werden, während er vorläufig in der Handels-
marine noch im Gebrauch ist. Den Schluß bildet ein Zukunftsbild: Der Kompaß
in der Aviatik.
Die folgende lateinische Untersuchung Oberlehrer Schumanns führt an der
Hand der Fragmente bei Stobaeus, die eingehend mit anderen unbestrittenen Stellen
des Aristoteles verglichen werden, den Nachweis, daß auch der Dialog :repl su^e-
vsi'a? trotz der Anzweiflung Plutarchs auf den großen Stagiriten zurückgeht.
Den Schluß bilden Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden des Mittel-
alters von Oberlehrer Forchhammer. Er zeigt, daß der Hauptgrund des Juden-
hasses auf wirtschaftlichem Gebiete lag, indem einmal die Juden im 12. Jahrhundert
durch das Aufblühen des deutschen Großhandels ihre Monopolstellung auf diesem
Gebiet einbüßten, dann im 15. Jahrhundert auch als Vermittler des Geldverkehrs,
auf den sie sich seitdem geworfen hatten, überflüssig wurden und nun zu Pfand-
beleihern und Trödlern hinabsanken. Dem von der Kirche künstlich entfachten
religiösen Fanatismus kommt nur eine sekundäre Bedeutung zu. Dieser Verlauf
der mittelalterlichen Judenbewegung im großen wird dann im einzelnen an der
Geschichte der israelitischen Gemeinde in Magdeburg nachgewiesen.
So bringt die Festschrift eine Reihe wertvoller Gaben aus den verschiedensten
Wissensgebieten, unter denen ich — trotz des humanistischen Gymnasiums —
550 R. Lehmann, Erziehung und Unterricht, angez. von A. Matthias.
zur Vervollständigung der universitas literarum gern auch einen neusprachlichen
Beitrag gesehen hätte. Aber auch so gereicht die Gabe ihren Urhebern wie der
Anstalt zu gleicher Ehre und wird dazu dienen, die Erinnerung an das Jubiläum
zu einer dauernden zu gestalten.
Soest. H. Bernhardt.
Pädagogische Jahresschau über das Volksschulwesen. In Gemeinschaft mit E. Alt-
mann, L. Baur, Fr. W. Bürgel u. a. herausgegeben von E. Clausnitzer. V. Band
1910. XX u. 490 S. VI. Band 1911. XXVI u. 446 S. Leipzig und Berlin.
B. G. Teubner. ä Bd. 6 M.
Die ersten Bände sind bereits in dieser Monatschrift X. Jahrg., S. 51 f. be-
sprochen. Ich verweise auf die dortige Beurteilung und bemerke nur, daß die Mit-
arbeiter an manchen Stellen gewechselt haben, was dem Ganzen offenbar nicht
geschadet und, was frisches Leben anbelangt, nur Gutes gewirkt hat.
Lehmann, Rudolf, Erziehung und Unterricht. Grundzüge einer prak-
tischen Pädagogik. Zweite neubearbeitete und erweiterte Auflage von „Er-
ziehung und Erzieher". Berlin 1912. Weidmannsche Buchhandlung. XII u.
454 S. 8«. geb. 9 M.
Das im Jahre 1900 zuerst unter dem Titel Erziehung und Erzieher erschienene
Buch bietet sich hier in wesentlich umgearbeiteter und erfreulich erweiterter Form.
Schon der neue Titel zeigt, daß die Richtlinien viel weiter gesteckt und die zu er-
reichenden Ziele praktischer begründet sind. Der äußere Umfang ist um 100 Seiten
gewachsen; statt zehn Kapitel haben wir jetzt deren vierzehn.
Früher war das Buch in der Hauptsache ein Buch für Lehrer höherer Schulen,
da es sich auf die Erziehung und Erzieher beschränkte, die mit diesen Schulen
in Berührung kommen; jetzt schließt es auch die Volksschule und die Mädchen-
bildung in die Besprechung ein und ist für alle Lehrerkreise bestimmt und so an-
gelegt, daß die eine Kategorie von dem Treiben der anderen sehr viel Anregendes
erfährt, was den Horizont wesentlich erweitert.
Von der Neubegründung der Volksschule durch Pestalozzi werden wir bis zur
Neuzeit geführt an allen wichtigen Fragen vorbei, die jeder Gebildete kennen lernen
sollte, jeder Lehrer, mag er oben oder unten unterrichten, kennen lernen muß.
Wir können nicht alles aufführen, was neu ist an dem Buche. Nur hinweisen können
wir auf wichtige Probleme, so auf das Problem der religiösen und der staatsbürgerlichen
Erziehung und auf den Moralunterricht, die in geschickter Vergleichung und Neben-
einanderstellung erörtert werden. Ferner bespricht das Buch als neuen Gegen-
stand das Prinzip der Selbsttätigkeit und die Forderungen Pestalozzis, Fichtes
und Fröbels, dann die aktuellen Fragen der Arbeitsschule, des Kindergartens,
der Werktätigkeit, der Arbeitsschule, der Kinderhorte und der Fortbildungsschulen.
Zwei gesonderte Gebiete, die früher in einem gemeinsamen Abschnitt besprochen
oder nur berührt waren, werden jetzt jedes in einem besonderen Kapitel behandelt;
das eine ist betitelt , Lehrer und Lehrerbildung*, das andere ,der Oberlehrer«; jenes
beleuchtet das Gebiet der Volksschule und Seminarlehrer, dieses die akademisch-
gebildeten Kreise.
J. Ziehen, Aus der Werkstatt der Schule, angez. von A. Matthias. 551
Ebenso ist neu das Kapitel über Frauenbildung und Mädchenschule, das uns
die geschichtliche Entwicklung der Frauenkultur bringt und sich bis zur Reform
des höheren Mädchenschulwesens erstreckt, aber auch die Vorbildung der Lehre-
rinnen mit umfaßt. An letzter Stelle folgt dann noch ein Kapitel über die Päda-
gogik der Hochschule, in denen sich der Verfasser als kluger Berater über mancherlei
Lücken erweist, die hier noch auszufüllen sind.
Die Erweiterung, die gegen die erste Auflage mit dem Buche stattgefunden,
ist nicht nur äußerlich zu fassen; sie ist vielmehr zugleich eine Vertiefung, die mit
dem Entwicklungsgange des Verfassers zusammenhängt. Vor 10 Jahren war er
Oberlehrer an einem Berliner Gymnasium; inzwischen hat er als Professor an der
Posener Akademie seine Erfahrungen und Anschauungen wesentlich vermehrt
in einer Zeit, in welcher an den höheren Schulen, auch an denen für Mädchen,
bedeutende Veränderungen vor sich gegangen sind. Dazu wurde Lehmann mit der
Praxis des Universitätslebens innig vertraut. Und ferner erweiterte seinen Blick,
sein Wissen und seine Erfahrungen ein wiederholter Aufenthalt in Amerika, der
ihn befähigte, das Ganze eines nationalen Schulwesens kennen zu lernen und es
zu vergleichen mit den heimischen Verhältnissen. Lehmanns Gesichtskreis und
damit sein Recht, in pädagogischen Fragen mitzusprechen, ist dadurch bedeutsam
erweitert und fester begründet und er ist befähigt, nunmehr den höheren Unterricht
nicht mehr allein zu beurteilen, sondern ihn als einen Teil eines großen Ganzen anzu-
sehen und die Fäden zu erkennen, die hin und wieder laufen und auf neue Fäden
hinzuweisen, die noch geknüpft werden müssen.
Und weil dem so ist, so ist das Buch ein sehr wertvolles Werk für jeden Lehrer,
von der Universität herab bis zur kleinsten Dorfschule. Es kann nur zu weitester
Verbreitung empfohlen werden.
Ziehen, Julius, Aus der Werkstatt der Schule. Studien über den
inneren Organismus des höheren Schulwesens. Leipzig 1907. Quelle & Meyer.
8». VI u. 207 S. 4 M.
Versehentlich kommt die Besprechung verhältnismäßig spät, da das Buch
in der Redaktion etwas Irrläuferei getrieben hat. Aber es ist besser, ein Versehen
einzugestehen, als sich mit Schweigen aus der Affaire zu ziehen; um so mehr, als
es sich hier um ein Buch handelt, das für jeden ernst arbeitenden Schulmann eine
Fülle von Anregungen bietet und recht bekannt zu werden verdient. „Anspruchs-
lose" Einzelstudien nennt Ziehen diese Studien, es entspricht das ganz seiner Art.
Wer Ansprüche macht, beweist dadurch in den meisten Fällen, daß er keine zu
machen hat. Aber, wer wie Ziehen das Beste bietet und sagt, es sei anspruchslos,
der hat wirklichen und begründeten Anspruch, gelesen, studiert und befolgt zu
werden. Gleich der erste Aufsatz ,,über ein künftiges deutsches Reichsschul-
museum" ist schon bei seinem ersten Erscheinen sehr beachtet und er ist auch
befolgt, indem das preußische Kultusministerium die wertvollen Schätze der
Brüsseler Unterrichtsausstellung nicht wieder hat verkommen lassen, sondern
aufbewahrt hat in einem Berliner Schulmuseum, das hoffentlich den Anfang oder
einen der Anfänge eines Reichsschulmuseums bildet, das Ziehen immer wieder ge-
wünscht hat. —
552 A. Matthias, Praktische Pädagogik für höhere Lehranstalten,
Die anderen Studien sind anderer Art. Sie behandeln Fragen der Unterrichts-
methodik, die einerseits die Sichtung, auf der anderen Seite die Erweiterung und
Vertiefung der Lehrstoffe betreffen und deren Verlauf einer anregenden und inner-
lich bildenden Lehrweise Klarheit zu schaffen sucht. Aus den Gebieten, die Ziehens
persönlicher Neigung nahe liegen und die er mit klugem Sinn und scharfem Auge
für praktische Handhabung selber durchwandert hat, sind diese methodischen
Anregungen entnommen; vor allem aus der Arbeit am Frankfurter Lehrplan,
der sieben Aufsätze gelten, dann aus dem deutschen Unterricht, den drei Auf-
sätze behandeln, aus dem neuphilologischen Unterricht mit sechs Aufsätzen.
Ferner findet der Geschichtsunterricht und der Unterricht in der Erdkunde mit
sieben Aufsätzen Berücksichtigung, und den Schluß krönt die Kunst mit einer Ab-
handlung zur Schulung des Auges und zur Erweckung, des Kunstsinnes im Zeichen-
unterricht.
Alles, was geboten wird, ist, wie man das bei Ziehen gewohnt ist, ungemein
anregend, und die Anregungen sind so, daß man sie verwenden kann; sie sind nicht
nur da, um zu unterhalten, sondern so, daß man sich im eigenen Unterricht hand-
fest an sie halten kann. Und dazu sind sie — und das ist in pädagogischen Büchern
nicht immer der Fall — niemals langweilig, sondern originell und geistreich und
zwar in dem Sinne geistreich, daß sich überall vornehmer Respekt vor den be-
stehenden Zuständen zeigt. Denn geistreich zu sein, wenn man vor nichts Respekt
hat, das ist nach Goethe bekanntlich kein Kunststück.
Das Versehen ist also wieder gut gemacht; da es so spät geschehen, kann ich
den Lesern, die das Buch noch nicht gelesen haben, nur raten, es schleunigst
zu studieren. Sie werden, wie ich, Freude daran haben.
Berlin. A. Matthias.
Matthias, Adolf , Praktische Pädagogik für höhere Lehr-
anstalten. 4. Auflage. München 1912. C. H. Becksche Verlagsbuchhand-
lung. X u. 294 S. 8». geb. 6 M.
Im Begriffe, in einen neuen und verantwortungsvolleren Wirkungskreis ein-
zutreten, hatte ich mir behufs Selbstprüfung und Gewissensschärfung die erneute
Lektüre einiger weniger pädagogischer Werke vorgesetzt, zu denen auch Matthias'
Praktische Pädagogik gehörte: die Aufforderung zur Besprechung der neuen Auf-
lage war mir um so willkommener. Unter den vielen ausgezeichneten Arbeiten, die
Baumeisters Handbuch vereinigt, hat die Praktische Pädagogik in der Auflage-
ziffer den Rekord erreicht. Und das nimmt nicht wunder: an pädagogischer Theorie
fehlt es dem in den Schuldienst Tretenden in der Regel nicht; die Erfahrungen der
Praxis aber, die doch schließlich erst den belebenden und sicher machenden In-
duktionsbeweis für die Theorie liefert, sind in zahllosen Schriften und Aufsätzen
so zerstreut, daß man mit Dank ein Buch begrüßen wird, in dem sie gesammelt
und zugleich von kundiger Hand gesichtet, gewogen und gerichtet vorliegen. Von
kundiger Hand: der Verfasser ist die ganze Stufenleiter vom Lehrer zu einem
langjährigen Mitgliede der Zentralstelle unseres Unterrichtswesens aufgestiegen
und hat damit Einblicke und Umblicke in Schule und Leben gewonnen, die dem
in engerem Kreise Schaffenden versagt bleiben, aber auch das Zutrauen zu dem
angez. von E. Grünwald. 553
Führer erhöhen müssen. Dazu fehlt dem Buche alles Zunftmäßige und Doktrinäre,
heimelt im Gegenteil eine stark persönliche Färbung der Darstellung besonders
an; ich verstehe wenigstens nicht, wie man dem Verfasser aus seiner Geradheit
und Natürlichkeit hat einen Vorwurf machen können. Die enge Wechselbeziehung
zwischen Schule und Leben wird heutzutage glücklicherweise immer mehr ge-
würdigt: daß man nur die eine oder das andere kennt und berücksichtigt, führt
zu so vielen haltlosen und ziellosen Reformvorschlägen. Nicht als ob der moderne
Zug — der Matthias mit unserm unvergeßlichen Münch eignet — ihn nun blindlings
allen Welt- und Schulverbesserern Sitz und Stimme im Rate geben ließe: „Laß
dich nicht verblüffen, heißt es S. 33, . . . von den Eltern deiner Schüler, auch wenn
sie noch so voreingenommen und aufgeregt sind über ihre Kinder und deren Be-
handlung seitens der Schule; auch nicht verblüffen von der tadelnden Presse, dem
nörgelnden Publikum und vor allem nicht von den maßlosen Reformhelden des
Tages, die der Schule im allgemeinen und deinem Stande etwas am Zeuge flicken
wollen und das tun unter marktschreierischem Paukenschlage nichtssagender
Phrasen und unbewiesener Vorwürfe." S. 142 liest man: „Man sollte sich den
Reformrufern gegenüber, welche Aussonderung des unnötigen Lehrstoffs und überall
einen Lehr- und Lernkanon verlangen, sehr zurückhaltend benehmen; man beraubt
sich vielfach durch Beseitigung des „unnützen Ballastes" der besten Assoziations-
stützen. Das können jene Entbürdungsapostel nicht wissen, da sie der Sache
allzu fern stehen und von echter, kräftiger Pädagogik herzlich wenig verstehen.''
Und S. 144: „Auch das sollten wir festhalten moderner Weisheit gegenüber, die
uns überreden möchte, daß man die Ausnahmen nicht mehr lernen lasse, weil das
dem festen Besitz schade: exceptio f ir mat regulam sagt ältere Weisheit, die un-
bewußt ihren Respekt vor Assoziationsstützen aussprach, weil sie nicht unter dem
unklaren Einfluß eines unphilosophischen Zeitalters stand." Und endlich S. 164:
„Man hat wohl geklagt, daß unsere Schulen mit ihrer große^n Schülerzahl, mit
ihren bestimmten Lehrzielen und ihrer strengen Zucht dem individuellen Lern-
triebe verhältnismäßig wenig Raum gewähren und die Individualität der Schüler
beengen und schädigen; man hat aber dabei vergessen, daß jener Schaden, wenn
er wirklich bemerkenswert sein sollte, ausgeglichen wird durch die Verschärfung
des jugendlichen Pflichtgefühls, durch die zuchtvolle Forderung von Gesamt-
leistungen und durch die Pflicht des Zusammennehmens im Interesse eines Gesamt-
lerngebietes. Man beachtet ferner nicht, daß diese Schule dem falschen Individua-
lismus, dem leichtfertigen Verwöhnen, dem Gehen- und Gewährenlassen des Hauses
doch einen schätzenswerten Damm entgegenstellt, ohne den die heutige Gesellschaft,
wenn sie in der Erziehung allen ihren Neigungen frönen dürfte, doch bald aus
Rand und Band kommen könnte. Der kategorische Imperativ, der den Knaben
treibt zu lernen, was er lernen soll, übt seine Wirkung auch auf die Pflichttreue
unserer Zeit aus; eine zu starke Pflege der Individualität würde gerade in unseren
Tagen das bedenklichste Geschenk sein, das wir der Jugend für ihre Zukunft mit
auf ihren Lebensweg geben könnten." Die Forderungen des Verfassers bleiben
immer diesseits des Möglichen und Wünschbaren, bestehen aber auf dem Nötigen
und Erreichbaren: mit der „Moderne" wird nur paktiert, soweit „das Empirische
der Pädagogik, die historische Entwicklung der Kunst" es ungezwungen zuläßt;
554 A. Matthias, Praktische Pädagogik usw-, angez. von E. Grünwald.
denn „der richtige Pädagoge und eine richtige Pädagogik lernen nimmer aus'",
die praktische Pädagogik trägt einen „kompromißartigen Charakter**. Soviel des
nicht Meßbaren und nicht Wägbaren tritt dem Erzieher zumal in dem „Naturleben"
der Schüler gegenüber, daß er ihm mit Schema F nicht ohne weiteres gerecht werden
kann. Damit hängt der Wert der Persönlichkeit für die Erziehung zusammen,
auf die der Verfasser starkes Gewicht legt und immer wieder zurückkommt, mit
der er — für seinen Standpunkt bezeichnend — seine Pädagogik beginnt und an
der ja auch für die Praxis tatsächlich mehr liegt als an Stoff und Methode, Reglement
und Lehrbuch. S. 253 heißt es ausdrücklich und deutlich: „Die praktische Pädagogik
soll nicht der Selbstverherrlichung, sondern der Selbsterkenntnis dienen; sie ist
nicht bestimmt fürs große Publikum, sondern für den Hausbedarf und die Selbst-
erziehung, der wir doch schließlich die eigentlichen Resultate unseres Lebens ver-
danken." Aus dem zweiten, umfangreichsten Abschnitt, der von der Methode
handelt, sei es dem Humanisten gestattet, auch einiges Haben zu buchen, zumal
die gelegentliche Stellungnahme des Verfassers zur Sache des Gymnasiums ihn
in den Verdacht recht platonischer Liebe zur alten Gelehrtenschule und modischer
Unterschätzung ihrer Verdienste und ihrer Daseinsberechtigung gebracht hat.
Wenn er auch (S. 46) den formalbildenden Wert des lateinischen Grammatik-
unterrichts noch stärker hätte betonen können, so erkennt er doch „geistige Schulung
durch formale Übung'* (S. 52) überhaupt an, ermuntert (S. 47) „zu freiem und
mutigem Gebrauch der lateinischen Sprache, den wir doch nicht aufgeben wollen",
spricht (S. 101) von „Übungen des Übersetzens in die fremden Sprachen, die wir
nicht werden entbehren können**, (S. 240) von den Extemporalien als einem „vor-
trefflichen Kraftmesser", (S. 108) von dem „oberflächlichen Gerede derer, die die
Übersetzungen der alten Klassiker für ebenso vollwertig halten wie die Originale*'.
— Materiam aequat opus. Die ursprüngliche, frische, phrasenlose, auch allem
Fachjargon möglichst aus dem Wege gehende, gegen Anmaßung scharfe, gegen
Verkehrtheiten oft sarkastische, meist humorvolle Sprache bringt den Leser bald
zu dem Verfasser in das rechte Vertrauensverhältnis; glückliche Wendungen und
Formulierungen finden sich fast auf jeder Seite: so „Eigensinn frißt, wenn er nicht
beachtet wird, meist sich selber auf**; „wirkungsvolle Strafen gleichen Kapitalien,
die gute Zinsen bringen'*; „nicht mit Kanonen nach Spatzen schießen, ist auch gute
Regel für Erhaltung des Gehorsams und Wahrung der Autorität**; „suum cuique,
nicht idem cuique"; „die schlichten Worte: ,Und der Herr wandte sich und sah
Petrus an* enthalten eine Fülle der Weisheit über den Wert des Auges für die Zucht
und Besserung*'; „die Mehrzahl der Menschen und auch der Lehrer ist zum Nörgeln
mehr veranlagt als zu freiem und frischem Anerkennen**; „je pädagogischer man
verfährt, um so gerechter wird die Versetzung sein; und je gerechter man versetzt,
um so mehr werden pädagogische Wirkungen erzielt werden**; „die praktische Päda-
gogik hat allewege den Grundsatz zu verfolgen, daß man als Schulmann empfind-
licher sein muß für das Vergnügen zu lernen als für das Mißvergnügen das Voll-
kommene noch nicht erreicht zu haben". Die Literaturangaben sind sparsam,
aber ausreichend; Wetekamps Programmabhandlung (S. 162) ist als selbständiges
Buch und schon in dritter Auflage erschienen. Zu S. 220 f. wäre zu bemerken,
daß den gewiß begründeten Bedenken und Warnungen des Verfassers, die [das
K. Seil, Katholizismus und Protestantismus, angez. von R. Peters. 555
Fleißprädikat auf dem Zeugnis betreffen, in der neuen Dienstanweisung S. 16
Rechnung getragen ist. An Druck versehen füge ich an: S. 41 Z. 4 v. u. 1. ent-
wachsen; S. 83 und 86 1. Hildebrand; S. 108 Z. 14 v. u. 1. patria; S. 109 1. clades;
S. 111 Z. 21 V. u. 1. verbindende usw.; Z. 14 v. u. 1. sente; S. 114 Z. 4 v. o.l. essent;
S. 147 Z. 1 V. u. 1. er; S. 164 Z. 15 v. u. 1. das; S. 185 Z. 15 v. o. 1. einen. — Schließ-
lich trage ich noch nach, daß diese vierte Auflage um drei wichtige und wohl-
gelungene Kapitel bereichert ist: die zehn Gebote für den Lehrer, die zehn Gebote
für den Schüler und die schriftlichen Klassenarbeiten — jene vom Verfasser
treffend charakterisierte Versuche, die Pflichten des Lehrers und Schülers auf
möglichst kurze und behaltbare Formeln zu bringen; dies eine im ganzen an-
erkennende Beleuchtung des Extemporaleerlasses vom 21. Oktober 1911.
Friedeberg Nm. E. G r ü n w a 1 d.
Seil, Karl, Katholizismus und Protestantismus. Leipzig 1908.
Quelle & Meyer. VII u. 327 S. 8«. 4,40 M.
Das Buch verfolgt ebensowenig apologetische, wie polemische Tendenz. Es
wird weder der dogmatische Maßstab angelegt und die eine Auffassung als die allein
haltbare gegenüber der anderen zu erweisen versucht, noch auch wird die Methode
des konfessionellen Streites befolgt, die der anderen Konfession ohne weiteres
die Schuld aufbürdet für Einseitigkeiten und Fehler einzelner Persönlichkeiten.
Vielmehr wird nach einem kurzen Überblick über das Urchristentum und das katho-
lische Kirchentum bis zur Glaubensspaltung in objektiv geschichtlicher Dar-
stellung gezeigt, wie ,aus dem Mutterschoße der mittelalterlichen Religion in der
Reformationszeit mit dem Zwillingsbruder, der die Züge der alten Mutter Kirche
vorwiegend an sich trug, dem neuen Katholizismus, ein anderer entbunden wurde,
der, in allem verschieden von jenem, doch seiner Bestimmung nach nichts anderes
sein will und wollen kann, als auf seine Weise die auch ihm eingeborenen Kräfte
eines eigentümlichen christlich sittlichen Genius zu betätigen'. Es kommt dem
Verfasser darauf an, das Wesen der in sich gleichberechtigten Ausprägungen der
christlichen Religion aufzuweisen und darzutun, wie daraus ein verschiedenes Ver-
hältnis zur Politik und zur Kultur sich ergibt. Auch in diesen Kapiteln tritt das
richtende Urteil zurück hinter dem besonnen würdigenden, und bei den unvermeid-
lichen Werturteilen über die einzelnen Erscheinungen waltet das Bestreben, vor
allem den Beweis des Geistes und der Kraft reden zu lassen.
Die Schwierigkeiten einer solchen Darstellung liegen auf der Hand, und der
Verfasser hat sie sich nicht verhehlt. Sie liegen einmal darin, daß bei manchen
Steinen, die in den Aufbau der geschichtlichen Betrachtung eingefügt werden,
die vorbereitende Bearbeitung noch nicht fertig war. Aber auch bei der ,rein ge-
schichtlichen' Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Katholizismus und
Protestantismus treten sie hervor. Wenn z. B. S. 205 gesagt wird: , Nicht der
Katholizismus, sondern nur der Kurialismus, der politische Katholizismus, der
seine Weisung aus dem Syllabus nehmen muß, ist innerlicher Gegner des modernen
paritätischen Staates', so könnte man doch angesichts der Tatsache, daß der Syllabus
durch die einstimmige Annahme des gesamten Episkopats den Charakter einer
durchaus maßgebenden Kundgebung erhalten hat, dagegen einwenden, daß eine
556 P. Cauer, Das Altertum im Leben der Gegenwart, angez. von F, Thümen.
Unterscheidung zwischen Katholizismus und Kurialismus, die dem religiösen Urteil
des Protestanten sich aufdrängt, vom geschichtlichen Standpunkt nicht mehr halt-
bar ist. Doch trotz solcher Bedenken wird auch der, bei dem der optimistische
Ausblick in die Zukunft (,Zur Psychologie der Konfessionen, der Austausch der
Konfessionen und die Zukunft des Christentums') Zweifel über die Verwirklichung
des Ideals erweckt, seine Freude haben an der gerechten und weitblickenden Art
der Darstellung.
Düsseldorf. RudolfPeters.
Cauer, Paul, DasAltertumim Leben der Gegenwart. Leipzig 191 1.
B. G. Teubner. VII u. 122 S. S\ geh. 1 M., in Leinwand geb. 1,25 M.
Von den zahlreichen Schriften, die der Verfasser zur Würdigung des klassischen
Altertums als eines unerläßlichen Kulturfaktors auch für unsere Zeit im Laufe der
Jahre veröffentlicht hat, ist jüngst der Vortrag „Wissenschaft und Schule in ihrem
Verhältnis zum klassischen Altertum" in dieser Monatschrift besprochen worden.
Ihm folgt das obige Büchlein, das aus teils akademischen, teils privaten Vorträgen
hervorgegangen ist und den in der erstgenannten Veröffentlichung liegenden Grund-
gedanken weiter verfolgt und tiefer begründet. Hieß es dort, daß die Philologie,
„indem sie die gesamte Geisteskultur von Jahrtausenden für den forschenden
Blick in eine Folge von Entwicklungsstufen auflöst, den Zwang lockern hilft, mit
dem nun die geschlossene Masse auf den Epigonen lastet", so wird hier auf den
verschiedenen Gebieten der Lebensäußerungen des Altertums nachgewiesen, in
welcher Weise „der Tyrannei formulierter Ansichten entgegengearbeitet und der
Blick auf das allmähliche Werden der Begriffe und der Denkweisen hingelenkt"
werden soll. Das kann nach des Verfassers Ansicht nur geschehen, wenn das Alter-
tum nicht mehr schlechthin als ein Ideal, sondern rein menschlich — „was die
Alten gewesen sind und geleistet haben" — betrachtet wird, wenn die Forschung
wie die ästhetische Würdigung mehr zum Kerne, zum Ursprung und den Anfängen
der Entwicklung vordringt und in dem schließlich Gewordenen das Bleibende von
dem Vergänglichen zu sondern lernt. Die Ergebnisse einer solchen Betrachtungs-
weise werden die Wirkung haben, daß die Gegenwart die Schätze, die im klassischen
Altertum liegen, sich innerlich aneignet — vgl. auch Otto Immisch: Das Erbe der
Alten (Vortrag) — und damit für die eigenen Aufgaben und Bestrebungen ver-
wertet. Gern lassen wir uns im einzelnen durch die feinsinnigen Betrachtungen
des Buches leiten und anregen, so über die Frage, ob die Römer für unser Geistes-
leben eine ebenso hohe Bedeutung wie die Griechen haben oder nur als Vermittler
des Zusammenhanges mit diesen anzusehen sind; über den Begriff Klassizismus;
ganz besonders über die bildende Kunst und deren Verständnis. Diese sowie die
Ausführungen über Homer, die Tragödie, die Wissenschaft, die Sprache, den Staat
stehen sämtlich unter dem Einflüsse des Satzes, daß ein Werk aus dem Geiste seines
Schöpfers und den Bedingungen der Zeit, in der es geschaffen wurde, zu verstehen
ist, setzen wir hinzu, damit die Nachwelt daraus Gewinn für ihre weitere Entwick-
lung ziehe.
Das Büchlein wird sich viele Freunde unter den Verehrern des klassischen Alter-
tums erwerben, ist aber auch recht geeignet, die Gegner des Humanismus — die,
G. Finsler, Homer in der Neuzeit usw., angez. von C. Rothe. 557
wie Immisch meint, im Grunde bereits die Leute von gestern sind — zum min-
desten zu interessieren. Der Titel erscheint insofern nicht glücklich gewählt, als
nicht das i n der Gegenwart lebendig wirkende Altertum geschildert, sondern
dessen Wert für Gegenwart und Zukunft erwogen und festgestellt wird, eine Wendung,
die der Verfasser selbst S. 26 „Bildende Kunst" Z. 1 gebraucht.
Naumburg a. S. F. T h ü m e n.
Finsler, G., Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe.
Italien. Frankreich. England. Deutschland. Leipzig und
Berlin 1912. B. G. Teubner. 530 S. gr. 8». 12 M., geb. 14 M.
Ein Werk wie das vorliegende konnte nur ein Gelehrter wie Finsler in würdiger
Weise schreiben. Finsler hat, wie sein 'Homer' 1908 und mehrere kleinere Ab-
handlungen beweisen, nicht nur die homerischen Gedichte selbst mit Liebe und
feinem Verständnis gelesen, sondern er beherrscht auch in ungewöhnlichem Um-
fange die neuere wie die ältere Homerliteratur. Von dem Dichter selbst aber hat er,
wie es scheint, die Kunst, einen gewaltigen Stoff gut zu ordnen und die Ver-
bindung zwischen scheinbar getrennten Dingen geschickt herzustellen. Hinzu-
kommt die Gabe klarer, gefälliger Darstellung, die für ein Werk, das in weiten
Kreisen der Gebildeten gelesen werden soll, unbedingt notwendig ist. Endlich
erleichtert die Lektüre des Buches eine genaue Inhaltsangabe, die vorausgeht,
sowie Register, die folgen, und die sorgfältige Trennung von der Darstellung
und den Nachweisen, auf denen die Darstellung fußt. Letztere sind nur für
Fachgenossen; andere werden dadurch nur gestört.
In kurzen Strichen zeichnet uns der Verfasser die Veränderung des Geschmackes
und der Bildung und in Verbindung damit die Beurteilung Homers am Ausgange
des Altertums; weist nach, daß das 7. und 8. nachchristliche Jahrhundert den
Tiefstand der Bildung bezeichnen; zeigt, wie in Byzanz, wo die Verbindung mit
dem Altertum nie ganz unterbrochen ist, im 12. Jahrhundert neue Ansätze auch
für das Homerstudium gemacht werden von Tetzes und besonders von Eustathios
(t um 1192), dessen fleißiges Werk in der Renaissance, ja bis zur Entdeckung
der Homerscholien im 18. Jahrhundert große Wirkung gehabt hat. Als Wieder-
entdecker Homers im Abendlande gilt Petrarca; aber nur sehr langsam breitet
sich die Kenntnis des Griechischen aus; nur wenige Gelehrte kennen von Homer
mehr als einzelne Szenen oder dürftig den Inhalt der Gedichte. Ariost in seinem
'Rasenden Roland' (1516, in endgültiger Form 1538) hat Homer noch nicht be-
nutzt; sein Werk ist durchaus selbständig, auch frei von dem Aristotelischen Regel-
zwang. Tasso dagegen im 'Befreiten Jerusalem' (1575) ahmt nicht nur die Gesamt-
handlung der Ilias nach, sondern auch einzelne Szenen, aber er tut es nicht
sklavisch, sondern trägt den Verhältnissen seiner Zeit sowohl in der Begründung
wie in der Auflösung des Zornes der Fürsten Rechnung.
Klar zur Anschauung bringt Finsler die Streitfrage, welche alle Gebildeten
nicht nur in Italien, sondern auch in Frankreich, England und Deutschland be-
schäftigt hat: Ist Homer oder Virgil der größere Dichter? Das Urteil fällt sehr
verschieden aus, je nach der Zeit und dem Stande der Bildung. Während in der
Frührenaissance der Humanist Lorenzo Valla (um 1450) erklärt: 'der unter dem
558 G. Finsler, Homer in der Neuzeit usw., angez. von C. Rothe.
Namen des Pindarus Thebanus gehende Auszug aus der Ilias sei dem Virgil vor-
zuziehen,' urteilt der gelehrte Paolo Beni (um 1600): 'Homer ist Kupfer, Virgil
im Vergleich zu ihm Silber, Tasso eitel Gold.' Dieses absprechende Urteil über
Homer überbietet noch der Franzose Scaliger (1561), wenn er sagt, daß Virgil
sich von Homer wie eine vornehme Dame von einem plebeischen, läppischen Weibe
unterscheide. Überhaupt hat in Frankreich Homer niemals das Interesse erregt wie
in Italien, England und Deutschland, weil hier das Epos an sich hinter dem Drama
zurückstand und nur ein ganz kleiner Kreis mit eng begrenztem Gesichtspunkt
den Wertmesser ästhetischen Urteils abgab.
Viel erörtert ist auch schon im Cinquecento die Frage: Wie weit sollen neuere
Dichter Homer nachahmen? wie weit auch nur die Regeln des Aristoteles? Es
ist bemerkenswert, daß schon damals mit aller Entschiedenheit der Gedanke aus-
gesprochen ist, daß der Dichter sich selbst das Gesetz gibt, daß Regeln der Gram-
matiker und Forderungen der Kritiker nicht über dem Geist stehen, aus dem der
Dichter schafft. Sehr richtig bemerkt Finsler, daß uns sehr viel Mühe und Ärger
erspart geblieben wäre, wenn dieser Gedanke durchgedrungen und die Ansicht
aller einsichtsvollen Kritiker geworden wäre. Am wenigsten aber ist von dieser
Einsicht im 17. Jahrhundert zu merken, das bei allen Kulturvölkern so ziemlich
den Tiefstand in der Beurteilung Homers und im Tadel seiner Dichtung im einzelnen
wie im Gesamtplane bedeutet. Man tadelt nicht nur die zahlreichen Wieder-
holungen und Widersprüche, sondern auch das Rohe seiner Darstellung, z. B.
daß er Nausikaa selbst die Kleider waschen lasse, was nicht nur einer Prinzessin,
sondern einer einfachen Bürgersfrau unziemend wäre.
Im 18. Jahrhundert tritt eine Wendung zu einer gerechteren Beurteilung
Homers ein. Die Führung übernimmt England, wo im Anfange des Jahrhunderts
die Kenntnis des Griechischen gewaltig an Umfang gewinnt. Wirkte doch hier
seit 1700 als Master des Trinity College in Cambridge der größte Philologe seiner
Zeit, Bentley, bekannt durch die Entdeckung, daß zur Zeit der Entstehung der
Gedichte das V (nach seiner Form 'Digamma' genannt) noch gesprochen worden
sei. Die Sprache Homers und die Realien werden ebenso untersucht wie die Kunst
im Aufbau der Gedichte. Wird in Italien Ariost und Tasso, so wird in England
gern Milton zum Vergleich herangezogen. Seit der Mitte des Jahrhunderts wird
der Ruf 'Zurück zur Natur' laut, und es beginnt damit für Homer, in dem man
reine Natur im Unterschiede zu der Bildung späterer Zeit sieht, das Zeitalter der
höchsten Bewunderung. Der Engländer Wood unternimmt große Reisen nach
dem Orient in erster Linie, um die Länder und Volker kennen zu lernen, die Homer
schildert, und er findet wirklich in Homers Gedichten ein treues Abbild davon.
Dazu schärfen Ossians Gesänge, die Macpherson veröffentlicht, den Blick für
das Volkslied. Die Bewegung greift mächtig nach Deutschland hinüber, wo be-
sonders Herder in diesem Sinne tätig ist. Damit tritt die Frage nach dem Ursprünge
der Gedichte, die vereinzelt auch früher gestreift ist, in den Vordergrund: In
blinder Bewunderung des Volksliedes sieht man auch in der Ilias ein 'Volksepos',
ein Epos, an dem das ganze Volk geschaffen habe, nicht ein einzelnes gewaltiges
Genie. Damit ist die Grundlage gegeben, um Wolfs Hypothese, obwohl sie, wie
Finsler zeigt, nicht neu ist, sondern vor ihm von d'Aubignac und Heyne in allen
Gedichte des Catullus, angez. von A. Matthias. 559
wesentlichen Zügen schon aufgestellt ist, die ungewöhnliche Wirkung zu verschaffen.
Die meisterhafte Darstellung und das Ansehen des Gelehrten trugen freilich auch
nicht wenig zur Verbreitung bei.
Kurz gibt Finsler noch an, welche Stellung die damals führenden Geister
in Deutschland, Goethe, Schiller und Wieland, zu der Hypothese Wolfs einnahmen
und welche Bedeutung sie im 19. Jahrhundert gehabt hat. Und er schließt mit
den schönen Worten: „Scheffel hat die Homerkritik zerstörungsfroh genannt,
und es läßt sich nicht bestreiten, daß sie im Aufspüren von Widersprüchen in der
Gesamtkomposition wie in den Einzelheiten der Gedichte das Maß des Zulässigen
weit überschritten hat. Was das Schlimmste ist: bei gar zu vielen der Gelehrten
findet sich zu wenig Gefühl dafür, daß wir es mit Poesie zu tun haben, und daß
Poesie ohne einen Dichter undenkbar ist. Und nun ist dieser Dichter nicht nur
der älteste unter den erhaltenen, sondern der lebendigste, frischeste und unver-
wüstlichste. Ihn von der Seite der Poesie zu betrachten, ist denn auch die Auf-
gabe, die sich in neuester Zeit viele gestellt haben Bekennen wir uns vor
allem zu einer poetischen Persönlichkeit Homers; dann wird uns die Kritik und
Erklärung der Werke weiter fördern, als wenn ihr Resultat nur die Zertrümmerung
ist, wie es vielfach der Fall war. Dann wird auch die Freude an dieser unver-
gänglichen Poesie die weitesten Kreise der gebildeten Weit wieder ebenso stark
durchdringen wie in Herders unvergeßlicher Zeit.**
Wie sehr ich Wort für Wort mit dieser Ansicht übereinstimme, beweist mein
Aufsatz in dieser Monatschrift S. 229 — 236. Bei Finsler aber ist diese Absage an
den 'kritischen Nihilismus', der nur zerstört, nicht aufbaut, um so bezeichnender,
als er noch in seinem 'Homer' 1908 ähnlichen Vorstellungen in bezug auf
die Eigenheit der homerischen Gedichte huldigte, wie Cauer es jetzt noch tut (vgl.
Jahresber. 1909, S. 210—213). Daß man aber beim Unterricht anfangen müsse,
wenn man wieder größere Begeisterung für Homer erwecken will, ist klar; daß
es möglich ist, habe ich a. a. 0. durch bestimmte Zeugnisse 'nachgewiesen.
Berlin-Friedenau. Carl Rothe.
Gedichte des Catullus. Übersetzt von W. A m e 1 u n g. Mit einer Einleitung
von Fr. Spiro und einigen Abbildungen antiker Denkmäler. Jena 1911.
Eugen Diederichs. XXXII u. 38 S. 8«. 3 M.
Nicht der Wunsch, ältere, in ihrer Art vortreffliche Übersetzungen durch eine
neue zu übertrumpfen, hat Amelung zu seinem Versuche angeregt, eine Auswahl
Catallscher Gedichte in deutscher Form zu geben. Eigenes Erleben vielmehr
hat die mit dem Feuer echtester Empfindung getauften Dichtungen in dem Über-
setzer wieder lebendig werden lassen und ihn gedrängt, ihren menschlich-poetischen
Gehalt in neugeschaffener Form zu fassen. Das Versmaß des Originals ist nirgends
festgehalten; es sind aber deutsche Maße gewählt, die die Stimmung des Originals
zu treffen suchen und das auch erreichen. Die Übersetzungen sind frei, aber dem
Sinne getreu bis zu philologischer Genauigkeit, und sie sind sehr geschmackvoll
und poetisch. — Die Einleitung von Spiro nimmt fast die Hälfte des Buches ein:
sie gibt ein meisterhaftes Lebensbild Catulls und führt uns mit großer Anschau-
560 E. Redslob, Kritische Bemerkungen zu Horaz, angez. von H. Röhl.
lichkeit und in lebendigem Stil ein in die Zeit Catulls. Die Ausstattung ist vor-
nehm und dem wertvollen Inhalt des Buches entsprechend.
Berlin. A. M a 1 1 h i a s.
Redsloby Ernst, Kritische Bemerkungen zu Horaz. Weimar 1912.
Alexander Duncker. 97 S. 8«. 3 M.
Diese überaus inhaltreiche Publikation behandelt in knapper Form eine außer-
ordentlich große Anzahl von Horazstellen kritisch und exegetisch, oft mit besonderer
Rücksicht auf die Wortstellung. Eine Kritik seiner Arbeit hat der Verfasser schon
vorweggenommen, indem er sich im Vorworte dahin äußert, daß gewiß auch reich-
lich viel Spreu mit unter die Körner gekommen sei. Nun, das ist ja an sich noch
kein Schade; die Hauptsache bleibt immer, ob auch wirklich Körner vorhanden
sind. Und das ist nach Ansicht des Referenten allerdings der Fall: unter dem
Dargebotenen findet sich neben vielem, was teils abzulehnen ist, teils zwar anregt
und Interesse erweckt, aber nicht eigentlich überzeugt, doch auch einzelnes, was
der Beachtung und Nachprüfung durch die Horazforscher durchaus würdig erscheint
und sich vielleicht durchsetzt. Und das wäre bei einem Schriftsteller wie Horaz
kein kleiner Erfolg. Hier einige Proben von der besseren Qualität; einen aus-
führlicheren Bericht bringt demnächst die Berliner Philologische Wochenschrift.
Od. I 28, 31. Für fors et schreibt der Verfasser fas ei, wobei der Satz optativi-
schen Sinn hat. — Od. II 10, 13. Infestis und secundis nimmt Redslob nach Maß-
gabe des Sinnes als Ablative. Vielleicht richtig; man vergleiche auch das an-
scheinend auf dieselbe Quelle zurückgehende Distichon Catonis IV 26 tranquillis
rebus semper diversa timeto; rursus in adversis melius sperare memento. — Od. III
20, 8. Aus Redslobs Verteidigung der Überlieferung sei die Deutung der praeda maior
auf die größere Gunst {quis potior futurus sit) hervorgehoben. — Das Carmen
saeculare zerlegt Redslob unter Absonderung der Schlußstrophe in zwei Strophen-
reihen zu je drei Triaden (so schon Menozzi in den Studi italiani di filologia classica
XII 1905, S. 67 ff.). Diese Zerlegung ist, wie man leicht sieht, an manchen Stellen
sehr ansprechend, während andere sie minder zu begünstigen scheinen. — Epod. 4, 17.
Für ora konjiziert der Verfasser monstra, gewiß ein guter, glatter Ausdruck statt
der, wie sich nicht wohl leugnen läßt, etwas befremdlichen Überlieferung. Nur
ist die Frage, was Horaz nun wirklich geschrieben hat, dadurch doch noch nicht
mit Sicherheit gelöst. — Sat. I 3, 56. Redslob schlägt urgemus vor. Dem Sinne
nach gut; vgl. Lejay: on attend un mot comme certamus.
Zehlendorf bei Berlin. H. Röhl.
KHnghardt, H. und de Fourmestraux, M., Französische Intonations-
übungenfür Lehrer und Studierende. Texte und Intonations-
bilder. Cöthen (Anhalt) 1911. Otto Schulze. VII u. 114 S. 8». geb. 3,80 M.
Bei der Abfassung dieses anregenden und lehrreichen Buches haben sich die
beiden Verfasser in der glücklichsten Weise ergänzt: ein deutscher Schulmann,
der gediegene Kenntnis des Französischen mit sehr langer Unterrichtserfahrung
verbindet, und ein in Paris geborener Franzose, der ebenfalls dort seine Studien
gemacht hat, der zugleich aber, da er seit Jahren als Lehrer des Französischen
H. Klinghardt und M. de Fourmestraux, Intonationsübungen, angez. v. E.Weber. 561
in Kiel lebt, mit den besonderen Schwierigkeiten, die für Deutsche die französische
Intonation bietet, wohl vertraut ist.
Wie der Titel ausdrücklich sagt, ist das Buch in erster Linie für Lehrer und
Studierende bestimmt, die dann die erworbene Einsicht nach eigenem Ermessen
beim Unterrichten verwerten mögen. Als Darstellungsmittel benutzen die Verfasser
nicht die üblichen musikalischen Noten und Zeichen, wie das andere getan haben,
sondern als Vertreter der Silben Punkte, die dann meistens zu auf- und absteigenden
Linien verbunden werden. In der Einleitung wird das Wesen der französischen
Intonation treffend chrakterisiert. Durchaus richtig ist die Bemerkung „es genügt
wahrlich nicht den trochäischen Gang der deutschen Sprache durch den iambischen
zu ersetzen". Freilich leben die Verfasser dabei offenbar der festen Zuversicht,
daß solche Lehrer, die auch im Französischen einfach den trochäischen Gang des
Deutschen beibehalten — und sie waren noch vor dreißig, zwanzig Jahren gar
nicht so selten — sich jetzt alle eines gesegneten Ruhestandes erfreuen. Im übrigen
besteht doch gar kein Zweifel, daß die iambische Intonation, ohne mit der wirklichen
oder idealen Intonation des Französischen identisch zu sein, ihr recht nahe kommt.
Um mit der diametral entgegengesetzten deutschen Gewöhnung zu brechen und
die Schüler zu einer korrekten Intonation hinüberzuleiten, kann man daher auch
in den ersten Jahren des französischen Unterrichts die iambische Zwischenstufe
kaum entbehren. Man scheue sich um so weniger dieses Hilfsmittel zu verwenden,
als man damit nicht etwas im eigentlichen Sinne Unrichtiges tut, sondern mit dem
geschichtlichen Entwicklungsgang der Sprache und den immanenten Tendenzen
ihrer Intonation im Einklang bleibt, wie stark und wie häufig auch aus verschiedenen
Gründen die Abweichungen davon sein mögen. In diesem Falle ist eine leise und
weise Übertreibung, oder, genauer gesagt, Normalisierung, nur anzuraten. Ohne
eine solche kommt man ja auch sonst, gerade wenn man das gesteckte Ziel sicher
treffen will, im elementaren Unterricht gar nicht aus — und elementar bleibt
schließlich all unser Tun, selbst in den oberen Klassen.
Die starke Heraushebung eines einzelnen Wortes oder einer einzelnen Silbe
eines Wortes, wie sie dem Deutschen und vollends dem Engländer ganz geläufig
ist, widerstrebt dem Franzosen, der weit lieber das in gleichmäßiger Druckart liegende
Ebenmaß wahrt. In dieser Eigentümlichkeit des Französischen liegt auch, um das
hier hinzuzufügen, der wahre Grund für die Umschreibung mit c'est — que, wenn
ein Wort aus logischen Gründen hervorgehoben werden soll. Die Gewöhnung
an die Muttersprache ist nun selbst bei solchen Deutschen, die sich die musikalische
Bewegung des Französischen gut angeeignet haben, so übermächtig, daß sie es auch
in diesem Falle schwerlich unterlassen werden, das also hervorgehobene Wort
noch durch steigende Stimmlage zu unterstreichen, während sich der Franzose
schon durch die bloße Umschreibung befriedigt fühlt und in gleichmäßiger Tonlage
über das Wort dahingleitet: GUssez, Frangais, n'appuyez pasl
Nach dem Gesagten wird begreiflich, daß die Umschreibung mit c'est — que
und selbstverständlich, wenn es sich um das Subjekt des Satzes handelt, mit c'est —
qui von Franzosen bei weitem nicht so oft gebraucht wird wie von den meisten
Ausländern, die, wenn sie französisch zu sprechen oder zu schreiben haben, ihrer
Ausdrucksweise dadurch einen recht französischen Charakter zu geben glauben.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 36
562 H. Klinghardt und M. de Fourmestraux, Intonationsübungen, angez. v. E.Weber.
Diesen Fehler begehen nicht nur Anfänger im Französischen, wieFritzStroh-
m e y e r in seinem Stil der Französischen Sprache, Berlin, Weid-
mannsche Buchhandlung 1910, S. 105 höflich sagt, nicht bloß Leute qui ne savent
pas le frangais, sondern selbst einer qui ne savait pas trop mal le frangais — pour un
roi de Prasse. Es ist erstaunlich, wie häufig der Große König die Umschreibung
gebraucht im Gegensatz zu Voltaire, der damit sparsam umgeht. Trotz aller zur
Schau getragenen Keckheit hatte Voltaire schließlich doch zu viel inneren Respekt,
um es zu wagen, den König auf solch einen Mißgriff aufmerksam zu machen, was
man auch an anderen Eigentümlichkeiten des friderizianischen Französisch erkennt.
Außerdem war Nachdenken über die eigene Sprache, zergliedernde Beobachtung
an der Sprache, noch dazu an einer lebenden, so gut wie unbekannt. Das sieht
man so recht an den für uns so überaus lehrreichen, oft unglaublich mißglückten
Versuchen, die der auf den verschiedensten Gebieten rührige Voltaire auch auf
diesem noch unbeackerten Felde in den Commentaires sur Corneille gewagt hat.
Er empfand sehr wohl den Unterschied zwischen Friedrichs und seinem Französisch,
aber selbst einen Voltaire hätte es in Verlegenheit gesetzt, darüber die Rechenschaft
abzulegen, die sein königlicher Schüler sicher verlangt hätte. Wie anders werden
sich in unseren Tagen die Belehrungen gestaltet haben, dieGustaveLanson,
der unübertroffene Meister der Französischen Literaturgeschichte, der große Lehrer
des Französischen Stils (Btudes pratiques de composition frangaise — Conseils sur
l'art d'ecrire — l'Art de la prose) dem russischen Thronfolger und jetzigen Zaren
erteilt hat! Im Anfange des 20. Jahrhunderts nun gar arbeitet die Philologie mit
dem Werkzeug der Statistik, und Strohmeyer berechnet S. 289 auf Grund eines
stattlichen, aus verschiedenen Schriftstellern geschöpften Materials, daß in noch
nicht einem Prozent französischer Sätze die Umschreibung vorkommt. In der Tat
ein überraschendes Resultat ! Vielleicht freut es den Verfasser des ausgezeichneten
Buches über den französischen Stil seine Feststellungen durch die hier angestellten
von anderen Gesichtspunkten ausgehenden Erwägungen bestätigt zu finden.
Besonders auffällig wirkt es ferner, wenn gerade in dramatisch bewegter franzö-
sischer Rede das tonlose an das Verbum angelehnte Personalpronomen in solchen
Fällen steht, in denen selbst gewiegte deutsche Kenner des Französischen höchst-
wahrscheinlich zu dem betonten selbständigen Pronomen greifen würden. Diese,
wenn ich nicht irre, noch wenig bekannte Erscheinung läßt sich gar nicht so selten
beobachten.
Will man den fundamentalen Unterschied zwischen deutscher und französischer
Intonation recht deutlich zu Gehör bringen, so lasse man die Worte // jaut se de-
mettre ou se soumettre durch einen Deutschen, und den Ausspruch: Die Sozial-
demokratie sollte nur Objekt, nicht Subjekt der Gesetzgebung sein durch einen Franzosen
sprechen. Der Deutsche wird durch starke Betonung der Vorsilben di- und Sau-
den Gegensatz kräftig herausarbeiten; dagegen wird der Franzose, wenigstens
nach deutschem Urteil, über Ob- und Sub-, die beiden Träger der schroffen Gegen-
überstellung, hinweggehen und beide Male -jekt gleich stark betonen, wozu er ebenso
sehr durch den iambischen Gang der französischen Intonation wie durch seine
Überzeugung bestimmt wird, daß eine an Denken gewöhnte Person die Stellung
zweier Gegensätze zueinander auch ohne äußere Unterstützung, wie Nachdruck
E. Wulffen, Shakespeares große Verbrecher, angez. von M. Wohlrab. 563
und Hochton, erfaßt. Wo bleibt aber bei solchen Feststellungen das hochgesteigerte
und, wie man in Deutschland so oft sagen hört, unnatürliche Pathos französischer
Rede?
Der Fehler, den deutsche Schüler und bisweilen auch wohl Lehrer und solche
Personen, die im allgemeinen eine erfreuliche Gewandtheit im mündlichen Gebrauch
des Französischen besitzen, am häufigsten begehen, ist der, die Vokale zu lang zu
sprechen. In Wirklichkeit sind sie überwiegend kurz, während Wörter, die einen
langen Vokal aufweisen, nicht eben zahlreich sind. Und zwar sind die Längen ebenso
wie die Kürzen von etwas geringerer Zeitdauer als im Deutschen. Bis dahin haben
die Verfasser also recht. Wenn sie dagegen lehren, daß die Dauer der französischen
Längen nicht größer ist als die deutscher Kürzen, so ist das schon nicht mehr eine
jener didaktischen Übertreibungen, denen hier vorhin das Wort geredet worden
ist, sondern einfach ein Irrtum. Nicht nur in feierlich gehobener oder leidenschaft-
lich erregter Rede, sondern schon in jeder Unterhaltung, sowie sie nur über schlichte,
rein sachliche Mitteilung hinausgeht, bekommt man lange Vokale zu hören, die den
im Deutschen üblichen Längen zum mindesten nicht nachstehen. Wie wird der
Vokal gedehnt, wenn eine Person mit ihrem Namen angerufen wird: Jeannel
Jacques ! Und dabei braucht der Anruf weder besonders laut noch aus weiter Ent-
fernung zu erfolgen. Auf der Bühne vollends, etwa im Versdrama und da wiederum
bei Wörtern, die im Reime stehen, oder auch in einem schwungvollen lyrischen
Gedichte können deutsche Hörer über die schier nicht enden wollenden Längen
einzelner Vokale nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Wer einmal Hugos
Verse (Contemplations II, 28):
Que fönt vos yeux lä-haut? je les reclame.
Quittez le ciel, regardez dans mon äme!
La clarU vraie et la meilleure flamme,
C'est le rayon qui va de Väme ä l'äme!
von einem Meister der Vortragskunst gehört hat, dem werden die Längen reclame :
äme, flamme: l'äme noch nach Jahren in den Ohren klingen.
In dieser Weise bietet das Buch noch manche schätzenswerte Belehrung und
regt zu interessanten Beobachtungen und Erörterungen an. Um aber nicht zu lang
zu werden, sei zum Schluß nur noch der sorgfältige, saubere Druck, besonders der
Intonationsbilder, lobend erwähnt. — Die weltberühmte Marseiller Cannebiere
wird mit nn geschrieben, nicht mit n wie S. 86 zweimal steht.
Steglitz. Ernst Weber.
Wulffen, Erich, Shakespeares große Verbrecher. Berlin-
Lichterfelde IQU. Langenscheid. 292 S. 4 M. geb. 5 M.
Vertrautheit mit Shakespeares Werken, Verständnis für seine Gedankenwelt
wird niemand dem Verfasser absprechen. Und so hat er denn in der Tat nicht wenig
neue Anregungen und Aufschlüsse beigebracht, beachtenswerte Anregungen auch
an manchen Stellen, an denen man ihm widersprechen wird. Der Schwerpunkt
seiner Leistung liegt aber in der Anwendung des von ihm behandelten Gebietes
auf die Dramen des Dichters. Neues Licht scheint sich ihm über sie zu verbreiten
36*
564 E. Wulffen, Shakespeares große Verbrecher,
durch die Ergebnisse der Kriminalpsychologie, die ihm wesentlich Sexualwissenschaft
ist. Er weiß natürlich recht wohl, daß dem Dichter selbst diese völlig neue Wissen-
schaft gänzlich unbekannt ist, auch seinen Lesern bis auf unsere Tage. Es kann
hiernach nicht wundernehmen, wenn sehr überraschende, auch bedenkliche Resultate
erzielt werden.
Bisher galt als die Eingangspforte zum tieferen Eindringen nicht nur in die
Shakespearischen, sondern auch in alle klassischen Dramen die empirische Psycho-
logie. Für das Verständnis der in ihnen dargestellten seelischen Erkrankungen,
denen mancher von schweren Schicksalsschlägen getroffene Held erliegt, zog man
den Psychiater zu Rate. Die Voraussetzung war auch in diesem Falle, daß die
Krankheit in der Seele ihren Ursprung hatte, nicht im Körper.
Daß in der Wirklichkeit auch der umgekehrte Fall vorkommt, daß körperliche
Anomalien seelische Störungen hervorrufen, leugnet selbstverständlich niemand.
Recht viele mögen auf dem Gebiete der Sexualität liegen. Der physisch Gebundene,
der erblich Belastete, der Determinierte ist nicht im Vollbesitz seiner Willensfreiheit,
seine Handlungen stehen unter einem unüberwindlichen Zwange. Dadurch wird
seine persönliche Verantwortung wesentlich eingeschränkt. Diese Tatsachen hat
der Kriminalist festzustellen, sie sind von maßgebendem Einfluß auf sein Urteil.
Anders liegen die Dinge für den tragischen Dichter. Er kann die Handlungen
nicht pathologisch motivieren; er würde sonst Ausnahmemenschen vorführen,
für die seinem Publikum das volle Verständnis fehlen würde; denn das können nur
Fachmänner haben. Wer eine Tragödie sieht, dem muß das, was vorgeführt wird,
vollkommen verständlich sein. Diese Forderung hat aber zur Voraussetzung
Menschen, denen eine uneingeschränkte Willensfreiheit, volle Verantwortlichkeit
zukommt, also normale Menschen.
Normale Menschen sind aber natürlich noch nicht fehlerfreie, solche gibt es
ja überhaupt nicht; nein, sie haben Fehler, Leidenschaften, die sie ablegen können,
die sie also bekämpfen müssen. Lassen sie ihnen ungezügelt ihren Lauf, so werden
ihnen Kollisionen, Schicksalsschläge zum Verderben. Das liegt bei den physisch
Gebundenen ganz anders; sie werden dem Verderben entgegengetrieben.
Der wirklich tragische Held ist seines Schicksals Schmied. Der Dichter läßt
ihn vor unseren Augen schuldig werden, ja er kann ihn stufenweise dem Wahnsinn
zuführen. Alle Stadien lassen sich in völlig überzeugender Weise darstellen.
Alles zusammengefaßt, ist es einzig die empirische Psychologie, die den Schlüssel
zum vollen Verständnis wenigstens der klassischen Tragödien bietet.
Der Verfasser behandelt die drei großen Verbrecher Richard III., Macbeth
und Othello. Für unsere Schulen kommt Macbeth am meisten in Betracht. Des-
halb will ich an ihm sein Verfahren darlegen. Daß er sich eingehend mit dem
Stücke befaßt hat, ersieht man aus dem, was er bietet. Neu und beachtenswert
ist, was er über das Folklore und das Kolorit des schottischen Hochlandes vorbringt.
Auch für die Aufführung gibt er gute Winke.
Aber in der Auffassung einzelner Stellen können wir nicht mit ihm gehen.
Er nennt es S. 138 ein dramaturgisches Meisterstück, daß der nachgesandte dritte
Mörder den Plan der zwei ersten verdorben habe. Schwerlich mit Recht. Die
angez. von M. Wohlrab. 565
Instruktion, die er hatte, stimmte ja nach der Aussage des zweiten Mörders voll-
kommen mit der überein, die dieser und der erste hatte.
Wir können ihm vertraun, dieweii er ja,
Was unser Amt und was uns aufgetragen,
Vollkommen richtig weiß.
Shakespeare motiviert das Mißlingen des Planes vielmehr damit, daß der
erste Mörder die Fackel ausschlug. Der Umstand, daß jemand eine Fackel trug,
konnte nicht vorausgesehen, also voraus im Anschlag nicht berücksichtigt werden.
Ferner erscheint es aus mehr als einem Grunde unwahrscheinlich, daß die
Königin in eigener Person die Plätze bestimmt und den Platz für Banquo ausge-
schaltet habe (S. 139 ff.). Einleuchtender ist doch die bisherige Annahme, daß
für Macbeth neben seiner Gemahlin auf dem erhöhten Thronsitz der Platz gedeckt
gewesen ist. Nur dadurch werden seine Worte verständlich, er wolle lieber den
leutseligen Wirt spielen und sich zu seinen Gästen setzen. Dann konnte er freilich
keinen andern Platz einnehmen als den für Banquo frei gelassenen.
Nun aber zu dem neuen Gesichtspunkte, unter dem der Verfasser insbesondere
Macbeth und seine Gemahlin auffaßt. Beide sind ihm determiniert, sie leiden
an Hysterie, die auf Sexualität beruht. Das ist in der Tat ein überraschender
Aufschluß. Spuren, die direkt auf Sexualität hinweisen, werden im Stücke auch
achtsamen Lesern kaum aufgestoßen sein. Für den Verfasser bildet die Kinder-
losigkeit des neuen Königspaares einen wesentlichen Anhaltspunkt. Macbeth
quält der Gedanke, daß er schließlich für Banquos Brut zum Verbrecher geworden
sei. Aber nur in diesem Zusammenhange fällt ihm dieser Mangel schwer auf die
Seele. Alles was er denkt und tut, wird ja lediglich von dem Gedanken beherrscht,
sich den Thron zu sichern, und schließlich von sinnloser Mordlust. Von der Lady
gibt es überhaupt keine Äußerung, die auf das Verlangen nach einem Kinde hin-
deutet. Wenn sie nachtwandelnd mit den Worten abgeht: „zu Bett, zu Bett,
zu Bett!", so wird außer dem Verfasser wohl niemand darin einen sexuellen Unter-
ton heraushören (S. 175). Man wird da an Horatios Ausspruch im Hamlet er-
innert: „Die Dinge so betrachten, hieße, sie allzu genau betrachten."
Die Halluzinationen Macbeths sind psychologisch wohl zu erklären. Es handelt
sich da um den umgekehrten Vorgang wie bei dem normalen Sehen. Bei diesem
wirkt ein äußerer Gegenstand als Reiz auf das Auge. Durch die Nerven wird er
zu der Rinde des Großhirns geleitet und so kommt er zum Bewußtsein. Die Hallu-
zination geht den entgegengesetzten Weg. Den Mittelpunkt in dem furchtbar er-
regten Schuldbewußtsein Macbeths stellt erst der Dolch, dann Banquo dar. Dieses
schafft im Hirn die Bilder von beiden, durch die Vermittlung der Nerven werden
sie dem Auge sichtbar. Dieser Vorgang beruht also nicht auf einer körperlichen
Anomalie, sondern auf einer seelischen Störung; jeder normale Mensch kann ihn
unter gleichen Voraussetzungen haben.
Was den Verfasser bei seinen neuen Auffassungen beeinflußte, war die unglaub-
lich rasche Entwicklung, welche die Handlung im Macbeth nimmt. Da liegt aller-
dings die Annahme nahe, daß unüberwindliche Mächte ihre Hand im Spiele hatten.
Geschichtlich hat sich die Handlung nicht mit dieser Raschheit vollzogen, sie
566 B. Köhler, die Schilderung des Milieus in Hamlet usw., angez. v. M.Wohlrab.
konnte sich nicht so vollziehen. Aber der Dichter konnte dieses zeitliche Moment
in den Hintergrund drängen, er hat das auch in andern Stücken getan, im Coriolan,
im Caesar, im Lear; für ihn kommt es lediglich auf die tadellose Folgerichtigkeit
der Handlung selbst an; durch diese täuscht er den Hörer über die chronologischen
Schwierigkeiten hinweg.
Brinus Köhler, Die Schilderung des Milieus in Shakespeares
Hamlet, Macbeth und King Lear. Halle a. S. 1912. Niemeyer.
XII u. 65 S. gr. 8«. 2,40 M.
Eine sehr sorgfältige, gelehrte, auf umfassenden Studien beruhende Arbeit,
die das Milieu der drei Dramen erschöpfend darstellt. Auch den Ergebnissen kann
man vollständig zustimmen. Freilich Neues bringen sie nicht. Daß Shakespeare
diese Dramen in seiner Zeit sich abspielen läßt, war sattsam bekannt. Es muß also
fast als ein Übermaß von Gewissenhaftigkeit erscheinen, wenn alle Einzelheiten
aufgeführt werden, in denen diese Dramen von ihren weit zurückliegenden Vor-
lagen abweichen.
Zu eingehenderer Behandlung lud natürlich Hamlet ein, über Macbeth und
Lear war weniger zu sagen. Die Ergebnisse leiden mehrfach an Wiederholungen.
Die einschlägige Literatur ist ausgiebig benutzt. Ihre ungemeine Reichhaltigkeit
hat es dem Verfasser schwer gemacht, aus dem Eigenen viel beizusteuern.
So verdienstlich solche Spezialuntersuchungen an sich sein mögen, so er-
halten sie ihren höheren Wert doch erst dadurch, daß der Verfasser den größeren
Zusammenhang im Auge behält, in den sie sich schließlich einordnen sollen. Die
Frage, ob unter den Abweichungen von der Vorlage die Einheitlichkeit der Dar-
stellung gelitten habe, hat den Verfasser immer beschäftigt. Er konnte sich auch
darüber äußern, welche Absicht der Dichter bei diesen Abweichungen hatte, welchen
Einblick in seine Art zu schaffen wir durch sein Verfahren gewinnen.
Dresden-Striesen. Martin Wohlrab.
Hense, J., Griechisch-römische Altertumskunde. Ein Hilfs-
buch für den Unterricht. Unter Mitwirkung von Th. Grobbel, W. Kotthoff,
H. Leppermann, G. Schunk, A. Wirmer, Dritte, verbesserte und vermehrte
Auflage. Paderborn 1910. Aschendorf f sehe Buchhandlung. XII u. 341 S.
8^ geb. 4 M.
Vor fünf Jahren mußte ich gegen die zweite Auflage dieses Werkes eine Reihe
starker prinzipieller Bedenken erheben. Privatim habe ich mich damals über
einen längeren Abschnitt noch genauer geäußert. Die Herausgeber sind daher so
liebenswürdig gewesen, meiner im Vorworte zu gedenken, und werden es sicherlich
mir nicht verdenken, wenn ich noch einmal vieles, besonders in den archäologischen
Teilen, beanstanden muß; ich will diesmal nicht allgemein sprechen, sondern Einzel-
heiten anführen, von diesen freilich nur Proben geben.
Die eine Stimme der Kritik, die mit Unrecht „eine rein wissenschaftlich ge-
haltene Darstellung im archäologischen Teil" forderte (S. VI), kann die meinige nicht
sein; denn ich wünschte: „Die neuesten gesicherten Resultate der Forschung sind
in sorgsam überlegter Beschränkung auf das Notwendige zu geben." Noch aber
J. Hense, Griechisch-römische Altertumskunde, angez. von C. Fredrich. 567
steht vieles nicht „auf der Höhe der Forschung", und ist vieles nicht sorgsam
beschränkt. Von Pergamon sind nur die Resultate der Grabungen bis zum Jahre
1900 bekannt; so erfährt der Leser denn z. B. nichts von dem größten griechischen
Gymnasium, das wir gut kennen. Weniger hoch veranschlagen will ich, daß
z. B. für Tiryns, Delphi (Stadion? Ein Schlangenkopf des Weihgeschenkes ist im
Museum in Konstantinopel), Pompeji (Haus der Vettier? Fechterkaserne in der
Nähe des Amphitheaters? Überschwemmungen in Pompeji?) Kenntnis neuester
Forschung sich nicht verrät. Die Hypokausten (S. 163) dienten wirklich der Heizung,
wie die neuesten Grabungen in Milet wieder erwiesen haben; sie wurden aber im
Süden nicht in Privathäusern (außer für die Bäder) gebraucht; das sollte bekannt
sein. Atrium (S. 161) darf nicht mehr mit ater zusammengebracht werden. Die
richtige Erklärung des Namens ,,Rom", durch die zugleich reiches Licht auf die
Geschichte fällt, gab W. Schulze; die auf S. 174 mitgeteilte ist recht sonderbar.
Zu Hülsens „Forum" (S. 185) erschien auch eine deutsche Fortsetzung. Die treff-
lichen Arbeiten von E. Schramm und R. Schneider über die antiken Geschütze,
deren Resultate auch Schüler interessieren, sind nicht verwertet. Für die Bedeutung
des Wortes „Limes" (S. 308) sind die klärenden Ausführungen Dragendorffs un-
bekannt. Die veralteten Anschauungen über die Masken und den Kothurn werden
weitergegeben. Zur Entstehung des Dramas hätte mit Nutzen verwandt werden
können: Kroll, Zeitschrift für das Gymnasialwesen 1909. Werke wie Geffcken,
Das griechische Drama; Gercke-Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft,
wie Fritsch, Delphi (Gymnasialbibliothek); von Duhn, Pompeji (Aus Natur und
Geisteswelt) hätten neben anderen wohl erwähnt werden können. Eine allgemeine
Empfehlung von Luckenbachs ausgezeichneter „Kunst und Geschichte" I wäre
sicherlich angebracht gewesen; dieses Heft bietet dem Schüler doch mehr als
jede Beschreibung.
Wenn der Bearbeiter der „Übersicht der Geschichte der griechischen und rö-
mischen Kunst" nur den schönen ersten Band des Handbuchs der Kunstgeschichte
von A. Springer, bearbeitet von A. Michaelis, durchgesehen hätte, wäre der Leser
vor vielem bewahrt geblieben. Dieser Abschnitt ist jetzt der böseste im Buche.
Er ist in der Perioden-Einteilung, der Anordnung und Darstellung,, und besonders
stofflich voller Unrichtigkeiten.
Der Bearbeiter des „Religionswesens der Griechen und Römer" hätte wohl
am besten getan, wenn er die Darstellung von Sam Wide (bei Gercke-Norden)
benutzt hätte, da es an einer ganz befriedigenden Bearbeitung dieser schwierigen
Materie noch fehlt. Statt dessen gibt er zuerst eine sprachlich und religionsgeschicht-
lich vielfach höchst bedenkliche Darstellung, aus der „die Mondmythologie der
mykenisch-kretischen Zeit" einem damals noch ungeborenen Werke eines Bekannten
entstammt. Dieses alles mit seinen Fehlern, ganz persönlichen Ansichten, ver-
wirrenden Einzelheiten, unbewiesenen und teilweise unbeweisbaren Sätzen ist be-
sonders für Schüler gänzlich ungeeignet. Das übrige ist eine Fülle von Notizen,
die an die einzelnen Götternamen angeschwemmt sind und in der Deutung des Wesens
und der Namen der Götter viel Unsicheres, in den Absätzen über die Kunst z. B.
viel Falsches enthalten; dazu sind diese mit dem Hauptabschnitt über „KunstS
nicht völlig ausgeglichen worden.
568 H. Thiersch, An den Rändern des römischen Reichs, angez. v. F. Neubauer.
Soll ich noch ein paar Einzelheiten herausnehmen? Auf S. 103 liegt bei dem
Namen Hekatompedon ein Versehen vor (vgl. S. 100). Manchmal erkennt der Laie
nicht, was von den aufgezählten Bauten erhalten ist, was nicht (z. B. S. 104 d). Das
Stadion von Athen ist neuerdings wiederhergestellt worden (HO). Im National-
museum befinden sich Funde von der Burg nicht (S. 105, 5). Zu beanstanden
sind S. 185, 2; 55 (mykenische Zeit 1500—1104); 64 (daß die Zahlen dichterisch
übertrieben sind, wird nicht klar); 74 (30 000?); 304 (der Name Overbeck muß
in diesem Zusammenhange fehlen); 276 (unterirdische Gänge); 295 (von dem
Beutel sollte man nicht mehr sprechen); 296 (Lage von Delphi); 299 (für Caesar lies
Antonius); 300 (Stellung von Prof. Conze); 303 (Umbau?); 109 (Phaidros 229 A);
219 (Lemnos war nicht vulkanisch, vgl. Athen. Mitt. XXX 1,253 f.); 261 (die Gründe
für Alexander und die Epheser waren politische); 274,2 (Nationalmuseum?); 318
unten (doch wohl ein Abguß des Steines?); 285 (wozu werden das Mädchenskelett
und der etruskische (!) Ursprung von Gefäßen erwähnt, wozu überhaupt die ab-
getanen Ansichten Schliemanns?).
