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Full text of "Monatsschrift für höhere Schulen"

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Monatschrift 


für 


höhere  Schulen. 


Herausgegeben  unter  Mitwirkung 
namhafter  Schulmänner,  Universitätslehrer  und  Verwaltungsbeamten 

von 

Dr.  R.  K5pke,  _      Dr.  A.  Matthias, 

und 
Wirkl.  Geheimen  Rat,  Exzellenz,  Wirkl.  Geh.  Ober-Reg.-Rat 

in  Berlin.  in  BerliQ. 

Für  die  Redaktion  verantworth'ch :  Wirkl.  Geh.  Ober-Regierungsrat  Dr.  A.  Matthias. 


XL  Jahrgang. 


BERLIN 

WEIDMANNSCHE  BUCHHANDLUNG 

1912. 


Inhalt, 


Seite 
Die  Friedrich  Althoff- Stiftung 310  11.  577 


Erste  Abteilung. 

Abhandlungen. 

A.  Bahre,  Wie  können  die  technischen  Fächer  mehr  als  ^bisher  der  ästhetischen 

Bildung  der  Schüler  dienstbar  gemacht  werden? 157 

R.  Bürger,  Innere  Wandlungen  und  äußere  Einflüsse  im  deutschen  Unterricht  365 

J.   C  0  h  n  ,    Die  eigene  Schulzeit  im  Urteil  der  Erwachsenen    3 

R.  Eule,    Weitere  und  engere  Grenzen  für  das  Extemporale 19 

H.  G  i  1  0  w  ,    Ein  Berliner  Schulmann    32 

F.   Heinrich,    Französischer  Sprachunterricht    305 

W.  H  e  n  s  e  1 1 ,    Die  Länge  der  Schuljahre    289 

F.  Heussner,    Wilhelm  Münchs  letztes  Buch    225 

A.  H  ö  f  e  r ,  Das  Unterrichtswesen  der  Vereinigten  Staaten  im  ersten  Jahrzehnt 

des  20.  Jahrhunderts    643 

R.  H  0  1  s  t  e  n  ,  Dezentralisation  in  der  wissenschaftlichen  Fortbildung  der  Lehrer 

an  den  höheren  Lehranstalten    133 

G.  H  u  m  p  f  ,  Ein  Beitrag  zur  Frage  der  staatsbürgerlichen  Erziehuiig  von  einem 

Neuphilologen   248 

L.   Koch,    Ein  Anti-Ostwald    13 

K.  K  0  p  p  i  n  ,    Zur  Klausur  der  mündlichen  Reifeprüfung     35 

F.  K  u  h  1  m  a  n  n  ,    Über  die  Notwendigkeit  einer  Reform  des  Schreibunterrichts  75 

J.   L  e  z  i  u  s  ,    Zur  Lage  des  Gymnasiums  in  Rußland     427 

P.   Lorentz,    Winkelgymnasien?     294 

A.  Matthias,    Zehn  Jahre     1 

,  Rückblick  auf  Wilhelm  Münchs  Schaffen 227 

H.  M  0  r  s  c  h  ,  Ne  quid  nimis !      171 

W.  M  ü  n  c  h  ,    Zur  Enzyklopädie  der  Pädagogik    129 

R.  Pappritz,  Der  lateinische   Unterricht  auf  dem  humanistischen  Gymnasium  299 

H.  Preibisch,      Der  Hellenismus  im  Geschichtsunterricht  der  höheren  Schulen  578 
C.   R  0  t  h  e  ,    Soll  die  Homerkritik  abdanken?      (S.  auch  D.  Mülder,  Berichtigung 

S.  508)  229 

O.  Rückert,  Bemerkungen  zur  Erweiterung  des  Kreises  der  lateinischen  Schul- 
schriftsteller    152 

F.  S  c  h  1  e  e  ,    Die  erste  Revision  der  Übungsarbeiten     513 

G.  Schönaich,  Die  Annäherung  unserer  Zeit  an   die  Antike   und  der  Unter- 

richt in  den  altklassischen  Sprachen  417 

O.  Schroeder,  Die  schriftlichen  Arbeiten  in  den  preußischen  höheren  Lehr- 
anstalten   641 

M.  Schweigel,    Bürgerkundliche  Vorträge  für  Schüler  in  Düsseldorf    256 


JV  Inhalt. 

Seile 

H.  S  0  mm  e  r  m  e  i  e  r  ,    Zum  deutschen  Unterricht     149 

A.  Stahl,  Neuhumanistische  Unterweisung  im  Lateinunterricht     65 

A.  Stamm,    Der  deutsche  Aufsatz  in  der  Reifeprüfung     298 

H.  Strunk,  Die  Zeitung  in  den  höheren  Schulen     516 

E.  Stutzer,    Über  Schülervorträge,  insbesondere  aus  dem  Gebiete  der  Staats- 

kunde       265 

A.  Tafelmacher,    Der    bürgerkundliche    Unterricht    in    der    Handels- Real- 
schule zu  Dessau 261 

F.  T  h  ü  m  e  n  ,  Zu  Leuchtenbergers  „Vademecum" 145 

A.  T  i  1  m  a  n  n  ,    I.  Die  Kurse   zur  sprachlichen  Einführung   in  die  Quellen  des 

römischen  Rechts.  —  II.  Die  Anfängerkurse  im  Griechischen  für  Studierende 

der  Juristischen,  Medizinischen  und  der  Philosophischen  Fakultät  ...       81  u.  434 

,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten    177  u.  520 

,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Univer- 
sitäten     431  u.  648 

,  Statistisches  über  das  Frauenstudium  83  u.  434 

,  Die  Verteilung  des  akademischen  Nachwuchses  auf  die  einzelnen  Berufe  in 

den  Jahren  1903/04—1911/12 175 

E.  T  i  m  e  r  d  i  n  g  ,    Die  griechische  Mathematik     353 

R.  U  h  1 ,    Fünfter  Ruderkursus   für  Oberlehrer   höherer    Lehranstalten    Preußens 

in  Wannsee  1912  435 

A.  V  0  1  k  m  a  r  ,    Lehrziele  und  Lehraufgaben    139 

H.  Weber,    Der  Unterricht    in    der    älteren    deutschen   Geschichte  im   Dienste 

der  staatsbürgerlichen  Erziehung 236 

W.   Wetekamp,    Bessere  Ausnutzung  unserer  Schulhöfe  und  Spielplätze   im 

Winter!    79 

H.  Wickenhagen,    Die  alte  und  neue  Schule  nach  Professor  Dr.  Morsch..       28 
H.  W  u  n  d  r  a  m  ,    Ein  Beitrag   zurj  freieren  Gestaltung  des  Unterrichts   auf  der 

Oberstufe  durch  Gabelung  der  Primen 362 


Zweite  Abteilung. 

Programmabhandiungen. 

M.  Wehrmann,     Zur^  schulgeschichtlichen    Forschung.      1911    mit    einzelnen 

Nachträgen    T. 373 

M.  N  a  t  h  ,    Über  Lehrpläne  und  Schulreform  1911.    X 378 

H.  Schmidt,    Religion  191 1  (1910)    181 

F.  Gramer,    Latein.     191 1      583 

R.  Preussner,    Französisch  und  Englisch  1910     652 

W.  Lietzmann,    Mathematik  191 1    379 

V.  Steinecke,  Erdkunde  191 1   524 

F.  K  u  h  1  m  a  n  n  ,    Zeichen-  und  Kunstunterricht.     1910  und  191 1     384 

A.  J  u  n  g  b  l  u  t  h  ,  Stenographie  1897—1909      183 


Dritte  Abteilung. 

Bficherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 

Hilfsbücher  für  den  Unterricht  in  der  deutschen  Sprachlehre,  angez.  von  Ob.- Reg.- Rat 
und    Direktor    des   Provinzial-Schulkollegiums   Geheimrat   Dr.    J.  Busch 
mann'  in  Coblenz    385 


Inhalt.  V 

Seite 

Zur  deutschen  Literaturgeschichte,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  A.  B  i  e  s  e 

in  Neuwied  a.  Rh 311 

Deutsche  Lesebücher  VIII,  angez.  von  Direktor  Dr.  A.  Z  e  h  m  e  in  Berh'n- Wilmers- 
dorf         589 

Lateinische  Grammatiken  und  Übungsbücher,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr. 

F.  B  0  e  s  c  h  in  Berlin-Wilmersdorf   84 

Lateinische  Schriftsteller,  angez.  von  Direktor  Dr.  H.  B  e  r  n  h  a  r  d  t  in  Soest    190  u.  439 

Griechische  Grammatiken  und  Übungsbücher,  angez.  von  Professor  Dr.  G  o  1 1  h  o  I  d 

Sachse  in  Charlottenburg 596 

Zur  französischen  Lektüre,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t 

in  Düsseldorf 194 

Hilfsmittel  zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Arithmetik.    VIII,  angez.  von 

Direktor  Professor  Dr.  M  a  x  N  a  t  h  in  Pankow 386 

Sammelbericht  über  Biologie,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  F.  H  ö  c  k    in 

Perleberg     601 

Bastian  Schmids  naturwissenschaftliche  Schülerbibliothek,  angez.  von  Provinzial- 

Schulrat  Professor  Schickhelm  in  Münster  i.  W 599 

Populäre  naturwissenschaftliche  Literatur,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 206 

Zur  Chemie,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.   Hch.  Böttger  in  Berlin- 
Grunewald 530 

Schriften  aus  dem  Gebiete  von  Mythus,  Sage,  Märchen  und  Altertumskunde,  angez. 

von  Direktor  Dr.  A.  Z  e  h  m  e  in  Berlin- Wilmersdorf  186  u.  593 

Jugendliteratur,  angez.  von  Direktor  Dr.  F.  J  o  h  a  n  n  e  s  s  o  n  in  Berlin    671 


b)  Einzelbesprechungen: 

Abhandlungen  über  den  mathematischen  Unterricht  in  Deutschland,  s.  F.  K  1  e  i  n  , 

Abhandlungen. 
Abhandlungen,  Würzburger,  s.  W.  L  ö  h  1  e  i  n  ,  Hygiene  des  Auges./ 
Adolph,  H.,    Erinnerungen    eines    niedersächsischen    Geistlichen,    angez.    von 

Pfarrer  Dr.  A.  H  e  u  ß  n  e  r  in  Cassel    408 

Amelangs  Taschenbibliothek  für  Bücherliebhaber,  angez.  von  Direktor  Dr.  P.  L  o  - 

r  e  n^t  z  in  Spandau    461 

Anekdotenbibliothek,  s.  Königsweisheit. 

A  p  e  1 ,  P.,  Die  Überwindung  des  Materialismus,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  - 

n  e  r  t  in  Godesberg    , 684 

A  p  e  1 1 ,  O.,  Der  deutsche  Aufsatz  in  den  oberen  Klassen  der  Gymnasien,  angez. 

von  Oberlehrer  Professor  Dr.  P  a  u  1    G  e  y  e  r  in  Brieg    107 

A  r  e  n  d  t ,  R.,  Technik  der  anorganischen  Experimentalchemie,  angez.  von  Direktor 

Professor  Dr.  W.  B  r  e  s  1 1  c  h  in  Beriin 413 

V.  A  s  t  e  r  ,  E.,  Große  Denker,  angez.  von  Pfarrer  Dr.  Alfred  Heußner  in 

Cassel 390 

„Aufwärts"- Bücherei,  s.   R.  D  o  h  s  e  ,  Fritz  Reuter. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt,  s.  P.  C  a  u  e  r  ,  Altertum,  K.  K  n  a  b  e  ,  Schulwesen,  und 

R.  Neuendorff,  Mathematik. 
Batiffol, Pierre,  Urkirche  und  Katholizismus,  angez.  von  Oberiehrer  H.H  o  f  f  - 

mann  in  Breslau 609 

Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege,  s.  H.  C  o  n  w  e  n  t  z. 

B  e  n  d  t ,  F.,  Grundzüge  der  Differential-  und  Integralrechnung,  angez.  von  Direktor 

Dr.  H.  S  t  e  c  k  e  1  b  e  r  g  in  Gronau  i.  W 349 

B  e  r  t  e  1  ,  R.,  Anleitung  zu  den  botanischen  Schülerübungen  an  Mittelschulen  und 

verwandten  Lehranstalten,  angez.  von  Oberlehrer  R.  Fischer  in  Duisburg- 
Meiderich  124 


JV  Inhalt. 

Seile 

H.  S  0  m  m  e  r  in  e  i  e  r  ,    Zum  deutschen  Unterricht     149 

A.  Stahl,  Neuhumanistische  Unterweisung  im  Lateinunterricht     65 

A.  S  t  a  m  m  ,    Der  deutsche  Aufsatz  in  der  Reifeprüfung     298 

H.  Strunk,  Die  Zeitung  in  den  höheren  Schulen     516 

E.  Stutzer,    Über  Schülervorträge,  insbesondere  aus  dem  Gebiete  der  Staats- 

kunde     265 

A.  Tafelmacher,    Der    bürgerkundliche    Unterricht    in    der    Handels- Real- 
schule zu  Dessau 261 

F.  T  h  ü  m  e  n  ,  Zu  Leuchtenbergers  „Vademecum" 145 

A.  T  i  1  m  a  n  n  ,    I.  Die  Kurse   zur  sprachlichen  Einführung   in  die  Quellen  des 

römischen  Rechts.  —  11.  Die  Anfängerkurse  im  Griechischen  für  Studierende 

der  Juristischen,  Medizinischen  und  der  Philosophischen  Fakultät  ...       81  u.  434 

,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten    177  u.  520 

,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Univer- 
sitäten     431  u.  648 

,  Statistisches  über  das  Frauenstudium  83  u.  434 

,  Die  Verteilung  des  akademischen  Nachwuchses  auf  die  einzelnen  Berufe  in 

den  Jahren  1903/04—1911/12 175 

E.  T  i  m  e  r  d  i  n  g  ,    Die  griechische  Mathematik     353 

R.  U  h  1 ,    Fünfter  Ruderkursus   für  Oberlehrer   höherer    Lehranstalten    Preußens 

in  Wannsee  1912  435 

A.  V  0  1  k  m  a  r  ,    Lehrziele  und  Lehraufgaben    139 

H.  Weber,    Der  Unterricht    in    der   älteren    deutschen   Geschichte  im   Dienste 

der  staatsbürgerlichen  Erziehung 236 

W.   Wetekamp,    Bessere  Ausnutzung  unserer  Schulhöfe  und  Spielplätze   im 

Winter!    79 

H.  Wickenhagen,  Die  alte  und  neue  Schule  nach  Professor  Dr.  Morsch . .  28 
H.  W  u  n  d  r  a  m  ,    Ein  Beitrag   zurj  freieren  Gestaltung   des  Unterrichts   auf  der 

Oberstufe  durch  Gabelung  der  Primen 362 

Zweite  Abteilung. 

Programmabhandlungen. 

M.  Wehrmann,     Zur^  schulgeschichtlichen    Forschung.      1911    mit    einzelnen 

Nachträgen 373 

M.  N  a  t  h  ,    Über  Lehrpläne  und  Schulreform  1911.    X 378 

H.Schmidt,    Religion  1911  (1910)    181 

F.  Gramer,    Latein.     191 1      583 

R.  Preussner,    Französisch  und  Englisch  1910     652 

W.  Lietzmann,    Mathematik  191 1    379 

V.  Steinecke,  Erdkunde  191 1   524 

F.  K  u  h  1  m  a  n  n  ,    Zeichen-  und  Kunstunterricht.     1910  und  191 1     384 

A.  J  u  n  g  b  1  u  t  h  ,  Stenographie  1897—1909     183 


Dritte  Abteilung. 

BOcherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 

Hilfsbücher  für  den  Unterricht  in  der  deutschen  Sprachlehre,  angez.  von  Ob.- Reg.- Rat 
und  Direktor  des  Provinzial-Schulkollegiums  Geheimrat  Dr.  J.  Busch- 
mann' in  Coblenz    3g5 


Inhalt.  V 

Seite 

Zur  deutschen  Literaturgeschichte,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  A.  B  i  e  s  e 

in  Neuwied  a.  Rh 311 

Deutsche  Lesebücher  VIII,  angez.  von  Direktor  Dr.  A.  Z  e  h  m  e  in  Berlin- Wilmers- 
dorf         589 

Lateinische  Grammatiken  und  Übungsbücher,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr. 

F.  B  0  e  s  c  h  in  Berlin-Wilmersdorf   84 

Lateinische  Schriftsteller,  angez.  von  Direktor  Dr.  H.  B  e  r  n  h  a  r  d  t  in  Soest    190  u.  439 

Griechische  Grammatiken  und  Übungsbücher,  angez.  von  Professor  Dr.  G  o  1 1  h  o  1  d 

Sachse  in  Charlottenburg 596 

Zur  französischen  Lektüre,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t 

in  Düsseldorf 194 

Hilfsmittel  zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Arithmetik.    VIII,  angez.  von 

Direktor  Professor  Dr.  M  a  x  N  a  t  h  in  Pankow 386 

Sammelbericht  über  Biologie,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  F.  Hock    in 

Perieberg     601 

Bastian  Schmids  naturwissenschaftliche  Schülerbibliothek,  angez.  von  Provinzial- 

Schulrat  Professor  Schickhelm  in  Münster  i.  W 599 

Populäre  naturwissenschaftliche  Literatur,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 206 

Zur  Chemie,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.   Hch.  Böttger  in  Berlin- 
Grunewald 530 

Schriften  aus  dem  Gebiete  von  Mythus,  Sage,  Märchen  und  Altertumskunde,  angez. 

von  Direktor  Dr.  A.  Z  e  h  m  e  in  Berlin-Wilmersdorf  186  u.  593 

Jugendliteratur,  angez.  von  Direktor  Dr.  F.  J  o  h  a  n  n  e  s  s  o  n  in  Berlin   671 


b)  Einzelbesprechungen: 

Abhandlungen  über  den  mathematischen  Unterricht  in  Deutschland,  s.  F.  K  1  e  i  n  , 

Abhandlungen. 
Abhandlungen,  Würzburger,  s.  W.  L  ö  h  1  e  i  n  ,  Hygiene  des  Auges., 
Adolph,  H.,    Erinnerungen    eines    niedersächsischen    Geistlichen,    angez.    von 

Pfarrer  Dr.  A.  H  e  u  ß  n  e  r  in  Cassel    408 

Amelangs  Taschenbibliothek  für  Bücherliebhaber,  angez.  von  Direktor  Dr.  P.  L  o  - 

r  e  n!t  z  in  Spandau    461 

Anekdotenbibliothek,  s.  Königsweisheit. 

A  p  e  1 ,  P.,  Die  Überwindung  des  Materialismus,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  - 

n  e  r  t  in  Godesberg    , 684 

A  p  e  1 1 ,  O.,  Der  deutsche  Aufsatz  in  den  oberen  Klassen  der  Gymnasien,  angez. 

von  Oberlehrer  Professor  Dr.  P  a  u  1    G  e  y  e  r  in  Brieg    107 

Arendt,  R.,  Technik  der  anorganischen  Experimentalchemie,  angez.  von  Direktor 

Professor  Dr.  W.  B  r  e  s  1  i  c  h  in  Berlin 413 

V.  A  s  t  e  r  ,  E.,  Große  Denker,  angez.  von  Pfarrer  Dr.  Alfred  Heußner  in 

Cassel   390 

„Aufwärts"-Bücherei,  s.   R.  D  o  h  s  e  ,  Fritz  Reuter. 

Aus  Natur  und  Geisteswelt,  s.  P.  C  a  u  e  r  ,  Altertum,  K.  K  n  a  b  e  ,  Schulwesen,  und 

R.  Neuendorff,  Mathematik. 
Batiffol, Pierre,  Urkirche  und  Katholizismus,  angez.  von  Oberiehrer  H.H  o  f  f  - 

mann  in  Breslau 609 

Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege,  s.  H.  Conwentz. 

B  e  n  d  t ,  F.,  Grundzüge  der  Differential-  und  Integralrechnung,  angez.  von  Direktor 

Dr.  H.  S  t  e  c  k  e  1  b  e  r  g  in  Gronau  i.  W 349 

B  e  r  t  e  1 ,  R.,  Anleitung  zu  den  botanischen  Schülerübungen  an  Mittelschulen  und 

verwandten  Lehranstalten,  angez.  von  Oberlehrer  R.  Fischer  in  Duisburg- 
Meiderich  124 


VI  Inhalt. 

Seite 
Bettelheim,  A.,  Beaumarchais,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  - 

h  a  r  d  t  in  Düsseldorf 631 

B  e  z  a  r  d,  J.,  De  la  methode  litteraire,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W. 

Bohnhardt  in  Düsseldorf 621 

Bibliothek,  philosophische,  s.  W.  v.  Humboldt. 

Bibliothek  wertvoller  Novellen  und  Erzählungen,  s.  O.  H  e  1 1  i  n  g  h  a  u  s. 

Billeter,  Gustav,  Die  Anschauungen  vom  Wesen  des  Griechentums,  angez. 

von  Direktor  a.  D.  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  F.  T  h  ü  m  e  n  in  Naumburg  a.  S.  .     624 
B  i  r  t ,  T  h.,^  Aus  der  Provence,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  M.  G.  S  c  h  m  i  d  t 

in  Lüdenscheid 119 

B  l  u  t  h  ,  H.,  Wandervögel,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  M.   H  e  c  k  h  o  f  f 

in  Göttingen  409 

Böse,  E  m  i  1  i  0  ,  Die  Erdbeben,  angez.  von  Professor  Dr.  J.  R  u  s  k  a  ,  Dozenten 

an  der  Universität  Heidelberg   57 

Brandt,  P.,  Sehen  und  Erkennen,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  RichardArndt 

in  Duisburg 102 

B  r  a  u  n  ,  O.,  Studien  zur  Bedeutungsforschung,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr. 

R.  Jonas  t  in  Köslin 271 

Brecht,  W.,   Heinse    und    der   ästhetische    Immoralismus,    angez.    von   Dr.   P. 

Kluckhohn  in  Göttingen 398 

B  r  e  p  0  h  I ,  Fr.  W.,   Friedrich   Nietzsche  oder  Jesus  Christus?,  angez.  von  Ober- 
lehrer Dr.  H  a  n  s  W  e  i  c  h  e  1 1  in  Marburg    46 

B  r  ü  c  h  e  r  ,    K.,  Anschauung  in  der  Arithmetik,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  W. 

L  i  e  t  z  m  a  n  n  in  Barmen   632 

Brück,  s.  MoellervandenBruck,  Die  Deutschen. 

Bücherei,  Deutsche,  114/5.    Hermann  Nitzschke,  Aus  der  Hundetürkei,  angez.  von 

Direktor  Dr.  Woldemar  H  a  y  n  e  I  in  Linden  b.  Hannover 462 

B  u  c  h  n  e  r  s  Leitfaden  der  Kunstgeschichte,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  P. 

Brandt  in  Düsseldorf    686 

B  u  d  d  e,  G.,  1.  Aktuelle  pädagogische  Reformfragen.    2.  Allgemeine  Bildung  und 

individuelle  Bildung  in  Vergangenheit  und  Gegenwart,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d  in  Berlin  94 

— ,  Das  Gymnasium  des  20.  Jahrhunderts,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  E. 

Grünwald  in  Berlin  97 

Burnand,  Eugene,  Die  Gleichnisse  Jesu,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr. 

P.  Brandt  in  Düsseldorf 689 

C  a  p  i  t  a  i  n  e  ,  W.,  Kirchengeschichte  für  die  Mittelklassen  höherer  Lehranstalten, 

angez.  von  Oberlehrer  Dr.  N  o  r  y  s  k  i  e  w  i  c  z  in  Schrimm 335 

Catullus,  s.  Gedichte  des  Catullus. 

C  a  u  e  r  ,  P.,    Die  Kunst  des  Übersetzens,  angez.  von  Professor  Direktor  Dr.  L. 

Ehrenthal  in  Halberstadt  112 

,  Das  Altertum  im  Leben  der  Gegenwart,  angez.  von  Direktor  a.  D.  Geh.  Reg.- 
Rat  Dr.  F.  T  h  ü  m  e  n  in  Naumburg  a.  S 556 

V.  C  h  r  i  s  t ,    Wilhelm,     Geschichte    der  griechischen    Literatur,    angez.    von 

Dr.  K.  M  ü  n  s  c  h  e  r ,  Professor  an  der  Universität  Münster   478 

C  I  a  u  s  n  i  t  z  e  r  ,  E.,   s.  Pädagogische  Jahresschau. 

C  o  n  w  e  n  t  z  ,  H.,    Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege,  angez.  von  Oberlehrer  Dr. 

W.  Günther  in  Halle  a.  S 636 

Cornelius,  H.,  Elementargesetze  der  bildenden  Kunst,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  Aug.  S  c  h  o  o  p  in  Düren   609 

C  u  n  z  ,   T  h.,    Geschichte   der  Philosophie   in   gemeinverständlicher    Darstellung. 

angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  R.  Jonas  1   in  Köslin 272 


Inhalt.  VII 

Seite 

D  a  h  1 ,   F.,    Anleitung    zu    zoologischen   Beobachtungen,    angez.   von  Oberlehrer 

Dr.  Pfuhl,  Professor  an  der  Akademie  Posen 416 

Deckelmann,  H.,  Die  Literatur  des  neunzehnten  Jahrhunderts  im  deutschen 
Unterricht,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober- Reg.- Rat  Dr.  A.  Matthias  in 
Berlin   617 

D  e  s  c  a  r  t  e  s,  R.,    Philosophische  Werke,  angez.  von   Direktor  Professor  Dr.   R. 

Jonas  t  »n  Köslin 273 

D  i  e  k  m  a  n  n  ,  F.,  Das  apologetische  Lehrverfahren  im  evangelischen  Religions- 
unterricht höherer  Schulen,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Rudolf  Pe- 
ters in  Düsseldorf 613 

Dohse,  Richard,    Fritz  Reuter,  angez.  von  Direktor  Dr.  P.  L  o  r  e  n  t  z  in 

Spandau    476 

D  ö  r  w  a  1  d  ,  P.,    Der  hebräische  Unterricht,  angez.  von  Direktor  H.  R  i  c  h  e  r  t 

in  Posen 460 

D  r  e  g  e  r  ,  A.,    Die  Berufswahl  im   Staatsdienst,  angez.  von  Direktor  Professor 

Dr.  Max  N  a  t  h  in  Pankow 318 

Eckertz,  Erich,    Nietzsche  als  Künstler,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  Hans 

W  e  i  c  h  e  1 1  in  Marburg 46 

English  Education,   angez.    von    Oberlehrer   Dr.    Herm.    Sommermeier   in 

Halberstadt 699 

E  u  1  e  r  ,  C,    Turnunterricht,  s.  C.  R  o  ß  o  w. 

Fehrmann,  A.,  und  P.  M  e  y  n  e  n  ,  Turnen  und  Sport  an  deutschen  Hoch- 
schulen, angez.  von  Oberlehrer  Professor  H.  Wickenhagen  in  Groß- 
Lichterfelde 60 

F  e  1  d  h  a  u  s  ,  F.  M.,  Ruhmesblätter  der  Technik  von  den  Urerfindungen  bis  zur 
Gegenwart,  angez.  von  Geh.  Ober- Reg.- Rat  Professor  Dr.  J.  Norrenberg, 
vortragendem  Rat  im  Kultusministerium  in  Berlin.  (S.  auch  Berichtigung  S.  288)     120 

Festschrift,  dem  König  Wilhelm- Gymnasium  zu  Magdeburg  zur  Feier  seines  25  jäh- 
rigen Bestehens  Ostern  1911  dargebracht,  angez.  von  Direktor  Dr.  H.  Bern- 
hardt in  Soest   548 

Feuerbach,  Ansei  m,    angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  P.  Brandt  in 

Düsseldorf   49 

F  i  n  s  1  e  r  ,  G.,  Homer  in  der  Neuzeit  von  Dante  bis  Goethe,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Dr.  Carl  R  o  t  h  e  in  Berlin- Friedenau    557 

Flaxmann,  John,   Zeichnungen  zu  Sagen  des  klassischen  Altertums,  angez. 

von  Direktor  Professor  Dr.  P.  Brandt  in  Düsseldorf  47 

F  1  0  e  r  i  c  k  e  ,  K.,  Säugetiere  fremder  Länder,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  G.  K  1  a  1 1 

in  Görlitz 282 

F  0  1 1  z  ,  O.,  Gedanken  des  Pädagogen  und  Philosophen  Herbart,  angez.  von  Ober- 
lehrer Dr.  G  u  s  t  a  v  H  u  m  p  f  in  Elmshorn  334 

F  r  a  n  c  k  e  ,  K.,   Die  Kulturwerte  der  deutschen  Literatur  in  ihrer  geschichtlichen 

Entwicklung,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s  in  Berlin     106 

Frank,  P.,    Kleines  Tonkünstlerlexikon,   angez.  von  Gesanglehrer  Traugott 

Heinrich  in  Berlin 220 

Franke,  F.,  J.  F.  Herbart,  Grundzüge  seiner  Lehre,  angez.  von  Ober- 
lehrer Dr.  Gustav  Humpf  in  Elmshorn  334 

Freudenberg,  Alwin,  Aphorismen  aus  der  Pädagogik  der  Gegenwart, 
angez.  von  Direktor  a.  D.  Geh.  Reg.- Rat  Professor  Dr.  HeinrichSchröer 
in  Posen 608 

F  r  e  y  t  a  g  ,  H.,   Aus  Ernestinischer  Vergangenheit,  angez,  von  Direktor  Professor 

Dr.  H.  G  e  r  s  t  e  n  b  e  r  g  in  Hamburg   628 

Friedrich  der  Einzige.  Ein  Charakterbild  des  großen  Königs  in  seinen  Worten,  zu- 
sammengestellt von  A.  Kannengießer,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober-Reg.-Rat 
Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 53 


Vin  Inhalt. 

Seite 

Gabriel,  Paul,  Euckens  Grundlinien  einer  neuen  Lebensanschauung  und  sein 
Verhältnis  zu  J.  G.  Fichte,  angez.  von  Dr.  O  1 1  o  B  r  a  u  n  ,  Dozent  an  der  Uni- 
versität Münster  i.  W 393 

G  a  s  c  h ,    R.,   Geschichte    der  Turnkunst,    angez.    von    Oberlehrer    Professor  H. 
Wickenhagen  in  Berlin-Lichterfelde  220 

Gedichte  des  Catullus,  übersetzt  von  W.  A  m  e  1  u  n  g  ,  mit  Einleitung  von  F  r. 

Spiro,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Gber-Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s 559 

G  e  f  f  k  e  n  ,  H.,  M.  Rade,  K.  Seil,  F.  T  r  a  u  b  ,  Die  Religion  im  Leben  der 

Gegenwart,  angez  von  Direktor  H.  R  i  c  h  e  r  t  in  Posen 459 

Genethliakon,  Carl  Robert  zum  8.  März  1910  überreicht  von  der  Graeca  Halensis, 

angez.  von  Oberlehrer  Dr.  J.  M  o  e  1 1  e  r  in  Halle  a.  S 278 

Geschichtsschreiber  der  deutschen  Vorzeit,  s.  H  e  1  m  o  1  d. 

Gesundbrunnen  1913,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias 

in  Berlin    , 618 

G  i  e  s  e ,  F.,  Der  Beamtencharakter  der  Direktoren  und  Oberlehrer  an  den  nicht 
vom  Staate  unterhaltenen  höheren  Lehranstalten  in  Preußen,  angez.  von  Assessor 
Irmer,  Verw.-Rat  und  Justitiar  beim  Provinzial-Schulkollegium  in  Cassel.     208 

Glauning,  F.,  Didaktik  und  Methodik  des  englischen  Unterrichts,  angez.  von 

Oberlehrer  Professor  Dr.  A.  R  o  h  s  in  Crefeld    406 

Gockel,  A.,   Schöpfungsgeschichtliche  Theorien,   angez.   von   Professor  Dr.   E. 

Dennert  in  Godesberg   684 

Gomperz,  Th.,  Griechische  Denker,  angez.  von   Direktor  Professor  Dr.   R. 

Jonas  t  J"  Köslin 322 

Gonser,  Immanuel,  Alkoholgegnerische  Unterweisung,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  B.  Habenicht  in  Linden-Hannover    61 

V.  Görres,  Josef,   Ausgewählte  Werke   und  Briefe,  angez.  von  Wirkl.   Geh. 

Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 696 

Goethes  sämtliche  Werke,  Jubiläumsausgabe,  Registerband,  angez.  von  Wirkl. 

Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  n  i  a  s  in  Berlin  696 

G  0  t  h  a  n  ,  W.,  Botanisch-geologische  Spaziergänge  in  die  Umgebung  von  Berlin, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  K.  F  r  i  c  k  e  in  Bremen   58 

Graebner,Paul,  Taschenbuch  zum  Pflanzenbestimmen,  angez.  von  Oberlehrer 

Dr.  Fritz  Pfuhl,  Professor  an  der  Akademie  Posen       502 

Graf, Alfred,  Schülerjahre,  besprochen  von  Dr.  JonasCohn,  Professor  an 

der  Universität  Freiburg  i.  Br 3 

G  r  i  e  b  e  1 ,  H.,  Lehrbuch  der  Deutschen  Geschichte  in  Verbindung  mit  der  Ge- 
schichte Bayerns,  angez.  von  Direktor  Dr.  F  r.  N  e  u  b  a  u  e  r  in  Frankfurt  a.  M.     216 

Grimm, LudwigEmil,  Erinnerungen  aus  meinem  Leben,  angez.  von  Direktor 

a.  D.,  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  F  r.  H  e  u  ß  n  e  r  in  Cassel    629 

Grundzüge  der  klassischen  Philologie  von  Berthold  Maurenbrecher  und 
Reinhold  Wagner,  angez.  von  Dr.  K  M  ü  n  s  c  h  e  r  ,  Professor  an  der 
Universität  Münster  (S.  auch  Erwiderung  S.  702.)    482 

Guenther,  K.,  Tiergarten  fürs  Haus  in  Wort  und  Bild,  angez.  von  Oberleher 

Professor  Dr.  R.  v.  H  a  n  s  t  e  i  n  in  Gr.-Lichterfelde-Berlin   634 

v.  G  w  i  n  n  e  r  ,  W.,  Schopenhauers  Leben,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  R. 

Jonas  t  in  Köslin    327 

H  ä  b  e  r  1  i  n  ,  P.,  Wissenschaft  und  Philosophie,  angez.  von   Pfarrer  Dr.  Alf  r. 

Heußner  in  Cassel    100 

Handbuch  der  klassischen  Altertumswissenschaft,  s.  W.  v.  Christ,  griechische 

Literatur. 
Handbuch  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre,  s.  Fr.  G  1  a  u  n  i  g  ,  Didaktik  und 

Methodik  und  A.  Matthias,  Pädagogik. 
Handbuch  der  Kirchengeschichte  für  Studierende,  s.  H.  Stephan,  Die  Neuzeit. 


Inhalt.  IX 

Seite 

Handel,  O.,  Einführung  in  die  Differential-  und  hitegralrechnung,  angez.  von 

Direktor  Dr.  H.  S  t  e  c  k  e  1  b  e  r  g  in  Gronau  i.  W 351 

H  a  r  n  a  c  k  ,  A.,  Aus  Wissenschaft  und  Leben,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober- Reg.- Rat 

Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 320 

H  a  r  t  ni  a  n  n  ,  K-,    Humanistischer  Unterricht  und  bildende  Kunst,  angez.  von 

Direktor  Professor  Dr.  P.  Brandt  in  Düsseldorf   47 

Heimatbücher,  Berliner,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  G.  Louis  in  Berlin    491 
H  e  i  n  e  m  a  n  n  ,   O.,    Die    wichtigsten    Bestimmungen    der   preußischen    Staats- 

beamtengesetzgebung,^angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  M.  N  a  t  h  in  Pankow    269 
Hellinghaus, Otto,  Bibliothek  wertvoller  Novellen  und  Erzählungen,  angez. 

von  Direktor  Dr.  Joseph  Riehemann  in  Meppen      477 

Helm,  G.,  Grundlehren  der  höheren  Mathematik,  angez.  von  Direktor  Professor 

Dr.  H.  T  h  i  e  m  e  in  Bromberg    492 

H  e  I  m  0  1  d  s  Chronik  der  Slaven ,  hrsg.  von  B.  Schmeidler,  angez.  von  Oberlehrer 

fessor  Dr.  E  r  i  c  h  Schmidt  t  in  Bromberg 51 

H  e  n  s  e  ,  J  ,  Griechisch-römische  Altertumskunde,  angez.  von  Direktor  Professor 

Dr.  C.  F  r  e  d  r  i  c  h  in  Cüstrin    566 

H  e  r  b  a  r  t  s  ,  J.  F.,  sämtliche  Werke  in  chronologischer  Reihenfolge,  15.  Bd.:  hrsg. 

von  Otto  Flügel,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  Gustav  H  u  m  p  f  in  Elmshorn    335 
H  e  r  r  i  g  ,  L.,  La  France  littcraire,  s.  E.  P  a  r  i  s  e  1 1  e. 
Herrmann,  P.,  Aufgaben  aus  dem  Nibelungenlied,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  Paul  Geyer  in  Brieg  109 

,  Island  in  Vergangenheit  und  Gegenwart,  angez.  von  Direktor  Dr.  S.  P.  W  i  d  - 

mann  in  Münster  i.  W 119 

FreiherrvonHertling, Georg,  Die  Bekenntnisse  des  heiligen  Augustinus, 

angez.  von  Oberlehrer  Dr.  W.  C  a  p  i  t  a  i  n  e  in  Eschweiler  460 

Herzog,  Wilhelm,  Heinrich  von  Kleist,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr. 

Hermann  Gilow  in  Berlin 464 

Hesse,  R.,  und  F.  D  o  f  l  e  i  n  ,  Tierbau  und  Tierleben  in  ihrem  Zusammenhang 

betrachtet,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  R.  v.  H  a  n  s  t  e  i  n  in  Gr.- 

Lichterfelde 572 

H  e  u  s  s  i ,  K.,  Kompendium  der  Kirchengeschichte,  angez.  von  Oberlehrer  Professor     . 

Lic.  Dr.  W.  Koppel  mann,  Dozenten  an  der  Universität  Münster  i.  W.     105 
,  Dasselbe.     2.  Auflage,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Rudolf  Peters 

in  Düsseldorf    ; 612 

Heyn,  F.,  Geschichte  Jesu,  angez.  von  Direktor  H.  R  i  c  h  e  r  t  in  Posen   ....     457 
H  i  l  b  e  r  t ,  G.,  Christentum  und  Wissenschaft,  angez.  vonProfessor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 684 

Hildebrand,  R.,  Gedanken  über  Gott,  die  Welt  und  das  Ich.    Ein  Vermächtnis, 

angez.  von  Direktor  a.  D.  Geh.- Rat  Dr.  F  r.  H  e  u  ß  n  e  r  in  Cassel 395 

H  0  f  f  m  a  n  n  ,  O.,  Geschichte  der  griechischen  Sprache,  angez.  von  Geh.  Reg.- Rat 

Direktor  a.  D.  Dr.  F  r.  H  e  u  ß  n  e  r  in  Cassel    210 

Hoffmann-Dennert,  Botanischer  Bilderatlas  nach  dem  natürlichen  Pflanzen- 
system. Zugleich  eine  Flora  zur  Bestimmung  sämtlicher  in  Deutschland  vorkom- 
menden Pflanzen,  angez.  von  Dr.  W.  H  e  e  r  i  n  g  in  Altona 500 

Homers  Werke,  s.  Goldene  Klassiker-Bibliothek. 

H  0  r  n  e  f  f  e  r  ,  Aug.,  s.  Antike  Kultur. 

Huck,  A.,  Synopse  der  drei  ersten  Evangelien,  angez.  von  Direktor  H.  R  i  c  h  e  r  t 

in  Posen 456 

v.    Humboldt,    W.,   Ausgewählte    philosophische   Schriften,    angez.    von   Dr. 

Eduard  Spranger,  Professor  an  der  Universität  Leipzig   101 

H  u  t  h  e  r  ,  A.,  Über  das  Problem  einer  psychologischen  und  pädagogischen  Theorie 

der  intellektuellen  Begabung,  angez.  von  Direktor  Dr.  F-  r  i  e  d  r  i  c  h  S  c  h  m  i  t  z 

in  Langenberg 606 


X  Inhalt. 

Seite 

J  a  c  0  b  y  ,  A.,  Die  antiken  Mysterienreligionen  und  das  Christentum,  angez.  von 

Oberlehrer  Professor  Dr.  H.  W  o  1  f  in  Düsseldorf  400 

Jahr,  W.,  Quellenlesebuch  zur  Kulturgeschichte  des  früheren  deutschen  Mittel- 
alters, angez.  von  Wirkl.   Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin     113 

Jahresschau,   Pädagogische,   über  das   Volksschulwesen,   angez.   von   Wirkl.    Geh. 

Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s  in  Berlin 550 

I  d  e  ,  Praktische  Atmungsgymnastik,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  B.  H  a  b  e  - 

nicht  in  Linden- Hannover 61 

Jerusalem,  W.,  Die  Aufgaben  des  Lehrers  an  höheren  Schulen,  angez.  von 

Konrektor  Dr.  K.  N  e  f  f  in  Bamberg 318 

Jonas,  F.,  Heinrich  Bertram,  besprochen  von  Direktor  Professor  Dr.  Her  m. 

G  i  1  0  w  in  Berlin   32 

Kabinett,  Das,  für  kirchliche  Kunst  im  Kollegium  S.  J.  zu  Kalksburg  bei  Wien, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Franz  Moldenhauer  in  Köln 50 

Kehr,  C,  Volksschulunterricht,  s.  C.  R  o  ß  o  w  ,  Turnunterricht. 

Kemmerich,  M.,  Die  Deutschen   Kaiser  und  Könige  im  Bilde,  angez.  von 

Direktor  Professor  Dr.  P.  B  r  a  n  d  t  in  Düsseldorf  53 

K  e  s  s  e  1  e  r  ,  K-,  Der  Unsterblichkeitsglaube  in  religionsgeschichtlicher  und  reli- 
gionsphilosophischer Betrachtung,  angez.  von  Dr.  Otto  Braun,  Dozent 
an  der  Universität  Münster  i.  W 398 

Kinkel,   W.,     Idealismus  und   Realismus,   angez.   von   Direktor   Professor   Dr. 

R.  J  0  n  a  s  t  in  Köslin 323 

K  i  n  z  e  1 ,    Die  bildende  Kunst  im  deutschen  Unterricht  der  Prima,  angez.  von 

Direktor  Professor  Dr.  P.  Brandt  in  Düsseldorf    691 

v.  K  i  r  c  h  n  e  r  ,  O.,  Blumen  und  Insekten,  angez.  von  Professor  Dr.  J.  N  o  r  r  e  n  - 

b  e  r  g  ,  Geh.  Ober-  Reg.-  Rat  und  vortragender  Rat  im  Kultusministerium  in  Berlin    415 

Klassiker-Bibliothek,  Goldene,  Homers  Werke  in  zwei  Teilen,  angez.  von  Wirkl. 

Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 209 

Klein,  F.,  Abhandlungen  über  den  mathematischen  Unterricht  in  Deutsch- 
land, angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  H.  T  h  i  e  m  e  in  Bromberg    493 

Kleist,  s.  W.  Herzog  und  Meyer-Benfey. 

Klinghardt,  H.,  und  M.  de  Fourmestraux,  Französische  Intonations- 
übungen für  Lehrer  und  Studierende,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr. 
Ernst  Weber  in  Steglitz   560 

Knabe,   K-,    Geschichte  des  deutschen   Schulwesens,  angez.   von   Wirkl.   Geh. 

Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin   683 

Köhler,  Brinus,  Die  Schilderung  des  Milieus  in  Shakespeares  Hamlet, 
Macbeth  und  King  Lear,  angez.  von  Rektor  a.  D.  Geh.  Studienrat  Dr.  M  a  r  t  i  n 
W  0  h  1  r  a  b  in  Dresden-  Striesen   566 

Kolonien,  Die  deutschen,  angez.  von  Direktor  Dr.  W.  Scheel  in  Nowawes  bei 

Potsdam 489 

K  ö  n  i  g  ,  E.,    Die  Materie,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.   R.  Jonas  t  in 

Köslin 276 

König,   Ed.,    Hebräische   Grammatik,  angez.   von  Oberlehrer   Professor   R  u  - 

dolf  Peters  in  Düsseldorf    615 

Königsweisheit  des  großen  Friedrich,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr. 

A.  Matthias  in  Berlin 217 

Köstlin,  Friedrich,  Schülerheft  zur  Kirchengeschichte,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Rudolf  Peters  in  Düsseldorf 610 

K  r  i  e  c  k ,   E.,    Persönlichkeit   und    Kultur,   angez.   von    Direktor   Professor   Dr. 

R.  Jonas  t  «n  Köslin 325 

Kropatscheck,  s.  Zeit-  und  Streitfragen,  Biblische. 

Küchler,  Carl,    In   Lavawüsten    und  Zauberwelten   auf   Island,  angez.   von 

Oberlehrer  Professor  Dr.  Wilhelm  R  a  n  i  s  c  h  in  Osnabrück    571 


Inhalt.  XI 

Seite 

K  u  li  n  e  r  t ,  Wilhelm,    Farbige  Tierbilder,  angez.   von  Oberlehrer  Professor 

Dr.  F.  Hock  in  Perleberg 501 

Kultur,  Antike,  hrsg.  von  den  Gebr.  H  o  r  n  e  f  f  e  r  ,  angez.  von  Oberlehrer  Pro- 
fessor Dr.  H.  Wolf  in  Düsseldorf 403 

Kultur  der  Gegenwart,  s.  U.  v.  Wilamowitz-Moellendorff. 
Lange,  K-,    Der  Bibliothekar,  angez.  von  Direktor  der  Universitätsbibliothek 

Dr.  Fritz  M  i  1  k  a  u  in  Breslau 389 

Lehmann,    Rudolf,     Erziehung   und    Unterricht,   angez.    von    Wirkl.    Geh. 

Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin   550 

Le  h  m  a  n  n  -  H  a  u  p  t  ,  C.   F.,    Die  historische  Semiramis  und  ihre  Zeit,  angez. 

von  Direktor  Dr.  S.  W  i  d  m  a  n  n  in  Münster  i.  W 486 

L  e  u  c  h  t  e  n  b  e  r  g  e  r  ,  G.,    Vademecum  für  junge  Lehrer,  besprochen  von  Geh. 

Reg.- Rat  Direktor  a.  D.  Dr.  F.  T  h  ü  m  e  n  in  Naumburg  a.  S 145 

Levinstein,  Kurt,    Die  Erziehungslehre  Ernst  Moritz  Arndts,  angez.  von 

Direktor  a.  D.  Geh.  Reg.- Rat  Professor  Dr.  Heinrich  Schröerin  Posen     607 
L  i  1 1  g  e  ,   F.,    Komposition   und   poetische  Technik  der  zltourjooj;  ctpia-eic?,   angez. 

von  Direktor  Professor  Dr.  D  i  e  t  r  i  c  h  M  ü  1  d  e  r  in  Emden    342 

Löh  lein, Walther,  Hygiene  des  Auges,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  F.  R  o  s  e  n- 

d  a  h  1  in  Soest 503 

L  ö  n  s  ,  H.,  Da  draußen  vor  dem  Tore,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  R.  v. 

Hanstein  in  Gr.-Lichterfelde-Berlin   635 

Lorenz,  H.,  Einführung  in  die  Elemente  der  höheren  Mathematik  und  Mechanik, 

angez.  von  Direktor  Dr.  H.  S  t  e  c  k  e  I  b  e  r  g  in  Gronau  i.  W 348 

L  0  r  e  y  ,  W.,  Staatsprüfung  und  praktische  Ausbildung  der  Mathematiker  an  den 

höheren  Schulen  in  Preußen  und  einigen  norddeutschen  Staaten,  angez.  von 

Oberlehrer  Professor  F.  P  a  h  1  in  Berlin  91 

Löwy,  Emanuel,    Die   griechische    Plastik,    angez.    von    Direktor    Professor 

Dr.  P.  B  r  a  n  d  t  in  Düsseldorf   687 

L  u  c  e  r  n  a  ,  C  a  m  i  1 1  a  ,  Das  Märchen,  angez.  von  Geh.   Reg.- Rat   Professor  Dr. 

M.  H  e  y  n  a  c  h  e  r  in  Hannover   692 

L  u  c  k  e  n  b  a  c  h  ,   H.,  Kunst  und  Geschichte,  angez.   von  Direktor  Professor  Dr. 

P.  B  r  a  n  d  t  in  Düsseldorf  688 

Lutz  Memoirenbibliothek.     Leben,    Fehden   und   Händel   des   Ritters 

Götz  von  Berlichingen,  durch  ihn  selbst  beschrieben,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld   116 

Manderscheid,  Paul,  Abriß  der  Musikgeschichte,  angez.  von  Gesanglehrer 

Traugott  Heinrich  in  Berlin    505 

Matthias,  Adolf,   Praktische   Pädagogik  für  höhere   Lehranstalten,   angez. 

von  Direktor  Professor  Dr.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d  in  Friedeberg  Nm 552 

Maurenbrecher,  B.  und  Wagner,  Philologie,  s.  Grundzüge  der  klassischen 

Philologie. 
Meinhold, Hans,  Die  Weisheit  Israels  in  Spruch,  Sage  und  Dichtung,  angez. 

von  Oberlehrer  Professor  Rudolf  Peters  in  Düsseldorf  612 

Meisterstücke  der  Bildhauerkunst,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  P.  Brandt 

in  Düsseldorf 50 

Mensch  aller  Zeiten,  der,  von  H.  Obermaier,  angez.  von  Professor  Dr.  J.  N  o  r  r  e  n  - 

berg,    Geh.  Ober-Reg.-Rat  und  vortr.  Rat  im  Kultusministerium  in  Berlin     412 
Messer,  A.,  Das  Problem  der  Willensfreiheit,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr. 

R.  J  0  n  a  s  t  in  Köslin 329 

Meßleny,  Richard,  Teil-Probleme,  angez.  von  Professor  Dr.  Gustav  Kettner 

in  Weimar 463 

M  e  t  h  ,  B.,  Schulgeschichten  aus  dem  alten  Görlitzer  Kloster,  angez.  von  Direktor 

Professor  Dr.  M.  W  e  h  r  m  a  n  n  in  Greifenberg  i.  P 454 


XII  Inhalt. 

Seile 

Meyer,  Chr.,  Geschichte  Frankens,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W. 

M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld 488 

Meyer-Ben  fey,   Kleists    Leben  und  Werke,   angez.   von   Direktor  Professor 

Dr.  Hermann  Gilowin  Berlin  464 

M  i  c  h  e  I  i  s  ,  H.,  Unsere  ältesten  Vorfahren,  ihre  Abstammung  und  Kultur,  angez. 

von  Oberlehrer  Professor  Dr.  R.  v.  Hanstein  in  Gr.-Lichterfelde-Berlin  .     628 

M  0  c  h  ,  G,,  Rapport  a  S.  A.  S.  le  Prince  Albert  \^^  sur  une  Mission  ä  l'Etranger  en 
vue  de  la  Creation  d'un  Lycee  ä  Monaco,  angez.  von  Direktor  Fr.  Kemeny 
in  Budapest 98 

Moeller   van   den   Brück,  Die  Deutschen,   angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s  in  Berlin 213 

Monatsschrift  für  Schulgesang,  angez.  von  Gesanglehrer  Traugott  Heinrich 

in  Berlin 507 

Montgomery,   M.,    Types  of   Standard  Spoken  English   and   its  Chief  Local 

Variants,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  A.  R  o  h  s  in  Crefeld 347 

Monumenta  Germaniae  Paedagogica,  s.  K.  R  e  i  s  i  n  g  e  r  ,  Dokumente. 

Morgan,  Th.  H.,  Experimentelle  Zoologie,  angez.  von  Dr.  W.  Heerin  g  in  Altona    503 

M  ü  I  d  e  r ,  D.,  Die  llias  und  ihre  Quellen,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  W. 

P  r  e  1 1  w  i  t  z  in  Rastenburg  i.  Ostpn    404 

Müller,  E.,  Technische  Übungsaufgaben  für  darstellende  Geometrie,  angez.  von 

Direktor  Dr.  P.  Z  ü  h  1  k  e  in  Landeshut  i.  Schi 498 

Müller,  H.  F.,  s.  Schrift  über  das  Erhabene. 

M  ü  1 1  e  r  ,  J.,  Von  den  Quellen  des  Lebens,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 684 

M  ü  n  c  h  ,  Wilhelm,  Zum  deutschen  Kultur-  und  Bildungsleben,  besprochen 

von  Direktor  a.  D.  Geh.  Reg.- Rat  Dr.  Fr.  H  e  u  ß  n  e  r  in  Cassel    225 

N  a  t  h  a  n  s  0  n  ,  A.,  Tier-  und  Pflanzenleben  des  Meeres,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  O.  J  a  n  s  o  n  in  Köln  124 

N  a  t  0  r  p  ,  P.,  Philosophie,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  R.  J  o  n  a  s  f  in  Köslin    269 

Natur,  Die,  s.  E.  Böse,  Die  Erdbeben. 

N  e  f  f ,  K.,  Der  Examinator,  angez.  von  Wirk!.  Geh.  Ober- Reg.- Rat  Dr.  A.  M  a  t  - 

t  h  i  a  s  in  Berlin  37 

N  e  u  e  n  d  0  r  f  f  ,  E.,  Turnen,  Spiel  und  Sport  für  deutsche  Knaben,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  H.  Wickenhagen  in  Berlin- Lichterfelde    219 

,  Hinaus  in  die  Ferne!,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  H.  Gersten- 
berg in  Hamburg  281 

Neuendorff,  R.,  Praktische  Mathematik,  angez.  von  Professor  Dr.  J.  N  o  r  r  e  n- 

berg,  Geh.  Ober-Reg.-Rat  und  vortr.  Rat  im  Kultusministerium  in  Berlin    409 

Neuwirth,Jos.,  Illustrierte  Kunstgeschichte,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr. 

P.  Brandt  in  Düsseldorf 686 

N  i  t  z  s  c  h  k  e  ,  H.,  s.  Deutsche  Bücherei. 

O  b  e  r  m  a  i  e  r  ,  H.,  s.  Der  Mensch  aller  Zeiten. 

P  a  r  i  s  e  1 1  e  ,  E.,  L.  Herrig:  La  France  litt^raire.  Edition  abregee,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t  in  Düsseldorf   346 

P  ä  t  z  0  1  d  ,  F.,  Entwürfe  zu  deutschen  Arbeiten  für  Tertia  bis  Prima  nebst  einigen  aus- 
geführten Aufsätzen,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  Paul  Geyer  in  Brieg     108 

P  a  u  1  s  e  n  ,  F  r.,  Pädagogik,  angez.  von  Direktor  a.  D.  Geh.  Reg.- Rat  G.  L  e  u  c  h  - 

tenberger  in  Berlin-Gr.-Lichterfelde   39 

,  Gesammelte  Pädagogische  Abhandlungen,  angez.  von  Direktor  a.  D.  Geh. 

Reg.-  Rat  Dr.    F  r.  H  e  u  ß  n  e  r  in  Cassel   451 

Pestalozzi,  J.  H.,    Über  Gesetzgebung  und  Kindermord,  angez.  von  Ober- 
lehrer Dr.  Gustav  H  u  m  p  f  in  Elmshorn  333 

P  e  t  r  i  c  h  ,  H.,   Königin  Luise.    Ihr  Leben,  Wirken  und  Denken  in  15  Geschichten, 

angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld    54 


Inhalt.  XIII 

Seite 

Pf  e  i  f  f  e  r  ,  H.  A.,  1.  Übersichtskarte  des  Mecklenburgischen  Seengebiets  und 
seiner  Verbindungen  mit  Ostsee,  Elbe,  Havel,  Oder  für  Schiffahrt  und  Wasser- 
sport,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  H.  Wickenhagen  in  Berlin- Groß- 
Lichterfelde  56 

P  h  i  1  i  p  p  i ,  A.,  Die  großen  Maler  in  Wort  und  Farbe,  angez.  von  Direktor  Pro- 
fessor Dr.  P.  Brandt  in  Düsseldorf 48 

P  i  n  s  k  i  ,  F.,   Der  höchste  Standpunkt  der  Transzendentalphilosophie,  angez.  von 

Dr.  Otto  Braun,  Dozent  an  der  Universität  Münster  i.  W 394 

P  0  h  1  e  ,  J.,   Die  Sternenwelten  und  ihre  Bewohner,  angez.  von  Oberlehrer  F  r. 

Rusch  in  Dillenburg,  Nassau    121 

v.  Pöhlmann,  Robert,   Aus  Altertum  und  Gegenwart,  angez.  von  Direktor 

a.  D.  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  Fr.  H  e  u  ß  n  e  r  in  Cassel    622 

P  0  i  n  c  a  r  e  ,  L.,   Die   Elektrizität,  angez.   von   Oberlehrer  Professor   H.  Hahn 

in  Berlin 57 

P  r  i  e  n  e  ,  Nach  den  Ergebnissen  der  Ausgrabungen  der  Königlich  Preußischen 
Museen  1895 — 1898,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  jur.  et  phil.  Melchior 
T  h  a  m  m  in  Montabaur   117 

Quellen.  Bücher  zur  Freude  und  zur  Förderung,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.  Karl 

Lorenz  in  Hamburg 698 

Quellen  und  Forschungen  zur  alten  Geschichte  und  Geographie,  hrsg,  von  W.  S  i  e  g- 

1  i  n  ,  angez.  von  Direktor  Dr.  S.  P.  W  i  d  m  a  n  n  in  Münster  i.  W 114  u.  488 

Redslob,  Ernst,  Kritische  Bemerkungen  zu  Horaz,  angez.  von  Direktor  a.  D. 

Geh.  Reg.-Rat  Dr.  H.  R  ö  h  1  in  Zehlendorf  bei  Berlin    560 

R  e  h  m  k  e  ,  J.,  Die  Willensfreiheit,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  R.  Jonas  t 

in  Köslin   274 

Rehtwisch,  Th.,    Königin   Luise,   angez.   von  Oberlehrer  Professor  Dr.   W. 

M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld 54 

— ,  Die  Königin,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld      54 

Reinhardt,  Karl,  Die  schriftlichen  Arbeiten  in  den  preußischen  höheren 
Lehranstalten,  besprochen  von  Direktor  Professor  Dr.  O.  S  c  h  r  o  e  d  e  r  in 
Charlottenburg   ' 641 

R  e  i  s  i  n  g  e  r  ,  K-,  Dokumente  zur  Geschichte  der  humanistischen  Schulen  im 
Gebiet  der  Bayerischen  Pfalz,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  M.  W  e  h  r  - 
mann  in  Greifenberg  i.  P.    455 

R  e  u  k  a  u  f ,  A.  und  E.  Heyn,  Lesebuch  zur  Kirchengeschichte  mit  Abriß  der 
Kirchengeschichte  für  höhere  Schulen,  angez.  von  Direktor  H.  R  i  c  h  e  r  t 
in  Posen 459 

Rolle-Sering,   Gesänge  für   Gymnasien   und  andere  höhere   Lehranstalten, 

angez.  von  Gesanglehrer  Traugott  Heinrich  in  Berlin    639 

Roller,   Adolf   Spieß,   angez.   von    Direktor   Dr.    Edmund   Neuendorff 

in  Mülheim  (Ruhr)   491 

R  0  ß  0  w ,  C,   Geschichte  des  Turnunterrichts,  angez.   von  Oberlehrer  Professor 

H.  Wickenhagen  in  Berlin- Gr.- Lichterfelde    60 

— ,  Zweite  Statistik  des  Schulturnens  in  Deutschland,  angez.  von  Oberlehrer  Pro- 
fessor H.  Wickenhagen  in  Berlin-Gr.-Lichterfelde    60 

R  0  t  h  e  ,  C,  Die  Ilias  als  Dichtung,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  E.  G  r  ü  n  - 

w  a  1  d  in  Berlin 110 

R  u  p  e  r  t  i ,  O.,  Führer  für  Wanderruderer,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  H. 

Wickenhagen  in  Berlin-Gr.-Lichterfelde 61 

S  ä  e  m  a  n  n  ,  Der,  Zeitschrift  für  Jugendwohlfahrt,  Jugendbildung  und  Jugend- 
kunde, angez.  von  Direktor  Professor  E.  S  t  u  t  z  e  r  in  Görlitz 38 

S  ä  g  e  r  ,  A.,  Der  menschliche  Körper,  dessen  Bau,  Lebensverrichtungen  und  Pflege, 

angez.  von  Oberlehrer  Dr.  G.  K  l  a  1 1  in  Görlitz    121 


XIV  Inhalt. 

Seite 
Sammlung  von  Abhandlungen  zur  psychologischen  Pädagogik,  s.  A.   H  u  t  h  e  r, 

Problem. 
Sammlung  Göschen,  s.   R.   G  a  s  c  h  ,  Turnkunst,  Chr.  Meyer,  Franken,  und 

K.  W  e  1 1  e  r  ,  Württemberg. 
Sammlung    belehrender   Unterhaltungsschriften    für    die    deutsche   Jugend,   s.    E. 

Neuendorff,  Turnen. 
S  c  h  i  r  m  e  r  ,   K-,  Bilder  aus  dem  altrömischen  Leben,  angez.  von  Direktor  a.  D. 

Geh.  Reg.-Rat  Dr.  Fr.  H  e  u  ß  n  ej  in  Cassel 212 

S  c  h  m  i  d  ,  B.,  Biologisches  Praktikum,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t 

in  Godesberg 701 

S  c  h  n  e  i  d  e  m  ü  h  1 ,  G.,  Handschrift  und  Charakter,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s  in  Berlin 126 

Schneider,  Alb.,  Wirklichkeiten,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t  in 

Godesberg    68a 

Schneider,  Gustav,  Lesebuch  aus  Piaton  und  Aristoteles,  angez.  von  Ober- 
lehrer B.  V.  Hagen  in  Jena 619 

Schneider,  K-  C,  Die  Grundgesetze  der  Deszendenztheorie  in  ihrer  Beziehung 

zum  religiösen  Standpunkt,  angez.  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t  in  Godesberg    685 
Schramm,  E.,    Griechisch-römische   Geschütze,   angez.  von  Direktor  Professor 

Dr.  C.  F  r  e  d  r  i  c  h  in  Cüstrin 487 

Schrift,  Die,  über  das  Erhabene,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  R.  M  ü  c  k  e  in 

Hannover 394 

V.  Schubert,    Hans,    Grundzüge    der    Kirchengeschichte,    angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Rudolf  Peters  in  Düsseldorf 610 

Schuppe,  Wilhelm,  Grundriß  der  Erkenntnistheorie  und  Logik,  angez.  von 

Pfarrer  Dr.  Alfred  Heußner  in  Cassel    445 

Schwabe,  K-,  s.  Die  deutschen  Kolonien. 

S  c  h  vv  a  h  n  ,  W.,  Deutsche  Aufsätze  und  Dispositionen  für  die  oberen   Klassen 

höherer  Lehranstalten,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  Paul  G  e  y  e  r  in 

Brieg 109 

Schwartz,  E.,  Charakterköpfe  aus  der  antiken  Literatur,  angez.  von  Dr.   P. 

W  e  n  d  1  a  n  d  ,  Professor  an  der  Universität  Göttingen  403 

Schwartz,  J.,  Die  Entwicklungslehre  naturwidrig,  angez.  von  Professor  Dr. 

E.  D  e  n  n  e  r  t  in  Godesberg   685 

S  e  i  1  e  r  ,  F.,  Die  Entwicklung  der  deutschen  Kultur  im  Spiegel  des  deutschen  Lehn- 
worts, angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  G.  B  o  e  1 1  i  c  h  e  r  in  Beriin 336 

Seil,  Karl,  Katholizismus  und  Protestantismus,  angez.  von  Oberlehrer  Professor 

Rudolf  Peters  in  Düsseldorf 555 

Sergel,  Albert,  Du  mein  Vateriand,   angez.  von  Direktor  Dr.  A.  Z  e  h  m  e 

in  Berlin-Wilmersdorf 618 

S  e  r  i  n  g  ,  F.  W.,    Gesänge,  s.  R  o  1 1  e  -  S  e  r  i  n  g. 

Skala,    R.,     Die    Gemütsbefriedigung   als   Angelegenheit   der  Ästhetik,    angez. 

von  Direktor  Professor  Dr.  R.  J  o  n  a  s  t  in  Köslin   331 

S  0  e  r  g  e  1 ,  A.,    Dichtung  und  Dichter  der  Zeit,  angez.  von  Wirkl.   Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Beriin 277 

Spieß,  Heinrich,    Das  moderne  England,  angez.  von  Oberiehrer  Dr.  Paul 

Rogozinski  in  Stolp  i.  Pomm 569 

Steinbart,  Quintin,    1841—1912,  angez.  von  Wirkl.   Geh.  Ober-Reg.-Rat 

Dr.  A.  Matthias  in  Beriin 454 

Stephan,  Horst,    Die  Neuzeit,   angez.  von  Oberiehrer  Professor  Rudolf 

Peters  in  Düsseldorf   611 

Strunz,   Franz,  Geschichte  der  Naturwissenschaften   im  Mittelalter,  angez. 

von  Direktor  Dr.  Friedrich  D  a  n  n  e  m  a  n  n  in  Barmen 634 


Inhalt.  XV 

Seite 

Studies  in  the  History  of  Classical  Teaching,  angez.  von  Oberlehrer  Dr.   Her  m. 

Sommermeier  in  Halberstadt 698 

Stürmer,  F.,   Exegetische  Beiträge  zur  Odyssee,  angez.  von  Direktor  Professor 

Dr.  Dietrich  Mülder  in  Emden 344 

T  e  e  t  z  ,  F.,    Aufgaben  aus  deutschen  epischen  und  lyrischen  Gedichten,  angez. 

von  Oberlehrer  Professor  Dr.  Paul  Geyer  in  Brieg 110 

Tesdorpf,   W.,    Bilderatlas   zur   Einführung   in   die    Kunstgeschichte,   angez. 

von  Direktor  Professor  Dr.  P.  Brandt  in  Düsseldorf  48 

T  h  i  e  r  g  e  n  ,  O.,  Methodik  des  neuphilologischen  Unterrichts,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Dr.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t  in  Düsseldorf   345 

Thiersch,  Hermann,    An  den  Rändern  des  römischen  Reichs,  angez.  von 

Direktor  Dr.  F.  Neubauer  in  Frankfurt  a.  M 568 

Trautmann,  Moritz,   Der   Staat  und  die  deutsche   Sprache,   angez.   von 

Wirkl.  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin    616 

T  r  e  u  1 1  e  i  n  ,  P.,  Der  geometrische  Anschauungsunterricht,  angez.  von  Professor 
Dr.  J.  Norrenberg,  Geh.  Ober-Reg.-Rat  und  vortr.  Rat  im  Kultusmini- 
sterium in  Berlin    410 

Velhagen  und  Klasings  Volksbücher.   Volksbücher  der  Geschichte,  angez.  von  Wirkl. 

Geh.  Ober-Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin 280  u.  701 

Violets  Berufswahlführer,  s.  K.  Lange,  Der  Bibliothekar 

Vogt,  Pet3r,  Leitfaden  der  philosophischen  Propädeutik,  angez.  von  Direktor 

Professor  Dr.  G.  l  o  u  i  s  in  Berlin    446 

Volksbücher,  Religionsgeschichtliche,  s.  A.  J  a  c  o  b  y  ,  Mysterienreligionen. 

Walde, Adolf,  Das  Pilzbüchlein  für  den  Sammler  und  wandernden  Naturfreund, 

angez.  von  Oberlehrer  Dr.  F[r  i  t  z  Pfuhl,  Professor  an  der  Akademie  Posen    501 

Wanderjahrbuch,  Deutsches,  angez.  von  Direktor  Dr.  E.  N  e  u  e  n  d  o  r  f  f  in  Mül- 
heim (Ruhr)    504 

Weber,   G.,    Lehr-  und  Handbuch  der  Weltgeschichte,  angez.  von  Oberlehrer 

Professor  Dr.  V/.  M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld    55 

Wege  zur  Philosophie,  s.  W.  Kinkel,  Idealismus,  E.  König,  Die  Materie, 
A.  Messer,  Willensfreiheit,  und  P.  N  a  t  o  r  p  ,  Philosophie.  > 

W  e  i  c  h  e  r  s  Architekturbücher.    I.  Meisterwerke  der  spanischen  Baukunst,  angez. 

von  Oberlehrer  Professor  Dr.  August  Schoop  in  Düren 104 

—  Kunstbücher,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  P.  B  r  a  n  d  t  in  Düsseldorf  . .       49 

W  e  1 1  e  r  ,    K-,    Württembergische   Geschichte,   angez.   von   Oberlehrer   Professor 

Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s  in  Elberfeld    488 

Weniger,  L.,    Jugenderziehung  und  Weiterbildung,  von  Direktor  Dr.  L.  M  a  k  - 

k  e  n  s  e  n  in  Gotha 449 

Wickenhagen,  Geschichte  der  Kunst,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr. 

August  Schoop  in  Düren    319 

Wielands  gesammelte   Schriften,   angez.  von   Wirkl.    Geh.   Ober-Reg.-Rat   Dr.   A. 

M  a  1 1 1;i  a  s  in  Berlin  209 

Wiese,  F.  G.,  Züge  und  Bilder  aus  dem  Leben  König  Friedrich  Wilhelm  III. 
und  der  Königin  Luise,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  W.  M  e  i  n  e  r  s 
in  Elberfeld 54 

V.  Wilamowitz-Moellendorff,U.  Die  griechische  und  lateinische  Lite- 
ratur und  Sprache,  angez.  von  Direktor  a.  D.  Geh.- Rat  Dr.  Fr.  H  e  u  ß  n  e  r 
in  Cassel 401 

Wissenschaft  und  Bildung,  s.  Fr.  D  a  h  1 ,  Anleitung. 

Wolter,  E.,    Französisch  in  Laut  und  Schrift  und  Grammatik  der  französischen 

Sprache,  angez.  von  Oberlehrer  Professor  Dr.  E.  W  e  b  e  r  in  Steglitz 218 

Wulffen,  Erich,  Shakespeares  große  Verbrecher,  angez.  von  Rektor  a.  D. 

Geh.  Studienrat  Dr.  M  a  r  t  i  n  W  o  h  1  r  a  b  in  Dresden- Striesen     563 


XV\  Inhalt. 

Seite 

W  u  n  d  t ,  W.,  Einleitung  in  die  Philosophie,  angez.  von  Direktor  Professor  Dr.  R. 

J  0  n  a  s  t  in  Köslin    43 

Zeit-  und  Streitfragen,  Biblische,  zur  Aufklärung  der  Gebildeten,  angez.  von  Ober- 
lehrer Professor  Rudolf  Peters  in  Düsseldorf 613 

Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts,  angez.  von  Direktor 

Professor  Dr.  M.  W  e  h  r  m  a  n  n  in  Greifenberg  i.  P 452 

Z  e  n  z ,  W.,  und  F.  Frank,  Logik  und  Unterricht,  angez.  von  Direktor  Professor 

Dr.  R.  Jonas  t  »n  Köslin   44 

Z  e  p  f ,  K-,  Experimentelle  Einführung  in  die  Grundlehren  der  Chemie,  angez.  von 

Oberlehrer  Professor  Dr.  K.  A.  H  e  n  n  i  g  e  r  in  Charlottenburg    123 

Ziehen,  Julius,  Aus  der  Werkstatt  der  Schule,  angez.  von  Wirkl.  Geh.  Ober- 

Reg.-Rat  Dr.  A.  Matthias  in  Berlin  551 

Z  i  1 1  e  r  ,  F.,  Die  moderne  Bibelwissenschaft  und  die  Krisis  der  evangelischen  Kirche, 

angez.   von  Direktor  Hans  Richert  in  Posen    104 

Z  i  m  m  e  r  ,  H.,  Führer  durch  die  deutsche  Herbartliteratur,  angez.  von  Oberlehrer  Dr. 

Gustav  H  u  m  p  f  in  Elmshorn 334 


Vierte  Abteilung. 

Vermischtes. 

15.  Allgemeiner  Deutscher  Neuphilologentag  in  Frankfurt  a.  M.  vom  28. — 30.  Mai 

1912    62  u.  285 

Zeitschrift  für  „Religion  und  Geisteskultur"    221 

Vereinigung  für  staatsbürgerliche  Bildung  und  Erziehung 221 

Verein  zur  Förderung  des  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  222 

Amerika-  Institut 283 

Der  erste  Philologische  Fortbildungskursus  in  Halle  a.  S.,  von  Oberlehrer  Dr.  J  o  h. 

M  0  e  11  e  r  in  Halle  a.  S 284 

Aufruf  zur  Begründung  eines  Deutschen  Germanisten-Verbandes  284 

Eine  neue  pädagogische  Zeitschrift 508 

Sonderausstellung  „Dekorative  Schrift" 640 

Bekanntmachung  des  Königlichen  Provinzialschulkollegiums  Coblenz,  Über  Turn- 

und  Schwimmlehrer- Prüfung  1913 702 


Fünfte  Abteilung. 

S  p  r  e  c  h  s  a  a  1   63.   127.  223.  510 

Berichtigungen. 

Oberlehrer  Professor  Dr.  Faßbaender  in  Münster  i.  W 287 

Oberlehrer  Professor  Dr.  B  u  d  d  e  in  Hannover    288 


I.  Abhandlungen. 


Zehn  Jahre. 

Zehn  Jahre  sind  vergangen,  seitdem  diese  Monatschrift  ins  Leben  getreten  ist. 
Es  geziemt  sich  deshalb,  ein  kurzes  Wort  zu  sagen  beim  Eintritt  in  das  zweite 
Jahrzehnt. 

Die  Monatschrift  ist  bemüht  gewesen,  die  Aufgaben,  die  sie  sich  gesteckt  hatte, 
nach  besten  Kräften  zu  erfüllen.  Vor  allem  wollte  sie  der  Weiterführung  der  Schul- 
reform dienen  und  an  ihrem  Teile  dazu  beitragen,  daß  die  Ausführungen  des  Aller- 
höchsten Erlasses  vom  26.  November  1900  im  Leben  der  höheren  Schule  volle  Gel- 
tung gewinnen.  Der  leitende  Grundsatz  des  Erlasses  —  Gleichwertigkeit  der  Gym- 
nasien, Realgymnasien  und  Oberrealschulen  —  wurde  als  maßgebende  Richt- 
linie auch  für  dieses  neue  Organ  des  höheren  Unterrichts  angenommen.  Desha'b 
wurden  Vertreter  aller  Schulgattungen  gebeten  an  gemeinsamer  Arbeit  teilzunehmen, 
um  durch  gegenseitige  Anregung  und  Wertschätzung  und  durch  den  Grundsatz, 
daß  die  drei  Anstaltsarten  sich  nicht  in  den  Bildungszielen,  sondern  nur  in  den 
Mitteln  und  Wegen  zu  gemeinsamen  Erziehungsidealen  unterscheiden,  die  Gegen- 
sätze zwischen  der  sogenannten  humanistischen  und  realistischen  Richtung  zu 
mildern  und  einem  versöhnlichen  Ausgange  entgegenzuführen. 

Als  weitere  Aufgabe  hatte  die  neue  Monatschrift  sich  gesteckt,  gleichsam 
einen  ausführenden  Kommentar  zu  bilden  zu  den  durch  Weiterführung  der 
Schulreform  geschaffenen  neuen  Lehrplänen  und  Lehraufgaben,  sowie  zu  den 
Verfügungen  der  Zentral-  und  Provinzialbehörden.  Da  Verfügungen  sich  natur- 
gemäß nur  in  kurzen  Sätzen  und  knappen  Fassungen  bewegen  müssen,  galt  es, 
diese  knappen  Auslassungen  ihren  Intentionen  nach  zu  verdeutlichen,  die  Ver- 
fügungen mit  frischem  Geiste  zu  erfüllen,  in  lebendige  Tat  umzusetzen  und  das 
vertrauensvolle  Zusammenwirken  von  Behörden  und  Lehrerkollegien  dadurch 
zu  fördern.  Die  gedeihliche  Ausführung  der  allgemeinen  Anordnungen  sollte  durch 
die  individuelle  Überzeugung  jedes  einzelnen,  der  zur  Mitarbeit  an  den  Aufgaben 
der  Schule  berufen  ist,  gesichert  werden. 

Eng  zusammen  mit  jenen  Aufgaben  hängt  ein  drittes  Ziel:  die  höhere  Schule 
in  stetiger  lebendiger  Fühlung  mit  den  Fortschritten  der  Wissenschaft  zu  halten, 
ihr  alles  unpädagogische  und  unwissenschaftliche  Banausentum  fernzuhalten  und 
in  der  alltäglichen  Einzelarbeit  die  großen  erziehlichen  Grundsätze  und  die  ideale 
Auffassung  des  Berufes  zu  kräftigen  und  zu  festigen. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  1 


2  A.  Matthias,  Zehn  Jahre. 

Diese  Aufgaben  wird  die  Monatschrift  auch  in  Zukunft  sich  bewahren.  Daß 
es  nötig  ist,  das  noch  einmal  zu  klarem  Ausdruck  zu  bringen,  hat  das  vergangene 
Jahr  bewiesen.  Hätte  man  in  allen  Schulen,  besonders  in  den  lateintreibenden, 
die  Bestimmungen  der  Lehrpläne  und  ihre  methodischen  Bemerkungen  gewissen- 
hafter und  freudiger  befolgt,  wären  nicht  immer  noch  so  viele  Lehrer  vorhanden, 
die  im  alten  Schlendrian  dahinwandeln,  es  wäre  ein  Erlaß  nicht  nötig  gewesen, 
der,  was  die  schriftlichen  Klassenarbeiten  anbetrifft,  ernstlich  auf  die  Lehrpläne 
hinweisen  und  nunmehr  Bestimmungen  treffen  mußte,  durch  welche  diejenigen, 
die  immer  noch  nicht  vom  Geiste  der  neuen  Lehrpläne  erfüllt  sind,  nachdrücklich 
angehalten  werden,  sich  abzuwenden  von  falschen  Bahnen  und  in  Geschick  und 
gutem  Willen  nach  denen  sich  zu  richten,  die  diesen  Geist  schon  immer  in  an- 
gemessenen pädagogischen  Formen  entfaltet  haben  und  neuer  Bestimmungen 
deshalb  nicht  bedurft  hätten.  „Wer  nicht  hören  will,  muß  fühlen",  das  können 
diejenigen  sich  jetzt  in  ihr  Tagebuch  schreiben,  die  ohne  Geschick  und  guten  Willen 
den  Lehrplänen  von  1901  gegenüberstanden. 

Der  Grund,  weshalb  diese  Lehrpläne  noch  immer  nicht  von  allen  so  ausgeführt 
werden,  wie  sie  ausgeführt  werden  sollten,  ist  ja  leicht  ersichtlich.  Sehr  viele  Leute, 
besonders  die  Freunde  der  alten  Zeit,  da  eine  einzige  Schulart  und  die  mit  dieser  Art 
verbundene  einseitige  Methode  und  vielfach  leblose  Didaktik  herrschte,  haben  ge- 
meint, mit  der  Veröffentlichung  der  neuen  Lehrpläne  sei  nun  aber  die  Ruhe  da,  in 
der  sie  bis  dahin  von  den  Forderungen  nach  Reform  gestört  waren.  Man  habe  nun 
endlich,  wie  man  sich  sinnig  auszudrücken  beliebte,  den  Schulfrieden.  Ge- 
wiß ist  der  Schulfrieden  gut,  wo  er  hingehört;  z.  B.  auf  dem  Gebiete  der  Organi- 
sation. Aber  in  der  Schule  selbst,  in  ihrer  täglichen  Arbeit,  in  ihrer  Pflicht,  den 
Forderungen  des  Tages  entgegenzukommen  und  sich  beständig  durch  Ablegung 
alter  Fehler  und  Sünden  neu  zu  gestalten  und  zu  reformieren,  da  gibt  es  keinen 
Schulfrieden;  da  hat  das  Wort  Friede  überhaupt  leicht  einen  bö^en  Beigeschmack. 
Täuschen  wir  uns  doch  nicht:  Zu  Friedensbannern  gesellen  sich  am  liebsten  die- 
jenigen, die  Behaglichkeit  und  Bequemlichkeit  über  alles  lieben  und  in  dieser  Geistes- 
verfassung nicht  gestört  sein  mögen.  Friede  macht  ja  glücklich,  aber  er  macht  auch 
schwach;  zu  leicht  verkümmert  er  die  Menschen;  an  einer  Kirchhofsttür  mag  man 
sich  dieses  Wortes  freuen.  Über  den  Türen  der  Schulen  ist  das  Wort  angebrachter, 
daß  das  Leben,  auch  das  Leben  der  Schule,  ein  Kampf  sein  soll;  ein  Kampf  ge- 
sunder Lehrart  gegen  ungesunde  Pädagogik,  ein  Kampf  gegen  alle  die  kleinen  und 
großen  Mängel,  die  unserer  Methodik  noch  immer  anhaften,  ein  Kampf  gegen  die 
Hindernisse,  die  sich  noch  immer  hier  und  dazwischen  Lehrerauftassung  und  Schüler- 
verständnis legen,  ein  Kampf  gegen  veraltete  Maßnahmen  und  Mittel  der  Erziehung, 
ein  Kampf  vor  allem  gegen  die  Anschauung,  als  ob  die  Schule  eine  Stätte  freud- 
loser Arbeit  sei  und  nicht  eine  Stätte  freudig  ten  Schaffens, 

Die  Monatschrift  wird  sich  bemühen,  diesem  Kampfe  weiter  zu  dienen,  wo  es 
nur  nötig  ist,  für  die  Weiterentwicklung  der  Schulreform,  die  noch  lange  nicht  be- 
endet ist,  da  noch  nicht  alle  guten  und  wertvollen  Gedanken  der  Lehrpläne  und  Or- 
ganisationsforderungen von  1900  und  1901  zur  vollen  Ausgestaltung  gelangt  sind. 
Und  weil  diese  Monatschrift  eine  getreue  Kämpferin  für  vernünftige  Schulreform 
ist,  kann  sie  einen  anderen  Kampf  mit  gutem  Gewissen  immer  wieder  aufnehmen 


J.  Cohn,  Die  eigene  Schulzeit  im  Urteil  der  Erwachsenen.  3 

gegen  alle  die  Reformer,  die  in  der  großen  Welt  da  draußen  das  große  Wort  führen, 
ohne  überhaupt  Kenntnis  davon  zu  haben,  welche  Fülle  von  gesunderArbeit  sich 
vollzieht  in  der  Schule  von  heute,  und  ohne  Gerechtigkeit  zu  üben  dieser  Arbeit 
gegenüber;  auch  gegen  die  Reformer,  die  in  den  sogenannten  exakten  Wissenschaften 
ihre  Verdienste  haben  mögen,  aber  an  historischer  Objektivität  einen  solchen  Mangel 
besitzen,  daß  sie  zu  exakten  Originalen  werden;  und  schließlich  gegen  alle  die  Re- 
former, die  irgendwo  und  irgendwie  Schiffbruch  gelitten  haben  und  dieses  Unglück, 
das  sie  durch  eigenes  Mißgeschick  sich  zugezogen,  der  Schule,  in  der  sie  nichts  gelernt 
und  sich  nicht  erzogen  haben,  zuschreiben  und  in  naiver  Verallgemeinerung  ihr 
eigenes  Mißgeschick  für  ein  Unglück  der  Gesamtheit  halten. 

In  diesen  Bestrebungen  fühlt  sich  die  Monatschrift  unterstützt  von  immer 
zahlreicheren  Mitarbeitern,  die  nicht  nur  aus  Preußen,  sondern  aus  ganz  Deutsch- 
land sich  ihr  zugesellen,  und  sie  fühlt  die  Pflicht,  diesen  und  allen  denen  zu  danken, 
die  ihr  im  rüstigen  Mitschaffen  jetzt  und  in  Zukunft  helfen,  um,  wenn  auch  nicht 
in  völligster  Übereinstimmung,  so  doch  in  einem  Sinne  mit  ihr  zu  wirken  für  die 
Freude  an  der  Schule.  Und  wenn  diese  Freude  an  der  Schule,  wie  doch  zu  hoffen 
ist,  ganz  allmählich  mehr  und  mehr  sich  verwirklicht  und  wenn  von  dieser  schönen 
Reform  auch  in  die  weiteren  Kreise  der  Tagespresse  und  des  großen  Publikums  sich 
die  Kunde  verbreitet,  dann  wird  es  doch  eine  schöne  Empfindung  sein  ohne  Liebe- 
dienerei für  die  Liebe  zu  unseren  höheren  Schulen  mit  Wort  und  Arbeit  unermüd- 
lich gewirkt  zu  haben. 

Berlin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 


Die  eigene  Schulzeit  im  Urteil  der  Erwachsenen. 

In  einem  Volke,  das  die  Gesetzgebung  direkt,  die  Verwaltung  wenigstens 
indirekt  beeinflußt,  ist  es  für  die  Zukunft  der  Schule  wesentlich,  wie  sich  die 
eigenen  Schülerjahre  im  Urteil  des  Erwachsenen  darstellen.  Aber  jeder  einzelne 
fühlt  doch,  daß  seine  Erfahrungen  nur  einen  kleinen  zufälligen  Ausschnitt  geben, 
er  möchte  sie  ergänzen  —  am  liebsten  durch  die  Erlebnisse  solcher  Persönlich- 
keiten, die  auf  verschiedenen  Lebensgebieten  sich  einen  Namen  errangen,  die  als 
Führer  des  Volkes  anerkannt  werden  dürfen.  Wir  müssen  daher  Alfred  Graf*) 
dankbar  dafür  sein,  daß  er  eine  größere  Anzahl  solcher  Erinnerungen  und  Urteile 
zusammen  gebracht  hat.  Nun  jedoch  gilt  es,  das  gesammelte  Material  richtig  zu 
gebrauchen,  und  dazu  muß  man  sich  darüber  klar  sein,  wie  eine  solche  Erinne- 
rung, ein  solches  Urteil  zustande  kommL 

Der  Laie  denkt  sich  die  Erinnerung  gerne  so,  als  werde  gleichsam  ein  Ab- 
klatsch jedes  Erlebnisses  aufbewahrt  und  bei  passender  Gelegenheit  herausgeholt. 
Er  mag  wohl  zugeben,  daß  der  Abklatsch  im  Vergleich  zum  Original  verwaschen 
und  farblos  erscheint,  daß  er  vielleicht  auch  im  Lagern  noch  weiter  an  Frische 
und  an  Zahl  der  Einzelheiten  verliert,  wie  etwa  allmählich  eine  Photographie 
verblaßt,  aber  er  wird  annehmen,  daß  das  Gedächtnisbild  wie  ein  Lichtbild  doch 


*)  Alfred  Graf:  Schülerjahre.    Erlebnisse    und   Urteile    namhafter   Zeitgenossen 
Fortschritt  (Buchverlag  der  Hilfe),  Berlin-Schöneberg   1912. 


4  J.  Colm, 

mindestens  in  den  großen  Umrissen  erhalten  bleibt.  —  Der  Psychologe  weiß,  daß 
diese  Vorstellung  falsch  ist.*)  Wohl  wirkt  irgendwie  jedes  Erlebnis  nach,  aber 
meist  in  der  Weise,  daß  es  die  Auffassung  neuer  Erlebnisse  verändert.  Das  Kind, 
das  einige  Male  ein  liebes  Spielzeug  heruntergeworfen  und  zerbrochen  hat,  hütet 
sich  allmählich  davor,  solche  Dinge  auf  die  Erde  zu  schleudern.  Aber  keineswegs 
bewahrt  es  jedes  der  Erlebnisse,  die  ihm  zu  dieser  Einsicht  verhalfen,  mit  allen 
näheren  Umständen  im  Geiste  auf.  Nur  vereinzelte  Erlebnisse,  die  aus  irgend 
einem  Grunde  einen  besonderen  Eindruck  auf  uns  gemacht  haben,  bleiben  als 
einzelne  erhalten,  aber  auch  sie  keineswegs  unverändert.  Vielmehr  wird  die  Mannig- 
faltigkeit des  Erlebnisses  vereinfacht,  es  werden  dabei  die  hervorstechenden  Züge 
immer  mehr  betont,  die  zurücktretenden  immer  stärker  zurückgedrängt.  Dem 
Dichter  gleich,  mit  dem  man  sie  auch  sonst  wohl  verglichen  hat,  ist  die  Erinne- 
rung ein  Verdichter.  —  In  unserem  Falle  nun  handelt  es  sich  nicht  um  Erinnerungen 
an  ein  einzelnes  Ereignis,  sondern  um  den  Nachhall,  den  lange  Jahre  hinterlassen. 
Wie  ein  solcher  sich  aus  weiterklingenden  Grundstimmungen,  aus  der  Überschätzung 
einzelner  starker  Eindrücke,  aus  dem  Kontrast  gegen  vorausgehende  oder  folgende 
Perioden,  aus  dem  Urteil  über  den  Wert  des  in  jener  Zeit  Erreichten  zusammen- 
setzt, wird  sich  schwerlich  je  exakt  auseinanderlegen  lassen.  Daß  es  sich  dabei 
z.  T.  um  Erinnerungen  an  erlebte  Gefühle  handelt,  vereinfacht  die  Sachlage  sicher- 
lich nicht.  Ich  vermute,  daß  die  Gefühle  in  der  Erinnerung  noch  stärker  schemati- 
siert werden  als  die  objektiveren  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  —  und 
noch  mehr:  die  Erinnerungsvorstellungen  selbst  erwecken  Gefühle,  und  diese 
Gefühle  brauchen  durchaus  nicht  mit  den  Gefühlen  des  Erlebnisses  übereinzu- 
stimmen, an  das  sie  erinnern.  Wir  können  uns  einer  Freude  schämen,  einer  glück- 
lich überstandenen  Gefahr,  einer  schweren  Anstrengung  freuen.  Man  beobachtet 
nun  gar  nicht  selten,  daß  dieser  Gefühlston  der  Erinnerung  die  Erinnerung  an 
die  früheren  Gefühle  fälscht. 

Wenn  man  die  von  Graf  gesammelten  Aufzeichnungen  durchsieht,  so  findet 
man  darin  die  Spuren  der  schematisierenden  steigernden  Kraft  der  Erinnerung 
überall  wieder.  Ich  habe  das  besonders  bemerkt,  als  ich  mir  die  Aufgabe  stellte, 
bei  jedem  einzelnen  Berichterstatter  möglichst  ein  Gesamturteil  herauszuziehen. 
Ich  hatte  erwartet,  daß  sehr  viele  gemischte  Fälle  auftreten  würden,  in  denen 
man  schwanken  konnte,  ob  der  Gesamteindruck  ein  günstiger  oder  ungünstiger 
sei.  Aber  dieser  Vermutung  zuwider  überwogen  die  entschiedenen  Urteile  weit- 
aus. Ganz  sicher  spielt  eine  Übertreibung  des  Kontrastes  durch  die  Erinnerung 
mit,  wenn  bei  Männern,  die  zwei  Schulen  besucht  haben,  der  Aufenthalt  an  der 
einen  Schule  als  ganz  rosig,  der  an  der  anderen  als  ganz  schwarz  erscheint.  So  ist  es 
bei  den  Dichtern  Friedrich  Huch  und  Börries  v.  Münchhausen.  Auch  mir  selbst 
erscheinen,  allerdings  zum  Teil  aus  Ursachen  persönlicher  von  der  Schule  unab- 
hängiger Art,  meine  ersten  Gymnasialjahre  (Görlitz)  als  sehr  unerfreulich,  während 
ich  mich  der  späteren  (Askanisches  Gymnasium  zu  Beriin)  mit  der  größten  Freude 
erinnere.    Daß  sich  endlich  verschiedene  Temperamente  sehr  verschieden  zur  Ver- 


*)  vgl.  zum  Folgenden  bes.  L.  W,  Stern:  Zur  Psychologie  der  Aussage,  Berlin  1902 
(Aus  der  Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft  22).  Ferner  die  von  Stern 
herausgegebenen  „Beiträge  zur  Psychologie  der  Aussage"   1903—1905. 


Die  eigene  Schulzeit  im  Urteil  der  Erwachsenen.  5 

gangenheit  stellen,  daß  die  einen  sie  zu  vergolden,  die  anderen  sie  anzuschwärzen, 
geneigt  sind,  ist  bekannt  genug.  Auch  Theorien,  z.  B.  über  den  Wert  oder  Unwert 
der  humanistischen  Bildung,  werden  die  Erinnerung  notwendig  färben.  Gegenüber 
dieser  Unsicherheit  des  bewußt  Erinnerten  mögen  sich  manche  gerne  in  die  Träume 
flüchten,  die  aus  dem  Unbewußten  aufsteigen.  Daß  uns  Angstträume  sehr  häufig 
in  Schulstunden  zurückversetzen,  wird  daher  oft  als  Beweis  für  das  Vorherrschen 
der  Angstgefühle  in  jenen  Jahren  angeführt.  Meine  eigene  Erfahrung  macht  mich 
gegen  diese  Folgerung  mißtrauisch.  Seit  Jahren  träume  ich  mich  in  Angstzuständen, 
als  Kolleg  lesend.  Man  könnte  daraus  schließen,  daß  ich  gewöhnlich  mit  Angst 
in  die  Vorlesung  gehe,  und  daß  ich  das  Dozieren  als  eine  Last  empfinde,  während 
durchaus  das  Gegenteil  der  Fall  ist.  Was  mich  im  Traum  bedrängt,  ist  zum  Teil  nie 
vorgekommen,  zum  Teil  außerordentlich  selten.  Man  sieht,  wie  sehr  Träume 
trügen  können. 

Trotz  allen  Mängeln  der  Erinnerung  scheint  mir  doch  einiger  Wert  gelegt 
werden  zu  müssen  auf  das  Gesamturteil,  das  sie  zurückläßt,  das  gleichsam  ein  Teil 
unseres  geistigen  Organismus  wird.  Wir  haben  in  ihm  gewiß  keine  Spiegelung 
des  Gewesenen  aber  doch  ein  Produkt  aus  den  Eindrücken  und  aus  den  Anlagen 
des  Urteilenden.  Freilich  auch  dieses  Urteil  ändert  sich  durch  neue  Erfahrungen, 
aber  solche  Änderungen  sind  sehr  lehrreich,  wenn  sie  in  ihrer  Eigenart  erkannt 
werden.  Ein  interessantes  Beispiel  liefert  der  Naturforscher  France;  er  verließ, 
wie  er  sagt,  die  Schule  mit  Groll  darüber,  daß  sie  ihm  nicht  das  geboten  habe, 
was  er  suchte,  was  ihn  wahrhaft  förderte.  Im  Laufe  des  Lebens  aber  hatte  er  Gelegen- 
heit, viele  Menschen  zu  beraten,  die  ihn  um  Hilfe  in  geistigen  Nöten  baten,  und 
dieser  Einblick  in  fremdes  Geistesleben  hat  ihn  zu  einem  anderen  Urteil  über  die 
Schulbildung  gebracht.  Er  erlangte  die  Einsicht:  „Nicht  das  Wissen,  nicht  den 
Verstand  und  Charakter  verdanken  wir  der  Schule,  sondern  die  Handhabung  des 
Wissens."  Er  fand,  daß  fast  alle,  die  keine  reguläre  Schulbildung  genossen  haben, 
der  Fähigkeit   ermangelten,  klar  zu  denken  und  richtige  Folgerungen  zu  ziehen. 

Es  soll  nun  versucht  werden,  einige  Ergebnisse  aus  dem  Material  zu  gewinnen, 
das  Grafs  Buch  enthält.  G  af  selbst  ordnet  die  von  ihm  befragten  Persönlichkeiten 
nach  ihren  Berufen.  Ich  habe  mich  daher  gefragt,  wie  sich  die  günstigen  und  un- 
günstigen Urteile  auf  die  verschiedenen  Berufe  verteilen.  Natürlich  sind  für  eine 
solche  Zusammenstellung  nicht  alle  Berichte  brauchbar.  Manche  sprechen  nur 
über  irgend  eine  Einzelheit,  oder  berichten  von  einem  von  der  Norm  abweichenden 
Bildungsgang  und  mußten  daher  ausgeschlossen  werden.  Ferner  können  natürlich 
auch  nur  die  Urteile  miteinander  verglichen  werden,  die  sich  auf  die  gleiche  Schulart 
beziehen. 

Die  Zahl  solcher,  die  nur  eine  Volksschulbildung  erhalten  haben,  ist  in  Grafs 
Buch  sehr  gering,  nur  bei  den  bildenden  Künstlern  ein  wenig  größer.  Es  wäre 
wünschenswert,  sie  durch  Befragung  hervorragender  Arbeiterführer  zu  vermehren. 
Die  große  Mehrzahl  aller  Befragten  kommt  aus  humanistischen  Gymnasien;  eine 
verhältnismäßig  kleinere  Zahl  aus  Realanstalten.  Das  ist  nicht  zu  verwundern, 
da  ja  die  meisten  höheren  Berufe  bis  vor  wenigen  Jahren  den  Abiturienten  der 
Realanstalten  verschlossen  waren.  Grafs  erste  Gruppe  bilden  Juristen  und  Männer 
des  öffentlichen  Lebens,  d.  h.  wesentlich  Politiker.    Dreizehn  Urteile  kommen  hier 


6  J-  Cohn, 

in  Betracht  von  Männern,  die  sämtlich  humanistische  Vorbildung  erhalten  haben. 
Von  ihnen  haben  sieben  günstig,  fünf  ungünstig  geurteilt;  einer  steht  in  der  Mitte.*) 
Auch  die  folgenden  Gruppen  der  Philosophen,  Philologen  und  Theologen  sind  sämt- 
lich humanistisch  vorgebildet.  Es  sind  zusammen  sechzehn,  von  denen  fünfzehn 
günstige  Urteile  über  ihre  Schulzeit  abgeben;  nur  einer,  Ludwig  Gurlitt,  urteilt 
ungünstig.  Drei  unter  den  Theologen  machen  gewisse  Einschränkungen  bei  ihren 
günstigen  Urteilen.'  Die  Zahl  der  Mediziner  und  Naturforscher  ist  leider  allzu 
gering,  um  hier  in  Betracht  zu  kommen.  —  Groß  ist  die  Zahl  der  Dichter  und 
Schriftsteller,  die  auf  Grafs  Frage  geantwortet  haben.  Unter  29  humanistisch 
Vorgebildeten  haben  9'/.  überwiegend  günstige,  M'/g  überwiegend  ungünstige 
Urteile  gefällt.  Die  Halbierung  bezieht  sich  auf  einen,  der  zwei  verschiedene  An- 
stalten besucht  hat,  und  über  sie  verschieden  urteilt.  Fünf  Dichter  haben  Real- 
anstalten besucht;  unter  ihnen  urteilen  drei  ungünstig,  es  sind  ehemalige  Real- 
gymnasiasten. Einer,  der  eine  alte  Berliner  Gewerbeschule  besucht  hat,  urteilt 
günstig.  Unter  den  Schriftstellern  finden  sich  wohl  die  allerschroffsten  Urteile 
und  die  härtesten  Ausdrücke  z.  B.  bei  Hermann  Bahr  und  Alfred  Kerr.  Die  übelsten 
Schulerfahrungen  aber  haben  die  bildenden  Künstler  gemacht.  Sie  haben  auch 
relativ  häufig  die  Schulart  gewechselt,  so  daß  wir  15  %  Urteile  dem  humanistischen 
Gymnasium,  5  /g  den  Realanstalten  zurechnen  müssen.  Unter  den  humani- 
stisch Vorgebildeten  urteilt  nur  ein  einziger,  der  Architekt  Schumacher,  günstig 
über  seine  Vorbildung  12  Vg  Urteile  sind  entschieden  ungünstig.  Die  Urteile 
über  Realanstalten  geben  ein  günstige  es  Resultat.  •  Es  sind  SVg  günstige, 
Vp  ungünstige  Urteile.  Auch  hier  finden  wir  unter  den  günstig  Urteilenden  einen 
Architekten,  Muthesius.  —  Die  letzte  Gruppe  bilden  die  Musiker  und 
Bühnenkünstler.  Auch  sie  urteilen  überwiegend  ungünstig.  Sieben  sind 
humanistisch  vorgebildet;  von  ihnen  gibt  einer  ein  günstiges,  vier  ein  ungünstiges 
Urteil  ab,  die  zwei  realistisch  Vorgebildeten  zeigen  keine  entschiedene  Färbung. 
Man  sieht  also,  daß  die  Berufsgruppen  sich  in  ihren  Urteilen  deutlich  unter- 
scheiden. Auf  der  einen  Seite  stehen  Philosophen,  Philologen  und  Theologen,  kurz 
Arbeiter  an  Geistes-  oder  Kulturwissenschaften;  auf  der  anderen  Seite  die  Künstler, 
insbesondere  die  bildenden  Künstler.  In  der  Mitte  stehen  die  Praktiker  und  Ju- 
risten. Die  Ursachen  dieser  Verschiedenheit  sind  leicht  zu  finden.  Zunächst  wird 
man  an  das  dem  Zwange  abgeneigte  Naturell  des  Künstlers  denken,  und  sicher 
spielt  das  eine  Rolle;  aber  wenn  man  erwägt,  daß  unter  den  Schriftstellern  günstige 
Urteile  doch  häufiger  vorkommen,  daß  z.  B.  der  Maler  Wilhelm  Steinhausen, 
eine  milde  und  abgeklärte  Persönlichkeit,  sich  in  seinem  Urteil  nicht  von  dem 
seiner  Berufsgenossen  unterscheidet,  so  muß  man  doch  noch  an  etwas  anderes 
denken.  Die  aufs  Anschauliche  gerichtete  Geistesart  des  bildenden  Künstlers  erhält 
in  der  Tat  auf  unsrer  Schule  nicht  die  geeignete  Nahrung,  am  wenigsten  auf  dem 
humanistischen  Gymnasium,  eher  noch  auf  dem  Realgymnasium.  Auch  fehlt 
dem  bildenden  Künstler  auf  der  Schule  jede  Ausbildung  in  den  Fertigkeiten,  deren 


*)  Bemerkenswert,  weil  Urteile  von  Praktikern  so  selten  sind,  ist  das  günstige 
Votum  Johannes  Kampfs, , das  ungünstige  Müller-Meiningens.  Das  Oktoberheft  1911  des 
„Säemann"  gibt  2  günstige  Urteile  von  Männern  der  Praxis  über  die  humanistische 
Bildung  wieder:    S.  615  das  von  Engelbert  Pernerstorfer,  S.  629  das  von  Dernburg. 


Die  eigene  Schulzeit  im   Urteil  der  Erwachsenen.  7 

er  bedarf.  Durch  die  Reform  des  Zeichenunterrichts  hat  sich  hier  vielleicht  einiges 
gebessert,  aber  das  kommt  naturgemäß  in  den  Urteilen  noch  nicht  zum  Ausdruck. 
So,  glaube  ich,  erklärt  sich  der  Unterschied  zwischen  den  Dichtern  auf  der  einen, 
den  bildenden  Künstlern  auf  der  anderen  Seite. 

Zwei  Folgerungen  möchte  ich  aus  dieser  Zusammenstellung  ziehen:  eine 
methodische  für  weitere  Untersuchungen  ähnlicher  Art  und  eine  praktische.  Es 
wäre  wünschenswert,  wenn  bei  späteren  Umfragen  gerade  die  Berufe  stärker 
herangezogen  würden,  deren  Urteil  schwankt.  Das  Lob,  das  Philologen  und  Theo- 
logen der  Schule  zollen,  werden  die  Gegner  nicht  hoch  einschätzen,  da  ja  ihren  An- 
lagen der  Unterricht  einseitig  angepaßt  sei.  Andererseits  sind  die  Künstler  Aus- 
nahme-Naturen, die  in  einer  für  größere  M  mgen  berechn  ten  Anstalt  nicht  in  erster 
Linie  berücksichtigt  werden  können.  Maßgebend  wäre  das  Urteil  von  Männern 
des  praktischen  Lebens,  von  Kaufleuten  und  Industriellen  vor  allem,  dann  auch 
von  Medizinern,  praktischen  Juristen,  besonders  höheren  Verwalt  ngsbeamten, 
endlich  von  Offizieren,  soweit  sie  nicht  aus  dem  Kadettenkorps  kommen.  Auch 
Naturforscher  wünschte  ich  mehr  herangezogen  zu  sehen*). 

M3ine  praktische  Forderung  richtet  sich  an  die  Lehrer.  Ich  habe  betont, 
daß  die  Schule  für  Künstlernaturen  ungeeignet  sein  muß.  Darin  liegt  kein  Vor- 
wurf für  sie;  vielmehr  ist  das  eine  notwendige  Folge  ihrer  für  alle  gleichen  An- 
forderungen, ihres  auf  Bildung  des  Intellekts  gerichteten  Lehrplans.  Aber  ein  ein- 
sichtiger Lehrer  vermag  diese  unvermeidlichen  Härten  zu  mildern.  Er  kann 
einem  künstlerisch  interessierten  Knaben  den  Stoff  von  der  Seite  nahe  bringen, 
die  ihm  zugänglich  ist.  Gerade  bei  einseitigen  Talenten  gehört  dazu  oft  weniger 
Zeit  als  man  glaubt;  denn  sie  erfassen  einen  raschen  Wink  mit  dem  sicheren  In- 
stinkte ihres  Talentes.  Auch  das  widerspenstige  Wesen  künstlerischer  Naturen 
kann  durch  ein  Wort  des  Verständnisses  gemildert  werden.**) 

Der  in  dem  Grätschen  Buche  vorliegende  Stoff  läßt  sich  natürlich  auch  nach 
anderen  Gesichtspunkten  als  nach  dem  Berufe  der  Urteilenden  gruppieren,  und 
solche  veränderte  Anordnungen  ergeben  neue  Ansichten.  Ich  will  nur  zwei  an- 
führen: die  soziale  Herkunft  der  Urteilenden  und  die  Schularten, 
die  beurteilt  werden. 

Nach  der  sozialen  Stellung  der  Eltern  kann  man  natüriich  nicht  alle  Urteile 
einteilen,  da  Angaben  darüber  häufig  fehlen.  Bemerkenswert  aber  ist,  daß  Männer, 
die  in  ärmlichen  und  drückenden  Verhältnissen  aufgewachsen  sind,  öfters  die 

*)  Nach  dem  Bericht  über  die  Entstehung  seines  Buches,  den  Graf  soeben  im 
Säemann  (Oktober  1911)  gegeben  hat,  ist  er  allerdings  an  der  einseitigen  Zusammen- 
stellung seines  Materials  nicht  ganz  schuld,  er  hat  z.  B.  an  120  Kaufleute  Fragebogen 
versandt.  Immerhin  wiegen  schon  unter  den  Gefragten  die  Gelehrten  (450)  und  Schrift- 
steller (250)  zu  sehr  vor.  Es  wäre  in  Zukunft  vielleicht  wünschenswert,  den  Fragebogen 
eine  Notiz  beizufügen,  daß  gerade  Angaben  von  Männern  des  praktischen  Lebens  er- 
wünscht seien.  Wieviel  Naturforscher  und  Ärzte  unter  den  befragten  Gelehrten  waren, 
gibt  Graf  nicht  an.  An  aktive  Militärs  sich  zu  wenden,  erwies  sich  ihm,  wie  er  sagt, 
schon  nach  wenigen  Proben  als  „unrentabel". 

**)  Es  ist  bemerkenswert,  daß  die  besten  unter  den  Schülerromanen,  Freund  Hein 
V.  E.  Strauß  und  die  hergehörige  Episode  aus  Th.  Manns  Buddenbrooks,  künstlerisch 
begabte  Knaben  zu  Helden  wählen.  Auch  diese  Romane,  besonders  „Freund  Hein", 
sind  geeignet,  den  Blick  des  Lehrers  für  die  Eigenart  seiner  Schüler  zu  schärfen. 


8  J.  Cohn, 

Schule  im  Gegensatze  dazu  preisen.  Unter  den  Malern  urteilt  ausnahmsweise  günstig 
Ernst  Kreidolf,  den  ein  strenger  Großvater  zum  Bauern  erziehen  wollte.  Er  hat 
eine  Realschule  besucht.  Aber  ganz  verwandt  ist  das  Urteil  des  auf  einem  huma- 
nistischen Gymnasium  in  Leipzig  vorgebildeten  Schauspielers  Ferdinand  Gregori, 
das  ebenfalls  sehr  von  dem  seiner  Berufsgenossen  absticht.  Er  sagt:  ,,Was  mir 
die  Schule  noch  heute  in  freundlichem  Lichte  erscheinen  läßt,  das  ist  der  dunkle 
Hintergrund,  von  dem  sie  sich  abhebt.  Wir  waren  sehr  sehr  arm  und  pfennigweise 
wurde  das  Brot  verdient."  Trotzdem  er  sich  auch  an  viele  tote  Stunden  erinnert, 
dankt  er  dem  Gymnasium  seine  geistige  Elastizität.  Er  hebt  dabei  seinen  willigen 
Schulbesuch  hervor  und  fügt  hinzu:  „wieviele  vergällten  sich  die  schönen  Jahre 
nur,  weil  sie  sich  zu  nichts  zwingen  wollen  (und  das  Leben  zwingt  später  jeden) 
oder  weil  sie  mit  der  Herde  liefen,  die  ihnen  den  Haß  gegen  einige  Lehrer  und 
Fächer  einredete."  —  „Ich  war  schon  Lehrer  in  meiner  grünsten  Schulzeit,  ich  ver- 
stand den  Jammer  des  Lehrerberufes  von  ganzem  Herzen;  er  ist  viel  ärger  als  der 
des  Schülertums."  Ganz  anders  hebt  sich  die  Schulzeit  ab  vom  Hintergrunde 
eines  freien  Künstlerhauses.  Es  ist  doch  bemerkenswert,  daß  Ludwig  Gurlitt 
erzählt:  „mein  lieber  Vater  erklärte  laut  vor  uns,  die  Schulen  wären  Verdummungs- 
anstalten  und  wir  sollten  die  ewige  Ochserei  lassen.  Die  Ferien  verbrachten  wir 
in  Schloß  S.  bei  G.  oder  im  Thüringer  Walde  in  W.  in  ungetrübter  Lust,  im 
Sommer  mit  Bewegungsspielen,  im  Winter  mit  allerlei  künstlerischem  Treiben 
beschäftigt."  — 

Es  wird  besonders  interessieren,  wie  das  Urteil  über  verschiedene 
SchulenundSchularten  ausfällt.  Freilich  läßt  uns  gerade  hier  das  Mate- 
rial vielfach  im  Stiche.  Auf  die  bemerkenswerten  Beiträge  zur  Geschichte  einzelner 
Anstalten  kann  hier  natürlich  nicht  eingegangen  werden,  die  Angaben  über  Real- 
gymnasien und  Realschulen  sind  wenig  zahlreich  und  unergiebig;  daher  möchte 
ich  nur  einiges  anführen,  was  über  Privatunterricht  und  Volksschulen  gesagt  wird, 
und  daran  Bemerkungen  über  einige  besondere  Gruppen  humanistischer  Gym- 
nasien anfügen. 

Eine  ganze  Reihe  Berichterstatter  sind  anfangs  privatim  unter- 
richtet worden.  Bemerkenswert  ist  das  Urteil,  das  Pfarrer  Traub  über  Einzel- 
unterricht fällt,  den  er  drei  Jahre  lang  bei  seinem  Vater  genossen  hat.  Er  hebt 
hervor,  daß  Privatunterricht  weit  mehr  anstrengt  als  Klassenunterricht,  bemerkt 
aber  zugleich,  daß  das  persönliche  Moment  unmittelbarer  Erziehung  im  Einzel- 
unterricht stärker  hervortritt,  und  daß  es  eine  fröhlichere  Sache  ist,  in  luftiger 
Gartenlaube  Livius  zu  lesen  als  im  Lehrsaal.  Ganz  ohne  Schulbildung  ist  die 
Dichterin  Isolde  Kurz  aufgewachsen,  die  Tochter  des  berühmten  Dichters  Hermann 
Kurz.  Sie  rühmt  die  geistige  Anregung  und  Frische  ihres  Elternhauses,  aber  sie 
beklagt  die  Unfähigkeit,  sich  in  die  Welt  zu  schicken,, als  ein  Ergebnis  ihrer  Er- 
ziehung. —  Für  die  heute  so  viel  besprochene  Frage  der  Einheitsschule  sind  die 
Urteile  derer  bemerkenswert,  die  in  der  Volksschule  für  den  höheren  Unter- 
richt vorbereitet  wurden.  Sie  sind  im  allgemeinen  günstig.  Ja  mehrfach  wird 
hervorgehoben,  daß  das  Volksschuljahre  schöner  waren  als  die  späteren.  So  sagt 
der  Maler  S  1  e  v  o  g  t  ,  daß  er  die  Volksschule  gerne  und  mit  Erfolg  weil  mit  Eifer 
besucht  habe,  daß  dagegen  mit  Eintritt  in  die  Lateinschule  die  Lernbegierde  schwand. 


Die  eigene  Schulzeit  im  Urteil  der  Erwachsenen.  9 

Ähnlich  berichtet  der  Dichter  ßusson,  daß  er  seine  zwei  Volksschullehrer,  alte  Tiroler, 
die  noch  ganz  im  alten  S'ile  mit  viel  Humor  und  gutmütiger  Strenge  unter- 
richteten, recht  gerne  hatte,  während  im  Gymnasium  die  Stellung  zu  den  Lehrern 
sich  rasch  änderte.  Geklagt  wird  einige  Male  über  P  r  ü  g  e  1  d  i  s  z  i  p  1  i  n.  Aber 
diese  Urteile  stammen  aus  älterer  Zeit.*)  ?.o  von  Sombart  der  1863,  von  Gurlitt, 
der  1865  geboren  ist.  Noch  weniger  für  heutige  Verhältnisse  maßgebend  ist  das 
ganz  ungünstige  Urteil  des  Juristen  Kohler  über  eine  badische  Volksschule,  die  er 
während  der  50  er  Jahre  besucht  hat.  Aus  neuerer  Zeit  finde  ich  keine  Klagen 
über  allgemeines  Prügeln,  nur  einzelne  Prügelpädagogen  haben  eine  üble  Erinne- 
rung auch  bei  solchen  hinterlassen,  die,  wie  der  Zeichner  Greiner,  sonst  der  Volks- 
schule gerne  gedenken.  Es  ist  besonders  bemerkenswert,  daß  gerade  im 
Gegensatze  zu  den  ungünstigen  Urteilen  bildender  Künstler  über  höhere 
Schulen,  die  bildenden  Künstler,  die  nur  Volksschulen  besucht  haben,  günstig 
urteilen  oder  wenigstens  nichts  zu  klagen  haben.  Gewiß  liegt  diese  günstige 
Stellung  zur  Volksschule  zum  großen  Teil  daran,  daß  hier  der  Unterricht  mit  14 
Jahren  aufhört,  daß  also  die  große  Schwierigkeit  in  der  Behandlung  der  nach 
Selbständigkeit  strebenden,  jungen,  begabten  Menschen  wegfällt.  Trotzdem 
scheint  mir  die  wiederholt  gemachte  Beobachtung,  daß  die  Stellung  zu  den 
Lehrern  sogleich  bei  Eintritt  in  die  höhere  Schule  sich  verschlechtert  habe,  noch 
auf  etwas  anderes  hinzuweisen.  Ich  vermute  doch,  daß  sich  hier  die  bessere 
pädagogische  Bildung  der  Volksschullehrer  geltend  macht. 

Unter  den  Gymnasien  bilden  die  Fürstenschulen  Sachsens  und  Schulpforta, 
das  einst  auch  Fürstenschule  war,  eine  Gruppe  für  sich.  Drei  ehemalige  Schüler  von 
St.  Afra  in  Meißen  und  ein  alter  Pförtner  haben  berichtet:  es  sind  wohl  die  am 
meisten  für  ihre  alte  Schule  begeisterten  Urteile.  Der  alte  Pförtner  ist  U.  von 
Wilamowitz-Möllendorf,  die  drei  Afraner:  Friedrich  Naumann,  der  Theologe  Fried- 
rich Meyer  und  der  Dichter  Franz  Adam  Beyerlein.  Mit  zwei  Vertretern  der  Geistes- 
wissenschaften sind  also  ein  Politiker  und  ein  Schriftsteller  im  Preise  dieser  Schulen 
einig.  Sie  alle  sind  entschiedene  Anhänger  der  humanistischen  Bildung  geblieben; 
dabei  ist  Beyerlein,  wie  sein  Roman  „Jena  oder  Sedan"  beweist,  eine  zur  Kritik 
und  Opposition  geneigte  Natur.  Kleinstädtische,  streng  humanistische  Anstalten 
werden,  besonders  in  etwas  älterer  Zeit,  nicht  selten  gerühmt.  —  Öfters  wird  auch 
hervorgehoben,  wie  günstig  die  Verhältnisse  in  den  oberen  Klassen  kleiner  Gym- 
nasien lagen,  wo  die  geringe  Schülerzahl  eine  individuelle  Behandlung  möglich 
machte.  Der  Abgeordnete  Basser  mann  z.  B.  hebt  das  im  Gegensatze  zu 
den  heutigen  überfüllten  Klassen  hervor. 

Gar  nicht  leicht  ist  es,  den  Inhalt  der  Urteile  und  Erinnerungen  irgend- 
wie zusammen  zu  fassen.  Indem  ich  für  anderes,  z.  B.  das  Verhältnis  zu  den  Mit- 
schülern, auf  das  Studium  des  Werkes  verweise,  beschränke  ich  mich  darauf,  die 
Urteile  über  hygienische  Verhältnisse,  über  Lehrstoffe  und  endlich  über  die  Lehrer 
kurz  zu  kennzeichnen.  Seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  stehen  unter  den  An- 
klagen gegen  die  Schule  im  Vordergrund  die  Vorwürfe  über  gesundheitliche  Schädi- 
gungen, bes.  Überbürdung.   In  Grafs  Buche  zähle  ich  sieben  Fälle,  in  denen  gesund- 

*)  Ich  habe  doch  auch  in  neuerer  Zeit  mancherorts  von  Prügel-Disziplin  gehört.  Wir 
sollten  uns  in  dieser  Beziehung  nicht  allzusehr  in  Sicherheit  wiegen.  Mtth. 


10  J.  Cohn, 

heitliche  Schädigung  durch  die  Schule  behauptet  wird.  Eines  dieser  Urteile  (Ludwig 
Gurlitt)  ist  ganz  allgemein,  eines  (Traub)  bezieht  sich  auf  eine  lokale,  seither  ge- 
milderte Einrichtung,  das  Württembergische  Landexamen,  eines  (Bruno  Wille) 
auf  eine  hygienische  Einzelheit  (Kurzsichtigkeit).  Schwerer  wiegen  die  Fälle,  in 
denen  von  eigentlicher  Überbürdung,  von  schwerem  Zusammenbruch  und  tiefen 
Depressionen  berichtet  wird.  Es  sind  v  e-:  der  Mediziner  F  o  r  e  1 ,  der  Schriftsteller 
Fred,  der  Maler  P  i  e  t  s  c  h  und  der  Musiker  Weingärtner.  Dem  gegen- 
über stehen  zehn  Urteile,  die  gesundheitliche  Schädigungen  durch  die  Schule 
in  Abrede  stellen  und  erklären,  daß  von  einer  Überbürdung  auf  der  Schule  nicht 
die  Rede  sein  kann.  (Hierher  u.  a.  Fürst  B.  v.  Bülow,FriedrichNaumann, 
Rein, Windelband,  Graf  Kaikreuth  und  H.  M  u  t  h  e  s  i  u  s).  Die  Zahl 
der  günstigen  Urteile  überwiegt  also,  aber  vielleicht  wäre  über  gesundheitliche 
Schäden  mehr  geklagt  worden,  wenn  mehr  Mediziner  geantwortet  hätten.  Öfters 
beklagt  v/ird  der  Mangel  an  körperlicher  Ausbildung,  nicht  selten  mit  dem  Zu- 
sätze, daß  der  Betreffende  diesem  durch  Sport  und  Spiel  einigermaßen  abgeholfen 
habe,  öfter  auch  mit  der  Bemerkung,  daß  das  seither  besser  geworden  sei. 

Unter  den  Lehrstoffen  möchte  ich  nur  die  am  häufigsten  beurteilten,  die  alten 
Sprachen  und  die  Mathematik,  erörtern.  Nach  dem  Religionsunterricht  und  seiner 
Wirkung  ist  zwar  ausdrücklich  gefragt  worden,  die  Antworten  aber  sind  nicht  sehr 
ergiebig  —  es  läßt  sich  ihnen  wohl  nur  entnehmen,  daß  gerade  hier  alles  auf  den 
Lehrer  ankommt.  Die  größte  Verschiedenheit  findet  sich  in  den  Urteilen  über 
die  alten  Sprachen.  Das  wird  niemand  anders  erwarten,  der  irgendwie 
die  Diskussionen  über  das  humanistische  Gymnasium  kennt.  Nicht  ganz 
selten,  besonders  bei  Schriftstellern  findet  man  die  Bemerkung,  daß  der  Betreffende 
erst  später  wieder  zur  Lektüre  der  Alten  zurückgekehrt  sei,  die  ihm  das  Gymnasium 
verekelt  habe.  Die  gleiche  Anklage  wird  auch  gegen  den  Unterricht  im  Deutschen 
und  in  der  Religion  erhoben.  Auf  der  anderen  Seite  sind  die  sprachlichen  Fächer 
gerade  die,  bei  denen  am  öftesten  eine  Förderung,  besonders  durch  einzelne  Lehrer, 
hervorgehoben  wird,  und  über  die  manche  mit  Begeisterung  berichten.  Daß  das 
Urteil  über  die  Mathematik  sehr  häufig  ungünstig  lautet,  liegt  zum  Teil 
an  der  Auswahl  der  Urteilenden.  Es  überwiegen  ja  weitaus  philologisch-historische 
oder  künstlerische  Geister.  Wenn  die  Zahl  der  Naturforscher,  Techniker  usw. 
größer  wäre,  so  würde  wohl  das  Urteil  über  den  mathematischen  Unterricht  anders 
ausfallen.  Immerhin  ist  bemerkenswert,  wie  oft  von  sonst  begabten  Männern 
die  Mathematik  als  ein  unzugängliches  und  qualvolles  Fach  bezeichnet  wird. 

Was  endlich  die  einzelnen  Urteile  über  Lehrer  und  die  zahlreichen  Lehrer- 
porträts betrifft,  so  scheint  mir  bemerkenswert,  daß  gerade  strenge  Lehrer,  und 
solche,  die  hohe  Anforderungen  stellten,  oft  gerühmt  werden.  —  Man  fühlt  sich 
stolz,  bei  ihnen  etwas  zu  leisten,  und  freut  sich  nachträglich  der  Anforderungen, 
die  sie  gestellt  haben,  und  denen  gegenüber  man  sich  bewährt  hat.  Auch  an  solche, 
die  private  Tätigkeit  anregten,  erinnert  man  sich  gern.  So  preist  der  Architekt 
Schumacher  den  Bremer  Direktor  K.  Bulle,  der  in  den  oberen  Klassen  unter  souve- 
räner Nichtachtung  des  Stundenplans  hier  und  da  einen  ganzen  Vormittag  der  wohl 
vorbereiteten  Lektüre  einer  griechischen  Tragödie  widmete.  Im  übrigen  bestätigt 
mir  die  Lektüre,  daß  in  dem  Verhältnis  zwischen  Lehrer  und  Schüler  viele  ganz 


Die  eigene  Schulzeit  im  Urteil  der  Erwachsenen.  11 

individuelle  Momente  mitsprechen.  Ich  wünschte,  daß  die  Lehrer  an  den  oberen 
Klassen  der  höheren  Schulen  sich  das  überlegten;  sie  würden  es  dann  nicht 
so  bitter  empfinden,  wenn  ein  sonst  begabter  Schüler  in  ihrem  Unterrichte  weniger 
Eifer  zeigte.  Ferner  sind  solche  Erwägungen  geeignet,  sich  gegenüber  der  st  engen 
Einförmigkeit,  die  in  der  Tendenz  der  Staatsschule  liegt,  auch  der  von  der  Norm 
abweichenden  Lehrer  anzunehmen,  sofern  sie  nur  irgend  etwas  Positives  zu  bieten 
haben.  In  diesem  Sinne  möchte  ich  eine  Erinnerung  des  Dichters  Schaukai  her- 
vorheben, der  einem  ,, skurrilen  Patron"  besonders  dankbar  ist,  weil  der  mit  einem 
seltsam  ironischen  Humor  begnadete  Kauz  seine  Griechen  und  Römer  burlesk- 
drastisch vorspielte.  Was  in  der  Schulzeit  nur  eine  Hetz  zu  sein  schien,  gilt  dem 
Manne  als  etwas  Wichtiges,  als  ein  wirkliches  Erleben  der  Alten. 

Da  die  Aufzeichnungen  meist  Zustände  betreffen,  die  um  mehrere  Jahrzehnte 
zurückliegen,  da  ferner  einige  Beobachter  das  Einst  und  das  Jetzt  vergleichen, 
so  liegt  die  Frage  nahe,  ob  sich  die  Schulen  seither  geändert  haben.  Graf  meint 
in  seiner  kurzen  Einleitung,  daß  manches  besser  geworden  sei.  Das  ist  sicher 
für  die  Schulhygiene  und  die  körperliche  Ausbildung  der  Schüler  richtig;  ebenso, 
wie  einige  Beobachter  hervorheben,  für  die  Anschaulichkeit  des  Unterrichts.  Aber 
sollten  diesen  Errungenschaften  nicht  auch  Verluste  gegenüberstehen?  Ich  meine 
nicht  Rückschritte  der  Allgemeinheit,  wohl  aber  ein  Seltenerwerden  gewisser 
glänzender  und  für  die  Heranbildung  höherer  Intelligenzen  höchst  wichtiger  Aus- 
nahmen. Allerwärts,  so  scheint  mir,  wächst  die  Rücksicht  auf  die,  die  gerade  noch 
knapp  den  Anforderungen  höherer  Bildung  genügen  können.  Nicht  ohne  Grund 
fürchten  sich  die  Lehrer,  ihre  Anforderungen  höher  zu  spannen. 

Das  führt  uns  zu  der  Frage,  ob  aus  den  Sammlungen  Grafs  sich  praktische 
Folgerungen  ziehen  lassen.  Man  muß  damit,  glaube  ich,  sehr  vorsichtig  sein,  und 
ich  möchte  das  Wenige,  das  ich  noch  sagen  will,  durchaus  nicht'  als  wissenschaft- 
lich begründete  Folgerung,  sondern  lediglich  als  persönliche  Meinung  vorbringen. 
Da  scheint  mir  in  erster  Linie  bemerkenswert,  daß  eine  Gruppe  höchst  bedeutender 
Geister  für  die  in  so  vielen  Urteilen  angegriffene  streng  humanistische  Bildung 
entschieden  eintritt.  Da  wir  nun  die  Gleichberechtigung  der  drei  höheren  Schulen 
haben,  da  also  niemand  mehr  gezwungen  ist,  aus  äußeren  Gründen  das  huma- 
nistische Gymnasium  zu  besuchen,  so  wünsche  ich,  daß  man  dieser  Schulgattung 
Freiheit  lasse,  ihrer  Eigenart  wirklich  zu  pflegen.  Was  die  Mathematik  betrifft,  so 
möchte  ich  sie  trotz  aller  Gegner  niemandem  erlassen.  Di  Strenge  dtr  Wissenschaft 
lernt  der  junge  Geist  hier  zuerst  k  nnen,  hier  zuerst  wird  ihm  die  wichtige  Lehre  zu 
Teil,  sich  nie  mit  dem  Ungefähr  zu  begnügen.  Aber  etwas  anderes  ist  es,  ob  man 
wirklich  von  allen  das  ganze  Gymnasial-Pensum  fordern  soll.  Die  vielen  Klagen 
über  Vergewaltigung,  das  Lob,  das  so  oft  Lehrern  gespendet  wird,  die  die 
Eigentätigkeit  förderten,  spricht  ohnedies  für  ein  Durchbrechen  des  Klassensystems 
auf  der  Oberstufe,  für  eine  gewisse  Wahlfreiheit,  wie  sie  ja  heute  vielfach  erstrebt 
wird.  In  der  Mathematik  empfiehlt  es  sich  vielleicht,  für  die  Schwachen  von  der 
0  II  ab  statt  des  weiterführenden  Unterrichts  einen  Repetitionskurs  einzurichten: 
sie  sollten  einfach  die  Elemente  noch  einmal  durchmachen,  wobei  im  Geiste  des 
Unterrichts  entsprechend  dem   reiferen  Alter  eine  wissenschaftliche  Vertiefung 


12  J.  Cohn,  Die  eigene  Schulzeit  im  Urteil  der  Erwachsenen. 

möglich  wäre.  Dann  würde  kaum  einer  das  Gymnasium  verlassen,  ohne  den  Segen 
des  strengen  mathematischen  Erkennens  erfahren  zu  haben. 

Im  allgemeinen  zeigt  auch  diese  Zusammenstellung  wieder,  wie  verschieden 
verschiedene  Individualitäten  in  den  entscheidenden  Jahren  der  Jugend  auf  den 
Zwang  der  Schule  reagieren.  Das  sollte  Eltern  und  Lehrer,  vor  allem  aber  alle, 
die  als  Verwaltungsbeamte  oder  Politiker  über  die  Zukunft  unserer  Schulen  zu 
bestimmen  haben,  nachdenklich  machen.  Eine  Hauptgefahr  der  modernen  Ent- 
wickelung  scheint  mir  nämlich  darin  zu  bestehen,  daß  für  eine  wachsende  Zahl 
von  Berufen  das  Abschlußexamen  einer  neunstufigen  Vollanstalt  gefordert  wird. 
Ich  sehe  nicht  ein,  warum  ein  Zahnarzt,  ein  Tierarzt,  ein  Apotheker  das  Abiturienten- 
zeugnis haben  muß.  Es  sind  auch  wesentlich  unsachliche  Standesinteressen,  die 
zu  dieser  Forderung  führen.  Man  will  anderen  Ständen  gesellschaftlich  gleich- 
stehen und  man  will  unbequeme  Konkurrenz  fernhalten.  Der  zweite  Grund  ver- 
dient gar  nicht  berücksichtigt  zu  werden,  der  erste  dagegen  sollte  jeden  einzelnen  zu 
einer  Revision  gesellschaftl  eher  Vorurteile  veranlassen.  Viel  leichter  würden  Väter 
sich  entschließen,  Kinder,  die  sich  vielleicht  bei  hervorragender  Begabung  nach  and.Ter 
Richtung  hin  für  die  höheren  Schulen  nicht  eignen,  aus  ihnen  zu  entfernen,  wenn  nicht 
ein  immer  vollständigeres  Gitter  von  Berechtigungen  dem  Wildling  fast  alle  Berufe 
verschlösse.  Es  wirkt  auf  den  Beobachter  bei  näherer  Überlegung  geradezu  grotesk, 
daß  auf  der  einen  Seite  unsere  Schule  gar  nicht  heftig  genug  angegriffen  werden 
kann,  auf  der  anderen  Seite  aber  eine  maßlose  Überschätzung  der  regelmäßig 
Vorgebildeten  besteht.  Ich  weiß  wohl,  daß  der  moderne  Großstaat  das  Berechti- 
gung-wesen  nicht  entbehren  kann,  aber  es  muß  dafür  gesorgt  werden,  daß  immer 
Lebenswege  offen  bleiben  für  die  oft  sehr  tüchtigen  Männer,  die  einmal  nicht  für 
den  regelmäßigen  langen  Schulweg  passen. 

Ich  bin  von  Schulfragen  auf  soziale  Erwägungen  abgeglitten;  das  war  un- 
vermeidlich, denn  unsere  Schule  ist  viel  mehr,  als  man  oft  meint,  von  den  gesamten 
Zuständen  der  Gesellschaft  abhängig.  Es  wäre  recht  gut,  wenn  Bücher  wie  das  Graf- 
sche  zum  Nachdenken  darüber  anregten,  anstatt  zu  maßlosen  und  verbitternden 
Angriffen  gegen  Schule  und  Lehrer.  Überhaupt  wünschte  ich,  daß  das  Buch  von 
verschiedenen  in  sehr  verschiedenem  Sinne  gelesen  und  benützt  würde:  Von  unseren 
Jungen  —  hoffentlich  gar  nicht.  Von  Eltern,  überhaupt  von  reiferen  Menschen  zur 
Ergänzung,  nicht  zur  Bestätigung  des  eigenen  Urteils.  Mir  selbst  hat  das  Werk 
in  diesem  Sinne  genützt.  Von  den  Lehrern  aber,  den  jüngeren  zumal,  sollte  das 
Buch  gründlich  studiert  werden,  und  zwar  sollten  sie  ihre  Aufmerksamkeit  gerade 
den  Erzählungen  einzelner  Schulereignisse  schenken,  die  als  fördernd  oder  schädigend 
den  Betroffenen  ihr  ganzes  Leben  lang  im  Gedächtnis  geblieben  sind.  Daraus 
können  sie  für  ihr  praktisches  Verhalten  ungemein  viel  lernen,  wenn  sie  sich  durch 
heftige,  selbst  abgeschmackte  Ausfälle  nicht  verbittern  lassen.  Ich  weiß,  daß 
übertriebene  Anklagen  den  Lehrern  ihr  schweres  Amt  noch  schwerer  machen. 
Aber  ich  wünsche  ihnen  allen  so  viel  humoristische  Überlegenheit,  daß  sie  auch 
in  die  bittersten  Gegner  sich  noch  hinein  versetzen  und  so  aus  giftigen  Blüten  Honig 
saugen  können. 

Freiburg  i.  Br.  J  o  n  a  s  C  o  h  n. 


L.  Koch,  Ein  Anti-Ostwald.  13 

Ein  Anti-Ostwald. 

Die  vornehme  Zurückhaltung,  die  die  deutschen  Oberlehrer  in  dem  seit  Jahren 
wogenden  Kampfe  um  die  Reform  der  höheren  Schulen  sich  auferlegt  haben,  ist 
ihnen  vielfach  recht  falsch  gedeutet  worden.  Einer  der  hitzigsten  Feinde  des  be- 
stehenden Schulsystems  wagte  kürzlich  das  Wort:  ,,Die  Oberlehrer 
schlafen  wie  überall  so  auch  in  H.**  Er  wußte  recht  wohl,  daß 
sie  wissenschaftlichem  und  pädagogischem  Schaffen  nicht  fern  stehen,  und  ihm 
war  bekannt,  welche  Summe  ehrlicher  und  ansehnlicher  Arbeit  auf  den  mannig- 
fachsten Gebieten  der  Wissenschaft  von  ihnen  geleistet  wird,  mit  welchem  Ernste 
sie  sich  an  der  Lösung  der  aufgeworfenen  pädagogischen,  religiösen  und  sozialen 
Probleme  beteiligen.  Sein  Vorwurf  galt  der  Vernachlässigung  der  höchsten  Pflicht 
des  modernen  Staatsbürgers,  für  seine  Überzeugung  offen,  mannhaft  einzutreten. 
Es  ist  in  der  Tat  ein  häßlicher  Zwang,  den  die  Zeit  auf  uns  ausübt;  es  ist  weder 
jedermanns  Geschmack  noch  Anlage,  sich  aus  dem  reinen  Äther  geistigen  Ge- 
nießens  und  Schaffens  in  den  schwarzen  Staub  der  Gasse  zu  wagen  und  einen 
Kampf  um  seine  Ideale  mit  Gegnern  aufzunehmen,  denen  zur  Erreichung  ihrer 
Ziele  jedes  Mittel  heilig  ist.  So  ist  es  wohl  zu  erklären,  daß  der  „weltfremde" 
Oberlehrer  auf  all  die  schweren,  zum  großen  Teil  unberechtigten  Vorwürfe,  die 
gegen  ihn  erhoben  wurden,  zu  lange  geschwiegen  hat.  Nun  aber  die  Einsicht  wächst, 
wie  großer  Nachteil  weniger  ihm  als  der  Stätte  seiner  Arbeit,  der  höheren  Schule, 
aus  der  falschen  Deutung  dieses  Schweigens  erwächst,  mehren  sich  die  Vertreter 
der  guten  Sache  unter  ihnen.  Solange  nur  ein  Schulze,  ein  A.  Bonus,  ein  G.  Bieden- 
kapp  u.  a.  m.  als  Führer  der  Stürmer  und  Dränger  erschienen  und  die  Sache  der 
Schulreformer  durch  ihre  verkehrte  Taktik  eher  gefährdeten  als  förderten,  schien 
es  kaum  der  Mühe  wert,  sich  zu  rühren.  Seitdem  aber  eine  Leuchte  der  Wissen- 
schaft, ein  Gelehrter  von  Weltruf,  der  Chemiker  0  s  t  w  a  1  d  ,  z'um  Bannerträger 
der  fanatischen  Gegner  unseres  höheren  Schulwesens  sich  hergegeben  hat,  war 
es  unerläßlich,  zu  untersuchen  und  das  Ergebnis  der  Untersuchung  offen  vor  aller 
Welt  zu  verkünden,  ob  Ostwalds  Eingreifen  in  die  Schulhändel  berechtigt  und 
beachtenswert  ist  oder  nicht.  Julius  Ruska  in  Heidelberg,  der  Heraus- 
geber des  pädagogischen  Archivs,  hat  nun  der  Tagung  der  Philologen  und  Schul- 
männer in  Posen  eine  Schrift  gewidmet  „Schulelend  und  kein  End  e", 
die  eine  scharfe,  aber  gerechte  Abfertigung  des  berühmten  Forschers  enthält. 
Sie  ist  ein  A  n  t  i  -  O  s  t  w  a  l  d  in  aller  Form.  An  der  Hand  der  beiden  wesent- 
lichsten, weitverbreiteten  Schriften  Ostwalds,  „Große  Männer**  und  „Wider  das 
Schulelend",  Leipzig  1909,  und  einiger  seiner  Aufsätze,  die  in  Berliner  Tages- 
blättern veröffentlicht  wurden,  prüft  Ruska  die  Fundamente,  auf  denen  sich  das 
weithin  strahlende  und  blendende  Gebäude  des  Zorns  wider  die  Philologen  und 
das  heutige  Bildungswesen  erhebt.  Ruska  kommt  zu  dem  wichtigen  Ergebnis, 
daßSchule  undHaus  sich  durch  Ostwald  zu  Unrecht 
haben  beunruhigen  lassen,  „Wer  in  so  skrupelloser  Weise  mit  den 
Quellen  umgeht,  wie  es  Ostwald  in  seinen  Biographien  von  Helmholtz,  Liebig, 
Mayer  usw.  getan  hat,  und  wer  es  für  überflüssig  hält,  sich  über  die  tatsäch- 
lichen  Leistungen   der  Philologie  an    unseren  Schulen    und   Universitäten   auch 


14  L.  Koch, 

nur  obenhin  zu  informieren,  bevor  er  seine  Gehässigkeiten  in  die 
Öffentlichkeit  schleudert,  der  hat  den  Anspruch  verwirkt,  auf  diesem  Felde 
ernst  genommen  zu  werden**,  und  am  Schlüsse  „Er  darf  sich  nicht  wundern, 
wenn  ihm  nach  Prüfung  seiner  Leistungen  die  Fähig- 
keit abgesprochen  werden  muß,  über  die  höhere  Schule 
und  ihre  Lehrer  zu  Gericht  zu  sitze  n".  Wahrlich,  deutlicher 
konnte  nicht  gesprochen,  schärfer  nicht  die  „Methode"  Ostwalds  zurückgewiesen 
werden  als  es  in  diesen  Sätzen  geschehen  ist.  Ruska  muß  seiner  Sache  sehr  sicher 
sein,  wenn  er  es  wagt,  einem  so  „großen  Mann"  so  fest  entgegenzutreten.  Ost- 
walds Schwächen  haben  Ruska  die  Beweismittel  an  die  Hand  gegeben. 

Das  Buch  Ostwalds  „Große  Männer"  wird  zuerst  vorgenommen.  Daß  es 
sich  bei  ihm  nicht  um  eigene  biographische  Leistungen  Ostwalds  handelt,  sondern 
O.  aus  einem  von  andern  bearbeiteten  Material  schöpfte,  wird  nur  beiläufig  er- 
wähnt. Ruska  ist  es  darum  zu  tun,  den  unglaublichen  Unsinn  über  die  Philo- 
logie und  die  historischen  Wissenschaften,  den  0.  der  2.  Vorlesung  gleichsam  als 
Leitmotiv  des  ganzen  Werkes  vorausschickt,  ins  rechte  Licht  zu  setzen.  Die 
Schlechtigkeit  unserer  höheren  Schulen,  die  Unhaltbarkeit  der  „philologischen 
Erziehung"  soll  sich  ergeben  aus  der  Darstellung  der  persönlichen  traurigen  Er- 
fahrungen, die  große  Männer  der  Wissenschaften  in  der  Schule  gemacht  haben, 
welche  für  ihre  Entwicklung  nur  gefährliche  Hemmnisse,  aber  keine  Förderung 
gebracht  hat.  Wer  sind  die  großen  Männer,  die  Ostwald  als  Demonstrationsobjekte 
dienen  müssen  und  welche  Wissenschaften  vertreten  sie? 

Da  Ostwald  die  Geisteswissenschaften  und  ihre  Sonderleistungen  nicht  be- 
urteilen kann  (so  erklärt  er  selbst),  trotzdem  aber  der  Ansicht  ist,  daß  man  ihnen 
eine  erhebliche  positive  Wirkung  auf  den  menschlichen  Fortschritt  aberkennen 
müsse,  schließt  er  Vertreter  dieser  philologischen  und  histori- 
schen Wissenschaften  als  ungeeignet  für  seine  Zwecke  aus  und  be- 
schränkt sich  für  seine  grundstürzenden  Forschungen  auf  die  Naturforscher,  und 
zwar  auf  den  engsten  Kreis  der  Physiker  und  Chemiker.  Erweckt 
schon  diese  Einseitigkeit  und  unbegründete  Ungerechtigkeit  gegen  die  historischen 
Wissenschaften  wie  gegen  alle  anderen  Arbeitsgebiete,  die  einer  reicheren  Vor- 
bildung bedürfen,  wenig  Vertrauen  zu  den  Fundamenten  Ostwaldscher  Beweis- 
führung, so  wendet  man  sich  völlig  von  ihm  ab,  wenn  man  Ruska  daran  erinnern 
hört,  daß  die  Eigenschaften  des  Charakters,  die  wir  von  großen  Männern  fordern, 
und  die  Bedingungen,  unter  denen  große  Männer  heranreifen,  sich  nicht 
mit  denen  decken,  die  für  einseitig  begabte  Forscher  nützlich  sein 
mögen.  Wenn  es  daher  Ostwald  auch  gelingen  sollte,  nachzuweisen,  daß  die  von 
ihm  aufgeführten  Forscher  unter  der  Schule  an  ihrem  Geist  Schaden  ge- 
nommen haben,  so  folgt  aus  solchen  Darlegungen  gewiß  noch  nicht  die  Notwendig- 
keit, auch  die  Erziehung  zukünftiger  großer  Männer  durch  die  höhere 
Schule  gefährdet  zu  glauben.    Das  ist  schon  ein  gewaltiger  Irrtum. 

Wie  steht  es  nun  aber  mit  Ostwalds  großen  Männern,  die  er  als  Zeugen  gegen 
die  heutige  höhere  Schule  vorführt.  Von  den  sechs  Forschern,  H.  Davy,  Jul. 
Robert  Mayer,  M.  Faraday,  J.  Liebig,  Gerhardt  und  Helmholtz,  müssen  nach 
Ruskas  Untersuchungen  der  Quellen  als  völlig  belanglos  für  die  Streitfrage  ab- 


Ein  Anti-Ostwald,  15 

gewiesen  werden  der  Engländer  D  a  v  y ,  der  „in  den  achtziger  Jahren  des  — 
achtzehnten  Jahrhunderts  eine  miserable  Schule  besuchte",  richtiger  sie 
mied  und  wild  aufwuchs;  der  Engländer  Faraday,  der  „mit  notdürftiger 
Volksschulbildung  sich  durch  rastlosen  Eifer  emporarbeitet";  der  Schwabe 
Mayer,  der  1832  seine  Reifeprüfung  auf  dem  Gymnasium  bestand,  nachdem 
er  auf  der  Schule  nicht,  wie  Ostwald  behauptet,  „sehr  Schlechtes",  sondern  wie 
andere  Durchschnittsschüler,  teils  sehr  A'ittelmäßiges  (in  den  alten  Sprachen), 
teils  Gutes  (in  der  Mathematik)  geleistet  hatte  und  der  Elsässer  Gerhardt,  der 
auf  der  Schule  keine  Schwierigkeiten  gehabt  hat.  Bleibt  L  i  e  b  i  g  s  ,  eines  ab- 
norm einseitigen  Forschers  vor  40 — 50  Jahren  gefälltes  Urteil  über  die  Zustände 
in  der  damaligen  Schule,  das  aber  durchaus  nicht  als  eine  Verurteilung  des  da- 
maligen Gymnasiums  ausgegeben  werden  darf.  Liebig  fühlte  es  selbst,  daß  zu 
einer  Zeit,  wo  an  den  meisten  Universitäten  noch  kein  eigener  Lehrstuhl  für 
Chemie  bestand,  die  Schule  gewiß  nicht  verantwortlich  gemacht  werden  konnte, 
wenn  sie  nicht  einer  so  exzeptionellen  Leidenschaft  für  chemische  Dinge  Rech- 
nung trug.  Auch  er  wird  also  von  Ostwald  widerrechtlich  als  Kron- 
zeuge gegen  die  höhere  Schule  zitiert.  Noch  gewaltsamer  verfährt  Ostwa  d  mit 
Helmholtz*)  Schulleben  und  Schulleistungen.  Dessen  Äußerungen  über  die 
„langweiligen"  Autoren  Cicero  und  Virgil  sind  Ostwald  natürlich  sehr  willkommen, 
„um  die  Abneigung  des  geborenen  Naturforschers  gegen  die  philologische  Ver- 
schulung"  zu  erhärten.  Daß  aber  das  Primazeugnis  Helmholtz'  seine  Fortschritte 
im  Latein,  Griechisch,  Hebräisch,  Mathematik  und  Physik  als  gut,  in  Geschichte 
und  Geographie  als  recht  gut  bezeichnet,  daß  er  in  der  Reifeprüfung  glänzend 
bestand,  glaubt  Ostwald  einfach  verschweigen  zu  dürfen,  ebenso  die  Worte 
des  großen  Forschers  über  den  Sprachenbetrieb  auf  der  Schule,  den 
er,  Ostwald,  ja  am  liebsten  gänzlich  beseitigt  sähe:  „Man  bestrebte  sich,  uns  viel 
lesen  zu  lassen,  und  schließlich  konnten  wir  die  Schriftsteller,  für  die  wir  etwas 
eingeübt  waren,  mit  Leichtigkeit  lesen,  und  haben  auch  privatim  teils  dies  getan, 
teils  daneben  noch  fremde  Sprachen  getrieben.  Ich  habe  Englisch  und  Italienisch 
auf  der  Schule  getrieben,  auch  Hebräisch  mitgemacht.  Sogar  Arabisch  habe  ich 
in  Prima  angefangen,  und  das  alles  ging  ganz  gut  nebenbei." 


*)  Mit  Helmholtz  hat  Ostwald  einen  recht  unglücklichen  Griff  getan.  Auf  der  Schul- 
konferenz vom  Jahre  1890  hat  Helmholtz  von  den  Männern  exakter  Wissenschaft  wohl 
die  begeistertsten  Worte  für  klassische  Bildung  gesprochen.  Ich  gebe  hier  nur  wenige 
Ausschnitte  und  verweise  für  gründliches  Quellenstudium  auf  die  Verhandlungen  über 
Fragen  des  höheren  Unterrichts.  Berlin  1891.  Wilhelm  Hertz  (Bessersche  Buch- 
handlung) S.  202  ff.  Also:  „Als  das  beste  Mittel,  um  die  beste  Geistesbildung  zu  er- 
teilen, können  wir  für  bewährt  nur  das  Studium  der  alten  Sprachen  betrachten:  aber 
ich  muß  sagen:  die  Zwecke,  die  ich  selbst  im  Auge  haben  würde  und  die  mir  als  die 
wichtigsten  erscheinen,  sind  allein  mit  dem  Griechischen  verknüpft,  auch  das  Lateinische 

scheint  mir  nur  eine  Nebenrücksicht  zu  verdienen Nun  muß  ich  zunächst  sagen, 

was  die  Mediziner  anbetrifft,  so  habe  ich  durchaus  gefunden,  daß  für  die  Intelligenten, 
welche  auch  meist  fleißig  gewesen  waren,  die  bisherige  Ausbildung  auch  jn  der  Mathe- 
matik vollkommen  genügend  gewesen  ist Aber  ich  muß  immer  sagen,  der  Wert 

der  eigentlichen  Blüte  der  klassischen  Studien  erscheint  mir  so  hoch,  daß  ich  vorziehen 
würde,  doch  auch  mit  einigen  Opfern  die  klassischen  Studien  festzuhalten,  soweit  es 
festgehalten  werden  kann."    Ist  das  „Abneigung  gegen  philologische  Verschulung?" 

Mtth. 


16  L.  Koch, 

Schließlich  hat  Ostwald  auch  mit  Mayers  Mißgeschick  auf  der  höheren 
Schule  ganz  und  gar  kein  Glück.  Interessant  sind  die  Aufzeichnungen  G.  Rümelins, 
die  Ruska  in  unverkürzter  Form  den  Auslassungen  eines  RoMfs,  Weyrauch  und 
Ostwald  gegenüberstellt.  Diesen  Passus  (S.  35 — 43)  muß  man  bei  Ruska  selbst 
nachlesen,  um  sich  davon  zu  überzeugen,  wie  unwissenschaftlich  Ost- 
walds Methode  ist,  aus  den  vorhandenen  Quellen  herauszugreifen,  was  seine  Mei- 
nung stützt,  wegzulassen,  was  sich  nicht  eignet  zur  Ausschlachtung  gegen  die 
philologische  Erziehung. 

Ostwald  hat  sich  gewiß  selbst  nicht  verhehlt,  daß  sein  Versuch,  durch  seine 
„großen  Männer"  die  Organisation  der  höheren  Schulen  zu  erschüttern  und  die 
Philologen  als  kulturfeindlich  abzutun,  noch  nicht  ausreiche,  daß  bei  Entscheidung 
prinzipieller  Fragen  die  unangenehmen  persönlichen  Erfahrungen  einzelner  nicht 
maßgebend  sein  können.  Er  ist  darum  bemüht,  die  Gemeinschädlich- 
keit des  Sprachunterrichts  aus  den  in  ihm  selbst  liegenden  Merk- 
malen zu  beweisen.  Gestützt  auf  ein  die  „einfältige  klassische  Erziehung"  ver- 
dammendes Urteil  Darwins,  hebt  er  den  unbedingten  Gegensatz  hervor,  in  welchem 
der  Geist  der  klassischen  Schule  zum  Geist  der  Entwicklung  stehe,  da  er  die  Selb- 
ständigkeit des  Denkens,  die  Fähigkeit,  Tatsachen  zu  beobachten  und  aus  ihnen 
richtige  Schlüsse  zu  ziehen,  vernichte,  die  jener  fördere.  Ihm  erscheint  es  als  eine 
Vergewaltigung  der  jungen  Geister,  wenn  sie  bis  zum  19.  Lebensjahre  zurück- 
gehalten und  gezwungen  werden,  einen  Unterricht  aufzunehmen,  der  ihnen  ohne 
Wahl  und  ohne  ihre  Zustimmung  gegeben  wird.  Er  hält  es  für  zweifellos,  daß, 
wenn  den  Schulen  die  Möglichkeit  gegeben  wäre,  durch  ein  Votum  das  Latein 
abzuschaffen,  dieses  nicht  einen  Tag  länger  bleiben  würde.  Er  nennt  das  Latein 
das  schlimmste  Hindernis  wahrer  Bildung,  da  es  von  begrifflicher  Klarheit  ebenso 
weit  entfernt  sei  wie  eine  Schutthalde  von  geometrischer  Regelmäßigkeit. 

Ruska  hat  für  Ostwalds  Auffassung  von  dem  klassischen  Bildungsideal  nur 
die  Bezeichnung  „Blödsinn",  ein  hartes  Wort,  aber  die  richtige  Antwort  auf  Ost- 
walds Schmähungen  gegen  die  ihm  so  verhaßten  Philologen.  Ruska  kreidet  es 
ihm  in  belustigendem  Tone  an,  daß  er  zum  3.  Male  den  um  100  Jahre  zurück- 
liegenden Bildungsgang  eines  Engländers  gegen  die  heutigen  Schulen  ausspielt, 
die  außer  Latein  und  Griechisch  doch  noch  einige  andere  Kenntnisse  ver- 
mitteln, während  Darwin  tatsächlich  in  seiner  Schule  von  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaft nichts  zu  hören  und  zu  sehen  bekam.  Gegenüber  der  Karikatur, 
die  Ostwald  von  den  höheren  Schulen  entwirft,  erinnert  er  daran,  daß  selbst  an 
den  klassischen  Gymnasien  heute  die  Schüler  bis  an  die  Methoden  und  Betrach- 
tungsweisen der  höheren  Mathematik  herangeführt  werden,  daß  Physik 
und  Chemie  in  den  Oberklassen  auf  die  beschreibenden  Naturwissenschaften  in 
den  mittleren  und  unteren  Klassen  folgen,  daß  der  Geschichte  auch  der 
neuesten  Zeit  ein  breiter  Raum  gegönnt  ist,  daß  man  mit  ihr  lehrplanmäßig 
Bürgerkunde  verbindet,  Geographie  nicht  ohne  Beachtung  der  geo- 
logischen Entwicklung  lehrt  und  in  Zeichnen,  Singen,  Orchesterübungen,  Turnen, 
Spielen,  Rudern  Auge  und  Hand,  Kehle  und  Ohr,  Mut  und  Entschlossenheit 
bildet. 

Ruska  hätte  hier  schärfer  betonen  sollen,  daß  das  Verfahren  Ostwalds  typisch 


Ein  Anti-Ostwald.  17 

ist  für  die  Schulreformer  schlimmster  Art,  daß  sie  einzelne  Vorkommnisse 
und  Erfahrungen  in  gröblicher  Weise  verallgemeinern,  daß  sie  geflissentlich  igno- 
rieren, was  die  tüchtigen  unter  den  Oberlehrern  —  und  ihre  Zahl  ist  fürwahr  nicht 
so  klein,  wie  unsere  Feinde  behaupten  —  für  die  zeitgemäße  Umgestaltung  des 
Unterrichts  im  letzten  Jahrzehnt  getan*),  wieviel  Liebe  und  Achtung  der  gute 
Lehrer  auch  heute  noch  genießt.  Sie  übersehen,  ob  absichtlich,  ob  nicht,  daß  die 
Frage  der  Schulreform  zum  guten  Teile  stets  durch  die  Auslese  der  Lehrkräfte 
bedingt  werden  wird. 

Mag  einmal  eine  Schule  kommen  mit  einem  Lehrplan,  wie  ihn  Ostwald  und 
seine  Freunde  im  Interesse  der  deutschen  Jugend  träumen,  auch  sie  werden  Lehrer, 
Menschen  beschäftigen  müssen,  deren  Eigenschaften  den  Schülern  Anlaß 
zu  Verstimmungen,  Reibungen,  zu  heftigen  Angriffen  bieten.  Auch  dann  wird  es 
Schüler  geben,  die  sich  von  dem  in  der  Zukunftsschule  dargereichten  Trank  nicht 
befriedigt  fühlen  und  ihre  Vorwürfe  gegen  das  dann  geltende  System  erheben 
werden.  Ruska  trifft  den  Nagel  auf  den  Kopf,  wenn  er  (S.  67)  ausruft:  „Eine 
gesunde  Jugend  läßt  sich  für  alles  begeistern;  ob  für 
Latein  oder  Chinesisch,  Mathematik  oder  Chemie,  das 
ist  ihr  ziemlich  einerlei,  wenn  nur  der  Lehrer  zu  fes- 
seln versteht  und  die  Jugend  zu  nehmen  wei  ß.*'  An  solcher 
Begeisterungsfähigkeit,  an  herzlicher  Freude  an  vielem,  was  die  höhere  Schule 
von  heute  bietet,  fehlt  es,  das  sei  zur  Ehre  auch  unserer  heute  oft  als  dekadent 
und  angefault  verschrieenen  Jugend  ausdrücklich  und  freudig  anerkannt,  auch 
heute  nicht.  Das  hat  das  kürzlich  erschienene  Buch  „Schüler jähre"  (Hilfe-Verlag) 
in  zahllosen  Dokumenten  des  Dankes  gegen  die  Schule  neben  nicht  wenigeren  des 
Hasses  gegen  Schule  und  Lehrer  deutlich  bewiesen. 

Am  Ende  seiner  Schrift  wendet  Ruska  sich  gegen  die  Forderung  Ostwalds, 
den  Sprachenbetrieb  aus  der  höheren  Schule  zu  entfernen.  Ihre  Begründung  zeigt 
Ostwalds,  von  ihm  selbst  eingestandene,  Verständnislosigkeit  gegenüber  dem 
Wesen  der  Sprache  in  herrlicher  Nacktheit:  ,, Sprachen  sind  als  Mittel 
formaler  Bildung  absolut  wertlos.  Der  Geist  kann  durch 
sie  nicht  zur  Logik  erzogen  werden.  Damit  man  an 
einem  Material  Logik  lernen  kann,  ist  notwendig,  daß 
dieses  Material  selbst  logisch  is  t."  Da  diese  Worte  in  dem  ge- 
gebenen Zusammenhang  nichts  bedeuten  können,  wenn  nicht:  Das  Material  der 
Sprache  ist  unlogisch,  das  der  Naturwissenschaft  ist  logisch",  so  stellt  Ruska  eine 
Probe  mit  der  Chemie  an,  die  als  Material  für  die  Bildung  der  Logik  großer 
Männer  von  Ostwald  in  erster  Linie  herangezogen  werden  würde.  Wundervoll  ist 
es,  wie  Ruska  Ostwalds  Ausführungen  (in  seiner  Schule  der  Chemie)  über  die  Eigen- 
schaften und  Veränderungen  des  Schwefels  kommentiert,  wie  er  aus  dem  Ver- 
gleich der  Mittel  der  Verbindungsgewichte  von  Chlor  und  Brom  und  Chlor  und 
Jod  u.  a.  m.,  Erscheinungen  der  Chemie  und  Botanik,  die  Tatsache  festlegt,  daß 


*)  Daß  die  freie  Wahl  der  Fächer  den  Primanern  mehrerer  sächsischen  und 
preußischen  Gymnasien  seit  einigen  Jahren  zugestanden  ist  und  von  dieser  Freiheit 
reichlich  Gebrauch  gemacht  wird,  ist  eine  der  Tatsachen,  die  für  Ostwald  nicht  existieren. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  2 


18  L.  Koch,  Ein  Anti-Ostwald. 

das  Material  der  Naturwissenschaft  nicht  logisch,  sondern  empirisch  ist,  also  sich 
um  keinen  Deut  besser  als  das  Material  der  Sprachen  zur  formalen  Bildung  eignet. 
Wenn  Ruska  des  weiteren  der  Behandlung  der  Sprachen  auf  den  höheren  Schulen, 
im  Vergleich  zu  der  der  Naturwissenschaft,  einen  gleich  hohen,  wenn  nicht  größeren 
Wert  zuspricht,  indem  er  darlegt,  daß  die  Gesetze  für  die  Entwicklung  der  Sprache 
so  streng  seien  als  nur  ein  Naturgesetz  sein  kann,  wenn  er  die  Fülle  der  inter- 
essantesten kulturhistorischen,  psychologischen  und  ästhetischen  Beobachtungen, 
die  sich  aus  dem  Sprachenbetrieb  ergeben,  preist,  so  bin  ich  überzeugt,  daß  er  bei 
Ostwald  und  seinen  Freunden  kein  Gehör  findet.  Ist  doch  für  sie  das  Wunder 
der  Sprache,  die  höchste  Schöpfung  des  menschlichen  Geistes  —  ein  Schutt- 
haufen! Oder  aber  sie  bezweifeln  zum  mindesten,  daß  der  heutige  Sprachen- 
betrieb seinem  Ziel  logischer  Schulung  auch  nur  nahe  kommt.  Entgegen  dem 
Durcheinander  von  unberechtigten  Anklagen  und  übertriebenen  Forderungen 
und  nach  der  negativen  Mühe  der  Abwehr  stellt  Ruska  —  und  das  ist  der  posi- 
tive Ertrag  seiner  Schrift,  klipp  und  klar  die  Aufgabe  der  höheren  Schule  dar, 
wie  auch  unsere  Zeit  sie  fordert.  „Sie  hat  der  Bildung  unserer  Jugend  (auch 
der  in  ihr  verborgenen  dereinstigen  großen  Männer)  zu  dienen,  indem  sie  die  Schüler 
mit  den  wesentlichen  Komponenten  des  heutigen  geistigen  Lebens  nach  Inhalt, 
Quellen  und  Arbeitsmethoden  so  weit  vertraut  macht,  daß  jeder  Abiturient  in 
den  Stand  gesetzt  wird,  an  diesem  geistigen  Leben  teilzunehmen  und  nach  eigener 
Erkenntnis  in  seine  Fähigkeiten  sich  seinen  besonderen  Beruf  zu  wählen."  „Sie 
dient  der  Erziehung,  indem  sie  durch  Anleitung  zu  methodischem  Arbeiten, 
durch  Nötigung  zur  Gewissenhaftigkeit  und  Sorgfalt  ihnen  diejenigen  Gewöhnungen 
und  Charaktereigenschaften  in  das  Leben  mitgibt,  ohne  die  nie  und  nirgends  ein 
dauernder  Erfolg  erreicht  wird." 

Sehr  dankenswert  ist,  daß  Ruska  einmal  die  Schwierigkeiten  aufdeckt,  die 
den  höheren  Schulen  im  besonderen  erwachsen.  Während  die  Volksschule  es  mit 
Kindern  zu  tun  hat,  die  Hochschule  mit  jungen  Leuten,  die  sich  zumeist  über 
ihren  Beruf  klar  sind  und  des  Zwanges  entraten  können,  muß  die  höhere  Schule  — 
und  das  wird  nie  anders  werden,  selbst  bei  ihren  willigen  und  begabten  Schülern 
mit  den  noch  so  unendlich  problematischen  Jahren  der  Pubertät  und  werdenden 
Reife  rechnen.  Aus  dieser  Stufe  erstehen  uns  die  meisten  Nörgler  und  Feinde, 
alle  die  talentlosen  und  eingebildeten,  die  trägen  und  störrischen  Gesellen,  die  sich 
dem  so  heilsamen  Zwang  zur  Selbstzucht  und  Arbeit  am  liebsten  entziehen.  Sie 
und  überhaupt  alle  wider  Willen  und  Anlage  in  die  höheren  Schulen  durch  die 
Torheit  ehrgeiziger  Eltern  hineingepferchten  Schüler  müssen  bei  der  Prüfung 
der  Beschwerden  gegen  die  höhere  Schule  ausgeschaltet  werden.  Für  sie  bedeutet 
ja  jede  Schule  einen  unerträglichen  Zwang.  Jedenfalls  sind  sie  nicht  fähig, 
aufzunehmen,  was  die  höhere  Schule  bieten  muß,  will  sie  ihren  vorhin  erwähnten 
doppelten  Zweck  erfüllen. 

Ruska  behandelt  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  den  Wert  der  einzelnen  Fächer, 
Religion,  Naturkunde,  Geographie,  Geschichte.  Wie  sie,  will  auch  die  klassische 
Philologie  nichts  anderes  als  das  ganze  geistige  Leben  der  Völker  in  seiner  Ent- 
wicklung und  seinem  geschichtlichen  Wirken  erforschen.  „So  wenig  die  Natur- 
wissenschaft sich  mit  Abbildung  von  Pflanzen  und  Skizzen  von  Experimenten 


R.  Eule,  Weitere  und  engere  Grenzen  für  das  Extemporale.  19 

begnügen  kann,  so  wenig  kann  in  der  höheren  Schule  auf  die  Lektüre  der  Original- 
werke der  alten  und  neuen  Literatur  verzichtet  werden."  Wir  stimmen  ihm  durch- 
aus zu,  es  ist  ein  großes  Gut,  das  wir  in  der  Gleichberechtigung  unserer  höheren 
Schulen  haben,  die  jedem  Schüler,  je  nach  seiner  Anlage,  ermöglicht,  seine  Vor- 
bildung in  einer  historischen  oder  einer  naturwissenschaftlich-mathematischen 
Richtung  zu  gewinnen.  Wo  infolge  der  unrichtigen  Schulwahl  eine  solche  Wahl- 
freiheit dem  Jüngling  genommen  ist,  sollte  sie,  das  ist  unsere  Meinung,  durch 
Einrichtung  von  Parallelklassen  oder  durch  Gabelung  der  Prima  ihm  baldigst 
gewährt  werden.  Die  Durchführung  der  Ideen  Ostwalds  aber  würde  der  allein 
selig  machenden  naturwissenschaftlichen  Schule  das  Privilegium  übertragen,  das 
man  sich  glücklich  schätzt,  dem  humanistischen  Gymnasium  des  19.  Jahrhunderts 
eben  entwunden  zu  haben.  Das  würde  für  alle,  denen  die  Naturwissenschaften 
nichts  ihrer  Geistesrichtung  Korrelates  bieten,  dieselbe  Knechtung  bedeuten,  die 
für  die  Freunde  der  Naturwissenschaft  der  Zwang  zur  Beschäftigung  mit  den 
Sprachen  bedeutet.  Eine  Einheitsschule  für  unsere  heranreifenden  Jünglinge, 
eine  Uniformierung  der  Bildungsanstalten  für  die  so  verschieden  gearteten  Geister 
würde  eine  widernatürliche  Einrichtung  werden,  deren  Verfall  in  kürzester  Zeit 
eintreten  müßte.  Diese  gefahrvollen  Folgen  der  Ostwaldschen  Bestrebungen  in 
aller  Schärfe  gezeigt  zu  haben,  ist  ein  unleugbar  großes  Verdienst  des  Ruskaschen 
Anti-Ostwald. 

Bremen.  L.  Koch. 


Weitere  und  engere  Grenzen  für  das  Extemporale. 

Zum  Erlaß  des  Herrn  Kultusministers. 

Ganz  unbestreitbar:  die  höchstgeschätzte  und  dabei  bestgehaßte  Arbeit  in 
der  höheren  Schule  ist  das  Extemporale. 

Es  mußte  beides  werden  durch  die  Art  und  Weise,  wie  man  es  —  in  den  letzten 
Jahren  sogar  gegen  die  behördlichen  Verfügungen  —  zuweilen  handhabte;  denn 
es  war  und  ist  lange  nicht  mehr  das,  was  im  Namen  liegt,  was  es  am  Anfange  auch 
war,  und  was  es  eigentlich  immer  hätte  bleiben  sollen:  eine  unerwartete  Probe 
auf  das  Verständnis  des  Durchgenommenen  ohne  hochnotpeinliche  Konsequenzen; 
sondern  es  war  eine  regelmäßig  und  in  kürzeren  Zwischenräumen  wiederkehrende 
Arbeit  geworden,  die  —  auf  Grund  des  Durchgenommenen  allerdings,  aber  mit 
zu  weitgehender  Forderung  —  schließlich  einen  Beweis  dafür  erbringen  sollte, 
ob  und  wie  das  junge  Gehirn  die  Sprache  aus  sich  selber  heraus  nachschaffen  könnte. 
Eine  gewisse  Langsamkeit,  innere  Schwerfälligkeit  oder  Scheu  des  Schülers,  ein 
schwaches  Gedächtnis,  eine  nach  anderer  Seite  hingehende  Begabung,  wohl  auch 
zu  große  Jugendlichkeit  bei  gleichwohl  normaler  Beanlagung,  alles  das  zusammen 
oder  einzeln  verhinderten  oft  einen  guten  Ausfall  solcher  Arbeiten.  Zudem  konnten 
diese  noch  um  ein  Bedeutendes  erschwert  werden  durch  unnütze  Gedankentiefe, 
durch  zu  schnelles  Diktieren  und  nicht  selten  dadurch,  daß  der  Lehrer,  wenn 
auch  in  bester  Absicht,  zu  wenig  aus  dem  zur  Vorbereitung  aufgegebenen  Pensum 
in  die  Arbeit  hineinbrachte.  Es  ist  wohl  bedauerlicherweise  auch  nicht  abzustreiten, 

2* 


20  R.  Eule, 

daß  ein  Lektürestück  zur  Durcharbeitung  aufgegeben  wurde,  während  schließlich 
das  Extemporale  von  jener  Lektüre  nichts  brachte.  Oder  es  wurde  zur  Vorbereitung 
zu  viel  aufgegeben.    Oder  gar  nichts. 

Eins  war  dabei  zu  tadeln  wie  das  andere,  und  Verzagtheit,  dumpfe  Gleich- 
gültigkeit, unruhige  Sorge  konnten  sich  so  in  die  Klasse  einschleichen.  Gerade  die 
gewissenhaften  Schüler  betrachteten  den  Extemporaletag  oft  als  diem  atrum, 
und  nicht  wenige  Eltern  —  unbewußt  mitschuldig  durch  Vorurteil,  Sorge  oder 
Ehrgeiz  —  mußten  mit  Schrecken  sehen,  wie  das  Kind  vor  lauter  Extemporale- 
angst am  Abend  vorher  nicht  einschlafen  konnte,  am  Morgen  mit  Grauen  erwachte. 
Und  auch  moralische  Schäden  sind  hier  nicht  abzuleugnen:  viele  Jungen  glauben 
sich  in  der  Extemporalestunde  zum  Betrügen  berechtigt,  und  die  meisten  zeigen 
die  korrigierte  Arbeit  nachher  zu  Hause  —  aus  Furcht  vor  der  elterlichen  Ent- 
rüstung —  nicht  vor  und  haben  doch  das  richtige  und  peinliche  Gefühl,  damit  ein 
Unrecht  zu  begehen. 

Der  Erkenntnis  dieser  Schäden  konnten  sich  doch  wohl  nur  wenige  verschließen. 
Indessen,  die  durch  das  Extemporale  gewonnene,  allem  Anscheine  nach  klare 
Einsicht  in  den  Wissensfortschritt  und  den  Unterrichtserfolg  und  das  sichere  und 
schnelle  Einheimsen  von  scharf  abgegrenzten  Prädikaten  gegenüber  den  spärlich 
eingehenden  und  unbestimmten  in  der  Lektüre  sicherten  dem  Extemporale  auch 
bei  seinen  ehrlichsten  Gegnern  einen  gewissen  Wert;  die  bequeme  Abstufung  aber, 
die  sich  durch  die  Fehlerzahlen  ganz  ungesucht  herstellte,  und  vor  allen  Dingen 
auch  dieses  scheinbar  außerordentlich  gerechte  Messen  der  Schüler  mit  einem 
und  demselben  Maße  und  in  ein  und  derselben  Zeitlänge  veranlaßte  sogar  viele 
Lehrer,  für  die  Beurteilung  des  Schülers  im  Laufe  und  —  als  Summe  —  am  Ende 
des  Semesters  das  Extemporale  zugrunde  zu  legen.  Wohl  auch  manchmal  nur 
das  Extemporale  als  einzigen  Wertmesser,  neben  dem  Leistungen  anderer  und 
nicht  so  sicher  zu  buchender  Art  zurücktraten  und  sogar  bis  zu  einem  Nichts 
verblassen  konnten.  — 

Mangelhafte  Extemporalien  also  schienen  den  Schüler  am  Aufsteigen  in  die 
nächste  Klasse  zu  hindern,  und  die  Eltern  glaubten  sich  zu  der  Annahme  gedrängt, 
daß  für  die  Versetzung  ihrer  Söhne  eben  nur  das  Extemporale  maßgebend  sei. 
Das  wirkte  natürlich  auch  tiefer  noch  zurück  auf  das  Elternhaus:  nach  dem  Aus- 
fall dieser  Arbeiten  wurde  der  Junge  schließlich  nicht  bloß  in  der  Schule,  sondern 
auch  im  Leben  der  Familie  eingeschätzt;  Verstimmung  und  Unfrieden  wurden 
dadurch  in  das  Elternhaus  getragen,  und  nicht  selten  gestaltete  sich  so  das  Leben 
eines  armen  Schachers  von  Extemporalisten  für  viele  Jahre  seiner  Jugend  hin- 
durch recht  freudlos.  Dabei  leistete  das  Extemporale  für  die  Wissensent- 
wicklung der  Schüler  doch  nur  den  kleinsten  Bruchteil  von  dem,  was  nach  diesen 
Schäden  und  nach  der  darauf  verwendeten  Zeit  billigerweise  hätte  erwartet  werden 
müssen. 

Alle  diese  Erwägungen  nun  über  das  Extemporale  und  die  ungesunde,  all- 
seitige Nervenanspannung  vollends,  die  —  in  Schule  und  Haus  —  durch  seine 
übertriebene  Bewertung  entsteht,  mußten  über  kurz  oder  lang  und  nach  vielen 
Hin-  und  Herbestimmungen  bei  der  Behörde  zu  dem  Versuche  führen,  diese  Be- 
wertung   auf    ein    richtiges  Maß    herunterzudrücken.      Schon   die   preußischen 


Weitere  und  engere  Grenzen  für  das  Extemporale.  21 

Lehrpläne  von  1882  rügten  die  einseitig  grammatische  Richtung  des  alt- 
sprachlichen Unterrichts  und  das  übertriebene  Extemporaleschreiben;  das  Jahr 
1891  brachte  ganz  bestimmte  Weisungen  in  bezug  auf  das  Extemporale,  und  1901 
wurde  nochmals  höheren  Orts  (Lehrpläne  11 1,  6  Abs.  2)  in  klarer  Erkenntnis 
der  Sachlage  vor  der  einseitigen  Wertschätzung  dieser  Arbeiten  eindringlich  ge- 
warnt. Nur  [folgerichtig  erscheint  es  daher,  wenn  jetzt  —  nach  diesen  offenbar 
vergeblichen  Rügen,  Weisungen,  Warnungen  —  das  preußische  Kultusministerium 
die  unausrottbaren  Schäden  dieser  Arbeit  dadurch  aus  der  Welt  schaffen  möchte, 
daß  es  das  Extemporale  selbst  beinahe  ganz  aus  dem  Lehrplane  herauszieht. 

Möglichst  in  jeder  grammatischen  Stunde  sollen  nämlich  fortan  einige  Sätze 
über  den  eben  durchgenommenen  kleinen  Pensumsausschnitt  schriftlich  übersetzt 
werden,  und  erst  immer  nach  etwa  vier  bis  sechs  Wochen  sind  aus  dem  bis  dahin 
gewonnenen  Sprachmaterial  Arbeiten  als  Extemporalien  zusammenzustellen. 
Ohne  Häufung  grammatischer  Schwierigkeiten,  in  zusammenhängendem  Text 
und  zuvor  in  deutscher  Niederschrift  gegeben  und  ohne  Wortklauberei  und  Klein- 
lichkeit korrigiert,  dürfen  diese  Arbeiten  sogar  auch  nur  dann  zensiert  werden, 
wenn  darin  und  dadurch  etwa  drei  Vierteile  aller  Schüler  das  genügende  Verständnis 
für  das  absolvierte  Klassenpensum  bewiesen  haben.  Mutatis  mutandis  sollen  alle 
schriftlichen  Klassenarbeiten,  auch  die  in  den  nicht-sprachlichen  Fächern  so  be- 
handelt werden.  — 

Mag  nun  jeder  ehrliche  Preuße  über  diese  ganze  Sache  vorläufig  denken,  wie 
er  will,  er  muß  sich  zunächst  freuen,  daß  der  Erlaß  mit  der  Erklärung  schließt, 
daß  „durch  diese  Änderung  der  Lehrpläne  keine  Herabsetzung  der  Anforderungen 
beabsichtigt  ist,  sondern  nur  ein  besserer  Weg  gesucht  werden  soll,  um  die  Schüler 
zur  Sicherheit  in  der  Anwendung  des  Gelernten  und  Erarbeiteten  zu  führen  und 
sie  zu  gewissenhafter  und  erfolgreicher  Arbeit  anzuleiten."  Noch  einmal:  dieser 
Worte  und  der  darin  ausgesprochenen  Fürsorge  und  Zukunftsarbeit  unserer  höchsten 
Behörde  freut  sich  jeder  in  stiller  und  gehorsamer  Dankbarkeit.  Das  Jubelgeschrei 
aber,  das  sich  ob  dieses  Erlasses  allenthalben  erhoben  hat,  so  laut  und  sogar  über- 
laut bei  den  Eltern,  so  gedankenlos  bei  den  Jungen  und  hier  und  da  überstürzt 
zustimmend  und  sogar  lobhudelnd  kritisierend  bei  einigen  Kollegen,  dieses  laute 
Jubelgeschrei,  sage  ich,  macht  stutzig  und  zwingt  uns  zu  ruhiger  Überlegung. 

Die  E  1 1  e  r  n  in  erster  Linie  haben  den  Versetzungsfeind  in  den  weitaus  häu- 
figsten Fällen  n  u  r  in  dem  Extemporale  gesehen.  Sie  haben  dabei  aber  nicht  be- 
dacht, daß  doch  auch  andere  schriftliche  und  selbstverständlich  auch  mündliche 
Leistungen  neben  den  Extemporalien  standen  und  für  oder  gegen  die  Versetzung 
ihrer  Kinder  sprechen  konnten.  Sie  haben  auch  nicht  bedacht,  daß,  bei  der 
täglichen  und  stündlichen  Konkurrenzarbeit  mit  seinen  Mitschülern  in  der  Klasse, 
ihr  Sohn  ich  möchte  sagen:  auf  Grund  seines  Gesamtmenschen,  sich  im  Urteil 
seiner  Lehrer  schließlich  auf  einen  ganz  bestimmten  Platz  stellt.  Das  Vertrauen 
indessen,  d'as  wir  Lehrer  in  dieser  Beziehung  von  den  Eltern  billig  fordern  dürften, 
wird  uns  höchst  selten  entgegengebracht.  Man  feilscht  im  Gegenteil  gar  zu  gern 
am  Urteil  des  Lehrers  herum  und  klammert  sich  selber  —  oft  der  Meinung  und 
dem  Rate  des  Ordinarius  entgegen  —  nur  an  den  Ausfall  der  Extemporalien,  die 
man  doch  sonst  verurteilt  und  geradezu  verwünscht  hat. 


22  R.  Eule, 

Die  Jungen  ferner  verurteilen  das  Extemporale.''^  Ich  nannte  ihr  Urteil 
gedankenlos.  Sie  können  ja  noch  nicht  wissen,  daß  man  in  der  Jugend  zuweilen 
Schweres  und  freilich  persönlich  oft  Unangenehmes  auf  sich  nehmen,  es  lange  Zeit 
geduldig  ertragen  und  sogar  überwinden  oder  sich  damit  abfinden  lernen  muß, 
um  schließHch  ein  Mann  zu  werden,  der  den  Härten  des  Lebens  gewachsen  ist. 
Die  Energieanspannung,  deren  wir  später  benötigen,  kann  nun  einmal  nur  durch 
einen  gewissen  Zwang  und  Drill  erreicht  werden.  Das  Extemporale  war  nicht  der 
schlechteste  Faktor  in  diesem  geistigen  Kampfe,  und  es  wird  wohl  immer  wahr 
bleiben,  daß  da  Späne  fallen,  wo  gehobelt  wird.  Gehobelt  aber  muß  die  Jugend 
werden:  zu  ihrem  Heile  wollen  wir  vorläufig  noch  auf  dieser  zwar  derben,  aber 
bisher  immer  noch  recht  heilsamen  und  durchaus  nicht  lieblosen  Erkenntnis  stehen 
bleiben. 

Die  Lehrer  endlich  mit  ihrem  Jubel  über  den  „Fortfall"  des  Extemporale! 
Diejenigen  Kollegen,  welche  es  verstanden,  mit  ihren  Jungen  Extemporale  zu 
schreiben,  die  jubeln  natürlich  nicht.  Die  anderen  aber?  Ja,  haben 
denn  diese  Kollegen  jetzt  erst  und  gerade  nun  durch  diesen  Erlaß 
des  Herrn  Kultusministers  die  Schäden  solcher  Arbeiten  erkannt?  Ich  hoffe  nicht. 
Wir  alle  hatten  im  Herzen  unsere  schwere  Not  mit  diesem  Schmerzenskinde  des 
täglichen  Schullebens,  mußten  aber  mit  ihm  auskommen  und  unterrichten  und 
wußten  dann  sogar  manches  Gute  daran  zu  erkennen  und  wohl  auch  nutzbringend 
auszugestalten.  So  wie  das  Extemporale  allerdings,  besonders  in  den  alten  Sprachen 
und  von  Fanatikern  oder  nicht  allzu  gewissenhaften  Kollegen  zuweilen  gehandhabt 
wurde,  konnte  es  freilich  eine  Härte  und  sogar  „eine  drückende  Bürde  für  die 
Schüler"  werden;  aber  die  Behörde  hätte  uns  doch  umgekehrt  dieses  Extemporale 
nicht  so  viele,  viele  Jahre  hindurch  zur  schweren  Pflichterfüllung  gemacht,  und 
hätte  es  nicht  heute  noch  —  in  freilich  sehr  milder  Form  —  beibehalten, 
wenn  es  nicht  auch  sein  Gutes  ge 'abt  hätte. 

Und  noch  hat;  denn  sein  Gutes,  das  hat  das  Extemporale  sicherlich  auch.  Es 
ist  ja  zwar  eine  nur  einseitige  Schulung  der  geistigen  Kraft;  aber  es  ist  doch 
unbestritten  eine  Schulung  und  eine  ernste  Sache  dabei.  Man  kann  sogar  behaupten, 
daß  es  in  gewissen  Zeiten  unserer  Schul-  und  Lehrpersonalentwicklung  durch  nichts 
anderes  und  sogar  durch  nichts  Besseres  hätte  ersetzt  werden  können.  Auf  jeden 
Fall  war  es  ein  Zuchtmittel  auf  den  Willen  hin  und  zwang  zur  Gründlichkeit  des 
Denkens  und  zur  Sammlung  der  geistigen  Kräfte.  Auch  die  schärfsten  Gegner 
werden  das  willig  zugeben. 

Der  neueste  Erlaß  nun  sagt  selbst,  daß  „die  schulmäßige  Erlernung  einer 
fremden  Sprache  nicht  möglich  ist  ohne  vielfältige  schriftliche  Übungen  in  der 
Sprache  selbst." 

Mit  dem  so  häufig  wiederkehrenden  Extemporale  glaubten  die  alten  Sprachen 
eben  dieser  selbstverständlichen  Forderung  gerecht  werden  zu  können.  Und  würde 
das  für  diese  eisern  gefügten  und  denkmäßig  nachzubauenden  Sprachen  mit  ihrem 
Ziel  eines  stummen  Sprachverstehens  nicht  halb  und  halb  zu  rechtfertigen  gewesen 
sein?  Man  möchte  diese  Frage  gern  bejahen,  wäre  nur  eben  die  leidige  und  all- 
seitig beunruhigende  Über  Schätzung  des  Extemporale  nicht  gewesen. 

Viel  besser  waren  von  vornherein  die  neueren  Sprachen  daran,  so  gut  sogar. 


Weitere  und  engere  Grenzen  für  das  Extemporale.  23 

daß  redlicher  Wille  und  ein  klein  wenig  Lehrgeschick  den  Lehrer  leicht  auf  den 
Weg  führen  mußten,  den  jetzt  der  Herr  Minister  vorgeschrieben  hat. 

Das  weitgesteckte  Schulziel  einer  gewissen  Fertigkeit  im  mündlichen  und 
schriftlichen  Gebrauch  der  Sprache  zwang  den  Lehrer  des  Französischen  und  des 
Englischen,  den  Anfangsunterricht  sehr  langsam,  breit  und  gründlich  an- 
zulegen und  dabei  Auge  und  Ohr  der  Jungen  in  Kontribution  zu  setzen: 
orthographische  Übungen  an  der  Tafel  und  im  Heft  und  unaufhörliche,  wenn 
natürlich  auch  nur  kleinere  Satz-  und  Treffübungen  mußten  neben  dem  münd- 
lichen Unterricht  herlaufen.  In  den  Extemporalien  konnte  ja  auch  in  diesen  Dis- 
ziplinen nur  das  gefordert  werden,  was  schon  grammatisch  besprochen  war,  und  das 
war  doch  weder  im  Französischen  noch  erst  recht  im  Englischen  so  formenüberreich 
und  schwierig  für  das  kindliche  Auffassungsvermögen  wie  in  den  alten  Sprachen. 
Zudem  bekommen  die  neueren  Sprachen  die  Schüler  in  höherem,  also  leistungs- 
fähigerem Alter  und  schon  sozusagen  in  die  richtige  Denkbahn  gezwängt  durch  das 
Lateinische.  Die  Erfahrung  hat  denn  auch  gezeigt,  daß  die  Jungen  sich  vor  einem 
Extemporale  in  den  neueren  Sprachen  nicht  so  sehr  fürchten  wie  vor  einem  solchen 
in  den  alten.  Man  konnte  dieses  Gefühl  sogar  ziemlich  lange  erhalten.  Aber  nur 
dadurch  —  und  hier  trifft  der  neueste  Extemporale-Erlaß  genau  das,  was  uns  die 
Erfahrung  bei  der  täglichen  Kleinarbeit  gelehrt  hat  —  nur  dadurch,  daß  allzu 
große  Schwierigkeiten  aus  solcher  Arbeit  ferngehalten  wurden.  Gut  tat  man  zu 
dem  Zwecke  auch  daran,  möglichst  bald  die  redlich  durchgearbeitete  Lektüre  dem 
Extemporale  zugrunde  zu  legen:  von  einigen  Zeilen  an  in  den  Anfangsklassen 
bis  zu  einer  Seite  in  den  oberen.  Auf  keinen  Fall  allzuviel  des  Textes;  denn  wenn 
der  Schüler  diesen  Text  bewältigen  und  nach  allen  Richtungen  hin  gut  durcharbeiten 
konnte  —  ängstliche  Naturen  wollten  ihn  schließlich  sogar  auswendig  wissen  — , 
so  hatte  damit  das  Extemporale  schon  den  besten  Teil  seiner  Arbeit  geleistet.  Und 
geleistet,  noch  bevor  die  Feder  am  nächsten  Tage  zur  Niederschrift  angesetzt  wurde. 
Die  Gewißheit  zudem,  es  bei  einem  Texte  mit  etwas  in  sich  Abgeschlossenem  und 
Feststehendem  zu  tun  zu  haben,  die  Freude  weiter  an  dieser  mit  Fleiß  und  Gewissen- 
haftigkeit zu  bewältigenden  Arbeit,  deshalb  auch  die  innere  Genugtuung  nach  der 
Vorbereitung  und  vor  allen  Dingen  ferner  das  Bewußtsein,  ein  gut  Teil  zum  eigenen 
Schicksal  in  der  Extemporalestunde  beitragen  zu  können,  alles  das  gab  der  An- 
lehnung an  einen  Lektüretext  einen  hohen,  erzieherischen  Wert.  Aber  freilich 
gehörte  zu  solchem  Erfolge  als  andere  unumgängliche  Vorbedingung  auch  die 
gründlichste  Vorbereitung  auf  solche  Klassenarbeit  von  selten  des  Lehrers  selbst. 
Er  durfte  sich  nicht  vor  die  Klasse  hinstellen  und  das  Extemporale  aus  dem  Steg- 
reif diktieren  (fortlaufend  vorgekommen!);  sondern  auf  Grund  des  Aufgegebenen 
und  in  ruhiger  Überlegung  mußte  er  die  Arbeit  zusammenbauen,  sie  immer  wieder 
durcharbeiten,  unnütze  und  etwas  abliegende  Schwierigkeiten  herausbringen 
und  schließlich,  aufsteigend  von  Klasse  zu  Klasse,  eine  Arbeit  von  nur  etwa  75 
.bis  200  Wörtern  für  den  Raum  einer  Stunde  in  der  Hand  haben.  Und  fremde 
Vokabeln  zudem  mußten  daraus  ferngehalten  werden:  die  machen  eine  Klasse 
scheu,  erfordern  Zeit,  ängstigen,  können  auch  besser  durch  mündliche  Übungen 
befestigt  werden.  Gab  man  dann  den  Text  solcher  zusammenhängenden  Klassen- 
arbeit den  Schülern  hektographiert  in  die  Hand  oder  diktierte  ihn  knapp  und  schlicht, 


24  R.  Eule, 

dann  fiel  das  Extemporale  gewöhnlich  auch  so  aus,  daß  sich  eine  Gradatio  ergab, 
die  den  mündlichen  Leistungen  —  mit  wenigen  und  dann  psychologisch  oft  recht 
interessanten  Ausnahmen  —  entsprach. 

Die  neueren  Sprachen  haben  außerdem  neben  dem  Extemporale  ja  noch 
andere  schriftliche  Übungen:  Diktate  und  Fragen  und  Antworten  und  später 
Analysen  und  Aufsätzchen  und  Aufsätze,  alles  Arbeiten,  die  den  reinen  Extem- 
poralien gut  und  gern  die  Wage  halten  können. 

Zu  guter  Letzt  muß  aber  noch  betont  werden,  daß  alle  schriftlichen  Leistungen 
viel  leichter  zu  gestalten  sind,  wenn  sie  der  Gesamtheit,  als  wenn  sie  dem  einzelnen 
abgefordert  werden.  Verschiedenes  kann  man  ergebungsvoll  zur  Begründung 
dieser  natürlich  nicht  willkommenen  Erfahrungswahrheit  anführen:  die  Unruhe 
in  dem  Jungen  und  um  ihn  herum,  die  vorhergehende  und  ablenkende  Anstrengung 
in  den  andern  Disziplinen,  das  Bewußtsein  der  Verantwortung,  die  ihm  mit  jeder 
längeren  Arbeit  aufgeladen  wird,  die  wechselnde  Stimmung  der  Jugend  und  dann 
doch  auch  das  Gefühl,  ein  irrender  Mensch  zu  sein,  der  außerdem  ohne  Rast  und 
Ruh  mit  jeder  neuen  Klasse  bis  an  die  Grenze  seiner  jeweiligen  Leistungskraft 
vorgeschoben  wird. 

Wir  Schulmeister  können  allerdings  mancherlei  tun,  um  solchen  unliebsamen 
Nebenerscheinungen  zu  begegnen:  wir  müssen  selber  möglichst  ruhig  sein  in  Stimme 
und  Haltung,  müssen  in  möglichst  früher  Stunde  schreiben  lassen,  müssen  etwaige 
Schwierigkeiten  an  den  Anfang  des  Extemporale  bringen  und  es  am  besten  — 
mit  Rücksicht  auf  die  schnell  eintretende  Ermüdung  des  jugendlichen  Gehirns  — 
ausgehen  lassen  mit  Anlehnungen  an  den  durchgearbeiteten  Text  oder  gar  mit 
wörtlicher  Entlehnung  daraus.  Und  ist  ein  Junge  wirklich  nicht  geschaffen  für 
schriftliche  Plus-Leistungen  (unter  zehnen  sind  es  mindestens  immer  zwei),  nun, 
so  sind  auch  wir  Lehrer  menschlich  denkend  genug,  ihm  öfter  als  andern  noch 
Gelegenheit  zu  geben,  den  Ausfall  durch  mündliche  Leistungen  wieder  auszugleichen. 

Ganz  will  ja  nun  der  jüngste  Ministerialerlaß  das  Extemporale  auch  nicht 
beseitigt  wissen.  Alle  vier  bis  sechs  Wochen  etwa  soll  es  geleistet  werden  und  dann 
auf  jeden  Fall  zufriedenstellend  ausfallen.  Wenn  aber  das  nun  nicht  eintritt? 
Hier  muß  man  bedenklich  werden.  Dann  sind  nämlich  schon  Fehler  gemacht 
worden,  die  sich  bei  der  beschränkten  Zeit  und  dem  drängenden  Pensum  schwer 
wettmachen  lassen.  Und  der  Termin  für  diese  Arbeiten  darf  nicht  angegeben, 
dazu  also  auch  nicht  vom  Schüler  eine  häusliche  Vorbereitung  gefordert  werden. 
Damit  jedoch  fällt  leider  ein  Faktor  weg,  den  mancher  von  uns  bis  jetzt  gerade 
sehr  hoch  angeschlagen  haben  wird:  nämlich  der  Zwang  für  den  Schüler,  das  in  der 
letzten  Zeit  abgeleistete  grammatische  Pensum  noch  einmal  zusammenfassend  seinem 
Geiste  in  ruhiger  Arbeit  präsentzuhalten  und  sich  ein  Stück  der  Lektüre  nach  jeder 
Richtung  hin  zu  eigen  zu  machen.  Oben  mußte  dieser  Punkt  schon  einmal  erwähnt 
werden,  und  das  gerade  schien  mir  ja  immer  der  Hauptgewinn  mit  am  ganzen 
Extemporale.  Zudem  verfügte  der  Schüler  damit  auch  über  den  Vokabelschatz, 
der  eben  zur  Abrundung  einer  so  ernsten  Arbeit  nötig  war.  Womit  ich  aber  nicht 
gesagt  haben  will,  daß  der  Vokabelvorrat  sonst  nur  aus  der  Lektüre  geschöpft 
werden  solle.  Nein,  systematisch  und  ständig  sind  Vokabeln  auch  ganz  unabhängig 
von  der  Lektüre  einzuprägen.    Aber  jeder  praktische  Schulmann  weiß  doch,  daß 


Weitere  und  engere  Grenzen  für  das  Extemporale.  25 

diese  Vokabeln  zur  Übersetzung  aus  der  Muttersprache  in  das  fremde  Idiom  trotz- 
dem oft  fehlen,  und  daß  z.  B.  ein  blankhin  diktiertes,  im  Stoffe  und  Wortschatz 
auch  nur  etwas  abliegendes  Extemporale  arg  verstümmelt  oder  gar  unverständlich 
aus  der  jugendlichen  Feder  herauskommt.  Vokabeln  lernen  und  wissen  sollen  unsere 
Schüler,  ausgiebig  sogar,  und  fordert  es  das  Leben  von  ihnen,  so  werden  sie  es 
bald  verstehen,  mit  ihrem  Wortschatz  zu  arbeiten.  Aber  in  der  Schule  das  Extem- 
porale zur  Arena  für  alle  möglichen  Vokabelkämpfe  zu  machen  oder  gar  Vokabel- 
extemporalien zu  fordern,  nein,  dazu  haben  wir  heute  bei  unserm  vielgespaltenen 
Unterricht  nicht  mehr  so  viel  Zeit,  wie  weiland  August  Hermann  Francke  vor  nun- 
mehr zweihundert  Jahren  sie  sich  noch  in  aller  Gemächlichkeit  für  solche  Sachen 
nehmen  konnte. 

Immerhin  —  um  darauf  zurückzukommen  —  erfordert  ein  Extemporale  auch 
trotz  der  Vokabelhülfen  aus  der  Lektüre  die  ehrlichste  Arbeit  des  Jungen.  Bei 
vorhergehender,  sachgemäßer  Vorbereitung  in  der  Klasse  indessen  und  bei  ernstem 
Fleiße  im  elterlichen  Hause  kann  jeder  diese  Arbeit  zufriedenstellend  leisten,  und 
weil  jeder  das  auch  bald  merken  muß,  so  leistet  er  sie  gewöhnlich  auch.  Wie  gesagt: 
die  Aufarbeitung  eines  bestimmten  Pensums  der  Grammatik  und  besonders  auch  der 
Lektüre  in  der  oben  angeführten  Art  war  für  Schüler  und  Lehrer  außerordentlich 
erzieherisch.  Ja,  auch  für  die  Lehrer,  die  ja,  wie  schon  beschrieben,  sich  erst  ein- 
mal selber  in  den  Text  hineinzuarbeiten  hatten. 

Wir  werden  jetzt  in  den  neueren  Sprachen  auf  eine  derartige  Vorbereitung 
der  Klassenarbeiten  verzichten  müssen.  Wenn  ich  jedoch  in  ruhiger  Stunde  meinen 
Gedanken  jetzt  nach  diesem  Erlaß  für  das  Extemporale  so  nachgehe,  wie  ich  ihnen 
in  ähnlicher  Weise  schon  seit  Jahren  vor  diesem  Erlaß  nachgegangen  bin,  so 
wären  diese  Gedanken  folgende: 

1.  Für  die  Unterklassen  im  Lateinischen  und  ebenso  für  das  erste  Jahr  später 
im  Griechischen  und  in  den  neueren  Sprachen  müßten  unablässig 'kleinere  schrift- 
liche Übungen  in  Klasse  und  Haus  eintreten,  und  sie  müßten  auch  genügen.  Im 
Rechnen  und  einige  Jahre  nachher  in  der  Mathematik  z.  B.  besteht  ja  der  gesamte 
Unterricht  eigentlich  nur  in  solchen  Übungen.  Und  wenn  im  Rechnen  Prädikats- 
klassenarbeiten geschrieben  werden,  so  ist  das  sicherlich  die  Einwirkung  von  den 
Sprachen  her.  Ein  guter  oder  vielmehr  schlechter  Ausfall  hängt  hier  außerdem  oft 
von  so  geringfügigen  Kleinigkeiten  ab,  daß  mancher  Kollege  wohl  ganz  gern  auf 
seine  Rechenextemporalien  verzichten  und  das  Kopfrechnen  dafür  höher  einwerten 
möchte.  Ebenso  aber  könnte  und  sollte  auf  die  Extemporalien  in  den  ersten  Jahren 
des  Sprachunterrichtes  zugunsten  recht  ausgiebiger  mündlicher  und  schrift- 
licher Übungen  in  Klasse  und  Haus  verzichtet  werden.  Die  Beobachtungen  im  Rech- 
nen und  die  angeführten  Erfahrungen  beim  Betriebe  der  neueren  Sprachen  bringen 
mich  auf  solche  Gedanken.  Gerade  das  Extemporaleschreiben  in  den  Sprachen  ist 
außerdem  eine  Kunst,  die  nicht  bloß  mechanisches  Gedächtnis,  Paradedrill  und  gleich- 
mäßiges Temperament,  sondern  sogar  schon  eine  größere  geistige  Reife  verlangt.  Zur 
Beurteilung  und  zur  Versetzung  aber  lernen  wir  auch  ohne  die  Extemporalien 
die  Jungen  genugsam  kennen. 

2.  In  den  Mittelklassen  dagegen  würden  —  wieder  neben  zahlreichen  vorher- 
gehenden Übungen  —  auch  Extemporalien  im  möglichst  baldigen  Anschluß  an  die 


26  R.  Eule,  Weitere  und  engere  Grenzen  für  das  Extemporale.; 

Lektüre  und  mit  Zugrundelegung  der  grammatischen  Regeln  eintreten  müssen. 
So  wie  ich  sie  oben  schilderte.  Aber  nicht  wie  bis  jetzt:  jede  Woche  oder  alle  zwei 
Wochen;  auch  nicht,  wie  der  ministerielle  Erlaß  es  will:  in  größeren  Zeiträumen 
von  etwa  vier  bis  sechs  Wochen.  Das  wäre  zu  lange,  um  gemachte  Methodenfehler 
redressieren  zu  können.  Die  Mitte  dürfte  auch  hier  das  Richtige  treffen,  also  etwa 
alle  drei  Wochen.  Eine  Wertung  außerdem  müßte  dabei,  wie  es  unser  Erlaß  ja  auch 
will,  noch  eintreten;  denn  er  gebraucht  bei  dieser  Gelegenheit  selbst  das  Wort 
„Zensierung".  Wie  könnte  denn  sonst  auch  der  Oberflächlichkeit  oder  Gleich- 
gültigkeit der  Schüler  diesen  Arbeiten  gegenüber  ein  Riegel  vorgeschoben  werden? 
Wenn  aber  das  Ministerium  —  freilich  aus  anderen  und  wohlerwogenen  Gründen  — 
nicht  will,  daß  sich  die  Schüler  auf  die  Extemporalien  vorbereiten  sollen,  so  werden 
für  einen  schlechten  Ausfall  dieser  Arbeiten  nicht  sie,  die  Schüler,  verantwortlich 
gemacht,  sondern  nur  der  Lehrer.  Seine  Verantwortung  wird  größer,  die  seiner 
S  c  h  ü  1  er  geringer.  Werden  die  letzteren  indessen  unter  so  veränderten  Um- 
ständen diesen  Arbeiten  noch  den  inneren  Ernst  entgegenbringen,  der  unbedingt 
von  ihrer  Seite  da  sein  muß,  wenn  die  Beurteilung  ihrer  Wissensstufe  richtig  werden 
soll?  Oder  könnte  hier  nicht  etwa  wieder  der  Popanz  der  übermäßigen  Bewertung 
eingeschmuggelt  werden?  Die  Versuchung,  gerade  die  wenigen  Extemporalien 
besonders  hochzuwerten,  ist  freilich  da.  Hier  also  liegt  etwas  Unbestimmtes 
oder  doch  Schwankendes,  und  eine  genauere  Ausführung  in  dem  Erlasse  des  Herrn 
Ministers  wäre  willkommen  gewesen. 

3.  In  den  Oberklassen  endlich  würden  neben  allen  anderen  Übungen  und  schrift- 
lichen Leistungen  auch  Extemporalien  direkt  alten  Stils  mit  einer  Steigerung 
vom  Leichteren  zum  Schwereren  eintreten  können;  denn  die  Schüler  sollten  auf 
dieser  Stufe  und  in  diesem  Alter  über  hinreichende  Geisteskraft,  Sprachkenntnis 
und  innere  Schulung  verfügen,  um  auch  der  Forderung  gewachsen  zu  sein,  einen 
nicht  allzu  shchweren  Text  aus  der  Muttersprache  in  die  Fremdsprache  zu  übertragen. 
Orammatische  Sicherheit  und  die  Fähigkeit,  eine  Umdeutung  und  schließlich  Um- 
denkung aus  dem  heimischen  Idiom  in  das  fremde  vornehmen  zu  können,  kommen 
den  Endarbeiten  der  Schule  und  besonders  dem  fremdsprachlichen  Aufsatz  viel, 
viel  mehr  zu  statten,  als  der  Uneingeweihte  je  glauben  möchte.  Und  eine  Bewertung 
ohne  jede  Rücksicht  sonst  könnte  nicht  bloß,  sondern  sollte  hier  unbedingt  statt- 
finden, wo  der  Ballast  der  Utilitaritäts-Sekundaner  sich  verloren  hat.  Es  dürfte 
indes  solche  Arbeit  auch  in  den  oberen  Klassen  nicht  nur  zum  Exerzierplatze 
grammatischen  Drills  zurechtgewalzt  werden;  aber  die  Überwindung  von  angäng- 
lichen  Schwierigkeiten  hat  noch  immer  reinigend  und  festigend  und  anregend  ge- 
wirkt, und  die  grammatische  Gründlichkeit  muß  meiner  Meinung  nach  auch  gerade 
für  Ober-Sekunda  und  Prima  erhalten  werden:  sie  wird  erfahrungsmäßig  beim 
breiteren  Einsetzen  der  Lektüre  leider  zu  oft  in  den  Hintergrund  gedrängt 
oder  geht  gar  verloren,  trotzdem  sie  doch  für  den  ganzen  Betrieb  noch  blutnot- 
wendig ist. 

Das  sind  bis  jetzt  meine  Wünsche  gewesen,  und  sie  sind  es  noch.  Vielleicht 
auch  die  mancher  Kollegen?  Und  würde  die  Behörde  einmal  so  weit  gehen,  die  schrift- 
lichen Klassenarbeiten  in  dieser  oder  ähnlicher  Weise  abzustufen,  so  würden  doch 
auch  sicherlich  manche  Vorteile  daraus  entspringen:  die  Grammatik  würde  gründ- 
lich genug  und  ohne  den  seelischen  Druck  für  die  Schüler  traktiert  werden  können; 


H.  Wickenhagen,  Die  alte  und  neue  Schule  nach  Prof.  Dr.  Morsch.  27 

die  Lektüre  aber  als  das  Fertige,  Stützende,  Wärmende  im  Unterricht  würde  schon 
für  die  mittleren  Klassen  etwas  mehr  hervortreten  und  durch  die  Anlehnung  der 
schriftlichen  Arbeiten  an  sie  noch  mehr  geschätzt  werden;  die  Übung  ferner  zu 
strafferer  und  größerer  geistiger  Sammlung,  wie  sie  nun  einmal  das  Extemporale 
fordert,  brauchte  nicht  aus  dem  Schulbetriebe  verbannt  zu  werden,  würde  aber  in 
seiner  strengsten  Form  für  die  Oberklassen  aufgespart,  für  ein  Alter  also,  das  die 
Arbeit  treffsicheren  und  zielbewußten  Denkens  leisten  kann.  Die  Gefahr  dabei, 
daß  das  Extemporale  allein  den  Wertmesser  für  die  Leistungen  der  Schüler  abgeben 
könnte,  diese  Gefahr  wird  ja  in  Mittel- und  Oberklassen  absolut  dadurch  vermieden, 
daß  erstens  die  Extemporalien  seltener  eintreten,  und  daß  zweitens  auch  alle 
möglichen  Übungen  schriftlicher  und  mündlicher  Art  gleichwertig  und  in  genü- 
gender Zahl  danebenstehen,  mehr,  als  es  eben  je  in  den  unteren  Klassen 
der  Fall  sein  könnte.  Und  sollte  man  wirklich  fürchten,  dem  faszinierenden  Zahlen- 
zwang der  gemachten  Fehler  zu  unterliegen,  nun,  so  brauchte  ja  nicht  einmal  ein 
Anstreichen  dieser  Fehler  am  Rande  stattzufinden;  sondern  die  Beurteilung  könnte 
nach  dem  ganzen  Tenor  der  Arbeit  geschehen.  Wenigstens  in  den  Oberklassen. 
Ähnlich  wie  bei  den  Aufsätzen;  denn  wenn  der  Schüler  auch  wirklich  viele 
Fehler  machen  sollte,  so  kann  er  doch  in  den  Geist  der  Sprache  einge- 
drungen sein. 

So  wie  aber  der  Erlaß  des  Herrn  Ministers  nun  einmal  vorliegt,  bedeutet  er 
nach  den  Extemporaleverfügungen  in  den  Lehrplänen  von  1882,  1891  und  1901 
wieder  einen  Fortschritt.  Ich  glaube  auch  nicht,  daß  der  Erlaß,  wie  man  gesagt 
hat,  die  Arbeitsleistung  der  Lehrer  um  ein  Bedeutendes  steigert,  wohl  aber  die  Last 
ihrer  Verantwortung.  Vor  allem  auch  die  der  Direktoren.  Was  aber  in  der  mini- 
steriellen Verfügung  besonders  erfeulich  scheint,  ist,  daß  ein  besserer  Weg  gesucht 
werden  soll,  nicht:  um  den  Verstand  oder  den  Charakter  oder  gar  bloßes  Wissen 
auszubilden;  denn  das  eine  können,  das  andere  wollen  wir  in  der  Schule  kaum, 
sondern  „ein  besserer  Weg  soll  gesucht  werden  zur  Sicherheit  in  der  Anwendung 
des  Erlernten  und  Erarbeiteten".  Und  das  eben  ist  erreichbar.  Das  treibt  uns  Lehrer 
auch  an,  uns  selbst  zu  prüfen;  das  ermutigt  uns  und  gibt  uns  das  freudige  Bewußt- 
sein, in  einer  Entwicklung  zu  stehen.  Wir  gehorchen  und  dürfen  in  Zukunft  auf 
noch  mehr  hoffen. 

Berlin.  Robert  Eule. 

Zu  vorstehendem  Aufsatz  sei  noch  Folgendes  bemerkt:  Es  sind  mir  gleich 
nach  Erscheinen  des  Extemporaleerlasses  zahlreiche  Aufsätze  zugegangen,  die 
aufzunehmen  ich  Bedenken  trug;  zum  Teil  enthielten  sie  nur  Kritik,  sehr  über- 
eilte Kritik,  aber  nichts,  was  der  ersprießlichen  Arbeit  der  Schule  irgendwelchen 
Nutzen  hätte  bringen .  können.  Vorstehender  Beitrag  schien  mir  das  Wesent- 
liche und  Wichtigste  zu  enthalten,  er  ist  auf  einem  sympathischen,  hoffnungs- 
frohen  Ton  gestimmt  und  er  weist  vor  allem  auf  die  Erfahrung  und  Erprobung 
hin,  welche  uns  zukünftige  Arbeit  noch  bringen  muß.  —  Für  die  Monatschrift 
war  ja  der  Standpunkt  von  vornherein  gegeben.  Sie  begrüßt  alles,  was  das 
Leben  und  die  Arbeit  in  der  Schule  freudvoller  und  das  Zusammenwirken  von 
Lehrern  und  Schülern  verständnisvoller  gestalten  kann,  mit  aufrichtiger  Freude 


28  H.  Wickenhagen, 

und  wird  alle  Erfahrungen  im  Extemporalebetrieb,  die  nunmehr  gesammelt 
werden  müssen,  gern  wiedergeben.  Zu  diesen  bedarf  es  aber  zunächst  einiger 
Zeit.  Ist  sie  vergangen,  so  ist  die  Monatschrift  gern  bereit,  die  Beobachtungen 
und  Erfahrungen  verständiger  Männer  aufzunehmen  und  weiter  zu  verbreiten. 
Graue  Theorieen  aber  und  frische  Tatkraft  lähmende  Bedenken,  wetehe  die 
Praxis  noch  beseitigen  kann,  möchte  sie  nicht  gern  in  ihren  Spalten  sehen. 
Berlin.  A.  Matthias 


Die  alte  und  neue  Schule  nach  Prof.  Dr.  Morsch. 

Im  ,, Korrespondenzblatt  für  den  akademisch  gebildeten  Lehrerstand"  hat 
Prof.  Dr.  Morsch  einen  Aufsatz  über  „Zerstreuung  und  Zersplitterung  im  Unter- 
richtsbetriebe der  höheren  Lehranstalten**  veröffentlicht,  der  in  den  Satz  ausläuft: 
„Aus  der  früheren  Gelehrtenschule  ist  eine  ,Allerweltsschule'  geworden,  wo  die 
Schüler  neben  Sprachen,  Realien,  auch  Pappen,  Kleben,  Kurzschrift,  Entfernungs- 
schätzen, Vereinsmeierei  und  —  Bummeln  lernen." 

Das  ist  klar  und  deutlich !  Der  Verfasser  hat  die  Mühe  nicht  gescheut,  eine  große 
Anzahl  von  Schulprogrammen  durchzusehen  und  hofft,  in  einer  Musterkarte  von 
allen  erdenklichen  Beschäftigungsarten  unserer  heutigen  Jugend  den  Urgrund 
der  landläufigen  Überbürdungs-  und  sonstigen  Klagen  gefunden  zu  haben.  Bei 
der  engen  Aufschichtung  von  wer  weiß  wie  vielen  Beispielen  ist  begreiflicherweise 
ein  so  gepfeffertes  Ragout  entstanden,  daß  man  das  tadelnde  Schlußurteil  des 
Verfassers  fast  als  natürlich  entgegennimmt.  Es  enthält  in  der  Tat  auch  einiges 
Richtige  und  wird  insofern  mittelbar  dazu  beitragen,  die  Schulluft  da,  wo  es  nottut, 
zu  reinigen. 

Soviel  soll  anerkannt  werden.  In  seinen  subjektiven  Beigaben  aber  schießt 
Morsch  nicht  selten  arg  vorbei;  Besserungsvorschläge  und  neue  Ideen  findet  man 
nicht.  Wie  ein  roter  Faden  geht  durch  seinen  Aufsatz  die  Abneigung  gegen  jede  Art 
der  körperlichen  Betätigung,  wie  er  denn  überhaupt  nur  dem  wissenschaftlichen 
Unterricht  und   den  Schularbeiten  Daseinsberechtigung  zuzugestehen  scheint. 

Über  Gang  und  Ziele  unserer  deutschen  Erziehung  haben  vollwertige  Instanzen 
ihr  Gutachten  abgegeben;  es  soll  hier  nur  an  die  Weltausstellungen  von  St.  Louis 
und  Brüssel  hingewiesen  werden.  Die  grundsätzliche  Pflege  der  Selbsttätig- 
keit gehört  zu  den  glänzendsten  Errungenschaften  unserer  neuzeitlichen  Pädagogik. 
Daß  noch  immer  Erfahrungen  gesammelt,  Fehler  ausgemerzt  werden  müssen, 
versteht  sich  von  selbst;  aber  diese  Arbeit  liegt  gottlob  in  guten  Händen!  Schon 
seit  Jahren  haben  in  geregeltem  Gedankenaustausch  die  Direktorenversammlungen 
ihr  Streben  darauf  gerichtet,  gangbare  Wege  zu  erschließen,  die  Lehrer  zu  Führern 
vorzubilden,  sie  anzuregen  und  zu  zügeln,  zu  treiben  und  zugleich  zur  Vorsicht 
anzuhalten.  Und  dann  die  Oberlehrer-  und  Fachlehrerkreise!  Für  die  Jugend 
bringt  der  heutige  Erzieher  bei  allem  Drucke  der  Berufspflichten  jedes  Opfer: 
Das  sollte  man  anerkennen!  Hinter  dem,  was  die  Schule  an  Betätigungen  in 
sich  vereinigt,  steckt  ein  gewaltiges  Stück  selbstloser  Lehrarbeit  I 


Die  alte  und  neue  Schule  nach  Prof.  Dr.  Morsch.  29 

Darüber  herrscht  übrigens  heute  volle  Klarheit,  daß  Sport  und  Turnen 
als  nächstes  und  wichtigstes  Gegengewicht  der  Lern- 
schule zu  betrachten  und  für  die  Selbständigkeit  zuerst  zu  empfehlen  sind. 
Leider  wird  das  in  der  Praxis  noch  nicht  überall  beachtet;  noch  immer  gibt  es 
Schulen,  die  allem,  was  die  Schüler  treiben,  ein  wissenschaftliches  Mäntelchen 
umhängen  möchten:  Lese-  und  Literaturklubs;  physikalische,  chemische  Kränzchen 
und  sonstige  Sitz-  und  Stehvereine  wuchern  neben  dem  regelmäßigen  Unterricht: 
von  einem  planmäßigen  Wechsel  in  der  Tagesarbeit  ist  keine  Rede. 

Hätte  Morsch  nach  dieser  Richtung  aufräumend  gewirkt,  hätte  er,  statt  ewig 
zu  tadeln,  uns  gesagt,  wie  man  sich  nach  seiner  Methode  eine  mens  sana  und  zugleich 
ein  Sanum  corpus  erwirbt,  dann  könnte  man  ihm  nur  dankbar  sein.  Dieses 
Kapitel  schneidet  er  nicht  an.  Das,  was  er  vorbringt,  muß  mit  derselben  Schärfe, 
mit  der  er  für  seine  Ideen  eintritt,  abgewiesen  werden;  denn  es  dürfte  mehr 
Schaden  als  Nutzen  bringen! 

„Die  folgenden  Ausführungen  werden  vielfach,  besonders  von  den  Modernen 
unter  den  Schulreformern  bestritten  werden.  Indessen  weiß  ich,  daß  alte  wie 
jüngere  Amtsgenossen,  zunächst  im  geheimen  (?!).  mir  zustimmen.*'  So  beginnt 
Morsch. 

Wahrlich  ein  Geständnis  von  rührender  Offenheit!  Eingedenk  des  „Wer  die 
Wahrheit  kennet  und  saget  sie  nicht,  der  ist  fürwahr  usw."  erscheint  er 
in  der  Rolle  eines  mutigen  Vorkämpfers  der  Schüchternen,  Zaghaften,  die  die  Faust 
in  der  Tasche  ballen.  Ob  er  für  diesen  Posten  der  geeignete  Vertreter  ist,  mögen 
die  Männer  seiner  näheren  Umgebung  entscheiden.  Jedenfalls  richtet  der,  der  die 
Wahrheit  nicht  kennet  und  doch  zum  Reden  sich  berufen  fühlt,  noch  ebensoviel 
Unheil  an. 

An  geheimen  Gegnern  fehlt  es  der  heutigen  Erziehung  sicherlich  nicht.  Wo 
gibt  es  die  überhaupt  nicht?  Mit  sachlichen  Gründen  sie  zu  bekämpfen,  ist  verlorene 
Liebesmüh;  wir  wollen  es  uns  also  lieber  angelegen  sein  lassen  zu  prüfen,  wie  der 
Gegensatz  zwischen  Alten  und  Modernen  sich  erklärt. 

Wir  leben  in  einer  Zeit  rastlosen  Fortschreitens  auf  allen  Feldern  der  Arbeit. 
Wer  die  letzten  Dezennien  der  vaterländischen  Geschichte  kennt,  kann  den  ge- 
waltigen Aufschwung,  den  unser  Kulturleben  erfahren  hat,  abschätzen.  Wurde 
vor  den  Einheitskriegen  in  den  Schullehrplänen  die  deutsche  Geschichte  von  1815 
mit  allem,  was  sie  enthielt,  totgeschwiegen,  weil  sie  für  die  geistige  und  sittliche 
Bildung  Jungdeutschlands  keinen  Nährstoff  enthielt,  so  befindet  sich  in  der  Gegen- 
wart unser  Sinnen  und  Schaffen  in  beständiger  Spannung:  im  edlen  Wettstreit 
der  Völker  bewähren  sich  die  Tüchtigsten,  und  jeder  Tag  bringt  dem  Auge,  Hirn, 
der  Geschichte  neuen  Stoff,  Die  Früchte  rüstiger  Arbeit  haben  das  deutsche  Herz 
gestärkt  und  auch  der  Jugend  ernste  Lebensziele  gesteckt. 

Es  leuchtet  ein :  wie  sich  die  verflossene  Periode  mit  ihrer  inneren  Nichtigkeit 
von  der  Kulturfülle  der  Gegenwart  unterscheidet,  so  unterscheiden  sich  auch  die 
Grundsätze  und  Aufgaben  der  Schule  von  sonst  und  jetzt.  Zunächst  wird 
natürlich  die  Jugend  von  den  Erscheinungen  ihrer  Umgebung  beeinflußt, 
und  sie  müßte  dem  Stumpfsinn  und  der  Blödigkeit  verfallen  sein,  wenn  sie  sich 
von  ihnen  nicht  anregen  und  fortreißen  ließe.  Darin  liegt  ein  Stück  unserer  heutigen 


30  H.  Wickenhagen, 

Überbürdung,  aber  jeder,  der  für  die  junge  Welt  ein  Herz  hat,  muß  sich  unbekümmert 
um  die  kleine  Schar  der  Weltfremden  und  Gewohnheitsnörgler,  die  in  der  alten  Zeit 
die  gute  erkennen  möchten,  darüber  freuen,  daß  unser  reiferer  Nachwuchs  den  edlen 
Trieb  in  sich  fühlt,  an  den  ernsten  Tagesaufgaben  mitzuarbeiten,  daß  er  seine 
Erholungsstunden  nicht  mehr  wie  vor  Zeiten  mit  Biersitz,  Kartenspiel  oder  gedanken- 
losem Flanieren  ausfüllt,  sondern  sie  benutzt,  sich  das  Rüstzeug  für  die  gesteigerten 
Ansprüche  des  zukünftigen  Berufs  zu  erwerben.  Übertreibungen  kommen  gewiß 
auch  hier,  wie  überall,  vor,  aber  sie  bilden  nicht  die  Regel,  sondern  die  Ausnahme. 
Im  weiteren  wird  sich  jeder  darüber  freuen,  daß  bei  diesem  Entwicklungsgange 
ein  besseres  Sichverstehen,  ein  gegenseitiges  Vertrauen,  mehr  Wahrheit,  kurz 
eine  immer  natürlichere  Annäherung  von  Lehrern  und  Schülern  eingetreten  ist. 
Das  Kapitel  „Erziehung"  hat  unter  der  Hand  weitsichtiger  Männer  und 
bewährter  Jugendfreunde  eine  so  glückliche  Weiterbildung  erfahren,  daß  man 
unser  Zeitalter  das  der  „Erziehung"  nennen  könnte.  Ein  besonders  wertvolles 
Kapitel  bildet  die  Reform  des  Erholungslebens.  Ausgehend  von  dem  Grundsatze, 
daß  die  Ruhe  eine  andere  Art  der  Arbeit  sein  müsse,  ist  man  darauf  bedacht  ge- 
wesen, den  Erholungsstunden,  die  der  Schüler  gerade  so  gut  braucht,  wie  der  Er- 
wachsene, einen  Inhalt  nach  der  Richtung  zu  geben,  daß  Arbeit  und  Ruhe  sich  gegen- 
seitig unterstützen.  An  der  Vertiefung  dieses  Erziehungsziels  schaffen  Lehrer 
und  Schüler  gemeinsam.    Die  Geibelschen  Worte 

Das  ist  die  Wirkung  edler  Geister: 

Des  Schülers  Kraft  entzündet  sich  am  Meister, 

Doch  schürt  sein  jugendlicher  Hauch 

Zum  Dank  des  Meisters  Feuer  auch. 

finden  ihre  Bestätigung  im  Urteil  eines  erprobten  Schulmannes,  des  Geheimrats 
Münch:  „Schon  ist  weit  mehr  Frische  im  höheren  Lehrerstande  vorhanden,  als 
sie  manche  Jahrzehnte  hindurch  gefunden  zu  werden  pflegte;  mehr  Gefühl  für  die 
Natur  der  Jugend,  mehr  Unbefangenheit,  mehr  Sinn  für  die  berechtigte  Freiheit 
neben  der  notwendigen  Zucht,  weniger  frühe  Greisenhaftigkeit,  weniger  grämliches 
Mißgönnen,  weniger  Beschränkung  auf  das  Fordern  und  Richten,  mehr  Bemühen 
um  das  Verständnis  der  einzelnen  werdenden  Persönlichkeiten." 

So  ists,  wer  über  die  vier  Wände  seiner  Arbeitsstube  hinausgeschaut  hat, 
unterschreibt  jedes  Wort;  ein  einziger  Beleg  dürfte  zu  ihrer  Erhärtung  genügen: 
Im  Bootshause  Wannsee  allein  haben  sich  im  verflossenen  Sommer  87  Lehrer 
höherer  Anstalten  wassersportlich  ausbilden  lassen,  um  am  jugendlichen  Ruder- 
betriebe ihrer  Anstalten  teilnehmen  zu  können.  Daneben  rudern  einige  Dutzend 
Herren  regelmäßig  in  und  mit  ihren  Riegen;  unter  ihnen  Männer  mit  ergrauendem, 
ja  silberweißem  Haar! 

Und  das  sind  die  Modernen!  Man  soll  sich  also  unter  diesem  Begriffe 
keineswegs  eine  Schar  jugendlicher  Stürmer  und  Draufgänger  vorstellen,  sondern 
Leute,  die  maßvoll  urteilen  und  nur  das  vertreten,  was  sie  am  eignen  Leib  und  Bein 
erprobt  und  für  gut  befunden,  nicht  zweifelhaften  Klatschereien  entnommen  haben. 

Ihnen  gegenüber  stehen  die  Vertreter  der  a  1 1  e  n  S  c  h  u  1  e.    Es  sind  nicht 


Die  alte  und  neue  Schule  nach  Prof.  Dr.  Morsch.  31 

allein  die  im  Dienst  ergrauten,  sondern  neben  ihnen  auch  Männer  der  „frühen 
Greisenhaftigkeit  und  des  grämlichen  Mißgönnens". 

Wer  auf  dem  Gebiete  des  Turnens  und  Sports  seit  der  Zeit  seines  Auf- 
kommens Erfahrungen  gesammelt  hat,  ist  fast  überrascht,  wie  die  letzteren 
alle  mehr  oder  weniger  denselben  Typ  zeigen. 

Meist  sind  es  solche,  die  zeitlebens  dem  praktischen  Sport  und  dem  Kamerad- 
schaftsleben keinen  Geschmack  abgewinnen  konnten.  Sie  sind  wohl  während  ihrer 
Schulzeit  vom  knappen  Turnbetriebe  befreit  gewesen,  haben  sich  schon  früh  in 
eine  gewisse  Einseitigkeit  hineingearbeitet,  aber  in  der  Abgangsprüfung  als  fleißige, 
ja  als  Musterschüler  bewährt;  sind  in  ihrem  Studiengange,  der  durch  die  mili- 
tärische Dienstpflicht,  durch  Manöverstrapazen  u.  a.  keine  Unterbrechung  er- 
litten, treulich  den  ausgetretenen  Spuren  früherer  Geschlechter  nachgegangen, 
um  auf  dem  kürzesten  und  erprobtesten  Wege  zur  Anstellung  zu  gelangen.  Mit 
dem  Brotbriefe  treten  sie  ins  Leben  und  beginnen  ihre  erziehliche  Tätigkeit  mit 
der  Devise,  die  sie  an  sich  selbst  erprobt:  Man  soll  sich  nie  ablenken  lassen! 
So  erledigen  sie  ihre  Berufspflichten  treu  und  gewissenhaft,  gönnen  sich  keine 
Zerstreuung  und  verbringen,  abgesehen  von  einem  steifen  Spaziergange,  ihre 
Freizeit  am  Schreibtisch  mit  schriftstellerischen  Untersuchungen. 

Ist  bi?  dahin  alles  schön  und  glatt  gegangen,  so  stellen  sich  allmählich  un- 
gemütliche Gäste  ein:  die  Einseitigkeit  nimmt  immer  bestimmtere  Formen  an. 
Bei  der  ewigen  Stubenarbeit  macht  sich  eine  gewisse  Empfindlichkeit,  Verweich- 
lichung bemerkbar,  die  Nerven  wollen  nicht  mehr,  der  Blick  für  die  Erscheinungen 
der  Zeit  verengt  sich.  Die  Jugend  ist  ihrem  Wesen  nach  unbarmherzig,  sie  hat 
eben  kein  Verständnis  für  die  eintretenden  Schwächen  des  Alters;  ganz  besonders 
ist  den  vollsaftigen,  gesunden  Burschen  mit  der  wetterfesten,  gegerbten  Haut 
Weichheit  und  Verzärtelung  zuwider.  Der  Zwiespalt  ist  da:  Lehrer  und  Schüler 
verstehen  sich  nicht  mehr.    Die  „neue  Richtung",  der  „Sport"  usw.  sind  schuld. 

Dann  hört  man  Äußerungen  wie  „Wir  haben  früher  nicht  gerudert  und  sind  ganz 
tüchtige  Staatsbürger  geworden"  oder  „Früher  kannte  man  all  diese  Sportfexereien 
nicht,  und  dabei  haben  die  Früheren  die  großen  Schlachten  geschlagen!"  —  Gerade 
die  letztere  Äußerung  ist  fast  zum  Schlagwort  geworden,  und  merkwürdig:  Bisher 
habe  ich  sie  nur  von  solchen  gehört,  die  nie  einen  Soldatenrock  getragen  und  sich 
nie  mit  den  ernsten  Aufgaben  des  Wehrdienstes  vertraut  gemacht  haben. 

Im  vorigen  sind  nur  allgemeine  Beobachtungen  vorgelegt;  ob  sie  bei  dem 
Berichterstatter  zutreffen,  entzieht  sich  meiner  Kenntnis.  Das  eine  steht  aber 
für  jeden  Fachmann,  der  den  Aufsatz  zu  Gesicht  bekommt,  fest:  Morsch  bewegt 
sich  auf  einem  ihm  fremden  Gebiete.  Wenn  einer  über  einige  abgenutzte  Alltags- 
vorwürfe nicht  hinauskommt,  kein  Wort  über  die  erziehlichen  praktischen,  gesund- 
heitlichen Eigenschaften  des  Land-  und  Wassersports  zu  sagen  weiß,  dann  ist  die 
Frage  am  Platze:  Wie  lange  und  wo  hast  du  Wassersport  u.  a.  getrieben?  In 
welcher  Weise  hast  du  dich  zum  Sportkritiker  ausgebildet?  Denn  es  ist  doch 
wohl  hier  wie  auf  allen  Arbeitsgebieten  Ehrenpflicht,  daß  man  erst  gewissenhaft 
prüft,  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  sammelt,  ehe  man  mit  Urteilen  an  die 
Öffentlichkeit  tritt. 

Morsch,  behaupte  ich,  gehört  zu  den  gelegentlichen  Zaungästen  unserer  Turn- 


32  H.  Gilow, 

und  Übungsplätze.  Wer  in  einer  gesunden  Freilichtgymnastik  Verführungen 
zum  Alkoholismus  erblickt,  macht  sich  im  Kreise  der  Kundigen  geradezu  lächer- 
lich. Wer  daran  Anstoß  nimmt,  daß  Ruderschüler  in  den  Eisenbahnabteilen  auf 
der  Fahrt  Schulbücher  vor  der  Nase  haben,  der  lebt  mit  seinen  Anschauungen 
noch  im  Zeitalter  der  Postkutschen  und  Landomnibusse.  Und  was  soll  man  zum 
folgenden  sagen:  ,,Wir  Amtsgenossen  erfahren  es  ja  täglich,  daß  die  besten,  kräf- 
tigsten Turner  und  Ruderer  selten*)  auch  die  besten  Schüler  sind;  auch  im  späteren 
Leben  zeigt  es  sich  ja,  wie  die  robusten  Naturen  mit  gebräunten  Gesichtern,  deren 
Nerven  und  Sehnen  durch  Wandern  wie  Stahl  sind,  nicht  immer  sich  als  die  besten 
Kopfarbeiter  erweisen.''  Mit  dem  ersten  Teile  dieser  Worte  stellt  Morsch  das  Urteil 
•keines  Geringeren  als  des  Herrn  Ministers  in  einer  Frühjahrssitzung  des  Abgeordneten- 
hauses auf  den  Kopf.  Aus  eingezogenen  Gutachten  leitete  dieser  das  Ergebnis  ab, 
daß  die  Ruderer  meist  zu  den  besten  Schülern  gehörten.  Der  zweite  Teil  ist  sehr 
vorsichtig  gehalten;  daß  Sportsleute  immer  die  besten  Kopfarbeiter  seien,  hat  noch 
kein  Mensch  behauptet. 

Ist  denn  übrigens  die  nach  M.s  Rezept  gebildete  Jugend  mit  der  blassen  Haut 
und  den  weichen  Sehnen  in  allen  Sätteln  fest,  so  daß  wir  uns  auf  sie  in  den  Wechsel- 
fällen des  Lebens  verlassen  können?  Darüber  mag  er  sich  die  Antwort  bei  unseren 
Heerführern  holen.  ,,Ist  der  Körper  schlaff,"  schreibt  Gneisenau  an  seine  Frau, 
„so  ist  auch  die  Seele  schlaff,  sei  auch  der  Kopf  noch  so  sehr  mit  Kenntnissen 
angestopft;  er  wird  dann  nur  viel  wissen,  aber  nichts  vermögen,  nichts  ausrichten, 
keinen  Willen,  keinen  Entschluß  haben.  Dergleichen  Leute  haben  wir  genug  in 
Deutschland;  nur  sie  haben  dieses  Landes  Unglück  verschuldet." 

Nicht  von  „Kopfarbeitern",  sondern  vom  deutschen  Schulmeister,  d.  h.  dem 
Meister-Erzieher  in  Schule  und  Heer  ist  die  Schlacht  von  Sadowa  gewonnen  worden. 
Wir  wollen  gewiß  die  Verstandesbiidung  nicht  unterschätzen,  solange  aber  das 
preußische  suum  cuique  gilt,  soll  auch  dem  Körper  sein  Recht  gewahrt  bleiben. 
Gerade  heute,  das  hätte  M.  bedenken  sollen,  stehen  Männer  mit  zäher  Kraft,  ge- 
stählten Nerven,  entschlossenem  Mute,  geklärtem  Wirklichkeitssinn  hoch  im  Werte. 
Schule  und  Heer  sind  die  beiden  Säulen,  die  unser  Staatsgebäude  tragen.  Danach 
bestimmen  sich  unsere  Aufgaben;  wer  ihnen  entgegenwirkt,  ladet  eine  schwere  Ver- 
antwortung auf  sich. 

Berlin-Groß-Lichterfelde.  H.  W  i  c  k  e  n  h  a  g  e  n. 


Ein  Berliner  Scliulmann.**) 

Die  von  der  Familie  und  den  Freunden  Heinrich  Bertrams  mit  Bei- 
trägen unterstützte,  der  Stadt  Berlin  gewidmete  Lebensskizze  will  in  dankbarer 
Verehrung  das  Andenken  des  Mannes  erneuern,  der  von  1874 — 1900  an  der  Spitze 
des  Berliner  Volksschulwesens  stand.     Sie  ist,  abgesehen  von  dem  erhebenden 


*)  Nach  meinen  doch  ziemlich  weitreichenden  Beobachtungen  stimmt  das  nicht. 
Für  einzelne  Jahrgänge  möchte  ich  sogar  das  Gegenteil  behaupten.  Doch  es  wird  ja 
Sache  der  in  Frage  kommenden  Schulen  sein,  ihre  Statistik  aufzumachen.      Mtth. 

**)  Heinrich  Bertram,  Stadtschulrat  in  Berlin.    Ein  Lebensbild  von  Fritz  Jonas. 
Berlin  1911.    Weidmannsche  Buchhandlung,    gr.  S^.    VI  u.  202  S.    4  M. 


Ein  Berliner  Schulmann.  33 

Eindruck,  den  die  feinsinnig  gewürdigte  reinmenschliche  Seite  dieses  gesegnetert 
Lebenslaufes  hervorruft,  eine  Ergänzung  der  Berichte  über  die  Gemeindeverwaltung 
der  Stadt  Berlin,  die  Bertrams  Schöpfungen  im  Rahmen  schwer  zugänglicher  und 
zerstreuter  Druckschriften  schildern.  Sie  ist  auch  ein  Beitrag  zur  Schulgeschichte 
der  Hauptstadt  in  der  Zeit  ihres  gewaltigen  Wachstums  nach  dem  großen  Kriege 
von  1870/71.  Der  städtischen  Schulverwaltung  stellte  dieser  Aufschwung  neue 
und  schwer  zu  erfüllende  Aufgaben,  „aber  die  große  Zeit  hob  jeden  einzelnen  über 
sich  selbst  hinaus,  erweckte  Begeisterung,  und  bis  an  seinen  Tod  hat  auch  Bertram 
aus  jenen  Tagen  ein  Hochgefühl  sich  bewahrt,  Zeuge  so  gewaltiger  Ereignisse 
gewesen  zu  sein". 

Darin,  ,,wie  er  in  dem  Vierteljahrhundert  seiner  Amtstätigkeit  allmählich 
ohne  beunruhigenden  Zickzackkurs  den  Lehrbetrieb  . . .  geleitet  und  vervollkommnet 
hat,  liegt  seine  bedeutsamste,  wahrhaft  geniale  Wirksamkeit",  sagt  Jonas,  und  es 
tut  wohl,  das  gemeinhin  nur  den  Baukünstlern,  die  „schöne"  Schulbauten  schaffen, 
freigebig  gespendete  Wort  genial  hier  einmal  dem  hervorragenden  pädagogischen 
Organisator  beigelegt  zu  sehen,  der  dem  Volksschulwesen  der  Reichshauptstadt 
den  Stempel  seines  Geistes  aufgeprägt  hat. 

Wir  begleiten  den  jungen  stud.  theol.  et  phil.  Bertram,  nachdem  er  im  März 
1845  seine  Reifeprüfung  am  Domgymnasium  in  Magdeburg  bestanden,  nach  Halle, 
dann  1847  nach  Berlin,  wo  er  bald  den  Schwerpunkt  seiner  Studien  in  die  Mathe- 
matik und  Naturwissenschaft  verlegte.  Eingeflochtene  Briefe  zeigen,  wieviel  mehr 
damals  noch  in  Briefen  auch  der  Mitteilung  des  Empfindungslebens  Raum  ge- 
geben wurde  als  jetzt.  Sie  spiegeln  uns  auch  den  unmittelbaren  Eindruck  der 
1848  er  Märztage  auf  den  Studenten  B.  wider,  der  indem  „mehr  zeitraubenden  als 
angreifenden  Dienst  als  Nationalgardist"  seinen  Mann  stehen  muß.  Das  wichtigste 
Ergebnis  der  folgenden  Jahre  war  wohl,  daß  er  bald  nach  bestandener  Staats- 
prüfung in  engere  wissenschaftliche  und  persönliche  Beziehungen  zu  dem  nam- 
haftesten Mathematiker  unter  den  damaligen  Berliner  Schulmännern  kam:  Karl 
Schellbach,  der  1853  auch  sein  Schwiegervater  wurde.  B.  nahm  an  dessen  Studien 
regen  Anteil  und  wurde  auch  mit  den  bedeutenden  Freunden  Schellbachs,  Dirichlet, 
Dove,  Helmholtz,  Du  Bois- Reymond,  Förster  bekannt  und  in  ihre  vielseitigen 
Interessen  mithineingezogen.  —  Das  alte  Werdersche  Gymnasium  in  der  Kur- 
straße, die  Wiege  so  vieler  nachmals  angesehener  Männer,  wurde  dann  die  Stätte 
seiner  eigentlichen  pädagogischen  Bewährung.  Hier  wirkte  er  von  seinem  29. 
bis  42.  Jahre  bis  1868,  hier  machte  er  sich  einen  Namen  durch  die  sieghafte  Kraft 
seines  Unterrichts:  „Geistige  Bedeutung,  hohe  innere  Autorität  traten  überall 
hervor."  Wie  charakteristisch  die  folgenden  Proben:  „Einst  trat  während  seines 
Unterrichts  der  Direktor  oder  ein  Schulrat  in  die  Klasse.  Die  Primaner  erhoben 
und  setzten  sich  und  blickten  eifrig  in  die  vor  ihnen  liegenden  Hefte.  Bertram 
guckte  nach  seiner  Art  einen  Augenblick  schräg  über  die  Brille  hinweg,  grüßte, 
sah  aber  dann  auch  schweigend  auf  die  Klasse.  Es  herrschte  zur  Verwunderung  des 
Vorgesetzten  tiefe  Stille.  Ehe  der  Vorgesetzte  aber  noch  das  Schweigen  brach, 
erhob  sich  ein  Primaner  und  sagte:  ,Herr  Professor,  ich  habe  die  Lösung  gefunden', 
und  trug  diese  dann  knapp  und  klar  vor.  Das  war  Unterricht  in  Schellbachschem 
Geiste;"   und   „Bei  Vertretungen    schonte   er   sich  am  wenigsten,    und   es  wirkte 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  3 


34  H.  Gilow,  Ein  Berliner  Schulmann. 

anregend  auf  die  Kollegen,  als  bekannt  wurde,  er  habe  bei  einer  Vertretung  erfahren, 
daß  zu  dem  Tage  ein  Aufsatz  fällig  sei,  die  Aufsätze  eingesammelt  und  schon  am 
nächsten  Tage  korrigiert  zurückgegeben." 

Aus  dem  engeren  Kreise  der  einzelnen  Schule  ist  dann  Bertram,  der  von 
1868 — 1874  Direktor  der  neu  errichteten  höheren  Sophien-Bürgerschule  gewesen 
war,  an  die  Spitze  des  Berliner  städtischen  Volksschulwesens  berufen  worden, 
auf  einen  schwierigen  Posten  also;  denn  wenn  er  zu  fest  an  dem  Bestehenden  ge- 
halten hätte,  so  wäre  das  Stadtparlament  gegen  ihn  aufgestanden,  wenn  er  zu 
radikal  sich  gezeigt  hätte,  so  würden  die  Aufsichtsbehörden  ihre  Genehmigung 
versagt  haben.  Hier  kam  ihm  nun  zugute,  daß  er  in  den  Anschauungen  des  alten 
Liberalismus  groß  geworden  war,  und  daß  es  ihm,  wie  sein  Biograph  sagt,  in  der 
Kirche  und  Schule  wie  in  der  Politik  immer  richtig  schien,  nicht  auf  einmal  sozu- 
sagen den  ganzen  alten  Waldbestand  abzuschlagen,  sondern  stückweise  zu  roden 
und  neu  anzupflanzen.  Im  Geiste  des  Ministeriums  Falk,  das  den  Volksschulen 
in  den  Städten  eben  höhere  Aufgaben  gesetzt  hatte,  förderte  er  die  Bildung  in  den 
Realien,  besonders  in  den  Naturwissenschaften  und  den  Elementen  der  Geometrie, 
trat  aber  doch  einem  Vielerlei  neuer  Unterrichtsgegenstände  entgegen,  damit 
nicht  die  Gründlichkeit  litte.  „Soll  die  Pädagogik,  dies  sind  B.s  Worte,  den  Lehr- 
plan belasten  mit  Gesetzeskunde  und  Volkswirtschaftslehre,  mit  Hygiene  und 
Technologie?  Die  Schultern  der  Kleinen  würden  die  Last  nicht  tragen,  die  man 
ihnen  in  gut  gemeinter  Weise  mitgeben  will  für  das  Leben."  Die  schon  von  seinen 
Vorgängern  Fürbringer  und  Hofmann  eingeleitete  Gründung  der  höheren  Bürger- 
schulen, später  Realschulen  genannt,  führte  er  zum  Ziele:  sein  organisatorisches 
Geschick,  das  ihn  immer  nur  das  zunächst  Erreichbare  erstreben  ließ,  wußte  den 
Lehrplan  so  aufzubauen,  daß  er  schließlich  die  Zustimmung  der  königlichen 
und  städtischen  Behörden  fand:  die  1884  eröffnete  erste  Realschule  heißt  jetzt 
Bertram-Realschule.  Auch  die  Schaffung  von  nichtgeistlichen  Schulinspektoren 
gelang  im  Jahre  1877,  trotzdem  die  auseinandergehenden  Meinungen  zeitweise 
ein  Scheitern  ernstlich  fürchten  ließen.  An  dem  Ausbau  des  auch  heute  noch 
in  Bertrams  Bahnen  sich  fortentwickelnden  Fach-  und  Fortbildungsschulwesen 
hat  er  bis  zum  Abschiede  aus  seinem  Amte  im  Jahre  1900  unablässig  mit  ruhiger 
Besonnenheit  gearbeitet.  Ein  Anhänger  der  sozialistischen  Ideen  war  er  nicht  und 
würde  sich  ungern  zu  der  inzwischen  von  der  Zeitströmung  durchgesetzten  Zwangs- 
fortbildungsschule entschlossen  haben.  Sehr  bezeichnend  für  seinen  individua- 
listischen Standpunkt  sind  die  Worte:  ,,Wenn  Sie  die  Jugend  bis  zum  vierzehnten 
Jahre  in  die  Volksschule,  vom  vierzehnten  bis  zum  achtzehnten  Jahre  in  die  Fort- 
bildungsschule und  dann  noch  auf  zwei  oder  drei  Jahre  in  die  Armee  bringen, 
so  weiß  ich  nicht,  wann  der  selbständige  Wille  und  Charakter  sich  bilden  sollen." 
Demnach  widerstand  er  auch  solchen  Bestrebungen,  die  gar  zu  viele  erzieherische 
Elternpflichten  auf  die  Gemeinde  übertragen  möchten. 

Manche  Enttäuschungen  blieben  auch  Bertram  nicht  erspart.  Die  Angriffe 
von  rechts  und  links,  auch  aus  den  Kreisen  der  Lehrerschaft,  stellten  seinen  natür- 
lichen Optimismus  oft  auf  eine  harte  Probe.  Man  lese  die  mitgeteilten  Briefe  nach, 
in  denen  Stellen  begegnen  wie:  ,,die  sogenannten  Ferien  sind  abgelaufen,  ohne  daß 
ich  zur  rechten  Sammlung  gekommen  bin  . .  .  ich  ringe  förmlich  mit  den  Akten  .  , . 


K.  Koppin,  Zur  Klausur  der  mündlichen  Reifeprüfung.  35 

und  finde,  daß  es  einem  Stadtschulrat  schwer  gemacht  wird  sich  durchzuschlagen''; 
„ich  habe  für  meine  Person  seit  langer  Zeit  aller  Hoffnung  auf  ferneres  glückliches 
Leben  entsagt,  ohne  undankbar  für  früheres  zu  sein,  und  empfinde  nun,  was  sich 
noch  bietet,  als  ein  unerwartetes  Geschenk.'*  Er  faßte  eben,  wie  sein  Biograph 
sagt,  das  Leben  nicht  so  auf,  als  dürfe  jeder  auf  Glück  rechnen,  sondern  als  sei 
es  die  Pflicht  eines  jeden,  im  Glück  und  Unglück  sich  zu  bewähren.  Die  Art,  wie 
er  die  Kraft  dazu  in  sich  ausgebildet  hat,  ist  das  größte  in  seiner  Persönlichkeit 
gewesen,  und  hat  ihn  auch  im  Leiden  nicht  verlassen,  obwohl  ihm  die  Resignation 
schwerer  fiel  als  die  Arbeit.  Ergreifend  ist  der  tiefe  Schmerz  bei  dem  Tode  seiner 
sechsjährigen  jüngsten  Tochter  Julie,  die  ihm  1877  entrissen  wurde.  „Wie  wir 
mit  allen  Fasern,  Gedanken  mit  dem  himmlischen  Kinde  verwachsen  waren  und 
sind,  wie  keiner  von  uns  je  daran  gedacht,  daß  dieses  Kind  uns  entrissen  werden 
könnte;  es  verschönte,  es  adelte  unser  Zusammensein,  ein  Blick  in  seine  Augen 
war  mir  für  den  ganzen  Tag  Trost  in  allem  Kummer!  .  .  .  Mein  Amt  kann  ich  ver- 
sehen, aber  wenn  mir  Julie  vor  die  Seele  tritt  —  und  wie  war  sie  der  Mutter  ähnlich." 
So  schrieb  er  an  die  geliebte  Schwester,  und  diese  Worte  lassen  uns  einen  tiefen 
Blick  werfen  in  das  weiche  Herz  dieses  so  starken,  gegen  Fremde  so  spröden  und 
schweigsamen  Mannes. 

So  schnell  auch  das  Rad  der  Zeit  rollt,  die  Gestalt  eines  Schulmannes  wie 
Bertram  wird  wenigstens  in  der  Berliner  Schulwelt  noch  in  eine  weitere  Zukunft 
hineinragen.  Das  Jonassche  Lebensbild  sei  den  Fachgenossen  deshalb  und  wegen 
seines  schönen  menschlichen  Gehalts  warm  empfohlen. 

Berlin.  Hermann  Gilow. 


Zur  Klausur  der  mündlichen  Reifeprfifting. 

Man  hat  die  Ersprießlichkeit  dieser  Klausur  neuerdings  in  Zweifel  gezogen, 
wie  ich  sehe,  auch  im  11.  Heft  des  Jhrgs.  1910  dieser  Monatschrift,  und  um  der 
mündlichen  Reifeprüfung  ihre  Schrecken  zu  nehmen,  alle  Primaner  als  Zuhörer 
heranzuziehen  gewünscht.  Es  gibt  nun  allerdings  auch  andere,  weniger  äußerliche 
Mittel  zu  diesem  löblichen  Zweck;  aber  sie  lassen  sich  wohl  nicht  überall  an- 
wenden oder  durchsetzen.  So  sei  denn  den  theoretischen  Erwägungen  über  die 
Sache  die  praktische  Erfahrung  zur  Verfügung  gestellt,  die  ich  während  eines 
Jahrzehnts  als  Mitglied  der  Reifeprüfungskommission  eines  Mecklenburgischen 
Gymnasiums,  dessen  Primanerleistungen  ich,  beiläufig  gesagt,  in  angenehmster 
Erinnerung  habe,  mit  der  dort  herkömmlichen  Zugänglichkeit  der  mündlichen 
Prüfung  machen  konnte.    Sie  fügte  sich  gut  ein  in  deren  äußeren  Rahmen. 

Die  Handlung  spielte  sich  ab  im  Klassenraum  der  ungeteilten  Prima.  Die 
altehrwürdigen  Subsellien,  deren  zweiten  Vorzug  einzig  noch  ihr  stark  amphithea- 
tralischer  Aufstieg  bildete,  schauten  gar  unvorsichtig  direkt  in  die  beiden  Front- 
fenster. Auf  der  vordersten  der  ziemlich  langen  Bankreihen  saßen  billiger- 
weise die  unerschrockenen  Opferlämmer.  Ihnen  gegenüber,  an  der  sog.  Spiegel- 
wand, thronte  der  Examinator  auf  einem  hochgebauten,  nach  allen  Seiten  ge- 
schlossenen Katheder,  das  sich  unschwer  in  ein  Fort  Chabrol  hätte  verwandeln 


36  K.  Koppin,  Zur  Klausur  der  mündlichen  Reifeprüfung. 

lassen.  Rechts  davon,  im  Viertelkreis,  die  Stühle  für  die  Lehrer  der  Kommission 
und  etwaige  Hospitanten,  links  in  gleicher  Anordnung  die  für  die  Scholarchats- 
mitglieder eines  Hochedlen  Rats  und  für  den  Großherzoglichen  Schulrat,  der  hier 
allerdings  nicht  als  leitender  Kommissar  waltete,  sondern  nur  als  eine  Art  Epi- 
scopus  in  partibus  die  Vorgänge  beobachtete,  und  auch  das  erst  seit  Einsetzung 
der  Reichsschulkommission:  die  alte  Hansastadt  erfreute  sich  ja  des  „Schul- 
priviiegs".  Eines  Tisches  für  die  Protokollführung  bedurfte  es  nicht:  einer  der 
Herren  Kollegen  in  besagter  Lünette,  mit  dem  sich  der  jeweilige  Examinator  ver- 
ständigt hatte,  führte  das  „Protokoll"  in  der  Art,  daß  er  die  richtigen  und  die  un- 
richtigen bzw.  ausgefallenen  Antworten  mit  Strich  oder  Null  auf  einem  Blättchen 
seines  Notizbüchel  markierte;  aber  begreiflicherweise  wurde  bei  der  Beratung 
nur  in  seltensten  Fällen  auf  diese  Mühwaltung  zurückgegriffen.  Auf  der  hin- 
tersten Bankreihe,  auch  wohl  zweien,  des  Amphitheaters  nahmen  die  zuhörenden 
„Herren"  Primaner  Platz.  Ich  darf  sie  schon  so  nennen,  denn  dank  der  mancherlei 
Freiheiten,  welcher  sie  sich  erfreuten,  wußten  sie,  bei  guter  wissenschaftlicher 
Zucht,  sich  dementsprechend  zu  benehmen,  auch  in  ihrer  Eigenschaft  als  Kri- 
minalstudenten, freiwilliger  natürlich.  Sie  haben  sich  nie  lästig  gemacht.  Ich  habe 
auch  nie  —  und  das  ist  allerdings  die  einzige  Erfahrung,  die  ich  aus  jenem  patriar- 
chalischen Milieu  heraus  zur  Sache  äußern  kann  —  irgendwelche  Einwirkung  ihrer 
Gegenwart  auf  irgendwen  oder  irgendwas  wahrgenommen,  auch  nicht,  daß  sie  sich 
etwa  Notizen  machten;  wäre  das  geschehen,  so  würde  ich  eine  recht  verständliche 
Mahnung  an  die  betreffenden  Examinatoren  darin  gesehen  haben.  Aber  daß  sie 
sich  stets  in  leidlicher  Anzahl  als  aufmerksame  Hörer  einfanden,  beweist,  daß 
sie  davon  irgendeinen  Nutzen,  sei  es  nun  der  Beruhigung  oder  der  Beratung,  sich 
versprachen,  vielleicht  auch  gewannen. 

Hiernach  könnte  ich  eine  solche  Öffnung  der  Klausur  wohl  befürworten,  aller- 
dings n  i  c  h  t  im  Sinne  einer  Verpflichtung  zur  Anwesenheit.  Die  würde  nur 
Abneigung  wirken  und  diese  wieder  immerhin  sich  unliebsam  bemerkbar  machen 
können.  Beneficia  non  obtruduntur.  Und  überhaupt,  lieber  eine  unschuldige  Freiheit 
mehr  als  einen  neuen  Zwang  für  die  jungen  Leute! 

Wiesbaden.  K.  K  o  p  p  i  n. 


IL    Bücherbesprechungen, 


Einzelbesprechungen : 

Neu,  Karl,   DerExaminator.   München  1912.   C.  H.  Becksche  Verlagsbuch- 
handlung.    VII  u.  43  S.    IM. 

Gerade  zur  rechten  Zeit  für  Preußen,  wo  mit  der  Jahreswende  das  Examinier- 
vierteljahr beginnt,  kommt  dieses  von  Klugheit  und  Liebenswürdigkeit  erfüllte 
Büchlein  zur  Welt.  ,,Der  Examinator''  ist's  betitelt,  im  Titel  liegt  aber  viel  Über- 
tragenes aus  der  Enge  und  Weite  des  ganzen  Schullebens. 

Es  werden  zunächst  die  Hauptmomente  gegeben,  die  zu  einem  korrekten  Prü- 
fungsverfahren gehören,  und  dazu  skizzenhaft,  aber  deutlich  die  charakteristischen 
Züge  des  Examinators.  Das  sind  nach  Neff  richtige  Maßstäbe,  Geduld  und  Mit- 
fühlen. Der  tüchtige  Examinator  muß  „als  Mensch  größer  sein  denn  als  Gelehrter" 
sagt  Neff;  ich  möchte  hinzufügen  ,,denn  als  Lehrer  und  als  Schulaufsichtsbeamter'' 
und  stimme  Neff  bei,  wenn  er  einem  solchen  Examinator  die  Vereinigung  des 
geistigen  Adels  mit  dem  des  Herzens  wünscht.  —  Zunächst  hat  Neff  das  Prüfungs- 
verfahren bei  der  Anstellungsprüfung  im  Auge  und  er  stellt  Grundsätze  auf,  die 
ungemein  viel  Beherzigenswertes  haben.  Dann  kommt  der  Lehrer  als  Examinator  der 
Schüler  an  die  Reihe,  der  Direktor  und  der  Ministerialkommissar  (in  Preußen  würden 
das  Provinzial-Schulräte  und  vortragende  Räte  des  Ministeriums  sein)  als  Examina- 
toren der  Lehrer,  und  der  Direktor  im  Examen  des  Lebens;  also  auch  als  Prüfling 
der  Schüler,  die  gleichsam  als  Examinatoren   der  Lehrer  mit  in  Aktion  treten. 

Neff  sagt  an  einer  Stelle,  daß  das  patriarchalische  Verhältnis  zwischen  dem 
Aufsichtsbeamten  und  seinem  Gymnasium  und  die  größere  Bewegungsfreiheit  der 
Rektoren  und  Lehrer  beneidenswerte  Vorzüge  des  bayerischen  Gymnasialwesens 
seien.  Verstehe  ich  ihn  und  sein  Buch  recht,  so  bewegt  sich  in  Bayern  sehr  viel  um  die 
im  Mittel-  und  Kernpunkt  stehende  Person  des  Rektors,  wie  ja  sein  Buch  mit  diesem 
sich  am  meisten  beschäftigt,  und  es  zieht  durch  das  Kapitel  V  so  etwas  wie  leise 
Wehmut,  daß  es  immer  so  bleiben  möge;  ich  schließe  mich  dieser  Wehmut  für 
Preußen  an.  Denn  beurteile  ich  die  Zeichen  der  Zeit  richtig,  so  erkennt  man  in 
Preußen  den  Wert  jener  Weisheit  nicht  immer  in  ihrer  ganzen  Tiefe  und  in  ihrem 
Umfange.    Das  Buch  von  Neff  kann  auch  in  dieser  Beziehung  viel    Gutes  stiften. 

Berlin.  A.  Matthias. 


38      Der  Säemann,  Zeitschrift  für  Jugendwohlfaiirt  usw.,   angez.   von  E.  Stutzer. 

Der  Säemann,  Zeitschrift  für  Jugendwohlfahrt,  Jugend- 
bildung undjugendkunde.  Berlin  und  Leipzig  1910.  B.  G.  Teubner. 
12  Monatshefte  von  je  4  Bogen,     gr.  8^     Vierteljährlich  2  M. 

Unter  dem  oben  angeführten  Titel  hat  die  Deutsche  Zentrale  für  Jugend- 
fürsorge und  die  Hamburger  Lehrervereinigung  für  die  Pflege  der  künstlerischen 
Bildung  ihre  Zeitschriften  zu  einer  Monatschrift  vereinigt,  mit  deren  Leitung 
Dr.  Fr.  Dünsing  (für  Jugendwohlfahrt),  C.  Götze  (für  Jugendbildung)  und  Dr. 
H.  Cordsen  (für  Jugendkunde)  betraut  worden  sind.  Die  Monatschrift  bietet 
allen  Bestrebungen  zum  Wohle  der  Jugend  einen  Vereinigungspunkt  und  ge- 
währt dem  einzelnen  wissenschaftlichen  oder  praktischen  Mitarbeiter  die  Mög- 
lichkeit, das  ganze  Feld  verwandter  Bestrebungen  im  In-  und  Auslande  zu  über- 
blicken. In  den  zur  Besprechung  vorliegenden  ersten  drei  Heften  finden  sich  Ab- 
handlungen z.  B.  über  die  Bedeutung  der  Gartenstadtbewegung,  Lesen  und  Erklären 
der  Schriftwerke,  die  Syphilis,  das  übernormale  Kind,  die  Nadelarbeit  usw.  Selbst- 
verständlich wird  auch  die  staatsbürgerliche  Erziehung  nicht  übergangen,  eine 
Forderung,  über  die  wohl  genug  der  Worte  gewechselt  sind;  auf  die  Taten  kommt 
es  jetzt  an!  Mit  wissenschaftlicher  Gründlichkeit,  aber  in  knapper,  jedem  Ge- 
bildeten völlig  verständlicher  Form  werden  die  verschiedensten  Fragen  erörtert, 
abwechselnd  vom  erzieherischen  oder  künstlerischen,  kirchlichen  oder  staatlichen, 
rechtlichen  oder  ärztlichen  Standpunkte.  Je  nach  diesem  Standpunkte  wird  das 
Urteil  über  die  vorgetragenen  Ansichten  verschieden  lauten.  Im  ersten  Hefte 
z.  B.  S.  44  stellt  Hedler  die  Forderung:  ,,Den  jüngeren  Schülern  Tatsachen,  den 
älteren  Urteile".  Ist  das  nicht  zu  einseitig?  Soll  man  auf  die  vielfachen  und  mit- 
unter recht  verständigen  Fragen  jüngerer  Schüler  nicht  eingehen?  Der  psy- 
chologisch betriebene  Unterricht  —  und  nur  ein  solcher  ist  doch  richtig  — 
berücksichtigt  sie,  kann  also  jene  Formel  nicht  als  richtig  anerkennen.  —  Die 
Psychologie  hat  in  den  letzten  Jahrzehnten  große  Fortschritte  gemacht,  weil  ein 
besonderer  Zweig  der  Anthropologie,  die  sogenannte  Jugendkunde,  das  heißt  die 
Kunde  von  der  Entwicklung  des  jugendlichen  Lebens,  ausgebildet  worden  ist. 
Die  Fortschritte  dieser  neuen  Wissenschaft  werden  in  außerdeutschen  Ländern 
schon  längst  von  allen  für  die  Jugendwohlfahrt  tätigen  Kreisen  aufmerksam  ver- 
folgt und  verdienen  es,  auch  bei  uns  immer  mehr  gewürdigt  zu  werden,  damit 
es  immer  seltener  vorkommt,  daß  Lehrer  in  ihrer  pädagogischen  Wirksamkeit 
zu  wünschen  übrig  lassen. 

Kurze  Mitteilungen,  Literaturberichte,  „Stimmen  des  Tages",  Rückblicke 
und  Ausblicke  finden  sich  am  Schlüsse  jedes  Heftes  und  die  verschiedensten  Schrift- 
steller kommen  dabei  zu  Wort,  Bebel  so  gut  („Aus  meinem  Leben")  wie  Erich 
Marcks  (Bismarck,  I,  Die  humanistischen  Elemente  in  seiner  Bildung).  —  Der 
sehr  gut,  auch  mit  Bildschmuck,  ausgestatteten  und  dabei  außerordentlich  wohl- 
feilen Monatschrift  ist  weite  Verbreitung  zu  wünschen.*) 

Görlitz.  E.  Stutzer. 


*^ 


»)  Mit    dem    1.  Januar  1912    hört   die  Vereinigung  des  Säemann  mit  der  Zeit- 
schrift für  Jugendwohlfahrt  wieder  auf.  Mtth. 


F.  Paulsen,  Pädagogik,  angez.  von  G.  Leuchtenberger.  39 

Paulsen,  Friedrich,  Pädagogik.  2.  und  3.  Auflage.  Stuttgart  und  Berlin  1911. 
J.  G.  Cottasche  Buchhandlung  Nachfolger.     IV  u.  430  S.    8".    6,50  M. 

Für  dieses  Buch  aus  dem  Nachlaß  des  verehrten  Friedrich  Paulsen,  des  vor- 
züglichen Gelehrten  und  edlen  Menschen,  gebührt  seiner  Witwe  und  dem  Heraus- 
geber Dr.  Willy  Kabitz,  Privatdozenten  an  der  Universität  Breslau,  wärmster 
Dank,  der  ersteren,  daß  sie  den  Auftrag  zur  Herausgabe  erteilt,  dem  letzteren, 
daß  er  sich  der  bei  dem  Befund  des  betr.  Nachlasses  nicht  leichten  Aufgabe  der 
Bearbeitung  unterzogen  hat.  Druckfertig  oder  fast  druckfertig,  unmittelbar  aus 
Paulsens  Feder,  lag  bei  seinem  auch  für  dieses  Werk  zu  frühen  Abscheiden  nur 
etwa  die  kleinere  Hälfte  des  jetzigen  Buches  vor,  nämlich  die  „Einleitung",  das 
1.  Buch:  „Die  Bildung  des  Willens",  außer  Kapitel  13:  „Die  Heimats-  und  Vater- 
landsliebe und  die  Humanität",  und  von  Buch  2:  „Die  Unterrichtslehre"  nur 
das  1.  Kapitel:  ,,Die  Aufgabe  des  Unterrichts  überhaupt",  zusammen  etwa  165 
von  den  430  Seiten  des  Werkes. 

Für  die  Bearbeitung  des  übrigen  standen  dem  Herausgeber  folgende  Mittel 
zur  Verfügung:  1.  Der  „Grundriß  zu  Vorlesungen  über  Pädagogik",  den  Paulsen 
in  den  letzten  Jahren  regelmäßig  seinen  Hörern  in  die  Hand  gab;  2.  einige  Kolleg- 
nachschriften aus  den  letzten  Jahren;  3.  Paulsens  Vorlesungskonzept.  Letzteres 
war  die  Hauptquelle  des  Herausgebers,  sein  eigentlicher  Leitfaden;  die  beiden 
andern  dienten  ihm  nur  „zur  Kontrolle".  Dagegen  hatte  er  in  dem  Vorlesungs- 
konzept „einen  zwar  sehr  oft  nur  durch  einzelne  oder  mehrere  Stichworte  oder  ab- 
gekürzte Sätze  angedeuteten,  aber  doch  meist  im  Wortlaut  und  in  der  Anordnung 
reiflich  überlegten  Text  aus  erster  Hand  vor  sich,  den  es  zu  rekonstruieren  galt". 

So  darf  man  wohl  sicher  sein,  daß  auch  d  i  e  Teile  des  Buches,  die  durch  solche 
„Rekonstruktion"  —  ich  will  das  Wort  beibehalten,  obwohl  es  die  Sache  nicht  ganz 
trifft  —  entstanden  sind,  in  den  Gedanken  und  im  Gedankenzusammenhang, 
teilweise  auch  im  Stil  Paulsens  Geist  und  Art  in  sich  und  an  sich 'tragen.  Es  sind 
dies  aber  folgende  Abschnitte:  1.  Die  „Anthropologisch-physiologischen  Vor- 
bemerkungen"; 2.  Kapitel  13  in  Buch  1:  „Die  Heimats-  und  Vaterlandsliebe  und 
die  Humanität";  3.  Das  ganze  2.  Buch,  außer  dem  1.  Kapitel,  also  fast  die  ganze 
„Unterrichtslehre",  jedenfalls  die  ganze  ,, Spezielle  Didaktik"  und  dreiviertel  auch 
der  „Allgemeinen  Didaktik". 

Ich,  vielleicht  auch  mancher  andere  von  Paulsens  Verehrern,  hätte  es 
gern  gesehen,  wenn  das  „Vorlesungskonzept"  zu  diesen  Teilen  selbst  irgendwo  in 
dem  Buche  mit  zum  Abdruck  gebracht  worden  wäre,  einmal  weil  es  doch  von 
Paulsen  selbst  stammt,  und  sodann  weil  sich  die  „Rekonstruktion"  so  hätte  am 
besten  bewerten  lassen. 

Indessen  es  ist  auch  so  ein  gutes  und  schönes  Buch,  die  „Pädagogik  von 
Friedrich  Paulsen",  und  dem  Bearbeiter  und  Herausgeber  gebührt  ungeschmälerter 
Dank  dafür,  daß  er  uns  einen  nach  Stil  und  Geist  doch  ,, echten  Paulsen"  gegeben 
hat.  Er  hat  auch  recht  daran  getan  —  das  soll  zu  seiner  Ehre  gesagt  sein  — ,  sich 
selbst  auf  dem  Titelblatt  des  Buches  neben  Paulsen  gar  nicht  zu  nennen.  Dr.  Kabitz 
hofft,  ,,den  Freunden  und  Schülern  des  unvergeßlichen  Mannes"  mit  dem  Buche 
eine  liebe  Gabe  zu  bieten;  er  hegt  auch  ,,den  Wunsch  und  die  Überzeugung,  daß 
das  mancherlei  treffliche  Gut  an  Erziehungsweisheit,  das  Paulsen  hier  niedergelegt 


40  F.  Paulsen,  Pädagogik, 

hat,  auch  weiteren  Generationen  angehender  Erzieher  und  Lehrer,  namentlich 
den  Oberlehrern,  nützen  möge  und  werde".  Dessen  darf  der  Herausgeber  ganz 
sicher  sein.  Aber  es  ist  so  vieles  in  dem  Buche,  was  sein  Bekanntwerden  auch  in 
noch  weiteren  Kreisen  sehr  wünschenswert  macht,  was  ernst  der  Aufgabe  der 
Kindererziehung  zugewandten  Eltern  gute  Weisungen  und  Fingerzeige,  und  zwar 
immer  unter  schlichter,  aber  gründlicher  und  überzeugender  psychologischer 
Begründung,  zu  bieten  in  hohem  Maße  geeignet  ist.  Darum  wünschen  wir,  das 
Buch  möchte  nicht  bloß  in  Lehrerkreisen,  sondern  auch  in  den  Kreisen  gebildeter 
Eltern  Eingang  finden. 

In  der  Anlage  des  Buches  ist  manches  neu,  d.  h.  abweichend  von  sonstigen 
pädagogischen  Systemen.  Vor  allem  kennzeichnet  den  Paulsenschen  Standpunkt  die 
Voranstellung  der  Willensbildung.  Diese,  nicht  die  Verstandesbildung  ist 
ihm  ,,das  große  Hauptstück"  der  Erziehung,  Darum  behandelt  sein  Buch  auch  in 
dem  ersten  Hauptteil,  der  noch  fast  ganz  von  ihm  selbst  ausgearbeitet  ist,  die  Be- 
deutung und  Aufgabe  der  Willensbildung,  die  Mittel  dazu  und  die  Tüchtigkeiten  oder 
Tugenden,  die  dem  Willen  zu  eigen  gemacht  werden  sollen.  Es  ist  eine 
Ethik  mit  besonderer  Beziehung  aufdie  Jugend. 
Auch  im  einzelnen  bietet  seine  ,, Pädagogik"  manches  Neue.  Hauptsache  ist  aber 
doch:  Was  es  an  Ergebnissen  bringt,  ist  so  durch  und  durch  vernünftig,  trifft 
bei  Prüfung  einander  entgegenstehender  Ansichten  so  glücklich  den  klaren  Weg 
und  das  feste  Ziel,  wird  überall  durch  eine  so  sichere,  folgerichtige,  fest 
begründete  und  klare  Methode  der  Untersuchung  und  Entwicklung  ge- 
funden, bekundet  ausnahmslos  so  viel  tiefe  psychologische  Erfahrung, 
so  viel  schlichte  Wahrheitsliebe,  so  viel  eigne  menschliche  Güte  und  eine  so 
warme  Liebe  zur  Jugend,  so  viel  Sorge  um  ihr  Wohl  und  Heil  und  um  das  der  Eltern 
und  des  Vaterlandes,  daß  die  Lektüre  des  Buches  auch  dem  kundigen  und  alterfahre- 
nen Pädagogen  eine  wahre  Freude  ist  und  das  Studium  des  Buches  angehenden 
Erziehern,  Lehrern  zumal,  aber  auch  jungen  Eltern,  fortdauernd  ein  Quell  des 
Segens  für  ihre  Aufgaben  an  dem  jungen  Geschlecht  sein  und  bleiben  wird. 

Ob,  wie  in  so  manchem  Werke,  einzelne  Abschnitte  besonders  empfehlenswert 
sind?  Etwa  aus  der  ,, Einleitung"  und  den  „Anthropologisch-psychologischen  Vor- 
bemerkungen" die  Urteile  über  Ansichten  von  Nietzsche  und  von  Schopenhauer, 
oder  die  empiristische  und  nativistische  Auffassung  von  der  Bildsamkeit  des 
Kindes  oder  der  Abschnitt  von  der  Theorie  und  der  Praxis  in  Unterricht 
und  Erziehung  oder  die  Stelle  von  der  Animalität  und  Rationalität  in  der 
Kindheit  oder  die  Erörterung  über  die  männliche  und  weibliche  Anlage  und 
über  die  Frauenfrage?  Oder  aus  dem  2.  Buche,  der  ,, Unterrichtslehre",  etwa  aus 
der  ,, Allgemeinen  Didaktik"  die  Abschnitte  über  positives  und  negatives  Wissen, 
über  allgemeine  Bildung,  über  echte  Bildung  und  Halbbildung,  über  das  Verhältnis 
der  intellektuellen  zur  sittlichen  Bildung,  über  Aufmerksamkeit  und  Überbürdung? 
Oder  aus  der  ,, Speziellen  Didaktik"  die  Erörterung  über  den  Religionsunterricht? 
Gewiß,  das  sind  aus  den  betreffenden  Teilen  besonders  interessante  Abschnitte, 
und  doch  empfehle  ich  solche  Eklektik  nicht,  weil  auch  diese  Abschnitte  erst  im 
Zusammenhang  mit  ihren  Ganzen  ihre  volle  Wirkung  tun.  Vom  1.  Buche  aber  — 
in  welchem  ja  das  1.  Kapitel  besonders  schön  und  S.  71  und  folgende  zusammen 


angez.  von   G.  Leuchlcnberger.  41 

mit  S.  141  und  folgenden  besonders  interessant  sind  —  und  von  der  „Speziellen 
Didaktik"  im  2.  Buche  dürfen  Erzieher,  dort  Eltern  und  Lehrer,  hier  Lehrer,  über- 
haupt erstmalig  nichts  herausheben  und  bevorzugen.  Erstmalig;  nach  Beendigung 
der  Lektüre  des  Ganzen  mag  jeder  zur  wiederholten  Lektüre,  zum  gründlichen  Er- 
wägen, zu  eigenster  Beherzigung  eine  Auswahl  von  Abschnitten  oder  Stellen  treffen. 