Der Ausdruck ist nicht selten inkorrekt oder unschön: S. 180 (Hauptschmuck
Roms)?; 217 (krönte?); 220 (Vollstatue); 262 (mannigfaltig vorgelagerte Säulen);
264 (von denen letzteres); 268 (madonnenartig); 269 (sowie); 277 (bis Schliemann
1876 dort durch den Spaten den Zeugen griechischer Heldentage den Mund öffnete !);
294 und sonst (ad a; ad b usw.); 302 (das größte Kunstwerk; die Kunst trieb neue,
eigenartige Blüten); 281 (das Schliemannsche Wort sollte man nicht zitieren).
Ein unberichtigter Druckfehler liegt z. B. auf S. 280, 1 vor.
Aber ich will nicht nur tadeln. Es steckt eine bedeutende Arbeit in dem Buche,
und wenn an ihm weiter gearbeitet wird, kann es ein brauchbares Hilfsmittel dar-
stellen. „Athen** und „Rom" sind schon sehr viel besser geworden. Ein Abschnitt
über „Oberaden" kam hinzu. Ich möchte auch ausdrücklich hervorheben, daß
die „Literatur", die „Altertümer", die „Realien", die Ausgrabungen in Deutsch-
land, zu Ausstellungen wenig Anlaß geben, wenn man im einzelnen natürlich auch
oft verschiedener Meinung sein kann und, wie mir scheint, vielfach gekürzt werden
könnte. Die Schreibung der Eigennamen ist verbessert. Die Rufe nach einem
Register wurden gehört. Der neue Verlag brachte neue, bessere Typen.
Cüstrin. C. F r e d r i c h.
Thiersch, Hermann, An den Ränderndesrömischen Reichs. Sechs
Vorträge über antike Kultur. München 1911. Beck. X u. 151 S. 8«. geb. 3 M.
Das Buch ist aus Vorträgen hervorgegangen, die in Karlsruhe gehalten worden
sind. Auf die Lichtbilder freilich, denen sie zur Erläuterung dienten, muß der
Leser verzichten; er wird trotzdem auf seine Kosten kommen. Die Absicht des
Verfassers ist, zu zeigen, „welcher Reichtum von Völkercharakteren unter dem
Zepter des römischen Imperiums seine Erziehung erfuhr"; die inneren Bezie-
hungen nachzuweisen, die zwischen Landesnatur und nationaler Eigenart obwalten;
ein Bild der Rassenmischung zu entwerfen, die sich im Weltreich herausstellte;
schließlich darauf aufmerksam zu machen, mit welcher Zähigkeit und Beständig-
keit sich dennoch vielfach der ursprüngliche Volkscharakter behauptet und trotz
aller Schicksale, Einwanderungen, Blutmischungen immer wieder zum Vorschein
H. Spieß, Das moderne England, angez. von P. Rogozinski. 569
kommt. So sucht er z. B. im ersten Kapitel, in dem er uns an die Ufer des Nils
führt, einige Grundzüge der ägyptischen Eigenart festzustellen und aus Boden
und Klima abzuleiten, bespricht sodann die jüdische und griechische Einwanderung
und ihre Einwirkungen und entwirft in anschaulichen Schilderungen ein Kultur-
bild des Landes in der Kaiserzeit. Es folgen in ähnlicher Behandlung hübsche
Kapitel über Arabien, vornehmlich Petra, über Syrien und Kleinasien. Der fünfte
Vortrag führt uns nach Nordafrika und berichtet nach einem Rückblick auf die
Zeit, als der homo mediterraneus an den damals noch zusammenhängenden Ufern
des Westbeckens des Mittelmeers lebte, von der Entwicklung des Berbertums
bis zu den Zeiten des Septimius Severus und der Verbreitung des Christentums.
Im letzten Vortrag endlich werden wir nach den römisch-germanischen Grenzlanden
an Mosel und Rhein geführt. Rassenfragen haben fast immer etwas stark Proble-
matisches; es ist mir nicht möglich, dem Verfasser überall zu folgen. Daß die
phönikischen Syrer aus sich heraus ein Handelsvolk geworden sein könnten, scheint
ihm nicht glaublich; er meint eine Zuwanderung von Kretern, die nach dem Unter-
gang des minoischen Reiches sich dorthin gewandt hätten, annehmen zu sollen,
eine Auffassung, die mir allerdings recht wenig begründet zu sein scheint. Auch wenn
er die ,, enthusiastisch-asketische Art" der Albigenser auf die späte Nachwirkung
syrischer Einwanderung in Südgallien zurückführt, sogar Franz von Assisi zu einem
Vertreter syrischer Art im Abendlande stempelt, wird er vermutlich nicht viele
finden, die ihm zu folgen vermögen. Aber man lasse sich durch solche Kühn-
heiten nicht abhalten, das Buch zu lesen; es ist reich an Anregungen und Aus-
blicken und sehr lebendig und anziehend geschrieben.
Frankfurt a. M. F. N e u b a u e r .
Spieß, Heinrich, Das moderne England. Einführung in das Studium
seiner Kultur. Mit besonderem Hinblick auf einen Aufenthalt' im Lande. Straß-
burg 1911. Verlag von Karl J. Trübner. HI u. 300 S. 4». brosch. 4 M.
Ein ausgezeichnetes Buch, ohne das kein Akademiker, überhaupt kein Ge-
bildeter England besuchen sollte. Auf ungeheuer eingehendem Studium einschlä-
giger Werke (sogar die Bibliothek des Kaiserlichen Patentamts wurde nach Literatur
durchforscht) u n d auf jahrelangen persönlichen Informationen und Beobachtungen
in England selbst aufgebaut, will das Werk eine handliche Einführung in das moderne
Kulturleben unserer Vettern jenseits des Kanals geben und vermittelst der Kenntnis
des fremden Volkscharakters und Würdigung seiner Eigenart der Verständi g u n g
der Völker durch gegenseitiges Verstand n i s dienen. Ein sehr zeitgemäßes Ziel,
das — ach wie oft — mit unzulänglichen Mitteln zu erreichen versucht ist. Hier
haben wir das Werk eines gründlichen deutschen Gelehrten (Verfasser ist Privat-
dozent an der Universität Berlin), das durch konsequente Durchführung des histo-
rischen Prinzips (,,Nichts Altes ohne das Moderne — nichts Modernes ohne das
Alte!") dem Besucher Englands bei allen Fragen, die ihm entgegentreten, zur
richtigen Lösung verhilft. Wie weit stehen alle jene aufdringlichen „Führer"
und „R a t g e b e r" hinter diesem immer nur vornehm anleitenden, niemals
überhebungsvoll dozierenden Buche zurück.
Das Werk zerfällt in 25 Kapitel, deren jedes einen scharf umrissenen Aus-
570 H. spieß, Das moderne England, angez. von P. Rogozinski.
schnitt aus dem englischen Kulturleben gibt. Jedes Kapitel zerfällt in einen,
bald ausführlicheren, bald kürzeren Textabschnitt und ein stets sehr ausführliches
Literaturverzeichnis, das dem Studierenden die Mittel an die Hand geben soll,
sich selbst aus den Stimmen des Landes und des Auslandes über die betreffende
Frage zu informieren. Als besonders hervorragend möchte ich bezeichnen die
Kapitel: 9. „Landes- und Reichsverteidigung", 11. „Englische Charity" (sehr
zu empfehlen den sonst so für alles Englische schwärmenden Gegnern unserer
„Blumentage'M), 12. „Erziehungswesen", 14. „Das englische Theater und Theater-
wesen der Gegenwart" (besonders c: praktische Ratschläge für den Theaterbesuch),
19. „Presse" und 2L „Studienaufenthalt". Bei anderen Kapiteln ist, wenn ich
bei vollster Anerkennung des Buches einige Ausstellungen machen darf, der zusam-
menfassende Text etwas zu kurz geraten, so z. B. S. 6 „Gesellschaft", S. 7 „Juden
in England", S. 41 f. ,, Imperialismus" (mehr Aufklärung über den gegenwärtigen
Stand und die Aussichten des britischen Imperialismus wäre erwünscht gewesen),
S. 56 „Reichsregierung" (nur U/g Seiten Text), S. 96 „Elementarschulwesen" (gar
kein Text!), S. 116 „Plastik". Vielleicht ließ sich aber der Verfasser dabei von dem
Wunsche leiten, den Umfang des Buches nicht noch mehr anschwellen zu lassen.
Schwerwiegender erscheint mir indessen ein anderer Punkt. Das Buch berück-
sichtigt in erster Linie Londoner Verhältnisse und hat weniger Platz und Worte
übrig für die anderen Kulturzentren Englands. Wenn auch unbestritten sein soll,
daß Englands gesamte Kultur stark auf London zentralisiert ist, so verdient beispiels-
weise die Universität Liverpool doch mehr wie 3 Zeilen (gegen 21 London). Min-
destens hätte neben den dort erwähnten Ingenieurwissenschaften Tropen-
m e d i z i n (School for Tropical Medicine, der frühere Leiter, Major Roß,
Nobelpreisträger) als besonders gut vertretenes Lehrfach angeführt werden
müssen. Ähnliches gilt für Aberdeen, Manchester, Glasgow, Durham. Daß unter
,, Sports" das regelmäßig vom Könige besuchte Grand National nicht er-
wähnt ist, hängt wohl auch hiermit zusammen. Bei S. 201 ,, Channel Islands"
vermisse ich einen Hinweis auf Victor Hugo, bei „Keltische Landesteile" hätte ich
neben Zimmers Namen gern den Kuno Meyers gesehen. Das Prinzip, bei den ein-
zelnen Orten und Gegenden bezügliche Werke der schönen Literatur heranzuziehen,
hat der Verfasser nicht immer befolgt; so hätten z. B. beim Kapitel „Höheres
Schulwesen" Tom Browns Schooldays als total veraltet charakterisiert werden
können (English schoolboy-life as it u s ed to bei) Ich weiß aus eigener Erfahrung,
daß nicht bloß Studenten, sondern auch gereiftere Besucher Eton und Harrow
an der Hand dieses Buches nach halbtägigem Besuche gründlich zu kennen ver-
meinten. — Aber diese geringfügigen Ausstellungen sprechen natürlich bei der
Gesamtbeurteilung des Buches gar nicht mit. Der Studierende wird Anregungen
über Anregungen aus dem Werke schöpfen können. Manchmal werfen einzelne
kurze Textbemerkungen Schlaglichter auf soziale und kulturelle Verhältnisse,
die in seitenlanger Darstellung nicht besser hätten geschildert werden können.
Man vergleiche z. B. S. 2 common sense, S. 9 Kastengeist, S. 17 politische Erörte-
rungen, S. 30 Hetzpresse, S. 37 Tradition, S. 135 Herdengeschmack des Publikums,
etc. — Besonders angenehm berührt der im edelsten Sinne des Wortes patriotische
Ton des Buches. „Gedenke, daß Du ein Deutscher bist, aber sieh nichts durch
C. Küchler, In Lavawüsten und Zauberwelten auf Island, angez. v. W. Ranisch. 571
die Brille chauvinistischer Überhebung!" Das Buch wird wirklich dazu beitragen,
„manchen Deutschen zum Besten eines gesunden Patriotismus nach England
gehen und wieder heimkehren zu lassen". Es wird ferner in der Hand unserer
Amtsgenossen und — unserer extremen Anglophilen dazu beitragen, daß jene
oft so unsagbar schiefen „kompetenten" Urteile der week-end Englandbesucher
immer seltener werden.
Von Druckfehlern sind mir aufgestoßen: S. 64, Zeile 31 Horsors statt Horrors,
S. 95, Zeile 24 notional statt national.
Stolp i. Pomm. Paul Rogozinski.
Küchler, Carl, In Lavawüsten und Zauberwelten auf Island.
Berlin 1911, Alfred Schall. XXII u. 233 S. 8« nebst 107 Illustrationen
und 4 Kartenskizzen auf 70 Tafeln, geh. 5 M., geb. 6 M.
Der Vareler Oberlehrer C. Küchler hat in seinen Kopenhagener Studienjahren
mit isländischen Studenten Bekanntschaft und Freundschaft geschlossen und sich
durch sie eine gründliche Kenntnis der isländischen Sprache angeeignet. Durch
sie hat er auch eine innige Liebe zu der fernen Insel, ihrer Natur, ihren Menschen,
ihrer Kultur und Dichtung gefaßt. Er ist der begeisterte und tatkräftige Prophet
Islands, der entschiedenste der „Isländerfreunde". Seine Tätigkeit für Island, die
ihm die Liebe und Verehrung der Inselbewohner eintrug, begann mit Übersetzungen
altisländischer Sagas und neuisländischer Prosadichtungen. Dann ließ er zwei
Hefte einer „Geschichte der isländischen Dichtung der Neuzeit (1800 — 1900)"
erscheinen, Novellistik und Drama behandelnd. Die zum Teil wohl etwas erweiterten
Sommerferien der Jahre 1905, 1908, 1909 hat er benutzt, um das gelobte Land
mit eigenen Augen zu schauen und zu durchforschen. Die Schilderung der Reise
des Jahres 1909 „In Lavawüsten und Zauberwelten auf Island" liegt mir vor.
Darin beschreibt er zunächst einen kurzen Besuch auf den Färcyern, eine Landung
auf den Westmännerinseln und die Ankunft in Reykjavik. Sein Ziel ist diesmaV
die Halbinsel Snaefellsnes, die sich im Westen Islands zwischen den zwei großen
Fjorden, dem Faxafjord und dem Breidifjord ins Meer vorschiebt, mit dem weit-
hin glänzenden Snaefellsgletscher, mit den wunderbaren Felsbildungen an der Süd-
küste, den berühmten Sagastätten an der Nordküste. Und er legt seinen Weg,
der wieder und wieder durch schwer zu passierende Lavawüsten führt — anders
als die meisten Reisenden — mit seinem isländischen Führer zu Fuße zurück, während
ein einziges Pferd die schwere Packtasche nachträgt. An den Hauptausflug schließen
sich zwei kürzere Ritte, der erste nach den dampfenden, lärmenden Schwefelquellen
in Krisuvik auf der Halbinsel im Südwest, der zweite nach dem breiten Wasserfall
Tröllafoß im Gebirgsstock der Esja, n. ö. von Reykjavik. — Küchler beschreibt Island
als begeisterter Liebhaber. Aus der etwas breiten Darstellung, den langen, oft atem-
losen Sätzen strömt eine Wärme aus, die den Leser anzuziehen und zu fesseln ver-
mag. Seine Worte unterstützt der Verfasser durch Bilder; er teilt neben einigen
Kartenskizzen eine große Zahl kleiner, aber meist wohlgelungener Aufnahmen mit,
die er größtenteils selber mit dem photographischen Apparat eingefangen hat.
Wenn die von Jahr zu Jahr sich mehrenden Besucher Islands in erster Linie
wohl das Werk des Torgauer Professors P. Herrmann zu Rate ziehen werden, der
572 R. Hesse und F. Doflein, Tierbau und Tierleben,
mit Fleiß und Geschmack unser ganzes heutiges Wissen von Island in die Darstellung
seiner zwei Reisen eingefügt hat, so werden sie doch auch die begeisterten Schilde-
rungen Küchlers wie seine trefflichen photographischen Aufnahmen als Anleitung
zum Genießen und als Erinnerung daran nicht entbehren mögen.
Osnabrück. W i 1 h. R a n i s c h.
Hesse, R. und Doflein, F., Tierbau und Tierleben in ihrem Zu-
sammenhang betrachtet. I. Band : R. Hesse, Der Tier-
körper als selbständiger Organismus. Leipzig und Berlin
1910. Teubner. XVII u. 789 S. mit 15 Tafeln. Lex.-8«. 20 M.
Etwa gleichzeitig mit dem Beginn des Erscheinens der Neubearbeitung von
Brehms Tierleben erschien der erste Band des hier vorliegenden Werkes, das gleich-
falls — wenn auch in anderer Weise — den Leser in die Kenntnis des Tierlebens
einführen will. Bietet das Werk Brehms ein reiches Material von Beobachtungen
der Lebensgewohnheiten einzelner Tierarten, so handelt es sich hier um eine Dar-
legung allgemeiner Gesetze, um die Betrachtung der vielen Einzeltatsachen unter
gewissen leitenden Gesichtspunkten, die den Zusammenhang aller Lebenserschei-
nungen eines Organismus untereinander und die gegenseitige Bedingtheit von
Körperbau und Lebensweise erkennen und verstehen lassen. So sind beide Werke
geeignet, sich gegenseitig zu ergänzen.
Vor sechzig Jahren veröffentlichten Bergmann und Leuckart ihre „Anatomisch-
physiologische Übersicht des Tierreichs", ein grundlegendes Werk, das allerdings
in seiner ganzen Darstellungsweise zunächst für Zoologen bestimmt war. Hier
wurde zum erstenmal in umfassender Weise der Versuch gemacht, die Lebens-
erscheinungen der verschiedenen Tiergruppen vergleichend darzustellen und die ver-
schiedene Art, in der den Lebensbedürfnissen genügt wird, durch den abweichenden
Bau der einzelnen Gruppen zu erklären. Seit dem Erscheinen dieses Werkes
ist nun nicht nur die Zahl der beobachteten Tatsachen ungemein angewachsen,
sondern es ist auch durch die wenige Jahre später durch Darwins bahnbrechende
Schriften neu begründete Abstammungslehre das Verständnis für Bau und Ent-
wicklung des tierischen Organismus wesentlich gefördert worden. Auch machte
sich in dem Maße, wie das Interesse für biologische Fragen auch in weiteren Kreisen
zunahm, allmählich das Bedürfnis nach einer nicht nur dem Fachzoologen ver-
ständlichen zusammenfassenden Darstellung geltend, die die von der Wissenschaft
gesicherten Tatsachen und die zur Erklärung derselben aufgestellten Theorien
auch einem größeren Leserkreise zugänglich macht. Diese Aufgabe stellt sich
das auf zwei starke Bände veranschlagte Werk, dessen erster Band fertig vor-
liegt.
Der tierische Organismus kann in zweifacher Weise Gegenstand unserer Be-
obachtung und Erforschung sein. Zunächst tritt er uns als eine Einheit entgegen,
als ein Individuum, das sich entwickelt, sich ernährt, Stoffe aufnimmt und abgibt,
Reize von der Außenwelt empfängt, auf diese in mannigfacher Weise reagiert,
sich bewegt, sich fortpflanzt usw. Andererseits aber erscheint jedes Einzelwesen
als ein Glied des Naturganzen; es tritt in mannigfache Beziehung zur Umwelt,
ist abhängig von dem klimatischen und geographischen Charakter seiner Um-
angez. von R. v. Hanstein. 573
gebung, von der Pflanzenwelt, sowie von den zahlreichen tierischen Mitbewohnern,
die ihm je nach den Umständen förderlich oder feindlich entgegentreten. So
gliedert sich naturgemäß die Betrachtung des Tierlebens in zwei Hauptabschnitte,
in die Betrachtung des tierischen Individuums mit all seinen Lebensäußerungen
und in die Erörterung der mannigfachen Wechselbeziehungen, in die es zur Um-
welt tritt.
Der vorliegende, von R. Hesse bearbeitete Band behandelt die erste dieser
Aufgaben.
Hesse beginnt mit einer Erörterung der allgemeinen Lebensbedingungen, die
für alle Organismen bestehen. In einem „Das Wesen des Lebens" betitelten Kapitel
erörtert er ferner die beiden einander gegenüberstehenden Anschauungen des
Mechanismus und des Vitalismus. Bei Anerkennung der Tatsache, daß das Leben
zurzeit noch nicht restlos mechanisch verständlich, daß es „Mechanismus auf der
Basis der gegebenen Struktur" sei, und daß ein zwingender Beweis sich für keine
der beiden Anschauungen führen lasse, läßt der Verfasser keinen Zweifel darüber,
daß er auf Seite derer steht, die sich , »hoffnungsfreudig für das glatte, restlose
Aufgehen des Exempels der Lebenserklärung" entscheiden, und betont, daß Darwins
Selektionslehre wenigstens ,,das Bestehenbleiben des einmal entstandenen Er-
haltungsmäßigen und das Zugrundegehen des Lebenswidrigen" begreiflich mache.
Weiter werden die allgemeinen Eigenschaften des Protoplasmas sowie der Aufbau
der Zellen erörtert. Der Verfasser faßt den Zellbegriff etwas weit und wendet
ihn auch auf Protoplasmagebilde an, in denen eine Differenzierung zwischen Plasma
und Kern noch nicht eingetreten ist. Nach kurzer Besprechung der Zellverbände,
wie sie uns in den Stöcken der Infusorien und Flagellaten vorliegen, wendet er sich
zu den vielzelligen Körpern der Metazoen, die eine Differenzierung zwischen ver-
schiedenen Zellarten erkennen lassen, erörtert die Begriffe Pflanze und Tier und die
Artunterschiede, wie sie sich nicht nur in den morphologischen Merkmalen, sondern
auch im Stoffwechsel und im chemischen Verhalten zeigen. Den Abschluß dieses
einleitenden Abschnittes bildet eine kurze Übersicht über die Begründung der
Deszendenzlehre. Indem Hesse nach einer allgemeinen Darlegung der durch die
vergleichende Anatomie, die Entwicklungsgeschichte, die Paläontologie und die
geographische Verbreitung der Tiere gelieferten Beweisgründe schließlich eine
Darstellung des mutmaßlichen Entwicklungsganges des Tierreichs gibt, erörtert er
gleichzeitig die Art, wie eine solche Ableitung — die immerhin hypothetisch und
bis zu einem gewissen Grade subjektiv bleibt — begründet werden kann, und be-
nutzt diese Darlegung gleichzeitig zu einer Einführung des Lesers in die Kenntnis
der Hauptgruppen des Tierreichs.
Der nunmehr folgende spezielle Teil gliedert sich in vier umfangreiche Haupt-
abschnitte.
Der erste behandelt dieStatikundMechanikdesTierkörpers.
Einleitend betrachtet der Verfasser die verschiedenen Bewegungsformen, wie sie
sich bei den Protozoen finden, die amöboide Bewegung und die Bewegung durch
Geißeln, Flimmerhaare oder Myoneme. Zu den Metazoen übergehend, wendet er
sich zunächst zu einer Besprechung des Skeletts, erörtert die mechanischen, an ein
bewegliches Stützorgan zu stellenden Bedingungen und erläutert an einigen Bei-
574 R. Hesse und F. Doflein, Tierbau und Tierleben,
spielen, wie die verschiedenen Anforderungen an Stütze, Schutzwirkung und Be-
weglichkeit, die zum Teil schwer vereinbar sind, in den verschiedenen Tiergruppen
eine verschiedene Ausgestaltung des Skeletts mit sich bringen. Die zur Skelett-
bildung verwandten Substanzen werden besprochen, auch das Verhältnis zwischen
Größe des Tiers und Gewicht des Skeletts an der Hand einzelner Beispiele erläutert.
Eine genauere Darstellung erfährt noch das Skelett der Wirbeltiere in seinen einzelnen
Teilen unter steter Bezugnahme auf die funktionelle Beanspruchung. Nachdem
noch die Haut mit ihrer verschiedenen Skelettbildung besprochen ist, wendet sich
der Verfasser dem aktiven Teil des Bewegungsapparates, den Muskeln zu. Außer
einer allgemeinen Besprechung des Baues und der Wirksamkeit der Muskeln findet
der Leser hier auch solche Fragen erörtert, wie das Verhältnis zwischen Körper-
größe und Muskelarbeit, zwischen Muskel- und Sehnenlänge und so fort. Nachdem
so der Bewegungsapparat der Metazoen dem Leser erläutert ist, geht Hesse zu einer
näheren Besprechung der einzelnen Bewegungsarten über. Er beginnt mit dem
passiven Schweben, wie es sich z. B. bei Planktontieren findet, und geht im einzelnen
auf die hierzu befähigenden Anpassungen ein, bespricht dann das Vorkommen
von Flimmerbewegung bei Metazoen und wendet sich schließlich zu den verschie-
denen Formen der Muskelbewegung. Auch hier gelangen überall die mechanischen
und statischen Verhältnisse zur Erörterung, auch erleichtert in diesem wie in allen
übrigen Abschnitten eine reichliche Beigabe von Abbildungen das Verständnis
der besprochenen Vorgänge. Besonders eingehend sind die verschiedenen Arten
des Fluges behandelt.
Handelte es sich im ersten Abschnitt um Arbeitsleistungen des Organismus,
so führt der zweite, den Stoffwechsel undseineOrgane behandelnde
Hauptteil zur Erörterung der Energiequellen, die dem Organismus für seine Leistun-
gen zu Gebote stehen. Die Ernährung im engeren Sinne, die Nahrungsaufnahme
und die Wirkung der verdauenden Enzyme, wird einleitend kurz besprochen; die
verschiedenen Formen der Nahrungsgewinnung — holophytische, saprozoische,
Schmarotzertum und „Fressen'* im engeren Sinn — werden kurz charakterisiert;
dann wendet sich Hesse zu einer näheren Besprechung der verschiedenen Formen
der Nahrungsaufnahme bei Protozoen. Bei den Metazoen bespricht der Verfasser
die Ernährung der einzelnen Stämme gesondert. Besonders wird die allmählich
fortschreitende Arbeitsteilung, wie sie sich in der Ausbildung eines besonderen
Darmes und seiner immer weitergehenden Gliederung ausspricht, hervorgehoben.
Sowohl diese Erörterung, wie z. B. auch die Besprechung der Mundgliedmaßen
bei den Gliederfüßern, geben Gelegenheit zu stetem Hinweis auf die Bedeutung
der Deszendenzlehre für das Verständnis all dieser Organisationsverhältnisse.
Auch in diesem Abschnitt nimmt die Darstellung des Ernährungsapparates der
Wirbeltiere mit seinen vielfachen Anpassungen und Differenzierungen den größten
Raum ein.
An die Ernährung im engeren Sinne schließt sich die Besprechung der Atmung.
Auch hier geht eine allgemeine Erörterung der Bedeutung der Atmung und der
an verschiedenen Orten — z. B. im Wasser — gegebenen Atmungsbedingungen
voran. Auch die Anaerobiose wird kurz berührt. Die spezielle Besprechung der
Atmungsorgane der einzelnen Tiergruppen berücksichtigt bei den Wirbeltieren auch
die Stimmorgane.
angez. von R. v. Hanstein. 575
Die Darstellung der Exkretionsorgane nimmt eingehend Bezug auf ihre onto-
genetische und phylogenetische Entwicklung.
Den Abschluß dieses zweiten Hauptteils bildet ein Abschnitt über die Körper-
flüssigkeiten, von denen naturgemäß das Blut besonders eingehend behandelt wird.
Bei der Besprechung der Blutgefäße geht der Verfasser auch auf die Beziehungen
zwischen Herzgewicht, Körpergröße und Beweglichkeit der Tiere ein, unter Bezug-
nahme auf die von ihm selbst ermittelten Gewichtsverhältnisse. Der Abschnitt
schließt mit einer Übersicht über den Wärmehaushalt des Körpers.
Der dritte Hauptteil behandelt die Fortpflanzung und Verer-
bung. Eine Übersicht über die verschiedenen Formen der cytogenen Fortpflanzung,
die Bildung und Entwicklung der Geschlechtsprodukte und die Geschlechts
unterschiede gibt dem Verfasser Anlaß zur Erörterung der Theorien, die die sekun-
dären Geschlechtsmerkmale zu erklären versuchen. Ihm erscheint die Deutung
der besonderen, die Männchen auszeichnenden Körperbildungen als „Überschuß-
bildungen", die sich durch den geringeren Stoffaufwand der männlichen Tiere bei der
Fortpflanzung erklären, noch immer als die beste. In diesem Abschnitt finden sich
auch Angaben über das Zahlenverhältnis der Geschlechter bei verschiedenen
Tierarten, über die Zahl der Nachkommen und ihren Zusammenhang mit den
Lebens- und Entwicklungsbedingungen usw.
Es folgt eine Besprechung der vegetativen Fortpflanzungsweise — Teilung,
Knospung — sowie der regelmäßig abwechselnden Fortpflanzungsarten (Heterogonie,
Generationswechsel).
Eine Schilderung der mitotischen Zellteilung leitet das Kapitel über Be-
fruchtung und Vererbung ein. Die Befruchtung des Metazoeneies und die Kon-
jugation der Protozoen werden vergleichend besprochen, und hierauf folgt eine Er-
örterung der Vererbungstheorien und ihrer tatsächlichen Grundlagen. An eine
Darlegung der Chromosomentheorie und der Mendelschen Regeln schließt sich
die Frage nach der Geschlechtsbestimmung, die auf Grund der neueren
Beobachtungen und Theorien kurz besprochen wird.
Die embryonale Entwicklung führt zur Erörterung der Frage nach der Existenz
organbildender Keimbezirke. Es schließt sich an die Besprechung der postembryo-
nalen Entwicklung und der Metamorphose. Der Abschnitt schließt mit einem
Kapitel über Wachstum, Geschlechtsreife und Lebensalter, das am Schluß An-
gaben über das beobachtete Lebensalter einer Anzahl von Tieren bringt.
Nervensystem und Sinnesorgane sind Gegenstand des vierten
Hauptteils. Nach einer einleitenden Uebersicht über die Elemente des Nerven-
systems und die Verbindung der Neurone wendet sich der Verfasser zur Einteilung
der Sinne und bespricht dann der Reihe nach die mechanischen, thermischen,
chemischen und optischen Sinnesorgane. Besonders eingehend sind hier die Organe
der Lichtempfindung behandelt, deren verschiedene Ausbildung in den verschie-
denen Tiergruppen durch eine Reihe vortrefflicher Abbildungen veranschaulicht
wird. Den Sinnesorganen schließt sich eine Besprechung der effektorischen Nerven
an. Den Schluß des Abschnitts bildet ein Kapitel über die Nervenzentren, das
zunächst die Nervenleitung und die Reflexwirkungen behandelt, dann verschiedene
Hauptformen des Nervensystems der Wirbellosen vorführt und sich schließlich den
Chordaten zuwendet.
576 R. Hesse und F. Doflein, Tierbau und Tierleben, angez. v. R. v. Hanstein.
Auf die vier Hauptteile folgt ein kurzer Anhangsabschnitt, der unter
dem Titel „Das Ganze und seine Teile" die in der speziellen Darstellung schon oft
berührte Frage der Arbeitsteilung noch einmal zusammenfassend behandelt. Vor-
teile und Nachteile der Arbeitsteilung werden hervorgehoben, und daran die Frage
geknüpft, wie das harmonische Zusammenwirken der verschiedenen Organe bei
vorhandener Arbeitsteilung gesichert wird. Es wird die Theorie der Hormone, die
zentralisierende Bedeutung des Nervensystems und die funktionelle Anpassung der
Organe erörtert. Der Band schließt mit den Worten R. Leuckarts: „Lebensäußerung
und Bau verhalten sich zu einander wie die zwei Seiten einer Gleichung. Man
kann keinen Faktor, auch nicht den kleinsten, verändern, ohne die Gleichung zu
stören."
Wer es heute unternimmt, dem nicht biologisch vorgebildeten Leser einen
Einblick in die Probleme der Tierbiologie zu eröffnen, hat mit dem sehr geringen
Maß biologischen Wissens zu rechnen, daß die höhere Schule bisher ihren Schülern
nur vermitteln konnte. Es ist deshalb oft ein weites Ausholen bei der Darstellung
nötig, und das bringt die Gefahr mit sich, daß der Verfasser gerade in der Absicht,
recht verständlich und dabei doch wissenschaftlich einwandfrei zu schreiben, die
Lesbarkeit beeinträchtigt. Von dem hier vorliegenden Werk wird man das nicht
sagen können, die Darstellung ist durchweg klar und wird dem, der Belehrung sucht,
keine Schwierigkeiten bieten. In einer eventuellen neuen Auflage, die dem verdienst-
vollen Werk recht bald gewünscht sei, ließe sich wohl noch eine Verminderung
der angewandten fremdsprachlichen Fachausdrücke empfehlen. Beim Durchlesen
einzelner Kapitel, wie z. B. mancher Abschnitte der ,, Stammesentwicklung der Tiere",
ferner bei der Darstellung der Nierenentwicklung und an einigen anderen Stellen,
konnte Referent sich einiger Zweifel nicht erwehren, ob dem Laien die hier zur Er-
örterung stehenden Vorgänge ganz klar werden; das sind aber einzelne Stellen, die
das Gesamturteil über das Werk durchaus nicht beeinflussen können.
Abschließend kann wohl ausgesprochen werden, daß das hier vorliegende
Werk, das den Versuch macht, den Laien mitten in die Probleme der Tierbiologie
hineinzuführen, und ihm die vielerlei Verbindungen zu zeigen, die diesen Zweig
der Naturforschung mit den verschiedensten anderen Nachbargebieten verknüpfen,
eine sehr dankenswerte und verdienstvolle Bereicherung unserer Literatur darstellt.
In klar geordnetem Zusammenhange bringt er, wie die vorstehende Übersicht wohl
genugsam erkennen läßt, ein außerordentlich reichhaltiges Tatsachenmaterial, das
durch die reiche Ausstattung des Buches mit vortrefflichen Abbildungen der An-
schauung des Lesers näher gebracht wird. Es sollte in keiner Lehrerbibliothek
fehlen, und auch für die Schülerbibliotheken der oberen Klassen kann es dringend
empfohlen werden. Möge der zweite abschließende Band bald nachfolgen.
Gr.-Lichterfelde. R. v. H a n s t e 1 n.
']V
t
Die Friedrich Althoff -Stiftung.
Unter den 3495 Mitgliedern, welche die Stiftung am 1. Oktober 1912 auf-
wies, befanden sich nicht weniger als 3098 Oberlehrer und Direktoren höherer
Lehranstalten. Ihre Verteilung auf die einzelnen Provinzen ist nachstehend an-
gegeben und verglichen mit den Zahlen, welche ich in dieser Monatschrift, Jahrg. 1910
S. 596, veröffentlicht habe.
1910 1912
Ost- und Westpreußen 165 339
Brandenburg.-und Berlin 551 912
Pommern 19 80
Posen 152 229
Schlesien 87 183
Sachsen 23 198
Schleswig-Holstein 11 56
Hannover 50 176
Westfalen 21 167
Hessen - Nassau 75 211
Rheinprovinz 215 547
Wie man sieht, zeigt sich allerorten ein erfreuliches Interesse an der segens-
reichen Stiftung, wenn auch nicht in allen Provinzen in gleichem Grade. Vielleicht
dienen diese Zahlen dazu, eine Steigerung der Beteiligung in den etwas zurück-
stehenden Provinzen anzuregen.
Berlin-Lichterfelde. A. T i 1 m a n n.
I. Abhandlungen
Der Hellenismus im Geschichtsunterricht der höheren Schulen.
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff beginnt seine Darstellung der Literatur
des Hellenismus*) mit den Worten: „In Alexander krönt sich die hellenische Ge-
schichte. Das 3. Jahrhundert ist der Gipfel der hellenischen Kultur und damit der
antiken Welt, die Zeit, die der modernen allein vergleichbar ist. Mögen die ewigen
Gedanken früher gedacht, die ewigen Kunstwerke vorher geschaffen sein: durch
die Ausgestaltung der Wissenschaft ebenso wie durch die Weltherrschaft ge-
winnen beide erst die Macht, auf die Ewigkeit hin zu dauern und zu wirken."
In den Worten des großen Bahnbrechers auf dem Gebiete der modernen Alter-
tumswissenschaft liegt klar ausgedrückt, was der Hellenismus für die Menschheits-
geschichte bedeutet. Hier münden alle die Bäche und Ströme des Hellenentums,
hier sind aber auch die Quellen gewaltigerer Ströme, die sich von den neuen Zentren
aus ergießen in alle Welt.
Ausgespielt hat in der Altertumswissenschaft der Klassizismus, vorüber sind
die Zeiten, wo man das Griechentum des 5. und 4. Jahrhunderts als eine einsame
Insel im fernen Ozean der Zeiten betrachtete. Dieses Griechentum, so herrlich
es auch war, ist nur der Prolog jenes großen Dramas, das mit dem Alexanderzuge
anhebt und in dem Untergange oder besser dem Aufgehen des Hellenentums im
römischen Reiche seinen Abschluß findet.
Der Hellenismus bedeutet den Höhepunkt der politischen Entwicklung
des griechischen Volkes. In grauer Vorzeit freilich, da König Minos herrschte und
die Karer von den Inseln vertrieb, und auch damals noch, als der Herrscher von
Mykene mit dem Heerbann der gesamten Achaeer den sagenumwobenen Zug
nach der heiligen Ilios unternahm, da war die hellenische Nation ein starkes Volk
gewesen. Aber schon das beginnende 1. Jahrtausend findet Hellas zersplittert
in einzelne Stämme und Staaten, die sich fremd oder feindlich gegenüberstehen.
Erst der Kampf gegen den äußeren Feind erweckte vorübergehend das schlummernde
Nationalgefühl, und Hellas Freiheit war die köstliche Frucht gemeinsamer Kampfes-
arbeit. Doch der Wandel der inneren Politik Athens schafft Grund zu neuer Feind-
schaft. Athen gerät mit Sparta in verhängnisvollen Bruderkrieg und stürzt, von
persischem Golde bezwungen. Und dann die unheilvolle Zeit des Korinthischen
Krieges: Persien das Zünglein an der Wage, persisches Gold der Trumpf, den
die Feinde abwechselnd gegeneinander ausspielen, und das Ergebnis: die Ohn-
machtserklärung Griechenlands, der Königsfriede, diktiert von Persien. Das
*) Die griechische und lateinische Literatur und Sprache, Kultur der Gegenwart
I, 8, S. 82.
H. Preibisch, Der Hellenismus im Geschichtsunterricht usw. 579
Jahr 387/86 bedeutet den vollkommensten Sieg der persischen Politik; der Sieger
erliegt dem Besiegten.
Da endlich, in der tiefsten Schmach des Vaterlandes, erwacht die Scham in
den Herzen einiger Patrioten. ,, Rache an Persien!" das wird die Losung, die ein
Isokrates seinen Landsleuten zuruft. Und an der fernen Nordwarte Griechen-
lands, in dem blutsverwandten Mazedonien, geht eben ein Stern auf, nach dem sich
die Blicke richten, König Philipp, vielleicht der ersehnte Messias, der Retter und
Rächer der Hellenen. Das Schicksal will es anders: König Philipp stirbt eines jähen
Todes, als der Zug längst beschlossen ist; aber sein herrlicher Sohn hat die Tat
vollbracht, die die Griechen von ihm erwarteten, als sie ihn zu Korinth zum Bundes-
feldherrn ernannten: Mit den Streitkräften Mazedoniens und Griechenlands hat
er Persien zu Boden gestreckt und das Volk der Hellenen zu einer Weltmacht
erhoben.
In der i n n e r e n Politik steht es nicht anders. Nach all dem Wirrwarr der
Verfassungen, als die Werke eines Lykurg und Solon aufgelöst, zertrümmert, ent-
artet, zur Unkenntlichkeit entstellt waren, als in der athenischen Ekklesie und
anderswo die Schreier und der bezahlte Pöbel längst das große Wort führten, als
die Besten des Volkes wie Mitte des vorigen Jahrhunderts aus der Schauderhaftig-
keit des politischen Lebens an den Schreibtisch oder in die Haine der Kunst und
Literatur geflüchtet waren — endlich wieder einmal ein politischer Wille, große
Ziele und Hoffnungen, die Begeisterung erweckten und die Herzen ergriffen. Das
Synedrion von Korinth ist das erste Beispiel eines repräsentativen Parlamentes,
und Alexanders Monarchie und die ßaaiXsiGci der Diadochen haben die Urbilder
all der modernen Formen staatlichen Lebens geschaffen.
Wie steht es nun aber mit der hellenistischen Kultur? Ich zitiere Wend-
land:*) „Kein moderner Philologe leugnet, daß die Kultur des 5. und 4. Jahr-
hunderts nach dem Reichtum originaler und wahrhaft schöpferischer Gedanken,
nach der Größe ihrer geistigen Heroen einzig dasteht . . ., aber durch diese
Schätzung darf der Hellenismus nicht in seinem Rechte verkürzt werden. Er hat
eine neue Kultur hervorgebracht, deren Formen und Anschauungen zum Teil bis
auf die Gegenwart herrschen oder nachwirken. Er hat neue Literaturgattungen
geschaffen und alte auf die Höhe ihr^r Entwicklung geführt. Er hat die Fach-
wissenschaften zur höchsten Blüte gebracht. Und auch wer dies verkennen wollte,
müßte ihm doch das Verdienst zuschreiben, daß das Griechentum neben dem
Christentum die Grundlage unserer Kultur geworden ist. So hat der Hellenismus
den Ertrag der älteren griechischen, vor allem attischen Geistesarbeit und Kultur-
entwicklung in die Formen gegossen, die ein Gemeinbesitz der Kulturvölker ge-
worden sind."
Und einen solchen Abschnitt der Weltgeschichte sollten wir Geschichtslehrer
uns entgehen lassen? Wir sollten unsere kostbare Zeit in Obersekunda mit den
Katzbalgereien der Spartaner und Athener vertrödeln, um in der letzten Stunde
des 2. Quartals gerade noch so viel Zeit zu haben, um die griechische Geschichte
mit dem üblichen, aber nichtssagenden „Ausblick" auf die Zeit des Hellenismus
*) Paul Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur, Tübingen 1907, S. 3 ff.
37*
580 H. Preibisch,
zu beschließen und in der ersten Stunde nach den Ferien mit der römischen Geschichte
ab ovo zu beginnen?
Nein und nimmer! Unsere Gymnasiasten lesen in Prima den Thucydides.
Wenn es nicht geschieht, ist es unverzeihlich. Hier können sie meinetwegen die
Einzelheiten des peloponnesischen Krieges genau kennen lernen. Im Geschichts-
unterricht der Obersekunda ist dazu keine Zeit. Ähnlich steht es mit den einzelnen
Kriegsereignissen der Pentekontaetie und des korinthischen Krieges. Die einzigen
kriegerischen Ereignisse vor Alexander, die eine genaue Behandlung vom historischen
Gesichtspunkte erfordern, sind die Perserkriege. Das übrige gehört, soweit wichtige
Neuerungen stattfinden, in das Gebiet der „Antiken Strategie und Taktik" und wird
etwa an der Hand von Delbrück, Kromayer, Bauer als ein Kapitel der allgemeinen
Kulturgeschichte behandelt.
So wird die für die Behandlung des Hellenismus erforderliche Zeit spielend
gewonnen. Den äußeren Rahmen bildet natürlich auch hier die politische Geschichte.
Diese erscheint vielen Leuten noch viel wirrer und komplizierter, als sie in Wirk-
lichkeit ist. Den ersten großen Abschnitt bildet die Zeit bis zur Schlacht bei Ipsus,
d. h. bis zum Tode des großen Antigonus, der den Gedanken eines einheitlichen
Reiches bis zu seinem Lebensende vertritt. Dann beginnt die Periode der vollen
Territorialsouveränität, die Konsolidierung der Einzelherrschaften zu vollkommen
selbständigen und voneinander unabhängigen Staaten. Bei der Schlacht von
Kurupedion wird abgebrochen; denn in dieselbe Zeit fällt der Zug des Königs
Pyrrhus nach Italien. Das Hauptinteresse wendet sich jetzt den siegreichen Römern
zu. Doch ehe die Schüler mit ihren Gedanken dem kühnen Epiroten nach dem
fernen Westen folgen dürfen, um vom römischen Kapitol aus die nun folgenden
Szenen auf der Weltbühne besser anschauen zu können, lenkt der Lehrer wie zum
Abschiede ihre Blicke noch einmal auf jene herrliche Kulturwelt des Hellenismus,
die sie von jetzt an nur noch aus der römischen Ferne betrachten werden. Dann
aber beginnt nach einem kurzen Überblick über die älteste Geschichte Italiens
und Roms mit der Darstellung des Tarentinischen Krieges die Geschichte des
römischen Imperiums.
So erhält der Hellenismus auch auf der Schule die Stelle, die ihm gebührt,
nämlich die Vermittlung zwischen Hellas und Rom. Der verhängnisvolle und den
Blick für alle weltgeschichtliche Betrachtung versperrende Dualismus: 1. Römische,
2. griechische Geschichte wird dann endlich aufhören, und auch in die Schulstube
wird einziehen die seit Eduard Meyer der historischen Wissenschaft selbstverständ-
liche „Geschichte des Altertums".
Gliederung des Stoffes.
1. Die Beschlüsse von Babylon. Aufstände in Baktrien und Griechenland.
Festsetzungen über die Thronfolge. Krateros Reichsverweser, Perdikkas
Chiliarch. Neueinteilung der Satrapien. Aufstände in Baktrien durch Peithon,
in Griechenland (L amischer Krieg) durch Antipater niedergeworfen
(Krannon, A m o r g o s 322). Oligarchie des Phocion in Athen.
2. Krieg gegen Perdikkas und Eumenes. Wiederherstellung der Zentral-
gewalt.
Der Hellenismus im Geschichtsunterricht der höheren Schulen. 581
Antigonos verbündet sich mit den übrigen Diadochen gegen Perdikkas/'der
auf seinem unglücklichen Feldzuge gegen Ägypten ermordet wird (321), während
Eumenes für ihn in Asien erfolgreich Krieg führt. Triparadeisos: Eumenes
geächtet, Antipater Reichsverweser, Antigonus Reichsfeldherr, Seleukos er-
hält Babylonien. Eumenes bei Orkynia geschlagen und nach Nora zurückgeworfen.
3. Cassander wird Herr in Europa, Antigonus in Asien.
Antipater stirbt 319: Polyperchon Reichsverweser. Gegen ihn ver-
bünden sich Cassander, Antigonus, Ptolemaeus. Nach einigen Erfolgen des Poly-
perchon in Griechenland (Wiedereinführung der Demokratie in Athen; Phocion
hingerichtet 318) wird die Flotte Polyperchons durch Antigonos am Bosporus ver-
nichtet. Restauration der Oligarchie in Griechenland durch Cassander: Herrschaft
des Demetrius v. Phaleron in Athen (317 — 307). Kampf der Olympias
und Eurydice. Philippus Arrhidaeus ermordet. Eumenes v. Kardia von Antigonus
bei Gabiene (316) geschlagen und hingerichtet. Seleukus wird aus Babylon
durch Antigonus vertrieben und flieht zu Ptolemaeus. A n t i g o n u s ist in Asien
fast unumschränkter Herr.
4. I. Koalition gegen Antigonus.
Antigonus kämpft erfolgreich gegen Cassander in Griechenland und gegen
Ptolemaeus in Syrien. Dieser erringt zunächst über Demetrius den Sieg bei Gaza
(312), aber sein Feldherr Killas wird kurz darauf geschlagen und Syrien geht ver-
loren. Friedenschluß auf Grund des Status quo: Seleukus kehrt nach Babylon
zurück, Antigonus erhält Syrien.
5. Das Ende des mazedonischen Herrscherhauses. II. Koalition gegen
Antigonus.
Alexander, S. d. Roxane (u. Herakles, S. d. Barsine) 310 ermordet.
Kämpfe des Seleukus gegen Sandrokottos in Indien. Ptolemaeus unterstützt in
Griechenland den Aufstand des Polemaeus gegen Antigonus. Ihi Jahre 307 Zug
des Antigonus und Demetrius nach Griechenland: Begeisterte Auf-
nahme in Athen, Demetrius von Phaleron vertrieben. Ptolemaeus Feldherr Menelaus
bei Salamis auf Cypern (306) geschlagen. Die Diadochen (Ptolemaeus
nach einem unglücklichen Feldzuge des Antigonus gegen Ägypten) nehmen im Jahre
305 den Königstitel an. Demetrius belagert Rhodus (305), zieht von hier
gegen Cassander, wird aber bald darauf von Antigonus nach Asien gerufen. Hier
wiederum eine große Koalition gegen Antigonus, der in der Schlacht bei Ipsus
(301) geschlagen wird und fällt. In sein Reich teilen sich Lysimachus und Seleukus.
6. Demetrius.
Demetrius kämpft mit wechselndem Geschick um die Wiedereroberung
des väterlichen Reiches. Er wird im Jahre 294 König von Mazedonien, verliert
aber sein Land bald darauf (Schlacht bei Beroea 288) an Lysimachus und Pyrrhus.
Zug nach Asien (287), Gefangennahme durch Seleukus (285), Tod in
Apamea am Orontes (283).
7. Untergang des Reiches des Lysimachos. Tod des Seleukos. Die Anti-
goniden gelangen endgültig auf den Thron Mazedoniens.
Lysimachus gewinnt ganz Mazedonien, auch Teile Griechenlands. Da bricht
in seinem eigenen Hause Unheil aus. Wegen der Ermordung ihres Gatten Aga-
582 H. Preibisch, Der Hellenismus im Geschichtsunterricht usw.
thokles begibt sich Lysandra zu Seleukus und treibt ihn zum Rachekriege gegen
Lysimachos, der bei K u r u p e d i o n (281) besiegt wird und fällt. Seleukus,
der Erbe seines Reiches, will auch Mazedonien gewinnen, wird aber kurz nach seiner
Landung in Europa von Ptolemaeus Keraunos ermordet (Winter 281/80).
Dieser wird mühelos König von Mazedonien, da sein einziger Rival P y r r h u s
eben mit seinen westhellenischen Plänen (Tarentin. Krieg 280—272) be-
schäftigt ist. Wenige Jahre darauf fällt Ptolemaeus Keraunos im Kampfe gegen
die Kelten, und durch einen Sieg über dieses Volk bei Lysimacheia (277)
erringt Antigonos Gonatas, S. d. Demetrius, die mazedonische Königs-
krone, die die Antigoniden von jetzt ab bis zur Schlacht bei Pydna ununterbrochen
behaupten.
8. Die hellenistischen Reiche bis zum Eingreifen der Römer.
Aus dem Alexanderreiche haben sich drei große T e i 1 r e i c h e entwickelt:
Mazedonien, das Reich der Antigoniden; Syrien, das Reich der Seleu-
ciden; Ägypten, das Reich der Ptolemaeer. Fast dreißig Jahre lang kämpfen
die Seleuciden (Antiochus I und II) mit den Ptolemaeern (Ptol. II. Philadelphos
und Ptol. III Euergetes) um das südliche Syrien, das endlich von Euergetes
für Ägypten gewonnen wird. Das Seleucidenreich löst sich auf (Pontus, Pergamon),
besonders seit der Entstehung des Partherreiches (Arsaces). Einen
Aufschwung führt Antiochus der Große herbei, der jedoch im Syrischen Kriege
(192 — 189) den Römern unterliegt. Die Antigoniden in Mazedonien haben
gegen die für ihre Freiheit kämpfenden Griechen noch viele Kriege zu führen.
Ihre Feinde sind vor allem der aetolische und achaeische Bund (Arat v.
Sikyon) und das von Agis und Kleomenes reformierte Sparta. Das Endergebnis
dieser Kämpfe ist die Besiegung der unter Spartas Führung vereinigten Griechen
bei S e 1 1 a s i a (221) durch den König Antigonus Doson. Sein Nachfolger Philipp,
der Bundesgenosse Hannibals, wird von den Römern bei Kynoskephalae (197)
geschlagen.
Zusammenfassung.
1. Die Idee eines einheitlichen Alexanderreiches verliert schon in den ersten
Jahren nach dem Tode des Königs infolge der fortwährenden Kämpfe der Satrapen
untereinander mehr und mehr an Kraft und wird durch das Aussterben der männ-
lichen Linie des Herrschergeschlechtes im Jahre 310 gegenstandslos.
2. Ober die monarchischen Bestrebungen des Antigonos erringen die zentri-
fugalen Tendenzen der übrigen Diadochen, die seit dem Jahre 305 in ihren Ländern
den Königstitel führen (Territorialsouveränität!) den Sieg in der Schlacht bei
Ipsos (301).
3. Die Vernichtung des Reiches des Lysimachos (Kurupedion 281) und die
Thronbesteigung der Antigoniden in Mazedonien (277) führen zur Konsolidierung
der drei großen Hauptmächte des Hellenismus.
4. Territorialgeschichte Mazedoniens, Syriens, Ägyptens und der Untergang
des Hellenismus im Römerreiche, vollendet durch Octavians Einzug in Alexandria
nach dem Siege bei Actium (31 v. Chr.).
Magdeburg. Hans Preibisch.
IL Programmabhandlungen 1911.
Latein. 1911.
Die komische Muse Alt-Roms bewährt auch diesmal wieder ihre Anziehungs-
kraft. In einer lesenswerten Abhandlung „Z urWürdigung desPlautus*'
(Dresden-Altstadt, Kreuzschule, 4», 23 S., No. 757) will Dr. Arthur Denecke keine
„streng philologische Kleinarbeit", sondern „eine zusammenfassende, sachliche
Würdigung" des Komikers geben. Form und Inhalt der meisten Stücke werden
besprochen und dabei besonders auf die meisterhafte Kunst der Sprache hin-
gewiesen. Das Bühnengeschick des römischen Dichters könne sich neben das der
griechischen Vorbilder stellen. Die Einheitlichkeit der Handlung, die Darstellung
der Charaktere, der feine und kräftige Witz usw. sprechen doch, wenn man un-
befangen urteilt, f ü r die Plautinische Muse, und das Lob, das man den Lustspielen
spenden mag, ist mehr auf Rechnung des Römers als nur der hellenistischen Vor-
lagen zu schreiben. Die Fähigkeit, die Handlung im einzelnen witzig und humorvoll
zu gestalten, ist ganz besonders plautinisch. Nach dem Verfasser hat Plautus
seine Kenntnisse der griechischen Literatur frei verwertet, hat Gedanken und
Züge aus ihr entnommen und hat dann diese nach eigenem Ermessen n u r i m
allgemeinen nach attischem Muster zusammengefügt.
Professor Johannes Poland (der „bei seiner Arbeit über ,Zwei neue
Beweise des Fermatschen Satzes für Kubus und Quadrat' auf Schwierigkeiten
gestoßen war und deshalb eine andere Abhandlung als Ersatz lieferte) untersucht
„Zu Plautus' Captivi und Stichus" (Kgl. Gymnasium zu Dresden-
Neustadt. B. G. Teubner. 4». 14 S. No. 761) zunächst die Zulässigkeit des Hiatus
bei Eigennamen. Verfasser glaubt, daß die vielfachen Schwierigkeiten im Text
nicht dadurch zu beseitigen seien, daß man vor oder hinter diesen verbessert,
sondern daß man die Überlieferung der Namen selbst auf ihre Echtheit prüft,
weil ja die Personennamen häufig von Rezensenten willkürlich geändert worden
seien. Wenn man in den Captivi den Namen H e g i o ändere (etwa in Micio oder
Demipho), seien viele Stellen schon in Ordnung, und die noch übrigbleibenden
Anstöße ließen sich auf verschiedene Art leicht beheben. Im zweiten Teile ver-
teidigt der Verfasser den Namen Epignomus (im Stichus) gegen andere Lesarten;
auch das Metrum spreche dafür. Die Vorschläge erscheinen beachtenswert.
Es ist jedesmal erfreulich, wenn antike Überlieferung durch heutige Beob-
achtung bestätigt, ergänzt, erläutert wird, wie es für einen Punkt der Cäsarischen
584 Gramer,
„Denkwürdigkeiten" von Oberlehrer Dr. Carl Ansfeld, in einer Studie über G e r-
govia geschieht (Großherzogl. Ludwig- Georgs- Gymnasium zu Darmstadt.
G. Ottos Hof-Druckerei. 4«. 16 S. No. 917). Verfasser hat im Frühjahre 1908
das Kampfgebiet und auch die Höhe von Gergovia (744 m) besucht. Es werden
der Aufstand des Vercingetorix, die Feldzugspläne Cäsars und die Berechnungen
seines gewaltigen Gegners, die Schlacht selbst, ihr Ausgang und der endliche Erfolg
Cäsars im einzelnen durchgesprochen, auch hervorgehoben, wie Cäsar die Dar-
stellung zu seinen Gunsten zu gestalten weiß, ohne doch dem Feinde die Aner-
kennung zu versagen. Von besonderem Werte ist die genaue Beschreibung und
Würdigung der Stätte des alten Gergovia, die Verfasser auf Grund seiner eigenen
Anschauung gibt, und die verdienstlich ist für die Erkenntnis der altgallischen
Befestigungsweise mit ihren Holz-Stein-Bauten auf schwer zugänglichen Höhen
(vgl. besonders S. 6).
Über die Arbeitsweise Cäsars als Geschichtsschreibers und den Anteil seiner
Unterfeldherren an den Kriegsberichten haben manche Untersuchungen der letzten
Jahre neues Licht verbreitet. Kurios Feldzug in Afrika ist der Gegen-
stand eingehender Forschung, die Oberlehrer Paul Menge uns vorgelegt hat. In
einem 1. Teile, der im vorhergehenden Berichtsjahre erschien, hatte er auf Grund
grammatischer Beobachtungen sich gegen Cäsar als Verfasser ausgesprochen.
In der vorHegenden zweiten Abhandlung (Ist Cäsar der Verfasser
des Abschnittes über Kurios Feldzug in Afrika? (Caesar,
de hello civili II 23 — 44). Ein Beitrag zur Cäsarfrage. Kgl. Landesschule Pforta.
H. Sieling. 4^. 32 S. No. 343) weist er u. a. darauf hin, daß Cäsar selbst so wenig
über Kurio urteilt und seine Fehler tadelt. Wer aber ist der Verfasser? Asinius
Polio, der an sich in Frage kommen könnte, ist es nicht. Andererseits ist es nicht
möglich, mit Sicherheit einen Namen zu nennen. Als Ergebnis stellt Verfasser fest,
daß ein Überarbeiterd ie Berichte Verschiedener (Kurio, Rebilus, Rufus) zusammen-
stellte und selbst nur die verknüpfenden Sätze schrieb. Wertvoll ist die angehängte
Übersicht über die ältere Cäsarliteratur; sie reicht von 1330 (Griechische Über-
setzung des Planudes) bis 1847 (Nipperdeys Ausgabe).
Prof. Dr. Max Hodermann, der schon durch frühere Arbeiten über „mili-
tärische Ausdrücke" (bei Xenophon, Livius, Cäsar) wohlbekannt ist, hat
diesmal die gleiche Aufgabe für Sallust gelöst (S a 1 1 u s t s m i 1 i t ä r.
Ausdrücke, nach Gruppen geordnet und übersetzt.
Fürstlich Stolbergsches Gymnasium zu Wernigerode. Rud. Vierthaler. 8°. 30 S.
Nr. 351). Sallust hat die Kenntnis der Fachausdrücke zum Teil durch seine eigene
Dienstzeit erworben; Verfasser bewährt sich auch diesmal wieder als sicherer
Führer. Manchem willkommen wird es sein, daß die Ausdrücke nach denselben
Gesichtspunkten geordnet sind, wie sie Ostermann-Müller in seinem Übungsbuch
aufstellt.
„Die Schrift des Juncus irepl YTjpo); und ihr Verhältnis
zu Ciceros Cato maior" untersucht Prof. Dr. Friedrich Wilhelm
(Kgl. König-Wilhelms-Gymnasium zu Breslau. .Otto Gutmann. 4«. 20 S. No. 263).
Der erste Teil beschäftigt sich zunächst mit den Schriften über das Alter über-
haupt, eine Frage, die in Ciceros Büchlein wohl die beste Behandlung gefunden
Latein. 1911. 585
habe. Die Quellen für ,,das arg versäumte Schriftchen" des Juncus sind bei den
Griechen zu suchen; der Gedankengang ist nicht so streng gegliedert wie bei Cicero.
Im zweiten Teile kommt Verfasser zu dem überzeugenden Schlüsse, daß beide
Abschnitte der fraglichen Schrift auf mindestens eine griechische Vorlage des-
selben Inhalts zurückgehen, und daß andererseits Cicero nicht benutzt ist.
Auf Grund der bisherigen Forschung hatte Norden über das Gefüge der
Metamorphosen Ovids das Wort geprägt: „Ein chronologisch und
genealogisch geordnetes Kompendium gab den Grundstock". Mit Rücksicht
hierauf hat sich Oberlehrer Dr. Walter Zinzow die Aufgabe gestellt, „die
Anordnung des Stoffes in den Metamorphosen zu prüfen und zu vergleichen mit
der Disposition, die sich in den zu Ovids Zeit gebräuchlichen mythologischen Hand-
büchern findet" (Städtisches Gymnasium zu Beigard. Gust. Klemp. 8^. 14 S.
No. 197). Zunächst wird Diodors ßißXioör^xYj bxoptxTj (4. Buch) herangezogen,
der dort ein solches Handbuch benutzt, dann Hygins Fabeln und Horaz' Ode
*III 19 (S. 9) und ein „Schema der mythographischen Kompilationen" ermittelt;
ein Vergleich mit Ovids Erzählungsstoff zeigt dann, ,,daß das von Ovid benutzte
Handbuch im Aufbau die größte Verwandtschaft mit dem von Diodor und dem
Mythographen Hygin excerpierten Kompendium zeigt".
Livius' darstellende Kunst wird behandelt von Dr. Carl Atzert im Pro-
gramm des Königlichen Gymnasiums zu Meppen (Livius quomodo composuerit
1. XXI capita 40—44. Huth, Göttingen. 8». 22 S. No. 426); besprochen werden
die Reden der beiden Gegner Scipio und Hannibal, und zwar so, daß die Kunst,
die Livius bei der Gegenüberstellung des Redepaares ent-
faltet, ins Licht gestellt wird. S. 19: „Et multum quidem Livius noster in hoc genere
dicendi profecisse videtur. Neque enim quicquam fere dixit Scipio, quod non in con-
trariam partem verterit Hannibal.''
Im Jahresbericht des Kgl. Gymnasiums in Freienwalde ist die (6.) Fortsetzung
der Bentley - Studien des Direktors Prof. Dr. Hedicke erschienen (S t u d i a
Bentleiana. VI. Lucanus Bentleianus IL P. Neubert. 4°. 30 S. No. 85);
es handelt sich um die kritische Textgestaltung des Lucan.
Eine sprachvergleichende Studie über „die kopulative Kompo-
sition im Lateinischen" bietet Oberlehrer Dr. Friedrich Slotty (Kgl.
Viktoria -Gymnasium zu Potsdam. Robert Müller. 8°. 40 S.); es ist ein willkom-
mener, sachkundiger Beitrag zur lateinischen Wortbildungslehre. Die Arbeit
will eine Lücke ausfüllen, da (im Gegensatz zur griechischen Sprachforschung)
das , »interessanteste Problem" und „die kühnste Art der Worteinung", näm-
lich die kopulative Komposition, für das Lateinische noch nicht genauer unter-
sucht sei. Während sich im Altindischen alle Abstufungen in der Innigkeit dieser
Wortverbindung nachweisen lassen, hat das Lateinische fast nur diejenige Art
ausgebildet, in der die Individualität der Einzelglieder stark oder gänzlich zurück-
gedrängt ist (z. B. euronotus, sacrosanctus, aequipar). Die „Textkritischen
Bemerkungen zu P e t r o n i u s", die Oberlehrer Dr. Paul Siewert
veröffentlicht (Kgl. Friedrichs- Gymnasium zu Frankfurt an der Oder. Franz
Köhler. 4^. 31 S. No. 84), haben den Vorteil, daß sie das Vulgärlatein Petrons
weitgehend berücksichtigen und sich im übrigen streng an den gerade bei der
586 Cramer,
Petronüberlieferung bewährten Grundsatz halten, daß die handschriftliche Lesart
nur auf leichte und einfache Weise zu ändern sei, „unter Verzicht auf kühne, wenn
auch auf den ersten Augenblick verblüffende Einfälle". (Beachtenswert ist gleich
die erste Vermutung, daß cp. 28, 3 statt 'propinasse' zu schreiben ist ein vulgär-
lateinisches 'popinasse'y obschon sonst nur popinari (Deponens) vorzukommen
scheint.)
1 In einem zweiten Teile seiner Arbeit über den Servius-Kommentar
zu Vergil behandelt Joh. Kirchner in mühevollen Zusammenstellungen die
Stellen, an denen Servius den Vergil selbst zur Erklärung heranzieht, um des
Kommentators Vertrautheit mit den Vergilschen Werken zu zeigen. Nützlich
sind auch die Übersichten über die von Servius angeführten Stellen des T e r e n z
(mit Rücksicht auf den Grad der Treue im Zitieren), ebenso die Vergleichung
der verschiedenen Art und Weise, wie Erzählungen und mythologische Geschichten
von dem kürzeren und von dem erweiterten Servius-Kommentar zitiert werden.
Dr. F. Krohn (Ad, in und andere Palaeographica. Kgl.
Schillergymnasium zu Münster. J. Bredt. 8«. 20 S. No. 488) hat bei V i t r u v
beobachtet, daß das Wörtchen 'ad' an 22 Stellen (S. 16) als sinnlos zu streichen
ist, und vermutet deshalb, daß dieses ad die Bedeutung einer handschriftlichen
nota hatte, wie etwa in mittelalterlichen Handschriften hd (= hie deest) oder fi
(hiaf) oder hh (hie hiaf). Die Natur dieses Wörtchens sei in Vergessenheit ge-
raten und in den Text übernommen worden. Dieselbe Beobachtung trifft bei
'in* zu, das bei Vitruv nach dem Verfasser 26 mal zu streichen ist. Die richtige
Bedeutung dieser notae festzustellen, ist freilich noch nicht gelungen; doch sind
die gemachten Beobachtungen recht ansprechend. Über ähnliche andere Irrtümer,
die durch Abkürzungen entstanden sind, spricht Verfasser S. 16 ff. Besonders
beachtenswert scheint mir die Vermutung zu Vitruv II 35, 15 nonnulli ex ulva
palüstri eomponunt tuguria. apud eeteras quoque gentes & nonnulla loea
pari similique ratione easarum perfieiuntur eonstitutiones : statt & ist zu lesen
ex (eine sehr geläufige Verwechslung), und 'nonnulla loea' ist vom Schreiber irr-
1 . ca
tümHch aufgelöst, aus der Vorlage: nonnulla, d. h. 'v e l cannula';*) es ist
also zu lesen ex cannula = 'aus Rohr' (im Gegensatz zu dem voran-
gehenden ex ulva, 'aus Schilf).
In einem weit ausgreifenden und tief schürfenden „Beitrage zur Gymnasial-
pädagogik** will Oberlehrer Dr. Johannes Moeller eine Art Ethik bieten, die, auf
dem Boden der altsprachlichen Lektüre gewonnen, über den Rahmen des Unter-
richts nicht hinausgeht und den Gesichtskreis des Schülers nicht übersteigt.
(Über den Bildungswert der altsprachlichen Lektüre.
2. Teil. Lateinische Hauptschule in den Franckeschen Stiftungen zu Halle a. d. S.
Druckerei des Waisenhauses. 4^. 41 S. No. 332.) Nur einzelne ethische Grund-
fragen werden behandelt, soweit sie nämlich bei der Lektüre in Frage kommen
können. Es ist zu begrüßen, daß Verfasser, offenbar ein ebenso erfahrener Päda-
*) Dem Abschreiber war also die Abkürzung 1. (= vel) unbekannt, und er
setzte daher hinter nonnulla das aus '1. ca' falsch aufgelöste loea.
Latein. 1911. 587
goge wie bewanderter Philologe, eine zusammenfassende Buchausgabe
vorbereitet; nach ihrem Erscheinen wird es sich lohnen, auf die gedankenreiche
Arbeit zurückzukommen. Besonders zu unterstreichen ist die durchaus richtige
Grundanschauung des Verfassers: ,,Da nicht mit Notwendigkeit aus Gedanken
Empfindungen und daraus Grundsätze und Handlungsweisen werden, so ist das
gemüt- und willenbildende Moment vor allem in der Art der Betrach-
tun g .... zu suchen und das betrachtete Objekt weniger nach seiner wissen-
schaftlichen als nach seiner erzieherischen Bedeutung zu würdigen."
Es wird damit eine Hauptaufgabe unserer heutigen Gymnasialerziehung berührt,
die ihrerseits — in einseitiger Fortbildung Herbartscher Gedanken —
zum Teil auf falsche oder ausgefahrene Geleise geraten ist.
Der Wirklichkeitssinn der Schüler soll auch durch die alten Sprachen geweckt
werden; er soll z. B. sehen, welche Stellung der antike Mensch zu den Tieren ein-
nimmt, wie gut er deren Leben und Treiben zu beobachten versteht, wie manche
Bilder er der Tierwelt entlehnt. Solcher Aufgabe dient Direktor Dr. Oskar Alten-
burg mit der Fortsetzung seines von uns schon früher besprochenen „latei-
nischen Sachbuches" (Hl. Aus dem Tierleben. 1. Aus dem
Leben der Haustiere. Kgl. Gymnasium zu Glogau. Glogauer Druckerei. 4^. 23 S.
No. 272). Der Schüler soll angeregt werden, bei seinen Spaziergängen nicht blind
durch die umgebende Natur zu gehen, besonders da das, was den Alten auffiel,
auch heute noch zutrifft (z. B. daß den Südländern die Zugvögel zum Opfer fallen).
Mit großer Sachkenntnis sucht Verfasser alles zusammen, was von den Alten über
die Haustiere gesagt wird und gewinnt dadurch recht treffende Bilder von ihnen.
Von solchen Zusammenstellungen wird besonders der Unterricht in der Groß-
stadt Nutzen ziehen können, da es dort so wenig Gelegenheit gibt, die Haustiere
in ihrem Tun und Wesen an Ort und Stelle zu beobachten.
In seinen „Beiträgen zur lateinischen Sc^hulstilistik"
will Prof. Julius Sander dem heutigen (gegenüber der ,,w i r k l i c h guten,
alten Zeit'* beschränkten) Lateinunterricht eine Stütze geben, um die Eigen-
art der lateinischen Sprache in den Schülern lebendig werden zu lassen; er faßt
in sieben „Stilgesetzen" das Wichtigste für die Wortstellung und die Verbindung
der Sätze, überhaupt für den 'color latinus' zusammen. Besonderer Wert ist auf
sinnvolle Kürze der Regeln gelegt, da die Schülier sie auswendig lernen sollen.
Berechnet sind sie für Sekunda und Prima, doch sind sie auch der Tertia, wenig-
stens zum Teil verständlich. Das Heftchen empfehlen wir dem jungen Latein-
lehrer als nützliches Hilfsmittel: er findet darin praktische Winke eines erfahrenen
Schulmannes, wenngleich uns das „Auswendiglernen" weniger behagt.
Ein solcher hat auch das Wort in den ,,Lateinischen Studien"
(2. Teil), in denen Oberlehrer Dr. A. Baltzer „den lateinischen Genetiv, seine Be-
deutung und Behandlung im Unterricht" bespricht (Gymnasium und Realschule
zu Wismar. Eberhardtsche Hof- und Ratsdruckerei. 8». 32 S. No. 949);
im 1. Teile war der Ablativ behandelt. Der Quartaner und Untertertianer soll,
wie jeder Schüler einer höheren Bildungsanstalt, auch inneres Verständnis den
Regeln entgegenbringen; er soll sie empirisch kennen lernen, und in so leichter
Fassung, daß er sie nicht bloß äußerlich und nur halb verstanden aufnimmt. Diesen
588 Cramer, Latein. 1911.
Grundsätzen folgend, bietet Verfasser zunächst Beispiele aus Lesestücken, gibt
dann die Erklärung der Grundbedeutung und faßt zum Schluß alles in feste Grund-
gesetze zusammen. Beachtenswert ist ein als Anhang beigefügter Abschnitt über
einige Präpositionen.
Nachträglich ist noch zu meiner Kenntnis gekommen eine. Studie des Ober-
lehrers Paul Ahlgrimm : ,,Zur Quellenkritik der Naturalis
Historia des Pliniu s". (Schwerin i. M. Bärensprungsche Hofdruckerei.
40. 10 S. No. 947.) Im 8. Buch zitiert Plinius die 50 Bücher der Aristotelischen
Tiergeschichte; er hat indes nach dem Verfasser nicht den Aristoteles selber studiert.
Vielmehr hat Plinius dies Werk aus Handbüchern kennen gelernt; ,,die feierliche
Versicherung im 8. Buch wird auf Rechnung seiner Gelehrteneitelkeit zu setzen sein''.
,,Die Hauptquellen des Plinius waren römische Handbücher, deren zusammen-
hängenden Darstellungen er den Stoff für die verschiedenen Disziplinen seines
Werkes entnahm. Die Autoren, die er dort schon zitiert fand, führte er als benutzt
in den Indices der einzelnen Bücher auf, häufig in anderer Reihenfolge, als sie
im Text begegnen, und mit Auslassungen." Vermutliche Quelle war für Plinius
vielmehr V e r r i u s (Rerum memoria dignarum libri), aus dem auch Sueton ge-
schöpft hat. Die Beweisführung des Verfassers erscheint begründet.
Münster. Cramer.
III. Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen:
Deutsche Lesebücher VHI.*)
Buschmann, Deutsches Lesebuch für die Oberklassen
höherer Lehranstalten. ZweiteAbteilung. Deutsche Dichtung
in der Neuzeit. 9. vermehrte Auflage, besorgt von E. G e n n i g e s. Trier 1912.
J. Lintz. XVI u. 646 S. 8«. geb. 4,60 M.
Bötticher, G. und Kinzel, K., Altdeutsches Lesebuch. 4. Aufl.
Halle 1912. Buchhandlung des Waisenhauses. VI u. 202 S. 8«. geb. 2,20 M.
Evers- Walz- Kühne, Deutsches Lesebuch für höhere Lehr-
anstalten. Sechster Teil. Untersekunda. Ausgabe A. 2. Aufl.
Leipzig 1911. B. G. Teubner. XII u. 316 S. 8^. geb. 2,60 M. Ausgabe B, für
paritätische Anstalten. 2. Aufl. Ebenda 1911. — Siebenter Teil. Ober-
sekunda. Ausgabe A, B. 2. Aufl. Ebenda 1912. X u. 363 S. 8«. geb. 2,80 M.
Wevelmeyer-Scheier, Deutsches Lesebuch für die Grund-
stufen (Vorklassen) höherer Lehranstalten. I. Band. Zweites
Schuljahr. Leipzig 1911. J. Klinkhardt. XVI u. 216 S. 8«. geb. 1,70 M. II. Band.
Drittes Schuljahr. Ebenda 1911. XV u. 320 S. geb. 2,25 Ml
Gaertner, R., Fibel für die Vorschulen höherer Lehr-
anstalten. 4. Aufl. Berlin 1912. Trowitzsch & Sohn. 120 S. Aus-
gabe A, Steilschrift. Ausgabe B, Schrägschrift. S^' 0,90 M.
Bielteldt, H., Fibel. Mit Bildern von E. Kuithan. Kiel und Leipzig 1910.
Lipsius & Tischer. 132 S. IM. Dazu B e g 1 e i t w o r t ebenda. 39 S. 0,60 M.
Tollert, A., Neue Fibel für Vorschulen höherer Lehr-
anstalten, für Mädchenschulen und Mittelschulen. Berlin
0. J. L. Oehmigkes Verlag (R. Appelius). 126 S. 8^. geb. 0,80 M. Dazu Begleit-
wort ebenda. 27 S. 0,50 M.
Hessel, K., Schneeglöckchen. 5. Aufl. Bonn 191 1. A. Marcus &
E. Weber. 125 S. 8^. 1,80 M.
Caspari- Fibel. Ein Lesebuch mit vielen bunten Bildern
für die erste Schulzeit. Herausgegeben von Gertrud Caspari. Stutt-
gart 1912. R. Keutel. 76 S. 8«. geb. 2,50 M.
Die 9. Auflage desLesebuchesvonBuschmann zeigt weitere wert-
volle Verbesserungen. Damit bei der Behandlung der in dem vorliegenden Bande
*) Vgl. Monatschrift X (I9U), S. 669 f.
590 A. Zehme,
vertretenen Dichter ein Rückblick auf ihre in den früheren Klassen behandelten
Dichtungen erleichtert werde, sind im Texte bei den einzelnen Autoren die in den
drei Bänden desselben Lesebuches für die Unter- und Mittelstufe befindlichen
Dichtungen zusammengestellt worden. Die im ganzen immer noch recht reichliche
Auswahl aus neueren Dichtern ist nicht wesentlich geändert. Fortgefallen sind
Reinhold Fuchs, Heinrich Vierordt und Alice Freiin von Gaudy, neu aufgenommen
Georg Busse-Palma, Hermann Hesse und Wilhelm von Scholz. Das Lesebuch,
welches schon in der „Monatschrift" (X, 670 f.) vom Referenten auf das wärmste
empfohlen wurde, hat seinen bisherigen reichen Erfolg wohl verdient. — Das gut
eingeführte AltdeutscheLesebuchvon Bötticherund Kinzel,
dessen 1. Auflage (1903) in dieser Monatschrift (III, 98) vom Referenten freudig
begrüßt wurde, ist inzwischen vermehrt worden durch eine gute Auswahl aus Ot-
frieds Evangelienbuch (nach Seilers Übersetzung) sowie bei der Wölsungensage
und den eingefügten Teilen der Liederedda durch das dritte Sigurdslied, dessen hin-
reißende Schönheit Referent in seiner „Germanischen Götter- und Heldensage"
(Leipzig, Freytag) gewürdigt hat, und durch das Lied von Atli. Auch die im An-
hange gegebene mhd. Grammatik ist sorgfältig durchgesehen und mehrfach ergänzt.
So gehört dieses altdeutsche Lesebuch, welches sich durch die Reichhaltigkeit
seines Inhaltes und die erprobte Methode seiner Darbietung schon viele aufrichtigen
Freunde erworben hat, mit den von denselben Verfassern in gleichem Verlage
früher erschienenen „Denkmälern älterer deutscher Literatur" unstreitig zu den
besten Hilfsmitteln zur Einführung in die altdeutsche Literatur. — Von dem be-
währten Lesebuche von Evers-Walz -Kühne, auf welches Referent
an dieser Stelle schon wiederholt mit anerkennenden Worten hingewiesen hat,
liegen die Bände für Unter- und Obersekunda in 2. Auflage vor, beide in zwei Aus-
gaben, von denen die Ausgabe B für paritätische Anstalten bestimmt ist. Der
Band für Uli ist erheblich verbessert und erweitert. Im Prosateile sind neu
hinzugekommen Aufsätze über die Steinsche Städteordnung (nach E. Wolff), die
politischen Wirkungen des Zollvereins (nach Treitschke), die deutsche Flagge
(nach Lists Zollvereinsblatt 1843), das Wesen des modernen Staates (nach Sohm),
Graf Zeppelin; auch die Botschaft Wilhelms I. an den Reichstag über die soziale
Versicherung (14. April 1883) ist abgedruckt. Diese stärkere Betonung der Bürger-
kunde wird manchem willkommen sein. Die Gedichte enthalten neben dem eisernen
Bestände aus Goethe, Schiller, Uhland eine wesentlich vermehrte Auswahl aus
Mörike, Storm, Keller, Meyer, Hebbel, Liliencron, Falke, Avenarius. Eine treff-
liche Sammlung von Volksliedern schließt den poetischen Teil ab. Sehr nach-
ahmenswert ist der A n h a n g , welcher eine Übersicht über die in den 6 Bänden des
Lesebuches enthaltenen Gedichte und Volkslieder enthält. Solche höchst prakti-
schen Übersichten hat Referent anderen Lesebüchern wiederholt empfohlen. —
Der Band für OII, dessen 1. Auflage schon angezeigt ist (Monatschrift VI,
103), stellt in der neuen Auflage eine völlige Neubearbeitung dar. Fortgefallen
sind, außer den Sprachproben des 17. Jahrhunderts, im Prosateile leider der Auf-
satz über die nordische Gestalt der Siegfriedsage sowie die ausführliche Inhalts-
angabe des Parzival (nach Vilmar); für letztere kann der Aufsatz aus Engels Lite-
raturgeschichte als ein gleichwertiger Ersatz nicht angesehen werden. Erweitert
ist die Auswahl aus N. L., Gudrun, Walther, M. F. Beseitigt sind die deutschen
Deutsche Lesebücher VI 11. 591
Übersetzungen, dafür hinzugekommen Anmerkungen sowie im Anhang ein Ab-
schnitt über den Wortschatz und ein Wörterverzeichnis. Für die Literatur- und
Kulturgeschichte sind Aufsätze aus neueren Schriftstellern gewählt, so über Wagners
Ring des Nibelungen von Kretzschmar, über mhd. Epiker von Engel, über die
römische Kaiserzeit von Domaszewski. Hinsichtlich der Auswahl aus der Edda
möchte Referent die Aufnahme des kurzen Sigurdsliedes, welches sich auch bei
Bötticher-Kinzel (s. oben 1), Liermann u. a. findet, nahelegen. — Das Vorschul-
lesebuch von Wevelmeyer und Scheier, vom Verlage dem Refe-
renten direkt zugeschickt, ist, wie schon vor ihm andere ähnliche, z. B. dasjenige
von Kühne-Vorwerk, durchweht von Großstadtluft, hält sich aber darin in maß-
volleren Grenzen. Die neueren Lesebücherfürdieersten Schul-
jahre wählen — darin liegt ein gewisser Fortschritt gegen früher — gern aktuelle
Stoffe, d. h. Stoffe aus der Umwelt des Kindes, aus der Welt des Selbsterlebten,
des unmittelbar Angeschauten, Beobachteten, Selbstempfundenen. Durch eine
groß angelegte Personifikation dieser ganzen Umwelt, der leblosen wie der lebendigen,
seitens neuerer Jugendschriftsteller entstehen packende, realistische, humorvolle
Szenen, denen die Psyche des Kindes zweifellos natürliches Interesse und Verständ-
nis entgegenbringt und auch eine gewisse Bereicherung verdanken kann. Das Kind
gewinnt ein inneres, teilnehmendes Verhältnis zu allem, was es umgibt in Haus und
Hof, im Garten und auf der Straße. Aber die Häufung solcher Schilderungen,
namentlich derjenigen, welche die Gansberg, Scharrelmann, J. Fra-
pan,Arno Fuchs, 0. von Greyerzin ihren Streifzügen durch die Welt
der Großstadtkinder bringen, birgt die Gefahr in sich, ins Platte, Triviale, Manie-
rierte zu verfallen und hinterläßt bei den Kindern kaum so nachhaltige, Geist,
Gemüt und Phantasie stärkende Eindrücke wie die kräftige frühere Lesekost,
z. B. Märchen, Schilderungen wahren Naturlebens in Wald und Feld usw. Oder
schütteln nicht auch noch große Leute zuzeiten gern den Staqb der Großstadt
von sich ab und suchen neue Kraft und Erfrischung an dem Busen der reinen,
unverfälschten Natur? Also Maß und Vorsicht in der Schilderung der Großstadt-
kultur für die Jugend! Ich fürchte, diese lernt davon auch ohne Lesebuch oft
mehr als gut ist. Der Standpunkt des vorliegenden Vorschullesebuches ist darin,
wie bemerkt, maßvoll, wird aber den modernen Anforderungen, auch in Auswahl
neuerer Lyrik, gerecht. D e r 2. Band ist ungewöhnlich stark, vielleicht weil er
manches der Sexta vorwegnimmt, namentlich Gedichte und Prosastücke aus dem
vaterländischen Leben (Abschnitt VII). Eine Einsicht in den Sextaband der üb-
lichen Lesebücher wird das bestätigen und durch sorgfältige Nachprüfung der
Lesestücke nach diesem Gesichtspunkt zu einer Kürzung des 2. Bandes führen
können. Warum in dem reizenden Weihnachtsgedicht von Heinrich Seidel
„D erkleine Nimmersatt" (Band II, No. 142) die letzte Strophe, welche
doch die Pointe enthält, fehlt, ist unverständlich. Im ganzen wird das besonders
die Heimatkunde des Rheinlandes berücksichtigende Vorschullesebuch von Wevel-
meyer und Scheier, welchem der Verlag eine gediegene Ausstattung, auch mit
Bildern von 0. Pletsch, L. Richter, A. Menzel, und einen vorzüglichen Druck (Offen-
bacher Schwabach-Typen) gegeben hat, sich als recht brauchbar erweisen und zur
Einführung unbedenklich zugelassen werden können. — Die zur Anzeige eingelaufenen
Fibeln vertreten verschiedene Methoden. Die altbewährte reine Schreiblese-
592 A. Zehme, Deutsche Lesebücher VIII.
methode, bei welcher mit der kleinen Schreibschrift begonnen wird, befolgt die
in 4. Auflage vorliegende Fibel von Gaertner; Ausgabe A bringt die neuer-
dings beliebte Steilschrift, Ausgabe B die bisherige Schrägschrift. Die mit Illustra-
tionen geschmückte und mit sorgfältigem Druck ausgestattete Fibel, welche in ihrer
neuen Auflage stark umgearbeitet ist und auch moderne Schriftsteller berücksichtigt,
kann empfohlen werden. — Die Bielfeldtsche Fibel ist gearbeitet nach
dem phonetischen Prinzip auf physiologischer Grundlage unter Anwendung von
Lautbildern und Lautfiguren. — Die Fibeln vonTollert und Hessel
zeigen eine völlig neue Methode, welche einen immerhin interessanten Versuch dar-
stellt. Es ist bekannt, daß Wetekamp in seinem anregenden Buche ,, Selbst-
betätigung und Schaffensfreude in Erziehung und Unterricht" (3. Aufl. 1912,
Teubner), unabhängig von Kerschensteiner, doch in seinen Ideen sich mit diesem
vielfach berührend, der Werkschule das Wort redet. Er läßt, anknüpfend an den
natürlichen Spieltrieb, den Vorschulunterricht beginnen mit Modellieren und Zeich-
nen, mit Buchstabenlegen und Zusammensetzen von Wörtern und Sätzen aus den
Buchstaben des Setzkastens. Erst nach einigen Monaten beginnt dann der eigentliche
Leseunterricht und noch später der Schreibunterricht (Steilschrift). Die Erfahrungen
mit dieser neuen Methode, welche Arbeitsfreude und Frohsinn in die Schule hinein-
tragen will, sind noch nicht abgeschlossen, sollen aber nicht ungünstig sein. Im
Anschluß hieran ist schon eine förmliche Literatur über den Anfangsunterricht,
das Stäbchenlegen usw. entstanden. Die Tollertsche Fibel geht nach
diesen Grundsätzen, indem sie das Märchen von den Sterntalern verwendet, von
den großen lateinischen Druckbuchstaben (Antiqua) aus, da diese einfachere Formen
böten. Diese werden von den Kindern modelliert, mit Stäbchen gelegt, nach-
gemalt, gelernt. Darauf folgen die kleinen lateinischen Druckbuchstaben, die
deutsche Druckschrift und die lateinische Schreibschrift (im Anhang). — Auch
die Hesseische Fibel mit dem etwas seltsamen Titel „Schneeglöckchen"
beginnt nach gleicher Methode mit einfachen, kleinen Geschichten in der großen
lateinischen Druckschrift und kommt von dieser zu der kleinen lateinischen Druck-
schrift, der lateinischen Schreibschrift (Steilschrift), endlich zur deutschen Schreib-
und Druckschrift. Die Auswahl der Lesestücke räumt mit manchem Altmodischen
auf, bewahrt aber die alten volkstümlichen Kinderreime. Diese Fibel soll das erste
Lesebuch für die Kinder darstellen. Ihrem Gebrauche soll die Einführung in das
Schreiben und Lesen vorausgehen, welche mit dem Stäbchenlegen und Nach-
malen einfacher Worte (Mama, Papa, Lina) in großen lateinischen Druckbuch-
staben beginnt. — Wieweit sich diese neue Methode, welche allerdings etwas zeit-
raubend zu sein scheint, im Anfangsunterricht einbürgern und auf die Dauer be-
währen wird, muß die Zukunft entscheiden. Da es in der praktischen Pädagogik
ja eine alleinseligmachende Methode nicht gibt, muß diese neue ohne Vorurteil
betrachtet werden und sie kann vielleicht auch zum Ziele führen. — Die C a s p a r i -
Fibel liegt dem Referenten nur in einem Prospekt vor, welcher einen unzuläng-
lichen Einblick bietet. Sie stammt von der durch ihre Kinderbücher bekannten
Künstlerin Gertrud Caspari und ist in Bild und Wort als Ergänzung zu anderen
benutzten Fibeln gedacht. Auch sie hat die Antiquaschrift gewählt.
Wilmersdorf-Berlin. A r n o 1 d Z e h m e.
A. Zehme, Schriften aus dem Gebiete von Mythus, Sage und Altertumskunde. 593
Schriften aus dem Gebiete von Mythus, Sage und Altertumsltunde.
von der Leyen, Friedrich, Deutsches Sagenbuch. II. Teil: Die
deutschen Heldensagen, von Fr. von der Leyen. München
1912. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, 0. Beck. VIII u. 352 S. 8°. geb.
3,50 M., in Halbpergament 5 M.
Panzer, Friedrich, Studien zur germanischen Sagenge-
schichte. II. Sigfrid. München 1912. Ebenda. X u. 281 S. 8«. brosch.
8 M., geb. 10,50 M.
Thule, Altnordische Dichtung und Prosa. Herausgegeben
von Felix Niedner. 1. Bd. E d d a. I. Teil: Heldendichtung, übersetzt
von Felix Genzmer, mit Einl. und Anmerk. von Andreas Heusler.
Jena 1912. Eugen Diederichs. 222 S. 8». brosch. 3 M., geb. 4,50 M.
Klee, Gotthold, Sagen der griechischen Vorzeit. 3. Aufl.
Gütersloh 1912. C. Bertelsmann. VIII u. 344 S. 8«. geb. 3 M.
Hoernes, Moritz, KulturderUrzeit. I. Steinzeit. Mit 41 Bilder-
gruppen und Titelbild. II. Bronzezeit. Mit 37 Bildergruppen. III. Eisen-
zeit. Mit 35 Bildergruppen. Leipzig 1912. G. J. Göschensche Verlagshandlung.
(Sammlung Göschen No. 564 — 566.) geb. je 0,80 M.
Hinsichtlich der in der letzten Sammelbesprechung (Monatschrift XI, 186 f.)
angezeigten schönen Schrift von J. Stuhrmann, Die Idee und die
Hauptcharaktere der Nibelungen, möchte Referent nach Rück-
sprache mit dem geschätzten Herrn Verfasser noch nachtragen, daß die von Stuhr-
mann vertretene und vom Referenten anerkennend hervorgehobene Verwerfung
der Schuldtheorie schon in der 1. Auflage dieses Büchleins 1886 zum Ausdruck
gekommen, also völlig unabhängig von Volkelts „Ästhetik des Tragischen" ent-
standen ist. Dieses Werk zu zitieren hatte also der Verfasser ke^ne Veranlassung;
doch ist es in späteren Auflagen der Vollständigkeit der einschlägigen Bibliographie
wegen vielleicht ganz zweckmäßig. — Der vorliegende 2. Teil des Deut-
schen Sagenbuches von F. von der Leyen, dessen 1. und 4. Teil
vom Referenten empfohlen wurde (Monatschrift IX, 49; 613), ist vom Heraus-
geber selbst bearbeitet. Er verfolgt in ihm das Ziel, die unvergänglichen und wunder-
baren Kräfte des germanischen Heldentums zu schildern, welche aus den alten
Heldensagen geheimnisvoll hervorstrahlen und Herz und Sinn der Germanen
dauernd fesselten. Daher schließt der Verfasser an die Erzählung des Inhaltes
der einzelnen Sagen (meist nach Grimm, Uhland u. a.) und an die Erörterung ihrer
Entstehung, Entwicklung und historischen Zusammenhänge stets eine ästhetische
Würdigung ihrer Größe und Tragik. Die literarischen Nachweise sind am Schluß
in den Anmerkungen gegeben. Personen- und Sachregister fehlen
leider in allen bisherigen Bänden, sie wären zum Nachschlagen doch recht er-
wünscht gewesen. Der 2. Band lenkt zunächst den Blick in die vorgeschichtliche
Zeit der germanischen Heldendichtung, sodann auf die allmähliche Bildung und
Umbildung der Sage in der Zeit der Völkerwanderung, auf die Beteiligung der
einzelnen Stämme daran, die nationale Bedeutung der Heldenlieder und ihr Ver-
hältnis zur Geschichte. Darauf folgt die Behandlung der Sagen von England und
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 33
594 A. Zehme,
Dänemark (Beowulf, Wermund und Uffe, Hagbard und Signe, Starkad, Hrolf),
der nordischen Sagen (Die Halfdansöhne, Amleth, Ermanarich, Wieland, Helgi),
des deutschen Mittelalters (Walther, Rother, Wolfdietrich, Dietrich, Gudrun),
endlich der Nibelungensage. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Stellung sagt
Verfasser selbst, daß er von den Ergebnissen anderer Forscher öfters abweiche und
besonders der mythisch ausdeutenden und der dialektisch rekonstruierenden
Methode nicht zu folgen vermöge, daß aber anderseits auch seine eigenen Ansichten
keine unbedingte Gewähr auf Richtigkeit böten. Verfasser zeigt die Neigung,
statt sagengeschichtlicher literarische Zusammenhänge zu vermuten. Es ist hier
nicht der Ort, darauf einzugehen, wie Verfasser die Sagen im einzelnen auffaßt
und ableitet, z. B. die von Siegfrieds und Beowulfs Tod aus uralten Liedern vom
Opfer und vom Tode eines strahlenden Helden. Jeder Fachmann weiß, wieviel
Problematisches noch die germanische Sage bietet. Im ganzen ist auch der 2. Band
zur Anschaffung für Schüler- und Volksbibliotheken sowie zu Prämien wohlgeeignet.
— Panzers ,,Sigfri d", die Frucht jahrelanger einschlägiger Studien, be-
schränkt sich, unter Ausschluß der Burgundensage, auf die eigentliche Sigfridsage
und faßt völlig unabhängig von neueren Arbeiten (Boer, Neckel u. a.) die Sage
nach ganz neuen Gesichtspunkten auf. Verfasser lehnt den Begriff ,,Sigfridmythus**
ab und will dartun, daß „die Vorgeschichte dieser Sage nicht am Himmel, sondern
auf der Erde zu suchen" sei, daß es also bei ihr nichts zu „deuten** gebe. Er ordnet
die zahlreichen deutschen und nordischen Sigfridsagen, ihrem Ursprünge nach,
in zwei Hauptgruppen, die er nach dem Vorgange Heuslers als Erlösungs- und
Werbungssage bezeichnet. Die Erlösungssage, zu welcher er im Gegensatz zu seinen
Vorgängern nicht nur die Erlösung und Erweckung der Jungfrau durch Sigfrid,
sondern auch Sigfrids dunkle Jugend, seinen Kampf mit dem Drachen und die Er-
werbung des Schatzes rechnet, leitet er ab aus dem Märchen vom Bärensohn,
dessen Typus in seinen drei Hauptteilen (Jugendabenteuer des Helden, Erlösungs-
tat im dämonischen Reich, Heimführung der erlösten Jungfrau) in die Sage über-
gegangen sei. Den gemeinsamen Ursprung der mannigfachen Werbungssagen
führt Verfasser zurück auf einen Märchentypus, den er als das Märchen vom Braut-
werber bezeichnet. Auch in seinen früheren Schriften sucht Verfasser bekanntlich
verschiedene Heldensagen aus demselben Märchentypus abzuleiten, so die Hilde-
Gudrunsage aus dem Goldener Märchen, die Beowulfsage aus dem Märchen vom
Bärensohne (vgl. Monatschrift IX, 612 f.). Wenn auch die heutigen Mythologen
diesen Resultaten bis jetzt zum Teil noch skeptisch gegenüberstehen, so sind doch
Panzers Verdienste, eine von großer Belesenheit zeugende mustergültige Sammlung
und methodische Analyse der betreffenden Märchen, ihrer Varianten, ihrer Ver-
breitung, gegeben zu haben, unbestritten. — Die mit Hilfe mehrerer Mitarbeiter
von Felix Niedner unter dem Tittl „T h u 1 e" herausgegebene alt-
nordische Dichtungund Prosa will den Versuch machen, durch eine
planmäßige Zusammenstellung und künstlerische Übersetzung der wichtigsten
klassischen Urkunden, die sich auf Island erhalten haben, der gebildeten Welt
die Anschauungen einer großen germanischen Lebensperiode (zirka 850 — 1250)
zu vermitteln und Islands Leistung für die Weltliteratur zu zeigen. Das ist an sich
ein zweifellos recht dankenswertes Unternehmen, welches nur mit Freude begrüßt
Schriften aus dem Gebiete von Mythus, Sage und Altertumskunde. 595
werden kann. Referent hat schon mehrfach (Monatschrift IX, 615 u. a.) auf die
Bedeutung der isländischen Saga und die neuerdings verfaßten Übersetzungen
(A. Bonus, P. Herrmann, Fr. Ranke etc.) hingewiesen, auch schon 1901 in seiner
„Germanischen Götter- und Heldensage" (Leipzig, Freytag)1*eine Reihe dieser
isländischen Sagas ftir^die Schule dargeboten. Die obige Sammlung Thule ist
berechnet auf etwa 24 Bände. Der vorliegende 1. Teil der Eddaübersetzung
enthält die Heldenlieder und Verfolgt "das Ziel, die Eddagedichte'^als Kunstwerke
dem deutschen Poesiefreund in die Hand zu legen. Daher wollen auch die bei-
gegebenen Einleitungen und Fußnoten nicht eigentlich lehrhaft sein, sondern nur
dem Leser den Weg bahnen zu einem künstlerischen Nachempfinden dieser Dich-
tungen. Demgemäß spannt das Buch den Rahmen der „Eddadichtung** viel weiter,
als sonst üblich ist, und hat mit aufgenommen das „Lied von der Hunnenschlacht**,
das „Mühlenlied**, ,,Bjarkilied**, „Herwörlied**, „Innsteinlied**, ,,Hroklied'*, „Star-
kads Rückblick**, den „Kampf auf Samsey*', „Hjalmars Sterbelied**, „Hildibrands
Sterbelied**, „Fridthofstrophen**. Auch noch andere Freiheiten nimmt sich der
Herausgeber, um seine künstlerischen Absichten auszuführen: er gibt die alte Reihen-
folge der Gedichte grundsätzlich auf und gruppiert sie nach eigener Wahl; er sucht
mit höherer Kritik bei den Gedichten die Einheiten herauszuheben, das zu Unrecht
Verbundene zu trennen, störende Zutaten zu entfernen, Lücken auszufüllen, Ver-
schobenes umzustellen. Daher tragen des Herausgebers Gestaltungen und Re-
konstruktionen subjektiven Charakter. Für den gedachten Zweck erscheint das
Buch als wohlgeeignet, und es kann auch in der Schülerbibliothek der Oberstufe
anregend wirken. Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem
Stoff wird man freilich, wie bisher, zu der Übersetzung von Hugo Gering
(Leipzig, Bibliographisches Institut) greifen, welcher auch die deutschen Lese-
bücher ihre Auswahl zu entnehmen pflegen. — Die Sagen der griechi-
schen Vorzeit von G. Klee sind zum ersten Male bereits 1888 erschienen,
allerdings unter dem Titel „Hausmärchen aus Altgriechenland**. Der Bearbeiter
hat im ganzen die unsterbliche Lebenskraft der griechischen Heldensage ungestört
selbst walten lassen, doch dabei manches weggeschnitten oder leise geändert, auch
eigene Ausschmückung nicht gänzlich vermieden, um die alten schönen Erzählungen
den Kindern zwischen acht und vierzehn Jahren, die er sich als seine Leser denkt,
recht verständlich und anziehend zu machen. Und dafür, daß ihm dieses in aus-
gezeichneter Weise gelungen ist, bürgt schon der Name des Verfassers, welcher
durch seine zahlreichen, köstlichen Sagenbücher unserer Jugend längst ein treuer,
lieber Freund geworden ist. Daher darf das Buch in der Schülerbibliothek nicht
fehlen und wird auch als passendes Festgeschenk und als Prämie gewiß oft Freude
bereiten. — Moritz Hoernes gibt in den drei Bändchen seiner „Kultur
der Urzeit** einen vortrefflichen Überblick über alle anthropologischen Er-
scheinungen der ur-'^oder "vorgeschichtlichen Kulturperioden. Das Werkchen,
welches die einschlägige,"'zum^Teirin~zahlreichen kleineren Einzelarbeiten nieder-
gelegte Fachliteratur umsichtig und gewissenhaft verwertet, ist in seiner knappen,
übersichtlichen Fassung, in seiner wissenschaftlichen und doch gemeinverständ-
lichen Darstellung vorzüglich geeignet zur raschen und sicheren Orientierung über
alles Wissenswerte und die sicheren Ergebnisse der Forschung und wird das Interesse
38*
596 G. Sachse,
für dieses Gebiet der Altertumskunde wesentlich fördern. Sein Inhalt hat viele
Beziehungen zu den Unterrichtsfächern der höheren Schulen, namentlich zur
Geschichte (Kultur- und Kunstgeschichte, Mythologie), Geographie, doch auch
zu den naturwissenschaftlich-technischen, den klassisch-philologischen (Homer,
Herodot, Caesar, Tacitus, Plinius) und zum Religionsunterricht (A. T.).
Wilmersdorf-Berlin. Arnold Zehme.
Griechische Grammatilcen und Übungsbücher.
Der sogenannte Extemporaleerlaß des Herrn Ministers hat die Gemüter der
Oberlehrer sehr erregt. Er hat vielfache Zustimmung gefunden, aber auch mancherlei
Ablehnung erfahren. Die Mahnung in den Lehrplänen, den Extemporalien bei der
Beurteilung der Leistungen der Schüler keine ausschlaggebende Bedeutung ein-
zuräumen, kann nicht mehr unbeachtet verhallen, denn da im Schuljahr nur 7 bis 12
zu beurteilende Klassenarbeiten angefertigt werden sollen, im Vierteljahr 2 bis 3,
in dem kurzen, von Johannis bis Michaelis reichenden nur eine geschrieben werden
kann, so ist die Notwendigkeit gegeben, bei der Beurteilung die mündlichen
Leistungen recht stark heranzuziehen. Auch die von Eltern und Lehrern geäußerte
Befürchtung, die Nervosität der Schüler und ihrer Eltern könne durch die Ver-
minderung der Zahl der Klassenarbeiten nur verstärkt werden, ist nichtig, da die
Bestimmung über das zulässige Maß der mangelhaften und ungenügenden Arbeiten
und über das für den Fall eines ungünstigen Ergebnisses zu beobachtende Verfahren
die Gewähr bietet, daß die Schüler so gefördert sein müssen, daß sie den zu stellenden
Anforderungen genügen werden. Dies Ziel kann aber nur erreicht werden, wenn
das grammatische Pensum wohl eingeteilt. Zusammengehörendes zusammen be-
handelt, jeder Abschnitt vielfach mündlich und schriftlich geübt wird. Durch
häufige, in den Unterklassen im Lateinischen und Französischen, in U III im
Griechischen sogar tägliche schriftliche Übungen in der Klasse wird dem Schüler
die Angst vor schriftlicher Aufzeichnung des zu übersetzenden Stoffes allmählich
genommen, zumal da diese Übungen nicht zensiert werden; er wird, sofern die
zu übersetzenden Sätze die einzuübenden grammatischen Regeln in verschiedenen
Wendungen enthalten, eine gewisse Übersetzungsfertigkeit erlangen und, wenn
auch die Termine für die zu zensierenden Klassenarbeiten ihm nicht vorher bekannt
sind, an ihnen die Probe seiner Kenntnisse und Fertigkeit abzulegen nicht er-
schrecken.
Wenn von mancher Seite die Befürchtung ausgesprochen wird, Schüler könnten
sich verabreden, die Arbeiten durch absichtliche Häufung von Fehlern für die
Beurteilung unverwendbar zu machen, so übersieht man, daß der Lehrer eine Hand-
habe hat, diese Bestrebungen unwirksam zu machen, in der Berechtigung und Ver-
pflichtung Ersatzarbeiten schreiben zu lassen, deren Zahl mit Recht unbestimmt
gelassen ist. Und sollten sich in einer Klasse zufällig solche den Erfolg eines gewissen-
haften Unterrichts hemmende Elemente häufen, so ist der Lehrer ja bei der Be-
urteilung der Leistungen in den Vierteljahrszeugnissen auf diese Klassenarbeiten
allein nicht angewiesen, er benutzt seine Beobachtungen im Unterricht, er wird
Griechische Grammatiken und Übungsbücher. 597
sich dann schon ein sicheres Urteil bilden. So werden auch widerspenstige Schüler
zu gewissenhafter Betätigung ihrer Kräfte auch bei den schriftlichen Arbeiten
gezwungen oder zum Verlassen der Anstalt genötigt werden.
Der Überschätzung der Extemporalien wird durch den Erlaß energisch ent-
gegengetreten. Auch solche Mißgriffe können nicht mehr vorkommen, wie sie sich
dann zeigen, wenn Direktoren in zweifelhaften Fällen, um sich von der Versetzungs-
reife der betreffenden Schüler zu überzeugen, diese zusammennehmen und ihnen
Extemporalien diktieren. Ich halte ein solches Verfahren für einen Mißgriff, weil
dadurch den schriftlichen Leistungen ein Übergewicht über die mündlichen bei-
gelegt wird und ängstliche Schüler in eine Aufregung versetzt werden, die ihnen
die Ruhe raubt, die nötig ist, das erworbene Wissen zu zeigen. So kann ich diesen
Rat, der von einem ehemaligen langjährigen Direktor jüngeren Direktoren gegeben
wird, nicht gutheißen. Der Direktor findet und hat im Laufe des Schuljahres
ungesucht vielfache Gelegenheit sich von den Fortschritten der ihm anvertrauten
Schülerschar zu vergewissern und, wo es nötig ist, auf eine Änderung des Lehr-
verfahrens einzuwirken.
Der Erlaß weist auf die Notwendigkeit möglichst häufiger mündlicher und
schriftlicher Übungen hin, ehe bei dem Schüler die Sicherheit in der Anwendung
des Erlernten vorausgesetzt werden darf. Von der Richtigkeit dieser Bemerkung
hat sich jeder Lehrer überzeugen können. Wie viele Übungen werden im Hause
von Vätern oder wenn es ihnen an Zeit oder Befähigung fehlt, von Nachhilfelehrern
vorgenommen, wenn eine Klassenarbeit in Aussicht steht.
Sind neben den Klassenübungen auch jetzt noch Übungen zu Hause an-
zustellen? Gewiß, der Erlaß verlangt, daß die Schüler zu sorgfältiger Verbesserung
der Fehler in den Übungsarbeiten anzuhalten sind. Diese Berichtigung wird zu-
nächst in der Schule erfolgen, aber es ist m. E. erwünscht, daß der Schüler sich die
Sätze oder Formen zu Hause nochmals vornimmt und sich das Richtige einprägt.
Für Schwächere dürfte es sich auch empfehlen, durch Übersetzen anderer Vorlagen
sich die erforderliche Sicherheit in der Grammatik zu erwerben.
Reinhardt und Roemer, Griechische Formen- und Satzlehre.
3. Auflage besorgt von Ewald Bruhn. Berlin 19 U. Weidmannsche Buchhand-
lung. XIV u. 284 S. 80. geb. 3,60 M.
Die dritte Auflage unterscheidet sich von der zweiten darin, daß auch die
Entstehung des Akkusativs der Beziehung erklärt wird. Solche Belehrungen, die
ich für den Vorzug einer Grammatik halte, geben dem Schüler Gelegenheit, in den
sprachlichen Bildungen nicht etwas Starres, sondern das Ergebnis der Tätigkeit
an der besseren und reicheren Ausdrucksfähigkeit der Sprache immerfort arbeitenden
Menschen zu sehen. Daher ist es für mich garnicht auffällig, daß schon nach vier
Jahren eine neue Auflage nötig geworden ist. An den alten Gymnasien werden
nach ähnlichen Gesichtspunkten verfaßte Lehrbücher durch solche Grammatiken
verdrängt, die nur eine dürre Aufzählung der grammatischen Erscheinungen bieten
und sie durch ein, höchstens zwei Beispiele zu erläutern suchen. Ich weiß es aus
bester Quelle, daß vielen die geringste Seitenzahl einer Grammatik die beste Emp-
fehlung ist.
598 G. Sachse, Griechische Grammatiken und Übungsbücher.
Robertson^ Kurzgefaßte Grammatikdes neutestament-
lichenGriechisch,mit Berücksichtigung der Ergebnisse der vergleichenden
Sprachwissenschaft und der Koine-Forschung. Deutsche Ausgabe von Hermann
Stocks. Leipzig 1911. J. C. Hinrichssche Buchhandlung. XVI u. 312 S. 8".
5 M., geb. 6 M.
Nach dem Titel erwartet man eine kurze Angabe der^ Einzelheiten zu finden,
in denen die Sprache des Neuen Testaments von dem attischen Griechisch ab-
weicht. In der Deklination, Konjugation, der Casus- und Modussyntax, in der
Tempuslehre stimmt das neutestamentliche Griechisch mit dem attischen in manchen
Dingen nicht überein. Eine solche Aufzählung ist für den Studierenden der Theologie
von Wichtigkeit, da er so befähigt wird, den Text des Neuen Testaments richtig
zu verstehen. Diesen Zweck scheint der Verfasser im Auge zu haben. Man ver-
gleiche z. B. die Bemerkungen über die Präposition 7vu im § 94.
Aber dem steht mancherlei entgegen. § 138 heißt es: „Der sog. Konj. Fut.
ist eine spätere Bildung. Im Opt. liegt die Sache ähnlich, nur daß es dazu ein
Fut. gibt, dies aber nur in indirekter Rede an Stelle des Ind. Fut. der direkten."
In der Anmerkung sagt der Verfasser: „es fehlt im N. T."
Ganz besonders auffallend aber sind die allgemeinen Bemerkungen über die
Entstehung der Präpositionen § 87, über das prädikative Partizip § 234, über das
Verb §§ 110—119, über den Satz §§ 48—50, das Wesen des Satzes § 140, über den
Ursprung der Kasusformen S. 133 u. a. Das sind Dinge, die derjenige, der sich mit
dem neutestamentlichen Griechisch beschäftigt, längst weiß. Ausführliche Dar-
legung der Bedeutung und des Gebrauchs der Kasus, deren Zahl im Sanskrit viel
größer ist, als sie in der griechischen und lateinischen Schulgrammatik angegeben
wird, interessieren den Leser des Neuen Testaments garnicht. Daher scheint der
Titel den Inhalt ungenau anzugeben. Er müßte lauten: „Gedrängte Übersicht
über die geschichtliche Entwicklung der griechischen Sprache aus der urindogerma-
nischen bis auf die Gegenwart mit Hervorhebung der Eigentümlichkeiten der
neutestamentlichen Sprache."
Der Übersetzer hätte auf die Reinhaltung der deutschen Sprache achten
müssen. Fremdwörter wie eruieren S. 133, der subfinale Gebrauch von Tva S. 207,
abruptes Sprechen S. 208, der abrupte Gebrauch von 2I S. 220, der Dual ist ob-
solet geworden S. 40, das Imperfektum des Verbums eines Wunsches ist der höf-
lichste Ausdruck für etvv^as Diffiziles S. 212 waren zu vermeiden. Auch grammatische
Fachausdrücke wie punktuelle Aktion S. 195, die Reduplikation im Griechischen
ist intensiv oder durativ oder kompletiv geworden, lassen sich gut deutsch wieder-
geben. Durch solche Ausdrücke wird der Glaube an eine wissenschaftliche Über-
legenheit nicht gestärkt. Ausdrücke wie die Bezeichnung des Mediums als eines
Schmarotzers S. 185 erhöhen die Beweiskraft der Behauptung nicht.
Preuß, Griechische Hausübungen (mit Schlüssel) zum Selbst-
studium. I. Pensum der Untertertia. Leipzig 1911. Dr. Seele & Co. IV u.
85 S. 8«. 2,50 M.
Sorgfältiges Übersetzen der in dem Buche gebotenen Vorlagen gehört zu
den Übungen, die Sicherheit in der Bildung grammatischer Formen verbürgen.
Charlottenburg. Gotthold Sachse.
\
I
Schickhelm, Bastian Schmids naturwissenschaftliche Schülerbibliothek. 599
Bastian Sclimids naturwissenschaftliche Schülerbibliothek.
Band I: Physikalisches Experimentierbuch. I. Teil. An-
leitung zum selbständigen Experimentieren für jüngere und mittlere Schüler von
Prof. H. Rebenstorff. Mit 99 Abbildungen im Text. Leipzig und Berlin 1911.
B. G. Teubner. 230 S. 8«. 3 M.
Das Unternehmen, durch eine naturwissenschaftliche Schülerbibliothek einen
geistigen Zusammenhang zwischen Unterricht und freiwilliger naturwissenschaftlicher
Beschäftigung der Schüler herzustellen, darf eines günstigen Entgegenkommens
in weiteren Kreisen — nicht bloß in denen der Lehrer — sicher sein. Es kann
kein Zweifel darüber bestehen, daß die Begleitworte, die Bastian Schmid seiner
Sammlung mit auf den Weg gibt, zu Recht bestehen: Selbsttätigkeit und produktive
Arbeit vermag schlummernde Kräfte und stille Talente zu wecken und zu fördern
wie keine andere Beschäftigung. Diese Einsicht bricht sich auch im naturwissen-
schaftlichen Unterricht immer mehr Bahn, immer mehr kommt man zu der Über-
zeugung, daß durch eine passive Aufnahme des Lehrstoffes auf Grund von De-
monstrationen — und seien diese auch noch so fesselnd — der Zweck des natur-
wissenschaftlichen Unterrichts nicht erschöpft ist, daß vielmehr jener Anreiz, der
in eigener Beobachtung und in der Tätigkeit der Hand liegt, durch nichts ersetzt
werden kann und deshalb auch im Unterricht oder im Anschluß an denselben
von der untersten Stufe ab sorgfältiger Berücksichtigung und Pflege wert ist.
Diesem Gesichtspunkt Rechnung tragend ist der Zweck des Unternehmens, An-
regung zu aktiver Betätigung zu geben, den Schüler zu verständiger Beobachtung
und planmäßigem Versuch anzuregen und anzuleiten.
Das vorliegende erste Bändchen der Sammlung wendet sich an solche Schüler,
die der Physik besonderes Interesse entgegenbringen und der Neigung der Jugend
folgend sich in leichten Versuchen betätigen wollen. Es folgt > in der Anordnung
des Stoffes den gebräuchlichen Lehrbüchern, ohne jedoch diese irgendwie ersetzen
zu wollen, wie überhaupt der Gebrauch des Buches nicht i m , sondern neben
dem Unterricht gedacht ist. In freier, zusammenhängender Darstellung wird eine
Reihe von Versuchen beschrieben, wie sie von einem interessierten Schüler ohne
erhebliche Kosten und ohne übermäßige Anforderungen an die Übung und Ge-
schicklichkeit ausgeführt werden können. Charakteristisch ist die an jeden Ver-
such sich anschließende praktische Verwertung der Ergebnisse. Nicht alle Ver-
suche und Anordnungen dürften allgemein bekannt sein, manche werden sich
auch zu Demonstrationen im Unterricht eignen, so daß das Buch auch für den Lehrer
recht lesenswert ist. Die Anordnung des Stoffes bringt es mit sich, daß gleich auf
den ersten Seiten physikalische Begriffe und Gedankengänge vorgeführt werden,
die für den Anfänger recht hoch liegen, so daß ein Schwinden des Interesses nicht
ausgeschlossen sein dürfte. Der Ausgang von der Mechanik der festen Körper
entspricht zwar der systematischen Darstellung und dem gewöhnlichen Gang des
Unterrichts, hat aber weder das leichtere Verständnis noch das allgemeinere Interesse
des Schülers für sich. Methodisch viel glücklicher ist der Ausgang von einfachen
Wärmeerscheinungen, an welche sich die Mechanik der luftförmigen und
flüssigen Körper zwanglos angliedern läßt. Die Mechanik der festen Körper bilde
600 Schickhelm, Bastian Schmids naturwissenschaftliche Schülerbibliothek.
den Beschluß. Dieser Weg sollte auch im Unterricht eingeschlagen werden. Es
läßt sich bei einer derartigen Anordnung des Stoffes die Unterweisung in vorzüg-
licher Weise unter den Gesichtspunkt der Problemstellung bringen, so daß jede
Erkenntnis den Keim und den Hinweis auf neue Gedankengänge und neue Versuche
in sich trägt. Jedenfalls sollten für die Anordnung des Stoffes im Unterricht
mehr die Forderungen der Methode als die des Systems maßgebend sein, auch
dann, wenn das eingeführte Lehrbuch nach systematischen Grundsätzen ein-
gerichtet ist.
Das Buch, dessen zweiter Teil in Aussicht gestellt ist, hat manche Vorzüge
vor andern, die das Schwergewicht mehr auf die praktische Unterweisung legen;
wir wünschen ihm sowie dem ganzen Unternehmen Glück auf den Weg,
Band 3:An derSee. Geologisch-geographische Betrachtungen für mittlere
und reife Schüler von Prof. Dr. P. Dahms mit 61 Abbildungen im Text. Leipzig
und Berlin 1911. B. G. Teubner. 210 S. 8^. 3 M.
Die Schrift, die in kleinem Umfang ein reiches und vielseitiges Wissen um-
schließt, gibt Zeugnis von scharfer und gleichzeitig liebevoller Betrachtung der
Natur. Es will das Verständnis für den Strand und seine Wunder wecken und er-
schließen und zugleich einen Einblick gewähren in den eigenartigen Charakter
der Küstenbewohner. So wird es, da es vielfach auf die eigene Anschauung zu-
rückgreift, vor allem denen von Nutzen sein, die selbst am Strand leben oder doch
Gelegenheit haben, den Strand zu besuchen. In der Auswahl des Stoffes geht es
vielfach über das, was in der Schule gebracht werden kann, hinaus. Aber gerade
darin, daß auseinander liegende Stoffe unter einheitliche Gesichtspunkte gebracht
werden, liegt der eigenartige Reiz des frisch und warm geschriebenen Buches, das
nicht bloß Schülern, sondern überhaupt allen Freunden der See eine Quelle der
Belehrung und Unterhaltung werden dürfte.
Band 4: Große Physiker. Bilder aus der Geschichte der Astronomie
und Physik von Dir. Prof. Dr. Hans Keferstein. Für reife Schüler. Mit 12 Bild-
nissen auf Tafeln. Leipzig und Berlin 1911. B. G. Teubner. 233 S. 8«. 3 M.
Die Schilderung des Werdeganges einer Auswahl hervorragender Physiker
und Astronomen soll dem jugendlichen Leser einen Blick in die Geisteswerkstatt
des Genies verschaffen und sein Interesse durch Erzeugung einer warmen persön-
lichen Anteilnahme an der wissenschaftlichen Forschung ihrer bedeutendsten
Förderer zu tätiger Liebe steigern. Die Auswahl ist gut getroffen, die Einzeldar-
stellungen leisten das, was im Vorwort versprochen wird, indem nicht eine trockne
Darstellung der Tatsachen geboten wird, sondern überall bei der Entwicklung
philosophische Gesichtspunkte in den Vordergrund gerückt werden. Als Unter-
haltungslektüre wird freilich das Buch dem Durchschnittsprimaner unserer höheren
Lehranstalten nicht dienen können; das Verständnis der einzelnen Abhandlungen
kann nur auf Grund guter physikalischer Kenntnisse erzielt werden, und so wird
das Buch für besonders interessierte Schüler zur Vertiefung und Erweiterung
des im Unterricht Gebotenen beitragen sowie etwa als Unterlage für freie Vorträge
dieser Schüler gute Dienste leisten.
Anzuerkennen ist, daß in den Einzeldarstellungen auch die Leistungen anderer
Hock, Sammelbericht über Biologie. 601
großer Forscher so die eines Huygens, Laplace, Kant, Maxwell, Herz und anderer
gewürdigt und ins rechte Licht gestellt sind. Vom Verleger sind dem Buch 12 gute
Bildnisse von Forschern beigegeben.
Münster i. W. S c h i c k h e 1 m.
Sammelbericht über Biologie.
Ein ganz neues Schullehrbuch liegt vor in:
Heimbach, H. und Leißner, A., LehrbuchderBotanikfürhöhere
Schulen. Bielefeld und Leipzig 1910. Velhagen & Klasing. 8«. Bd. I:
VI I u. 183 S. Mit 21 1 in den Text gedruckten Abbildungen und 4 Tafeln in Farben-
druck, geh. 2 M. Bd. II: V u. 252 S. Mit 293 in den Text gedruckten Ab-
bildungen und 12 Tafeln in Farbendruck, geb. 2,80 M.
Der erste Band dieses Werkes erinnert seiner Anlage nach etwas an den im
IX. Jahrgang dieser Monatschrift S. 637 f. empfohlenen Leitfaden von H e e r i n g
insofern, als die Pflanzen weder nach systematischen noch nach methodischen,
sondern nach ökologischen Verhältnissen geordnet sind. Doch nicht der Wohnort
allein ist hier maßgebend wie bei H e e r i n g , sondern vor allem die Blütezeit.
Es werden daher ,,vier Gänge in Garten, Wiese, Wald und Feld'*, und zwar je
einer im ,, Vorfrühling", „Vollfrühling", ,, Hochsommer" und ,, Herbst" in zu-
sammenhängender Darstellung geschildert zur Einführung in die Pflanzenkunde. In
diese Schilderungen sind die Einzelbeschreibungen von Pflanzenarten aufgenommen,
doch so, daß man einige davon je nach Bedürfnis auswählen kann. Eine solche
Auswahl wird im Anfang sehr nötig, denn auf die Feigwurz als erste Pflanze folgen
unmittelbar Huflattich, Weide und Erle, also Pflanzen, deren Behandlung auf der
Unterstufe schwer ist. Außer diesen Gängen enthält der erste Band noch eine
„Anfängerflora" und Abschnitte aus der ,, Morphologie". Man sieht, über die neuer-
dings stark betonte Ökologie werden die alten Unterrichtsgegenstände nicht ver-
nachlässigt. Der 2. Band umfaßt Anatomie, Physiologie, Biologie, Wirtschafts-
botanik und Systematik. In die Biologie sind die Pflanzengeographie und Pflanzen-
psychologie hinein verarbeitet; die Pflanzenvereine treten auch da stark hervor,
während die Systematik die Einzelbeschreibungeu auch nach der Seite der wirt-
schaftlichen Botanik ergänzt, wobei Familien genannt werden, die zum Teil viel-
leicht kaum in ein Schulbuch gehören wie Burseraceen und Meliaceen (verdruckt
in Miliaceen); es würde wohl genügt haben, solche Nutzpflanzen hinsichtlich ihrer
Stellung in einer „Ordnung" (hier E n g 1 e r entsprechend „Reihe" genannt) ein-
zuordnen. Doch das sind Kleinigkeiten; im ganzen ist das Buch wohl den besten
Lehrbüchern auf dem Gebiete unbedingt einzureihen.
Ein neues Lehrbuch liegt auch vor in:
Schmeil, 0., Einführung in die Tier- und Menschenkunde.
Ein Hilfsbuch für den naturgeschichtlichen Unterricht an höheren Lehranstalten
und Mittelschulen. Leipzig 1911. Quelle & Meyer. X u. 260 S. 8«. Mit 16 far-
bigen Tafeln und zahlreichen Textbildern. 2,50 M.
Dieses Buch ist aber nichts ganz Neues, sondern nur ein Zwischenglied zwischen
602 Hock,
den „Leitfäden" und „Grundrissen" des Verfassers. Es ist also eine Kürzung des
Leitfadens des Verfassers, bei dem aber trotzdem der Geist der gleiche geblieben
ist. Ökologie herrscht vor, Morphologie und Systematik werden nicht vernach-
lässigt, wie man es von den anderen Büchern kennt, die sich viele Freunde er-
warben. Mehr als in früheren Büchern des Verfassers werden Paläontologie und
Tiergeographie berücksichtigt; doch hätte im letzten Abschnitt das Gebiet der
nördlich-gemäßigten Zone vielleicht besser sich zerlegen lassen, um den Unterschied
wenigstens von Süd- und Mitteleuropa, vielleicht auch einige Eigenheiten Ost-
asiens hervorzuheben. Der Verweis der wissenschaftlichen Namen ins Register
ist mit Freuden zu begrüßen, da diese dann aus dem Lehrstoffe verschwinden,
doch wäre in einzelnen Fällen wohl eine genauere Bezeichnung angebracht, z. B.
„weißer Storch" statt „Storch" allein, weil Schüler dadurch aufmerksam darauf
werden, daß es auch andere Störche gibt als ihren alten Bekannten.
Zwei Teile eines in den ersten Teilen des entsprechenden tierkundlichen Werkes
schon in dieser Monatschrift IX, 1910, S. 446 angekündigten Buchs kennzeichnen:
Smalian, K., Leitfaden der Pflanzenkunde für höhere
Lehranstalten. 4. Teil: Lehrstoff der Ulli. IV u. 225 S. 8». Mit
45 Textabbildungen und 14 Farbentafeln, geh. 2,25 M. 5. Teil: Lehrstoff der
Olli. IV. u. 326 S. Mit 86 Textabbildungen und 10 Farbentafeln, geb. 2 M.
Leipzig und Wien 1912. Freytag & Tempsky.
Es ist das nur die Umwandlung der vom Verfasser früher in zusammenhängen-
der Darstellung bearbeiteten und auch in dieser Monatschrift VI, 1907, S. 460 f.,
empfohlenen Werke über Pflanzenkunde. Daß eine Zerlegung des Stoffes nach
Klassenstufen Vorteile und Nachteile mit sich bringt, ist ja bekannt genug. Jeder
Lehrer muß sich entscheiden, welche Ausgabe er bevorzugt.
Neue Auflagen liegen von den folgenden Büchern vor:
Bokorny, Th., Lehrbuch der Botanik für Realschulen und
Gymnasien. Im Hinblick auf ministerielle Vorschriften bearbeitet. 3. ver-
besserte Auflage. Leipzig 1910. W. Engelmann. VI u. 272 S. 8«. geb. 3 M.
Da die große, für Oberrealschulen bestimmte Ausgabe dieses Werkes erst in
dieser Monatschrift VIII, 1909, S. 384 f., empfohlen wurde, mag ein kurzer Hin-
weis auf diese neue Auflage der kleinen Ausgabe hier genügen.
Kraß, M. und Landois, H., Der Mensch und das Tierreich in
Wort und Bild für den Schulunterricht in der Natur-
geschichte dargestellt. 14. unter besonderer Berücksichtigung der
Biologie verbesserte Auflage. Freiburg i. B. 1911. Herdersche Verlagsbuchhand-
lung. XVI u. 277 S. 8«. Mit 3 Farbentafeln und 233 eingedruckten Abbildungen.
3 M.
Die wesentlichste Verbesserung der nach dem Tode des an zweiter Stelle ge-
nannten Verfassers erschienenen Auflage ist die Einführung neuer Abbildungen,
darunter 2 bunte Tafeln („Vogeleier" und ,, Schmetterlinge"). Wie bisher kommt
in stärkerer Betonung der Ökologie das altbekannte Buch den Forderungen der
Neuzeit nach.
Kraepelin, K., Leitfaden für den zoologischen Unterricht
in den unter en Klassen der höheren Schulen. 6. verbesserte
Sammelbericht über Biologie. 603
Auflage. Vollständige Ausgabe in einem Bande. Leipzig und Berlin 1911. B. G.
Teubner. V u. 355 S. 8». Mit 536 Abbild, im Text und 9 farbigen Tafeln, geb.
4,80 M.
Da die zunächst vorangehende Auflage des Werkes dem Berichterstatter nicht
vorliegt, kann er mit dieser nicht vergleichen. Nach der Einleitung zu urteilen, ist
namentlich auf Richtigstellung der wissenschaftlichen Bezeichnungen im Text
Wert gelegt, eine Frage, die für die Schule wenig bedeutsam ist. Gegenüber
der 3. Auflage ist aber der Text sowohl als namentlich die Abbildungszahl sehr
vermehrt. Vor allem erscheinen im Gegensatz zu jener Auflage auch bunte Ab-
bildungen, die für die dauernde Einprägung bei Schülern doch Wert haben, nur
nicht dem Unterricht von vornherein zugrunde gelegt werden dürfen. Vor allem
ist der Text nach dem abgedruckten Vorwort der 5. Auflage aber schon bei dieser,
ein leichter lesbarer geworden, da nicht mehr ,, Stichworte" allein gegeben werden.
Das Buch ist nur für untere und mittlere Klassen bestimmt, da Verfasser ja ein
besonderes Lehrbuch der Biologie für die Oberstufe bearbeitet hat (vgl. diese Monat-
schrift VI, 1907, S. 632 f. und IX, 1910, S. 449 f.), doch ist dieses noch in zwei
Teilen käuflich, von denen je einer für die unteren und für die mittleren Klassen
der Realanstalten dann in Betracht kommen würde; in dem Falle würde das Buch
nicht veralten, bevor der Schüler die Mittelstufe erreichte.
Von Hilfsmitteln für den Unterricht liegen mehrere in weiteren Fortsetzungen
vor:
Meerwarth, H., Lebensbilder aus der Tierwelt. 4. Bd. 2. Reihe,
Vögel I. Leipzig 1912. R. Voigtländer. VIII u. 596 S. 8«. 6. Bd. Vögel III.
1 Herausgegeben von K. Soffel. Ebenda. IX u. 725 S. 8«. Mit 712 photo-
graphischen Aufnahmen. Jeder Band 12 M.
Die Bedeutung dieses Buches für den tierkundlichen Unterricht wurde bei
Besprechung des ersten Teiles (Monatschrift IX, 1910, S. 286 ff.) dargelegt, während
auf zwei weitere Teile später (ebenda X, 1911, S. 535 f.) hingewiesen wurde. Nun
liegt die Bearbeitung der Vögel vollständig vor. Da die Einzelbearbeitungen
der Arten oder Gruppen je nach Fertigstellung bunt durcheinander erschienen,
ist im letzten Bande dieser Klasse ein ausführliches ,, systematisches Verzeichnis
der in den drei Bänden behandelten europäischen Vögel" gegeben, das für den Lehrer
nicht nur durch die Erleichterung der Auffindbarkeit, sondern auch noch durch
Ergänzung der Abbildungen Wert hat und diesem die etwaige Bestimmung von
Arten durch Diagnosen erleichtert, während sonst nur lebensvolle Schilderungen
geboten werden. Das Auffinden ermöglicht dann vor allem ein Gesamtregister
für alle 3 Teile. Der Hauptwert des Werkes beruht aber auf den schönen Ab-
bildungen, deren Zahl so groß ist, daß man den billigen Preis kaum begreift.
Willkomm- Köhne, Bilder-Atlas des Pflanzenreichs. 5., voll-
ständig umgearbeitete Auflage. Eßling und München 1912. J. F. Schreiber. Wien.
R.Mohr. Lieferung 2—10. Vollständig in 25 Lieferungen ä 0,50 M. mit 526 Pflanzen-
bildern auf 124 Farbendrucktafeln, 1 Schwarzdrucktafel und 205 S. Text mit
100 Abbildungen. Vollstänidg geb. 14 M.
Schon die 1. Lieferung ließ erkennen, daß dieses Werk nicht nur seine frühere
Bedeutung erhielt, sondern wesentlich verbessert war (vgl. Monatschrift X, 1911,
604 Hock,
S. 534 f.). Das zeigen namentlich hinsichtlich der wirklich prächtigen Abbildungen
auch die heute vorliegenden Lieferungen. Der Text erscheint leider bruchstück-
weise; aber auch die heute fertig vorliegenden Teile lassen erkennen, daß der neue
Bearbeiter es versteht, das aus der Fülle des Stoffes zur eingehenden Behandlung
auszuwählen, was am wichtigsten ist. Dabei beschränkt er sich natürlich nicht auf
die heimischen Vertreter, sondern erwähnt oder beschreibt auch solche Gewächse
anderer Länder, die als Nutz- oder Zierpflanzen dem Namen nach bekannt sind
oder aus irgendeinem anderen Grunde allgemeine Beachtung verdienen. Schon
jetzt kann man sehen, daß das Buch Schülern zur Weiterbildung durchaus zu
empfehlen ist.
Berges Kleines Schmetterlingsbuchfür Knaben und An-
fänger. In der Bearbeitung von Prof. Dr. H. Nebel. Stuttgart 1912.
E. Schweizerb art. VIII u. 208 S. 8°. Mit 344 Abbildungen auf 24 Farbentafeln
und 97 Abbildungen im Text. geb. 5,40 M.
Auch dieses Buch ist gleich dem vorigen ein den meisten Lehrern der Natur-
wissenschaften sicher bekanntes Werk in neuer Form, in diesem Falle in einer
kleinen Ausgabe, die für Kinder bestimmt und auch durchaus empfehlenswert ist,
falls diese ihre Sammlungen auch auf Tiere ausdehnen. Selbstverständlich kann
diese Ausgabe nicht alle deutschen Schmetterlingsarten umfassen, doch sind die
häufigsten oder sich durch Schädlichkeit auszeichnenden Arten ausgewählt und
die 314 so ausgesonderten Arten nicht nur beschrieben, sondern sämtlich farbig
oder schwarz abgebildet. Die Einleitung enthält die wichtigsten allgemeinen Mit-
teilungen, wobei auf die Ökologie gebührende Rücksicht genommen ist. Daß auch
Fang und Aufzucht der Schmetterlinge besprochen wird, ist bei dem Zwecke des
Buches selbstverständlich. Wenn man als Lehrer auch vielleicht kaum zur Samm-
lung dieser wie anderer Tiere auffordern wird, kann man doch Knaben, die dazu
Neigung zeigen, das Buch empfehlen.
Als Fortsetzung wiederum zu betrachten ist:
Böhmig, L., DiewirbellosenTiere. 2. Band: Krebse, Spinnentiere,
Tausendfüßer, Weichtiere, Moostierchen, Armfüßer, Stachelhäuter und Mantel-
tiere. Leipzig 1911. Göschen. 169 S. 8°. Mit 97 Figuren. 0,80 M.
Es ist eine Ergänzung zu einem (Monatschrift IX, 1910, S. 448 f.) angekündigten
Werke, das aber wieder gewissermaßen auch nur ein Teil eines größeren schon
(ebenda VIII, S. 389) besprochenen Gesamtwerkes „das Tierreich" ist. Es ent-
spricht ganz den anderen Bändchen der „Sammlung Göschen", kann daher dem
Lehrer eine billige Ergänzung seiner Handbücher liefern. Auffallen muß im Titel,
daß die Insekten fehlen; doch erklärt sich das, weil diesen ein besonderer Band
gewidmet sein soll. Reife Schüler können es natürlich auch benutzen; auf der
Stufe aber, auf welcher diese Tiergruppen in der Schule meist behandelt werden,
bietet es den Schülern zu viel.
Weit mehr für Schüler berechnet ist:
Graebner, P., Vegetationsschilderungen. Eine Einführung in
die Lebensverhältnisse der Pflanzenvereine, namentlich in die morphologischen
Sammelbericht über Biologie. 605
und blütenbiologischen Anpassungen. Für mittlere und reife Schüler. Leipzig
und Berlin 1912. B. G. Teubner. 184 S. 8". Mit 40 Abbildungen, geb. 3 M.
Das Buch bildet den 12. Band einer naturwissenschaftlichen Schülerbibliothek,
auf die auch an anderer Stelle in dieser „Monatschrift" hingewiesen werden wird. Sie
hat als Herausgeber Dr. BastianSchmid, einen Mann, der in unseren Fach-
kreisen sich einen Namen erworben hat, wie wenig andere Fachgenossen. Auch
bei der Wahl des Verfassers dieses Buches hat er wieder sein Geschick bewiesen,
denn dieser gehört zu den besten Kennern der Pflanzenwelt unseres Landes. Er
versteht es aber auch, die Jugend einzuführen in die Bewohner von Wald, sonnigen
Hügeln, Äckern und Wegrändern, Gewässern u. Ufern, sowie Wiesen und Mooren
und dabei sie bekannt zu machen mit den wichtigsten Erscheinungen über Bau
und Leben der Pflanzen; es wird so viel darin geboten und in so angenehmer Dar-
stellung, daß auch wir Lehrer das Buch mit Vorteil benutzen können, namentlich
wenn wir Gelegenheit haben, im Freien die Schüler ins Verständnis der Pflanzen-
vereine einzuführen. Das Buch dürfte aber vor allem in keiner Schülerbibliothek
fehlen, da es auch den Schüler ohne Lehrer fördern kann.
Für gleichen Zweck empfehlenswert ist:
Sellheim, H., Tiere des Waldes. Leipzig 1911. Quelle & Meyer.
X u. 182 S. 8». Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 2 Tafeln. L80 M.
Auch dieses gehört einer „Naturwissenschaftlichen Bibliothek" an; sie wird
von K. H ö 1 1 e r und G. U 1 m e r herausgegeben. Wie im vorigen Buch ins
Pflanzenleben führen hier lebensvolle Schilderungen ins Tierleben hinein; an Voll-
ständigkeit ist wie bei vorigem auch bei diesem Buch nicht zu denken. Schöne
Abbildungen ergänzen hier wie da den Text, hier sogar 2 Tafeln. Da der Verfasser
ein Forstmeister ist, muß er vertraut mit seinem Gegenstand sein.
Unmittelbaren Nutzen hat aber das Werk, mit dem wir den diesmaligen Be-
richt beschließen wollen, weil es das für den Schulunterricht wichtigste von allen ist:
Potonie, H. und Gothan, H., Vegetationsbilder der Jetzt- und
Vorzeit. Tafel IV u. V. Eßlingen u. München 1911. J. F. Schreiber.
Preis der Tafel 4,50 M., Text zu beiden 0,20 M.
Die ersten 3 Tafeln der Sa;nmlung wurden in dieser Monatschrift (VIII, 1909,
S. 387) besprochen. Von den heute vorliegenden behandelt die erste die Ruderal-
(und Mauer-) Flora, also die Pflanzenwelt der Orte, die durch Anhäufung von Stick-
stoff bestimmte Pf lanzen anlockt, solche, die vielfach aus Steppengebieten stammen,
zum Teil auch auf Äckern oder an anderen durch tierische Abfälle überreich mit
Nährstoffen versehenen Örtlichkeiten erscheinen. Das Bild zeigt die wichtigsten
Vertreter solcher Bestände, z. B. neben Nesseln- und Gänsefußarten, Stechapfel
und Bilsenkraut sowie Spitzkletten, Pflanzen, die man nicht überall in Natur
den Schülern zeigen kann und die doch bezeichnend genug sind, um den Schülern
vorgeführt zu werden. Noch wichtiger ist Tafel V. Sie stellt ähnlich wie Tafel III
ein Bild aus der Vorzeit dar, in diesem Fall aus der Rhät-Lias-Periode, also aus dem
Mittelalter der Erdbildungsgeschichte. Noch immer herrschen Gefäßsporer und
Nacktsanier vor wie auf dem Bilde aus der Steinkohlenzeit, aber sie erinnern
doch mehr an Pflanzen der heutigen Tropenwelt. Das Bild ist für Geologie und
606 A. Huther, Über das Problem usw., angez. von F. Schmitz.
Botanik gleich wichtig, die Ausführung gleich der der vorhergehenden Tafeln
vorzüglich. Gerade solche Bilder wie das letzte sind noch sehr selten, doch auch
noch von lebenden Beständen der heimischen Pflanzenwelt können wir weitere
brauchen. Wir fordern die Fachgenossen dringend auf, durch Ankauf für ihre Schul-
sammlungen das Unternehmen zu unterstützen und so zu weiteren derartigen
Tafeln zu locken.
Perleberg. F. H ö c k.
b) Einzelbesprechungen:
Huther, A., Über das Problem einer psychologischen und
pädagogischen Theorie der intellektuellen Begabung.
Aus: Sammlung von Abhandlungen zur psychologischen Pädagogik, heraus-
gegeben von Meumann. Band II, Heft 4. Leipzig 1910. Verlag von Engel-
mann. 41 S. 8«. 1 M.
Der Verfasser, der in einer früheren anziehenden Schrift die psychologische
Grundlage des Unterrichts untersucht hat, befaßt sich in der oben genannten Ab-
handlung mit der Theorie der Begabung. Nach ihm ist eine allgemein befriedigende
Theorie der intellektuellen Begabung bisher noch nicht mit Erfolg versucht worden
und zwar wahrscheinlich deshalb, weil das Problem selbst unrichtig gestellt zu
werden pflege. Nach einem kurzen geschichtlichen Überblick über die hergebrachten
Auffassungen von Begabung, Anlagen und angeborenen Talenten und einer ge-
drängten Darstellung und Kritik der Anschauungen Wundts auf diesem Gebiet
bestimmt der Verfasser den Begriff der Begabung im aktuellen Sinne, nämlich
dem einer Ausbildungs- oder Entwicklungsmöglichkeit. Um nicht in den Fehler
der älteren Vermögenstheorie zu verfallen, verwirft er durchaus den Begriff einer
angeborenen spezifischen Talentsanlage, die nur geübt zu werden brauche, um
,,sich die Fertigkeit anzueignen, die durch ihre angeborene Beschaffenheit be-
günstigt wird*'. Von diesem Begriff der Anlage trennt er scharf den der „Funktion",
die einen formalen Faktor des Bewußtseins darstellt und ,,nur in Verbindung
mit einem konkreten Inhalt aktuelle Bedeutung und damit zugleich erst qualitative
Bestimmtheit erhält**. Den Begriff der Begabung im aktuellen Sinne untersucht
der Verfasser dann besonders für das Lehrfach der Mathematik. Er sucht die
subjektiven Faktoren auf, welche die mathematische Begabungsart ausmachen,
und stellt im Anschluß daran die qualitativen Begabungstypen für mathematische
Betätigung, namentlich auf dem Gebiet der Geometrie, fest: 1. den anschaulichen
Typus bei Vorwiegen der anschaulichen Phantasie; 2. den kombinatorischen bei
Vorwiegen der kombinierenden Phantasie; 3. die verschiedenen intellektuellen
Typen, die sich aus dem sogenannten mathematischen Verstände, dem induktiven
wie deduktiven, herleiten, und zwar in ihrer produktiven wie reproduktiven Form.
Interessante Streiflichter fallen bei dieser Darlegung auch auf die Willensvorgängc,
die für die Tätigkeit des Intellekts und die intellektuelle Begabung von Bedeutung
sind und wirksam werden, und die Möglichkeit und Notwendigkeit der Schulung
des Willens als Faktors""der intellektuellen^Begabung. Auch über das Wesen des
logischen Gefühls sowie das Problem einer formalen Schulung dieses Gefühls handelt
K. Levinstein, Die Erziehungslehre Ernst Moritz Arndts, angez. von Schröer. 607
der Verfasser in diesem Zusammenhang in höchst anziehender Weise. Das Er-
gebnis der Abhandlung ist, daß es, wenn man die für die mathematische Bildung
bedeutsamen rein formalen Faktoren außer acht läßt, eine angeborene Anlage für
die Mathematik nicht gibt. Zum Schluß untersucht der Verfasser noch kurz die
Begabung für den deutschen Aufsatz, wobei er manch trefflichen Wink für den
Lehrer des Deutschen gibt. — Die Abhandlung Huthers verdient ernstlich die Auf-
merksamkeit der Pädagogen und Psychologen, namentlich der mathematisch inter-
essierten. Wenn sie auch manches Wichtige beiseite läßt, wie z. B. die dem Thema
naheliegenden inneren Beziehungen zwischen Begabung, Temperament und Indivi-
dualität, und die Grundansicht des Verfassers, daß eine angeborene Veranlagung
für Mathematik nicht anzunehmen sei, wohl kaum die Zustimmung der meisten
in der Praxis des Unterrichts stehenden Mathematiker finden dürfte, so ist sie
doch schon deshalb in hohem Maße anerkennenswert, weil sie helles Licht über
ein Gebiet wirft, das in den meisten kleinen wie großen Handbüchern psychologischer
Pädagogik etwas stiefmütterlich behandelt wird und unseres Wissens außer in
Baerwalds Theorie der Begabung bislang kaum in ausreichender Weise bebaut
worden ist. Druckfehler: p. 410 (14) Amm. Z. 2 v. o. „einer" Idee.
Langenberg. Friedrich Schmitz.
Levinstein, Kurt, Die Erziehungslehre Ernst Moritz Arndts.
Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im ersten Jahrzehnt des 19. Jahr-
hunderts. Berlin 1912. Weidmannsche Bchhandlung. VI u. 158 S. 8». 3 M.
Das Hauptwerk, in dem E. M. Arndt seine Erziehungslehre niedergelegt hat,
sind die „Fragmente über Menschenbildung'', die im Jahre 1905 zum ersten Male
erschienen.