Soll  ich  meiner  Anzeige  des  trefflichen  Buches  überhaupt  noch  etwas  hinzu- 
fügen? Nun,  was  es  auch  sein  mag,  es  soll  und  wird  seinen  Wert  nicht  schmälern,. 
Zunächst  die  Frage:  Sollte  Paulsen  in  seinen  Vorlesungen  die  Studenten  nicht  auf 
wertvolle  Werke  ähnlicher  Art  hingewiesen  haben?  In  der  vorliegenden  Pädagogik 
vermissen  wir  das.  Sodann  einiges,  worin  wir  Bedenken  haben  oder  anderer  Ansicht 
sind.  So  können  wir  im  allgemeinen  den  Knaben  im  Alter  von  14 — 16  Jahren 
,,eine  gewisse  ruhige  Verständigkeit  (S.  44)"  nicht  zuschreiben,  und  wenn  am 
Abschluß  der  Besprechung  des  Jünglingsalters  (S.  49)  Goethes  Wort  aus  der  ,,  See- 
fahrt" zitiert  wird  „Doch  er  stehet  männlich  an  dem  Steuer  usw.",  so  ist  zn  be- 
denken, daß  Goethe  damals  schon  27  Jahre  alt  war.  —  Daß  Frauen  wenigstens  in 
der  Regel  früher  pensionsbedürftig  werden  als  Männer,  war  S.  56  oben  zu  betonen. 
—  Auf  S.  86  hätten  wir  den  Begriff  der  ,, Strafarbeit"  —  die  ja  heute  bekanntlich 
mit  Recht  verboten  ist  —  gern  genauer  bestimmt  gesehen.  —  S.  88  u.  91  wird 
von  der  Prügelstrafe  gesprochen.  Zuletzt  fragt  man  sich  aber  doch:  Will  sie  P. 
auf  den  Klassen  VI — III  beibehalten  wassen?  —  S.  90  weiß  ich  nicht,  was  spara 
heißt;  sollte  vielleicht  para  stehn?  -  S.  129  „so  läßt  sich  weiter  nichts  machen" 
(vgl.  auch  S.  135  oben);  ich  glaube,  es  läßt  sich  doch  noch  etwas  machen,  und  das 
muß  noch  gemacht  werden  im  Interesse  der  Disziplin  (siehe  z.  B.  meiuen  ,,Schui- 
direktor"  S.  57  u.  58). 

Nicht  zustimmen  können  wir  der  Behauptung  S.  214:  ,,die  bisherige  Schularbeit 
machte  sich  die  Anhäufung  von  Memorierstoff  im  Gedächtnis  so  gut  wie  ausschließ- 
lich zur  Aufgabe."  Ebenso  auf  S.  259  der  Schilderung,  wie  verkehrt  sich  die  Schule 
verhalte  bei  den  Memorieraufgaben  für  ihre  Schüler.  —  S.  304  spricht  das  Buch 
von  ,, unendlich  vielen  Fehlern  in  den  lateinischen  Extemporalien  der  Sexta".  Das 
zeigt  keine  rechte  Kenntnis  des  h  e  u  t  i  g  e  n  Gymnasiums.  Auch  bei  der  Schilde- 
rung des  Extemporale-Schreibens  (S.  285)  schweben  längst  vergangene  Zeiten 
vor.  —  Im  Griechischen  werden  doch  oft  nicht  bloß  ,,ein  paar  kleine  Dialoge  von 
Plato"  gelesen  (S.  287),  sondern  auch  die  eine  und  andere  von  den  S.  289  empfoh- 
lenen bedeutenderen  Schriften,  namentlich  Protagoras,  Gorgias,  Phaedon  (ganz), 
Symposion. — Wo  die  Rede  ist  vom  Französischen  (S.  291  u.  folgenden)  hätten  wir 
gern  gesehen,  wenn  Paulsen  eingetreten  wäre  für  eine  Verminderung  des  Syntakti- 
schen und  Stilistischen  auf  dem  Gymnasium,  wo  ja  der  Betrieb  des  Lateinischen 
und  Griechischen  genügend  für  grammatische  Schulung  sorgt,  dagegen  für  eine 
reichlichere  Lektüre".  —  Von  Lessings  Prosa  liest  doch  wohl  ausnahmslos  jedes 
Gymnasium  mehr,  erheblich  mehr  als  nur  den  Laokoon  (S.  317).  Und  was  Schillers 
„Aufsätze"  betrifft,  so  sind  „schwierig"  doch  nur  die  philosophischen,  obwohl  ein 
geschickter  Lehrer,  der  den  Schülern  durch  Beispiele  zu  Hilfe  kommt,  auch  diese 
Lektüre  lichtvoll  gestalten  kann.  —  Herrschte  wirklich  noch  in  den  ,, fünfziger 
und  sechziger  Jahren  vielfach  Geringschätzung,  ja  Verachtung  der  Philosophie"? 
(S.  327).  Wir  trieben  in  den  fünfziger  Jahren  in  Prima  und  in  den  sechziger  Jahren 


42  F.  Pauisen,  Pädagogik,  ange;j.  von   G.  Leuchtenberger. 

auf  der  Universität  (Trendelenburg)  sehr  gern  Propädeutik  und  Philosophie.  — 
Auf  S.  326  finde  ich  bei  Besprechung  der  philosophischen  Propädeutik  eine  Lücke. 
Sonst  bietet  Pauisen  bei  jedem  Unterrichtsgegenstand  immer  zuerst  eine  „Orientie- 
rung über  die  geschichtliche  Entwicklung  desselben".  Hier  fehlt  diese  Orientierung. 
Es  heißt  in  dieser  Beziehung  nur:  ,,Bei  der  neuen  Organisation  der  Oelehrten- 
schule  1812  fiel  der  philosophische  Unterricht  ganz  aus.  Seitdem  ist  er  nicht  wieder 
zu  voller  Kraft  gelangt."  Also  übergangen  wird  nicht  nur  die  C.-Verf.  vom  26.  Mai 
1825  (Min.  v.  Altenstein),  sondern  auch  die  1837  erschienenen  Lehrpläne,  durch 
welche  diese  Disziplin  in  die  Reihe  der  obligatorischen  Lehrgegenstände  aufgenommen 
wurde.  Zwanzig  Jahre  später  allerdings  wurde  in  den  „Modifikationen  des  Nor- 
malplanes" die  Propädeutik  nicht  mehr  „als  ein  besonderes  Unterrichtsfach  an- 
gesetzt", aber  wohl  sollte  ihr  Stoff  vom  Deutschlehrer  (oder  vom  Lehrer  der  Mathe- 
matik und  Physik)  mit  behandelt  werden,  wofür  dem  deutschen  Unterricht  1  Stunde 
wöchentlich  mehr  bewilligt  wurde.  Weitere  Etappen  bezeichnen  dann  die  C.-Verf. 
von  1862,  die  Lehrpläne  von  1882,  die  von  1891  und  die  von  1901,  von  denen  nur 
die  von  1891  die  rechte  Wertschätzung  der  Sache  vermissen  ließen,  die  übrigen 
dagegen  ihren  hohen  intellektuellen  und  ethischen  Wert  energisch  betonten.  — Wo 
von  der  Anfertigung  von  Versen  die  Rede  ist  (S.  405),  oder  auch  wo  von  den  schrift- 
lichen Übungen  im  Deutschen  gehandelt  wird,  hätte  man  gern  ein  Urteil  darüber 
gehört,  daß  das  „Versemachen"  (Dichten  solLs  nicht  genannt  werden)  zur  Mobil- 
machung des  Ausdrucks,  des  im  Innern  des  Menschen  doch  vorhandenen,  aber 
schlummernden  Sprachschatzes,  sehr  nützlich  ist,  weil  man  im  Verse  nicht  jeden, 
nicht  den  ersten  besten  Ausdruck,  Phrase  usw.  brauchen  kann  und  so  in  seinem 
Ausdrucks-  und  Sprachvorrat  nach  anderen  sich  umzusehn  genötigt  wird.  — 
Schließlich  mögen  noch  einige  Äußerlichkeiten  Erwähnung  und  bei 
einer  Neuausgabe  Beachtung  finden.  Durch  nicht  ganz  zutreffende 
Interpunktion  wird  der  Sinn  erschwert  oder  gestört  S.  15,  Z.  3  v.  o. 
vor  „wie";  ferner  S.  72,  Z.  6  v.  u.  hinter  „Patriotismus";  S.  74,  Z.  8  v.  o.  hinter 
„großen";  S.  94,  Z.  11  v.  o.  vor  „innerlicheren";  S.  264,  Z.  15  v.  o.;  S.  407,  Z.  15 
V.  0.  hinter  „Pflege."  Oder  sollte  fortgefahren  werden:  , »dagegen  macht  usw"?  — 
S.  61  findet  sich  zweimal  „zusammen",  S.  134  desgl.  „für  dich",  S.  234  desgl.  „auch 
hier",  S.69,  Z.  5  v.  u.  fehlt  hinter  „sagt"  doch  wohl  ein  :?  —  S.75  „irrlichtelieren", 
nicht:  „irrlichterieren"?  S.  87  und  S.  380  „Überlebsel",  nicht  „Überbleibsel"?  — 
S.  105,  Z.  12  V.  u.  doch  wohl  „fände",  nicht  „finde"?  --  S.  118  nicht  „Verzärte- 
lung" statt  „Verzärtlichung"?  —  S.  141,  Z.  5  v.  u.  nicht  „deren"  Väter?  —  S.  154, 
Z.  1  V.  0.  Stellung  des  „zuerst"?  —  S.  197,  Z.  10  v.  o.  entweder  „zurück"  oder 
„in  den  Hintergrund",  nicht  beides;  jenes  würde  ich  vorziehen.  —  S.  153  „Philan- 
tropinisten"  st.  th.,  ebenso  S.  338  „Philantropinum;  dagegen  richtig  S.  418.  —  S.  230, 
394,  396  muß  Pythagoreisch  (nicht  maisch)  geschrieben  werden.  S.  379  fehlt  2 
vor  „Stunden"  (Z.  15  v.  u.).  —  S.  412,  Z.  8  v.  o.:  ,,wenns"?  oder  ,,wanns"?  —  Sti- 
listisch uneben:  S.  224  oben;  S.  232,  Z.  12  v.  o.  „sich  ausreden"  statt  „sich  aus- 
sprechen" oder  bloß  ,, ausreden".  —  Manches  Fremdwort  hätte  gespart,  weil  gut 
durch  ein  deutsches  ersetzt  werden  können.  Pauisen  selbst  spricht  über  das  Fremd- 
wort S.  320  und  folgenden  und  verlangt,  daß  ihrem  „ungehörigen"  Gebrauch 
gewehrt  werde.     Folgende  Fremdwörter  in  dem  Buche  hätten  z.  B.  vermieden 


W.  Wundt,  Einleitung  in  die  Philosophie,  angez.  von  R.  Jonas.  43 

werden  können :  S.  77  manifestieren,  S.  78  Sanktion,  S.  82  konstruieren  (hier  nicht 
term.  techn.),  S.  83  absurd,  S.  95  malträtieren,  S.  101  Applikation,  S.  102  Analyse 
der  Motive,  S.  1 10  stereotyp,  S.  125  Prosperieren,  S.  141  Prodigalität,  S.  147  hyper- 
trophisch, S.  155  exotische  Imitationsliteratur,  S.  166  sekundieren,  167  vagierend, 
171  antagonistisch,  172  etikettiert,  175  ostensibel,  192  Komplement  (hier  nicht 
term.  techn.),  329,  Z.  1 1  v.  o.  Dissidium,  345  laisieren,  360  divinieren,  390  das  Unter- 
richtsziel formulieren,  405,  Z.  4  v.  u.  assoziert  =  verbunden.  — 

Groß-Lichterfelde.  G.  Leuchtenberge  r. 

Wundt,  W.,  Einleitung  in  die  Philosophie.  Fünfte  Auflage.  Mit  einem 
Anhang  tabellarischer  Übersichten  zur  Geschichte  der  Philosophie  und  ihrer 
Hauptrichtungen.  Leipzig  1909.  Wilhelm  Engelmann.  XVIII u.471  S.  8».  10  M. 
Das  Buch  ist  zum  ersten  Male  im  Jahre  1901  erschienen;  in  einer  verhältnis- 
mäßig recht  kurzen  Zeit  ist  es  jetzt  bereits  in  5.  Auflage  herausgegeben  worden. 
Das  allein  spricht  schon  für  das  Werk  und  zeigt,  einen  wie  großen  Beifall  und 
eine  wie  weite  Verbreitung  es  gefunden  haben  muß.  Hervorgegangen  ist  es  aus 
Vorlesungen,  welche  der  bekannte  Leipziger  Philosoph  an  der  Universität  im  Laufe 
einer  Reihe  von  Jahren  gehalten  hat.  Diese  Vorlesungen  waren  für  Anfänger 
bestimmt,  denen  sie  eine  Einführung  in  das  weitverzweigte  und  vielseitige  Gebiet 
der  Philosophie  gewähren  sollten.  Aber  diese  Vorlesungen  sind  hier  nicht  genau 
so  wiedergegeben,  wie  sie  gehalten  wurden,  Abweichungen  in  der  Darstellung  sind 
dabei  ganz  natürlich  und  erklärlich.  Verf.  erklärt  selbst,  daß  er  in  seinen  Aus- 
führungen ausschließlich  den  Weg  der  geschichtlichen  Orientierung  gewählt  habe, 
während  die  in  den  letzten  Jahren  erschienenen  Bücher  von  Paulsen,  Külpe  und 
Jerusalem  entweder  die  eigenen  Überzeugungen  der  Verfasser  voranstellen  oder 
den  Gegenstand  kritisch  beleuchten. 

Wundt  behandelt  seinen  Stoff  in  drei  Hauptabschnitten:  I.  Die  Aufgabe  und  das 
System  der  Philosophie.  II.  Die  geschichtliche  Entwicklung  der  Philosophie. 
III.  Die  Hauptrichtungen  der  Philosophie.  —  Mannigfach  sind  von  den  ältesten 
Zeiten  an  die  Definitionen  des  Begriffs  der  Philosophie.  Nach  Beleuchtung  dieser 
gilt  es  sodann,  das  Verhältnis  der  Philosophie  zu  anderen  Gebieten  darzustellen. 
Dabei  ergibt  sich  der  Satz:  ,, Philosophie  ist  die  allgemeine  Wissenschaft,  wetehe 
die  durch  die  Einzelwissenschaften  vermittelten  Erkenntnisse  zu  einem  wider- 
spruchslosen System  zu  vereinigen  und  die  von  der  Wissenschaft  benutzten  all- 
gemeinen Methoden  und  Voraussetzungen  des  Erkennens  auf  ihre  Prinzipien  zu- 
rückzuführen hat."  Dann  wird  das  Verhältnis  der  Philosophie  zur  Religion  und 
zur  Güterlehre  'erörtert  und  die  Klassifikation  der  Wissenschaften  aufgestellt.  — 
Der  zweite  Hauptabschnitt  führt  den  Leser  durch  die  ganze  geschichtliche  Ent- 
wicklung der  Philosophie  von  den  ältesten  Zeiten  der  griechischen  Philosophie 
bis  auf  die  neuere  Zeit,  beginnend  mit  der  Naturphilosophie,  zur  Entstehung  des 
ethischen  Problems  zur  Platonischen  und  Aristotelischen  Philosophie,  zum  Helle- 
nismus und  zur  christlichen  Philosophie.  Dann  führt  uns  Verfasser  durch  die 
neuere  Philosophie,  durch  den  Kampf  der  Weltanschauungen  der  dogmatischen 
Systeme  (Spinoza,  Locke,  Leibniz,  die  Aufklärungsphilosophie  und  ihre  Gegner) 
bis  Kants  Kritizismus  und  zur  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts.  —  Nachdem 


44  W.  Wundt,  Einleitung  in  die  Philosophie,  angez.  von   R.  Jonas. 

der  Leser  so  einen  Einblick  in  die  geschichtliche  Entwicklung  der  philosophischen 
Anschauungen  von  den  ältesten  Zeiten  bis  auf  die  Gegenwart  erhalten  hat,  gibt 
der  dritte  Hauptabschnitt  eine  Übersicht  über  die  in  den  philosophischen  Schriften 
und  Systemen  zutage  tretenden  Grundanschauungen  und  Grundgedanken,  in  denen 
sich  drei  Hauptrichtungen  unterscheiden  lassen:  Die  erkenntnistheoretischen,  die 
metaphysischen  und  ethischen.  Die  erste  Klasse  gliedert  sich  in  den  Empirismus, 
Rationalismus  und  Kritizismus,  die  zweite  in  den  Materialismus,  Idealismus  und 
Realismus,  die  dritte  enthält  nach  einer  allgemeinen  Übersicht  der  ethischen 
Richtungen  und  ihrer  Entwicklung  eine  Darstellung  der  heteronomen  Moralsysteme, 
der  transzendenten  und  immanenten  Moralsysteme.  —  So  erlangt  der  Leser  in 
dem  vortrefflichen  Buche  nicht  nur  einen  Einblick  in  das  Wesen  und  den  Begriff 
der  Philosophie,  sondern  auch  eine  Übersicht  über  ihre  geschichtliche  Entwicklung 
und  lernt  auch  den  wichtigsten  Inhalt  der  philosophischen  Systeme  kennen  und 
ihre  Hauptstoffe.  Das  Werk  ist  demnach  eine  Vorhalle  für  das  Studium  der 
Philosophie,  eine  Einführung  in  die  wichtigsten  in  ihr  behandelten  Gedankenstoffe 
und  Gedankenreihen.  Der  für  philosophische  Fragen  interessierte  Leser  wird  sich 
mit  der  Lektüre  der  Wundtschen  Ausführungen  kaum  begnügen:  er  wird  durch 
das  Studium  desselben  zu  einer  genaueren  Beschäftigung  mit  dem  einen  oder 
anderen  Zweige  der  Philosophie  angeregt  werden,  und  er  findet  in  unserem  Buche 
eine  ziemlich  eingehende  Angabe  von  der  einschlägigen  Literatur,  die  ihm  die 
besten  Quellen  eröffnet.  So  gibt  Verfasser  auch  nach  dieser  Seite  hin  eine  sehr 
willkommene  Anregung. 

Und  nun  ein  Wort  über  die  Darstellung  des  Verfassers.  Sie  ist  durchweg 
leicht  verständlich  für  einen  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  nicht  ganz  uner- 
fahrenen Leser  —  und  einen  solchen  müssen  wir  doch  wohl  voraussetzen,  denn 
Interesse  und  ein  gewisses  Verständnis  gehen  doch  wohl  immer  nebeneinander  her. 
Verfasser  besitzt  die  Gabe,  auch  nicht  ganz  einfache  Gedanken  in  eine  für  den 
gebildeten  Leser  leicht  faßliche  Form  zu  kleiden.  Auch  der  innere  Zusammenhang 
der  einzelnen  Teile  des  Buches  wird  leicht  verständlich.  So  ist  denn  das  Werk 
jedem  zu  empfehlen,  der  Interesse  für  philosophische  Ideen  hat,  insbesondere  den 
Studierenden,  aber  nicht  allein  den  der  philosophischen  Fakultät  angehörenden, 
denn  mit  philosophischen  Problemen,  dächten  wir,  sollte  sich  eigentlich  doch  jeder 
Studierende  beschäftigen,  ist  doch  Philosophie  zweifellos  zu  einer  allgemeinen 
Geistesbildung  notwendig.  —  Die  tabellarischen  Übersichten  zur  Geschichte  der 
Philosophie  und  ihrer  Hauptrichtungen  sind  eine  sehr  dankenswerte  Zugabe.  Das 
Sach-  und  Namenregister  dienen  einer  leichteren  Orientierung  und  sind  für  die 
Benutzung  sehr  förderlich. 

Ganz  besonders  eignet  sich  das  Buch  auch  für  die  Bibliotheken  der  höheren 
Lehranstalten;  es  ist  auch  dem  akademisch  gebildeten  Lehrerstande  sehr  zu 
empfehlen,  namentlich  den  jüngeren  Mitgliedern  desselben. 

Zenz,  W.  und  Frank,  F.,  Logik  und  Unterricht.  Mit  Berücksichtigung 
der  Erkenntnistheorie  gemeinfaßlich  dargestellt.  Wien  1910.  A.  Pichlers 
Witwe  u.  Sohn.     8».     106  S.     1,70  M. 

Die  „formale''  Logik,  wie  man  wohl  die  Zusammenfassung  der  wichtigsten 


W.  Zenz  und  F.  Frank,   Logik  und  Unterricht,  angez.  von  R.  Jonas.  45 

Denkgesetze  ohne  Rücksicht  auf  den  Denkinhalt  zu  nennen  pflegt,  kann,  so  meinen 
die  Verfasser  des  vorliegenden  Buches,  nicht  zu  befriedigenden  Ergebnissen  führen. 
Sie  wollen  vielmehr  den  Versuch  machen,  ,,die  Logik  mit  Berücksichtigung  der 
Erkenntnistheorie  darzustellen  und  zugleich  die  Beziehungen  zwischen  der  Logik 
und  Wissenschaft  überhaupt,  sowie  zum  Unterricht  insbesondere  nachzuweisen*'. 
Und  sie  hatten  schon  Vorgänger  auf  diesem  Wege;  da  lagen  schon  die  Werke 
Richard  Schuberts  von  Soldern,  Rudolf  Lehmanns,  Chr.  Sigwarts,  A.  v.  Leclairs 
und  H.  St.  Jevons  vor.  —  Hier  sollen  nun  Logik  und  Erkenntnistheorie  miteinander 
Hand  in  Hand  gehen,  die  Logik  soll  nicht  abgesehen  von  dem  Inhalt  des  Denkens, 
sondern  immer  unter  engerer  Bezugnahme  auf  denselben  dargestellt  werden.  Über- 
haupt kämpfen  sie  gegen  den  Begriff  des  Formalen,  so  auch  gegen  die  formale 
Grammatik,  die  ihnen  wie  ein  alter  Drache  erscheint,  von  dem  die  formale  Logik 
ein  Ableger  ist.  Jene  formale  Grammatik  habe  die  kostbare  Zeit  der  Bildung  fast 
allein  weggenommen  und  habe  Lehrer  und  Schüler  in  maß-  und  nutzloser  Weise 
gequält.  Ohne  auf  den  Inhalt  des  Denkens  Rücksicht  zu  nehmen,  könne  man  nie- 
mals zu  wahren  Ergebnissen  kommen.  Die  Logik  reiche  in  ihrem  Wesen  und  in 
ihrer  Wirkungsweise  weit  hinaus  über  bloßen  Kenntniserwerb,  über  ein  Spielen 
mit  Begriffen.  Die  Wahrheit  könne  nur  in  der  Tiefe  des  Inhalts  ruhen,  nicht  in 
der  Form.  In  diesem  Sinne  habe  die  Logik  eine  zentrale  Stellung  in  dem  gesamten 
Unterricht.  Hierbei  ist  das  Verhältnis  des  Begriffs  zum  Worte  von  Wichtigkeit, 
zum  sprachlichen  Ausdruck,  welcher  so  vielfach  mehrdeutig  ist,  was  die  Verfasser 
an  einer  ganzen  Anzahl  gut  gewählter  Beispiele  zeigen.  Recht  häufig  vollzieht  sich 
ein  Bedeutungswandel  in  den  Wörtern,  selbst  ohne  daß  die  Lautform  wesentlich 
geändert  wird.  Für  den  Bedeutungswandel  lassen  sich  gewisse  Gesichtspunkte 
und  Gesetze  aufstellen.  Damit  hängen  auch  die  bildlichen  Ausdrücke  vielfach 
zusammen.  In  den  Begriffen  läßt  sich  eine  Art  von  System  aufstellen.  Dann  be- 
leuchtet die  Schrift  die  Einteilung  und  die  Definition  der  Begriffe,  wobei  die  Divisio 
oder  Einteilung  und  die  Definition  in  Betracht  kommen.  Die  Betrachtung  der  Arten 
der  Urteile  ergibt  die  bekannten  Kategorien.  Auch  der  Schluß  wird  in  den  von  den 
Verfassern  zugrunde  gelegten  Ideen  erörtert,  ebenso  die  Denkgesetze,  dann  die 
Induktion  und  Deduktion,  der  Beweis  und  seine  Arten.  Dann  wird  die  Verwendung 
der  Schlüsse  in  der  Wissenschaft  und  im  Unterricht  dargelegt,  und  zwar  auf  den 
verschiedenen  Gebieten  desselben.  Zuletzt  zeigen  die  Verfasser,  wie  die  Sprache 
zu  einem  Werkzeug  wird,  wissenschaftliche  Erkenntnisse  zu  gewinnen  und  andern 
zu  übermitteln,  die  Sprache,  über  deren  Wandelbarkeit  und  Vieldeutigkeit  vorher 
die  Rede  war.  Es  solle,  damit  schließen  die  Verfasser  diesen  Abschnitt,  der  historisch- 
genetischen Entwicklung  der  sprachlich  fixierten  Begriffe  auch  beim  Unterricht 
größere  Aufmerksamkeit  geschenkt  werden. 

Wir  haben  in  dem  Buche  eine  Darstellung  der  Logik  vor  uns  von  einem  ganz 
besonderen  Gesichtspunkt  aus;  nicht  eine  kurze  Darlegung  der  Denkgesetze  in  der 
sonst  meist  üblichen  Form,  sondern  immer  mit  Bezugnahme  auf  den  Denkinhalt, 
auf  die  in  den  Worten  ausgedrückten  Begriffe  und  geistigen  Vorstellungen.  Und 
die  Anwendung  einer  solchen  logischen  Betrachtungsweise  auf  den  Unterricht  wird 
dann  dargelegt;  so  hat  man  denn  in  den  Betrachtungen  der  Verfasser  zugleich 
eine  pädagogische,  oder  sagen  wir  besser:   eine  didaktische  Anleitung.    Auch  die- 


46  F.  W.  Brepohl,  Friedrich  Nietzsche  usw.,  angez.  von  H.  Weicheit. 

jenigen,  welche  nicht  auf  dem  Standpunkte  der  Herausgeber  stehen,  werden  durch 
das  Studium  des  Werkes  ihre  Erfahrungen  auf  dem  pädagogischen  bzw.  didaktischen 
Gebiete  nicht  unwesentlich  bereichern.  Sie  werden  höchst  dankenswerte  An- 
regungen daraus  entnehmen.  In  diesem  Sinne  sei  es  der  Lehrerwelt,  namentlich 
den  jüngeren  Mitgliedern  derselben,  angelegentlichst  empfohlen.  Gute  Dienste 
wird  es  auch  in  den  pädagogischen  Seminarien  tun  können. 

Mit  einem  anderen  österreichischen  Pädagogen,  Eduard  Siegert,  zusammen 
haben  die  Verfasser  dieses  Buches  kürzlich  eine  Geschichte  der  Pädagogik  heraus- 
gegeben, welche  auch  hohe  Beachtung  verdient. 

Köslin.  R.  Jonas. 

Brepohl,    Friedrich    Wilhelm,     Friedrich     Nietzsche     oder     Jesus 
Christus?    Eine  kritische  Gegenüberstellung  und  zugleich  ein  offenes  Wort 
an  die  christlichen  Gesellschaften.    Zweite  Auflage.    Seegefeld  (Bez.  Potsdam). 
1910.     Verlag  „Das  Havelland''.    51  S.     1  M. 
Es  ist  ein  Fluch  revolutionärer  Geister,  daß  ihr  Auftreten  kleine  und  kleinste 
Geister  auf  den  Plan  lockt,  die  zujubelnd  oder  verdammend  sich  äußern  zu  müssen 
das  dringende  Bedürfnis  fühlen.     Das  zeigt  auch  die  Schrift  von  Brepohl.     Ich 
will  mit  dem  Verfasser  nicht  wegen  der  Menge  von  Druck-,  Rechtschreibungs- 
und grammatischen  Fehlern  rechten.    Aber  dagegen  muß  ich  protestieren,  daß  er, 
statt  eine  wenn  auch  noch  so  kurze  Darstellung  von  Nietzsches  Gedankenwelt 
zu  geben,    lediglich  einzelne  Stellen  aus  seinen  Schriften  herausgreift  und  ab- 
schlachtet.   Auf  diese  Art  wird  Nietzsche  wirklich  nicht  überwunden.    Auch  ist 
es  ein   Irrtum  des  Verfassers,  daß  der  Übermensch,  d.  h.  der  Übermensch,  wie 
Nietzsche  ihn  meint,  nicht  wie  ihn  der  verständnislose  Leser  sich  vorstellt,  seine 
Grundlage  in  dem  „selbstsüchtigen,  egoistischen"  Geiste  der  Zeit  habe.    Die  Ver- 
wechslung von  Übermensch  und  Herrenmensch  droht  nachgerade  chronisch  zu 
werden.    Gewiß  meint  es  der  Verfasser  herzlich  gut.    Aber  guter  Wille  allein  ist 
noch  kein  Befähigungsnachweis. 

Eckertz,  Erich,   Nietzsche  als  Künstler.    München  1910.    C.  H.  Beck- 
sehe  Verlagsbuchhandlung.     Oskar  Beck.    236  S.    8«.    geb.  3,50  M. 

Eckertz  hat  es  mit  Recht  als  eine  Lücke  der  Nietzscheliteratur  empfunden, 
daß  noch  kein  Werk  Nietzsches  Schaffen  eingehend  und  ausschließlich  unter  künst- 
lerischem Gesichtspunkt  würdigt.  Aber  ich  lasse  dahingestellt,  ob  Eckertz  diese 
Lücke  voll  ausfüllt.  Ohne  Zweifel  wirken  seine  Essays  mit  ihrer  Fülle  neuer  und 
wertvoller  Einzelbeobachtungen  anregend  und  wegweisend.  Aber  eine  abschließende 
Arbeit  bedeutet  das  Buch  nicht.  Denn  es  genügt  nicht,  einzelne  charakteristische 
Merkmale  der  Sprache  Nietzsches  herauszuarbeiten  —  das  hat  Eckertz  sehr  gut 
verstanden  — ,  sondern  die  Sprachkunst  Nietzsches  ist  bis  in  alle  Einzelheiten 
zu  analysieren:  einmal  in  die  Werkstatt  des  Künstlers  geführt,  wollen  wir  auch 
seine  Technik  gründlich  kennen  lernen.  Sodann  darf,  wer  über  Nietzsche  als  den 
Künstler  schreibt,  auch  die  Grenzen  seines  Könnens  nicht  übersehen.  So  mangelt 
Nietzsche  —  und  das  gilt  nicht  nur  von  dem  Aphoristiker  Nietzsche,  sondern  auch 
von  dem  Dichter  des  Zarathustra  —  das  architektonische  Vermögen,  das  große 


K.  Hartmann,  Humanistischer  Unterricht  usw.,  angez.  von  P.  Brandt.         47 

organische  Zusammenhänge  schafft.  Dieser  Mangel  wäre  durch  die  Tatsache  zu 
beleuchten  gewesen,  daß  Nietzsche  überhaupt  kein  Verhältnis  zu  den  bildenden 
Künsten  gewonnen  hat.  In  dieser  und  anderen  kritischen  Fragen  versagt  Eckertz. 
Trotz  dieser  Ausstellungen  stehe  ich  nicht  an  zu  bekennen,  daß  der  Nietzsche- 
forscher durch  Eckertz*  Buch  wesentliche  Förderung  empfängt.  Es  bezieht  sich 
diese  Anerkennung  besonders  auf  die  kulturgeographische  Betrachtung,  in  der 
der  Verfasser  überzeugend  darlegt,  wie  fest  der  Philosoph  von  Sils  Maria  und  Turin 
in  seiner  obersächsischen  Heimat  wurzelt,  auf  deren  Boden  von  jeher  eigenartige 
und  tiefe  Geister  erstanden.  Es  ist  in  der  Tat  überraschend,  was  Eckertz  hier 
an  Ursprüngen  und  Parallelen  entdeckt  hat. 

Zu  bedauern  ist,  daß  der  Verfasser  nicht  nur  auf  spezielle,  sondern  gelegent- 
lich auch  auf  allgemeine  Angaben  über  den  Standort  der  angeführten  Nietzsche- 
worte verzichtet  und  auch  nicht  durch  ein  Register  und  eine  übersichtliche  Glie- 
derung den  Gebrauch  seines  Buches  erleichtert. 

Marburg.  Hans  Weichelt. 

Harttnann,  Karl,  Humanistischer  Unterricht  und  bildende 
Kunst.  Halle  1909.  Buchhandlung  des  Waisenhauses.  84  S.  8«.  2  M. 
In  anmutig  bewegtem  Tempo  durchwandelt  der  feingestimmte  Verfasser  das 
ganze  Gebiet  der  humanistischen  Fächer,  worunter  er  die  literarische  Lektüre 
und  die  Geschichte  begreift,  um  überall  den  Blick  ins  Reich  der  Kunst  zu  lenken, 
soweit  sie  für  die  Zwecke  des  Gymnasiums  fruchtbar  gemacht  werden  kann,  bald 
anregend  und  neue  Beziehungen  entdeckend,  bald  erläuternd,  bald  wiederum 
warnend:  wohl  dem  Schüler,  der  einem  solchen  Wegweiser  und  Pfadfinder  folgen 
kann !  Aber  auch  der  kritische  Leser  wird  für  den  reichen  Inhalt  der  Schrift  mehr 
Zeichen  der  Zustimmung  als  Fragezeichen  haben,  und  wenn  auch  J)ei  der  Übertra- 
gung in  die  Praxis  sich  manches  vielleicht  als  für  den  Klassenunterricht  zu  zart 
und  zerbrechlich,  manches  als  zu  hoch  gegriffen  erweist  —  es  kommt  eben  auch 
auf  die  betreffende  Schülergeneration  an  — ,  so  wird  er  sich  doch  für  den  gehabten 
Genuß  dem  Verfasser  verpflichtet  fühlen.  Einer  der  am  Schluß  gemachten  Vor- 
schläge sei  ganz  besonders  zur  Nachachtung  empfohlen:  einen  Schaukasten  im 
Hauptgang  der  Anstalt  aufzuhängen,  dessen  Füllung  sich  nach  dem  Festkalender 
richtet,  wo  in  e  i  n  e  r  Reihe  mit  Advent,  Weihnachten,  Dreikönigen,  Ostern  und 
Pfingsten  auch  der  Humor  des  Nikolasfestes  nicht  fehlen  dürfe,  dazwischen  in 
den  festlosen  Wochen  etwa  Porträt,  Landschaft,  Märchen,  Jahreszeiten:  ein 
ansprechender  und  leicht  ausführbarer  Gedanke! 

Flaxmann,  John,  ZeichnungenzuSagendesklassischenAlter- 
tums.  Leipzig  1910.  Insel-Verlag.  CXLIII  Tafeln.  8«.  In  Leinen  5  M. 
Wer  von  uns  denkt  inmitten  der  Bilderfülle  der  heutigen  Reproduktions- 
technik nicht  mit  einer  gewissen  Wehmut  an  die  Zeit  zurück,  wo  auf  den  Knaben 
einige  wenige  in  Schwabs  klassisches  Sagenbuch  eingestreute  Flaxmannsche  Zeich- 
nungen einen  geheimnisvollen  Zauber  ausübten?  Und  wenn  auch,  was  August 
Wilhelm  Schlegel  seinerzeit  von  ihnen  rühmte,  daß  sie  uns  hilfreiche  Hand  böten, 
unsere  Phantasie  auf  den   Flügeln  der  alten  bildenden   Kunst  zum. 


48  W.  Tesdorpf,  Bilderatlas  usw.,  angez.   von  P.  Brandt. 

Verständnis  der  griechischen  Dichter  emporzuheben,  heute  nach  1 1 1  Jahren  nicht 
mehr  ganz  zutrifft:  das  Recht  der  Phantasie  ist  unverjährbar,  wenn  sie  nur,  wie 
bei  diesem  englischen  Vorläufer  von  Carstens  und  Thorwaldsen  fast  durch- 
weg (eine  Ausnahme  hat  Goethe  fein  angemerkt,  CXXI:  „die  Kinder  moderne 
Verkürzungen")  sich  selbst  und  dem  einmal  gewählten  stilistischen  Ausdruck 
treu  bleibt.  Daher  wird  nicht  bloß  der  Altertumsfreund  den  vornehm  ausgestatteten 
Band  gern  zur  Hand  nehmen,  in  dem  der  Insel-Verlag  sämtliche  auf  klassische  Sagen 
bezügliche  Zeichnungen  Flaxmanns  zum  ersten  Male  nach  den  ersten  Ausgaben 
in  unverfälschter  Form  vereinigt  hat;  die  Bilder  zu  Hesiod  und  Äschylos  werden 
die  meisten  hier  zum  ersten  Male  sehen  und  genießen. 

Tesdorpf,  Wilhelm,  Bilderatlas  zur  Einführung  in  die   Kunst- 
geschichte.    76  Tafeln  mit  324  Abbildungen  in  Schwarz-  und  Farben- 
druck.    Eßlingen  a.  N.   1909.     Paul  Neff  Verlag  (Max  Schreiber),     geb.  3  M. 
Der  von  dem  rühmlich  bekannten  Verlag  trefflich  ausgerüstete  Bilderatlas 
ist  zwar  in  erster  Linie  für  den  kunstgeschichtlichen  Unterricht  in  höheren  Mädchen- 
schulen gedacht,  doch  ist  die  Auswahl  keine  einseitige,  so  daß  er  auch  in  jeder 
höheren  Knabenschule  als  Unterrichtsmittel  wie  in  jeder  Familie  als  Hausbuch 
willkommen  sein  wird.     Die  Zusammenordnung  ist  fast  ausnahmslos  geschickt 
und  fordert  öfters  zu  fruchtbaren  Vergleichen  verwandter  Darstellungen  förmlich 
heraus,  so  auf  Tafel  36,  37  (dazu  Abb.  292  und  311),  41,  42  (Abb.  186  und  189); 
nur  der  Linsenesser  von  Caracci  (Abb.  222)  will  schlechterdings  nicht  in  diese 
ideale  Umgebung  passen.     Die  Abbildungen  sind  mit  wenigen  Ausnahmen  gut, 
zum  großen  Teil  sogar  vortrefflich.    Eine  dankenswerte  Neuerung  sind  die  farbigen 
Bilder,  von  denen  jeder  Epoche  eins  zugeteilt  ist. 

Philipp!,  A.,  Die  großen  Maler  in  Wort  und  Farbe.  Leipzig 
E.  A.Seemann.  96  u.  120  Textseiten  zu  120  farbigen  Bildern.  Lex.-S».  geb.  18  M. 
Das  Werk  stellt  das  Höchste  dar,  was  in  seiner  Art  zurzeit  geleistet  werden 
kann:  ein  Buch  zu  Genuß  und  Belehrung  mit  120  farbigen  Abbildungen, 
zu  jeder  auf  der  Seite  gegenüber  der  einleitende  und  erläuternde  Text,  davor  in 
einer  Reihe  abgeschlossener  Kapitel  eine  zusammenhängende  Einführung  in  die 
Hauptperioden  der  Malerei,  beides  aus  der  Feder  eines  unserer  beliebtesten  Kunst- 
schriftsteller, das  Ganze  auf  Kunstdruckpapier  in  geschmackvollem  Künstlerein- 
band zu  dem  verhältnismäßig  niedrigen  Preise  von  18  M.  Dieser  Leistung  gegen- 
über muß  die  Kritik  verstummen;  sie  kann  nur  anerkennen,  daß  der  bisher  von 
vielen  schmerzlich  empfundene  Notbehelf,  ohne  Farbe  von  Farbe  reden  zu  müssen, 
damit  ein  überwundener  Standpunkt  geworden,  daß  damit  jedem  einigermaßen 
Bemittelten  die  Welt  der  Farbe  in  einer  bis  dahin  unerhörten  Bequemlichkeit 
und  Handlichkeit  erschlossen  ist.  Und,  fügen  wir  hinzu,  in  einer  Frische,  einem 
Glanz  und  einer  Schönheit,  die  auch  mit  Farbenreproduktionen  größeren  Formats 
den  Vergleich  auszuhalten  vermag.  Etwas  variieren  bei  der  Technik  des  Dreifarben- 
druckes die  Töne  immerhin;  für  den  Gesamteindruck  ist  das  unwesentlich,  und 
das  Original  kann  auch  die  beste  Reproduktion  nicht  ersetzen  wollen.  Die  zu- 
sammenhängende Einführung  ist  nach  Ländern  geordnet,  sie  entwickelt  das  Werden 


A.  Feuerbach,  angez.  von   P.  Brandt.  49 

und  Wachsen  der  italienischen  Malerei  von  ihren  Anfängen  bis  zur  Höhe,  dann  das 
der  Niederländischen  bis  zum  Rubenstil  und  den  Holländern.  Spanisches  und 
Deutsches  sowie  ein  kurzer  Blick  auf  die  französische  Malerei  des  18.  Jahrhunderts 
schließt  sich  an;  es  liegt  an  dem  Zurücktreten  der  Farbe  in  der  deutschen  Malerei, 
daß  diese  etwas  stiefmütterlich  behandelt  wird.  Für  den  erläuternden  Text  ist 
die  zwanglose  Essayform  gewählt;  sie  unterhält  und  belehrt  ohne  Pedanterie, 
setzt  freilich  ebenso  wie  die  vorausgeschickte  Einführung  einen  in  der  Kunst  einiger- 
maßen bewanderten  Leser  voraus.  Wir  möchten  dem  farbenfreudigen  Werk  in 
jeder  Lehrerbibliothek  eine  Stätte  wünschen. 

Feuerbach,  Anselm,  10  Lieferungen  in  gr.  4*^  mit  je  8  Blatt  Abbildungen  in  Kunst- 
druckausstattung. Mit  einer  Einleitung  von  H.  U  h  d  e  -  Bernays.  München 
1911.  Franz  Hanfstaengl.  Preis  der  Lieferung  2,50  M. 
Man  muß  schon  bis  auf  den  großen  Michelangelo  zurückgehen,  um  einer 
Künstlerpersönlichkeit  von  so  ausgesprochen  tragischem  Gehalt  zu  begegnen 
wie  Anselm  Feuerbach.  Freilich  stammen  die  inneren  Hemmungen,  die  die  Tragödie 
Michelangelos  ausmachen,  aus  größerer  Tiefe,  die  äußeren  aus  einer  höheren  po- 
litisch-sozialen Umwelt,  wie  er  auch  beide  kraft  seines  unvergleichlichen  Genies 
siegreich  überwand.  Aber  Feuerbach  steht  bei  kleinerem  Talent  uns  zeitlich  um 
soviel  näher;  er  ist  der  Unseren  einer;  ihm  ward  außer  dem  Feingefühl  für  Linie 
und  Farbe  eine  starke  Mitgift  deutschen,  an  klassischer  Philosophie  und  Ästhetik 
genährten  Geistes,  die  ihn  zwar  vor  dem  Versinken  in  den  damals  herrschenden 
französischen  Kolorismus  bewahrte,  die  jedoch  mit  den  in  Italien  auf  ihn  einstür- 
menden Eindrücken  zu  einem  großen  persönlichen  Stil  schlackenlos  zu  verschmelzen 
seinem  hochgespannten  Idealismus  nur  in  einigen  großen  Würfen  gelang.  Das 
sind  die  Werke,  die  uns  beim  Namen  Feuerbach  zuerst  auf  den  Lippen  schweben, 
seine  Iphigenie,  seine  Medea,  seine  Pietä  und  jenes  letzte,  unvollendete,  uns  so 
venezianisch  anmutende,  „die  Musik*'  der  Berliner  Nationalgalerie.  Die  Palme, 
die  dem  unablässig  Ringenden  und  im  Kampf  mit  der  eigenen  Leidenschaft  und  dem 
widerstrebenden  Stoff  sich  Verzehrenden  die  Mitwelt  aus  Mißgunst,  oder,  was 
schlimmer  ist,  aus  Unverstand  vorenthielt,  sie  reicht  ihm  gerne  die  einsichtsvollere 
und  gerechtere  Nachwelt,  und  in  diesem  Sinne  begrüßen  wir  freudig  die  im  Er- 
scheinen begriffene  monumentale  Feuerbach-Ausgabe,  zu  der  Hermann  Uhde- 
Bernays  einführende  Worte  geschrieben  hat  und  zum  Schluß  eine  biographische 
Würdigung  zu  geben  verspricht.  Die  vornehm  ausgestatteten  Lieferungen  bringen 
außer  den  ausgeführten  Werken  auch  Handzeichnungen  und  Studien  in  Faksimile- 
druck; so  werden  sie  den  Aufbau  seines  Stils  verstehen  lehren  und  damit  einer 
gerechteren  Würdigung  des  für  seinen  Ruhm  zu  früh  Abgerufenen  in  weiteren 
Kreisen  die  Wege  ebnen. 

Weichefs  Kunstbücher,  Berlin  1910,  Wilhelm  Weicher,  bisher  etwa  30  Heftchen 
in  Taschen-S*^  mit  geschmackvollem  Pergamentpapier-Umschlag,  geben  zu  dem 
billigen  Preise  von  0,80  M.  je  60  Meisterbilder,  das  Handlichste  und  Bequemste, 
was  man  sich  denken  kann,  um  das  Oeuvre  aller  der  Sterne  erster  und  zweiter 
Größe,  darunter  so  seltener  wie  des  Schotten  Raeburn,  mit  einem  Blick  zu  über- 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  XI.  Jhrg.  4 


50  Das  Kabinett  für  kirchliche  Kunst  usw.,  angez.  von  Moldenhauer. 

sehen.  Die  Abbildungen  beruhen  durchweg  auf  photographischen  Aufnahmen 
erster  Firmen,  unter  denen  Franz  Hanfstaengl  in  München  der  Löwenanteil  zu- 
fällt, und  machen  vielfach  auch  entlegene  und  bisher  fast  verborgene  Kunstschätze 
zugänglich. 

Eine  Ergänzung  dazu  bietet  für  die  Plastik  ein  Unternehmen  desselben  Verlags: 
Meisterstücke  der  Bildhauerkunst.  Ausgewählt  von  Georg  Gronau, 
in  zwei  Heftchen  desselben  Verlags,  gleichfalls  zum  Preise  von  0,80  M.  Für  die 
Gediegenheit  der  Auswahl,  welche  alle  Länder  und  Schulen  unparteiisch  berück- 
sichtigt, bürgt  der  Name  des  Herausgebers.  Die  Abbildungen  sind  höchst  plastisch; 
einzelnes,  wie  Rodins  Menschen  des  ehernen  Zeitalters  oder  Tuaillons  Amazone, 
hat  Referent  überhaupt  noch  nicht  in  so  guter  Wiedergabe  gesehen. 

Düsseldorf.  Paul  Brandt. 

Das  Kabinett  für  kirchliche  Kunst  im  Kollegium  S.  J.  zu  Kalksburg  bei  Wien. 

Zweites  Dezennium    1901 — 1910  von   Ladislaus  Velics,   S.  J.Kustos. 

Wien  1909.    Aus  der  K.  K.  Hof-  und  Staatsdruckerei.     8^.    95  S. 

In  dem  Auszuge  aus  dem  Bericht,  den  ich  an  das  preußische  Kultusministerium 
über  eine  Studienreise  in  Österreich  im  Jahre  1901  erstattete,  in  dem  I.  Jahrgange 
der  Monatschrift  S.  220  ff.,  hatte  ich  auch  auf  das  Kabinett  für  kirch- 
liche Kunst  in  dem  Jesuitenstift  zu  Kalksburg  bei  Wien 
aufmerksam  gemacht.  Noch  heute  ist  dies  einzig  in  seiner  Art  und  des  Besuches 
und  genauen  Studiums  wert.  Seine  Entwicklung  ist  seitdem  eine  so  bedeutsame 
geworden,  daß  der  um  das  Kabinett  hochverdiente  Kustos  Ladislaus  Velics,  dem 
ich  noch  immer  für  die  so  hochinteressante  Leitung  durch  die  Sammlungen  äußerst 
dankbar  bin,  eine  neue  Darstellung  desselben  hat  erscheinen  lassen  müssen.  Das 
Kunstkabinett,  eine  neue  Initiative  auf  dem  Gebiete  der  Kunstdidaktik,  soll  nach 
dem  Vorwort  des  Kustos  keine  musealen  Zwecke  verfolgen,  sondern  es  sind  Lehr- 
sammlungen der  einzelnen  Kunstfächer  angelegt  worden,  die  in  jedem  Kunstzweige 
den  genetischen  Gang  der  Evolution  durch  die  Jahrhunderte  anschaulich,  hand- 
greiflich vorführen  und  es  ermöglichen,  in  das  tiefere  Verständnis  und  den  Geist  der 
besten  Kunsttätigkeit  vergangener  Zeiten  einzudringen.  Diese  großartigen  Samm- 
lungen nun,  die  allerdings  nicht  immer  Originalkunstobjekte  enthalten  können, 
wohl  aber  mit  einer  erschöpfenden  Fülle  von  typischen  wirklichen  Musterstücken 
versehen  sind,  die  in  genauer  Nachbildung  der  alten  Originale  von  den  besten 
Fachkünstlern  der  Jetztzeit  ausgeführt  worden  sind,  waren  zunächst  für  das  Studium 
der  Priester  und  Ordensmänner  bestimmt,  wurden  dann  aber  in  wohl  nachzu- 
ahmender Weise  auch  zur  Hebung  des  Gymnasialunterrichts  verwendet,  soweit 
sie  in  den  Rahmen  des  Lehrplanes  hineinpassen.  Auch  in  Deutschland  ist  man 
ja  in  dem  letzten  Jahrzehnt  dazu  übergegangen,  anstatt  der  kahlen,  trostlosen 
Wände  der  Klassenzimmer  und  der  Flure  der  höheren  wie  auch  der  Volksschulen, 
durch  geeignete  Malereien  oder  Anbringung  von  Bildern  und  plastischen  Werken 
das  Schönheitsgefühl  der  Schüler  zu  erwecken  und  zu  fördern,  ihnen  Freude  an 
die  Schulräume  ins  Herz  zu  pflanzen  und  so  wahrhaft  erzieherisch  zu  wirken, 
hier  aber  ist  ein  Weg  vorgezeichnet,  der  ganz  besonders  zum  Verständnis  für  echte 
Kunst  führen  muß.    Wenn  für  jede  Kunstbranche  der  Fortschritt  und  Gang  der 


Helmolds  Chronik  der  Slaven,  angez.  von  Erich  Schmidt.  51 

Kunst  durch  die  aufeinanderfolgenden  Zeitepochen  in  genau  ausgeführten  Muster- 
typen vorgeführt  werden  kann,  so  wirkt  das  ganz  anders  als  das  bloße  Vorzeigen 
und  Zugänglichmachen  von  Bildern  und  Büchern.  Die  Kunstsammlungen  werden 
aber  auch,  und  es  ist  das  nicht  minder  ein  wohl  zu  beachtender  Vorgang  für  Deutsch- 
land, durch  Wandervorträge  der  größeren  Öffentlichkeit  dargeboten.  Es  ist  wohl- 
begreiflich, daß,  wie  Kustos  Velics  erzählt,  nach  einem  Vortrage  über  die  Geschichte 
des  Meßkleides  und  den  Entwicklungsgang  der  Stickereien  mit  den  Bildern  und  den 
vorzüglichen  Stickereimustern  des  Kabinetts  ein  hervorragender  Kunstkenner 
sagen  konnte:  „Ein  ganzes  Jahr  Privatstudium  genügt  nicht,  um  sich  diese  Klar- 
heit und  Einsicht  auf  dem  Gebiete  der  Stickereikunst  zu  verschaffen!"  und  doch 
dauerte  der  Vortrag  nur  anderthalb  Stunden,  wo  aber  jedem  Zuhörenden  die  ein- 
zelnen Stickereien  nicht  in  projizierten  Bildern,  sondern  in  kunstgerechten  wirk- 
lichen Mustern  vorgezeigt  wurden.  Ein  Beispiel  aus  der  so  reichen  Sammlung 
möge  die  treffliche  Anordnung  der  Holztechnik  zeigen.  Es  entfallen  zwar  bei  dem 
nicht  schmelzbaren,  nicht  hämmerbaren  und  dehnbaren  Holze  alle  die  reichen 
Hilfsmittel  der  Formgebung  der  Metalle,  das  Gießen,  Schmieden,  Strecken,  Ziehen 
in  Draht,  das  Löten,  dennoch  bieten  die  Holztechniken  eine  erstaunliche  Fülle 
des  Schönen.  Und  so  führt  die  erste  Gruppe  der  Holztechniken  in  zahlreichen 
Mustern  vor,  wie  Meißel  oder  Stecheisen  und  Messer  arbeiten  in  der  Holzschnitzerei, 
deren  höchste  Ausbildung  die  Holzbildhauerei  ist  und  in  der  Holzschneidekunst, 
d.  h.  der  Formenstecherei  und  Xylographie.  Es  folgt  die  zweite  Gruppe  der  Holz- 
techniken, in  denen  Säge  und  Hobel  die  Herrschaft  führen;  dann  in  der  dritten 
die  Techniken  der  Drechslerarbeiten,  in  der  vierten  die  Muster  für  natürliche 
Holzfarben,  künstliche  Holzfärbungen  und  die  Techniken  der  Vergoldung.  So 
wie  die  Holztechniken  sind  behandelt  die  Bilderdruck-  und  Reproduktionstech- 
niken, die  Malarten,  die  unterstützt  werden  durch  Bilder-  und  Modellsammlungen, 
dann  die  Metalltechniken,  die  Techniken  der  Edelsteinbearbeitung  und  Edelstein- 
fassung, die  Emailletechniken,  Glas-  und  Porzellanmalereien,  Mosaiken  und  endlich 
die  Textiliensammlung.  Das  Verständnis  aller  dieser  reichen  Sammlungen  wird 
dann  noch  erhöht  durch  eine  Kunstbibliothek,  die  in  ihren  beiden  Abteilungen, 
der  kunstwissenschaftlichen  und  kulturgeschichtlichen,  etwas  über  1600  Werke 
mit  2500  Bänden  enthält.  —  Bietet  so  schon  diese  schriftliche  Führung  des  Kustos 
Velics  durch  das  Kunstkabinett  eine  überaus  anregende  Lektüre  und  eine  reiche 
Fundgrube  des  Wissens,  so  ist  selbstverständlich  ein  Besuch  desselben  ein  weit 
mehr  lohnender.  Er  wird  gern  gestattet,  wenn  um  vorausgehende  Verständigung 
gebeten  worden  ist. 

Köln.  Fr.  Moldenhauer. 

Helmolds  Chronik  der  Slaven.  3.  Auflage  von  B.  S  c  h  m  e  i  d  1  e  r.  (Geschichts- 
schreiber der  deutschen  Vorzeit.  2.  Gesamtausgabe.  Bd.  56.)  Leipzig  1910. 
Dyksche  Buchhandlung.    XIV  u.  271  S.    kl.  8«.    geh.  6  M. 

Mehr  und  mehr  bemüht  man  sich  heutzutage,  den  tausendjährigen  Kampf 
zwischen  Deutschen  und  Slaven  geschichtlich  zu  erfassen  und  aus  der  Betrachtung 
der  Vergangenheit  einen  festen  Standpunkt  für  die  Beurteilung  der  gegenwärtigen 

4* 


52  Helmolds  Chronik  der  Slaven,  angez,  von  Erich  Schmidt. 

Sachlage  zu  gewinnen.  Es  ist  deshalb  mit  Freude  zu  begrüßen,  wenn  in  der  von 
Pertz  begründeten  Reihe  der  „Geschichtsschreiber  der  deutschen  Vorzeit"  Helmolds 
Chronik  der  Slaven,  von  dem  Leipziger  Privatdozenten  Dr.  B.  Schmeidler  neu 
herausgegeben,  wieder  erscheint:  führt  doch  kein  anderer  Chronist  jener  Zeit 
mit  einer  solchen,  auf  unmittelbarer  Anschauung  beruhenden  Lebendigkeit  in  das 
Hin-  und  Herwogen  des  deutsch-slavischen  Nationalitätenkampfes  im  12.  Jahr- 
hundert ein.  Da  hören  wir  von  der  Begründung,  Zerstörung  und  Wiederaufrichtung 
der  Kirchen  und  Klöster  und  von  dem  Opfermut  der  christlichen  Glaubensboten, 
von  der  Kriegstüchtigkeit,  aber  auch  der  Härte  und  Habsucht  der  deutschen  Er- 
oberer, von  der  List  und  Treulosigkeit,  aber  auch  der  Vaterlandsliebe,  Gastlichkeit 
und  dem  Familiensinn  der  Wenden,  von  der  Besiedlung  des  neugewonnenen  Bodens 
mit  deutschen  Kolonisten  und  dem  Verschwinden  der  Slaven  unter  der  Flutwelle 
der  deutschen  Einwanderung.  Das  alles  führt  der  Chronist  in  lebendiger,  vielfach 
dramatisch  wirkender  Darstellung  vor,  die  —  um  es  gleich  vorauszuschicken  — 
in  der  vorliegenden  deutschen  Übersetzung  zur  vollen  Geltung  kommt. 

Es  ist  nicht  das  erste  Mal,  daß  Helmolds  Werk  in  deutschem  Gewände  vor  der 
Öffentlichkeit  erscheint.  Schon  1852  erschien  es  in  der  Sammlung  der  Geschicht- 
schreiber der  deutschen  Vorzeit,  übersetzt  von  J.  M.  C.  Laurent  und  mit  einem 
Vorworte  von  J.  M.  Lappenberg  versehen.  1888  stellte  sich  das  Bedürfnis  einer 
verbesserten  Neuauflage  heraus,  die  von  W.  Wattenbach  besorgt  wurde.  1910 
endlich  erschien  die  oben  erwähnte  dritte  Auflage  von  B.  Schmeidler,  wohl  dem 
Berufensten,  da  er  kurz  vorher  die  Chronik  in  ihrem  Urtext  (Hannover  und  Leipzig 
1909)  unter  den  Scriptores  rerum  Germanicarum  in  usum  scholarum  neu  heraus- 
gegeben hatte.  Die  Übersetzung  liest  sich  gut  und  erfüllt  ihren  Zweck  vollständig. 
Im  wesentlichen  scheint  Schmeidler  sich  an  seine  Vorgänger  Laurent  und  Watten- 
bach  angeschlossen  zu  haben,  die  er  an  den  Stellen,  die  fehlerhaft  übersetzt  waren 
oder  nicht  dem  modernen  Sprachgebrauch  entsprachen,  verbessert.  Hierbei  hätte 
Schmeidler  noch  gründlicher  vorgehen  können :  gleich  im  Anfange  des  Helmoldschen 
Vorworts  heißt  es  z.  B.  „durch  welcher  Könige  und  Prediger 
eifrige  Tätigkeit  die  christliche  Lehre  ...  in  diesen  Gegenden  begründet 
wurde",  eine  Stelle,  die  sich  zu  ihrem  Vorteil  leicht  hätte  aktivisch  umwandeln 
lassen  (S.  1);  auch  der  grammatische  Fehler  „von  den  Rauen,  ...  ein 
tapferes  Slavenvolk"  (S.  9)  wäre  besser  vermieden  worden.  Sinnstörend 
ist  der  schon  bei  Laurent  vorkommende  Übersetzungsfehler  von  „o  b  s  i  d  e  n  t  e  s" 
durch  „Belagerte"  (S.  113  oben);  der  Ausdruck  „Umtriebe  machen"  (S.  37) 
klingt  nicht  gut.  Die  —  auch  auf  Laurent  zurückgehende  —  Anmerkung  1  auf 
S.  208:  „Das  Balsemer  Land  lag  im  Kreise  Halberstadt,  wo  die  Stadt 
Stendal"  wäre  unverständlich,  wenn  nicht  aus  der  entsprechenden  Anmerkung 
des  lateinischen  Textes  (in  der  oben  angeführten  Ausgabe  S.  175  Anm.  1)  hervor- 
ginge, daß  nicht  der  heutige  Kreis,  sondern  der  alte  Bischofssprengel 
Halberstadt  gemeint  ist. 

Diese  kleinen  Ausstellungen  sollen  den  Wert  des  Ganzen  nicht  herabmindern; 
der  Auswahl  der  erklärenden  Anmerkungen  und  die  nicht  ganz  selbstverständliche 
Behandlung  der  vorkommenden  Eigennamen  kann  nur  gebilligt  werden.  Dem 
Buch  ist  die  weiteste  Verbreitung  zu  wünschen,  namentlich  bei  allen  jenen,  die  sich 


M.  Kemmerich,  Die  Deutschen  Kaiser  usw.,  angezeigt  von  P.  Brandt.         53 

auf  bequeme  Weise  einen  mehr  als  oberflächlichen  Einblick  in  eine  der  wichtigsten 
Epochen  unseres  nationalen  Kampfes  "^an  der  Ostgrenze  des  Reiches  verschaffen 
wollen. 

Bromberg.  ErichSchmidtf. 

Kemmerich,  Max,  Die  Deutschen   Kaiser  und  Könige  im  Bilde. 

Ein    Ergänzungsbuch    zum    deutschen    Geschichtsunterricht.       Leipzig    1910. 

Klinkardt  &  Biermann.  VII  u.  60  S.  gr.  4^.  geb.  2,50  M. 
Es  ist  bedauerlich,  daß,  wie  das  Vorwort  berichtet,  der  ursprüngliche  Plan, 
ein  Werk  großen  Stils  zu  schaffen,  welches  alles  einschlägige  ikonographische 
Material  umfaßte,  aus  finanziellen  Gründen  gescheitert  ist;  so  hat  die  Geschichts- 
forschung ein  monumentales  Werk  verloren,  der  Geschichtsunterricht  dagegen 
mit  dem  jetzt  vorliegenden  Torso  nicht  so  viel  gewonnen,  als  der  Verfasser  annimmt. 
Referent  ist  sicherlich  der  letzte,  der  nicht  jede  Belebung  des  Unterrichts  durch 
die  Anschauung  mit  Freuden  begrüßte,  aber  es  muß  auch  eine  wirkliche  Anschauung 
gewonnen  und  nicht  erst  eine  Tätigkeit  der  sichtenden  Kritik  und  der  aufbauenden 
Phantasie  vorausgesetzt  werden,  die  die  Veranlagung  manches  Geschichtslehrers 
und  erst  recht  die  unserer  meisten  Primaner  übersteigt.  Man  lese,  mit  was  für 
subtilen  Beschränkungen  im  Vorwort  die  Benutzung  der  einzelnen  ikonographischen 
Quellen,  der  Siegel,  Münzen,  Bullen,  Miniatur-  und  Wandmalereien,  der  Groß- 
und  Kleinplastik  umgeben  wird,  man  gehe  das  mit  eingehender  Kenntnis  der 
gleichzeitigen  historischen.  Literatur  gearbeitete,  sehr  gut  ausgestattete  Werk  selbst 
durch:  können  etwa  die  verhältnismäßig  besten  Kaiserporträts  des  Mittelalters, 
die  von  Karl  dem  Kahlen,  Heinrich  II,  Friedrich  Barbarossa,  eine  halbwegs  ge- 
nießbare Anschauung  von  der  Persönlichkeit  des  Dargestellten  vermitteln?  Kaum 
daß  ein  Schimmer  des  geistigen  Wesens  aufdämmert!  Besser  wird  es  mit  Rudolf 
von  Habsburg  und  Karl  IV.,  aber  völlig  atmet  man  erst  auf,  wenn  man  zu  Kaiser 
Sigismund  und  seinen  Nachfolgern  kommt,  wo  der  Stift  des  großen  Albrecht 
Dürer,  der  Pinsel  des  großen  Tizian  einsetzt:  jetzt  erst  war  die  Kunst  dieser  ihrer 
höchsten  Aufgabe,  der  Wiedergabe  der  geistigen  Persönlichkeit,  gewachsen.  Und 
gerade  hier  bricht  dem  Plane  gemäß  der  Faden  ab.  So  wenig  also  geleugnet  werden 
soll,  daß  das  Werk  in  der  Hand  eines  Lehrers  Nutzen  stiften  kann,  welcher  die 
spröden  und  vielfach  abstoßenden  Züge  der  Dargestellten  durch  seinen  Vortrag 
geistig  zu  beleben  weiß:  „den  Unterricht  der  deutschen  Geschichte  in  wesent- 
lich neue  Bahnen  zu  lenken",  wie  der  Verlag  hofft,  wird  es  schwerlich  vermögen. 
Düsseldorf.  P  a  u  1  B  r  a  n  d  t. 

Friedrich  der  Einzige.     Ein  Charakterbild  des  großen  Königs  in 

seinen  Worten.     Zusammengestellt  und  mit  erläuternden  Anmerkungen 

versehen  von  Prof.  Dr.  A.  K  a  n  n  e  n  g  i  e  ß  e  r.     Dresden  und   Leipzig  1912. 

C.  A.  Kochs  Verlagsbuchhandlung  (H.  Ehlers).    VII  u.  231  S.    Geb.  3  M. 

Am  24.  Januar  d.  J.  gedenken  wir  des  200  jährigen  Geburtstages  Friedrich 

des  Großen.    Der  Sieger  von  Roßbach  und  Leuthen  wird  es  vor  allem  sein,  dessen 

gerade  in  unseren  Tagen,  da  Kriegsstimmung  mehrfach  unser  Volk  durchzogen, 

mit  Stolz  und  mit  der  Zuversicht  gefeiert  wird,  daß  alter  Waffenruhm  das  preußische 


54  H.  Petrich,  Königin  Luise  usw.,  angez.  von  W.  Meiners. 

und  deutsche  Volk  wach  und  stark  zu  neuen  Waffengängen  hält.  Friedrich  des 
Einzigen,  des  Weisen  von  Sanscouci  wird  man  weniger  gedenken.  Und  es  tut  doch 
unserer  Zeit  so  not,  daß  die  freimütige  Gesinnung  eines  großen  Mannes  nicht  zu 
sehr  zurück  tritt  hinter  seinen  großen  Kriegstaten. 

Es  war  deshalb  ein  guter  Gedanke  von  Kannengießer  aus  Friedrichs  des  Großen 
Worten  und  hinterlassenen  Werken  eine  Auswahl  von  Äußerungen  zusammen- 
zustellen, welche  wegen  ihrer  Tiefe  und  Eigenartigkeit  und  ihrer  klassischen  Form 
dauerndenWert  haben  und  ein  getreues  Bild  von  dem  Charakter  des  großen  Königs 
geben.  Der  vollendete  Staatsmann,  der  große  Feldherr,  der  tiefsinnige  Philosoph 
und  seine  eigenartige  Energie  des  Ausdrucks  und  der  Adel  seiner  Gesinnung  tritt 
uns  aus  diesem  Buche  entgegen  und  dazu  alle  menschlichen  und  bürgerlichen 
Tugenden,  glühende  Vaterlandsliebe,  zarte  Eltern-  und  Geschwisterliebe,  selbst- 
lose Freundschaft,  unentwegte  Pflichttreue,  unerschrockener  Mut  und  felsenfeste 
Standhaftigkeit  —  also  so  recht  ein  Buch  für  die  begeisterungsfähige  Jugend.  Die 
Auswahl  ist  mit  Geschmack  getroffen;  geschmackvoll  ist  auch  die  Übersetzung 
der  meist  ja  in  französischer  Sprache  niedergeschriebenen  Stellen.  —  Passende  An- 
merkungen geben  in  knapper  Form  alles  zum  Verständnis  Erforderliche;  auch 
führen  sie  geschickt  ein  in  den  interessanten  Kreis  um  Friedrich  und  in  seinen 
freundschaftlichen  Verkehr. 

Beriin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 

Petrich,  H.,  Königin   Luise.     Ihr  Leben,   Wirken  und    Denken 
in    15  G  e  s  c  h  i  c  h  t  e  n.     Mit  3  Abbildungen.      Potsdam    1910.      Stiftungs- 
verlag.   32  S.    8«.    brosch.  0,10M. 
Wiese,  F.  G,,  Züge  undBilder  aus  dem  Leben  KönigFriedrich 
Wilhelms  III.  und  der  Königin  Luise  in  Paretz.    Mit  2  Ab- 
bildungen.    Potsdam  1910.    A.  Steins  Veriag.    62  S.    8».     1  M. 
Rehtwisch,  Th.,     Königin    Luise.     Mit  1  farbigen  Kunstbeilage,    12  Voll- 
bildern und  12  Textbildern.    Braunschweig  1910.    George  Westermann.  48  S. 
8».     geh.  0,30  M. 
Derselbe,     Die  Königin.     Ein  Buch    aus    Preußens    schwerer    Zeit.      Mit 
2  farbigen  Kunstbeilagen  und  13  Einschaltbildern.  Braunschweig  1910.   George 
Westermann.     175  S.     8».    geb.  3  M. 

Der  Tag  der  Erinnerung  an  die  königliche  Dulderin  hat  natüriich  eine  ganze 
Reihe  von  Luisenbüchern  und  -büchlein  entstehen  lassen.  Vor  uns  liegen  davon 
vier.  Petrich  erzählt  für  die  Kleinen  beideriei  Geschlechts  15  erbauliche  Ge- 
schichten aus  Luisens  Leben.  Wiese  beschreibt  in  gefälliger  Weise  Schloß  und 
Dorf  Paretz  und  de  ;en  nächste  Umgebung  mit  ihren  mannigfachen  „Erinnerungen" 
an  den  einstigen  „Gnädigen  Herrn"  und  die  „Gnädige  Frau"  und  illustriert  deren 
Wesen  und  Leben  durch  Mitteilung  zahlreicher  Züge  b^  i  er  in  Wort  und  Tat.  Das 
dritte  Buch  ist  nichts  als  ein  zum  Teil  wörtlicher  Auszug  aus  dem  inhalt- 
reicheren vierten  desselben  Verfassers,  betitelt  „Die  K  ö  n  i  g  i  n".  Dieses 
wird  sich  wohl  allein  von  den  genannten  —  No.  2  wegen  seines  lokalgeschicht- 
lichen Interesses  vielleicht  ausgenommen  —  erhalten  in  der  Zeiten  Flucht.  Der 
Grund  davon  liegt  diesmal  nicht  in  erster  Linie  in  der  von  mir  bei  anderer  Ge- 


G.  Weber,  Lehr-  und  Handbuch  usw.,  angez.  von  W.  Meiners.  55 

legenheit  (vgl.  diese  Monatschrift  IX,  472)  gekennzeichneten  Eigenart  von  Reht- 
wischs  geschichtlicher  Darstellung,  wenngleich  diese  auch  in  dem  vorliegenden 
Buche  zu  ihrem  Rechte  kommt  (vgl.  vor  allem  das  einleitende  Kapitel,  ferner 
S.  29— 30,  S.  80— 81,  S.  107,  S.  127,  S.  146  ff.);  er  liegt  darin,  daß  die  Quelle, 
die  Rehtwisch  im  ganzen  wie  im  einzelnen  hauptsächlich  ausschöpft,  fast  zu  stark 
ausschöpft  für  die  Selbständigkeit  seines  Buches,  keine  geringere  ist  als  Paul 
Bailleus  Meisterwerk,  das  übrigens  einmal  (S.  47)  auch  zitiert  wird.  Dessen  Be- 
nutzung bzw.  Popularisierung  macht  Rehtwischs  Buch  für  den  Tertianer  und 
Sekundaner,  für  den  die  Lektüre  von  Bailleus  Werk  selbst  noch  zu  schwierig  ist, 
zu  einer  wertvollen  Quelle  für  die  Kenntnis  von  Luise  und  ihrer  Zeit. 

Weber,  Georg,  Lehr-  und  Handbuch  der  Weltgeschichte. 
21.  Auflage.  Unter  Mitwirkung  von  Prof.  Dr.  Richard  Friedrich,  Prof.  Dr.  Ernst 
Lehmann,  Prof.  Franz  Moldenhauer  und  Prof.  Dr.  Ernst  Schw^tbe.  Vollständig 
neu  bearbeitet  von  Prof.  Dr.  A  1  f  r  e  d  B  a  1  d  a  m  u  s.  HL  Band:  Neuere 
Zeit.  Leipzig  1908.  Engelmann.  XXII  u.  808  S.  gr.  8^.  geh.  6  M.  IV.  Band: 
Neueste  Zeit.  Leipzig  1905.  Engelmann.  XX  u.  843  S.  gr.  8^.  geh.  6  M. 
Die  Hoffnung,  daß  der  dritte  Band  des  „Neuen  Weber"  schneller  auf  den 
vierten  folgen  werde,  ließ  in  mir  die  Absicht  entstehen,  die  beiden  Schluß- 
bände des  Gesamtwerkes  (vgl.  meine  Besprechungen  in  dieser  Monatschrift  II, 
219  ff.  und  III,  626  ff.)  gemeinsam  anzuzeigen.  Dadurch,  daß  sich  dessen  Voll- 
endung über  Erwarten  lang  hinausgezogen  hat,  hat  auch  die  Ausführung  meiner 
Absicht  starken  Aufschub  erfahren.  —  Verstehen  werden  wir  das  verzögerte  Er- 
scheinen des  dritten  Bandes  ohne  weiteres,  wenn  wir  uns  klar  machen,  daß  sein 
Verfasser  —  es  ist  wie  für  die  Geschichte  des  Mittelalters  Baldamus;  nur  die  Ab- 
schnitte über  Wissenschaft  und  Kunst  stammen  wieder  aus  der  Feder  von  Fried- 
rich und  Lehmann  —  diesmal  keinen  einzigen  Paragraphen  unverändert  aus  der 
letzten  Auflage  herübergenommen  hat,  und  daß  die  Geschichte  der  neueren  Zeit 
an  Umfang  fast  auf  das  Doppelte  gewachsen  ist.  Wir  werden  die  Verzögerung 
aber  auch  gerne  entschuldigen,  wenn  wir  uns  durch  die  Lektüre  des  Buches  davon 
überzeugt  haben,  welch  gewaltige  Stoffmenge  in  ihm  aufgespeichert  liegt  nicht 
bloß  zur  Geschichte  der  europäischen  Völker,  sondern  der  Völker  aller  Welt  bis 
hin  nach  Indien  und  Japan,  und  nicht  bloß  zur  politischen  Geschichte,  sondern 
daneben  zu  dem,  was  man  „Kulturgeschichte''  nennt,  und  mit  welch  strenger 
Wissenschaftlichkeit  dies  ganze  Tatsachenmaterial  zusammengetragen,  dem  Leser 
jedesmal  der  heutige  Stand  der  Forschung  vorgelegt  wird.  Dazu  gesellt  sich  durch- 
weg verständiges  Urteil  und  treffende  Charakteristik  von  Personen  und  Begeben- 
heiten. Freilich  liegt  die  Gefahr  nahe,  daß  gerade  über  dem  Anschwellen  des  Textes 
der  eigentliche  Zweck  des  Werkes,  eine  Weltgeschichte  zu  sein  für  alle  Gebildeten, 
Abbruch  erfährt,  daß  sein  Charakter  als  „Hand-",  d.  h.  Nachschlagebuch  nicht 
zu  seinem  Vorteil  zu  stark  in  den  Vordergrund  tritt.  Darauf  habe  ich  schon  bei 
der  Besprechung  des  ersten  der  von  Baldamus  selbst  bearbeiteten  Bände  hin- 
gewiesen, wenngleich  ich  nicht  versäumen  will  hervorzuheben,  daß  mir  die 
Schwächen,  die  in  jenem  hervortreten  —  es  ist  der  zweite  des  Gesamtwerkes  — 
in  dem  vorliegenden  dritten  glücklich  überwunden  zu  sein  scheinen.     Der  Stil 


56  H.  A.  Pfeiffer,  Übersichtskarte  usw.,  angez.  von  H.  Wickenhagen. 

ist  flüssig;  die  Verschiedenheit  des  Druckes  ist  zweckentsprechend  verwertet  —  nur 
in  §  215  und  208  sind  noch  Unebenheiten  — ,  so  daß  der  kleinste  Druck  —  der 
mittlere  ist  außer  in  den  Abschnitten  über  Kunst  und  Literatur  fast  ganz  ge- 
schwunden —  wirklich  den  Einzelausführungen  und  der  Mitteilung  von  Charak- 
teristiken, Urteilen  und  Kontroversen  vorbehalten  worden  ist.  Die  Abschnitte 
endlich,  die  die  Überschrift  „Überschau  und  Vorblick"  tragen,  erfüllen  durch- 
weg, weil  sie  sich  darauf  beschränken,  den  Faden  aufzuweisen,  der  durch  die  als- 
bald folgende  Darstellung  führt,  ihren  Zweck  besser. 

Der  vierte  Band,  der  das  Gesamtwerk  abschließt  —  ein  fünftes  Sonder- 
bändchen  soll  nur  noch  das  Register  und  die  Stammbaumtafeln  zu  Band  III 
und  IV  enthalten  —  führt  den  Werdegang  der  Weltgeschichte  bis  ins  Jahr  1904. 
Sein  Verfasser  ist  Moldenhauer;  nur  die  Partien  über  Wissenschaft  und  Kunst 
stammen,  außer  dem  Abschnitt  über  die  französische  Literatur  des  XIX.  Jahr- 
hunderts den  Prof.  Ulrich  Meier  geschrieben  hat,  wieder  aus  der  Feder  von  Fried- 
rich und  Lehmann,  und  die  zusammenfassenden  Paragraphen  (Überschau  und 
Vorblick)  hat  wieder  der  Herausgeber  selbst  hinzugefügt,  zwei  von  ihnen,  236  und 
317,  wie  mir  scheinen  will,  mit  weniger  Geschick.  Auch  Moldenhauer  hat  sozusagen 
ein  ganz  neues  Buch  geschrieben,  das  freilich  nach  seinem  Umfang  trotz  seiner  Fort- 
führung bis  zur  Gegenwart  nicht  erheblich  über  den  „Alten  Weber"  hinausgeht. 
Mag  es  nun  eine  Folge  der  sich  daraus  ergebenden  Nötigung  zu  strengerer  Zu- 
sammenfassung und  Stoffauswahl  sein,  oder  mögen  sich  diese  Vorzüge  aus  dem 
Gang  der  Ereignisse  selbst  ergeben,  der  die  Geschicke  der  Völker  aller  Welt  je 
später  desto  mehr  gruppiert  um  die  Geschichte  unseres  eigenen  Volkes,  oder  mag 
es  endlich  eine  Wirkung  des  Umstandes  sein,  daß  Moldenhauer  es  verstanden 
hat,  durch  reichliche  Mitteilung  von  Urteilen  großer  Zeitgenossen  und  namhafter 
Historiker  seiner  Darstellung  eine  mehr  persönliche  Note  zu  geben:  kurz,  sein 
Anteil  an  dem  Gesamtwerke  kommt  dessen  vorhin  mitgeteilter  Bestimmung,  wie 
mir  scheinen  will,  am  nächsten.  Abgesehen  von  den  Unebenheiten  in  der  Anwendung 
der  verschiedenen  Drucke,  die  dem  Leser  wenigstens  in  dem  ersten  Drittel  des 
Buches  wieder  entgegentreten,  vereint  dieser  die  Vorzüge  des  dritten  Bandes  mit 
denen  des  ersten  und  bildet  so  einen  würdigen  Abschluß  des  Gesamtwerkes,  dem 
wir  wünschen  zu  sein,  was  sein  Vorgänger  gewesen:  eine  Quelle  geschichtlicher 
Kenntnisse  für  viele  unserer  Volksgenossen. 

Elberfeld.  Wilh.  Meiners. 

Pfeiffer,  H.  A.,    1.    Übersichtskarte  des      Mecklenburgischen 
Seengebiets     und     seiner     Verbindungen    mit    Ostsee, 
Elbe,     Havel,    Oder    für    Schiffahrt    und    Wassersport. 
Auf    Grund    amtlichen   Materials   und   eigener  Erfahrung  bearbeitet.      Berlin 
1910.   Gea  Verlag.   4M.    2.  Übersichtskarte  der  märkischen 
Wasserstraßen      für     Schiffahrt      und     Wassersport. 
Ebenda.     1911.    4M. 
Das  neuzeitliche  Schülerrudern  hat  eine  neue  Literatur  erzeugt.     Der  Ver- 
fasser ist  einer  der  rührigsten  Wanderruderer;  seine  Arbeiten  sollen  zur  Nach- 
folge anregen,  und  sie  werden's  tun.    Übrigens  hat  er  ein  Gebiet  angeschnitten, 
welches  ihm   noch  manche  Aufgabe  stellen  wird.     Wer  weiß,  ob  wir  nicht  in 


E.  Böse,  Die  Erdbeben,  angez.  von  J.  Ruska.  57 

absehbarer  Zeit    einen   Taschenatlas  für   Schiffahrt    und  Wassersport  vor  uns 
haben?     Der  Verfasser  mag  das  Ziel  ins  Auge  fassen! 

Berlin-Lichterfelde.  H.  W  ic  k  e  n  h  a  ge  n. 

Böse,  EmiliOy  Die  Erdbeben.  („Die  Natur."  Eine  Sammlung  naturwissen- 
schaftlicher Monographien.  Bd.  7.)  Mit  7  Tafeln  und  55  Textabbildungen, 
Osterwieck-Harz  1910.     A.W.  Zickfeldt.     146  S.     8°.     geh.  1,75  M.,  geb.  2  M. 

Seitdem  die  Erdbeben  —  wie  schon  längst  die  meteorologischen  Erschei- 
nungen —  durch  ein  Netz  von  Beobachtungsstationen  in  den  Bereich  wissen- 
schaftlicher Erforschung  gezogen  sind,  hat  das  Grauen  vor  den  unheimlichen 
Kräften  der  Tiefe  auch  in  weiteren  Kreisen  einem  mehr  wissenschaftlich  gerichteten 
Interesse  an  ihren  Ursachen  und  Wirkungen  weichen  müssen.  Freilich,  bei  Kata- 
strophen, wie  sie  in  den  letzten  Jahren  erlebt  wurden,  durchzittert  auch  heute 
noch  ein  einziges  Entsetzen  die  Menschheit;  aber  die  weit  entfernten  oder 
schwächeren,  von  den  Seismographen  registrierten  Beben  bieten  ein  reiches  Ma- 
terial für  die  Erforschung  der  Zustände  des  Erdinnern  und  sind  uns  durch  die  Be- 
richte der  Erdbebenwarten  zu  vertrauten  Erscheinungen  geworden. 

So  mag  manchem,  der  sich  über  die  wichtigsten  Errungenschaften  der  modernen 
Seismologie  orientieren  will,  ein  kleineres  Werk  willkommen  sein,  das  diesen 
Gegenstand  behandelt.  Wir  finden  in  dem  vorliegenden  Bändchen  nach  kurzer 
Erwähnung  der  älteren  Theorien  (auf  Grund  der  bekannten  Schriften  von  Lersch 
und  Otto)  eine  Charakteristik  der  Einsturz-,  der  vulkanischen  und  tektonischen 
Beben,  die  durch  interessante  Bilder  vom  mexikanischen  Beben  am  14.  April  1907 
und  von  anderen  Orten  illustriert  sind.  Ein  weiteres  Kapitel  handelt  von  der  Stärke, 
Dauer,  Vergesellschaftung  und  Verbreitung  der  Erdbeben,  von  den  habituellen 
Stoßgebieten  und  Schütterlinien.  Die  Instrumente  zur  Beobachtung  der  Erd- 
beben sind  auf  20  Seiten  behandelt,  von  denen  noch  ein  erheblicher,  Teil  von  den 
Illustrationen  beansprucht  wird;  es  ist  zu  befürchten,  daß  auf  so  beschränktem 
Raum  ein  wirkliches  Verständnis  der  Pendelapparate  nicht  erreicht  wird,  zumal 
der  Leser  sich  gleich  zu  Beginn  vor  das  Rätsel  gestellt  sieht,  daß  man  sich,  um 
eine  absolut  unbewegliche  Masse  zu  erlangen,  der  Pendel  bediene.  Auf 
einer  Tafel  findet  man  die  schönen  Seismogramme  der  Beben  von  San  Franzisco 
und  Valparaiso,  die  auf  der  Leipziger  Erdbebenstation  durch  das  Wiechertsche 
Seismometer  erhalten  wurden,  als  Textbild  das  Göttinger  Seismogramm  des  Erd- 
bebens von  Messina  (28.  X IL  1908).  Die  Diskussion  der  Seismogramme  führt 
auf  die  modernen  Ansichten  über  die  Natur  der  Wellen,  insbesondere  die  Schmidt- 
xhe  Theorie,  die  Form  des  Hodographen,  die  Gestalt  der  Homoseisten,  die  Be- 
stimmung der  Herdtiefe,  der  Lage  des  Epizentrums  usw.  Sehr  kurz  sind  die  See- 
beben und  die  praktischen  Anwendungen  der  Erdbebenkunde  weggekommen; 
eine  Erweiterung  des  Textes  in  diesem  Teile  wäre  für  Neuauflagen  ebenso  dankens- 
wert wie  eine  etwas  faßlicher  gehaltene  Beschreibung  der  Instrumente. 

Heidelberg.  j.  Ruska. 

Poincar^,  L.,    D  i  e  E  1  e  k  t  r  i  z  i  t  ä  t.    Übersetzt  von  Prof.  Dr.  A.  K  a  1  ä  h  n  e. 

Leipzig  1909.     Quelle  und  Meyer.    VIII  u.  262  S.    Geh.  3,80  M.,  geb.  4,40  M. 

In  diesem  eigenartigen  Buch  stellt  Lucien  Poincare  die  Elektrotechnik  ohne 


58  W.  Gothan,  Botanisch-geologische  Spaziergänge, 

Verwendung  von  Abbildungen  dar.  Schon  dieser  Verzicht  auf  die  kräftigsten 
Stützen  der  Anschauung  verrät,  daß  er  sich  an  Wissende  wendet,  die  solcher  Hilfen 
nicht  mehr  bedürfen.  Trotzdem  bedient  er  sich  bei  seinen  Ausführungen  nicht  der 
strengen  und  knappen  Sprache  der  Mathematik.  Er  will  also  auch  kein  Buch  für 
Fachleute  schreiben.  Sein  Ziel  ist  vielmehr,  die  Entwicklung  und  den  jetzt  er- 
reichten Stand  der  Starkstromtechnik,  sowie  deren  physikalische  Grundlagen 
unter  Weglassung  aller  kleinlichen  Einzelheiten  in  großen  Zügen  so  darzustellen, 
daß  der  Techniker  aus  den  physikalischen  Betrachtungen  und  der  Physiker  aus 
den  technischen  Erörterungen  reichen  Gewinn  ziehen  kann.  Diese  schwierige 
Aufgabe  hat  Poincar^  mit  Geist  und  Geschmack  in  dem  reizenden  Buch  gelöst, 
das  jeder  naturwissenschaftlich  Gebildete  mit  Genuß  lesen  wird.  Für  den  Lehrer 
der  Physik  ist  das  Werk  in  zweifacher  Hinsicht  wertvoll.  Es  ermöglicht  ihm,  bei 
der  oft  schwierigen  Stoffauswahl  schnell,  bequem  und  sicher  die  elektrischen  Tat- 
sachen, Begriffe  und  Gesetze  herauszufinden,  die  unbedingt  im  Unterricht  zu 
berücksichtigen  sind,  weil  ihre  Anwendungen  das  wirtschaftliche  Leben  und  unsere 
Weltauffassung  tief  umgestaltet  haben.  Das  Buch  enthält  ferner  eine  Fülle  mit  be- 
geisternden Worten  vorgetragener  Betrachtungen  über  den  Wert  der  Elektrizitäts- 
lehre und  ihrer  Anwendungen.  Sie  zeigen  dem  Lehrer,  wie  man  mit  großem  Erfolg 
die  lebhafteste  Teilnahme  der  Schüler  an  dem  behandelten  Stoff  erregen  kann. 

Prof.  Kalähne  hat  sich  zwar  möglichst  treu  an  seine  Vorlage  gehalten,  doch 
die  Übertragung  mit  hervorragendem  Geschick  so  formvollendet  ausgeführt,  daß 
man  glaubt,  ein  Werk  in  der  Ursprache  zu  lesen. 

Berlin.  Hermann  Hahn. 

Gothan,  W.,  Botanisch-geologische  Spaziergänge  in  die 
Umgebung  von  Berlin.  Leipzig  und  Berlin  1910.  B.  G.  Teubner. 
VI  u.  110  S.  8^.  geh.  1,80  M.,  geb.  2,40  M. 
Das  vorliegende  Büchlein  habe  ich  mit  besonderer  Befriedigung  gelesen,  weil 
es  Bestrebungen  unterstützt,  die  ich  seit  einem  Menschenalter  im  naturgeschicht- 
lichen Unterrichte  der  höheren  Schulen  zu  verwirklichen  gesucht  habe.  Das  be- 
zieht sich  einmal  auf  die  naturwissenschaftlichen  Unterrichtsausflüge  über- 
haupt, deren  Bedeutung  leider  nicht  überall,  weder  von  allen  Fachlehrern  noch  von 
den  Direktoren,  hinreichend  gewürdigt  wird.  Zweitens  aber  betrifft  es  die  Art 
ihrer  Ausführung.  Für  viele  haben  die  botanischen  Ausflüge  von  alters  her  nur 
den  Zweck,  Pflanzen  zu  sammeln  und  in  Herbarien  aufzustapeln.  Demgegenüber 
will  der  Verfasser  an  konkreten  Beispielen  eine  Einführung  geben  in  die  Kenntnis 
der  Pflanzenvereine  und  bemerkt  mit  Recht:  „Trotzdem  gerade  jetzt 
so  viel  von  Pflanzengemeinschaften  in  der  botanischen  Literatur  die  Rede  ist, 
hat  die  Bedeutung  der  Beschäftigung  mit  diesen  immer  noch  nicht  die  zu  erwartende 
Verbreitung  in  den  Kreisen  der  Pflanzenliebhaber  gefunden,  zum  Schaden  für  die 
Betreffenden  selbst,  denn  die  Beschäftigung  mit  der  Pflanzenwelt  draußen  nach 
diesen  Gesichtspunkten  gewährt  auch  eine  entschieden  viel  höhere  geistige  Befrie- 
digung als  das  bloße  Pflanzensammeln." 

Was  den  ersten  Punkt  anlangt,  so  hat  auch  der  Verein  zur  Förde- 
rung des  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen 


angez.  von  K.  Fricke.  59 

Unterrichts  in  seiner  vorjährigen  Hauptversammlung  (Posen,  1910)  nach 
einem  lichtvollen  Vortrage  des  Herrn  v.  Hanstein  und  nach  eingehender  Debatte 
einstimmig  die  Unterrichtsausflüge  als  „eine  sehr  wünschenswerte,  durch  andere 
Mittel  nicht  zu  ersetzende  Ergänzung  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts" 
anerkannt.*)  Ich  persönlich  gehe  in  dieser  Hinsicht  noch  einen  Schritt  weiter. 
Wie  ich  vor  zwei  Jahren  in  einer  Programmschrift**)  dargelegt  habe,  betrpchte 
ich  das  Verständnis  der  Erscheinungen  und  Vorgänge  in  der  freien  Natur  als  d  a  s 
Ziel  der  gesamten  naturgeschichtlichen  Unterweisung, 
und  daher  sind  mir  von  jeher  die  Unterrichtsausflüge  ein  unentbehrliches 
Hilfsmittel  gewesen;  ich  habe  a.  a.  0.  —  gleichfalls  an  konkreten  Beispielen 
—  näher  dargelegt,  daß  auch  ich  mit  Vorliebe  die  ökologische  Betrachtungsweise, 
und  zwar  namentlich  für  die  Ausflüge  mit  den  oberen  Klassen,  in  Anwendung  bringe 
und  die  Exkursionen  daher  in  solche  Gebiete  der  Umgegend  von  Bremen  ver- 
lege, in  denen  zu  einer  bestimmten  Jahreszeit  die  Gegensätze  und  Eigentümlich- 
keiten der  Pflanzenvereine  besonders  scharf  hervortreten. 

Selbstverständlich  ist  für  den  Einblick  in  den  inneren  Zusammenhang  dieser 
Pflanzengemeinschaften  die  Kenntnis  der  Bodenbeschaffenheit  eine  unbedingte 
Voraussetzung,  und  daraus  ergab  sich  für  den  Verfasser  der  vorliegenden  Schrift 
die  Notwendigkeit,  auf  die  geologischen  Verhältnisse  der  besprochenen  Örtlich- 
keiten, auf  ihre  Bodenarten  und  Geländeformen,  näher  einzugehen.  Die  Unter- 
suchung des  sogenannten  Geschiebemergels,  der  bei  der  Zusammensetzung  des 
Bodens  in  unserem  norddeutschen  Flachlande  die  Hauptrolle  spielt,  die  Frage  nach 
der  Natur  und  Herkunft  der  mannigfachen  in  ihm  eingeschlossenen  Gesteins- 
blöcke, der  sogenannten  Findlinge,  führt  zu  einer  kritischen  Besprechung  der 
ehemals  von  Lyell  aufgestellten  Drifttheorie  sowie  der  gegenwärtig  allgemein 
anerkannten  I  n  1  a  n  d  e  i  s  t  h  e  o  r  i  e  ,  die  der  schwedische  Geologe  0.  T  o  r  e  1 1 
zuerst  im  Jahre  1875  durch  die  auf  der  Oberfläche  des  Rüdersdorfer  Muschel- 
kalkes nachgewiesenen  Gletscherspuren  begründete.  Des  weiteren  führt  uns  die 
Betrachtung  der  Oberflächengestaltung  des  Geschiebemergels,  der  „Grund- 
moränenlandschaft" mit  ihrem  welligen  und  hügeligen  Gelände,  in  dessen  Senken 
sich  die  charakteristischen  „Solle"  befinden,  auf  die  Entstehung  unserer  dilu- 
vialen und  alluvialen  Bodenarten,  die  sich  aus  dem  ursprünglichen  Geschiebemergel 
durch  die  Wirkung  des  bewegten  Wassers  als  Kies,  Sand,  Lehm  und  feiner  Ton- 
schlamm abgelagert  haben.  Zugleich  lernen  wir  die  Leitpflanzen  dieser  Bodenarten 
und  die  Pflanzenvereine  kennen,  die  sich  auf  diesem  Untergrunde  angesiedelt 
haben.  Auf  9  zu  verschiedenen  Jahreszeiten  (von  Anfang  April  oder  Ende  März 
bis  Ende  September)  nach  verschiedenen  Richtungen  unternommenen  Exkur- 
sionen werden  wir  mit  der  Eigenart  des  Erlenbruchs,  der  Verlandungs-  und  Moor- 
vegetation bekannt,  die  an  vielen  Orten  die  Solle  mit  Torf  ausfüllen;  wir  werden 
eingeführt  in  das  Verständnis  der  Bedingungen  der  Bodenflora  des  Laubwaldes 


*)  Vrgl.    Unterrichtsblätter   für   Mathematik    und   Naturwissenschaften.      XV L 
1909.    Nr.  4,  S.  84  u.  f. 

**)  Biologische  Heimatkunde  in  der  Schule.  Beilage  zum  Jahresbericht  der 
Oberreaischule  zu  Bremen.  1909.  Progr.  Nr.  973;  auch  im  Verlag  von  Quelle  & 
Meyer,  Leipzig,  1909. 


60     A.  Fehrmann  u.  P.  Meynen,  Turnen  u.  Sport  usw.,  angez.  von  H.  Wickenhagen. 

im  Frühling  und  der  reichen  Bestände  des  Adlerfarns  im  sommerlichen  Kiefern- 
walde, wir  lernen  die  Gewächse  feuchter  Laubwaldstellen  kennen  wie  auch  den 
Verein  der  Steppenpflanzen,  die  Sand-,  Ruderal-  und  Ackerrandflora  bis  zu  den 
„Trampelpflanzen",  die  sich  —  wie  der  große  Wegerich  und  der  Vogelknöterich 
—  mit  betretenen  Wegen  und  Wegrändern  begnügen  müssen.  Es  kann  aber  nicht 
Aufgabe  dieses  Berichtes  sein  auf  Einzelheiten  und  Besonderheiten  näher  einzu- 
gehen; für  jeden  Kundigen  wird  das  Gesagte  genügen,  um  sich  von  dem  Wesen 
der  Beobachtungen  und  der  Reichhaltigkeit  des  Inhalts,  der  hier  in  knapper  Form 
dargeboten  wird,  einen  Begriff  zu  machen.  Die  Art  und  Weise,  wie  die  auf  den 
Exkursionen  gewonnenen  Erfahrungen  zu  einem  Gesamtbilde  von  den  geologischen 
und  botanischen  Verhältnissen  des  heimatlichen  Bodens  verwoben  werden,  darf 
als  eine  mustergültige  und  auch  für  andere  Gegenden  nachahmenswerte  bezeichnet 
werden.  Möge  in  einer  späteren  Auflage  auch  der  heimischen  Tierwelt  Beachtung 
geschenkt,  und  somit  das  Werkchen  zu  einer  allgemein  biologisch-geo- 
logischen Heimatkunde  erweitert  werden. 

Bremen.  K.  F  r  i  c  k  e. 

Fehrmann,  A.  und  Meynen,  P.,  Turnen  und  Sport  an  deutschen 
Hochschulen.  Leipzig  1910.  G.  Kummers  Verlag.  256  S.  geb.  3  M. 
Ein  Buch  aus  der  Zeit  für  die  Zeit.  Es  regt  sich  auf  unseren  Hochschulen, 
und  da  ist  es  gut,  daß  ein  Ratgeber  den  Arbeitswilligen  seine  Dienste  anbietet. 
Was  er  bringt,  kann  man  mit  Vertrauen  hinnehmen.  Alle  guten  Übungsarten  sind 
in  übersichtlicher  Kürze  und  Klarheit  berücksichtigt,  Turnen  und  Sport  sind  in 
die  richtige  Verbindung  miteinander  gebracht,  und  der  letztere  Begriff  ist  so  auf- 
gefaßt, wie  die  deutsche  Schule  es  verfangt.  Treffend  sagt  der  erste  Mitarbeiter, 
Prof.  Dr.  Lamprecht-Leipzig:  „Der  Sport,  der  bisweilen  unedle  Arten  des  Wett- 
bewerbs im  Gefolge  hat,  darf  nie  den  einzelnen  vollständig  erschöpfen;  und  wer 
vom  Sportplatze  kommt  ohne  jenes  Gefühl  gestärkter  Persönlichkeit  und  gleich- 
sam einer  guten  Tat  .  .  .,  der  hat  verspielt.    —  So  ist's. 

Roßow,  C,  Zweite  Statistik  des  Schulturnens  in  Deutsch- 
land.   Mit  Unterstützung  der  Ministerien  der  deutschen  Bundesstaaten  usw. 
herausgegeben.     Gotha  1908.     F.  Thienemann.    538  S.    geb.  16  M. 
Das  Buch  führt  uns  durch  alle  Schularten  von  der  Hochschule  bis  zur  Volks- 
schule der  sämtlichen  deutschen   Bundesstaaten.      Eine  ebenso   mühevolle  wie 
dankenswerte  Arbeit ! 

Roßow,  C,    Geschichte  des  Turnunterrichts  von   Schulrat  Prof. 

Dr.  C.  E  u  1  e  r.      Neu    bearbeitet.      Gotha    1907.      F.  Thienemann.      435  S. 

geb.  4  M. 

Das  Buch  bildet  den  V.  Band  der  Kehrschen  Geschichte  der  Methodik;  aus 
früheren  Auflagen  ist  es  genügend  bekannt.  Wenn  der  Herausgeber  ältere  Perioden 
gekürzt,  lästige  Anmerkungen  beseitigt  und  dafür  die  neue  Schule  mit  ihren  ge- 
sunden Fortschritten  gebührend  vorgeschoben  hat,  verdient  er  volle  Anerkennung, 
Die  Arbeit  hat  nach  Gründlichkeit  und  Zuveriässigkeit  ihre  erste  Stelle  behalten. 


O.  Ruperti,  Führer  für  Wanderruderer,  angez.  von  H.  Wickenhagen.  61 

Rupert!,  0.,  Führer  für  Wanderruderer.  Berlin  1910.  Wassersport- 
Verlag.    507  S.  mit  zahlreichen  Karten  und  Tabellen.     Geb.  6  M. 

„Vom  Wasser  haben  vvir's  gelernt:  das  Wandern!"  Seitdem  das  Wander- 
rudern in  Deutschland  gepflegt  wird  —  lange  ist's  noch  nicht  —  enthüllen  sich 
uns  ganz  neue  Landschaftsbilder.  Der  Verfasser  führt  uns  über  alle  heimischen 
Wasserstraßen,  nicht  plaudernd,  sondern  belehrend.  Sein  Buch  ist  für  Bootsreisen 
geradezu  unentbehrlich;  es  enthält  genaue  Angaben  über  die  Art  der  Gewässer, 
Uferverhältnisse,  Entfernungen  u.  a.  m.  Eine  ungemein  fleißige  Arbeit.  Daß  in 
der  ersten  Ausgabe  mancherlei  Ungcnauigkeiten  unterlaufen  sind,  kann  bei  der 
Eigenart  des  Stoffs  kaum  wundernehmen.  Inzwischen  ist  durch  Nachträge  Ab- 
hülfe geschafft;  und  wenn  die  Wasserwanderer  das  Ihre  tun,  wird  der  Wert 
dieses  neuarfgen  ,, geographischen  Leitfadens"  immer  mehr  gewinnen. 

Berlin-Lichterfelde.  H.  W  i  c  k  e  n  h  a  g  e  n. 

Gonser,   Immanuel,    Alkoholgegnerische    Unterweisung    in    den 
Schulen  der  verschiedenen  Länder.    Vortrag,  gehalten  auf  dem  XII.  Internatio- 
nalen Kongreß  gegen  den  Alkoholismus  London  1909.     Berlin.     Mäßigkeits- 
Verlag.    24  S.    80.    0,40  M. 
Wenn  die  Gewohnheit  die  größte  Macht  im  Leben  des  einzelnen  ist,  so  ist  es 
ein  schwieriges   Unterfangen,   den   Erwachsenen  von  seinen  Trinkgewohnheiten 
abzubringen;  andererseits  —  so  schließen  sehr  richtig  die  Alkoholgegner  —  gibt 
es  kein  besseres  Mittel,  den  Alkoholmißbrauch  aus  der  Welt  zu  schaffen,  als  der 
Jugend  das  Nichttrinken  zur  Gewohnheit  zu  machen.     Es  ist 
recht  lehrreich  aus  vorliegendem  Vortrage  zu  erfahren,  welche  Schritte  in  dieser 
Richtung  bereits  in  den  verschiedenen  Ländern  der  Erde  getan  sind. 

Ide,       Praktische    Atmungsgymnastik    zum    täglichen    Gebrauch 

für   Jedermann,   besonders  für   Schulenbesucher,    Stubenhocker,   Berufsredner 

und  Sänger,  Lungen-  und  Herzschwache.   München  1910.    Otto  Gmelin,  Verlag 

der  ärztlichen  Rundschau.     19  S.    S^.    0,75  M. 

Wer  die  Gesundheit  noch  nicht  als  kostbares  Gut  erkannt  hat,  der  braucht 

keine  Hilfe.  Aber  dem  Leidenden  tut  oft  führender  Rat  not.  Da  nun  die  Menxhen 

von  heute  kaum  ein  mehr  geschädigtes  Organ  besitzen  als  die  Lunge,  ist  eine  durch 

Bilder  erläuterte  Anweisung  zur  Besserung  und  Kräftigung  der  Lunge,  wie  sie 

vorliegende  Schrift  gibt,  gewiß  manchem  von  Nutzen. 

Linden-Hannover.  B.  Habenich  t. 


III.  Vermischtes. 


15.  Allgemeiner  Deutscher  Neuphilologentag  in  Frankfurt  a.  M. 

vom  28-30.  Mai  1912. 

P.  A.  Aus  einer  unter  Leitung  des  Herrn  Direktor  Dörr  stattgehabten  ge 
meinschaftlichen  Sitzung  der  vorbereitenden  Ausschüsse  für  die  in  Frankfurt  a.  M. 
nach  Pfingsten  1912  stattfindende  15.  Tagung  des  allgemeinen  Deutschen  Neu- 
philologenverbandes verdienen  einige  allgemein  interessierende  Punkte  Erwähnung. 
Die  Tagung  findet  —  wie  in  der  Regel  alle  zwei  Jahre  —  unmittelbar  nach  dem 
Pfingstfest  vom  28.  bis  30.  Mai  statt,  zugleich  als  Jubelfeier  zur  Erinnerung  an  den 
vor  25  Jahren  dort  abgehaltenen  2.  Deutschen  Neuphilologentag.  Am  Vorabend 
(Pfingstmontag)  ist  eine  zwanglose  Zusammenkunft  im  oberen  Saale  der  Alemannia 
(am  Schillerplatz).  Vorträge  haben  bereits  eine  Reihe  Universitätsprofessoren 
und  Schulmänner  des  In-  und  Auslandes  zugesagt,  u.  a.  die  Professoren  Bovet 
(Zürich),  Brunot  (Paris),  Morf  (Berlin),  Sadler  (Leeds),  Wechssler  (Marburg); 
ferner  die  Professoren  Curtis  und  Friedwagner  von  der  Frankfurter  Akademie 
für  Sozial-  und  Handelswissenschaften.  Beiträge  zu  einer  Festschrift  sind  gleichfalls 
in  großer  Zahl  in  Aussicht  gestellt,  zum  Teil  schon  im  Druck.  Eine  Ausstellung 
von  neusprachlichen  Lehrmitteln,  im  besonderen  solcher,  die  sich  mit  der  Behandlung 
des  Wortschatzes  im  Schulunterricht  befassen,  wird  veranstaltet  werden;  es  ist 
beabsichtigt,  diese  Lehrmittel  später  dem  Frankfurter  Schulmuseum  zuzuführen. 
Auch  hierfür  liegen  schon  Zusagen  vor,  so  von  den  Pariser  Verlegern  Colin  und 
Delagrave.  Die  finanzielle  Grundlage  darf  nach  dem  Berichte  des  Kassenführers 
als  gesichert  betrachtet  werden.  Dem  Wohlwollen  und  der  Einsicht  einiger  Frank- 
furter Herren  verdankt  der  Neuphilologentag  einen  Grundstock,  um  dessen  Beschaf- 
fung sich  besonders  die  Herren  Professoren  Curtis,  Reichard  und  Direktor  Dr.  Walter 
mit  Erfolg  bemüht  haben.  —  Nach  des  Tages  Arbeit  —  in  der  Akademie  —  sind 
als  Feste  des  Abends  geplant:  am  Dienstag  ein  Festmahl  im  Frankfurter  Hof, 
Mittwoch  Abend  eine  Vorstellung  in  einem  der  städtischen  Theater,  als  Abschluß 
am  Donnerstag  Nachmittag  eine  Rheinfahrt,  vielleicht  mit  Abschiedsfeier  im 
Kurhause  zu  Wiesbaden.  Auch  ein  Empfang  durch  die  städtischen  Behörden  im 
Römer  wird  sich  voraussichtlich  ermöglichen  lassen.  Die  Teilnehmerkarte,  die 
für  sämtliche  Veranstaltungen  gilt,  wird  10  M.  für  Herren,  5  M.  für  Damen  kosten. 
—  Weitere  Auskunft  über  den  Neuphilologentag  erteilen  die  Herren  Direktor  Dörr 
(Liebig-Realschule,  Falkstraße)  und  Professor  Dr.  Michel,  Vorsitzender  des  Preß- 
ausschusses (Realschule  Philanthropin,  Hebelstraße)  in  Frankfurt  a.  M. 


IV.  Sprechsaal 


1.    H.  von  Kleist,  Prinz  von  Homburg  II,  2,  85. 

Erster  Offizier: 
Nimm  ihm  den  Degen  ab! 

Prinz  von  Homburg: 
Den  Degen  mir? 

(Er  stößt  ihn  zurück.) 
Ei,  du  vorwitziger  Knabe,  der  du  noch 
Nicht  die    zehn    märkischen  Gebote    kennst, 
Hier  ist  der  deinige  zusamt  der  Scheide! 

(Er  reißt  ihm  das  Schwert  samt  dem  Gürtel  ab.) 

Erster  Offizier  (taumelnd): 
Mein  Prinz,  die  Tat,  bei  Gott  — . 

Die  bisher  gegebenen  Deutungen  befriedigen  nicht,  auch  nicht  die  von  Grün- 
wald (1904,  S.  728  der  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht)  verteidigte  Er- 
klärung Wolfs,  mit  den  zehn  märkischen  Geboten  seien  die  märkischen  Kriegs- 
artikel gemeint.  Die  Vorschriften  des  Gehorsams  und  der  Subordination  sind 
allgemeine  Kriegsgesetze,  nicht  im  besonderen  märkische,  auch  vergeht 
sich  der  Offizier  nicht  gegen  diese,  und  selbst  wenn  er  es  täte,  würde  der  Prinz  sein 
eigenes  ganz  unmilitärisches  Vorgehen  gegen  ihn  damit  nicht  rechtfertigen.  Auch 
ist  nirgends  bezeugt,  daß  es  gerade  zehn  solcher  Vorschriften  gab. 

Mir  scheint  eine  Reminiszenz  an  Shakespeare,  Heinrich  VI.,  Teil  2,  Akt  I, 
Szene  3  vorzuliegen,  wo  die  Herzogin  von  Gloster  zur  Königin  Margarete,  welche 
ihr  eine  Ohrfeige  gegeben  hat,  sagt: 

Könnt'  ich  an  euer  schön  Gesicht  nur  kommen. 

Ich  setzte  meine  zehn  Gebote  drein. 

/  *d  set  my  ten  commandments  in  your  face. 

Dazu  macht  Delius  die  Bemerkung,  daß  ten  commandments  auch  von  anderen  Dra- 
matikern jener  Zeit  scherzhaft  für  die  zehn  Finger  gebraucht  wurde.  Danach 
deute  ich  die  zehn  märkischen  Gebote  als  das  gewaltsame  Zurückstoßen  mit  dem 
Schlag  beider  Hände  nach  Art  der  derben  Märker,  die  auf  eine  so  unerhörte 
Zumutung,  wie  das  Abfordern  des  Degens  von  selten  des  Offiziers  dem. Prinzen 
erscheint,  handgreiflich  werden  ohne  Rücksicht  auf  Stand  und  Sitte. 


64  Sprechsaal. 

2.    Freiheit,  die  ich  meine. 

Diese  Worte  in  dem  Gedicht  von  Max  von  Schenkendorf  erklärt  man  viel- 
fach Freiheit,  die  ich  liebe,  sie  bedeuten  aber  Freiheit,  wie  ich  sie  mir  denke, 
wie  sie  mir  vorschwebt,  im  Gegensatz  zu  derjenigen  Freiheit,  welche  die  fran- 
zösischen Umsturzmänner  so  gern  im  Munde  führten,  die  sich  aber  als  die  schreck- 
lichste Tyrannei  erwies.  Eine  feinsinnige  Besprechung  des  ganzen  Gedichtes  gibt 
Prof.  Dr.  August  Döring  in  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das  klassische  Altertum 
1909,  S.  510 — 518.  Dies  Lied  sangen  mit  Begeisterung  Reuters  Genossen;  vgl. 
Ut  mine  Festungstid,  Kap.  9. 

Herford  i.  W.  ErnstMeyer. 


IS 


I.  Abhandlungen. 


Neuhumanistische  Unterweisung  im  Lateinunterricht. 

Während  der  vielseitigen  Angriffe  auf  die  Mauern  des  humanistischen  Gym- 
nasiums hat  sich  im  altsprachlichen  Betriebe  selbst  ein  Aufschwung  vollzogen, 
der  mit  völliger  Änderung  der  Methode  neues  Interesse,  neue  Freude  und  fester 
gewachsene  Früchte  am  alten  Baume  gezeitigt  hat.  Der  Kritik  der  naturwissen- 
schaftlichen Gegner  kann  der  moderne  Lehrer  nur  mit  Verwunderung  zusehen, 
denn  seine  Ziele  stehen  im  Einklang  mit  den  von  jenen  so  betonten  Grundsätzen. 
So  wenig  wie  die  Naturwissenschaft  begnügt  er  sich  mit  der  fertigen  Form,  der 
gegebenen  Erscheinung;  auch  er  geht  auf  die  Lebensbedingung  und  Lebensgemein- 
schaft, auf  den  Ursprung  der  Sprache  und  ihr  gesetzmäßiges  Wachstum  in  Wirkung 
und  Gegenwirkung  ein.  Mit  Recht  kann  man  heute  von  einer  neuhumanistischen 
Bewegung  sprechen. 

Sie  will  nicht  bloß  humanistischen  Wissensstoff  bieten,  ihre  Methode  soll  dem 
Wesen  der  ,, Humanität''  mehr  als  früher  entsprechen.  Sie  soll  eine  glückliche 
Erweckung  und  frohe  Entfaltung  der  elementaren  Kraft  des  menschlichen  Geistes 
sein.  Sie  bewegt  sich  innerhalb  der  Grenzen,  die  Paulus  in  Athen  mit  ^yjXacpav 
und  eupsiv  bezeichnet  hat;  vom  Tasten  zum  Finden  will  sie  führen.  Die  Selb- 
ständigkeit, die  für  den  Schüler  in  den  Lebensformen  erstrebt  wird,  muß  vor  allem 
in  der  geistigen  Betätigung  verwirklicht  werden. 

Der  Mißklang  zwischen  dem  hohen  Ideal  des  althumanistischen  Ziels  und  seiner 
Verwirklichung  auf  der  Schule  drängte  mit  Allgewalt  Lehrer  der  Wissenschaft 
wie  der  Praxis  zur  Zersprengung  der  formalistisch-grammatischen  Methode,  die 
auch  die  lebensvolle  Benutzung  des  Textes  mit  bleiernem  Fuß  verhinderte.  Die 
junge  Richtung  sieht  ihr  letztes  und  gleich  zu  verwirklichendes  Ziel  in  der  Lektüre 
des  fremdsprachlichen  Stoffes.  Aber  sie  will  auch,  daß  der  Weg  dahin  gewinnend, 
anregend,  fruchtbringend  an  sich  sei.  Die  historisch-genetische  Methode  auf  Wort- 
und  Satzlehre  angewandt,  wird,  einmal  richtig  erkannt,  von  keinem  wieder  auf- 
gegeben, und  vereint  mit  der  psychologischen  Durchdringung  der  sprachlichen 
Eigenart  muß  sie  noch  für  lange  hinaus  von  Erfolg  begleitet  sein.  Das  Wort  wie 
die  grammatische  Verbindung  soll  selbständig  ergriffen  und  selbsttätig  entfaltet 
werden.  Das  Lernen  (mit  seinem  Üben),  auf  keinen  Fall  vernachlässigt,  soll  doch 
erst  aus  dem  Erleben  geboren  werden.  Die  Aktion  des  Verstandes  wird  geleitet 
und  begleitet  von  den  frohen  Kräften  der  Phantasie.  Der  Lehrer  kaum  mehr  als 
ein  Freund,  ein  Führer,  zuletzt  ein  Studiengenosse,  der  sich  bemüht,  die  Quellen 
des  eigenen  Könnens  im  Schüler  zu  entfesseln. 

Monatschrift  f.  höli.  Schulen.  XI.  Jhrg.  5 


66  A.  Stahl, 

Nach  endlos  grammatischen  Übungen,  erprobt  durch  heillos  gefahrvolle, 
stelzenwandelnde  Extemporalien,  ging  die  althumanistische  Unterweisung  an  die 
Lektüre,  um  sie  gleich  nach  einer  Bestätigung  für  jene  zu  durchsuchen.  Die  neue 
beginnt  sofort  mit  dem  Satz,  so  früh  wie  möglich  mit  einem  sinnvollen  Ganzen, 
einer  kleinen  Erzählung.  Denn  der  Inhalt  soll  verführen,  die  Form  zu  erforschen, 
zu  besiegen  und  zum  gefälligen  Mittel  zu  machen.  Und  der  Inhalt,  der  Gedanke 
und  seine  besondere  Färbung  soll  vor  allem  die  Form  und  ihre  Mannigfaltigkeit 
erklären.  Wie  das  Wort  nur  innerhalb  des  Gedankenganzen  seinen  lebendigen 
Sinn  bekundet,  so  vermögen  auch  Kasus  und  iVlodus,  Konjunktion  und  Tempus 
ihr  Leben  und  Wesen,  ihre  Kraft  und  Entfaltung  nur  im  Satzgefüge  zu  enthüllen. 
Endgültig  ist  gebrochen  mit  dem  alten  Schlendrian,  in  dem  man  behauptete: 
ut  oder  cum  regiert  den  Konjunktiv.  Es  wird  gezeigt,  wie  aus  der  Art,  wie  der 
Schriftsteller  seinen  Gedanken  ausdrückt,  der  Modus  verständlich  wird.  Aus 
der  Bestimmtheit,  der  einräumenden  oder  zweifelhaften,  realen  oder  potentialen 
Sprechweise  ergibt  sich  der  Grund  für  die  Anwendung  des  Indikativs  oder  Kon- 
junktivs, soweit  nicht  der  Gebrauch  fest  erstarrt  ist.  Die  Behauptung  der  Gram- 
matik, daß  im  Relativsatz,  der  durch  quidem  eine  allgemeine  Aussage  beschränke, 
der  Konjunktiv  stehe,  wird  durch  die  Lektüre  widerlegt.  Der  Satz:  orationes 
CatgniSy  quas  quidem  legerim,  hat  sein  Gegenstück  in  quae  quidem  erant  expetendae 
(Cic.  Tusc.  II,  3).  Das  erstere  heißt:  so  weit  ich  sie  gelesen  haben  mag;  das  zweite : 
so  weit  sie  wirklich  begehrenswert  sind.  Die  Regel,  als  ob  nach  fuit  tempus, 
cum  und  ähnlichen  Wendungen  der  Konjunktiv  stehen  müßte,  ist  unhaltbar.  Man 
liest:  Fuit  quoddam  tempus,  cum  in  agris  homines  passim  bestiarum  modo  vagabantur 
und  Fuit  tempus,  cum  rura  colerent  homines  neque  urbem  haberent.  Im  ersten  Falle 
ist  die  menschliche  Urgeschichte  mit  Gewißheit  geschildert,  im  zweiten  als  Po- 
tentiale Behauptung:  Es  gab  eine  Zeit,  wo  die  Menschen  das  Feld  bebauen  und 
noch  ohne  festen  Wohnsitz  leben  mochten. 

Eine  neue  Grammatik  mußte  entstehen  durch  die  Zentralisierung  des  ge- 
samten Unterrichts  in  der  Lektüre,  eine  Grammatik  zum  Verständnis  des  Lese- 
stoffs im  Gegensatz  zu  der  alten,  die  ganz  und  gar  auf  die  Übersetzung  ins  Lateinische 
zugeschnitten  war.  Für  diese  Grammatik  regen  sich  zurzeit  besonders  befähigte 
Köpfe,  deren  Arbeiten  leider  .noch  immer  nicht  ausreichend  gewürdigt  werden. 
Neben  Waldeck,  der  in  seiner  praktischen  Anleitung  wie  in  zahlreichen  Aufsätzen 
für  das  lebensvolle  Eindringen  in  den  Geist  der  Sprache  kämpft,  ist  in  neuester  Zeit 
H.  Werner  aus  Düren  zu  nennen.  Er  hat  (Neue  Jahrb.  1910.  10  H.)  dem  Zeit- 
geist konform  die  Grundzüge  der  historisch-genetischen  Methode  mit  einleuchtender 
Klarheit  und  wissenschaftlicher  Begründung  dargestellt.  Hier  findet  sich  auch 
eine  fruchtbare  Benutzung  von  Wundts  entscheidendem  Werke  ,,Die  Sprache". 
Werners  Aufsatz  ist  das  beste,  was  in  dieser  Richtung  geschrieben  ist.  Auf  seine 
jetzt  bei  Ehlermann  erscheinende  Grammatik  darf  man  gespannt  sein.  Praktische 
Richtlinien  für  den  grammatischen  Unterricht  im  Lateinischen  sind  von  Meurer 
und  Niepmann  zusammengestellt  (Progr.  Bonn  1908).  Brauchbare  Winke  finden 
sich  in  Agahds  Latein.  Syntax  (Teubner  1908).  Dittmars  Arbeiten  über  cum  haben 
keinen  rechten  Anklang  gefunden.  Auch  glaube  ich  nicht,  daß  Rudolf  Methner 
den  Konjunktiv  nach  diesem  lokativen  Relativum  befriedigend  erklärt  hat.    Aber 


Neuhumanistische  Unterweisung  im  Lateinunterricht.  67 

mit  völlig  adäquatem  Verständnis  und  ausgezeichneter  Schärfe  hat  Methner  den 
Konjunktiv  der  Folgesätze  erörtert.  Methners  Arbeiten  müssen  studiert  und  auf 
ihren  praktischen  Wert  erprobt  werden.  Besondere  Aufmerksamkeit  verdienen 
Franz  Stürmers  Etymologfsche  Arbeiten.  Wird  der  Anfangsunterricht  konsequent 
nach  seinem  Etymologischen  Wörterverzeichnis  zu  Osterm.-Müller  (Teubner  1911) 
gegeben,  so  wird  die  denkbar  beste  Grundlage  gelegt.  Daran  schließt  sich  für  die 
mittlere  Stufe:  Schlee,  Etymol.  Vokabularium  zu  Caesar.  Die  beste  historische 
Lautlehre  für  den  Schulgebrauch  ist  meines  Erachtens  die  von  Niedermann 
(C.  Winter,  Heidelberg),  die  manchem  alten  Zopf  den  Garaus  macht. 

In  Hoffnung  also  gehen  wir  einer  neuen  Zeit  entgegen,  wo  die  Grammatik 
im  Dienst  der  Lektüre  das  belebende  Moment  der  neuen  Richtung  sein  wird.  Diese 
neuhumanistische  Grammatik  wird  sich  von  der  alten  Extemporalien-Grammatik 
wesentlich  dadurch  unterscheiden,  daß  sie  nicht  mehr  auf  Schritt  und  Tritt  in 
Widerspruch  kommt  mit  der  Lektüre;  sie  wird  eine  großzügige  Bestätigung  ihrer 
mannigfachen  Erscheinungen  sein  und  weniger  ein  Regelbuch  als  ein  Spiegel  des 
fremdsprachlichen  Geistes. 

Um  den  Lesestoff  also  gruppieren  wir  alle  sachliche  Unterweisung  in  Kunst 
und  Geschichte,  Philosophie  und  Antiquitäten.  Zugleich  aber  sind  wir  unablässig 
bemüht,  die  Mittel  zur  Besiegung  der  Form  von  Stufe  zu  Stufe  geläufiger  und 
sicherer  zu  gestalten.  Hand  in  Hand  mit  den  sachlichen  Fragen  geht  die  gram- 
matische Erörterung.  Früher  sollte  die  Grammatik  die  Sache  lehren,  jetzt  soll  die 
Erkenntnis  der  grammatischen  Form  aus  der  Art  der  Sache  kommen.  Die  sachliche 
Fragestellung  soll  die  Notwendigkeit  der  jeweiligen  grammatischen  Eigenart  er- 
schließen. 

Der  Schüler,  auch  der  Anfänger  soll  das  Bewußtsein  haben,  daß  wir  ihm  einen 
Lesestoff  zur  Unterhaltung  oder  Belehrung  bieten,  dessen  fremde  Einkleidung  kein 
Hindernis  ist,  sondern  ein  lockendes  Geheimnis,  das  zu  erschließen  das  Werk  ge- 
meinsamer Sprengkraft  ist.  Wer  es  versteht,  in  anregenden  Fragen  sachlicher 
Art  den  Inhalt  zu  zerteilen,  die  Abschnitte  zugleich  durch  Fragen  grammatischer 
Färbung  geschickt  zu  verbinden,  der  wird  die  Durchnahme  zu  einem  Ereignis 
gestalten,  in  dem  jeder  den  Stoff  selber  erfunden  zu  haben  sich  einbilden  wird. 

Wir  wollen  also  in  erster  Linie  durch  die  Mittel  des  deutschen 
Unterrichts  wirken.  Ein  Beispiel  von  der  Unterstufe  darf  vielleicht . als 
Illustration  dienen. 

Mit  Vorliebe  wählen  wir  sagenhafte  Stoffe.  In  einer  kurzen  Einleitung  sind 
wir  bemüht,  den  Stimmungszauber  zu  erwecken,  durch  den  wir  Herz  und  Sinn 
in  unseren  Bann  ziehen.  Wir  haben  (Osterm.  für  Quinta  St.  5)  von  Tantalus' 
Schicksal  gehört,  und  nun  wird  uns  (Stück  6)  von  seiner  Tochter  erzählt.  Im 
Sagenreichen  Phrygierland,  woTroja  lag,  und  wo  fast  jeder  Berg  und  Fluß  ein  altes 
Geheimnis  barg,  war  auch  ein  Berg  mit  Namen  Sipylus.  Seltsam  und  rührend  war 
seine  Gestalt;  man  meinte,  dort  säße  ein  kummerbeladenes  Weib  und  müsse  be- 
ständig weinen.  Ganz  anders  wie  der  Lurley-Fels,  von  dem  das  berückende  Lied 
erklingt.  Tantalus'  Tochter  sollte  es  sein,  die  hier  im  Leid  versteinert  saß.  Was 
hatte  sie  denn  erlebt,  das  Kind  des  unglücklichen  Vaters?  Nioba,  Tantali  filia, 
iixor  erat  Amphionis,  regis  Thebanomm  sagt  der  Text.    Wohl  war  sie  übers  Meer 

5* 


68  A.  Stahl, 

gezogen  und  eines  fremden  Königs  Weib  geworden;  doch  mit  ihr  ging  des  Hauses 
Verhängnis.  Ein  großer  Vorzug  war  auch  für  sie  die  Ursache  ihres  unsäglichen 
Leids,  ihn  nennt  die  Apposition  des  folgenden  Satzes  {Nioba,  femina  pulcherrima), 
der  zugleich  von  ihrer  Gesinnung  erzählt,  die  sie  zu  Fall  brachte:  et  dis  propter 
poenam  pairis  infesta  et  propter  magnum  numeriim  liberorum  superbis- 
s  ima  erat.  Schärfer  als  im  Deutschen  werden  die  beiden  Grundzüge  ihres  Cha- 
rakters durch  et  .  .  et  hervorgehoben.  Wohl  verständlich  ist  der  Grund, 
weshalb  sie  den  Göttern  feindlich  gesinnt  war:  propter  poenam  patris. 
Welches  war  der  Grund  ihrer  maßlosen  Überhebung?  —  propter  magnum 
liberorum  numerum. 

W  a  n  n  ,  bei  welcher  Gelegenheit  kam  ihr  Haß  und  Hochmut  zum  Ausbruch? 
Cum  aliquando  mulier  es  et  virgines  Latonae,  matri  Apollinis  et  Dianae  sacrificarent, 
Nioba  eas  vituperavit  et  Xur\  inquit,  'ignotis  dis  sacrificatis?'  Gleich  zeigt  sie, 
wen  sie  unter  bekannten  Göttern  versteht:  „Cur  non  mihi  sacrificatis,  quae 
pulchritudine,  potentia,  divitiis,  etiam  gener e  omnes  super o.''  Erst  nach  der  wört- 
lichen Übersetzung  der  Ablative  instrum.  „d  u  rc  h  Schönheit  usw.'*  ist  das  bessere 
Deutsch  a  n  Schönheit  einzusetzen.  Welche  Göttin  besonders  will  sie  im  Vergleich 
mit  sich  herabsetzen?  —  Quis  Latonam  mecum  comparabit,  cum  ego  quattuordecim 
liberos  habeam,  illa  duos?  Man  läßt  den  Fragesatz  in  eine  Behauptung  verwandeln: 
Nemo  Latonam  mecum  comparabit,  und  fragt:  Aus  welchem  Grunde,  nicht? 
und  die  Antwort  wird  gesucht  in  dem  Grundnebensatze :  C  u  m  ego  habeam.  Er 
wird  der  ursprünglichen  Bedeutung  von  cum  entsprechend  übersetzt:  „wo  ich 
doch  h  ab  e." 

Hatte  Niobas  Rede  Erfolg?  —  Postquam  haec  dixit,  mulieres  sacrificare  pro- 
hibuit.  Prohibere  nicht  hindern,  sondern  abhalten  (pro  —  nach  vorne),  daher 
der  Acc.  c.  inj.  mulieres  sacrificare  als  Objekt  dazu.  Doch  welches  Verhängnis  be- 
schwor sie  jetzt  herauf?  Hac  re  Latonae  iram  excttavit.  Wie  rächte  sich  die  Göttin? 
Dea  statim  liberos  suos  oravit,  ul  superbiam  Niobae  vindicarent,  sie  möchten 
oder  sollten  doch  bestrafen.  Wann  wurde  der  Befehl  ausgeführt?  A  1  s  Nioba 
und  ihre  K  nder  die  Burg  betraten,  hat  Apollo  die  Söhne,  Diana  die  Töchter  ver- 
mittelst der  Pfeile  getötet:  Cum  in  arcem  Thebarum  v enissent ,  Apollo  filios, 
Diana  filias  Niobae  s agitt  i s  necavit.  Weshalb  sagt  der  Lateiner  im  plusqu. 
gekommen  waren,  und  durch  welches  Mittel  vermochten  die  himmlischen  Götter 
auf  Erden  der  Mutter  Befehl  zu  verwirklichen? 

Es  folgt  ein  für  diese  Stufe  stark  abstrakter  Satz:  Ita  Niobae  superbia  ipsi 
causa  doloris,  liberis  eius  causa  perniciei  fuit;  doch  kann  er  für  die  grammatische 
Erkenntnis  fruchtbar  gemacht  werden.  Die  Folge  des  Hochmuts  war  für  die  arme 
Königin  Schmerz,  für  ihre  Kinder  war  der  Hochmut  die  Ursache  des  Todes. 

Wiederum  trieb  das  Leid  die  beklagenswerte  Frau  aus  der  Heimat;  wohin? 
Mulier  i  n  Phrygiam  migravit  ibique  in  Sipylo  sedens  perpetuo  flevit.  Und  vor 
ihrem  Schmerz  sank  endlich  der  Götter  Zorn.  Der  Satz:  misericordia  deorum 
Nioba  in  saxum  mutata  est  (lacrimaeque  eius  etiam  nunc  manant)  wird  zunächst 
ohne  misericordia  übersetzt:  Nioba  wird  in  einen  Felsen  verwandelt,  den  ver- 
steinerten Schmerz  mit  den  nimmer  versiegenden  Tränen.  Und  die  Ursache 
war  das  endliche  Erbarmen  der  Götter.     Mit  Nachdruck  wird  darauf  gehalten, 


Neuhumanistische  Unterweisung  im  Lateinunterricht.  69 

daß  die  Schüler  die  so  beliebte  Übersetzung  von  misericordia  „durch  das  Mitleid" 
in  die  richtigere  „infolge  des  Erbarmens"  vertauschen.  Der  ewige  Abi.  instmm, 
hat  auf  unsere  Sprache  schädlich  eingewirkt,  und  es  wird  Zeit,  daß  er  auf  seine 
Grenzen  verwiesen  wird.  Misericord  i  a  ist  ein  günstiges  Beispiel  für  den  Abi. 
caiisae,  den  ursprünglichen,  noch  in  voller  Kraft  stehenden  Ablativus.  Seine  Prä- 
position heißt  „infolge  von",  die  des  instrumentalis  „durch"  oder  , »vermittelst". 
Daran  muß  sich  der  Schüler  gewöhnen.  Der  instmm.  ist  sagittis  in  dem  Ssitz: Apollo 
filios  sagittis  necavit.  Das  Instrument  ist  das  unselbständige  Werkzeug,  die  Ur- 
sache ist  selbständig.  Der  Ablativus  causae  steht  dem  lokalen  Woher- Begriff  des 
genuinen  Ablativus  am  nächsten.  Wie  ich  sagen  kann:  Ich  komme  von  einem 
Orte  her:  Roma  venia,  loco  cedo;  kann  ich  auch  bei  jedem  Ereignis  fragen:  Woher 
kommt  es?  Was  war  sein  Grund,  seine  Ursache?  Woher  kam  es,  daß  sich  Niobas 
Schicksal  wandte,  welches  war  der  Grund?  —  Infolge  des  göttlichen  Mitleids  ging 
ihre  Verwandlung  vor  sich.  Misericord  i  a  ist  derselbe  Woher-Casus,  der  in  Stück  15 
begegnet,  wo  es  von  der  Nephela  heißt:  quae  d  iv  i  n  a   o  r  igine  erat. 

Dieser  Ablativus  causae,  die  zweite  Stufe  der  Entfaltungsstadien  des  Ablativus, 
begegnet  so  oft,  ist  ein  so  wesentlicher  Bestandteil  der  lateinischen  Sprache,  daß 
sein  Verständnis  so  bald  und  so  anschaulich  wie  möglich  angebahnt  werden  muß. 
Freilich  galt  es  in  althumanistischer  Stilistik  für  eine  Feinheit,  zu  sagen:  miseri- 
cordia adductus,  impulsus,  commotus,  aber  mit  solchen  Partizipien  wurde  doch  erst 
einer  ursprünglichen  Kraft  eine  Stütze  verliehen,  die  sie  an  sich  nicht  nötig  hatte. 
Magnitudine  dolorum  eiulare  sagt  Cic.  Tusc.  II,  7,  19.  Socrates  (vadit  in  carcerem) 
eodem  scelere  iudicum,  quo  tyrannorum  Theramenes.  Tusculan.  I,  40,  97.  Ostermann 
Stück  199:  animi  spe  metuque  pendent,  das  Herz  hängt  in  der  Schwebe  infolge 
von  Furcht  und  Hoffnung.  Concordia  res  parvae  crescunt,  discordia  maximae  di- 
labuntur.  Indutiis  tacitis  caesos  sepeliverunt  —  infolge  eines  schweigenden  Waffen- 
stillstandes konnten  sie  die  Gefallenen  begraben.  Welch  charakteristisches 
Beispiel  für  die  wirkungsvolle  Kraft  des  abl.  causael  Die  wirkende  Ursache  ist 
der  Ausgangspunkt  für  eine  andere  Erscheinung;  das  ist  eine  Erkenntnis,  die  immer 
mehr  angebahnt  werden  soll. 

Das  rechte  Verständnis  des  Ablativus  führt  weiter  zum  natürlichen  Gebrauch 
des  Ablativus  absolutus,  denn  es  war  Unnatur,  ihn  als  grammatische  Formel  lernen 
zu  lassen,  um  ihn  dann  vorkommenden  Falls  nach  geübtem  Rezept:  nachdem  usw. 
aufzulösen.*)  Das  aufs  Geratewohl  aufgeschlagene  24.  Kap.  des  IV.  Buches  von 
Caesars  Bellum  Gallicum  beginnt:  At  barbari  consilio  Romanorum  cognito  .... 
nostros  navibus  egredi  prohibebant.  Nun  zu  fragen:  was  ist  consilio  Romanorum 
cognito  für  eine  Konstruktion,  um  vom  Resonanzboden  der  grammatischen  Schu- 
lung den  Ablativus  absolutus  zu  vernehmen,  ist  gewiß  ebenso  töricht,  als  es  oft  ge- 
schehen ist.  Consilio  cognito  heißt:  , »infolge  der  Kenntnis  des  römischen  Plans 
hinderten  die  Barbaren  die  Unseren  am  Aussteigen".  Ebenso  Kap.  28:  his  rebus 
pace  confirmata  .  ...  ex  superiore  portu  leni  vento  solverunt,  miolge  der  friedlichen 
Lösung  konnten  sie  die  Anker  lichten.    Ebenso  Kap.  31:   rursus  coniuratione  facta 

*)  F.  Wagner  in  seiner  neuen  lateinischen  Satzlehre  für  Reformrealgymnasien 
(Leipzig  1911)  sagt  richtig:  der  übliche  Ausdruck  Ablativus  absolutus  ist  irreführend, 
da  der  Abi.  nur  im  engen  Zusammenhang  mit  dem  Satz  zu  verstehen  ist. 


70  A.  Stahl, 

paulatim  ex  castris  discedere  etc.  Kap.  23:  His  constituiis  rebus  tertia  fere  vigilia 
solvit  heißt:  „infolge  dieser  Anordnung";  aber  weil  es  der  Woher-Casus  ist,  kann 
es  auch  noch  ursprünglicher  heißen:  „von  der  Erledigung  aus".  Und  in  diesem 
„Woher"  liegt  die  B  e  r  e  c  h  t  i  g  u  n  g  für  die  deutsche  Übertragung  mit  „nach- 
dem". Bell.  Gallicum  VII,  31:  qui  Auarico  expugnato  refugerant;  die  infolge  der 
Eroberung  hatten  flüchten  müssen,  die  von  dem  eroberten  Avaricum  geflohen 
waren,  die,  nachdem  Avaricum  erobert  war,  hatten  fliehen  müssen.  —  Das  ist  ein 
Stück  unseres  retournons  ä  la  nature. 

Während  der  Modus  in  den  Absichts-,  Wunsch-  und  Auftragssätzen  sich  sehr 
bald  als  konjunktivisch  notwendig  begreifen  läßt,  ist  das  sehr  schwer  bei  cum 
causale  oder  temporale  der  Fall.  Einem  begabten  Primaner  kann  ich  vielleicht 
eine  vertiefende  Erkenntnis  darin  verschaffen,  im  allgemeinen  wird  man  aber  auf 
ein  adäquates  Verständnis  verzichten  müssen.  Der  Zeitaufwand  würde  sich  kaum 
lohnen.  Dennoch  muß  gelegentlich  an  günstigen  Beispielen  gezeigt  werden,  welchen 
Sinn  der  Lateiner  mit  diesem  Konjunktiv  verbindet.  Der  Satz  bei  Livius  XXI, 
31,  10:  Nam  cum  aquae  vim  vehat  ingentem,  non  tarnen  navium  patiens  est  heißt 
seinem  potential-konzessiven  Sinne  gemäß:  Denn  mag  sie  auch  (die  Durance) 
eine  große  Menge  Wasser  führen,  schiffbar  ist  sie  nicht.  Auch  kann  man  in  dem 
eben  gelesenen  Satze:  Quis  Latonam  mecum  comparabit,  cum  ego  quatiuordecim 
liberos  habeam,  dem  lateinischen  Geiste  entsprechend  übersetzen:  wo  ich  doch 
14  Kinder  habe;  aber  die  konsequente  Durchführung  der  angedeuteten  Aufgabe 
bedarf  einer  besonderen  Schulung. 

Mag  es  auch  oft  nicht  angängig  erscheinen,  die  intime  Logik  des  einen  Gebietes 
dem  Schüler  nahe  zu  bringen,  so  kann  doch  die  gewonnene  Erkenntnis  für  ein  anderes 
Gebiet  befreiend  wirken.  Das  gilt  z.  B.  für  den  Konjunktiv  in  Konsekutivsätzen. 
Er  entspricht  so  wenig  unserem  Sprachgefühl,  daß  selbst  ein  sehr  gewandtes  und 
anpassungsfähiges  Denken  sich  nur  schwer  in  die  fremde  Erscheinung  hinein- 
findet. Denn  für  uns  ist  die  Folge  eines  Ereignisses  genau  so  wirklich  wie  seine  Ur- 
sache: „Der  Sturm  war  so  stark,  daß  die  Bäume  zerbrachen".  Setzt  der  Lateiner 
im  Folgesatz  den  Konjunktiv,  so  heißt  das,  er  stellt  ihn  unter  den  Gesichtspunkt 
der  Möglichkeit,  des  nur  vorgestellten  Eintretens,  der  erst  gedachten  Wirklichkeit. 
Aus  dem  Gebiet  der  reinen  Objektivität  rückt  er  die  Folge  in  das  der  subjektiven 
Vorstellung  oder  Erwartung.  Aus  dem  konjunktivisch-unselbständigen  Wesen 
des  WZ-Satzes  ergibt  sich,  daß  der  Schwerpunkt  auf  dem  Hauptsatz  liegt,  der  Neben- 
satz nur  den  Wert  der  erwarteten  oder  bestätigten  Möglichkeit  hat.  Von  einem 
potentialis  der  Erwartung  zu  sprechen,  wie  R.  Methner  es  tut,  ist  deshalb  sehr 
empfehlenswert.  Der  Nebensatz  hebt  eine  Erscheinung  hervor,  die  in  der  Ent- 
faltungskraft des  Hauptsatzes  beschlossen  liegt.  Diese  wissenschaftliche  Wahr- 
heit bekundet  sich  dem  eindringenden  Denken,  namentlich  wenn  noch  der  Ein- 
fluß der  künstlerischen  Entwicklung  der  Sprache  stärker  berücksichtigt  wird. 
Eine  ausgezeichnete  Bestätigung  findet  sich  zum  Beispiel  in  Ciceros  stilistischem 
Meisterwerk  pro  Sestio  41 :   tanta  fuit  moderatio  hominis,  tantum  consilium,  ut  con- 

tineret  dolorem  neque  eadem  se  re  ulcisceretur,  qua  esset  lacessitus,  sed  illum 

tot  iam  in  funeribus  rei  publicae  exsultantem  ac  tripudiantem  vinculis  legum,  s  i 
p  0  sset ,  CO  nstr  inger  et.   An  diese  Erkenntnis  kann  wohl  der  reifere  Schüler 


Neuhumanistische  Unterweisung  im  Lateinunterricht.  71 

bei  besonders  günstigen  Fällen  herangeführt  werden,  z.  B.  bei  dem  von  Methner 
zitierten  Satz:  tanta  vis  probitatis  est,  iit  eam  vel  in  hoste  diligamus,  in  den  das  vel 
einen  kondicionalen  Sinn  hineinträgt  (wir  möchten  sie  wohl  gar  am  Feinde  lieben, 
falls  sie  uns  dort  begegnete).  Und  ebensogut  erklärbar  sind:  Ita  multa  Romae 
geruntur,  ut  vix  ea,  qiiae  jiimt  in  provinciis,  audiantw.  Ita  natus,  ita  educatus  est, 
ita  f  actus  et  animo  et  corpore,  ut  multo  appositior  ad  ferenda  quam  au  ferenda  esse 
videatur.  Auch  an  einem  Satze  wie:  Hostes  ita  perterriti  sunt,  ut  nemo  resistere 
änderet  kann  man  den  Unterschied  der  Denkweise  aufzeigen.  Der  Deutsche  hebt 
die  Tatsächlichkeit  hervor:  niemand  wagte;  der  Lateiner:  niemand  dürfte  noch 
gewagt  haben,  sich  zu  widersetzen. 

Indessen  muß  eine  konsequente  Durchführung  solcher  Erklärungen  abgelehnt 
werden.  Eigentlich  wertvoll  wird  aber  die  gewonnene  Einsicht  für  die  Erklärung 
einer  Gruppe  von  Relativsätzen.  Sagte  man  früher,  der  Konjunktiv  in  den  Relativ- 
sätzen, die  sich  anschließen  an  Redensarten  wie  sunt,  non  desunt,  reperiuntur, 
quotusquisque  est,  rechtfertige  sich  durch  die  Tatsache,  daß  er  eine  „Folge'*  aus- 
drücke, so  war  das  eine  jener  formalen  Erklärungen,  die  eine  Erscheinung  auf 
eine  andere  zurückführen,  die  selbst  der  Begründung  bedarf.  Auch  hier  ist  der  Kon- 
junktiv der  Potentialis.  Non  is  sum,  qui  meiu  mortis  terrear  heißt:  Ich  bin  nicht 
der  Mann,  der  sich  (gegebenenfalls)  durch  Todesfurcht  erschrecken  ließe.  Meine 
Eigenschaften  tragen  nicht  die  Möglichkeit  einer  Todesfurcht  in  sich.  In  demCicero- 
nianischen  Satz:  qui  se  ultra  morti  offerant,  facilius  reperiuntur  quam  qui  dolorem 
patienter  ferant  wird  eine  Gattung  von  Leuten  vorgestellt,  die  e  t  w  a  die  genannten 
Eigenschaften  haben  könnte.  Ebenso  steht  es  mit  dem  Konjunktiv  nach  dignus, 
apius,  idoneus,  qui:  Dignus  sum,  cui  fides  habeatur.  Und  nicht  anders  verhält  es 
sich  mit  den  Konjunktiven  in  den  Relativsätzen  kausaler  und  konzessiver  Art; 
magna  vis  veritatis,  quae  contra  hominum  ingenia  facile  se  ipsa  defendat!  Der  Ge- 
danke des  Relativsatzes  heißt:  Sie  möchte,  dürfte  sich  wohl  selbst  verteidigen 
können. 

Unser  Ziel  ist,  die  Grammatik  nicht  durch  Verstümmelung  zu  kürzen,  sondern 
durch  Zurückführung  des  Mannigfaltigen  auf  die  einheitliche  Grundlage.  Durch 
innere  Vertrautheit  mit  dem  Wesen  der  fremden  Sprache  wollen  wir  größeres  Zu- 
trauen erwecken. 

Dieses  furchtvertreibende  Zutrauen  zu  gewinnen  ist  auch  ein  Grund,  weshalb 
wir  schon  von  der  untersten  Stufe  an  Etymologie  treiben. 

Heutzutage  noch  von  etymologischer  Spielerei  zu  sprechen,  wäre  ein  Beweis 
von  Unkenntnis  der  großen  Werte,  welche  die  Wissenschaft  der  letzten  Jahrzehnte 
hier  geschaffen  hat.     In  Frankreich,  wo  früher  das  Epigramm  kursierte: 

Alfana  vient  d'equus,  sans  doute; 
Mais  il  faut  avouer  aussi 
Qu'en  venant  de  lä  fusqu'ici 
II  y  a  bien  change  sur  la  route. 

wird  jetzt  nicht  minder  großes  geleistet  als  in  England,  von  dem  z.  B.  Bradleys 
Müking  of  English  zu  uns  gekommen  ist.  Bei  uns  sind  immer  noch  die  handlichsten 
Bücher  die  Lexika  von  Vanicek  und  Walde. 


72  A.  Stahl. 

Schon  von  der  untersten  Stufe  an  treiben  wir  Etymologie  mit  völlig  wissen- 
schaftlicher Begründung,  in  dreifacher  Hinsicht:  Die  Wurzelbedeutung  mit  ihrer 
sinnlichen  Vorstellung  wird  gelernt,  Gruppen  nach  gemeinsamen  Stämmen 
werden  gebildet,  die  Verwandtschaft  der  Sprachen  untereinander,  soweit  sie  in 
den  Bereich  der  Erfahrung  tritt,  wird  gezeigt. 

Macht  der  Novize  gleich  die  Bekanntschaft  einer  Anzahl  mit  den  deutschen 
gleicher  oder  verwandter  Wörter,  wie  Anna,  Carolas,  pater,  insula,  bestia,  porta 
(Portal),  modus  (Mode),  metallum,  mare  (Marine),  familia  etc.,  so  löst  sich  in  seiner 
Seele  das  freudige  Gefühl  aus,  nicht  ganz  in  terram  incognitam  zu  wandeln. 

Möglichst  selbsttätig  soll  er  bald  lernen,  den  einheitlichen  Stamm  zusammen- 
hängender Wörter  zu  suchen  und  regelmäßige  Ablaute  anzumerken:  rex,  regina, 
rego,  regio,  rectus;  rogus,  rogare.  —  Aditus,  exitiis,  reditus,  transitus,  initium,  seditio, 
comes,  miles,  nauta  (navita) ,  contio,  comitium,  funditus,  caelitus  etc.  Nicht  nur  Ge- 
dächtnisstützen werden  so  gewonnen,  auch  der  deutsche  Stil  wird  dadurch  ver- 
bessert. Zu  den  größten  Geschmacklosigkeiten  z.  B.,  die  wir  aus  dem  Lateinischen 
herübergenommen  haben,  gehören  unstreitig  die  Appositionen:  Ich  als  dein  Freund, 
Cicero  als  Knabe,  ich  als  dein  Begleiter.  Durch  Auflösung  eines  Wortes  in  seine 
Bestandteile  wird  oft  eine  glückliche  Hilfe  geschaffen.  Wie  steif  klingt  der  Vers 
aus  Horaz  (Epoden  I,  17):  comes  minore  sum  futurus  in  metu,  qui  maior  absentes 
habet  in  der  Übersetzung:  „Als  dein  Begleiter  werde  ich  in  geringerer  Furcht  leben", 
um  wie  viel  gefälliger  durch  Analyse  des  comes:  Geh  ich  mit  dir,  wird  meine  Angst 
geringer  sein,  die  durch  die  Trennung  stärker  wird  usw. 

Dem  menschlichen  Geiste  gerecht  werden,  der  überall  hinter  der  Erscheinung 
die  konkrete  Speise  der  Phantasie  sucht,  heißt  die  Wege  der  Etymologie  wandeln. 
Hinter  dem  spröden  Wortlaut  erhebt  sich  die  sinnliche  Vorstellung,  das  Bild  mit 
seinem  buntfarbigen  Schimmer.  Mag  immer  das  Wort  nicht  das  Bild  selber  sein, 
nie  völlig  im  Spiegel  sich  das  Gespiegelte  zeigen,  mag  Rückert  recht  haben: 

Nie  dem  Gespiegelten  entspricht  der  Spiegelglanz, 
Nie  dem  Versiegelten  das  äußere  Siegel  ganz  — 

für  den  Schüler  ist  das  hervorstechende,  namengebende  Merkmal  das  Moment, 
das  seine  Phantasie  erfaßt  und  das  dem  unlustigen  Geiste  die  glückliche  Kraft  des 
Gedächtnisses  gibt.  Lebendige  Intuition  ist  die  Sehnsucht  des  menschlichen  Geistes. 
Apis  das  Stacheltier,  collis  die  Erderhebung  (cel,  columen),  tumulus  die  Schwellung, 
adulari  mit  dem  Schweif  wedeln,  sedulus  ohne  Betrug  tätig,  percontari  mit  der 
Ruderstange  sondieren,  sind  wertvollere  Begriffe  als  Biene,  Hügel,  schmeicheln, 
emsig,  erforschen.  Früher  wurde  gelernt  sagax  =  scharfsinnig,  und  natürlich  stand 
dann  der  Schüler  hilflos  vor  einer  Stelle  wie  Tacitus'  Germania  10:  proprium  gentis 
equorum  quoque  praesagia  ac  monitus  experiri.  Jetzt  lernt  er  „ahnend,  witternd", 
und  weiß,  daß  das  Wort  eine  unmittelbare  Naturkraft,  das  geheimnisvolle  Fühlen 
der  Seele  bezeichnet,  das  mit  dem  logischen  Denken  nichts  zu  tun  hat.  Saga,  sagana 
ist  die  Zauberin,  und  Wildenbruch  hat  in  einem  Vers  das  Vermögen  der  germani- 
schen Rosse  umschrieben: 

Grau-Fuß  und  Blau-Fuß,  die  Rosse  wert, 
Zaubergabe  war  ihnen  beschert: 


Neuhumanistische  Unterweisung  im  Lateinunterricht.  7ä 

Künftige  Dinge,  allen  verborgen, 
Dinge  der  Freude,  Dinge  der  Sorgen, 
Kündeten  sie  mit  menschlichem  Munde, 
Wenn  die  Julzeit  kam,  in  nächtlicher  Stunde. 

Was  für  das  einzelne  Wort  gilt,  wird  nicht  minder  für  die  Wortverbindung  in  An- 
spruch genommen.  Phrasen  lernen  zu  lassen,  ohne  das  Umdenken  zu  vollziehen 
von  der  fremden,  lebendig  erweckten  Vorstellung  in  die  der  eigenen  Sprache,  ist 
im  neuen  Kurs  ein  methodischer  Elementarfehler.  Dabei  wird  von  dem  fort- 
schreitenden Schüler  auch  mit  starker  Inanspruchnahme  seines  logischen  Denkens 
Erkenntnis  und  Verständnis  für  die  Widersprüche  in  der  fremden  Wortverbindung^ 
verlangt.  Um  das  immer  zu  rügende  c  o  n  vocare  zu  vermeiden,  ist  bei  contionem 
advocare  darauf  hinzuweisen,  daß  contio  schon  ein  einheitliches  Ganze  ist,  das  nur 
herangerufen  zu  werden  braucht.  Es  heißt  copias  castris  continere,  weil  castra  Umr 
Schließung  heißt  {qat,  cassis  =  Sturmhaube).  Tumultum,  seditionem,  superbiam 
sedare  heißt  Aufruhr,  hochfahrenden  Sinn,  zum  Sitzen  bringen;  pugnam  detrectare 
den  Kampf  wegziehen,  wir:  ablehnen.  Ineunie  vere  unterscheidet  sich  von  hieme 
inita  (nach  Beginn)  durch  die  völlig  andersartige  Vorstellung.  Jenes  heißt: 
wenn  der  Frühling  ins  Land  kommt,  im  letzteren  ist  der  Winter  das  Land,  das 
selbst  betreten  ist.  Dem  oblivione  obrui  liegt  die  Vorstellung  eines  Steinhaufens 
zugrunde,  unter  dem  wie  im  Grabe  das  Dunkel  des  Vergessens  liegt.  Es  heißt 
ordiri  a  b  aliqua  re,  weil  das  Gespinst  von  einem  Punkt  aus  begonnen  wird.  In- 
iuriam,  hostem  ulcisci  heißt  „rächend  bestrafen".  Meint  die  ängstliche  Stilistik,. 
es  sei  stets  zu  sagen :  occupatum  esse  in  aliqua  re  =  mit  etwas  beschäftigt  sein, 
so  ist  daran  festzuhalten,  daß  occupare  „in  Anspruch  nehmen"  heißt,  z.  B.  vita 
occupata-  das  Ursprüngliche  also  ist  occupari  aliqua  re,  wie  Livius  schreibt.  Erst 
durch  die  gleiche  Sachvorstellung  mit  versari  in  aliqua  re  ist  /  n  gebräuchlicher 
geworden.  Liest  der  Schüler  Livius  XXI,  32,  13:  angustias  evadere  und  ein  paar 
Zeilen  später  periculo  evadere,  so  ist  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  die  Kon- 
struktion von  effugere  oder  relinquere  infolge  gleicher  Sachvorstellung  eingewirkt 
und  den  Akkusativ  statt  des  ursprünglichen  Woher-Kasus  eingeführt  hat.  Be- 
sondere Schwierigkeit  bereiten  auch  die  mit  Präpositionen  zusammengesetzten 
Verben  des  Sehens,  wenn  sie  transitiv  gebraucht  werden,  daher  ist  klarzustellen: 
prospicio  mare  ich  sehe  in  der  Ferne  {pro)  das  Meer,  suspicio  astra  ich  sehe  die  Sterbe 
von  unten  her. 

Die  Konstruktion:  dubito,  an  hoc  verum  s/7=das  wird  wohl  wahr  sein  — 
erklärt  sich  durch  die  Bedeutung  des  Verbums,  zwischen  zwei  Ansichten  (utrunt 
—  an)  hin  und  her  schwanken  und  das  Resultat,  das  in  der  Hinneigung  zur  zweiten 
Meinung  besteht. 

Die  Notwendigkeit  der  Heraufbeschwörung  der  sinnlichen  Vorstellung  ist 
psychologisch  begründet.  Ein  Wortkomplex,  zum  Aneignen  gegeben,  begegnet 
bestenfalls  Gleichgültigkeit,  meist  der  Unlust.  Mit  Erregung  der  Phantasie  weckt 
die  bildliche  Erklärung  Teilnahme  und  Freude.  Die  neue  Erkenntnis,  getragen 
von  den  Begleitmomenten  der  frohen  Gefühle,  wird  jetzt  erst  zum  geistigen  Besitz, 
und  das  neugewonnene  Bild  zum  Spiegel  für  die  vorhandene  Vorstellung  der  Mutter- 
sprache.   Im  Spiegel  der  fremden  Sprache  wird  die  eigene  neu  erworben. 


74  A.  stahl,  Neuhumanistische  Unterweisung  im  Lateinunterricht. 

Läßt  man  lernen:  timor  me  occupat,  terrorem  alicui  inicere,  so  wird  man  einen 
gesicherten  Besitz  nur  erreichen,  wenn  man  erklärt,  wie  dem  antiken  Denken  zu- 
folge die  Affekte  gewappneten  Scharen  gleich  über  uns  herfallen  und  uns  in  Besitz 
nehmen,  oder  wie  die  Eindrücke  der  Umwelt  Brandfackeln  gleichen,  die  ins  Haus 
geworfen  werden  (Cic.  Disp.  Tiisc.  I,  19,44:  quomque  corporis  facibus  inflammari 
sokamus  ad  omnes  fere  cupiditates).  Bei  occupare  möchte  ich  noch  bemerken,  daß 
,,ob"  im  alten  Latein  auch  die  Bedeutung  'circum'  hatte  und  daß  danach  obtinere, 
occupare^  oblino  u.  a.  zu  erklären  sind. 

Der  Unterschied  der  Vorstellung  in  desperare  salutem  und  de  salute  desperare 
ist  klarzustellen.  Jenes  heißt  aus  dem  Gebiet  der  Hoffnung  die  Rettung  fallen 
lassen,  dieses  die  Hoffnung  selbst  aufgeben  inbetreff  einer  Angelegenheit.  Das 
Avird  von  Sekunda  an,  womöglich  graphisch  illustriert.  Das  erstere  ermöglicht  die 
Konstruktion  des  Ablativus  absoluius  salute  desperata  sowie  den  Akkusativ  mit 
dem  Infinitiv:  Liv.  XXI,  30,  1 1 :  cepisse  quondam  Gallos  ea,  quae  adiri  posse  Poenus 
äesperei.  Keinesfalls  darf  im  Lexikon  stehen:  desperatus  =  „von  dem  man  alle 
Hoffnung  aufgegeben  hat",  sondern  „der  von  der  Hoffnung  Verstoßene"  =  de- 
iectus  spe.  Dem  desperare  aliquid  entspricht  spe  deicere,  depellere^  deturbare,  dem 
desperare  de  das  spem  abicere,  deponere  de  aliqua  re.  Die  Sprache  interpretiert  sich 
selbst. 

Wie  durch  das  Verschmelzen  zweier  Vorstellungen  oft  eine  neue  Bildung  ent- 
steht, die  offenkundig  unlogisches  Gepräge  trägt,  ist  wiederholt  zu  zeigen.  In 
gratiam  redire  cum  aliquo  ist  entstanden  aus  in  gratiam  alicuius  redire  -h  alicui 
gratia  est  cum  aliquo,  —  die  Bewegung  und  ihr  Erfolg  ist  verschmolzen.  Mihi  in 
mentem  venit  alicuius,  gewöhnlich  durch  Auslassung  von  memoria  erklärt,  erhält 
seinen  Genitiv  durch  die  sachliche  Einwirkung  von  memini.  Desipere  mentis  ist 
desipere  -i-  mentis  expertem  esse;  animum  advertere  aliquid  =  sentire;  in  dicto  audi- 
entem  esse  alicui  gilt  der  Verbalbegriff  einheitlich  =  parere.  Sehr  schwierig  war 
aqua  et  igni,  foro  alicui  interdico.  Die  Phrase  ist  eine  unbewußte  Verschmelzung 
von  interdico  tibi  aquam  et  ignem  und  prohibeo  (oder  intercludo)  te  aqua  et  igni,  foro. 
Sie  ist  ein  Produkt  der  pietätvollen,  doch  auf  das  Sinnfällige  gerichteten  Volksseele. 
Das  'interdico'  durfte  nicht  fehlen,  denn  es  war  die  Erinnerung  an  den  feierlich- 
sakralen  Akt,  die  in  dem  Worte  nachklingt;  aber  mehr  als  das  Wort  bedeutet  die 
Wirkung  des  Spruches,  die  in  dem  ablativus  separationis  'foro',  'aqua  et  igni' 
zu  ihrer  Geltung  kommt,  und  mit  dem  unwillkürlich  die  Erinnerung  an  prohibeo 
mitklingt.  Solche  und  ähnliche  Bildungen  sind  kein  Akt  der  wägenden  Schrift- 
sprache, sondern  das  elementare  Resultat  des  Schwankens  zwischen  zwei  gleich 
wertvollen  und  gebräuchlichen  Ausdrucksweisen,  die  gleichzeitig  im  Bewußtsein 
erscheinen,  um  den  Vorrang  ringen  und  endlich  in  ihrer  Vereinigung  den  Sieg  eines 
Kompaktes  darstellen,  mit  den  Mängeln  und  Vorzügen  eines  solchen  (vergl. 
H.  Ziemer,  Junggrammatische  Streifzüge).  Auch  Luther  hat  gedichtet:  er  hilft 
lins  frei  aus  aller  Not  —  und  meinte:  er  hilft  uns  aus  der  Not  und  macht  uns  frei. 


Ich  hoffe,  daß  obige  Ausführungen  den  Beweis  liefern,  daß  der  Sinn  unserer 
aufblühenden  Bewegung  trotz  aller  Wissenschaftlichkeit  ganz  auf  das  Praktische 


F.  Kuhlmann,  Über  die  Notwendigkeit  einer  Reform  des  Schreibunterrichts.       75 

gerichtet  ist.  Noch  reiten  wir  nicht  St.  Jörgs  Roß,  unter  dessen  Hufen  die  Blumen 
sprossen,  doch  wissen  wir,  daß  jeder  Fortschritt  durch  Rückkehr  zur  Natur  der 
Sprache  bedingt  sein  wird. 

Wesel.  Arthu  r  Stahl. 


Über  die  Notwendigkeit  einer  Reform  des  Schreibunterrichts. 

Als  höchstes  Lob  für  die  durch  die  menschliche  Hand  geschriebene  Schrift 
prägte  die  Zeit,  in  der  wir  heute  Alternden  das  Schreiben  erlernten,  das  Wort: 
,,wie  gestochen !".  Eine  Schrift  „wie  gestochen"  zu  lehren,  galt  dem  Schreib- 
meister als  seiner  Mühen  letztes  Ziel;  „wie  gestochen"  schreiben  können,  wurde 
dem  Schüler  als  Ideal  vorgehalten.  Heute  dürfte  es  im  allgemeinen  noch  genau  so 
sein. 

Schon  die  Anwendung  dieses  Wortes  als  ein  Lob  für  die  von  Menschenhand 
geschriebene  Schrift  bekundet  deutlich,  auf  wie  grundfalschen  Wegen  sich  unser 
Schreibunterricht  und  unser  Schriftgeschmack  befinden,  beweist,  daß  die  krasseste 
Unnatürlichkeit  als  erstrebenswert  erachtet  wird.  Denn  ein  Werk  von  Menschen- 
hand ist  doch  nur  dann  natürlich,  wenn  es  sich  als  solches  ehrlich  und  deutlich  gibt, 
und  so  ist  denn  die  Schrift  des  Menschen  eben  auch  nur  dann  als  natürlich  anzu- 
sehen, wenn  sie  eine  von  geistigen  Kräften  und  Impulsen  geleitete  schreibende 
Menschenhand  und  zugleich  die  Wirkung  des  Schreibwerkzeuges  erkennen  läßt. 
Auch  nur  das  kann  als  Handschrift  schön  genannt  werden,  was  wirklich  wie  durch 
die  Hand  und  das  Schriftwerkzeug  geschrieben  aussieht,  nicht  das,  was 
als  Geschriebenes  „wie  gestochen"  erscheint,  und  wäre  es  an  sich  noch  so  schön  und 
vollkommen.  Deshalb  darf  die  gestochene,  jedes  menschlich  persönlichen  Ausdrucks 
ermangelnde  Schrift,  die  der  Lithograph  und  Kupferstecher  mit  der  Graviernadel 
in  die  Metallplatte  oder  den  Stein  gruben,  nicht  wie  bisher  Vorbild  für  das  Schreiben 
sein.  Dadurch,  daß  man  die  gestochene  Schrift  dazu  machte  und  die  Schüler  zwang, 
diese  (in  den  Schulheften  oft  direkt  vorgedruckte)  Schrift  nachzubilden,  und  zwar 
mit  der  spitzen  Stahlfeder,  mit  der  man  sie  überhaupt  nicht  schreiben  kann,  wurde 
im  Schreibunterricht  unserer  Schulen  die  Unnatürlichkeit  in  Reinkultur  aufgezogen. 

Es  kann  von  niemand  geleugnet  werden,  daß  die  Normalduktusform  unserer 
Buchstaben,  die  unsere  Schreibhefte  enthalten,  zum  größten  Teile  nicht  ohne 
Vergewaltigung  der  Feder  und  der  Hand,  durch  unnatürliche  Drehung,  erzeugt 
werden  können.  Der  Kundige  weiß  weiter,  daß  die  gestochenen  Buchstaben  von  den 
Stechern  und  Schriftkünstlern  (besser  gesagt:  Schriftverderbern)  ganz  willkürlich 
umgestaltet  worden  sind  und  zu  allermeist  in  einem  starken  Gegensatz  stehen  zu 
den  durchaus  persönlichen  und  werkzeuggemäßen  Formen,  die  wir  in  den  wirk- 
lichen Handschriften  der  früheren  Zeiten  finden.  Deshalb  dünkt  den  in 
das  Schriftwesen  tiefer  Eingedrungenen  mit  Fug  und  Recht 
die  heutige  Grundlage  des  Schulschreibunterrichts  in  mehr 
als    einer    Beziehung    unnatürlich. 

Wenn  wir  die  Schrift  nehmen  als  das,  was  sie  ihrem  Wesen  nach  ist,  als  ein 
persönliches  Ausdrucksmittel  des  Menschen,  dann  erscheint  es  nicht  minder  unnatür- 


76  F.  Kuhlmann, 

lieh,  in  einem  Normalduktus  einer  ganzen  Provinz,  einer  Gesamtheit  von  vielen 
Tausenden,  den  gleichen  Ausdruck  aufzuzwingen.  Daß  die  meisten  sich  später  nach 
Laune  und  Geschmack  von  diesem  Zwange  frei  machen,  mindert  die  pädagogische 
Sünde  nicht,  zeigt  aber  die  volle  Unnatürlichkeit  und  Unzweckmäßigkeit  der  Ein- 
richtung. Es  ist  selbstverständlich  notwendig,  im  ersten  Unterricht  an  eine  über- 
lieferte Form  (die  in  gewissem  Sinne  dann  auch  einen  Duktus  darstellt)  anzuknüpfen. 
Diese  Ausgangsform  muß  aber  einfach  und  natürlich,  d.h.  vor  allem  werkzeuggemäß 
sein.  Diesen  Anforderungen  entspricht  aber,  wie  schon  gesagt,  der  heutige  Duktus 
nicht.  Aus  wichtigen  Gründen  muß  im  Laufe  der  Zeit  dem  Schüler  nicht  nur  ge- 
stattet sein,  sich  von  dieser  Ausgangsform  frei  zu  machen,  nein,  es  muß  mehr  und 
Besseres  geschehen:  er  muß  behutsam  und  mit  Geschick  im  Unterricht  selbst 
angeleitet  werden,  aus  dieser  unpersönlichen  Normalform  heraus  sich  eine  eigene, 
mehr  kultivierte  persönliche  Schrift  zu  gestalten.  Nur  so  kann  die  Schrift  der  deut- 
schen Nation,  die  eine  Entwicklung  durchgemacht  hat  wie  keine  andere,  zu  noch 
höherer  Vollendung  geführt  werden.  Der  heutige  Schreibunterricht  mit  seinem 
in  Volks-  und  Mittelschulen  bis  in  die  höchste  Stufe  durchgeführten  Normalduktus, 
sieht  die  Schrift  als  etwas  Feststehendes,  Totes  an  und  unterbindet  ihre  Entwick- 
lung, während  sie  etwas  Lebendiges,  Veränderliches,  Wachsendes  ist,  das  jeder  ein- 
zelne, besonders  aber  die  Schule,  als  eines  der  bedeutsamsten  Kulturgüter  des  Volkes 
zu  mehren  berufen  ist. 

Unsere  Schriftkenner  sprechen  die  Überzeugung  aus,  daß  die  bisherige  Behandlung 
der  Schrift  nicht  nur  zu  einem  Rückgang,  sondern  zu  einem  Verfall  geführt  hat, 
daß  abgesehen  von  der  Verwilderung  der  Handschrift  auch  der  einst  vorhandene  Sinn 
für  Schriftschönheit  und  Schriftcharakter,  ja  für  das  gesamte  Schriftwesen  selbst 
in  den  gebildeten  Kreisen  geschwunden  ist.  Um  zu  erkennen,  was  wir  verloren  haben, 
ist  es  nicht  einmal  notwendig,  erst  die  alten  kunstvoll  geschriebenen  Urkunden  ein- 
zusehen. Ein  Blick  in  das  rein  volkstümliche  Schriftwerk  des  abgeschlossenen 
Jahrhunderts  genügt  dazu.  Vor  mir  liegen  mehrere  Stammbücher  aus  Bürger- 
familien des  vorigen  Jahrhunderts.  Welch  feines  Empfinden  für  Form  und  Anordnung 
der  Schrift  ist  darin  niedergelegt.  In  noch  viel  höherem  Grade  sehe  ich  es  vor  mir 
in  den  drei  Stammbüchern  eines  Leipziger  Studenten,  die  ich  im  Altonaer  Museum 
fand.  Heute  gilt  schlechte  Schrift  und  saloppe  Anordnung  als  Attribut  der  Gelehr- 
samkeit, und  die  Schüler  unserer  höheren  Schulen  sind  früh  bestrebt,  sich  dieses 
äußere  Zeichen  „zuzulegen".  Zu  jener  Zeit  war  es  sichtlich  anders.  In  unseren  Tagen 
wird  nur  der  absichtsvoll  arbeitende  Schriftkünstler  die  Buchstaben  so  geschmack- 
voll gestalten  und  die  Schrift  so  schön  ornamental  wirkend  ordnen,  wie  es  um  die 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts  etwa  100  deutsche  Gelehrte  in  diesen  Büchern  absichts- 
los und  aus  innerem  Bedürfnis  getan.  Man  kommt  sich  gegenüber  so  beredten  Zeugen 
einer  dahingegangenen  Schriftkultur,  die  sichtlich  nicht  nur  einigen  wenigen,  sondern 
ganzen  Kreisen  des  Volkes  eigen  war,  als  ein  Barbar  vor.  Das  Gefühl  für  Schrift- 
schönheit war  allgemeiner  und  feiner  zu  jener  Zeit,  da  nur  ein  Teil  des  Volkes  des 
Schreibens  kundig  war,  als  heute,  wo  es  Allgemeingut  ist.  Heute  findet  es  sich  auch 
in  den  Kreisen  der  Gebildeten  nicht  mehr.  Das  ist  sicherlich  ein  nicht  zu  verteidigen- 
des Mißverhältnis. 

Selbstverständlich  weiß  ich  wohl,  daß  die  Eile  und  Unruhe  unserer  Zeit-,  ganz 


über  die  Notwendigkeit  einer  Reform  des  Schreibunterrichts.  77 

besonders  aber  die  Vermehrung  des  Schreibwerl<s  auf  allen  Gebieten  zur  Vernichtung 
der  Schriftkultur  und  zur  Verwilderung  der  Handschrift  beigetragen  haben  und 
gewissermaßen  beitragen  mußten,  aber  ich  meine:  um  so  größer  die  Gefahren  waren, 
um  so  mehr  hätte  von  selten  der  Schule  geschehen  müssen,  diesem  Verfall  ein  Boll- 
werk entgegenzubauen.  In  der  Art  ihres  Schreibunterrichts  hat  die  Schule  aber 
nach  meinem  Gefühl  eher  an  dem  Verfall  mitgearbeitet.  Sicherlich  liegt  heute  aller 
Anlaß  dazu  vor,  unsern  gesamten  Schreibunterricht  —  ich  denke  bei  all  meinen 
Ausführungen  stets  an  die  Schule  im  allgemeinen,  nicht  etwa  nur  an  die  höhere  — 
zu  reformieren  und  zugleich  unsern  Geschmack  in  bezug  auf  die  Gestaltung  der 
Schrift  selbst  wesentlich  zu  ändern  und  zu  verbessern.  Die  Arbeiten  unserer  mo- 
dernen Schriftkünstler  bieten  Gelegenheit  und  reichen  Stoff  dazu. 

Die  Schulverwaltung  besonders  auch  der  höheren  Schulen  hat  in  mancherlei 
Beziehung  der  Schrift  ihre  Aufmerksamkeit  zugewandt.  Sehr  deutlich  beweist  die 
Bestimmung,  daß  auch  den  Abiturienten  eine  Zensur  über  ihre  Schrift  ins  Leben  mit- 
begeben werden  soll,  wie  großen  Wert  sie  auf  die  Schrift  legt.  Leider  ist  diese  wohl- 
gemeinte Anordnung  nicht  fähig,  an  der  Schriftmisere  etwas  zu  ändern.  Aber  sie 
ist  geeignet,  die  nächstbeteiligten  Kreise  zu  der  Überzeugung  zu  führen,  wie  groß 
die  auf  diesem  Gebiete  waltenden  Unnatürlichkeiten  und  Widersprüche  sind,  und 
zu  der  Erkenntnis,  daß  dieselben  zu  Verwirrungen,  Konflikten,  gelegentlich  auch 
zu  ungerechter  Beurteilung  führen  müssen.  Für  die  Zeugnisabgabe  über  die  Schrift 
der  Abiturienten  fehlt  es  nämlich  heute  an  den  höheren  Schulen  überhaupt  an 
einem  gleichmäßigen,  ja,  im  Grunde  an  einem  gerechten  Maßstab.  Die  Urteile,  über 
die  Schrift  eines  Abiturienten  differieren  nicht  selten  zwischen  1 — 4,  je  nachdem  der 
eine  Beurteiler  den  Normalduktus,  der  andere  das  persönlich  Charaktervolle  der 
Schrift,  also  das  strikte  Gegenteil,  als  das  Richtige  und  Höchste  ansieht.  Man  einigt 
sich  dann  wohl  auf  eine  3  und  wird  somit  keiner  Seite  gerecht.  Eine  Norm,  nach 
der  die  Schrift  zu  messen  ist,  gibt  es  nicht.  Wenn  auch  das  Getühl  der  Wertung 
der  persönlichen  Schrift  in  den  Kreisen  der  höheren  Schule  sehr  stark  und  verbreitet 
ist,  so  besteht  doch  auch  die  Beurteilung  nach  dem  Normalduktus  voll  zu  Recht 
und  darum  ist  die  Zeugnisabgabe  über  die  Schrift  jedem  Zufall  preisgegeben.  Des- 
halb ist  jene  wohlgemeinte  Bestimmung  für  die  Gestaltung  der  Schrift  prak- 
tisch fruchtlos.  Die  dargelegten  Unnatürlichkeiten  und  Widersprüche,  die  auf  dem 
Gebiete  des  Schriftwesens  heute  herrschen,  können  nur  auf  die  Gefahr  hin  weiter 
bestehen,  einen  immer  tieferen  Verfall  der  Schrift  herbeizuführen.  Die  Notwendig- 
keit einer  Reform  des  gesamten  Schriftwesens  der  Schule  ist  um  so  dringlicher, 
je  mehr  das  Schreibwerk  durch  die  neuen  Bestimmungen  über  die  schriftlichen 
Arbeiten  anwachsen  wird.  Der  Verwilderung  der  Schrift  kann  nur  dadurch  Einhalt 
getan  werden,  daß  die  persönliche  Gestaltung  nicht  dem  Schüler  selbst,  nicht  seinen 
Launen  und  seiner  Neigung  zum  Grotesken,  wie  bisher,  überlassen  bleibt,  sondern 
daß  er  in  zweckmäßiger  Weise  im  ordentlichen  Schreibunterricht  zur  Entwicklung 
und  Befestigung  derselben  geführt  wird.  Das  wird  natürlich  im  innersten  Wesen 
ein  ganz  anderer  Unterricht,  wie  er  bisher  war,  werden  müssen;  denn  es  handelt  sich 
nicht  mehr  um  Einübung  einer  von  außen  an  den  Schüler  herangebrachten  fertigen 
Form,  sondern  um  eine  aus  dem  Inneren  entstehende,  durch  individuellen  Ge- 
schmack,   Hand   und  Werkzeug  gemeinsam   beeinflußte   persönliche   Formenge- 


7S       F.  Kithlmann,  Über  die  Notwendigkeit  einer  Reform  des  Schreibunterrichts. 

staltung.  Sie  erfordert  vom  Lehrer  ebensoviel  pädagogisches  Geschick  wie  psycho- 
logische Beobachtungsgabe  und  künstlerisches  Urteil,  ein  weises  Zurückhalten 
und  ein  tiefes  Empfinden  für  die  Gestaltungsäußerungen  des  Kindes.  Da  wird 
das  Schreiben  wieder  zu  einer  Kunst  und  der  Unterricht,  bisher  nur  eine  mechanische 
Einübung  konventioneller  Formen,  zu  einem  Kunstunterricht  und  damit  zu  einem 
bedeutungsvollen  Bildungs-  und  Erziehungsfaktor  werden.  Ein  solcher  Schreib- 
unterricht würde  in  seinem  Verlaufe  sich  mit  dem  Wesen  des  modernen  Zeichen- 
unterrichts eng  berühren,  ja  mit  ihm  gleiche  Ziele  verfolgen. 

Diese  Wesensgemeinschaft  des  zu  schaffenden  Schreibunterrichts  mit  dem 
Zeichenunterricht  ist  es  denn  auch,  die  mich  als  Zeichenlehrer  veranlaßt,  ihm  mein 
Interesse  zuzuwenden,  und  trotzdem  ich  kein  zünftiger  Schreiblehrer  bin,  das 
Wort  in  dieser  Angelegenheit  zu  nehmen.  Eine  Befugnis,  über  die  Reform  des 
Schreibunterrichts  bescheiden  ein  Wort  mitzureden,  dürften  mir  die  speziellen, 
mehrere  Jahre  lang  angestellten  praktischen  Untersuchungen  und  daraus  ge- 
wonnenen Erfahrungen  geben,  die  ich  vom  Zeichenunterricht  aus  in  der  Richtung 
unternahm,  aus  dem  Duktus  und  der  persönlichen  Handschrift  der  Schüler  heraus 
eine  rein  persönliche  dekorative  Schrift  zu  entwickeln.  Diese  Übungen  auch  un- 
mittelbar auf  das  Gebiet  der  Gebrauchsschrift  auszudehnen,  stand  mir  als  Zeichen- 
lehrer nicht  zu.  Wichtig  genug  aber  sind  die  Erfahrungen,  welche  ich  in  der  an- 
gegebenen Richtung  sammelte,  und  sie  erscheinen  mir  bedeutsam  zur  Lösung  der 
auf  dem  Gebiet  des  eigentlichen  Schreibunterrichts  aufsteigenden  Fragen;  denn  der 
Weg,  den  ich  mir  bahnte,  ist  im  Wesen  derselbe,  den  der  Schreibunterricht  wird 
gehen  müssen.  Auf  Grund  der  Erfahrungen,  die  ich  auf  diesem  Wege  sammelte, 
bin  ich  überzeugt,  daß  eine  schulmethodische  Entwicklung  der  persönlichen  Hand- 
schrift aus  einer  einfachen  und  werkzeuggemäßen  Grundform  heraus  möglich 
und  erfolgreich  sein  wird.  Von  der  dekorativen  Schrift  aus  bin  ich  weiter  zu  der 
Erkenntnis  gekommen,  daß  eine  zweckmäßige  und  intensive  Pflege  dieses  Ge- 
bietes im  Zeichenunterricht  eine  wesentliche  Hilfe  leisten  kann,  um  der  Verwilderung 
der  Schrift  im  allgemeinen  entgegen  zu  arbeiten;  denn  aus  der  nach  künstlerischen 
Gesetzen  gestalteten  dekorativen  Schrift  heraus,  kann  der  Schüler  am  sichersten 
die  Fähigkeit  gewinnen,  auch  seine  Gebrauchsschrift  den  Bedingungen  des  guten 
Geschmacks  gemäß  selbst  zu  gestalten. 

Es  wird  durchaus  nötig  sein,  das  glaube  ich  besonders  betonen  zu  müssen, 
auch  die  äußere  Gestaltung  der  Schulhefte  im  allgemeinen  einer  gründlichen  Re- 
vision in  der  Richtung  des  guten  Geschmacks  zu  unterziehen,  weil  sie  heute  durch 
ihr  meist  geschmackloses  Aussehen  den  Schüler  zu  gleich  geschmackloser  Schrift 
verleiten,  ja  reizen.  Es  ist  z.  B.  völlig  verlorene  Liebesmühe,  eine  geschmacklos 
umrandete  und  mit  der  Reklame  des  Buchbinders  verunstaltete  Schuletikette, 
wie  wir  sie  auf  vielen  Schulheften  finden,  durch  Schrift  geschmackvoll  auszuge- 
stalten. Erlaubt  nicht  nur,  sondern  erwünscht  sollte  es  sein,  da,  wo  die  schriftliche 
Arbeit  des  Schülers  die  Anwendung  einer  dekorativen  Schrift  gestattet,  z.  B.  in 
der  Überschrift,  sie  auch  zu  verwenden,*)  Unbedingt  gefordert  sollte  sie  da  werden. 


*)  Ich  denke  dabei  nicht  an  eine  mühsam  herzustellende  Zierschrift  (Gotisch 
oder  Fraktur),  sondern  an  eine  schnell  schreibbare  dekorative  Handschrift,  wie  die 
meisten   meiner  Schüler   sie   sich   selbst   aus   ihrer  Gebrauchsschrift   entwickelten. 


VV.  Wetekamp,  Bessere  Ausnutzung  unserer  Schulhöfe  und  Spielplätze  im  Winter.    79 

wo  das  Schulheft  sie  direkt  verlangt:  auf  der  Etikette.*)  Durch  Beachtung  der 
äußeren  dekorativen  Schriftgestaltung  an  den  besonders  hervorstechenden  Stellen  des 
Schulheftes  wird  der  Schüler  ganz  unwillkürlich  dazu  kommen,  auch  auf  die  Formung 
und  Anordnung  seiner  Gebrauchsschrift  innerhalb  des  Heftes  mehr  wie  bisher  zu 
achten.  Welchen  Einfluß  schon  die  äußere  Gestalt  des  Papiers  auf  die  Schrift  und 
den  Schüler  hat,  können  wir  im  Schulleben  oft  genug  feststellen.  Man  denke  nur 
an  die  beklemmende  Wirkung,  die  der  große  weiße  Bogen  auf  die  Prüflinge  ausübt. 
Daß  der  Schreibunterricht  allein,  und  sei  er  der  beste,  der  Misere  abzuhelfen  fähig 
wäre,  glaube  ich  nicht.  Nur  dann  wird  sich  eine  Wendung  zum 
Besseren  erhoffen  lassen,  wenn  der  Schrift  im  allge- 
meinen, auch  durch  das  geschmackvolle  Beschriften 
aller  im  Schulleben  gebrauchten  Hefte  und  anderer 
Ding e**),  eine  andere  und  bedeutungsvollere  Rolle  als 
bisher  zugewiesen  wird.  Eine  Belastung  der  Schüler  liegt  darin  sicher 
nicht.  Es  darf  vielmehr  behauptet  werden,  daß  die  Schüler  im  allgemeinen  sehr 
gern  freiwillig  dekorativ  schreiben.  Sie  werden  es  vor  allen  Dingen  dann  noch  lieber 
tun,  wenn  ihr  Bemühen  auch  von  Seiten  ihrer  wissenschaftlichen  Lehrer  Beachtung 
und  Anerkennung  findet.  Damit  wäre  ein  gut  Stück  praktischer  Geschmacks- 
erziehung ohne  viel  Mühe  geleistet. 

Im  allgemeinen  liegt,  das  sei  noch  hinzugefügt,  die  Sache  der  persönlicherr 
Schriftgestaltung  in  den  höheren  Schulen  günstiger  als  in  den  Volks-,  Mittel- 
schulen und  Seminarien,  weil  der  verbindliche  Schreibunterricht  hier  am  frühesten 
aufhört.  Um  so  größer  ist  aber  auch  die  Gefahr  der  Verwilderung  der  Schrift  an 
diesen  Schulen. 

Der  Hauptzweck  dieser  Zeilen  war,  eine  wichtige,  heute  brennend  gewordene 
Frage  in  Fluß  zu  bringen.  Auf  Einzelheiten  einzugehen  verbietet  der  Mangel 
an  Raum. 

Altona.  FritzKuhlmann. 


Bessere  Ausnutzung  unserer  Schulhöfe  und  Spielplätze 

im  Winter! 

Es  ist  erfreulich,  zu  sehen,  wie  das  Verständnis  für  den  Wert  körperlicher 
Bewegung  in  freier  Luft  durch  Spiel  und  Sport  immer  weiteren  Boden  gewinnt. 
Überall  sucht  man  für  hinreichend  große  Turn-  und  Spielplätze  bei  den  Schulea 
und  gesondert  von  ihnen  zu  sorgen.  Überall  werden  neben  den  Turnstunden  an 
den  Schulen  Spielnachmittage  eingerichtet,  an  denen  die  Schüler  sich  unter  Auf- 
sicht ihrer  Lehrer  den  verschiedenen  Turnspielen,  volkstümlichen  Übungen  usw. 
hingeben  können,  und  selbst  die  Gerätübungen,  die  besonders  auf  das  Hallenturnen. 
hindrängten,   werden  immer  mehr  ins  Freie  verlegt. 

*)  Hier    könnten    auch    die   wirkungsvolleren    Buchschriften,   wie    Kapitalschrift^ 
Gotisch,  Fraktur  usw.  zur  Verwendung  kommen. 
**>  z.  B.  der  Stundenpläne. 


^0    W.  Wetekamp,  Bessere  Ausnutzung  unserer  Schulhöfe  und  Spielplätze  im  Winter. 

Leider  aber  gilt  das  alles  fast  ausschließlich  für  den  Sommer.  Im  Winter  jedoch, 
wo  die  Bewegung  in  freier  Luft  erst  recht  not  tut,  da  die  kurzen  Tage  längere  Aus- 
flüge, wie  sie  im  Sommer  leicht  möglich  sind,  verhindern,  liegen  unsere  Spielplätze 
mehr  oder  weniger  brach. 

Woran  liegt  das?  Die  Temperatur  ist,  abgesehen  vom  Januar  und  Februar  — 
und  auch  da  nicht  immer  —  im  allgemeinen  bei  uns  im  Winter  nicht  so  niedrig, 
<iaß  nicht  im  Freien  gespielt  werden  könnte.  Noch  vor  ganz  kurzer  Zeit  sah  ich 
manche  unserer  Schüler  sich  in  Hemdsärmeln  an  den  Spielen  beteiligen.  Nicht 
das  Klima,  sondern  die  kurze  Tagesbeleuchtung  trägt  die  Schuld. 

Bis  vor  wenigen  Jahrzehnten,  solange  wir  in  der  Beleuchtung  auf  Petroleum- 
oder offene  Gasflammen  angewiesen  waren,  war  es  allerdings  unmöglich,  für  ge- 
nügende Beleuchtung  zu  sorgen,  man  mußte  sich  wohl  oder  übel  mit  Beginn  des 
Winters  in  die  Turnhallen  zurückziehen;  heute  aber,  im  Zeitalter  des  Gas-  und 
Spiritusglühlichts  und  der  Elektrizität  kann  das  frühe  Einbrechen  der  Dunkelheit 
kein  Hindernis  mehr  sein. 

:  Leider  aber  haben  Gewöhnung  und  das  auch  hier  herrschende  Beharrungs- 
vermögen trotz  des  guten  Beispiels  der  Eisbahnpächter  in  den  größeren  Städten 
uns  davon  abgehalten,  auf  den  Turn-  und  Spielplätzen  den  Kampf  gegen  die  Dunkel- 
heit durch  Anbringung  geeigneter  Beleuchtungskörper  in  genügendem  Maße  auf- 
zunehmen. An  einzelnen  Stellen  freilich  ist  schon  ein  Anfang  gemacht.  So  richtet 
seit  zwei  Jahren  die  Stadt  Schöneberg  bei  Berlin  jährlich  auf  einigen  geeigneten 
Schulhöfen  ausreichende  Beleuchtung  ein  und  wird  damit  fortfahren,  bis  alle  Schul- 
höfe, die  für  das  Spiel  in  Frage  kommen,  damit  versehen  sind.  Und  der  Erfolg 
beweist,  daß  von  der  Möglichkeit,  auch  im  Winter  körperliche  Bewegung. im  Freien 
^u  üben,  eifrig  Gebrauch  gemacht  wird. 

Ich  sagte  oben,  daß  die  Temperatur  bei  uns  im  Winter  gewöhnlich  nur  kurze 
Zeit  so  niedrig  ist,  daß  das  Spiel  im  Freien  unterbleiben  muß;  aber  gerade,  wenn 
das  der  Fall  ist,  bietet  sich  eine  weitere  Gelegenheit,  die  Schulhöfe  für  die  körper- 
liche Bewegung  im  Freien  dienstbar  zu  machen.  Ich  denke  an  den  schönsten,  über- 
all leicht  zu  ermöglichenden  Wintersport,  das  Schlittschuhlaufen. 

Angeregt  durch  das  Vorgehen  des  Vereins  ,, Volkswohl''  in  Leipzig,  der  seine 
^, Spielwiese"  imWinter  in  eineEisbahn  umwandeln  läßt,  habe  ich  schon  vor  mehreren 
Jahren  unter  sehr  ungünstigen  Verhältnissen  mehrere  Male  einen  Versuch  damit 
gemacht,  den  Schulhof  in  eine  Eisbahn  zu  verwandeln,  die  den  Schülern  zur  Ver- 
fügung gestellt  wurde.  Trotz  der  ungünstigen  Vorbedingungen  war  der  Erfolg 
jedoch  befriedigend  genug,  um  zu  einer  Fortsetzung  zu  ermuntern.  Äußere  Um- 
stände und  die  milden  Winter  der  letzten  beiden  Jahre  zwangen  mich,  zunächst 
davon  Abstand  zu  nehmen,  seit  über  acht  Tagen  aber  konnte  ich  zu  meiner  Freude 
den  Versuch  unter  günstigeren  Bedingungen  wiederholen  —  der  größte  Teil  des 
Schulhofes,  etwa  900  qm,  standen  für  den  Zweck  zur  Verfügung  —  und  der  Er- 
folg ist  durchaus  zufriedenstellend,  denn  die  Eisbahn  wird  eifrig  von  den  Schülern 
benutzt.  Eine  Anzahl  von  ihnen  läßt  keine  der  15  Minuten  dauernden  Pausen 
vergehen,  ohne  sich  wenigstens  einige  Minuten  auf  den  Schlittschuhen  umher- 
zutummeln.  Ferner  tritt  der  Eislauf  an  Stelle  von  Turnstunden;  es  wird  damit 
besonderer  Begeisterung  Eishockey  gespielt,  sicher  eine  gesunde,  den  Körper  kräftig 


A.  Tilmann,  81 

durcharbeitende  Übung.  Nachmittags  von  3 — "^j^  Uhr  steht  die  Eisbahn  dem 
Schülerausschuß  zur  Verfügung,  der  die  Benutzungszeit  unter  die  verschiedenen 
Klassen  verteilt;  jede  Klasse  kommt  an  drei  Nachmittagen  auf  die  Eisbahn. 
Schmale  Streifen  zur  Seite  der  Schlittschuhbahn  stehen  zum  „Schlittern"  zur 
Verfügung.  Die  Aufsicht  wird  von  den  Mitgliedern  des  Schülerausschusses  geführt, 
die  das  Recht  haben,  unbotmäßige  Elemente  zu  entfernen,  von  diesem  Recht  aber 
glücklicherweise  —  wie  das  wohl  vorauszusehen  war  —  bisher  keinen  Gebrauch 
machen  brauchten.  Die  Tätigkeit  des  Schülerausschusses  bei  einer  solchen  Ge- 
legenheit wird  sicher  zur  Stärkung  der  Einrichtung  der  Schülerselbstverwaltung 
beitragen.  Selbstverständlich  wird  auch  von  schlittschuhlaufkundigen  Mitgliedern 
des  Kollegiums  von  Zeit  zu  Zeit  nach  dem  Rechten  gesehen;  aber  im  wesentlichen 
soll  die  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  der  Schülerverwaltung  überlassen  bleiben. 

Die  Kosten  der  Anlage  und  Unterhaltung  sind  sehr  gering.  Für  die  Fläche 
von  etwa  900  qm  genügen  jetzt,  seitdem  die  Eisbahn  einige  Tage  im  Betrieb  ist, 
3 — 4  cbm  Wasser  für  das  täglich  einmalige  Besprengen.  Am  ersten  Tage  waren 
vier,  an  den  beiden  folgenden  Tagen  zwei  Besprengungen  nötig.  Dazu  kommt  der 
Lohn  für  einen  Arbeiter  oder  eine  Vergütung  für  den  Schuldiener  oder  Heizer, 
wenn  diese  die  Instandhaltung  übernehmen.  Die  abendliche  Reinigung  und  Be- 
sprengung  erfordert  etwa  zwei  Stunden  Zeit. 

Ich  glaube  übrigens,  daß  an  Orten,  wo  etatsmäßige  Mittel  für  den  Zweck 
nicht  vorhanden  sind,  die  Schüler  gern  ein  Scherflein  zur  Deckung  der  Kosten 
beitragen  oder  gar  selbst  die   Instandhaltung  der  Eisbahn  übernehmen  werden. 

Jedenfalls  kann  ich  nach  meinen  Erfahrungen  nur  dringend  empfehlen,  im 
Interesse  der  Freiluftkörperbewegung  auf  eine  ausreichende  Beleuchtung  der  Schul- 
höfe hinzuarbeiten  und  da,  wo  natürliche  Eisbahnen  nicht  ausreichend  zur  Ver- 
fügung stehen  oder  nicht  bequem  und  rasch  zu  erreichen  sind,  auf  den  Schulhöfen, 
Turn-  und  Spielplätzen  künstliche  Eisbahnen  anzulegen.  An  Zuspruch  wird  es 
ihnen  wahrlich  nicht  fehlen  und  ihre  Einrichtung  wird  ein  wichtiges  Glied  sein 
können  in  der  Reihe  der  gerade  in  der  letzten  Zeit  mit  Recht  so  sehr  betonten 
Bestrebungen  zur  Förderung  einer  gedeihlichen  Jugendpflege. 

Schöneberg.  W.  W  e  t  e  k  a  m  p. 


I.  Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  in  die  Quellen  des 
römischen  Rechts.  —  II.  Die  Anfängerkurse  im  Griechischen 
für  Studierende  der  Juristischen,  Medizinischen  und  der  Philo- 
sophischen Fakultät. 

1.  Im  Sommersemester  1911  haben  an  den  Kursen  zur  sprachlichen  Ein- 
führung in  die  Quellen  des  römischen  Rechts  an  den  preußischen  Universitäten 
im  ganzen  264  Studierende,  alle  Studierende  der  Rechte  teilgenommen.  Das  Reife- 
zeugnis eines  Gymnasiums  hatten  58,  eines  Realgymnasiums  146,  einer  Oberreal- 
schule 59,  Zeugnisse  anderer  Schulen  1.  Preußen  waren  228,  Deutsche  aus  anderen 
Bundesstaaten  30,  Ausländer  6.     Von  den  Studierenden  der  Rechtswissenschaft 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg."  6 


82  Kurse. 

standen  60  im  ersten  Semester,  26  im  zweiten,  33  im  dritten,  30  im  vierten,  60 
im  fünften,  24  im  sechsten,  20  im  siebenten,  7  im  achten,  1  im  neunten,  3  im  elften. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  wie  folgt:  Berlin 
92,  Bonn  41,  Breslau  13,  Göttingen  11,  Greifswald  15,  Halle  9,  Kiel  32,  Marburg  28, 
Münster  23. 

Im  Wintersemester  1911/12  haben  an  diesen  Kursen  im  ganzen 
308  Studierende  teilgenommen.  Davon  studierten  303  Rechtswissenschaft,  1  klassi- 
sche Philologie,  2  neuere  Philologie,  2  Staatswissenschaften.  Das  Reifezeugnis 
eines  Gymnasiums  hatten  55,  eines  Realgymnasiums  175,  einer  Oberrealschule  76, 
anderer  Schulen  1.  Preußen  waren  280,  Deutsche  aus  anderen  Bundesstaaten  25, 
Ausländer  3.  Von  den  303  Studierenden  der  Rechte  standen  39  im  ersten  Semester, 
56  im  zweiten,  21  im  dritten,  61  im  vierten,  34  im  fünften,  63  im  sechsten,  14  im 
siebenten,  11  im  achten,  2  im  neunten,  1  im  zehnten  und  1  im  elften. 

An  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  wie  folgt:  Berlin 
137,  Bonn  53,  Breslau  15,  Göttingen  14,  Greifswald  15,  Halle  13,  Kiel  5,  Königs- 
berg 6,  Marburg  25,  Münster  25. 

n.  Im  Sommersemester  1911  haben  an  den  Anfängerkursen  im  Griechischen 
für  Studierende  der  Juristischen,  Medizinischen  und  Philosophischen  Fakultät 
auf  den  preußischen  Hochschulen  im  ganzen  194  Studierende  teilgenommen,  da- 
von 52  Juristen,  3  Mediziner  und  139  Angehörige  der  Philosophischen  Fakultät. 
Von  letzteren  studierten  klassische  Philologie  4,  neuere  Philologie  62,  Deutsch  46, 
Gexhichte  20,  Mathematik  und  Naturwissenschaften  4,  sonstige  Fächer  3.  Von 
den  Teilnehmern  der  Kurse  hatten  2  das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums,  137 
eines  Realgymnasiums,  30  einer  Oberrealschule  und  25  Zeugnisse  anderer  Schulen. 
Preußen  waren  178,  Deutsche  aus  anderen  Bundesstaaten  13,  Ausländer  3,  Von 
den  52  Studierenden  der  Rechte,  die  den  Kursus  besuchten,  standen  im  ersten 
Semester  10,  im  zweiten  6,  im  dritten  11,  im  vierten  9,  im  fünften  7,  im  sechsten  3,, 
im  siebenten  2,  im  achten  3,  im  elften  1. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  an  diesem  Kur- 
sus wie  folgt:  Berlin  82,  Bonn  8,  Breslau  22,  Göttingen  29,  Greifswald  5,  Kiel  17, 
Königsberg  9,  Marburg  13,  Münster  9. 

Im  W  i  n  t  e  r  s  e  m  e  s  t  e  r  1911/12  haben  an  diesen  Kursen  im  ganzen  223 
Studierende  teilgenommen,  davon  63  Juristen,  3  Mediziner  und  157  Angehörige 
der  Philosophischen  Fakultät.  Von  letzteren  studierten  klassische  Philologie  8, 
neuere  Philologie  73,  Deutsch  45,  Geschichte  9,  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaften 9,  Staatswissenschaften  2,  sonstige  Fächer  11.  Von  den  Teilnehmern  der 
Kurse  hatten  13  das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums,  165  eines  Realgymnasiums, 
29  einer  Oberrealschule,  1  eines  Progymnasiums  und  15  von  Lehrerseminaren. 
Preußen  waren  191,  Deutsche  aus  anderen  Bundesstaaten  27,  Ausländer  5.  Von 
den  63  Studierenden  der  Rechte,  die  den  Kursus  besuchten,  standen  im  ersten 
Semester  15,  im  zweiten  15,  im  dritten  8,  im  vierten  10,  im  fünften  6,  im  sechsten  7, 
im  siebenten  1  und  1  im  neunten. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  an  diesem  Kursus 
wie  folgt:  Berlin  116,  Breslau  39,  Göttingen  16,  Greifswald  14,  Kiel  15,  Königs- 
berg 3,  Marburg  10,  Münster  10. 

Groß-Lichterfelde.  A.  T  i  1  m  a  n  n. 


A.  Tilmann,  Statistisches  über  das  Frauenstudium.  83 

Statistisches  über  das  Frauenstudium. 

Im  Wintersemester  1911/12  studierten  an  den  preußischen  Universitäten 
2892  Frauen.  Im  Wintersemester  1910/11  waren  es  2639.  Auf  die  Fakultäten 
verteilen  sie  sich  wie  folgt: 

1911/12  1910/11 

Theologische  Fakultät 43  41 

Juristische  „  23  17 

Medizinische         „  329  325 

Philosophische      „  2497        2256 

Von  den  2892  im  Wintersemester  1911/12  studierenden  Frauen  waren  1986 
immatrikuliert,  die  übrigen  906  als  Gastzuhörerinnen  zugelassen.  Die  1986  im- 
matrikulierten verteilen  sich  auf  die  Fakultäten  wie  folgt: 

Theologische  Fakultät  11 

Juristische            ,,  18 

Medizinische         ,,  312 

Philosophische      ,,  1645 

Groß-Lichterfelde.  A.  Tilmann. 


6=«= 


IL    Bücherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 

Lateinische  Grammatiken  und  Übungsbücher. 

Hoffmann,  Übungsbuch  zum  Übersetzen  aus  dem  Deut- 
schen in  das  Lateinische  für  Primaner.  I.Teil:  Text,Vu. 
95  S.  II.  Teil:  Grammatisch-stilistische  Bemerkungen 
und  Wortkunde.  132  S.  Berlin  1910.  Weidmannsche  Buchhandlung, 
geb.  3,20  M. 

Es  gibt  keine  bessere  Verteidigung  unseres  nur  allzu  oft  angegriffenen  Unter- 
richts in  der  lateinischen  Grammatik  und  der  daraus  sich  ergebenden  Übersetzungen 
in  die  fremde  Sprache  und  zugleich  keine  bessere  Unterstützung  und  Hilfe  für 
die,  die  diesen  Unterricht  am  Gymnasium  zu  erteilen  haben,  als  wenn  berufene 
Leute  an  praktischen  Beispielen  zeigen,  in  welchem  Sinne  und  mit  welchen  Resul- 
taten sie  diese  Aufgabe  lösen.  Zu  den  Berufenen  gehört  der  Verfasser  des  vorliegenden 
Übungsbuches.  Wir  verdanken  ihm  schon  den  weitblickenden,  das  Problem  in 
mustergültiger  Weise  behandelnden  Bericht  auf  die  der  siebzehnten  Direktoren- 
Versammlung  in  den  Provinzen  Ost-  und  Westpreußen  vorgelegte  Frage:  Emp- 
fiehlt es  sich,  in  der  schriftlichen  Reifeprüfung  am  Gymnasium  die  Übersetzung 
in  das  Lateinische  durch  eine  Übersetzung  aus  dem  Lateinischen  zu  ersetzen? 
(Band  78  der  Verhandlungen  der  Direktoren-Versammlungen,  Weidmannsche 
Buchhandlung  1907),  auf  den  hingewiesen  zu  werden  gerade  in  diesen  Wochen, 
wo  man  mehr  als  sonst  Veranlassung  hat,  diese  Fragen  bei  sich  durchzudenken, 
vielleicht  mancher  dankbar  empfinden  wird;  er  hat  in  der  Beilage  zum  Inster- 
burger  Programm  1906  einen  ausführlichen  Lehrplan  des  Lateinischen  für  das 
damals  unter  seiner  Leitung  stehende  Gymnasium  und  Realgymnasium  veröffent- 
licht; wären  die  darin  gegebenen  Anregungen  und  Vorschriften  Allgemeingut 
geworden,  uns  wäre  manches  erspart  geblieben.  Auch  in  seinem  Übungsbuch  ver- 
tritt er  seine  Überzeugung,  daß  die  Übersetzungen  ins  Lateinische  nicht  nur  zur 
Befestigung  des  grammatischen  Wissens  als  der  unerläßlichen  Vorbedingung  für 
das  Verständnis  der  Lektüre  zu  dienen  haben,  sondern  sich  als  ein  selbständiger 
Zweig  der  Gesamtaufgabe  des  lateinischen  Unterrichts  angliedern  und  zu  wissen- 
schaftlichen Arbeiten  anleiten  sollen.  Scharfes  Beobachten,  klares  konkretes  Vor- 
stellen, logisch  richtiges  Denken  sollen  sie  lehren;  es  gilt  einmal,  die  Sache  klar 


F.  Boesch,  Lateinische   Grammatiken  und  Übungsbücher.  85 

zu  erfassen  und  dann  für  die  richtig  erfaßte  Sache  den  bestmöglichen  Ausdruck 
zu  finden,  nicht,  mit  grammatischen  Einzelheiten  den  Schüler  zu  Fall  zu  bringen 
oder  Worte  wiederzugeben.  Es  ist  Schopenhauers  Auffassung  vom  Übersetzen: 
,, Daher  kann  man  sehr  selten  eine  bedeutende  Phrase  aus  einer  neueren  Sprache 
wörtlich  ins  Lateinische  übersetzen;  man  muß  den  Gedanken  von  allen  Worten, 
die  ihn  jetzt  tragen,  gänzlich  entblößen,  daß  er  nackt  dasteht  im  Bewußtsein, 
ohne  alle  Worte,  wie  ein  Geist  ohne  Leib;  dann  aber  muß  man  ihn  wieder  mit  einem 
neuen,  ganz  anderen  Leibe  bekleiden,  in  den  lateinischen  Worten,  die  ihn  in  ganz 
anderer  Form  wiedergeben.  .  .  .  Die  Verwaltung  solcher  {xstsja'J^u^^ojoi?  befördert 
das  wirkliche  Denken."  Zugleich  aber  soll  der  Schüler  überall  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  der  Unterschied  des  sprachlichen  Ausdrucks  auf  den  Unterschied 
der  Völker  und  ihres  Charakters  hinweist.  La  langue  c'est  la  nation,  wie  Max  C.  P. 
Schmidt  das  bekannte  Wort  erweiterte.  Die  Stoffe,  an  denen  alles  das  gelernt  wird, 
sollen  aber  auch  inhaltlich  einen  Wert  haben;  sie  sollen  die  fremdsprachliche  Lek- 
türe begleiten  oder  ergänzen  und  wie  die  Resultate  des  grammatischen  Unter- 
richts so  die  der  Lektüre  in  einer  höheren  Einheit  zusammenfassen. 

So  sollen  auch  Hoffmanns  Texte  zur  Einführung  in  das  Geistes-  und  Kultur- 
leben der  Alten  beitragen.  Daß  dazu  die  charakterisierende  Anekdote  besonders 
geeignet,  hebt  er  mit  Recht  hervor.  Die  Vorlagen  sind  vielfach  Klassikern  und 
Neulateinern  entnommen  und  bieten  einen  durchaus  befriedigenden  und  ange- 
messenen, von  allzu  modernen  Wendungen  freien  Text;  dazu  kommen  Stücke 
aus  deutschen  Schriftstellern  über  Stoffe  aus  der  alten  Welt.  Stücke  anderen 
Inhalts  glaubte  er  ausscheiden  zu  sollen.  Vielleicht  wäre  ein  oder  das  andere  Stück, 
etwa  aus  Schiller  oder  Lessing,  von  manchem  ganz  gern  gesehen.  Es  findet  sich  dort 
manches  Geeignete  und  nicht  zu  Schwere.  Und  selbst  ein  Goethe  freute  sich,  sein 
Gedicht  Hermann  und  Dorothea  in  einer  lateinischen  Übersetzung  wiederzusehen.*) 
Vielleicht  ist  der  Verfasser  bei  einer  neuen  Auflage  bereit,  zur  leichteren  Orientierung 
ein  Inhaltsverzeichnis  und  ein  Verzeichnis  der  zugrunde  liegenden  Stellen  hinzu- 
zufügen. Alles  findet  man  nicht  ohne  weiteres;  aber  wo  ich  das  Original  gefunden, 
habe  ich  auch  durch  Vergleichung  der  Abweichungen,  die  überall  auf  die  Frage 
nach  dem  Warum?  der  Änderung  führt,  gelernt. 

Leicht  sind  die  Stücke  nicht,  zum  Teil  recht  schwer.  Als  Vorlagen  für  un- 
vorbereitete schriftliche  Übersetzungen  können  sie  nicht  dienen;  sie  erfordern 
angestrengteste  Arbeit,  nicht  am  wenigsten  auch  vom  Lehrer. 

Die  notwendigsten  Hilfen  gibt  der  zweite  Band.  Sie  bestehen  sehr  selten  in 
der  Angabe  der  erforderlichen  Übersetzung,  meist  in  Selbständigkeit  fordernder, 
zum  Denken  anregender  Anleitung.  Die  Wortkunde  will  an  bezeichnenden  Bei- 
spielen zur  Erfassung  der  mannigfachen  Bedeutungen  eines  Wortes  und  der  Wahl 
des  gerade  angemessenen  Ausdrucks  anleiten.  Darf  ich  ein  paar  Kleinigkeiten 
aussetzen,  so  würde  ich  pag.  4  den  Ausdruck  über  dubito  an  ändern,  da  der  Sinn 
der  ganzen  Wendung  doch  positiv  ist,  und  drei  Zeilen  weiter  das  Komma  nach 
ingenium  meum  streichen,  pag.  6  beim  Attribut  den  abl.  qualit.  hinzufügen,  pag.  9 


*)  cf.  seine  treffende  Bemerkung  über   die  lateinische  Sprache  in  dem  Brief  an 
L.   F.  Schultz  vom  8.   Juli   1823. 


86  F.  Boesch, 

A.  9  weniger  apodiktisch  fassen,  pag.  87  ist  arcte  wohl  ein  Drucl^fehler.  Bequemer 
zu  benutzen  wären  die  Anmerkungen,  wenn  sie  nicht  mit  fortlaufenden  Zahlen 
versehen  wären,  sondern  die  Nummer  immer  der  Zahl  der  Zeile  des  deutschen 
Textes  entspräche.  Recht  oft  regt  sich  der  Wunsch,  zu  wissen,  wie  der  Verfasser 
diesen  oder  jenen  Ausdruck  wenden  und  den  Gedanken  ausdrücken  würde;  so 
würde  ich  es  mit  Freuden  begrüßen,  wenn  er  sich,  was  er  im  Vorwort  schon  andeutet, 
zur  Herausgabe  der  Übersetzung  entschließen  könnte. 

Ganz  andere  Ziele  verfolgt: 

Geist,  Übungsstücke  zum  Übersetzen  ins  Lateinische 
für  Oberklassen.  Im  Anschlüsse  an  Cicero  und  Tacitus. 
Gießen  1910.  Emil  Roth.  I.  D  e  u  t  sc  h  e  r  T  e  i  1.  VIII  u.  189  S.;  II.  L  a  t  e  i - 
nischerTeil.    VIII  u.  142  S.  je  2  M.  bei  Einführung  geb.  je  2  M. 

Der  Verfasser  gibt  156  kürzere  Paraphrasen  kleinerer,  genau  bezeichneter 
Abschnitte  aus  Cicero  (pro  Arch.,  pro  Lig.,  pro  Deiot.,  pro  Milone,  Verr.  IV, 
Phil.  I  u.  II,  Briefe)  und  Tacitus  (Agric.  Germ.  Annal.  I  u.  II),  deren  vorhergehende 
eingehende  Behandlung  im  Unterricht  er  voraussetzt.  Er  hat  alle  als  Vorlagen 
zu  Klassenarbeiten  —  zum  Teil  auch  für  die  Reifeprüfung  —  erprobt.  Die  Bei- 
fügung des  lateinischen  Textes  erschien  ihm  wünschenswert,  war  aber  nicht  gerade 
nötig.  Das  Vorwort  sagt,  er  sei  in  enger  Verbindung  mit  dem  deutschen  Text 
entstanden;  er  hätte  vor  ihm  da  sein  sollen,  dann  wäre  wohl  der  Ausdruck  oft  ein- 
facher und  der  Satzbau  übersichtlicher  geworden.  Das  möchte  man  auch  dem 
deutschen  Text  öfters  wünschen.  Natürlich  ist  der  lateinische  Text  grammatisch 
korrekt;  daß  andere  Formen  der  Übersetzung  möglich  sind,  bezeichnet  das  Vor- 
wort selbst  als  selbstverständlich.  Es  ist  eine  gute  stilistische  Übung,  die  gegebene 
Paraphrase  kritisch  durchzusehen  und  dann  das  Original  aufzuschlagen. 

Helm-Michaelis,  Lateinbuch  fürOberrealschüler.  Mit4Tabellen. 
Leipzig  1910.     B.  G.  Teubner.     II  u.  46  u.  93  u.  16  S.     geb.  2,20  M. 

Das  Buch  ist  eine  Vereinigung  der  bisher  getrennt  erschienenen  Bücher 
„Volkslatein'*  von  R.  Helm  und  „Lateinische  Satzlehre"  (ver- 
kürzte Ausgabe)  von  G.  Michaelis,  veranlaßt  durch  den  Wunsch  an  Oberreal- 
schulen tätiger  praktischer  Schulmänner.  Um  eine  äußerliche  Einheit  herzustellen 
—  nur  um  eine  solche  konnte  es  sich  handeln  —  sind  dem  ersten  Teil  die  Genus- 
regeln und  eine  Tabelle  der  sogenannten  unregelmäßigen  Verba,  beiden  deutsche 
Übungssätze  beigefügt  worden.  Auf  die  Reimregeln,  die  selbst  in  den  unteren 
Gymnasialklassen  nur  als  „crustula  blandorum  doctorum''  ihre  Rolle  spielen  dürfen, 
würde  man  bei  einem  für  reifere  Schüler  bestimmten  Buche  gern  verzichten.  Soll 
der  Primaner  „Verse"  lernen,  wie  „Nicht  immer  auf  die  Endung  schau!  Der  Mann 
bleibt  Mann,  die  Frau  bleibt  Frau,  und  Fluß  und  Wind  sieht  man  als  Mann,  doch 
Baum  und  Stadt  als  weiblich  an.  Neutral  ist  stets  —  das  halte  fest!  —  was  sich 
nicht  deklinieren  läßt"?,  abgesehen  davon,  daß  die  „Regel"  für  die  Städte  wirk- 
lich nicht  stimmt.  Die  Übungssätze  wollen  —  sagt  das  Vorwort  —  nur  praktischen 
Zwecken  dienen  und  keinen  Anspruch  auf  wertvollen  Inhalt  erheben.  Dazu  ver- 
gleiche man  etwa  p.  34  Z.  11:  „durch  die  mütterlichen  Tränen  wird  deine  Wild- 
heit erobert  werden"  oder  p.  35  Z.  4:  ,,wenn  du  die  fröhlichen  Wiesen  und  die  lieb- 
lichen Gärten  sehn  wirst,  so  wirst  du  durch  das  erfreuliche  Schauspiel  bewegt 


Lateinische  Grammatiken  und  Übungsbücher.  87 

werden".  Ganz  andere  Art  zeigen  übrigens  die  dem  zweiten  Teile  hinzugefügten 
Sätze.  Der  Unterricht,  für  den  dies  „Volkslatein"  bestimmt  ist,  verfolgt  ja  seine 
besonderen,  von  denen  des  Gymnasiums  und  auch  des  Realgymnasiums  sich  weit 
unterscheidenden  Zwecke,  so  unterdrücke  ich  manches  durch  meinen  gymnasialen 
Standpunkt  veranlaßte  Bedenken,  auch  ist  das  Buch  ja  eigentlich  für  andere 
als  Schulkreise  bestimmt  gewesen.  Reifere  Schüler  werden  es  hoffentlich  als  ihrer 
wenig  würdig  empfinden,  wenn  ihnen  in  einem  —  nicht  etwa  dem  ersten  —  Stück 
von  32  Zeilen  fünfmal  gesagt  wird,  daß  que  =  et,  oder  viermal,  daß  qui  =  welche 
ist,  um  ein  paar  Beispiele  aus  vielen  herauszuholen,  daß  ihnen  bis  zum  letzten 
Stück  jedes  Prädikat  durch  den  Druck  hervorgehoben  wird,  daß  man  ihnen  bis  zum 
Schluß  nicht  zutraut,  sich  wiederholende  Formen  wie  duxit  (viermal),  wie  cepit 
und  Composita  (fünfmal)  usw.  selbständig  abzuleiten,  und  der  an  der  römischen 
Literatur  gebildete  Lehrer  wird  sicher  bedauern,  nicht  Stücke  behandeln  zu  können, 
die  seinem  Schüler  zugleich  eine  Ahnung  von  dem  Geiste  lateinischer  Sprache 
geben. 

Der  zweite  Teil  enthält  in  knappster  Form  das  Notwendige  aus  der  Satzlehre. 
Besonders  gelungen  erscheinen  mir  die  Abschnitte  über  den  Gebrauch  der  Tempora 
in  Hauptsätzen  und  über  die  lateinischen  Perioden.  Bei  einer  neuen  Auflage 
kann  vielleicht  §  9  (Beispiel)  arma  durch  tela  ersetzt  werden,  §  5  erweitert,  §  10 
verkürzt,  §  23  Caiiis  in  Gaius  verändert  werden,  §  106  die  Anmerkung  eine  andere 
Fassung  erhalten  und  §  107  eine  Notiz  über  die  unpersönlichen  Ausdrücke  hinzu- 
gefügt werden. 

Wartenberg,  Vorschule  zur  lateinischen  Lektüre  für  Re- 
form schulen,  Oberrealschulen  und  Studienanstalten. 
1.  Auflage,  bearbeitet  von  Bartels.  Hannover  IQU.  Norddeutsche  Verlags- 
anstalt.    IV  u.   245   S.     geb.  2,80  M. 

Es  ist  die  siebente  Auflage,  die  dieses  Buch  erlebt,  dessen  frühere  Auflagen 
auch  in  der  Monatschrift  schon  angezeigt  sind;  es  sollte  also  eigentlich  wohl  nicht 
noch  einer  besonderen,  etwas  übertrieben  anmutenden  Empfehlung  durch  den 
Verlag  bedürfen.  Die  Änderungen  beziehen  sich  auf  Unwesentliches.  Hinzugefügt 
ist  lateinischer  und  deutscher  Übersetzungsstoff  zur  Einübung  der  Pronomina, 
Komparation,  Adverbia,  Numeralia  und  des  Acc.  c.  Inf.;  die  dritte  Deklination, 
die  Abschnitte  über  den  Infinitiv  und  die  indirekte  Rede  sind  mehr  zusammen- 
gefaßt, und  —  das  Wichtigste  und  Wünschenswerteste  —  ein  Gesamtverzeichnis 
ist  an  die  Stelle  der  bisher  nach  Wortarten  getrennten  Wörterverzeichnisse  ge- 
treten. 

Daß  sich  reifere  Schüler  mit  seiner  Hilfe  in  einem  Jahre  die  Formenlehre  und 
die  Grundzüge  der  Syntax  so  weit  aneignen,  daß  sie  mit  der  Cäsarlektüre  beginnen 
können,  bezweifle  ich  nicht,  aber  auch  nicht,  daß  es  noch  besser  und  vor  allem 
an  besserem  Stoffe  geschehen  könne.  Die  Fassung  der  Regeln  ist  doch  noch  häufig 
unübersichtlich  und  wenig  korrekt,  manch  guter  Ansatz  ist  nicht  recht  durchge- 
führt; ob  die  nicht  einmal  konsequent  angewandte  Übersetzung  der  grammati- 
schen Termini  die  Sache  erleichtert,  bezweifle  ich,  von  allem  anderen  abgesehen. 
DerWoher-,  Wovon-,  Womit-,  Warumfall  (füge  hinzu:  Worin- 


88  F.  Boesch, 

und  Wodurchfall),   die  Zeit  der  Vollendung  in  der   Leide- 
form usf.  haben  für  mich  alles  gegen  sich. 

Der  Übersetzungsstoff  wird  erst  gegen  Ende  in  den  zusammenhängenden 
Stücken  befriedigend.  Oft  wiederholen  sich  gewisse,  nicht  einmal  gute  Ausdrücke, 
manchmal  hat  der  Verfasser  selbst  das  Bedürfnis,  durch  ein  ut  ita  dicam  einen 
stilistisch  gewagten  Ausdruck  zu  entschuldigen.  Aber  es  bleibt  genug  des  nicht 
Entschuldigten  und  nicht  Entschuldbaren,  wo  es  sich  nicht  um  die  Arbeit  eines 
Schülers  sondern  eines  „Meisters"  handelt,  die  jenem  zum  Muster  dienen  soll.  Quo 
semel  est  imbuta  recens  servabit  odorem  iesta  diu.  Auf  Einzelheiten  hier  und 
im  deutschen  Texte  kann  ich  nicht  eingehen;  aber  wie  will  man  reifere  Schüler 
durch  die  oft  so  entsetzlich  wässerigen  Sätze  moralisierenden  Inhalts  interessieren? 
Gefallen  hat  mir  —  abgesehen  von  der  Überschrift  —  die  Zusammenstellung  von 
Stamm  gemeinschaften  von  Wörtern  zur  Wiederholung 
(auch  auf  höherer  Stufe).  Das  ist  etwas  für  reifere  Schüler  und  kann 
erweitert  werden. 

Das  führt  mich  zu: 

Hartmanii,  Die  Wortfamilien  der  lateinischen  Sprache. 
FürdenSchulgebrauchzusam  mengestellt.  Bielefeld  und  Leipzig 
1911.    Velhagen    &  Klasing.    VI  u.  437  S.    geb.  2,80  M. 

cf r.  Hartmann,  Die  Aneignung  des  lateinischen  Wort- 
schatzes.    Monatschrift  X,  p.  359  ff.  und  dazu  Matthias,  Vokabel 
lernen,  ib.  X,  498  ff.,  wie  immer  in  praktischen  Fragen  allgemeiner  Zustimmung 
sicher. 

Der  Verfasser  geht  von  den  richtigen  Gedanken  aus,  daß  fruchtbare  Lektüre 
ohne  Vokabelkenntnis  nicht  betrieben  werden  kann,  daß  Vokabeln  systematisch 
gelernt  werden  müssen,  daß  es  darauf  ankommt,  diese  Arbeit  möglichst  schmack- 
haft und  zugleich  geistig  bildend  zu  machen.  An  Stelle  des  Einprägens  der  Vokabeln 
nach  begrifflichen  Gruppen  führt  er  nun  konsequent  das  etymologische  Prinzip 
durch;  er  stellt  also  die  Vokabeln  zusammen  nach  Gruppen,  in  denen  der  Bedeu- 
tungszusammenhang an  dem  gleichen  Wortstamm  eine  Stütze  findet.  Vokabel- 
lernen nach  Wortfamilien  lautet  die  Parole.  Sein  Buch  bringt  nun  den  Wortschatz 
der  Hauptschulschriftsteller  nach  solchen  Familien  geordnet.  Angegeben  werden 
die  Grundbedeutungen  und  die  wichtigsten  übertragenen  Bedeutungen,  Kon- 
struktionen und  Verbindungen  fehlen;  denn  das  Buch  soll  Lexikon  und  Grammatik 
nicht  überflüssig  machen,  sondern  deren  richtigen  Gebrauch  fördern.  Innerhalb 
der  einzelnen  Familien  ist,  nicht  immer  ohne  Willkür,  die  alphabetische  Reihen- 
folge angewandt;  sie  läßt  zwar  das  gesuchte  Wort  leichter  finden,  trennt  aber  allzu- 
oft eng  Zusammengehörendes.  Auf  die  Geschichte  eines  Stammes  und  seiner  Ab- 
leitungen ist  nicht  eingegangen:  Altes  und  Neues  steht  durcheinander.  Durch  den 
Druck  ist  Wichtiges  von  Unwichtigerem  ^anterschieden. 

Das  Buch  bietet  wirklich  eine  höchst  interessante  und  nützliche  Zusammen- 
stellung, die  man  gern  und  nie  ohne  Anregung  zur  Hand  nimmt,  auch  wo  man, 
wie  bei  so  reichem  Stoff  nicht  anders  möglich,  widersprechen  muß.  Ich  wüßte 
nicht,  wo  man  die  Familien  so  bequem  und  vollständig  zusammenfände. 

Daß  sein  Prinzip,  auf  den  Unterricht  angewandt,  wesentlich  zur  Steigerung 


Lateinische  Grammatiken  und  Übungsbücher.  89 

des  Interesses,  zur  Schärfung  der  Aufmerksamkeit  und  des  Verständnisses,  zur 
Stütze  des  Gedächtnisses  beiträgt,  und  zwar  schon  auf  den  untersten  Stufen,  ist 
unbestreitbar;  daß  die  andere  Art  des  Lernens  dabei  nicht  vernachlässigt  werden 
darf,  nicht  minder.  Zunächst  wird  doch  an  der  Hand  der  Lektüre  oder  des  Übungs- 
buches ein  großer  Stamm  von  Vokabeln  angeeignet  werden  müssen,  ehe  diese  ver- 
bindende und  verknüpfende  Tätigkeit  einsetzen  kann,  und  nachher  erfordert  die 
Rücksicht  auf  die  Lektüre  und  die  schriftlichen  Arbeiten  eine  Ergänzung  nack 
sachlichen  Gesichtspunkten.  (Es  fehlt  da  allerdings  ein  gutes  Hilfsmittel.)  Werden, 
aber  von  Anfang  an  die  Bedeutungen  und  die  Funktionen  der  hauptsächlichsten 
wortbildenden  Präfixe  und  Suffixe  gezeigt,  so  ergibt  sich  vieles  von  selbst.  Und 
ich  möchte,  ich  könnte  sagen,  daß  niemand  heute  die  Bedeutung  der  Komposita 
anders  lernen  oder  vielmehr  finden  ließe. 

Aber  so  gesund  das  Prinzip  des  Buches,  gegen  seine  praktische  Verwendbar- 
keit habe  ich  ernste  Bedenken.  Der  Verfasser  hat  es  in  erster  Linie  bestimmt  für 
Studienanstalten  und  seine  Universitätskurse,  hofft  aber,  daß  es  auch  an  den 
Gymnasien  und  zwar  schon  von  Hl  an  benutzt  werden  kann.  Aber  um  daraus 
Vokabeln  lernen  zu  lassen,  ist  es  viel,  viel  zu  ausführlich,  und  für  die  Vorbereitung^ 
auf  die  Lektüre  enthält  es  zu  wenig.  Der  Verfasser  hat  eben  doch  zwei  verschiedene 
Dinge  mit  einander  verbinden  wollen:  Vokabular  und  Präparation.  In  HI  jeden- 
falls ist  das  Sprachgefühl  und  der  Sprachschatz  des  Schülers  viel  zu  gering,  als 
daß  er  das  Buch  zum  Auffinden  eines  ihm  nicht  bekannten  Wortes  benutzen  könnte. 
Ich  habe  bei  manchem  Not  gehabt.  Für  unsere  Zwecke  wäre  ein  um  viel  kürzeres 
Buch,  das  wenige  Beispiele  enthielte,  diese  aber  in  systematischer  Ordnung  durch- 
führte, und  zugleich  auf  die  Hauptgesetze  der  Bildung  hinwiese,  wertvoller  ge- 
wesen. Ich  habe  diese  Gedanken  mit  einer  Reihe  von  Praktikern  besprochen  und 
fand  sie  auch  ausgesprochen  in  einer  mir  vom  Herausgeber  freundlich  zur  Verfügung; 
gestellten  nicht  gedruckten  Besprechung  des  Buches  durch  E.  Klages  (Hannover), 
der  an  den  Beispielen  von  sapere  und  sanus  gut  nachweist,  wie  die  Artikel  hätten 
geordnet  sein  müssen. 

Aber  jedenfalls  sind  wir  dem  Verfasser  für  die  nachdrückliche  Anregung,, 
die  er  uns  gegeben,  zu  lebhaftem  Danke  verpflichtet. 

Auf  Einführung  bei  uns  wird  kaum  rechnen  dürfen: 

Haulefy  Lateinisches  Übungsbuch  für  die  erste  Klasse 
der  Gymnasien  und  verwandten  Lehranstalten.  Aus- 
gab e  B.  (f.  d.  G  r  a  m  m  a  t  i  k  v  o  n  D  r.  A.  S  c  h  e  i  n  d  1  e  r).  16.  Auflage. 
Durchgesehen  und  nach  den  neuen  Lehrplänen  eingerichtet  von  J.  Dorsch  und 
J.  Fritsch.    Wien  1911.    A.  Pichlers  Witwe  &  Sohn.     geb.  1  K.  40  h. 

Das  Buch  enthält  nur  lateinischen  und  deutschen  Übungsstoff  und  die  dafür 
nötigen  Vokabeln.  Die  lateinischen  Sätze  bieten,  obwohl  die  Herausgeber  betonen, 
das  Buch  sei  leichter  geworden,  noch  zu  viel  erst  für  eine  spätere  Stufe  geeigneten 
grammatischen  Stoff  und  verraten  allzuwenig  von  stilistischer  Genauigkeit  und 
Verständnis  für  die  Unterscheidung  der  Synonyma.  So  steht  p.  3  innerhalb  einer 
Reihe  von  Sätzen,  die  man  vielleicht  einem  Schüler  hingehen  lassen  würde,  das 
, »kostbare":    diligentia  scientiam  pretiosam  paramus. 


90  F.  Boesch,  Lateinische  Grammatiken  und  Übungsbücher. 

Aus  Österreich  kommt  auch: 

Call,  Lateinisches  Lesebuch.  Proben  zur  römischen 
Literatur  der  Republik  und  der  ersten  Kaiserzeit.  Für 
höhere  Klassen  an  Gymnasien  und  verwandten  Lehr- 
anstalten. Erster  Teil:  Text.  geb.  3  K.  Zweiter  Teil:  Kom- 
mentar,   geb.  1  K.  60  h.    Wien  u.  Leipzig  1911.     F.  Deuticke. 

Ein  Vorwort  fehlt;  so  ist  nicht  zu  sehen,  welche  Zwecke  der  Verfasser  verfolgt 
Jiat.  Dafür,  daß  sein  Buch  nur  der  Ergänzung  der  Schriftstellerlektüre  dienen 
soll,  scheint  das  Fehlen  von  Horaz,  Vergil,  Tacitus  zu  sprechen;  aber  bei  dem  Um- 
fang und  den  Schwierigkeiten  mancher  Stücke  wird,  will  man  dies  Buch  ausgedehnt 
benutzen,  für  anderes  wenig  Zeit  bleiben.  Die  allgemeine  Frage  nach  der  Zweck- 
mäßigkeit solcher  Zusammenstellungen  will  und  kann  ich  hier  nicht  erörtern. 
Ich  verweise  auf  die  Diskussion  über  das  ganz  anders  wertvolle  Lesebuch  von 
Wilamowitz.  Ich  persönlich  benutze  im  Unterricht  die  Weissenfelssche  Auswahl 
aus  Ciceros  philosophischen  Schriften,  würde  aber  doch  die  Lektüre  einer  zu- 
sammenhängenden Schrift  vorziehen.  Bei  der  Auswahl  des  zu  Lesenden  erfreuen 
wir  uns  ja  glücklicherweise  weitgehender  Freiheit.  Leos  schöner  Vortrag  über  die 
römische  Literatur  und  die  Schullektüre  (Human.  Gymnas.  1910.  Heft  V  u.  VI) 
gibt  wertvolle  Richtlinien.  Die  hier  gebotene  Auswahl,  die  auch  QuintÜian  X 
85 — 131,  Juvenal  III  1 — 322,  die  gckoxoXoxJvtwoi?  und  die  cena  Trimalchionis 
(mit  Auslassungen)  bringt,  wird  weniger  befriedigen,  abgesehen  von  einzelnen 
Wunderlichkeiten  der  Benennung.  Der  Kommentar  gibt  das  Notwendigste  in 
knapper  Form. 

Ganz  anders  das  für  Realanstalten  bestimmte: 

Härder,  Lateinisches  Lesebuch  für  Realanstalten. 
J.Teil:  Text.  132  S.  geb.  2  M.  II.  Teil:  Anmerkungen.  79  S. 
geb.  1,20  M.     Leipzig  u.  Wien  1911.     Freytag  u.  Tempsky. 

Die  Prosastücke  bieten  Abschnitte  aus  der  deutsch-römischen  Geschichte: 
Cimbern  und  Teutonenkrieg  nach  Florus,  Caesar  d.  b.  G.  I  30 — 54,  II  15 — ^28, 
IV  1—3,  V  8—23,  VI  11—28,  VII,  die  Teutoburger  Schlacht  nach  Velleius,  Ta- 
citus Germ.  1 — 27.  Der  zweite  Teil  bringt  Stücke  aus  Ovids  Metamorphosen  und 
Tristien  —  aus  diesen  würde  ich  anderes  lieber  sehen  —  einige  Gedichte  von  Catull 
und  Horaz.  Nach  einigen  Bemerkungen  über  die  benutzten  Schriftsteller  folgen 
als  Anhang  sehr  interessante  Abschnitte  aus  Neulateinern:  Baco,  Kopernikus, 
Gauss,  Galvani,  v.  Guericke,  Harvey,  wieder  mit  kurzen  Angaben  über  die  Ver- 
fasser. Die  Stücke  sind  sehr  interessant  —  was  schreibt  z.  B.  Baco  für  ein  elegantes 
Latein!  — ,  aber  nicht  leicht  und  wohl  nur  für  begabte  und  interessierte  Schüler 
geeignet.  Mit  den  Erklärungen  wird  man  nicht  immer  einverstanden  sein;z.  B.p.  109 
Z.  15;  18;  p.  113  Z.  21.  In  dem  Briefe  des  Kopernikus  verlangt  eine  Reihe  von 
Stellen  weitere  Erklärung:  p.  114  Z.  21  (posteaque),  p.  115  Z.  13  (connectat), 
Z.  17  (cuique).  Auch  Z.  44  (Nicetus)  verlangte  eine  Bemerkung.  In  dem  Schluß- 
absatz sollte  man  auf  Erklärungen  wie  die  Z.  25  von  ausi  fuerint  und  Z.  33  von 
cum  gegebene  verzichten.  Ich  weiß  nicht,  wieweit  die  Baseler  Ausgabe  zuverlässig  ist; 
einige  Fehler  enthält  sie;  ist  sie  es  in  diesem  Stücke,  so  ist  zu  konstatieren,  daß  der 
Briefschreiber  inconcinn  geschrieben  hat,  aber  nicht  zu  erklären.  —  Überhaupt  ist 


W.  Lorey,  Staatsprüfung  usw.,  angez.  von  F.  Pahl.  91 

der  Kommentar  die  schwache  Seite  des  Buches.  Hartmann  (s.  o.)  würde  ihm 
viel  Stoff  zu  seinen  Anklagen  entnehmen  können;  ich  möchte  ihn  nicht  in  den  Händen 
meiner  Schüler  wissen.  Um  anderen  das  Suchen  zu  ersparen:  in  dem  Abschnitt 
aus  Gauss  p.  116,  Z.  6  ist  nach  iamdudum  praecisione  ausgefallen. 

Zeit  wollen  wir  den  Schülern  ersparen,  keine  Arbeit.  Daher  zum  Schluß  noch 
eine  warme  Empfehlung  von: 

Heitiichen,  Kleines  lateinisch-deutsches  Schulwörter- 
buch von  Blase  u.  Reeb.  XXIV  u.  633  S.  Leipzig  1911.  Teubner. 
geb.  5  M. 

Das  äußerst  handliche  und  bequeme  Buch  umfaßt  den  Wortschatz  der 
tatsächlich  auf  Gymnasien  und  Realgymnasien  gelesenen  Schrift- 
steller; danach  fehlen,  im  Vergleich  mit  Stowasser,  Vergils  Bucolica  und  Georgica, 
sind  vorhanden  Terenz  (Adelphi  u.  Phormio),  Plautus  (auch  Menaechmi  u.  Miles) 
und  silberne  Latinität  nach  Opitz- Weinhold.  Zufällig  vermißte  ich  zu  Ovid  milium, 
Hirse.  Der  Druck  ist  klar  und  übersichtlich;  die  einzelnen  durch  die  Verschiedenheit 
der  Bedeutungen  bedingten  Unterabteilungen  der  einzelnen  Artikel  sind  klar  zu 
erkennen,  die  verschiedenen  Bedeutungen  durch  einige,  markante  Beispiele  belegt, 
unstatthafte  Übersetzungshilfen,  soweit  ich  kontrolliert  habe,  dem  Schüler 
nicht  gegeben.  Die  Einleitung  behandelt  die  Lautlehre,  die  Wortbildungslehre, 
die  Bedeutungslehre.  Durch  regelmäßige  Verweisungen,  die  im  Lexikon  auf  diesen 
Teil  gegeben  werden,  soll  der  Schüler  veranlaßt  werden,  diesen  Teil  aufzuschlagen 
und  sich  über  Bildung  und  Ursprung  der  Wörter  Rechenschaft  zu  geben;  daher 
sind  auch  die  meist  auf  Walde  beruhenden  etymologischen  Angaben  in  diese  Ein- 
leitung hineingearbeitet.  Wenn  die  Kapitel  über  die  Lautlehre  mir  etwas  unüber- 
sichtlich und  ausführlich  erscheinen  und  ich  bezweifle,  ob  der  Schüler  immer  der 
gegebenen  Anregung  folgt,  so  wird  vielleicht  der  zukünftige,  m^hr  auf  sprach- 
geschichtlicher Grundlage  aufgebaute  Unterricht  diese  meine  Bedenken  als  hinfällig 
erscheinen  lassen. 

Berlin-Wilmersdorf.  F.  B  o  e  s  c  h. 

b)  Einzelbesprechungen: 

Lorey,  Wilhelm,  Staatsprüfung  und  praktische  Ausbildung 
der  Mathematiker  an  den  höheren  Schulen  in  Preußen 
und  einigen  norddeutschen  Staaten.  Leipzig  1911.  B.  G. 
Teubner.     I  u.  118  S.     gr.  8'\     geh.  3,20  M. 

Ein  für  die  Entwicklung  unseres  höheren  Schulwesens  bedeutsamer  Zeit- 
abschnitt liegt  hinter  uns:  am  12.  Juli  1910  ist  ein  Jahrhundert  vergangen,  seitdem 
durch  das  Königl.  Edikt,  das  die  erste  Prüfungsordnung  für  das  Lehramt  an  den 
höheren  Schulen  Preußens  enthält,  der  vierte  akademische  Stand,  der  Oberiehrer- 
stand,  ins  Leben  gerufen  wurde.  Als  eine  nachträgliche  Festschrift  zu  diesem 
Gedenktage  bezeichnet  W.  Lorey  seine  Abhandlung:  Staatsprüfung 
und  praktische  Ausbildung  der  Mathematiker  an  den 
höheren  Schulen  in  Preußen  und  einigen  nord- 
deutschen   Staaten,     kürzlich    als     3.    Heft    des    I.  Bandes  der    auf 


92  W.  Lorey,  Staatsprüfung  usw., 

Veranlassung  der  internationalen  Unterrichtskonimission  von  F.  Klein 
herausgegebenen  Abhandlungen  über  den  mathematischen  Unterricht  in 
Deutschland  erschienen  ist.  Weitaus  den  größten  Teil  der  ganzen  Dar- 
stellung, etwa  %,  nimmt  naturgemäß  die  Besprechung  der  wissenschaft- 
lichen Ausbildung  und  der  sie  regelnden  Prüfungsordnungen  von  1810, 
1831,  1866,  1887  und  1898  ein.  Der  Verfasser  begnügt  sich  jedoch  nicht  damit, 
alles,  was  in  jenen  Verfügungen  über  die  an  Mathematiker  zu  stellenden  Anfor- 
derungen gesagt  wird,  so  vollständig  wie  möglich  zusammenzustellen  und  einer 
vergleichenden  Kritik  zu  unterziehen,  sondern  er  bemüht  sich  auch,  uns  ein  Bild 
von  der  Art  und  Weise  der  Handhabung  der  Prüfung  sowie  ihrer  Ergebnisse  zu 
geben.  Daher  teilt  er  wortgetreu  den  Text  verschiedener  Prüfungszeugnisse  mit, 
die  aus  den  oben  bezeichneten  Zeitabschnitten  stammen  und  von  den  Prüfungs- 
kommissionen der  einzelnen  Provinzen  ausgestellt  sind.  Noch  mehr  aber  ist  er 
darauf  bedacht,  uns  einen  Einblick  in  die  Verhandlungen  zu  verschaffen,  die  den 
Änderungen  der  Prüfungsordnung  vorangegangen  sind,  damit  wir  einsehen,  aus 
welchen  Erwägungen  heraus  die  neuen  Prüfungsordnungen  entstanden.  Die  Tätig- 
keit der  Mathematikervereinigung,  die  Arbeiten  der  Unterrichtskommission  der 
Gesellschaft  deutscher  Naturforscher  und  Ärzte  werden  gewürdigt;  die  Verhand- 
lungen auf  der  Schulkonferenz  im  Dezember  1890,  die  auf  der  Pfingstkonferenz 
von  1900,  die  Göttinger  Besprechung  im  Jahre  1907  werden  beleuchtet,  und  indem 
wir  so  die  Kräfte  kennen  lernen,  die  für  die  Gestaltung  der  Prüfungsordnungen 
wirksam  sind,  erhalten  wir  ein  wertvolles  geschichtliches  Bild  ihres  Werdeganges. 
Auch  die  in  den  1864  und  1866  zu  Preußen  gekommenen  Gebieten,  Hannover, 
Schleswig-Holstein,  Hessen,  Frankfurt  a.  M.,  vor  ihrer  Einverleibung  bestehenden 
Verhältnisse,  ebenso  die  Prüfungsordnungen  in  Braunschweig  und  Mecklenburg 
werden  in  den  Kreis  der  Darstellung  hineingezogen. 

Besonderes  Interesse  erweckt  der  Abschnitt  über  die  Zusammensetzung  der 
Prüfungskommissionen,  in  dem  die  Gegensätze  in  den  Meinungen  über  die  Exa- 
minatoren zum  Ausdruck  gelangen;  die  dort  mitgeteilten  Anschauungen  Lagardes 
dürften  nur  wenigen  bekannt  sein  und  doch  die  höchste  Beachtung  verdienen. 

Nach  einer  kurzen  Statistik  über  den  Ausfall  der  Staatsprüfungen,  der  hin- 
sichtlich der  Mathematiker  die  von  der  statistischen  Kommission  der  Mathematiker- 
Vereinigung  seit  1905  alljährlich  herausgegebene  Statistik  des  mathematischen 
Studiums  zugrunde  liegt,  wendet  sich  der  Verfasser  der  praktischen  Ausbildung 
der  mathematischen  Kandidaten  zu,  die  von  der  Zeit  Friedrichs  des  Großen  an 
bis  in  die  Neuzeit  hinein  verfolgt  wird,  wo  sie  durch  die  Bestimmungen  von  1890 
und  1908  ihre  heutige  Gestalt  in  der  Ableistung  eines  Seminar-  und  eines  Probe- 
jahres gewinnt. 

Ist  es  an  sich  schon  ein  dankenswertes  Unternehmen,  alle  Verfügungen  über 
die  Vorbildung  der  Mathematiker  in  geschichtlichen  Zusammenhang  zu  bringen, 
so  gewinnt  Loreys  Abhandlung  noch  besonderen  Wert  durch  das  von  ihm  hinein- 
getragene persönliche  Moment.  Wohl  jeder  Oberlehrer  hat  ein  Interesse  daran, 
zu  erfahren,  wer  denn  die  ersten  Männer  seines  Standes  gewesen  sind.  Gewiß 
wird  mancher  erstaunt  sein,  wenn  er  hört,  daß  der  erste,  der  sich  einer  Oberlehrer- 
prüfung unterzog,  kein  anderer  als  der  Turnvater  Jahn  war,  doch  bedarf  die  Bc- 


angez.  F.  Pahl.  93 

nierkung,  daß  das  Ergebnis  der  Prüfung  nicht  sehr  günstig  war,  wohl  der  erklärenden 
Ergänzung,  daß  Jahn  sich  damals  eigentlich  nur  pro  forma  einer  solchen  Prüfung 
unterzog.  Seine  Aussicht,  eine  Dozentenstelle  an  der  neugegründeten  Berliner 
Universität  zu  erhalten,  war  nicht  in  Erfüllung  gegangen,  und  als  Ersatz  dafür  war 
ihm  eine  Oberlehrerstelle  am  Collegium  Fridericianum  in  Königsberg  angeboten. 
Die  Prüfung,  die  unter  Schleiermachers  Vorsitz  im  April  1810  stattfand,  sollte 
nur  eine  Formsache  sein,  um  einer  vorläufigen  Verfügung  zu  genügen,  die  der  Chef 
der  wissenschaftlichen  Deputation,  Wilhelm  v.  Humboldt,  schon  im  September  1809 
erlassen  hatte.  Infolge  der  Prüfung  gab  man  dann  Jahn  den  Rat,  sich  binnen 
einem  Jahre  „noch  der  Bildung  und  Schärfung  des  philosophischen  Sinnes,  des 
Studiums  der  alten  Sprachen,  einer  licht-  und  ordnungsvollen  Methode  des  Unter- 
richts und  der  Geschicklichkeit,  zahlreiche  Klassen  von  Schülern  in  Ruhe  und  Ord- 
nung zu  erhalten"  zu  befleißigen,  worauf  Jahn  in  das  mit  dem  Gymnasium  zum 
grauen  Kloster  verbundene  Seminar  für  gelehrte  Schulen  eintrat.  Auch  die  Nach- 
richten, die  Lorey  über  den  ersten  Mathematiker  unter  den  Oberlehrern,  Otto 
Nordmann,  bringt,  haben  großes  Interesse,  ebenso  wie  der  Brief,  in  dem  Kummer 
seiner  Mutter  über  den  Gang  seiner  Oberlehrerprüfung  in  Halle  berichtet.  Daß 
der  Nestor  unter  den  Lehrern  der  Mathematik,  Schellbach,  in  der  Zahl  derer,  über 
die  Persönliches  berichtet  wird,  nicht  fehlt,  ist  wohl  selbstverständlich.  Wohl 
wenige  dürften  wissen,  daß  dieser  berühmte  Leiter  des  mathematischen  Seminars 
keine  Prüfung  für  sein  Lehramt  gemacht,  sondern  auf  Grund  des  Paragraphen  15  des 
Edikts  von  1810  angestellt  wurde,  nach  dem  es  der  Sektion  für  öffentlichen  Unter- 
richt damals  freistand,  bei  anderweitig  bewährter  Geschicklichkeit  ,,des  Subjektes" 
von  allen  in  der  pädagogischen  Laufbahn  vorkommenden  Prüfungen  zu  dispensieren. 
Die  Namen  der  bedeutendsten  Teilnehmer  des  Schellbachschen  Seminars  sowie 
der  unter  den  mitgeteilten  Prüfungszeugnissen  stehenden  Examinatoren  werden 
gewiß  auch  bei  vielen  persönliche  Erinnerungen  wecken. 

Was  schließlich  der  Abhandlung  Loreys  noch  weiter  besonderen  Wert  verleiht, 
ist  der  Umstand,  daß  bei  aller  Objektivität  der  abgegebenen  Urteile  doch  aus  der 
ganzen  Darstellungsweise  die  Persönlichkeit  des  Verfassers  uns  in  sympathischen 
Zügen  entgegenleuchtet.  Er  ist  nicht  der  einseitige  Mathematiker,  der  sein  Fach 
in  scharfen  Gegensatz  zu  den  sprachlichen  Unterrichtsfächern  stellt,  sondern  findet, 
wie  Eratosthenes,  den  Titel  Philologe  auch  für  sich  als  höheren  Lehrer  angemessen. 
Wie  sehr  ihm  ein  umfangreiches  allgemeines  Wissen  das  Haupterfordernis  für  einen 
guten  Mathematiklehrer  erscheint,  zeigt  seine  Besprechung  der  Prüfung  in  der 
sogenannten  allgemeinen  Bildung.  Aber  er  verlangt  auch  von  den  Altphilologen 
Aufgeben  der  Einseitigkeit  und  bedauert  lebhaft,  daß  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaften nach  der  Prüfungsordnung  nicht  zur  ,, allgemeinen  Bildung"  gehören, 
was  vielleicht  jene  Mißachtung  der  Mathematik  zur  Folge  hatte,  die  sich  eine  Zeit- 
lang in  gymnasialen  Kreisen  zeigte.  Durchdrungen  von  dem  hohen  Werte  der  Mathe- 
matik für  die  gesamte  Ausbildung  des  Geistes,  der  bedeutungsvollen  Aufgabe  eines 
Mathematiklehrers  sich  voll  bewußt,  gibt  er  unwillkürlich  seiner  Abhandlung  etwas 
von  dem  Gepräge  der  eigenen  Persönlichkeit,  wodurch  sie  an  Wert  und,  bei  der 
Trockenheit  des  behandelten  Stoffes,  auch  an  Reiz  gewinnt. 

Berlin.  F.  Pahl. 


94  G.  Budde,  Aktuelle  pädagogische  Refornif ragen, 

1 .  Budde ,    Gerhard ,     Aktuelle     pädagogische     Reform  fragen 
Langensalza  1910.     Julius  Beltz.     162  S.    S«.     4  M. 

2.  Budde ,  Gerhard ,  Allgemeine  Bildung  und  individuelle 
Bildung  in  Vergangenheit  und  Gegenwart.  Langensalza 
1910.    Julius  Beltz.     240  S.     8^    5  M. 

Der  Verfasser  hat  in  den  letzten  Jahren  eine  erstaunliche  Fruchtbarkeit  auf 
pädagogischem  Gebiete  entfaltet,  und  nicht  ohne  einen  Anflug  von  Neid  sieht  man 
auf  einen  Kollegen,  der  bei  seiner  schweren  Berufsarbeit  zu  so  umfangreicher  Schrift- 
stellerei  in  Tagespresse,  Fachzeitschriften,  zu  Broschüren  und  selbst  voluminösen 
Werken  Zeit  findet.     Einigermaßen  tröstend  ist  für  den,  der  nur  horis  subsicivis 
und  intermittierend  zu  den  jetzt  mehr  denn  je  in  starkem  Flusse  befindlichen  Er- 
ziehungsfragen seine  Stimme  abgeben  kann,  daß  der  Verfasser  nur  ein  ceterum  censeo 
kennt  und  Wiederholungen  nicht  scheut,  die  denselben  Gegenstand  für  Fachleute 
anders  als  für  Laien  behandeln  —  was  mir  natürlich  fern  liegt,  zu  beanstanden  — , 
daß  er  verstreute  Aufsätze  zu  einem  Bande  sammelt  und  endlich  seine  eigenen 
Ansichten  durch  starke  Exzerpte  aus  Vorgängern,  beistimmend  oder  kritisierend, 
stützt.    Auch  dies  fetzte  tadle  ich  so  wenig,  daß  mir  vielmehr  solche  historischen 
Stücke  auch  in  den  vorliegenden  beiden  Büchern  das  Wertvollste  zu  sein  scheinen; 
zu  bemängeln  wäre  nur,  daß  es  der  Verfasser  einem  nicht  immer  leicht  macht, 
Eigenes  von  Fremdem  zu  unterscheiden,  und  mit  seinen  Reflexionen  nicht  zurück- 
haltender ist.  Sonst  sind  die  Auszüge  aus  der  dem  Verfasser  wohlbekannten  Literatur 
geschickt  und  klar;  auch  Gegner  kommen  zu  Wort.  —  Das  Leitmotiv  der  in  dem 
ersten  Bändchen  vereinigten  Aufsätze  schlägt  die  Einleitung  so  an:    „statt 
einseitig  intellektueller  Bildung  gleichmäßige  Berücksichtigung  aller  Geisteskräfte, 
und  statt  der  sogenannten  ^allgemeinen  Bildung*  wenigstens  für  die  Oberstufe  der 
höheren  Schulen  eine  möglichst  weitgehende  individuelle  Bildung."    Darum  will 
der  Verfasser  zurück  zu  Herbart  (I,  1),  darum  verlangt  er,  daß  die  formale  Bildung 
höchstens  Neben-Ergebnis  und  nicht  Ziel  des  Unterrichts  sei  (2)  und  daß  die  Fach- 
wissenschaft durch  gründliche  pädagogische  Vorbildung  ergänzt  werde  (3);  das 
Abiturientenexamen  will  er  beibehalten,  aber  die  Wissensstoffe  sollen  zurücktreten 
und   die    Individualität  soll   durch  weitgehende   Kompensationen   berücksichtigt 
werden  (4);  die  Schullüge  möchte  er  durch  eine  Pädagogik  des  Vertrauens  be- 
kämpft wissen  (5);  in  einer  Kritik  der  Kerschensteinerschen  ,, Grundfragen  der 
Schulorganisation"  Erziehung  nicht  zum  Staatsbürger,  sondern  zur  Persönlichkeit, 
wozu  eine  freie  Gestaltung  des  Unterrichts  auf  der  Oberstufe  nötig  sei  (6),  wie  sie 
vor  allem  Paulsen  befürwortet  habe  (7).    Diesen  Lieblingsgedanken  des  Verfassers 
führt  der  erste  Abschnitt  des  zweiten  Teiles  näher  aus.   Wie  schon  Herbart  (11,  A,  1) 
und  Ziller  (2)  der  Schülerindividualität  ihr  Recht  werden  lassen  wollten,  daß  die 
Gegenwart  auf  Persönlichkeitsbildung  dringe  und  wie  diese  etwa  zu  denken  sei, 
führen,  zum  Teil  unter  Ablehnung  übertriebener  Forderungen  moderner  Freiheits- 
apostel, die  folgenden  Aufsätze  aus  (3—5).    In  welcher  Weise  sich  der  fremdsprach- 
liche Unterricht  Herbarts  Forderungen  anzubequemen  habe,  und  daß  schon  Latt- 
mann und  Mager  („eine  der  markantesten  und  interessantesten  Persönlichkeiten 
unter   den  Methodikern  des   19.   Jahrhunderts")   Gegner  des   Formalismus  und 
Grammatismus  waren,  daß  endlich  auch  auf  dem  Gebiete  der  neueren  Sprachen 


angez.  von  E.  Grünwald.  95 

gehaltvolle  Lektüre  ohne  Rücksicht  auf  Sprechübungen  zu  wählen  und  das  Englische 
auf  dem  Gymnasium  obligatorisch  zu  machen  sei,  darüber  handelt  der  zweite  Ab- 
schnitt (II,  B,  1—6).  Das  Extemporale  bildet  das  Thema  der  letzten  Ausführungen 
(II,  C,  1—3):  der  Verfasser  hält  sie  für  die  Unter-  und  Mittelstufe  für  angebracht 
(in  einer  Anmerkung  freilich  meint  er,  „er  glaube  jetzt  vielmehr  auch  ohne  sie 
auskommen  zu  können"),  für  die  Oberstufe  für  entbehrlich.  Tabellen  von  Fehlern 
der  Extemporalien  zweier  Semester  sollen  für  die  vom  Verfasser  den  Schülern  bei 
Klassenarbeiten  gegebenen  Hilfen  plädieren.  —  Das  zweite,  an  das  erste  oft 
anklingende  Buch  hat  ausschließlich  die  Bewegungsfreiheit  in  den  — zwei  —obersten 
Klassen  zum  Gegenstande  und  beleuchtet  sie  historisch-kritisch,  vom  Neuhumanismus 
anfangend  und  über  Pestalozzi,  Herbart  und  die  Herbartianer,  Hegel  und  Joh. 
Schulze  bis  in  die  Gegenwart  (Paulsen,  Matthias,  Direktorenkonferenzen)  führend; 
Berichte  über  einige  Versuche  ihrer  praktischen  Durchführung  (Straßburg  i.  W., 
Elbing,  Hannover,  Elberfeld)  machen  den  Beschluß.  Des  Verfassers  Vorschläge 
liest  man  S.  143  ff.,  213,  239. 

Daß  zwischen  der  mystischen  Überspannung  der  Staatsidee  bei  Hegel- Joh. 
Schulze  und  der  schrankenlosen  Entfaltung  des  Individuums  bei  Nietzsche-Ellen 
Key  eine  goldene  Mittelstraße  führt,  die  die  Erziehung,  wenn  weder  Allgemeinheit 
noch  Persönlichkeit  zu  kurz  kommen  sollen,  gehen  muß,  gibt  auch  Budde  zu:  diese 
Mittelstraße  zu  finden  sind  heute  Philosophen  und  Pädagogen  bemüht.  „Mehr 
Pflege  der  Eigenart  als  Massendrill"  (A.  Biese),  soweit  das  im  Rahmen  der  Gemein- 
schaftserziehung möglich  ist,  möchten  wir  Erzieher  unter  den  ersten:  man  lese  auch 
die  dahingehenden  von  dem  vorsichtigen  und  maßvollen  M  ü  n  c  h  seiner  Zukunfts- 
pädagogik angehängten  Desiderien.  Es  ist  im  großen  und  ganzen  auch  gewiß  richtig,, 
was  Paulsen  sagt,  daß  die  Schule  nicht  die  Kulturentwicklung  schaffe,  daß  diese 
vielmehr  außerhalb  ihrer  Mauern  entstehe  und  daß  die  Schule  ihr  zu  folgen  habe. 
Aber  man  redet  oft  vom  Anpassen  an  die  Kultur  und  meint  Rücksichtnahme  auf 
Zeitströmungen  und  Tagesmeinungen,  die  durchaus  keinen  Fortschritt  bedeuten 
und  gegen  die  die  Erziehung  eher  ein  Gegengewicht  bilden  sollte.  E  u  c  k  e  n  , 
der  Persönlichkeitsbildner,  findet  für  den  modernen  Altruismus  schöne  Worte 
(vgl.  S.  92  in  Buddes  „A.  B.")  und  warnt  eindringlich  vor  den  Gefahren  des  Indi- 
vidualismus, der  in  Subjektivismus  ausarten  könne  (z.  B.  ebd.  S.  103).  Wir  werden 
uns  auch  fernerhin  damit  abfinden  müssen,  daß  „keine  Erziehung  ohne  leiseren, 
oder  stärkeren  Zwang  möglich  ist"  (A.  B  i  e  s  e),  werden,  unbeschadet  der  Indi- 
vidualitätspflege, damit  das  Niveau  der  Volksbildung  nicht  sinke  und  die  gebildeten 
Stände  nicht  die  Fühlung  untereinander  verlieren,  ihnen  auf  der  höheren  Schule 
eine  möglichst  breite  Bildungsbasis  zu  geben  fortfahren,  auf  der  sich  dann  die  den 
Fähigkeiten  und  Neigungen  entgegenkommende  und  für  das  wirtschaftliche  Fort- 
kommen wichtige  Berufsbildung  aufbaue.  Individualisierung  führt  bei  mittel- 
mäßigen und  wertlosen  Individuen  zur  Vergeudung  von  Lehrkräften,  starke  und 
leidenschaftliche  müssen  durch  Eingewöhnung  in  das  Ganze  eher  vor  Übermenschen- 
tum und  sittlicher  Anarchie  bewahrt  werden  —  alle  vor  Einseitigkeit.  Nichtsdesto- 
weniger hat  die  Bewegungsfreiheit  so  gewichtige  Fürsprecher,  daß  man  die  Versuche 
damit  fortsetzen  möge:  es  wird  hauptsächlich  darauf  ankommen,  daß  die  Kosten 
nicht  zu  hoch  sind  (vgl.  S.  126  der  „A.  B."),  daß  die  Schülerzahl  der  einzelnen 


96       G.  Budde,  Aktuelle  pädagogische  Reformfragen,  angez.  von  E.  Grünwald. 

Oruppen  nicht  zu  gering  ist  (wo  bleibt  der  Wetteifer  bei  2—3  Teilnehmern!),  daß 
keine  unlauteren  Motive  die  Auswahl  beeinflussen,  daß  die  Einheit  der  Anstalt  nicht 
gefährdet  werde.  Beiläufig:  ob  unser  altphilologischer  Nachwuchs  den  höheren 
Anforderungen,  die  die  Selekten  an  den  Lehrer  stellen,  so  ohne  weiteres  zu  genügen 
vermag?  Wir  erwarten  auch,  daß  die  freiere  Gestaltung  des  Unterrichts  auf  der 
Oberstufe  ihre  Spitze  nicht  gegen  die  alten  Sprachen  und  das  Gymnasium  richte, 
in  dem  viele  —  auch  Budde  —  das  Hemmnis  jeglichen  pädagogischen  Fortschritts 
sehen.  Sollte  es  sich  wirklich  mit  der  Braunschweiger  Erklärung  nur  einen  Strick 
gedreht  haben  und  der  November-Erlaß  von  1900  nur  eine  Etappe  auf  seinem  Todes- 
wege sein?  Nach  S.  186  erhofft  der  Verfasser  das  baldige  Ende  des  Gymnasiums. 
Daß  der  P  a  u  1  s  e  n  der  letzten  Jahre  nicht  mehr  sein  Eideshelfer  sein  kann,  ersieht 
er  übrigens  u.  a.  aus  dessen  Braunschweiger  Vortrage  von  1904,  besonders  S.  21. 
Wie  sehr  in  dem  heutigen  Sprachunterricht  des  Gymnasiums  die  formale  Bildung 
in  den  Hintergrund  tritt,  müßte  Budde  doch  wissen:  das  Extemporale  zu  verwerfen, 
^eil  es  sich  ausschließlich  an  den  Verstand  wende,  klingt  so,  als  ob  der  Schule  fortan 
Arbeit  an  der  Verstandesbildung  nicht  mehr  zukäme.  Wir  brauchen  es,  wie  das 
wiederholt  auch  Matthias  betont  hat,  in  letzter  Linie  für  die  Lektüre;  es  führt  — 
und  das  gerade  in  den  Oberklassen,  wo  gutes  Deutsch  in  gutes  Latein  (oder  Griechisch) 
übersetzt  werden  soll  —  durch  Vergleichung  beider  Idiome  in  die  scharfe  Erfassung 
des  Sprachgeistes  ein,  „ohne  die  ein  wirkliches  Erfassen  (des  fremden  Volksgeistes) 
nicht  möglich  ist'*  (v.  W  i  1  a  m  o  w  i  t  z).  Dazu  genügen  die  bis  U  H  getriebenen 
Klassenarbeiten  nicht  (gegen  S.  123  der  „Reformfragen");  und  wenn  gar,  wie  Budde 
will,  der  grammatische  Unterricht  überhaupt  in  U  II  aufhört,  so  kann  es  sich  doch 
immer  nur  um  die  Elementargrammatik  handeln,  die  aber  immer  noch  gelegent- 
licher, und  zwar  systematischer  Auffrischung  bedürfen  wird.  Ein  Hinweis  auf 
die  Ersetzung  des  Extemporales  durch  die  Herübersetzung  im  Griechischen  ist  ein 
drculus  vitiosus:  di  e  können  wir  uns  nur  gestatten,  weil  der  lateinische  Unter- 
richtsbetrieb das  grammatische  Rückgrat  stärkt.  Zu  leicht  gemacht,  verfehlen  die 
Klassenarbeiten  ihren  Zweck,  aber  für  die  Unter-  und  Mittelklassen  zumal  befolge 
man  immerhin  eine  mildere  Praxis:  mache  sie  nicht  zu  lang  und  nicht  zu  schwer, 
gebe  Hilfen  und  bewerte  sie  nicht  zu  hoch.  Eine  weitere  Gefahr  für  das  Gymnasium 
sehe  ich  in  der  Einführung  neuer  Pflichtfächer,  wie  des  Englischen,  so  wertvoll 
Sprache  und  Kultur  des  Volkes  sein  mögen.  (Darin  allerdings  stimme  ich  Budde 
zu,  daß  ein  Abbruch  des  Französischen  in  Uli,  um  das  Englische  an  seine  Stelle 
treten  zu  lassen,  unzweckmäßig  ist:  beide  Sprachen  kämen  dabei  schlecht  weg.) 
Es  ist  eine  Rückbildung,  wenn  man  die  Lehrpläne  der  drei  höheren  Schultypen 
mit  so  viel  Lehrfächern  und  Lehrstoff  belastet,  daß  dadurch  ihre  als  notwendig 
erachtete  Differenzierung  aufgehoben  wird,  und  eine  Annäherung  des  einen  Typus 
an  den  andern  erstrebt:  das  ist  der  Weg  zur  enzyklopädistischen  Einheitsschule. — 
Beide  Bücher  bringen  eine  Fülle  von  Material  und  führen  besonders  in  die  päda- 
gogischen Hauptströmungen  des  vorigen  Jahrhunderts  bequem  ein;  der  Stil  hat 
Fluß  und  Farbe,  die  Ausstattung  ist  würdig.  Die  Druckversehen  des  ersten  Bänd- 
chens verbessert  man  leicht  (S.  90,  Z.  8  1.  Verkehrung  st.  Vorkehrung).  Im  zweiten 
streiche  S.  21,  Z.  17  „aber",  1.  S.  105  englische  st.  griechixhe,  S.  130,  Z.  4  v.  u. 
alle  hervorragend  Begabten,  S.  136  erschrickt  st.  erschreckt,  S.  165  füge  die  Direk- 


G.  Budde,  Das  Gymnasium  des  20.  Jahrhunderts,  angez.  von  E.  Grünwald.       97 

torenversammlung  von  Westfalen  von  1907  hinzu,  S.  118  1.  widerspiegeln,  S.  225 
Euripides;  es  heißt  Monatschrift.  Die  Zahl  der  Einzelgymnasien  in  Preußen  ist  nach 
der  neuesten  mir  zugänglichen  Statistik  nicht  170,  wie  S.  105  steht,  sondern  137; 
darunter  sind  61  mit  englischem  Ersatzunterricht. 

Berlin.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d. 


Budde,  Gerhard,  Das  Gymnasium  des  20.  Jahrhunderts.  Langen- 
salza 1910.  Hermann  Beyer  und  Söhne.  102  S.  8«.  2,50  M. 
Die  Schrift  ist  ein  Auszug  aus  des  Verfassers  zweibändigem  Werke  „Die  Päda- 
gogik der  preußischen  höheren  Knabenschulen  unter  dem  Einflüsse  der  pädago- 
gischen Zeitströmungen  vom  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  bis  auf  die  Gegenwart". 
Das  Zukunftsgymnasium  des  Verfassers  macht  das  Griechische,  das  nur  für  Philo- 
logen (doch  wohl  bloß  altsprachliche)  und  Theologen  Wert  habe,  neben  englischem 
Ersatzunterricht  wahlfrei  und  reduziert  die  lateinischen  Stunden  in  den  drei  Ober- 
klassen auf  4  Stunden  Lektüre:  so  schafft  er  Raum  für  moderne  Bildung,  Biologie 
und  Philosophie.  Bezüglich  des  Griechischen  denken  wir  mit  Geheimrat  K  ö  p  k  e 
(Abgeordnetenhaus  1909):  „Völlig  ausgeschlossen  ist  ein  Gymnasium  ohne 
Griechisch;  das  wäre  wirklich  eine  contradiciio  in  adiecto  .  .  .  Dem  Verlangen  der 
Bürgerschaft  nach  Umwandlung  einer  gymnasialen  Anstalt  in  eine  realistische 
wird  die  Unterrichtsverwaltung  gern  entgegenkommen,  in  der  Überzeugung,  daß 
sie  damit  auch  im  Sinne  aller  wahren  Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums 
handelt."  Durch  die  Verminderung  des  lateinischen  Unterrichts  verlören  wir 
720  Lektürestunden  und  wären  fast  auf  den  preußischen  Realgymnasialplan  zurück- 
geschraubt. Grammatische  Übungen,  die  Budde  auf  der  Oberstufe  für  überflüssig 
hält,  sind  nötig,  um  Unsicherheit  und  Oberflächlichkeit  im  Verständnis  des  Autors 
vorzubeugen,  auch  ständige  Unterbrechungen  der  Lektüre  durch  grammatische 
Exkurse  zu  verhüten.  Diesen  Zwecken  dient  auch  das  vom  Verfasser  geächtete 
lateinische  Skriptum,  das  aber  auch  als  wahrhaft  schöpferische  Tätigkeit  des  Schülers 
und  logisches  Bildungsmittel  neben  der  Übersetzung  aus  dem  Lateinischen  seinen 
selbständigen  wissenschaftlichen  und  erziehlichen  Wert  hat.  Die  Einführung  der 
Biologie  als  besonderen  Lehrfaches  hat  manches  Bedenkliche,  wie  das  z.  B. 
Waßmann  (Der  biol.  U.  in  den  h.  Seh.,  Köln  1906),  Reinke  in  dieser 
Monatschrift  (1902)  und  Bode  (Heft  II/III  1909  des  Hum.  G.,  S.  49ff.)  aus- 
geführt haben.  Mehr  kann  man  mit  der  Pflege  der  Philosophie  auf  der  höheren  Schule 
einverstanden  sein :  sie  war  das  ceterum  censeo  wiederholter  W  e  i  ß  e  n  f  e  1  s, 
scher  Ausführungen,  und  Männer  wie  Paulsen,  R.  Lehmann,  Euken 
traten  oder  treten  dafür  ein.  Aber  auch  sie  braucht  nicht  mit  besonderen  Stunden 
bedacht  zu  werden,  soll  vielmehr  dem  Unterrichtsbetriebe  der  Oberklassen  immanent 
sein.  Einverstanden  sind  wir  ferner  mit  dem  Verfasser  in  der  Zurückweisung  über- 
mäßiger Ansprüche  der  Naturforscher  und  in  der  Zwecksetzung  des  neusprachlichen 
Unterrichts  auf  dem  Gymnasium.  Auch  hier  findet  sich  viermal  die  irrige  An- 
gabe, daß  170  Provinzstädte  Preußens  als  höhere  Schule  nur  ein  Gymnasium 
hätten. 

Berlin.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  J 


98  G.  Moch,  Rapport  ä  S.  A.  S.  le  Prince  Albert   I^^  usw., 

Moch,  Gaston,  Rapport  ä  S.  A.  S.  le  Prince  Albert  P*  sur  une 
Mission  ä  l'Etranger  en  vue  de  la  Creation  d'un  Lycee 
ä  Monaco.  Imprimerie  de  Monaco  1910.  4^.  270  S. 
Der  Fürst  von  Monaco  hat  seinen  „conseiller  prive",  den  ehemaligen  Artillerie- 
hauptmann und  nunmehrigen  pazifistischen  Publizisten  M.  M  o  c  h  ,  damit  betraut, 
ihm  einen  Entwurf  vorzulegen,  nach  welchem  in  seiner  Landeshauptstadt  eine  moderne 
und  nach  jeder  Hinsicht  musterhafte  höhere  Schule  errichtet  werden  sollte.  Wir 
können  es  gleich  heraussagen,  daß  der  also  Betraute  sich  seines  Auftrages  in  vorzüg- 
licher Weise  erledigt  hat.  Er  besuchte  zu  diesem  Behufe  insgesamt  34  höhere  und 
Volksschulen,  die  seitens  der  betreffenden  Landesbehörde  als  musterhafte  Neu- 
schöpfungen namhaft  gemacht  wurden.  Von  diesen  entfallen  auf  Deutschland  10 
(Stuttgart  4,  München  3,  Mannheim  3),  auf  Frankreich  5  (sämtlich  in  Paris),  auf 
die  Schweiz  16  (Genf  5,  Zürich  4,  Bern  4,  Lausanne  3),  auf  Norwegen  2  (Christiania). 
Die  Früchte  dieser  Studienreisen  sind,  in  sachlich-methodischer  Weise  aufgearbeitet, 
in  dem  vorliegenden  Rechenschaftsberichte  niedergelegt,  der  die  Bedeutung  einer 
Gelegenheitsschrift  weit  überragt,*)  ja  zu  dem  Besten  gehört,  was  auf  dem  Gebiete 
des  vergleichenden  Schulwesens  seit  Jahren  erschienen  ist.  Mit  13  zumeist  inter- 
nationalen schulstatistischen  Tafeln  und  38  Abbildungen  (Handfertigkeitsunterricht 
und  Schulbauten)  ausgerüstet,  ist  das  Werk  eine  Art  Kaleidoskop,  das  tiefe  und 
verläßliche  Einblicke  in  das  höhere  Schulwesen  der  behandelten  Länder  gestattet. 
Es  ist  sachlich  in  4  Hauptstücke  und  128  Abschnitte  gegliedert,  in  denen  zuerst 
die  einschlägigen  Verhältnisse  der  einzelnen  Länder  kritisch  und  referierend  vor- 
geführt werden,  dem  sich  dann  als  Schlußfolgerung  das  für  die  Anstalt  in  Monaco 
jeweilig  empfehlenswerte  Beste  anschließt.  Der  Plan  dieser  Musteranstalt  ist  mit 
der  größten  Umsicht  bis  ins  kleinste  Detail  ausgearbeitet.  Hier  behufs  Orientierung 
bloß  eine  kurze  Skizze.  Die  Anstalt  (Externat)  ist  als  eine  Kombination  der  deut- 
schen Realschule  und  des  Realgymnasiums  gedacht  (die  französischen  Sektionen 
latin-sciences  und  sciences-langues  Vivantes)  mit  6  +  2  4-  1  Klassen,  die  nach  unten 
eventuell  durch  einen  zweiklassigen  Vorbereitungskurs  ergänzt  wird.  Der  geographi- 
schen Lage  Monacos  entsprechend  hält  sich  das  Projekt,  die  Lehrpläne,  Unterrichts- 
methoden, Rekrutierung  der  Lehrkräfte  und  deren  Belastung  und  Bezüge  betreffend, 
an  das  französische  Vorbild,  während  für  die  bauliche  Anlage,  Einrichtung  und 
Ausrüstung,  sowie  für  die  innere  Ordnung  und  Reinlichkeit  Deutschland  maßgebend 
sein  soll.  Das  Hauptgebäude  ist  mit  Souterrain,  Hochparterre  und  2  Stockwerken 
gedacht;  ferner  2  besonderen  Pavillons  für  die  Vorbereitungsklassen,  sowie  den  Di- 
rektor und  2  Höfen,  zusammen  auf  einen  Flächenraum  von  zumindest  5000  qm. 
Ohne  den  Kaufpreis  des  Grundes  sind  die  Kosten  des  Baues  und  der  Einrichtung 
auf  rund  1  Million  Frank  veranschlagt.  Hierzu  kommt  das  auf  etwa  200  000  Fr. 
bezifferte  Jahresbudget,  wovon  177  000  Fr.  auf  die  Personalgebühren  des  Lyc^e 
entfallen.    Das  französische  und  schweizerische  Fachlehrersystem  wird  dem  deut- 


*)  Im  friedlichen  Wettkampfe  der  Völker  hat  dasjenige  die  größte  Aussicht  auf 
Erfolg,  in  dem  die  Kenntnis  fremder  Nationen,  ihrer  Bedürfnisse  und  Lebensgewohn- 
heiten,  ihrer  Sitten  und  Einrichtungen,  ihrer  Mängel  und  Vorzüge  am  weitesten  ver- 
breitet ist  (Ad.  Matthias:  Die  soziale  und  politische  Bedeutung  der  Schulreform  vom 
Jahre  1900.    Berlin  1905.     Seite  33). 


angez.  von  F.  Kemeny.  99 

sehen  Klassenlehrersystem  gegenüber  vorgezogen.  Uns  dünkt,  daß  der  Verfasser  da 
und  dort  in  der  Be-  und  Verurteilung  des  deutschen  Schulwesens  etwas  zu  strenge 
vorgegangen  sei,  da  selbst  ein  gebürtiger  französischer  Schulmann  Henri 
Bornecque  in  seinen  „Questions  d'enseignement  secondaire  des  gargons  et  des 
filles  en  Allemagne  et  en  Autriche''  (Paris  1909,  Delagrave,  306  S.)*)  dem  inneren 
deutschen  Schulbetrieb  mehr  Gutes  nachzusagen  weiß.  Darin  jedoch  müssen  wir 
M.  Moch  recht  geben,  daß  in  Deutschland  die  Belastung  von  Lehrer  und  Lernenden 
eine  ungleich  größere  ist,  als  in  Frankreich.  Und  wenn  er  für  seine  Schule  den 
Schülerstand  klassenweise  mit  30—30  (in  den  Vorbereitungsklassen  mit  36)  be- 
stimmt, die  Zahl  der  wöchentlichen  Unterrichtsstunden  für  Schüler  zwischen 
22  obligaten  -h  2  fakultativen  und  29 V2  obligaten  +  3  fakultativen  abwechseln 
läßt,  schließlich  für  die  Professoren  wöchentlich  IOV2— 15  Stunden  ansetzt,  so 
hat  er  hiermit  den  Forderungen  der  Vorbildlichkeit  genügt.  Dabei  könnte  man 
allerdings  einwenden :  Tu  felix  Monaco !  Vermag  ein  Land  seine  Bedürfnisse  mit 
einer  höheren  Schule  zu  decken,  so  kann  es  sich  diesen  Luxus  des  Besten  gestatten, 
was  bei  einem  Schulgroßbetrieb  nur  durch  eine  bedeutend  größere  Inanspruch- 
nahme der  Zuschüsse  der  Schulerhalter  denkbar  wäre. 

Den  so  überaus  zeitgemäßen  hygienischen  Anforderungen  genügt  der  Entwurf 
nach  jeder  Hinsicht.  Diesbezüglich  enthalten  der  ganze  H.  und  HL  Teil  (83—156, 
157—180)  reiches  Material,  woraus  die  folgenden  Einzelheiten  herausgegriffen 
seien:  Schulbrausebäder  und  Schwimmen  (63),  Lage  der  Fenster  (84),  Fußboden  (86), 
Wandbekleidung  (90),  Garderoben  (93),  Beleuchtung  (95),  Heizung  (96),  Lüftung 
(98),  Papierkörbe  und  Waschbecken  (111),  Unterkunft  für  Bicycles  (133),  Anstands- 
orte (138 — 143),  Verbandszimmer  (129)  usw.  usw.  Neben  Unterweisungen  in  der 
ersten  Hilfeleistung  ist  auch  für  Vorträge  aus  der  Gesundheitslehre,  das  sexuelle 
Problem  inbegriffen,  vorgesorgt.  Triftige  Gründe  werden  gegen  den  kontinuierlichen 
fünfstündigen  Vormittagsunterricht  ins  Feld  geführt.  (Bornecque  zitiert  hierfür 
S.  31  eine  beweiskräftige  Stelle  aus  Münchs  „Eltern,  Lehrer  und  Schulen".) 

Unsere  kritischen  Bemerkungen  reduzieren  sich  im  Hinblick  auf  die  ideale 
Anlage  des  Werkes  auf  einige  Gesichtspunkte  und  Einzelheiten,  die  der  Verfasser 
zugunsten  der  Vollständigkeit  und  Vollkommenheit  seines  Planes  noch  wohl  hätte 
berücksichtigen  können.  Solche  Motive  wären:  die  Selbstbetätigung  und  Selbst- 
verwaltung der  Schüler,  turnerische  und  sportliche  Wettbewerbe,  eine  engere  Ver- 
knüpfung der  Familie  mit  der  Schule  (Elternabende  usw.),  die  Rolle  des  Ordinarius, 
Schulfeste,  gedruckte  Jahresberichte  usw.  Die  so  wichtige  Frage  der  Berechtigungen 
wird  wenigstens  mittelbar  dadurch  gestreift,  daß  der  Verfasser  die  Anerkennung 
des  livret  scolaire  seitens  der  französischen  Regierung  für  unbedingt  notwendig 
erachtet.  Über  Schulaufsicht  und  Kontrolle,  diese  uneriäßlichen  Bedingungen 
und  zugleich  Garantien  jeder  guten  Schule,  haben  wir  leider  nichts  vorgefunden. 
Dies  ist  um  so  überraschender,  als  ja  der  Verfasser  sonst  einen  feinen  Spürsinn 
für  praktische  Bedürfnisse  und  Friktionen  in  der  Praxis  zu  besitzen  scheint  und  dies 
auch  dadurch  bekundet,  daß  er  die  Notwendigkeit  von  der  frühzeitigen  Inangriff- 
nahme der  Vorarbeiten  seitens  des  Direktors,  desgleichen  von  der  Zusammen- 


*)  Vgl.  diese  Monatschrift,  Jahrg.  1910,  S.  647—660. 

7* 


100         P.  Häberlin,  Wissenschaft  und  Philosophie,  angez.  von  A.  Heußner. 

schweißung  des  Lehrkörpers  betont.  In  der  Tat  liegt  hier  die  Brücke  von  der 
Papierform  zur  Wirklichkeit.  Mit  jener  allein,  und  wäre  sie  die  schönste  und  beste 
der  Welt,  ists  nicht  getan,  wenn  die  Lehrerindividualitäten,  diese  lebendigen  Nerven- 
zentren der  Schule  und  die  daraus  resultierende  Seele  der  Schule,  diese  ideale 
Achse,  um  die  sich  der  ganze  praktische  Schulbetrieb  dreht,  im  innersten  Kern 
nicht  gesund  sind.  Wir  möchten  das  ehrliche  Streben  des  Verfassers  und  die  Opfer- 
freudigkeit seines  erlauchten  Herrn  damit  lohnen,  daß  wir  ihnen  für  diese  heiklen 
und  schwierigen  Anforderungen  recht  viel  Glück  wünschen,  damit  ein  wirklich 
vorbildliches  Werk  erstehe,  an  dem  sich  alle  ehrlichen  Schulmänner  und  besorgten 
Eltern  voll  und  ganz  ergötzen  können.  So  hat  bereits  Kant  das  Basedowsche 
Philanthropinum  wärmstens  der  Teilnahme  aller  Länder  empfohlen.  Seinem 
Geiste  schwebte  eine  Reformschule  vor,  die  von  Kennern  in  allen  Ländern  be- 
obachtet und  beurteilt,  aber  auch  durch  den  vereinigten  Beitrag  aller  Menschen- 
freunde bis  zur  Erreichung  ihrer  Vollständigkeit  unterstützt  werden  sollte. 
Budapest.  F  r.  K  e  m  e  n  y. 

Häberlin,  Paul,    Wissenschaft   und   Philosophie,   ihr  Wesen   und 
ihr  Verhältnis.    Erster  Band :   Wissenschaft.    Basel   1910.     Kober  C.  F. 
Spittlers  Nachf.  ;  VI  u.  360  S.    geh.  6  M. 
Das  vorliegende  Werk  bildet  in  gewisser  Weise  eine  Fortsetzung  der  kritischen 
Studie  desselben  Verfassers  über  „Herbert  Spencers  Grundlagen  der  Philosophie" 
(Leipzig  1908).    Das  dort  am  Schlüsse  angeschlagene  Problem,  ob  sich  der  wissen- 
schaftliche Charakter  der  Philosophie  mit  der  Universalität  des  Systems  vereinigen 
lasse,  wird  hier  einer  gründlichen  Untersuchung  unterzogen,  die  nach  dem  Wunsche 
des  Verfassers  dazu  helfen  soll,  die  Widersprüche  in  unserer  Kultur,  unter  der 
wir  alle  seufzen,   zu  überwinden  und   eine  harmonische,   überzeugungskräftige, 
universale  Weltanschauung  zu  begründen.   Ist  eine  solche  Weltanschauung  möglich? 
—  das  ist  die  Frage,  die  der  Verfasser  zu  beantworten  unternimmt. 

Die  erste  Hälfte  des  Lösungsversuches  liegt  in  dem  oben  angezeigten  Bande 
vor,  welcher  sich  mit  dem  Wesen  des  wissenschaftlichen  Erkennens,  der  Stellung 
der  einzelnen  Wissenschaften  zueinander  und  der  Aufgabe  der  Wissenschaft  be- 
schäftigt. Der  ganzen  Problemstellung  nach  war  zu  vermuten,  daß  der  Wert  der 
Wissenschaft  zugunsten  der  Philosophie  etwas  geringer  eingeschätzt  werden  würde. 
In  der  Tat  ist  es  das  offensichtliche  Bestreben  des  Verfassers,  überall  die  Relativität 
alles  menschlichen  Erkennens  möglichst  deutlich  herauszustellen.  Alles  Erkennen 
ist  nur  Erleben.  Alles  Erleben  ist  individuell.  Wissenschaft,  Regel  und  Begriff 
sind  auch  Produkte  schaffender  Phantasie.  Das  Kausalgesetz  ruht  im  Grunde 
nur  auf  einem  Kausalglauben.  Nur  die  Wiederholbarkeit,  die  innere  Widerspruchs- 
losigkeit  und  der  Vergleich  mit  den  Erlebnissen  anderer  gibt  dem  wissenschaftlichen 
Erkennen  einige  Sicherheit. 

Man  wird  mit  einem  abschließenden  Urteil  bis  zum  Erscheinen  des  2.  Bandes 
zurückhalten  müssen,  der  jedenfalls  noch  positive  Ergänzungen  zu  diesen  wesent- 
lich kritischen  Ausführungen  zu  bringen  hat.  Wir  halten  jedoch  eine  so  klare, 
voraussetzungslose  und  durchsichtige  Untersuchung  der  Grundlagen  unserer 
wissenschaftlichen   Erkenntnis,  wie  sie  der  Verfasser  gibt,  für  sehr  zeitgemäß, 


W.  V.  Humboldts  Ausgewählte  philosophische  Schriften,  angez.  von  E.  Spranger.     101 

verdienstlich  und  notwendig.  Wir  haben  hier  eine  der  seltenen  Darstellungen 
der  Erkenntnistheorie  vor  uns,  die  unter  Vermeidung  aller  überflüssigen  Fremdworte, 
mißverständlicher  Fachausdrücke  und  gelehrten  Ballastes  mitten  in  die  Sache 
hineinführt  und  auch  dem  philosophisch  weniger  geschulten  Laien  verständlich 
zu  machen  weiß,  um  was  es  sich  handelt.  Es  ist  eins  der  weniger  häufigen  Bücher, 
die  zum  eigenen  Nachdenken  nicht  nur  anregen,  sondern  auch  erziehen. 
Cassel.  Alfred  Heußner. 

Wilhelm  v.  Humboldts  Ausgewählte  philosophische  Schriften. 
Herausgegeben  von  Joh.  Schubert.  (=  Philosophische  Bibliothek  Bd.  123.) 
Leipzig  1910  F.  Meiner.    XXXIX  u.  222  S.    8«.    geh.  3,40,  geb.  4,00  M. 

W.  V.  Humboldt  ist  populär  geworden  durch  die  Gründung  der  Universität 
Berlin  und  durch  seine  liberale  Haltung  in  der  Zeit  der  Karlsbader  Beschlüsse. 
Der  unmittelbare  Eindruck  seiner  Größe  hat  sich  durch  eine  eigenartige  persön- 
liche Tradition  bis  in  unsere  Tage  lebendig  erhalten.  Als  Schriftsteller  aber 
hat  er  nie  eine  breite  Wirksamkeit  geübt.  So  gern  wir  ihn  als  Dritten  im  Bunde  mit 
Goethe  und  Schiller  denken,  so  unendlich  steht  er  ihnen  an  produktiver  literarischer 
Kraft  nach.  Was  ihn  mit  diesen  Geistern  verband,  war  der  immer  rege  Trieb  nach 
Selbstbildung.  Daher  hat  er  denn  auch  in  den  entscheidenden  Jahren  seiner  inneren 
Entwicklung  ausschließlich  im  Dienste  seiner  Selbstverständigung  geschrieben  — 
suchend,  oft  dispositionslos,  im  Schreiben  erst  den  Gedanken  erzeugend.  Wir 
finden  im  einzelnen  glänzende  Durchblicke,  aber  kaum  je  etwas  auch  der  Form 
nach  Fertiges. 

Einen  solchen  Geist,  wenn  auch  nur  durch  eine  Auswahl,  weiteren  Kreisen 
nahezubringen,  ist  unendlich  schwer,  ja  im  vollen  Sinne  unmöglich.  Aber  wir  dürfen 
dem  Herausgeber  des  vorliegenden  Bandes  rühmend  bezeugen,  da'ß  er  das  Erreich- 
bare erreicht  hat.  Er  hat  sich  vorwiegend  an  die  Schriften  der  zweiten,  reifen 
Periode  gehalten  und  aus  ihnen  vor  allem  d  i  e  drei  Aufsätze  herausgegriffen,  deren 
klassische  Vollendung  von  allen  gekannt  zu  werden  verdient:  die  Charakteristik 
Schillers,  die  Humboldt  der  Ausgabe  seines  Briefwechsels  mit  dem  Dichter 
voranschickte  und  in  der  sich  die  Andacht  freundschaftlichen  Gedenkens  mit  tiefer, 
klarer  psychologischer  Durchdringung  verbindet;  die  Charakteristik  Goethes, 
die  von  einer  Rezension  des  „Zweiten  Aufenthalts  in  Rom"  ausgeht  und  zwei 
scheinbar  disparate  Seiten  Goethes  feinsinnig  auf  ihre  einheitliche  Wurzel  in 
seiner  geistigen  Organisation  zurückführt;  und  endlich  die  berühmte  Rede  „Über 
die  Aufgabe  des  G  e  sc  h  ic  h  t  sc  h  r  e  i  b  e  r  s**,  die  bis  heute  das  Beste 
über  historische  Geistesart  und  Auffassung  geblieben  ist.  Daran  reihen  sich  ein 
Beispiel  aus  Humboldts  sprachwissenschaftlichen  Abhandlungen,  der  Aufsatz 
über  die  Bhagavad-Gita,  aus  früherer  Zeit  die  ersten  12  Kapitel  der  Schrift  über 
„Hermann  und  Dorothea"  und  das  Fragment  „Latium  und  Hellas",  das  die  roman- 
tische Wendung  in  Humboldts  Auffassung  vom  Griechentum  zeigt,  wie  sie  sich 
ihm  während  der  glücklichen  Jahre  in  der  Siebenhügelstadt  gestaltet  hat. 

Besonderes  Interesse  verdient  der  Aufsatz  „Über  die  innere  und  äußere  Organi- 
sation der  höheren  wissenschaftlichen  Anstalten  in  Berlin",  den  der  Herausgeber 
in  dem  „Zur  Pädagogik"  betitelten  Schlußabschnitt  mitteilt,  freilich  ohne  zu 


102  P.  Brandt,  Sehen  und  Erkennen, 

sagen,  daß  auch  er  Fragment  geblieben  ist  und  daß  seine  Entstehung  mit  ziemlicher 
Sicherheit  auf  April  bis  Anfang  Mai  1810  datiert  werden  kann.  So  wenig  man 
natürlich  daraus  allein  ein  Bild  von  Humboldts  pädagogischen  Ideen  gewinnen 
kann,  so  zeigt  dieses  Fragment  doch  die  idealistischen  Grundanschauungen  vom 
Wesen  der  Wissenschaft,  die  Humboldt  mit  seinen  Zeitgenossen  Fichte,  Schelling 
und  Schleiermacher  teilt.  Es  ist  nicht  nur  die  Grundlage  für  die  Organisation 
der  Universität  Berlin  gewesen,  sondern  es  enthält  auch  die  Keime  von  Ideen,  die  erst 
im  zweiten  Jahrhundert  ihres  Bestehens  ihre  Verwirklichung  und  Vollendung 
finden  sollen,  wie  uns  die  kaiserliche  Botschaft  bei  der  Zentenarfeier  verheißen  hat. 

Den  Wert  der  vorliegenden  Auswahl  vermehrt  Schuberts  geistvolle  Einleitung, 
die  nicht  nur  die  innere  Verbindung  zwischen  dem  Mitgeteilten  herstellt,  sondern 
auch  mit  wenigen,  aber  scharfen  Strichen  ein  Bild  vom  Leben  und  Wesen  des  ganzen 
Mannes  entwirft.  Auch  diese  Aufgabe  war  nicht  leicht;  aber  es  ist  ein  reifer  Geist, 
der  sie  unternommen  hat,  und  so  ist  es  ihm  gelungen,  zur  Erweckung  von  Humboldts 
Andenken  beizutragen,  in  einer  Zeit,  die  auf  so  vielen  Gebieten  zur  positiven  und 
negativen  Auseinandersetzung  mit  ihm  Veranlassung  hat. 

Leipzig.  Eduard  Spranger. 

Brandt,  Paul,  Sehen  und  Erkennen.  Eine  Anleitung  zu  vergleichender 
Kunstbetrachtung.  Leipzig  1911.  Ferdinand  Hirt  &  Sohn.  X  u.  272  S.  Mit 
414  Abbildungen  kart.  od.  geb.  5  M. 

Es  gibt  sehr  viele  Gebildete,  die  ein  sehr  gutes  kunsthistorisches  Wissen  be- 
sitzen und  trotzdem,  wenn  sie  vor  ein  bedeutendes  Kunstwerk  gestellt  werden, 
nur  wenig  zutreffende  oder  unwesentliche  Bemerkungen  bieten  können.  Vielleicht 
könnte  man  nun  meinen,  daß  es  möglich  wäre,  daß  sie  das  Schöne  wohl  fühlten 
und  nur  nicht  zum  sprachlichen  Ausdruck  bringen  könnten,  ja,  daß  vielleicht  durch 
eine  begriffliche  Fassung  der  ästhetische  Eindruck  geradezu  zerstört  werde.  Schon 
Schiller  hat  sich  mit  diesem  Einwurfe  beschäftigt  (in  den  Briefen  über  die  ästhetische 
Erziehung).  Er  meint,  daß  die,  die  sich  bei  der  ästhetischen  Betrachtung  blindlings 
der  Leitung  ihrer  Gefühle  anvertrauen,  von  der  Schönheit  keinen  Begriff  erlangen, 
weil  sie  in  dem  Total  des  sinnlichen  Eindrucks  nichts  Einzelnes  unterscheiden. 
Ebensowenig  können  die  einen  Begriff  von  der  Schönheit  bekommen,  die  aus- 
schließend den  Verstand  zum  Führer  nehmen,  weil  sie  in  dem  Total  derselben  nie 
etwas  anderes  als  die  Teile  sehen  und  Geist  und  Materie  auch  in  ihrer  vollkommensten 
Einheit  ihnen  ewig  geschieden  bleiben.  „Jene  wollen  die  Schönheit  auch  ebenso 
denken,  wie  sie  wirkt,  diese  wollen  sie  ebenso  wirken  lassen,  wie  sie  gedacht  wird." 
Anders  gesagt:  Zur  vollen  Auffassung  eines  Kunstwerkes  gehört  ein  Mehreres, 
man  muß  den  Stoff  sehen  (!),  den  Gehalt  erfassen,  die  schöne  Form  fühlend  ver- 
stehen können.  Goethe  trifft  den  Kern  der  Frage,  wenn  er  sagt:  „Den  Stoff  sieht 
jedermann  vor  sich,  den  Gehalt  findet  nur  der,  der  etwas  dazu  zu  tun  hat,  und  die 
Form  ist  ein  Geheimnis  den  meisten."  Es  handelt  sich  also  um  das  Sehen,  Er- 
kennen und  Fühlen.  Will  man  daher  einen  anderen  zum  Kunstverständnis  anleiten, 
muß  man  ihn  sehen  und  erkennen  lehren  und  so  bildend  und  läuternd  auf  sein 
künstlerisches  Gefühl  wirken.  Man  muß  das  künstlerische  Gefühl  durch  das  ge- 
fühlserfüllte Sehen  und  Erkennen  pflegen.     Dieses  Ziel  hat  sich  Paul  Brandt  in 


angez.  von   R.  Arndt.  103 


seinem  neuesten  Werke  gesteckt.  Der  Verfasser  ist  den  Fachleuten  seit  einer  Reihe 
von  Jahren  als  feinsinniger  und  mit  umfassendem  Wissen  ausgerüsteter  Kunst- 
historiker bekannt.  Er  hat  das  genannte  Werk  als  Ergebnis  seiner  zwanzigjährigen 
unterrichtlichen  Betätigung  auf  dem  Gebiete  des  Kunstunterrichts  veröffentlicht, 
zu  Nutz  und  Frommen  allen,  die  den  Weg  zur  Kunst  suchen.  Aber  nicht  nur  der 
Kunsthistoriker,  der  Pädagoge  spricht  in  dem  Buche  zu  uns,  sondern  auch  der 
Rheinländer  zeigt  uns  recht  oft  die  herrlichen  Kunstwerke  unserer  Provinz. 

Brandt  führt  den  Leser  von  der  Gebundenheit  zur  Freiheit.  Von  der  an  Zwecke 
und  Gesetze  gebundenen  Baukunst  hebt  er  an,  geht  dann  zur  Plastik  über,  bei  der 
Material  und  Schwerkraft  noch  mitbestimmend  sind,  und  kommt  endlich  zur 
freiesten  der  bildenden  Künste,  zu  der  Malerei.  (I.  Baukunst.  II.  Architektonixh- 
plastische  Werke  der  dekorativen  Kunst.  III.  Plastik.  IV.  Malerei  (und  Plastik). 
V.  Einordnung  in  einen  gegebenen  Raum.  VI.  Die  Kunst  südlich  und  nördlich  der 
Alpen.  VII.  Germanische  Kunst.  VIII.  Das  Bildnis.   IX.  Die  Historie  in  der  Kunst. 

X.  Das  Landschaftsbild.     Die  deutsche  Romantik.     Die  Natur  und  der  Mensch. 

XI.  Licht-  und  Luftprobleme.) 

Innerhalb  der  Plastik  schlägt  er  denselben  Weg  ein.  Hier  wird  zuerst  das  ein- 
deutige Relief  besprochen,  dann  geht  er  allmählich  zum  vieldeutigen  Rundwerk 
über.  Die  behandelten  Kunstwerke  sind  aus  allen  Epochen,  von  der  Zeit  der  Ägypter 
bis  zur  Gegenwart,  entnommen.  Daß  die  italienische  Kunst  einen  bedeutenden 
Platz  einnimmt,  ist  selbstverständlich. 

W  i  e  geht  Brandt  seinen  vorgezeichneten  Weg?  Er  gibt  keinen  Abriß  der  Kunst- 
geschichte mit  Namen  und  Daten,  nur  gelegentlich  weist  er  auf  den  historischen 
Zusammenhang  hin.  Er  läßt  vergleichen.  „Der  Vergleich  sagt  viel  ohne  Worte, 
er  macht  auch  den  Stummen  beredt,  seien  die  Vergleichspunkte  formeller  oder 
gegenständlicher  Natur,  mögen  die  verglichenen  Kunstwerke  eine  fortlaufende 
Entwicklungsreihe  oder  zwei  entgegengesetzte  Pole  bilden,  mögen'sie  gleichen  oder 
verschiedenen  Zeiten  und  Völkern  entstammen."  Durch  eine  praktische  Anordnung 
von  410  wirklich  guten  Abbildungen  führt  er  in  das  Sehen,  Erkennen  und  Emp- 
finden ein.  Das  zu  Vergleichende  ist  stets  mit  einem  Blick  zu  überschauen.  Er 
bespricht  z.  B.  die  Darstellung  des  Noli  me  tätigere.  Da  stehen  (S.  190  u.  191)  neben- 
einander Gemälde  von  folgenden  Künstlern  wiedergegeben:  Duccio  (vom  Dombild 
zu  Siena),  Andrea  del  Sarto,  Tizian  Vecellio,  Martin  Schongauer,  A.  Dürer;  den- 
selben Gegenstand  behandelnd:  S.  192  u.  193:  Hans  Holbein  der  Jüngere,  Rem- 
brandt,  Fritz  von  Uhde.  Oder  S.  198  u.  199:  Der  Sängerchor  von  Luca  della  Robbia 
und  Jan  van  Eyck.  Hervorzuheben  ist  auch  die  Darstellung  bei  dem  Thema  „Mutter 
und  Kind".  Er  stellt  nebeneinander:  Donatello  (Stuckrelief  im  Kaiser- Wilhelm- 
Museum  zu  Krefeld),  Desiderio  da  Settignano  (Marmor  im  Museum  zu  Turin), 
Raffael:  Madonna  del  Granduca,  Madonna  vom  Hause  Tempi,  Madonna  della 
Sedia.  Der  Verfasser  zeigt,  wie  in  der  Gruppe  „Mutter  und  Kind"  das  Christentum 
ein  Thema  stellt,  „welches  der  Antike  fremd,  zwischen  den  beiden  Polen  Gott  und 
Mensch  freien  Spielraum  ließ".  Donatello  preßt  Mutter  und  Kind  inbrünstig  zu- 
sammen, keinen  toten  Raum  lassend.  Gleichzeitig  wird  das  Menschliche  zum  Gött- 
lichen potenziert.  Desiderio  nimmt  der  Gruppe  die  eckigen  Formen  und  tönt  den 
tragischen  Ausdruck  im  Antlitz  der  Mutter  zu  innigem  Mutterglück  ab.    Raffael 


104  Weichers  Architekturbücher,  angez,  von  A.  Schoop. 

stellt  in  seiner  Madonna  del  Granduca  die  demutsvolle  Gottesmutter  dar.  Bald 
setzt  er  an  Stelle  der  lyrischen  Stimmung  Bewegung.  Bei  der  Madonna  vom  Hause 
Tempi  herzt  die  Mutter  das  Kind,  das  sich  noch  etwas  von  göttlicher  Zurückhaltung 
bewahrt.  Nun  kommt  in  Rom  der  Einfluß  Michel  Angelos  hinzu.  (Madonna  della 
Sedia.)  Massen  und  Formen  werden  gesteigert,  dabei  ist  aber  der  bezaubernde 
seelische  Einklang  von  Mutter  und  Kind  in  des  Künstlers  eigenem  Wesen  begründet. 

Diese  angeführten  Beispiele  sollen  nur  als  Proben  von  Brandts  trefflicher 
Art  der  künstlerischen  Auffassung  und  Darstellung  zeugen;  denn  jeder  der  be- 
handelten Gegenstände  ist  in  gleicher  oder  ähnlicher  Weise  angefaßt,  mag  es  sich 
um  das  dekorative  Grabmal  (11  Beispiele)  oder  um  Früh-  und  Hochgotik,  um  die 
griechische  Rundplastik  oder  um  die  heroische  Landschaft  handeln.  —  Der  Anhang 
gibt  eine  Zeittafel  und  ein  Register.  Das  Buch  ist  geeignet,  „recht  vielen  Freunden 
der  Kunst  und  solchen,  die  es  werden  wollen,  das  Sehen  und  Erkennen  zu  erleichtern 
und  zu  helfen,  sich  emporzuschwingen  in  das  ahnungsvolle  Reich,  wo  die  Seele 
zum  nachschaffenden  Genuß  nur  ihrer  selbst  bedarf." 

Duisburg.  RichardArndt. 

Weichers    Architekturbücher.       I.     Meisterwerke    der    spa- 
nischen Baukunst.     Berlin   1909.     W.  Weicher.     60  Aufnahmen  von 
J.  Lacoste,  29  Seiten  Text  von  S.  H.  Capper.    \2^.    Pergamentband.  0,80  M. 
Weichers  Kunstbücher  bringen  im  bequemsten  Taschenformat  in  je  60  Bildern 
einen  geschlossenen  Kunstkreis  zur  Anschauung,  das  vorliegende  Büchlein  enthält 
Darstellungen  aus  der  spanischen,  ganz  überwiegend  der  kirchlichen  Baukunst 
vom  12. — 18.  Jahrhundert.    Ausgeschlossen  ist  die  maurische  Kunst,  den  meisten 
Raum  nimmt  ein  die  Gothik,  welche  in  Spanien  ja  noch  im  16.  Jahrhundert  eine 
großartige  Nachblüte  erlebte.    Die  in  Netzdruck  ausgeführten  Bilder  sind  klar  und 
scharf  umrissen  und  vermitteln  so  trotz  ihrer  Kleinheit  eine  gute  Anschauung.    Die 
Auswahl  ist  zweckmäßig.    Als  Anhang  folgen  kurze  Erläuterungen  zu  den  Bildern, 
meist  kunstgeschichtlichen   Inhaltes.     Sie  enthalten  manche  feinsinnige  Bemer- 
kungen.   Diese  Vorzüge,  der  erstaunlich  billige  Preis  und  die  geschmackvolle  Aus- 
stattung werden  dem  Werkchen  manche  Freunde  gewinnen. 

Düren.  August  Schoop. 

Znier,  F.,    Die    moderne    Bibelwissenschaft    und    die    Krisis 
der  evangelischen    Kirche.    123  S.    Tübingen  1910.    J.  C.  B.  Mohr. 
2,50  M. 
Der  Verfasser  will  in  seiner  scharfsinnigen  und  tiefen  Studie  zeigen,  wie  die 
moderne  Bibelwissenschaft  den  kirchlichen  Begriff  des  Wortes  Gottes  allmählich 
zersetzt  und  dadurch  eine  jetzt  akut  und  offenbar  gewordene  Krisis  für  unsere 
Kirche  herbeigeführt  hat.    Selbstverständlich  konnte  und  wollte  er  die  bibelwissen- 
schaftliche Forschung  nicht  allseitig  beleuchten,  sondern  nur  Licht  auf  die  Linie 
fallen  lassen,  in  deren  Richtung  sich  die  Wissenschaft  bewegt.    Da  der  Verfasser, 
wie  er  sagt,  der  Vergangenheit  gegenüber  zu  einem  rein  negativen  Resultat  kommt, 
kann  man  hier  in  der  Tat  die  Zersetzung  des  kirchlichen  Begriffes  des  Wortes  Gottes 
in  scharf  pointierter  Zuspitzung  kennen  lernen.  Wer  sich  mit  der  modernen  Bibel- 
wissenschaft beschäftigt  hat,  wird  es  dankbar  begrüßen,  einmal  all  die  scharf  ge- 


K.  Heussi,  Kompendium  der  Kirchengeschichte,  angez.  von  W.  Koppelmann.     lOS 

zogenen  modernen  Geschütze  hier  beisammen  zu  sehen,  die  gegen  den  kirchliche» 
Begriff  vom  Worte  Gottes  aufgefahren  sind.  Und  doch  wird  ihn  mehr  der  positive 
Teil  interessieren,  in  dem  der  Verfasser  zeigen  will,  wie  diese  Krisis  überwunden 
werden  kann.  Den  Ernst  der  Lage  bringt  er  uns  jedenfalls  zum  Bewußtsein.  Der 
positive  Teil,  um  dessen  willen  doch  das  Buch  geschrieben  sein  will,  ist  recht  kurz. 
Der  Verfasser  wirft  hier  die  Frage  auf,  ob  nicht  gerade  der  Entwicklungsgedanke 
in  seiner  Anwendung  auf  die  Bibel  unserer  Kirche  den  Weg  weist,  auf  dem  sie  die 
akut  gewordene  Krisis  zu  ihrem  Heil  zu  überwinden  vermag.  Als  lebendiger  Bestand- 
teil in  dem  organischen  Bildungsprozeß  der  Menschheit  ist  die  Bibel  allen  Verän- 
derungen unterworfen,  die  das  Leben  ausmachen.  „Gewisse  Bestandteile  des 
Bibelwortes,  von  denen  einst  höchst  bedeutsame  Wirkungen  ausgingen,  sind  heute 
vollständig  ausgeschieden  oder  zu  rudimentären,  für  die  Lebenshaltung  unbrauch^ 
baren  Gebilden  geworden,  andere  sind  unter  den  Einflüssen  der  geistigen  Um- 
gebung immer  noch  in  steter  Umwandlung  begriffen  und  immer  noch  tätig."  Iri 
dem  Strom  der  Entwicklung  aber  können  bleibende  Werte  enthalten  sein.  In- 
dem Vorübergehenden  offenbaren  sich  Werte  von  überzeitlichem  Gehalt.  Diese 
Werte  festzuhalten  ist  Sache  des  gläubigen  Anhängers  der  Entwicklungslehre,, 
denn  die  Anerkennung  der  Ewigkeitswerte  ist  Sache  des  Glaubens.  Daß  es  aber 
möglich  ist,  auf  Grund  der  Selbstverleugnung  ein  höheres  Leben  zu  entwickeln, 
kann  nur  eine  Tatsache  verbürgen.  Diese  Tatsache  aber  ist  Christus.  Darauf  also 
wird  es  ankommen,  ob  es  unserer  Kirche  gelingt,  den  Christus  der  Vergangenheit 
zu  einem  Christus  der  Gegenwart  zu  machen.  In  diesen  Sätzen  liegen  zweifellos 
entwicklungsfähige  Keime.  Nur  hätte  der  Verfasser  hier  ausführlicher,  deutlicher,, 
faßbarer  reden  müssen,  wenn  ihm  wirklich  dieser  Neubau  des  Protestantismus 
so  wichtig  war.  Viele  Leser  werden  nur  den  Trümmerhaufen  sehen.  Es  wäre  zu 
wünschen,  daß  der  Neubau  über  die  dürftige  Skizze  hinaus  als  ein  ausgearbeiteter 
Grundriß  vorgelegt  würde.  Erst  dann  wird  auch  darüber  zu  urteilen  sein,  was  maa 
sich  unter  dem  Christus  der  Gegenwart  zu  denken  hat. 

Posen.  Hans  Richert. 

Heussiy  Karl,  Kompendium  der  Kirchengeschichte.  Tübingen 
1909.  J.  C.  B.  Mohr.  620  S.  8,60,  geb.  10  M. 
Die  „Erste  Hälfte'*  oder  dem  Umfang  nach  das  erste  Drittel  dieses  Buches 
(„Die  Kirche  im  Altertum  und  im  Frühmittelalter'*)  habe  ich  schon  im  9.  Jahr- 
gang dieser  Zeitschrift,  S.  116,  besprochen.  Das  dort  abgegebene  Urteil  kann  ich^ 
nachdem  ich  von  dem  ganzen  Werke  Kenntnis  genommen  habe,  nur  bestätigen. 
Der  Verfasser  bringt,  wie  er  selbst  hervorhebt,  wissenschaftlich  nichts  Neues^ 
aber  er  bietet  auf  Grund  der  Benutzung  der  besten  wissenschaftlichen  Hilfsmittel 
in  knappster  Form  unter  Verzicht  auf  alles  rhetorische  Beiwerk  eine  sehr  sachliche 
und  eingehende,  alle  Seiten  der  religiösen  und  kirchlichen  Entwicklung  umfassende,, 
dabei  recht  übersichtliche  Darstellung  des  gewaltigen  Stoffes.  Wichtiges  und  weniger 
Wichtiges  ist  durch  Anwendung  verschiedener  Typen  kenntlich  gemacht.  Em 
umfangreiches  Namen-  und  Sachregister  erleichtert  die  Benutzung.  An  dem  bei- 
gefügten Literaturverzeichnis  ist  zu  loben,  daß  die  angeführten  Werke  sämtlich 
kurz  charakterisiert  sind.    Ohne  das  haben  ja  auch  Literaturangaben  einen  nur 


106     K.  Francke,  Die  Kulturwerte  der  deutschen  Literatur  usw.,  angez.  von  A.  Matthias. 

geringen  Wert.  Doch  ist  die  Übersicht,  welche  sich  auf  die  „Literatur  zur  all- 
gemeinen Kirchengeschichte"  beschränkt,  m.  E.  allzu  knapp.  So  sollte  Nippolds 
„Handbuch  der  neuesten  Kirchengeschichte"  eigentlich  nicht  fehlen.  Auch  die 
wichtigsten  dogmengeschichtlichen  Werke,  u.  a.  Harnack  und  Loofs,  würden 
zweckmäßig  genannt  werden.  Desgleichen  dürfte  es  sich  empfehlen,  die  wich- 
tigste Spezialliteratur,  wobei  z.  B.  für  die  Reformationsgeschichte  auch  Janssen 
nicht  ungenannt  bleiben  dürfte,  entweder  am  Schluß  des  Werkes  oder  vor  den  be- 
treffenden Abschnitten  kurz  zu  kennzeichnen,  d.  i.  zu  sagen,  was  aus  den  einzelnen 
Büchern  zu  holen  ist.  Der  Umfang  des  Werkes  würde  dadurch  ganz  unwesentlich, 
seine  Brauchbarkeit  erheblich  vergrößert  werden. 

Das,  soviel  ich  es  zu  beurteilen  vermag,  auf  gründlicher  Sachkenntnis  auf- 
gebaute Buch  dürfte  sich,  wenn  auch  in  erster  Linie  „für  den  akademischen  Lern- 
betrieb" bestimmt,  allen  Lehrern,  welche  einige  Unterrichtserfahrung  haben  und  die 
nötige  Auswahl  zu  treffen  wissen,  als  ein  sehr  brauchbares  Hilfsmittel  für  die  Vor- 
bereitung auf  den  Unterricht  erweisen. 

Münster  i.  W.  W.  K  o  p  p  e  1  m  a  n  n. 

Francke,  Kuno,  Die  Kulturwerte  der  deutschen  Literatur 
in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung.  I.Band:  Die  Kultur- 
werte der  deutschen  Literatur  des  Mittelalters.  Berlin  1910.  Weidmannsche 
Buchhandlung,  gr.  8«.  XIV  u.  293  S.  geb.  6  M. 
Selten  habe  ich  ein  Buch  gelesen,  das  so,  wie  das  von  Kuno  Francke, 
für  gebildete  Kreise  und  besonders  für  die  heranwachsende  und  für  die  studierende 
Jugend  geeignet  wäre,  einen  tiefen  und  weiten  Blick  in  die  Kulturgeschichte  unseres 
Volkes  zu  eröffnen,  soweit  diese  in  der  Literatur  und  Kunst  sich  geltend  macht. 
Es  ist  ein  interessanter  Gang  durch  das  Zeitalter  der  Völkerwanderung,  durch  die 
Entwicklung  der  feudal-theokratischen  Gesellschaft,  durch  die  Blütezeit  der  ritter- 
lichen Kultur  und  vor  allem  durch  die  Kultur  des  Bürgertums  am  Ausgange  des 
Mittelalters,  und  es  ist  ein  reiches  Ergebnis  an  Kulturwerten  von  bleibender  und 
universeller  Bedeutung,  welche  die  deutsche  Phantasie  des  Mittelalters  geschaffen 
und  uns  als  fruchtbringendes  Erbe  hinteriassen  hat.  Was  für  Schätze  hier  noch 
verborgen  liegen,  wer  ist  sich  dessen  von  unseren  Gebildeten  in  vollem  Maße  be- 
wußt? Und  noch  lange  nicht  sind  diese  Schätze  ein  Bestandteil  deutscher  Bildung 
geworden.  Francke  versteht  es  diese  Schätze  zu  heben.  Was  ihn  vor  allem  be- 
fähigt, das  in  meisterhafter  Weise  zu  tun,  ist  der  Mut  der  Auswahl.  Was  uns  bei 
anderen  Büchern  beschwert,  das  ist  die  Sucht  nach  Vollständigkeit,  die  alles  bringen 
vfiUj  Großes  und  Kleines  durcheinander,  und  die  schließlich  dem  ermüdeten  Leser 
eigentlich  nichts  Rechtes,  nichts  Bleibendes  gebracht  hat.  Dieser  Mut  richtiger 
Auswahl,  den  wir  übrigens  bei  unseren  Lehrstoffen  und  unseren  Lehrzielen  endlich 
auch  einmal  zeigen  könnten,  fließt  bei  Francke  aus  dem  Verständnis  und  der  feinen 
Kunst,  zwischen  dem  Großen  und  Kleinen  zu  scheiden  und  dieses  zurücktreten 
zu  lassen,  dafür  aber  jenes  durch  vorzüglich  ausgewählte  Einzelheiten  in  helle 
Beleuchtung  zu  setzen.  Überall  muß  man  den  richtigen  Griff  in  der  Wahl  der  Bei- 
spiele bewundern,  die  eine  ganze  Zeit  und  ihre  Geistesströmung  plastisch  charakteri- 
sieren.   Man  lese  beispielsweise,  was  über  Berthold  von  Regensburg  gesagt  wird, 


O.  Apelt,  Der  deutsche  Aufsatz  usw.,  angez.  von  P.  Geyer.  107 

wiediesertief  angelegte  Mann  den  Abstand  zwischen  dem  Ideal,  das  ersieht  und  sucht, 
und  der  Wirklichkeit,  die  auf  ihm  lastet,  zu  finden  bestrebt  ist,  wie  wir  hier  keinen 
literarischen  oder  kulturgeschichtlichen  Rückschritt  gegenüber  den  Vertretern 
der  höfischen  Dichtung  haben,  sondern  in  seiner  Weise  sich  Berthold  kühn  neben 
die  Kunst  Walthers  und  Wolfgangs  stellen  kann.  Gleich  vorzüglich  ist  die  Be- 
handlung der  übrigen  Mystiker,  wie  sich  in  Seuse  die  ganze  Erregung  einer  von 
Konflikten  zerrissenen  Zeit  offenbart  und  in  Tauler  die  mildeste  und  abgeklärteste 
Form  des  Mystizismus  zeigt  und  die  Mystiker  des  14.  Jahrhunderts  als  Vorläufer 
der  Klassiker  deutschen  Geistes  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  erscheinen,  auch 
in  dem  Stil  und  der  Vollkommenheit  deutscher  Sprache,  die  nach  der  Reformation 
vielfach  wieder  verwildert  und  abhängig  wird  von  fremdländischen  Einflüssen 
aller  Art.  Meisterhaft  werden  wir  auch  eingeführt  in  die  Universalität,  Natürlich- 
keit und  Menschlichkeit  des  Volksliedes  und  die  kräftige  Stimmung  der  historisch 
bedeutsamen  satirischen  Dichtung  —  kurz:  wohin  wir  blicken,  Fülle,  Leben  und 
Bewegung. 

Solche  Bücher  haben  für  den  deutschen  und  vor  allem  den  geschichtlichen 
Unterricht  hohen  Wert.  Dieser  Unterricht  leidet  unter  der  Fülle  des  kompendiösen 
Stoffes.  Das  Wissen,  besonders  das  Vielwissen,  übt  so  sehr  seine  Macht,  daß  die 
lebendige  Empfindung  für  den  Geist  der  Zeiten  und  die  kräftige  Anschauung  für 
das  innere  Leben  der  verschiedenen  Epochen  gar  nicht  zur  Geltung  kommen. 
Franckes  Buch  hilft,  daß  das  anders  wird.  Und  da  es  in  der  Ferne,  an  der  Harvard 
University,  geschrieben  ist  und  erfüllt  ist  von  der  Sehnsucht  nach  der  deutschen 
Heimat,  so  durchzieht  die  Wärme  der  Empfindung  die  ganze  Darstellung.  Solche 
Wärme  tut  unserer  Jugend  not  bei  dem  Rückblick  in  ihres  Volkes  Geschichte. 
Unsere  Jugend  leidet  vielfach  zu  sehr  bei  diesem  Unterricht  unter  dem  trockenen  Ton 
und  der  Nüchternheit  der  sogenannten  Objektivität.  Es  ist  zu  wünschen,  daß  recht 
bald  die  drei  noch  ausstehenden  Bände  nachfolgen;  doch  bildet 'dieser  Band  für 
sich  ein  so  abgeschlossenes  Ganze,  daß  er  für  sich  eine  dankenswerte  Gabe  ist. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Apelt,  0.,  Der  deutsche  Aufsatz  in  den  oberen  Klassen 
der  Gymnasien.  Neue  Folge.  Leipzig  und  Berlin  1910.  B.  G.  Teubner. 
258  S.  80  geh.  3,40  M.,  geb.  4  M. 
Zugrunde  gelegt  ist  der  Jahrgang  1907 — 1908.  Verfasser  hat  den  Rahmen, 
in  dem  er  sein  allseitig  geschätztes  Buch  ,,Der  deutsche  Aufsatz  in  der  Prima  des 
Gymnasiums.  Ein  historisch-kritischer  Versuch.**  1883,  2.  Auflage  1907  —  ge- 
halten hat,  in  dieser  Arbeit  insofern  erweitert,  als  auch  die  Obersekunda  berück- 
sichtigt wird.  Ferner  werden  die  Realgymnasien  und  gelegentlich  auch  die  Ober- 
realschulen herangezogen.  Auch  von  den  Themen  der  Facharbeiten  wird  eine 
Auswahl  gegeben.  —  Apelt  hat  anderseits  mit  Recht  darauf  verzichtet,  bei 
immer  wiederkehrenden  Aufgaben  sämtliche  Fassungen  und  Wiederholungen  zu 
verzeichnen,  auch  wohl  abgegriffene  und  gewissermaßen  selbstverständliche  Themen 
ganz  unerwähnt  gelassen.  Trotzdem  werden  immer  noch  4524  Aufsatzthemen  — 
mit  Angabe  der  Programmnummer  —  aufgezählt.  Davon  entfallen  auf  die 
deutsche  Literatur  2260,  auf  die  ausländische  neuere  Literatur  196,  auf  die  antike 


108         F.  Pätzolt,  Entwürfe  zu  deutschen  Arbeiten  usw.,  angez.  von  P.  Geyer. 

Literatur  404,  auf  die  Gescliichte  624,  auf  Natur,  Kultur,  Kunst,  Religion,  Schul- 
leben und  Persönliches,  Reisen,  Fremde  und  Heimat:  zusammen  196,  auf  die 
Gattung  „Allgemeine  Themata"  586  Aufgaben.  Dazu  kommen  noch  108  Themen 
für  Facharbeiten,  7  Themen  für  „größere  freie  Arbeiten"  und  6  „größere  Themen 
für  längere  Zeit".  —  Man  sieht,  daß  die  literarischen  Themen  immer  noch  im 
Vordergrunde  stehen.  Im  übrigen  stellt  Apelt  fest,  daß  es  an  einer  gewissen 
Entwicklung  auf  dem  Gebiete  der  Aufsatzpraxis  nicht  gefehlt  hat.  Es  ist  nicht  eigent- 
lich eine  Verschiebung,  wohl  aber  eine  Erweiterung  des  Gesichtskreises  eingetreten, 
die  bestimmten  Zeitrichtungen  entspricht.  Schlimm,  wenn  es  anders  wäre!  Meines 
Erachtens  ist  es  nicht  bloß  vom  schulpädagogischen,  sondern  auch  vom  kultur- 
historischen Standpunkte  aus  anziehend  und  wertvoll,  den  Verlauf  dieser 
Entwicklung,  Kampf  und  Ausgleich  zwischen  dem  Alten  und  Neuen,  genau  zu 
beobachten.  Voraussetzung  wäre,  daß  erschöpfende  Übersichten,  gleich  der  vor- 
liegenden von  Apelt,  in  bestimmten  Zeitabständen,  etwa  alle  fünf  oder  zehn  Jahre, 
veröffentlicht  würden.  Wenn  das  Buch  von  Apelt  schon  nach  dieser  Richtung 
hin,  als  Stoffsammlung,  höchst  verdienstlich  ist,  so  liegt  doch  seine  kaum  zu  über- 
bietende Trefflichkeit  in  den  ungemein  sachlichen  und  sachverständigen  kritischen 
Erörterungen,  in  denen  einzelne  Themen  oder  ganze  Gruppen  von  solchen  be- 
leuchtet und  je  nachdem  empfohlen  oder  verworfen  werden.  —  Auch  dieses  Buch 
von  Apelt  verdient  demnach  wie  seine  Vorgänger,  mag  man  auch  in  Einzelheiten 
hier  und  da  anderer  Meinung  sein,  höchste  Anerkennung  und  allseitige  Beachtung. 

Pätzolt,  Friedrich ,  Entwürfe  zu  deutschen  Arbeiten  für 
Tertia  bis  Prima  nebst  einigen  ausgeführten  Auf- 
sätzen. Zweite  Auflage.  Berlin  1911.  Weidmannsche  Buchhandlung.  257  S. 
8°.  geh.  3,60  M. 
194  Entwürfe,  d.  h.  eingehende  Gliederungen.  80  beziehen  sich  auf  die  deutsche 
Literatur,  je  46  auf  die  lateinische  und  griechische  Lektüre,  16  auf  die  neusprach- 
liche Lektüre  (die  Hälfte  davon  auf  Shakespeare),  6  auf  die  Geschichte.  Dazu 
kommen  15  ausgeführte  Aufsätze,  größtenteils  Schülerarbeiten.  —  Das  Buch, 
dessen  Anfänge  mehr  als  dreißig  Jahre  zurückliegen,  zeigt  überall  den  erfahrenen 
und  besonnenen  Schulmann.  Leser,  die  die  alten,  bewährten,  aber  immerhin  ein 
wenig  breitgetretenen  Pfade  der  Aufsatzpraxis  gelegentlich  einmal  verlassen 
möchten,  werden  sich  freilich  enttäuscht  fühlen.  Lessing,  Schiller  und  Goethe  be- 
herrschen den  Markt,  soweit  es  sich  um  die  deutsche  Literatur  handelt.  Von 
Späteren  wird  bloß  Geibel  berücksichtigt.  Verfasser  bemerkt  in  der  Vorrede,  daß 
ihn  Versuche  mit  sogenannten  freien  Themen  nicht  befriedigt  hätten.  Damit 
scheint  er  übrigens  bloß  sagen  zu  wollen,  daß  die  Behandlung  eines  allgemeinen 
Satzes,  einer  Sentenz  auf  einer  bestimmten  literarischen  Unterlage  erfolgen  müsse. 
Wenigstens  werden  einige  Aufgaben  dieser  Art  gegeben.  Das  ist  ja  auch  wirk- 
lich die  beste  Einführung  in  die  Bearbeitung  solcher  Themen,  allerdings  bloß 
Einführung.  Es  wird  jedem  Lehrer  anheimgegeben  werden  müssen,  darüber  hin- 
auszugehen oder  nicht.  —  S.  13  und  S.  224  liest  man:  Darlegung  des  Grund- 
gedankens in  Schillers  „Kraniche  des  Ibykus".  Ich  halte  es  für  richtiger,  zu 
sagen:    in  Schillers  Gedicht  ,,Die  Kraniche  des  Ibykus." 


W.  Schwahn,  Deutsche  Aufsätze  usw.,  angez.  von  P.  Geyer.  109 

Schwahn,  Walther,  Deutsche  Aufsätze  und  Dispositionen  für 
die  oberen  Klassen  höherer  Lehranstalten.  Ansbach  191 1. 
Fr.  Seybold.  145  S.  8^.  geb.  2,60  M. 
Voraus  geht  eine  kurze  Anleitung  zur  Anfertigung  von  Aufsätzen,  in  der 
die  „erzählende",  die  „erörternde'*  und  die  „beurteilende''  Darstellung  unter- 
schieden und  durch  je  ein  Beispiel  erläutert  wird.  Die  42  Themen  aus  der 
Lektüre  bestreiten  Lessing,  Schiller,  Goethe,  Homer  und  Sophokles,  abgesehen 
von  je  einem  Thema  aus  Kleists  Prinz  von  Homburg  und  Reuters  Franzosentid. 
Shakespeare  wird  nicht  berücksichtigt.  9  Aufgaben  sind  der  Literaturgeschichte, 
33  der  Geschichte,  9  der  Erdkunde  entnommen,  53  sind  allgemeine  Themen,  die 
sich  auf  das  Naturleben  (4),  das  Staats-  und  Wirtschaftsleben  (10)  und  im  übrigen 
auf  das  geistige  und  sittliche  Leben  beziehen.  Im  ganzen  138  Dispositionen  und 
8  fertige  Aufsätze.  —  Verfasser  erklärt  im  Vorwort:  „Die  Einteilung  erfolgt  stets 
nur  nach  einem  Prinzip".  Sehr  wohl,  aber  der  Standpunkt  muß  dann  eben  sehr 
geschickt  gewählt  werden,  wenn  stilistische  oder  logische  Unzuträglichkeiten  ver- 
mieden werden  sollen.  So  heißt  es  S.  128  bei  der  Gliederung  des  Themas:  „Ein 
andres  Antlitz,  eh'  sie  geschehen,  ein  andres"  usw.  unter  B  I  „Denn  vorher  sieht 
der  Täter  nur  die  Beweggründe":  a.  die  inneren  Triebe:  Zorn,  Neid,  Rachsucht, 
Habsucht,  Verblendung,  Leichtsinn,  b.  äußere  Einflüsterungen,  Verführung  durch 
andere  (Sündenfall),  günstige  Gelegenheit  (Raubmorde,  Diebstähle  usw.).  —  Ja, 
sieht  er  denn  das  alles  vorher,  seine  Rachsucht,  seinen  Leichtsinn  oder  gar 
seine  Verblendung?  Das  ist  ja  gerade  das  Bedauerliche,  daß  er  es  nicht  sieht. 
Unter  B  H  heißt  es  dann:  „Der  Täter  sieht  die  Folgen".  Das  stimmt,  das  Vor- 
ausgehende nicht.  —  Schillers  Wort:  „Wer  besitzt,  der  lerne  verlieren"  usw. 
(S.  130)  kann  in  seiner  ganzen  Tiefe  nur  dann  erfaßt  werden,  wenn  die  Ab- 
handlung ,Über  das  Erhabene'  herangezogen  wird.  —  Auch  die  Behandlung  des 
Themas  „Wodurch  erregt  Philoktet  in  uns  Furcht  und  Mitleid?"  scheint  mir 
nicht  tief  und  eindringend  genug  zu  sein.  Wir  haben  Mitleid  mit  Philoktet  und 
fürchten  für  Philoktet!  Lessing  hat  die  vom  Verfasser  angeführten  Aristotelischen 
Ausdrücke  eXsog  und  cp6ßo?  jedenfalls  anders  gedeutet.  Auch  die  Wendung: 
„Durch  den  versöhnenden  Schluß  des  Dramas  erfolgt  auch  die  Reinigung  von 
Mitleid  und  Furcht  (xadapai?),  die  Aristoteles  als  die  Wirkung  der  Tragödie  be- 
zeichnet" —  sagt  zu  wenig.  Was  heißt  Reinigung?  —  Trotz  dieser  Ausstellungen 
wird  das  Buch  Anfängern  im  Lehramt  gute  Dienst^  leisten. 

Herrmann,  Paul,  Aufgaben  aus  dem  Nibelungenlied.  Leipzig  1910. 
Wilhelm  Engelmann.  124  S.  8^.  kart.  1,20  M. 
Das  Buch  schließt  sich  an  die  ebenfalls  von  W.  Engelmann  verlegte  bekannte 
Sammlung  von  H.  Heinze  und  W.  Schröder  an.  Es  gibt  I.  Inhalt  des  N.  L.  (das 
N.  L.  als  Drama  aufgefaßt).  II.  Charakteristiken.  III.  Kulturgeschichtliche 
Aufgaben  (das  Christentum  im  N.  L.,  Höfische  Sitten  und  Gebräuche  im  N.  L.). 
IV.  Ethische  Aufgaben  (die  Treue  im  N.  L.).  V.  Ästhetische  Aufgaben  (besonders 
im  Anschluß  an  Lessings  Laokoon).  VI.  Vergleiche  (Homers  Gesänge  und  das 
N.  L.).  Dazu  treten  22  einzelne  Aufgaben.  —  Die  außerordentlich  fleißige  und 
gründliche,  im  besten  Deutsch  geschriebene  Arbeit  kann  allen,  die  sich  mit  dem 


1 10         F.  Teetz,  Aufgaben  aus  deutschen  epischen  usw.,  angez.  von  P.  Geyer. 

Nibelungenliede  —  ganz  abgesehen  von  Aufsatzzwecken  —  näher  bekannt  machen 
wollen,  aufs  wärmste  empfohlen  werden. 

Teetz,  Ferdinand,  Aufgaben  aus  deutschen  epischen  und  lyrischen  Ge- 
dichten.   Zwölftes  Bändchen.    Aufgaben  aus  Schillers  Gedankenlyrik. 
Erster  Teil.    Leipzig  1911.    Wilhelm  Engelmann.    127  S.    8^.    kart.  1,20  M. 
Dieser  erste  Teil  enthält  „Beiträge  zur  Erklärung  und  Würdigung"  der  Gedichte: 
Die  Künstler,  das  Ideal  und  das  Leben,  der  Spaziergang,  das  Eleusische  Fest  — 
der  Niederschlag   der  Vorarbeiten  für  die  Herausgabe   von   Aufgaben   aus  den 
einzelnen  Gedichten,  —  Was  hier  geleistet  wird,  verdient  in  Hinsicht  auf  Gründ- 
lichkeit,   wissenschaftliche   Vertiefung    und    sprachlichen   Ausdruck   die    gleiche 
Anerkennung,  die  der  soeben  genannten  Arbeit  von  Herrmann  gezollt  worden  ist, 
Brieg.  Paul  Geyer. 

Rothe,  Carl,  Die  Ilias  als  Dichtung.  Paderborn  1910.  Ferdinand 
Schöningh.  366  S.  8».  5,40  M. 
Die  Bedeutung,  die  Homer  für  die  Kultur,  insbesondere  die  Literatur,  seines 
Volkes  gehabt  hat,  hat  im  griechischen  Schrifttum  viele  und  tiefe  Spuren  hinter- 
lassen. Aber  auch  auf  die  Römer  und  das  Mittelalter  und  dann  wieder  auf  unsere 
Klassiker  ist  er  von  nachhaltigem  Einfluß  geworden.  Für  sein  Volk  war  er  6  TroiyjxTJ?, 
für  Horaz  der  qui  nil  molitur  inepte,  die  großen  italienischen  und  englischen  Epiker 
wandeln  in  seinen  Fußstapfen,  und  das  alberne  Urteil  Voltaires  „Homire  a  fait 
Virgile,  dit-on;  si  cela  est,  c'est  sans  doute  son  plus  bei  ouvrage''  wird  reichlich  auf- 
gewogen durch  die  Wertschätzung,  die  ihm  von  Schiller  und  Goethe  zuteil  ward. 
Des  letzteren  Äußerung  (an  Schiller  u.  d.  29.  IV.  1798):  „Dieses  Gedicht  hat  die 
Wunderkraft  wie  die  Helden  Walhallas,  die  sich  des  Morgens  in  Stücke  hauen  und 
mittags  sich  wieder  mit  heilen  Gliedern  zu  Tische  setzen",  spielt  auf  F.  A.  Wolfs 
Prolegomena  an,  seit  deren  Erscheinen  die  homerische  Frage  ,,die  Sisyphusarbeit 
der  deutschen  Philologie"  geworden  ist.  Bis  in  die  letzten  Jahre  haben  sich  die 
Gelehrten,  und  nicht  die  deutschen  allein,  zum  Teil  mit  starken  Bänden  an  ihrer 
Lösung  versucht.  Der  Verfasser  unseres  Buches  hat  seit  einem  Menschenalter 
die  Literatur  über  Homer,  soweit  es  sich  um  die  höhere  Kritik  handelte,  in  den 
Jahresberichten  des  Philologischen  Vereins  kritisch  verzeichnet  und  auch  in  viel 
beachteten  Einzeluntersuchungen  zu  dem  homerischen  Problem  Stellung  genommen. 
Die  Zusammenfassung  dieser  Kritiken  und  selbständigen  Arbeiten  bildet  vorläufig 
das  vorliegende,  Vahlen  zum  80.  Geburtstage  gewidmete  Buch,  das  die  Frage  be- 
antworten will  (S.  50):  „Ist  die  Ilias  in  der  Gestalt,  die  sie  jetzt  hat,  das  Erzeugnis 
eines  wirklichen  Dichters,  oder  verdient  sie  den  Namen  Dichtung  nicht,  da  sie  das 
Erzeugnis  einer  mehr  oder  minder  mechanischen,  vorhandenen  Stoff  nur  ordnen- 
den, nicht  schöpferisch  gestaltenden  Tätigkeit  ist?"  —  und  sie  zu  beantworten 
sucht  „nach  Grundsätzen,  die  nicht  nur  hochangesehene  Kritiker  wie  Haupt, 
Vahlen  und  Wilamowitz,  sondern  vor  allem  auch  große  Dichter  selbst  für  die  Beur- 
teilung von  Dichtungen  aufgestellt  haben:  man  soll  in  erster  Linie  eine  Dichtung 
nicht  nach  den  Forderungen  des  Verstandes  meistern,  sondern  muß  der  Absicht 
des  Dichters  nachgehen,  die  Gründe  zu  erforschen  suchen,  die  ihn  gerade  zu  dieser 


C.  Rothe,  Die  Ilias  als  Dichtung,  angez.  von  E.  Grünwald.  11! 

Form  der  Darstellung  veranlaßt  haben**.  Daß  dem  Dichter  hier  ein  geschickter 
Anwalt  entstanden  ist,  kann  man  nicht  leugnen.  Nicht  als  ob  der  Verfasser  verkennte, 
was  die  bisherige  Homerkritik  geleistet  hat  (S.  113),  als  ob  er  blindlings  zu  retten 
suchte,  was  nun  einmal  nicht  zu  retten  ist:  er  will  ja  auch  nur  „eine  Versöhnung 
der  widerstreitenden  Ansichten  anbahnen  und  die  Aufgabe  der  homerischen  Unter- 
suchungen in  richtige  Bahnen  lenken"  (S.  354),  gibt  deshalb  eine  ganze  Reihe  von 
Versen  nicht  nur,  sondern  größeren  Stücken  mehr  oder  weniger  bedingungslos^ 
preis  (z.B.  II,  484—785,  VIII,  548,  550—2,  XVI,  69—79,  84—90,  306—363, 
XVII,  543—592,  XVIII,  356—368,  590—606,  XX,  156—352,  XXI,  129—210, 
XXIV,  181—187)  und  erkennt  jedenfalls  die  Benutzung  von  schon  umlaufenden 
Einzelliedern  durch  den  Dichter  an  (z.B.  IX,  529 ff.,  XI,  668—762).  Aber  er 
wehrt  sich  dagegen,  daß  man  Homer ,, idealisiere,  indem  man  alles,  was  einem  miß- 
falle, auf  Rechnung  von  Nachdichtern  oder  Rhapsoden  oder  Redaktoren  setze" 
(S.  285),  weist  scharfsinnig  den  inneren  Zusammenhang  der  Gesänge  oder  der  Hand- 
lung, ihre  Verknüpfungen  nach  hinten  und  vorn,  durchgehende  gleiche  Technik 
und  Charakterzeichnung  nach  und  erreicht  durch  glückliche  Parallelen  mit  alt- 
klassischen und  modernen  Dichtungen,  daß  Homer  nicht  versagt  werde,  was  anderen 
großen  Dichtern  an  Widersprüchen,  Unebenheiten,  Augenblicksmotivierungen 
usw.  gestattet,  ja  von  diesen  ausdrücklich  beansprucht  worden  ist.  Daß  unsere 
Ilias  „das  erste  größere  Hauptwerk  ist,  das  eine  Einheit  zeigt*'  (S.  101),  will  er 
nachweisen,  und  daß  dieser  Einheit  weder  Entstehung,  noch  Sprache  und  Metrik 
des  Gedichts,  weder  Wiederholungen  und  Widersprüche  noch  die  verschiedenen 
in  ihm  unterscheidbaren  Kulturstufen  im  Wege  stehen;  er  stellt  andere  Grundsätze 
(als  z.  B.  Kirchhoff,  S.  94  f.)  für  die  Analyse  des  Gedichts  auf  und  zeigt  uns  einen 
Dichter  mit  individuellen  Zügen,  die  , »bewußtes  dichterisches,  sich  weit  über  schlichte 
Volksdichtung  erhebendes  Schaffen**  (S.  141)  erkennen  lassen.  Die  Methode  — 
sowohl  im  ersten,  allgemeinen  Teil,  wie  in  den  folgenden  Analysen  der  24  Gesänge  — 
ist  musterhaft,  konsequent  und  für  Studierende  vorbildlich;  die  Beweisführung 
oft  geradezu  spannend.  Das  Ganze  wird  zugleich  ein  Gang  durch  die  neuere  Homer- 
literatur, deren  markanteste  Vertreter  herangezogen  werden.  Daß  der  Verfasser 
nicht  durchweg  überzeugen  wird,  weiß  er  selbst;  oft  werden  Gefühl  und  Geschmack 
anders  wollen  als  er:  so  finde  ich  z.B.  die  Häufung  der  Gleichnisse  in  XV,  605 — 636 
(S.  276)  nicht  schön,  so  schön  jedes  an  sich  sein  mag;  so  möchte  ich  Homers  Ver- 
hältnis zu  seinen  Sagenstoffen  nicht  mit  dem  des  Sophokles  in  seiner  Elektra  ver- 
gleichen (S.  354);  so  von  dem  Motiv  nachträglichen  Einschubs  durch  den  Dichter 
nicht  so  häufig  Gebrauch  gemacht  sehen  u.  m.  a.  Die  Darstellung  ist  schlicht, 
klar  und  angenehm,  die  Sprache  selten  durch  kleine  Unebenheiten  entstellt  (z.  B. 
S.  67  Z.  3  V.  u.  l.  das  Buch  st.  es;  S.  198  Z.  11  1.  zu  entdecken  glaubt;  S.  202  Z.  12 
1.  der  St.  und).  An  Druckfehlern  merke  ich  nur  an:  S.79Z.  7  v.  u.  1.  bpiyßsov; 
85  Z.  16  1.  des  Helden;  90  Z.  5  v.  u.  1.  si?  o  xe  .  .  .  TraiTjp  aTtooTöat;  112  Z.  18  1. 
remontrer;  121  Z.  6  v.  u.  1.  446;  129  Z.  2  v.u.  1.  326  und  füge  hinzu  300  ff.; 
181  Z.  14  V.  u.  1.  442—44;  307  Z.  6  v.  u.  1.  211;  313  Z.  12  1.  208—213.  Zu  S.  91 
(Heidnisches  bei  Schiller)  füge  als  charakteristisch  des  Puritaners  Paulet  Worte 
in  Maria  Stuart:  So  lang  die  Götter  meines  Dachs  sie  schützen;  zu  dem  angeb- 
lichen Widerspruche  in  der  Jungfrau  von  Orleans  (S.  85  f.)  zu  vergleichen  Gaudigs 


112  P.  Cauer,  Die  Kunst  des  Übersetzens,  angez.  von  E.  Grünwald. 

Wegweiser  11,  164  f.,  der  ihn  leugnet;  auffallende  Widersprüche  in  Kleists  Prinzen 
von  Homburg  sind  V.  378  und  743,  und  die  szenische  Vorbemerkung  zu  I,  1  und 
V.  1634.  Stützen  könnte  der  Verfasser  seinen  Standpunkt  noch  durch  eine  brief- 
liche Äußerung  Goethes  (an  Schiller  u.  d.  6.  IV.  1801)  und  eine  ebensolche  von 
Schiller  (an  Goethe  u.  d.  24.  IV.  1797).  —  Der  Lehrer,  der  die  Ilias  mit  seinen 
Schülern  liest,  kann  an  Rothes  Buch  nicht  vorübergehen;  auch  wo  er  dem  Ver- 
fasser nicht  beistimmt,  wird  er  die  fruchtbarsten  Anregungen  für  seinen  Unterricht 
empfangen.    Möchte  der  Ilias  die  Odyssee  recht  bald  nachfolgen. 

Berlin.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d. 

Cauer,  Paul,  DieKunstdesÜbersetzens.  Ein  Hilfsbuch  für  den  lateini- 
schen und  griechischen  Unterricht.  Vierte,  vielfach  verbesserte  und  vermehrte 
Auflage.  Mit  einem  Exkurs  über  den  Gebrauch  des  Lexikons.  Berlin  1909. 
Weidmannsche  Buchhandlung.  VIII  u.  166  S.  8^.  geb.  4  M. 
Das  treffliche  Buch  Cauers  von  der  Kunst  des  Übersetzens  hat  nun  schon 
vier  Auflagen  erlebt:  ein  Beweis,  daß  es  einem  Bedürfnisse  entspricht.  Es  nennt 
sich  ein  Hilfsbuch  für  den  lateinischen  und  griechischen  Unterricht.  Und  das  ist 
€S  auch.  Denn  bei  denjenigen,  die  von  Berufs  wegen  mit  dem  Übersetzen  aus  den 
klassischen  Sprachen  zu  tun  haben,  steht  es  nicht  anders  als  überall :  Viele  sind 
berufen,  aber  wenige  sind  auserwählt.  Selbst  der  Meister  der  Übersetzungskunst 
bedarf  bei  der  Anleitung  der  Jugend  neben  dem  künstlerischen  Können  auch  der 
theoretischen  Klarheit,  die  ja  nicht  immer  mit  dem  Können  vereinigt  ist.  Diese 
Klarheit  kann  er  aus  Cauers  Buche  gewinnen.  Mit  noch  viel  größerem  Nutzen  werden 
diejenigen,  die  keine  Meister  sind,  das  Buch  lesen,  das  mit  begrifflicher  Schärfe 
tmd  sprachlicher  Feinfühligkeit  an  einer  großen  Fülle  von  Beispielen  die  Gesetze 
der  Übersetzerkunst,  sofern  von  solchen  geredet  werden  kann,  erörtert.  Der  Ver- 
fasser selbst  sagt  hierüber  S.  134:  ,, Nicht  ein  System  von  Regeln  wollten  wir  geben, 
die  sich  einfach  und  sicher  überall  anwenden  ließen,  sondern  durch  gewählte  Bei- 
spiele eine  lebendige  Anschauung  vom  Wesen  der  Sprache  und  ihrem  Verhältnis 
zum  Denken  erwecken  helfen,  aus  der  dann  für  jeden,  der  von  ihr  durchdrungen 
wäre,  von  selbst  im  einzelnen  Falle  ein  guter  Gedanke  erwachsen  könnte."  Das 
Werk  Cauers  ist  ein  ernstes  Buch,  denn  es  tritt  dem  Schlendrian  entgegen  und 
mahnt  den  Leser  zur  Selbstkritik.  Daß  bei  der  großen  Zahl  von  Beispielen  der  Ver- 
fasser nicht  in  jedem  einzelnen  Punkte  Beifall  finden  wird,  ist  ja  wohl  selbstverständ- 
lich. Ich  für  mein  Teil  kann  nicht  bestimmen,  wenn  er  S.  12  Sta  ^eacuv  durch 
Göttin  der  Göttinnen  wiedergibt.  Die  abgegriffene  poetische  Scheidemünze,  die 
uns  in  dieser  Wortverbindung  vorliegt,  hat  bei  Homer  längst  ihre  ursprüngliche 
Bedeutung,  nach  der  eine  Göttin  unter  den  übrigen  Göttinnen  als  eine  ganz  besondere 
hervorgehoben  werden  soll,  verloren.  Sonst  würden  nicht  so  untergeordnete  gött- 
liche Wesen  wie  Kalypso  und  Kirke  so  genannt  werden  können. 

Besonders  hervorheben  möchte  ich  den  beherzigenswerten  Exkurs  über  den 
Gebrauch  des  Lexikons  durch  die  Schüler,  sowie  drei  Register,  welche  die  Brauch- 
l)arkeit  des  Büchleins  sehr  erhöhen. 

Aus  Abschnitt  IX  (Satzbau)  führe  ich  zum  Schluß  hier  eine  Stelle  an,  die  mir  aus 
dem  Herzen  geschrieben  ist  (S.  126):  „Man  schilt  gern  über  den  schädlichen  Ein- 


W.  Jahr,   Quellenlesebuch  zur  Kulturgeschichte  usw.,  angez.  von  A.Matthias.     113 

fluß,  den  der  deutsche  Stil  von  der  Übung  des  Lateinischen  erfahren  habe,  über 
die  schwerfälligen  Perioden,  in  denen  Gelehrte  und  Beamte  ihre  Gedanken  aufzu- 
türmen lieben.  Aber  man  vergißt,  daß  das,  was  hier  als  unschöne  Übertreibung 
erscheint,  doch  im  Grunde  eine  höchst  schätzbare  Eigenschaft  ist,  und  daß  die 
Flucht  vor  dem  einen  Extrem  gar  zu  leicht  in  das  andere  hineintreibt.  Wer  den 
Periodenbau  als  undeutsch  zu  meiden  sucht,  gerät  in  Gefahr  auch  die  Kraft  einzu- 
büßen, die  sich  in  ihm  betätigt,  jene  straffe  Konzentration  des  Denkens,  die  das 
Verwandte  erkennt  und  verbindet,  das  minder  Wichtige  dem  Wichtigen  unter- 
ordnet und  durch  die  Fügung  der  Sätze  ein  Bild  der  Verhältnisse  zu  schaffen  sucht, 
in  denen  die  Tatsachen  ineinander  greifen." 

Doch  ich  habe  schon  zu  viel  zitiert.  Der  Leser  greife  nur  nach  dem  Buche 
selbst,  er  wird  seine  Freude  daran  haben. 

Halberstadt.  L.  Ehren  thal. 

Jahr,  W.,  Quelle  nlesebuch  zur  Kulturgeschichte  des  frü- 
heren deutschen  Mittelalters.  Erster  Teil :  Texte.  Zv/eiter  Teil : 
Übersetzungen  und  Anmerkungen.  Berlin  1911.  Weidmannsche  Buchhandlung, 
gr.  8^.    VIII  u.  232  S.  und  VI  u.  252  S.    Jeder  Band:   geb.  3,60  M. 

Das  Buch  soll  quellenkundlichen  Übungen  dienen  und  zugleich  dem  Studenten 
in  privater  Arbeit  einen  Weg  in  die  historische  Quellenliteratur  von  der  Merovingi- 
schen  Zeit  bis  zum  Ende  der  Stauferzeit  eröffnen.  Es  hofft,  auch  über  die  Grenzen 
der  Universität  und  des  engeren  Faches  in  weitere  Kreise  zu  dringen  und  in  der 
Schule  Aufnahme  zu  finden  beim  Lehrer,  um  seine  Vorbereitung  zu  ergänzen 
und  seinem  Vortrag  einen  anschaulichen  Hintergrund  zu  geben,  beim  Schüler,  um 
ihm  durch  das  Hinaufsteigen  zu  den  Quellen  selbst  das  Verständnis  des  Gehörten 
zu  vertiefen  und  den  Geschichtsunterricht  lebendiger  und  fruchtbringender  zu 
gestalten. 

Um  all  diesen  Zwecken  zu  dienen,  werden  in  dem  zweiten  Teile  Übersetzungen 
geboten,  die  nach  Möglichkeit  wörtlich  sind,  um  eben  nur  die  sprachlichen  Schwierig- 
keiten zu  beseitigen;  zu  den  altsprachlichen  Abschnitten  sind  altsprachliche  Er- 
läuterungen gegeben,  weil  diese  für  das  Verständnis  ausreichten. 

Das  Buch  wird  seine  guten  Dienste  tun.  Denn  darüber  wird  man  sich  doch 
immer  mehr  klar,  daß  im  Geschichtsunterricht  die  Hilfsbücher  allein  nicht  genügen, 
da  sie  die  volle  Anschaulichkeit  und  den  vollen  Zeitton  und  den  Zeitcharakter 
der  einzelnen  Zeitabschnitte  nicht  treffen  können,  sondern  immer  etwas  Ver- 
blaßtes an  sich  haben.  Sie  sind  wie  die  Pflanzen  in  einem  Herbarium,  die  die 
lebendigen  Pflanzen  in  der  lebendigen  Natur  niemals  ganz  ersetzen  können.  Ein 
Ausschnitt  aus  der  Quellenliteratur  der  mittelalterlichen  Zeit,  mit  ruhiger  Ver- 
senkung in  den  Inhalt,  wird  mehr  Nutzen  für  historische  Anschauung  haben  als 
viele  lehrhafte  Stunden  und  lange  doktrinäre  Vorträge.  Wenn  für  die  Klassen- 
bibliotheken der  oberen  Klassen  mehrere  Exemplare  dieses  Buches  angeschafft 
würden,  so  könnten  diese  den  Unterricht  beständig  begleiten  und  beleben  und 
häuslicher  Tätigkeit  eine  nützliche  Unterlage  bereiten.  Für  diesen  Zweck  kann 
das  Buch  nicht  dringend  genug  empfohlen  werden. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  8 


114  Quellen  und  Forschungen  zur  alten  Geschichte  und  Geographie, 

Quellen  und  Forschungen  zur  alten  Geschichte  und  Geographie,  herausgegeben  von 
W.  S  i  e  g  1  i  n  ,  o.  ö.  Professor  der  historischen  Geographie  an  der  Universität 
Berlin.  Heft  8.  Nachtrag.  Hefte  12,  17,  18,  22.  Berlin.  Weidmannsche  Buch- 
handlung.   8^. 

1.  Die  Entdeckung  des  germanischen  Nordens  im 
Altertum  von  D.  Detlefsen.  Heft  8  Nachtrag:  Bemerkungen  zur  alten 
Geschichte  der  cimbrischen  Halbinsel.     1909.     18  S.    geh.  0,60  M. 

2.  Die  Anordnung  der  geographischen  Bücher  des 
Plinius  und  ihre  Quellen  von  D.  Detlefsen.  Heft  18.  1909. 
VHI  u.  171  S.    geh.  6  M. 

3.  Geschichte  der  deutschen  Stämme  bis  zum  Aus- 
gange der  Völkerwanderung  von  Dr.  Ludwig  Schmidt. 
I.  Abteilung.  4.  5.  6.  Buch.  Heft  12.  1907.  S.  233—366.  7.  8.  Buch.  Heft  22. 
1910.     S.  367— 493.    geh.  4,60  u.  4,20  M. 

4.  Die  Entwicklung  der  spanischen  Provinzial- 
grenzen  in  römischer  Zeit  von  Franz  Braun.  Heft  17.  1909. 
geh.  5  M. 

1.  Im  Nachtrag  zu  Heft  8  verwertet  Detlefsen  aus  dem  dänischen  Liber  census 
vom  Jahr  1231  ein  Verzeichnis  der  alten  Landbezirke  in  Jütland  und  Schleswig, 
der  Syssel  und  Harden,  zur  Erklärung  einiger  aus  dem  Altertum  überlieferten  Völker- 
namen der  zimbrischen  Halbinsel,  zunächst  Hymbersysael,  das  er  als  Cimbersyssel 
faßt.  Außer  diesem  hält  er  weitere  sieben  Sysselnamen  des  mittleren  und  nördlichen 
Jütland  für  alt,  nämlich  Harthesysael  =  Harudenbezirk  (?),  Salingsysael  ==  Sitz 
der  Saballingier  des  Ptolemäus,  Abosysael  =  Bezirk  der  Avionen  Tac.  Germ.  40, 
ferner  Thythaesysael,  Vaendlaesysael  (der  einzige  im  Vendsyssel  erhaltene  Syssel- 
name),  Omungaersysael  und  Lofraethsysael,  diese  letzten  vier  noch  unerklärt. 
Die  Sysselnam.en  des  südlichen  Jütland  scheinen  ihm  jünger.  Jedenfalls  verdient 
das  Heranziehen  der  Bezeichnung  Syssel  für  einen  Bezirk  Beachtung.  Ich  er- 
innere daran,  daß  in  Island  jetzt  noch  die  Bezirke  als  Sysla  bezeichnet  werden. 
Joh.  Anderson  „Nachrichten  von  Island"  1746  S.  139  Anm.  gibt  ausdrücklich 
unter  Hinweis  auf  dänische  Vorlagen  an  Syslumadr  =  Toparcha  von  sysla  =  pro- 
vincia,  officium.  Zu  Tastris  (Plin.  4,  97)  sei  bemerkt,  daß  norwegisch  tass  Tatze 
und  Wolf  heißt.  Sollte  die  Gestalt  der  Landzunge  den  Namen  verschafft  haben? 
Mit  der  Deutung  solcher  Namen  müssen  sich  die  des  Nordischen  (Isländischen) 
kundigen  Gelehrten  befassen. 

2.  Fünfzig  Jahre  der  Forschung  über  die  geographischen  Bücher  der  Naturalis 
Historia  des  Plinius  werden  in  gewissem  Sinne  durch  diese  Quellenuntersuchung 
zum  Abschluß  gebracht.  Der  Verfasser  selbst  bedauert,  daß  er  die  nötige  Vorarbeit, 
eingehende  Untersuchungen  über  die  von  ihm  noch  nicht  behandelten  Provinzen 
des  römischen  Reiches,  nicht  erledigt  hat,  glaubt  aber  mit  den  Ergebnissen  der 
bisherigen  Studien  nicht  länger  zurückhalten  zu  sollen  und  tut  wohl  daran.  Was  er 
für  den  größten  Teil  Europas,  über  Afrika,  den  Pontus  und  über  einige  Haupt- 
quellen des  Plinius  in  Einzelschriften  festgestellt  hat,  faßt  er  hier  kurz  zusammen 
und  vervollständigt  nun  das  Bild  der  Alten  Welt  und  ihr  Abbild  in  Plinius  und 


angez.  von  S.  P.  Widmann.  115 

seinen  Quellen.  Von  praktischen  und  patriotischen  Gesichtspunkten  ausgehend, 
betrachtet  Plinius  als  seine  Hauptaufgabe  die  Beschreibung  der  Länder  des  römischen 
Reiches  und  läßt  daher  die  Behandlung  der  außerrömischen  Gebiete  zurücktreten. 
Demgemäß  stützt  er  sich  vornehmlich  auf  Werke  römischen  Ursprungs,  haupt- 
sächlich auf  Agrippas  Erdkarte,  auf  eine  Schrift  Varros  über  die  Gliederung  der 
Länder  durch  die  Meere  und  auf  statistische  Übersichten  in  den  formulae  pro- 
vinciarum  (S.  25  ff.),  wie  Detlefsen  sie  in  seinen  ersten  Arbeiten  über  die  spanischen 
Provinzen  bezeichnete.  Nach  einem  Einblick  in  die  geographische  Bibliothek  des 
Plinius  stellt  der  Forscher  Einzeluntersuchungen  über  die  Quelle^  für  die  Geo- 
graphie der  europäischen,  afrikanischen  und  asiatischen  Küsten,  Binnenländer 
und  Inseln  an  und  zieht  daraus  die  Folgerungen  für  die  Arbeitsweise  des  Schrift- 
stellers, der  im  wesentlichen  seine  Quellen  organisch  verarbeitete,  die  meisten  der 
von  ihm  genannten  Schriftsteller  aber  nur  durch  Zwischenquellen  kannte  und  den 
übernommenen  Stoff  durch  neue  Mitteilungen  erweiterte  und  ergänzte.  Auf  die 
Ansichten,  die  A.  Klotz  in  seinen  Quaestiones  Plinianae  geographicae  (1906,  Heft  11 
der  Quellen  und  Forschungen)  darlegt,  geht  Detlefsen  nicht  ein,  weil  der  grundsätz- 
liche Standpunkt  eine  Einigung  beider  Forscher  ausschließt.  Die  streitigen  Fragen 
müssen  in  Einzeluntersuchungen  zur  Entscheidung  kommen. 

3.  Heft  7  und  Heft  10  brachten  die  drei  ersten  Bücher  der  Geschichte  der  ost- 
deutschen Germanenstämme,  nämlich  die  Geschichte  der  Ostgoten  und  die  der  West- 
goten bis  zur  Begründung  des  tolosanischen  Reiches.  Dieses  selbst  wird  im  4.  Buche 
bis  zum  Jahre  507  behandelt  und  zwar  zunächst  seine  äußere,  dann  seine  innere 
Geschichte.  Das  5.  Buch  ist  den  Gepiden,  Taifalen,  Rugiern,  Herulern,  Turkilingen 
und  Skiren,  das  6.  den  Lugiern  gewidmet.  Das  7.  Buch  enthält  die  äußere  und  innere 
Geschichte  der  Burgunder,  das  8.  die  der  Langobarden.  In  einem  Anhang  sind  die 
spärlichen  Nachrichten,  die  wir  von  den  Bastarnen  haben,  zusammengestellt, 
die  von  den  Griechen  zuerst  für  Kelten  gehalten  wurden,  nach  Sitte  und  Brauch 
jedoch  als  Germanen  erscheinen.  Die  Benutzung  des  bei  aller  Kürze  inhaltreichen, 
streng  kritischen  Werkes  erleichtert  das  beigefügte  Sach-  und  Namenverzeichnis. 
Nicht  unerwähnt  bleibe,  daß  eine  Reihe  von  Nachrichten,  die  ohne  rechte  Prüfung 
aus  den  Quellen  in  die  geschichtlichen  Darstellungen  der  Zeit  der  germanischen 
Völkerwanderung  aufgenommen  wurden  und  sich  von  Buch  zu  Buch  fortschleppten, 
hier  Richtigstellung  erfahren.  An  Gregor  von  Tours  haben  andere  schon  scharfe 
Kritik  geübt.  Unter  den  neuen  Geschichtschreibern  erhält  Dahn  manche  nicht 
unbegründete  Zurechtweisung.  Vielleicht  geht  aber  auch  Schmidt  mitunter  zu  weit, 
z.  B.  in  der  verschiedenen  Beurteilung  des  Burgunderkönigs  Gundobad  und  des 
Bischofs  Avitus  von  Vienne  S.  423,  wenn  er  jenem  trotz  seiner  Härte  gegen  Godi- 
gisels  Ratgeber  (S.  386)  wiederholt  Humanität  nachrühmt,  des  Avitus  und  anderer 
Bischöfe  Liebestätigkeit  (S.  384  u.  423)  nicht  als  Menschenfreundlichkeit  auffaßt. 

4.  Über  die  Geschichte  der  Provinzialeinteilung  Spaniens,  besonders  über 
die  Zeit  der  endgültigen  Dreiteilung  der  Kaiserzeit  an  Stelle  der  früheren  Zwei- 
teilung sowie  über  die  Grenzen  der  Provinzen  und  ihre  Verschiebungen  kam  bis 
jetzt  die  Forschung  zu  keinem  einheitlichen  Ergebnis.  Nun  weist  Braun  nach, 
daß  die  Agrippakarte  die  Dreiteilung  hatte,  die  im  Jahre  27  v.  Chr.  erfolgte,  und 
legt  möglichst  die  Provinzgrenzen  fest.     Zu  Varros  Zeit  bestand  die  Dreiteilung 

8* 


116  Lutz'  Memoirenbibliothek,  angez.  von  W.  Meiners. 

nicht,  auch  nicht  die  spätere  von  Plinius  überlieferte  augusteixhe,  die  in  die  Zeit 
zwischen  7  und  2  v.  Chr.  fällt. 

Münster  i.  W.  S.  P.  W  i  d  m  a  n  n. 

Lutz'  Memoirenbibliothek.  Leben,  Fehden  und  Händel  des  Ritters 
Götz  von  Berlichingen,  durch  ihn  selbst  beschrieben. 
Neu  herausgegeben  von  R.  Kohlrausch.  Stuttgart.  Robert  Lutz.  188  S. 
80.  geb.  3,50  M. 
Auf  die  Bedeutung  von  Memoiren  für  den  Geschichtsunterricht  und  auf  ihren 
Wert  für  die  Förderung  der  Selbsttätigkeit  des  Schülers  hat  bereits  im  VIH.  Bande 
dieser  Monatschrift  (S.  1 19)  Adolf  Matthias  bei  Gelegenheit  der  Anzeige  der  Schultze- 
schen Memoirenbibliothek  hingewiesen.  Ich  brauche  daher  auf  diese  Fragen  nicht 
erst  einzugehen,  wenn  es  gilt,  auf  ein  zweites  Unternehmen  derselben  Art 
aufmerksam  zu  machen,  das  nicht  minder  Brauchbares  enthält.  Daß  freilich 
aus  der  Lutzschen  Memoirenbibliothek  nur  ein  kleiner  Teil  der  bisher  erschienenen 
25  Werke  in  die  Hand  des  Schülers  gehört,  sei  gleich  von  vornherein  gesagt,  unter 
ihnen  die  vorliegende  Selbstbiographie  Götzens,  die  jedem,  der  Geschichte  lernt 
und  lehrt,  warm  empfohlen  sein  mag;  sie  gehört  in  die  Schulbibliothek  der  Prima. 
Schon  der  eine  Umstand,  daß  es  Götz  von  Berlichingens  Selbstbiographie  gewesen 
ist,  die  Goethe  so  ergriff,  daß  er  dessen  Geschichte  zu  dramatisieren  beschloß: 
schon  dieser  Umstand  beweist,  daß  sie  doch  wohl  etwas  in  sich  enthalten  muß, 
was  einen  in  ihren  Bann  zieht.  Das  ist  weniger  das  Spannende  des  Inhalts  der 
„Kriege,  Fehden  und  Feindschaften"  die  Götz  als  Jüngling  und  Mann  teils  in  eigener 
Sache,  teils  „für  Kaiser  und  Könige,  Kurfürsten,  Fürsten  und  Herren,  auch  für  gute 
Freunde  und  Gesellen  in  ihren  Angelegenheiten"  in  so  großer  Zahl  unternommen 
hat,  daß  er  nicht  selten  schier  „aus  einem  Krieg  in  den  andern  hineingewachsen", 
und  die  er  dann  als  Greis  erzählt  hat.  Sie  verlaufen  zum  Teil  ziemlich  ähnlich,  und 
nur  wenige  gehen  über  das  lokal-  und  territorialgeschichtliche  Interesse  hinaus. 
Das  Anziehende  liegt  vielmehr  in  der  Persönlichkeit  des  Erzählers,  die  hinter  all 
den  Geschichten  steht.  Es  ist  der  „treuherzig  e"  Götz,  der  —  und  das  ist 
auch  von  Einfluß  auf  die  Sprache  und  die  Form  der  Erzählung  —  nicht  „in  der 
Meinung,  Ruhm  oder  einen  großen  Namen  damit  zu  suchen  oder  zu  erwerben", 
seine  Erlebnisse  niederschreibt,  sondern  um  falschen  Deutungen  gegenüber  der 
Wahrheit  die  Ehre  zu  geben,  der  sich  ferner  bewußt  ist,  stets  gelebt  und  gehandelt 
zu  haben,  „wie  es  einem  frommen,  ehrlichen  Manne  vom  Adel  geziemt"  und  den 
der  Verlauf,  den  dieses  unruhige,  mühevolle  Lebenswerk  für  ihn  genommen,  zu 
dem  Glauben  gebracht  hat,  „daß  der  allmächtige  Gott  seine  göttliche  Gnade, 
Hilfe  und  Barmherzigkeit  mir  vielfältig  hat  zuteil  werden  lassen  und  mehr  für  mich 
gesorgt  hat  als  ich  selbst".  „Reiten  und  Rauben  ist  keine  Schande;  es  tun's  die  Besten 
im  Lande"  ist  die  Auffassung  des  ausgehenden  Mittelalters;  dieselbe  Auffassung 
spricht  aus  jeder  Seite  der  Selbstbiographie  unseres  Ritters.  So  wird  das  Bild  von 
Götzens  Leben  zu  einem  Kulturbild  vom  Leben  des  deutschen  Landadels  im 
XVI.  Jahrhundert  überhaupt,  als  welches  Gustav  Freytag  es  längst  gewertet  hat.  — 
Daß  das  Buch  auch  für  den  deutschen  Unterricht  fruchtbar  gemacht  werden  kann, 
sei  nur  in  Anmerkung  hinzugefügt.    Im  Interesse  der  Benutzung  durch  den  Schüler 


Priene,  angez.  von  M.  Thainm.  117 

ist  es  von  Vorteil,  daß  Kohlrausch  das  Deutsch  des  Originals  modernisiert  hat; 
einen  weiteren  Vorteil,  dessen  Beobachtung  mir  für  die  Zukunft  geradezu  als  not- 
wendig erscheint,  würde  ich  darin  sehen,  wenn  der  Leser  in  kurzen  erklärenden 
Anmerkungen  unter  dem  Text,  wie  die  Schultzeschen  Memoirenbände  sie  haben, 
über  ihm  unbekannte  Personen  und  Sachverhältnisse  Belehrung  fände.  Hoffent- 
lich folgt  der  Verlag  dieser  Anregung. 

Elberfeld.  W  i  1  h.  M  e  i  n  e  r  s. 


Priene.    Nach  den   Ergebnissen  der  Ausgrabungen  der   Kö- 
niglich    Preußischen     Museen    1895  —  1898     rekonstruiert 
von     Ad.     Zippelius,     Architekt     in     Karlsruhe.       Aquarelliert     von 
E.  W  0  1  f  s  f  e  1  d  1910.     Ausgabe  A  ohne  Stäbe  7  M. ;  Ausgabe  B  gefirnißt  mit 
Stäben,  zum  Rollen  9M.;  Ausgabe  C  aufgezogen,  gefirnißt  mit  Rahmen  13,50  M. 
—  Reproduktionen  der  schwarzen  Rekonstruktionszeichnung  von  A.  Zippelius 
sind  zu  den  gleichen  Preisen  erschienen.  —  Als  Beigabe  wird  unberechnet 
geliefert  Priene.    Begleitwort  von  Dir.  Dr.  Th.  Wiegand.    Mit  18  Fig. 
im  Text  und  3  Tafeln.     (28  S.) 
Wer  bei  der  altsprachlichen  Lektüre  oder  in  einer  Geschichtsstunde  mit  seinen 
Schülern  eine  hellenistische  Stadtbesprechenundnach  dem  Grundsatze  der  Anschau- 
lichkeit des  Unterrichts  ein  geeignetes  Lehrmittel  zu  diesem  Zweck  verwenden  will, 
der  wähle  getrost  die  wohl  gelungene  Rekonstruktion  von  Priene. 

An  Ort  und  Stelle  haben  Architekt  Zippelius  und  Kunstmaler  Wolfsfeld  ihre 
besonderen  Studien  gemacht:  der  eine,  um  bei  der  Zeichnung  alle  Ergebnisse  einer 
streng  wissenschaftlichen  Forschung  zu  verwerten,  der  andere,  um  für  die  Darstellung 
in  Aquarelltechnik  Licht-  und  Luftstimmung  zu  beobachten  und*  so  die  Farben 
der  kleinasiatischen  Landschaft  getreu  wiederzugeben. 

Kein  Wunder,  wenn  ein  reizvolles,  sonniges  Bild  der  alten  Kulturstätte  ent- 
standen ist,  die  als  ein  hellenistisches  Pompeji  Theodor  Wiegand  und  Hans  Schrader 
in  den  Jahren  1895 — 1898  vollständig  freigelegt  und  in  einem  wertvollen  Monumental- 
werke „Priene"  im  Jahre  1904  mustergültig  beschrieben  haben. 

Klar  und  übersichtlich  liegt  Priene  in  fein  abgetöntem,  farbigem  Bilde  da. 
Zwischen  zwei  von  Gebirgsbächen  zerrissenen  Schluchten  ragt  im  Norden  371  m 
über  die  Stadt  der  Burgberg,  die  Akropolis,  „die  trotzige  Marmorstirn",  „der 
adlerumkreiste  Felsensitz"  empor,  zugänglich  auf  einem  einzigen  schwindelnden 
Treppenpfad  in  Zickzacklinien.  Am  Fuße  dieser  zur  neungipfligen  Mykale  ge- 
hörenden Felsmasse  breitet  sich  in  polygonaler  Gestalt  das  berühmte  Priene  aus. 
In  einer  Länge  von  2V2  km  zieht  sich  um  Burg  und  Stadt  ein  Mauerring  mit  28 
sägeförmigen  Aussprüngen  und  26  Türmen,  nur  durch  ein  westliches,  östliches  und 
südöstliches  Tor  unterbrochen. 

Dem  unebenen  Gelände  ist  nach  dem  System  des  Milesiers  Hippodamos  die 
ganze  Anlage  aufgezwungen  worden.  Kühn  die  Schwierigkeiten  der  Natur  über- 
windend, gewaltige  Felsmassen  wegsprengend  und  den  Schutt  wieder  nutzbar 
verwendend,  haben  die  Gründer  den  Abhang  in  vier  Terrassen  geteilt  und  in  dem 
Ganzen  nach  strengem  Schema  acht  lange,  wenig  ansteigende  gerade   Straßen 


118  Priene,  angez.  von  M.  Thamm. 

in  ostwestlicher  und  sechzehn  kürzere  treppenförmig  in  nordsüdlicher  Richtung 
mit  rechtwinkligen  Kreuzungen  angelegt. 

Auf  der  obersten  Terrasse  steht  das  Demeterheiligtum;  die  zweite  bietet  Raum 
dem  Theater,  dem  oberen  Gymnasium  und  dem  von  Alexander  d.  Gr.  gestifteten 
Tempel  der  Athena  Polias,  der  lange  Zeit  für  den  jonischen  Normaltempel  gehalten 
wurde;  im  Mittelpunkte  der  dritten  prangt  der  Marktplatz,  ein  von  vier  Säulen- 
hallen eingefaßtes  Rechteck,  dahinter  das  Ekklesiasterion,  das  theaterartige  Sitzungs- 
haus der  Bürgerschaft;  die  untere,  südlichste  Terrasse  wird  bedeckt  vom  unteren 
Gymnasium  und  dem  weithin  schimmernden,  von  hohen  Zypressen  umsäumten 
Stadion. 

Welche  Fülle  von  Kunst,  von  öffentlichen  Gebäuden  in  einer  kleinen  Landstadt 
von  kaum  5000  Einwohnern! 

Unzählige  rotbedachte  Privathäuser  —  viele  im  griechischen  Normalstil  — 
häufen  sich  gedrängt  in  etwa  80  Inseln  oder  Häuservierteln.  Nordnordöstlich 
leuchtet  einsam  dem  Beschauer  das  Klärbassin  der  Wasserleitung  entgegen.  Vor 
dem  Ost-  und  Westtore  sind  die  Nekropolen  leicht  zu  erkennen. 

Dankenswert  ist  fürwahr  die  Anregung,  die  Geheimrat  Theodor  Wiegand 
zur  Herstellung  dieses  lehrreichen  Bildes  im  Interesse  der  Schule  gegeben  hat, 
mit  dem  Hinweis  auf  ein  Urteil  des  bekannten  Kunstkritikers  Fr.  Naumann:  „Das 
gut  gesehene  Bild  eines  geschichtlich  bedeutsamen  Gegenstandes  ist  mindestens 
so  sehr  geeignet,  den  Inhalt  einer  ernsten  Unterrichtsstunde  zu  bilden,  wie  eine  Ode 
von  Horaz  oder  ein  Brief  des  Cicero.** 

Ebenso  dankenswert  ist  das  treffliche  Begleitwort,  das  Wiegands  gewandter 
Feder  entstammt.  In  gedrängter  Kürze  enthält  es  wohl  einen  Auszug  aus  dem  oben 
erwähnten  Prachtwerke  „Priene"  und  erleichtert  dem  Lehrer  die  Erklärung,  dem 
Leser  die  Betrachtung  des  schönsten  Stadtbildes  aus  hellenistischer  Zeit. 

Ja,  noch  mehr!  Im  Geiste  durchwandern  wir  beim  Lesen  unter  der  bewährten 
Führung  des  besten  Kenners  von  Altpriene  Straßen  und  Plätze,  bewundern  mit 
ihm  die  herriichen  Bauten  und  sehen  die  lebensprühende  Stadt  von  ernsten  und 
heiteren  Bewohnern  bevölkert,  die  als  rührige  Bürger  daheim  oder  als  gewiegte 
Diplomaten  oder  fromme  Priester  des  Poseidon  Helikonios  draußen  einzig  und 
allein  dem  Gemeinwohl  dienten. 

Der  Wert  dieser  überaus  fesselnden  Schrift  wird  noch  erhöht  durch  die  Beigabe 
von  drei  Tafeln  —  das  alte  Priene  in  schwarzer  Rekonstruktionszeichnung,  die 
Akropolis  im  jetzigen  Zustande  und  ein  Plan  der  Unterstadt  nebst  Plan  der  Gesamt- 
lage —  und  durch  eine  feinsinnige  Auswahl  geeigneter  Textbilder.  Erwähnenswert 
sind:  Ein  Blick  von  der  Mykale  auf  die  Mäanderebene,  der  Brunnen  vor  dem  West- 
tore, Pläne  des  Marktes,  des  Rathauses,  ein  Blick  in  den  Sitzungssaal,  das  Gebälk 
des  Athenatempels,  die  Rekonstruktion  eines  Hauses,  eine  Jünglingsstatuette, 
eine  Mädchenbüste  und  last  not  least  der  pausbäckige,  verschmitzte  Schusterjunge 
als  Karikatur  eines  Dornausziehers. 

In  summa:  Rekonstruktion  von  Priene  und  Begleitwort,  zwei  Meisterstücke 
in  Wort  und  Bild,  zu  Nutz  und  Frommen  der  Schule  geschaffen,  verdienen  die 
wärmste  Empfehlung  und  die  weiteste  Verbreitung. 

Montabaur.  Melchior  Tham  m. 


Th.  Birth,  Aus  der  Provence,  angez.  von  M.  G.  Schmidt.  119 

Birt,  Theodor,  Aus  der  Provence,  Reiseskizzen.  Berlin  W.  57.  1911  Verlag 
der  deutschen  Bücherei,  Otto  Koobs.     168  S.     8^.     1  M. 

In  dem  vorliegenden  Hefte  schildert  der  Marburger  Professor  eine  fünfwöchent- 
liche Herbstreise,  die  ihn  im  Jahre  1905  durch  die  ansehnlichsten  Plätze  der  Provence 
führte.  Gern  folgen  wir  seiner  Leitung  durch  das  behagliche  Kleinstadtleben  von 
Dijon  nach  Lyon,  der  Großstadt  der  Arbeit,  dem  zweiten  Rom  für  die  römischen 
Kaiser,  und  nach  Avignon  mit  seiner  Burg,  dem  zweiten  Rom  für  die  Päpste. 
Vaucluse,  die  Heimat  Petrarcas,  Orange,  Arles  und  Nimes,  reich  an  altklassischen 
Erinnerungen  und  großartigen  Monumenten,  St.  Remys,  in  dessen  Nähe  Frederi 
Mistral,  der  Homer  der  modernen  Provence,  haust,  Les  Baux,  die  abenteuerliche 
Felsenstadt,  Aigues  Mortes  und  schließlich  Marseille  nebst  der  Riviera  tauchen 
vor  uns  empor.  Das  sind  nicht  Reiseschilderungen  gewöhnlichen  Zeitungsstils; 
Birt  bleibt  sich  immer  gleich:  amüsant  plaudernd,  geistreich  spöttelnd,  voll  ka- 
priziöser Einfälle,  doch  immer  anregend,  nie  langweilig,  mit  dem  Auge  des  Dichters 
und  mit  dem  Herzen  des  feinsinnigen  Ästheten,  des  Vielgereisten  und  vielseitig 
Gebildeten  die  Welt  und  was  in  ihr  ist,  schauend,  ob  er  nun  seine  kleinen  Wander- 
abenteuer zum  besten  gibt,  oder  die  stimmungsvollen  Reize  der  südlichen  Land- 
schaft malt  oder  ob  er  von  dem  Hauptzweck  seiner  Reise  berichtet  —  in  dem 
Menschenschlag  der  Gegenwart  dem  Griechentum  der  Antike  nachzuspüren.  Gerade 
nach  dieser  Richtung  hin  sind  seine  Beobachtungen  besonders  anziehend. 

Lüdenscheid.  Max  Georg  Schmidt. 

Island    in    Vergangenheit    und    Gegenwart.       Reise-Erinnerungen 

von  P  a  u  1  H  e  r  r  m  a  n  n.    HL  Teil.  —  Zweite  Reise  quer  durch  Island.    Mit 

29  Abbildungen  im  Text,  einem  farbigen  Titelbild  und  einer  Übersichtskarte 

der  Reiserouten  des  Verfassers.     Leipzig  1910.    W.  Engelmann.     X  u.  312  S. 

gr.  80.    geh.  7  M. 

Dank  der  Anregung  des  tatkräftigen  Förderers  so  vieler  wissenschaftlichen 

Unternehmungen  und  Forschungen,  des  ,,zu  früh  verewigten"  Ministerialdirektors 

Exzellenz  Dr.  Althoff,  und  der  Unterstützung  des  Ministeriums  der  geistlichen, 

Unterrichts-  und  Medizinal-Angelegenheiten  konnte  der  Verfasser  zum  zweitenmal 

,,das  trotzige  Ende  der  Welt"  besuchen.    Obwohl  das  Buch  den  Schlußband  des 

großen  Werkes  über  das  feuerdurchglühte  Eisland  bildet,  ist  es  doch  auch  wieder 

ganz  selbständig,  insofern  die  Reisebeschreibung  den  Leser  über  die  sturmum- 

brausten  Höhen,  durch  die  öden,  wegelosen  Lavawüsten,  vorüber  an  den  grünen 

Mooren  zu  den  Stätten  der  lebenden  Sagen  führt.  Man  versteht  es  beim  Lesen  recht 

wohl,  daß  der  wundersame  Zauber  der  „Ultima  ThuW  den  Besucher  trotz  aller 

Reisestrapazen  fesselt,  und  es  dürfte  nicht  wundernehmen,  wenn  das  Buch  manchen, 

dem  die  Mittel  zu  Gebote  stehen,  zur  Fahrt  dorthin  verlockt.    Ihm  wird  das  Werk 

ein  wertvoller  Ratgeber  und  Führer,  ein  zuverlässiger  Geleiter  und  lieber  Begleiter 

sein,  ihm  ist  vornehmlich  das  erste  Kapitel  ,,Rund  um  Islands  Küsten"  gewidmet, 

allen  Lesern  aber  bietet  es  reiche  Belehrung  und  mannigfachen  Genuß,  weil  bald 

der  Gelehrte,  bald  der  Mensch  berichtet  und  beide  in  dem  schlichten,  anziehenden 

Tone  der  Wahrheit.    Auf  S.  88  ff.  erfahren  wir  auch  die  wahrscheinliche  Ursache 

des  Todes    der  beiden  Forscher  Dr.  von  Knebel  und  Rudioff.    Am  10,  Juli  1907 


120    F.  M.  Feldhaus,  Ruhmesblätter  der  Technik  usw.,  angez.  von  J.  Norrenberg. 

ruderten  sie  mit  undichtem  Faltboot  aus  Segeltuch  über  den  Askjasee.  Nach  der 
begründeten  Vermutung  des  Führers  ögmundur,  des  jetzigen  Rektors  der  Schule 
in  Hafnarfjördur,  ging  wohl  ein  Bergsturz  nieder  in  den  See,  der  so  zum  Grabe 
der  allzukühnen  Männer  wurde.  In  ,,Isafold,  Reisebilder  aus  Island**  (Berlin  1909), 
hat  Ina  v.  Grumbkow  dem  Berliner  Gelehrten,  ihrem  Bräutigam,  ein  würdiges 
Denkmal  errichtet.  Die  geschäftige  Saga  aber  webt  schon  ihre  Nebelschleier  um 
die  Verunglückten,  denen  Islands  Schwäne  die  Totenklage  singen.  Den  eigentlichen 
Schwanengesang  hörte  Herrmann  nur  ein  einziges  Mal  in  der  dämmernden  Früh- 
sommernacht bei  Bordeyri.  Aus  der  Ferne  klang  er  wie  verworrene  Glockentöne 
(S.  163).  So  dringen  zu  uns  die  seltsamen  Sagas,  die  in  den  Übertragungen  „die 
eigenartige  Schönheit  und  herbe  Lebenswahrheit"  der  Originale  ahnen  lassen, 
und  wir  verstehen  die  Sehnsucht  des  Erzählers. 

Münster  i.  W.  S.  P.  W  i  d  m  a  n  n. 


FeldhauSy  F.  M.,  Ruhmesblätter  der  Technik  von  den  Ur- 
erfindungen  bis  zur  Gegenwart.  Mit  dem  Bildnis  Leonardo  da 
Vincis  und  231  Abbildungen  und  Tafeln  nach  den  Originalen.  Leipzig  1910. 
Fr.  Brandstetter.     631  S.    geh.  8  M.,  geb.  10  M. 

Aus  dem  an  Umfang  wie  an  amüsanten  und  kuriosen  Dingen  so  überaus  reichen 
Buche  der  Erfindungen  hat  der  Verfasser  des  vorliegenden  Werkes  einige  Blätter 
ausgewählt,  die  er  wohl  mit  Recht  als  Ruhmesblätter  der  Technik  bezeichnet. 
Sie  sind  allerdings  etwas  willkürlich  zusammengestellt,  nicht  nach  sachlichen 
Gesichtspunkten,  sondern  anscheinend  so  wie  es  die  Vorarbeiten  des  Verfassers 
geboten  sein  ließen.  Die  Werkzeuge  der  Alten  und  ihre  gewaltigen  Leistungen, 
die  mannigfachen  Arten  der  Kriegswaffen,  die  Wasser-  und  Windmotoren  wie 
auch  die  kalorischen  Kraftmaschinen,  die  Verkehrsmittel  und  schließlich  die 
verschiedenen  Einrichtungen  zur  Übermittlung  von  Worten  und  Gedanken 
sind  zwar  gewiß  Erfindungen,  deren  geschichtliches  Werden  und  Gestalten 
der  Nachforschung  wert  sein  dürfte,  doch  stehen  sie  in  einem  nicht  leicht 
erkennbaren  Zusammenhange  zueinander  und  stellen  doch  auch  nicht  gerade  den 
Höhepunkt  in  dem  Wunderbaue  der  Technik  dar.  Und  dieselbe  feuilletonistische 
Willkür  macht  sich  wie  bei  der  Auswahl  so  auch  bei  der  Ausarbeitung  der  einzelnen 
Kapitel  geltend  und  gereicht  dem  sonst  fleißigen  Werke  nicht  zum  Vorteil.  Jeden- 
falls wird  das  in  dem  Titel  gegebene  Versprechen,  daß  der  Leser  von  den  Urerfin- 
dungen  bis  zur  Gegenwart  geführt  werden  soll,  in  den  Einzeldarstellungen  nicht 
erfüllt.  Meist  geht  der  Verfasser  allerdings  bis  zu  den  unsicheren  Mitteilungen 
griechischer  und  römischer  Schriftsteller  zurück,  bald  aber  läßt  in  den  einzelnen 
Abschnitten  die  Intensität  der  Darstellung  nach  und  schließlich  werden  dann 
die  neuzeitlichen  Leistungen,  die  doch  erst  recht  den  Ruhm  der  Technik  begründeten, 
mit  einigen  allgemeinen  Reflexionen  abgetan.  Nichtsdestoweniger  ist  das,  was 
der  Verfasser  an  wertvollem  Material  so  eifrig  gesammelt  hat,  des  Lesens  wert, 
doch  bietet  es  schon  durch  die  Wiedergabe  zahlreicher  älterer  Originalabbildungen 
mehr  kulturhistorischen  als  fachwissenschaftlichen  und  technischen  Wert.  Für 
die  Hand  des  Lehrers  wird  noch  immer  Darmstaedters  „Handbuch  zur  Geschichte 


J.  Pohle,  Die  Sternen  weiten  und  ihre  Bewohner,  angez.  von  F.  Rusch.       121 

der  Naturwissenschaften  und  der  Technik",  für  die  Schülerbibliothek  das  leider 
etwas  veraltete  „Buch  der  Erfindungen"  von  Samter  vorzuziehen  sein. 

Berlin.  J.  Norrenberg. 


Pohle,  Joseph,  Die  Sternenwelten  und  ihre  Bewohner.  6.  AufL 
Köln  1910.     J.  P.  Bachern.    539  S.    81    brosch.  8  M.,  geb.  10  M. 

Der  Verfasser  will  die  gebildete  Welt  ,,für  die  schöne  Wissenschaft  der  Astro- 
nomie lebhaft  interessieren".  Er  benutzt  dabei  als  anlockende  Methode  die  An- 
lehnung der  modernen  Ergebnisse  an  die  Hypothese  von  „Astralgeschöpfen"  wie 
eine  „Art  von  Staffage".  Das  Werk  stellt  die  wissenschaftlichen  Ergebnisse  im 
ganzen  einwandfrei  dar,  wenn  der  kundige  Leser  ja  auch  ständig  den  Nichtfachmann 
herausfühlt.  Auch  sickert  doch  so  viel  von  jenem  unwissenschaftlichen  Problem 
der ,, Bewohnbarkeit  der  Welten"  in  die  Darstellung,  daß  das  Buch  kein  rein  astro- 
nomisches mehr  bleibt:  spekulative  Philosophie  und  Theologie,  speziell  katholische 
Theologie  können  mit  Recht  Anspruch  darauf  erheben,  daß  Pohles  Werk  mehr 
oder  ebenso  in  ihren  Bücherschatz  eingeordnet  wird  wie  in  die  Bibliothek  eines 
Astronomen.  Allen  Laien,  die  zur  Spekulation  neigen,  und  besonders  denen,  die 
erkennen  möchten,  daß  kein  Ergebnis  der  Astronomie  mit  katholischem  Christentum 
und  wahrer  Frömmigkeit  in  Widerspruch  steht,  kann  das  Werk  empfohlen  werden. 

Leider  hat  der  Verfasser  einige  Härten  des  Ausdrucks  nicht  beseitigt,  die  trotz 
ihrer  geringen  Zahl  doch  stören.  „Derselbe"  und  seine  Angehörigen  sind  in  der 
Bedeutung  von  „fs"  sogar  aus  der  Amtssprache  verbannt.  Ein  feinfühlender  Schrift- 
steller wird  sie  vermeiden.  Bei  Pohle  findet  man  sie  recht  häufig.  Eine  große  Zahl 
von  Fremdwörtern  hätte  sich  ausmerzen  lassen,  zumal  bei  einem  Buch,  das  sich  an 
Laienkreise  wendet.  So  sagt  Pohle  mehr  als  einmal  ,, Eklipse",  „Dignität",  ,, Radia- 
tionen", „Distorsion",  „Index"  und  viele  andere  statt  der  oft  so  naheliegenden 
deutschen  Ausdrücke.  Bei  Zitaten  aus  anderen  Schriftstellern  muß  man  lieber  auf 
das  Zitat  verzichten,  als  Härten  in  sein  Buch  aufnehmen.  Wenn  U  1  e  sagt,  Köper- 
nikus  vollbrachte  ,,eine  kühne,  aber  gefahrvolle  Tat",  braucht  Pohle  diese 
Stelle  nicht  gerade  herauszuziehen. 

Dillenburg,  Nassau.  Franz  Rusch. 

Säger,  Albert,  Der  menschliche  Körper,  dessen  Bau,  Lebens- 
verrichtungen und  Pflege.     Karlsruhe  1910.   J.  Lang.  X  u.  160  S.  8^ 
geb.  1,50  M. 
Das  Buch  verquickt  nicht,  wie  es  sonst  in  Schulbüchern  das  Gewöhnliche  ist,, 
die  Besprechung  des  Baues  und  der  Verrichtung  der  Organe,  jeder  Abschnitt  ent- 
hält vielmehr  getrennt  einen  anatomischen  und  einen  physiologischen  Teil,  in  einem 
dritten  Teil  folgt  jedesmal  das  Wichtigste  aus  der  Hygiene.    Eine  solche  Anordnung 
ist  nicht  ohne  weiteres  von  der  Hand  zu  weisen,  freilich  führt  der  Verfasser  —  be- 
greiflicherweise! —  die  Trennung  nicht  ganz  scharf  durch.    Eine  gewisse  Reich- 
haltigkeit ist  anzuerkennen,  besonders  in  den  physiologischen  und  hygienischen 
Abschnitten.     Kurze  Zusammenstellungen  der  wichtigsten  gesundheitlichen  Vor- 
schriften machen  diese  noch  eindringlicher.    Ein  Vorzug  des  Buches  ist  das  aus- 


122  A.  Säger,  Der  menschliche  Körper  usw.,  angez.  von  G.  Klatt. 

führliche  Kapitel  über  Nahrungsmittel,  das  auch  eine  Tabelle  über  den  Nährwert 
der  Nahrungsmittel  gibt.  Im  Anhang  behandelt  der  Verfasser  die  Gefahren  des 
Alkoholismus,  bespricht  das  Wesen  ansteckender  Krankheiten  und  gibt  Anweisungen 
für  die  erste  Hilfeleistung  bei  Unfällen. 

Zeigt  das  Buch  so  nach  mehreren  Richtungen  hin  einen  modernen  Geist,  so 
ist  der  Verfasser  in  seiner  Zimperlichkeit  gründlich  unmodern.  Wir  natur- 
wissenschaftlichen Lehrer  glauben  im  modernen  erzieherischen  Sinne  zu  wirken, 
wenn  wir  durch  unbefangene  Behandlung  von  Themen,  die  dem  Ungeschickten 
iieikel  erscheineUj  die  Schüler  zur  Harmlosigkeit  zu  erziehen  streben.  In  der  aus- 
führlichen Aufzählung  der  äußeren  Teile  des  Rumpfes  wird  das  Gesäß  über- 
gangen, was  natürlich  sofort  auffällt,  und  die  Schwanzwirbel  macht  die 
Zimperlichkeit  zu  E  n  d  w  i  r  b  e  1  n. 

^•;t  Dem  pädagogischen  Geschick  des  Verfassers,  daß  sich  in  der  Anlage  des  Buches 
in  manchen  Punkten  zeigt,  steht  leider  nicht  das  entsprechende  fachliche  Wissen 
zur  Seite.  Der  Verfasser  stellt  sich  in  schlimmster  Weise  als  Nichtfachmann  bloß. 
Daß  manche  Abschnitte  durch  die  Anordnung  einen  Mangel  an  gründlicher  Durch- 
arbeitung verraten,  ginge  noch  an,  auch  manche  Schiefheiten  und  Unklarheiten 
könnte  man  sich  gefallen  lassen.  Was  soll  man  aber  dazu  sagen,  daß  das  Buch,  be- 
sonders in  den  anatomischen  Teilen,  geradezu  von  Fehlern  wimmelt?  An  Stelle 
weiterer  Worte  einige  Proben.  Das  Wort  „Protoplasma"  wird  mit  „Zellstoff' 
übersetzt  (S.  10),  alle  Knochen  sollen  aus  Knorpeln  entstehen  (S.  13),  Krön-  und 
Stirnnaht  hält  der  Verfasser  für  dasselbe  (S.  14).  Die  Fontanellen  nennt  er  knorpelige 
B  ä  n  d  e  r  (S.  15),  auf  derselben  Seite  läßt  er  die  Nasenflügel  an  den  Nasenmuscheln 
befestigt  und  die  Nasenscheidewand  nur  vom  Vomer  gebildet  sein,  auf  derselben 
Seite  schließlich  fehlt  in  der  Beschreibung  des  Zahnes  das  Zement.  Die  Wurzel 
der  Backenzähne  wird  allgemein  als  gabelig  beschrieben  (S.  16),  die  Nervensubstanz 
soll  aus  Röhrchen  und  Zellen  bestehen  (S.  51),  das  Weiße  im  Auge  ist  nach  der  An- 
gabe auf  S.  53  die  Bindehaut,  die  Iris  hat  ihre  Lage  zwischen  Corpus  striatum 
und  Cornea  usw.  Woher  hat  der  Verfasser  nur  all  diese  Dinge?  Aus  den  Büchern, 
die  er,  um  seine  Studien  zu  beweisen,  anführt,  doch  gewiß  nicht.  Wem  diese  Fehler 
etwa  noch  geringfügig  erscheinen  sollten,  der  dürfte  durch  die  folgenden  beiden 
Stellen  überzeugt  werden,  die  ich  zum  Schlüsse  noch  dem  Buche  entnehme.  Auf 
S.  147  steht  schwarz  auf  weiß,  daß  das  Sumpfgas  das  Wechselfieber  erzeugt,  und 
weiter,  daß  die  bei  der  Fäulnis  sich  bildenden  (!)  mikroskopischen  Pilzchen  mit  der 
Luft  eingeatmet  werden  und  gefährliche  Krankheiten  erzeugen  können.  „Solche 
Bakterien  (also  die  bei  der  Fäulnis  sich  bildenden!  D.  Ref.)  werden  als  Ursache 
ansteckender  Krankheiten  (Typhus,  Cholera,  Tuberkulose,  Diphtherie  u.  a.)  an- 
gesehen ..." 

Kann  man  ein  Buch,  das  solche  Verkehrtheiten  enthält,  zur  Einführung  in 
einer  höheren  oder  niederen  Schule  empfehlen?  Würde  diese  Empfehlung  angesichts 
der  angeführten  groben  Mängel  noch  Geltung  haben?  Obendrein  ist  dieses  Buch 
nicht  ein  Versuch,  sondern  erscheint  in  vierter  „vermehrter  und  verbesserter" 
Auflage. 

Görlitz.  Georg  Klatt. 


K.  Zepf,   Experimentelle  Einführung  usw.,  angez.  von   K.  A.  Henniger.  123 

Zepf,  K.,   Experimentelle    Einführung  in   die    Grundlehren 
der  Chemie  mit  besonderer  Berücksichtigung  ihrer  Anwendungen  im  täg- 
lichen Leben  nebst  kurzen  Anleitungen  zum  Anstellen  von 
Schulversuchen  mit  einfachen  Hilfsmitteln.      Lehrbuch  für  die  Hand 
von  Lehramtskandidaten.  Mit  66  Abbildungen.   Karlsruhe  i.  B.  1910.   G.  Braun- 
sche  Hof  buchdruckerei  und  Verlag.     XVI  u.  392  S.    S>\    geb.  5  M. 
Der  allgemeine  Titel  und  namentlich  der  Zusatz   Lehrbuch  für  die 
Hand  von   Lehramtskandidaten  erwecken  die  Vorstellung,   als  ob 
in  dem  vorliegenden  Buche  dem  angehenden  Chemielehrer  bis  dahin  im  wesent- 
lichen unbekannte  theoretische  und  praktische  Unterweisungen  geboten  würden. 
Davon  kann  jedoch,  mindestens  nach  der  theoretischen  Seite  hin,  keine  Rede 
sein,  da  die  Anforderungen,  welche  z.  B.  in  Preußen  an  den  vollberechtigten  Chemie- 
lehrer in  der  Staatsprüfung  gestellt  werden,  derart  sind,  daß  er  den  in  dem  Buche 
behandelten  theoretischen  Stoff  völlig  beherrschen  muß.     Auch  über  die 
Methode,  nach  welcher  der  für  den  Schulunterricht  in  Betracht  kommende  Stoff 
den  Schülern  darzubieten  ist,  soll  der  junge  Lehrer  bei  uns  während  seiner  beiden 
ersten   praktischen   Dienstjahre   durch   erfahrene    Lehrer  hinreichende   und 
zweckdienliche  Unterweisung  erhalten.     Eine  weitere,  wesentliche  Unterstützung 
findet  er  in  den  besseren  chemischen  Lehrbüchern  und  Leitfäden,  die  an  unseren 
höheren  Lehranstalten  in  Gebrauch  sind.  Sonach  könnte  man  das  vorliegende  Buch 
für  überflüssig  halten.    Aus  dem  Vorworte  erfahren  wir  jedoch,  daß  der  Verfasser, 
welcher  als   Professor  an  der   Großherzoglichen   Baugewerkschule  in   Karlsruhe 
wirkt,  zunächst  die  zukünftigen  Chemielehrer  an  gewerblichen  Anstalten 
im  Auge  hat.   Diese  will  er  durch  sein  Buch  in  den  Stand  setzen,  die  im  praktischen 
Leben  sich  allerorts  abspielenden  chemischen  Vorgänge  zu  verstehen  und  in  ihrer 
Bedeutung  für  das  tägliche  und  wirtschaftliche  Leben  zu  würdigen  und  von  einem 
erweiterten  Gesichtspunkte  aus  zu  überblicken.     Diesem  Zwecke  wird  das  Buch 
zweifellos  gerecht,  da  der  Verfasser  infolge  seiner  reichen  praktischen  Erfahrung 
und  Betätigung  in  der  Lage  ist,  alles  das,  was  der  Kandidat  während  seiner  Studien- 
zeit gelegentlich  gehört  hat,  zweckdienlich  zu  gruppieren  und  an  geeigneter 
Stelle  hervorzuheben. 

Da  es  dem  Referenten  in  erster  Linie  darum  zu  tun  ist,  den  Inhalt  und  den 
Zweck,  dem  das  vorliegende  Buch  dienen  soll,  zu  skizzieren,  so  kann,  insbesondere 
auch  aus  Rücksicht  auf  den  ihm  zu  Gebote  stehenden  Raum,  von  der  Aufzäh- 
lung stilistischer  und  sachlicher  Ausstellungen  im  einzelnen  hier  Abstand  genommen 
werden.  Nur  im  allgemeinen  sei  bemerkt,  daß  einerseits  verschiedene  Abstriche  und 
Kürzungen  dem  Werte  des  Buches  nur  förderlich  sein  dürften,  und  daß  andererseits, 
trotz  der  Fülle  des  Gebotenen,  hier  und  da  doch  noch  wichtige  Angaben  und 
Erläuterungen  vermißt  werden. 

Der  Verfasser  behandelt  auf  S.  1—227  die  anorganische,  auf  S.  229 
bis  348  die  sogenannte  organische  Chemie  und  bespricht  auf  S.  349 — 355 
die  hauptsächlichsten  analytischen  Reaktionen  mit  Einschluß  derjenigen  einiger 
organischen  Säuren.  In  der  anorganischen  Chemie  sind  die  Nichtmetalle  bezüglich 
ihrer  Gewinnung,  Eigenschaften  und  Anwendungen  sehr  ausführlich,  die  Leicht- 
metalle ziemlich  dürftig  und  die  Schwermetalle  als  solche  überhaupt  nicht  berück- 


124      A.  Nathanson,  Tier-  und  Pflanzenleben  des  Meeres,  angez.  von  O.  Jason. 

sichtigt.  Einer  verhältnismäßig  eingehenden  Behandlung  erfreut  sich  dagegen 
die  organische  Chemie,  deren  Bedeutung  für  das  tägliche  und  wirtschaftliche  Leben 
in  größerem  Umfange  gewürdigt  wird.  Als  besonders  bemerkenswert  sind  noch  die 
chemisch-physikalischen  Aphorismen,  hervorzuheben  deren  In- 
halt durchweg  auch  im  chemischen  Unterrichte  unserer  höheren  Lehranstalten 
Berücksichtigung  verdient,  sowie  zwei  Verzeichnisse  der  notwendigsten 
Chemikalien  und  Apparate  mit  Angabe  der  Preise.  Da  das  Buch  im  übrigen  auf  dem 
Boden  der  modernen  physikalischen  Chemie  steht  und  eine  Fülle  zweckdienlicher 
Angaben  und  beachtenswerter  Winke,  insbesondere  auch  in  experimenteller  Be- 
ziehung, enthält,  so  kann  es  der  Aufmerksamkeit  der  einschlägigen  Kreise  empfohlen 
werden. 

Charlottenburg.  K.  A.  H  e  n  n  i  g  e  r. 

Nathanson,  A.,  Tier- und  Pflanzen  leben  des  Meeres.  Leipzig  1911. 
Quelle  und  Meyer.     128  S.    geb.  1,25  M. 

In  dem  vorliegenden  Bändchen  der  Sammlung  „Wissenschaft  und  Bildung" 
behandelt  der  Verfasser  in  großen  Zügen  die  Ergebnisse  der  modernen  Meeres- 
forschung. Er  bespricht  zunächst  die  Verteilung  der  Tiere  und  Pflanzen  im  Meere 
in  ihrer  Abhängigkeit  von  Licht,  Druck,  Temperatur  usw.  und  die  Entdeckung 
von  dem  Vorkommen  einer  Tiefseefauna  beim  Auffinden  eines  Bruches  des  Mittel- 
meerkabels im  Jahre  1860.  Die  dann  folgende  Schilderung  der  Methoden  der  ozea- 
nischen Forschung  schließt  sich  eng  an  das  bekannte  Werk  von  Jules  Richard  an. 
und  ist  mit  einer  Anzahl  hübscher  Abbildungen,  die  gleichfalls  ersterem  entnommen 
sind,  versehen.  Weiterhin  werden  die  Meerespflanzen  in  ihrer  eigenartigen  An- 
passung an  das  Wasserleben  behandelt,  dann  die  Lebensbedingungen  und  Lebens- 
weise der  xhwebenden  Meeresorganismen,  der  Bau  der  Meerestiere  und  ihre 
Lebensweise,  schließlich  die  Entwicklung  und  die  Wanderungen  der  Seetiere. 
Das  Bändchen  liest  sich  gut.  Der  Verfasser  hat  mit  Recht  weniger  auf  die  Schilde- 
rung einer  möglichst  vollzähligen  Menge  von  Einzelheiten  Wert  gelegt  als  auf  das 
Bestreben,  diese  Einzelheiten  von  allgemeinen  großen  Gesichtspunkten  aus  zu  be- 
trachten. Er  zeigt,  daß  das  reiche  Leben,  das  alle  Schichten  des  Meeres  bevölkert, 
in  seiner  Existenz  vor  allem  abhängig  ist  von  den  physikalischen  Bedingungen  und 
Verhältnissen  seiner  Umgebung. 

Köln.  0.  Jansen. 

Bertely  Rudolf)  Anleitung  zu  den  botanischen  Schülerübungen 
an  Mittelschulen  und  verwandten  Lehranstalten.     Wien 
und  Leipzig  1911.    Alfred  Holder.     II  u.  32  S.    kl.  8^    geh.  0,50  M. 
Die  „Anleitung"  gliedert  sich  in  1.  Mikroskopierübungen,  2.  Physiologische 
Versuche,  3.  Pflanzenphänologische  Beobachtungen  und  4.  Schlußwort. 

Einen  sehr  großen  Raum  im  Rahmen  dieser  kleinen,  für  die  Hand  des  Schülers 
bestimmten  Broschüre  nehmen  die  Erörterungen  über  Mikroskope,  sowie  die  Ab- 
bildungen von  optischen  Instrumenten  und  Systemen  ein.  Sie  hätten  zugunsten 
der  anderen  Abschnitte,  in  denen  der  einzelne  Stoff  manchmal  etwas  zu  kurz  kommt, 
auf  einige  kurze  Angaben  beschränkt  werden  können.    Vor  allem  ist  die  speziell 


R.  Bertel,  Anleitung   usw.,  angez.  von   R.  Fischer.  125 

für  das  Reichertsche  Mikroskop  bestimmte,  ausführliche  Tabelle  der  Vergrößerungen 
von  10—2000  entbehrlich,  da  der  Effekt  von  Okular  und  Objektiv  doch  bei  jedem 
Mikroskope  wechselt  und  übrigens  bei  den  verschiedenen  Systemen  angegeben  zu 
sein  pflegt.  Sehr  wichtig  und  lohnend  erscheint  mir  dagegen  im  ersten  Abschnitte 
die  Anleitung  zum  Zeichnen  des  projizierten  Bildes  ohne  Zeichenapparat:  „M  a  n 
legt  ein  Stück  Zeichenpapier  neben  den  Fuß  des  Statives 
auf  eine  etwas  erhöhte  Unterlage.  Blickt  man  nun  mit 
dem  linken  Auge  ins  Mikroskop,  mit  dem  rechten  Auge 
auf  d  i  e  P  ap  i  e  rf  l  äch  e  ,  so  projiziert  sich  das  ganze  Ge- 
sichtsfeld samt  dem  Objekt  auf  die  letzter e."  Abgesehen 
von  dem  Werte  dieses  Verfahrens  für  die  Vergleichbarkeit  der  Größenverhält- 
nisse gewöhnt  sich  der  Schüler  von  Anfang  an  daran,  das  rechte  Auge  offen  zu 
halten  und  zu  beschäftigen,  statt  es,  wie  bei  Anfängern  üblich,  zu  schließen. 

Die  Auswahl  der  mikroskopischen  Objekte  ist  die  übliche,  wobei  aber  an- 
erkennenswerterweise die  heiklen  Schnittpräparate  nicht  zu  stark  hervortreten. 

Der  2.  Abschnitt  bringt  viele  aus  „Detmer"  und  „Oels"  bekannte  physiolo- 
gische Versuche,  bei  denen  manche  eigene  praktische  Modifikation  getroffen  wurde. 
Hinsichtlich  des  sehr  eingehend  behandelten  Teiles  über  bakteriologische  Arbeiten 
als  Schülerübungsmaterial  bin  ich  jedoch  einer  Meinung  mit  W.  Heering,  der  hier- 
über in  seiner  Abhandlung  „Über  den  Unterricht  in  der  Naturbeschreibung  und 
Biologie"*)  sagt:  „Diese  (Kulturversuche)  gehören  aufdie  Uni- 
versität. Das  Ergebnis  steht  zu  der  aufgewandten  Zeit 
in  keinem  Verhältnisse."  Für  Demonstrationen  des  Lehrers  ist  das  Ge- 
biet natürlich  sehr  fruchtbringend,  aber  schon  hierzu  gehören,  wie  der  Fachmann 
weiß,  viel  Mühe,  Geschick  und  großer  Zeitaufwand. 

Das  folgende  Kapitel  leitet  zu  pflanzenphänologischen  Beobachtungen  an. 
Der  Verfasser  erklärt  den  Ausdruck  Pflanzenphänologie  als  „jenen  Zweig 
der  Botanik,  der  den  Eintritt  der  für  das  Pflanzenleben 
wichtigen  Entwicklungsphasen  zeitlich  feststellt"  und 
hat  mit  dem  Hinweis  auf  dies  Gebiet  meines  Erachtens  einen  sehr  glücklichen 
Griff  getan;  denn  der  Schüler  vermag  durch  diese  ständige  Kontrolle  an  einer  Reihe 
von  lebenden  Objekten  auch  außerhalb  des  Unterrichts  selbständig  während 
des  ganzen  Jahres  eine  Menge  zur  Ergänzung  und  Vertiefung  des  biologischen 
Unterrichts  nützlicher  Beobachtungen  auszuführen.  Übrigens  ist  diese  Methode 
auch  geeignet  für  die  unteren  und  mittleren  Stufen.  Hier  eine  kurze  Skizze  dieser 
biologischen  Buchführung:  Der  Schüler  legt  sich  eine  Tabelle  mit  mehreren  Ru- 
briken für  Name,  Blatt,  Frucht,  Blüte  usw.  an  und  beobachtet  nun  an  etwa  fünf 
im  Freien  an  verschiedenen  Standorten  wachsenden  Objekten  alles,  was  ihm  be- 
merkenswert erscheint,  z.  B.  Eintritt  des  Laubfalles,  Ansatz  der  Winterknospen, 
Schutzeinrichtungen  gegen  Kälte  und  Nässe,  Blattentfaltung,  Blüte  usw.  usw. 
Wichtig  sind  dabei  die  Notizen  über  Witterungsverhältnisse  und  Charakter  des 
Standortes,  so  daß  die  am  Schlüsse  auszuführenden  Vergleiche  interessante  Auf- 
schlüsse über  Wirkung  von  Temperatur,  Licht  und  Feuchtigkeit  auf  die  beobach- 
teten Pflanzen  geben. 


*)  Monatschrift  für  höhere  Schulen,  X.  Jahrgang,  6.  Heft,  S.  295. 


126         G.  Schneidemühl,  Handschrift  und  Charakter,  angez.  von  A.  Matthias. 

Der  4.  Abschnitt,  das  „Schlußwort",  weist  auf  die  Wichtigkeit  des 
Pflanzenbestimmens  hin  und  nennt  einige  hierzu  verwendbare  Schulfloren.  Ver- 
fasser empfiehlt  auch  die  Anlegung  eines  Herbars,  betont  aber,  —  und  damit 
charakterisiert  er  die  meines  Erachtens  einzig  mögliche  Form  eines 
Herbars  —  daß  es  nicht  der  Sammelwut  dienen  solle,  sondern  nur  biologisch 
interessante  Objekte,  Seltenheiten  und  Charakterpflanzen  bestimmter  Gebiete 
zu  beherbergen  habe. 

Wie  schon  zu  Anfang  angedeutet,  hätten  die  Abschnitte  über  mikroskopische 
und  physiologische  Übungen  etwas  genauere  Anleitungen  enthalten  können.  Dies 
gilt  besonders  für  den  physiologischen  Teil.  Der  Fachmann  weiß,  wie  schwierig 
oft  noch  so  einfach  scheinende  physiologische  Versuche  auszuführen  sind  und  von 
wie  geringfügig  erscheinenden  Kleinigkeiten  das  Gelingen  oft  abhängt.  So  ist 
denn  in  einer  für  die  Hand  des  Schülers  bestimmten  Anleitung  unbedingt  eine 
größere  Ausführlichkeit  dringend  zu  wünschen.  Verfasser  sagt  beispielsweise  S.  17: 
„Nun    stelle    man    sich    200  ccm    Rohrzucker-Pepton-Gela- 

tineher ";  und  weiter  unten :    ,, undfiltriereindiese 

(20  Eprouvetten)  die  beiden  Nährlösungen  (Gelatine)";  und  endlich: 
„Bei  der  Abkühlung  muß  die  Gelatine  durchsichtig  sein 
und  erstarre  n."  Das  sind  Angaben  für  den  erfahrenen  Laboranten,  aber 
nicht  für  Schüler;  denn  die  Bereitung  der  Nährgelatine  und  ihre  Filtration  (etwa 
durch  Heißwassertrichter)  bieten  manche  Schwierigkeit.  Ein  anderes  Beispiel 
für  nicht  ganz  einwandfreie  Anleitung  sei  aus  Seite  21  herausgegriffen:  Bei  dem 
bekannten  Experiment  der  Sichtbarmachung  des  Wurzeldruckes  wird  angegeben, 
an  der  Schnittfläche  der  dicht  über  dem  Erdboden  abgeschnittenen  Pflanze 
ein  dünnes  Steigrohr  (evtl.  Quecksilber  manometer)  zu  be- 
festigen. Da  die  nebenstehende  Abbildung  merkwürdigerweise  eine  ganz  andere 
Apparatur,  als  angegeben,  zeigt,  so  wird  der  Schüler  wohl  erst  nach  einigen  miß- 
lungenen Versuchen  auf  die  richtige  Art  der  Befestigung  kommen,  die  bekannt- 
lich einen  vollkommen  hermetischen  Abschluß  ringsherum  bilden  muß.  Kurz, 
mit  einigen  anleitenden  Worten  könnte  viel  Zeit  gespart  werden.  Man  könnte  ein- 
wenden, die  weiteren  Erörterungen  blieben  dem  Lehrer  überlassen;  aber,  wo  bleibt 
dann  die  Erleichterung,  die  der  Lehrer  durch  die  „Anleitung"  laut  Vor- 
wort haben  soll. 

Alles  in  ?llem  ist  das  Büchlein  jedoch  für  den  Fachmann  recht  bemerkens- 
wert, bietet  bei  sachgemäßer  und  verständiger  Anordnung  eine  Fülle  von  Material 
zur  Auswahl  und  wird  daher  —  nicht  zum  mindesten  auch  wegen  seines  billigen 
Preises  —  seinen  Weg  in  den  ihm  bestimmten  Wirkungskreis  finden. 

Duisburg-Meiderich.  R  i  c  h  a  r  d  F  i  s  c  h  e  r. 

Schneidemühle  Georg,  Handschrift    und    Charakter.     Ein   Lehrbuch 

der  Handschriftenbeurteilung.     Auf  Grund  wissenschaftlicher  und  praktischer 

Studien  bearbeitet.    Mit  164  Handschriftenproben  im  Text.    Berlin  1911.    Th. 

Griebens  Verlag,    gr.  8».    XIV  u.  318  S.    brosch.  10  M.    geb.  11  M. 

Der  von  Kuhlmann  in  dieser  Monatschrift  XI,S.  75  enthaltene  Aufsatz  über  die 

Notwendigkeit  einer  Reform  des  Schreibunterrichts,  der  ja  leider  von  den  höheren 

Schulen  etwas  stiefmütterlich  behandelt  wird,  gibt  mir  Gelegenheit,  auf  ein  Buch  hin- 


Sprechsaali  1 27 

zuweisen,  das  es  verdient,  auch  im  Zusammenhang  mit  jener  Reformfrage  in  weiteren 
Kreisen  bekannt  zu  werden,  um  so  mehr,  als  wissenschaftliche  Zeitschriften  das 
Buch  unverdienterweise  einer  Besprechung  nicht  für  würdig  erachtet  haben  und  als 
ganz  zweifellos  die  Wissenschaft  der  Graphologie  in  den  letzten  Jahrzehnten  einen 
unverkennbaren  Aufschwung  genommen  hat.  Es  scheint,  als  ob  die  Herrschaft  der 
charakterlosen  Schreibmaschine  uns  mahnt,  doch  die  charaktervolle  Handschrift 
etwas  mehr  zu  beachten.  Wer  an  der  Wissenschaft  der  Graphologie  naserümpfend 
vorübergeht,  macht  sich  die  Sache  leicht.  Schon  der  Geist  unserer  Sprache,  der 
von  „charakteristischer"  Handschrift  spricht,  sollte  ihn  stutzig  machen  und  ihm 
die  Frage  nahelegen,  ob  nicht  doch  zwischen  Handschrift  und  Charakter  und 
zwischen  Handschrift  und  Lebenseindrücken  gewisse  Beziehungen  bestehen  und 
ob  nicht,  ebenso  wie  in  den  Linien  und  Furchen  des  Gesichts,  in  den  Linien  und 
Furchen,  welche  die  Hand  auf  dem  Papiere  zieht,  sich  ein  Stück  des  menschlichen 
Charakters  widerspiegelt  für  denjenigen,  der  auf  diesem  Gebiete  jahrelangen 
Studien  sich  gewidmet  hat.  Jedenfalls  bin  ich  erstaunt  gewesen,  wie  Professor 
Schneidemühl  aus  meiner  Handschrift  eine  Fülle  von  Schlüssen  gezogen  hat,  die 
sich  bei  objektivster  Selbstprüfung  als  zutreffend  erwiesen.  Diese  Schlüsse  hier 
mitzuteilen,  werde  ich  mich  hüten;  jedenfalls  aber  möchte  ich  aus  dem  reichen 
Inhalt  des  Buches  folgende  Hauptabschnitte  nennen:  Geschichtliches,  wissen- 
schaftliche Grundlage  der  Lehre  von  der  Handschriftenbeurteilung,  Einwände 
gegen  die  Handschriftenbeurteilung,  pathologische  Handschriften,  Bedeutung  und 
Aufgaben  der  Lehre  von  der  Handschriftenbeurteilung  für  die  Wissenschaft  und 
für  das  Leben,  Schriftenvergleichung,  Methode  der  wissenschaftlichen  Forschung, 
allgemeine  Grundlehren  der  Handxhriftenbeurteilung,  Handschriften  gebildeter 
und  ungebildeter  Personen,  Handschriften  der  Verbrecher,  männliche  und  weib- 
liche Handschriften,  das  Alter  der  Schreibenden,  Kinderhandschriften,  Hand- 
schriften der  verschiedenen  Völker,  Handschriften  verschiedener  Zeitalter,  Grund- 
züge des  praktischen  Verfahrens  für  die  Ermittelung  der  wichtigsten  Charakter- 
eigenschaften, über  die  Bedeutung  wichtiger  Merkmale  der  Handschrift,  die  Ge- 
stalt der  Buchstaben,  die  Handschriftenmerkmale  einiger  wichtiger  Charakter- 
eigenschaften. Das  sind  interessante  Kapitel,  in  denen  auch  der  ungläubigste 
Thomas  viel  Anregendes  finden  kann.  Auch  für  die  Pflege  der  Schrift  in  der  Schule 
bietet  sich  viel  Nützliches  und  für  das  Interesse  an  den  Handschriften  bedeutender 
Persönlichkeiten.  Vor  allem  wird  das  Buch  auch  Autographenfreunden  manche 
genußreiche  Stunde  bereiten. 

Berlin.  A.  Matthias. 


III.  Sprechsaal. 


Prof.  Dr.  E.  Grünwald,  Berlin,  schreibt: 

Zu  Kleists  Prinzen  von  Homburg  II,  2,  485. 

,, Shakespeare  war  der  Boden,  der  ihn  genährt  hat",  sagt  W.  Herzog  von 
Kleist  in  seiner  neuen  Biographie  des  Dichters  (S.  475),  macht  auch  öfter  auf  tech- 
nische, gedankliche,  ja  wörtliche  (z.  B.  217)  Reminiszenzen  an  sein  großes  Vorbild 


128  .Sprechsaal. 

bei  ihm  aufmerksam.  Daß,  wie  Meyer  im  Sprechsaal  des  vorigen  Heftes  will, 
auch  in  der  oben  bezeichneten  Stelle  eine  solche  vorliegt,  bezweifle  ich,  jedenfalls, 
daß  Kleist  den  Ausdruck  „die  zehn  märkischen  Gebote"  im  Shakespearischen  Sinne 
gebraucht.  Folgendes  ist  die  Situation:  Ohne  die  vom  Kurfürsten  in  Aussicht 
gestellte  „Ordre"  abzuwarten,  befiehlt  Homburg  den  Angriff;  Kottwitzens  Wider- 
stand überwindet  er  durch  höhnende  Anzweiflung  seines  Mutes.  Da  wenden  sich 
nacheinander  Golz,  der  zweite  Offizier  und  der  erste  Offizier  an  den  Alten,  um 
ihm  Vorstellungen  wegen  seiner  Nachgiebigkeit  zu  machen,  der  erste  Offizier  mit 
den  Worten:  ,,Nimm  ihm  den  Degen  ab!"  Diese  Aufforderung  veranlaßt  beim 
Prinzen  einen  Zornesausbruch,  ,,er  stößt  ihn  zurück",  „reißt  ihm  den  Degen  samt 
dem  Gürtel  ab"  und  gibt  den  Befehl:  „Führt  ihn  gefangen  ab  ins  Hauptquartier!" 
Mit  diesem  Befehl  ahndet  er  offenbar  eine  Insubordination  —  ohne  zu  bedenken, 
daß  jener  nur  gesprochen  hat,  um  eine  folgenxhwerere  des  Prinzen  zu  verhindern: 
das  ist  aber  gerade  die  feine  tragische  Ironie  der  Stelle.  Als  Homburg  den  Of- 
fizier zurückstößt,  sagt  er  die  zur  Diskussion  stehenden  Worte:  „Ei,  du  vorwitz'ger 
Knabe,  der  du  noch  nicht  die  zehn  märkischen  Gebote  kennst !"  — 
<iie  mir  zu  bedeuten  scheinen:  Ich  will  dich  Subordination  lehren.  Meyers  Ein- 
wendungen gegen  diese  Deutung  sind  nicht  stichhhaltig.  Freilich  „sind  die  Vor- 
schriften des  Gehorsams  und  der  Subordination  allgemeine  Kriegsgesetze", 
aber  doch  —  gegen  Meyer  —  im  besonderen  märkische,  insofern  ja  das  ganze  Stück, 
zumal  nach  der  doch  schließlich  siegenden  Theorie  des  Kurfürsten  (vgl.  V.  1750  ff.), 
unbedingte  Subordination  predigt,  die  der  Kurfürst  als  „die  Mutter  seiner  Krone" 
(V.  1568,  vgl.  V.  734)  bezeichnet.  Daß  der  Offizier  sich  nicht  gegen  die  Subordination 
vergehe,  ist  eine  unverständliche  Behauptung  Meyers:  erhebt  sich  doch  gegen 
den  Befehl  des  Prinzen:  „Führt  ihn  gefangen  ab  ins  Hauptquartier"  von  keiner 
Seite  Einspruch.  Und  naiv  klingt  Meyers  Bedenken,  „es  sei  nirgends  bezeugt, 
daß  es  gerade  zehn  solcher  Vorschriften  gegeben  habe":  die  zehn  märkischen 
Gebote  sind  ein  religiöses  Bild  für  den  unbedingten  Gehorsam  des  Märkers  seinem 
Vorgesetzten  gegenüber  und  haben  gewissermaßen  als  Kehrseite  die  V.  787  ge- 
nannten „märkischen  Kriegsartikel".  Es  handelt  sich  hier  nicht  um  eine  Alle- 
gorie, wo  man  jedes  Wort  muß  deuten  können,  sondern  um  ein  Gleichnis;  dort 
heißt  es  Travxa  ojioiGt,  hier  Sv  6}ioi6-aiov.  Meyers  Erklärung  der  Stelle,  „die  zehn 
märkischen  Gebote"  bedeuteten  die  zehn  Finger  und  „das  gewaltsame  Zurück- 
stoßen mit  dem  Schlag  (?)  beider  Hände  nach  Art  der  derben  Märker",  scheint 
mir  gesucht  und  zu  viel  Gewicht  auf  einen  Nebenumstand  zu  legen,  ja,  geradezu 
etwas  wie  Roheit  in  den  Text  zu  bringen. 

Endlich  bemerke  ich,  daß  auch  Erich  Schmidt  in  seiner  kritischen  Aus- 
gabe unter  den  fraglichen  Worten  „den  ungeschriebenen  Soldatenkatechismus" 
versteht. 


m 


1.  Abhandlungen. 


Zur  Enzyklopädie  der  Pädagogik. 

Man  kann  bei  einer  wohlentwickelten  Wissenschaft  von  Tiefe  und  Breite, 
aber  auch  von  Länge  und  Höhe  reden.    Und  bei  einer  zu  vollerer  Entwicklung 
strebenden  Wissenschaft  wird   Bewegung   in   allen   diesen  Richtungen   das 
Natürliche  sein.    Es  gilt,  immer  gründlicher  das  einzelne  zu  untersuchen  und  auch 
immer  sicherer  die  Grundlagen  zu  legen;  es  gilt,  den  Gesamtumfang  zu  durch- 
dringen oder  auch  forschend  zu  erweitern;  es  gilt  ferner,  die  gesamte  bisherige 
Entwicklung  verstehend  im  Auge  zu  halten,  die  Continuität  zu  wahren,  anstatt 
stoßweise  neu  anzuheben;  und  endlich  gilt  es  doch  auch,  zusammenfassend  und 
aus  der  Höhe  überblickend  nicht  bloß  das  Ganze  zu  ordnen,  sondern  es  auch  mit 
den  höchsten  Tendenzen  zu  durchdringen.    Die  einzelnen  Arbeiter  innerhalb  des 
Gesamtgebietes  dürfen  sich  selbstverständlich  auf  die  eine  oder  die  andere  der 
Linien  beschränken;  jede  von  ihnen  bietet  unendliche  Aufgaben.   Arbeiter  übrigens 
mögen  die  einen  in  vollerem  Sinne  heißen,  während  andere  sich  über  die  bloße 
Mitarbeit  hinaus  als  leitende  Geister  erweisen. 

Auf  dem  Gebiete  der  Erziehungswissenschaft  leistet  wohl  das  Umfassendste 
in  der  Erforschung  der  Vergangenheit  die  nun  seit  etwa  20  Jahren  bestehende 
Deutsche  Gesellschaft  für  Erziehungs-  und  Schulgeschichte.  Auch  eine  Sammlung 
„pädagogischer  Klassiker"  wie  die  von  Beyer  und  Mann  zu  Langensalza  (oder  die 
ihr  ähnlichen)  hat  das  Verdienst,  den  Gedankenschatz  der  Vergangenheit  zugänglich 
und  damit  lebendig  zu  erhalten.  Wieder  auf  andere  Weise  verfolgt  ein  Werk  wie  die 
Schmidsche  Geschichte  der  Erziehung  den  Zweck  einer  aufs  Ganze  gehenden  histori- 
schen Aufhellung.  Von  der  Höhe  eines  persönlichen  Standpunkts  die  Gesamtaufgabe 
gewissermaßen  mit  dem  Lichte  eigener  Ideen  zu  beleuchten,  ist  die  Sache  einerReihe 
philosophischer  Geister  gewesen,  wobei  der  Begriff  philosophisch  nicht  etwa  sich 
damit  decken  muß,  daß  jemand  in  der  Geschichte  der  Philosophie  als  Träger  eines 
Systems  seine  feste  Stelle  hat.  Zwischendurch  freilich,  und  in  der  Gegenwart 
mehr  als  je  zuvor,  glauben  manche  von  einem  zufällig  in  ihnen  aufflammenden  Ge- 
danken aus  das  gewaltige  Ganze  des  Erziehungsproblems  ganz  neu  ins  rechte 
Licht  zu  setzen;  aber  mit  einem  solchen  Aufblitzen  von  irgend  einer  Seitenstelle 
her  wird  keine  wirkliche  Klärung  gewonnen.  Weit  weniger  noch  fehlt  es  an  der  das 
einzelne  der  erzieherischen  Betätigung  immer  neu  und  wo  möglich  immer  gründ- 
licher prüfender  Arbeit:  da  ist  der  unübersehbaren  Menge  der  durch  alle  die  Zeit- 
schriften gehenden  Aufsätze  namentlich  zur  Didaktik  zu  gedenken,  der  nie  er- 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  XI.  Jhrg.  9 


130  W.  Münch, 

schöpften  Themata  für  amtliche  oder  freie  pädagogische  Versammlungen  usw. 
Und  andrerseits  gehört  hierher  die  moderne  Arbeit  an  der  exakten  Erforschung 
der  Kindheit  und  Jugend  nach  der  anthropologischen,  physiologisch-psycholo- 
gischen, auch  pathologischen  Seite.  Es  fehlen  ferner  ja  nicht  die  großen  Versuche, 
ein  alles  umfassendes  oder  alles  recht  einordnendes  System  als  solches  aufzustellen : 
das  nunmehr  in  neuer  Bearbeitung  erscheinende  Werk  von  W.  Rein  steht  mit 
dieser  Tendenz  gegenwärtig  im  Vordergrund. 

Neben  alledem  aber  geht  die  wissenschaftliche  Arbeit  eben  doch  auch  in  die 
Breite  und  soll  in  die  Breite  gehen.    So  entstehen  die  Enzyklopädien,  deren  erste 
Tugend  es  ist,  keinen   irgend  Auskunft  Suchenden  unbefriedigt  zu  lassen,  viel- 
mehr über  jede  einzelne  Frage  in  zuverlässiger  und  übersichtlicher  Weise  zu  orien- 
tieren, während  auf  Zusammenhang  der  Themata  verzichtet  wird  und  eine  äußere 
Aufreihung  der  Artikel  dem  Ganzen  den  Charakter  eines  Lexikons  gibt.    Das  Be- 
dürfnis solcher  enzyklopädischen  Werke  wird  wohl   zumeist  dann  empfunden, 
wenn  ein  Gefühl  für  die  Fülle  des  an  Ideen  wie  Tatsachen,  an  erkannten  Problemen 
wie  Versuchen  und  Feststellungen  Vorhandenen  bei  den  Sachkundigen  zusammen- 
trifft mit  einem  weithin  —  sei  es  mehr  subjektiv  oder  objektiv  —  lebendigen  Be- 
dürfnis der  Belehrung,  des  Sichklarwerdens.   Übrigens  kann  doch  mehr  die  Genug- 
tuung über  den  erreichten  Stand  der  Erziehung  einem  solchen  Unternehmen  zu- 
grunde liegen,  oder  aber  mehr  der  Wunsch,  all  dem  theoretisch  wie  praktisch  noch 
Vermißten  aufzuhelfen.      Ich  glaube,  daß  die  große  Schmidsche  Enzyklopädie, 
in  den  fünfziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  unternommen,  mehr  den  ersteren 
Ausgangspunkt  gehabt  hat  und  die  vierzig  Jahre  später  in  Angriff  genommene 
Reinsche  mehr  den  letzteren.    Ein  anderer  Unterschied  zwischen  beiden  ist  wohl 
der,  daß  in  dem  Schmidschen  Werk  vor  allem  eine  Anzahl  bedeutender  Persönlich- 
keiten zum  Wort  gerufen  wurden,  während  bei  Rein  vor  allem  die  mannigfachen 
Themata  zur  Erörterung  gelangen  sollten,  womöglich  natürlich  in  dem  gleichen 
Geist  moderner  pädagogischer  Wissenschaft,  aber  nicht  ohne  Zulassung  auch  von 
dissonierenden  Stimmen.     Bekanntlich  ist  diesen  beiden,  vielbändigen  Werken 
(von  denen  das  letztere  sich  ja  noch  immer  weiter  ergänzt)  seit  1906  das  Enzy- 
klopädische Handbuch  der  Erziehungskunde  von  Joseph  Loos  gefolgt,  dem  übrigens 
dasjenige  von  G.  A.  Lindner  vorhergegangen  war,  so  daß  jenes  eigentlich  nur  eine 
zeitgemäße  Erneuerung  dieses  letzteren  hatte  sein  wollen,  während  es  dann  doch 
zu  einem  selbständigen  neuen  Werke  geworden  ist.    Beschränkung  auf  zwei,  aller- 
dings sehr  stattliche   Bände  und  (gemäß  seiner   Entstehung  und   Bestimmung) 
eine  gewisse  Bevorzugung  der  österreichischen  Verhältnisse,  auch  Beigabe  einer  — 
zum  Glück  nicht  allzu  großen  —  Anzahl  von  Illustrationen,  unterscheiden  das 
Loossche  Werk  von  den  vorher  genannten. 

Seit  dem  vorigen  Jahre  nun  schließt  sich  an  diese  Reihe  ein  amerikanisches 
Unternehmen  von  sehr  ansehnlichen  Dimensionen  und  einem  reichen  Inhalt  bei 
fester  und  zum  Teil  eigenartiger  Zielsetzung.*)  Zwei  mächtige  Bände  sind  davon  bis 


*)  A  Cyclopedia  of  Education.  Edited  hy  Paul  Monroe,  Ph.  D.,  Profe-^^or  of  Ihe 
Hi^iory  of  Education,  Teachers'  College,  Columbia  üniversity,  uith  the  assistance  of  De- 
partmental  Editors  and  more  tJian  1,000  individual  contrihutors.  Vol.  I,  A — Chu;  Vol.  II, 
Chu — Fu<.     New  York:  The  Macmillan  Company.   (21  '.  net  the  volume.) 


Zur  Enzyklopädie  der  Pädagogik.  131 

jetzt  erschienen,  und  fünf  scheinen  es  zum  mindesten  zu  werden.  Herausgeber  ist 
der  Professor  der  Geschichte  der  Pädagogik  an  der  Columbia-Universität  zu  New 
York,  Dr.  Paul  Monroe.  An  einer  solchen  amerikanischen  Universität  gibt  es 
nämlich  nicht  etwa  eine  einzige  pädagogische  Professur  (wie  wir  sie  bis  jetzt 
meist  noch  vergeblich  fordern),  sondern  eine  ganze  Reihe  nebeneinander,  an  der 
genannten  Universität  z.  B.  neben  der  Professur  für  geschichtliche  Pädagogik, 
derjenigen  für  philosophische  Pädagogik  (die  der  Präsident  des  gewaltigen  Ganzen 
selbst  vertritt)  und  derjenigen  für  allgemeine  Didaktik  noch  drei  andere,  aber  zu- 
sammen mit  deren  Inhabern  wirken  an  der  mit  zum  Organismus  der  Universität 
gehörigen  großen  Lehrerbildungsanstalt  noch  über  hundert  Lehrkräfte.  So  ist 
es  denn  dem  Herausgeber  auch  nicht  allzu  schwer  gewesen,  aus  Amerika  selbst 
die  ganz  überwiegende  Mehrzahl  der  (über  tausend  betragenden)  Bearbeiter  der 
einzelnen  Artikel  zu  gewinnen.  Selbstverständlich  aber  kommt  eine  Anzahl  fach- 
kundiger Ausländer  aus  den  verschiedenen  Kulturländern  hinzu.  Erwähnt  seien 
hier  nur  aus  England  M.  E.  Sadler,  aus  Frankreich  Gabriel  Compayr^  (also  die  ersten 
Namen),  aus  Wien  Leo  Burgenstein,  und  von  Amerikanern  selbst  (um  nur  die  auch 
bei  uns  bekanntesten  anzuführen)  Stanley  Hall,  John  Dewey,  A.  F.  Chamberlain, 
Ch.  H.  Judd,  auch  Helen  Keller.  Für  Deutschland  hat  die  Hauptarbeit  P.  Ziertmann 
geliefert. 

Ob  in  der  Welt  der  deutschen  Pädagogen  Interesse  für  dieses  fremde  Werk 
erwartet  werden  darf?  Man  müßte  es  von  vornherein  annehmen  dürfen,  insofern 
der  Sinn  über  das  persönliche  engere  Fachgebiet  hinaus  für  das  Erziehungsproblem 
als  Ganzes  nicht  fehlt,  nicht  versagt.  Wo  man  mit  so  gewaltigem  Aufwand  von 
inneren  Kräften  und  äußeren  Mitteln  der  Berufswelt  eine  neue  Quelle  oder  vielmehr 
einen  Strom  der  Belehrung  öffnet,  kann  Gleichgültigkeit  nicht  leicht  vorausgesetzt 
werden.  Schon  eine  Art  von  bibliothekarischem  Interesse  an  einem  solchen  Bände- 
werk darf  erwartet  werden.  Oder  wollte  man  sich  vielleicht  damit  abfinden,  daß 
wir  ja  unsere  eigenen  enzyklopädischen  Werke  hätten,  daß  die  Amerikaner  uns 
schwerlich  viel  Neues  lehren  könnten,  abgesehen  davon,  daß  Kenntnis  der  eng- 
lischen Sprache  doch  nicht  ohne  weiteres  von  deutschen  Pädagogen  verlangt  werden 
könne?  Die  letztere  ist  immerhin  nachgerade  in  unseren  akademisch  gebildeten 
Ständen  verbreitet  genug,  und  man  kann  eigentlich  in  keiner  Wissenschaft  mehr  auf 
dem  Laufenden  bleiben,  wenn  man  nicht  auch  die  englisch  geschriebene  Fachliteratur 
zu  verfolgen  vermag.  Aber  natürlich  kann  ja  nicht  davon  die  Rede  sein,  daß  man 
vielen  Einzelnen  die  Anschaffung  eines  solchen  Werkes  ans  Herz  legen  dürfe.  Freilich, 
die  Bereitwilligkeit,  seinen  pädagogischen  Gesichtskreis  überhaupt  zu  erweitern, 
muß  ja  im  deutschen  Oberlehrerstand  noch  sehr  wachsen  und  sich  verallgemeinern. 
Aber  wenn  nur  die  nicht  allzu  bescheiden  gestellten  Anstaltsbibliotheken  sich  eine 
solche  Erwerbung  angelegen  sein  lassen  wollten !  Denn  es  handelt  sich  hier  nicht 
darum,  neben  deutsch  geschriebene  Enzyklopädien  auch  eine  solche  in  englischer 
Sprache  zu  setzen :  dazu  wäre  in  der  Tat  nicht  Anlaß  genug.  Vielmehr  gilt  es,  von 
dem  besonderen  hier  gebotenen  Stoff  Kenntnis  zu  nehmen  und  Nutzen  zu  ziehen. 
Denn  die  Eigenart  des  ganzen  Unternehmens  weicht  doch  von  der  uns  gewohnten 
erheblich  ab. 

Daß  Knappheit  und  Bestimmtheit  der  Fassung  bei  den  einzelnen  Artikeln 


132  VV.  Münch,  Zur  Enzyklopädie  der  Pädagogik. 

zu  den  Grundsätzen  gehöre,  wird  man  von  vornherein  glauben.  Natürlich  haben 
sich  deswegen  doch  die  einzelnen  Mitarbeiter  nicht  die  gleiche  Beschränkung  auf- 
erlegt. Aber  es  handelt  sich  dann  jedenfalls  nicht  sowohl  um  weit  ausgesponnene 
Betrachtungen  als  um  stoffliche  Fülle.  Und  in  der  Bestimmtheit  und  Vollständig- 
keit der  materialen  Angaben  darf  ein  erster  Vorzug  des  Werkes  gefunden  werden: 
es  hat  einen  besonders  positiven  Charakter,  wie  das  einem  nicht  bloß  amerikanischen, 
sondern  überhaupt  modernen  Bedürfnis  zu  entsprechen  scheint.  Daß  zu  der  im 
ganzen  trefflichen  Ausstattung  auch  eine  Anzahl  von  Abbildungen  gehört,  paßt 
nicht  minder  zu  den  Bedürfnissen  der  heutigen  Leserschaft.  Neben  Bildnissen 
bedeutender  Pädagogen,  die  man  hier  am  ersten  erwartet,  auch  manchen  Faksimiles, 
finden  sich  namentlich  zahlreiche  Abbildungen  von  prächtigen  amerikanischen 
Universitäten,  Instituten,  Colleges,  allerdings  auch  Kuriositäten  wie  die  verschie- 
denen Amtstrachten  der  Hochschuldozenten  und  ihres  Anhangs  aus  den  ver- 
schiedensten Orten. 

Daß  die  Vereinigten  Staaten  im  ganzen  am  ausführlichsten  behandelt  sind, 
kann  man  nicht  mißbilligen,  denn  dort  muß  ein  solches  Werk  ja  bei  weitem  seine 
meisten  Interessenten  erwarten.  So  sind  denn  auch  zahlreiche,  um  das  dortige 
Bildungswesen  verdiente,  aber  draußen  in  der  Welt  kaum  bekannte  Persönlichkeiten 
zur  Darstellung  gekommen,  mit  denen  hier  Bekanntschaft  zu  machen  immerhin 
auch  für  uns  Ausländer  seinen  Wert  hat.  Im  ganzen  aber  ist  ein  internationaler 
Charakter  insofern  durchaus  gewahrt,  als  die  verschiedenen  außeramerikanischen 
Kulturländer  nach  ihrem  pädagogischen  Bestand  und  Geist  wie  ihrer  fachlichen 
Literatur  durchaus  zu  gleichmäßiger  Vertretung  und  Würdigung  gelangen.  Das 
ist  wichtig  für  uns,  weil  die  Pädagogik  in  Deutschland  vielfach  in  einer  gewissen 
Naivität  oder  auch  Voreingenommenheit  sich  fast  ausschließlich  der  deutschen 
Erziehung  widmet.  Es  ist  aber  übel,  wenn  der  Blick  nicht  genug  in  die  Weite  reicht. 
Wenn  man  es  versäumt  zu  vergleichen,  wird  man  leicht  auch  aufhören  sich  zu  ent- 
wickeln. Über  das  Erziehungswesen  fremder  Kulturstaaten  und  namentlich  dessen 
gegenwärtigen  Stand  wird  man  zurzeit  sich  in  dem  MonroeschenWerk  am  besten 
zu  orientieren  vermögen.  Natürlich  sind  auch  alle  die  einzelnen  Staaten  der  United 
States,  deren  ja  jeder  seine  eigene  Organisation  auch  auf  diesem  Gebiete  hat,  genau 
behandelt.  Daß  der  gegenwärtige  Stand  der  Psychologie,  Physiologie,  Psychiatric 
zuverlässig  zur  Geltung  kommt,  versteht  sich  beinahe  von  selbst.  Die  Einbeziehung 
der  Universitäten  nachZielen,  Einrichtungen,  Geschichte  und  Geist,  an  die  uns  Deut- 
schen, wenn  es  sich  um  Pädagogik  handelt,  zu  denken  fern  (viel  zu  fern !)  zu  liegen 
pflegt,  ist  bei  der  andersartigen  Auffassung  in  Amerika  wie  in  England  natürlich. 

Überhaupt  aber,  und  das  mag  für  uns  das  Interessanteste  an  dem  ganzen  Werke 
sein,  ist  der  Begriff  education  ja  hier  (wie  das  überhaupt  dem  englischen  Sprach- 
gebrauch entspricht)  viel  weiter  genommen,  als  wenn  wir  von  Erziehung  reden. 
Schließt  doch  education  zugleich  alles  ein,  was  wir  unter  Bildung  verstehen,  ja  auch 
die  bestimmte,  technische  Vorbildung  für  die  verschiedenen  höheren  Berufe,  die 
künstlerischen  mit  einbegriffen.  Und  so  wird  denn  die  Monroesche  Cyclopedia  oj 
Education  zu  einer  Darstellung  nicht  bloß  des  „Bildungswesens*'  (welche  Über- 
setzung immerhin  am  nächsten  liegen  wird),  sondern  der  Entwicklung  geistiger 
Kultur  überhaupt.  Alle  Großen  auf  dem  Gebiete  des  Geistes  finden  hier  ihre  Stätte, 


R.  Holsten,  Dezentralisation  in  der  wissenschaftlichen  Fortbildung  usw.        133 

die  großen  Dichter,  die  Philosophen,  die  Forscher,  auch  die  Staatsmänner  von  kul- 
tureller Bedeutung.  Und  nicht  minder  dehnt  sich  der  Bereich  des  Inhalts  auf  die 
einzelnen  Wissenschaften  mit  ihrem  Entwicklungsgang  und  ihren  Problemen  aus. 
Es  reiht  sich  also  sehr  Großes  durcheinander  mit  ganz  Kleinem,  der  Beschreibung 
etwa  eines  untergeordneten  Unterrichtsmittels  aus  irgend  einer  Zeit  und  Sphäre. 

Um  eine  noch  etwas  bestimmtere  Anschauung  zu  geben,  ließe  sich  z.  B.  aus  dem 
Buchstaben  A  herausheben,  was  zu  den  verschiedenen  Hauptgebieten  geboten  wird. 
Eine  vollständige  Aufzählung  würde  an  dieser  Stelle  zu  weit  führen;  aber  wenn 
wir  auch  auf  das  Wichtigste  uns  beschränken  wollen,  so  finden  sich  behandelt  zur 
pädagogischen  Psychologie:  Ability,  Acquired  char acter istics,  Adaptation,  Adjustmeni, 
Apperception,  Aptitude,  Assimilation,  Association,  Automatism.  Zur  Pathologie: 
Abulia,  Amnesia,  Anaesthesia,  Aphasia,  Aprosechia  nasalis,  Astigmatism,  Asym- 
bolia.  Zur  Hygiene:  Air  in  the  Schoolroom,  Alcohol,  auch  Hygiene  of  Arithmetic  (/), 
Zur  Schulgeschichte:  Abbey  Schools,  Academies,  Adelphi  College,  Alexandria. 
Anglo-Norman  Schools,  Anglo-Saxon  Schools,  Apprenticeship,  Art  Schools,  Athens 
{School  of).  Zur  Organisation:  Abiturienten- Prüfung,  Accredited  Schools,  Adult 
Schools,  Agencies,  Agregation  (die  französische),  Athletics,  Attendance  (Schulbesuch); 
dazu  die  Organisation  der  Staaten  Alabama,  Alasca  (interessant!),  Arizona,  Ar- 
kansas, Australia,  Austria  (denen  später  Belgium,  Brasil,  Canada,  Chile,  China 
folgen),  ebenso  auch  Arabic  education  und  Assyro-Babylonians.  Zu  den  Wissen- 
schaften: Aesthetics,  Algebra,  Anglo-Norman  Dialect,  Anthropology,  Arithmetic. 
Astrology,  Astronomy,  Zu  den  pädagogisch  (wenn  auch  nur  indirekt)  bedeutenden 
Persönlichkeiten:  Alexander  Magnus,  Aristotle,  Athenagoras,  Ausonius,  Aquinas, 
Albertus  Magnus,  Alcuin,  Ambrosius,  Ar nobius,  Athanasius,  Augustinus  (die  beiden); 
ferner  von  Engländern  Acland,  Adelhart  of  Bath,  Aelfric,  Alfred  the  Great,  Thomas 
und  Matthias  Arnold,  Ascham;  von  Deutschen  Ackermann  (der  Pestalozzianer), 
Adler,  Agricola,  Ahn  (der  Schulbuchverfasser),  Erasmus  Alberus,  Alstedt,  Alten- 
stein (der  Minister),  Althoff  (der  Ministerialdirektor),  E.  M.  Arndt,  Aventinus; 
aber  auch  von  Arabern  Abul  Wefa,  Averroes,  Avicenna,  dazu  der  Hindoo  Aryabhatta, 
und  natürlich  zahlreiche  Amerikaner,  nebst  Franzosen  usw. 

Das  Unternehmen  schreitet  rüstig  fort,  seine  Vollendung  wird  nicht  viele 
Jahre  erfordern.  Zum  mindesten  ist  es  der  Mühe  wert,  davon  zu  wissen.  Daß  das 
Interesse  dafür  doch  weiter  gehe,  diese  Hoffnung  sei  nochmals  ausgesprochen. 

Berlin.  W.  M  ü  n  c  h. 


Dezentralisation    in    der   wissenschaftlichen   Fortbildung   der 
Lehrer  an  den  höheren  Lehranstalten. 

„Die  höhere  Schule  hat  die  Aufgabe,  ihre  Zöglinge  wissenschaftlich 
auszubilden",  so  beginnt  die  neue  Dienstanweisung  vom  Jahre  1910. 
f^  Viele  haben  an  ihr  Ausstellungen  zu  machen,  der  eine  diese,  der  andere  jene; 
diesen  Satz  aber  sollten  wir  alle  mit  Freuden  begrüßen,  die  wir  an  höheren  Lehr- 
anstalten unterrichten.  Er  sagt  freilich  auch  nur,  was  uns  allen  sicher  als  Ziel 
schon  immer  vorgeschwebt  hat,  was  auch  die  Lehrpläne  von  1901,  wenn  sie  es 


134  R-  Holsten, 

auch  nicht  deutlich  aussprechen,  doch  durch  die  Abgrenzung  des  Lehrstoffes  und 
durch  ihre  methodischen  Bemerkungen  fordern.  Aber  es  ist  gut,  daß  es  in  einer 
Schrift,  die  in  aller  Händen  ist,  an  erster  Stelle  so  klar  gesagt  ist:  „Die  höhere 
Schule  hat  die  Aufgabe,  ihre  Zöglinge  wissenschaftlich  auszubilden.*' 

Die  neue  Dienstanweisung  zieht  hieraus  auch  auf  S.  21,  wo  sie  von  den  Amts- 
pflichten der  Lehrer  handelt,  die  notwendige  Folge.  Als  erste  Pflicht  der  Lehrer 
wird  hier  „die  eigene  wissenschaftliche  Vorbereitung"  genannt.  Selbst- 
verständlich!  Wer  wissenschaftliche  Bildung  geben  will,  muß  selbst  wissenschaft- 
lich ausgerüstet  sein. 

Nun  aber  ist  die  Wissenschaft  nichts  Begrenztes,  nichts  Abgeschlossenes, 
sondern  sie  befindet  sich  in  stetem  Fluß,  wird  aus  immer  neuen  Quellen  gespeist 
und  strebt  unaufhaltsam  vorwärts.  Die  wissenschaftliche  Vorbereitung  auf  die 
Erklärung  einer  Homerstelle  sah  vor  25  Jahren  ganz  anders  aus  als  heute,  weil  auch 
die  Wissenschaft  seitdem  ein  anderes  Gesicht  erhalten  hat.  Die  wissenschaftliche 
Vorbereitung  auf  eine  Homerstelle  ist  auch  nicht  damit  abgeschlossen,  daß  durch 
Textkritik,  Grammatik  und  Metrik  das  Verständnis  vermittelt  wird;  wer  aus  dem 
vollen  Strom  der  Wissenschaft  schöpfen  kann,  wird  auch  aus  scheinbar  abseits 
liegenden  Gebieten,  der  Altertumskunde,  Geschichte,  Landeskunde  Griechenlands, 
ja,  der  eigenen  Heimat,  ja,  aus  jedem  Gebiete  der  Wissenschaft  Stoff  gewinnen, 
um  die  Erklärung  einer  Homerstelle  fruchtbarer  zu  machen. 

Daher  hat  ein  Lehrer,  der  sich  wissenschaftlich  vorbereiten  will,  um  seine 
Schüler  wissenschaftlich  zu  bilden,  selbst  wissenschaftliche  Fort- 
bildung nötig.  Wer  glaubt,  daß  er  mit  der  wissenschaftlichen  Bildung,  die  er 
auf  der  Universität  gewonnen  hat,  jener  idealen  Forderung  wissenschaftlicher 
Vorbereitung  nach  seiner  Anstellung  als  Lehrer  voll  genügen  kann,  der  irrt;  denn 
seine  Kenntnisse  werden  nicht  einmal  dem  Stand  der  Wissenschaft  zur  Zeit  seiner 
Staatsprüfung  voll  entsprochen  haben.  Wer  aber  mit  seiner  Universitätsbildung 
jener  Forderung  auch  nach  10,  ja,  nach  30  Jahren  noch  genügen  will,  der  ver- 
sündigt sich  an  der  Jugend,  die  er  wissenschaftlich  bilden  soll.  Unablässige  wissen- 
schaftliche Fortbildung  ist  erste  Pflicht  des  Lehrers  an  einer  höheren  Lehranstalt. 

Diese  wissenschaftliche  Fortbildung  umfaßt  zunächst  Altes;  denn  die  Uni- 
versitätsbildung wird  immer  Lücken  aufweisen,  die  auszufüllen  sind.  Sie  umfaßt 
aber  auch  Neues;  denn  die  Wissenschaft  schreitet  eben  unaufhaltsam  vorwärts. 

Wie  kommt  diese  wissenschaftliche  Fortbildung  zustande?  Das  Selbststudium 
des  einzelnen  ist  ihre  wichtigste  und  sicherste  Grundlage.  Aber  das  Selbststudium 
bedarf  der  Anregung.  Für  diese  zu  sorgen,  ist  Pflicht  des  Staates,  der  fordert, 
daß  seine  Lehrer  sich  wissenschaftlich  fortbilden. 

Der  Staat  hat  sich  auch  dieser  Pflicht  durchaus  nicht  entzogen;  es  gibt  eine 
Reihe  von  wissenschaftlichen  Fortbildungskursen,  die  an  Universitäten  und  ähnlichen 
Instituten  abgehalten  werden.  Diese  Kurse  müssen  unbedingt  erhalten  und  noch 
weiter  ausgebaut  werden.  Wer  einmal  an  einem  solchen  Kursus  teilgenommen  hat, 
der  wird  der  Fülle  von  Anregung,  die  er  nicht  nur  aus  den  Vorträgen,  sondern 
auch  aus  dem  Besuch  der  Museen,  Sammlungen,  Laboratorien,  aus  dem  Verkehr 
mit  verschiedenen  Männern  der  Wissenschaft,  aus  dem  ganzen  Milieu  einer  solchen 
Pflegestätte  der  Wissenschaft  gewonnen  hat,  stets  dankbar  gedenken. 


Dezentralisation   in  der  wissenschaftlichen  Fortbildung  usw,  135 

Bisher  war  also  die  Förderung  der  wissenschaftlichen  Fortbildung  durch  den  ' 
Staat  an  die  wissenschaftlichen  Zentren  gebunden,  sie  war  zentralisiert; 
es  erscheint  nun  aber  als  eine  berechtigte  und  notwendige  Forderung,  daß  sie  da- 
neben auch  dezentralisiert  werde. 

An  solchen  Fortbildungskursen,  wie  sie  an  den  Mittelpunkten  des  wissen 
schaftlichen  Lebens  abgehalten  werden,  nehmen  lange  nicht  alle  Lehrer  teil.  Die 
Zahl  der  Teilnehmer  kann  nur  beschränkt  sein;  mancher  aber  mag  sich  einer  Zu- 
rückweisung nicht  aussetzen.  Die  Beteiligung  an  einem  solchen  Kursus  kostet 
Geld,  auch  wenn  der  Staat  eine  Beihilfe  gewährt;  mancher  aber  glaubt,  das  Geld 
dazu  nicht  zu  haben,  mancher  hat  es  wirklich  nicht.  Die  Beteiligung  fordert  auch 
körperliche  und  geistige  Anstrengung;  es  ist  nicht  leicht,  täglich  am  Vormittag  und 
Nachmittag  Vorträge  zu  hören,  in  Museen  umherzugehen  oder  weite  Exkursionen 
zu  machen.  Mancher  hat  nicht  die  Kraft  dazu,  zumal  ältere  Herren  nicht,  wenigstens 
nicht  in  den  Ferien,  besonders  nicht  in  den  Osterferien,  deren  Ruhe  nach  der  langen 
Arbeit  des  Winters  für  die  Erholung  so  nötig  ist.  Groß  ist  schließlich  auch  die  Zahl 
der  Bequemen,  die  wohl  über  Kraft  und  Geld  verfügen,  aber  auf  die  Bequem- 
lichkeit —  nun,  sagen  wir  der  Alltäglichkeit  nicht  verzichten  mögen.  Aber  auch 
sie  alle,  auch  die  Alten,  die  Schwächlichen,  die  Unbemittelten,  die  Bequemen,  be- 
dürfen der  Anregung,  um  sich  wissenschaftlich  fortbilden  zu  können. 

Daher  ist  es  nötig,  daß  die  wissenschaftliche  Fortbildung  auch  dezen- 
tralisiert wird,  damit  alle  ihrer  teilhaftig  werden;  ein  jedes  Gymnasium  sorge 
selbst  für  die  wissenschaftliche  Fortbildung  seiner  Lehrer! 

Das  ist  möglich.  Es  braucht  nicht  einmal  eine  neue  Einrichtung  geschaffen 
zu  werden;  es  ist  nur  nötig,  eine  schon  vorhandene  richtig  auszunutzen  und  aus- 
zubauen. 

Es  hat  einmal  ein  Unterrichtsminister  den  Lehrern  an  den  höjieren  Schulen 
ein  schönes  Weihnachtsgeschenk  gemacht  oder  wenigstens  machen  wollen.  In 
einem  Erlasse  vom  24.  Dezember  1898  hat  der  damalige  Kultusminister  Dr.  Bosse 
den  Wunsch  geäußert,  daß  ein  Versuch  mit  der  Abhaltung  wissenschaftlicher 
Vorträge  für  die  oberen  Klassen  der  höheren  Lehranstalten  gemacht  werde.  Zu 
diesen  Vorträgen  sollten  auch  die  Eltern  und  erwachsene  Angehörige  der  Schulet 
sowie  der  Anstalt  sonst  nahestehende  Personen  zugelassen  werden  können.  Diese 
Vorträge  sollten  in  der  Regel  von  den  Lehrern  der  Anstalt  gehalten  werden;  es  wurde 
angenommen,  daß  sie  ihnen  eine  willkommene  Gelegenheit  bieten  würden,  ihr 
reicheres  und  eindringenderes  Fachwissen  zur  Geltung  zu  bringen  und  über  den 
Unterricht  hinaus  für  andere  nutzbar  zu  machen.  Doch  war  auch  die  Möglichkeit 
geboten,  auswärtige  Fachmänner  zu  ihnen  heranzuziehen. 

Diesem  Wunsche  gegenüber  hat  sich  die  Lehrerschaft  der  höheren  Schulen, 
so  weit  mir  bekannt  ist,  zunächst  ziemlich  ablehnend  verhalten.  In  letzter  Zeit 
aber  scheint  man,  wenigstens  in  meiner  Heimatsprovinz  Pommern,  deren  Verhält- 
nisse allein  ich  kenne,  an  diesen  Vorträgen  doch  noch  Geschmack  finden  zu  wollen. 
Die  Programme  verschiedener  pommerscher  Anstalten  berichten,  daß  solche  Vor- 
träge von  Lehrern  der  Anstalt  für  die  Schüler  gehalten  sind.  Auch  am  hiesigen 
Gymnasium  haben  wir  seit  1908  versucht,  auf  diese  Weise  wissenschaftliches  Inter- 
esse zu  fördern.    Die  meisten  Vorträge  haben  wir  Lehrer  selbst  gehalten;  wir  haben 


136  R.  Holsten, 

aber  auch  Lehrer  benachbarter  Anstalten,  einen  Kgl.  Geologen  und  einen  Stettiner 
Arzt,  der  auf  dem  Gebiete  der  Menschen-  und  Völkerkunde  ein  bewährter  Forscher 
ist,  heranziehen  können.  Es  sind  folgende  Stoffe  behandelt  worden:  1.  über  die 
Entstehung  des  Pyritzer  Weizackers;  2.  zur  Geschichte  von  Paß,  ein  Beitrag  zur 
Heimatkunde  des  Pyritzer  Kreises;  3.  die  älteste  Kultur  auf  Kreta  nach  den  jüngsten 
Ausgrabungen;  4.  die  Steinzeit;  5.  die  Naturdenkmalpflege  mit  Berücksichtigung 
der  Erfolge  in  Pommern;  6.  das  Weltall  und  die  Kometen;  7.  Sehnen  und  Suchen 
in  der  antiken  Welt;  8.  die  Urgeschichte  der  Erde  und  das  erste  Auftreten  des 
Menschen  auf  der  Erde.  Für  den  kommenden  Winter  sind  schon  2  Vorträge  sicher 
gestellt:  1.  die  Geburt  Christi  in  der  älteren  italienischen  Kunst  und  2.  die  Aus- 
grabungen in  Palästina.*)  Erweiterung  und  Vertiefung  der  Heimatkunde,  Einführung 
in  Gebiete,  auf  denen  die  neueste  Forschung  sich  bewegt,  das  sind  also  u.  a.  die 
Ziele  gewesen,  welche  diese  Vorträge  verfolgt  haben. 

Ihren  Zweck  haben  sie  erfüllt.  Ich  habe  wiederholt  im  Unterricht  feststellen 
können,  daß  unsere  Schüler  den  Wissensstoff,  der  ihnen  geboten  wurde,  in  sich 
aufgenommen  hatten.  Ich  habe  auch  sehen  können,  wie  sich  viele  durch  diese 
Vorträge  angeregt  zeigten,  selbst  zu  beobachten  und  zu  suchen.  Ich  habe  auch 
eine  umfangreiche,  —  ich  kann  es  getrost  sagen  —  wissenschaftliche  Arbeit  eines 
Schülers  in  Händen  gehabt,  die  durch  einen  dieser  Vorträge  angeregt  war.  Ihren 
Zweck  haben  sie  aber  auch  insofern  erfüllt,  als  das  Publikum,  das  sich  anfangs, 
unserer  Einladung  folgend,  nur  spärlich  einstellte,  wohl  weil  die  Vorträge  für 
Schüler  bestimmt  waren,  sich  schließlich  in  immer  größerer  Zahl  einfand.  Sie 
haben  aber  noch  mehr  geleistet,  als  ursprünglich  mit  ihnen  bezweckt  wurde:  von 
mir  wenigstens  kann  ich  sagen,  daß  ich  durch  einige  unter  ihnen  Anregung  zu 
weiterer  wissenschaftlicher  Forschung  empfangen  habe,  nicht  nur  durch  die  von 
mir  selbst  gehaltetien,  die  natürlich  wissenschaftliche  Vorbereitung  forderten; 
wenn  die  andern  mich  nicht  alle  zur  Erweiterung  meiner  Studien  angeregt  haben, 
so  hat  das  nicht  an  ihnen  selbst  gelegen,  sondern  vielmehr  an  der  Beschränktheit 
des  Gebietes,  auf  dem  ich  wissenschaftlich  tätig  sein  kann. 

Weil  ich  aber  diesen  ursprünglich  nicht  beabsichtigten  Vorteil  für  meine 
eigene  wissenschaftliche  Fortbildung  aus  diesen  Vorträgen  gehabt  habe,  glaube 
ich  die  Forderung  erheben  zu  dürfen,  die  wissenschaftliche  Fort- 
bildung der  Lehrer  an  den  höheren  Lehranstalten  werde 
nicht  nur  wie  bisher  zentralisiert,  sondern  daneben  auch 
dezentralisiert;  jede  höhere  Lehranstalt  sorge  selbst  durch  Vorträge, 
die  im  Sinne  jenes  Ministerialerlasses  vom  24.  Dezember  1898  gehalten  werden, 
auch  für  die  wissenschaftliche  Fortbildung  ihrer  Lehrer. 

Ich  will  zeigen,  daß  e^  geht. 

Eine  Schwierigkeit  scheint  zunächst  in  der  Frage  zu  liegen,  w  i  e  Vorträge 
beschaffen  sein  sollen,  die  Schülern  und  einem  größeren  Publikum  etwas 
bieten  und  daneben  die  Lehrer  wissenschaftlich  fördern  sollen.  Ich  habe  mich  auf 
die  Erfahrung,  die  ich  hier  an  mir  selbst  gemacht  habe,  dafür  berufen,  daß  es  geht. 
Ich  will  noch  eine  andere  eigene  Erfahrung  anführen:  auf  einem  archäologischen 


*)  Der  erste  ist  inzwischen  gehalten,  außerdem  ein  anderer :  Bilder  aus  der  alten 
und  neuen  Türkei  zur  Zeit  der  Revolution. 


Dezentralisation  in  der  wissenschaftlichen  Fortbildung  usw.  137 

Ferienkursus  habe  ich  einen  bedeutenden  Archäologen,  der  heute  noch  in  voller 
Kraft  im  Amte  steht,  so  sprechen  hören,  daß  jeder  ihm  folgen  konnte,  auch  wer 
von  der  Archäologie  noch  nichts  verstand,  daß  daneben  aber  alle,  die  schon  weiter 
vorgeschritten  waren,  nicht  nur  in  ihrem  Wissen  bereichert,  sondern  auch  zu 
eigenem  Forschen  angeregt  wurden.  Diese  Vorträge  müssen  also  ohne  große  Vor- 
aussetzungen für  jedermann  verständlich  sein;  nur  hüte  man  sich,  ein  Publikum 
von  Schülern  und  Laien  etwa  zu  tief  einzuschätzen!  Es  dürfen  keine  trockenen 
Voriesungen  sein;  sie  dürfen  auch  nicht  bloß,  etwa  beim  Zeigen  von  Lichtbildern, 
die  sonst  ein  willkommenes  Mittel  zur  Veranschaulichung  sind,  der  Unterhaltung 
dienen  wollen;  sie  müssen  vielmehr  in  lebendiger  Rede  die  Hörer  zu  packen  wissen. 
Sie  müssen  wissenschaftlich  sein,  einerseits  in  dem  Stoff,  den  sie  bieten,  mögen 
sie  nun  altes  Gut  der  Wissenschaft  zusammenfassen,  mögen  sie  neu  gefundene 
Schätze  zeigen,  andrerseits  in  der  Art,  wie  sie  ihn  bieten,  wie  sie  die  Quellen,  aus 
denen  zu  schöpfen  ist,  nachweisen  und  auf  die  Gebiete,  die  durch  weitere  Forschung 
fruchtbar  gemacht  werden  können,  hinweisen.  Die  Vorträge  dürfen  im  allgemeinen 
nicht  länger  als  eine  Stunde  dauern.  Wenn  sich  aber  daran  noch  eine  Besprechung 
der  Lehrer  mit  dem  Vortragenden  im  engeren  Kreise  anschließt,  so  wird  der  von 
mir  beabsichtigte  Zweck  der  v  issenschaftlichen  Fortbildung  der  Lehrer  gewiß 
erreichbar  erscheinen. 

Eine  weitere  Schwierigkeit  bietet  die  Frage,  wer  die  Vorträge  halten  soll. 
Jener  Ministerialeriaß,  von  dem  wir  ausgingen,  denkt  andieLehrerderAn- 
s  t  a  1 1.  Ohne  Zweifel  können  die  Lehrer  einer  Anstalt  sich  untereinander  wissen- 
schaftlich anregen;  nur  brauchen  dazu  nicht  Vorträge  gehalten  zu  werden.  Aber 
jedenfalls  kann  die  Anregung  auch  in  dieser  Form  erfolgen.  Dann  können,  wie 
wir  es  hier  getan  haben,  Lehrer  benachbarter  Anstalten  heran- 
gezogen werden.  Jede  Provinz  hat  sicher  eine  Anzahl  von  Oberiehrern,  die  geeignet 
sind,  solche  Vorträge  zu  halten;  ich  könnte  allein  aus  Stettin,  wo  ich'früher  10  Jahre 
gewirkt  habe,  eine  ganze  Reihe  nennen.  Vor  allem  aber  müßten  auch  die  Uni- 
versitätsprofessoren der  Provinz,  die  sich  doch  der  wissenschaftlichen 
Fortbildung  der  Lehrer  im  wissenschaftlichen  Zentrum  so  bereitwillig  widmen, 
sich  zu  dieser  Dezentralisation  bereit  finden  lassen,  müßten  in  die  einzelnen  Städte 
reisen  und  hier  durch  Vorträge  für  die  Fortbildung  aller  Lehrer  sorgen,  auch  derer, 
die  sich  am  Zentrum  nicht  einfinden  wollen  oder  können.  Auch  das  ist  möglich. 
Bei  vielen  Anstalten  wird  so  eine  Vortragsreise  nur  einen  Nachmittag  in  Anspruch 
nehmen.  In  meiner  Heimatprovinz  Pommern  liegt  die  Universität  recht  ungünstig 
im  äußersten  Westen,  und  doch  könnten,  wie  das  Kursbuch  zeigt,  alle  Anstalten 
nach  Osten  hin  bis  Stargard  einschl.  an  je  einem  Nachmittage  versorgt  werden. 
Noch  weiter  abseits  liegen  in  Pommern  15  Anstalten.  Sollten  sie  nicht,  selbst  wenn 
diese  Anstalten  alle  denselben  Vortragenden  wünschen  sollten,  in  dem  Zeitraum 
einer  Woche  eriedigt  werden  können?  Der  Vortrag  könnte  doch  an  jedem  Tage 
in  2  Anstalten  gehalten  werden.  Sollte  sich  aber  eine  Woche  Urlaub  für  einen 
Universitätsprofessor  zu  einem  so  guten  Zwecke  nicht  erwirken  lassen? 

Ich  komme  nun  zu  der  Z  e  i  t ,  in  der  die  Vorträge  zu  halten  wären.  Die  Uni- 
versitätsferien würden  sich  in  Preußen  im  allgemeinen  nicht  dazu  eignen.  Den 
Professoren  würde  wohl  der  März  recht  gelegen  sein.   Aber  in  diesem  Monat  stehen 


138       R.  Holsten,  Dezentralisation  in  der  wissenschaftlichen  Fortbildung  usw. 

wir,  Lehrer  wie  Schüler,  in  so  angestrengter  Arbeit,  daß  höchstens  noch  der  Anfang 
des  Monats  in  Frage  kommen  könnte.  Geeigneter  wären  August,  September  und 
die  zweite  Hälfte  Oktober;  die  erste  Hälfte  kommt  wenigstens  dann  nicht  in  Betracht, 
wenn  auch  die  älteren  Schüler  teilnehmen  sollen,  da  dann  Schulferien  sind.  Aber 
für  Vorträge  mit  Lichtbildern  sind  diese  Monate  meist  nicht  geeignet;  denn  die 
gegebene  örtlichkeit  für  den  Vortrag  ist  doch  die  Aula,  ihre  großen  Fenster  können 
aber  meist  nicht  verdunkelt  werden.  Freilich  ließe  sich  da  eine  Vorrichtung  schaffen. 
Im  allgemeinen  würden  für  unsere  höheren  Lehranstalten  wohl  die  Monate  No- 
vember bis  Februar  einschl.  am  geeignetsten  sein;  die  Beurlaubung  von  Universitäts- 
professoren sollte  sich  in  dieser  Zeit,  wie  gesagt,  für  eine  kürzere  Frist  wohl  ermög- 
lichen lassen. 

Die  Kosten  dürften  keine  Schwierigkeit  machen.  Wenn  ein  weiteres  Publi- 
kum gegen  ein  geringes  Eintrittsgeld  zugelassen  wird,  wie  es  in  jenem  Ministerial- 
erlaß vorgesehen  ist,  so  wird  immer  eine  Summe  einkommen,  die  zur  Deckung  der 
Unkosten  an  Reisegeld,  Miete  für  Lichtbilder  u.  dergl.  ausreicht.  Ein  Honorar 
ist  für  die  Lehrer  der  Anstalt  nicht  vorgesehen;  sie  sollen  es  als  Ehrenpflicht  ihres 
Amtes  ansehen,  sich  an  der  Abhaltung  solcher  Vorträge  zu  beteiligen,  und  haben 
das  wohl  auch  immer  getan.  Wenn  freilich  die  Universitätsprofessoren  herangezogen 
werden,  so  wird  ein  Honorar  ausgesetzt  werden  müssen,  da  solche  Vorträge  ohne 
Frage  nicht  innerhalb  des  Bereiches  ihrer  Amtspflichten  liegen.  Wenn  aber  ein 
angemessenes  Grundhonorar  mit  einem  geringeren  Zusatzhonorar  für  jede  Wieder- 
holung des  Vortrages  angenommen  wird,  so  wird  bei  Verteilung  der  Gesamtsumme 
auf  die  einzelne  Anstalt  nicht  so  viel  entfallen,  daß  die  Kosten  nicht  ohne  Bewilli- 
gung besonderer  Mittel  aus  dem  Titel  Insgemein  bestritten  werden  könnten.  Es 
bedarf  dazu  nicht  einmal  einer  besonderen  Genehmigung  der  Behörde.  Wenigstens 
heißt  es  in  der  neuen  pommerschen  Kassenordnung  §  81:  „Unter  der  Position 
„Unvorhergesehene  Ausgaben"  dürfen  nur  diejenigen  Zahlungen  verrechnet  werden, 
welche  bei  keinem  andern  Etatsfond  untergebracht  werden  können.  Mit  dieser 
Beschränkung  kann  die  Anstaltsverwaltung  über  den  in  dem  Etat  hierfür  aus- 
geworfenen Betrag  ohne  höhere  Ermächtigung  verfügen."  Ein  Honorar  für  etwa 
zwei  Vorträge  im  Jahr  wird  auf  diese  Weise  immer  zu  erübrigen  sein. 

Die  Vermittelung  zwischen  den  Vortragenden  und  den  Anstalten, 
welche  die  Vorträge  entgegennehmen  wollen,  würden  wohl  die  Provinzialschul- 
kollegien  übernehmen  müssen.  Am  Anfang  des  Schuljahres  etwa  würden  diese 
bekannt  geben,  welche  Vorträge  im  Laufe  des  Schuljahres,  vielleicht  mit  einer 
gewissen  Beschränkung  der  Zeit,  gehalten  werden  können.  Nun  suchen  die  einzelnen 
Anstalten,  ohne  daß  ein  Zwang  zur  Beteiligung  vorliegen  dürfte,  die  Vorträge  aus, 
die  ihnen  zusagen.  Die  Provinzialschulkoilegien  hätten  dann  wieder,  wenn  nötig, 
auszugleichen.  Sollte  etwa  ein  Vortrag  zu  oft  gefordert  werden,  so  würde  ein  Teil 
der  Anstalten  bis  zum  nächsten  Jahr  warten  müssen.  Vielleicht  könnten  auch 
vorher  Wünsche  der  einzelnen  Anstalten  gehört  werden.  Nur  vor  einem  möchte 
ich  warnen,  wenn  ich  auch  fürchten  muß,  deshalb  als  Ketzer  verschrieen  zu  werden. 
Man  überlasse  die  Entscheidung  darüber,  welche  Vorträge  gehalten  werden  sollen, 
nicht  den  Lehrerkonferenzen.  Vielmehr  mag  der  Direktor  sie  aussuchen,  nachdem 
er  sich  mit  den  Lehrern  ins  Einvernehmen  gesetzt  hat.   Es  könnten  sonst  gewichtige 


A.  Volkmar,  Lehrziele  und  Lehraufgaben.  '  139 

Minoritäten,  Männer,  bei  denen  wissenschaftliche  Anregung  auf  fruchtbaren  Boden 
fallen  würde,  gelegentlich  überstimmt  werden.  Und  schließlich,  wenn  nun  so  ein 
Vortrag  mißrät  und  billigen  Anforderungen  nicht  entspricht,  da  ist  es  doch  besser, 
wenn  auf  den  Direktor  gescholten  werden  kann,  als  wenn  eine  Partei  in  der  Konferenz 
der  anderen  Vorwürfe  macht  oder  etwa  gar  bei  einmütigem  Beschluß  niemand  da 
wäre,  auf  den  man  schelten  könnte.  Ist  es  doch  immer  eine  wichtige  Aufgabe  des 
Direktors  gewesen,  Blitzableiter  zu  sein  für  alle  Unzufriedenheit,  aie  sich  in  so 
einer  höheren  Lehranstalt  ansammelt. 

So  glaube  ich  einen  Weg  gezeigt  zu  haben,  auf  dem  durch  Dezentralisation  die 
wissenschaftliche  Fortbildung  der  Oberlehrer  gefördert  werden  kann.  Ohne  be- 
sondere Kosten  läßt  sich  eine  bestehende  Einrichtung  zur  Erreichung  dieses  Zweckes 
segensreich  ausbauen. 

Pyritz.  Robert  Holsten. 


Lehrziele  und  Lehraufgaben. 

Wer  vor  Ostern  in  die  Lehrerzimmer  hineinhorchte  und  jeden  Herrn  fragte, 
ob  er  mit  seinen  Lehraufgaben  zur  eigenen  Zufriedenheit  ohne  Drängen  und  Hetzen 
fertig  würde,  er  bekäme  zumeist  Klagen  als  Antwort.  Je  nach  dem  Temperament 
eine  Stufenleiter  von  milder  Ergebung  bis  zu  Ausbrüchen  des  Zorns.  Wer  sich 
zu  Weihnachten  einen  Überblick  über  die  Gesamtleistungen  verschaffte,  der  fände 
wenig  wirklich  erfreuende  Zeugnisse.  Aber  in  einer  auffallend  großen  Zahl  läse 
er  nur  oder  fast  nur  die  Nummern  Mangelhaft  und  Genügend,  darunter  eine  Fülle 
mit  größter  Vorsicht  bedingter  Genügend. 

Stimmt  das  nicht  nachdenklich?  Jeden  Freund  der  Jugend  und  des  Vaterlandes 
muß  es  doch  betrüben,  daß  gerade  unter  den  Knaben,  die  nach  Abstammung, 
Vermögen  und  Bildungsgang  berufen  sind,  Führer  und  Förderer  unseres  Volkes 
zu  werden,  so  viele  unbegabte  zu  sein  scheinen!  Oder  auch  träge  und  pflichtver- 
gessene, denen  eine  gewissenhafte  häusliche  Aufsicht  und  Erziehung  fehlt.  Doch 
wenn  man  zugleich  an  die  Schulverdrossenheit  vieler  Schüler  und  Erwachsener 

denkt wächst  sie  nur  in  Familien,  deren  Söhne  so  dumm  oder  unfleißig  und 

leichtsinnig  sind,  daß  sie  verdienten,  in  die  große  Masse  des  Volkes  zurückzusinken? 

Unsere  höheren  Schulen  sind  zu  sehr  Lernschulen  geworden.  Im  Vergleich 
zur  Fülle  der  Fächer  sind  die  Lehraufgaben  in  vielen  Klassen  und  Fächern  zu  reich- 
lich bemessen,  und  die  Leistungen  werden  zu  einseitig  bewertet. 

Gewiß  wurden  mancherlei  Erleichterungen  eingeführt,  aber  sie  werden  mehr 
als  einmal  durch  andere  Dinge  wieder  aufgehoben.  Obwohl  diese  Dinge  jedem 
Fachmann  bekannt  sind,  möchte  ich  sie  in  kürzester  Übersicht  meinem  Aufsatz 
voranschicken.  Denn  nicht  jeder  empfindet  sie  als  Mißstände.  Gewohnheit  stumpft 
ab,  und  nur  in  gedrängter  Zusammenfassung  wirken  die  Tatsachen  mit  ihrer  ganzen 
Wucht.  Endlich  läßt  sich  nur  so  eine  Grundlage  für  die  Frage  gewinnen,  was  zu 
bessern  wäre. 

Die  Nebenfächer!  Zu  welchen  anspruchsvollen  Herren  haben  sich  diese  be- 
scheidenen Leute  ausgewachsen !    Früher  von  den  stolzen  Hauptfächern  verächtlich 


140  A.  Volkmar, 

in  die  Ecke  gedrückt,  sehr  oft  von  Lehrern  verwaltet,  die  sich  bestenfalls  auf  der 
Universität  beiläufig  damit  beschäftigt  hatten  und  schon  deshalb  keine  übermäßigen 
Anforderungen  stellten,  und  jetzt?  Jeder  Klassenleiter,  fast  möchte  ich  sagen 
jeder  Vater  macht  die  Erfahrung,  wie  der  moderne  Fachlehrer,  bewehrt  mit  dem 
ganzen  Rüstzeug  seiner  Wissenschaft,  gerade  sein  Lieblingsfach  für  außerordentlich 
wichtig  hält  und  die  geringe  Stundenzahl,  die  der  Lehrplan  ihm  törichterweise 
gönnt,  durch  straffsten  Unterricht  und  hochgespannte  Ansprüche  ein  wenig  aus- 
zugleichen sucht.  Die  Vertreter  der  Hauptfächer  glauben  ihrerseits,  das  erste 
Anrecht  auf  Zeit  und  Kraft  der  Schüler  zu  haben diese  sind  die  Leidtragenden. 

Dazu  die  sorgfältige  pädagogische  Ausbildung,  die  den  jungen  Lehrer  befähigt 
und  verpflichtet,  jede  Minute  der  kostbaren  Unterrichtszeit  auszukaufen,  wie  man 
so  schön  sagt,  und  aus  den  Jungen  das  Letzte  herauszuholen!  Verschwunden 
sind  die  zahlreichen  Originale  früherer  Geschlechter,  die  fast  an  jeder  Schule  als 
Sicherheitsventile  gegen  Überbürdung  und  Überanstrengung  wirkten,  für  die 
kein  Schüler  arbeitete,  in  deren  Stunden  man  sich  durch  Unachtsamkeit  und  Unfug 
erholte.  Bei  der  geringeren  Aufsicht  durch  die  Vorgesetzten  ergaben  sich  viele 
ältere  Herren,  aber  auch  manche  jüngere,  einem  behaglichen  Gehenlassen.  Jetzt 
kann  jeder  Lehrer  in  jeder  Stunde  vor  die  Notwendigkeit  gestellt  werden  zu  zeigen, 
ob  er  den  genau  vorgeschriebenen  Unterrichtsstoff  mit  Erfolg  durchgenonmien 
und  pflichtgemäß  so  in  die  Köpfe  hineingepreßt  hat,  daß  der  Maiabschnitt  noch  um 
Weihnachten  drinsteckt.  Die  Pflichteifrigen,  die  Nervösen,  vor  allem  die  Ehr- 
geizigen, die  um  jeden  Preis  die  Gefahr  einer  Rüge  vermeiden  wollen,  suchen  dieses 
Ziel  häufig  ohne  jede  Rücksicht  auf  die  vielen  anderen  Fächer  zu  erreichen.  Bei 
der  Zersplitterung  des  Unterrichts  kämpft  der  Klassenleiter  ^inen  schweren,  oft 
vergeblichen  Kampf  gegen  übertriebene  Anforderungen.  In  zahlreichen  Fällen 
wird  er  den  Dingen  nach  Verdrießlichkeiten  aller  Art  ihren  Lauf  lassen. 

Endlich  eine  Fülle  von  Gegenständen,  die  die  Einfalt  vergangener  Jahrzehnte 
nicht  kannte:  Sprechübungen  im  Französischen  und  Englischen,  chemische  und 
physikalische  Übungen,  Biologie,  Theater  und  Konzerte  für  Schüler,  vermehrte 
Turnstunden,  Spiele,  Rudern,  Wandern  usw.  Alles  vortreffliche  Sachen,  manche 
durchaus  notwendig,  vor  allem  die  körperliche  Ausbildung.  Wer  weiß,  ob  nicht 
gerade  wir  Deutsche  Zeiten  nahe  sind,  wo  ein  starker  und  gewandter  Leib  für  den 
einzelnen  und  das  Vaterland  wertvoller  ist  als  die  schönste  Blüte  edler  Geistes- 
bildung? Aber  für  so  viel  des  Neuen  muß  doch  irgendwo  im  Alten  Raum  geschafft 
werden!     In  ausreichendem  Maße  ist  es  nicht  geschehen. 

Darf  man  sich  noch  wundern,  daß  vielen  Schülern  bei  soviel  Anforderungen 
und  Einwirkungen  der  Atem  ausgeht? 

Sehr  beachtenswert  ist  doch,  daß  Sextaner  und  Quintaner,  die  nur  eine 
fremdeSprache  zu  bewältigen  haben,  unter  schlechten  Zeugnissen  undSchulverdrossen- 
heit  kaum  leiden.  Wohl  erfüllt  mancher  mechanische  Kopf  die  leichteren  Pflichten 
jener  Klassen,  der  versagt,  wenn  selbständiges  Denken  verlangt  wird.  Aber  zu 
dieser  Gruppe  gehört  doch  nur  ein  Teil  jener  Schüler,  deren  Leistungen  von  Quarta 
an  merklich  zurückgehen. 

Am  schlimmsten  liegen  die  Verhältnisse  in  den  Tertien  und  Sekunden.  Das 
rasche  Wachsen  und  die  geschlechtliche  Entwicklung  schwächen  Körper  und  Ge- 


Lehrziele  und  Lelirauf gaben.  141 

dächtnis.  Es  ist  erstaunlich,  daß  die  Schule  darauf  nicht  die  geringste  Rücksicht 
nimmt,  obwohl  sie  doch  mit  einer  nicht  unerheblichen  Zahl  schwächlicher  und 
nervöser  Schüler  rechnen  muß,  obwohl  in  diesen  gefährlichen  Jahren  nichts  mehr 
als  Überreizung  des  Gehirns  zu  Unarten  auf  geschlechtlichem  Gebiet  führt,  obwohl 
man  weiß,  daß  diese  Unarten  erschreckend  häufig  geübt  werden.  Aber  die  Zahl 
der  Fächer  schwillt  an  und  das  Gedächtnis  muß  gerade  hier  Außerordentliches 
leisten.  In  den  Sprachen  die  grundlegende  Grammatik,  eine  Überfülle  von  Formen, 
Regeln,  Ausnahmen,  Phrasen,  Vokabeln.  Das  Realgymnasium  verlangt  gar  drei 
fremde  Sprachen  im  Hauptfach !  In  den  Sprachgeist  des  Lateinischen,  Französischen 
und  Englischen  soll  der  unglückliche  Junge  sich  hineinfühlen  und  hineindenken,  als 
wäre  er  ein  Sprachakrobat,  oft  an  einem  Vormittag  nacheinander  in  alle  drei  Sprach- 
geister! Des  Klagens  über  eine  babylonische  Sprachverwirrung  in  zahlreichen 
Schälerköpfen  ist  dann  auch  kein  Ende.  Auf  dem  Gymnasium  ist  die  Lehraufgabe 
des  Französischen  in  der  Quarta  sehr  groß;  aber  sie  ist  eine  Kleinigkeit  gegen  das 
Griechische  der  Untertertia!  Ohne  rechts  und  links  und  rückwärts  zu  schauen, 
muß  der  Lehrer  vorwärts,  immer  vorwärts  wie  der  Hauptmann  im  Sturm  auf  die 
Festung.  Wer  fällt,  der  fällt !  Nur  äußerste,  atemlose  Anspannung  bringt  zum  Ziel, 
oft  ein  arg  zusammengeschmolzenes  Häuflein.  Vielfach  muß  Privatunterricht  nach- 
helfen. Besonders  geschickte  und  erfahrene  Lehrer  mögen  ja  günstigere  Ergebnisse 
haben,  aber  es  kommt  auf  den  Durchschnitt  an.  Ein  solches  Jahr  steht  an  der  Pforte 
zum  Griechischen,  der  Blüte  und  Krone  des  gymnasialen  Unterrichts !  Wird  es  dem 
Gymnasium  Freunde  zuführen?  In  der  Geschichte  setzen  die  Lehrpläne  eine  so 
i^ründliche  Einprägung  der  Tatsachen  und  Zahlen  voraus,  daß  der  vertiefende  Unter- 
richt der  obersten  Stufe  noch  darauf  fußen  kann.  Man  prüfe  doch,  was  Tertianer 
und  Sekundaner  um  Weihnachten  von  der  Lehraufgabe  des  vergangenen  Jahres 
noch  wissen !  Wer  jenes  Ziel  erreichen  will,  muß  stets  von  neueip  die  Jahres- 
abschnitte der  vergangenen  Jahre  wiederholen  und  die  vollbemessene  Aufgabe 
seines  Jahres  dazu.  Wenn  dasselbe  in  den  übrigen  Fächern  wie  Religion,  Erd- 
kunde usw.  geschieht,  kann  sich  dabei  die  Lehr-  und  Lernfreude  behaupten? 

Dazu  sind  zahlreiche  Jungen  klägliche  Stümper  in  der  deutschen  Sprache, 
selbst  noch  in  der  Sekunda.  Ihr  unentwickelter  Verstand  durchdringt  viele  Dinge 
nicht,  die  reichlich  hoch  für  die  Altersstufe  sind.  Daher  müssen  sie  sie  mechanisch 
mit  dem  Gedächtnis  erzwingen.  Unreif  und  linkisch  wie  sie  sind,  wühlen  sie  im 
dumpfen  Halbdunkel  unter  einem  Wust  von  Einzelheiten,  immer  in  der  Gefahr 
und  Sorge,  darin  zu  ertrinken. 

So  versteht  man,  wenn  selbst  erfahrene  Schulmänner,  die  eigene  Söhne  zur 
Schule  schicken,  sich  zu  Äußerungen  versteigen  wie:    ,, Unsere  Jungen  gehen  an 

der  Tüchtigkeit  ihrer  Lehrer  zugrunde" „Wenn  zufällig  alle  Lehrer  einer 

Klasse,  zumal  auf  der  mittleren  Stufe,  eifrige,  willensstarke  und  gar  noch  jugendliche 

und  ehrgeizige  Männer  sind,  so  ist  es  ein  Unglück  für  viele  Schüler** „Wenn 

ein  Junge  offenbar  erschöpft  ist,  wird  ihn  jeder  einsichtige  Vater  zu  Haus  behalten. 
Nachdem  er  zwei  bis  drei  Tage  den  Unterricht  versäumte,  werden  sich  seine  Lei- 
stungen merklich  bessern,  weil  Geist  und  Körper  ausruhen  konnten."  Ähnlich 
-denken  Tausende  von  Eltern. 

Gewiß  gibt  es  genug  Schüler,  die  von  dieser  Not  nichts  oder  nur  wenig  spüren. 


142  A.  Volkmar, 

Soll  die  Schule  allein  auf  sie  Rücksicht  nehmen  und  die  übrigen  abstoßen?  Der 
Zudrang  ist  ja  doch  viel  größer,  als  man  wünschen  kann. 

Abgesehen  von  den  Begabtesten,  denen  alles  mühelos  zufällt,  kommt  der 
treue  Arbeiter,  der  mit  gutem  Gedächtnis  und  ruhig-nüchternem  Verstand  eine 
gewisse  geistige  Leere  und  Interesselosigkeit  verbindet,  in  der  Schule  durchschnittlich 
am  besten  weg.  Denn  er  nimmt  alles  Gebotene  mit  demselben  Gleichmut  ohne 
Unterschied  hin,  verarbeitet  es  pflichtgemäß  und  enttäuscht  keinen  seiner  Lehrer. 
Dagegen  verhalten  sich  Knaben  mit  ausgesprochenen  Anlagen  und  Neigungen 
häufig  ablehnend  gegen  andere  Dinge.  Sie  sträuben  sich  unwillkürlich,  das  ganze 
Neben-  und  Durcheinander  der  mannigfachen  Stoffe  in  sich  hineinstopfen  zu  lassen, 
damit  ihre  Sondergabe  nicht  ersticke.  Kann  man  ihnen  verargen,  wenn  sie  sich  ihr 
mit  jugendlicher  Einseitigkeit  hingeben  und  für  sie  ein  Mehr  von  Zeit  fordern, 
das  sie  anderem  entziehen?  Manchem  stören  künstlerische  Gaben  und  überstarke 
Einbildungskraft  die  Treue  des  Gedächtnisses  und  die  ruhige  Klarheit  des  Denkens. 
Das  endlose  Heer  der  unbegründeten,  zusammenhangslosen  Einzelheiten  macht  ihnen 
große  Pein.  Andere  sind  langsam,  schwerfällig,  besitzen  nicht  die  wünschenswerte 
Klarheit  und  Schärfe  des  Verstandes,  haben  aber  so  vortreffliche  Charaktereigen- 
schaften, Willenskraft,  Pflichttreue,  hochanständige  Gesinnung,  daß  man  gerade 
sie  als  Männer  gern  in  einflußreicher,  vorbildlicher  Stellung  sähe.  Nicht  aus  den 
Musterschülern  geht  die  Mehrheit  der  bedeutenden  Männer  hervor,  sondern  aus 
jenen  anderen  Naturen.  Daher  muß  die  Schule  sie  wenigstens  soweit  berücksichtigen, 
daß  sie  ihnen  die  Schuljahre  oder  auch  einen  Teil  davon  nicht  zur  Qual  macht. 

Gewiß  sollen  die  Jungen  lernen,  Widerstand  zu  besiegen  und  Selbstüberwindung 
zu  üben.  Aber  nichts  im  Übermaß !  Dann  wird  es  Härte,  besonders  den  weichen, 
allen  Eindrücken  offenen  Kinderseelen  gegenüber.  Bieten  die  Hauptfächer  nicht 
genug  Gelegenheit  dazu?  Hier  ist  schärfste  Anspannung  aller  Verstandeskräfte 
nötig  und  gewissenhafte  häusliche  Arbeit.  Hier  kein  weichliches  Nachlassen  in  dem, 
das  eine  sorgfältige  Prüfung  als  erreichbar  und  unerläßlich  erkannt  hat.  Wer 
zurückbleibt,  muß  in  einem  zweiten  Jahr  nachholen. 

Aber  dann  in  den  Nebenfächern  mit  Absicht  eine  andere  Methode !  Man  schone 
das  Gedächtnis  und  stelle  nicht  wie  in  den  Hauptfächern  als  erste  Forderung  hin, 
daß  vor  Ostern  die  ganze  Lehraufgabe  als  unverlierbares  Gut  in  den  Köpfen  stecken 
muß  und  dem  Direktor  und  Schul  rat  in  Parade  vorgeführt  werden  kann!  Man 
entwickle  Gemütsleben  und  Phantasie,  erwecke  tiefergehendes  Interesse  für  das 
Fach  und  rufe  zur  Erholung  von  dem  Kriegszustand  der  Mathematik-  und  Gram- 
matikstunden eine  behagliche  Stimmung  hervor.  Gewiß  geschieht  es  schon  viel- 
fach. Man  sollte  es  zu  einem  Grund-  und  Hauptsatz  der  ganzen  Unterrichtslehre 
erheben.  Und  in  den  am  meisten  belasteten  Klassen  der  Übergangs  jähre  bestimme 
man  Nebenfächer,  in  denen  nicht  ein  Wort  für  das  Haus  aufgegeben  werden  darf. 
Was  dann  während  des  Unterrichts  in  die  Köpfe  nicht  hineinkommt,  bleibt  eben 
draußen!  Diejenigen  Schüler,  die  Interesse  und  Verständnis  haben,  werden  auch 
so  viel  lernen.  Und  die  anderen?  Was  sie  sich  widerwillig  einquälen,  geht  ja  doch 
in  Kürze  wieder  verloren  1  Aber  ohne  ganz  klare  Verfügungen  wird  man  die  Schüler 
nicht  ausreichend  gegen  übereifrige,  überstrenge,  unerfahrene,  kinderlose  Lehrer 
schützen.    Gegen  Pedanten,  die  alles  wie  unregelmäßige  Verben  pauken  möchten. 


LehrzJele  und  Lehraufgaben.  143 

Unter  den  herrschenden  Verhältnissen  sichert  sich  der  Lehrer  auf  diese  Weise 
tatsächlich  am  besten  gegen  Vorwürfe  von  Seiten  der  Vorgesetzten. 

Aber  auch  die  Lehraufgaben  der  Hauptfächer  sollten  mit  Rücksicht  auf  die 
zahlreichen  anderen  Lehraufgaben  derselben  Klasse  so  vorsichtig  abgemessen 
werden,  daß  ein  normaler  Lehrer  mit  einer  normalen  Klasse  seinen  Abschnitt  ohne 
Drohen  und  Schelten  und  Hasten  erledigen  kann,  mit  ruhiger  Vertiefung,  hier 
und  da  Zusammenfassungen  und  Rückblicken  in  behaglicher  Breite,  welche  den 
Schülern  die  Überzeugung  geben,  daß  sie  den  Stoff  meis+ern.  Das  wirkt  Freude  an 
der  Arbeit,  hebt  das  Selbstgefühl,  schafft  aufrechte  Geister,  während  jetzt  das  Ge- 
fühl der  Unsicherheit,  das  Bestreben,  die  vielen  Mängel  vor  den  Lehrern  zu  ver- 
bergen, die  Charakterbildung  lähmt  und  schädigt. 

Freude  an  der  Arbeit!  Jedem  normalen  Kinde  wird  Wissenstrieb  und 
Schaffensdrang  angeboren.  Ist  es  nicht  eine  betrübende  Erscheinung,  daß  diese 
Anlage  in  der  Schule  so  oft  ins  Gegenteil  umschlägt  oder  sich  auf  Wegen  betätigt, 
die  von  der  Schule  weitab  führen?  Freilich  liegt  es  in  der  Natur  der  Knaben,  daß 
sie  ein  Ding  mit  Feuereifer  angreifen,  aber  rasch  Überdruß  empfinden,  besonders 
wenn  die  für  das  spätere  Leben  unvermeidliche  Gründlichkeit  und  Ausdauer  von 
ihnen  verlangt  wird.  Und  den  langjährigen  Schulbesuch  mit  den  regelmäßigen 
Pflichten  und  Aufgaben  werden  sie  im  Vergleich  zu  den  Ferien  immer  für  uner- 
freulichen Zwang  halten.  Aber  damit  wird  die  Schulverdrossenheit  nicht  erklärt. 
Denn  andererseits  steckt  in  der  Jugend  soviel  Lebenslust  und  Kraft  und  gesunder 
Sinn,  daß  die  Schule  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  ihrer  Schüler  eine  gewisse 
Freude  an  der  Arbeit  und  am  Weiterkommen  erhalten  müßte.  Der  tiefgehende 
Überdruß  hat  andere  Gründe:  Die  Sorge,  wegen  der  Unzulänglichkeit  des  Ver- 
stehens  und  Wissens  täglich  die  Unzufriedenheit  der  Lehrer  zu  erregen  —  die 
Mißerfolge  —  das  verwirrende  Vielerlei  —  das  unfrohe  Bewußtsein,  in  keinem 
oder  kaum  einem  Fach  Gutes  zu  leisten  und  den  Stoff  zu  beherrschen  —  die  pein- 
liche Wahl,  entweder  an  zahlreichen  Tagen  von  Pflicht  zu  Pflicht  gehetzt  auf  jede 
freie  Zeit  verzichten  zu  müssen,  die  man  dem  Spiel  oder  selbstgewählter  Beschäfti- 
gung widmen  möchte,  oder  wenn  man  auf  dies  Recht  seiner  Jugend  nicht  verzichten 
will,  dafür  in  der  Schule  büßen  zu  müssen  —  das  unklare,  unwahre  Verhältnis  zu 
den  Lehrern,  deren  Anforderungen  man  nicht  erfüllen  kann  —  Vorwürfe  der  Eltern 
—  die  Behandlung  in  der  Schule. 

Die  meisten  Jungen  leben  in  einer  glücklichen  Familiengemeinschaft,  die  sie 
mit  Sorgfalt  und  Liebe  umgibt  und  ihrer  Eigenart  liebevoll  Rechnung  trägt.  Wie 
müssen  sie  den  Unterschied  empfinden,  wenn  sie  in  der  Schule  oft  kaum  mehr  als 
eine  Nummer  sind !  Wenn  sie  gegebenenfalls  kaltblütig  in  den  großen  Sammeltopf: 
Mangelhaft!  Unbrauchbar!  geworfen  werden!  Wie  oft  wird  ihr  weiches  Herz 
sich  wundstoßen  und  frieren!  Gewiß  soll  man  die  Jungen  nicht  zu  weichlich  be- 
handeln. Das  Leben  packt  auch  fest  zu.  Ebenfalls  die  Kameraden.  Selbst  Strenge 
leiden  sie  gern,  wenn  sie  sich  mit  unbedingter  Gerechtigkeit  paart.  Aber  man  sollte 
bedenken,  daß  sehr  oft  der  Lehrer  der  erste  Erwachsene  ist,  welcher  durch  kalte 
Gleichgültigkeit  oder  Unfreundlichkeit,  durch  Mißtrauen  oder  liebeleere  über- 
strenge Beurteilung  den  unerfahrenen  zarten  Menschenkindern  einen  Vorgeschmack 
von  den  Härten  des  Daseins  zu  kosten  gibt.  Ein  solcher  Eindruck  wird  nie  vergessen ! 


144  A.  Volkmar,   Lehrziele  und  Lehraufgaben. 

Dabei  ist  die  kindliche  Natur  von  Lebensfreude  durchtränkt  und  durchwärmt 
und  nach  Lob  verlangt  sie  wie  das  Gras  nach  dem  Regen.  Auch  noch  bei  dem 
zum  Jüngling  heranreifenden  Knaben  trifft  dies  zu.  Wer  hier  einsetzt,  wer  die  Freude 
zur  Helferin  macht,  der  erleichtert  und  verschönt  sich  die  Arbeit  ganz  außerordent- 
lich. In  jedes  Lehrerzimmer  sollte  man  die  Worte  schreiben:  Vergiß  das  Loben 
und  Lachen  nicht!  Müßte  es  nicht  selbstverständlich  sein,  daß  überlegende,  vom 
besten  Wollen  beseelte  Männer  diesen  Grundzug  des  jugendlichen  Charakters  für 
ihre  Zwecke  nutzbar  machen?  Wenn  es  oft  so  ganz  anders  aussieht:  die  Haupt- 
schuld trägt  das  System. 

Ich  bin  weit  entfernt,  den  Lehrern  einen  Vorwurf  machen  zu  wollen.  Ihr  ganz 
besonderes  Verdienst  ist  es,  wenn  die  Ungunst  der  Verhältnisse  nicht  noch  weit 
größeren  Schaden  anrichtet.  Denn  die  Lernschule  mit  den  übervollen  Klassen 
und  der  Überfülle  des  Lernstoffes  hat  kaum  Zeit  für  Betrachtungen  jener  Art, 
für  Erkenntnis  der  Individualität  und  ihre  Berücksichtigung.  Trotz  redlichsten 
Bemühens  immer  wieder  Mißerfolge;  der  Druck  der  Sorge,  mit  dem  Stoff  nicht  so 
fertig  zu  werden,  wie  es  sein  sollte;  in  überfüllten  Klassen  Tag  für  Tag  äußerste 
Anspannung  der  Kräfte,  um  die  für  einen  gedeihlichen  Unterricht  doch  einmal 
nötige  Sammlung  und  Aufmerksamkeit  zu  erzwingen;  dennoch  oft  genug  Störungen 
aller  Art,  weil  die  Jungen  die  Wehrlosigkeit  der  Lehrer  längst  durchschaut  haben 

dabei  kann  nicht  jeder  eine  fröhliche,  gehobene  Stimmung  behaupten.  Mancher 

wird  nervös  und  gereizt,  wenigstens  im  Laufe  der  Jahre.  Er  verlernt  das  Lachen 
und  vergißt  zu  loben,  aber  herber  Tadel  springt  rasch  über  seine  Lippen,  Die 
Jungen  erfahren,  daß  selten  eine  Klasse  so  unbegabt  und  denkfaul  war  wie  diese. 
Daß  die  Hälfte  verdiente,  sitzen  zu  bleiben.  Daß  auch  erstaunlich  viel  sitzen  bleiben 
werden.     Arme  Freude! 

Ist  die  Herabsetzung  der  Summe  der  Kenntnisse  wirklich  ein  großes  Unglück? 
Die  wertvollsten  Leistungen  der  Schule  werden  nicht  im  geringsten  dadurch  be- 
einträchtigt: Die  Gewöhnung  an  regelmäßige  und  gründliche  Arbeit,  an  logisches 
Denken,  an  Verknüpfen  und  Zusammenfassen,  an  Pflichterfüllung  und  Selbst- 
zucht. Die  Entwicklung  des  Charakters,  Gemüt  und  Phantasie  werden  ohne  Zweifel 
dadurch  gefördert. 

Die  wichtigsten  Eigenschaften,  auf  denen  das  Wohl  von  Staat  und  Nation 
beruht,  werden  in  einem  glücklichen  Familienleben  begründet.  Und  die  höhere 
Schule,  die  ihre  Schüler  neun  Jahr  und  mehr  beansprucht  und  fordert,  daß  sie  im  Tun 
und  Denken  der  Knaben  den  Mittelpunkt  bildet?  Unmöglich  kann  sie  sich  der 
Pflicht  entziehen,  bei  jener  Entwicklung  mitzuhelfen.  Zum  mindesten  muß  sie  den 
Weg  dazu  freilegen,  statt  ihn  durch  Zustände  zu  verbauen,  die  so  häufig  zu  einem 
unerquicklichen,  gespannten,  ja  feindseligen  Verhältnis  führen.  Unsere  Jungen 
belügen  ihre  Lehrer.  Gewiß  nicht  alle,  doch  auch  nicht  wenige.  Trotzdem  ziehen 
sie  an  und  für  sich  die  Wahrheit  unbedingt  der  Unwahrheit  vor.  Gegen  einander 
sind  sie  doch  ehrlich.  Am  Lehrer  schätzen  sie  kaum  eine  Eigenschaft  höher  als  Offen- 
heit und  Gerechtigkeit.  Aber  wenn  man  zu  oft  kaum  oder  schwer  Mögliches  von 
ihnen  fordert  und  die  Nichterfüllung  als  strafwürdiges  Vergehen  behandelt,  drängt 
man  sie  —  auch  gegen  ihren  Willen  —  in  die  Rolle  des  Schwachen,  der  im  Kampf 
mit  dem  Überstarken  alle  Mittel  für  erlaubt  hält. 


F.  Thümen,  Zu  Leuchtenbergers  „Vademecum".  145 

Solange  die  Schule  mit  Lernstoff  überhäuft  ist,  kann  sie  diese  hochwichtige 
und  notwendige  Aufgabe  im  besten  Fall  nur  unvollkommen  erfüllen,  als  Mittel- 
glied zwischen  Familie  und  Staat  die  in  der  Familie  geschaffenen  Werte  zu  pflegen 
und  weiterzuentwickeln  und  ihre  Schüler  für  die  Rechte  und  Pflichten  des  staat- 
lichen Lebens  gründlich  vorzubereiten. 

Einen  tüchtigen  Schritt  vorwärts  auf  diesem  Wege  würde  die  Einführung 
des  wahlfreien  Unterrichts  in  der  Prima  bedeuten.  Eine  vortreffliche  Vorbereitung 
für  die  freie  Arbeit  der  Studienzeit!  Zugleich  wäre  ein  ungeahnter  Aufschwung 
in  der  Arbeitslust  und  den  Leistungen  die  Folge,  wie  bei  jedem  rechtzeitigen  Über- 
gang von  einer  Pflichterfüllung  unter  äußerem  Zwang  zu  einem  Schaffen  in  innerer 
Freiheit.  Man  sollte  es  an  einzelnen  Anstalten  erproben,  wo  Direktor  und  Lehrer 
bereit  sind.     In  kurzer  Zeit  würden  alle  Zweifel  schwinden. 

Also  nicht  diese  übermäßige  einseitige  Bevorzugung  des  Verstandes  und  Wissens, 
sondern  eine  harmonischere  Ausbildung.  Mehr  Zeit  für  die  Berücksichtigung  der 
jugendlichen  Natur  im  allgemeinen  und  der  Eigenart  der  einzelnen  Schüler.  Mehr 
Zeit  auch  für  Ausblicke  über  die  Schulmauern  hinweg  in  das  Leben,  aus  dem  die 
Jungen  kommen,  und  in  das  Leben,  dem  sie  entgegenreifen. 

Gr.-Lichterfelde.  August  Volkmar. 


Zu  Leuchtenbergers  „Vademecum". 

Leuchtenbergers  „Vademecum  für  junge  Lehrer"  hat,  soweit  mir  bekannt 
geworden,  überall  wohlverdiente  Anerkennung  gefunden.  Weniger  pädagogisch- 
didaktischen Reflexionen  als  der  Erfahrung,  der  Anschauung  dessen  entsprungen, 
was  junge  Lehrer  zu  bieten  und  zu  leisten,  aber  auch  zu  verfehlen  pflegen,  und 
was  andererseits  von  ihnen  gefordert  werden  muß,  leitet  es  sie  in  trefflicher  Weise 
zum  Verständnis  ihrer  Aufgabe  an  und  wird  voraussichtlich  besonders  den  päda- 
gogischen Seminaren  wertvolle  Dienste  leisten.  Da  mögen  den  Benutzern  des 
Büchleins  vielleicht  einige  Bemerkungen  und  Hinweise  nicht  unwillkommen  sein, 
die,  auch  der  Erfahrung  eines  Lehrerlebens  entnommen,  Punkte  in  der  Ausbildung 
des  jungen  Lehrers  berühren,  auf  die  in  dem  Büchlein  nur  knapp  und  kurz  hin- 
gewiesen oder  ganz  verzichtet  worden  ist. 

Zuvor  sei  eine  Bemerkung  gestattet.  Befremdend  wirkt,  wenn  sie  auch  an 
sogenannte  berühmte  Muster  erinnert,  die  Du-Anrede,  befremdend,*)  weil  sie  in 
geradem  Gegensatze  zu  der  Praxis  des  Lebens  steht.  Läßt  sich  auch  nicht  leugnen, 
daß  darin  ein  Moment  der  Herzlichkeit  liegt,  aus  dem  die  freundliche  Absicht 
des  Lehrenden  gegenüber  dem  zu  unterweisenden  jungen  Manne  wie  die  bestimmte 
Erwartung  einer  ebenso  freundlichen  Aufnahme  des  Gesagten  seitens  dieses  hervor- 


*)  Ich, stehe  hier  doch  zu  Leuchtenberger.  „Du"  ist  von  dem  Tage  der  Gesetz- 
gebung am  Sinai  die  Anrede  der  Ethik  wie  Pädagogik  und  seit  dem  ersten  Liebes- 
liede  die  poetische  Anrede.  Pädagogik  mit  Ethik  und  Poesie  im  Bunde  sprechen  für 
dieses  „Du".  Man  lasse  ihm  sein  herzliches  Dasein !  Einen  Kuß  braucht  man  nicht  gleich 
dabei  zu  verlangen.  Mtth. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  10 


146  F.  Thümen, 

leuchtet:  heutzutage  ist  das  patriarchalische  Verhältnis,  das  ein  solches  „Du" 
auslösen  könnte,  im  Verkehr  des  Vorgesetzten  mit  dem  jungen  Lehrer  undenkbar. 
Als  ich  vor  mehr  als  40  Jahren,  22  Jahre  alt,  auf  einige  Monate  zur  Aushilfe  an  das 
Gymnasium  einer  norddeutschen  Stadt  verlangt  wurde,  machte  ich,  der  Sitte 
der  kleineren  Stadt  gemäß,  sämtlichen  Mitgliedern  des  Magistrats,  des  Scholarchats, 
der  Geistlichkeit  den  üblichen  Besuch;  einer  der  letzteren,  ein  prächtiger  alter  Herr, 
dem  die  Herzensgüte  aus  Augen  und  Worten  sprach,  beendete  die  Unterhaltung  mit 
einem  „Du  geföllst  mi;  giv  mi  n'  Kuß!"  Kommt  dergleichen  noch  heute  vor? 
Ebensowenig,  meine  ich,  wie  das  „Du"  des  Vademecum.  Unter  allerhand  Einflüssen, 
auf  die  hier  nicht  eingegangen  werden  kann  noch  soll,  hat  in  den  verschiedensten 
Schichten  und  Beziehungen  der  Bevölkerung  zueinander  der  Patriarchalismus  dem 
gesetzlichen  Verhältnis  Platz  gemacht,  unleugbar  auch  auf  dem  Gebiete  der  Schule; 
und  dem  Rechnung  zu  tragen,  empfiehlt  sich  meines  Erachtens  mehr  als  das  Fest- 
halten an  dem,  was  der  Praxis  der  Gegenwart  widerspricht. 

Von  der  Schulzucht  im  allgemeinen  ist  in  dem  Büchlein  weniger  die  Rede 
als  von  der  im  Unterrichte.  Und  doch  halte  ich  ein  Wort  darüber  an  den  jungen, 
eben  eintretenden  Lehrer  für  durchaus  erwünscht,  besonders,  wenn  eigenartige 
Verhältnisse  wie  die  der  Größe  der  Stadt  und  der  Anstalt  oder  gar  die  Verschieden- 
heit des  Schülermaterials  in  nationaler  Beziehung,  nach  Konfessionen  oder  nach 
Ständen  ihren  Einfluß  nach  dieser  oder  jener  Richtung  geltend  machen.  Auch 
wenn  der  junge  Lehrer  nicht  der  Provinz  entstammt,  in  der  er  tätig  sein  soll,  wird 
ein  Hinweis  auf  die  Eigentümlichkeiten  in  der  Anlage  und  dem  Charakter  der 
Schüler  ihm  zustatten  kommen;  denn  gelegentlich  wird  deren  Tun  und  Treiben 
im  gegebenen  Falle  sich  anders  gestalten  in  Frankfurt  a.  M.  als  in  Berlin,  anders 
ihr  Verhalten  sein,  wenn  in  Vorpommern,  Hinterpommern  oder  Posen  ihre  Wiege 
gestanden  hat.  Im  Hinblick  auf  eigene  Erfahrungen  nun  habe  ich  die  zahlreichen 
und  vor  allem  häufig  wechselnden  Kandidaten  vor  Beginn  ihrer  Tätigkeit  etwa  nach 
folgender  Richtung  zu  unterweisen  für  meine  Pflicht  gehalten:  „Die  Disziplin 
an  der  Anstalt  ist  gut;  Sie  werden  Gelegenheit  haben,  sich  davon  zu  überzeugen. 
Nichtsdestoweniger  weise  ich  Sie  darauf  hin,  daß  für  den  jungen  Lehrer  an  einer 
großen  Anstalt  mit  stark  gefüllten  Klassen  mehr  als  anderswo  die  Gefahr  besteht, 
daß  unruhige  und  zu  Übergriffen  geneigte  Elemente  es  einmal  mit  dem  neuen  Herrn 
versuchen  werden.  Kommt  dergleichen  vor,  so  mache  ich  Ihnen  keinen  Vorwurf 
daraus,  da  Sie  eben  in  den  neuen  Verhältnissen,  in  die  Sie  eingetreten  sind,  nicht 
gleich  in  jedem  Augenblicke  über  die  einzunehmende  Haltung  klar  sein  werden; 
aber  aus  sachlichen  Gründen  rechne  ich  es  Ihnen  als  eine  Schuld  an,  wenn  Sie  ein 
solches  Vorkommnis  verschweigen.  Am  besten  werden  Sie  ja  abschneiden,  wenn 
Sie  mit  einem  strafenden  Blicke  oder  einem  kurzen  energischen  Worte  dem  Stören- 
fried zum  Bewußtsein  bringen,  daß  ihm  ein  ernster  Mann  gegenübersteht,  der  nicht 
gewillt  ist,  seinem  Ansehen  etwas  zu  vergeben  (Vademecum  S.9,  Kanon  65:  Selber 
ist  der  Mann !).  Ist  der  Zwischenfall  von  Ihnen  selbst  derartig  abgetan,  daß  eine 
Wiederholung  nicht  zu  befürchten  ist,  so  mögen  Sie  gelegentlich  dem  Ordinarius 
davon  Mitteilung  machen,  da  diesem  daran  gelegen  sein  muß,  über  jegliches  Ver- 
halten seiner  Schüler  stets  genau  unterrichtet  zu  sein.  Gelingt  es  Ihnen  aber  nicht, 
der  vorgekommenen  —  sagen  wir  allgemein  —  Ungezogenheit  das  wünschens- 


Zu  Leuchtenbergers  ,,Vademecum".  147 

werte  Ende  zu  bereiten,  wiederholen  sich  die  Fälle  bei  demselben  Schüler,  oder 
werden  andere  zur  Begehung  derselben  oder  ähnlicher  Ungebühr  angesteckt,  dann 
müssen  Sie  zunächst  dem  Ordinarius  davon  Kenntnis  geben,  damit  dieser  Ihnen 
den  rechten  Weg  der  Abhilfe  zeige  oder  selbst,  und  zwar  zumeist  unter  Benach- 
richtigung des  Direktors,  dem  Unfuge  steuere.  Unterlassen  Sie  das,  so  vergehen 
Sie  sich  an  der  ganzen  Anstalt.  Denn  der  Bazillus  der  Insubordination  —  um 
diesen  Sammelnamen  für  alle  Ungebühr  zu  gebrauchen  —  ist  wegen  seiner  raschen 
Verbreitung  höchst  gefährlich.  Ich  könnte  Ihnen  von  eigener  Erfahrung  aus  dem 
Probejahre  berichten,  wo  es  nur  unserem,  d.  h.  der  Kandidaten  energischem  Zu- 
sammenschlüsse und  Auftreten  gelang,  die  Übertragung  des  in  einer  bestimmten 
Klasse  einem  Hilfslehrer  gegenüber  zur  Gewohnheit  gewordenen  Lärms  und  weiterer 
Ungezogenheit  zu  verhindern;  die  Neigung  dazu  machte  sich  in  der  ganzen  Gruppe 
der  Klassen  neben,  vor  und  hinter  jener  breit.  Also,  außer  dem  Wunsche,  selbst 
möglichst  bald  das  Heft  in  die  Hände  zu  bekommen,  macht  die  Gefahr  einer  Schädi- 
gung der  allgemeinen  Disziplin  es  Ihnen  zur  Pflicht,  offen  und  vertrauensvoll  über 
solche  Vorkommnisse  mit  dem  Ordinarius  oder  dem  Direktor  oder  beiden  zugleich 
zu  sprechen.  Fürchten  Sie  nicht,  daß  durch  diese  offene  Darlegung  der  Verhält- 
nisse Ihnen  das  Zeugnis  am  Schlüsse  des  Jahres  könnte  verdorben  werden ;  gerade 
durch  jene  soll  dem  Unfuge  gesteuert,  sollen  Sie  zu  der  erforderlichen  Sicherheit 
und  Selbständigkeit  in  der  Behandlung  der  Schüler  erhoben  werden.** 

Wiederholt  ist  es  mir  vorgekommen,  daß  der  junge  Lehrer  offenbar  der  An- 
sicht huldigte,  er  müsse  sich  zu  den  Schülern  in  einer  mehr  als  freundlichen  Weise 
stellen,  die  man  als  kordial  bezeichnen  muß.  Sicherlich  darf  es  an  herzlichem 
Empfinden  seinerseits  nicht  fehlen;  noch  immer  ist  das  Wort  eines  alten  Pädagogen 
wahr,  daß  erst  „amare''  kommt,  welches  nach  der  ersten  Konjugation  geht,  dann 
erst  „docere''  nach  der  zweiten.  Aber  in  dem  Worte  „kordial"  liegt  auf  diesem 
Gebiete  etwas  Fehlerhaftes.  Die  Gutmütigkeit  des  Lehrers  gestattet'  den  Schülern 
allerhand  Dinge,  die  nicht  als  grobe  Vergehen  zu  bewerten  sind,  immerhin  jedoch 
Disziplin  und  Unterricht  zu  stören  und  schließlich  sein  Ansehen  zu  mindern  ge- 
eignet sind;  dahin  gehören  unberechtigte  Zwischenfragen,  die  Neigung,  bei  irgend- 
einer unpassenden  Gelegenheit  Erlebtes  vorzutragen,  ein  Umringen  des  Lehrers 
auch  im  Anfange  bei  seinem  Eintritte  in  das  Zimmer,  besonders  aber  am  Schlüsse 
der  Unterrichtsstunde,  namentlich  wenn  eben  eine  schriftliche  Arbeit  angefertigt 
worden  ist.  Und  die  Gutmütigkeit  des  Lehrers  weiß  nicht,  die  nötige  Schranke 
aufzurichten  und  die  Aufdringlichen  zurückzuweisen,  sondern  läßt  sie  gewähren, 
bis  schließlich  —  so  pflegt  nämlich  der  Ausgang  zu  sein  —  ein  Krach,  durch  vor- 
lautes oder  gar  freches  Wesen  hervorgerufen,  dem  Unfuge  ein  Ende  macht  und  den 
Lehrer  zu  der  Einsicht  führt,  daß  herzliches  Empfinden  niemals  in  Schwäche  aus- 
arten darf.  —  Auch  über  diesen  Punkt  könnte  das„Vademecum"  einige  Andeutungen 
enthalten. 

Das  Buch  behandelt  bei  der  Besprechung  der  deutschen  Aufsätze  fast  nur 
die  Frage  nach  der  Art  der  auf  den  verschiedenen  Klassenstufen  zu  stellenden 
Aufgaben,  unteriäßt  aber,  den  jungen  Lehrer  auf  einige  sozusagen  landläufige  Fehler 
bei  der  Korrektur  der  Arbeiten  hinzuweisen.  Da  gilt  es,  von  Anbeginn  der  Tätig- 
keit den  Satz  zu  befolgen:    „Das  Urteil  über  die  Arbeit  muß  in  bestimmter  und 

10* 


148  F.  Thümen,  Zu   Leuchtenbergers   ,,Vademecum". 

klarer  Form  abgegeben  werden",  eine  Forderung,  die  trotz  aller  Selbstverständlich- 
keit sehr  häufig  nicht  erfüllt  wird.  Für  die  Zensierung  pflegen  die  Nummern  der 
vierteljährlichen  Zeugnisse  verwendet  zu  werden,  1 — 5,  hier  und  da  mit  dem  Zu- 
geständnisse, daß  bei  2,  gut,  noch  ein  „im  ganzen  gut"  und  bei  3,  genügend,  ein 
„noch  genügend"  zugelassen  wird.  Jenes  soll  anzeigen,  daß  die  Arbeit  nach  Inhalt 
und  Form  unbedingt  den  zu  stellenden  Anforderungen  genügt,  nach  einer  Seite 
hin  darüber  sich  sogar  erhebt,  ohne  jedoch  das  höhere  Prädikat  voll  zu  erreichen; 
dieses,  daß  sie  nach  der  einen  Seite  hin  den  Anforderungen  nicht  ganz  entspricht, 
jedoch  in  der  anderen  Beziehung  als  einwandfrei,  im  ganzen  also  als  „genügend 
mit  Einschränkung"  oder  ,,noch  genügend"  zu  gelten  hat.  Mit  diesen  sieben  Prä- 
dikaten kann  die  Zensierung  in  ausreichendstem  Maße  vorgenommen  werden; 
werden  indessen  noch  andere  beliebt,  so  mag  auch  diese  Überfülle  zulässig  sein, 
jedoch  nur  unter  der  Bedingung,  daß  hierin  an  der  Anstalt  Einheitlichkeit  herrscht. 
Nun  macht  sich  aber  bei  jungen  Lehrern,  sowie  in  bezug  auf  die  vierteljährlichen 
Zeugnisse,  das  aus  einer  gewissen  Bequemlichkeit  oder  aus  mangelnder  Urteils- 
schärfe entspringende  Bestreben  geltend,  mit  Doppelnummern  den  Aufsatz  zu  be- 
werten, mit  2/3,  3/4  —  diese  sind  die  gebräuchlichsten  —  oder  die  einzelnen 
Nummern  mit  Zusätzen  zu  versehen:  „im  ganzen  noch  genügend",  „kaum  3/4", 
„fast  2",  „kaum  2"  —  letzteres  ein,  man  möchte  sagen,  unmögliches  und  doch 
vorgekommenes  Prädikat.  Derartige  Urteile  sind  wegen  der  Unklarheit,  die  sie 
beim  Schüler  über  seine  Leistung  hervorrufen,  durchaus  verwerflich;  jene  Doppel- 
nummern und  Zusätze  hindern  ihn,  eine  einwandfreie  Bewertung  seiner  Arbeit 
zu  gewinnen  und  anzugeben.  —  Den  jungen  Lehrer  hierauf  aufmerksam  zu  machen, 
und  ihn  für  alle  Arten  schriftlicher  Arbeiten  zur  Abgabe  des  Urteils  in  bestimmter 
und  klarer  Form  anzuhalten,  empfiehlt  sich  beim  Beginn  seiner  Tätigkeit. 

Unter  Aufsätzen  der  Untertertianer  fand  ich  zur  Begründung  des  durch  eine 
oder  zwei  Zahlen  gegebenen  Urteils  den  Zusatz:  ,, Nicht  logisch  genug".  Bei  der 
Besprechung  der  Arbeiten  mit  dem  betreffenden  Kandidaten  richtete  ich  an  ihn 
die  Frage:  ,,Was,  glauben  Sie  wohl,  versteht  ein  Untertertianer  unter  „logisch"? 
Würden  Sie  in  dem  Alter  gewußt  haben,  was  der  Lehrer  damit  sagen  wollte?  Also, 
wenn  Sie  löblicherweise  bei  der  Beurteilung  der  Aufsätze  den  Schüler  nicht  mit 
einer  einfachen  Zahl  abspeisen,  sondern  Ihr  Urteil  näher  begründen,  namentlich 
auf  die  begangenen  Fehler  hinweisen  wollen,  so  wenden  Sie  erstens  keine  Fremd- 
wörter an  und  zweitens,  bleiben  Sie  bei  diesen  Ausführungen  stets  innerhalb  des 
Verständnisses  des  Schülers.  Mag  es  auch  nicht  immer  bequem  sein,  ein  Fremd- 
wort, das  sich  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  auch  in  unserer  Sprache  fest  ein- 
gebürgert hat,  in  gleicher  Knappheit  wiederzugeben:  besser  ist  es,  es  so  zu  um- 
schreiben, daß  seine  Bedeutung  dem  jugendlichen  Fassungsvermögen  klar  wird, 
als  es  in  der  fremden  Hülle  zu  gebrauchen.  Hier  also:  Die  Folge  der  Gedanken 
ist  nicht  immer  richtig;  oder  ähnliches.  —  Gerade  im  deutschen  Unterrichte  werden 
Sie  ihr  Augenmerk  darauf  richten  müssen,  weder  selbst  Fremdwörter  anzuwenden, 
wenn  Sie  deren  Kenntnis  bei  den  Schülern  nicht  voraussetzen  können,  noch  solche 
von  dieser  Seite  zuzulassen;  ich  erinnere  an  das  bei  den  Primanern  beliebte  „ästhe- 
tisch", das  ihnen  ein  unverstandener  Begriff  ist,  wenn  ihnen  nicht  einmal  die 
genetische    Entwicklung   des  Wortes,   der    Gebrauch   des    aia^dvoiAai    auf    rein 


H.  Sommermeier,  Zum  deutschen  Unterricht.  149 

sinnlichem  bis  zu  dem  auf  dem  Gebiete  der  schönen  Kunst  klar  gemacht  wor- 
den ist*'. 

Ich  schließe  diese  Ausführungen,  die,  ebenfalls  der  Erfahrung  entsprungen, 
als  ein  bescheidener  Beitrag  zu  dem  genannten  Büchlein  angesehen  zu  werden 
wünschen. 

Naumburg  a.  S.  F.  T  h  ü  m  e  n. 


Zum  deutschen  Unterricht. 

(Einige  Bemerkungen  zu  Buddes  Aufsatz  gleichen  Titels  im  Dezemberheft  dieser 

Monatschrift.) 

Es  handelt  sich  um  die  Behandlung  der  Dramen  im  Deutschunterricht  der 
höheren  Schulen. 

Die  Gedanken  oder,  besser,  der  Gedanke,  den  Budde  vertritt,  ist  folgender: 
„Das  Kunstwerk  soll  dem  Schüler  nahegebracht  werden  durch  ausdrucksvolles 
Vorlesen  des  Lehrers  und  gleiches  Nachlesen  des  Schülers.  Nur  dadurch  wirkt  es 
unmittelbar  auf  Gefühl  und  Anschauung,  und  das  ist  seine  erste  Bestimmung. 
Erst  wenn  das  geschehen  ist,  soll  die  Erklärung  und  Inhaltsangabe  einsetzen, 
und  zwar  soll  die  Erklärung  sich  auf  das  Allernotwendigste  beschränken,  damit 
der  erste  unmittelbare  Eindruck  durch  sie  nicht  gestört  wird." 

Dieser  methodische  Gang  ist  für  die  Gedichte  wohl  allgemein  angenommen, 
wenn  man  nicht  die  Erklärung  gleich  mit  der  Vorbereitung  verbindet,  nur 
zieht  man  es  vor,  die  Schüler  erst  nach  der  Besprechung  lesen  zu  lassen,  aus 
dem  einfachen  Grunde,  weil  zum  ausdrucksvollen,  also  verständnisvollen  Lesen 
eben  Verständnis  gehört,  das  man  nur  bei  den  wenigsten  Schülern  gleich  nach 
der  Darbietung  des  Gedichtes  durch  den  Lehrer,  und  wenn  dessen  Vortrag  auch 
noch  so  vollendet  war,  erwarten  kann. 

Warum,  muß  man  sich  fragen,  ist  in  den  methodischen  Bemerkungen  zu  den 
Lehrplänen  —  denn  diese  sind  es  ja,  die  in  dem  Standpunkte  des  Kandidaten 
bei  Budde  unschwer  zu  erkennen  sind  —  nun  bei  den  Dramen  diese  Art  der  Be- 
handlung aufgegeben  worden?  Dort  heißt  es  bekanntlich:  „Die  gelesenen  Epen 
und  Dramen  sind  nach  ihrem  Aufbau  und  den  Charakteren  der  handelnden  Per- 
sonen zu  einem  volleren  Verständnis  zu  bringen.  Nicht  ratsam  ist  es, 
ein  Drama  von  Anfang  bis  zu  Ende  in  der  Klasse  zu  lesen. 
Das  Lesen  mit  verteilten  Rollen  ist  nur  in  sehr  be- 
schränktem Maße  bei  besonders  geeigneten  Szenen  und 
in  der  Regel  erst  nach  der  Besprechung  und  nach  or- 
dentlicher Vorbereitung  von   Nutzen." 

Die  Gründe  für  diese  verschiedene  Behandlung  von  Geeicht  und  Drama  — 
und  Epos,  das  man  hier,  wie  in  den  „Bemerkungen",  auch  hinzunehmen  könnte  — 
lassen  sich  bei  einigem  Nachdenken  klar  erkennen:  Sie  beruhen  vor  ailem  auf 
ihrem  verschiedenen  Umfange.  Hier  das  Gedicht,  das  in  einer  Stunde  dem  Schüler, 
als  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes  nahegebracht  werden  kann,  dort  das  umfang- 
reiche Drama,  das  im  Unterricht  nur  eine  bruchstückweise  Behandlung   zuläßt 


150  H.  Sommermeier, 

hier  ein  Kunstwerk,  das  der  Schüler  schon  beim  Vortrage  des  Lehrers  leicht  über- 
blickt, dort  eine  Folge  von  Teilen,  die  durch  die  Besprechung  und  Erläuterung 
immer  wieder  in  Zusammenhang  gebracht  werden  müssen.  Beim  Gedicht  kleineren 
Umfangs  hat  der  Vortrag  des  Lehrers  Zweck,  denn  da  kann  wirklich  der  Stimmungs- 
gehalt der  ganzen  Dichtung  wirken,  beim  Drama  könnte  dies  Ziel  nur  erreicht 
werden,  wenn  es  möglich  wäre,  das  ganze  Kunstwerk  im  Zusammenhang  dar- 
zubieten. Es  könnten  hier  höchstens  Teile  in  Betracht  kommen,  die  schon  in  sich 
abgeschlossene  Kunstwerke  mit  eigenem  Stimmungsgehalt  sind.  Solche  Stellen 
recht  auszuwählen,  muß  sich  der  Lehrer  des  Deutschen  allerdings  angelegen  sein 
lassen. 

Zu  diesen  Erwägungen  kommt  noch  eine  rein  technische  Schwierigkeit,  die 
auch  mit  dem  Umfang  des  Dramas  zusammenhängt:  Man  stelle  sich  vor,  daß 
ein  Werk  wie  „Wilhelm  Teir*  oder  die  „Jungfrau  von  Orleans",  von  der  „Wallen- 
stein-Trilogie*'  gar  nicht  zu  reden,  nach  Buddes  Vorschlägen,  d.  h.  Vortrag  des 
Lehrers,  Nachlesen  der  Schüler  und  Erklärung,  behandelt  würde.  Ich  halte  es 
für  ausgeschlossen,  daß  dann  ein  Vierteljahr,  d.  h.  22 — 25  Kurzstunden  zu  45  Mi- 
nuten, genügen  würde.  Und  hier  ist  noch  ein  langes  zu  10  Wochen  angenommen 
worden,  und  für  die  Durchnahme  der  Aufsätze,  die  doch  nun  auch  einmal  ihren 
Platz  verlangen,  und  ihre  Besprechung  bei  der  Rückgabe  habe  ich  nur  5  Stunden 
angesetzt,  ganz  zu  schweigen  von  den  freien  Vorträgen.  Wir  sehen,  auch  aus  diesem 
Grunde  muß  sich  das  Lesen,  das  durchaus  nicht  verpönt  ist  —  auch  nicht  in  den 
Lehrplänen  —  und  auch  beibehalten  werden  muß,  schon  um  die  Schönheit  der 
Sprache  voll  zu  empfinden,  beschränken  auf  besonders  geeignete  Stellen.  Sie 
können  dann  auch  von  den  Schülern,  n  a  c  h  der  Erklärung,  mit  verteilten  Rollen 
gelesen  werden. 

Eine  Gefahr,  die  dem  Lehrer  beim  Vortrag  dramatischer  Szenen  droht,  näm- 
lich bei  der  Wiedergabe  der  verschiedenen  Stimmen,  die  Lachlust  seiner  Schüler 
zu  erwecken,  soll  nur  erwähnt  werden;  sie  kann  man  bei  einiger  Übung  ja  ver- 
meiden. 

Aus  diesen  zeitlichen  Schwierigkeiten  ergibt  sich  umgekehrt  die  Notwendig- 
keit, es  der  häuslichen  A-beit  des  Schülers  zuzuweisen,  sich  mit  dem  Inhalt  des 
Stückes  vertraut  zu  machen.  Budde  bekämpft  diese  Art  aufs  heftigste,  denn  so 
könne  die  Dichtung  nicht  unmittelbar  auf  Anschauung  und  Gefühl  wirken.  Ob 
ein  tieferer  Eindruck  erzielt  würde,  wenn,  wie  Budde  verlangt,  dem  Schüler  in 
jeder  Stunde  zwei  oder  drei  Szenen  vorgetragen  würden,  wage  ich  zu  bezweifeln. 
Außerdem  glaube  ich  sowieso  nicht,  daß  der  Vortrag  des  Lehrers  der  erste  Ein- 
druck ist,  den  der  Schüler  von  dem  Drama  empfängt.  Ich  glaube,  daß  jeder  geistig 
einigermaßen  rege  Schüler,  sobald  mit  der  Lektüre  des  Dramas  begonnen  worden 
ist,  dies  schon  aus  Interesse  an  den  bloßen  Ereignissen  zu  Hause  durchlesen  oder, 
besser,  durchfliegen  wird.  Daneben  hat  diese  häusliche  Aufgabe  auch  den  Zweck, 
den  Schüler  zu  veranlassen,  sich  einmal  ein  größeres  Stück  im  Zusammenhange 
genau  durchzulesen,  was  bei  bloßer  Klassenlektüre  kaum  möglich  wäre.  Daß  durch 
diese  Inhaltsangabe,  die  natürlich  im  fließenden  Vortrage  zu  erfolgen  hat,  noch 
einer  anderen  Forderung,  die  an  den  deutschen  Unterricht  gesteht  wird,  genügt 
wird,  nur  nebenbei. 


Zum  deutschen  Unterricht.  151 

Mit  bitterem  Spott  wendet  sich  Budde  schließlich  gegen  die  nach  seiner  An- 
sicht wohl  allgemein  geübte,  veraltete  rationalistische  Methode,  die  ein  Stück 
nur  Verstandes  mäßig  dem  Schüler  näherbringen  will.  Ich  hoffe,  man  kann  ein 
Drama  auch  anders  erklären  als  trocken  und  rein  verstandesmäßig.  Hier  hat  die 
Persönlichkeit  des  Lehrers  und  die  Kunst,  ein  Dichtwerk  nachzuempfinden,  ein 
ebenso  großes  Feld  zur  Betätigung  wie  bei  dem  von  Budde  geforderten  Vortrage. 
Daß  hier  viel  gesündigt  worden  ist  und  vielleicht  auch  noch  wird,  will  ich  durch- 
aus nicht  leugnen,  nun  aoer  darum  eine  eingehende  Erläuterung  zugunsten  des 
Vortrages  und  Nachlesens  von  Grund  auf  zu  verdammen,  ist  sicherlich  zu  weit 
gegangen.  Was  kommt  denn  eigentlich  bei  der  Vorlesung  des  Lehrers  zur  Geltung? 
Doch  die  Sprache  des  Dichters  und  der  Stimmungsgehalt  des  Werkes,  d.  h.  alle 
die  Faktoren,  die  auf  das  Gefühl  des  Schülers  wirken.  Beruht  aber  auf  ihnen  allein 
oder  wenigstens  vor  allem,  wie  Budde  sagt,  der  Wert  und  die  Schönheit  eines  klas- 
sischen Dramas?  Doch  sicher  nicht!  Der  Aufbau  der  Handlung  und  die  Zeich- 
nung der  Charaktere  muß  gewürdigt  werden,  wir  würden  sonst  unseren  gewal- 
tigen Dramatikern  bitter  unrecht  tun.  Wie  bald  würde  dann  ein  gefühlsseliges 
Drama  mit  locker  zusammengefügten  Szenen  und  nur  eben  angedeuteten  Charak- 
teren, dafür  aber  in  hübschen  Versen  geschrieben  oaer  origineller  Prosa,  über 
unsere  besten  gestellt  werden.  Und  vor  allem  die  sittliche  Grundidee  muß  her- 
ausgearbeitet werden.  Nicht  umsonst  sollen  die  größten  unserer  Nation  ihre  er- 
habensten Gedanken  in  diese  Werke  gelegt  haben.  Wie  ist  dies  alles  möglich,  vor 
allem 'bei  Verteilung  der  Besprechung  auf  einzelne  Stunden,  wenn  man  eine  ein- 
gehendere Erläuterung  ausschließen  will?  Und  eins  darf  man  nicht  vergessen: 
Die  Schüler,  mit  denen  wir  diese  Dramen  lesen,  sind  mit  ihren  15 — 18  Jahren 
doch  noch  keine  reifen  Menschen,  ihnen  muß  der  Lehrer  als  Führer  zur  Seite  stehen. 
Wenn  diese  Führung  mit  weisem  Maßhalten,  in  begeisterter  und  begeisternder 
Weise  geschieht,  so  wird  unseren  Jünglingen  dadurch  das  Stück  nicht  verekelt, 
wie  Budde  behauptet,  sondern  es  wird  jetzt,  da  all  die  Schätze,  die  in  ihm  ruhen, 
gehoben  worden  sind,  erst  recht  gewürdigt  werden.  Ich  glaube,  daß  auch  eine  solche 
Art  der  Behandlung  unserer  Meisterdramen  Kunsterziehung  ist  und  nicht  einer 
solchen  Erziehung  systematisch  entgegenarbeitet.    Denn  „die  Dichtkunst  wendet 

sich  an  den  ganzen  Menschen,  nicht  bloß  an  einen  einzelnen  Sinn Sie 

wendet  sich  an  den  ganzen  intellektuell,  sittlich  und  ästhetisch  empfindenden 
Menschen Wir  dürfen  nicht  übersehen,  daß  mit  der  ästhetischen  Er- 
ziehung, und  zum  Teil  sogar  durch  sie,  auch  eine  starke  Willenserziehung  unserer 
Nation  vorhander  sein  muß,  damit  nicht  bloß  schön  empfindende  Männer  und 
Frauen  unserem  Vaterlande  erstehen  mögen,  sondern  auch  sittlich  große  Menschen". 
(Dr.  Kerschensteiner  auf  dem  2.  Kunsterziehungstage  in  Weimar  1903.) 

Daß  auch  die  von  mir  hier  verteidigte  Methode  dem  Drama  unserer  Klassiker 
nicht  ganz  gerecht  wird,  gebe  ich  gern  zu:  Auch  sie  muß  ergänzt  werden  durch  die 
Bühne,  denn  für  das  Theater  sind  diese  Dichtungen  zunächst  geschrieben  worden. 
Und  mit  Freude  kann  man  immer  wieder  sehen,  daß  bei  der  Aufführung  von 
klassischen  Stücken  der  größte  Teil  der  Zuhörerschaft  aus  Schülern  und  Schüle- 
rinnen besteht.  Ich  möchte  diese  Erscheinung  nicht,  wie  man  nach  Buddes  Aus- 
führungen meinen  müßte,  für  einen  Protest  halten  gegen  die  Behandlung,  die 
diese  Dichtungen  in  der  Schule  erfahren,  sondern  eher  für  die  Frucht  derselben 


152  O.  Rückert, 

Ich  bin  am  Schluß.  Erschöpfend  sollten  meine  Bemerkungen  nicht  sein,  nur 
soviel  glaube  ich  gezeigt  zu  haben,  daß  Buddes  Vorschläge,  in  so  energischem 
Tone  er  sie  auch  vorbringt,  abzulehnen  sind.  Er  begeht  den  Fehler,  eine  Methode, 
die  für  einfachere  lyrische  und  kurze  epische  Dichtungen  geeignet  ist,  auch  auf 
Dramen  anwenden  zu  wollen,  die  ihrem  Umfang  und  Gehalt  nach  doch  eine  andere 
Behandlung  erfordern.  Mit  seinen  Angriffen  gegen  die  übliche  Art  der  Lektüre 
geht  er  zu  weit.  Ich  glaube  bestimmt,  daß  die  Art,  deutsche  Dramen  zu  lesen,  wie 
er  sie  vorauszusetzen  scheint,  jetzt  zu  den  Seltenheiten  gehört;  denn  ich  weiß, 
daß  meine  Fachgenossen  sich  die  Fähigkeit  bewahren,  sich  an  den  Werken  eines 
Schilder  und  Goethe  zu  begeistern,  dann  aber  ist  es  ihnen  unmöglich,  ihren  Schülern 
diese  Dichtungen  durch  öde,  rein  verstandesmäßige  Paukerei  zu  verekeln. 

Neues  wollte  ich  nicht  bringen*),  ebensowenig,  wie  ja  Budde  neue  Gedanken 
geben  wollte.  Ich  hielt  es  aber  für  angebracht,  daß,  nachdem  einmal  derartige 
Forderungen  von  neuem  in  dieser  Monatschrift  erhoben  wurden,  auch  an  diesem 
Orte  dazu  Stellung  genommen  wurde. 

Halberstadt.  H  e  rm.    S  o  m  m  e  r  m  e  i  e  r. 


Bemerkungen   zur  Erweiterung   des  Kreises  der  lateinischen 

Schulschriftsteller. 

Wenn  ich  im  folgenden  den  schon  öfters  erwogenen  Vorschlag  vertrete,  der 
Kreis  unserer  lateinischen  Schulautoren  möge  erweitert  werden,  so  will  ich  mich 
von  vornherein  zunächst  dagegen  wenden,  daß  etwa  der  bisherige  Grundstock 
zerstört  wird.  Die  Prosaiker  Cicero,  Caesar,  Livius,  Sallust,  Tacitus  und  die  Dichter 
Vergil,  Horaz  und  (mit  Einschränkung)  Ovid  müssen  als  die  bewährte  Grundlage 
unseres  Lateinbetriebes  beibehalten  werden.  Meine  Bedenken  richten  sich  nament- 
lich darauf,  daß  die  lateinische  Lektüre  nach  unseren  Lehrplänen  auf  einen  engen 
Kreis  von  Schriftstellern  ausdrücklich  beschränkt  ist.  Für  die  neueren  Sprachen, 
besonders  für  Französisch  und  Englisch,  geben  unsere  Lehrpläne  in  dieser  Hinsicht 
größere  Freiheit.  Sie  verpflichten  zur  Behandlung  der  namhaftesten  Klassiker 
und  gewähren  doch  die  Möglichkeit,  auch  anderen  geeigneten  Lesestoff  heranzu- 
ziehen. Für  den  Neuphilologen  ergibt  sich  daraus  der  Antrieb,  fleißig  Umschau 
zu  halten  in  der  neueren,  auch  in  der  zeitgenössischen  Literatur.  Das  wirkt  er- 
frischend und  anregend  auf  den  Lehrer  und  damit  auch  auf  den  Unterricht.  Der 
Altphilologe  hat  nach  den  Lehrplänen  nur  für  das  Griechische  einen  gewissen 
Spielraum.  Der  Lateinlehrer  kann  zwar  auch,  wenn  er  die  Arbeit  der  Wissenschaft 
weiter  verfolgt,  seinen  lateinischen  Klassikern  neue  Seiten  abgewinnen,  aber  ohne 
Zweifel  gerät  durch  die  Beschränkung  des  Lesestoffes  der  lateinische  Unterricht 
in  die  Gefahr  einer  gewissen  Erstarrung.  Im  engen  Kreis  verengert  sich  der  Sinn. 
Es  sollten  dem  Altphilologen,  dessen  Wissenschaft  ohnehin  nicht  eine  so  innige 

*)  Vgl.  u.a.;    Monatschrift  für  höhere  Schulen   IIl,  S.    9  u.  10.    Matthias,  Hand- 
buch des  deutschen  Unterrichts   I,  3,  S.  8  ff. 


Bemerkungen  zur  Erweiterung  des  Kreises  der  lateinischen  Schulschriftsteller.     153 

Fühlung  mit  der  Gegenwart  hat,  Wege  eröffnet  werden,  diese  Gefahr  der  Erstarrung 
zu  meiden. 