Levinstein hat sein Buch, dessen Anlage durchaus zu billigen ist, in fünf wohl-
gegliederte Abschnitte geteilt. Nachdem er in gehaltvoller Einleitung darauf hin-
gewiesen, daß der Dichter und Politiker Arndt längst eingehend gewürdigt sei,
der Erzieher dagegen noch keineswegs richtig eingeschätzt werde, stellt er in dem
ersten Abschnitte seine „Fragmente" Rousseaus „Emile" gegenüber. Nach sorg-
fältigster Untersuchung gelangt der Verfasser zu dem Ergebnis, daß man zwar den
Spuren der Lektüre Rousseaus in den „Fragmenten" fast auf jeder Seite begegne,
daß aber keineswegs der deutsche Pädagoge dem französischen als ein äußerlicher
Nachahmer gefolgt sei, auch nirgends seine persönliche Eigenart ihm gegenüber
verleugnet habe.
Der zweite Abschnitt führt uns in die Gedankenwelt des klassischen Alter-
tums, besonders zu Piatos „Staat". Es ist nicht zu leugnen, daß sich Arndt zu der
Welt des Altertums stark hingezogen fühlt, daß er begeisterte Hymnen auf die
Alten und ihre Sprache singt, daß ihn die Erziehungskunst der Griechen fesselt,
und besonders nachhaltig Plato auf ihn wirkt. Und doch wahrt selbst einem Plato
gegenüber Arndt stets seinen persönlichen Standpunkt. Auf dem Gebiete der
Erziehung ist und bleibt er ein selbständiger Denker, der sich widerspruchslos
auch seinem griechischen Vorbilde niemals anschließt.
Die beiden nächsten Abschnitte, der dritte und vierte, beleuchten Arndts
Verhältnis zu Salzmann und Pestalozzi. Mag immerhin der Einfluß des bekannten
608 A. Freudenberg, Aphorismen usw., angez. von Schröer.
Philanthropen und des Altmeisters unserer deutschen Schule an Bedeutung dem
Rousseaus und Piatos nicht gleichkommen, so hat doch auch aus ihren Werken
der Verfasser der „Fragmente" reiche Belehrung geschöpft. Arndt hat schon in
seinem fünfzehnten Jahre Salzmann gelesen und sich bereits um das Jahr 1805 mit
den pädagogischen Anschauungen Pestalozzis vertraut gezeigt. In dem Pädagogen
von Schnepfenthal fand Arndt auf verschiedenen wichtigen Gebieten der Er-
ziehung einen vorzüglichen Meister, und in gleicher Weise zollte er dem nach dem
Höchsten strebenden Pestalozzi, mit dem er sich in so manchen Fragen eins wußte,
unbedingte Anerkennung. Das hält ihn jedoch nicht ab, wenn es nötig ist, an der
Lehre des Schweizers Kritik zu üben und andere Wege zu gehen als jener.
„Arndts erzieherische Persönlichkeit", betitelt sich das fünfte und letzte
Kapitel des vorliegenden Buches. Der Verfasser wirft noch einmal die Frage auf,
inwieweit „die Fragmente" trotz so mannigfaltiger Beeinflussungen von außen
als ein selbständiges Werk auf pädagogischem Gebiet hingestellt zu werden verdienen.
Ob das notwendig war, lassen wir hier unerörtert. Die Frage dürfte in den vorher-
gehenden Abschnitten zur Genüge beantwortet sein. Nichtsdestoweniger folgen
wir unserem Verfasser gern, wenn er in den „Fragmenten" eine Art von didak-
tischer oder pädagogischer Autobiographie sieht, wenn er uns zeigt, daß alle darin
niedergelegten Anschauungen erst in zweiter Linie von den genannten Erziehungs-
büchern beeinflußt sind, daß in erster Linie aber hinter allem, was Arndt sagt,
seine eigene eindrucksfähige, durch reiche Lebenserfahrungen gefestigte Persön-
lichkeit zu finden ist.
An ein kurzes Schlußwort schließen sich 147 Anmerkungen, die von dem
Bienenfleiße Levinsteins Zeugnis ablegen. Wir wünschen der Arbeit, die sicher-
lich viel Gutes enthält, zahlreiche Leser. Vielleicht reiht sich einmal die noch feh-
lende, allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie Arndts an!
Freudenberg, Alwin, Aphorismen aus der Pädagogik der Gegen-
wart. Zitate über Erziehung und Unterricht der Jugend aus den Werken
berufener deutscher Pädagogen und Schulmänner. Dresden 1912. Alwin Huhle.
VIII u. 238 S. 80. 2M.
Der Verfasser bezeichnet als die Bestimmung der hier dargebotenen Apho-
rismensammlung, „die Unterrichts- und Erziehungsarbeit an unserer Jugend nach
einigen beachtenswert erscheinenden Seiten hin fördern zu helfen, sowie zum
Nachdenken über mancherlei heutzutage scharf umstrittene Fragen und Probleme
der Pädagogik anzuregen". Das Buch ist nett zu lesen, doch bezieht es sich inhaltlich
nur zum geringeren Teile auf höhere Lehranstalten; überdies ist es lediglich eine
Zusammenstellung. Von den 418 Zitaten, die den Werken wohl aller wichtigeren
deutschen Erzieher und Schulmänner entnommen und hier mitgeteilt sind, handeln
No. 1 — 134 über Erziehung, 135 — 418 vom Unterricht. Daß alle brennenden Fragen
der modernen Pädagogik hier berührt werden, darf man von vornherein annehmen.
Die Auswahl der vorliegenden Sammlung zeugt von Geschick. ,,Möge dem Buche
bei seiner Fahrt in die pädagogische Welt ein freundlicher Stern leuchten!" So
der Verfasser. Wir stimmen bei.
Posen. Schröer.
H. Cornelius, Elementargesetze usw., angez. von A. Schoop. 609
Cornelius, Hans, ElementargesetzederbildendenKunst. Zweite
vermehrte Auflage mit 245 Abbildungen im Text und 13 Tafeln. 201 S. Leipzig
und Berlin 1911. B. G. Teubner. geh. 7 M., in Leinen geb. 8 M.
Das inhaltreiche, tiefgründige Buch, eine praktische Ästhetik, richtet sich
in erster Linie nicht an Gelehrte, sondern an praktische Künstler. Indem der
Verfasser, vielfach auf Hildebrands ,, Problem der Form" fußend, die Grund-
bedingungen alles künstlerischen Schaffens untersucht, will er der Stilverrohung
entgegenwirken, die sich in den letzten Jahrzehnten in der bildenden Kunst, be-
sonders im Kunsthandwerk immer mehr geltend macht und schließlich zu einer
allgemeinen Entartung des künstlerischen Geschmackes führen könnte. Es wäre
zu wünschen, daß das klare, überzeugende Werk in den beteiligten Kreisen die
weitgehendste Beachtung fände. Aber auch der Nicht-Künstler, welcher tiefer
in die geistige Werkstätte des künstlerischen Schaffens eindringen möchte, wird
das Buch mit Nutzen und Genuß lesen. Gewiß ist eine natürliche Empfänglichkeit
für die ästhetischen Werte, welche im Kunstwerk zum Ausdruck kommen, die
unerläßliche Voraussetzung und sicherste Gewähr für Kunstverständnis und Kunst-
genuß, allein theoretisch-ästhetische Schulung, wie sie aus dem Studium des Corne-
liusschen Buches erwächst, läutert und vertieft den künstlerischen Geschmack.
Eine eingehendere Würdigung der vom Verfasser entwickelten Grundgesetze
muß ich mir leider hier versagen, da sie in eine Fachzeitschrift für Kunst gehört.
Das Verständnis des Buches, welches Anfängern im Studium der Ästhetik nicht
ganz leicht sein dürfte, wird wesentlich gefördert durch zahlreiche, erläuterte,
gute Abbildungen. Ich möchte dem Verfasser empfehlen, diese Erläuterungen,
die ja doch besonders für Anfänger bestimmt sind, in einer späteren Auflage an
einzelnen Stellen noch etwas zu erweitern.
Düren. Aug. Schoop.
Batiffol, Pierre, Urkirche und Katholizismus. Übersetzt und ein-
geleitet von Dr. theol. Franz Xaver Seppelt, Privat-Dozent an der Universität
Breslau. Kempten und München 1910. Jos. Kösel. XXIX u. 420 S. 8».
4,50 M., geb. 5,50 M.
Mit Gewinn und Genuß habe ich des berühmten Autors „Eglise naissante"
gelesen. 1908 ist es erschienen und hat einen bei theologischer Literatur selten
vorkommenden Erfolg gehabt, in 100 Tagen waren zwei Auflagen ausverkauft.
Man kann das verstehen. Die Frage nach dem Ursprung des Katholizismus wird
heute viel erörtert und ist heftig umstritten; und in romanischen Ländern, auch
in Frankreich, sind modernistische Gedankengänge nicht wenig verbreitet. Man
denke nur, wie Harnack und Solms, Schnitzer und Hugo Koch über die Anfänge
von Primat und Kirche gearbeitet haben. Dem Interesse am behandelten Stoff
kommt die französisch-elegante Form zu Hilfe, in der Batiffol seine Erörterungen
über Zyprian und den Primat, über die Kirche im Evangelium usw. dem Leser-
kreis zu bieten versteht. Der Verfasser will mit seiner wissenschaftlich exakten
und gründlichen Arbeit zeigen, so hat Harnack es sehr gut formuliert, daß die Kirche
so alt ist wie die christliche Religion, der Katholizismus so alt wie die Kirche und
der römische Primat so alt wie der Katholizismus. Harnack stellt dem Verfasser
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 39
610 H. V. Schubert, Grundzüge der Kirchengeschichte, angez. von R. Peters.
das Zeugnis aus, daß man mit größerer Sachkenntnis den Beweis für die wurzel-
hafte Einheit von Christentum, Katholizismus und römischem Primat nicht an-
treten kann als es hier geschehen ist. Und wirklich, geschickter, schärfer und
klarer hat kein Katholik den geschichtlichen Nachweis für die These, daß die
Urkirche katholisch war, daß der Primat von Christus gestiftet ist, geführt. Wer
als katholischer Religionslehrer in der Apologetik und Kirchengeschichte mit
seinen Schülern diese Fragen besprechen muß, kann bessere und zuverlässigere
Hilfe nicht finden. Wer überhaupt wissen will, was an den modernen Theorien
über die Entstehung des Primates und der Kirche angreifbar ist, weiter, wer sehen
will, wie die katholische Theologie wissenschaftlich mit diesen Theorien sich aus-
einandersetzt und geschichtlich das Fundament stützt, auf dem die Lehrautorität
der Kirche und des Papstes sich erhebt, der lese Batiffol. Seppelt hat das Werk,
das auch in den Kreisen derer, die einer französisch geschriebenen wissenschaft-
lichen Abhandlung nicht zu folgen vermögen, Verbreitung und Studium verdient,
gut ins Deutsche übersetzt. Der Verfasser hat die dritte Auflage seines Werkes
für die Übersetzung durchgesehen und eine Anzahl Berichtigungen und Zusätze
geliefert. Der Übersetzer hat da und dort die Angaben, namentlich aus der deutschen
Literatur ergänzt. Somit kommt der deutschen Übersetzung ein selbständiger Wert
neben dem französischen Original zu.
Breslau. Hermann Hoff mann.
von Schubert, Hans, Grundzüge der Kirchengeschichte. Ein
Überblick. 4. verbesserte Auflage. Tübingen 1912. J. C. B. Mohr (Paul
Siebeck). VII u. 301 S. 8». 4 M.
Die Schrift gibt Vorlesungen wieder, die vor Studenten aller Fakultäten und
bei einem Hochschulferienkursus vor Lehrern gehalten wurden. Die Aufgabe,
in gedrängter Kürze einen Überblick über die Entwicklung der christlichen Kirche
von ihren Anfängen bis zur Gegenwart zu geben und dabei die Hauptmomente auf-
zuweisen, ohne die Darstellung mit Einzelheiten zu belasten, ist in recht ansprechender
Weise gelöst. Nur die neueste Zeit kommt doch wohl etwas zu kurz; der letzte (16.)
Abschnitt behandelt zusammenfassend die Epoche vom Ende des 18. Jahrhunderts
bis zur Gegenwart, die religiöse und kirchliche Regeneration und das Ringen der
Gegensätze in der neuesten Zeit. Das ist ja aus der Entstehung der Schrift er-
klärlich. Aber für das Verständnis der religiösen und kirchlichen Verhältnisse
der Gegenwart ist doch die Einsicht in das geschichtliche Entstehen und Werden
der wirksamen Mächte von besonderer Bedeutung, und gerade die Schilderung
der früheren Zeiten ruft bei diesem Überblick den Wunsch wach, daß der Ver-
fasser auf die kirchliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts noch eingegangen
sein und manche Erscheinungen etwas ausführlicher behandelt haben möchte,
die jetzt nur gestreift wurden.
Köstlin, Friedrich, SchülerheftzurKirchengeschichte. Tübingen
1908. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 79 S. 8«. 0,75 M.
Das Heft ist zunächst bestimmt für die Oberstufe der sechs- und siebenklassigen
höheren Schulen Württembergs, für die der Lehrplan kirchengeschichtliche Unter-
H. Stephan, Die Neuzeit, angez. von R. Peters. 611
Weisung vorsieht. Doch hat sich auch in den anderen deutschen Staaten seit Jahren
die Überzeugung geltend gemacht, daß auf der Mittelstufe ein vorbereitender
Kursus der Kirchengeschichte am Platze ist. Dafür tut das Schülerheft, das das
Diktieren erspart und die Einprägung, Repetition und Wiederanknüpfung er-
leichtert, treffliche Dienste. Die Hauptgesichtspunkte sind klar und übersichtlich
zusammengestellt, und dabei bringen die kleinen Abschnitte doch nicht in ab-
gehackter Form nur nackte Daten, sondern die sprachliche Form ist trotz der
prägnanten Kürze gefällig. Öfters wird auf das k i r c h e n g e s c h i c h 1 1 i c h e
Lesebuch von Rinn-Jüngst verwiesen; vielleicht wäre für diese Stufe
das von Meltzer-Thrändorf noch besser geeignet.
Stephan, Horst, DieNeuzeit. 4. Teil des Handbuchs der Kirchengeschichte
für Studierende, in Verbindung mit G. Ficker, H. Hermelink, E. Preuschen
und H. Stephan herausgegeben von Gustav Krüger. Tübingen 1909.
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 8». XII u. 300 S. 5 M.
Eine Darstellung der Kirchengeschichte der neueren und vor allem der neuesten
Zeit hat ihre besonderen Schwierigkeiten. Über manche Erscheinungen ist das
Urteil noch weniger geklärt, fehlt es an eingehenden wissenschaftlichen Bear-
beitungen, und dazu die der reichen Entfaltung moderner Kultur entsprechende
größere Mannigfaltigkeit des kirchlichen Lebens gegenüber der Einfachheit früherer
Zustände ! Da liegt gewiß die Gefahr einer mehr registrierenden Art der Darstellung
nahe. Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als ob auch bei H. S t e p h a n s
Kirchengeschichte der Neuzeit der Schwerpunkt nach dieser Seite hin liege. Welche
Fülle von Einzelheiten, von Namen, Daten und Werken in den zahlreichen aus-
führlichen Anmerkungen zu jedem Paragraphen ! Aber zeigt sich schon in diesen
Abschnitten, daß die Persönlichkeiten und Bewegungen in ihrem Zusammenhang
mit der Gesamtentwicklung behandelt und in ihrer kirchengeschichtlichen Be-
deutung beurteilt werden, so werden wir erst recht durch die allgemeinen Aus-
führungen an der Spitze der Abschnitte auf eine Höhe der geschichtlichen Betrach-
tung geführt, von der aus wir den genetischen Zusammenhang der Erscheinungen
und die Richtlinien der äußeren und inneren kirchlichen Entwicklung erkennen
und diese Entwicklung aus der Wechselwirkung mit den allgemeinen (geschicht-
lichen, kulturellen, sozialen, geistigen) Verhältnissen heraus verstehen lernen.
Auch den beiden Hauptabschnitten (1. Zeitraum von 1689 bis 1814: Innere Um-
bildung und äußere Auflösung; 2. Zeitraum von 1841 bis zur Gegenwart: Äußere
und innere Neubildung) werden derartige allgemeine Erörterungen vorangestellt,
die über die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Voraussetzungen des kirchen-
geschichtlichen Zeitalters, über die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, über
Förderungen und Hemmungen der kirchengeschichtlichen Entwicklung und die
Wandlung der interkonfessionellen Lage unterrichten. In seiner äußeren Anlage
folgt das Werk dem Beispiel von K u r t z ' Kirchengeschichte, das u. a. auch von
Bruno Gebhardt in seinem Handbuch der Deutschen Geschichte nachgeahmt
worden ist. Diese Art, Hauptgedanken und Einzelausführungen zu trennen, hat
sich für den Zweck solcher Kompendien, eine Grundlage für akademische Vor-
lesungen zu bieten, gut bewährt.
39*
612 K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, angez. von R. Peters.
Heussi, Karl, Kompendium der Kirchengeschichte, Zweite ver-
besserte Auflage. Tübingen 1910. J. C. B, Mohr (Paul Siebeck). XXXII u.
612 S. 8«. brosch. 9 M.
Das treffliche Kompendium der Kischengeschichte von K. H e u s s i liegt in
zweiter Auflage vor. Wenn diese kaum zwei Jahre nach dem Abschluß der ersten
Auflage nötig wurde, so ist das ein Beweis dafür, daß das Buch sich in den Kreisen,
auf die es berechnet ist, gegenüber den früheren Unternehmungen ähnlicher Art
rasch durchgesetzt hat. Und in der Tat verdient es eine solche Verbreitung. Seine
Vorzüge sind von der Kritik allseitig anerkannt worden: klare Übersichtlichkeit
in der Anordnung und der äußeren Anlage bei größter Reichhaltigkeit des Stoffes,
Hervorhebung der Grundzüge und Hauptmomente in der kirchengeschichtlichen
Entwicklung bei sorgfältiger Berücksichtigung der Einzelheiten, gefällige Form
und lebendige Frische der Darstellung bei aller durch die Stoffmenge und den
Zweck des Werkes bedingten Knappheit und Objektivität. Durch die Neubear-
beitung ist der Wert noch erhöht worden. Das gilt nicht nur von den vorgenom-
menen Einzelverbesserungen und der zweckmäßigeren Gestaltung einiger Para-
graphen, sondern vor allem auch von der S. XVI— XXXII beigegebenen Literatur-
Übersicht. Diese bezeichnet sich zwar ausdrücklich als Literatur-A u s w a h 1
und will dem Studenten zur Einführung in das kirchengeschichtliche Studium
die ersten Fingerzeige geben; eine einigermaßen vollständige Aufzählung aller
einschlägigen Werke liegt also nicht in der Absicht des Buches, wenn auch die An-
gaben über die wichtigsten Arbeiten zu fast jedem der 196 Paragraphen schon
etwa 14 Seiten in Anspruch nehmen. Doch auch bei dieser notwendigen Beschrän-
kung ist die Beigabe wertvoll, nicht nur für den Anfänger, sondern auch für jeden,
der, wie der Religions- und der Geschichtslehrer, mit dem Stoffe lehrend und lernend
umzugehen hat. Überhaupt entspricht das Buch vortrefflich der Erwartung, der
im Vorwort zur ersten Auflage Ausdruck gegeben wurde, daß es über seinen eigent-
lichen Zweck hinaus auch Pfarrern, Religionslehrern und Historikern als bequemes
Orientierungsmittel werde dienen können. Für die Handbibliothek des Konferenz-
zimmers bietet es eine willkommene Bereicherung.
Meinhold, Hans, Die Weisheit Israels in Spruch, Sage und
Dichtung. Leipzig 1908. Quelle & Meyer. VIII u. 343 S. 8«. 4,40 M.
Das Buch ist für denselben Leserkreis bestimmt, wie etwa die „Religions-
geschichtlichen Volksbücher". In ausführlicherer Darstellung, als diese sie bieten
können, entwirft es nach einem einleitenden Überblick über die Weisheitsschriften
Israels ein Bild von der in diesen enthaltenen Gottes- und Weltanschauung. Im
zweiten Teile wird dann die Entstehung und Entwicklung der Weisheit Israels
behandelt; es wird gezeigt, wie die Weisheit auf der vorprophetischen Stufe den
Charakter der Magie trägt und vor allem Wissen um den Namen und den Kult
der Gottheit ist, Wissen um die Mittel, freundliche Götter und Geister für sich zu
gewinnen, gegen feindliche sich zu schützen; wie dann unter dem Einfluß der Pro-
pheten, denen Jahwe durchaus der Herr und Erhalter der sittlichen Welt ist, der
Weisheitsbegriff sich vertiefte und wie in der Verbannung und im nachexilischen
Judentum der Typus des weisen Lehrers sich herausbildete und die Hyposta-
F. Diekmann, Das apologetische Lehrverfahren usw., angez. von R. Peters. 613
sierung der Weisheit erfolgte. Die Schilderung befriedigt nicht nur in hohem Maße
das Interesse, das wir an einer bedeutsamen Erscheinung der Religionsgeschichte
nehmen; es werden vielmehr auch die Fäden aufgewiesen, die von der religiösen
Gedankenwelt Israels und des Judentums hinüberführen zur christlichen Religion
bis in die Gegenwart hinein. So manches, was als spezifisch christlich gilt, erweist
sich bei näherem Zusehen als Erbe jener früheren Zeit, und gerade weil auf diesem
Gebiete noch so viel Unklarheit herrscht, weil vor- und unterchristliche Gedanken-
kreise noch immer von vielen kritiklos als wesentliche Bestandteile der christlichen
Religion betrachtet werden, muß man dem Buche einen großen Leserkreis wünschen.
Diekmann, Fritz, Das apologetischeLehrverfahren im evange-
lischen Religionsunterricht höherer Schulen. München
1909. O. Beck. 77 S. 8«. 1,50 M.
Die Schrift verfolgt in dankenswerter Weise hinsichtlich der apologetischen
Aufgabe desR.-U.'s die Tendenz, daß bei dem Schüler der Blick für das Wesentliche
der christlichen Religion geweckt und geschärft werden müsse. Die Ausführungen
werden (S. 67) so zusammengefaßt: ,Die religiöse Erfahrungswelt ist hauptsächlich
in Einklang zu setzen mit der Anschauungswelt (Unterstufe), mit der Empfindungs-
welt (Mittelstufe) und dem Denken (Oberstufe), indem zugleich auf allen Stufen
auf eine kräftige Anregung des Willens hingezielt wird.* Man könnte wohl bei dem
Schlußsatz, wie bei anderen Stellen der Schrift, z. B. bei der näheren Zielbestimmung
der Mittelstufe (»Einführung in die Mächte des religiösen Lebens, wie sie sich durch
die Tatsachen desselben dem Gemüt aufdrängen', S. 27) die Einwendung machen,
daß das eigentlich apologetische Moment nicht klar genug heraustrete gegenüber
der allgemeinen Aufgabe des R.-U.'s. Doch gilt dies nicht von den Ausführungen
über die Oberstufe, auf der ja die Apologetik erst recht zur Geltung gebracht werden
kann und muß und der Diekmann als Aufgabe die selbständige denkende Durch-
dringung des Lehrstoffes mit Recht zuweist. Zu der in der letzten Zeit öfters er-
örterten Frage, ob in dem abschließenden R.-U. der Prima die Apologetik eine
besondere Behandlung erfordere und ob ihr gegenüber andere Stoffe des jetzigen
Lehrplans zurücktreten müßten, nimmt Diekmann die Stellung ein, daß der apolo-
getische Unterricht, der durchaus dem Endziel des R.-U.'s, der Förderung religiösen
Lebens, zu dienen habe, keiner systematischen Behandlung bedürfe, sondern an
die Lehrpensen der verschiedenen Stufen angeschlossen werden müsse.
Biblische Zeit- und Streitfragen, zur Aufklärung der Gebildeten,
herausgegeben von Liz. Dr. Kropatscheck. I. — VI. Serie. Gr.-Lichterfelde-
Berlin 1912. Edw. Runge, kl. 8». Einzelhefte meist 0,50 M., Subskriptions-
preis 0,40 M.
Ein dankenswertes Unternehmen, den »Religionsgeschichtlichen
Volksbüchern' von F. M. Schiele diese Hefte entgegenzustellen, die vom
Standpunkt der konservativen Richtung aus in die Arbeit der theologischen For-
schung einführen wollen. Dem gebildeten Laien, für den beide Sammlungen be-
rechnebsind, ist so Gelegenheit gegeben, die Probleme von beiden Seiten beleuchtet
zu sehen. Auch im Religionsunterricht der oberen Klassen darf das ^audiatur et
altera pars' nie vergessen werden, da es ja hier gilt, den Schüler zu selbständiger
614 Biblische Zeit- und Streitfragen, angez. von R. Peters.
Erkenntnis in den Fragen der religiösen Weltanschauung anzuleiten. Es ist daher
eine lohnende Aufgabe, einzelne Hefte der , Biblischen Zeit- und Streitfragen'
mit den entsprechenden »Volksbüchern' zu vergleichen, etwa P. E w a 1 d , ,D e r
Kanondes NeuenTestaments' (II, 7) mit H. H o 1 1 z m a n n , ,D i e
Entstehung des NeuenTestaments', K. Beth, , Die Wunder
Jesu' (II, 1) und ,DasWunder, Prinzipielle Erörterung des Problems' (IV, 5)
mit Traub,DieWunderim Neuen Testament', Grützmacher
,Die Jungfrauen geburt' (11,5; 2. Auflage) mit E. Petersen ,Die
wunderbare Geburt des Heilandes', Kühl ,Das Selbst-
bewußtseinjesu' (III, 11/12) und Kirn, ,Die sittlichen Forde-
rungen Jesu' mit den betreffenden Abschnitten in Boussets ,Jesus'
oder, um auch andere Schriften zu nennen, mit W. H e r r m a n n, ,D i e s i 1 1 -
liehen Weisungenjesu' und K. Weidel, ,Die Persönlichkeit
J e s u'. In einigen Fällen ergibt sich bei der Gegenüberstellung, daß der Gegensatz
nur unbedeutend ist; so hat, als die ,Zeit- und Streitfragen' zu erscheinen be-
gannen, G u n k e 1 in der , Christlichen Welt' mit Recht darauf hingewiesen,
daß zwischen Köberle, ,DasRätsel desLeidensimAltenTesta-
m e n t' (I, 1) und Löhr, , Seelenkämpfe und Glaubensnöte vor
2000 Jahren' weitgehende Übereinstimmung herrscht. Auch an anderen Heften
läßt sich dartun, wie die , positive' Theologie den früheren dogmatischen Boden
verlassen hat und sich beim Eingehen auf die Probleme der Gegenwart vielfach
der ,modernen' Theologie nähert, und es ist auch für den reiferen Schüler
wertvoll, wenn ihm an solchen Beispielen gezeigt wird, daß der Gegensatz der
Anschauungen befruchtend wirkt. Bei manchen Ausführungen hat man das Gefühl,
daß sie auch in den Schriften liberaler Theologen stehen könnten; ja, hier und da
drängt sich der Gedanke auf: wenn das von der Gegenseite geschrieben wäre,
würde es als bedenklich empfunden werden; etwa als , stark rationalisierend', wenn
Beth bei dem Staterwunder Matth. 12, 27 in dem sonst sehr konservativ gehal-
tenen Heft II, 1 die innere Unglaubwürdigkeit der Darstellung hervorhebt, bei
dieser ,nur im ersten Evangelium gebotenen Erzählung eine Verschiebung des
Erinnerungsbildes' annimmt und für den wunderbaren Vorgang, der ,mit der
moralischen Denkrichtung des Herrn nur schwer in Harmonie gebracht* werden
könnte, die einfache Weisung Jesu an Petrus einsetzt, er solle einen Fisch fangen
und von dem Erlös die Steuern bezahlen.
Bei dem Charakter einer solchen Sammlung ist es erklärlich, wenn die Tonart
anderen Anschauungen gegenüber nicht überall dieselbe ist. Während in den meisten
Heften die Probleme mit Achtung vor dem gegnerischen Standpunkt erörtert
werden, redet Grützmacher von »tendenziöser wissenschaftlicher Halb-
bildung', die Unkundigen etwas vormachen will (I I, 5, S. 5), und der geringschätzigen
Art, mit der die Gegner abgetan werden, entspricht die souveräne Sicherheit der
eigenen Behauptungen, daß ,vom Standort des reinen vorurteilsfreien Historikers
nichts dagegen einzuwenden' sei. Der historisch-kritische Weg eines H a r n a c k
und Bousset besteht in der Aussonderung der glaubwürdigen Quellen (111,2,
S. 12). Wenn J ü 1 i c h e r sagt, daß Jesus über die Pharisäer harte Worte gesprochen
und ihr Bild unbillig ins Schwarze gezeichnet habe, so macht Grützm acher
E. König, Hebräische Grammatik, angez. von R. Peters. 615
daraus den Vorwurf, daß danach Jesu ,irrtümliclie Stellung keineswegs sittlich un-
tadelig' gewesen sei, und nach der hämischen Bemerkung: , Soweit als möglich soll
allerdings Jesus von ethischen Vorwürfen entlastet werden durch die liberalen
Theologen' (II, 2, S. 16), wird deren Ansicht dahin zusammengefaßt: ,Es mangeln
Jesus auch nicht völlig sittliche Verfehlungen, er stand wirklich in innerer Ver-
bindung mit der Sünde'. Man müßte sich eigentlich wundern, daß diese liberalen
Theologen- in ihrer verständnislosen Borniertheit und unwissenschaftlichen Ober-
flächlichkeit überhaupt noch Anhang finden. Aber , Durchschnittsphilister . . hat
es zu allen Zeiten gegeben; . . sie sind immer in derselben Form aufgetreten, sie
haben dem alten Rationalismus mit derselben Wonne zugestimmt, David Strauss
zugejauchzt, sind von Renan gerührt worden, und ihre unveränderten Seelen
schwingen in zeitloser Weise, wenn nun die Töne des gegenwärtigen Liberalismus
locken' (III, 2, S. 23). Wie ganz anders, als diese Art, die an die gereizte und ab-
sprechende Polemik kirchenpolitischer Parteiversammlungen erinnert, klingt es
doch, wenn z. B. K ü h 1 den wissenschaftlichen und religiösen Ernst der modernen
Theologen, die den Messianismus aus dem Lebensbild Jesu streichen möchten,
betont und sie gegen F r e n s s e n s ' Entstellung in Schutz nimmt (111,11/12,
S. 5). Und es ist gewiß anzuerkennen, daß der Ton der ruhigen wissenschaftlichen
Darstellung und der vornehmen Würdigung des Gegners in den meisten Heften
sich findet. Merkwürdig kann es dabei allerdings anmuten, wenn hier und da der
Autor das Gefühl zum Ausdruck bringt, daß er der Stimmung und Erwartung
der Leser der , Biblischen Zeit- und Streitfragen' vielleicht nicht
ganz entspreche. Doch wäre zu wünschen, daß dieses Gefühl durch die Tatsache
widerlegt werde, daß nicht die gehässige Polemik, sondern die sachliche Behandlung
Boden findet in den Kreisen, auf die die Hefte berechnet sind; denn nur dann würden
sie wirklich zur , Aufklärung der Gebildeten' beitragen.
Bei der außerordentlichen Reichhaltigkeit der Sammlung> ist ein Eingehen
auf die einzelnen Schriften natürlich unmöglich. Doch sei zum Schluß noch hervor-
gehoben, daß die hervorragendsten Gelehrten der positiven Richtung darin ver-
treten sind und daß nach dem Prospekt eine große Anzahl von gediegenen Arbeiten
eben solcher Theologen noch für die nächste Zeit in Aussicht steht.
König, Eduard, H e b r ä i s c h e G r a m m a t i k , für den Unterricht mit Übungs-
stücken und Wörterverzeichnissen methodisch dargestellt. Leipzig 1908. J. C.
Hinrichs. VIII u. 112 u. 88 S. 8". 3 M.
Königs Grammatik eignet sich mehr zur Einführung in das wissenschaft-
liche Studium der hebräischen Sprache, als für den Gebrauch an den Schulen.
Für den letzteren sind doch zu viel gelehrte Einzelbemerkungen, wie Hinweise auf
Fachwerke und Fachzeitschriften zur Begründung des eigenen oder Ablehnung
eines anderen Standpunktes, eingeflochten, mit denen der Schüler nichts anzu-
fangen weiß. Vor allem fehlen die in einer Schulgrammatik unbedingt notwendigen
Übersichts-Tabellen; ohne solche Paradigmata wird sich der Schüler die verschie-
denen Gruppen der Verben, die Substantiva mit Suffixen u. a. schwer einprägen
können. Auch müßte für den Zweck des Unterrichts die Übersichtlichkeit durch
Absätze und verschiedenen Druck weit mehr erreicht werden, als das jetzt durch
616 M. Trautmann, Der Staat und die deutsche Sprache, angez. von A. Matthias.
die mit einem Kreis umgebenen Buchstaben im Text und durch Sperrdruck der
Fall ist. Doch wird der Lehrer des Hebräischen aus dem in 120 Paragraphen dar-
gebotenen Lehrstoff für seine Vorbereitung reichen Gewinn ziehen, und auch das
beigegebene Übersetzungsmaterial wird ihm für die Einübung der Regeln wertvoll
sein.
Düsseldorf. Rudolf Peters.
Trautmann, Moritz, Der Staat und die deutsche Sprache. Reden
und Aufsätze. Leipzig 1911. Dieterische Verlagsbuchhandlung. IV u. 76 S.
gr. 80. 1 M.
Der erste Vortrag erörtert die Mittel, durch welche der Staat helfen könnte,
Mißstände, an denen unsere Sprache krankt, zu heilen. Der zweite wendet sich
gegen die Albernheiten der Engländerei, durch welche die deutsche Sprache ver-
hunzt wird; der dritte beantwortet die Frage: Was wird aus unserem deutschen
Unterricht?, der vierte handelt über Entstehung und Ziele, Wirken und Erfolge
des Sprachvereins, und der fünfte äußert sich zum Unterricht in den neueren
Sprachen.
Wenn man auch nicht mit allem, selbst nicht mit vielem, was Trautmann sagt
und will, einverstanden ist, so muß man doch in einem Punkte ganz mit ihm gehen,
in der Begeisterung für unsere Muttersprache. Wer so wie Trautmann begeistert
ist, der geht aufs Ganze. Andere schicken sich in die Zeit, begnügen
sich mit der Hälfte und sagen sich, daß die Hälfte oft besser ist als
das Ganze. Gerade auf dem Gebiete des Deutschen werden wir uns noch
lange Zeit in Geduld fassen müssen, bis wir das erreichen, was wir er-
reichen müssen. Geduld setzt aber keineswegs voraus, daß wir hier den
Mut sinken lassen; man kann geduldig sein und doch erfolgreich tätig für
seine Ideale. Trautmann schreibt auf S. 44 und gibt damit sein Zukunftsziel (ich
übersetze ihm zu Liebe das Wort „Programm"): „Nicht mehr die Dinge gehn
und geschehn lassen, sondern unsere Sprache richten und pflegen! Die deutsche
Sprache muß die klarste, die einfachste, die schönste, die ausdrucksvollste werden,
die es gibt. Daß der deutsche Staat nach seiner Sprache sehe, ist eine seiner wich-
tigsten Aufgaben. Von der Weisheit und Kraft, mit der er es tut, wird zu einem
großen Teile die künftige Geltung der deutschen unter den Völkern der Erde ab-
hängen." — Diesen Worten kann man zustimmen, wenn man anstatt „Staat"
„Schule" setzt und äußere Machtfragen nur mittelbar mit der Pflege der deut-
schen Sprache verknüpft. Wer auf seine Sprache etwas hält, hält auf sich selber
etwas, und wer auf sich selber hält, vermeidet Engländerei und Französelei und
trägt insofern etwas dazu bei, daß deutscher Stolz und deutsches Selbstbewußt-
sein wächst und damit unsere Geltung zunimmt unter den Völkern der Welt.
Daß sich Trautmann auf dem Deckblatt (Titel) des Buches statt Professor ord.
an der Universität zu Bonn ord. Lehrer an der Hochschule zu Bonn nennt, wird
manchem seltsam scheinen, wenn er aber zusammenzieht und an den Hochschul-
lehrer Trautmann denkt, so wird die Seltsamkeit sich mindern, und man wird
sehen, daß doch viele Ausdrücke uns mehr anmuten, wenn wir sie in deutschen
Wendungen wiedergeben.
H. Deckelmann, Die Literatur usw., angez. von A. Matthias. 617
Deckelmann, Heinrich, Die Literatur des neunzehnten Jahr-
hunderts im deutschen Unterricht. Eine Einführung in die
Lektüre. Berlin 1912. Weidmannsche Buchhandlung. VIll u. 320 S. gr. 8".
geb. 5 M.
Eines der besten Bücher, die in neuester Zeit zum deutschen Unterricht und
für das deutsche Haus (hätte der Verfasser ohne Bedenken hinzufügen können)
erschienen ist. Ich kann das deshalb mit gutern Gewissen sagen, weil ich das Buch
schon im Entstehen kennen gelernt habe und seiner gründlichen Kenntnis mich
freue. Hier ist endlich einmal ein Werk, das keine Verbal- und Nominalliteratur-
kunde bietet, sondern auf jeder Seite reichen Inhalt. Es leitet uns an zu vertieftem
und aufmerksamem Lesen und liebevollem Verständnis der Literatur des 19. Jahr-
hunderts, nimmt das Kunstwerk als Ausgangspunkt, ohne sich viel mit biographi-
schem und literarhistorischem Material zu belasten und entwickelt am trefflichen
Beispiel die Eigenart des Kunstwerkes so, daß zugleich ein Einblick in die künst-
lerische Entwicklung des Dichters und seine Stellung in der literarischen Bewegung
des 19. Jahrhunderts gewonnen wird. Wer das Buch in dieser Beziehung prüfen
will, der lese die Abschnitte über Romantik und Realismus, über Impressionismus
und über Symbolismus. Er wird mir beistimmen, daß hier mit pädagogischem Takt
und mit pädagogischer Kunst ein nicht ganz leichter Stoff für den Schüler ver-
ständlich gemacht wird. Deckelmann hat eben eine sehr glückliche Hand an vielen
Stellen; ich verweise nur darauf, daß er beim Symbolismus nicht von Richard
Dehmel, sondern von Hoffmannsthal als konkretem Beispiel ausgeht. Und wie
hier, finden wir überall große Geschicklichkeit. Daß Deckelmann diese be-
sonders bei der Auswahl der Dichter und Schriftsteller bekundet, sei ihm gedankt.
Solche Bücher wie das seinige leiden zu leicht unter der Sucht nach Vollständig-
keit, die unter Umständen geradezu geisttötend sein kann.
Alles ganz schön ! Aber, so erwidert man mir, woher die Zöit nehmen? Drei
Kurzstunden stehen zur Verfügung, das gibt 2 Stunden und 15 Minuten. Und
in dieser Zeit soll man auch noch nachgoethesche Literatur berücksichtigen? Der
Einwurf scheint berechtigt. Sollen wir nun warten, bis unsere Kindeskinder in der
glücklichen Lage sind, mehr deutschen Unterricht zu genießen und in Resignation
unsere heutige Jugend bemitleiden? 5as ist nicht nötig, wenn wir's nur richtig
anfangen. Der Deutschlehrer, und das hat Deckelmann und vor ihm andere schon
sicherlich getan, erobere sich nur mit kurzen Anregungen (15 Minuten besagter
Kurzstunden genügen) in guter Freundschaft die Herzen seiner Schüler, daß sie
das, wozu die Schule keine Zeit bietet, in der häuslichen Muße oder in literarischen
Vereinen treiben, die ihnen besonders an langen Wintefabenden von der Arbeit
für die ,, Hauptfächer" noch übrig bleibt. Das werden dann keine Kurzstunden
sein, sondern Stunden von 120 Minuten und deren mehr, besonders wenn sie bei
Hebbel ankommen, den Deckelmann — und das ehrt ihn und charakterisiert das
Buch — als seinen Liebling auserkoren hat. —
Noch eins gefällt mir an Deckelmanns Ansichten: daß er die Schüler die
Themata zu deutschen Aufsätzen und Vorträgen sich selber wählen lassen will.
Dazu gibt ihm die offiziell anerkannte Bewegungsfreiheit das gute Recht und
den Schülern das Deckelmannsche Buch reiche Gelegenheit, zumal es durch Hin-
618 A. Sergel, Du mein Vaterland, angez. von A. Zehme.
weise auf treffliche Werke von Biese, Volkelt, Walzel, Witkowski, Erich Schmidt
und R. M. Meyer Anregung bietet, noch weiter zu forschen und sich auch etwas
philosophisch zu bilden. Denn alle philosophischen Fragen behandelt Deckelmann
mit besonderer Vorliebe.
Ein Wunsch noch ! Einmischung in Angelegenheiten, die mich offiziell nichts
mehr angehen, wird man in dem Wunsche nicht sehen. Solchen Leuten, wie Deckel-
mann, sollte man sofort ein pädagogisches Seminar geben und diesem tüchtige
Kandidaten überweisen, die eine vornehme Deutschfakultas besitzen. Dann kann
man Schule machen und tiefwirkende Deutschlehrer heranziehen, die es ver-
stehen, den Kollegen, die mit mehr Stunden im Unterrichtsplan als sie selber
gesegnet sind, die häusliche Butter vom Brot zu nehmen. —
Berlin. A. Matthias.
Sergel, Albert, Du mein Vaterland. Eine Sammlung nationaler Dichtung
von Friedrich dem Großen bis auf unsere Tage. Mit Bildschmuck* von Anton
Hoffmann. Reutlingen o. J. Ensslin & Laiblin. 479 S. geb. 3,80 M.
Rechtzeitig zu den bevorstehenden patriotischen Gedenkfeiern, der Hundert-
jahrfeier der Freiheitskriege und der Errichtung des Völkerschlachtdenkmals 1913,
der 25 jährigen Wiederkehr des Dreikaiserjahres 1888 und dem 25 jährigen Regie-
rungsjubiläum Wilhelms II. 1913, ist die vorliegende Sammlung nationaler Dichtung
erschienen. Die besten Lieder alter und neuer Sänger, von Klopstock, Goethe,
Schiller, den Dichtern der Freiheitskriege bis auf Fontane, Wildenbruch, Liliencron
und den Dichtern der Gegenwart, tönen an unser Ohr und dringen in unser Herz.
In fünf Abschnitten wird die glorreiche Vergangenheit in unser Gedächtnis zurück-
gerufen, d. h. das Zeitalter des alten Fritz, die Freiheitskriege, die Zeit der deutschen
Träume 1815 — 1864, die Kriegsjahre 1864 — ■1871 und die Errichtung des deutschen
Kaiserthrones, endlich die Zeit im neuen Deutschen Reich. Alle'die vaterländischen
großen Männer bis auf Moltke, Bismarck, die Helden vom Iltis, die Kämpfer in
Afrika und Zeppelin, sowie die ehrwürdigen Gestalten bedeutender preußischer
Könige ziehen an unserm Auge vorüber. Die Auswahl zeugt von guter Umsicht
und feinem Geschmack des durch seine eigenen Dichtungen und Kinderlieder
(„Ringelreihen" etc.) auch schon der Jugend bekannten Herausgebers. Dabei wird
mit anerkennenswertem Takt nur dem schlichten, echten Patriotismus, nicht dem
Chauvinismus, das Wort gegeben. Das mit hübschen Illustrationen geschmückte
und auch sonst gut ausgestattete Buch kann allen Schul-, Volks- und Vereins-
bibliotheken warm empfohlen werden und ist auch zu Prämienzwecken wohl-
geeignet. *
Berlin-Wilmersdorf. Arnold Zehme.
Gesundbrunnen 1913. Herausgegeben vom D ü r e r b u n d e. Georg D. W.
Callwey. München.
Der Kalender Gesundbrunnen bringt auf 224 Seiten sehr wertvolle Beiträge
aus allen Gebieten des Natur- und Kulturlebens, Scherzhaftes und Ernstes, Poesie
und Prosa, Erzählbares und Sangbares, prächtige Zeichnungen, Schattenrisse und
Vignetten. Dabei hält er sich frei von allem Konfessionellen und frei vom garstig
G. Schneider, Lesebuch aus Piaton und Aristoteles, angez. von B. v. Hagen. 619
Politischen. Er gehört deshalb ins deutsche Haus wie wenige andere Kalender.
Und er ist so leicht erschwingbar; kostet nur 60 Pfennig, bei Bezug von mindestens
50 Stück nur 50 Pfennig. Der Gewinn des Kalenders wird restlos für die gemein-
nützigen Zwecke des Dürerbundes verwandt.
Berlin. A. Matthias.
Schneider, Gustav, Lesebuch aus Platon und Aristoteles.
Für den Schulgebrauch herausgegeben. Dritte erweiterte Auflage. Wien
und Leipzig 1912. (Tempsky-Freytag.) 243 S. geb. 3 K 60 h - 3 M.
Das frühere ,, Lesebuch aus Platon" ist nunmehr ein Lesebuch aus Platon
und Aristoteles geworden, und dafür haben die höheren Schulen dem
ausgezeichneten Forscher und Pädagogen ganz besonders dankbar zu sein. Plato
ist der größere Raum zugewiesen; „denn er ist der schöpferische Geist und infolge
seiner dichterischen Begabung Meister des Stils und der Darstellung". Aber Aristo-
teles in einer Prima der Gymnasien nicht zur Geltung kommen lassen, heißt seine
Wirkung auf den Ausbau der Wissenschaften verkennen und der Jugend eines der
wichtigsten Kapitel aus der Geschichte der Philosophie vorenthalten. G. Schneider
hat das richtige Verhältnis bei der Auswahl aus den Schriften der beiden Denker mit
der ihm eigenen Sicherheit und Klarheit getroffen. Sieht man von den in u n -
verkürzter Gestalt abgedruckten drei Schriften Piatons (Apol., Kriton, Enthy-
phron) ab, so ergibt sich für die zur Einführung in die Platonische und Aristote-
lische Philosophie ,, ausgewählten Abschnitte" aus den Schriften des Platon und
Aristoteles das Zahlenverhältnis 5:1. Und das ist durchaus richtig.
Die Anlage des Ganzen ist die gleiche geblieben, wie sie die zweite Auflage
bot. Doch ist der P a r a 1 1 e 1 i s m u s zwischen den einzelnen Abschnitten der
beiden Teile des Lesebuches noch strenger durchgeführt. So entspricht
jetzt dem V. Abschnitte aus Aristoteles „das Wesen der Tragödie"
(Poetik p. 1447 a 13—1454 b im Auszug) ein V. Abschnitt aus Platon „Wesen
und Wirkung der nachahmenden Poesie" (Politeia X, p. 595 A ff. Neu aufge-
nommen!). Andererseits ist dem (VI.) Abschnitte aus Platon „die Unsterb-
lichkeit der Seele" ein (VI.) Abschnitt aus A r i s t o t e 1 e s „unser unsterblicher
Teil" (de anima III, p. 429 a 10— 430 a 33) gegenübergestellt; dieser Abschnitt
fehlte früher. Welche Bedeutung solcher Parallelismus für den Unterricht hat,
brauche ich nicht auszuführen. Schneiders Buch ist wirklich ein pädagogisches
Kunstwerk ersten Ranges und ist des Erfolges bei verständiger Benutzung gewiß.
Daß sich Schneider entschlossen hat, auch den „Euthyphron" — außer „Apo-
logie" und „Kriton" — unverkürzt abzudrucken, ist einem Wunsche aus dem Kreise
der Gymnasiallehrer zuzuschreiben. Freilich ist er dadurch genötigt worden, in
dem Abschnitte (I) „die Erkenntnis der Wahrheit" unter No. 3 („die Wahrheit
ist in den Begriffen gegeben") Euthyphron p. 5 C— D, 6 C— E, ebenso in dem Ab-
schnitte (III) „die Tugend" unter No. 3d („die Frömmigkeit") p. 12 D— 14 C
derselben Schrift von neuem abzudrucken.
Neu aufgenommen sind ferner Protag. p. 310 A— 316 A, 317 E— 319 A,
324 D— 326 E, Gorg. p. 482 C— 484 C, Sympos. p. 215 A— 217 A, 219 E— 222 A,
Laches p. 187 B— 189 B, Phaidon p. 57 A— 69 E. Damit hat Schneider auch dem
620 Lesebuch aus Piaton und Aristoteles, angez. von B. v. Hagen.
Wunsche Rechnung getragen, es möge durch Heranziehung poetisch wert-
voller Dialogszenen dem Dichter in Piaton sein Recht gewährt werden. (Vgl.
V.Bamberg, Jahresber. über das höhere Schulwesen XX HI. Jahrg. [1908] VH, 8.)
Nörgler werden den oder jenen Abschnitt gestrichen, andere hinzugefügt
wünschen: bei einer Auswahl allen recht tun, ist nun einmal unmög-
lich. Schneider bietet mehr als irgendein Lehrer in den der philosophischen
Lektüre zur Verfügung stehenden Stunden lesen kann. Das ist kein Vorwurf, son-
dern eine Anerkennung. Nur so kann der Lehrer den verschiedenen Generationen
gerecht werden. Er wird beispielsweise mit durchschnittlichen Jahrgängen die
ethisch-politischen Abschnitte, mit philosophisch gerichteten mehr die meta-
physisch-erkenntnistheoretischen Abschnitte lesen.
Das Lesebuch aus Piaton und Aristoteles in seiner neuen Gestalt ist die reifste
Frucht der wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeit des Mannes, der von
H. St. Sedlmayer (Zeitschr. für österr. Gymn. 1911, X. Heft, S. 897) mit
gutem Grund ,, gegenwärtig unbestritten der beste Platokenner" genannt wird.
Hinzufügen will ich, daß derselbe ausgezeichnete österreichische Schulmann ,,die
Einführung in die hellenische Welt- und Lebensanschauung durch die Lektüre
Piatos'' auf Grund des in Österreich immer weitere Verbreitung findenden Schnei-
derschen Lesebuches gegeben hat (Wien 1910). Wenn die preußischen Lehrpläne
Einführung in das Geistes- und Kulturleben des Altertums fordern, so hat Schneider
in einzigartiger Weise — unterstützt durch jahrzehntelange Forschungsarbeit
und 25 jährige Unterrichtspraxis in der Prima — diese Forderung für Piaton und
Aristoteles voll erfüllt.
Wir können nur wünschen, daß die Liebe und Begeisterung für die vornehmsten
Denker der Griechen, die G. Schneiders Unterricht allezeit so wertvoll und an-
regend gestalteten, durch die dritte Auflage seines Buches in immer weitere Kreise
der Gymnasiallehrer Eingang finden. Das Innenleben unserer Jugend wird dann
eine wirkliche Bereicherung und eine bleibende Vertiefung erfahren. Handelt es
sich doch hier um das höchste Ziel überhaupt, um die Vermittelung einer Welt-
anschauung.
Zum Schluß eine technische Bemerkung. Um die Benützung der „Erläu-
terungen" (1911) zu dem Lesebuche aus Piaton „mit einem Anhange aus Aristo-
teles" (Titel der früheren Auflage!) für die dritte Auflage zu ermöglichen, sind
in ihr die entsprechenden Seitenzahlen der Erläuterungen unter dem Texte
angegeben (z. B. E. 63), für den Euthyphron und die neu aufgenommenen Ab-
schnitte aus dem Phaidon die Seitenzahlen in den (ebenfalls bei Tempsky-Freytag
erschienenen) rühmlichst bekannten Kommentaren Schneiders zu diesen Dialogen
(z. B. K. 32 — 34). Die Fürsorge geht sogar noch weiter: für die in der f r ü h e -
ren Auflage schon abgedruckten Phaidonabschnitte ist die Seitenzahl der „Er-
läuterungen" u n d des Kommentars angegeben (z. B. E. 109 — 110, K. 104 — 105).
Auch für Apologie und Kriton sind solche doppelten Hinweise gegeben, K. be-
,deutet hier die zweite Auflage des Kommentars).
Das Verzeichnis der Eigennamen ist mit peinlichster Sorgfalt gearbeitet und
gibt viele Winke zur Belebung des Unterrichts, namentlich nach der künstlerischen
Seite hin. Die „Einleitung" S. 9—39 ist meisterhaft.
Jena. Benno v. Hagen.
J. Bezard, De la methode litteraire, angez. von W. Bohnhardt. 621
Bezardy J., De la methode litteraire. Journal ä' u n P ro-
fesseur dans une C lasse de Premiere. Paris 1911. Librairie
Vuibert. 20/12«. 738 S.
Bezard ist uns kein Unbekannter mehr. Seine Classe de Francais: Journal d'un
Professeur dans une division de Seconde C (latin-sciences), in der er zeigt, wie ge-
wissermaßen Musterleistungen im französischen Aufsatz zu erzielen seien, hatten
wir zu unserer großen Freude in der Monatschrift VII I, 57 ff. warm empfehlen können.
Im Nachwort hatte er auch einen Lehrbericht über die Prima in Aussicht gestellt,
der seine Methode in der Erklärung der Autoren der öffentlichen Beurteilung unter-
breiten sollte. Mit dem zu Ostern 1911 erschienenen, mehr als stattlichen Band,
der eine Unsumme von Arbeit darstellt, hat er sein Wort glänzend eingelöst. Zum
Verständnis der Schrift und der Gründe, die mit für die Abfassung maßgebend
gewesen sein mögen, ist ein Hinweis auf eine wohl bei uns nicht allgemein bekannte
Tatsache am Platze. Mit besonderer Liebe ist von jeher in Frankreich auf den
Gymnasien die Muttersprache gepflegt und Hauptwert auf eine elegante, form-
vollendete Darstellung gelegt worden. Die neuen Lehrpläne von 1902, die eine
Herabsetzung der Stundenzahl des Französischen zugunsten anderer Disziplinen
vorsehen, haben eine gewaltige Bewegung im Interesse der gefährdeten Mutter-
sprache („la crise du Francais'') hervorgerufen. In Vorträgen und Zeitungen
traten hervorragende Männer kräftig und begeistert für einen uneingeschränkten
Betrieb der Sprache ein, der allein die Pflege eines schönen und edlen Ausdrucks
im alten Umfange zuließe. Zu diesen Vorkämpfern gehört neben L a n s o n ,
der im Musee Pedagogique am 28. Januar 1909 einen Vortrag über „la Crise des
Methodes dans V Enseignement du Francais'' hielt, auch Bezard. Er besprach
in derselben Gesellschaft bald darauf die Behandlung der Literaturgeschichte
auf der höheren Schule. Nach ihm ist — ganz im Gegensatz zu dem früheren
verkehrten Verfahren — die Literaturgeschichte im engsten Ausschluß an die in
der Klasse gelesenen Autoren zu behandeln, und gleicherweise haben die schrift-
lichen Arbeiten zu ihr in unmittelbare Beziehung zu treten. Dementsprechend
sagt das Vorwort unserer Schrift (S. 4) „nous avons täche, malgre le peu de temps
qui nous etait accorde, de lire nous-memes les texte s or iginaux et de ne lire
ü peu pres qu'eux." Grundrisse der Literaturgeschichte bedarf er im Unterricht
höchstens zum Nachschlagen von Daten oder biographischen Einzelheiten. Mit
Virtuosität hat Bezard in dem Buche seine Theorie praktisch durchgeführt; ver-
blüffend ist seine Kenntnis der Literatur und gewaltig die Menge von Schriften,
die er mit den Schülern nach voraufgehender Hauslektüre durchspricht. Geschickt
stellt er bei Erörterung einzelner Fragen Verwandtes zusammen. Bei Rousseau
z. B. empfiehlt er vom Pastor Ch. Wagner „La Vie simple". Ausdrücklich
möchten wir auf dieses treffliche, bereits in 17. Auflage vorliegende Werk die Auf-
merksamkeit unserer Fachgenossen lenken, „das nützlichste Buch", das nach
Präsident Roosevelt die Amerikaner lesen sollten. Den Stoff für die Lektüre und
Besprechung hat Bezard nach 5 Gesichtspunkten (vom Jahre 1600 an) geordnet.
Der erste Hauptabschnitt ist betitelt: Les caracteres de la Science au debut du if
siede, ou les origines de la raison classique, der letzte : Uapplication de la methode
classique ä l'epoque contemporaine: Du Romantisme au Realisme. Der Durchnahme
622 R. V. Pöhlmann, Aus Altertum und Gegenwart,
einer einzelnen Gruppe sind 10 — 20 Unterrichtsstunden gewidmet. Welche An-
regung durch seine Textbehandlung Bezard auch uns geben kann, zeigt treffend,
um nur einen Fall herauszugreifen, in dem Kapitel: Imagination de V. Hugo die
Interpretation des auch auf unseren Schulen gern gelesenen Abschnittes aus der
E X p i a t i 0 n (// neigeait bis Waterloo). Hier kann mancher noch lernen. Über
den Wert des Buches im einzelnen brauchen wir uns nicht weiter auszulassen. Wir
dürfen ihm alles an seinem Vorgänger gekennzeichnete Gute nachrühmen.
Kollegen Bezard unser herzlichster Glückwunsch zu der trefflichen Leistung.*)
Düsseldorf. W. B o h n h a r d t.
von Pöhlmann, Robert, Aus Altertum und Gegenwart; Gesammelte
Abhandlungen. Neue Folge. München 1911. C. H. Becksche Verlagsbuch-
handlung. Vf u. 322 S. 8». geh. 6 M.
Dem ersten Band gesammelter Abhandlungen ,,Aus Altertum und Gegenwart",
der kürzlich in zweiter umgestalteter und verbesserter Auflage erschien und von
mir in dieser Zeitschrift angezeigt wurde, hat der Verfasser jetzt eine neue Folge
hinzugefügt, und wir sind ihm dankbar dafür, daß er diese Abhandlungen, in denen
eine Reihe von Problemen, welche für die Erkenntnis der Antike von grundlegender
Bedeutung sind, noch einmal durchgearbeitet hat und so weiteren Kreisen in ver-
besserter, dem jetzigen Stand der Wissenschaft entsprechender Gestalt vorlegt.
Die Themata sind: 1. Das Sokratesproblem, 2. Tiberius Gracchus als Sozial-
reformer, 3. ,,An Cäsar!" ,,Über den Staat". Ein Beitrag zur Geschichte der an-
tiken Publizistik, 4. Die Geschichte der Griechen und das neunzehnte Jahrhundert.
— Die drei ersten Arbeiten erschienen früher in den Sitzungsberichten der Kgl.
bayer. Akademie der Wissenschaften 1906, 1907 und 1904, die letzte, eine Festrede
zur Feier des 143. Stiftungstags der genannten Akademie, 1902.
Pöhlmann unterzieht die Bilder, die Plato und Xenophon von Sokrates ent-
worfen haben, einer gründlichen Kritik. Dann prüft er eingehend die mit dem Be-
ginn dieses Jahrhunderts über ihn erschienenen Arbeiten, legt die widersprechen-
den und zum Teil in sich wieder widerspruchsvollen Urteile, das Unzulängliche
und Unzutreffende in ihnen klar und zeigt, wie wir, wenn auch jetzt immer ent-
schiedener Ernst gemacht wird mit der „Emanzipation von der antiken Stilisierung
des Sokratesbildes", doch noch zu keinem allseitig klaren und richtigen Bilde
dieses wunderbaren Mannes gelangt sind. Ihm ist Sokrates der nüchterne, kritische
Forscher, der ganz und gar in der begrifflichen Bearbeitung der Erschei-
nungen aufgeht und in der Befriedigung dieses rein wissenschaftlichen
Erkenntnisdranges das ,,h ö c h s t e Gut" sieht, der sich in seinem wissenschaft-
lichen Denken nur durch die Vernunft beraten und nicht durch Autoritäten, durch
die Forderungen irgendeiner Macht binden läßt: ein wahrhaft vorbildlicher Ver-
treter des Prinzips wissenschaftlicher Voraussetzungslosig-
k e i t ! Vor allem ist es (nach E. Meyer) die Persönlichkeit des Sokrates, an der
es uns so recht klar wird, daß ,,die Entwicklung des griechischen Geistes nicht in
*) Sie hat inzwischen auch in England und Amerika uneingeschränktes Lob ge-
funden.
angez. von Fr. Heußner. 623
eine neu6 Religion ausmünden konnte, sondern nur in die Schöpfung der W i s s e n -
s c h a f t". Damit wird ein Vergleich mit Hiob, mit Christus u. a. als unzutreffend
zurückgewiesen, auch wird das ootifj-oviov in seiner Bedeutung für Sokrates in
das rechte Licht gestellt. Trotz seiner überzeugenden Darstellung wird der Ver-
fasser noch manchen Widerspruch finden, doch danken wir ihm für die Aufklärung,
die vieles in dem ,,Sokratesproblem" durch ihn gefunden hat.
Diesem Aufsatz ist in seiner Tendenz verwandt der letzte des Buches ,,Die
Geschichte der Griechen und das 19. Jahrhundert". Über die Frage, was die Alten,
insbesondere die Griechen für uns bedeuten, hat man nur zu oft verkannt,
was sie s e 1 b s t waren, und wie es damals , »eigentlich gewesen". Jenes , .kanoni-
sierte" Griechentum sollte seinerzeit der Leitstern sein für die ästhetische Er-
ziehung des .Menschen, wie sie Schiller als höchstes Bildungsideal proklamiert hat.
Dieser von der Wissenschaft überwundene Geist des Klassizismus lebt als ein idealer
Mustertypus und maßgebendes Vorbild zum Teil immer noch in der Tradition der
Schule fort, und viele meinen, daß wenigstens unsere Jugend in dem Glauben an
die Realität des konventionellen Idealbildes der Antike auch ferner zu erziehen
sei, Fiktionen, die Pöhlmann entschieden verwirft. Dann wendet er sich gegen den
,, Griechenstaat der liberalen Legende mit seinem stilisierten Antlitz", der in der
Verdunkelung der Wirklichkeit hinter den Idealtypen des ästhetischen PClassizis-
mus nicht weit zurückbleibt. Hier wird die G r o t e sehe Geschichtsauffassung
und -darstellung besonders charakterisiert und kritisiert, dessen Geschichte schon
im 1. Bande der Abhandlungen des Verfassers eine eingehende Beurteilung ge-
funden hat, und es werden die Gründe entwickelt für diese fehlerhafte politische
Romantik des Klassizismus. Er zeigt uns den „tragischen Riß, der durch die helle-
nische Hochkultur wie durch alle hohe Kultur hindurchgeht" (vgl. J. Burck-
h a r d t in seiner griechischen Kulturgeschichte, dessen Reaktion gegen die frühere
Idealisierung und Verklärung vielfach freilich zu weit geht). Für die geschichtliche
Beurteilung des Griechentums hat sich uns eine Welt neuer Anschauungen erschlossen
und wir haben gelernt, auch den antiken Menschen in seiner Eigenschaft als so-
ziale s Wesen zu verstehen (6 avilpoi-o? ou aovov -oaitixöv cxXXa xal oixovofxixöv
ctüov) und die Erklärung hellenischer Sozialtheoretiker, daß die Ungleichheit des
Besitzes die Ursache alles Bürgerkrieges und daher die Regulierung des Güter-
lebens das Haupt- und Grundproblehi aller Politik sei. Verfasser zeigt die
Entwicklung des politischen Parteikampfs zum sozialen
Klassenkampf, das Zurückdrängen der Freiheitsidee durch den
Gleichheits durst der Massen. Eine Geschichtsschreibung, deren Interesse
sich einseitig auf den F r e i h e i t s begriff konzentriert, bleibt weit hinter der
vollen historischen Wahrheit zurück; erst die moderne sozialgeschicht-
liche Interpretation der Antike hat den vollen Umfang der politischen und
gesellschaftlichen Probleme erkennen lassen, vor die sich bereits der antike Mensch
gestellt sah. Einige der Hauptergebnisse werden dann in Kürze skizziert, wir er-
kennen, wie s 0 diese Geschichte gerade dem modernen Menschen nahe ge-
bracht ist, und es zeigt sich uns ein Parallelismus der Geschichte, der immer wieder
den Vergleich mit der Antike als ein Mittel der reizvollsten und instruktivsten
Anregung zu neuen Kombinationen aufdrängt. Daß es zum guten Teil immer wieder
624 G. Billeter, Die Anschauungen vom Wesen des Griechentums,
dieselben großen Probleme sind, die das Menschenherz im Innersten beschäftigen
und quälen, das kommt in der Geschichte der Griechen wie der Antike überhaupt
in wahrhaft typischer Weise zum Ausdruck, was besonders den Bildungswert der
Antike für alle die erkennen läßt, die zu denkender Mitarbeit an den großen Auf-
gaben unserer Kulturwelt berufen sind; sie hat für uns den Wert einer politischen
und sozialwissenschaftlichen Propädeutik ersten Ranges.
Aus beiden Arbeiten werden die Philologen und Geschichtslehrer für ihren
Unterricht reichen Gewinn ziehen können.
Hinsichtlich der anderen Artikel muß ich mich kürzer fassen, so verlockend
es auch erscheint, des Verfassers gründliche geschichtliche Entwicklung und Be-
weisführung in der Hauptsache wiederzugeben.
Er zeigt uns, auf der Gracchengeschiclite Appians fußend, auch den neuesten
Anfechtungen gegenüber den Tiberius Gracchus als einen Reformator
großen Stils, dem es um das gesamte Wohlbefinden seines Volks zu tun war,
der auch als Sozialpolitiker stets grundsätzlich auf dem Boden der Re-
form stehen geblieben ist; und was ihm als Ziel vorschwebte, die Wiedergeburt
der plebs rustica, war ausgesprochen konservative Mittelstandspolitik. Hierbei
geht er auch mit Mommsen und Wilamowitz scharf ins Gericht.
Nicht minder wertvoll und interessant ist die Analyse der beiden Pamphlete
„An Cäsar!" und „Über den Staat", von denen er zusammenfassend sagt: „Wir
haben an ihnen sehr bedeutsame, in ihrer Art für uns einzig dastehende und höchst
wahrscheinlich zeitgenössische Quellen für die Erkenntnis jener gewaltigsten
inneren Krisis des römischen Staates, ja allem Anschein nach echte Sallu-
s t i a n a nach langer Verkennung wiedergewonnen.
Die Arbeiten zeigen uns besonders auch die geschichtliche Kontinuität zwischen
der antiken Kultur und der unseren, die zahlreichen Berührungspunkte zwischen
beiden auf den verschiedensten Gebieten des religiösen, des sittlichen und gei-
stigen, des sozialen und politischen Lebens, und darin liegt ein besonderer Reiz
auch dieses Bandes, der ebenso wie der erste warm empfohlen sei.
Cassel. • F r. H e u ß n e r.
Billeter, Gustav, Die Anschauungen vom Wesen des Griechen-
tums. Leipzig und Berlin 1911. B. G. Teubner. XVIII u. 477 S. 8°. 12 M.,
geb. in Leinwand 13 M.
Ein historisch-kritisches Werk, das sich die Aufgabe stellt, die Anschauungen
vom Wesen des Griechentums als einer Gesamterscheinung in ihren Hauptzügen
darzustellen. Reichen auch sowohl die Werturteile wie die Erkenntnisurteile dar-
über schon bis in das Altertum zurück, so legt der Verfasser doch das Hauptgewicht
seiner Arbeit auf das 18. und das 19. Jahrhundert, da diese in der Geschichte dieser
Anschauungen weitaus den ersten Platz einnehmen. Innerhalb dieses Rahmens
wählt er eine systematische Darstellung, einmal wegen des Fortbestehens einer
großen Reihe jener Anschauungen über weite Strecken, sogar die ganze Ausdehnung
jenes Zeitraumes, sodann in der Hoffnung, neben der Klarlegung dieser Probleme
sie auch mittelbar zu fördern, endlich um mit der Darstellung der Entwicklungen
und Wandlungen jener Anschauungen auf die zahlreichen Gegensätze hinzuweisen,
angez. von F. Thümen.* 625
durch welche die ältere Betrachtungsweise von der heute mehr und mehr geltenden
geschieden ist. Die allgemeinen, besonders geschichtstheoretischen Vorbedingungen
der Auffassungen des Griechentums werden um der Wichtigkeit willen dieser Ein-
flüsse genügend berücksichtigt.
Das Buch ist in zwei, äußerlich getrennte Teile zerlegt, den allgemeinen, dar-
stellenden, und den besonderen, welcher die Belege für die Anschauungen, Be-
merkungen zu diesen und Ergänzungen und Ausführungen zu dem allgemeinen Teil
enthält. Diese Belege können nur eine Auswahl aus dem gewaltig großen vorhan-
denen Stoffe bieten; und wenn in ihnen auch die führenden Persönlichkeiten, wie
natürlich, stärker berücksichtigt worden sind, so sind doch andere nicht ausge-
schlossen, namentlich wo es sich um die Geschichte der Werturteile handelt. Daß
die Belege zumeist ein möglichst charakteristisch ausgewähltes Wort des Autors
wiedergeben, ist als ein Vorzug anzusehen, da dies anschaulicher wirkt als die
bloße Angabe des Verfassers, des Buchtitels und der Seitenzahl.
So folgen wir dem Verfasser zu dem ,, Allgemeinen Teil", dessen „Einleitung"
zunächst von den Versuchen, den Begriff des „Griechentums" zeitlich abzugrenzen,
und zugleich von der störenden Unbestimmtheit spricht, die hierbei geherrscht
hat und auch heute noch nicht verschwunden ist; im allgemeinen freilich werden
ziemlich übereinstimmend vor allem die vorchristlichen Jahrhunderte ins Auge
gefaßt, für welche die Bezeichnungen des ,, antiken" und, mit einer gewissen Be-
schränkung, des „klassischen" Griechentums in Geltung gewesen sind, ohne es heute
noch unbestritten zu sein. Die weiteren Ausführungen der beiden ersten Abschnitte
des Hauptteils stehen unter der Wahrnehmung einer doppelten Art der Auffassung
des Griechentums, nämlich der der Einheitlichkeit und der Differenzierung. Jene,
die ältere Ansicht, ist im 18. Jahrhundert entstanden, während diese in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts sich entwickelt hat. Den Ursachen jener geht der
Verfasser nach, wie auch deren Wirkungen und den Gefahren, die sie in sich birgt.