Freilich  soll  die  alte  Wahrheit  „nön  multa,  sed  multum''  auch  weiterhin  unseren 
höheren  Schulen  heilig  bleiben.  Die  lateinischen  Schulautoren  bieten  in  ihrer 
Gesamtheit  ein  geschlossenes  Ganzes;  sie  führen  in  eine  an  geistigen  Werten  reiche 
zusammenhängende  Periode  des  Altertums  ein.  Mannigfache  Fäden  laufen  von 
einem  zum  andern.  Würde  unbeschränkte  Freiheit  in  der  Wahl  der  Lektüre  ein- 
treten, dann  könnte  leicht  ein  Vielerlei  ohne  Zusammenhang  und  damit  ohne  aus- 
reichende Möglichkeit  der  Befestigung  und  Vertiefung  den  jugendlichen  Geist 
verwirren.  Auch  aus  diesem  Grunde  ist  zu  wünschen,  daß  die  jetzigen  Schulschrift- 
steller den  Hauptanteil  an  der  Lektüre  behalten.  Aber  daneben  sollte  die  Freiheit 
bestehen,  auch  andere  Schriftsteller  heranzuziehen. 

Ich  will  unter  den  Gründen  nicht  nur  die  aus  dem  Wechsel  folgende  Belebung 
der  Arbeit  anführen.  Wesentlich  scheint  mir  auch,  daß  in  den  Schulschriftstellern* 
manche  Seite  des  antiken  Lebens,  die  der  Betrachtung  wert  ist,  nicht  ausreichend 
zur  Geltung  kommt.  Wenn  ein  lateinisches  Lesebuch  in  Gebrauch  käme,  das  auch 
Abschnitte  aus  C  a  t  o  s  Landwirtschaftsbuch  oder  aus  Vergils  Georgica 
enthielte,  so  würden  unsere  Schüler  auch  ein  Bild  von  römischem  Landbau  und 
Landleben  erhalten  können;  man  wird  das  nicht  für  unwichtig  halten,  wenn  man 
bedenkt,  daß  die  Römer  von  Haus  aus  ein  Bauernvolk  waren,  das  in  seiner  großen 
Zeit  aus  dem  Zusammenhang  mit  der  Scholle  und  aus  seinen  patriarchalischen 
bäuerlichen  Institutionen  immer  wieder  neue  Kraft  gewann. 

Bedauerlich  ist  es  auch,  daß  T  e  r  e  n  z  in  den  preußischen  Gymnasien  nicht 
gelesen  wird.  Ich  meine,  daß  auch  heute  oder  gerade  heute  die  Bemerkungen 
Geltung  haben,  die  Dziatzko  in  der  Vorrede  zur  ersten  Auflage  seiner  Phormio- 
Ausgabe  gemacht  hat:  „Die  Stücke  eines  Plautus  und  Terenz  sind  n^eines  Erachtens 
für  die  Schule  ein  besonders  geeignetes  Bildungsmittel.  Sie  gewähren  einmal 
in  anziehender  Lektüre  ein  unmittelbares  und  anschauliches  Bild  einer  Seite  des 
antiken  Lebens,  welche  sonst  auf  der  Schule  nur  gelegentliche  Erwähnung  findet; 
sodann  aber  bieten  sie  namentlich  in  formaler  Beziehung  einen  reichen  Stoff,  um 
in  die  Entwicklung  der  lautlichen  und  syntaktischen  Gesetze  der  lateinischen 
Sprache  den  Schüler  einzuführen,  ihn  zu  einer  historischen  Auffassung  der  Gram- 
matik anzuleiten."  Heute  könnten  wir,  da  wir  gern  den  Kulturzusammenhängen 
zwischen  Antike  und  Neuzeit  nachgehen,  noch  auf  den  Einfluß  hinweisen,  den 
die  römische  Komödie  auf  die  Weltliteratur  ausgeübt  hat.  Die  Beziehungen  zu 
Moliere  und  Shakespeare  und  schließlich  auch  zur  deutschen  Bühne  lassen  sich  leicht 
verfolgen.  Literarische  Zusammenhänge,  insbesondere  mit  dem  deutschen  Schrift- 
tum (Lessing,  Goethe,  Schiller),  lassen  sich  auch  bei  der  Lektüre  von  M  a  r  t  i  a  1  s 
Epigrammen  nachweisen.  Aber  auch  die  Art  und  Weise,  wie  Martial  römisches 
Volksleben  zur  Kaiserzeit  witzig  betrachtet  und  verspottet,  ist  des  Interesses  nicht 
unwert.  Mehr  als  einige  Proben  wird  man  freilich  von  ihm  nicht  geben  wollen. 
Dagegen  kann  S  e  n  e  c  a  eine  eingehendere  Lektüre  gewidmet  werden.  An  seine 
philosophischen  Schriften,  besonders  an  die  epistulae  morales  ad  Lucilium,  läßt 
sich  die  Besprechung  von  Weltanschauungsfragen  anknüpfen.  Von  hier  aus  lassen 
sich   Verbindungslinien  zur  christlichen  Ethik  herstellen,  die  eine  gerechte  Wür- 


154  O.  Rückert, 

digung  der  antiken  Sittlichkeit  ermöglichen,  die  aber  auch  erkennen  lassen,  daß 
selbst  die  ernstesten  Verfechter  derselben  von  der  christlichen  Ethik  noch  durch 
eine  weite  Kluft  getrennt  sind. 

Von  Q  u  i  n  t  i  1  i  a  n  ,  dessen  geistschärfenden  Wert  bekanntlich  Friedrich 
der  Große  als  für  die  Schule  bedeutsam  erkannt  hat,  würde  zwar  nur  das  X.  Buch 
zu  empfehlen  sein,  aber  dieses  mit  gutem  Grunde,  weil  es  einen  Einblick  eröffnet 
in  die  Rhetorenschulen  und  ihre  Bildungsbestrebungen  und  überhaupt  in  die  Werk- 
stätte antiker  Geistesarbeiter.  Besonders  schätzbar  ist  auch,  daß  wir  hier  einen 
Überblick  über  das  antike  Schrifttum  vom  Standpunkte  des  antiken  Lehrers  er- 
halten, wie  wir  ihn  sonst  in  dieser  Weise  überhaupt  nicht  besitzen. 

In  die  mit  Augustus  anhebende  und  von  den  tüchtigsten  Caesaren  in  recht 
ernster  Weise  fortgeführte  Kulturarbeit  der  Kaiserzeit,  die  sich  aus  Horaz  und  auch 
aus  dem  politisch  dissentierenden  Tacitus  durchaus  nicht  genügend  erkennen  läßt, 
insbesondere  in  die  im  allgemeinen  als  segensreich  erkannte  Pro vinzial Verwaltung 
führt  uns  des  P 1  i  n  i  u  s  Briefwechsel  mit  T  r  a  j  a  n.  Von  Trajan  gilt  in  höchstem 
Maße,  was  v.  Domaszewski  (Geschichte  der  römischen  Kaiser.  Leipzig  1909. 
I,  S.  5)  von  den  besten  Caesaren  sagt:  „Der  Kaiser  ist  nicht  nur  der  erste  Diener 
des  Staates,  sein  ganzes  Leben  ist  die  Hingabe  an  die  Last  eines  Amtes,  das  nur 
durch  die  strengste  Pflichterfüllung  zu  tragen  war."  Auf  unsere  nach  realpolitischem 
Denken  strebende  Zeit  kann  schon  die  schlichte,  streng  sachliche  Sprache  Trajans 
ihre  Wirkung  nicht  verfehlen.  Nicht  minder  eindrucksvoll  aber  ist  die  ruhige 
Sicherheit  und  die  tiefgehende  Sachkenntnis,  mit  der  er  seine  Entscheidungen 
trifft,  und  die  wahrhaft  friderizianisch  anmutende  Pflichttreue.  Jede  Anfrage 
des  Statthalters  läßt  den  interessierten  Leser  mit  Spannung  erwarten,  in  welcher 
Weise  der  kaiserliche  Entscheid  erfolgen  wird.  Diese  Lektüre  kann  ich  unseren 
reiferen  Schülern  nur  aufs  dringendste  wünschen. 

Voraussetzung  für  die  hier  angedeutete  Erweiterung  des  Kanons  ist  aller- 
dings, daß  in  einem  lateinischen  Lesebuch  geeignete  Abschnitte  aus  den  genannten 
Schriftstellern  zusammengestellt  werden,  wie  wir  ja  ähnliche  Werke  für  die  neueren 
Sprachen  und  fürs  Griechische  in  dem  rühmlichst  bekannten  Werk  von  Wilamowitz 
bereits  besitzen.  In  Verbindung  mit  den  in  den  Kanon  aufgenommenen  Schrift- 
stellern würde  es  den  Schülern  ein  ausreichendes  Gesamtbild  vom  römischen  Schrift- 
tum in  seinen  charakteristischen  Vertretern  zur  Verfügung  stellen  können. 

Durch  solche  Ergänzungen  der  Schullektüre  wird  aber  auch  das  Bestreben 
gefördert,  unserem  humanistischen  Unterricht  wieder  reichere  Beziehungen  zur 
Gegenwart  zu  verschaffen.  Eine  Arbeit  nach  der  Weise  ,,1'art  pour  l'art*'  würde 
allmählich  das  Absterben  des  altsprachlichen  Unterrichts  herbeiführen.  Was  dem 
altsprachlichen  Unterricht  nottut,  und  wie  ihm  geholfen  werden  kann,  zeigt  uns 
Cauers  „Palaesira  vitae'\  „Es  gilt  —  so  heißt  es  im  Vorwort  (2.  Aufl.)  S.  VII  f.  — , 
dem  altklassischen  Unterricht  innerlich  neuen  Boden  zu  gewinnen,  den  Geist  des 
Altertums  mit  dem  ganz  modernen  Geiste,  der  heute  lebt  und  als  lebender  sein 
Recht  hat,  in  engste  Beziehung  zu  bringen,  daß  sie  sich  gegenseitig  befruchten." 
Das  Altertum  h  a  t  in  der  Tat  engere  Beziehungen  zur  Gegenwart,  als  der  Ober- 
flächliche ahnt  und  der  Befangene  zugeben  will.  Diese  Beziehungen  fühlbar 
zu  machen  und  dadurch  den  altsprachlichen  Unterricht  mit  Licht  und  Leben  zu 


Bemerkungen  zur  Erweiterung  des  Kreises  der  lateinischen  Schulsciiriftsteller.     155 

erfüllen,  ist  unsere  Aufgabe.  Ähnlich  also  wie  etwa  der  Grundsatz  der  Anschauung 
oder  der  logischen  Entwicklung  muß  im  Unterricht  auch  das  Gegenwartsprinzip 
eine  maßgebende  Bedeutung  erlangen.  Die  ,,Palaestra  vitae''  zeigt  uns  an  einer 
Reihe  von  Beispielen  aus  wichtigen  Lebensgebieten  eine  eigenartige  Behandlung 
der  Lektüre,  die  überall  an  die  Antike  Fragen  des  gegenwärtigen  Lebens  anknüpft. 
,, Latein  und  Leben*',  so  läßt  sich  die  hier  ausgesprochene  Notwendigkeit  für  den 
hier  vorliegenden  Zweck  kurz  festlegen.  Ist  diese  Notwendigkeit  aber  anerkannt 
und  wird  ihr  durch  die  Behandlung  der  Lektüre  Rechnung  getragen,  dann 
muß  auch  schon  die  Auswahl  der  Lektüre  danach  bemessen  werden. 
Unergiebige  Schriften  oder  Abschnitte,  aber  auch  Einförmigkeit  wird  man  ver- 
meiden. Caesars  Bürgerkrieg  würde  ich  daher  am  liebsten  ganz  entbehren.  Dagegen 
ist  der  Gallische  Krieg  eine  Fundgrube  für  lebensvollen  Unterricht.  Freilich  kann 
er  auch  unfruchtbar  werden,  wenn  man  sich  nach  der  recht  äußerlichen  Bücher- 
einteilung richtet  und  nun  einen  gallischen  „Aufstand'*  nach  dem  anderen  durch- 
arbeitet, anstatt  aus  dem  Ganzen  charakteristische  Bilder  herauszuheben.  Nimmt 
man  dagegen  einzelnes  heraus,  also  etwa:  Bilder  vom  Landkrieg  und  Seekrieg, 
die  ethnographischen  Abschnitte  über  Kelten  und  Germanen,  sowie  die  römisch- 
germanischen  Kämpfe,  endlich  das  Wesentliche  vom  letzten  großen  Freiheits- 
kampf —  dann  hat  man  immer  wieder  Gelegenheit,  Beziehungen  zu  den  Belangen 
unserer  heutigen  Kultur  herzustellen.  Für  Realgymnasien  gewinnt  man  nebenbei 
noch  den  Vorteil,  daß  die  Schüler  einen  Durchblick  durch  das  ganze  Werk  erhalten, 
während  ihnen  sonst  Wertvolles  verborgen  bleibt,  weil  sie  eben  die  bestimmten 
Bücher  von  A — Z  lesen  müssen,  mit  allem  Wichtigen  und  Unwichtigen. 

Besteht  nun  die  Freiheit,  auch  nichtkanonische  Schriftsteller  heranzuziehen, 
dann  wird  bei  der  Auswahl  auch  die  Frage  zu  berücksichtigen  sein:  Bietet  dieser 
Schriftsteller  Beziehungen  dar  zur  Gegenwart?  Der  Unterricht  soll  freilich  Mode- 
meinungen ruhig  ihre  Wege  dahinflattern  lassen,  aber  große  Gedanken,  die  die  Zeit 
bewegen,  kann  er  nicht  ungestraft  mißachten.  Als  Beispiel  führe  ich  den  Gedanken 
der  staatsbürgerlichen  Erziehung  an.  „Erziehung  zum  bewußten  Staatsbürgertum", 
das  ist  zweifellos  ein  ernstes,  von  den  großen  Völkern  anerkanntes  Streben  unserer 
Zeit;  es  ist  notwendig  geworden  und  als  notwendig  —  übrigens  nicht  erst  seit  zwei 
oder  drei  Jahren  —  erkannt,  weil  eben  die  Völker  politisch  geworden  sind.  Wie  man 
Gedanken  aus  diesem  Gebiet  an  die  Schriftsteller  des  griechischen  und  römischen 
Altertums  anknüpfen  kann,  zeigt  uns  auch  wieder  die  „Palaestra  vitae*'.  Im  Be- 
reich der  lateinischen  Literatur  geben  Cicero,  Caesar,  Sallust,  Tacitus  jetzt  und 
von  jeher  vielfache  Anregungen  zum  politischen  Denken.  Wenn  man  aber  außer- 
dem auch  gelegentlich  zu  den  Trajansbriefen  oder  zum  Monumentum  Ancy- 
ranum,  vielleicht  auch,  wie  Professor  Krückmann  in  Münster  empfiehlt,  zu  Ab- 
schnitten aus  römischen  Juristen  (Voraussetzung:  das  lateinische  Lesebuch!) 
greifen  kann,  so  wird  das  doch  eine  wertvolle  Bereicherung  des  lateinischen  Unter- 
richts werden.  In  entsprechender  Weise  würden  aber  auch  die  anderen  vorhinge- 
nannten nichtkanonischen  Schriftsteller  zur  Belebung  des  Unterrichts  beitragen. 

Wenn  wir  aber  den  Zusammenhang  zwischen  Altertum  und  Gegenwart  ver- 
folgen und  diese  Wege  auch  unseren  Schülern  zeigen  wollen,  dann  liegt  es  in  der 
Natur  der  Sache,  daß  wir  da  und  dort  auch  noch  weiter  über  den  bisherigen  Bereich 


156  O.  Rückert,  Bemerkungen  zur  Erweiterung  des  Kreises  usw. 

des  altsprachlichen  Unterrichts  hinausgehen.  Das  Fortwirken  der  Antike  in  das 
Mittelalter  und  in  die  Neuzeit  hinein,  zeigt  sich  namentlich  auch  auf  literarischem 
Gebiet,  sowohl  in  der  Gedankenwelt  und  in  der  inneren  Gestaltung  der  literarischen 
Erzeugnisse,  als  auch  äußeriich  in  dem  literarischen  Fortleben  der  lateinischen 
Sprache  in  der  mittelalteriichen  und  auch  wieder  in  der  neuzeitlichen  Literatur. 
Wichtige  Perioden  unserer  nationalen  Geschichte  sind  nur  in  lateinischer  Sprache 
dargestellt.  Einige  dieser  Geschichtswerke  sind  bedeutend  genug,  um  ein  Bedauern 
zu  wecken,  daß  sie,  wenigstens  im  Urtext,  kaum  über  den  Kreis  der  Fachleute 
hinaus  bekannt  geworden  sind.  Darauf,  daß  dies  anders  wird,  und  daß  das  Interesse 
für  die  ältere  deutsche  Geschichte  verstärkt  wird,  können  die  höheren  Schulen 
durch  Privatlektüre  und  Klassenlekttire  hinarbeiten.  Bei  der  Auswahl  geeigneter 
Werke  müßte  man  in  erster  Linie  die  Schriftsteller  der  karolingischen  und  der 
ottonischen  Renaissance  berücksichtigen,  also  etwa  Einhard,  Nithard,  Alcuins 
Briefe,  Widukind  von  Korvey,  außerdem  vielleicht  auch  Wipo. 

Grammatische  und  stilistische  Bedenken  werden  ja  dem  mittelalteriichen  Latein 
gegenüber  leicht  auftauchen.  Im  Wortschatz,  in  den  Formen,  im  Satzbau  wird 
der  Schüler  auf  Ungewohntes,  Absonderiiches,  Unrichtiges  stoßen.  Für  seine  eigene 
lateinische  Stilbildung  muß  ihm  gewiß  das  Latein  einer  bestimmten  Periode,  bzw. 
einer  bestimmten  literarischen  Gruppe,  maßgebend  bleiben,  nach  unserem  Brauch 
die  Sprache  Ciceros,  ergänzt  durch  die  Sprache  zeitlich  nahestehender  Autoren. 
Eine  Störung  oder  Verwirrung  kann  aber  hierin  kaum  eintreten,  wenn  zeit- 
weilig Schriftsteller  aus  anderen  Zeiträumen,  auch  mittelalterliche,  soweit  sie 
einigermaßen  sprachgewandt  sind,  gelesen  werden.  Es  kann  dem  Schüler  leicht 
zum  Bewußtsein  gebracht  werden,  daß  er  hier  eine  viel  spätere  Entwicklungs- 
periode des  Lateinischen  vor  sich  hat;  ja,  aus  den  Abweichungen  kann  ihm  mancher 
stilistische  und  grammatische  Brauch  der  klassischen  Zeit  deutlicher  bewußt  werden. 

Wenn  wir  auch  nach  dieser  Seite  hin  den  Kreis  der  lateinischen  Schulschrift- 
steller erweitern,  so  erhebt  sich  allerdings  eine  Schranke  vor  uns,  wenn  wir  in  Be- 
tracht ziehen,  daß  die  amtlichen  Lehrpläne  als  Lehrziel  für  das  humanistische 
Gymnasium  aufstellen:  „auf  sicherer  Grundlage  grammatischer  Schulung  ge- 
wonnenes Verständnis  der  bedeutenderen  klassischen  Schriftsteller  Roms  und  da- 
durch Einführung  in  das  Geistes-  und  Kulturleben  des  Altertums". 

Knüpfen  wir  aber  hieran  die  Frage:  Warum  Einführung  in  die  Antike? 
so  muß  nach  der  heutigen  Sachlage  die  Antwort  lauten :  doch  wegen  des  tiefgehen- 
den Einflusses,  den  sie  auf  die  Gestaltung  unserer  eigenen  nationalen  Kultur  und 
der  gesamten  europäischen  Kultur  ausgeübt  hat  und  noch  jetzt  ausübt.  Ein  histo- 
risches Verständnis  dieses  Einflusses  zu  gewinnen  und  damit  sozusagen  den  Kultur- 
blick zu  schärfen  und  Rüstzeug  zu  gewinnen  für  unsere  gegenwärtige  nationale 
Arbeit  —  das  ist  der  Zweck  unseres  heutigen  Humanismus.  Also  jedenfalls  ein 
kulturerhaltender  und  damit  kulturfördernder  Zweck.  Wenn  der  altsprachliche 
Unterricht  auf  diesen  Zweck  hin  arbeitet,  wird  er  auch  lebenskräftig  bleiben.  Er 
muß  Gegenwartsmenschen  erziehen,  und  darum  kann  die  „Einführung  in  die  An- 
tike" nicht  sein  letzter  Zweck  sein,  sondern  —  bei  aller  Würdigung  dieser  bedeu- 
tenden Aufgabe  und  ihrer  allgemein  menschlichen  Wirkungen  sei  es  gesagt  —  nur 
Mittel  zum  Zweck. 


A.  Bahre,  Wie  können  die  teclinischen   Fächer  mehr  als  bisher  usw.         157 

Daß  diese  Betrachtungsweise  auch  Innerhalb  des  Rahmens  unserer  jetzigen 
Lehrpläne  möglich  ist,  zeigt  auch  die  den  griechischen  Unterricht  betreffende 
Bemerkung  derselben  (S.  34):  „Das  in  II  und  I  etwa  in  Gebrauch  zu  nehmende 
Lesebuch  hat  die  Aufgabe,  neben  der  ästhetischen  Auffassung  auch  die  den  Zu- 
sammenhang zwischen  der  antiken  Welt  und  der  modernen  Kultur  aufweisende 
Betrachtung  zu  ihrem  Rechte  zu  bringen." 

Aus  der  erörterten  Auffassung  des  altsprachlichen,  insbesondere  des  lateinischen 
Unterrichts,  folgt  aber  auch,  daß  die  Lektüre  die  Freiheit  haben  muß,  über  den 
Bereich  der  Klassiker  hinauszugehen,  selbst  bis  in  solche  literarische  Erzeugnisse 
des  Mittelalters  hinein,  die  es  augenfällig  erkennen  lassen,  wie  die  Antike  ihre 
Wirkungen  in  die  neu  emporwachsende  europäische  Kulturarbeit  hineinerstreckt. 

Solange  wir  das  lateinische  Lesebuch  für  II  und  I  noch  nicht  haben, 
wird  man  freilich  nur  den  einen  oder  anderen  nichtklassischen  Schriftsteller  für  die 
Lektüre  heranziehen  können.  Schon  das  ist  ein  Ziel,  aufs  innigste  zu  wünschen. 
Ein  volleres  Gesamtbild  vom  römischen  Altertum  kann  erst  das  die  Klassiker 
ergänzende  Lesebuch  bringen.  Von  ihm  aus  wird  auch  auf  den  Zusammenhang 
zwischen  Altertum  und  Gegenwart,  zwischen  antiker  und  deutscher  Kultur  noch 
reicheres  Licht  fallen. 

Unna.  Oskar    Rücker t. 


Wie    können   die   technischen  Fächer   mehr   als   bisher   der 
ästhetischen  Bildung  der  Schüler  dienstbar  gemacht  werden? 

Wenn  wir  zurückblicken  auf  die  Zeit  vor  30 — 40  Jahren,  uns  vergegenwärtigen, 
wie  damals  der  Schulbetrieb  gestaltet  war  und  damit  vergleichen,  wie  er  jetzt 
geworden,  so  müssen  wir  sagen,  daß  auf  allen  Gebieten  große  Veränderungen 
stattgefunden  haben,  und  mit  Freuden  dürfen  wir  hinzufügen,  daß  die  Neuerungen 
wohl  alle  Verbesserungen  bedeuten.  In  fast  alle  Unterrichtsfächer  drangen  sie 
ein,  am  bemerkbarsten  und  durchgreifendsten  aber  in  die  technischen.  Daß  in  ihnen 
die  Umwälzungen  am  größten  waren,  ist  leicht  zu  verstehen,  standen  sie  doch 
auf  einer  Entwicklungsstufe,  die  nur  aus  dem  Mangel  an  Wertschätzung  erklärlich 
ist.  Weder  praktischen  noch  erziehlichen  Wert  maß  man  ihnen  bei,  deshalb  waren 
sie  sowohl  in  den  Augen  der  Lehrer,  wie  der  Schüler  eine  quantite  negligeable,  auf 
die  nicht  allzuviel  Zeit  und  Mühe  verwandt  zu  werden  brauchte. 

Das  hat  sich  im  Laufe  der  Jahrzehnte  gewaltig  geändert,  und  zwar  mit  Bezug 
auf  alle  technischen  Fächer.  Daß  dieser  Wandel  mit  dem  wirtschaftlichen  Auf- 
schwung unseres  Volkes  zeitlich  zusammenfiel,  ist  kein  Zufall,  sondern  eine  folge- 
richtige Entwicklung.  Die  höheren  Ansprüche,  die  die  verfeinerte  Technik  und  die 
schwierigeren  kulturellen  Aufgaben  an  die  Ausbildung  der  deutschen  Jugend 
stellten,  wirkten  zurück  bis  in  die  ersten  Bildungsstätten,  die  Schulen.  Überall 
regte  sichs,  um  mit  verbesserten  Methoden  und  Lehrmitteln  größere  Erfolge  zu 
erzielen,  und  auch  der  Ruf  „Mehr  Kunst  in  der  Schule",  der  von  den  verschie- 
densten Seiten  so  eindringlich  ertönte  und  auch  überall  lebhaften  Widerhall  fand, 
hing  eng  mit  diesen  Bestrebungen  zusammen.    Mehr  oder  weniger  hatten  aber  alle 


158  A.  Bahre, 

diese  Verbesserungsbestrebungen  einen  einseitigen,  einen  utilitarischen  Charakter. 
Der  Wunsch  danach  entsprang  aus  der  Einsicht  der  Notwendigkeit,  und  infolge- 
dessen trugen  die  Neuerungen  alle  den  Stempel  der  Zweckdienlichkeit.  Die  tech- 
nischen Hochschulen  verlangten  eine  andere  Vorbildung,  so  schälte  sich  das  Zeichnen 
aus  den  verknöcherten  Formen  des  Vorlagenzeichnens  heraus,  um  in  den  Gebilden 
der  Natur  und  Kunst  bessere  Lehrmeister  zu  suchen.  Das  Turnen  fand  mehr  Be- 
achtung und  Wertschätzung,  weil  man  einsehen  lernte,  daß  das  erstarkende  deutsche 
Reich  zu  seinem  Schutze  und  zu  seiner  Erhaltung  einer  gut  geschulten  Heeres- 
macht bedürfe,  und  daß  der  Grund  dazu  schon  in  der  Schule  bei  der  körperlichen 
Ausbildung  gelegt  werden  müsse.  Auch  wurde  man  sich  bewußt,  daß  eine  Stählung 
des  Körpers  notwendig  sei,  wenn  er  der  erhöhten*  geistigen  Anspannung  stand- 
halten sollte;  daneben  erkannte  man,  wie  sehr  das  Turnen  dazu  dienen  könne, 
den  Charakter  zu  bilden.  Das  Schreiben  wurde  mehr  beachtet,  weil  Handel  und 
Wandel  zunahm,  und  die  Kaufleute  eine  deutliche,  gute  Schrift  zur  Erleichterung 
des  Verkehrs  für  notwendig  hielten.  Auch  der  Handfertigkeitsunterricht  fing  an, 
Beachtung  zu  finden,  weil  man  darin  eine  gute  Vorbildung  für  allerlei  technische 
und  kunstgewerbliche  Berufsarten  erblickte. 

So  rückten  die  Stiefkinder,  die  technischen  Fächer,  die  bisher  unbeachtet 
und  unbewertet  in  der  Ecke  gestanden  hatten,  allmählich  zu  geachteteren  Stel- 
lungen auf,  man  entdeckte  in  jedem  vor  allem  seinen  Nützlichkeitswert  und  suchte 
jedes  in  seiner  Art  mehr  zur  Geltung  zu  bringen  und  auszunutzen.  Das  Gemeinsame 
aber,  das  den  technischen  Fächern  innewohnt,  die  Goldader,  die  sich  durch  das 
ganze  Gebiet  zieht,  blieb  zunächst  ziemlich  unbemerkt.  Daß  sie  zu  allgemeiner,  ver- 
tiefter Bildung  beitragen  könnten,  wollte  ihnen  niemand  zugestehen.  Und  doch  ist  es 
so,  heute  hat  man  erkannt,  daß  in  ihnen  Bildungsfaktoren  liegen,  die  man  nicht 
länger  unbeachtet  lassen  darf.  Wir  haben  einsehen  lernen,  daß  sie  berufen  sind, 
in  hohem  Maße  geistig  und  seelisch  fördernd  auf  unsere  Schüler  einzuwirken. 
Sie  sollen  dem  Schüler  nicht  nur  Nutzen  bringen  für  sein  späteres  Leben  und  seinen 
Beruf,  sondern  auch  seinen  Geist  befruchten  und  vor  allem  ihn  ethisch  beeinflussen, 
indem  sie  sein  künstlerisches  Empfinden  fördern,  die  Freude  am  Schönen  erwecken 
und  vertiefen,  sie  müssen  mehr  wie  bisher  der  Ästhetik  dienstbar  gemacht  werden. 

Darüber  ist  eine  solche  Flut  von  Büchern  und  Abhandlungen  geschrieben 
und  veröffentlicht,  auf  so  vielen  Kunsterziehungs-  und  Philologentagen  ist  darüber 
gesprochen  worden,  daß  ich  mir  im  voraus  sagen  mußte,  meine  Zeit  würde  nicht 
ausreichen,  sie  alle  zu  lesen  und  zu  verarbeiten.  Ich  habe  mich  deshalb  an  das 
sichere  Ufer  der  Praxis  geflüchtet  und  von  hier  aus  die  Frage  betrachtet  und  über- 
dacht. Zufällig  bot  sich  mir  da  eine  Gelegenheit  zu  praktischer  Belehrung  über 
diesen  Gegenstand,  die  sich  als  eine  gute  Fundgrube  für  mancherlei  Anregungen 
und  Ideen  erwies,  nämlich  ein  Besuch  der  Brüsseler  Weltausstellung. 

Diese  großen  Ausstellungen  kann  man  als  Gradmesser  ansehen  für  die 
Intelligenz  und  Arbeitskraft  eines  Volkes.  Ich  habe  in  den  letzten  Jahrzehnten 
ihrer  mehrere  besucht,  Paris  1889,  19Ö0,  St.  Louis  1904  und  Brüssel  1910,  und  habe 
mit  Stolz  beobachten  können,  wie  Deutschland  auf  eine  immer  höhere  Kultur- 
stufe gelangt  ist.  Bei  der  letzten  Ausstellung  aber  gesellte  sich  zu  den  erwähnten 
Wertfaktoren  in  auffallender  Weise  ein  dritter,  die  Ästhetik,  das  Kunstempfinden. 


Wie  können  die  technischen  Fächer  mehr  als  bisher  usw.  159 

Nicht  nur  die  einzelnen  Erzeugnisse  standen  unter  diesem  Zeichen,  auch  die  ganze 
Art  der  Anordnung  und  Darbietung  war  eine  durchaus  künstlerische,  das  ist  selbst 
von  den  Ländern  rückhaltlos  anerkannt,  die  bisher  den  guten  Geschmack  in  Erb- 
pacht zu  haben  glaubten,  von  Frankreich  und  Italien. 

Wenn  nun  der  Erzieher  der  Entwicklung,  dem  Werden  nachspürend  fragt, 
wie  sich  ein  solcher  Fortschritt  auf  dem  Gebiete  künstlerischer  Betätigung  voll- 
ziehen konnte,  was  dazu  mitgeholfen  hat,  so  gab  auch  darauf  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  die  Ausstellung  Antwort.  Bot  sie  doch  nicht  nur  ein  Bild  des  Fertigen, 
Gewordenen,  sondern  sie  zeigte  auch  in  der  Darstellung  der  Schulen,  ihren  Be- 
strebungen und  Leistungen,  wo  und  wie  die  Kräfte  für  solche  Betätigungen  ihre 
erste  Vorbildung  erhalten. 

Nicht  nur  die  deutschen,  sondern  auch  die  ausländischen  Schulen  —  namentlich 
Belgien  hatte  ein  ausgedehntes  Material  zusammengetragen  —  gaben  ein  deut- 
liches Bild,  was  erstrebt  und  was  erreicht  ist,  und  mit  welchen  Mitteln.  Viel  schöne 
Früchte  des  Fleißes  und  der  Intelligenz  habe  ich  da  gesehen,  daneben  zwar  auch 
solche,  denen  man  die  Treibhauskultur  zu  sehr  anmerkte,  oder  solche,  die  trotz 
schöner  Außenseite  einen  häßlichen  Wurm  im  Innern  bargen;  aber  auch  diese 
waren  mir  lehrreich,  zeigten  sie  mir,doch,  daß  oft  die  beste  Pflege,  das  ernsteste 
Streben  nicht  den  gehofften  Erfolg  oder  nur  einen  Scheinerfolg  haben. 

Das  Resultat  dessen,  was  ich  auf  dieser  Ausstellung  beobachtete,  möchte 
ich  nun  zusammenfassen  mit  dem,  was  eigene  Beobachtung  im  Beruf  mich  gelehrt, 
mit  den  Ideen,  die  mir  durch  die  Arbeiten  der  Fachlehrer  verschiedener  Anstalten, 
sowie  aus  dem  Studium  einiger  Schriften  zugeflossen  sind,  und  mit  diesem  Material 
die  Frage  zu  beantworten  suchen:  Wie  können  die  technischen  Fächer  mehr  als 
bisher  der  ästhetischen  Bildung  der  Schüler  dienstbar  gemacht  werden? 

Die  Antwort  können  wir  kurz  zusammenfassen  in  die  Worte:  „Das  erreichen 
wir  durch  geistige  und  seelische  Vertiefung,  indem  wir  die  Freud'e  am  Schönen 
wecken  durch  die  Pflege  des  Schönen  in  Natur  und  Kunst.** 

Wir  unterscheiden  zwei  Arten,  die  rezeptive  und  die  reproduktive  Beschäftigung 
mit  der  Kunst.  Die  Freude  am  Schönen  fällt  unter  die  rezeptive,  die  Pflege  des 
Schönen  unter  die  reproduktive,  beide  aber  beruhen  auf  sinnlicher  Wahrnehmung, 
deshalb  ist  für  beide  die  Grundforderung:  Auf  die  Ausbildung  der  Sinnesorgane 
muß  mehr  Wert  gelegt  werden,  als  bisher  geschah,  vor  allem  auf  die  des  Auges, 
des  Ohres  und  des  Tastsinnes. 

Wie  das  in  den  einzelnen  Fächern  geschehen  kann,  will  ich  im  folgenden  näher 
erläutern. 

In  erster  Linie  dienen  der  ästhetischen  Bildung  von  den  technischen  Fächern 
Zeichnen  und  Singen,  dann  aber  auch  Turnen,  Spiel  und  Sport,  Schreiben,  Hand- 
fertigkeitsunterricht. 

Im  Zeichenunterricht  kommt  es  bei  der  rezeptiven  Einwirkung  hauptsächlich 
auf  die  Ausbildung  des  Auges  an,  d.  h.  darauf,  daß  der  Schüler  nicht  nur  etwas 
sieht,  sondern  schauen,  das  Gesehene  geistig  und  seelisch  erfassen  lernt.  Wie  viel 
hat  ein  Sehender  vor  einem  Blinden  voraus,  nicht  viel  weniger  ein  Schauender 
vor  einem  Sehenden.  Der  Sehende  geht  nur  sinnlich  beeinflußt,  aber  empfindungslos 
vorüber  an  allem  Schönen,  das  täglich  und  stündlich  sich  ihm  darbietet;  welche 


160  A.  Bahre, 

Fülle  der  Freude,  des  ästhetischen  Genusses  erwächst  daraus  dem  Schauenden. 
Aber  das  will  erlernt  und  anerzogen  sein. 

Mancherlei  Mittel  gibt  es  nun,  der  Einführung  in  das  Verständnis  der  Natur 
und  Kunst  zu  dienen.  Vor  allem  sind  kleine  Ausflüge  unter  der  Leitung  des  Zeichen- 
lehrers in  die  Umgebung  der  Schule  von  großem  Wert.  In  kleineren  Städten  gibt 
es  wohl  vielfach  in  der  Nähe  Punkte,  die  leicht  erreicht  werden  können  und  die 
irgend  etwas  Schönes  bieten,  irgend  einen  landschaftlichen  Reiz,  der  in  Farbe, 
Form  oder  Beleuchtung  zum  Ausdruck  kommt,  der  sich  zeigt  in  einem  Wald  oder 
auch  einem  einzelnen  Baum,  in  Wiese  und  Feld,  in  hügeligem  Gelände  oder  einer 
weiten  Ebene,  in  einer  alten  Mühle,  einem  schönen  Tor,  einem  Gehöft.  Für  jegliche 
Schönheit  kann  dem  Schüler  Auge  und  Sinn  geöffnet  werden,  und  zwar  am  leich- 
testen und  wirksamsten,  wenn  der  Führer  selbst  die  Schönheit  tief  im  eigenen 
Innern  empfindet.  Das  ist  bei  allem  Schauen  ein  Fluidum,  das  leicht  auf  die  Schüler 
übergeht  und  ihre  Seelen  mehr  öffnet,  als  viel  schöne  angelernte  Worte.  Auch  das 
flache  Dach  eines  Schulhauses  kann  benutzt  werden,  den  Schülern  einen  Rund- 
blick zu  gewähren,  ihnen  die  Konturen  der  Gegend,  der  Höhenzüge  zu  zeigen; 
zugleich  kann  er  sie  lehren,  eine  Gegend  sozusagen  aus  der  Vogelperspektive  zu 
betrachten,  den  Lauf  eines  Flusses,  die  Lagerung  der  Höhenzüge  usw.  zu  beob- 
achten. Neben  den  Naturschönheiten  bietet  wohl  jede  Stadt  mehr  oder  weniger 
gute  Baudenkmäler  und  architektonische  Schönheiten,  zu  denen  die  Schüler  hin- 
geführt werden  sollten.  Dazu  kommen  in  den  großen  Städten,  denen  die  Natur- 
schönheiten wegen  der  großen  Entfernungen  schwerer  zugänglich  sind,  die  Kunst- 
denkmäler und  Museen.  Meist  kennt  und  würdigt  der  Eingeborene  die  Kunst- 
schätze der  eigenen  Stadt  nicht,  und  das  ist  leicht  erklärlich.  In  der  Jugend  hat  er 
sie  nicht  genug  schätzen  und  lieben  gelernt,  um  sich  im  späteren  Berufsleben  die 
Muße  zu  ihrem  Genuß  zu  gönnen.  Glücklich  der,  der  schon  früh  an  der  Hand  eines 
feinsinnigen  Führers  sich  des  Schönen  freuen  lernte,  in  dem  mit  dem  Kunstemp- 
finden auch  die  Heimatliebe  vertieft  wurde;  aber  dazu  gehört  ein  geschickter  Lehr- 
meister. Es  ist  völlig  wertlos,  wenn  die  Schüler  einfach  durch  die  Museen  durch- 
getrieben werden,  um  viele  schnell  vergängliche  Eindrücke,  aber  keinen  Genuß 
zu  haben.  Der  Führer  muß  sich  vor  allem  zu  beschränken  wissen.  Es  kann  ein 
einziges  Kunstwerk  das  Ziel  eines  Museumsbesuches  sein,  nicht  daß  der  Lehrer 
das  Kunstwerk  in  theoretischen  Erklärungen  zerpflücken  und  den  Schülern  lang- 
weilig machen  soll,  aber  er  kann  z.  B.  eine  Kunstform  und  ihre  Eigenart  und  Schön- 
heit, eine  Periode  und  ihre  Erzeugnisse,  eine  besondere  Art,  einen  Zweig  des  Kunst- 
gewerbes vorher  erläutern  und  dann  ein  Werk  oder  eine  Gruppe,  eine  kleine  Samm- 
lung als  Typen  den  Schülern  vorführen.  Dann  muß  er  aber  das  Wort  möglichst 
unterdrücken,  das  Werk  an  sich  auf  sie  wirken  lassen  und  mehr  durch  Frage  und 
Antwort  dahin  streben,  daß  der  künstlerische  Eindruck  vertieft  und  nachhaltiger 
wird.  In  gleicher  Weise  sollten  die  Kirchen,  Denkmäler  und  architektonisch  schönen 
Gebäude  der  Stadt  behandelt  werden.  In  großen  Städten  sollte  man  auch  die  Schau- 
fenster bedeutender  Geschäfte,  die  kleine  wechselnde  Museen  darstellen,  nicht 
unbenutzt  lassen.  Die  Schüler  können  dort  moderne  Kunst  in  feinem  Porzellan, 
Teppich-  und  Tapetenmustern,  Buchschmuck  und  Einband  und  vielen  anderen 
Erzeugnissen  des  Kunstgewerbes  sehen  und  genießen.    Die  Kunst  des  Dekorierens 


Wie  können  die  technischen  Fächer  mehr  als  bisher  usw.  161 

der  Schaufenster  hat  eine  solche  Bedeutung  gewonnen,  daß  es  z.  B.  in  Berlin  eigene 
Dekorationsschulen  dafür  gibt.  Der  Lehrer  sollte  die  Schüler  darauf  hinweisen 
und  ebenso  die  Reklame,  die  für  ihre  Schilder  und  Anpreisungen  oft  bedeutende 
Künstler  in  ihren  Dienst  genommen  hat,  der  künstlerischen  Ausbildung  der  Schüler 
nutzbar  machen. 

Für  die  Anstalten,  denen  das  alles  nicht  erreichbar  ist,  gibt  es  eine  Menge 
guter  Reproduktionen,  die  immerhin  des  Schülers  künstlerisches  Empfinden  be- 
fruchten können,  wenn  auch  nicht  in  dem  Maße  wie  die  Wirklichkeit.  Am  wirk- 
samsten sind  die  Lichtbilder,  schon  weil  sie  gemeinsam  genossen  werden  können. 
Aber  selbst  Postkarten  können  ein  gutes  Anschauungsmaterial  bieten,  in  letzter 
Zeit  sind  künstlerisch  ausgeführte  Serien  erschienen,  die  z.  B.  die  architektonischen 
Schönheiten  vieler  Städte  (Dresden,  Nürnberg,  Trier  usw.)  in  anschaulicher  Weise 
vorführen.*) 

Wenn  so  dem  Schüler  die  mannigfaltigste  Gelegenheit  geboten  ist,  künst- 
lerische Eindrücke  in  sich  aufzunehmen,  so  soll  nicht  weniger  dafür  gesorgt  werden, 
daß  er  sie  in  sich  verarbeitet  und  durch  Wiedergabe  vertieft,  er  soll  nicht  nur 
rezeptiv,  sondern  auch  reproduktiv  sich  betätigen.  Von  produktiver,  selbstschöpfe- 
rischer Tätigkeit  ist  in  der  Schule  ganz  abzusehen,  sie  soll  keine  Künstler  bilden, 
sondern  ästhetisch  empfindende  Menschen.  Daß  in  der  Zeichenmethode  ein  großer 
Fortschritt  gegen  früher  sich  vollzogen  hat,  ist  bekannt,  die  Vorlagen  sind  wohl 
überall  aus  den  Schulen  verschwunden,  und  das  Zeichnen  nach  der  Natur  wurde 
eingeführt.  Indessen  nicht  überall  ist  damit  ein  künstlerischer  Fortschritt  verbunden, 
oft  ist  nur  eine  größere  zeichnerische  Fertigkeit  damit  erreicht,  aber  keine  Ein- 
wirkung auf  Geist  und  Gemüt,  kein  ästhetischer  Gewinn.  Was  wird  denn  nach  der 
Natur  gezeichnet?  Irgend  welche  Gegenstände,  die  die  Anstalt  geschenkt  bekam 
oder  billig  erwerben  konnte,  die  aber  durchaus  keine  künstlerische  Anregung  bieten. 
Alle  diese  Modelle  sind  zu  verwerfen,  wenn  sie  nicht  in  Form  oder  Farbe  eine  künst- 
lerische Note  haben,  die  man  oft  in  den  einfachsten  Dingen  findet. 

Ganz  vermeiden  sollte  man  das  Stilisieren,  das  Umbilden  der  Naturformen 
mit  ihren  Unregelmäßigkeiten  zu  geregelten  Stilmustern,  was  einem  Ertöten  der 
Natur  gleichkommt.  Weder  nach  seiner  Art  noch  nach  seinen  Resultaten  hat  das 
Stilisieren  Nutzen,  auch  grenzt  es  schon  an  produktive  Betätigung,  die  in  der  Schule 
keinen  Raum  finden  soll  und  nur  von  fertigen  Künstlern  mit  Erfolg  geübt  wird. 
In  belgischen  Schulen  wird  es  ja  in  umfangreichem  Maße  getrieben.  Ich  hatte  aber 
den  Eindruck,  daß  dadurch  dem  Zeichenunterricht  das  Leben,  der  künstlerische 
Schwung  genommen  wird. 

Dagegen  ist  sehr  zu  fördern  das  Skizzieren  in  der  Natur.  Was  ich  oben  an- 
führte als  geeignet,  des  Schülers  ästhetisches  Empfinden  zu  befruchten,  das  soll 
nicht  nur  geschaut,  sondern  auch  wiedergegeben  werden.  Eine  noch  intensivere 
Geistesarbeit  erfordert  es,  wenn  der  Schüler  mit  Augen  und  Sinnen  etwas  auf- 
nimmt und  erst  später  wiedergibt,  ohne  die  ständige  vergleichende  Kontrolle  des 
Auges,  ich  meine  das  Gedächtniszeichnen.     Hierbei,  wie  auch  beim  Skizzieren 


*)  Hingewiesen  wird  auf  die  Werkstätte  für  moderne  Lichtbildkunst  von  Susanne 
Homann  in   Darmstadt. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  1 1 


162  A.  Bahre, 

nach  der  Natur  soll  dem  Schüler  möglichst  freie  Wahl  des  Gegenstandes  gelassen 
werden,  um  die  Freude  daran  und  damit  das  ethische  Moment  zu  erhöhen.  Auch 
schärft  es  seinen  Blick,  wenn  er  selbst  sich  suchen  darf,  was  er  schön  findet,  — 
die  Rechenschaft  darüber  kommt  ja  in  dem  Produkt  zutage,  in  dem  mehr  oder 
weniger  zum  Ausdruck  gebracht  ist,  was  dem  Verfertiger  besonders  gefallen  hat  — 
und  außerdem  wird  der  individuellen  Neigung  Rechnung  getragen.  Einen  ge- 
wissen künstlerischen  Wert  hat  sogar  das  Photographieren,  der  Schüler  muß  dabei 
die  Motive  richtig  wählen,  Licht-  und  Schattenverteilung  beurteilen  können  und 
auch  die  übrige  Arbeit  daran  möglichst  gut  und  vor  allem  selbst  ausführen. 

Neben  dem  Zeichnen  steht  als  gleichwertiger  ästhetischer  Bildungsfaktor 
das  Singen.  Auch  hier  soll  der  Schüler  rezeptiv  und  reproduktiv  sich  betätigen. 
Um  der  rezeptiven  Betätigung  gerecht  werden  zu  können,  ist  es  von  großem  Nutzen, 
wenn  der  Lehrer  eine  geschulte  Stimme  besitzt.  Nicht  jeder  hat  einen  schönen 
Stimmklang,  aber  eine  gewisse  Schulung  kann  sich  jeder  aneignen.  Auf  den  Semi- 
naren sollte  darauf  mehr  Wert  gelegt  werden  statt  der  starken  Betonung  der  Har- 
monielehre. Bei  richtiger  Vorbildung  kann  der  Lehrer  dem  Schüler  Anleitung 
geben  in  Stimmbildung,  Atmung,  Rhythmus,  Aussprache  und  Vortrag,  und  das  ist 
von  unendlichem  Wert.  Man  glaubt  nicht,  wie  ungeschult  das  Ohr  des  Menschen 
ist,  wie  schwer  die  Jungen  einen  Klang  mit  dem  Ohr  richtig  erfassen  und  darum 
auch  wiedergeben  können.  Auch  wir  Neusprachler  leiden  täglich  darunter  und 
können  nur  wünschen,  daß  die  Fähigkeit,  Laute  richtig  zu  hören,  gefördert  wird. 
Für  den  weitaus  größten  Teil  der  Schüler  ist  der  Gesangunterricht  in  der  Schule 
der  einzige,  den  sie  im  Leben  genießen,  und  was  darin  versäumt  ist,  wird  selten  nach- 
geholt. Finden  sich  unter  den  Schülern  einige,  die  schöne  Stimmen  haben,  so  sind 
sie  zu  Einzelgesang  heranzuziehen,  damit  die  anderen  daran  nicht  nur  ein  Vorbild, 
sondern  vor  allem  auch  Genuß  davon  haben.  Um  ihnen  diesen  zu  verschaffen, 
sollte  man  beim  Chorsingen  die  Schüler  nacheinander  einmal  zuhören  lassen,  damit 
sie  am  Zusammenklang  der  Stimmen  sich  erfreuen,  während  sie  sonst  immer  nur 
ihre  eigene  hören.  Wenn  der  Lehrer  ein  Instrument  beherrscht,  und  das  Klavier 
ist  der  Geige  vorzuziehen,  weil  es  bei  den  Liedern  nicht  nur,  wie  die  Geige, 
die  Melodie  gibt,  sondern  auch  die  Begleitung,  so  trage  er  den  Schülern  öfter  kleine 
Kunstwerke  vor.  Einen  Schritt  weiter  gehen  musikalische  Vorführungen,  die 
gelegentlich,  bei  Schulfesten  usw.,  oder  aus  eigenem  Anlaß  gegeben  werden,  und 
zwar  instrumentale  und  gesangliche,  bei  denen  Lehrer,  Schüler,  und  sonst  musi- 
kalische Dilettanten  und  auch  Künstler  mitwirken.  Die  sollen  dem  Schüler  nicht 
nur  einen  ästhetischen  Genuß  bieten,  sondern  ihn  auch  aneifern  zu  eigener  Be- 
tätigung. Zum  tieferen  Verstehen  und  darum  Genießen  trägt  es  bei,  wenn  der 
Lehrer,  anfangend  bei  einfachen  Kompositionen  und  Volksweisen,  Erläuterungen 
gibt.  Mit  dem  Alter  und  dem  Verständnis  der  Schüler  fortschreitend  können 
die  Erläuterungen  immer  vertiefter  gestaltet  werden,  d.  h.  die  Werke  sollen  nicht 
musiktheoretisch  erklärt  werden,  sondern  die  Freude  am  Werk  und  das  Verstehen 
dessen,  was  mit  den  Tönen  ausgedrückt  werden  soll,  muß  gefördert  werden  durch 
eine  kunstsinnige  Interpretation.  Ich  denke  noch  mit  Befriedigung  an  den  großen 
Gewinn,  den  die  älteren  Schüler  meiner  Anstalt  aus  der  allerdings  von  besonders 
berufener  Seite,  durch  Herrn  Professor  Sternfeld,  Berlin,  gegebenen  Interpretation 


Wie  können  die  teciinischen   Fächer  mehr  als  bisher  usw.  163 

der  Meistersinger  und  des  Parzival  mit  Erläuterungen  am  Klavier  gezogen  haben. 
Auch  Hinweise  auf  das  Leben  und  Schaffen  der  Komponisten  wird  das  Interesse 
für  ihre  Werke  fördern  und  beleben. 

Zum  Chorgesang  sollten  viel  einstimmige  Lieder  und  hauptsächlich  Volks- 
lieder gewählt  werden.  Mehr  als  dreistimmige  Lieder  gehören  eigentlich  nicht 
in  den  Rahmen  der  Schule  und  dürften  nur  in  Ausnahmefällen  in  Vollanstalten 
geübt  werden.  Beim  Einüben  der  Chöre  achte  der  Lehrer  sorgfältig  auf  Rhythmus, 
Aussprache,  Vortrag,  Vokalisation,  Artikulation  und  Atmung.  Von  großem  Nutzen 
ist  es  hier,  wenn  der  Lehrer  stimmlich  geschult  ist  und  die  einzelnen  Partien  vor- 
singen kann.  Ein  einmaliges,  richtiges  Vorsingen  hilft  mehr,  als  eine  Flut  von  Vor- 
schriften und  Anleitungen.  Bei  den  Chorälen  ist  mehr  auf  den  Rhythmus  zu  achten, 
die  meist  übliche  schleppende  Art,  sie  zu  singen,  ist  zu  verwerfen,  denn  sie  sollen 
kein  Grabgesang,  sondern  eher  ein  Weckruf  sein. 

Ich  komme  nun  zum  Turnen,  bei  dem  naturgemäß  die  reproduktive  Betätigung, 
verglichen  mit  der  rezeptiven,  überwiegt,  wenn  auch  nicht  in  dem  Maße,  wie  ge- 
wöhnlich angenommen  wird.  Auch  im  Turnen  liegt  ein  großer  Schatz  von  Ästhetik, 
den  zu  heben  wir  uns  mehr  wie  bisher  bemühen  sollten.  In  erster  Linie  geht  alle 
Turnerei  darauf  aus,  Kraft  zu  entwickeln,  und  das  ist  zweifelsohne  eine  wichtige 
Aufgabe.  Aber  es  soll  nicht  eine  rohe  Kraft  sein,  die  wir  erstreben,  sondern  Anmut 
und  Geschicklichkeit  sollen  sich  mit  ihr  paaren.  Gerade  uns  Deutschen  fehlt, 
verglichen  mit  den  romanischen  Völkern,  weniger  die  Kraft,  als  Grazie  und  Beweg- 
lichkeit. Alle  Äußerungen  der  Kraft  möglichst  schön,  ästhetisch  wirkend  darzu- 
stellen, sei  deshalb  unser  Ziel.  Dazu  ist  aber  nötig,  daß  in  dem  Schüler  die' Emp- 
findung geweckt  wird  für  das,  was  schön  ist;  er  lerne  die  Schönheit  des  mensch- 
lichen Körpers  und  seiner  Bewegungen  kennen.  Dafür  wäre  ja  das  Nacktturnen 
günstig,  aber  sowohl  unser  Klima  als  auch  andere  Gründe  sprechen  dagegen,  immer- 
hin sei  die  Kleidung  so,  daß  die  Körperformen  möglichst  zu  sehen  sind.  Außerdem 
bieten  ja  auch  die  Schwimmanstalten  und  Luftbäder  Gelegenheit,  den  menschlichen 
Körper  zu  beobachten. 

Um  weiter  den  Schülern  eine  rezeptive  Ausbildungsmöglichkeit  zu  geben, 
ziehe  man  sie  bei  den  Freiübungen  nacheinander  einzeln  oder  paarweise  vor  und 
lasse  sie  zusehen,  um  ihnen  an  den  Kameraden  zu  zeigen,  was  man  will,  und  worin 
die  Schönheiten  der  Bewegungen  bestehen.  Wenn  sie  selbst  beobachtet  haben, 
wie  schön  der  Rhythmus  in  den  Bewegungen  einer  größeren  Schar  wirkt,  wie 
störend  ungeschickte  Wendungen,  wenn  sie  selbst  einmal  die  Freude  beim  An- 
sehen einer  vollendeten  Leistung  empfunden  haben,  dann  ist  es  ihnen  auch  ein 
gewisser  Genuß,  als  Glied  des  Ganzen  zum  guten  Gelingen  beizutragen.  Beim 
Geräteturnen  bilden  die  gerade  nicht  beschäftigten  Schüler  ja  von  selbst  die  Zu- 
schauer, sie  können  aber  dann  auch  hin  und  wieder  aktiv  mit  tätig  sein,  indem 
sie  die  Leistungen  nach  der  ästhetischen  Art  der  Ausführung  mit  beurteilen  und 
für  sich  selbst  die  Nutzanwendung  ziehen. 

Bei  allen  turnerischen  Übungen  ist  in  erster  Linie  darauf  zu  sehen,  daß  sie 
einfach  sind.  Es  sollen  keine  Verrenkungen  und  Verzerrungen  vorkommen,  die 
das  ästhetische  Gefühl  verletzen.  Darunter  braucht  die  Kraftentwicklung  nicht 
zu  leiden,  denn  es  gibt  genug  Übungen,  die  Kraft  und  Ästhetik  gleichermaßen 

11* 


164  A.  Bahre, 

berücksichtigen.  Beim  Geräteturnen  verlange  man  keine  Gipfelleistungen,  sie 
können  in  den  Vorturnerstunden  erzielt  werden  oder  bei  den  Kürübungen.  Bei 
den  Übungen  an  Reck,  Barren,  Sturmspringel,  Ringen  und  Trapez,  die  alle  vor- 
züglich geeignet  sind  für  eine  harmonische  Körperausbildung,  ist  immer  Wert 
auf  eine  exakte,  aber  auch  auf  eine  elegante  Ausführung  zu  legen,  auch  kann  selbst 
in  diese  Übungen  ein  gewisser  Rhythmus  gebracht  werden,  was  durch  gleich- 
zeitiges Turnen  mehrerer  Schüler  erhöht  wird.  Der  Rhythmus,  der  in  hohem 
Maße  dazu  beiträgt,  Kraft  in  Grazie  zu  verwandeln,  denn  er  bindet  sozusagen 
die  Kräfte,  er  regelt,  er  lenkt  sie,  kommt  besonders  in  den  Freiübungen  zur  Gel- 
tung, und  eine  der  schönsten  dieser  Übungen  ist  das  Keulenschwingen,  das  viel 
mehr  als  bisher  geübt  werden  sollte.  Auch  sind  einfache  Reigen,  von  Musik  be- 
gleitet, nicht  ganz  zu  verwerfen,  jedoch  ist  darin  alles  Komplizierte,  auf  die  Aus- 
bildung einzelner  Körperteile  Hinzielende  zu  vermeiden.  Beim  An-  und  Abtreten 
soll  die  militärische  Strammheit  nicht  zu  sehr  betont  werden,  eine  genaue  Takt- 
mäßigkeit ist  notwendig,  aber  Übertreibung  wirkt  unästhetisch.  Genaue,  xhöne 
Bewegungen  sind  ruckartigen,  die  an  nervöse  Zuckungen  erinnern,  vorzuziehen, 
und  die  Strammheit  soll  nicht  zur  Steifheit  werden. 

Bei  Schauturnen  und  Sommerfesten  soll  Gelegenheit  geboten  werden,  daß 
Schüler  und  Eltern  sich  des  Gelernten  erfreuen,  auch  hier  sollen  keine  Gipfel- 
leistungen vorgeführt,  sondern  gezeigt  werden,  wie  der  Körper  durch  das  Turnen 
zu  schöner,  harmonischer  Ausbildung  gelangt. 

Bei  Spiel  und  Sport  beschränkt  sich  die  Förderung  der  Ästhetik  mehr  auf 
Einwirkung  nach  rezeptiver  Seite,  auf  Beschränkung  und  Beschneidung  von  Un- 
schönem. An  sich  ist  Spiel  und  Sport  ja  auch  schon  Ästhetik,  lösen  doch  diese 
Betätigungen  Freude  und  Lust  an  etwas  Schönem  und  Gesundem  aus.  Es  geht 
ein  so  starker  Strom  der  Freude  von  ihnen  aus,  daß  nicht  nur  die  Beteiligten 
unwiderstehlich  davon  ergriffen  werden,  sondern  auch  die  Zuschauenden,  und  es 
müßte  schon  ein  ganz  verknöcherter  und  verbitterter  Mensch  sein,  dem  nicht  das 
Herz  aufginge  beim  Anblick  von  Spiel  und  Sport  treibender  Jugend.  Welch  hohen 
ethischen  Wert  Spiel  und  Sport  haben,  ist  ja  bekannt,  um  auch  der  Ästhetik  mehr 
äußerlichen  Nachdruck  zu  geben,  müssen  die  Auswüchse  beschnitten  werden. 
Um  eine  reine  Freude  zu  empfinden,  muß  der  Schüler  lernen,  in  guter  Manier  zu 
unterliegen,  nicht  den  Gegner  und  seine  besseren  Leistungen  zu  hassen,  sondern 
mit  sich  selbst  unzufrieden  zu  sein  und  weiter  zu  streben.  Er  muß  sich  dem  Schieds- 
richter willig  fügen  und  andere  anerkennen,  dann  wird  das  Zanken  und  Streiten 
beim  Spiel  vermieden.  Auch  ist  auf  ein  möglichst  ruhiges  Spiel  zu  halten,  alles 
Toben  und  Schreien,  Ausrufe  des  Ärgers  und  der  Freude,  laute  Kommandorufe  usw. 
sind  zu  unterdrücken.  Wo  die  Wahrnehmung  des  eigenen  Vorteils  zu  Roheiten 
führt,  ist  Einhalt  zu  tun.  Neben  Fußball,  Schlagball,  Rudern  usw.  sollte  Eislauf, 
Schwimmen  und  Tennis  gefördert  werden.  Auch  ist  das  Fechten  ein  Mittel  zur 
Entwicklung  von  Kraft  und  Grazie,  namentlich  das  französische  Stoßfechten,  das 
gegenüber  dem  deutschen  Hiebfechten  den  Vorzug  hat,  daß  es  den  ganzen  Körper 
zur  Mitarbeit  heranzieht  und  durch  die  Forderung  größerer  Beweglichkeit  und 
Gelenkigkeit  ästhetischer  wirkt. 

In  der  Bekleidung  muß  bei  allem  Spiel  und  Sport  natürlich  in  erster  Linie 


Wie  können  die  technischen   Fächer  mehr  als  bisher  usw.  165 

auf  Zweckmäßigkeit  gesehen  werden,  aber  dahinter  braucht  doch  die  Ästhetik 
nicht  ganz  zurückzustehen,  wenn  man  darauf  hält,  daß  weder  geckenhafte  Über- 
treibung noch  saloppes  Sichgehenlassen  einreißt. 

Wenn  wir  beim  Schreiben  Ästhetik  fordern,  so  kommen  wir  in  erster  Linie 
immer  wieder  auf  die  Leserlichkeit.  Sie  ist  die  Grundbedingung  für  die  Schön- 
heit, denn  wenn  man  etwas  nicht  lesen  kann,  so  erweckt  das  Unlustgefühl,  und 
das  widerstrebt  der  Ästhetik.  Ob  man  aber  im  Verfolg  dieses  Grundsatzes  bei 
der  geschriebenen  und  der  Druckschrift  so  weit  gehen  soll,  wegen  der  größeren 
Deutlichkeit  die  lateinische  Schrift  ganz  an  die  Stelle  der  deutschen  zu  setzen 
und  diese  zu  verbannen,  das  scheint  sehr  fraglich.  Es  sprechen  da  zu  viel  ethische 
Erwägungen  mit.  Ob  Schräg-  oder  Steilschrift  vorzuziehen  ist,  ist  Sache  des  indi- 
viduellen Geschmacks.  Wenn  bei  der  Handschrift  ein  bestimmter,  charakteristischer 
Zug  erzielt  werden  kann,  der  die  Deutlichkeit  nicht  beeinflußt,  so  ist  das  ent- 
schieden ein  Gewinn  gegenüber  der  farblosen,  kalligraphischen  Schreibermanier. 

Der  Handfertigkeitsunterricht  ist  meines  Erachtens  bis  jetzt  bei  uns  noch 
lange  nicht  genug  bewertet  und  geübt.  In  Amerika,  England  und  Belgien  sind 
viel  schöne  Erfolge  damit  erzielt,  wie  man  auf  den  Ausstellungen  sehen  konnte. 
Aber  auch  Auswüchse  habe  ich  dort  beobachtet.  Wenn  z.  B.  in  St.  Louis  die 
Schüler  ein  Porzellanservice  vollständig  selbst  herstellen,  vom  Formen  und  Brennen 
des  Tones  bis  zum  Glasieren  und  Bemalen,  so  geht  das  entschieden  zu  weit  und 
gehört  in  eine  Fachschule,  auch  ist  das  wirklich  nur  eine  utilitarische  Vorbildung 
für  das  Kunstgewerbe.  Wir  wollen  auch  in  der  Handfertigkeit  das  ästhetische 
Moment  nicht  vergessen.  Durch  Vorzeigen  schöner  kunstgewerblicher  Gegen- 
stände soll  der  Formen-  und  Farbensinn  geweckt  werden,  durch  die  Bekannt- 
machung mit  den  verschiedenen  Rohmaterialien,  den  verschiedenen  Hölzern,  mit 
Eisen  usw.  die  Freude  am  Echten,  Gediegenen  lebendig  werden.  ' 

Zur  Bearbeitung  dienen  nicht  fertige  Produkte,  die  man  nur  verziert,  z.  B. 
Holzgegenstände,  die  durch  Brandmalerei,  Kerbschnitt  usw.  eine  manchmal  sehr 
fragliche  Verschönerung  erhalten,  sondern  möglichst  Rohstoffe,  wie  Holz  und 
Eisen,  aus  denen  die  Schüler  einfache  Gegenstände  bilden,  die  durch  Form  und 
Verhältnis  wirken.  Auch  Papparbeiten  und  Buchbinderei  sind  geeignet  für  den 
Handfertigkeitsunterricht.  Bei  all  diesem  erwerben  die  Schüler  nicht  nur  eine 
Geschicklichkeit  der  Hand,  die  ihnen  auch  von  großem  Nutzen  ist  bei  den  physi- 
kalischen Übungen,  sondern  sie  empfinden  Freude  am  Schönen,  am  Werdenden 
und  Fertigen.  Zugleich  erwerben  sie  bei  dem  oft  mühseligen  Selbstschaffen  Achtung 
vor  dem  Gewordenen,  was  die  Nachlässigkeit  und  Unachtsamkeit  der  Schüler 
gegenüber  Kunstgegenständen  oder  empfindlichen  physikalischen  Apparaten  wohl- 
tuend einschränkt. 

Wenn  ich  in  Vorstehendem  erläutert  habe,  wie  die  einzelnen  technischen 
Fächer  mehr  für  die  Allgemeinbildung  der  Schüler  ausgenutzt  werden  können, 
wie  ihr  ästhetischer  Wert  mehr  betont  und  hervorgehoben  werden  muß,  so  möchte 
ich  jetzt  noch  darauf  hinweisen,  wie  eine  Verbindung  der  Fächer  unter  sich  und 
mit  den  wissenschaftlichen  gleichen  Zwecken  dienen  kann.  Vor  allem  ist  eine 
Verbindung  von  Singen  und  Turnen  sehr  vorteilhaft.  Es  hat  sich  ja  jetzt  eine 
eigene  Methode  herausgebildet,  ausgehend  von  dem   Genfer  Professor  Dalcroze, 


166  A.  Bahre, 

die  alle  Bewegungen  des  menschlichen  Körpers  rhythmisch  gestalten  will  mit  Unter- 
stützung durch  die  Musik,  und  umgekehrt  das  in  der  Musik  Enthaltene  durch 
Bewegungen  des  Körpers  ausdrückt.  Es  würde  zu  weit  führen,  hier  näher  auf 
die  Methode  einzugehen,  und  selbstverständlich  läßt  sich  auch  nur  ein  kleiner 
Teil  in  den  Unterrichtsbetrieb  der  Schulen  aufnehmen;  ich  möchte  nur  auf  einige 
Möglichkeiten  hinweisen.  Daß,  wenn  wir  im  Turnen  mehr  Ästhetik  erzielen  wollen, 
der  Rhythmus  viel  mehr  wie  bisher  gepflegt  werden  muß,  ist  fraglos,  und  diesen 
kann  nur  die  Musik  in  das  Turnen  bringen.  Man  kann  natürlich  jede  Übung  takt- 
mäßig mit  Zählen  ausführen,  aber  ungleich  ästhetischer  wirkt  sie,  wenn  der  Rhyth- 
mus begleitender  Musik  sie  regelt.  Dafür  eignen  sich  natürlich  in  erster  Linie  Frei- 
übungen und  unter  diesen,  wie  ich  vorhin  schon  erwähnte,  das  Keulenschwingen, 
auch  können  zu  manchen  Übungen  Lieder  gesungen  werden.  Die  vorerwähnten 
Reigen  sollen  nicht  in  Geziertheit  und  Affektiertheit  ausarten,  sondern  einfach 
in  den  Formen  sein  und  durch  den  Rhythmus  und  die  Gleichheit  in  den  Bewe- 
gungen einander  gegenüber  gestellter  Glieder  wirken.  Tanzschritt  und  Tanzbewe- 
gungen sollten  ganz  den  Mädchenschulen  vorbehalten  sein.  Aber  selbst  in  Geräte- 
übungen kann  durch  Musikbegleitung  ein  gewisser  rhythmischer  Schwung  gebracht 
werden,  deshalb  sollte  in  keiner  Turnhalle  ein  Klavier  fehlen. 

Mit  dem  Sport  vereinigt  sich  die  Musik  naturgemäß  weniger  leicht  und  har- 
monisch, aber  z.  B.  ein  Radreigen,  den  ich  beim  Sommerfest  verschiedentlich  mit 
Musikbegleitung  fahren  ließ,  hat  bei  Mitwirkenden  und  Zuschauern  gleiche  Freude 
erweckt. 

Dem  Deutschen  sollte  sich  das  Singen  anfügen,  indem  nach  Möglichkeit  die 
gelernten  Gedichte,  soweit  sie  vertont  sind,  auch  gesungen  werden.  Es  trägt  zur 
Vertiefung  des  Verständnisses  bei,  wenn  die  Schüler  sehen,  wie  nicht  nur  durch 
das  Wort,  sondern  auch  durch  die  Musik  die  in  den  Gedichten  enthaltenen  Emp- 
findungen zum  Ausdruck  gebracht  sind.    Balladen  sind  z.  B.  dafür  sehr  geeignet. 

Das  Turnen  kann  den  Zeichenunterricht  insofern  unterstützen,  als  durch 
gleichmäßige  Ausbildung  der  Arme  die  freie  Linienführung  mit  beiden  Händen 
gefördert  wird. 

Inniger  und  vielgestaltiger  ist  die  Verbindung  von  Deutsch  und  Zeichnen, 
die  gelesenen  Gedichte  können  in  der  Zeichenstunde  illustriert,  oder  doch  die 
Szenerie  für  die  Handlung  in  Gedichten  und  Geschichten,  von  denen  sich  jeder 
Schüler  eine  mehr  oder  weniger  lebhafte  Vorstellung  macht,  in  bildlicher  Dar- 
stellung wiedergegeben  werden.  Auf  der  Oberstufe  ist  das  auch  auf  den  fremd- 
sprachlichen Unterricht  zu  übertragen.  Hier  hat  es  nicht  nur  den  Wert,  daß  es 
das  Gehörte  lebendiger  macht,  sondern  auch  fremde  Art  und  Sitten  veranschau- 
lichen hilft.  Ich  erinnere  mich  mit  Freude  der  Lektüre  von  „T/ze  cricket  on  the 
hearth'\  das  ich  in  der  Prima  in  Elberfeld  lesen  ließ  mit  gleichzeitiger  Anfertigung 
von  Illustrationen.  Durch  die  Erzählung  selbst  und  aus  Beschreibungen  gewannen 
die  Schüler  einen  Begriff  von  englischen  Einrichtungen,  die  sich  ihnen  durch  die 
Verbildlichung  tiefer  einprägte  als  durch  das  Wort.  Einige  Schüler  stellten  sogar 
durch  ein  einfaches  Verfahren  Diapositive  her,  so  daß  die  Bilder  mit  dem  Ski- 
optikon  wiedergegeben  werden  konnten. 

Auch  das  Singen  kann  die  Fremdsprachen  wesentlich  unterstützen.   Die  Schu- 


Wie  können  die  technischen   Fächer  mehr  als  bisher  usw.  167 

lung  der  Stimme  im  Gesangunterricht  kommt  der  Bildung  der  Fremdlaute,  Nasal- 
laute usw.  sehr  zugute,  wie  auch  die  stärkere  Betonung  und  Herausarbeitung  des 
Rhythmus  das  Gefühl  dafür  in  den  Fremdsprachen  verschärft.  Er  ist  so  ver- 
schieden von  dem  der  deutschen  Sprache,  daß  er  nicht  genug  geübt  werden  kann, 
und  um  ihn  auch  in  Liedern  recht  fühlbar  zu  machen,  sollten  nur  Originallieder 
gesungen  werden.  Es  ist  zu  verwerfen,  deutsche  Lieder  mit  deutscher  Vertonung 
in  fremden  Lauten  singen  zu  lassen,  wie  z.  B.:   j'avais  un  camarade. 

Selbst  das  Turnen  kann  dem  fremdsprachlichen  Unterricht  von  Nutzen  sein. 
So  habe  ich  das  Zehnminutenturnen,  die  Atemübungen  dafür  nutzbar  gemacht, 
indem  ich  die  Jungen  nicht  stumpfsinnig  den  Atem  habe  einziehen  und  ausstoßen 
lassen,  sondern  beim  Ausstoßen  bilden  und  üben  sie  die  ihnen  schwer  werdenden, 
fremdsprachlichen  Laute.  Im  Französischen  unterstützt  man  dadurch  besonders 
die  Vokalisation,  im  Englischen  die  Artikulation. 

Von  großer  Bedeutung  ist  die  Verbindung  des  Zeichnens  mit  dem  naturwissen- 
schaftlichen Unterricht.  Über  die  verknöcherte  Methode  der  Naturkunde  von 
früher,  der  grauen  Theorie  des  Schematisierens  und  Einreihens  in  Klassen  und 
Systeme  sind  wir  ja  längst  hinaus.  Wir  lernen  das  Leben,  die  Entwicklung  in  der 
Natur  kennen,  und  die  Freude  und  das  Interesse  kann  durch  das  Zeichnen  noch 
wesentlich  erhöht  werden.  Die  Formen  und  Farben  der  Tierkörper  und  Pflanzen 
gehen  ganz  anders  in  das  Vorstellungsvermögen  der  Schüler  über,  ihre  Beobach- 
tung bietet  ihnen  einen  viel  vertiefteren  Genuß,  wenn  die  Wiedergabe  mit  Stift 
und  farbiger  Kreide  dazu  kommt. 

Nicht  weniger  kann  der  erdkundliche  Unterricht  durch  das  Zeichnen  bereichert 
werden.  Der  Ausblick  von  einem  flachen  Dach  oder  von  sonst  einem  erhöhten 
Punkt,  soll  die  Schüler  nicht  nur  orientieren,  sondern  ein  vertiefteres  Anschauen 
soll  ihnen  die  Möglichkeit  geben,  danach  Reliefkarten  und  Krokis  herzustellen. 

Ich  habe  in  Vorstehendem  kurz  ausgeführt,  wie  die  technischen  Fächer  jedes 
für  sich  und  in  den  verschiedensten  Verbindungen  mehr  zur  Allgemeinbildung 
der  Schüler  herangezogen  und  zur  Entwicklung  ihrer  ästhetischen  Empfindung 
ausgenutzt  werden  können.  Um  das  zu  erreichen,  bedarf  es  aber  auch  verbesserter, 
äußerer  Mittel,  auf  die  ich  in  Nachfolgendem  hinweisen  möchte. 

Bei  der  Gestaltung  des  Unterrichtsbetriebes  ist  dem  Lehrer  möglichste  Frei- 
heit zu  lassen,  sowohl  was  Lehrpensum  als  auch  was  Lehraufgaben  und  Methodik 
anbelangt.  Die  Materie  ist  so  vielseitig,  namentlich  im  Zeichnen  und  Singen,  daß 
dem  Lehrer  ein  großer  Spielraum  gelassen  werden  muß.  Nur  ist  darauf  zu  halten, 
daß  die  allgemeinen  pädagogischen  Grundsätze  für  ihn  leitend  und  bindend  sind. 

Wie  beim  Singen,  sollten  auch  beim  Zeichnen  verschiedene  Klassen  zusammen- 
genommen werden,  d.  h.  aus  verschiedenen  Klassen  nach  der  Begabung,  nicht 
nach  der  Klassenstufe,  Gruppen  gebildet  werden.  Einzelnen  begabten  und  fleißigen 
Schülern  dürfte  auch  einmal  gestattet  werden,  draußen  in  der  Natur  allein  ein 
ihnen  besonders  zusagendes  Motiv  zu  zeichnen,  wobei  die  Kontrolle  erst  später 
beim  Nachsehen  der  Arbeit  geübt  wird.  Die  Schüler,  und  es  kommen  natürlich 
nur  solche  in  Betracht,  die  schon  ein  vertieftes  Verständnis  und  Interesse  für  die 
Kunst  haben,  werden  mit  einer  solchen  Arbeitsstunde  ohne  Aufsicht  um  so  weniger 
Mißbrauch  treiben,  je  mehr  der  Lehrer  es  versteht,  sie  zu  der  Erkenntnis  zu  erziehen, 


168  A.   Bahre, 

daß  sowohl  Kunstverständnis  wie  ausübende  Kunst  etwas  Hohes,  etwas  Schönes 
sind,  das  nur  durch  Ernst,  Disziplin  und  treue  Arbeit  erreicht  werden  kann. 

Befreiungen  von  dem  Unterricht  sollten  in  technischen  Fächern  eigentlich 
nicht  zulässig  sein,  jedenfalls  nur  in  sehr  beschränktem  Maße.  Wo  der  Stimm- 
wechsel oder  sonst  ein  Mangel  die  Teilnahme  ganz  unmöglich  macht,  kann  der 
Schüler  als  Zuhörer  und  Zuschauer  aus  vielen  Stunden  Nutzen  ziehen,  denn  gerade 
das,  was  wir  mehr  wie  bisher  erzielen  wollen,  die  Fähigkeit,  das  Schöne  zu  emp- 
finden und  zu  genießen,  was  auch  dem  Nichtausübenden  zuteil  werden  kann,  soll 
in  allen  Schülern  geweckt  werden.  Wie  eine,  wenn  auch  nur  beschränkte  Teil- 
nahme der  nicht  aktiven  Schüler  an  den  technischen  Fächern  eingerichtet  werden 
könnte,  ohne  daß  dadurch  Störung  hervorgerufen  wird,  diese  Frage  wäre  wohl 
der  Überlegung  wert. 

Der  Gesang-  und  der  Zeichenunterricht  sollte  durch  die  ganze  Schule  durch- 
geführt werden.  Daß  in  der  Sexta  bei  den  Schülern,  die  in  der  Volksschule  schon 
Zeichnen  hatten,  eine  einjährige  Unterbrechung  des  Unterrichts  stattfindet,  ist 
ebenso  unbegreiflich  wie  bedauerlich.  Wenigstens  könnte  dafür  Modellierunterricht 
eingeschoben  werden.  Auch  halte  ich  es  für  einen  großen  Fehler,  daß  die  oberen 
Klassen  der  Gymnasien  vom  verbindlichen  Zeichenunterricht  ausgeschlossen  sind, 
meines  Erachtens  hinterläßt  das  eine  große  Lücke  in  der  Allgemeinbildung  der 
Schüler.  Die  Zeit,  die  die  Fortführung  des  Unterrichts  beanspruchen  würde,  wäre 
zum  Teil  schon  dadurch  genommen,  daß  die  technischen  Fächer,  wie  ich  vorhin 
kurz  erläuterte,  zur  Unterstützung  der  wissenschaftlichen  herangezogen  werden. 

Auf  die  Lehrmittel  für  alle  technischen  Fächer  ist  großer  Wert  zu  legen.  Alle 
Modelle  seien  aus  echtem,  gutem  Material.  Im  Zeichnen  sind  alle  unkünstlerischen 
Gegenstände  zu  verwerfen.  Der  Zeichensaal  muß  nach  Norden  liegen  und  gute 
Beleuchtung  haben.  Die  Fenster  müssen  ev.  durch  Vorhänge  abgeteilt  werden. 
Um  zunächst  das  Empfinden  für  das,  was  schön  ist,  zu  wecken,  stelle  man  die 
künstlerischen  Modelle  in  Vitrinen  auf,  damit  der  Schüler  sich  schon  an  ihrem 
Anblick  erfreue.  Wo  eine  Anstalt  Gönner  hat,  deren  Freigebigkeit  sich  auf 
kunstgewerbliche,  schöne  Gegenstände  erstreckt,  könnte  man  sozusagen  ein  kleines 
Museum  von  diesen  Dingen  anlegen  und  ein  Zimmer  zu  einem  Kunstzimmer  her- 
richten, wo  kunstgewerbliche  Erzeugnisse,  Reproduktionen  von  Kunstwerken, 
Stiche  usw.  vereinigt  würden.  Wo  das  nicht  möglich  ist,  behänge  man  die  Wände 
der  Aula,  der  Gänge  usw.  mit  dem  vorhandenen  Bildschmuck,  die  Vitrinen  stelle 
man  in  von  den  Schülern  viel  benutzten  Räumen,  z.  B.  der  Aula  auf.  In  diesem 
Raum  wird  ein  Klavier  wohl  immer  vorhanden  sein,  besser  noch  ist  ein  Flügel 
wegen  seiner  größeren  Klangfülle,  wie  eine  Orgel  selbstverständlich  einem  Har- 
monium vorzuziehen  ist.  Auch  mechanische  Musikinstrumente  können  von  Nutzen 
sein,  um  den  Schülern  etwas  zu  demonstrieren  und  vorzuführen.  Erwähnen  möchte 
ich  auch  noch  die  Sprechmaschine,  die  nicht  nur  musikalische  Sachen  reproduziert, 
sondern  durch  Wiedergabe  von  Gesprochenem  in  Französisch  und  Englisch  den 
fremdsprachlichen  Unterricht  wirksam  unterstützt. 

Die  Turnhallen  brauchen  bei  aller  Betonung  der  Zweckmäßigkeit  durchaus 
nicht  das  ästhetische  Moment  ganz  zu  entbehren.  Statt  des  tristen  Grau,  sollten 
die  Wände  einen  fröhlichen  Farbenton,  etwa  rosa  oder  hellgrün  erhalten.     Die 


Wie  können  die  technischen  Fächer  mehr  als  bisher  usw.  169 

hoch  angebrachten  Fenster  müssen  viel  Licht  hereinlassen.  Die  unteren  Teile  der 
Wände  sollten  immer  mit  Holz  bekleidet  sein,  schon  um  das  Zerstoßen  der  Wände, 
was  einen  häßlichen  Eindruck  erweckt,  zu  vermeiden.  Der  Bodenbelag  sollte 
Linoleum  sein,  das  am  besten  sauber  zu  halten  und  bei  sachgemäßer  Behandlung 
nicht  zu  glatt  ist.  Der  Raum  und  die  Geräte,  die  alle  aus  gutem  Material  sein 
müssen,  sollten  immer  möglichste  Ordnung  und  Sauberkeit  zeigen,  um  ästhetisch 
zu  wirken.  Das  gleiche  gilt  von  den  Geräten,  die  beim  Spielen  benutzt  werden, 
sowie  von  den  Bootshäusern,  Spielplätzen  usw.  Gute  Instandhaltung  und  Sauber- 
keit bilden  den  Hauptbestandteil  ihrer  Schönheit. 

'■  Beim  Schreiben  sehe  man  auf  praktische  Bänke  und  gutes  Schreibmaterial. 
Füllfederhalter  sollten  nicht  gestattet  sein. 

Für  den  Handfertigkeitsunterricht  könnte  man  in  vielen  Schulgebäuden  den 
meist  unbenutzten  Keller  zu  praktischen  und  reinlichen  Werkstätten  herrichten. 

Aber  die  besten  Lehrmittel  und  Anleitungen  können  nur  Erfolg  haben,  wenn 
die  technischen  Lehrer  auch  mitgehen  in  den  Bestrebungen,  die  technischen  Fächer 
mehr  zur  Allgemeinbildung  heranzuziehen  und  auf  eine  höhere  Stufe  zu  heben. 
Nicht  äußere  Mittel  sind  dazu  nötig,  in  ihrer  inneren  Gestaltung  muß  ihnen  mehr 
Wert  verliehen  werden,  dann  kommen  sie  auch  zu  größerer,  äußerer  Wertschätzung. 

Sie  bei  den  Zensuren  höher  zu  bewerten,  halte  ich  nicht  für  angebracht,  noch 
weniger,  gegebenenfalls  einen  Schüler  an  den  mangelhaften  Leistungen  in  einem 
technischen  Fach  bei  Examen  und  Versetzungen  scheitern  zu  lassen,  weil  solche 
Leistungen  oft  auf  gänzlicher  Talentlosigkeit  beruhen.  Wohl  aber  sollen  positive 
Leistungen  mit  in  die  Wage  geworfen  werden  können,  um  Lücken  in  weniger 
wichtigen  wissenschaftlichen  Fächern  zu  kompensieren,  da  hervorragende  Leistungen 
in  einem  technischen  Fach,  auch  bei  guter  Beanlagung,  nur  durch  Fleiß  und  Tüchtig- 
keit erreicht  werden. 

Auf  einen  Mangel  bei  der  Ausbildung  der  Lehrer  auf  den  Seminarien  habe  ich 
vorhin  schon  hingewiesen,  die  Vernachlässigung  der  Stimmbildung.  Wie  darin 
mehr  getan  werden  müßte,  so  auch  bei  der  Heranbildung  der  Zeichenlehrer,  in 
deren  Unterweisung  kunstgeschichtliche  und  archäologische  Belehrungen  mit 
hinein  gezogen  werden  sollten.  Wenn  sich  mehr  als  bisher  Künstler,  die  erziehe- 
rische Anlagen  hätten,  in  den  Dienst  der  Schule  stellten,  so  wäre  das  sehr  zu  be- 
grüßen. Vor  allem  aber  sollten  mehr  akademisch  gebildete  Lehrer  außer  in 
wissenschaftlichen  auch  in  technischen  Fächern  unterrichten  und  dafür  vorgebildet 
werden.  Dies  ist  leicht  möglich  in  den  Städten,  die  neben  der  Universität  zugleich 
die  Vorbildungsanstalten  für  technische  Fächer,  Kunstakademien  usw.  besitzen, 
wie  Berlin  und  München.  An  den  anderen  Universitäten  sollten  Zeichen-  und 
Gesanglehrer  angestellt  werden  zur  Unterweisung  für  die  Studenten.  Abgesehen 
davon,  daß  vielen  Studierenden,  Medizinern,  Kunstgeschichtlern,  Naturwissen- 
schaftlern usw.  ein  gewisses  Maß  von  Zeichenfertigkeit  von  großem  Nutzen  sein 
würde,  könnten  vor  allem  angehende  Lehrer  von  dieser  Einrichtung  Nutzen  ziehen 
durch  Vorbildung  für  die  technischen  Fächer.  Gesangliche  und  andere  Musik- 
studien würden  auch  dem  Neusprachler  sehr  dienlich  sein. 

Für  die  Ausbildung  der  Turnlehrer  sorgt  die  Turnlehrerbildungsanstalt,  jedoch 


170         A.  Bahre,  Wie  können  die  technischen  Fächer  mehr  als  bisher  usw. 

habe  ich  an  derselben  sehr  die  Anleitung  zu  Spiel  und  Sport  vermißt,  es  gab  weder 
Plätze  noch  sonstige  Vorkehrungen  dafür,  was  ich  für  einen  großen  Mangel  halte. 
Warum  bemühen  wir  uns  nun  so  um  die  Hebung  der  technischen  Fächer? 
Ist  die  ästhetische  Bildung  ein  so  wichtiges  Moment,  um  so  viel  Mühe  und  Arbeit 
zu  rechtfertigen?  Geschieht  das  alles  nicht  nur,  um  einen  Zeitvertreib  zu  schaffen, 
um  einige  Liebhabereien  zu  fördern?  Nein,  der  Wert  dieser  Fächer  ist  ein  viel 
höherer.  Wie  beim  einzelnen  Menschen,  so  ist  es  im  Leben  der  Völker.  Solange 
der  Mensch  mühsam  um  seine  Existenz  ringt,  richtet  er  alle  seine  Kräfte  und  Inter- 
essen nur  auf  das  Vorwärtskommen,  er  bildet  sich  nur  einseitig  aus,  aber  das  Re^ 
sultat  ist  dann  auch  ein  unausgeglichener  Mensch.  Zu  einer  harmonischen  Bildung 
gehört  die  Pflege  des  Schönen,  des  Ideals,  und  danach  sehnt  sich  der  Einzelmensch 
wie  ein  Volk,  wenn  es  sich  bessere  Existenzbedingungen  geschaffen  und  Zeit  hat, 
sich  nach  einem  Ausgleich  zwischen  Arbeit  und  Muße  umzusehen.  In  diesem 
Stadium  ist  jetzt  unser  Volk,  wir  sind  nicht  mehr  das  arme  Volk,  das  von  der  Hand 
in  den  Mund  lebt,  sondern  wir  können  und  dürfen  auch  genießen.  Aber  das  Ver- 
langen nach  Genuß  muß  in  die  rechten  Bahnen  gelenkt  werden,  der  unkultivierte 
Mensch  geht  nur  den  materiellen  nach,  der  verfeinerte  sucht  seine  Ideale  in  geistigen 
und  ästhetischen  Genüssen.  Um  das  zu  verstehen,  muß  schon  in  der  Jugend  das 
Gefühl  für  das  Schöne,  Wahre  und  Hohe  geweckt  werden.  Die  Freude  am  Schönen 
ist  ein  Talisman,  der  der  Jugend  reinen  Genuß  schafft  und  vor  den  Häßlichkeiten 
des  Lebens  sie  bewahren  hilft.  Und  das,  was  die  jungen  Menschen  mit  ihrem  frischen 
Empfindungsleben  in  sich  aufgenommen,  was  sie  aufgesogen  aus  tausend  kleinen 
Quellen,  das  bleibt  in  ihnen  lebendig  und  ist  ihnen  eine  Mitgabe,  die  sie  ins  Leben 
mit  hinaus  nehmen.  Aus  dem  Boden,  der  von  der  Schule  schon  so  vorbereitet 
ist,  erwächst  dann  von  selbst  eine  gesunde  Jugendpflege.  Was  trieben  früher 
die  jungen  Leute  in  ihren  Mußestunden?  Meist  wurden  diese  mit  Trinken  und 
Kartenspielen  ausgefüllt,  höchstens  betätigte  man  ihr  ästhetisches  Empfinden 
noch  mal  durch  den  Eintritt  in  einen  Gesangverein,  seltener  in  einen  Turnverein, 
Sportvereine  kannte  man  früher  überhaupt  nicht.  Mit  großer  Mühe  und  wenig 
Erfolg  habe  ich  mich  schon  als  junger  Student  um  das  Zustandekommen  eines 
solchen  Vereins  in  meiner  Heimat  bemüht.  Die  jungen  Leute  hatten  es  ja  nicht 
gelernt  und  empfunden,  daß  und  wie  man  sich  des  Schönen  freuen  kann.  Wenn 
ihnen  aber  schon  in  der  Jugend  Auge  und  Seele  dafür  geöffnet  sind,  wenn  sie  in 
allerhand  freiwilligen  Vereinigungen,  die  man  unterstützen  und  für  deren  Leitung 
und  Überwachung  der  Lehrer  willig  seine  Zeit  opfern  sollte,  ihr  Interesse  bekundet 
haben,  in  Ruder-,  Fußball-  und  Schwimmklubs,  im  Mitwirken  in  Schülerkapellen, 
in  Quartetts  und  Trios,  in  Malervereinigungen  und  Leseabenden,  dann  liegt  es 
nahe,  daß  solche  Bestrebungen  von  den  jungen  Leuten,  je  nach  ihrer  Beanlagung 
und  Neigung,  weiter  gepflegt  werden;  dann  ist  es  kein  fremdes  Reis,  das  ihnen 
zu  einer  Zeit,  wo  die  Früchte  der  Arbeit  schon  von  ihnen  gefordert  wurden,  noch 
aufgepflanzt  werden  soll.  Dann  sind  sie  aber  auch  fähig,  in  ihr  Leben  und  ihre 
Umgebung,  die  sie  nun  selbständiger  zu  gestalten  anfangen,  mehr  Ästhetik  hinein- 
zutragen, und  in  ihren  Wohnungen,  ihrem  Auftreten,  ihrer  Kleidung  wird  sich 
ein  verfeinerter  Geschmack  geltend  machen.  Und  das  kommt  nicht  nur  für  die 
Bemittelten  in  Betracht,  auch  im  Einfachsten  kann  sich  Geschmack  offenbaren. 


H.  Morsch,  Ne  quid  niniis!  171 

und  an  dem  Freitisch  der  Natur  kann  sich  ja  jeder  erquicken,  der  das  Genießen 
gelernt  hat. 

Von  dem  Segen,  der  dem  Menschen  aus  einer  solchen  harmonischen  Aus- 
bildung erwächst,  geht  ein  Glanz  durch  sein  ganzes  Leben,  und  ein  freundlicher 
Wiederschein  verklärt  selbst  noch  das  Alter.  Wir  sehen  oft  alte  Leute,  die,  wenn 
sie  ausgespannt  werden  aus  dem  drückenden  Geschirr  ihrer  Berufsarbeit  und  Be- 
xhäftigung,  nicht  wissen,  was  sie  mit  der  großen  Mußestunde,  die  jetzt  nur  noch 
ihr  Leben  darstellt,  anfangen  sollen,  und  verbittert  und  lebensunlustig  werden. 
Bei  dem  aber,  der  einmal  Freude  am  Schönen  gehabt  und  sie  gepflegt  hat,  mag 
sie  auch  manchmal  durch  Arbeit  und  Streben  lange  zurückgedrängt  sein,  erwacht 
sie  wieder,  und  wo  die  Kräfte  nicht  mehr  ausreichen,  sich  ausübend  zu  betätigen, 
da  macht  ein  stilles  Mitgenießen  noch  das  Alter  heiter  und  glücklich. 

Kreuznach.  August  Bahre. 


Ne  quid  nimis! 

Zunächst  habe  ich  auf  den  Aufsatz  von  Prof.  Wickenhagen,  vergl.  Januarheft 
der  Monatschrift  f.  h.  Seh.  1912,  S.  28—32,  folgendes  zu  erwidern: 

1.  Meine  Ausführungen  im  ,, Korrespondenzblatt"  No.  32,  33,  41  von  1911 
unter  dem  Titel:  ,, Zerstreuung  und  Zersplitterung  im  Unterrichtsbetriebe  der 
höheren  Schulen"  waren  im  ganzen  nur  ein  Mrfik\^  a^av  —  ne  quid  nimis!  Nicht 
bloß  die  Ruderübungen,  sondern  das  Linearzeichnen,  sowie  die  übrigen  wahlfreien 
Fächer,  Handfertigkeit,  Stenographie,  fremdsprachliche  Konversationsübungen, 
femer  die  zahlreichen  Feste  und  Feierlichkeiten  nebst  den  Vorbereitungen  dazu 
nähmen  die  Zeit,  so  führte  ich  aus,  und  die  geistigen  Kräfte  vieler  Schüler  zu 
stark  in  Anspruch.  Die  Arbeiten  für  die  Pflichtfächer  träten  sehr  zurück,  da 
zahlreiche  Schüler  auch  des  Nachmittags  durch  die  wahlfreien  Fächer  beschäftigt 
seien.  Den  Nachmittagsunterricht  hat  man  abgeschafft,  aber  in  den  wahlfreien 
Fächern  wieder  eingeführt,  und  viele  Schüler  haben  so  statt  der  30  (bzw.  29)  Wochen- 
stunden deren  42  (bzw.  37).  Das  ist  doch  gewiß  ein  großer  Übel- 
stand. Es  existiert  eigentlich  bis  jetzt  keine  behördliche  Anordnung,  die  die 
Anzahl  der  Wahlfächer,  an  welchen  ein  Schüler  teilnehmen  darf,  fest- 
setzt. Und  so  kommt  es  denn  vor,  daß  einige  Schüler,  besonders  solche  der  Ober- 
klassen, stark  überbürdet  werden.  Daß  dies  überhaupt  eintreten  muß,  ist 
sonnenklar,  ebenso  wie,  daß  2x2  =  4.  Das  hat  schon  etwas  vor  Erscheinen 
meines  Aufsatzes  das  Programm  von  Lüdtke  (Altona,  Realgymnasium,  Oster- 
programm  1911)  festgestellt.  Zu  diesen  Überbürdungen  tragen  natürlich  die  frei- 
willigen Ruderübungen  reichlich  bei,  da  bei  den  weiten  Entfernungen  der  Boots- 
häuser von  den  Anstalten  die  Schüler  des  Nachmittags  kaum  Zeit  haben,  auch 
ein  nur  geringeres  Arbeitsmaß  zu  erfüllen,  so  daß  sie  gezwungen  sind,  auf  der  Eisen- 
bahnfahrt dorthin  noch  Schulbücher  vor  der  Nase  zu  haben,  ein  Umstand,  der 
beweist,  wie  hastig,  eilfertig  an  solchen  Rudernachmittagen  die  Pflichtfächer 
„erledigt"  werden,  ein  Umstand,  den  eben  nur  Herr  Wickenhagen  so  völlig  miß- 
verstehen konnte.  —  Da  Herr  Wickenhagen  an  ein  Wort  des  Herrn  Ministers 


172  H.  Morsch, 

appelliert,  so  bin  ich  ebenfalls  in  der  Lage,  mich  auf  ein  solches  in  der  Frühjahrs- 
sitzung 1911  des  preußischen  Abgeordnetenhauses  zu  beziehen:  „Denn  in 
der  Tat,  diese  Dinge  können  auch  übertrieben  werde  n."*) 
Gegen  solche  Übertreibungen  hat  mein  Aufsatz  anzukämpfen  versucht. 

Mit  Herrn  Wickenhagen,  der  die  Menschen,  insbesondere  die  Kollegen  und 
Schüler,  einteilt  in  selche,  oie  Wassersport  treiben  und  in  solche,  die  keinen 
Wassersport  treiben,  mich  über  die  Vorzüge  desselben  zu  unterhalten,  unterlasse 
ich  natürlich.  Im  übrigen  wird  die  Mehrzahl  der  wassersporttreibenden  Kollegen 
wie  derer,  die  es  nicht  tun,  der  Meinung  sein,  daß  der  Ruderunterricht  wie  aer 
Turnunterricht  und  jeder  andere  Unterricht  auch  seine  Schattenseiten  hat,  auch 
in  gesundheitlicher  Hinsicht,  wenn  man  nicht  genug  acht  gibt. 
So  hat  erst  kürzlich  Du  Bois-Reymond  nachgewiesen,  daß  beim  Rennrudern  doch 
150 — ^220  Herzschläge  gezählt  werden  (Jahrbuch  1911  für  Volks-  und  Jugend- 
spiele S.  79),  und  wenn  er  weiter  hinzufügt :  ,, Während  früher  allgemein  angenommen 
wurde,  daß  das  Herz  auts  äußerste  erweitert  sei,  sc  daß  bleibende  Herzerweiterung 
befürchtet  werde,  wird  jetzt  angegeben,  das  Herz  werde  bei  Muskelarbeit  merk- 
lich kleiner",  so  schließt  er  doch  diesen  Absatz:  „Unter  diesen  Umständen  muß 
es  weiteren  Erfahrungen  vorbehalten  bleiben,  für  diesen  Teil  der  Phy- 
siologie des  Ruderns  eine  „sichere  Grundlage  zu  schaffen".  Also:  adhuc  sub  iudice 
lis  estl  In  hygienischer  Hinsicht  ist  die  Sachlage  noch 
nicht  klar. 

2.  Herr  Wickenhagen  spricht  mir  die  Fähigkeit  ab,  über  die  Ruderei  über- 
haupt zu  urteilen,  da  ich  doch  nur  ein  , »Zaungast"  der  Turn-  und  Übungsplätze 
sei.  Welche  unlogische  Schlußfolgerung !  —  Ich  und  alle  die  etwa  8927  Oberlehrer 
sind  ja  mit  Ausnahme  der  verhältnismäßig  geringen,  sehr  geringen  Anzahl  von 
Ruderlehrern,  ebenso  wie  fast  alle  diejenigen,  die  darüber  in  Gutachten  berichtet 
haben  —  worauf  er  sich  besonders  beruft  —  nur  ,, gelegentliche  Zaungäste"  und, 
was  die  Hauptsache  ist,  wir  urteilen  ja  gar  nicht  über  das  Technische  des  Ruderns, 
was  wir  allerdings  nicht  können,  sondern  über  die  Wirkung  des  Ruderns 
auf  die  Arbeiten  und  das  geistige  Fortkommen  unserer  Schüler.  Dabei  habe  ich 
und  gewiß  andere  mitunter  keinen  besonders  günstigen  Einfluß  wahrgenommen. 
Einzelheiten  stehen  jedem  zur  Verfügung.  Doch  sei  nur 
die  eine,  in  der  Reichshauptstadt  allgemein  bekannte  Tatsache  hier  hervorgehoben, 
wie  die  Rudermannschaft  einer  hiesigen  Königl.  höheren  Lehranstalt  jüngst  sich 
so  widerspenstig  und  renitent  benommen  hat,  daß  die  Königl.  Behörde  sie  von 
der  Teilnahme  an  der  nächsten  Regatta  ausschloß.  Relata  refero.  —  Also  als 
sakrosankt  darf  man  den  Ruderunterricht  doch  nicht  be- 
trachten, wie  es  so  viele  tun  möchten,  gibt  es  doch  schlaffe  und  tüchtige  Ruder- 
lehrer, wie  schlechte  und  gute  Turnlehrer!     Schon  deswegen  wird  es  doch  wohl 


*)  Die  Stelle  lautet  im  Wortlaut  des  stenographischen  Berichtes  so:  „Sie  können 
aber  auch  versichert  sein,  meine  Herren,  daß  ich  dafür  sorgen  werde,  daß  auf  unseren 
Schulen  das  richtige  Maß  gehalten  wird,  denn  in  der  Tat  können  diese 
Dinge  auch  übertrieben  werden,  und  dann  wird  derVorteil 
in  Nachteil  umgewandel  t."  (Sitzung  vom  17.  März  1911,  stenogr.  Bericht 
S.  4301.) 


Ne  quid  nimis!  173 

gestattet  sein,  auf  Mängel  auch  in  diesem  Unterrichtsfach  aufmerksam  zu  machen, 
möge  es  auch  sonst  im  allgemeinen  wohltätig  wirken. 

3.  Herr  Wickenhagen  behauptet,  mein  Aufsatz  enthielte  nur  „Nörgeleien", 
keine  positiven  Vorschläge.  Er  kann  eben  in  seiner  wassersportlichen  Begeisterung 
den  Wald  vor  lauter  Bäumen  nicht  mehr  sehen.    Ich  habe  nämlich  vorgeschlagen : 

1.  Die  Ruderschüler  müßten  nicht  bloß  beim  Eintritt  in  die  Vereine,  sondern 
alle  4 — 5  Wochen  ärztlich  untersucht  werden.*) 

2.  Die  Ordinarien  müßten  Listen  führen  über  die  Vereinsschüler,  die,  jedes 
Semester  von  neuem  zusammengestellt,  vorn  im  Tagebuch  einer  jeden  Klasse 
lägen  und  von  jedem  Lehrer  eingesehen  werden  könnten  (jetzt  liegen  solche  meist 
nur  beim  Direktor). 

3.  In  jedem  Semester  soll  in  einer  Konferenz  über  die  Vereinsschüler  verhandelt 
werden. 

4.  Die  Regatten  sollen  wegfallen,**)  das  letztemal  nahmen  überhaupt  nur  13 
höhere  Lehranstalten  daran  teil,  die  Strecke  betrug  nur  1000  m  statt  1200  m, 
wie  es  früher  der  Fall  war.  —  Möge  das  Wanderrudern  in  maßvoller  Weise,  wie  es 
Du  Bois-Reymond  in  dem  oben  erwähnten  Aufsatz  haben  will,  eifriger  gepflegt 
werden ! 

5.  Ich  hatte  gewünscht  und  wünsche  es  auch  noch  im  Interesse  der  höheren 
Schule,  daß  bald  die  Sache  der  wahlfreien  Unterrichtsfächer  von  den  Behörden 
geregelt  würde,  daß  nämlich  festgesetzt  würde,  an  wie  vielen  Wahlfäclern  ein 
Schüler  teilnehmen  darf. 

Und  da  redet  Herr  Wickenhagen  von  mir  als  „Gewohnheitsnörgler"  und  ver- 
mißt positive  Vorschläge! 

Soll  ich  auf  Herrn  Wickenhagens  Worte  weiter  eingehen?  Eines  „Kollegen", 
der,  bedeutend  älter  als  ich,  es  gewagt  hat,  eine  ganze  Klasse  von  Amtsgenossen,***) 
deren  Laufbahn  geregelter  als  die  seine  verlief,  als  „einseitig",  „verweichlicht", 
„deren  Nerven  nicht  mehr  wollen"  usw.  öffentlich  hinzustellen  nur  deshalb,  weil 
sie  nicht  Sport  treiben?  —  Wer  die  verflossene  Kulturperiode  eine  solche  „i  n  - 
nerer  Nichtigkeit"  nennt,  macht  sich  im  Kreise  geschichtlich  Denken- 
der geradezu  lächerlich.  —  Wahrscheinlich  meint  er  die  „vorwassersportliche", 
die  er  die  „Periode  innerer  Nichtigkeit"  nennt!!  Die  Nerven 
gehen  etwas  bei  ihm  durch,  ebenso  wie  die  Gedanken;  sagt  er  doch  selbst:   „Daß 


*)  Dies   fordert    jetzt   auch  Meilmann,    „Blätter  f.   höh.    Schulwesen"   No.  8,  v. 
2\.  Febr.  1912,    (Mellmann  nennt  in  seinem  Aufsatz  die  Monatschrift  für  höhere  Schulen 
„Norddeutsche  Allgem.  Pädagogische  Zeitung'*.    Ist  das  nicht  erstaunlich  witzig?  Matth.) 
**)  Auch  von   ruderfreundHcher   Seite    ist  dies    ernstlich  schon    in   Erwägung  ge- 
zogen, vergi.  C.  Heinze,  Deutsches  Philologenblatt,  7.  Febr.  1912.     No.  6. 

***)  Etwas  vorsichtig  äußert  sich  Wickenhagen  hier:  „Im  vorigen  sind  nur  allge- 
meine Betrachtungen  niedergelegt;  ob  sie  bei  dem  Berichterstatter  zutreffen,  entzieht  sich 
meiner  Kenntnis."  —  Nun,  aufmerksame  Leser  dieser  Monatschrift  werden  mich  und 
meine  Ansichten  ja  kennen,  u.  a.  auch  aus  der  Besprechung  der  zweiten  Auflage  meines 
Buches:  „Das  höhere  Lehramt  in  Deutschland  und  Österreich"  (Teubner  1910),  welche 
zu  lesen  ist  S.  538—542  des  Jahrganges  1911  dieser  Monatschrift;  hier  heißt  es  am  Schluß: 

„ aber  man  wird,  wenn  man  dem  Verfasser  zuhört,  in  ihm  einen  Mann 

von   g  e  s  u  n  d  e  m  U  r  t  e  i  1 ,   ernster   L  e  b  e  n  s  a  n  s  c  h  a  u  u  n  g   und   hoher 
Auffassung  von   der  Würde  des   Lehramts  kennen   lernen." 


174  H.  Morsch,  Ne  quid  nimis! 

Sportsleute  immer  die  besten  Kopfarbeiter  sind,  hat  noch  kein  Mensch  behauptet." 
Das  hatte  auch  ich  gesagt. 

Jedenfalls,  wenn  das  Rudern  und  der  Wassersport  solche  Gedankenblasen 
hervorquellen  läßt,  wie  sie  der  Aufsatz  von  Wickenhagen  zeigt,  wird  mancher 
Amtsgenosse  mit  mir  ausrufen:  „Gott  sei  Dank,  daß  ich  nie  Wassersport  ge- 
trieben habe!"  — 

Zum  Schluß,  auch  damit  diese  Polemik  noch  etwas  Tatsächliches  bringt, 
muß  ich  darauf  hinweisen,  daß  auch  unsere  Schulbehörden  in  meh- 
reren Verfügungen  vor  Übertreibungen  auf  dem  Gebiete  der  wahlfreien  Schüler- 
leistungen eigentlich  schon  gewarnt  haben,  wenn  sie  auch  leider  eine  feste  Zahl 
noch  nicht  angaben. 

Die  Ministerialverftigung  betr.  Einführung  der  Kurzstunde  vom  18.  Nov.  1909 
(Zentralblatt  1909,  S.  811)  enthält  nämlich  am  Schluß  folgenden  Satz: 

„Hierbei  nehme  ich  Veranlassung,  darauf  hinzuweisen,  daß  es 
nicht  zu  billigen  ist,  wenn  die  Schüler  zur  Teilnahme  an  den 
wahlfreien  Fächern  gedrängt  oder  gar  gezwungen  werden 
oder,  wenn  für  die  Nichtbeteiligung  eine  ausdrückliche  Be- 
gründung von  Seiten   der   Eltern   erfordert  wird." 

Das  sollten  sich  doch  manche  heißblütigen  Kollegen  von  der  Mathematik,  welche 
die  Schüler  zur  Teilnahme  am  Linearzeichnen  zwingen,  und  auch  solche  der  Natur- 
wissenschaft gesagt  sein  lassen;  ebenso  Neuphilologen,  die  mit  allen  möglichen 
Mitteln  zur  Teilnahme  an  fremdsprachlichen  Übungen  ihre  Schüler  drängen. 

Recht  beherzigenswert  erscheint  auch  eine  jüngere  Ministerialverfügung 
vom  13.  Juni  1910  (Zentralblatt  S.  697/98)  über  die  Schülerübungen  im  natur- 
geschichtlichen Unterricht:  „Die  Schülerversuche  im  naturgeschichtlichen  Unter- 
richt   sind  je  nach  der  Klassenstufe  in  planmäßiger  Weise  i  n  d  e  n 

Unterricht  einzuordne  n."  —  Hiernach  ist  es  eigentlich  gar  nicht  er- 
laubt, daß  besondere  Nachmittage  für  solche  freiwilligen  Übungen 
in  Anspruch  genommen  werden.  Sie  sind  eben  in  planmäßiger  Weise  in  den  Unter- 
richt einzuordnen,  besagt  die  obige  Verfügung.  —  Nun,  man  weiß  ja,  daß 
Verfügungen  oft  auf  dem  Papier  stehen,  man  weiß  aber  auch,  daß  die  Provinzial- 
behörden  von  der  Befolgung  solcher  Forderungen  der  Zentralbehörden  entbinden, 
in  diesem  Falle  vielleicht  deshalb,  weil  ein  Erfolg  solcher  Schülerübungen  nur  bei 
nicht  zu  vollen  Klassen  gewährleistet  werden  kann  und  deswegen  wohl  oft  der 
geringere  Teil  der  Schüler,  der  sich  dafür  besonders  interessiert,  auf  den  sonst 
schulfreien  Nachmittag  bestellt  wird. 

Immerhin,  wenn  beide  Verfügungen  richtig  innegehalten  würden,  es  würde  doch 
wohltätig  wirken,  und  Zerstreuung  und  Zersplitterung  der  geistigen  Kräfte  beim 
Arbeiten  unserer  Schüler  könnten  sich  wohl  etwas  mindern. 

Schließlich  noch  ein  Satz  aus  den  ,, Allgemeinen  Bemerkungen  zu  den  Lehr- 
plänen von  1901,  bei  Beier\  S.  128:  „Um  an  den  Gymnasien  eine  Über- 
b  ü  r  d  u  n  g  der  Schüler  mit  Unterrichtsstunden  zu  verhüten,  ist  dar- 
an festzuhalten,  daß  derselbe  Schüler  in  der  Regel  nur  an  dem  wahlfreien  neu- 
sprachlichen  oder  an  dem  hebräischen   Unterricht  teilnehmen   darf,  und  daß 


A.  Tilmann,  Die  Verteilung  des  akademischen  Nachwuchses  usw.  175 

eine  Beteiligung  anbeiden  Fächern  von  dem  Direktor  nur  ausnahmsweise  ge- 
stattet werden  kann." 

Muß  man  diese  Worte  nicht  sinngemäß  z.  B.  auf  das  Rudern  über- 
tragen? Denn  auch  das  Rudern  ist  „wahlfreier  Unterricht".  —  Aber  wieviele 
Schüler  nehmen  außer  am  wahlfreien  Ruderunterricht  auch  noch  an  anderen 
wahlfreien  Fächern  teil!  —  Also  auch  von  selten  der  Behörden  heißt  es:  ,,Ne 
quid  nimis!"*) 

Beriin.  H.  Mo  rsch. 

Eine  allgemeine  Verfügung  dürfte  doch  kaum  wünschenswert  sein.  Kann  sie 
überhaupt  so  gefaßt  werden,  daß  sie  alle  provinziellen  und  lokalen  Verhältnisse  be- 
rücksichtigt? Sind  nicht,  wo  Mißstände  sich  zeigen,  Direktor  und  Lehrer  Manns 
genug,  diese  zu  beseitigen?  Und  kann  nicht  da,  wo  die  Behörden  Übelstände  be- 
merken, die  einzelne  Schule  gehemmt  werden  in  ihrem  Übermaß  von  Vereins- 
bestrebungen ?  Müssen  gleich  die  Unschuldigen,  die  doch  stark  in  der  Mehrheit  sind, 
durch  eine  Verfügung  darunter  leiden,  daß  eine  verschwindende  Minderheit  vielleicht 
eine  Torheit  begeht.  Wer  aber  absolut  nach  Hilfe  von  oben  sich  sehnt,  der  kann  ja 
seinen   Hilferuf  ertönen  lassen.     Es  wird  ihn  niemand  daran  hindern.       Matthias. 


Die  Verteilung  des  akademischen  Nachwuchses  auf  die 
einzelnen  Berufe  in  den  Jahren  1903/04—1911/12. 

In  dieser  Monatschrift  von  1907,  6.  Jahrgang,  S.  301,  sind  die  Zahlen  zusammen- 
gestellt, aus  denen  die  Verschiebungen  des  studentischen  Nachwuchses  in  Preußen 
für  die  verschiedenen  Berufe  in  den  Jahren  1903/04  bis  1906/07  sich  ergeben. 
Im  folgenden  sollen  diese  Zahlen  ergänzt  werden  durch  die  inzwischen  ermittelten 
Ergebnisse  der  Jahre  1907/08  bis  1911/12. 

Die  Zahl  der  Füchse  betrug: 

1.  bei  den  evangelischen  Theologen 

1903/04    1904/05    1905/06    1906/07    1907/08    1908/09    1909/10    1910/11    1911/12 
232  239  236  242  248  185  266  270         368 

oder  in  Prozenten  der  gesamten  Füchse: 
7%         1%         1%       ^%  T%         ^%  6%  6%        8% 

Die  Zahlen  sind  im  allgemeinen  gleichbleibend.  Im  letzten  Jahre  jedoch  zeigt 
sich  absolut  und  relativ  eine  immerhin  nicht  ganz  unwesentliche  Erhöhung. 

2.  bei  den  katholischen  Theologen. 

Die  Zahl  der  Füchse  betrug  in  den  Jahren: 
1903/04    1904/05    1905/06    1906/07    1907/08    1908/09    1909/10    1910/11    1911/12 
236  272  268  264  265         275  285  280  274 


*)  Vergl.  jetzt  auch  Huckert  im  „Pädag.  Archiv"  No.  2,  S.  85:  „Zudem  hat 
die  Zersplitterung  im  Unterrichtsbetriebe,  die  Teilnahme  der  Schüler  an  den  Schüler- 
vereinen, am  Spielen,  Rudern  u.  a.  in  der  neueren  Zeit  so  zugenommen,  daß  die 
Erlangung  der  Versetzung  bzw.  des  Reifezeugnisses  nicht  erleichtert,  sondern  erschwert 
worden  ist. 


176  A.  Tilmann,  Die  Verteilung  des  akademischen  Nachwuchses  usw. 

oder  in  Prozenten  der  gesamten  Füchse: 
7%         80/0         1%         1%         1%         7%         70/^         6o/^         60/0 
Hier  sind  keine  wesentlichen  Verschiebungen  wahrzunehmen. 

3.  bei  den  Juristen. 

Die  Zahl  der  Füchse  betrug  in  den  Jahren: 

1903/04   1904/05    1905/06    1906/07    1907/08    1908/09    1909/10   1910/11    1911/12 
1095         1191         1108         1131         1115         1038         995  1010         1016 

oder  in  Prozenten  der  gesamten  Füchse: 
34%       3504        320/0        3104        300/0^      26  o/^        23%        23%       22  O/^ 

Hier  liegt  ein  deutlich  erkennbarer  dauernder  Rückgang  vor  sowohl  in  den 
absoluten  Zahlen  wie  auch  namentlich  in  den  relativen  Zahlen.  Die  Überfüllung 
des  juristischen  Berufs  hat  offenbar  das  Nachlassen  in  dem  Zugang  zum  juristischen 
Studium  zur  Folge  gehabt. 

4.  bei  den  Medizinern. 

Die  Zahl  der  Füchse  betrug  in  den  Jahren: 

1903/04   1904/05    1905/06    1906/07    1907/08    1908/09    1909/10   1910/11    1911/12 
329  328  377  493  528  659  635     '      652  781 

oder  in  Prozenten  der  gesamten  Füchse: 
10%        90/^         110/^        130/^        140/^        16  o/^        150/^        150/^        XI  % 
Hier  ist  sowohl  absolut  wie  relativ  eine  allmähliche  und  stetige  Zunahme 
festzustellen. 

5.  bei  den  Angehörigen  der  Philosophischen  Fakultät. 

Die  Zahl  der  Füchse  betrug  in  den  Jahren: 

1903/04    1904/05    1905/06    1906/07    1907/08    1908/09    1909/10    1910/11    1911/12 
1331         1425         1527         1565         1596         1882         2118         2233         2177 : 

oder  in  Prozenten  der  gesamten  Füchse: 
41%       41%       430/0       420/^       42  0/^       Al%       490/^       500/^       470/^ 

Man  sieht  aus  diesen  Zahlen,  daß  der  Zudrang  zum  philosophischen  Studium 
recht  erheblich  gestiegen  ist.  Den  Höhepunkt  erreicht  das  Jahr  1910/11  mit 
2233  Füchsen  und  50  %  der  gesamten  Füchse.  In  dieser  Bewegung  kommt  die 
günstige  Beurteilung  der  Aussichten  des  philologischen  Studiums  zum  Ausdruck, 
welche  in  den  Mangel  an  Anwärtern  und  der  günstigen  Gestaltung  der  ökono- 
mischen Verhältnisse  in  diesem  Beruf  seinen  Grund  hat.  Es  bleibt  abzuwarten, 
ob  das  im  Jahre  1911/12  zum  erstenmal  wieder  beobachtete  Nachlassen  anhalten 
wird.  Im  allgemeinen  wird  man  sagen  können,  daß  die  Beteiligung  der  Philo- 
sophischen Fakultät  an  dem  studentischen  Nachwuchs  sich  zu  einer  Höhe  ent- 
wickelt hat,  die  als  außergewöhnlich  bezeichnet  werden  kann. 

Für  die  einzelnen  Studiengebiete,  die  bei  der  Philosophischen  Fakultät  be- 
sonders in  Betracht  kommen,  sind  die  Zahlen  folgende: 


A.  Tilmann,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten.     177 

a)   Klassische  Philologie  und  Deutsch. 
Die  Zahl  der  Füchse  betrug  in  den  Jahren: 
1903/04    1904/05    1905/06    1906/07    1907/08    1908/09    1909/10    1910/11    1911/12 
380  533  574  525  618  644  697  637  569 

oder  in  Prozenten  der  gesamten  Füchse: 
12%        15%        16  <%        140/^        16%        16%        16%         140/^        120/^ 

b)  Neuere  Philologie. 
Die  Zahl  der  Füchse  betrug  in  den  Jahren: 
1903/04    1904/05    1905/06    1906/07    1907/08    1908/09    1909/10    1910/11    1911/12 
243  259  249  254  278  401  425  511  519 

oder  in  Prozenten  der  gesamten  Füchse: 
8%         1%         T%         T%         ^%         ^0%        100/0        110/^        110/^ 
c)  Mathematik  und  Naturwissenschaften. 
Die  Zahl  der  Füchse  betrug  in  den  Jahren: 

1903/04    1904/05    1905/06    1906/07    1907/08    1908/09    1909/10    1910/11    1911/12 
460  407  413  477  446  539  648  695  680 

oder  in  Prozenten  der  gesamten  Füchse: 
14%        12%        120/^        130/0        120/^        130/^        15%        16  0/^        150/^ 

Es  sei  noch  bemerkt,  daß  die  vorstehenden  Zahlen  sich  auf  die  an  preußischen 
Universitäten  ihr  Studium  beginnenden  jungen  Leute  beziehen.  Das  in  Preußen 
immatrikulierte  Studentenkontingent  des  ersten  Semesters  ist  nicht  identisch  mit 
dem  für  Preußen  in  Betracht  kommenden  Nachwuchs.  Denn  es  sind  auch  außer- 
preußische Deutsche  dabei  und  es  fehlen  die  Preußen,  welche  an  anderen  Univer- 
sitäten beginnen.  Trotz  dieser  Mängel  scheint  die  Statistik  verwertbar,  einmal 
weil  kaum  anzunehmen  ist,  daß  das  hinzutretende  und  das  fehlende  Element  eine 
Änderung  der  Resultate  herbeiführt,  da  im  allgemeinen  die  hier  wirkenden  Ur- 
sachen gleich  sind,  sodann  aber  auch  deswegen,  weil  der  Schwerpunkt  im  Vergleich 
der  einzelnen  Jahre  und  der  dabei  beobachteten  Entwicklung  liegt,  bei  dem  Vergleich 
aber  vorhandene  Fehler  sich  aufheben  würden. 

Groß- Lichterfelde.  A.  Tilmann. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen 

Universitäten. 

Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten  im 
Winter-Semester  1911/12.  Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studie- 
rende, die  nicht  auf  Grund  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  immatrikuliert 
waren,  unberücksichtigt.  Von  den  nachstehenden  Zusammenstellungen  umfaßt 
die  erste  alle  im  Winter-Semester  1911/12  an  den  preußischen  Universitäten  im- 

Monatschrift  f.  h5h.  Schulen.    XL   Jhrg.  12 


176  A.  Tilmann, 

matrikulierten  Studierenden,  die  zweite  nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Er- 
hebung im  ersten  Semester  standen. 

I.    Im  Winter-Semester  1911/12  waren  insgesamt  immatrikuliert; 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  1408  Studierende, 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums   ....  1404 

„         ,,                ,,                M       Realgymnasiums    .  .  4 

b)  in  der   Katholisch-Theologischen   Fakultät  920   Studierende, 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  5978  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  4748 

„        „                 „                „      Realgymnasiums    .   .  892 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    .   .   .  338 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  4378  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  3349 

„        „                 „                ,,      Realgymnasiums    .   .  741 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    .   .    .  288 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  1 1  702  Studierende,  davon  immatri- 
kuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  7317 

„        „                 „                „      Realgymnasiums    .   .  2519 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    .   .   .  1866 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  262  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  172 

„        ,,                 „                „      Realgymnasiums    .   .  64 

„        „                  ,,             einer  Oberrealschule    ...  26 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  3651  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  3220 

„        „                 ,,                „      Realgymnasiums    .   .  306 

„        „                  „             einer  Oberrealschule    ...  125 

3.  Neuere  Philologie  2452  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  962 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums    .    .  883 

„        „                 ,.              einer  Oberrealschule    ...  607 

4.  Geschichte  858  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  675 

,,        ,,                  ,,                 ,,      Realgymnasiums    .   .  137 

.,        ,.                 „             einer  Oberrealschule    ...  46 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten.  179 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  3502  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     1684 
„        „  „  „      Realgymnasiums    .    .       896 

„        „  „  einer  Oberrealschule    .   .    .       922 

6.  Sonstige  Studienfächer  977  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....      604 

„  „  „      Realgymnasiums    .   .       233 

„        „  „  einer  Oberrealschule    ...       140 

II.  Von  den  unter  I.  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  in    der    Evangelisch-Theologischen    Fakultät    99  Studierende,    im- 
matrikuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums.    [^      ;\ 

b)  in  der  Katholisch-Theologischen   Fakultät  26  Studierende,  immatri- 
kuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums.  ^-^-^"'^  \ 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  303  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....      215 
„  „  „      Realgymnasiums    .   .        62 

„  „  einer  Oberrealschule    ...        26 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  213  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....       153 

„        „  „  „      Realgymnasiums    .   .        49 

„  „  einer  Oberrealschule  ...        11 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  552  Studierende, davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....       267 

„  „  „      Realgymnasiums    .    .       190 

„        „  „  einer  Oberrealschule    ...        95 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  20  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  9 

„  ,,  „      Realgymnasiums    .   .  9 

„  „  einer  Oberrealschule    ...  2 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  125  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....        88 
„        „  „  „      Realgymnasiums    .   .        30 

„        ,,  „  einer  Oberrealschule    ...  7 

3.  Neuere  Philologie  119  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  32 

„        „  „  „      Realgymnasiums    .   .  58 

„        „  „  einer  Oberrealschule    ...  29 

12* 


180    A.  Tilmann,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten. 

4.  Geschichte  33  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  24 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  9 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  164  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  62 

„        „                 „                „     Realgymnasiums    .   .  61 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    ...  41 

6.  Sonstige  Studienfächer  91  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  52 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  23 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    ...  16 
Gr.- Lichterfelde.                                                             A.   Tilmann. 


II.   Programmabhandlungen 


Religion. 

1911  (1910). 

Anz,  Heinrich,  Prof.  Dr.,  Literaturgeschichte  des  Alten 
Testaments  im  Abriß.  Wiss.  Beilage  zum  Jahresbericht  des  Kgl.  Kaiserin 
Augusta-Gymnasiums  in  Charlottenburg.     1911.     Progr.-No.  79. 

Die  Schrift  stellt  das  Alte  Testament  zunächst  in  den  Zusammenhang  der 
orientalischen  Kultur  und  Literatur  und  schildert  dann  die  Entstehung  der  ein- 
zelnen Schriftwerke  im  Rahmen  eines  Geschichtsabrisses,  indem  im  wesentlichen 
die  gesicherten  Ergebnisse  der  heutigen  Forschung  zugrunde  gelegt  werden.  Die 
Schrift  dürfte  in  den  Händen  von  Schülern  der  oberen  Klassen  den  stiefmütteriich 
bedachten  Unterricht  im  Alten  Testament  gut  unterstützen  und  Verständnis  und 
Schätzung  desselben  fördern. 

Starcke,  Carl,  Dr.,  Die  Rhetorik  des  Apostels  Paulus  im 
Galaterbrief  und  die  TirjXixa  7pa[xjiaxa.  Gal.  6,  11.  Beilage  zum 
Programm  der  Oberrealschule  in  Stargard  i.  P.     1911.     Progr.-No.  221. 

Die  Studie  sucht  zu  erweisen,  daß  der  Galaterbrief  nach  den  Regeln  des  Rhetors 
Hermogenes  von  Tarsus  (rekonstruiert  nach  Aphthonius)  disponiert  sei,  und  der 
Apostel  mit  dem  Ausdruck  TuyjXixa  ^pa'ixaaT«  auf  die  angewendete  rethorische 
Kunst  hinweise. 

Hoffmann,  Friedrich,  Dr.,  Proben  einer  Erklärung  des  Jo- 
hannesevangeliums für  Primaner.  Beilage  zum  Jahresbericht 
des  KgL  Kaiserin  Auguste  Viktoria-Gymnasiums  in  Linden.    1911.    Progr.-No.  423. 

Erläutert  sind  der  Prolog,  das  Nikodemusgespräch  und  das  Gespräch  mit 
der  Samariterin.  Das  Streben  des  Verfassers  geht  dahin,  durch  möglichste  Lebendig- 
machung  der  einzelnen  Situationen  den  Inhalt  auf  das  Gemüt  wirken  zu  lassen. 
Nach  meiner  Ansicht  muß  dabei  doch  viel  eingetragen  werden,  was  im  Text  wenig 
Anhalt  hat.  Auch  ist  mir  namentlich  in  der  Prologerklärung  fraglich,  ob  nicht  über 
den  Standpunkt  des  Primaners  hinausgegangen  ist.  Immerhin  sind  gerade  solche 
Arbeiten  für  den  Religionslehrer  besonders  nützlich,  weil  sie  mindestens  zu  immer 
neuer  Prüfung  des  Verfahrens  anregen. 

Piske,  Max,  Oberiehrer,  Gedankengang  und  Gliederung  des 
ersten  Johannesbriefes.  Wiss.  Abhandlungen  zu  dem  Jahresbericht 
des  Kgl.  Bugenhagen- Gymnasiums.     1911.     Progr.-No.  216.  B. 

Die  Schrift  bietet  eine  scharfsinnige  und  eindringende  Analyse  des  Briefes, 
doch  scheint  mir  auch  diese  Disposition  noch  nicht  zwingend.    Vielmehr  regt  sie 


182  H.  Schmidt,  Religion. 

nur  neu  die  Frage  an,  ob  man  durch  solch  eine  strikt  durchgeführte  Disposition 
dem  Sendschreiben  nicht  überhaupt  Gewalt  antut.  Die  orientalische  Eigenart, 
einige  Grundgedanken  ohne  strenge  logische  Folge  immer  neu  zu  wenden,  wie 
sie  uns  namentlich  in  den  erbaulichen  Schriften  der  syrischen  Kirche  so  oft  ent- 
gegentritt, scheint  mir  auch  in  den  johannischen  Schriften  erkennbar  zu  sein. 

Rostalski,  Friedrich,  Oberlehrer,  Sprachliches  zu  den  apokry- 
phen Apostelgeschichten.  II.  Teil :  Die  Casus  obliqui  in  den  Thomas- 
akten (nebst  textkritischen  Bemerkungen).  Wiss.  Beilage  zum  Jahresbericht  des 
Gymnasiums  Myslowitz.     1911.     Progr.-No.  283. 

In  statistischer  Methode  stellt  der  Verfasser  in  Fortsetzung  seiner  vorjährigen 
Untersuchungen  das  sprachliche  Verhältnis  der  Thomasakten  zur   Koine  fest. 

Hönn,  Carl,  Dr.,  Studien  zur  Geschichte  der  Himmelfahrt 
im  klassischen  Altertum.  Großherzogl.  Karl  Friedrichs-Gymnasium 
Mannheim.  1910.     Progr.-No.  846. 

Die  sehr  wertvolle  Skizze  bewegt  sich  auf  dem  Gebiet  der  Religionsgeschichte 
und  hat  daher  mit  vielen  Unsicherheiten  noch  zu  kämpfen.  Sie  arbeitet  aber  in 
anschaulicher  Weise  die  Geschichte  der  Vorstellungen  von  Vergöttlichung  und 
Himmelfahrt  heraus,  wie  sie  sich  von  der  homerischen  Zeit  bis  in  den  Hellenismus 
verfolgen  läßt.  Wenn  auch  manche  Lücke  noch  klafft,  fällt  doch  auf  die  Vorstellungs- 
welt des  entstehenden  Christentums  manches  bedeutsame  Licht. 

Wrampelmeyer,  Hermann,  Prof.  Dr.,  Ungedruckte  Schriften 
Philipp  Melanthons.  Beilage  zum  Jahresbericht  des  Kgl.  Gym- 
nasiums zu  Clausthal.     1911.    Progr.-No.  412. 

Es  wird  die  Fortsetzung  des  im  vorigen  Jahre  Veröffentlichten  geboten.  Be- 
sonders beachtenswert  sind  die  Eriasse  des  Rektors  Melanthon  an  die  Studenten. 

Maire,  Siegfried,  Prof.  Dr.,  Ober  württembergische  Walden- 
serkolonisten  in  den  Jahren  1717 — 1720.  Wiss.  Beilage  zum  Jahres- 
bericht des  Askanischen  Gymnasiums  zu  Beriin.     1911.     Progr.-No.  62. 

Die  sorgfältige  Schrift  zeigt  die  langen  fruchtlosen  Verhandlungen,  die  Leiden 
und  Enttäuschungen  einiger  Waldenserfamilien,  die  in  Preußen  Zuflucht  suchten. 

Neumann,  Robert,  Prof.  Dr.,  Herder  und  der  Kampf  gegen 
die  kantischen  Irrlehren  an  der  Universität  Jena.  Wiss. 
Beilage  zum  Jahresbericht  des  Sophien-Gymnasiums  zu  Beriin.  1911.  Progr.-No.  76. 

Die  Schrift  gibt  ein  anschauliches  Bild  der  Stellung,  die  Herder  in  den  gei- 
stigen Kämpfen  eingenommen  hat,  die  durch  das  Aufkommen  der  kantischen 
Philosophie  in  Jena  entstanden  waren.  Die  vornehme  Haltung  Herders  und  seine 
praktische  Arbeit  werden  treffend  gewürdigt. 

Petersdorff,  Rudolf,  Dr.,  Kgl.  Gymnasialdirektor,  Die  Unterstützung 
der  Kirche  und  Schule  in  d  e  r  r  e  1  i  gi  ose  n  Jugenderzie- 
hung durch  das  christliche  Haus.  Kgl.  Kaiser  Wilhelms-Gym- 
nasium zu  Strehlen.     1911.     Progr.-No.  296. 

Die  Arbeit,  zunächst  als  Referat  für  die  Kreissynode  bestimmt,  gibt  eine 
Fülle  beherzigenswerter  Anregungen.  Nur  zwei  Punkte  hätten  sich  zu  noch  stär- 
kerer Herausarbeitung  empfohlen:  einmal  die  Pflicht  und  Verantwortung  des 
Elternhauses,  dann  aber  auch  die  Betonung  der  Grenzen,  die  der  Erziehung,  be- 


F.  A.  Jungbluth,  Stenographie.  183 

sonders  der  religiösen,  gesteckt  sind.  Hier  herrschen  noch  viel  unklare  Vorstel- 
lungen, und  daher  stammt  auch  eine  Reihe  von  unbilligen  Anforderungen  an  die 
Schule. 

Hartmann,  Karl,  Oberlehrer  Dr.,  Englische  Frömmigkeit  eine 
Studie.  Bes.  Beilage  zum  Jahresbericht  des  Prot.  Gymnasiums  zu  Straßburg. 
1910.     Progr.-No.  726. 

Eine  höchst  dankenswerte  und  anziehende  Schilderung  der  englischen  Frömmig- 
keit nach  ihrer  eigentümlichen  praktischen  Energie  und  Kraft,  aber  auch  in  ihrer 
Begrenztheit  gegenüber  tieferen  Problemen.  Besonders  gelungen  ist  der  Ver- 
gleich englischer  und  deutscher  Frömmigkeit. 

Johne,  Hugo,  Prof.,  Zur  Charakteristik  des  Islam.  Beilage 
zum  Jahresbericht  des  Kgl.  Friedrichskollegiums  zu  Königsberg  i.  Pr.  1911. 
Progr.-No.  6. 

Die  Schrift  gibt  zunächst  ein  Bild  der  mohammedanischen  Frömmigkeit,  dann 
der  Sittlichkeit,  stellt  ferner  das  feindselige  Verhältnis  zum  Christentum  dar  und 
würdigt  den  Islam  als  Kulturfaktor.  Das  Urteil  bemüht  sich,  möglichst  gerecht 
zu  sein,  kann  und  will  aber  nicht  die  Schwächen  des  Islam  verschweigen. 

Roßleben.  H.   Schmidt. 


Stenographie. 

1897—1909. 

Seit  einigen  Jahren  sind  bekanntlich  unter  Führung  der  Reichsregierung  Ver- 
handlungen im  Gange,  welche  die  Vereinheitlichung  der  Kurz- 
schrift in  Deutschland  zum  Ziele  haben.*)  Das  Ergebnis  dieser  Ver- 
handlungen wird  nicht  ohne  Einfluß  auf  den  Unterricht  der  Steno- 
graphie an  den  höheren  Schulen  bleiben ;  gelingt  es,  eine  deutsche 
Einheitskurzschrift  zu  schaffen  (und  das  ist  die  Hoffnung  aller  derer,  die  in  der 
Stenographie  als  Verkehrs  schritt  einen  Kulturfaktor  von  nicht  zu  unter- 
schätzendem Werte  sehen),  so  wird  dadurch  die  Stellung  der  maßgebenden  Be- 
hörden zur  Frage  des  stenographischen  Unterrichts  vielfach  eine  Änderung  er- 
fahren. Diese  Erwägung  legt  den  Gedanken  nahe,  gerade  jetzt  einmal  zusammenzu- 
stellen, was  in  den  letzten  Jahren  in  Schulprogrammbeilagen  über  diesen  Punkt 
geschrieben  worden  ist.  Soweit  ich  feststellen  konnte,  liegen  zu  dieser  Frage  vier 
Arbeiten  vor: 

1.  Henke,  Osk.,  Der  Unterricht  in  der  Stenografie  auf 
höheren  Schulen.  Gymnasium  zu  Bremen.  1897.  Progr.-No.  751.  16  S. 
und  eine  Schrifttafel. 

2.  Horstmann,  Wilh.,  Die  Stenographie  und  die  höhere 
Schule.     Gymnasium  Georgianum  in  Lingen.     1897.     Progr.-No.  323.     11  S. 

*)  Eine  übersichtliche  Darstellung  der  Vorgeschichte  und  des  bisherigen  Verlaufs 
dieser  Verhandlungen  findet  sich  in  den  Aufsätzen  von  Mager:  „Geschichte  der 
sten.  Einheitsbestrebungen"  (Verl.  Gerdes  &  Hödel)  und  „Die  sten.  Einheitsbestrebungen 
in  den  Jahren  1906—1909"  im  „Archiv  f.  Stenogr."  1909  und  in  den  Mitteilungen 
des  gleichen  Verf.  in  den  späteren  Jahrgängen  des  „Arch.  f.  Stenogr.". 


184  F.  A.  Jtingbluth, 

3.  Corsenn,  Über  die  Möglichkeit,  die  Stenographie 
in  die  unteren  Klassen  der  höheren  Lehranstalten  ein- 
zuführen, nebst  einer  Anleitung  dazu.  Stadt.  Realgymnasium  zu  Lennep. 
1898.    Progr.-No.  505.    84  S.  und  17  S.  Stenogr. 

4.  Gese,  Joh.,  Über  den  stenographischen  Unterricht 
an  den  höheren  Schulen.  Gymnasium  zu  Gartz  a.  0.  1908.  Progr.- 
No.  185.    40  S. 

Der  wesentliche  Inhalt  der  Schriften  gliedert  sich  in  die  Beantwortung  der 
Fragen:  Welche  Gründe  sprechen  für  die  Einführung  des  kurzschriftlichen  Unter- 
richts? Sind  die  Einwände  gegen  eine  solche  Einführung  stichhaltig?  Auf  welcher 
Stufe  und  in  welcher  Form  soll  der  Unterricht  erteilt  werden? 

Die  grundlegende  Frage,  ob  die  höhere  Schule  die  Pflicht 
habe,  stenographische  Kenntnisse  zu  vermitteln,  wird 
von  Horstmann  nur  nebenher  berührt.  Henke  und  C  o  r  s  e  n  n  behandeln 
sie  ausführlicher,  alle  in  bejahendem  Sinn.  Mit  kritischer  Gründlichkeit  beleuchtet 
sie  nur  Gese.  Auch  er  fordert  die  Einführung  der  Kurzschrift  und  zwar  haupt- 
sächlich wegen  ihres  großen  praktischen  Nutzens;  er  meint  damit  aber  nicht 
den  Nutzen,  den  im  späteren  Leben  Parlamentsstenographen,  Sekretäre  und  kauf- 
männische Diktatstenographen  daraus  ziehen  können  (solche  Stenographen  aus- 
zubilden sei  Sache  der  Fachschulen),  vielmehr  den  Gewinn  an  Zeit  und  Kraft, 
den  sie  Jedem,  der  viel  zu  schreiben  hat,  bietet.  Da  dieser  Nutzen  schon  den 
Schülern  der  Oberklassen  in  ihren  häuslichen  Arbeiten  vielfältig  zugute  kommt, 
so  ist  der  stenographische  Unterricht  auch  um  der  Schule  selbst  willen  ein- 
zuführen. Im  späteren  Leben  aber  „ist  die  Kurzschrift  dazu  berufen,  bei  der  ohne 
ihre  Verwendung  oft  niederdrückenden  Schreibarbeit  die  Leistungsfähigkeit  ganz 
erheblich  zu  steigern  und  die  Arbeitslast  zu  mildern,  wohl  gar  in  Arbeitslust  zu 
verwandeln." 

Dieser  Nutzen  wäre  aber  teuer  erkauft,  wenn  die  E  i  n  w  ä  n  d  e  ,  die  man 
gegen  die  Einführung  des  Unterrichts  geltend  macht,  auch  nur  zum 
Teil  stichhaltig  wären.  Deshalb  sehen  die  Verfasser  teilweise  ihre  Hauptaufgabe 
darin,  solche  Bedenken  als  hinfällig  nachzuweisen.  So  Horstmann,  dessen 
Abwehr  allgemein  gehalten  ist,  und  C  o  r  s  e  n  n  ,  der  sich  darauf  beschränkt,  zu 
zeigen,  daß  die  Einwände  der  Preußischen  Unterrichtsverwaltung  für  das  System 
Stolze-Schrey  nicht  zutreffen.  Am  sachlichsten  behandelt  diesen  Punkt  wieder 
Gese;  er  gibt  die  vollständigste  Zusammenstellung  aller  erhobenen  Bedenken, 
widerlegt  aber  eingehend  nur  die  schwerwiegendsten  (Die  Stenographie  gefährde 
Orthographie  und  Grammatik,  verschlechtere  die  Handschrift,  fördere  die  Kurz- 
sichtigkeit, sei  schwer  zu  erlernen  und  schwer  wiederlesbar).  Das  Ergebnis  seiner 
gründlichen  Untersuchung  lautet:  „Alle  Schäden,  die  man  der  Stenographie  vor- 
wirft, lösen  sich  bei  näherer  Betrachtung  in  nichts  auf  oder  verwandeln  sich  wohl 
gar  in  Vorzüge". 

Ebenso  einig  wie  in  der  Wertung  des  Für  und  Wider  sind  sich  die  Verfasser 
in  der  nun  aufsteigenden  Frage:  wie  soll  der  Unterricht  eingeführt  werden,  obli- 
gatorisch oder  fakultativ?  Hier  sind  sie  einstimmig  der  Meinung: 
der  Unterricht  muß  verbindlich  sein,  denn  nur  durch  einen  solchen  werden  die 


Stenographie.  185 

Schäden  der  jetzigen  Unterrichtsart,  die  vielfach  „Halbwisser  züchtet",  vermieden 
(Henke  und  Gese);  auch  hat  die  Schule  „die  Pflicht, dafür  zu  sorgen,  daß  alle  ihre 
Zöglinge  ohne  Ausnahme  des  vielseitigen  und  großen  Nutzens  der  Stenographie  für 
Schule  und  Leben  teilhaftig  werden"  (G  e  s  e). 

Bleibt  noch  zu  entscheiden,  auf  welcher  Stufe  dieser  verbindliche 
Unterricht  eingeführt  werden  soll.  Henke  fordert  aus  guten  Gründen  einen 
propädeutischen  Kursus  nach  Art  des  Schreibunterrichts  auf  Sexta  und  Quinta 
und  eine  systematische  Durchnahme  auf  Quarta.  C  o  r  s  e  n  n  schließt  sich  dieser 
Forderung  vollkommen  an  und  weist  eingehend  nach,  daß  eine  solche  Lehrmethode 
für  das  Einigungssystem  Stolze-Schrey  möglich  ist.  Seine  ausführlichen  „Er- 
läuterungen zu  den  kurzschriftlichen  Schreibheften"  (S.  25 — 84)  sind  methodisch 
sehr  wertvoll.  Gese  ergänzt  diese  Anregungen  durch  die  Vorschläge,  auf  Quarta 
an  Stelle  der  Schreibstunde  für  Schüler  mit  schlechter  Handschrift  und  auf  Tertia 
(der  Zeit  des  Stimmwechsels)  die  Gesangstunde  durch  Stenographiestunden  zu 
ersetzen. 

Zu  der  Frage  schließlich,  welches  unter  den  bestehenden  Systemen 
zur  Einführung  als  Pflichtfach  in  die  Schule  besonders  geeignet  sei,  nehmen  nur 
Henke  und  C  o  r  s  e  n  n  Stellung;  sie  entscheiden  sich  beide  für  das  Einigungs- 
system Stolze-Schrey/ [^j  }] 

Außer  diesen  Schriften,  die  sich  mit  dem  stenographischen  Unterricht  be- 
fassen, sind  in  den  letzten  Jahren  noch  zwei  andere  Programmbeilagen  kurz- 
schriftlichen Inhalts  erschienen: 

5.  Klöpel,  Das  Duployesche  Stenographiesystem  und 
seine  Metagraphie.  Realschule  zu  Pirna.  1909.  Progr.-No.  784.  22  S. 
u.  4  S.  Stenogr. 

6.  Resl,  Wlad.,  Geschichte  der  polnischen  S.tenographie. 
K.  K.  zweites  Staatsgymnasium  in  Lemberg.     1908.    21  S. 

Klöpel  gibt  einen  gründlichen  Einblick  in  den  Aufbau  des  gegenwärtig 
verbreitetsten  französischen  Stenographiesystems,  von  dem  Victor  Hugo  weis- 
sagte: „Elle  sera  Tecriture  populaire  et  universelle  du  vingtieme  siecle". 
Das  Studium  dieser  Schriftart  ist  für  uns  deshalb  von  besonderem  Reiz,  weil 
Duploye,  wie  fast  alle  anderen  außerdeutschen  Stenographieerfinder,  geometrisches 
Zeichenmaterial  benutzt.  Die  Arbeit  kann  allen,  die  sich  mit  der  ,, vergleichenden 
Morphologie"  der  Stenographiesysteme  befassen  wollen,  nur  empfohlen  werden. 

Resl  unterrichtet  uns  über  die  wichtigsten  Entwicklungsstufen  der  polni- 
schen Stenographie.  Wir  erfahren  da  u.  a.,  daß  heute  im  polnischen  Sprachgebiet 
eine  Übertragung  des  Systems  Gabelsberger  die  am  häufigsten  verwertete  Kurz- 
schrift ist.  Sie  ist  auch  an  den  Mittelschulen  als  wahlfreier  Lehrgegenstand 
eingeführt  und  wird  an  den  Universitäten  Krakau  und  Lemberg  unterrichtet.  An 
der  Universität  Lemberg  besteht  auch  schon  seit  1868  eine  eigene  Prüfungs- 
kommission für  K a n d i d a t e n  d  e  s  Lehramtes  der  Steno- 
graphie (in  Deutschland  gibt  es  solche  staatlichen  Kommissionen  bekanntlich 
nur  in  München  und  Dresden). 

Bonn.  F  r  a  n  z    A.  J  u  n  g  b  I  u  t  h. 


III.    Bücherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 

Schriften  aus  dem  Gebiete  von  Myttius,  Sage,  Märchen. 

Richard  M.  Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte. 
Leipzig  1910.    Quelle  &  Meyer.    XX  u.  645  S.     gr.  8".    geh.   16  M.,  geb.  17  M. 

F.  von  der  Leyen,  D  a  s  M  ä  r  c  h  e  n.  Ein  Versuch.  Leipzig  1911.  Quelle  & 
Meyer.    154  S.    8».    geh.  1  M.,  geb.  1,25  M.    (Wissenschaft  und  Bildung  Nr.  96). 

G.  Klee,  Die  deutschen  Heldensagen.  Volksausgabe.  Gütersloh. 
J.   Bertelsmann.    VI  u.  431  S.    8».    geb.  3  M. 

J.  Stuhrmann,  Die  Ideeunddie  HauptcharakterederNibe- 
lungen.    3.  Aufl.    Paderborn  1910.    F.  Schöningh.     109  S.    8».    geh.  1,60  M. 

Viktor  Junk,T  annhäuser  inSage  undDichtung.  München  191 1. 
C.  H.  Beckscher  Verlag  (O.  Beck).    51  S.    8°.    geh.  1  M. 

F.  Ranke,  Der  Erlöser  in  der  Wiege.  Ein  Beitrag  zur  deutschen 
Volkssagenforschung.    München  1911.    ebenda.    78  S.    8^.    geh.  2,80  M. 

Die  germanische  Mythologie  von  Rieh.  M.  Meyer  hat 
insofern  einen  irreführenden  Titel,  da  sie  weniger  eine  religionsgeschrchtliche  Ent- 
wicklung der  mythologischen  Vorstellungen  der  altgermanischen  Stämme,  ihrer 
Abhängigkeit  voneinander  und  von  dem  religiösen  Glauben  anderer  Völker  bietet 
und  bieten  will,  als  vielmehr  eine  Darstellung  der  germanischen  Mythologie  über- 
haupt, nach  dem  Vorgange  der  bekannten  Werke  von  Mogk,  E.  H.  Meyer,  Golther 
usw.  Das  1.  Kapitel  handelt  von  dem  Wesen  und  dem  Begriff  der  Mythologie, 
ihrer  „Formenlehre",  ihrer  typischen  Entwicklung;  letztere  sieht  Verf.  in  dem 
Aufsteigen  der  Vorstellungen  der  sogenannten  niederen  Mythologie  (1.  Augenblicks- 
götter. 2.  Fetischismus.  3.  Animismus.  4.  Dämonismus)  zu  denen  der  höheren 
Mythologie  (5.  Götterverehrung.  6.  Ethisierung.  7.  Kodifikation).  Das  2.  Kapitel 
erörtert  das  indogermanische  Erbe,  den  „germanischen  Faktor",  die  Quellen  der 
germanischen  Mythologie,  das  3.  Kapitel  die  Gestalten  der  niederen  Mythologie 
(„Augenblicksgötter",  Fetische,  Seelen,  Ahnengeister,  Naturgeister,  Dämonen, 
Riesen  und  Zwerge,  „Zaubermenschen",  zu  denen  Alpreiter,  Werwolf,  Berserker, 
Gestaltentauscher,  Bilwis,  Hexen,  Zauberer  und  Wahrsager  gerechnet  werden). 
Das  4.  Kapitel  nimmt  den  größten  Raum  ein  und  spricht  über  die  „halbgöttlichen 
Wesen"  (Nornen,  Walküren,  Schwanenjungfrauen  und  im  Anschluß  an  „Schwanen- 
Jünglinge"  (?)  über  die  Wielandsage,  Mimir),  die  Götter  (Tyr,  Ingvo,  Isto,  Irmino, 


A.  Zehme,  Schriften  aus  dem  Gebiete  von  Mythus,  Sage,  Märchen.  187 

Saxnot,  Frey,  Njord  und  Nerthus,  Skadi,  Freyja,  Wodan,  Frigg,  Thor,  Sif,  Thors 
Mutter,  Balder),  die  „Gegengötter"  (Hod,  Loki  und  seine  Sippe,  Nidhögg,  Surt, 
Hrym,  Hräsvelg),  die  „eddischen  Nebengötter"  (Heimdall,  Hönir,  Widar,  Wali, 
Ullr,  Forseti,  Bragi,  Idun,  Loki  und  Hod,  die  Wanen),  die  nacheddischen  Gott- 
heiten" (Hei,  Ran,  Ägir,  Thorgerd  Hölgabrud,  Sol),  die  „außereddischen  Gott- 
heiten" (Alces,  Tanfana,  Nehalennia,  Baduhenna,  Requalivahanus  u.  a.),  die 
„angeblichen  Göttinnen"  (Eostra).  Das  5.  Kapitel  ist  dem  Kultus  gewidmet, 
das  6.  („Weltanschauung")  der  Lehre  von  Weltuntergang  und  Weltschöpfung, 
der  Einteilung  und  Ordnung  der  Welt  (die  Welten,  geographische  Beziehungen 
der  Welten,  Alltagsleben  und  große  Momente  in  der  Götterwelt).  Das  7.  und  8. 
Kapitel  gibt  Beiträge  zur  Geschichte  der  altgermanischen  Religion  in  der  urger- 
manischen und  „junggermanischen"  Periode  (altdeutsche,  angelsächsische,  alt- 
nordische Religion),  zur  Systembildung  (Genealogie,  Zählung,  Klassifikation),  zur 
altnordischen  Theologie  (Moralisierung,  Götternamen,  Charakteristik  der  Götter, 
Kodifikation).  Das  9.  und  letzte  Kapitel  bringt  eine  gute  Übersicht  über  die 
Geschichte  der  germanischen  Mythologie  und  die  verschiedenen  Methoden  und 
Richtungen  der  Forschung,  wobei  u.  a.  Saxo,  Mallet,  Rühs,  Grundtvig,  Uhland 
besprochen  werden,  sodann  die  Vertreter  der  „beschreibenden  Mythologie"  (J. 
Grimm,  W.  Müller,  die  beiden  Petersen),  der  „historischen  M."  (Müllenhoff),  der 
, »vergleichenden  M."  (Max  Müller;  Hahn,  Köhler,  Bolte),  der  ,, folkloristischen  M." 
(Mannhardt,  Tylor),  der  „adaptionistischen  M."  (Gruppe),  der  ,,folkloristisch- 
adaptionistischen  M."  (Bugge,  E.  H.  Meyer),  der  „folkloristisch-historischen  M." 
(Usener,  Ed.  Meyer,  E.  Rohde),  der  „psychologischen  M."  (Wundt)  und  endlich 
der  „gegenwärtige  Betrieb"  (Überschätzung  der  niederen  Mythologie,  Überschätzung 
der  ursprünglichen  Gleichheit).  Den  Schluß  bilden  eine  „Chronologie"  von  5000  v.  Ch. 
(„Beginn  der  menschlichen  Kultur")  bis  1909  (v.  der  Leyen,  Deutsches  Sagenbuch) 
(sie!),  Nachträge  und  Berichtigungen,  Verzeichnisse  der  besprochenen  Stellen, 
Mythen  und  Motive,  und  ein  Register.  —  Schon  diese  Inhaltsangabe  dürfte  die 
Licht-  und  Schattenseiten  des  Werkes  erraten  lassen.  Die  Vorzüge  liegen  in  der 
gewohnten  Reichhaltigkeit  des  Materials,  welches  mit  dem  bekannten  Sammel- 
fleiß des  sehr  belesenen  Verfassers  von  allen  Seiten  unermüdlich  zusammengetragen 
ist  und  in  den  zahlreichen  bibliographischen  Zitaten  (Fußnoten)  zum  Ausdruck 
kommt.  Dieser  Umstand  macht  das  Buch  zu  einem  bequemen  Nachschlagebuch 
zwecks  schneller  Orientierung  über  einschlägige  Fragen  und  Probleme,  über  die 
verschiedenen  wissenschaftlichen  Methoden  usw.  Aber  wer  es  zum  Nachschlagen 
gebraucht,  muß  über  ein  selbständiges  Urteil  und  ein  sachkundiges  Auge  verfügen, 
denn  das  Buch  —  und  darin  liegen  die  Nachteile  —  ist  sehr  subjektiv  geschrieben, 
ganz  besonders  auch  in  den  ersten  beiden  Kapiteln,  in  welchen  „allgemeine  und 
spezielle  Voraussetzungen"  gegeben  werden.  Daher  hat  ein  Rezensent  für  das 
Buch  eine  Formel  gefunden,  die  ebenso  witzig  als  treffend  ist,  wenn  er  mit  Beziehung 
auf  den  Verlag  sagt,  es  sei  „m  e  h  r  M  e  y  e  r  a  1  s  Quell  e".  Der  Verfasser  will 
sich  im  allgemeinen  auf  den  Boden  der  vergleichenden  Mythologie  stellen,  welche 
eine  überwiegende  Gleichartigkeit  sowohl  der  Völker,  wie  der  Entwicklungs- 
faktoren voraussetzt.  Er  verfolgt  die  Tendenz,  lieber  psychologisch  zu  erklären 
als  symbolisch  zu  deuten,  lieber  die  Einzelerscheinungen  aus  den  größeren  histo- 


188  A.  Zehme, 

rischen,  kulturellen  und  literarischen  Zusammenhängen  zu  verstehen  und  zu  ent- 
wickeln.    Aber  er  vermeidet  dabei  nicht  die  Gefahr  willkürlicher  Erklärungen, 
namentlich  wenn  bei   Beurteilung  schwieriger  Fragen  der  „gesunde  Menschen- 
verstand" die  letzte  Instanz  bildet.     So  kommt  es,  daß  das  Werk  an  gewagten 
Hypothesen  keinen  Mangel  hat,  Hypothesen,  die  nicht  immer  von  jener  „mytholo- 
gischen Anschauungskraft"  der  Grimm,  Kuhn,  Rohde,  Usener,  Müllenhoff  zeugen, 
welche  der  Verfasser  als   Befähigungsnachweis  für  grundlegende  mythologische 
Forschung  fordert.     Solche  eigenartigen  Auffassungen  sind  es,  wenn  Verf.  z.  B. 
den  Kult  von  Felsen  (Versteinerungssagen),  Bäumen,  Hainen,  Wäldern  nicht  auf 
Naturbeseelung,  sondern  auf  den  Fetischismus  zurückführt  (S.  68  ff.),  wenn  er  eine 
fetischistische  Verehrung  von  Sonnenscheiben  annimmt  und  deren  weitere  Evolution 
aufstellt  (S.  105)  oder  Watzmann  und  Frau  Hitt  nicht  als  versteinerte  Bergriesen 
und  Berggeister,  sondern  als  Zauberer  und  Hexen  erklärt  (S.  101),  wenn  er  Frey 
als  einen  „Dämon  des  Getreidebaus"  auffaßt  (S.   197)  oder  „an  einen  primären 
Himmelsgott  nicht  zu  glauben  vermag"  (S.  179)  u.  a.  m.   Doch  Referent  will  damit 
nicht  bestreiten,  daß  diese  neue,  pointiert,  teilweise  auch  bizarr  geschriebene  Mytholo- 
gie eine  vielseitig  anregende,  Interesse  erweckende  Lektüre  bilden  kann,  wenn  man 
sie  mit  der  nötigen  Vorsicht  liest.  —  VonderLeyen,der  Verfasser  der  Schrift 
,,DasMärche  n",  ist  den  Lesern  der  „Monatschrift"  bereits  vorteilhaft  bekannt 
aus  seinem  schönen  „Deutschen  Sagenbuch"  (IX,  S.  49).  Das  vorliegende  Werkchen 
ist  ganz  vortrefflich  und  sehr  empfehlenswert  auch  für  weitere  Kreise,  an  die  es 
sich,  wie  alle  Schriften  aus  „Wissenschaft  und  Bildung",  wendet.    Es  will  die  Be- 
deutung des  Märchens,  seinen  Wert  für  die  Völkerpsychologie,  die  Aufgaben  der 
gegenwärtigen  Märchenforschung  zeigen,  welche  die  Geschichte  und  den  Organismus 
des  Märchens,  die  Bedingungen  seines  Lebens  und  Wirkens,  die  Grenzen  zwischen 
Volks-  und   Kunstmärchen,  die  Befruchtung  der  Dichtung  durch  das  Märchen 
umfaßt.    Der  Verfasser  hat  sein  Ziel  auf  das  glücklichste  gelöst.    Ein  einleitendes 
Kapitel  schildert  die  Geschichte  und  Probleme  der  Märchenforschung,  die  nächsten 
Abschnitte  stellen  dar  die  Entstehung  des  Märchens  aus  den  Vorstellungen  und 
Einrichtungen  der  Urzeit,  seine  Spuren  und  Hinterlassenschaft  bei  den  alten  Kultur- 
völkern  (Babyloniern,   Ägyptern,    Juden,    Griechen,    Römern),   den    Einfluß   der 
indischen  Märchen  und  ihre  Wanderung  über  die  Welt,  die  große  arabische  Märchen- 
sammlung (Tausend  und  eine  Nacht),  endlich  einen  Umriß  der  Geschichte  des 
deutschen  Märchens,  seinen  Zusammenhang  mit  der  deutschen  Götter-  und  Helden- 
sage, sowie  mit  geschichtlichen,  kultur-  und  literaturgeschichtlichen  Erscheinungen 
der  späteren  Zeit.    Zum  Schluß  folgen  literarische  Quellennachweise  und  ein  aller- 
dings nicht  recht  vollständiges  Register.    Der  Verfasser  nimmt  gegenüber  den  oft 
entgegengesetzten  Ansichten  der  gegenwärtigen  Märchenforschung  einen  verstän- 
digen, maßvollen  Standpunkt  ein  und  verkennt  nicht  die  vielen,  zum  Teil  unlös- 
baren Schwierigkeiten,  z.  B.  bei  Ergründung  des  Ursprungs  und  der  Art  der  Märchen- 
motive und  ihrer  Zusammensetzung  zu  ganzen  Märchen  (Varianten).   Einige  Druck- 
fehler sind  aufgefallen,  so  S.  24  (5.  Z.  v.  unten),  25  (3.  Z.  v.  oben),  29  (12.  Z.  v.  unten), 
sowie  einige  stilistische  Härten  wie  S.  71  (17.  Z.  v.  unten).    Das  inhaltreiche,  an- 
regende,   dabei    gemeinverständlich,    anschaulich,    klar   und    lesbar   geschriebene 
Büchlein    des  sein  Gebiet  beherrschenden  Verfassers  gibt  einen  guten  Überblick 


Schriften  aus  dem  Gebiete  von  Mythus,  Sage,  Märchen.  189 

über  alles  Wesentliche  und  ist  geeignet,  das  Interesse,  welches  man  gegenwärtig 
dem  Märchen  als  der  „höchsten  und  ältesten  Poesie''  entgegenbringt,  kräftig  zu 
fördern.  —  Die  Volksausgabe  der  bekannten,  weit  verbreiteten  „Deutschen 
Heldensagen"  von  Klee  verdankt  ihr  Erscheinen  dem  oft  geäußerten 
Wunsche,  die  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  beruhende  Nacherzählung  unserer 
Heldensagen  von  Klee  noch  weiteren  Kreisen,  insbesondere  auch  der  Schule  und 
dem  Volke,  zugänglich  gemacht  zu  sehen.  Der  niedrige  Preis  ist  ermöglicht  durch 
Fortfall  des  Bilderschmucks  und  Kürzung  des  Inhalts.  Doch  handelt  es  sich  bei 
letzterer  nur  um  einige  abseits  liegende  Erzählungen.  Die  Volksausgabe  bringt 
nur  schlichte,  treue  Erzählung  ohne  weitere  Belehrungen.  Und  keiner  versteht  es 
besser,  die  deutschen  Sagen  unverfälscht  und  quellenmäßig,  zugleich  anschaulich, 
fesselnd  und  liebenswürdig  zu  erzählen,  als  unser  Klee.  Daher  ist  das  Buch  vor- 
züglich geeignet,  unserer  Jugend  und  dem  Volke  den  reichen  Schatz  der  heimischen 
Sage  zu  eröffnen,  den  alten  deutschen  herzhaften  Sinn  zu  wecken  und  zu  stärken 
und  dadurch  der  nüchternen  Blasiertheit  entgegen  zu  wirken,  die  sich  heute  mehr 
als  früher  breit  macht.  Es  sei  darum  allen  Schüler-  und  Volksbibliotheken  sowie 
als  Geschenk  und  Prämie  auf  das  wärmste  empfohlen !  —  Die  Abhandlung 
von  Stuhrmann  will  zum  Verständnis  und  zur  ästhetischen  Würdigung  des 
Nibelungenliedes  beitragen,  und  das  ist  ihr  auch  wohlgelungen.  Sie  setzt  zunächst 
Grundgedanken  und  Idee  des  Liedes  sowie  sein  Verhältnis  zum  Sagenstoff  aus- 
einander und  entwickelt  dann  die  Charaktere  der  Hauptpersonen  (Brunhild,  Sieg- 
fried, Kriemhild,  Hagen,  Günther,  Rüdiger,  Volker).  Die  Erörterung  der  Tragik 
macht  mit  Recht  kräftig  Front  gegen  die  veraltete  Schuldtheorie  und  „Schuld- 
schnüffelei". Sie  folgt  darin  der  Auffassung  in  Volkelts  „Ästhetik  des  Tragischen", 
dem  bahnbrechenden  Werke,  welches  leider  in  den  Fußnoten  nicht  zitiert  ist.  Diese 
rein  menschliche  Beurteilung  aller  Motive  der  handelnden  Personen,  welche  nicht 
pharisäisch  richtet,  sondern  erklärt  und  mitfühlt,  berührt  den  Leser  sehr  wohltuend. 
Die  Annahme,  daß  Siegfried  ursprünglich  unfrei  und  darum  einer  Königin  nicht 
würdig  war  (S.  64  ff.),  ist  unbegründet.  Hagen  ist  nach  Ansicht  des  Referenten 
zu  günstig  beurteilt.  Der  Vorwurf  des  Neides  und  der  Selbstsucht  ist  ihm  kaum 
zu  ersparen,  wie  überhaupt  fast  alle  die  Träger  der  Handlung  im  N.  L.  in  ihrer  Art 
individuelle,  ja  egoistische  Interessen  verfolgen.  Darin  hat  Hebbel  die  Charaktere 
wohl  richtig  aufgefaßt,  wie  Referent  in  Lyons  Ztschr.  f.  d.  d.  U.  (XXIII,  1909, 
S.  241  ff.)  und  in  seiner  Schulausgabe  von  Hebbels  Nibelungen  (Ehlermann)  nach- 
zuweisen versucht  hat. 

Junks  Schrift  überTannhäuser  läßt  die  Sage  vor  unsern  Augen 
entstehen,  wachsen  und  blühen.  Sie  zeigt  ihren  historischen  Kern,  die  Verbindung 
desselben  mit  mythisch-märchenhaften  Motiven,  die  literarischen  Anspielungen 
und  Bearbeitungen  in  Volksliedern  mit  ihren  Varianten  und  Versionen  und  in  der 
Kunstpoesie  (Tieck,  Grimm,  Burckhardt,  Jul.  Wolff,  Heine,  Rieh.  Wagner).  An- 
merkungen am  Schluß  enthalten  bibliographische  Angaben.  Das  anspruchslose 
Büchlein  will  in  populärer  Form  das  charakteristische  Weben  und  Werden  mittel- 
alterlicher Sage  an  einem  Beispiele  erläutern  und  Interesse  für  die  Tannhäusersage 
erwecken.  —  Der  Verfasser  der  Abhandlung  „D  erErlöser  in  derWieg  e", 
Fr.  Ranke,  ist  besonders  durch  seine  ,, Deutschen  Volkssagen"  (von  der  Leyens 


190  H.  Bernhardt, 

Deutsches  Sagenbuch  IV.  Teil)  bekannt,  welche  vom  Referenten  in  der  „Monat- 
schrift" (IX,  S.  613  f.)  empfohlen  wurden.  Der  nicht  gerade  glückliche  Titel  wirkt 
fast  wie  ein  Orakel,  wird  aber  bald  aufgeklärt.  Gegenstand  der  Untersuchung  ist  das 
Weissagungsmotiv,  daß  die  Erlösung  einer  armen  Seele  an  das  Aufwachsen  eines 
Baumes  und  an  seine  Verzimmerung  zu  der  Wiege  des  Erlöserkindes  gebunden  ist. 
Die  Behauptung  Weinholds,  daß  dieses  Motiv  aus  der  ähnlichen  Kreuzholzlegende 
stamme,  sucht  Verfasser  durch  den  Nachweis  der  Zwischenglieder  in  dieser  Ent- 
wicklung zu  stützen,  indem  er  das  Motiv  auf  seine  Quelle  zurückführt  und  darauf 
die  Veränderungen  bespricht,  welche  es  auf  seinem  Wege  von  der  Quelle  bis  zu 
seinen  letzten  Ausläufern  durchgemacht  hat.  So  wird  die  Abhandlung  zu  einem 
wertvollen  Beitrag  zur  deutschen  Volkssagenforschung,  jenem  hoffnungsvollen 
Sprößling  der  germanischen  Wissenschaft,  der  sich  nicht  mehr  mit  Handlanger- 
diensten begnügt,  sondern  nach  Selbständigkeit  strebt.  Die  vorliegende  Schrift 
zeigt,  daß  dieses  Streben  berechtigt  ist.  Ihr  Verfasser  betritt  den  vielversprechenden 
Weg  der  sagengeschichtlichen  Betrachtung  und  entwickelt  mit  wissenschaftlicher 
Gründlichkeit,  Scharfsinn  und  logischer  Konsequenz,  wenn  es  dabei  auch  ohne 
Hypothesen  nicht  abgeht.  Eine  lückenlose  Beweisführung,  eine  restloseJEntscheidung 
ist  auf  diesem  schwierigen  Forschungsgebiete  eben  nicht  möglich.  Auch  methodisch 
ist  die  Abhandlung  lehrreich  und  anregend.  Daher  sind  die  methodologischen 
Ergebnisse  (S.  72),  nach  denen  z.  B.  weder  aus  der  Zahl  der  Belege  einer  Fassung 
noch  aus  der  Zeit  ihrer  Niederschrift  ohne  weiteres  auf  ihre  Altertümlichkeit  ge- 
schlossen werden  darf,  beachtenswert.  — 

Außerdem  ist  noch  erschienen  und  dem  Referenten  zugegangen: 
E.  L  u  c  a  r  d  i  s  ,  „W  u  n  s  c  0"  (Leipzig  1909,  F.  Eckardt.  551  S.  8«.  geb.  7  M.), 
eine  erdichtete  Erzählung  aus  der  deutschen  Vorzeit  in  gebundener  Rede,  welche 
für  Schulzwecke  wohl  weniger  in  Betracht  kommt. 

Nordhausen.  Arnold  Zehme. 


Lateinische  Schriftsteller. 

Etymologisches  Vokabularium  zum  Caesar,  eingerichtet  zum  Nachschlagen 
und  zum  Lernen.  Nebst  einer  Sammlung  von  lateinischen  Beispielen  und  einer 
Zusammenstellung  der  Konjunktionen  zur  Repetition  der  Syntax.  Von  Dr. 
Ernst  Schi  ee.   6.  Doppel-Auflage.    8^  65  S.    Altona  1911.    J.  Härder.    IM. 

Nach  Angabe  des  verstorbenen  Verfassers  im  Vorwort  zur  4.  und  5.  Auflage 
hat  die  von  ihm  angewandte  Methode  immer  mehr  Nachahmung  gefunden,  wie 
andere  ausgesprochenermaßen  nachgebildete  kleine  Wörterbücher  zu  Nepos  und 
Caesar  erwiesen.  Jedenfalls  ist  es  allein  der  etymologische  Gesichtspunkt,  der  die 
Gefahren  solcher  SpezialWörterbücher  etwas  abschwächt,  indem  er  die  Schüler 
zu  selbständigem  Denken  zwingt. 

Wenn  der  Herausgeber  der  neuen  Auflage  mit  Recht  caespes  von  caedere  ab- 
leitet, war  es  unnötig,  die  schlechte  Schreibart  cespes  noch  besonders  zu  bringen, 
das  gleiche  gilt  von  sepes,  cetra,  cetratus,  teter.  Zur  Unsicherheit  verführt  die  Schreib- 
art exilium  (S.  14)  neben  exsilum  (S.  44),  impetrare  gehört  nicht  zu  potis,  sondern 


Lateinische  Schriftsteller.  191 

zu  patrare,  planicies  ist  falsch.  Überaus  störend  wirkt  vor  allem  in  dem  syntak- 
tischen Repetitorium  die  durchgehende  Anwendung  des  ganz  unlateinischen  /, 
das  längst  aus  allen  guten  lateinischen  Texten  verschwunden  und  auch  im  Wörter- 
buch verständigerweise  vermieden  ist.  Der  schüchterne  Ansatz,  bei  ambactus  zur 
Belebung  und  Erklärung  verwandte  Sprachen  heranzuziehen,  bleibt  leider  ver- 
einzelt, das  gleiche  gilt  aber  zum  Glück  auch  von  dem  Druckfehler  S.  62  furtuna 
für  fortuna. 

Q.  Curti  Ruf!  historiarum  Alexandri  Magni  Macedonis  libri  qui  supersunt. 
Für  den  Schulgebrauch  von  Paul  Menge.  I.  Bändchen:  Buch  III-V. 
Mit  zwei  Karten.  Erklärt  von  Paul  Menge  und  Dr.  Fr.  Fried.  8».  IV  u.  218  S. 
Gotha  1911.     F.  A.  Perthes,    geh.  2,40  M. 

Menge,  dem  Fried  seine  zahlreichen  Anmerkungen  zur  Verfügung  stellte, 
verdankt  seinen  Kommentar  der  Praxis  von  Schulpforta,  wo  Curtius  an  den 
wöchentlichen  Studientagen  zur  Privatlektüre  der  Tertia  gehört.  Das  erklärt 
eine  Reihe  von  Hilfen,  die  bei  gemeinsamen  Erarbeiten  unter  einem  Lehrer  über- 
flüssig sein  würden,  doch  gehen  sie  auch  bei  Berücksichtigung  dieser  Tatsache 
meines  Erachtens  stellenweise  zu  weit  und  setzen  zu  wenig  beim  Schüler  voraus. 
So  z.  B.  III  2,  15  studio,  IV  1,  14  consulere  alimi,  15,  3  quo  plures,  V  4,  13  etiam 
atque  etiam  u.a.  Wohl  ais  der  im  Vorwort  bedauerten  Unterlassung  einer  noch- 
maligen Durchsicht  und  Verarbeitung  beider  Kommentare  erklären  sich  zahlreiche 
Wiederholungen,  so  quis  =  quibus  III  2,  4  neben  3,  1  und  IV  9,  3.  III  12,  17  et  hie 
neben  9,  9  et  ipsi,  IV  14,  25  timidissimum  quemque  und  1,  24  diuitissimus  quisque, 
IV  14,  6  und  16,  2  ni  =  nisi,  V  12,  11  ite  consulite  neben  IV  15,  7  abi  nuntia  und 
11,21  ite  nuntiate,  V  9,  10  interfecturus  videbatur  und  6,7  facturus  hostis  vide- 
batur,  V  7,  4  auidior  quam  potentior  neben  III  8,  11  magni ficentius  quam  uerius, 
IV  6,  14  acrius  quam  constantius  und  16,  29  prudentius  quam  auißius.  Desgleichen 
die  dreimalige  Erklärung  von  mare  rubrum  IV  12,  9,  V  1,  15  und  4,  5,  fortuna  als 
uox  media  V 10,  2  und  1 1,  5,  potiri  c.  genet.  IV  1,  29  und  V 10,  5.  Zu  secundis  IV  6,  31 
möchte  ich  ungezwungener  rebus  ergänzen,  als  es  von  secunda  =  „glückliche  Er- 
folge" abzuleiten.  Inkonsequent  ist  die  (weniger  gute)  Schreibung  Melkarth  S.  71, 
73,  82  und  87  neben  Melkart  auf  der  Nebenskizze  der  2.  Karte,  während  mir  an 
Druckfehlern  uuentuti  S.  88,  uiu  latu  S.  152  und  S.  161  sequientbus  aufgestoßen  sind. 

Doch  diesen  Kleinigkeiten  gegenüber  möchte  ich  als  Vorzüge  der  Ausgabe 
in  erster  Linie  die  treffliche  und  übersichtliche  „Anleitung  zum  Übersetzen"  hervor- 
heben, dann  den  Schlachtenplan  S.  139  und  nicht  zuletzt  die  Fassung  des  gründ- 
lichen, der  Altersstufe  angepaßten  und  kulturgeschichtlich  anregenden  Kommen- 
tars, Vorzüge,  die  hoffentlich  dem  zurzeit  unverdienterweise  etwas  vernachlässigten 
römischen  Schriftsteller  wieder  zu  der  ihm  zukommenden  Stellung  auch  an  anderen 
Gymnasien  verhelfen. 

Ciceros  ausgewählte  Reden.  Erklärt  von  K.  H  a  1  m.  I.  Band.  Die  Reden 
für  Sex.  Roscius  aus  Ameria  und  über  das  imperium  des  Cn.  Pompeius.  12.  Aufl. 
Besorgt  von  W.  Sternkopf.  8^'.  VIII  u.  173  S.  Berlin  1910.  Weidmannsche 
Buchhandlung,    brosch.  1,60  M. 

Die  neue  Ausgabe  bringt  eine  Reihe  Abweichungen  von  der  Laubmannschen 
des  Jahres  1896,  nicht  so  sehr  in  den  ausführlichen  historischen  Einleitungen  zu 


192  H.  Bernhardt, 

beiden  Reden,  als  vor  allem  in  Text  und  Kommentar.  Der  Herausgeber  ist  überall 
bemüht  gewesen,  möglichst  auf  die  Überlieferung  der  codd.  zurückzugehen,  und 
nur  wenn  diese  unhaltbar  ist,  Verbesserungen  vorzuschlagen.  Als  solche  äußerst 
glückliche  Konjekturen  möchte  ich  vor  allem  nennen  pro  Roscio  §  1 1  sanguini 
inimicissimam,  24  inuidiosa  possessio,  107  indicii  iure  und  de  imperio  §  18  nos  amissa 
uectigalia  postea  victoria  recuperare;  neque  enim  isdem  publicanis  redimendi  facultas 
erit,  während  die  Änderungen  pro  Roscio  31  minae  et  terrores,  55  non  inimicus, 
de  imperio  15  pascua  —  nach  Halm  —  nicht  gerade  zwingend  erscheinen.  Seiner 
Erklärung  von  et  ipsi  (pro  Roscio  4S),  fr  aus  (ibid5S),  ipsum{7\),  quod  ausus  est{\A\) 
und  ullum  alium  magistratum  {de  imperio  62)  kann  man  nur  beipflichten. 

So  bedeutet  die  neue  Ausgabe  einen  wesentlichen  Fortschritt  auch  im  Ver- 
gleich mit  dem  Clarkschen  Text  (Oxford  1908)  und  ein  wertvolles  Hilfsmittel  für 
die  Cicerolektüre,  das  den  Wunsch  erweckt,  dieselben  Grundsätze  auch  in  den 
weiteren  Bänden  verwirklicht  zu  sehen. 

Hauck,  P.,  L.  A  n  n  a  e  u  s  S  e  n  e  c  a.  Ausgewählte  moralische  Briefe  als 
Einführung  in  die  Probleme  der  stoischen  Philosophie.  2  Bde.  8'\  Bd.  I,  Text, 
VII  u.  196  S.  Bd.  II,  Kommentar,  156  S.  Berlin  1910.  Weidmannsche  Buch- 
handlung.    1,80  und  1,60  M. 

Die  wachsende  Aufmerksamkeit,  die  man  Seneca  zuwendet,  ist  ein  erfreuliches 
Zeichen  für  den  neuen  Geist  in  unserem  altsprachlichen  Unterricht.  Zwar  in  Süd- 
deutschland ist  er  immer  als  Schulautor  gelesen,  auf  den  preußischen  Schulen  aber 
mit  wenigen  Ausnahmen  bisher  recht  stiefmütterlich  behandelt  worden.  Es  waren 
wohl  in  erster  Linie  formale  Gründe,  die  ihn  hinter  einem  Cicero  zurückstehen 
ließen,  denn  sonst  ist  es  zweifellos,  daß  er  durch  Vielseitigkeit  der  Bildung  und  als  Haupt- 
vertreter einer  Periode,  die  fast  alle  Keime  der  heutigen  Kultur  birgt,  uns  oft  wie 
ein  moderner  Mensch  vorkommt,  der  sicher  unser  Interesse  in  ungleich  höherem 
Maße  verdient  als  der  vielbewunderte  Arginate.  Endlich  ist  er  im  Gegensatz  zu 
diesem  nicht  selten  unklaren  Eklektiker  ein  ausgeprägter  Vertreter  der  Stoa,  des 
fruchtbarsten  aller  antiken  Systeme,  und  so  hervorragend  zur  Einführung  in  die 
philosophische  Propädeutik  geeignet,  die  neuerdings  wieder  mehr  Anhänger  ge- 
winnt. 

Diese  Erwägungen  veranlaßten  Hauck  zu  der  vorliegenden  Ausgabe  der 
epistulae  morales  und  zwar,  und  das  ist  sein  Hauptverdienst,  in  einer  Anordnung, 
die  ein  geschlossenes  Bild  der  gesamten  stoischen  Lehre  bietet.  Die  sorgfältige 
Auswahl  bringt  nach  einer  geschichtlichen  Einleitung  zunächst  die  Briefe  über 
die  Philosophie  als  Ganzes  und  über  ihre  Einteilung,  dann  Senecas  Ansichten 
über  Moralphilosophie,  Psychologie  und  Metaphysik  und  endlich  seine  Gottes- 
lehre. Ergänzt  werden  sie  in  dem  trefflichen  Anhang  durch  verwandte  Stücke 
aus  Diogenes  Laertius,  Plutarch,  Descartes,  Marc  Aurel,  Justinians  Institutionen, 
dem  Römerbriefe  des  Paulus  und  endlich  durch  den  Zeushymnus  des  Cleanthes. 

Seiner  Behandlung  des  Textes  kann  ich  zustimmen,  so  der  Emendation  der 
schwierigen  Stellen  ep.  124,  5  (Haase),  74,  33  (ibid.),  22  13  und  28  3,  er  ver- 
spricht, demnächst  in  einer  besonderen  Abhandlung  Rechenschaft  darüber  ab- 
zulegen.    Ob  jedoch  im  Kommentar,   der  doch   wie   das  ganze  Werk  für  ältere 


Lateinische  Schriften.  193 

Schüler  bestimmt  ist,  Erklärungen  wie  S.  55  indotata,  56  (jiXag  und  103  condiunt 
nötig  waren,  bezweifle  ich. 

Sehr  vermisse  ich  dagegen  im  Text  eine  Einteilung  in  Paragraphen  oder  doch 
wenigstens  Zeilennumerierung  auf  den  einzelnen  Seiten,  eine  dieser  Hilfen  ist 
unbedingt  erforderlich,  um  den  Kommentar  bequemer  benutzen  zu  können,  als 
es  jetzt  möglich  ist. 

Endlich  würde  ein  Neuauflage,  die  ich  der  verdienstlichen  Arbeit  bald  wünsche, 
auf  eine  Beseitigung  der  zahlreichen  Druckfehler  bedacht  sein  müssen,  deren  ich 
jetzt  im  Text  (abgesehen  von  den  nachträglich  berichtigten)  14,  im  Kommentar 
nicht  weniger  als  20  angetroffen  habe. 

A.  Persii  Flacci,  D.  Junii  Juuenalis,  Sulpiciae  saturae.  Editionem  quartam 
curauit  F  r  i  d  e  r  i  c  u  s  L  e  o.  81  XXIV  u.  304  S.  Beriin  1910.  Weidmannsche 
Buchhandlung,    geh.  3,40  M. 

Die  1868  von  0.  Jahn,  1886  und  1893  von  F.  Bücheier  bearbeiteten  Satiren 
m't  den  zugehörigen  Scholien  liegen  hier  in  4.  Auflage  vor.  Der  Herausgeber  hat 
die  Forschungen  der  letzten  17  Jahre  berücksichtigt  und  in  der  Erkenntnis  von 
der  Unzulänglichkeit  des  Apparates  Jahns  und  Büchelers,  von  denen  nicht  alle 
codd.  verglichen  waren,  diese  Lücke  nach  Kräften  auszufüllen  sich  bemüht,  ohne 
jedoch,  wie  er  vorausschickt,  Anspruch  auf  Vollzähligkeit  zu  erheben.  Immerhin 
bürgt  sein  Name  im  Verein  mit  denen  seiner  großen  Vorgänger  dafür,  daß  wir 
in  dem  voriiegenden  den  besten,  einwandfreisten  Text  besitzen,  der  außer  den 
genannten  Dichtern  auch  noch  am  Schluß  aus  luuenal  schol.  I  71  das  emendierte 
Fragment  des  Turnus  mit  Belegstellen  bringt.  Von  den  alten  Scholien  sind  nur 
die  zur  Textrekonstruktion  notwendigen  und  die  inhaltlich  wertvollen  beibehalten, 
ihre  Auswahl  ist  sorgfältig  und  einwandfrei.  Eine  Verbesserung  bedeutet  das 
Fortlassen  ihrer  Überschriften,  und  vor  allem  wird  die  Benutzung  der  Ausgabe 
durch  die  neuhinzugefügten  indices  nominum  erleichtert. 

Römische  Elegiker.  Eine  Auswahl  aus  Catull,  Tibull,  Pro- 
perzund  0\  id.  Für  den  Schulgebrauch  bearbeitet  von  Dr.  K.  P.  Schulze. 
8*.  XI  u.  408  S.  Beriin  1910.  Weidmannsche  Buchhandlung.  5.  Auflage 
geh.  3,40  M. 

Daß  diese  neue  Auflage,  ohne  mehr  Lieder  im  Text  zu  bringen,  ihre  Vor- 
gängerin um  54  Seiten  übertrifft,  erklärt  sich  aus  der  Vermehrung  des  trefflichen 
Kommentars  durch  Berücksichtigung  der  neuesten  Forschungen.  Diese  haben  dem 
Herausgeber  auch  sonst  stellenweise  zu  Änderungen  veranlaßt,  so  in  dem,  was 
er  S.  4  über  den  Ursprung  der  Satire,  S.  13  über  die  griechische  Beeinflussung 
der  römischen  Elegie  sagt,  ferner  in  den  Textänderungen  bei  Cat.  1  i.  76  i7, 
96  5.  116  6,  und  in  den  Anmerkungen  zu  Cat.  3  i,  14  i9,  51  7,  64  i04,  i7i. 
Vor  allem  aber  sind  die  Parallelstellen  aus  der  deutschen  Literatur,  deren  Heran- 
ziehung schon  den  früheren  Ausgaben  ihren  eigenartigen  Wert  verlieh,  wieder 
bedeutend  (allein  bei  Catull  um  34)  vermehrt  worden.  Ebenso  ist  bei  Catull  62 
die  Herdersche  Nachdichtung  zu  sehr  wirkungsvollen  Vergleichen  herangezogen, 
was  ich  für  Geibel  bei  Tibull  13,  IV  2,  Properz  I  14  und  0  id  am  III  9  auch 
gern  in  ausgedehnterem  Maße  gesehen  hätte.  Wenn  man  da  den  hervorragenden 
Einfluß  gerade  der  römischen  Elegiker  auf  unser  Geistesleben  sieht,  vor  allem 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  13 


194  W.  Bohnhardt, 

auch  auf  Goethe  (vgl.  z.  B.  außer  zahllosen  anderen  Stellen  besonders  die  An- 
merkungen zu  Catull  62,  36  und  Ovid,  trist  I  3),  so  kann  man  den  in  der  Vorrede 
zur  1.  Auflage  geäußerten  Wunsch  des  Verfassers  nur  berechtigt  finden,  ihnen 
möchte  auch  in  den  oberen  Klassen  unserer  Gymnasien  ein  bescheidenes  Plätzchen 
gegönnt  werden,  und  zwar  wäre  wohl  das  1.  Tertial  der  U  I  der  geeignetste  Zeit- 
raum dafür.  Enthalten  sie,  wie  Properz,  auch  manche  formale  Schwierigkeiten, 
so  wird  das  durch  den  Inhalt  reichlich  aufgewogen,  und  eine  so  vorzügliche  Aus- 
gabe wie  die  vorliegende  bietet  die  besten  Mittel  zu  ihrer  Bewältigung. 
Soest.  H.  Bernhardt. 


Zur  französischen  Lektüre. 

Teil    III.*) 

1.  Klassenlektüre. 

1.  Petits,  Fran^aiSy  Seen  es  de  la  vie  f  a  m  i  1  i  e  r  e  par  AI.  et  Ch. 
Robert-Dumas.  Frankfurt  a.  M.  1910.  Diesterwegs  Neusprachliche  Reform- 
ausgaben, Bd.  17.  81  VI  u.  80  S.  geb.  1,40  M.  (Ausgabe  ohne  Kommentar  1,20  M.). 

2.  Normand,  Ch.,  Biographies  et  scenes  historiques  des 
temps  anciens  et  modernes.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  von 
M.  Schmitz-Mancy.  Mit  25  Abb.  Leipzig  u.  Wien  1908.  Freytags  Sammlung 
franz.  und  engl.  Schriftsteller.    93  S.    geb.  1,20  M.    Hierzu  Wörterbuch  0,30  M. 

3.  Demoulin,  M"^^-  Gustave,  Fran^ais  illustres.  Im  Auszuge  mit 
Anmerkungen  zum  Schulgebrauch  herausgegeben  von  Franz  Schürmeyer.  Mit 
3  Karten  und  6  Abbildungen  im  Text.  Bielefeld  und  Leipzig  1910.  Velhagen  & 
Klasing.  Prosateurs  fran^ais,  Lfg.  182.  Ausgabe  B.  IV  u.  171  S.  In  einem 
Anhange  71  S.    Anmerkungen,    geb.  1,60  M.    (Außerdem  Wörterbuch  0,30  M.) 

4.  Lame-Fleury,  L'histoire  de  France  racontee  ä  la  jeu- 
n  e  s  s  e.  Premiere  Partie:  Depuis  les  origines  jusqu'ä  Tavenement  des  Valois. 
Für  den  Schulgebrauch  herausgegeben  von  Fr.  Weyel.  Mit  Anmerkungen,  Question- 
naire  und  Wörterbuch.  Dresden  1909.  Gerhard  Kühtmann.  Bd.  86  der  Biblio- 
th^que  frangaise.    97  S.    geb.  1,20  M. 

5.  Derselbe,  Deuxieme  Partie:  Depuis  Tavenement  des  Valois  jusqu'ä 
Napoleon  III.  (ohne  Questionnaire).    Bd.  87.    142  S.    geb.  1,20  M. 

6.  Chalamet,  A.,  A  traversla  France.  In  gekürzter  Fassung  und 
mit  Kommentar  herausgegeben  von  Max  Pflänzel.  Mit  1  Karte  und  12  Bildern. 
Berlin  1907.  Weidmannsche  Buchhandlung.  Bd.  58  der  Schulbibliothek  franz. 
und  engl.  Prosaschriften.  VIIu.  109  S.  (Dazu  gesondert  ein  Wörterbuch.)  geb.  1,40  M. 

7.  Rousset,  L.,  Histoire  de  la  guerre  franco-allemande. 
Extraits  et  episodes.  Im  Auszuge  mit  Anmerkungen  zum  Schulgebrauch  heraus- 
gegeben von  O.  Leichsenring.  Mit  6  Karten.  Bielefeld  und  Leipzig  1910.  Velhagen  & 
Klasing.  Prosateurs  fran9ais.  Lfg.  181.  Ausgabe  B.  (Wörterbuch  dazu  0,20  M.) 
192  S.    geb.  1,20  M. 

8.  Zola,  E.,    Le    Cercle    de    fer    (episode  de  „La  Debäcle").     Für  den 


*)  Vgl.  Monatschrift  VII,  378  u.  VIII,  671. 


Zur  französischen  Lektüre.  195 

Schulgebrauch  herausgegeben  von  Eugene  Pariselle.  Mit  2  Karten.  Leipzig  und 
Wien  1908.  Freytags  Sammlung  franz.  und  engl.  Schriftsteller.  139  S.  geb.  1,50  M. 
Hierzu  Wörterbuch  0,40  M. 

9.  Verly,  Albert,  Les  Etapes  Douloureuses  (L'Empereur,  de  Metz 
ä  Sedan).  Im  Auszuge  für  den  Schulgebrauch  bearbeitet  von  Walter  Kirschten. 
Mit  6  Kartenskizzen.  Gotha  1910.  Perthes'  Schulausgaben  engl,  und  franz.  Schrift- 
steller.   N.  60.   V  u.  80  S.   geb.  1,—  M.    Sonderwörterbuch  0,40  M. 

10.  L*Empire  1805 — 1809.  L'Allemagne  napol^onienne.  Aus 
der  Histoire  generale  von  Lavisse  und  Rambaud.  Für  den  Schulgebrauch  aus- 
gewählt, bearbeitet  und  mit  Anmerkungen  herausgegeben  von  Theodor  Haas.  Mit 
2  Kärtchen.  2.  verbesserte  Auflage.  Berlin  1909.  Weidmannsche  Buchhandlung. 
Band  48  der  Schulbibliothek  franz.  und  engl.  Prosaschriften.  VH  u.  160  S.  geb. 
1,60  M.   Wörterbuch  hierzu  0,40  M.    Dazu  als  Seitenstück: 

11.  L'Empire  1813 — 1815.  L'Allemagne  anti-napoleonienne. 
(Aus  derselben  Geschichte  und  von  demselben  Herausgeber.)  Mit  1  Karte  und 
2  Plänen.  Berlin  1905.  Band  54  der  Schulbibliothek  franz.  und  engl.  Prosaschriften. 
VII  u.  168  S.   geb.  1,80  M.   Wörterbuch  hierzu  0,40  M. 

12.  Bernhardt,  F.  W.,  Auswahl  aus  Alfred  de  Musset.  Mit  bio- 
graphischer Einleitung  und  Anmerkungen  versehen.  Mit  einem  Porträt.  Berlin  1910. 
Weidmannsche  Buchhandlung.  135  S.  (Sonderheft  mit  Anmerkungen  in  Falte. 
24  S.)    geb.  1,60  M. 

13.  Wershoven,  F.  J.,  Alfred  de  Musset,  Pages  choisies.  Ausgewählt 
und  erklärt.  Dresden  1905.  Gerhard  Kühtmann.  Textausgaben  franz.  und  engl. 
Schriftsteller  für  den  Schulgebrauch.  No.  39.  X  u.  103  S.  (Anmerkungen  gesondert 
18  S.)    geb.  1,20  M. 

14.  Rousseau,  J.  J.,  Pages  choisies.  Ausgewählt  und  mit  Anmer- 
kungen für  den  Schulgebrauch  herausgegeben  von  Albert  Wüllenwfeber.  Berlin  1909. 
Weidmannsche  Buchhandlung.  IV  u.  125  S.  (Sonderheft  mit  Anmerkungen  in 
Falte   39  S.)   geb.  1,60  M. 

15.  Diderot,  Denis,  Sur  la  peinture.  Pages  choisies  et  annot6es  par 
L.  Petry.  Frankfurt  a.  M.  Diesterwegs  Neusprachliche  Reformausgaben,  Bd.  7. 
XI  u.  68  S.  (Annotations  in  Sonderheft  26  S.)  geb.  1,40  M.  Ausgabe  B  ohne 
Kommentar  1,20  M. 

16.  Hugo,  Victor,  Morceaux  choisis.  Ausgewählt  und  erklärt  von 
F.  J.  Wershoven.  Dresden  1907.  Gerhard  Kühtmann.  Textausgaben  franz.  und 
engl.  Schriftsteller  für  den  Schulgebrauch.  N.  37.  XV  u.  139  S.  (Anmerkungen 
gesondert  29  S.)    geb.  1,20  M. 

17.  Tocqueville,  Alexis  de,  L'Ancien  regime  et  la  Revolution. 
Pages  choisies  et  annotees  par  Louis  Andre.  Frankfurt  a.  M.  Diesterwegs  Neu- 
sprachliche Reformausgaben,  Bd.  13.  X  u.  80  S.  (Annotations  in  Sonderheft  48  S.) 
geb.  1,60  M. 

18.  Aulard,  A.,  Histoire  politique  de  la  Revolution  fran- 
9  a  i  s  e.  Mit  Anmerkungen  zum  Schulgebrauch  herausgegeben  von  Wilh.  Kalb- 
fleisch. Bielefeld  und  Leipzig  1910.  Velhagen  &  Klasing.  Prosateurs  fran^ais. 
Lfg.  180.  Ausgabe  B.  IVu.  165S.  In  einem  Anhange  35  S.Anmerkungen,  geb.  1,30  M. 

13* 


196  W.  Bohnhardt, 

19.  Nodier,  Charles,  Souvenirs  de  la  Revolution  et  de  TEm- 
pire.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  von  Johannes  Römberg.  Leipzig  1910. 
Rengersche  Buchhandlung.  Französische  und  englische  Schulbibliothek,  Bd.  162. 
XIV  u.  125  S.    geb.  1,30  M, 

20.  Hanotaux,  Gabriel,  Le  Gouvernement  de  M.  Thiers  et  la 
lib^ration  du  territoire.  Auswahl  aus  Histoire  de  la  France  con- 
temporaine.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  von  Bernhard  Völcker.  Leipzig  1911. 
Rengersche  Buchhandlung.  Französische  und  englische  Schulbibliothek,  Bd.  166. 
IX  u.  117  S.    geb.  1,30  M. 

Maßgebend  für  die  Beurteilung  der  im  folgenden  zusammengestellten  Aus- 
gaben der  letzten  4  Jahre,  die  noch  nicht  alle  in  die  vom  Neuphilologen- Verband 
oder  den  einzelnen  Provinzialschulkollegien  veröffentlichten  Kanonlisten  Auf- 
nahme gefunden  haben,  waren  wiederum  die  Grundsätze  (alte  und  allerneueste) 
in  Münchs  Didaktik,  3.  Aufl.  Sie  bietet  uns  gerade  in  den  umfangreichen  Zusätzen 
„Neuester  Stand  der  Lektürefrage"  (S.  114  ff.)  wertvolle  Winke.  Neue,  für  Knaben- 
schulen bemerkenswerte  Sammlungen  französischer  Schulautoren  sind  seit  der 
letzten  Besprechung  (Monatschrift  VIII,  621)  glücklicherweise  nicht  ins  Leben 
getreten,  an  Einrichtung  und  Ausstattung  hat  sich  nichts  geändert  (die  Sonder- 
wörterbücher vor  allem  behaupten  sich  weiter;  selbst  neue,  gediegene  Ausgaben 
glauben  ihrer  nicht  entraten  zu  sollen).  Somit  war  bei  der  Erörterung  über  das 
Für  und  Wider  erfreuliche  Kürze  möglich.  Nur  eine  neue  Einrichtung  sei  gleich 
anfangs  ein  für  allemal  berührt,  deren  pädagogischen  Zweck  man  nicht  recht  zu 
erkennen  vermag.  Einige  der  letzten  Bändchen  von  Diesterwegs  Neusprachlichen 
Reformausgaben  (siehe  Privatlektüre  No.  6 — 8)  enthalten  arguments  analytiques. 
Bei  der  knappen  Zeit,  die  dem  Lehrer  zur  Kontrolle  der  Hauslektüre  zugemessen 
ist,  wird  er  im  allgemeinen  von  dem  Schüler  nicht  viel  mehr  als  eine  kurze  Inhalts- 
angabe des  Gelesenen  verlangen  können.  Der  Herausgeber  hat  nun  die  Arbeit 
des  gründlichen  Durchlesens  des  Textes  mit  seinem  argument  analyüque  (oft  1  Seite 
bei  einer  Novelle  von  kaum  20)  dem  Schüler  erspart;  vielen  werden  einige  flüchtige 
Einblicke  in  das  Buch  selbst  daneben  genügen.  Für  spätere  Auflagen  scheint  mir 
nur  Beibehaltung  derjenigen  Stellen  des  argument  berechtigt,  die  sich  als  eine 
literarische  Würdigung  des  Stoffes  darstellen.  —  Es  ist  der  Versuch  gemacht 
worden,  die  Ausgaben  dem  Inhalte  nach  möglichst  in  Gruppen  zu  ordnen  und  sie 
den  einzelnen  Klassen  zuzuweisen,  wobei  man  sich  wohl  bewußt  ist,  daß  solcher 
Verteilung  vorerst  eine  rein  theoretische  Bedeutung  zukommt  wegen  der  ungleichen 
Anforderungen  und  mancher  anderen  Verhältnisse  an  den  verschiedenen  Schul- 
gattungen und  innerhalb  derselben  an  den  einzelnen  Anstalten. 

1.   Klassenlektüre. 

„Wirklich  Jugendliches  für  die  Jugend"  ist  die  Mahnung,  die  manche  Heraus- 
geber von  Lesestoffen  für  die  Anfangslektüre  wohl  oft  gehört,  aber  nicht  zu  be- 
herzigen verstanden  haben.  Daher  trotz  der  Fülle  der  Ausgaben  eine  verhältnis- 
mäßige Armut  an  passendem  Material  für  die  Tertien.  Um  so  willkommener  ist 
deshalb  der  von  den  Gebrüdern  Dumas  zurechtgestutzte  kleine  Roman  (No.  1), 
der  in  einem  einfachen  Rahmen  die  Leiden  und  Freuden  eines  französischen  col- 


Zur  französischen  Lektüre.  197 

legien  im  Laufe  seines  ersten  Schuljahres  schildert.  Wir  werden  mit  den  Ver- 
hältnissen der  Klasse  vertraut,  folgen  dem  Helden  auf  seinen  Ausflügen  in  Wald 
und  Feld,  nach  Paris,  zum  Ferienaufenthalt  an  die  See.  Die  Sprache  des  Alltags- 
lebens ist  schlicht  und  gefällig,  nirgends  fällt  die  störende  Sucht  auf,  recht  viele 
Realien  unterzubringen.  Einen  großen  Vorzug  muß  man  dem  einsprachigen, 
äußerst  geschickt  angelegten  Kommentar  nachrühmen,  gegenüber  vielen  anderen, 
die,  wie  oft  zu  beklagen  ist,  in  ihren  Umschreibungen  das  Klassenniveau  weit  über- 
schreiten. Jeder  Tertianer  wird  ihn  verstehen.  Auf  das  treffliche  Bändchen  mögen 
hauptsächlich  Realanstalten  hingewiesen  sein.  Nach  demselben  Grundsatz  ist  in 
Petiies  Franraises  (Bd.  20  bei  Diesterweg)  der  wesentliche  lernenswerte  Wortschatz 
auch  für  Mädchenschulen  verarbeitet.  Hier  sind  in  den  Text  kleine  Dialoge,  sowie 
Lieder  nebst  Noten  eingestreut.  (Ausgabe  B  ohne  Kommentar  0,85  M.,  Annotations 
und  französisch-deutsches  Wörterbuch  dazu  0,50  M.)  —  Nicht  so  unbedingt  wage 
ich  das  zweite  Bändchen  zu  empfehlen:  Lebensbeschreibungen  tapferer  Helden 
und  hervorragender  Männer  auf  allen  Gebieten  aus  C  h.  N  o  r  m  a  n  d  ,  die  in 
einfacher,  ungekünstelter  Sprache  verfaßt  sind.  Als  Leser  sind  Tertianer,  viel- 
leicht schon  Quartaner  hauptsächlich  lateinloser  Anstalten  gedacht.  Nicht  all- 
gemeine Billigung  wird  der  Herausgeber  finden,  wenn  er  zu  dem  alten  Stand- 
punkt zurückkehrt,  für  die  Anfangslektüre  zum  Teil  Biographien  aus  dem  klassi- 
schen Altertum  (von  Leonidas  bis  Cäsar)  und  Beschreibungen,  z.  B.  von  Rom, 
herbeizuholen.  Andererseits  gehen  Stücke  aus  der  französischen  Geschichte,  wie 
der  Eid  im  Ballspielhause,  oder  Stellen  aus  V.  Hugos  Expiation  über 
das  Verständnis  des  13 — 14  jährigen  Knaben.  Geringe  allgemeine  Bildung  setzen 
die  weitschweifigen  Anmerkungen  bei  dem  Lehrer  voraus;  die  bildlichen  Darstellun- 
gen lassen,  milde  gesagt,  recht  viel  zu  wünschen  übrig. 

Einen  in  mehrfacher  Hinsicht  recht  schätzenswerten  Auszug'  aus  dem  für  die 
französische  Jugend  bestimmten  Werke  Les  Francais  illustres  von  M'"^  G.  D  e  - 
moulin  hat  (in  No.  3)  Schürmeyer  besorgt.  Die  16  Lebensbeschreibungen, 
die  die  wichtigsten  Epochen  der  französischen  Geschichte  vom  11.  bis  zum  19.  Jahr- 
hundert in  charakteristischen  Vertretern  würdigen,  sind  bis  auf  die  zwei  ersten 
mit  feinem  Verständnis  ausgewählt  und  werden  wegen  ihrer  klaren  Sprache  und 
anschaulichen  Darstellungsweise  sowie  wegen  der  Wirkung,  die  die  Verfasserin 
auf  die  Einbildungskraft  und  das  Gemüt  der  Jugend  hat,  eine  nützliche  und  an- 
genehme Lektüre  für  die  Untersekunda  bilden.  Sie  wird  auch  den  französischen 
Aufsatz  historischen  Inhalts,  für  den  wir  nicht  genug  Vorbereitung  haben  können, 
ungemein  fördern.  Solcher  Stoffe  besitzen  wir  nicht  allzu  viele.  Endlich  bieten 
auch  manche  Texte  Themata  für  Vorträge.  —  Als  Anfangslektüre  erfreut  sich  die 
Histoire  de  France  von  Lam^-Fleury,  die  schon  seit  Jahren  auch  auf  dem 
Rheinischen  Lektürekanon  ihren  Platz  behauptet,  wachsender  Beliebtheit.  Der 
bekannte  Stoff  liegt  nun  in  einer  neuen  Ausgabe  von  2  Bänden  (No.  4  und  5)  von 
Fr.  Weyel  vor.  Ihre  Aufgabe  ist,  schon  existierende,  teils  nach  einem  veralteten 
Original  verfaßte,  teils  zu  sehr  zusammengestrichene  Schulausgaben  zu  ersetzen. 
Der  auszugsweise  gegebene  Inhalt  des  ersten  Bandes  deckt  sich  vollständig  mit 
dem  Geschichtspensum  der  Untertertia  und  wäre  somit  in  Obertertia  eine  vorzüg- 
liche Ergänzung  und  Vertiefung  dieses  Pensums.     Band   II,  der  die  Geschichte 


198  W.  Bohnhardt, 

bis  zum  Jahr  1869  führt,  wo  Lame-Fleury  seine  Erzählung  abgebrochen  hat,  würde 
in  eine  Sekunda  gehören,  an  die  man  sprachlich  keine  hohen  Anforderungen  stellen 
darf.  Weyel  hat  aus  praktischen  Rücksichten  die  umfangreichen  Kapitel  in  kleine 
Abschnitte  zerlegt  mit  fortlaufenden  Nummern  zur  Erleichterung  der  Sprech- 
übungen. Für  die  Anlage  des  Wörterbuches  und  vor  allem  des  dem  1.  Teil  bei- 
gefügten Questionnaire  ist  der  Herausgeber  wohl  nicht  verantwortlich,  da  er  sich 
den  im  Verlage  Kühtmann  herrschenden  Brauche  nicht  entziehen  konnte.  Die 
mit  Fleiß  verfaßten  Bändchen  werden  hoffentlich  nicht  vergeblich  an  weiteren 
Schulen  um  Einlaß  bitten. 

Abwechslung  in  das  bisher  von  Brunos  Tour  de  la  France  beherrschte  Ge- 
biet der  Lektüre,  die  Einführung  in  die  Kenntnis  von  französischem  Land  und 
Leuten  erstrebt,  möchte  M.  Pflänzel  (No.  6)  bringen.  Er  hat  aus  dem  in  Frank- 
reich sehr  beliebten  (schon  in  mehr  als  50  Auflagen  vorliegenden)  und  vom  franzö- 
sischen Kultusministerium  warm  empfohlenen  Buch  „Jean  Felber,  Histoire 
d'une  famille  alsacienne.  La  guerre  franco-allemande.  Excursion  ä  travers  la  France. 
Descriptions''  des  Geschichtsprofessors  A.  Chalamet  einen  Auszug  mit  dem 
kürzeren  Titel  A  travers  la  France  herausgeschnitten.  Einzelne  chauvinistische 
Ergüsse,  geschichtliche  und  industrielle  Abschweifungen,  die  für  deutsche  Jungen 
ohne  Interesse  sind,  blieben  fort.  In  dem  Umstände,  daß  Chalamet  eine  größere 
Anzahl  von  Personen  als  Bruno  zur  Verfügung  hat  und  diese  durch  ganz  Frankreich 
führt,  auch  den  Krieg  mit  hinein  spielen  läßt,  mag  mancher  mit  dem  Herausgeber 
dis  Vorzüge  des  Bändchens  erkennen.  Das  Ganze  ist  in  38  kurze  Kapitel  gegliedert; 
ob  diese  wirklich  unsere  Schüler  mehr  als  Bruno  fesseln  werden,  lasse  ich  dahin  ge- 
stellt sein.  Viele  überflüssige  sprachliche  Bemerkungen  dürften  in  einer  Neu- 
auflage schwinden,  dafür  den  bildlichen  Darstellungen  etwas  mehr  Liebe  zuge- 
wandt werden.  Das  Buch  eignet  sich  in  0  III  einer  Realanstalt,  in  jeder  Sekunda 
als  Klassenlektüre  oder  privatim  in  O  II. —  Gleichfalls  finden  Verwendung  auf  der 
Mittelstufe  die  drei  Ausgaben  (No.  7—9):  Kriegsgeschichte  von  1870,  für  die  immer 
neue  Autoren  herangezogen  und  entdeckt  werden.  R  o  u  s  s  e  t  Histoire  de  la  guerre 
franco-allemande  ist  hier  nicht  zum  ersten  Male  bearbeitet.  Im  Gegensatz  zu 
dem  deutschen  Generalstabswerk  behandelt  er  bekanntlich  die  einzelnen  Kriegs- 
schauplätze gesondert  und  verfolgt  der  Reihe  nach  das  Geschick  der  verschiedenen 
französischen  Armeen  von  ihrem  Auftreten  bis  zu  ihrer  Vernichtung.  So  ließen 
sich  geschickt  verschiedene  Momente  aus  solchen  Kämpfen  (Wissembourg,  Froesch- 
weiler,  Bataille  de  Sedan,  Entrie  des  Allemands  dans  Paris  u.  a.)  herausnehmen, 
für  die  unsere  Schüler  besonderes  Interesse  haben  und  die  sie  auch  verstehen  können, 
ohne  das  Vorhergehende  gelesen  zu  haben.  Überdies  orientiert  eine  knappe  Ein- 
leitung zu  jedem  Abschnitt  in  den  (sonst  sehr  reichlich  bemessenen)  Anmerkungen 
über  die  Lage.  Zeitgemäß  ist  auch  im  Schlußkapitel  {la  guerre  sur  mer)  der  Abriß 
über  die  Tätigkeit  der  beiden  Marinen.  Manche  Abschnitte  wirken  geradezu 
dramatisch,  die  Sprache  ist  leicht  und  elegant  und  hat  —  im  Vergleich  mit  anderen 
Kriegsdarstellungen  —  keinen  unnötigen  Ballast  von  seltenen  Vokabeln.  Eine 
bedenkliche  Seite  des  Buches  darf  jedoch  nicht  verschwiegen  werden.  Ein  nicht 
geringer  Grad  von  Chauvinismus  beseelt  den  von  glühender  Vaterlandsliebe  be- 
geisterten Franzosen,  der  unsern  Truppen  wenig  Anerkennung  zollt  und  dem  Ge- 


Zur  französischen  Lektüre.  199 

danken  an  Revanche  oft  Ausdruck  verleiht  (S.  79  u.  80).  Wem  jedoch  dieser 
Umstand  von  geringerem  Gewichte  erscheint,  dem  wird  die  Lektüre  Roussets 
mehr  Freude  machen  als  die  oft  langweilig  wirkenden,  sich  wiederholenden 
Schlachtenschilderungen  bei  Chuquet  und  Genossen.  Mehr  fesselt  überhaupt  die 
Kriegsgeschichte,  wenn  sich  ihre  rein  historische  Darstellung  mit  dem  Novellistischen 
verwebt.  So  in  dem  Bändchen  (8)  aus  Zola,  das  auch  in  chauvinistischer  Be- 
ziehung einwandfrei  ist.  Pariselle  hat  den  Versuch  unternommen,  La  Debäcle  unter 
möglichster  Wahrung  seiner  Eigenart  als  eines  historischen  Romans  der  deutschen 
Schule  zugänglich  zu  machen.  Die  vom  Dichter  geschaffenen  lebenswahren  Ge- 
stalten steigern  in  ganz  anderem  Maße  das  Interesse  des  jugendlichen  Lesers  für 
den  verhängnisvollen  Marsch,  den  die  Armee  von  Chälons  von  Reims  nach  Sedan 
vollführt  und  für  ihre  vergebliche  Kraftanstrengung,  um  den  durch  unsere  über- 
legene Kriegskunst  gebildeten  ,yCercle  de  Fer''  zu  sprengen.  Die  romanhafte  Ein- 
kleidung bringt  manche  Unwahrscheinlichkeiten  mit  sich,  mit  denen  wir  nicht 
zu  rechten  haben.  Der  Anlage  der  Freytagschen  Ausgaben  entsprechend  ist  mit 
sachlichen  und  grammatischen  Noten  nicht  gekargt.  Der  trefflich  ausgewählte 
Text,  ohne  irgendwelche  sprachliche  Schwierigkeiten,  wird  in  jeder  Untersekunda 
und  als  Hauslektüre  gute  Dienste  tun.  Dasselbe  Lob  dürfen  wir  dem  dritten 
Kriegsbändchen(No.9)  spenden,  das  ebensowenig  diese  Epoche  in  neuer  Beleuchtung 
erscheinen  lassen  will.  In  Les  Etapes  Douloureuses  des  Barons  V  e  r  1  y  stehen  vor 
allem,  wie  schon  der  Untertitel  andeutet,  Napoleon  III.  selbst  und  die  Ereignisse, 
an  denen  er  in  den  letzten  Wochen  seiner  Regierung  mittelbar  oder  unmittelbar 
Anteil  hatte,  im  Mittelpunkt.  Der  Autor  hat  aus  den  hier  zum  ersten  Male  ver- 
öffentlichten Privatbriefen  seines  Vaters,  des  Obersten  der  kaiserlichen  Leibwache, 
und  anderen  mündlichen  und  schriftlichen  Berichten  von  Augenzeugen  geschöpft. 
Wie  der  Inhalt,  so  sind  auch  Ausdrucksweise  und  Form  reich  an  willkommener  Ab- 
wechslung: Briefe,  Schilderungen  der  Ereignisse,  oft  in  Gesprächsform,  amtliche 
Bekanntmachungen,  Stimmungsbilder  usw.  greifen  in  anregender  Mannigfaltigkeit  in- 
einander. Gerade  dieser  Umstand,  sowie  die  klare,  anschauliche  Sprache  und  der 
sich  schriftlichen  Klassenarbeiten  vorzüglich  anpassende  Inhalt  bewogen  uns  in 
diesem  Jahre  (191 1)  zur  Wahl  des  Bändchens  in  den  Sekunden.  Man  kann  mit  dem 
Erfolg  wohl  zufrieden  sein;  der  erheblich  gekürzte  Text  läßt  sich  in  einem  Schul- 
jahr durcharbeiten.  Gehässige  Äußerungen  sind  ausgemerzt,  und  Veriys  Abneigung 
gegen  unser  Vateriand  erscheint  uns  in  einem  milderen  Lichte,  wenn  wir  ihn  (z.  B. 
S.  15)  ernst  und  nachdrucksvoll  seine  Landsleute  zu  all  den  Tugenden  ermahnen 
sehen,  die  auch  wir  unserer  Jugend  unermüdlich  ans  Herz  legen  sollten.  Sehr  viele 
seiner  Auseinandersetzungen  sind  für  die  heutige  Zeit  von  besonderer  Bedeutung. 
Weiser  Beschränkung  befleißigen  sich  auch  die  Anmerkungen. — Den  besprochenen 
Ausgaben  für  Sekunda  mögen  hier  2  (allerdings  schon  ältere)  Bändchen  angereiht 
werden,  die  nach  einstimmigem  Urteil  mit  zu  dem  Besten  gehören,  was  in  den  letzten 
Jahren  für  unsere  Schullektüre  auf  den  Markt  gekommen  ist.  Es  war  ein  dankens- 
wertes Unternehmen  von  Dr.  Haas  in  der  Weidmannschen  Sammlung  (I,  48) 
unter  dem  Titel:  L' Empire  1805—1809:  UAllemagne  napoleonienne  für  uns 
hochbedeutsame  Abschnitte  aus  der  Geschichte  des  ersten  Kaiserreichs  zu  ver- 
öffentlichen, die  bisher  im  französischen  Unterricht  dem  Schüler  gar  nicht,  oder 


200  VV.  Bohnhardt, 

nur  durch  den  parteiischen  und  leidenschaftlichen  L  a  n  f  r  e  y  bekannt  wurden, 
dessen  Auffassung  und  Resultate  obendrein  durch  die  wissenschaftliche  Forschung 
der  letzten  30  Jahre  eingehende  Berichtigung  erfahren  haben.  Die  Texte  dieser 
Ausgabe,  die  rasch  eine  zweite  Auflage  erlebte,  sind  der  Histoire  generale  von  L  a  - 
risse  und  Rambaud  entlehnt,  in  der  objektivere  und  leidenschaftslosere 
Historiker  zu  Worte  kommen,  Autoritäten  auf  ihrem  Gebiete.  Die  gehaltvollen 
Abhandlungen  sind  alle  in  glänzender,  formvollendeter  Sprache  geschrieben.  Der 
reiche  Stoff  läßt  sich  zu  schriftlichen  Arbeiten  aller  Art  verwerten.  Die  Anmer- 
kungen der  gediegenen,  mit  Schlachtenskizzen  geschmückten  Ausgabe  sind  sorg- 
fältig. Die  Fortsetzung  bildet  Bändchen  I,  54:  L  '  E  m  p  i  r  e  1813—1815:  UAlle- 
magne  anti-napoleonienne.  Dort  die  Periode  des  succes,  hier  die  Periode  des  revers. 
Diese  Kapitel  sind  für  uns  von  um  so  höherem  Interesse,  als  in  ihnen  zugleich  ein 
fesselndes  Bild  von  der  Zeit  der  Freiheitskriege  entworfen  wird.  Man  lese  z.  B. 
im  I.  Kapitel  die  besonders  reizvolle  Würdigung  der  Tätigkeit  und  Erfolge  unserer 
großen  preußischen  Patrioten  im  Munde  von  Ernest  Denis,  eines  nach 
objektivem  Urteil  strebenden  Franzosen.  Praktisch  ist  auch  der  Umstand,  daß 
jedes  der  (4 — ^5)  Kapitel  der  beiden  Bändchen  ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganze 
bildet,  das  unabhängige  Behandlung  zuläßt.  Mit  großer  Freude  habe  ich  die  Auf- 
nahme der  Bändchen  auf  unserm  Rheinischen  Kanon  begrüßt,  und  ihre  Lektüre 
brachte  nach  Absolvierung  der  neueren  Geschichte  in  Untersekunda  derselben 
Scbülergeneration  von  mir  im  folgenden  Jahre  viele  Anregung.  —  Die  Bändchen 
No.  12  bis  zum  Schluß  können  nur  Anspruch  auf  Berücksichtigung  in  Prima  machen. 
Zuerst  zwei  neue,  mit  dem  Bilde  des  Dichters  geschmückte  M  u  s  s  e  t  -Ausgaben, 
da  die  bei  Velhagen  und  Klasing  (Bd.  157)  von  E.  B.  Rüssel  veröffentlichte, 
allein  dem  dringenden  Bedürfnis  nicht  zu  genügen  schien.  Die  mit  einem  ausführ- 
lichen Lebensgang  des  Dichters  (von  21  S.)  eingeleitete  Ausgabe  Bernhardts  möchte 
auch  der  Privatlekttire  dienen  und  zur  künftigen  Beschäftigung  (?)  mit  dem  Dichter 
anregen.  Ganz  knapp  gehalten  ist  die  I  n  t  r  o  d  u  c  t  i  o  n  bei  Wershoven.  „Gehört 
wirklich  ein  Bändchen  Musset  in  die  Schule?"  Ich  glaube  mit  Münch,  daß  trotz 
seiner  unvergänglich  schönen  Lyrik  der  Dichter  auch  in  Bruchstücken  nicht  unseren 
Primanern  zugänglich  gemacht  zu  werden  braucht  und  daß  wir  mindestens  keiner 
Sonderausgabe  benötigen.  Bei  der  Auswahl  des  Stoffes  verfahren  naturgemäß  beide 
Herausgeber  nach  gleichen  Gesichtspunkten.  Die  lyrischen  Gedichte,  z.  T.  die- 
selben, bieten  zu  Ausstellungen  wohl  kaum  Anlaß.  Schwere  Bedenken  erweckt 
jedoch  die  aufgenommene  Prosa.  Die  stimmungsvolle  Momentaufnahme  Un 
Souper  chez  Mademoiselle  Rachel  hat  anstößige  Stellen:  Wershoven  S.  37:  „IJne 
femme  qui  a  un  amour  infame,  mais  qui  se  meurt  plutöt  que  de  s'y  livrer  usw.  Kom- 
mentar überflüssig!  Bei  Bernhardt  ist  diese  Stelle  glücklicherweise  gekürzt.  Auch 
möchte  ich  im  Mal  du  Siede  (Wersh.  S.  30)  einen  Satz  an  rheinischen  Schulen  nicht 
lesen.  Weiterhin  läßt  sich  in  dem  Weidmannschen  Bändchen  die  Aufnahme  der 
Histoire  d'un  Merk  Blanc,  an  sich  eine  feine  und  geistreiche  Lektüre,  wegen  der 
dem  Schüler  völlig  fremden  Beziehungen  zur  zeitgenössischen  französischen  Literatur 
(um  1830)  und  besonders  wegen  des  Verhältnisses  von  Musset  zu  G.  Sand  nicht 
befürworten.  Endlich  zum  Theater!  Was  bezwecken  beide  Ausgaben  mit  F  a  n  t  a  - 
s  i  0?    Soll  zugunsten  dieses  Stückes  mit  einem  unnatürlichen  Inhalt,  in  dem  sich 


Zur  französischen  Lektüre.  201 

die  Jugend  durch  die  tollsten  Phantasien  über  die  innere  Öde  hinwegtäuschen  will, 
und  mit  seinem  albernen  Schluß  die  Lektüre  wertvoller  Dramen,  für  die  wir  die 
mangelnde  Zeit  vergeblich  ersehnen,  fortfallen?  Also:  der  Prosaiker  und 
Dramatiker  Musset  sind  für  unsere  Schulen  abzulehnen.  Immerhin  würde  der 
Ausgabe  von  Bernhardt  der  Vorrang  gebühren.  Doch  genügen  für  Schulzwecke 
die  in  E  n  g  w  e  r  s  Choix  de  Poesies  frangaises  abgedruckten  (8)  Gedichte  völlig. 

—  Neben  der  trefflichen  Auswahl  aus  V.  Hugo  von  Oskar  Weißenfels  (Monat- 
schrift VIII,  676)  sucht  sich  die  im  großen  und  ganzen  zweckentsprechende  Ausgabe 
von  Wershoven  (No.  16)  Geltung  zu  verschaffen.  Man  findet  in  der  Hauptsache 
die  in  den  landläufigen  Chrestomathien  vertretenen  Gedichte  wieder;  auf  die  Be- 
schreibung des  mittelalterlichen  Paris  hätte  für  unsere  Schüler  verzichtet  werden 
können.  Die  Anmerkungen  sind  von  der  bekannten  Weitschweifigkeit  (sie  belehren 
einen  Primaner  über  Korsika,  Elba,  „Shakespeare,  der  berühmte  englische  Dichter"). 

—  Zu  der  „Auswahl  aus  Rousseau"  von  Rudolph  (Velhagen  &  Klasing  No. 
159  B.),  die  schon  an  vielen  Anstalten  sich  eingebürgert  hat,  hat  sich  diejenige 
von  Wüllenweber  (bei  Weidmann)  gesellt.  Man  wird  ihr  manches  Gute  nachrühmen 
dürfen,  so  die  mit  Überlegung  zusammengestellten  guten  Anmerkungen.  In  der 
Bearbeitung  des  Stoffes  gehen  beide  Ausgaben  weit  auseinander.  Wüllenweber 
druckt  umfangreiche  Stellen  aus  den  Hauptwerken  der  Reihe  nach  ab,  in  denen 
jedoch  nicht  immer  das  für  den  Autor  und  seine  Schrift  Charakteristische  in  wün- 
schenswerter Weise  hervortritt.  Einen  klareren  Begriff  von  der  Gedankenfülle 
Rousseaus  gewinnt  man  aus  dem  Velhagen-Bändchen,  das  den  ganzen  Stoff  logisch 
gruppiert  {nature,societe,Etat  u.  ähnl.)  —  Von  R  o  u  s  s  e  a  u  zu  D  i  d  e  r  o  t  ist  der 
Weg  nicht  allzuweit.  Von  seiner  Bedeutung  als  Kunstkritiker  wünscht 
das  Bändchen  Diesterweg  (15)  dem  Primaner  einen  Begriff  zu  verschaffen.  Viel- 
leicht hat  die  Ausgabe  von  T  a  i  n  e  ,  Philosophie  de  l'art  bei  Rusl^a  (Monatschrift 
VIII,  679)  L.  Petri  zur  Bearbeitung  von  D  i  d  e  r  o  t  s  Essai  sur  la  Peinture,  den 
bekanntlich  Goethe  hochschätzte  und  kommentierte,  angeregt.  Dürfen  wir  die 
Lektüre  dieser  Ausgabe  nach  Form  und  Inhalt  als  einen  Gewinn  für  reifere  Schüler 
betrachten?  Die  Beschreibung  der  vier  Bilder  (dazu  die  nötigen  Abbildungen 
im  Beiheft)  bietet  sprachlich  keine  Schwierigkeiten  und  wird  am  Ende  auch  fesseln. 
Anders  urteile  ich  über  den  eigentlichen  Essai.  Zu  seinem  Verständnis  hätte  auch 
nach  der  Meinung  anderer  Fachgenossen  (z.  B.  N.  Spr.  18,  112)  mehr  unerläßlich 
notwendiges  und  zwar  farbiges  Anschauungsmaterial  herangezogen  werden  müssen. 
Manche  Behauptungen  Diderots  haben  heute  ihre  Gültigkeit  verloren;  für  viele 
seltene  Vokabeln  und  technische  Ausdrücke,  die  die  Präparation  aufhalten,  hat  der 
Schüler  im  Aufsatz  oder  sonst  keine  Verwendung.  Die  recht  anstößige  Stelle  (S.  36, 
22):  „Une  femme  garde-t-elle  le  meme  teint  dans  Vattente  du  plaisir,  dans  les  bras 
du  plaisir,  au  sortir  de  ses  bras7'  hat  wohl  mit  dazu  beigetragen,  daß  fürs  erste 
der  Ausgabe  kein  Platz  auf  dem  Rheinischen  Lektürekanon  eingeräumt  worden  ist. 
Die  annotations  lassen  ab  und  zu  im  Stich  (zu  S.  20,  9;  21,1).  — 

In  den  folgenden  drei  Ausgaben  wird  selbst  einem  tüchtigen  Oberprimaner 
recht  schwere  geistige  Kost  vorgesetzt  und  an  das  Wissen  und  Können  des  Lehrers 
hohe  Anforderungen  gestellt.  Die  Stoffe  aus  der  Geschichtederfranzö- 
sischen   Revolution,  die  dem   Gesichtskreis  deutscher  Schüler  zu  fern 


202  W.  Bohnhardt, 

liegen,  verlangen  vorher  eine  Einführung  in  die  eigentliche  Geschichte 
selbst  an  der  Hand  eines  zweiten  Bändchens.  Dazu  fehlt  die  Zeit;  wann  und  wo 
soll  zweimal  derselbe  Stoff  traktiert  werden?  Der  schöne  Auszug  aus  der  großzügigen 
Geschichtsphilosophie  von  Alexis  de  Tocqueville,  der  weit  umfassender 
und  tiefer  ist  als  Guizot,  setzt  eine  bei  dem  Primaner  nicht  zu  erwartende  geistige 
Reife  voraus.  Trotzdem  soll  hie  und  da  der  Versuch  der  Einführung  gemacht 
worden  sein,  über  dessen  Erfolg  noch  nichts  verlautet.  Jedenfalls  war  die  tüchtige 
Leistung  Andres  würdig  der  Aufnahme  in  unsern  Kanon.  —  Die  Auswahl  aus 
A  u  1  a  r  d  (18)  berücksichtigt  hauptsächlich  die  innerpolitische  Geschichte 
Frankreichs  in  ihren  Einzelheiten  bis  zum  9.  Thermidor.  Um  einen  Einblick  auch 
in  die  ä  u  ß  e  r  e  n  Geschehnisse  dem  Schüler  zu  gewähren,  die  nur  soweit  berührt 
werden  als  sie  für  jene  von  Bedeutung  sind,  schlägt  der  Herausgeber  selbst  eine 
„ergänzende  Lektüre"  (Bändchen  147  der  Prosateurs  frangais  bei  Velhagen  und 
Klasing)  vor.  Dieser  Vorschlag  bedarf  keiner  Erörterung.  Die  Lektüre  der  i  n  n  e  r  e  n 
Geschichte  Frankreichs  wird,  so  fürchte  ich,  nicht  den  Eindruck  bei  unseren  jungen 
Leuten  von  18 — 19  Jahren  erwecken,  den  sich  Kalbfleisch  verspricht.  Die  aus- 
führlich behandelten  Fragen  über  Wahlrecht,  Verfassung  u.  a.  dienen  auch  kaum  als 
Mittel  zur  Einführung  in  deutsche  Staatskunde.  Gewiß  ist  Aulard  heute  in  Frankreich 
der  beste  Kenner  der  ganzen  Epoche,  aber  viele  werden  nicht  mit  der  Richtung 
dieses  Gelehrten  —  des  leidenschaftlichen  Gegners  aller  Religion  —  sympathisieren, 
die  nur  wenige  Schritte  von  der  kritiklosen  Verherrlichung  getrennt  ist,  die  die 
Generation  eines  Michelet  und  eines  Lamartine  der  Revolution  widmete.  —  Zu  dem 
bei  Tocqueville  und  Aulard  angeführten  Grunde  (fernliegender  Stoff)  kommen 
noch  einige  andere,  die  es  verbieten,  für  N  o  d  i  e  r:  Souvenirs  de  la  Rivolution  et 
de  VEmpire  eine  Lanze  zu  brechen.  Soll  ein  ganzes  Semester  vergeudet  werden 
(der  Ausdruck  ist  kaum  zu  hart)  mit  der  Durcharbeitung  von  Abschnitten  wie 
Euloge  Schneider,  Real,  des  trockenen  Kapitels  (5)  Reaction  Thermidorienne,  wo 
wir  es  immer  wieder  bedauern,  daß  wir  in  den  paar  französischen  Lektürestunden 
so  viele  edle  und  bildungsreiche  Stoffe  unserer  Jugend  vorenthalten  müssen? 
Daß  in  der  Auswahl  auch  einige  Stücke  (P  i  c  h  e  g  r  u  ,  Ch.  C  o  r  d  a  y)  lesenswert 
sind,  sei  gerne  zugestanden.  Und  endlich!  Unsere  Primaner  sollen  in  diese  gewal- 
tige Epoche  an  der  Hand  der  großen  Historiker  eingeführt  werden,  nicht 
durch  Romantiker  zweiten  oder  dritten  Ranges,  durch  den  weitschweifigen, 
häufig  kritiklosen  Nodier.  Brauchen  in  den  Anmerkungen  dem  Leser  eines  solchen 
Buches,  das  gründliche  Kenntnis  der  Zeit  und  Menschen  voraussetzt,  Kari  Moor 
oderCicero  vorgestellt  zu  werden? —  Und  nun  zum  Schluß  dieOstergabe  von  1911, 
ein  wohl  zu  beachtendes  Bändchen  (20.)  Bernhard  Völcker  schlägt  gerne  neue 
Bahnen  ein,  wie  schon  seine  G  o  b  i  n  e  a  u -Ausgabe  (Monatschrift  VIII,  684) 
bekundet.  In  der  richtigen  Erkenntnis,  daß,  wenn  wir  dem  Geschichtsunterricht 
neue  Ziele  für  die  Gegenwart  stellen,  wir  zugleich  die  Lektüre  nach  den  neuen 
Gesichtspunkten  orientieren  müssen,  will  er  Verständnis  für  die  politischen  Fragen 
der  Vergangenheit  und  Gegenwart,  an  deren  Lösung  der  Schüler  später  als  Mann 
mitwirken  soll,  wecken  durch  seinen  Auszug  aus  Gabriel  Hanotaux  Histoire 
de  la  France  contemporaine.  Dieses  Werk  hat  bekanntlich  wegen  seiner  klaren, 
leichten  und  lebendigen  Sprache,  seines  objektivem,  auf  gewissenhafter  Benutzung 


Zur  französischen  Lektüre.  203 

eines  reichen  Quellenmaterials  beruhenden  Inhalts  (darin  z.  B.  auch  rückhaltlose 
Anerkennung  der  großen  Eigenschaften  unserer  Nation  und  ihrer  Führer)  un- 
geteilten Beifall  gefunden.  Völcker  versucht,  dem  deutschen  Schüler  in  den  7  Ka- 
piteln, die  einen  Einblick  in  eine  der  schwierigsten  Perioden  Frankreichs  gestatten, 
zugleich  die  für  jene  Zeit  und  noch  für  die  Gegenwart  entscheidenden  charak- 
teristischen Momente  zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Die  mit  feiner  Überlegung 
getroffene  Auswahl  aus  den  4  Bänden  wird  ihm  nicht  leicht  geworden  sein.  Was 
er  bietet,  ist  stets  lehrreich,  meist  auch  interessant;  so  die  Kapitel:  Vers  la  libiration; 
la  liberation  du  territoire;  la  (Emission  de  Tfiiers.  Ich  verspreche  mir  von  der  Lektüre 
dieses  mit  vieler  Liebe  und  Sorgfalt  zusammengestellten  Bändchens  —  soweit 
man  theoretisch  ein  Urteil  abgeben  kann  —  für  Realoberprimaner  inhaltlich  und 
sprachlich  bedeutsamen  Gewinn.  Der  Ausgabe*)  sind  beigegeben  eine  biographische 
und  eine  geschichtliche  Einleitung,  eine  praktische  Zeittafel.  Die  ausführlichen 
Anmerkungen  sind  dieses  Mal  angebracht. 

2.  Hauslektüre. 

1.  Hollardy  Henriette,  Pauvre  Gar^on.  Für  den  Schulgebrauch  bear- 
beitet von  August  Eckermann.  Leipzig  1909.  Rengersche  Buchhandlung.  Franzö- 
sische und  englische  Schulbibliothek,  Band  158.    VI  u.  114  S.    geb.  1,60  M. 

2.  Laude,  Andre,  Le  capitaine  Trafalgar.  Für  den  Schulgebrauch 
bearbeitet  und  erklärt  von  Benno  Diederich.  Leipzig  1908.  Rengersche  Buch- 
handlung. Französische  und  englische  Schulbibliothek,  Band  157.  VI  u.  108  S. 
geb.  1,20  M. 

3.  Ferry,  Gabriel,  Vier  Erzählungen.  Für  den  Schulgebrauch  heraus- 
gegeben und  erklärt  von  J.  Peronne.  2.  Aufl.  Berlin  1908.  Weidmannsche  Buch- 
handlung. Schulbibliothek  franz.  und  engl.  Prosaschriften,  Band  ^8.  VI  u.  112  S. 
(Dazu  gesondertes  Wörterbuch  0,50  M.)  geb.  1,20  M. 

>  4.  Au  bruit  du  canon,  Recits  etNouvelles  (1793 — 1815)  annotes  par 
A.  et  Ch.  Robert-Dumas.  Frankfurt  a.  Main  1909.  Diesterwegs  Neusprachliche 
Reformausgaben,  Band  6.  VIII  u.  52  S.  (Annotations  in  Sonderheft  54  S.) 
geb.  1,20  M. 

5.  L'Annee  terrible.  Morceaux  choisis  et  annotes  en  collaboration  avec  A. 
Sturmfels  par  H.  Cointot.  Avec  quatre  gravures  et  une  carte.  Leipzig  et  Berlin 
1910.  B.  G.Teubner.  (CoUectionTeubner  publice  ä  l'usage  de  l'enseignement  secon- 
daire  par  F.  Doerr  et  L.  Petry),  Bd.  7.  IV  u.  118  S.  (Notes  in  Sonderheft  52  S.) 
geb.  1,60  M. 

'  6.  Maupassant,  Guy  de,  Contes  etNouvelles.  (T^  Recueil)  annotes 
par  Charles  Robert-Dumas.  Frankfurt  a.  Main  o.  J.  Diesterwegs  Neusprachliche 
Reformausgaben,  Band  12.  XV  u.  56  S.  (Annotations  in  Sonderheft  35  S.) 
geb.  1,40  M. 

7.  Derselbe:  IV"""  Recueil.  1910.  Band  15.  XIV  u.  67  S.  (Annotations  in 
Sonderheft  36  S.)    geb.  1,40  M. 


*)  Sie  hat  inzwischen  die  Anerkennung  des  Rhein.  Prov.-Schulkollegiums  gefunden. 


204  W.  Bohnhardt, 

8.  Balzac,  Honor6  de,  Trois  Nouvelles.  Prec^dees  d'une  etude  sur  la 
vie  et  les  oeuvres  de  Tauteur  et  annotees  par  Charles  Robert-Dumas.  Frankfurt 
a.  Main  1909.  Diesterwegs  Neusprachliche  Reformausgaben,  Band  11.  XXXIII 
u.  60  S.    (Annotations  in  Sonderheft  44  S.)    geb.  1,60  M. 

9.  Chätelain,  A.,  Ausgewählte  Erzählungen.  Für  den  Schul- 
gebrauch erklärt  von  K.  Sachs.  Berlin  u.  Glogau  1908.  Carl  Flemming.  Englische 
und  französische  Schulschriftsteller  der  neueren  Zeit.  Bändchen  49.  Ausgabe  A. 
VII    u.  74  S.     geb.  1,30  M. 

10.  Stael,  Madarr.e  de,  Auswahl  aus  ihren  Schriften.  Erklärt 
von  H.  Quayzin.  Berlin  1907.  Weidmannsche  Buchhandlung.  V  u.  210  S.  (Sonder- 
heft mit  Anmerkungen  in  Falte  34  S.)    geb.  2,  20  M. 

1 1 .  France, Anatole, Pages  choisies.  Herausgegeben  von  J.  F.  Le  Bourgeois. 
Mit  einem  Plane  von  Paris.  Berlin  1908.  Weidmannsche  Buchhandlung.  Band  59 
der  Schulbibliothek  französischer  und  englischer  Prosaschriften.  XII  u.  210  S. 
geb.  2,20  M. 

Bei  den  Vorschlägen  für  die  Klassenlektüre  war  immer  das  Hauptaugenmerk 
auf  ernsten  und  gediegenen  Inhalt  gerichtet  worden;  daher  schien  es  geboten, 
viele  der  neuesten  Erscheinungen  (manche  in  wirklich  guten  Ausgaben)  aus  der 
immer  mehr  anschwellenden  Flut  moderner  Erzählungen  wegen  ihrer  geringen 
literarischen  Qualitäten  der  Privatlektüre  zuzuweisen.  Dabei  fanden  sich  einzelne 
Stoffe,  gegen  die  man  sich  grundsätzlich  ablehnend  verhalten  muß.  Andererseits 
möchten  sich  auch  die  jüngsten  literarischen  Größen  Frankreichs,  Meister  in  der 
Kunst  der  Darstellung  und  originell  in  ihren  Ideen  und  Erfindungen,  Geltung 
in  der  Schule  verschaffen.  Die  knappe  Zeit  erlaubt  nur  ihr  Auftreten  in  Gastrollen. 
Doch  kann  der  Schüler  seinem  Geschmacke  folgend  unter  Anleitung  eines  fein- 
sinnigen Lehrers  durch  gründliche  Lektüre  zu  Hause  mit  ihnen  in  ein  engeres 
Verhältnis  treten.  Fast  überall  aber  verdient  der  richtige  Standpunkt  der  meisten 
Herausgeber,  das  wirklich  Lebendige,  das  der  Gegenwart  Entsprossene,  möglichst 
in  der  allermodernsten  Sprache  Verfaßtes  sofort  unserer  Schule  zugänglich  machen 
zu  wollen,  Anerkennung.  —  In  Pauvre  Gargon  (1)  schildert  Henriette 
H  0  1 1  a  r  d  in  klarer  und  gefälliger  Sprache  die  Erlebnisse  eines  vornehm  denken- 
den, begeisterungsfähigen  collegien  und  späteren  Seekadetten,  der  von  seinem  13.  bis 
18.  Jahre  viel  Trübes  erlebt.  Nach  Ausbruch  des  Krieges  tritt  er  in  das  Landheer 
ein  und  stirbt  den  Heldentod  vor  Paris.  Der  letzte  Teil,  der  in  anschaulichen  Bildern 
die  Belagerung  vorführt,  ist  unstreitig  der  beste.  Den  Kriegsschauplatz  und  die 
Umgebung  der  Hauptstadt  illustrieren  zwei  Kärtchen.  Der  Ton  der  fesselnden 
Erzählung  ist  nach  meinem  Empfinden  gar  zu  weichlich  und  larmoyant  für  unsere 
Sekundaner.  Nur  stillen,  beschaulichen  Gemütern  unter  ihnen  wird  das  Bändchen 
in  Mußestunden  zusagen,  das  sich  aber  für  Mädchenschulen  vorzüglich  eignet.  — 
Vergebliches  Bemühen,  bei  dem  Vielschreiber  A  n  d  r  6  L  a  u  r  i  e  (2)  literarische 
Vorzüge  suchen  zu  wollen.  Flott  geschrieben  ist  aber  dieser  Abenteuerroman 
Le  Capitaine  Trafalgar,  der  stark  an  Jules  Verne  oder  A.  Dumas  erinnert.  Bis 
zum  Ende  steigert  er  auch  des  Erwachsenen  Spannung  und  entbehrt  obendrein 
durch  einige  köstlich  gezeichnete  komische  Nebenfiguren  nicht  des  humoristischen 
Beigeschmacks.      Aber   das  gewünschte   Bildungsmittel  für   Obertertianer  oder 


Zur  französischen  Lektüre.  205 

Untersekundaner  während  eines  ganzen  Semesters  ist  er  nicht.  Unbedenklich 
jedoch  kann  man  ihn  zum  Privatvergnügen  Schülern  von  Realanstalten  in  die 
Hand  drücken,  um  so  mehr,  als  er  sich  bequem  zu  Sprechübungen  ausschlachten 
läßt.  —  Auf  dieselbe  Stufe  (0  11)  gehören  die  „Vier  Erzählungen**  Gabriel 
F  e  r  r  y  s  (Weidmann).  Sie  sind  eine  Privatlektüre,  die  durch  ihren  höchst  packenden 
Inhalt  auch  zugleich  die  leichtere  Aneignung  der  fremdsprachlichen  Form  vermittelt. 
Wir  hören  von  den  großen  Kämpfen,  die  im  Jahre  1810  für  die  Unabhängigkeit 
Mexikos  vom  spanischen  Joch  begannen.  Lebensvoll  treten  uns  Land  und  Leute 
entgegen,  denen  der  Verfasser  durch  längeren  Aufenthalt  vertraut  wurde.  Trotz 
des  südländischen  Milieus  ein  verhältnismäßig  einfacher  Wort-  und  Phrasen- 
schatz; die  Anmerkungen  sind  auf  ein  bescheidenes  Maß  beschränkt.  Wird  sich 
jemand  daran  stoßen,  daß  die  Geschichten  nichts  zur  Einführung  in  das  franzö- 
sische Volkstum  beitragen? 

Die  Sammelbändchen  Au  bruit  du  canon  (Diesterweg)  und  L'  a  n  n  e  e 
t  e  r  r  i  b  1  e  (Teubner)  fassen  äußerlich  unter  einem  gemeinsamen  Titel  mehrere 
Erzählungen  aus  der  Zeit  der  Revolution  und  Napoleons  sowie  des  deutsch- 
französischen Krieges  zusammen.  In  beiden  entdeckt  man  inhaltlich  wenig 
Bedeutendes.  Bei  Diesterweg  die  Jugendgeschichte  des  General  Hoche,  die 
bekannten  Stücke  V EnLvement  de  la  Redoute  von  M  e  r  i  m  e  e  und  Waterloo 
von  Stendhal.  Am  beachtenswertesten  scheint  die  letzte  Nummer: 
VEnvers  de  la  öloire  von  E.  S  o  u  v  e  s  t  r  e.  In  der  Ausgabe  Teubner  treffen 
wir  alte  Bekannte  wieder:  Novellen  von  Daudet,  Maupassant, 
C  0  p  p  e  e  (La  Veillee),  aber  nicht  erstklassige.  Am  meisten  gefällt  wegen  der 
unvergleichlichen  Schilderung  der  Örtlichkeit  und  der  Personen  Z  o  1  a  s  ['Attaque 
da  moülin.  Getrost  können  auch  die  teilweise  läppischen  Kriegslieder  fortbleiben. 
Geradezu  abstoßend  wirkt  Maupassant  mit  seiner  albernen  Karikatur 
der  deutschen  Soldaten  (S.  88).  Den  gleichen  Vorwurf  muß  ich  'gegen  desselben 
Autors  Contes  et  Nouvelles  I  (Diesterweg)  erheben.  Ist  es  mit  unserer  nationalen 
Würde  vereinbar,  der  Jugend  Novellen  vorzulegen  wie  Vaventme  de  Walter 
Schnciffs  (!!),  in  der  wiederum  unsere  braven  Krieger  als  feige,  gefräßig  (S.  10,  16) 
hingestellt  und  verhöhnt  werden?  Trauriger  Bildungsstoff!  Auf  die  überall  (auch 
bei  Teubner)  sich  breit  machende  M,re  Sauvage  kann  man  gern  verzichten,  des- 
gleichen auf  Erzählungen,  in  denen  verschlagene  Personen  durch  verwerfliche 
Mittel  ihren  Zweck  erreichen.  Wer  unbedingt  Maupassant  lesen  will,  greife  zu  dem 
Band  II,  der  empfehlenswerter  scheint.  Gehaltvoller,  gedankenreicher  sind 
die  drei  Novellen  Balzacs  (Diesterweg),  eine  treffliche,  aber  schwere  Lektüre 
für  Oberprimaner.  In  der  Legende  „Christus  in  Flandern**,  in  der  der  feste  Glaube, 
die  wahre  und  schlichte  Frömmigkeit  der  Armen  und  Enterbten  dem  Egoismus 
der  Reichen  und  Mächtigen  entgegengehalten  wird,  in  der  Schilderung  des  tra- 
gischen Geschickes  des  alten  flämischen  Malers,  den  Verzweiflung  über  sein  un- 
zulängliches Können  zum  Selbstmord  treibt,  bekunden  sich  des  Schriftstellers 
bewunderungswürdige  Menschenkenntnis  und  seine  großartige  Darstellungskunst. 
Am  leichtesten  verständlich  wird  unseren  Schülern  die  dramatisch  wirkende  Episode 
aus  den  Kämpfen  der  großen  Armee  an  der  Beresina.  Erhebliche  Schwierigkeiten 
sind  stilistisch  oft  zu  überwinden;  die  undurchsichtigen  Perioden  sind  für  die  Stil- 


206  E.  Dennert, 

bildung  im  Hinblick  auf  den  französischen  Aufsatz  ein  wenig  erwünschtes  Muster. 
Also:  Privatlektüre  nur  für  eine  tüchtige  Prima,  aber  das  geistige  Niveau  selbst 
einer  solchen  hat  der  Herausgeber  mit  seiner  Etüde  sur  Balzac  (33  Seiten)  ganz 
aus  den  Augen  verloren.  —  Mit  der  Bearbeitung  der  „Ausgewählten  Erzählungen** 
des  tiefempfindenden  Schweizer  Arztes  C  h  ä  t  e  I  a  i  n  hat  unser  Nestor  Karl  Sachs, 
so  sehen  wir  mit  einer  gewissen  Rührung,  sein  reiches  Lebenswerk  beschlossen. 
Die  ersten  acht  contes  (in  einfachem,  aber  gefälligem  Stil)  bringen  nicht  gerade 
bedeutenden  Inhalt,  geben  aber  viele  schöne  Gedanken  und  sinnige  Beobachtungen 
über  den  Ernst  des  Lebens  wieder.  Anziehend  ist,  gleichsam  als  ein  Bild  der  guten 
alten  Zeit,  die  Beschreibung  einer  Besteigung  des  Vesuvs  um  die  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts.  Das  Bändchen  kann  in  der  Obersekunda  von  Realanstalten  gelesen 
werden.  —  Zum  Schluß  genügt  ein  kurzer  Hinweis  auf  zwei  für  Primaner  be- 
rechnete Ausgaben  (Weidmann).  Sie  als  Semesterlektüre  vorzuschlagen,  verbietet 
die  Kürze  der  zur  Verfügung  stehenden  Zeit.  Die  Auswahl  aus  den  Schriften 
der  Madame  deStael  umfaßt  nicht  weniger  als  210  Seiten  Text.  Aus  ihnen 
können  nur  wenige  Teile,  vornehmlich  aus  De  VAllemagne  im  Anschluß  an  Kapitel 
aus  der  Literaturgeschichte,  gelesen  oder  für  Vorträge  herausgegriffen  werden. 
Daß  die  aus  Corinne  und  Delphine  gewählten  Proben  nicht  immer  das  Charakte- 
ristische dieser  Romane  erkennen  lassen,  wird  behauptet.  Die  Anlage  der  Ausgabe 
ist  etwas  eigentümlich.  Die  jedenfalls  nur  für  Lehrer  bestimmte  Einleitung  über 
Leben  und  Werke  der  Schriftstellerin  (35  S.)  ist  deutsch  verfaßt,  an  der  Spitze  der 
einzelnen  Abschnitte  stehen  französische  Überschriften.  Ist  dieses  Deutsch  selbst, 
dem  in  Ausdruck  und  Satzbau  vielfach  Gewalt  angetan  wird  (für  Schüler  daher  nicht 
besonders  empfehlenswert),  etwa  ein  Produkt  der  Übersetzung?  Endlich  erwartet 
man  in  einem  Buche  für  reifere  Leser  keine  elementaren,  historischen  und  geogra- 
phischen Anmerkungen  über  Moskau,  die  Neva,  den  Frieden  von  Tilsit.  Dieselbe 
Bemerkung  gilt  auch  von  den  grammatischen  Erklärungen  in  den  Pages  choisies 
ausAnatoleFrance.  Sonst  aber  liegt  hier  eine  gute,  mit  vieler  Überlegung 
und  gründlicher  Kenntnis  des  Autors  zusammengestellte  Ausgabe  vor.  Von  der 
Eigenart  dieser  gegenwärtigen  literarischen  Berühmtheit  Frankreichs,  die  ein  vollen- 
deter Meister  der  Form  ist  und  über  eine  glänzende  Phantasie  verfügt,  erhalten 
wir  zweifelsohne  ein  klares  Bild.  Wann  und  wo  jedoch  bietet  sich  die  Gelegenheit, 
nur  einen  bescheidenen  Teil  des  159  Seiten  füllenden  Textes  zu  behandeln?  Daß 
unsere  Primaner  Anatole  France  näher  treten,  ist  höchst  wünschenswert.  Nur 
muß  ihnen  bei  der  Lektüre  ein  Lehrer  zur  Seite  stehen,  der  selbst  den  Schriftsteller 
liebt  und  versteht. 

Düsseldorf.  W.  Bohnhardt. 


Populäre  naturwissenschaftliche  Literatur. 

Von  populären  naturwissenschaftlichen  Zeitschriften 
haben  wir  heute  eine  ganze  Reihe.  Da  sind  zunächst  die  Zeitschriften  dreier  großer 
Organisationen  zu  nennen;  die  älteste  ist  der  Kosmos  (Stuttgart,  Franckhesche 
Buchhandlung,  jährlich  mit  Buchbeilagen  4,80  M.),  sie  ist  von  den  zu  nennenden 
wohl  die  am  volkstümlichsten  gehaltene,  aber  deshalb  auch  am  wenigsten  in  die 


Populäre  naturwissenschaftliche  Literatur.  207 

Tiefe  gehende,  in  meist  kurzen,  gut  illustrierten  Aufsätzen  aus  allen  Gebieten, 
sucht  sie  ihre  Leser  über  die  Dinge  der  Natur  zu  unterrichten.  Ihren  monistischen 
Standpunkt  hat  sie  in  letzter  Zeit  wohl  etwas  revidiert,  was  nur  zu  begrüßen  ist, 
dagegen  wird  seitdem  vielfach  geklagt,  daß  sie  langweiliger  geworden  sei.  Jeden- 
falls wird  sie  geschickt  redigiert.  —  Vor  I14  Jahren  hat  sich  vom  Kosmos  infolge 
eines  recht  unerquicklichen  Streits  (in  Teil  der  Mitarbeiter  abgetrennt  und  eine 
neue  „Gesellschaft"  gegründet,  die  nunmehr  auch  eine  Zeitschrift  „Die  Natur" 
(Leipzig,  Th.  Thomas,  jährlich  mit  Buchbeilagen  6  M.)  herausgibt.  Dieselbe  hat 
einen  mehr  wissenschaftlichen  Charakter  und  steht  auf  dem  Boden  des  Monismus 
und  der  Entwicklungslehre.  Sie  besitzt  eine  Reihe  tüchtiger  Mitarbeiter.  —  Der 
„Keplerbund  zur  Förderung  der  Naturerkenntnis"  gibt 
seit  3  Jahren  ebenfalls  eine  Zeitschrift  heraus  „U  n  s  r  e  Welt"  (Godesberg, 
Naturwiss.  Verlag,  jährlich  4,80  M.,  für  Mitglieder  des  Bundes  gratis),  welche  im 
populär-wissenschaftlichen  Ton  Fragen  aus  allen  naturwissenschaftlichen  Gebieten 
behandelt,  als  besondere  Abteilungen  bringt  sie  „Aus  der  Welt  des  Mikroskops", 
sowie  naturphilosophische  Aufsätze.  Daneben  gibt  der  Keplerbund  noch  eine 
kleine  Monatsschrift  „Für  Naturfreunde"  (Godesberg,  Naturwiss.  Ver- 
lag, jährlich  1,20  M.)  heraus,  welche  namentlich  für  die  Jugend  berechnet  ist  und 
ihren  Zweck  vorzüglich  erfüllt.  Sie  kann,  wenn  sie  in  der  Hand  der  Schüler  ist, 
dem  Lehrer  sehr  gut  zur  Vertiefung  des  Unterrichts  dienen.  —  Endlich  sei  noch 
auf  die  Monatsschrift  „Aus  der  Natur"  hingewiesen  (Leipzig,  Quelle  u. 
Meyer,  jähriich  8  M.).  Diese  Zeitschrift  setzt  mehr  als  die  bisher  genannten  vor- 
aus und  wird  daher  besonders  Naturwissenschaftlern  dienen,  die  sich  weiter  fort- 
bilden wollen. 

Groß  ist  die  Zahl  der  populären  Broschüren  aus  allen  Gebieten 
der  Natur.  Sowohl  der  „Kosmos"  als  auch  „Die  Natur"  geben  solche  heraus, 
ebenso  auch  der  Keplerbund,  und  zwar  liegen  von  diesem  2  Serien  vor:  „Natur- 
wissenschaftliche Zeitfrage  n",  die  etwas  mehr  voraussetzen,  und 
„Naturstudie  n",  die  in  kleinen  Heften  (ä  20  Pf.)  mannigfache  Fragen  be- 
handeln und  auch  wieder  ganz  besonders  der  lernenden  Jugend  (aber  auch  Er- 
wachsenen) dienen  sollen  (z,  B.  „Wer  singt  da?",  „Der  Mensch  der  Eiszeit",  „Die 
Fahrzeuge  der  Motor-Luftschiffahrt"  usw.).  —  Eine  sehr  brauchbare  Sammlung 
gibt  K.  Lampert  unter  dem  Titel  „Naturwissenschaftlicher 
Wegweiser"  heraus  (Stuttgart,  Strecker  &  Schröder),  dieselbe  enthält  in 
2  Serien  größere  und  kleinere  Broschüren  (ä  2  M.  bzw.  1  M.),  welche  einzelne  Grup- 
pen von  Lebewesen  oder  einzelne  naturwissenschaftliche  Fragen  behandeln,  aber 
auch  Dinge  der  praktischen  Naturliebhaberei.  —  Ähnlich  ist  die  „Natur- 
wissenschaftliche Bibliothek"  von  K.  H  ö  1 1  e  r  und  G.Ulm  er 
herausgegeben  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  pro  Band  geb.  1,80  M.).  Die  in  der 
Sprache  einfachen  Bändchen  behandeln  allgemeine  Fragen  (z.  B.  Büsgen,  Der 
deutsche  Wald;  Schwanter,  Aus  Deutschlands  Urzeit  usw.)  oder  auch  praktische 
(z.  B.  Heller,  Das  Aquarium).  —  Von  sonstigen  populären  naturwissenschaftlichen 
Büchern  seien  hier  nur  noch  die  prächtigen  „Naturstudien  von  K. 
K  r  a  e  p  e  1  i  n  genannt  (Leipzig,  B.  G.  Teubner,  3,60  M.),  von  denen  ein  neuer 
Band    „Naturstudien    in    fernen    Zonen"    voriiegt,  sie  sind  in  Ge- 


208     F.  Giese,  Der  Beamtencharakter  der  Direktoren  usw.,  angez.  von  Irmer. 

sprächsform  gehalten,  M.  Bach,  „Studien  und  Lesefrüchte  aus 
dem  Buche  der  Natur"  (Köln,  Bachern),  das  Professor  Dr.  Borgas 
in  vorzüglicher  Weise  umgearbeitet  hat  nach  dem  neuen  Stand  der  Wissenschaft, 
sowie  endlich  noch  W.  Pfalz,  „Naturgeschichte  für  die  Groß- 
stadt** (Leipzig,  B.  G.  Teubner,  2  Bde.  ä  3  M.),  ein  gutes  Buch,  der  2.  Band 
behandelt  Aquarien,  Gärten,  Anlagen. 

Godesberg.  E.  D  e  n  n  e  r  t. 

b)  Einzelbesprechungen: 

Giese,  Friedrich,   Der   Beamtencharakter   der   Direktoren   und 
Oberlehrer    an    den    nicht    vom    Staate    unterhaltenen 
höheren    Lehranstalten    in    Preußen.      2.  Aufl.      Leipzig  und 
Dresden  1912.     CA.  Kochs  Verlagsbuchhandlung  (G.  Ehlers).     II  u.  108  S. 
8«.     1,50  M. 
Der  Verfasser  behandelt  die  Frage,  welchen  staatsrechtlichen  Charakter  die 
Oberlehrer  und  Direktoren  an  den  sogenannten  nichtstaatlichen  Anstalten,  d.  i. 
an  den  nicht  vom  Staate  unterhaltenen  Anstalten,  haben,  ob  sie  mittelbare  oder  un- 
mittelbare Staatsbeamte  seien.    Nach  einer  kurzen  Darstellung  der  äußeren  Ent- 
wicklung der  Streitfrage  behandelt  er  den  Rechtsstoff  und  seine  bisherige  Wertung 
in  der  Verwaltungspraxis,  der  Rechtsprechung  und  der  Literatur.    Darnach  prüft 
er  die  gesetzliche  Grundlage,  gibt  die  Unterschiede  zwischen  unmittelbaren  und 
mittelbaren  Staatsbeamten  an,  um  dann  die  Unterscheidungsmerkmale  zwischen 
beiden  Beamtengruppen  im  einzelnen  zu  prüfen.     Er  gelangt  zu  dem  Ergebnis, 
daß  für  den  Beamtencharakter  allein  die  Art  der  Dienstfunktion  ausschlaggebend 
sei.    Da  nun  nach  preußischem  Staatsrecht  die  sogenannten  nichtstaatlichen  Ober- 
lehrer reine  Staatsangelegenheiten  erfüllten,  so  seien  alle  Oberlehrer,  auch  die  an 
den  nicht  vom   Staate  unterhaltenen  höheren   Lehranstalten,   als  unmittelbare 
Staatsbeamte  zu  bezeichnen. 

Die  Arbeit  behandelt  eine  neuerdings  viel  erörterte  Frage  und  wird  vor  allem 
in  den  Kreisen  der  „nichtstaatlichen"  Oberlehrer  Beifall  finden.  In  klarer  Weise 
führt  der  Verfasser  seine  Ausführungen  zu  seinem  Ziele.  Der  Schwerpunkt  der 
Beweisführung  liegt  vor  allem  in  den  beiden  Sätzen,  daß  allein  die  Dienstfunktion 
den  Beamtencharakter  bezeichne,  und  daß  der  Begriff  des  mittelbaren  Staats- 
beamten mit  dem  Begriffe  des  Gemeindebeamten  identisch  S:^i.  Die  Verwaltungs- 
praxis vertritt  die  entgegengesetzte  Ansicht,  daß  jene  Oberlehrer  den  Charakter 
mittelbarer  Staatsbeamten  hätten.  Daß  die  Giesesche  Schrift  diese  Meinung  wider- 
legt hat,  können  wir  noch  nicht  sagen;  es  bleiben  auch  jetzt  noch  ungelöste  Fragen, 
so  z.  B.die,  ob  nicht  mehrere  Funktionen  zusammen,  nicht  bloß  die  Dienstfunktionen 
ganz  allein,  den  Beamtencharakter  bezeichnen,  ob  nicht  ferner  neben  die  Kommunal- 
beamten im  Sinne  der  Kommunalgesetze  infolge  einer  selbständigen  Rechtsent- 
wicklung auch  eine  besonders  geartete  Beamtengruppe  getreten  sei,  ob  nicht  eine 
Aufteilung  der  Funktionen  des  Dienstherrn  zwischen  Staat  und  Kommune  möglich 
ist  und  stattgefunden  hat.  Gern  hätten  wir  auf  diese  und  andere  Fragen  noch 
Antwort.  Trotz  allem  ist  die  Schrift  als  ein  äußerst  wertvoller  Beitrag  zu  dieser, 
allerdings  mehr  theoretischen  Frage  zu  begrüßen. 

Cassel.  Irmer. 


Wielands  gesammelte  Schriften,  angez.  von  A.  Matthias.  209" 

Wielands  gesammelte  Schriften.  Herausgegeben  von  der  Deutschen  Kommission 
der  Königlich  preußischen  Akademie  der  Wissenschaften.  I.  Abteilung:  Werke. 
7.  Band.  Verserzählungen,  Gedichte  und  Prosaschriften.  Herausgegeben  von 
Siegfried  Mauermann.  Berlin  1911.  Weidmannsche  Buchhandlung., 
484  S.    9M. 

Jahrgang  VHI  S.  395,  Jahrgang  X  S.  117  u.  549  dieser  Monatschrift  sind 
die  ersten  6  Bände  von  Wielands  gesammelten  Schriften  besprochen.  Es  folgt 
jetzt  der  7.  Band,  der  abgesehen  von  kleineren  Stücken  Aspasia  oder  die  platonische 
Liebe,  das  romantische  Gedicht  Idris  und  Zenide,  vor  allem  aber  die  Verserzähiung 
Musarion,  der  Wieland  seine  schriftstellerische  Berühmtheit  verdankte,  den  Nach- 
laß des  Diogenes  von  Sinope  und  die  Beiträge  zur  geheimen  Geschichte  derMensch- 
heit  bringt.  Es  ist  erfreulich,  daß  diese  Wielandausgabe  so  rasch  vorschreitet, 
und  man  kann  nur  wünschen,  daß  dem  großen  Werke  fernerhin  die  Arbeitskraft 
seiner  Mitarbeiter  erhalten  bleibt. 


Goldene  Klassiker-Bibliothek.  Homers  Werke  in  zwei  Teilen.  Über- 
setzt von  Johann  Heinrich  Voß.  Mit  Einleitung,  Anmerkungen,  Namenregister 
und  einer  Darstellung  der  Homerischen  Welt.  Herausgegeben  von  Eduard 
Stemplinger.  XLVIII  u,  406  S.  u.  569  S.  In  2  Leinenbänden.  4M. 
Berlin,  Leipzig,  Wien  und  Stuttgart.    Deutsches  Verlagshaus  Bong  &  Co. 

Zum  ersten  Male  erscheint  hier  ein  vollständiges  Sammelwerk  über  Homer, 
wie  es  in  deutscher  Sprache  bisher  noch  nicht  vorliegt.  —  Für  alle  Schulen  jeder 
Art,  für  jeden  Studierenden  und  für  jeden  Gebildeten  eine  höchst  willkommene 
Gabe. 

Es  ist  in  dem  Werke  eigentlich  alles  enthalten,  was  man  zum  Verständnis 
Homers,  der  Homerischen  Dichtung,  ihrer  Geschichte  und  fhrer  Wirkung 
in  der  Kultur  nötig  hat.  In  einer  eingehenden  Einleitung  erhalten  wir 
die  Entstehungsgeschichte  der  Homerischen  Werke  und  die  wichtigsten  wissen- 
schaftlichen Probleme,  die  sich  an  die  Homerische  Dichtung  anschließen. 
Ferner  wird  die  Kunst  Homers  zur  Darstellung  gebracht  und  ihr  Einfluß  auf  alle 
Folgezeit.  Der  zweite  Teil  der  Einleitung  gibt  eine  Geschichte  der  Homerüber- 
setzungen, eine  Würdigung  der  Vossischen  Übertragung  und  eine  Vergleichung 
mit  sonstigen  Versuchen.  Am  Schlüsse  des  Werkes  bringt  uns  der  Verfasser  eine  muster- 
hafte, auf  gediegenen  Studien  beruhende  systematische  Darstellung  der  Home- 
rischen Welt,  die  über  Glauben,  Naturanschauung,  Staatseinrichtungen,  Familie 
und  häusliches  Leben  der  Homerischen  Griechen  uns  unterrichtet.  Dazu  kommt 
dann  noch  eine  Fülle  von  sachlichen  Anmerkungen  und  dankenswerte  ausführliche 
Register. 

Aus  diesen  Angaben  mag  man  erkennen,  welcher  Reichtum  von  Belehrung 
und  Anregung  in  dem  Buche  enthalten  ist.  Es  ist  ein  Zeugnis  dafür,  daß  unsere 
Zeit,  in  der  nicht  mehr  ein  jeder  die  Kenntnis  der  alten  Sprachen  sich  zu  ver- 
schaffen Gelegenheit  hat,  doch  das  Bedürfnis  nach  der  Kenntnis  der  Antike 
sich  bewahrt  hat,  ja  dieses  Bedürfnis  noch  in  weitere  Kreise  zu  tragen  be- 
müht ist. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  14 


210  O.  Hoff  man,  Geschichte  der  griechischen  Sprache, 

Daß  Ausstattung,  Druck  und  Einband  gediegen  und  geschmackvoll  sind,  versteht 
sich  bei  der  Goldenen  Klassiker-Bibliothek  von  selbst.  Willkommene  Beilagen 
bilden  die  Reproduktion  aus  dem  Mailänder  Bilderkodex  und  ein  Porträt  des  Über- 
setzers J.  H.  Voß.  Zu  bemerken  ist  noch,  daß  der  Herausgeber  mit  richtigem  Blick 
die  Übersetzung  nach  den  Erstausgaben  gebracht  hat,  in  denen  die  späteren  stören- 
den Seltsamkeiten  noch  fehlen. 

Berlin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 

Hoffman,  Otto,  Geschichte  der  griechischen  Sprache,  I.  Bis  zum 
Ausgange  der  klassischen  Zeit.  Sammlung  Göschen,  Leipzig  1911.  159  S.  ki.  S^. 
In  Leinenband  0,80  M. 

Die  Sammlung  Göschen  hat  uns  schon  manches  treffliche  Bändchen  geliefert, 
hier  ist  sie  um  eine  bedeutungsvolle  Einzelerscheinung  bereichert  worden.  Der 
Verfasser  ist  auf  dem  Gebiete  der  griechischen  Sprach-  und  Dialektforschung 
schon  rühmlich  bekannt  durch  seine  Schriften:  De  mixtis  Graecae  linguae  dialectis 
(1888),  3  Bände  über  Griechische  Dialekte  (1891—98)  und  die  Makedonen,  ihre 
Sprache  und  ihr  Volkstum  (1906).  ,,In  engem  Rahmen,  auf  streng  wissenschaft- 
licher Grundlage  und  unter  Berücksichtigung  des  neuesten  Standes  der  Forschung 
bearbeitet,  soll  jedes  Bändchen  in  klarer,  leichtverständlicher  Darstellung  zu- 
verlässige Belehrung  bieten."  Diese  Bedingungen  erfüllt  das  vorliegende  in  vollem 
Maße. 

Der  erste  Teil,  „Die  Frühzeit",  schildert  uns,  wie  das  Griechische  die  Balkan- 
halbinsel erobert,  dabei  von  den  vorgriechischen  Sprachen,  besonders  den  Pelasgern 
und  Lelegern  (s.S.  14  über  dadiiiv^oc),  vielleicht  auch  von  Semiten  (s.  S.  17  über 
/iTtüv)  beeinflußt  wird,  dann  die  drei  Spracheinheiten  des  Jonischen,  Achäischen 
und  Dorischen  sich  bilden,  durch  die  Wanderungen  der  Volksstämme  sich  ausbreiten 
und  mit  einander  mischen.  Auch  wird  der  Einfluß  der  Illyrier  und  Thraker  sowie 
die  Bedeutung  der  achäischen  Makedonen  kurz  besprochen.  Der  zweite  Teil,  „Die 
klassische  Zeit",  schildert  zunächst  den  Charakter  dieser  neuen  Sprachperiode, 
die  Umgangs-  und  Schriftsprache,  die  Volkssprache,  die  Staats-  und  Gemeinsprache 
und  verfolgt  dann  die  Geschichte  der  verschiedenen  Literatursprachen  von  Homer 
an  bis  zur  attischen  Prosa.  Zwei  Register,  nämlich  1.  ein  Namen-  und  Sachregister 
und  2.  ein  grammatisches  Register  sind  am  Schluß  beigefügt,  dem  sich  noch  als 
drittes  eine  Zusammenstellung  bemerkenswerter  Worte  anschließt.  Dieses  letzte 
dürfte  noch  etwas  vollständiger  sein. 

Beachtenswert  ist  der  Abschnitt  über  die  Quellen  der  ältesten  (prähistorischen) 
Sprachgeschichte,  für  die  sich  ergänzen  müssen  die  volkstümliche  Überlieferung 
von  den  Ereignissen  der  Vorzeit  und  die  kleinen  Bausteine  der  ältesten  Inschriften, 
aus  denen  die  Kritik  den  Bau  der  ältesten  griechischen  Sprachgeschichte  mühsam 
zusammenfügt  (S.  7).  Für  die  klassische  Zeit  bilden  sichere  Quellen  die  Inschriften, 
die  Literaturwerke  und  die  Beobachtungen,  welche  die  alten  Grammatiker  und  Dialekt- 
forscher an  der  lebenden  Sprache  ihrer  Zeit  machten  (S.  55).  Aber  wie  schwer  ist 
es  oft,  festzustellen,  was  der  Schriftsteller  wirklich  geschrieben  und  inwieweit  durch 
spätere  Abschriften  die  Sprachformen  verändert  worden  sind! 


angez.  von  Fr.  Heußner.  211 

Während  in  größerem  Druck  besonders  die  wichtigsten  Eigentümlichkeiten 
der  drei  DiaJektgruppen  zusammengestellt,  dann  im  zweiten  Teil  die  sprachlichen 
Formen  vorgeführt  werden,  in  denen  sich  die  Eigenart  der  Literaturgattung  und  der 
einzelnen  Persönlichkeit  ausprägt,  wird  in  kleinerem  Druck  das  einzelne  erläutert 
und  erwiesen  in  einer  Menge  sorgfältig  zusammengestellter  Formen  unter  Nach- 
weis der  Stellen,  wo  sie  sich  finden.  Am  Schluß  jedes  Abschnittes  steht  in  demselben 
Druck  ein  Verzeichnis  der  Literatur  über  denselben.  Der  noch  kleinere  Druck  der 
Register  ist  für  empfindliche  Augen  freilich  ein  schlimmes  Augenpulver.  Aber  das 
handliche  Format  des  Büchleins  macht  es  zu  einem  bequemen  Vademekum  auf 
Spaziergängen  und  Touren,  wo  sich  der  Studiosus  oder  Lehrer  bei  gegebenen  Ruhe- 
punkten in  gar  angenehmer  Weise  in  den  einen  oder  anderen  Abschnitt  vertiefen 
kann. 

Unter  der  Literatur  nehmen  immer  noch  einen  Ehrenplatz  ein  die  Arbeiten 
des  Begründers  und  Altmeisters  der  griechischen  Dialektforschung  H.  L.  Ahrens, 
besonders  die  zwei  Bände  „De  Graecae  linguae  dialectis"  (1839 — 43)  und  in  den 
„Kleinen  Schriften"  die  Abhandlung  von  der  Mischung  der  Dialekte  in  der  grie- 
chischen Lyrik.  Das  Handbuch  der  griechischen  Dialekte  von  Thumb  (1909)  gibt 
einen  reichen  Literaturnachweis. 

Unter  den  „Literatursprachen"  interessiert  uns  u.  a.  besonders  Homer,  bei 
dessen  Betrachtung  die  in  allerjüngster  Zeit  wieder  von  „einem  gewichtigen  Ver- 
treter" (gemeint  ist  v.  Wilamowitz)  behauptete  Ansicht,  daß  Äoler  und  Joner 
gleichzeitig  und  gemeinsam  an  einem  Orte,  wo  äolisches  und  jonisches  Volkstum 
zu  einer  einheitlichen  Kultur  verschmolzen  war,  das  Epos  und  seine  Sprache  ge- 
schaffen, mit  sprachlichen  Gründen  widerlegt  wird  (S.  73  ff.).  Besonders  interessant 
und  belehrend  ist  es  auch  noch,  mit  dem  Verfasser  zu  verfolgen,  wie  in  all  den 
nachfolgenden  Literaturgattungen  und  bei  allen  Schriftstellern  Formen  und  Wörter 
des  homerischen  Epos  mehr  oder  weniger  wiederkehren.  Nur  die  klassische  Prosa 
Athens  ist  im  ganzen  frei  davon. 

Anerkennung  verdient  noch  der  trotz  der  oft  recht  kleinen  Lettern  so  reinliche 
und  klare  Druck  und  das  Freisein  von  Druckfehlern  und  Versehen.  Ich  könnte 
auch  in  der  großen  Menge  sich  häufender  und  klein  gedruckter  griechischer  Wörter, 
abgesehen  von  einigen  Kleinigkeiten,  sowohl  dem  Verfasser  wie  dem  Drucker  rMk 
7p5,  ouös  oxpißiX'xi^c  (s.  S.  129),  „auch  nicht  das  Geringste"  vorwerfen,  und  das 
will  bei  der  vielen  Kleinarbeit  etwas  heißen. 

Was  ich  noch  als  besonders  interessant  betonen  möchte,  ist  die  Darstellung 
der  Wanderungen  und  Siedlungen  der  Stämme,  die  Bestätigungen  durch  Inschriften 
und  Papyri,  die  Anologiebildungen  der  Sprache,  Zusammenstellung  mit  Sanskrit, 
Gotisch  u.  a. 

Luther  sagt  im  Brief  vom  Dolmetschen:  ,, Läuft  einer  itzt  mit  den  Augen  durch 
drei  oder  vier  Blätter  und  stößt  nit  einmal  an,  wird  aber  nit  gewahr,  welche  Wacken 
und  Klötze  da  gelegen  sind,  da  er  itzt  über  hin  geht  wie  über  ein  gehofelt  Brett." 
So  auch  hier.  Studenten  der  Philologie  und  Lehrer  des  Griechischen  sei  das  Büch- 
lein angelegentlichst  empfohlen. 

14* 


212     K.  Schirmer,  Bilder  aus  dem  altrömischen  Leben,  angez.  von   Fr.  Heußner. 

Schirmer,  Karl,  Bilder  aus  dem  altrömischen  Leben.  Ein  Lese- 
buch für  die  oberen  Klassen  höherer  Lehranstalten.  Mit  30  in  den  Text  gedruckten 
Abbildungen.  Berlin  1910.  Weidmannsche  Buchhandlung.  VHI  u.  148  S.  kl.  8o. 
2,50  M. 

Ein  Büchlein  so  ganz  nach  meinem  Geschmack:  beruhend  auf  eigener  An- 
schauung des  Landes,  gestützt  auf  das  Studium  der  besten  Quellen,  populär  im 
besten  Sinne  des  Wortes,  knapp,  einfach,  anschaulich,  frisch  und  fesselnd  geschrieben, 
oft  auch  mit  einem  anmutenden  Humor  gewürzt,  voll  interessanter  Einzelheiten 
und  kleiner  Exkurse,  reich  an  Parallelen  und  Vergleichen  zum  modernen  Leben  und 
Treiben,  interessant  und  belehrend  auch  durch  die  zahlreich  eingeflochtenen  Ety- 
mologien und  gut  veranschaulicht  durch  die  beigefügten  Abbildungen.  Es  ist  einer 
Freundin  gewidmet  „zur  Erinnerung  an  gemeinsame  Wanderungen  in  Italien", 
als  Quellen  werden  namhaft  gemacht  20  Werke,  wie  Guhl  und  Koner,  Cybulski, 
Becker,  Friedländer,  Birt  und  sechs  Hefte  der  Gymnasialbibliothek.  Das  Buch 
zerfällt  in  sechs  Teile:  1.  Das  alte  Rom  und  seine  Bewohner,  2.  Von  der  Wiege 
bis  zum  Grabe,  3.  Der  Tag  eines  Römers,  4.  Römische  Spiele,  5.  Militärisches, 
6.  Auf  Reisen.  Nr.  2  ist  an  das  Leben  Ciceros  angeknüpft,  Nr.  5  an  die  Saalburg, 
und  so  werden  sie  in  dieser  konkreteren  Fassung  noch  besonders  anschaulich  und 
interessant.  Ein  Register  von  4  Seiten  ermöglicht  es,  Einzelheiten  leicht  aufzu- 
finden. 

Es  hat  schon  eine  gewisse  Feuerprobe  durchgemacht,  indem  es  eine  Zusammen- 
fassung von  Abhandlungen  bietet,  die  in  drei  Jahresberichten  des  Magdeburger 
Realgymnasiums  erschienen  und  die  schon  öffentliche  Besprechung  fanden;  auch 
wurde  der  erste  Abschnitt  (Teil  1  und  3  der  vorliegenden  Sammlung)  nochmals 
in  der  „Sammlung  von  Vortragsstoffen  für  Volks-  und  Familienabende"  abgedruckt. 
Wie  es  jetzt  vorliegt,  ist  es  noch  durch  mehrere  kleinere  Nachträge  erweitert.  Zu- 
nächst waren  die  Abhandlungen  für  Schüler  des  Realgymnasiums  bestimmt,  damit 
sie  auch  auf  diesem  Gebiet  neben  den  Schülern  des  humanistischen  Gymnasiums 
mit  Ehren  bestehen  könnten,  dann,  wie  oben  gesagt,  zu  einem  Vortragsstoff  für 
Volks-  und  Familienabende,  und  weiter  hofft  der '  Verfasser,  daß  das  Buch  nun 
„als  ein  brauchbares  Lesebuch  bei  den  Schülern  der  oberen  Klassen,  den  weiblichen 
nicht  weniger  als  den  männlichen,  eine  freundliche  Aufnahme  findet."  Auch  ich 
empfehle  es  und  wünsche  ihm  reichen  Erfolg. 

Nur  hätte  ich  für  den  genannten  Zweck  manches,  um  es  ganz  verständlich 
zu  machen,  noch  etwas  vollständiger  gegeben,  anderes  genauer  erklärt,  hätte  die 
griechische  Schrift  ganz  vermieden  oder  doch  die  Formen  in  lateinischer  Schrift 
daneben  gesetzt  und  zu  angeführten  lateinischen  Stellen  die  deutsche  Übersetzung 
beigefügt.  Welcher  Schüler  oder  welche  Schülerin  wird  z.  B.  S.  65  die  Inschrift 
auf  dem  Grabmal  des  Eurysaces  leicht  und  richtig  übersetzen?  In  einem  solchen 
Buch  —  ich  denke  mir,  daß  es  auch  abends  in  der  Familie  vorgelesen  wird  —  muß 
alles  eben,  klar  und  ganz  verständlich  sein  und  nicht  etwa  noch  ein  Lexikon  dabei 
gewälzt  werden  müssen.  Die  Anmerkung  auf  S.  120:  ,,turturilla:  locus  in  castris 
extra  Valium^  in  quo  scorta  praestanV  mußte  wegbleiben,  selbst  auf  die  Gefahr  hin, 
daß  manche  Fachgenossen  um  diese  interessante  Bereicherung  ihres  Wissens  gebracht 
worden  wären,  ebenso  S.  140  oben,  daß  in  einem  Wirtshaus  für  Brot  1  As,  für 


Moeller  van  den  Brück,  Die  Deutschen,  angez.  von  A.  Matthias.  213 

Zukost  2  As,  für  das  Mädchen  (1)  8  As,  für  Heu  2  As  berechnet  worden  seien. 
Verfasser  meint,  man  könne  das  Mädchen  für  „Bedienung**  nehmen.  Credat  Judaeus 
Apellal  Man  werfe  mir  keine  Prüderie  und  Engherzigkeit  vor.  Die  Stellen  sind  nicht 
nötig,  um  unsere  Jugend  in  die  Kulturwelt  der  alten  Römer  einzuführen.  Sonst 
hätten  noch  ganz  andere  Dinge  erörtert  werden  müssen.  Und  je  mehr  in  der  Jetzt* 
zeit  durch  „den  Schmutz  in  Wort  und  Bild"  das  Schamgefühl  der  Jugend  gefährdet 
und  abgeschwächt  wird,  um  so  mehr  haben  wir  die  Pflicht,  die  natürliche  Scham- 
haftigkeit,  die  frühere  Zierde  unseres  Volkes,  bei  ihr  zu  schützen  und  zu  wahren. 
Ich  bin  überzeugt,  daß,  wenn  Vater  und  Mutter  mit  ihrer  Tochter,  die  das  Mädchen- 
gymnasiumm  besucht,  sich  dieses  Buch  vorlesen,  solche  Stellen  nur  Mißbehagen  und 
Mißstimmung  hervorrufen  werden.  S.  79  a.  E.  muß  in  „Servietten,  die  wir  selbst 
mitbringen"  und  auf  der  folgenden  S.  in  „Brot,  mit  dem  wir  die  Finger  trocknen 
können"  die  Gäste  oder  man  eingesetzt  werden.  S.  101  steht:  „Jener  (Birt),  ein 
munterer  armerTeufel".  Das  klingt  sehr  mißverständlich!  Warum  nicht  wenigstens 
(nach  Birt),  oder  dies  in  einer  Anmerkung.  S.  126  steht  aus  Versehen  in  hastam 
immuta  {Vmks — um — kehrt)  für  in  scutum  i.  S.  6  Z  4  ist  sich  zu  streichen,  S.  80  Anm. 
ist  statt  meam  nee  Falernae  zu  lesen  mea,  S.  110  Z.  2  muß  es  statt  der  Mimus 
heißen  dem  Mimus.    Andere  Druckfehler  lasse  ich  unerwähnt. 

Die  Arbeit  enthält  manche  Beziehungen  auf  die  Bibel  und  auf  Horaz  und 
Zitate  aus  ihnen.  Da  hätte  ich  auch  bei  dem  Bilde  der  Großstadt  Rom  die  male- 
rische Strophe  aus  Hör.  Od.  III  29  v.  9 — 12  herangezogen: 

Fastidiosam  desere  copiam  et 
Molem  propinquam  nubibus  arduis; 
Omitte  mirari  beatae 
Fumum  et  opes  strepiiumque  Romae. 

Bei  der  Schnelligkeit  der  Verkehrsmittel  (S.  135  f.)  hätte  ich  doch  auch  er- 
wähnt, wie  langsam  andererseits  nach  unseren  jetzigen  Begriffen  Nachrichten  zu 
ihrem  Ziel  gelangten.  So  kam  die  Nachricht  von  dem  Tode  der  Kleopatra,  die  sich 
am  13.  August  30  tötete,  erst  Ende  September  nach  Rom,  also  nach  1^2  Monaten. 

Bei  gar  vielem  kommt  einem  der  Gedanke:  tout  comme  chez  nöus,  manches  ist  für 
uns  vorbildlich,  vieles  abschreckend,  schön  aber  bei  der  Betrachtung  des  Einflusses 
griechischer  literarischer  Vorbilder  auf  Rom  und  auf  uns  die  bei  dem  jetzigen 
Kampf  der  Prinzipien  wertvolle  Schlußbemerbung  S.  107:  „An  den  Vorbildern 
des  Altertums  hat  sich  die  moderne  Bildung  herangebildet;  aus  ihnen  wird  auch 
weiter  die  Welt  Kräfte  der  Verjüngung  schöpfen  müssen  und  können." 

Kassel.  Fr.  H  e  u  ß  n  e  r. 

Moeller  van   den   Brück.      Die    Deutschen.      Unsere  Menschengeschichte. 

2.  Ausgabe.    Erweitert  und  teilweise  verändert.     I.  u.  II.  Bd.:    XIV  u.  164  S. 

u.  253S.    III.  u.  IV.  Bd.:  225  u.  262  S.    V.u.  VI.  Bd.:  281  u.  200  S.    VII.  Bd.: 

318  S.    VIII.  Bd.:  298  S.    Minden  i.  Westf.  o.  J.     J.  C.  C.  Bruns  Verlag.    Zus. 

25  M.,  geb.  33  M. 

Eine  große  Anzahl  führender  Geister  führt  Moeller  van  den  Brück  in  acht 
Bänden  an  uns  vorüber.  Die  einzelnen  Männer  sind  zu  Gruppen  zusammengefaßt, 
welche  unter  einem  auf  den  ersten  Blick  manchmal  seltsam  erscheinenden  Sammel- 


214  Moeller  van  den  Brück,  Die  Deutschen, 

titel  stehen.     Ich  führe  die  Bände  und  Gruppen  an,  um  zunächst  eine  Übersicht 
zu  geben  und  den  Inhalt  des  Werkes  zu  zeigen: 

Erster  Band:  Verirrte  Deutsche.  Einleitung:  Von  der  Größe  eines  Volkes 
und  vom  Deutschen  und  Problematischen:  Christian  Günther,  Reinhold  Lenz, 
Maximilian  Klinger,  Christian  Dietrich  Grabbe,  Georg  Büchner,  Hermann  Con- 
radi.  Zweiter  Band:  Führende  Deutsche.  Eingeleitet  durch:  Vom  Dogmatischen: 
Ulrich  V.  Hütten,  Martin  Luther,  der  Große  Kurfürst,  Friedrich  Schiller,  Otto 
V.  Bismarck,  Friedrich  Nietzsche.  Dritter  Band:  Verschwärmte  Deutsche.  Vom 
Mystischen:  Meister  Ekkehard,  Theophrastus  Parazelsus,  Jakob  Böhme,  Angelus 
Silesius,  Friedrich  Hölderiin,  Novalis,  Gustav  Theodor  Fechner.  Vierter  Band: 
Entscheidende  Deutsche.  Vom  Kritischen:  Friedrich  der  Große,  Winckelmann, 
Lessing,  Herder,  Kant,  Fichte,  Moltke.  Fünfter  Band:  Gestaltende  Deutsche. 
Vom  Monumentalen:  Karl  der  Große,  Heinrich  der  Löwe,  Friedrich  der  Zweite 
(Romanische  Zeit),  Wolfram,  Walter,  Wilhelm  (Die  Gotik),  Dürer,  Holbein,  Cra- 
nach  (Die  Renaissance),  Leibniz,  Bach,  Klopstock  (Der  Protestantismus),  Mozart, 
Beethoven,  Wagner  (Übergangszeit),  Neue  Zeit,  Deutsche  Zeit  (Der  Stil  des  Reiches). 
Sechster  Band:  Goethe.  Der  Verirrte,  der  Führende,  der  Verschwärmte,  der 
Entscheidende,  der  Gestaltende.  Siebenter  Band:  Scheiternde  Deutsche.  Vom 
Tragischen:  Armin,  Alarich,  Friedrich  der  Erste,  Maximilian  der  Erste,  Stein. 
Scheiternde  Gegenwart.  Achter  Band:  Lachende  Deutsche.  Vom  Humoristisch- 
Heroischen:  Grünewald  und  Rembrandt.  Sachs  und  Grimmeishausen.  Jean 
Paul  und  Hoffmann.     Böcklin  und  Liliencron.     Lachende  Ewigkeit. 

Diese  Zusammenstellungen  muten  uns,  ganz  abgesehen  von  ihrer  Originalität, 
etwas  fremdartig  an.  Sie  werden  uns  vertrauter,  sie  werden  natürlicher,  wenn  wir 
uns  der  Geschichtsauffassung  Moellers  nähern  und  uns  in  sie  vertiefen.  Dann  ist 
es  uns,  als  könnten  die  Gestalten  unserer  Geschichte  und  Kultur  gar  nicht  anders 
gruppiert  werden.  Folgender  Gedankengang  wird  uns  Moellers  Geschichtsauf- 
fassung klar  machen:  „Ein  Volk  ist  ein  Mittel  zu  den  Zwecken  Gottes  auf  Erden", 
den  Satz  stellt  er  an  den  Anfang  seines  Werkes.  Mit  jedem  Volke  ist  seiner  Meinung 
nach  ein  bestimmter  Anteil  an  der  Weltgeschichte  verbunden,  den  kein  anderes 
erfüllen  könnte,  und  ein  jedes  darf  sich  für  auserwählt  halten,  das  sein  Leben  und 
seine  Zukunft  mit  suchendem  Bewußtsein  an  dasjenige  Ziel  setzt,  das  es  als  das 
Seine  erkannt  hat  und  für  das  es  zu  kämpfen  berufen  ist,  um  einen  Vorrang  zu  er- 
ringen, der  tief  innerlich  ein  Vorrang  der  Gottes-  und  Geistesnähe  ist  und  dem 
betreffenden  Volke,  je  vollkommener  es  ist,  ein  Anrecht  auf  geschichtliche  Unsterb- 
lichkeit sichern  soll.  Das  Recht  zu  einem  solchen  Kampfe  haben  wohl  alle,  weil  es 
der  Kampf  um  die  Selbstbehauptung  ist,  den  man  niemandem  verwehren  kann. 
Aber  äußeres  Recht  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  innerer  Berechtigung. 
Wenn  alle  siegen  würden,  dann  müßten  auch  alle  gleichberechtigt  sein,  während 
sich  in  dem  großen  Rassen-  und  Nationalitätenkampf  doch  gerade  entscheiden  soll, 
wer  nun  eigentlich  der  tiefer,  der  organischer,  der  natüriicher  und  historischer 
Berechtigte  ist.  Der  Glaube  an  diese  Berechtigung  stützt  sich  auf  den  Glauben 
an  die  großen  Völker  als  die  Urheber,  Krieger  und,  wenn  wir  von  dem  Mittel  auf 
den  Zweck  schließen,  als  die  eigentlichen  Ziele  der  Geschichte.  Die  Größe  eines 
Volkes  besteht  nun  nicht  in  der  räumlichen  Ausdehnung,  in  der  be  trächtlichen 


angez.  von  A.  Matthias.  215 

Kopfzahl  und  einem  entsprechenden  Landbesitz,  auch  das  Alter  macht  die  Größe 
eines  Volkes  nicht  aus,  ebensowenig  wie  seine  Jugend.  Es  hängt  vielmehr  von 
dem  Volke  selbst  ab  und  von  einem  Etwas  in  dem  Volke,  einem  Wert,  den  das 
eine  eben  hat,  das  andere  nicht,  ob  es  die  Anwartschaft  besitzt,  einmal  ein  großes 
Volk  auf  der  Erde  zu  werden. 

Dafür  ist  es  nun  heute  als  Selbstverständlichkeit  erkannt,  und  es  ist  als  unab- 
weisbar in  unser  Bewußtsein  übergegangen,  daß  es  ausschlaggebend  für  eine  Nation 
sein  muß,  von  welcher  Rasse  sie  stammt,  und  daß  wir,  wenn  wir  die  Handlungen 
einer  Nation  verstehen  wollen,  vor  allem  auf  das  Wesen  ihrer  Rasse  zurückzugehen 
haben,  und  daß  wir  weiter  noch  eine  tiefere,  volkspersönliche  Ursache  suchen  müssen, 
die  es  auf  dem  Grunde  der  rassepersönlichen  erst  aufzufinden  gilt.  Wenn  auch  die 
Größe  eines  Volkes  abhängt  von  der  Größe  der  Rasse,  von  der  es  abstammt;  ge- 
bildet, errungen,  bestätigt  wird  diese  Größe  doch  immer  nur  von  der  einzelnen 
Nation  und  dem  Wert,  mit  dem  diese  begabt  ist.  Denn  jedes  Volk  verkörpert 
einen  besonderen  Gedanken,  der  ein  unteilbares  Ganzes  ist  und  ihm  so  angehört, 
wie  es  selbst  ein  unteilbares  Ganzes  ist  und  sich  angehört.  Mit  diesem  Gedanken 
ist  es  geboren  worden,  mit  diesem  Gedanken  hat  es  sich  als  Horde,  Stamm,  Nation 
von  dem  Mutterschoß  der  Rasse  und  der  Erde  losgelöst  und  in  die  Geschichte  ge- 
worfen. Dieser  Gedanke  ist  seine  Größe  als  Volk,  ist  das,  was  es  von  anderen 
Völkern  und  deren  Größe  unterscheidet,  ist  die  Äußerung  der  ganz  bestimmten  Ab- 
sicht, die  der  Weltgang  mit  ihm  vorhatte. 

Wie  steht  es  nun  mit  dieser  Größe  um  das  deutsche  Volk?  Es  hat  eine  lange 
und  ruhmvolle  Geschichte  hinter  sich;  der  Verfasser  hofft,  daß  wir  noch  eine  ebenso 
lange  Geschichte  vor  uns  haben;  es  sei  sehr  wohl  möglich,  daß  wir  erst  in  der  Mitte 
unserer  Entwicklung  stehen ;  denn  wir  haben  seit  vielen  Jahrhunderten,  fast  kann  man 
sagen,  nach  zwei  Jahrtausenden,  eine  geistige,  seit  einem  Menschenalter  erst  eine 
starke  staatliche  Grundlage  unter  uns,  die  einen  Ausbau  all  der  ^erke  und  Dinge 
sehr  wohl  zu  tragen  vermöchte,  die  wir  in  den  wechselvollen  Geschicken,  die  wir 
zu  durchlaufen  hatten,  bereits  angelegt  haben.  Die  Hälfte,  die  wir  hinter  uns 
haben,  sieht  der  Verfasser  als  die  unbewußte  an;  heute  aber  seien  wir  in  die  be- 
wußte eingetreten,  und  diesen  Teil  können  wir  siegend  nur  durchschreiten,  wenn 
wir  bewußte  Deutsche  sind,  die  ihr  Ziel  auf  Erden  kennen.  Um  dieses  Ziel  zu  er- 
kennen, müssen  wir  unsere  großen  Männer  kennen;  denn  sie  vor  allem  machen 
die  Größe  des  Volkes  aus.  Ein  Volk  zum  Bewußtsein  seiner  selbst  zu  erziehen, 
ist  deshalb  gleichbedeutend  mit  der  Erziehung  des  Volkes  zu  seinen  großen  Männern. 
Und  in  diesen  wie  im  Volke  ist  der  Geist  doch  immer  das  Wesentliche.  Das  sollte 
das  deutsche  Volk  als  Geistesvolk  wissen.  Man  spricht  heute  soviel  von  den  Mög- 
lichkeiten künftiger  Kriege,  man  rechnet  peinlich  die  Aussichten  heraus,  zählt  die 
Heeresstärken,  vergleicht  die  Flottenbestände.  Derlei  gibt  aber  niemals  den  Aus^ 
schlag.  Gewiß  wird  ein  großes  und  gut  geleitetes  Volk  für  alle  Möglichkeiten  vor- 
bereitet und  gerüstet  sein.  Aber  um  was  es  sich  schließlich  handelt  in  kriegerischen 
Ereignissen,  das  ist  der  Geist  des  betreffenden  Volkes,  der  im  Ernstfalle  alle  pa- 
piernen  Berechnungen  einfach  durchstreichen  und  aus  eigener  Machtvollkommen- 
heit siegen  wird ;  das  ist  die  Weltanschauung.  Ob  ein  Volk  siegen  soll,  das  eine  große 
Weltanschauung  hat,  oder  eines  mit  einer  kleinen  und  kleinlichen  oder  mit  einer 


216      H.  Griebel,  Lehrbuch  der  Deutschen  Geschichte  usw.,  angez.  von  F.  Neubauer. 

entarteten,  oder  überhaupt  keiner,  das  ist  die  Hauptfrage.  „Nur  die  Äußerung 
ist,  wie  immer  auf  Erden,  irdisch,  menschlich,  und  das  ist  hier  eben  kriegerisch. 
Aber  was  in  der  Weltgeschichte  schließlich  siegt,  das  ist  im  letzten  Grunde,  neben 
der  inneren  Nötigung,  doch  immer  nur  der  treibende  Geist,  der  hinter  einem  Volke 
steht  und  an  dessen  Größe  man  seine  Größe  erkennt." 

Diese  Grundanschauung  liegt  dem  großen  Werke  des  Verfassers,  in  dem  ein 
überwältigendes  Material  verarbeitet  ist,  zugrunde.  Von  dieser  Grundanschauung 
aus  müssen  wir  die  Titel  und  die  ganze  Gruppierung  seiner  einzelnen  Teile  und  Ka- 
pitel beurteilen.  Manchmal  mag  es  auf  den  ersten  Blick  uns  so  scheinen,  als  sei 
die  Auffassung  der  einzelnen  Männer,  die  vor  uns  auftreten,  einseitig  und  ihre  Grup- 
pierung willkürlich.  Aber  lesen  wir  uns  erst  hinein,  dann  zwingt  uns  der  Verfasser 
in  seine  Bahnen,  als  hätten  wir  diese  ungezwungen  selber  erwählt.  Und  beim  Lesen 
nötigt  uns  der  Verfasser  auch  hinein  in  seine  Grundstimmung,  die  in  einem  stolzen 
Optimismus  besteht  d.  h.  in  einem  felsenfesten  Vertrauen  in  die  Weltmission  des 
deutschen  Volkes.  Solche  Stimmung  findet  man  heutzutage  selten,  weil  die  meisten 
Betrachter  unserer  Zeit  an  der  Oberfläche  mit  ihren  Augen  hängen  bleiben  und 
nicht  in  die  Tiefen  des  Volksgeistes  zu  schauen  wagen,  in  denen  ganz  andere  Kräfte 
vorhanden  sind  als  in  den  Teilen  unseres  Volkes,  die  man  als  die  herrschenden 
Stände  bezeichnet.  Moellers  Werk,  das  stolzen  Optimismus  und  tapferen  Idealismus 
atmet,  ist  eine  Art  von  Sonntagsbuch.  Und  Sonntagsbücher  sollten  vor  allem 
Eingang  in  die  Schulen  finden. 

Berlin.  A.  Matthias. 

(iriebel,  Heinrich,  Lehrbuch  der  Deutschen  Geschichte  in  Ver- 
bindungmitder  Geschichte  Bayerns,   vom  Beginn  des  Dreißig- 
jährigen Krieges  bis  zum  Tode  Wilhelms  L   Für  den  Unterricht  an  Mittelschulen. 
2.  Auflage.  Erlangen  u.  Leipzig  1910.  A.  Deichertsche  Verlagsbuchhandlung  Nachf. 
(Georg  Böhme).     VIII  u.  275  S.    8».     3,20  M. 
Das  vorliegende  Lehrbuch  ist  in  erster  Linie  für  bayrische  Lehrerbildungs- 
Anstalten  bestimmt  und  faßt  den  Lehrstoff  zusammen,  der  dort  in  den  beiden 
oberen  Klassen  behandelt  wird;  durch  diese  Rücksicht  auf  den  Lehrplan  erklärt 
sich  auch,  daß  der  Band  mit  einem  Ereignis  beginnt,  das  sonst  nicht  als  Anfang 
einer  größeren  Periode  zu  gelten  pflegt,  mit  dem  Beginn  des  Dreißigjährigen  Krieges. 
Die  im  Erzählungston  gehaltene  Darstellung  schließt  ab  mit  dem  Jahre   1871; 
die  nachfolgende  Zeit  wird  auf  2V2  Seiten  erledigt.    Angefügt  ist  eine  Übersicht 
der  bayrischen  Geschichte. 

Das  Buch  empfiehlt  sich  durch  guten  Vortrag  und  klare,  einfache  und  wohl- 
gegliederte Darstellung,  öfter  sind  recht  zweckmäßige  Zitate  in  den  Text  auf- 
genommen. Erfreulich  ist  die  nationale  Haltung;  der  Verfasser  schreibt  als  guter 
Bayer  und  als  guter  Deutscher.  Die  Ausführlichkeit  geht  an  manchen  Stellen 
meines  Erachtens  etwas  weit;  ich  führe  einiges  an:  die  Erzählung  von  den  Göt- 
tinger Sieben,  der  Bericht  über  die  Frankfurter  Reichsverfassung  von  1849,  die 
Darstellung  des  dänischen  Krieges  von  1864  und  anderes  könnte  vielleicht  gekürzt 
werden.  Die  Stellen,  an  denen  man  sachlichen  Anstoß  nehmen  müßte,  sind  nicht 
häufig:    Friedrich  Wilhelms  I.  Bedeutung  als  des  Schöpfers  der  preußischen  Ver 


Königsweisheit  des  großen  Friedrich,  angez.  von  A,  Matthias.  217 

waltung  wird  nicht  gewürdigt;  die  Darstellung  des  preußischen  Heeres  vor  1806 
entspricht  nicht  der  heutigen  Auffassung;  durch  Steins  Bauernbefreiung  wurde 
kein  „unbelastetes  Eigentum"  geschaffen,  auch  sein  Sturz  ist  nicht  richtig  dar- 
gestellt; von  Rousseau  wird  man  kaum  sagen,  daß  er  „Nüchternheit  des  Emp- 
findens" gefordert  habe,  überhaupt  bedarf  wohl  die  Schilderung  der  französischen 
Zustände  vor  der  Revolution  der  Nachbesserung. 

Wichtiger  als  diese  Ausstellungen  erscheint  mir  etwas  anderes.  Ich  glaube, 
daß  die  innere  Geschichte  stärker  betont  werden  müßte,  daß  die  Jahrzehnte  nach 
1871  nicht  vernachlässigt  werden  dürften,  sondern  ausführlich  dargestellt  und  durch 
ein  Bild  unserer  jetzigen  politischen  Zustände  abgeschlossen  werden  müßten, 
endlich,  was  damit  zusammenhängt,  daß  noch  planmäßiger,  als  es  im  Buch  ge- 
schieht, darauf  hinzuarbeiten  ist,  dem  Schüler  das  zu  bieten,  was  man  heute  unter 
Bürgerkunde  zu  verstehen  pflegt.  Es  handelt  sich  doch  um  die  letzten  beiden 
Schuljahre  des  künftigen  Lehrers;  er  muß  ein  möglichst  klares  Bild  von  unseren 
jetzigen  Verfassungs-,  Verwaltungs-  und  Wirtschaftsverhältnissen  mit  ins  Leben 
hinausnehmen.  Von  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  unseres  Volkes  im  19.  Jahr- 
hundert findet  sich  in  dem  Buche  doch  recht  wenig,  vom  Welthandel,  von  Aus-  und 
Einfuhr,  von  der  Entstehung  des  Arbeiterstandes,  vom  Sozialismus  ist  nicht  viel  die 
Rede,  Von  Reichs-  und  Staatssteuern,  von  Schutzzoll  und  Freihandel  müßte  meines 
Erachtens  ausführlicher  die  Rede  sein.  Ebenso  meine  ich,  daß  auch  die  auswärtige 
Politik  der  letzten  Jahrzehnte  eine  sorgfältigere  Schilderung  verdient. 

Ich  glaube,  daß  das  sicherlich  auch  jetzt  empfehlenswerte  Buch  wesentlich 
gewinnen  würde,  wenn  den  angeführten  Dingen  stärkere  Beachtung  geschenkt 
würde. 

Frankfurt  a.  M.  F.  N  e  u  b  a  u  e  r. 

Königsweisheit  des  großen  Friedrich.  Von  Leo  Loßburg.  (Anekdoten- 
bibliothek, XII.  Band.)  2.  Aufl.  VIII  u.  286  S.  Stuttgart  o.  J.  Robert  Lutz, 
brosch.  2  M.,  geb.  3  M. 
Dieses  Buch  bildet  eine  Art  von  Seitenstück  zu  dem  S.  53  dieses  Jahrgangs 
der  Monatschrift  erwähnten  Sammlung  von  A.  Kannengießer.  Dort  waren  mehr 
außeramtliche  Aussprüche  des  großen  Königs  zusammengestellt,  hier  handelt  es 
sich  um  eigentliche  Begierungsweisheit  aus  seinen  Kabinettsbefehlen,  Erlassen 
und  den  berühmten  köstlichen  Randbemerkungen.  Dort  bekommen  wir  ein  Bild 
des  Menschen  in  seiner  ganzen  Weite  und  in  seiner  Milde,  hier  das  Bild  eines  fest- 
geschlossenen und  knorrigen  Herrschers,  der  auch  einmal  als  Despot  grob  da- 
zwischen fahren  kann ;  als  aufgeklärter  Despot,  der  inmitten  verwerflicher  Willkür- 
und  Klassenherrschaft  manches  verfügen  und  befehlen  muß,  was  er  neute  nicht 
mehr  verfügen  würde,  da  die  Zeiten  andere  geworden.  Friedrich  müssen  wir  aus 
seiner  Zeit  verstehen  und  aus  dem  Worte  heraus,  das  man  ihm  zuschreibt:  „Ich 
bin  es  müde,  über  Sklaven  zu  herrschen".  Sklaven  regiert  man  eben  anders  als 
freie  Bürger. 

In  einer  Zeit,  da  das  politische  Leben  an  langen  Reden  krankt,  ist  es  besonders 
erquicklich,  wie  Friedrich  „mit  den  Leuten  nicht  soviel  Redens  und  Perorierens 
macht".    Fest  und  wuchtig  sind  seine  Worte,  und  wenn  er  einen  Menschen  einen 


218         Eugen  Wolter,  Französisch  in  Laut  und  Schrift,  angez.  von  E.  Weber. 

„dummen  Kerl"  nennt,  so  können  wir  überzeugt  sein,  er  war  es  auch !  Denn  Friedrich 
besaß  in  seiner  Menschenkenntnis  viel  salomonische  Weisheit,  an  der  unser  Buch 
reich  ist. 

Berlin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 

Wolter,  Eugen,  Französisch  in  Laut  und  Schrift,  ein  Lehrbuch 
für  höhere  Schulen.  Erster  Teil  mit  einer  Münztafel.  XVIII  u.  288  S.  geb.  3  M. 
Zweiter  Teil,  XV  u.  291  S.  geb.  2,40  M.  —  Grammatik  der  französischen 
Sprache.  VIII  u.  215  S.  geb.  1,80  M.  Berlin  1910/1911.  Weidmannsche 
Buchhandlung.  8^ 
Der  erste  Teil  dieses  Lehrbuches  erschien  im  August  1910;  im  September  1911 
ist  der  zweite  Teil  und  die  Grammatik  gefolgt;  mit  einem  Übungsbuch  für  die  Ober- 
stufe soll  dann  im  Sommer  1912  der  ganze  Lehrgang  abgeschlossen  werden.  Das 
gediegene  und  wohlgelungene  Werk  vereinigt  in  sich  in  der  glücklichsten  Weise 
gründliche  Kenntnis  der  Sprache  mit  langer  Unterrichtserfahrung  und  sicherer 
Einsicht  in  das  für  die  Schule  Nötige,  Mögliche,  Erreichbare.  Das  Buch  lehrt 
gutes  reines  modernes  Französisch,  das  sich  jedoch,  wie  der  Verfasser  mit  Recht 
betont,  von  jenen  Nachlässigkeiten  und  Inkonsequenzen  in  der  Aussprache  und 
der  Wahl  der  Wendungen  freihält,  denen  man  wohl  in  der  zwanglosen  Umgangs- 
sprache begegnet,  die  aber  nicht  in  Schulbücher  gehören.  Die  Warnung  vor  diesem 
Mißgriffe  ist  nicht  so  überflüssig,  wie  es  vielleicht  scheint:  begegnet  man  doch  in 
deutschen  Schulbüchern  immer  wieder  Redensarten,  die  vom  boul'  Mich'  oder  noch 
anderswoher  stammen  mögen.  Dergleichen  Vulgarismen  fliegen  einem  schon 
bei  kurzem  Aufenthalte  in  Paris  nur  zu  schnell  ganz  von  selbst  an,  und  auch 
dann  kann  man  nur  raten,  recht  sparsamen  Gebrauch  davon  zu  machen,  wenn 
man  nicht  bei  der  auch  im  günstigsten  Falle  noch  recht  unsicheren  Kenntnis  der 
Sprache  arge  Mißgriffe  begehen  will.  Wie  selten  hat  ein  Deutscher  das  Recht  und 
die  Gelegenheit,  sich  mit  einem  Franzosen  vertraulich  zu  unterhalten !  Und  vieles, 
was  der  Deutsche  wohl  noch  für  familier  hält,  gilt  dem  Franzosen  schon  als  popu- 
laire  {peuple  im  Gegensatz  zu  gens  bien  eleves  genommen),  vulgaire,  bas,  ignoble, 
was  bekanntlich  ein  viel  schärferes  Verwerfungsurteil  ausspricht,  als  man  nach  der 
Etymologie  des  Wortes  meinen  sollte.  Wie  echtfranzösisch  kommt  sich  mancher 
schon  vor,  wenn  er  immer  ga  sagt;  in  den  allermeisten  Fällen  täte  er  entschieden 
besser,  hübsch  deutlich  und  zweisilbig  cela  zu  sprechen. 

Die  Lesestücke  bieten  unterhaltenden,  abwechslungsreichen  Stoff,  der  mit 
Vorliebe  den  verschiedenen  Gebieten  des  heutigen  Lebens  entnommen  ist.  Er- 
zählungen, Briefe,  Beschreibungen,  Gespräche,  Prosa,  Gedichte  wechseln  in  richtiger 
Mischung  miteinander  ab.  Reichliche  Berücksichtigung  haben  Frankreichs  Ge- 
schichte und  Landeskunde,  seine  Sitten  und  Gebräuche  gefunden.  DieJ  Stücke 
sind  im  ersten  Teile  leicht  und  bieten  auch  im  zweiten  Teile  nur  mäßige  Schwie- 
rigkeiten. 

Den  deutschen  Übungsstücken,  die  zum  Übersetzen  ins  Französische  bestimmt 
sind,  hat  der  Verfasser  mit  gutem  Bedacht  großen  Raum  bewilligt.  Diese  Stücke 
sind  in  methodischer  Hinsicht  sehr  sorgfältig  durchgearbeitet  und  wohl  überiegt. 
Wenn  auch  die  zusammenhängenden  Stücke  bei  weitem  überwiegen,  so  werden 


E.  Neuendorff,  Turnen,  Spiel  und  Spott  usw.,  angez.  von  H.  Wickenhagen.     219 

doch  auch  Einzelsätze  nicht  grundsätzlich,  etwa  einer  grauen  Theorie  zuliebe,  ge- 
mieden. Diese  deutschen  Stücke  besitzen  den  großen  Vorzug,  leicht  zu  sein,  und 
das  ist  hier  noch  weit  nötiger  als  bei  den  französischen  Abschnitten,  damit  selbst 
schwächere  Schüler  die  sich  ganz  allmählich  steigernden  Schwierigkeiten  bewäl- 
tigen können.  Der  oft  wiederholte  Ausspruch,  das  Übersetzen  in  die  fremde  Sprache 
sei  eine  Kunst,  die  die  Schule  nichts  angehe,  kann,  wenn  er  überhaupt  einen  Sinn 
haben  soll,  nur  die  druckfähige  Nachschöpfung  eines  Originaltextes  meinen.  Sieht 
man  von  dieser  selbstverständlich  ganz  außerhalb  der  Schule  liegenden  Leistung 
ab,  so  ist  und  bleibt  unter  den  mannigfachen  Mitteln,  die  zu  Gebote  stehen,  um 
die  Schüler  im  sicheren  Gebrauch  der  Sprache  zu  festigen  und  zu  fördern,  eines 
der  wirksamsten,  die  regelmäßige  und  nicht  zu  seltene  sorgfältig  vorbereitete  oder 
extemporierte,  mündliche  oder  schriftliche  Übertragung  geeigneter  Texte  in  die 
fremde  Sprache.  Dieses  Fundamentalaxioma  gründlicher  Spracherlernung  gilt 
in  gleichem  Maße  von  den  neuen  Sprachen  wie  von  den  alten. 

Die  Grammatik  zeichnet  sich  durch  klare,  scharfe  Fassung  der  Regeln 
aus,  sie  ist  übersichtlich  angeordnet  und  leicht  verständlich  gehalten,  verzichtet 
dagegen,  wie  es  den  Bedürfnissen  der  Schule  entspricht,  auf  mancherlei  Feinheiten 
und  abgelegene  Einzelheiten.  Die  Verständlichkeit  der  Regeln  und  damit  die 
Brauchbarkeit  des  ganzen  Werks  wird  durch  treffende  reichliche  Beispiele  außer- 
ordentlich erhöht.  Die  wohlüberlegte  Wahl  dieser  Beispiele  verdient  uneinge- 
schränktes Lob.  Sie  bringen  nicht  hochliterarische,  tiefe,  abstrakte  Gedanken, 
die  dem  Schüler  nicht  verständlich  sind,  und  das  um  so  weniger,  als  sie  aus  dem 
Zusammenhang  gerissen  sind;  sie  geraten  aber  auch  nicht  in  triviale  Alltäglich- 
keit. Vielmehr  bietet  jedes  dieser  Beispiele  einen  leicht  verständlichen,  in  sich 
abgeschlossenen,  interessanten  Inhalt.  Und  solche  Beispiele  allein  können  den  Zweck 
erfüllen,  dem  sie  dienen  sollen. 

Zu  rühmen  ist  endlich  die  schöne  Ausstattung  der  Bücher  'das  gute  Papier, 
der  feste  Einband,  der  sorgfältige,  saubere,  übersichtliche,  korrekte  Druck.  Druck- 
fehler finden  sich  auf  diesen  mehr  als  800  Seiten  nur  ganz  vereinzelt,  und  diese 
wenigen  stören  nicht  geradezu  den  Sinn. 

Steglitz.  Ernst  Weber. 

Neuendorff,  E.,  Turne  n,SpielundSportfürdeutscheKnaben. 
Beriin  1911.  H.  Paetel.  143  S.  Mit  vielen  Abbildungen,  geb.  1,75  M. 
Der  Verfasser  hat  es  verstanden,  sich  in  die  Gedankenwelt  der  Jugend  zu  ver- 
setzen. Er  knüpft  eine  so  anregende  Unterhaltung  an,  daß  man  sich  nicht  gern 
von  ihm  trennt.  Das  Buch  liest  sich  wie  ein  Jugendroman;  es  will  anregen,  enthält 
dabei  aber  auch  viel  Belehrendes.  Die  Stoffanreihung  ist  einwandfrei :  die  natürlichste 
Betätigung,  das  Wandern,  hat  die  erste  Stelle  erhalten ;  dann  folgen  die  Spiele,  die  volks- 
tümlichen Übungen  usw.  Mit  dem  Titelbilde,  Vierergig  auf  freier  Fahrt,  stellt  sich 
uns  der  Verfasser  als  begeisterter  Verehrer  des  Wassersports  dar,  und  in  dem  Bilde 
S.  136,  welches  dem  Wassersportbetriebe  in  Wannsee  entnommen  ist,  will 
er  diesem  seine  Hochachtung  darbringen.  In  Einzelheiten  findet  man  einige  Un- 
genauigkeiten.  Der  erste  Ruderverein  ist  in  Rendsburg  gegründet;  in 
Ohlau  der  zweite;  nicht  umgekehrt.  —  Die  Zahl  der  Vereine  beträgt  heute  nach 


220  P.  Frank,  Kleines  Tonkünstlerlexikon,  angez.  von  T.  Heinrich. 

einer  Umfrage  des  Ministeriums  weit  über  200,  darunter  solche  mit  50,  60  und 
mehr  Mitgliedern.  In  Wannsee  allein  rudern  gegen  700  Schüler;  dazu  gesellten 
sich  im  letzten  Sommer  gegen  100  Lehrer! 

Gasch,  R.,  Geschichte  der  Turnkunst.  1  Leipzig  1910.  Göschensche 
Verlagshandlung.     104  S.    Mit  17  Abbildungen,    geb.  0,80  M. 

An  turngeschichtlichen  Darstellungen  fehlt  es  nicht.  Wer  zu  dem  Guten, 
was  uns  Euler-Roßow,  Angerstein-Kurth,  Rühl,  Cotta  u.  a.  geboten,  noch  etwas 
hinzufügen  will,  hat  keine  leichte  Aufgabe.  Das  vor  uns  liegende  Büchlein  geht 
über  das,  was  wir  längst  wissen,  nur  wenig  hinaus.  Das  Wort  „Turnen"  ist  begriff- 
lich so  begrenzt,  wie  es  vor  etwa  20 — 30  Jahren  geschah.  Mit  solchen  Darbietungen 
ist  wenigen  gedient! 

Berlin-Lichterfelde.  H.  Wickenhagen. 

Frank,  Paul,  Kleines 'Tonkünstlerlexikon.  Elfte,  revidierte  und 
vermehrte  Auflage,  bearbeitet  von  Karl  Kipke.  Leipzig  1910.  C.  Merse- 
burger.   505  S.    geb.  2,50  M. 

Das  Buch  feiert  mit  dieser  Auflage  seinen  50.  Geburtstag  —  „ein  immerhin 
bemerkenswertes  Zeichen  gesunder  Lebenskraft"  —  wie  der  Herausgeber  in 
seinem  Vorworte  sagt.  Mit  Befriedigung  dürfen  auch  wirklich  Verlag  und  Heraus- 
geber auf  ihre  Arbeit  blicken;  das  haben  wir  durch  eine  große  Anzahl  vorgenommener 
Stichproben  bestätigt  gefunden.  Unter  den  Vertretern  der  Wissenschaft  fehlen 
natürlich  H  e  1  m  h  o  1 1  z  und  sein  berühmter  Vorgänger  C  h  1  a  d  n  i  nicht.  Aber 
schon  vor  Helmholtz  wirkten  auch  Gesanglehrer  in  derem  Sinne,  u.  a. 
vornehmlich  Wötzel  (1815)  und  Markwort  (1827).  Die  Anregung,  diese 
Namen  nachzutragen,  kann  für  den  Herausgeber  nicht  den  Vorwurf  einer  Ver- 
säumnis in  sich  schließen,  da  die  Schriften  dieser  Männer  bisher  versunken  und 
vergessen  in  Bibliotheken  schlummerten.  Wir  erwähnen  sie  nur  um  des  Verlages 
Streben  nach  immer  weiterer  Ausgestaltung  seines  verdienstvollen  Werkes 
—  dessen  neueste  Auflage  wir  im  übrigen  aufs  wärmste  empfehlen  —  zu  unter- 
stützen. 

Berlin.  TraugottHeinrich. 


IV.  Vermischtes. 


Die  Zeitschrift  „Religion  und  Geisteskultur"  (Herausgeber  Lic.  Th.  Stein- 
mann, Verlag  Vandenhoeck  &  Ruprecht  in  Göttingen,  jährlich  4  Hefte,  6  M.), 
die  eben  ihren  6.  Jahrgang  antritt,  hat,  um  ihr  Arbeitsfeld  genauer  abzugrenzen, 
einen  bezeichnenderen  Untertitel  als  den  bisherigen  auf  ihren  Umschlag  geschrieben. 
Als  „Zeitschrift  zur  Förderung  der  Religionsphilosophie  und  Religionspsychologie** 
betrachtet  sie  es  als  ihre  Aufgabe,  grundsätzliche  Fragen  der  Religionswissen- 
schaft, der  Religionsphilosophie  und  der  Religionspsychologie  zu  behandeln,  in 
Darstellungen,  die  auf  wissenschaftlicher  Höhe  stehen  und  zugleich  den  Vorzug 
haben,  auch  dem  Gebildeten,  der  der  Wissenschaft  folgen  möchte,  ohne  sich  in 
SpezialStudien  einlassen  zu  können,  verständlich  zu  sein.  (Damit  ist  sie  gegen- 
wärtig das  einzige  Organ,  das  sich  diesen  Gebieten  ausschließlich  zuwendet,  denn 
das  „Archiv  für  Religionswissenschaft"  pflegt  lediglich  die  detaillierte  Einzel- 
forschung, und  die  theologisch-systematischen  Zeitschriften  behandeln  in  der 
Hauptsache  spezifisch  theologische  Fragen.) 

Aus  dem  Inhalt  des  ersten  Heftes  sei  der  Beitrag  Prof.  Edv.  Lehmanns 
hervorgehoben,  der  „Die  Stellung  der  Religionsgeschichte  im  ganzen  der  Religions- 
philosophie" behandelt.  Lic.  Dunkmann  beschäftigt  sich  mit  der  heute  viel 
diskutierten  Frage:  Wie  kann  das  Christentum  geschichtliche  und  zugleich  ab- 
solute Religion  sein?  In  eine  sehr  fruchtbare  Auseinandersetzung  mit  Prof.  Wend- 
lands Buch  über  den  Wunderglauben  tritt  mit  einem  großen  Aufsatz  Lic.  Th. 
Steinmann  hervor.  Weitere  Beiträge  beschäftigen  sich  mit  J.  Böhmer,  dem 
Propheten  der  deutsch-evangelischen  Innerlichkeit  und  mit  dem  Glauben  und 
Wirklichkeitssinn  im  Alten  Testament.  Die  religionsgeschichtliche,  exegetische 
und  dogmatische  Arbeit  der  Gegenwart  wird  in  der  Form  von  Berichten  verfolgt. 

Die  Vereinigung  für  staatsbürgerliche  Bildung  und  Erziehung  versendet  soeben 
ihren  neuesten  Tätigkeitsbericht.  Wir  entnehmen  daraus  die  folgenden  Angaben, 
die  für  weitere  Kreise,  insbesondere  für  Lehrer,  Schulleiter  und  Vereinsvorstände 
von  Interesse  sind:  1.  Die  Vereinigung  hat  durch  eine  Rundfrage  an  die 
deutschen  Staatsregierungen  festzustellen  versucht,  was  bisher 
in  Deutschland  von  Seiten  der  Schulverwaltungen  in  der  Richtung  staatsbürger- 
licher Unterweisung  geschieht.  Die  von  den  deutschen  Staatsregierungen  eingelaufe- 
nen Auskünfte  sollen  in  einer  zusammenfassenden  Darstellung  bekannt  gegeben 
werden.  2.  Die  Vereinigung  hat  auf  ihre  Kosten  sachkundige  Männer  zu  Studien- 
reisen ins  Ausland  gesandt,  um  die  dort  vorhandenen  staatsbürgerlichen  Erziehungs- 
einrichtungen zu  erforschen.  Bisher  liegen  drei  solcher  Auslandsunter- 
suchungen vor:  über  die  Schweiz,  Holland  und  Dänemark.  Eine  Arbeit 
über  Frankreich  ist  in  Vorbereitung.  3.  Die  Vereinigung  wird  in  diesem  Jahre  ein 
Literaturverzeichnis    zur    Frage    der    staatsbürgerlichen    Erziehung 


222  Vermischtes. 

veröffentlichen.  4.  Bemerkenswert  sind  neben  den  Auslandsuntersuchungen  die 
methodischen  Schriften  zur  Frage  der  staatsbürgerlichen  Erziehung, 
welche  die  Möglichkeiten  untersuchen,  die  heute  in  höheren  Schulen,  Volks-  und 
Fortbildungsschulen  und  Lehrerseminaren  für  die  Berücksichtigung  staatsbürger- 
licher Unterweisung  gegeben  sind.  Eine  kleine  Lehrprobe:  Rosenthal, 
„Unser  täglich  Brot**  dürfte  besonders  für  Volks-  und  Fortbildungsschullehrer 
anregend  sein.  5.  Die  Vereinigung  veranstaltet  von  Januar  1912  ab  im  Charlotten- 
burger Rathaus  „Politische  Abend  e",  die  der  freien  Aussprache  von 
Männern  und  Frauen  aller  Parteirichtungen  über  wichtige  Fragen  des  öffent- 
lichen Lebens  dienen.  6.  Eine  in  Vorbereitung  befindliche  Vortragsver- 
mittlungsstelle soll  an  Vereine  aller  Richtungen  Vorträge  aus  dem  Ge- 
samtgebiet der  Staatswissenschaften  und  über  die  Methodik  der  staatsbürgerlichen 
Erziehung  vermitteln.  7.  Von  Januar  1912  ab  gibt  die  Vereinigung  „Mittei- 
lungen" heraus,  in  denen  über  die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Arbeitsgebiet 
der  Gesellschaft  laufend  berichtet  wird.  Die  Vereinigung  hält  streng  an  den  Grund- 
satz parteipolitischer  und  konfessioneller  Neutralität  fest.  —  Satzungen  und 
Werbematerial  versendet  die  Geschäftsstelle  der  Vereinigung  (Charlottenburg,. 
Giesebrechtstraße  19)  auf  Wunsch  kostenlos. 

Der  Verein  zur  Förderung  des  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen 
Unterrichts  hält  in  diesem  Jahre  in  der  Pfingstwoche  vom  27.  bis  30.  Mai  seine 
Hauptversammlung  in  Halle  a.  S.  ab.  Während  die  letzten  drei  Versammlungen 
in  Freiburg  i.  Br.,  Posen  und  Münster  stattfanden,  ist  diesmal  ein  mehr  in  der 
Mitte  des  Reiches  gelegener  Ort  gewählt  worden,  der  auch  wegen  seiner  bequemen 
Bahnverbindungen  als  sehr  günstig  zu  bezeichnen  ist.  Zu  gleicher  Zeit  tagt  auch 
in  Halle  die  Versammlung  deutscher  Zoologen.  Unter  dem  Vorsitz  von  Herrn 
Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Wangerin  hat  sich  bereits  ein  Ortsausschuß  zur  Erledigung 
der  nötigen  Vorarbeiten  gebildet,  und  es  haben  auch  schon  eine  große  Reihe  von 
Universitätslehrern  und  Schulmännern  Vorträge  zugesagt.  Wir  nennen:  Dr. 
ßungers,  Thema  vorbehalten.  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Dorn,  Über  Radioaktivität; 
Prof.  Grimsehl,  Physikalischer  Experimentalvortrag;  Prof.  Dr.  Karsten,  Vortrag 
im  botanischen  Garten;  Prof.  Dr.  Krüger,  Psychologisches  Thema;  Dr.  W.  Lietz- 
mann,  Über  einheitliche  Bezeichnungsweisen  in  der  Elementarmathematik;  Prof. 
Dr.  Löwenhardt,  Der  chemische  Unterricht  in  den  Oberklassen;  Dr.  Möhle,  Mathe- 
matischer Unterricht  an  höheren  Mädchenschulen;  Prof.  Dr.  Oels,  Biologisches 
Thema;  Prof.  Dr.  K.  Schmidt,  Über  elektrische  Wellen  in  der  drahtlosen  Tele- 
graphie;  Dr.  Schoenichen,  Lichtbildervortrag:  Biomechanische  Modelle;  Dir. 
Dr.  Schotten,  Die  Tätigkeit  der  IMUK;  Prof.  Schrader,  Synthetische  und  ana- 
lytische Behandlung  der  Kegelschnitte;  Prof.  Dr.  Scupin,  Anleitung  zu  geologischen 
Beobachtungen  im  Freien;  Prof.  Dr.  Spies,  Physikalischer  Experimentalvortrag; 
Prof.  Dr.  Walther,  Lichtbildervortrag:  Die  algonkischen  Urwüsten;  Prof.  Dr. 
Vorländer,  Chemischer  Experimentalvortrag.  Ferner  sind  außer  interessanten 
Besichtigungen  von  wissenschaftlichen  und  industriellen  Einrichtungen  bei  ge- 
nügender Beteiligung  auch  Fortbildungskurse  in  Aussicht  genommen. 


V.  Sprechsaal 


Erwiderung. 

(v.  Kleist,  Prinz  von  Homburg  II,  2,  85.) 

Auch  bei  der  S.  127  gegebenen  Erklärung  des  Herrn  Prof.  Dr.  Grünwald 
bleiben  beide  Anstöße  bestehen,  daß  der  Dichter  ein  ganz  allgemeines  Kriegsgesetz 
ein  märkisches  nennt  und  von  zehn  Geboten  spricht,  was  doch  nur  berechtigt 
wäre,  wenn  es  wirklich  zehn  festbestimmte  märkische  Kriegsartikel  gegeben  hätte, 
und  selbst  dann  erwartete  man  eher  „der  du  das  erste  Kriegsgesetz  nicht  kennst", 
sie  werden  doch  nicht  alle  von  der  Subordination  gehandelt  haben,  sondern  auch 
von  Tapferkeit,  Pünktlichkeit  und  anderen  Pflichten.  Der  Prinz  ist  es,  der  den 
Gehorsam  versagt  und  sich  außerdem  gegen  die  militärische  Disziplin  vergeht, 
wenn  er  sich  an  dem  Offizier  tätlich  vergreift,  indem  er  ihn  zurückstößt  —  mit 
den  Händen !  —  und  ihm  Schwert  und  Gürtel  abreißt;  der  Offizier  dagegen,  welcher 
dem  mehrfach  eingeschärften  Befehl  des  Kurfürsten,  nicht  eher  anzugreifen,  als 
bis  ein  ausdrücklicher  Befehl  dazu  überbracht  werde,  Geltung  zu  verschaffen 
sucht,  vergeht  sich  nicht  gegen  die  Subordination. 

Herford  i.  W.  ErnstMeyer. 

1.  Shakespeare,  König  Heinrich  VI.  Teil  1,  Aufzug  1,  Szene  1  meldet  der  Bote: 
Paris,  G  u  i  s  0  r  s  ,  Poitiers  sind  ganz  dahin.  — 

Wer  kann  über  Guisors  oder,  wie  Delius  schreibt,  Guysors  Auskunft  geben? 

2.  Aus  deutschen  Lesebüchern,  herausgegeben  von  Dietlein-Polack.  III.  Bd.-, 
S.  32:  In  welchen  Zügen  gleicht  Bertran  de  Born  dem  Dichter  S  i  m  o  n  i  d  e  s  , 
dersich  durch  seinen  Gesang  aus  den  Händen  der  Räuber 
befreite?  —  Worauf  gründet  sich  diese  Behauptung? 

3.  Heineccius,  Fundamenta  stili  cultioris.  L.  1736  S.  69:  D  eli  o  nat  a- 
1 0  r  e  opus  est  ad  solvenda  illius  (d.  i.  Lipsii)  acnigmata.  Münchener  Allgemeine 
Zeitung  (vom  12.4.  1902,  Beilage  No.  84  S.  81):  Er  (d.i.  Kuno  Fischer)  ist  der 
delische  Taucher,  dessen  es  hier  (die  Philosophie  Hegels  wieder  in  Aufnahme  zu 
bringen  und  zu  erklären)  bedarf.  Diogenes  Laertius  II,  5  No.  7  §  22  und  IX,  1 
No.  7  §  12  sagt  Sokrates  von  einer  Schrift  des  Heraklit,  die  ihm  Euripides  zur  Be- 
gutachtung übergeben  hatte:  Was  ich  verstanden  habe,  ist  trefflich,  ich  glaube 
aber  auch,  das,  was  ich  nicht  verstanden  habe,  übrigens  AtjXiou  ^i  xivo?  Seixat 
xoXüjxßr^ToO.    Wohlrab  zu  -fj  fXaüxou  ts/vt}  Plato.     Phaedo  cap.  58,  108  d:    Von 


224  Sprechsaal. 

allem,  dessen  Auffassung  und  Ausführung  viel  Scharfsinn  und  Einsicht  erforderte, 
sagte  man  sprichwörtlich,  es  gehöre  die  Kunst  des  Glaucus  (des  Schutzpatrons  der 
Fischer  und  Taucher)  dazu.  Über  diesen  Glaucus,  nach  dem  ein  Ort  FXauxou  Tzrfiri\L(i 
genannt  wurde  und  der  dem  Aeschylus  Stoff  zu  einem  Drama  gegeben  hat,  ver- 
gleiche noch  Pausanias,  descriptio  Graeciae,  IX,  22.  754  (298  ed.  Sylburg).  — 
Wo  findet  man  Näheres  über  diesen  delischen  Taucher? 

4.  Das  Aneroidbarometer,  auch  Feder-  oder  Dosenbarometer  genannt,  wurde 
zuerst  1847  von  dem  Engländer  Vidi  konstruiert;  Bourdon  verfertigte  bald  darauf 
ein  ähnliches  Metallbarometer,  und  später  verbesserten  Naudet  und  Hulot  dieses 
Instrument  Vidis,  welches  nun  als  barometre  holosterique  (d.  i.  ganz  starr,  ohne 
Flüssigkeit)  weite  Verbreitung  fand.  —  In  den  Lehrbüchern  der  Physik  wird  der 
Name  abgeleitet  von  vvjpoc  feucht  und  a  privativum,  so  auch  von  Littre  im  Anhang 
zum  Dictionnaire  S.  2571  und  Webster,  Complete  Dictionary.  London  1889. 
Ich  halte  diese  Ableitung  für  unrichtig.  Erstens  kommt  das  Wort  vr^po?  in  der 
klassischen  Gräzität  gar  nicht  vor  (es  soll  sich  in  einer  Schrift  des  Arztes  Xeno- 
crates  finden),  so  daß  es  ganz  unwahrscheinlich  ist,  daß  der  Erfinder  auf  dieses 
Wort  sollte  verfallen  sein.  Zweitens  bleibt  bei  dieser  Abteilung  die  Endung  id 
(slSoc)  völlig  unberücksichtigt,  diese  ist  aber  den  Mathematikern  ganz  geläufig, 
vgl.  Ellipsoid  =  ellipsengestalteter  Körper,  Cissoide  =  epheugestaltete  Linie 
u.  V.  a.  Ich  meine,  das  Wort  muß  abgeleitet  werden  von  dvVjp  Mann  und  slSo? 
Gestalt  und  bedeutet  manngestaltetes  Barometer.  Sollte  nicht  die  ursprüngliche 
Form  eines  solchen  Aneroidbarometers  in  England  noch  existieren,  durch  welche 
meine  Deutung  Bestätigung  oder  Widerlegung  fände?  In  dem  Programm  der  Real- 
schule zu  Wasselnheim  (Unterelsaß)  1889,  No.  504  S.  15  liest  man:  „barometre 
anaeroide,  meist  barometre  metallique  (de  Bourdon)  genannt."  Der  Verfasser  will 
es  also  von  6ir^p  Luft  ableiten.  Diese  Namensänderung  scheint  aber  willkürlich  von 
ihm  vorgenommen  zu  sein;  sie  kann  als  eine  Verbesserung  nicht  gelten;  denn  ab- 
gesehen davon,  daß  auch  bei  ihr  die  Endung  id  nicht  zur  Geltung  kommt,  würde 
sie  den  Unterschied  mit  dem  Quecksilberbarometer  gar  nicht  hervorheben,  bei  dem 
ja  auch  der  luftleere  Raum  ein  wesentlicher  Faktor  ist. 

Herford  i.  W.  ErnstMeyer. 


t^ 


I.  Abhandlungen. 

Wilhelm  Münchs  letztes  Buch.*) 

Wir  schulden  dem  Verfasser  und  der  Verlagsbuchhandlung  Dank  für  die 
Herausgabe  dieser  neuen  Sammlung  von  Aufsätzen.  Münch  ist  uns  schon  vertraut 
durch  die  früheren  Sammlungen,  von  denen  die  ,, Vermischten  Aufsätze  über 
Unterrichtsziele  und  Unterrichtskunst  an  höheren  Schulen"  bereits  in  zweiter 
Auflage  vorliegen.  Manche  von  den  jetzt  in  einem  neuen  Bande  zusammengestellten 
18  Arbeiten  (denen  noch  ein  Anhang  „Gelegentliche  Betrachtungen"  beigefügt 
ist)  werden  auch,  da  sie  schon  in  Zeitschriften  veröffentlicht  waren,  manchem  be- 
kannt und  von  ihm  mit  freudiger  Zustimmung  gelesen  sein.  Nun  freuen  wir  uns,  daß 
auch  diese  so  zerstreuten  und  zum  Teil  wenig  zugänglichen  Aufsätze  uns  hier  zu- 
sammen geboten  werden,  dazu  noch  vermehrt  durch  einige  neue,  bisher  noch 
ungedruckte  wertvolle  Beiträge.  Viele  der  Arbeiten  sind  mehr  für  eine  päda- 
gogisch-philologische Leserschaft  bestimmt,  manche,  mehr  allgemein  kulturellen 
Inhalts,  für  ein  weiteres  Publikum,  und  so  konnten  sie  zusammengefaßt  werden 
unter  dem  Titel:    „Zum  deutschen  Kultur-  und  Bildungsleben.'* 

Schon  in  älteren  Jahren,  der  unmittelbaren  Beziehung  zur  Schule  längst  ent- 
rückt,  blickt  der  Verfasser  in  abgeklärter  Lebens-  und  Berufsauffassung  gleich- 
sam von  hoher  Warte  herab  auf  die  Entwicklung  und  den  Stand  unserer  Kultur 
und  Jugendbildung.  Viel  Wohlbekanntes  und  Anerkanntes  ist  zusammengestellt, 
aber  mit  tiefgehender  psychologischer,  physiologischer  und  logischer  Beobach- 
tung, Scheidung  und  Begründung.  Manche  Betrachtungen  sollen  nur  eine  Be- 
leuchtung der  Wirklichkeit  bedeuten,  „eine  Beleuchtung  mit  dem  schlichten 
Kerzenlicht  der  Empirie".  Der  Verfasser  versetzt  sich  gern  in  eine  vergangene 
Periode  seines  Lebens  zurück,  „mit  Inspektionsrechten,  aber  auch  mit  viel  Ge- 
legenheit geistiger  Anregung".  ,, Erinnerungsbilder",  sagt  er,  „vermögen  sich  in 
größerer  Deutlichkeit  vor  dem  Blick  zu  gruppieren,  als  sie  der  unmittelbaren  Wahr- 
nehmung eigen  war".  Oberall  werden  wir  gefesselt  durch  feinsinnige,  oft  mit 
einem  herzgewinnenden  Humor  gewürzte,  in  schöne  Form  gekleidete  Entwick- 
lungen, und  wir  bekommen  mehr  als  ein  bloßes  Wissen:  auch  reichen  Gewinn 
für  Herz  und  Gemüt,  denn  Liebe  und  Gerechtigkeit  verbinden  sich  bei  ihm  in 


♦)  Münch,  Wilhelm,  Zum  deutschen  Kultur-  und  Bildungsleben.  Fünfte  Samm- 
lung vermischter  Aufsätze.  Berlin  1912.  Weidmannsche  Buchhandlung.  VI  u.  338  S. 
geh.  6,50  M.,  geb.  7,50  M. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XL  Jhrg.  15 


226  Fr.  Heußner,  Wilhelm  Münchs  letztes  Buch. 

schöner  Harmonie,  mag  er  nun  seine  Beobachtungen  über  Kulturfortschritt  und 
Gegenwart,  die  Lebensalter,  das  Glück  der  Kindheit  oder  die  Seele  der  Reichs- 
hauptstadt mitteilen,  worin  er  uns  an  den  trefflichen  Riehl  erinnert,  oder  seine 
Gedanken  über  Wortkunde  und  die  gegenseitige  Annäherung  oder  Entfernung 
der  Kultursprachen,  worin  er  unserem  Rud.  Hildebrand  gleicht,  oder  in  seinem 
eigensten  Gebiet,  der  Pädagogik,  uns  reiche  und  tiefgehende  Erklärung  und  Be- 
lehrung geben  (so  über  Schule  und  Eigenart  der  Schüler,  Unterricht  und  Inter- 
esse, Universität  und  höhere  Schule,  die  Pädagogik  unter  den  Universitätswissen- 
schaften, die  Vorbildung  der  Lehrer  neuerer  Sprachen  und  den  lebendigen  Sprach- 
unterricht in  diesen  usw.).  Ein  überreicher  Inhalt;  und  dabei  ist  vieles  nur  an- 
gedeutet, was  nicht  zu  weiterer  Ausführung  gekommen  ist,  zu  manchem  nur  eine 
Anregung  gegeben,  Probleme  mitgeteilt  (zu  S.  328)  und  S.  316  noch  über  ein 
Dutzend  Fragen,  die  nicht  beantwortet  werden,  aber  der  Beantwortung  wert 
sind,  aufgezählt. 

Aus  den  Stellen  voll  kostbaren  Humors  hebe  ich  just  (um  dies  von  M.  gern 
gebrauchte  Wörtchen  hier  auch  einmal  anzuwenden)  die  eine,  S.  227,  heraus  über 
die  jetzige  jüngere  Frauenwelt  und  ihre  Bismarck-Handschrift.  Viele  goldene 
Regeln  enthält  das  Buch  für  Lehrer  und  Laien,  treffende  Bilder  und  Vergleiche, 
sentenziöse  Gedanken  und  unter  den  ,, Gelegentlichen  Betrachtungen"  schöne  Sen- 
tenzen. Ich  teile  eine  solche  Stelle  (S.  330)  mit.  „Läßt  sich  die  oft  schroffe  persönliche 
Polemik  deutscher  Gelehrten  durch  den  Hinweis  rechtfertigen,  daß  nur  der  sie 
ganz  erfüllende  Eifer  um  die  Wahrheit  dabei  über  alle  persönliche  Rücksicht  ob- 
siege? Ach,  die  Wahrheit  ist  viel  zu  wenig  grobschlächtig,  als  daß  sie  in  dieser 
Weise  ihre  Sache  geführt  sehen  möchte.  Sie  ist  von  zartem,  stillem,  empfindlichem 
Wesen,  ist  eine  Muhme  der  Gerechtigkeit,  die  auch  ihrerseits  nur  mit  feinem  Tritt 
und  Griff  zu  finden  und  zu  fassen  ist."  In  einer  stillen  ,, Stunde  der  Kontem- 
plation" versenken  wir  uns  mit  ihm  in  den  ,, Geist  der  Zeit",  eine  Betrachtung 
über  den  ,,Haß  der  Elemente"  und  die  Dezemberbetrachtung  „Dem  Licht  ent- 
gegen", und  wir  kehren  davon  zurück  innerlich  reicher  und  besser.  Wie  schön 
ist  der  Schluß  der  letztgenannten  Betrachtung!  „Ehedem  wirkte  der  Weihnachts- 
baum in  der  trauten  Familienstube  mit  dem  stillen  Glanz  seiner  Wachslichtchen 
wie  das  Herüberleuchten  aus  einer  Feen-  und  Märchenwelt.  Man  hat  seinen  Licht- 
glanz sehr  gesteigert,  und  man  stellt  nun  gern  gigantische  Tannenbäume  auf  in 
Vereinssälen,  vor  Massenversammlungen,  in  Wirtshäusern.  Aus  dem  Stillen  ist 
Lautes  geworden,  aus  dem  Traulichen  Imponierendes.  Vergrößerung  ist  hier  immer 
in  Gefahr,  zugleich  Aushöhlung  zu  bedeuten.  Die  Wachslichter  waren  und  bleiben 
doch  das  Schönere,  so  wie  Liebe  und  Treue  und  Echtheit  und  Herzensfriede  das 
Kostbarere  bleiben  gegenüber  allem  Festrausch  und  Geistesglanz  und  Ruhmes- 
streben, und  wie  in  dem  Wert  der  Einzelleben  der  eigentliche  Wert  der  Nation 
begriffen  ist.  Und  wenn  es  sein  muß,  kann  sich  an  der  Wachskerze  auch  mäch- 
tiges Feuer  entzünden,  Feuer,  das  in  die  Weite  glüht  und  ins  Große  wirkt.  Aus 
stiller  Wärme  mag  begeisterte  Tatkraft  werden.  Ist  es  nicht  schon  einmal  so  bei 
uns  gewesen,  vor  nun  hundert  Jahren?  Möchten  wir  dem  Geschlechte  von  damals 
nicht  allzu  unähnlich  geworden  sein.  Wenn  wir  nicht  solchen  Lichtes  in  uns  er- 
mangeln, können  wir  unsere  Wege  schreiten,  auch  dem  Dunkel  entgegen"  (S.  326). 


A.  Matthias,  Rückblick  auf  Wilhelm  Münchs  sonstiges  Schaffen.  227 

Mindestens  jede  Lehrerbibliothek  nehme  das  Buch  in  ihren  Bestand  auf, 
man  sorge  auch  in  pädagogischen  Seminarien  dafür,  daß  die  angehenden  Lehrer 
sich  mit  dem  Inhalt  vertraut  machen  und  des  reichen  Segens,  den  es  ihnen  bieten 
kann,  teilhaftig  werden,  um  so  für  ihren  Beruf  als  „nationale  Erzieher,  Hüter 
und  in  gewissem  Maße  Bürgen  der  Zukunft  der  Nation"  (S.  191)  immer  vertiefter, 
klarer,  besser,  wärmer  und  vollkonunener  zu  werden. 

Cassel.  Fr.  Heußner. 


Rückblick  auf  Wilhelm  Münchs  sonstiges  Schaffen. 

Die  vorstehende  Besprechung  war  niedergeschrieben  kurz  vor  dem  Dahin- 
scheiden Wilhelm  Münchs,  der  uns  am  25.  März  durch  den  Tod  entrissen  ist;  es 
ist  mir  ein  Bedürfnis,  noch  einige  schlichte  Worte  des  Gedenkens  an  Münch  und 
sein  reiches  Schaffen  hinzuzufügen.  Denn  mit  ihm  ist  ein  Freund  und  Berater  der 
pädagogischen  Welt  heimgegangen,  den  wir  noch  lange  schmerzlich  vermissen 
werden,  weil  sein  feines  Urteil,  das  von  der  Höhe  des  Lebens  kam,  in  den  Unruhen 
und  alltäglichen  Sorgen  des  Daseins  immer  etwas  Beruhigendes  und  Sonntägliches 
an  sich  trug.  Das  letzte  Buch  trägt  einen  den  ganzen  Mann  charakterisierenden 
Titel:  ,,Zum  deutschen  Kultur-  und  Bildungsleben",  wie  auch  schon  sein  vorletztes 
Werk  (erschienen  bei  Beck  in  München  1909),  das  ,, Kultur  und  Erziehung"  sich 
betitelte.  Gegenwartskultur  und  Erziehung,  Gegenwartskultur  und  Bildung; 
das  waren  die  beiden  Pole,  um  welche  Münchs  Gedankenwelt  sich  drehte.  Münch 
war  Schulmann  und  Weltmann  zugleich.  Die  Probleme,  die  er  stellte,  sie  erwuchsen 
aus  dem  Unterricht  und  verbanden  sich  mit  Fragen  der  Erziehung,  der  Bildung 
und  der  Kultur  unseres  Volkes.  Und  die  Gedanken  über  Kultur  der  Gegenwart,  über 
Menschenbildung  und  Erziehung  wurden  angewandt  auf  Unterrichtsfragen  und 
erhoben  diese  auf  höhere  Zinnen  aus  der  Niederung  der  Schulstube  hinaus.  Dieser 
größeren  Weite  des  Blicks  und  der  großzügigen  Betrachtung  der  Dinge  wuchs 
Münch  ganz  allmählich  zu.  Sein  erstes  Buch,  die  vermischten  Aufsätze  über  Unter- 
richtsziele und  Unterrichtskunst  an  höheren  Schulen  (1888  erschienen  bei  Gaertner, 
Berlin,  später  in  die  Weidmannsche  Buchhandlung  übergegangen,  2.  Auflage  1896), 
bewegten  sich  noch  mehr  im  Gebiete  des  Unterrichts  und  zwar  der  Muttersprache 
sowie  der  neueren  Fremdsprachen.  Auch  die  neuen  pädagogischen  Beiträge  (Gaertner, 
Berlin  1893)  und  seine  Didaktik  und  Methodik  des  französischen  Unterrichts  in  dem 
großen  Baumeisterschen  Handbuch  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  (Beck, 
München  1898)  hielten  sich  in  den  Grenzen  des  Unterrichts  und  der  Schule;  doch 
gingen  die  Gedanken  "der  „Nachlese"  in  den  pädagogischen  Beiträgen  schon  philo- 
sophierend in  die  weite  Welt  und  unter  die  Menschen  jenseits  der  Schulmauern.  Und 
mit  dem  Buche  Menschenart  und  Jugendbildung  (Berlin  1900,  Gaertner  und  Weid- 
mannsche Buchhandlung),  stand  er  schon  ganz  auf  dem  Boden,  auf  dem  er  sich  in 
seinem  letzten  Buch  so  gewandt,  so  gerecht,  so  voll  von  Geist  und  schönem  Humor 
innerhalb  und  außerhalb  der  Schule  bewegt. 

Sein  Hauptwerk  war  und  bleibt  in  Zukunft  das  Buch  „Geist  des  Lehramts" 
(1903,  Georg  Reimer,  in  2.  Auflage  1905),  ein  Buch  reich  an  Inhalt  und  fein  und 

15* 


228  A,  Matthias,  Rückblick  auf  Wilhelm  Münchs  sonstiges  Schaffen. 

eigenartig  in  seiner  Form.  Dieses  Buch  gleicht  einem  stattlichen  Baume,  dessen 
zwei  mächtige  Stämme  „Erziehung"  und  ,, Unterricht"  darstellen,  dessen  Äste 
und  Verästelungen  sich  vielgestaltig  weit  dehnen  in  Welt  und  Menschenleben 
hinaus;  und  jedes  Blatt  ist  lebenskräftig  und  zeigt  seine  besondere  Schönheiten, 
die  sorgsamster  Prüfung  standhalten. 

Neben  seinem  Hauptwerk  steht  die  „Zukunftspädagogik"  als  eine  beachtens- 
werte Erscheinung  da  (Berlin  1904,  Georg  Reimer;  in  2.  Auflage  1908).  In  diesem 
Buche,  das  den  Nebentitel  trug  ,, Utopien,  Ideale  und  Möglichkeiten",  hielt  Münch 
gleichsam  Parade  ab  über  die  Reformer  und  Zukunftspädagogen  beiderlei  Ge- 
schlechts, über  maßlose  und  maßvolle  von  Ellen  Key  bis  Rudolf  Lehmann.  Der 
Inhalt  aller  Schriften  (auch  das  gar  nicht  Lesenswerte  hatte  Münch  gelesen)  wurde 
mit  großer  Objektivität  wiedergegeben  und  Kritik  mit  der  Münch  eigenen  Zurück- 
haltung geübt.  An  positiven  Vorschlägen  fehlte  es  in  der  ersten  Auflage;  die  zweite 
brachte  Münchs  eigenes  Programm,  das  von  reicher  Erfahrung  und  weiser  Maß- 
haltung zeugt.  —  Einen  ähnlichen  Gang  wie  in  der  Zukunftspädagogik  vollzog 
Münch  in  seinem  Buche  von  der  Fürstenerziehung  (München  1909,  Beck),  indem 
er  sich  mit  großer  Geduld  durch  den  Wust  von  Gedanken,  die  von  den  ältesten 
bis  in  die  neuen  Zeiten  abgelagert  waren,  durcharbeitete  und  die  Spreu  von  dem 
Weizen  zu  sondern  suchte,  wobei  dann  die  Ernte  kaum  der  Mühe  wert  sich  zeigte. 

Neben  diesen  größeren  Werken  hat  Münch  dann  noch  kleinere  Werke  ge- 
schrieben wie  „Eltern,  Lehrer  und  Schulen  in  der  Gegenwart"  (Berlin  1906,  Alexander 
Duncker)  und  Jean  Paul,  der  Verfasser  der  Levana  (Berlin  1907,  Reuther 
&  Reichard). 

Durch  alle  diese  Werke,  die  großen  wie  die  kleinen,  zog  sich  viel  philosophisches 
und  poetisches  Rankenwerk,  das  Münch  hier  und  da  auch  wohl  als  Nachlese  oder 
,, gelegentliche  Betrachtungen"  anfügte;  dieses  gelegentliche  Nebenwerk  ist  ganz 
besonders  erquicklich,  weil  hier  der  Künstler  und  geistreiche  Mann  uns  persönlich 
recht  nahe  tritt  durch  das,  was  er  auf  seinem  Lebenswege  hier  und  dort  erfahren 
und  erlebt.  Köstliche  Gaben,  die  für  die  Familie  feine  Kost  bieten;  Sonntagsbücher, 
die  nach  der  Arbeit  zur.  Ruhe  einladen  und  zur  Erholung  dienende  Lektüre:  Es 
sind  das  die  „Gestalten  am  Wege"  (Berlin,  deutsche  Bücherei,  Bd.  42),  „Die  Leute 
von  ehedem"  (Leipzig  1908,  Amelang),  die  ,, Seltsamen  Alltagsmenschen"  (Mün- 
chen 1910,  Beck),  „Allerlei  Menschliches"  (Berlin,  deutsche  Bücherei,  Bd.  37) 
und  schließlich  —  last  not  least  —  die  köstlichen  Anmerkungen  zum  Texte  des 
Lebens  (Berlin  1904,  Weidmannsche  Buchhandlung),  in  denen  sich  das  volle  Leben 
widerspiegelt,  wie  es  Münch  gelebt.  Der  Buchtext,  dem  sie  dienen  sollen,  ist  wirklich 
gehaltvoll  und  reich  und  vieldeutig.     Dieser  Buchtext  ist  jetzt  geschlössen. 

Wie  Münch  daran  gedacht,  sagt  er  uns  in  der«  letzten  Anmerkung 
in  seinem  Buche  Kultur  und  Erziehung:  ,,Wir  spielen  auf  einer  grünen  Wiese, 
die  von  einer  Dornenhecke  umzäunt  wird.  Und  wir  wissen,  daß  wir  eines  Tages 
durch  diese  Hecke  hindurchmüssen,  hinaus  in  ein  dunkles  Land.  Mitunter  führt 
unser  Spiel  uns  der  Hecke  nah,  oder  auch  ein  wenig  in  sie  hinein,  aber  oft  fühlen 
wir  uns  weit  von  ihr  entfernt,  sehen  sie  nicht  und  vergessen  beinahe,  daß  sie  da 
ist.  Dann  kommt  plötzlich  von  außen  eine  gewaltige  Hand,  faßt  uns  und  zerrt  uns 
durch  die  Dornen  hindurch,  manchen  an  einer  besonders  dichten  Stelle,  so  daß 


C.  Rothe,  Soll  die  Homerkritik  abdanken?  229 

es  lange  währt  und  die  Stacheln  ihm  bitter  wehe  tun,  einige  da,  wo  es  undicht  ist 
oder  eine  Lücke  gelassen  scheint,  so  daß  sie  leicht  und  schmerzlos  hindurchgezogen 
werden  auf  die  andere  Seite.  Und  jedesmal,  wenn  der  Griff  der  furchtbaren  Hand 
einen  aus  unserer  Mitte  erfaßt,  erschrecken  wir  und  klagen.  Aber  dann  spielen 
wir  auf  unserer  gemeinsamen  großen  Wiese  weiter."  Wilhelm  Münch  ist  nun  auch 
nicht  mehr  unter  den  Spielenden.  Er  ist  schmerzlos  hindurchgezogen  durch  die 
Dornenhecke  in  das  dunkle  Land  des  Todes. 

Berlin.  A.  Matthias. 


Soll  die  Homerkritik  abdanken? 

In  den  Neuen  Jahrbüchern  1912,  S.  98 — 111,  hat  Cauer  einen  Aufsatz  unter 
der  Überschrift:  ,,SolI  die  Homerkritik  abdanken?"  veröffentlicht.  Dieser  enthält 
weder  eine  klare  Bestimmung  dessen,  was  der  Verfasser  unter  Homerkritik  ver- 
steht, noch  gibt  er  eine  deutliche  Antwort  auf  die  aufgeworfene  Frage,  sondern  er 
beschäftigt  sich  nur  mit  meinem  Buche  ,,Die  Ilias  als  Dichtung"  (s.  diese  Monat- 
schrift S.  110 — 111),  von  dessen  Inhalt  er  ein  Bild  entwirft,  das  ich  nicht  wieder- 
erkenne. Bevor  wir  darauf  eingehen,  wollen  wir  das  von  Cauer  Versäumte  hier  nach- 
holen, da  die  Beantwortung  der  Frage  ebenso  im  Interesse  der  Wissenschaft  wie  der 
Homererklärung  in  der  Schule  liegt.  Unter  Homerkritik  hat  man  die  längste  Zeit 
des  vorigen  Jahrhunderts  das  Aufspüren  von  Widersprüchen  und  Unebenheiten 
der  Darstellung,  von  seltenen  Worten  und  Formen,  von  verschiedenen  Auffassungen 
in  bezug  auf  religiöse,  geschichtliche  und  geographische  Verhältnisse  u.  ä.  ver- 
standen. Diese  Kritik  sah  in  den  homerischen  Gedichten  nicht  Kunstwerke,  sondern 
Erzeugnisse  eines  überaus  plumpen  und  geschmacklosen  Menschen,  dem  man 
Ehrentitel  wie  'Flickpoet',  'Bearbeiter',  'Redaktor'  u.  a.  gab.  Dies,e  kleinliche  Kritik 
hat  sich  nicht  auf  Homer  beschränkt,  wie  ich  ,,  Ilias"  S.  112 — 113  gezeigt  habe, 
sondern  auch  andere  Dichter,  z.  B.  Sophokles  und  Horaz,  haben  in  gleicher  Weise 
darunter  gelitten.  Sie  hat  dem  Ansehen  der  deutschen  Philologie  im  Auslande, 
das  sich  an  diesen  Untersuchungen  fast  gar  nicht  beteiligt  hat,  nicht  wenig^ge- 
schadet;  das  Wort  „critique  allemande"  hat  im  Auslande  etwa  denselben  Klang 
wie  vor  25  Jahren  auf  industriellem  Gebiete  das  „made  in  Germany'\ 

Mindestens  ebenso  großen  Schaden  hat  diese  Kritik  für  die  Erklärung  Homers 
in  der  Schule  veranlaßt.  Es  sind  mir  in  der  Tat  von  gebildeten  Männern  die  härtesten 
Urteile  gerade  über  den  Homerunterricht,  den  sie  empfangen  haben,  ausgesprochen 
worden.  Wo  soll  auch  Begeisterung  für  einen  Unterricht  herkommen,  wenn  man 
die  Dichtung  für  ein  elendes  Machwerk  hält?  Ja,  läge  die  Sache  wirklich  so,  dann 
müßten  wir  es  geradezu  für  eine  Versündigung  an  unserer  Jugend  ansehen,  wenn 
man  auf  den  Gymnasien  vier  Jahre  und  auf  den  Realanstalten  mehrere  Monate 
einem  Dichter  widmete,  der  diesen  Namen  gar  nicht  verdiente,  in  dessen  Werk 
wenig  Gold  neben  viel  Schlacke  und  wertlosem  Metall  zu  finden  wäre.  Ein  solcher 
Unterricht  könnte  nur  Unheil  stiften,  da  er  die  Schüler  geradezu  irre  werden  ließe 
an  dem  Kunstverstande  des  kunstsinnigsten  Volkes  des  Altertums,  das  diese  Dich- 
tungen für  vollendete  Kunstwerke  ansah  und  dem  Dichter  eine  Bedeutung  gegeben 
hat  wie  keinem  zweiten. 


230  C.  Rothe, 

Der  Schaden,  den  diese  Kritik  angerichtet  hat,  ist  klar.  Sind  die  Ergebnisse 
derart,  daß  sie  den  Schaden  aufwiegen  und  angenommen  werden  müssen?  Ich 
habe  seit  nunmehr  40  Jahren  alle  wesentlichen  Schriften  zur  'Homerischen  Frage' 
gelesen  und  seit  länger  als  30  Jahren  in  regelmäßigen  Jahresberichten  die  neu  er- 
scheinenden besprochen,  auch  verschiedene  kleinere  Beiträge  dazu  geliefert.  Ich 
■darf  mir  also  wohl  ein  Urteil  gestatten.  Für  dieses  Urteil  sind  folgende  Punkte 
bestimmend  gewesen.  Einmal  befremdete  es  mich,  daß  die  Ergebnisse  der  streng 
wissenschaftlichen  Untersuchungen,  namentlich  Kirchhoffs,  jedem  natürlichen 
und  künstlerischen  Empfinden  widersprachen  —  so  wurde  ich  irre  an  der  Richtig- 
keit der  Grundsätze,  auf  denen  diese  Kritik  aufgebaut  war  (s.  ,,Ilias"  S.  93—95). 
Mehr  noch  forderte  zum  Widerspruch  heraus  das  gewaltsame,  willkürliche  Ver- 
fahren dieser  Kritik.  Statt  objektiv  den  Tatbestand,  das  Vorkommen  älterer 
und  jüngerer  Anschauungen,  älterer  und  jüngerer  sprachlicher  Formen  festzustellen, 
verfuhr  diese  Kritik  so,  als  ob  schon  erwiesen  wäre,  daß  ältere  und  jüngere  Gesänge 
in  derllias  und  Odyssee  vereinigt  seien,  und  änderte  nun  entweder  gewaltsam  den 
Text  oder  verwarf  an  sich  untadelige  Versreihen,  wenn  diese  ihrem  Prinzip  wider- 
strebten. Wenn  aber  in  jüngeren  Teilen  des  Gedichtes  ältere  Vorstellungen  sich 
fanden,  so  griff  sie  zu  dem  Auskunftsmittel:  der  Dichter  ,, archaisiere".  Dabei 
stimmten  die  Ergebnisse  der  verschiedenen  Untersuchungen  durchaus  nicht  über- 
ein (s.  „Ilias"  S.  21).  Besonders  führte  der  aus  „Wiederholungen''  erschlossene 
Beweis  zu  ganz  entgegengesetzten  Ergebnissen,  und  es  zeigte  sich  nicht  selten, 
daß  recht  beweiskräftige  Stellen  'zufällig'  von  dem  einen  oder  den  anderen  über- 
sehen, daß  Zahlen  ungenau  oder  durch  ein  falsches  Verfahren  gewonnen  oder  von 
anderen  ohne  jede  Nachprüfung  übernommen  waren.  Gegen  eine  solche  unwissen- 
schaftliche Kritik  habe  ich  zuerst  in  der  Abhandlung  „Die  Bedeutung  der  Wieder- 
holungen für  die  Homerische  Frage"  (Festschrift  d.  Französ.  Gymn.  1890)  Ein- 
spruch erhoben  und  dann  immer  wieder  in  den  Jahresberichten  auf  das  Fehlerhafte 
und  Unbefriedigende  dieses  Verfahrehs  hingewiesen.  Aber  ich  stand  allein  oder 
fast  allein,  und  die  Anhänger  der  herrschenden  Kritik  haben,  wie  es  in  solchen 
Fällen  gewöhnlich  geschieht,  meine  Einwände,  die  schwer  zu  widerlegen  waren 
(über  die  beiden  Versuche,  die  gemacht  sind,  s.  ,,llias"  S.  43 — 44),  einfach  un- 
beachtet gelassen.  Erst  in  den  letzten  Jahren  habe  ich  kräftige  Unterstützung 
gefunden  bei  J.  A.  Scott,  der  in  einer  Reihe  kleinerer  Aufsätze  mehrere  für  ganz 
sicher  gehaltene  Ergebnisse  des  „sprachlichen"  Beweises  nachgeprüft  und  dabei 
in  geradezu  verblüffender  Weise  und  ganz  in  Übereinstimmung  mit  meinen  Unter- 
suchungen das  Fehlerhafte  und  Irreführende  dieser  Methode  nachgewiesen  hat. 
Es  sei  mir  gestattet,  hier  nur  ein  bezeichnendes  Beispiel  anzuführen,  das  ich  schon 
„Uias"  S.  19—20  erwähnt  habe.  Cauer  (GF^  S.  392— 393)  führt  aus,  daß  ab- 
straktes Denken  der  homerischen  Zeit  noch  fern  lag,  und  schließt  die  Betrachtung 
nach  Anführung  einzelner  Beispiele  mit  den  Worten:  „Wenn  wir  an  solchen  Stellen 
zu  empfinden  glauben,  wie  das  Bedürfnis  nach  einem  abstrakten  Substantivum 
sich  meldet,  so  dürfen  wir  vermuten,  daß  in  dieser  Beziehung  innerhalb  der  beiden 
Epen  ein  Fortschritt  erkennbar  sein  werde.  Und  das  trifft  zu.  M.  Croiset  (Hist. 
de  la  litt,  grecque  I  [1887]  p.  389)  hat  beobachtet,  daß  von  den  Substantiven  auf 
—  lY],  —  ouvYj  und  —  '6;  die  Ilias  39,  die  Odyssee  81  hat.    Dies  Verhältnis^von 


Soll  die  Homerkritik  abdanken?  231 

1 :  2  überrascht  —  aber  es  beruht  zunächst  auf  einem  gemeinen  Rechenfehler,  den 
Croiset  selbst  schon  in  der  2.  Auflage  (1898  S.  368)  verbessert  hat.  Croiset  hat  näm- 
lich bei  den  Substantiven  auf  —  ouvt;,  den  zahlreichsten,  die  der  Ilias  und  Odyssee 
gemeinsamen  nur  der  Odyssee,  nicht  aber  auch  der  Ilias  zugerechnet**.  Geschieht 
das,  was  nötig  ist,  so  steigen  die  Substantiva  in  der  Ilias  auf  58,  das  Verhältnis 
wird  also  ungefähr  wie  3  :  4.  Aber  auch  dies  Verhältnis  entspricht  nicht  dem  wahren 
Sachverhalt.  Denn  aus  Gehrings  Index  homericus  hat  Scott  festgestellt,  daß  Croiset 
die  abstrakten  Substantiva  sowohl  auf  —  ouvyj  wie  auf  —  irj  für  die  Ilias  zu  gering 
angegeben  hat.  Eine  genaue  Zählung  ergibt  79  (nicht  58),  d.  h.  sie  sind  in  beiden 
Epen  fast  gleich;  an  dem  geringen  Unterschied  kann  leicht  der  Inhalt  schuld  sein.*) 

Andere  Beispiele  mit  dem  gleichen  Erfolge,  daß  eine  gründliche  Nachprüfung 
die  sichersten  Beweise  hinfällig  macht,  habe  ich  ,,  Ilias"  S.  345 — 347  und  Jahresb. 
1910  S.  361—368  angeführt.  Andere  wird  der  Jahresb.  1912  bringen.  Denn  nicht 
nur  Scott,  sondern  auch  M.  S  t  a  w  e  1 1  (Homer  and  the  Iliad,  London  1909)  ist 
mir  zu  Hilfe  gekommen  und  hat  lange  für  gesichert  gehaltene  Ergebnisse  er- 
schüttert; ebenso  hat  A.  S  h  e  w  a  n  ,  The  Odyssean  books  of  the  Iliad  1910  (The 
classical  Quaterly  S.  73 — ^79)  an  einem  anderen  Beispiel  diesen  Nachweis  geführt. 
So  sind  allmählich  auch  andere  Homerforscher  meiner  Ansicht  beigetreten  (s. 
Jahresb.  1910  S.  368). 

Genau  so  willkürlich  ist  die  Kritik  in  der  Ausnutzung  der  verschiedenen  'Kultur- 
stufen' verfahren,  die  zweifellos  in  der  Ilias  und  Odyssee  zum  Ausdruck  kommen. 
Ich  habe  darüber  Ilias  S.  72 — 81  gesprochen,  und  Cauer  stimmt  mir  in  der  Be- 
kämpfung der  falschen  Methode  dieser  Kritik  bei  und  muß  es  tun,  da  er  selbst  wieder- 
holt in  der  Besprechung  solcher  Schriften  das  Verkehrte  dieser  Methode  betont 
hat.  So  erklärt  er  a.  a.  0.  S.  100:  ,,Daß  ein  Beweis  für  das  Alter  eines  Gesanges, 
eines  unserer  2  x  24  Gesänge,  sich  schlechthin  aus  der  Bewaffnung  oder  irgend  einem 
anderen  kulturgeschichtlichen  Merkmal  nicht  herleiten  läßt,  wie  Rothe  wiederholt 
erinnert  (S.  79,  82,  90),  wird  ihm  heute  wohl  jeder  zugeben";  und  S.  101:  „So 
naiv  wird  doch  wohl  heute  niemand  mehr  sein,  daß  er  um  der  einleitenden  Formel 
willen  (fl,  233),  die  aus  Nordgriechenland  stammt,  das  ganze  Gebet  des  Achilles 
<II,  233—^248),  in  dem  der  Zwist  mit  Agamemnon  vorausgesetzt  wird,  für  ein  sicher 


*)  Hier  gleich  ein  Beispiel,  mit  welcher  Geschicklichkeit  Cauer  Sinn  und  Form 
meiner  Worte  in  seiner  Besprechung  zu  ändern  versteht,  um  mir  Vorwürfe  machen  zu 
können.  Ich  habe  in  der  Freude  über  diese  und  ähnliche  Nachweise  Scotts,  die  meine 
Ansicht  bestätigten  und  mir  erst  beim  Schreiben  meines  Buches  bekannt  wurden,  zu 
„II."  S.21  die  Anmerkung  gemacht:  „Daraus  erhellt  auch,  daß  ich  Jahresb.  1909,  S.  226  be- 
rechtigt war,  den  Ergebnissen  Wittes  (Sing.  u.  Plural,  Leipzig  1907)  gegenüber 
sehr  mißtrauisch  zu  sein,  da  ich  sie  im  einzelnen  nicht  nachprüfen  konnte  und  sie  auffallend 
von  anderen  „Ergebnissen"  abweichen.  Es  müßte  z.  B.  danach  das  „ganz  späte"  w  auf 
einer  Stufe  stehen  mit  z  oder  •/'."  Was  macht  Cauer  daraus?  Er  schreibt  a.  a.  0.,  S.  99: 
„Kurt  Witte  erwähnt  er  in  einer  Anmerkung,  doch  nur  um  zu  erklären,  daß  er  sich  für 
berechtigt  halte,  dessen  Ergebnissen  gegenüber  sehr  mißtrauisch  zu  sein:  *da 
ich  sie  im  einzelnen  nicht  nachprüfen  konnte,  und  sie  auffallend  von  anderen  Ergebnissen 
abweichen'.  So  leicht  wird  Rothe  mit  dem  Beweise  fertig,  daß  von 
fortgesetzter  Analyse  der  Sprache  für  eine  Abstufung  der  Schichten  im  Epos  nichts  zu 
erwarten  sei."    Jeder  Zusatz  ist  für  einen  unbefangenen  Leser  überflüssig. 


232  C.  Rothe, 

ältestes  Stück  der  llias  halten  wird."  Wenn  Cauer  aber  fortfährt:  ,,Nur  diesen 
Irrtum  trifft  Rothes  Abwehr  (S.  85),  nicht  den  ernsten  Forschersinn,  der,  wie  Erwin 
Rohde  es  vermocht  hat,  den  Spuren  älteren  Glaubens  und  veralteten  Gebrauchs 
bei  Homer  nachgeht",  so  habe  ich  völlig  in  Übereinstimmung  mit  Cauer  die  Berechti- 
gung, ja  den  Wert  dieser  Kritik  ausdrücklich  anerkannt  (S.  1 13)  und  nur  ihre  Grenzen 
näher  bestimmt  (S.  354):  ,,Wir  finden  in  der  llias  wie  in  der  Odyssee  zahlreiche 
'Rudimente'  sowohl  älterer  Vorstellungen  wie  älterer  sprachlicher  und  metrischer 
Formen.  Diesen  nachzugehen  und  sie  zu  erklären,  wird  noch  lange  Gegenstand  der 
Untersuchung  und  Forschung  sein;  aber  diese  wird  nur  dann  in  den  richtigen 
Bahnen  wandeln,  wenn  sie  dabei  völlig  absieht  von  der  sogenannten  höheren  Kritik 
und  nur  rein  objektiv  den  Tatbestand  feststellt";  dazu  führe  ich  einige  Beispiele 
an,  wie  es  zu  geschehen  hat.  Wer  diese  Bemerkung  mit  den  eben  angeführten  Sätzen 
Cauers  vergleicht,  wird  zugeben,  daß  kaum  ein  merklicher  Unterschied  in  der 
Beurteilung  dieser  Untersuchungen  besteht. 

Wie  ist  es  nun  verständlich,  daß  Cauer  mit  den  härtesten  Ausdrücken  meine 
Ansicht  angreift,  mir  'kritischen  Nihilismus'  (S.  105)  vorwirft,  obwohl  ich  gerade 
in  dem  ganzen  Buche,  besonders  aber  in  dem  Abschnitt  S.  92 — 110,  eine  sichere 
Grundlage  für  die  Kritik  habe  gewinnen  und  nicht  zerstören,  wie  der  Nihilismus 
es  tut,  sondern  aufbauen  wollen,  daß  er  ferner  meine  Ansicht  falsch  wiedergibt,*) 
ja,  mir  Vorstellungen  unterschiebt,  die  ich  gerade  entschieden  bekämpfe?  Meine 
Darstellung  kann  kaum  schuld  an  Cauers  Mißverständnis  sein;  denn  mit  seltener 
Einstimmigkeit  hat  die  öffentlich  wie  private  Kritik  des  Inlandes  wie  Auslandes 
die  Klarheit  meiner  Darstellung  anerkannt  (z.  B.  ,,was  dieses  Werk  besonders 
auszeichnet,  ist,  daß  es  für  jeden  Laien  absolut  verständlich  ist",  oder:  ,,was  noch 
besondere  lobende  Erwähnung  an  dem  Rotheschen  Buche  verdient,  ist  die  überall 
verständliche,  von  keiner  Stubengelehrtheit  getrübte,  lebensfrische  Sprache",  und 
A.  Shewan  schreibt:  the  book  is  written  in  a  clear  and  simple  style  that  distinguishe^ 
it  from  many  German  treaiises  on  Homeric  matters).  Die  Anerkennung  gilt  der  Sache; 
denn  octtXoüc  6  jxö^o?  xr^?  dXvjöstots  Icpu.  Für  diese  hat  Cauer  kein  Verständnis. 
Dies  erklärt  alles:  Cauer  hat  eine  ganz  unklare,  unfaßbare  Vorstellung  von  der 
Eigenheit  der  homerischen  Gedichte.  Seine  Gedanken  sind  so  sehr  auf  das  Ein- 
zelne gerichtet,  daß  er  den  Blick  auf  das  Ganze  völlig  verloren  hat.  Er  verwechselt 
fortwährend  —  und  er  hat  dabei  viele  Gesinnungsgenossen  —  das  Material,  die 
Bausteine,  aus  denen  der  Meister  den  kunstvollen  Bau  aufgeführt  hat,  mit  dem 
Kunstwerk,  ja  mit  dem  Meister  selbst.  Denn  er  schreibt  in  einem  langen,  schwer 
verständlichen  Satze  (S.  108—109):  „Von  den  ältesten  Göttermythen  an,  von 
denen  der  lepo?  ^ccfio?,  Poseidons  Meerfahrt  noch  Zeugnis  geben,  von  der  in  Thessa- 
lien erwachsenen  Sage,  daß  die  Himmlischen  auf  dem  Olymp  ihre  Wohnung  haben, 


*)  Ich  habe  am  8.  März  eine  'Berichtigung'  der  sieben  schwersten  Fälle  von  Ent- 
stellung an  die  Redaktion  der  Jahrbücher  eingesandt  mit  der  Bitte,  sie  im  nächsten  (April-) 
Heft  zu  veröffentlichen,  weil  ich  glaubte,  daß  ich  dies  auf  Grund  des  Preßgesetzes  ver- 
langen könne.  Die  Redaktion  aber  hat  mir  leider  erklärt,  daß  die  nächsten  Hefte  mit 
Stoff  besetzt  seien,  sie  aber  'vielleicht'  im  Sommer  den  Aufsatz  bringen  werde.  Bis  dahin 
erscheint  vielleicht  auch  mein  neuer  Jahresbericht,  in  dem  ich^die  Frage  eingehend  be- 
handeln werde.     ' 


Soll  die  Homerkritik  abdanken?  233 

von  den  dort  entstandenen  Liedern  . . .  weiter  zu  einem  rein  menschlichen  Helden- 
gesange  usw.:  das  ist  alles  'Home  r\  Damit  tut  Cauer  zweifellos  unserem  Sprach- 
gefühl Zwang  an,  das  in  Homer  einen  wirklichen  Menschen,  nicht  die  Entwicklung 
der  griechischen  Götter-  und  Heldensage,  nicht  den  epischen  Gesang  selbst  sieht; 
ja  der  Relativsatz,  den  Cauer  auf  'Homer'  folgen  läßt,  wirft  seine  eigene  Deutung 
um  und  nähert  sich  unserer  Auffassung  in  den  Worten:  ,,von  dem  allen  findet 
sich  in  mannigfaltig  verschlungenen  Zügen  ...  ein  wunderbares  Gemisch  in  den 
beiden  großen  Werken  die  seinen  Namen  tragen".  Diese  Werke  aber  sollen,  wenn  ich 
Cauer  recht  verstehe,  gewissermaßen  mit  der  Zeit  von  selbst  entstanden  sein,  ganz 
wie  andere  Kritiker  große  Schönheiten  in  den  Gedichten  von  selbst  entstehen 
lassen.  Denn  Cauer  schreibt  (S.  101):  „Etwas  anderes  wollen  wir  auch  bei  Homer 
nicht,  als  Ursprung  und  Gang  der  Überlieferung  aufsuchen,  durch  welche  zeitlich 
und  räumlich  geschiedene  Elemente  zu  Bestandteilen  einer  einheitlich  anmutenden 
Dichtung  geworden  sind."  Wenn  ich  Cauer  richtig  verstehe,  so  sieht  er  in  den 
homerischen  Gedichten  Gebilde,  die  ähnlich  nirgends  in  der  Weltliteratur  existieren. 
Zwar  finden  wir  in  unzweifelhaft  einheitlichen  Werken  —  ich  habe  ,,Ilias"  S.  82 — 85 
mehrere  Beispiele  aus  älterer  und  neuerer  Zeit  angeführt  —  religiöse  und  andere 
Vorstellungen  vereinigt,  die  aus  ganz  verschiedenen,  oft  weit  auseinanderliegenden 
Zeiten  stammen,  aber  immer  ist  es  e  i  n  D  i  c  h  t  e  r  ,  der  das  Kunstwerk  geschaffen, 
der  diese  verschiedenen  Vorstellungen  nur  als  Bausteine  seines  Werkes  benutzt 
hat  —  und  diese  bestimmte  dichterische  Persönlichkeit  ist  mir  bei  fortgesetzter 
und  vertiefter  Beschäftigung  mit  Homer  auch  aus  seinen  Werken  mit  immer  klareren 
Zügen  hervorgetreten,  und  ich  habe  ein  ganz  individuelles  Bild  von  ihm,  ,,Ilias" 
S.  119 — 141,  zu  entwerfen  versucht. 

Andererseits  führte  mich  der  deutsche  Unterricht  in  den  oberen  Klassen  dazu, 
tiefere  Einblicke  in  die  Werkstatt  unserer  Klassiker  zu  tun  und  aus  ihren  Ge- 
sprächen und  Briefen  Aufschluß  über  die  Entstehung  ihrer  Meisterwerke  zu  erhalten; 
ich  fand  zu  meiner  eigenen  Überraschung,  daß  ,, unter  dem  Zwange  der  Kompo- 
sition", um  einen  Ausdruck  A.  Römers  zu  gebrauchen,  sie  Widersprüche  und  Un- 
ebenheiten nicht  vermieden,  ja  sich  ihrer  voll  bewußt  gewesen  waren,  aber  sie  zu- 
gelassen hatten,  „um  eine  höhere  Schönheit  zu  erreichen".  Dadurch  fiel  für  mich 
Licht  auf  die  Komposition  der  homerischen  Gedichte;  eine  große  Anzahl  Anstöße 
der  Dichtung,  die  von  der  Kritik  aufgedeckt  sind,  erklärte  sich  auf  diese  Weise 
durchaus  einfach  und  natürlich.  Ich  habe  meine  Gedanken  darüber  in  einem  Pro- 
gramm (1894)  auseinandergesetzt  und  seitdem  immer  wieder  in  den  Jahresberichten 
auf  andere  Fälle  hingewiesen.  Seitdem  sind  schon  mehrere  vortreffliche  Arbeiten 
über  die  'Technik'  in  den  homerischen  Gesängen  erschienen,  welche  uns  ein  tieferes 
Verständnis  homerischer  Kunst  gebracht  haben.  Zweifellos  gehören  auch  solche 
Untersuchungen  zur  'Homerkritik',  und  es  ist  ein  Mangel  des  Cauerschen  Aufsatzes, 
daß  er  unter  'Homerkritik'  allein  die  'auflösende'  oder  'negative'  versteht  —  die 
Engländer  sprechen  von  'dissecters'  und  die  Franzosen  neuerdings  auch  von 
'dissecteurs'  —  und  nicht  auch  die  'ästhetische'  oder  'positive*  bei  der  Frage: 
„Soll  die  Homerkritik  abdanken?"  behandelt. 

Damit  komme  ich  zum  schwersten  Vorwurf,  den  ich  gegen  Cauer  wegen  der 
Besprechung  meines  Buches  erheben  muß.   Mein  Buch  ist  veranlaßt  worden  durch 


234  C.  Rothe, 

die  seit  Veröffentlichung  meines  Programms  immer  wieder  an  mich  gerichteten 
Aufforderungen  von  Kollegen,  die  Homer  zu  erklären  hatten,  einmal  die  ganze 
Ilias  und  Odyssee  so  zu  behandeln,  wie  in  jenem  Programm  und  in  meinen  Jahres- 
berichten einzelne  Stellen  erklärt  waren.  Ich  bin  sehr  zögernd  an  die 
Aufgabe  gegangen;  denn  ich  war  mir  über  ihre  Schwierigkeit  vollkommen  klar. 
Aber  meine  Mühe,  und  sie  ist  nicht  gering  gewesen,  ist  reichlich  belohnt  worden 
durch  die  Anerkennung,  ja,  den  warmen  Dank,  den  meine  Arbeit  gerade  in  den 
Kreisen  gefunden  hat,  die  ich  bei  der  Abfassung  in  erster  Linie  im  Auge  hatte. 
Ich  kann  die  Leser  dieser  Monatschrift  auf  die  Besprechung  E.  Grünwalds  (S.llO — 1 1 1 
dieses  Jahrganges)  hinweisen,  mit  der  im  wesentlichen  die  bisher  erschienenen  (18) 
öffentlichen  Kritiken  des  In-  und  Auslandes  übereinstimmen,  selbst  solche,  die 
Einsprüche  erheben  gegen  meine  Stellung  zu  der  herrschenden  Homerkritik,  wie 
z.  B.  Hennings  Berl.  phil.  Wochenschrift  1911,  Sp.  449—450.  Von  den  vielen  Zu- 
schriften aber,  die  ich  zum  Teil  von  mir  ganz  unbekannten  Fachgenossen  erhalten 
habe,  will  ich  —  man  möge  es  mir  nicht  übel  deuten  —  wenigstens  eine  Steile  an- 
führen, weil  sie  am  schärfsten  den  Punkt  bezeichnet,  auf  den  ich  den  höchsten  Wert 
gelegt  habe.  Die  Stelle  stammt  aus  dem  Briefe  eines  Gymnasialdirektors,  den  ich 
bis  dahin,  wie  ich  ausdrücklich  bemerken  muß,  nicht  kannte:  „Ihr  vortreffliches 
Buch  'Die  Ilias  als  Dichtung'  habe  ich  nicht  nur  selbst  mit  größtem  Interesse  gelesen, 
sondern  auch  mit  bestem  Erfolge  im  Unterrichte  verwertet.  Ich  bin  ihnen  für  diese 
schöne  Gabe  aufrichtig  dankbar  ....  (ich)  sehe  bei  der  Schulinterpretation,  daß 
den  Primanern  die  Ilias  jetzt,  wo  sie  überall  auf  Zweck  und 
Kunstmittel  des  einen  großen  Dichters  hingewiesen  werden,  ein  ganz 
anderes  Interesse  erregt  als  früher,  wo  sie  auf  Widersprüche  und  Un- 
ebenheiten hingewiesen  wurden."  Das  ist  wirklich  der  schönste  Lohn  meiner  Arbeit. 
Wie  verhält  sich  dazu  Cauer?  Von  dem  Hauptinhalt  meines  Buches,  von 
dem  eben  bezeichneten,  von  allen  anderen  erkannten  Zweck  —  schweigt  er 
vollständig,  ja  noch  schlimmer,  er  stellt  mich  geradezu  auf  den  vorwolf- 
fischen  Standpunkt  (S.  109  Mitte,  ich  komme  darauf  im  Jahresb.  zurück),  obwohl, 
ich  in  meinem  ganzen  Buche  gerade  die  kritiklose  Würdigung  Homers  bekämpfe 
und  namentlich  im  Anschluß  an  Jacob  Grimm  davor  warne,  in  Homer  einen  '  Ideal- 
dichter' zu  sehen,  den  es  nie  gegeben  habe;  endlich  aber  faßt  Cauer  sein  Urteil  über 
mein  Buch  (S.  102 — 103)  so  zusammen:  „Rothe  rechnet  sie  (die  xoXo?  jxaxTj)  nicht 
nur  nicht  zu  den  jüngsten,  sondern  zu  den  älteren  Teilen  der  Ilias,  vor  17,  wahr- 
scheinlich auch  vor  A  gedichtet  (S.  226  f.).  Wer  so  urteilt,  in  diesem  und  manchem 
ähnlichen  Falle,  stellt  sich  eigentlich  außerhalb  der  Wissen- 
schaft. Trotzdem  könnte  er .  .  .  nicht  nur  die  Einzelerklärung  fördern,  sondern 
auch,  für  solche  Leser,  die  sich  ungestört  an  dem  Kunstwerk  erfreuen  wollen,  eine 
gerundete  und  wohltuende  Gesamtanschauung  bieten.  Aber  dieses  Zweite 
jedenfalls  hat  Rothe  nicht  erreich  t."  Man  dürfte  leicht  in  dem 
'jedenfalls'  des  letzten  Satzes  einen  hohen  Grad  von  Anmaßung  finden;  es  handelt 
sich  doch  hier  um  ein  rein  subjektives  Urteil,  und  da  darf  doch  Cauer  nur  für  sich, 
nicht  aber  für  alle  sprechen.  Tatsächlich  steht  auch  dieses  Urteil  in  auffallendem 
Gegensatze  zu  allen  Urteilen,  die  über  das  Buch  ausgesprochen  sind.  Es  wird  nicht 
nur  in  der  öffentlichen  Kritik,  sondern  auch  in  Zuschriften  besonders  hervorgehoben. 


Soll  die  Homerkritik  abdanken?  235 

daß  es  eine  „Freude  ist,  das  Buch  zu  lesen",  selbst  von  Ausländern.  So  nennt  es 
Miß  Stawell  (Journ.  of  Hellen.  Stud.  1911  p.  126):  „most  delightful  and  instruc- 
iive*\  und  Musee  beige  1911  p.  186—187  sagt  A.  Gregoire:  „Encore  un  livre  qui 
satisfera  les  admirateurs  d' Homere,  ceux  que  genent  dans  leurs  jouissances  esthiti- 
^ues  ,  .  .  les  temirites  impertinentes  des  diascevastes  modernes  ...  Onressent 
beaucoup  de  p  lai  sir  ä  lir  e  le  livre  de  M.  Rothe/'  Cauer  hat  nicht  selten 
in  seinen  Kritiken  darüber  gespottet,  daß,  je  unsicherer  eine  Sache  sei,  um  so  zu- 
versichtlicher die  Worte  von  Homerforschern  („bekanntlich",  „sicher  ist")  seien. 
Sollte  er  nicht  hier  mit  seinem  'jedenfalls'  sich  in  gleicher  Lage  befinden? 

Wenn  mit  diesem  Urteil  Cauer  so  ziemlich  allein  stehen  dürfte,  so  liegt  die 
Sache  anders  mit  dem  Vorwurf  der  'Unwissenschaftlichkeit'.  Cauer  spricht  hier 
zunächst  das  Urteil  Mülders  über  die 'Unitarier' nach  (vgl.  Jahresb.  1907,  S.  294  u.ff.), 
und  zweifellos  hat  er  noch  eine  ganze  Zahl  Gesinnungsgenossen,  die  die  Krone 
philologischer  'Wissenschaft'  nur  im  Aufstellen  kühner  Vermutungen  {'temirites 
impertinentes')  sehen  und  sie  durch  fünf  oder  noch  mehr  Gründe  zu  stützen  suchen, 
um  durch  die  Zahl  zu  wirken,  da  jeder  einzelne  anfechtbar  ist  ('10  schlechte  Gründe', 
pflegte  Moritz  Haupt  zu  sagen,  'machen  noch  lange  keinen  wirklichen').  Indes  zu 
denken  gibt  doch  zunächst  die  Ansicht  A.  van  Genneps,  der  (Mercure  de  France  1912 
p.  154)  am  Schluß  einer  in  jeder  Beziehung  zustimmenden  Besprechung  meines 
Buches  bemerkt:  ,,//  serait  bon  d'en  piiblier  une  traduction  frangaise  pour  les  pro- 
fesseurs  de  nos  lycees  et  les  etudiants  de  nos  universites.  (v.  G.  hat  selbst  ein  Buch 
La  question  d'Homere  Paris  1909  herausgegeben!)  lls  verraient  que  la  vraie 
sei  e  nee  alle  mande  (so !)  n'est  nullement  caracterisee  par  l'abus  de  l'erudition, 
Vhorreur  des  idees  generales  et  la  lour  dem  du  raisonnement.  Ces  defauts  se  rencon- 
trent,  certes,  aussi  dans  la  science  en  Allemagne  .  .  .  mais  ils  ne  sont  pas  germani- 
ques  .  .  . ;  ils  sont  la  transposition  ä  la  science  moderne  des  procedes  scolastiques,  eux- 
memes  d'origine  Orientale,  et  plus  precisement  palestinienne/'  Der  Artikel  ist  Anfang 
März  dieses  Jahres  erschienen,  Cauers  Kritik  im  Februar;  es  wäre  interessant  zu 
wissen,  ob  er  eine  Antwort  auf  Cauers  vernichtendes  Urteil  sein  sollte.  Die  Ansicht 
über  die  'wahre  deutsche  Wissenschaft'  ist  bezeichnend;  sie  rief  mir  ein  Urteil  zu- 
rück, das  ein  von  mir  hochgeschätzter  Mann  mir  als  ersten  Eindruck  meines  Buches 
schrieb:  ,,Ihr  Buch  ist  eine  Tat,  sie  war  notwendig,  wenn  nicht  die  deutsche 
Wissenschaft  durch  die  Behandlung  der  'Homerischen  Frage'  im  Auslande  um  alles 
Ansehen  kommen  sollte." 

Und  wie  sieht  denn  sonst  das  Urteil  über  die  Wissenschaftlichkeit  meines 
Buches  aus?  Ich  will  nur  einige  Männer  anführen,  die  Cauer,  selbst  in  seiner  jetzigen 
Stellung,  wird  anerkennen  müssen.  Ein  deutscher  Universitätsprofessor,  D  r  e  r  u  p 
in  München,  den  ich  persönlich  bis  dahin  nicht  kannte,  hat  die  letzte  entscheidende 
Anregung  zur  Abfassung  des  Buches  gegeben  und  nach  dem  Erscheinen  mir  seine 
freudige  Zustimmung  ausgesprochen.  Gewidmet  ist  das  Buch  V  a  h  1  e  n  ,  dem 
Nestor  unter  den  deutschen  Philologen,  und  er  hat  die  Widmung  nicht  nur 'an- 
genommen, sondern,  nachdem  er  das  Buch  gelesen,  mir  ausdrücklich  erklärt,  daß 
er  'die  von  mir  angewandte  Methode  der  Untersuchung  für  wissenschaftlich  aliein 
berechtigt  halte'  —  und  das  ist  nicht  wunderbar,  da  ich  ja  wirklich  nur  seine  Grund- 
sätze der  Kritik  (ich  bin  sein  Schüler)  angewandt  habe.    J.  van  L  e  e  u  w  e  n  , 


236  H.  Weber, 

Professor  an  der  altberühmten  Universität  Leiden,  bringt  mir  am  Schluß  einer  äußerst 
liebenswürdigen  Besprechung  (Museum  1911,  p.  323)  'een  eeresaluut'  für  meinen 
mutigen  Kampf  dar  und  fährt  dann  fort:  'Zijn  uitnemend  werk  was  inderdaaä 
waardig  aan  den  grijzen  Vahlen  als  eeregave  fe  worden  opgedragen  op  diens  tachtigsten 
verjaardag'.  J.  A.  Scott,  Professor  an  der  Northwestern  Universität  (Evan- 
stone)  in  N.-Amerika  schließt  seine  unbedingt  zustimmende  Rezension  mit  den 
Worten  (The  class.  Weekly  1911,  p.  134 — 135):  'he  has  written  a  safe  giiide  for 
all  Homeric  students.  In  my  judgment  this  is  t  he  best  fruit  of  H  omeric 
s  cholar  shi  p  and  no  other  book  on  Homer  is  so  indispensable.'  Endlich  be- 
merkt Nie.  F  e  s  t  a ,  Professor  an  der  Universität  Rom,  am  Anfange  des  Auf- 
satzes Dalla  'questione  omerica'  al  poeta  Omero  (La  Cultura  1911,  No.  10):  „Carl 
Rothe,  Die  Ilias'als  Dichtung,  e  l'opera  piü  ragguardevole  di  questi  Ultimi  tempi  in- 
torno  alla  questione  omerica.''  Es  wäre  schlimm  um  die  Wissenschaft  bestellt,, 
wenn  ihre  Hauptvertreter  so  über  die  Arbeit  eines  Mannes  urteilten,  der,  wie  Cauer 
schreibt,  sich  „eigentlich  außerhalb  der  Wissenschaft  stellt'*.    Doch  nun  Schluß. 

Ich  habe  Cauer  stets  hochgeschätzt,  ja  zeitweilig  geglaubt,  ihm  etwas  näher 
zu  stehen,  da  wir  beide  gleichzeitig  zu  den  Füßen  unseres  Meisters  Kirchhoff  ge- 
sessen haben  und  seit  dieser  Zeit  durch  unsere  Homerarbeiten  in  einer  gewissen  Ver- 
bindung geblieben  sind;  aber  er  wird  es  mir  nicht  übel  nehmen,  daß  ich  trotz  seiner 
hohen  Stellung  sein  Urteil  über  mein  Buch  sehr  niedrig  einschätze  und  den  Ton 
seiner  Worte  ebenso  unbegreiflich  finde  wie  die  Entstellung  des  Sinnes,  ja  des 
Wortlautes  meiner  Ausführung.  Denn  es  kennt  wohl  keiner  besser  als  Cauer 
meine  und  ich  seine  Ansicht. 

Friedenau.  Carl   Rothe. 


Der  Unterricht  in  der  älteren  deutschen  Geschichte  im  Dienste 
der  staatsbürgerlichen  Erziehung.*) 

Die  Ansicht,  es  fehle  dem  deutschen  Volke  noch  sehr  an  der  nötigen  staats- 
bürgerlichen Erziehung,  verbreitet  sich  in  immer  weitere  Kreise;  Politiker  aller 
Parteien  sind  darüber  einig.  Ich  möchte  jedenfalls  nicht  wie  Gymnasialdirektor 
Prahl  in  Prenzlau  in  einem  lesenswerten  Aufsatz  der  „Preußischen  Jahrbücher"**) 
die  staatsbürgerliche  Erziehung  kurzweg  für  eine  „Zeitphrase"  erklären.  Sein 
Satz:  „Die  Angst  vor  der  Sozialdemokratie  ist  die  Mutter  der  staatsbürgerlichen 
Erziehung"  scheint  mir  einseitig;  er  trifft  allenfalls  für  die  ersten  Anfänge  der  Be- 
wegung, die  auf  Einführung  einer  besseren  Heranbildung  der  Jugend  in  jener  Richtung 
abzielt,  zu;  indessen  hat  sich  jene  Bewegung  denn  doch  seitdem  wesentlich  vertieft 
und  erweitert. 

Wie  ich  über  die  prinzipiellen  Fragen  denke,  habe  ich  in  einem  Aufsatz  der 
„Monatschrift  für  höhereSchulen"***)  dargetan,  auf  den  ich  im  wesentlichen  verweisen 

*)  Vortrag,  gehalten  auf  der  51.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schul- 
männer in  Posen  1911. 

♦*)  „Staatsbürgerliche  Erziehung  und  die  Schule."    April  1911.     S.  1—14. 
♦**)    „Staatsbürgerliche    Erziehung    und    Bürgerkunde."       März- Aprilheft.      191k 
S.  141—153. 


Der  Unterricht  in  der  älteren  deutsciien  Geschichte  usw.  237 

muß.  Danach  besteht  die  bessere  staatsbürgerliche  Erziehung,  deren  das  deutsche 
Volk  bei  den  schweren  seine  Zukunft  bedrohenden  Gefahren  dringend  bedarf, 
nicht  nur  in  der  Verbreitung  besserer  Kenntnisse  und  tieferer  Einsicht  in  diese 
Gefahren,  sondern  auch,  und  zwar  noch  viel  mehr,  in  der  Erweckung  lebhafteren 
Interesses  und  Pflichtgefühls  gegenüber  den  staatsbürgerlichen  Aufgaben.  Man 
darf  den  Einfluß  der  Schulen  hierauf  nicht  überschätzen;  doch  haben  sie,  nament- 
lich auch  die  höheren,  immerhin  in  beiden  Richtungen  noch  mehr  zu  leisten,  als 
sie  schon  immer  geleistet  haben.  Ein  Mittel  zu  diesem  Zwecke  ist  die  Unterweisung 
in  der  sogenannten  „Bürgerkunde*',  die  meist  ganz  vorwiegend  als  Kenntnis  der 
rechtlichen,  besonders  staatsrechtlichen,  und  der  nationalökonomischen  Grund- 
begriffe und  Haupttatsachen  aufgefaßt  wird ;  richtiger  wäre  es,  den  Begriff  uni- 
verseller zu  fassen:  Bürgerkunde  ist  die  Kenntnis  alles  dessen, was  ein  Staatsbürger 
von  den  Lebensfragen  seines  Volkes  wissen  sollte  und  müßte.  Die  Einführung  der 
Bürgerkunde  in  dem  üblichen  Sinne  ist  weder  erforderlich  noch  wünschenswert, 
auch  nicht  die  Ansetzung  besonderer  Lehrstunden  für  sie;  doch  könnte  vielleicht 
die  Vermehrung  der  Geschichtstunden  in  Oberprima  um  eine  in  Erwägung 
gezogen  werden,  für  die  etwa  eine  Gesangstunde  fortfallen  könnte.  Denn  wenn 
auch  sämtliche  Lehrfächer  dem  Zwecke  der  staatsbürgerlichen  Erziehung  dienstbar 
zu  machen  sind,  so  doch  in  erster  Linie  der  Unterricht  in  der  Geschichte. 

Ich  freue  mich,  mich  in  den  allgemeinen  Grundfragen  in  Übereinstimmung 
mit  Prahl,  mit  H.  Wolf,  mit  Fr.  Neubauer,  vor  allem  auch  mit  A.  Matthias  zu 
befinden. 

Als  Grundirrtum  bezeichnet  z.  B.  Prahl  mit  Recht  den,  „bloßes  Wissen  müsse 
auf  die  Gesinnung  wirken"  (S.  4).  „Beibringen  von  Kenntnissen  ist  niemals  Er- 
ziehung; ein  Unterricht  in  der  Bürgerkunde  ist  noch  keine  Erziehung  zum  Staats- 
bürger'' (S.  6).  H.  Wolf  weist  im  Vorwort  seines  beachtenswerten  Buches  „An- 
gewandte Geschichte"*)  mit  Recht  „die  wunderbare  Auffassung"  zurück,  „die 
Schule  müsse  die  jungen  Leute  in  a  1 1  e  Einzelheiten  unserer  Heeres-,  Verwaltungs-, 
Gerichts-,  Polizei-  und  Schulorganisation,  in  das  Finanzwesen  und  die  Sozial- 
gesetze usw.  einführen.  Das  würde  eine  unerträgliche  Überbürdung  sein,  dazu 
unglaublich  langweilig.  Soll  denn  für  das  spätere  Leben  nichts  zum  Lernen  übrig 
bleiben?"  (Vorwort  S.  V,  Anmerkung.)  Der  Titel  seines  Werkes  soll  bedeuten, 
daß  überall  mit  Bewußtsein  Gegenwart  und  Vergangenheit  in  Verbindung  gebracht 
wird  .  .  .  „Vor  allem  müssen  wir  den  Mut  haben,  für  die  wichtigen  Fragen 
unserer  Zeit  aus  der  Vergangenheit  zu  lernen,  Folgerungen  und  Forderungen 
zu  ziehen."  Dies  versucht  Wolf  in  der  universellen  Weise,  auf  die  ich  den  größten 
Wert  lege. 

Aus  den  Darlegungen  von  A.  Matthias  in  der  „Internationalen  Wochenschrift 
für  Wissenschaft,  Kunst  und  Technik"*)  möchte  ich  hier  besonders  die  vielfach 
immer  noch  nicht  genug  beachtete  scharfe  Unterscheidung  der  Worte  „Bürger- 
kunde" und  „staatsbürgerliche  Erziehung"  hervorheben.  „Bei  Bürgerkunde 
handelt  es  sich  um  ein  Wissen  ...    Die  staatsbürgerliche  Erziehung  ist  ein  viel 

*)  Prof.  Dr.  Heinrich  Wolf  „Angewandte  Geschichte.  Eine  Erziehung  zum  po- 
litischen  Denken  und  Wollen".     Leipzig  1910. 

**)  „Bürgerkunde  und  staatsbürgerliche  Erziehung."  5.  Jahrgang.   1911.  No.  1,  2,  3. 


238  H.  Weber, 

weiterer  Begriff;  sie  ist  Charakter-  und  Willensbildung  .  .  .  ., 
Schärfung  des  sozialen  und  nationalen  Gewissens...'* 
Die  Schule  hat,  „damit  Btirgerkunde  nicht  zu  Spießbürgerkunde  werde,  jenes 
Wissen  vom  Staat,  das  der  Bürgerkunde  gilt,  umzusetzen  in  ethische  Werte,  die 
das  Gewissen  schärfen,  den  Willen  kräftigen  und  den  Mut  festigen"  (S.  86).  Es 
gilt,  „die  großen  Männer  und  die  großen  Ideen  der  Vergangenheit  als  die  besten 
treibenden  Kräfte  aller  Bürgertugenden  darzustellen".  Die  Einführung  einer 
systematischen  Bürgerkunde  nach  Lehrbüchern,  wie  in  Frankreich  Paul  Berts 
„Instruction  civique  ä  l'ecole"  ,, brächte  ödeste  Langeweile  oder  oberflächliche 
Phrasen  macherei"  (S.  83). 

Ob  es  wünschenswert  und  möglich  wäre,  dem  Geschichtsunterricht  für  seine 
neue  Aufgabe  eine  größere  Stundenzahl  einzuräumen? 

Die  meisten,  die  sich  zu  dieser  Frage  geäußert  haben,  sind,  soweit  ich  sehe,, 
nicht  dieser  Meinung.  Ich  stimme  mit  diesen  darin  überein,  daß  weder  ein  wissen- 
schaftliches Lehrfach  zugunsten  des  Geschichtsunterrichts  verkürzt,  noch  die  Zahl 
der  Schulstunden  erhöht  werden  sollte,  halte  aber,  wie  schon  erwähnt,  die  Frage 
für  erwägenswert,  ob  es  nicht  anginge,  die  Zahl  der  Geschichtstunden  in  Ober- 
prima um  e  i  n  e  zu  vermehren,  wogegen  etwa  eine  Gesangstunde  in  dieser  Klasse 
ausfiele;  man  würde  dann  das  recht  umfangreiche  Pensum  der  Unterprima  ent- 
lasten können,  indem  man  etwa  die  Reformationsgeschichte,  ganz  oder  voa 
1555  an,  nach  Oberprima  hinübernähme  und  so  mehr  Zeit  für  die  ältere  deutsche 
Geschichte  gewönne,  während  doch  auch  die  neuere  noch  etwas  eingehender  behandelt 
werden  könnte.  Ein  so  sachkundiger  Beurteiler  wie  Friedrich  Neubauer*)  beantwortet 
die  Frage,  ob  der  Geschichtsunterricht,  so  wie  er  heute,  wenigstens  in  Preußen, 
organisiert  ist,  alles  das  leisten  könne,  was  zu  wünschen  wäre,  mit  einem  ent- 
schiedenen Nein.  Schon  jetzt  könne  das  Lehrfach  nur  mit  Mühe  das  Pensum 
bewältigen;  kaum  ein  anderes  Lehrfach  müsse  so  mit  der  Minute  rechnen,  so  alle 
Nerven  anspannen;  eine  neue  Belastung  —  durch  systematische  Zusammenfassung 
des  bürgerkundlichen  Lehrstoffes  am  Schluß  des  Kursus,  wie  er  sie  vorschlägt  — 
könne  der  Unterricht  der  Oberprima  „kaum  ertragen"  (S.  29).  Die  von  Neubauer 
empfohlenen  Mittel  der  Abhilfe,  wie  z.  B.  eine  Änderung  des  Verfahrens  bei  der 
Reifeprüfung,  würden  nach  ihm  selbst  nur  „einigermaßen  der  jetzigen  Not  ab- 
helfen". —  In  der  Tat,  die  Not  ist  groß  und  zwingt,  auf  Hilfe  zu  denken! 

In  welcher  Weise  können  nun  die  drei  Perioden,  in  die  man  herkömmlich 
die  Geschichte  einteilt,  im  Unterricht  dem  Zwecke  der  staatsbürgerlichen  Er- 
ziehung dienstbar  gemacht  werden? 

Wie  die  historischen  Grundbegriffe  bei  den  einfacheren  Verhältnissen  der 
antiken  Welt  den  Schülern,  schon  in  Quarta,  besonders  leicht  klar  gemacht  werden 
können  und  daher  die  alte  Geschichte  besonders  fruchtbar  für  jenen  Zweck  gemacht 
werden  kann,  ist  oft,  besonders  gut  von  Oskar  Jäger,  dargelegt  worden.  Die  neuere 
und^^neueste  deutsche,  besonders  die  brandenburgisch-preußische  Geschichte  steht 
uns  so  nahe  und  wir  leben  so  in  ihren  Ergebnissen,  daß  es  verhältnismäßig  leicht 
ist,  Interesse  und  Verständnis  für  sie  bei  den  Schülern  zu  erwecken  und  die  An- 


0  „Die  höheren  Schulen  und  die  staatsbürgerliche  Erziehung."     1911 


Der  Unterricht  in  der  älteren  deutschen  Geschichte  usw.  239 

Wendung  auf  die  Gegenwart  zu  finden;  weniger  günstig  scheint  es  um  die  ältere 
deutsche  Geschichte  zu  stehen.  „Das  griechische  und  römische  Altertum  tritt** 
—  wie  sich  Matthias  ausdrückt  —  „in  den  Vordergrund,  weil  gerade  dort  eine 
Propädeutik  der  Bürgerkunde  ist,  wie  sie  nicht  besser  erfunden  werden  könnte, 
wenn  sie  nicht  vorhanden  wäre;  das  Mittelalter  tritt  zurück,  und  erst  die  neuere 
Zeit  bietet  wieder  reichere  Erträgnisse  für  staatskundliche  Anregungen  und  Be- 
lehrungen" (a.  a.  0.,  S.  23). 

In  der  Tat  ist  dem  modernen  Menschen  nicht  nur  die  neueste  Zeit,  in  der 
er  selbst  lebt  und  in  die  die  Erinnerung  an  seine  nächsten  Vorfahren  zurückführt, 
und  die  „neuere  Zeit"  in  dem  üblichen  Sinne  des  Wortes,  sondern  auch  die  Zeit 
des  klassischen  Altertums  in  wichtigen  Beziehungen  leichter  verständlich,  liegt 
ihm  innerlich  näher,  als  die  dazwischen  liegende  Zeit.  Zwar  haben  wir  in  dem 
deutschen  Bauernstande,  wo  er  sich  noch  unberührt  erhalten  hat,  noch  einen  hoch- 
wichtigen Rest  des  alten  deutschen  Menschentums  lebend  um  uns;  dennoch  wird 
es  dem  heutigen  Gebildeten  —  dem  protestantischen  vielleicht  noch  mehr  als  dem 
der  römischen  Kirche  angehörigen  —  überaus  schwer,  sich  in  die  Zustände,  nament- 
lich die  seelischen  Zustände,  des  deutschen  heidnischen  Altertums,  und  vielleicht 
noch  schwerer,  sich  in  die  des  christlich  gewordenen  deutschen  Mittelalters  hinein 
zu  versetzen.  Mönchswesen  und  Rittertum,  die  beiden  historischen  Gebilde,  in 
denen  sich  der  Geist  des  Mittelalters  nach  den  beiden  Richtungen  der  asketischea 
Weltverneinung  und  der  freudigen  Weltbejahung  am  eigentümlichsten  und  groß- 
artigsten verkörpert  hat,  sind  uns  fremdartiger  und  weniger  verständlich  nicht 
nur  als  die  uns  umgebenden  geschichtlichen  Gestaltungen,  sondern  auch  als  die 
des  griechischen  und  römischen  Altertums. 

Andererseits  aber  beruht  ja  unser  heutiges  Volkstum  auf  dem  früheren  und 
sind  unsere  heutigen  Zustände,  wie  tief  auch  der  Bruch  mit  der  Vergangenheit 
einschneidet,  ohne  Einsicht  in  jenes  gar  nicht  zu  verstehen.  Selbst  das  Lehnswesen 
des  Mittelalters,  das  uns  so  seltsam  anmutet^  lebt  noch  in  immerhin  nicht  ganz 
unbeträchtlichen  Resten  fort;  die  Entwicklung  des  modernen  Staates,  erst  der 
absoluten,  dann  der  konstitutionellen  Monarchie,  läßt  sich  nur  auf  dem  Hinter- 
grund des  Feudalstaates,  aus  dem  er  herausgeführt  hat,  begreifen.  Und  wer  wollte 
sich  von  den  kirchlichen  Verhältnissen  der  Gegenwart  eine  angemessene  Vor- 
stellung bilden  ohne  genauere  Kenntnis  der  mittelalterlichen  Kirche?  Aber  auch 
noch  in  allen  möglichen  anderen  Beziehungen  weist  die  ältere  deutsche  Geschichte 
auf  die  moderne  hin  und  begründet  die  Einsicht  in  sie  ein  tieferes  Verständnis 
für  die  neuere  Zeit.  Wenn  also  auch  das  Mittelalter  zurücktritt,  so  scheint  mir  doch, 
als  ob  es  keineswegs  arm  sei  an  Erträgnissen  für  staatskundliche  Anregungen 
und  Belehrungen. 

Ich  verstehe  unter  der  älteren  deutschen  Geschichte,  über  deren  Ergiebigkeit 
für  die  staatsbürgerliche  Erziehung  ich  zu  sprechen  beabsichtige,  den  ganzen 
Zeitraum  von  der  germanischen  Urzeit  bis  zum  Ende  des  Dreißigjährigen  Krieges^ 
also  das  deutsche  Altertum,  das  deutsche  Mittelalter  und  den  ersten  Abschnitt 
der  sogenannten  „Neueren  Geschichte".  Prinzipiell  mag  das  „Mittelalter"  in 
Deutschland  und  anderswo  mit  dem  Auftreten  Luthers  gegen  die  Universalkirche  zu 
Ende  sein,  tatsächlich  endet  es  doch  eigentlich  erst  mit  dem  Jahre  1648.    In  dem 


240  H.  Weber, 

grauenvollen  großen  Kriege  ist  das  alte  Deutschland  zugrunde  gegangen;  nach  ihm 
beginnt  das  neue. 

Die  methodische  Forderung,  die  heute  für  die  Behandlung  aller  Geschichts- 
perioden im  Unterricht  gilt,  alles,  was  nur  von  antiquarischem  Interesse  ist,  aus- 
zuschalten, um  für  die  staatsbürgerlichen  Unterweisungen  mehr  Zeit  zu  gewinnen, 
gilt  in  besonderem  Maße  für  jenen  Zeitabschnitt.  Freilich  ist,  was  für  die  eine 
deutsche  Landschaft  nur  antiquarischen  Wert  hat,  vielleicht  für  eine  andere  von  er- 
heblicher Bedeutung.  Wer  z.  B.  in  Thüringen  wohnt,  interessiert  sich  für  die  Wart- 
burg und  alles,  was  Sage  und  Geschichte  vom  eisernen  Landgrafen,  vom  Sängerkrieg 
und  der  heiligen  Elisabeth,  von  Albrecht  dem  Unartigen  und  seiner  Fehde  mit 
seinen  Söhnen  erzählt,  lebhaft,  während  diese  Dinge,  soweit  sie  nicht  etwa  durch 
die  deutsche  Kunst  geweiht  sind,  für  die  Bewohner  anderer  Gegenden  nur  anti- 
quarischen Wert  haben.  Jedenfalls  müssen  wir  Älteren,  die  wir  in  unserer  Jugend 
Giesebrechts  „Geschichte  der  deutschen  Kaiserzeit '*  mit  heißem  Bemühen  studiert 
haben,  uns  daran  gewöhnen,  mit  unbarmherzigem  Messer  sehr  Vieles  aus  dem  Pensum 
auszuschneiden,  dessen  Kenntnis  uns  wohl  früher  unumgänglich  schien.  Die  Per- 
sönlichkeiten der  späteren  deutschen  Karolinger  z.  B.  seit  Ludwig  dem  Frommen 
sind  meist  für  uns  so  schattenhaft,  daß  es  kaum  noch  lohnt,  ihre  Regierungszahlen 
zu  lernen.  Gleiches  gilt  von  den  Namen  der  deutschen  Herzöge,  die  sich  gegen 
Otto  den  Großen  verschwuren,  überhaupt  von  unzähligen  Namen  und  Einzelzügen 
aus  Fehden  und  Kriegen  der  deutschen  Kaiserzeit.  Die  besten  neueren  Lehrbücher, 
wie  z.  B.  die  von  Brettschneider  und  Neubauer,  haben  in  dieser  Hinsicht  einen  guten 
Anfang  gemacht,  werden  freilich  fortab  auch  noch  manches  ausmerzen  müssen.*) 
Gute  Winke  gibt  in  dieser  Beziehung  die  „Deutsche  Geschichte*'  von  Einhart.**) 
Das  Buch  enthält  mancherlei  Irrtümliches  in  Einzelheiten,  auch  dürfte  der  „all- 
deutsche*' Standpunkt  des  Verfassers  nicht  jedem  sympathisch  sein,  aber  es  ist 
jedenfalls  der  große  Zug,  der  Sinn  für  das  Wesentlichste,  der  durch  die  Darstellung 
geht,  zu  rühmen.  Gleiche  Anerkennung  gebührt  dem  schon  oben  erwähnten  Werke 
von  Heinrich  Wolf  „Angewandte  Geschichte".  Es  gilt,  die  großen  Hauptgesichts- 
punkte, die  eine  praktische  Anwendung  auf  die  Gegenwart  enthalten,  recht  heraus- 
zuarbeiten und  den  Schülern  so  einzuprägen,  daß  sie  ihnen  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gehen. 

Ich  muß  mich  bei  der  Kürze  der  Zeit,  die  mir  zur  Verfügung  steht,  darauf 
beschränken,  eine  Anzahl  solcher  wichtiger  Gesichtspunkte,  die  vielleicht  zum  Teil 
noch  nicht  allgemein  die  wünschenswerte  Berücksichtigung  im  Unterrichte  finden, 
andeutungsweise  hervorzuheben. 

Schon  der  erste  Zusammenstoß  der  Germanen  mit  den  Römern,  die  Kimbern- 
schlacht bei  Noreja,  bietet  Gelegenheit,  auf  eine  der  schätzenswertesten  Eigen- 
tümlichkeiten deutscher  Art  aufmerksam  zu  machen,  den  ,yfuror  teutonicus'\  Diese 
„deutsche  Wut",  die  uns  zu  befallen  pflegt,  wenn  wir  durch  tückische  Hinterlist 


*)  Übrigens  führt  Neubauer  in  seiner  Schrift  „Die  höheren  Schulen  und  die  staats- 
bürgerliche Erziehung"  1911  treffend  aus,  daß  man  dabei  doch  auch  nicht  zu  weit  gehen 
darf,  ohne  das  Interesse  am  Unterricht  zu  vermindern,  und  daß  durch  Streichungen  im 
Lehrstoff  aliein  die  Zeit,  die  nötig  wäre,  kaum  gewonnen  werden  kann.    (S.  26 — 28.) 
♦*)  Leipzig.     1909.    2.  Auflage.    426  Seiten. 


Der  Unterricht  in  der  älteren  deutschen  Geschichte  usw.  241 

oder  freche  Nichtachtung  aus  unserm  Gleichmut  aufgescheucht  werden,  zeigt, 
daß  wir  trotz  aller  angeborenen  Gutmütigkeit  eins  der  leidenschaftlichsten  Völker 
sind,  und  wie  albern  das  früher  übliche  Zerrbild  des  , »deutschen  Michels"  mit  der 
Zipfelmütze  ist.  Die  letzte  gewaltige  Entladung  der  ,, deutschen  Wut",  die  unseren 
Feinden  durch  alle  Jahrhunderte  hindurch  furchtbar  gewesen  ist,  fand  1870  gegen 
Frankreich  statt;  dies  sollte  sofort  erwähnt  werden. 

Das  planlose  Hin-  und  Herziehen  der  Kimbern  und  Teutonen,  ehe  sie  ihr  eigent- 
liches Hauptziel,  Italien,  aufsuchen,  und  daß  sie  gegen  dieses  erst  aufbrechen, 
als  die  rechte  Zeit  und  Gelegenheit  vorüber  ist,  bietet  gleich  im  Anfang  der  deut- 
schen Geschichte  Anlaß,  auf  das  Tragische  in  dieser  hinzuweisen  —  man  kann  sie 
ja  geradezu  in""gevvisser  Hinsicht  als  eine  Geschichte  der  versäumten  Gelegenheiten 
darstellen !  —  sowie  auf  die  eigentümliche  politische  Unfähigkeit,  die  leider  ein  Grund- 
zug unseres  Wesens  ist.  Diese  zeigt  sich  besonders  auch  in  der  Feindseligkeit  der 
deutschen  Stämme  gegeneinander,  dem  mangelnden  Gefühl  für  die  Zusammen- 
gehörigkeit. Schon  Tiberius  hat  diesen  urwüchsigen  Par'ikularismus  zu  unserem 
Verderben  benutzt.  Indem  er  die  Stämme  gegeneinander  hetzte  und  in  sie  selbst 
mitten  hinein  Feindschaft  einer  romfreundlichen  gegen  eine  romfeindliche,  nationale 
Partei  trug,  hat  er  die  schlaue  Politik  begonnen,  die  später  am  großartigsten 
und  erfolgreichsten  von  Ludwig  XIV.  und  Napoleon  1.  fortgesetzt  worden  ist. 
Arminius  und  Segest  sind  Typen  der  deutschen  Geschichte  bis  in  die  neueste 
Zeit  hinein. 

Dieser  politische  Partikularismus,  unser  Unglück,  ist  die  Folge  derselben 
Grundeigentümlichkeit  deutschen  Wesens,  die  auf  dem  Gebiete  der  geistigen 
Tätigkeit,  der  Kultur  im  weitesten  Sinne,  gerade  unser  Charisma  ist,  des  trotzigen 
Selbständigkeitssinnes,  des  Individualismus;  daher  die  Deutschen  nächst  den 
geistesverwandten  Griechen  das  genialste  Volk  auf  dem  Gebiete  von  Wissenschaft 
und  Kunst;  daher  bei  uns  die  Reformation  Luthers,  bei  dem  „Volke  geborener 
Ketzer",  wie  uns  Treitschke  zu  nennen  liebte,  auch  unsere  bei  der  römischen  Kirche 
verbliebenen  Volksgenossen  darin  einbegreifend!  —  Der  Romane  der  Herden- 
mensch, durch  große  Führer  leicht  zu  großen,  gemeinsamen  Leistungen  fortzu- 
reißen, der  Germane,  besonders  der  Deutsche,  der  Einzelmensch,  sehr  schwer  zu 
großem  gemeinsamen  Tun  mit  anderen  zusammenzubringen !  Hier  das  Tragische 
im  Tode  Armins,  den  seine  Sippe  erschlug,  da  er  ,,regnum  affectans''  seine  Cherusker 
und  andere  Stämme  zum  Kampfe  gegen  das  römische  Weltreich  zusammen- 
schließen wollte!  —  Also  aller  Segen  und  aller  Fluch  der  deutschen  Geschichte 
von  der  Urzeit  bis  auf  unsere  Tage  aus  derselben   Quelle! 

Die  deutsche  Treue  —  ipsi  fidem  vocant  — ,  wenn  einmal  der  Mann  sein  Wort 
gegeben  hat,  gegen  den  Fremden  zum  Schaden  des  eigenen  Volkstums!  Flavus 
gegen  den  Bruder  Armin,  Stilicho  gegen  Alarich  und  Radagais,  und  alle  die  ger- 
manischen Feldherren  und  Staatsmänner,  die  das  römische  Reich  gegen  den  An- 
sturm ihrer  eigenen  Volksgenossen  geschützt  haben !  Die  bärenstarken  Germanen 
der  Leibwache,  denen  die  römischen  Cäsaren  sich  lieber  anvertrauten  als  römischen 
Kriegern !  So  bis  auf  die  neueste  Zeit  der  Rheinbündler,  die  begeistert  Napoleon  I. 
umjubelten!  Noch  1866  standen  deutsche  nächste  Blutsverwandte  nicht  selten 
-im  Kampf  auf  verschiedenen  Seiten.    Und  der  tragische  Lohn  für  solche  Dienste 

Monatschritt  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  16 


242  H.  Weber, 

zum  Schaden  des  eigenen  Volkes!  Schon  Stilichos  feige  Ermordung,  veranlaßt  von 
dem  Imperator,  der  ihm  alles  verdankte,  zeigt  ihn! 

Von  höchstem  hiteresse  für  die  staatsbürgerliche  Unterweisung  ist  die  Kenntnis 
der  germanischen  Urzustände.  Weist  sie  doch  zurück  bis  in  die  graue  arische  Ur- 
zeit; ist  doch  unser  Volk  das  einzige,  dessen  Entwicklung  wir  fast  lückenlos  von  der 
Stufe  der  Jäger  und  Viehzüchter  bis  zu  den  modernsten  Zuständen  verfolgen 
können ! 

Der  Übergang  vom  Nomadentum  zur  halben,  dann  zur  ganzen  Seßhaftigkeit 
—  arva  per  annos  mutant  — ,  von  der  Fleischnahrung,  bei  der  das  Wild  der  Ur- 
wälder neben  dem  Vieh  noch  eine  erhebliche  Rolle  spielt,  zur  überwiegend  vege- 
tabilischen  Nahrung  bietet  das  größte  Interesse,  besonders  aber  haben  die  deut- 
lich zu  verfolgende  Entstehung  des  Staates  aus  der  Familie  in  der  Entwicklungs- 
reihe: Familie,  Sippe,  Völkerschaft,  Stamm,  Reich  und  die  urgermanischen  Eigen- 
tumsverhältnisse große  Wichtigkeit  für  die  staatsbürgerliche  Einsicht.  Privat- 
eigentum besteht  ursprünglich  nur  an  der  „Fahrhabe'*,  Waffen,  Gerätschaften  usw., 
und  am  Vieh;  es  bildet  sich  dann  zuerst  aus  an  Haus  und  Hof,  dann  an  dem  selbst 
urbar  gemachten  Ackerland;  die  „Almende*',  Wiese,  Wald,  Wasser,  bleibt  Eigen- 
tum der  ganzen  Dorfschaft.  Ursprünglich  also  völliger  agrarischer  Kommunismus,- 
der  mit  fortschreitender  Kultur  immer  mehr  beschränkt  wird;  die  Arbeit  tritt  deut- 
lich als  Hauptgrund  des  Privateigentums  hervor.  Kommunismus  also  nicht  ideales 
Endziel  menschlicher  Eigentumsentwicklung,  sondern  durch  die  Kultur  über- 
wundener Rest  barbarischer  Urzeit! 

Der  Landbau  erst  ganz  extensiv  betrieben,  dann  immer  intensiver!  Wichtiger 
Fortschritt  die  Düngung  des  Bodens !  Entwicklung  des  Ackerbaus  in  den  drei  großen 
Hauptstufen,  1.  der  Feldgraswirtschaft,  2.  der  Dreifelderwirtschaft,  3.  der  Frucht- 
wechselwirtschaft, auf  die  schon  hinzudeuten  ist !  Auf  die  überragende  Wichtigkeit 
der  Landfrage  ist  hinzuweisen.  Am  meisten  Boden  braucht,  um  seinen  Lebens- 
unterhalt zu  gewinnen,  ein  Volk  von  Jagdnomaden,  weniger  eins  von  Viehzüchtern, 
noch  weniger  eins  von  seßhaften  Bauern.  Zunehmende  Volkszahl  zwingt  zur  Rodung 
des  Urwaldes  und  zu  immer  intensiverem  Ackerbau,  sofern  nicht  Ausdehnung  durch 
Eroberung  fremden  Bodens  möglich  ist.  Diese  zu  versuchen,  liegt  dem  Germanen 
der  alten  Zeit  näher  als  intensiverer  Landbau;  lieber  mit  dem  Schwert  als  mit 
dem  Pflug  sucht  er  der  Landnot  abzuhelfen.  Diese  Landnot  ist  die  eigentliche 
Hauptursache  der  sogenannten  „Völkerwanderung**,  besser  „Völkerwanderungen", 
die  „relative**  Landnot;  nach  unseren  Begriffen,  die  wir  immer  mehr  von  Industrie 
und  Handel  zu  leben  uns  gewöhnt  haben,  wäre  damals  für  die  relativ  geringe  Volks- 
zahl Land  im  Überfluß  da  gewesen;  die  früher  übliche  Überschätzung  des  ur- 
germanischen Menschenreichtums  ist  nach  H.  Delbrücks  Untersuchungen  richtig 
zu  stellen.  —  Die  „Völkerwanderung**,  eine  so  großartige  Leistung  germanischer 
Kraft  sie  ist,  ist  doch  vor  allem  eine  ungeheure  Verschwendung  dieser  Kraft,  die 
fremden  Völkern  zugute  gekommen  ist.  Die  Deutschen  gleichen  von  der  Urzeit 
her  bis  auf  den  heutigen  Tag  einem  großsinnigen,  mit  ungeheuren  Kräften  aus- 
gestatteten Menschen,  der  diese  mit  kindlicher  Gedankenlosigkeit  in  unglaublicher 
Weise  vergeudet.  Alle  unsere  Reichsgründungen  auf  römischem  Boden  sind  zu- 
grunde gegangen,  zum  Teil  spurios,  wie  die  der  Vandalen.   Dagegen  sind  die  weiten 


Der  Unterricht  in  der  älteren  deutschen  Geschichte  usw.  243 

Gebiete  östlich  der  Saale  und  Elbe,  die  Germanen  schon  vorher  jahrhundertelang 
besiedelt  hatten,  verloren  gegangen,  zum  Teil  für  alle  Zukunft.  Die  Czechen  in 
Böhmen  und  Mähren  statt  der  Markomannen  und  Quaden!  Welche  Stellung 
hätte  heute  das  Deutschtum  ohne  jene  ungeheuren  Verluste!  Diese  Verschwen- 
dung deutscher  Kraft  dauert  fort  bis  zum  heutigen  Tage,  freilich  in  anderer  Weise, 
in  der  Form  der  Auswanderung  nicht  mehr  von  ganzen  Völkern,  sondern  von 
einzelnen;  sie  alle  gehen  dem  Vaterlande  ohne  Entgelt  verloren  und  stärken  unsere 
Nebenbuhler,  während  z.  B.  jeder  Engländer  in  den  englischen  Kolonien,  jeder  Russe 
in  Asien  sein  Volkstum  behält  und  dessen  Ausbreitung  fördert !  Der  Hauptgrund 
des  Unterganges  der  Germanenreiche  auf  römischem  Boden  ist  die  geringe  Volks- 
zahl der  Eroberer,  ein  Nebengrund  nur,  allerdings  ein  sehr  wichtiger,  ihr  tieferer 
Kulturstand.  Das  Entscheidende  der  Volkszahl  bei  allen  solchen  Ansiedelungen 
in  fremdsprachigem  Lande  ist  schon  hier  hervorzuheben;  so  wird  der  Grund  ge- 
legt für  die  richtige  Beurteilung  der  späteren  deutschen  Kolonisation  im  Osten 
und  für  die  Auswanderung  in  andere  Länder,  besonders  nach  Amerika  —  bis  in 
unsere  Tage  hinein. 

Der  Einführung  des  Christentums  bei  den  Germanen  hat  z.  B.  G.  Freytag 
im  ersten  Bande  seiner  ,, Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit**  einen  wunder- 
vollen Abschnitt  gewidmet.  Überhaupt  ist  dieses  Werk,  in  dem  die  gründliche 
Sachkenntnis  des  Gelehrten,  die  Intuition  des  Dichters  und  das  tiefe  Gemüt  des 
kerndeutschen  Mannes  eine  unvergleichliche  Verbindung  eingegangen  sind,  für  Lehrer 
wie  für  Schüler  gleich  unschätzbar  in  Rücksicht  auf  die  staatsbürgerliche  Erzie- 
hung im  tiefsten  Sinne.  Nur  zwei  Punkte  möchte  ich  hervorheben.  Die  edelsten 
Germanenvölker,  die  zuerst  von  den  alten  Göttern  abfielen,  sind  sämtlich  nicht 
Athanasianer  geworden,  wie  die  Römer,  sondern  Arianer,  d.  h.  nach  der  Auffassung 
der  „rechtgläubigen**  Kirche  Irrgläubige,  Ketzer,  weil  es  ihrem,  frommen,  ein- 
fältigen Gefühle  widersprach,  daß  Christus  „der  Sohn**  Gott  „dem  Vater** 
wesensgleich,  nicht  nur  wesensähnlich  sein  sollte;  das  schien  ihnen  eine  pietätlose 
Auffassung.  „Die  arianische  Anschauung  von  Christus  als  Gottes  eigen  Kind, 
ein  Königssohn,  der  dem  Vater  in  Sohnestreue  Untertan  ist,  entsprach  dem  ger- 
manischen Volkssini.**,  wie  K.  Hase  in  seiner  „Kirchengeschichte*'  (1900.  Volks- 
ausgabe. 12.  Auflage.  S.  167)  bemerkt.  Und  ein  zweites:  gegen  die  Behauptung 
der  christlichen  Glaubensboten,  die  ungetauft  verstorbenen  Vorfahren  seien  den 
ewigen  Feuerqualen  der  Hölle  verfallen,  empörte  sich  gerade  bei  den  besten 
unter  unseren  Ahnen  das  sittliche  Gefühl,  der  herzliche  Familiensinn,  die  Treue 
zur  Sippe,  wie  die  Geschichte  von  der  Taufe  des  Friesenfürsten  Radbod  unüber- 
trefflich zeigt. 

Die  Ausbildung  des  Lehnswesens  beweist  die  ungeheure  Bedeutung  der  wirtschaft- 
lichen Faktoren  für  die  soziale  und  politische  Entwicklung  —  die  wir  freilich  zurzeit 
nk:ht  mehr  zu  unterschätzen,  sondern  eher  zu  überschätzen  geneigt  sind  — ,  und  der 
Frage  der  Wehrpflicht,  dessen,  was  man  heute  den  „Militarismus**  zu  nennen  pflegt. 
Die  urgermanische  Einrichtung  der  allgemeinen  Wehrpflicht  —  auf  die  man  in  Preußen 
seit  1813/14  und  dann  fast  überall  in  ganz  Europa  zurückgekommen  ist  —  Pflicht, 
zugleich  auch  Recht  und  Ehre  der  Freien,  wird  für  die  Ärmeren  unter  diesen  immer 
drückender  und  schließlich  geradezu  wirtschaftlich  vernichtend,  so  daß  sich  die 

16* 


244  H.  Weber, 

freien  Bauern,  um  sich  wirtschaftlich  zu  retten,  in  die  Unfreiheit  stürzen,  und  es 
bewahrheitet  sich  dann  an  ihnen  furchtbar  das  Wort:  Wehrlos,  ehrlos!  Selbst  ein 
Karl  der  Große  kann  diese  trostlose  Entwicklung  nicht  aufhalten;  es  zeigt  sich  die 
Ohnmacht  auch  des  mächtigsten  einzelnen  gegenüber  der  Gesamtheit !  Der  heutige 
, »Militarismus",  über  den  so  viel  gejammert  wird,  ist  eine  Last  spielend  leicht 
zu  tragen  im  Vergleich  mit  der  altdeutschen  Heerbannpflicht!  Den  Kriegsdienst, 
den  die  freien  Bauern  nicht  mehr  leisten,  übernimmt  der  neue  Kriegerstand  der 
berittenen  Vasallen,  der  Ritter,  vielfach  aus  dem  alten  Geburtsstande  der  Halb- 
freien oder  Unfreien  hervorgehend.  Aus  ihnen  entsteht  dann  unser  niederer  Adel. 
Die  Nachkommen  der  Unfreien  werden,  indem  sie  das  Schwert  führen,  vornehm 
und  die  Herren  der  Nachkommen  der  früheren  Freien,  die  das  Schwert  nicht  mehr 
führen!  G.  Freytag  hat  diese  grundlegende  Veränderung  in  unseren  ständischen 
Verhältnissen  in  seinen  „Ahnen"  vortrefflich  veranschaulicht.  Wenn  auch  die 
„Könige"  wehrhaft  und  frei  bleiben,  so  dünkt  sich  doch  schon  in  der  Reformations- 
zeit der  Nachkomme  des  früheren  unfreien  Marschalls  Herrn  Ivos  als  Edelmann 
vornehmer  denn  Marcus  König,  den  bürgerlichen  Nachkommen  Herrn  Ivos,  der 
um  1220  nahe  daran  war,  in  den  Fürstenstand  emporzusteigen! 

Der  Kampf  des  regnum  und  des  sacerdotium  ist  die  Ursache,  warum  am  Ende  des 
Mittelalters  in  Deutschland  die  Monarchie  als  solche  ohnmächtig,  die  großen  Vasallen 
Fürsten,  das  Reich  zersplittert  ist,  während  in  England  und  Frankreich  die  Monarchie 
erstarkt,  die  großen  Vasallen  Untertanen,  die  Länder  mächtige  Einheitsstaaten 
sind.  Chlodwig,  der  erste  Germanenkönig,  der  zur  athanasianisch-römischen  Kirche 
übertrat,  Winfried,  der  die  deutsche  Kirche  dem  Papste  unterstellte,  Karl  der  Große, 
der  den  fränkischen  König,  Otto  der  Große,  der  den  deutschen  zum  römischen 
Kaiser  machte,  sind  die  Männer  des  Schicksals  für  uns  geworden.  Unermeßlicher 
Segen  und  unermeßlicher  Fluch  ist  aus  dieser  Verbindung  Deutschlands  mit  Italien 
für  uns  geflossen  —  jedes  ernste  historische  Urteil  ist  zweiseitig,  wie  Treitschke  oft 
hervorhob.  Man  muß  sich  vor  einseitig  ghibellinischer  Auffassung  der  italienischen 
Politik  unserer  großen  Kaiser  hüten.  Ihre  Römerzüge  —  und  im  ganzen  gilt  dies 
auch  von  der  Beteiligung  der  Deutschen  an  den  Kreuzzügen  —  sind  doch  überwiegend 
für  Deutschlands  Gedeihen  schädlich  gewesen,  eine  ebensolche  ungeheure  Ver- 
schwendung deutscher  Kraft  zur  Erreichung  unmöglicher  Ziele  wie  die  Völker- 
wanderung. Nicht  Friedrich  Barbarossa,  sondern  Heinrich  der  Löwe  war  doch  der 
eigentliche  Träger  einer  wahrhaft  deutschen  Politik.  Man  muß  immer  wieder  auf 
diesen  Punkt  hinweisen,  in  einer  Zeit,  wo  wir  allen  Grund  haben,  mit  unseren 
Kräften  hauszuhalten,  da  wir  nicht  mehr  in  dem  Jugendalter  sind,  wo  ein  Volk  sich 
allenfalls  dergleichen  Vergeudung  leisten  kann. 

Auch  die  inneren  Zustände  Deutschlands  litten  schwer  darunter,  daß  seine 
Herrscher  ihr  Interesse  nicht  auf  ihr  eigenes  Land  konzentrierten,  namentlich  ver- 
sank die  Bauernschaft  so  immer  mehr  in  Unfreiheit.  Daß  sich  an  StelleTdieses 
sinkenden  alten  freien  Mittelstandes  ein  neuer  in  den  aufblühenden  Städten  erhob, 
ist  eine  Tatsache  von  fundamentaler  Bedeutung  für  unsere  Zukunft;  wir  ver- 
danken ihr,  daß  Deutschland  nicht  die  trostlose  Entwicklung  Polens  geteilt  hat, 
wo  es  nur  Herren  und  Knechte  gab.  Andererseits  ist  zu  betonen,  daß  wir  Deutsche 
im  Grunde  ein  Volk  von  Land-  und  Waldbewohnern  sind  —  im  Gegensatz  zu  den 


Der  Unterricht  in  der  älteren  deutschen  Geschichte  usw.  245 

Romanen,  den  geborenen  Städtern.  Auch  unsere  bedeutendsten  Städte  blieben 
im  Mittelalter  nach  unseren  Begriffen  klein  und  wir  blieben  ein  Bauernvolk.  Man 
sollte  hinweisen  auf  das  Hochbedenkliche  der  „Landflucht'*  unserer  Tage,  der 
übermäßigen  Entwicklung  der  Städte,  namentlich  der  großen.  Die  Umwandlung 
aus  einem  mit  der  Natur  in  inniger  Beziehung  lebenden  und  daher  frischen  Land- 
volk in  ein  der  Natur  entfremdetes  Volk  von  großstädtischen  Industriearbeitern 
ist  eine  überaus  gefährliche  Veränderung,  die  das  alte  eigentümliche  deutsche 
Wesen  an  der  Wurzel  zu  treffen  droht!  —  Bei  Besprechung  der  Zunftverfassung 
des  Mittelalters  wird  bereits  der  Unterschied  zwischen  dem  selbständigen  Hand- 
werksmeister und  seinen  Gesellen  einer-,  dem  modernen  Unternehmer  und  den 
Fabrikarbeitern  andererseits  kurz  zu  erläutern  sein. 

Während  das  Reich  als  solches  nach  dem  Fall  der  Staufer  politisch  immer  mehr 
verfiel,  blieb  das  deutsche  Volk  voll  strotzender  Kraft  und  vollbrachte  gerade  in 
jenen  letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  seine  großartigsten  politischen  Lei- 
stungen, die  Kolonisation  der  Slavenlande  östlich  der  Elbe  und  Saale  und  die 
Schaffung  der  deutschen  Seemacht  der  Hansa  —  eine  Warnung  vor  Überschätzung 
der  Regierungsformen  als  solcher! 

Jene  Kolonisationstätigkeit,  geradezu  die  politische  Haupttat  der  Deutschen 
im  Mittelalter,  ein  Ereignis  allerersten  Ranges,  ist  für  die  staatsbürgerliche  Erziehung 
von  höchstem  Werte  durch  die  Lehren,  die  sie  für  die  preußischen  Ostmarken 
in  der  Gegenwart  enthält.  Auf  diese  auch  nur  andeutungsweise  einzugehen,  muß 
ich  mir  versagen.  Des  Sieges  von  Tannenberg  sich  zu  rühmen,  haben  die  Polen 
wenig  Grund,  selbst  wenn  die  Schlacht  nicht  geradezu  durch  den  Verrat  des  deutschen 
Eidechsenbundes  verloren  worden  sein  sollte.  Treitschke  nimmt  diesen  Verrat 
an  (,,Das  deutsche  Ordensland  Preußen"),  Delbrück  bezweifelt  ihn  („Geschichte 
der  Kriegskunst"  IV,  542).  Übrigens  sind  die  Verluste  der  Völkerwanderungszeit 
damals  nur  zu  einem  geringen  Teile  wieder  ausgeglichen  worden.  Böhmen,  dessen 
Hauptstadt  unter  Karl  IV.  eine  wesentlich  deutsche  Stadt,  gewissermaßen  die  deut- 
sche Hauptstadt  war,  ragt  z.  B.  heute  als  ein  überwiegend  czechisches  Bollwerk 
in  das  deutsche  Land  hinein.  Daß  die  Przymisliden,  die  Plasten,  die  Könige  von 
Ungarn  u.  a.  selbst  die  Deutschen  in  ihre  Länder  riefen,  um  sie  zu  kultivieren 
und  ertragreicher  zu  machen,  ist  stark  hervorzuheben. 

Die  Erinnerung  an  die  Seeherrlichkeit  der  Hansa  in  einer  Zeit,  wo  es  eine 
englische  Seemacht  noch  nicht  gab,  wirkt  begeisternd  in  unseren  Tagen,  wo  die 
deutsche  Seemacht  nach  jahrhundertelangem  Schlaf  wieder  aufersteht.  Noch  wich- 
tiger aber  als  die  Erweckung  stolzen  Hochgefühls  ist  für  uns  die  Einsicht  in  die 
Ursachen  des  Verfalls  der  Hansa.  Die  eigentlich  ausschlaggebende  Ursache  ist 
nach  Dietrich  Schaefer,  dem  besten  Kenner  dieser  Dinge,  daß  die  Hansa,  vom 
Reich,  um  das  sie  sich  selbst  freilich  nie  bekümmert  hatte,  im  Stich  gelassen,  nicht 
imstande  war,  gegenüber  der  erstarkenden  Macht  der  skandinavischen  Staaten, 
vor  allem  aber  Englands,  die  See  zu  behaupten.  Durch  seine  kriegerische  Wehr- 
losigkeit  ist  der  stolze  Bund  zurückgegangen  und  hat  Deutschland  mit  der  See- 
herrschaft seinen  Anteil  am  Welthandel  und  an  der  Verteilung  der  neuentdeckten 
überseeischen  Gebiete  verloren  —  eine  Tatsache,  deren  Kenntnis  von  außerordent- 
lichster Bedeutung  für  unsere  Tage  ist  oder  wenigstens  sein  sollte ! 


246  H.  Weber, 

Der  historischen  Größe  von  Männern  wie  Augustinus,  Winfried,  Gregor  VIL, 
Innozenz  III.,  Loyola  muß  der  Lehrer  unter  allen  Umständen  gerecht  zu  werden 
suchen,  auch  wenn  er  etwa  ihren  Einfluß  auf  die  deutsche  Entwicklung  als  vor- 
wiegend schädlich,  ja  geradezu  verhängnisvoll  ansieht;  was  für  die  bedeutenden 
Vertreter  der  Papstkirche  gilt,  ist  natürlich  auch  für  ihre  großen  Gegner,  für  Wiclif, 
Hus,  Luther,  Hütten,  Gustav  Adolf  usw.  zu  fordern.  Daß  die  Schüler  aus  dem  Munde 
des  Lehrers,  der  vielleicht  einer  anderen  Konfession  als  mancher  von  ihnen  angehört, 
ein  möglichst  objektives  Urteil,  namentlich  eine  freudige  Anerkennung  persön- 
licher Vorzüge  solcher  geschichtlicher  Persönlichkeiten,  hört,  deren  kirchliche  oder 
politische  Denk-  und  Handlungsweise  jener  selbst  nicht  billigt,  ist  für  ein  gedeih- 
liches Verhältnis  der  christlichen  Konfessionen,  also  für  eine  der  Hauptschicksals- 
fragen unserer  Zukunft,  gerade  in  unserer  Zeit  der  wachsenden  konfessionellen 
Zwietracht  von  außerordentlicher  Bedeutung. 

Seit  der  Reformation  ist  zu  der  schon  vollendeten  politischen  Zersplitterung 
Deutschlands  noch  die  kirchliche  hinzugekommen.  Ein  origineller  Denker  wie 
Karl  Jentsch*)  hält  diese  trotz  alles  Furchtbaren,  das  sie  über  unser  Volk  gebracht 
hat,  nicht  für  ein  Unglück,  sondern  für  ein  Glück,  da  die  Konfessionen  einander 
brauchten  und  gerade  durch  ihr  Nebeneinanderbestehen  sich  gegenseitig  vor  Er- 
starrung bewahrten  und  gesund  erhielten.  Jedenfalls  ist  denen,  die  Luther  und  sein 
Werk  für  die  nach  ihrer  Ansicht  unselige  „Glaubensspaltung"  verantwortlich  machen, 
zu  erwidern  und  auch  im  Unterricht  zu  betonen,  daß  diese  nicht  seine  Schuld  ist 
—  er  wollte  alle  Deutschen  vom  Papsttum  losreißen  und  war  auch  durchaus  auf 
dem  Wege  zu  diesem  Ziele.  Wenn  die  Hälfte  der  Deutschen  beim  Papsttum  verblieben 
ist  und  bei  uns  nicht  die  Glaubenseinheit  zustande  gekommen  ist,  wie  —  im  wesent- 
lichen —  in  den  anderen  germanischen  Ländern,  so  ist  dafür  verantwortlich  zu 
machen  die  schicksalsschwere  Kaiserwahl  von  1519  und  der  Regensburger  Konvent 
von  1524,  der  katholische  Sonderbund  der  Häuser  Habsburg  und  Witteisbach 
in  Bayern;  dieser  zwang  die  evangelischen  Fürsten,  dann  auch  einen  Sonderbund 
zu  schließen,  und  so  entstand  die  „Glaubensspaltung";  Ferdinand  II.  und  Maxi- 
milian von  Bayern  haben  sie  dann  vollendet.  —  Daß  Luther  uns  auf  dem  hoch- 
wichtigen Gebiete  der  Sprache  und  später  der  Literatur  im  weitesten  Sinne  des 
Wortes  die  Einigung  gebracht  hat,  sollten  auch  die,  die  seine  kirchliche  Stellung 
nicht  billigen,  und  zwar  sie  besonders,  stark  hervorheben,  nicht  nur  im  deutschen, 
sondern  auch  im  geschichtlichen  Unterricht! 

Nicht,  wie  man  früher  meinte,  die  Zeit  nach  dem  Dreißigjährigen  Kriege  ist 
die  traurigste  der  neueren  deutschen  Geschichte,  sondern  die  Zeit  vorher,  nach 
dem  faulen  Frieden  zu  Augsburg,  da  Deutschland  noch  von  Kraft  und  Saft  strotzte, 
seine  Bewohner  aber  für  nichts  Sinn  hatten  als  für  wüste  Völlerei  und  für  dog- 
matisches Gezänk.  Wir  verdanken  diese  Einsicht  bekanntlich  J.  G.  Droysens 
„Geschichte  der  preußischen  Politik"  und  ihre  Verbreitung  besonders  Treitschke. 
Ihre  Verwertung  ist  für  die  staatsbürgerliche  Erziehung  von  höchster  Bedeutung. 
Auch  der  schroffste  Protestant  sollte  unumwunden  zugeben,  daß  die  restaurierte 


*)  Karl    Jentsch    „Geschichtsphilosophische    Gedanken"    1892   und    „Christentum 
und  Kirche  in  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft"  1909.    (736  S.) 


Der  Unterricht  in  der  älteren  deutschen  Geschichte  usw.  247 

römische  Kirche  damals  an  geistigen,  ja  sogar  an  sittlichen  Kräften  über  dem 
verknöcherten,  geistlos  gewordenen  Luthertum  stand.  Die  Hexenbrände  lohten 
ebenso  zahlreich  in  evangelischen  wie  in  katholischen  Landen,  und  ein  edler  Jesuit 
war  einer  der  ersten  Bekämpfer  des  furchtbarsten  Wahnes,  der  die  arme  Menschheit 
heimgesucht  hat. 

Die  Fortschritte,  die  die  römische  Kirche  in  jenem  Zeitalter  der  ,, Gegen- 
reformation" gemacht  hat,  verdankte  sie  ebenso  sehr  der  bewunderungswürdigen 
Aufopferungsfähigkeit  der  Jesuiten  für  die  Sache,  die  sie  nun  einmal  für  die  Sache 
Gottes  hielten,  wie  dem  brudermörderischen  Gezänk  der  Lutheraner  und  Refor- 
mierten miteinander. 

In  diesem  ist  die  eine  Hauptursache  zu  suchen  für  den  wohl  größten  und  schwer- 
sten aller  Verluste  an  Land  und  Leuten,  die  Deutschland  zu  beklagen  hat,  den  Ver- 
lust der  Niederlande,  wie  Treitschke  dies  in  einem  seiner  wundervollen  Aufsätze 
ausgeführt  hat.*)  Nicht  nur  die  römisch-katholischen  deutschen  Fürsten  ver- 
sagten den  ,, Ketzern",  sondern  auch  die  lutherischen  den  „sakramentsschän- 
derischen"  Kalvinisten  die  Hilfe  gegen  das  spanische  Weltreich,  um  die  sie  flehent- 
lich baten.  So  halfen  die  Niederländer  sich  selbst  und  wollten  dann  von  dem 
alten  Mutterlande,  das  sie  in  der  Todesnot  im  Stich  gelassen,  nichts  mehr  wissen. 
So  verloren  wir  die  Mündung  unseres  größten  und  schönsten  Stromes  und  zu- 
gleich die  Seemacht  und  Kolonialmacht,  die  sich  dieser  kleine  deutsche  Volks- 
splitter schuf;  so  verloren  wir  die  letzte  große  Gelegenheit,  einen  gewaltigen  An- 
teil an  dem  Besten  der  fremden  Erdteile  für  uns  in  Sicherheit  zu  bringen  und  uns 
Siedelungskolonien  zu  schaffen,  in  denen  Millionen  deutscher  Bauern  und  Bürger 
leben  können,  ohne  für  ihr  Volkstum  verloren  zu  gehen,  —  das  „neue  Deutschland" 
über  Meer  zu  gründen,  das  eine  jährlich  wachsende  Zahl  deutscher  Politiker  aus 
ganz  nüchternen  realpolitischen  und  wirtschaftlichen  Erwägungen  heraus  zur 
Rettung  unserer  Zukunft  für  nötig  hält.  Alle  diese  unwiederbringlichen  Einbußen 
sind  die  trostlosen  Folgen  des  konfessionellen  Haders  jenes  Zeitalters;  der  dreißig- 
jährige Krieg  aber  ist  das  große  Gottesgericht  über  die  Deutschen,  die  über  dem 
Dogma  das  Christentum  vergessen  hatten;  er  predigt  uns  noch  heute  in  erschüttern- 
der Sprache  die  Lehre,  daß  wir  den  Frieden  der  Konfessionen  brauchen  wie  das 
tägliche  Brot. 

Daß  aus  dem  fast  mit  Stumpf  und  Stil  ausgerotteten  alten  Deutschland  über- 
haupt noch  etwas  Leidliches  geworden  ist,  ist  eins  der  größten  Wunder  der 
Geschichte. 

Die  religiöse  Duldung,  die  das  notgedrungene  Ergebnis  der  furchtbar  teuer 
erkauften  Einsicht  war,  daß  keine  der  drei  christlichen  Konfessionen  imstande 
war,  die  anderen  zu  vernichten,  und  der  brandenburgisch-preußische  Staat,  dessen 
größte  Fürsten  seit  Hans  Sigismund  die  Vertreter  der  Parität  dieser  Bekenntnisse, 
der  kirchlich-religiösen  Duldung  gewesen  sind,  sind  die  zwei  starken  Säulen,  auf  die 
gestützt  sich  der  Neubau  Deutschlands  über  dem  ungeheuren  Trümmerhaufen 
erhoben  hat! 


*)  Treitschke  „Die  Republik  der  vereinigten  Niederlande.      Historische  und  po- 
litische Aufsätze".     Band  2. 


248  G.  Humpf, 

Die  kurzen  ^Andeutungen,  auf  die  ich  mich  habe  beschränken  müssen,  werden 
genügen,  um  zu  zeigen,  daß  die  Behandhmg  der  älteren  deutschen  Geschichte 
im  Unterricht  nicht  nur  Gelegenheit  gibt,  sondern  vielfach  geradezu  fordert,  fast 
alle  Hauptfragen,  (Me  den  heutigen  deutschen  Staatsbürger  beschäftigen  müssen, 
in  Betracht  zu  ziehen  und  für  ihre  Beurteilung  das  richtige  Verständnis  zu  be- 
gründen. 

Posen.  Heinrich  Weber. 


Ein  Beitrag  zur  Frage  der  staatsbürgerlichen  Erziehung 
von  einem  Neuphilologen. 

In  einem  „Zur  staatsbürgerlichen  Erziehung  des  deutschen  Volkes"  betitelten 
Aufsatze  (Jahrbuch  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Pädagogik  1911,  S.  183 — 196) 
definiert  P.  Rühlmann  den  Begriff  der  staatsbürgerlichen  Erziehung  als  die  „plan- 
mäßige Einwirkung  auf  den  Zögling  durch  Belehrung  und  Gewöhnung,  um  ihn 
zu  einem  möglichst  vollwertigen  Gliede  des  modernen  Staates  zu  machen".  Diese 
Begriffsbestimmung  dürfen  wir  als  richtig  gelten  lassen,  wenn  auch  der  Ausdruck 
„möglichst  vollwertiges  Glied  des  modernen  Staates"  nicht  jedes  Mißverständnis 
ausschließt.  Der  Schule  müßten  demnach  zwei  einander  ergänzende  Möglich- 
keiten gegeben  sein,  um  ihrer  Aufgabe,  brauchbare  Staatsbürger  zu  erziehen, 
gerecht  zu  werden.  Sie  müßte  einmal  in  der  Lage  sein,  mit  Hilfe  rein  intellek- 
tueller, andererseits  mit  Hilfe  rein  ethischer,  den  Willen  unmittelbar  beeinflussender 
Mittel  in  dem  angedeuteten  Sinne  zu  wirken.  Da  drängt  sich  doch  die  grundsätz- 
liche Frage  auf:  Welche  ethischen  Mittel  stehen  der  Schule  zur  Verfügung?  Und 
da  läßt  sich  von  vornherein  sagen:  die  Möglichkeit  unmittelbar  erzieherischer 
Einw^irkung  ist  für  die  Schule  verhältnismäßig  recht  gering.  Haus  und  Leben  stehen 
ihr  in  dieser  Hinsicht  als  viel  stärkere  Mächte  gegenüber.  Gewiß  ist  die  Schule 
in  der  Lage,  durch  das  Vorbild  der  Lehrerpersönlichkeit,  durch  ihre  Zucht  und  die 
Eingliederung  des  einzelnen  in  ihr  wohl  organisiertes  Gemeinschaftsleben  er- 
zieherische Wirkungen  auszuüben,  aber  sind  diese  Mittel  von  einschneidender  Be- 
deutung für  die  Erziehung  zu  den  speziellen  Staatsbürgertugenden?  Das  muß 
vorläufig  bestritten  werden,  solange  nicht  das  Ideal  des  bekannten  Münchener 
Schulrats  Kerschensteiner  erfüllt  ist  und  die  Schule  sich  durch  eine  neue  Organi- 
sationsform einen  tiefer  gehenden  Einfluß  auf  die  Versittlichung  der  Jugend  und 
ihrer  Arbeit  im  Sinne  staatsbürgerlicher  Erziehung  gesichert  hat.  Man  hat  ja 
bereits  in  größerem  Umfange  Versuche  mit  der  Einrichtung  der  Selbstverwaltung 
in  mehr  oder  minder  ausgeprägten  Formen  gemacht.  Versuche,  gegen  die  bisher 
kein  besonderer  Widerspruch  laut  geworden  ist  und  die  auch  grundsätzlich  die 
volle  Billigung  aller  einsichtigen  Pädagogen  verdienen.  Ob  aber  der  Schule  nicht 
auch  hierbei  enge  Grenzen  gesteckt  sind,  wenn  sie  das  Interesse  der  Schüler  nicht 
allzu  vielseitig  in  Anspruch  nehmen  will?  Diese  Gefahr  scheint  mir  zu  bestehen  bei 
einer  den  Formen  des  wirklichen  Lebens  gar  zu  sehr  angepaßten  Autonomie.  Und 
andererseits  kann  die  Wirkung  auf  den  einzelnen  nur  gering  sein,  wenn  der  Selbst- 
verwaltungsapparat bloß  ganz  einfache  Formen  aufweist,  weil  dann  die  Mitwirkung 


Ein  Beitrag  zur  Frage  der  staatsbürgerlichen  Erziehung  usw.  249 

der  Mehrzahl  bei  dem  Verwaltungsgeschäft  so  gut  wie  ausgeschlossen  ist.  Es  bleibt 
noch  der  Einfluß  des  Lehrers,  von  dem  ein  Gewinn  für  die  nationale  Sache  zu  er- 
hoffen wäre.  Er  kann  rege  Anteilnahme  an  den  Fragen  des  öffentlichen  Lebens 
zeigen.  Dann  wird  er  durch  sein  Vorbild  wirken.  Er  kann  Töne  begeisterter  Vater- 
landsliebe im  Unterricht  anschlagen:  dann  wird  er  durch  seinen  Enthusiasmus 
mit  fortreißen.  Aber  der  Eindruck  wird  im  ersten  Falle  für  den  Schüler  nicht 
unmittelbar  genug  sein,  im  zweiten  Falle  wird  er  rasch  verfliegen  wie  der  Schall 
der  Worte,  die  wohl  augenblicklich  Empfindungen  wecken,  aber  nicht  dauernd 
festhalten  können.  Ich  glaube,  die  Schule  darf  sich  keiner  Selbsttäuschung  hin- 
geben: in  der  Hauptsache  ist  sie  auf  die  Auswahl  des  Stoffes  und  die  Art  seiner 
Verarbeitung  angewiesen,  wenn  sie^is  in  das  Innere  des  Kindes  vordringen  will, 
ja,  überhaupt  scheint  mir  die  Übermittlung  positiven  Wissens  für  die  sittliche  Er- 
ziehung von  größerer  Wichtigkeit,  als  man  vielfach  annehmen  zu  müssen  glaubt. 
Was  nützt  es  dem  Kinde,  und  [welche  Spuren  kann  es  in  ihm  hinterlassen, 
wenn  ihm  vom  Vaterland  in  den  schönsten  Worten  geredet  wird?  Wie  kann 
es  sich  für  etwas  erwärmen,  was  es  gar  nicht  kennt?  Es  wird  doch  in  erster 
Linie  wissen  wollen,  was  dies  Vaterland  denn  eigentlich  für  ein  Ding  sei, 
wie  es  aussehe  und  wozu  es  nütze.  Muß  es  daher  nicht  das  erste  Erfordernis 
staatsbürgerlicher  Erziehung  sein,  der  Jugend  ein  Bild  zu  geben  von  den  Ein- 
richtungen der  politischen  Gemeinschaft,  in  die  sie  von  Geburt  hineingestellt 
ist,  und  ihr  vor  Augen  zu  halten,  was  diese  Gemeinschaft  für  jeden  einzelnen  wie 
für  die  Gesamtheit  bedeutet?  Muß  ihr  nicht  gezeigt  werden,  unter  welchen  Opfern 
an  Gut  und  Blut,  an  harter  Arbeit  und  heißem  Ringen  das  Vaterland  so  geworden 
ist,  wie  es  ist?  Lassen  wir  vor  dem  geistigen  Auge  unserer  Kinder  die  großen  Männer 
emporsteigen,  die  unsere  Geschichte  gemacht  haben,  lassen  wir  sie  inne  werden, 
daß  der  gegenwärtige  Staat  kein  zufälliges,  sondern  ein  organisch  gewordenes 
Gebilde  darstellt,  an  dessen  Ausbau  im  Sinne  des  vollkommeilsten  Rechts  und 
der  edelsten  Kultur  gerade  die  Besten  unserer  Nation  unter  Hintansetzung  aller 
persönlichen  Interessen  mitgearbeitet  haben  und  an  dessen  Weiterentwicklung 
jeder  einzelne  mitzuschaffen  berufen  ist.  Das  Ziel,  dem  die  Schule  auf  staatsbürger- 
lichem Gebiete  zuzustreben  hätte,  wäre  also  kurz  auf  die  Formel  zu  bringen:  die 
Gegenwart  verstehen  zu  lehren  als  das  Produkt  einer  geschichtlich-organischen, 
von  ernster  Geistesarbeit  getragenen  Entwicklung,  der  Jugend  so  die  Achtung 
vor  dem  Bestehenden  abzuringen  und  in  ihr  den  Willen  w^achzurufen,  an  der  fort- 
schrittlichen Neugestaltung  der  Zukunft  an  ihrem  Teile  mitzuwirken. 

Was  aber  bedeutet  für  den  zukünftigen  Staatsbürger  die  Gegenwart?  Ist 
sie  ihm  identisch  mit  der  unendlichen  Fülle  von  Problemen,  die  der  Politik  des 
Tages  in  unablässigem  Flusse  immer  aufs  neue  erstehen?  Wenn  diese  Gegenwart 
gemeint  wäre,  dann  gehörte  ihre  Betrachtung  nicht  in  die  Schule  hinein,  denn  sie 
müßte  notwendigerweise  parteiisch  sein,  sie  würde  allein  reichlich  eines  Menschen 
Kraft  erfordern,  und  sie  könnte  schon  aus  dem  Grunde  in  der  Schule  keine  Berück- 
sichtigung finden,  weil  zahkeiche  politische  Lehren  und  Erkenntnisse  eine  Urteils- 
reife und  eine  Lebenserfahrung  voraussetzen,  wie  sie  das  junge  Menschendasein 
nicht  hat  und  wie  sie  ihm  auch  die  Geschichte  nicht  geben  könnte.  Die  Fähigkeit, 
bestimmt  und  sachlich  Stellung  zu  nehmen  zu  den  politischen  Tagesfragen,  macht 


250  G.  Humpf, 

das  Wesen  politischer,  aber  nicht  staatsbürgerlicher  Bildung  aus.  Jene  kann  nur 
«ine  beschränkte  Zahl  Staatsbürger  angehen,  die  Berufspolitiker,  die  Führer  des 
Volks  in  politischen  Dingen,  und  kann  nicht  gelehrt  werden.  Denn  Politik  ist  eine 
Kunst,  keine  Wissenschaft.'  Alle  geschichtlichen  Erkenntnisse  haben  für  den  Poli- 
tiker oft  gar  keinen  Wert,  denn  der  Politiker  handelt  nach  der  jeweiligen  Kon- 
stellation der  Verhältnisse  und  diese  fordert  unter  Umständen  eine  Lösung,  die 
jeder  historischen  Erfahrung  ins  Gesicht  schlägt.  Gewiß  ist  die  Kenntnis  der 
Geschichte  für  den  Staatsmann,  den  Parlamentarier  unentbehrlich,  aber  es 
wäre  doch  falsch,  würde  er  sich  mehr  von  den  Lehren  der  Geschichte,  die  oft  genug 
gar  kein  Analogon  aufweist,  leiten  lassen,  als  von  seinem  den  augenblicklichen 
besonderen  Verhältnissen  Rechnung'tragenden,  selbständigen  Urteil.  Es  gibt  schwer- 
lich ein  geschichtliches  Gesetz,  das  für  alle  Zeiten  Gültigkeit  besäße,  sonst  müßte 
der  größte  Historiker  auch  der  größte  Staatsmann  sein,  was  bekanntlich  nicht 
immer  der  Fall  gewesen  ist.  Staatsbürgerliche  Bildung  aber,  und  durch  sie  staats- 
bürgerliche Erziehung,  kann  sehr  wohl  zum  Gegenstand  des  Unterrichts  gemacht 
werden.  Denn  staatsbürgerliche  Bildung  besitzen  heißt  nichts  anderes  als  vertraut 
sein  mit  den  Pflichten  imd  Rechten  gegenüber  dem  Staat  und  seiner  Organisation 
und  auf  Grund  der  Erkenntnis  von  der  fortschreitenden  Entwicklung  der  Form 
des  staatlichen  Gemeinschaftslebens  entschlossen  sein,  an  ihrer  Vervollkommnung 
tätigen  Anteil  zu  nehmen  und  auf  sie  mitbestimmenden  Einfluß  zu  gewinnen. 
Welche  Aufgabe  hat  demnach  die  Schule  zunächst  zu  erfüllen,  wenn  sie  dem  werden- 
den Staatsbürger  das  Verständnis  der  Gegenwart  erschließen  will?  Sie  hat  dem  Zög- 
ling ein  möglichst  getreues  Abbild  unserer  heutigen  staatlichen  Organisation  zu 
geben,  ihm  zu  zeigen,  wie  sie  historisch  geworden  ist,  inwiefern  sie  die  Merkmale 
einer  sittlichen  und  kulturellen  Aufwärtsbewegung  aufweist  und  welche  neuen 
Forderungen  der  neu  gestaltete  und  beständig  neu  zu  gestaltende  Staatsorganismus 
an  den  einzelnen  Staatsbürger  stellt. 

Das  charakteristische  Merkmal  des  modernen  Staates  ist,  daß  er  auf  verfassungs- 
mäßiger Grundlage  aufgebaut  ist.  Der  Polizeistaat  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
schloß  das  Individuum  von  der  Mitwirkung  an  den  Staatsgeschäften  aus,  der 
Verfassungsstaat  macht  sie  zur  Pflicht.  Der  Staat  ist  nicht  mehr  bloß  ein  Mittel 
der  Regierenden,  sondern  gleichzeitig  auch  Willensorgan  der  Regierten.  Der  Macht- 
i)ereich  von  Fürst  und  Volk  hat  sich  zugunsten  des  letzteren  verschoben.  Der 
Staat  ist  nicht  mehr  bloß  eine  Angelegenheit  des  Herrschers,  sondern  der  Gesamt- 
heit der  Bürger,  deren  Rechtssphäre  der  Staat  zu  schützen  hat,  soweit  es  die  Förderung 
des  Gesamtwohles  zuläßt.  Seit  wann  datiert  dieser  Umschwung  in  der  Auffassung 
vom  Berufe  des  Staates?  Er  wurde  eingeleitet  durch  die  englische  Revolution. 
Von  dem  Insellande  nahmen  die  neuen  Ideen  von  der  Freiheit  des  Individuums 
ihren  Weg  nach  Frankreich  und  bereiteten  die  gewaltige  Umwälzung  dort  vor. 
Von  dem  westlichen  Nachbar  drangen  sie  zu  uns  und  machten  dem  absolutistischen 
-Regiment  ein  Ende.  Das  ist  in  großen  Zügen  die  Linie,  auf  der  sich  die  Entwicklung 
des  modernen  Staates  bewegt  hat.  Sie  veranschaulicht  treffend  den  heutigen 
-Staatscharakter,  sie  erklärt  uns  die  Gegenwart,  wie  sie  politisch  ihrem  innersten 
Wesen  nach  aussieht.  Diese  ganze  Entwieklungslinie  bis  zu  der  heutigen  Staats- 
gestaltung rnuß  meines  Trachtens  der  Schüler  in  möglichster  Breite,  Ausführlich- 


Ein  Beitrag  zur  Frage  der  staatsbürgeriichen  Erziehung  usw.  251 

keit  und  Gründlichkeit  kennen,  wenn  er  zum  Verständnis  der  Gegenwart  kommen 
soll.  Die  Schaffung  des  modernen  Rechts-  und  Kulturstaates  hat  tiefgreifende 
Veränderungen  auf  allen  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens  hervorgerufen,  besonders 
hat  sie  die  wirtschaftliche  Stellung  des  Individuums  entscheidend  beeinflußt  und 
das  Problem  der  sozialen  Frage  eigentlich  erst  aufgerollt.  Denn  sie  ist  in  den  Formen, 
die  sie  seit  dem  Emporblühen  der  Technik  angenommen  hat,  nur  denkbar  auf  der 
Grundlage  einer  individualistisch  gerichteten  Staatsauffassung. 

Wie  soll  nun  der  Schüler  in  die  Geschichte  der  für  das  Verständnis  der  Gegen- 
wart so  wichtigen  letzten  Jahrhunderte  mit  der  wünschenswerten  Gründlichkeit 
eingeführt  werden?  Ein  besonderer  Unterricht  in  der  Staatsbürgerkunde  liegt 
nach  dem  Gesagten  außerhalb  unserer  didaktischen  Absicht.  Es  leuchtet  ein, 
und  es  darf  als  unbestrittene  Wahrheit  gelten,  daß  die  Geschichte  das  hierfür  be- 
rufenste Fach  ist.  Kann  aber  der  Geschichtsunterricht  bei  der  Kürze  der  Zeit 
und  der  Fülle  des  Stoffes,  den  er  zu  bewältigen  hat,  dieser  Aufgabe  gerecht  werden, 
selbst  wTnn  er  sein  Pensum  so  beschnitte,  wie  es  von  Huckert*)  vorgexhlagen 
worden  ist?  Ich  glaube  kaum.  Und  er  braucht  es  auch  nicht.  Denn  der  neusprach- 
liche Unterricht  kann  ihm  dabei  in  ausgiebigem  Maße  zu  Hilfe  kommen.  Ich  habe  im 
Pädagogischen  Archiv**)  und  Jahrbuch  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Päda- 
gogik***) einen  Lektüreplan  für  die  oberen  Klassen  aufgestellt,  der,  wie  ich 
glaube,  den  Bestrebungen  staatsbürgerlicher  Erziehung  in  unserem  Sinne  in 
befriedigender  Weise  Rechnung  trägt.  Er  sei  an  dieser  Stelle  in  Kürze  wiederholt. 

WieMacaulays  History  of  England  zurückiührt  in  die  Zeit  der  englischen 
Revolution,  von  der  der  Gedanke  des  Konstitutionalismus  auf  das  europäische 
Festland  übergegangen  ist,  so  erörtert  Locke  in  seinen  Two  Treatises  of  Government 
vom  Standpunkte  der  Philosophie  die  Idee  der  politischen  Freiheit,  wie  sie  von  der 
französischen  Literatur  des  18.  Jahrhunderts  übernommen  wurde  als  die  natürliche 
Reaktion  gegen  die  Übertriebenheiten  und  Verstiegenheiten' de^ana^n  regime, 
das  Tai ne  in  seinen  Origines  de  la  France  Contemporaine  charakteristisch  be- 
leuchtet. 

Durch  Montesquieu,  Voltaire,  Rousseau  gewinnt  der  Gedanke 
der  persönlichen  Freiheit  als  wichtigster  staatsbürgerlicher  Grundbegriff  einen 
breiteren  Boden.  Gemäßigtere  Formen  nimmt  er  an  beiMirabeau  in  seinen 
Discours,  um  unter  Napoleon,  dessen  Persönlichkeit  uns  gleichfalls  Taine  in 
seiner  Biographie  des  großen  Korsen  schildert,  von  neuem  dem  absolutistischen 
Prinzip  Platz  zu  machen. 

Aber  mit  dem  Sturze  Napoleons  nahm  auch  die  von  der  Revolution  aus- 
gegangene Freiheitsbewegung  wieder  ihren  Aufschwung  und  wirkte  bestimmend 
und  gestaltend  auf  die  politischen  Verhältnisse  in  Deutschland  zu  Beginn  des 
19.  Jahrhunderts  ein,  und  die  gesteigerte  Bewertung,  die  das  reine  Menschentum 
durch  Rousseaus  Lehren  erfahren  hatte,  bildet  den  Ausgangspunkt  der  sozialen 
Bestrebungen  der  Gegenwart,  in  deren  Dienst  sich  vornehmlich  die  moderne  eng- 
lische  Literatur  (Carlyle,   Dickens,  Thackeray)  mit  der  bewußten  Ab- 

*)  Korrespondenzblatt  1911,  No.  33. 
♦*)  Päd.   Arch.    1910,  1.   Heft,   S.  25 ff. 
***)  Jahrb.  d.  V.  f.  wiss.  Päd.   1911,   S.   129  ff. 


252  G.  Humpf, 

sieht  sozialerzieherischer  Wirkung  gestellt  hat.    Eine  Fülle  von  Stoff  bietet  sich 
hier  dem  Lehrer  dar*). 

Freilich,  ob  er  auch  bei  noch  so  sorgfältiger  Stoffauswahl  imstande  sein  wird, 
den  Inhalt  auszuschöpfen?  Denn  gar  mannigfach  sind  die  Aufgaben,  die  den  neu- 
sprachlichen Unterricht  gerade  auf  der  Oberstufe  bei  seiner  recht  geringen  Stunden- 
zahl neben  der  Lektüre  noch  in  Anspruch  nehmen:  Sprechübungen,  Realienkunde, 
Literaturgeschichte  und  vor  allem  der  Aufsatz.  Der  neusprachlichc  Unterricht 
würde  für  die  staatsbürgerliche  Bildung  nur  dann  das  bedeuten,  was  er  in  Wirk- 
lichkeit bedeuten  kann,  wenn  er  unter  einem  ganz  anderen  erzieherischen  Gesichts- 
winkel betrachtet  würde,  als  er  —  leider  auch  offiziell  —  betrachtet 
wird.  Der  Unterricht  auf  der  Oberstufe  sollte  es  doch  eigentlich  nur 
mit  den  Werten  zu  tun  haben,  die  den  allgemeinen  Gesichtskreis  erweitern, 
das  Verständnis  für  die  großen  Fragen  der  Menschheit  erschließen,  innerlich  bilden. 
Gehört  dazu  auch  Gewandtheit  in  der  gesprochenen  Sprache  oder  Realienkunde? 
Und  ferner:  solange  der  französische  oder  englische  Aufsatz,  auch  mit  der  neuesten 
Modifizierung,  noch  als  Zielforderung  bestehen  bleibt,  so  lange  leistet  die  Schule 
eine  Sisyphusarbeit,  bei  der  herzlich  wenig  herauskommt  und  deren  Kosten  der 
Lektüreunterricht  mit  seiner  großen  Bedeutung  für  die  Allgemeinbildung  trägt. 
Mit  der  Bedeutung,  die  der  Sprach-  und  Sprechmeisterei  in  weiten  Kreisen  der 
Neuphilologen  beigemessen  wird,  muß  gebrochen  werden,  oder  wir  erziehen  zu 
einem  Wissen,  das  ein  toter  Besitz  ist  und  bleibt  trotz  seiner  anscheinenden  Brauch- 
barkeit im  späteren  Leben.  Wenn  vor  einigen  Jahren,  wie  Eickhoff  in  ,, Weltpolitik 
und  Schulpolitik****)  S.  9  berichtet,  der  verstorbene  frühere  Staatssekretär  des  Aus- 
wärtigen Amtes,  Freiherr  von  Richthofen,  in  der  Budgetkommission  des  Reichs- 
tages in  „beweglichen  Tönen"  von  seinen  Assessoren  sprach,  die  keinen  französischen 
Brief  schreiben  und  keinen  englischen  lesen  könnten  und  wenn  E.  an  die  Registrie- 
rung dieser  Äußerung  die  Bemerkung  knüpft,  es  könne  so  kein  Wunder  nehmen, 
wenn  die  Vertreter  des  deutschen  Reiches  bei  den  Verhandlungen,  die  unsere 
Handelspolitik  in  den  letzten  Jahren  erheischte,  trotz  ihrer  allgemeinen  beruflichen 
Tüchtigkeit  in  der  sprachlichen  Behandlung  der  Gegenstände  nach  ihrem  eigenen 
Bekenntnis  hinter  den  Vertretern  des  Auslandes  zurückstanden,  weil  nur  wenige 
von  ihnen  die  französische  Sprache,  die  Sprache  der  Diplomaten,  vollkommen 
beherrschten,  von  der  Sprache  des  Landes  ganz  zu  schweigen,  in  dem  sie  gerade 
verweilten,  so  scheint  mir  darin  doch  eine  bedenkliche  Verkennung  des  Begriffs 
der  „Bildung"  und  damit  der  Aufgabe  der  Schule  zu  liegen.  Soll  denn  die  Schule 
neben  den  Diplomaten  auch  noch  alle  anderen  Berufe  mit  den  für  jeden  einzelnen 
nötigen  Sprachkenntnissen  ausrüsten?  Wenn  darin  die  eigentliche  Aufgabe  des 
Schulunterrichts  bestände,  so  dürfte  sie  nicht  mehr  als  Bildungsstätte  in  des  Wortes 
tieferer  Bedeutung  angesehen  werden,  und  die  Sprachinstitute  müßten  höher 
im  Preise  stehen  als  sie.  Darüber  sollten  sich  doch  die  extremen  Vertreter  der 
neusprachlichen  Reform  klar  werden,  daß  sie  mit  ihrem  Sprachdrill  ein  Ziel  erstreben, 
dessen  Wert  weder  im  Verhältnis  zu  der  aufgewandten  Kraft  und  Zeit,  noch  im 


♦)   Jahrb.  d.  V.  f.  wiss.   Päd.   S.   132/133. 

**)  Sonderabdruck  aus  dem  19.  Jahrg.  der  „Zeitschr.  f.  lateinlose  höhere  Schul."; 
Leipzig  1908;  B.  G.  Teubner. 


Ein  Beitrag  zur  Frage  der  staatsbürgerlichen   Erziehung  usw.  253 

Verhältnis  zu  dem  intellektuellen,  ethischen  und  praktischen  Nutzen  steht,  der  aus 
der  Beschäftigung  mit  der  Sprache  an  sich  bei  richtiger  Methodik  zur  Not  zu  ent- 
springen vermag. 

Doch  kehren  wir  zu  unserm  Thema  zurück.  Damit,  daß  die  Schule  dem  Ver- 
ständnis des  Zöglings  die  Gegenwart  erschließt,  wie  sie  politisch  in  ihrem  innersten 
Kern  aussieht,  hat  sie  noch  nicht  alles  getan,  was  sie  im  Interesse  des  Staates  zu 
tun  verpflichtet  und  befähigt  ist.  Etwas  sehr  Wichtiges,  was  auch  von  den  lautesten 
Rufern  im  Streite  um  die  staatsbürgerliche  Erziehung  anscheinend  als  selbstver- 
ständlich so  ziemlich  außer  acht  gelassen  wird,  bleibt  ihr  noch  übrig:  die  Pflege 
nationalen  Sinnes,  der  der  kräftigste  Träger  des  Staatsgedankens  ist.  Daher  lautet 
die  zweite  Forderung,  die  an  die  Schule  zu  stellen  ist:  Bewußte  und  intensive  natio- 
nale Erziehung. 

Mit  dem  deutschen  Individualismus,  der  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  inner- 
politische Situation  in  unserem  Vaterlande  so  schwierig  gestaltet,  ist  sonderbarer- 
weise eine  auffallende  Neigung  für  alles  Fremdländische  verbunden,  das  der  Deutsche, 
seiner  nationalen  Würde  vergessend,  als  etwas  Vollkommeneres  anzusehen  sich 
gewöhnt  hat.  Um  so  mehr  müssen  wir  darauf  bedacht  sein,  unsere  kulturelle  Selb- 
ständigkeit —  kulturell  im  weitesten  Sinne  der  Wortes  genommen  —  gegenüber 
dem  Auslande  zu  bewahren.  Diese  Erkenntnis  war  es  fraglos,  die  den  deutschen 
Kronprinzen  gelegentlich  seiner  Investitur  als  Rector  Magnificentissimus  der 
Universität  Königsberg  die  Worte  finden  ließ,  die  jedem  Vaterlandsfreund  aus 
dem  Herzen  gesprochen  waren:  „Vielmehr  sehnen  wir  uns  nach  Betonung  unseres 
deutsch-nationalen  Volkstums  im  Gegensatz  zu  den  internationalisierenden  Be- 
strebungen, welche  unsere  völkische  Eigenart  zu  verwischen  drohen."  Diese  selbe 
Erkenntnis  ist  es,  die  unseren  Schulen  mit  besonderer  Dringlichkeit  die  Verpflichtung 
auferlegt,  die  Jugend  in  deutschem  Geiste  zu  erziehen,  sie  deutsch  denken  und 
empfinden  zu  lehren,  sie  teilnehmen  zu  lassen  an  den  Leistungen  und  Errungen- 
schaften der  echt  deutschen  Kultur  und  an  ihrer  Pflege  sich  alle  die  nationalen  Wesens- 
eigentümlichkeiten entzünden  zu  lassen,  die  das  Bewußtsein  völkischer  Zusammen- 
gehörigkeit zu  einem  unzerstörbaren  und  unverlierbaren  Besitz  machen.  Der  deut- 
sche Unterricht  muß  daher  das  zentrale  Bildungsfach  auf  unsern  Schulen  werden. 
Deutsche  Sprache,  deutsches  Recht,  deutsche  Sitte,  deutsche  Kunst,  deutsche 
Dichtung,  deutsche  Geschichte  haben  den  breitesten  Raum  im  gesamten  Unterricht 
einzunehmen  und  mehr  oder  weniger  den  Kristallisationspunkt  für  alle  andern 
Unterrichtsfächer  abzugeben.  Nur  so  werden  wir  die  Kluft  der  Lebensanschauung 
überbrücken,  die  heute  noch  bei  uns  den  Studierten  vom  Nichtstudierten  scheidet, 
so  allein  werden  wir  das  den  verschiedensten  Bevölkerungsschichten  gemeinsame 
geistige  Band  schaffen,  das  alle  Glieder  der  Nation  gleich  und  frei  und  freudig 
bindet,  so  allein  werden  wir  uns  am  sichersten  vor  dem  Ansturm  fremder  Kul- 
turen schützen,  so  werden  wir  auch  am  ehesten  den  verhängnisvollen  konfessionellen 
Zwist  überwinden,  wie  er  ausgeprägter  in  keinem  Lande  der  Welt  zu  finden  ist, 
und  ein  sich  seiner  Kraft  und  Größe  bewußtes  Deutschtum  schaffen.  „Wir  wollen 
nationale  junge  Deutsche  erziehen  und  nicht  junge  Griechen  und  Römer;''  aber 
auch  nicht  junge  Franzosen  und  Engländer.  Leider  scheint  es,  als  ob  das  manchen 
Vertretern  der  neueren   Philologie  noch  nicht  zum   Bewußtsein  gekommen  ist. 


254  G.  Humpf, 

In  der  „Zeitschrift  für  lateinlose  höhere  Schulen"  XX,  S.  327  ff.  unternimmt 
es  Ullmann,  einem  intensiveren  Betrieb  des  Französischen  auf  der  Unterstufe  das 
Wort  zu  reden  und  zwar  auf  Kosten  der  übrigen  Fächer,  denen  er  mit  Ausschluß 
des  Deutschen  je  eine  Stunde  nehmen  will.  Um  für  diese  Fächer  den  Verlust  nur 
wenig  oder  gar  nicht  empfindlich  zu  machen,  schlägt  er  vor,  den  Sprechübungen 
—  auf  die  kommt  es  U.  im  wesentlichen  an  —  die  entsprechenden  Unterrichts- 
stoffe zugrunde  zu  legen,  und  versteigt  sich  dabei  zu  der  kühnen,  von  Reinecke 
in  der  „Zeitschrift  für  lateinlose  höhere  Schulen"  XXI,  (S.  153  u.  154)  festgenagelten 
These:  „Nur  erscheint  mir  der  Nutzen,  der  durch  das  von  mir  angestrebte  Ideal 
für  den  ganzen  Bildungsgang  des  Menschen  erzielt  würde,  riesengroß  im  Verhältnis 
zu  dem  Schaden,  der  etwa  den  andern  Unterrichtsgegenständen  zugefügt  werden 
würde."  Wenn  R.  in  der  erwähnten  Erwiderung  mit  aller  Entschiedenheit  und 
deutlichem  Unmut  gegen  solche  pädagogische  Entgleisung  Front  macht,  so  muß 
ihm  jeder  beipflichten,  der  von  der  deutschen  Schule  mehr  erwartet  als  etwas 
französische  Backfisch-Plapperei.  Mit  Recht  verwahrt  sich  R.  als  Mathematiker 
und  Naturwissenschaftler  gegen  eine  solche  Verkennung  der  Bedeutung  des  Rechen- 
und  erdkundlichen  Unterrichts,  wie  sie  in  dem  Vorschlage  von  U.  liegt.  Aber  nun 
denke  man  sich  gar  eine  Religionsstunde  auf  Französisch!  Wie  die  erbauend  auf 
die  zarten  Kindergemüter  wirken  muß  1  Der  Gedanke  ist  einfach  absurd.  Welchen 
Eindruck  mag  wohl,  wie  es  in  einer  Berliner  Anstalt  vorgekommen  sein  soll,  die 
Deklamation  von  ,Mon  beau  sapin  . . .'  auf  die  vom  Zauber  der  Weihnachtsstimmung 
ergriffenen  Zuschauer  gemacht  haben !  Der  Sextaner,  der  noch  so  weit  davon  ent- 
fernt ist,  seine  Muttersprache  zu  kennen  und  zu  können,  der  soll  schon  ganz  im 
Französischen  aufgehen,  soll  französisch  denken,  fühlen,  beten  lernen!  Heißt  das 
nationale  Erziehung?  Das  heißt  doch  vielmehr  gewaltsam  den  Einfluß  der  Mutter- 
sprache untergraben,  das  heißt  doch  schon  den  Knaben  in  ein  unbekanntes  Land 
führen,  wo  er  als  hilfloser  Fremder  nichts  versteht  und  wo  er  nicht  verstanden 
wird,  wo  er  kein  Brot  findet,  das  ihn  ernährt,  wo  ihm  keine  Sonne  scheint,  die  ihn 
erwärmt. 

Auch  das  Kapitel  vom  fremdsprachlichen  Aufsatz  muß  in  diesem  Zusannnen- 
hang  nochmals  angeschnitten  werden.  Er  hat  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  der  Schüler 
dahin  gebracht  werden  kann,  im  fremden  Geiste  zu  denken,  denn  sonst  kommt 
doch  nur  ein  deutsch-französisches  oder  deutsch-englisches  Ungeheuer  heraus. 
Gesetzt,  wir  erreichen  das  erstrebte  Ziel  —  ich  weiß  nicht,  ob  es  irgendwo  der  Fall 
ist  —  dann  haben  wir  der  nationalen  Sache  einen  schlechten  Dienst  erwiesen. 
Unsere  Jugend  soll  deutsch  denken  lernen,  aber  nicht  deutsch  und  französisch 
und  englixh  und  womöglich  gar  noch  lateinisch  (Stilistik!),  also  antik  und  modern- 
international zugleich. 

Anders  steht  es  mit  der  fremdsprachlichen  Lektüre.  Wenn  wir  uns  auf  der 
Schule  mit  den  Erzeugnissen  einer  fremden  Kultur  befassen,  so  ist  die  Absicht 
nicht  die,  eine  fremde  Welt-  und  Lebensanschauung  auf  unsere  eigene  aufzupfropfen, 
sondern  durch  vergleichende  Betrachtung  das  Bewußtsein  und  die  Erkenntnis 
von  der  Eigenart  deutschen  Wesens  und  deutscher  Kultur  zu  verstärken  und  aus 
der  Fremde  vor  allem  das  herüber  zu  nehmen  und  zu  pflegen,  was  des  christlich- 
germanischen Geistes  einen  Hauch  trägt  und  mit  deutscher  Denkungs-  und  Emp- 
findungsart  eine  innige,  läuternde  Verbindung  einzugehen  vermag. 


Ein  Beitrag  zur  Frage  der  staatsbürgerlichen  Erziehung  usw.  255 

Die  vornehmste  und  wichtigste  Aufgabe  des  fremdsprachlichen  Unterrichts 
besteht  darin,  an  seinem  Teile  zu  einem  volleren  Verständnis  und  tieferen  Erfassen 
unserer  nationalen  Kultur  beizutragen.  Inwiefern  er  das  kann,  darüber  habe  ich 
mich  gleichfalls  im  Pädagogischen  Archiv  und  Jahrbuch  des  Vereins  für  wissen- 
schaftliche Pädagogik  a.  a.  0.  geäußert  und  wiederhole  hier  das  dort*)  Gesagte:. 
Die  klassische  Periode  des  18.  Jahrhunderts  trägt  am  ausgeprägtesten  den 
Stempel  deutscher  Geisteskultur.  Daher  haben  Männer  wie  Klopstock^ 
Lessing,  Herder,  Goethe,  Schiller,  Kant  den  Rahmen  abzugeben  nicht 
nur  für  die  Auswahl  der  deutschen,  sondern  auch  der  fremdsprachlichen  Lektüre. 
Die  Bekanntschaft  mit  Corneille,  Racine,  Moliere  erschließt  dem 
Schüler  das  Verständnis  der  vorklassischen  Periode,  läßt  ihn  die  Bedeutung 
Gottscheds  und  seiner  Anhänger  erkennen  und  gibt  ihm  die  Möglichkeit,  die 
Entwicklung  des  nationalen  Dramas  im  Sinne  Lessings  historisch  zu  verfolgen 
und  Lessings  künstlerische  Stellungnahme  zu  den  Franzosen  zu  verstehen. 
•  Auf  Miltons  Paradise  Lost  fußend,  leitet  Klopstock  die  Reaktion  gegen  die 
Einseitigkeit  französisch-klassizistischer  Verstandeskultur  ein,  und  Shakespeare 
stellt  das  erhabene  Muster  des  wahrhaft  klassisch-deutschen  Dramas  dar. 

Die  deutsche  Romantik  hat  ihren  Ausgangspunkt  in  Rousseau,  ohne  desser^ 
Kenntnis  das  Wesen  dieser  Seite  der  klassisch-deutschen  Dichtung  nicht  faßbar 
ist,  und  sie  steht  ferner  unter  dem  tiefgehenden  Einfluß  altenglischer  und  alt- 
schottischer  Balladen  des  Bischofs  P  e  r  c  y  und  der  Lieder  Ossians  von  Macpherson. 
Die  englische  Einwirkung  auf  die  deutsche  Romantik  setzt  sich  im  19.  Jahr- 
hundert fort  in  den  Romanen  Scotts  und  der  politisch-freiheitlichen  Dichtung 
Byrons. 

Vor  einigen  Monaten  ging  durch  die  Presse  eine  Notiz,  daß  nach  dem  Beschlüsse 
der  Stadtverordneten  in  Düsseldorf  für  die  Primaner  der  dortigen  höheren  Lehr- 
anstalten Vorträge  über  Bürgerkunde  von  höheren  Verwaltungsbeamten  in  Stadt 
und  Provinz  gehalten  werden  sollen,  ein  Gedanke,  der  schon  mehrfach  im  deutschen 
Vaterlande  Verwirklichung  gefunden  hat.  Die  Schule  sollte  sich  gegen  solche  Veran- 
staltungen mit  aller  Macht  wehren.**)  Einmal  liegt  darin  doch  eine  Desavouierung 
der  Lehrer,  und  zwar  eine  völlig  ungerechtfertigte.  Selbst  denjenigen  von  den. 
Kollegen,  die  sich  bisher  nur  sehr  wenig  oder  gar  nicht  um  bürgerkundliche  Dinge 
gekümmert  haben,  ist  die  Gelegenheit  geboten,  sich  an  der  Hand  einer  umfangreichen 
trefflichen  Literatur  —  ich  erinnere  nur  an  die  einschlägigen  Bände  in  den  Samm- 
lungen Göschen,  Kösel,  ,,Wisenschaft  und  Bildung",  „Aus  Natur  und  Geistes- 
welt" —  gründlich  in  die  Materie  einzuarbeiten.***)  Sodann  aber  geben  jene  Ver- 
anstaltungen zu  nicht  geringen  pädagogischen  Bedenken  Anlaß.  Sie  scheinen  mir 
auf  einer  völligen  Verkennung  des  Zieles  und  des  Wesens  einer  vernünftigen  Er- 
ziehung zum  Staatsbürger  wie  der  Jugenderziehung  überhaupt  zu  beruhen.  Mit 
einer  mehr  oder  minder  umfangreichen  Stoffdarbietung  aus  dem  Gebiete  unserer 

*)  Jahrb.  S.  131/132. 

**)  Ich  verweise  bei  dieser  Gelegenheit  auch  auf  die  fleißige  Zusammenstellung 
von  Prahl:  Literatur  für  die  Behandlung  politischer  und  wirtschaftlicher  Fragen  im 
Unterricht;  Prenzlau   1911;  C.  Vincent. 

***)  Man  kann  das  eine  tun  und  braucht  das  andere  nicht  zu  lassen !  Siehe  den 
Aufsatz  auf  der  folgenden  Seite.  Mtth. 


256  M.  Schvveigel, 

heutigen  Staats-,  Rechts-  und  Wirtschaftsordnung  ist  herzlich  wenig  erreicht, 
wenn  der  Schüler  alle  diese  Dinge  nicht  in  den  historischen  Zusammenhang  ein- 
zuordnen und  aus  dem  geschichtlichen  Entwicklungsgang  heraus  zu  erklären  ver- 
mag. Wir  sollten  uns  doch  hüten,  Verwirrung  in  den  jugendlichen  Köpfen  anzu- 
richten durch  das  Darbieten  von  unverstandenen  Einzelheiten,  die  in  das  Gebiet 
der  Fachwissenschaft  gehören.  Die  Jugenderziehung  hat  es  mit  allgemeinen, 
grundlegenden  Werten  zu  tun,  die  der  eigenen  Weiterbildung  im  späteren  Leben 
in  jeder  Richtung  ein  günstiger  Boden  sein  können.  Geben  wir  unserer  Jugend 
die  Grundlagen  zum  Verständnis  unserer  Zeit,  und  wir  geben  ihr  alles. 
Elmshorn.  Gustav  H  u  m  p  f. 


Bürgerkundliche  Vorträge  für  Schüler  in  Düsseldorf. 

Nachdem  seit  einer  Reihe  von  Jahren  in  Wort  und  Schrift,  von  Schulmännern 
und  Nichtschulmännern  immer  dringender  eine  staatsbürgeriiche  Erziehung  der 
Jugend  gefordert  wird,  beginnt  sich  mehr  und  mehr  die  Erkenntnis  durchzuringen, 
daß  hier  der  Schule,  insbesondere  der  höheren  Schule,  eine  Aufgabe  erwächst, 
die  sie  bisher  in  ausreichendem  Maße  nicht  erfüllt  hat.  Dem  Vorwurf  allerdings, 
daß  sie  für  die  staatsbürgeriiche  Bildung  ihrer  Zöglinge  so  gut  wie  nichts  getan 
haben,  können  die  höheren  Lehranstalten  leicht  mit  dem  Hinweis  auf  die  Fülle 
bürgerkundlicher  Belehrungen  begegnen,  die  in  den  verschiedenen  Unterrichts- 
fächern enthalten  sind.  Auch  muß  denen  gegenüber,  die  glauben,  die  Schule 
könne,  wenn  sie  nur  wolle,  durch  staatsbürgeriiche  Belehrungen  Staatsbürger  er- 
ziehen, immer  wieder  hervorgehoben  werden,  daß  die  Vermittlung  bürgerkund- 
licher Kenntnisse  allein  noch  keine  staatsbürgerliche  Erziehung  ist,  daß  die  spätere 
staatsbürgeriiche  Gesinnung  und  Betätigung  des  Schülers  vor  allem  von  seiner 
Charakterbildung  abhängen  wird.  Die  bürgerkundlichen  Belehrungen  dürfen 
deshalb  für  die  staatsbürgerliche  Erziehung  nicht  überschätzt,  andererseits  aber 
auch  nicht  zu  gering  gewertet  werden,  da  ohne  tieferes  Verständnis  für  die  staat- 
lichen Einrichtungen  und  das  wirtschaftliche  Leben  der  Gegenwart  ein'reges  Staats- 
gefühl nicht  erwachsen  kann.  Die  höhere  Schule  wird  also  zu  erwägen  haben, 
in  welcher  Weise  und  in  welchem  Umfange  sie  bürgerkundliche  Belehrungen  vor- 
nehmen soll.  Hierbei  ergeben  sich  besonders  zwei  Schwierigkeiten:  Es  ist  nicht 
leicht,  alle  diese  Belehrungen  so  zu  gestalten,  daß  sie  das  Interesse  der  Schüler 
dauernd  fesseln,  und  selbst  der  tüchtigste  Lehrer  der  Geschichte  —  denn  dem 
Geschichtsunterricht  werden  die  bürgerkundlichen  Belehrungen  im  wesentlichen 
zufallen*)  —  ist  kaum  imstande,  allen  Anforderungen,  welche  dieser  Unterricht 
an  ihn  stellt,  zu  genügen.  Dies  brachte  mich  auf  den  Gedanken,  als  eine  E  r  - 
gänzung  des  Unterrichtes  für  die  reiferen  Schüler  bürgerkundliche 
Vorträge  einzuführen,  gehalten  von  Herren,  die  mit  dem  betreffenden  Gebiete 
durch  ihren  Beruf  bis  ins  einzelne  vertraut  sind.    Im  Einverständnis  mit  den  Direk- 


*)  Über  die  Frage,  ob  im  Geschichtsunterricht  zu  Bürgerkunde  in  der  erforder- 
lichen Weise  Zeit  gefunden  werden  kann,  vgl.  Neubauer,  „Die  höheren  Schulen  und 
die  staatsbürgerliche  Erziehung*',  S.  24 ff.     Neubauer  verneint  die  Frage. 


Bürgerkundliche  Vorträge  für  Schüler  in  Düsseldorf.  257 

toreii  der  Düsseldorfer  höheren  Knabenschulen  wandte  ich  mich  an  Herrn  Ober- 
bürgermeister Dr.  Oehler  mit  dem  Wunsche,  für  die  Schüler  der  oberen  Klassen 
aller  höheren  Knabenschulen  der  Stadt,  der  städtischen  wie  auch  der  staatlichen, 
bürgerkundliche  Vorträge  einzurichten.  Ich  fand  das  größte  Entgegenkommen. 
Nachdem  das  Kuratorium  meinen  Antrag,  mit  solchen  Vorträgen  im  Winter  1911/12 
einen  Versuch  zu  machen,  angenommen  hatte,  bewilligte  die  Stadtverordneten- 
versammlung für  die  »entstehenden  Kosten  (Saalmiete,  Druck,  Einladungen)  zu- 
nächst die  Summe  von  600  M.  Da  keine  Schulaula  groß  genug  war,  um  die  Menge 
der  Schüler  aufzunehmen,  sollten  die  Vorträge  in  einem  Saale  der  städtischen 
Tonhalle  stattfinden.  Außer  den  Lehrerkollegien  und  den  Eltern  der  Schüler 
wurden  auch  eine  Reihe  von  Herren  der  Stadt  eingeladen,  unter  ihnen  der  Herr 
Regierungspräsident,  der  Herr  Landeshauptmann,  der  Herr  Oberlandesgerichts- 
präsident und  der  Herr  Landgerichtspräsident,  die  der  Einrichtung  der  Vorträge 
großes  Interesse  entgegenbrachten. 

Der  erste  Vortrag  fand  am  11.  Oktober  statt,  und  zwar  sprach  Herr 
Beigeordneter  Dr.  Matthias  über  ,, Stadtverwaltun  g".  Nach- 
dem der  Redner  darauf  hingewiesen  hatte,  daß  man,  um  unsere  staatlichen  Ein- 
richtungen zu  verstehen,  erst  in  seiner  engeren  Heimat  Bescheid  wissen  muß, 
begann  er  mit  der  Stadtverordnetenversammlung.  Sie  bestimmt  die  Grundsätze, 
nach  denen  die  Verwaltung  gehandhabt  werden  soll.  Sie  wählt  den  Bürgermeister, 
sie  wird  bei  der  Beamtenanstellung  gehört,  sie  beschließt  über  die  Ausgaben  der 
Stadt.  Wer  kann  Stadtverordnete  wählen,  und  wer  kann  gewählt  werden?  Ein 
jeder,  der  das  Bürgerrecht  besitzt.  Die  Bestimmungen  über  den  Erwerb  des  Bürger- 
rechtes in  Preußen  sind  in  den  verschiedenen  Städteordnungen  zu  finden.  Das 
Bürgerrecht  nach  der  rheinischen  Städteordnung.  Die  Stadtverordnetenwahl  ist 
in  den  meisten  preußischen  Provinzen  eine  Dreiklassenwahl.  Die  Bildung  der 
Wahlabteilungen  durch  Dreiteilung  und  Zwölftelung  wurde  an  Beispielen  erläutert 
und  der  Zweck  dieser  Wahlsysteme  erklärt.  Die  Zwölftelung  kann  durch  Orts- 
statut eingeführt  werden.  Die  Stadtverordnetenwahl  ist  eine  öffentliche  Wahl. 
Vergleich  mit  den  Wahlen  zum  Reichstag  und  preußischen  Abgeordnetenhaus. 
Einspruch  gegen  die  Gültigkeit  der  Wahl.  Absolute  Mehrheit.  Stichwahl.  In 
Städten  mit  Dreiklassenwahl  muß  jede  Abteilung  zur  Hälfte  aus  Hausbesitzern 
bestehen.  Erklärung  des  Grundes.  Verschiedene  Größe  der  Stadtverordneten- 
versammlungen. Wahlperiode,  Ergänzungswahl,  Ersatzwahl.  Das  Amt  der 
Stadtverordneten  ein  Ehrenamt.  Die  Sitzungen  der  Stadtverordneten.  Der 
Bürgermeister  oder  Stadtverordnetenvorsteher  Vorsitzender.  Der  Redner  sprach 
weiter  über  Magistratsverfassung  und  Bürgermeistereiverfassung.  Die  Beigeord- 
neten. Wahl  und  Bestätigung  des  Bürgermeisters,  der  Beigeordneten  und  Ma- 
gistratsräte. Die  Tätigkeit  des  Bürgermeisters.  Kreisfreie  und  kreisangehörige 
Städte.  Die  Städte  haben  in  dem  Regierungspräsidenten  eine  staatliche  Aufsichts- 
behörde. Rechte  des  Regierungspräsidenten  der  Stadt  gegenüber.  Bezirksausschuß 
und  Provinzialrat.  Eingehend  wurden  die  städtischen  Finanzen  behandelt.  Das 
Vermögen  der  Städte.  Verzinsung  und  Tilgung  der  Schulden.  Der  städtische 
Etat.  Die  Steuern,  indirekte  und  direkte,  Umsatzsteuer,  Wertzuwachssteuer, 
Schankerlaubnissteuer,  Einkommensteuer,  Kirchensteuer,  Grund-  und  Gebäude- 
Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XL  Jhrg.  1 7 


258  1     M.  Schweigel, 

Steuer,  Gewerbesteuer.  Die  Verwendung  der  aus  den  Steuern  fließenden  Summen 
wurde  an  Beispielen  erläutert.  Der  Redner  sprach  sodann  .ausführlich  über  die 
Straßenanlegung  und  Bebauung  und  hierauf  über  die  Fürsorge  für  die  Armen, 
Kranken  und  Schwachen.  Eine  eingehende  Behandlung  erfuhr  hierbei  das  Armen- 
wesen nach  dem  Elberfelder  System.  Der  fesselnde  Vortrag  schloß  mit  einem 
Blick  auf  das,  was  die  Städte  für  die  Volksbildung  durch  Unterhaltung  von  Volks-,. 
Mittel-  und  höheren  Schulen,  selbst  Hochschulen  tun,  aiif  ihre  Förderung  der 
Kunst  durch  Theater,  Museen  und  Kunstgewerbeschulen  und  endlich  auf  ihre 
Beteiligung  an  dem  wirtschaftlichen  Aufschwünge  des  Landes,  indem  sie  gewerb- 
liche Unternehmungen  aller  Art  betreiben,  Häfen  und  Kleinbahnen  bauen  und  ihre 
großen  Mittel  nutzbar  anlegen. 

Ein  am  3.  November  vom  Herrn  Landesrat  Adams  gehaltener 
Vortrag  handelte  von  der,, Staatlichen  Verwaltung  und  Selbst- 
verwaltung". Nachdem  der  Redner  einen  Blick  auf  die  Staatsverwaltung: 
im  weitesten  Sinne  geworfen  hatte,  ging  er  auf  die  Verwaltung  im  engeren  Sinne 
oder  innere  Verwaltung  ein.  Er  erörterte  die  Verwaltungsorganisation  (Gemeinde, 
Land- und  Stadtkreis,  Regierungsbezirk,  Provinz)  und  behandelte  die  verschiedenen 
Ministerien  (Ernennung  des  Ministers  durch  den  König,  Staatsministerium,  Mi- 
nisterpräsident, Unterstaatssekretäre,  Ministerialdirektoren,  vortragende  Räte),  die 
staatliche  Verwaltung  in  Provinz,  Regierungsbezirk  und  Kreis.  Hierauf  sprach 
er  über  die  Selbstverwaltung  und  legte  ausführlich  die  Provinzialverwaltung  dar. 
Provinziallandtag,  Provinzialausschuß,  Landeshauptmann  und  Landesräte,  Geld- 
mittel für  die  Provinzialverwaltung,  ihre  Aufgaben:  Straßenbau,  Landesmelio- 
ration, Armenwesen,  Fürsorge  für  Geisteskranke,  Epileptische  und  Idioten,  Taub- 
stummen- und  Blindenanstalten,  Fürsorgeerziehung,  Arbeitsanstalten  für  Land- 
streicher und  Bettler,  landwirtschaftliche  Winterschulen,  Weinbau-  und  Obstbau- 
schulen, Denkmalpflege,  Provinzialmuseen. 

Am  1.  Dezember  hielt  Herr  Regierungsrat  Dr.  Hoff  mann  den 
dritten  Vortrag  über  ,,Die  Verfassung  Preußens  und  des  Deut- 
schen Reich  es". 

Nach  einigen  Worten  über  den  Begriff  ,, Staat"  und  die  Staatsformen  der 
Monarchie  und  Republik  wandte  sich  der  Redner  der  preußischen  Verfassung  zu. 
Er  ging  aus  von  der  ständischen  Verfassung,  wie  sie  Kurfürst  Friedrich  L  in  Branden- 
burg vorfand,  sprach  über  das  Steuerbewilligungsrecht  der  Stände,  über  die  lang- 
wierigen Verhandlungen  des  Großen  Kurfürsten  mit  den  Ständen,  bis  es  ihm  gelang, 
sich  finanziell  unabhängig  von  ihnen  zu  machen,  und  betrachtete  dann  den  absoluten 
Staat.  Zu  unserer  heutigen  Verfassung  übergehend,  wies  er  auf  den  Unterschied 
hin,  daß  in  Preußen  dem  Könige  alle  Rechte  zustehen,  die  ihm  die  Verfassung 
nicht  ausdrücklich  entzieht,  während  in  Ländern,  deren  Verfassungen  auf  dem 
Grundsatz  der  Volkssouveränität  beruhen,  der  König  nur  die  Rechte  hat,  die  ihm 
die  Verfassung  überträgt.  Einteilung  der  gesamten  Staatstätigkeit  in  gesetz- 
gebende Gewalt,  richterliche  Gewalt,  vollziehende  Gewalt  und  Verwaltung.  Aus- 
übung der  gesetzgebenden  Gewalt  durch  den  König,  Herrenhaus  und  Abgeordneten- 
haus. Die  Wahl  zum  Abgeordnetenhaus,  Zusammensetzung  des  Herrenhauses. 
Ausübung  der  richterlichen  Gewalt  im  Namen  des  Königs  durch  unabhängige 


Bürgerkundliche  Vorträge  für  Schüler  in  Düsseldorf.  259 

Gerichte.  Das  Begnadigungsrecht  der  Rest  der  richterlichen  Gewalt  des  Königs. 
Einschränkung  der  vollziehenden  Gewalt  des  Königs  dadurch,  daß  alle  Regierungs- 
akte zu  ihrer  Gültigkeit  der  Gegenzeichnung  eines  Ministers  bedürfen.  Im  Gegen- 
satz zu  anderen  Verfassungen  kennt  die  preußische  nicht  die  Ministeranklage 
wegen  Verfassungsverletzung,  sondern  die  Ministerverantwortlichkeit  beschränkt 
sich  darauf,  daß  der  Minister  die  Regierungshandlung  des  Königs,  die  er  gegen- 
gezeichnet hat,  in  der  Öffentlichkeit,  besonders  im  Parlament  zu  vertreten  hat. 
Diese  Bindung  der  königlichen  Exekutive  durch  die  Ministerverantwortlichkeit 
erstreckt  sich  nicht  auf  den  Oberbefehl  über  Heer  und  Marine.  Beschränkung 
der  Staatsverwaltung  durch  die  Rechte,  die  den  Selbstverwaltungskorporationen 
und  ihren  Organen  verliehen  sind.  Es  folgte  die  Reichsverfassung.  Nach  Er- 
läuterung der  Begriffe  Staatenbund  und  Bundesstaat  legte  der  Redner  die  gesetz- 
gebende Gewalt  im  Reiche  dar,  das  Entstehen  eines  Reichsgesetzes  durch  Zusammen- 
wirken von  Bundesrat  und  Reichstag,  sprach  über  die  Zusammensetzung  des 
Bundesrats,  besonders  über  die  preußischen  Stimmen  im  Bundesrat,  über  Reichs- 
tagswahlrecht und  Legislaturperioden  und  behandelte  ausführlich  die  vollziehende 
Gewalt  im  Reiche,  die  Rechte  des  Kaisers  und  die  Stellung  des  Reichskanzlers. 
Zum  Schluß  wies  er  darauf  hin,  wie  jedes  neue  Reichsgesetz  ein  neues  einigendes 
Band  um  das  deutsche  Volk  schlingt. 

In  einem  vierten  Vortrage  [behandelte  am  19.  [Januar  1912  Herr  [L  a  n  d - 
richter  Dr.  Frese,, Unser  Recht  und  unsere  Gerichtshof  e". 
Der  Redner  ging  davon  aus,  was  unter  Recht  im  objektiven  Sinne  zu  verstehen  ist, 
erklärte  die  Begriffe  Staatsrecht  (Verwaltungsrecht  und  Verfassungsrecht),  Kirchen- 
recht, Völkerrecht,  Strafrecht,  Privatrecht,  Prozeßrecht  und  setzte  auseinander, 
daß  nur  das  Straf-  und  Privatrecht  Gegenstand  der  Rechtssprechung  seien.  Er 
warf  dann  einen  Blick  auf  die  geschichtliche  Entwicklung.  In  alten  Zeiten  stand 
im  Deutschen  Reich  die  Rechtssprechung  dem  Kaiser  zu,  der  ihre  Ausübung  ebenso 
wie  die  Verwaltung  der  einzelnen  Landesteile  den  Grafen  und  später  den  Landes- 
herren übertrug  oder  überließ.  Einrichtung  von  Gerichtshöfen  (Reichskammer- 
gericht), deren  Entscheidung  aber  von  ihrem  obersten  Herrn,  der  auch  oberster 
Richter  war,  umgestoßen  werden  konnte.  Die  gänzliche  Trennung  von  Justiz 
und  Verwaltung  wurde  zuerst  von  Montesquieu  gefordert.  Nachdem  dieses  Prinzip 
schon  in  die  Verfassungen  der  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  und  Frankreichs 
aufgenommen  worden  war,  wurde  es  auch  in  Preußen  durch  die  Stein  -  Harden- 
bergsche  Reorganisation  des  Staates  zur  Durchführung  gebracht.  Im  heutigen 
Deutschen  Reich  ist  die  Organisation  der  Gerichte  wie  auch  das  gesamte  von  diesen 
zu  übende  Verfahren  seit  1877  durch  die  Reichsjustizgesetze,  nämlich  das  Gerichts- 
verfassungsgesetz, die  Zivilprozeßordnung  und  die  Strafprozeßordnung,  einheitlich 
geregelt.  Oberster  Grundsatz  unserer  gesamten  Rechtssprechung  ist,  daß  die 
richterliche  Gewalt  durch  unabhängige,  nur  dem  Gesetz  unterworfene  Gerichte 
ausgeübt  wird.  Kein  Richter  ist  bei  Ausübung  seines  richterlichen  Amtes  an  den 
Befehl  eines  Vorgesetzten  gebunden.  Der  Justizminister  ist  kein  Richter,  sondern 
die  Spitze  der  Justizverwaltung.  Ebensowenig  ist  das  dem  preußischen  Justiz- 
ministerium entsprechende  Reichsjustizamt  eine  richterliche  Behörde.  Ihre  Tätig- 
keit beschränkt  sich  auf  die  Justizverwaltung,  die  Prüfung  der  Bewährung  der 

17* 


260  M.  Schweigel,  Bürgerkundliche  Vorträge  für  Schüler  in  Düsseldorf. 

Gesetze  und  die  Ausarbeitung  neuer  Gesetze.  Dem  König  ist  von  seinen  richter- 
lichen Rechten  nur  das  Begnadigungsrecht  geblieben.  Der  Redner  ging  dann  zu 
einer  Besprechung  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches  über,  wobei  auch  das  Allgemeine 
deutsche  Handelsgesetzbuch  Erwähnung  fand.  Er  behandelte  die  Einteilung  des 
Bürgerlichen  Gesetzbuches,  natürliche  und  juristische  Person,  die  Begriffe  un- 
mündig, minderjährig,  volljährig,  Rechtsgeschäfte,  Vertrag,  Kaufvertrag,  Miet- 
vertrag, Pacht,  Dienstvertrag,  Werkvertrag,  das  Sachenrecht,  Eigentum,  Pfand- 
recht, Hypothek,  Grundbuch,  das  Familienrecht,  das  Erbrecht.  Überall  erieichterten 
Beispiele  das  Verständnis.  Nach  dieser  Übersicht  über  das  Bürgerliche  Gesetzbuch 
schritt  der  Vortragende  zu  einer  kurzen  Betrachtung  des  Strafgesetzbuches.  U.  a. 
erklärte  er  an  Beispielen,  was  Übertretung,  Vergehen  und  Verbrechen  ist.  Zum 
Schluß  sprach  er  über  Staatsanwaltschaft,  Schöffengericht,  Strafkammer,  Schwur- 
gericht, Strafprozeß  und  Zivilprozeß,  über  die  Bedeutung  des  Oberlandesgerichts 
und  Reichsgerichts. 

Damit  bei  der  hohen  Stundenzahl  der  oberen  Klassen  eine  Überlastung  der 
Schüler  vermieden  würde,  sollten  nur  4  Vorträge  stattfinden,  von  denen  wegen  der 
Reifeprüfung  der  letzte  im  Januar  gehalten  wurde.  Als  Stunde  wurde  6 — 1  Uhr 
nachmittags  gewählt,  so  daß  die  Schüler  schon  vorher  ihre  häuslichen  Arbeiten 
erledigt  haben  konnten.  Hierzu  ließ  ich  den  an  dem  betreffenden  Nachmittage 
liegenden  Turn-  und  wahlfreien  Unterricht  ausfallen,  und  an  den  anderen  An- 
stalten werden  ähnliche  Erleichterungen  eingetreten  sein.  Die  Vorträge  waren 
von  450 — 500  Schülern  aller  höheren  Knabenschulen  der  Stadt  besucht,  und  zwar 
von  den  Schülern  der  drei  oberen  Klassen  und  vom  dritten  Vortrage  an  auf  Wunsch 
einiger  Geschichtslehrer  auch  von  Schülern  der  Untersekunda.  Meine  Unter- 
sekundaner baten  auch  selbst  darum,  zu  den  Vorträgen  zugelassen  zu  werden. 
Eine  Anstalt  hatte  die  Untersekundaner  von  Anfang  an  geschickt.  Außer  den 
Schülern  erschienen  zu  den  Vorträgen  auch  eine  Anzahl  geladener  Herren,  Direk- 
toren der  höheren  Lehranstalten,  Mitglieder  der  Lehrerkollegien  sowie  Angehörige 
der  Schüler. 

Der  Versuch  mit  diesen  Vorträgen  darf  als  gelungen  angesehen  werden,  denn 
die  Schüler  brachten  ihnen  ein  reges  Interesse  entgegen,  und  die  Besprechung 
der  Vorträge  im  Unterricht  ergab,  daß  sie  im  wesentlichen  auch  gut  verstanden 
worden  waren.  Ein  Eingehen  auf  die  Vorträge  im  Unterricht  ist,  wenn  sie  ihren 
vollen  Nutzen  haben  sollen,  allerdings  notwendig,  und  es  ist  deshalb  sehr  erwünscht, 
daß  der  Geschichtslehrer,  dem  diese  Aufgabe  in  erster  Linie  zufallen  wird,  die 
Vorträge  selbst  anhört.  Die  Vorträge  sollen  jetzt  gedruckt  werden,  und  jeder 
Schüler  wird  kostenlos  ein  Exemplar  erhalten.  Auch  sollen  Exemplare  in  den 
Bibliotheken  der  höheren  Lehranstalten  den  Lehrern  für  ihren  Unterricht  zur  Ver- 
fügung stehen.  Die  Vorträge  werden  voraussichtlich  nächsten  Winter  fortgesetzt 
werden,  und  zwar  soll  dann  auch  das  Wirtschaftsleben  Berücksichtigung  finden. 

Düsseldorf.  M.  Schweigel. 


A.  Tafelmacher,  Der  bürgerkundjiche  Unterricht  in  der  Handels- Realschule  usw.    261 

Der  bürgerkundliche  Unterricht  in  der  Handels-Realschule 

zu  Dessau. 

Auf  der  vom  6.  bis  zum  9.  Juni  dieses  Jahres  in  Nordhausen  stattgehabten 
Versammlung  der  Direktoren  der  Provinz  Sachsen  und  der  anliegenden  Fürsten-  und 
Herzogtümer  stand  auch  das  Thema:  ,,Die  Belehrungen  in  der  Bürgerkunde  und 
die  Frage  der  staatsbürgerlichen  Erziehung"  zur  Verhandlung.  Man  war  darüber 
einig,  daß  bürgerkundliche  Belehrungen  den  Schülern  aller  höheren  Lehranstalten 
zuteil  werden  müssen,  und  zwar  im  Zusammenhang  mit  dem  Unterricht  in  anderen 
Fächern,  hauptsächlich  in  der  Geschichte,  und  es  wurde  unter  No.  4  der  folgende 
Leitsatz  angenommen:  ,,Es  ist  wünschenswert,  daß  jede  Anstalt  einen  Plan  für 
die  Einfügung  der  bürgerkundlichen  Belehrungen  aufstellt," 

Da  die  Handels-Realschulen  seit  ihrer  Gründung  auf  den  bürgerkundlichen 
Unterricht  großes  Gewicht  gelegt  haben  und  die  Lehrer  daher  Gelegenheit  gehabt 
haben,  auf  diesem  Gebiete  Erfahrungen  zu  sammeln,  so  ist  es  vielleicht  von  allge- 
meinem Interesse,  den  Betrieb  dieses  Unterrichts  an  der  von  mir  geleiteten  Handels- 
Realschule  zu  Dessau  und  vor  allem  den  für  die  Verknüpfung  dieses  Unterrichts 
mit  dem  geschichtlichen  aufgestellten  Plan  kennen  zu  lernen. 

Ehe  ich  jedoch  dazu  übergehe,  sei  es  gestattet,  einige  allgemeine  Bemerkungen 
über  Handels-Realschulen  vorauszuschicken,  um  vor  allen  Dingen  dem  Vorurteil 
zu  begegnen,  daß  diese  Schulen  Fachschulen  seien.  Die  Handels-Realschulen  sind 
in  erster  Linie  durch  die  Tätigkeit  des  Deutschen  Verbandes  für  das  kaufmännische 
Unterrichtswesen  ins  Leben  gerufen  und  gefördert  worden,  dessen  Leitung  seit 
Jahren  in  den  bewährten  Händen  des  Herrn  Geh.  Regierungsrat  Dr.  Stegemann 
in  Braunschweig  liegt.  Bei  der  Gründung  dieser  Schulen  hat  man  sich  hauptsächlich 
von  den  folgenden  Erwartungen  leiten  lassen:  Das  Deutsche  I^eich  entwickelt 
sich  immer  mehr  vom  Agrarstaat  zum  Industriestaat,  demgemäß  hat  auch  der 
deutsche  Handel  einen  gewaltigen  Aufschwung  genommen,  und  der  Handelsstand 
bildet  einen  beträchtlichen  Prozentsatz  aller  Berufsarten  in  Deutschland.  Die 
den  angehenden  Kaufleuten  ins  Leben  mitzugebende  Allgemeinbildung  darf  sich 
von  dem  ähnlicher  Berufe  nicht  wesentlich  unterscheiden.  Die  bisher  für  die  Vor- 
bildung besonders  in  Betracht  kommende  allgemeinbildende  Anstalt,  die  Real- 
schule, dient  mehr  den  Bedürfnissen  mittlerer  technischer  und  gewerblicher  Berufe. 
Es  kommt  noch  hinzu,  daß  in  den  größeren  Handelsstädten  (Hamburg,  Bremen, 
Lübeck,  Cöln,  Leipzig  usw.)  eine  große  Anzahl  der  Realschulabiturienten  (45  bis 
74%)  sich  seit  Jahren  dem  Kaufmannsstande  widmet,  so  daß  diesem  Stande 
ein  gewisses  Recht  auf  die  Gründung  einer  seinen  Bedürfnissen  Rechnung  tragenden 
Schulart  nicht  abgesprochen  werden  konnte. 

Es  gibt  in  Deutschland  jetzt  4  selbständige  Handels-Realschulen  —  Cöln, 
Frankfurt  a.  M.,  Dessau  und  München  und  4  einer  Oberrealschule  oder  Realschule 
angegliederte  in  Mannheim,  Schöneberg-Beriin,  Essen  und  Lübeck.  Die  Handels- 
Realschule  sucht  ihrem  Hauptzweck  dadurch  zu  genügen,  daß  sie  ihren  Schülern 
gleichzeitig  mit  der  Allgemeinbildung  kaufmännische  Vorbildung  zuteil  werden 
läßt,  aber  derart,  daß  die  letztere  der  ersteren  unterzuordnen  und  ihr  dienstbar 
zu  machen  ist.   Das  wird  dadurch  erreicht,  daß  die  meisten  der  Fächer,  welche  die 


262  A.  Tafelmacher, 

Handels-Realschule  mit  der  reinen  Realschule  gemein  hat,  von  kaufmännischen 
Ideen  durchdrungen  werden  und  daß  außerdem  Unterricht  in  einzelnen  besonders 
die  Erfordernisse  des  kaufmännischen  Berufs  berücksichtigenden  Lehrgegenständen 
erteilt  wird,  wie  in  Buchführung,  Handelslehre,  deutscher  und  fremdsprachlicher 
Handelskorrespondenz,  kaufmännischem  Rechnen,  Stenographie  und  Warenkunde. 
Schon  in  der  Ausschußsitzung  des  Deutschen  Verbandes  für  das  kaufmännische  Unter- 
richtswesen vom  Mai  1900  hat  der  jetzige  Schulrat  Dr.  Wernicke-Braunschweig 
ausgeführt,  daß  „Allgemeinbildung  in  objektiver  Hinsicht,  d.  h.  in  bezug  auf  die 
Stoffe,  an  welchen  die  Arbeit  des  Lehrers  und  des  Schülers  haftet,  jeder  Begrenzung 
spottet''.  Herr  Wernicke  erinnert  daran,  daß  Latein  ursprünglich  kein  allgemein 
bildendes  Fach  gewesen  ist;  wir  können  außerdem  an  die  allen  bekannte  Wandlung 
denken,  welche  die  Stellung  der  Naturwissenschaften  in  den  Lehrplänen  der  höheren 
Lehranstalten  etwa  seit  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  erfahren  hat.  Es  ist  nicht 
unwahrscheinlich,  daß  es  ähnlich  den  kaufmännischen  Fächern  ergehen  kann,  denn 
bei  näherer  Betrachtung  überzeugt  sich  jeder  von  ihrem  allgemeinbildenden  Wert. 
Auch  Wernicke  ist  der  Meinung,  daß  ,,z.  B.  die  Buchführung  ganz  ausgezeichnet 
dazu  geeignet  ist,  zur  Aufmerksamkeit  und  Ordnung,  zur  Beobachtung,  zum  Nach- 
denken, zur  Übersicht  usw.  zu  erziehen".  Bei  der  Vorbildung  der  jungen  Juristen 
wird  heutzutage  vielfach  das  Kennenlernen  eines  größeren  kaufmännischen  Betriebes 
gefordert,  und  selbst  ältere  Juristen  suchen  sich  nachträglich  die  Grundzüge  der 
kaufmännischen  Fächer,  besonders  der  Buchführung,  zu  eigen  zu  machen.  Aus 
dem  Gesagten  geht  wohl  zur  Genüge  hervor,  daß  die  Handels-Realschule  nicht  als 
Fachschule  bezeichnet  werden  kann.  Die  Schüler,  welche  das  Ziel  unserer  Anstalt 
erreicht  haben,  erhalten  demnach  das  Zeugnis  der  Reife  für  Obersekunda  einer 
Oberrealschule.*) 

Nach  dieser  Abschweifung  gehe  ich  nunmehr  zum  eigentlichen  Thema  über. 
Der  bürgerkundliche  Unterricht  wird  an  unserer  Anstalt  hauptsächlich  mit  den 
Handelsfächern  und  der  Geschichte  verknüpft,  er  wird  aber  außerdem,  wo  es  sich 
in  ungezwungener  Weise  ausführen  läßt,  in  den  Rahmen  anderer  Lehrfächer, 
z.  B.  der  Erdkunde,  des  Deutschen  und  der  Religion,  eingefügt. 

Nach  einer  Aufstellung  unseres  Handelslehrers,  Herrn  Fischer,  kommen  im 
kaufmännischen  Rechnen,  in  Buchhaltung,  Korrespondenz  und  Handelskunde 
etwa  die  folgenden  Stoffe  aus  den  bürgerkundlichen  Belehrungen  in  Betracht: 
Invaliditäts-,  Renten-  und  Krankenversicherungen.  Buchhaltung  des  Privatmanns, 
Handwerkers,  Landwirts,  Kaufmanns,  der  Gemeinde,  des  Staates  und  die  dazu 
gehörenden  Vorschriften  und  Gesetze.  Anfänge  des  Handels,  Arten  des  Handels 
und  ihre  Stellung  und  Einwirkungen  im  bzw.  auf  ein  Volk.  Recht  zum  Betrieb  des 
Handels,  Pflichten  der  Handeltreibenden,  ihre  Stellung  im  Staate,  in  der  Wirt- 
schaft des  Volkes.  Verpflichtungen  des  Staates  dem  Handel  und  der  Industrie 
gegenüber,  Handelspolitik:  Zölle,  Konsulate,  Handelskammern,  Handelsgerichte, 
Patentwesen,  Post,  Telegraph,  Fernsprecher,  Handelsverträge,  Schiffahrtsverträge, 
Handelssachverständige  im  Auslande,  Freihäfen,  Monopole  usw.    Das  Bank-  und 


*)  Ein  Jahresbericht  unserer  Anstalt,  der  von  den  Zwecken  und  Zielen  der  Handels- 
Realschule  ein  genaueres  Bild  gibt,  wird  auf  Verlangen  gern  zur  Verfügung  gestellt. 


Der  bürgerkundliche  Unterricht  in  der  Handels-Realschule  zu  Dessau.        263 

Börsenwesen  mit  Betonung  der  Macht  und  des  Einflusses  der  heutigen  Banken 
auf  unsere  in-  und  ausländische  Politik  und  die  Absatzmöglichkeiten  deutscher 
Erzeugnisse  auf  dem  Weltmarkte.  Die  Rückwirkungen  auf  die  heimische  Industrie 
und  unser  Volk  (Wohlfahrt,  Reichtum,  Gesittung).  Die  Geschäftsformen  (Gesell- 
schaften). Verkehrswesen:  Frachtgeschäft,  Schiffahrt,  Messen,  Märkte,  Aus- 
stellungen. Versicherungswesen.  Wirtschaftliche  Zusammenschließungen:  Ringe, 
Syndikate,  Trusts,  Streiks. 

Für  die  bürgerkundlichen  Belehrungen  in  der  Geschichte  gebe  ich  einem 
unserer  Geschichtslehrer,  Herrn  Oberlehrer  Dr.  Walther,  selbst  das  Wort: 

„Wo  sich  Gelegenheit  bietet,  sind  die  Einrichtungen  in  Staat  und  Gesellschaft 
mit  entwicklungsgeschichtlich  verwandten  Stoffen  in  Beziehung  zu  bringen. 
Der  Geschichtslehrer  muß  zeigen,  daß  das  Gefüge  des  öffentlichen  Lebens  das 
Endglied  eines  Werdeganges  ist,  der  stets  durch  Verbindung  des  Hergebrachten 
mit  dem  Fortschritt  neue  Daseinsformen  schafft.  Auf  diese  Weise  sammelt  der 
Schüler  nicht  nur  bürgerkundliches  Wissen,  sondern  gewinnt  die  praktisch  überaus 
wertvolle  Erkenntnis,  daß  sich  die  Neueinrichtungen  und  Reformen  an  Vorhan- 
denes und  Gewohntes  anschließen  müssen. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  erteile  ich  den  Unterricht  seit  5  Jahren.  Wo 
es  angeht,  schlage  ich  Brücken  von  der  Vergangenheit  zur  Gegenwart.  In  dem 
folgenden  Plan  sind  die  zu  behandelnden  bürgerkundlichen  Stoffe  den  als  Aus- 
gangspunkt dienenden  (gesperrt  gedruckten)  geschichtlichen  angereiht. 

A.   Aus  dem  Stoffplan  der  III  (Unter-Tertia). 

1.  Die  Kimbern  und  Teutonen  und  die  Völkerwande- 
rung: Unsere  heutige  Auswanderung.  Volkszunahme,  Umfang  der  Auswanderung 
seit  1800. 

2.  Arminius;  die  späteren  deutschen  Herzogtümer: 
Die  geographisch  bedingten  partikularistischen  Tendenzen  im  deutschen  Volks- 
charakter. 

3.  Die  Stände  der  Germanen:  Die  volkswirtschaftlich  bedingten 
Unterschiede  innerhalb  unserer  Bevölkerung. 

4.  Bonifatius:  Das  Verhältnis  der  deutschen  und  der  französischen 
Katholiken  der  Gegenwart  zu  Rom. 

5.  Das  Lehenswesen:  Die  gegenwärtigen  Beamtenverhältnisse  auf 
Grund  der  Geldwirtschaft. 

6.  Die  Kaisergeschichte:  Es  wird  gezeigt,  wie  die  Grafen  und 
Fürsten  des  alten  Reiches  Recht  um  Recht  erlangen,  wie  sich  langsam  ihre  Beamten- 
rechte  zur  Fürstenmacht  ausbilden. 

7.  Das  Städtewesen:  Die  städtischen  Verfassungen,  die  Gerichts- 
barkeit, das  Schulwesen,  die  Fürsorge  für  die  Armen. 

8.  Die  Hansa:    „Deutschlands  Zukunft  liegt  auf  dem  Wasser." 

B.   Aus  dem  Stoffplan  der  II  (Ober-Tertia). 

9.  Die  Erhebung  der  Reichsritter:  Über  die  gegenwärtigen 
Adelsverhältnisse. 


264     A.  Tafelniacher,  Der  bürgerkundliche  Unterricht  in  der  Handeis- Realschule  usw. 

10.  Der  große  Bauernkrieg:  Bauernbündnisse  und  ihr  Zweck  in 
der  Gegenwart. 

11.  Die  Wiedertäufer  in  Münster:    Die  Sektenbildung. 

12.  Die  Kulturtätigkeit  der  Fürsten  des  Mittelalters 
und  der  Übergangszeit:  Die  Pflichten,  welche  die  Allgemeinheit  den 
Fürsten  heute  auferlegt. 

13.  Der  Dreißigjährige  Krieg:  Die  konfessionelle  Zerklüftung 
des  deutschen  Volkes. 

14.  Joachim  I.  (Kammergericht,  Universität  Frank- 
furt): Die  Rechtsprechung  heute.  Die  Schwierigkeit  der  Gründung  und  Er- 
haltung von  Universitäten. 

15.  Der  spanische  Erbfolgekrieg:  Die  anders  gearteten  Ur- 
sachen der  Gegenwartskriege. 

16.  Die  preußischen  Könige:    Der  absolutistische  Staat. 

17.  Friedrichwilhelm  I.:  Landwirtschaftliche  Aufgaben  des  Staates: 
Sumpftrocknen,  Moorkultur,  Küstenschutz  u.  a. 

18.  Friedrich  der  Große:    Die  Schutzzölle. 

19.  Die  polnischen  Teilungen:  Das  Wahl-  und  Erbkönigtum. 
Die  polnische  Frage,  Ansiedelungskommission,  Volksmischung. 

20.  Die  Entstehung  der  Vereinigten  Staaten:  Bundes- 
staat und  Einheitsstaat.    Verfassung  der  Schweiz  und  Frankreichs. 

21.  Die  Kulturzustände  des  18.  Jahrhunderts:  Ver- 
fassung, Stadt  und  Land.  Leibeigenschaft  und  Erbuntertänigkeit,  Gerichtsbarkeit, 
Kirche  und  Schule,  Heer  usw. 


C.   Aus  dem  Stoffplan  der  I  (Unter-Sekunda). 

22.  Die  französische  Revolution:  Die  Regierungsgewalten  im 
Staate.  Art  der  Teilung  zwischen  Fürst  und  Volk  in  einzelnen  Staaten.  Unsegen 
einer  reinen  Volksherrschaft.  Widerlegung  einzelner  Punkte  des  sozialdemokra- 
tischen Programms  durch  Tatsachen  der  französischen  Revolution. 

23.  Die  Koalitionskriege:  Moderne  ^^ölkerbündnisse  (Vorteile, 
Nachteile,  Leistungen). 

24.  Umsturz  derdeutschen  Reichsverfassung:  Die  jetzige 
Reichsverfassung  kurz. 

25.  Derdeutsche  Bund  (von  1815—1866):  Der  Unsegen  eines  losen 
Zusammenhanges  der  deutschen  Staaten. 

26.  D  e  r  Zo  1 1  v  e  r  ei  n:    Das  deutsche  Zollgebiet. 

27.  Die  Stein-Hardenbergsche  Städteordnung:  Selbst- 
verwaltung, Magistrats-  und  Bürgermeisterverfassung,  Gemeindeaufgaben  der 
Stadt. 

28.  Aufhebung  der  Erbuntertänigkeit:  Die  landwirtschaft- 
liche Bevölkerung,  die  ländliche  Arbeiterfrage.     Getreidebau  in  unserer  Zeit. 

29.  Aufhebung  des  Zunftzwanges:  Die  heutigen  Zünfte.  Ge- 
werbefreiheit,  Fragen  des  Handwerkerstandes. 


E.  Stutzer,  Über  Schülervorträge  usw.  265 

30.  D  i  e  J  a  h  r  e  1848—1850:  Das  Wichtigste  aus  dem  preußischen  Staats- 
grundgesetz von  1850.  Die  preußische  Provinzial-  und  Kreiseinteilung.  Die 
Weiterbildung  der  preußischen  Verfassung.  Die  Verfassung  anderer  deutscher 
Staaten.    Die  Verfassung  Anhalts. 

31.  Der  Krieg  1870/71:  Die  Reichsverfassung  genau,  nach  Reclams 
Ausgabe. 

32.  Deutschlands  Kolonien:  Deutschlands  Kolonial-  und  Wirt- 
schaftspolitik. 

Außerdem  Genaueres  über  Deutschlands  Heer  und  Marine,  über  die  Reichs- 
einnahmen und  Steuerverhältnisse,  über  die  soziale  Gesetzgebung.  Die  Parteien 
und  Parteikämpfe.  Die  verschiedenen  Schulgattungen,  Das  bürgerliche  Gesetzbuch.'' 
Aus  dem  Vorgehenden  ist  wohl  ersichtlich,  daß  den  Schülern  unserer  Handels- 
Realschule  eine  Fülle  von  bürgerkundlichen  Lehren  mit  ins  Leben  gegeben  wird. 
Ich  darf  hinzufügen,  daß  die  Schüler  dem  Unterricht  im  allgemeinen  mit  Eifer 
und  Hingabe  folgen  und  daß  die  erzielten  Erfolge  dementsprechend  günstige  sind. 
.  Dessau.  A.  T  a  f  e  1  m  a  c  h  e  r. 


Über  Schülervorträge  insbesondere  aus  dem  Gebiete  der 

Staatskunde. 

Im  IX.  Jahrgange  dieser  Monatschrift  (1910  S.  34'ff.)  habe  ich  kurz  auf 
schriftliche  Arbeiten  hingewiesen  als  auf  ein  besonderes  Mittel,  um  ein  besseres 
und  tieferes  Verständnis  für  unser  Staatsleben  und  für  unsere  öffentlichen  Einrich- 
tungen überhaupt  anzubahnen,  habe  dabei  aber  betont,  daß  ich  den  Hauptnach- 
druck glaube  legen  zu  müssen  auf  die  mündlichen  Erörterunger^  und  —  kurz  ge- 
sagt —  die  Schülervorträge,  von  denen  es  in  den  preußischen  Lehrplänen  vom 
Jahre  1901  heißt  (S.  21,  No.  3):  „Überall,  besonders  auf  der  oberen  Stufe,  sind 
Übungen  in  frei  gesprochenen  Berichten  über  Gelesenes  oder  Gehörtes  vorzu- 
nehmen." Doch  über  das  zweckmäßigste  Verfahren  bei  diesen  Übungen  herrscht 
ebenso  große  Meinungsverschiedenheit  wie  über  ihre  Bedeutung,  und  diese  scheint 
mir  gerade  für  staatsbürgerliche  Bildung  und  Erziehung  von  manchen  unter- 
schätzt zu  werden.  Denn  in  den  jüngst  erschienenen  größeren  und  kleineren  ein- 
schlägigen Veröffentlichungen,  auch  in  manchen  für  die  preußischen  Direktoren- 
Versammlungen  erstatteten  Berichten  (mit  Ausnahme  der  Provinz  Sachsen),  sind 
die  Schülervorträge,  wenn  überhaupt,  dann  nur  sehr  kurz  behandelt  worden; 
deshalb  möchte  ich  die  Aufmerksamkeit  auf  diese  ebenso  wichtige  wie  schwierige 
Frage  besonders  gelenkt  wissen.  Zunächst  scheinen  wegen  der  Verschiedenheit 
der  Ansichten  einige  methodische  Bemerkungen  im  allgemeinen  erforderlich  zu  sein. 

Um  das  in  den  Lehrplänen  bezeichnete  Ziel  zu  erreichen,  müssen  wir  von 
Sexta  an  planmäßig  vorgehen.  Auf  der  Unterstufe  wiederholt  der  Schüler  kurz, 
was  er  gelesen  hat  und  was  ihm  vorerzählt  worden  ist,  oder  berichtet  über  die  von 
ihm  erlebten  und  beobachteten  Dinge  sowie  über  Anschauungsbilder;  in  den  mitt- 
leren Klassen  gewöhnt  der  Lehrer  die  Zöglinge  allmählich  daran,  einfache  Zusammen- 
hänge darzulegen;  diese  werden  auf  der  oberen  Stufe  nach  und  nach  größer  und  ver- 


266  E.  Stutzer, 

wickelter,  Vergleiche  kommen  dazu,  und  gelegentlich  kann  man  sich  mit  der  nötigen 
Vorsicht  an  bestimmte  Probleme  wagen.  Dem  Geiste  der  Lehrpläne  und  vielleicht*) 
auch  der  jüngst  bei  der  Frage  der  staatsbürgerlichen  Erziehung  mit  besonderem 
Nachdruck  betonten  Bedeutung  der  Arbeitsgemeinschaften  dürfte  es  entsprechen, 
wenn  bis  zur  Prima  von  allen  Schülern  gleichmäßig  ein  kurzer  Bericht  über  einen 
bestimmten  Stoff  gefordert  wird  unter  der  Voraussetzung,  daß  entweder  alle  Schüler 
diesen  zu  Hause  durchlesen  können  oder  daß  er  vom  Lehrer  in  der  vorhergehenden 
Stunde  genau  durchgesprochen  ist.  Unter  diesen  beiden  Voraussetzungen  kann 
man  von  allen  Schülern  verlangen,  daß  sie  über  einen  bestimmten  Stoff  berichten. 
In  der  betreffenden  Stunde  greift  man  dann  einen  oder  mehrere  heraus;  wie  oft 
im  Jahre  die  einzelnen  an  die  Reihe  kommen,  das  richtet  sich  nach  der  Stärke  der 
Klasse  und  der  besonderen  Veranlagung  der  Zöglinge.  Zeigen  in  der  Prima  ein- 
zelne auf  geistigem  Gebiete  Neigung  zur  Selbstbetätigung,  so  muß  diese  auf  jede 
mögliche  Weise  unterstützt  werden.  Den  betreffenden  Schülern  ist  also  Gelegenheit 
zu  geben,  nach  eigener  Wahl  über  Gelesenes  und  Gehörtes,  selbstverständlich  nach 
vorheriger  Rücksprache  mit  dem  Lehrer,  zu  berichten.  Ob  alle  Mitschüler 'auf- 
merksam zugehört  haben,  davon  überzeuge  man  sich  aber  stets  durch  einzelne 
Fragen  an  verschiedene  in  derselben  oder  in  der  nächsten  Stunde. 

Von  welchem  Platze  aus  sind  diese  Berichte  zu  halten?  Von  Untersekunda 
an,  wo  ja  gewöhnlich  das  Duzen  aufhört,  stets  vom  Katheder  aus,  meine  ich.  Denn 
die  Scheu,  vor  der  Öffentlichkeit  zu  sprechen,  legt  manch  einer  vielleicht  nur  schwer 
ab,  wenn  er  immer  einzig  und  allein  von  seinem  gewöhnlichen  Platze  aus  gesprochen 
hat.  Steht  der  betreffende  Schüler  stets  auf  dem  Katheder,  so  wird  der  ganzen  Sache 
kein^ besonderer  Anstrich  verliehen,  wogegen  sich  z.  B.  Lehmann  in  seiner  Methodik 
des  deutschen  Unterrichts  (3.  Aufl.  Berlin  1909,  Weidmannsche  Buchhandlung) 
aus  triftigen  Gründen  erklärt.  Vor  dem  Auswendiglernen  einer  schriftlichen  Aus- 
arbeitung ist  von  Anfang  an  mit  dem  größten  Nachdruck  zu  warnen,  damit  es 
später  als  ganz  selbstverständlich,  vielleicht  darf  man  bei  manchen  älteren  Schülern 
sagen:  als  Ehrensache  betrachtet  wird,  auch  bei  schwierigeren  Aufgaben  einzig 
und  allein  eine  kurze  Inhaltsübersicht  mit  Stichworten  aufs  Katheder  mitzunehmen 
und  nur  im  Notfalle  einen  Blick  hineinzuwerfen  —  dies  ist  nämlich  nach  meiner 
Ansicht  ausdrücklich  zu  gestatten,  obwohl  in  den  Lehrplänen  a.  a.  0.  von  ,,f  r  e  i 
gesprochenen  Berichten"  die  Rede  ist.  In  den  unteren  und  mittleren  Klassen 
dauere  der  Bericht  höchstens  10,  in  den  oberen  höchstens  15  Minuten,  und  niemals 
unterbreche  ihn  der  Lehrer  ohne  zwingenden  Grund,  sondern  erst,  wenn  der  Schüler 
fertig  ist  und  wieder  auf  seinem  Platze  sitzt,  dann  frage  man,  und  zwar  zunächst 
die  Klasse  im  allgemeinen,  ob  jemandem  etwas  aufgefallen  ist;  vielleicht  kann 
sich  derjenige,  der  den  Bericht  gehalten  hat,  selbst  verbessern,  wenn  er  durch 
Mitschüler  aufmerksam  gemacht  worden  ist.  Diese  dürfen  sich  unter  Umständen 
während  des  Vortrages  kurze  Bemerkungen  aufzeichnen,  um  auf  solcher  Grundlage 
Unrichtiges  festzustellen  oder  Bedenken  zu  äußern.   Auch  dies  Verfahren  dient  zur 

♦)  Kerschensteiners  bekannte  Vorschläge  nach  dieser  Richtung  hin  lassen  sicli 
auf  „höheren"  Schulen  nur  zum  geringsten  Teile  durchführen;  in  vielen  Fällen  müssen 
wir  den  im  Schüler  sehr  regen  Trieb  nach  „Arbeitsgemeinschaft"  nachdrücklich  bekämpfen, 
weil  er  die  Selbständigkeit  gefährdet. 