Mit ihr steht in regstem Zusammenhange der Begriff des Volkscharakters, bei dem es
sich um eine Sprachgemeinschaft als Trägerin seelischer Übereinstimmung handelt;
doch ist diese Lehre allmählich sowohl aus besonderen, für die Betrachtung des
Griechentums maßgebenden Gründen, als auch deshalb in den Hintergrund getreten,
weil die neuere Geschichtsforschung und -betrachtung weniger auf die Gewinnung
umfassender Gesamtvorstellungen und großer Zusammenhänge ausgeht, als daß
sie von unten nach oben ihre Forschungen anstellt und nicht von vornherein eine
psychische Einheitlichkeit behauptet, namentlich wenn lange Zeiträume vorliegen,
in denen mehr oder minder große Änderungen sich vollziehen. Die Anschauungen
von der Differenzierung des Griechentums andererseits beruhen auf der zeitlichen
GUederung nach Blüte und Verfall, umschließen also zwei verschiedene Epochen
oder, wenn die Entwicklungszeit als eine andersartige, jene erste nur vorbereitende
Epoche angesehen wird, deren drei; doch drängt sich gerade hier der Begriff der
Einheitlichkeit wieder auf, insofern ein Werden und Vergehen derselben Kräfte
und Anlagen innerhalb dieser Zeiträume stattfindet. Dieser zeitlichen Trennung
steht eine örtliche zur Seite, nach Volksstämmen. Auch die Gründe allgemeiner
Art, durch welche die Anschauungen von der Differenzierung des Griechentums
gefördert worden sind, wie den Gedanken der Entwicklung, welche eine Wandlung
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 40
626 G. Billeter, Die Anschauungen vom Wesen des Griechentums,
und ein Anderswerden in sich schließt, ferner die im 19. Jahrhundert erweiterte
und vertiefte Einsicht in die verschiedensten Seiten und Ausdrucksformen mensch-
lichen Lebens und Schaffens, endlich die Einzelforschung, welche das Verständnis
für die Mannigfaltigkeit griechischen Daseins erst recht ermöglicht und begründet
hat, deren Ergebnisse zugleich aber auch zu der Einsicht führten, daß das Griechen-
tum starke Gegensätze in sich schloß, beleuchtet der Verfasser; ebenso in den fol-
genden Kapiteln, wie der Begriff des Zeitalters in seiner Anwendung auf das Griechen-
tum einerseits dem Bestreben dient, die Differenzierung dieser Kultur zu erfassen,
zugleich aber auch eine umfassende Einheitlichkeit voraussetzt. — Der vergleichenden
Betrachtung des Griechentums ist der folgende Abschnitt gewidmet, der zunächst
die Voraussetzungen dieses Verfahrens erörtert und sich dann den Versuchen
zu einer vergleichenden Betrachtung des griechischen Volkscharakters zuwendet,
die entweder auf einen Nachweis seiner Eigenart oder, jedoch seltener, des Gegen-
teils davon hinauslaufen und danach in ihren Ergebnissen sich unterscheiden. Aus-
führlich werden diese in bezug auf die Feststellung der mannigfaltigen Eigen-
schaften, die den Griechen in besonderem Maße zugeschrieben werden, erörtert
und sodann die Anschauungen von der Eigenart des differenzierten Volkscharakters
beleuchtet. Die Versuche, typische Züge in ihm zu finden, sind nicht zahlreich. —
Von der vergleichenden Betrachtung des Volkscharakters wendet sich sodann der
Verfasser zu dem der griechischen Kultur, bei welcher wiederum, wie bei jenem,
die Anschauungen sich dahin teilen, daß sie entweder die gemeinsamen Züge und
deren Eigenart suchen — wobei es auch hier an Gegensätzen nicht fehlt — oder
der Differenzierung in der Zeit, d. h. der Entwicklungsstufen der Kultur nach-
gehen. Inwieweit jene gemeinsamen Züge typisch sind, also mit anderen Kulturen
übereinstimmen oder auch von ihnen sich unterscheiden, und welche Theorien
zu den hierüber entstandenen Anschauungen geführt haben, ist der Gegenstand
weiterer Erörterungen, ehe der Verfasser zu dem dritten Abschnitte, der Bewertung
des Griechentums, gelangt. Zunächst wird auf den Unterschied zwischen Wert-
urteil und Erkenntnisurteil und das Verhältnis jener zur Geschichtswissenschaft
hingewiesen, sein immer schärferes Ausscheiden oder wenigstens Zurücktreten
gegenüber geschichtlichen Dingen mit der Gefahr einer Entstellung durch Tem-
perament und persönliche Neigung des Forschers begründet; sodann auf neuere
Wandlungen in der Bewertung geschichtlicher Erscheinungen hingewiesen, die
durch den immer gewaltiger anwachsenden geschichtlichen Stoff überhaupt, durch
neue Richtungen in Kunst und Literatur, neue soziale Ziele, sodann auch durch
stärkere Individualisierung des Werturteils und stärkere Betonung des Subjektiv-
Persönlichen bedingt sind. Unter diesen Einflüssen ist das Griechentum bewehrtet
worden; doch wird festgestellt, daß die objektive Richtung besonders im 18. und
19. Jahrhundert erstarkt ist und zwar gerade bei Männern, die dem Griechentum
die tiefste Verehrung entgegenbringen. Die gleiche Wirkung hat auch der wachsende
zeitliche Abstand sowie der Einfluß der Geschichtswissenschaft gehabt; und endlich
sind neuere allgemeine Veränderungen in der Bewertung des Griechentums durch
das Anwachsen des Stoffes auch bei jeder geschichtlichen Vergleichung hervorgerufen
worden. Bei der Bewertung des Griechentums in seinem zeitlichen Verlaufe findet
der Verfasser drei Formeln der Anschauungen, die zeitgenössisch griechische, welche
angez. von F. Thümen. 627
die Vergangenheit überhaupt positiv bewertet, dann eine solche neueren Ursprungs,
welche die Stufen des Wachsens, Blühens und Verwelkens ansetzt, und eine dritte,
gleichfalls jüngeren Datums, die einen Höhepunkt mit einem Abfall nach rückwärts
und vorwärts annimmt. Für die allgemeine positive Bewertung hat sich der Name
„Klassizismus" eingebürgert; doch herrscht über diesen Begriff keine Überein-
stimmung, ob er sich auf das ganze Griechentum bezieht, oder ob einzelne Kultur-
erscheinungen im Vordergrunde, andere in zweiter Linie stehen, und ob er sich auf
bestimmte Zeiten, bestimmte Landstriche wie Athen beschränkt. Dieser Klassi-
zismus hat der Erkenntnis des Griechentums vielfach im Wege gestanden, anderer-
seits sie auch durch die Fülle der Kräfte, die er in diesem Gebiete der Geschichte
zuführte, kräftig gefördert. Die negative Bewertung des Griechentums hat im
Christentum ihren Höhepunkt erreicht, indem es besonders Religion, Staat und
soziale Zustände zu Angriffspunkten nahm; ihr zur Seite tritt die moderne Kritik,
die das Griechentum an den eigenen Zielen, Werten und Schöpfungen mißt und im
besonderen vom deutsch-nationalen Standpunkte aus gegen die Rolle des Griechen-
tums in der Erziehung streitet. — Der letzte Abschnitt betrachtet die Anschauungen
von den allgemeinen Bedingungen des Griechentums, und zwar zunächst die neueren
Wandlungen der Auffassung geschichtlicher Zusammenhänge im allgemeinen und
bei ihm im besonderen. Vom 18. Jahrhundert an bis zur Mitte des 19. macht sich
eine sehr starke Vertiefung der kausalen Erfassung geschichtlicher Erscheinungen,
die vorwiegend auf das Allgemeine, auf das Einheitliche und Bleibende großer ge-
schichtlicher Kreise gerichtet ist, bemerkbar. Beim Griechentum zerfallen die auf-
gestellten allgemeinen Kausaltheorien in zwei Hauptgruppen, deren eine zur Er-
klärung der Blüte, die andere zur Deutung des Verfalls dienen soll, jene also die
ältere, diese die jüngere Zeit behandelt. Von besonderen Theorien werden die
zeitliche, die geographischen — Versuche, das Griechentum als eine singulare
Erscheinung aus seinen individuellen geographischen Bedingungen heraus zu er-
klären — , die ethnischen — die Frage, ob der griechische Volkscharakter als eigen-
artig oder als typisch anzusehen ist — und die orientalische, welche die unmittel-
bare Einwirkung fremder, älterer, orientalischer Kulturen als das entscheidende
Moment in dem Vorgange des Werdens des Griechentums behauptet, erwähnt,
in bezug auf letztere auch richtig hervorgehoben, daß seit dem Bekanntwerden
der kretisch-ägäischen Kultur und dem Eintreten der ägyptisch-babylonischen
Welt in den Kreis der Forschungen „Alles noch fließt". Weiter kommen hier noch
eine Anzahl von Theorien in Betracht, nach denen die Entfaltung der griechischen
Kultur auf bestimmte Erscheinungen innerhalb ihrer selbst, besonders auf solche
im Staatsleben — politische Geteiltheit, Kleinstaaterei, freiheitliche Verfassung,
Unabhängigkeit — zurückgeführt wird. Die Versuche endlich, die späteren Epochen,
des Verfalls, zu erklären, sind sehr zahlreich. — In dem Schlußworte wird die
neuerdings mehr in den Vordergrund tretende Frage gestreift, welche Bedeutung
der geschichtlichen Wirkung des Griechentums für dessen Auffassung zukomme,
und darauf hingewiesen, daß heute stärker als je sein Anteil an der Bildung der mo-
dernen Welt betont wird; da diese Kultur als etwas Wertvolles gilt, erscheint auch
das Griechentum in demselben Lichte.
Der Zusammenstellung und Beleuchtung der Anschauungen vom Wesen des
40*
628 H. Michelis, Unsere ältesten Vorfahren, angez. von R. v. Hanstein.
Griechentums im ersten Teile des Buches folgen wir mit Interesse, da sie in der
gewählten zeitlichen Beschränkung Wesentliches nicht vermissen läßt und überall
ein gesundes Urteil zutage tritt. Im einzelnen hätte bei der Besprechung des grie-
chischen Volkscharakters stärker betont werden können, daß eine psychische
Differenzierung auch auf das Bestehen von Ständen in den einzelnen Städten
und Staaten zurückzuführen ist, stärker auch an anderer Stelle die hohe positive
Bewertung des Griechentums durch den Neuhumanismus. Der Schwerpunkt des
Buches aber liegt in dem zweiten, dem besonderen Teile, der auf fast 400 Seiten
die Belege bringt und als eine mit außerordentlicher Sorgfalt geschaffene Sammel-
arbeit bezeichnet werden muß, die für den Lehrer wie besonders den Forscher
auf diesem Gebiete von hohem Werte ist; dieser wird noch durch die bei einem
solchen Werke unentbehrlichen Autoren- und Sachregister erhöht. Die Hoffnung,
welche der Verfasser am Schlüsse der Vorrede ausspricht, man werde ihm den
zweiten Teil des Satzes des Kallimachos von dem iiiya ßißXiov erlassen, darf er
als erfüllt betrachten.
Naumburg a. S. F. T h ü m e n.
Michelis, H., Unsere ältesten Vorfahren, ihre Abstammung
und Kultur. Leipzig und Berlin 1910. B. G. Teubner. 35 S. 8». 0,80 M.
Die kleine Schrift gibt in etwas erweiterter Form den Inhalt eines vom Ver-
fasser gehaltenen Vortrages wieder. Ihr Zweck ist nicht, Neues zu bringen, sondern
das über die ältesten beglaubigten Vorfahren des Menschen Bekannte kurz darzu-
legen. In dem einleitenden Abschnitt behandelt Michelis die Frage nach der Ab-
stammung des Menschen und stellt kurz die Tatsachen zusammen, die auch für den
Menschen ^ine Entwicklung aus niederen Säugetierformen wahrscheinlich machen.
So viele Gründe aber auch zugunsten dieser Annahme sprechen, so ist es doch wissen-
schaftlich nicht richtig, ihren hypothetischen Charakter, den sie mit allen auf ver-
gangene; direkter Beobachtung nicht zugängliche Vorgänge bezüglichen Annahmen
teilt, zu verschleiern. Wenn der Verfasser am Schlüsse seiner Schrift den Satz aus-
spricht: „Heute wissen wir, daß Darwin in seiner Anschauung von der Entwicklung des
Menschen recht hatte", so ist dies tatsächlich nicht richtig; wir w i s s e n es nicht,
wir haben nur viel und gute Gründe es anzunehmen, und gerade in Schriften,
die sich an einen weiteren Leserkreis wenden, ist es erforderlich, die Grenze zwischen
Tatsachen und erklärenden Hypothesen überall deutlich erkennen zu lassen. Den
Hauptteil der Schrift bildet eine kurze, durch eine Reihe von Abbildungen erläuterte
Uebersicht über die Hauptperioden vorgeschichtlicher menschlicher Kulturentwick-
lung. Für Leser, die sich etwas eingehender orientieren wollen, sind eine Anzahl
von Literaturangaben beigefügt. Als kurze orientierende Übersicht dürfte die
Schrift manchem Leser willkommen sein; sehr tief dringt sie in die hier zu erörternden
Probleme nirgends ein.
Gr.-Lichterfelde. R. v. H a n s t e i n.
Freytag, H., Aus Ernestinischer Vergangenheit. Weimar 1911.
W. Hoffmann. VII. u. 191 S. 8«. 2,50 M.
An eine Führung durch den Prinzessinnengarten zu Jena, in dem ein Stück
klassischer Vergangenheit der Gegenwart erhalten ist, schließt sich das Lebensbild
L. E. Grimm, Erinnerungen aus meinem Leben, angez. von Fr. Heußner. 629
eines der größten Ernestiner, des Kriegshelden Bernhard von Weimar. Die folgen-
den Aufsätze, vorwiegend biographischen Inhalts, knüpfen teils an die Saale-
Universität Jena, die Schöpfung des Bekennerkurfürsten Johann Friedrich, teils
an Weimars altehrwürdige Gräberstätte, den Jakobsfriedhof, an. Die Lebens-
bilder alter Jenenser — genannt seien vor allen der Mitarbeiter Luthers, Matthias
Flacius, und die Philosophen Fichte und Fries — umspannen ein Stück deutscher
Gelehrtengeschichte von den Tagen der Reformation bis zum Ausgange des 19. Jahr-
hunderts. Die weimarische Gruppe, die Toten des Jakobsfriedhofs, weist mit
Lucas Kranach ebenfalls ins Reformationsjahrhundert zurück, schließt sich dann
aber eng an Weimars klassische Zeit an, in die ja auch der schwere Schicksalsschlag
der Schlacht bei Jena fällt. Wer an den Gräbern Euphrosynes, Christianens, des
Grafen Schmettau und an Schillers erster Begräbnisstätte sinnend gestanden hat,
wird sich diese Erinnerung durch die Lektüre des Buches gern erneuen.
Der Verfasser hat die einschlägige Literatur gründlich durchforscht; seiner
Darstellung wünschte ich hier und da größere Knappheit.
Hamburg. Heinrich Gerstenberg.
Grimm, Ludwig Emil, Erinnerungen aus meinem Leben. Heraus-
gegeben und ergänzt von Adolf S t o 1 1. Leipzig 1911, Hesse und Becker.
640 S. kl. 80. 3 M. *)
Die Lebenserinnerungen des jüngsten Bruders von Jakob und Wilhelm Grimm
erscheinen hier zum erstenmal im Druck, und gewidmet ist das Buch vom Heraus-
geber, der es mit zahlreichen Bildnissen und Abbildungen, einer Kartenskizze
und einem Verzeichnis von Grimms Werk versehen und durch Ergänzung der
Lücken, Briefe der Brüder Jakob, Wilhelm, Ferdinand und Ludwig und andere
Beiträge zur Familiengeschichte erweitert hat, der Berliner Universität zum hundert-
jährigen Jubelfest 1910 als ein ,, Beitrag zur Kenntnis des Jugendlebens auch
von Jakob und Wilhelm Grimm". Wäre Ludwig Grimm auch nur der Bruder
dieser beiden unvergleichlichen Männer, so wäre er schon der Beachtung wert; er
ist aber auch selbst ein trefflicher und liebenswerter Mensch und ein sinniger Künstler
gewesen, der auch an sich verdient, nicht vergessen zu werden. Geboren 1790
zu Hanau, ist er als Professor an der Akademie der bildenden Künste in Cassel
1863 gestorben. Ist er auch kein hervorragender Förderer seiner Kunst geworden,
so war er doch als Maler und Radierer ein stiller, anspruchloser und beglückter
Ausüber derselben. Viele haben sich an seinem Lebenswerk erfreut, in seinen Bildern
spiegeln sich nicht weniger rein die Gedanken jener Epoche ab als in den Werken
der Literatur, und seine Porträts bewahren treu die Züge vieler, die uns interessieren,
und mancher, die auf das geistige Leben unseres Volkes nachhaltig zu wirken
berufen waren. Dadurch sind die vielen, größtenteils noch nicht bekannten Bild-
nisse, die das Buch schmücken, besonders wertvoll.
Im Alter von etwa 54 Jahren hat Ludwig Grimm die Mitteilungen aus seinem
Leben aufzuzeichnen begonnen, und zwar zunächst für sich selbst, allenfalls wollte
er sie seinen nächsten Verwandten als ein Vermächtnis erhalten; schade nur, daß
*) Inzwischen ist 1912 eine zweite Auflage (7. bis 10. Tausend) erschienen.
630 L. E. Grimm, Erinnerungen aus meinem Leben, angez. von Fr. Heußner.
er aus • Bedenklichkeit und Zartgefühl viele Stellen, wo er denken mochte sich
zu offenherzig geäußert zu haben, später herausgeschnitten und vernichtet hat.
Liebevoll hat er sich in all die alten Erinnerungen von frühester Jugend an ver-
senkt und verzeichnet mit der größten Sorgfalt alles, was sein Gedächtnis bewahrt
hat. Und was wird uns alles erzählt! Zunächst das reizende Idyll der Kinder-
jahre in Steinau unter der Obhut der ,, liebsten, besten Mutter*', voll Heimat-
freude und Jugendglück; zugleich voll köstlichen Humors in der Schilderung des
Unterrichts unter der Leitung des „Stadtpräzeptors" Zinckhan; dann die drei
schönen Wochen in Birstein im Verkehr mit der schönen Gräfin Auguste von
Wächtersbach und der idyllische Aufenthalt in Wilhelmshöhe, wo er sich beim
Kastellan des Oktogons einlogiert hatte. Und dazwischen nun seine Ausbildung
auf dem Lyzeum und der Akademie in Cassel, dann in München, wo er in lebhaftem
Verkehr mit Professoren und Künstlern sich bildete und in seiner Kunst förderte.
Danach ein anderes Bild: sein Feldzug nach Frankreich 1814 mit der Schilderung
der heiteren und düsteren Seiten des Lagerlebens, und dann die Reise nach Italien
mit lieblichen und gewaltigen Bildern, mit Schilderungen von Land und Leuten,
Natur und Kunst, endlich die eingehende Schilderung des Dürerfestes in Nüim-
berg (1828) usw. Ausgeprägt ist auch bei ihm wie bei seinen Brüdern der warme
Familiensinn, die Freude an der Natur und das liebevolle Sichversenken auch in
das Kleine und Unbedeutende; Natur und Kunst betrachtet er mit malerischem
Blick, und ein liebenswürdiger Humor begleitet viele seiner Schilderungen. Für
Geschichte und Kulturgeschichte der Zeit enthält das Buch wertvolle Beiträge,
wir werden eingeführt in den Kreis der gleichzeitigen Gelehrten und Dichter, na-
mentlich der Romantiker, und namhaften Künstler, da die vielen Beziehungen
der Brüder ihm leicht Zugang verschafften. So entschädigt da, wo seine eigene
Gestalt weniger bedeutend erscheint, der Hintergrund und die Nebenfiguren, die
mancherlei persönlichen und sachlichen Fäden, durch die das Einzelbild mit dem
reichen und belebten Zeitbild sich zusammenschließt.
Besonderer Dank und warme Anerkennung gebührt auch dem Herausgeber.
Mit großer Liebe hat Professor Stoll diese Lebenserinnerungen verfolgt, gar schön
würdigt er in der Einleitung den Verfasser, mit lebhaftem Interesse ist er allen Einzel-
heiten nachgegangen, hat die Lücken der Biographie ergänzt und hat nicht Zeit
und Mühe gescheut, um uns über all die in der Biographie erwähnten Zeitumstände,
Örtlichkeiten, Personen und ihre Familien genau zu orientieren. Davon zeugen die
zahlreichen, oft recht eingehenden, mit erstaunlichem Fleiß zusammengestellten
Anmerkungen und die Einzelbetrachtungen im Anhang, der uns noch besondere
kleine Abhandlungen über den Stadtpräzeptor Zinckhan, die Brüder Ferdinand
und Karl, die Schwester Lotte und ihren Gemahl, den bekannten Minister Hassen-
pflug, Dortchen Grimm, die Gattin Wilhelms, die damaligen Casseler Schulverhält-
nisse, die Wohnungen und Grabstätten der Familie Grimm und anderes bringt
und endlich auf 27 Seiten eine Zusammenstellung von Ludwig Grimms Werk ent-
hält. Und wie es bei solchem Forschen und Nachspüren bis ins einzelne zu ge-
schehen pflegt: Stoll hat auch in den Mitteilungen Ludwig Grimms und den Über-
lieferungen anderer unrichtige und ungenaue Angaben verbessern können, und es
wird auch hier bestätigt, was W. H e r b s t im Vorworte zu seinem „ Joh. Heinrich
A. Bettelheim, Beaumarchais, angez. von W. Bohnhardt. 631
Voß" treffend sagt, daß es immer „nötig und heilsam ist, einen mit Zuversicht
aufgeführten geschichtlichen Bau durch Einzeldarstellungen zu beleben, zu er-
gänzen, zu berichtigen und die Haltbarkeit seiner Grundmauern immer aufs neue
zu prüfen". Die beigegebenen Bilder aus Steinau, Schlüchtern und des Wohnhauses
der FamiHe Grimm in der Marktgasse zu Cassel, wo sie von 1805—1814 wohnte
und das seit 1885 durch ein von Lottes ältestem Sohn, dem Bildhauer Karl Hassen-
pflug, gefertigtes Reliefbild der ,, Märchenfrau" bezeichnet ist, werden vielen will-
kommen sein. Unter den Bildnissen hebe ich, abgesehen von den zahlreichen
aus der Familie Grimm, hervor Ludwigs Selbstbildnis, die von Bettina von Arnim,
Clemens Brentano, Görres, Savigny und das seines Schwagers Hassenpflug, den
er 1816 in altdeutscher Tracht malte, mit „teutschem Schwert umgürtet, als Senior
von Studentenverbindungen". Andere Bildnisse von diesem gibt es nicht. — Auf S.25
haben wir eine Inhaltsübersicht des Buches, auf der folgenden Seite ein Verzeichnis
der hier gebotenen Bilder und Bildnisse und zum Schluß ein sehr sorgfältiges
Register aller in den Erinnerungen, der Einleitung und den Anmerkungen vor-
kommenden Namen, was das Buch auch zum Nachschlagen über viele uns inter-
essierende Personen und Verhältnisse geeignet macht.
So sei das Werk, das bei trefflicher Ausstattung zu dem erstaunlich billigen
Preis von nur 3 M. geboten wird, auch den Philologen angelegentlich empfohlen
schon wegen seines reichen, vielseitigen, belehrenden und fesselnden Inhalts, dann
als ein Muster philologischer Gründlichkeit und Genauigkeit von selten des Heraus-
gebers; und endlich möchte ich die Leser noch besonders hinweisen auf die köst-
liche Schilderung der Schulzeit in Steinau unter der Leitung des Präzeptors Zinck-
han, von dem Jakob sagte, man habe wenigstens Fleiß und strenge Aufmerksamkeit
bei ihm gelernt, wenn ihnen auch aus seinem charakteristischen Benehmen eine
Menge ergötzlicher Spaße, Redensarten und Manieren zurückgeblieben sei. Als
Muster eines schlagfertigen „Orbilius" hat er sich seinen Buben gegenüber stets
alsbald sein Recht verschafft und ist keinem etwas schuldig geblieben. Anhang 1
bringt uns eine ausführliche, auch kulturgeschichtlich wertvolle Schilderung des
Lebens, Leidens und Wirkens dieses ,, Studiosus" Zinckhan, der mit 37 Jahren
endlich in Wohnung, Dienst und Besoldung kam. „Er hat hart ringen und kämpfen
und viel tragen müssen, wie Tausende seines Amtes in jener Zeit, und man muß
doch Respekt vor ihm haben, wie er sich solchen auch von seinen Schulbuben er-
zwang und auch bei seinen Mitbürgern verschafft haben muß, deren Nachkommen
sonst nichts mehr von ihm wüßten."
Cassel. Fr. Heußner.
Bettelheim, Anton, Beaumarchais. Eine Biographie. Zweite, neubearbeitete
Auflage. München 1911. C. H.t^Beck'sche Verlagsbuchhandlung. XIII u.
530 S. brosch. 9 M.
Bettelheim war für diese erste deutsche Beaumarchais-Biographie, in der er
sich als hervorragender Kenner und künstlerischer Gestalter des so eigenartigen
Stoffes und des ganzen Zeitabschnittes einführte, die einmütige Anerkennung
unserer Literarhistoriker, nicht zuletzt seines Lehrers Wilhelm Scherer, sowie der
632 K. Brücher, Anschauung in der Arithmetik.
Franzosen (V. Cherbuliez in der Revue des Deux Mondes 1886) zu teil geworden.
Die Reize des Werkes, das eine erstaunliche Belesenheit und einen seltenen literari-
schen Geschmack des Verfassers bekundet, waren gebührend gewürdigt worden.
Um so mehr mag manchen wie mich das Ausbleiben einer Neubearbeitung befremdet
haben, zu der sich Bettelheim auch jetzt, genau nach einem Vierteljahrhundert,
noch nicht entschlossen haben würde, wenn in der Zwischenzeit andere Biographen
für Beaumarchais tätig gewesen wären. Der Umstand allein, daß gegen alles Erwarten
die Beaumarchais-Forschung in Deutschland fast gar keine neuen Triebe angesetzt
hatte, während unser Theater und unsere Übersetzungskunst ihr Interesse dem
Dichter der Figaro-Trilogie zuwandten, hat Bettelheim von neuem an das Werk
gerufen. Wiederum hat er in allen in Frage kommenden Archiven gründlich Um-
schau gehalten und von den seit 1886 leider sehr spärlich veröffentlichten Unter-
suchungen Kenntnis genommen (vgl. S. 493). Trotzdem konnte er an dem Lebens-
bilde nichts Wesentliches ändern, und wir müssen gestehen, daß Beaumarchais
durch ihn ein für allemal seine großzügige, erschöpfende Darstellung gefunden hat.
Der Text ist genau um 100 Seiten (jetzt nur noch 487) beschnitten; die ausführlichen,
oft seitenlangen Stellen aus den Werken und Briefen, die m. E. die Lektüre nur be-
einträchtigten, sind erheblich gekürzt, ebenso die Quellenbelege der Urausgabe
in den Beilagen (Abschnitt D). Endlich ist aus den eigentlichen Anmerkungen
viel Material, das bloß für Philologen und Forscher wertvoll war, ausgeschieden. Hin-
zugekommen ist dagegen ein sehr nützliches alphabetisches Namenverzeichnis.
Für die musterhafte Ausstattung des Ganzen hat die Beck'sche Verlagsbuchhand-
lung gesorgt. Das neue Titelbild spricht mich mehr an als die frühere Wiedergabe
des Stiches von Hopwood, die manchem allerdings charakteristischer vorgekommen
sein mag. So mögen denn an dem Buch in seiner verbesserten Gestalt auch weitere
Kreise ihre Freude haben!
Düsseldorf. W. B o h n h a r d t.
Brücher, K., Anschauung in der Arithmetik. Bamberg 191 1. Buchner.
VIH u. 41 S. geh. 1,60 M.
Das vorliegende Schriftchen gibt einen Beitrag zur Anschaulichkeit im arith-
metischen Unterricht, indem es die Verwendbarkeit dreier vom Verfasser heraus-
gegebener Apparate ausführlich darlegt. Jeder Versuch, die Anschaulichkeit des
mathematischen Anfangsunterrichtes, zumal des arithmetischen, zu fördern, ist
an sich freudig zu begrüßen und verdient eingehende Prüfung. Wenn auch nur
längere Unterrichtserfahrung mit den betreffenden Apparaten zu einem end-
gültigen Urteil berechtigt, so seien hier doch einige Bemerkungen vorgetragen,
die sich bei der Lektüre der Begleitschrift dem Leser aufdrängen.
Das erste Modell will die Einführung in den Bereich der ganzen natürlichen
Zahlen unterstützen, gehört also in die Anfangsstufe des Rechenunterrichts. Wie
bei dem alten T i 1 1 i c h sehen Anschauungsmittel ist die Einheit durch einen
Würfel, die Zahl 2 durch eine quadratische Säule von gleicher Grundfläche und
doppelter Höhe dargestellt usf. Neu gegenüber dem in den mannigfachsten Wan-
delungen benutzten T i 1 1 i c h sehen Apparat ist, daß die Säulen farbig sind und
angez. von W. Lietzmann. 633
mit ihren Farben auf die multiplikative Zerlegbarkeit der betreffenden Zahlen
hinweisen. So sind die Säulen 2, 4, 8 gelb, 3, 9 rot, 6 (=2 . 3) rotgelb. Der Verfasser
vertritt nämlich die Anschauung: ,, Selbstverständlich müssen die 4 Grundrechnungs-
arten nebeneinander, nicht nacheinander behandelt werden." Das deckt sich
mit der Grube sehen monographischen Zahlbehandlung, die heute gänzlich ver-
lassen ist. Man ist im Gegensatz zum Verfasser heute fast durchweg im elementaren
Rechenunterricht bestrebt, die Multiplikation und Division möglichst weit hinaus-
zuschieben (zuweilen bis nach den Rechenoperationen 1. Stufe im ersten Hun-
derter); der Primzahlbegriff endlich kommt im Rechenunterricht meines Wissens
überall erst nach der Erledigung des unendlichen Zahlbereiches, kurz vor der
Bruchrechnung zur Verwendung. Ich glaube deshalb, daß bei den gegenwärtigen
Anschauungen über die Methodik des Rechenunterrichtes jedenfalls für den
Anfangsunterricht den mehrfarbigen Säulen einfarbige vorzuziehen sind. —
Ich möchte aber noch ausdrücklich auf die schönen Anwendungen der Säulen —
ebenso kann man es mit Quadraten des Millimeterpapiers machen — zur Dar-
stellung gewisser Zahlenreihen und arithmetischer Zusammenhänge hinweisen,
die der Verfasser angibt.
Bei seinem Apparat zur Darstellung der Brüche ist der Verfasser von der Kreis-
scheibe als Einheit ausgegangen. Auch dieser Gedanke ist ja an sich nicht neu;
entweder die Strecke oder die Kreisscheibe, manchmal auch beides, wählen fast
alle Rechenbücher als Veranschaulichungsmittel; jede der beiden Methoden hat
ihre guten und ihre schlechten Seiten. Es ist aber vielleicht sehr nützlich, richtig
geteilte Drittel-, Viertel- usw. Scheiben in handlicher Form im Unterricht bereit
zu haben; die jedesmalige schnelle Herstellung der Teile in einer Zeichnung nach
Augenmaß liefert bei Fünfteln und Siebenteln z. B. oft recht ungenaue Dar-
stellungen. Wenn der Verfasser auch hier wieder die Zahlenverwandtschaft der
Nenner durch Farben ausdrückt, so kann man diesem meines Wissens neuen
Gedanken nur zustimmen. Der Gewinn wird für die Schüler ein doppelter sein,
wenn sie selbst aus Pappe für ihren eigenen Gebrauch sich einen solchen Apparat
herstellen.
Der dritte Apparat dient dem ersten Algebraunterricht. Die Formeln für
(a+ b)*- usf. werden durch Flächen in der bekannten Weise veranschaulicht. Auch
hier wieder ist der Gedanke alt, neu vielleicht nur die verschiedene Färbung der
Flächenstücke. Wenn bisher Lehrer und Schüler die entsprechenden Figuren meist
selbst herstellten, so sollte man auch in Zukunft davon fürs erste nicht abgehen;
nur später, wenn es einmal schnell gehen soll, darf meines Erachtens der Lehrer
zum fertigen Modell greifen. Übrigens empfehle ich die Herstellung von Modellen
für (a+b)=^ und eventuell auch (a— b)^ man findet sie wohl hier und da in den
mathematischen Sammlungen der höheren Schulen. Hier ist nämlich die eigene
Herstellung durch Lehrer und Schüler nicht so leicht möglich und doch ist das
Ganze für die Fähigkeit räumlicher Anschauung von Bedeutung.
Alles in allem möchte ich sehr empfehlen, die kleine Schrift durchzusehen;
wenn man auch nicht überall mit dem Verfasser übereinstimmt, man wird doch
zwischen manchem Bekannten vielen neuen Anregungen begegnen.
Barmen. W. Lietzmann.
634 F. Strunz, Geschichte der Naturwissenschaften usw., angez. von F. Dannemann.
StrunZy Franz, Geschichte derNaturwissenschaften im Mittel-
alt er. Im Grundriß dargestellt. Mit einer Abbildung. Stuttgart 1910. Fer-
dinand Enke. VII u. 120 S. 8^ 4 M.
Das angezeigte Werk von Strunz, dem bekannten Wiener Historiker der
Naturwissenschaften, stellt sich die dankenswerte Aufgabe, die Entwicklung der
mittelalterlichen Naturbetrachtung und Naturerkenntnis an der Hand der Quellen
in den Grundlinien zusammenzufassen. Die Darstellung umschließt einen Zeit-
raum von etwa zwölf Jahrhunderten. Sie beginnt mit dem Übergang von der
Antike zum Frühmittelalter und schildert zunächst die allmähliche Ausbildung
des neuen christlich-kirchlichen Naturbegriffes. Der nächste Abschnitt handelt
von der Naturforschung der Araber. Hier wird das Hauptgewicht auf die Ent-
wicklung der Chemie gelegt. An das arabische Zeitalter schließt sich dasjenige
der Scholastik. Strunz begreift darunter den Zeitraum von 1050 bis 1500. Die
letzten Zeilen des Buches sind der Naturforschung im Zeitalter der deutschen
Mystik und des ausgehenden Mittelalters gewidmet.
Das Werk von Strunz wendet sich nicht lediglich an den kleinen Kreis der-
jenigen, die sich mit der Geschichtsforschung auf dem Gebiete der Naturwissen-
schaften beschäftigen. Es ist vielmehr berufen, auch dem Historiker des Mittel-
alters, dem Philosophen und dem Philologen gute Dienste zu leisten. Die allgemeinen
Ausblicke, die das Buch enthält, machen es auch für alle Freunde kulturgeschicht-
licher Darstellung geeignet. Mit besonderer Ausführlichkeit und Liebe wird das
arabische Zeitalter geschildert. Hier bildeten die Forschungen Berthelots über die
Entwicklung der Alchemie die wichtigste Grundlage. Ein reiches Material ent-
halten die Abschnitte, die sich mit den Ergebnissen der praktischen Naturforschung
innerhalb der einzelnen Epochen beschäftigen. Sämtliche Teile der Naturwissen-
schaft finden hier Berücksichtigung, mag es sich um bloße Tier- und Pflanzenkunde,
um Chemie, Chronologie oder Astronomie handeln. Bei einer etwaigen Neuausgabe
des Buches dürfte es sich empfehlen, ein Sach- oder wenigstens ein Namenregister
beizugeben.
Barmen. Friedrich Dannemann.
Guenther, K., Tiergarten fürs Haus in Wort und Bild. Stuttgart,
Deutsche Verlags-Anstalt. 100 Tafeln m. Text. Fol. 12 M., wohlf. Ausgabe
6 M.
An Werken, die photographische Aufnahmen lebender Tiere bieten, ist zurzeit
kein Mangel. Seitdem vor nunmehr zwölf Jahren Heck seine „Lebenden Bilder
aus dem Reich der Tiere" veröffentlichte, die eine Reihe guter Tieraufnahmen aus
dem Berliner zoologischen Garten brachten, ist eine ganze Anzahl zum Teil vor-
trefflicher Werke erschienen, die namentlich auch freilebende Tiere in getreuer
photographischer Wiedergabe darstellen. Durch diese Veröffentlichungen — es
sei hier nur an die schönen Werke von Kearton und Schillings, anMeerwarths
„Lebensbilder aus der Tierwelt** und an die englischen Gowans Series erinnert —
sind wir bereits etwas verwöhnt und legen an derartige Bücher, wie das hier vor-
liegende, einen höheren Maßstab. Es genügt nicht nur, daß ein lebendes Tier er-
kennbar aufgenommen wird, wir verlangen auch das Abwarten eines günstigen
H. Löns, Da draußen vor dem Tore, angez. von R. v. Hanstein. 635
Augenblicks, der das Tier in charakteristischer Stellung zeigt, und eine technisch
tadellose Reproduktion. In diesem Sinne betrachtet, kann der Guenthersche
Bilderatlas nicht als gelungen bezeichnet werden. Die meisten Bilder wirken steif
und unnatürlich, die Tiere erscheinen meist in seitlicher Aufnahme, wenig lebendig.
Man vergleiche die Bilder des Wolfs (16), des Bären (18), des Eisbären (19), des
afrikanischen Elefanten (23), der Tapire (26, 27), des Shetlandpony (28), des Wild-
esels (29), des Elch (40) und viele andere. Auch einige Gruppenbilder, wie die der
Eisbären, der Nilpferde oder der Fischreiher, sind entsetzlich steif. Als ein unglück-
licher Gedanke muß es auch bezeichnet werden, Tiere außerhalb ihres natürlichen
Wohnelementes zu photographieren, wie dies z. B. beim Seelöwen und Seehund
geschehen ist. Es führt dies zu ganz unnatürlichen Bildern. Recht wenig glück-
lich ist auch die Wiedergabe der beiden Laubfrösche (98).
Im ganzen sind 64 Säugetiere, 28 Vögel, 5 Reptilien und 3 Amphibien dar-
gestellt. Die Gesichtspunkte, nach denen die Auswahl erfolgt ist, treten nicht
recht hervor. So sind z. B. von Amphibien neben unserem einheimischen Laub-
frosch die amerikanische Riesenkröte und der japanische Riesenmolch abgebildet.
Bei den beiden letztgenannten Tieren ist zu bemerken, daß die Kröte nach der Ab-
bildung nahezu noch einmal so groß erscheint, als der Molch. Da nur bei dem
letzteren eine Angabe über seine wahre Größe gemacht ist, so muß im Leser eine
ganz falsche Vorstellung über die Größe der Kröte entstehen.
Es scheint, daß nicht der Verfasser des Textes — der sich in verschiedenen
gemeinverständlichen Schriften als gewandter Schriftsteller gezeigt hat — die
Tafeln auswählte, sondern daß es sich nur um einen verbindenden Text zu einmal
vorhandenen Tafeln handelt. In kurzen, je eine Seite umfassenden Skizzen ist bald
die Ernährungsweise des Tieres, bald seine heimatliche Umgebung, bald seine
Bedeutung für den Menschen mehr hervorgehoben.
>
Löns, H., DadraußenvordemTore. Heimatliche Naturbilder. Waren-
dorf 1911. J. Schnell. 195 S. 8». geb. 4,50 M.
In zwangloser Folge gibt das kleine Buch eine Reihe von Bildern heimischen
Naturlebens, wie sie sich dem mit offnem Auge wandernden Spaziergänger bieten.
Der Verfasser läßt den Leser teilnehmen an seinen Gängen durch Wald und Flur,
durch Heide und Moor, am Graben und am Teich und lenkt den Blick bald auf
diese, bald auf jene Erscheinung des Tier- oder Pflanzenlebens. Nicht Natur-
schilderungen im eigentlichen Sinne des Worts, noch weniger Anleitungen zur Natur-
beobachtung finden wir hier. Die hier und da eingestreuten geschichtlichen und
biologischen Erläuterungen sind durchaus nicht die Hauptsache, auf die es dem
Verfasser ankommt. Es hieße daher den Zweck des Buches verkennen, wollte
man an dieser Stelle eine Liste der kleinen Fehler geben, die sich in der Darstellung
finden — wie z. B. die Angabe, daß in eigentlichem Moorwasser kein Tierleben
zu finden sei, daß die Wasserpest sich von Moder und Fäulnis nähre und dergleichen
mehr. Eine Darstellung, die Tiere und Pflanzen oft rein menschlich personifiziert,
die den Frühling den Bäumen gestatten läßt, sich in ein grünes Gewand zu hüllen
und so fort, will nicht vom streng wissenschaftlichen Standpunkt beurteilt sein.
Stimmungsbilder sind es, die Löns geben will; Freude an der heimischen Natur,
636 H. Conwentz, Beiträge zur Nattirdenkmalpflege.
namentlich an den vielen kleinen Zügen, die die Beobachtung des Tier- und Pflanzen-
lebens uns zeigt, will er vermitteln. Selbst offenbar seit der Kindheit mit der Natur
vertraut, will er auch im Leser die Liebe zu gemütvoller Naturbetrachtung, zu
einsamen Wald- und Heidewanderungen erwecken. Und in diesem Sinne kann man
das kleine Buch wohl als zeitgemäß betrachten. Wird doch in der Hast und im Drange
des Daseinskampfes ein immer größerer Teil der Kulturmenschen mehr und mehr
der Natur entfremdet, mehrt sich doch von Jahr zu Jahr die Zahl derer, die —
wie der Verfasser an einer Stelle sagt — ,,die Natur nur aus den Schaufenstern
und vom zoologischen Garten her kennen**, ja, es scheint fast, als ob die leichtere
Möglichkeit des Reisens bei vielen den Sinn für die intimen Züge der heimischen
Natur, auch wenn diese ein bescheidenes Gewand trägt, abstumpft. Wenn es dem
Verfasser gelingt, durch seine von echter Naturfreude und Naturliebe erfüllten
Skizzen seine Leser zum eigenen Hinauswandern, zum eigenen Sehen und Beobachten
zu veranlassen, so wiegen demgegenüber einige tatsächliche Irrtümer und ein —
nach des Referenten Empfindung — hierund da etwas zu sehr an das Sentimentale
anklingender Ton, nicht allzu schwer.
Gr.-Lichterfelde. R. v. H a n s t e i n.
Conwentz, H., Beiträge zur Naturdenkmalpflege. Band 1 1, Heft 1 .
Berlin 1911. Gebrüder Borntraeger. H u. 104 S. gr. 8°. Einzelpreis 3,50 M.,
Subskriptionspreis 2,80 M.
Seit Errichtung der staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen
im Jahre 1906 sind mehrere größere wissenschaftliche Arbeiten zur Erforschung
unserer Heimat in Angriff genommen worden. Eine dieser Arbeiten liegt nun-
mehr als erstes Heft des zweiten Bandes der Beiträge zur Naturdenk-
malpflege vor.
Im Jahre 1908 betraute nämlich das Westpreußische Provinzialkomitee für
Naturdenkmalpflege auf Anregung seines damaligen Geschäftsführers, Herrn
Geheimen Regierungsrats Professor Dr. Conwentz, den früheren Hilfsarbeiter
bei der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege, Herrn Dr. R. Hermann,
mit der Aufgabe, die im Regierungsbezirk Danzig vorhandenen erratischen Blöcke
zu inventarisieren und geologisch zu untersuchen. An etwa 50 Tagen war Dr. Her-
mann zu diesem Zwecke unterwegs; er hat im ganzen 71 Blöcke vermessen, kartiert
und photographiert, sowie Gesteins- und Pflanzenproben von ihnen gesammelt.
Die Arbeit zerfällt in einen beschreibenden und einen allgemeinen Teil. Im
ersteren ist, unter Zugrundelegung des in den Akten des Westpreußischen Provinzial-
museums zu Danzig vorhandenen Materials über erratische Blöcke, jeder der Blöcke
genau nach Lage, Größe und Beschaffenheit, nach seiner Flora und Ge-
schichte beschrieben. Im allgemeinen Teile der Arbeit werden die geologischen,
botanischen und volkskundlichen Ergebnisse zusammengefaßt, sowie Gefährdung
und Schutz der Blöcke erörtert. Den botanischen Teil hat Herr Professor Dr.
Lindau, Berlin, bearbeitet.
Mit der Veröffentlichung dieser Arbeit ist ein bedeutungsvoller Schritt vor-
wärts getan worden in der Verwirklichung des Naturschutzgedankens. Geheim-
rat Conwentz erkannte seit langem, daß es an der Zeit wäre, die Naturdenkmäler,
angez. von W. Günther. 637
die am schnellsten der Zerstörung anheimfallen, zuerst zur Untersuchung heranzu-
ziehen. Gerade in einem Gebiete, wo anstehender Fels vollkommen fehlt, ist es
natürlich, daß die größeren Geschiebe als Baumaterial verwertet werden. Ge-
dankenlosigkeit und kleinlicher Egoismus haben am meisten zur Vernichtung
der großen Findlinge beigetragen, besonders seitdem der Großbetrieb der Stein-
gewinnung in das Land eingedrungen ist und mit riesigen Steinbrechern die letzten
großen Zeugen der Eiszeit systematisch zu Schottern verarbeitet. So ist es freudig
zu begrüßen, daß durch diese Arbeit wenigstens die noch vorhandenen Blöcke
untersucht worden sind und die Erhaltung bei ihren Besitzern teils erreicht, teils
in Anregung gebracht ist.
Von den 71 untersuchten und beschriebenen Blöcken sind 67 noch vorhanden;
von diesen 67 sind 41 durch Verfügungen, gesetzliche Bestimmungen und Erlasse
dauernd als Naturdenkmäler geschützt. Die meisten Blöcke fallen auf den Kreis
Neustadt (20), dann folgen der Landkreis Elbing (12), Bereut (9), Karthaus (8),
der Kreis Danziger Höhe (6) und Putzig (4). Aus der der Abhandlung beigegebenen
Karte im Zusammenhang mit der geologischen Karte erkennt man deutlich drei
Hauptverbreitungsgebiete der Findlinge, nämlich das E n d moränengebiet bei
Karthaus und Bereut, das Grund moränengebiet bei Neustadt und Putzig und
das Grund moränengebiet nordöstlich von Elbing. Die Hermannsche Arbeit
gibt uns auch Aufschluß über die Verbreitung der eiszeitlichen Ablagerungen im
Regierungsbezirk Danzig. Interessant und nur geologisch zu erklären ist das
völlige Fehlen erratischer Blöcke in den Kreisen Danziger Niederung und Marien-
burg, wo die ausgedehnten Schlickbildungen der Weichselniederung nach Wahn-
schaffe „als ein altes Delta der Weichsel bei ihrer Einmündung in das früher bis
Dirschau und Marienburg sich ausdehnende Frische Haff anzusehen ist**.
Von besonderem Interesse ist die Anhäufung von Geschieben zwischen der
Ostseeküste und dem baltischen Höhenrücken, insbesondere in den großen End-
moränenzügen, die ihn begleiten.
Durch die Untersuchungen von Cohen, Deecke u. a. ist schon früher mit
großer Genauigkeit die nordische Heimat der kleineren Geschiebe festgestellt
worden. In bezug auf die großen erratischen Blöcke hat Hermann nur für einen
einzigen, den Wingenstein bei Cadinen, die nordische Heimat, Gr. Aland, mit
Sicherheit nachweisen können. Dieser große Block hat demnach im Eise einen
Weg von über 600 km zurückgelegt, was ungefähr der Eisenbahnstrecke von Danzig
bis Magdeburg entspricht. Hoffentlich läßt Dr. Hermann seine Arbeit nicht als
abgeschlossen gelten. Es wäre für uns gerade von Interesse, für die größeren Ge-
schiebe, wie z. B. für die Sillimanitgneise bei Danzig, am Ostritz-See, bei Pinschau
und Schmechau, den Muskovitgneis bei Ober-Brodnitz oder den Andalusit führenden
Gneisgranit bei Bieschkowitz die genauere Heimat kennen zu lernen. Ich würde
es im Interesse der heimatkundlichen Geologie begrüßen, wenn Dr. Hermann
recht bald die Identität der westpreußischen Findlinge mit in Schweden anstehenden
Gesteinsarten nachweisen könnte.
Mit den Blöcken gleichzeitig ist ihre Flora untersucht worden. Pro-
fessor Dr. Lindau hat sich dieser Aufgabe mit großer Sorgfalt unterzogen.
Die Ergebnisse sind gleich wertvoll für die Botanik im allgemeinen,
638 H. Conwentz, Beiträge zur Naturdenkmalpflege, angez. von W. Günther.
wie insbesondere für die Pflanzengeographie und für die Geschichte unserer
Pflanzenwelt in Westpreußen und Deutschland überhaupt. Mannigfache
Fragen sind bei dieser Untersuchung angeschnitten worden. Die Besiedlung der
erratischen Blöcke und auch der betreffenden Landstrecken mit Pflanzen, der
Nachweis von Relikten aus der Eiszeit und andere Fragen hat Lindau bei dieser
Gelegenheit zu lösen versucht. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch
mehrere für Westpreußen neue Arten auf den Findlingen festgestellt worden
sind. Lindau hält die Erhaltung und Untersuchung besonders der großen errati-
schen Blöcke für wertvoll, weil auf ihnen eine weit größere Mannigfaltigkeit der
montanen Flechten- und Moosformen der Ebene zu finden ist als auf den kleineren
Findlingen. Aber auch die Endmoränenzüge nicht nur in Westpreußen, sondern
in ihrem ganzen Verlaufe von der Eibmündung bis nach Ostpreußen will er genauer
untersucht wissen, weil sich erst dann weitere Schlüsse über die Verbreitung der
Flechten von Süden her werden ziehen lassen.
Nicht weniger als 7 Arten von Lebermoosen, 52 Arten von Laubmoosen und
51 Arten von Flechten sind auf den untersuchten Blöcken festgestellt worden.
Auch Lindau kommt zu dem Schlüsse, und für die Anregung müssen wir ihm
dankbar sein, daß keine Zeit zu verlieren ist, die angeregten Fragen weiter
zu verfolgen, ehe es zu spät wird, und ehe wir der Möglichkeit beraubt werden,
diese Naturdenkmäler für die pflanzengeographische Wissenschaft nutzbar zu
machen.
Im 2. Teile berichtet Dr. Hermann auch über seine volkskundlichen Er-
gebnisse. All die Sagen und Erzählungen über die „Teufelsblöcke", über Riesen-
und Hexen, über die Kämpfe des Teufels mit der christlichen Kirche, über die vom
Teufel oder „bösen" Menschen in Steine verwandelten Leute, über die Herkunft
der Steine u. a. m. hat Dr. Hermann zu erkunden gewußt. Auch über die geschicht-
lichen und vorgeschichtlichen Erinnerungen, die sich bei den Steinen erhalten
haben, berichtet er uns.
Als besonders interessant darf das noch heute bei den dortigen Bewohnern
lebendige Gedächtnis an die Schlacht bei Schwetzin am 14. September 1462 zwischen
Deutschrittern und Polen bei dem Czechauer Stein gelten, sowie die über ein halbes
Jahrtausend alte urkundliche Erwähnung zweier Blöcke, des S t o y c und
des Bozestopka im Kreise Putzig. Diese Urkunden sind aus den Jahren
1277 und 1281.
Durch die Anordnung des Stoffes, besonders im ersten Teil der Arbeit, wird
diese Schrift, die nur ein Inventar sein will, nicht als solches in den Bibliotheken
und Akten der Vergessenheit anheimfallen, sondern wird allen beteiligten Kreisen
zum Ansporn dienen, möglichst viele solcher Naturdenkmäler der Öffentlichkeit
bekannt zu geben und sie der Gefahr der Vernichtung zu entziehen. Ich kann
mich dem Wunsche des Oberpräsidenten von Westpreußen, als Vorsitzenden des
Westpreußischen Provinzialkomitees für Naturdenkmalpflege, Herrn von Jagow,
nur anschließen, daß die Schrift bei staatlichen und kommunalen Verwaltungen,
sowie auch bei Grundbesitzern die nötige Beachtung finden möchte. Insbesondere
möchte ich dem Wunsche Ausdruck geben, daß die Lehrer und Förster unseres
Rolle- Sering, Gesänge für Gymnasien usw., angez. von T. Heinrich. 639
schönen Westpreußens diese Schrift erhalten möchten, und daß recht bald auch
für den anderen Regierungsbezirk und für die anderen Provinzen solche In-
ventare angefertigt würden.
Halle a. S. W. G ü n t h e r.
Rolle - Sering, Gesänge für Gymnasien und andere höhere
Lehranstalten. Lahr (Baden) 1912. Moritz Schauenburg. 207 S.
8». 1,60 M.
In dem vorliegenden Buche hat der Herausgeber Georg Rolle die Lieder-
hefte „Gesänge für Progymnasien usw." und „Auswahl von Gesängen für Gym-
nasien und Realschulen** von F. W. S e r i n g in e i n Buch zusammengefaßt. Schon
dadurch allein erscheint das Buch als eine völlige Umarbeitung der Seringschen
Hefte. Noch näher betrachtet, segelt es zwar unter der Flagge des allbekannten
Musikpädagogen Sering, ist im übrigen aber insofern eine völlig selbständige N e u -
Schöpfung des Herausgebers, als dieser ein Liederbuch bietet, an dessen Hand
es den Gesanglehrern aller höheren Lehranstalten ermöglicht ist, den Forderungen
des „Lehrplanes des Gesangunterrichtes an den höheren Lehranstalten für die
männliche Jugend" vom 21. Juni 1910 gerecht zu werden. Diese gehen dahin,
daß „in den beiden unteren Klassen (Sexta und Quinta) die einzuübenden Lieder
den Gang der theoretischen Belehrungen und praktischen Vorübungen bestimmen"
sollen.
Da nun der Wert jeglicher Belehrungen darin besteht, daß sie vom Leichten
zum Schweren, vom Einfachen zum Zusammengesetzten fortschreiten, hat der
Verfasser sich bemüht, diese pädagogischen Grundsätze in der
Auswahl und Einordnung der Lieder zum Ausdruck zu bringen.
Dadurch unterscheidet sich sein Buch ganz wesentlich von den Seringschen Heften.
Während diese schon beim ersten Liede eine Menge „theoretischer Belehrungen",
hauptsächlich die von den verschiedenen Tonarten, voraussetzen, beginnt Rolle
mit einfachen Liedchen in C-dur, an denen sich das stufenmäßige Auf- und Ab-
steigen der Tonleiter im Gegensatze zu den größeren Tonschritten des Drei- und
Mehrklanges leicht veranschaulichen läßt. Dadurch ist sein Buch zu dem geworden,
das ich als eine Liederschule bezeichnen möchte.
Nur hat die Rücksichtnahme auf eine daneben hergehende Einordnung nach
dem Textinhalte den Verfasser offenbar beengt, seinen Plan völlig durchzuführen;
denn dadurch sind Lieder, die musikalisch-systematisch aufeinander folgen könnten,
leider auseinander gesprengt worden. Für den kundigen Gesanglehrer ist das
freilich nicht von allzu großem Belange — er macht sich seinen „Gang" selb-
ständig; was er aber braucjit, findet er in dem Buche genugsam: reichhaltigen
zweckmäßigen Übungsstoff. Dennoch bitte ich den Verfasser, angesichts einer
späteren Neuauflage zu erwägen, ob nicht in der ersten Hälfte des ersten Teiles
die Berücksichtigung des Textinhaltes sich einmal ganz ausscheiden ließe. Alsdann
würde der Fortschritt, den das Buch anderen Schulliederbüchern gegenüber auf-
weist, noch viel augenfälliger werden.
Im Vergleiche zu den Seringschen Heften hat das Buch noch den besonderen
Vorzug, daß eine Anzahl sogenannter volkstümlicher Lieder zweifelhaften Wertes
640 Vermischtes.
ausgeschieden sind, Surrogate aus Zeiten, da man noch nicht wähnte, wie reich der
Born des echten Volksliedes fleußt. Auch freue ich mich darüber, daß eine Menge
ursprünglicher Chorlieder, deren Originalen im zweistimmigen Satze harmonisch
und rhythmisch Zwang angetan werden muß, in Wegfall gekommen sind. Dadurch
ist nunmehr dem V o 1 k s 1 i e d e eine hervorragende Stellung im Rahmen des
Ganzen eingeräumt worden.
Besonders erwähnenswert ist es, wie einfach und natürlich fließend die Füh-
rung der Zweitenstimme gehandhabt ist. Die Kinder werden auf diese
Art geradezu herangeschult, sich auch einmal selbst eine volksmäßige zweite Stimme
bilden zu können. Ja, das Bestreben des Verfassers nach leichter Sangbarkeit
geht so weit, daß er hier und da, wo das Ohr vom Chor- oder begleiteten Gesänge
her eine schwierigere Führung erwartet, daß er dann das Leichtere, jedoch har-
monisch Widerstrebende, wählt. Ich denke dabei z. B. an das erste „Wacht am
Rhein" und kann darin nicht zustimmen, führe das aber nicht an, um etwa zu-
guterletzt auch ein Mängelchen festnageln zu wollen, sondern um zu zeigen, wie
sorgfältig ich das ganze Buch durchgearbeitet habe.
Hierfür möchten auch noch einige andere Bemerkungen Zeugnis ablegen.
Der Verfasser wird später gewiß noch gern Volkslieder — wie ,,Wer hat die Blumen
nur erdacht'' und das diesem verwandte jedenfalls gemein-germanische Spiellied
„Taler, Taler, du mußt wandern'', sowie „Tränen hab' ich viele vergossen" —
aufnehmen. Dafür könnte noch so manches der „volkstümlichen" Lieder, das
doch nicht tief ins Volk gedrungen ist, geopfert werden. Aber z. B. die schon zum
Volksliede gewordene Weise zu „Sah ein Knab' ein Röslein stehn" von Heinrich
Werner wird wohl auch der Verfasser nicht fernerhin missen wollen.
Im übrigen fasse ich mein Urteil in den Wunsch: Möge dieses ausgezeichnete
und bahnbrechende Buch recht bald allgemein bekannt werden und ihm eine weite
Verbreitung beschieden sein zum Heile des Gesangunterrichtes in den höheren
Lehranstalten !
Berlin. Traugott Heinrich.
Vermischtes.
In den Räumen der Deutschen Unterrichts-Ausstellung (Berlin N24, Friedrich-
Straße 126) befindet sich zurzeit eine Sonderausstellung „Dekorative Schrift",
welche 4 Abteilungen umfaßt: 1. Dekorative Schriften von Künstlern, 2. Deko-
rative Schriften aus dem Schreib- und Zeichenunterricht, 3. Schreiblehrbücher
früherer Zeit, 4. Schreibgeräte. Die Ausstellung ist wochentäglich von 4 — 6 Uhr
unentgeltlich geöffnet. Führungen finden statt: Sonnabend, 9. November, nach-
mittag 6 — 7 Uhr; Sonntag, 17. November, vorm. 11 — 12 Uhr; Sonnabend, den
30. November, nachm. 6 — 7 Uhr; Sonntag, S.Dezember, vorm. 11 — 12 Uhr;
Montag, 30. Dez., nachm. 6 — 7 Uhr.
tM'
I. Abhandlungen,
Die schriftlichen Arbeiten in den preußischen höheren
Lehranstalten.
Nach mancherlei Hin- und Herreden über die sogenannte Extemporalever-
fügung (vom 21. Oktober 1911) haben wir jetzt in einer Schrift des Vortragenden
Rats im Kultusministerium, Geh.Ober-Reg.-Rats Dr. Reinhardt,*) einen authenti-
schen Kommentar erhalten. Die Schrift beginnt mit einer Untersuchung über
die Entstehung des Extemporales. Schriftliche Stegreifübersetzungen aus dem
Deutschen ins Lateinische sind eine Erfindung des Leipziger Philologen und Schul-
manns Johann Matthias Gesner zu Anfang der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts.
Der ausgesprochne Zweck war Scheidung der Geister in solche, die es zu einer Fertig-
keit gebracht, und solche, die nur mit dem Gedächtnis gearbeitet hätten. Bei der so-
gleich in der Klasse folgenden Korrektur umstanden die schwächeren Schüler den
Tisch des drei oder vier Arbeiten korrigierenden und laut besprechenden Lehrers,
während die andern ihre Arbeit selber verbesserten. Auf diese Weise waren es doch
ebensosehr Übungs- als Prüfungsarbeiten. Ein rigoroserer Zug kam erst hinein um
die Mitte vorigen Jahrhunderts, und schon 1882, in den Bonitzischen Lehrplänen,
beginnen die Warnrufe aus dem Ministerium. Gleichzeitig traten die sogenannten
Exerzitien, die zu Hause gefertigten Übersetzungen in die fremde Sprache, zurück.
Die Lehrpläne von 1892 brachten dann den allgemeinen Rückgang der Leistungen,
namentlich in den mittleren Klassen, dem dann die Lehrpläne von 1901 wieder etwas
zu steuern suchten; die Abneigung gegen die häusHchen Exerzitien blieb. Nur die
Extemporalien schienen eine Gewähr zu bieten für eine gerechte Beurteilung der
Schüler, für eine Wiedergewinnung der alten Schneidigkeit, für eine neue Festigung
der Grundlagen unserer Kultur! Wie schablonenhaft, einseitig und oberflächlich
hierbei leicht das Urteil ward, das war einsichtigem Schulmännern nicht entgangen.
Aber gewissermaßen hatte auch die Aufsichtsbehörde sich mitschuldig gemacht:
sie warnte vor übertriebener Wertschätzung des Extemporales, setzte aber genau
fest die Anzahl und damit die Intervalle und damit das Datum der von den
Schülern wohl oder übel zu liefernden, von den Lehrern zu korrigierenden Prüfungs-
arbeiten, und es war verboten, den Schülern eine schriftliche Arbeit aufzugeben,
*) Karl Reinhardt, Die schriftlichen Arbeiten in den preußischen höheren
Lehranstalten. 2. Aufl. Berlin 1912. Weidmannsche Buchhandlung. 109 S. 8«. 2 M.
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 41
642 O. Schroeder, Die schriftlichen Arbeiten in den preußischen höheren Lehranstalten.
die nicht vom Lehrer selbst zu Hause korrigiert würde. So hat sich mancher Lehrer
müd und stumpf korrigiert, so ward in der Schule schließlich mehr zensiert als
doziert, mehr gefordert, als gegeben. Auf der andren Seite hat die Einrichtung
der regelmäßig zensierten und gebuchten Klassenarbeiten vielfach dahin geführt,
daß diese Arbeiten, gerade weil sie nicht nur der Übung, sondern auch als Unter-
lage für Zeugnis und Versetzung dienten, zu leicht gestellt wurden und nicht ge-
nügend in die Tiefe gingen.
Es folgen Ausführungen über Rede und Schrift, über den Tiefstand unsrer
öffentlichen Beredsamkeit, über die Notwendigkeit, auch für die Gymnasien, sich
wenigstens in einer fremden Sprache ausdrücken zu können. „Das setzt freilich
Lehrer voraus, die in der fremden Sprache wie in der Methode Meister sind." „Unser
bisheriger Extemporalebetrieb hat auch hier verflachend gewirkt." „Man trifft
auf Arbeiten, auch Abiturientenarbeiten, in denen sich kein Fehler findet, auch
eine erhebliche Anzahl von Schwierigkeiten bewältigt worden ist, die als gut zensiert
werden, und wo doch kein Satz lateinisch klingt."
Die deutschen Texte sollten wirkliches Deutsch bieten. — Der Glaube, die
lateinischen Sätze möglichst lang bilden zu müssen, steht auf der selben Höhe,
wie der andre, zerhackte Sätze wären ein gutes Deutsch.
Kein Können ohne Übung. Daher empfiehlt die Oktoberverfügung unablässige
Übungen, schriftliche und mündliche, möglichst unabhängig von der oft geist-
tötenden Fessel der gedruckten Übungsbücher.
Bei geschlossenen Büchern in den oberen Klassen eine Anzahl (drei bis sechs)
zu Hause durchgelesener Kapitel eines leichten Schriftstellers zu besprechen und
den Inhalt in der Sprache des Originals wiedergeben zu lassen, bald kürzer, bald
ausführlicher, ist eine auch von Reinhardt aus eigner Praxis empfohlene Übung.
Wer sie versucht, wird erstaunen, mit welchem Eifer nun der eine dies, der andere
das beibringt, bis Gedankengang und Wortlaut der Kapitel aus dem Gedächtnis
hergestellt sind.
Aber unentbehrlich bleibt doch stets die schon im Altertum von einem Sach-
kenner ersten Ranges empfohlene scriptio. So empfehlen sich denn auch im Ge-
brauch der Muttersprache kleine schriftliche Übungen, um der noch immer weithin
herrschenden Sorg- und Stillosigkeit zu steuern.
In der Mathematik und im Rechnen sind die kleinen Übungsarbeiten wohl
stets gepflegt worden.
Daß diese zahllosen Arbeiten nun nicht ausnahmslos vom Lehrer zu Hause
korrigiert werden können, versteht sich von selbst. So oft es nötig erscheint, wird
er die Hefte durchsehen müssen; für Erklärung und Verbesserung der Fehler trägt
doch er die Verantwortung.
Was über die Anzahl der jetzt geforderten Extemporalien gesagt wird und
ferner über die vielbesprochne Außerkurssetzung allzu mißlungener Arbeiten,
ist wohl geeignet, manche Bedenken zu zerstreuen.
Endlich erfahren noch die Übersetzungen aus der fremden Sprache eine lehr-
reiche Beleuchtung; recht anschaulich wird gezeigt, wie man es nicht machen soll,
und wie man es etwa machen kann.
A. Höfer, Das Unterrichtswesen der Vereinigten Staaten usw. 643
Das Buch bedarf keiner Empfehkmg: von selber wird es stark interessierte
Leser finden, und mit seiner in amtlichen und halbamtlichen Kundgebungen un-
gewöhnlich offenen und herzhaften Sprache und seiner in pädagogischen Schriften
ungemein seltenen Verbindung von Menschen- und Sachkenntnis, auch dort Ein-
druck machen, wo man sich gewöhnt hat, das Bestehende überall auch für das
Bewährte zu halten. Aus den Worten dieses Tadlers spricht mehr Liebe, als aus
den endlosen Anpreisungen dieses oder jenes Schulsystems. Möchte nur das den
Lehrern entgegengebrachte Vertrauen nicht getäuscht werden.
Charlottenburg. Otto Schroeder.
Das Unterrichtswesen der Vereinigten Staaten im ersten
Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.
Den neuesten der alljährlich von dem Bureau of Education herausgegebenen
wertvollen Berichte über das Unterrichtswesen der Vereinigten Staaten eröffnet
eine äußerst interessante Übersicht über die Entwicklung während des ersten Jahr-
zehnts unseres Jahrhunderts, aus der hier die wichtigsten Tatsachen kurz ange-
führt seien. Aufgebaut auf einer methodisch außerordentlich fein ausgearbeiteten
Statistik, deren trockene Ziffern und Tabellen viele hundert Seiten des zweiten
Bandes des Jahresberichts füllen, eriaubt diese Übersicht doch schließlich Folge-
rungen zu ziehen, die an vielen Stellen von dem äußeren Rahmen der Schul-
einrichtungen weg tief in das innere Wesen hineinführen.
Gleich beim ersten Punkt, dem Verhältnis der schulpflichtigen
Jugend zurgesamten Bevölkerung, zeigt sich die hochbedeutsame
Tatsache, daß die letztere in dem abgelaufenen Jahrzehnt von 7572 auf 92 Millionen,
also um 21% gewachsen ist, die erstere dagegen nur um knapp 15%; und wenn
wir erfahren, daß dieses Verhältnis in stetigem Rückgang begriffen ist — im vor-
vorigen Jahrzehnt 23%, im vorigen 17 — , so sehen wir, daß die erstaunliche Be-
völkerungszunahme der Vereinigten Staaten in ganz überwiegendem Maße durch
Einwanderung Erwachsener bewirkt wird, während der Geburtenüberschuß im
Lande selbst andauernd zurückgeht, und zwar am stärksten bei der alteingesessenen
Bevölkerung, so daß Roosevelt nicht mit Unrecht von dem Rassenselbstmord der
Amerikaner gesprochen hat. Während also die europäischen Staaten vor allem
die Frage erwägen, wie sie ihre nationale Bevölkerungszunahme erhalten können,
wird für die Union angesichts des fast unverminderten Zustroms der erwachsenen
fremden Bestandteile, deren Güte und Bildungsstand zudem von Jahr zu Jahr
abnimmt, immer wichtiger die Frage, wie sie diese Volksmassen zu brauchbaren
Bürgern ihres Staatswesens umwandeln kann. Bisher ist ja dieser Aufsaugungs-
vorgang, eine der wunderbarsten Erscheinungen für den aufmerksamen Beobachter,
dank vor allem der vorzüglichen Anpassung der Volksschule an diese Aufgabe, in
großartigerweise gelungen; ob aber der riesige Völkertiegel auf die Dauer solche
Massen guter Amerikaner zusammenkochen wird, das bleibt eine offene Frage.
Daß trotz der allgemeinen Schulpflicht von der oben als schulpflichtig be-
zeichneten Jugend nur wenig mehr als die Hälfte tatsächlich irgend eine Schule
41*
644 A. Höfer,
besucht, erklärt sich einmal daraus, daß die amerikanische Statistik als schul-
pflichtig alle Lebensalter vom 5. — 18. Jahre bezeichnet; von diesen scheidet das
5. Lebensjahr fast ganz und vom 15. — 18. ein großer Teil aus, weil für diese letzteren
Jahre nur die über die Volksschule hinausführenden Schularten, vor allem die
HighSchool, hier und da auch schon die allgemeine Fortbildungsschule {Continuation
School), in Betracht kommen. Daß der Schulbesuch tatsächlich besser ge-
worden ist, zeigt das Anwachsen der Durchschnittslänge des
Schuljahres von 144 auf 155 Tage. Da die amerikanische Schulwoche nur
5 Tage zählt (der Samstag ist überall schulfrei), so bedeutet das eine durchschnitt-
liche Gesamtdauer des Schuljahres von 31 Wochen und in dem einen Jahrzehnt
eine Zunahme von einem halben Monat. Das ist nun freilich, mit unseren deutschen
Zuständen verglichen, immer noch kurz, und das ganze Verhältnis wird noch un-
günstiger bei einem Blick auf die Zahl der beim Unterricht tatsächlich anwesenden
Schulkinder. Jene Zahl bedeutet eben nur, daß an 155 Tagen Schule gehalten
wurde; auf die Gesamtzahl der die Schule tatsächlich besuchenden Kinder aus-
geschlagen aber ergibt sich ein durchschnittlicher Schulbesuch
von nur 113 Tagen auf jedes schulanwesende Kind. Ist dies zwar gegen die
99 Tage vor 10 Jahren eine bedeutende Zunahme, so erhellt doch schon aus diesem
Gegensatz von 155 Gesamtschultagen und 113 Schülertagen, wie gewaltig trotz
der allgemeinen Schulpflicht noch die Zahl der truants, der „Schulschwänzer", ist,
die natürlich zumeist in den Reihen der Volksschule und da wieder in den Groß-
städten und im Süden zu suchen sind. Man muß die für unsere Begriffe fast unglaub-
liche Beweglichkeit und Freizügigkeit der arbeitenden Volksmassen, den völligen
Mangel jeder polizeilichen Aufsicht usw. kennen, um zu verstehen, daß es dort in
jedem Schulwesen besondere truant officers gibt, die nur diesen Schulschwänzern
nachspüren. Ungläubig schüttelt der amerikanische Stadtschulrat den Kopf,
wenn man ihm versichert, bei uns gebe es diese Einrichtung nicht, weil sie über-
flüssig sei!
Die Anzahl der Lehrkräfte im niederen und mittleren Schulwesen
ist, entsprechend dem Wachstum der Bevölkerung, gewaltig gestiegen: von 423 000
auf 506 000; aber gerade hier zeigt sich wieder eine der bedenklichsten Seiten des
ganzen amerikanischen Schulwesens: die immer stärkere Zunahme der weib-
lichen Lehrkräfte gegenüber den männlichen. Betrug das Verhältnis im Jahre
1900 noch 70 : 30, so ist es heute 79 : 21; während also damals wenigstens noch
fast ein Drittel aller Lehrkräfte männlich war, ist es heute nur noch wenig mehr
als ein Fünftel! Und dabei sind alle Schulaufsichtsbeamten, die selbst nicht mehr
unterrichten — Rektoren, Direktoren, Schulräte, Inspektoren — und die meist
noch Männer sind — in Chicago freilich ist der Stadtschulrat eine Dame — in die
Statistik eingeschlossen, so daß das Verhältnis der wirklich Lehrenden noch un-
günstiger ist. Angesichts der Tatsache, daß fast der ganze Volksschulunterricht
ausschließlich in den Händen von Lehrerinnen liegt, kann man sich der Frage nicht
enthalten, wie diese Art von „Erziehung", bei der es doch für alle über 10 Jahre
alten Knaben sich im besten Fall nur um Unterricht handeln kann, auf die Dauer
den Nationalcharakter beeinflussen wird. Da dieses ganze Mißverhältnis trotz
allem, was die Amerikaner dazu sagen mögen, lediglich die Folge ungenügender
Das Unterrichtswesen der Vereinigten Staaten im ersten Jahrzehnt usw. 645
Bezahlung der männlichen Arbeitskraft ist, so besteht nur dann Aussicht auf
Besserung, wenn die Besoldungsverhältnisse geändert werden; denn es ist eine
bei uns vielfach noch lange nicht genug bekannte Tatsache, daß, von wenigen gut
besoldeten Stellen abgesehen, die amerikanischen Lehrkräfte im Verhältnis zu den
übrigen Ständen und zu der ganzen Lebenshaltung außerordentlich ärmlich bezahlt
werden. Macht aber der von den Lehrerinnen in jüngster Zeit stark verfochtene
Grundsatz equal pay for equal work, infolgedessen sie z. B. jetzt in New York genau
dasselbe Gehalt bekommen wie ihre männlichen Kollegen, noch weitere Fortschritte,
so besteht einerseits wenig Aussicht auf eine baldige Änderung dieses leidigen Zu-
Standes, und andererseits kann man auf die sozialen Wirkungen dieser Maßregel ge-
spannt sein; bei uns wenigstens hat man bisher daran festgehalten, daß die Beamten-
und Lehrergehälter nicht bloß eine Entlohnung für die geleisteten Dienste darstellen,
sondern zugleich auch auf die standesgemäße Erhaltung emer Familie Rücksicht
nehmen — oder sollte die Gewährung des gleichen Wohnungsgeldzuschusses an
die Oberlehrerinnen auch bei uns den ersten Schritt von dieser Bahn weg bedeuten??