über  Schülervorträge  usw.  267 

Hebung  der  Selbsttätigkeit,  auf  die  man  gar  nicht  genug  einwirken  kann.  Weil 
Befangenheit  und  Ängstlichkeit  bei  manchen  Schülern  von  vornherein  jede  Frei- 
heit des  Ausdrucksvermögens  schwer  beeinträchtigen,  so  wirkt  in  dieser  Beziehung 
ein  falsch  geleiteter  Unterricht  sehr  nachteilig  fürs  spätere  Leben.  Kein  Ver- 
ständiger allerdings  wird  von  der  Schule  fordern,  daß  sie  alle  ihre  Zöglinge  zu 
Rednern  ausbildet;  denn  dazu  gehört  natürliche  Begabung,  die  auch  der  ge- 
schickteste Unterricht  nicht  zu  ersetzen  vermag.  Aber  es  ist  dringend  zu  wünschen, 
daß  möglichst  viele  die  Befähigung  erlangen,  in  der  Öffentlichkeit  vor  jedem  Zu- 
hörerkreise ohne  Scheu  aufzutreten  und  die  geistige  Waffe  des  Wortes  klar,  über- 
zeugend, unter  Umständen  anfeuernd  und  begeisternd  zu  handhaben.  Dies  Ziel 
muß  um  so  ernster  erstrebt  werden,  weil  bekanntlich  die  sozialdemokratische  Partei 
bei  ihren  ebenso  eifrigen  wie  einseitigen  Bemühungen  um  politische  Aufklärung 
einen  beträchtlichen  Vorsprung  auf  dem  Gebiet  der  Redegewandtheit  und  Dis- 
putierkunst vor  den  staatserhaltenden  Parteien  gewonnen  hat 

Damit  bin  ich  auf  die  mir  besonders  am  Herzen  liegende  staatsbürgerliche 
Bildung  und  Erziehung  gekommen  und  glaube  die  Forderung  als  eine  berechtigte 
bezeichnen  zu  dürfen,  daß  die  Schüler  der  Untersekunda  gelegentlich,' die  der 
drei  oberen  Klassen  regelmäßig,  wenn  auch  nur  kurz  über  Gelesenes  auch  aus  dem 
Gebiete  der  Staatskunde  (ich  sage  absichtlich  nicht  Bürgerkunde)  berichten  und 
gerade  dabei  Anleitung  zu  Disputationen  erhalten,  wie  solche  z.  B.  in  England 
stattfinden.  Am  wichtigsten  ist  beides  natürlich  in  der  Oberprima,  wo  durch  sorg- 
fältige Sichtung  des  Stoffes  soviel  Zeit  im  Geschichtsunterricht  unbedingt  erübrigt 
werden  muß,  daß  ein  ziemlich  geschlossenes  Bild  unseres  gesamten  jetzigen  Staats- 
wesens sozusagen  von  einer  Hochwarte  aus  entworfen  wird.  Das  kann  nicht  in  der 
nötigen  oder  wünschenswerten  Weise  geschehen  ohne  die  Erziehung  zu  planvoller 
wirklich  bildender  Lektüre  auch  auf  dem  Gebiete  der  Staatskund^,  und  in  den  Dienst 
solcher  Erziehung  stelle  man  auch  die  Schülervorträge. 

Aber  reicht  im  Geschichtsunterricht  der  Prima  die  so  außerordentlich  knappe 
Zeit  dazu  aus?  Über  die  gerade  diesem  Fache  aufgenötigte  Hast  und  Unruhe  wird 
jetzt  sehr  lebhaft  geklagt;  in  der  Tat  ist  mit  jeder  Stunde  zu  rechnen.  Um  so  nach- 
drücklicher sei  daher  darauf  hingewiesen,  daß  auch  im  deutschen  Unterrichte  bei 
den  Vortragsübungen  einzelne  Aufgaben  aus  dem  Gebiete  der  Staatskunde  gestellt 
werden  müssen,  auch  wenn  Deutsch  und  Geschichte  nicht  in  einer  Hand  liegen. 
In  diesem  Falle  wäre  die  Mahnung  der  Dienstanweisung  (ob  sie  wohl  vielen  Lehrern 
aus  der  Seele  gesprochen  ist?),  „daß  die  Lehrer,  namentlich  die  in  derselben  Klasse 
unterrichtenden,  Gelegenheit  nehmen,  sich  gegenseitig  in  ihrem  Unterricht  zu  be- 
suchen", besonders  auch  für  die  Vorträge  zu  beachten.  Damit  die  ganze  Klasse 
sich  darauf  vorbereiten  kann,  ist  es  wünschenswert,  daß  in  den  Lesebüchern  der 
fragliche  Stoff  etwas  reichlicher  als  gewöhnlich  berücksichtigt  oder  daß  ein  be- 
sonderes Lesebuch  zur  Staatskunde  in  Gebrauch  genommen  wird; 
das  bei  Ehlermann  erschienene  (2.  Aufl.  1909)  erwähne  ich  nur  deshalb,  weil  es 
meines  Wissens  kein  zweites  dieser  Art  gibt.  Wird  ein  solches  benutzt,  dann  kann 
den  Berichten  der  einzelnen  ein  zweckmäßig  gewähltes  Gesamtgebiet  zugrunde 
gelegt  werden.  Die  Hauptsache  ist,  daß  überhaupt  und  daß  planmäßig'gelesen 
wird;  die  vielen  ebenso  vortrefflichen  wie  wohlfeilen  Sammlungen,  z.  B.  die  deut- 
sche Volksbücherei,  erieichtern  das  jetzt  sehr. 


268  E.  Stutzer,  Über  Schtilervorträge  usw. 

Welches  sind  nun  geeignete  Aufgaben  für  Vorträge  aus  dem  Gebiete  der  Staats- 
kunde? Um  den  mir  zur  Verfügung  stehenden  Raum  nicht  zu  überschreiten,  be- 
gnüge ich  mich,  die  Lehrer  des  Deutschen  auf  die  von  G  e  y  e  r  in  seinem  Buche 
über  den  deutschen  Aufsatz  (2.  Aufl.  München  1911,  Beck)  S.  302f.  angeführten 
19  Aufgaben  hinzuweisen,  von  denen  sich  viele  ebensogut  für  Vorträge  wie  für 
Aufsätze  eignen.  Auch  Wolf,  Staatsbürgerliche  Erziehung  auf  den  höheren 
Schulen  (Leipzig  und  Berlin  1912,  Teubner)  S.  33ff.  gibt  eine  große  Zahl  geeig- 
neter Aufgaben.  Die  Geschichtslehrer,  denen  die  Literatur  über  ihr  Fach  im  all- 
gemeinen und  über  die  Staatskunde  im  besonderen  auch  nur  einigermaßen  bekannt 
ist,  werden  mit  leichter  Mühe  viele  passenden  Aufgaben  sich  zusammenstellen 
können.  Zum  Schluß  will  ich  aus  meiner  Erfahrung  der  letzten  Zeit  wenigstens 
drei  ganz  neue  anführen.  1.  „Man  soll  die  Stimmen  wägen  und  nicht  zählen" 
—  inwiefern  und  weshalb  wird  diese  Forderung  in  der  deutschen  Reichsverfassung 
erfüllt?  Diese  Frage  muß  die  ganze  Klasse  beantworten  können,  nachdem  über 
den  Bundesrat  und  die  Reichsgesetzgebung  alles  Erforderliche  besprochen  worden 
ist,  evtl.  unter  Zuhilfenahme  des  Lesebuches.  2.  Besser  als  alle  seine  Mitschüler 
weiß  der  schlaue  Sohn  eines  Kommerzienrates  über  Handelsverträge  Bescheid; 
denn  er  hört  von  seinem  verständigen  Vater  manches  darüber  und  liest  gern  und 
viel.  Dieser  Oberprimaner  beantwortet  in  einem  kurzen  und  freien,  auch  zahlen- 
freien, Berichte  die  Frage:  Wie  kommt  ein  Handelsvertrag  zustande,  und  welche 
Bedeutung  hat  er?  3.  Der  preußische  Verfassungskonflikt  bietet  die^^beste  Ge- 
legenheit, über  das  Wesen  des  konstitutionellen  Staates,  über  den  Unterschied 
zwischen  monarchischer  und  parlamentarischer  Regierung  Aufklärungen  zu  geben. 
Die  Mehrzahl  der  Schüler  besitzt  doch  wohl  in  der  Regel  eine  Auswahl  aus  Bis- 
marcks  Reden.  Ob  sie  diese  mit  Nutzen  gelesen  haben,  können  sie  durch  den  Vor- 
trag beweisen:  Welches  Bild  der  preußischen  Verfassung  gewinnen  wir  aus  Bis- 
marcks  Reden? 

Treten  in  solcher  Weise  neben  anderen  Mitteln  auch  die  Schülervorträge  in 
den  Dienst  der  staatsbürgerlichen  Erziehung,  so  ist  zu  hoffen,  daß  die  von  den 
höheren  Schulen  Entlassenen  sich  als  Männer  zumeist  in  den  Fragen  der  Zeit  zu- 
rechtfinden und  ein  tätiges   Interesse  am  öffentlichen   Leben  beweisen  werden. 

Görlitz.  E.    Stutzer. 


II.    Bücherbesprechungen. 

Einzelbesprechungen : 

Heinemann,  0.,  Die  wichtigstenBestimmungen  der  Preußi- 
schen Staatsbeamtengesetzgebung.  Anhang  zum  Hand- 
buch des  Verfassers  über  die  Organisation  und  Verwaltung  der  öffentlichen 
Preußischen  Unterrichtsanstalten.  Potsdam  1909.  A.  Steins  Verlagsbuch- 
handlung. 267  S.  Lex.-80.  2,40  M.  geb.  3,60  M. 
Auf  das  Erscheinen  dieses  Anhangs  ist  schon  in  Jahrgang  9,  S.  104  dieser 

Monatschrift  hingewiesen  worden.  Er  enthält  in  16  Abschnitten  die  Bestimmungen: 

1.  Über  Anstellung,  Vereidigung,  Amtsverschwiegenheit,  allgemeine  Rechte  und 
Pflichten    der    Staatsbeamten    sowie    Merkmale    der    Staatsbeamteneigenschaft. 

2.  Grundsätze  für  die  Besetzung  der  mittleren,  Kanzlei-  und  Unterbeamten- 
stellen bei  den  Reichs-  und  Staatsämtern  mit  Militäranwärtern.  3.  Besoldungen 
und  Gnadengebührnisse  vom  Diensteinkommen.  4.  Wohnungsgeldzuschuß.  5.  Be- 
soldungsordnung, Gehaltsvorschriften  und  Anrechnung  der  Militärdienstzeit  auf 
das  Besoldungsdienstalter.  6.  Militärverhältnisse  der  Zivilbeamten.  7.  Tage- 
gelder und  Reisekostenentschädigungen.  8.  Umzugskostenentschädigungen. 
9.  Dienstwohnungen  der  Staatsbeamten.  10.  Disziplinarvorschriften  und  Be- 
stimmungen über  die  Wartegelder  der  Staatsbeamten.  II.  Vermögensrechtliche 
Ansprüche  der  Staatsbeamten  aus  ihrem  Dienstverhältnis.  12.  Urlaub  und  Stell- 
vertretung. 13.  Nebenämter  usw.  14.  Eheschließung  der  Beamten.  15.  Pen- 
sionswesen, Hinterbliebenenfürsorge  und  Erziehungsbeihilfen.  16.  Besteuerung 
und  Beschlagnahme  des  Diensteinkommens  der  Staatsbeamten. 

Besonders  wichtig  zur  jederzeitigen  Information  wird  ja  wohl  der  Abschnitt  5 
erscheinen.  Aber  auch  alle  übrigen  werden  gleich  ausführlich  nicht  leicht  an  anderen 
Stellen  zusammen  gefunden  werden.  Die  Abschnitte  4  und  7  sind  freilich  durch 
die  Gesetzgebung  des  Jahres  1910  überholt. 

Pankow.  Max  Nath. 

Natorp,  P.,    Philosophie.     Ihr  Problem  und  ihre  Probleme.     Einführung  in 
den  kritischen  Idealismus.    (Wege  zur  Philosophie.    Ergänzungsreihe:    Einfüh- 
rungen in  die  Philosophie  der  Gegenwart,  No.  1.)    Göttingen  1911.    Vanden- 
hoeck  &  Ruprecht.     172  S.    S«.     2  M. 
Die  Reihe  von  Heften,  in  die  auch  dies  Büchlein  hineingehört,  kommt  einem 

neuerdings  immer  mehr  zutage  tretendem  Bedürfnis   entgegen,   welches  sich  in 


270  P.  Natorp,  Philosophie,  angez.  von  R.  Jonas. 

weiten  Kreisen  der  Gebildeten  fühlbar  macht,  nämlich  dem  Bedürfnis  nach  philo- 
sophischer Erkenntnis.  Es  gilt  hier,  in  einer  nicht  allein  für  den  Fachmann  ge- 
eigneten und  verständlichen  Weise  in  die  Gedankenwelt  der  Philosophie  einzu- 
führen und  aus  derselben  gerade  diejenigen  Gebiete  auszuwählen,  welche  auf  ein 
besonderes  Interesse  Anspruch  machen  können.  Das  tut  der  bekannte  Marburger 
Philosoph  in  dem  vorliegenden  Bändchen. 

In  dem  einleitenden  Kapitel,  welches  von  der  Philosophie  im  allgemeinen 
handelt,  geht  Verfasser  davon  aus,  daß  man  bei  der  fast  jähen  Entwicklung  auf 
so  vielen  Gebieten  ein  starkes  Bedürfnis  nach  etwas  Neuem,  ja  vielleicht  Uner- 
hörtem empfindet;  nach  einer  Wahrheit,  die  nicht  allein  den  Verstand  befriedigen, 
sondern  auch  den  geheimsten  innersten  Zweifeln  und  Fragen  der  Seele  antworten 
soll.  Das  nenne  man  ,, Weltanschauung'*.  Die  Entwicklung  der  Philosophie  geht 
mit  der  aller  Wissenschaften,  ja  der  ganzen  Kultur,  Hand  in  Hand.  Da  gibt  es  eine 
Menge  von  Wechselbeziehungen.  So  muß  denn  die  Philosophie  immer  in  bezug 
zu  der  stets  fortwirkenden  Arbeit  der  Wissenschaft  und  dadurch  der  gesamten 
Kultur  stehen.  Man  fragt  sich  aber  weiter,  wie  man  zu  einer  sicheren,  den  ganzen 
Umfang  der  Philosophie  umspannenden  Disposition  der  philosophischen  Probleme 
gelangen  kann.  Aus  einer  genaueren  Betrachtung  der  gesamten  Geistes-  und  Kultur- 
arbeit. Zunächst  ist  die  Logik,  als  die  Philosophie  der  Wissenschaft,  Gegenstand 
der  Behandlung,  die  Wissenschaft  von  der  Methode,  aber  nicht  nur  in  Hinsicht 
auf  die  Form,  sondern  auch  auf  die  Materie.  Die  logische  Gesetzmäßigkeit  wird 
nun  in  ihren  wichtigsten  Bestimmungen  dargelegt,  d.  h.  die  Logik  des  Denkens. 
Neben  ihr  hergehen  muß  aber  eine  andere  Logik,  nämlich  die  des  Sollens,  des  prak- 
tischen Erkennens.  Und  damit  gelangen  wir  zur  zweiten  Grunddisziplin  der  Philo- 
sophie, zur  praktischen  Philosophie  oder  Ethik.  Hier  handelt  es  sich  um  die  sitt- 
liche Richtung  des  Willens.  Aber  auch  die  Gemeinschaft  tritt  hier  als  wichtiger 
Faktor  ein;  diese  ganze  Seite  der  philosophischen  Betrachtung  hat  eine  wichtige 
soziale  Bedeutung.  Doch  auch  für  die  Lebensordnung  des  Individuums  müssen 
hier  Richtlinien  gegeben  werden.  Das  führt  zum  Begriff  der  Tugend,  zunächst 
als  der  Tüchtigkeit  des  Einzelwesens,  dann  der  Gemeinschaft,  Solcher  Tugend  gibt 
es  mehrere  Arten.  Aber  außer  dem  Problem  der  Philosophie  der  Ethik  kommen 
noch  zwei  notwendigerweise  in  Betracht,  nämlich  der  der  Kunst,  Ästhetik  genannt, 
und  der  der  Religion.  Die  Ästhetik  bildet  eigentlich  erst  seit  Kant  neben  der  Er- 
kenntniskritik und  der  Ethik  eine  besondere  Seite  der  Philosophie.  Wenn  man  eine 
psychologische  Charakteristik  der  ästhetischen  Haltung  des  Bewußtseins  anwenden 
will,  so  kann  wohl  das  Wort  „Phantasie"  da  am  ehesten  gebraucht  werden.  Der 
Stufengang  ihrer  Entwicklung  muß  dem  der  Entwicklung  des  theoretischen  wie  des 
praktischen  Bewußtseins  parallel  gehen.  In  einer  letzten  wichtigen  Beziehung 
steht  die  Kunst  endlich  zur  Religion.  Diese  wird  nun  in  ihren  mannigfachen  Bezie- 
hungen zum  Menschen  kritisiert.  Sie  hat  im  Innenleben  ihre  Quellen,  wofür 
Schleiermacher  den  Ausdruck  „Gefühl"  eingeführt  hat.  Ihr  Recht  möchte  darin 
zu  erkennen  sein,  daß  sie  den  letzten  Grund  der  Subjektivität  und  damit  das  Selbst- 
leben der  Seele  erst  zu  seiner  vollen  Geltung  bringen  will.  Zuletzt  wird  der  Mensch 
in  der  Idee  des  sittlich  Guten  den  geklärten  Ausdruck  des  Letzten,  was  Religion 
von  ihm  je  gewollt  habe,  zu  erkennen  glauben.    Und  damit  hängt  die  Forderung 


0.  Braun,  Studien  zur  Bedeutungsforschung,  angez.  von  R.  Jonas,  271 

der  Reinheit  der  Erlösung  von  der  Last  der  Schuld  zusammen.  Die  Kunst  der 
religiösen  Überzeugung  kann  dem  Menschen  aber  nicht  von  außen  zugeführt  werden; 
er  muß  sie  in  sich  haben,  in  der  religiösen  Sprache:  der  Mensch  muß  von  hier  aus 
., Gottes  Kind"  sein,  sonst  kann  er  nicht  von  Gott  als  Kind  wieder  angenommen 
werden. 

Endlich  behandelt  Verfasser  die  Psychologie.  Sie  will  die  Subjektivität 
selbst  und  als  solche  erfassen.  Die  psychologischen  Gesetze  sind  Naturgesetze. 
Sind  doch  manche  neueren  Philosophen  der  Grundauffassung,  daß  sich  Psycho- 
logie von"  Naturwissenschaft  und  von  der  Wissenschaft  des  Objektivs  nur  nach 
der  Richtung  der  Betrachtung,  nicht  im  Betrachteten  selbst,  unterscheiden, 
ziemlich  nahe  gekommen.  Hinsichtlich  der  psychologischen  Probleme  setzt  sich 
Verfasser  mit  Lipps  auseinander,  dem  er  nicht  zustimmen  kann.  Mit  dem  Be- 
griff der  Psychologie  schließt  er  den  Kreis  der  philosophischen  Probleme.  Alle 
sind  nach  ihm  Probleme  der  Methodik,  des  einigen  Prozesses,  den  wir  Erfahrung 
nennen. 

Wenn  man  des  Verfassers  Ausführungen  im  ganzen  überschaut,  dann  sieht 
man  wohl,  wie  er  'in  ihnen  unter  Heranziehung  und  Besprechung  der  wichtigsten 
Probleme,  welche  als  Grundzüge  der  Philosophie  zu  bezeichnen  sind,  davon  er 
sich  eine  bestimmte  Anschauung  bilden  will,  eine  Einführung  in  die  philosophische 
Gedankenwelt  bietet. 


Braun,  Otto,  Studien  zur  Bedeutungsfo^^^rschung.  Beiträge  zur 
Kulturphilosophie  als  Weltanschauungslehre.  I.  Heft:  Allgemeine  Übersicht. 
Philosophie  als  Weltanschauungslehre;  Hauptrichtungen  der  gegenwärtigen 
Kulturbewegung.  Paderborn  1911.  Druck  und  Verlag  von  Ferdinand  Schö^ 
ningh.    43  S.    S\     1,40  M. 

Verf.  will  die  Frage  erörtern:  Ist  Philosophie  eine  Einzelwissenschaft  neben 
anderen  oder  kommt  ihr  der  Charakter  einer  Gesamtwissenschaft  zu,  die  auf  Welt- 
anschauung abzielt?  In  der  ganzen  früheren  Geschichte  der  Philosophie  haben 
die  Philosophen  stets  Weltanschauungen  entworfen.  Anders  ist  das  im  19.  Jahr- 
hundert geworden.  Während  früher  Philosophie  Gesamtwissenschaft  gewesen 
war,  während  der  Philosoph  früher  über  alles  etwas  zu  sagen  hatte,  wurde  der 
Standpunkt  durch  die  Spezialisierung  der  Geisteswissenschaften  verschoben:  die 
Philosophie,  so  meinte  man  nun,  müsse  Einzelwissenschaft  werden;  eine  Welt- 
anschauung aufzustellen,  sei  Aufgabe  der  Religion  oder  der  Dichter. 

Nach  einer  eingehenden  Erörterung,  die  allerdings  nur  die  Geltung  einer 
orientierenden  Einleitung  haben  soH,  kommt  Verf.  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  Philo- 
sophie in  manchen  Zweigen  Einzelwissenschaft  sei,  daß  sie  aber  dabei  auch  den 
Typus  der  Gesamtwissenschaft  als  Weltanschauungslehre  habe.  Und  zwar  handle 
es  sich  hierbei  um  eine  Philosophie  der  Kulturentwicklung  und  um  eine  Durch- 
arbeitung des  heutigen  Kulturbewußtseins. 

In  dem  zweiten  Hauptabschnitt  seines  Heftes  beleuchtet  nun  Verf.  die  Haupt- 
richtungen der  gegenwärtigen  Kulturbewegung.  Wie  mannigfaltig  die  Strömungen 
in  derselben  sind,  liegt  auf  der  Hand.    Das  kann  jeder  verspüren,  der  mit  einiger 


272  Th.  Cunz,  Geschichte  der  Philosophie  usw.,  angez.  von  R.  Jonas. 

Aufmerksamkeit  die  Welt  um  sich  betrachtet  und  Anteil  an  der  Geistesbewegung 
in  ihr  nimmt.  Die  Mannigfaltigkeit  jener  Strömungen  entwickelte  sich  bereits 
nach  dem  ersten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts,  namentlich  durch  die  Entwick- 
lung des  Spezialistentums  auf  den  verschiedenen  Gebieten  der  Wissenschaften. 
Aber  auch  sehr  viele  andere  Faktoren  wirkten  dabei  mit.  Die  politische  und  soziale 
Entwicklung,  welche  immer  weiter  vorwärts  strebte  und  eine  Fülle  wichtiger  Er- 
scheinungen zeitigte,  das  Zeitungswesen,  die  Gestaltung  der  Organe  der  öffent- 
lichen Meinung,  die  Demokratisierung  der  großen  Städte,  das  Fabrikwesen,  durch 
welches  der  Mensch  nur  zur  Maschine  wird,  alle  diese  Dinge  sprechen  in  der  Ge- 
staltung der  gegenwärtigen  Kulturverhältnisse  gewaltig  mit  und  bringen  auf  dem 
Gebiete  des  philosophischen  Denkens  Veränderungen  und  Umwälzungen  hervor. 
Zu  übersehen  ist  dabei  auch  nicht  die  Kunst,  die  bildende  sowohl  wie  die  Musik 
und  die  Dichtkunst. 

So  berührt  Verf.  die  verschiedensten  Geistesgebiete  und  spricht  sie  als  Ele- 
mente für  einen  Aufbau  der  sich  heute  zeigenden  Kulturentwicklung  an.  Diesen 
Weg  will  er  in  seiner  Lebensarbeit  gehen.  —  Nach  diesen  grundlegenden  Gedanken 
kann  man  auf  die  ausführlicheren  Darlegungen  des  geistvollen  Denkers  gespannt 
sein.  Das  vorliegende  Heft  mit  seinen  sehr  interessanten  Anregungen  können 
wir  nur  aufs  beste  empfehlen. 

Cunz,  Th.,  Geschichte  der  Philosophie  in  gemeinverständ- 
licher Darstellung.  I.Teil:  Alte  Zeit.  Marburg  1911.  N.  G.  Elwertscher 
Verlag.  176  S.  8«.  3,25  M. 
An  Darstellungen  der  Geschichte  der  Philosophie,  die  für  die  verschiedensten- 
Bedürfnisse  berechnet  sind,  fehlt  es  nicht.  Es  liegt  aber  in  der  Natur  der  Sache, 
daß  sie  sich  meist  an  solche  Leser  wenden,  welche  sich  mit  philosophischen  Fragen 
schon  beschäftigt  haben,  und  daß  sie  demnach  in  ihrer  Sprache  ein  philosophisches 
Gepräge  zeigen  und  vielleicht  deshalb  nicht  durchweg  leicht  verständlich  sind. 
Von  einem  ganz  anderen  Standpunkt  aus  behandelt  der  Verf.  des  vorliegenden 
Buches  seinen  Gegenstand.  Er  wendet  sich  „an  Laien,  Studierende,  Schüler  der 
oberen  Klassen  höherer  Lehranstalten  und  Seminaristen",  und  beabsichtigt,  ihnen 
seinen  Stoff  „in  möglichst  klarer,  übersichtlicher  und  vor  allem  gemeinverständ- 
licher Darlegung  nahe  zu  bringen  und  wert  zu  machen".  Dabei  hat  er  aber  die 
philosophischen  Formausdrücke,  die  sich  wohl  durch  deutsche  hätten  ersetzen 
lassen,  nicht  vermieden;  und  daran  tat  er  recht,  denn  mit  ihnen  muß  doch  nun 
einmal  jeder,  der  sich  mit  philosophischen  Dingen  beschäftigt,  rechnen. 

Der  1.  jetzt  erschienene  Band  des  Werkes  behandelt  die  alte  Zeit,  d.h.  die 
Philosophie  der  Griechen  und  Römer.  Nach  einer  ganz  kurzen  Einleitung,  welche 
den  Begriff  der  Philosophie  als  die  Wissenschaft  der  „Prinzipien",  der  Grund- 
lagen alles  Seins,  Geschehens  und  Denkens  bezeichnet,  geht  Verf.  dazu  über,  die 
einzelnen  Systeme  der  alten  Philosophen  zu  beleuchten,  nämlich  die  ionischen 
Naturphilosophen,  die  Pythagoreer,  Eleaten,  Heraklit,  Empedokles,  Anaxagoras, 
die  Atomisten,  die  Sophisten,  Sokrates,  Plato,  Aristoteles,  die  Stoiker,  Epikureer, 
Skeptiker  und  Neuplatoniker;  die  wichtigsten  Punkte  aus  den  Lehren  der  ge- 
nannten Denker  werden  in  einer  auch  für  das  Auge  sehr  übersichtlichen  Art  (durch 


R.  Descartes,  Philosophische  Werke,  angez.  von  R.  Jonas.  273 

Anwendung  verschiedenen  Druckes)  hervorgehoben,  auch  wird  der  innere  Zu- 
sammenhang und  der  Fortschritt,  der  sich  in  den  einzelnen  Systemen  nacheinander 
bemerken  läßt,  dargelegt.  Verweisungen  auf  besondere  Quellen,  welche  Verf. 
heranzieht,  finden  sich  als  Fußnoten;  dabei  müssen  wir  aber  bemerken,  daß  nicht 
etwa  ein  umfangreicherer  gelehrter  Apparat  vorhanden  ist.  Dieser  wäre  auch 
mit  der  Absicht  des  Verf.  unvereinbar  gewesen.  Aber  eines  müssen  wir  ganz  be- 
sonders hervorheben,  was  unser  Buch  vor  so  manchen  ähnlichen  Inhalts  aus- 
zeichnet: Verf.  läßt  die  Philosophen  durchweg,  soweit  dies  irgend  möglich  ist, 
selbst  sprechen.  Er  führt  ihre  wichtigsten  Lehren  mit  ihren  eigenen  Worten  in 
leicht  lesbaren  und  klaren  Übersetzungen  an.  Dies  gibt  dem  Werke  einen  ganz 
besonderen  Reiz  und  erhöht  außerordentlich  seine  Verständlichkeit.  Auch  diese 
Stellen  aus  den  philosophischen  Schriften,  die  übrigens  sehr  geschickt  ausgewählt 
sind,  sind  durch  den  Druck  hervorgehoben. 

Wir  können  unser  Urteil  über  das  Buch  nur  dahin  zusammenfassen:  es  ist 
für  den  Zweck,  für  den  es  Verf.  bestimmt  hat,  sehr  gut  geeignet.  Die  weiteren 
Kreise  Gebildeter,  an  die  es  sich  wendet,  werden  es  mit  großem  Vorteil  benutzen. 
Sie  gewinnen  in  einer  leicht  verständlichen,  übersichtlichen  und  dabei  die  Haupt- 
punkte treffenden  Darstellung  eine  Übersicht  über  die  Geschichte  der  Philosophie. 
Übrigens,  das  vergaßen  wir  oben  hinzuzufügen,  fehlen  auch  die  notwendigen  bio- 
graphischen Angaben  über  die  Philosophie  nicht. 

Descartes,  Rene,  Philosophische  Werke.  Übersetzt  und  erläutert  von 
A.  Buchenau.  Vierte  Abteilung:  Über  die  Leidenschaften  der  Seele.  Dritte 
Auflage.  Leipzig  1911.  Verlag  von  Felix  Meiner.  XXXI  u.  150  S.  8».  2,20  M. 
Es  ist  sehr  dankenswert,  daß  in  den  Sammlungen,  welche  den  Titel  „Philo- 
sophische Bibliothek"  tragen  (außer  der  in  der  Meinerschen  Verlagsbuchhandlung 
erscheinenden  gibt  auch  die  Dürrsche  Buchhandlung  eine  solche  heraus),  eine 
ganze  Anzahl  sonst  schwer  zugänglicher  philosophischer  Schriften  weiteren  Kreisen 
zugänglich  gemacht  werden.  Dazu  gehört  auch  das  hier  vorliegende  Buch  Rene 
Descartes',  des  berühmten  französischen  Denkers.  Die  zuerst  im  Jahre  1649 
herausgegebene  Schrift  ist  von  A.  Buchenau  in  einer  sich  leicht  lesenden  Sprache 
übersetzt  und  mit  den  erforderlichen  Erläuterungen  versehen.  Eingeleitet  wird 
die  Schrift  durch  zwei  Briefe  Picots,  eines  begeisterten  Verehrers  des  Philosophen, 
und  durch  zwei  Antwortschreiben  desselben.  In  diesen  Briefen  wird  eine  Reihe 
philosophischer  Fragen  behandelt,  die  wohl  geeignet  sind,  in  die  Gedankengänge 
der  Descartesschen  Darlegungen  einzuführen:  der  Freund  erweist  sich  hier  als 
einen  guten  Kenner  des  Philosophen.  Auch  aus  dem,  was  wie  ein  gegen  Descartes 
ausgesprochener  Tadel  aussieht,  spricht  eine  hohe  Anerkennung. 

Die  Abhandlung  gliedert  sich  in  drei  Teile:  1.  Über  die  Leidenschaften  im 
allgemeinen  und  zugleich  über  die  menschliche  Natur  überhaupt.  2.  Die  Zahl 
und  Reihenfolge  der  Leidenschaften  und  die  Erklärung  der  sechs  ursprünglichen. 
3.  Über  die  besonderen  Leidenschaften.  Die  Zählung  nach  212  Artikeln  erstreckt 
sich  durch  die  ganze  Schrift  hindurch.  Diese  Art  der  Gliederung  erleichtert  die 
Übersicht  außerordentlich,  zumal  jeder  Artikel  eine  seinen  Hauptinhalt  genau 
kennzeichnende  Überschrift  trägt.    Es  ist  ein  sehr  interessantes  Stück  Psychologie, 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  jg 


274  J.  Rehmke,  Die  Willensfreiheit, 

durch  welches  uns  das  Buch  hindurchführt,  höchst  lehrreich  für  jeden,  der  gern 
seine  eigenen  seelischen  Regungen  beobachtet.  Hier  kann  er  so  manchen  tieferen 
Blick  in  sein  hineres  tun.  Besonders  hervorheben  möchten  wir  die  ,, Reihenfolge 
und  Aufzählung  der  Leidenschaften"  Artikel  53  bis  67.  Verf.  nennt  hier  folgende: 
die  Verwunderung,  Achtung  und  Verachtung,  Edelmut  und  Hochmut,  Demut 
und  Niedrigkeit,  die  Verehrung  und  die  Verachtung,  die  Liebe  und  der  Haß,  das 
Begehren,  die  Hoffnung,  die  Furcht,  die  Eifersucht,  die  Zuversicht  und  die  Ver~ 
zweiflung,  die  Unentschlossenheit,  der  Mut,  die  Kühnheit,  der  Wetteifer,  die 
Feigheit  und  der  Schrecken,  die  Gewissensbisse,  die  Freude  und  die  Traurigkeit, 
der  Spott,  der  Neid,  das  Mitleid,  die  Selbstzufriedenheit  und  die  Reue,  die  Gunst 
und  die  Dankbarkeit,  der  Unwille  und  der  Zorn,  der  Ruhm  und  die  Schande,  der 
Ekel,  das  Bedauern,  die  Fröhlichkeit.  Als  ursprüngliche  Leidenschaften  werden 
nur  6  bezeichnet:  das  Verwundern,  die  Liebe,  der  Haß,  das  Begehren,  die  Freude 
und  die  Traurigkeit.  Alle  anderen  sind  aus  einigen  dieser  sechs  zusammengesetzt 
oder  sie  sind  Unterarten  derselben.  An  diese  Darlegung  schließt  sich  dann  eine 
genaue  Begriffsbestimmung  der  genannten  und  die  Ableitung  der  übrigen  daraus.  — 
Man  wird  der  Darstellung  des  gründlichen  Denkers  mit  dem  größten  Interesse 
folgen.  Einer  Reihe  von  Anmerkungen  läßt  der  Herausgeber  die  Inhaltsübersicht 
folgen,  sodann  ein  Personenregister  und  ein  Sachregister.  Damit  ist  alles  ge- 
schehen, was  die  Benutzung  des  Inhalt-  und  gedankenreichen  Büchleins  erleichtern 
konnte.  Wir  haben  hier  ein  ansprechendes  philosophisches  Büchlein  für  denkende 
Leser  vor  uns,  die  ihr  Interesse  gern  den  Regungen  der  menschlichen  Seele  zu- 
wenden und  in  philosophischen  Darlegungen  wie  in  einem  Spiegel  ihr  eigenes 
Selbst  beobachten  wollen. 

Rehmke,  Johannes,  Die  Willensfreiheit.  Leipzig  1911.  Verlag  von 
Quelle  &  Meyer.     146  S.    8«.    3,60  M. 

Der  bekannte  Philosoph,  dem  wir  schon  so  viele  treffliche  Schriften  ver- 
danken —  wir  erinnern  nur  an  ein  in  weiteren  Kreisen  bekanntes  Büchlein:  „Die 
menschliche  Seele"  — ,  hat  hier  eine  Seite  des  Seelenlebens  behandelt,  die  für 
jeden  denkenden  Menschen  von  großem  Interesse  sein  muß,  und,  das  sagen  wir 
gleich  hier,  in  einer  Weise,  die  für  jeden  verständlich  ist  und  jedem  die  Möglich- 
keit einer  Prüfung  an  seinem  eigenen  Innern  eröffnet. 

Die  Willensfreiheit  ist  ein  sehr  umstrittener  Begriff.  Indeterminismus  und 
Determinismus  stehen  heute  wie  von  jeher  einander  gegenüber:  Der  Begriff ,, Wille" 
bedeutet  ein  Doppeltes,  nämlich  soviel  wie  „Gewolltes"  und  ,, Wollendes".  Hier 
handelt  es  sich  natürlich  um  den  letzteren  Sinn  des  Wortes,  allerdings  gehört  zu 
dem  ,, Wollenden"  auch  immer  etwas ,, Gewolltes",  hier  jedoch  nicht  in  dem  vor- 
hin angedeuteten  Sinne,  sondern  eben  nur  als  Objekt.  In  dem  ersten  Abschnitt 
seiner  Ausführungen  betrachtet  Verf.  nun  die  Seele  als  Wille.  Sodann  erörtert 
er  das  Motiv  und  den  Zweck  des  Willens.  Mit  dem  Begriff  des  Willens  hängen 
jene  beiden  Begriffe  naturgemäß  enge  zusammen,  ebenso  wie  mit  dem  Begriff 
der  Tat,  welche  ja  ein  Ausfluß  des  Willens  ist.  Die  darüber  angestellten  Erörte- 
rungen veranschaulicht  Verf.  durch  Bezugnahme  auf  naheliegende  Beispiele  aus 
Erfahrungen,  die  der  Mensch  leicht  an  sich  machen  kann.    „Als  Wille  ist  die  Seele 


angez.  von  R.  Jonas.  275 

ein  beziehendes  Bewußtsein,  und  zwar  eines,  das  sich  selbst  ursächlich  bezieht, 
nämlich  auf  eine  vorgestellte  Veränderung;  so  wechselt  sie  zwischen  ,Wille  sein* 
und  »nicht  Wille  sein'."  Der  ursprüngliche  Zweck  kann  aber  auch  erweitert  werden, 
dann  kommen  wir  zu  dem  Begriff  des  Reihenzweckes;  nicht  minder  können  aber 
auch  Zweckbesonderungen  eintreten.  In  beiden  kommt  der  Begriff  der  Wahl  in 
Frage.  Und  wählen  heißt  (S.  46):  „unter  mehrerem  dasjenige,  das  am  meisten 
im  Lichte  der  Lust  steht,  also  das  beste  Mittel  oder  die  beste  Besonderung  des 
ursprünglichen  Zweckes  feststellen,  d.  h.  bestimmen".  Der  Begriff  des  Zwanges 
kann  nur  mit  einer  Zweckerweiterung,  mit  einem  Reihenzweck  verbunden  sein, 
er  kann  nur  das  Mittel  betreffen.  Zwang  und  Wahl  können  sich  niemals  beisammen 
finden.  So  kommen  wir  denn  zu  dem  Ergebnis:  ein  Wille  hat  die  Wahl.  Dazu 
gehört  Vergleichen  und  Bestimmen,  Urteilen,  Entscheiden.  Ein  Bewußtsein,  das 
nicht  Wille  ist,  kann  sich  auch  nicht  zu  etwas  entschließen,  für  etwas  entscheiden. 
Wille  und  Verstand  sind  immer  gemeinsam  in  der  Seele  tätig;  beide  Faktoren 
darf  man  nicht  voneinander  trennen.  Die  Trennung  beider  erklärt  Verf.  für 
geradezu  sinnlos.  Freilich  sei  dieser  Fehler  schon  von  jeher,  auch  im  Mittelalter 
bereits,  begangen;  Thomas  von  Aquino  und  Duns  Scotus  hätten  darüber  ganz 
verschieden  geurteilt.  Im  weiteren  Verlaufe  seiner  Erörterungen  behandelt  Verf. 
dann  die  Selbstbestimmung  des  Willens  genauer  unter  Zurückweisung  falscher 
Auffassungen  und  Lesarten  der  Selbstbestimmung,  die  von  falschen  Voraus- 
setzungen ausgehen.  So  ist  denn  die  Entwicklung  des  Verf.  auf  dem  Wege  der 
logischen  Erkenntnis  zu  dem  Begriff  des  freien  Willens  gelangt.  In  dem  Begriff 
„frei"  liegt  aber  zweierlei  nach  unserem  Sprachgebrauch,  nämlich:  1.  ungehindert 
und  2.  ungezwungen.  Und  Freiheit  des  Willens  in  dem  bezeichneten  zweifachen 
Sinne  findet  sich,  sagt  Verf.,  zweifellos  in  unserem  Seelenleben. 

Der  letzte  (8.)  Abschnitt  behandelt  das  Verhältnis  der  Begriffe  Willensfreiheit 
und  Notwendigkeit  zueinander.  Notwendigkeit  ist  dem  Verf.  ein  Beziehungs- 
begriff. Notwendigkeit  bei  einem  Gegebenen  ist  ihm  die  besondere  Beziehung 
zu  einem  anderen  Gegebenen.  Spreche  man  von  Willensnotwendigkeit,  so  heiße 
dies,  daß  das  Wollen  irgend  eines  Bewußtseins  notwendig  sei,  daß  ein  Bewußt- 
sein hat  wollen  müssen.  In  diesem  Sinne  sei  jedes  Wollen  des  menschlichen  Be»- 
wußtseins  ein  notwendiges,  ein  Wollenmüssen.  Wenn  jedes  Wählen  Wählen- 
müssen ist,  oder  jeder,  der  wählen  kann,  eben  wählen  muß,  dies  widerstreite  nicht 
dem  Satze,  daß  der  Wille  als  wählender  mit  Recht  ein  ,, freier  Wille"  zu  nennen 
ist;  insofern  nämlich  Freiheit  das  Ungehindertsein  zu  wählen  ist.  Dabei  führe 
jedoch  jedes  Vorziehen,  jedes  Wohlwollen  ohne  Zweifel  eine  Art  von  Notwendig- 
keit mit  sich.  , »Willensfreiheit  und  Willensnotwendigkeit  machen  niemals  einen 
Gegensatz  aus."  Überall  ist,  so  sagt  Verf.,  im  Zwangwollen  nichts  weniger  als 
im  freien  Wollen  das  wollende  Bewußtsein  ganz  allein,  das  sich  aus  Zwang  oder 
aus  Wahl  bestimmt. 

Soweit  eine  (allerdings  nur  kurze)  Skizzierung  des  Inhalts  des  Buches;  wir 
hielten  sie  für  notwendig,  damit  unsere  Leser  den  Gedankengang  desselben  einiger- 
maßen wenigstens  überschauen.  Die  Art  der  Darstellung  ist  einfach  und  klar, 
für  einen  weiteren  Kreis  gebildeter  Leser  bestimmt  und  sehr  geeignet.  Wer  sollte 
nicht  gern  über  die  in  dem  Werke  behandelten  Regungen  der  Seele  nachdenken? 

18* 


276^  E.  König,  Die  Materie,  angez.  von  R.  Jonas. 

Das  Buch  Rehmkes  bietet  jedem  dazu  eine  sehr  willkommene  Anregung;  er  wird 
beim  Lesen  desselben  sein  eigenes  Inneres  wie  in  einem  Spiegel  schauen.  Die 
Sprache  ist  leicht  verständlich  und  frei  von  schwierigeren  philosophischen  Aus- 
drücken. 

König,  E.,  Die  Materie.  (Wege  zur  Philosophie.  Schriften  zur  Einführung 
in  das  philosophische  Denken,  No.  2.)  Göttingen  1911.  Vandenhoeck  &  Ru- 
precht.    108  S.    8».    1,50  M. 

Zu  denjenigen  Begriffen,  welche  einer  philosophischen  Erörterung  und  Be- 
gründung bedürfen,  obgleich  sie  dem  natürlichen  Verstände  ganz  selbstverständlich 
und  unzweifelhaft  erscheinen,  gehört  der  der  ,, Materie''.  So  ist  es  denn  ganz  richtig, 
wenn  ihm  in  der  Reihe  der  Hefte  „Wege  zur  Philosophie",  welche  dazu  bestimmt 
ist,  weiteren  Kreisen  ein  Verständnis  für  philosophische  Erkenntnis  zu  erschließen, 
eines  gewidmet  ist. 

Der  Verf.  desselben  weist  zunächst  überzeugend  nach,  daß  jener  Begriff 
durchaus  nicht  so  selbstverständlich  ist,  wie  er  dem  Menschen  auf  den  ersten  Blick 
erscheinen  möchte.  Das  zeigen  recht  deutlich  mancherlei  philosophische  Er- 
wägungen und  Betrachtungen.  Auch  durch  die  heutige  Naturwissenschaft  geht 
ein  stark  skeptischer  Zug  in  bezug  auf  alles,  was  den  Begriff  der  Materie  betrifft. 
Nach  einer  solchen  begründenden  Einleitung  behandelt  Verf.  1.  Das  körperliche 
Ding.  2.  Die  Materie  als  Objekt  der  Sinne.  3.  Die  Materie  der  mechanischen 
Naturlehre.  4.  Das  Wesen  der  Materie.  5.  Fortgang  der  metaphysischen  Sub- 
stanz oder  Rückgang  zum  rein  Tatsächlichen?  6.  Kritischer  Begriff  der  Materie. 
Zunächst  werden  die  wesentlichen  Elemente  des  körperlichen  Dinges  aufgezeigt, 
welches  doch  trotz  der  hervortretenden  Mannigfaltigkeit  ein  einheitliches  bleibt, 
dann  werden  die  Formen  und  Entwicklungsstufen  des  Begriffs  der  Materie  dar- 
gelegt und  die  Möglichkeit  gegeben,  ihren  Wert  richtig  einzuschätzen.  Als  Gegen- 
stand der  sinnlichen  Wahrnehmung  zeigt  uns  die  Materie  die  Raumerfüllung  (die 
nicht  mit  der  Undurchdringlichkeit  verwechselt  werden  darf).  Ferner  tritt  die 
Teilbarkeit  hervor.  Die  platonisch-aristotelische  Philosophie  hat  zuerst  die  Begriffe 
von  Stoff  und  Form  aufgestellt.  Plato  allerdings  gelangte  dazu,  der  Idee,  d.  h. 
dem  Begriffe,  ein  selbständiges  Dasein  beizulegen.  Der  Abschnitt  ,,Die  Materie 
der  mechanischen  Naturlehre"  führt  uns  durch  die  philosophischen  Theorien 
darüber,  wie  sie  bereits  bei  den  Atomistikern  vorhanden  waren.  Mag  nun  auch 
der  Mensch  annehmen,  daß  Wahrnehmungsbild  und  Gegenstand  identisch  sind, 
es  muß  sich  doch  die  Notwendigkeit  herausstellen,  einen  Teil  des  Inhalts  der  Wahr- 
nehmung für  subjektiv  zu  erklären,  einen  Unterschied  zu  machen  zwischen  den 
Erscheinungen  und  den  Dingen  an  sich.  Der  nächste  Abschnitt  kommt  zu  dem 
Ergebnis,  daß  eine  gewaltige  Kluft  besteht  zwischen  dem,  was  wir  wahrnehmen, 
und  dem,  was  der  Annahme  nach  in  Wirklichkeit  als  Ursache  der  Wahrnehmung 
vorhanden  ist. 

Nachdem  Verf.  nach  Beschreitung  der  verschiedensten  Wege  zu  einem  greif- 
baren Ergebnis  hinsichtlich  der  Erfassung  des  Begriffs  der  Materie  nicht  hat  ge- 
langen können,  muß  man  annehmen,  daß  er  eine  Substanz  im  letzten  abschließen- 
den Sinne  ebensowenig  gibt  wie  eine  absolute  Bewegung.    Der  Begriff  der  .Materie 


A.  Soergel,  Dichtung  und  Dichter  der  Zeit,  angez.  von  A.  Matthias.         277 

(oder  Substanz)  modifiziert  nur  eine  Forderung  des  Denkens,  nach  welcher  die 
Menschen  die  Erfahrungstatsachen  deuten. 

Die  klaren,  von  den  gründlichsten  philosophischen  Studien  zeugenden  Aus- 
führungen des  Verf.,  die  wir  hier  nur  flüchtig  und  in  einigen  Hauptpunkten  skiz- 
zieren konnten,  werden  dem  für  solche  Gegenstände  interessierten  Leser  eine 
treffliche  Beiehrung  über  die  einschlägigen  Fragen  bringen.  Das  Heftchen  sei 
demnach  aufs  angelegentlichste  empfohlen. 

Küsiin.  :  R.  Jonas,  t 

Soergel,  Albert,  Dichtung  und  Dichter  der  Zeit.     Eine  Schilderung 
der  deutschen  Literatur  der  letzten  Jahrzehnte.     Mit  345  Abbildungen.     XH 
u.  842  S.   8^.     Leipzig  1911.   B.  Voigtländers  Verlag.     10,50  M.,  geb.  12,50  M. 
Der  Verfasser   nennt   sein   Buch   nicht    Literaturgeschichte,    sondern    Schil- 
derung der  deutschen  Literatur,  und  er  stellt  sich  damit  von  vornherein  auf  den 
Standpunkt,  daß  er  keine  abgeschlossenen  geschichtlichen  Werturteile .  bringen 
will  über  Literaturerzeugnisse,  die  uns  allen  noch  zu  nahe  liegen,  so  daß  ein  ob- 
jektiv gehaltenes  Urteil  über  das  Einzelne  und  über  seine  Zusammenhänge  noch 
nicht  geboten  werden  kann.    Eine  Schilderung  kann  mehr  persönlicher  Natur  sein, 
und  sie  gibt  mehr  als  eine  Beschreibung,  die  am  Äußeren  hängen  bleiben  darf, 
sie  wendet  sich  nicht  bloß  an  Auge,  Verstand  und  Einsicht,  sondern  zugleich  an 
Phantasie  und  Gemüt,  und  sie  will  nicht  nur  deutlich  und  verständlich  sein,  sondern 
sie  darf  auch  lebendig  sein  und  von  persönlicher  Wärme  erfüllt. 

Das  Buch  zeigt  eine  ganz  erstaunliche  Belesenheit,  erstaunlich  deshalb,  weil 
so  außerordentlich  viel  —  Spreu  und  Weizen  durcheinander  —  bewältigt  werden 
mußte  und  gleichwohl  nirgendwo  oberflächlich  gelesen  ist,  sondern  mit  eindring- 
licher Tiefe;  auch  zeigt  sich,  was  ihm  nicht  zu  verübeln  gewesen  Wäre,  beim  Ver- 
fasser an  keiner  Stelle  Ermüdung  und  Ermattung;  er  bleibt  frisch  im  Urteil  und 
im  Gemüt,  wo  einen  anderen  die  Langeweile  gepackt  hätte;  oder  aber  die  Langeweile 
ist  für  ihn  „kein  böses  Kraut",  sondern  ,,eine  Würze",  die  viel  verdaut.  Ferner 
hält  Soergel  bei  seiner  Arbeit,  die  uns  viel  Einzelheiten  bietet,  um  uns  selbst  prüfen 
zu  lassen,  den  Blick  immer  offen  für  das  Ganze  und  für  die  Zusammenhänge,  und 
er  weiß  diese  Arbeit  zu  formen  zu  feinster  Charakteristik.  Wer  den  Beweis  dafür 
haben  will,  der  lese  einmal,  was  er  über  Isolde  Kurz  und  was  er,  um  aus  ganz  anderer 
Geisteswelt  zu  wählen,  über  Karl  Schönherr  sagt.  Was  er  hier  sagt,  ist  höchst 
eigenartig;  Nachbeten  und  Nachtreten  kennt  Soergel  nicht;  er  ist  immer  er  selbst 
und  trotz  allem  Selbstbewußtsein  stets  bescheiden;  dem,  der  anders  urteilen 
möchte,  bleiben  freie  Wege  immer  offen.  Und  nicht  nur  die  Dichter  der  Zeit  werden 
vor  uns  vorübergeführt,  auch  die  Kreise,  in  denen  sie  wirken,  die  ganze  Umwelt, 
auf  welche  sie  angewiesen  sind;  die  öffentliche  Meinung,  von  der  sie  abhängig  oder 
nicht  abhängig  sind,  wird  charakterisiert,  auch  das  Wirken  von  Vereinen,  von 
Theaterdirektoren,  von  „freien  Bühnen"  und  ähnlichen  Erscheinungen.  Würde 
alles  dieses  in  ein  Sachverzeichnis  am  Ende  zusammengefaßt,  man  würde  staunen, 
was  Soergel  alles  weiß  und  kennt  und  klug  beurteilt.  Und  daß  diese  Zusammen- 
stellung eines  sehr  reichen  Materials  nicht  zur  ermüdenden  Aufzählung,  nichts 
Katalogartiges  geworden  ist,  sondern  als  etwas  durchaus  Organisches  vor  uns  vor- 


278  Genethliakon,  Carl  Robert  zum  8.  März   1910  überreicht  usw., 

überzieht,  das  ist  mit  das  Schönste  an  diesem  Buche;  es  liest  sich  trotz  des  bunten 
Vielerlei,  das  in  unserer  Zeit  liegt,  durchaus  flott,  weil  der  Verfasser  den  Faden, 
an  dem  wir  uns  leiten  lassen,  in  jedem  Augenblick  festhält. 

Zu  den  Verdiensten  des  Verfassers  gesellt  sich  das  der  Verlagsbuchhandlung. 
345  Abbildungen!  Als  ich  das  zuerst  las,  bekam  ich  keinen  gelinden  Schrecken. 
Denn  was  muß  man  sich  —  auch  in  Literaturgeschichten  —  nicht  alles  an  öden 
Bildern  bieten  lassen.  Hier  aber  ist's  anders.  Der  Verlag  hat,  soweit  das  möglich  ist, 
überall  sich  bemüht,  die  Beziehungen  zwischen  Dichtkunst  und  bildender  Kunst 
festzuhalten.  Es  sind  deshalb  Bildnisse  von  Künstlerhand  bevorzugt.  Wo  diese 
nicht  zu  haben  waren  —  und  das  ist  nicht  sehr  häufig  —  wurden  Photographien 
gewählt  und  zwar  die  besten.  Neben  die  Bildnisse  treten  in  bescheidener  Zurück- 
haltung und  deshalb  in  köstlicher  Wirkung  Karikatur  und  Satire.  Besonders  aber 
kommt  die  bildende  Kunst  zum  Ausdruck  in  dem  Buchschmuck,  der  ja  gerade 
im  letzten  Jahrzehnt  einen  so  erfreulichen  Aufschwung  nimmt.  So  ist  das  Bildwerk 
keine  nur  äußere  Zutat.  Es  gehört  mit  zur  „Schilderung"  unserer  Zeit  und  der 
Zeitdichtung,  wie  das  festliche  Gewand  zu  festlicher  Stimmung.  Der  Verfasser  des 
künstlerischen  Buches  kann  glücklich  sein,  daß  seine  schönen  Gedanken  ein  so 
künstlerisches  Rankenwerk  durchzieht. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Genethliakon,   Carl    Robert    zum    8.    März    1910   überreicht    von 

der   Graeca   Halensis.     Berlin   1910.     Weidmannsche  Buchhandlung. 

VII  u.  246  S.    gr.  8«.    6  M. 

Dieser   Sammelband   vereinigt   acht   Abhandlungen   aus   den    Gebieten   der 

klassischen  Philologie  und  Philosophie,  mit  denen  ebensoviel  Freunde  Carl  Robert, 

dem   Gründer  der  Graeca  Halensis,  ihre   Glückwünsche  zum  einundsechzigsten 

Geburtstage  darbringen. 

Niese  behandelt  in  drei  Kapiteln  einige  Probleme  aus  der  eleischen  Geschichte 
(S.  1—47).  Zunächst  erörtert  er  das  Verhältnis  der  xo-Xv;  "HXu:,  der  herrschen- 
den Gemeinde,  zu  dem  Untertanenland,  der  Ilspioixic,  etwa  von  der  Zeit  der  Perser- 
kriege bis  zur  römischen  Herrschaft.  Hierauf  untersucht  er,  was  sich  aus  den 
homerischen  Dichtungen  über  die  geographischen  und  politischen  Zustände  dieser 
Landschaft  gewinnen  läßt,  und  zum  Schlüsse  unterzieht  er  die  Tradition  über 
die  frühere  Selbständigkeit  der  Pisaten  einer'  scharfen  Kritik  und  verwirft  sie, 
wohl  mit  Recht,  als  Tradition. 

i^^[,Wissowa  prüft  die  Geschichte,  die  sich  in  den  Sanctgallener  Schollen  zu 
Ciceros  Verrinen  I,  29  von  der  Feindschaft  des  Naevius  und  der  Meteller  findet, 
auf  ihre  Glaubwürdigkeit  (S.  49—63).  Er  erkennt,  daß  von  den  beiden  bekannten 
Streitversen  jato  Metelli  Romae  fiunt  consules  und  malum  dabunt  Metelli  Naevio 
poetae  der  erste  im  letzten  Drittel  des  zweiten  Jahrhunderts  v.  Chr.  entstanden 
ist  und  in  der  Zeit  zwischen  Cicero  und  Nero  dem  Naevius  zugeschrieben  wurde, 
den  zweiten  aber  erst  in  Neros  Zeit  Caesius  Bassus  als  Musterbeispiel  des  Ideal- 
saturniers  frei  erfunden  hat.  Damit  erweist  sich  jene  Geschichte  als  unglaub- 
würdiges Phantasieprodukt. 


angez.  von  J.  Moeller.  279 

B  e  c  h  t  e  I  betrachtet  vom  sprachwissenschaftlichen  Standpunkte  aus  mit 
Rücksicht  auf  das  Namenwörterbuch  die  lehrreichsten  Personennamen  im  vierten 
Bande  der  Inscriptiones  Graecae  (S.  65—85).  Hierbei  gelangt  er  oft  zu  anderen 
Ergebnissen  als  der  Herausgeber  Fränkel,  dem  er  dazu  vorwirft,  er  sei  zu  „spar- 
sam mit  dem  Nehmen  von  Abklatschen  gewesen". 

Kern,  dem  es  gelingt,  einige  Namen  in  orphischen  Hymnen  auf  klein- 
asiatischen Inschriften  nachzuweisen,  glaubt  wegen  dieser  und  anderer  Beziehungen, 
daß  die  vorliegende  Fassung  des  orphischen  Hymnenbuches  für  einen  dionysischen 
Mysterienverein  Kleinasiens  (nicht  Ägyptens,  wie  A.  Dieterich  vermutete)  be- 
stimmt sei.  Daran  anschließend  behandelt  er  den  delphischen  Orakelspruch  von 
Tralles  auf  Grund  eines  neuen  Abklatsches,  nach  dem  die  beigefügte  Tafel  her- 
gestellt ist  (S.  87—101). 

Praechter  versucht  im  Gegensatz  zu  Zeller  die  Richtungen  und  Schulen 
im  Neuplatonismus  schärfer  zu  bestimmen  und  die  einzelnen  Philosophen  anders 
zu  gruppieren  (S.  103 — 156).  Zu  diesem  Zwecke  beleuchtet  er  ihre  Exegese  der 
platonischen,  aristotelischen,  neupythagoreischen  und  orphischen  Schriften,  aus 
denen  sie  ihre  Dogmen  herieiteten,  und  prüft  die  Grundsätze,  die  sie  bei  der  Inter- 
pretation dieser  Literatur  befolgten,  auf  ihren  methodischen  Wert.  Das  Ergebnis 
dieser  Prüfung  zwingt  ihn,  besonders  dem  Philosophen  Porphyrius  und  Jam- 
blichus,  die  jetzt  in  einem  neuen  Lichte  erscheinen,  einen  anderen  Platz  zuzuweisen 
und  die  Stellung  der  übrigen  Neupythagoreer  sowohl  zu  ihnen  wie  zueinander 
anders  zu  bestimmen.  Das  Resultat  der  Untersuchung  wie  ihr  Gang  verleihen 
diesem     Beitrag    auch    inhaltlich    eine    überragende     Bedeutung. 

Eduard  Meyer  legt  eine  neue  interessante  und  ansprechende  Deutung 
von  Hesiods  Erga  und  besonders  von  dem  Abschnitt  über  die  fünf  Menschen- 
geschlechter vor  (S.  157 — 187).  Darnach  faßt  hier  der  Dichter  >seine  Mahnreden 
aus  der  Zeit  vor  dem  Prozeß  mit  seinen  später  in  tiefem  Nachdenken  gewonnenen 
Ansichten  über  der  Menschen  Schicksal  zu  dem  Gedanken  zusammen,  daß  wir  auf 
redliche  Arbeit  unsere  Existenz  gründen  müssen.  In  diese  Dichtung  flicht  er  in 
freier  Behandlung  Mythen  und  Erzählungen  nicht  nur  um  ihrer  selber  willen,  sondern 
wegen  des  ethischen  Gehaltes,  der  entweder  bereits  in  ihnen  liegt  oder  den  er  erst 
in  sie  hineinträgt.  Daher  besitzt  das  Gedicht  weder  einen  einheitlichen  Charakter, 
noch  ist  es  in  strenger  Gedankenfolge  aufgebaut.  Wer  ihm  gerecht  werden  will, 
darf  es  also  nicht  logisch  zergliedern,  sondern  muß  es  psychologisch  betrachten. 
Diese  Erkenntnis,  durch  die  das  Verständnis  der  hesiodischen  Dichtung  wesent- 
lich gefördert  wird,  und  die  auch  noch  auf  manches  andere  Werk  der  alten  und  neuen 
Literatur  wird  Anwendung  finden  müssen,  ist  meines  Erachtens  der  fruchtbarste 
Gedanke  in  dem  ganzen  Buche. 

W  i  1  c  k  e  n  vertieft  und  erweitert  auf  Grund  eingehenden  Studiums  der 
auf  der  beigefügten  Tafel  im  Lichtdruck  wiedergegebenen  Originale  seine  frühere 
Deutung  zweier  kleiner  sehr  verstümmelter  Papyri,  die  Flinders  Petrie  1889  bei 
Hawara  in  Ägypten  gefunden  hat  (S.  189—225).  Mit  Hilfe  seiner  scharfen  Augen 
und  seiner  glücklichen  Kombinationsgabe  weiß  er  den  wenigen  Worten  erstaun- 
lich viel  zu  entlocken.  Er  gelangt  zu  der  Ansicht,  daß  uns  hier  in  einer  Handschrift 
aus  dem  Anfang  des  zweiten  nachchristlichen  Jahrhunderts  von  einer  attischen 


280  Velhagen  und  Klasings  Volksbücher,  angez.  von  A.  Matthias. 

Periegese  aus  dem  beginnenden  dritten  Jahrhundert  v.  Chr.  die  Beschreibung 
besonders  der  Häfen  und  Mauern  Athens  vorliegt.  Ist  dieses  Ergebnis  der  detail- 
lierten Untersuchung  richtig,  so  wäre  der  namenlose  Autor  der  älteste  uns  bekannte 
Vertreter  der  periegetischen  Literatur. 

E  r  d  m  a  n  n  stellt  Betrachtungen  über  die  Deutung  und  Wertung  der  Lehre 
Spinozas  an  (S.  228—246).  Auf  einem  Gang  durch  die  letzten  drei  Jahrhunderte 
der  Philosophie  zeigt  er,  wie  das  Interesse  für  Spinoza  und  das  Verständnis  seiner 
Forschungen  und  Lehre  seit  dem  Jahre  1785,  in  dem  Fr.  H.  Jacobis  bekannte 
Schrift  erschien,  allmählich  wächst  und  immer  mehr  der  Bedeutung  des  großen 
Mannes  entspricht.  Doch  hat  die  Zukunft,  um  den  Schatz,  der  hier  vorliegt,  völlig 
ausschöpfen  zu  können,  noch  viele  Aufgaben  zu  lösen.  Als  solche  bezeichnet  er 
vor  allem  die  Schaffung  eines  Spinozalexikons  und  einer  kommentierten  Ausgabe 
der^Ethik  und  ganz  besonders  einer  analytischen  Rekonstruktion  seiner  Lehre. 

Halle  a.  S.  Johann  esMoeller. 

Velhagen  und  Klasings  Volksbücher.  Volksbücher  der  Geschichte. 
Friedrich  der  Große.  I.Teil:  Der  Kronprinz.  Von  Dr.  M  a  x  H  e  i  n.  Mit  38  Ab- 
bildungen, darunter  einschließlich  des  Umschlagbildes  8  in  farbiger  Wieder- 
gabe. 34  S.  IL  Teil:  Der  Siebenjährige  Krieg.  Von  W  a  1 1  e  r  v.  Bremen. 
Mit  29  Abbildungen  und  einem  farbigen  Umschlagbild,  nebst  einer  Karte  und 
10  Schlachtplänen.  34  S.  IIL  Teil:  Die  Friedensjahre.  Von  Dr.  M  a  x  H  e  i  n. 
Mit  42  Abbildungen  und  einem  farbigen  Umschlagbild.  34  S.  Bielefeld  und 
Leipzig  1912.    Velhagen  und  Klasing.     Jedes  Heft  kart.  0,60  M. 

Die  schon  im  Jahrgang  X,  S.  551  dieser  Monatschrift  besprochenen  Volks- 
bücher finden  ihre  zeitgemäße  Fortsetzung  in  3  Heften,  die  dem  großen  Könige 
gewidmet  sind.  Die  bewegten  Schicksale  des  Kronprinzen  erzählt  ein  eigenes 
Heft.  Die  Tatsachen  reden  hier  selbst  und  packen  uns  gerade,  weij  die  Re- 
flexion sich  nicht  aufdringlich  dazwischen  schiebt,  sondern  nur  vorsichtig 
die  Frage  berührt,  inwiefern  in  dem  tragischen  Schicksal  zwischen  Vater  und 
Sohn  Schicksal  oder  persönliche  Schuld  verantwortlich  zu  machen  ist.  In  dem 
3.  Hefte  wird  mit  Ernst  auf  Friedrichs  Verwaltungsgrundsätze,  seine  philosophischen 
Überzeugungen  und  die  künstlerischen  Liebhabereien  eingegangen.  Was  aber 
besonders  der  Belehrung  der  Jugend  zuzugute  kommen  muß,  ist  die  Geschicklich- 
keit, mit  der  historische  Rückblicke  auf  die  Zustände  vor  dem  großen  Könige 
und  sein  reformatorisches  Eingreifen  geschildert  werden. 

Das  2.  Heft  von  Walter  v.  Bremen  wird  unserer  Jugend,  der  denn  doch  krie- 
gerische Schilderungen  über  alles  gehen,  besondere  Freude  machen.  Das  Große 
der  Kriege  wird  in  knappen  Zügen  gegeben.  Die  Kleinarbeit  und  die  Schlachten 
werden  mit  soviel  einprägsamer  Einzelplastik  versehen,  daß  die  Jugend  mit  Hilfe 
der  Karte  und  der  10  Schlachtpläne  mitmarschieren  und  mitkämpfen  kann.  Und 
das  tut  sie  nur  zu  gern,  wenn  sie  der  Väter  gedenkt,  und  wenn  sie  empfindet,  daß  wir 
uns  für  alle  Zukunft  nichts  Besseres  bewahren  können,  als  unseren  guten  Kampfes- 
mut und  unsere  Wehrhaftigkeit. 

Berlin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 


E;  Neuendorff,  Hinaus  in  die  Ferne!,  angez,  von  H.  Gerstenberg.  281 

Neuendorff,  Edmund,  Hinaus  in  die  Ferne!   Zwei  Wanderfahrten  deutscher 
Jungen  durch  deutsche  Lande.     Leipzig   und    Berlin    IQIL      B.  G.   Teubnen 
VHI  u.  235  S.   80.  geb.  3  M. 
Wie   eine    kerngesunde,    innerstem   Wesen    und    Bedürfnisse   entsprechende 
Auflehnung  gegen  die  Überkultur  unserer  Tage  mutet  es  an,  wenn  sich  unsere  Jugend, 
von  neuer  Wanderlust  ergriffen,  in  den  Schulferien  dem  einengenden  Zwange  des 
Stadtlebens  entringt  und  hinauszieht,  um  durch  die  deutschen  Lande,  durch  Heide 
und  Wald  über  Berg  und  Tal,  zu  schweifen  und  am  Busen  der  Natur  frische  Nah- 
rung, neues  Blut  einzusaugen. 

Den  Rucksack  auf  dem  Rücken,  der  unter  der  Fülle  seines  Inhalts  aufgebläht 
ist,  den  Kochtopf,  die  Schlafdecke,  wohl  auch  eine  Zeltbahn  übergeschnallt,  nicht 
selten  die  Laute  übergehängt,  so  ziehen  die  jugendlichen  Wanderer  dahin,  die 
Herzen  und  Lippen  zu  frohem  Gesang  geöffnet,  wenn  die  Sonne  ihnen  heiter  lacht 
und  der  Bergwald  sie  in  seinen  erquickenden  Schatten  aufnimmt,  oder  die  Zähne 
fest  aufeinander  gebissen  und  die  Lippen  trotzig  geschlossen,  wenn  die  Sonnen- 
glut auf  der  staubigen  Landstraße  brütet  und  das  Wegziel  den  schon  Ermüdenden 
noch  in  weiter  Ferne  liegt  oder  der  Regen  schwer  an  Rock  und  Mantel  hängt  und  der 
Sturm  ihnen  jeden  Schritt  vorwärts  wehrt.  Aus  dem  verhätschelten,  unbeholfenen 
Stadtkinde  und  Muttersöhnchen  wird  da  bald  ein  selbständiger,  frischer  Natur- 
bursche, der  sich  die  im  letzten  Dorfe  eingekauften  einfachen  Lebensmittel,  am 
Bache  gelagert,  über  der  Spritflamme  zubereitet,  der  abends  sein  Zelt  am  Wald- 
hange aufschlägt  und  die  Sterne  über  sich  wachen  läßt  oder  beim  Bauern  ins  warme 
Stroh  kriecht,  nachdem  er  sich  durch  seinen  Frohsinn,  seinen  Gesang  und  seine 
Kochkunst  die  Herzen  des  Bauern  und  der  Bäuerin  erobert  hat. 

Diese  und  andere  Vorzüge  und  Freuden  des  Wanderlebens  schildert  uns  der 
Verfasser  anmutig  aus  eigener  Erfahrung  in  frischen  Farben.  Denn  er  ist  selbst 
mit  seinen  Schülern  in  den  Sommerferien  hinausgezogen,  von  Haspe  im  Lande 
der  roten  Erde  in  die  Welt  hinaus,  und  wenn  er  auch  nicht,  wie  Seume,  bis  Syrakus 
gekommen  ist,  so  hat  er  doch  das  eine  Mal  in  19  tägiger  Wanderung  Berlin,  das 
andere  Mal  in  29  Wandertagen  Wien  erreicht  —  eine  erstaunliche  Leistung  in 
unserer  Zeit  der  Eisenbahnen  und  Kraftfahrzeuge,  in  der  der  Handwerksbursche 
und  die  gemütliche  Postkutsche  von  der  Landstraße  fast  ganz  verschwunden  sind. 
Aber  dem  Verfasser  ist  es  nicht  nur  um  eine  unterhaltsame  Schilderung  der 
vielseitigen  Erlebnisse  ernster  und  heiterer  Natur,  die  solche  Wanderfahrt  mit 
sich  bringt,  lustiger  Streiche  und  Wechselfälle  und  ernsterer  nachhaltiger  Ein- 
drücke zu  tun.  Hinter  dem  launigen,  stimmungsvollen  Erzähler  steht  der  Freund 
und  Erzieher  der  Jugend,  die  nach  Prüfung  und  Bewährung  ihrer  Kräfte,  nach 
eigenem  Schauen  und  Erleben  lechzt  und  doch  nicht  immer  von  sich  selbst  aus 
zur  richtigen  und  nützlichen  Befriedigung  dieses  inneren  Drängens  und  Sehnens 
zu  gelangen  vermag. 

So  lehrt  der  Verfasser,  ohne  in  lehrhaften,  trockenen  Ton  zu  verfallen,  aus  der 
Begeisterung  seines  eigenen  Herzens  heraus,  welche  geheimnisvollen  Reize  das  Wan- 
dern durchs  deutsche  Land  auch  auf  die  Jugend  ausübt,  wie  ihnen  die  Kraft  und 
Zähigkeit  wächst,  das  Herz  aufgeht,  der  Blick  für  die  Eigenart  deutscher  Land- 
schaft und  deutschen  Volkslebens  geöffnet  wird.    Und  es  ist  keine  Überschätzung 


282  K.  Floericke,  Säugetiere  fremder  Länder,  angez.  von   G.  Klatt. 

des  Wesens  und  Wertes  der  Wanderfahrt,  wenn  er  sie  als  eine  Erziehungsschule 
fürs  Leben  preist. 

Nicht  jedem  mag  es  gegeben  sein,  so  einfache  und  entbehrungsreiche  Wande- 
rungen, wie  sie  der  Verfasser  schildert,  zu  unternehmen.  Wer  aber  ein  anschau- 
liches Bild  davon  haben  will,  wie's  gemacht  wird,  um  seine  Schüler  mit  wenig 
Geld  und  vielseitigstem  Gewinn  durch  deutsche  Lande  zu  führen,  der  nehme 
Neuendorffs  Buch  in  die  Hand.  Es  erfrischt,  erhebt  und  erheitert  zugleich  und 
weckt  die  Lust,  es  auch  einmal  so  zu  versuchen. 

Hamburg.  Heinrich    Gerstenberg. 

Floericke,  Kurt,  Säugetiere  fremder  Länder.  Stuttgart  1911.  Kosmos, 
Gesellschaft  der  Naturfreunde.  Geschäftsstelle:  Franckhsche  Verlagshandlung. 
104  S.    8«.     1  M. 

Es  ist  ein  freundliches  Büchlein,  durch  das  der  bekannte  Verfasser  die 
Sammlung  des  „Kosmos"  bereichert  hat.  Zwanglos,  im  Erzählertone  führt  er 
uns  durch  die  Ordnungen  der  Säugetiere.  Da  er  in  der  Lage  ist,  manche  auf 
weiten  Reisen  gemachten  Beobachtungen  über  das  Leben  der  Tiere  beizubringen, 
so  gestaltet  sich  die  Darstellung  äußerst  lebensvoll.  Er  erzählt  mit  Temperament, 
und  überall  merkt  man,  daß  der  Verfasser  nicht  nur  Natur beobachter, 
sondern  von  ganzer  Seele  Natur  f  r  e  u  n  a  ist.  Seinem  Zwecke  entsprechend, 
betont  das  Buch  mehr  das  Leben  der  Tiere  und  geht  trockenen  Beschreibungen 
aus  dem  Wege.  Dennoch  kommt  das  Körperliche  nicht  zu  kurz.  Aber  Floericke 
faßt  dieses  Körperliche  anders  als  der  Verfasser  eines  zoologischen  Lehrbuches. 
Mit  einem  geradezu  künstlerischen  Blicke  dringt  er  gleichsam  in  den  Geist  des 
Körperlichen  ein  und  zeichnet  den  Charakter  des  Tieres,  wie  er  sich  in  der  Mo- 
dellierung der  Glieder  und  ihren  Bewegungen  ausdrückt.  Das  Fremdartige 
des  Känguruhs,  das  R  a  u  b  t  i  e  r  h  a  f  t  e  des  Wüstenfuchses,  das  Zierliche 
der  Gazelle  setzt  sich  so  aus  den  Einzelzügen  zu  einem  wirklich  künstlerischen  Bilde 
zusammen.  Seine  Fähigkeit,  das  Charakteristische  zu  sehen  und  treffend  zu  bezeich- 
nen, zeigt  sich  zuweilen  in.  unscheinbaren  Kleinigkeiten,  so  wenn  er  das  Schuppen- 
tier mit  einem  riesigen  Tannenzapfen  oder  den  „riesenhaften,  wundervoll  be- 
haarten" Schwanz  des  Ameisenbären  mit  einer  breiten  Fahne  vergleicht. 

Das  Buch  behandelt  auf  104  Seiten  ungefähr  150  Arten.  Es  besitzt  also  eine 
gewisse  Reichhaltigkeit  und  kann  sehr  wohl  für  den  Laien,  der  den  zoologischen 
Garten  besucht,  eine  Art  Handbuch  bilden.  Große  Bücher  nehmen  die  Leute  ja 
doch  nicht  in  die  Hand.  Die  Abbildungen,  29  an  der  Zahl,  zu  denen  noch  2  Tafeln 
kommen,  sind  eine  willkommene  Zugabe. 

Görlitz.  Georg   Klatt. 


HI.  Vermischtes. 


Amerika-Institut. 

Eine  große  Anzahl  deutsch-amerikanischer  Lehrer  und  Lehrerinnen,  Mit- 
glieder des  über  die  Vereinigten  Staaten  verbreiteten  deutsch-amerikanischen 
Lehrerbundes,  gedenkt  im  Sommer  dieses  Jahres  gemeinsam  ihrem  Stammlande 
einen  Besuch  abzustatten  und  wünscht  namentlich  mit  der  gegenwärtigen  Ge- 
staltung des  Schul-  und  Erziehungswesens  bei  uns  sich  an  Ort  und  Stelle  bekannt 
zu  machen.  Ihrer  Tätigkeit  nach  gehören  dieselben  (im  ganzen  aller  Voraussicht 
nach  mehrere  hundert)  den  verschiedenen  Arten  und  Stufen  dortiger  Unterrichts- 
anstalten an,  von  der  Elementarschule  aufwärts  bis  zum  College  oder  der  Uni- 
versität. Beabsichtigt  ist  eine  Rundreise  durch  die  interessantesten  deutschen 
Städte,  die  in  den  Tagen  vom  10.  bis  15.  August  in  Berlin  ihren  Abschluß  und 
insofern  zugleich  den  Höhepunkt  darstellen  soll,  als  hier  die  regelmäßige  Jahres- 
tagung des  gesamten  großen  Lehrerbundes,  die  sonst  abwechselnd  in  einer  der 
amerikanischen  Städte  stattfindet,  abgehalten  werden  soll.  Mit  den  bei  dieser 
Gelegenheit,  und  zwar  voraussichtlich  am  12.  und  13.  August,  zu  haltenden  und 
ohne  Zweifel  auch  für  diesseitige  Pädagogen  interessanten  Vorträgen  und  Verhand- 
lungen werden  voraussichtlich  auch  Vorträge  deutscher  Fachmänner  zu  einem 
Gesamtprogramm  vereinigt  werden.  Mannigfache  Besichtigungen  hiesiger  Er- 
ziehungs-  und  Schuleinrichtungen  werden  wesentlich  die  Tage  14.  bis  15.  August 
ausfüllen.  Ein  festlicher  Empfang  mit  Schülerkonzert  ist  den  Gästen  von  der 
Stadt  Berlin  im  Neuen  Stadthause  für  Sonntag,  den  11.  mittags, 'zugedacht.  Andere 
festliche  und  lehrreiche  Veranstaltungen  werden  Charlottenburg  sowie  andere 
Gemeinden  von  Groß-Berlin  bieten.  Ein  Ausschuß  zur  Vorbereitung  eines  ange- 
messenen Empfangs  der  Gäste  sowie  zur  Ermöglichung  eines  fruchtbaren  Verlaufs 
des  gesamten  Besuches  hat  sich  bereits  seit  dem  Herbst  vorigen  Jahres  gebildet, 
an  dessen  Spitze  bisher  der  jüngst  verstorbene  Geheimrat  W.  Münch  gestanden 
hat  und  dessen  erster  Schriftführer  Dr.  Drechsler  vom  hiesigen  Amerika-  Institut 
ist.  Es  ist  nun  dringend  zu  wünschen,  daß  eine  möglichst  große  Anzahl  diesseitiger 
Oberlehrer,  Lehrer  und  Lehrerinnen  sich  als  Zuhörer  und  sonstige  Teilnehmer  an 
der  interessanten  Tagung  beteiligen,  und  wesentlich  auch,  daß  ihrer  nicht  wenige 
sich  dem  Ausschuß  als  Helfer  bei  den  weiteren  Vorbereitungen,  bei  der  Begrüßung 
und  während  der  Tage  des  Besuches  zur  Verfügung  stellen.  Beherrschung  der 
englischen  Sprache  ist  dabei  nicht  vonnöten.  Daß  die  in  Betracht  kommenden 
ersten  Tage  noch  mit  den  letzten  Tagen  der  diesseitigen  Sommerferien  zusammen- 
fallen, wird  hoffentlich  nicht  alle  abhalten,  sich  rechtzeitig  einzufinden;  auch  der 
Wiederbeginn  des  Unterrichts  in  den  Tagen  vom  13.  an  wird  sicher  nicht  jede  Be- 
teiligung unmöglich  machen.  Das  bestimmtere  Programm  soll  im  Mai  veröffentlicht 
werden.  Anmeldungen  der  Teilnehmer  (schriftlich  oder  persönlich)  werden  schon 
jetzt  im  Bureau  des  Amerika- Instituts  (Berlin  NW.  7,  Universitätsstraße  8)  will- 
kommen geheißen. 


284  Vermischtes. 

Der  erste  Philologische  Fortbildungskursus  in  Halle  a.  S. 

Auf  Anregung  aus  Oberlehrerkreisen  fand  vom  1.  bis  3.  April  d.  J.  in  Halle  a/S. 
der  erste  altphilologische  Fortbildungskursus  statt.  Zu  ihm  hatten  auf  direkte 
Bitte  der  Oberlehrer  einzig  um  deren  Weiterbildung  willen  sechs  Dozenten  der 
Universität  je  einen  dreistündigen  Vortrag  zugesagt.  Das  Programm  lautete: 
Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Robert:  Homer;  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Wis- 
sowa:  Plan  und  Absicht  der  Germania  des  Tacitus;  Prof. 
Dr.  Bechtel:  Griechische  Dialekte;  Prof.  Dr.  Kern:  A'us  grie- 
chischen Inschriften  (mit  Lichtbildern);  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr. 
von  Stern:  Die  ägäische  Kultur  (mit  Lichtbildern) ;  Prof.  Dr. 
Abert:  Antike  Musik  ( mit  Gesangvortrag  und  Begleitung).  Da  Prof. 
Dr.  Wissowa  plötzlich  erkrankte,  so  veranstaltete  Prof.  Dr.  Robert  zum  Er- 
satz des  ausgefallenen  Vortrags  Führungen  durch  das  archäolo- 
gische Museum  der  Universität,  wobei  er  die  Anordnung  der  Bild- 
werke besprach  und  mehrere  interpretierte.  Zu  dem  Kursus,  der  zunächst  für  die 
Oberlehrer  der  Provinz  Sachsen  gedacht  war,  hatten  sich  81  Teilnehmer  eingefunden, 
davon  aus  Halle  23,  aus  den  anderen  Städten  der  Provinz  Sachsen  43,  aus  dem 
übrigen  Preußen  7,  aus  Anhalt  2,  aus  den  thüringischen  Staaten  5,  aus  Bremen  1. 
Von  diesen  waren  5  Direktoren,  26  Professoren,  40  Oberlehrer,  2  wissenschaftliche 
Hilfslehrer,  8  Kandidaten.  Als  Beitrag  zur  Bestreitung  der  Unkosten  wurden 
von  jedem  Teilnehmer  2  M.  erhoben.  Am  letzten  Abend  vereinigten  sich  die  Vor- 
tragenden mit  vielen  Zuhörern  zu  einem  gemeinschaftlichen  Essen. 

Halle  a.  S.  J.  M  o  e  1 1  e  r.      , 

Aufruf  zur  Begründung  eines  Deutschen  Germanisten- 
Verbandes.; 

Mehr  und  mehr  ist  in  allen  Kreisen,  denen  es  um  die  Zukunft  .unseres  Volks- 
tums ernst  ist,  die  Überzeugung  zum  Durchbruch  gekommen,  daß  unser  deutsches 
Geistesleben  stärker  als  bisher  auf  völkische  Grundlagen  gestellt  werden  muß. 
Noch  findet  dies  Bestreben  keine  freie  Bahn.  Ihm  steht  vor  allem  im  Wege,  daß 
der  Unterricht  im  Deutschen  an  unsern  höheren  Schulen  nicht  die  Stellung  ein- 
nimmt, die  ihm  in  Rücksicht  auf  Volkstum  und  Erziehung  zukommt. 

Zwar  weist  der  Wortlaut  der  Lehrpläne  nachdrücklich  auf  die  hohe  Bedeu- 
tung dieses  Unterrichts  hin,  aber  die  Erfahrung  hat  gezeigt,  daß  die  dort  aus- 
gesprochene Mahnung,  es  sollten  alle  Fächer  zur  Pflege  des  Deutschen  zusammen- 
wirken, allein  nicht  helfen  kann. 

Wollen  die  höheren  Schulen  ihre  Pflicht  wirklich  erfüllen,  die  ihnen  anver- 
traute Jugend  zu  fruchtbringender,  auf  gediegenem  Verständnis  begründeter 
Mitarbeit  an  der  Ausgestaltung  unseres  Volkstums  und  unserer  Kultur  zu  er- 
ziehen, so  ist  eine  entschiedenere  Betonung  des  Deutschen  unbedingt  erforderlich. 

Eine  Vertiefung  des  Unterrichts  im  Deutschen  und  eine  zielbewußte  Ver- 
knüpfung mit  den  andern  Schulfächern  ist  aber  unter  den  heutigen  Verhältnissen 
nicht  möglich.  Sie  zu  erreichen,  muß  der  Unterricht  im  Deutschen  verstärkt  und  darf 
auf  allen  Stufen  nur  von  fachwissenschaftlich  vorgebildeten  Lehrern  erteilt  werden. 

Diese  müssen  auf  der  Hochschule  gründlich  in  alle  Seiten  ihrer  Wissenschaft 
eingeführt  werden.    Zugleich  aber  müssen  an  die  Lehrer  insgesamt  bei  der  Staats- 


Vermischtes.  285 

prüfung  höhere  Anforderungen  in  Kenntnis  und  V^erständnis  des  Deutschen  ge- 
stellt werden. 

Endlich  ist  durch  Fortbildungskurse  und  durch  Reiseunterstützungen  dafür 
zu  sorgen,  daß  die  Lehrer  im  Amte  an  ihrer  Weiterbildung  arbeiten  können  und 
die  Fühlung  mit  der  stets  fortschreitenden  Wissenschaft  nicht  verlieren. 

Um  dies  Ziel  zu  erreichen,  halten  es  die  Unterzeichneten  für  geboten,  nach 
dem  Beispiel  der  Religionslehrer,  der  Neuphilologen,  der  iVlathematiker  und  Natur- 
wissenschaftler und  anderer  Fachgruppen  einen  Zusammenschluß  der  Germa- 
nisten, insbesondere  der  Vertreter  des  Deutschen  an  den  Hochschulen  und  den 
Höheren  Schulen,  zur  Förderung  des  deutschen  Unterrichts  herbeizuführen. 

Der  Aufruf  ist  unterzeichnet  von  ungefähr  150  Vertretern  der  germanistischen 
Wissenschaften  an  den  Universitäten  und  höheren  Schulen,  in  staatlichen  und 
städtischen  Verwaltungen  oder  literarischen  Berufen,  darunter  bekannte  Namen, 
wie  Arnold  (Wien),  Baesecke  (Berlin),  Beck  (München),  K.  Berger  (Darmstadt), 
Bernt  (Gablonz),  A.  Biese  (Neuwied),  0.  Boetticher  (Berlin),  Braune  (Heidel- 
berg), Bremer  (Halle),  Brenner  (Würzburg),  Breul  (Cambridge),  Elias  (Berlin), 
P.  Ernst  (Weimar),  Geyer  (Brieg),  Götze  (Freiburg),  de  Gruyter  (Berlin),  von 
der  Hellen  (Weimar),  Helm  (Gießen),  Hirt  (Leipzig),  Hofmiiler  (München),  A. 
Horneffer  (Solin  b.  München),  Jostes  (Münster),  Kauffmann  (Kiel),  Klee  (Bautzen), 
Kluge  (Freiburg),  Koch  (Breslau),  Kosch  (Czernowitz),  Kossinna  (Berlin),  Krauß 
(Stuttgart),  H.  A.  Krüger  (Hannover),  Lauffer  (Hamburg),  Leitzmann  (Jena), 
v.  d.  Leyen  (München),  Lilienfein  (Berlin),  Litzmann  (Bonn),  Lyon  (Dresden), 
A.^Matthias  (Berlin),  Th.  Matthias  (Plauen),  Maydorn  (Thorn),  Maync  (Bern), 
Meißner  (Königsberg),  Michels  (Jena),  Minde-Pouet  (Bromberg),  Mogk  (Leipzig), 
Muncker  (München),  von  Oettingen  (Weimar),  Paul  (München),  Petsch  (Liver- 
pool), Petzet  (München),  Porger  (Hannover),  Sahr  (Gohrisch),  Saran  (Halle) 
Sauer  (Prag),  Schlee  (Landsberg),  Sievers  (Leipzig),  Sulger-Gebing  (München), 
Schüddekopf  (Weimar),  Schultz  (Straßburg),  Spiero  (Hamburg),  Strauch  (Halle), 
Sütterlin  (Heidelberg),  Waag  (Heidelberg),  Walzel  (Dresden),  Wegener  (Greifs- 
wald), Weise  (Eisenberg),  Witkowski  (Leipzig),  E.  Wolff  (Kiel),  G.  Wolff  (München), 
Wolkan  (Wien),  Woerner  (München),  Wustmann  (Dresden),  Wychgram  (Lübeck). 

Alle  Fachgenossen  werden  zu  einer  begründenden  Versamm- 
lung hierdurch  ergebenst  eingeladen,  die  am  Mittwoch  nach  Pfingsten, 
29.  M  a  i  d.  Js.,  vormittags  10  Uhr,  in  der  Akademie  zu  Frankfurt  a.  M. 
(Jordanstraße  17)  stattfinden  soll. 

Weitere  Auskunft  erteilen  Direktor  Dr.  KL  B  o  j  u  n  g  a  ,  Dr.  Fr.  Panzer, 
Prof.  an  der  Akademie,  und  Prof.  Dr.  J.  G.  S  p  r  e  n  g  e  1  in  Frankfurt  a. M.— Mit- 
teilungen und  Beitrittserklärungen  bittet  man  an  den  Letztgenannten  zu  richten. 

XV.  Allgemeiner  Neuphilologentag  zu  Frankfurt  a.  M. 
27.— 30.  Mai  1912.    Vorläufige  Tagesordnung. 

Montag,  den  27.  Mai,  nachmittagsS  U  h  r  ,  in  der  Akademie  für 
Sozial-    und    Handels  Wissenschaften,  Jordanstraße  17. 

Vorversammlung  der  Delegierten  der  Vereine,  Vortragenden,  Hochschul- 
professoren und  Vorstandsmitglieder. 

l.  Stimmverteilung.  —  2.  Geschäfts-  und  Kassenbericht.  —  3.  Festsetzung 
der  Tagesordnung.  —  4.  Vorschläge  für  den  nächsten  Vorort  und  Wahl 


286  Vermischtes. 

des  Vorstandes  für  1913  und  1914.  —  5.  Wahl  zweier  Rechnungsprüfer.  — 
6.  Verschiedenes. 
Abendsvon  8V2  Uhr  ab:   Empfang  und  Begrüßung  im  Saale  der  Ale- 
mannia (Schiller-Platz  4).     Geselliges  Zusammensein. 

Dienstag,  den  28.  Mai,  v  0  r  m  i  1 1  a  g  s  9  U  h  r  c.  t.,  in  der  Aula  der 
Akademie  (Jordanstraße  17):  Eröffnung  des  15.  Neuphilologentages  durch 
Herrn  Direktor  Dörr.  —  Begrüßungen. 

Erste    allgemeine    Sitzung    lOVg  Uhr.     Vorträge: 

1.  Herr  Prof.  M.  E.  S  a  d  1  e  r ,  M.  A.,  L.  L.  D.,  Vice-Chancellor  of  the  Uni- 
versity  of  Leeds:    „England's  Debt  to  German  Education." 

2.  Herr  Ferdinand  Brunot,  Professeur  ä  TUniversite  de  Paris: 
„L'autorite  en  matiere  de  langage." 

3.  Herr  Professor  Dr.  Heinrich  Morf,  Mitglied  der  Königlichen 
Akademie  der  Wissenschaften,   Berlin:    „Vom  linguistischen  Denken." 

(Zu  1 — 3  keine  Diskussion.) 
1  Uhr:  Empfang  durch  die  städtischen  Behörden  im  R  ö  m  e  r. 
Nachmittags  3  Uhr:   Zweite  allgemeine  Sitzung. 

1.  Besuch  der  Lehrmittelausstellung  (für  Darbietung  und  Ein- 
übung des  Wortschatzes)  in  der  Aula  der  Viktoriaschule  (Hohen- 
zollern-Platz  65/67).  Einleitender  Vortrag  von  Herrn  Professor  Dr. 
Eggert,  Leiter  der  Helmholtz-Realschule  i.  E.,  Frankfurt  a.  M.; 
hierauf  Erläuterungen  durch  die  Herren  Professor  Dr.  C  a  r  0  ,  Professor 
Dr.  Hinstorff,  Leiter  der  Herderschule  (Lyzeum  i.  E.),  Oberlehrer 
Dr.  Leicht,    Oberlehrer  Dr.  P  e  r  d  i  s  c  h. 

Herr  Professor  Dr.  Scheffler,  Technische  Hochschule,  Dresden: 
Nationallieder  und  Flaggen  mit  Ausstellungen  und  Vorführungen. 
(Singsaal  der  Viktoriaschule.) 

2.  Von  472  Uhr  ab  in  der  Akademie:  Herr  Dr.  Panconcelli- 
C  a  1  z  i  a  ,  Leiter  des  phonetischen  Laboratoriums  des  Seminars  für 
Kolonialsprachen,  Hamburg:  „Über  Sprachmelodie  und  den  heutigen 
Stand  der  Forschungen  auf  diesem  Gebiete." 

3.  Von  5  U  h  r  an  Vorführung  von  Sprechmaschinen  usw.  durch  Herrn 
Oberlehrer  W.  D  0  e  g  e  n  ,  Berlin-Zehlendorf,  Herrn  Oberlehrer  Dr. 
K.  Wolter,    Berlin-Steglitz  usw. 

Abends   8Uhr:  Festmahl  im  Frankfurter  Hof  (Bethmannstr.  33). 
Mittwoch,  den  29.  Mai,  v  0  r  m  i  1 1  a  g  s  9  U  h  r  c.  t.  in  der  Aula  der  Aka- 
demie:   Dritte  allgemeine  Sitzung.    Vorträge: 

1.  Herr  Professor  Dr.  Wechssler,  Universität  Marburg  i.  H.:  „Die 
Bewertung  des  literarischen  Kunstwerks."    (Keine  Diskussion.) 

2.  (9V4  Uhr)  Herr  Professor  Dr.  Varnhagen,  Universität  Erlangen: 
„Über  neuphilologische  Universitäts- Seminare,  ihre  Einrichtung  und 
ihren  Betrieb." 

3.  (1 1 V4  Uhr)  Herr  Professor  Dr.  H.  Schneegans,  Universität  Bonn: 
„Die  Frage  der  Doktordissertation."    (Frühstückspause.) 

Nachmittags  2V2  Uhr  in  der  Aula  der  Akademie:  Vierte  all- 
gemeine Sitzung.    Vorträge: 


Vermischtes.  287 

1.  Herr  Professor  Dr.  Bovet,  Universität  Zürich:  „J.  J.  Rousseau.'* 
(Keine  Diskussion.) 

2.  (3\  4  Uhr)  Herr  Professor  Dr.  W.  Victor,  Universität  Marburg  i.  H.: 
,,Über  Lautschrift," 

3.  (4  Uhr)  Herr  Professor  Dr.  G  l  a  u  s  e  r ,  Rektor  der  Handelshochschule, 
Mannheim:    ,,Les  assistants  etrangers." 

Abends  7V2  Uhr:  Festvorstellung  im  Städtischen  Schauspielhaus. 

Abends  von  9  Uhr  an :  Kommers  des  Weimarer  Kar- 
tellverbandes. 

Donnerstag,  den  30.  Mai,  vormittags  9  Uhr  c.  t.  in  der  Aula  der 
Akademie:    Fünfte  allgemeine  Sitzung.    Vorträge: 

1.  Herr  Professor  Dr.  Max  Förster,  Universität  Leipzig:  „Der  Wert 
der  historischen  Syntax  für  die  Schule." 

2.  (IOV4  Uhr)  Herr  Professor  L.  Wyplel,  Wien:  „Eine  neue  Art  der 
Sprachbetrachtung."    (Diskussion  siehe  3.) 

3.  (10^4  Uhr)  Herr  Oberlehrer  Dr.  Zeiger,  Frankfurt  a.  M.:  „Bestre- 
bungen zur  Vereinfachung  und  Vereinheitlichung  der  grammatischen 
Bezeichnungen."    (Diskussion,  zugleich  für  No.  2.) 

4.  (12V2  Uhr)    Geschäftliches.     Schluß  der  Verhandlungen. 

Von    IV2  Uhr  ab   Gabelfrühstück  in   den   Restaurationsräumlichkeiten 
des  Hauptbahnhofs. 
Nachmittags  2V2  Uhr:    Rheinfahrt. 
Abends    ev.  Kursaal  Wiesbaden. 


Berichtigungen. 

Der  Rezensent  meiner  Faust- Ausgabe  (Schöninghs  Ausgaben  deutscher  Klassiker, 
Bd.  42)  tadelt  in  seiner  Anzeige,  die  er  im  12.  Hefte  des  10.  Jahrg.  der  „Monat- 
schrift" (S.  658)  erstattet,  daß  in  dem  einleitenden  Vorworte  eine  gewisse  Unfreiheit 
und  Befangenheit  hervortrete,  „so  in  der  Auffassung,  Goethe  habe  bei  Fausts 
Himmelfahrt,  die  dieser  ja  nicht  verdient  habe,  die  christlich-katholische  Heilslehre 
zu  Hilfe  gerufen".  Es  wird  meines  Erachtens  von  allen  Kommentatoren  als  fest- 
stehende Tatsache  direkt  oder  indirekt  bezeugt,  daß  Goethe  die  Rettung  Fausts 
durch  dessen  schaffensfreudige  Arbeit  im  Dienste  der  Menschheit  angebahnt  und 
dann  in  der  Höhe  christlichen  Gnadenlebens  und  katholischer  Glaubensinbrunst 
vollendet  habe.  Somit  richtet  sich  die  erste  Beanstandung  meines  Rezensenten 
gegen  Goethe  selbst,  und  ich  möchte  daher  an  dieser  Stelle  unter  Einführung  eines 
Eideshelfers  noch  einmal  dartun,  wie  verfehlt  es  ist,  den  großen  Dichter  wegen 
seiner  Hinneigung  zu  den  Formen  des  katholischen  Glaubenslebens  noch  immer 
anzugreifen.  „Der  Schluß  ist  vielfach  wegen  seines  katholischen  Charakters  getadelt 
worden,  aber  mit  Unrecht.  Wollte  Goethe  die  allmähliche  Läuterung  der  Seele, 
ihr  Aufsteigen  zu  der  himmlischen  Gnade  poetisch  darstellen,  so  waren  überhaupt 
keine  anderen  Symbole  dafür  vorhanden  als  die  Vorstellungen  des  christlichen 
Mittelalters.  Die  klassische  Mythologie  bot  für  dieses  allmähliche  Hinüberschweben 
aus  dem  irdischen  ins  überirdische  Dasein  keine  Hilfsmittel.  Ihr  fehlt  vor  allem 
die  Vorstellung  der  verzeihenden  göttlichen  Liebe.   Alle  anderen  Mythologien  aber. 


288  Vermischtes. 

außer  der  christlichen  und  der  antiken,  sind  für  den  deutschen  Dichter  unver- 
wendbar, weil  ihre  Symbole  unverständlich  bleiben  (Witkowski)/*  Vgl.  auch 
Kuno  Fischer,  Goethes  Faust,  4.  Bd.,  Seiten  1023,  1033,  1042,  1043,  und 
die  Schulausgabe  von  Goethes  Faust  II  von  Steuding  (Wien,  Tempsky),  S.  48, 
wo  auch  die  Tatsache,  daß  die  von  Goethe  gebotene  Lösung  sich  nicht  völlig 
mit  der  christlichen  Anschauung  deckt,  gebührend  hervorgehoben  wird. 

„Auch  die  Erläuterungen,  die  sachlich  vortreffliche  Dienste  leisten,  sind  bei 
religiösen  Dingen  recht  befangen."  So  fährt  der  Rezensent  fort  ohne  Beweis, 
ohne  jede  bestimmte  Bezugnahme,  in  einer  durch  den  wiederholten  Vorwurf  der 
Befangenheit  geradezu  verblüffenden  Behauptung.  Die  offene  Vertretung  des 
christlichen  Standpunktes  kann  denn  doch  unmöglich  als  befangen  bezeichnet 
werden  in  Rücksicht  auf  ein  Schulbuch,  das  als  Wegweiser  an  unseren  in  ihrer  weit 
überwiegenden  Mehrzahl  christlichen  Gymnasien  dienen  soll.  Um  nur  einen  Punkt 
herauszugreifen,  ist  es  meines  Erachtens  ganz  uneriäßlich,  daß  bei  der  Besprechung 
des  Hexen-Einmaleins  mit  bestimmtester  Deutlichkeit  darauf  hingewiesen  werde, 
daß  der  sonst  in  religiösen  Dingen  freimütige  und  rücksichtsvolle  Dichter  sich  hier 
eine  Verspottung  des  Allerheiligsten  erlaubt.  Es  ist  geradezu  undenkbar,  daß  ein 
Primaner  dasselbe  Geheimnis  der  Trinität,  das  er  in  feierlichem  Gottesdienst 
oder  in  erhebender  Schulandacht  anbetet,  vielleicht  schon  in  der  nächsten  Unter- 
richtsstunde ohne  den  Widerspruch  sachlicher  Kritik  der  Verspottung  soll  preis- 
gegeben sehen. 

Faust  und  Parzival  sind  die  beiden  unsterblichen  Größen  der  deutschen  Lite- 
ratur, aber  nur  sab  specie  aeternitatis,  nur  für  den,  der  seine  Stimmungskräfte 
von  der  Erde  loszureißen  und  in  höhere  Sphären  zu  erheben  vermag.  Daher  wird 
aber  auch  nur  eine  in  religiösen  Dingen  vorurteilsfreie  Behandlung  der  größten 
Tragödie  der  Weltliteratur  in  raschester  Folge  alle  Bedenken  zerstreuen,  die  stellen- 
weise vielleicht  noch  immer  gegen  die  Behandlung  des  Faust-Problems  in  der  Schule 
erhoben  werden.  Und  das  wäre  denn  doch  im  Interesse  unserer  höheren  Lehr- 
anstalten zu  wünschen. 

Münster  i.  W.  Faßbaender. 

Der  Verfasser  der  auf  Seite  120  besprochenen  „Ruhmesblätter  der  Technik", 
Ingenieur  Franz  M.  Feldhaus,  bittet  um  Aufnahme  folgender  Berichtigung. 

Es  ist  nicht  richtig,  daß  ich  als  Verfasser  des  Buches  ,, Ruhmesblätter  der 
Technik"  aus  irgendeinem  der  verschiedenen  Werke,  die  den  Titel  „Buch  der 
Erfindungen"  tragen,  einiges  ausgewählt,  und  zu  dem  genannten  Buch  zusammen- 
gestellt habe.  Richtig  ist  vielmehr,  daß  meine  Angaben  auf  mühsamen  Quellen- 
studien beruhen. 

In  meiner  eben  erschienenen  Schrift  „Der  Kampf  gegen  die  Lernschule"  habe 
ich  als  Verf.  eines  in  dem  „Jahrbuch  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Pädagogik'* 
erschienenen  Aufsatzes  über  Selbstregierung  der  Schüler  den  vortragenden  Rat  im 
preuß.  Kultusministerium,  Herrn  Geheimrat  Prof.  Dr.  Klatt,  genannt.  Wie  dieser 
mir  freundlichst  mitteilt,  stammt  der  betr.  Aufsatz  nicht  von  ihm,  sondern  von  Herrn 
Prof.  Dr.  Willibald  Klatt,  der  an  der  Oberrealschule  zu  Steglitz  bei  Beriin  wirkt. 

Hannover.  Prof.  Dr.  Budde. 


I.  Abhandlungen. 


Die  Länge  der  Schuljahre. 

Das  Schuljahr  1912/13  hat  bei  elf  Ferienwochen  nur  39,  das  folgende  dagegen 
44  Schuiwochen.  Diese  Tatsache  und  die  andere,  daß  die  Festlegung  des  Osterfestes 
trotz  aller  dafür  sprechenden  triftigen  Gründe  leider  wohl  noch  geraume  Zeit  auf 
sich  wird  warten  lassen,  legten  mir  die  Frage  nahe,  ob  nicht  schon  jetzt  durch  eine 
anderweitige  Regelung  der  Osterferien  sich  der  große  Unterschied  in  der  Länge 
der  Schuljahre  vermeiden  ließe. 

Am   einfachsten  und  glücklichsten  wäre   natürlich   die  ganze  Frage  gelöst, 
wenn  sich  die  norddeutschen  Staaten  dazu  verstehen  könnten,  mit  den  süddeutschen 
Staaten  das  Schuljahr  im  Herbste  beginnen  zu  lassen.    Allein  dafür  besteht  nicht 
die  geringste  Aussicht,  obwohl  ein  solcher  Übergang,  wie  neuerdings  die  Um- 
wandlung der  Herbstgymnasien  in  Darmstadt  und  Mainz  in  Ostergymnasien  be- 
weist, nicht  allzu  viel  Schwierigkeiten  bietet  und  die  Vorteile  für  den  Unterricht 
wie  für  die  Gesundheitspflege  nicht  hoch  genug  angeschlagen  vyerden  können. 
Ich  will  nur  zwei  kurz  herausheben.   Einmal  fallen  die  längeren  Ferien  an  das  Ende 
des  Schuljahres  und  ermöglichen  dadurch  bei  Schülern  und  Lehrern  eine  gründlichere 
Erholung  und  Kräftigung,  als  solche  die  kurzen  Osterferien  zu  geben  imstande 
sind;  zudem  fällt  das,  was  die  Schüler  in  den  längeren  Ferien  an  Unterrichtsstoff 
vergessen,  bei  dem  Übergange  von  einer  Klasse  in  eine  andere  nicht  in  dem  Maße 
ins  Gewicht,  wie  das  bei  einem  fortschreitenden  Unterrichte  in  derselben  Klasse 
der  Fall  ist.     Im  Zusammenhange  damit  steht  der  zweite  Vorteil.    Die  Schulzeit 
zwischen  Herbst  und  Weihnachten  ist  frei  von  Ferientagen  und  gewährleistet  dadurch 
einen  stetigen  und  ruhigen  Gang  des  Unterrichts,  wie  ihn  der  Anfangsunterricht 
in  einem  jeden  Fache  zum  Legen  fester  Grundlagen  verlangt.    Im  Gegensatz  dazu 
erfährt  die  Unterrichtszeit  von  Ostern  bis  Herbst  teils  durch  die  Pfingst-  und 
Sommerferien  teils  durch  die  Tage,  an  denen  der  Unterricht  wegen  allzu  großer 
Hitze  ausgesetzt  werden  muß,  eine  derart  störende  Unterbrechung,  daß  viel  Zeit 
mit  dem  Wiederaufbau  dessen  verloren  geht,  was  die  freien  Tage  eingerissen  haben. 
Ich  will  ganz  schweigen  von  den  Zerstreuungen,  die  der  Sommer  bietet  und  die 
die  Arbeitslust  zu  fördern  wenig  geeignet  sind. 

Aber  an  diese  glücklichste  Lösung  der  Frage  ist  nun  einmal  nicht  zu  denken, 
und  so  gilt  es  denn,  einen  anderen  gangbaren  Weg  zu  suchen,  um  wenigstens  den 
allzu  großen  Unterschied  in  der  Länge  der  einzelnen  Schuljahre  aus  der  Welt  zu* 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  19 


290  W.  Hensell, 

schaffen.  Und  fünf  Wochen  sind  ein  großer  Unterschied  und  fallen  für  alle  Unter- 
richtsfächer, insbesondere  aber  für  die,  die  mit  einer  geringen  Stundenzahl  bedacht 
sind,  schwer  in  die  Wagschale.  Vorzugsweise  sind  es  aber  die  Oberprimaner,  die 
unter  einem  solchen  Unterschiede  zu  leiden  haben.  Man  denke  nur  daran,  wie  viel 
sich  in  fünf  Wochen  wiederholen  läßt  und  wie  ungünstig  die  Verhältnisse  gerade 
für  die  Prima  liegen,  wenn,  wie  das  des  öfteren  vorkommt,  zwei  Jahre  von  je  40 
oder  von  40  und  39  Schulwochen  aufeinander  treffen. 

Diese  schwerwiegenden  Unterschiede  lassen  sich  ja  allerdings  im  Unterrichte 
überwinden.  Man  braucht  nur  in  den  Jahren  mit  44  Schulwochen  das  in  den  amt- 
lichen Lehrplänen  geforderte  Jahrespensum  in  der  Weise  auf  die  einzelnen  Klassen 
zu  verteilen,  daß  einer  vorhergehenden  Klasse  bereits  der  entsprechende  Teil  der 
Aufgabe  der  nächstfolgenden  Klasse  zugewiesen  wird.  Damit  wäre  dann  auch  der 
Oberprima  geholfen,  außer  wenn  der  Primakursus  in  zwei  kurze  Schuljahre  fällt. 
Freilich  dürfte  eine  solche  Stoffverteilung  für  die  langen  Schuljahre  nicht  dem 
Belieben  der  einzelnen  Anstalt  überlassen  bleiben,  sondern  müßte  in  den  amtlichen 
Lehrplänen  als  allgemein  verbindlich  festgelegt  werden.  Sonst  ergeben  sich 
Schwierigkeiten  bei  dem  Obertritte  von  Schülern  in  andere  Anstalten. 

Ein  anderer  Mißstand,  den  die  langen  Schuljahre  mit  sich  führen,  läßt  sich 
aber  nicht  beseitigen.  Es  ist  die  nach  einer  längeren  Arbeitsperiode  naturgemäß 
eintretende  Erschlaffung  der  geistigen  und  körperlichen  Kräfte,  die  nicht  nur 
während  des  laufenden  Schuljahres  sich  recht  bedenklich  geltend  macht,  sondern 
auch  im  Anfange  des  neuen  Schuljahres  in  wenig  erfreulicher  Weise  in  die  Er- 
scheinung tritt.  Denn  die  kurzen  Osterferien  vermögen  hier  einen  Ausgleich  nicht 
herbeizuführen.  Die  Einwirkung  dieser  Erschlaffung  auf  die  Schulzucht  mag  hier 
nur  gestreift  sein. 

Diese  Schäden  der  langen  Schuljahre  wären  ja  schließlich  zu  ertragen,  wenn 
die  letzteren  unter  den  leidlich  normalen  Schuljahren  nur  selten  aufträten.  Das 
ist  nun  aber  nicht  der  Fall.  Ich  habe  die  Dauer  der  Schuljahre  für  einen  Zeit- 
raum von  50  Jahren  festgestellt,  und  zwar  für  die  Zeit  von  1913 — 1962.  Unter 
diesen^ 50  Schuljahren  haben: 

17  eine  Länge  von  44  Schul wochen  =34% 
2  4*^  —40/ 

te  19     „         „         „    40  „  =38% 

12     ,,         ,,         ,,     39  ,,  =  24  /q 

Der  Durchschnitt  ergibt  ein  Schuljahr  von  41,24  Schulwochen.  Der  Unterschied 
zwischen  zwei  aufeinander  folgenden  Jahren  beträgt: 

16  mal  je  5  Wochen 

19  4 

4  3 

7  1 

Der  Anfang  des  Schuljahres  liegt,  wenn  die  Osterferien  eine  Woche  vor  dem  Feste 
beginnen  und  eine  Woche  nach  ihm  schließen,  zwischen  dem  1.  April  und  3.  Mai. 


Die  Länge  der  Schuljahre.  291 

Hiernach  wäre  es  die  Aufgabe  einer  Neuordnung  der  Osterferien, 

1.  die  zahlreichen  allzulangen  Schuljahre  ebenso  wie  die  weniger  häufigen 
kurzen  zu  beseitigen  und  damit  den  großen  Unterschied  zwischen  den  einzelnen 
Schuljahren  aufzuheben  und 

2.  dem  Schuljahre  möglichst  die  Dauer  eines  Durchschnittsjahres  von 
41  Schul  Wochen  zu  geben. 

Diese  Aufgabe  zu  lösen  ist  möglich,  wenn 

1.  die  Osterferien  eine  Dauer  von  2^/2  statt  von  2  Wochen  erhalten  und 

2.  der  1.  April  anstatt  Ostern  als  Bestimmungstermin  für  den  Beginn  der 
Osterferien  gewählt  wird. 

Die  erste  Forderung,  die  sich  auf  die  gewichtigsten  hygienischen  Erwägungen 
und  Beobachtungen  stützt,  wird  wohl  kaum  einem  Widerspruche  begegnen  und 
ist  bereits  in  den  Provinzen  West-  und  Ostpreußen*)  wenigstens  im  Jahre  1911 
erfüllt.  Die  Frage,  ob  das  Mehr  von  einer  halben  Woche  bei  einer  elfwöchigen 
Feriendauer  dieser  hinzugelegt  oder  in  sie  hineinbezogen  werden  soll,  lasse  ich  hier 
beiseite,  da  sie  mit  meinem  Thema  nicht  in  direkter  Beziehung  steht.  Ich  muß, 
schon  um  den  Vergleich  der  nachstehenden  Daten  mit  den  vorhergegebenen  zu 
erleichtern,  mit  einer  jährlichen  Feriendauer  von  11  Wochen  rechnen. 

Die  zweite  Forderung  wäre  bestimmter  so  zu  fassen:  Die  Osterferien 
beginnen  an  dem  dem  I.April  zunächstliegendenDonners- 
tage  außer  in  denjenigen  Jahren,  in  denen  das  Osterfest 
in  den  Monat  März  fällt.  In  diesen  istder  Gründonners- 
tag  der    erste    Ferientag. 

Liegt  das  Osterfest  am  Ende  der  Ferien,  so  beginnt  das 
neue  Schuljahr  mit  dem  ersten  Dienstage  nach  Ostern. 

Nach  dieser  Bestimmung  zerfallen  die  Schuljahre  in  drei  Gruppen:  1.  in  solche, 
in  denen  das  Osterfest  am  Anfange,  2.  in  der  Mitte  und  3.  am  Ende  der  Ferien 
liegt. 

Während  der  50  Schuljahre  von  1913/14  bis  1962/63  fallen  die  Ostern  in  den 
Monat  März  in  den  Jahren  1913,  1921,  1929,  1932,  1937,  1940,  1948,  1951  und 
1959.  Das  Osterfest  liegt  dann  am  Anfange  der  Ferien.  Dasselbe  ist  der  Fall 
in  den  Jahren  1915,  1917,  1918,  1920,  1923,  1926,  1931,  1934,  1942,  1945,  1947, 
1953,  1956,  1958  und  1961.  Es  würden  also  die  Ferien  innerhalb  dieser  50  Jahre 
24  mal  an  einem  Gründonnerstage  beginnen,  wie  das  in  der  Provinz  Westfalen 
und  in  der  Rheinprovinz**)  bereits  im  Jahre  1911  geschehen  ist  und  als  Unan- 
nehmlichkeit wohl  kaum  empfunden  sein  dürfte.  Denn  der  Gedanke,  nach  Ostern 
über  14  Tage  frei  verfügen  zu  können,  ohne  daß  diese  durch  die  mancherlei  Ein- 
engungen eines  Festes  unterbrochen  werden,  hat  sicherlich  für  jedermann  etwas 
Erfreuliches. 

In  den  Jahren  1914,  1925,  1928,  1936,  1939,  1941,  1944,  1950,  1952  und  1955 
fällt  das  Osterfest  wie  bisher  in  die  Mitte  der  Ferien.    Dagegen  liegt  es  am  Ende 

♦)  Zentralblatt  für  die  gesamte  Unterrichtsverwaltung  in  Preußen.  1911,  Heft 
2  u.  3,  S.   209. 

**)  Zentralblatt  für  die  gesamte  Unterrichtsverwaltung  in  Preußen  1911,  S.  216 
und  218. 

19* 


292  W.  Hensell, 

der  Ferien  in  den  Jahren  1919,  1922,  1924,  1927,  1930,  1933,  1935,  1938,  1946, 
1949,  1954,  1957,  1960  und  1962.  Das  neue  Schuljahr  müßte  dann  an  dem  auf 
den  Ostermontag  folgenden  Dienstage  beginnen.  Das  wäre  um  so  unbedenk- 
licher, weil  an  diesem  Tage  als  dem  Prüfungstage  der  neu  angemeldeten  Schüler 
der  Unterricht  selbst  ja  doch  noch  nicht  einsetzt.  Um  auswärtigen  Prüflingen 
die  nötige  Zeit  zum  Reisen  zu  geben,  könnte  man  die  Prüfungen  auf  den  Nach- 
mittag legen  oder  sie  bereits  vor  den  Ferien  vornehmen. 

Soweit  wäre  nach  meinem  Dafürhalten  alles  in  Ordnung.  Nun  aber  kommt 
der  dunkle  Punkt  in  meiner  Aufstellung.  In  dieser  fehlen  noch  die  Jahre  1916 
und  1943.  In  dem  letzteren  Jahre  fällt  allein  in  unserem  Jahrhundert  das  Oster- 
fest auf  den  25.  April,  in  dem  ersteren  wie  auch  noch  im  Jahre  2000  auf  den  23.  April. 
Beide  Male  würden  Ostern  in  der  ersten  Woche  nach  den  Ferien  liegen,  so  daß 
nach  drei  Schultagen  sofort  wieder  eine  Unterbrechung  von  nahezu  einer  Woche 
eintreten  müßte.  Das  ist  fatal,  sollte  aber  nicht  den  Grund  dafür  bilden,  nur  des- 
wegen alle  die  Vorteile  preiszugeben,  die  nachweislich  aus  meinem  Vorschlage  ent- 
springen. Im  übrigen  tritt  ein  solcher  Ausnahmefall  in  unserem  Jahrhundert 
nicht  wieder  ein.  Um  die  Unterbrechung  zu  vermeiden,  könnte  man  in  diesen 
beiden  Jahren  von  der  von  mir  aufgestellten  Regel  absehen  und  die  Ferien  eine 
Woche  später  beginnen  lassen,  1916  am  6.  und  1943  am  8.  April.  Es  würden  dann 
die  Schuljahre  1915/16  42  Schulwochen  statt  41,  1916/17  41  statt  42  und  die  Schul- 
jahre 1942/43  42  statt  41  und  1943/44  40  statt  41  Schulwochen  bekommen.  Die 
Schuljahre  1916/17  und  1943/44  hätten  nach  der  Gruppe  3  am  Dienstage  zu  be- 
ginnen, weil  das  Osterfest  in  ihnen  auf  das  Ende  der  Ferien  zu  liegen  käme. 

Wird  nach  meinem  Vorschlage  der  Beginn  der  Osterferien  vom  1.  April  aus 
bestimmt,  so  verschwinden  sowohl  die  allzu  langen  Schuljahre  von  44  wie  die 
kurzen  von  39  Schulwochen  völlig,  und  damit  wird  auch  der  große  Unterschied 
von  5  Wochen  zwischen  2  Schuljahren  glücklich  beseitigt.  Unter  den  50  Schul- 
jahren haben  nämlich: 

3  eine  Länge  von  43  Schulwochen  -    6% 

13     „         „  „    42            „            ^  26% 

26     „         „  „    41            „            -^  52% 

8     „         „  „    40            „            ..  16% 

Mehr  als  die  Hälfte  aller  Schuljahre,  deren  Durchschnitt  41,  22  Schulwochen  er- 
gibt, hat  also  die  schon  oben  berechnete  Durchschnittsdauer  von  41  Schulwochen, 
19  Jahren  des  alten  Systems  mit  44  und  43  Schulwochen  stehen  nur  3  Jahre  mit 
43  Schulwochen  nach  dem  neuen  System  gegenüber,  während  von  den  31  Schul- 
jahren mit  40  und  39  Schulwochen  nur  8  mit  40  Schulwochen  übrig  bleiben.  Neu 
erscheinen  Schuljahre  von  42  Schulwochen,  die  mit  dazu  beitragen,  den  großen 
Unterschied  zwischen  den  einzelnen  Jahren  wesentlich  zu  verringern. 

Dieser  Unterschied  aber  zwischen  zwei  aufeinander  folgenden  Schuljahren 
beträgt: 

2  mal  je  3  Wochen 

10  „     „  2       „ 
26    „     „   1       „ 

11  „     „  0       ,. 


Die  Länge  der  Schuljahre.  293 

Von  den  39  Fällen,  in  denen  der  Unterschied  zwischen  zwei  Schuljahren  5  (16  mal), 
4  (19  mal)  und  3  (4  mal)  Wochen  ausmacht,  verschwinden  hiernach  37,  während 
Schuljahre  von  gleicher  Dauer  1 1  mal  statt  3  mal  und  solche  mit  einem  Unter- 
schiede von  einer  Woche  26  mal  statt  7  mal  aufeinander  treffen.  Übrigens  sind 
auch  bei  der  Festlegung  des  Osterfestes  Schuljahre  von  gleich  langer  Dauer  nicht 
zu  erwarten. 

Der  Anfang  des  Schuljahres  liegt  zwischen  dem  7.  und  24.  April,  statt  wie 
bisher  zwischen  dem  1.  April  und  3.  Mai. 

Die  21/2  wöchigen  Osterferien  dauern  vom  20.  März  bis  zum  6.  April  im  Jahre 
1913  (die  Ostern  fallen  auf  den  23.  März),  21.  3.-7.  4.  i.  J.  1940  (0.  24.  3.),  22.  3. 
bis  8.4.  i.  J.  1951  (0.  25.3.),  24.  3.— 10.  4.  i.  J.  1921  und  1932  (0.  27.3.),  25.  3, 
bis  11.4.  i.  J.  1937  und  1948  (O.  28.-3.),  26.3.— 12.4.  i.  J.  1959  (0.  29.3.), 
28.3.— 14.4.  i.  J.  1918  und  1929  (0.  31.3.),  29.  3.— 15.  4.  i.  J.  1923  (0.  1.4.), 
1928  (0.  8.  4.),  1934,  1945  und  1956  (0.  1.  4.),  30.  3.— 16.  4.  i.  J.  1916*)  (0.  23.  4.), 
1939,  1944,  1950  (0.  9.4.)  u.  1961  (0.  2.4.),  30.3.— 17.4.  i.  J.  1922  u.  1933  (0. 
16.4.),  31.3.— 17.3.  i.  J.  1955  (0.  10.4.),  31.3.-18.4.  i.  J.  1927,  1938,  1949 
u.  1960  (0.  17.  4.),  1.  4.— 18.  4.  i.  J.  1915,  1920,  1926  (0.  4.  4.)  u.  1943*)  (0.  25.  4.), 
1.4.-19.4.  i.  J.  1954  (0.  18.4.),  2.  4.— 19.  4.  i.  J.  1914,  1925  (0.  12.4.),  1931 
(0.  5.  4.),  1936  (0.  12.  4.),  1942  u.  1953  (0.  5.  4.),  3.  4.— 20.  4.  i.  J.  1941  (0.  13.  4.), 
1947  (0.  6.4.),  1952  (0.  13.4.)  u.  1958  (0.  6.4.),  3.4.— 21.4.  i.  J.  1919,  1924  u. 
1930  (0.  20.  4.),  4.  4.-22.  4.  i.  J.  1935,  1946  u.  1957  (0.  21.  4.),  5.  4.-22.  4.  i.  J. 
1917  (0.  8.  4.),  5.  4.-23.  4.  i.  J.  1962  (0.  22.  4.).  Ich  habe  diese  Daten  hier  gesetzt, 
um  eine  Nachprüfung  meiner  Aufstellung  zu  erleichtern.  Diese  kann  nach  dem 
„Taschenbuche  der  Zeitrechnung  des  deutschen  Mittelalters  und  der  Neuzeit  von 
Dr.  H.  Grotefend"  S.  89 — 157  leicht  vorgenommen  werden. 

Der  Gewinn,  den  der  Unterricht  und  die  Schulhygiene  aus  cler  von  mir  vor- 
geschlagenen Neuordnung  der  Osterferien  ziehen  wird,  liegt  nach  meiner  Ansicht 
so  zutage,  daß  weiter  darauf  einzugehen  sich  wohl  erübrigt.  Damit  er  nun  aber 
auch  wirklich  daraus  gezogen  wird,  darf  der  Vorschlag  nicht  Vorschlag  bleiben, 
sondern  muß  die  Zustimmung  der  maßgebenden  Behörden  finden.  Diese  vermag 
um  so  leichter  erteilt  zu  werden,  als  die  Durchführung  des  Vorschlages  keinerlei 
einschneidende  Maßnahmen  erfordert  und  jeder  Staat  für  sich  die  neuen  Osterferien 
einführen  kann,  ohne  befürchten  zu  müssen,  in  die  Ferienordnung  der  Nachbar- 
staaten allzu  störend  hinüberzugreifen. 

Es  erscheint  mir  wünschenswert,  daß  die  Herren  Kollegen  sich  in  dieser  Monat- 
schrift zu  meinem  Vorschlage  äußern,  ihn  auf  seine  Brauchbarkeit  prüfen  und  in 
ihren  Kreisen  für  seine  Durchführung  eintreten  oder  andere  bessere  Vorschläge 
machen,  die  uns  noch  einfacher  aus  den  bisherigen  Mißständen  heraushelfen.  Viel- 
leicht ist  das  schon  früher  geschehen,  und  so  wäre  ich  denn  dankbar  dafür,  wenn 
ich  darauf  aufmerksam  gemacht  würde.  Es  genügt  ja  wohl,  die  Vorschläge  auf  die 
nächsten  50  Jahre  zu  beschränken,  wie  ich  das  getan  habe.  Denn  es  ist  doch  anzu- 
nehmen, daß  in  diesem  Zeiträume  endlich  eine  Festlegung  des  Osterfestes  vor- 
genommen und  damit  die  bessere  Lösung  für  unsere  Frage  gefunden  wird. 

Gießen.  W.   H  e  n  s  e  1 1. 

♦)  oder  im  Jahre  1916  6.  4.-24.  4.  und  im  Jahre  1943  8.  4.-26.  4.  aus  dem 
oben  angegebenen   Grunde. 


294  P.  Lorentz, 

Winkelgytnnasien  ? 

„Bist  du  beschränkt,  daß  neues  Wort  dich  stört?  Willst  du  nur  hören,  was 
du  schon  gehört?"  Dieses  Mephistopheles-Wort  kam  mir  jedesmal  in  den  Sinn, 
wenn  ich  in  letzter  Zeit  in  den  Anklagen  gegen  unser  heutiges  höheres  Schulwesen 
dem  schier  mephistophelischen  Begriff  des  Winkelgymnasiums  begegnete.  Mit 
Bezug  auf  bestimmte  Anstalten  einer  Provinz  brauchte  ihn  Universitätsprofessor 
Dr.  Krückmann  in  seinem  Aufsatz  „Juristenfakultät  und  Winkelgymnasium'* 
in  der  Zeitschrift  „Das  Recht'*  1909,  er  kehrte  in  dem  gehaltvollen  Vortrag  des 
Oberlehrers  Dr.  Speck  auf  dem  Magdeburger  Oberlehrertage  Ostern  1910  über 
die  wissenschaftliche  Fortbildung  des  deutschen  Oberlehrerstandes  wieder  und 
wurde  von  Professor  Hesse  in  Saarbrücken  wieder  aufgenommen  in  einem  ,, Winkel- 
gymnasien" überschriebenen  Artikel  im  Korrespondenzblatt  für  den  akademisch 
gebildeten  Lehrerstand  vom  16.  Juni  1911  sowie  in  seinem  Aufsatz  der  Preußischen 
Jahrbücher  (Bd.  146,  Heft  1)  über  die  Reifeprüfung  an  den  höheren  Schulen.  Die 
herabwürdigende  Bezeichnung,  nach  der  Analogie  der  früheren  „Winkelschulen" 
gebildet,  paßt  auf  die  Sache,  die  damit  getroffen  werden  soll,  gut.  Zwar  daß  es 
heute  Gymnasien  ohne  behördliche  Genehmigung  geben  sollte,  ist  undenkbar, 
aber  daß  es  Gymnasien  gibt,  die  die  Aufgabe,  „durch  die  Reifeprüfung  die  vor- 
läufige Auslese  einer  geistigen  Aristokratie  herbeizuführen"  —  so  formulierte 
sie  einmal  Friedrich  Paulsen  —  so  wenig  erfüllen,  daß  sie  sich  vor  Scham  verstecken 
sollten,  daran  ist  nicht  zu  zweifeln.  In  ihren  Scheinleistungen  hat  Hesse  sie  mit 
beißendem  Spott  gekennzeichnet.  Danach  ist  an  solchen  Anstalten  der  gesamte 
Unterricht  eine  einzige  großzügig  angelegte  ,, Vorbereitung  auf  die  Reifeprüfung", 
werden  die  schriftlichen  Prüfungsarbeiten  ebenso  sorgfältig  „vorbereitet"  wie  die 
„als  reife  Früchte  des  Unterrichts"  betrachteten  Klassenarbeiten  und  ist  es  nur  eine 
verzeihliche  Gedächtnisschwäche  gewesen,  wenn  der  Abiturient  ihren  ungenügenden 
Ausfall  erst  durch  eine  mündliche  Prüfung  ausgleichen  muß. 

Die  verhängnisvolle  Wirkung  solcher  Winkelanstalten  wird  in  ihrer  Gemein- 
schädlichkeit dann  erst  recht  klar,  wenn  man  nach  dem  Bedürfnis  fragt,  das  ihre 
Existenz  wünschenswert  machte.  Nicht  darin  liegt  die  Ursache  ihres  Aufkommens, 
daß  heute  durchschnittlich  zu  hohe  Anforderungen  an  die  Schüler  ge- 
stellt würden.  Gewiß,  es  gibt  auch  Gymnasien,  die  in  ungesundem  Ehrgeiz  mit 
Glanzleistungen  prunken  zu  müssen  glauben,  worunter  dann  der  g  e  s  u  n  d  e  Durch- 
schnitt leidet,  auf  den  nun  einmal  alle  öffentlichen  Schulen  zugeschnitten  sein 
müssen.  Vielmehr  erwächst  das  steigende  Bedürfnis  nach  wesentlich  leichteren  Schulen 
aus  folgendem  Umstände:  in  immer  größerem  Umfange  besuchen  für  höhere  wissen- 
schaftliche Bildung  nicht  geeignete  Schüler  aus  solchen  Familien  die  höheren  Lehr- 
anstalten, die  gegen  ihre  gesellschaftliche  Stellung  sich  zu  versündigen  glauben,  wenn 
sie  ihren  Kindern  nicht  diejenigen  „Berechtigungen"  verschaffen,  die  an  die  Absol- 
vierung neunstufiger  Anstalten  geknüpft  sind.  Daß  diese,  nicht  w  i  e  sie  erlangt 
werden,  ist  ihre  einzige  Sorge,  ob  die  Bildung,  die  der  Schein  beurkundet,  durch 
natürliches  Wachstum  zustande  gekommen  oder  nur  wie  ein  Firnis  aufgetragen  ist, 
bleibt  ihnen  völlig  gleichgültig.  Daher  kommt  es  dann,  daß  selbst  höhere  Schul- 
beamte gelegentlich  öffentlich  zu  bezeugen  genötigt  sind,  daß  das  Schülermaterial 


Winkelgymnasien?  295 

dieser  oder  jener  Anstalt  im  allgemeinen  minderwertiger  sei  als  an  anderen  Gym- 
nasien (s.  Hesse  im  Korrespondenzblatt  a.  a.  0.,  S.  326).  Nicht,  wenn  hier  und  da 
ein  Schüler,  der  wesentlich  langsamer  arbeitet  als  seine  Genossen  und  auf  den 
daher  in  überfüllten  Klassen  nicht  genügend  Rücksicht  genommen  werden  kann, 
oder  dessen  Gesundheit  der  nervenzerrüttenden  Unrast  der  Großstadt  nicht  stand- 
hält, wenn  dieser  das  kleinstädtische  Gymnasium  aufsucht,  auch  nicht,  wenn  ab 
und  zu  ein  Tunichtgut  den  Verführungen  der  Großstadt  entzogen  werden  muß, 
nicht  dadurch  entstehen  Winkelgymnasien.  Vielmehr  erst  dann  blühen  sie  auf, 
wenn  die  Abwanderungen  massenhaft  und  immer  an  ganz  bestimmte  Anstalten 
stattfinden.  Ein  untrügliches  Kennzeichnen  solcher  wird  dann  der  Wasserkopf, 
d.  h.  die  ständige  Überfüllung  der  obersten  Klassen  gegenüber  der  Leere  der 
mittleren  und  unteren,  sowie  ferner  der  hohe  Prozentsatz  der  Abiturienten,  der  in 
keinem  gesunden  Verhältnis  zum  Gesamtbesuch  steht.  Und  der  Ruf  solcher  An- 
stalten wird  in  den  interessierten  Kreisen  eifrig  weiterverbreitet  und  macht  sich, 
auch  wenn  inzwischen  längst  Änderungen  eingetreten  sind,  durch  die  nur  langsam 
abnehmende  Zahl  der  Gesuche  um  Aufnahme  in  Prima  und  Obersekunda  fühlbar: 
von  30  im  ersten  Halbjahr  aus  den  verschiedenen  Provinzen  der  Monarchie  sinkt 
sie  dann  allmählich  bis  auf  12  aus  der  eigenen  oder  den  Nachbarprovinzen  zurück. 
,,Ich  suche  für  meinen  Sohn  ein  leichtes  Gymnasium,  und  da  mir  als  solches 
das  Ihrige  empfohlen  ist"  usw.,  so  lautete  wörtlich  einmal  ein  Aufnahmegesuch 
von  verblüffender  Offenheit.  Wollte  sein  Verfasser,  ein  Anwalt  des  Rechtes,  ein 
Verbrechen  an  der  menschlichen  Gesellschaft  begehen?  Horribile  dictul  Er  han- 
delte nur  unter  dem  Druck  gesellschaftlicher  Vorurteile  ohne  Kenntnis  des  Wortes, 
daß  eine  leichte  Schule  ein  soziales  Verbrechen  ist.  Die  Aufklärungsarbeit  von  Seiten 
der  höheren  Schulen  und  ihrer  Vorgesetzten  kann  gar  nicht  energisch  genug  dahin 
gehen,  daß  eine  zu  große  Zahl  von  solchen,  die  nur  „mit  eiaem  Schein  des 
Rechtes"  den  Berechtigungsschein  erlangen,  in  die  Welt  hinausschicken  Schäd- 
linge produzieren  heißt  für  die  Entwicklung  des  Gesamtwohls.  Zumal  dadurch 
die  Möglichkeit  gehemmt  wird,  in  wünschenswertem  Maße  die  wirklichen  Intelli- 
genzen aus  den  unteren  Volksschichten  zu  höherer  Bildung  und  auf  Grund  davon 
zu  einflußreichen  Stellen  im  Staatsleben  gelangen  zu  lassen.  Statt  dessen  melden 
sich  immer  wieder,  und  das  ist  noch  der  günstigste  Fall,  junge  Leute  von  Großstadt- 
anstalten, die  sich  bis  in  die  oberen  Klassen  hinaufgequält  haben,  von  rührendem 
Fleiß,  von  prächtigem  Gemüt,  aber  auch  von  allerbescheidenstem  Intellekt.  Sehr 
viel  unangenehmer  sind  natürlich  die  anspruchsvollen  Naturen,  die  mit  den  schä- 
bigen Resten  ihrer  hauptstädtischen  Bildung  in  der  Provinz  noch  Erfolge  zu  erzielen 
hoffen.  Sie  erinnern  mich  immer  an  jene  Sänger  und  Sängerinnen,  die  das  blechern 
gewordene  Metall  ihrer  Stimme  noch  für  reizvoll  genug  halten,  um  es  in  den  gewiß 
nicht  großen  Konzertsälen  der  Provinzstädte  in  klingendes  Edelmetall  zu  ver- 
wandeln. 

Da  jene  Ausschußware  sich  eben  in  Städten  mit  Einzelgymnasien  anzu- 
sammeln pflegt  und  diese  dadurch  oft  zu  wahren  Lazarettgymnasien  und  Siechen- 
heimen macht,  so  hängt  die  Frage  der  Winkelgymnasien  mit  der  der  Einzelanstalten 
enge  zusammen.  Wir  haben,  als  eine  Folge  des  früheren  Gymnasialmonopols, 
in  Preußen,  nicht  in  den  anderen  Bundesstaaten,  davon  noch  viel  zu  viel,  nämlich 


296  P.  Lorentz, 

137  Einzel-Vollgymnasien  und  20  Einzel-Progymnasien,  also  157  gymnasiale  Einzel- 
anstalten unter  738  höheren  Schulen  überhaupt,  40 — 50  von  ihnen  befinden  sich  in 
Städten  von  unter  10000  Einwohnern,  und  insgesamt  werden  sie  von  36  000  Schülern 
besucht.*)  An  ihnen  selbst  würde  nun  dem  Eindringen  ungeeigneter  Elemente 
in  die  obersten  Klassen  dadurch  erheblich  gewehrt  werden,  daß  an  allen  ohne 
Ausnahme  in  den  mittleren  Klassen  statt  des  Griechischen  Ersatzunterricht  im 
Englischen  eingerichtet  würde,  wie  das  im  ganzen  an  61  von  ihnen  schon  der  Fall 
ist.  Bis  Prima  hinauf  dürfte  dieser  Ersatzunterricht  aber  in  der  Regel  nicht  gehen, 
nicht  nur  aus  finanziellen  Gründen,  sondern  weil  die  an  solchen  Anstalten  mit  dem 
Einjährigen-Zeugnis  abgehenden  Schüler  sich  nur  ganz  selten  für  die  höhere  wissen- 
schaftliche Ausbildung  in  den  obersten  Klassen  eignen.  Manche  Einzelgymnasien 
werden  aber  auch  auf  sechsstufige  Anstalten  zurückgeführt  werden  müssen,  da 
wir  überhaupt  noch  zu  viel  rein  gymnasiale  Anstalten  haben  im  Verhältnis  zu  den 
realen  oder  gemischten,  nämlich  214  von  738.  Daß  die  künstliche  Reifung  nicht 
wirklich  geeigneter  Elemente  dann  auch  dadurch  bedeutend  gehemmt  werden  könnte, 
daß  bei  der  Reifeprüfung  nach  dem  Muster  der  bayrischen  Schulverwaltung  die 
schriftlichen  Aufgaben  von  der  Behörde  gestellt  werden,  ist  nicht  zu  bezweifeln. 
Nur  braucht  deshalb  nicht  eine  allgemeine  Reform  einzutreten.  Auch  jetzt  werden 
hier  und  da  schon  statt  der  eingereichten  Vorschläge  andere  Aufgaben  gestellt, 
und  warum  sollten  nicht  die  als  ,, Winkelgymnasien"  zu  kennzeichnenden  An- 
stalten auf  das  Recht,  eigene  Vorschläge  zu  machen,  eine  Zeitlang  überhaupt 
verzichten?  Müßte  das  nicht  ein  Mittel  sein,  alle  Anstrengung  zu  machen,  um  sich 
das  eingebüßte  Vertrauen  sobald  wie  möglich  wieder  zurückzuerobern  und  um 
die  Widerstandsfähigkeit  bei  Abweisung  ungeeigneter  Elemente  erheblich  zu  kräf- 
tigen? Aber  um  der  weniger  vertrauenswürdigen  Anstalten  willen  alle  höheren 
Schulen  überhaupt  oder  auch  nur  die  einer  Provinz  mit  gleichen  Prüfungsaufgaben 
zu  versehen,  scheint  mir  doch  recht  bedenklich  zu  sein,  denn  das  müßte  zu  einer  recht 
unerwünschten  Mechanisierung  der  Pensen-Durcharbeitung  führen  und  manche 
berechtigte  Eigenart  ersticken.  Denn  auch  an  kleinen  und  kleinsten  Einzelgymnasien 
kommen  jeweilig  etwa  bei  größeren  deutschen  Ausarbeitungen  statt  der  laufenden 
Aufsätze  recht  hübsche  Leistungen  heraus. 

Die  Dienstanweisung  für  die  Oberlehrer  und  Direktoren,  die  für  die  Aufnahme 
in  die  oberen  Klassen  besonders  strenge  Maßregeln  gibt  —  auch  vor  ihrem  Er- 
scheinen kam  es  schon  gelegentlich  vor,  daß  eine  Zeitlang  für  jede  Aufnahme 
in  jene  Klassen  die  besondere  Genehmigung  eingeholt  werden  mußte  —  bietet 
auch  noch  in  einer  anderen  Hinsicht  die  Möglichkeit,  die  Quelle  für  die  Ansamm- 
lung unerwünschter  Elemente  zu  verstopfen,  nämlich  in  der  Einschränkung  des 
Haltens  von  Pensionären  durch  Direktoren  und  Oberlehrer.  Denn  das  ist  ja  gar 
nicht  zu  bezweifeln,  daß  die  in  Frage  kommenden  Schüler  sich  oft  gerade  durch 
die  Wahl  solcher  Lehrerpensionen  die  Garantie  für  das  Bestehen  der  Reifeprüfung 
verschaffen  wollen.  Wie  ohne  jede  Frage  immer  wieder  von  neuem  der  Beweis  er- 
bracht wird,  daß  in  bestimmten  Fällen  gerade  der  Aufenthalt  in  Lehrerfamilien 
der  geeignetste  Weg  ist  für  die  wohlverstandene  Förderung  der  gesamten  geistig- 
sittlichen Persönlichkeit  des  Schülers,  so  unbedingt  unwürdig  war  die  zuweilen 

*)  s.  Lück  im  Humanistischen  Gymnasium  1911,  Heft  V,  VI   S.  104. 


Winkelgymnasien?  297 

zu  förmlicher  Industrie  ausartende  Produktion  von  Abiturienten  aus  Lehrer- 
pensionaten.  Schlimme  Erfahrungen  müssen  doch  in  recht  bedenklichem  Umfange 
gemacht  worden  sein,  wenn  die  für  über  12  000  Lehrer  geltende  preußische  Dienst- 
anweisung die  beschämende  Bestimmung  treffen  mußte,  daß  es  ausgeschlossen  ist, 
daß  Mitglieder  einer  Prüfungskommission  Privatunterricht  an  Personen  erteilen, 
die  vor  dieser  Kommission  eine  Prüfung  ablegen  wollen. 

Und  das  allmähliche  Herabsinken  zu  minderwertigen  Anstalten  hat  auch 
noch  einen  anderen  Grund.  Bei  den  kleinen  Einzelanstalten,  zumal  wenn  sie  in  reiz- 
loser Gegend  ohne  günstige  Verkehrsverbindungen  liegen  —  es  gibt  so  manche  preußi- 
sche Gymnasialstadt,  die  es  wirklich  noch  nicht  zu  Wasserleitung  und  Kanalisation, 
Schlachthaus,  Krankenhaus,  öffentlicher  Badeanstalt  und  ähnlichem  Luxus  ge- 
bracht hat  —  da  besteht  die  Gefahr,  daß  auch  das  Kollegium  einen  recht  hohen 
Prozentsatz  von  solchen  Lehrkräften  enthält,  die  in  wissenschaftlicher  wie  päda- 
gogischer Hinsicht  auch  nur  sehr  bescheidenen  Anforderungen  genügen.  Gewiß, 
den  dirigierenden  Kapelfmeister  versöhnt  an  solchen  „schlechten  Musikanten" 
nicht  selten  immer  wieder  ihr  prächtiges,  goldreines  Menschentum:  ,, Nicht  nur 
Verdienst,  auch  Treue  wahrt  uns  die  Person",  dies  Goethewort  scheint  ihm  wie  für 
sie  ausdrücklich  geschaffen  zu  sein.  Aber  es  soll  doch  nun  einmal  Musik  gemacht 
werden,  deren  Ausführung  einigermaßen  dem  Geist  dessen  entspricht,  der  die 
Komposition,  will  also  sagen,  die  Grundzüge  der  Lehraufgaben  für  höhere  Schulen 
entworfen  hat.  Helfen  tut  es  da  ja  bisweilen,  wenn  man  herausbekommt,  daß  dieser 
oder  jener  Musikant  bisher  gar  nicht  vor  das  gerade  für  ihn  geeignete  Instrument 
gesetzt  war.  Ein  anderer  freilich,  der  nur  auf  ein  einziges  bescheidenes  Instrument 
eingespielt  ist,  hat  dies,  anstatt  ein  Virtuose  darauf  zu  werden,  mit  der  Zeit  so  aus- 
geleiert, daß  es  nur  noch  klappert,  nicht  mehr  tönt.  Andere,  die  bei  tüchtigen 
wissenschaftlichen  Grundlagen  und  pädagogischem  Geschick  zu  früh  in  bequeme, 
behagliche  Verhältnisse  gekommen  sind,  bleiben  stehen  und  verlieren  die  Fähigkeit, 
mit  den  Fortschritten  ihrer  Sonder-Wissenschaft  und  der  Pädagogik  Fühlung  zu 
gewinnen,  was  sich  dann  vor  allem  wieder  bei  der  Qualität  des  Unterrichts  in  den 
oberen  Klassen  rächt.  Alle  solche  Blutstockungen  im  Organismus  der  klein- 
städtischen Einzelanstalten,  die  jeweilig  zu  häßlichen  Geschwüren  vereitern,  werden 
die  Aufsichtsbehörden  auf  Grund  ihrer  eigenen  neuen  Dienstanweisung  er- 
freulicherweise noch  viel  eingehender  kennen  und  würdigen  lernen,  als  das  bisher 
der  Fall  war,  und  so  frühzeitig  zu  erkennen  vermögen,  wo  etwa  die  Gefahr  des- 
Herabsinkens  zum  Winkelgymnasium  einzutreten  droht.  Es  ist  immer 
und  immer  wieder  in  Oberlehrerkreisen  von  äußeren 
Standes-  und  Titelfragen  die  Rede.  Viel  wichtiger 
erscheint  es  mir,  daß  der  gesamte  Oberlehrerstand  es 
ais  eine  Ehrensache  empfindet,  daß  Name  und  Be- 
griff desWinkelgymnasiums  mit  der  Sache  selbst  so 
bald  wie  möglich  verschwinde,  daß  er  seine  Mit- 
glieder dazu  erziehe,  vor  allem  an  sichselbst  nicht 
zu    niedrige    Anforderungen    zu    stellen. 

Friedeberg  (Neumark).  Paul    L  o  r  e  n  t  z. 


298  A.  stamm,  Der  deutsche  Aufsatz  in  der  Reifeprüfung. 

Der  deutsche  Aufsatz  in  der  Reifeprüfung. 

Im  „Korrespondenzblatt  für  den  akademisch  gebildeten  Lehrerstand"  No.  47 
vom  13.  Dezember  1911  hat  Herr  Oberrealschul-Direktor  Dr.  Denicke  (Char- 
lottenburg) den  Vorschlag  gemacht,  den  Abiturienten  zu  gestatten,  bei  den  so- 
genannten literarischen  Themen  den  Text  der  betreffenden  Dichtungen  einsehen 
zu  dürfen.  Sehr  richtig.  Ich  stimme  ihm  und  seinen  Gründen  vollkommen  bei, 
setze  nur  hinzu  (was  er  vielleicht  als  eine  selbstverständliche  Forderung  nicht 
besonders  erwähnt  hat),  daß  in  solchen  Fällen  den  Abiturienten  die  Texte  na- 
türlich von  der  Schule  geliefert  werden  müßten. 

Indessen  bezieht  sich  der  Vorschlag  nur  auf  eine  Art  von  vielen  möglichen 
und  üblichen  Themen.  Wie  nun,  wenn  der  Abiturient  ein  geschichtliches  Thema 
bekommt?  Soll  er  da  auch  erst  nachsehen  dürfen?  Oder  wenn  einer,  der  ein  gutes 
geschichtliches  und  literarisches  Wissen  hat  und  dahin  gehörende  Arbeiten  deshalb 
auch  gut  ededigt,  plötzlich  in  der  Reifeprüfung  vor  ein  sogenanntes  „freies  Thema" 
gestellt  wird?  Wir  alle  wissen,  in  wie  schwerverständlicher  (um  nicht  zu  sagen, 
wie  ungeschickter)  Form  oft  solche  Themen  gefaßt  werden;  vor  der  Anfertigung 
der  Arbeit  aber  den  Abiturienten  genauere  Hinweise  über  Dispositionen  usw.  zu 
geben,  ist  mit  Recht  verboten,  in  der  Tat  ja  auch  sehr  bedenklich,  denn  wo  ist  da 
die  Grenze  zwischen  Zu-wenig,  Genug  und  Zu-viel?  Oder  —  was  wohl  noch  häufiger 
vorkommt  —  ein  gut  beanlagter  Abiturient,  von  klarem  und  selbständigem  Urteil, 
der  deshalb  die  „freien  Themen"  gut  bearbeitet,  bekommt  ein  geschichtliches 
Thema?  Nun  ist  er  gerade  auf  diesem  Gebiet  nicht  besonders  beschlagen,  er  leistet 
Genügendes,  aber  nicht  mehr,  er  hat  für  andere  Dinge  mehr  Interesse  als  gerade 
für  Geschichte,  oder  ihm  ist  vielleicht  gerade  das  Gebiet,  aus  dem  das  Thema  ge- 
nommen ist,  aus  irgendeinem  Grunde  nur  mäßig  bekannt.  Er  wird  also  wahr- 
scheinlich, obgleich  sonst  ein  guter  Schüler  und  auch  ein  guter  Aufsatzschreiber, 
diese  Arbeit  „verhauen";  der  Kgl.  Kommissar  und  alle,  die  ihn  nicht  genau  kennen, 
werden  ein  falsches  Bild  von  ihm  bekommen  usw. 

Mit  anderen  Worten:  ich  halte  für  unrecht  und  nach  den  Grundsätzen  der 
modernen  Pädagogik  für  rückständig,  die  bisherige  Forderung  bei  dem  Abiturienten 
Aufsatz  beizubehalten  und  bin  der  Meinung,  daß  man  den  Abiturienten  auch  hier 
die  Wahl,  d.  h.  eine  gewisse  Wahl,  eine  Wahl  innerhalb  gewisser  selbstverständlicher 
Grenzen,  lassen  muß. 

Jeder,  der  deutschen  Unterricht  in  der  Prima  erteilt  hat,  weiß,  wie  ganz  anders, 
wie  unvergleichlich  viel  besser  die  Arbeiten  ausfallen,  wenn  der  Schüler  ein  Thema 
zu  bearbeiten  hat,  das  „ihm  liegt",  als  eines,  das  ihm  nicht  liegt  und  zu  dessen 
Bearbeitung  er  widerwillig  oder  wenigstens  gegen  eigene  Neigung  gezwungen  wird. 

Bei  den  häuslichen  Arbeiten  liegt  natüriich  die  Gefahr  des  Abschreibens  nahe, 
sehr  nahe;  aber  doch  nicht  näher,  als  bei  anderen  Themen,  auch  wenn  sich  die 
Herren  einbilden,  ,,bei  ihnen"  könnten  die  Schüler  nicht  abschreiben,  weil  sie  die 
Themen  so  genau  oder  in  einer  so  bestimmten  Art  vorbereitet  hätten,  daß  sie  jede 
Abweichung  (sei  es  durch  lebendige  oder  durch  Bücherhilfe)  sofort  merken  würden. 
In  diesem  Falle  hat  die  Arbeit  entweder  überhaupt  keinen  Wert,  da  eben  das  Beste, 
die  selbständige  Arbeit  des  Schülers,  fehlt,  oder  —  der  Lehrer  wird  trotz 


R.  Pappritz,  Der  lateinische  Unterriclit  auf  dem  humanistisciien  Gymnasium.     299 

seiner  Klug-  und  Weißheit  getäuscht.  Also  dieser  Einwand  hat  schon  bei  den 
häuslichen  Arbeiten  kein  Gewicht.  Noch  viel  weniger  natürlich  bei  den  Klassen- 
arbeiten und  besonders  bei  denen  der  Reifeprüfung  mit  ihren  besonderen  Vor- 
sichtsmaßregeln. 

Man  gebe  den  Abiturienten  drei  Themen  zur  Wahl,  meinetwegen  ein  geschicht- 
liches, ein  literarisches,  ein  freies,  oder  wie  immer.  Und  damit  dem  Kgl.  Kommissar 
sein  Einfluß  bei  der  Wahl  der  Themen  ebenso  wie  bisher  des  Themas  gewahrt  bleibt, 
reiche  der  Lehrer  des  Deutschen  sechs  oder  noch  mehr  Themen  ein,  aus  denen 
der  Kommissar  drei  bestimmt,  die  den  Abiturienten  zur  Wahl  gestellt  werden 
sollen.  So  brauchen  wir  nicht  zu  befürchten,  daß  ein  Abiturient  unsere  Erwartungen 
enttäuscht;  jedenfalls  ist  die  Gefahr  ganz  erheblich  viel  kleiner  als  vorher.  Dann 
wird  er  wirklich  zeigen  können,  was  er  auf  diesem  Gebiete  leistet.  Es  bleibt  ja  immer 
noch  genug  Zwang,  nur  wird  dieser  jetzt  auf  ein  gerechtes  Maß  zurückgeführt. 
Es  scheint  mir  ungerecht  und  ungereimt,  dem  Abiturienten  zu  versagen,  was  man 
dem  Primaner  unter  so  viel  günstigeren  Bedingungen  (bei  der  Hausarbeit)  gestattet. 
Es  ist  kein  unberechtigtes  Entgegenkommen,  kein  ,, schwächliches"  Heruntergehen 
unter  bisherige  Ansprüche,  sondern  einfach  eine  Forderung  der  Gerechtigkeit, 
wenn  wir  den  Abiturienten  Gelegenheit  geben,  wirklich  zu  zeigen,  was  sie  leisten 
können.  Bei  der  bisherigen  Einrichtung  waren  sie  sicherlich  beim  deutschen  Aufsatz 
sehr  häufig  nicht  in  der  Lage  dazu  und  konnten  es  nicht  sein. 

Mühlheim-Ruhr.  Adolf   Stamm. 


Der  lateinische  Unterricht  auf  dem  humanistischen  Gymnasium. 

Im  Jahre  1890,  nach  der  Schulreform,  wurden  die  damals  angestellten  Philo- 
logen vor  eine  schwere  Aufgabe  gestellt:  ohne  praktische  Anleitung,  nur  nach  theo- 
retischen Vorschriften  sollten  sie  den  Unterricht  völlig  umgestalten,  sie  sollten 
bei  erheblich  verringerter  Stundenzahl  in  der  Lektüre  dasselbe,  in  der  Grammatik 
wenigstens  annähernd  dasselbe  erreichen.  Kein  Wunder,  daß  da  mancher  Miß- 
erfolg erzielt  wurde,  zumal  da  in  vielen  Lehrbüchern  nicht  mit  der  nötigen  Energie 
und  Umsicht  das  Wichtige  von  dem  weniger  Wichtigen,  ja  völlig  Zwecklosen  ge- 
sondert wurde.  Vor  mir  liegt  die  Lateinische  Formenlehre  zum  wörtlichen 
Auswendiglernen  von  Perthes.  Ausgabe  *  B  besorgt  von  Gillhausen. 
Berlin  1895.  Weidmannsche  Buchhandlung.  Das  Büchelchen  ist  also  fünf  (!) 
Jahre  nach  der  Schulkonferenz  von  1890  erschienen.  In  dieser  Formenlehre 
finden   wir   folgende    Regel: 

Männlich  sind  die  auf  nis  und  guis 
Und  noch  dreizehn!  sonst  auf  is: 
Axis,  lapis,  orbis,  ensis, 
FasciSy  fustis,  vermis,  mensis, 
Piscis,  postis,  pulvis, 
Endlich  callis,  collis. 


300  R.  Pappritz, 

In  demselben  Büchelchen,  das,  wie  erwähnt,  zum  wörtlichen  Auswendiglernen 
bestimmt  ist,  findet  sich  ferner:  sulfur  luridum  der  blaßgelbe  Schwefel,  vultiir 
faustus  der  glückverheißende  Geier,  grus  callida  der  schlaue  Kranich,  sus  lutulenia 
das  schmutzige  Schwein.  Auch  die  so  ungemein  seltenen  Worte  cardo,  cos,  verber 
erschienen  dem  Herausgeber  wichtig.  Sehr  hübsch  macht  sich  zweifelsohne  zum 
Auswendiglernen  axis  fervidus,  fustis  magnus,  piscis  mutus.  Erst  im  zwanzigsten 
Jahrhundert  ist  das  Buch  umgearbeitet  und  verkürzt  worden. 

Aber  sind  denn  jetzt  im  zwanzigsten  Jahrhundert  alle  unwichtigen  Dinge 
weggelassen?  Nach  meiner  Erfahrung  keineswegs.  Noch  immer  wird  auf  einigen 
Schulen  der  Vocativus  mitgelernt  und  geübt.  Jeder  Hinweis  darauf,  daß 
dies  eine  zwecklose  Zeitvergeudung  ist,  ist  überflüssig;  ebenso  der  Hinweis  darauf, 
daß  es  für  einen  Sextaner  durchaus  nicht  gleichgültig  ist,  ob  er  bei  schriftlichen 
Übungen  fünf  oder  sechs  Casus  zu  bilden  hat.  (Das  Entsprechende  gilt  vom  Grie- 
chischen.) Überflüssig  ist  es  auch,  zu  erwähnen,  wie  widersinnig  es  ist, 
immer  den  Vokativ  sagen  zu  lassen.  Ein  Freund  von  mir  hat  eine  Zusammen- 
stellung gemacht,  der  ich  folgendes  entnehme: 

0  du  Ochse,  o  du  Schild, 
0  du  hehres  Götterbild, 
0  du  Lager,  o  du  Feld, 
0  du  Schönheit,  o  du  Geld, 
O  du  weiser,  guter  Plan, 
0  du  starker,  schöner  Hahn. 

Man  überlege  doch,  wie  oft  acus  in  den  Schulschriftstellern  vorkommen  wird, 
oder,  wer  das  vorzieht,  nehme  den  Georges  zur  Hand.  In  meiner  Ausgabe  ist  eine 
einzige  Stelle  bei  Cicero  angeführt.  Freilich,  bei  Celsus  ist  das  Wort  recht  häufig, 
aber  bis  jetzt  ist,  soviel  ich  weiß,  noch  nicht  die  Absicht  vorhanden,  Celsus 
an  Stelle  von  Cicero  oder  Caesar  als  Schulschriftsteller  einzuführen.  —  Wenn 
iribus  in  den  oberen  Klassen  vorkommt,  so  erwähne  man,  daß  dies  Wort  Femi- 
ninum ist,  in  Sexta  aber  lasse  man  es  nicht  lernen.  Als  Lateinlehrer  in  Obertertia 
repetiere  ich  die  unregelmäßigen  Verben.  Stets  muß  ich  ein  Lächeln  unterdrücken, 
wenn  ich  mulcere  und  tergere  abfrage.  Wie  hübsch  würde  es  sich  doch  machen, 
wenn  man  auch  Formen  von  diesen  Verben  bildete,  z.  B.,  einer,  der  gestreichelt 
werden  soll,  oder  er  wird  abgewischt  werden.  Kann  jemand  ernstlich  behaupten, 
daß  verro,  ingemisco,  revivisco,  pinguesco,  repuerasco  von  Wichtigkeit  sind?  Eine 
ganze  Reihe  anderer  könnte  ich  auch  ohne  Schmerz  missen,  z.  B.  algeo,  madeo, 
rigeo,  como,  oblino;  bei  einer  dritten  Gruppe  wiederum  genügt  es,  wenn  der  Schüler 
das  praesens  als  Vokabel  lernt,  ohne  Grundformen,  wie  flecto,  necto,  texo.  Ebenso 
ließe  sich  bei  der  Kasuslehre  manches  streichen;  so  ist  es  z.B.  für  einen 
Quartaner  sehr  schwer,  nachdem  er  eben  gelernt  hat,  daß  bei  den  Verben  des 
Kaufens  der  ablativus  steht,  sich  einzuprägen,  daß  die  vergleichenden  Ausdrücke 
im  Genetiv  stehen.  Eine  Reihe  von  Wendungen,  wie  praetervehi  aliquid,  tibiis 
canere,  pila  ludere  könnten  fehlen,  andere  wie  rem  obire,  cedere  possessione  fiortorum 
alicui  passen  nur  für  die  oberen  Klassen.  Wer  wüßte  nicht,  welche  Schwierig- 
keiten das  verbum  interest,  das  verhältnismäßig  selten  vorkommt,  den  Schülern 


Der  lateinische  Unterricht  auf  dem  humanistischen  Gymnasium.  301 

bereitet?  Trotzdem  bin  ich  dafür,  diesen  Ausdruck  beizubehalten,  denn  es  ist 
sicherlich  eine  gute  Denkübung,  wenn  der  Schüler  sich  einen  Satz  völlig  umgestalten 
muß,  aber  man  lasse  die  Genetive  fort,  die  stehen  dürfen.  Zwecklos  erscheint 
es  mir,  den  potentialis  der  Vergangenheit  mitzulernen,  oder  ein  Musterbeispiel 
dafür,  daß  in  einem  Relativsatz  nach  einem  Ausruf  der  Konjunktiv  steht.  —  Dem 
Müller-Ostermann  für  Prima  sind  1086  Phrasen  vorangestellt.  Auf  manchen  Schulen 
wird  diese  gesamte  Anzahl,  verbunden  mit  den  Anmerkungen,  die  sich  unter  dem 
Strich  finden,  systematisch  auswendig  gelernt.  Richtiger  ist  es  wohl,  im 
Anschluß  an  das  im  Ostermann  und  Cicero  Gelesene  die  in  dem  betreffenden  Ab- 
schnitt vorkommenden  Phrasen  und  Vokabeln  zu  repetieren  mit  sorgfältiger 
Vermeidung  der  seltenen. 

Verschieden,  sehr  verschieden  sind  die  Anschauungen  der  Pädagogen  darüber, 
was  wichtig  und  unwichtig  ist.  Ja,  ich  habe  den  Eindruck,  es  gibt  einige  Herren, 
die  gegen  jede  fernere  Einschränkung  des  Lehrstoffes  im  Lateinischen  und  Grie- 
chischen sind,  ganz  unbekümmert  darum,  ob  sich  nicht  manches  nur  durch  Tra- 
dition, ohne  jede  innere  Berechtigung,  von  einer  Auflage  in  die  andere  forterbt. 

Ich  erlaube  mir  nun  folgenden  Vorschlag:  In  jeder  Provinz  tritt  eine  Kom- 
mission zusammen,  die  festsetzt,  1.  welche  Regeln  nach  wie  vor  gelernt  und  im 
Extemporale  geübt  werden  sollen.  2.  Welche  Regeln  nur  gelegentlich  erwähnt 
und  erklärt  werden,  wenn  der  betreffende  Fall  in  der  Lektüre  vorkommt.  Diese 
Gruppe  ist  schon  durch  besonderen  Druck  kenntlich  zu  machen.  3.  Welche  Regeln, 
Phrasen  und  Vokabeln  endgültig  aus  den  Lehrbüchern  zu  streichen  sind. 

Gerade  daraus  verspreche  ich  mir  viel  Anregung,  daß  in  den  verschiedenen 
Provinzen  gesonderte  Kommissionen  eingesetzt  werden.  Geht  beispielsweise 
die  Kommission  in  Sachsen  liberaler  vor  als  in  Schleswig-Holstein,  so  ließe  sich  nach 
Jahren  feststellen,  ob  durch  das  liberale  Vorgehen  die  Leistungen  im  Lateinischen 
herabgemindert  sind. 

Aufs  strengste  müßte  es  verboten  werden,  daß  ein  Lehrer  das  als  Fehler  an- 
streicht, was  die  an  der  Schule  eingeführte  Grammatik  als  zulässig  bezeichnet. 
Eine  Reihe  von  Sachen  könnte  gestrichen  werden,  andererseits  würde  an  mancher 
Stelle  ein  Zusatz  in  der  Grammatik  den  Schülern  Erleichterung  bringen,  z.  B. 
hie  dieser  und  „letzterer",  ipse  selbst  und  ,, gerade",  „direkt".  Bei  volo,  nolo,  malo, 
bei  piget,  pudet  usw.,  ferner  bei  fallit,  fugit,  praeter it  müßte  die  Konstruktion  des 
abhängigen  Satzes  gleich  dabei  stehen.  Diese  Konstruktion  will  ich  keineswegs 
von  den  Quintanern  und  Quartanern  verlangen,  aber,  wenn  sie  der  Schüler  der 
unteren  Klassen  bei  jeder  Wiederholung  liest,  so  geht  sie  ihm  allmählich,  ohne 
jede  Anstrengung,  in  Fleisch  und  Blut  über. 

Vor  kurzem  tauchte  das  Gerücht  auf  in  der  Presse,  es  sollte  beim  Abiturienten- 
examen im  Deutschen  das  Thema  vom  Provinzial-SchulkoUegium  gestellt  werden. 
Ich  würde  es  aufs  freudigste  begrüßen,  wenn  dieses  Gerücht  Wahrheit  würde, 
wenn  man  auch  für  das  Lateinische  dieselbe  Neuerung  einführte.  Ein  merkwürdiger 
Zufall!  In  einem  Vortrag  im  Winter  1910/11  hatte  ich  bereits  diesen  Vorschlag 
gemacht.  Sollte  es  technisch  Schwierigkeiten  bereiten,  für  sämtliche  Abiturienten 
einer  Provinz  ein  Extemporale  zu  geben,  so  sollte  man  gelegentlich  den  anderen 
Klassen  eine  gemeinsame  Aufgabe  stellen.   Man  könnte  auf  diese  Weise  feststellen, 


302  R.  Pappritz, 

welches  Gymnasium  besseres,  welches  schlechteres  als  der  Durchschnitt  leistet; 
Fehler  im  Unterrichtsbetrieb,  die  vielleicht  seit  Jahren  und  Jahrzehnten  bestehen, 
könnten  aufgedeckt  werden,  der  ganze  Unterricht  könnte  neu  belebt  werden. 
Welche  Rolle  spielt  doch  das  Extemporale  in  der  Schule  und  in  der  Familie !  Aufs 
lebhafteste  würdeich  bedauern,  wenn  wir  dem  Beispiel  Spaniens  (!)  folgten  und 
diese  nützliche  Übung  abschafften.  Aber  die  Zahl  der  Extemporalien,  die  die  Lehr- 
pläne von  1901  verlangen,  ist  nach  meiner  Erfahrung  zu  groß.  Einem  erprobten 
Lehrer  müßte  es  gestattet  sein,  wenn  er  sieht,  das  neu  durchgenommene  Pensum 
ist  von  den  Schülern  noch  nicht  recht  aufgenommen,  an  Stelle  eines  Extemporales 
einige  Sätze  oder  Formen  ins-  Diarium  zu  diktieren.*) 

Auf  lateinische  Stilübungen  wird  noch  immer  übertrieben  viel  Zeit  verwandt. 
Noch  immer  gibt  es  Pädagogen,  die  verlangen,  ein  Schüler  soll  mit  peinlicher  Ge- 
nauigkeit unterscheiden,  ob  cum  autem  oder  sed  curriy  ob  existimare  oder  reri  zu 
setzen  ist.  Sollten  nicht  manche  Philologen  in  ihrer  Genauigkeit  zu  weit  gehen? 
So  streichen  es  mehrere  Herren  als  Fehler  an,  wenn  der  Schüler  bei  locus  „m" 
setzt.  Cicero  war  weniger  streng  als  die  Philologen  des  zwanzigsten  Jahrhunderts; 
denn  in  der  vierten  Rede  gegen  Verres,  de  signis,  finden  wir  in  den  ersten  1 10  Para- 
graphen die  genannte  Verbindung  achtmal,  in  einem  Paragraphen  kommt  sie  sogar 
zweimal  vor.  Bei  Caesar  vollends  ist  sie  durchaus  nicht  selten,  so  finden  wir  sie 
im  fünften  Buch  des  gallischen  Krieges  viermal.  —  Manchem  Pädagogen  erscheint 
ein  Abstraktum  als  subiect  fehlerhaft.  Wie  häufig  finden  wir  doch  diese  Aus- 
drucksweise bei  Caesar  und  Livius;  z.  B.  bch.  23  cap.  17  dreimal;  bei  Cicero  ist 
es  nicht  selten,  cfr.  z.  B.  die  erste  Rede  gegen  Catilina,  ferner  ad.  fam  5,  7; 
ad.  Att.  9,  5.  —  Vor  kurzem  wurde  die  Bestimmung  erlassen,  in 
den  Abiturientenextemporalien  seien  Knifflichkeiten,  selten  in  der  Lektüre 
vorkommende  Sachen,  zu  meiden,  beispielsweise  die  abhängigen  irrealen 
Sätze.  Die  Herren,  die  in  den  Klassenarbeiten  noch  immer  diese  Kon- 
struktion üben,  wissen  wohl  nicht,  wie  selten  sie  im  Lateinischen  ist;  so  findet 
sie  sich  in  den  vier  katilinarischen  Reden  Ciceros  nicht  einmal,  im  23.  Buch  des 
Livius  kommt  sie  einmal  vor.  In  demselben  Buch  findet  sich  zweimal  die  Wen- 
dung quod  attinet  ad.  Diese  streicht  mancher  strenge  Lateiner  als  Fehler  an;  es 
gibt  eben  auf  allen  Gebieten  Leute,  die  päpstlicher  sind  als  der  Papst. 

Betrachten  wir  jetzt  die  Lektüre,  die  nach  den  neueren  Bestimmungen  im 
Mittelpunkt  des  Unterrichtes  stehen  soll.  Nach  meiner  Erfahrung  werden  noch 
immer  Abschnitte  verlangt,  die  besondere  Schwierigkeiten  enthalten,  oder  eine 
solche  Fülle  seltener  Vokabeln,  so  daß  der  Schüler  das  Lexikon  gar  nicht  aus  der 
Hand  legen  kann.  Der  Oberbürgermeister  von  Halle,  Dr.  Rieve,  hat  am  27.  Mai  1910 
im  Herrenhause  über  diesen  Gegenstand  gesprochen.  Diese  Rede  verdient  die  Auf- 
merksamkeit von  uns  Pädagogen;  es  ist  doch  wenig  wahrscheinlich,  daß  ein  Mann, 
der  in  Preußen  Oberbürgermeister  einer  Großstadt  und  Universitätsstadt  wird, 
im  Herrenhause  Behauptungen  aufstellt,  die  jeder  Grundlage  entbehren.  —  Sehr 
geeignet  zum  Auslassen  ist  beispielsweise  Caesar  bell.  gall.  bch.  6,  Kap.  19,  1 — 2, 


*)  Die   Arbeit  wurde   der  Redaktion   eingereicht,    bevor  die    neue  Bestimmung 
über  das  Extemporale  erfolgte. 


Der  lateinische  Unterricht  auf  dem  humanistischen   Gymnasium.  SOS- 

Wird  sich  ein  deutscher  Tertianer  für  Heiratsgut,  Zinsen  u.  dgl.  interessieren? 
Derartige  Begriffe  liegen  seinem  Ideenkreise  so  vollkommen  fern.  Kap.  27  des- 
selben Buches  ist  ganz  amüsant;  es  ist  psychologisch  interessant,  daß  sich  ein 
Genie  wie  Caesar  derartige  Märchen  aufbinden  ließ.  Doch  man  übersetze  ein  solches 
Kapitel  den  Schülern  vor  und  verlange  nicht,  daß  sie  so  seltene  Vokabeln  wie 
fl/x,  mütilüSy  nodus,  articulus,  applicare,  redinare  aufschlagen.  Wie  hübsch  ist 
in  Ovids  Metamorphosen  der  Abschnitt  über  Phiiemon  und  Baucis;  er  wird  auch 
meistens  Tertianern  und  Sekundanern  gefallen.  Doch  hat  es  einen  Zweck,  auch 
nur  die  Nachübersetzung  der  Schilderung  des  Mahles  zu  verlangen?!  Ähnlich 
steht  es  mit  Vergils  Aeneis  II,  Vers  203  u.  f.  Auch  dieser  Abschnitt  muß  vom  Lehrer 
vorübersetzt  werden.  —  Nicht  mehr  zeitgemäß  ist  es,  nach  meiner  Auffassung, 
den  Inhalt  des  Gelesenen  vom  Schüler  in  lateinischer  Sprache  zu  verlangen.  Mög- 
lich, daß  einige  Herren  durch  diese  Methode  Erfolge  erzielt  haben,  möglich,  daß 
es  dem  einen  oder  anderen  gelungen,  die  ganze  Klasse  zur  Mitarbeit  heranzuziehen. 
Meistens  hört  man  das  Gegenteil.  Wenn  eine  Methode  einmal  erfolgreich  war, 
steht  es  nun  dogmenartig  fest,  daß  sie  es  für  ewige  Zeiten  sein  muß?  Man  prüfe 
doch  einmal,  welche  Resultate  die  Herren  erzielen,  die  einen  anderen  Weg  ein- 
schlagen !  Wieviel  Zeit  kostet  doch  das  Lateinsprechen,  die  Vorbereitung  sowohl 
wie  die  Ausführung,  die  für  das  Übersetzen  bestimmte  Zeit  wird  erheblich  verkürzt. 
Jede  Unterrichtsstunde  soll  zugleich  eine  Übung  im  Deutschen  sein.  Wodurch 
wird  nun  der  Schüler  mehr  in  seiner  Muttersprache  geübt,  wenn  er  den  Inhalt 
lateinisch  oder  deutsch  wiedergibt?! 

Viele  vergebliche  Zeit  wird,  nach  meiner  Erfahrung,  auf  den  Unterricht  im 
Horaz  verwendet.  Ich  bin  ein  großer  Freund  des  heiteren  Sängers  von  Venusia, 
aber  unbedenklich  würde  ich  aus  dem  Kanon  eine  ganze  Reihe  von  Gedichten 
streichen,  die  den  Deutschen  maßlos  übertrieben,  gekünstelt  und  schwerfällig 
anmuten,  so  z.  B.  I,  2,  28,  35.  II,  2.  III,  24  u.  "25,  vor  allem  auch  die  lange 
Rede  der  Juno  III,  3.  Besonderes  Gewicht  wird  gewöhnlich  auf  die  sechs  Römer- 
oden gelegt,  obgleich  es  Horaz  wiederholt  ausspricht,  daß  er  für  diese  Art  Poesie 
weniger  veranlagt  ist.  Wenn  ein  Schüler  z.  B.  weiß,  daß  III,  5  Regulus  wegen 
seiner  Vaterlandsliebe  verherrlicht  wird,  so  genügt  dies  durchaus;  zwecklos  aber 
ist  es  wohl,  eine  genaue,  ins  Detail  gehende  Inhaltsangabe  zu  verlangen,  womöglich 
schriftlich  und  mündlich.  Ein  derartiges  Wissen  von  Einzelheiten  kann  gar  nicht 
festgehalten  werden,  wird  auch  beim  Examen  niemals  verlangt;  welchen  Zweck 
hat  es  nun,  daß  sich  ein  Schüler  auf  kurze  Zeit  mit  Mühe  Einzelheiten  einprägt, 
durch  das  Hinschreiben  von  Inhaltsangaben  Augen  und  Schrift  verdirbt?!  Bei 
einer  ganzen  Reihe  von  Gedichten  soll  der  Schüler  wissen,  wann  sie  entstanden 
sind;  von  vielen  Männern,  die  Horaz  gelegentlich  erwähnt,  wird  eine  Biographie 
verlangt,  womöglich  das  Jahr,  in  dem  der  Betreffende  das  Konsulat  bekleidet. 
Es  wäre  an  der  Zeit,  daß  hier  einmal  gründlich  Wandel  geschaffen  würde.  Es  mag 
bei  dieser  oder  jener  Gelegenheit  gestattet  sein,  auf  das  griechische  Original,  das 
dem  Horaz  vorgelegen,  kurz  einzugehen,  aber  im  allgemeinen  gehört  der  Vergleich 
mit  den  griechischen  Dichtern  in  das  philologische  Seminar  der  Universität,  nicht 
in  die  Prima  des  Gymnasiums.  Wir  Pädagogen  müssen  die  ars  tacendi  üben;  in- 
dem wir  selbst  das  Wichtige  vom  Unwichtigen  scheiden,  werden  wir  den  Schülern 


304     R.  Pappritz,  Der  lateinische  Unterricht  auf  dem  humanistischen  Gymnasium. 

wenigstens  eine  Anleitung  geben,  dies  zu  tun.  —  Eine  meiner  Lieblingsoden  ist 
I,  7.  Bei  der  Durchnahme  dieses  Gedichtes  hängt  in  meinem  Unterricht  eine  Karte 
der  alten  Welt  an  der  Wand.  Die  erwähnten  Städte  werden  aufgesucht,  von  man- 
chen etwas  erzählt,  z.  B.  vom  Tempetal.  Dieser  von  den  Alten  so  oft  verherrlichte 
Erdenfleck  ist  auch  nach  modernen  Anschauungen  schön,  weil  der  Peneus  sich 
schäumend  zwischen  den  Bergen  hindurchwindet,  und  die  grünen  Platanen  sich 
malerisch  abheben  von  den  roten  Felsen.  Ich  gehe  ferner  ein  auf  das  Tivoli  der 
Gegenwart,  zeige,  wenn  möglich,  eine  Photographie  des  Tempels.  Nicht  unzweck- 
mäßig erscheint  es  mir  auch,  aus  einer  Reisebeschreibung  vorzulesen;  Heinse  z.  B., 
der  Dichter  des  Ardinghello,  hat  am  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  Tivoli 
schwungvoll  und  anschaulich  geschildert.  Völlig  verfehlt  aber  erscheint  es  mir, 
weil  hier  zufällig  ein  Plauens  erwähnt  wird,  eine  ausführliche  Biographie  dieses 
Mannes  zu  geben.  Bei  der  Durchnahme  von  I,  31  hängt  eine  Photographie  des 
Apollo  von  Belvedere  an  der  Wand,  ich  erzähle  den  Schülern  ein  wenig  von  der 
Einrichtung  römischer  Bibliotheken  (in  den  mit  dem  Tempel  verbundenen  Säulen- 
hallen waren  die  ersten  Bibliotheken  Roms  aufgestellt).  Aber  hat  es  auch  nur  einen 
Schein  von  Berechtigung,  von  den  Schülern  zu  verlangen,  daß  jener  Tempel  im 
Jahre  28  geweiht  ist?  Ich  hatte  bei  meinem  Horazunterricht  durchaus  Zeit,  eine 
ganze  Reihe  von  Gedichten  Catulls  zu  lesen.  Die  Ausgabe  von  Biese  leistete  mir 
treffliche  Dienste.  —  Bei  der  Lektüre  der  antiken  Schriftsteller  muß  man  auf  die 
Gegenwart  Bezug  nehmen,  dieses  Verfahren  fördert  ungemein  die  Anteilnahme 
der  Schüler.  In  der  Untersekunda  dispensierte  ich  einen  guten  Schüler,  bei  der 
Lektüre  von  Vergils  Aeneis,  vom  Präparieren  auf  einige  Zeit,  dafür  mußte  er  uns 
einen  Abschnitt  der  Schillerschen  Übersetzung  deklamieren.  Ein  anderer  Schüler 
in  der  Oberprima  wurde  bei  der  Lektüre  von  Ciceros  Rede  de  signis  auf  einige 
Zeit  vom  Präparieren  befreit  und  hielt  uns  dafür  einen  Vortrag  ,,Aus  dem 
Sizilien  der  Gegenwart". 

Noch  immer  wird  viel  Zeit  verschwendet  auf  das  Diktieren  von  Biographien. 
Soviel  ich  weiß,  ist  das  Diktieren  überhaupt  verboten,  und  wenn  dies  nicht  der 
Fall  ist,  so  sollte  es  möglichst  bald  verboten  werden.  Wenn  ich  z.  B.  in  der  Unter- 
prima Tacitus  annales  lese,  so  werde  ich  doch  nie  und  nimmer  von  der  ersten  zur 
zweiten  Stunde  die  Biographie  dieses  Autors  aufgeben,  sondern  den  Schülern  den 
Unterschied  von  annales  und  historiae  klar  machen.  Wenn  sie  dies  verstanden, 
werde  ich  sagen,  welchen  Zeitraum  jedes  der  Werke  umfaßt,  erst  wenn  dies  alles 
in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  ist,  werde  ich  die  übrigen  Werke  aufzählen. 
Quaerendo  docere  müßte  noch  mehr  geübt  werden.  Streicht  man  beim  Unterricht 
in  den  alten  Sprachen  das  Unnötige,  beseitigt  man  eine  zeitraubende  Methode, 
so  wird  dadurch,  ohne  daß  die  Leistungen  in  diesen  Fächern 
beeinträchtigt  werden,  Zeit  gewonnen  für  andere  Lehrgegenstände, 
beispielsweise  könnte  die  Zahl  der  Geschichtsstunden  in  Oberprima  um  eine  ver- 
mehrt werden.  Der  Lehrer  hätte  auf  diese  Weise  wirklich  Zeit,  auf  die  Bürgerkunde 
einzugehen  und  in  der  Geographie  mit  ganz  anderer  Gründlichkeit  als  bisher 
Repetitionen  zu  veranstalten.  So  häufig  hört  man  klagen,  daß  Deutschland  keinen 
Platz  an  der  Sonne  hat.  Vielleicht  liegt  dies  zum  Teil  daran,  weil  auf  der  Schule 
bei  den  jungen  Deutschen  so  gar  kein  Interesse  für  die  außereuropäischen  Erd- 


F.  Heinrich,  Französischer  Sprachunterricht.  305 

teile  geweckt  wird.  Jeder  muß  doch  zugestehen,  daß  eine  ganze  Reihe  von  Ländern 
in  den  letzten  Jahrzehnten  eine  Bedeutung  gewonnen  hat,  die  sie  früher  nicht 
besaßen.  Sollen  nun  nach  wie  vor  die  Schüler  der  oberen  Klasse  von  diesen  Län- 
dern —  z.  B.  Argentinien,  Japan,  China,  Nordküste  von  Afrika  —  nichts  oder 
so  gut  wie  nichts  erfahren?  Werden  ihnen  Feinheiten  der  lateinischen  Stilistik 
oder  Einzelheiten  aus  den  Rönieroden  wirklich  ein  Ersatz  dafür  sein?  Wir  Lehrer 
sollten  uns  neben  dem  ermüdend  oft  gesagten:  „non  scholae  sed  vitae  discimus'' 
auch  bisweilen  sagen:    „non  scholae  sed  vitae  docemus'\ 

Naumburg  a.  S.  R.   P  a  p  p  r  i  t  z. 


Französischer  Sprachunterricht. 

Die  direkte  Methode. 

Von  dem  früheren  Direktor  des  französischen   Gymnasiums  in  Berlin,   Dr. 
Schnatter,  konnten  seine  Primaner  öfters  die  Mahnung  hören:   A  quoi  vous  servent 
toutes  vos  itudes,  si  vous  n'apprenez  pas  ä  penser !  Manchem  wollte  es  wohl  nicht  recht 
in   den  Sinn,   daß  das  Denken,  'eine  scheinbar  so   natürliche  Funktion,  lernbar 
sein  sollte,   dennoch  hat  jener  Satz  recht,  wenn  man  apprendre  ä  penser  in  dem 
Sinne  einer  Übung  in  klarer  und  treffender  sprachlicher  Formulierung  nimmt. 
Dieser   Übung  begegnet  der  Deutsche,   der  sprachlichen   Unterrichtsstunden  in 
Paris  beiwohnt,  fortwährend.    Zunächst  bei  den  Lehrern.    Er  hört  sie  in  tadellos 
geformten  Sätzen,  in  allzeit  sicherer  Diktion  sprechen.    Dann  nimmt  er  mit  Er- 
staunen und  Genugtuung  wahr,  daß  auch  die  Schüler  ihre  Antworten,  selbst  längere 
Zusammenhänge,  in  ähnlich  korrekter  Form  und  fast  immer  ohne  zu  stocken  geben. 
Der  Lehrer  duldet  nicht  Antworten  in  einzelnen  Worten  oder  Satzfragmenten, 
sondern  zwingt  die  Knaben,  den  einmal  begonnenen  sprachlichen  Akt  zu  Ende 
zu  führen,  ein  Zwang,  der  sich  übrigens  kaum  bemerkbar  macht,  da  der  natürliche 
Nachahmungstrieb  der  Schüler  das  Gewünschte  fast  von  selber  leistet,  wenn  ihnen 
nur  der  Lehrer  durch  sein  eigenes  Sprechen  ein  gutes  Beispiel  gibt.  Dann  stellt  sich 
eine  Gewöhnung  an  Sauberkeit  der  Sprache  ein.  Solche  Gewöhnung  habe  ich  bereits 
in  einer  Sexta,  wo  die  Schüler  seit  einem  halben  Jahre  Deutsch  hatten,  beobachtet. 
Diese  kleinen  Jungen  —  am  lycee  Montaigne  in  Paris  —  gaben  schon  Antworten 
in  ganzen  deutschen  Sätzen,  was  dem  deutschen  Obertertianer  so  schwer  wird. 
In  den  Klassen  Sexta  bis  Quarta  wurde  dort  mit  der  direkten  Methode,  durch 
beständige  Konversation,  ein  natürlicher  Gebrauch  der  deutschen  Sprache  ange- 
bahnt, in  dem  Sache  und  Wort,  Anschauung  und  Ausdruck  bei  den  besseren  Schülern 
schon  automatisch  verbunden  waren.    Ich  habe  in  diesen  Klassen  des  lycee  Mon- 
taigne kein  französisches  Wort  in  den  deutschen  Stunden  gehört.  Nicht  die  Sprache 
„an  sich"  wurde  gelehrt,  sondern  die  Sprache  als  mündliches  Ausdrucksmittel 
für  bekannte  Vorstellungen,  in  den  höheren  Klassen  für  selbstgebildete  Urteile. 
Nicht  auf  Einlernen  sprachlicher  ,, Kenntnisse"  ist  in  Frankreich  der  Unterricht 
in  den  lebenden  Sprachen  angelegt,  sondern  auf  Gewöhnung  in  der  mündlichen, 
erst  in  den  oberen   Klassen  schriftlichen,  Handhabung  der  lebendigen  Sprache, 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  20 


306  F.  Heinrich, 

nach  dem  Grundsatz:  Des  connaissances  s'acquierent  facilement  et  se  perdent  de 
mime;  des  habitudes  sont  lentes  ä  s'äablir,  mais  sont  durables.  Wenn  eine  so  treffliche 
Grundlegung  im  deutschen  Unterricht  in  Frankreich  allgemein  wäre,  sollte  man  er- 
warten, daß  die  französischen  Primaner  es  zu  einer  bedeutenden  Fertigkeit  im  Hand- 
haben des  Deutschen  bringen,  und  in  der  Tat  schien  mir  diese  Fertigkeit  in  einer 
premiere  supirieure  die  unserer  Oberrealschul-Primaner  im  Französischen  zu  über- 
treffen, aber  freilich  war  diese  premiere  superieure,  wie  ihr  Lehrer  sagte,  die  in 
Paris  versammelte  Elite  von  ganz  Frankreich. 

Die  direkte  Methode  bringt  es  mit  sich,  daß  der  Lehrer  sehr  viel  spricht, 
und  die  Schüler  leicht  zu  wenig  zu  Wort  kommen.  In  diesen  pädagogischen  Fehler 
verfielen  alle  Lehrer,  die  ich  in  Paris  an  drei  Schulen  habe  unterrichten  hören. 
Sie  fragten  wohl,  richteten  aber  ihre  Fragen  fast  immer  an  die  ganze  Klasse,  und  die 
Antworten  erfolgten  freiwillig  oder  der  Lehrer  verzichtete  ganz  darauf.  Wenn 
man  aber  auch  nur  selten  Gelegenheit  hatte,  die  Schüler  sprechen  zu  hören,  so 
trat  doch  ihre  Bereitschaft  zu  antworten  und  ihre  Gewandtheit  im  Ausdruck  nur 
um  so  überraschender  hervor:  unterstützt  allerdings  durch  ihre  angeborene  sprach- 
lich-geistige Regsamkeit,  hatte  die  direkte  Methode  sie  an  rasches  Erfassen  des 
Gehörten  und  an  mutiges  Ausdrücken  des  Selbstgedachten  gewöhnt.  Wie  oft  mußte 
man  in  diesen  Stunden  an  den  Mangel  an  sprachlicher  Selbsttätigkeit  denken, 
der  in  unseren  deutschen  Klassen  herrscht,  an  deutsche  Primaner,  die  nicht  dazu 
zu  bringen  sind,  sich  in  ordentlichen  französischen  Sätzen  zu  äußern! 

Die  beiden  wichtigsten  Vorwürfe,  die  der  direkten  Methode  gemacht  werden, 
sind  bekanntlich,  daß  sie  zur  Spielerei  mit  der  Sprache  führe,  zu  einem  Pariieren 
nach  Art  der  alten  Sprachmeister,  und  ferner,  daß  sie  nicht  die  notwendige  gram- 
matische Korrektheit  erziele.  Der  erste  dieser  Vorwürfe  richtet  sich  meines  Erachtens 
gegen  den  Lehrer,  nicht  gegen  die  Methode,  und  in  dieser  Ansicht  hat  mich  das 
an  französischen  Schulen  Gesehene  bestärkt:  ein  Stück  Lektüre,  sich  der  fremden 
Sprache  bedienend,  mit  den  Schülern  in  mündlicher  Besprechung  durcharbeiten, 
das  ist  keine  Spielerei,  sondern  eine  in  allen  Klassen  ernste,  instruktive,  schwere 
Aufgabe.  Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  sie  als  solche  wirklich  aufgefaßt  wird, 
daß  dabei  Inhalt  und  Form  mit  peinlicher  Genauigkeit  im  Detail  vom  Lehrer 
behandelt  werden,  wie  wir  das  in  französischen  Schulen  sehen  können. 

Über  das  Maß  von  grammatischer  Korrektheit,  welches  der  deutsche  Unter- 
richt nach  der  direkten  Methode  in  Frankreich  erreicht,  darf  ich  mir  kein  Urteil 
erlauben.  Man  sucht  dort,  wie  mir  von  mehreren  Seiten  versichert  wurde,  nach 
einem  Mittelwege,  auf  dem  man  dazu  kommen  möchte,  beiden  Anforderungen, 
dem  freien  Gebrauch  der  Sprache  und  der  grammatischen  Korrektheit,  zu  genügen. 
Die  gegenwärtige  Inspection  generale  de  Tinstruction  publique  vertritt  unbedingt 
die  direkte  Methode  im  Unterricht  der  lebenden  Sprachen.  Der  Unterricht  soll 
sich  dabei  in  der  Progression:  Sprechen,  Lesen,  Schreiben  bewegen,  so  daß  in  den 
unteren  Klassen  das  Sprechen,  in  den  mittleren  das  Lesen,  in  den  oberen  das  Schreiben 
das  Hauptziel  ist,  ohne  daß  natüriich  auf  jeder  Stufe  ausschließlich  eins  gepflegt 
werden  soll.  Man  ist  überzeugt,  daß  bei  voller  Anwendung  der  direkten  Methode 
die  wünschenswerte  grammatische  Korrektheit  vollkommen  erreichbar  sei. 


Französischer  Sprachunterricht.  307 

Die  Übersetzung. 

Die  zusammenhängende  Übersetzung  aus  der  Muttersprache  in  die  fremde 
soll  in  Frankreich  erst  in  den  oberen  Klassen  kultiviert  werden.  Es  wird  für  zweck- 
widrig gehalten,  sie  früher,  als  Mittel  zur  Einübung  der  Grammatik,  anzuwenden. 
Erst,  wenn  der  Schüler  in  den  Formen  sicher,  mit  dem  mündlichen  Gebrauch  der 
fremden  Sprache  einigermaßen  vertraut  ist,  soll  er  in  der  Übersetzung,  sowohl  aus 
der  fremden,  wie  in  die  fremde  Sprache,  Sprachvergleichung  treiben.  Das  Über- 
setzen wird  sehr  weise  als  die  schwerste,  nur  dem  reifsten  Schüler  zugängliche 
Aufgabe,  als  die  fine  fleur  des  Sprachbetriebes,  aufgefaßt.  Es  verlangt  Verständnis 
stilistischer  Unterschiede,  setzt  eine  erhebliche  Fertigkeit  im  Umgehen  mit  dem 
fremden  Idiom  voraus,  lehrt  den  angehenden  Studenten  den  Geist  zweier  Na- 
tionalitäten vergleichen. 

Die  Übersetzung  aus  der  Muttersprache  hindere,  so  meint  man  in  Frankreich 
mit  Recht,  die  Sache  mit  dem  Wort  der  Fremdsprache  direkt  zu  verbinden,  indem 
sie  das  Wort  der  Muttersprache  dazwischenstellt,  sie  hindere  den  automatisch 
richtigen  Gebrauch  der  fremden  Sprache,  halte  sie  dem  Schüler  als  etwas  ewig 
Fremdes  fern,  statt  sie  ihm  vertraut  zu  machen.  „5/  l'äeve  doW\  sagt  der  Dezer- 
nent für  die  lebenden  Sprachen  M.  Hovelaque,  „chaque  fois  qu'il  prend  la  parole, 
faire  un  effort  musculaire  conscient  pour  bien  prononcer  chacun  des  mots  qu'il  emploie, 
un  effort  conscient  de  memoire  pour  en  retrouver  la  signification  precise,  Vemploi 
exacty  un  effort  conscient  de  reflexion  pour  appliquer  teile  regle  de  grammaire  afin 
de  les  associer  correctement,  il  balbutiera,  il  ne  parlera  pas.  Si  le  mot  de  la  langue 
maternelle  est  partout  derriere  le  mot  äranger,  il  en  faussera  la  prononciation,  le  sens, 
l'emploi/'  Die  Wahrheit  dieser  Betrachtung  können  wir  täglich  in  unserem  fran- 
zösischen Unterricht  erproben.  Immer,  bis  in  die  Prima  hinein,  bleiben  die  Schüler 
am  Deutschen  kleben.  Selten  kommen  sie,  mündlich  wie  schriftlich,  über  ein 
kümmerlich  dem  Deutschen  abgerungenes  Französisch,  über  den  Germanismus 
—  diese  Qual  des  korrigierenden  Lehrers  —  hinaus.  Beim  Übersetzen  aus  der  Mutter- 
sprache lernt  der  Schüler,  so  ist  die  französische  Ansicht,  die  Wahrheit  vermittelst 
des  Irrtums,  das  sprachlich  Richtige  durch  Fehlermachen.  Das  läßt  bei  ihm  nie 
jenes  Gefühl  der  Sicherheit  aufkommen,  das  er  beim  direkten  Anwenden  ihm 
geläufiger  Ausdrücke  der  fremden  Sprache  hat.  Der  rechte  Weg  ist  es  daher,  ihn 
an  freie  Imitation  und  an  eigene  Initiative  im  Sprechen  und  Schreiben  zu  ge- 
wöhnen. Daher  ist  auch  der  Gebrauch  von  Lexikon  und  Grammatik  bei  der  Ab- 
fassung schriftlicher  Arbeiten  methodisch  falsch,  da  sie  den  noch  nicht  kritikfähigen 
Schüler  verwirren  und  in  Unselbständigkeit  halten.  Diese  Art  des  Arbeitens  und 
Übersetzens  führt  zu  einem  mechanischen  Gebrauch  der  Worte,  zu  einem 
leeren  Wortkram,  ohne  die  innere  Anteilnahme  des  Schülers,  die  eben  nur  an  der 
Sache  haftet.  —  Was  die  Übersetzung  angeht,  so  ist  also  das  französische  Prin- 
zip: Niemals  darf  sie  Ziel  des  Unterrichts  sein.  Sie  ist  nur  ein  Mittel  der  Geistes- 
kultur, aber  keins,  eine  fremde  Sprache  zu  erlernen.  In  deren  Besitz  gelangt  man 
nur  durch  Imitation  und  durch  eigenes  Nachdenken. 

Die  Lektüre. 
Alles  kommt  bei  der  Lektüre  darauf  an,  daß  der  gelesene  Text  vom  Schüler 
wirklich  assimiliert  wird.     Der  natürliche  Anfang  dieser  Assimilation  ist  sinn- 

20* 


308  F.  Heinrich, 

gemäßes  Lesen.  Auf  richtige  Betonung,  auf  sinngemäße  Gliederung  beim  Lesen 
wurde  daher  in  allen  Stunden,  denen  ich  in  Paris  beiwohnte,  außerordentlich  viel 
Gewicht  gelegt.  Schon  die  Quintaner  leisteten  darin  sehr  viel.  Man  merkte,  daß 
das  gute  Lesen  keine  Abrichtung  war,  sondern  aus  dem  Verständnis  entsprang, 
daß  nicht  Worte,  sondern  Sachen  gelesen  wurden.  Charakteristisch  für  die  Be- 
handlung der  Lektüre  an  französischen  Schulen  ist  es  bekanntlich,  daß  die  Stunden 
keineswegs  mit  Lesen  und  Übersetzen  ausgefüllt  werden,  sondern  daß  der  Text 
nach  jeder  Richtung  —  sachlich,  logisch,  grammatisch,  ästhetisch  —  besprochen 
wird.  Eine  solche  Lektürestunde  ist  also  eine  conversation  autour  d'un  texte.  Diese 
Konversation  soll  die  Abhängigkeit  des  Schülers  vom  Buch,  dessen  einschläfernden 
Einfluß  —  der  ja  freilich  auch  zum  höchsten  Grade  der  Unabhängigkeit  führen 
kann  —  paralysieren.  Es  ist  leicht,  sich  zu  überzeugen,  wie  ersprießlich  solches 
Verfahren  ist.  Man  lasse,  nachdem  ein  Stück  gelesen  ist,  das  Buch  schließen  und 
frage  nach  dem  Inhalt  des  eben  Gelesenen.  Die  Antwort  wird  meist  erhebliche 
Schwierigkeit  machen.  Eine  Assimilation  des  Inhalts  ist  bei  den  meisten  Schülern 
nicht  erfolgt,  daher  seine  Reproduktion  unmöglich.  Würden  aber  in  diesem  Punkte 
wirkliche  Anforderungen  an  die  Schüler  gestellt,  so  dürfte  sich  daraus  eine  Unter- 
lage für  die  Zensur  ergeben,  deren  wir,  nach  der  Einschränkung  des  Extemporale- 
betriebes, für  die  mündlichen  Leistungen  mehr  als  früher  bedürfen. 

Im  Mittelpunkt  der  Besprechung  des  Lektüretextes  steht  das  einzelne  Wort, 
in  allen  seinen  Beziehungen,  besonders  in  den  synonymischen.  On  pari  sur  la  piste 
d'un  mot.  On  fait  une  petite  enquete  autour  d'un  mot.  Es  wird  praktische  Synonymik 
betrieben  und  durch  Übung  im  Differenzieren  der  Grund  zu  jenem  feinen  sprach- 
lichen Unterscheidungsvermögen  und  zu  jener  Treffsicherheit  des  Ausdrucks  ge- 
legt, die  die  Franzosen  auszeichnen. 

Die  Persönlichkeit  des  gelesenen  Autors  sucht  man  den  Schülern  durch  Inter- 
pretation seines  Denkens  und  durch  biographisches  Detail  nahe  zu  bringen.  Das 
kann  der  französische  Lehrer  besser  als  der  deutsche,  weil  er  bekanntlich  nur  in 
einem  Fache  und  nur  sechzehn  Stunden  wöchentlich  unterrichtet,  also  Zeit  hat, 
sich  in  seine  Autoren  zu  vertiefen  und  mit  ihnen  zu  leben.  Wenn  er  mit  seinen 
Primanern  Goethe  liest,  so  geschieht  es  in  aller  Muße.  Es  ist  dann,  als  gäbe  es  keine 
deutsche  Literatur  außer  Goethe.  Der  Lehrer  wird  nicht  durch  Pensenforderungen 
gestört,  die  ihn  zwingen,  einen  abfragbaren  Wissensstoff  einzupauken.  Sein  Ziel 
ist:  Cultiver  Vesprit  en  itudiant  la  pensee  allemande.  Den  Besitz  eines  auch  nur 
in  den  Hauptsachen  möglichst  vollständigen  literaturgeschichtlichen  Wissens 
hält  die  französische  Unterrichtsverwaltung  für  völlig  überflüssig.  Mögen  die 
Schüler  wenig  wissen,  wenn  sie  nur  das  wenige  „gut  wissen",  sich  assimiliert  haben. 
Dieser  Geringschätzung  des  vollständigen  und  des  äußerlichen  Wissens  entspricht 
es,  daß  von  Autoren,  die  der  Schüler  nicht  gelesen  hat,  überhaupt  nicht  gesprochen 
wird.  Wozu  auch?  Er  könnte  doch  nicht  selbst  urteilen,  und  das  Urteil  des  Lehrers 
einfach  zu  übernehmen  und  kritiklos  zu  seinem  eigenen  zu  machen,  das  mutet 
man  ihm  nicht  zu. 

Sprachliche  Kultur. 
Im  Lektürebetrieb  wie  im  Sprachbetrieb  wird  in  französischen  Schulen  der 
einzelne   Ausdruck,   das   begriffliche,   phraseologische,   stilistische,   synonymische 


Französischer  Sprachunterricht.  309 

Detail  mit  größter  Wichtigkeit  behandelt.  Es  wird  ein  Kultus  des  Wortes  getrieben, 
der  den  Schüler  zum  Respekt  vor  der  Sprache  erzieht.  Er  wird  gewöhnt,  sie  als 
etwas  Edles  sorgfältig  zu  gebrauchen;  das  wird  ihm  zur  Ehrensache,  und  klares, 
treffendes  Sprechen  zur  zweiten  Natur.  Jeder  gute  Ausdruck,  den  er  findet,  wird 
vom  Lehrer  gelobt.  Lob  erzeugt  Zufriedenheit,  und  aus  ihr  entspringt  die  geduldige 
Aufmerksamkeit,  mit  der  die  französischen  Schüler  dem  erklärenden  Vortrag 
ihres  Lehrers  folgen.  Sie  bedürfen  weniger  als  unsere  deutschen  Jungen  der  Frage- 
peitsche, die  bei  uns  das  wichtigste  Mittel  ist,  Aufmerksamkeit  und  Disziplin  auf 
der  Höhe  zu  halten.  Der  deutsche  Schüler  scheint  mir  in  den  Sprachstunden  minder 
selbsttätig,  vor  allem  minder  interessiert  zu  sein,  als  sein  französischer  Kamerad. 
Das  mag  zum  Teil  größere  natürliche  Schwerfälligkeit  sein,  zum  Teil  aber  liegt  es 
sicherlich  daran,  daß  unsere  Jungen  nicht  in  dem  Grade  wie  die  französischen 
zum  Interesse  am  Gedanken  und  dessen  sprachlicher  Form  erzogen  werden.  Bei 
uns  herrscht  eine  gewisse  Gleichgültigkeit  in  sprachlichen  Dingen.  Sie  scheut  vor 
der  ernsten  Anstrengung  sprachlichen  Gestaltens  zurück  und  führt  zu  jenem  Habitus 
des  Unklaren,  des  Halben,  des  Unpersönlichen,  welchen  die  sprachlichen  Äußerungen 
unserer  Primaner  zeigen.  Ein  Blick  in  französische  Sprachstunden  zeigt,  daß  auf 
höheren  Lehranstalten  mehr  sprachliche  Kultur  erstrebt  werden  kann,  als  wir  sie 
in  deutschen  Schulen  erreichen.  Sprachstutzigkeit,  Unklarheit,  Gleichgültigkeit 
gegen  den  Ausdruck  sind  Dinge,  die  man  bei  unseren  Nachbarn  nicht  leicht  antrifft. 
Die  Voraussetzung  für  solche  sprachliche  Erziehung  ist  natürlich  das  vortreffliche 
Beispiel,  welches  der  französische  Lehrer  selbst  im  Sprechen  gibt.  Es  ist  in  der 
Tat  bewundernswert  und  ladet  uns  deutsche  Kollegen  zur  Nacheiferung  ein.  Es 
ist  ja  eine  triviale  Weisheit,  daß  man  selbst  gut  sprechen  muß,  um  das  Recht  zu 
haben,  von  seinen  Schülern  gutes  Sprechen  zu  erwarten,  aber  ich  glaube,  daß  wir 
doch  Veranlassung  haben,  uns  dieser  Wahrheit  zu  erinnern.  Gut  formulierte  Sätze 
und  Zusammenhänge  von  Sätzen  sicher  vortragen  hören  und  selbst  mit  gutem 
Gelingen  produzieren,  das  ist  dem  Schüler  eine  Freude  und  eine  Befriedigung, 
die  dem  grammatischen  und  dem  Übersetzungsbetrieb  fehlt.  Durch  solches  Können 
wird  €r  sich  intellektuell  und  ästhetisch  gehoben  fühlen.  Nur  in  dieser  Leistung  des 
Handhabens,  Formens,  Produzierens  scheint  mir  der  positive  und  dauernde,  auf 
dem  Verständnis  der  Lektüre  beruhende,  Gewinn  beim  Erlernen  einer  lebenden 
Sprache  zu  liegen.  Korrektheit  in  den  grammatischen  Formen  ist  allerdings  un- 
erläßlich, sie  bleibt  aber  ein,  wenn  auch  notwendiges,  so  doch  elementares  Ergebnis, 
ein  „negatives  Verdienst"  und  darf  ebensowenig  wie  die  Fertigkeit  im  Übersetzen 
zum  Ziel  des  Unterrichts  werden.  Es  ist  doch  betrübend  und  bedenklich,  daß  wir 
bei  unserem  Betriebe  in  einem  Zeitraum  von  neun  Jahren,  bis  in  die  Oberprima 
hinein,  aus  dem  Fehlermachen  und  Fehlerkorrigieren  so  wenig  herauskommen, 
daß  selbst  der  Oberprimaner,  bei  allen  stilistischen  Belehrungen,  die  er  empfangen 
mag,  nicht  imstande  ist,  einige  einfache,  aber  sichere  französische  Sätze  leicht 
hintereinander  zu  sprechen  oder  zu  schreiben.  Im  Wissen  um  die  Sprache  mag  er 
es  weit  gebracht  haben,  in  ihrem  Gebrauch  steht  er  auf  einer  erschreckend  rudi- 
mentären Entwicklungsstufe.  Das  würde  nicht  so  schlimm  sein,  wenn  seine  Sprech- 
fähigkeit durch  die  ganze  Schule  hindurch  besser  für  die  fremde  Sprache  aus- 
genutzt würde.    Aller  Methodenstreit  wird  vor  der  Tatsache  Halt  machen  müssen. 


310  A.  Tilmann,  Die  Friedrich  Althoff- Stiftung. 

daß  der  Tertianer  an  sachlichen,  mit  genügender  Beherrschung  der  fremden  Sprache 
seitens  des  Lehrers  vorgenommenen  Sprechübungen  sich  mit  einem  Feuereifer 
beteiligt.  Der  sollte  nicht  unausgenutzt  bleiben,  denn  in  ihm  offenbart  sich  das 
Grundelement  alles  sprachlich-intellektuellen  Könnens,  die  Spontaneität.  „Geistige 
Kräfte,  Kräfte  des  Sehens,  Urteilens,  Denkens  können  nur  durch  spontane  Betäti- 
gung zur  Entwicklung  gebracht  werden,  nicht  durch  Zwang  und  Drang,  durch  Aus- 
wendiglernen und  Verhören,"  sagt  Paulsen.  Diese  Spontaneität  des  Interesses 
und  der  Ausübung  haben  die  Franzosen  und  pflegen  die  Franzosen  mehr  als  wir. 
Sie  stecken  dem  Unterricht  in  den  lebenden  Sprachen  als  Ziel  die  Bildung  und  das 
Können,  und  im  Dienste  dieses  Zieles  nur  stehen  Wissen  und  Korrektheit.  Lassen 
wir  der  grammatischen  Korrektheit  ihr  Recht,  aber  dulden  wir  nicht,  daß  sie,  als 
oberstes  Prinzip  herrschend,  dem  Sprachbetrieb  das  freie  Können  und  damit  den 
Adel  nehme. 

Berlin.  Fritz   Heinrich. 


Die  Friedrich  Althoff-Stiftung. 

Die  Friedrich  Althoff-Stiftung  hat  im  Rechnungsjahre  1911  große  Fortschritte 
gemacht.  Am  31.  März  1911  betrug  die  Zahl  der  Mitglieder  1989,  ein  Jahr  später 
ist  sie  auf  3346  gestiegen.  Es  hat  also  eine  ganz  erhebliche  Vermehrung  der  Mit- 
glieder stattgefunden.  Im  Jahre  1910  wurden  68  Personen,  im  Jahre  1911  79  Per- 
sonen unterstützt  und  die  hierzu  verwendete  Summe  betrug  21  475  M.  gegen 
19  925  M.  im  Vorjahre.  Das  Kapitalvermögen,  welches  am  31.  März  191 1  174  000  M. 
betrug,  ist  auf  189  000  M.  gestiegen,  wobei  allerdings  zu  berücksichtigen  ist,  daß 
der  in  das  Jahr  1911  übernommene  Barbestand  9848  M.  betrug,  während  der 
Barbestand  Ende  März  1911  sich  auf  4418  M.  beläuft. 

Die  Entwicklung,  welche  die  Friedrich  Althoff-Stiftung  genommen  hat,  kann 
hiernach  als  eine  sehr  erfreuliche  bezeichnet  werden.  Im  Hinblick  auf  den  Zweck 
dieser  segensreichen  Stiftung  ist  dies  sehr  zu  begrüßen;  nicht  zum  geringsten  ist 
das  Verdienst  daran  den  Provinzialvereinen  der  akademisch  gebildeten  Lehrer 
und  ihren  Vorsitzenden  zuzuschreiben,  die  sich  für  die  Stiftung  sehr  interessiert 
und  zu  ihrer  Förderung  wesentlich  beigetragen  haben. 

Berlin-Lichterfelde.  A.  T  i  1  m  a  n  n. 


II.    Bücherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 

Zur  deutschen  Literaturgeschichte. 

Im  VIII.  Jahrgang  dieser  Monatschrift  (1909,  S.  446  f.)  habe  ich  zuletzt  über 
die  Hefte  12—27  der  großen  „Illustrierten  Geschichte  der  deut- 
schen Literatur**  von  Anselm  Salzer  (München,  Allgem.  Verlags- 
gesellschaft) berichtet,  nachdem  ich  im  Jahrgang  III  (1904,  S.  470f.)  die  vor- 
aufgehenden elf  gewürdigt  hatte.  Jetzt  —  im  Oktober  1911  —  ist  das  Riesen- 
unternehmen, das  anfangs  auf  20 — 25  Lieferungen  ä  1  M.  berechnet  war,  bis  zu 
44  Lieferungen  und  zwar  bis  zu  W.  Raabe  (Seite  1852!)  gediehen.  Die  Lieferungen 
28 — 44  sind  folgendermaßen  gegliedert:  Achte  Periode.  3.  Abschnitt:  Der 
Göttinger  Dichterbund.  4.  Der  junge  Goethe  und  sein  Freundeskreis.  5.  Der 
junge  Schiller.  —  Blüte  der  Kunstdichtung:  1.  Goethes  erstes  Jahrzehnt  in  Weimar. 
2.  Goethe  in  Italien  und  nach  seiner  Rückkehr.  3.  Goethe  und  Schiller.  4.  Goethe 
und  Schillers  dichtende  Zeitgenossen.  Neunte  Periode.  Entwicklung  und 
Ausgang  der  Romantik  (1798— -1830).  Deutschland  in  seiner  Erniedrigung.  Die 
Freiheitskämpfe  und  Anläufe  zur  Neugestaltung.  1.  Wesen  und  Bedeutung  der 
Romantik.  2.  Die  Dichter  der  Romantik:  a)  die  Frühromantiker,  b)  die  Heidel- 
berger Romantiker,  c)  Norddeutsche  Romantiker.  3.  Die  Dichter  der  Befreiungs- 
kriege. 4.  Das  Schicksalsdrama.  5.  Goethe  und  die  Romantik.  Der  alte  Goethe. 
6.  Der  schwäbische  Dichterkreis.  7.  Die  österreichischen  Dichter.  8.  Neben-  und 
Gegenströmungen  der  Romantik.  Zehnte  Periode.  Von  der  französischen 
Revolution  (1830)  bis  zur  Gegenwart.  Die  Literatur  als  Ausdruck  des  wirklichen 
Lebens.  1.  Zwischen  den  Revolutionen  (1830—48):  a)  das  junge  Deutschland 
und  die  politische  Lyrik,  b)  Nachwirkung  Jungdeutschlands  und  der  Romantik. 

Wir  halten  einmal  an !  Um  einen  Begriff  davon  zu  geben,  was  für  Literatur- 
Regimenter  Salzer  aufmarschieren  und  welchen  unnötigen  Bücherstaub  er  auf- 
wirbeln läßt,  nenne  ich  die  Namen  derer,  die  in  dieser  Abteilung  zu  einem  un- 
endlich bunten  und  wirren  Strauß  zusammengereiht  werden:  Gottschall,  Jordan, 
Waldau,  Strodtmann,  Strachwitz,  Endrulat,  Kinkel,  Redwitz,  Roquette,  Wolfg. 
Müller  von  Königswinter,  Simrock,  Becker,  Pape,  Putlitz,  Böttger,  Rodenberg, 
Hörn,  Petersen,  Gruppe,  Bechstein,  Bube,  Pfarrius,  Stolterfoth,  Kaufmann,  Schnez- 
ler,  Stöber,  Zingerie,  Thaler,  Hoffbauer,  Sailer,  Dreves,  Blume,  Luise  Hensel, 
Diepenbrok,  Geissei,  v.  d.  Heide,  Vogt,  Waldburg,  Zeil,'  Smets,  Waldeck,  des  Bordes, 


312  A.  Biese, 

Bornstedt,  Schlosser,  König  Johann,  Piringer,  Morel,  Spitta,  Moraht,  Garve, 
Dörings,  v.  Meyer,  Langen,  Stier,  Hagenbach,  Möwes,  Knak,  Barthel,  v.  Strauß, 
Sturm,  V.  Heyder. 

Da  muß  dem  Leser  doch  schwindelig  werden,  mag  er  auch  sonst  durch  den 
milden  versöhnlichen  Geist,  den  weiten  Blick,  die  Anmut  der  Darstellung,  die 
Wärme  der  Gesinnung  sich  angesprochen  fühlen.  Wer  einen  solchen  gewaltigen 
Stoff  meistern  will,  wie  ihn  die  Geistesgeschichte  eines  Jahrhunderts  darbietet,  der 
muß  das  Wesentliche  vom  Unwesentlichen  zu  scheiden  wissen  und  die  Kunst  des 
Vergessens,  des  Beiseiteschiebens  üben.  Was  soll  das  deutsche  Haus,  was  die  deut- 
sche Jugend  mit  solchem  Wust  von  Namen  und  Daten  anfangen?  Werke  aber, 
die  bloß  Nachschlagewerke  sein  sollen,  müßten  ganz  anders  gestaltet  werden  als 
dieses.  Man  bedauert  aufrichtig  diesen  Hauptmangel  eines  so  großartigen,  von 
ungeheurer  Belesenheit  und  ungeheurem  Sammelfleiß  zeugenden,  in  Druck*)  und 
Bildwerk  und  in  Beilagen  ganz  vorzüglich  ausgestatteten  Werkes  —  auch  ist  der 
Preis,  der  für  jedes  einzelne  Heft  verhältnismäßig  nicht  zu  hoch  ist,  nach  dem 
Schluß  des  Ganzen  nur  für  wenige  zu  erschwingen.  Wer  gibt  denn  heute  noch 
50 — 60  M.  für  eine  deutsche  Literaturgeschichte  aus? 

Wir  fahren  in  der  Inhaltsangabe  fort:  2.  Von  den  Revolutionsjahren  bis  zur 
Gründung  des  deutschen  Reiches  (1848 — 71).  Rückkehr  zur  Kunst,  a)  Der  poe- 
tische Realismus.  —  In  diesem  Abschnitt  werden  abgehandelt:  Die  Wissenschaft 
unter  dem  Zeichen  des  Realismus  (auch  Pessimismus);  der  historische  Roman: 
Willibald  Alexis;  der  kulturhistorische:  Wilh.  Meinhold;  der  ethnographische: 
Sealsfield,  Gerstäcker,  Bibra,  Strubberg,  Ruppius,  Schorn,  Weill,  Nicol,  Ernst, 
Kompert,  Steub,  Schmid,  Silberstein,  Noe,  Stifter,  Annette  v,  Droste,  Hebbel, 
Ludwig,  Freytag,  Reuter,  Brinckmann,  Groth,  Storm,  Raabe.  —  Man  sieht, 
es  werden  Gestalten  ans  Licht  gezerrt,  deren  Wirkung  heutigen  Tages  durchaus 
nicht  mehr  lebendig  ist.  Auch  sonst  ist  die  Darstellung  viel  zu  wortreich  und  weit- 
schweifig; Alltägliches  und  Selbstverständliches,  immer  Wiederholtes  drängt  sich 
vor;  die  künstlerische  Gestaltung,  die  vor  allem  Verdichtung  und  Vertiefung  sein 
muß,  fehlt;  manche  ganz  unbedeutende  Schriftsteller  nehmen  den  großen  Luft 
und  Licht;  so  kommt  z.  B.  E.  T.  A.  Hoffmann  nicht  zu  seinem  Recht.  Doch  die 
Mehrzahl  der  wirklich  für  ihre  und  die  nachfolgende  Zeit  einflußreichen  Dichter 
ist  mit  Sachkenntnis,  gesundem  Urteil  gewürdigt  worden,  und  wenn  auch  der 
katholische  Standpunkt  (namentlich  auch  in  der  Heranziehung  manches  Un- 
bekannten) sich  nicht  verkennen  läßt,  so  drängt  er  sich  doch  fast  nirgends  störend 
auf;  warme  Worte  widmet  er  der  Duldung  und  Humanität  S.  1202.  —  Jedenfalls 
ist  Salzers  Werk  im  großen  und  ganzen  eine  Achtung  gebietende  Leistung  ernstester 
Gelehrsamkeit  und  jenes  Gerechtigkeitssinnes,  der  den  Forscher  auch  bei  den  in 
Religion  und   Sittlichkeit  „anders  Geführten"  und  Widerstrebenden  nicht  ver- 


*)  Druckversehen  sind  selten  und  zumeist  unerheblich.  S.  1055,  Z.  10  v.  u.  lies 
Reife  statt  Reise.  1073,  Z.  5  v.  u.  Ut  mine  Festungstid  statt  Stromtid.  1085,  Z.  18  v.  u. 
Treptow  statt  Trepnow.  1114,  Z.  10  v.  o.  am  entzücktesten  statt  entzückendsten.  1117, 
Z.  1  V.  o<  Philanthropins  statt  Phiiantropins.  1121,  Z.  9  v.  o.  Geßner  statt  Gaßner. 
1213,  Abs.  3  Zueignung  statt  Zuneigung  usw. 


Zur  deutschen  Literaturgeschichte.  313 

lassen  darf.  —  Der  Reichtum  und  die  Trefflichkeit  der  Beigaben  dieser  Literatur« 
geschichte  spotten  jedes  Vergleiches. 

Wenden  wir  uns  den  „Reden  zur  Literatur-  und  Univer- 
sität s  g  e  sc  h  i  c  h  t  e,  Von  ErichSchmidt"  (Berlin,  Weidmann  1911, 
120  S.,  geh.  2,40  M.)  zu,  so  finden  wir  sogleich  in  dem  bewundernswerten  Aufsatze 
über  „die  literarische  Persönlichkeit'*  Bundesgenossenschaft  gegen  die  Überfülle 
kleiner  Geister,  die  Salzer  heranzieht,  sowie  gegen  jene  Monographien,  die  künstlich 
eine  kleine  Seele  zu  einer  bedeutungsvollen  emporschrauben  („und  schließlich  nur 
von  dem  Verfasser  und  seinem  Setzer  völlig  gelesen  werden")  in  dem  Satze:  ,,Wer 
keine  Persönlichkeit  ist,  hat  in  der  Literaturgeschichte  wie  überall  nur  Anspruch 
auf  eine  Statistenrolle";  und:  „Wir  haben  jeden  Dichter  zu  fragen,  wieweit  er 
an  der  Entdeckung  neuer  Welten  in  uns,  um  uns,  über  uns  oder  auch  nur  bisher 
unbeachteter  Winkel  beteiligt  war,  ein  Pfadfinder  oder  bloß  ein  Trabant."  —  Die 
glänzende  Art  der  Betrachtungs-  und  Darstellungsweise  E.  Schmidts  brauche  ich 
nicht  mehr  zu  rühmen;  sie  ist  über  jedes  Lob  erhaben.  Jeder  Satz  ist  wie  gemeißelt; 
er  birgt  in  möglichst  großer  Knappheit  eine  solche  Fülle  von  Wissen,  ein  solches 
Maß  von  Scharfsinn,  daß  man  unwillkürlich  innehält,  verweilt,  um  sich  keine 
Beziehung  und  Pointe  und  keine  Nüanze  entgehen  zu  lassen;  da  funkelt  und  blitzt 
alles.  In  diesem  Aufsatz  zeigt  er  besonders  glänzend  die  literarische  Porträtkunst, 
ob  er  die  Mitarbeiter  der  Allgem.  Dtsch.  Biogr.,  ob  er  Gervinus,  Hagen,  Strauß 
u.  a.  kennzeichnet.  Er  weist  Taine  mit  der  —  übrigens  nicht  originellen  —  Milieu- 
theorie (le  race,  le  milieu,  le  moment)  in  seine  Schranken  zurück  und  drückt  die  Auf- 
fassung der  literarischen  Persönlichkeit  bei  seinem  unvergeßlichen  Meister  Wilhelm 
Scherer  mit  den  Schlagworten  des  Ererbten,  Erlebten,  Erlernten  aus,  nicht  ohne 
des  —  nun,  wo  ich  dies  schreibe,  auch  in  hohem  Alter  und  doch  zu  früh  dahin- 
gegangenen —  Wilhelm  Dilthey  und  seiner  epochemachenden  Schriften  zu  gedenken; 
und  ich  bin  sicher,  daß  deren  Ruhm  mit  der  zeitlichen  Entfernung  von  ihnen  pro- 
portional und  stetig  wachsen  wird.  Schmidt  lehnt  mit  vollem  Recht  die  über- 
triebene Ausnutzung  einer  Verwandtschaft  zv/ischen  Genie  und  Wahnsinn  ab  und 
verwirft  die  neuerdings  beliebten  Krankheitsdiarien,  zumal  das  ekle  Herum- 
*=chnüffeln  in  sexuellen  Dämmerungen.  —  Rhetorische  kleine  Meisterstücke  sind 
die  Reden  zur  Begrüßung  der  amerikanischen  Austausch-Professoren  und  Theodor 
Roosevelts,  tief  und  gehaltvoll  die  über  „Berliner  Poesie  vor  hundert  Jahren", 
„Jahrhundertfeier  der  Friedrich-Wilhelms-Universität",  „Fichtes  Reden  an  die 
deutsche  Nation",  „Schiller"  und  „Karl  Weinhold".  Es  gibt  zu  denken,  wenn  Erich 
Schmidt  in  dem  Schiller-Aufsatze  von  dem  Schulkommentar  spricht,  der  bald  zu 
manchem  Gedicht  Schillers  nötig  sein  werde,  und  in  einem  anderen  Satz  die  Worte 
der  „deutsche  Jüngling"  in  Anführungszeichen  setzt  und  die  Bemerkung  in  Klam- 
mem beifügt:  „wenn  dies  edle  Wort  überhaupt  noch  laut  werden  darf."  —  Be- 
sonders wird  hier  der  heroische  Charakter  Schillers  und  die  Genialität  seiner  Phan- 
tasie gerühmt,  die  trotz  des  Mangels  an  Erlebtem  mit  wunderbarer  Treffsicherheit 
Bilder  aus  Nord  und  Süd  zu  zeichnen  wußte.  —  Es  sei  beigefügt,  daß  die  zweite 
Reihe  der  „Charakteristiken"  von  E.  Schmidt  in  neuer  (2.)  Auflage  so- 
eben erschienen  ist  (Berün,  Weidmann  1912.  389  S.  7  M.);  zu  den  früheren 
Aufsätzen  traten  die  über  H.  Seidel  und  J.  J.  David  hinzu.  — 


314  A.  Biese, 

Für  die  Geistesgeschichte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  ist  jene  Gruppe 
von  Schriftstellern,  die  sich  „das  junge  Deutschland"  nannte,  besonders  wichtig, 
wenn  auch  —  von  Heine  abgesehen  —  sich  merkwürdig  wenig  von  ihnen  noch  als 
lebenskräftig  für  die  Gegenwart  erwiesen  hat.  Doch  wird  der  Lehrer  des  Deutschen 
und  der  Geschichte  in  Prima  nicht  umhin  können,  sich  nach  eingehenden,  auf 
Quellenforschung  sich  stützenden  Untersuchungen  umzusehen.  Er  wird  bei  Brandes, 
besonders  aber  bei  Fester,  Frenzel,  Geiger,  Proelsz,  Wehl  viel  Wichtiges  finden; 
doch  auf  diesem  Gebiete  ist  niemand  heute  unterrichteter  als  H.  H.  H  o  u  b  e  n  , 
der  nicht  nur  Laubes  und  Gutzkows  Werke*)  (12  Bde.  in  Ausw.)  mit  trefflichen 
biographischen  Einleitungen  sowie  ein  Buch  Zeitschriften  des  „jungen  Deutsch- 
lands" herausgegeben  hat,  sondern  auch  durch  seine  „Gutzkow- Funde"  (Ol)  und 
zahlreiche  Aufsätze  in  Zeitschriften  und  Zeitungen  sich  als  Kenner  und  zuverlässiger 
Forscher  erwiesen  hat.  So  ist  es  denn  mit  Freuden  zu  begrüßen,  daß  er  das  viel- 
fach Zerstreute  und  schwer  Zugängliche  nunmehr  in  einem  stattlichen  Bande  ver- 
einigt hat :  „Jungdeutscher  Sturm  und  Drang.  Ergebnisse 
und  Studien  von  D  r,  H.  H.  H  o  u  b  e  n"  (F.  A.  Brockhaus.  Leipzig  1911. 
704  S.  10  M.).  Was  hier  geboten  wird,  ist  weniger  eine  fortlaufende  Darstellung  der 
Bewegung  als  eine  großartige  Stoffsammlung,  die  aus  Archiven  und  Privatkorre- 
spondenzen viel  Neues  und  Interessantes  darbietet;  aber  auch  die  vorbereitenden 
und  zusammenfassenden  Erörterungen  über  die  Zeit  und  Zeitgenossen  fesseln 
durch  Gründlichkeit  und  geschmackvolle  Darstellung;  z.  B.  über  die  Bedeutung 
der  Zeitschriften,  der  Briefe  jener  Zeit,  über  die  Probleme,  die  in  diesen  meist  auf- 
geworfen werden  und  noch  heute  der  Lösung  harren.  Denn  jene  Jahre  (1830 — 40) 
erzeugten  einen  Überfluß  von  Fragen,  deren  in  literarischer  Hinsicht  Herr  zu 
werden  weder  damals  gelang  noch  heute  schon  völlig  gelungen  ist.  Der  Hauptgegen- 
stand des  wertvollen  Werkes  ist  die  Aufhellung  der  Anfänge  und  wechselseitigen 
Beziehungen  und  politischen  Verfolgungen  jener  Männer,  die  wir  —  wie  zuerst 
Laube  und  Gutzkow,  später  Wienbarg  —  als  'junges  Deutschland'  zusammenzu- 
fassen pflegen.  Aber  auch  die  kleineren  Trabanten,  die  um  diese  Sonnen  kreisen, 
werden  beleuchtet,  wie  es  zuvor  nicht  geschehen  ist  und  doch  einmal  geschehen 
mußte. 

Auch  in  die  Zeit  Metternichs,  des  Demagogen- Verfolgers,  führt  uns  eine  sehr 
ansprechende  Veröffentlichung:  „Joseph  Christian  Freiherr  von 
Zedlitz.  Ein  Dichterbild  aus  dem  vormärzlichen  Öster- 
reich. Von  Oskar  Hellmann"  (Verlag  Hellmann,  Glogau  u.  Leipzig  1910, 
176  S.,  4M.).  Das  Buch  entstammt  liebevoller  Versenkung  in  das  Leben  und  in 
die  Art  des  Dichters  der  „Nächtlichen  Heerschau",  der  „Totenkränze"  u.  a.,  ohne 
Verschleierung  der  Schwächen,  sei  es  seiner  dramatischen  oder  epischen  Versuche, 
sei  es  auch  seiner  politischen  Tätigkeit;  denn  aus  dem  vormärzlichen  Freiheits- 
schwärmer, der  an  der  Seite  eines  Auersperg  stand,  ward  nach  und  nach  ein  Günst- 
ling Metternichs,  ja  ein  Werkzeug  dieses  faszinierenden  Mannes,  bis  dann  das 

*)  Eine  handliche  Ausgabe  von  Gutzkows  Werken,  in  vier  Bänden,  mit  sehr  guter, 
wenn  auch  durch  den  knappen  Raum  eingeschränkter  Biographie  und  mit  Einleitungen 
und  Anmerkungen,  die  sehr  sorgsam  das  Stoffliche  herbeitragen,  lieferte  Dr.  Peter 
Müller  für  das  Bibliographische  Institut. 


Zur  deutschen  Literaturgeschichte.  315 

Jahr  1848  den  Zusammensturz  der  Metternichschen  Politik  herbeiführte  und  auch 
Zedlitz  wieder  in  die  Reihen  derer  zurückleitete,  die  des  Volke?  Rechte  vertraten. 
Die  Beziehungen  zu  den  berühmten  Zeitgenossen  wie  besonders  zu  Grillparzer,  Hart- 
mann, Laube,  zu  Kinkel,  Simrock,  Herwegh  u.  a.,  sodann  überhaupt  das  Öster- 
reich jener  Tage  wird  in  anschaulichen  Schilderungen  recht  lebendig,  so  daß  der 
Verfasser  in  Wahrheit  diesem  österreichischen  Dichter  einen  würdigen  Totenkranz 
gewunden  hat.  — 

Zu  den  beiden  großen  schweizer  Dioskuren  leitet  uns  eine  sehr  gründliche, 
literarisch  und  psychologisch  fesselnde  Schrift:  „Gottfried  Keller  und 
Conrad  Ferdinand  Meyer  in  ihrem  persönlichen  und 
literarischen  Verhältnis.  Von  Paul  Wüst"  (Leipzig  1911,  Haessel. 
197  S.  3,50  M.).  Bei  der  Charakteristik  des  einen  pflegt  in  Literaturgeschichten 
und  Abhandlungen  ein  vergleichender  Hinweis  auf  den  anderen  nicht  zu  fehlen, 
und  der  Schlagwörter  gibt  es  schon  genug,  mit  denen  man  sie  beide  entweder  ein- 
ander näherte  oder  voneinander  sonderte,  zugunsten  oder  Ungunsten  des  einen 
oder  des  anderen.  Wüst,  der  freilich  kein  Schweizer  ist  und  beide  nicht  persönlich 
gekannt  hat,*)  stellt  sich  auf  den  allein  richtigen  Standpunkt:  als  Prinzen  vom 
Genieland  sind  sie  einander  ebenbürtig,  mögen  sie  im  ganzen  wie  im  einzelnen 
noch  so  verschieden  sein.  Mit  großer  Sorgfalt  und  Ausnutzung  aller  Quellen,  be- 
sonders der  Briefe,  geht  der  Verfasser  rein  historisch,  chronologisch  dem  nach, 
wie  sie  einander  begegneten,  sich  anzogen  und  abstießen  und  sich  wieder  näherten, 
und  forscht  den  Gründen  nach,  weshalb  ein  näheres  Verhältnis  sich  doch  nicht  bildete, 
trotz  guten  Willens,  wie  sie  eben  doch  gar  zu  entgegengesetzt  in  ihrer  Art  waren, 
wie  zugleich  der  Dämon  Zufall  mitspielte,  ein  plötzliches  Wort  verstimmte,  der 
Argwohn  sich  einnistete,  Mißtrauen  entstand  und  somit  nie  wirkliche  Freundschaft; 
denn  deren  Wurzeln  sind  rückhaltloses  Vertrauen,  neidlose  Mittreude  und  auf- 
richtiges Mitleiden.  Das  Feierliche  an  Meyer  war  Keller  zuwider,  ja  jener  war  ihm 
unbequem,  wie  er  neben  ihm  aufwuchs,  immer  neben  ihm  genannt  wurde  (wie 
anfangs  Reuter,  dann  Storm  einem  Klaus  Groth  unbequem  war).  Meyer  war  durch- 
aus ehrerbietig,  sich  unterordnend,  dabei  freilich  behauptete  er  auch  sich  selbst 
in  Kritik  und  Bedenken  aller  Art  gegenüber  Kellers  Schaffen.  Das  Schlimmste 
aber  war,  daß  sie  einander  nicht  voll  sagten,  was  der  eine  über  den  anderen  dachte, 
daß  Zwischenträger  dies  besorgten,  oft  recht  plump,  wie  Bächtold.  So  witterte 
der  eine  bei  dem  andern  Hinterhältigkeit.  Jedenfalls  sprachen  sie  in  Briefen 
voneinander  nicht  in  gleichem  Tone,  wie  sie  sich  zu  Freunden  äußerten.  Gegen- 
seitige Achtung,  ja  Bewunderung  hegte  der  eine  Künstler  vor  dem  anderen  als 
Künstler,  aber  der  eine  sonderte  sich  doch  möglichst  scharf  von  dem  anderen.  — 

Unter  den  lebenden  Dichtern  steht  als  Dramatiker  immer  noch  Gerhart 
Hauptmann  in  erster  Linie  und  wird  zum  Gegenstande  mannigfacher  Erörterungen 
gemacht.  Temperamentvoll  und  fesselnd,  wenn  auch  von  einseitig  naturwissen- 
schaftlichem Standpunkt  —  unter  den  das  Psycho-,  Physio-  und  Pathologische 

*)  Sehr  interessant  äußert  sich  über  Keller  und  Meyer  in  warmer  Anerkennung  des 
von  Wüst  Geleisteten  Lina  Frey,  Deutsche  Rundschau,  Oktober  1911.  Es  heißt  da: 
Meyer  suggerierte  sich  zeitweilig  eine  Art  Liebe  zu  Keller,  für  die  dieser  nicht  zu  haben  war, 
und  die  dann  bei  Meyer  zuletzt  in  lächelnde  Resignation  zurücktrat. 


316  A.  Biese, 

untergeordnet  wird  —  beleuchtet  die  ersten  zehn  Dramen  der  durch  seine  große 
Psychologie  des  Verbrechens  bekannt  gewordene  Staatsanwalt  Erich  W  u  l  f  - 
fen:  „Gerhart  Hauptmanns  Dramen.  K  ri  m  i  n  a  1  p  s  yc  h  o  1  o - 
gische  und  pathologische  Studien"  (2.  Aufl.  Berlin-Lichterfelde, 
Dr.  P.  Langenscheidt.  1911.  20SS.  4M.).  Der  Verfasser  will  nachweisen,  wie  meister- 
lich Hauptmann  bewußt  oder  unbewußt  es  verstanden  hat,  als  Träger  der  evolutio- 
nistischen  Weltanschauung  ganz  neue  Probleme  in  ganz  neuer  Form  zu  lösen, 
wie  „über  der  ganzen  Handlung  das  Naturgesetz  schwebt,  das  im  Weltall  und  auf 
der  Erde  alles  Leben  weckt  und  fördert:  Vererbung  und  Anpassung  bilden  und 
stempeln  die  Individualität;  außer  diesen  beiden  ist  nichts  wirksam  im  Himmel 
und  auf  Erden".  So  heißt  es  vom  „Friedensfest" ;  auch  in  den  „Einsamen  Menschen" 
wird  die  Tragödie  des  Schaffenden  „eines  der  höchsten  naturwissenschaftlichen  Pro- 
bleme" genannt,  ebenso  auch  das  Wesen  des  Genius;  und  wenn  es  auch  einmal 
heißt:  „Die  physikalische  Anziehung  ist  psychisch  vertieft",  so  ist  es  einleuchtend, 
daß  wir  hier  nichts  weiter  haben  als  die  Verteidigung  des  materialistischen  Natura- 
lismus durch  materialistischen  Monismus.  — 

Die  Lyrik  des  neunzehnten  Jahrhunderts  und  ihre  Hauptvertreter  finden 
immer  wachsende  Beachtung  in  der  pädagogischen  Literatur,  in  zahllosen  Erläu- 
terungsschriften, die  freilich  oft  in  Breite  ersetzen,  was  ihnen  an  Tiefe  fehlt;  man 
möchte  manchem  empfehlen,  daß  er  sich  in  das  herrliche  Werk  von  Viktor  Hehn 
'Über  Goethes  Gedichte'  versenke,  das  jüngst  aus  dessen  Nachlaß  Ed.  v.  d.  Hellen 
bei  Cotta  herausgegeben  hat;  da  vereinen  sich  Geistesverwandtschaft,  die  Grundlage 
jener  echten  künstlerischenEinf  ühlung,  die  zum  Nacherleben  wird,  mit  Knappheit  und 
Abrundung  des  sprachlichen  Ausdrucks  in  mustergültiger  Weise;  die  Einleitung  (aus 
den  Jahren  1848 — 51),  die  von  den  Romantikern  wenig  wissen  will,  Mörike  mit 
einer  Zeile  als  den  'stillen,  sinnvollen  Schwaben'  kennzeichnet,  von  der  Droste, 
Hebbel,  Keller  u.  a.  noch  nichts  weiß,  ist  gerade  durch  diese  Schroffheit,  die  alles 
nur  mit  Goethischem  Maß  mißt,  interessant;  wir  unterschreiben  nicht  mehr  den 
Satz:  „Die  ganze  schöne  Literatur  des  19.  Jahrhunderts  ist  nichts  als  Abglanz, 
Nachklang,  geschwächter  Widerhall,  auch  wohl  Ausartung  jener  Blütezeit,  es  ist  ein 
Nachleben  der  geistigen  Bewegung,  in  deren  Mitte  Goethe  steht."  —  Hehn  hat, 
wie  kaum  ein  zweiter,  in  die  Tiefen  Goethischen  Wesens  hineingesehen  und  hin- 
eingeleuchtet. Aber  den  Späteren  sind  wir  seitdem  gerechter  geworden,  auf  — 
Goethes  Spuren  selbst  weiter  schreitend.  — 

Man  wird  nicht  leugnen  können,  daß  für  die  schulmäßige  Behandlung  der 
Lyriker  des  19.  Jahrhunderts  Gude  große  Verdienste  hat.  Sein  Werk  setzt 
würdig  E  r  n  s  t  Linde  fort:  „Gudes  Erläuterungen  deutscher 
Dichtungen:  Sechster  Band:  Die  neuere  deutsche  Lyrik. 
Erste  Hälfte"  (Leipzig  1910,  Brandstetter.  404  S. ,  geh.  3,50  M.).  Da 
Gude  selbst  ohne  einheitlichen  Plan  Gedichte  der  verschiedensten  Dichter  in 
einem  Bande  vereinigte,  nur  weil  sie  ihm  besonders  wertvoll  für  die  Schule  er- 
schienen, so  war  der  neue  Herausgeber  und  Fortsetzer  zunächst  gebunden  und 
bietet  daher  in  diesem  Bande  Dichter  des  19.  Jahrhunderts,  die  in  dem  vierten 
Bande  des  Gudeschen  Sammelwerkes  fehlen.  So  erhält  man  ein  etwas  bunt- 
scheckiges   Bild:   Hölderlin,    Eichendorff,  Mörike,   Annette  v.  Droste,    Hebbel, 


Zur  deutschen  Literaturgeschichte.  317 

Storni,  Groth,  Keller,  Fontane,  Strachwitz,  Meyer,  Scheffel,  Heyse,  Liliencron. 
Auch  die  Auswahl  der  Gedichte  ist  durch  die  Schulanthologie  des  Verfassers  bzw. 
seine  „Moderne  Lyrik"  bedingt  und  erscheint  daher  für  den  Kenner  auch  recht 
willkürlich.  Aber  was  die  Hauptsache  an  dem  Buche  ist:  es  ist  von  frischem, 
freudigem,  freimütigem  Nachempfinden  der  künstlerischen  Eigenart  unserer  großen 
Lyriker  erfüllt.  Es  deckt  mit  feinem  Spürsinn  das  Ineinanderweben  von  innerer 
und  äußerer  Form,  von  Geist  und  Welt,  Natur  und  Menschenseele  auf.  —Wohl  sagt 
er  es  selbst,  daß  „bei  jedem  echten  Lyriker  es  unmöglich  ist,  das  Wesentliche  eines 
Gedichts  in  Prosa  wiederzugeben",  hält  er  sich  trotzdem  von  weitschweifiger  Prosa- 
Auflösung  (wie  sogar  bei  dem  lichten  und  schlichten  „Turmhahn")  nicht  frei. 
Anderseits  bietet  dieDroste  doch  mehr  Schwierigkeiten,  als  der  Verfasser  aufweist. 
Er  irrt,  wenn  er  bei  Storm  keine  „Seelenkämpfe"  voraussetzt  und  von  „wolken- 
losem Glück",  „duftigster"  Poesie  spricht;  ohne  innere  Kämpfe,  ohne  Leiden  und 
Leidenschaft  ist  kein  Lyriker  zu  denken;  Storm  hat  schwer  gelitten  in  der  Trennung 
von  der  geliebten  Heimat,  in  dem  Schmerz  um  den  Tod  der  Gattin.  Tiefere  Töne 
vaterländischen  Gefühls,  aus  Weh  und  Wut  geboren,  und  männlicher  Trauer  hat 
kaum  jemand  gefunden  als  Storm.  Im  Hinblick  auf  „Tiefe  Schatten",  „Frühlings- 
nacht", „Geh  nicht  hinein",  „Ein  Sterbender"  usw.  klingt  es  wie  Phrase,  wenn 
gesagt  wird:  „Ein  innerer  Friede  durchleuchtet  seine  Persönlichkeit"  (S.  134), 
während  später  (S.  364)  von  Storms  Dichtungen  gesagt  wird,  in  ihnen  hülle  die 
Schwermut  uns  gleichsam  wie  in  graue  Schleier.  Holstein  wird  „düster  und  nebel- 
verhüllt" gescholten,  als  ob  der  Norden  nicht  in  jeder  Jahreszeit  seine  besondere, 
ja  auch  leuchtende  Poesie  hätte !  Storms  Vater  wird  ein  „g  e  w  a  n  d  t  e  r  Advokat" 
genannt.  Worauf  sich  das  wohl  stützt?  Da  kennt  der  Verfasser  die  friesische  Art 
doch  gar  zu  wenig.  Auch  ist  Storm  nicht  in  Husum  gestorben  (1888),  sondern  in 
Hedemarschen,  wohin  er  1880  gezogen  war. 

So  ließe  sich  noch  vielerlei  bei  diesem  und  jenem  Dichter  verbessern  und  nach- 
tragen in  diesem  Buche,  das  sich  nicht  überall  auf  die  besten  Quellen  stützt  (z.  B. 
,Maync,Mörikes  Leben*  nicht  kennt),  aber  das  Gute,  ja  Treffliche  überwiegt  und  läßt 
schöne  Wirkungen  für  Lehrer  und  somit  für  die  Jugend  erhoffen,  da  es  aus  echt 
dichterischem  Nachempfinden  geboren  ist.  Stilistisch  sind  zu  tadeln:  die  Super- 
lative in  den  Einleitungen,  die  zahllosen,  geradezu  schauderhaften  Fremdwörter,  die 
phrasenhaften  Übertreibungen  und  solche  Wendungen  wie:  „daß  wir  nicht  haarklein 
erzählt  bekommen"  (153);  „im  allgemeinen  ernst,  herrscht  doch  in  vielen  Ge- 
dichten ein  feiner  Humor"  (170);  „nie  mit  sich  zufrieden,  verschlimmerte  sich 
der  Gemütszustand  des  27  jährigen"  (273);  „Vollblutlyriker  (?)  Keller"  (276); 
Heyse  „entpuppt  sich  als  Tiermaler"  (349);  „Gegen  dieses  geliehene  Empfinden 
der  unbeseelten  Natur  steht  das  wirkliche  der  Personen  nicht  nach"  (377)  usw. 
Inzwischen  ist  auch  der  siebente  Band  „Die  neuere  deutsche  Lyrik.  Zweite 
Hälfte,"  (Leipzig,  Brandstetter  1912)  erschienen;  er  ist  von  gleichem  Geiste  be- 
seelt und  behandelt  „neuere  Vaterlandsdichter;  Schwaben;  Österreicher;  Dichter 
von  der  Wasserkante;  neuere  Balladendichter;  neuere  Dichterinnen;  Lyriker  eigener 
Art"  (d.  h.  Falke,  Dehmel,  Spitteler,  Avenarius). 

Neuwied  a.  Rh.  A  1  f  r  e  d   B  i  e  s  e. 


318  A.  Dreger,  Die  Berufswahl  im  Staatsdienst,  angez.  von  M.  Natli. 

b)  Einzelbesprechungen: 

Dreger,  A.,  Die  Berufswahl  im  Staatsdienst.  Eine  Zusammen- 
stellung der  wichtigsten  Vorschriften  über  Annahme,  Ausbildung,  Prüfung, 
Anstellung  und  Beförderung  in  sämtlichen  Zweigen  des  Reichs-  und  Staats- 
dienstes; auf  amtlichen  Quellen  beruhend.  10.  Auflage,  neu  bearbeitet  und 
vermehrt  von  S.  Waidenburg.  Dresden  und  Leipzig  1910.  CA.  Kochs 
Verlagsbuchhandlung  (H.  Ehlers).    VIII  u.  358  S.    3,60  M. 

In  Jahrgang  VII,  S.  667  dieser  Monatschrift  ist  die  9.  Auflage  dieses  Werkes 

angezeigt  worden.     Indem  auf  die  dort  gegebene  Charakteristik  verwiesen  wird, 

sei  bemerkt,  daß  die  neue  auf  den  gegenwärtigen  Stand  gebracht  ist,  besonders 

auch  die  neuen  Gehaltssätze  angibt. 

Pankow.  M  a  x  N  a  t  h. 

Jerusalem,  Wilhelm,  Die  Aufgaben  des  Lehrers  an  höheren 
Schulen,  Erfahrungen  und  Wünsche.  Zweite,  neu  verfaßte  Auflage  der 
Schrift  „Die  Aufgaben  des  Mittelschullehrers".  Wien  und  Leipzig  1912.  Wil- 
helm Braumüller.    XII  u.  392  S.    S^     10  K  80  h  =  9M.;  geb.  12  K  =  lOM. 

Der  Verfasser,  Privatdozent  an  der  Universität  Wien  und  seit  30  Jahren 
Lehrer  an  einem  Gymnasium,  war  besonders  auf  philosophischem  Gebiet  mit  Er- 
folg schriftstellerisch  tätig.  Er  verkörpert  also  selbst  die  im  1.  Kapitel  seines  Buches 
vom  Mittelschullehrer  geforderte  Synthese  von  Wissenschaft  und  Pädagogik. 
Mit  einer  reichen  Schulerfahrung  verbindet  er  eine  genaue  Kenntnis  des  Seelen- 
lebens der  Jugend  und  ein  tiefes  Verständnis  für  die  sozialen  Forderungen  der 
Gegenwart. 

Durch  die  auch  in  methodischer  Hinsicht  vorbildlich  durchgeführte  historisch- 
kritische Analyse  des  Begriffes  „allgemeine  Bildung"  im  2.  Kapitel  schafft  er  sich 
für  die  Darlegung  der  Aufgaben  der  Mittelschule  eine  sichere  Grundlage.  Nur  die 
Teilung  der  Lehrfächer  in  schulende  und  anregende,  d.  h.  in  solche,  bei  denen  die 
ganze  Arbeit  in  der  Schule  selbst  geleistet  werden  sollte,  könnte  ich  aus  praktischen 
Gründen  nicht  gutheißen.  Er  vertritt  ja  selbst  die  Anschauung,  daß  zu  der  Er- 
weckung des  Interesses  das  Arbeitsprinzip  hinzukommen  müsse  (S.  183),  wenn  man 
einen  dauernden  Unterrichtserfolg  erreichen  will.  Die  auch  zu  den  anregenden 
Fächern  gerechnete,  aber  von  ihm  hochgeschätzte  Geographie  würde  von  den 
Schülern  bald  sehr  vernachlässigt  werden    (vgl.  auch  S.  335  oben  und  S.  170). 

Da  er  an  einem  Gymnasium  und  zugleich  an  der  Hochschule  als  Lehrer  tätig 
ist,  so  verdienen  seine  Äußerungen  über  die  Beziehungen  zwischen  Universität 
und  Schule,  die  er  im  3.  Kapitel  bei  der  Darlegung  der  wissenschaftlichen  Auf- 
gaben des  Mittelschullehrers  macht,  besondere  Beachtung.  Die  produktive  wissen- 
schaftliche Tätigkeit  der  Mittelschullehrer  bezeichnet  er  zwar  vor  allem  im  Interesse 
des  Standes  als  sehr  wünschenswert,  hält  aber  mit  Recht  die  rezeptive  wissenschaft- 
liche Betätigung  für  vordringlicher  „als  Abhandlungen  zu  schreiben". 

Die  Besprechung  der  sonst  so  vielfach  behandelten  didaktischen  Aufgaben 
(4.  Kap.)  weiß  er  deshalb  sehr  anregend  zu  gestalten,  weil  er  die  dem  Lehrbetrieb 
zugrunde  gelegten  Prinzipien  klarer,  als  es  bis  jetzt  geschah,  herausarbeitet.    Die 


Wickenhagen,   Geschichte  der  Kunst,  angez.  von  A.  Schoop.  319 

Behandlung  der  beiden  wichtigsten  Unterriclitsprinzipien,  der  Erweckung  des  Inter- 
esses und  der  Gewöhnung  an  Arbeit,  und  besonders  die  psychologische  Analyse 
des  Wesens  und  der  Wirkungen  der  Autorität  gehören  zu  den  wertvollsten  Teilen 
des  Buches.  Die  soziologische  Betrachtungsweise  eröffnet  besonders  im  letzten 
Kapitel,  wo  er  die  ethischen  und  sozialen  Aufgaben  des  Lehrers  behandelt,  neue 
Gesichtspunkte.  Hiebei  zeigt  er  auch,  wie  man  in  der  Schule  die  trefflichen  Ideen 
Försters  praktisch  verwerten  kann. 

Abgesehen  von  den  Vorschlägen  für  die  pädagogische  Vorbildung  der  Kan- 
didaten bietet  uns  Lehrern  diese  bedeutende  literarische  Erscheinung  untrügliche 
Grundsätze.  Die  klare  Darstellung  gewinnt  dadurch  an  Reiz,  daß  er  allgemeine 
Grundsätze  und  wissenschaftliche  Ergebnisse  an  praktischen  Fällen  aus  dem 
Schulleben  veranschaulicht  und  uns  Selbstgefühltes  und  auch  Selbstgefehltes 
offenherzig  mitteilt.  Diese  Vorzüge  sichern  dem  Buche  einen  Ehrenplatz  in  unseren 
Bibliotheken,  besonders  in  den  Gymnasialseminaren. 

Bam.berg.  K  a  r  1  N  e  f  f. 

Wickenhagen,  Geschichte  der  Kunst,  mit  einem  Anhang  über  die 
Musikgeschichte.  13.,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage  von  Uhde-Ber- 
nays.  Mit  18  Kunstbeilagen  und  363  Abbildungen  im  Text.  Eßlingen  a.  N. 
1912.  Paul  Neff.  VII  u.  374  S.  geb.  5  M. 
Wickenhagens  Geschichte  der  Kunst  ist  erwachsen  aus  L  ü  b  k  e  s  Leitfaden 
der  Kunst,  welcher  1868  erschien.  Auf  Lübke  geht  in  dem  heutigen  Werke  noch 
zurück  die  Dreiteilung  in  Baukunst,  Plastik  und  Malerei,  welche  Künste  hinterein- 
ander behandelt  werden  von  den  Uranfängen  bis  zur  Gegenwart,  sowie  die  kurzen 
Darlegungen  über  die  Technik  und  das  Material  der  Kunstgattungen,  welche  die 
Hauptabschnitte  einleiten.  Es  schließt  sich  an  ein  Abriß  aus  ö^er  Geschichte  der 
Musik,  bearbeitet  von  Oskar  Schroeter,  und  in  dieser  Auflage  eine  kurze  Übersicht 
über  die  Kunst  des  östlichen  Asiens  und  das  Kunstgewerbe  der  Neuzeit.  Die 
schwierige  Aufgabe  —  der  Verfasser  nennt  sie  ein  Wagnis  —  auf  so  knappem  Räume 
aus  der  unendlichen  Fülle  des  Stoffes  das  Wesentliche  herauszugreifen,  kurz  und 
treffend  zu  kennzeichnen,  hat  das  Werk  gut  gelöst,  engherzig  wäre  es,  bei  ein- 
zelnen Erscheinungen  über  ein  Mehr  oder  Minder  rechten  zu  wollen.  Die  Aus- 
wahl der  zahlreichen  Abbildungen  ist  durchaus  zweckmäßig,  teilweise  aber  entbehren 
sie  der  nötigen  Schärfe.  Auf  diese  wird  bei  einer  Neuauflage  vor  allem  Bedacht  zu 
nehmen  sein,  selbst  wenn  der  erstaunlich  niedrige  Preis  des  wertvollen  Werkes 
sich  dadurch  ein  wenig  erhöhen  sollte,  den  Goldschnitt  des  Buchbinders  wird  man 
gerne  entbehren.  Abgesehen  von  Zusammensetzungen  wie  „Wiedergebenskraft" 
und  ähnlichem  ist  die  Sprache  leicht  und  fließend,  der  Verfasser  befleißigt  sich  in 
seinen  Urteilen  einer  wohltuenden  Sachlichkeit  und  übt  besonders  der  so  viel- 
deutigen neuesten  Kunst  gegenüber  strenge  Zurückhaltung  in  der  richtigen  Er- 
kenntnis, daß  wir  ein  objektives  Urteil  über  diese  zukünftigen  Geschlechtern  über- 
lassen müssen.  So  stellt  sich  das  Werk  dar  als  ein  vorzügliches  Handbuch  für 
Studierende  und  Unterrichtete,  welches  ich  besonders  kunstfrohen  Fachgenossen 
warm  empfehlen  möchte.  Ein  ausführliches  Register  erleichtert  die  Benutzung. 
Für  eine  Neuauflage  einige  kritische  Anmerkungen:  Zu  S.  20.   Das  Kolosseum 


320  A.  Harnack,  Aus  Wissenschaft  und  Leben, 

in  Rom  umfaßte  nach  den  neuesten  Messungen  nur  40 — 50  000,  nicht  80  000  Zu- 
schauer, wie  die  alte  Angabe  lautete.  Zu  S.  50.  Das  Stalaktitengewölbe  findet 
sich  unter  den  normannischen  Kirchen  Siziliens  nur  in  der  Schloßkapelle  von 
Palermo,  nicht  im  Dome  von  Monreale.  Dieser  hat  auch  in  der  Überhöhung  seines 
zentralen  Teiles  ein  Satteldach,  wie  das  Langhaus,  byzantinische  Kuppeln  haben 
die  erwähnte  Schloßkapelle  und  die  Martorana  in  Palermo.  Zu  S.  111.  Man  ist 
neuerdings  geneigt,  die  berühmte  Göttin  im  Louvre  für  eine  Viktoria  zu  erklären, 
welche  einen  Sieger  krönt.  In  dieser  Auffassung  bestärkte  mich  eine  bis  jetzt  noch 
nicht  veröffentlichte  Bronzestatuette,  welche  ich  vergangenen  Sommer  in  ge- 
nanntem Kunstpalast  entdeckte.  Sie  entspricht  dem  Typus  der  sogenannten 
Venus  von  Milo  und  überreicht  mit  der  linken  Hand  ausgestreckten  Armes  in  der 
Tat  einen  Kraiiz.  Es  sei  noch  bemerkt,  daß  das  berühmte  Marmorbild  in  der 
Exedra  eines  Gymnasiums  gefunden  wurde.  Zu  S.  204.  Die  Frage,  ob  das  berühmte 
,, Konzert"  der  Pittigalerie  in  Florenz  dem  Giorgione  oder  dem  jungen  Tizian  zuzu- 
schreiben sei,  dürfte  endgültig  nicht  zu  entscheiden  sein.  Es  empfiehlt  sich  also, 
dieses  Bild  durch  ein  unbestrittenes  zu  ersetzen,  besonders  da  die  Frauenfigur  an 
der  linken  Seite,  welche  die  Geschlossenheit  des  Kunstwerkes  stört,  nachträglich 
angefügt  ist. 

Düren.  August   Schoop. 

Harnack)  Adolf,   Aus   Wissenschaft   und    Leben.     2  Bände.     1.  Bd. 
VIII  u.  356  S.,  2.  Bd.  VI   u.  348  S.     Gießen  1911.    Alfred  Töpelmann  (vor- 
mals J.  Ricker),    geh.  10  M.,  geb.  12  M. 
Da  sich  mit  wenigen  Worten  nicht  sagen  läßt,  welche  Fülle  von  Gedanken 
Harnacks  Buch  uns  bringt,  auch  eine  Zusammenfassung  der  einzelnen  Aufsätze 
unter  Obertiteln  nicht  mit  voller  Deutlichkeit  dem  Leser  zeigen  kann,  was  alles 
aus  Wissenschaft  und  Leben  uns  in  diesen  beiden  Bänden  begegnet,  so  gebe  ich 
zunächst  im  wesentlichen  eine  Überschau  der  Fragen,  die  Harnack  beantwortet, 
wieder: 

Gedanken  über  Wissenschaft  und  Leben.  —  Vom  Großbetrieb  der  Wissen- 
schaft. —  Leibniz  und  Wilhelm  von  Humboldt  als  Begründer  der  Königl.  Preus- 
sischen  Akademie  der  Wissenschaften.  —  Zur  Kaiserl.  Botschaft  vom  11.  Ok- 
tober 1910:  Begründung  von  Forschungsinstituten.  —  Die  Notwendigkeit  der 
Erhaltung  des  alten  Gymnasiums  in  der  modernen  Zeit.  —  Die  Beziehungen 
zwischen  Universität  und  Schule  in  bezug  auf  den  Unterricht  in  Geschichte  und 
Religion.  —  Die  Neuordnung  des  höheren  Mädchenschulwesens  in  Preußen.  — 
Die  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin.  —  Über  die  Vorzeichen  der  in  der  Geschichte 
wirksamen  Kräfte.  —  Carnegies  Schrift  über  die  Pflicht  der  Reichen.  —  Die  Nach- 
laßsteuer vom  sozialethischen  Gesichtspunkt.  —  Eröffnungsrede  beim  21.  Evan- 
gelisch-Sozialen Kongreß.  —  Bismarck.  (Zum  zehnjährigen  Todestage.)  —  Deutsch- 
land und  England.  —  Der  Friede  die  Frucht  des  Geistes.  —  Die  Entstehung  des 
Papsttums.  —  Protestantismus  und  Katholizismus  in  Deutschland.  —  Die  päpst- 
liche Enzyklika  von  1907.  —  Religiöser  Glaube  und  freie  Forschung.  —  Die  Borro- 
mäus-Enzyklika.  —  Pater  Denifle,  Pater  Weiß  und  Luther.  —  Die  Lutherbio- 
graphie Grisars.  —  Das  Konklave.  —  Was  verdankt  unsere  Kultur  den  Kirchen- 


angez.  von  A.  Matthias.  321 

Vätern?  —  Internationale  und  nationale  christliche  Literatur.  —  Über  das  Ver- 
hältnis der  Kirchengeschichte  zur  Universalgeschichte.  —  Der  Brief  Sr.  Majestät 
des  Kaisers  an  den  Admiral  von  Hollmann.  —  Naumanns  Briefe  über  Religion.  — 
Christus  als  Erlöser.  —  Das  neue  kirchliche  Spruchkollegium.  —  Beunruhigungen 
des  christlichen  Glaubens  und  der  Frömmigkeit.  —  Soll  in  Deutschland  ein  Welt- 
kongreß für  freies  Christentum  gehalten  werden?  Offener  Brief  an  D.  Rade.  — 
Die  Theologische  Fakultät  der  Universität  Berlin.  —  Hat  Jesus  gelebt?  —  Der 
proletarische  Charakter  des  Urchristentums.  —  Vorfragen,  die  Glaubwürdigkeit 
der  evangelischen  Geschichte  betreffend.  —  Das  doppelte  Evangelium  im  Neuen 
Testament.  —  Hat  Jesus  das  alttestamentliche  Gesetz  abgeschafft?  —  Das  Ur- 
christentum und  die  sozialen  Fragen.  —  Alte  Bekannte.  —  Die  Weihnachtsbe- 
trachtung des  vierten  Evangelisten.  —  Gloria  in  excelsis  deo !  —  Weihnachten.  — 
Dies  ist  der  Tag,  den  Gott  gemacht.  —  Eine  kurze  Betrachtung.  —  Pfingsten.  — 
Die  Kaiserin  Friedrich.  —  Theodor  Mommsen.  —  Friedrich  Althoff.  —  Oskar  von 
Gebhardt.  —  Emil  Schürer.  —  Friedrich  Paulsen. 

Man  sieht,  die  Sammlung  enthält  eine  erstaunliche  Mannigfaltigkeit  und 
Vielseitigkeit  von  Fragen.  Es  gibt  kaum  etwas,  was  das  geistige  Leben  unseres 
Volkes  und  der  gebildeten  Welt  in  den  letzten  Jahrzehnten  bewegt  hat,  was  hier 
nicht  zur  Behandlung  käme.  Jedem  anderen  oder  doch  den  meisten  anderen,  die 
uns  so  vielerlei  böten,  würden  wir  mit  dem  Verdacht  der  Oberflächlichkeit  begegnen. 
Harnacks  Universalität  schließt  jeden  Zweifel  ihrer  Gediegenheit  aus;  sein  Kenntnis- 
reichtum ist  tiefgründig  und,  wo  er  aus  ihm  schöpft,  da  ist  sein  Urteil  begründet 
und  geistvoll,  und  er  versteht  es  meisterhaft,  die  Wissenschaft,  die  er  für  sich  zur 
Lehrmeisterin  seines  Lebens  gemacht  hat,  auch  für  andere  in  derselben  Weise 
fruchtbar  zu  machen;  die  Wissenschaft  kann  er  deshalb  zum  Besitz  der  Gebildeten 
machen,  weil  er  sie  nicht  entgeistert  hat  durch  Eintrocknen  zuV  Schulweisheit. 
Und  nicht  nur  geistvoll  ist  alles,  was  Harnack  uns  bringt;  wo  er  Persönlichkeits- 
bilder zeichnet,  wie  das  Bild  Mommsens  oder  Althoffs,  da  blicken  wir  dem  Menschen 
Harnack  ins  Herz  und  ins  Gemüt.  Dabei  ist  Harnack  ein  durchaus  moderner 
Mensch  im  besten  Sinne  des  Wortes,  er  ist  nicht  zu  stolz,  auch  in  der  Tagespresse 
zu  dem  großen  Kreis  von  Lesefn  zu  sprechen,  die  auch  in  der  täglichen  geistigen 
Nahrung  gediegene  Stoffe  wünschen. 

Daß  er  das  immer  so  sicher  tut,  kommt  daher,  daß  seine  vielseitige  Bildung 
von  einem  Punkte  ausgegangen  ist  und  von  diesem  nach  verschiedenen  Seiten  hin 
ausstrahlt.  Er  sagt  selber  von  sich :  „Was  ich  gelernt  habe,  habe  ich  an  der  Kirchen- 
geschichte gelernt,  und  wenn  es  mir  vergönnt  gewesen  ist,  über  ihre  Grenzen  hinaus- 
zuschreiten, so  hat  sie  mir  die  Wege  gewiesen;  denn  nichts  Menschliches  ist  ihr 
fremd."  Auf  diesem  Wege  hat  er  offenbar  seinen  Stil  gebildet,  der  einfach,  schlicht, 
klar,  energisch  und  wahr  ist,  und  der  frei  ist  von  der  Phrase,  die  sich  so  leicht  ver- 
bindet mit  allem,  was  Religion  heißt.  Auf  dem  Wege  kirchengeschichtlicher  For- 
schung (ich  denke  hier  auch  an  Karl  Hases  Schriften)  lernt  man,  daß  es  für  diese 
Wissenschaft  nicht  auf  das  Heilige,  sondern  auf  das  Wahre  ankommt,  daß  man  sich 
hüten  muß,  die  Klarheit  des  Denkens  und  der  Rede  unter  Weihrauchwolken  leiden 
zu  lassen  und  daß  diese  Wissenschaft  zu  leicht  leiden  kann  unter  den  theologischen 
Hindernissen,  von  denen  sie  und  die  Kultur  allezeit  nicht  wenig  in  Gefahr  gewesen, 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  21 


322  Th.  Gomperz,  Griechische  Denker,  angez.  von  R.  Jonas. 

geschädigt  oder  gar  vernichtet  zu  werden.  Harnacks  Reden  und  Aufsätze  aus  Wissen- 
schaft und  Leben  sind  daher  wertvolles  Gut  für  jeden  Gebildeten,  besonders  auch 
für  die  höheren  Schulen  und  ihre  Bibliotheken. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Gomperz,  Th.,  Griechische  Denker.  Eine  Geschichte  der  antiken 
Philosophie.  Erster  Band.  Dritte  durchgesehene  Auflage.  Leipzig  1911. 
Veit  <S  Co.  XII  u.  472  S.  S^.  10  M. 
Es  ist  eine  ganz  eigenartige  Aufgabe,  welche  sich  der  bekannte  Philosoph 
in  diesem  Werke  gestellt  hat:  es  handelt  sich  nicht  um  eine  Darstellung,  welche 
wir  mit  der  landläufigen  Benennung  Geschichte  der  Philosophie 
bezeichnen.  Er  wollte  ein  ganz  neues  Gesamt-Gemälde  des  Wissensgebietes  ent- 
werfen, welches  weiten  Kreisen  der  Gebildeten  zugänglich  sein  soll.  Dabei  wollte 
er  den  verschiedenen  antiken  Denkrichtungen,  die  alle  ihr  Teil  zu  dem  Gesamt- 
bau der  modernen  Geistesbildung  beigesteuert  haben,  gerecht  werden.  Die  Reli- 
gion, die  Literatur  und  die  Einzelwissenschaften  wollte  er  insoweit  in  den  Kreis 
der  Betrachtung  ziehen,  als  sie  für  die  philosophischen  Disziplinen  von  Bedeutung 
waren.  Als  Ideal  schwebte  ihm  bei  seiner  Arbeit  eine  Gesamtgeschichte  des  an- 
tiken Geisteslebens  vor.  —  Diese  Grundgedanken  des  Verf.  entnehmen  wir  aus 
seinem  Vorwort  zur  ersten  Auflage  seines  Werkes.  Ihre  Angabe  erschien  uns  uner- 
läßlich, weil  man  so  das  Verständnis  für  die  hochbedeutende  Geistesarbeit  ge- 
winnt, welche  Gomperz  unternahm  und  die,  wie  das  verhältnismäßig  schnelle 
Erscheinen  einer  dritten  Auflage  beweist,  in  den  Kreisen  der  Gebildeten  viele 
Freunde  gewonnen  haben  muß. 

Das  Werk  ist  im  ganzen  auf  drei  Bände  berechnet,  von  denen  wir  hier  den 
ersten  vor  uns  haben.  Dieser  umfaßt  drei  Bücher,  nämlich:  1.  Die  Anfänge.  2.  Von 
der  Metaphysik  zur  positiven  Wissenschaft.    3.  Das  Zeitalter  der  Aufklärung. 

Wenn  man  die  Entwicklung  des  griechischen  Geisteslebens  betrachten  will, 
so  muß  man  sich  zunächst  die  Lage  des  Landes  und  die  Verhältnisse  seiner  Kultur 
und  ihre  Vorbedingungen  vergegenwärtigen,  dazu  die  natürlichen  Anlagen  des 
Volkes.  Der  Gedankenaustausch  mit  anderen  Völkern,  der  durch  die  Kenntnis 
der  Schrift  sehr  gefördert  wurde,  bereicherte  naturgemäß  den  griechischen  Geist. 
Von  ganz  besonderer  Bedeutung  war  die  Ausbildung  der  griechischen  Religion, 
welche  vor  allem  eine  Verlebendigung  der  Natur  zeigt.  Von  großer  Bedeutung 
war  ferner  die  Annahme  von  für  sich  bestehenden  Geist-  und  Seelenwesen.  Die 
religiöse  Auffassung  der  Griechen  in  der  ältesten  Zeit  können  wir  nicht  besser 
kennzeichnen  als  mit  den  Worten  des  Verf.  (S.  25):  „Der  homerische  Mensch 
glaubt  sich  immer  und  überall  von  Göttern  umgeben  und  von  ihnen  abhängig." 
Verf.  verfolgt  dann  weiter  in  seinen  einleitenden  Stadien  die  Theogonie  und  Kosmo- 
gonie  der  alten  Griechen. 

Nachdem  so  die  Grundzüge  dargelegt  sind,  welche  für  die  richtige  Erkenntnis 
der  Entwicklung  notwendig  sind,  geht  Verf.  zu  der  Darstellung  der  griechischen 
Geistesentwicklung  über  und  behandelt  in  den  5  Kapiteln  des  ersten  Buches  die 
altionischen  Naturphilosophen,  die  orphischen  Weltbildungslehren,  Pythagoras 
und  seine  Jünger,  die  Fortbildung  der  pythagoreischen  Lehren  und  den  orphisch- 
pythagoreischen  Seelenglauben.     Mit  Benutzung  der  für  jene  ältesten  Epochen 


W.  Kinkel,  Idealismus  und  Realismus,  angez.  von  R.  Jonas.  323 

griechischer  Geisteskultur  nicht  gerade  reichlich  sprudelnden  Quellen  entwirft 
Verf.  in  leicht  verständlicher  Darstellung  ein  sehr  interessantes  Bild  der  hier  in 
Rede  stehenden  philosophischen  Anschauungen  und  ihrer  Träger.  —  Das  zweite 
Buch  führt  den  Leser  von  der  Metaphysik  zur  positiven  Wissenschaft.  Seine 
6  Kapitel  behandeln  Xenophanes,  Parmenides,  die  Jünger  des  Parmenides,  Anaxa- 
goras,  Empedokles  und  die  Geschichtsschreiber.  Der  Gedankenbau  eines  jeden 
der  bezeichneten  Philosophen  wird  erläutert,  und  zwar  im  Zusammenhang  mit 
der  ganzen  Kulturentwicklung  seiner  Zeit.  Bald  zeigt  sich  der  Übergang  von  der 
mystischen  zu  der  mehr  auf  positivem  Boden  erwachsenden  Anschauung:  die 
Anfänge  der  Geschichtsschreibung,  namentlich  Herodot,  bezeichnet  das  bereits. 

Das  dritte  Buch  endlich  behandelt  in  8  Kapiteln  die  Ärzte,  die  atomistischen 
Physiker,  die  Ausläufer  der  Naturphilosophie,  die  Anfänge  der  Geisteswissenschaft, 
die  Sophisten,  Protagoras  von  Abdera,  Gorgias  von  Leontini,  den  Aufschwung 
der  Geschichtswissenschaft. 

Ein  großes,  sich  über  einige  Jahrhunderte  erstreckendes  Gebiet  liegt  in 
dem  inhaltreichen  Bande  vor  uns.  Wir  durchwandern  den  ersten  Teil  der 
Geschichte  der  griechischen  Geistesbildung  an  der  Hand  eines  sehr  sach- 
kundigen und  feinsinnigen  Führers,  welcher  bis  in  die  Tiefen  jener  Ent- 
wicklung gedrungen  ist  und  sie  in  einer  umfassenden,  alles  Wichtige  in  der  er- 
forderlichen Weise  betonenden  Art  uns  vor  Augen  führt.  Alle  diejenigen  Ele- 
mente, welche  für  die  Gestaltung  unseres  heutigen  Geisteslebens  von  Bedeutung 
gewesen  sind,  entnehmen  wir  daraus.  Im  zweiten  Bande  führt  Verf.  seine  Be- 
trachtungen fort  in  den  Abschnitten:  Sokrates  und  die  Sokratiker,  Piaton  und 
die  Akademie,  Aristoteles  und  seine  Nachfolger;  der  dritte  behandelt  die  ältere 
Stoa,  den  Garten  Epikurs,  Mystik,  Skepsis  und  Synkretismus.  —  Wir  führen 
dies  hier  an,  damit  der  Leser  auch  einen  Überblick  über  das  Ganze  gewinnt.  — 
Doch  kehren  wir  zum  ersten  Bande  wieder  zurück.  Den  Schluß  bilden  in  ihm 
„Anmerkungen  und  Zusätze".  Sie  enthalten  Erklärungen  und  Erläuterungen 
der  mannigfachsten  Art  und  Literaturangaben,  wo  sie  dem  Verf.  erforderlich 
schienen.  Es  ist  sehr  praktisch,  daß  alles  dies  in  einen  Anhang  verwiesen  ist  und 
nicht  im  Text  selbst  gegeben  wird.  Es  würde  da  nicht  selten  störend  wirken  und 
den  Zusammenhang  der  Darstellung  nicht  so  deutlich  hervortreten  lassen. 

Wir  haben  hier  ein  Buch  vor  uns,  welches  ganz  vorzüglich  geeignet  ist,  in 
die  Geschichte  der  Entwicklung  der  griechischen  Geisteskultur  einzuführen. 
Gerade  der  Gebildete  wird  ein  großes  Bedürfnis  haben,  sich  in  dieselbe  zu  ver- 
tiefen, weil  die  unsrige  auf  jener  beruht.  Ihm  sei  das  Werk  aufs  angelegentlichste 
empfohlen:  er  wird  darin  finden,  was  er  sucht.  Auch  für  die  höhere  Lehrerwelt 
ist  das  ausgezeichnete  Werk  ein  gutes  Hilfsmittel.  Es  sollte  in  den  Bibliotheken 
der  höheren  Lehranstalten  nicht  fehlen. 

Kinkel,  W.,    Idealismus    und    Realismus.     Eine  Einführung  in  ihr 

Wesen  und  in  ihre  kulturgeschichtliche  Entwicklung.     (Wege  zur  Philosophie, 

Schriften  zur  Einführung  in  das  philosophische  Denken,  No.  3.)   Göttingen  \9\\. 

Vandenhoeck  &  Ruprecht.     112  S.    8».     1,50  M. 

Die  Reihe  von  Heften,  denen  auch  das  vorliegende  angehört,  will  es  sich  zur 

21* 


324  W.  Kinkel,   Idealismus  und  Realismus,  angez.  von  R.  Jonas. 

Aufgabe  machen,  philosophische  Begriffe  und  Anschauungen  weiteren  Kreisen 
darzulegen.  Sie  kommt  damit  einem  neuerdings  vielfach  zutage  tretenden  Be- 
dürfnis entgegen,  denn  der  Sinn  für  philosophische  Dinge  ist,  wie  man  das  viel- 
fach beobachten  kann,  im  Wachsen  begriffen. 

Hier  handelt  es  sich  nun  um  zwei  philosophische  Begriffe,  welche  viele  Leute 
im  Munde  führen,  aber  sicher  nicht  alle  mit  ganz  klarem  Verständnis.  Ihnen  soll 
ihre  Bedeutung  erschlossen  werden,  und  zwar  geschieht  dies  in  einer  für  die  ge- 
bildeten Leser  sehr  leicht  verständlichen  und  faßlichen  Weise.  Verf.  behandelt 
seinen  Gegenstand  in  3  Kapiteln:  I.  über  die  Bedeutung  der  Begriffe  ,, Idealis- 
mus" und  „Realismus"  in  theoretischer  Hinsicht.  II.  Das  Werden  des  philo- 
sophischen Idealismus  und  Realismus  in  der  Kultur  und  die  praktische  Bedeutung 
der  Begriffe  Idealismus  und  Realismus.  III.  Die  Bedeutung  des  philosophischen 
Idealismus  und  Realismus  für  das  System  der  Philosophie  (A.  Logik.  B.  Ethik. 
C.  Ästhetik.     D.  Psychologie). 

Der  erste  Abschnitt  geht  zunächst  von  den  Anfängen  des  philosophischen 
Denkens  aus,  welches  nach  Plato  und  Aristoteles  seine  Quelle  in  dem  Erstaunen 
und  der  Verwunderung  hat.  In  16  einzelnen  Abschnitten  machen  wir  mit  dem 
Verf.  eine  höchst  interessante  Wanderung  durch  die  philosophischen  Anschauungen, 
welche  für  die  Bildung  der  hier  in  Frage  stehenden  Begriffe  von  Bedeutung  sind. 
Das  sind  für  jeden,  der  für  philosophisches  Denken  auch  nur  einigermaßen  Sinn 
hat,  sehr  interessante  Fragen.  Handelt  es  sich  doch  dabei  um  die  ganze  Erschei- 
nungswelt und  um  die  Art  und  Weise  ihrer  Auffassung  durch  den  menschlichen 
Geist  und  um  die  Erscheinungsformen.  In  die  ursprünglich  natürlich  rein  naive 
Auffassung  der  Dinge  rings  um  den  Menschen  wird  durch  Darstellung  ge- 
wisser Naturgesetze  eine  gewisse  Ordnung  gebracht,  sie  wird  dem  Verständnis 
nahe  gebracht.  Da  kommt  es  wesentlich  auf  eine  richtige  physiologische  bzw. 
psychologische  Erkenntnis  an.  Die  Vorstellungen  und  die  Begriffe  sind  durchaus 
voneinander  verschieden:  die  ersteren  sind  subjektiv,  die  letzteren  objektiv  und 
allgemein.  Während  die  Vorstellungen  sehr  verschieden  sein  können,  ist  der  Be- 
griff immer  nur  ein  einheitlicher  und  derselbe.  Da  kommen  wir  zu  den  Fragen: 
Was  ist  das  Sein?  und:  was  ist  Erkenntnis?  Der  Mensch  ist  eben  und  bleibt  von 
dem  Besitz  endgültiger  und  abgeschlossener  Begriffe  des  Daseins  entfernt;  „jede 
Lösung  eines  Problems  führt  zu  neuen  Problemen".  Der  Mensch  soll  aber  dazu 
kommen,  daß  er  möglichst  viele  wahre,  d.  h.  wissenschaftlich  fruchtbare  und  unter 
sich  nicht  widersprechende  Begriffe  denkt;  je  mehr  er  das  erreicht,  desto  mehr 
bemächtigt  er  sich  auch  des  Seins,  welches  er  als  Vernunftwesen  erfassen  kann. 
Der  Unterschied  zwischen  dem  Realismus  und  Idealismus  besteht  nun  nach  dem 
Verf.  darin,  ,,daß  für  den  Realisten  die  gegenständliche  Wirklichkeit  vor  der  Er- 
kenntnis und  unabhängig  von  der  Erkenntnis  vorhanden  ist,  während  für  den 
Idealisten  der  Gegenstand  der  Erkenntnis  erst  in  und  mit  der  Erkenntnis  ent- 
steht, aber  nicht  entsteht  in  der  willküriichen  Vorstellung  und  Meinung  des  ein- 
zelnen, sondern  in  den  Begriffen  und  Gesetzen  der  Wissenschaft".  Dabei  werde 
der  Idealist  aber  das  wirkliche  Vorhandensein  der  uns  umgebenden  Dinge  nicht 
etwa  leugnen. 

Nachdem  so  Verf.  die  Begriffe   Idealismus  und  Realismus  auf  allgemeiner 


E.  Krieck,  Persönlichkeit  und  Kultur,  angez.  von  R.  Jonas.  325 

Grundlage,  unter  Bezugnahme  auf  das,  was  jeder  Mensch  auf  Grund  seiner  eigenen 
Erfahrung  erfassen  kann,  dargestellt  hat,  geht  er  nunmehr  daran,  ihr  Werden 
in  der  Kultur  und  ihre  praktische  Bedeutung  darzulegen.  Verf.  führt  den  Leser 
von  dem  Mythos  bis  zu  den  Kulturepochen,  in  denen  die  Menschen  allmählich 
zu  geläuterten  Anschauungen  von  dem  göttlichen  Wesen  und  Wirken  kommen. 
Da  werden  der  Pantheismus,  Polytheismus  und  Monotheismus  betrachtet.  In 
den  Anschauungen  von  dem  göttlichen  Wesen  und  in  den  philosophischen  Dar- 
legungen sprechen  sich  am  deutlichsten  der  Idealismus  und  Realismus  aus.  Von 
großer  Bedeutung  sind  hier  auch  die  großen  Erfolge  der  Naturwissenschaft  im 
19.  Jahrhundert.  Auf  allen  Gebieten  der  Kultur  zeigt  sich  der  Zusammenhang 
der  allgemeinen  Weltanschauung  des  Idealismus  und  Realismus. 

Im  3.  Hauptabschnitt  zeigt  Verf.  die  Bedeutung  des  Idealismus  und  Realis- 
mus für  das  System  der  Philosophie,  d.  h.  für  die  oben  bezeichneten  Zweige  der- 
selben. Er  legt  hier  dar,  was  sich  für  die  einzelnen  philosophischen  Disziplinen 
ergibt,  wenn  man  sie  vom  Standpunkte  des  Realismus  oder  des  Idealismus  an- 
sieht. In  diesen  Ausführungen,  die  nun  gewissermaßen  die  Folgerungen  aus  den 
allgemeinen  Betrachtungen  der  vorigen  Abschnitte  ziehen,  zeigt  sich  der  Unter- 
schied der  beiden  Welt-  und  Lebensauffassungen  auf  den  dem  gebildeten  Geiste 
nahe  liegenden  und  vertrauten  Gebieten.  Wie  in  dem  ganzen  Heftchen,  so  wird 
auch  hier  vielfach  auf  die  Werke  anderer  philosophischer  Schriftsteller  Bezug 
genommen  und  ihr  Standpunkt  in  den  einschlägigen  Fragen  klar  gekennzeichnet. 

Der  Ausblick  am  Schlüsse  zeigt  die  Mängel  beider  Lebensauffassungen  in 
ihren  Wirkungen,  gibt  aber  der  Hoffnung  Raum  auf  Erreichung  immer  höherer 
Ziele  durch  den  Menschen. 

Dies  treffliche  Büchlein  empfiehlt  sich,  was  wir  schon  anfangs  betonten,  durch 
die  Faßlichkeit  und  Verständlichkeit  seiner  Darstellung  sehr.  Es  sei  allen  ge- 
bildeten Lesern  bestens  empfohlen,  es  kann  aber  auch  unserer  vorgeschritteneren 
Jugend  sehr  wohl  in  die  Hand  gegeben  werden,  der  im  Unterricht  (ich  erinnere 
an  die  Lektüre  von  Goethes  Tasso)  der  Unterschied  der  Begriffe  Idealismus  und 
Realismus  bereits  nahe  geführt  ist. 

Krieck,  E.,   Persönlichkeit   und    Kultur.    Kritische  Grundlegung  der 
Kulturphilosophie.    Heidelberg  1910.    Karl  Winters  Universitätsbuchhandlung. 
XVI  u.  512  S.    8^.    6,60  M. 
Verfasser  geht  davon  aus,  daß  jeder  Abschnitt  der  Geschichte  sein  wesent- 
liches Gepräge  erst  durch  den  Höchstwert  erhalte,  das  Lebensideal  des  Betrach- 
ters, nach  welchem  dieser  seinen  Gegenstand  bewerten  und  erkennen  müsse.  Wenn 
jemand  die  eigene  Gegenwart  betrachte,  mag  er  noch  so  stolz  auf  sie  sein,  so  werde 
das  Gefühl,  in  einer  Übergangszeit  zu  leben,  notwendig  in  ihm  vorherrschen.    Die 
Mächte  der  Vergangenheit  seien  in  der  Gegenwart  stets  wirksam;  über  ihnen  er- 
hebe sich  aber  ein  Ideal,  eine  neue  Aufgabe.    Dieses  Ideal  werde  sich  nie  in  seiner 
Vollkommenheit  verwirklichen,  aber  es  sei  die  Quelle  der  Bestrebungen  und  Be- 
wegungen des  kulturellen  Lebens.    Im  Ideal,  in  der  Kraft,  mit  der  man  es  zu  ver- 
wirklichen bestrebe,  liege  sowohl  der  Wert  der  Persönlichkeit  als  auch  der  Kultur, 
nicht  aber  im  Erreichten,  Verwirklichten.    Dies  Ideal  sei  die  Religion,  die  Moral, 


326  E.  Krieck,  Persönlichkeit  und  Kultur,  angez.  von  R.  Jonas. 

die  Weltanschauung  des  Idealismus,  welche  von  jeher  durch  das  Deutschtum 
seine  reinste  Ausbildung  erfahren  habe.  Diese  habe  Lessing  als  sein  persönliches 
Bekenntnis  ausgesprochen,  Goethe  habe  ihr  im  Faust  die  mythische  Ewigkeits- 
form gegeben. 

Verf.  wolle  nun  in  seinem  Buche  mitarbeiten  an  der  großen  kulturellen  Auf- 
gabe der  Gegenwart,  an  der  Umgestaltung  der  nationalen  Kultur  im  Sinne  einer 
Vertiefung  und  Neubelebung  jenes  Idealismus.  Das  oberste  Prinzip  des  Idealis- 
mus sei  das  Transzendentalprinzip,  ein  Weg  zum  Quell  des  Lebens,  zum  freien 
Selbst,  zum  Ding  an  sich. 

Wir  mußten  diese  einleitenden  Gedanken  des  Verf.  im  voraus  skizzieren, 
wenn  wir  zu  seinem  Thema,  seiner  Aufgabe  kommen  wollten.  In  dem  letzten 
Satze  ist  das  Verhältnis  der  beiden  Begriffe  „Persönlichkeit"  und  „Kultur",  welches 
Verf.  darlegen  will,  gekennzeichnet. 

Mit  Recht  wird  das  Wiedererwachen  der  deutsch-nationalen  Religion,  womit 
Verf.  den  deutschen  Idealismus  bezeichnet,  die  deutsche  Zuflucht,  der  deutsche 
Glaube  genannt,  die  Rettung  vor  dem  absoluten  Nullpunkt. 

Der  Inhalt  des  gedankenreichen  Buches  gliedert  sich  nun  nach  dem,  was 
wir  vorhin  ausführten,  in  zwei  Teile:  1.  Persönlichkeit  und  2.  Kultur.  Der  erste 
enthält  folgende  Unterteile:  I.  Einleitung  in  15  Abschnitten,  aus  denen  wir  „Bil- 
dung" und  „Freiheit"  hervorheben,  welche  die  Ziele  bezeichnen,  nach  denen  der 
Mensch  streben  soll.  Die  Persönlichkeit  des  Kulturmenschen  wird  in  dieser  Ein- 
leitung in  ihrem  Verhältnis  zu  den  verschiedensten  Faktoren  dargestellt.  II.  Das 
Wertproblem,  in  12  Abschnitten,  überieitend  zu  dem  Teil  „Persönlichkeit",  und 
zwar  A.  Persönlichkeit  als  philosophisches  Prinzip.  B.  Die  handelnde  Persönlich- 
keit oder  die  transzendentale  Freiheit.  C.  Die  Passivität  oder  die  persönliche 
Unfreiheit. 

Der  zweite  Teil  umfaßt  I.  Das  Allgemeine  als  Begriff:  Wissenschaftslehre: 
A.  Objekt.  B.  Subjekt.  II.  Das  allgemeine  Motiv:  Ethik.  III.  Das  Ideal:  A.  Die 
Bildung  des  Ideals:    Religion.    B.  Die  Verwirklichung  des  Ideals:    Kunst. 

Wenn  vielleicht  zunächst  der  Titel  des  Buches  nicht  ohne  weiteres  erkennen 
läßt,  was  er  den  Lesern  bieten  soll,  so  wird  man  wohl  auf  Grund  dieser  Übersicht, 
welche  wir  wiederzugeben  für  notwendig  halten,  erkennen,  was  man  von  ihm  zu 
erwarten  hat. 

Es  umfaßt  zunächst  eine  Dariegung  des  Begriffs  der  Persönlichkeit  nach 
Maßgabe  der  oben  ausgesprochenen  Idee  des  freien  Selbst,  hergeleitet  aus  dem 
Grundwesen  des  Menschen  auf  eine  durch  und  durch  idealistische  philosophische 
Weise,  die  Persönlichkeit  in  ihren  mannigfachen  Beziehungen  zu  den  verschie- 
densten Ideenkreisen,  welche  für  den  Menschen  von  Interesse  sind,  das  Werde- 
problem, welches  für  alle  menschlichen  Dinge  von  der  größten  Bedeutung  ist, 
die  Darstellung  der  Persönlichkeit  als  philosophisches  Prinzip,  die  handelnde 
Persönlichkeit  oder  die  transzendentale  Freiheit,  endlich  die  Passivität  oder  die 
persönliche  Unfreiheit.  —  In  dem  die  Kultur  behandelnden  Abschnitte  gibt  es 
drei  Gedankenkreise  von  Wichtigkeit,  zuerst  die  Wissenschaftslehre,  die  als  Ob- 
jekt der  sie  erfassenden  Persönlichkeit  als  Subjekt  gegenübergestellt  wird,  sodann 
die  Ethik,  deren  Gesetze  auf  die  ganze  Kulturentwicklung  von  bedeutender  Ein- 


W.  V.  Gwinner,  Schopenhauers  Leben,  angez.  von  R.  Jonas.  327 

Wirkung  sind,  und  endlich  das  Ideal,  welches  gebildet  wird  durch  die  Religion 
des  Idealismus  und  seine  sinnliche  Gestaltung  findet  in  der  Kunst  in  ihren  mannig- 
fachen Formen  und  Gebilden,  auf  ihren  verschiedenen  Gebieten. 

Es  ist  ein  ganz  eigenartiger  Stoff,  den  Verf.  sich  zur  Behandlung  gewählt 
hat.  Wenn  vielleicht  auch  gelegentlich  der  eine  oder  andere  der  von  ihm  erörterten 
Hauptgedanken  zur  Darstellung  gelangt  ist,  so  haben  wir  unseres  Wissens  bisher 
noch  nicht  eine  solche  zusammenfassende  Behandlung  des  Verhältnisses  der  beiden 
Begriffe,  die  vereint  gewissermaßen  die  ganze  geistige  Weltentwicklung  ausmachen, 
und  des  Ideals,  dem  die  Persönlichkeit  und  durch  sie  die  Kultur  entgegenzu- 
streben hat. 

Wenn  wir  die  Bedeutung  der  durchweg  geistvollen  Ausführungen  des  Verf. 
zusammenfassen  und  in  ihrem  Hauptsinne  kennzeichnen  sollen,  so  könnten  wir 
etwa  so  sagen:  Es  handelt  sich  hier  um  die  hohen  geistigen  Aufgaben,  welche 
die  kulturelle  Entwicklung  der  Menschen  zu  lösen  hat,  und  zwar  durch  die  Per- 
sönlichkeit des  Menschen,  die  auf  die  erhabensten  Ziele  hingerichtet  sein  muß; 
es  handelt  sich  um  den  großen  Anteil,  welchen  der  Mensch  infolge  der  ideal  ge- 
steigerten Persönlichkeit  an  der  Kulturentwicklung  zu  nehmen  hat.  Die  Grund- 
idee, auf  der  die  ganze  menschliche  Kulturentwicklung  zu  ruhen  hat,  ist  die  Reli- 
gion des  Idealismus,  wie  er  in  der  Geistesgeschichte  der  edelsten  Völker,  besonders 
des  deutschen  Volkes,  hervorgetreten  ist,  und  wie  er  sich  an  eine  ganze  Reihe  von 
bedeutenden  Namen  knüpft,  die  in  der  Geschichte  des  deutschen  Geisteslebens 
vorhanden  sind.  Dem  Verf.  schweben  die  höchsten  Ziele  vor,  welche  die  Mensch- 
heit auf  den  verschiedensten  Geistesgebieten  erreichen  soll;  durch  sein  Buch  zieht 
sich  die  Zuversicht  hindurch,  daß  sie  auch  erreicht  werden  können.  Das  Buch 
ist  frei  von  jedem  Pessimismus  und  wirkt  daher  erfrischend  und  aufmunternd 
zur  Arbeit  an  der  Verwirklichung  des  Ideals  der  Persönlichkeit  und  der  Kultur, 

So  ist  sein  Werk  für  jeden  idealistisch  angelegten  Menschen  bestimmt  und 
geeignet,  allerdings  nur  für  den,  der  sich  mit  philosophischen  Materien  schon  ein- 
gehender beschäftigt  hat.  Dies  ist  wohl  Voraussetzung,  denn  sonst  würde  ihm 
doch  in  dem  überaus  inhaltreichen  Buche,  welches  die  gründlichsten  philosophischen 
Studien  und  eine  sehr  reiche  Gedankenwelt  verrät,  jedoch  hinsichtlich  seines 
Stiles  an  schwierigere  Philosophen,  wie  z.  B.  Engel,  erinnert,  manches  nicht  so 
recht  klar  werden.  Aber  der  denkende  Leser,  welcher  ernste  Gedankenarbeit  nicht 
scheut,  wird  an  dieser  trefflichen  Apologie  des  Idealismus  und  der  Darstellung 
der  Persönlichkeit  und  Kultur,  der  höchsten  Probleme  der  Menschheit,  seine 
Freude  haben.  Wird  doch  hier  eine  große  Anzahl  von  Punkten  erörtert,  die  jeden 
ideal  angelegten  Menschen  interessieren  müssen. 

V.  Gwinner,  W.,  Schopenhauers   Leben.     Dritte,  neugeordnete  und  ver- 
besserte Ausgabe.    Mit  4  Porträts  und  1  Steindrucktafel.    Leipzig  1910.    F.  A. 
Brockhaus.     XV  u.  439  S.    8«.     6  M. 
Das  aus  der  Feder  des  einzigen  noch  lebenden  persönlichen  Freundes  des  vor 
50  Jahren  verewigten  Philosophen  stammende  Buch  war  in  zweiter  Auflage  vor 
30  Jahren  erschienen.   Schon  bei  seinem  ersten  Erscheinen  hat  es  wegen  der  in  ihm 
enthaltenen   Fülle  von  Mitteilungen  und  Aufzeichnungen  Schopenhauers  selbst 


328  W.  V.  Gwinner,  Schopenhauers  Leben,  angez.  von  R.  Jonas. 

und  wegen  der  eingehenden  interessanten  Darstellung  bei  allen  Freunden  des 
Philosophen  eine  sehr  günstige  Aufnahme  gefunden.  Unter  Benutzung  der  in  den 
letzten  drei  Jahrzehnten  noch  hinzugekommenen  Schopenhauer-Literatur  hat  der 
Verfasser  sein  Werk  jetzt,  nachdem  seit  Schopenhauers  Tode  50  Jahre  vergangen 
sind,  in  neuer  Bearbeitung  herausgegeben  und  damit  seinem  Freunde  ein  treffliches 
Denkmal  gesetzt  und  der  großen  Schopenhauergemeinde  eine  Quelle  für  eine  Ein- 
sicht in  das  Leben  und  das  Wesen  des  Philosophen  dargeboten,  wie  sie  besser  nicht 
sein  kann. 

Nach  einer  Untersuchung  über  den  Ursprung  der  Familie  Schopenhauer  —  der 
Stammbaum  konnte  bis  ins  sechzehnte  Jahrhundert  festgestellt  werden  —  folgt 
die  Schilderung  der  Jugend  des  am  22.  Februar  1788  zu  Danzig  geborenen  Philo- 
sophen. Unter  Benutzung  von  mancherlei  Aufzeichnungen  seiner  geistvollen 
Mutter  über  ihren  Sohn  führt  uns  das  Buch  durch  die  Jugend  des  hochbegabten 
und  für  geistige  Beschäftigung  jeglicher  Art  lebhaft  interessierten  Arthur  Schopen- 
hauers. Seine  Knabenjahre  waren  infolge  mehrfachen  Wechsels  des  Aufenthalts 
der  Eltern  ziemlich  bewegt.  In  Hamburg  trat  er  nach  vollendeter  Schulbildung 
in  ein  kaufmännisches  Geschäft  ein.  Später,  nach  dem  Tode  seines  Vaters,  widmete 
er  sich  dem  Studium,  und  zwar  dem  der  Philosophie  und  der  Naturwissen- 
schaften. Der  ganze  Studiengang  und  die  mancherlei  Schicksale,  sein  Leben  mit 
den  äußeren  und  inneren  Kämpfen,  sein  Verhältnis  zu  einer  ganzen  Reihe 
von  interessanten  Persönlichkeiten,  alles  das  wird  in  15  Kapiteln  in  fesselnder 
Darstellung  geschildert.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  auch  der  Zusammen- 
hang der  äußeren  Erlebnisse  mit  der  inneren  Entwicklung.  Aus  allen  solchen 
Betrachtungen  gewinnt  man  auch  den  Standpunkt,  von  welchem  aus  man  die  An- 
fänge seiner  philosophischen  Anschauungen  erkennen  kann,  die  mit  ihren  pessi- 
mistischen Auffassungen  in  mancherlei  schon  in  der  Jugend  empfangenen  Ein- 
drücken wurzelten.  Alles  dies  schildert  der  Verfasser  in  eingehender  Weise,  ebenso 
die  Entstehung  der  Schriften  Schopenhauers,  vor  allem  seines  Hauptwerkes:  Die 
Welt  als  Wille  und  Vorstellung.  Und  das  geschieht  unter  Benutzung  und  viel- 
fach wörtlicher  Anführung  von  Äußerungen  des  Philosophen  selbst  oder  solcher 
Personen,  mit  denen  er  in  Beziehungen  stand.  Diese  Äußerungen  und  Mitteilungen 
sind  zum  Teil  ziemlich  umfangreich,  so  das  an  einen  ungenannten  Engländer  ge- 
richtete, von  einer  englischen  Übersetzung  der  Werke  Kants  ins  Englische  han- 
delnde Schreiben.  Die  in  englischer  Sprache  verfaßten  Schriftstücke  Schopenhauers 
sind  auch  in  deutscher  Übersetzung  hinzugefügt. 

Wir  können  auf  den  reichen  Inhalt  des  interessanten  Buches  hier  nicht  näher 
eingehen.  Es  genügt,  zu  sagen,  daß  es  eine  ganz  vorzügliche  Quelle  der  genaueren 
Kenntnis  des  bisweilen  angefochtenen  und  viel  bewunderten  Philosophen  ist. 
Aus  ihr  werden  alle  seine  Freunde  mit  Vergnügen  schöpfen,  und  sie  werden  dem 
Verfasser  für  seine  mühevolle  Arbeit  sehr  dankbar  sein.  Vier  Bildnisse,  die  dem  Buch 
beigefügt  sind,  tragen  zur  Belebung  der  Darstellung  wesentlich  bei;  nämlich:  Arthur 
Schopenhauer  im  Greisenalter,  Floris  Heinrich  Schopenhauer  (sein  Vater)  im 
40.  Lebensjahre,  Arthur  Schopenhauer  im  21.  Lebensjahre  und  Johanna  Schopen- 
hauer (seine  Mutter)  nach  einem  Porträt  aus  der  Zeit  von  1820.  Außerdem  bietet 
es  dreifachen  Anhang:    I.    Drei  Umrisse  von  Schopenhauers  Schädel;   II.    zwei 


A.  Messer,  Das  Problem  der  Willensfreiheit,  angez.  von  R-  Jonas.  329 

Verzeichnisse  Schopenhauers  der  von  ihm  gelesenen  lateinischen  und  griechischen 
Klassiker  und  III.  Ansprache  bei  der  Enthüllung  des  Denkmals  für  Schopenhauer 
in  Frankfurt  a.  M.  am  6.  Juni  1895. 

Seltsam  ist  es,  daß  das  Werk  nicht  in  der  jetzt  für  die  Schüler  angeordneten 
und  auch  sonst  meist  angewandten  Rechtschreibung  gedruckt  worden  ist. 

Messer,  A.,   Das    Problem   der  Willensfreiheit.    (Wege  zur  Philo- 
sophie.   Schriften  zur  Einführung  in  das  philosophische  Denken.    No.  1.)    Göt- 
tingen 1911.     Vandenhoeck  &  Ruprecht.     102  S.    8«.     1,50  M. 
Das  in  diesem  Buche  behandelte  Problem  hat  sonst  wohl  nur  selten  eine  für 
weitere  Kreise  berechnete  und  geeignete  Behandlung  gefunden.    Wie  bei  allem, 
was  seelischer  Charakter  ist,  muß  man  auch  hier  auf  die  Psychologie  zurückgehen, 
denn  sie  umfaßt  ja  alle  seelischen  Regungen.    Es  beruht  das  alles  auf  Selbstwahr- 
nehmung und  Selbstbeobachtung.    Der  Wille  entsteht  nun  aus  einzelnen,  vorüber- 
gehenden Wallungen.     Irgend  ein  Entschluß  ist  natürlich  immer  das  Ergebnis 
desselben.    Und  alle  müssen  auch  ihre  Ursachen  haben,  in  einem  Begehren.    Diese 
und  andere  damit  zusammenhängenden  Erwägungen  führen  naturgemäß  zu  Über- 
legungen, namentlich  in  Beziehung  auf  das  Können  bzw.  Nichtkönnen,  dann  aber 
auch  weiter  darauf,  ob  das  Erstrebte  erlaubt  ist  oder  nicht.    Die  Überlegung  wird 
nach  dem  Verfasser  auch  als  Kampf  der  Motive  bezeichnet.    Wenn  eine  Willens- 
handlung gelingt,  so  ist  damit  in  der  Regel  ein  Gefühl  der  Freude,  der  Lust,  ver- 
bunden, und  eine  Steigerung  des  Selbstvertrauens  wird  als  eine  Folge  des  Könnens 
das  Gefühl  der  Freiheit.  —  So  erörtert  Verfasser  in  seinem  ersten  Abschnitt  die 
psychologische  Grundlage  des  Wollens,  um  dann  im  zweiten  auf  die  Verwendungs- 
weisen der  Freiheit  überzugehen.   Der  Darstellung  des  Begriffs  der  Freiheit  bei  den 
Menschen  widmet  Verfasser  eine  längere  Betrachtung,  welche  zu  dem  Ergebnis 
kommt,  daß  es  mißverständlich  sei,  wenn  man  den  Gegensatz  kurzerhand  so  be- 
zeichnet, daß  der  Indeterminismus  die  Freiheit,  der  Determinismus  die  Unfreiheit 
des  Menschen    bedeutet.     Die  Streitfrage    sei  vielmehr  die:    in  welchem  Sinne 
dem  Menschen  Freiheit  zuzusprechen  sei,  ob  insbesondere  für  das  Zustandekommen 
seines  Wollens  das  Kausalitätsgesetz  gelte  oder  nicht.  Des  weiteren  betrachtet  nun 
Verfasser  das  Problem  des  Indeterminismus  zunächst  vom  psychologischen,  dann 
vom  ethischen  und  endlich  vom  erkenntnistheoretisch-metaphysischen  Standpunkt 
aus.    Die  psychologische  Erörterung  führt  zu  dem  Freiheitsbewußtsein.    Frei  weiß 
sich  der  Mensch  von  der  Nötigung  zu  einem  bestimmten  Entschluß,  frei  weiß  er 
sich  auch  im  Bewußtsein  der  Aktivität,  die  Motive  hängen  in  ihrer  Stärke  von  dem 
Ich  selbst  ab.    Alle  Strebungen  faßt  man  wohl  unter  dem  Begriff  des  Charakters 
zusammen.     Aus  diesem  heraus  werden  die  Entschlüsse  der  Menschen  erklärt. 
Auch  Grade  der  Freiheit  sind  zu  unterscheiden,  nach  Lebensalter  und  auch  sonst. 
Die  ethische  Betrachtung  führt  zu  dem  Begriff  der  sittlichen  Freiheit,  welche  als 
das  Ziel  jeder  Erziehung  bezeichnet  werden  muß.   Ob  man  hinsichtlich  der  Willens- 
tätigkeit und  in  welchem  Umfange  man  die  Geltung  des  Kausalgesetzes  anzunehmen 
habe,  darüber  könne  nur  die  Erfahrung  entscheiden.    Auch  innerhalb  des  Welt- 
geschehens gäbe  es  ursachlose  Vorgänge,  diese  seien  die  freien  Willensentscheidungen. 
—  Auch  den  Determinismus  betrachtet  Verfasser  nach  denselben  drei  Gesichts- 


330  A.  Messer,  Das  Problem  der  Willensfreiheit,  angez.  von  R.  Jonas. 

punkten.  Vom  psychologischen  Standpunkt  ist  zuzugeben,  daß  nach  den  Deter- 
ministen Freiheitsbewußtsein  während  der  Überlegung  vorkomme,  ebenso,  daß 
bei  Willensentscheidungen  das  Bewußtsein  der  Selbsttätigkeit,  der  Aktivität  vor- 
handen sein  könne,  obgleich  auch  Willensakte  mit  dem  Charakter  der  Passivität 
vorkommen.  Auch  daß  sich  der  Mensch  für  sein  Handeln  verantwortlich  weiß,  ist 
leicht  zu  erklären.  Während  aber  manche  Deterministen  erklären,  das  Ich  bedeute 
nichts  weiter  als  den  einheitlichen  Zusammenhang  aller  Bewußtseinsvorgänge, 
meinen  andere,  der  Determinismus  sei  nicht  durchaus  an  diese  „subjektlose"  Psy- 
chologie gebunden.  Die  sittlichen  Wertschätzungen,  die  Vorstellung  der  Pflicht, 
der  moralischen  Norm  kommen  nach  dem  Deterministen  bei  dem  Werk  der  Motive 
untereinander  nur  insofern  in  Betracht,  als  in  dem  Individuum  selbst  eine  Nei- 
gung bestehe,  jenen  Normen  entsprechend  zu  handeln.  In  der  Willensentscheidung 
gehe  aus  der  jeweiligen  psycho-physischen  Beschaffenheit  des  Individuums  mit 
Notwendigkeit  hervor,  die  Entwicklung  des  Charakters  sei  ein  eindeutig  bestimmter 
Prozeß,  der  in  seinem  ganzen  Verlauf  mit  kausaler  Notwendigkeit  erfolge.  Die 
ethische  Betrachtung  führe  dazu,  daß  die  sittlichen  Normen  als  absolute  Gebote 
an  uns  herantreten  und  in  eigenen  Genüssen  als  solche  erlebt  werden.  Fraglich 
sei  es,  ob  dem  absoluten  Sollen  auch  ein  absolutes  Können  entspreche,  wenngleich 
die  Fähigkeit  sittlich  zu  wollen  und  zu  handeln  vorausgesetzt  werden  kann.  Beson- 
ders interessant  sind  die  Ausführungen  des  Verfassers  über  die  Stellung  der  Deter- 
ministen zu  dem  Begriff  der  Zurechnungsfähigkeit  unter  Bezugnahme  auf  Schuld 
der  Strafe  nach  dem  Gesetze:  Der  Determinist  will,  daß  stets  die  Vergeltung 
im  Strafrecht  allmählich  der  Schutz  der  Gesellschaft  und  ihrer  Rechtsordnung 
leitende  Idee  werde.  Wenn  die  menschlichen  Willensakte  als  kausal  notwendig 
betrachtet  werden,  wenn  man  sie  aus  Motiven,  Charakteren,  sozialem  Milieu  er- 
klären will,  so  verhalte  man  sich  ihnen  gegenüber  erkennend;  es  gelte  aber  für  den 
Menschen,  auch  eine  weitere  Stellung  einzunehmen,  er  müsse  auch  sittliche  Wert- 
ideale  fassen.  Die  erkenntnistheoretische  Betrachtung  gelangt  zu  dem  Ergebnis, 
daß  der  Mensch  Freiheit  des  Wollens  besitze,  wenn  sich  diese  aus  seinem  Charakter 
ergebe,  und  daß  ihm  sittliche  Freiheit  zukomme,  wenn  sich  die  den  sittlichen  Normen 
entsprechenden  Tendenzen  auch  als  die  stärkeren  erweisen.  —  In  den  beiden  fol- 
genden Kapiteln  behandelt  Verfasser  die  gegen  den  Determinismus  und  den  In- 
determinismus geltend  zu  machenden  Bedenken,  ebenfalls  wieder  von  den  drei 
oben  aufgestellten  Gesichtspunkten  aus,  und  zwar  durchweg  in  Gestalt  von  Satz 
und  Gegensatz,  in  scharfer  Gegenüberstellung.  —  Im  letzten  (7.)  Kapitel  will  er 
nun  zur  Entscheidung  kommen;  das  Urteil  soll  aber  dem  Leser  nicht  abgenommen 
werden.  Von  der  psychologischen  Seite  her  kann  man  nach  Ansicht  des  Verfassers 
zu  einer  allgemein  überzeugenden  Entscheidung  über  die  Streitfrage  nicht  kommen. 
Könne  man  doch  auch  den  kausalen  Zusammenhang  von  Bewußtseinsvorgängen 
nicht  unmittelbar  anschaulich  wahrnehmen.  Hinsichtlich  der  ethischen  Seite  des 
Problems  könne  man  der  Auffassung  zuneigen,  daß  in  der  Tat  in  der  spezifisch- 
sittlichen Wertschätzung  die  Voraussetzung  der  Freiheit  im  indeterministischen 
Sinne  enthalten  sei.  Nur  unter  Voraussetzung  der  Freiheit  habe  es  Sinn,  dem 
Menschen  das  Ideal  vorzuhalten,  seine  natürliche  Individualität  zur  sittlichen 
Persönlichkeit  umzuschaffen,  der  religiöse  Glaube  wie  auch  der  Glaube  an  einen 


R.  Skala,  Die  Gemütsbefriedigung  usw.,  angez.  von  R.  Jonas.  331 

absoluten  Wert  der  Wirklichkeit  kann  sich  mit  der  deterministischen  wie  der  in- 
deterministischen  Ansicht  verbinden.  Man  könne  hoffen,  daß  durch  die  Steigerung 
und  Summierung  der  im  Dienste  des  Guten  stehenden  Willensanregung  dieses 
im  Verlauf  der  Weltentwicklung  immer  stärker  zur  Geltung  kommt.  —  Wenn 
das,  was  wir  hier  bieten,  auch  nicht  eine  lückenlose  und  vollständige  Wiedergabe 
der  Darlegungen  des  Verfassers  ist,  so  konnten  wir  der  Versuchung  doch  nicht 
widerstehen,  sie  aus  den  wichtigsten  Punkten  zu  skizzieren,  um  dem  Leser  we- 
nigstens ungefähr  zu  zeigen,  was  er  zu  erwarten  habe.  Eines  sei  hier  zum  Schluß 
noch  besonders  hervorgehoben  und  betont:  Verfasser  schreibt  in  einer  in  der  Tat 
für  jeden  Gebildeten  verständlichen  und  faßlichen  Weise,  und  dies  Buch  wird  bei 
der  Einfachheit  und  Faßlichkeit  seiner  Darstellung  manchen,  der  es  liest,  gewiß 
veranlassen,  sich  noch  mehr  mit  philosophischen  Dingen  zu  beschäftigen,  nachdem 
er  hier  Gelegenheit  gehabt  hat,  sich  über  ein  jeden  Menschen  interessierendes  Pro- 
blem in  so  angenehmer  Weise  zu  orientieren. 

Skala,  Richard,  Die  Gemütsbefriedigung  als  Angelegenheit 
der  Ästhetik  zur  Stellung  der  ästhetischen  Eindrücke  im  Weltbilde. 
Wien  und  Leipzig  1911.  Wilhelm  Braumüller,  K.  u.  K.  Hof-  und  Universitäts- 
buchhandlung. 92  S.  8«.  2  M. 
Verfasser  geht  von  der  unbestreitbaren  Tatsache  aus,  daß  in  der  modernen 
Ethik  die  ethischen  Probleme  nicht  immer  mit  Klarheit  von  außerethischen  ge- 
schieden werden.  Auch  Kant  habe  in  der  „Kritik  der.  Urteilskraft"  gesagt,  daß 
man  die  Behandlung  von  technisch-praktischen  Fragen  nicht  für  Sache  der  Ethik 
halten  dürfe.  Erscheinen  sie  indes  in  Verbindung  mit  irgendwelchen  Neigungen 
und  Gefühlen  für  andere,  dann  bekämen  sie  allerdings  eine  Art  ethischer  Bedeutung. 
Nach  des  Verfassers  Ansicht  hat  die  moderne  Ethik  eine  Reinigung  von  manchem 
nötig.  Er  will  ihr  die  Last  der  Gemütsbefriedigung  großenteils  abnehmen.  Wenn 
man  diesen  Begriff  klarlegen  wolle,  so  bedürfe  man  dazu  der  Behandlung  nicht  nur 
ethischer,  sondern  auch  ästhetischer  Fragen.  Die  ästhetischen  Gefühle  kämen  aus 
der  anschaulich  gegebenen  Welt.  —  Des  weiteren  untersucht  nun  Verfasser  die 
Natur  der  Gefühle,  wie  sie  die  neuere  Psychologie  darzustellen  pflegt.  Sie  gibt 
keinen  wirklichen  Grund  für  den  besonderen  Wert  von  „höheren"  Gefühlen  an; 
sie  läßt  nur  Lust  und  Unlust  als  Qualitäten  aller  ungleichen  Gefühle  zu,  während 
ein  Wertunterschied  der  Gefühle  nur  im  Inhaltlichen  derselben  ihren  Grund  haben 
könne.  —  In  der  nun  folgenden  Untersuchung  der  Natur  des  Ästhetischen  werden 
drei  Gruppen  des  „Gefallenden"  (denn  dies  ist  das  Ästhetische  seinem  Wesen  nach) 
unterschieden:  1.  Jede  Art  der  unmittelbaren  angenehmen  Eindrücke,  welche  wir 
durch  die  Sinne  empfangen.  2.  Die  zweite  Gruppe  des  in  der  Außenwelt  Wohl- 
gefälligen ist  die  des  „Charakteristischen".  Auch  hier  sind  bestimmte  Gegenstände 
die  Erreger  von  Gefühlen  (der  Mensch  vermittelt  die  mannigfaltigsten  Eindrücke 
des  Charakteristischen,  aber  auch  die  übrige  Natur:  Tiere,  Pflanzen,  Stoffe,  wie 
das  Wasser;  vorwiegend  allerdings,  wie  schon  gesagt,  der  Mensch  mit  den  verschie- 
densten Gemütszuständen,  Mienen,  Formen,  Stellungen,  Bewegungen,  Reden). 
3.  Die  dritte  Gruppe  bilden  die  durch  Anschauung  eines  Gesamtbildes  der  Außen- 
welt bewirkten  Gemütsstimmungen;  Verfasser  beleuchtet  dies  durch  einige  sehr 


332  R.  Skala,  Die  Gemütsbefriedigung  usw.,  angez.  von  R.  Jonas. 

anschauliche,  gut  gewählte  Beispiele.  —  Als  „höhere"  Gefühle  pflege  man  nun 
solche  zu  bezeichnen,  die  aus  sekundären  und  tertiären  Erlebnissen  folgen,  während 
die  niederen  die  aus  primären  Erlebnissen  folgenden  sind.  In  der  zweiten  und  dritten 
Gruppe  der  vorhin  genannten  Gefühle  zeigt  sich  nach  Ansicht  des  Verfassers  ein 
gewisser  Wertinhalt.  Auf  diesen  habe  man  keine  Rücksicht  genommen,  wenn  man 
in  der  neueren  Psychologie  die  Verschiedenheit  der  Gefühlsqualitäten  außer  Lust 
und  Unlust  leugne. 

Zur  Erklärung  des  Wohlgefallens  an  den  Dingen  braucht  man  nun  nichts 
anderes,  als  was  die ,, nüchterne**  Betrachtung  in  ihnen  sieht.  So  werde  das  Verlangen 
nach  Wissenschaftlichkeit  befriedigt.  Die  verschiedenen  vorhin  genannten  Arten 
der  Gefühle  sind  nun  sowohl  in  den  Künsten  als  auch  im  Leben  von  der  größten 
Bedeutung.  Dabei  handle  es  sich  um  das  Verhältnis  von  Inhalt  und  Form.  Wenn 
manche  der  Ansicht  seien,  daß  bei  den  Kunstwerken  die  Form  alles  ausmache 
und  der  Inhalt  nichts  bedeute,  so  würden  sie  dadurch  widerlegt,  daß  man  bei  der 
Betrachtung  von  Kunstdingen  a)  den  Gedankeninhalt,  b)  die  formalen  Merkmale 
und  c)  den  Gesamtcharakter  der  Dinge  ins  Auge  fasse. 

Die  folgenden  Betrachtungen  ergeben,  daß  Verfasser  mit  den  Anschau- 
ungen Konrad  Langes,  mit  seiner  Illusionstheorie,  die  er  geschickt  an  eigenartig 
gewählten  Beispielen  erläutert,  nicht  übereinstimmen  kann.  Er  glaubt  ihm  ent- 
gegnen zu  können,  daß  es  außer  dem  von  Lange  Angeführten  noch  anderes  gebe, 
worin  der  Kunstwert  bestehen  könne,  und  daß  Lange  bei  seinem  Begriff  Illusion 
teilweise  Gefühle  mit  bezeichnet  habe,  welche  mit  Illusion  nichts  zu  tun  haben.  — 
Übrigens  beziehen  sich  die  vom  Verfasser  gekennzeichneten  Gefühle  nicht  allein 
auf  Gegenstände  der  bildenden  Kunst  und  der  Dichtkunst,  sondern  auch  auf  die 
Tonkunst.  Den  von  Richard  Wagner  gemachten  Unterschied  zwischen  unmittel- 
barer und  mittelbarer  Gefühlsmitteilung  kann  es  nicht  geben,  da  das  Gefühl  einem 
anderen  immer  nur  durch  sinnliche  Mittel  mitgeteilt  werden  kann.  Unter  Hinein- 
ziehung einer  Stelle  aus  Eucken  „Der  Sinn  und  Zweck  des  Lebens"  erörtert  Ver- 
fasser die  Bedeutung  der  Gefühle  für  die  Welt  und  das  Leben  und  kommt  zu  dem 
Ergebnis,  daß  die  höheren  ästhetischen  Gefühle  über  die  anschaulich  gegebene 
Welt  mehr  als  die  ethischen  sagen.  Auch  selbst  in  dem  Zeitalter  der  aufblühenden 
Naturwissenschaften,  in  dem  man  nur  das  an  den  Dingen  für  Wahrheit  gelten 
läßt,  was  der  nüchternen  Betrachtung  standhält,  in  dem  die  pessimistische  Stimmung 
leicht  der  Grundton  der  Weltanschauung  wird,  erlebt  man  nach  der  Ansicht  des 
Verfassers  noch  jene  Kunstgefühle.  Ethische  Gefühle  machen  aber  dabei  nicht  alles 
aus.  Selbst  die  Beschäftigung  mit  einer  noch  so  trockenen  Wissenschaft  kann  Be- 
friedigung im  Menschen  hervorrufen.  Wenn  sich  der  Mensch  aber  genauer  Rechen- 
schaft von  seinem  Zustand  gibt,  wird  er  überlegen,  was  an  wertvollen  psychischen 
Inhalten  überhaupt  zu  erreichen  möglich  ist.  Dabei  müsse  er  denn  auf  jene 
„höheren"  Gefühle  achten.  Die  Folge  sei  dann  vielfach  ein  Unbefriedigtsein,  woraus 
der  Pessimismus  entstehe,  in  dem  mitsprechende  Erzeugnisse  der  Musik  und  Dicht- 
kunst ihren  Ursprung  haben.  Hier  setzt  sich  Verfasser  mit  Richard  Wagner  aus- 
einander, dessen  Auffassungen  z.  B.  von  der  Baukunst  er  nicht  teilen  kann.  Für 
die  Überwindung  des  Pessimismus  handle  es  sich  um  die  gehörige  Berückischtigung 
der  ästhetischen  Eindrücke.  Auch  die  Bedeutung  der  Religion  kommt  hier  in  Frage. 


J.  H.  Pestalozzi,  Über  Gesetzgebung  und   Kindermord,  angez.  von  G.  Humpf.     333 

Da  aber  in  ihr  nur  ein  Streben  nach  einem  jenseitigen  Glück  zur  Geltung  kommt, 
so  ist  darin  nichts  inhaltlich  Bestimmtes.  „Das  Befriedigende,  sich  selbst  genug 
Seiende  auf  der  Welt  muß  in  anschaulich  gegebenen  Inhalten  gesucht  werden", 
es  kann  nicht  allein  im  Streben  liegen.  Die  ästhetischen  Eindrücke  haben  nicht 
nur  Bedeutung  in  der  Kunst  allein,  sondern  sie  bilden,  wie  Verfasser  mit  Recht 
sagt,  einen  wichtigen  Bestandteil  jedes  Bewußtseins  im  gewöhnlichen  Leben. 

Verfasser  behandelt  in  seinem  tief  angelegten  von  philosophischem  Geist 
und  gründlichem  Studium  zeugenden  Hefte  die  Natur  der  ästhetischen  Gefühle  in 
ihrer  Bedeutung  für  die  innere  Befriedigung  des  Menschen;  er  betrachtet  in  geist- 
voller Weise,  welche  Stellung  die  ästhetischen  Eindrücke  im  Weltbilde  haben. 
Wir  sehen  in  der  Tat,  welchen  wichtigen  Anteil  an  der  Befriedigung  des  Gemüts 
die  ästhetischen  Eindrücke  haben,  daß  nicht,  wie  man  wohl  vielfach  denkt,  das 
Ethische  hier  im  Vordergrund  stehe.  Es  ist  ein  Büchlein,  welches  sich  an  den  den- 
kenden Leser  richtet  und  ihm  einen  Einblick  in  eine  Welt  eröffnet,  die  ihn  in  psycho- 
logischer und  in  mancher  anderen  Beziehung  interessieren  muß. 

Köslin.  R.   J  0  n  a  s.  t 

Pestalozzi,  Joh.  Heinrich,  Über  Gesetzgebung  und  Kindermord. 
Wahrheiten  und  Träume,  Nachforschungen  und  Bilder;  1783.  Mit  einer  Einfüh- 
rung und  Anmerkungen  neu  herausgegeben  von  Dr.  Karl  W  i  1  k  e  r.  Leipzig 
1910.  Johann  Ambrosius  Barth.  X  u.  274  S.  brosch.  4  M.,  geb.  4,80  M. 
Das  Thema  scheint  etwas  abseits  zu  liegen  von  dem  Interesse  des  Erziehers, 
behandelt  es  doch  eine  Frage,  die  unmittelbar  eher  den  Juristen  als  den  Pädagogen 
angeht.  Indessen  das  Wertvolle  dieser  Pestalozzischen  Schrift  liegt  weniger  in  dem 
aufgestellten  Problem  an  sich  und  den  Vorschlägen  zu  seiner  Lösung,  als  vielmehr 
in  der  Art  und  Weise  seiner  Erörterung,  die  durchaus  pädagogischen  Charakters 
ist.  Sie  wirft  ein  helles  Licht  auf  den  warmherzigen  Kinder-  und 'Menschenfreund, 
dessen  erhabene  Leitsterne  bei  seinem  Erziehungswerk  Liebe,  Geduld  und  Ver- 
trauen waren,  verbunden  mit  einem  edlen  Streben  nach  vollendeter  Gerechtigkeit, 
die  sorgfältig  und  gewissenhaft  alle  dem  Auge  offenen  und  verborgenen  Motive 
einer  Schuld  abwägt,  bevor  sie  ihr  Urteil  spricht.  Wir  bewundern  den  feinen  Psy- 
chologen, der  hineinschaut  bis  in  die  tiefsten  Tiefen  der  Seele  und  ihre  zarten  Schwin- 
gungen erklingen  hört  wie  hell  tönendes  Geläut.  Wir  bewundern  den  Meister  der 
Sprache,  dem  die  Worte  mit  seltener  Beredsamkeit  aus  dem  Munde  fließen,  der 
packt,  hinreißt,  begeistert  und  sich  hier  und  da  in  seiner  Darstellung  zu  vollendeter 
künstlerischer  Schöne  emporschwingt.  „Emporbildungen  zu  den  edleren  und 
höheren  Gesinnungen"  ist  für  ihn  das  Allheilmittel,  das  der  Staat  sich  angelegen 
lassen  sein  sollte,  der  seine  Bürger  zu  sittlicher  Reinheit  zu  führen  sich  verpflichtet 
hält.  Welche  hohe  Auffassung  von  der  Bedeutung  des  Erzieherberufs  liegt  in  dieser 
Mahnung!  Alles  in  allem:  ein  Buch,  das  wohl  wert  ist,  daß  es  Eingang  finde  in 
weiteren  Kreisen  unseres  Volkes. 

Nachzutragen  wäre  unter  den  auf  S.  V  und  VI  genannten  Biographien  Pesta- 
lozzis das  treffliche  Werk  von  dem  leider  so  früh  verstorbenen  Alfred  Heubaum, 
das  den  3.  Band  der  von  R.  Lehmann  herausgegebenen  Sammlung:  Die  großen 
Erzieher,  ihre  Persönlichkeit  und  ihre  Systeme,  Berlin  1910,  Reuther&  Reichardt, 
bildet. 


334      F.  Franke,  Herbart,  J.  F.,  Grundzüge  seiner  Lehre,  angez.  von  G.  Humpf. 

Franke,  Friedrich,     Herbart,    J.  F.,      Grundzüge    seiner    Lehre. 

Leipzig  1909.     G.  J.  Göschensche  Verlagshandlung.     VIII  u.  176  S.   brosch. 

1,50  M.,  geb.  2,00  M. 
Der  Streit  der  Meinungen  über  Herbart  ist  in  den  letzten  Jahren  wieder  leb- 
hafter geworden.  Die  Kritik  aber  ist  dabei  nicht  immer  den  rechten  Weg  gegangen. 
Dem  Zuge  der  Zeit  entsprechend,  hat  man  dem  Bemühen,  sich  mit  Herbart  als 
Philosophen  und  Pädagogen  auseinanderzusetzen,  das  Prinzip  der  Arbeitsteilung 
zugrunde  gelegt.  Man  hat  Einzelgebiete  des  Herbartschen  Systems  mit  der  Lupe 
des  Spezialisten  untersucht  und  dabei  den  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen,  inner- 
halb dessen  allein  eine  gerechte  Würdigung  der  Teile,  zumal  bei  einem  Manne  wie 
Herbart,  denkbar  ist,  außer  acht  gelassen.  Das  Büchlein  von  Franke,  der  als  einer 
der  besten  Herbartkenner  der  Gegenwart  zu  gelten  hat,  soll  nun  dem  Zwecke  dienen, 
in  engem  Rahmen  einen  rasch  orientierenden  Oberblick  über  die  Lehre  Herbarts 
in  ihrem  organischen  Zusammenhange  zu  bieten  unter  Beobachtung  strengster 
Sachlichkeit,  in  möglichst  unmittelbarer  Anlehnung  der  Darstellung  an  Herbarts 
eigenes  System  und  unter  Vermeidung  jeglicher  Polemik.  Der  Verfasser  hat  mit 
seinem  Büchlein  die  Herbart-Literatur  um  einen  höchst  wertvollen  Beitrag  be- 
reichert. 

Foltz,  0.,   Gedanken   des  Pädagogen  und   Philosophen   Her- 
bart.    Aus  Herbarts  sämtlichen  Werken  ausgewählt  und  zusammengestellt. 
Langensalza   1910.     Hermann    Beyer  &  Söhne  (Beyer  &  Mann),    kl.  8«.     IV 
u.  162  S.     1,35  M. 
Das  geschmackvoll  ausgestattete  Bändchen  bringt  eine  Sammlung  charakte- 
ristischer Aussprüche  Herbarts,  die  sowohl  seiner  Philosophie  wie  seiner  Pädagogik 
entlehnt  sind  und  nach  des  Verfassers  Ansicht  Anspruch  auf  allgemeine  Gültigkeit 
und  Anerkennung  haben,  ganz  unabhängig  von  der  persönlichen  Stellungnahme 
zu  dem  Herbartschen  System.   Denn  „Herbart  hat  allen  etwas  zu  sagen,  die  zum 
Nachdenken  über  die  höchsten  Angelegenheiten  des  Lebens  aufgelegt  und  be- 
fähigt sind*'.   Besonders  gern  möchte  der  Herausgeber  das  Büchlein  in  den  Händen 
der  Zöglinge  unserer  Lehrer-  und  Lehrerinnenseminare  sehen,  und  er  denkt  sich 
seine  Verwendung  am  zweckmäßigsten  neben  einem  Lehrbuche  der  Pädagogik. 
Daher  sind  die  einzelnen  Aussprüche,  die  mit  genauer  Quellenangabe  versehen 
sind,  fortlaufend  numeriert.  Die  ganze  Sammlung  darf  auch  unter  Berücksichtigung 
ihres  weiteren  Zweckes  als  eine  vorzüglich  gelungene  Arbeit  bezeichnet  werden. 

Zimmer,  Hans,  Führer  durch  die  deutsche  Herbartliteratur. 
Langensalza  1910.  Julius  Beltz.  VI  u.  188  S.  brosch.  3,60  M.,  geb.  4,30  M. 
Das  Buch  verfolgt  eine  doppelte  Absicht.  Es  will  einmal  erkennen  lassen,  welche 
weitgehende  Beachtung  die  wissenschaftliche  Kritik  in  den  letzten  70  Jahren  Herbart 
hat  zuteil  werden  lassen  und  so  ein  a  1 1  g  e  m  e  i  n  e  s  prinzipielles  Urteil  über  die  Be- 
deutung seiner  Persönlichkeit  auch  dem  ermöglichen,  der  mit  seinem  Interesse  bisher 
dem  großen  Pädagogen  und  Philosophen  ferner  gestanden  hat.  Das  Buch  will  sodann 
aber  ein  Führer  und  Ratgeber  allen  denen  sein,  die  sich  von  Berufs  wegen  oder  aus 
besonderer  Neigung  mit  Herbart  eingehender  zu  beschäftigen  veranlaßt  sehen. 
Um  die  zweckmäßige  Auswahl  der  Lektüre  rasch  zu  ermöglichen,  schließen  sich 


J.  F.  Herbarts  sämtliche  Werke,  angez.  von  G.  Humpf.  335 

an  die  Zitierung  der  großen  einzelnen  Werke  kurze  Referate  an,  die  den  gründ- 
lichen Kenner  der  Herbartliteratur  verraten.  Die  Gliederung  des  Inhalts  ist  ganz 
dazu  angetan,  den  Überblick  zu  erleichtern.  An  die  Besprechung  der  Einführungs- 
schriften reihen  sich  die  Ausgaben  an,  dann  folgen  die  Werke  biographischen 
Charakters,  dann  die,  welche  die  Philosophie  im  allgemeinen,  die  Metaphysik, 
Psychologie,  Ästhetik  und  Ethik  und  Religionsphilosophie  erörtern.  Den  Schluß 
bildet  die  Pädagogik,  die  wieder  nach  sieben  Gesichtspunkten  geordnet  ist.  Aus- 
zusetzen habe  ich  an  dem  verdienstvollen  Buche  des  Verfassers,  daß  er  die  geg- 
nerischen Werke  der  Herbartschen  Lehre  grundsätzlich  übergangen  hat  mit  der 
Begründung,  daß  er  lediglich  zu  Herbart  hinführen  wolle.  Auch  der  gegnerische 
Standpunkt  kann  doch  sehr  wohl  dazu  angetan  sein,  das  Interesse  für  eine  Lehre 
zu  erwecken  und  ihre  Richtigkeit  nur  noch  überzeugender  darzutun.  Und  überdies 
würde  das  sonst  so  treffliche  Buch  auch  bei  wissenschaftlichen  Arbeiten  über  Herbart 
ein  noch  willkommeneres  Hilfsmittel  sein,  wenn  es  die  Herbartliteratur  ohne  die 
erwähnte  Einschränkung  brächte. 

Joh.  Fr.  Herbarts  sämtliche  Werke  in  chronologischer  Reihenfolge.    Her- 
ausgegeben von  Karl  Kehrbach  und  Otto  Flügel;    15.  Band,  her- 
ausgeben von  Otto  Flügel.    Langensalza  1909.    Hermann  Beyer  &  Söhne 
(Beyer  &  Mann).    295  S.    brosch.  5  M.,  eleg.  geb.  6,50  M. 
Der  15.  Band  der  von  Kehrbach  begonnenen  und  seit  dessen  Tode  im  Jahre  1905 
von  Otto  Flügel  fortgesetzten  Herausgabe  der  sämtlichen  Werke  Herbarts  bringt 
den  Schluß  der  Akten,  die  das  Seminar  für  gelehrte  und  höhere  Schulen  in  Königs- 
berg betreffen.    Sie  gewähren  uns  auf  Grund  authentischen  Materials  einen  Ein- 
blick in  das  Wesen  und  den  Betrieb  des  Instituts,  wie  wir  ihn  noch  nicht  gehabt 
haben,  und  lassen  erkennen,  wie  die  Existenz  der  Anstalt  mit  ^er  Persönlichkeit 
und  dem  System  Herbarts  untrennbar  verknüpft  war.  Der  übrige  Inhalt  des  Bandes 
bringt  alle  Urkunden,  die  auf  Herbart  während  seiner  Königsberger  und  Göttinger 
Zeit  bis  zu  seinem  Tode  Bezug  haben.     Sie  werfen  interessante  Streiflichter  auf 
seine  Persönlichkeit,  sein  Wollen  und  Können,  sein  Dichten  und  Trachten.  Welches 
Namens  sich  Herbart  damals  in  der  gelehrten  Welt  erfreute,  davon  legen  ein  be- 
redtes Zeugnis  die  Anstrengungen  ab,  die  die  Göttinger  Universität  machte,  um 
ihn  für  den  durch  Bouterwecks  Tod  freigewordenen  Lehrstuhl  zu  gewinnen,  da- 
mit „er  durch  Ansehen  des  Ruhmes  und  Gewandtheit  des  Geistes  der  Wissen- 
schaftlichkeit überhaupt  aufhelfe". 

Elmshorn.  Gustav  Humpf. 

Capitaine,   W.,     Kirchengeschichte     für     die     Mittelklassen 
höherer    Lehranstalten.      Cöln  1910.     J.  P.  Bachern.     VI  u.  68  S. 
brosch.  0,70  M.,  geb.  0,80  M. 
Als  Vorstufe  zum  Lehrbuch  der  katholischen  Religion  für  die  oberen  Klassen 
hat  Capitaine  eine  Kirchengeschichte  für  die  Mittelklassen  erscheinen  lassen.    Sie 
enthält  in  21  Charakterbildern  die  wichtigsten  Persönlichkeiten  und  Entwicklungs- 
phasen des  innerkirchlichen  Lebens.    Sorgfältige  Auswahl  des  Stoffes,  interessante 
Gesichtspunkte  der  Auffassung  und  eine  edle,  stets  versöhnliche  Sprache  kenn- 


336  F.  Seiier,  Die  Entwicklung  der  deutschen   Kultur  usw., 

zeichnen  des  Verfassers  Arbeit.  Auf  nebensächliche  Abweichungen  und  vereinzelte 
Druckfehler  hinzuweisen,  erübrigt  sich  angesichts  der  Vorzüge,  die  das  kleine 
Büchlein  aufweist.  Der  Anhang  enthält  neben  der  üblichen  Zeittafel  eine  kurze 
Darstellung  des  Kirchenjahres  und  der  Baustile  (die  Erklärung  der  heiligen  Messe 
und  die  christliche  Tages-  und  Lebensordnung  gehört  in  den  Katechismus)  sowie 
eine  Auslese  der  schönsten  Kirchenlieder  in  lateinischer  und  deutscher  Sprache. 

Die  äußere  Ausstattung  in  Druck  und  Papier  ist  trotz  des  niedrigen  Preises 
eine  gediegene;  das  Büchlein  verdient  auch  in  dieser  Beziehung  allseitigen  Beifall. 

Schrimm.  Noryskiewicz. 

Seiler,  Friedrich,    Die    Entwicklung    der    deutschen    Kultur 
im   Spiegel  des    deutschen   Lehnworts.     Halle,   Waisenhaus. 
L  Die  Zeit  bis  zur  Einführung  des  Christentums.    2.  Aufl.  1905.  XXV  u.  118  S. 
2,20  M.      IL    Von    der   Einführung  des   Christentums   bis   zum   Beginn   der 
neueren  Zeit.    2.  Aufl.    1907.    XIX  u.  263  S.    3,80  M.     III.  Das  Lehnwort  der 
neueren  Zeit.    Erster  Abschnitt.    1910.     XVI  u.  430  S.    6  M.,  geb.  7,20  M. 
„Die  Kultureinflüsse,  denen  wir  im  Laufe  der  zwei  Jahrtausende,  auf  die 
wir  zurückblicken  können,  von  andern  Völkern  her  ausgesetzt  gewesen  sind,  haben 
in  unserer  Sprache  ihre  deutlichen  Niederschläge  zurückgelassen,  und  wir  können 
an  der  Hand  der  Lehnwörter  unserer  Sprache  einen  Einblick  in  die  Reihenfolge 
und  Art  der  ausländischen  Einflüsse  gewinnen,  denen  wir  im  Verlauf  unserer 
Volksgeschichte  ausgesetzt  gewesen  sind**,  so  bezeichnet  der  Verf.  näher  den  Leit- 
gedanken seines  Werkes  und  zugleich  das  Interesse,  das  nicht  bloß  Germanisten 
und   Kulturhistoriker,   sondern  auch  die  weiteren   Kreise  aller  wissenschaftlich 
Gebildeten  an  diesem  Werke  nehmen  müssen.     Letztere  um  so  mehr,  als  Seiler 
es  verstanden  hat,  bei  gründlichster  gelehrter  Beherrschung  des  Stoffes  doch  die 
Gelehrsamkeit  nie  weiter  hervortreten  zu  lassen,  als  es  das  Interesse  allgemeineren 
Verständnisses  erlaubt,  und  das  Ganze  in  zusammenhängender,  stets  fesselnder 
Darstellung  vorzutragen.    Es  ist  ein  auf  der  Höhe  der  neueren  Sprachforschung 
stehendes  populär-wissenschaftliches  Werk  im  besten   Sinne.      Von  besonderer 
Bedeutung  ist  es  aber  für  die  Lehrer  an  höheren  Schulen,  und  zwar  nicht  bloß 
für  die  der  sprachlich-historischen  Fächer,  des  Deutschen,  der  Geschichte,  der 
alten  und  neuen  Sprachen,  sondern  auch  für  den  Religionslehrer  und  die  Ver- 
treter der  Naturwissenschaften.    Es  gibt  kein  Unterrichtsgebiet,  das  nicht  durch 
gelegentliche  kultur-    und  sprachhistorische  Ausblicke   in  vorteilhaftester  Weise 
belebt  und  befruchtet  würde. 

Im  1.  Bändchen,  das  sich  auf  die  ersten  7  Jahrhunderte  unserer  Zeitrech- 
nung beschränkt,  gibt  Verf.  zunächst  einen  Einblick  in  die  wissenschaftlichen 
Grundlagen  der  Untersuchung,  indem  er  auseinandersetzt,  wie  das  Alter  der  Lehn- 
wörter, je  nach  ihrer  Teilnahme  an  der  Lautverschiebung,  zu  bestimmen  sei. 
Insbesondere  für  die  ältere  Zeit  ist  nicht  das  Vorkommen  in  der  Literatur  das 
Entscheidende,  sondern  der  Lautbestand.  So  ist  Pfirsich  erst  im  12.  Jahr- 
hundert belegt,  muß  aber  wegen  der  Verschiebung  des  p  von  persicum  bereits 
vor  der  ahd.  Lautverschiebung  eingedrungen  sein,  ebenso  Pflanze  von  planta  u.  a. 
Diese  Wörter  geben  also  sichere  Anhaltspunkte  für  die  Zeit  des  Eindringens  der 


angez.  von  G.  Boetticher.  337 

südlichen  Garten-  und  Obstkultur;  es  ist  das  5.  Jahrhundert.  Welche  Erschei- 
nungen der  Lautverschiebung  im  einzelnen  in  Betracht  kommen,  wird  umsichtig 
dargelegt.  Für  die  n  a  c  h  der  Lautverschiebung  eingedrungenen  Kulturwörter 
sind  wir  dagegen  im  wesentlichen  auf  ihr  Vorkommen  in  der  Literatur  ange- 
wiesen, und  dies  gibt  hier  auch  ein  im  ganzen  richtiges  Bild,  da  das  lite- 
rarische Schaffen  immer  umfangreicher  wird  und  das  Vorkommen  der  Wörter 
viel  weniger  dem  Zufall  unterliegt. 

Die  eigentliche  Stoffbehandlung  beginnt  dann  mit  einem  Blick  auf  die  Wander- 
zeit der  Germanen,  die  sie  aus  der  russischen  Steppe  —  der  Verf.  weiß  natürlich 
sehr  wohl,  daß  über  die  Urheimat  sehr  gestritten  wird  —  in  das  Land  zwischen 
Weichsel  und  Elbe  führte.  Aus  ihr  leitet  er  Wörter,  wie  Pfad,  Silber,  Pflug,  Hanf, 
Lein,  Schiff,  Erbse,  Rübe,  Affe  her,  die  nicht  urgermanisch  sind,  aber  auch  keiner 
noch  bekannten  Sprache  entlehnt  sind.  Auf  den  Weg  der  Wanderung  lassen 
sich  also  aus  der  Sprache  keine  Schlüsse  ziehen.  Dann  aber  läßt  sich  deutlich 
die  Berührung  mit  den  Kelten  feststellen,  die  so  innig  wurde,  daß  viele  Kultur- 
wörter noch  vor  der  Lautverschiebung  vermutlich  von  beiden  gemeinsam  ge- 
bildet wurden,  wie  Eid,  Geisel,  Wechsel,  Furt  u.  v.  a.,  die  also  nicht  als  Ent- 
lehnungen anzusprechen  sind,  während  sich  später  die  Kelten  selbständig  weiter 
entwickeln  und  dann  den  Nachbarn  spenden,  so  das  Eisen  und  damit  die  Be- 
zeichnungen der  Gerätschaften,  wie  Gabel,  und  staatlich-politische  Bezeichnungen, 
wie  vor  allem  Amt  und  Reich.  Alle  diese  Entlehnungen  sind  aber  gering 
gegenüber  dem  Einflüsse  der  Römer  von  Beginn  unserer  Zeitrechnung  an.  Diesen 
betrachtet  der  Verf.  nunmehr  in  drei  großen  Abschnitten:  1.  Kriegswesen,  Ver- 
waltung und  Handel,  2.  Steinbau  und  Weinbau,  3.  Landwirtschaft  und  Gewerbe. 
Eine  vollständige  Revolution  des  häuslichen  und  wirtschaftlichen  Lebens  der 
Nation,  der  Übergang  vom  Natur-  zum  Kulturvolke  zieht  an  unserem  geistigen 
Auge  vorüber,  bezeugt  von  den  Lehnwörtern,  deren  Fülle  auch  den  philologisch 
gebildeten  Leser  überrascht.  Den  Schluß  des  ersten  Bandes  bilden  die  ersten 
kirchlichen  Entlehnungen:  Kirche,  Pfinztag  (der  5.  Tag),  Samstag,  Pfaffe,  Teufel, 
Engel,  Pfingsten,  die  sämtlich  auf  das  Griechische  und  somit  auf  den  Arianismus 
weisen,  der  sich  von  den  Goten  aus  verbreitete.  Durch  sie  werden  die  geschicht- 
lichen Berichte  in  bedeutsamster  Weise  ergänzt,  denn  die  unausrottbare  Ein- 
bürgerung dieser  Wörter,  die  sich  auch  unter  dem  Hochdruck  der  lateinischen 
Terminologie  (ecclesia,  clericus,  sabbatum)  behaupteten,  wirft  ein  Licht  auf  die 
Bedeutung  und  Verbreitung  des  Arianismus  unter  den  deutschen  Stämmen.  Aber 
auch  Entlehnungen  aus  der  lateinischen  Kirchensprache  sind  schon  vorhanden, 
wie  Mönch,  Pfarre,  Pfründe,  von  denen  letztere  die  erste  Stufe  der  Lautverschie- 
bung mitgemacht  haben  (p:  pf),  also  schon  um  600  angenommen  sein  müssen, 
ein  Beweis,  daß  die  christlichen  Einflüsse  bereits  vor  der  eigentlichen  Bekehrung 
der  Deutschen  mächtig  waren. 

Damit  treten  wir  in  die  zweite  große  Kulturperiode  ein,  die,  von  der  Ein- 
führung des  Christentums  in  Deutschland  bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters  rei- 
chend, zunächst  ganz  unter  dem  Einflüsse  der  lateinischen  Kirchensprache  steht, 
eine  Gelehrtensprache  bildet,  in  den  Klöstern  die  mächtigsten  Förderer  auch 
materieller  Zivilisation  besitzt,  bis  einerseits  die  Kreuzzüge  und  das  Rittertum 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  22 


338  F.  Seiler,  Die  Entwicklung  der  deutschen  Kultur  usw., 

Frankreich  und  den  Orient,  anderseits  die  kaiserliche  Politik  Italien  zu  schier 
unerschöpflichen  Quellen  neuer  Kulturwerte  und  Kulturbegriffe  machen.  Dieser 
Periode  ist  der  zweite  Band  gewidmet;  näher  auf  den  reichen  und  immer  inter- 
essant vorgetragenen  Inhalt  einzugehen,  ist  hier  unmöglich. 
>  Der  dritte  Band  gibt  in  den  ersten  drei  Kapiteln  mehr  allgemeine  und  theo- 
retische Erörterungen  über  die  Einwirkung  des  Latein  im  Zeitalter  der  Reformation 
und  des  Humanismus  (Kap.  I),  über  lateinische  und  französische  Elemente  in 
der  Wortbildung  (Kap.  II),  z.  B.  Latinisierung  französischer  Laute  (luxe  —  Luxus, 
type  —  Typus),  entlehnte  Suffixe  (Tischlerei,  Autorität,  buchstabieren),  Ver- 
bindung deutscher  Suffixe  mit  fremden  Wortbildungselementen  (amerikanisch, 
stilistisch,  reformatorisch),  Pluralbildung  auf  s  in  Nieder-  und  Mitteldeutschland 
(Kinners,  Jungens),  und  in  Kap.  III  über  den  dem  Französischen  entnommenen 
Wortschatz  und  dessen  Kulturbedeutung.  Die  folgenden  vier  großen  Kapitel 
behandeln  dann  im  Zusammenhange  die  Entlehnungen  nach  den  großen  Lebens- 
und Kulturgebieten,  das  häusliche  Leben  (Kap.  IV),  das  wirtschaftliche  (Kap.  V), 
Literatur  und  Kunst  (Kap.  VI),  Wissenschaft  (Kap.  VII)  in  allen  ihren  Be- 
ziehungen und  Verzweigungen. 

Die  drei  Bände  des  Werkes  bieten  schon  äußerlich  in  ihrem  Umfang  ein  Bild 
der  drei  großen  Perioden,  die  es  behandelt.  Die  viel  ausgedehnteren  Kultur- 
beziehungen der  zweiten  Periode  mit  ihren  viel  umfangreicheren  Entlehnungen 
stellen  sich  in  dem  um  die  Hälfte  stärkeren  Buche  dar,  und  die  Verkehrsentwick- 
lung der  Neuzeit  mit  ihrer  Hochflut  von  neuen  Kulturwerten,  die  verwickelten 
und  für  die  kräftige  Entwicklung  bodenständiger  Kultur  ungünstigen  politischen 
Verhältnisse,  die  Wirkungen  der  Reformation,  des  Humanismus  und  der  Buch- 
gelehrsamkeit, das  alles  ließ  den  dritten  Teil  auf  den  fast  vierfachen  Umfang  an- 
schwellen. Der  Verf.  hat  daher  diesen  Teil  nur  der  Bequemlichkeit  wegen  und 
nur  äußerlich  in  zwei  Bände  zerlegt,  von  denen  der  zweite  noch  aussteht.  Es  dürfte 
sich  empfehlen,  künftig  den  1.  und  2.  zu  einem  Bande  zu  vereinigen,  um  drei  Bände 
von  ungefähr  gleichem  Umfange  herzustellen. 

Jedem  einzelnen  Bande  ist  ein  Wörterverzeichnis  beigegeben,  jedem  auch 
ein  Verzeichnis  der  einschlägigen  Literatur.  Hoffentlich  läßt  sich  der  Verf.  die 
Mühe  nicht  verdrießen,  dem  noch  ausstehenden  letzten  Bande  ein  Gesamtver- 
zeichnis der  behandelten  Wörter  für  das  ganze  Werk  beizugeben. 

Von  besonderem  Interesse  wird  Seilers  Werk  schließlich  dadurch,  daß  er 
sich  in  seinen  Vorreden  in  gründlichster  Weise  mit  den  Sprachreinigungsbestre- 
bungen  der  Gegenwart  auseinandersetzt. 

Die  Veranlassung  gab  ihm  die  Besprechung  der  ersten  Auflage  des  ersten 
Bandes  in  der  Zeitschrift  des  Deutschen  Sprachvereins  XVI  (1901)  von  Karl 
Scheffler,  einem  Führer  der  Sprachreinigungsbestrebungen,  der  eben  diese 
zur  Geltung  brachte.  Seiler  hat  sich  demgegenüber  in  den  Vorreden  zur  2.  Aufl. 
des  1.  und  2.  Bandes  und  ebenso  wieder  in  der  zum  3.  Bande,  sowie  an  mehreren 
Stellen  in  diesem  selbst  (S.  109—115,  191—197,  336—338)  ausführlich  ausge- 
sprochen. Er  ist  ein  entschiedener  Gegner  der  gewaltsamen  Reinigung,  wie  sie 
unter  dem  Einflüsse  des  Sprachvereins  von  den  Behörden,  besonders  der  Militär-, 
Eisenbahn-  und  Postbehörde,  betrieben  wird,  erst  recht  natürlich   Gegner  der 


angez.  von  G.  Boetticher.  339 

z.  T.  puristischen  Bestrebungen  dieses  Vereins  selbst.  Er  erklärt  sich  zwar  ganz 
einverstanden  mit  dem  Kampf  gegen  die  fremdländischen  Ladenaufschriften, 
Annoncen  u.  dgl.  (robes  et  manteaux),  aber  die  Übernahme  von  Fremdwörtern 
mit  dem  Eindringen  der  sie  bezeichnenden  Gegenstände  oder  Ideen  hält  er  für 
eine  notwendige,  nützliche  und  angenehme  Bereicherung  unserer  Sprache,  ja  für 
ein  Lebenselement,  dessen  Beseitigung  einen  gewaltsamen  Eingriff  der  Buch- 
gelehrten in  die  natürliche  geschichtliche  Entwicklung  bedeutet  und  daher  nur  zu 
Geschmacklosigkeiten  und  Verleugnung  des  Sprachgeistes  führen  kann.  Das 
Reinigungsgeschäft  —  und  daß  dieses  eine  gewisse  Berechtigung  hat,  leugnet 
auch  Seiler  nicht  —  will  er  ausschließlich  dem  Sprachgeiste  selbst  überlassen, 
der  von  selbst  in  seinen  literarischen  Erzeugnissen  das  ihm  Widerstrebende  ab- 
stößt, das  anpassungsfähige  Fremde  aber  behält  und  allmählich  sich  einordnet. 
Diese  Anschauungen  sind  im  Prinzip  ganz  gewiß  richtig,  und  eine  Fülle  von 
Beispielen  stützen  sie.  Man  denke  nur  an  die  Sprachmengerei  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts und  die  Beseitigung  ihrer  Auswüchse  nicht  durch  die  Sprachgesellschaften, 
sondern  durch  die  Literatur.  Aber  ist  es  nicht  auch  eine  berechtigte  Regung  des 
Sprachgeistes,  wenn  neben  den  Dichtern  und  sonst  führenden  Schriftstellern  ge- 
bildete Männer  darüber  nachdenken,  wie  Fremdwörter,  die  noch  nicht  zu  all- 
gemein verständlichen  Lehnwörtern  geworden  sind,  durch  deutsche  Bildungen 
ersetzt  werden  können?  Diese  Versuche  brauchen  keineswegs  immer  den  Cha- 
rakter des  Tintendeutsch  zu  tragen,  sie  können  sehr  wohl  aus  gesundem  und 
schöpferischem  Sprachgefühl  hervorgegangen  sein.  Ich  wüßte  nicht,  was  sich 
gegen  Bahnsteig,  Abteil,  Warenhaus,  Kundgebung,  Dienstunterricht,  Geschäfts- 
stelle, Ausschuß,  Straßenbahn,  Speisehaus,  Trauerspiel  u.  v.  a.  einwenden  ließe. 
Solche  Verdeutschungen  sind  tatsächlich  schon  durchgedrungen  und  beweisen 
dadurch  ihre  Berechtigung,  auch  wenn  sie  von  den  Behörden  oder  vom  Sprach- 
verein ausgegangen  sind.  Allerdings  sind  es  Zusammensetzungen,'und  es  ist  zweifel- 
los wahr,  daß  wir  neue  Begriffe,  insbesondere  Verdeutschungen  von  Fremd- 
wörtern meist  nur  durch  Zusammensetzungen  bilden  können,  die  leicht  schwer- 
fällig oder  geschmacklos  klingen  können  und  den  eigentümlichen  Vorstellungs- 
inhalt des  Fremdworts  oft  nicht  treffen.  Aber  hier  wird  das  Sprachgefühl  eben- 
falls seine  Schuldigkeit  tun.  Es  m  u  ß  ja  nicht  um  jeden  Preis  verdeutscht  sein, 
und  man  wird  ein  Fremdwort  gern  behalten,  das  seinen  nur  ihm  eigentümlichen 
Vorstellungsgehalt  hat,  z.  B.  Explosion,  um  dessen  Verdeutschung  sich  der  Sprach- 
verein (s.  Seiler  II,  Vorrede  S.  IV)  vergeblich  bemüht  hat.  Nur  gegen  die  Wieder- 
gabe von  Fremdwörtern  durch  deutsche  Komposita  an  sich  ist  nichts  zu  sagen, 
denn  das  ist  nun  einmal  eine  eigentümlich  deutsche  Art  der  Wortbildung  im 
Gegensatz  zu  der  französischen  Umschreibung  mit  de.  Die  oben  genannten  Ver- 
deutschungen sind  genau  so  gut  wie  Haustür,  Gartenhaus,  Hofhund,  Tischdecke, 
Schreibtisch  usw.,  und  die  wird  Seiler  gewiß  ausnehmen,  wenn  er  I,  S.  XXIV, 
zum  Kampfe  gegen  den  Kompositionsunfug,  „das  Erbübel  unserer  Sprache", 
aufruft.  Dieser  Kampf  dürfte  vergeblich  sein,  denn  er  richtet  sich  gegen  den 
Sprachgeist  selbst.  Schließlich  spielt  hierbei  doch  auch  die  Gewöhnung  eine  große 
Rolle.  Warum  z.  B.  das  einfache  „Offizierhaus"  nicht  allmählich  ganz  dieselbe 
Vorstellung  auslösen  sollte  wie   Offizier-Kasino,   vermag  ich   nicht  einzusehen. 

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340  F.  Seiler,  Die  Entwicklung  der  deutschen  Kultur  usw. 

Nennen  doch  z.  B.  studentische  Korporationen  ihr  „Kasino*'  einfach  ihr  ,,Haus" 
und  meinen  damit  ganz  dasselbe.  Nun  gar  den  Spott  der  Ausländer  über  unsere 
„Wortungeheuer"  oder  ihre  Klagen  darüber,  daß  „in  Deutschland  immer  alles 
anders  heiße",  ins  Feld  zu  führen  (Seiler  I,  S.  X  u.  XIX),  geht  wirklich  nicht  an. 
Wir  haben  doch  keine  Veranlassung,  unsere  Sprache  dem  Bedürfnis  der  Aus- 
länder anzupassen,  wie  Seiler  I,  S.  XXIII,  unten  zu  wünschen  scheint,  und  des- 
halb eine  ihrer  wesentlichen  Eigentümlichkeiten  zu  bekämpfen,  eine  Eigentümlich- 
keit, die  wir  mit  keiner  geringeren  als  der  edlen  griechischen  Sprache  teilen,  der 
die  Mannigfaltigkeit  ihrer  Zusammensetzungen  (man  denke  nur  an  die  mit  cpiXo?, 
immer  als  ein  besonderer  Vorzug  nachgerühmt  ist.  Niemand  wird  leugnen,  daß 
geschmacklose  und  schwerfällige  Zusammensetzungen  vorhanden  sind  und  be- 
sonders bei  den  Verdeutschungsbestrebungen  auftreten,  aber  ihnen  gegenüber 
wird  der  Sprachgeist  seines  Amtes  ebenso  walten  wie  gegenüber  Fremdwörtern, 
die  nicht  anpassungsfähig  sind.  Da  wird  auch  keine  amtliche  Vorschrift  helfen. 
,, Truppenstandort"  oder  bloß  „Standort"  für  „Garnison"  und  „Unterkunft" 
für  Quartier  wird  sich  wahrscheinlich  nie  einbürgern,  weil  diese  Wörter  bereits 
volle  Lehnwörter  mit  Bürgerrecht  geworden  sind.  Auch  der  ,, Kraftwagen"  oder 
„Selbstfahrer"  wird  das  „Auto"  vermutlich  nicht  verdrängen,  wenn  man  auch 
Seilers  Freude  an  dessen  Abkürzungen  und  Ableitungen  (I,  S.  XIX)  Moppelchen, 
Autler,  autlen  nicht  teilen  wird.  Dagegen  haben  „Flugzeug",  „Flieger"  zweifellos 
schon  jetzt  den  Sieg  über  „Aeroplan"  und  „Aviatiker"  davongetragen  und  damit 
die  Reihe  guter  Verdeutschungen  von  Fremdwörtern,  die  vom  Sprachverein  und 
den  unter  seinem  Einfluß  stehenden  Behörden  ausgegangen  sind,  vermehrt;  dafür 
gebührt  ihnen  Dank. 

Noch  einen  andern  Gesichtspunkt  Seilers  kann  ich  mir  nicht  zu  eigen  machen. 
Er  findet,  daß  der  Gebrauch  von  Fremdwörtern  eine  erfrischende  Abwechslung 
in  die  Rede  und  einen  sonoren  Klang  in  das  eintönige  Grau  unserer  tonlosen  e- 
Endungen  bringe  (S.  XIII),  findet  daher  auch  Abwechslung  zwischen  gleich- 
bedeutenden deutschen  und  fremden  Wörtern  sehr  empfehlenswert.  In  seinem 
Sinne  wäre  es  also,  etwa  ,, Terrain"  und  ,, Gelände",  „Lisiere"  und  „Saum",  „equi- 
pieren"  und  „ausstatten"  gegebenenfalls  abwechselnd  zu  gebrauchen,  wie  man 
Synonyme  gebraucht,  aber  ist  es  wirklich  berechtigt,  fremde  Worte,  die  die  Mutter- 
sprache vollgültig  ersetzt  hat,  für  Liebhabereien  zu  erhalten?  Mit  dem  sonoren 
Wohlklang  hat  es  auch  seine  eigene  Bewandtnis.  Mag  das  hier  und  da  richtig 
sein,  wie  besonders  bei  den  militärischen  Ausdrücken,  aber  „Expropriation", 
„Obstruktion",  „Konstitution"  u.  v.  a.  sind  doch  wirklich  keine  ohrerfreuenden 
Bildungen.  Führt  Seiler  diese  auch  nicht  an,  so  kann  er  sie  doch  von  seinem 
Standpunkte  aus  nicht  ablehnen.  Und  endlich,  wenn  Fremdwörter  verschwinden, 
die  einst  neue  Kulturwerte  bezeichneten,  so  wird  dadurch  noch  lange  nicht  das 
Verständnis  unserer  eigenen  Vergangenheit  —  dies  ist  ein  weiterer  Gesichtspunkt 
Seilers  —  gehemmt,  denn  für  den  Verkehr  ist  das  gleichgültig,  und  der  Gelehrte 
und  höher  Gebildete  wird  ja  wohl  die  Fremdwörter  der  Vergangenheit  verstehen, 
auch  wenn  sie  nicht  mehr  zur  Umgangssprache  gehören.  Als  Wegweiser  zum  Ver- 
ständnis der  Vergangenheit  können  sie  überdies  bei  ihren  so  eigenartigen  Wand- 
lungsprozessen nur  in  beschränktem  Maße  gelten.    Man  denke  nur  an   das  aus- 


angez.  von  G.  Boetticher.  341 

gestorbene  Chaise  und  dessen  Ersatz  durch  das  schwerfällige  und  unschöne  Equi- 
page, das  sich  neben  dem  einfachen,  jetzt  wohl  von  Gebildeten  allgemein  ge- 
brauchten ,, Wagen"  wie  gespreiztes  Gigerltum  ausnimmt  und  gar  keine  geschicht- 
liche Bedeutung  hat. 

Zum  Schluß  noch  eins.  Seiler  führt  zugunsten  der  Fremdwörter  auch  an, 
daß  z.  B.  die  Engländer  weit  mehr  Fremdwörter,  nämlich  den  romanischen  Ein- 
schlag, in  ihrer  Sprache  haben,  der  mindestens  die  Hälfte  des  Wortschatzes  aus- 
macht. Diese  Parallele  darf  man,  glaube  ich,  nicht  ziehen,  denn  durch  die  roma- 
nische Eroberung  Englands  ist  wirklich  eine  Mischsprache  entstanden,  die  der  Misch- 
bevölkerung entspricht  und  von  ihr  einheitlich  gestaltet  ist.  Der  romanische  Wort- 
schatz des  Englischen  fällt  ausnahmslos  unter  den  Begriff  des  „Lehnworts",  d.h.  der 
vollständigen  Einfügung  in  die  Muttersprache  derart,  daß  man  den  fremden  Ur- 
sprung nicht  mehr  empfindet.  Im  Deutschen  ist  das  anders.  Eine  ganz  scharfe 
Grenze  kann  man  allerdings  zwischen  Lehnwort  und  Fremdwort  auch  hier  nicht 
ziehen,  und  manche  Wörter  sind  auch  in  ihrer  fremden  Form  tatsächlich  schon 
Lehnwörter  geworden,  wie  Interesse,  Chaussee,  Omnibus.  Das  beachten  wohl 
die  Sprachreiniger  nicht  immer.  Aber  der  Kampf  des  Sprachvereins  richtet  sich 
im  Grunde  doch  nur  gegen  die  unnötigen,  noch  nicht  allgemein  heimisch 
gewordenen  Fremdwörter,  z.  B.  nicht  gegen  die  internationalen  wissenschaftlichen 
Termini,  wenigstens  grundsätzlich  nicht.  Karl  Scheffler  mißbilligt  mit 
Seiler  ausdrücklich  Preisausschreiben  für  Übersetzung  (oder  besser  Ersatz)  unüber- 
setzbarer Fremdwörter  und  betont  nachdrücklich,  daß  nur  gute  und  geschmack- 
volle Verdeutschungen  Berechtigung  haben.  Er  beklagt  sich  in  seinen  Erwide- 
rungen (Zeitschrift  1905,  No.  3,  1912,  No.  3)  mit  Recht  darüber,  daß  es  nach 
Seilers  Darstellung  den  Anschein  habe,  als  betreibe  der  Verein  „Fremdwörter- 
hatz"  um  jeden  Preis.  Daß  Obereifer  und  Geschmacklosigkeiten  vorkommen, 
bestreitet  er  nicht,  und  gewiß  wird  er  auch  zugeben,  daß  Behörden  mit  dem  „heil- 
samen Zwang"  zur  Anwendung  von  Verdeutschungen  vorsichtig  sein  müssen. 
Die  in  Rede  stehenden  amtlichen  Vorschriften  sind  ja  im  Grunde  nur  Versuche, 
Verdeutschungen  auf  ihre  Lebensfähigkeit  hin  zu  prüfen  und  werden  eingebürgerte 
und  bequeme  Fremdwörter  wie  Garnison  und  Quartier  nicht  verdrängen.  Man 
spanne  also  auch  im  Sprachverein  den  Bogen  nicht  zu  straff  und  halte  die  Puristen 
in  Schranken. 

Einen  Weg  zur  Verdeutschung  des  Lehngutes  gibt  übrigens  auch  Seiler  an: 
man  solle  die  Fremdwörter  nur  ausnahmslos  deutsch  schreiben,  also  wie  Offizier, 
Militär,  Scheck,  auch  Redaktor,  Schossee,  Basseng  usw.,  aber  das  ist  doch  nur 
ein  äußerlicher  Notbehelf.  Wir  werden  immer  wirkliche  Verdeutschungen,  wo 
sie  sich  zwanglos  bieten,  also  hier  Schriftleiter,  Becken  —  und  warum  nicht  auch 
nach  Goethe,  Hermann  und  Dorothea  I,  ,, Dammweg",  oder  wie  in  Österreich 
„Straße"?  —  vorziehen. 

Der  Kern  der  Ansichten  Seilers  läßt  sich  in  wenige  Sätze  zusammenfassen, 
mit  denen  er  in  der  Vorrede  zu  11  ^  gewisse  in  der  Zeitschrift  des  Sprachvereins 
wiederkehrende  Anschauungen  wissenschaftlich  bekämpft:  Die  Entlehnung  sei 
ein  durchaus  volksmäßiger,  natürlicher  Vorgang,  die  Übersetzung  dagegen  habe 
etwas  Buchmäßiges,  Gelehrtes,  Pädagogisches  an  sich,  nicht  umgekehrt,  und  von 


342  F.  Lillge,  Komposition  und  poetische  Technik  usw., 

nationaler  Kraft  oder  Schwäche  könne  in  dieser  Frage  nicht  geredet  werden  — 
natürlich  abgesehen  von  der  Fremdwörtersucht  der  Halbbildung.  Das  ist  ganz 
richtig,  und  er  hat  auch  recht,  wenn  er  aus  dem  Schweigen  der  Gegner  folgert, 
daß  sich  nichts  Erhebliches  gegen  diese  Sätze  sagen  lasse,  aber  trotzdem  braucht 
man  daraus  nicht  zu  folgern,  daß  es  Pflicht  sei,  die  Fremdwörter  möglichst  zu 
erhalten.  Seiler  hat  nur  eine  wissenschaftliche  Erklärung  des  Eindringens 
der  Fremdwörter  gegeben  und  dargelegt,  daß  Stärke  und  Schwäche  des  National- 
gefühls mit  ihnen  an  sich  nichts  zu  tun  habe.  Aber  der  Versuch,  sie  allmählich 
durch  gute  Verdeutschungen  zu  ersetzen,  ist  davon  offenbar  ganz  unabhängig; 
wenn  dieses  Bestreben  im  Volke  erwacht  und  Erfolg  hat,  so  hat  es  auch  seine  volle 
Berechtigung.  Dafür  eben  tritt  der  Sprachverein  ein.  Scheffler  hätte  daher  in 
der  Besprechung  des  3.  Bandes  eine  Widerlegung  der  genannten  Ausführungen 
nicht  damit  ablehnen  sollen,  daß  eine  Verständigung  doch  nicht  möglich  sei,  son- 
dern damit,  daß  diese  Wideriegung  unnötig  sei,  weil  die  Sprachreinigungsbestre- 
bungen  —  mag  man  in  ihnen  Betätigung  des  Nationalgefühls  sehen  oder  nicht  — 
ihre  geschichtliche  Berechtigung  unabhängig  davon  haben.  Seine  Ausführungen 
behalten  also  selbst  bei  Anerkennung  der  Auffassung  Seilers  vom  Wesen  des  Fremd- 
worts ihre  volle  Bedeutung,  und  wer  sich  mit  der  Frage  beschäftigt,  darf  sie  nicht 
ungelesen  lassen.  ~    ; 

Aber  diese  ganze  Auseinandersetzung  geht  ja  bei  diesem  Werke  nur  neben- 
her; die  Vortrefflichkeit  der  Arbeit  selbst  erkennt  auch  Scheffler  in  vollem  Um- 
fange und  rückhaltlos  an.  Und  so  sei  dem  Verfasser  zum  Schluß  aufrichtigster 
Dank  ausgesprochen  für  seine  gediegene  und  in  so  anmutiger  Form  belehrende 
Gabe.    Dem  Schlußband  kann  man  nur  mit  freudiger  Erwartung  entgegensehen. 

Berlin.  •         Gotthold  Boetticher. 


Lillge,  F.,  Komposition  und  poetische  Tech]]nik  der: Aio[xtj6oü? 
dpioTcLot.  (Ein  Beitrag  zum  Verständnis  des  homerischen  Stils.)  Gotha  1911. 
Fr.A.  Perthes.     116  S.    2  M. 

Die  Abhandlung,  ein  unveränderter  Abdruck  aus  einem 'Jahresbericht  (1911) 
des  neuen  Gymnasiums  zu  Bremen,  berührt,  wie  der  Verfasser  selbst  betont,  die 
eigentliche  homerische  Frage  nur  wenig.  Die  Stellung  des  fünften  Buches  im  Ge- 
samtepos (wie  Lillge  sich  ausdrückt  S.  2)  wird  überhaupt  nicht  erörtert,  ebenso- 
wenig, was  die  Überschrift  'Apiaisia  eigentlich  will.  Solche  Fragen  darf  man 
meines  Erachtens  nicht  aus  den  Augen  lassen,  wenn  man  wie  der  Verfasser 
Buch  E  als  geschlossene  Einheit  faßt  und  behandelt.  Er  bleibt  bezüglich  der 
Herkunft  der  alten  Überschriften  bei  Wilamowitz  stehen,  der  annimmt,  daß  diese 
aus  alexandrinischer  Zeit  und  zwar  von  Zenodot  herstammen.  Lillge  schließt 
daraus  auf  ihre  Sachgemäßheit,  da  ja  die  Alexandriner  dem  Dichter  noch  so  viel 
näher  standen  als  wir.  Nun  wohl ;  aber  kann  man  daraus  wirklich  auch  folgern, 
daß  E  ein  einheitliches  Kunstwerk  sei?  Und  wenn  man  das  folgert,  müßte  man, 
überzeugt  auch  von  des  Gesamtepos  Einheit  und  Einheitlichkeit  wie  der  Verfasser, 
nicht  zunächst  nach  dem  dichterischen  Zweck  (oder  den  Zwecken)  der  ganzen 
Dichtung  fragen?  und  dann  erst  nach  der  Stellung  und  Bedeutung  des  fünften  Gesanges 


angez.  von  D.  Mülder.  343 

innerhalb  des  Ganzen?  Wie  kann  man  einen  Teil  eines  Ganzen  als  geschlossenes 
Kunstwerk  ansprechen,  wie  kann  man  untersuchen,  was  für  eine  Art  Kunstwerk 
es  ist,  bevor  man  nicht  Natur  und  Zweck  des  Ganzen  und  das  Verhältnis  der  Teile 
und  besonders  dieses  Teils  zu  ihm  festgestellt  hat?  Z.  B.  ist  die  Ilias  Tatsachen- 
erzählung? Ist  sie  Heldenpreis?  verschiedener  oder  eines  einzigen  Helden  Preis? 
Wo  ist  hier  die  Einheit  in  der  Vielheit  und  besonders,  wie  ist  mit  dieser  Einheit, 
mit  diesem  oder  jenem  Ziel  der  ganzen  Dichtung  eine  Aristie  des  Diomedes  an 
dieser  Stelle  und  in  dieser  Breite  zu  vereinen?  Es  ist  noch  nicht  lange  her,  daß 
man  das  fünfte  Buch  als  „Eindichtung*'  (das  Wort  ist  so  fürchterlich  wie  der 
Begriff)  ansah.  Diese  Hypothese  setzt  voraus,  daß  das  E  eine  inhaltlich  und  for- 
mell gegen  seine  Umgebung  sich  abhebende  geschlossene  Einheit  sei,  die  man  eben 
deshalb  leicht  ausscheiden  könne.  Daran  glaubt  Lillge  so  wenig  wie  ich;  aber  wohin 
gerät  nun  die  Möglichkeit,  das  E  als  ein  Kunstwerk  für  sich  allein  zu  betrachten? 

Man  wird  bei  unbefangener  Überlegung  und  Untersuchung  finden,  daß  vieles 
in  E  notwendiger  Bestandteil  dessen  ist,  was  ich  den  Gesamtrahmen  der  Dichtung 
nenne  (stelle  ich  mir  doch  das  Verhältnis  der  Teile  (der  Szenen)  zum  Ganzen  ganz 
anders  vor  als  Lillge;  vgl.  meine  Ilias  bes.  S.  319  ff.),  aber  man  wird  fragen 
dürfen,  warum  die  Handlung  gerade  so,  gerade  durch  Diomedes  fortgeführt  wird. 
Innerhalb  des  auch  in  E  allerorts  erkennbaren  Gesamtrahmens  bilden  sich  zahl- 
reiche Szenen,  welche  ihn  zwar  zur  Voraussetzung  haben,  auf  ihn  sich  beziehen, 
auch  immer  wieder  zu  ihm  zurückkehren,  aber  doch  selbständigen  Wert  gewinnen. 
Hier  (bei  den  Einzelszenen)  taucht  denn  auch  die  Frage  nach  den  Quellen  auf; 
aber  es  ist  eine  petitio  principii,  wenn  man  für  eine  bunte  Szenenreihe,  die  nur  unter 
einer  Überschrift  zusammengefaßt  worden  ist,  eben  um  dieser  Überschrift  willen 
eine  Quelle  erschließt  —  eine  Diomedesquelle,  wie  man  vor  Lillge  getan  und 
wie  er  selber  tut.     (Anders  in  meiner  Ilias;  vgl.  Stellenregister  zu  E.) 

Für  diesen  lautet  die  Eingangsfrage:  Was  ist  des  Diomedes  Aristie?  Schlacht- 
schilderung oder  Hejdenpreis?  „Heldenpreis",  antwortet  er,  „Preis  des  Diomedes" 
und  entwirft  dann  eine  bewundernde  Schilderung  der  Tektonik  dieses  den  Dio- 
medes preisenden  Kunstwerks  (zwei  Höhepunkte,  bestehend  in  Kämpfen  des 
Diomedes  gegen  Götter  mit  je  zwei  Vorstufen  und  zwei  Ausblicken,  die  dann  wieder 
in  Unterstufen  (Teilvorgänge)  zerlegt  werden).  Hier  wird  von  Auf-  und  Abstiegen, 
von  Steigerungen,  von  Symmetrie,  „die  aber  nicht  schematisch  ist"  und  derlei 
gehandelt,  sodaß  man  überrascht  ist,  wenn  es  in  Teil  II  bei  der  Prüfung  der 
Herkunft  des  Stoffes  heißt  (S.  70) :  Bei  der  Darlegung  der  Komposition  des  E 
war  von  der  Fiktion  ausgegangen  worden,  als  ob  der  Dichter  den  Stoff  des 
Gesanges  frei  aus  sich  herausgestaltet  habe.  Das  hat  er  trotz  seiner  Tektonik, 
die  in  ihrer  hohen  Wertschätzung  der  Symmetrie,  in  der  Strenge  des  Auf  baus  „an 
den  geometrischen  Stil  der  Vasenmalerei  erinnert"  (S.  45),  nicht  getan  und  zwar 
hat  er  eine  Vorlage  benutzt,  die  in  einfachem,  volkstümlichem  Geiste  die  Kämpfe 
des  Diomedes  mit  Aphrodite,  Apollo  und  Ares  erzählte.  Ihr  Inhalt  läßt  sich  noch 
wiedergewinnen  .  .  .  .  (S.  68).  Die  kritische  Analyse  in  diesem  zweiten  Kapitel 
verhält  sich  zu  der  schulmäßigen  Verhimmelung  im  ersten  wie  Wasser  zu  Feuer. 
Verbunden  werden  dann  die  Ergebnisse  beider  in  dem  Satze,  daß  die  Komposition 
(d.  h.  das  Aneinandersetzen  der  Teile)  des  ganzen   Gesanges  E  jedoch  dem 


344  F.  Stürmer,  Exegetische  Beiträge  usw.,  angez.  von  D.  Mülder. 

Dichter  zuzutrauen  sei.  Wichtige  Stücke  desselben,  die  Pandarosszene,  die  olympi- 
schen Szenen  u.  a.  seien  sogar  seine  eigenen  Erfindungen. 

Die  im  ersten  Abschnitt  erweckte  Vorstellung  von  einer  glänzenden  dichte- 
rischen Leistung  des  Dichters  von  E  sinkt  dann  noch  weiter  durch  die  Betrachtung 
seiner  „Stilmittel"  im  dritten.  Es  werden  geprüft  die  schmückenden  Beiwörter, 
die  Gleichnisse,  die  Monologe,  Dialoge,  Schlachtschilderungen,  in  HIB  aber  auch 
,,die  allgemeinen  Gesetze,  welche  die  volkstümliche  Erzählungskunst  beherrschen" 
(nach  Lillge  in  lapidarer  Form  aufgestellt  von  dem  Dänen  Axel  Olrik,  Ztschr.  f. 
d.  A.  1909,  S.  Iff.),  als  da  sind  „Eingangsgesetz"  und  „Gesetz  des  Abschlusses", 
Gesetz  der  Wiederholung  und  der  szenischen  Zweiheit,  des  Gegensatzes,  der  Zwil- 
linge, das  Gesetz  vom  Topp-  und  Achtergewicht,  der  Einsträngigkeit  usw. 

Das  Endergebnis  ist:  1.  dem  E  zugrunde  liegt  ein  Märchen  vom  „starken  Hans*', 
2.  das  Märchen  wurde  Sage,  der  starke  Hans  wurde  Diomedes,  3.  aus  der  Sage 
wurde  improvisierter  Heldengesang,  4.  Gesang  berufsmäßiger  Sänger,  5.  die  Sänger 
traten  in  den  Dienst  des  Adels;  der  Heldengesang  wurde  aristokratisch,  nachdem 
er  bereits  vorher  Rezitation  geworden  war  (auf  dieser  Stufe  stand  die  alte  Diomedes- 
dichtung,  die  Vorlage  für  das  E).  6.  der  Schöpfer  unseres  E  erweiterte  diese  Vor- 
lage, gestaltete  sie  um  und  stellte  sie  in  einen  neuen  Zusammenhang,  sodaß  sie 
ein  Bestandteil  eines  umfänglichen  Leseepos,  der  Ilias,  wurde.  Dieses  Leseepos  ist 
schon  nicht  mehr  recht  aristokratisch,  die  Hochachtung  vor  dem  Adel  ist  im 
Schwinden;  bald  wird  (7.)  das  bürgerliche  Epos,  die  Odyssee,  entstehen. 

Also  die  Ilias  ist  ein  Leseepos  und  das  den  Diomedes  preisende  Kunstwerk  E 
ein  Bestandteil  desselben  —  das  ist  alles,  was  der  Verfasser  über  das  Verhältnis  des 
Teils  zum  Ganzen  weiß.  Und  unangerührt  bleibt  das  eigentliche  Problem:  wie 
kommt  eine  solche  Dichtung,  ein  solcher  Heldenpreis  des  Diomedes  (wofür  Lillge  das  E 
hält)  in  die  Ilias?  Oder  ist  die  Ilias  nichts  als  eine  bunte  Sammlung  von 
epischem  Lesestoff?  Und  für  das  dramatische  Pathos,  das  die  ganze  Ilias  durch- 
rauscht, das  nicht  blos  Rezitation,  sondern  überall  {xt^iTjoi?  in  Geste  und  Ton  ver- 
langt, laute  und  leidenschaftliche  [xijxr^oi?  von  der  ersten  Szene  an,  wo  der  Dichter 
sich  nach  einem  möglichst  kurzen  orientierenden  Proömium  sofort  mit  Leidenschaft 
mitten  in  die  Dinge  stürzt,  (vgl.  meine  Ilias  S.  343)  bis  zu  dem  so  mißverstandenen 
Schlußvers, (nach  welchem  man  eine  Fortsetzung  r^'kx^s  8'  'AjxocCwv  für  möglich  ge- 
halten hat  und  noch  möglich  hält),  hat  Lillge  gar  kein  Gefühl.  —  Wie  sollen  wir 
Homer  lesen?  Daß  diese  Frage  für  das  Gymnasium  längst  dringend  geworden  ist, 
das  lehren  solche  Abhandlungen  immer  wieder  aufs  Neue;  leider  kann  man  nicht 
behaupten,  daß  sie  0.  Jäger  (Homer  und  Horaz  im  Gymnasialunterricht)  gelöst 
habe.  — 

Stürmer,  F.,  ExegetischeBeiträgez  urOdyssee.  Buch  I.  Paderborn 
1911.  Ferd.  Schöningh.  120  S.  2  M. 
Der  Verfasser  gehört  zu  den  Leuten,  deren  philologisches  Bemühen  charakteri- 
siert wird  durch  den  Brauch,  sich  in  ein  ausschließliches  Verhältnis  zu  dem  Schrift- 
steller hineinzudenken,  dem  sie  ihre  Tätigkeit  geweiht  haben  ('Unser  Dichter, 
unser  Held,  unser  Homer')  und  die  sich  nun  für  berechtigt  und  verpflichtet  halten, 
Andersurteilende,    denen    sie    nicht    einmal  an  die   Schuhsohlen    reichen,    ohne 


O.  Thiergen,  Methodik  des  neuphilologischen  Unterrichts,  angez.  von  W.  Bohnhardt.   345 

Ausnahme  gar  apodiktisch  und  anmaßlich  abzukanzeln.  Mit  solchen  Leuten  ist  nun 
einmal  nicht  zu  diskutieren.  Grundsätzlich  deckt  Stürmer  „seinen"  Dichter  gegen 
alle  „Vorwürfe",  gegen  allen  „Tadel",  gegen  alle  Nichtswürdigkeiten  der  „nega- 
tiven" Kritik.  Wenn  er  so  von  negativer  Kritik  spricht,  will  er  damit  nicht  etwa 
auch  das  Vorhandensein  einer  positiven  Kritik  anerkennen  —  bewahre  1  alle  wissen- 
schaftliche Homerkritik  von  Aristarch  bis  auf  unsere  Tage  ist  ihrem  Wesen  nach 
negativ.  Positiv  ist  nur  das,  was  der  Verfasser  und  seinesgleichen  an  Homer  aus- 
üben —  was  sie  bescheiden  und  loyal  „Exegese"  zu  nennen  belieben. 

Daß  die  Homerkritik  viel  Spreu  enthält,  vielleicht  mehr  Spreu  als  Weizen, 
kann  unbedenklich  zugegeben  werden  —  es  ist  wirklich  nicht  mehr  nötig,  Düntzer 
zu  widerlegen  — ;  aber  Stürmer  fegt  wahllos  den  Weizen  fort  wie  die  Spreu.  Es 
fehlt  ihm  offenbar  jede  kritische  Ader,  jedes  Unterscheidungsvermögen  —  es  trifft 
auf  ihn  uneingeschränkt  das  Urteil  zu,  welches  ich  (die  Ilias  und  ihre  Quellen  S.  8) 
über  diese  Art  der  Homerbehandlung  gefällt  habe,  daß  sie  mehr  mit  Sentiments 
fechte  als  mit  Gründen,  daß  sie  der  Aufzeigung  von  Anstößen  mit  starker  Betonung 
der  Bewunderung  des  (naiven  und  genialen,  „unseres")  Dichters  entgegenzutreten 
pflege,  daß  Überhebung  und  Unwissenschaftlichkeit  ihr  Kennzeichen  sei. 

Wie  man  übrigens  eine  Exegese  des  1.  Buches  in  Angriff  nehmen  kann,  ohne 
vorher  seine  Stellung  zu  dem  Ganzen,  zu  gewissen  grundsätzlichen  Fragen  fest- 
zulegen und  zu  begründen,  ist  mir  unerfindlich.  Wie  will  man  auch  nur  gelegentlich 
des  allerersten  Verses  die  Frage  der  Nichtnennung  des  Namens  des  Odysseus 
beurteilen,  ohne  das  Problem  des  Verhältnisses  der  Odyssee  zu  älterer  Odysseus- 
dichtung  zu  behandeln?  Entweder  ist  Odysseus  zum  7:oXu-po7ro?  av-/jp,  8?  jxaXa 
TToXXa  -Id^yßri  erst  durch  den  Dichter  der  Odyssee  (wie  ich  glaube)  geworden  — 
dann  ist  die  Nichtnennung  doch  wohl  eine  Ungeschicklichkeit,  oder  er  war,  wie 
Stürmer  hier,  wo  es  ihm  paßt,  einmal  mit  der  „negativen"  Kritik  annimmt,  es 
bereits  in  älterer  Literatur.  Wenn  wir  nun  gleich  schon  im  allerersten  Verse  einen 
so  starken  Einfluß  älterer  Poesie  auf  unseren  Text  zugeben,  wie  sollte  man  nicht 
allerorten  auf  Ähnliches  verdacht  sein  müssen !  Somit  führt  ein  solcher  Verteidi- 
gungsversuch geradewegs  in  die  Schlingen  der  —  Gott  sei  bei  uns!  —  negativen 
Kritik!  Den  Verfasser  freilich  schützt  vor  völligem  Verderben  seine  glückliche 
Ahnungslosigkeit  gegenüber  der  Tragweite  solcher  Fragen  und  Antworten. 

Nach  dem  Vorwort  ist  das  Buch  vor  allem  für  Gymnasiallehrer  und  für  Studenten 
der  klassischen  Philologie  bestimmt.  Für  diesen  Zweck  ist  es  ganz  ungeeignet  und 
ganz  unzulänglich. 

Emden.  Dietrich  Mulde  r. 


Thiergen,    Oscar,     Methodik     des     neuphilologischen     Unter- 
richts. Zweite  Auflage  mit  4  Abbildungen  im  Texte.  Leipzig  und  Berlin  1910. 
B.  G.  Teubner.    VH  u.  159  S.    geh.  3  M.,  geb.  3,60  M. 
Das  Buch,  „neben  der  klassischen  Didaktik  und  Methodik  Münchs  eine  prak- 
tische Pädagogik"  (Engwer),  ist  in  der  ersten  Auflage  (1903)  von  der  Kritik  sehr 
beifällig  aufgenommen  worden.  Es  bezweckte  in  erster  Linie  die  Ausführung  der 
Bestimmungen  der  neuen  Lehrpläne  vom  Jahre  1901  und  eine  vermittelnde  Methode 


346        E.  Pariselle,  L.  Herrig:  La  France  litteraire,  angez.  von  W.  Bohnhardt. 

zu  sein,  die  die  Vorzüge  der  grammatischen  und  der  Reformmethode  vereint, 
ihre  Schwächen  aber  zu  vermeiden  sucht.  Münch  bekundet  in  dem  Vorwort  der 
dritten  Auflage  der  „Didaktik**  seine  große  Wertschätzung  der  Thiergenschen 
Arbeit  und  greift  gerne  in  vielen  seiner  Kapitel  auf  sie  zurück.  Die  vorliegende 
Auflage  ist  etwas  weniger  umfangreich  (159  S.  gegen  183).  Die  Art  und  Weise, 
wie  Thiergen  die  Lehrmethoden  charakterisiert  und  den  Lehrgang  in  den  ein- 
zelnen Disziplinen  darlegt,  fordert  zum  Nachdenken,  meist  auch  zur  Nachahmung 
auf.  Wir  erkennen  den  erfahrenen  Praktiker,  der  durch  seine  fast  ein  Menschen- 
alter umspannende  Wirksamkeit  an  den  verschiedenen  Schulgattungen  Sachsens 
und  durch  den  Verkehr  mit  hervorragenden  Fachgenossen  reiche  Erfahrung  und 
tiefes  Verständnis  für  alle  möglichen  Fragen  gewonnen  hat.  Der  Rahmen  der  Schrift 
(4  Kapitel:  Vorbereitung  des  Neuphilologen  auf  seinen  Beruf,  seine  Arbeit,  Lehr- 
methoden und  Lehrgang)  ist  derselbe  geblieben;  gekürzt  wurden  die  Erörterungen 
über  Auslandsreisen,  erweitert  die  Kapitel  Transskription  und  Phonetik.  Selbst- 
verständlich haben  die  Ausführungsbestimmungen  des  Preußischen  Kultusmini- 
steriums zu  dem  Erlasse  von  1908  über  die  Neuordnung  des  höheren  Mädchenschul- 
wesens Beachtung  gefunden.  —  Dieser  kurze  Hinweis  auf  das  wegen  einer  Fülle 
von  gesunden  und  treffenden  Anschauungen  bemerkenswerte  und  sich  durch  guten 
Druck  auszeichnende  Buch  möge  hier  genügen.  Es  wird  nach  des  Verfassers  Wunsch 
dem  Anfänger  ein  Wegweiser  sein  in  dem  Labyrinthe  methodischer  Fragen,  das 
bei  seinem  Amtsantritt  vor  ihm  liegt. 

Pariselle,  Eugene,  L.  Herrig:  La  France  litteraire.  Edition 
abregee.  Morceaux  choisis  des  grands  ecrivains  frangais  du  XV 11^  au  XX* 
siecle.  Brunswick  1910.  George  Westermann.  8«.  IV  u.  369  S.  geb.  3,50  M. 
Dem  häufig  geäußerten  Wunsche  nach  einer  gekürzten,  allen  neuesten  An- 
forderungen genügenden  Ausgabe  des  alten  Herrig-Burguy-Tendering,  der  in 
seiner  47.  Auflage  in  der  Monatschrift  IV,  562  angezeigt  wurde,  hat  Pariselle 
zu  unserer  Freude  entsprochen.  Den  von  der  Kritik  gegen  die  alte  Sammlung 
erhobenen  Einwänden  hat  er  verständig  Rechnung  getragen  und  hat,  wie  es  von  einem 
so  feinen  Kenner  der  französischen  Literatur  und  erfahrenen  Pädagogen  wohl  zu 
erwarten  war,  seine  Aufgabe  mit  Geschick  gelöst.  Die  neue  Anthologie  dürfte 
lebensfähig  sein.  Von  dem  ehemaligen  Riesenband  finden  wir  nur  den  Namen  und 
die  großen  Umrisse  wieder;  die  708  Seiten  Text  sind  auf  280,  der  Kommentar  von 
122  auf  90  Seiten  zusammengezogen.  Einverstanden  sind  wir  mit  den  in  der  Pr^face 
angedeuteten  Grundsätzen,  welche  Auswahl  der  Autoren  und  Umfang  der  Frag- 
mente bestimmen.  Maßgebend  waren  charakteristische  Eigenart  nach  Form  und 
Inhalt;  Kürzungen  geschahen  oft  aus  didaktischen  Rücksichten.  Unerkläriich 
bleiben  uns  nur  die  Gründe  für  die  Beibehaltung  der  Bruchstücke  aus  den  klassischen 
Dramen,  die  im  Unterricht  als  Ganzes  zu  behandeln  und  obendrein  in  billigen  Sonder- 
ausgaben zu  haben  sind.  Hier  wäre  mancher  Raum  für  andere  lesenswerte  Stoffe 
gewesen.  Anders  liegt  der  Fall  bei  dem  Monolog  des  Figaro  und  der  bekannten 
Nasenszene  im  Cyrano  de  Bergerac.  Mehr  von  diesen  Stücken  in  der  Klasse  zu 
lesen,  verbietet  die  der  Lektüre  des  Dramas  knapp  zubemessene  Zeit.  Den  größten 
Veränderungen  bezüglich  des  Stoffes  wurde  das   19.   Jahrhundert  unterworfen, 


M.  Montgomery,  Types  of  Standard  usw.,  angez.  von  A.  Rohs.  r]  347 

und  das  ist  der  Hauptvorzug  der  neuen  Chrestomathie.  Vor  allem  läßt  Pariselle 
mit  wenigen  Ausnahmen  die  für  die  Schule  wertvollen  Prosaiker  (fast  30^Namen), 
von  denen  die  meisten  früher  schmerzlich  vermißt  wurden,  jetzt  zu  Worte  kommen. 
Die  Auswahl  ist  recht  ansprechend.  Für  die  Lyrik  wird  man  jedoch  am  besten 
wieder  zu  einer  der  neuen  vorzüglichen  Anthologien  greifen,  die  durch  die  ganze 
Oberstufe  den  Schüler  begleiten.  Zeitgemäß  dünkt  uns  der  Abdruck  von  Sully- 
Prudhommes  „Les  Aeronautes".  Weiser  Beschränkung  befleißigt  sich  auch  der  in 
französischer  Sprache  abgefaßte  Kommentar,  der  in  ästhetisch-kritischer  Beziehung 
dem  Lehrer  freien  Spielraum  gewährt.  Er  bringt  nur  eine  kurze  für  das  Verständnis 
der  Stelle  notwendige  orientierende  Angabe,  geschichtliche  und  geographische 
Notizen  und  umschreibt  in  Fällen,  wo  die  Wörterbücher  vielleicht  in  Stich 
lassen,  veraltete  oder  volkstümliche  Formen.  Einzelne  Erscheinungen  sollten^aber 
den  Primanern  vertraut  sein.  Nicht  immer  wird  auch  bei  den  französischen  Er- 
klärungen eines  Begriffs  das  Wörterbuch  unentbehrlich  für  den  Schüler  (z.  B.'202, 
54  claie  =  tr eillis  servant  ä  passer  le  sable).  Als  Ersatz  für  eine  selbständige 
französische  Literaturgeschichte,  von  der  Pariselle  wegen  des  Umfangs  der  Samm- 
lung absah,  hat  er  sich  auf  eine  chronologische  Aneinanderreihung  der  Autoren 
beschränkt  und  den  Anmerkungen  knappe  biographische  Einleitungen  voraus- 
geschickt, die  er  zum  großen  Teil  seiner  Histoire  sommaire  de  la  litterature  frangaisejihel 
Freytag-Tempsky)  entnahm.  Systematische  Anordnung  der  Autoren^nach  Gruppen 
wäre  zum  besseren  Verständnis  der  Tendenzen  einer  Epoche,  einer  Gattung,  eines 
einzelnen  Schriftstellers  viel  zweckentsprechender  gewesen.  Auf  diese  Weise  ließe 
sich  an  der  Sammlung,  wenn  auch  in  beschränktem  Maße,  Literaturgeschichte 
betreiben.  Durch  16  sehr  gut  gelungene  Abbildungen  von  berühmten  Bauwerken 
(hauptsächlich  aus  Paris)  und  Landschaften,  deren  die  Texte  Erwähnung  tun, 
sowie  durch  1  Karte  und  Skizze  zu  Thiers,  la  bataille  des  Pyramides,  einen  Plan  von 
Paris  und  eine  farbige  Karte  {la  France  politique)  kommt  auch  die  Anschauung  zu 
ihrem  Recht.  Die  inhaltlich  so  vielseitig  ausgestaltete  und,  wie  wir  sahen,  ganz  neue, 
aber  unter  der  alten  Flagge  segelnde  Chrestomathie  liegt  in  einem  geschmackvollen 
und  handlichen  Bande  vor.  Der  Herausgeber  denkt  ihn  sich  als  ein  Lektürebuch 
für  Anstalten,  an  denen  dem  Studium  der  französischen  Sprache  und  Literatur 
nur  wenige  Stunden  zur  Verfügung  stehen;  er  verdient  nach  allem  einen  nicht  so 
eng  begrenzten  Leserkreis.  -_ 

Düsseldorf.  '  -         Z  f W.  Bohnhardt. 

Montgomery,  Marshall,  Types  o  f  Standard  S  p  o  k  e  n  E  n  g  I  i  s"h  and 
its  Chief  Local  Variants.  Straßburg  1910.  Karl  Trübner.  8».  80  S."  2  M. 
Das  zu  tieferen  Studien  anregende  Buch  enthält  vierundzwanzig  phonetische 
Umschriften  aus  dem  2.  Teil  der  von  Max  Foerster  neu  bearbeiteten 'British  Classical 
Authors*.  Obwohl  es  in  erster  Linie  für  Studierende  bestimmt  (und  auch  aus  den 
praktischen  neuenglischen  Seminarübungen  an  der  Gießener  Universität  hervor- 
gegangen) ist,  sei  es  doch  auch  in  dieser  Monatschrift  allen  Fachgenossen  warm 
empfohlen,  die  das  Lesen  phonetischer  Texte  auch  im  späteren  Leben  noch  für 
eine  nicht  ganz  unnütze  Beschäftigung  halten,  oder  die  sich  einmal  wieder  in  das 
Studium  englischer  Dialektkunde  versenken  möchten,  wenn  ihnen  die  Gelegenheit 


348      H.  Lorenz,  Einführung^  in  die  Elemente  usw.,  angez.  von  H.  Steckelberg. 

dazu  an  Ort  und  Stelle  —  wie  leider  meistens!  —  nicht  geboten  ist.  Und  wer  in  der 
glücklichen  Lage  ist,  den  Herrig-Foerster  in  den  Händen  seiner  Schüler  zu  wissen, 
wird  auch  für  die  eigentlichen  Zwecke  des  Unterrichts  reichen  Nutzen  aus  diesen 
Texten  ziehen  können.  Sie  gliedern  sich  in  drei  Hauptgruppen,  von  denen  die  erste 
die  sorgfältig  kunstvolle,  akademische  Aussprache  des  Redners  und  Deklamators 
{Elaborate  Pronunciation),  die  zweite  die  normalen  Lautbilder  der  Sprache  der 
Gebildeten  (Normal  Pronunciation),  die  dritte  die  schnelle,  familiäre  und  zwang- 
lose Sprache  des  Alltagslebens  (in  der  z.  B.  die  unbetonten  Silben  eine  allgemeine 
Neigung  zu  dem  kurzen  schwachen  d  zeigen)  darstellt.  Diese  dritte  Gruppe  enthält 
zunächst  Umschreibungen  in  mustergültigem  (Standard)  Englisch,  sodann  ein 
Stück  aus  Kingleys  Xharity'  in  neun  verschiedenen  Dialekten,  mit  Zusammen- 
stellungen der  wichtigsten  Kennzeichen.  Die  Umschrift  lehnt  sich  —  sehr  zweck- 
mäßig —  eng  an  die  des  Grieb-Schroerschen  Wörterbuchs  an.  Natürlich  mußten, 
da  es  sich  sehr  oft  um  feinere  Unterscheidungen  in  Lautschattierung  und  Be- 
tonung handelt,  besondere  Zeichen  gefunden  werden,  die  solche  ermöglichen.  Ob 
deren  Wahl  immer  glücklich  gewesen  ist,  läßt  sich  hier  nicht  erörtern;  aber  es  sei 
doch  bemerkt,  daß  es  sehr  schwer  ist,  zu  einer  Einigung  über  diese  Einzelheiten 
zu  gelangen,  die  übrigens  für  die  Schule  ziemlich  belanglos  sein  dürften.  Selbst- 
verständlich darf  uns  das  treffliche  Büchlein  nicht  verführen,  auch  in  den  englischen 
Schulunterricht  die  'Rapid  Pronunciation'  eindringen  zu  lassen;  denn:  'The  English 
language  sounds  much  better  when  properly  pronounced;  and  foreigners  are  very  api 
to  make  mistakes  in  using  contractions'  (The  English  Scholar). 

Crefeld.  Alfred   Rohs. 

Lorenz,  Hans,   Einführung  in  die   Elemente  der  höheren  Ma- 
thematik  und   Mechanik.     Für  den  Schulgebrauch  und  zum  Selbst- 
unterricht.  126  Figuren.  Berlin  und  München  1910.  R.  Oldenbourg.  8^  IV  u. 
176  S.    geb.  2,40  M. 
Der  Verfasser,  Professor  an  der  Technischen  Hochschule  zu  Danzig,  stellt 
hohe  Anforderungen  an  die  Primaner,  wenn  er  meint,  daß  sie  den  reichen  Stoff, 
den  das  Buch  bietet,  bewältigen  könnten.    Er  führt  den  Leser,  indem  er  Punkt, 
Gerade  und  Ebene  im  Räume,  sowie  krumme  Oberflächen  (Ellipsoide,  Hyper- 
boloide, Paraboloide,  Zylinder-  und  Schraubenflächen)  und  Raumkurven  behandelt, 
recht  weit  in  die  analytische  Geometrie  des  Raumes  ein;  ebenso  erscheint  das  Kapitel 
über  Mechanik  für  den  Durchschnittsprimaner  selbst  an  Realanstalten  zu  reich- 
haltig. Hat  an  einer  Anstalt  eine  Trennung  der  Prima  in  eine  sprachlich-historische 
und  mathematisch-naturwissenschaftliche  Abteilung  stattgefunden,  dann  mag  die 
letztere  tiefer  in  die  Geheimnisse  der  höheren  Mathematik  und  Mechanik  eindringen; 
dann  hat  man  es  aber  auch  mit  Schülern  zu  tun,  die  ein  besonderes  Interesse  und 
eine  besondere  Befähigung  für  diese  Wissenschaften  mitbringen  und  mit  ihrem 
Hunger  nach  neuem  Wissensstoff  auch  größere  Schwierigkeiten  überwinden  werden. 
Das  Buch  eignet  sich  danach  weniger  für  die  höheren  Lehranstalten  als  viel- 
mehr für  den  angehenden  Studenten.  Dieser  findet  neben  trefflichen  Erläuterungen, 
welche  die  einzelnen  Kapitel  der  analytischen  Geometrie,  der  Differential-  und 
Integralrechnung  sowie  der  analytischen  Mechanik  einleiten,  eine  Fülle  von  Übungs- 


F.  Bendt,  Grundzüge  usw.,  angez.  von  H.  Steckelberg.  349 

Stoff,  dessen  Durcharbeitung  die  theoretischen  Kenntnisse  sichern  und  befestigen 
wird.  Hierbei  geht  der  Verfasser  vielfach  eigene  Wege;  er  führt  z.  B.  frühzeitig 
Polarkoordinaten  ein  und  entwickelt  mit  deren  Hilfe  auf  einfachste  Weise  die 
Differentialquotienten  der  trigonometrischen  Funktionen;  er  leitet,  indem  er  einen 
Kreiskegel  durch  eine  Ebene  schneidet,  die  allgemeine  Kegelschnittsgleichung 
ab  und  findet  nachher  die  besonderen  Eigenschaften  der  einzelnen  Kegelschnitte. 
Überflüssig  erscheint  die  sogenannte  elementare  Ableitung  der  Gleichung  einer 
Kreistangente,  da  ja  später  mit  Hilfe  der  Differentialquotienten  die  Tangenten 
beliebiger  Kurven  bestimmt  werden.  Überhaupt  wäre  zu  erwägen,  ob  nicht  zweck- 
mäßig das  Kapitel  über  Differential-  und  Integralrechnung  demjenigen  über  ana- 
lytische Geometrie  voranzustellen  wäre. 

In  der  Mechanik  werden  die  Begriffe  Geschwindigkeit  und  Beschleunigung 
als  Differentialquotienten  entwickelt  und  darauf  die  Kapitel  über  Zentralbewegung, 
über  Kraft  und  Masse,  über  Kräftepaare  und  statische  Momente,  über  die  Be- 
wegung starrer  Körper  und  über  die  Arbeit  behandelt. 

Der  endliche  Zuwachs  Ax  und  Ay  findet  sich  in  den  Ableitungen  an  keiner 
Stelle;  so  kommt  es,  daß  in  den  Figuren  die  unendlich  kleinen  Differentiale  dx 
und  d  y  stets  als  endliche  Größen  auftreten  müssen.  Im  übrigen  sind  Druck  und 
Ausstattung  des  Buches  nur  zu  loben;  Druckfehler  sind  nicht  gefunden  worden. 
Das  Buch  kann  allen  Interessenten  warm  empfohlen  werden. 

Bendt,  Franz,    Grundzüge    der    Differential-    und    Integral- 
rechnung.   Vierte,  verbesserte  Auflage  mit  39  in  den  Text  gedruckten  Ab- 
bildungen.   Leipzig  1910.    J.  J.  Weber.    XVI  u.  267  S.    3  M.    (Aus  der  Samm- 
lung von  Webers  illustrierten  Handbüchern.) 
Der  Verfasser  wendet  sich  in  der  Vorrede  an  „Leser,  die  die  Mathematik  nur 
als  Mittel  für  ihren  besonderen  Zweck  betreiben;  er  meint  daher  auf  strenge  Beweis- 
führung verzichten  zu  dürfen.     Er  rechnet  und  hofft  nicht  auf  die 
Gunst  derMathematiker;  er  ist  befriedigt,  wenn  es  ihm  gelingt,  seinen 
Lesern  in  kurzer  Zeit  das  Studium  der  Schriften  zu  ermöglichen,  in  denen  die  höhere 
Mathematik  verwendet  wird". 

Man  sollte  nun  meinen,  daß  ein  Buch,  welches  in  vierter  und  verbesserter 
Auflage  erscheint,  weniger  Anhaltspunkte  zu  berechtigter  Kritik  bieten  müßte 
als  das  vorliegende.  Die  Gunst  der  Mathematiker  wird  es  allerdings  nicht  erringen; 
denn  es  enthält  Falsches,  Unklares,  Unkorrektes  in  Fülle.  Im  folgenden  mögen 
einige  Fälle  herausgegriffen  werden: 

Wenn  es  heißt  (S.  27) :  „  ^'^^  ^  =  1 ;  denn  die  Figur  läßt  erkennen,  daß  im 
Augenblick  des  Verschwindens  für  x=0  auch  sin  x=0  wird,"  so  müßte  aus  dem 
gleichen  Grunde  jeder  Differentialquotient  =  1  sein,  da  sein  Zähler  und  Nenner 
gleichzeitig  zu  0  werden;  d.  h.  die  ganze  Grundlage  der  Differentialrechnung  wäre 
hinfällig.  •  1 

Falsch  ist  (S.  84),  daß  der  Ausdruck  ^&^  übergeht  in      ^^f'^    ;    es     müßte 

vielmehr  heißen     ^  |^'^  . 
TM 


?(Xi) 


350  F.  Bendt,  Grundzüge  usw.,  angez.  von  H.  Steckelberg. 

In  Figur  5  hat  die  Kurve  in  E  eine  Spitze;  die  Tangente  in  diesem  Punkte 
steht  zur  Abszissenachse  senkrecht.  Denkt  man  sich  die  Kurve  nur  ein  wenig 
gedreht,  so  ändert  sich  die  Lage  des  Maximums  bei  A  und  des  Minimums  bei  B; 
dagegen  bleibt  die  Spitze  E  ein  höchster  Punkt;  die  Tangente  in  diesem  Punkte 
steht  jedoch  nicht  mehr  senkrecht.  Damit  fällt  auch  die  Schlußfolgerung,  daß  ein 
extremer  Punkt  an  der  Stelle  liegt,  wo  der  erste  Differentialquotient  gleich  0 
oder  00  ist. 

Falsch  ist  es  ferner,  wenn  (S.  78)  in  dem  Ausdruck  für  f"  (x)  und  nachher 
f"(0)  der  Exponent  (n— 1)  beim  Faktor  (—1)  fehlt,  und  wenn  (S.83)  als  erstes  Glied 

i(x) 
der  rechten  Seite  der  Quotient  —-  \  genannt  wird. 

Unklar  ist  (S.  4)  die  Gleichung,  welche  die  Beziehungen  zwischen  den  Bino- 

mialkoeffizienten  der  n  ten  und  (n+  1)  ten  Potenz  eines  Binoms  ausdrücken  soll. 

Sie  wird  dem  ungeschulten  Leser  auch  trotz  der  folgenden  Erläuterungen  nicht 

verständlicher,  und  sie  läßt  sich  so  leicht  ausdrücken  in  der  Form:  (""^M  =  (")  + 

Das  beigefügte  Beispiel  enthält  die  unkorrekte  Ausdrucksweise  „der  3.  Koeffizient 
von  (a  +  b)^  ist  gleich  dem  2.  und  3.  Koeffizienten  von  (a  +  b)  ^",  anstatt  zu  sagen 
,, gleich  der  Summe  aus  .  .  .  .". 

Ein  krasses  Beispiel  von  Unklarheit  ist  die  —  sonst  so  einfache  —  Ableitung 
der  Tangentengleichung  (S.  102).  Hier  ist  die  Rede  von  den  „Koordinaten  einer 
Tangente";  hier  wird  die  Gleichung  y=ax+m,  worin  y  und  x  die  Koordinaten 
des  Berührungspunktes,  also  bestimmte,  sein  sollen,  differentiiert.  Dies  Diffe- 
rentiieren  ist  überflüssig;  es  muß  vielmehr  aus  der  Gleichung  der  Kurve,  deren 
Tangente  bestimmt  werden  soll,  der  Differentialquotient  abgeleitet  und  dieser 
dann  als  Richtungskonstante  in  die  Tangentengleichung  eingesetzt  werden,  wie 
es  auf  S.  31  vorbereitet  war  und  wie  es  auch  im  nachfolgenden  Beispiel  von  der 
Parabel  gemacht  worden  ist. 

Unverständlich  ist  ferner  §  92,  welcher  von  der  Bildung  der  Differential- 
quotienten impliziter  Funktionen  handelt.  Hier  sind  anfangs  u  und  v  Funk- 
tionen von  x;  dann  wird  plötzlich  als  spezieller  Fall  u=  x  und  v=  y  gesetzt,  und 
aus  diesem  speziellen  Falle  sollen  sich  wieder  allgemeine  Regeln  ergeben !  Warum 
wird  nicht  von  vornherein  x  und  y  benutzt?  Die  Größen  u  und  v  sind  überflüssig 
und  bringen  nur  Unklarheit.  Das  Resultat  konnte  übrigens  direkt  aus  dem  totalen 
Differential  auf  S.  131  entnommen  werden. 

Unkorrekt  ist  die  Figur  16,  worin  in  Übereinstimmung  mit  dem  Texte  QQ^ 
=  QQ2  gemacht  werden  muß;  unkorrekt  ist  (S.  113)  das  Weglassen  der  höheren 
Potenzen  in  Gleichung  6;  unkorrekt  ist  es  (S.  120),  von  der  Entfernung  einer  Linie 
von  einer  Achse  zu  sprechen  und  (S.  201)  a  s  als  Sehne  zu  bezeichnen. 

Zu  tadeln  sind  außerdem  mancherlei  Nachlässigkeiten  in  der  Darstellung 
und  unschöne  Ausdrücke.  Es  heißt  z.  B.  S.  48:  „Der  Differentialquotient  eines 
Bruches  ist  gleich  dem  Nenner  mal  dem  Differentialquotienten  des  Zählers, 
vermindert  um  den  Zähler  mal  dem  Differentialquotienten  des  Nenners;  die 
Differenz  dividiert  durch  das  Quadrat  des  Nenners." 

Ferner  vergleiche  man  das  Satzgebilde  (S.  60):    „Differentiiert,  d.h.  bilden 


O.  Handel,  Einführung  usw.,  angez.  von  H.  Steckelberg.  351 

wir  das  Differential",  und  S.  97:  ,, Diese  Ausdrücke  müssen  entgegengesetzte 
Vorzeichen  haben,  d  a  ß  ein  Maximum  oder  Minimum  eintreten  kann,"  und  S.  146, 
letzte  Zeile:    , »ergibt  gleich." 

Aus  dem  Vorstehenden  ist  wohl  ersichtlich,  daß  das  Buch  vor  den  Augen  des 
Mathematikers  —  wie  der  Verfasser  nach  der  Vorrede  bereits  zu  vermuten  scheint  — 
nur  schlecht  bestehen  kann,  und  daß  der  ungeübte  Leser  es  nur  mit  größter  Vorsicht 
gebrauchen  sollte.  Anzuerkennen  ist  die  Fülle  des  gebotenen  Materials;  es  werden 
alle  wichtigen  Rechnungsmethoden  der  Differential-  und  Integralrechnung  mit- 
geteilt; auch  die  Differentialgleichungen  werden  behandelt.  Umfangreiche  Formel- 
tafeln erleichtern  die  Benutzung  des  Buches. 

Handel,  Otto,  Einführung  in  die  Differential-  und  Integral- 
rechnung. Zum  Gebrauch  an  höheren  Lehranstalten.  64  Figuren.  Berlin 
1910.    Weidmannsche  Buchhandlung.     IVu.  116S.    2  M. 

Auf  Erfahrungen  fußend,  die  vom  Verfasser  selbst  im  Primaunterricht  ge- 
macht wurden,  will  das  Büchlein  zur  weiteren  Klärung  der  Frage,  inwieweit  die 
Infinitesimalrechnung  in  den  Schulunterricht  eingeführt  werden  könne,  beitragen 
und  für  dahin  gehende  Versuche  einen  Anhalt  bieten. 

Das  Buch  kann  für  solche  Versuche  nur  empfohlen  werden.  Ein  erfahrener 
Pädagoge  spricht  aus  ihm,  der  es  versteht,  auch  schwierige  Ableitungen  in  voller 
Klarheit  darzulegen.  Ein  Vorzug  des  Buches  ist  neben  der  Fülle  des  Stoffes  die 
^ürze  und  Knappheit  des  Ausdrucks,  die  dennoch  strenge  Beweisführung  liefert 
und  nichts  Wesentliches  vermissen  läßt.  Ein  Schüler,  der  unter  Anleitung  eines- 
tüchtigen  Lehrers  das  Büchlein  durcharbeitet,  erwirbt  damit  ein  sicheres  Funda- 
ment, auf  dem  er  weiterbauen  kann,  und  ein  Rüstzeug,  mit  dem  er  manche  Auf- 
gaben des  praktischen  Lebens  zu  lösen  vermag.  Wer  ein  sicheres  Verständnis 
des  mathematischen  Pensums  der  mittleren  Klassen  mitbringt,  wer  mit  Potenzen 
und  Wurzeln  und  mit  dem  Lösen  von  Gleichungen  völlig  vertraut  ist,  der  kann  be- 
reits in  0  II  den  Begriff  des  Differentialquotienten  erfassen  und  in  I  von  dessen 
vielseitigen  Anwendungen  Gebrauch  machen. 

Im  ersten  Kapitel  des  Buches  wird  eine  Zusammenstellung  des  auf  früheren 
Klassenstufen  gebotenen  Lehrstoffs  über  den  Funktionsbegriff  und  die  graphische 
Darstellung  der  Funktionsgleichungen  gegeben.  Es  schließt  sich  eine  elementare 
Bestimmung  von  größten  und  kleinsten  Werten,  sowie  eine  Betrachtung  von  Grenz- 
werten und  deren  Anwendung  zur  Flächen-  und  Raumberechnung  an.  So  bietet 
dieses  Kapitel  eine  treffliche  Einleitung  in  die  Differential-  und  Integralrechnung. 

Nachdem  dann  der  Begriff  des  Differentialquotienten  auf  geometrischem 
Wege  gefunden  ist,  werden  die  Regeln  des  Differentiierens  der  verschiedenartigsten 
Funktionen  entwickelt  und  die  Resultate  zur  Lösung  von  Aufgaben  aus  der  Geo- 
metrie und  Physik  benutzt.  Maxima  und  Minima,  Kurventangente  und  Kurven- 
normale, Geschwindigkeit  und  Beschleunigung,  der  Krümmungskreis,  die  un- 
bestimmte Form  —  und  selbst  die  Differentiation  unentwickelter  Funktionen 
o 

werden  behandelt. 


352  O.  Handel,  Einführung  usw.,  angez.  von  H.  Steckelberg. 

Es  folgt  ein  Kapitel  über  die  unendlichen  Reihen.  Die  Konvergenzbedin- 
gungen werden  festgestellt,  der  binomische  Lehrsatz  wird  mit  Hilfe  der  höheren 
Differentialquotienten  zunächst  für  positive  ganze,  dann  für  beliebige  Exponenten 
entwickelt.  Aus  der  Mac  Laurinschen  Formel  ergeben  sich  die  Reihen  für  e^,  sin  x 
und  cos  X.  Die  logarithmische  Reihe  wird  gefunden  mit  Hilfe  des  Satzes,  daß  zwei 
Funktionen  gleich  sind,  wenn  ihre  Differentialquotienten  gleich  sind.  :; 

Die  Integralrechnung,  welche  als  Umkehrung  der  Differentialrechnung  ent- 
wickelt wird,  bringt  Anwendungen  auf  Quadratur  und  Kubatur,  auf  Rektifikation 
und  Komplanation;  auch  einige  Aufgaben  aus  der  Mechanik  werden  behandelt, 

^Eine  Reihe  von  Aufgaben,  die  den  theoretischen  Erörterungen  beigegeben 
sind,  erleichtert  das  Verständnis;  außerdem  findet  sich  auf  den  letzten  24  Seiten 
eine  große  Zahl  von  nicht  durchgerechneten  Aufgaben  als  willkommener  Übungsstoff. 

Für  eine  zweite  Auflage  möge  auf  einige  Druckfehler  aufmerksam  gemacht 
werden:    In  Figur  19  ist  h  zu  lang  geraten;  in  Figur  22  fehlt  die  Gerade  y'"=  2; 

auf  Seite  18  muß  es  heißen:  v=2rT..-Y  -  •  •;  auf  Seite  20,  5.   Beispiel:  yi=  2  x^- 

—  5;  auf  Seite  29,  5.  Beispiel:  fi(Xi  +  6)  =  +  3  o  .  (o  +  2);  auf  Seite  48:  Die  Krüm- 
mung eines  Kreises  ist  um  so  stärker,  je  kleiner  der  Radius;  auf  Seite  90: 

Xi=X    ^1         ^  Xi=X  Xi         X 

Alles  in  allem:  Das  Buch  ist  ein  vorzügliches  Hilfsmittel  für  den  Unterricht 
und  für  die  Wiederholung.  Der  Wunsch  des  Verfassers,  „es  möge  einigen  Nutzen 
stiften  und  sich  manchen  Freund  erwerben",  wird  hoffentlich  in  Erfüllung  gehen. 

Gronau  i.  W.  HeinrichSteckelberg. 


^5^ 


I.  Abhandlungen, 


Die  griechische  Mathematik. 

Der  Gedanke  einer  Behandlung  der  griechischen  Mathematik  auf  dem  Gym- 
nasium ist  in  der  letzten  Zeit  mehrfach  aufgetaucht.  Ich  will  nur  auf  zwei  Schriften 
hinweisen,  die  ihn  energisch  vertreten:  den  Vortrag  von  Alois  Riehl 
„Humanistische  Ziele  des  mathematischen  und  natur- 
wissenschaftlichen Unterrichtes"  (Berlin  1909)  und  das  kleine 
Buch  von  Max  Schmidt  „Realistische  Stoffe  im  humani- 
stischen Unterricht**  (2.  Auflage  Leipzig  1910).  Diese  Schriften  zeigen 
schon  in  ihrem  Titel,  von  welchen  verschiedenen  Seiten  aus  man  an  die  Frage 
herantreten  kann.  Entweder  handelt  es  sich  nämlich  um  die  humanistische  Er- 
gänzung des  mathematischen  Unterrichts  durch  ein  Eingehen  auf  die  antiken 
Quellen  oder  um  die  Förderung  des  realistischen  Interesses  im  altsprachlichen 
Unterricht  und  die  Hervorhebung  der  Bedeutung,  welche  die  mathematischen 
und  naturwissenschaftlichen  Schriften  der  Griechen  für  das  volle  Verständnis  der 
antiken  Kultur  besitzen. 

Das  entscheidende  Moment  scheint  mir  aber  damit  noch  nicht  getroffen. 
Dieses  ist  meiner  Meinung  nach  die  Überbrückung  der  Kluft,  die  sich  innerhalb 
des  Gymnasialunterrichts  zwischen  den  humanistischen  und  den  realistischen 
Fächern  auftut.  Alle  beanspruchen  für  sich  die  volle  Anteilnahme  des  Schülers, 
ohne  zu  bedenken,  daß  sie  damit  eine  Vielseitigkeit  des  Interesses  fordern,  die 
an  das  Übermenschliche  streift.  Das  alte  Sturmsche  Gymnasium  besaß  gerade 
in  seiner  Einseitigkeit  den  gewaltigen  Vorzug,  daß  es  die  Ausbildung  der  unsrigen 
gegenüber  viel  einheitlicher  und  geschlossener  ließ.  Der  eine  Zielpunkt,  die  Er- 
ziehung der  literata  pietas,  lenkte  den  ganzen  Unterricht  und  dieser  zerfiel  nicht  wie 
bei  uns  in  eine  Anzahl  untereinander  zusammenhangloser  Lehrfächer.  Die  Schüler 
wurden  nicht  von  Stunde  zu  Stunde  einem  anderen  Spezialisten  ausgehändigt, 
der  nicht  bloß  einen  neuen  Gegenstand  behandelt,  sondern  auch  eine  neue  Arbeits- 
art und  Gedankenrichtung  verlangt,  vielmehr  vereinigte  jeder  Lehrer  in  sich  die 
Gesamtheit  alles  Wissens,  das  dem   Schüler  übermittelt  werden  sollte. 

Die  Vielgestaltigkeit  des  modernen  Unterrichts  gegenüber  dem  alten  Bildungs- 
ideal hat  man  nicht  so  lebhaft  empfunden,  solange  noch  der  Gedanke  der  formalen 
Schulung  allen  Fächern  eine  gewisse  innere  Einheitlichkeit  gab.  Je  mehr  aber  die 
sachliche  Durchdringung  der  einzelnen  Lehrstoffe  in  den  Vordergrund  rückt,  um 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  23 


354  H.  E.  Timerding, 

SO  mehr  erkennen  wir,  daß  abgesehen  von  aller  Verschiedenartigkeit  des  Gegen- 
standes drei  völlig  verschiedene  Prinzipien  nach  Berücksichtigung  verlangen: 
der  reale  Gehalt,  die  geschichtliche  Entwicklung  und 
der   sprachliche   Ausdruck. 

Diesen  drei  Prinzipien  entspricht  allerdings  auch  im  großen  und  ganzen  die 
Einteilung  der  Wissenschaften.  Wir  werden  in  den  realistischen  Fächern  das 
erste  Prinzip,  in  der  Geschichte  das  zweite  und  in  dem  Sprachunterricht  das  dritte 
Prinzip  vertreten  finden.  Es  ist  aber  selten  ein  Mensch  für  die  drei  Seiten  der 
menschlichen  Geistestätigkeit  gleich  aufnahmefähig,  und  sein  Interesse  wird  sich 
naturgemäß  den  Wissenszweigen  zuwenden,  in  denen  die  seiner  Veranlagung  zu- 
sagende Auffassungsweise  zum  Durchbruch  kommt.  Wenn  wir  daher  in  allen 
Fächern  jeden  Schüler  fesseln  wollen,  so  müssen  wir  suchen,  in  allen  die  drei  Prinzipien 
in  gleicher  Weise  zur  Geltung  zu  bringen,  denn  so  wird  bei  aller  stofflichen  Ver- 
schiedenheit eine  Gleichartigkeit  des  methodischen  Gehaltes  gewährleistet,  die 
den  Schüler  den  ganzen  Unterricht  als  etwas  Homogenes  und  Geschlossenes 
empfinden  läßt.  Er  wird  wohl  immer  noch  dem  einen  oder  anderen  Fache  ein 
größeres  Interesse  entgegenbringen,  es  wird  aber  jedes  Lehrfach  auf  irgendeine 
Weise  seine  Teilnahme  zu  erwecken  wissen.  Er  braucht  nicht  immer  von  einer 
Stunde  zur  anderen  ein  neues  Register  der  geistigen  Tätigkeit  aufzuziehen,  es 
schließen  sich  ihm  vielmehr  alle  Fächer  zu  dem  erschöpfenden  Ausdruck  der 
menschlichen  Kultur  zusammen. 

Was  ich  hier  geschildert  habe,  ist  aber  eine  bloße  Utopie,  und  jeder  besonnene 
Schulmann  wird  es  auch  so  empfinden.  In  der  Wirklichkeit  ist  die  geistige  Rich- 
tung der  einzelnen  Lehrer  selbst  derart  verschieden,  daß  sie  auch  beim  besten 
Willen  nicht  imstande  sind,  die  drei  Prinzipien  in  gleicher  Weise  zur  Geltung 
zu  bringen.  Das  würde  vielmehr  eine  Allgemeinheit  der  Begabung  und  eine  Höhe 
der  Auffassung  voraussetzen,  die  nur  einzelne  besonders  begnadete  Menschen  be- 
sitzen können.  Vielmehr  drängen  wenigstens  vorläufig  alle  Fächer  auf  die  Be- 
tonung ihrer  spezifischen  Besonderheit. 

Zunächst  hat  sich  in  dem  Sprachunterricht  immer  ein  großes  Widerstreben 
gezeigt,  neben  dem  sprachlichen  Ausdruck  auch  auf  den  sachlichen  Gehalt  ein- 
zugehen. Dies  zeigt  sich  schon  in  der  Auswahl  der  Lesestoffe,  die  fast  ausschließ- 
lich aus  der  schönen  Literatur  gewählt  werden,  also  keine  besonderen  Sachkennt- 
nisse voraussetzen.  Nur  geschichtliche  Darstellungen  sind  hiervon  ausgenommen, 
sie  zeigen  aber  auch,  wenigstens  bei  den  Griechen  und  Römern,  eine  große  Ver- 
wandtschaft mit  der  schönen  Literatur.  Was  mag  nun  der  Grund  dieser  bei 
näherem  Zusehen  doch  einigermaßen  befremdenden  Tatsache  sein?  Zunächst 
werden  wir  an  die  ästhetische  Grundstimmung  des  ganzen  modernen  Humanismus 
denken:  der  Zweck  der  klassischen  Bildung  ist  die  Durchtränkung  des  Schülers 
mit  der  Schönheit  der  antiken  Kultur.  Sodann  kommen  sicher  aber  auch  äußere 
Momente  in  Frage:  alle  realistischen  Stoffe  bringen  besondere  Fachausdrücke 
mit  sich,  deren  Erlernen  als  eine  unnütze  Belastung  des  Unterrichtes  empfunden 
wird.  Ferner  ergibt  sich  die  Notwendigkeit  von  sachlichen  Erklärungen,  die  viel 
Zeit  kosten  und  den  Unterricht  von  seinem  eigentlichen  Ziel  ablenken.  Diese 
sachlichen  Erklärungen  können  zudem  ziemlich  wertlos  erscheinen,  weil  sie  sich 


Die  griechische  Mathematik.  355 

auf  einen  überwundenen  Kulturstandpunkt  beziehen,  während  das  in  den  Dich- 
tungen lebende  Ewigmenschliche  von  aller  Zeit  unabhängig  ist. 

Gegenüber  dem  ersten  der  vier  hier  angeführten  Gründe  erhebt  sich 
die  unabweisbare  Forderung,  der  humanistischen  Bildung  ihre  Bedeutung  auch 
den  Ansprüchen  der  Gegenwart  gegenüber  zu  sichern,  damit  sie  nicht  durch  die 
immer  mächtiger  anstürmende  äußere  Kultur  hinweggeschwemmt  werde.  Diesen 
Gedanken  hat  besonders  PaulCauer(Palaestra  vitae.  Das  Alter- 
tum als  Quelle  praktischer  Geistesbildung,  2.  Auflage 
Berlin  1907)  zur  Geltung  gebracht. 

Die  übrigen  Gründe  sind  allerdings  nicht  ebenso  einfach  zu  widerlegen.  Wir 
können  zunächst  nur  sagen:  Wenn  die  sachliche  Belehrung  auch  für  die  Gegen- 
wart ihren  Wert  besitzen  soll,  so  müssen  wir  eben  nach  solchen  Gebieten  greifen, 
auf  dem  die  Alten  zu  Resultaten  von  bleibendem  Wert  gelangt  sind.  Dies  ist 
aber  auf  keinem  Gebiete  mehr  der  Fall  als  auf  dem  der  Mathematik.  Ein  großer 
Teil  des  heutigen  mathematischen  Schulpensums  ist  so  gut  wie  unmittelbar  den 
griechischen  Quellenschriften  entnommen.  In  England  sind  bis  in  unsere  Zeit 
hinein  die  Elemente  des  Euklid  das  Schullehrbuch  für  die  Geometrie  geblieben. 
Hier  fällt  auch  die  Schwierigkeit  der  Fachausdrücke  weg,  denn  die  griechischen 
Ausdrücke  sind  den  unsrigen  aufs  engste  verwandt,  ja  diese  sind  überhaupt  nur 
aus  jenen  richtig  zu  verstehen. 

Damit  ist  aber  ein  Einwand  noch  immer  nicht  beseitigt,  der  Einwand  nämlich, 
daß  wir  den  Sprachunterricht  nicht  für  andere  Zwecke,  wie  hier  für  die  mathe- 
matische Belehrung,  nutzbar  machen  können  und  dürfen.  Schon  die  Beschaffung 
geeigneter  Lehrkräfte,  die  in  genügender  Weise  philologische  und  mathematische 
Bildung  vereinen,  dürfte  erhebliche  Schwierigkeiten  verursachen.  Man  ist  des- 
wegen von  vornherein  auf  solche  Abschnitte  aus  griechischen  >  Mathematikern 
beschränkt,  bei  denen  die  sachliche  Erklärung  keinerlei  Schwierigkeit  verursacht, 
außerdem  kann  es  sich  aber  auch  nur  um  einzelne  Stichproben  handeln,  denn 
sonst  würde  der  griechische  Unterricht  in  ungebührlicher  Weise  aufgehalten  und 
belastet.  Solche  Stichproben  scheinen  mir  aber  wirklich  von  großem  Nutzen 
zu  sein.  Wir  besitzen  sie  in  dem  vorhandenen  Material  für  die  Schullektüre  bereits 
in  genügender  Menge.  So  gibt  Wilamowitz-Möllendorff  in  seinem 
Griechischen  Lesebuch  Abschnitte  aus  Euklid  und  Archimedes; 
Max  Schmidt  hat  in  seine  Realistische  Chrestomathie  mathe- 
matische Stücke  von  Euklid,  Ptolemäus,  Nikomachus,  Diophant,  Eratosthenes, 
mit  Einleitungen,  Anmerkungen  und  Figuren  versehen,  aufgenommen.  Durch 
solche  kurze  Abschnitte,  die  nicht  viel  Zeit  erfordern  und  eine  angenehme  Ab- 
wechslung bieten,  wird  dem  Schüler  zur  lebendigen  Anschauung  gebracht,  daß 
die  Begriffsbildung  und  Denkweise  der  modernen  Mathematik  durchaus  eine 
Schöpfung  des  griechischen  Geistes  ist  und  daß  wir  überhaupt  in  dem  klassischen 
Altertum  nicht  den  Moderstaub  vergangener  Jahrhunderte,  sondern  die  Grund- 
lage unserer  eigenen  Kultur  zu  suchen  und  zu  verehren  haben.  Solche  Stich- 
proben bilden  aber  auch  in  rein  sprachlicher  Hinsicht  eine  wünschenswerte  Er- 
gänzung. Die  Griechen  haben  den  Ausdruck  in  ihren  mathematischen  Schriften 
mit  der  größten  Sorgfalt  behandelt,  diese  Schriften  sind  wahre  Muster  des  wissen- 


356  H.  E.  Timerding, 

schaftlichen  Stils.  Max  Schmidt  sagt  von  der  Sprache  Euklids:  „Sie  ist  rein, 
klar  und  schlicht.  Man  dürfte  kaum  eine  Wendung  oder  ein  Wort  treffen,  wie  sie 
nicht  die  klassische  Prosa  auch  gebrauchen  würde.  Die  bewußte  Verbannung 
aller  synonymen  Vokabeln,  wie  aller  synonymen  Bedeutungen,  ist  ein  Meister- 
werk." 

Proben  mathematischer  Darstellung  kommen  nun  auch  schon  durch  die 
Lektüre  des  P  1  a  t  o  n  in  den  griechischen  Schulunterricht  hinein  und  man  wird 
vielleicht  geneigt  sein,  diese  Proben  für  genügend  zu  halten.  Insbesondere  wird 
man  an  die  Stelle  im  Menon  denken,  wo  Sokrates  dem  ganz  ungebildeten  Diener 
den  einfachsten  Fall  des  pythagoreischen  Lehrsatzes  klarmacht.  Diese  Stelle  ist 
auch  von  Wilamowitz-Möllendorff  ebenso  wie  von  den  Professores 
A  f  r  a  n  i  (im  13.  Bändchen  ihres  Florilegium  graecum)  aufgenommen 
worden.  Es  kommen  aber  noch  andere  Stellen  in  Betracht,  so  die  Ableitung  der 
regulären  Körper  im  Timäus,  ferner  die  Stelle  im  Theätet,  wo  die  Scheidung  der 
rationalen  und  irrationalen  Zahlen  ausgesprochen  ist,  die  Definition  der  geraden 
Linie  im  Parmenides  u.  a.  m.  Doch  sind  diese  Stellen  keineswegs  besonders  leicht 
verständlich.*)  Sie  datieren  aus  einer  Zeit,  in  der  die  definitive  Terminologie 
der  griechischen  Mathematik  noch  nicht  ausgebildet  war,  und  sie  setzen  der  Er- 
klärung erhebliche  Schwierigkeiten  entgegen.  Deswegen  sind,  wie  ich  glaube, 
gerade  um  dem  Schüler  das  richtige  Verständnis  dieser  Stellen  zu  vermitteln, 
ein  paar  Proben  der  endgültigen  Darstellungsform  mathematischer  Dinge  in  grie- 
chischer Sprache  wohl  am  Platze.  Man  handelt  damit  sicher  im  Sinne  des  Philo- 
sophen, der  von  seinen  Schülern  gefordert  hat:  dYea>jj.£Tp7jioc  firjösU  elakio  [xoi 
TTjv  oTSYT^v,  wer  zu  mir  ins  Haus  kommt,  soll  etwas  von  Geometrie  verstehen. 

Ich  bin  vielleicht  persönlich  befangen,  wenn  ich  diese  Worte  nicht  bloß  auf 
die  platonische  Akademie,  sondern  auf  die  griechische  Bildung  überhaupt  be- 
ziehen möchte.  Was  später  der  Unterricht  in  der  lateinischen  Sprache,  das  war 
für  die  Griechen  der  Unterricht  in  der  Mathematik.  Die  Griechen  holten  ihre 
Bildung  nicht  aus  dem  Studium  fremder  Zungen  und  Literaturen,  sie  schöpften 
sie  aus  den  Wissenschaften,  die  sie  selbst  mit  dem  Ausdruck  (Aa^yjfiaxa  bezeichneten 
und  die  der  pythagoreischen  Schule  ihre  Entstehung  verdanken.  Sie  werden 
durch  die  später  schulmäßig  eingeführte  Teilung  in  Zahlenlehre,  Raumlehre, 
Sternlehre  und  Tonlehre  gut  charakterisiert.  So  nennt  Sokrates  im  Theätet, 
als  er  den  Bereich  der  allgemeinen  Bildung  umspannen  will,  Geometrie,  Astronomie, 
Harmonie  und  Proportionenlehre. 

Was  der  griechischen  Mathematik  ihren  unvergänglichen  Wert  gibt,  das  ist 
neben  der  zielbewußten  Klarheit  des  Denkens  auch  das  sichere  ästhetische  Gefühl, 
das  sie  trägt.  Die  griechische  Geometrie  ist  ein  ebensolches  Kunstwerk  wie  die 
griechische  Plastik  und  die  griechische  Poesie.  Hier  wie  dort  ist  die  freiwillige 
Beschränkung  des  Gegenstandes  und  der  Darstellungsmittel,  um  in  den  so  ge- 
steckten Grenzen  das  Vollkommenste  zu  leisten,  das  bezeichnende  Merkmal.    Eine 


*)  Über  die  mathematischen  Stellen  in  Piatons  Schriften  handelten:  Joh.  Wolfg. 
Müller,  Kommentar  über  zwei  dunkle  mathematische  Stellen  im  Piaton,  Nürnberg 
1797,  Blass,  De  Piatone  Mathematico,  Bonn  1861,  Rothlauf,  Die  Mathematik 
zu  Piatons  Zeit  und  seine  Beziehungen  zu  ihr,  München   1878. 


Die  griechische  Mathematik.  357 

spätere  Zeit  konnte  vielleicht  etwas  Besseres  schaffen,  aber  sie  hätte  dasselbe 
nie  besser  machen  können.  Die  Bedeutung  der  griechischen  Mathematik  liegt 
keineswegs  allein  im  sachlichen  Inhalt,  sondern  auch  in  der  Form  der  Darstellung. 
Die  Schöpfung  der  mathematischen  Sprache  bedeutete  die  Schöpfung  einer  wissen- 
schaftlichen Sprache  überhaupt.  Die  mathematische  Darstellung  verwendet  nur 
einen  geringen  Wortschatz,  aber  sie  verlangt  die  größte  Schärfe  in  dem  Ausdruck 
der  Gedanken  und  in  der  Bloßlegung  ihrer  logischen  Verknüpfung.  An  diese 
zugleich  sprachliche  und  logische  Schulung  hat  Piaton  neben  der  Vorbereitung 
auf  die  Erkenntnis  der  ewigen  Seinsformen  vielleicht  auch  gedacht,  als  er  die  Not- 
wendigkeit einer  geometrischen  Vorbildung  betonte. 

Es  sollen,  wie  ich  noch  einmal  wiederholen  möchte,  die  im  Original  gelesenen 
Stichproben  aus  den  mathematischen  Schriften  der  Griechen  nur  den  griechischen 
Unterricht  vervollständigen,  nicht  aber  nebenbei  auch  die  Übermittlung  mathe- 
matischer Kenntnisse  bezwecken.  Sie  sollen  nur  die  Brücke  schlagen  zwischen 
dem  mathematischen  und  dem  griechischen  Unterricht  und  den  Schüler  vor  dem 
verhängnisvollen  Irrtum  bewahren,  daß  nicht  auch  wissenschaftliche  Darstellungen 
zu  den  ästhetisch  wertvollen  Literaturdenkmälern  gehören  können.  Für  einen 
solchen  Zweck  sollten  sich,  wenn  man  auf  die  Lektüre  des  Homer  annähernd 
500  Stunden  verwendet,  doch  gewiß  etwa  5  Stunden  wohl  erübrigen  lassen!  Wie 
wichtig  das  ist,  kann  jeder  Hochschullehrer  ermessen,  der  einmal  die  beklagens- 
werte Interesselosigkeit  der  Studierenden  realistischer  Fächer  für  den  sprach- 
lichen Ausdruck,  ja  selbst  für  die  orthographische  Richtigkeit  zu  beobachten 
Gelegenheit  hatte. 

Soll  aber  mit  ein  paar  im  Original  gelesenen  Stichproben  das  Eingehen  auf 
die  griechische  Mathematik  erschöpft  sein?  Und  wenn  nicht,  wie  soll  sie  weiter 
zur  Geltung  gebracht  werden?  Zunächst  wäre  an  die  Benutzu/ig  guter  Über- 
setzungen zu  denken.  Hierbei  lassen  sich  aber  gewisse  Bedenken  nicht  unterdrücken. 
Man  wird  zunächst  sagen,  daß  die  Auswahl  des  mathematischen  Lehrstoffes  durch 
rein  sachliche  Gründe  bestimmt  werden  muß  und  sonach  die  Schriften  der  griechi- 
schen Mathematiker  nur  insofern  Berücksichtigung  finden  können,  als  sie  in  diese 
Umgrenzung  hineinpassen.  Aber  auch  dann  werden  sie  mehr  eine  Belastung 
als  eine  Erleichterung  des  mathematischen  Unterrichtes  bilden,  denn  der  Schüler 
muß  sich  an  eine  ihm  ungewohnte  Darstellungsweise  gewöhnen;  manches  ist  in 
zu  großer  Weitschweifigkeit  dargestellt,  an  anderen  Stellen  wieder  bleiben  klaffende 
Lücken,  die  der  Lehrer  ausfüllen  muß,  um  den  Unterricht  einigermaßen  den 
modernen  Forderungen  anzupassen.  Viele  Gebiete,  die  für  die  Gegenwart  un- 
entbehrlich sind,  könnten  so  überhaupt  nicht  berührt  werden,  anderes,  was  man 
sonst  auslassen  würde,  muß  mitgenommen  werden,  damit  der  Zusammenhang 
nicht  verloren  geht.  Deshalb  ist  wohl  die  Empfehlung  einzelner  Schriften  als 
Privatlektüre  und  vielleicht  gelegentlich  einmal  die  Durchnahme  einer  besonders 
wichtigen  Schrift  in  der  Klasse,  wenn  sie  für  billigen  Preis  zu  haben  sein  sollte, 
alles,  woran  man  im  besten  Falle  denken  kann.  Eine  solche  gelegentliche  An- 
regung ist  aber  sicher  nicht  alles,  was  die  griechische  Mathematik  für  das  huma- 
nistische Gymnasium  leisten  kann.  Was  man  erreichen  will,  ist  eine  Durchtränkung 
des  ganzen  Unterrichtes  mit  humanistischem  Geiste.    Da  dieses  Ziel,  wie  wir  ge- 


358  H.  E.  Timerding, 

sehen  haben,  beim  mathematischen  Unterricht  weder  durch  die  Lektüre  der 
griechischen  Originale  noch  durch  die  Benutzung  von  Übersetzungen  zu  erreichen 
ist,  so  bleibt  nichts  anderes  übrig  als  die  Lösung  der  Aufgabe  in  jedem  Fall  der 
Persönlichkeit  des  Lehrers  anheim  zu  geben.  Der  Lehrer  muß  eben  verstehen, 
beim  Durchnehmen  des  vorgeschriebenen  Lehrstoffes  dessen  Zusammenhang  mit 
der  griechischen  Bildung  richtig  hervorzuheben  und  dem  Schüler  deutlich  zur 
Anschauung  zu  bringen.  Ein  solches  Eingehen  auf  die  historische  Entwicklung 
der  vorgetragenen  Lehrsätze  muß  man  meines  Erachtens  vom  mathematischen 
Unterricht  auf  dem  humanistischen  Gymnasium  unbedingt  verlangen.  Wenn  z.  B. 
der  pythagoreische  Lehrsatz  durchgenommen  wird,  so  ist  es  nicht  genug,  die 
alte  dumme  Anekdote  von  der  Hekatombe,  die  Pythagoras  den  Göttern  nach 
Entdeckung  seines  Lehrsatzes  opferte  und  dem  Abscheu,  den  seit  dieser  Zeit  alle 
Ochsen  vor  dem  Lehrsatze  haben,  wieder  aufzuwärmen.  Man  kann  verlangen, 
daß  der  Lehrer  auf  die  wirkliche  Geschichte  des  „Magister  Matheseos",  die  gewiß 
interessant  genug  ist,  sein  Aufkommen  bei  den  Ägyptern,  seine  Ausbildung  bei 
den  Griechen  und  seine  anschauliche  Durchdringung  bei  den  Indern,  etwas  ein- 
gehe. Ich  entsinne  mich  aber  aus  meiner  Schulzeit,  daß  ich  höchst  überrascht 
war,  vor  einer  Aufgabensammlung,  die  wir  neu  bekamen  (Wöckel),  den  Titel 
„Geometrie  der  Alten"  zu  sehen.  Daß  die  Geometrie,  die  wir  lernten,  von  den 
Griechen  stammte,  war  uns  nie  gesagt  worden. 

Es  handelt  sich  hierbei  nicht  bloß  um  eine  äußere  Rücksichtnahme  gegen 
den  historischen  Geist,  der  in  dem  Schüler  durch  den  humanistischen  Unterricht 
erweckt  werden  soll.  Die  Elementarmathematik  hat  auch  in  sich  sehr  dadurch 
gelitten,  daß  sie  sich  von  Lehrbuch  zu  Lehrbuch  fortpflanzte,  aber  wenige  sich 
die  Mühe  gaben,  bis  zu  den  Quellen  hinaufzusteigen.  Wenn  wir  das  nun  aber 
von  den  Mathematiklehrern  eines  humanistischen  Gymnasiums  fordern,  so  werden 
uns  diese  sicher  den  Einwand  machen:  wir  armen  Mathematiklehrer  haben  so- 
wieso Mühe  genug,  in  der  uns  zur  Verfügung  stehenden  StundenzahL  das  vor- 
geschriebene Lehrziel  zu  erreichen.  Wir  sind  froh,  wenn  die  Schüler  die  einzelnen 
Beweise,  Konstruktionen  und  Rechnungsarten  gehörig  begriffen  haben,  und  haben 
wahrlich  keine  Zeit,  ihnen  iioch  viel  von  der  historischen  Entwicklung  dieser 
Kenntnisse  zu  erzählen. 

Es  ist  eben  die  Frage,  was  der  mathematische  Unterricht  überhaupt  bezweckt, 
ob  er  in  den  Vorübungen  für  ein  späteres  mathematisches  Studium  seine  Aufgabe 
erblicken  will  oder  ob  nicht  eher  die  Klarlegung  der  mathematischen  Begriffe 
in  ihrem  allgemeinen  Kulturzusammenhang  die  Hauptsache  bilden  soll.  Von 
dem  letzten  Standpunkt  aus  liegt,  was  den  Unterricht  selbst  betrifft,  in  dem  Ein- 
gehen auf  die  historische  Entwicklung  keine  Erschwerung,  sondern  eine  Erleich- 
terung. Wenn  wir  sagen,  was  die  Mathematik  für  die  Griechen  bedeutet  hat,  so 
legen  wir  auch  dar,  was  sie  für  uns  bedeuten  kann.  Es  muß  dabei  noch  besonders 
beachtet  werden,  daß  die  rasch  ansteigende  Entwicklung  der  modernen  Mathematik 
im  17.  und  18.  Jahrhundert  zunächst  ein  Zurückweichen  von  der  Klarheit  und 
Exaktheit  der  griechischen  Mathematik  bedeutet  hat.  In  demselben  Maße,  wie 
die  Fülle  der  mathematischen  Erkenntnisse  sich  häufte,  wurde  man  gleichgültiger 
gegen  die  scharfe  Präzisierung  der  Begriffe  und  die  logische  Durcharbeitung  der 


Die  griechische  Mathematik.  359 

Beweise.  Euler  ist  dafür  ein  redendes  Beispiel,  Aber  diese  Mathematik  ist  es 
gerade,  die  unseren  Schulunterricht  beherrscht.  Wie  man  daher  in  der  geometri- 
schen Forschung  an  der  Hand  des  Euklid  sich  in  jüngster  Zeit  zu  der  Exaktheit 
der  Griechen  zurückgefunden  hat,  allerdings  um  nun  auch  über  Euklid  wesent- 
lich hinauszugehen,  so  sollte  man  ebenfalls  für  den  Schulunterricht  die  Muster 
exakt  mathematischer  Darstellung,  die  uns  die  Griechen  hinterlassen  haben,  zu 
verwerten  suchen. 

Um  auch  auf  das  rein  Persönliche  zu  sprechen  zu  kommen,  möchte  ich  sagen, 
daß,  wenn  man  zunächst  die  Forderung  eines  Eingehens  auf  die  mathematische 
Forschungsarbeit  der  Griechen  als  eine  Belastung  des  Lehrers  empfindet,  sie 
andererseits  auch  als  eine  Förderung  und  Erquickung  des  in  der  mühevollen  Lehr- 
arbeit sonst  Versinkenden  angesehen  werden  kann.  Der  junge  Lehrer,  der  von 
der  Hochschule  kommt,  ist  mit  wissenschaftlichen  Idealen  angefüllt  und  sieht 
häufig  nicht  ohne  innere  Kämpfe  die  tätige  Anteilnahme  an  der  wissenschaft- 
lichen Forschungsarbeit  unter  dem  Andrängen  der  täglichen  Pflichten  in  sich  ab- 
sterben. Da  glaube  ich  nun,  daß  ihn  nichts  mehr  in  seinem  Berufe  erheben  kann 
als  die  wissenschaftliche  Vertiefung  und  Durchdringung  des  Unterrichtsstoffes 
selbst,  die  er  in  dessen  quellenmäßiger  Durchforschung  findet.  So  wird  er  auch 
an  diesem  elementaren  Stoffe  die  Würde  und  Höhe  empfinden,  die  er  zunächst 
nur  den  Gegenständen  seiner  Universitätsvorlesungen  zuzuschreiben  geneigt  ist. 
Der  Betrieb  unserer  Universitäten  ist  ja  nur  zu  sehr  geeignet,  das  Vorurteil  fest- 
zusetzen, daß  die  wissenschaftliche  Würde  im  Gegenstand  und  nicht  in  der  Art 
der  Behandlung  zu  suchen  ist. 

Um  für  den  Geist,  der  die  griechische  Mathematik  durchzieht,  und  die  Fäden, 
die  sie  mit  der  Gegenwart  verknüpfen,  das  richtige  Verständnis  zu  gewinnen, 
scheinen  mir  die  Bücher  von  Zeuthen  (Geschichte  der  Mathematik 
im  Altertum  und  Mittelalter,  Kopenhagen  1896,  und  Die  Lehre 
von  den  Kegelschnitten  im  Altertum,  Kopenhagen  1886) 
vorzüglich  geeignet.  Ich  kann  ihnen  das  etwas  ältere,  geistvolle  Buch  von  Her- 
mann Hankel  (Zur  Geschichte  der  Mathematik  in  Alter- 
tum und  Mittelalter,  Leipzig  1874)  anreihen,  das  zum  erstenmal  die 
Mathematik  der  Alten  von  höheren  Gesichtspunkten  aus  zu  betrachten  gelehrt 
hat.  Man  kann  aus  diesem  Buche  die  Rolle,  die  sie  im  antiken  Geistesleben  spielt, 
ebenso  wie  ihren  Zusammenhang  mit  den  modernen  mathematischen  Ideen  und 
auch  die  Wichtigkeit  der  ersten  mathematischen  Ableitungen  für  die  Begründung 
der  wissenschaftlichen  Methode  überhaupt  aufs  deutlichste  erkennen.  Das  große 
Werk  von  M.  Cantor  (Vorlesungen  über  Geschichte  derMathe- 
m  a  t  i  k  ,  1.  Band,  3.  Auflage,  Leipzig  1907)  ist  dazu  bei  aller  Gründlichkeit  und 
Ausführlichkeit  viel  weniger  geeignet.  Dagegen  bietet  das  außerordentlich  knapp 
gehaltene  Bändchen  von  J.  L.  Heiberg,  Naturwissenschaften 
und  Mathematik  im  klassischen  Altertum  (Aus  Natur  und 
Geisteswelt,  Leipzig  1912)  gerade  in  dem  von  mir  hier  vertretenen  Sinne  außer- 
ordentlich reiche  Belehrung.  Schließlich  möchte  ich  auch  nicht  verfehlen,  die 
allgemeine  Übersicht,  die  T  r  o  p  f  k  e  in  seiner  Geschichte  der  Elemen- 
tarmathematik (Leipzig  1902—1903)  gibt,  mit  Achtung  zu  nennen.   Speziell 


360  H.  E.  Timerding, 

für  das  Studium  des  Euklid  bildet  das  Buch  von  M.  Simon,  Euklid  und 
die  sechs  planimetrischen  Bücher  (Leipzig  1901),  das  eine  deutsche 
Übersetzung  mit  ausführlichen  Erläuterungen  enthält,  eine  angenehme  Erleich- 
terung. In  ähnlicher  Weise  hat  G.  Wertheim  des  Diophantus  von 
Alexandria  Arithmetik  und  die  Schrift  über  Polygonal- 
zahlen   (Leipzig  1890)  herausgegeben. 

Die  griechische  Arithmetik  wird  meistens  der  griechischen  Geometrie 
gegenüber  bedeutend  unterschätzt.  Die  geometrische  Darstellungsform,  welche 
die  Griechen  für  ihre  Zahlenlehre  teilweise  gewählt  haben,  hat  vielfach  zu  einer 
völligen  Verkennung  ihrer  Leistungen  auf  diesem  Gebiete  geführt.  Trotzdem 
gibt  es  z.  B.  kaum  eine  bessere  Einführung  in  die  Arithmetik  als  das  7.  Buch  der 
euklidischen  Elemente.  Nirgends  tritt  die  Bedeutung  und  das  Wesen  der  arith- 
metischen Operationen  klarer  zutage.  Das  richtige  Verständnis  hierfür  ist  jedoch 
erst  in  der  neuesten  Zeit  erwacht,  nachdem  die  arithmetischen  Begriffe  ihre  volle 
Ausgestaltung  erfahren  hatten.  Erst  dann  hat  man  auch  die  Leistungen  des 
Diophant  völlig  zu  würdigen  verstanden. 

Der  populärste  unter  allen  griechischen  Mathematikern  ist  zweifellos  A  r  c  h  i  - 
m  e  d  e  s.  Von  seinen  Schriften  existiert  meines  Wissens  aber  keine  brauchbare 
deutsche  Übersetzung,  so  daß  der  Lehrer,  der  sich  in  seine  Werke  vertiefen  will, 
wesentlich  auf  die  Originalausgabe  (von  H  e  i  b  e  r  g  ,  in  der  Teubnerschen  Bi- 
bliothek) angewiesen  ist.  Das  ist  sehr  zu  bedauern,  denn  gerade  Archimedes  ist 
für  die  Entwicklung  der  modernen  Mathematik  und  Mechanik  von  der  größten 
Bedeutung  gewesen.  Seine  (fragmentarische)  Schrift  über  die  Kreismessung  ist 
von  F.  R  u  d  i  0  in  seiner  interessanten  Geschichte  des  Problems  von 
der  Quadratur  des  Zirkels  (Leipzig  1892)  in  deutscher  Sprache  ver- 
öffentlicht worden.  Gleiche  Veröffentlichungen  sollten  wir  aber  auch  für  die 
Schriften  über  die  Quadratur  der  Parabel,  über  Kugel  und  Zylinder,  über  Konoide 
und  Sphäroide,  ferner  über  das  Gleichgewicht  am  Hebel  und  über  das  Gleich- 
gewicht schwimmender  Körper  besitzen.  Die  zuerst  genannten  geometrischen 
Schriften  sind  die  Grundlage  des  Zweiges  der  mathematischen  Analysis  geworden, 
den  man  heute  als  Integralrechnung  bezeichnet;  die  beiden  letztgenannten  mecha- 
nischen Schriften  bilden  ebenso  die  Fundamente  der  modernen  Statik.  Die  Be- 
handlung der  Integralrechnung  auf  der  Schule  ist  heute  eine  heißumstrittene  Frage, 
obwohl  sie  wenigstens  für  das  humanistische  Gymnasium  von  den  praktischen 
Schulleuten  meist  entschieden  zurückgewiesen  wird.  Statt  dessen  haben  aber 
gewisse  Vorstufen  der  Integralrechnung  auch  auf  dem  humanistischen  Gymnasium 
immer  Eingang  gefunden.  Dabei  sind  nun  manche  Mängel  in  der  Art  der  Dar- 
stellung, Ungenauigkeiten,  Unrichtigkeiten  und  Widersprüche  gegen  die  strenge 
wissenschaftliche  Auffassungsweise,  unvermeidbar  gewesen.  Aus  diesem  Wirrsal 
kann  das  Zurückgehen  auf  Archimedes  auf  einfache  Weise  herausführen,  denn  die 
Methoden,  die  Archimedes  anwendet,  sind  durchaus  exakt  und  einwandfrei,  ohne 
andere  Hilfsmittel  als  die  der  elementaren  Mathematik  zu  benutzen.  In  ihnen 
sind  aber  die  späteren  Methoden  der  Integralrechnung  bereits  deutlich  erkennbar 
vorgebildet,  und  wenn  man  so  den  Schüler  auch  nicht  in  die  Integralrechnung 
einführt,  so  kann  man  ihm  doch  einen  Begriff  davon  geben,  um  was  es  sich  bei 


Die  griechische  Mathematik.  361 

ihr  handelt.  Dieses  Zurückgehen  auf  die  antike  Quelle,  das  wir,  wohlverstanden^ 
nur  von  dem  Lehrer,  nicht  von  dem  Schüler  fordern  wollen,  ist  deswegen  fast 
notwendig  geworden,  weil  es  gegenüber  der  Leichtherzigkeit,  die  z.  B.  bei  der 
Bestimmung  des  Rauminhalts  geometrischer  Körper  allmählich  Platz  gegriffen 
hat,  beinahe  unmöglich  ist,  auf  andere  Weise  ohne  das  Aufnehmen  der  vollen 
Integralrechnung  eine  lückenlose  Exaktheit  zu  erreichen.  Es  ist  in  dieser  Hin- 
sicht auch  das  Studium  des  zwölften  Buches  der  Euklidischen  Elemente,  das  (auf 
Eudoxos  fußend)  die  Volumbestimmung  für  die  ebenflächigen  Körper  enthält, 
nicht  dringend  genug  zu  empfehlen,  denn  es  ist  dies,  wie  ich  glaube,  der  einzige 
Weg,  der  an  der  Eselsbrücke  des  Cavalierischen  Prinzipes  vorbeiführt. 

Was  ich  hier  gesagt  habe,  wird,  so  unvollständig  es  ist,  doch  einen  ungefähren 
Begriff  davon  geben  können,  welche  Bedeutung  für  den  Unterricht  die  griechische 
Mathematik  haben  kann.  Diese  Bedeutung  wird  aber  erst  dann  voll  zur  Geltung 
kommen,  wenn  der  Lehrer  dem  Schüler  überall  gewissenhaft  angibt,  was  von 
den  Griechen  selbst  geleistet  und  was  durch  spätere  Zeiten  hinzugefügt  worden 
ist.  Es  soll  nicht  bloß  die  bewundernswürdige  Leistung  der  Griechen  in  das  rechte 
Licht  gesetzt  werden,  es  muß  auch  die  Erklärung  dafür  gegeben  werden,  warum 
es  einer  so  langen  Zeit  bedurfte,  bis  die  von  den  Griechen  gepflanzten  Keime  zur 
vollen  Entwicklung  kamen,  warum  zwischen  Archimedes  und  Galilei  (ebenso  wie 
zwischen  Phidias  und  Michelangelo)  ein  Zeitraum  von  nahezu  zwei  Jahrtausenden 
liegt.  Die  antike  Kultur  hatte  ihre  bestimmten  Grenzen,  über  die  sie  nicht  hinaus 
kam.  In  der  Mathematik  lagen  sie  im  Fehlen  einer  mathematischen  Formel- 
sprache, ebenso  wie  das  Rechnen  durch  die  Mängel  der  antiken  Ziffernsysteme 
an  gewisse  enge  Schranken  gebunden  war.  Bis  zur  Schöpfung  der  mathematischen 
Formelsprache  aber  brauchte  es  einen  weiten  Weg,  der  über  die  Inder  und  Araber 
nach  Italien  zurückführt,  eben  dahin,  wo  in  der  pythagoreischen  Schule  die  Wiege 
der  Mathematik  gestanden  hatte.  Es  wäre  deswegen  natürlicfi  verkehrt,  eine 
Rückkehr  zu  der  griechischen  Mathematik  predigen  zu  wollen.  Im  Gegenteil, 
um  den  Abstand  von  ihr  richtig  ermessen  zu  können,  wollen  wir  sie  uns  klar  vor 
Augen  halten,  und  ihr  Aufgreifen  hat  deswegen  nicht  allein  den  Zweck,  unser 
Verständnis  für  das  Geistesleben  der  Griechen  zu  vervollständigen,  sondern  uns 
auch  die  ungeheuren  Fortschritte  empfinden  zu  lassen,  die  unsere  Kultur  über 
das  Altertum  hinaus  gemacht  hat.  So  und  nicht  anders  können  wir  ja  heute  über- 
haupt den  Humanismus  verstehen.  Nicht  um  in  die  antike  Kultur  zurückzutauchen,. 
greifen  wir  zu  dem  Studium  des  klassischen  Altertums,  sondern  um  die  Gegenwart 
durch  den  Gegensatz  gegen  eine  in  den  äußeren  Mitteln  ärmere,  aber  dafür  in 
der  ästhetischen  Abklärung  reichere  Zeit  richtig  verstehen  zu  lernen  und  sie  durch 
das  reine  Schönheitsgefühl  dieser  vergangenen  Zeit  zu  erhellen  und  durchleuchten. 

Braunschweig.  H.  E.  T  i  m  e  r  d  i  n  g. 


362  Wundram, 

Ein  Beitrag  zur  freieren  Gestaltung  des  Unterriclits  auf  der 
Oberstufe  durch  Gabelung  der  Primen. 

über  den  Nutzen  der  Gabelung  der  Primen  und  die  Erfolge  dieser  Einrichtung 
sind  in  den  Fachblättern  und  auf  Versammlungen  Urteile  gefällt,  die  nicht  immer 
von  einem  unparteiischen  und  objektiven  Standpunkte  abgegeben  wurden  und 
die  teilweise  auch  von  Beurteilern  stammten,  die  das  Ganze  des  Unterrichts  nicht 
zu  überschauen  vermochten  oder  gar  nur  aus  den  Beobachtungen  bei  der  Reife- 
prüfung Schlüsse  zogen. 

Ich  beabsichtige  nun  nicht,  heute  meine  eigenen  Beobachtungen  und  Erfah- 
rungen mitzuteilen,  sondern  die  Versuche  an  meiner  Anstalt,  die  auf  weitere  zwei 
Jahre  genehmigt  sind,  fortzusetzen  und  mein  Urteil  noch  weiter  zu  prüfen.  Dagegen 
war  mir  die  Frage  interessant,  wie  urteilen  die  ehemaligen  Schüler  über  die  Ein- 
richtung. Ich  habe  deshalb  während  der  Weihnachtszeit,  wo  ich  hoffen  konnte, 
daß  ich  die  ehemaligen  Abiturienten  am  leichtesten  erreichen  konnte  und  nicht 
zu  fürchten  brauchte,  daß  Beeinflussungen  versucht  werden  könnten,  eine  Um- 
frage bei  ihnen  veranstaltet. 

Von  163  bisherigen  Abiturienten  (die  von  Ostern  1911  sind  die  letzten,  die 
befragt  sind)  ist  einer  gestorben,  140 — 86,4]%  haben  geantwortet.  Die  22,  welche 
nicht  berichtet  haben,  sind  durchaus  nicht  alle  als  Gegner  zu  zählen;  von  dem 
einen  oder  andern  weiß  ich,  daß  er  der  Einrichtung  sehr  freundlich  gegenübersteht 
und  für  das  dankbar  ist,  was  ihm  die  Schule  geboten  hat.  Aus  der  sprachlich-histo- 
rischen Abteilung  (A)  antworteten  83,6  %,  aus  der  mathematisch-naturwissenschaft- 
lichen Abteilung  88,8  %.  Bei  den  Abstimmungen  kommen  z.  T.  höhere  Zahlen 
heraus,  als  der  Zahl  der  Beantworter  entspricht,  da  unter  Umständen  mehrere 
Gründe  z.  B.  für  die  Wahl  der  betreffenden  Abteilung  angegeben  und  demnach 
auch  besonders  gezählt  worden  sind. 

Aus  Neigung  oder  ihrer  Begabung  entsprechend  wählten  die  Abteilung  A  68,8, 
B  62%,  weil  sie  die  Abteilung  für  vorteilhafter  für  ihren  späteren  Beruf  hielten, 
aus  A  47,5%,  aus  B  38%,  weil  sie  die  dort  vermittelte  Allgemeinbildung  für  besser 
hielten  aus  A  3,3  %,  aus  B  10,1  %,  aus  äußeren  Gründen  aus  A  4,9,  aus  B  12,7  %, 
aus  Zwang,  weil  keine  ungeteilte  Prima  vorhanden  war  aus  A  3,3%,  aus  B  0%; 
einer  gibt  allerdings  an,  daß  ihm  eine  ungeteilte  Prima  lieber  gewesen  sein  würde. 
Bei  B  gibt  einer  an  „Faulheitsgründe,  die  nachher  zu  Wasser  wurden**. 

Die  wichtigste  Frage  war  die  folgende:  „Hat  sich  die  Ihnen  übermittelte 
Allgemeinbildung  bewährt?  Darauf  antworten  mit  einem  glatten  Ja  aus  A  85,2  %, 
aus  B  78,5%,  wobei  aus  A  sich  3,3%,  aus  B  5,1  %  der  Abstimmung  enthalten 
haben.  Zählt  man  nur  die  Abstimmenden,  so  sind  es  aus  A  88,1,  aus  B  82,7  %; 
direkt  mit  nein  aus  A  4,9,  aus  B  7,6  %.  Das  ist  gewiß  ein  beachtenswertes  Ergebnis, 
besonders  in  einer  Zeit,  wo  es  Mode  ist,  so  viel  wie  möglich  an  der  Schule  zu  tadeln. 

Bei  den  aus  der  A-Abteilung  hervorgegangenen,  die  mit  ihrer  Allgemeinbildung 
nicht  voll  zufrieden  sind,  wird  5  mal  der  Mangel  an  philosophischen  Kenntnissen 
beklagt,  bei  B  3  mal ;  der  Mangel  an  Kenntnissen  in  den  Fächern,  die  zurückgetreten 
sind,  wird  bei  A  2  mal,  bei  B  5  mal  hervorgehoben.  Einen  gewissen  Mangel  in 
der  Allgemeinbildung  soll  es  auch  ausmachen,  daß  die  Schule  sich  nicht  mit  Politik 


Ein  Beitrag  zur  freieren  Gestaltung  des  Unterrichts  usw.  363 

beschäftigt,  ein  anderer  wünscht  die  neueste  Literatur  stärker  hervorgehoben 
zu  sehen,  ein  Dritter  erhält  zu  viel  klassische  Dichtung,  ein  Vierter  vermißt  die 
Grundlagen  der  Nationalökonomie,  ein  Fünfter  die  eingehende  Behandlung  der 
Rassenfrage  usw. 

Eine  weitere  Frage  lautete:  „Haben  Sie  von  der  Einrichtung  der  Gabelung 
bei  Ihren  Berufsstudien  Vorteile  gehabt?"  Dieser  Frage  schlössen  sich  dann  noch 
einige  später  zu  behandelnde  Unterfragen  an,  falls  die  Hauptfrage  mit  Ja  beant- 
wortet wurde.  Leider  ist  diese  Frage  häufiger  nicht  beantwortet.  Rechnen  wir 
nur  die  Abstimmenden,  so  beantworteten  die  Frage  mit  Ja  aus  A  69,4%,  aus 
B  69,9%,  mit  Nein  demnach  aus  A  30,6,  aus  B  30,1  %.  Die  Verschaffung  solcher 
Vorteile  ist  ja  aber  garnicht  der  eigentliche  Zweck  der  Einrichtung,  wird  trotz- 
dem ein  solcher  Vorteil  erreicht,  so  ist  das  ein  weiterer  Grund,  der  für  die  Gabelung 
spricht. 

Von  den  mit  Ja  abstimmenden  wird  ein  Vorteil  für  ein  tieferes  Erfassen  der 
Aufgaben  des  Berufes  hervorgehoben  bei  A  von  29,4,  bei  B  von  35,3  %,  für  eine 
Erleichterung  des  Studiums  durch  Vorwegnahme  gewisser  Kapitel  bei  A  von  47,1, 
bei  B  von  84,3  %,  durch  schulgemäße  Behandlung  der  Grundbegriffe  bei  A  29,4%, 
bei  B  41,2%,  durch  sonstiges  bei  A  von  47,1,  bei  B  11,6%. 

Zu  einer  Abstimmung  über  die  Gabelung  war  nicht  aufgefordert,  es  erklären 
sich  77,3  aus  A  und  81,5%  aus  B  zugunsten  der  Beibehaltung  der  Gabelung;  das 
geschieht,  ohne  daß  diese  Frage  gestellt  war. 

Aus  den  Äußerungen  sei  doch  noch  einiges  direkt  hierher  gesetzt,  trotzdem 
es  vorher  schon  gezählt  ist,  zunächst  aus  A. 

„Ich  halte  das  System  für  glücklich  und  wertvoll.  Es  wirkt  der  Allgemein- 
bildung nicht  entgegen  und  bietet  gleichwohl  dem  einzelnen  Erleichterungen 
und  die  Möglichkeit  zu  freudiger  Teilnahme  am  Unterricht.  Könnten  beide  Ab- 
teilungen nicht  in  einem  philosophischen  Kolloquium  vereinigt  werden?" 

„Ich  halte  die  Gabelung  nicht  für  vorteilhaft,  weil  sie  leicht  eine  zu  frühe 
Entscheidung  für  einen  bestimmten  Beruf  veranlaßt!" 

„Ich  halte  das  System  für  gut." 

„Ich  halte  die  eingeführte  Trennung  für  sehr  vorteilhaft." 

„M.  E.  bringt  der  Besuch  der  sprachlichen  Abteilung  solchen,  die  sich  später 
der  Rechtswissenschaft  widmen  wollen,  manchen  Vorteil  und  ist  jedenfalls  dem 
gewöhnlichen  Realgymnasialunterricht  vorzuziehen." 

,,Die  Gabelung  habe  ich  seinerzeit  sehr  willkommen  geheißen  und  werde  sie 
immer  wieder  befürworten." 

„Ich  spreche  mich  gegen  das  System  aus,  weil  nicht  alle  in  der  Auswahl  ihrer 
Lehrer  vielleicht  so  glücklich  sein  werden  wie  gerade  mein  Jahrgang."  Um  Gründe 
dieser  Art  auszuschließen,  erfolgt  seit  zwei  Jahren  die  Wahl  der  Abteilung  schon 
vor  der  Unterrichtsverteilung  für  die  Primen. 

„Die  Gabelung  der  Primen  ist  m.  E.  sehr  erwünscht,  die  Einrichtung  ist  gut 
gewählt." 

„Die  Gabelung  selbst  ist .  .  .  eine  durchaus  das  Streben  der  Schüler  belebende, 
ihre  Neigungen  weckende  und  stärkende  Einrichtung." 

„Höchste  Zufriedenheit  mit  dem  jetzigen  System." 


364         Wundram,  Ein  Beitrag  zur  freieren  Gestaltung  des  Unterrichts  usw. 

„Auf  jeden  Fall  muß  die  Gabelung  bestehen  bleiben." 

„Ich  halte  die  Gabelung  der  Primen  für  sehr  vorteilhaft  und  würde  es  im  Inter- 
esse meiner  früheren  jüngeren  Kameraden  bedauern,  wennn  die  Einrichtung  auf- 
gehoben werden  sollte." 

Mediziner,  Studierende  des  Bergfaches  und  Mathematiker  bekunden,  daß  sie 
den  Vorträgen  auf  der  Universität  durchaus  haben  folgen  können,  sogar  noch  nicht 
zu  unterschätzende  Vorteile  gegenüber  den  Gymnasialabiturienten  hätten,  ein 
anderer  Mediziner  bedauert,  daß  er  nicht  der  mathematisch-naturwissenschaft- 
lichen Abteilung  angehört  habe. 

Ebenso  einige  Äußerungen  aus  der  Abteilung  B. 

„Der  eingehende  und  die  Hauptprobleme  anzeigende  und  herauslösende 
Unterricht  in  der  Biologie  setzte  mich  in  den  Stand  . . .  schon  Ende  des  6.  Semesters 
.  .  .  zu  promovieren  .  .  .  bejahe  ich  unbedingt  die  Gabelung." 

„2  Stunden  Latein  hätten  genügt." 

„Vor  allen  Dingen  bin  ich  dankbar  für  die  objektive,  ruhige  und  bescheidene 
Lebensauffassung,  die  man  als  junger  Mensch  durch  ein  intensives  Naturstudium 
erhält  im  Sinne  des  Goetheschen  Spruches:  Verhandelt  man  mit  menschlichen 
Angelegenheiten,  so  kommt  nichts  ins  Reine,  hält  man  sich  an  die  Natur,  so  ist 
alles  getan." 

„Die  Gabelung  ist  sehr  zweckmäßig." 

„Ich  halte  das  Gabelungssystem  für  segensreich." 

Ein  Referendar  schreibt:  „Ob  ich  die  Gabelung  an  und  für  sich  für  sehr  vorteil- 
haft halten  soll,  weiß  ich  nicht  recht.  Die  bedeutsamste  Neuerung  scheint  mir 
darin  zu  liegen,  daß  den  Schülern  Gelegenheit  geboten  wird,  sich  mit  den  neueren 
biologischen  Forschungen  bekannt  zu  machen." 

„M.  E.  liegen  etwaige  Mängel  nicht  an  dem  System  .  .  ." 

„Ich  halte  die  Gabelung  für  sehr  angebracht." 

„Dabei  war  mir  die  Teilung  von  vornherein  sympathisch,  da  sie  mich  selb- 
ständiger machte,  indem  sie  mich  meinen  Wünschen  gemäß  selbst  wählen  ließ. 
Mit  der  Wahl  trat  bei  mir  auch  neben  einem  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  eine 
größere  Lust  zur  Arbeit  auf  und  ich  bin  jetzt  dankbar,  daß  die  Teilung  bestand." 
„Für  die  Seeoffizierslaufbahn  erachte  ich  den  Eintritt  in  die  mathematische  Ab- 
teilung als  sehr  günstig."  Die  allerhöchste  Belobigung  für  den  ersten  Fähnrich 
zur  See  ist  allerdings  einem  Abiturienten  der  sprachlich-historischen  Abteilung 
meiner  Anstalt  zuteil  geworden. 

„Ich  halte  die  Gabelung  für  durchaus  zweckmäßig." 

„Im  4.  Semester  (Dienstjahr  eingerechnet)  erhielt  ich  meine  Promotions- 
arbeit ...  Es  muß  hervorgehoben  werden,  daß  die  zur  Literaturkenntnis  notwendige 
englische  und  französische  Sprache  allein  durch  die  Schulbildung  in  durchaus 
genügender  Weise  ausgebildet  war,  und  meine  Leistungen  waren  unter  dem  Durch- 
schnitt der  Klasse,"  i 
und  aus  demselben  Jahrgang: 

„Die  Vernachlässigung  der  neueren  Sprachen  macht  sich  beim  Studium  der 
Fachliteratur  unangenehm  bemerkbar." 

„Die  Gabelung  ist  für  mich  von  sehr  großem  Vorteil  gewesen." 


R.  Bürger,  Innere  Wandlungen  und  äußere  Einflüsse  im  deutschen  Unterricht.     365 

„.  .  .  zumal  eine  eingehende  Kenntnis  der  Naturwissenschaften  zum  Ver- 
ständnis der  heutigen  Weltanschauung  unbedingt  notwendig  ist." 

„Die  Teilung  ist  von  mir  und  meinen  Klassenkameraden  freudig  begrüßt 
worden  und  hat  sich  nach  meiner  Meinung  durchaus  bewährt.** 

„Die  Gabelung  der  Primen  war  mir  damals  recht  unangenehm  und  auch  heute 
kann  ich  einen  Vorteil  darin  nicht  erblicken."  Die  Allgemeinbildung  hat  sich  bei 
ihm  bewährt  und  er  hat  auch  Vorteile  beim  Studium  von  ihr  gehabt. 

„.  .  .  glaube  ich,  daß  für  jeden  späteren  Techniker  die  Erhaltung  der  mathema- 
tischen Abteilung  zu  wünschen  ist." 

Daß  durch  eine  solche  Umfrage  die  Berechtigung  oder  Nichtberechtigung  der 
Gabelung  nicht  entschieden  werden  kann,  darüber  bin  ich  mir  durchaus  klar.  Ich 
habe  aber  geglaubt,  einen  beachtenswerten  Beitrag  zur  Klärung  dieser  Frage  zu 
schaffen.  Es  wird  mir  eingeworfen  werden,  die  Zeit,  seitdem  die  Schüler  die  Anstalt 
verlassen  haben,  sei  noch  zu  kurz,  um  zu  einem  objektiven  Verhältnis  zu  kommen, 
deshalb  habe  ich  auch  bei  den  Urteilen  der  letzten  Jahrgänge  in  bezug  auf  die  Ver- 
öffentlichung mir  Zurückhaltung  auferlegt,  bei  der  Berechnung  der  Prozentzahlen 
war  das  natürlich  nicht  zulässig.  Im  übrigen  muß  betont  werden,  daß  nicht  wenige 
von  den  Beantwortern  schon  ihre  akademische  Studien  abgeschlossen  haben, 
darunter  eine  ganze  Reihe  mit  glänzendem  Erfolg,  und  daß  gerade  diese  sich  zu- 
-stimmend  geäußert  haben. 

Elberfeld.  Hugo  Wundram. 

Innere  Wandlungen  und  äußere  Einflüsse  im  deutschen 

Unterricht. 

Von  den  drei  Gebieten,  die  die  letzten  Lehrpläne  auch  wieder  in  den  Mittel- 
punkt der  Jugenderziehung  gestellt  wissen  wollen,  dem  Deutschen,  der  Religion 
und  der  Geschichte,  hat  der  Unterricht  im  Deutschen  in  den  letzten  zehn  Jahren 
wohl  die  am  wenigsten  offen  zutage  liegende  Entwicklung  durchgemacht.  In  der 
religiösen  Unterweisung  sind,  wenn  auch  abgeschwächt,  die  Krisen,  die  wir  durch- 
lebt haben,  nicht  ohne  Einfluß  geblieben,  und  die  Geschichte  durfte  sich,  wie  stets, 
der  lebendigen  Mithilfe  der  gerade  das  politische  Denken  bewegenden  Ideen  er- 
freuen. Anders  im  deutschen  Unterricht.  Die  einschlägigen  Handbücher,  die  den 
Durchschnitt  des  besten  Könnens  geben,  suchen  aus  naheliegenden  Gründen  allen 
Richtungen  gerecht  zu  werden,  und  zeigen  so,  wie  wenig  sich  hier  eine  mit  allem 
fortschreitenden  Leben  verbundene  Einseitigkeit  hat  einstellen  können.  Die  Rat- 
schläge für  die  Gestaltung  der  schriftlichen  Arbeiten  gleiten  noch  immer  von  der 
alten  Rhetorik  über  die  stark  abstrakt  philosophische  Deutung  unserer  Klassiker 
zur  Empfehlung  eines  freieren  Gewährenlassens  sanft  hinüber.  Gleichwohl  scheint 
auch  hier  das  Neulernen  und  Erleben  wichtiger  gewesen  zu  sein  als  das  gewissen- 
hafte, aber  recht  genügsame  Vermitteln  zwischen  den  verschiedenen,  der  Vergangen- 
heit angehörenden  Methoden.  Man  sieht  z.  B.  aus  Kommentaren,  die  den  Jahren 
1880 — 90  entstammen,  wieviel  sich  hier  in  der  Bewertung  des  Gegenstandes, 
in  der  Betrachtungsweise  und  in  den  Möglichkeiten  praktischen  Übens  seither 
verschoben  hat. 


366  R.  Bürger, 

1.  So  sonderbar  es  klingen  mag,  die  Bewertung  des  Deutschen  als  Bildungs- 
fach ist  in  den  letzten  zehn  Jahren  weniger  von  der  jeweiligen  Stärke  des  National- 
gefühls {obwohl  auch  dies  nicht  unterschätzt  werden  darf)  abhängig  gewesen,  sie 
beruhte  vielmehr  auf  der  Anerkennung,  die  andere  literarische  Werte  auf  unseren 
höheren  Schulen  genossen.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  die  Einführung  der  „Gleich- 
berechtigung" und  das  Anwachsen  der  realistischen  Anstalten  den  deutschen 
Unterricht  vielfach  ganz  von  selbst  von  der  der  Antike  gewidmeten  Verehrung 
abbringen  mußte.  Wer  kennt  ihn  nicht  aus  seiner  Jugend,  den  Deutschlehrer, 
der  die  Kenntnis  der  Alten  und  unserer  Klassiker  mit  gleicher  Andacht  vermittelte, 
in  dessen  Interpretation  selbst  an  geringfügigster  Stelle  sich  der  gleiche  gehobene 
Zusammenhang  einstellte,  kurz,  dessen  gesamte  Unterweisung  getragen  zu  sein 
schien  von  einer  Selbstsicherheit,  die  jeden  Zweifel  an  ihrem  sozialen  Werte  über- 
legen ablehnen  konnte?  Zweifellos  kam  dabei  die  Eigenart  unserer  Klassiker  zu- 
weilen zu  kurz,  und  die  Behandlung  der  ihre  Arbeit  bedingenden  Zeitverhältnisse 
ließ  alles  zu  wünschen  übrig.  Aber  da  die  großen  Dichter  unfehlbare  Autorität 
genossen,  so  war  auch  der  formale  Gewinn,  den  man  aus  ihnen  für  eigenes  Sprach- 
können zog,  sicherer  als  heute,  wo  wir  historisch  besser  über  sie  unterrichtet  sind. 
Die  Vorwürfe  gewisser  Kreise,  die  ein  Deutschtum  in  Reinkultur  dem  Gymnasium 
entgegensetzen  wollen,  richten  sich  somit  von  selbst.  Man  vergesse  auch  nicht, 
daß  die  Entstehung  des  modernen  Gymnasiums  und  das  Durchbrechen  der  Erkennt- 
nis, daß  unsere  Klassiker  für  die  Nation  notwendige  Bildungswerte  vermitteln, 
zeitlich  sowohl  wie  in  Hinsicht  auf  die  beteiligten  Persönlichkeiten  zusammen 
gefallen  sind.  Würde  jemand  wirklich  imstande  sein,  dem  einen  oder  dem  andern 
Bildungselement  die  Priorität  und  damit  die  für  uns  noch  ausschlaggebende  Be- 
deutung zu  sichern?  Es  genüge,  auf  das  jetzt  neue  Verhältnis  zu  der  Bewertung 
literarischer  Bildung,  wie  sie  in  der  Gabelung  der  höheren  Schulen  äußerlich  sich 
zeigt,  hingewiesen  zu  haben.  Noch  steht  die  Mehrzahl  der  akademischen  Lehrer 
auf  dem  Boden  der  älteren  Bewertungseinheit,  aber  auf  die  Dauer  wird  der  deutsche 
Unterricht  den  Wandel  wohl  fühlen» 

Viel  zu  wenig  hat  man  sich  demgegenüber  im  neuphilologischen  Lager  mit 
derselben  Frage  der  Anlehnung  an  die  beiden  Literaturen,  deren  Sprachen  gelehrt 
werden,  beschäftigt.  Schuld  hieran  war  meist  die  einseitig  praktische  Bedeutung, 
die  die  Reformer  diesem  Unterrichte  gaben.  Gleichwohl  verdient  sie  ernsteste 
Aufmerksamkeit.  Ist  es  etwa  gleichgültig,  wie  der  Schüler  die  Literatur  des  fremden 
Volkes  bewertet,  dessen  Sprache  er  lernt?  Oder  soll  etwa  der  neusprachliche  Unter- 
richt mit  der  geringen  Bewertung  alles  fremden  Volkstums  auf  den  dummen  Patrio- 
tismus lossteuern,  zu  dem  man  uns  zuweilen  schon  führen  wollte?  Die  Frage  ist 
für  den  Kundigen  keineswegs  müßig.  Wer  einmal  vor  einem  Schülerpublikum 
ohne  literarische  Interessen  unterrichtet  hat,  wird  zugeben,  daß  der  deutsche 
Unterricht  trotz  feierlichster  Hinweise  auf  die  ihm  eigene  vaterländische  Bedeutung 
doch  für  sich  allein  eine  geringe  Rolle  spielt,  sobald  ihm  nicht  die  Stütze  einer 
hohen  Bewertung  literarischer  Bildung  in  den  beiden  Ländern,  deren  Sprachen 
gelernt  werden,  zur  Seite  steht.  Das  Problem  des  deutschen  Unterrichts  ist  so 
hier,  wie  man  sieht,  dasselbe  wie  beim  Gymnasium.  In  beiden  Fällen  sind  die 
zwei  in  Betracht  kommenden  Literaturen  von  verschiedenem  Werte.    Der  stark 


Innere  Wandlungen  und  äußere  Einflüsse  im  deutschen  Unterricht.  367 

gestiegenen  Bewertung  des  Griechischen  entspricht  bei  den  Realanstalten  die 
hohe  Stellung,  die  literarische  Bildung  in  Frankreich  genießt.  Man  sehe  sich  nur 
einmal  an,  was  aus  den  beiden  Literaturen,  der  französischen  und  der  englischen, 
bei  uns  gelesen  wird,  und  man  wird  sehen:  der  französische  Kanon  geht  auf  eine 
noch  heute  stark  lebendige  literarische  Tradition  zurück;  die  Auswahl  englischer 
Schriftsteller  —  das  Schmerzenskind  der  Neuphilologen  —  ist  allen  höheren  An- 
sprüchen gegenüber  von  einer  Hilflosigkeit  und  zeigt  die  Launenhaftigkeit,  die 
dem  Engländer  in  literarischen  Dingen  eigen  ist,  eben  weil  eine  klassische  Literatur 
als  feste  Norm  in  seinem  Lande  nicht  besteht.  Die  Verehrung  der  großen  eng- 
lischen Dichter  läuft  auf  die  Erhaltung  der  Stätten,  wo  sie  gelebt,  und  der  Dinge, 
die  sie  um  sich  hatten,  hinaus,  und  ähnlich  kleinlich  geht  es  in  den  Biographien 
zu.  Von  einer  Anknüpfung  großer  literarischer  Bewegungen  früherer  Zeit  an  die 
Gegenwart  ist  nirgends  etwas  zu  finden.  Der  Engländer  ist  über  seiner  kommerziellen 
und  kolonialen  Ausbreitung  ganz  unliterarisch  geworden.  Mit  Entsetzen  sieht 
der  Deutsche  drüben  den  Tiefstand  des  englischen  Theaters.  Selbst  Gebildete 
sprechen  es  dort  mit  einer  gewissen  Selbstgefälligkeit  aus,  daß  sie  nie  ein  Buch 
lesen.  Wäre  es  in  England  denkbar,  daß  jemand  der  klassischen  Literatur  Waffen 
für  die  religiösen  und  politischen  Kämpfe  der  Gegenwart  entnähme,  wie  es  der 
größte  französische  Literaturhistoriker  des  letzten  Dezenniums  getan  hat?  Ja, 
auch  seine  Fachgenossen  haben  eben  auf  Grund  ihrer  in  literarischen  Dingen  er- 
worbenen Autorität  politische  Führerrollen  übernehmen  müssen,  und  selbst  die 
jetzige  Bekämpfung  der  französischen  Romantik  und  die  Erörterungen  der  crise 
du  Irangaiü  hängen  mit  tiefliegenden  politischen  Hoffnungen  zusammen.  Dabei 
ist  die  klassische  Literatur  nicht  etwa  in  den  Schmutz  der  Demagogie  herabgezogen 
worden;  vielmehr  hat  sich  ihre  lebendige  Geltung  nur  noch  erhöht,  und  dieses  Inter- 
esse hat  nun  auch  unserer  Literatur  gegenüber  zugenommen  und  hat  zu  schönen 
Arbeiten  geführt.  Wir  Deutsche  haben  uns  zwar  an  eine  recht  unpolitische  Art 
des  literarischen  Denkens  gewöhnt,  aber  das  ist,  wenn  wir  uns  z.  B=  nur  der  Schiller- 
begeisterung von  1840 — 59  erinnern,  wohl  nur  historisch  bedingt  und  wird  nicht 
einmal  stets  wünschenswert  sein.  So  wird  der  deutsche  Unterricht  da,  wo  die 
neueren  Fremdsprachen  im  Vordergrunde  stehen,  gar  nicht  umhin  können,  diesen 
Zuwachs  an  Interesse,  den  wenigstens  die  französische  Literatur  ihm  bietet,  in 
Rechnung  zu  setzen.  Es  gibt  in  literarischen  Dingen  —  das  dürfen  wir  Philologen 
aus  reinem  Eifer  an  unserer  Sache  überhaupt  nicht  vergessen  —  im  Grunde  nur 
wenig  Lebendiges,  so  daß  ein  ständiges  Umschauhalten  im  Garten  des  Nachbars 
geradezu  geboten  erscheint. 

Wenn  diese  Bewertung  der  fremden  Literaturen  zunächst  nur  mittelbar  auf 
den  Platz,  den  wir  unseren  Dichtern  in  unserer  Kultur  zuweisen,  Einfluß  hat,  so 
ist  nun  zu  erörtern,  ob  nicht  auf  unserem  eigensten  Gebiete  eine  „Umwertung 
der  Werte"  erfolgt  ist.  Es  ist  keine  Frage,  daß  sich  immer  noch  eine  starke  Bevor- 
zugung Goethes  geltend  macht.  Trotz  des  Jubels  über  den  Idealismus  des  Jahres 
1905,  wo  der  100  jährige  Todestag  eine  Schillerrenaissance  versprach,  ist  das  Interesse 
nur  erst  tastend  zu  dem  Dichter  des  Wallenstein  zurückgekehrt.  Den  Schülern 
Scherers  hatte  neben  ihrem  Meister  bereits  Koberstein  bestimmte  Wege  gewiesen, 
die  zu  Goethe  hinführten.    Leider  wird  die  Meinung,  daß  Schiller  für  uns  „historisch'^ 


368  R.  Bürger, 

geworden  sei,  auch  schon  von  Männern  geteilt,  auf  deren  jetzige  Forschungen 
über  ihn  man  später  einmal  dankbar  zurückgreifen  wird.  Die  neudeutsche  Dichter- 
schule vollends  hat  (wie  einmal  L.  Fulda  feinsinnig  ausführte)  zu  Schiller  kein  Ver- 
hältnis finden  können.  Es  wiederholt  sich  so  heute  die  etwas  ungezogene  Art, 
wie  die  Romantik  über  ihn  absprach.  Das  bleibt,  wenn  man  sich  bewußt  auf  dieses 
Beispiel  beruft,  eine  arge  Verkennung  seiner  Bedeutung.  Wo  ist  aber  der  roman- 
tische Dichter,  der  so  unmittelbare  Fühlung  mit  den  großen  Ereignissen  seiner  Zeit 
gehabt  hätte  wie  Schiller?  Besser  als  aus  Kleist  wäre  aus  ihm  ein  ganzes  bürger- 
kundliches  System  abzuleiten,  und  was  mehr  ist,  es  träte  stets  hinzu  das  hin- 
reißende Schauspiel  einer  Persönlichkeit,  die  der  großen  Gegenwart  etwas  wirklich 
Gewolltes  entgegenzusetzen  wußte.  Sind  die  Glossen,  mit  denen  die  Romantik 
die  Wandlungen  ihrer  Zeit  begleitete,  auch  nur  zu  vergleichen  mit  der  Fassung 
z.  B.  des  Demetriusproblems,  das  er  inmitten  einer  um  Recht  und  Unrecht  der 
Dynastien  streitenden  Gesellschaft  gestaltete?  Wie  schnell  hat  man  die  große 
Tendenz  von  Treitschkes  deutscher  Geschichte  vergessen,  für  den  eine  Wiedergeburt 
Deutschlands  nur  in  politisch-militärischem  Kraftaufgebot  verbunden  mit 
philosophisch-religiöser  Arbeit  denkbar  war!  Schiller  war  uns  ein  Stück  politischen 
Denkens  in  den  Jahren  des  Hoffens  (von  1840—60);  er  war  aber  für  seine  Zeit  — 
weit  mehr  als  Goethe  —  ein  Mann,  der  in  seiner  Arbeit  einen  lebendigen  Protest 
gegen  die  um  ihn  her  spielende  Politik  bildete.  Er  lief  nicht  grollend  weg  und  ver- 
grub sich  nicht  in  einen  unfruchtbaren  Ästhetizismus,  der  gegenüber  den  großen 
Mächten  seiner  Zeit  kein  Verdienst  war,  denn  ein  solches  Verhalten  zeugte  von 
nur  wenig  Charakter.  Die  kommenden  Jahre,  die  uns  die  Erinnerung  an  die  Be- 
freiung Preußens  besonders  wieder  wecken  werden,  tragen  hoffentlich  dazu  bei, 
den  Blick  von  dem  kleinen  Preußen,  das  1795—1806  so  sträflich  abseits  stand, 
auf  die  ganze  Reihe  der  Ereignisse  der  Revolution  und  des  Empire  zu  lenken. 
Die  politische  Geschichte  hat  das  schon  längst  getan,  aber  die  Literaturgeschichte 
hat  sich  dem  bisher  verschlossen.  Sie  ist  zu  sehr  dem  im  Grunde  schüchternen 
Wesen  der  Romantik  gefolgt.  Dann  wird  sich  auch  Schillers  Gestalt  riesenhaft 
herausheben,  und  das  Beispiel  einer  selbst  unter  widrigen  Verhältnissen  groß- 
wollenden Persönlichkeit,  das  wir  in  Deutschland  so  nötig  brauchen,  wird  dem 
deutschen  Unterrichte  als  willkommene  Wohltat  zufließen. 

Dies  braucht  der  Würdigung  Goethes  keinerlei  Abbruch  zu  tun.  Nur  wird  sich 
bei  ihm  das  Interesse  noch  ausschließlicher  der  Zeit  von  1770 — 1786  zuwenden; 
die  wirklich  anregenden  Publikationen  der  letzten  Goetheliteratur  gelten  dieser 
Epoche,  und  besonders  die  kulturhistorische  Betrachtung  hat  ihre  Kenntnis  wesent- 
lich gefördert.  Eine  rein  ästhetisch-formale  Würdigung  ist  ja  bei  dem  engen  Zu- 
sammenhang von  Dichtung  und  Leben,  wie  wir  ihn  in  Goethe  beobachten,  nicht 
einmal  wünschenswert.  Das  18.  Jahrhundert  überhaupt  wird,  im  Gegensatz  zu 
der  herabsetzenden  Art,  wie  die  französischen  Literaturkritiker  es  noch  jüngst 
behandelten,  noch  eine  Fülle  historischer  Belehrung  zeitigen,  je  mehr  wir  uns 
von  ihm  entfernen;  denn  bisher  stand  diesem  Wunsche  der  kleinliche  Fortschritts- 
hochmut, mit  dem  jedes  Jahrhundert  auf  das  vorhergehende  zurückblickt,  im 
'Wege. 

Dann  wird  auch  die  Begeisterung,  die  heute  die  Romantik  in  Wissenschaft- 


Innere  Wandlungen  und  äußere  Einflüsse  im  deutschen  Unterricht.         369 

liehen  wie  in  Laienkreisen  entfacht,  wieder  verfliegen.  Ich  halte  diese  Verehrung 
für  einen  Ausfluß  der  gewiß  Achtung  gebietenden  künstlerischen  Arbeit  des  letzten 
Jahrzehnts.  Sie  greift  ja  auch,  wie  die  Philosophen  längst  gemerkt  haben,  (vgl. 
0.  Ewalds  Jahresberichte  in  den  Kantstudien)  weit  über  das  eigentliche  literarische 
Gebiet  hinaus  und  sucht  ältere  Weltanschauungswerte  wieder  einzubürgern.  Die 
Fülle  der  Neuausgaben  und  Monographien,  die  dieses  Interesse  gezeitigt  hat,  ist 
jedenfalls  dankbar  zu  begrüßen.  Auch  daß  die  Literaturgeschichte  hierbei  wieder 
philosophisch  zu  denken  gelernt  hat,  bleibt  ein  hoffentlich  dauernder  Gewinn. 
Gleichwohl  wird  der  inhaltliche  Wert  dieser  Epoche  überschätzt;  das  wird  sich 
noch  mehr  zeigen,  wenn  erst  einmal  alle  praktischen  Anregungen  der  Romantik  — 
z.  B.  auf  dem  Gebiete  der  politischen  Verhältnisse  —  geprüft  und  an  der  eigentlich 
politischen  Arbeit  der  Zeit  gewertet  werden.  Die  Romantiker  waren  selbst  viel 
zu  sehr  literarisch-historisch  gerichtet,  um  positive  Gegenwartsarbeit  zu  leisten. 
Ihre  Theorien  gingen  aus  von  Beispielen,  die  nicht  mehr  lebendig  sein  konnten, 
und  erweckten  daher  den  Eindruck,  als  hätten  sie  abseits  von  jeder  eigenen  pro- 
duktiven Arbeit  geschrieben.  Während  Schiller  nach  subtilen  Erörterungen  mit 
Goethe  doch  noch  den  Weg  zum  Schaffen  fand,  sind  die  Romantiker  nie  aus  der 
Dürre  ihrer  Klügeleien  herausgekommen.  Sie  sind  die  Vertreter  einer  vom  Leben 
losgelösten  Kunst,  des  l'art  pour  l'art  gewesen.  Diese  Ideen  sind  aber  heute  nicht 
mehr  so  modern  wie  vor  zehn  Jahren.  Selbst  der  Nietzschekultus,  der  die  ganze 
Neuromantik  beherrschte,  hat  sich  in  rein  ästhetischen  Gedankengängen  bewegen 
müssen  und  hat  heute  Mühe,  wieder  Anschluß  an  seine  alte  moralische  Heimat 
zu  gewinnen.  Wie  schnell  haben  erst  seine  Epigonen,  die  uns  ein  paar  schöne  Renais- 
sancegestalten (Schnitzler:  Schleier  der  Beatrice,  Herzog:  Der  Condottiere, 
v.  Hoffmannsthal :  Das  gerettete  Venedig)  schenkten,  andre  Wege  eingeschlagen! 
Neue  Kunstformen,  darunter  die  neoklassischen  von  P.  Ernst  und'  Stucken,  haben 
der  Neuromantik  den  Krieg  erklärt,  und  es  ist  nicht  abzusehen,  wie  sich  diese 
Änderung  für  die  Bewertung  unserer  Klassiker  geltend  machen  wird.  Vielleicht 
zieht  unsere  Kenntnis  des  18.  Jahrhunderts  etwas  von  der  jetzigen  Rokokomode 
Nutzen.  Es  ist  ja  nicht  entscheidend  für  eine  geistige  Bewegung,  ob  die  Schule 
mit  ihr  etwas  anfangen  kann.  Aber  die  schwache  Seite  der  Romantik  tritt  doch 
erst  in  diesem  Zusammenhang  klar  zutage.  Eine  literarische  Bewegung,  die  nicht 
auch  gleich  in  den  Kreisen  der  Jugend  Pflege  finden  kann,  mag  kurze  Zeit  eine 
glanzvolle  Existenz  haben,  aber  ohne  eine  breitere  Basis  zu  ihrer  Aufnahme  geht 
sie  leicht  wieder  ein,  und  dies  scheint  mir  bei  der  Romantik  der  Fall  zu  sein.  Die 
Schule,  auf  die  man  heute  so  kritiklos  losschlägt,  hat  in  dieser  Hinsicht  ihre  nicht 
zu  verkennende  Bedeutung  auch  für  die  Fortpflanzung  geistiger  Anregungen. 
II.  Ist  so  der  Gegenstand  des  deutschen  Unterrichts  starken  Wandlungen 
ausgesetzt  gewesen,  so  darf  auch  nicht  übersehen  werden,  daß  ebenso  die  Betrach- 
tungsart und  die  Arbeitsmethoden,  die  sie  zu  stützen  haben,  andre  geworden  sind. 
Die  geflissentliche  Vernachlässigung  der  neueren  Literaturgeschichte,  unter  der 
noch  die  älteren  Vertreter  des  Deutschen  während  ihrer  Studien  zu  leiden  hatten, 
ist  ins  Gegenteil  umgeschlagen.  Schon  hat  ein  bedeutender  Germanist,  der  noch 
die  ältere  und  die  neuere  Zeit  beherrscht,  eine  Rückkehr  zum  eigentlichen  Gebiet 
der  deutschen  Philologie,  dem  Mittelhochdeutschen,  empfohlen.    Auch  die  neuere 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  24 


370  R.  Bürger, 

Literaturgeschichte  steckt  mehr  voller  Krisen  als  der  Außenstehende  denkt,  wenn 
ihm  neue  Ausgaben  mit  schönen  Einleitungen  geboten  werden.  Einer  der  besten 
Faustkommentatoren  hat  sein  Werk  den  Philologen  des  20.  Jahrhunderts  gewidmet, 
indem  er  damit  sich  abwandte  von  der  häßlichen  Manier  nur  Zettelkästen  statt 
wissenschaftlicher  Erörterungen  zu  bringen.  Dieses  Urteil  ist  wohl  zu  hart;  denn 
je  nach  der  Bedeutung  des  behandelten  Schriftstellers  ist  die  monographische 
Behandlung  an  innerem  Werte  gestiegen.  Daß  die  Literaturgeschichte  nicht  mehr 
die  geschlossene  Methode  wie  zur  Zeit  H.  Hettners  (nach  H.  Spitzers  eingehenden 
Darlegungen  1903)  hat,  ist  nicht  anders  zu  erwarten,  so  lange  nicht  eine  über- 
ragende Gelehrtenpersönlichkeit  hier  wieder  die  Führung  übernimmt.  Neue  Wege 
sind  gleichwohl  genügend  eröffnet  worden.  Von  den  kulturgeschichtlichen  Interessen, 
die  jetzt  in  die  Biographien  hineinragen,  war  schon  die  Rede.  Der  Wunsch  nach 
größerer  Berücksichtigung  der  Geschichte  der  Revolution  und  des  Empire  bleibt 
noch  zu  erfüllen. 

Bei  der  großen  Bedeutung,  die  letzthin  das  Interesse  für  die  Arbeitsart  der 
bildenden  Künste  erlangt  hat,  ist  der  Einfluß  der  kunsthistorischen  Methoden 
auch  in  dem  literaturgeschichtlichen  Nachbargebiet  zu  spüren.  Man  wird  an 
den  in  unser  Gebiet  mehr  oder  weniger  hineinreichenden  Arbeiten  von  Helene 
Stöcker,  Aubert,  Wölfflin,  Hildebrand,  Utitz  usw.  nicht  mehr  vorbei  können.  Die 
starke  Betonung  der  technischen  Seite  der  Kunst,  die  sie  kennzeichnet,  ist  jedoch 
eine  Einseitigkeit,  zu  der  die  Kunstgeschichte  ein  größeres  Recht  hat  als  die 
Philologie;  denn  erstens  wird  bei  dieser  Kunst  die  technische  Seite  stets  größeres 
Interesse  beanspruchen  und  dann  hat  die  Kunstgeschichte  weit  mehr  als  die  Nach- 
barin in  verstiegener  Inhaltsdeutung  gesündigt.  Vorsicht  ist  daher  geboten.  Man 
bedenke  auch,  daß  um  1800  allein  die  redenden  Künste  zu  höchster  Höhe  empor- 
stiegen, während  auf  dem  Nachbargebiet  nur  ein  beachtenswerter  Durchschnitt 
erzielt  wurde. 

Noch  vorsichtigeres  Zuwarten  scheint  geboten,wenn  sich  die  heute  anschwellende 
philosophische  Bewegung  auf  unserm  Gebiet  geltend  machen  will.  Man  weiß, 
daß  sich  jetzt  eine  Wiederholung  der  großen  Systemreihe  vollzieht,  die  vor  100 
Jahren  das  gebildete  Denken  in  Deutschland  durchmachte.  Man  geht  von  Kant 
über  Fichte  zu  Schelling  und  Hegel  über.  Die  Neuromantik  hat  für  jede  Etappe 
dieses  Weges  mit  Reminiszenzen  oder  neuen  Anregungen  aufwarten  können,  ob- 
wohl ihr  Abgott  Nietzsche  so  recht  ein  Beweis  dafür  ist,  wie  tief  das  Ansehen  der 
Metaphysik  in  Deutschland  sinken  konnte.  Dem  Neukantianismus  verdanken  wir 
eine  vertiefte  Kenntnis  der  Staatsphilosophie  Rousseaus.  Shaftesbury  hat  die 
mit  der  Romantik  verknüpfte  Literaturforschung  gewürdigt.  Der  Rationalismus 
seit  Bayle  und  die  Philosophie  vor  Kant  seit  Leibniz,  alles  das  hat  jetzt  an  Deut- 
lichkeit gewonnen.  In  die  Behandlung  Schillers  greift  schon  der  noch  nicht 
entschiedene  Streit  zwischen  Psychologismus  und  Logik  ein,  wie  ja  selbst  alle 
die  genannten  historischen  Arbeiten  an  lebendige  Gegenwartskämpfe  anknüpfen. 
Das  Geheimnis  der  Wirkung  aller  großen  Historiker  liegt  hier  offen.  Die  ausschließ- 
lich objektiv  berichtende  Art,  wie  sie  Zellers  Philosophie  Friedrichs  des  Großen 
charakterisierte,  sucht  man  heute  glücklicherweise  umsonst.  Man  ist  auch  viel  mehr 
darauf  aus,  das  philosophische  Problem  bei  jedem  Denker  nicht  mehr  bloß  als  ein 


Innere  Wandlungen  und  äußere  Einflüsse  im  deutschen  Unterricht.  371 

Produkt  von  so  und  so  viel  Abhängigkeiten  zu  fassen,  sondern  in  jedem  System 
möglichst  ein  individuell  künstlerisches  Gebilde  zu  sehen.  Hierin  gibt  wieder  die 
Literatur  der  Philosophie  bedeutsame  Fingerzeige,  die  wertvoll  sein  werden, 
wenn  die  Philosophie  noch  stärker  als  bisher  Sitz  und  Stimme  im  Rate  der  Schule 
erhält.  Die  Ausführungen  der  propädeutischen  Handbücher,  so  wertvoll  sie  für 
den  orientierenden  Anfang  sind,  werden  der  Ergänzung  durch  das  Studium  einer 
großen  Denkerpersönlichkeit  bedürfen.  Ja,  vielleicht  wird  die  Schule  mit  ihrer 
Gewohnheit  des  Interpretierens  da  besser  fahren  als  mit  weitläufigen  systematischen 
Zusammenstellungen.  Ein  Nebengewinn  dieser  Bedeutung,  die  die  Philosophie 
für  den  deutschen  Unterricht  somit  gewonnen  hat,  ist  schon  jetzt  in  der  Anlage 
der  Biographien  zu  spüren:  Sie  verlieren  mehr  und  mehr  ihren  enzyklopädischen 
und  oft  kleinlichen  Charakter  zugunsten  einer  mehr  von  einer  leitenden  Idee  ge- 
tragenen Betrachtung. 

Gerade  die  philosophische  Erweiterung,  die  so  der  deutsche  Unterricht  er- 
möglicht, hat  seinen  Wert  unendlich  gesteigert.  Die  Unterweisung  in  den  fremden 
Sprachen  wird,  schon  um  der  Erlernung  der  Sprache  willen,  zeitweilig  ganz  auf 
inhaltliche  Bewußtseinswerte  verzichten.  Der  Religionsunterricht  wird  bei  dem 
Zunehmen  der  religiösen  Krisen  heutzutage  Zurückhaltung  üben  müssen  und 
mehr  historisch  objektiv  werden.  So  bleibt  dem  Lehrer  des  Deutschen  (neben  dem 
der  Geschichte)  die  schöne  Freiheit  und  zugleich  die  Aufgabe,  gleichsam  am  Wege 
einige  große  Fragen  wenigstens  mit  zu  streifen  und  so  den  Schülern  das  Beispiel 
einer  sicher  in  der  Gegenwart  wurzelnden  Persönlichkeit  zu  geben,  der  das  Suchen 
unserer  Zeit  und  besonders  das  der  Jugend  nicht  fremd  ist. 

III.  Diese  Erörterung  des  deutschen  Unterrichts  wäre  unvollständig,  wenn 
nicht  schließlich  auch  der  Möglichkeiten  des  praktischen  Gebrauchs  der  Mutter- 
sprache gedacht  würde.  Man  weiß,  welche  Not  die  Schüler  mit'  den  Aufsätzen 
haben.  Aber  alle  Mittel,  die  man  zur  Erleichterung  der  Schwierigkeit  vorgeschlagen 
hat,  werden  nur  teilweise  helfen.  Ein  Aufsatz  wird  immer  eine  Leistung  bleiben, 
die  zu  besonderer  Anstrengung  aufruft  und  gerade  dadurch  ausnehmenden  Wert 
erhält.  Er  allein  läßt  den  ganzen  Aufbau  eines  Unterrichts  durchblicken.  Träumen 
wir  also  nicht  von  einer  Zeit,  wo  die  Schüler  ihn  gern  schreiben  werden.  Ein  gehalt- 
voller deutscher  Unterricht  verhindert  von  selbst,  daß  sich  die  Klagen  häufen. 
Hat  man  je  gehört,  daß  Kobersteins  Schüler  in  Schulpforta  unter  dem  Aufsatze 
seufzten?  Nutzbringender  ist  darum,  daß  sich  der  Lehrer  nach  den  für  diese  Arbeit 
gültigen  Mustern  umsieht.  Was  ihm  seine  Schüler  aus  den  Seiten  der  heutigen 
impressionistischen  oder  gar  zur  Ironie  neigenden  symbolistischen  Schriftsteller 
als  Lesefrüchte  mehr  oder  weniger  bewußt  bringen,  zeigt  nur,  daß  sie  das  Leben 
vorschnell  in  das  Gebiet  der  Schule  hineinziehen.  Hier  muß  die  Schule  im  besten 
Sinne  etwas  weit-  und  lebensfremd  bleiben.  Sie  ist  eine  Einrichtung  zu  bestimmter 
sittlicher  und  wissenschaftlicher  Einwirkung  auf  bildungsfähige  junge  Gemüter, 
aber  nicht,  oder  nur  in  ganz  geringem  Maße,  die  Stätte  der  Freiheit  und  der 
Selbständigkeit;  sie  ist  der  Ort,  wo  eine  ältere  Generation  autoritativ  und  selbst 
mit  Anwendung  des  Zwanges  Gefühle  und  Lebensanschauungen  dem  nachfolgenden 
Geschlechte  übermittelt.  Darum  wird  sie  vom  Schüler  auch  alles  inhaltlose  und 
besonders  das  unbescheidene  Pathos  fernhalten.     Das  gilt  namentlich  von  den 

24* 


372    R.  Bürger,  Innere  Wandlungen  und  äußere  Einflüsse  im  deutschen  Unterricht. 

Einflüssen,  denen  sich  unsere  Schüler  infolge  der  Zeitungslektüre  hingeben.  Da 
wirkt  heute  viel  zu  sehr  das  blendende  Beispiel  Treitschkes,  das  bei  seinen  Epigonen 
für  einige  wenig  tiefe  Gedanken  eine  blendende  Form  so  bequem  auslöst.  Den 
moralisierenden  Aufsatz,  den  man  stets  als  Beispiel  für  jugendlichen  Hochmut 
anführt,  wird  man  da,  wo  noch  lebendige  Predigttradition  besteht,  ruhig  weiter 
gewähren  lassen;  vielleicht  haben  die  religiösen  Kämpfe  unserer  Tage  das  Gute, 
in  dieser  Hinsicht  neue  Kräfte  an  die  Oberfläche  zu  bringen,  die  dann  auch  der 
Schule  wieder  wirkungsvolle  Vorbilder  abgeben  könnten.  Je  mehr  man  das  Sinken 
der  politischen  Beredsamkeit  beklagt,  um  so  mehr  darf  die  Sprache  der  Kanzel 
wieder  auf  Anerkennung  hoffen.  Nur  dürfte  sie  nicht  zu  dem  launisch  stillosen 
Geplauder  werden,  das  heute  die  Schreibweise  so  vieler  Autoren  recht  ungenieß- 
bar macht  für  den,  der  feste  Kost  genießen  will.  Vielleicht  kommen  wir  dann 
auch  einmal  wieder  zu  höherer  Wertung  der  alten  Rhetorik,  aus  deren  Schule 
unsere  Klassiker  stammten..  Sie  hatte  das  Gute,  jeden  Sprung  ins  Freie  erst  nach 
Erledigung  einer  Reihe  bestimmter  Etappen  zuzulassen.  Der  Aufsatz  der  fran- 
zösischen Schulen  sucht  hierin  noch  seine  Stärke,  und  der  große  Unterschied  in  der 
Handhabung  der  Muttersprache  macht  sich  da  sehr  zu  unsern  Ungunsten  fühlbar. 

So  steht  der  deutsche  Unterricht  heute  zu  wichtigen  Wandlungen  unseres 
geistigen  Lebens  in  Beziehung.  Je  mehr  die  alten  Inhalte  in  diesen  wie  in  anderen 
literarischen  Unterrichtsfächern  an  Ansehen  eingebüßt  haben,  um  so  mehr  ist 
es  nötig,  die  ganze  Lehrerpersönlichkeit  einzusetzen,  damit  der  Jugend  wenigstens 
ein  Teil  des  Reichtums  verbleibe,  zu  dessen  Erwerb  sich  noch  unsre  Väter  als  zu 
einer  selbstverständlichen  Ehrenpflicht  bekannten.  Es  gibt  nichts,  was  den  Verlust 
dieser  Schätze  je  wieder  zu  ersetzen  imstande  wäre. 

Kattowitz,  R.  B  ü  r  g  e  r. 


IL  Programmabhandlungen  1911. 

Zur  schulgeschichtlichen  Forschung. 

(1911  mit  einzelnen  Nachträgen.) 

Festschriften  zur  Feier  von  Schuljubiläen  erscheinen  namentlich  seit  einigen 
Jahren  in  so  großer  Zahl,  daß  es  schwer  ist,  von  allen  Kenntnis  zu  nehmen.  Sie 
sind  unter  sich  gar  sehr  verschieden  nach  Art  und  Wert,  aber  immer  wohl  enthalten 
sie  eine  Darstellung  der  Geschichte  der  jubilierenden  Anstalt  oder  Beiträge  zu  einer 
solchen.  Das  ist  recht  und  billig,  denn  der  Vergangenheit  gilt  das  Fest,  und  von 
ihr  zu  erzählen  gebührt  sich  dabei.  Daß  diese  schulgeschichtlichen  Arbeiten  nicht 
immer  den  Forderungen  wissenschaftlicher  Forschung  entsprechen,  ist  schon  wieder- 
holt hervorgehoben  worden,  und  es  scheint  sich  eine  Besserung  anzubahnen.  Die 
früher  allgemein  übliche  Sitte,  bei  einer  solchen  Gelegenheit  eine  Sammlung  wissen- 
schaftlicher Arbeiten,  die  von  Mitgliedern  des  Lehrerkollegiums  verfaßt  sind, 
zu  veröffentlichen,  kommt,  wie  es  scheint,  mehr  und  mehr  ab,^  wenigstens  ist 
die  Zahl  solcher  Veröffentlichungen,  die  gewissermaßen  specimina  industriae  et 
eruditionis  der  Lehrer  sind  oder  sein  sollen,  verhältnismäßig  seltener  geworden. 
Man  mag  das  einerseits  bedauern,  andererseits  aber  muß  man  sich  klar  machen, 
daß  solche  Festschriften  kaum  der  rechte  Platz  für  gelehrte  Abhandlungen  sind; 
sie  werden  doch  niemals  während  der  Jubelfeier  und  sehr  selten  nach  ihr  gelesen 
und  finden  heute,  in  dem  Zeitalter  der  Zeitschriften,  besser  anderswo  ihren  Platz. 
Neu  ist,  soviel  ich  sehe,  die  Art,  in  der  das  Gymnasium  in  Landsberg  a.  W.  1909 
sein  50  jähriges  Jubiläum  in  einer  Veröffentlichung  gefeiert  hat.  Neben  einer 
Geschichte  der  Anstalt  von  1859 — 1909,  die  von  Direktor  Dr.  Schi  e  e  klar  und 
anschaulich  verfaßt  worden  ist,  ist  ein  zweiter  Teil  erschienen,  der  Festgaben  von 
Lehrern  und  früheren  Schülern  der  Anstalt  enthält*);  es  werden  11  Abhandlungen 
veröffentlicht,  von  denen  5  ehemalige  Schüler  zu  Verfassern  haben.  Der  Gedanke, 
auf  solche  Weise  den  Zusammenhang  mit  der  Vergangenheit  aufrecht  zu  erhalten, 
ist  recht  hübsch,  und  man  wünschte,  daß  viele  solcher  Jugenderinnerungen,  wie 
sie  hier  Otto  Franz  Gensichen  erzählt,  veröffentlicht  würden.  Daraus  kann  auch 
die  Schul  geschieht  e  reichen  Nutzen  und  Belehrung  ziehen.     Gerade  von  selten 


♦)  Festschrift  zur  Feier  des  50  jährigen  Jubiläums  des  Kgl.  Gymnasiums  mit  Real- 
schule zu  Landsberg  a.  W.  \.  Teil:  Geschichte  der  Anstalt  von  1859—1909.  IL  Teil: 
Festgaben  von  Lehrern  und  früheren  Schülern  der  Anstalt.  —  Landsberg  a.  W.  1909. 


374  M.  Wehrmann, 

solcher  Männer,  die  einst  die  Schule  besucht  haben,  das  Leben  und  Treiben  in  ihr  ge- 
schildert zu  sehen,  hat  einen  eigenen  Reiz  und  besonderen  Wert.  Deshalb  ist  schon 
oft  darauf  hingewiesen  worden,  daß  Memoiren  und  Biographien  für  die  Schul geschichte 
mehr,  als  es  gewöhnlich  geschieht,  herangezogen  werden  müssen;  Paulsen  hat  in 
seiner  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  ein  Beispiel  für  die  Verwendung  solcher 
Quellen  gegeben.  Von  ähnlichem  Werte  sind  bekanntlich  auch  Schülerarbeiten 
namentlich  aus  der  äfteren  Zeit,  wie  sie  z.  B.  E.  F  a  u  1  s  t  i  c  h  in  der  Festschrift 
zur  Feier  des  350jährigen  Bestehens  des  Gymnasiums  zu  Stralsund  (Stral- 
sund 1910)  aus  dem  17.  und  18.  Jahrhundert  veröffentlicht  und  bespricht.  Sie 
geben  uns  einigermaßen  einen  Maßstab  für  das,  was  in  früheren  Zeiten  in  den 
Schulen  geleistet  wurde.  Nur  muß  man  Vorsicht  im  Urteil  üben,  da  sehr  viele,  wenn 
nicht  die  meisten  solcher  Arbeiten  nur  scheinbar  von  Schülern  herrühren,  in  Wahr- 
heit aber  als  Prunkstücke  von  den  Lehrern  verfaßt  worden  sind.  Dafür  gibt  Franz 
M  ü  1 1  e  r  ein  Beispiel,  indem  er  eine  Demminer  Schulschrift  von  1611  ausführlich 
behandelt*).  In  ihr  haben  Lehrer  und  Schüler  Glückwunschgedichte  zur  Feier 
einer  Hochzeit  zusammengestellt.  Die  Stralsunder  Festschrift  bringt  ebenso  wie 
die  zum  200  jährigen  Jubiläum  des  Realgymnasiums  zu  L  a  n  d  s  h  u  t  **)  Dar- 
stellungen der  Geschichte  der  Anstalten  in  den  letzten  Jahrzehnten;  beide  enthalten 
auch  wissenschaftliche  Abhandlungen.  Lauenburg  i.  Po.***)  beschränkt 
sich  auf  eine  Geschichte  der  Schule  und  Lehrer-  und  Abiturientenverzeichnisse. 

Kurz  und  übersichtlich  sind  in  der  Festschrift  des  Kgl.  Gymnasiums  zu 
Marienburg  einige  Angaben  über  die  Jahre  von  1885  bis  1910  gemacht.f) 
0.  Klose  wirft  einen  Rückblick  auf  die  mannigfachen  Schicksale,  die  die  jetzige 
Oberrealschule  zu  Weißenfels  ff)  seit  1861  durchgemacht  hat,  und  gibt 
damit  ein  Beispiel  von  den  Schwierigkeiten,  die  höheren  Schulen  in  kleinen  Städten 
häufig  entgegengetreten  sind.  Ganz  kurz  sind  die  25  Jahre  behandelt,  die  das 
Realgymnasium  in  Erfurt  unter  königlich  preußischer  Verwaltung  steht.fff ) 
Über  den  Rahmen  dieser  Programmenschau  hinaus  verdient  Erwähnung  die  aus- 
führliche Arbeit  von  H.  Entholt§)  über  die  Bremische  Hauptschule  von  1817 
bis  1858,  in  der  uns  auf  Grund  sehr  sorgfältiger  Studien  eine  Darstellung  der  eigen- 
artigen Entwicklung  dieser  bedeutenden  Unterrichtsanstalt  gegeben  wird.  Besondere 
Beachtung  verdient  die  Reform  von  1833. 

Unter  den  Programmabhandlungen  des  Jahres  1911  befinden  sich  einige 
Arbeiten,  die  nicht  lokalgeschichtlichen,  sondern  allgemeinen  Inhalts  sind.    Recht 


*)  Franz  Müller,  Eine  Schulschrift  von  1611.     Demmin  1909. 
**)  Festschrift   zum   200  jährigen    Jubiläum   des    Realgymnasiums    zu    Landshut. 
Landshut  1910.     Pr.-No.  305. 

***)  Festschrift   zur   50  jährigen    Jubelfeier   des  Lauenburger  Gymnasiums   am  29. 
und  30.  September  1910.     Pr.-No.  205. 

t)  C.  G  r  u  b  e  r  ,    Geschichte   des  Kgl.  Gymnasiums  zu  Marienburg  während  der 
Jahre  1885—1910.     Festschrift.    Marienburg  1911.     Pr.-No.  42. 

tt)  O.  Klose,    Rückblick  auf  die  Geschichte  der  Oberrealschule  zu  Weißenfels. 
Weißenfels  a.  S.  1911.     Pr.-No.  380. 
ttt)  1911.     Pr.-No.  355. 

§)  H.  Entholt,  Die  bremische  Hauptschule  von   1817  bis   1858.    Bremisches 
Jahrbuch  XXIII,  S.  1—130. 


Zur  schulgeschichtlichen  Forschung.  375 

dankenswert  ist  0.  V  o  1  s  b  u  r  g  s*)  l^urze  Übersicht  über  die  Lateinschulen  in 
den  Ländern  der  HohenzoUern  (1412—1713).  Er  benutzt  freilich  nur  gedrucktes 
Material  (auch  das  nicht  ganz  vollständig),  so  daß  die  Zusammenstellung  kaum 
alle  vorhandenen  Lateinschulen  enthält.  In  zahlreichen  kleinen  Orten  bestanden 
solche  Anstalten,  die  Anspruch  auf  den  stolzen  Namen  machten,  wenn  sie  auch 
sehr  wenig  Latein  trieben  und  sich  nur  zum  Schein  ein  Mäntelchen  der  Gelehr- 
samkeit umhängten.  Daher  wird  sich  die  Zahl,  die  für  1713  in  dem  damaligen 
Königreiche  auf  91  angegeben  wird,  beträchtlich  erhöhen.  Trotzdem  begrüßen 
wir  diese  Vorarbeit  mit  Freude  und  hoffen,  daß  sie  fortgesetzt  und  weiter  geführt 
wird.  0.  Wetzstei  n**)  bringt  eine  Fortsetzung  seiner  ausgezeichneten  Arbeit 
über  die  Geschichte  des  Realschulwesens  in  Deutschland  und  behandelt  im  6.  Ab- 
schnitte die  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  Schulreform  in  den  Jahren  1882  bis 
1890.  Seine  Darstellung  dieser  bewegten  Zeit  berührt  in  ihrer  maßvollen  und 
verständigen  Weise  durchaus  sympathixh,  er  hält  mit  seinem  Urteile  nicht  zurück, 
hütet  sich  aber  vor  Übertreibungen  und  Einseitigkeiten,  die  uns  in  anderen  Werken 
über  die  neueste  Schulgeschichte  recht  häufig  begegnen.  Einen  Beitrag  zur  Ge- 
schichte der  Fürstenerziehung,  die  neuerdings  mit  Recht  eingehendere  Beachtung 
erfährt,  gibt  0.  Hahn  e***).  Die  Gutachten,  Vorschläge  und  Erinnerungen,  die 
um  1720  für  die  Erziehung  des  jungen  Herzogs  Karl  I.  von  Braunschweig  gegeben 
wurden,  die  Anleitung  und  Instruktion,  die  der  Prinzenerzieher  J.  G.  Schlüter 
erhielt,  die  Berichte  usw.  enthalten  viel  Material,  das  für  die  ganze  Zeit- 
anschauung höchst  beachtenswert  ist;  nur  der  Raum  verbietet  es,  hier  Näheres 
mitzuteilen. 

In  die  zweite  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  führt  uns  der  2.  Teil  der  Geschichte 
des  Kneiphöfischen  Gymnasiums  zu  K  ö  n  i  g  s  b  e  r  g  i.  Pr.  von  R.  Armsted  t.f) 
Er  behandelt  zunächst  das  Partikular,  das  1541  gegründet  nach  nicht  zweijährigem 
Bestehen  unter  dem  Namen  Pädagogium  zu  einer  Vorbereitungsanstalt  für  die 
Universität  gemacht  wurde  und  bis  1619  bestand.  An  dieser  Schule,  die  wie  ähnliche 
ihrer  Art  eine  unglückliche  Zwitterstellung  einnahm,  war  der  bekannte  Wilhelm 
Gnapheus  tätig,  dessen  Schulordnung  von  1545  für  die  Kenntnis  der  damaligen 
Verhältnisse  wichtig  ist.  Daneben  bestand  die  Domschule,  deren  Schicksale  in 
den  Jahren  von  1543  bis  1602  nicht  sehr  erfreulich  sind;  es  waren  aber  auch  an  ihr 
tüchtige  und  gelehrte  Pädagogen  tätig.  Die  kurzen  Biographien,  die  Arnstedt 
gibt,  führen  uns  recht  das  Wanderleben  jener  Schulmänner  vor  Augen;  die  meisten 
waren  in  den  verschiedensten  Teilen  Deutschlands  tätig,  und  das  entlegene 
Königsberg  zog  gar  manchen  aus  weiter  Ferne  herbei.  Das  Gymnasium  in  J  e  v  e  r 
geht  in  seinen  Anfängen  bis  ins  Jahr  1573  zurück,  wie  die  Übersicht  über  seine  Ge- 


*)  0.  Volsburg,  Lateinschulen  in  den  Ländern  der  HohenzoUern.  Zaborze  O.-S. 
Königin  Luise- Gymnasium  1911.     Pr.-No.  300. 

♦*)  O.  W  e  t  z  s  t  e  i  n ,  die  geschichtliche  Entwicklung  des  Realschulwesens  in  Deutsch- 
land.    Abschnitt  VI.     Realschule  in  Neustrelitz  1911.     Pr.-No.  958. 

***)  0.  Hahne,   Die  Erziehung   Herzog  Karls  I.  von  Braunschweig- Lüneburg  in 
den  Jahren  1720—22.  Hzgl.  Wilhelm- Gymnnasium  in  Braunschweig.  1911.  Pr.-No.  993. 
t)  R.  Armstedt,  Geschichte  des  Kneiphöfischen  Gymnasiums  zu  Königsberg  i.  Pr. 
2.  Teil.     1911.     Pr.-No.  10. 


376  M.  Wehrmann, 

schichte  von  0  m  m  e  n*)  zeigt;  sie  bietet  nicht  gerade  viel  Material  von  allgemeiner 
Bedeutung.  25  Jahre  bestehen  das  Schiller-Realgymnasium  in  Charlotten- 
b  u  r  g**)  und  die  Kaiser  Friedrichs-Schule  in  E  m  d  e  n.***)  Die  Geschichte 
beider  Anstalten  ist  für  die  Entwicklung  des  Realschulwesens  nicht  ohne  Interesse. 
Das  Schiller-Realgymnasium  ist  die  älteste  städtische  höhere  Lehranstalt  Charlotten- 
burgs,  das  heute  ein  reich  ausgebildetes  Schulwesen  besitzt.  Die  städtische  Ober- 
realschule in  L  i  e  g  n  i  t  z  hat  sich,  wie  F.  W.  F  r  a  n  k  e  n  b  a  c  h  f)  darstellt,  seit 
1855  allmählich  aus  einer  Bürger-,  Mittel-,  höheren  Bürger-  und  Realschule  ent- 
wickelt. Recht  ausführlich  berichtet  W.  H  ö  h  1  e  r  ff )  über  das  Realgymnasium 
in  Mannheim,  das  als  höhere  Bürgerschule  1840  eröffnet  worden  ist;  auch 
hier  überwiegen  indessen  statistische  Nachrichten.  Wertvoll  ist  die  Darstellung, 
die  B.  T  h  0  m  a  s  fff )  über  die  Geschicke  des  Lyceums  in  Straßburg  i.  E. 
während  der  Jahre  1765—1804  gibt.  Die  politisch  bewegte  Zeit  macht  sich  natür- 
lich auch  in  der  Entwicklung  des  Schulwesens  geltend,  und  man  verfolgt  gern 
die  Erzählung  von  den  Vorgängen  im  College  national,  der  ecole  centrale  oder 
dem  Lyc6e  Imperial.  Schon  in  den  Namen  treten  die  verschiedenen  Wandlungen 
der  Anstalt  zutage. 

Von  der  Veröffentlichung  der  alten  Schulordnungen,  die  nach  einer  langen 
Zeit  der  Überschätzung  etwas  in  Mißachtung  geraten  sind,  ist  man  sehr  zurück- 
gekommen. Trotzdem  ist  es  durchaus  interessant  und  lehrreich,  diese  gesetzlichen 
Bestimmungen  für  eine  alte  Schule  kennen  zu  lernen;  es  spiegelt  sich  in  ihnen  ein 
gutes  Stück  der  alten  Anschauungen  wieder.  Deshalb  ist  die  Zusammenstellung, 
die  W.  D  e  d  e  k  i  n  d  §)  für  das  Katharineum  zu  Lübeck  gemacht  hat,  mit  Freude 
zu  begrüßen;  die  acht  Schulordnungen,  die  er  aus  den  Jahren  von  1531—1891  ab- 
druckt, bieten  eine  Schulgeschichte  in  nuce.  Kurz  erzählt  B.  Eschenburg §§) 
die  Geschichte  dieser  alten  Anstalt  und  gibt  hauptsächlich  Lebensbilder  der  meisten 
Rektoren  und  Direktoren,  unter  denen  sich  Männer  wie  Hermann  Bonnus,  Fr. 
Jacob,  Joh.  Claßen,  E.  Deecke  befinden.  Einige  genauere  Angaben  werden  über 
den  lateinischen  Unterricht  aus  den  Jahren  1530 — 1911  gemacht,  sonst  aber  Nach- 
richten über  das  innere  Leben  und  die  Arbeit  in  der  Anstalt  nur  in  geringem  Um- 
fange gegeben.  Als  Übersicht  über  die  Schulgeschichte  ist  die  gut  ausgestattete 
Schrift    anerkennenswert.      Von    der    lateinischen    Schule    in    S  c  h  1  a  w  e  ,    die 


*)  O  m  m  e  n  ,  Abriß  der  Geschichte  des  Großherzogl.  Mariengymnasium  zu  Jever. 
1911.     Pr.-No.  964. 

**)  0.  H  u  b  a  t  s  c  h  ,  Das  Charlottenburger  Realgymnasium  in  dem  ersten  Viertel- 
jahrhundert seines  Bestehens.  Schiller- Gymnasium  in  Charlottenburg.  1911.   Pr.-No.  120. 
***)  F.   Niemöller,    Geschichte  der   Kaiser   Friedrichs- Realschule     zu    Emden 
während  ihres  25  jährigen  Bestehens.     1911.     Pr.-No.  454. 

t)F.   W.   Frankenbach,   Entwicklungsgeschichte   der  städtischen  Oberreal- 
schule in  Liegnitz.     1911.     Pr.-No.  326. 

tt)  W.  Höhler,    Das  Realgymnasium  Mannheim  1840—1910.     Mannheim  1911. 
Pr.-No.  892. 

ttt)  B.  T  h  0  m  a  s ,  Zur  Geschichte  des  Lyceums  in  Straßburg  i.  E.    II.  Teil.   Straß- 
burg i.  E.  1911.     Pr.-No.  736. 

§)  W.  Dedekind,  Die  Schulordnungen  des  Katharineums  zu  Lübeck  von  1531 
bis  1891.  1911.  Pr.-No.  1031. 

§§)  B.  Eschenburg,    Das  Katharineum  in  Lübeck.     Ohne  Ort  und  Jahr! 


Zur  schulgeschichtlichen   Forschung.  377 

zuerst  in  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  erwähnt  wird,  berichtet  W.  Hoff- 
mann*)  allerlei  beachtenswerte  Einzelheiten,  die  uns  ein  Bild  davon 
geben,  wie  man  sich  in  einer  kleinen  Stadt  bemühte,  eine  sogenannte  Gelehrten- 
schule zu  erhalten;  hier  hat  man  unwillkürlich  den  Argwohn,  daß  die  in  dem  Lehr- 
plane von  1590  aufgeführten  Unterrichtsgegenstände  kaum  alle  in  Wirklichkeit 
behandelt  worden  sind.    Der  Plan  von  1774  sieht  etwas  praktischer  aus. 

Als  ein  Beitrag  zur  Schul geschichte  ist  auch  anzusehen  die  Arbeit  von  J. 
S  t  e  e  n  ,**)  der  davon  berichtet,  wie  die  Sammlung  vorgeschichtlicher  Altertümer 
1874  an  die  S  c  h  1  e  s  w  i  g  e  r  Domschule  kam  und  wer  sie  begründet  hat.  Über 
die  Feier  des  350 jährigen  Jubiläums  des  Gymnasiums  in  Stralsund  berichtet 
P.Trommlitz  ***);  die  verschiedenen  dabei  gehaltenen  Reden  enthalten  reiches 
historisches  Material.  Neue  Gebäude  sind  u.  a.  in  Sprembergf)  und  Eß- 
1  i  n  g  e  n  ff)  eingeweiht  worden,  worüber  die  Programme  berichten.  Die  Abi- 
turienten des  Gymnasium  illustre  zu  Gotha  aus  den  Jahren  1653 — 1694  stellt 
M.  Schneide  rfff)  zusammen,  wobei  wir  erfahren,  daß  bereits  1653  durch  Herzog 
Ernst  den  Frommen  ein  Abiturientenexamen  eingeführt  worden  ist.  Aus  der 
alten  Gymnasialmatrikel  von  Hermannstadt  teilt  R.  Briebrecher§) 
die  Namen  der  Schüler  mit,  die  in  den  Jahren  1654 — 1719  eingetragen  sind;  man 
sieht,  welch  eine  Bedeutung  die  alte  Anstalt  für  das  geistige  Leben  Siebenbürgens 
hatte. 

Endlich  sei  noch  auf  einen  Beitrag  zur  allgemeinen  Geschichte  der  Pädagogik 
hingewiesen.  H.  G  i  I  o  w§§)  macht  Mitteilungen  aus  dem  Tagebuche  Karl  Spaziers, 
der  von  1782—1785  am  Philanthropinum  in  Dessau  tätig  war,  und  bringt  damit 
einen  nicht  unwichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  dieser  Schulanstalt.  Wir  erfahren 
von  verhängnisvollen  Mißständen,  die  größer  waren  als  man  bisher  dachte,  von 
der  Art  des  Unterrichts  und  der  Erziehung,  die  sich  auch  nicht  frei  von  argen 
Schäden  und  Fehlern  hielt. 

Greifenberg  i.  P.  MartinWehrmann. 


*)  W.  Hoffmann,  Zur  Geschichte  der  lateinischen  Schule  zu  Schlawe.    1911. 
Pr.-No.  209. 

**)  J.  S  t  e  e  n  ,  Die  Sammlung  vorgeschichtlicher  Altertümer  in  der  Königl.  Dom- 
schule zu  Schleswig  und  ihre  Begründer.     1911.     Pr.-No.  393. 

*♦*)  P.  Trommlitz,  Bericht  über  die  Feier  des  350  jährigen  Jubiläums  des  Gym- 
nasiums zu  Stralsund.     1911.     Pr.-No.  215, 
t)  1911.     Pr.-No.  148. 
tt)  1911.     Pr.-No.  828. 

+tt)  M.  Schneider,  die  Abiturienten  des  Gymnasium  illustre  zu  Gotha  aus  M. 
Andreas  Reyhers  und  Georg  Hessens  Rektorat  von  1653 — 1694.  Herzogl.  Gymnasium 
Emestinum  zu  Gotha  1911.     Pr.-No.  1009. 

§)  R.  Briebrecher,  Mitteilungen  aus  der  Hermannstädter  Gymnasialmatrikel. 
Fortsetzung.     Evangel.   Gymnasium  A.  B.  zu  Nagyszeben  (Hermannstadt)  1911. 

§§)  H.  G  i  1  0  w  ,    Karl   Spaziers  Tagebuch    1781—1783.      Beiträge  zur   Geschichte 
des  Dessauer  Philanthropinums.     Kölln.  Gymnasium  zu  Berlin.     1911.     Pr.-No.  70. 


378  M.  Nath,  Über  Lehrpläne  und  Schulreform.     X. 

Über  Lehrpläne  und  Schulreform.    X. 

Steglitz,  Gymnasium:  Beilagen  zum  Jahresbericht:  1.  Lehraufgaben 
der  Klassen  Sexta  bis  Ober-Tertia  im  Anschluß  an  die  amtlichen  Lehrpläne  (8^ 
16  S.).  2.  a)  Lehrplan  für  das  Turnen,  b)  Übungen  für  das  tägliche  Turnen  (8«. 
16  S.).  3.  Lehrplan  für  die  Vorschulen  der  höheren  Lehranstalten  zu  Steglitz. 
(No.  104). 

Mühlhausen  in  Thüringen  (0.  R.  S.):  Lehraufgaben  für  Fran- 
zösisch und  Englisch.    (No.  374.    8«.     16  S.). 

P 1  e  1 1  e  n  b  e  r  g  (R.  S.)  F.  S  c  h  n  e  1 1 :  1.  Lehrplan  für  den  evangelischen 
Religionsunterricht.    2.  Lehrplan  für  den  englischen  Unterricht.    (No.  529.   30  S.). 

Die  Steglitzer  Lehrpläne  bieten  in  ihrem  ersten  Teil  meistens  den 
Text  der  amtlichen  Vorschriften,  nur  ergänzt  durch  die  Aufzählung  der  für  die 
Einprägung  bestimmten  Kinderlieder  und  Bibelsprüche  und  der  deutschen  Gedichte. 
Auch  die  Vorschriften  namentlich  für  die  alten  Sprachen,  die  Geschichte  und 
Erdkunde  auf  der  Unterstufe  sind  etwas  ausführlicher  gefaßt.  Den  Beschluß  bildet 
die  Aufzählung  der  eingeführten  Lehrbücher.  Auch  der  zweite  Teil  schließt  sich 
im  ganzen  eng  an  die  offiziellen  Lehrpläne  an.  Bei  dem  dritten  ist  die  klare  und 
wohlabgemessene  Bestimmung  der  Lehrziele  hervorzuheben.  —  Die  M  ü  h  1  - 
hausener  Pläne  stellen  an  die  Spitze  methodische  Bemerkungen,  die  den 
Unterricht  als  einen  gemäßigt  reformierten  kennzeichnen.  Die  Lehrpläne  selbst 
sind  ziemlich  knapp.  Eigenartiges  findet  sich  trotzdem,  so  für  jede  Klasse  bis  zur 
U  II  die  Hervorhebung  der  bei  den  schriftlichen  Übungen  in  Betracht  kommenden 
Gesichtspunkte.  Bei  der  Lektüre  auf  der  Oberstufe  fällt  die  Stoffbeschränkung  auf. 
—  Der  Verfasser  der  P 1  e  1 1  e  n  b  e  r  g  e  r  P 1  ä  n  e  hat  mit  Geschick  den  Versuch 
gemacht,  mit  der  Aufzählung  der  Lehraufgaben,  Lehrbücher  etc.  eingehende  Winke 
für  die  Behandlung  zu  verbinden.    Die  Arbeit  ist  interessant  zu  lesen. 

Sevelsberg,  Festschrift  bei  Gelegenheit  der  Feier  des  fünfundzwanzig- 
jährigen Bestehens  der  Anstalt  (Aachen,  Königl.  Kaiser  Wilhelms- Gymnasium. 
No.  586.    4«.    64  S.). 

Engelhardt,  Die  Abiturienten  des  Marburger  Gymnasiums  von  seiner 
Neugründung  1833  bis  Ostern  1910.  (Voran  gehen:  Nachträge  und  Berichtigungen 
zu  dem  Verzeichnis  der  Direktoren  und  Lehrer  des  Marburger  Gymnasiums  1833 
bis  1910  im  Jahresbericht  1910.)  (Marburg,  Königl.  Gymnasium  No.  549.  4^. 
62  S.). 

Franke,  Geschichte  des  Verwaltungsrats  des  Königl.  Gymnasiums  zu 
Emmerich  von  seiner  Einweihung  bis  zu  seiner  Auflösung,  zugleich  eine  Geschichte 
des  Emmericher  Gymnasiums  von  seiner  Neugründung  im  Jahre  1832  bis  zum  Jahre 
1910.    (Emmerich,  Gymnasium.    No.  614.    8«.    28  S.). 

In  stattlichem  Gewände  erscheint  der  Bericht  aus  A  a  c  h  e  n  ,  mit  einer  großen 
Zahl  von  Abbildungen  geschmückt,  die  die  Anstalt  und  den  Bilderschmuck  ihrer 
Aula,  die  Dezernenten  und  Leiter,  sowie  das  Lehrerkollegium  bei  der  Eröffnung 
und  in  seinem  gegenwärtigen  Bestände  dem  Leser  vorführen.  Auch  eine  Anzahl 
Klassenbilder  mit  den  Ordinarien  sind  zu  sehen.  Von  dem  Wachsen  und  Gedeihen, 
das  allem  Anscheine  nach  ein  sehr  erfreuliches  gewesen  ist,  wird  erzählt  und  Ver- 


W.  Lietzmann,  Zur  Mathematik.  379 

zeichnisse  der  Lehrer,  die  an  der  Anstalt  gewirkt,  nebst  Nachrichten  über  ihr  Leben, 
wie  Tabellen  der  von  ihr  entlassenen  Reifeprüflinge  sind  beigegeben.  —  Das  Ver- 
zeichnis der  Marburger  Abiturienten  auf  den  Stand  zu  bringen,  in  dem  er  uns 
vorliegt,  hat  sicher  große  Mühe  gekostet.  So  schlicht  und  unscheinbar  das  Ergebnis 
sich  uns  darstellt,  so  darf  seine  Bedeutung  doch  nicht  unterschätzt  werden.  Können 
die  Nachrichten  als  zuverlässig  angesehen  werden,  so  bieten  sie  wertvolles  Material 
für  mancherlei  wissenschaftliche  Untersuchungen.  —  Von  engen  Verhältnissen, 
mannigfachen  Kämpfen,  vielfach  gehemmter  Entwicklung,  doch  auch  von  un- 
verdrossener Mühe,  von  endlich  befriedigender  Ausgestaltung  des  Erstrebten  erzählt 
die  Geschichte  der  E  m  m  e  r  i  c  h  e  r   Anstalt. 

0.  Lutsch,  Fünf  Entlassungsreden  an  Abiturienten  (Kreuznach,  Königl. 
Gymnasium.     No.  626.    8«.    26  S.). 

R.  Bunte,  Antrittsrede  (Elmshorn,  Realgymnasium.    No.  396.    4«.    4  S.). 

J.  Spicker,  Unser  Neubau,  seine  Beschreibung  und  Weihe  (Werl,  Pro- 
gymnasium.   No.  501.    4^     14  S.). 

Daß  die  Schulreden  nicht  als  ein  bedeutungsloses  Akzidenz,  vielmehr  als  eine 
von  der  Eigenart  des  Schullebens  zeugende  Kundgebung  zu  betrachten  seien,  ist 
an  dieser  Stelle  schon  mehrfach  betont  worden.  Auch  für  die  in  den  oben  angeführten 
Beilagen  veröffentlichten  Ansprachen  läßt  sich  das  sagen. 

Pankow.  M  a  x  N  a  t  h. 


Zur  Mathematik. 

Jancke,  E.,  Das  Ferrolsche  Rechenverfahren  und  seine 
Anwendung  in  der  Schule.  Stadt.  Oberrealschule  PCönigsberg  i.  Pr. 
Progr.-No.  24. 

Zickerow,  G.,  DasabgekürzteRechnen.  Kgl.  Gymnasium  Rawitsch. 
Progr.-No.  242. 