Wie dem auch sei, lehrreich und bedenklich ist dieser amerikanische Vorgang
außerordentlich: das Lehramt wird so schlecht bezahlt, daß die „billigere" weib-
liche Lehrkraft es fast ausschließlich für sich erobert; nachdem sie die Vormacht-
stellung gewonnen hat, verlangt sie „gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit", also
das Gehalt der Männer! und den Schaden davon hat — nicht etwa der Mann,
denn der bekommt ja anderswo noch lohnendere Arbeit — , sondern ganz ent-
schieden die Nation.
Sehr viel trägt übrigens zu diesen Zuständen auch die noch weit verbreitete
Meinung bei, die Ausübung des Lehramts sei überhaupt kein „Beruf", erfordere
also auch keine besondere fachliche Berufsvorbildung. So kommt es, daß einerseits
das Lehramt in die Reihe der zahllosen „Beschäftigungen" gerechnet wird, mit
denen man dort drüben je nach Lust und Gelegenheit eine Zeitlang sein Brot zu ver-
dienen sucht, bis sich etwas Besseres bietet, und daß andererseits die Fachbildung
der Lehrer von Beruf vielfach unzureichend ist. In Erkenntnis dieses Mangels
hat man im abgelaufenen Jahrzehnt die Anzahl der Lehrerseminare, dort
Normal Schools genannt, ganz bedeutend vermehrt; allerdings haben sehr viele
davon nur einen zweijährigen Lehrgang, und die Forderung, daß die Zulassung
zum Seminar an den abgeschlossenen Besuch einer vierstufigen High School ge-
knüpft sein soll, läßt sich noch lange nicht überall durchführen. Andererseits ist
wenigstens hinsichtlich der Lehrkräfte in diesen Seminaren festzustellen, daß die
meisten von ihnen Collegebildung, ein Teil auch Universitätsbildung haben. Den
allgemeinen Verhältnissen entsprechend überwiegen im ganzen Seminarwesen
natürlich auch die Frauen: bei den Lehrkräften ist das Verhältnis 2 : 1, bei den
Schülern sogar 4:1.
Von den verschiedenen Stufen der Schulbildung, Kindergarten (4. und
5. Lebensjahr), Volksschule (6.— 14.), High School (15.— 18.), College und Universität
(19._26.), haben äußerlich die erste und dritte die bedeutendste Zunahme zu
verzeichnen. In 400 meist im Norden gelegenen Städten bestehen öffentliche
und deshalb natürlich kostenlose Kindergärten, in denen 6000 Lehrerinnen
185 000 Kinder beschäftigen; allerdings fügt der amerikanische Berichterstatter
646 A. Höfer,
selbst warnend hinzu, es möchte bei dieser Tätigkeit etwas mehr die ideale Absicht
Froebels im Auge behalten werden, damit nicht die Gefahr einer allzufrühen Vor-
wegnahme des eigentlichen Unterrichts sich einschleiche.
Das erstaunlichste Wachstum aber zeigt die High School, das jüngste Glied
des amerikanischen Schulwesens, das in geschickter Weise die Aufgabe gelöst hat,
eine Verbindung zwischen der Volksschule und dem College herzustellen. Hier haben
sich in dem einen Jahrzehnt die Zahlen der Schulen sowohl wie der Lehrkräfte und
der Schüler fast verdoppelt: in 10 000 Schulen unterrichten 41 000 Lehrer nahezu
1 000 000 Schüler. Allerdings ist es wieder sehr bezeichnend für die amerikanischen
Verhältnisse, daß von diesen Schülern nur etwa ein Achtel sämtliche 4 Klassen der
High School durchläuft, und von diesen „Abiturienten" geht wieder nur ein Drittel
zum College über. Daß schon auf der High School, insbesondere in den oberen Klassen,
die Anzahl der Schülerinnen die der Schüler überwiegt (rund 3 : 2), erklärt sich
aus dem Zwang der wirtschaftlichen Verhältnisse: die Knaben müssen des Verdienstes
wegen früher die Schule verlassen, während die Mädchen mehr Zeit haben, ihren
wissenschaftlichen Neigungen unter der Form von Studien nachzugehen.
Interessant ist ein Einblick in die Lehrgegenstände der High School und
in die Beteiligung der Schüler daran. Unter dem Druck der vielfach auf das un-
mittelbar Praktische gerichteten Forderungen der Jugend ist einerseits eine außer-
ordentliche Masse von Lehrfächern — von Psychologie und Astronomie bis zu
Maschinenschreiben und Handfertigkeit — und andererseits eine fast unbeschränkte
Wahlfreiheit entstanden, die allerdings jetzt schon ihren Höhepunkt fast über-
schritten zu haben scheint. Die begehrtesten wissenschaftlichen Fächer sind
Englisch, Algebra, Rhetorik und Geschichte, ein deutlicher Maßstab für den Wert,
den der Amerikaner den in der politischen Betätigung wichtigen Kenntnissen und
Fertigkeiten zuweist. Unter den fremden Sprachen ist Griechisch so gut wie aus-
gestorben. Lateinisch noch recht begehrt, während Französisch nur eine ganz ge-
ringe, Deutsch aber erfreulicherweise eine recht bedeutende Zunahme zu verzeich-
nen hat.
Im Gegensatz zur High School bedeutet für die C o 1 1 e g e s und Universi-
täten das abgelaufene Jahrzehnt nicht eine Periode der Neugründungen, sondern
vielmehr der inneren Stärkung und Vertiefung. Auch hier stieg die Anzahl der
Hörer von 1 10 000 auf 183 000, die der Lehrkräfte von 17 000 auf 27 000, das Jahres-
einkommen gar von 28 auf 78 Millionen Dollar! Die außerordentlich schnelle An-
passung der sich der Jugend bietenden Ausbildungsmöglichkeiten an die neu er-
stehenden Bedürfnisse zeigt die Tatsache, daß die Kurse in der Landwirtschaftslehre
eine ganz gewaltige Zunahme erfahren haben und daß jetzt auch ein ganz neues
Fach, das sich Forstwirtschaftslehre nennt, schon reichen Zuspruch findet. Auch
in Amerika sind eben die primitiven Zeiten des Raubbaues, bzw. des bloß extensiven
Wirtschaftsbetriebs vorüber, und die sinnlose Waldverheerung der letzten Jahr-
zehnte hat den einsichtigen und verantwortlichen Stellen doch die Augen über
die Notwendigkeit der Erhaltung des Waldreichtums geöffnet.
Nur auf einem Gebiete kann der Berichterstatter bezeichnenderweise keinen
Fortschritt feststellen ; auf dem der K u n s t p f 1 e g e ! Die Musik insbesondere
erfreut sich in den Schulen keiner stärkeren Beachtung als zuvor, und im Zeitalter
Das Unterrichtswesen der Vereinigten Staaten im ersten Jahrzehnt usw. 647
des Kinematographen kann uns das eigentlich nicht wundernehmen. Aber haben
wir Deutsche, wenn wir von unserem Zeichenunterricht absehen, starke Veran-
lassung, die mangelhafte Kunstpflege der anderen Völker zu bekritteln? Wo ist
bei uns auch nur auf der höheren Schule ein bescheidenes Plätzchen dafür zu finden?
Wie rasch Mm übrigen die Amerikaner es verstehen, alle Neuerungen einzu-
führen, davon zeigt die Entwicklung des abgelaufenen Jahrzehnts eine ganze Reihe
wichtiger Beispiele. Wir denken hierbei nicht so sehr an die jedem Kenner der
Verhältnisse vertraute Zickzackbewegung innerhalb der kleineren Schuleinheiten,
wo durch einen Wechsel in der Person des Schulrats {Superintendent) die Methoden,
die Lehrbücher, die Lehrpläne, die Unterrichtsgegenstände und die Lehrpersonen
nach Belieben wechseln können, sondern vielmehr an die großen neuen Bewegungen
innerhalb der pädagogischen Welt: so ist z. B. in der S c h u 1 a r z t f r a g e das
Land ungemein rasch vorangeschritten. Während im Jahre 1905 erst 55 Städte
eine regelrechte ärztliche Beaufsichtigung der Schule eingeführt hatten, bestand
sie nach fünf Jahren schon in 400, und teilweise in viel ausgedehnterem Maße als
bei uns: Schulschwestern, Zahnpflege, allgemeine ärztliche Untersuchung von
Schülern und Lehrern, Schulhaushygiene usw. sind jetzt dort schon allgemeine
Forderungen; Freiluftschulen, Waldschulen, Hilfsschulen für geistig oder körper-
lich Zurückgebliebene sind alles keine unbekannten Dinge mehr, und an einzelnen
Orten bestehen schon gesetzHche Bestimmungen über die allgemein verbindliche
Fortbildungsschule (Continuation School).
Für die Lehrkräfte besonders wichtig ist das rüstige Fortschreiten der Frage
des R u h e g e h a 1 1 s. Noch vor 10 Jahren war selbst der Begriff einer Pension
den Amerikanern, entsprechend ihren gesamten Arbeitseinrichtungen, völlig fremd:
die Lehrkräfte werden ja — mit wenigen Ausnahmen in den Oststaaten — auch
heute noch nur auf ein Jahr angestellt; wer arbeitsuntauglich wird, scheidet eben
aus, und bezeichnend für die Fabrikarbeiterstellung auch des geistigen Arbeiters
sind zwei unscheinbare Tatsachen, einmal daß jeder Lehrer —'selbst in den High
Schools — sich morgens um ^Iß Uhr und nachmittags nach Schluß der Schule —
nicht etwa am Ende seines eigenen Unterrichts! — in das Diensttagebuch ein-
tragen muß: dazwischen darf er, ob er Unterricht hat oder nicht, die Schule nicht
verlassen! Und zweitens, daß er für jeden Tag, den er aus irgendeinem Grunde —
auch Krankheit — versäumt, entsprechenden Abzug an seinem Monatsgehalt er-
leiden kann!! Demgegenüber bedeutet es doch einen gewaltigen Fortschritt,
wenn jetzt in mehreren Staaten den Lehrkräften schon ein gesetzlicher Anspruch
auf Ruhegehalt zusteht, das in zwei Fällen sogar vom Staat selbst, in anderen von
den betreffenden Gemeinden bezahlt wird. Das Wichtigste ist eben immer, daß
eine Frage überhaupt einmal aufgeworfen wird; dann wird sie auch schon bald eine
Lösung finden.
Recht bedeutsam ist auch eine Bewegung auf dem Gebiete der S c h u l v e r -
waltung, die dahin strebt, die außerordentlich buntscheckige Vielheit der
Schulbehörde, der vor allem jenes Rastlose und Unstete in der ganzen Entwick-
lung zuzuschreiben ist, zugunsten einer sachlicheren und stetigeren Verwaltung
der Schulangelegenheiten zu beseitigen. Die wichtigste Aufgabe ist dabei die Los-
lösung der Schulverwaltung von den Zufällen der politischen Wahlen, die vielfach
648 A. Tilmann,
alle zwei Jahre einen völligen Personen- und damit auch einen Ideen- und Sachen-
wechsel herbeiführen, von dessen Gründlichkeit wir in Europa uns gar keine Vor-
stellung zu machen vermögen. Während bisher meist jeder einzelne Stadtbezirk,
der die Grundlage für die politischen Wahlen bildete, dabei auch sein Mitglied für
den Schulvorstand neu wählte, werden jetzt vielfach schon members at large, d. h.
aus der Gesamtzahl der Bürgerschaft für längere Zeit gewählte Mitglieder in den
Schulvorstand entsandt, die unter allen Umständen eine größere Beständigkeit
in den Grundsätzen der Schulverwaltung und damit eine Unabhängigkeit von poli-
tischen Einflüssen verbürgen. Den gewaltigsten Fortschritt auf diesem Gebiet
bedeutet die im vorigen Jahr vollzogene Schaffung einer Unterrichtsbehörde im
Staat Oklahoma, die so ziemlich mit sämtlichen Befugnissen ausgestattet ist, wie
sie bei uns ein Unterrichtsminister hat. Damit ist für die Vereinigten Staaten
das erste Beispiel einer staatlichen einheitlichen Unterrichtsverwaltung geschaffen,
wie man es nach den bisherigen Zuständen kaum schon für möglich gehalten hätte.
Amerikanisch wäre diese kurze Übersicht nicht, wenn sie nicht schlösse mit
einem Hinweis auf die finanziellen Fortschritte der Union auf dem Gebiete der
Geistesbildung. In dieser Beziehung bedeutet selbst für die dortigen Verhältnisse
das abgelaufene Jahrzehnt einen Höhepunkt. Sind doch dank den Stiftungen
von Carnegie, Rockefeiler und anderen rund 100 Millionen Dollar für die Förderung
der allgemeinen Bildungszwecke im weitesten Umfang neu geschenkt worden,
während die Stiftungskapitalien der bestehenden Universitäten und Colleges gar
um 180 Millionen vermehrt wurden! Angesichts solcher Zahlen kann man es den
Amerikanern nicht verargen, wenn sie mit pädagogischen Experimenten kostspie-
ligster Art schneller bei der Hand sind als wir und wenn die ganze Masse des Volkes
den Ruhm ihres Schulwesens vorläufig mehr in der äußeren Ausstattung als in der
tüchtigen Leistung sucht. Über Mangel an frischem Leben kann der Beobachter
vorläufig nicht klagen, und wenn hier und da die Entwicklung etwas zu lebhaft
und zu rasch erscheint, so beruhigt ihn darüber die Wahrnehmung, daß die ein-
sichtigen und namentlich die verantwortlichen Kreise sich der Schwächen ihrer
Schuleinrichtungen deutlich bewußt sind und daß die Kritik dieser Einrichtungen
drüben mindestens so lebhaft ist wie bei uns, wenn sie auch freilich nicht gleich
die finstere Miene der Schulverdrossenheit an sich trägt, die jetzt bei uns so beliebt
ist. Und diese Feststellung mag schließlich auch den deutschen Schulmann
trösten !
Wiesbaden. A. H ö f e r.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen
Universitäten.
Erlangen, Freiburg, Gießen, Heidelberg, Jena, Leipzig, München, Rostock, Straß-
burg, Tübingen und Würzburg im Sommer-Semester 1912.
Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studierende, die nicht auf
Grund Reifezeugnisses einer Vollanstalt immatrikuliert waren, unberücksichtigt.
Von den nachstehenden Zusammenstellungen umfaßt die erste alle im Sommer-
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 649
Semester 1912 an den genannten Universitäten immatrikulierten Studierenden,
die zweite nur diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten Semester
standen.
I. Im Sommer-Semester 1912 waren insgesamt immatrikuliert:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 1469 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1439
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 25
„ „ „ einer Oberrealschule ... 5
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 846 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 844
„ Realgymnasiums . . 2
c) in der Juristischen Fakultät 4770 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 3795
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 695
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 280
d) in der Medizinischen Fakultät 6880 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . .5150
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 1212
„ „ „ einer Oberrealschule ... 518
e) in der Philosophischen Fakultät 10017 Studierende, davon immatri-
kuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 6072
„ „ Realgymnasiums . . 2239
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 1706
Hiervon studierten:
1. Philosophie 868 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 593
,, „ „ Realgymnasiums . . 180
,, „ einer Oberrealschule ... 95
2. Klassische Philologie und Deutsch*) 2254 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 1965
„ „ „ Realgymnasiums . . 174
,, „ einer Oberrealschule ... 115
3. Neuere Philologie*) 2065 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 966
„ „ Realgymnasiums . . 683
,, „ einer Oberrealschule ... 416
•) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg
bei der Geschichte nachgewiesen.
650 A. Tilmann,
4. Geschichte*) 710 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 499
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 153
„ „ „ einer Oberrealschule ... 58
5. Mathematik und Naturwissenschaften 3411 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums . . . . 1612
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 902
„ „ „ einer Oberrealschule . . . 897
6. Sonstige Studienfächer 709 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 437
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 147
„ „ „ einer Oberrealschule ... 125
11. Von den unter I. aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 293 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 290
„ ,, „ ,, Realgymnasiums . . 3
b) in der Katholisch - Theologischen Fakultät 22 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 21
„ Realgymnasiums ... 1
c) in der Juristixhen Fakultät 857 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 646
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 155
„ „ „ einer Oberrealschule ... 56
d) in der Medizinischen Fakultät 931 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 589
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 243
„ „ „ einer Oberrealschule ... 99
e) in der Philosophischen Fakultät 1201 Studierende, davon immatri-
kuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 631
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 359
„ „ „ einer Oberrealschule ... 211
Hiervon studierten:
1. Philosophie 79 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 47
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 25
einer Oberrealschule ... 7
•) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg
bei der Geschichte nachgewiesen. ^
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 651
2. Klassische Philologie und Deutsch*) 260 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 203
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 38
„ „ „ einer Oberrealschule ... 19
3. Neuere Philologie*) 230 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 75
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 103
„ „ „ einer Oberrealschule ... 52
4. Geschichte*) 143 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 91
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 39
„ „ „ einer Oberrealschule ... 13
5. Mathematik und Naturwissenschaften 401 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 171
„ „ „ „ Realgymnasiums . . 135
„ „ „ einer Oberrealschule ... 95
6. Sonstige Studienfächer 88 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums .... 44
„ Realgymnasiums . . 19
„ „ „ einer Oberrealschule ... 25
Gr.-Lichterfelde. A. T i l m a n n.
♦) Deutsch ist in Gießen bei der neueren Philologie, in Freiburg und Heidelberg
bei der Geschichte nachgewiesen.
IL Programmabhandlungen 1910 u. 1911
Französisch und Englisch.
1910.
Engwer, Theodor, Impressions de France. Berlin, Königl. Augusta-
Schule. 40 S. 8». Progr.-No. 194.
Der Reisebericht, den einer unserer gediegensten Neuphilologen und ein
gründlicher Kenner Frankreichs in fließendem Französisch geschrieben hat, enthält
eine reiche Fülle feiner Beobachtungen über Land und Leute. Zunächst folgen
wir dem Verfasser auf seiner Reise nach dem Westen Frankreichs, kehren dann
mit ihm zu einem längeren Aufenthalte nach Paris zurück und begleiten ihn schließ-
lich in den sonnigen Süden von Bordeaux aus über Toulouse nach Marseille. Der
Aufenthalt in der Hauptstadt wird nur auf wenigen Seiten besprochen, und doch
gibt uns diese Skizze mehr Anregungen als seitenlange trockene Aufzählungen
landläufiger Reisehandbücher oder seichter Reiseberichte. Die Reisen in der Pro-
vinz werden ausführlich beschrieben, und hier zeigt der Verfasser meisterhaft,
wie der Philologe zu reisen hat. Peinlich genaue Vorbereitungen und eingehende
Studien haben in der Heimat der Auslandsreise vorherzugehen, dann heißt es,
langsam und mit Bedacht die Fahrt durch das fremde Land zu machen. Es gilt,
die Eigenart, die Sitten und Gewohnheiten der Bevölkerung zu beobachten, an
historisch und literarisch denkwürdigen Stätten zu verweilen, die Stätten der Kunst
aufzusuchen, ehrwürdige Baudenkmäler zu bewundern und den Spuren der Dichter
zu folgen. Gerade in den Werken der Dichter findet der Neuphilologe einen ganz
eigenartigen Reiseführer, denn den Kundigen begleiten literarische Erinnerungen
auf Schritt und Tritt. Mögen unsere Philologen, die nach Frankreich gehen, die
wertvolle Arbeit vorher genau studieren und sie dann noch als einen anregenden
Führer mit auf die Reise nehmen.
Fröhlich, Walter, Feuilles d'Ete. Hamburg, Oberrealschule in St. Georg.
32 S. 40. Progr.-No. 1012.
Der Verfasser, der seine Sommerferien gelegentlich in Frankreich zugebracht
hat, wählte für seinen Aufenthalt kleinere Orte der Provinz, wo die Volkssitten
noch ihren ursprünglichen Charakter gewahrt haben und wo die Pensionsgeber,
etwa französische Professoren, mehr Zeit haben, die sprachliche Weiterbildung des
deutschen Oberlehrers zu fördern und zu unterstützen. Um einen möglichst reichen
sprachlichen Gewinn zu erzielen, hat nun der Verfasser in Form eines ausführlicheren
R. Preußner, Französisch und Englisch. 653
Tagebuchs die Erlebnisse des Tages niedergeschrieben und diese kleinen Aufsätze
französischen Freunden zur Durchsicht und Besprechung unterbreitet. Die vor-
liegende Abhandlung enthält eine Reihe ganz reizender Plaudereien — feuilles d'ete
— , die auch nicht ohne kulturhistorischen Wert sind.
Michael, Friedrich, Das Oxforder Summer Meeting von 1909.
Suhl, Königl. Oberrealschule. 19 S. 4». Progr.-No. 377.
Die deutschen Lehrer und Lehrerinnen besuchen mit Vorliebe die von der
University Extension Movement abgehaltenen Ferienkurse, vielleicht weil der
Besuch der Vorlesungen verhältnismäßig billig ist und die Vorträge in ihrer Mannig-
faltigkeit schließlich jedem etwas bringen. Der Besuch eines solchen Meeting
kann aber nur denen angeraten werden, die bereits das echt englische Leben ander-
weitig kennen gelernt haben und auch über praktische Sprachkenntnisse verfügen.
Am besten wählt man wie der Verfasser das Summer Meeting als Abschluß eines
halbjährigen Aufenthalts in England. Der Verfasser berichtet nur über solche
Vorträge, die für den Deutschen von Interesse sind, und erzählt Einzelheiten über
die Vorträge über die englische Sprache, über Phonetik und über die englische Ver-
fassung.
Aymanns, Joseph, Das Französische im Ersatzunterricht
der Mittelklassen von Gymnasien. Ahrweiler-Neuenahr, Progym-
nasium. 45 S. 40. Progr.-No. 583.
Der Verfasser gibt zunächst einen kurzen Abriß der Geschichte des franzö-
sischen Unterrichts am Gymnasium und schließt daran einen historischen Über-
blick über die Entwicklung des Ersatzunterrichts mit fast ausschheßlicher Berück-
sichtigung des Französischen. Die Frage, wie die durch den Fortfall des Griechischen
frei werdenden Stunden zu verteilen sind und wie durch diesen Ersatzunterricht
eine Annäherung an die Lehrpläne und Lehrziele des Realgymnasiums ermöglicht
werden kann, ist zwar interessant, aber nicht gerade leicht zu beantworten. Der
Verfasser schlägt zwei Wege vor, die zum Ziele führen sollen. Er empfiehlt, die
Schüler, die Ersatzunterricht haben, in Unter- und Obertertia in den gemeinsamen
französischen Stunden mit den Gymnasiasten der nächst höheren Klasse zu unter-
richten, die Untersekundaner jedoch nur in der einen Lektürestunde mit den Gym-
nasiasten zu vereinigen, in den drei andern Stunden aber einen selbständigen Kursus
zu bilden. Außer der nicht gerade empfehlenswerten Verbindung ungleicher Klassen
stehen aber besonders im ersten Jahre der Trennung, in Untertertia, dem Vor-
schlage schwere Bedenken entgegen. Um eine völlige Angleichung des Unterrichts
der Nichtgriechen mit den entsprechenden Pensen des Realgymnasiums zu erzielen,
macht der Verfasser noch den radikaleren Vorschlag, die lateinischen Stunden
des Gymnasiums auf die Zahl der lateinischen Stunden des Realgymnasiums zu
reduzieren, um dann mit Hilfe der dadurch gewonnenen Zeit die Lehrziele der
realgymnasialen Klasse zu erreichen. Ich kann mich für keinen der beiden Vor-
schläge erwärmen. Meines Erachtens kann nur das Griechische zuguasten des
Ersatzunterrichts geopfert werden, und außerdem halte ich es nicht für richtig,
Schüler der verschiedenen Klassenstufen zusammen zu unterrichten. Man behalte
Griechen und Nichtgriechen in den französischen Stunden zusammen, erledige hier
das vorgeschriebene Pensum und treibe in den Sonderstunden fleißig Lektüre und
654 R. Preußner,
befestige und erweitere hierbei den Vokabel- und Phrasenschatz. Für noch ersprieß-
licher würde ich es halten, wenn man von dem Ersatzunterrichte überhaupt absähe
und da, wo sich die Notwendigkeit ergibt, das Gymnasium in ein Realgymnasium
umwandelte. Damit wäre den kleineren Städten am besten gedient.
Thiele, Paul, Formen und Wortschatz des klassischen
Lateins in ihrem Werte für die schulmäßige Erlernung
des Französischen. Berlin, Königl. Französisches Gymnasium. 32 S.
40. Progr.-No. 64.
Der Verfasser beantwortet die Frage, ob die Kenntnis des Lateinischen die
Erlernung des Französischen auf dem Gebiete der Formen und des Wortschatzes
wesentüch unterstützt und erleichtert, mit einem ziemlich energischen Nein. Um
seine Behauptung zu beweisen, zeigt er, wie die neufranzösischen Sprachformen
sich doch zu weit von den entsprechenden lateinischen Formen entfernt haben,
als daß noch die auf das sichere Beherrschen der lateinischen Elementar-Gram-
matik verwandte Mühe für das Französische von besonderem Nutzen und von
einer Anknüpfung an das Latein die Rede sein könnte. Fast überall zeigt sich
ein Verfall der Formen, die durch zweckmäßige Neubildungen ersetzt werden
müssen; hier und da sind noch kümmerliche Reste geblieben, die für den Schüler
schwer oder gar nicht erkennbar und deren etymologische Begründung für den
Schüler eher schädlich als nützlich sei. Selbst bei der Erlernung des französischen
Wortschatzes verspricht sich der Verfasser vom Latein nicht viel Vorarbeit und
Nutzen, wenn auch das lateinische Wort für das entsprechende französische vielfach
eine Gedächtnisstütze bietet. Diese Stütze versagt aber oft, sobald man die Bedeu-
tung des französischen und des lateinischen Wortes in Betracht zieht. Die Aus-
führungen des Verfassers stützen sich auf ein geschickt zusammengestelltes Beweis-
material, werden aber sicher auch manchen Widerspruch hervorrufen. Der Ver-
fasser muß selbst zugeben, daß ein geschickter Lehrer die direkte Anknüpfung des
Französischen an das Lateinische mehr oder weniger suchen wird, „um bei den
Schülern Sinn für sprachgeschichtliche Erscheinungen und Freude an der Er-
kenntnis von Zusammenhängen zu wecken, um die Beschäftigung mit den Formen
des Französischen von einer rein gedächtnismäßigen Arbeit, von einer bloßen Fertig-
keit zu einem wirklichen Bildungsmittel, zu einer Quelle sprachhistorischer An-
schauung zu machen". Und das ist doch gerade in den oberen Klassen, wenn
es sich um ein Vertiefen der französischen Formenlehre handelt, von nicht zu unter-
schätzendem Werte, und der Lehrer des Französischen an der Oberrealschule
vermißt diese Anknüpfung an das Lateinische gar oft recht schmerzlich. Die
Kenntnis des Lateinischen zeigt auch dem Schüler, wie die französische Sprache
kein starres und totes, sondern ein lebendes Gebilde ist, daß neuer Formenreichtum
anstelle der zerfallenen Gebilde getreten ist, daß bis in die neueste Zeit hinein die
Bedeutungsentwicklung wirksam und tätig ist. Aber auch in den unteren und
mittleren Klassen verhelfen Wortschatz und Formenlehre des Lateinischen dem
Französisch lernenden Schüler zu manchen Stützen und Hilfen, die Lehrer und
Schüler gern suchen und gebrauchen. Unsere jetzt mächtig aufblühenden Reform-
schulen haben zur Genüge bewiesen, daß man auch den umgekehrten Weg ein-
schlagen und das Latein durch Französisch unterstützen kann. Aber mag man mit
Französisch und Englisch. 655
der einen oder anderen Sprache anfangen, beide sind beim Erlernen auf der Schule
vielfach aufeinander angewiesen.
Wehrmann, Karl, Der neusprachliche Unterricht auf der
Oberstufe der Oberrealschule. Bochum, Stadt. Oberrealschule. 9 S.
40. Progr.-No. 511.
Wie der Verfasser in einer Fußnote angibt, sind die Abhandlungen des Jahres-
berichts mit besonderer Rücksicht auf die Brüsseler Weltausstellung gedruckt,
auf der die Anstalt die preußischen Oberrealschulen zu vertreten hatte. Uns inter-
essieren hier nur die Ausführungen über den neusprachlichen Unterricht, die in
gedrängter Kürze das Wesentliche und Bedeutende zusammenfassen. Der Ver-
fasser tritt für eine weise Beschränkung des überaus umfangreichen Unterrichts-
stoffes ein und empfiehlt, ohne der freien Entfaltung des Lehrers auch nur irgend-
wie Abbruch zu tun, für die einzelnen Klassenstufen Mindestforderungen fest-
zulegen, um endlich einmal eine größere Einheit in den Grundlagen wie in den Ziel-
forderungen zu schaffen. In der Lektüre kommt die flache Unterhaltungslektüre
für die geistige Bildung unserer Schüler nicht mehr in Frage; der allen preußischen
Oberrealschulen gemeinsame Gedankenstoff ist etwa so festzulegen, daß für jede
Klasse von Obersekunda bis Prima ein Dichter und ein Prosaschriftsteller zu lesen
sind. Weiteren Lesestoff, der besonders den literarischen Interessen der Schüler
entgegenkommt, müßte eine wissenschaftlich gehaltene Chrestomathie bieten,
wie sie etwa Wilamowitz-Möllendorff für das Griechische geschaffen hat. Der
grammatische Lehrstoff, der leider in den unteren und mittleren Klassen des über-
reichen Stoffes wegen vielfach nur oberflächlich behandelt werden kann, ist in den
oberen Klassen wissenschaftlich zu vertiefen; der Lehrer hat seinen eignen wissen-
schaftlichen Neigungen entsprechend die Schüler in die Gebiete der Phonetik,
der wissenschaftlichen Syntax, der Sprachvergleichung und Sprachforschung und
selbst in die einfachsten philologischen Arbeiten einzuführen. > Für die schrift-
lichen Arbeiten auf der Oberstufe empfiehlt der Verfasser mit Recht dem ganzen
Unterricht entsprechend in beiden Sprachen freie Arbeiten, „deren Stoffe der ge-
schlossenen Einheit des Unterrichts wegen aus dem mündlichen Unterricht hervor-
gehen und so der Lektüre oder der französischen und englischen Geschichte und
Literatur entnommen werden". Die Lektüre, die ja auf der Oberstufe den ganzen
Unterricht beherrscht und durchdringt, muß zu freiem Sprechen und zu freiem
Schreiben führen. Was der Verfasser schließlich über die Behandlung des bisher
üblichen Extemporale sagt, verdient noch besonders hervorgehoben zu werden.
Das Extemporale, das wir von dem Betriebe der klassischen Sprachen über-
nommen haben, gilt nicht in derselben starren Art für die neueren Sprachen. „Wir
wünschen eine freiere, menschlichere Beurteilung der geistigen Fähigkeiten unserer
Schüler." Wenn des Verfassers Ausführungen recht viel gelesen und zur Grund-
lage von Besprechungen in Fachkonferenzen gemacht werden, wird gar manches
im Betriebe der beiden neueren Fremdsprachen auf unsern Oberrealschulen anders
und auch besser werden. In dem der neusprachlichen Abhandlung vorausgehenden
Aufsatz bespricht der Verfasser mit Begeisterung und Wärme die Grundzüge der
Oberrealschulbildung; möge auch dieser Aufsatz die ihm gebührende Beachtung
finden.
656 R. Preußner,
Behr,Fr.,Vi ctorHugosTorquemada unter vergleichender
Berücksichtigung der übrigen Dramen des Dichters. Wei-
mar, Gymnasium. 11 S. 4«. Progr.-No. 931.
Torquemada, der Henker aus Mitleid, ist das letzte Drama, das Victor Hugo
geschrieben hat. Das Stück hat wohl mehr epischen als dramatischen Charakter;
es ist aber vom Dichter nicht nur als Lesedrama geschrieben, sondern seiner ganzen
Anlage nach als Bühnenwerk gedacht. Der Verfasser analysiert das Drama und
zeigt unter Hinweis auf ähnliche Szenen und analoge Charaktere in den übrigen
Dramen, daß der Dichter in seinem letzten Bühnenwerk seinen im Cromwell auf-
gestellten Theorien bis zuletzt treu geblieben ist. Seine Vorliebe für starke Effekte,
für das Phantastische und Groteske führt den Dichter zu Übertreibungen und Un-
geheuerlichkeiten, die abstoßend wirken und die die Gestalten nicht mehr lebens-
wahr erscheinen lassen.
Gauger, B., Die Helden von Rostands Dramen Cyrano de
Bergeracund L'Aiglon. Gmünd, Königl. Realgymnasium. 30 S. 4^.
Progr.-No. 825.
Der Verfasser stellt sich zur Aufgabe, die beiden Helden von Rostands Dramen,
Cyrano und den Herzog von Reichstadt, mit ihrem historischen Urbild zu vergleichen,
um die Schaffensart des Dichters zu kennzeichnen. Am eingehendsten wird Cyrano
charakterisiert. Rostand hat mehr den legendären als den historischen Cyrano
benutzt, wie er ihn etwa in der Notice historique der von Paul Lacroix im Jahre
1858 besorgten Gesamtausgabe der Werke Cyranos vorfand. Er hat alle Züge,
die Geschichte oder Legende berichten, benutzt, sie dichterisch gestaltet und dra-
matisch wirksam dargestellt; vor allem hat er auch die Werke Cyranos verwertet
und sie in engen Zusammenhang mit der Handlung gebracht. Nebenher finden
sich genug Einzelheiten, die der freien Erfindung des Dichters entsprungen sind;
vor allem hat er das Verhältnis Cyranos zu Roxane frei erfunden und die Liebe
seines Helden mit einem eigenartig romantischen Zauber umgeben. Das Verhältnis
des in der französischen Literatur mehrfach behandelten Kaisersohnes zu dem
historischen Herzog von Reichstadt wird vom Verfasser weniger ausführlich be-
sprochen. Es zeigt sich aber auch, daß der Dichter bei der Benutzung der histo-
rischen Quelle ganz ähnlich verfahren ist wie bei seinem Cyrano. Neben mancherlei
Dokumenten, Briefen und Memoiren hat vor allem die im Jahre 1897 erschienene
Biographie des Königs von Rom von Henri Welschinger dem Dichter die Grundzüge
seines Helden geliefert; selbst die kleinsten Einzelheiten, die nur irgendwie drama-
tisch zu verwerten waren, sind zur Charakterisierung des Helden benutzt worden.
Freilich ist nicht zu leugnen, daß die Figur des Aiglon gegenüber der Gestalt Cyranos
einen unverkennbaren Rückschritt bedeutet.
Marcus, Willy, Choiseul und Voltaire. Ratibor, Königl. Evange-
lisches Gymnasium. 30 S. 4». Progr-No. 291.
Der Verfasser zeigt in einer historisch wie literarisch interessanten Studie,
wie beide Männer, der Staatsmann und der Dichter, sich zunächst auf politischem
Gebiet berühren. Der Ehrgeiz Voltaires, auch eine politische Rolle in der politisch
stark bewegten Zeit zu spielen und dem Minister durch seine Beziehungen zu dem
Könige von Preußen wertvolle Dienste zu leisten, hat wohl die Veranlassung zu dem
Französisch und Englisch. 657
Freundschaftsbund der beiden Männer gegeben. Der Politiker und der Schrift-
steller begegnen sich in dem Bestreben, den König von Preußen während des Sieben-
jährigen Krieges zum Frieden geneigt zu machen. Freilich bietet Voltaire hierzu
seine Dienste mit einer unverkennbaren Zudringlichkeit an; trotz aller Mißerfolge
unterhandelt er unaufgefordert mit dem Könige in der Hoffnung, doch noch einmal
politisch erfolgreich und seinem mächtigen Gönner nützlich sein zu können. Choiseul
ist zu Friedensverhandlungen geneigt, um Frankreich, das schweren finanziellen
Sorgen entgegengeht, nicht noch mehr zu belasten und um Preußen, das für das
Gleichgewicht Deutschlands notwendig ist, nicht zu sehr zu schwächen. Die Be-
strebungen beider Männer scheitern an der unbesiegbaren Kraft Friedrichs, und
so äußern sich denn ihre Enttäuschungen in leidenschaftlichen Ausdrücken und
bitterm Groll gegen den Preußenkönig. Der vom Verfasser eingehend behandelte
Briefwechsel Voltaires und Choiseuls offenbart eine ganze Reihe interessanter
Einzelheiten, die das Verhältnis der beiden Männer zueinander treffend beleuchten.
Schließlich zeigt der Verfasser noch, wie sich Voltaire und Choiseul auch auf einem
andern Gebiet berühren, wie Voltaire seinen Gönner in literarische Streitfragen
verwickelt, wie Voltaire auch den Minister in der Angelegenheit des bekannten
Prozesses Calas auf seine Seite zieht und wie Voltaire im Gegensatz zu Rousseau
trotz mannigfacher Abweisungen doch nie die Gunst des einflußreichen Freundes
ganz verliert.
Richter, C. A., Beiträgezum Bekanntwerden Shakespeares
in Deutschland. II. Teil. Breslau, Gymnasium und Realgymnasium zum
heiligen Geist. 31 S. 8o. Progr.-No. 258.
Während im ersten Teil die Jahre bis 1757 behandelt werden (vergl. Monat-
schrift X, p. 36), zeigt der Verfasser im vorliegenden Teil der Arbeit, wie sich von
1757 an die deutschen Kritiker ständig mit Shakespeare beschäftigen, wie sie auf
den großen Briten aufmerksam machen und ihn allmählich als leuchtendes Vorbild
für alle Dramatiker empfehlen. Es werden die Zeugnisse für Shakespeare bis zum
Jahre 1763 zusammengestellt. Wieland ist der erste unter den deutschen Dichtern,
der für den Briten eintritt und der durch seine Übersetzung der Werke des englischen
Dramatikers viel zum Bekanntwerden Shakespeares in Deutschland beigetragen hat.
Neben Wieland hat sich Moses Mendelssohn viel mit Shakespeare beschäftigt; er
schrieb für die Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste Artikel,
in denen er sich offen für Shakespeare ausspricht und Shakespeare als Muster hin-
stellt. Im Jahre 1758 nimmt endlich auch Lessing Stellung zu dem englischen
Dramatiker, und bereits ein Jahr später tritt er im bekannten 17. Literaturbrief
entschieden für ihn ein; er spricht Gottsched, der den deutschen Dichtern nur die
Franzosen als Muster empfahl, jedes Verdienst um das deutsche Theater ab und
erklärt Shakespeare neben Sophokles als den größten Tragiker. In ähnlicher Weise
treten Uz, Joh. Georg Hamann, Chr. Felix Weisse und Gerstenberg für den großen
Briten ein. Außer diesen ja mehr oder minder bekannten Zeugnissen zählt der
Verfasser auch bedeutsame Äußerungen und Aufsätze in den verschiedensten
literarisch-kritischen Zeitschriften auf, die Kunde geben von dem Umschwung der
Ansichten zugunsten Shakespeares; man zitiert Shakespeare in der Originalsprache
oder auch in der Übersetzung, 1758 erscheint eine Übersetzung von Romeo und
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 42
658 R. Preußner,
Juliet, 1763 die erste kürze Biographie Shakespeares. Überall mehren sich die
Stimmen für den großen englischen Dramatiker, seine Werke werden immer mehr
gelesen und bewundert, und Shakespeares Genius gibt der deutschen dramatischen
Literatur die neue Richtung und neue Wege an. Der Verfasser hat das nicht immer
leicht zugängliche und recht zerstreute Material mit Fleiß gesammelt und auf seinen
Wert für das Bekanntwerden Shakespeares in Deutschland mit scharfem Blick
geprüft und gesichtet.
Schmidt, Karl, Robert Browning als Dichter und Mensch.
Tauberbischofsheim, Großherz. Gymnasium. 33 S. 4^. Progr.-No. 850.
In einer interessanten und lesenswerten Studie sucht der Verfasser die Frage zu
lösen, die sich bei allen geistig bedeutenden Menschen und zumal bei den Dichtern
stets aufdrängt, inwieweit sich die Persönlichkeit in den Werken widerspiegelt.
Zwar hat es uns Browning durch eine recht schwer verständliche Form oft nicht
leicht gemacht, in den Inhalt seiner Dichtungen einzudringen; er hat sich auch
dahin ausgesprochen, daß er es nach Möglichkeit vermieden habe, sein persönliches
Leben in den Kreis seines Dichtens hineinzuziehen. Er wollte sein Bestes für sich
behalten und sein häusliches Leben nicht den Blicken einer neugierigen Menge
offenbaren. Vertieft man sich jedoch, wie es der Verfasser mit Fleiß getan hat, in das
Studium seiner Werke, so sieht man, daß die meisten Gestalten seiner Dichtungen
doch auf ein einheitliches Ziel hinausgehen, daß die Weltanschauung und das Streben
der Helden der Dichtungen auch für den Entwicklungsgang und das Gedankenleben
des Dichters selbst charakteristisch sind. Der Verfasser untersucht die Haupt-
werke und besonders die Briefe des Dichters unter diesem Gesichtspunkt und zeigt,
wie Browning das Verhältnis von Leben und Dichtkunst aufgefaßt hat. Er übte
die Kunst des Dichtens um ihrer selbst willen, nicht um Gelderwerb oder um den
Beifall der Menge zu gewinnen; er wollte nur für die Menschheit das Beste er-
wirken, auch selbst bei seinen bescheidenen Versuchen als Maler, Bildhauer und
Musiker. Die Menschheit, und grade wieder die leidende Menschheit, ist der stete
Inhalt seiner Dichtungen. Die Liebe zur Menschheit, die er aufrichten, erheben
und trösten will, hat ihn zum Dichter gemacht; seine Kämpfe in dieser Welt gelten
Gott und der Ewigkeit; er glaubt fest an eine höhere Bestimmung des Menschen,
an ein Fortleben nach dem Tode. So ist sein Leben reichlich Mühe und Arbeit
gewesen. Das größte Glück bescherte ihm die Liebe zu seiner Frau, die seinem Leben
Inhalt und Form gab. Der Verfasser stellt sogar die Briefe des Dichters an seine
Frau an Fülle des Inhalts über die Briefe Goethes. Freilich wird die Gemeinde
Brownings immer etwas klein bleiben, da die schwer verständlichen Werke der
größeren Allgemeinheit verschlossen bleiben.
Seibt, Robert, Mrs. Centlivre und ihre Quelle Hauteroche.
BerUn, VII. Stadt. Realschule. 27 S. 4». Progr.-No. 163.
Zu Anfang des 18. Jahrhunderts hat die englische Dichterin Susanna Centlivre
mit andern versucht, der sittlichen Verwilderung des Lustspiels Einhalt zu tun.
In ihren zahlreichen Lustspielen, denen vielfach eine gute Bühnenwirkung nicht
abzusprechen ist, huldigt sie zwar noch in derben Witzen und groben Wortspielen
dem Geschmack der Zeit, vermeidet es aber, lüstern und gemein zu sein. Wenn auch
ihre Lustspiele meist auf französische Vorlagen zurückgehen, so hat sie sich doch
Französisch und Englisch. 659
bei diesen Entlehnungen eine gewisse Selbständigkeit zu wahren gewußt. Der Ver-
fasser, der in seiner Arbeit „die Komödien der Mrs. Centlivre" (Anglia N. F. XX
und XXI) die Art der Entlehnung und die Benutzung der Quellen bereits allgemein
charakterisiert hat, vergleicht in der vorliegenden Abhandlung die Komödie The
Man's bewitch'd mit Hauteroches Le Deuil und zeigt an dieser Gegenüberstellung
die Vorzüge wie die Fehler der englischen Bearbeitung.
Aus der Festschriftzum600jährigenjubiläum desGym-
nasiums zu Liegnitz verdienen zwei Abhandlungen erwähnt zu werden,
die zu unserer Programmschau gehören.
Gemoll, Wilhelm, Thomas Morus' Utopia.
Es ist zu verstehen, wenn der Sozialist Kautsky bei oberflächlicher Lektüre
der Utopia den Lordkanzler Heinrichs VI IL als den Vater des modernen Sozialis-
mus ansieht, ist doch die Idee des Kommunismus folgerichtig durchgeführt; aller-
dings mußte die Annahme von Sklaven für diesen sozialistischen Staat auch den
Sozialisten bedenklich machen. Der Verfasser weist nun nach, daß Morus bei seinen
Ausführungen im wesentlichen den Sonnenstaat des Jambulos als Quelle benutzt
hat, daß er sich aber auch Zusätze erlaubte, die uns berechtigen, den Roman als
eine Satire auf die Zeitverhältnisse anzunehmen. Indessen hat sich Morus nicht
bemüht, das antike und das moderne Element miteinander auszugleichen.
Mende, Richard, Die Tierwelt im deutschen und franzö-
sischenSprichwort.
Der Verfasser stellt die Sprichwörter zusammen, die in der deutschen und in
der französischen Sprache denselben Gedanken darstellen. Er zeigt dabei gleich-
zeitig, daß ähnlich wie der Dichter in der Fabel der Volksmund im Sprichwort Tiere
zu Trägern einer Handlung gemacht hat „wegen der allgemeinen Bestandheit der
Charaktere" (Lessing). Dabei veranschaulicht das Tiersprichwort in vielen Fällen
einen allgemeinen moralischen Satz. Die Auswahl ist gut getroffen und übersichtlich
zusammengestellt. Gelegentlich finden sich auch Hinweise auf analoge Sprich-
wörter der Antike.
Kottcke, Wilhelm, Beiträge zur französischen Stilistik.
Berlin, IL Städtische Realschule. 27 S. 4». Progr.-No. 158.
Der Verfasser unterzieht sich der für einen Deutschen recht schwierigen Auf-
gabe, den Feinheiten der französischen Sprache nachzuspüren und die den Wohl-
klang des Ausdrucks bedingenden Gesetze in den Hauptzügen aufzustellen. Zur
Lösung der Frage; „Was gibt dem französischen Satzbau seine nationale Färbung?'*
folgt er im großen und ganzen dem Werke von Antonin Roche, Du Style et de la
Composition litteraire und zeigt Mittel und Wege, die zur präzisen Form, zur Man-
nigfaltigkeit und Abwechslung in der Wahl der Worte und der Konstruktionen
und schließlich zum Wohllaut der Rede führen. Allerdings werden diesen idealen
Forderungen nur wenige Ausländer nachkommen können. Zu den verschiedenen
in der Arbeit behandelten Stilarten gibt der Verfasser eine größere Anzahl von
Beispielen und Proben.
Brandes, Adolf, Die Stellung der Adverbien im französi-
schen Satze. Aachen, Stadt. Realgymnasium mit höherer Handelsschule.
28 S. 40. Progr.-No. 651.
42*
660 R. Preußner,
Es wird versucht, die scheinbar willkürliche Stellung der Adverbien in feste
Gesetze zu bringen und für diese Mannigfaltigkeit der Stellung dieses Satzteils be-
stimmte Gründe anzuführen. Aber der Sprachgebrauch hat sich nicht nach logi-
schen Forderungen und Regeln gerichtet, sondern ist frei seine eigenen Wege ge-
gangen. Gerade bei den neueren und neuesten Schriftstellern ist der Sprachgebrauch
recht schwankend. Der moderne Schriftsteller tut sich etwas zu gute auf gewisse
Freiheiten des Ausdrucks, die sich nicht in Regeln bringen lassen; der Wohlklang,
dem früher schier alles geopfert wurde, ist bei den Modernen nicht mehr das allein
Entscheidende. Ihre Werke sollen, so scheint es fast, mehr dem Vortrage als dem
stillen Lesen dienen; der Satzton des Vortragenden entscheidet meist die Wort-
folge. Wenn man will, kann man auch meist eine auffallende und abweichende
Stellung des Adverbs erklären, allerdings um bei der Lektüre an einer andern Stelle
gerade das Gegenteil von dem zu finden, was man eben zu erklären versucht hat.
Die Vorsicht, die der Verfasser überall bei der Aufstellung von Regeln beobachtet,
ist darum wohl angebracht; hoffentlich werden unsere Schulgrammatiker allmählich
auch vorsichtiger und stellen nur solche Regeln auf, die sich auch wirklich halten
lassen. Die angeführten Beispiele aus 40 Schriftstellern sind fast ausschließlich
der neueren und neuesten Literatur entnommen.
Fredenhagen, Hermann, Über den Gebrauch aer Zeitstufen
und Aussageformen in der französischen Prosa des
13. Jahrhunderts mit Berücksichtigung des neufran-
zösischen Sprachgebrauchs. Ein Beitrag zur Geschichte der
französischen Satzlehre. I. Teil: Die Zeitstufen. Hamburg, Realschule in
Hamm. 40 S. 4«. Progr.-No. 1013.
Der Verfasser verfolgt den Plan, die Verwendung der Zeitstufen (Tempora)
im Sprachgebrauch des 13. Jahrhunderts mit Beschränkung auf die Prosatexte
möglichst erschöpfend zu behandeln und damit zugleich die neufranzösische Sprech-
weise kritisch zu beleuchten. Eingehende und gründliche grammatische Unter-
suchungen älterer und neuerer Texte veranlassen ihn zu dem interessanten Versuch,
mit den hergebrachten grammatischen Bezeichnungen, die der lateinischen Gram-
matik entlehnt sind, zu brechen und statt der allgemein üblichen lateinischen
Namen der Zeitformen Bezeichnungen einzusetzen, die den Ausdrucksformen der
französischen Sprache weit mehr entsprechen. Als ein Schüler Gröbers handelt
er nach dem von ihm aus Gröbers Grundriß zitierten Wort: „Durch zuviel Unter-
scheidungen verrät der Grammatiker, daß ihm das Wesen der sprachlichen Er-
scheinungen fremd geblieben ist." So unterscheidet der Verfasser nur noch zwei
aktive Zeitstufen, Gegenwart und Vergangenheit; Futurum und Conditionnel
führt er ihrer Bildung entsprechend auf Aussageformen der Gegenwart, resp. der
Vergangenheit zurück. Imperativ und Perfectum (il a chante) sind für den Kundigen
auch nur Gegenwartsstufen. Mit den besonderen Vergangenheitsstufen Passe
indefini, Plus-que-parfait, Passe ant^rieur wird aufgeräumt. Die scharfen, klaren
und eingehenden Darlegungen sind durch Beispiele aus den Prosaschriften des
13. Jahrhunderts belegt, einzelne Stellen, die das aufgestellte Gesetz zu durch-
brechen scheinen, werden besonders behandelt und erweisen sich als nur scheinbare
Abweichungen von der Regel. Der zweite Teil der Arbeit soll über die Aussagefor-
Französisch und Englisch. 661
men (Modi) handeln; aber bereits im vorliegenden Teil der Arbeit geht der Ver-
fasser zum Teil schon auf diese Frage ein, zumal im mehrfachen Satze bei der Darstel-
lung der Folge der Zeiten.
1911.
S^haper, Studienreise nach England und Schottland.
iMeiningen, Herzogl. Realgymnasium. 16 S. 4». Progr.-No. 1014.
Der Verfasser ging längere Zeit nach England und Schottland, um den Unter-
richt in der Physik und in den verwandten Disziplinen zu studieren. Er rühmt
die Opferwilligkeit der englischen Handelsstädte, die keine Kosten scheuen, um
in den Schulen große, ausreichende Räume zu bauen und sie mit den erforderlichen
Lehrmitteln auszustatten. Neben Lehr- und Arbeitsräumen für Physik, Chemie
und Biologie findet man Säle für technisches und künstlerisches Zeichnen, für
praktische Werkarbeit (Tischlerei, Papp- und Metallarbeit), große und gutgepflegte
Plätze für Spiele und Sport aller Art. Daneben sind auch reiche Stiftungen vor-
handen, die ärmeren und begabten Schülern den in England recht teuren Schul-
besuch und das Studium erleichtern. Der Verfasser spricht dann von der wissenschaft-
lichen und körperlichen Ausbildung der Jugend; er deckt offen die Mängel und
Schwächen des englischen Bildungswesens auf, weist uns aber auch auf manches
hin, was im deutschen Vaterlande noch der Reform harrt, so vor allem eine freiere
Gestaltung des Unterrichts und möglichste Beseitigung des bisher unvermeidlichen
Berechtigungswesens.
Wieckert, W., Eine Englandreise als Studienabschluß.
Quedlinburg, Stadt. Guts Muths-Oberrealschule. 39 S. S^. Progr.-No. 376.
Verfasser denkt, wenn einer eine Reise tut, so kann er viel erzählen, und um
so mehr, je mehr er gesehen hat. In kurzer Zeit durcheilt er die Stätten in England,
Wales und Schottland, die ihn als Historiker, als Literatur- ' und Kunstfreund
interessieren. Es ist gewiß einmal etwas anderes, täglich von Ort zu Ort zu wandern
und all die verschiedenen Bilder, die Land und Leute vermitteln, kaleidoskopartig
an sich vorüberziehen zu lassen, als wochen- oder monatelang in einer Pension der
beschaulichen Ruhe zu pflegen. Aber für jeden wäre die Hast und Eile nicht an-
gebracht. Die vielfachen Eindrücke, die der Besuch all der an geschichtlichen,
literarischen und kulturellen Erinnerungen so reichen Stätten vermittelt, müssen
sich verwirren. Allerdings kann man auch aus dem an Einzelheiten so reichen
Reisebericht lernen, wie man eine solche Studienreise gewissenhaft vorbereitet,
damit man nicht an Sehenswürdigkeiten stumpf vorübergeht und beim Aufenthalt
selbst nicht erst Zeit verliert, das wirklich Sehenswerte mühsam zusammenzu-
stellen.
Maaß, 0., Shakespearelektüre auf dem Gymnasium. Güters-
loh, Gymnasium. 42 S. 4^. Progr.-No. 478.
Mit warmer Begeisterung tritt der Verfasser dafür ein, Shakespeare den ihm
gebührenden Platz auch auf dem Gymnasium zu sichern und ihm da, wo es noch
not tun sollte, neue Freunde zu gewinnen. Der Verfasser gibt sich nicht mit der
Beantwortung der alten, wertlosen Streitfrage ab, ob der Gymnasiast für Shakespeare
vollwertigen Ersatz in der antiken Literatur findet; er zeigt vielmehr, wie man grade
662 R. Preußner,
am Gymnasium den deutschen Unterricht fruchtbar gestalten kann durch Ver-
gleichung der Werke und der Gestalten Shakespeares mit den Schöpfungen der
griechischen Tragiker, wie dem Gymnasiasten der Unterschied der antiken und
modernen Tragödie grade durch die Lektüre Shakespeares verständlich wird, wie
das Schicksal in beiden waltet, wie bei Shakespeare neben der Handlung und der
Fabel das Hauptgewicht auf den Charakteren ruht. Die Lektüre Shakespeares ist
aber schließlich auch aus ethischen Gründen für unsere Primaner gewinnbringend.
Der Dichter der Leidenschaft und des Gewissens betätigt eine sittliche Kraft, die
auf die Charakterbildung unserer Schüler nicht ohne Einfluß bleiben kann. Zum
Schluß zeigt der Verfasser, welche Dramen Shakespeares sich für die Lektüre auf
dem Gymnasium eignen. Es werden die durch langjährige Erfahrung erprobten
Dramen Julius Caesar und Macbeth, etwa auch noch Coriolan empfohlen. Hamlet,
Lear und einzelne Lustspiele werden besonderen Leseabenden zugewiesen. Von
den Historien kann sich der Verfasser für Richard II. nicht erwärmen, der Shake-
spearesche Kraft vermissen läßt; er tritt nachdrücklich für Richard III. ein und legt
die Gesichtspunkte dar, nach denen dieses gewaltige Drama behandelt werden kann.
Die Lektüre der lesenswerten Abhandlung sei angelegentlichst empfohlen.
Schittenhelm, Moritz, DerfremdsprachlicheAufsatzanGym-
nasium und Realschule. Stuttgart, Karls-Gymnasium. 26 S. 4°.
Progr.-No. 836.
Der Verfasser verwirft den freien Aufsatz wegen der Schwierigkeit der sprach-
lichen Form und beschränkt sich auf Themen, die sich der Lektüre anschließen.
Der Schüler kann die Sprache nicht soweit beherrschen, daß er für jeden Gedanken
den entsprechenden Ausdruck findet und daß er stilistisch gewandt schreibt. Der
Verfasser entwickelt die wichtigsten Arten des sich an die Schriftstellerlektüre
anschließenden Aufsatzes und zeigt, wie wichtig die Wahl des Themas und ein^
planmäßige Vorbereitung und Durcharbeitung des Sprachstoffes für ein Gelingen
des Aufsatzes ist. Als Anhang folgen eine Reihe von französischen und englischen
Schüleraufsätzen, die recht lehrreich sind. Man erkennt gar manchen Ausdruck
des Schriftstellers wieder, man sieht an den verschiedenen Variationen des Ausdrucks
die Arbeit des Lehrers; man merkt aber auch, mit welcher Leichtigkeit der Schüler
die sprachliche Form beherrscht und seinen Gedanken Ausdruck verleiht. Man
findet da kein mühseliges und unsicheres Ringen mit der Sprache, es ist idiomatisch
gefärbtes Französisch und Englisch.
Ammon, Hermann, Le Tartuffe de Moliere est-il [un Cro-
y a n t ? Halle a. d. S., Oberrealschule in den Franckeschen Stiftungen. 16 S. 4^.
Progr.-No. 371.
Der Verfasser widerspricht der Annahme Eugene Rigals, daß Molieres Tar-
tuffe trotz seiner moralischen Verfehlungen religiös sei, und zeigt, daß Tartuffe
ein religiöser Heuchler und ein Freigeist ist, der keinen Glauben hat.
Apitzsch, Arthur, EssaisurlesPens^esdePascal. Lesfrag-
ments posthumes et l'Apologie; philosophie de Pascal.
Neustettin, Königl. Fürstin-Hedwig-Gymnasium. 31 S. 4°. Progr.-No. 206.
Den nachgelassenen Schriften Pascals haben die Herausgeber von Port-Royal
den gemeinsamen Titel „Pensees" gegeben. Der Verfasser untersucht nun genauer
Französisch und Englisch. 663
die literarisch wertvollen Aufzeichnungen, die Pascal zunächst ohne Ordnung und
Zusammenhang niederschrieb und die allmählich das Material liefern sollten zu einer
großen Verteidigungsschrift der christlichen Kirche gegen die Zweifler und Leugner
der christlichen Heilswahrheit. Die Apologie sollte zugleich mit der Widerlegung
der Angriffe die Ungläubigen wieder hinführen zum Christentum, allerdings zum
Christentum nach der Lehre des Jansenius. Mit feinem Verständnis scheidet der
Verfasser das aus, was wohl nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, da es sich
nicht in den Plan des Ganzen fügt, und geht dann daran, die losen Bruchstücke
in eine bestimmte Ordnung zu fügen und die Methode herauszufinden, die etwa
Pascal bei der Abfassung des Lebenswerkes befolgt haben würde. Den größten Teil
der scharfsinnigen Untersuchungen nimmt eine Darstellung der Philosophie Pascals
nach seinen in den Gedanken niedergelegten Ausführungen ein.
Egbring, JohannHeinrichVoßderJüngerealsÜbersetzer
desMacbethvonW. Shakespeare. Münster i. W., Stadt, Gymnasium
und Realgymnasium. 77 S. 8^. Progr.-No. 489.
Voss, der das Englische nicht genügend beherrscht, ist seiner Aufgabe nicht
gewachsen und erreicht die Übersetzung Schlegels in keiner Weise. Der Verfasser
prüft die Übersetzung ziemlich genau und zeigt an zahlreichen Stellen, daß Voß
falsch oder willkürlich übersetzt, daß er oberflächlich, ungenau und unklar ist,
sobald er die Konstruktion- nicht versteht, daß seine Sprache steif, unbeholfen und
schwerfällig ist, sobald er versucht, wörtlich ins Deutsche zu übertragen. Vielleicht
ist die Kritik gelegentlich etwas zu scharf, wenn man bedenkt, daß dem Übersetzer
doch nur recht dürftige und spärliche Hilfsmittel zu Gebote standen. Recht inter-
essant ist der Nachweis des Verfassers, inwieweit Voß die freien Bearbeitungen
von Bürger und Schiller sowie die Übersetzungen von Eschenburg und Wagner
benutzt hat. Es wird eingehend gezeigt, wie Voß zwar in recht umfangreicher
Weise Verse aus vorhandenen Übersetzungen übernommen u;id zum Teil auch
gebessert hat, wie er aber bei der Ausbeutung doch recht oberflächlich und nicht
gründlich genug verfahren ist. Voß hat ohne weiteres eine ganze Reihe von falschen
Übersetzungen übernommen, deren Besserung und Richtigstellung mit Benutzung
des Originals nicht schwer gewesen wäre. Es liegt deshalb der Verdacht nahe, daß
Voß sich seine Arbeit sehr leicht gemacht und sich mehr nach den deutschen Über-
setzungen als nach dem englischen Text gerichtet hat.
Eichhotf , Th., DieMängelderShakespeare-Überlieferung
erläutert an der Gerichtsszene des „Kaufman n von Vene-
dig." Anklam, Gymnasium. 31 S. 8». Progr.-No. 196.
Verfasser verwirft alle bisher angewandten wissenschaftlichen Methoden,
die sich damit befaßt haben, die mangelhafte Shakespeare-Überlieferung zu bessern
und zu klären. Er versucht ein einschneidendes, aber auch recht gewagtes und
kühnes Experiment. Ausgehend von der Voraussetzung, daß kein einziges Drama
in der jetzt vorhandenen Form aus Shakespeares Feder geflossen ist und daß der
ursprüngliche Text von eitlen Schauspielern wohl durchweg durch Zusätze ver-.
ändert worden ist, unterbreitet der Verfasser der Shakespeare-Philologie die neue
Aufgabe, aus dem vielfach erweiterten Text den Kern der Handlung herauszu-
schälen und so den echten Shakespeare zu rekonstruieren. Die nach des Verfassers
664 R. Preußner,
Ansicht so durchsichtige und überzeugende experimentelle Methode wird in der
vorliegenden Abhandlung auf die Gerichtsszene im 4. Akt des Kaufmanns von
Venedig angewandt. Die Szene wird rücksichtslos kritisch zerpflückt; was dem
Verfasser als schlecht erscheint, gilt als schlecht und wird gestrichen, so daß von
den 450 Zeilen der Gerichtsszene 208 dem Blaustift verfallen. Der Raum verbietet
es, auf die näheren Ausführungen des Verfassers einzugehen. Wenn man auch ohne
jedes Mißtrauen und mit gutem Willen der Methode des Verfassers folgt, so kann
man doch das Experiment nicht gutheißen. Man wird sich sicher mit dem Ver-
fasser über den Umfang des absolut Einwandfreien auseinanderzusetzen haben,
man wird manche Stelle, die der Verfasser als schlecht angreift und tilgt, nicht
hergeben wollen, und man wird über das, was poetisch schön und des Dichters
Kunst ist, mit dem Verfasser anderer Ansicht sein. Wenn aber die Voraussetzung
zur Hypothese nicht anerkannt werden kann, dann fällt auch das ganze Experiment
in sich zusammen.
Kaufmann, Michael, Zur Technik der Komödien von Eugene
S c r i b e. Hamburg, Realschule vor dem Lübecker Tore. 119 S. 8^. Progr.-
No. 1051.
Es ist keine uninteressante Aufgabe, einmal nachzuforschen, ob die Gründe
für die Fülle und Schnelligkeit des dramatischen Schaffens Scribes in äußeren
technischen Fertigkeiten, in einer gewissen Routine zu suchen sind. Der Verfasser
zeigt in einer oft bis ins kleinste und selbst bis auf Nebensächliches gehenden
Untersuchung, wie es Scribe mit unleugbarem Geschick verstanden hat, technische
Mittel, die der Handlung zu einem theatralischen Effekt verhelfen oder die das
Gespräch eines unfehlbaren und dankbaren Erfolges sichern, wiederholt anzuwenden.
Scribe kennt das Publikum, für das er schreibt, sehr genau; er weiß, daß gerade
alltägliche Vorkommnisse, die dem Publikum vertraut sind und darum lebenswahr
erscheinen, ihre Wirkung nie verfehlen. Ja, man wundert sich manchmal, daß
bekannte und gerade heute von unsern Lustspieldichtern bis zum Überdruß ange-
wandte bühnenwirksame Mittel von Scribe nicht noch öfters herangezogen worden
sind. In einem Nachtrag behandelt der Verfasser kurz die Vorbilder und die Nach-
ahmer Scribes; es würde sich gewiß der Mühe verlohnen, die Frage, die hier nur
gestreift werden kann, zum Gegenstand einer besonderen Untersuchung zu machen.
Marcus, Willy, Die Familie Choiseul und ihr Freundes-
kreis. I. Teil. Ratibor, Königl. Evangelisches Gymnasium. 29 S. 4^. Progr.-
No. 292.
Nach einigen einleitenden allgemeinen Bemerkungen über Inhalt, Art und Form
der Briefliteratur, an der gerade Frankreich so reich ist, entwirft der Verfasser
ein interessantes Kulturgemälde der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts nach den Briefen, die der Herzog und die Herzogin von Choiseul sowie
Persönlichkeiten aus ihrem Freundeskreis, die Gräfin Du Deffand, Voltaire, der
Abt Barth^lemy und andere, sich gegenseitig geschrieben haben. Wir erfahren
gar manche, zum Teil auch belustigende Einzelheiten über das Leben im Salon
jener Kreise, über die Hohlheit und Leere des Daseins der vornehmen Welt, wir
hören von den kirchlichen, politischen und philosophischen Anschauungen und
von den die allgemeine Bildung betreffenden Fragen. Wir sind auch vielfach über-
Französisch und Englisch. 665
rascht, welche rege Teilnahme die Gesellschaft, auch Damen, neben der zeit-
genössischen französischen Literatur dem klassischen Altertum entgegenbrachte,
und verfolgen mit Interesse die Stellung des Choiseulschen Kreises zu Voltaire,
dem führenden Geiste der Zeit. Vergl. hierzu des Verfassers Arbeit: Choiseul
und Voltaire. Programm-Abhandlung 1910.
Meier, Ulrich, Beiträge zur Kenntnis Pierre Corneilles,
vornehmlich in den Jahren von „M eilte" bis zum „Cid"
(1629—1637). Bautzen, Gymnasium. 52 S. 4«. Progr.-No. 755.
Der Verfasser, der sich eingehend mit der einschlägigen Literatur vertraut
gemacht und an andern Stellen schon wiederholt die Resultate seiner Studien
über Corneille veröffentlicht hat, weist in seiner Abhandlung an mehreren Bei-
spielen darauf hin, wie selbst in wissenschaftlichen Werken Fehler und Irrtümer
über Corneille ohne selbständige Prüfung gläubig hingenommen und weiter ver-
breitet werden. Der Verfasser behandelt in der vorliegenden Arbeit nur die Jahre
1629 — 1637, also einen kleinen Abschnitt aus des Dichters Leben und Wirken;
er tut dies aber mit einer solchen Gründlichkeit, daß er mehrfach die Forschung
über Corneille direkt fördert. Wir begleiten den Verfasser mit Interesse bei seinen
Streifzügen durch Ronen und die Umgebung der Provinzialhauptstadt, wir hören
gern die Resultate und Einzelheiten seiner umfangreichen und schwierigen Unter-
suchungen des oft schwer zugänglichen Quellenmaterials, um so in uns ein mög-
lichst naturgetreues Bild vom alten Ronen und seiner Umgebung, vor allem des
Landgutes der Familie Corneille, vor unseren Augen wieder aufleben zu lassen.
Nur so läßt sich dann die Frage beantworten, inwieweit ein Zusammenhang zwischen
der heimatlichen Landschaft des Dichters und seinen ersten Dichterwerken noch
zu erkennen ist. Ausführlich behandelt der Verfasser die Frage nach dem Anlaß
zu seinem dramatischen Erstlingswerk Melite, das nicht als eip Drama mit vor-
herrschender satirischer Absicht gelten kann, sondern das ein eigenes Erlebnis des
Dichters in die Handlung verwebt. Einen breiten Raum nehmen dann die ein-
gehenden Erörterungen über die Annäherung Corneilles an Richelieu ein. Die
weiteren Ausführungen gelten dem Cid und der Rolle, die der Kardinal im Cid-
streit gespielt hat. Der Dichter, der mit seinem Cid die zeitgenössischen Dichter-
linge bitteren Konkurrenzneid empfinden ließ und der sich indirekt auch gerade
durch sein kühnes Emporheben über die Dichter der Zeit die Gunst des Kardinals
verscherzte, hatte bereits Bahnen beschritten, die ihm eine Sonderstellung ver-
schafften und ihn als Neuerer im Drama hinstellten. Der Verfasser zeigt zum
Schluß, wie Corneille bereits durch die Schlichtheit und Anmut der Sprache den
sich in bombastischen und gezierten Redewendungen ergehenden Dichtern seiner
Zeit überlegen war, wie er die Personen nach dem Leben natürlich und wahr zeich-
nete und sich in den Dramen an die Örtlichkeiten hielt, die ihm seine Vaterstadt
bot. Im Cid finden wir die französischen Verhältnisse um das Jahr 1630 wieder,
er bleibt im Rahmen seiner Zeit. Es ist nur zu wünschen, daß der Verfasser das
bereits gesammelte Material zu einer vollständigen Darstellung von Corneilles
Dichtersprache und dramatischen Darstellungskunst während der Jahre 1629 bis
1637 recht bald veröffentlichen möchte.
666 R. Preußner,
Mettlich, Jos., Die Abhandlung über Rymes et mettres
in der Prosabearbeitung der „Echecs amoureux".
Münster i. W., Königl. Paulinisches Gymnasium. 31 S. 8o. Progr.-No. 487.
Der Verfasser druckt die in der Prosabearbeitung der Echecs amoureux ent-
haltenen Abhandlung über gereimte und metrische Verse ab und gibt eine deutsche
Übersetzung bei. Der hier veröffentlichte Abschnitt, der im Gesamtwerk einen
Teil der Abhandlung über Musik bildet, ist im einzelnen recht interessant und eigen-
artig. Der anonyme Verfasser, der die Prosabearbeitung zwischen 1380 und 1390
geschrieben hat, unterscheidet schon klar zwischen metrischen und gereimten
Versen. Für die Reimverse stellt er bereits all die Forderungen als selbstverständlich
auf, die erst weit später zur allgemeinen Anerkennung kommen. Er spricht auch
schon von der Wichtigkeit der Cäsur im Verse, die neben der Klangschönheit der
Worte als ein wesentlicher musikalischer Faktor beim Bau des französischen Verses
wohl zu beachten ist. Der Vers ist ihm ein Monochord, dessen Länge durch die
Zahl der Silben bestimmt wird. Die den Vers unterbrechende Cäsur läßt gleichsam
den Vers in Teilen schwingen, so daß auch für den Vers wie bei der Saite die musika-
lische Zahlentheorie in Anwendung kommt. Interessant ist auch, daß in dieser
Prosabearbeitung zum ersten Male die Etymologie des Wortes „Alexandriner"
gegeben wird.
Meyer, Fritz, Les Amoureuses von Alphonse Daudet,
metrisch übersetzt. Lübeck, Johanneum. 54 S. 8°. Progr.-No. 1032.
Daudet schrieb die unter dem Titel „Les Amoureuses'' veröffentlichten Ge-
dichte als achtzehnjähriger Jüngling. Sind die Dichtungen auch nicht gleich wert-
voll und verraten sie auch in gar manchem die Erstlingsarbeit des Dichters, so
zeigen sie uns doch schon den künftigen Dichter, der mit gesundem Sinn und köst-
lichem Humor die kleinen Ereignisse des Alltagslebens schildert und seine Freude
an der Natur offenbart. Es war für den Verfasser, der die Form des französischen
Originals möglichst zu wahren suchte, nicht leicht, in der Übersetzung die Leichtig-
keit der französischen Sprache wiederzugeben. Die poetische Form zwang den
Übersetzer, den deutschen Text vielfach etwas freier zu gestalten; auch ist hin
und wieder ein anmutiges poetisches Bild in der deutschen Übersetzung etwas
verblaßt. Aber meist lassen sich doch die deutschen Verse neben den französischen
gar wohl hören. Es verlohnt sich gewiß einmal der Mühe, all die in Programm-
abhandlungen verstreut veröffentlichten metrischen Übertragungen französischer
und englischer Dichter zusammenzustellen und als Ganzes herauszugeben.
Möbius, H., Die englischen Rosenkreuzerromane und
ihre Vorläufer. Eine Studie über die Entwicklung der phantastisch-
romantischen Erzählungsart in England während des 18. und 19. Jahrhunderts.
Hamburg, Realschule in Hamm. 63 S. 4". Progr.-No. 1055.
Der Verfasser bespricht zunächst die phantastisch-romantischen Romane der
Walpole-Radcliffe-Schule, die die realistischen Erzählungen in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts ablösten und damals viel Bewunderer fanden. Die Romane
sind heut fast vergessen, bleiben aber doch, wie der Verfasser nachweist, für den
Literarhistoriker wichtiger, als man bisher anzunehmen pflegte. Der Begründer
der neuen Schule wurde Walpole mit seinem damals viel gelesenen Roman: „The
Französisch und Englisch. 667
Castle of OtranW. Es folgten andere Erzählungen, in denen sich schaurige Er-
eignisse in unheimlichen mittelalterlichen Schlössern abspielen. Der Verfasser
kritisiert die Schreibweise der Autoren und beleuchtet das Charakteristische der
Romane durch eine Reihe von Beispielen. Interessant ist hierbei der Nachweis
auffallender Ähnlichkeiten mit anderen Werken der englischen, deutschen und
französischen Literatur. So hat Mrs. Radcliffe bei den zahlreichen Naturschilde-
rungen sicher unter dem Einfluß von Thomson, Collins und Gray gestanden und
vor allem auch Rousseau nachgeeifert, während sie anderseits wieder nicht ohne
Einwirkung auf Byron geblieben ist, der ja zu den Bewunderern der Schriftstellerin
gehörte. Jedenfalls ist die Annahme des Verfassers, man müsse das Urbild des
Byronschen Übermenschentypus in Schedoni, dem Helden in Radcliffes ,Jtalian'\
suchen, noch genauerer Untersuchung wert. Eine offene Frage ist auch noch, wie
weit die Helden ihrer Romane unter dem Einfluß zeitgenössischer Schriftsteller
(Richardson, Goldsmith) gestanden haben. Ein anderer Roman dieser Schule,
The Monk von Lewis, hat auf Victor Hugo eingewirkt und weist Übereinstimmungen
mit E. T. A. Hoffmanns Elixieren des Teufels auf. Als die Gattung dieser phan-
tastischen Romane zu verblassen drohte, bemächtigten sich die Romanschrift-
steller einer neuen Idee, der Rosenkreuzerlegende, nach der ein deutscher Edel-
mann Christian Rosenkreuz in den Besitz des Steins der Weisen gekommen sei
und sich so ewige Jugend und unermeßliche Reichtümer erworben habe. Der
Verfasser zeigt uns nun die Entwicklung der Rosenkreuzeridee in den Romanen
von Godwin, P. B. Shelley, Ch. R. Maturin, Mrs. Shelley und schließlich die poetische
Lösung des Problems bei Bulwer. Interessant sind wieder die Hinweise auf Parallel-
stellen in der deutschen Literatur.
Petri, A., Über Walter Scotts Dramen (II. Teil). Schmölln
(S.-A.), Herzogl. Realschule. 24 S. 4«. Progr.-No. 990.
Es werden behandelt Halidon Hill, Macduff's Gross und Auchindrane. Alle
drei Dramen, denen Clanfehden mit echt schottischem Kolorit zugrunde liegen,
zeigen uns den schottischen Nationalcharakter nach der guten und schlechten Seite
hin. Halidon Hill ist eine kurze dramatische Skizze, die einen geschichtlichen Vor-
gang der Schlacht am Homildon Hill zum Gegenstand hat und auch Anklänge
an Ereignisse in der unglücklichen Schlacht bei Falkirk aufweist. Macduffs Gross,
eine einzige dramatische Szene von etwa 300 Blankversen, baut sich auf dem von
Malcolm dem Thane von Fife gewährten Vorrecht auf, daß die Umgegend des
auf einem mächtigen Stein errichteten Kreuzes eine Freistatt für Verwandte des
Geschlechtes Macduff sei. Auchindrane, Scotts bestes Drama, behandelt in drei
Akten einen Abschnitt aus Robert Pitcairns Griminal Trials of Scotland. Der
Verfasser analysiert die Dramen, geht auf ihr Verhältnis zu den Quellen ein, be-
spricht die Charakterzeichnung und bewertet ihren künstlerischen Aufbau.
Pommrich, Königin Elisabeth und die zeitgenössische
englische Literatur. Radebeul, Realgymnasium i. E. mit Realschule
klassen in der Lößnitz. 51 S. 4^ Progr.-No. 784.
Der Literarhistoriker spricht ja von einem Elisabethan Age, das reich an
Dichtern und wertvollen Dichtungen ist. Der Verfasser untersucht nun die Frage,
ob die Königin einen bestimmenden Einfluß auf die Dichtkunst der Zeit ausgeübt
668 R. Preußner,
und ob die Größe der Herrscherin allein die Dichter der Zeit zu ihren Schöpfungen
angeregt habe. Die Königin, die infolge einer sorgfältigen Erziehung eine hohe
geistige Bildung hatte und gern Verse hörte, nahm die mannigfachen Huldigungen
der Dichter gern entgegen. Darum wetteiferten die Literaten der Zeit in der Ver-
herrlichung der Herrscherin. An 26 Autoren zeigt der Verfasser, wie alle Dichter
der Königin aufrichtig huldigten, wie sie die Tugenden der jungfräulichen Königin
überschwenglich feierteUi ohne gerade auf besondere Gunstbezeugungen zu rechnen.
Die nach unseren heutigen Begriffen das Maß des Erlaubten oft überschreitenden
Lobpreisungen kommen aus ehrlichem Herzen und geben Zeugnis von der all-
seitigen Verehrung und Liebe, die die Königin genoß. Die Königin erscheint meist
unter verschiedenen mythologischen und sagenhaften Gestalten, so vor allem gern
in epischen und lyrischen Dichtungen, in Hirten- und Schäferpoesien, in Masken-
stücken, Allegorien und Schaustücken, die man bei festlichen Gelegenheiten und
bei Besuchen der Königin gab.
Schmid, Karl, Corneille und die deutsche Literatur.
Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Corneilleübersetzungen. Eßlingen,
Oberrealschule. 32 S. 4». Progr.-No. 840.
In der vorliegenden Arbeit werden die Übersetzer des 18. Jahrhunderts be-
handelt. Wir sehen, wie zunächst durch den Einfluß Gottscheds in die Arbeit
der Übersetzer ein gewisses System hineinkommt und wie Gottsched durch die
Herausgabe seiner deutschen Schaubühne die Übersetzungen jüngerer, noch un-
bekannter Dichter der Öffentlichkeit übergibt. Es erscheinen eine Übersetzung
des Cid von Gottfried Lange und eine Übersetzung des Horace von Friedrich Erd-
mann Freiherrn von Glaubitz. Beide Übersetzungen bedeuten wohl sprachlich,
aber nicht dichterisch einen Fortschritt gegenüber den Übersetzungen des 17. Jahr-
hunderts. Eine Übersetzung des Cinna von dem Nürnberger Magistratsherrn
von Führer ist zwar wenigstens klar und verständlich, aber im Gegensatz zu der
edlen Sprache der Vorlage doch noch zu derb im Ausdruck. Im Jahre 1727 er-
schien Polyeuctes, übersetzt von Catharina Salome Linck, die bisher beste Ver-
deutschung eines Corneilleschen Stückes. Schließlich enthält noch die Schöne-
mannsche Schaubühne Übersetzungen von unbekannten Verfassern des Cid und
des Cinna, die beide wiederum einen bedeutenden Fortschritt erkennen lassen
und den Übertragungen Langes und Führers überlegen sind. Eine Behandlung
der Übersetzer des 19. Jahrhunderts soll den Abschluß der verdienstvollen Arbeit
bringen.
Schön, Eduard, Anatoie France, La Vie Litter aire. Ham-
burg, Realschule an der Bismarckstraße. 60 S. S^. Progr.-No. 1056.
Anatoie France hat seine Vie litteraire zunächst als Feuilletonartikel im Temps
geschrieben und diese erst später unverändert zu einem vierbändigen Werk zu-
sammengestellt. So ist wohl die Form aller Artikel die feuilletonistische, aber
die Abhandlungen selbst erheben sich weit über journalistische Tagesartikel;
sie sind besonders reizvoll durch die mancherlei intimen und persönlichen Be-
ziehungen Frances mit den führenden literarischen Größen. Das Studium der
Menschen selbst ist ihm oft interessante^ als die Werke; über dem Werk steht ihm
der Dichter. France kennt keine Einseitigkeit, keinen allseligmachenden Dogmatis-
Französisch und Englisch. 669
mus; darum sucht sein vielseitiger Geist ohne jedes Vorurteil die großen Gegen-
sätze in den verschiedensten Strömungen der französischen Literatur zu erfassen
und als gerechter Kritiker und mit überaus feiner Empfindung zu beurteilen.
Für alles ist er empfänglich, nur nicht für das Geschmacklose und Triviale. So
erklären wir uns sein hartes Urteil über Ohnet und Zola, seinen Widerwillen gegen
Symbolisten und Naturalisten. Sein rein französischer Geist hat auch wenig übrig
für die Literatur der Deutschen, Engländer und Skandinavier. Als Skeptiker,
jedoch auch nicht ohne Ausnahme, neigt er stets zur Milde und Versöhnlichkeit,
zugleich aber auch zur Lauheit. Bemerkenswert ist auch Frances Stellung zur
Geschichtsschreibung. Obwohl er ein gründlicher Kenner der Geschichte ist, will
er doch eine objektive Geschichtswissenschaft nicht zugeben; ebenso leugnet er,
daß es eine objektive Kritik gibt, solange es noch kein Kriterium des Schönen gibt.
Und doch kommt seine Kritik auf die objektive Kritik hinaus, denn für ihn ist die
Kritik keine Wissenschaft, sondern eine Kunst, die nur der üben darf, der selbst
eine hohe Kultur, eine feine literarische Bildung besitzt, der imstande ist, das Werk
in den richtigen Rahmen seiner Zeit und seiner Umgebung einzureihen. In Frances
Kritik aber ein festes System zu suchen, mißlingt, da das Persönliche die eigentliche
Kritik erdrückt. Darum gibt die Vie litteraire ein Bild von der oft seltsamen Eigen-
art seiner künstlerischen und sittlichen Persönlichkeit, und diese Persönlichkeit
sucht der Verfasser in seiner Abhandlung vor allem zu ergründen und zu beleuchten.
Allerdings ist es nicht leicht, die Persönlichkeit Frances scharf zu zeichnen; sie
ist von recht komplizierter Art. France ist Pessimist, aber doch ein solcher, der
€s mit der pessimistischen Stimmung nicht gerade schwer nimmt. Keck und kühn
kommt er über die düstere Weltanschauung hinweg, auch ein bißchen Ironie hilft
dabei. Der Verfasser gibt eine Auslese von köstlichen Beispielen, die zeigen, wie
sich bei France die Ironie äußert, bald leidenschaftlich und bitter, bald nur schalk-
haft und neckend, überall aber fein und überlegen. Frances farbenprächtiger und
bilderreicher Stil ist oft bewundert worden, und dem Zauber seiner Sprache und
Ausdrucksfähigkeit kann sich niemand entziehen. Unser Verfasser kennt und ver-
ehrt seinen Anatole France; es ist eine Lust, die flott und geistreich geschriebene
Studie zu lesen.
Weiske, Hans, Regis Michalias Auvergnatische Lieder.
Königsberg (Nm.), Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. 42 S. 8^ Progr.-No. 91.
Der Verfasser gibt zunächst einige biographische Nachrichten über Michalias,
einen volkstümlichen Dichter der Auvergne, der wohl verdient, weiteren Kreisen
bekannt zu werden. Daran schließt sich eine Charakteristik seiner Lieder, die
den Zauber der Heimat besingen und die von des urwüchsigen Auvergners Lust
und Leid erzählen. Die Ausführungen sind recht interessant, um so mehr als sie
vielfach auf persönlichen Mitteilungen des Dichters beruhen. Aus den Bergliedern
und den Liedern eines Landmanns hat der Verfasser eine Reihe von Liedern aus-
gewählt und sie uns zum besseren Verständnis verdeutscht unter möglichster
Wahrung der poetischen Form des Originals. Die Proben sind wahre Perlen echter
Heimatpoesie, von denen man gern noch mehr gelesen hätte.
Born,Max, Nachträge zu The Oxford English Dictionary.
II. Teil. Schöneberg, Chamisso-Schule. 49 S. 8».
670 R- Preußner, Französisch und Englisch.
Der Verfasser, der bereits für das große englische Wörterbuch Nachträge,
Zusätze und Berichtigungen für die Buchstaben A — E gegeben hat (vgl. Monat-
schrift X, 38), hat seine Studien weiter fortgesetzt und eine größere Anzahl älterer
und neuerer Werke zum Zweck seiner Forschungen durchgelesen, so daß jetzt
gegen 100 Werke benützt werden konnten. Das Resultat der eingehenden Studien
ist eine reiche Fülle von Material, das nun für die Buchstaben F — L vorliegt. Man
sieht aus den Zusätzen des Verfassers, daß ein so groß angelegtes Werk wie das
Oxford English Dictionary doch noch Lücken genug enthält und daß manches Wort
eigentlich recht spärlich behandelt und bedacht worden ist.
Brütting, J., Das Bauern-Französisch in Dancourts
Lustspielen. Altenburg (S.-A.), Herzogl. Realgymnasium mit Realschule.
131 S. 80. Progr.-No. 988.
Von dem Dichter Dancourt sind uns 47 Lustspiele hinterlassen, die teils in
Versen, teils in Prosa geschrieben sind. Die Stücke sind wohl meist vergessen,
verdienen aber immerhin Beachtung wegen der getreuen Zeitgemälde, die uns
der Dichter in den meisten Stücken entwirft. Vor allem liefern sie uns aber einen
wichtigen Beitrag zum Studium der Sprache, die der Dichter seine Personen,
meist Bauern aus der nächsten Umgebung der Hauptstadt, reden läßt. Zwar
stehen diese Untersuchungen auf schwachen Füßen, denn das uns überkommene
Schriftbild gibt kein getreues phonetisches Abbild der gesprochenen Sprache,
und außerdem arbeitete Dancourt so flüchtig, daß er zumeist wohl ein Gemisch
von Vulgärsprache, veralteten Formen und der damaligen Schriftsprache nieder-
schrieb. Aber immerhin sind die mühevollen und eingehenden Untersuchungen
interessant genug, zeigen sie uns doch, daß die Bauernsprache bei Dancourt im
wesentlichen mit der von Moliere und Marivaux angewandten Vulgärsprache
übereinstimmt; außerdem ersehen wir, daß die Bauernsprache gar manche Formen
des Altfranzösischen erhalten hat, die wir auch noch in der modernen Vulgärsprache
und in verschiedenen Mundarten wiederfinden.
Stettin. Oskar Preußner.
III. Bücherbesprechungen.
a) Satnmelbesprechungen:
Jugendliteratur.
Nach einer Zusammenstellung des Buchhändler-Börsenblattes sind im Jahre
1911 in Deutschland erschienen: 5252 Bücher aus dem Gebiet der Erziehung,
des Unterrichts und der Jugendliteratur und 4529 Bücher aus dem Gebiet der
schönen Literatur, die ja auch zum guten Teil der Jugendliteratur zuzurechnen ist.
Einer solchen Massenerzeugung gegenüber muß sich die Berichterstattung darauf
beschränken, die Richtlinien der Gesamtentwicklung aufzuweisen. Einzelerschei-
nungen wird sie zum Gegenstand ausführlicherer Besprechung nur machen können,
wenn sie sich durch Bedeutung oder durch Eigenart aus der unabsehbaren Masse
des Unbedeutenden und des Schablonenhaften hervorheben.
Unter den neu erschienenen Bilderbüchern dürfen zwei als Kunstleistungen von
hohem Wert angesprochen werden. Es sind Werke von ganz verschiedener Stilart.
Das eine ist das „Kaulbach-Güll-Bilderbuch" (München, 1910. Ver^
lag der Jugendblätter. 64 S. geb. 4,50 M.) ; das andere ist „D e r G a r t e n t r a u m"
von Ernst Kreidolf (Köln, Schaffstein, geb. 5 M.). Das Kaulbach-Güll-
Bilderbuch bietet die schönsten Lieder aus des alten Friedrich Gull „Kinderheimat"
in trefflichem Druck und gediegener Ausstattung dar. Die Bilder hat Hermann
Kaulbach, der Sohn Wilhelms, entworfen. Hier haben sich zwei gleichgestimmte
Künstler zu einer Meisterleistung zusammengefunden. Liebliche Innigkeit und
neckischer Humor bilden die gemeinsamen Kennzeichen ihrer herzerquickenden
Kunst. Es ist selten, daß der Dichter und der Zeichner sich so vollkommen ver-
stehen wie in diesem Buch, in dem Wort und Bild sich zu der anmutigsten Einheit
verbinden. — Kreidolf gilt als einer der begabtesten oder gar als der begabteste
unter den Jüngern Bilderbuchzeichnern. Und das mit Recht. Denn an Farbenduft,
an Phantasiereichtum, an- sinniger Naturbetrachtung und Naturdeutung tut es
ihm keiner zuvor. Dabei ist er ein Künstler von selbsteigenem Gepräge. Es dürfte
schwer zu entscheiden sein, welchem von seinen Werken der Vorrang gebührt,
ob den „Schlafenden Bäumen" oder den „Blumenmärchen" oder den „Sommer-
vögeln" oder den „Wiesenzwergen". „Der Gartentraum" bildet ein Seitenstück
zu den „Blumenmärchen". Das Buch enthält 16 große farbige Vollbilder mit er-
läuternden Versen von des Meisters eigener Erfindung. In beiden Werken werden
die Blumen in zarten, phantasievollen, schalkhaft karikierenden Bildern vermensch-
672 F. Johannesson,
licht. Das neuere Werk dürfte an stilvoller Durchbildung noch über das ältere
hinausreichen. Es wird besonders Naturfreunden, jungen wie alten, Freude be-
reiten. Kinder werden sich in die etwas spröde Eigenart des Künstlers freilich
nicht mühelos einfühlen können.
Die Märchenliteratur feiert um diese Zeit ein hochbedeutsames Jubiläum.
Denn hundert Jahre sind darüber hingegangen, daß der erste Band der Grimmschen
Märchen der deutschen Kinderwelt als köstliche Weihnachtsgabe beschert wurde.
Heute noch bilden sie das unerreichte Meisterstück ihrer Gattung, das unserem
Volke gleich teuer sein muß durch seinen Inhalt wie durch die wundervolle, ganz
unvergleichliche Kunst der Darstellung. An ihnen läßt sich der Wert neuerer
Erscheinungen nicht messen.
Unter den jüngsten Märchenbüchern verdienen die „Naturgeschicht-
lichen Märchen" des Dänen Karl Ewald besondere Beachtung
(2 Bände: 1. Mutter Natur erzählt. VII u. 302 S. 2. Der Zweifüßler und andere
Geschichten. 310 S. Stuttgart, 1910 u. 1911. Franckh. 8«. geb. je 4,80 M.).
Ewald ist im Jahre 1908 im Alter von 51 Jahren gestorben. Gesamtausgaben
seiner Märchen, deren erstes Heft bereits im Jahre 1882 veröffentlicht wurde,
sind in England, Amerika, Schweden und Holland erschienen. Nun liegt auch
€ine deutsche Ausgabe vor. Ewald wird in seinem Vaterlande als Schriftsteller
von hohem und vielseitigem Können geschätzt. Er hat auch zwei vielgelesene
Erziehungsbücher „Mein großes Mädel" und ,,Mein kleiner Junge" verfaßt. In
seinen Märchen entfaltet sich seine Kunst am reinsten und schönsten. Seine
Darstellungsweise steht unverkennbar unter Andersens Einfluß. Mit Schlicht-
heit und Zartheit verbindet er Tiefe und Schalkhaftigkeit. Er weiß vom
Leben der Tiere und Pflanzen, vom Walten der Naturmächte in der Luft
und im Wasser so fesselnd zu erzählen, als handle es sich um Menschen-
schicksale. Der tiefe sittliche Gehalt, der in diesen seelenvollen Naturgemälden
sich findet, kann allerdings erst dem Verständnis des reiferen Lesers offenbar werden.
Jedenfalls stellen Ewalds liebenswürdige Märchen eine wertvolle Bereicherung
unserer Jugendliteratur dar, die ja unseren nördlichen Nachbarn schon so manche
reizvolle und bedeutende Gabe zu danken hat. Es sei nur an Selma Lagerlöf,
an Aanrud, Bernt Lie und Nylander erinnert. Die Übersetzung von Hermann Kiy
liest sich sehr gut. Willy Planck hat das Werk mit Tafel- und Randbildern ge-
schmückt. Die Ausstattung ist des Inhalts durchaus würdig.
Von neueren deutschen Märchenbüchern mögen hier zwei genannt werden.
Das eine, ein stattlicher Band mit stimmungsvollem Bildschmuck, nennt sich
,,DasBuch von denMeerleute n". (Reutlingen 1911, Enßlin & Laiblin.
158 S. 8. geb. 3,50 M.). Es ist von GerhardKrügel verfaßt und von Ernst
Lieber mann illustriert. Die 14 Geschichten, die es enthält, sind nach alten
Volkssagen und Volksmärchen bearbeitet, deren Schauplatz die Küste der Nord- und
Ostsee bildet. Einzelne Stoffe sind altbekannt, so die Sage vom Geisterschiff und von
der versunkenen Stadt; die meisten aberwerden dem Leser zum ersten Male begegnen.
Ober dem Buch liegt tiefe Schwermut, nur selten und spärlich leuchten die Lichter
des Humors darin auf. Die Schrecken und Schauer des Meeres, das verhängnis-
volle Wirken seiner dunklen Mächte geben ihm seine Stimmung, der sich auch die
Jugendliteratur. 673
Darstellungsweise stilgemäß anpaßt. Abends lasse man die Kinder diese düsteren
Geschichten keinesfalls lesen. Ihr Schlaf möchte sonst von schreckhaften Träumen
gestört werden.
Sonniger ist ein Büchlein, das unter dem Titel „Die M ä r c h e n w i e s e"
in den „Lebensbüchern der Jugend'' erschienen ist (Braunschweig, Westermann,
geb. 2,50 M.). Die Märchen, die darin neben einigen hübschen Gedichten stehen,
stützen sich nicht wie die vorgenannten auf Volksüberlieferung, sondern sind frei
und neu erfunden. Die Verfasserin, Elisabeth Dauthendey, verfügt
über dichterische Phantasie und eine anmutige Schilderungsgabe. Inniges und
zartes Empfinden spricht aus dem Buche, das übrigens die kleinen Leser und Lese-
rinnen nicht nur erfreuen, sondern zugleich in ihrer Lebensanschauung beeinflussen
will. Nebenher sei bemerkt: Die Deutung, die in der Geschichte „Der himmlische
Sämann" der Entstehung des Menschen gegeben wird, ist gewiß sinnig und keusch,
trotzdem wird sie nicht nach aller Eltern Geschmack sein. Auf diesem heiklen
Gebiet, das auch in dem Märchen „König Sturm und Frau Sonne" berührt wird,
können die Verfasser von Kinderbüchern nicht zurückhaltend genug sein.
In der Erzählungsliteratur zeigt sich die Jugendschriftstellerei am frucht-
barsten. Und das ist kein Wunder. Denn gerade auf diesem Gebiet ist die Nach-
frage am stärksten und das Schaffen am bequemsten. Zumal in der geschichtlichen
Erzählung wirken bei geschickter Stoffwahl die Ereignisse an sich schon so mächtig,
daß es nur einer armseligen Erfindungsgabe und einer bescheidenen Darstellungs-
kunst bedarf, um dem jugendlichen Leser Genüge zu tun. Die gewaltige Jahres-
produktion pflegt denn auch nur vereinzelte Werke von Charakter und Bedeutung
zu zeitigen. Die große Masse besteht aus harmlosen, aber dürftigen Machwerken,
die nach der Schablone gearbeitet sind. Dazwischen begegnet man argen Miß-
bildungen, die schädlich zu wirken vermögen.
Als Beispiel hierfür sei „Der Schleier der T a n i t" von August
N i e m a n n genannt. (Berlin 1911, Verlag Berlin-Wien. V U.360S. 8^. geb.6M.).
Dieses Buch, das gut gedruckt und mit 4 Vollbildern von A. Rolof versehen ist,
ist Flauberts ,,Salambo" nachgebildet. Flaubert gilt den Franzosen als Meister
naturalistischer Darstellungskunst. Er ist ein glänzender Sprachvirtuose, ein scharf-
sichtiger Beobachter und ein anschaulich gestaltender Künstler. In „ Salambo" suchte
er, entgegen denGepf logenheiten der naturalistischen Schule, sein reiches Schilderungs-
vermögen außerhalb der von ihm selbst beobachteten Alltäglichkeit zu bewähren. Das
Werk ist ein archäologischer Roman, der auf eingehenden Geschichts- und Kultur-
studien beruht. Er bietet eine Reihe buntbewegter Bilder aus dem Leben des alten
Karthago und seines Söldnerheeres. In ihrer Mitte steht die Gestalt der Tanit-
priesterin Salambo, der Tochter Hamilkars. Diese Bilder sind mit raffinierter Kunst
entworfen und in grell leuchtenden Farben ausgeführt. Ein innerliches Verhältnis aber
wird der Leser zu dem, was sie schildern, schwerlich gewinnen. Und die Handlung?
Sie besteht aus einer ununterbrochenen Folge der allerscheußlichsten Greueltaten,
von denen sich jedes gesunde Empfinden mit Abscheu abwenden muß. Die Auf-
nahme eines solchen Buches in die deutsche Jugendliteratur kann durch nichts
gerechtfertigt werden. Denn seine literarischen Feinheiten, die den Ästheten er-
freuen mögen, kommen dem jugendlichen Leser noch nicht zum Bewußtsein. Dem
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 43
674 F. Johannesson,
Gefühlsleben aber kann aus der unverhüllten Schilderung roher Instinkte, denen
kein edleres Menschentum das Gleichgewicht hält, schwerer Schaden erwachsen.
An Kunstwert ärmer, aber an ethischem Gehalt reicher sind einige Schilderungen
aus der vaterländischen Geschichte, die unlängst erschienen sind. „Fürstabt
undErzbischof" von Karl Henkelmann (Leipzig 1912, Hirt. 166 S.
gr. 8^. geb. 4 M.) führt uns in die wildbewegte Jugendzeit Heinrichs IV. Die Er-
zählung gibt ein anschauliches Bild klösterlichen Lebens. Sie behandelt einen Ab-
schnitt aus der Geschichte des altberühmten Klosters Lorsch, dessen Abt, der hoch-
sinnige Udalrich, seinen Besitz in schwerem Ringen gegen den herrschsüchtigen
Erzbischof Adalbert von Bremen zu verteidigen hatte. Die Schreibart des Verfassers
ist klar und vornehm, wenn sie auch ein wenig nüchtern und leblos anmutet.
Das Buch ist mit schönen Bildern von Hans W. Schmidt-Weimar ausgestattet.
Von den Mainzer Volks- und Jugendbüchern sind drei neue Bände heraus-
gekommen. (Mainz 1912, Scholz, geb. je 3 M.). W. K o t z d e schildert in seinem
Buche ,,Und deutsch sei die Erde!" (239 S. mit Bildern von F. Stassen)
die Germanisierung der Mark Brandenburg unter Albrecht dem Bären. J o h.
H ö f f n e r erzählt in„DieTreuevonPommern" (193 S. mit Bildern von
F. Müller-Münster) die rührende Geschichte vom Herzog Bogislav von Pommern
und von seiner Erziehung durch den Bauern Hans Lange. W. L o b s i e n berichtet
in ,,J 0 d u t e!" (190 S. mit Bildern von O. R. Bossert) vom Kampf der Zünfte mit
den Geschlechtern im alten Lübeck. Diese Neuerscheinungen der trefflichen Samm-
lung reihen^sich den früheren Bänden ebenbürtig an. Sie können keinen Anspruch
darauf erheben, als Literaturwerke hohen Ranges bewertet zu werden. Aber sie sind
tüchtiges, gediegenes Mittelgut, das nach Inhalt und Darstellungsart für unsere
Jungen einen sehr zuträglichen Lesestoff bildet. Gerade in unserer Zeit der nationalen
Zersetzung und der religiösen und politischen Verhetzung müssen uns solche Bücher
hoch willkommen sein. Denn sie führen dem Leser die Größe des Vaterlandes und
die Macht unserer Geschichte vor Augen, und indem sie das tun, erwecken sie in ihm
völkischen Stolz und Liebe zur Heimat. Unter den vorgenannten Werken dürfte
Kotzdes märkische Erzählung diesem Ziele am nächsten kommen. Mit großer Kraft
und Lebendigkeit schildert der Verfasser die Gegensätze und Kämpfe zwischen dem
Christen- und Heidenglauben, zwischen Deutschtum und Slawentum. Das Buch,
das neben dem Heldenhaften auch liebliche Züge aufweist, liest sich wie ein hohes
Lied deutschen Wesens, deutscher Zucht und Sitte, deutscher Mannhaftigkeit und
deutschen Glaubens.
Ein hohes Lied von deutschem Heldentum ist auch die Geschichte aus dem
südwestafrikanischen Kriege ,,Okowi — ein Hererospion?" (236 S. mit
Bildern von E. Heims. Berlin 1910, Weicher, geb. 3,60 M.). Ihr Verfasser nennt
sich Jonk Steffen. Das Buch gibt eine eindrucksvolle Schilderung von den
schweren Kämpfen unserer Truppen mit den Hereros. Es erscheint wie ein frei er-
fundener Roman und beruht doch auf den eigenen Erlebnissen eines Mitkämpfers und
zuverlässigen Kenners des südwestafrikanischen Feldzuges. Jonk Steffen ist nämlich
ein Deckname. Hinter ihm verbirgt sich der Hauptmann M. Bayer, der verdienst-
volle Verfasser des Kolonialbuches „Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika".
Der „Okowi" ist ein spannendes Buch und dabei ein gutes Buch. Einem Meister-^
Jugendliteratur. 675
werk wie Frenssens ,, Peter Moor" darf es gewiß nicht an die Seite gestellt werden,
immerhin stellt es eine achtbare literarische Leistung dar. Schon Zehnjährige
werden es mit Freude und Begeisterung lesen.
An ein reiferes Verständnis wendet sich „S e e m a n n s 1 e b e n" von Edmund
FriedrichHanssen (Berlin 1912, Wedekind. VII u. 339 S. S«. geb. 8 M.).
Es ist ein fesselndes, frisch und flott geschriebenes Seemannsbuch, wie es deutsche
Jungen lieben. Der Verfasser, der Kapitän eines Kauffahrers ist, schildert darin seine
wechselvollen, ernsten und heiteren Erlebnisse. Seine kunstlose Darstellungsweise
mag strengen literarischen Anforderungen nicht in allem genügen. Gleichwohl bildet
das Buch einen wertvollen Zuwachs unserer Jugendliteratur, die durchaus keinen
Überfluß an ansprechenden Schilderungen des Seemannsberufes besitzt. Es dürfte
wenigWerke geben, die das Leben und Treiben auf Handelsschiffen mit solcher Liebe
und Freude und zugleich mit solcher Ursprünglichkeit und Anschaulichkeit darstellen
wie dieses. Die Ausstattung ist gut, nur wird die Verwendung der lateinischen
Druckschrift manchen Leser stören. Der Bildschmuck, den der bewährte Marine-
maler W. Stöwer beigesteuert hat, paßt sich dem Inhalt stimmungsvoll an.
Natürlich fehlt es auch nicht an zahlreichen Neuausgaben älterer Werke.
G e r 1 a c h s rühmlich bekannte Jugendbücherei bietet in ihren letzten
Bändchen Schwabs „Schildbürger" mit Bildern von Ernst Liebenauer
und eine Auswahl aus Uhlands Gedichten mit Bildern von Ferdinand
Steeger. Die Texte hat H. Fraungruber gesichtet. (Wien, Gerlach & Wiedling.
geb. je 2,50 M.). Besonders reizvoll wirkt das erste der beiden zierlichen Büchlein
durch seine schmucke Ausstattung und seine lustigen Bilder.
Schaffsteins Volksbücher bringen in einfach-gediegenen, bild-
losen Ausgaben zwei ergreifende Kulturbilder aus dem 16. und 17. Jahrhundert,
des oberbayrischen Volksschriftstellers HermannSchmid „Dommeister
von Regensburg" 94 S. und des pommerschen Pfarrers WilhelmMein-
h 0 1 d berühmte „B e r n s t e i n h e x e" 142 S., sowie Andersens Selbstbio-
graphie „D a s M ä r c h e n m e i n e s Lebens" 97 S. (Köln, Schaffstein, geb.
1 M., 1,50 M., 1,30 M.). In demselben, um die Jugendliteratur hochverdienten Ver-
lage erscheinen auch die nützlichen, wohlfeilen „Blauen B ä n d c h e n" und
„Grünen Bändche n", geb. je 30 Pf. ; Geschenkausg. je 60 Pf.
Eine Auswahl aus Andersen und aus M u s ä u s bieten die neuesten
Bände der trefflichen Sammlung „M e i s t e r d e s Märchens", die von der
Freien Lehrervereinigung für Kunstpflege in Berlin herausgegeben wird. (Leipzig,
Abel & Müller, geb. je 1,50 M.). Die Auswahl aus Andersen umfaßt etwa den
vierten Teil seiner Märchen. Sie enthält nur leichtere Stücke und ist deshalb vor-
nehmlich für die Kleinen geeignet. Aus Musäus sind die Märchennovellen „Die
Nymphe des Brunnens", „Stumme Liebe", „Der geraubte Schleier" ausgewählt.
Alle drei sind phantastische Liebesgeschichten von unvergleichlicher Anmut und
Schalkhaftigkeit. Die Schönheit, die sich in ihnen birgt, kann freilich erst dem
gereiften Leser offenbar werden.
Die von F. D ü s e I herausgegebenen „L e b e n s b ü c h e r" spenden der
Jugend neben anderen wertvollen Gaben „Die Hosen des Herrn von
Bredow" 224 S., geb. 2,50 M. und „Romantische Märchen" von
43*
676 F. Johannesson,
E. T. A. H 0 f f m a n n 180 S. geb. 2,50 M. Alexis' märkischer Roman verdient
geradezu als ein Muster guter und gesunder Jugendliteratur bezeichnet zu werden.
Schlichtheit und Klarheit in der Führung der Handlung und in der Zeichnung der
Charaktere, trauliche Heimatstimmung, sieghafter Humor, tiefer sittlicher und natio-
naler Gehalt heben ihn hoch empor über die Mehrzahl aller geschichtlichen Romane
und verleihen ihm neben dem literarischen einen hohen erziehlichen Wert. Geringere
Begabung zum Jugendschriftsteller ist E.T.A. Hoffmann zuzuerkennen. Gewiß ist
er einer der besten, erfindungsreichsten und unterhaltsamsten Erzähler unserer
älteren Literatur. Doch werden fast alle seine Werke durch eine wild wuchernde
Phantasie und einen krankhaften Zug zum Mystischen und Dämonischen in ihrem
Werte beeinträchtigt. Hier sind solche Schriften zusammengestellt, in denen Hoff-
manns gute Eigenschaften die entschiedene Vorherrschaft behaupten. Es sind das
von Scherz und Humor erfüllte Märchen „Nußknacker und Mausekönig'*, die einfach
und groß erzählte Geschichte von den „Bergwerken zuFalun",die reizvolle Künstler-
novelle,,Der Artushof" und, wohl das Schönste in dem ganzen Bändchen, die meister-
liche Schilderung altnürnbergischen Handwerkerlebens ,, Meister Martin der Küfner
und seine Gesellen*'. Ob es mit der Achtung, die wir bedeutenden Literaturwerken
schulden, vereinbar ist, sie der Jugend durch kürzende Bearbeitung schmackhafter
zu machen, stehe dahin. Anerkannt muß jedenfalls werden, daß der Herausgeber
bei seinen Kürzungen weise Bescheidung geübt und feinen Takt bewiesen hat.
Recht stimmungsvoll wirken S. v. Suchodolskis Illustrationen zu Alexis' Roman
in ihrer getreuen Wiedergabe des Zeitmilieus.
Auch unter den Ausgaben der Deutschen Dichter-Gedächtnis-
Stiftung findet sich manche vortreffliche Jugendschrift. Dieses gemeinnützige
Unternehmen, das durch die Jahresbeiträge von etwa 10 000 Mitgliedern gestützt
wird, sieht nunmehr auf eine zehnjährige, reich gesegnete Tätigkeit zurück. 40 000
Bände guter Literatur hat die Stiftung bisher an hilfsbedürftige Büchereien un-
entgeltlich verteilt, und eine und eine halbe Million Bände hat sie im eigenen Verlage
herausgegeben. Zu einer so erfolgreichen Wirksamkeit kann man sie aufrichtig
beglückwünschen, und Dank gebührt denen, die in uneigennütziger Arbeit ihre
Bestrebungen gefördert haben, vor allem ihrem verdienstvollen Leiter, dem un-
ermüdlichen Vorkämpfer gegen die Schundliteratur, Dr. Ernst Schnitze in Hamburg-
Großborstel. Eine noch viel weitere Verbreitung aber, als sie sie bisher gefunden
haben, wäre den Verlagswerken der Stiftung zum Heil unseres Volkes für die Zu-
kunft zu wünschen. Denn so hoch die angegebenen Zahlen auf den ersten Blick
scheinen, sie sind tatsächlich nur niedrig, wenn sie an dem vorhandenen Bedürfnis
und an den Leistungen mancher anderen Länder, z. B. der Vereinigten Staaten,
gemessen werden. Die nach Inhalt und Ausstattung durchweg gediegenen und
schönen, dazu überaus wohlfeilen Bände der ,, Hausbücherei" und der „Volksbücher"
sollten in jedes gute deutsche Haus ihren Weg finden. Unserer Jugend kommt
die Verlagstätigkeit der Stiftung besonders zugute. Wahrhaft erlesene Gaben
bietet sie ihr in dem prachtvollen zweibändigen „Balladenbuc h", in dem
„Deutschen Weihnachtsbuc h", einer Sammlung der schönsten Weih-
nachtsdichtungen in Poesie und Prosa, und in einer Auswahl aus Goethesund
S c h i 1 1 e r s B r i e f e n , die von W. Bode und E. Kühnemann besorgt ist. Jeder
Band dieser Werke kostet in Leinen gebunden 2 M., in Ganzleder oder in weißem
Jugendliteratur. 677
Dermatoid 4 iM. Unter den übrigen Veröffentlichungen seien als freundliche
und gehaltvolle Jugendbücher empfohlen : einzelne Bände der „D e u t s c h e n H u -
m 0 r i s t e n", die ,,S e e g e s c h i c h t e n" und „Kriegsgeschichten",
Immermanns Jugenderinnerungen „Preußische Jugend unter
Napoleon", des Dichter- Ingenieurs Max Eyth humoristische Erzählung
„G e I d u n d E r f a h r u n g" und von den neuesten Bänden vor allem des heimat-
und lebensfrohen Schwaben Ludwig Finckh liebliches, frühlingsfrisches
»»Rapunzel" (geb. je 1 M.).
Eine neue Folge von Jugendbüchern gibt der betriebsame Verlag Ullstein
in Berlin unter dem Titel „Ullstein-Jugendbücher" heraus. Dem
Unternehmen liegt die Absicht zugrunde, der heutigen Jugend bewährte alte Stoffe
in neuzeitlicher Bearbeitung zu bieten. Der Verlag hat bedeutende Schriftsteller
und Zeichner für die Mitarbeit gewonnen. Rudolf Herzog hat die Nibelungen,
Fedor von Zobeltitz den trojanischen Krieg, Otto Ernst den
Gulliver, Ernst von Wolzogen den Münchhausen, Gustav Falke
ein Märchen aus 1001 Nacht bearbeitet. Sogar Gerhard Hauptmann
hat Beiträge in Aussicht gestellt. Er will die Parzival- und die Lohengrinsage
erzählen. Man sieht: Die Verfassernamen sind gut. Und man muß zugeben:
Die Arbeit, die in den vorliegenden Bänden geleistet ist, ist nicht schlecht. Und
doch läßt sich die Befürchtung nicht unterdrücken, daß mit derlei Unternehmungen,
bei denen das Geschäft das erste und die Kunst erst das zweite Wort zu sprechen
hat, der Jugendliteratur kein guter Dienst erwiesen werde. Denn diese ist gerade
dadurch von jeher in ihrer Würde schwer beeinträchtigt worden, daß gar zu viele
ihrer Werke nicht aus innerer Nötigung geschaffen, sondern auf Bestellung geliefert
wurden. Bezeichnend ist es, daß der Umfang der einzelnen Ullstein-Jugendbücher
fast auf die Seite genau der nämliche ist. Neun Bogen stark, in kleinem Format,
sehr weitläufig gedruckt, in Pappe gebunden, kostet das Bändchen 1 M. Wiewohl
dieser Preis durchaus nicht so niedrig ist, wie es dem Unkundigen scheinen mag,
wird die geschäftsgewandte Firma aller Voraussicht nach einen Massenumsatz
erzielen, während andere Verlagsanstalten bei ehrlichstem Streben und gediegensten
Leistungen Mühe haben, für ihre Verlagswerke lohnenden Absatz zu finden. Und ob
die beteiligten „namhaften" Künstler (,, namhaft" müssen sie sein, das ist die erste
Bedingung) bei solcher Art des Schaffens innerlich gewinnen? Ob beispielsweise nicht
ein so begabter Dichter wie Gustav Falke oder ein so meisterlicher Zeichner wie
Franz Stassen Gefahr läuft, bei der flinken und vielgeschäftigen Tätigkeit im
Dienste der Jugendliteratur, wie wir sie seit Jahren an ihnen gewöhnt sind, schließ-
lich an künstlerischer Eigenart und Bedeutung Einbuße zu erleiden?
Sammelwerke, die für die Jugend bestimmt sind, kommen Jahr für Jahr in
beträchtlicher Anzahl heraus. So ist auch heuer kein Mangel an neuen Märchen-,
Schwank-, Geschichten- und Gedichtsammlungen. Sie suchen den verschiedensten
Ansprüchen gerecht zu werden und sind natürlich sehr ungleich an äußerer Aus-
stattung und innerem Wert. Daneben pflegen um die Weihnachtszeit regelmäßig
Jugendjahrbücher zu erscheinen, die in bunter Folge von allem etwas bringen
und die bei den Zehn- bis Vierzehnjährigen, Mädchen wie Jungen, sich großer
Beliebtheit erfreuen. Unter ihnen nimmt das von W. K o t z d e herausgegebene,
678 F. Johannesson,
nun im vierten Jahrgang vorliegende „Deutsche Jugendbuc h" eine
der ersten Stellen ein (Mainz, Scholz, geb. 3 M.).
Die große Masse der Jugendanthologien verfolgt kein anderes Ziel, als dem
Leser anziehende Unterhaltung zu bieten. Nur wenige lassen ein einheitliches,
charaktervolles Gepräge erkennen, auch wenige nur werden von einem hohen
Leitgedanken beherrscht. Tiefes Verständnis für die Not unserer Zeit bekunden
einzelne Sammelbände, deren Streben darauf gerichtet ist, in der deutschen Jugend
den Vaterlandssinn zu wecken und wirksam zu beleben. Eine eigenartige, von
hoher nationaler Gesinnung getragene Auslese aus unserer Literatur, der älteren
und der neueren, gibt ,,Die Jugendbibel. Ein Buch von deut-
scher Art", herausgegeben von Adalbert Luntowski (Berlin,
Borngräber, geb. 5 M.). Das Buch zeigt schlicht-vornehme Ausstattung. Es ist
in dem gleichen Verlage wie Carlyles ,, Friedrich der Große" und Francks ,, Goethe
für Jungens" erschienen. Mit „Des Hammers Heimholung" aus der Edda be-
ginnt's und mit Fontanes „Wo Bismarck liegen soll" endet's. Dazwischen stehen
Auszüge aus Tacitus' Germania, aus dem Nibelungenlied (Siegfrieds Tod), aus
Luther, Friedrich dem Großen, Lessing, Goethe, Schiller, Körner, Arndt, Jahn,
Uhland, Eichendorff, Rückert, Geibel und Bismarck. Die allerdeutschesten unserer
Literatur- und Geschichtsgrößen sind hier also mit Beiträgen vertreten. Jedem
dieser Jugend- und Volkserzieher ist ein kurzes, kerniges Geleitwort gewidmet.
Schillers Bildnis ist dem Buche vorgeheftet. Eine gehaltvollere Gabe kann man
in der nahenden Zeit großen vaterländischen Gedenkens deutschen Jungen schwer-
lich bescheren.
Eine Sammlung von Heimatbüchern veröffentlicht der Verlag von Brand-
stetter in Leipzig. Zwei Bände sind bisher erschienen. Der eine, von J o h.
S c h m a r j e und Joh. Henningsen herausgegeben, behandelt unter
dem Titel ,,D i e N o r d m a r k" Schleswig-Holstein, Hamburg und Lübeck
(geb. 3 M.); das andere, von R. Nordhausen herausgegeben, behandelt
unter dem Titel ,,Unsere märkische Heimat" Berlin und Branden-
burg (geb. 4 M.). Die beiden, mit Abbildungen versehenen Bände geben nicht
eine zusammenhängende heimatkundliche Darstellung. Sie bieten vielmehr eine
vielgestaltige Sammlung von Prosastücken und Gedichten, die Land und Leute,
Sage und Geschichte je einer Provinz, teils beschreibend, teils betrachtend, zu
einheitlicher Anschauung bringen. Die Verfasser der Beiträge sind zumeist Ein-
geborene, in deren Wesen sich das Bild der Heimat widerspiegelt. So gewähren
die Bücher zugleich einen Einblick in die literarische Eigenart des geschilderten
Landesteils. Besonders reizvoll gestaltet sich dieser Einblick im ersten der beiden
Bände. Bedeutende Namen in reicher Zahl treten uns hier entgegen: Hebbel,
Groth, Storm, Liliencron, Falke, Frenßen, Dose, Timm Kroger, Otto Ernst, Fehrs,
Charlotte Niese, Helene Voigt-Diederichs, Bartels, Paulsen, Lichtwark. Der zweite
Band mußte naturgemäß an Zahl der Literaturgrößen spärlicher ausfallen. Auch
ist er wohl in der Anordnung des Stoffes weniger glücklich. Daß Wildenbruch
fehlt und daß Kopisch und Fontane nicht ausgiebiger vertreten sind, daß von
Menzel nur das Flötenkonzert und von Leistikow keine einzige seiner boden-
ständigen, liebevoll und scharf gesehenen Landschaften unter die Abbildungen
Jugendliteratur. 679
aufgenommen ist, wird manchem leid sein. Solche Bedenken aber müssen hinter
der Freude zurücktreten, daß mit dem Werke unserer Jugend ein im ganzen doch
eindrucksvolles Bild der Heimat geboten wird.
„Die deutschen Lande in der Dichtung" lautet der Titel
einer anderen Folge von Heimatbüchern. Sie wird von der Deutschen Dichter-
Gedächtnis-Stiftung in Hamburg-Großborstel herausgegeben (geb. je 1 M.). Den
Reigen eröffnet ein schmuckes Bändchen, das ,, Deutschland" benannt und wohl
als Auftakt zu der ganzen Reihe gedacht ist. Es ist mit artigen Zeichnungen von
W. Strich-Chapell und mit sieben höchst charakteristischen Bildern von Lieber-
mann, Kallmorgen, Leistikow, Mackensen, Stadler, Trübner und Bauriedl ge-
schmückt. Hier wird, abweichend von den vorgenannten Werken, die Landschafts-
schilderung ausschließlich durch den Mund des Dichters bewirkt. Bei der Weite
des Stoffes und der Enge des Raums muß sich das Büchlein freilich mit flüchtiger
Skizzierung begnügen, und die Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit des
Inhalts läßt im Leser eine starke und dauernde Stimmung kaum aufkommen.
Gleichwohl muß anerkannt werden, daß die Auswahl im ganzen taktvoll besorgt
ist und daß sie im einzelnen sogar prächtige Treffer aufweist. Die Herausgabe der
Sammlung stellt einen willkommenen Beitrag zu einer von edler Vaterlands-
hebe getragenen Kenntnis der Heimaterde dar. Der Preis ist in Anbetracht des
Gebotenen außergewöhnlich gering.
Im Anschluß an diese Heimatbücher sei eines neuen Sammelwerkes Erwähnung
getan, das die Sagen aller deutschen Gaue, nach Landschaften geordnet, ver-
einigen und ihren dichterischen und ethischen Gehalt den weitesten Kreisen unseres
Volkes nahebringen will. Das Werk nennt sich „Eichblatts Deutscher
Sagenschatz in Einzeldarstellungen" und erscheint im Verlage
von H. Eichblatt in Berlin-Friedenau (geb. je 3 M.). Der erste Band ist kürzlich
erschienen. Er enthält pommersche Sagen, die von A. Haas, einer heimischen
Autorität, gesammelt und herausgegeben sind. Im zweiten sollen märkische, im
dritten posensche Sagen folgen. Der vorliegende Band, der gut gedruckt und mit
Abbildungen versehen ist, ist leicht lesbar und dürfte wohl geeignet sein, auch bei
der reiferen Jugend die Teilnahme für die heimische Volkskunde zu beleben.
In der belehrenden Jugendliteratur ist, wie's ja nicht anders erwartet werden
kann, die Nachfrage längst nicht so groß wie in der unterhaltenden. Trotzdem
findet auch in ihr eine bedrohliche Überproduktion statt, so daß die Gefahr besteht,
es möchte manches Gute in der unübersehbaren Fülle der Neuerscheinungen er-
sticken. In der Anlage der belehrenden Jugendbücher hat sich, der Entwicklung
des Lehrverfahrens der Schule entsprechend, in jüngster Zeit ein unverkennbarer
Wandel vollzogen. Mehr und mehr verschafft sich das Streben Geltung, dem Leser
nicht fertigen Wissensstoff zu übermitteln, sondern ihn durch eigene Beobachtung
und eigenes Denken sich sein Wissen erarbeiten zu lassen. Dieses Streben be-
kundet sich am augenscheinlichsten da, wo es sich um die Erkenntnis von Natur-
erscheinungen und Naturgesetzen handelt. Aber es tritt, ein wenig schüchterner
freilich, auch in Werken hervor, die die Völkergeschichte und die Erdkunde zum
Gegenstand haben. Auch auf diesen Gebieten trachtet man danach, selbständiges
Erfassen der Geschehnisse und der Erscheinungen durch das Lesen von Selbst-
680 F. Johannesson,
Zeugnissen herbeizuführen, wie sie sich in den Lebenserinnerungen großer ge-
schichtHcher PersönHchkeiten sowie in den Reiseberichten und Naturschilderungen
großer Entdecker und Forscher darbieten.
Eine neue Bücherfolge, die zu den Quellen geschichtlichen und geographischen
Wissens hinführen will, trägt den bezeichnenden Titel „Erlebtes und Er-
schaute s''. Sie wird von der Freien Lehrervereinigung für Kunstpflege in Berlin
herausgegeben und ist bei Voigtländer in Leipzig verlegt. Die Bände sind gut ge-
druckt, schmuck in Pappe gebunden, mit zahlreichen Bildern ausgestattet und
kosten nur je 1,80 M. Die Texte sind gekürzt und gesichtet und so für die Jugend
lesbar gemacht. Bisher sind erschienen: 1. „Im Reiche der Azteken."
Die Eroberung Mexikos durch Ferdinand Cortez, nach den Berichten des Eroberers
bearbeitet. 2. „Aus dem großenKrie g.*' Schilderungen und Berichte von
Augenzeugen. 3. „Durch das tropische Südamerik a." Aus Alexander
von Humboldts Bericht über seine Reise in die Äquinoktialgegenden. 4. „Aus
deutscher Ritterzei t.'^ Götz von Berlichingen, Hans von Schweinichen,
die Herren von Zimmern. Diese Ausgaben vermög-en der reiferen Jugend^ die
die Heldentaten der Vergangenheit gern in Begeisterung nacherlebt, reiche An-
regung zu geben.
Den oben bezeichneten Weg zur Erreichung naturkundlichen Wissens ver-
folgt zielbewußt Bastian Schmids „Naturwissenschaftliche
Schülerbibliothek" (Leipzig, Teubner). Dieses neuartige Unternehmen
ist von hervorragender Bedeutung und hohem Bildungsgehalt. Es erstrebt einen
geistigen Zusammenhang zwischen dem Unterricht und freiwilliger naturwissen-
schaftlicher Betätigung der Schüler und erblickt seine vornehmste Aufgabe in
der Anregung zur Selbsttätigkeit und produktiven Arbeit. Diesem Zweck dienen
in erster Linie Anleitungen zum selbständigen Experimentieren, wie sie in
H. Rebenstorffs anregendem „PhysikalischenExperimentier-
b u c h" (2 Teile, geb. je 3 M.), in E. Gscheidlens trefflichem, wenn auch
in der Darstellung der Entwürfe gar zu knapp gehaltenen Buch ,,A n der Werk-
bank" (geb. 4 M.) und in E. S c h e i d s altbewährtem, hier in neuem Gewände
erscheinenden „Chemischen Experimentierbuch'* (I.Teil, geb.
3 M.) gegeben werden. Eine hübsche Einführung in die Wetterkunde, die nicht
nur für Sekundaner und Primaner, sondern auch für den weiteren Kreis der Ge-
bildeten gut geeignet ist, bietet M. Sassenfelds „Aus dem Luft-
meer" (geb. 3 M.). Das mit leicht zu handhabenden Bestimmungstabellen ver-
sehene Buch von F. Hock ,,Unsere Frühlingspflanzen" (geb.
3 M.) gibt jüngeren und mittleren Schülern eine anregende Anleitung zur Beobachtung
und zum Sammeln unserer Frühlingsgewächse. P. Graebners „Vege-
tationsschilderungen" (geb. 3 M.) führen reifere Schüler in die Lebens-
verhältnisse der Pflanzenvereine, namentlich in die morphologischen und blüten-
biologischen Anpassungen zuverlässig und ansprechend ein. Wünschenswert wäre
eine minder auffällige Häufung von Einzeltatsachen sowie eine sorgfältigere Aus-
führung einzelner Abbildungen. K. R a d u n z gibt in seinem Buch „Vom E i n -
bäum zum Linienschiff" (geb. 3 M.) einen anschaulichen und lebendigen
Bericht über die Entwicklung der Schiffahrt und des Seewesens.
Jugendliteratur. 681
Ein anderes Gepräge trägt die von H. V o i 1 ni e r herausgegebene „Sa m m -
lang belehrender U n t e r h a 1 1 u n gs s c h r i f t e n für die
J u g e n d", die nun beinahe ein halbes Hundert Bände umfaßt (BerUn-Wilmersdorf,
H. Paetel). Sie ist vielseitiger und nicht so bewußt auf ein bestimmtes Ziel ein-
gestellt wie die vorgenannte Sammlung. Wohl weiß auch sie gelegentlich zur Selbst-
betätigung anzuregen; ihr eigentlicher Zweck aber ist Unterhaltung und Belehrung
durch erzählende und beschreibende Darstellung. Ursprünglich hatte sie sich auf
einzelne Wissensgebiete, auf die Geschichte und die Erdkunde, beschränkt. Neuer-
dings hat sie indessen auch die Naturkunde und die Technik, den Sport und das
Spiel in ihren Bereich gezogen. So behandeln auch die neueren Bände sehr ver-
schiedenartige Stoffe, Der eine bietet zwei freundliche Seenovellen des Admirals
Reinhold von Werner, die dem größeren Buche „Aus fernen
Meeren" entnommen sind und uns in jene Tage zurückversetzen, da die Schiff-
fahrt noch ohne die technische Vervollkommnung einer neueren Zeit auskommen
mußte (geb. 1,75 M.). In zwei anderen beschreibt G. Biedenkapp in leicht
faßlicher Darstellung „Die Entwicklung der modernen Ver-
kehrsmittel" von der Erfindung des Wagens bis zum Auto und zur draht-
losen Telegraphie (geb. je 1 ,50 M.). Weiterhin berichtet H. Schomburg über
Schülerfahrten, die unter seiner Leitung auf Schneeschuhen und zu
Fuß durchs Sauerland unternommen wurden (geb. 1,50 M.), und
B. K u h s e , der verdienstvolle Verfasser des Buches „Das Schülerrudern",
über eine Pfingstfahrt im Schülerboot nach dem Spree-
walde (geb. 2 M.). Mit den beiden letzten Bändchen wird eine Sonderreihe
eröffnet, die zwar kaum Werke von hohem literarischen Wert verheißt, die aber
wohl dazu beitragen kann, die fröhhche Wanderlust der deutschen Jugend zu
fördern.
Den Wandertrieb der Jugend erwecken und den Wandernden zum rechten
Beobachten und Genießen anleiten will auch das flott geschriebene Büchlein „I m
Wetterstein" von E. Enzensberger, dem Alpinisten und Schul-
mann, dem wir das lehrreiche Werkchen „Wie sollen unsere Mittelschüler die Alpen
bereisen?" verdanken. Es bildet den ersten Band einer Bücherreihe, die unter dem
Titel „Alpenfahrten der Jugend" bei Lindauer in München erscheint und den ersten
Versuch einer alpinen Jugendbücherei darstellt (geb. 2 M.). Der Anfang läßt für
die Zukunft Gutes erwarten.
Zur hundertjährigen Gedenkfeier der Befreiungskriege ist manche Schrift
schon erschienen und manche wird noch erscheinen. Auch die „Lebensbücher
der Jugend", die bereits Biographien Friedrichs des Großen und der Königin
Luise enthalten, liefern ihren Beitrag zur Festliteratur. Unter dem Titel „D i e
Flammenzeichen rauchen" (Braunschweig, Westermann, geb. 2,50 M.)
stellte A. S e r g e 1 Selbstbekenntnisse deutscher Männer zusammen, die im
Freiheitskampfe gegen Napoleon standen. Neben der „Belagerung von Kolberg"
aus Nettelbecks Selbstbiographie, neben Auszügen aus Gneisenaus Denkschriften,
aus Arndts „Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn vom Stein",
aus Körners und Blüchers Briefen steht eine Beschreibung des Rückzuges der
Großen Armee aus Rußland aus den fast unbekannt gebliebenen Aufzeichnungen
682 F. Johannesson, Jugendliteratur.
des Feldwebels Toenges, die in schlichter, ergreifender Weise die Leiden eines ge-
wöhnlichen Soldaten schildern, der wie durch ein Wunder dem großen Sterben
entging, sowie eine lebendig anschauliche Darstellung einer Episode aus der Schlacht
bei Leipzig durch einen Mitkämpfer, den Major Friccius. Den Schluß macht ein
Abschnitt aus dem einst hoch gefeierten, nun fast der Vergessenheit verfallenen
poetischen Schlachtgemälde „Waterloo" von Scherenberg, der die ruhmreiche Zeit
als Jüngling miterlebte und dessen Erscheinung fast noch in unsere Tage hinein-
reicht. Den Wert des Buches, das schon dem Tertianer etwas sagen kann, er-
höhen die 14 schön ausgeführten Einschaltbilder nach zeitgenössischen Vorlagen.
Auch zur Literaturkunde liefern die ,, Lebensbücher der Jugend" in einem
ihrer neuesten Bände einen Beitrag: Ein Lebens- und Charakterbild der Frau
A j a , der Mutter Goethes, von Adolf Matthias (233 S. geb. 2,50 M.). Dieses
Buch ist vielleicht das schönste von allem, was die an schönen Gaben so reiche
Sammlung unserer Jugend bisher beschert hat. Daß Matthias wie wenige die
Eigenschaften besitzt, die den echten Jugend- und Volksschriftsteller ausmachen,
die hohe Kunst der schlichten, klaren, anschaulichen, lebendigen Darstellung,
das tiefe Gemüt und den herzhaften Humor, das haben seine vor Jahresfrist er-
schienenen ,, Kriegserinnerungen*' zur Genüge bewiesen. In dem vorliegenden
Buch führt nicht er allein das Wort, er läßt vielmehr zumeist Frau Rat selbst
und daneben ihren Sohn reden. Mit feiner Kunst fügt er aus den Briefen der Mutter
und aus solchen Stücken aus , »Wahrheit und Dichtung", die sich auf sie beziehen,
ein Mosaikbild zusammen, das durch einen einführenden, verbindenden und ab-
schließenden Text Einheitlichkeit und Vollständigkeit erhält. Frau Aja ist eine
Meisterin des Briefstils. Ihre Briefe, die eher gesprochen als geschrieben zu sein
scheinen, sind von Anfang bis zu Ende reizvoll und fesselnd, ob sie nun von Großem
oder von Kleinem plaudern, ob sie in tiefstem Ernst oder in heiterster Laune ver-
faßt sind. Überall spiegelt sich in ihnen — und das verleiht ihnen den höchsten
Wert — das sonnige, innige Wesen dieser echt deutschen Frau mit dem freien,
frohen, frommen, tapferen, gütigen Herzen, mit der gesunden Urwüchsigkeit des
Körpers und Geistes wider. Das ganze Buch ist ein Bekenntnis freudigster Lebens-
bejahung, und weil es das ist, ist es auch von hohem erziehlichen Wert. Wer an
Mißmut und Verzagtheit, an Verdrossenheit und Freudlosigkeit leidet, der nehme
es als Heilmittel zur Hand. Sobald wird's ihn nicht loslassen, und wenn er's gelesen
hat, wird er fröhlicher und zuversichtlicher als zuvor ins Leben hinausschauen.
Jungen wie Alten, insbesondere unseren Jungfrauen und Frauen, kann es als ein
wirkliches „Lebensbuch" angelegentlichst empfohlen werden. Auch der Bildschmuck
der ihm beigegeben ist, wirkt überaus anziehend. Er besteht aus zahlreichen, gut
ausgeführten Einschalt- und Textbildern nach Vorlagen aus Goethes Zeit. Schon
das Deckelbild gibt die rechte Stimmung. Es stellt Frau Rat dar, wie sie häkelnd
behäbig im Lehnstuhl sitzt, und Bettina, ihrer Rede andächtig lauschend, zu ihren
Füßen.
Zum Schluß sei eines Werkes gedacht, das kein ,, Lebensbuch" ist und sein will,
das vielmehr den Bedürfnissen des Tages Rechnung trägt. „Rund ums Jahr
1911" lautet der Titel des ersten Bandes eines „Jahrbuchs für junge Deutsche",
das der Direktor Dr. HugoGruber, der Verfasser des Erziehungsbuchs ,, Ruths
K. Knabe, Geschichte des deutschen Schulwesens, angez. von A. Matthias. 683
Erziehung", herausgibt (Berlin, Grote, 315 S., geb. 4 M.). Ein neuzeitliches, eigen-
artiges, interessantes Buch ! Die wichtigsten Ereignisse, die sich im vorigen Jahre auf
allen Gebieten des öffentlichen Lebens, in der Politik, der Kunst, der Wissenschaft,
der Technik, dem Sport zugetragen haben, stellt der Verfasser mit Unterstützung
zweier Mitarbeiter zusammen und sucht sie nach ihrer Bedeutung für die Gegenwart
und die Zukunft zu würdigen. Das Buch bezweckt also, auch die Jugend Anteil
nehmen zu lassen an dem reichbewegten Leben unserer Zeit und aus der Erscheinungen
Flucht das für sie Wertvolle herauszuheben und festzuhalten. Diese klug und klar
geschriebene, Inhalts- und gedankenvolle Jahresrundschau wird jeden Gebildeten
fesseln, sofern er an dem Leben des Tages eifrigen Anteil nimmt. Da sie zugleich
berichtet und führt, wird sie der gegenwartsfrohen männlichen und weiblichen
Jugend, die ins Leben hinaustritt, besonders willkommen und nützlich sein.
Jüngeren Altersstufen dürfte sie kaum etwas bieten. Das Buch, von dem inzwischen
der zweite, gleich empfehlenswerte Jahrgang erschienen ist, ist gut ausgestattet
und mit Illustrationen versehen.
Berlin. Fritz Johannesso n.
b) Einzelbesprechungen:
Knabe, K., Geschichte des deutschenSchulwesens. Leipzig 1905.
B. G. Teubner. 154 S. kl. 8». geb. 1,25 M.
Das Bändchen gehört der Teubnerschen Sammlung „Aus Natur und Geistes-
welt" an. Dadurch sind ihm die Grenzen vorgezeichnet, in denen es sich von
vornherein zu halten hatte. Auf 154 Seiten nun eine Geschichte des deutschen
Schulwesens von seinem Anbeginn, der ausgehenden Römerzeit, und von den Tagen
Theodorich des Großen bis zur Gegenwart zu bringen, das ist keine Kleinigkeit,
und es heißt hier für den Verfasser, daß in der Beschränkung sich der Meister zu
zeigen hat. Diesem Grundsatz ist Knabe überall gefolgt, ohne aber durch die Be-
schränkung es an belebenden Einzelheiten fehlen zu lassen. Wir bekommen überall
einen klaren Einblick in die Welt der Schule und in die geistigen Bewegungen,
welche die einzelnen Zeitalter beherrschten. Die einzelnen Kapitel bilden stets
ein kleines abgeschlossenes Ganze; alles liest sich flott und frisch. Das hängt damit
zusammen, daß das Buch seinen Ausgang genommen hat vom gesprochenen Wort.
Es ist aus Vorträgen entstanden, die der Verfasser in einem Marburger Ferien-
kursus gehalten hat; für das Buch selber und für seine Veröffentlichung hat aber
der Verfasser eine völlige Umarbeitung vollzogen, bei welcher das Beste aus der
historischen Pädagogik verwertet ist. — Für die erste Einführung ist das Büchlein
sehr geeignet und den Anfängern im Schulamt, unseren Seminar- und Probekandi-
daten sehr zu empfehlen, aber auch den älteren Schulmännern, die das Bedürfnis
haben, noch einmal an einer Sonntagswanderung durch die Geschichte unserer
Schulen sich zu erfreuen.
Berlin. A. Matthias.
Schneider, Alb., Wirklichkeiten. Straßburg 1910. J. Singer. 254 S. 8«. 4M.
Aus dem Titel dieses Buches ersieht man nichts Rechtes über seinen Inhalt,
und man wird bei der Lektüre erstaunt sein, in ihm eine Erörterung der Grund-
684 P- Apel, Die Überwindung des Materialismus, angez. von E. Dennert.
fragen der Philosophie zu finden und zwar in einer ebenso scharfsinnigen wie an-
regenden Weise. Der Verfasser kritisiert alle Erfahrungsgebiete, Kraft, Seele,
Geist usw., er versucht Philosophie und Wissenschaft auf eigenen Boden zu stellen
und das spekulative Denken zu einem allgemeinen Regulativ zu machen. Das
Buch verdient gelesen zu werden.
Apel, Paul, „Die Überwindung des Materialismu s". 2. Aufl.
Berlin-Zehlendorf 1909. C. Skopnik. 201 S. 8". geb. 2,75 M.
Der Verfasser hat eine sehr glückliche Art, philosophische Probleme klar und
bestimmt darzulegen. Hier gibt er auf dem Wege der Erkenntniskritik eine sehr
brauchbare Kritik des Materialismus, indem er einen Philosophen im Gespräch
den Laien allmählich überzeugen läßt. Das Buch scheint mir auch sehr geeignet
zu sein, vom Materialismus angekränkelte junge Leute wieder zurecht zu rücken,
sie müssen freilich schon etwas philosophisch denken können.
Hubert, G., Christentum undWissenschaft. 2. verb. Aufl. Leipzig
1909. J. C. Hinrichs. 174 S. 8". 2 M., geb. 3 M.
In einer Zeit, in der man die Grenzen zwischen Wissenschaft und Religion
nicht immer scharf einzuhalten weiß, tun Vorträge wie die in obigem Buch ge-
sammelten wohl, weil sie es verstehen der Wissenschaft zu geben, was ihr gebührt,
und ebenso der Religion, was ihr gebührt. Man merkt es dem Verfasser an, wie
ernst es ihm damit ist, wenn er sagt: ,,Kann man nur dann dem Christentum an-
hängen, wenn man sich gewaltsam der Mehrheit verschließt? Ich stehe nicht an
offen zu bekennen, daß ich mich dann entschlossen auf die Seite der Mehrheit stellen
würde, so bitterschwer mir wie jedem bewußten Christen der Bruch mit dem Christen-
tum ankommen würde." Der Verfasser behandelt das Verhältnis des christlichen
Gottesglaubens zur modernen Kosmologie, Biologie und Psychologie, sodann
Person, Werk und Auferstehung Christi; dabei weiß er überall, wie auch der zugeben
wird, der auf anderem Standpunkt steht, durch große Klarheit zu fesseln.
Gockel, A., Schöpfungsgeschichtliche Theorien. 2. verm.
und verb. Auflage. Köln 1910. J. P. Bachem. 166 S. gr. 8^. 2,40 M.
Unter den zahlreichen „Schöpfungsgeschichten" der Gegenwart nimmt dieses
Buch eine hervorragende Stellung ein; denn es zeichnet sich durch eine große,
ruhige Sachlichkeit aus. Es gibt Leute, die sich durch den Namen eines katholi-
schen Verlags abschrecken lassen ein Buch zu lesen. Das wäre hier sehr unbe-
rechtigt; denn der Freiburger Physiker hat hier seinen persönlichen religiösen
Standpunkt ganz beiseite gelassen und alle einschlägigen Theorien von Kant
bis Arrhenius gleich objektiv dargestellt und kritisiert. Ein großer Vorzug des
Buches ist es auch, daß es alle neueren Hypothesen berücksichtigt.
Müller, J., Vonden Quellen des Lebens. 3. Aufl. München 1910.
C. H. Beck. VIII u. 359 S. 8^. geb. 4 M.
Müllers Name ist ein Programm, er ist mit dem Begriff des „persönlichen
Lebens" eng verbunden, und er hat bereits eine große Gemeinde hinter sich. Außer-
K. C. Schneider, Die Grundgesetze usw., angez. von E. Dennert. 685
halb derselben mag manchem an ihm manches nicht gefallen; aber jeder, der ihn
kennenlernt, wird sich eines Eindrucks nicht erwehren können: hier steht ein
Mann vor mir, der in unserer verworrenen Zeit vielen ein Wegweiser zu größerer
Klarheit über sich selbst werden kann. Von allen Büchern Müllers hat mir dieses
hier angezeigte stets am besten gefallen, und denjenigen, welche ihn noch nicht
kennen, sei es zur Orientierung über seine Richtung ganz besonders empfohlen.
Manche dieser Aufsätze verdienten als Flugblätter allgemein verbreitet zu werden.
Schneider, K. C, Die Grundgesetze der Deszendenztheorie
in ihrer Beziehung zum religiösen Standpunkt. Mit
73 Abbildungen. Freiburg i. Br. 1910. Herdersche Verlagsbuchhandlung.
266 S. gr. 8«. 7 M., geb. 7,80 M.
Ein Buch, das viele in Verwunderung versetzen wird, weil hier ein moderner
Zoologe Religion und Deszendenzlehre zu versöhnen sucht. Der Verfasser wider-
legt den Materialismus und bekennt sich zu einer Art platonischer Ideenlehre.
Die ,,Idee" ist nach ihm die Summe aller Anlagen, eine nicht stoffliche „Substanz",
welche die Organisation bedingt. Aus der Entwicklung folgt eine Lebenskraft,
deren Träger die Idee ist. Als drittes kommt die „Formanalyse" hinzu, die Analyse
der Korrelationen zwischen den Anlagen, die man auch mit „Entelechie" bezeichnen
kann und welche bestimmte Entwicklungsrichtungen veranlaßt. Den Tod be-
trachtet der Verfasser als etwas Aktives, das die Vervollkommnung der Organisation
bewirkt, als 5. Prinzip stellt er einen psychischen Finalfaktor in der Natur fest,
die Ursache der Anpassung, wobei er Darwinismus und Lamarekismus ablehnt.
Nach alle dem steht der Verfasser auf dualistischem, ja zum Teil scholastischem
Standpunkt. Das Buch ist der Leo- Gesellschaft in Wien gewidmet. Manche
Gedanken des Buches werden wohl heftigen Widerspruch erregen, auch bei solchen,
die wie der Verfasser an eine Versöhnung von Religion und Deszenclenzlehre glauben,
aber auf der anderen Seite wird auch niemand dieses Buch fortlegen, ohne selbst
zum Nachdenken angeregt zu sein.
Schwartz, J., Die Entwicklungslehre naturwidrig. Straßburg
1910. J. Singer. 89 S. 8". 1,50 M.
Das ist in der Tat eine neue Entdeckung, die der Verfasser macht, daß die
Entwicklungslehre „naturwidrig" sei. Er beginnt mit Graf Arnim-Schlagen-
thins Kritik der Selektion, die aber bekanntlich nur den Darwinismus trifft, geht
dann sehr bald zur Frage nach der Schwerkraft über, womit er sein eigentliches
Thema verläßt, dann spricht er einmal wieder von der Entwicklungslehre; dabei
kommt er aber auch über Behauptungen nicht heraus. Für den Verfasser ist die
Materie mit ihren Eigenschaften, sind die Lebewesen ebenso wie die Erde seit
Ewigkeit so gewesen, wie sie heute sind. Zum Schluß wird dann wieder die Schwer-
kraft angegriffen. Mit solchen Ansichten ist nicht zu streiten; aber der Verfasser
sollte wenigstens nicht behaupten, daß er die Entwicklungslehre als „naturwidrig"
erwiesen habe.
Godesberg. E. Dennert.
686 Buchner, Leitfaden der Kunstgeschichte, angez. von P. Brandt.
Buchner, LeitfadenderKunstgeschichte. Für höhere Lehranstalten
und zum Selbstunterricht, neu bearbeitet von G. H o w e. Mit 365 Abbildungen
und zwei mehrfarbigen Bildern. Essen 1911. G. D. Baedeker. 12. Auflage.
VIII u. 378 S. gr. 8«. geb. 4 M.
Buchners Leitfaden hat an der bewährten Hand des neuen Bearbeiters, eines
in der Kunststadt Düsseldorf gern gehörten Kunstlehrers, mit dieser 12., stark
bereicherten Auflage einen bedeutsamen Schritt vorwärts getan. Nicht bloß die
Abbildungen sind um über ein Viertel vermehrt, die Bearbeitung des Textes ist
auch mit Erfolg darauf ausgegangen, alles Kompendiarische zugunsten einer kurzen,
aber eindringenden Analyse auszuschalten und so den einzelnen Gestalten mehr
Körper zu geben. Naturgemäß hat die neuere Kunst, darunter auch das Kapitel
über das Kunstgewerbe der Gegenwart, am meisten Bereicherung erfahren, aber
auch in der antiken und mittelalterlichen Epoche spürt man überall die bessernde
und glättende Hand des Bearbeiters. Die Abbildungen sind mit wenigen Ausnahmen
gut; neu hinzugetreten ist die farbige Nachbildung der innigen Madonna vom Hause
Tempi.
Neuwirth, Jos., Illustrierte Kunstgeschichte. Mit über 1000 Text-
abbildungen und vielen farbigen Tafelbildern. Berlin, München, Wien. Allge-
meine Verlagsgesellschaft m. b. H. gr. 8^. Vollständig in 20 Lieferungen zu 1 M.
Das auf zwei Bände berechnete Werk des durch Bearbeitung von Springers
,, Mittelalter" auch weiteren Kreisen bekannten Verfassers will, wie die „Ankündi-
gung" sich ausdrückt, eine Lücke ausfüllen zwischen der „reiches Anschauungs-
material bietenden Vielbändigkeit" auf der einen und „der auf das allernotwendigste
beschränkten, in der Bildausführung nicht immer einwandfreien Einbändigkeit
der bisher zur Verfügung stehenden Unterrichtsbehelfe" auf der andern Seite.
Wer die bisher erschienenen Lieferungen überschaut, die bei klarem Druck auf
gelblichem, die Augen schonenden Papier eine Fülle von gut ausgewählten und fast
durchweg gut ausgeführten Textbildern bieten, zu denen sich eine ganze Reihe ganz-
seitiger farbiger und Tondrucktafeln gesellt, wird von dem Aufbau des Ganzen
einen sehr günstigen Eindruck gewinnen. Nach einem Überblick über die Kunst-
übung der vorgeschichtlichen Zeit handelt der Verfasser die Kunst des Orients,
der Ägypter, Babylonier und Assyrer, Perser sowie der westasiatischen Kleinstaaten
ab, um sich dann zum fernsten Osten, zur Kunst der Inder, Chinesen und Japaner
zu wenden, von denen die letzte mit Rücksicht auf ihre Bedeutung für unsere moderne
Zeit besonders ausführlich geschildert wird. Dann erst kehrt der Verfasser zur Kunst
des Abendlandes zurück, die er in üblicher Weise gliedert. Die Darstellung geht
mit Erfolg darauf aus, unter Vermeidung der Zersplitterung, wie sie die Rücksicht
auf Mittelmäßigkeiten und der Drang nach Vollständigkeit nur zu leicht verschuldet,
möglichst abgeschlossene Bilder der führenden Ideen, Meister und Schulen zu geben
und zugleich die mannigfachen Anregungen und Wechselbeziehungen klarzulegen,
die sie gegeben und erfahren haben. Sachlich dürfte mit dem das ungeheure Gebiet
gleichsam spielend bewältigenden Verfasser nicht so leicht jemand rechten wollen.
Um so auffallender sind gewisse stilistische Mängel des Werkes. Stößt man sich
zunächst nur an neuartigen Wortbildungen wie Verehrungsabsichten, Lebens-
E. Löwy, Die griechische Plastik, angez. von P. Brandt. 687
Unglück, Beachtungswürdigkeit, Kultkunst, Zuweisungsbestimmung,Ewigkeitsbeach-
tung, Selbständigkeitsentfaltung, so findet man bei näherem Zusehen überall da,
wo sich die Darstellung in höhere Sphären aufschwingen will, einen so gezierten,
schwülstigen, verblasenen und mitunter geradezu fehlerhaften Stil, daß dadurch
der Wert des Gebotenen eine empfindliche Einbuße erleidet. Nur einige Beispiele.
S. 269: Das schrittweise Vordringen (des Christentums) stieß bis zu der 312 er-
folgten Anerkennung als Staatsreligion auf wiederholt blutvergießende Gegner-
schaft und auf manche ganz naturgemäß sich ergebende Auseinandersetzungen
mit den bestehenden Verhältnissen. S. 56: Hochbedeutende Bildwerke schuf die
Palastausschmückung in Persepolis, an den jüngeren Stil der assyrischen Kunst
anknüpfend, aber nicht mehr Kriegstaten und Jagden als Darstellungsinhalt der
Königsverherrlichung betrachtend, sondern letztere in der Schilderung der könig-
lichen Hofhaltung findend." S. 64: . . Indien, wo die besonderen Verhältnisse. .
frühe die Phantasie mannigfaltigst anregten und von oft wundersamen Erschei-
nungen des Alltagslebens zu ganz merkwürdigen Ausdrucksformen einer sich an
Großes wagenden Kunst drängten." S. 320: „Auf hoher Stufe byzantinischer
Bildnerei stand der Bronzeguß." S. 109: Die Kultur der Griechen erlangte ,, vor-
bildliche Bedeutung unerschöpflicher, geistvollster Anregung." S. 185: Trotzdem
galt das 1506 in Rom gefundene Werk (die Laokoongruppe) lange als eine Wunder-
leistung griechischer Bildnerei, die auf große Männer verschiedener Zeiten und
Völker große Anziehung ausübte, heute jedoch zutreffender als Zeuge eine be-
wunderungswürdige Berechnung über die sittliche Idee stellenden Rückganges
eingewertet wird." Ganz ungenießbar sind auch die allgemeinen Sätze, welche die
griechische Plastik einleiten (S. 146 f.). Da liest man: in gleicher oder in vielleicht
noch mehr hervorragender Weise — in gar manchen Momenten fördersamen Rück-
halt fanden usw. Alles das schreit förmlich nach Wustmann oder nach der segens-
reichen Tätigkeit der Prüfungskommission des Allgemeinen peutschen Sprach-
vereins, der doch unsere österreichischen Brüder mit umfaßt! So sehr wir daher
dem trefflich ausgestatteten und wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit stehenden
„Unterweisungsbehelfe" ein gutes Geleitwort mit auf den Weg geben möchten:
ehe wir es unserer reiferen Jugend in die Hand legen können, muß das Werk einer
gründlichen sprachlichen Reinigung unterzogen werden. So wird das Werk ge-
winnen und unsere Jugend diesseits und jenseits der schwarzgelben Grenzpfähle
dazu.
Löwy, Emanuel, D ie griechische Plast ik. Leipzig 1911. Klinkhardt &
Biermann. Textband 154 S., Tafelband 350 Abbildungen, beide 8" in Geschenk-
kassette. 6 M.
In vier Kapiteln von mäßigem Umfang führt der Verfasser an der Hand vor-
züglich ausgewählter und ausgeführter Abbildungen den Leser anmutig durch
das weite Gefilde der griechischen Plastik: I. Die archaische Zeit; II. Phidias und
die Bildwerke des Parthenon; III. Skopas und Praxiteles; IV. Lysipp und die
hellenistische Plastik. Er vermag es, weil er alles gelehrte Beiwerk meidet und
nur die großen grundlegenden Züge dieser einzigartigen Entwicklung aufzeigt,
die selbst da, wo sie sich, wie in der vierten dieser Perioden, ganz dem Individualis-
688 H. Luckenbach, Kunst und Geschichte, angez. von P. Brandt.
mus zu ergeben scheint, doch im Grunde dem Typus, dem Idealismus huldigt.
Und auch in der archaischen Periode bleibt der Naturalismus der olympischen
Giebelgruppen, der an Stelle der Tradition den Zufall, an Stelle der Auslese den
erstbesten Eindruck, den „Impressionismus" setzte, nur eine Episode. Von beson-
derer Feinheit ist die Analyse der Kunst des Phidias, von dessen Einfluß der Ver-
fasser mit Recht auch die Giebelgruppen und den Fries des Parthenon nicht zu
lösen vermag, und des Neuen, was Lysipp der griechischen Kunst zugebracht
hat. Das Beste aber ist, daß der Leser, wie sich's gebührt, nichts auf Treu und Glau-
ben hinzunehmen braucht, sondern an einem reichen, nach dem Prinzip multum,
non multa zusammengestellten Anschauungsmaterial sich selbst ein Urteil zu bilden
vermag. Dabei wird auch nicht mit verschiedenen Ansichten desselben Kunst-
werks, ja mit Wiederholung der gleichen Ansicht gegeizt, wo es für den Vergleich
ersprießlich ist, und wiederholt wirkt das Nebeneinander stilistisch ähnlicher
Köpfe (so auf Tafel 85, 88, 92, 93) unter demselben Neigungswinkel und in der-
selben Beleuchtung unmittelbar überzeugend. In weiser Selbstbescheidung geht
der gelehrte Verfasser auf politische Veränderungen und soziale Strömungen nur,
wo es unumgänglich war, ein; den Beziehungen der Plastik zu den Schwester-
künsten der Architektur und Malerei nachzugehen, vermeidet er ganz. So tritt
aus dem engbegrenzten Rahmen das schließliche Ergebnis nur um so reiner und
überzeugender hervor, das in einer Zeit, die nach Kunst hungert und dürstet, ins-
besondere denen zu denken geben möge, welche eine Vorbedingung jedes tieferen
Verständnisses der griechischen Kunst, das Studium der griechischen Sprache,
für einen entbehrlichen Bestandteil unseres höheren Unterrichts zu halten geneigt
sind: „Die griechische Kunst besitzt im höchsten Maß die Gabe, ohne welche Kunst
nicht bestehen kann: die Fähigkeit geläuterter Erfassung der Form. In der voll-
endeten Idealität der griechischen Kunst liegt das Geheimnis ihrer Unsterblichkeit."
Luckenbach, H., Kunstund Geschichte. Kleine Ausgabe. Mit 8 farbigen
Tafeln und 349 Abbildungen. München und Berlin 1910. R. Oldenbourg. 160 S.
gr. 4«. geb. 2,60 M.
Dasselbe, Große Ausgabe. Erster Teil. Altertum. Mit 4 farbigen Tafeln und 308
Abbildungen. 8. vermehrte Auflage. 124 S. gr. 4«. geb. 2 M.
Es ist eine Freude, den bewährten Baumeister sein in diesen Blättern oft ge-
rühmtes Werk weiter ausbauen zu sehen. Einmal, indem er die bis jetzt erschienenen
drei Teile in einer „Kleinen Ausgabe" zusammenfaßt für solche Schulen, die kein
Griechisch und Latein treiben und darum dem Altertum keinen so breiten Raum
gewähren können, sodann aber in einer neuen vermehrten „Großen Ausgabe"
dieser Teile selbst, von der bis jetzt der I. Teil, das Altertum, vorliegt. Hinzu-
gekommen sind vor allem Farbentafeln, von denen die dem Altertum gewidmeten
farbige Architektur und Plastik sowie eine Wand des sogenannten 2. Dekorationsstils
dem Schüler nahebringen; die kleine Ausgabe berücksichtigt Grünewald, Lucas
Cranach, Dürer und als Beispiele moderner Maltechnik Zügel und Liebermann.
In der Auswahl und Gruppierung der vielfach vermehrten Abbildungen verfährt
Luckenbach wie immer mit großem Geschick und Geschmack; ein kurzer Text,
gelegentlich auch eine einleitende Übersicht geben die nötigen Hilfen. Die große
E. Burnand, Die Gleichnisse Jesu, angez. von P. Brandt. 689
Lücke freilich, welche zwischen der sinkenden Gotik einerseits und andererseits
der deutschen Renaissance und dem deutschen Barock in früheren Auflagen klaffte,
scheint noch nicht hinreichend ausgefüllt; es ist im wesentlichen noch so, wie auf
S. 123 der kleinen Ausgabe eine gotische und eine Rokoko-Monstranz unvermittelt
nebeneinanderstehen. Und doch würde ich lieber auf das zugefügte Detail der
letzteren verzichten als auf ein Renaissance-Zwischenglied, das die im Rokoko
aufgelösten Formen noch fest zeigt. Aus ähnlichen Gründen würde auf S. 124 f.
eine Umstellung der Altäre am Platze sein, ausgenommen vielleicht den Empire-
Altar von Salem, der kein Typus ist, sondern ein Einspänner. In der modernen
Malerei ist die Auswahl erfahrungsgemäß besonders schwierig, und leicht wird
als Unvermögen des Auswählenden angesehen, was bei der Überfülle des Stoffes
eine Unmöglichkeit ist: es allen leidlich recht zu machen. Immerhin möchte man
den Maler Rembrandt besser vertreten sehen als durch das Jugendwerk Isaaks
Opferung. Auf Liebermanns Seilerbahn hätte ich gerne verzichtet; sie sagt der
Jugend wenig. Von den klassizistischen Architekturen wirken Schinkels Potsdamer
Nikolaikirche und Weinbrenners evangelische Stadtkirche in Karlsruhe doch mehr
als Kuriosa; auch der aufgewärmten Gotik der Speyerer Protestationskirche und
gar des Denkmals Leopolds I. in Laeken hätte man füglich entraten können — lieber
hätte ich dann den heute nicht mehr gefährlichen Sprung in unsere neudeutsche
gesunde Bauentwicklung gewagt. Manche frühere Zusammenstellung hat Lucken-
bach durch eine neue ersetzt lediglich aus dem Grunde, weil sie von einer gewissen
Seite übernommen wurde, und man begreift den Unmut des Verfassers, mit dem er
im Vorwort fortan sein Eigentumsrecht wahrt. Wir wünschen dem reichhaltigen
undjbilligen Werk in beiderlei Form auch ferner weiteste Verbreitung.
Burnand, Eugene, Die Gleichnissejesu. Mit einem Vorwort von David
Koch. Mit 61 Zeichnungen im Text und 1 1 Tafeln in Sirfiiligravüre. Stuttgart
1910. Verlag für Volkskunst, Richard Keutel. XXXIX u. 148 S. 4°. In vor-
nehmem Geschenkband mit Goldschnitt 15 M. — Daraus im gleichen Verlag
einzelne Gleichnisbilder als „W a n d b i 1 d e r für Kirche, Schule und Haus**
in zwei verschiedenen Größen zu 2,50 und 3,60 M. — Außerdem farbige Bilder
nach Burnand, nicht aus den „Gleichnissen Jesu", zu 4 M.
Auf der Düsseldorfer Ausstellung für christliche Kunst vor drei Jahren machte
wohl mancher in einem kleinen Durchgangsraume überrascht halt; was ihn fesselte,
waren einige Bilder des französischen Schweizers Eugene Burnand, eine „Kreuz-
tragung", die „Einladung zum großen Abendmahl" und „der verlorene Sohn".
Auch die große französische Ausgabe der ,, Gleichnisse Jesu" lag auf, nach welcher
der verdiente Herausgeber der „Christlichen Welt", Pfarrer D. theol. David
Koch, unter großen Opfern die leichter erschwingliche kleine deutsche Ausgabe
herausgebracht hat. Über diese „Gleichnisse Jesu" ist gegenwärtig im Lager
der Freunde christlicher Kunst ein heftiger Streit entbrannt. Den freilich über-
schwänglichen Lobpreisungen Kochs im „Vorwort" gegenüber, der in Burnand
den ersehnten Messias einer neuen religiösen Kunst erblickt, erhebt sich in dem
Straßburger Professor Friedrich Spitta, dem Mitherausgeber der „Monatsschrift
für Gottesdienst und kirchliche Kunst", die protestantische Theologie mit der
Monatschrift f. höh. Schulen. XI. Jhrg. 44
690 E. Burnand, Die Gleichnisse Jesu, angez. von P. Brandt.
kritischen Frage, ob denn Burnand eine solche Propaganda verdiene, ob es ihm
denn gelungen sei, jedesmal den Kern der Gleichnisreden Jesu zu treffen. Das
wenig tröstliche und kaum anfechtbare Ergebnis ist, daß Burnand, genau genommen,
nur ein einziges Mal, in seinem „barmherzigen Samariter", diese Parabeln „in ihren
charakteristischen Momenten relativ vollkommen zum Ausdruck gebracht habe'*.
Und, fügen wir hinzu, genau betrachtet auch in diesem nicht, denn Priester und
Levit fehlen auf dem Bilde und demgemäß entfällt für den Beschauer auch die Ent-
scheidungsfrage Christi, welcher unter diesen Dreien der N ä c h s t e gewesen sei
dem, der unter die Mörder gefallen war. Und so ist es denn nur ganz folgerichtig,
wenn Eduard v. Gebhardt, Spitta sekundierend, erklärt, man dürfe die Gleichnisse
überhaupt nicht darstellen! Und doch hören wir von dem tiefen Eindruck, den
Lichtbildvorführungen der Burnandschen Gleichnisse, vom erklärenden und erbau-
lichen Wort begleitet, in vielen Gemeinden des Schwabenlandes hinterlassen haben.
Ich glaube, wer die deutsche Ausgabe mit ihren vortrefflichen Reproduktionen
prüft und dazu die guten farbigen Steindrucke der „Wandbilder" vergleicht, wird
zu dem Ergebnis kommen, daß von beiden Seiten, von der erbaulichen Betrachtung
Kochs wie von der kritischen Exegese Spittas, über das Ziel hinausgeschossen
worden ist. Auch hier gilt das Gleichniswort Christi: ,,An ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen." Nun beweist allerdings der Eindruck der Lichtbilder für den
exegetischen Wert der „Gleichnisse" nichts, aber immerhin doch etwas für einen
gewissen künstlerischen, so groß auch bei einem ungeschulten Publikum die Macht
der Suggestion des Vortragenden sein mag: sobald es nämlich an Hand der Bilder
gelingt, den einen Bestandteil der Parabel, den Vorgang, aus dem die belehrende
Nutzanwendung gezogen wird, der Phantasie recht lebendig vorzuführen. Mag
man beides, Vorgang und Nutzanwendung, logisch noch so säuberlich trennen,
wie Spitta und v. Gebhardt tun, für die Phantasie und für das gläubige Gemüt
sind sie untrennbar, und darin liegt die Berechtigung, das bildlich nicht Darstellbare,
die Nutzanwendung, durch einen oder mehrere Momente des Darstellbaren, des
Vorgangs, für Herz und Phantasie erfaßbar zu machen. Darum ist es auch dem
Künstler nicht zu verwehren, am allerwenigsten von einem Künstler, d i e Momente
herauszugreifen, die seiner Eigenart liegen. Daß er hierbei nicht als kritischer Exeget
verfährt, ist klar. Wie sollte er etwa wissen, daß der Mann ohne hochzeitliches
Kleid das Bild der in die gesetzesfreie Heidenkirche eingedrungenen Unsittlichkeit
ist, und wüßte er es, wie sollte er es malen? Die Grenzen der Begabung Burnands
liegen ja offen zutage: er zeichnet nur nach Modellen, und diese kehren häufig
wieder; er bringt manches wenig Charakteristische, so den „Säemann"; er setzt
zuweilen den Akzent nicht auf die richtige Stelle, so im „Pharisäer und Zöllner";
er vermag eine so grandiose Szene wie den reichen Mann und den armen Lazarus"
nicht in genialer Intuition zu einem Bilde zusammenzuzwingen, sondern legt
sie in zwei Alltagsszenen auseinander. Darum aber ,, diesen (französischen) Import"
direkt für schädlich zu erklären, wie es Paul Schubring in einem Briefe an Prof.
Spitta tut, ist eine Übertreibung, die nur als Gegenschlag gegen den Kultus ver-
ständlich ist, den David Koch mit seinem Schützling getrieben hat. Eine künst-
lerische Persönlichkeit von eigentümlicher Kraft und Schönheit ist darum Burnaud
doch, und darum wissen wir dem Herausgeber Dank, daß er sie weiteren Kreisen
Kinzel, Die bildende Kunst usw., angez. von P. Brandt. 691
des christlichen Deutschland zugänglich gemacht hat. Lockt doch auch der Vergleich
mit dem Burnand unter den Deutschen Nächstverwandten, mit Wilhelm Stein-
hausen, dem er an Phantasie nicht ebenbürtig, im Formalen, wie gerade „Der barm-
herzige Samariter" beweist, entschieden überlegen ist. Auch die psychologische
Charakteristik gelingt ihm vortrefflich, so in dem weniger bekannten Gleichnis
von den beiden Söhnen Matth. XXI, 28—31. Der südfranzösische Zug von Land
und Leuten — die Provence ist Burnands zweite Heimat — verträgt sich gerade
um des heißen Klimas willen vortrefflich mit unsern Vorstellungen vom Schauplatz
der heiligen Geschichten. Möge daher die Wage der Kritik sich bald ins Gleiche
stellen, gleichweit entfernt von Kritiklosigkeit wie Überkritik, und dem Künstler
zuwägen, was ihm und jedem ernst Schaffenden gebührt: das Recht, er selbst zu
sein und aus seinem Schaffen heraus verstanden und gewürdigt zu werden.
Kinzel, Die bildende Kunst im deutschen Unterricht der
Prima. Leipzig 19H. R. Voigtländers Verlag. 62 S. 8«. 1 M.
Im wesentlichen ein Neudruck einer Programmabhandlung des Berlinischen
Gymnasiums zum Grauen Kloster vom Jahre 1904. Eine Besprechung würde
sich daher erübrigen, wäre nicht bei dem bekannten Namen des Verfassers eine
Warnung am Platze, den Kunstunterricht an den deutschen Unterricht in Prima,
d. h. an Lessing und Goethe zu hängen. Es kommt dabei lediglich ein Eiertanz
heraus. Denn warum „fördert" K. die „Geschichte der Baukunst" von den Griechen
bis zur Kuppel von St. Peter „in der Einleitung zur neuhochdeutschen Literatur"?
„Um dann erst bei Goethes Italienischer Reise darauf zurückzukommen"! „Das
2. Halbjahr in Prima ist Lessing geweiht. Sein Laokoon nötigt uns zur Einführung
in die griechische Plastik." „Wie eine Vorstellung davon gewinnen, ,daß bei den
Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen sei* (ein
Satz Lessings, der doch sehr der Einschränkung bedarf!), \^enn man ihnen nicht
die bedeutendsten Kunstwerke aller Perioden (!) in guten Abbildungen zeigt?" „Wie
sollte man ihnen klar machen, daß die Künstler der Laokoongruppe im Ausdruck
des Schmerzes . . . Maß gehalten haben (? !), obwohl sie tiefsten Schmerz in der
Figur des Laokoon zum Ausdruck brachten ( ! ), als wenn man zum Vergleich alt jre
und jüngere, wie auch einige moderne Kunstwerke heranzieht?" Nun tut aber
Goethe, der dann an die Reihe kommt, dem Verfasser nicht den Gefallen, hübsch
bei dem Eindruck zu verharren, den Lessings Laokoon auf den siebzehnjährigen
gemacht hatte, und geradeswegs nach Italien zu gehen, sondern es packen ihn
in Dresden nicht die großen Meister der Renaissance, sondern just ihr Widerspiel,
die Niederländer, und mit ihren Augen sieht er das Interieur seines gastfreundlichen
Schusters. Da allerdings „liegt die Schwierigkeit jetzt darin, daß wir den im Laokoon
angeknüpften Faden zunächst fallen lassen müssen". Das ist schlimm, aber der
Verfasser weiß sich zu helfen. Zwar ist Goethe, wenigstens nach „Dichtung und
Wahrheit", an den Italienern in Dresden kalt vorübergegangen, aber was ver-
schlägt das? „Man wird von der Entwicklung der Malerei vom Steifen, Kon-
ventionellen zur Natur im Süden wie im Norden erzählen und diesem niederländischen
Realismus den Idealismus der italienischen Renaissance gegenüberstellen" (!).
Der Verfasser zieht also gleich hier die großen italienischen Meister des 15. — 16. Jahr-
44*
692 C. Lucerna, Das Märchen,
hunderts heran „mit dem Hinweis (I), daß Goethe für ihre Größe das Verständnis
erst in Italien, auf einer anderen Stufe der Entwicklung aufging". Aber warum
in aller Welt sie hier bei den Haaren herbeiziehen, wo es, um diese Niederländer
zu verstehen, solcher Künste nicht braucht? Doch wir ergeben uns drein und be-
ginnen bei Giotto, lassen den großen Masaccio fein beiseite (S. 39), hören allerlei
über Giovanni Bellini, Perugino, Fra Bartolommeo, Lionardo, Michelangelo,
Raffael, Correggio, Tizian, Paolo Veronese und kehren dann von dieser aristo-
kratischen Kunst zu der mehr volkstümlichen nordischen Malerei zurück, über
die sich Goethe zum Glück einmal in einem Aufsatz „Das Erwachen der nieder-
rheinischen und niederländischen Malerei" ausgesprochen hat. Es marschieren
also auf Rogier van der Weyden, Memling, Massys, Holbein, Dürer, Cranach,
Rubens, van Dyck, Rembrandt, Bruyghel, Teniers, Ostade, natürlich nur „je
nach Zeit und Geschmack" kurz charakterisiert. „Dann lenken wir wieder ein
zu unserm Studenten in Dresden". Doch Goethe geht nach Straßburg und be-
geistert sich dort für die Gotik Erwins von Steinbach. Die gleiche Begeisterung
den Primanern einzuflößen, wird nicht schwer sein. „Schwerer ist es, die Brücke
zu schlagen von Goethes Bewunderung der Niederländer zu dieser Freude an der
Gotik." Die Anlehnung an die Natur ist es, die Goethe dort bei den Niederländern
wie „merkwürdigerweise auch in der Gotik" fand. Er hat in seiner Schrift ,,Von
deutscher Baukunst" „einen tiefen Blick in das Wesen der Kunst getan. Darum
öffnete sich ihm auch auf einem reiferen Standpunkte nach mehr denn einem
Jahrzehnt das volle Verständnis für die Antike und ihre Verjüngung in der Re-
naissance" (1). „So pflege ich die Sache den Primanern darzustellen", heißt es daran
anschließend im Programm von 1904. „Der Schüler braucht nicht zu wissen (!),
daß er in der nächsten Folgezeit von der so angeschwärmten Gotik verächtlich sprach".
Demgemäß fehlt in dem Neudruck von 1910, der insbesondere für Primaner bestimmt
ist, diese liebliche Stelle! Und nun sind wir endlich da, wo wir von Goethes und
Rechts wegen schon längst hätten sein sollen, bei Palladio in Vicenza und Venedig
und dann in Rom ! — Nein, es tat wirklich not, dies sonderbare System der Ein-
führung in die bildende Kunst im deutschen Unterricht der Prima etwas näher
zu beleuchten. Weder dem deutschen Unterricht noch der Kunst ist damit gedient;
während jener aus dem Leim geht, gerät diese in schiefe Beleuchtung. So z. B.
können wir unmöglich heutzutage mehr den Laokoon mit den Augen Lessings,
Winckelmanns und Goethes betrachten, die von der Unruhe und Leidenschaftlich-
keit der Barockskulptur abgestoßen dort edle Einfalt und stille Größe zu finden
glaubten, wo wir nur widrige Verzerrung sehen. Auf diesem Wege kommen wir
nicht weiter, heute so wenig wie vor acht Jahren, und daher bedaure ich den
Neudruck, der nur Verwirrung stiften kann.
Düsseldorf. PaulBrandt.
Lucerna, Camilla, Das Märchen, Goethes Naturphilosophie als Kunstwerk.
Deutungsarbeit von Camilla Lucerna. Leipzig 1910. Fritz Eckardt Verlag.
VIH u. 191 S. 8«. 2,80 M.
Es handelt sich hier um ein geistvolles, auf fleißigen Studien und gründlicher
Kenntnis Goethes ruhendes Buch, dessen Ergebnisse freilich hypothetischer Art
angez. von M. Heynacher. 693
sind, es nach der Natur des Gegenstandes sein müssen. Die Verfasserin ist Lehrerin
in Agram. Der Genius Goethe verzeihe mir, wenn ich es ernstlich bezweifele,
daß zu diesem Märchen von 30 Seiten Länge ein Kommentar von 192 Seiten er-
forderlich ist. Unbeschadet der Gründlichkeit hätte Lucerna sich viel kürzer fassen
können. Die 40 Seiten lange Einleitung: Auszüge aus Goethe, Boucke und Moritz
konnte wegbleiben. Goethes 40 bändige Ausgabe, durchweg so eingehend er-
klärt, würde 500 Bände Kommentar beanspruchen.
Gar mancher der verehrten Leser dieser Monatschrift wird Goethes Märchen
von der grünen Schlange in seiner Goetheausgabe überhaupt nicht finden können.
Er wird vergebens es in dem alphabetischen Inhaltsverzeichnis der Cottaschen
und Hempelschen Ausgaben suchen. Es ist das letzte Stück der Unterhal-
tungen deutscher Ausgewanderten. Recht bezeichnend und wohl
berechtigt erscheint es mir wenigstens, daß Erich Schmidt in der sechsbändigen,
im Auftrage der Goethe-Gesellschaft ausgewählten und im Insel-Verlage 1909 er-
schienenen Goetheausgabe das Märchen nicht bringt, während er eine andere Er-
zählung aus den ^Unterhaltungen deutcher Ausgewanderten, das Familiengemälde
,, Ferdinand und Ottilie" aufgenommen hat. Denn das Märchen von der grünen
Schlange ist nie volkstümlich geworden, wird es auch nicht werden, obwohl auf ihm
aller Glanz Goethescher Darstellungskraft ruht und August Wilhelm von Schlegel
schreibt: „In Goethes Märchen von der grünen Schlange gaukelt uns die Phantasie
das lieblichste Märchen vor, das je von ihrem Himmel auf die Erde herabgefallen
ist. Alle ihre Jugend und Fröhlichkeit scheint wach geworden zu sein. Eine Reihe der
lieblichsten Bilder zieht uns fort; sie gehen zuweilen in eine lächelnde Charakteristik
und dann wieder ins Rührende über; doch liegt das Rührende mehr in der holden
Zartheit der Schilderung als im Mitleiden, das der Gegenstand erweckt."
In Gedanken bei dem Märchen und seiner Deutung durch Camilla Lucerna
verweilend, ging ich einst an einer grünen Laube vorbei, in der ein großes Mädchen
mit zwei Kindern saß. Da hörte ich, wie das eine Kind ri^f: ,, Erzähl' uns vom
Schneeweißchen und Rosenrot!" Wird, fragte ich mich, jemals ein Kind das
Märchen von der grünen Schlange verlangen?
Seit seinem Erscheinen — 1795 — haben sich die Goethephilologen abgemüht,
hinter den Sinn dieses Rätsels zu kommen. Goethe selber schmunzelte behaglich,
so oft man ihm eine Lösung brachte, verriet aber nichts. Schon Schopenhauer äußert
bei einer Besprechung über das Märchen: „Es hat fast den Anschein, als ob Goethe
in höheren Lebensjahren in seinen eigenen Werken Symbolisches sah, was er früher
zurückgewiesen hat."
Strehlke stellte 1868 in der Einleitung zum 16. Bande der Hempelschen Goethe-
ausgabe die bisherigen Deutungsversuche zusammen. Alles, was bis zur jetzigen
Stunde zu seiner Erklärung beigebracht ist, faßt Arthur Denecke in einem treff-
lichen Aufsatze im dritten Hefte des Jahrganges 191 1 S. 161 vonBodes so empfehlens-
werten Stunden mit Goethe*) zusammen.
Denn Lucerna, die der Überzeugung ist, daß sie zuerst — 115 Jahre nach dem
Erscheinen der Dichtung — die Lösung des Rätsels gebracht habe, setzt sich mit
*) Im Verlage von E. S. Mittler, Berlin. Das Heft kostet 1 M.
694 C. Lucerna, Das Märchen,
den früheren Lösungsversuchen nicht auseinander. Seite 112 erklärt sie: „Ver-
gleichung und Kritik der zahlreichen Interpretationen liegt außerhalb des Plans
dieser Arbeit." Auch berücksichtigt sie gar nicht die Stellung des Märchens
innerhalb des Zyklus der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, unter-
sucht nicht seine Beziehungen als eines Teiles zum Ganzen, obwohl doch der Alte,
der Erzähler zu Karl sagt: „Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Märchen, durch
das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen.**
Was hat sie selbst nun Neues uns gebracht? Das Märchen umhülle in sym-
bolischer Form das Totalbild von Goethes Weltanschauung; es ersetze uns das von
Goethe zusammen mit Schelling geplante und Plan gebliebene „Naturgedicht"
(S. 15); es sei ein „Weltwerdungsbildchen", ein Sinnbild des Vorgangs des Werdens
nach Gesetzen. Es baut sich aus sich selbst auf nach den beiden Grundbegriffen
Goethescher Natur- und Kunstanschauung: Polarität und Steigerung unter Ver-
wandlungen.
Wie die Bibel knüpft es an Weib und Schlange das Problem des Lebens und
des Todes. „Daß alle wesentlichen Elemente von Goethes Weltbetrachtung sich
zu Symbolen umkristallisiert und zu einem poetischen Mikrokosmus, dem Märchen,
zusammengeschlossen haben, ward bisher nicht erkannt" (S. 24). Goethe stelle
im Märchen über Sündenfall, Erlösung, Herkunft des Gottesreiches sinnbildlich
unter Verhüllungen eine neue unchristliche Lehre auf. In der Bibel ist
die Schlange der Teufel, d. h. die Personifikation der bösen Triebe im Menschen;
im Märchen opfert sie sich dem Gemeinwohl auf. Denn Goethe will von dem
„Schandfleck des radikalen Bösen" nichts wissen; der Erbsünde gegenüber möchte
er eine Erbtugend, eine angeborene Güte im Menschen voraussetzen. Eben
„der Protest gegen die postulierte Schlechtigkeit der menschlichen Triebe bildet
unter dem Symbol der Schlange das Grund- und Hauptmotiv."
Die Schlange vermittelt das Hin und Her der Völkerscharen von und zu dem
Zentrum eines Weltbundes der Humanität. Von der sinnlichen Gier wird sie zur
Erkenntnis geleitet, von hier zur sittlichen Tat. Indem sie sich für den Königs-
sohn aufopfert, paßt auf sie der Ausspruch Goethes, wir müßten unsere Existenz
aufgeben, damit wir existieren. In schöner Form besteht sie fort und versinnlicht
in gewölbter Brückengestalt das Gesetz aller Organisation, dessen poetische Formu-
lierung das Märchen ist.
Auch der weitere Grundgedanke des Märchens: ,,Ein einzelner hilft nicht,
sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt" stehe im Gegensatze
zum Kern der christlichen Glaubenslehre, der Herabkunft des Gottesreiches.
1794 — 1796 erschien Jung-Stillings Roman: „Das Heimweh". Durchtränkt
von Vorstellungen aus der Offenbarung Johannis, stellt er den Weg des Christen
bis zu seiner vollkommenen Ausbildung, zum Kreuzritter im Tempel zu Jerusalem,
dar. Er warnt vor dem Irrlicht, den Lämpchenmännern, dem Irrwischglanz der
Aufklärung, der Verführung des Schlangengeistes, vor der Kantischen Philosophie.
,, Kindlein l es ist die letzte Stunde — in der ersten gab's Riesen, gewaltige Leute,
jetzt aber gibt's Genies, die gewaltig herrschen und mit Verachtung auf den Christen
herabsehen." Der Hinweis darauf (S. 117), daß Goethes Phantasie in dem 1795
gedichteten Märchen mit diesen seiner Zeit geläufigen Vorstellungen spielte, ist
einleuchtend.
angez. von M. Heynacher. 695
Ebenso wenig sind die vielen Anklänge an die Freimaurerei abzuweisen. Der
Weltverjüngungsprozeß im Märchen ist geknüpft an das Bild der Brücke und an
das Wiedererstehen des Tempels. Unter der Arbeit am Tempel verstehen die Frei-
maurer die Arbeit am Bau und Fortbau der Menschheit, Mit der Dreikönigs-
allegorie des Märchens hat man die maurerische Dreiheit: Stärke, Schönheit und
Weisheit oft zusammengestellt.
Auf alle Symbolisierungen, die die Verfasserin deutet, können wir hier nicht
eingehen. Der Alte mit der Lampe sei Goethe selber. Die Lampe versinnbildliche
zusammen mit ihrem Träger die Synthese und Relation von höchster Erden- und
Menschengeisteskraft. Camilla Lucerna beruft sich dabei auf Goethes Ausspruch:
Licht und Geist, jenes im Physischen, dieses im Sittlichen herrschend, sind die
höchsten denkbaren unteilbaren Energien (Sophienausgabe II, 11, 157).
Bei den Irrlichtern wird die Verfasserin an französische Emigranten erinnert
(152 — 154) als Vertreter einer Scheinzivilisation, gutmütige Spötter und Schma-
rotzer, die in ihrer Unbekümmertheit leicht schweres Unglück anrichten. Aber
nur sie sind imstande, das goldene Schloß an der Pforte des Heiligtums aufzu-
schließen. Damit habe der Dichter die Idee versinnbildlicht, daß irrende Kräfte
sich leiten und einfangen lassen zum Dienste des Ganzen; auch sei zu denken an die
damals noch neue Anwendung der spitzen Flamme beim Lötrohr, die aufschmelzen
kann, was der runden nicht gelingt.
Auch unter dem Bilde des pflichtkundigen Fährmanns erblickt Camilla Lucerna
Goethe (158). In dem Flusse sieht sie das Dämonische, eine unfaßliche Schicksals-
macht, die die moralische Weltordnung durchkreuzt, in alles Menschliche ein-
greift und manchmal in einzelnen Menschen selbst verhängnisvoll wirksam wird.
Im Juni 1795 erwartete Goethe von klugen Käuzen unübersehliche Not, „wenn
ich'*, schreibt er, „dem englischen Baal Isaak zu Leibe gehe und die allerliebste
hergebrachte Strahlenspalterei für ein Märchen erklären werde". Diese beachtens-
werte Briefstelle zeigt uns, daß in Goethe damals, als er das Märchen dichtete,
der Widerstreit gegen Newtons Lehre arbeitete. Nun hatte Newton, sein wissen-
schaftlicher Gegner in der Farbenlehre, auch ein Buch über die Prophezeihungen
Daniels und die Apokalypse geschrieben: Observations upon the Prophecies of
Daniel and the Apocalypse of St. John, London 1733. Hierin ist der Schlüssel
zu suchen. Daniel deutete den Traum Nebukadnezars auf fünf Königreiche. Das
fünfte „wird ein zerteilt Königreich sein", zum Teil stark, zum Teil schwach. Im
Hinblick hierauf sieht Lucerna in dem gemischten König des Märchens das Sinn-
bild für alles im Werden Gestockte, alles erzwungen Hergestellte — den Newto-
nianismus, Goethes „Prügelgötzen". Goethe habe diese Vision Daniels im Märchen
ins Komische umgedeutet.
Mit diesen Angaben ist der reiche Inhalt des Buches nicht erschöpft. Es wird
jedem, der sich für die Erklärung des rätselhaften Märchens interessiert, eine Fülle
von Anregungen und Aufklärungen bieten. Ihr philosophisches Rüstzeug ver-
dankt Camilla Lucerna Boucke, Goethes Weltanschauung auf historischer Grund-
lage (Stuttgart 1907. Frommann), einem Werke, das bei uns bisher nicht genug
gekannt und gewürdigt worden ist und den Bibliotheken der höheren Lehranstalten
hiermit empfohlen sei.
Hannover. Max Heynacher.
696 Goethes sämtliche Werke, angez. von A. Matthias.
Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden. In Ver-
bindung mit Konrad Burdach etc. herausgegeben von Eduard von der
Hellen. Register von Eduard von der Hellen. VIII und 423 S. 8^. Stutt-
gart und Berlin 1912. J. G. Cotta Nachfolger, geh. 3 M., geb. 4 M.
Zu der in dieser Monatschrift Jahrgang II (1903) S.565, f. und Jahrgang VII
(1908) S.469ff. besprochenen Jubiläumsausgabe von Goethes sämtlichen Werken ist
nun der von Eduard von der Hellen bearbeitete Registerband erschienen: eine be-
wundernswerte Leistung des Fleißes, der Gründlichkeit, der Gewissenhaftigkeit und
des klug sammelnden Geschickes. Das Register bringt zunächst Personen und Orte
und zwar nicht nur die genannten, sondern auch diejenigen, die Goethe nur andeutet
oder im Sinne hat, ohne sie zu nennen. Dann sind in ihm Sachen und Gedanken
enthalten in einer Art, die etwas ganz Neues darstellt. Alles zu erschöpfen ist un-
möglich, es mußten deshalb ganze Seiten zusammenfassende Stichwörter gegeben
werden; das hat, da subjektives Ermessen hier stark mitwirkt, große Schwierig-
keitengemacht; mancher wird das Stichwort, was ihm gerade vorschwebt, vermissen,
ein anderer wird mit dem Stichwort, das er findet, nichts anzufangen wissen. Ein
unverrückbar festes Maß ließ sich hier nicht anwenden, zumal auch bei der Arbeit
manche Stichwörter durch begriffsverwandte sich verschieben mußten. Außer
den Stichwörtern hat v. d. H. aber auch viele einzelne Sätze und Gedanken aufge-
nommen, für die es ebenfalls keinen festen Maßstab gab. Maßgebend war für ihn
hier Goethes Anschauung, aber auch der Leser Bedürfnis. Letzteres aber ist ja so
mannigfaltig, wie die Leserschar mannigfach geartet ist- Also auch hier wieder war
für den Verfasser die Wahl eine Qual.
Wie er seine Aufgabe gelöst hat, vermag man nur durch eifrige Benützung des
Registerbandes festzustellen. Ich habe nun längere Wochen das Buch neben mir
gehabt und bei allen möglichen Anlässen den Band benützt; kein einziges Mal hat
es mich im Stich gelassen. Ich habe allerdings auch die Mühe nicht gescheut, die
zahlreichen Hin- und Herverweisungen bei meinem Suchen zu benutzen. — Daß sich
der Verfasser diese Riesenarbeit aufgeladen hat, sollte ihm jeder, der seinen Goethe
liebt, aufrichtig danken, auch dadurch, daß er dem Verfasser mitteilt, wenn er ein-
mal bei seinem Suchen nicht findet oder wenn er Verbesserungen vorschlagen kann,
die das Suchen erleichtern.
Was der Verfasser am Schluß der Vorbemerkung sagt, ist sicherlich vielen
aus der Seele gesprochen; deshalb setze ich es hierher: „Es ist ja weder Neugier
noch gelehrte Sucht, was den denkenden Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts
immerfort fragen läßt, wie Goethe über dieses und jenes geurteilt habe. Wie eine
frühere Zeit an den heiligen Schriften der Bibel, so mißt die heutige ihr Urteil an
dem dieses einen universalen Mannes. Kein Problem der Kunst und Wissenschaft,
keine Frage des geistigen und sittlichen, des öffentlichen und privaten, sozialen und
individuellen Lebens hat Goethe unerörtert gelassen, und der moderne Mensch
orientiert sich auf diesem weiten Meere, indem er, wie der Schiffer zum Polarstern,
aufblickt zu Goethe. In dem Brennpunkt dieses einen Geistes sammeln sich alle
Strahlen zu einem Licht von unvergleichlicher Klarheit."
Josef von Görres' Ausgewählte Werke und Briefe. Herausgegeben mit Einleitung
und Anmerkungen versehen von Wilhelm Schellberg. Band I : Aus-
Josef V. Görres' Ausgewählte Werke und Briefe, angez. von A. Matthias. 697
gewählte Werke. 827 S. Band II: Ausgewählte Briefe. 862 S. geh. in zwei
Bänden 6 M., geb. in einem Band 7,50 M. geb. in zwei Bänden 8 M.
Kempten und München 1911. Josef Kösel.
Man mag zu Görres stehen, wie man will — und der Haß seiner politischen
und religiösen Gegner hat dieses Mannes edles Bild in eine Karikatur zu verzerren
gesucht — man wird dem Herausgeber seiner ausgewählten Werke und Briefe
danken müssen, daß er sich einer mühevollen Arbeit unterzogen hat; denn in Görres
Schriften steckt ein gewaltiges Kapital von Werten, das der Nachwelt überliefert
zu werden würdig ist. Zu diesen Werten gehören wohl alle seine Schriften über die
deutsche Literatur, besonders was er über die alten Volksbücher geschrieben hat.
Und ebenso geht's mit sehr vielem, was er in seinem Rheinischen Merkur veröffent-
licht hat. Wenn ihn Napoleon die fünfte Großmacht nannte, so können wir er-
messen, was Görres seinen Zeitgenossen gewesen ist. Er hat als Journalist in
seiner Zeit nicht seinesgleichen gehabt. Und nennt ihn Hebbel einen homo sui
generis, so ist damit gesagt, daß er nicht nur seinen Zeitgenossen etwas gewesen ist,
sondern allen Menschen für alle Zeiten etwas sein wird.
Auf eine Formel läßt sich ja dieser Mann nicht bringen. Als Jüngling hat er
voll fanatischen Jakobinereifers wider Kirche und Monarchie gestritten, als Greis
hat er nach trüben Tagen bittrer Enttäuschung voll ernster, herber Begeisterung
für seine kirchlichen und politischen Ideale gefochten, aber als Mann hat er in der
Vollkraft seiner Reife Napoleons Glück und Ende, Deutschlands Schmach und
Sieg geschaut und mit Flammenworten lodernden Haß entzündet gegen den land-
fremden Bedrücker. Deshalb sollen wir ihn willkommen heißen in einer Zeit, da
die Erinnerung an jene Zeiten mächtig erwacht, willkommen heißen auch wegen der
gewaltigen Anschauungskraft, die in seiner bilderreichen Sprache uns erquicken
muß, und wegen der poetischen Sicherheit, mit der jene Kraft in die sprachliche
Erscheinung tritt.
Der erste Teil des Erneuerungsversuches, den mit Görres" Schriften ein rheini-
scher Schulmann hier versucht, gibt eine Auslese aus Görres' Schaffen bis 1819,
dem Jahre, das im Wendepunkt von Görres' Leben steht und bis zu dem seine
Schriften wohl bei allen, wes Glaubens und welcher Partei sie sind, eine freundliche
Aufnahme finden wird. Der zweite Band bringt eine Auswahl aus Görres' Briefen;
sie stellen hauptsächlich seine letzte Entwicklungsstufe dar.
Dem Ganzen ist eine Darlegung von Görres Entwicklung vom Verfasser voran-
geschickt, die nicht nur ein Bild eines reichen Menschenlebens uns bietet, sondern
auch ein Bild reicher rheinischer und deutscher Kultur zwischen den Jahren 1776
und 1848. Die wertvollen Anmerkungen d^s Herausgebers führen ein in das
Verständnis des Buches und in die Arbeitsstätte des Verfassers, in der er manche
schwere Mühe hat überwinden müssen. Vorzügliche Register schließen das Ganze ab.
Durch die Herausgabe dieser ausgewählten Schriften wird der Wunsch nach einer
historisch-kritischen Görresausgabe wieder wachgerufen. Es ist höchst erfreulich,
daß Schellberg diesen Gedanken aufgenommen und bereits als Mitarbeiter Männer
gewonnen hat wie Steig, Merkel, Spahn, F. Schultz, H. Grauert, H. Rondil,
K. A. von Müller u. Dyrhoff.
Berlin. A. Matthias.
698 Quellen, angez. von K. Lorenz.
Quellen. Bücher zur Freude und zur Förderung. Herausgegeben von Heinrich
Wolgast. München 1911. Verlag der Jugendblätter (C. Schnell), kl. 8^.
jeder Band 25 Pf.
Über Heinrich Wolgast und seine Stellung in der Jugendschriftenfrage gingen
seit dem Erscheinen seines Buches „Das Elend der Jugendliteratur" die Ansichten
bald weit auseinander. Die einen feierten ihn als ihren Helden, der endlich das
Dornröschen für die Kinder erweckt hätte, die andern verdammten ihn und seine
Bestrebungen in Grund und Boden. In den letzten Jahren haben sich die Urteile
abgeklärt, und auch die ehemaligen Gegner müssen zugestehen, daß Wolgast
immer unter denen genannt werden muß, die zuerst auf das Elend der Jugendliteratur
rücksichtslos hingewiesen und Besserung auf diesem Gebiete nach Kräften an-
gestrebt haben. Aber trotzdem kamen aus dem Lager der Gegner immer noch die
Rufe: Ja, herunterreißen ist nicht schwer, mach es doch besser, wenn Du es
besser weißt! — Es hat lange auf sich warten lassen, daß von dieser berufenen
Seite aus ein Unternehmen begonnen wurde, das auf jahrelang geprüfter guter
Grundlage Neues aufbaut. Vor den vielen guten Büchelchen für die Jugend, die
uns die letzten Jahre gebracht haben, hat diese Wolgastsche Sammlung voraus,
daß sie trotz dem billigen Preise, der auch den ärmeren Kindern ihre Anschaffung
ermöglicht, ein innerlich und äußerlich geschmackvolles und gutes Buch den Kindern
fürs Leben in die Hand gibt. Nichts in der Benennung erinnert, wie sonst fast
überall bei ähnlichen Sammlungen, an die Schule. So wirft man es nach der Schule
nicht mit den anderen ausgebrauchten Schulbüchern in die Ecke. Auch bringt es
keine abgerissenen und verkürzten Lesebuchgeschichten, bei denen man nie warm
werden kann, sondern ein Ganzes und in sich Abgeschlossenes. Die bisher er-
schienene Auswahl — Tiergeschichte, Märchen von Grimm und Andersen, drollige
Geschichten von Hebel, Sagen vom Eulenspiegel und den Schildbürgern, das
Nibelungenlied, Reisen von Humboldt und Adolf Friedrich von Mecklenburg,
Hermann und Dorothea, Teil, Homburg, Briefe von Goethes Mutter — zeigt, daß
planmäßig von unten aufgebaut und das Beste den Kindern geboten wird. Den
dickleibigen Lesebüchern erklärt diese Sammlung den Krieg. In jener kann doch
nur genascht werden, so gut die Auswahl auch ist, und wer liest später in seinem
Schullesebuch? Diese handlichen Büchelchen aber regen zum Vertiefen in einen
Gegenstand an und bewahren so vor dem Hauptfehler des Lesens, dem Überall-
herumsuchen und Schnelldarüberhinhuschen. Mit ihnen reichen sich das Lesen
in der Schule und zu Hause zum Segen der Jugend die Hand. — Der Herausgeber
und Verleger verdienen höchstes Lob.
Hamburg. Karl Lorenz.
Studies in the History of Classical Teaching, Irish and Continental (1500—1700)
by Rev. J. Corcoran S. J. Professor of Education in the National University
of Ireland. The Educational Company of Ireland Limited. Belfast 1911.
gr. 8». VIII u. 306 S. (Ohne Preisangabe.)
Das Werk zerfällt in zwei Teile und einen umfangreichen Anhang. In T e i 1 I
(130 S.) behandelt Corcoran auf Grund eines 1907 in Madrid aufgefundenen Exem-
plars der ersten Ausgabe (span.-lat.) die 1611 von den Jesuiten des irischen Collegs
English Education, angez. von H. Sommermeier. 699
der Universität Salamanca herausgegebene JanuaLinguarum, durcli die
Comenius zu seiner Janua Linguarum Reserata angeregt wurde. Das vorliegende
Buch ist also eine Art Jubiläumsgabe. Der Person des Hauptverfassers William
Bathe, seiner Familie und seinen Mitarbeitern sind die ersten Kapitel gewidmet. Dann
folgt eine ausführliche Beschreibung der Janua und ihrer Ausgaben. Be- und Verar-
beitungen in Deutschland, England, Portugal und Italien. Das Ziel des Verfassers
ist in diesem Teile, der Janua seiner Landsleute und Ordensbrüder die gebührende
Anerkennung und den ihr nach seiner Ansicht zukommenden Platz über der Janua
des Comenius zu verschaffen. — Die Angaben über die Janua der Jesuiten sind in
unsern Geschichten der Pädagogik, soweit ich gesehen habe, ungenau und werden
durch C.s Untersuchungen verbessert (vgl. die Werke von Raumer S. 64, Ziegler
S. 160, Schmid III, 2 S. 270).
Von allgemeinerem Interesse ist T e i 1 II (1 16 S.), in dem Verfasser die Methodik
des klassischen Unterrichts darstellt, wie sie zwischen 1500 und 1700, d. h. in dem
Zeitraum, in den die Janua gehört, von den führenden Geistern vertreten wurde.
Das Bild, das er hier entwirft, fügt zu dem von Paulsen, Gesch. d. gel. U. S. 349 ff.
und 412 ff., für Deutschland bzw. die Jesuitenschulen gezeichneten kaum neue
Züge hinzu, denn das Reich der Gelehrsamkeit war international. Hierbei will
Verfasser auch die Kämpfe um die Methode des Sprachunterrichts, wie sie für
unsere Tage charakteristisch sind, beleuchten. Wenn seine Ansichten, durch die
hie und da doch die Sutane des Ordensmannes hindurchschimmert, und sein
wehmütiges Lob der guten alten Zeit auch nicht immer Zustimmung finden werden,
so bieten seine Ausführungen doch manches Interessante, zunächst natürlich
für den Altphilologen, doch auch für den Neusprachler, denn dieselben Fragen,
die in den letzten Jahrzehnten bei dem Kampf um die Reform des neusprachlichen
Unterrichts die Gemüter erhitzten, wie direkte Methode, Behandlung der Lektüre
und Grammatik, die Muttersprache im Unterricht, das Übersetzen in die Fremd-
sprache, sehen wir auch in jener Zeit des Nachhumanismus im Mittelpunkt des
Interesses stehen. — Der A n h a n g (57 S.) bietet Material zu Teil I, so vor allem
Teile der Janua.
Außer einigen leichten Druckfehlern ist mir nur ein störendes Versehen auf-
gefallen: Die letzte Zeile von S. 212 gehört an den Schluß von S. 213. Sehr nach-
lässig ist Verfasser bei der Wiedergabe der in den Texten latinisierten deutschen
Ortsnamen, vgl. z. B. S. 51 Lureberg für Lüneburg (Text Lynenb.), S. 52 Scheningen
für Schöningen, S.66 J. M. Dilherr, Prof. at the Palatine Gymnasium of Saale für
University of Jena. (Text Academia Salana, Dilherr war z. d. Z. Professor in Jena,
und Acad. Salana im 17./ 18. Jahrh. ganz gebräuchlich für Univ. Jena).
English Education, the Law, the Church, and the Government
0 f t h e B r i t i s h E m p i r e. By W. H. Wells (B. A. Oxon), English Lecturer
in the University of Munich. München und Berlin 1910. R. Oldenbourg.
IX u. 131 S. 80. brosch. 3,20 M., geb. 3,80 M.
Den Hauptteil des Werkes nehmen die Abschnitte ein, die die Erziehung,
d. h. Volksschule, Höhere Schule und Universität mit ihren Mittelgliedern und
Abarten, behandeln (68 S.). Das Kapitel über die Entwicklung des Volks-
700 English Education, angez. von H. Sommermeier.
Schulunterrichts und der verschiedenen Schularten, die dem Volksschüler
Gelegenheit zur Weiterbildung geben sollen — auch die Lehrerseminare werden
besprochen — ist klar und befriedigt vollauf; ebenso das zweite, das über die
Frauenbildung (Höhere Töchterschule und Frauenstudium) handelt. —
Während in diesen Abschnitten das Historische überwiegt, geht der Verfasser
in den nächsten. Public Schools und Eton College, mehr auf den
Charakter der englischen Höheren Knabenschule ein und schließt mit einer warmen
Verteidigung der public schooU wie sie ist. Bei der Betonung der englischen E r -
z i e h u n g s schule, die er, in einigen Hinweisen wenigstens, in Gegensatz setzt
zu der deutschen Höheren Lehr anstalt, hätte Wells mehr hervorheben sollen,
daß dieser Unterschied vor allem auf dem Gegensatz zwischen der englischen
Internatsschule und der deutschen Halbtagsschule beruht. Ich vermisse ein näheres
Eingehen auf den Lehrbetrieb (Anspannung des Ehrgeizes, öffentliche Preis-
verteilungen etc.), sowie auf die Reformbestrebungen der letzten Jahrzehnte.
Einige Bemerkungen über die Höheren Privatschulen, die neben den sogenannten
public schools einen so breiten Raum einnehmen, würden sich empfehlen. Angaben
über die Vorbildung und Stellung des englischen Oberlehrers {assistant master)
folgen seltsamerweise erst 58 Seiten später. — Beachtenswert ist das Kapitel über
die englischen Universitäten mit einer lebendigen, ausführlichen Schilde-
rung der Universität Oxford und kürzeren Abschnitten über Cambridge und London
University, beachtenswert vor allem durch die glänzende Charakteristik des Geistes,
der auf den beiden alten englischen Hochschulen herrscht. In scharfen Gegensatz
zu ihnen, „dem Eigentum der herrschenden Klassen", die sich durch ,,eine gewisse
aristokratische Erhabenheit über materielle oder unmittelbar praktische Dinge"
auszeichnen, stellt er London University, die Volkshochschule und Arbeits-
universität. — Bei der Beschreibung der Tracht des B. A. und B. Sc. fehlt der Hin-
weis auf die mit Seide gefütterte Kapuze.
Ich glaubte, gerade an dieser Stelle auf die erste Hälfte des Werks näher ein-
gehen zu müssen, über die zweite kann ich mich kürzer fassen. Das Kapitel über
englische Rechtspflege gibt ein klares Bild der heutigen Zustände, ohne
sich auf geschichtliche Rückblicke einzulassen. Klar und übersichtlich ist auch
der Abschnitt über das kirchliche Leben, vor allem die Hochkirche.
Ich vermisse eine wenn auch kurze Bemerkung über die Quäker und Katholiken;
zu den „Anglican monasteries'' (S. 89, 3) hätte eine Erläuterung gegeben werden
müssen; die Zahl der Anhänger der Hochkirche konnte wenigstens angedeutet
werden. — Das folgende Kapitel gibt ein übersichtliches Bild der englischen Ver-
fassung, wie sie Anfang 1910 bestand. Nachdem Wells dann kurz die Ver-
waltung der County, mit besonderer Berücksichtigung Londons und
der City, charakterisiert hat, schließt er mit einigen Angaben über die großen
Kolonien und ihr Verhältnis zum Mutterlande. Indien wird besonders be-
handelt.
Folgende Druckfehler sind mir aufgefallen: S. 9,18, 10,7, 121,15 lies de-
velop statt develope; S. 14, 10 lies these statt theses; S. 83, 12 lies suffragan für suf-
fragen; S. 90,31 differences für of differences; S. 96, 12 sind die Zahlenangaben
augenscheinlich umgestellt; S. 65, 18 lies 1829 für 1836.
Velhagen und Klasings Volksbücher, angez. von A. Matthias. 701
Wells will, wie er in der Vorrede sagt, ,,den Engländer durch seine Erziehung
und die Formen des öffentlichen Lebens, in die er sich einpassen muß, erklären".
Hieraus ergibt sich die Auswahl der Kapitel und die Anlage des Werks, das darauf
verzichtet, Nachschlagebuch zu sein. (Ein Index fehlt daher leider.) So kommt
es wohl auch, daß Wells den Schotten und Irländer fast durchweg nicht berück-
sichtigt. Daß vor allem das schottische Erziehungswesen nicht behandelt ist,
wird mit mir mancher Leser bedauern.
Sicherlich hat Wells das Ziel, das er sich gesteckt hat, erreicht. Alles cha-
rakteristisch Englische ist trefflich herausgearbeitet, man fühlt sich umweht vom
Geiste Britanniens. Wo der Verfasser einen eigenen Standpunkt einnimmt, ist
er einseitig englisch, aber nie unangenehm einseitig, denn man fühlt, das Urteil
beruht auf ehrlicher Überzeugung und kommt aus einem warmen Herzen. So
kann das Werk einem jeden, der Interesse für englisches Volkstum hat, nicht warm
genug empfohlen werden. Eine deutsche Ausgabe, deren Preis allerdings niedriger
sein müßte, würde sicher den Leserkreis bedeutend erweitern.
Halberstadt. Herm. Sommermeier.
Velhagen und Klasings Volksbücher. Volksbücher der Geschichte.
Die Völkerschlacht bei Leipzig. Von Generalmajor z. D. W. von Voss. Mit 28 Ab-
bildungen und einem farbigen Umschlagsbild. 34 S. — Volksbücherder
Literatur, Ludwig Uhland. Von Dir. Max Mandheim. Mit 35 Ab-
bildungen und einem farbigen Umschlagsbild. 34 S. Bielefeld und Leipzig 1912.
Velhagen und Klasing. Jedes Heft kart. 0,60 M.
Den im Jahrgang X, S. 551 und Jahrgang XI, S. 280 besprochenen Heftchen
sind zwei neue gefolgt, das eine offenbar in Erinnerung an den 50 jährigen Todestag
Ludwig Uhlands (13. November 1862), das andere zur Erinnerung an das kom-
mende große Jahr der Befreiungskriege. Beide Bücher entsprechen den Zwecken
der Volksbücher; sie belehren durch reichen, in knapper Form gebotenen Inhalt
und bieten zugleich edelste Unterhaltung durch guten Stil und vornehme kunstreiche
Ausstattung.
Berlin. A. M a 1 1 h i a s.
Schmid, B., Biologisches Praktikum. Leipzig 1909. B. G. Teubner.
71 S. gr. 8'\ geh. 2 M., geb. 2,50 M.
Die Wiedereinführung der Biologie in den oberen Klassen hat auch erfreulicher-
weise den Gedanken an biologische Übungen mehr in den Vordergrund geschoben,
wie sie Schreiber dieses bereits vor 10 Jahren im Pädagogium zu Godesberg ein-
führte. Das vorliegende Buch bietet für solche Übungen einen willkommenen
Leitfaden; er behandelt Botanik und Zoologie und zwar nicht nur Anatomisches,
sondern auch Physiologisches. Dadurch gewinnt der Kursus eine angenehme Viel-
seitigkeit. Freilich scheint mir der Verfasser im zoologischen Teil doch zu weit
zu gehen, da wäre größere Beschränkung wohl angebracht gewesen. Vorzügliche
Text- und Tafelbilder erleichtern das Verständnis.
Godesberg. E. D e n n e r t.
Vermischtes.
Bekanntmachung des Königlichen Provinzialschulkollegiums.
Coblenz, den 29. Oktober 1912.
Auf Grund der in den Amtsblättern der Königlichen Regierungen der Rhein-
provinz und zu Sigmaringen im Jahre 1889 veröffentlichten Prüfungsordnung vom
26. August 1889 wird dieTurn-und Schwimmlehrer- Prüfung im Jahre
1913 am 10. März und folgenden Tagen in den Räumen der Karlschule am Kaiser-
Karl-Ring in Bonn abgehalten werden. t:
Zu der Prüfung werden Bewerber zugelassen, welche bereits die Befähigung
zur Erteilung von Schulunterricht vorschriftsmäßig erworben haben, und Studie-
rende, diese jedoch nicht vor vollendetem dritten Semester.
Die Anmeldung zu der Prüfung hat bis zum 10. Februar 1913 bei dem
Provinzialschulkollegium zu erfolgen und zwar seitens der in einem Lehramte
stehenden Bewerber durch die vorgesetzte Dienstbehörde, seitens der anderen
unmittelbar.
Jeder Bewerber hat vor dem Eintritte in die Prüfung eine Gebühr von 12 Mark
zu entrichten.
Über die an der Zulassung zur Prüfung geknüpften besonderen Bedingungen,
insbesondere auch über die der Meldung beizufügenden Schriftstücke gibt die
Prüfungsordnung nähere Auskunft.
Erwiderungen.
Auf S. 482 — 486 dieser Monatschrift ist eine absprechende Beurteilung meiner
„Geschichte der griechischen Literatur, 1. Hälfte" zu lesen. So wenig es mir
einfallen kann, mit Recht ausgestellte falsche Behauptungen und unzutreffende
Angaben beschönigen zu wollen, so bin ich doch in der Lage, mich für einen sehr
großen Teil des dort Gerügten auf gleichartige Ausführungen Größerer zu berufen.
Ich selber muß wenigstens folgendes vorbringen:
1. Mein Kritiker bemängelt die unvollständige Nachprüfung der Literatur-
angaben, und doch kennt er selber die Worte des Umschlags: „die Titel sind nach
Vermischtes. 703
Möglichkeit (!) nachgeprüft worden": wer sich jemals an eine solche Riesenarbeit
gemacht hat, wird den Universitätsprofessor beneiden, der sich für solche Geschäfte
der Hilfe seiner Studenten bedienen kann, und doch zeigen auch die Werke an-
erkannter Größen solche Mängel (vgl. S. 479). Über Antiphon (s. die Ausstellungen
auf S. 486) steht noch einiges auf S. 317 f. meines Buchs, worauf natürlich seinerzeit
der Index hinweisen wird.
2. Es wird von mir verlangt, daß „die Literaturangaben alles bieten" sollen,
„was den Text und seine Fassung begründet": in einem kleinen Kompendium ist
das ganz unmöglich, auch wenn der Verleger sich noch viel entgegenkommender
zeigt, als der meinige gewesen ist; vielleicht darf ich meinen Kritiker einladen, sich
nun auch einmal die letzte Auflage des „Freund" (2. A. 1880) anzusehen, wo für
den Teil der griechischen Literaturgeschichte, den ich Ende 1911 vorgelegt habe,
statt der 352 Seiten meiner Bearbeitung ganze 153 zu finden sind.
3. Erstes Erfordernis soll sein, „daß der knappe Text [ist er das nicht?] nur
positiv Feststehendes bringt. Hypothetisches als solches bezeichnet", das heißt also,
um mich der Redeweise des alten Sokrates zu bedienen: Hypothetisches darf zwar
nicht gebracht werden, aber es darf gebracht werden. Nun, wenn ich Hypothe-
tisches nicht bringen darf, so sollte mein Rezensent auch nicht verlangen, daß
ich bei der Angabe über die sTrixacpioi Xo^oi mehr sage als „nachweisbar seit . . ."
und selber die Fassung hätte finden sollen, die ich übrigens gerne annehme: „die
Sitte der staatlichen Leichenrede bestand aber wahrscheinlich schon seit der Mitte
der 70 er Jahre des V. Jahrhunderts": dieses „wahrscheinlich" und ebenso u. a.
ein „Anschauung" auf derselben Seite kennzeichnet ja die Behauptung unzweifelhaft
als Hypothese, und doch soll „der knappe Text nur [ ! ] positiv Feststehendes bringen",
also „Hypothetisches" beiseite lassen. Aber wie gesagt Hypothetisches darf ja auch
gebracht werden; ich glaube denn auch Hypothetisches, wenn ich es überhaupt auf-
genommen habe, in der Regel als solches bemerklich gemacht z\i haben, auch in dem
vom Rezensenten herausgegriffenen Abschnitt S. 291 ff., z. B. wo ich von Antiphon
sage (S. 294): „Er ist neuerdings mit dem Sophisten A. identifiziert worden (unbe-
wiesen)" — ich hätte auch „hypothetisch" schreiben können — oder wo ich die
TsTpaXoYtat „stilistisch verdächtig" heiße — ich hätte auch hier „hypothetisch"
schreiben können, aber es hätte dem Leser weniger gesagt — .
4. Daß wir von dem Epitaphiosfragment des Gorgias „unbedeutende Bruch-
stücke" haben, gibt mir jeder zu, der weiß, daß „unbedeutend" soviel wie ,, wenig
umfangreich" bedeuten kann, und daß das zutrifft, zeigt ein Blick in Diels Frag-
mente der Vorsokratiker II 1- (1907), S. 556 f.; ein Werturteil wollte ich ja gar
nicht geben, aber es kann immerhin künftig geschehen.
5. Gorgias braucht, wie mir ein Neusprachler bestätigt, kein Advokat gewesen
zu sein, um als Vertreter einer „Advokatenkunst" zu gelten; übrigens (nicht „sonst",
wie es S. 483 irreführend heißt) scheine ich mich hier in guter Gesellschaft zu be-
finden (vgl. Paul Wendlands Ausführungen bei Gercke und Norden I 1910, S. 337 f.).
6. Nachdem ich in dem den § 60 einleitenden Abschnitt durch ein „vor allem"
mich salviert zu haben glaubte, führte ich in kleinerem Druck einiges aus und zwar
in der Form: „Einzelnes: I.Alexandriner.... 2. Pergamener
704 Vermischtes.
Dionysiosvon Halikarnassos. — Erhalten: 1. Dion.
Hai.; 2. Ps.-P 1 u t a r ch s Bioi xwv osxa pvjxopwv .... 5. die Auszüge
{Glossen) aus dem Onomastikon des Julius P o 1 1 u x , um 180 n. Chr. (bes. aus
Didymos)." Obwohl ich also, außer jenem „vor allem*', am Schluß auf den unter 1
erwähnten Alexandriner Didymos verweise und zwischen ,,H a 1 i k a r n a s s o s"
und ,,Erh alten'* einen für jedermann ohne weiteres verständlichen Strich
gesetzt habe, schließt Herr K. Münscher seine Ausführungen über diesen Abschnitt
mit den Worten: „und das alles figuriert unter der Rubrik: Pergamener!"
R. Wagner.
Herr Professor Dr. K. Münscher, dem diese Erwiderung vorgelegt ist, ver-
zichtet aufs Wort. A. Matthias.
Für die eingehende Besprechung von natator Delius bin ich Herrn Kröhnert
aufrichtig dankbar. Auf seine Bedenken gegen meine Deutung des Aneroidbaro-
meters erwidere ich:
1. Nicht daran nehme ich Anstoß, daß ein Physiker ein Wort, obgleich es der
späteren Gräzität angehört, verwendet, sondern daß ihm ein solches Wort sollte
bekannt gewesen sein; es ist nur nachgewiesen in einem obskuren Fachschrift-
steller und wird von Phrynichus in seiner Zusammenstellung attischer Ausdrücke
besprochen, einer Schrift, mit der sich selbst von den Philologen nur wenige be-
schäftigen. In einem englisch-griechischen Wörterbuch aber dürfte er sicherlich
das Wort nicht gefunden haben.
2. Daß die Ableitungen von dvr^p mit dvBpo beginnen müßten, ist ihm als
Nichtphilologen nicht anzurechnen; für ihn lag es nahe, nach dem Beispiel doxT^p
Asteroiden von dvVip Aneroid zu bilden.
3. Die Barometer nach ihrer Gestalt zu benennen, ist nicht ungewöhnlich,
vgl. Dosen-, Kapsel-, Flaschen-, Radbarometer.
4. Anstoß hat man offenbar schon früher genommen, wie die von mir er-
wähnte Schreibung barometre an-airoide beweist.
5. Daß es auffallend bleibt, daß die Endung id bei der gewöhnlichen Erklärung
nicht zur Geltung kommt, gibt auch Herr Kröhnert zu.
Herford i. W. ErnstMeyer.
Druck von G. Bernstein in Berlin.