Junge,  G.,  Über  den  Fehler  bei  logarithmischen  Rech- 
nungen.   Kgl.  Gymnasium  nebst  Realschule  Landsberg  a.  W.    Progr.-No.  94. 

Der  Verfasser  der  an  erster  Stelle  genannten  Abhandlung  gibt  an  der  Hand 
zahlreicher  Beispiele  eine  klare  Einführung  in  die  Schnellrechenmethoden,  deren 
sich  Herr  F  e  r  r  o  1  bei  der  Multiplikation,  Division  und  Quadratwurzelziehung 
bedient.  Die  Algorithmen  finden  dann  Anwendung  auf  verschiedene  Gebiete 
der  rechnenden  Mathematik,  z.  B.  auf  die  Auswertung  von  Dreiecken  und  Viel- 
ecken, von  Potenzen  der  Zinsfaktoren,  von  Gleichungen  mit  vielziffrigen  Koeffi- 
zienten, von  Logarithmen  usf.  Leider  fehlen  geschichtliche  Angaben;  der  Leser 
wird  den  Eindruck  gewinnen,  als  handele  es  sich  hier  um  vollkommen  neue  Ver- 
fahren. Es  ist  aber  z.  B.  die  angegebene  Multiplikationsmethode  nichts  anderes 
als  das  symmetrische  Verfahren,  dessen  Geschichte  bis  zu  den  Indern  zurück- 
reicht, für  zweistellige  Zahlen  als  multiplicafio  per  crocetta  im  Mittelalter  viel  benutzt, 
als  ,, Blitzmethode**  noch  heute  manchmal  in  Rechenmethodiken  der  Volksschule 
erwähnt  wird.  Lohnend  wäre  es  auch  gewesen,  über  die  Geschichte  der  Ver- 
wendung negativer  Ziffern  im  dekadischen  Zahlsystem,  auf  die  meines  Wissens 


380  W.  Lietzmann, 

zuerst  C  a  u  c  h  y  hingewiesen  hat,  Näheres  zu  sagen.  —  Es  war  vom  Verfasser 
sehr  verdienstHch,  einen  Einblick  in  einige  Schnellrechenmethoden  zu  geben; 
das  Schnellrechnen  bietet  auch  vom  arithmetischen  Standpunkte  aus  außerordent- 
lich viel  Interessantes.  Allerdings  möchte  der  Berichterstatter,  wenn  auch  nicht 
vor  einer  Erwähnung,  so  doch  vor  einer  „Anwendung  in  der  Schule",  wie  sie  auf 
dem  Titel  der  Abhandlung  steht,  warnen;  die  höhere  Schule  ist  seines  Erachtens 
nicht  dazu  da,  Schnellrechner  zu  erziehen,  dazu  ist  ihre  Zeit  zu  knapp  und  zu 
kostbar. 

In  der  Arbeit  von  Z  i  c  k  e  r  o  w  werden  die  Methoden  des  abgekürzten  Multi- 
plizierens, Dividierens  und  Quadratwurzelziehens  in  Verbindung  mit  der  sogenannten 
österreichischen  Rechenmethode  an  passend  gewählten  Beispielen  erklärt.  Den 
Beispielen  werden  die  ohne  Abkürzung  und  nach  der  sogenannten  norddeutschen 
Methode  errechneten  Lösungen  gegenübergestellt.  Die  Schrift  bringt  nichts  Neues, 
macht  auch  nicht  Anspruch  darauf.  Ihr  Hauptzweck  ist,  Schülern  und  Eltern 
das  Zweckmäßige  und  Berechtigte  des  abgekürzten  Rechnens  praktisch,  ohne 
alle  theoretische  Erörterung,  vor  Augen  zu  führen. 

Die  an  dritter  Stelle  genannte  Arbeit  kommt  nicht  für  den  eigentlichen  Unter- 
richt in  Betracht.  Es  genüge  daher  die  Bemerkung,  daß  in  ihr  im  Anschluß  an 
frühere  Untersuchungen  von  Bremiker,  Stadthagen  u.  a.  die  beim 
logarithmischen  Rechnen,  z.  B.  bei  der  Addition  mehrerer  Logarithmen  auftre- 
tenden Fehler  empirisch  und  theoretisch  diskutiert  werden. 

Berkhan,  G.,  Aus  dem  geometrischen  Anfangsunterricht. 
Realschule  Eppendorf-Hamburg.     Progr.-No.  1054. 

Heinrich,  M.,  VereinfachterGangdesAnfangsunterrichts 
inderPlanimetrie,analytischenGeometrieundTrigono- 
metrie.    Kgl.  Luisen- Gymnasium  Berlin.    Progr.-No.  74. 

Michels,  P.,  Einiges  über  die  Anwendung  der  ähnlichen 
Abbildung.     Kgl.  Gymnasium  Meseritz.     Progr.-No.  236b. 

Rudolphi,  W.,  Analytische  Geometrie  des  Punktes,  der 
Geraden  und  der  Ebene  in  Verbindung  mit  darstellender 
Geometrie.     Gymnasium  und  Oberrealschule  Neumünster.     Progr.-No.  389. 

Die  Arbeit  von  B  e  r  k  h  a  n  behandelt  vier  Kapitel  aus  dem  Quartapensum: 
die  Winkelsumme  eines  Vielecks,  das  gleichschenklige  Dreieck,  das  Viereck  und 
Rhombus,  Rechteck,  Quadrat.  An  diesen  Beispielen  werden  die  Methoden  der 
modernen  Schulmathematik  im  Gegensatz  zu  dem  früheren,  eng  an  das  Euklidische 
Vorbild  sich  anschließenden  Verfahren  gezeigt:  Selbstbetätigung  der  Schüler, 
um  das  Wichtigste  vorweg  zu  nehmen,  Benutzung  der  Beweglichkeit  der  Figuren, 
der  axialen  und  zentrischen  Symmetrie  und  eine  sorgfältig  abwägende  Berück- 
sichtigung des  empirischen  und  logischen  Gehaltes  der  Geometrie.  Die  Darstellung 
lehnt  sich  an  das  allen  diesen  Gedanken  sehr  entgegenkommende  Lehrbuch  von 
Schuster  an.  Hat  der  Verfasser  seine  Abhandlung  auch  in  erster  Linie  für  die 
Eltern  geschrieben,  so  wird  doch  auch  der  Lehrer  sie  nicht  ohne  Anregung  lesen. 

Heinrich  sucht  die  Vereinfachung  des  planimetrischen  Anfangsunterrichtes 
zunächst  in  formaler  Weise  durch  die  Einführung  einer  großen  Zahl  neuer  Aus- 
drücke und  Begriffe  zu  erreichen.    Er  benutzt  z.  B.  für  eine  knappere  Fassung 


Zur  Mathematik.  381 

der  Sätze  und  Beweise  Endlot  (dem  Mitteliot  entsprechend),  Teiler  für  Transversale, 
wobei  dann  Höhe,  Mittellinie,  Mittellot  und  Winkelhalbierende  als  Hauptteiler 
zusammengefaßt  werden,  Überwinkel  für  gegenüberliegende  Winkel,  Gegner  für 
axial-symmetrische  Gebilde  usw.  Dabei  und  daneben  begegnet  man  vielen  Ver- 
deutschungen, z.  B.  Mitt-  und  Umwinkel  für  Zentri-  und  Peripheriewinkel,  Stützen 
für  Katheten,  Kette  für  Hypotenuse,  Balken  für  Koordinatenaxen  u.  dgl. 

Inhaltlich  ist  für  Heinrichs  Lehrgang  charakteristisch  die  Betonung  der  axialen 
Symmetrie,  die  frühe  Behandlung  des  Kreises  (gleich  nach  der  Geraden!),  die 
Verschiebung  der  Parallelenlehre  nach  U  HI  (die  Winkelsumme  des  Dreiecks 
wird  in  IV  nach  dem  vereinfachten  T  h  i  b  a  u  t  sehen  Verfahren  erhalten).  Neu 
ist  die  Einführung  und  frühe  Benutzung  des  Zweikreises,  der  aus  zwei  sich  schnei- 
denden Kreisen  gebildeten  Figur.  Der  Zweigleichkreis  (die  beiden  Kreise  haben 
gleichen  Radius)  spielt  die  Rolle  des  Rhombus  bei  den  Fundamentalkonstruktionen; 
außerdem  können  jetzt  auch  für  den  3.  und  4.  Kongruenzsatz  Deckungsbeweise 
erbracht  werden.  —  Was  die  übrigen  Ausführungen  anlangt,  so  genüge  die  Be- 
merkung, daß  sich  die  ebene  Trigonometrie  auf  eine  kurze  in  Olli  zu  gebende 
Einführung  in  die  analytische  Geometrie  stützt. 

Ob  die  vom  Verfasser  vorgeschlagenen  Vereinfachungen  durchgreifend  sind, 
das  möge  der  einzelne  selbst  bei  der  Lektüre  entscheiden.  —  Ich  selbst  bin 
hinsichtlich  der  Einführung  neuer,  die  mathematische  Sprache  abkürzender  Aus- 
drücke sehr  skeptisch.  —  Störend  sind  manche  Druckfehler. 

Michels  wendet  die  direkt  ähnliche  (OPi  :  0P2=  =t  m)  und  die  umgekehrt 
ähnliche  (OPi .  0P2=  ±  m)  Abbildung  auf  die  Lösung  zahlreicher  Konstruktions- 
aufgaben an. 

Einer  der  Grundgedanken  der  neueren  Bestrebungen  im  mathematischen 
Unterricht  ist  die  „Fusion"  verwandter  Disziplinen,  die  Abwendung  von  dem 
früher  mehr  als  nötig  beliebten  „Purismus**.  Man  braucht  dabei  nicht  nur  an 
die  Vereinigung  von  Planimetrie  und  Stereometrie  zu  denken,  eine  bei  den  propä- 
deutischen Kursen  fast  durchweg,  sehr  selten  jedoch  im  systematischen  Lehrgang 
durchgeführte  Fusion.  Hierher  gehört  vielmehr  auch  die  Fusion  von  synthetischer 
und  analytischer  Kegelschnittlehre,  die  Durchsetzung  der  Algebra  mit  graphischen, 
und  umgekehrt  der  Geometrie  mit  analytischen  Methoden.  In  letzter  Zeit  hat  eine 
enge  Verbindung  von  Stereometrie  und  darstellender  Geometrie  Anklang  gefunden. 
Diese  Fusion  trifft  von  der  darstellenden  Geometrie  eigentlich  nur  den  mit  be- 
grenzten Geraden,  Ebenen  und  Körpern  sich  befassenden  Teil.  R  u  d  o  1  p  h  i 
unternimmt  nun  den  Versuch  einer  Fusion  der  darstellenden  Geometrie,  soweit 
sie  sich  mit  unbegrenzten  Geraden  und  Ebenen  beschäftigt,  mit  der 
analytischen  Geometrie  des  Raumes.  Es  ist  in  der  Tat  sehr  verlockend,  daß  man 
so  an  jedes  Problem  mit  Zeichnung  und  Rechnung  gleichzeitig  herangehen  kann. 
Bedenklich  ist  nur,  daß  die  Einführung  dieser  Fusion  eine  nicht  unwesentliche 
Erweiterung  des  Oberrealschulpensums  um  die  Anfangsgründe  der  analytischen 
Geometrie  des  Raumes  mit  sich  bringt.  Es  gibt  nur  wenige  Anstalten  in  Preußen 
und  in  Deutschland  überhaupt  (in  der  Schweiz  ist  es  anders),  die  sich  mit  der 
analytischen  Geometrie  des  Raumes  befassen.  Die  allgemeine  Durchführung  dieser 
Forderung  wird  vielfach  auf  Widerstand  stoßen,   nicht  im  Hinblick  auf  stoff- 


382  W.  Lietzmann, 

liehe  Schwierigkeiten,  sondern  mit  Rücksicht  auf  die  Kürze  der  zu  Gebote 
stehenden  Zeit. 

Frenzel,  C,  Die  Fundamente  für  eine  elementare  Einlei- 
tungindieDifferential-und  Integralrechnung.  Gymnasium 
Lauenburg  i.  P.  Festschrift  zur  50jährigen  Jubelfeier  am  30.  September  1910. 
Progr.-No.  205. 

Richter,  A.,  Differential-und  Integralrechnungfür  Gym- 
nasial-Oberprima.  Kgl.  Matthias  Claudius-Gymnasium  mit  Realschule 
Wandsbeck.     Progr.-No.  394. 

Diesing,  M.,  Einführung  in  die  Differentialrechnung  und 
Anwendung  derselben  auf  Maxima,   Minima,  unendliche 

Reihen    und    Quotienten    in    der    unbestimmten    Form   ^. 

Stadt.  Oberrealschule  Halle  a.  S.     Progr.-No.  370. 

Von  den  drei  Lehrgängen  der  Infinitesimalrechnung,  welche  die  diesjährigen 
Programme  der  großen  Zahl  von  Vorgängern  hinzufügen,  kommen  zwei  vom  Gym- 
nasium, einer  von  der  Oberrealschule.  Für  die  Oberrealschulen  ist  die  Frage,  ob 
Infinitesimalrechnung  oder  nicht,  durch  die  Praxis  wohl  schon  entschieden.  Beim 
Gymnasium  ist  die  Zustimmung  aber  noch  nicht  eine  allgemeine,  insbesondere 
nicht  bei  der  Integralrechnung,  die  übrigens  in  beiden  vorliegenden  Ar- 
beiten mit  berücksichtigt  ist.  —  Man  darf  in  diesen  schulmäßigen  Lehrgängen, 
von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen,  nicht  stofflich  Neues  erwarten;  die  Aus- 
wahl und  Gestaltung  des  Stoffes  ist  es,  die  diese  Arbeiten  pädagogisch  wertvoll 
macht;  es  gibt  in  dem  neuen  Gebiet  sehr  viele  noch  ungelöste  didaktische  Probleme. 

Frenzel  geht  in  seiner  ausführlichen  Darstellung  gleichzeitig  von  dem 
Geschwindigkeitsbegriff  und  vom  Tangentenproblem  an  die  Differentialrechnung 
heran.  Er  benutzt  nur  Differentialquotienten,  keine  Differentiale.  Von  der  Ex- 
ponentialfunktion und  ihrer  Umkehrung  sieht  er  ab,  ebenso  von  der  Reihenent- 
wicklung. Seine  Einführung  in  die  Integralrechnung  reicht  für  eine  Integration 
einfacher  Funktionen  aus.  Gerade  diese  Beschränkung  auf  wenige  Funktionen, 
auf  wenige  Differentiationsregeln  und  die  Vermeidung  der  Differentiale  gestatten 
eine  reinliche  Darstellung  der  Grundgedanken  der  Infinitesimalrechnung. 

Auf  ganz  anderem  Standpunkt  steht  Richter  in  seiner  leider  im  Text 
etwas  knapp  gehaltenen  Abhandlung.  Er  tritt  mehr  als  Physiker  denn  als  Mathe- 
matiker an  die  Infinitesimalrechnung  heran.    Er  benutzt  durchweg  Differentiale, 

die  für  ihn  sehr  kleine  Größen  sind ;  er  setzt  z.  B.  dx  =  |  q(^  qqq-  Auf  den  eigent- 
lichen Grenzübergang  legt  er  gar  keinen  Wert  (vgl.  seine  Definition  des  Differential- 
Quotienten).  Seine  Differentialrechnung  ist  im  wesentlichen  eine  Methode  des 
angenäherten  Rechnens. 

Auch  bei  D  i  e  s  i  n  g  ,  dessen  Abhandlung  sich  auf  die  Differential-Rechnung 
beschränkt,  spielt  das  Differential  eine  Rolle;  er  bevorzugt  aber  den  Differential- 
quotienten. Wie  das  für  eine  Oberrealschule  selbstverständlich  ist,  bringt  er  weit 
mehr  Stoff  als  die  beiden  anderen  Arbeiten.  Bemerkenswert  erscheint  mir  dabei, 
daß  er  sich  nicht  auf  explizite  Funktionen  beschränkt  und  daß  in  seiner  ausgedehnten 
Darstellung  der  unendlichen  Reihen  auch  Restgliedabschätzungen  nicht  fehlen. 


Zur  Mathematik.  383 

Riehm,  G.,  Zur  Didaktik  des  mathematischen  Unter- 
richtsindenMittelklassendesGymnasiums.  Stadtgymnasium 
und  Reformrealgymnasium  Halle  a.  S.     Progr.-No.  333. 

Der  Verfasser  stellt  sich  gleich  im  Anfang  als  ein  energischer  Gegner  der 
„Neuerer*'  vor.  Und:  „Schützen  wir  vor  allem  unsere  Gymnasiasten  vor  den  Re- 
formgelüsten jener  Neuerer",  so  klingt  auch  seine  Schrift  aus.  Ein  prinzipieller 
Gegensatz  zwischen  dem  Verfasser  und  den  „Neuerern"  besteht  in  den  Anschau- 
ungen über  den  Zweck  der  Schulmathematik.  Riehm  sagt:  „Es  kommt  nun 
einmal  auf  der  Schule  nicht  auf  die  Wissenschaft  als  solche  an,  sondern  lediglich 
auf  deren  Erziehungswirkung  gegenüber  dem  Schüler,  und  diese  übt  die  Mathematik 
infolge  ihrer  Eigenart  aus,  die  jeder  beliebige  Ausschnitt  ebensogut  besitzt 
wie  ein  natürlicher  Abschnitt."  Er  betont  damit  einseitig  den  formalen  Zweck 
und  läßt  den  praktischen  als  unerheblich  beiseite.  Was  seinen  anderen 
Einwurf  anlangt,  den  Zeitmangel  in  der  Unterstufe  der  Gymnasien,  so  ist  dieser 
nirgends  schärfer  betont,  als  in  den  Meraner  Vorschlägen.  Der  Verfasser  folgert: 
also  ist  der  gegenwärtige  Umfang  der  Schulmathematik  herabzusetzen,  die  Meraner 
Vorschläge  folgern:  also  muß  die  Stunden-Einschnürung  in  den  Tertien  fortfallen. 

Das  dürften  die  prinzipiellen  Gegensätze  sein.  Was  Einzelheiten  anlangt, 
so  ist  zu  bemerken,  daß  H  ö  f  1  e  r  s  Buch,  das  der  Verfasser  als  die  Bibel  der 
„Neuerer"  ansieht,  nicht  einfach  identisch  mit  deren  Anschauungen  ist.  Es  ist 
von  einer  einzelnen  Persönlichkeit,  und  zwar  erfreulich  individuell  geschrieben 
worden,  während  die  Meraner  Vorschläge  die  Gesamtanschauung  vieler  darstellen 
und  schon  deshalb  nicht  bis  in  die  Einzelheiten  hinabsteigen  konnten.  Auch  die 
Väter  der  Meraner  Vorschläge  hatten  ihre  individuellen,  zum  Teil  recht  erheblich 
voneinander  abweichenden  Ansichten.  Im  übrigen  schließt  H  ö  f  1  e  r  seine  aller- 
dings durchaus  im  Geiste  der  Meraner  Vorschläge  gehaltenen  ^Ausführungen  an 
einen  für  österreichische  Verhältnisse  gedachten,  1909  ziemlich  genau  verwirk- 
lichten Lehrplan  an,  der  in  manchen  Dingen,  besonders  mit  dem  dreijährigen, 
Planimetrie  und  Stereometrie  verschmelzenden  Vorkurs,  direkt  von  den  Meraner 
Vorschlägen  abweicht. 

Es  war  nötig,  diese  Gegensätze  hervorzuheben.  Im  übrigen  aber  wird  die  Arbeit 
von  jedem  Mathematiklehrer,  ob  „Neuerer"  oder  nicht,  mit  großem  Genuß  gelesen 
werden.  Eine  reiche  Lehrerfahrung  spricht  zu  uns  in  den  vielen,  nicht  selten  humor- 
vollen didaktischen  Bemerkungen  aus  allen  Teilen  des  Lehrpensums  der  Unter- 
stufe; möge  es  sich  nun  um  die  mathematische  Sprache,  um  die  Auswahl  des  Stoffes 
oder  seine  besondere  Gestaltung  handeln.  Nicht  in  allen  Einzelheiten  wird  jeder 
Leser  mit  dem  Verfasser  gehen,  aber  anregend  werden  alle  diese  Bemerkungen 
wirken.  Es  wäre  im  Interesse  unserer  mathematischen  Schulmethode  nur  zu 
wünschen,  wenn  öfter  lehrerfahrene  Kollegen  aus  ihrer  Zurückhaltung  heraus- 
träten und  ihre  Anschauungen  zusammenfaßten,  wie  es  hier  der  Verfasser  getan 
hat.     Das  sind  doch  wohl  die  wertvollsten  Programmabhandlungen. 

Brües,  M.,  Zur  Theorie  der  desmischen  Flächen  vierter 
Ordnung.     Kgl.  Gymnasium  Neuß.    Progr.-No.  635. 

Birckenstaedt,  M.,  Zwei  neue  allgemeine  Differentia- 
tionsgesetze.    Kgl.  Christianeum  Altona.    Progr.-No.  382. 


384  F.  Kuhlmann,  Zeichen-  und  Kunstunterricht. 

Ziegler,  Elementare  Untersuchungen  über  denFermat 
sehen  Satz.     Stadt.  Realschule  Calbe  a.  S.     Progr.-No.  364. 

Diese  drei  Arbeiten  gehen  über  den  Bereich  der  Schulmathematik  hinaus; 
es  muß  daher  hier  die  Angabe  der  Titel  genügen. 

Barmen.  W.  Lietzmann. 


Zeichen-  und  Kunstunterricht. 

Programme  1910  und  1911. 

Greiner,  F.,  ZeichenexkursionenamBertholdsgymnasium 
z  u  F  r  e  i  b  u  r  g  i.  B.  Ein  Beitrag  zur  Praxis  des  Naturzeichnens  mit  authentischen 
Abbildungen  von  Schülerzeichnungen.     Progr.-No.  839.     1910. 

Der  Verfasser  schildert  in  lebendiger  und  anschaulicher  Weise  die  mit  den 
Schülern  unternommenen  Zeichenexkursionen  und  gedenkt  auch  besonders  der 
Vorbereitung  derselben.  Was  er  in  dem  Abschnitt,  der  über  die  Praxis  der  Übungen 
handelt,  bezüglich  des  Ausschneidens  der  Motive,  der  Korrektur,  der  kulturgeschicht- 
lichen Beobachtungen  u.  a.  sagt,  ist,  wenn  schon  es  für  keinen  Fachlehrer  etwas 
Neues  bieten  wird,  lesenswert.  Zahlreiche  Schülerzeichnungen  erläutern  das  Dar- 
gebotene. 

Müller,  Franz,  Ziele  und  Wege  des  Zeichenunterrichts  an 
höheren  Schulen.  Beilage  zum  Jahresbericht  des  König  Wilhelm-Gym- 
nasiums zu  Stettin.     Ostern  1911.     Progr.-No.  211. 

Die  Arbeit  stellt  als  Ganzes  genommen  eine  treffliche  und  überzeugende  Be- 
gründung der  Wege  dar,  die  die  Reform  des  Zeichenunterrichts  gegangen  ist.  Wenn 
sie  darum,  ganz  naturgemäß,  auch  nichts  absolut  Neues  bringt,  so  beleuchtet  sie 
doch  manche  Punkte  in  ganz  ausgezeichneterweise,  so  daß  das  Studium  jedem  Schul- 
manne und  selbst  dem  erfahrenen  Fachmanne  empfohlen  werden  darf.  Der  letztere 
dürfte  für  manches,  was  er  bisher  unbewußt  getan,  hier  die  tiefere  Begründung  finden. 

Grabow,  W.,  Wie  fördert  der  Zeichenunterricht  die  Er- 
reichung des  B i 1 d u n gsi d e al  s  unserer  höheren  Lehran- 
stalten? Beilage  zum  57.  Jahresbericht  des  Königl.  Wilhelms-Gymnasiums 
zu  Krotoschin.     Progr.-No.  234.     1911. 

Nach  einer  kurzen  allgemeinen  Aufklärung  über  die  gestellte  Frage  zeigt  der 
Verfasser  in  mehreren  charakteristischen  Lektionen,  wie  der  Zeichenunterricht 
wertvolle  Beiträge  zur  Erreichung  des  Bildungsideals  zu  liefern  vermag.  Es  soll 
kein  Tadel  sein,  wenn  dazu  gesagt  wird,  daß  die  Wege,  die  der  Verfasser 
in  seinen  Unterrichtsbeispielen  geht,  keine  neuen  und  auch  keine  persönlich  eigenen 
sind.  Bedauert  muß  aber  werden,  wenn  in  diesen  wie  in  allen  anderen  heute  erschei- 
nenden Arbeiten  über  den  Zeichenunterricht,  nicht  in  irgend  einer  Weise  zum  Aus- 
druck gebracht  wird,  woher  die  Gedanken  und  die  Anregungen  zu  den  Beispielen 
kommen.  Der  dieser  Arbeit  beigegebene  Literaturnachweis,  der  nur  allgemeine 
pädagogische  Werke  aufzählt,  hätte  doch  wohl  gerechterweise  um  die  Schriften 
vermehrt  werden  müssen,  die  dem  Verfasser  die  Anregung  zu  seinen  praktischen 
Lehrbeispielen  gegeben  haben. 

Altona.  Fritz  Kuhlmann. 


III.    Bücherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 

Hilfsbücher  für  den  Unterricht  in  der  deutschen  Sprachlehre. 

Zupitza,  Julius,  Einführung  In  das  Studium  des  Mittel- 
hochdeutschen. Zum  Selbstunterricht  für  jeden  Gebildeten.  2.  unveränderte 
Auflage.     Chemnitz  und  Leipzig  1910.    Wilh.  Gronau.     VI  u.  120  S.     3,50  M. 

Das  im  Jahre  1868  zum  ersten  Male  erschienene  Buch,  das  in  Anlehnung  an 
die  42  Strophen  des  Nibelungenlides,  welche  von  der  Werbung  Günthers  um  Brunhild 
handeln,  nach  und  nach  mit  den  wichtigsten  Gesetzen  der  mhd.  Grammatik  bekannt 
macht,  hat  schon  manchem  Studierenden  den  Weg  zum  Verständnis  des  Mittel- 
hochdeutschen gebahnt  und  kann  auch  heute  noch,  da  des  Verfassers  Sohn  bemüht 
gewesen  ist,  das  Werk  auf  der  Höhe  zu  erhalten,  als  Führer  gute  Dienste  leisten. 

Mangold,  Karl,  Oberlehrer,  Abriß  der  deutschen  Sprachlehre 
für  höhere  Schulen.  Frankfurt  a.  M.  1911.  Moritz  Diesterweg.  76  S. 
geb.  0,90  M. 

Der  Verfasser  hat  durch  Ausscheiden  alles  Überflüssigen  dasjenige,  was  den 
Schülern  zu  wissen  nötig  ist,  auf  verhältnismäßig  engem  Räume  zusammengefaßt. 
Doch  hätten  auch  ohne  Schaden  die  Musterbeispiele  zur  Deklination  und  Konju- 
gation fortgelassen  werden  können,  und  statt  der  Zusammenstellung  des  süd- 
deutschen und  klassischen  mit  dem  norddeutschen  Sprachgebrauch  für  den  Modus 
der  Objektsätze  hätte  die  Feststellung  der  hochdeutschen  Schriftsprache  genügt. 
Daß  unweit,  während  und  wegen  wohl  auch  mit  dem  Dativ  verbunden  werden, 
wäre  besser  in  eine  Anmerkung  verwiesen.  Aus  B  19,  S.  9  muß  man  annehmen, 
daß  die  Substantiva  auf  -el  und  -er  im  Dativ  Singular  eine  Endung  haben.  Warum 
wird  die  auf  S.  25  vorgeschlagene  Bezeichnung  „einpersönlich"  später,  z.  B.  S.  45, 
wieder  fallen  gelassen? 

V.  Banden,  Deutsche  Sprachlehre  für  höhere  Schulen. 
11.  Aufl.  Breslau  1911.  Ferd.  Hirt.  100  S.  1  M.  —  Paul  Beer,  Übungs- 
buchzuv.  SandensdeutscherSprachlehrefürhöhereSchu- 
len.     Breslau  1911.     Ferd.  Hirt.     56  S,    0,60  M. 

Über  die  bewährte  Sprachlehre  v.  Sandens,  die  stetig  zu  vervollkommnen 
und  den  Bedürfnissen  der  Schule  entsprechend  zu  ergänzen  der  Verfasser  ernstlich 
bemüht  gewesen  ist,  habe  ich  an  dieser  Stelle  schon  wiederholt  anerkennend  mich 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  25 


386  M.  Nath, 

ausgesprochen.  Die  neue  Auflage  verdient  alles  Lob.  Ihr  ist  von  Beer  als  Be- 
gleiter ein  Übungsbuch  mit  auf  den  Weg  gegeben.  Daß  an  den  Sprachunterricht 
vielfache  Übungen  sich  anschließen  müssen,  auch  an  den  Unterricht  in  der  Mutter- 
sprache, kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Aber  ebensowenig  müßte  zweifelhaft 
sein,  daß  ein  Übungsbuch  für  den  deutschen  Sprachunterricht  sich  besser 
nicht  in  den  Händen  der  Schüler  befinden  sollte. 

Werth,  Hermann,  Deutsche  Grammatik  für  die  Ober- 
klassen höherer  Lehranstalten  und  für  Seminare.  Mit 
einer  Karte  der  deutschen  Mundarten.  Frankfurt  a.  M.  und  Berlin  1911.  Moritz 
Diesterweg.     VIII  u.  161   S.     geb.  1,80  M. 

Das  zunächst  für  die  Oberstufe  der  Studienanstalten  und  für  höhere  Lehre- 
rinnenseminare bestimmte  Buch,  das  aus  der  deutschen  Sprachlehre  mit  Aus- 
scheidung alles  Elementaren  diejenigen  Abschnitte  herausgreift,  an  denen  das 
Werden  und  Wesen  der  Muttersprache  veranschaulicht  werden  kann,  verrät  auf 
jeder  Seite  den  gründlichen  Kenner  und  mit  den  vornehmsten  Aufgaben  des 
deutschen  Unterrichts  vertrauten  Lehrer.  Die  Ergebnisse  wissenschaftlicher 
Forschung  werden  schlicht  und  leicht  verständlich  vorgetragen  und  werden  in 
dieser  Form  nicht  verfehlen,  die  Freude  an  der  Muttersprache  zu  wecken  und 
zu  mehren.  So  darf  man  sich  dem  Wunsche  des  Verfassers  anschließen,  daß  sich 
auch  die  Pforten  der  höheren  Knabenschulen  dem  Buche  öffnen  möchten. 

Nicht  unerwähnt  darf  hier  bleiben,  daß  das  bahnbrechende  Werk  „D  i  e 
deutsche  Sprache  der  Gegenwart,  ein  Handbuch  für  Lehrer, 
Studierende  und  Lehrerbildungsanstalten"  von  Ludw.  Sütterlin  (Leipzig,  R. 
Voigtländers  Verlag,  Preis  7  M.,  geb.  8  M.)  im  Jahre  1910  in  dritter  Auflage  er- 
schienen ist. 

Coblenz.  Jos.  Buschmann. 


Hilfsmittel  zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Arithmetik.  VIII. 

A.,  Gerlach,  Des  Kindes  erstes  Rechenbuch.  Mit  Zeichnungen 
von  Th.  Hermann.     Leipzig  1911.     Quelle  &  Meyer.    99  S.    kart.  0,70  M. 

Glöser,  Moritz,  Lehrbuch  der  Arithmetik  für  die  erste  Klasse  der 
Gymnasien,  Realgymnasien  und  Realschulen.  Wien  1910.  A.  Pichlers  Witwe  u. 
Sohn.     IV  u.  64  S.    geb.  1,20  Kr. 

Glöser,  Moritz,  Lehrbuch  der  Arithmetik  für  die  zweite  Klasse. 
IV  u.  46  S.     geb.  1,00  Kr. 

Thaer,  Albrecht  und  Rouwolf,  R.,  Rechenbuch  für  höhere 
Schulen.  4  Hefte.  Breslau  1911.  Ferdinand  Hirt.  —  1.  Heft  (für  Sexta). 
95  S.  kart.  1,00  M.  —  2.  H  e  f  t  (für  Quinta).  96  S.  kart.  1,00  M.  —  3.  Heft 
(für  Quarta  und  Untertertia).  96  S.  kart.  1,00  M.  —  4.  H  ef  t  (Ergänzungs- 
heft für  Obertertia  und  Untersekunda).     102  S.     kart.  1,00  M. 

In  gar  lustiger  Weise  sucht  A.  G  e  r  1  a  c  h  den  kleinen  A-B-C-Schützen  die 
Anfangsgründe  des  Rechnens  beizubringen.     An  den  verschiedenartigsten,  bild- 


Hilfsmittel  zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Arithmetik.    VIII.        387 

lieh  dargestellten  Gegenständen  aus  ihrem  Vorstellungskreise  lernen  sie  allmählich 
die  Zahlen  kennen  und  deren  Verhältnis  zueinander,  lernen  sie  die  Rechnungs- 
arten anschaulich  kennen  und  ausführen,  gewöhnen  sie  sich  allmählich  an  die 
hergebrachte  und  korrekte  Sprechweise,  bis  sie  es  schließlich  nur  noch' mit  den 
Zahlzeichen  zu  tun  haben  und  eine  schöne  Geschichte  Gelegenheit  gibt,  die  er- 
langte Fertigkeit  anzuwenden.  —  G  1  ö  s  e  r  s  Bücher  umfassen  das  Pensum  unserer 
Sexta  und  Quinta.  Sie  sind  abgefaßt  in  dem  behaglich  weitschweifigen  Stil,  der 
hier  schon  für  manches  aus  österreichischer  Feder  stammende  Lehrbuch  als  cha^ 
rakteristisch  hervorgehoben  worden  ist.  Aber  es  soll  damit  kein  Vorwurf  gegen 
sie  erhoben  werden.  Sie  sind  für  das  Verständnis  des  Anfängers  gewiß  geeignet 
und  das  Aufgabenmaterial  ist  verständig  beschränkt  und  vor  Ausschweifungert 
in  das  Gebiet  der  großen  Zahlen  bewahrt.  Methodisch  kann  aus  ihnen  der  An- 
fänger im  Lehrfach  manches  lernen.  —  Die  vier  Hefte,  die  A.  T  h  a  e  r  als  Er- 
gänzung zu  seiner  trefflichen  Neubearbeitung  des  Kamblyschen  Unterrichtswerkes 
vorlegt,  werden  sich  gewiß  überall  da  bald  einbürgern,  wo  der  Kambly-Thaer 
benutzt  wird.  Aber  hoffentlich  auch  über  diesen  weiten  Kreis  hinaus  an  mancher 
Stelle  mehr  oder  weniger  brauchbare  Hilfsmittel  verdrängen.  Dem  erfahrenen 
Leser  offenbart  sich  auf  jeder  Seite,  daß  sie  aus  langjähriger  Erfahrung  und  Übung, 
auf  Grund  weitblickender  methodischer  Einsicht  gearbeitet  sind.  Dem  Bericht- 
erstatter will  es  zurzeit  als  das  geeignetste  Hilfsmittel  erscheinen,  um  dem  Seminar- 
kandidaten die  Technik  des  Rechenunterrichts  praktisch  vorzuführen.  Seiner 
Stoffausdehnung  nach  geht  es  freilich  weit  über  den  Rahmen  des  Rechenunter- 
richts, wie  dieser  für  gewöhnlich  gespannt  ist,  hinaus.  Bringt  das  dritte  Heft 
schon  einen  Anhang  über  „die  rechnerische  Behandlung  der  Arbeiterschutzgesetze'*, 
der  vielleicht  nur  hie  und  da  an  realistischen  höheren  Lehranstalten  eine  kurze 
Berücksichtigung  finden  kann,  so  wird  der  Inhalt  des  Ergänzungsheftes  doch 
nur  auf  Fachschulen,  vor  allem  kaufmännischen  Fortbildungsschulen,  Gegenstand 
des  Unterrichts  sein  können.  Für  sie  ist  es  allerdings  wohl  auch  in  erster  Linie 
bestimmt. 

Geipel,  G.,  Lehrbuch  der  Mathematik  und  Aufgaben- 
sammlung (nach  den  Ausführungsbestimmungen  zu  dem  Erlaß  vom  18.  August 
1908  über  die  Neuordnung  des  höheren  Mädchenschulwesens  bearbeitet).  —  I.  Teil 
(Kl.  III  u.  IV  der  höheren  Mädchenschule)  VI  u.  176  S.  —  II.  Teil  (Kl.  II)  IV 
u.  145  S.  Bielefeld  und  Leipzig  1910.  Velhagen  &  Klasing.  geb.  1,80  bzw. 
1,50  M. 

Kambly-Thaer,  Mathematisches  Unterrichtswerk.  I.  Teil. 
Arithmetik.  Ausgabe  C  für  Realschulen.  Breslau  1911.  Ferdinand  Hirt. 
96  S.     geb.   1,25  M. 

Behrendsen-Götting,  Lehrbuch  der  Mathematik  nach  mo- 
dernen Grundsätzen.  Unterstufe  B  für  Realschulen.  2.  Aufl.  Leipzig 
1911.  B.  G.  Teubner.  VIII  u.  327  S.  geb.  2,80  M.  —  Dasselbe,  Unterstufe  A 
für  Gymnasien.     2.  Aufl.     Ebenda.     VIII  u.  277  S.    geb.  2,80  M. 

Reinhardt,  W.  und  Mannheimer,  R.,  Arithmetik  und  Algebra 
für    die    oberen    Klassen    höherer    Lehranstalten.     Frank- 

25* 


388  M.  Nath,  Hilfsmittel  zum  Unterricht  im  Rechnen  und  in  der  Arithmetik.    VIII. 

fürt  a.  M.  1911.    Franz  Benjamin  Auffarth.    1.  Teil.    VIII  u.  140  S.   kart.  1,80  M. 
—  2.  Teil.     VI  u.  108  S.     1,50  M. 

Die  Arbeit  G  e  i  p  e  1  s  enthält  den  planimetrischen  Lehrstoff  bis  zum  pytha- 
goreischen Lehrsatz,  den  arithmetischen  bis  zu  den  Proportionen  einschließlich, 
dazu  eine  den  heutigen  Bedürfnissen  entsprechende  Aufgabensammlung.  Sie 
berücksichtigt  die  Vorschläge  der  Meraner  Naturforscherversammlung  und  dürfte 
wohl  ein  geeignetes  Lehrmittel  darbieten.  —  T  h  a  e  r  s  Buch  ist  eine  Verkürzung 
der  Ausgabe  der  Arithmetik  für  Realgymnasien  und  Oberrealschulen,  die  hier 
Jahrg.  VIII,  S.  525 ff.  besprochen  worden  ist.  Beibehalten  sind,  wenn  auch  in  ver- 
kürzter Form,  die  Abschnitte,  die  an  einigen  Realschulen  zur  Ergänzung  heran- 
gezogen werden,  so  die  Lehre  von  den  komplexen  Zahlen  und  von  den  einfachen 
Reihen.  Auch  die  auf  quadratische  Gleichungen  zurückführbaren  Gleichungen 
sind  kurz  behandelt.  Der  graphischen  Darstellung  von  Funktionen  ist  im  Anschluß 
an  die  Gleichungen  mit  zwei  Unbekannten  ein  kurzer  Abschnitt  gewidmet.  —  Die 
beiden  Bücher  von  Behrendsen  und  G  ö  1 1  i  n  g  liegen  nun  in  zweiter  Auflage 
vor.  Das  für  Gymnasien  bestimmte  ist  hier  Jahrg.  VIII,  S.  531  schon  besprochen 
worden.  Der  Charakter  der  Bücher  hat  sich  natürlich  in  der  neuen  Auflage  nicht 
merklich  geändert,  obwohl  die  Verfasser  in  der  Vorrede  mit  Recht  hervorheben, 
daß  sie  bemüht  gewesen  seien,  die  Prinzipien  der  Meraner  Vorschläge  noch  stärker 
zur  Geltung  zu  bringen.  In  der  Realschulausgabe  sind  den  Lehrplänen  entsprechend 
kurze  Abschnitte,  die  die  ersten  Anfänge  der  Trigonometrie  und  Stereometrie 
betreffen,  angefügt.  —  Reinhardt  und  Mannheimer  behandeln  die  für 
die  Oberstufe,  auch  der  Realanstalten  in  Betracht  kommenden  Kapitel  in  klarer, 
dem  Stoff  nach  verständig  beschränkter  Form.  Die  Lehre  von  den  Reihen  ist  ele- 
mentar behandelt,  obwohl  das  Buch  auch  der  Differentialrechnung  keineswegs  aus 
dem  Wege  geht.  Eine  ausreichende  Zahl  an  Aufgaben  ist  den  einzelnen  Abschnitten 
beigefügt. 

Hack,  Fr.  W  a  h  r  s  c  h  e  i  n  1  i  c  h  k  e  i  t  s  o  r  d  n  u  n  g.     122  S. 

Fischer,  Paul  B.,  Koordinatensysteme,  125  S. 

Beutel,  Eugen,  Algebraische  Kurven.  Teil  II  (Theorie  und  Kurven 
3.  und  4.  Ordnung).    135  S.    Leipzig.    Sammlung  Göschen,    geb.  ä  0,80  M. 

Schaeffer,  Andreas,  1400  mathematische  Abiturientenauf- 
gabenund  700  LösungenundAnleitungenzurLösung.  Zabern 
1910.     A.  Fuchs.     XVI  u.  240  S.    geh.  3,80  M. 

Donadt,  A.,  Repetitorium  der  Schulmathematik.  I.  Teil : 
Arithmetik.     Leipzig  1911.     Fr.  Brandstetter.     197  S.    geb.  3,00  M. 

Die  drei  Bändchen  der  Sammlung  Göschen  sind  gewiß  gelungene  Leistungen. 
Sie  fordern  für  ihr  Verständnis  aber  auch  Leser  von  nicht  mehr  bloß  elementarer 
mathematischer  Bildung.  Andererseits  bringt  es  die  durch  den  Charakter  der  Samm- 
lung bedingte  Beschränkung  des  Umfanges  mit  sich,  daß  auf  kleinem  Gebiet  der 
Stoff  auch  nicht  annähernd  erschöpft  werden  kann.  Immerhin  muß  man  die  Fülle 
des  Gebotenen  und  die  Zweckmäßigkeit  der  Auswahl  anerkennen.  Für  eine  erste 
Kenntnisnahme  oder  eine  nicht  zu  tief  gehende  Orientierung  sind  die  kleinen  Kom- 
pendien ein  zweckmäßiges  Hilsmittel.  Hack  bringt  in  sechs  Abschnitten  die  Grund- 
lehren der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  deren  Anwendung  auf  spezielle  Probleme, 


K.  Lange,  Der  Bibliothekar,  angez.  von  F.  Milkau.  389 

z.  B.  das  Problem  des  Moivre,  das  Problem  der  Spieldauer,  das  Petersburger  Problem, 
das  Nadelproblem  usw.,  dann  das  Gesetz  der  großen  Zahlen,  die  Wahrschein- 
lichkeit auf  Grund  der  Erfahrung,  Theorie  der  Beobachtungsfehler,  Anwendung 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  auf  Statistik.  Fischer  behandelt  in  vier  Ab- 
schnitten die  Descartes-Plückerschen  Koordinaten,  die  projektiven  Koordinaten, 
die  krummlinigen  Koordinaten,  die  Koordinatenbestimmung  in  der  mehrdimen- 
sionalen Geometrie.  Beutel  beschäftigt  sich  in  5  Abschnitten  mit  den  Polaren  und 
Hessischen  Kurven,  mit  dem  Dualitätsprinzip  in  der  analytischen  Geometrie  der 
Ebene,  mit  höheren  Singularitäten,  endlich  mit  Kurven  dritter  und  vierter  Ordnung. 
—  Schaeffer  hat  in  seiner  Sammlung  Aufgaben,  die  in  Elsaß-Lothringen  bis 
zum  Jahre  1910  für  die  Reifeprüfung  gestellt  worden  sind,  zusammengestellt,  ge- 
ordnet und  mit  Lösungen  bzw.  Anleitungen  dazu  versehen.  Bei  näherer  Prüfung 
wird  man  erkennen,  wie  überaus  verschiedenartig  nach  Art,  nach  Kompliziertheit 
der  Einkleidung,  nach  den  Anforderungen,  die  an  die  rechnerische  Geschicklichkeit 
gestellt  werden,  die  Aufgaben  sind.  Zum  Teil  würden  sie  den  modernen  Ansichten 
über  Gestaltung  und  Auswahl  der  Reifeprüfungsaufgaben  gar  nicht  mehr  ent- 
sprechen. Immerhin  ist  durch  die  Zusammenstellung  ein  ganz  brauchbares  Übungs- 
buch entstanden,  obwohl  es  hinter  Sammlungen,  wie  sie  Martus  und  Treutlein 
geliefert  haben,  an  Bedeutung  zurücksteht.  —  D  o  n  a  d  t  bietet  ein  sehr  empfehlens- 
wertes Hilfsmittel  für  die  selbständige,  zusammenhängende  Repetition  der  Schüler. 
Der  Stoff  ist  kurz  und  übersichtlich  disponiert,  eine  große  Zahl  praktischer  Hin- 
weise ist  eingefügt,  alle  Teile  sind  gleichmäßig  berücksichtigt  und  die  Darbietung 
erstreckt  sich  bis  in  die  Infinitesimalrechnung  hinein. 

Berlin-Pankow.  M  a  x  N  a  t  h. 


b)  Einzelbesprechungen: 

Lange,  K.,  Der  Bibliothekar.     Eine  Darstellung  seines  Werdegangs  mit 
Einschluß  der  Bibliothekarin  unter  Berücksichtigung  des  Dienstes  an  Volks- 
bibliotheken.   (Violets  Berufswahlführer).     Stuttgart  1911.    W.  Violet.    115  S. 
8«.     geb.  1,20  M. 
Das  ist  innerhalb  eines  knappen  Jahrzehnts  das  dritte  Schriftchen*),  das 
den  vor  der  Berufswahl  stehenden  Jüngling  —  durch  die  Kühnheit  des  Titels  er- 
mutigt füge  ich  hinzu  —  mit  Einschluß  der  Jungfrau  darüber  unterrichten  will, 
was  die  Bibliothek  an  Anforderungen  verlangt  und  was  sie  an  Aussichten  bietet. 
Man  sieht,  die  Bibliothek  hat  aufgehört,  das  Veilchen  im  Verborgenen  zu  sein. 
Nicht  ohne  Stolz  registriert  der  Referent  diesen  Wandel,  obwohl  er  bescheiden 
sich  dessen  bewußt  bleibt,  daß  es  im  wesentlichen  die  Volksbibliothek  ist,  der  das 
Verdienst  daran  zufällt.     Etwas  von  dem  neu  eroberten  öffentlichen   Interesse 
fällt  doch  auch  für  die  alte  gelehrte  Bibliothek  ab,  zumal  die  vor  kurzem  begonnene 
Einführung  mittlerer  Beamter  und  die  zunehmende  Feminisierung  dieser  Kategorie 


*)  Wilh.  Paszkowski,  Der  Bibliothekar  (Mein  künftiger  Beruf  Nr.  63).  Leipzig  1902, 
C.  Bange.  —  Der  Bibliothekar.  Mit  einem  Anhang:  Die  Bibliothekarin  (Aus  der  Reihe: 
Was  willst  du  werden?)  Leipzig  1909,  P.  Beyer. 


■390  E.  V.  Aster,  Große  Denker, 

ihr  die  Aufmerksamkeit  von  Kreisen  zugezogen  hat,  für  die  sie  früher  nur  eine  dem 
Namen  nach  bekannte  Größe  war. 

Das  Bedürfnis  nach  Orientierung  ist  also  vorhanden.  Und  alles  in  allem  darf 
man  sagen,  daß  der  Verfasser  ihm  gerecht  geworden  ist.  Nur  alles  in  allem.  Denn 
so  sehr  die  Wärme,  mit  der  von  dem  Beruf  und  seinen  Aufgaben  gesprochen  wird, 
imstande  ist,  das  alte  Bibliothekarherz  des  Referenten  einzunehmen,  so  gebietet 
ihm  doch  die  Unparteilichkeit  festzustellen,  daß  die  tatsächlichen  Angaben  des 
Verfassers  nicht  immer  korrekt  sind.  Wenn  man  es  als  ein  Zeichen  von  Wohlwollen 
hingehen  lassen  kann,  daß  er  dem  Direktor  der  Breslauer  Stadtbibliothek  eine 
Dienstwohnung  zubilligt,  die  er  nicht  hat,  so  kann  man  doch  mit  seinem  Tadel 
nicht  zurückhalten,  wenn  er  den  preußischen  Bibliotheksbeamten  die  mühsam 
errungenen  Gehälter  so  energisch  beschneidet  wie  er's  auf  S.  76  tut.  Und  dann 
z.  B.  die  Behauptung,  Aug.  Wilmans  habe  im  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen 
XV,  193  die  Grundsätze  über  die  Ausbildung  der  Volontäre  an  den  preußischen 
Staatsbibliotheken  mitgeteilt!  Welch  eine  Vermessenheit!  Erstens  schreibt  sich 
der  Mann  Wilmanns,  mit  nn;  zweitens  ist  an  dem  angegebenen  Orte  nichts  über  den 
angedeuteten  Gegenstand  zu  finden,  und  drittens  ist  es  Wilmanns  nie  eingefallen, 
sich  über  die  Ausbildung  der  Volontäre  in  dem  genannten  Journal  zu  äußern,  und 
wo  anders  erst  recht  nicht. 

Die  Kardinaltugend  des  Bibliothekars  ist  Ordentlichkeit.  Wer  daher  über 
den  Beruf  unterrichten  will,  der  sollte  in  diesem  Punkte  weniger  angreifbar  sein. 

Breslau.  Fritz  Milkau. 

von  Aster,  E.,    Große    Denker.      Unter    Mitwirkung    von    E.    v.    Aster, 
0.  Baensch,  M.  Baumgartner,  0.  Braun,  F.  Brentano,  M.  Falkenheim,  A.  Fischer, 
M.  Frischeisen-Köhler,  R.  Hönigswald,  W.  Kinkel,  R.  Lehmann,  F.  Medikus, 
P.  Menzer,  P.  Natorp,  A.  Pfänder,  R.  Richter,  A.  Schmekel,  W.  Windelband 
herausgegeben     von    E.    von    Aster.     Leipzig   o.  J.      Quelle     &    Meyer. 
2  Bände.     Lex.  8«.    385  u.  381  S.    geh.  UM.,  geb.  16  M. 
Eine'^neue  Geschichte  der  Philosophie  in  monographischer  Darstellung  von  einer 
solchen  Fülle  und  Vielseitigkeit,  daß  es  schwer  fällt,  den  Reichtum  der  Bilder 
und  Gestalten  in  den  engen  Rahmen  einer  Besprechung  zu  bannen.  —  Als  Ein- 
leitung zur  Geschichte  der  alten  Philosophie  gibt  A.  Fischer:    „Die  Grundlehren 
der  vorsokratischen  Philosophie."     Das  verbindende  Band,  das  die  Philosophie 
vor  Sokrates  trotz  der  Vielheit  der  Denker  und  der  Verschiedenheit  ihrer  Richtungen 
zu  einer  Epoche  eint,  ist  die  Grundfrage  nach  dem  einheitlichen  Wesenskern  aller 
Wirklichkeit,  bis  im  Zusammenhang  mit  dem  allgemeinen  Kulturwandel  das  Inter- 
esse für  die  Probleme  der  Naturphilosophie  im  griechischen  Volke  abnahm  und 
der  Mensch  und  die  Gesellschaft  in  den  Mittelpunkt  des  Interesses  rückten.    Diese 
neue  Epoche  ,, Sokrates  und  die  Sophistik"  führt  R.  Richter  in  lebendiger,  oft 
scharf  pointierter  Darstellung  vor,  von  der  man  nur  bedauert,  daß  sie  sich  mit 
dem  kurzen  Raum  von  12  Seiten  begnügt.    Mit  Vergnügen  würde  man  noch  mehr 
von  der  geistreichen  Schilderung  der  Sophisten  hören,  als  deren  Gegenbilder  aus 
moderner  Zeit  Thode,  Harden  und  Horneffer  genannt  werden  —  gern  auch  noch 
mehr  von  dem  athenischen  Sonderling,  der  sich  auf  dem  Markt  herumtreibt  vom 


angez.  von  A.  Heußner.  391 

Morgen  bis  zum  Abend  und  die  Menschen  ärgert,  indem  er  sie  zur  Selbstprüfung 
anleitet  und  auf  dem  Wege  der  Induktion  sie  zu  den  „Begriffen*'  zu  führen  sucht, 
um  sie  dadurch  besser  zu  machen.  Denn  „Tugend  ist  Weisheit,  Tugend  ist  Wissen*'. 
—  Das  Verdienst,  die  Ansätze  seines  Lehrers  zum  geschlossenen  System  ausgebaut 
zu  haben,  gebührt  jedoch  erst  seinem  Schüler  Piaton,  mit  dessen  Betrachtung 
wir  an  der  kundigen  Hand  P.  Natorps  nicht  nur  auf  die  höchste  Höhe  des  grie- 
chischen Denkens,  sondern  auch  zugleich  zu  den  allertiefsten  und  schwierigsten 
Fragen  aller  Philosophie  überhaupt  geführt  werden.  Nicht  "unrichtig  bemerkt 
Eucken,  daß  jeder  seinen  eigenen  Piaton  hat.  Das  Dunkel,  das  über  seinen  Schriften 
und  seiner  Entwicklung  liegt,  läßt  ja  kaum  eine  andere  Wahl,  als  nachfühlend 
und  nachschaffend  den  Versuch  zu  wagen,  aus  den  uns  überlieferten  Bruchstücken 
einen  eigenen  Bau  aufzuführen.  Dies  ist  auch  der  Weg,  den  Natorp  einschlägt, 
indem  er  eine  „genetische**  Vorführung  der  platonischen  Ideenlehre  versucht. 
Der  Wert  einer  solchen  Konstruktion  ist  in  erster  Linie  daran  zu  messen,  ob  sie 
die  vorhandenen  Schwierigkeiten  beseitigt  und  eine  innerliche  Einheit  des  Ge- 
dankens herstellt.  Dies  leistet  nun  Natorps  Hypothese  in  hohem  Grade.  In  immer 
größerer  Klarheit  schält  sich  aus  der  halbpoetischen  Darstellung  in  den  Dialogen 
der  mittleren  Periode  bei  Piaton  die  Erkenntnis  der  Altersschriften  heraus,  daß  die 
Ideen  nicht  selbständige  Wesen,  sondern  Gesetze  des  Denkens  sind.  Die  „Statik** 
der  Ideen  wandelt  sich  in  eine  „Dynamik**.  Es  ist  zu  hoffen,  daß  diese  kurze  und 
doch  erschöpfende  Zusammenfassung  der  Ergebnisse  seiner  größeren  Piatonstudie 
der  Auffassung  Natorps  weitere  Kreise  erobern  wird.  —  Leider  ist  der  nachfolgende 
Aufsatz  Brentanos  über  den  andern  großen  Meister  der  Griechen  aus  Redaktions- 
gründen ein  Torso  geblieben.  Er  behandelt  nur  die  Gotteslehre  des  Aristoteles 
und  verweist  für  die  unendlich  viel  wichtigeren  erkenntnistheoretischen  und  onto- 
logischen  Lehren  auf  die  „gleichzeitige  Ausgabe  der  ganzen  ursprünglich  für  dieses 
Werk  bestimmten  Abhandlung'*,  was  freilich  für  den  nachsichtigsten  Leser  .ein 
schwacher  Trost  ist,  zumal  auch  nicht  verraten  wird,  wo  man  diese  Ergänzung 
suchen  darf.  —  Allmählich  beginnt  der  Stern  des  Griechentums  zu  sinken.  Eine 
neue  Weltansicht  steigt  herauf  und  wirft  ihre  Schatten  voraus.  Auf  der  einen  Seite 
wächst  die  Skepsis,  auf  der  anderen  Seite  der  Glaube.  Mit  der  Darstellung  dieser 
Entwicklung  in  der  „hellenistisch-römischen  Philosophie",  in  der  pyrrhonischen 
Schule  und  der  mittleren  Akademie,  in  der  Stoa  und  dem  Neuplatonismus  aus  der 
Feder  des  kundigsten  Kenners  dieser  Zeit,  A.  Schmekel,  findet  die  Geschichte  der 
alten  Philosophie  ihren  natürlichen  Abschluß. 

Um  jedoch  auch  das  Mittelalter,  das  in  der  Geschichte  der  Philosophie  meist 
nur  als  dunkle  Unterbrechung  des  philosophischen  Gedankenstroms  erscheint, 
in  seinen  Hauptvertretern  vorzuführen  sind  hier  zwei  Abschnitte  über  Augustinus 
und  Thomas  von  Aquin  von  M.  Baumgartner  eingeschaltet,  die  zu  de.n  besten  des 
ganzen  Werkes  gehören  und  aus  einer  selten  eingehenden  Kenntnis  der  Werke 
Augustins  eigene  Forschungen  über  dessen  philosophische  Gedankengänge  geben, 
die  diesen  Kirchenvater  dicht  an  die  Schwelle  der  modernen  Zeit  in  die  Nähe  Des- 
cartes'  rücken.  — Von  gleich  besonnenem  Geist  ist  die  Schilderung  des  thomistischen 
Systems  getragen,  das  zwar  „keine  originale  Leistung  nach  Art  der  antiken  und 
modernen  Systeme  ist",  aber  einen  uaerreichten  wissenschaftlichen  Organisator 


392  E.  V.  Aster,  Große  Denker,  angez.  von  A.  Heußner. 

und  Systematiker  zeigt.  Ihm  ist  es  gelungen,  die  schöpferischen  Leistungen  eines 
Plato,  Aristoteles  und  Augustin  mit  den  Gedankenwerten  der  christlichen  Glaubens- 
lehre zur  Einheit  zu  gestalten  und  in  ein  mächtiges  System  zu  bannen.  ,,Das  war 
seine  Tat  und  seine  Leistung,  die  durch  die  Geschichte  der  folgenden  Jahrhunderte 
schritt,  von  vielen  bekämpft,  von  ebensovielen  bewundert." 

Zwar  kein  Reformator  der  zeitgenössischen  Philosophie,  aber  in  Gedankenarbeit 
und  Lebensgestaltung  der  treueste  Spiegel  der  Kulturstimmung  der  Renaissance 
ist  nach  R.  Hönigswald  „Giordano  Bruno".  Er  liegt  noch  durchaus  im  Bann  der 
mittelalterlichen  Überlieferung,  aber  er  sieht  mit  genialer  Intuition  die  Fesseln, 
die  ihn  binden.  Doch  er  ist  unfähig,  sie  zu  sprengen,  denn  der  Geist  exakter  Wissen- 
schaftlichkeit ist  ihm  fremd.  Er  deutet  nur  die  Natur,  anstatt  sie  zu  erforschen. 
Ihm  mangelt  die  logische  Schärfe  des ,, Begriffs''  und  das  Verständnis  für  Mathematik. 
—  Umso  stärker  hebt  sich  daher  von  seinem  leidenschaftlichen  Enthusiasmus 
und  seiner  ungezügelten  Phantasie  das  Bild  der  beiden  großen  Vertreter  der  mathe- 
matischen Weltanschauung  ab:  „Descartes"  (M.  Frischeisen-Köhler)  und  „Spinoza" 
(von  0.  Baensch).  Hier  hat  der  Geist  der  modernen  Naturwissenschaft,  die  in 
stärkster  Einseitigkeit  nur  Kausalität  und  Substanz  kennt  und  diese  Begriffe 
auf  alle  Dinge  anwendet,  ihre  erste  und  wohl  auch  großartigste  Abklärung  zu  einer 
metaphysischen  Lebens-  und  Weltanschauung  gefunden.  —  Desto  schärfer  sticht 
von  dem  einsamen  Denker  im  Haag  der  vielgewandte  Hofmann  Leibniz  in  seinem 
Leben  und  in  seiner  Lehre  ab.  Walter  Kinkel  stellt  ihn  dar  als  Vertreter  des  pla- 
tonischen Idealismus  in  Natorps  Auffassung,  damit  den  Fußstapfen  Cassirers 
folgend,  aber  die  Darstellung  sieht  sich  doch  überall  gezwungen,  selbst  darauf 
hinzuweisen,  daß  die  idealistischen  Gedankengänge  nur  sporadisch  auftreten  und 
immer  von  dogmatisch-realistischen  Gedanken  unterbrochen  werden. 

Das  eigentlich  kritische  Zeitalter  der  Philosophie  wird  eingeleitet  durch  Locke- 
Hume  aus  der  Feder  des  Herausgebers  E.  v.  Aster,  worauf  P.  Menzer  das  schwere 
Werk  unternimmt,  die  Bedeutung  Kants  auf  44  Seiten  klarzulegen.  Dieser  Auf- 
satz bildet  einen  Höhepunkt  des  ganzen  Werkes.  Mit  einem  überaus  feinen  Ver- 
ständnis für  das  Maß  dessen,  was  allgemein  verständlich  aus  Kants  Werken  geboten 
werden  kann,  verbindet  sich  die  Gabe  einer  flüssigen  Darstellung,  die  klar  und 
scharf  die  Hauptlinien  der  Kantschen  Gedanken  verfolgt  und  sich  in  der  Dar- 
stellung seiner  Ethik  zu  einer  bemerkenswerten  Wärme  und  Innigkeit  der  Dar- 
stellung erhebt.  Überhaupt  möchte  ich  in  der  Darstellung  des  Idealismus  ein  be- 
sonderes Verdienst  des  Werkes  sehen.  Die  Hilfsmittel  zum  Eindringen  in  diese 
Eisregionen  menschlichen  Denkens  sind  spärlich  und  meist  unzulänglich.  Das  gilt 
jetzt  sogar  von  Kuno  Fischers  klassischem  Werk.  Hier  bieten  sich  als  kundigste 
Führer  F.  Medikus  durch  Fichtes  Philosophie  der  Tat,  H.  Falkenheim  durch  Hegels 
Lehre  vom  Geist,  und  Otto  Braun  durch  Schellings,  dieses  stets  sich  wandelnden 
Proteus  vielverschlungene  Gedankengänge.  Es  gibt  zurzeit  keine  Darstellung 
dieser  klassischen  Periode  unserer  deutschen  Philosophie,  die  so  klar,  einfach  und 
verständlich  in  den  Kernpunkt  ihres  Denkens  einführte,  wenngleich  besonders  die 
Schilderung  des  Fichteschen  Systems  auch  in  dieser  Form  dem  Leser  noch  manche 
harte  Nuß  zu  knacken  gibt.  —  Die  neue  Zeit  ist  durch  zwei  Beiträge  von  R.  Lehmann 
über  Schopenhauer  und  Herbart,  sowie  einem  Aufsatz  A.  Pfänders  über  Nietzsche 


P.  Gabriel,  Euckens  Grundlinien  usw.,  angez,  von  O.  Braun.  39S 

vertreten.  Den  Schluß  macht  ein  Essay  W.  Windelbands  über  „die  philosophischen 
Richtungen  der  Gegenwart".  Es  ist  kaum  zu  glauben,  welch  umfassenden  Über- 
blick die  Hand  des  Meisters  auf  diesen  14  Seiten  zu  geben  weiß.  Dabei  steht  ihm 
jede  feinste  Schattierung  des  Ausdrucks  vom  grimmigen  Humor  bis  zum  höchsten 
Pathos  mühelos  zu  Gebote.  Er  sieht  die  Aufgabe  der  Zukunft  in  einer  ,, kritischen 
Kultur-philosophie",  welche  den  Anteil,  den  die  menschliche  Vernunft  an  den 
letzten  geistigen  Gründen  aller  Wirklichkeit  haben  kann,  nicht  aus  dem  Menschen 
als  Naturwesen,  sondern  aus  den  Errungenschaften  des  Gesamtgeistes  in  seiner 
geschichtlichen  Arbeit  nach  der  Weise  Hegels  ablesen  will. 

Überblickt  man  das  ganze  Werk,  so  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  der  hier  ein- 
geschlagene Weg  der  Verteilung  der  einzelnen  Denker  an  die  verschiedenen  Spezial- 
forscher seine  großen  Vorzüge  hat.  Jeder  einzelne  Abschnitt  bietet  die  gediegensten 
Resultate  der  neuesten  Forschung.  Nicht  jeder  Denker  kann  sich  auch  in  jedes 
fremde  System  gleichmäßig  hineinfinden.  Hier  behandelt  jeder  Mitarbeiter  seinen 
besonderen  Liebling,  den  er  bis  in  die  innersten  Falten  des  Herzens  kennt  und 
wird  nicht  müde,  seine  Vortrefflichkeit  zu  preisen.  —  Diesem  Vorzug  stehen  freilich 
auch  erhebliche  Nachteile  gegenüber.  Schon  im  äußeren  Umfang  sind  die  einzelnen 
Beiträge  unverhältnismäßig  verschieden  und  keineswegs  immer  der  Bedeutung 
des  betreffenden  Denkers  entsprechend.  Auch  in  der  Darstellungsform  macht 
sich  die  Verschiedenheit  der  Verfasser  oft  störend  geltend.  Neben  glänzend  ge- 
schriebenen, allgemein  verständlichen  Abschnitten  stehen  andre,  die  mit  dem 
gründlichsten  wissenschaftlichen  Apparat  versehen,  einem  weiteren  Leserkreis 
verschlossen  bleiben  müssen.  Endlich  aber  muß  die  verschiedene  Stellung  der 
Verfasser  zu  den  Grundproblemen  der  Philosophie  auf  den  ungeschulten  Leser 
verwirrend  wirken.  Es  gilt  das  ganz  besonders  von  der  ganz  verschiedenen  Auf- 
fassung der  Ideenlehre.  Dennoch  macht  der  billige  Preis,  die  vortreffliche  Aus- 
stattung, für  welche  Professor  Georg  Belwe  gewonnen  wurde,  und  der  Schmuck 
gediegener,  sehr  sorgfältig  auf  ihre  Authentizität  geprüfter  Porträts  im  Verein  mit 
dem  gediegenen  Inhalt  das  Werk  so  recht  geeignet  zum  philosophischen  Haus- 
buch der  gebildeten  Familie. 

Cassel.  Alfred  Heußner. 

Gabriel,  Paul,  Euckens  Grundlinien  einer  neuen  Lebens- 
anschauung und  sein  Verhältnis  zu  J.  G.  Fichte.  Bunz- 
lau  1910.     G.  Kreuschmer.     VI  u.  44  S.     8».     1,20  M. 

Die  kleine  Studie,  deren  größter  Teil  einer  nicht  einmal  sehr  gewandten  Inhalts- 
darstellung der  „Grundlinien"  von  Eucken  gewidmet  ist,  geht  aus  von  dem  Gegen- 
satze des  ,, neuen  Lebens"  gegenüber  dem  Individuum,  dem  Intellekt  und  der 
Natur.  Sie  schildert  dann  die  Selbsttätigkeit,  Volltätigkeit,  Weltbildung,  Persön- 
lichkeitsart, religiöse  Art  des  neuen  Lebens  und  geht  zum  Schluß  auf  die  ,, charakter- 
bildende Kraft"  über.  Auf  knapp  10  Seiten  wird  dann  das  Verhältnis  zu  Fichte 
recht  äußerlich  charakterisiert  und  festgestellt,  daß  die  wichtigsten  Differenzen 
in  Methode,  Stellung  zur  Erfahrung,  zum  Rationalismus  und  zur  Religion  sind. 
Dabei  dringt  Gabriel  nirgends  tief  genug,  um  die  Ähnlichkeit  der  geistigen  Gebärde 
beider  Denker  zu  erfassen:  ihnen  beiden  ist  der  Gewinn  der  geistigen  Welt  kein 
Denkakt,  sondern  eine  Tat. 


394  F.  Pinski,  Der  höchste  Standpuni<t  usw.,  angez.  von  O.  Braun. 

Die  Vertiefung  und  den  weiteren  Blick  vermisse  ich  an  dem  Ganzen.  Darauf 
ist  auch  der  Angriff  auf  mich  (S.  21,  Anm.  1)  zurückzuführen:  ich  sehe  Eucken 
in  meiner  Interpretation  seiner  Auffassung  von  Gott  und  Mensch  im  Zusammen- 
hange mit  den  Grundtrieben  der  deutschen  Mystik  (Theologia  deutsch)  und  des 
Schellings  der  Freiheitslehre  etwa.  Daß  diese  Auffassung  nicht  korrekt,  hat  Gabriel 
behauptet,  aber  nicht  bewiesen.  Ich  verweise  dafür  auf  meine  Broschüre: 
„R.  Euckens  Philosophie  und  das  Bildungsproblem*'  (Leipzig  1909.    F.  Eckardt). 

Pinski,  F.,  Der  höchste  Standpunkt  der  Transzendental- 
philosophie. Halle  a.  S.  1911.  Hugo  Peter.  VII  u.  151  S.  2  M. 
Es  handelt  sich  um  eine  „Vervollständigung  und  systematische  Darstellung  der 
letzten  Gedanken  Kants**,  wie  dieser  sie  in  seinem  nachgelassenen  Manuskript, 
das  Reicke  in  der  „Altpreußischen  Monatsschrift"  1882 — 1884  teilweise  veröffent- 
lichte, formuliert  hat.  P.  ist  mit  Vaihinger  der  Meinung,  daß  das  erste  Konvolut, 
aus  den  Jahren  1799 — 1800  etwa  stammend,  viel  wichtiger  ist,  als  die  übrigen. 
Zu  ihm  kommen  noch  die  Beilagen  aus  dem  7.  Konvolut.  Die  hier  aufgezeichneten 
Aphorismen  sind  die  Grundlinien  eines  Werkes,  mit  dem  Kant  sein  System  ab- 
zuschließen und  zu  krönen  gedachte.  Es  sollte  eine  Antwort  und  Überwindung  sein 
für  Schellings  „System  des  transzendentalen  Idealismus*'  . 

Das  Ziel,  das  dem  greisen  Denker  vorschwebte,  ist  (nach  Pinskis  Auffassung) 
gewesen,  „die  Bedingungen  der  Erkenntnis,  sofern  sie  a  priori  in  unserem  Geiste 
vorhanden  sind  und  als  formgebendes,  gestaltendes  Vermögen  wirken,  aufzusuchen 
und  ihre  Anwendung  auf  die  von  den  Dingen  der  Außenwelt  herstammenden  Emp- 
findungen klarzulegen**  (S.  25).  In  Anbetracht  dieser  Absicht  hat  P.  entschieden 
recht,  wenn  er  meint,  daß  diese  letzte  Philosophie  Kants  die  Grundlage  für  unser 
heutiges  Denken  bilde.  Ich  erinnere  nur  an  Windelbands  Definition  der  Trans- 
zendentalphilosophie: sie  hat  die  allgemeinen  Voraussetzungen  der  Vernunfttätig- 
keiten aufzudecken  und  in  ihnen  die  empirischen  Elemente  von  den  apriorischen, 
allgemeingültigen  Notwendigkeiten  zu  trennen.  (Logos  I,  2,  S.  190.)  Ein  System 
aller  apriorischen  Erkenntniselemente  (S.  28):  das  ist  allerdings  in  gewissem  Sinne 
der  höchste  Standpunkt  des  Vernunfterkennens.  Daß  nun  aber  das  letzte  Werk 
von  Kant  diese  Aufgabe  schon  gelöst  habe,  darin  liegt  eine  Übertreibung  von  Pinski. 
Denn  was  er  in  seiner  gediegenen  kleinen  Arbeit  ausführt,  unter  Benutzung  häufiger 
Zitate  aus  Reickes  Abdruck,  geht  doch  kaum  über  das  hinaus,  was  Kant  in  seinen 
anderen  Werken  schon  gesagt,  und  wird  durch  die  scharfe  Betonung  des  Ding-an-sich- 
Begriffes  nicht  bedeutender.  Ob  z.  B.  die  verschärfte  Polemik  gegen  den  Pantheis- 
mus, die  Einschränkung  der  göttlichen  Immanenz  auf  den  Menschen  für  uns  von 
so  großer  Bedeutung  sind,  wie  Pinski  meint,  ist  doch  fraglich.  So  sehe  ich  sein  Buch 
in  systematischer  Beziehung  als  verfehlt  an  und  begrüße  es  nur  als  gründliche 
Studie    über    den     Gedankengehalt    von     Kants    letztem    Werke. 

Münster  i.  W.  0  1 1  o  B  r  a  u  n. 

„Die  Schrift  über  das  Erhabene."    Deutsch  mit  Einleitung  und  Erläuterungen  von 
H.  F.  Müller.     Heidelberg  1911.     Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung. 
XVIII  u.  90  S.     1,50  M. 
Die  unter  des  Longinus  Namen  gehende  Heine  Schrift  Ilepl  o^ouq  ,  „das  schönste 


R.  Hildebrand,  Gedanken  über  Gott  usw.,  angez.  von  Fr.  Heußner.         395 

stilkritische  Buch  der  Griechen",  teilt  das  Schicksal  so  manches  anderen  trefflichen 
Werkes:  es  wird  viel  gelobt,  aber  wenig  gelesen.  Selbst  von  den  Altphilologen 
kennen  es  in  der  Regel  nur  diejenigen,  die  zufällig  auf  der  Universität  mit  seiner 
Interpretation  beschäftigt  worden  sind.  Wenn  sie  später  an  das  Buch  zurückdenken, 
so  liegt  es  hinter  ihnen  als  ein  fragmentarisches  Werk  mit  schweren  Kunstaus- 
drücken und  Vokabeln,  bei  deren  richtiger  Deutung  die  Lexika  oft  versagten. 
Und  doch  dürfte  kein  Lehrer  des  Griechischen,  der  in  den  oberen  Klassen  Unterricht 
erteilt,  das  Büchlein  ungelesen  lassen.  Mit  allem  Nachdruck  sei  das  hier  gesagt. 
H.  F.  Müller  will  ihm  den  Weg  bereiten,  seine  Bekanntschaft  vermitteln  und  er- 
leichtern, wie  er  in  seiner  Analyse  unsres  Buches  es  ausspricht,  die  gleichzeitig  als 
Beilage  zum  Jahresbericht  Ostern  1911  des  Herzogl.  Gymnasiums  zu  Blanken- 
burg  a.  H.  erschienen  ist:  „Das  Schöne  und  Erhabene  in  den  Werken  des  griechischen 
Oeistes  zu  erkennen,  zu  empfinden  und  zu  erleben  wird  uns  allen  gut  tun  und  eine 
Herzensstärkung  sein*'.  Und  wenn  einer,  so  ist  er  der  Mann,  das,  was  er  in  Aus- 
sicht stellt,  zu  erfüllen.  Wie  er  in  seinen  „Beiträgen  zum  Verständnis  der  tragischen 
Kunst"  und  in  seinem  Buche  über  „die  Tragödien  des  Sophokles"  den  ansprechend- 
sten und  einwandfreiesten  Weg  gefunden  hat,  die  hier  zu  berücksichtigenden 
Fragen  zu  erläutern  und  zu  beantworten,  so  hat  er  in  seiner  auch  weitestgehende 
Anforderungen  befriedigenden  Übersetzung  der  Schrift  Flspl  o^oo<;  das  Verständnis 
dieses  „reizvollen  und  eigenartigen,  gedankenreichen  und  sprachgewaltigen  Buches" 
in  die  rechte  Bahn  geleitet.  Wer  es  in  dieser  neuen  Gestalt  zur  Hand  nimmt,  wird 
seine  Freude  daran  haben  und  es  immer  wieder  gern  zur  Hand  nehmen,  um  daraus 
zu  lernen.  Die  Erläuterungen  gehen  an  nichts  Wesentlichem  vorüber,  die  Analyse, 
deren  zweiter  Teil  kürzlich  veröffentlicht  ist,  bildet  zu  ihnen  eine  ausgezeichnete 
Ergänzung. 

Hannover.  R.  Mücke. 

Hildebrand,  Rudolf,  Gedanken  über  Gott,  die  Welt  und  das  Ich. 

Ein  Vermächtnis.    Jena  1910.    Eugen  Diederichs  Veriag.    gr.  8«.   479  S. 

brosch.  8  M.,  geb.  10  M. 
Am  28.  Oktober  1894  starb  in  Leipzig  Prof.  Rud.  Hildebrand,  nachdem  er  noch 
am  13.  März  zu  seinem  70.  Geburtstage,  als  schon  die  letzten  Strahlen  der  Lebens- 
sonne sein  Haupt  umglänzten,  zahllose  Beweise  der  Freundschaft  und  Liebe,  Ver- 
ehrung und  Dankbarkeit  empfangen  hatte.  Galten  sie  doch  dem  in  freundlicher 
Teilnahme  und  immer  bereiter  Güte  treuen  Mann,  dem  tiefsten  Kenner  der  deut- 
schen Sprache,  deutschen  Fühlens,  Sinnens,  Denkens  und  Dichtens,  dem  Neubegrün- 
der des  deutschen  Unterrichts,  dem  sicheren  Führer  und  bewährten  Meister  deut- 
scher Sprachforschung.  Wieviel  verdankt  die  deutsche  Lehrerwelt  seinem  Buch 
„Vom  deutschen  Sprachunterrich  t",  das  1867  zuerst  als  eine  Ab- 
handlung von  79  S.  unter  dem  Titel  „Vom  deutschen  Sprachunterricht  in  der  Schule 
und  von  etlichem  ganz  Andern,  das  doch  damit  zusammenhängt"  erschien.  Er 
war  damals  noch  Collega  Quintus  an  der  Thomasschule  in  Leipzig.  So  liegt  das 
Buch  eben  noch  vor  mir  und  ist  mir  gerade  in  dieser  Gestalt  ein  treuer  Freund 
und  Begleiter  geblieben.  Nun  haben  wir  es  in  12.  Auflage  unter  dem  Titel  „Vom 
deutschen  Sprachunterricht  in  der  Schule  und  von  deutscher  Erziehung  und  Bil- 
dung überhaupt;  mit  einem  Anhang  über  die  Fremdwörter  und  einem  über  das  Alt- 


396  R.  Hildebrand,  Gedanken  über  Gott  usw., 

deutsche  in  der  Schule",  und  es  umfaßt  jetzt  279  S.  Bei  Hildebrands  Bestattung 
legte  der  Verein  Leipziger  Volksschullehrer  einen  Lorbeerkranz  auf  seinem  Grab 
nieder  mit  der  Inschrift:  „Seinem  Lehrer  R.  H.  der  Leipziger  Lehrerverein." 
Durch  dieses  Buch  ist  er  der  Erneuerer  des  Unterrichts  in  der  Muttersprache  sowie 
einer  der  großen  Wegweiser  auch  im  Bereiche  nationaler  Erziehung  geworden,  und 
es  hat  ihm  den  Ehrennamen  „Praeceptor  Germaniae"  gewonnen*).  Wie  groß  und 
herrlich  ist  seine  Arbeit  am  Grimmschen  Wörterbuch  gewesen, 
in  der  man  ein  unerreichtes  Muster  von  Lexikographie  bewundert,  ,,ein  Garten, 
in  dem  der  warme  Lebenshauch  der  innigsten,  zartesten  Liebe  zur  Muttersprache 
weht".  Seit  1887,  als  er  mehr  Muße  gewonnen  hatte,  erschienen  seine  gedanken- 
und  wissensreichen  Aufsätze  in  den  Grenzboten  und  seine  Beiträgezum 
deutschen  Unterricht  sowie  die  köstlichen  ,,Tagebuchblätter 
eines    Sonntagsphilosophe  n". 

Nun  hat  15  Jahre  nach  seinem  Hinscheiden  sein  treuer  Schüler  und  jüngerer 
Freund,  Studienrat  Prof.  Georg  B  e  r  1  i  t  in  Leipzig  noch  ein  Werk  aus  seinem 
Nachlaß  veröffentlicht,  das  den  Freunden  und  Verehrern  Hildebrands  —  und 
wie  groß  ist  ihre  Zahl!  —  eine  willkommene  Gabe  sein  wird,  aber  auch,  so  hofft 
der  Herausgeber,  noch  andere  dankbare  Leser  finden  wird  als  die,  welche  Hilde- 
brandsche  Geistesart  längst  zu  schätzen  gelernt  haben. 

In  der  Handschrift  führten  diese  Aufzeichnungen  die  bescheidene  Benennung: 
,, Einfälle,  Gedanken  und  Fragen"  und  fallen  in  die  Zeit  von  April  1881  bis  kurz 
vor  seinem  70.  Geburtstag.  Der  Herausgeber  schickt  sie  hinaus  unter  dem  be- 
zeichnenderen oben  genannten  Titel  mit  dem  Motto  des  Verfassers  aus  Goethes 
Zueignung:  „Warum  sucht'  ich  den  Weg  so  sehnsuchtsvoll,  wenn  ich  ihn  nicht  den 
Brüdern  zeigen  soll?"  An  dem  Text  hat  er  nichts  geändert,  sondern  hat  sich  auf 
die  Aufgabe  des  Prüfens,  Auswählens  und  Ordnens  beschränkt.  Voraus  geht  ein 
„Zur  Einführung"  betitelter  Aufsatz  von  48  S.,  in  dem  Hildebrands  Charakter, 
Werden  und  Wirken  in  den  Hauptumrissen  schön  gezeichnet  wird,  um  ihn  so  den 
Herzen  der  Leser,  die  ihm  bisher  ferner  standen,  näher  zu  bringen,  und  durch  den 
wir  Auskunft  erhalten  über  die  Entstehung  und  Absicht  dieser  Blätter.  Neben 
Fußnoten,  die  dem  Text  beigefügt  sind,  sind  am  Ende  des  Buches  noch  auf  17  Seiten 
Anmerkungen  und  Verweisungen  des  Verfassers  beigegeben,  mit  denen  er  selbst 
den  Text  begleitet  hat.  Diese,  sowie  das  auf  9  Seiten  folgende  Sach-  und  Namen- 
register sollen  den  Ein-  und  Durchblick  in  Hildebrands  Denkweise  und  Gedanken- 
welt erleichtern.  Zum  Schluß  steht  dann  noch  eine  eingehende  Inhaltsangabe 
der  einzelnen  (elf)  Bücher. 

Es  ist  ein  eigenartiges  Werk,  das  nicht  unmittelbar  fesselt,  in  das  man  sich 
erst  hineinlesen  muß,  das  dann  aber  mehr  und  mehr  gewinnt  und  uns  ganz  und  tief 
in  Hildebrands  Denken  und  Fühlen  hineinführt.  Der  Herausgeber  empfiehlt, 
zuerst  das  2.,  dann  das  7.  Buch  zu  lesen,  um  so  allmählich  in  seine  Gedankengänge 
einzudringen.  Vielleicht  empfiehlt  es  sich  auch,  nach  dem  Register  sich  zunächst 
das  eine  oder  das  andere,  das  uns  näher  berührt  und  interessiert,  herauszunehmen 


*)  Matthias  würdigt  ihn  nach  dieser  Seite  in  seiner  „Geschichte  des  deutschen 
Unterrichts"  schön  und  eingehend  und  gibt  ihm  wegen  seiner  alle  überragenden  Zu- 
kunftsbedeutung am  Ende  gleichsam  das  letzte  Wort. 


angez.  von  Fr.  Heußner.  397 

•> 
und  so  sich  in  die  Schreib-  und  Denkweise  Hildebrands  einzugewöhnen  und  ein- 
zuleben. Das  2.  Buch  (um  ein  Beispiel  anzuführen)  handelt  „Von  dem  was  sein 
soll,  werden  soll  —  und  wie  wir  dazu  kommen  könnten",  mit  dem  Motto:  „Weh 
dem,  der  zu  der  Wahrheit  geht  durch  Schuld  (Schiller)."  Das  7.  Buch  ist  über- 
schrieben: „Von  mir  und  vom  Ich  überhaupt"  und  trägt  das  Motto: 

Ich  habe  nichts  als  mich  studiert, 

Nichts,  als  mein  Herz,  das  mich  so  oft  verführt, 

Deß  Tiefe  sucht  ich  zu  ergründen. 

Um  meine  Ruh  und  andrer  Ruh  zu  finden." 

Geliert,  der  Polyhistor  (1750). 

Es  bildet  dies  mit  seinen  allerpersönlichsten  Bekenntnissen  ein  Stück  Selbst- 
biographie. Daraus  als  Beispiel  S.  289,  an  Klopstock  erinnernd  und  an  Lessings 
Philotas: 

Ostermontag  1879. 

Eine  Erinnerung  aus  Quarta  kam  mir  neulich  wieder,  also  aus  meinem  14.  Jahre 
(1837):  Der  Begriff  Vaterland  ging  mir  auf,  das  heißt  erfüllte  und  ergriff  mich, 
das  Größte  was  ich  in  mir  bis  dahin  kannte,  und  das  gehörte  auch  mir!  und  ich  kam 
mir  bis  dahin  so  klein,  so  nichtig  vor.  Auf  einmal  zuckte  durch  mich  der  Gedanke: 
fürs  Vaterland  leben,  fürs  Vaterland  alles  tun!  Wie  groß,  wie  beseligend  —  alles, 
das  schlug  auf  einmal  in  die  Form  um:  auf  einmal  etwas  Großes  fürs  Vaterland  tun, 
auf  einmal  das  Größte  —  wie?  Durch  meinen  Tod !  mein  ganzes  Wesen  wie  auf  einen 
Knall  dem  Vaterland  zum  Opfer  bringen !  Das  schien  mir  selbst  zugleich  die  höchste 
Seligkeit,  die  es  geben  könne!  Daraus  wurden  ein  paar  Reime  (wohl  die  ersten, 
die  ich  gemacht),  die  ich  vor  mich  hersagte,  auf  der  Allee  schreitend,  an  einem 
Sommerabend,  unter  heißen  Tränen,  bei  denen  ich  mich  wohl  befand,  wonnig  ge- 
hoben wie  noch  nie !  Sich  opfern  mit  Wonne,  selig  in  Tränen  —  und  meine  Seele 
war  in  sich  so  gesund,  so  eigentlich  heiter  als  es  nur  möglich  ist!  —  Es  war  der 
Drang,  der  mir  später  so  oft  gekommen,  alles,  was  ich  als  notwendig  fühlte,  mit 
einem  Schlage  zu  erreichen,  statt  langsam  (mit  Qual,  daß  es  unmöglich  ist),  die 
Geduld  des  Weltlebens  habe  ich  mühsam  gelernt,  und  lerne  noch  daran,  sehe  aber 
nun,  daß  sie  die  Haupttugend  ist,  mit  der  Kraft,  das  Heilige,  das  man  in  guter  Stunde 
gesehen,  treu  und  zäh  festzuhalten,  mit  Kinderglauben.*) 

Es  bieten  diese  Gedanken  und  Erinnerungen  so  viel  tiefe  Lebensweisheit,  so 
eindringliche,  auch  heute  noch  zeitgemäße  Warnungen  vor  Ab-  und  Irrwegen  in 
Leben  und  Wissenschaft,  so  nachdrückliche  Mahnungen  auch  zu  gesunderer  Lebens- 
führung und  Besinnung  auf  die  inneren  Güter  unseres  Daseins,  so  feinsinnige  Winke 
für  edlere  Lebenskunst,  daß  wir  viel  daraus  lernen  können  und  sie  uns  das  Bild 
Hildebrands  wesentlich  vervollständigen;  dabei  locken  sie  mit  dem  Zauber  der 
einzigartigen  Persönlichkeit,  die  allen  denen,  die  ihn  im  Leben  gekannt  oder  aus 
seinen  Schriften  ein  lebendiges  Bild  von  ihm  gewonnen  haben,  aus  diesen  Blättern 
wie  aus  einem  unbewußt  und  naiv  entworfenen  Selbstportrait  entgegentritt. 


*)  Die  für  Hildebrands   persönlichen  Stil  charakteristische   Interpunktion  ist  hier 
beibehalten. 


398  K.  Ketteier,  Der  Unsterblichkeitsglaube  usw.,  angez.  von  O.  Braun. 

Und  so  sei  denn  dieses  Selbstbildnis  oder  diese  ,, Urkunde  der  Weltanschauung'* 
jenes  geistig  und  sittlich  ungewöhnlichen,  durch  die  Originalität  und  Tiefe  seiner 
Natur  hervorragenden  Mannes,  des  „Predigers  mit  dem  Kindergemüt  und  dem 
Denkergeist"  auch  weiteren  Kreisen  herzlich  empfohlen  und  auch  dem  Heraus- 
geber gedankt  für  seine  mühevolle  Arbeit. 

Kassel.  Fr.  H  e  u  ß  n  e  r. 

Ketteier,  Kurt,  Der  Unsterblichkeitsglaube  in  religions- 
geschichtlicher und  r  e  1  i  gi  0  n  s  p  h  i  1  0  s  0  p  h  i  sc  h  e  r  Be- 
trachtung. Bunzlau  1910.  G.  Kreuschmer.  56  S.  8».  0,90  M. 
Das  anspruchslose  Heftchen,  ein  erweiterter  Vortrag,  stellt  zunächst  auf  30  S. 
Notizen  über  den  Unsterblichkeitsglauben  bei  den  verschiedensten  Völkern  zu- 
sammen und  geht  dann  zur  Darstellung  und  Kritik  der  Beweise  für  die  Unsterblich- 
keit über.  Alle  drei  Arten,  die  populären,  theologischen  und  philosophischen  Be- 
weise, werden  als  nicht  zwingend  hingestellt:  ein  wissenschaftlich  zwin- 
gender Beweis  für  die  Unsterblichkeit  ist  nicht  zu  führen  (S.  49).  Der  Verfasser 
versucht  aber,  im  Anschluß  an  Euckens  Philosophie,  den  Glauben  an  eine  persön- 
liche Unsterblichkeit  zu  stützen.  Zunächst  weist  er  auf  die  Existenz  eines  unsterb- 
lichen allgemeinen  Geisteslebens  hin,  und  dann  dient  ihm  die  Tatsache,  daß  das 
Geistige  in  seiner  höchsten  Ausprägung  immer  nur  in  charakteristischer  Gestaltung 
bei  den  großen  Persönlichkeiten  erscheint,  dazu,  auch  für  die  persönliche  Un- 
sterblichkeit zu  plädieren.  Hier  scheinen  christliche  Vorstellungen  von  transzen- 
dentem Fortleben  einzusetzen.  Philosophisch  läßt  sich  nur  eine  immanente 
persönliche  Unsterblichkeit  rechtfertigen:  der  Geist  der  Großen  lebt  in  seiner 
eigentümlichen  Ausprägung  fort,  indem  immer  neue  Geister  ihn  gerade  in  dieser 
Eigentümlichkeit  nacherleben. 

Münster  i.  W.  0  1 1  o  B  r  a  u  n. 

Brecht,  Walther,  Heinse  und  der  ästhetische   Immoralismus. 
Zur  Geschichte  der  italienischen  Renaissance  in  Deutschland.  Nebst  Mitteilungen 
aus  Heinses  Nachlaß.   Berlin  1911.  Weidmannsche  Buchhandlung.  XVI  u.  195  S. 
6  M. 
Wilhelm  Heinse  gehört  zu  den  Heimatlosen  in  der  Literaturgeschichte,  zu 
jenen,  die  in  keine  Zeit  und  keine  Richtung  sich  einordnen  lassen,  ohne  daß  wesent- 
liche Züge  ihrer  geistigen  Persönlichkeit  völlig  mißverstanden  werden,  und  die  doch 
nicht'eigenschaffende  Künstler  genug  waren,  als  daß  ihre  Werke  für  sich,  losgelöst 
von  den  geistigen  Beziehungen,  in  denen  sie  erwuchsen,  eine  starke  Wirkung  aus- 
üben könnten.    Auch  nicht  eine  Seite  hat  Heinse  veröffentlicht,  die  nicht  deutlich 
den  Sohn  des  achtzehnten  Jahrhunderts  verriete  —  und  nur  weniges  wurde  im 
18.  Jahrhundert  geschrieben,  das  uns  heute  so  modern  anmutet,  das  so  unmittelbar 
zu  unserer  impressionistischen  Zeit  spricht  wie  manche  seiner  Tagebuchaufzeich- 
nungen.    In  diesen  Notizenbüchern  hat  er  sein  Bestes  gegeben,  nicht  in  seinen 
formlosen  Romanen. 

Erst  seit  einem  Jahrzehnt  etwa  beschäftigt  sich  die  Literaturgeschichte  ernstlich 
mit  diesem  Manne.    Man  hat  seine  Jugendentwicklung  eingehend  dargestellt  — 


W.  Brecht,  Heinse  und  der  ästhetische  Immoralismus,  angez.  von  P.  Kluckholm.      399 

Heinse  als  Freund  der  Jakobi  und  des  Gleimschen  Kreises' — ,  ihn  als  Dichter  des 
Sturmes  und  Dranges  charakterisiert,  seine  bedeutsame  Stellung  zur  bildenden 
Kunst  untersucht  und  ist  seinen  Einwirkungen  auf  das  Schaffen  und  die  Theorien 
der  Romantik  nachgegangen.  Brecht  nun  sucht  ihn  nach  rückwärts  zu  verbinden 
und,  indem  er  die  Quellen  seines  Romans  „Ardinghello"  aufdeckt,  zugleich  seine 
geistige  Verwandtschaft  mit  der  Renaissance  und  die  Wirkung  der  Idee  vom  souve- 
ränen Individuum  bis  auf  unsere  Tage  darzustellen. 

Sein  Buch  ist  eine  Frucht  langjähriger  Forschungen,  einer  sich  reich  lohnenden 
Durcharbeitung  des  Heinseschen  Nachlasses  in  Frankfurt  und  einer  eingehenden 
Untersuchung  der  Renaissanceliteratur,  die  Heinse  konnte  kennen  gelernt  haben. 
Und  das  Ergebnis,  so  überzeugend  bewiesen,  daß  es  wohl  niemand  anzweifeln 
dürfte,  ist  dieses:  Heinse  hat  nicht  aus  einer  gewissen  vagen  Sympathie  seinen  Roman 
in  die  Zeit  der  Renaissance  verlegt,  so  wie  Dramen  des  Sturmes  und  Dranges  im 
Italien  des  Cinquecento  spielen,  sondern,  weil  er,  „auf  einer  entsprechenden  Stufe 
moralischer  Auffassung  wieder  angekommen",  die  Renaissance  als  wesensgleich 
mit  sich  erkannte  und  durch  eingehende  Studien  —  er  wühlte  in  den  italienischen 
Bibliotheken  —  diese  vergangene  Welt  förmlich  zwang,  sich  ihm  zu  offenbaren. 
Wie  dieser  Beweis  von  Brecht  im  einzelnen  mit  größter  philologischer  Akribie  geführt 
wird,  wie  er  den  Historikern  nachgeht,  die  Heinse  benutzt  hat,  auch  den  ungedruck- 
ten, der  weitverzweigten  Gruppe  der  Ffl///-/rag/c/-Handschriften,  dazu  den  Novellen 
—  der  erste  Teil  des  „Ardinghello"  stellt  sich  danach  als  eine  echte  Geschichte 
einer  bella  Vendetta  heraus  — ,  wie  aus  den  Wirkungen  dieser  Studien  allmählich 
der  Plan  zum  „Ardinghello"  erwächst,  in  dem  von  Anfang  an  die  aristokratische 
Renaissancemoral  die  Hauptrolle  spielt  —  Ardinghello  der  uomo  universale  der 
Renaissance  — ,  wie  Brecht  den  Punkt  aufweisen  kann,  „an  dem  der  ,Ardinghello*^ 
aus  italienischer  Quelle  entsprang",  dem  kann  hier  im  einzelnen  nicht  nachgegangen 
werden.  Man  wird  den  „Ardinghello"  danach  doch  wesentlich  anders  wie  bisher 
beurteilen  müssen:  kein  Abenteurerroman,  ein  historischer  Renaissanceroman r» 
der  Schluß  —  die  glückseligen  Inseln  —  wird  nun  erst  wirklich  verstanden :  kein 
unorganisches  Anhängsel,  ein  notwendiger  Abschluß,  aus  Heinses  Sehnsucht  geboren,, 
der  erst  den  wahren  Aufschluß  über  das  Ganze  gibt. 

Diese  literarhistorische  Bewertung  des  „Ardinghello"  ist  nur  ein  Teilergebnis 
des  Buches.  Das  stellt  zugleich  einen  Beitrag  zu  dem  jetzt  so  viel  erörterten  Probleme 
der  Geschichte  des  Renaissancebegriffes  dar  und  knüpft  eine  der  wesentlichsten 
Ideen  des  letzten  Jahrhunderts  an  das  Italien  des  sechzehnten  an:  die  Idee  des 
souveränen  Individuums.  Hier  fällt  Heinse  die  bedeutsame  Vermittlerrolle  zu. 
Er  hat  als  erster  den  Renaissancemenschen  wirklich  verstanden;  über  das  all- 
gemeine Verständnis  seiner  Zeit  für  die  Renaissance  führten  ihn  zwei  Ideen  weit 
hinaus,  die  des  amoralischen  Menschen  und  die  einer  ausschließlich  ästhetischen 
Orientierung. 

Auch  der  Nachwirkung  von  Heinses  Immoralismus  geht  Brecht  in  knappen, 
nur  vorläufigen  Untersuchungen  nach,  der  Wirkung  auf  die  Romantik,  besonders 
durch  den  Frauentypus  der  Fiordimona  —  Schlegels  „Lucinde"  wäre  meines  Er- 
achtens  noch  schärfer  von  Heinse  zu  trennen  als  wie  Brecht  es  tut;  auf  diese  Pro- 
bleme werde  ich  in  einer  eingehenden  Untersuchung  der  Frauenauffassung  der 


400  A.  Jacoby,  Die  antiken  Mysterienreligionen,  angez.  von  H.  Wolf. 

Romantiker  noch  zu  sprechen  kommen  — ,  der  Wiedererweckung  Heinses  durch  das 
Junge  Deutschland  und  der  prinzipiellen  Übereinstimmung  mit  Nietzsche;  ein 
direkter  Zusammenhang  beider  wird  noch  nicht  erwiesen,  nur  vermutet,  ihre  Ver- 
wandtschaft, doch  auch  das,  was  sie  trennt,  in  fein  abgewogenen  Worten  heraus- 
gestellt. 

Es  folgen  „Texte  und  Anhänge*',  dem  Umfang  nach  der  Hauptteil  des  Buches, 
außerordentlich  dankenswerte  Veröffentlichungen  aus  Heinses  Nachlaßheften, 
aus  deren  reichem  Schatze  bisher  nur  ein  Band  von  Schüddekopf  in  seiner  großen 
Ausgabe  der  Werke  herausgegeben  war.  Brecht  bringt  aus  der  Zeit  vor  der  italie- 
nischen Reise  Reflexionen  und  Maximen,  die  Heinse  auf  dem  Wege  zum  ästhe- 
tischen Immoralismus  zeigen;  von  der  italienischen  Reise  Auszüge  aus  Tiraboschis 
Storia  della  literatiira  italiana  und  italienischen  Geschichtsschreibern,  Aufzeich- 
nungen über  Dichter  und  über  Fürsten  der  Renaissance,  über  freie  Liebe,  besonders 
bedeutsam  Charakterstudien  zum  „Ardinghello";  aus  der  Zeit  nach  der  italienischen 
Reise  Reflexionen  des  Immoralismus,  besonders  im  Anschluß  an  Aristoteles  (der 
jx£YaXotJ>ü/o?)  und  Machiavell,  auch  an  Darwin  erinnernde  Gedankengänge,  mancherlei 
Notizen  für  Romanpläne  u.  a.  m.,  sodann  den  Romanentwurf  „Adelheit  und  Heiden- 
blut**, den  Brecht  aufschlußreich  bespricht. 

Wer  einmal  die  kleinen  Hefte  aus  Heinses  Nachlaß  mit  den  schwer  zu  ent- 
ziffernden, zum  Teil  schon  verwischten  Bleistiftnotizen  in  Händen  gehabt  hat, 
der  weiß  die  philologische  Arbeit  dieser  Publikation  sehr  zu  würdigen.  Und  es 
muß  besonders  bemerkt  werden,  daß  Brecht  auch  in  den  Partien,  die  schon  in 
Schüddekopfs  als  mustergültig  geltender  Ausgabe  publiziert  wurden,  über  diese 
Ausgabe  hinauskommt,  so  in  dem  Romanentwurf  ,, Adelheit  und  Heidenblut" 
nicht  nur  einzelne  Worte  anders  und  wohl  richtiger  liest,  sondern  auch  eine  ganze 
Reihe  Absätze  neu  bringt.  Brechts  Publikation  läßt  uns  so  viel  deutlicher  als  die 
früheren  in  Heinses  Arbeitsstätte  hineinblicken  und  gibt  uns  höchst  dankenswerte 
Ergänzungen  zu  den  Untersuchungen  des  Verfassers.  Diese  selbst  sind  in  sehr 
knappem,  doch  klarem  Stile  geschrieben,  deuten  vieles  nur  an,  was  man  ausführlich 
dargestellt  wünschte  —  so  die  Theorie  des  ästhetischen  Immoralismus  selbst  — ; 
aber  das  gerade  scheint  mir  ein  Lob  zu  sein,  das  schwer  wiegt.  Besonders  mag  es 
von  Brechts  Einleitung  gelten,  die  das  Problem  Heinse  gibt  und  das  impressionistische 
Moment  seines  Wesens,  namentlich  auf  Grund  der  Tagebücher,  sehr  glücklich 
charakterisiert  —  ein  wertvoller  Essay  für  sich. 

Göttingen.  Paul  Kluckhohn. 

Jacoby,    Adolf,     Die    antiken    Mysterienreligion  en     und    das 
Christentum.    (Religionsgeschichtliche  Volksbücher,  III.  Reihe,  12.  Heft.) 
Tübingen  1910.    Mohr.    44  S.    geh.  0,50  M. 
Als  sein  Thema  gibt  der  Verfasser  selbst  in  der  Einleitung  an  „das  Ineinander- 
greifen der  religiösen   Strömungen  (in  den  ersten   Jahrhunderten  unserer  Zeit- 
rechnung): von  der  einen  Seite  der,  die  wir  zusammenfassend  Mysterienreligion 
nennen,  und  des  Evangeliums  Jesu  Christi  von  der  anderen  Seite".    Er  zeigt,  wie 
die  Kirche  allmählich  zu  einer  großen  Mysterienanstalt  wurde;  diese  Entwicklung 
begann  schon  unter  Paulus,  setzte  sich  bei  den  Gnostlkern  fort,  und  im  2.  und 


U.  V.  Wilamowitz-Moellendorff,  Die  griechische  usw.,  angez.  von  Fr.  Heußner.      401 

3.  Jahrhundert  erkannten  die  Kirchenväter  mit  Schrecken,  wie  nahe  verwandt 
ihrem  Christentum  die  Gebräuche  im  Kultus  des  Mithras,  des  Serapis  und  der  Isis, 
überhaupt  in  den  immer  weiter  sich  verbreitenden  orientalischen  Religionen  waren. 
Sie  behaupteten,  daß  die  Mysterienbräuche  der  Heiden  teuflische  Äffungen  seien; 
von  Justin  wurde  das  Wort  vom  Teufel,  dem  Affen  Gottes,  der  Gottes  Geheim- 
nisse durch  seine  Mysterien  nachäffe,  in  Umlauf  gesetzt. 

Jacoby  spricht  von  der  hochgespannten  Jenseitshoffnung,  der  Menschwerdung 
der  Gottheit,  der  Vorstellung  vom  sterbenden  und  auferstehenden  Gott,  der  Ekstase, 
dem  Essen  und  Trinken  geweihter  Elemente.  Im  3.  und  4.  Jahrhundert  ringen 
die  Religionen  miteinander;  die  Entscheidung  stand  lange  Zeit  auf  des  Messers 
Schneide;  das  Christentum  siegte  infolge  seiner  überlegenen  religiösen  und  sitt- 
lichen Kräfte. 

Es  folgt  eine  hochinteressante  Auswahl  von  Texten  zur  Mysterien- 
religion. — 

Weniger  gut  gelungen  ist  der  1.  Abschnitt  des  Heftchens,  wo  der  Verfasser 
„in  knappen  Umrissen  die  Entwicklung  der  vorhergehenden  Jahrhunderte" 
(vor  Chr.)  zeichnen  will.  Über  die  lange  Geschichte  der  antiken  Religionen  erhalten 
wir  da  keine  klare  und  richtige  Vorstellung. 

Düsseldorf.  Heinrich  Wolf. 

ü.  V.  Wilamowitz-Moellendorff,  K.  Krumbacher  (f),  J.  Wackernagel,  Fr.  Leo, 
E.  Norden,  F.  Skutsch,  Die  griechische  und  lateinische  Lite- 
ratur und  Sprache.  Teil  I,  Abt.  VIII  der  von  P.  Hinneberg  her- 
ausgegebenen „Kultur  der  Gegenwart".  Dritte,  stark  verbesserte  und  ver- 
mehrte Auflage.  Berlin  und  Leipzig  1912.  B.  G.  Teubner.  VIII  u.  582  S.  gr.  8», 
geh.   12  M.,  in  Leinwand  geb.   14  M. 

Im  Jahre  1906  erschien  das  vorliegende  Buch  als  erster  Band  der  von  P.  Hinne- 
berg unternommenen  Enzyklopädie  „Die  Kultur  der  Gegenwart",  und  schon  im 
nächsten  Jahr  war  eine  zweite  Auflage  notwendig  geworden.  Nun  ist  nach  fünf 
weiteren  Jahren  zu  unserer  Freude  eine  dritte  und  zwar  „stark  verbesserte  und 
vermehrte"  Auflage  gefolgt.  War  in  der  zweiten  besonders  die  römische 
Literatur  des  Altertums  von  Leo  vielfach  verbessert  und  um  ein  Drittel  des 
Umfangs  erweitert  worden,  so  ist  in  dieser  dritten  vor  allem  die  Arbeit 
von  W  i  1  a  m  0  w  i  t  z  ,  Die  griechische  Literatur  des  Altertums,  durchgehend 
gebessert  und  um  80  Seiten  erweitert  (während  auf  die  anderen  Arbeiten 
zusammen  nur  noch  8  Seiten  kommen).  Besonders  bereichert  sind  die  Abschnitte 
über  die  lyrische  Poesie  in  der  hellenistischen  Periode,  die  attische  Poesie  und 
Prosa  und  den  Hellenismus.  Auch  die  anderen  Abhandlungen  zeigen  die  bessernde 
Hand  der  Autoren,  nur  ist  K  r  u  m  b  a  c  h  e  r  ,  der  Verfasser  der  griechischen 
Literatur  des  Mittelalters,  inzwischen  gestorben,  und  es  hat  nur  Prof.  P.  Maas 
zu  der  Literaturangabe  am  Schluß  der  Arbeit  noch  einige  seit  der  zweiten  Auflage 
erschienene  Abhandlungen  nachgetragen. 

Das  Werk  ist  nach  den  beiden  ersten  Auflagen  schon  reichlich  auf  seinen 
Wert  geprüft  und  in  seiner  hohen  Bedeutung  gewürdigt  worden.  Mit  Freude 
und  zu  großem  Genuß  habe  ich  mich  wieder  in  die  Lektüre  verschiedener  Teile 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  26 


402     U.  V.  Wilamowitz-Moellendorff,  Die  griechische  usw.,  angez.  von  Fr.  Heußner. 

dieses  Bandes  versenkt.  Schlicht,  einfach  und  in  gemeinverständlicher  Weise 
wird  uns  von  Wackernagel  die  griechische  und  von  S  k  u  t  s  c  h  die  römische 
Sprache  in  ihrem  Wesen,  ihrer  Entwicklung,  ihrem  Einfluß  und  ihrem  Fortleben 
vorgeführt,  ebenso  ist  die  griechische  Literatur  des  Mittelalters  von  K  r  u  m  - 
b  a  c  h  e  r ,  die  römische  Literatur  des  Altertums  von  Leo  und  die  lateinische 
im  Übergang  vom  Altertum  zum  Mittelalter  von  Norden,  entsprechend 
dem  Programm  des  Gesamtwerkes,  für  einen  weiteren  Umkreis  der  Gebildeten 
wohl  verständlich.  Nicht  in  demselben  Maße  läßt  sich  dies  von  der  Hauptdar- 
stellung des  Bandes,  der  Arbeit  von  Wilamowitz  (die  schon  im  äußeren  Umfang 
mehr  als  die  Hälfte  des  ganzen  Buches  einnimmt)  sagen.  Sie  setzt  mehr  als  die 
anderen  eine  philologische  Schulung  voraus,  auf  deren  Grundlage  nun  in  knapper, 
prägnanter,  an  Gehalt  ungemein  reicher  Darstellung  die  einzelnen  literarischen 
Werke  vorgeführt,  kritisiert,  in  die  mannigfachste  Beziehung  zu  älteren  und 
neueren  Erzeugnissen  gesetzt  werden.  Auch  die  Ausdrucksweise  ist  nicht  immer 
einfach  und  durch  die  zahlreichen,  zum  Teil  außer  dem  gewöhnlichen  Gebrauch 
liegenden  Fremwörter  nicht  ganz  leicht  verständlich.  Aber  hat  man  sich  hinein- 
gelesen und  an  des  Verfassers  Stil  und  Ausdrucksweise  gewöhnt,  so  liest  besonders 
der  Philologe  diesen  Teil  des  Bandes  mit  hohem  Genuß  und  zu  reichster  Belehrung. 
Noch  eins.  Es  ist  auch  anderwärts  schon  gerügt  worden,  wie  lieblos,  hart  und 
absprechend  Wilamowitz  oft  in  seinem  Urteil  über  die  Ansichten  anderer  ist  und 
wie  wenig  günstig  er  vor  allem  auf  die  Lehrer  zu  sprechen  ist.  Man  lese  nur  S.  4, 
5,  13,  18,  751  Möchte  Wilamowitz  doch  bedenken,  daß  diese  „Schulmeister*'  von 
den  Universitätsprofessoren  vorgebildet  sind,  daß  sie  zum  größten  Teil  sich  ernstlich 
um  ein  gründliches,  wissenschaftliches  Verständnis  mühen  und  gern,  soweit  es 
ihre  Zeit  erlaubt,  die  neueren  Resultate  der  Universitätswissenschaften  verfolgen 
und  sich  aneignen.  Darum  verdienen  sie  nicht  eine  so  wegwerfende  Beurteilung 
ihres  Wissens  und  Verstehens;  und  daß  die  Wahrheitsliebe  nach  dem  Wesen  der 
Wahrheit  sich  in  milderer  und  rücksichtsvollerer  Form  bewegen  mag  und  soll, 
darauf  weist  mit  schönen  Worten  W.  M  ü  n  c  h  in  seinem  letzten  Buch  „Zum 
deutschen  Kultur-  und  Bildungsleben''  S.  330  hin. 

Gern  würde  ich  noch  einige  Stellen  und  Partien  herausheben,  die  uns  den 
Wert  einzelner  Dichter  und  Schriftsteller  besonders  schön  charakterisieren  oder 
die  Bedeutung  der  griechischen  und  lateinischen  Literatur  und  Sprache  auch 
noch  für  unsere  Zeit  und  für  unsere  Kultur  trefflich  vor  Augen  führen,  aber  in 
der  „Aporie"  n'  TTpaiiov  xoi  eTreiia  ti  S'uoTaxiov  xaxaXe^oj;  beschränke  ich  mich 
auf  zwei  kurze  Stellen  über  P 1  a  t  o  ,  Wackernagel  S.  380:  „Vielleicht  darf  auch  die 
nüchterne  Sprachforschung  die  Frage  aufwerfen,  ob  nicht  Plato  ein  Höchstes 
menschlichen  Sprachkönnens  darstelle.  Wohlklang  und  Deutlichkeit,  begriff- 
liche Schärfe  und  poetische  Anmut  und  Erhabenheit  sind  bei  ihm  in  unbeschreib- 
licher Harmonie  vereinigt,"  und  Wilamowitz,  der  ihn  S.  124  ff.  so  schön  würdigt, 
S.  307:  „Bei  Piaton  kann  und  soll  jeder  auch  jene  Anschauung  von  dem  Ewig- 
Schönen  lernen,  das  ja  zugleich  das  Ewig-Gute  ist,  welche  in  ihrer  Ausartung 
den  Klassizismus  erzeugt  hat,  in  ihrer  Vollkraft  aber  das  Klassische." 

So  geht  das  Buch  von  neuem  hinaus  und  wird,  so  hoffen  wir,  sich  imtf^er  mehr 
Freunde  gewinnen  und  in  immer  weiteren  Kreisen  in  freudiger  Hingabe  an  das- 


E.  Schwartz,  Charakterköpfe  usw.,  angez.  von  P.  Wendland.  403 

selbe  eine  immer  gründlichere  Kenntnis  und  tieferes  Verständnis  für  die  latei- 
nische und  griechische  Literatur  und  Sprache  und  ihre  Bedeutung  vermitteln. 
Möge  auch,  den  Wunsch  füge  ich  zum  Schluß  noch  bei,  das  gesamte,  großartig 
angelegte  Werk  weiter  in  der  begonnenen  Weise  durch  schöne  und  wertvolle  Ar- 
beiten eine  Zierde  unserer  neueren  populär-wissenschaftlichen  Literatur  werden. 
Mancher  treffliche  Mitarbeiter  ist  leider  schon  dahingeschieden  —  ich  zähle  unter 
den  mehr  denn  300,  die  dafür  gewonnen  wurden,  etwa  15  — ;  möge  es  den  noch 
lebenden  vergönnt  sein,  ihre  Arbeit  daran  zu  glücklichem  Ende  zu  führen. 
Kassel.  Fr.  Heußner. 

Schwartz,  Ed.,  Charakterköpfe  aus  der  antiken  Literatur. 
2.  Reihe.   2.  Auflage.   Leipzig  1911.   Teubner.    142  S.   geh.  2,20  M.   geb.  2,80  M. 

Über  die  1.  Auflage  habe  ich  Monatschrift  No.  X,  S.  458  ff.  berichtet.  In 
dieser  rasch  nötig  gewordenen  2.  Auflage  sind  stärkere  Änderungen  und  Zusätze 
nur  in  dem  letzten  Vortrage  über  Paulus  vorgenommen  worden.  S.  124  wird  jetzt 
anerkannt,  daß  Paulus  vor  seiner  Bekehrung  in  Jerusalem  gewesen  ist*);  es  folgt 
ein  längerer  Zusatz  über  den  Aufenthalt  in  Damaskus.  Der  Aufenthalt  in  Arabien 
(Gal.  1,  17)  wird  jetzt  S.  127  mit  dem  Wunsche  erklärt,  sich  über  die  Offenbarung, 
klar  zu  werden  und  mit  seinem  Gott  allein  zu  sein.  S.  129  f.  finden  sich  neue  Be- 
merkungen über  den  Einfluß  der  hellenistisch-orientalischen  Mysterienreligionen, 
die  durch  Reitzensteins  Buch  veranlaßt  sind. 

Die  Voraussetzungen,  besonders  die  chronologischen,  die  seinem  Paulusbilde 
zugrunde  liegen,  hat  Schwartz  zum  Teil  an  anderen  Stellen  entwickelt.  Der 
Forscher,  der  den  gedankenvollen  Vortrag  ganz  verstehen  und  nutzen  will,  möge 
den  Aufsatz  über  die  Chronologie,  Gott.  Nachr.  1907,  S.  263  ff.,  aber  auch  Zeit- 
schrift für  neutest.  Wiss.  XI,  S.  100  ff.  und  die  Kritik  des  Deißm^nnschen  Paulus, 
Gott.  Anzeigen  1911,  S.  657  ff.,  hinzunehmen.  Schwartz  führt,  wie  wenige,  in 
den  Mittelpunkt  und  in  die  Tiefe  der  Probleme  hinein. 

Göttingen.  Paul  Wendland. 

Antike  Kultur,  Meisterwerke  des  Altertums  in  deutscher  Sprache,  herausgegeben 
von  den  Brüdern  Horneffer.     Leipzig,  KHnkhardt. 

Eine  neue  Folge  von  Bänden  liegt  vor: 

Band  XII — XX,  Herodots  Historien,  deutsch  von  August  Horneffer,  geh. 
je  0,90  M.,  zusammen  826  S. 

Band  XXI— XXVII,  die  Tragödien  des  Sophokles,  deutsch  von  Heinrich 
Schnabel,  geh.  je  0,75  M. 

Band  XXVIII,  Demosthenes'  Olynthische  Reden,  deutsch  von  August  Horneffer,. 
geh.  0,50  M. 

Die  Übersetzungen  reihen  sich  würdig  den  bisher  erschienenen  an  und  werden 
sicherlich  mit  dazu  beitragen,  auch  denen  die  Kultur  des  klassischen  Altertums, 
und  die  Schönheiten  seiner  Literatur  nahe  zu  bringen,  die  die  alte  Sprache  nicht 
verstehen.       Ich    vermisse    eine    größere    Übersichtlichkeit.. 


*)  S.   Schwartz,  Zeitschrift  für  neutest.  Wiss.  XI   103  f. 

26^ 


404  D.  Mülder,  Die   Ilias  und  ihre  Quellen, 

Gerade  bei  Herodot  ist  der  Inhalt  so  mannigfaltig,  daß  Kapitelangaben  und  Über- 
schriften über  den  einzelnen  Abschnitten  die  Leser  sehr  unterstützen  würden; 
aus  demselben  Grunde  wünsche  ich  bei  den  Tragödien  des  Sophokles  eine  äußere 
Hervorhebung  der  Teile  und  eine  Zählung  der  Verse. 

Mit  dem  kurzen  Vorwort  zu  Demosthenes'  Olynthischen  Reden  bin  ich  nicht 
leinverstanden.  August  Horneffer  sagt:  „Die  staatliche  Selbständigkeit  war  auf 
die  Dauer  doch  nicht  zu  behaupten;  sie  mußte  preisgegeben  werden,  um  Größeres, 
die  geistige  Kultur,  zu  erhalten.  Hellas  mußte  sich  die  politischen  Ideale  aus  dem 
Sinne  schlagen;  nur  so  konnte  es  die  große  Aufgabe  erfüllen,  die  ihm  in  der  Folge- 
zeit zufiel  und  an  deren  Erfüllung  die  Denkmäler  griechischen  Geistes  bis  zum 
heutigen  Tage  arbeiten,  die  Aufgabe  nämlich,  die  hellenische  Kultur  in  die  ganze 
Welt  zu  tragen  und  alle  Völker  mit  hellenischem  Geiste  zu  durchdringen  und  zu 
adeln  . . .  Wir  können  Demosthenes  den  Vorwurf  nicht  ersparen,  daß  er  die  Zeichen 
seiner  Zeit  nicht  verstanden  hat.**  Das  heißt  doch,  sein  Urteil  gar  zu  sehr  ex  eventu 
bilden. 

Düsseldorf.  Heinrich  Wolf. 

Mülder,  Dietrich,  Die  Ilias  und  ihre  Quellen.  Berlin  1910.  Weid- 
mannsche  Buchhandlung.     X  u.  372  S.    8«.     10  M. 

Nachdem  die  Versuche,  durch  genaue  Untersuchung  der  Sprache  und  der  Sagen 
oder  aus  vorgefaßten  Meinungen  der  allgemeinen  Poetik  etwas  Näheres  über  die 
Entstehung  der  Homerischen  Gedichte  zu  erfahren,  nur  zu  einer  fast  chaotisch 
widerspruchsvollen  Masse  von  unerweislichen  Vermutungen  in  der  „Homerischen 
Frage"  geführt  haben,  schlägt  Mülder  einen  neuen  Weg  ein,  indem  er  die  Ilias 
auf  das  eigentliche  dichterische  Schaffen  hin  untersucht.  Wie  in  der  Emilia  Ga- 
lotti  Lessing  Emilia  selbst  auf  die  Erzählung  von  der  Virginia,  die  ihm  das  Motiv 
liefert,  hinweisen  läßt,  wie  Goethe  den  Götz  seine  Lebensbeschreibung,  die  ihm 
als  Quelle  dient,  im  Drama  selbst  schreiben  läßt,  so  gibt  es  auch,  sagt  Mülder, 
bei  Homer  solche  „Quellenzitate**,  deren  Beachtung  uns  eine  Reihe  wichtiger 
Schlüsse  an  die  Hand  gibt. 

Die  ersten  Verse  der  Ilias  deuten  sehr  kräftig  auf  den  Zorn  des  Achill  und  den 
Ratschluß  des  Zeus  als  die  das  Ganze  beherrschende,  ,, stoffordnende*'  Idee.  Sie 
stammt  aber  aus  einem  Meleagerepos,  das  die  Belagerung  Kalydons  und  den  Zorn 
des  stärksten  Helden,  mehrere  Bittgesandtschaften  an  ihn  und  seine  schließliche 
Erweichung  behandelt  haben  muß.  Wenn  Phoenix  den  Achill  auf  das  Beispiel 
Meleagers  hinweist,  so  haben  wir  hier  eines  jener  Quellenzitate,  in  denen  der  Dichter 
Licht  auf  seine  Vorgänger  wirft.  Freilich,  Meleager  muß  in  der  eingeschlossenen 
Stadt  bei  den  belagerten  Seinen,  mit  denen  er  hadert,  bleiben,  während  man  bei 
Achill  seine  schleunige  Abfahrt  aus  dem  Kriegslager  erwarten  würde.  In  der  Tat 
droht  er  sehr  lebhaft  damit,  und,  daß  er  bleibt,  macht  nur  der  Ratschluß  des  Zeus 
verständlich,  auf  den  der  Leser  oder  Hörer  daher  bereits  im  Eingange  so  nach- 
drücklich hingewiesen  wird. 

Durch  das  Zornmotiv  werden  nun  zwei  Stoffgruppen,  die  innerlich  nichts 
miteinander  zu  tun  haben,  zusammengebracht,  die  Kriegstaten  des  Achill  und  seiner 
Achaeer  gegen  die   Küstenbewohner  Thraziens  und  Asiens,  und  die  Belagerung 


angez.  von  W.  Prellwitz.  405 

einer  Stadt,  wobei  aber  der  Hörer  mit  seiner  Teilnahme  mehr  auf  Seiten  der  Be- 
lagerten als  der  belagernden  Argiver  steht.  Die  Frauen  erflehen  die  Rettung  der 
Stadt  von  der  Stadtgöttin  Athene,  kein  Zweifel,  sagt  Mülder,  daß  wir  es  eigentlich 
mit  einer  griechischen  Stadt  zu  tun  haben.  Nur  durch  die  Machtvollkommenheit 
des  Dichters,  der  ganz  Griechenland  im  Kampf  gegen  Barbaren  Asiens  zeigen 
will,  wird  sie  nach  Asien  versetzt  und  von  Dardanern,  Troern,  Paeoniern,  Thra- 
kern und  Lykiern,  den  Gegnern  des  Achill,  die  dasselbe  Machtgebot  hier  vereint, 
verteidigt.  Eigentlich  aber  liegt  eine  Belagerung  Thebens  durch  die  Sieben  vor, 
statt  deren  hier  nur  eine  jüngere  Generation  mit  mancherlei  wunderlicher  Per- 
sonenverschmelzung auftritt.  Der  Glaube  der  späteren  Geschichtsschreibung 
an  die  Geschichtlichkeit  jenes  poetischen  Zuges  gegen  Ilios  ist  viel  naiver  als  die 
nur  angeblich  „naive  Volksdichtung"  der  Ilias  selbst. 

Dagegen  in  den  Kriegstaten  des  Achill  einen  sagenhaften  Niederschlag  der 
achaeischen  Eroberungszüge  gegen  die  Küsten  zu  finden,  an  denen  später  die 
durch  ihren  Dialekt  mit  Thessalien  als  engst  verwandt  erwiesenen  Aeoler 
sitzen,  das  erscheint  jetzt  um  so  berechtigter.  Der  Dichter  selbst  aber  konnte 
solch  einen  prosaischen  Grund  zum  Kriege  nicht  brauchen,  er  führt  daher  den 
Raub  der  Helena  ein,  nach  dem  Muster  der  Entführung  einer  Jungfrau  von  Sparta 
nach  Troezen  (wie  Mülder  meint),  und  der  Kampf  ihrer  Bewerber  wird  zum  Zwei- 
kampf des  Menelaos  und  des  Paris  umgestaltet.  Daß  Doppelnamen  wie  Alexandros- 
Paris,  Skamandros-Xanthos  sich  bei  dieser  Entstehung  der  Dichtung  leicht  ver- 
stehen lassen,  daß  man  jetzt  leicht  begreift,  warum  ein  Teil  der  Bewohner  von 
Ilios  griechische,  ein  anderer  dagegen  echte,  ungriechische  Namen  trägt,  empfiehlt 
diese  neue  Theorie.  Wir  machen  uns  also  auch  mit  der  Annahme  vertraut,  daß 
für  den  Fall  des  Patroklos  der  Tod  des  Achilleus  selbst  die  Vorlage  war,  und  daß 
im  23.  Buche  der  Held  gewissermaßen  seine  eigenen  Leichenspiele  leitet. 

Nicht  Heldenpreis  ist  die  Absicht  der  Dichtung,  sondern  starke  Wirkung 
fast  dramatisch  belebter  Szenen  auf  das  Gefühl  und  die  Einbildungskraft  der 
Hörer.  Wo  nun  bei  der  Vereinigung  so  verschiedener  Dichtungen  (wir  glauben 
jetzt  das  Wort  Rhapsode  erst  recht  zu  verstehen)  die  Phantasie  und  Kunst  des 
Dichters,  die  bei  der  Umformung,  Umbiegung,  Richtung,  Beleuchtung  und  Färbung 
der  übernommenen  und  oft  nicht  zusammenstimmenden  Dichtungselemente  eine 
ungeheure  Arbeit  zu  leisten  hat,  vor  einer  inneren  oder  äußerlichen  Unmöglichkeit 
steht,  da  tritt  der  Wille  einer  Gottheit  als  Hilfsmittel  auf.  Eigentlich  hätten  wir 
anderes  erwartet,  aber  ein  Gott  fügte  es  so,  heißt  es  dann.  Die  Vorlage  für  dies 
Göttertheater  bot  nach  Mülder  eine  Heraklesdichtung  mit  parodistischem  Tone. 
Ein  Quellenzitat  aus  ihr  (0  24 — 30)  berichtet,  wie  Zeus  und  Hera  um  Herakles 
streiten  und  Hera  den  Vater  der  Götter  und  Menschen  überlistet  (vgl.  A.  590 — ^594). 

Ohne  Zweifel  sind  wir  Mülder  für  seine  Kritik  großen  Dank  schuldig  und  auch 
der  Dichter  verliert  nichts,  wenn  wir  uns  vorstellen,  daß  seine  Phantasie  allein  diesen 
ersten  Kampf  aller  Griechen  gegen  Asien  veranstaltet,  um  uns  das  menschliche  Herz 
recht  kennen  zu  lehren  und  uns  selbst  seine  Regungen  auf  das  lebhafteste  emp- 
finden zu  lassen.  Tatsächlich  wird  uns  die  Persönlichkeit  und  ihr  Schaffen  jetzt 
erst  vorstellbar,  und  je  mehr  wir  uns  dieser  Art  der  Betrachtung  hingeben,  um  so 
fruchtbarer  dürfte  sie  werden. 


406  F.  Glauning,  Didaktik  und  Methodik  des  englischen  Unterrichts, 

Im  einzelnen  freilich  bedarf  die  anregende  Arbeit  gründlicher  Nachprüfung. 
Namentlich  die  Ansicht  über  den  verhältnismäßig  jungen  Zeitpunkt  der  Ent- 
stehung der  Ilias  —  Schluß  des  7.  Jahrhunderts,  die  ionische  Elegie  sei  älter  und  ent- 
lehne nicht  aus  Homer,  sondern  liefere  umgekehrt  ihm  Motive  —  erscheint  recht 
bedenklich.  Im  Gegensatz  gegen  die  früheren  romantischen  Anschauungen  von 
einem  vollkommenen,  uralten  Volksepos  will  sich  der  Verfasser  auf  den  Boden  rein 
sachlicher  Betrachtung  der  Technik  des  Dichters  stellen,  kein  Wunder,  daß  sie  uns 
manchmal  hausbacken  anmutet,  zuweilen  auch  spitzfindig.  Sicherlich  kann  z.  B. 
bei  Homer  Ijxt]  yjvuc  ebenso  gut  „eins  meiner  Schiffe"  wie  „mein  Schiff"  heißen 
(S.  316),  und  daß  iSpuvOvjoav  (H  56)  ein  „schillernder"  Ausdruck  sei,  nachdem 
schon  vorher  Helenos  xocöioov  gebraucht  hat,  kann  ich  nicht  zugeben  (S.  37). 
Bei  der  Besprechung  dieser  Stelle  scheint  mir  mancherlei  verkannt  zu  sein.  Etwa 
wie  bei  uns  auf  das  Signal  „Halt"  die  Infanterie  die  Gewehre  zusammensetzt  und 
jeder  Mann  sich  hinlegt  und  den  Kopf  auf  seinen  Tornister  lagert  —  so  hat  das 
„Halt"  der  Führer  bei  der  Schwere  und  Unhandlichkeit  des  mykenischen  Schildes 
sogleich  zur  Folge,  daß  alles  seinen  Hals  dieser  drückenden  Bürde  entledigt  und 
sich  setzt,  vielleicht  eben  auf  den  Schild. 

Den  Kommentar  zur  Ilias,  den  uns  der  Verfasser  verheißt,  erwarten  wir  jeden- 
falls mit  großer  Spannung.  Er  wird  hoffentlich  aber  auch  das  Sachliche  und  Sprach- 
liche zu  seinem  Rechte  kommen  lassen. 

Rastenburg  i.  Ostpr.  W.   P  r  e  1 1  w  i  t  z. 

Glauning,  Friedrich,  Didaktik  und  Methodik  des  englischen 
Unterrichts.  Band  III,  zweite  Abteilung,  zweite  Hälfte  des  Handbuchs 
der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre,  herausgegeben  von  A.  Baumeister.  3.  Auf- 
lage. München  1910.  C.  H.  Beck.  116  S.  3  M.  geb.  4  M. 
Auch  in  der  nunmehr  vorliegenden  3.  Auflage  ist  Glaunings  englische  Didaktik 
ein  Buch,  das  gut  und  nützlich  zu  lesen,  aber  doch  anderen  Schriften  ähnlicher  Rich- 
tung nicht  gleich  zu  achten  ist.  Vor  allem  hält  es  einem  Vergleich  mit  Münchs  franzö- 
sischer Didaktik  nicht  mehr  stand,  seit  dieser  in  der  3.  Auflage  wiederum  eine  Fülle 
neuer  Anregungen  dargeboten  und  die  neuesten  Strömungen  auf  dem  Gebiete 
des  neusprachlichen  Unterrichts  verfolgt  hat.  Wer  Münchs  Didaktik  kennt, 
vermißt  bei  Glauning  sehr  viel,  und  wer  sie  nicht  kennt,  lernt  bei  Glauning  nicht 
genug.  Und  doch  ist  dieser  Mangel  ein  Vorzug,  solange  man  das  Buch  in  der  Haupt- 
sache nur  als  eine  erste  Einführung  in  die  Methode  des  neusprachlichen  Unterrichts 
betrachten  will,  in  welchem  der  Anfänger  im  Lehramt  die  Aufgaben,  die  ihm  bei 
der  Übernahme  des  englischen  Unterrichts  gestellt  werden  und  die  überhaupt 
jeder  neusprachliche  Unterricht  jetzt  zu  erfüllen  hat,  kennen  lernen  und  über- 
schauen soll;  weswegen  man  auch  in  der  neusprachlichen  Abteilung  der  pädago- 
gischen Seminare  öfter  mit  Glauning  als  mit  Münch  beginnen  sollte.  Denn  in  vielen 
Punkten  mutet  das  Buch  geradezu  wie  eine  allgemeine  Didaktik  an,  die  ihre  Bei- 
spiele zur  Erhärtung  der  gewonnenen  Grundsätze  vorwiegend  dem  englischen  Unter- 
richt entnimmt*)   und  niemals  die  höheren  Ziele  der  Schule  aus  dem  Auge  läßt 


*)  Dafür  nur  ein  Beispiel  von  den  vielen,  die  in  allen  Kapiteln  reichlich  zu  finden 
sind:  Formale  Bildung:  „Die  Schule  hat  nicht  nur  zu  lehren,  sondern  auch  lehrend 


angez.  von  A.  Rohs.  407 

und  alle  zu  ihnen  führenden  Wege  zu  würdigen  weiß.  Mag  nun  ein  solches  Verfahren 
für  den  Anfänger  außerordentlich  anregend  und  lehrreich  sein,  so  wollen  doch  die 
einzelnen  Teile  des  Baumeisterschen  Handbuchs  mehr  bieten  als  bloße  Einfüh- 
rungen in  die  verschiedenen  Disziplinen.  Darum  hatte  man  —  zumal  unter  dem 
starken  Eindruck  des  München  Buches  —  jetzt  (nach  sieben  Jahren)  doch  mehr 
als  eine  bloße  Durchsicht  der  zweiten  Auflage  erwartet,  um  so  mehr,  als  beideSchriften 
ganz  unabhängig  voneinander  entstanden  sind  und  also  auch  jede  für  sich  beurteilt 
werden  darf.  Eigentlich  neu  sind  aber  nur:  einige  Gedanken  über  den  kleinen 
Raum,  den  das  Sprechen  einer  fremden  Sprache  im  Klassenunterricht  gegenüber 
den  vielen  anderen  Betätigungen  und  Fächern  einnehmen  kann;  ein  Aufruf  zur 
Einigung  zwischen  den  großen  Verlagsfirmen  und  den  neuphilologischen  Vereinen 
zwecks  einheitlicher  Regelung  der  Aussprachebezeichnung;  eine  Warnung  vor  allzu 
weitgehender  Berücksichtigung  der  Realien  und  vor  der  Vernachlässigung  der 
Übersetzung  in  das  Deutsche,  wenn  es  gilt,  den  Tiefgang  des  Unterrichts  zu  wahren; 
die  These  Steinmüllers  (1908)  über  die  Beschränkung  des  Hinübersetzens  und  eine 
Bemerkung  Koschwitzs  zugunsten  desselben;  eine  etwas  ausführlichere  Verteidigung 
der  Sprechübungen  als  Mittel  zur  Sprachaneignung  und  geistigen  Schulung,  unter 
Anlehnung  an  Sallwürk  und  Walther  (wobei  doch  auch  Münchs  Aufsatz  vom 
Sprechen  fremder  Sprachen  hätte  berücksichtigt  werden  können);  eine  Recht- 
fertigung der  beibehaltenen  äußeren  Anordnung  des  Stoffes  gegenüber  einem 
Wunsche  Borbeins  (Neuere  Sprachen  VII,  Heft  7,  424 ff.);  eine  Ergänzung  des 
bibliographischen  Anhanges.  Das  Buch  ist  dadurch  von  110  auf  116  Seiten  ange- 
wachsen. Von  dem  aber,  was  wir  in  der  neuen  Auflage  vermissen,  mögen  wenigstens 
einige  Punkte  hier  angeführt  werden:  In  dem  Kapitel  über  Aussprachebezeichnung 
mußte  zu  der  Transkription  des  neuen  Thieme-Kellnerschen  Wörterbuches,  die 
geeignet  ist,  neue  Verwirrung  anzustiften,  sowie  zu  derjenigen  der  weitverbreiteten 
Lehrbücher  von  Dubislav-Boek  und  Hausknecht  Stellung  genommen  werden,  und 
zwei  böse  Fehler  {work  bei  Sweet  weekW  und  bei  Schröer  w^rkll)  waren  zu  besei- 
tigen. In  dem  Kapitel  „Auswahl  der  Lektüre  mit  Rücksicht  auf  den  Inhalt"  fehlen 
Hinweise  auf  bedeutsame  Neuausgaben,  z.  B.  die  Ruskin-,  Carlyle-  und  Rooseveldt- 
Bändchen  und  —  besonders  befremdlich  —  eine  Stellungnahme  zu  den  Ruskaschen 
Bestrebungen,  in  den  Oberklassen  der  Realanstalten  philosophische  Lektüre  zum 
festen  Bestandteil  des  Lektürekanons  zu  machen.  Neben  der  von  Landmann 
bearbeiteten  Nummer  der  Times  mußte  unbedingt  jetzt  Hamiltons  Newspaper 
Reader  genannt  werden.  Auch  die  Wirkung  einer  Vertauschung  der  neusprachlichen 
Fächer  auf  der  Oberstufe  des  Gymnasiums  (und  die  neuen  Verfügungen  über  den 
englischen  Unterricht  in  Preußen)  wären  der  Erörterung  wert  gewesen.  Vor  allem 
aber  befremdet  uns  die  sehr  eilige  Erledigung  der  wichtigen  Lesebuchfrage.    Die 

zu  erziehen.  Sie  hat  die  doppelte  Aufgabe,  den  Geist  und  das  Gemüt  zu  bilden.  Zur 
Lösung  derselben  können  und  sollen  alle  Lehrgegenstände  beitragen,  so  verschieden 
auch  die  Gebiete  sein  mögen,  auf  denen  sie  sich  bewegen.  Der  Bildung  des  Geistes 
und  Gemütes  hat  daher  auch  der  Unterricht  in  der  englischen  Sprache  zu  dienen". 
Es  folgt  eine  Seite  (4)  Text  über  sprachlich-logische  Schulung,  in  der  Hauptsache  im 
Anschluß  an  Bemerkungen  der  Lehrpläne,  bis  dann  endlich  S.  5  die  Frage  aufgeworfen 
wird,  „ob  nicht  auch  der  englische  Unterricht  eine  grammatische  Schulung  gewähren 
kann." 


408  H.  Adolph,  Erinnerungen   usw.,  angez.  von  A.  Heußner. 

Entwicklung  der  Anschauungen  scheint  doch  immer  mehr  gegen  ein  Lesebuch 
mit  vorwiegend  sachlichem  Inhalt  (das  Realienbuch)  zu  sprechen,  vielmehr  die 
literarischen  Zwecke  als  die  höchsten  anzuerkennnen.  Jedenfalls  darf  die  Beschäfti- 
gung mit  den  Realien  nicht  ,, gedächtnismäßig  rezeptiv"  werden,  sie  darf  nicht 
die  Einführung  in  das  Denken,  Fühlen  und  Wollen  des  fremden  Volkes  zurück- 
drängen, noch  der  Betrachtung  der  literarischen  Entwicklung  Luft  und  Licht  nehmen. 
Hausknecht  betont  ausdrücklich  in  der  Vorrede  zu  seinen  1911  erschienenen  Xhoice 
Passages\  daß  das  Lesebuch  neben  der  sogenannten  Schriftstellerlektüre  auch  die 
Bruchstücke  in  den  Rahmen  des  literar-historischen  Zusammenhangs  einstellen 
müsse,  daß  es  zu  einer  Höherlegung  des  Bildungsniveaus  beitragen  und  an  ästhe- 
tische Betrachtungen  gewöhnen,  daß  es  zu  einem  Einblick  in  die  verschieden- 
artigen, die  englisch-amerikanische  Kulturwelt  bewegenden  Fragen  und  zu  Ver- 
gleichen zwischen  dem  Fremden  und  Heimatlichen  anleiten  soll.  Kann  man  aber 
im  Ernst  wünschen,  daß  ein  Lesebuch  mit  rein  sachlichem  Inhalt,  Gegenständen 
der  Wissenschaft  und  Technik,  nun  auch  noch  einen  poetischen  Teil,  eine  Gedicht- 
sammlung enthalten  soll?  Der  Verfasser  hätte  dankbare  Leser  gefunden,  wenn 
er  bei  dieser  Gelegenheit  auf  Foersters  Neubearbeitung  des  alten  „Herrig",  auf 
Sängers  *Humanists\  auf  Aronsteins  'Selections'  —  um  nur  diese  zu  nennen  — 
eingegangen  wäre  und  sich  dann  auch  über  die  Frage  der  literarhistorischen  Orien- 
tierung und  Unterweisung  geäußert  hätte.  Er  hätte  überhaupt  nicht  an  den  Arbeiten 
Hausknechts,  Thiergens,  Borbeins,  Buddes  vorbeigehen  dürfen;  denn  diese  haben 
in  den  letzten  Jahren  zur  Hebung  und  Vertiefung  auch  des  englischen  Unterrichts 
wertvolle  Beiträge  geliefert.  Und  schon  werden  wir  neuerdings  vor  di«  inhalts- 
schwere Frage  gestellt,  ob  wir  nicht  in  Zukunft  der  englischen  Sprache,  Kultur 
und  Geisteswelt  den  Vorrang  vor  dem  Französischen  werden  einräumen  müssen, 
wenn  wir  gerade  durch  das  Englische  eine  im  tiefsten  Sinne  ,, humanistische" 
Bildung"  erreichen  wollen  5  weswegen  ein  Ausblick  nach  dieser  Richtung  hin  er- 
wünscht gewesen  wäre.  Jedenfalls  hätten  wir  alle  in  dieser  Frage  gern  die  ruhig 
abwägende  und  darum  gewichtige  Meinung  des  Verfassers  der  englischen  Didaktik 
vernommen.  Denn  trotz  der  Ausstellungen  an  seinem  Buche,  die  nur  als  der  Aus- 
druck einer  gewissen  Enttäuschung  oder  eines  leichten  Unmuts  darüber,  daß  es 
inhaltlich  nicht  weiter  geführt  worden  ist,  verstanden  sein  möchten,  schätzen 
wir  alle  die  gediegene  und  praktisch  angelegte  Arbeit,  in  der  in  allen  schweben- 
den Grundfragen  des  englischen  (und  neusprachlichen)  Unterrichts  die  richtige 
Mittellinie  gefunden  ist,  als  ein  Glaubensbekenntnis  der  gemäßigten  Reform  hoch 
ein  und  holen  wir  uns  immer  wieder  gern  seinen  guten  Rat.  Wer  sich  im  übrigen 
noch  über  den  —  wie  gesagt  —  unveränderten  Standpunkt  des  Buches  unterrichten 
lassen  möchte,  darf  wohl  auf  die  Anzeige  F.  Tenderings  auf  Seite  210  des 
vierten  Jahrgangs  dieser  Monatschrift  und  auf  Borbeins  sehr  gründliche  Besprechung 
der  2.  Auflage  a.  a.  0.  verwiesen  werden. 

Crefeld.  A  1  f  r  e  d  R  0  h  s. 

Adolph,     Heinrich,     Erinnerungen     eines     niedersächsischen 
Geistlichen.       Bielefeld    und   Leipzig   1907.      Velhagen    und    Klasing. 
VIII  u.  296  S.    3  M.,  geb.  4  M. 
Anspruchslose,  aber  ansprechende  Plaudereien  aus  dem  Vaterhause  des  Ver- 


H.  Bluth,  Wandervögel,  angez.  von  M.  Heckhofi.  409 

fassers  in  Nordstemmen  und  Heiligenfelde,  vom  Gymnasium  in  Hildesheim,  der 
Universität  in  Göttingen,  der  Kandidatenzeit  in  Loccum,  vom  eignen  Heim  und 
den  Kriegslazaretten  im  letzten  großen  Kampf.  Die  gesunde  Lebensauffassung, 
die  warme  Begeisterung  für  die  Schule,  ihre  Studien  und  seine  Lehrer,  sowie  die 
trefflichen  Winke  über  die  sittliche  Reinhaltung  der  Jünglingszeit  haben  dem 
Buche  in  der  Provinz  Hannover  und  den  angrenzenden  Nachbarländern  überall 
einen  Platz  in  den  Schülerbibliotheken  gewonnen.  Es  verdient  jedoch  über  die 
engere  Heimat  hinaus  Beachtung.  Das  eigentliche  Lokalkolorit  tritt  ganz  zurück. 
Was  hier  zur  Sprache  kommt,  bewegt  ein  Knabenherz  am  Rhein  wie  in  Ostpreußen 
ebenso  wie  in  der  Lüneburger  Heide.  Die  Erfahrung  hat  gezeigt,  daß  der  frische  Ton 
der  oft  humoristisch  gefärbten  und  von  mancher  liebenswürdigen  Anekdote  durch- 
zogenen Darstellung  das  Interesse  unserer  heranwachsenden  Jugend  zu  wecken 
und  zu  fesseln  versteht. 

Cassel.  Alfred  Heußner. 


Bluth,  H.,  Wandervögel.  Bilder  und  Gedanken  aus  Amerika  und  China. 
Beriin  1910.  Wilhelm  Weicher.  167  S.  mit  6  Abb.  8».  geh.  2  M.,  vornehm  geb. 
2,80  M. 

Der  Verfasser  hat  mehrere  Jahre  seines  Lebens  als  Erzieher  in  Florida,  „dem 
Lande  der  Blumen  und  Früchte'*,  zugebracht  und  später  als  evangelischer  Feld- 
geistlicher an  dem  Kriegszug  in  China  teilgenommen.  In  diesen  Wanderjahren  hat 
er  gut  beobachtet  und  seine  Eindrücke  in  anspruchslosen,  aber  flott  und  nicht  ohne 
Humor  gezeichneten  Bildern  niedergelegt.  Vielleicht  wird  ein  oder  der  andere 
Abschnitt  weniger  interessieren,  dafür  sind  die  anderen  von  um  so  größerem  Reiz. 
Mir  hat  der  letzte  Abschnitt :  „Aus  buddhistischen  Klöstern"  mit  seiner  lebensvollen 
Schilderung  des  Buddhismus  besonders  gefallen.  —  Reifere  Schüler  wird  das  Büch- 
lein unterhalten  und  belehren. 

Göttingen.  M.  Heckhoff. 

Neuendorff,  R.,  PraktischeMathematik.  I.  Teil.  Graphisches  und  nume- 
risches Rechnen.  Leipzig  1911.  B.  G.  Teubner.  (Aus  Natur  und  Geisteswelt. 
341.  Bd.)    VI  u.  105  S.    Mit  69  Fig.  u.  1  Taf.     geb.  1,25  M. 

Das  handliche  Bändchen  hat  sich  die  dankbare  Aufgabe  gestellt, 
dem  Laien  eine  Vorstellung  davon  zu  geben,  welche  Bedeutung  die  als  abstrakt 
und  weltfremd  vielfach  mißachtete  Mathematik  für  das  praktische  Leben  besitzt. 
Insofern  kommt  es  auch  den  Meraner  Reformvorschlägen  für  den  mathematischen 
Unterricht  entgegen,  als  auch  diese  ja  unter  Verzicht  auf  praktisch  wertlose  Spezial- 
kenntnisse die  Fähigkeit  für  die  mathematische  Auffassung  in  den  menschlichen 
Lebensverhältnissen  wecken  und  kräftigen  wollen.  Dem  Unterricht  wird  es  daher 
wertvolle  Fingerzeige  geben  können.  Wenn  es  auch  für  den  Lehrer  nicht  ausreicht, 
so  wird  es  doch  in  der  Hand  des  Schülers  anregend  wirken  und  kann  daher  für 
Schülerbibliotheken  bestens  empfohlen  werden.  Das  erste  Bändchen  erläutert 
die  Methoden  der  graphischen  Darstellungen,  einschließlich  der  Rechentafeln, 
behandelt  die  Flächenmessungen  bis  zur  Trapezregel  und  Simpsonschen  Regel, 


410  P.  Treutlein,  Der  geometrische  Anschauungsunterricht  usw., 

die  Anwendungen  der  verschiedenen  Planimeter,  sowie  die  Körpermessung. 
Aus  der  Arithmetik  entnommen  sind  die  Abschnitte  über  das  verkürzte  Rechnen, 
das  Rechnen  mit  Tabellen  und  die  mechanischen  Rechenhilfsmittel,  wie  wir  sie 
in  den  graphischen  Logarithmentafeln,  den  Rechenschiebern  und  den  Rechen- 
maschinen kennen. 

Treutlein,  P.,  Der  geometrische  Anschauungsunterricht  als 
Unterstufe  eines  zweistufigen  geometrischen  Unterrichtes  an  unseren  höheren 
Schulen.  Mit  einem  Einführungswort  von  F.  Klein  und  mit  38  Tafeln  und  87  Ab- 
bildungen im  Text.  Leipzig  und  Berlin  1911.  B.  G.  Teubner.  X  u.  216  S.  8«. 
geh.  5  M.,  geb.  5,60  M. 

Ein  Hauptverdienst  der  in  hohem  Maße  beachtenswerten  Arbeit  unseres 
Altmeisters  im  mathematischen  Unterricht  ist  meines  Erachtens  darin  zu  erblicken, 
daß  sie  herz-  und  kernhaft  die  beiden  Schäden  bloßlegt,  die  dem  geometrischen 
Unterricht  an  den  höheren  Schulen  immer  noch  anhaften:  das  starre  Beibehalten 
der  Euklidischen  Stoffanordnung,  die  ohne  Rücksichtnahme  auf  die  geistigen 
Bedürfnisse  der  Schüler  und  auf  die  praktischen  Anforderungen  des  Lebens  den 
logisch-systematischen  Faden  sieben  Jahre  lang  ohne  Unterbrechung  weiterspinnt, 
und  ferner  die  unverantwortliche  Zurückstellung  der  Raumgeometrie  hinter  die 
völlig  erledigte  ebene  Geometrie,  wodurch  es  kommt,  daß  unsere  Schüler  bis 
zur  Prima  gelangen  oder  gar  nach  Abschluß  der  Sekunda  ins  Leben  treten  ohne  auch 
nur  die  einfachsten  Körper  und  die  Berechnung  ihrer  Oberflächen  und  Inhalte 
kennen  gelernt  zu  haben.  Diesen  unverkennbaren  Mißständen  sucht  Treutlein  da- 
durch abzuhelfen,  daß  er  den  Geometrieunterricht  in  eine  Unterstufe  und  eine 
Oberstufe  trennt.  Die  Unterstufe,  für  die  er  im  Gegensatz  zu  anderen  Verfechtern 
einer  propädeutischen  Geometrie  einen  längeren  Kursus,  etwa  214 — 3  Jahre  be- 
ansprucht, soll  ein  ,, geometrischer  Anschauungsunterricht"  sein,  der  sich  an  die 
Betrachtung  und  Beobachtung  von  einfachen  Körpern  (Würfel,  Quader,  Zylinder, 
Kugel,  Pyramide,  Kegel)  anlehnt,  daraus  die  verschiedenen  geometrischen  Gebilde 
ableitet,  umformt  oder  neu  gestaltet.  Bei  dem  reichlichen  Zeitausmaß  kann  Treut- 
lein gerade  so  wie  Holzmüller  in  seiner  „Vorbereitenden  Einführung  in  die  Raum- 
lehre" recht  weit  in  die  Geometrie  eindringen,  nicht  nur  ebene  und  körperiiche 
Gebilde  beschreiben,  sondern  auch  Rauminhalte  der  Körperformen,  Flächeninhalte 
der  ebenen  Figuren  bestimmen,  Figuren  ineinander  verwandeln,  den  pytha- 
goreischen Lehrsatz  aus  dem  Satze  von  den  Ergänzungsparallelogrammen  ab- 
leiten und  die  gewonnenen  Sätze  in  praktischen  Aufgaben  vielfach  anwenden. 
Ganz  meisterhaft  versteht  es  der  Verfasser,  und  darin  kann  er  uns  unbedingt  ein 
nachahmenswertes  Vorbild  sein,  die  innere  Raumvorstellung  und  Anschauung 
zu  pflegen  durch  Vorführung  stofflicher  Dinge,  die  von  dem  Schüler  in  die  Hand 
genommen,  betastet  werden,  und  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  in  Größe  und  Stoff 
die  Form  als  die  Hauptsache  hervortreten  lassen.  Ebenso  trefflich  versteht  er 
es,  die  Figuren  durch  Zeichnen,  Falten  und  Ausschneiden  nachbilden  zu  lassen, 
sie  zusammenzulegen,  zu  zerlegen  und  umzuformen  und  schließlich  die  Größen- 
verhältnisse schätzen  und  messen  zu  lassen.  Ganz  von  selbst  schieben  sich  in  ein 
solch   anschauendes    Betrachten   und    Nachbilden   der  geometrischen    Gestalten 


angez.  von  J.  Norrenberg.  411 

Fragen  nach  dem  „Warum**  gewisser  Erscheinungen  und  Gesetze  ein,  und  so  führt 
der  Anschauungsunterricht  ganz  allmählich  auch  zum  beweisenden  Begründen 
des  Erkannten  hin  und  verschafft  langsam  und  unmerklich  eine  Vorstellung  von  der 
Notwendigkeit  und  Nützlichkeit  der  mathematischen  Deduktion,  ein  Ziel,  das  ja 
auch  Börner  in  seinem  „Lehrbuche  zur  Einführung  in  die  Geometrie"  vorschwebte. 
Erst  dem  Oberkursus  behält  Treutlein  die  Aufgabe  vor,  das  Lehrgebäude  der 
elementaren  Geometrie  als  logisch-systematischen  Aufbau  einer  deduktiven  Wissen- 
schaft aufzurichten.  Doch  soll  auch  hier  die  Betrachtung  körperlicher  Gebilde 
stets  in  die  Entwicklung  eingeflochten,  also  die  auch  von  Brettschneider  und  anderen 
empfohlene  Fusion  von  ebener  und  räumlicher  Geometrie  beibehalten  werden, 
wenigstens  insoweit,  als  Auge  und  Sinn  des  Schülers  bei  planimetrischen  Unter- 
suchungen immer  wieder  auf  die  Raumgestalten  hingelenkt  werden  sollen. 

Den  Einzelausführungen  des  Unterrichtsganges  seines  geometrischen  An- 
schauungsunterrichts, wie  ihn  der  Verfasser  selbst  wiederholt  durchgeführt  hat, 
ist  eine  ausführliche  geschichtliche  und  sachliche  Begründung  vorangeschickt. 
Für  die  Notwendigkeit  eines  ausgedehnteren  propädeutischen  Kursus  scheint  ja 
vor  allem  zu  sprechen,  daß  ein  erfolgreicher  Unterricht  nur  auf  sinnlichen  Vor- 
stellungen aufbauen  kann,  daß  dem  streng  logischen  Aufbau  eine  durch  die  Sinne 
vermittelte  reichliche  Wahrnehmung  von  Außenweltdingen  und  ihrer  Veränderungen 
vorausgehen  muß,  und  in  dieser  starken  Betonung  der  Ausbildung  und  Stärkung 
des  räumlichen  Anschauungsvermögens  begegnet  sich  Treutlein  mit  den  Meraner 
Vorschlägen,  gegen  deren  Art  der  Einführung  in  die  Geometrie  er  im  übrigen  eine 
Reihe  von  Einwendungen  erhebt.  Namentlich  vermißt  er  in  den  Meraner  Plänen 
die  Betonung  der  Selbstbetätigung  der  Schüler  durch  Ausschneiden  und  Modellieren 
der  Figuren.  Denn  gerade  auch  in  der  Weckung  des  Selbstvertrauens  und  des  Selbst- 
bewußtseins bei  einer  nach  und  nach  sich  entwickelnden  Selbständigkeit,  wie  sie  neben 
der  Sprechfertigkeit  auch  die  Handfertigkeit  mit  sich  bringt,  sieht  er  die  Bedeutung 
des  Anschauungsunterrichts,  den  auch  schon  die  Rücksicht  auf  das  praktisch- 
tätige Leben  und  auf  die  Verwendbarkeit  geometrischen  Wissens  und  Könnens 
außerhalb  der  Schule  und  nach  Abschluß  der  Schulzeit  mit  zwingender  Notwendig- 
keit fordert. 

Der  überzeugenden  Macht  der  von  Treutlein  beigebrachten  Gründe  wird  sich 
niemand  entziehen  können.  Nur  scheinen  sie  mir  wohl  für  die  neuerdings  immer 
dringender  werdende  Forderung  einer  Fusion  ebener  und  körperlicher  Geometrie 
wie  auch  für  eine  bessere  Pflege  der  Raumanschauung  und  für  ein  auf  Schätzen, 
Messen  und  Nachbilden  sich  gründendes  genetisches  Unterrichtsverfahren  zu 
sprechen,  keineswegs  aber  für  eine  Zweistufigkeit  des  geometrischen  Unterrichts 
und  für  die  Einführung  eines  mehrjährigen  propädeutischen  Einführungskursus 
irgendwie  bindend  zu  sein.  Alle  die  von  dem  Verfasser  angestellten  Erwägungen  weisen 
viel  mehr  darauf  hin,  auf  a  1 1  e  n  Klassenstufen,  im  Anfangsunterricht,  aber  auch 
nicht  minder  auf  vorgeschritteneren  Stufen  alle  mathematische  Erkenntnis  von  der 
Anschauung  ausgehen  zu  lassen,  die  anschaulich  und  später  mehr  und  mehr  auch 
logisch  erfaßten  Wahrheiten  durch  messende  Bearbeitung  zum  vollen  geistigen 
Eigentum  werden  zu  lassen  und  ihre  Bedeutung  für  die  Wirklichkeit  zum  Bewußtsein 
zu  bringen.     Gerade  bei  dem  Lehrstoffe,  der  nach  Treutlein  der  Oberstufe  vor- 


412  Der  Mensch  aller  Zeiten,  angez.  von  J.  Norrenberg. 

behalten  bleiben  soll,  ich  erinnere  an  die  Proportionalität  an  Strahlen,  ist  es  be- 
sonders wichtig,  die  Erkenntnis  der  geometrischen  Wahrheiten  anschaulich  vor- 
zubereiten, die  Gesetzmäßigkeiten  durch  Zeichnen,  Messen  und  Schätzen  zu  er- 
fassen, sie  dann  erst  deduktiv  zu  ermitteln,  nicht  nur  in  der  Ebene,  sondern  auch 
im  Räume  ihren  Geltungsbereich  zu  erweisen  und  ihre  praktische  Verwendbarkeit 
und  ihre  sich  überall  aufdrängende  Bedeutung  für  das  Leben  aufzuzeigen.  Und 
hauptsächlich  auf  der  Oberstufe  läßt  man  meiner  Beobachtung  nach  es  allzu  leicht 
gerade  hieran  fehlen,  beschränkt  sich  auf  begriffliche  Entwicklung  und  bleibt  da 
stehen,  wo  der  verarbeitende  Unterricht  erst  anfangen  sollte.  Die  Befürchtung 
liegt  nahe,  daß  durch  eine  Zweistufigkeit,  eine  Gegenüberstellung  von  „Anschauungs- 
unterricht" und  deduktivem  Aufbau,  dieses  Übel  noch  gesteigert,  und  daß  die 
anschauliche  Unterrichtsweise  wie  auch  die  Pflege  der  Raumanschauung  auf  der 
Oberstufe  noch  mehr  zurückgedrängt  wird. 

In  Preußen  haben  wir  bereits  einen  Anschauungsunterricht,  wenn  auch  wegen 
seiner  kürzeren  Dauer  nicht  im  Sinne  des  Verfassers.  Aber  auch  bei  uns  soll  der 
geometrische  Unterricht  mit  einem  Vorbereitungsunterricht  beginnen,  der  von  der 
Betrachtung  einzelner  Körper  ausgehend,  das  Anschauungsvermögen  bildet  und 
zugleich  Gelegenheit  gibt,  die  Schüler  im  Gebrauch  von  Zirkel  und  Lineal  zu  üben. 
Beschränkt  man  sich  in  Quarta  auf  die  Lehre  vom  Dreieck  unter  Zurückschiebung 
der  Parallelensätze  nach  Untertertia,  so  scheint  mir  für  eine  Anschauungsgeometrie 
nach  Art  derjenigenTreutleins  auch  ohne  Zweistufigkeit  des  Lehrganges  ausreichend 
Zeit  vorhanden  zu  sein.  Auf  Verzierungsübungen,  so  wie  sie  der  Verfasser  vorschlägt^ 
wird  man  allerdings  verzichten  müssen. 

Aber  welche  Stellung  man  auch  in  der  Frage  des  propädeutischen  Unterrichts 
einnehmen  mag,  und  die  Ansichten  gehen  ja  bekanntlich  hier  weit  auseinander^ 
man  wird  dem  Verfasser  für  seine  vortreffliche  Methodik  des  Anfangsunterrichts 
auf  alle  Fälle  dankbar  sein  müssen  und  nur  wünschen  können,  daß  seine  Ratschläge 
überall  Gehör  finden  und  den  Unterricht  auf  allen  Stufen  nachhaltig  beein- 
flussen. 

Der  Mensch  aller  Zeiten  von  H.  Ober  maier,  F.  Birkner,  PP.  W. 
Schmidt,  F.  Hester  mann,  Th.  Stratmann  S.V.D.  3  Bände,  gr.  8^ 
Berlin,  Allgemeine  Verlags- Gesellschaft.  40  Lieferungen  ä  1  M. 
Die  Verlagshandlung  ist  eifrig  bemüht,  auf  den  Hauptwissensgebieten  große 
volkstümliche  Werke  zu  schaffen,  die  in  großzügiger  Darstellung  einen  tieferen, 
dem  jeweiligen  Stande  der  wissenschaftlichen  Forschung  entsprechenden  Einblick 
gestatten,  nach  Form  und  Inhalt  auch  wohl  so  gehalten  sind,  daß  sie  der  Jugend 
unbedenklich  in  die  Hand  gegeben  werden  können.  Widmanns  Illustrierter  Welt-^ 
geschichte,  Plaßmanns  Himmel  und  Erde,  die  beide  bereits  vollständig  vorliegen. 
Salzers  Deutscher  Literaturgeschichte  und  Neuwirths  Illustrierter  Kunstgeschichte, 
die  noch  im  Erscheinen  begriffen  sind,  fügt  sie  nun  ein  neues  umfassendes  Werk 
hinzu,  das  die  Natur  und  Kultur  der  Völker  aller  Zeiten  und  Erdteile  zur  Darstellung 
in  Wort  und  Bild  bringen  soll.  Von  dem  ersten  Bande,  der  den  Menschen  der  Vorzeit 
behandelt,  liegen  eine  Anzahl  Lieferungen  vor,  die  den  Verfasser,  den  Professor 
am  Institut  für  menschliche  Urgeschichte  in  Paris  H.  Obermeier  als  vorurteilslosen 


R.  Arendt,  Technik  der  anorganischen  Experimentalchemie,  angez.  von  W.  Bresiich.   413 

und  fesselnden  Darsteller  paläontologischer  Fragen  erkennen  lassen.  Das  unab- 
hängige und  zuverlässige  Urteil  des  Verfassers  tritt  schon  in  der  allgemeinen  Ein- 
leitung hervor,  in  der  er  die  aus  Wahrheit  und  Dichtung,  aus  richtiger  Ahnung 
und  naivem  Irrtum  gemischten  Kosmologien  des  Altertums,  vom  erwachenden 
wissenschaftlichen  Geiste  getragenen  Vorstellungen  des  Mittelalters  und  der  Renais- 
sance, die  aber  unter  dem  unmittelbaren  Einfluß  des  biblischen  Schöpfungs- 
berichtes stehend  Pflanzen,  Tiere  und  Steine  vorab  nur  als  literarische  Objekte 
betrachten,  schildert  und  dann  auch  über  die  immer  sicherer  sich  ausbauenden 
Vorstellungen  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  von  der  menschlichen  Urgeschichte 
einen  kurzen  Überblick  entwirft.  Da  das  erste  Auftreten  des  Menschen  nach  Ansicht 
des  Verfassers  nicht  im  Tertiär,  sondern  erst  in  der  Eiszeit  nachweisbar  ist,  so  lag 
es  ganz  im  Plane  des  Werkes  von  dieser  geologischen  Periode  eine  eingehende 
Vorstellung  zu  geben.  Auch  hier,  auf  seinem  eigentlichen  Forschungsgebiete, 
erfreut  der  Verfasser  wieder  durch  die  fesselnde  Darstellung  und  die  Gründlichkeit 
seiner  Ausführungen.  Die  Zahl  der  Eiszeiten,  die  Verbreitung  auf  den  verschiedenen 
Kontinenten,  die  geologischen  Begleiterscheinungen  wie  auch  die  verschiedenen 
astronomischen,  physikalischen  und  geologischen  Erklärungsversuche  sind  klar 
auseinandergesetzt  bis  auf  die  etwas  phantastische  Theorie  Kreichgauers,  wonach 
sich  im  Laufe  der  Zeiten  die  Erdrinde  über  den  -um  eine  feststehende  Erdachse 
drehenden  Erdkern  langsam  hinübergeschoben  haben  soll.  Die  vier  Eiszeiten  und 
drei  langdauernde  Zwischeneiszeiten  erkennen  wir  dann  wieder  in  der  wechselnden 
Flora  und  Fauna,  und  in  der  3.  Interglazialzeit  tritt  nun  der  Mensch  auf,  dessen 
Umwelt  und  Leben  aus  den  Schilderungen  seiner  Spuren  uns  deutlich  entgegen- 
tritt. So  versprechen  die  bisher  vorliegenden  Teile  des  Werkes  eine  Anthropologie, 
die  besonders  die  Jugend  fesseln  und  im  rechten  Sinne  belehren  wird. 

Berlin.  J.  Norrenberg. 

Arendt,   Rud.,    Technik    der    anorganischen     Experimental- 
chemie,   Anleitung  zur  Ausführung  chemischer  Experimente.     Vierte,  um- 
gearbeitete und  wesentlich  vermehrte  Auflage  von  Dr.  L.  D  o  e  r  m  e  r  ,  Ober- 
lehrer an  der  Oberrealschule  vor  dem  Holstentor  in  Hamburg.    Hamburg  und 
Leipzig  1910.    Verlag  von  Leopold  Voß.     VI  u.  1012  S.     gr.  8°.     geh.  24  M., 
geb.  26  M. 
Arendts    Lehrbuch   der   anorganischen    Chemie,    dessen 
2.  Auflage  1872  erschienen  ist,  hat  mir  als  Student  und  junger  Lehrer  mannig- 
fachen Nutzen  gewährt,  und  zwar  war  es  besonders  der  Reichtum  an  Versuchen, 
der  mir  eine  Fülle  von  Anregung  und  Belehrung  verschafft  hat.     Derselbe  Ver- 
fasser gab  bald  darauf  „eine  Technik  der  Experimentalchemie" 
heraus,  ein  Werk,  das,  wie  schon  sein  Titel  sagt,  in  noch  höherem  Grade  geeignet 
ist,  als  Berater  beim  Vorbereiten  und  Anstellen  von  chemischen  Versuchen  zu 
dienen.    Den  gleichen  Zweck  erfüllt  auch  Heumanns  Anleitung   zum 
Experimentieren,   dessen    1.  Auflage  1876   erschien.     Das  Buch  bringt 
wie  das  Arendtsche  eine  große  Auswahl  von  Vorlesungsversuchen  und  ist  eben- 
falls sehr  geeignet,  dem  Experimentierenden,  bei  dem  natürlich  einige  Fertigkeiten 
vorausgesetzt  werden,  die  nötigen  Ratschläge  zu  erteilen.  Die  mehrfachen  Auflagen 


414    R.  Arendt,  Technik  der  anorganischen  Experimentalchemie,  angez.  von  W.  Breslich. 

beider  Werke  beweisen,  daß  sich  jedes  von  ihnen  in  seiner  Eigenart  eine  Menge 
von  Freunden  erworben  hat. 

Die  vorliegende  4.  Auflage  des  Arendtschen  Werkes,  dessen  Titel  in  „T  e  c  h- 
nik  der  anorganischen  Experimentalchemie"  umgeändert 
ist,  hat  in  der  Neubearbeitung  von  Dr.  L.  Doermer  noch  recht  erheblich  gewonnen. 
Zwar  ist  die  Stoffanordnung  dieselbe  geblieben,  aber  es  sind  doch  einzelne  Teile 
völlig  umgearbeitet  und  andere  neu  hinzugekommen.  Die  neue  Auflage  enthält 
11  Bogen  mehr  als  die  3.,  die  Zahl  der  Abbildungen  ist  um  197  vermehrt  und  auf 
1075  angewachsen.  Neu  hinzugekommen  sind  jedoch  weit  über  200  Abbildungen, 
da  noch  manche  veraltete  durch  bessere  ersetzt  worden  sind. 

Der  Herausgeber  hat  die  einschlägige  Literatur  bis  in  die  neueste  Zeit  verfolgt 
und  berücksichtigt.  Überall  findet  man  in  Fußnoten  die  Angaben  darüber.  Daß 
auch  die  Zeitschrift  für  den  physikalischen  und  chemischen  Unterricht,  die  ja  häufig 
neue  und  teilweise  recht  interessante  Versuche  bringt,  ausgiebig  benutzt  worden  ist, 
mag  besonders  hervorgehoben  werden. 

Der  allgemeine  Teil  des  Werks  (S.  1 — 350)  liefert  durch  seine  Aus- 
führlichkeit und  vortreffliche  Sachkenntnis  nicht  nur  dem  Lehrer  der  Chemie, 
sondern  auch  dem  Architekten,  der  die  Räume  für  den  chemischen  Unterricht 
an  einer  höheren  Lehranstalt  erbauen  und  einrichten  soll,  sehr  schätzenswertes 
Material.  Pläne  von  einigen  neueren  Unterrichtsanstalten,  zahlreiche  Zeichnungen, 
die  ein  Bild  von  allen  zu  einem  modernen  Laboratorium  gehörenden  Einrich- 
tungen geben,  kurz  alles,  was  an  Neuerungen  geschaffen  ist,  wird  hier  gebracht. 
Zu  letzteren  gehören  z.  B.  der  gesamte  elektrische  Apparat,  die  Projektionsapparate, 
die  Rühr-  und  Schüttelwerke.  Ebenso  wird  das  erforderliche  Inventar  mit  allen 
Neuerungen  ausführlich  angegeben  und  besprochen.  Man  vergleiche  z.  B.  den 
Abschnitt  „Lampen  und  Öfen"  (S.  115—141). 

Der  erste  Teil  schließt  mit  sehr  beachtenswerten  „Vorsichtsmaßregeln** 
(S.  347 — 350),  auf  die  der  Anfänger  ganz  besonders  aufmerksam  gemacht  werden 
möge.  Werden  sie  von  ihm  im  vollsten  Maße  berücksichtigt,  so  wird  sich  nicht  so 
leicht  ein  Unfall  ereignen  oder  ein  Versuch  mißglücken  können. 

Der  besondere  Teil  (S.  351— 980)  zerfällt  in  fünf  Abschnitte,  von 
denen  jeder  wieder  aus  mehreren  Kapiteln  bzw.  Unterabteilungen  und  Paragraphen 
besteht.  Die  Anordnung  des  Stoffes  folgt  nicht  dem  Lehrgang,  der  sich  in  den  mei- 
sten Leitfäden  und  Lehrbüchern  zu  finden  pflegt  und  im  allgemeinen  üblich  ist. 
Für  die  Technik  des  Experimentierens  ist  diese  starke  Abweichung  in  der  stoff- 
lichen Anordnung  nur  von  untergeordneter  Bedeutung.  Das  ausführliche  Sach- 
register ermöglicht  alles,  was  man  sucht,  schnell  aufzufinden.  Außerdem 
wird  diese  Abweichung  manchen  Lehrer  anregen,  den  Stoff  beim  Durchnehmen 
oder  auch  bei  Wiederholungen  anders  zu  gruppieren,  methodischer  zu  gestalten, 
wie  das  ja  nicht  nur  in  den  Arendtschen,  sondern  auch  in  anderen  Lehrbüchern 
mehrfach  erfolgt  ist. 

Daß  die  Zahl  der  im  zweiten  Teile  geschilderten  Versuche  ungemein  groß  ist, 
dürfte  als  besonderer  Vorzug  des  Werkes  zu  betrachten  sein.  Es  kann  somit  jeder 
Lehrer  seine  Auswahl  treffen  und  sowohl  seiner  Individualität  Rechnung  tragen, 
als  auch  den  äußeren  Umständen,  von  denen  er  abhängig  ist,  so  den   Räumen, 


0.  V.  Kirchner,  Blumen  und   Insekten,  angez.  von  J.  Norrenberg.  415 

Apparaten,  Chemikalien  und  der  Zeit,  die  zur  Verfügung  steht.  Recht  zweck- 
mäßig sind  u.  a.  Hinweise  auf  die  Kosten,  die  Experimente  verursachen  (vgl. 
S.  408,  die  Herstellung  von  Sauerstoff). 

Bei  den  Fortschritten,  die  gerade  die  physikalische  Chemie  in  den  letzten 
Jahren  gemacht  hat,  war  es  dringend  erforderlich,  daß  auch  sie  nicht  unberücksichtigt 
blieb.  Es  ist  darum  ein  physikalisch-chemischer  Teil  (S.  880 
bis  980)  neu  hinzugefügt.  In  ihm  tritt  natürlich  die  Elektrochemie  in  den  Vorder- 
grund. Die  ausführlichen  Angaben  über  die  neueste  Literatur  (vgl.  z.  B.  Ab- 
schnitt 17,  Kolloide,  S.  977  ff.)  sind  hier  besonders  dankenswert.  Die  Versuche 
selbst  sind  vom  Verfasser  genau  nachgeprüft.  Vermißt  habe  ich  die  Experimente  über 
die  Flammenfärbungen  durch  Metallsalze,  nur  die  Mischung  von  bengalischen 
Flammen  wird  S.  748  erwähnt;  ebenso  fehlt  die  Spektralanalyse  völlig,  während 
doch  die  Prinzipien  der  Maßanalyse  (S.  695)  angegeben  sind. 

Am  Schluß  des  Buches  finden  sich  treffliche  Angaben  über  die  Größe  der 
zusammenzustellenden  Apparate,  die  Standgefäße  und  Chemikalien,  sowie  über 
das  für  den  Betrieb  unbedingt  erforderliche  (eiserne)  Inventar.  Diese  werden 
sicher  dem  jungen  Praktiker,  der  noch  wenig  Erfahrung  besitzt,  sehr  gelegen 
kommen;  ihm  kann  das  gesamte  Werk  nicht  warm  genug  empfohlen  werden.  Aber 
auch  der  ältere  Lehrer  der  Chemie  wird  viel  Neues  in  ihm  entdecken,  manche  wert- 
volle Anregung  gewinnen;  er  wird  das  Buch  neben  Heumann  gern  zu  Rate  ziehen. 
Vor  allem  gehört  das  Werk  zum  „eisernen  Bestände"  der  Bibliotheken  höherer 
Lehranstalten,  deshalb  dürfte  es  in  keiner  solchen  fehlen. 

Berlin.  W.   B  r  e  s  li  c  h. 

Kirchner,  0.  v.,  Blumen  und  Insekten.  Ihre  Anpassungen  aneinander 
und  ihre  gegenseitige  Abhängigkeit.  Mit  159  Abbildungen  im  Text  und  2  Tafeln. 
Leipzig  und  Berlin  1911.  B.  G.  Teubner.  V  u.  436  S.  6,60  M.,  geb.  7,50  M. 
Wenn  aus  dem  großen  Bereiche  der  anmutigsten  aller  Wissenschaften,  der 
Botanik,  ein  Kapitel  bei  Laien  und  Forschern  von  vornherein  auf  ganz  besonderes 
Interesse  rechnen  darf,  so  sind  es  die  Blütengeheimnisse,  die  staunenswerten  Ein- 
richtungen, die  sich  bei  den  Blumen  zur  Ermöglichung  der  Befruchtung  heraus- 
gebildet haben,  die  innigen  Wechselbeziehungen,  die  zwischen  Blumen  und  Insekten 
bestehen,  die  Verschiedenheiten  der  in  der  Blüte  vereinigten  Organe,  die  die  In- 
sekten anlocken,  ihnen  Trank  und  Speise  bieten,  um  sie  für  ihre  eigenen  Zwecke,, 
für  die  wichtigen  Vorgänge  der  Fortpflanzung  dienstbar  zu  machen.  Die  große 
Zahl  der  Schriften,  die  gerade  über  diesen  Gegenstand  in  dem  letzten  Jahrzehnte 
erschienen  sind,  hat  O.  v.  Kirchner  nun  noch  um  eine  vermehrt,  doch  man  kann 
wohl  sagen,  in  glücklicher  Weise,  da  sein  Werk  unter  den  vielen  den  gleichen  Gegen- 
stand behandelnden  Arbeiten  doch  eine  besondere  Stellung  einnimmt  und  somit 
seine  Daseinsberechtigung  beweist.  Kirchner  bietet  hier  ein  im  besten  Sinne  volks- 
tümliches Werk,  das  in  verständlicher  Sprache  den  Stoff  doch  in  wissenschaft- 
licher Strenge  behandelt.  Vollständigkeit,  Gründlichkeit,  Ausgehen  von  eigenen, 
leicht  zu  wiederholenden  Versuchen  und  Beobachtungen,  das  waren  die  Gesichts- 
punkte, die  dem  Verfasser  für  die  Auswahl  und  Darstellung  offenbar  maßgebend 
waren.     In  einigen  einleitenden  Kapiteln  bespricht  er  daher  auch  zunächst  aus- 


416         F.  Dahl,  Anleitung  zu  zoologischen  Beobachtungen,  angez.  von  Pfuhl. 

führlich  Bau  und  Aufgabe  der  Blüte  und  ihrer  einzelnen  Teile,  sowie  Körperbau, 
Benehmen  und  Lebensgewohnheiten  der  Blumeninsekten.  Sodann  behandelt  er 
in  typischen,  besonders  charakteristischen  Beispielen  die  einzelnen  Anpassungs- 
stufen, die  Pollenblumen,  die  Blumen  mit  allgemein  zugänglichem,  mit  teilweise 
oder  gänzlich  verborgenem  Nektar,  die  Blumengesellschaften  —  alles  Pflanzen, 
bei  denen  besondere  Anpassungen  an  einen  engeren  Kreis  von  Besuchern  noch 
nicht  hervortreten  —  und  hierauf  die  Dipteren-,  Hymenopteren-  und  Falterblumen, 
bei  denen  Anpassungen  an  bestimmte  Insektengeschlechter  zur  Ausprägung  ge- 
langten. In  diesen  Einzeldarstellungen  der  nach  H.  Müller  geordneten  Blumen- 
klassen zeigt  sich  v.  Kirchner  als  Meister  der  Beobachtung,  und  manchen  als  un- 
wissenschaftlich verpönten  Deutungsversuch  erkennt  man  hier  als  das  Ergebnis 
einwandfreier  auf  Induktion  beruhender  Prüfung.  Auch  die  Blumenstatistik, 
deren  Ergebnisse  der  Verfasser  kurz  skizziert,  und  die  der  Forschung  noch  so 
manche  dankbare  Aufgabe  stellt,  bewegen  sich  noch  auf  dem  Boden  des  Tat- 
sächlichen, während  die  beiden  Schlußkapitel,  die  ,, Ursachen  der  gegenseitigen 
Anpassung  von  Blumen  und  Insekten"  und  die  „Hypothesen  über  die  Ent- 
stehung der  Blumen"  in  das  Reich  der  Spekulation  hineinführen,  das  aber 
zu  durchwandern  Genuß  und  Anregung  gewährt,  und  in  dem  die  Paläontologie 
uns  immerhin  ein  zuverlässiger  Führer  und  Warner  sein  kann.  —  Zweifellos  ver- 
dient das  Kirchnersche  Werk  neben  den  Arbeiten  von  H.  Müller  und  E.  Loew 
in  jede  Schulbibliothek  aufgenommen  zu  werden. 

Berlin.  J.  Norrenberg. 

Dahl,  Friedrich,  Anleitung  zu  zoologischen   Beobachtungen. 

(Wissenschaft  und  Bildung,  61).    Leipzig  1910.     Quelle  &  Meyer.    156  S.    8«. 

geb.  1,25  M. 
Ein  kleines  Buch,  das  in  erster  Linie  sich  an  den  gebildeten  Laien  wendet; 
doch  auch  der  Lehrer  der  Naturkunde  wird  darin  manches  finden,  das  ihn  inter- 
essiert. Die  Lebensweise  der  Tiere  und  der  Zusammenhang  zwischen  Körpergestalt 
und  Lebensweise  wird  berücksichtigt,  dann  die  Beziehungen  der  Tiere  zu  den 
Pflanzen  und  den  anderen  Tieren.  Symbiose,  Mutualismus,  Kommensalismus, 
Nekrophagie,  Täuschfarben,  Trutzfarben,  Brutpflege  sind  einzelne  Kapitelüber- 
schriften, die  den  Inhalt  des  Büchleins  charakterisieren  könnten.  Zur  Erläuterung 
jener  Begriffe  werden  reichlich  Beispiele  aufgeführt,  die  mit  Geschick  und  Sach- 
kenntnis aus  dem  ganzen  Gebiete  des  Tierreichs,  auch  in  geographischer  Hinsicht, 
gewählt  sind.  Der  größere  Teil  des  Inhalts  betrifft  Beschreibungen  der  Lebensweise, 
der  erste  Abschnitt  gibt  Anleitungen  zu  Beobachtungen  und  Experimenten,  wobei 
auch  mancher  Hilfsapparat  beschrieben  wird.  Das  Buch  ist  reichlich  mit  Abbildungen 
ausgestaltet,  die  im  allgemeinen  deutlich  und  zweckentsprechend  sind.  Empfehlens- 
wert für  eine  neue  Auflage  wäre  die  Angabe  der  Betonung  bei  den  wissenschaftlichen 
Tier-  und  Pflanzenbenennungen. 

Posen.  FritzPfuhl. 


^^^ 


I.  Abhandlungen. 

Die  Annäherung  unserer  Zeit  an  die  Antike  und  der  Unter- 
richt in  den  altklassischen  Sprachen. 

Man  darf  behaupten,  daß  die  ganze  Kunst  im  Banne  der  Antike  steht.  Ihr 
Einfluß  beschreibt  Kurven,  steigt  und  sinl<t  abwechselnd.  Immer  aber,  wenn  die 
Phantasie  einer  Auffrischung,  die  Kunst  einer  gründlichen  Korrektur  bedarf,  kehrt 
sie  zum  Studium  der  Antike  zurück.  So  urteilt  ein  bewährter  Kenner  antiker  Kunst- 
geschichte über  die  Bedeutung  der  Antike  für  die  Entwicklung  der  darstellenden 
Kunst*).  Solche  auf-  und  absteigende  Kurven  beschreibt  die  Antike  auch  in  ihrem 
Einfluß  auf  das  Geistesleben  der  modernen  Kulturvölker  und  die  Erziehung  ihrer 
Jugend.  Zuzeiten  war  das  Altertum  ein  ewig  sprudelnder,  lebenspendender  Quell, 
der  in  goldenen  Schalen  Klarheit  und  Schönheit  und  echte  Menschenwürde  spendete, 
und  dann  wieder,  bereits  im  17.  Jahrhundert  —  ,der  christliche  und  notwendige 
Unterricht,  wie  die  studia  sollten  angerichtet  werden*  des  hannoverschen  Geist- 
lichen Statins  Bücher  (1625)  ist  wohl  die  älteste  Schrift  gegen  Humanismus  und 
humanistische  Erziehung  —  wähnte  man  in  stolzer  Selbstgenügsamkeit  oder  in 
plattem  Nützlichkeitssinn,  man  könne  von  den  Alten  nichts  mehr  lernen,  das 
Studium  der  Antike  mache  weltfremd  und  sei  darum  zu  nichts  nütze. 

Ich  empfinde  fast  ein  Grauen, 

Daß  ich  Plato  über  Dir 

Bin  gesessen  für  und  für: 

Es  ist  Zeit  hinauszuschauen 


So  klagte  schon  der  Schlesier  Martin  Opitz  in  einem  seiner  Gedichte.  Auf 
Zeiten  der  höchsten  Begeisterung  und  Verehrung  für  die  Antike  folgten  Perioden 
der  Entfremdung:  Renaissance,  Pietismus  und  Neuhumanismus,  französisch- 
höfische Bildung  und  Rationalismus  sind  die  Etappen  dieser  so  seltsamen  Ent- 
wicklung in  der  Geschichte  unseres  Geisteslebens  in  den  drei  Jahrhunderten  seit 
der  Reformation.  Und  nun  nach  dem  so  leidenschaftlich  geführten  Kampfe  um 
eine  zeitgemäßere  Jugenderziehung  im  19.  Jahrhundert  scheint  wieder  einmal, 
es  sind  mancherlei  Anzeichen  dafür  vorhanden,  eine  Wandlung,  eine  Annäherung 
an  die  Antike  sich  vollziehen  zu  wollen. 


*)  Adolf  Michaelis  im  Handbuch  der  Kunstgeschichte  von  Anton  Springer,  I.  Alter- 
tum.    Leipzig  1907.     S.  482. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  27 


418  G.  Schönaich, 

Woraus  man  das  schließen  darf?  Der  Streit  um  die  beste  Jugenderziehung 
kommt  auch,  nachdem  die  Gleichberechtigung  der  drei  Schularten  ausgesprochen 
worden  ist,  noch  nicht  zur  Ruhe,  und  er  wird  auch  nimmer  zur  Ruhe  kommen, 
weil  die  Bildungsideale  wechseln  mit  den  Menschen  und  mit  den  Zeiten  und  sich 
verändern  mit  dem  Stande  des  Wissens  und  der  Wissenschaft  und  mit  den  Zuständen 
der  Gesellschaft*);  auch  deshalb  nicht,  weil  bei  uns,  wie  Heinrich  von  Treitschke 
einmal  sagte,  auch  dem  schlichten  Manne,  nichts  mehr  am  Herzen  liegt,  als  die 
Erziehung  seiner  Kinder;  aber  er  hat  vornehmere  Formen  angenommen:  man  denkt 
über  vieles  sachlicher  und  ruhiger,  und  in  manchen  Dingen,  über  die  harte  Worte 
auf  beiden  Seiten  gewechselt  wurden,  ist  heute  kaum  mehr  eine  Meinungsverschieden- 
heit. So  dürften  die  Ansichten  über  die  Bedingungen,  unter  denen  sich  Kulturarbeit 
und  Kulturfortschritt  zu  vollziehen  pflegt,  der  erweiterte  Völkerverkehr  und  die 
dadurch  befestigte  Vorstellung  von  einem  europäischen  Kulturkreise  und  einer 
europäischen  Kulturgemeinschaft  haben  hier  Wandel  geschaffen,  heute  kaum  mehr 
auseinandergehen.  Kulturarbeit  ist  in  erster  Linie,  wie  P.  Wendland  es  einmal  recht 
ansprechend  formuliert  hat,  nicht  Produktion  eines  neuen  Kulturgehaltes,  sondern 
Aneignung,  Durcharbeitung,  Formung  eines  gegebenen  Inhaltes.  Und  Kultur- 
fortschritt ist  ein  Austausch  der  Kulturgüter,  er  beruht  auf  der  Annahme  und 
Verarbeitung  vergangener  Kultur,  die  Völker  stehen  gebend  und  empfangend 
nebeneinander,  und  kein  Volk  kann  auf  die  überlegene  oder  ebenbürtige  Kultur 
eines  anderen  Volkes  verzichten.**)  Auf  Grund  dieser  fast  zum  Gemeingut  gewordenen 
Anschauungen  denkt  man  auch  über  das  Altertum  und  seine  Bedeutung  für  die 
Kulturarbeit  der  modernen  Völker  heute  wieder  ruhiger  und  freundlicher.  Wenn 
auch  unsere  kulturell  so  hoch  stehende  Zeit  von  der  absoluten  Vollkommenheit 
und  der  Klassizität  der  Alten  nichts  mehr  wissen  will,  als  kulturschaffende  Kraft 
und  als  befruchtendes  Element  in  unserer  Kulturarbeit  möchte  man  die  Antike 
doch  nicht  gern  entbehren. 

Auch  in  dem  Bildungsideal  scheint  sich  eine  Wandlung  nach  dem  Altertum 
hin  zu  vollziehen.  Zwar  läßt  sich  das  Bildungsideal  unserer  Zeit  nicht  so  scharf 
umgrenzen  und  so  genau  umschreiben  wie  das  früherer  Jahrhunderte***),  aber  so  viel 
ist  sicher,  das  intellektualistische  Bildungsprinzip,  die  reine  Wissensbildung,  die 
noch  in  dem  verflossenen  Jahrhundert  als  pädagogisches  Evangelium  in  allen 
Tonarten  angepriesen  wurde,  verliert  zusehends  an  Bedeutung  und  Wertschätzung. 
Man  kann  sich  doch  der  Einsicht  nicht  verschließen,  daß  das  bloße  Wissen  für  eine 
erfolgreiche  Lebensarbeit  nicht  ausreicht,  daß  die  Schulung  des  Verstandes  und 
der  Sinne,  die  Fähigkeit,  Menschen  und  menschliche  Verhältnisse  recht  zu  beurteilen, 


*)  Wilhelm  Münch,  Der  Kampf  der  Bildungsideale  (Grenzboten  1911,  Heft  28). 
**)  Paul  Wendland,  Der  Kampf  um  die  Bildungsideale  im  Altertum  und  in  der  Gegen- 
wart S.  302,  (=  Volkmann,  Erkenntnis-theoretische  Grundzüge  der  Naturwissen- 
schaften und  ihre  Beziehungen  zum  Geistesleben  der  Gegenwart.  Leipzig  1910,  S.  301  bis 
323).  —  Dazu  Kaemmel,  Der  Kampf  um  das  humanistische  Gymnasium,  Leipzig  1901. 
***)  Die  Eigentümlichkeiten  unserer  Zeit  (Unausgeglichenheit,  Maßlosigkeit,  Ruhe- 
losigkeit, Sucht  zu  Probieren  und  zu  Reformieren,  erbitterte  Interessenkämpfe)  vortreff- 
lich charakterisiert  von  Wilhelm  Münch,  Zeiterscheinungen  und  Unterrichtsfragen,  Berlin 
1895,  und  von  Eugen  Grünwald,  Die  antimoderne  Tendenz  der  höheren  Schule  =  Das 
humanistische  Gymnasium,  1912,  Heft  I. 


Die  Annäherung  unserer  Zeit  an  die  Antike  usw.  419 

erst  Persönlichkeitswert  verleiht,  daß  bloße  Kenntnisse  und  bloßes  Wissen  das  Leben 
auch  nicht  auszufüllen,  nicht  inhaltsvoll  und  freundlich  zu  gestalten  vermögen.*) 
„Wer  in  der  wirklichen  Welt  arbeiten  kann,  und  in  der  idealen  leben,  der  erst  hat 
das  Höchste  erreicht"  —  dies  praktisch-ideale  Bildungsprinzip,  wie  es  einst  Börne 
formuliert  hat,  scheint  überall  da  wenigstens,  wo  der  Sinn  für  das  Ideale  in  den 
Sorgen  und  im  Reichtum  dieser  Welt  noch  nicht  völlig  erstickt  ist,  zum  Bildungs- 
ideal der  Zeit  zu  werden.  Dementsprechend  ist  auch  im  Jugendunterricht  ein 
allmähliches  Zurücktreten  jenes  Unterrichtsprinzipes  zu  beobachten,  dem  es  ledig- 
lich auf  die  Übermittelung  praktisch  verwendbarer  Kenntnisse  ankommt.  Es  dringt 
doch  auch  hier  mehr  und  mehr  die  Überzeugung  durch,  daß  die  bloße  Mitteilung 
von  abfragbaren  Kenntnissen  und  von  nur  nutzbringendem  Wissen  für  eine  erfolg- 
reiche Betätigung  im  Leben  gar  nicht  ausreicht,  daß  es  überhaupt  keine  Schule 
gibt,  die  für  das  Leben  in  seiner  Vielgestaltigkeit  und  Mannigfaltigkeit  vorbereitet,**) 
daß  die  Willensbildung,  das  große  Hauptstück  der  Erziehung,  wie  Paulsen  es  in 
seiner  allgemeinen  Pädagogik  nennt,  die  Durchbildung  der  Persönlichkeit,  die  Hand- 
habung des  Wissens  und  die  geistige  Selbständigkeit  das  Beste  ist,  was  die  Schule 
der  Jugend  ins  Leben  mitgeben  kann.  Und  auch  von  Männern,  die  in  praktischen 
Berufen  stehen,  wird  es  unumwunden  zugestanden  und  dankbar  anerkannt,  daß 
Verstehen  und  Urteilen,  rechte  Bewertung  von  Verhältnissen  und  Menschen  und 
was  sonst  noch  dazu  gehört,  um  sich  im  Leben  zurecht  zu  finden,  die  humanistische 
Bildung  und  die  humanistischen  Bildungsanstalten,  die  Erziehung  durch  Griechen 
und  Römer,  ebenso  gut  wie  andere  Schularten  übermitteln,  wenn  nicht  besser.***) 
So  gestaltet  sich,  wie  es  scheint,  unser  Verhältnis  zur  Antike  freundlicher,  wir 
selber  nähern  uns,  wenn  ich  so  sagen  darf,  aus  rein  praktischen  Erwägungen  wieder 
dem  Altertum;  aber  auch  die  Antike  ist  uns  näher  gerückt,  viel  näher  denn  je: 
die  Antike,  so  urteilt  ein  Kenner  des  Altertums,  hat  unserer  geistigen  und  sittlichen 
Kultur  noch  nie  so  nahe  gestanden  und  wir  sind  noch  nie  so  vorbereitet  gewesen, 
sie  zu  verstehen  und  in  uns  aufzunehmen.!)  Und  so  ist  es  in  der  Tat.  Das  Altertum 
mit  seinen  klassischen  Stätten  steht  uns  heute  schon  räumlich  viel  näher  als  früheren 
Generationen:  Rom  und  Athen,  Griechenland  und  Italien  sind  bei  der  Leichtigkeit 
und  Schnelligkeit  des  Verkehrs  —  von  Bozen  aus  ist  Rom  ja  in  einem  Tage  zu 
erreichen  —  keine  Entfernung  mehr;  was  einst  die  heiße  Sehnsucht  des  gereiften 
Mannes  war,  eine  Reise  nach  den  Ländern  antiker  Kultur,  genießen  heute  unzählige 


*)  Über  Bedeutung  und  Wert  des  Schulwissens  auch  im  späteren  Berufsleben, 
Wilhelm  Münch,  Zukunftspädagogik  2,  S.  19L  —  Über  Persönlichkeit  und  Persönlichkeits- 
wert handelt  vortrefflich  F.  Niebergall,  Person  und  Persönlichkeit,  Leipzig  1911. 

**)  Alfred  Hillebrandt,  Staat  und  Jugend  (Dezemberheft  der  Konservativen  Monats- 
schrift, 1911). 

***)  Giesecke,  Das  humanistische  Gymnasium  und  die  Anforderungen  der  Gegenwart 
(Jahrbücher  für  das  klassische  Altertum,  Leipzig  1908,  S.  241).  Im  Organ  des  Gymnasial- 
vereins (Das  humanistische  Gymnasium,  Jahrgang  1911,  Heft  IV),  sprechen  sich  Dernburg, 
Wechsler,  Brunner  über  die  humanistische  Bildung  sehr  günstig  aus.  Über  die  Bewegung 
zugunsten  des  altsprachlichen  Unterrichtes  in  Frankreich  und  sogar  in  Amerika  orien- 
tieren die  Mitteilungen  des  Vereins  der  Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums,  Wien 
1911,  Heft  IV. 

t)  Th.  Zielinski,  Die  Antike  und  Wir.     Leipzig  1911,  S.  65. 

27* 


420  G.  Schönaich, 

in  jungen  Jahren.  Schon  durch  diese  räumliche  Annäherung  ist  das  Verhältnis 
unserer  Zeit  zur  Antike  ein  ganz  anderes  geworden.  Die  Betrachtung  der  Antike, 
nicht  mehr  eine  rein  literarische  und  nicht  mehr  ausschließlich  auf  Buchwissenschaft 
gegründet,  wird  aus  der  Enge  der  Schule  und  der  stillen  Stube  des  Gelehrten  heraus- 
gerückt und  mitten  hineingestellt  in  die  antike  Landschaft  mit  ihrer  Farbenpracht 
und  ihren  reichen  Formenschönheiten,  ans  rauschende  Meer,  unter  den  blauen 
Himmel  und  in  die  leuchtende  Sonne  des  Südens,  an  die  Stätten  selbst,  wo  einst 
antikes  Leben  mächtig  pulsierte,  an  die  Kultorte  und  die  Zentren  politischen  und 
wirtschaftlichen  Lebens,  hinein  in  die  säulengetragenen  Tempel  der  Götter  und  an 
ihre  Altäre,  in  die  Theater,  auf  die  Marktplätze,  in  die  Säulenhallen,  die  Gym- 
nasien und  Bäder,  in  die  prunkenden  Paläste  der  Vornehmen  und  in  die 
bescheidenen  Tabernen  mit  ihren  interessanten  Einblicken  in  das  alltägliche 
Leben  und  die  harte  Berufsarbeit  einer  kleinbürgerlichen  Welt.  Wenn  die 
Zahl  der  Welschlandsfahrer  und  Griechenlandreisenden  von  Jahr  zu  Jahr 
im  Wachsen  begriffen  ist,  so  dürfte  das  doch  nicht  nur  auf  die  zur  Mode 
gewordene  Reiselust  und  auf  das  Bedürfnis  unserer  Zeit  nach  enzyklopädischem 
Wissen  zurückzuführen  sein,  sondern  auch  seine  Erklärung  finden  in  dem  wieder 
lebendig  gewordenen  Interesse  für  die  reichen  Schätze  und  Bildungswerte  der 
griechisch-römischen  Welt.  An  der  Wiedererweckung  dieses  Interesses  aber  hat 
die  philologische  Wissenschaft  durch  die  völlig  veränderte  Art  ihrer  Forschung 
und  ihrer  Darstellungsweise  ganz  besonderen  Anteil,  in  erster  Linie  die  Archäologie. 
Seit  die  Archäologie  mit  ebenso  viel  Glück  wie  Scharfsinn  die  Welt  der  Antike 
neu  entdeckt  hat,  sind  zwischen  Altertum  und  Gegenwart  ganz  andere  Beziehungen 
geschaffen  worden.  So  lange  die  Kenntnis  des  Altertums  gegründet  war  auf  die 
literarische  Überlieferung  über  die  Antike  —  nur  Redner,  Komiker  und  Briefe 
setzen  uns  ja  unmittelbar  in  antikes  Leben  hinein  —  war  unser  Wissen  von  der 
Antike  lückenhaft  und  durchbrochen  und  unsere  Vorstellungen  vom  Altertum, 
weil  wir  die  Dinge  nur  durch  den  Nebelschleier  antiker  Schriftüberlieferungen 
zu  sehen  gewohnt  waren,  farblos,  verblaßt  und  unbestimmt.  Durch  die  unermüd- 
liche Arbeit  archäologischer  Forschung  sind  wir  nun  in  der  glücklichen  Lage,  das 
Altertum  an  den  klassischen  Stätten  selbst  in  den  Antikensammlungen  un- 
mittelbar zu  genießen  oder  doch  griechische  und  römische  Kultur  wenigstens  im 
Bilde  auf  uns  wirken  zu  lassen.  Unsere  Eindrücke  werden  so  lebendiger  und  frischer, 
unsere  Vorstellungen  klarer  und  bestimmter,  dieBilder  abgerundeter  und  geschlossener 
auch  die  Bilderreihen.  Wir  haben  heute  eine  viel  lebendigere  Vorstellung  von  dem 
schlichten  Bürgerhause  und  dem  Palast  der  Großen,  von  ihrer  Bauart  und  ihrer 
inneren  Ausschmückung,  von  dem,  was  man  zum  täglichen  Leben  benötigte,  was  zum 
Schmuck  des  Lebens  diente  und  in  den  Zeiten  der  Dekadenz  zum  zügellosen  Lebens- 
genuß. Die  alten  Kultstätten  sind  wiedererstanden,  Olympia  und  Delphi  anschau- 
lich im  Aufriß  rekonstruiert,  ganze  Städte  sind  wieder  aufgedeckt,  Kulturkreise,  von 
denen  wir  früher  nur  unklare  Vorstellungen  hatten,  sind  wiedergewonnen  worden. 
Welchen  Gewinn  bedeutet  doch  die  Entdeckung  der  mykenischen  Kultur  für  die 
Stammesgeschichte  der  Hellenen  und  für  die  Welt  Homers  und  was  bedeuten  die 
reichen  Papyrosfunde  für  die  Aufklärung  des  Urchristentums  und  der  hellenistischen 
Zeit!    Die  Archäologie  hat  in  der  Tat  das  Altertum  interessanter  und  anziehender 


Die  Annäherung  unserer  Zeit  an  die  Antike  usw.  421 

gemacht,  und  mit  dem  zunehmenden  Interesse  für  die  Antike  geht  weiteren  Kreisen 
wieder  eine  Ahnung  auf  von  der  Größe  und  dem  Reichtum  antiker  Kultur,  von  ihrer 
Bedeutung  und  Notwendigkeit  auch  für  die  Bildung  und  die  Kulturarbeit  unserer 
Zeit.  Neben  der  Archäologie  hat  nun  aber  auch  die  so  völlig  veränderte  philolo- 
gische Forschung  und  Darstellungsweise  die  Antike  unserer  gebildeten  Gesellschaft 
näher  gerückt.  Die  philologische  Forschung  hat  dem  Zug  der  Zeit  folgend  an  die 
Stelle  der  den  modernen  Menschen  abstoßenden  idealisierenden  Betrachtung  des 
Altertums  die  wissenschaftlich-kritische  und  kulturhistorische  treten  lassen:  sie 
sucht  antike  Menschen  und  antikes  Leben  in  ihrer  Wirklichkeit,  in  ihrem  Werden 
und  Vergehen,  mit  ihren  Licht-  und  Schattenseiten  zu  begreifen;  sie  will  die  antike 
Kultur  nicht  allein  im  engen  Rahmen  ihres  Volkstums,  sondern  im  Zusammenhang 
der  großen  Völkergeschichte,  als  kulturschaffende  Kraft  in  ihren  Wirkungen  und 
in  ihrem  Fortleben  bis  auf  die  Gegenwart  verstehen  und  das  Verständnis  dafür 
übermitteln.*)  Und  die  bedeutendsten  Vertreter  dieser  Wissenschaft  haben  zum 
Unterschiede  von  den  Philologen  vergangener  Zeiten  die  glückliche  Gabe,  unter 
Verzicht  auf  alles  gelehrte  Beiwerk  und  auf  alles  das,  was  nur  von  fachwissenschaft- 
lichem  Interesse  ist,  antike  Stoffe  in  allgemein  verständlicher  und  fesselnder  Weise 
in  Wort  und  Schrift  zu  behandeln  und  durch  geschmackvollere  Übertragungen 
der  Originale  in  weiteren  Kreisen  das  Interesse  und  das  Verständnis  für  die  Antike 
wieder  zu  erwecken.  Die  Fülle  von  populär-wissenschaftlichen  Publikationen,  die 
in  den  letzten  Jahrzehnten  erschienen  ist  über  die  Kultur  der  Alten,  über  Kunst 
und  Literatur,  über  die  bedeutenden  Persönlichkeiten  des  Altertums,  die  Staats- 
männer, die  großen  Historiker,  die  Dichter  und  Denker,  verdankt  ihre  Entstehung 
doch  nicht  nur  einer  buchhändlerischen  Spekulation,  sondern  einem  allgemein 
empfundenen  Bedürfnis,  und  sie  ist  ebenso  sehr  ein  schönes  Zeugnis  für  die  Dar- 
stellungskunst unserer  Altertumsforscher  wie  für  das  neue  erwachte  Interesse 
an  der  Antike  in  unserer  gebildeten  Gesellschaft. 

Das  Interesse,  das  unsere  Zeit  an  der  Antike  hat,  ist  nun  aber,  darüber  darf 
man  sich  nicht  täuschen,  kein  rein  formales  mehr,  wenn  man  auch  die  Bedeutung 
des  Unterrichtes  in  den  alten  Sprachen  neuerdings  wieder  etwas  mehr  zu  würdigen 
beginnt;  es  ist  auch  kein  rein  ästhetisch-literarisches  mehr,  wie  zu  den  Zeiten  Goethes 
und  Winkelmanns,  die  in  der  Antike  ein  Mittel  wahrer  Menschheitsbildung  sahen, 
sondern  vorzugsweise  ein  kulturhistorisches:  die  Anschauung  fremden  Nationalgeistes 
und  Kulturlebens  steht,  wie  Münch  es  in  seinem  Geist  des  Lehramtes  §452  trefflich 
formuliert,  über  dem  Zwecke  des  Sprachenerlernens,  und  man  will  außerdem  die  Antike 
auch  zur  Gegenwart,  zur  umgebenden  Welt,  zum  eigenen  Volkstum  in  fruchtbare 
Beziehung  gesetzt  wissen.  Es  entsteht  nun  die  Frage,  inwieweit  die  humanistische 
Schulbildung  dieses  Verlangen  des  Tages  befriedigt,  und  auch  die  andere,  ob  unsere 


*)  Paul  Wendland,  Altertumswissenschaft,  S.  16  ff.  (=  Universität  und  Schule, 
Vorträge  auf  der  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner  am  25.  September 
1907  zu  Basel).  Leipzig  1907.  —  Otto  Immisch,  Das  Erbe  der  Alten.  Sein  Wert  und  seine 
Wirkung  in  der  Gegenwart.  Berlin  1911.  —  O.  Crusius,  O.  Immisch,  Th.  Zielinski,  Das 
Erbe  der  Alten.  Schriften  über  Wesen  und  Wirkung  der  Antike.  Heft  I,  Hellenische 
Stimmungen  in  der  Bildhauerei  von  einst  und  jetzt.  Von  Georg  Treu.  Leipzig  1910.  Aristo- 
phanes  und  die  Nachwelt.     Von  Wilhelm  Süß.     Leipzig  1911. 


422  G.  Schönaich, 

Schulen  der  so  veränderten  Art  der  Altertumsforschung  gebührend  Rechnung  tragen 
und  den  Kontakt  mit  der  philologischen  Wissenschaft  zu  bewahren  verstehen.  Die 
offiziellen  Lehrpläne  bezeichnen  nun  zwar  neben  der  sprachlich-logischen  Schulung  (im 
Lateinischen)  als  Hauptziel  des  humanistischen  Unterrichtes  die  Einführung  in  das 
Geistes-  und  Kulturleben  der  Alten,  in  Wirklichkeit  aber  war  das  Lehrziel  bisher  viel- 
fach noch  ein  überwiegend  formales.  Das  neuerdings  so  viel  besprochene  und  nun  stark 
eingeschränkte  Wochenskriptum  stand  nicht  bloß  für  die  Beurteilung  der  Leistungen 
im  Mittelpunkt  unseres  Schullebens,  es  war  im  altsprachlichen  Unterricht  die 
Dominante.  Es  hat  den  Sprachunterricht  über  Gebühr  in  den  Vordergrund  gerückt 
und  dem  gesamten  altklassischen  Unterricht  jenes  eigentümlich  mechanische 
Gepräge  gegeben,  das  bei  den  Gegnern  der  humanistischen  Schulart  noch  heutigen- 
tags den  schärfsten  Angriffen  ausgesetzt  istj  ja  sogar  auf  den  Betrieb  der  Lektüre 
und  auf  die  von  den  Lehrplänen  geforderte  Einführung  in  die  Kultur  des  Alter- 
tums hat  es  einen  die  Methode  nachteilig  bestimmenden  Einfluß  ausgeübt.  Auch 
in  der  altsprachlichen  Lektüre  stand  doch  bisher,  eben  in  Rücksicht  auf  das  Wochen- 
skriptum, das  sprachliche  Interesse  durchaus  im  Vordergrund.  Die  Übersetzung 
mehr  grammatisch  korrekt  als  gut  Deutsch  —  was  Paul  Cauer,  Karl  Bardt  u.  a. 
für  die  Methodik  der  Übersetzungskunst  Musterhaftes  geleistet  haben  ist  noch 
nicht  überall  in  die  Praxis  übergegangen*)  —  war  vielfach  nur  ein  Aufsuchen  der 
grammatischen  Beziehungen  der  Wörter  im  Satze  und  die  Einführung  in  das  Alter- 
tum ein  umständlicher  Realienunterricht,  in  dem  ein  reicher  Wissensstoff  aus  den 
Privat-,  Staats-  und  Kriegsaltertümern  in  wohlgeordneten  sachlichen  Gruppen 
mit  philologischer  Gründlichkeit  ganz  mechanisch,  wie  etwa  der  altsprachliche 
Vokabelschatz,  in  trockenen,  datenmäßigen  Literaturübersichten  und  in  tabella- 
rischer Geschichte  übermittelt  wurde,  oder  sie  war  gar  nur  eine  rein  äußerliche 
Zierart,  ein  stolzes  Paradestück  für  Prüfungen  und  Revisionen,  ein  lästiges  Trapspfov, 
mit  dem  man  sich  abzufinden  suchte,  so  gut  man  eben  konnte.  Hier  ist  also,  wie 
wir  sehen,  ein  arger  Zwiespalt  zwischen  Schule,  Leben  und  Wissenschaft:  die  Schule 
hat  noch  ein  überwiegend  formales  Interesse  an  der  Antike,  während  unsere  gebildete 
Gesellschaft  und  die  philologische  Forschung  ein  sachlich-kulturhistorisches  Interesse 
mit  dem  Altertum  verbindet.  Der  Erlaß  des  preußischen  Unterrichtsministers  be- 
treffend die  Einschränkung  der  Klassenarbeiten  dürfte  nun  unseres  Erachtens  ge- 
eignet sein,  Wandel  zu  schaffen  und  den  altsprachlichen  Unterricht  in  andere 
Bahnen  zu  leiten.  Wir  sehen  vollständig  davon  ab,  daß  der  Erlaß,  der  doch  übrigens 
nur  die  Ergebnisse  der  Beratungen  auf  den  Direktorenversammlungen  von  1907  bis 
1909  in  die  Praxis  übertragen  will,  alte  offenkundige  Schäden  in  unserem  Unter- 
richtsbetriebe endlich  einmal  beseitigt,  und  möchten  nur  nachzuweisen  versuchen,  wie 
durch  diese  Neuordnung  nunmehr  die  Möglichkeit  gegeben  ist,  den  Sprachunterricht 
selber  methodisch  weiter  auszubauen,  zu  vertiefen  und  zugleich  der  Einführung  in 
die  Antike  dienstbar  zu  machen,  und  auch  die  Möglichkeit,  durch  einen  veränderten 
Betrieb  in  der  Lektüre  das  eigentlich  Unterrichtsziel  im  altklassischen  Unterricht, 
Einführung  in  die  Kultur  der  Alten,  stärker  zu  betonen  und  noch  fruchtbringender 


■    *)  Paul  Cauer,  Die  Kunst  des  Übersetzens.     Grammatica^militans.  —  K.  Bardt, 
Briefe  aus  Ciceronischer  Zeit  (Hilfsheft).   Zur  Technik  der  Übersetzung  lateinischer  Prosa. 


Die  Annäherung  unserer  Zeit  an  die  Antike  usw.  423 

zu  gestalten.  Die  Einschränkung  der  altsprachlichen  Klassenarbeiten  braucht  näm- 
lich nicht  notwendig  zu  einer  Verminderung  des  Wissens  zu  führen,  eine  verbesserte 
Methode,  die  zugleich  eine  Vertiefung  des  Sprachunterrichtes  und  eine  Einführung 
auch  durch  die  Sprache  in  die  Antike  anstrebt,  mag  dafür  sorgen,  daß  dieser  für 
unsere  humanistischen  Schulen  so  überaus  wichtige  Unterrichtszweig  in  der  Gründ- 
lichkeit der  Unterrichtsführung  und  in  der  Sicherheit  der  Leistungen  keine  Einbuße 
erleide.  Verliert  das  Extemporale  seine  führende  Stellung  und  wird  die  Lektüre 
zum  Kernstück  des  altsprachlichen  Unterrichtes,  so  werden  auch  die  Schriftsteller 
noch  stärker  als  bisher  für  die  Auswahl  des  Lernstoffes  maßgebend  sein  können, 
und  wenn  dann  noch  eine  schärfere  Scheidung  zwischen  grammatischen  Lern-  und 
Lesestoff  und  eine  noch  größere  Beschränkung  auf  das  Notwendige  und  didaktisch 
Wertvolle  eintritt,  so  wird  endlich  der  unnütze  Ballast  aus  unseren  Schulen  ver- 
schwinden, den  wir  in  Grammatiken,  Vokabularien  und  Übersetzungsbüchern 
vielfach  nur  für  die  Übersetzung  in  die  Fremdsprache  bisher  haben  mitführen 
müssen.  An  Stelle  des  mechanischen,  gedächtnismäßigen  Sprachunterrichtes,  auf 
einen  derartigen  Betrieb  war  ja  der  fremdsprachliche  Unterricht  durch  das  Wochen- 
skriptum mehr  oder  minder  bisher  noch  eingestellt,  könnte  nun  etwas  Besseres  und 
Würdigeres  treten.  Neben  den  altbewährten  schriftlichen  und  mündlichen  Übungen 
könnten  auf  allen  Stufen  die  aus  Mangel  an  Zeit  völlig  aufgegebenen  Sprech- 
übungen, auf  der  Oberstufe  freie  schriftliche  Ausarbeitungen  in  bescheidenem 
Umfange  (Inhaltsangaben,  Referate)  die  Sicherheit  in  der  Beherrschung  der  alten 
Sprachen  mit  fördern  helfen;  denn  man  soll  doch  nicht  glauben,  daß  man  fremde 
Sprachen  durch  mündliche  und  schriftliche  Übersetzungen  allein  gründlich  erlernen 
könne,  und  man  möge  doch  auch  nicht  vergessen,  daß  die  viel  gerühmten  schrift- 
lichen Übersetzungen  leider  oft  zu  rein  mechanischen  Leistungen  werden.  An 
die  Stelle  des  gedächtnismäßigen  Sprachenbetriebes  könnte  sodann  eine  mehr 
sprachwissenschaftliche  Unterweisung  treten,  die  erst  neuerdings  wieder  mit  Recht 
gefordert  worden  ist*);  neben  die  gesetzgebende  und  logisch-systematisierende 
Sprachbetrachtung,  in  der  immer  noch  eine  größere  Einschränkung,  eine  bessere 
Gruppierung  und  Zusammenfassung  möglich  sein  wird,  ein  psychologischer  Sprach- 
unterricht, der  die  den  Spracherscheinungen  zugrunde  liegenden  psychischen 
Vorgänge  zum  Verständnis  bringt  und  vom  Leben  der  Sprache  ein  anschauliches 
Bild  herausarbeitet.  Es  wird  auch  die  Zeit  vorhanden  sein  für  eine  gründlichere 
Aneignung  und  eine  mehr  wissenschaftliche  Durcharbeitung  des  Wortschatzes,**) 
und  wenn  diese  Durcharbeitung  des  Sprachschatzes  zugleich  zu  einer  Einführung 
in  das  antike  Volkstum  würde,  wenn  den  grammatischen  Unterricht  von  der  Unter- 


*)  Niepmann  im  Bonner  Schulprogramm  1908  und  1911  auf  der  Versammlung  der 
Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums  in  Posen.  Von  demselben  ist  bei  Teubner  ein 
lateinisches  Übungsbuch  im  Druck.  —  Werner,  Zur  historisch-genetischen  Methode  im 
Lateinunterricht  (Neue  Jahrbücher  1910,  S.  529 — 548).  —  Der  moderne  Grammatik- 
unterricht  im  Lateinischen  (Pädagogisches  Archiv,  Januarheft  1911).  —  Williges,  Grund- 
züge einer  genetischen  Schulgrammatik  der  lateinischen  Sprache.  1908.  —  Hartmann, 
Die  Aneignung  des  lateinischen  Wortschatzes  (Monatschrift  für  höhere  Schulen  1911. 
S.  359).  —  Die  Wortfamilien  der  lateinischen  Sprache,  Bielefeld  und  Leipzig  1911. 

**)  In  einem  sehr  empfehlenswerten  Aufsatze  hat  der  Breslauer  Sprachforscher 
Schrader  das  gründliche  Vokabellernen  wieder  warm  empfohlen. 


424  G.  Schönaich, 

stufe  an  ein  stärkerer  Sachunterricht  begleitete,  so  wäre  das  nicht  bloß  ein  Gewinn 
für  das  Verständnis  der  Schriftsteller,  sondern  auch  die  beste  und  gründlichste 
Einführung  in  das  Altertum;  denn  ohne  eine  solche  unermüdliche  Kleinarbeit, 
ohne  eine  ganz  konkrete  Sachanschauung  möchte  vom  Geist  des  Altertums,  wie 
Wilhelm  Münch  einmal  sagt,  nicht  viel  Wertvolles  auf  die  jugendlichen  Gemüter 
übergehen.*)  In  der  Hauptsache  aber  fällt  die  Einführung  in  die  Antike  der  Lektüre 
zu.  Wie  durch  eine  zeitgemäßere  Erweiterung  des  Schriftstellerkanons  und  durch 
Einschränkung  der  bisher  gelesenen  Autoren,  durch  eine  stärkere  Rücksichtnahme 
auf  den  Bildungs-  und  Persönlichkeitswert,  auf  die  Eigenart  antiker  Schriftsteller 
und  die  Bedürfnisse  unserer  Zeit  schon  bei  der  Auswahl  des  Lesestoffes  die  altsprach- 
liche Lektüre  für  die  Einführung  in  die  Antike  fruchtbarer  gestaltet  werden  kann, 
das  hat  Friedrich  Leo  auf  der  19.  Jahresversammlung  des  deutschen  Gymnasial- 
vereins für  die  römische  Literatur  in  geistvoller  Weise  nachzuweisen  versucht**). 
Wenn  derselbe  Gelehrte  neben  den  bisherigen  Schulschriftstellern  ausgewählte 
Stücke  anderer  Autoren  gesetzt  wissen  will  und  in  den  oberen  Klassen  noch  ein 
lateinisches  Lesebuch  aus  Plautus,  Lukrez,  Katull,  Tibull,  Seneka,  Plinius  und 
Sueton  für  empfehlenswert  erachtet,  so  zeugt  das  von  feinem  Verständnis  auch 
für  das  Bildungsideal  der  Zeit.  Chrestomathieen  dürften  trotz  allem,  was  gegen 
sie  eingewendet  worden  ist,  neben  der  herkömmlichen  Schriftstellerlektüre 
dem  enzyklopädischen  Bildungsbedürfnis  und  dem  kulturhistorischen  Interesse 
unserer  Zeit  mehr  entsprechen,  und  nur  eine  reiche  Auswahl  der  Lektüre  dürfte 
unserer  Jugend  eine  rechte  Vorstellung  geben  von  der  Größe  und  reichen  Mannig- 
faltigkeit antiker  Kultur.  Die  Einführung  in  die  Antike  an  der  Hand  der  Schrift- 
steller geschah  bisher  in  zwiefacher  Weise.  Entweder  erhoffte  man  schon  von  der 
Lektüre  selbst,  von  dem  Verkehr  der  Jugend  mit  den  hervorragendsten  Schrift- 
stellern***) eine  Durchdringung  mit  dem  Geist  der  Antike  oder  aber  man  ließ  neben 
der  Lektüre  eine  gründliche  Unterweisung  in  den  Antiquitäten  einhergehen,  bei 
der  es  vor  allem  auf  die  Aneignung  eines  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  gruppierten 
Wissensstoffes  ankam.  Von  diesem  formalistischen  Betriebe,  der  sich  unter  dem 
Einflüsse  und  nach  dem  Vorbilde  des  Sprachunterrichtes  entwickelt  hat,  mag  sich 
nun  die  Lektüre,  da  sie  nicht  mehr  Dienerin,  sondern  Selbstzweck  ist,  zu  einer 
höheren  Betrachtung  des  Altertums  erheben.  Aus  der  mechanischen,  gedächtnis- 
mäßigen Unterweisung  in  den  Realien  sollte  eine  verständnisvolle  Einführung 
in  die  alte  Geschichte  und  eine  literarhistorische  Vertiefung  werden.  Die  Lektüre, 
stärker  in  der  Historie  fundiert,  sollte  zu  einer  quellenmäßigen  Orientierung  und 
Deutung  der  alten  Geschichte  werden,  so  daß  Religion,  Sitte,  Staat,  Literatur 
und  Kunst  der  Alten  in  ihrem  Zusammenhange,  als  geschichtliche  Faktoren  und 
Lebenskräfte  begriffen  werden,  daß  von  dem  Volkstum  der  Griechen  und  Römer, 
von  ihrer  Bedeutung  und  Größe,  wenn  auch  in  großen  Zügen,  eine  Vorstellung 
gewonnnen  und  die  Gedanken  Begriffs-  und  Vorstellungswelt  der  Alten  ins  Leben 


*)  Wilhelm  Münch,  Zeiterscheiiiungen  und  Unterrichtsfragen,  Berlin   1895,  S.  35. 
♦*)  Friedrich  Leo,  Die  römische  Literatur  und  die  Schullektüre  (Das  humanistische 
Gymnasium  1910,  Heft  V  und  VI,  S.  166). 

***)  Friedrich  Paulsen,  Das  deutsche  Bildungswesen  in  seiner  geschichtlichen  Ent- 
wicklung, Leipzig  1909,  S,  126. 


Die  Annäherung  unserer  Zeit  an  die  Antike  usw.  425 

mitgenommen  werden.  Und  aus  der  statistischen  Betrachtung  über  die  Literatur 
müßte  eine  literar-historische  Vertiefung  in  die  Lektüre  werden,  die  nicht  über 
literarische  Fragen  umständliche  Erörterungen  führt,  sondern  hterar-historische 
Probleme  sozusagen  als  Leitmotive  verwendet  und  in  der  Schriftstellerlektüre  als 
Unterrichtsprinzip  wirken  läßt*),  die  jedes  literarische  Werk  als  Produkt  der  Gesell- 
schaft, aus  der  und  für  die  es  entstanden  ist,  zu  verstehen  und  aus  den  literarischen 
Denkmälern  von  den  großen  Geschichtsschreibern,  den  Dichtern  und  Denkern 
ihrer  Zeit  lebensvolle  Bilder  zu  gewinnen  sucht.**)  Und  wie  die  philologische 
Wissenschaft  darauf  bedacht  ist,  das  Fortleben  und  Fortwirken  der  aus  der  antiken 
Welt  stammenden  Faktoren  und  Kräfte  in  unserer  Kultur  aufzuweisen  und  das  Erbe 
und  den  Ertrag  der  antiken  Kultur  zu  neuem  Leben  zu  erwecken  (Wendland), 
so  hat  auch  die  Schule  die  Pflicht,  die  Antike  dem  Volkstum  und  der  Gegenwart 
nutzbar  zu  machen.  Die  Übersetzung  der  alten  Schriftsteller  keine  bloße  gramma- 
tische Übung  und  Leistung  mehr,  sondern  wirklich  eine  ständige  Bereicherung 
im  Wortschatze  der  Muttersprache,  eine  Übertragung  nicht  im  philologischen 
Schuljargon,  auch  nicht  in  der  toten  Sprache  der  Wörterbücher,  sondern  in  wirk- 
lichem, lebendigem  Deutsch  und  eine  Übertragung,  die  auch  den  Geist  der  Sprache 
und  die  Eigenart  jedes  Schriftstellers  zu  erfassen  und  zum  Ausdruck  zu  bringen 
sich  bemüht.  Und  die  Lektüre  eine  scharfe  Durcharbeitung  der  Gedankengänge, 
ein  Suchen  und  Finden  des  Wesentlichen  und  Bedeutsamen  an  Personen,  bei  Hand- 
lungen wie  bei  zuständlichen  Schilderungen;  so  macht  sie  schon  die  Jugend  vertraut 
mit  der  Methode  wissenschaftlicher  und  geistiger  Arbeit  überhaupt  und  so  lehrt 
sie  auch  die  Kunst,  die  im  Leben  viel  bedeutet,  Menschen  und  menschliche  Dinge 
recht  zu  bewerten  und  zu  beurteilen.  Da  aber  alles  Wissen  erst  rechten  Wert  erhält, 
wenn  es  zur  Gegenwart  lebendige  Beziehung  hat,  so  muß  die  altklassische  Lektüre 
und  der  altsprachliche  Unterricht  überhaupt,  das  Altertum  zur  Gegenwart  in  Be- 
ziehung gesetzt  werden,  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  muB,  was  auch  von 
anderen  Unterrichtsfächern  gefordert  und  bereits  geleistet  wird,***)  Gegenwartsarbeit 

*)  Wie  das  geschehen  kann,  zeigt  P.  Cauer  für  die  homerische  Frage  Neue  Jahr- 
bücher 1910  II,  S.  130  und  für  die  antiken  Geschichtsschreiber  Palaestra  Vitae  VII. 

**)  Solche  Versuche  liegen  in  folgenden  Schriften  und  Werken  vor:  Jvo  Bruns,  Das 
literarische  Porträt  der  Griechen  im  4.  und  5.  Jahrhundert  vor  Christi  Geburt.    1896. 

Jvo  Bruns,  Die  Persönlichkeit  in  der  Geschichtsschreibung  der  Alten,  1898.  —  Paul 
Wendland,  Entwicklung  und  Motive  der  platonischen  Staatslehre  (Preuß.  Jahrbücher 
1909).  —  Nestle,  Euripides  als  Dichter  der  Aufklärung  1901.  —  Eduard  Schwartz,  Cha- 
rakterköpfe  aus  der  antiken  Literatur  I — II,  zuerst  1902  und  dann  1910. 

***)  Gegenwartsarbeit  wird  geleistet  von  der  Religion  durch  religionsgeschichtliche 
Betrachtung,  durch  Erörterung  theologischer  Fragen  und  Erziehung  zur  lebendigeren 
Teilnahme  am  Gemeindeleben;  in  der  Geschichte  durch  stärkere  Betonung  der  neueren 
Geschichte,  der  Wirtschaftsgeschichte,  der  Heimatkunde  und  Heimatgeschichte,  der 
Bürgerkunde;  in  der  Erdkunde  durch  das  kartographische  Herausarbeiten  des  Landschafts- 
bildes und  die  Erarbeitung  des  Zusammenhanges  zwischen  der  Natur  des  Landes  und  dem 
Leben  der  Völker;  in  der  Mathematik  durch  stärkere  Betonung  der  Physik  und  Ausblicke 
in  die  Welt  der  Anwendung  (Mechanik,  Technik,  Industrie);  in  den  Naturwissenschaften 
wird  sie  angestrebt  durch  die  Forderung  eines  Unterrichts  in  der  Biologie,  in  der  Gesund- 
heitslehre und  durch  die  Forderung  einer  sexuellen  Aufklärung.  Daß  eine  Gegenwarts- 
arbeit auch  im  deutschen  Unterricht  geleistet  werden  kann  durch  die  Wahl  der  Auf- 
satzthemen aus  dem  Gebiet  der  Bürgerkunde  und  der  neueren  Literatur,  zeigt  Paul 
Geyer  „Der  deutsche  Aufsatz",  München   1911. 


426  G.  Schönaich,  Die  Annäherung  unserer  Zeit  an  die  Antike  usw. 

verrichten  und  Gegenwartswerte  schaffen.  Neben  der  für  die  Erklärung  der  Schrift- 
steller notwendigen  Interpretation  der  Antike  muß  auch  die  den  Zusammenhang 
zwischen  der  antiken  Welt  und  der  modernen  Kultur  aufweisende  Betrachtung 
gebührend  berücksichtigt  werden,  damit  das  Übereinstimmende  zwischen  Altertum 
und  Gegenwart,  das  Fortleben  der  Antike  in  der  modernen  Kultur,  im  Staat,  in 
Religion,  Wissenschaft,  Literatur  und  Kunst,  damit  das  so  veränderte  moderne 
Weltbild  erkannt  und  die  Grundzüge  gewonnen  werden,  aus  denen  später  eine 
auf  historischer  Auffassung  und  historischer  Kritik  wohl  fundamentierte  Welt- 
und  Lebensanschauung  sich  aufbauen  läßt.  Man  lese  nur  die  gesammelten  Aufsätze 
über  Altertum  und  Gegenwart  von  Ernst  Curtius  oder  Eduard  Zellers  philosophische 
Abhandlungen,  oder  die  drei  Spaziergänge  eines  Laien  ins  klassische  Altertum 
von  Karl  Jentsch  und  Paul  Cauers  vortreffliche  Schriften  (Palaestra  vitae  und 
,Das  Altertum  im  Leben  der  Gegenwart'  1911),  und  man  wird  darüber  staunen, 
wieviel  wir  für  das  Verständnis  der  modernen  Welt  von  den  Alten  lernen  können. 

Eine  so  veränderte  Unterrichtsführung  würde  die  tiefe  Kluft,  die  sich  zwischen 
dem  altklassischen  Unterricht  mit  seinem  stark  auf  das  Formale  gerichteten  Lehr- 
ziel und  der  philologischen  Wissenschaft  seit  lange  aufgetan  hat,  wieder  schließen. 
Auch  die  philologische  Forschung  ist  ja,  wie  bereits  gezeigt  wurde,  nachdem  ver- 
wichene  Generationen  die  entsagungsvolle  Arbeit  der  Sammlung  der  Denkmäler 
geleistet  haben,  nachdem  die  textkritische  und  die  grammatische  Richtung  ihre 
Vorherrschaft  verloren  haben  und  die  Periode  der  Mikrologie  überwunden  worden 
ist,  immer  mehr  zu  einer  historischen  Wissenschaft  geworden,  die  das  Altertum 
in  allen  seinen  Lebensäußerungen  genetisch  zu  erfassen  und  seinen  Wert  und  seine 
Wirkung  auch  in  der  Gegenwart  zu  begreifen  und  zu  ergründen  sucht.  Eine  solche 
Unterrichtsführung  wäre  schließlich  auch  gleichbedeutend  mit  einem  verständnis- 
vollen Eingehen  auf  die  nimmer  ruhenden  pädagogischen  Forderungen  der  Zeit. 
Unsere  Zeit  mit  ihrer  ausgeprägten  Richtung  auf  das  Nationale,  mit  ihrem  neuen, 
von  Bismarck  begründeten  Idealismus  der  Tat,  der  Arbeit,  der  Hingabe  an  die 
großen  Zwecke  des  Vaterlandes,  verlangt  auch  von  einer  Jugenderziehung  durch 
die  Antike  Gegenwartsarbeit,  Erziehung  zum  Volkstum  und  Hinbildung  zum  Welt- 
verständnis. Wer  mit  dem  Anspruch  auftritt,  daß  eine  Erziehung  durch  Griechen 
und  Römer  noch  eine  Berechtigung  haben  soll,  der  muß  nachweisen,  worauf  Paul 
Cauer  schon  vor  nunmehr  elf  Jahren  in  einem  Düsseldorfer  Schulprogramm  mit 
feinem  Verständnis  und  in  dem  Kampf  für  die  gute  Sache  mit  taktischer  Klugheit 
hingewiesen  hat,  daß  sie  den  jugendlichen  Geist  von  der  Welt,  die  uns  umgibt, 
nicht  ablenkt,  sondern  tüchtig  machen  hilft,  sie  zu  begreifen  und  in  ihr  dereinst 
zu  wirken.*) 

Breslau.  Gustav  Schönaich. 


*)  P.  Cauer,  Wie  dient  das  Gymnasium  dem  Leben?  Düsseldorf  1900.  Man  vergleiche 
damit,  was  Cauer  in  seinem  neuesten  Werke  „Das  Altertum  im  Leben  der  Gegenwart", 
Leipzig  1911,  sagt:  „Die  alten  Sprachen  und  Literaturen  werden  sich  mit  der  bloß  noch 
geduldeten  Stellung,  die  sie  zurzeit  in  unserem  Bildungswesen  einnehmen,  auf  die  Dauer 
nicht  begnügen.  Soll  es  einmal  anders  werden,  so  ist  das  nur  auf  dem  Wege  möglich,  daß 
sie  zunächst  an  den  Interessen,  der  Lektüre,  dem  Gedankenaustausch  einer  geistig  be- 
wegten Gesellschaft  wieder  größeren  Anteil  gewinnen." 


J.  Lezius,  Zur  Lage  des  Gymnasiums  in  Rußland.  427 

Zur  Lage  des  Gymnasiums  in  Rußland. 

In  Petersburg  hat  in  der  Zeit  vom  28.  bis  31.  Dezember  a.  St.  ein  Kongreß  von 
klassischen  Philologen  getagt.  Seine  Aufgabe  war  nicht  wissenschaftlicher  Art, 
sondern  auf  den  Wunsch  des  Unterrichtsministers  hin  hatte  die  Petersburger 
Gesellschaft  für  klassische  Philologie  und  Pädagogik,  an  deren  Spitze  der  bekannte 
Epigraphiker  Latyschew  steht,  die  Lehrer  der  alten  Sprachen  an  Gymnasien  und 
Universitäten  zu  gemeinsamem  Gedankenaustausch  eingeladen,  um  sich  über  die 
Notlage  des  klassischen  Gymnasiums  auszusprechen  und  eventuell  ihre  Wünsche 
in  Form  von  Resolutionen  dem  Ministerium  zur  Kenntnis  zu  bringen.  Lehrertage 
sind  in  Rußland  eine  Seltenheit,  auch  schwer  zu  organisieren,  da  in  den  meisten 
größeren  Städten  noch  immer  der  kleine  Belagerungszustand  oder  etwas  ihm 
Ähnliches  besteht  und  die  Behörden  in  ihrer  Befürchtung,  derartige  Veranstaltungen 
könnten  in  politische  Demonstrationen  ausarten,  gewiß  bisweilen  über  das  Ziel 
hinausschießen  und  nicht  ganz  im  Sinne  der  Zentralbehörden  handeln.  Diesmal 
ging  die  Einladung  indirekt  vom  Minister  selbst  aus,  und  der  Kongreß  erhielt  sein 
besonderes  Gepräge  dadurch,  daß  nach  einer  sehr  langen  Karenzzeit  die  klassischen 
Philologen  es  wieder  einmal  erleben  durften,  daß  sie  wenigstens  von  der  zentralen 
Unterrichtsverwaltung  nicht  als  eine  überflüssige  Menschenklasse  angesehen  werden, 
sondern  daß  man  ihnen  in  der  Frage  der  Bildungsvermittelung  doch  noch  eine 
gewisse  Bedeutung  zuzuschreiben  geneigt  ist.  Dies  ist  in  Rußland  etwas  völlig  Neues, 
denn  seit  der  Reform  des  Unterrichtsministers  Wannowski  vom  Jahre  1901,  über 
die  wir  seinerzeit  in  der  Monatschrift  berichtet  haben,  schien  es,  daß  man  sich  in 
Rußland  allen  Ernstes  darauf  eingerichtet  hätte,  ohne  das  klassische  Gymnasium 
auszukommen  und  neben  der  recht  unklar  konstruierten  siebenklassigen  Real- 
schule das  von  Wannowski  an  die  Stelle  des  Gymnasiums  gesetzte  achtklassige 
Realgymnasium  mit  30  Stunden  Latein  vom  dritten  Schuljahre  an  als  einzig  mög- 
lichen Schultypus  anzusehen.  Dabei  hatte  die  Realschule  im  Jahre  1905  noch  das 
Vorrecht  erhalten,  ihre  Abiturienten  zur  Universität  zu  entlassen,  wenn  sie  sich 
als  Externe  einer  Ergänzungsprüfung  im  Lateinischen  unterzögen.  Die  an  Externe 
zu  stellenden  Anforderungen  wurden  gleichzeitig  dermaßen  herabgesetzt,  daß  man 
sich  bei  einigem  Fleiße  das  nötige  Latein  in  wenigen  Ferienmonaten  aneignen  konnte, 
um  doch  noch  nach  Ablauf  einer  siebenjährigen  Schulzeit  rechtzeitig  immatrikuliert 
zu  werden! 

Die  durch  diese  Reform  hervorgerufenen  Mißstände  waren  aber  allmählich  doch 
so  groß  geworden,  daß  das  Ministerium  nicht  länger  vor  ihnen  die  Augen  verschließen 
konnte.  Der  Studienbetrieb  an  den  Hochschulen  begann  immer  mehr  unter  der 
mangelhaften  Vorbildung  der  Studenten  zu  leiden,  und  am  meisten  litt  natürlich 
die  historisch-philologische  Fakultät.  Zwar  hatte  das  Ministerium  zuerst  verfügt, 
die  historisch-philologische  Fakultät  solle  nur  denjenigen  Abiturienten  offen  stehen, 
die  im  Lateinischen  und  Griechischen  geprüft  wären.  Doch  war  damit  wenig  ge- 
wonnen, und  die  Forderung  erwies  sich  als  unausführbar.  Einmal  waren  die  von  den 
Realgymnasien  und  den  wenigen  „klassischen"  Gymnasien  vermittelten  lateinischen 
Kenntnisse  so  unsicher  und  mangelhaft,  daß  z.  B.  Livius  für  die  meisten  Studenten 
ein  Buch  mit  sieben  Siegeln  ist,  und  noch  schlimmer  stand  es  mit  den  Kenntnissen 


428  J.  Lezius, 

im  Griechischen  bei  den  Abiturienten  der  Realgymnasien,  die  während  der  letzten 
vier  Schuljahre  am  fakultativen  griechischen  Unterrichte  teilgenommen  hatten.  Was 
d  i  e  wußten,  langte  kaum  für  Xenophon,  geschweige  fürHomer.  Und  dabei  war  dieser 
Unterricht  längst  nicht  allen  zugänglich !  Denn  da  etatmäßige  Summen  zur  Bezah- 
lung der  griechischen  Stunden  nicht  angewiesen  waren,  sondern  die  Bestreitung 
der  Unkosten  auf  die  oft  sehr  knappen  Spezialmittel  der  einzelnen  Anstalten  ab- 
gewälzt wurde,  wurde  und  wird  in  sehr  vielen  Realgymnasien  fakultativer  griechischer 
Unterricht  überhaupt  nicht  erteilt.  Beschwerlich  genug  war  er  auch  für  die  Schüler, 
da  er  über  die  normale  Stundenzahl  hinaus  in  Extrastunden  abgehalten  wurde. 
So  blieb  nichts  anderes  übrig,  als  den  Abiturienten  der  Realgymnasien  auch  ohne 
griechische  Vorkenntnisse  den  Besuch  der  historich-philologischen  Fakultäten  zu 
gestatten,  denn  wenn  man  sich  auf  den  geringen  Zuzug  verlassen  wollte,  den  die 
wenigen  übriggebliebenen  „klassischen"  Gymnasien  liefern  konnten,  so  setzte 
man  die  Fakultäten  auf  den  Aussterbezustand,  beraubte  die  gebildete  Gesellschaft 
der  Möglichkeit,  in  ihrer  Mitte  noch  Elemente  mit  wissenschaftlicher  historisch- 
philologischer Vorbildung  zu  sehen  und  schnitt  sich  die  Möglichkeit  ab,  in  Zukunft 
sogar  Lehrer  der  Geschichte  und  russischen  Sprache  zu  haben,  da  ja  auch  diese 
nur  aus  diesen  Fakultäten  hervorgehen  konnten.  Die  Fakultäten  hielten  nun  ihrer- 
seits an  der  selbstverständlichen  Forderung  fest,  daß  nicht  nur  die  klassischen 
Philologen,  sondern  auch  die  Historiker  und  Slavisten,  ebenso  die  an  zwei  Universi- 
täten vorhandenen  Romanisten  und  Germanisten  im  Lateinischen  und  Griechischen 
geprüft  werden  müßten,  und  richteten  für  die  Abiturienten  der  Realgymnasien 
besondere  griechische  Vorkurse  ein.  Doch  war  das  natürlich  nur  ein  kümmerlicher 
Notbehelf,  und  ein  erschreckendes  Sinken  des  Kenntnisstandes  ließ  sich  nicht  ver- 
meiden. Die  Studenten  bestanden  nach  Abschluß  des  einjährigen  Vorkursus  eine 
Rezeptionsprüfung,  in  der  sie  die  notwendigste  Kenntnis  der  Formenlehre  nach- 
zuweisen und  über  die  wenigen  aus  der  Anabasis  durchgenommenen  Abschnitte 
Rechenschaft  abzulegen  hatten.  Damit  erhielten  sie  das  Recht,  ein  Interpretations- 
kolleg zu  belegen.  Diese  kümmerliche  Vorbildung,  die  kaum  dem  Niveau  der 
früheren  Obertertianer  entsprach,  war  an  die  Stelle  der  bisherigen  schon  nicht 
glänzenden  Abiturientenkenntnisse  getreten  und  mußte  natürlich  den  Charakter 
der  Interpretationsvorlesungen  völlig  verändern.  Sie  sind  vielfach  zu  einem  sekun- 
danermäßigen Vorübersetzen  leichter  Texte  hinabgesunken,  wobei  einfache  Formen 
erklärt  und  Vokabeln  diktiert  werden.  Die  lateinischen  Kenntnisse  sind  wieder 
dermaßen  zurückgegangen,  daß  Livius,  wie  schon  gesagt,  die  Kräfte  der  meisten 
jungen  Historiker  übersteigt  und  sich  an  Tacitus  kaum  jemand  heranwagt.  Die 
Unfähigkeit,  einfache  Formen  zu  erkennen,  ist  bisweilen  erstaunlich  groß,  dafür 
sind  aber  auch  in  den  meisten  Realgymnasien  alle  Übungen  im  Übersetzen  aus  dem 
Russischen  ins  Lateinische  in  Acht  und  Bann  erklärt. 

Aber  auch  in  den  anderen  Fakultäten  merkte  man  ein  allgemeines  Nachlassen. 
Den  mangelhaften  lateinischen  und  meist  völlig  fehlenden  griechischen  Kennt- 
nissen stand  durchaus  nicht  ein  Steigen  des  Kenntnisstandes  in  der  Mathematik 
gegenüber,  ebenso  waren  die  Leistungen  in  der  Geschichte,  im  Deutschen  und 
Französischen  und  in  der  Muttersprache  (dem  Russischen)  nicht  etwa  höher,  sondern 
niedriger  als  früher,  obgleich  man  sich  auch  auf  den  beliebten  modernen  Standpunkt 


Zur  Lage  des  Gymnasiums  in   Rußland.  429 

gestellt  hatte,  daß  in  Rußland  natürlich  das  Russische  im  Mittelpunkte  des  Unter- 
richts zu  stehen  hätte.  Vor  allem  machte  sich  eine  bedenkliche  Abschwächung  der 
allgemeinen  Leistungsfähigkeit,  der  Arbeitskraft  und  Arbeitslust  immer  mehr 
fühlbar.  Der  Schule,  die  zur  Universität  vorbereitete,  war  der  Ernst  verloren 
gegangen,  und  sie  war  nicht  imstande,  Jünglinge  heranzubilden,  die  mit  wirklichem 
Erfolge  ein  wissenschaftliches  Studium  ergreifen  konnten.  Die  Minister  haben  wieder- 
um seit  dem  Jahre  1898  so  rasch  gewechselt,  daß  keiner  von  ihnen,  selbst  wenn 
er  dazu  befähigt  gewesen  wäre,  ein  größeres  Reformwerk  hätte  durchführen  können. 
In  Kommissionen  wurde  schätzbares  Material  gesammelt,  aber  die  Taten  blieben 
aus.  Etwas  Greifbares  geschah  nur  unter  dem  Amtsvorgänger  des  gegenwärtigen 
Ministers,  indem  er  durch  verschiedene,  teils  praktische,  teils  unpraktische  Maß- 
regeln die  völlig  ins  Wanken  geratene  Disziplin  wiederherzustellen  suchte.  Etwas 
Positives,  von  einem  schöpferischen  Gedanken  Eingegebenes  erfolgte  nicht,  sondern 
man  ließ  die  Dinge  gehen.  Eingegriffen  hat  erst  der  jetzige  Minister,  indem  er 
eine  schon  im  Jahre  1905  von  dem  Direktor  des  römisch-katholischen  Gymnasiums 
in  Petersburg  Herren  Stephan  Cybulski  gegebene  Anregung  aufnahm  und  den 
ersten  Kongreß  von  klassischen  Philologen  und  Schulmännern  veranlaßte. 

Zahlreich  waren  Gymnasiallehrer  und  Universitätsprofessoren  dem  an  sie 
ergangenen  Rufe  gefolgt,  und  nachdem  sie  vier  Tage  versammelt  gewesen  waren 
und  nachdem  in  Reden  und  Verhandlungen  viel  graue  Theorie  und  uferloser  Doktri- 
narismus, aber  auch  mancher  praktische  Gedanke  zutage  gefördert  worden  war, 
einigte  man  sich  auf  einige  ganz  bestimmte  Resolutionen,  die  dem  Ministerium 
unterbreitet  werden  sollten.  Bei  den  Verhandlungen  zeigte  sich  ein  gewisser  Gegen- 
satz zwischen  der  älteren  und  jüngeren  Generation.  Während  bei  den  Vertretern 
der  ersteren  ein  entschlossenes  Eintreten  für  das  Gymnasium  im  Sinne  seiner 
Wiederherstellung  zutage  trat,  hatten  sich  manche  jüngere  offenbar  mit  dem 
gegenwärtigen  Zustande  abgefunden.  Sie  waren  wohl  selbst  schon  Zöglinge  des 
Wannowskischen  Realgymnasiums,  kannten  keinen  anderen  Schultypus  und  waren 
mit  ihrer  geduldeten  Stellung  zufrieden,  die  sie  in  den  Stand  setzte,  nicht  etwa 
in  gründlicher  Weise  Latein  zu  unterrichten  und  die  Schüler  in  den  Autoren  heimisch 
werden  zu  lassen,  sondern  den  sogenannten  Geist  des  klassischen  Altertums  zu 
verzapfen,  wobei  Deklinationen  und  Konjugationen  nicht  gerade  verboten  sind, 
aber  als  öder  Formelkram  natüriich  das  allgemeine  Behagen  nicht  stören  dürfen. 
Aus  ihren  Reihen  wurden  daher  auch  Bedenken  geäußert,  als  von  der  anderen  Seite 
auf  die  Notwendigkeit  eines  gründlichen  grammatischen  Unterrichts  hingewiesen 
wurde,  und  gegen  die  Wiederherstellung  des  sogenannten  Tolstoischen  Gymnasiums, 
wie  es  1871  begründet  und  1901  zu  Grabe  getragen  worden  war,  wurde  sogar  Ver- 
wahrung eingelegt.  Doch  wurden  die  Bedenken  zerstreut,  als  sich  erwies,  daß  die 
Anhänger  des  alten  Gymnasiums  nicht  daran  dachten,  für  dieses  besondere  Vor- 
rechte zu  beanspruchen  oder  es  gar  als  den  einzig  gestatteten  Typus  einer  höheren 
Schule  (oder  Mittelschule,  wie  man  in  Rußland  sagt)  hinzustellen.  Es  wurde  immer 
wieder  betont,  daß  man  für  das  Gymnasium  nur  die  einfache  Daseinsberechtigung 
unbeschadet  der  anderen  Schultypen  veriange,  damit  diejenigen  Eltern,  die  nun 
einmal  aus  irgend  welchen  Gründen  eine  derartige  Schulung  ihrer  Söhne  wünschten, 
die  Möglichkeit  hätten,  sie  ihnen  zuteil  werden  zu  lassen.    Es  wurde  ausdrücklich 


430  J.  Lezius,  Zur  Lage  des  Gymnasiums  in  Rußland. 

ausgesprochen,  daß  jeder  Zwang  ausgeschlossen  sein  und  diejenigen,  die  eine  andere 
Bildung  wünschten,  durchaus  die  Möglichkeit  haben  müßten,  ihre  Söhne  ins 
Realgymnasium  oder  in  die  Realschule  zu  geben.  Damit  war  der  Boden  zu  einer 
Verständigung  geschaffen,  und  die  vom  Präsidium  ausgearbeiteten  Resolutionen 
wurden  in  der  Schlußversammlung  ohne  Anstand  angenommen.  Die  wichtigsten 
von  ihnen  lauten: 

1.  Der  Kongreß  stellt  fest,  daß  die  Schulreform  vom  Jahre  1901,  die  das 
Griechische  als  Pflichtfach  aus  dem  Gymnasium  beseitigte,  nicht  nur  die  Kenntnisse 
der  Schüler  in  den  alten  Sprachen  in  erschreckender  Weise  verringert  hat,  was 
durch  einmütige  Erklärungen  von  Gymnasiallehrern  und  Universitätsprofessoren 
bekundet  wird,  sondern  daß  sie  gleichzeitig  die  Leistungen  in  den  übrigen  Unterrichts- 
fächern nicht  etwa  erhöht,  sondern  im  Gegenteil  die  Arbeitsfähigkeit  der  Schüler 
vermindert,  Dilettantismus  und  Oberflächlichkeit  entwickelt  und  dazu  beigetragen 
hat,  daß  die  Schüler  in  weitem  Maße  von  der  Schule,  die  sie  besucht  haben,  un- 
befriedigt sind. 

2.  In  allen  Städten  mit  mehreren  Mittelschulen  verschiedener  Typen  muß 
wenigstens  eine  von  ihnen  ein  rein  klassisches  Gymnasium  sein  mit  obligatorischem 
lateinischen  und  griechischen  Unterricht,  entsprechend  dem  allgemeinen  für  Rußland 
festgesetzten  Gymnasialtypus. 

3.  In  den  klassischen  Gymnasien  muß  die  für  Lateinisch  und  Griechisch 
bestimmte  Stundenzahl  so  bemessen  sein,  daß  das  Ziel  des  Unterrichts  erreicht 
werden  kann. 

4.  Bei  der  Abiturientenprüfung  müssen  die  Kenntnisse  der  Examinanden 
den  Anforderungen  entsprechen,  die  im  Jahre  1890  aufgestellt  worden  sind.  (Unter 
anderem  eine  schriftliche  Übersetzung  aus  dem  Lateinischen  und  Griechischen. 
Im  Jahre  1900  wurde  die  schriftliche  Prüfung  abgeschafft.) 

5.  Wünxhenswert  ist  eine  derartige  Gestaltung  des  Unterrichts  im  Latei- 
nischen und  Griechischen,  daß  die  Schriftstellerlektüre  zwar  im  Mittelpunkte 
steht,  aber  durch  eine  gründliche  grammatische  Unterweisung  vorbereitet  wird, 
wobei  durchaus  Übungen  im  schriftlichen  Übersetzen  anzustellen  sind. 

6.  Die  Grammatiken  der  Sprachen,  die  im  Gymnasium  gelehrt  werden, 
müssen  miteinander  im  Einklang  stehen  und  dürfen  nicht  gegenseitige  Wider- 
sprüche enthalten. 

Das  sind  die  wichtigsten  Resolutionen.  Die  letzte,  die  auch  in  manchem  anderen 
Lande  nötig  wäre,  ist  dadurch  hervorgerufen,  daß  die  russische  Schulgrammatik 
noch  völlig  auf  dem  Beckerschen  Standpunkte  steht,  und  die  Schüler  natürlich  in 
Verwirrung  geraten  müssen,  wenn  dieselben  Spracherscheinungen  beim  russischen 
Lehrer  eine  ganz  andere  Erklärung  finden,  als  die  vom  lateinischen  oder  griechischen 
Lehrer  gebotene.  Die  übrigen  Resolutionen  waren  allgemeinen  Inhaltes.  Erwähnens- 
wert ist  eine,  worin  die  Zulässigkeit  eines  besonderen  hellenischen  Gymnasiums 
als  Nebentypus  ausgesprochen  wurde.  In  ihm  sollte  mit  dem  griechischen  Unter- 
richte begonnen  werden,  und  das  Griechische  sollte  das  Obergewicht  über  das 
Lateinische  haben.  Der  Wunsch  erklärt  sich  aus  der  Eigenart  der  russischen  Kultur- 
entwickelung. Rußland  ist  nicht  von  Rom,  sondern  von  Konstantinopel  aus  christia- 
nisiert worden.    Die  „Kaiserstadt"  war  für  die  Russen  während  des  Mittelalters 


A.  Tilmann,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  d.  außerpreuß.  Universitäten.     431 

nicht  die  Stadt  auf  den  sieben  Hügeln,  sondern  die  schimmernde  Residenz  der 
byzantinischen  Kaiser  am  goldenen  Hörn.  Die  kirchliche  Gelehrsamkeit  war 
byzantinisch,  der  höhere  Klerus  lange  Zeit  zum  Teil  griechisch,  die  Kirchen  haben 
noch  jetzt  vielfach  griechische  Inschriften,  und  daß  die  Tradition  bis  heute  niemals 
unterbrochen  worden  ist,  sieht  man  daraus,  daß  die  russischen  Priesterseminare 
bis  jetzt  an  der  mittel-  und  neugriechischen  itazistischen  Aussprache  festhalten. 
Rom  und  die  lateinische  Sprache  sind  in  Rußland  längst  nicht  dermaßen  mit  der 
allgemeinen  Kulturüberlieferung  verwachsen,  wie  etwa  bei  den  romanischen, 
germanischen  und  westslawischen  Völkern.  Die  Resolution,  die  von  einigen  Kongreß- 
mitgliedern warm  vertreten  wurde,  fand  Annahme,  doch  wurde  gleichzeitig  die 
Ansicht  ausgesprochen,  daß  sie  im  besten  Falle  nur  ganz  vereinzelt  praktische 
Folgen  haben  könne.  Rußland  ist  während  der  letzten  zwei  Jahrhunderte  doch 
schon  zu  sehr  in  das  allgemeine  europäische  Kulturgetriebe  hingezogen  worden, 
als  daß  es  noch  in  nennenswertem  Umfange  durch  Vermittelung  des  Byzantinertums 
und  mit  Überspringung  des  Rcmertums  direkt  beim  Hellenismus  anknüpfen  könnte. 

Nach  der  Annahme  der  Resolutionen  wurde  der  Kongreß  geschlossen.  Bei  der 
freundlichen  Stellung  des  Ministeriums  hat  es  den  Anschein,  daß  er  wirklich  einen 
Markstein  in  der  Geschichte  der  russischen  Schule  bilden  und  daß  das  Gymnasium 
in  Rußland  —  niemandem  zu  Leide  —  wieder  erstehen  wird. 

Reval.  Joseph  Lezius. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen 

Universitäten. 

Erlangen,  Freiburg,  Gießen,  Heidelberg,  Jena,  Leipzig,  München,  Rostock,  Straß- 
burg, Tübingen  und  Würzburg  im  Winter-Semester  1 9*1 1/12. 

Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studierende,  die  nicht  auf 
Grund  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  immatrikuliert  waren,  unberücksichtigt. 
Von  den  nachstehenden  Zusammenstellungen  umfaßt  die  erste  alle  im  Winter- 
Semester  1911/12  an  den  genannten  Universitäten  immatrikuHerten  Studierenden, 
die  zweite  nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten  Semester 
standen. 

L    Im  Winter-Semester  1911/12  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  1259  Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     1229 
„        „  „  „      Realgymnasiums    .    .        23 

„        „  „  einer  Oberrealschule    ...  7 

b)  in    der    Katholisch -Theologischen    Fakultät    843    Studierende,    alle 
immatrikuliert:  auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  4364  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  3586 

.  tj        n  „  „     Realgymnasiums   .   .     569 

»        ,,  ,,  einer  Oberrealschule   .   .   .     209 


432 


A.  Tilmann, 


d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  6267  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  4832 
„        „  „  „      Realgymnasiums   .   .   1024 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...     411 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  9534  Studierende,   davon   immatri- 
kuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  5977 
„        „  „  „      Realgymnasiums   .    .  2049 

„        „  „  einer  Oberrealschule   .   .   .  1508 

Hiervon  studierten: 


1.  Philosophie  847  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 

„        „  „  „  Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch*)  2240  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 
„        „  „  „      Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule  . 

3.  Neuere  Philologie*)  2006  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 
„        „  „  „      Realgymnasiums 

einer  Oberrealschule   . 


4.  Geschichte*)  534  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 
„        „  „  „      Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  3233  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 
„        „  „  „      Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

6.  Sonstige  Studienfächer  674  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   . 
„        „  „  „      Realgymnasiums 

„        „  „  einer  Oberrealschule   . 

II.  Von  den  unter  I.  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  in   der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät   190  Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     182 
,,         „  „  „      Realgymnasiums    .    .         6 

einer  Oberrealschule    ...         2 


617 

159 

71 

1984 

160 

96 

996 
638 
372 


395 

103 

36 

1560 
843 
830 

425 
146 
103 


*)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg 
bei  der  Geschichte  nachgewiesen. 


Die  Reifezeugnisse   der  Studierenden  der  außerpreußischen   Universitäten.  433 

b)  in    der   Katholisch-Theologischen  Fakultät   204   Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 204 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  518  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

au!  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  408 

„        „                  „                „      Realgymnasiums   .   .  74 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  36 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  692  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  522 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums   .    .  85 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  85 

e)  in   der  Philosophischen  Fakultät  960  Studierende,   davon   immatri- 
kuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  592 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums   .    .  150 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  218 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  114  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  85 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums   .   .  15 

,,         „                 „             einer  Oberrealschule    ...  14 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch*)  162  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  139 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums   .    .  11 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  12 

3.  Neuere  Philologie*)  247  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  135 

„        „                  „                „      Realgymnasiums   .   .  50 

„        „                  „              einer  Oberrealschule   ...  62 

4.  Geschichte*)  54  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  40 

„        „                 „                „      Realgymnasiums   .   .  8 

„        „                 „              einer  Oberrealschule   ...  6 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  304  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  150 

„        „                 „                „      Realgymnasiums   .    .  53 

einer  Oberrealschule   ...  101 


*)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg 
bei  der  Geschichte  nachgewiesen. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  28 


434  A.  Tilmann,   I,  Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  usw. 

6.  Sonstige  Studienfächer  79  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....      43 
„        „  „  „     Realgymnasiums   .    .       13 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...      23 

Gr.-Lichterfelde.  A.  Tilmann. 


I.  Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  in  die  Quellen  des 
römischen  Rechts.  —  II.  Die  Anfängerkurse  im  Griechischen 
für  Studierende  der  Juristischen,  Medizinischen  und  der  Philo- 
sophischen Fakultät. 

I.  Im  Sommersemester  1912  haben  an  den  Kursen  zur  sprachlichen  Einfüh- 
rung in  die  Quellen  des  römischen  Rechts  an  den  preußischen  Universitäten  im 
ganzen  233  Studierende  der  Rechtswissenschaft  teilgenommen.  Das  Reifezeugnis 
eines  Gymnasiums  hatten  44,  eines  Realgymnasiums  120,  einer  Oberrealschule  69. 
Preußen  waren  211,  Deutsche  aus  anderen  Bundesstaaten  20,  Ausländer  2.  Von 
den  Studierenden  der  Rechtswissenschaft  standen  48  im  ersten  Semester,  14  im 
zweiten,  44  im  dritten,  18  im  vierten,  65  im  fünften,  19  im  sechsten,  16  im  siebenten, 
5  im  achten,  3  im  neunten,  1  im  fünfzehnten. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  wie  folgt: 
Berlin  87,  Bonn  38,  Breslau  17,  Greifswald  9,  Halle  15,  Kiel  15,  Marburg  31, 
Münster  21. 

II.  Im  Sommersemester  1912  haben  an  den  Anfängerkursen  im  Griechischen 
für  Studierende  der  Juristischen,  Medizinischen  und  Philosophischen  Fakultät  auf 
den  preußischen  Hochschulen  im  ganzen  230  Studierende  teilgenommen,  davon 
1  Theologe,  47  Juristen,  5  Mediziner  und  177  Angehörige  der  philosophischen 
Fakultät.  Von  letzteren  studierten  klassische  Philologie  9,  neuere  Philologie  71, 
Deutsch  42,  Geschichte  28,  Mathematik  und  Naturwissenschaften  6,  Staatswissen- 
schaften 1,  sonstige  Fächer  20.  Von  den  Teilnehmern  der  Kurse  hatten  13  das 
Reifezeugnis  eines  Gymnasiums,  143  eines  Realgymnasiums,  53  einer  Oberrealschule 
und  21  Zeugnisse  anderer  Schulen.  Preußen  waren  196,  Deutsche  aus  anderen 
Bundesstaaten  26,  Ausländer  8.  Von  den  47  Studierenden  der  Rechte,  die  den 
Kursus  besuchten,  standen  im  ersten  Semester  14,  im  zweiten  7,  im  dritten  8, 
im  vierten  3,  im  fünften  10,  im  sechsten  1  und  im  siebenten  4. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  an  diesem  Kursus 
wie  folgt:  Berlin  94,  Bonn  8,  Breslau  23,  Göttingen  21,  Greifswald  14,  Halle  5, 
Kiel  23,  Königsberg  15,  Marburg  14,  Münster  13. 

Gr.-Lichterfelde.  A.  Tilmann. 


Statistisches  über  das  Frauenstudium. 

Im  Sommersemester  1912  studierten  an  den  preußischen  Universitäten 
2436  Frauen;  im  Sommersemester  1911  waren  es  2312.  Auf  die  Fakultäten 
verteilen  sie  sich  folgendermaßen: 


A.  Tilmann,  Statistisches  über  das  Frauenstudium.  435 

1912  1911 

Theologische  Fakultät    21  29 

Juristische            „         18  18 

Medizinische         „          322  268 

Philosophische      „          2075  1997 

Von  den  2436  studierenden  Frauen  des  Sommersemesters  1912  waren  imma- 
trikuliert, 1970;  die  übrigen  466  waren  als  Gastzuhörerinnen  zugelassen. 
Die  1970  Immatrikulierten  verteilen  sich  wie  folgt: 

Theologische  Fakultät  10 

Juristische            „  15 

Medizinische         „  312 

Philosophische      „  1633 

Groß-Lichterfelde.  A.  Tilmann. 


Fünfter  Ruderkursus  für  Oberlehrer  höherer  Lehranstalten 
Preußens  in  Wannsee  1912. 

Nach  den  erschöpfenden  Ausführungen  des  Herrn  Prof.  Stade  über  den  vierten 
Ruderkursus  im  Jahrgang  X,  Heft  8  dieser  Monatschrift  kann  ich  mich  über  ver- 
schiedene Einzelheiten  kürzer  fassen.  Dafür  werde  ich  einiges  andere  hier  mit- 
berühren. 28  Herren,  darunter  3  Hamburger,  fanden  sich  im  Laufe  der  ersten 
Maiwoche  im  Schülerbootshause  am  Wannsee  ein.  Der  Altersunterschied  war  ein 
ganz  beträchtlicher,  er  betrug  fast  27  Jahre.  Wenn  Männer  von  über  50  Jahren 
noch  sich  mit  wahrem  Feuereifer  den  anstrengenden  Ruderübungen  unterziehen, 
die  sie  befähigen  sollen,  Ersprießliches  in  der  körperlichen  Ertüchtigung  der  Jugend 
unserer  besten  Kreise  zu  leisten,  ist  das  nicht  ein  hervorragender  Beweis  für  die 
Anziehungskraft,  die  der  Ruderbetrieb  besitzt?  Wer  ihn  einmal  so  wie  wir  Teil- 
nehmer des  Kursus  kennen  gelernt  hat,  versteht  das.  Darum  sollte  der  Staat 
möglichst  vielen  Amtsgenossen  die  Gelegenheit  dazu  bieten.  Ich  kann  mir  deshalb 
nicht  versagen,  hier  folgenden  Wunsch  auszusprechen,  der  auf  Anregung  von 
Herrn  Prof.  Wickenhagen,  dem  verdienstlichen  Leiter  der  Ruderkurse,  in  einzelnen 
Anstalten  schon  verwirklicht  ist:  in  allen  höheren  Schulen  müßte  die  Möglichkeit 
des  Kastenruderns  geschaffen  werden.  Dann  könnte  und  würde  jeder  Amtsgenosse 
am  eigenen  Leibe  erfahren,  wie  außerordentlich  wohltuend  und  kräftigend  die  Be- 
tätigung gerade  der  wichtigsten  Körperteile  beim  Rudern  auf  den  ganzen  Organismus 
einwirkt.  Alter  und  körperliche  Anlage  würden  dabei  keine  oder  nur  eine  geringe 
Rolle  spielen,  da  der  Ruderbetrieb  es  gestattet,  daß  der  eine  daran  teilnimmt,  fast 
ohne  dem  Körper  eine  Anstrengung  zuzumuten,  daß  ein  anderer  dagegen  sämt- 
liche Muskelgruppen  mit  stärkster  Anspannung  arbeiten  läßt.  Die  Kosten  einer 
solchen  Anlage  sind  nicht  übermäßig  hoch,  und  da  die  vorhandene  Zeit  es  erlaubt, 
daß  neben  Schülern  und  Lehrern  auch  andere  Herren  der  betreffenden  Städte 
die  Einrichtung  gegen  eine  geringe  Entschädigung  benutzen,  so  würde  sich  sogar 
eine  geringe  Verzinsung  des  aufgewendeten  Kapitals  ergeben.    Die  ideellen  Zinsen, 

28* 


436  R.  Uhl, 

die  diese  Anregung  zur  körperlichen  Betätigung  so  vieler  unter  den  denkbar 
günstigsten  Bedingungen  bringen  würde,  nämlich  die  Gesundung  der  Einzelnen, 
würden  natürlich  allein  schon  reichlich  die  Aufwendung  der  Gelder  rechtfertigen. 

Da  ich  die  Kostenfrage  hier  einmal  angeschnitten  habe,  möchte  ich  gleich  noch 
folgendes  zur  Erwägung  stellen:  wenn  ich  recht  verstanden  habe,  so  müssen  die 
am  Schülerbootshaus  Wannsee  beteiligten  Schulen  für  die  Benutzung  seiner  Ein- 
richtungen jährlich  800  M.  bezahlen,  und  die  Herren  Protektoren  erhalten  für  ihre 
Aufwendungen  im  Dienste  des  Schülerruderns  eine  Vergütung  von  500  M.  Die 
Berliner  Verhältnisse  bringen  es  mit  sich,  daß  diese  uns  Kleinstädtern  ziemlich  hoch 
erscheinenden  Summen  nur  gerade  angemessen  sind.  Und  wir  freuen  uns,  daß  für 
die  Berliner  Schulen  alles  so  schön  geordnet  ist,  keiner  aber  wird  sich  wundern, 
daß  wir  Provinzler  den  Wunsch  hegen,  auch  in  geordnete  Verhältnisse  zu  kommen. 
Den  Berlinern  stehen  in  ihren  Bootshäusern  Materialien  und  vorzügliche  Arbeits- 
kräfte zu  Reparaturen  aller  Art  jederzeit  zur  Verfügung.  In  unsern  kleinen  An- 
lagen fehlt  alles.  Es  wäre,  denke  ich,  angebracht,  eine  Summe  in  den  Etat  der 
Anstalt  einzustellen,  die  es  ermöglicht,  nach  und  nach  das  notwendige  Arbeitszeug 
für  das  Bootshaus  zu  beschaffen.  Das  ist  um  so  berechtigter,  als  die  kleinen  Boots- 
häuser dieser  Schulen  überhaupt  nicht  viel  mehr  kosten  als  der  Jahresaufwand 
einer  Berliner  Anstalt  für  Ruderzwecke  beträgt.  Außerdem  würden  die  Reparaturen, 
wenn  die  Boote  jedesmal  zu  einer  Bootswerft  geschickt  werden  müßten,  den  Be- 
trieb für  die  Schüler  ungeheuerlich  verteuern.  In  den  Etat  dieser  Anstalten  wäre 
auch  eine  Vergütung  für  die  Protektoren  einzustellen.  Die  Festsetzung  dieser 
Vergütung  wäre  möglichst  einheitlich  zu  gestalten,  wobei  die  besonderen  Verhält- 
nisse der  einzelnen  Städte  natürlich  berücksichtigt  werden  müßten.  Denn  daß 
auch  die  Protektoren  in  kleineren  Orten  besondere  Aufwendungen  für  die  Teil- 
nahme an  diesen  Schülerübungen  machen  müssen,  ist  wohl  selbstverständlich. 
Zur  Begründung  der  Forderung  glaube  ich  noch  anführen  zu  dürfen,  daß  der  Ruder- 
sport das  Leben  des  Lehrers,  auch  wenn  er  sehr  vorsichtig  ist,  immerhin  in  einem 
Grade  gefährdet,  der  ihn  daran  denken  lassen  muß,  seiner  Familie  durch  eine 
Lebensversicherung  wenigstens  eine  kleine  Sicherheit  für  den  frühzeitigeren  Todes- 
fall ihres  Ernährers  zu  verschaffen. 

Doch  wir  müssen  zurück  zu  unserem  eigentlichen  Thema. 

Nachdem  am  1.  Mai,  vormittags  10  Uhr,  im  freundlichen  Versammlungs- 
zimmer des  Schülerbootshauses  von  Herrn  Prof.  Wickenhagen  mit  einer  Begrüßungs- 
ansprache, Festsetzung  einer  Arbeitsordnung  etc.  der  fünfte  Ruderkursus  eröffnet 
war,  wurde  den  Mitgliedern  durch  Angestellte  des  Welthauses  Hertzog  Gelegenheit 
geboten,  sich  mit  den  nötigen  Ruderanzügen  zu  versehen.  Der  eigentliche  Dienst 
begann  erst  am  nächsten  Tage  und  spielte  sich  so  ab,  wie  es  Herr  Prof.  Stade  ge- 
schildert hat.  Vorträge  der  verschiedensten  Art  sorgten  dafür,  daß  neben  dem 
Körper  auch  der  Geist  Anregung  erhielt.  Die  Themen  der  Vorträge  mögen  hier 
eine  Stelle  finden: 

Der  Entwicklungsgang  des  Schülerruderns  in  Preußen.  Organisation  des 
Schülerrudervereins  Wannsee.    (Prof.  Wickenhagen.) 

Eine  Bootsfahrt  von  Leitmeritz  nach  Wannsee.    (Prof.  Rumland.) 

Haftpflicht  und  Versicherungswesen.    (Prof.  Haagen.) 


Fünfter  Ruderkursus  für  Oberlehrer  höherer  Lehranstalten  usw.  437 

Wanderrudern  oder  Wettrudern?  (Prof.  an  der  Universität  Dr.  R.  du  Bois- 
Reymond.) 

Kameradschaftsleben  und  Geselligkeit  im  Ruderverein.  (Prof.  Dr.  Paape.) 

Vorteile  und  Nachteile  des  Sportbetriebes  in  den  Vereinigten  Staaten  unter 
besonderer  Berücksichtigung  der  höheren  Schulen  (nach  eigenen  Beobachtungen). 
(Oberlehrer  Dr.  Brinkmann.) 

Wie  ist  die  Schülerregatta  mit  Nutzen  zu  veranstalten?  (Oberlehrer  Dr. 
Platow.) 

Hilfeleistung  bei  Unglücksfällen,  künstliche  Atmung  bei  anscheinend  Er- 
trunkenen, Körpermessungen  (mit  Demonstrationen).     (Prof.  Dr.  med.  Schütz.) 

Schülerrudern  und  Heeresdienst.     (Oberlehrer  Naumann.) 

Ein  Blick  auf  den  Vortragsplan  bei  Stade  zeigt,  daß  die  meisten  Themen 
neu  sind,  ein  Beweis  dafür,  wie  der  verdienstvolle  Leiter  des  Kursus  bestrebt  ist, 
den  Mitgliedern  nur  das  Beste  und  für  die  Ausbildung  Wichtigste  zu  bieten.  An 
die  meisten  Vorträge  schlössen  sich  Besprechungen  an,  einzelne  regten  einen  leb- 
haften Gedankenaustausch  an,  indem  Herren  des  Kursus  aus  ihren  Erfahrungen 
heraus  Einwendungen  erhoben  oder  Auskünfte  erbaten.  Allen  Herrrn,  die  sich  in 
den  Dienst  unserer  Belehrung  gestellt  haben,  sei  hier  nochmals  herzlicher  Dank 
ausgesprochen. 

Besonderen  Dank  verdient  auch  der  Leiter  der  Handfertigkeitsübungen,  Herr 
Dr.  Pfeiffer.  Er  verstand  es  ausgezeichnet,  alles,  was  in  dies  Gebiet  gehört,  teils 
mit  klaren  Worten  zu  beschreiben,  teils  praktisch  vorzuführen;  einzelnen  besonders 
eifrigen  Herren  wurde  auch  Gelegenheit  geboten,  das  Vorgeführte  nachzuahmen 
und  zu  üben.  Dabei  möchte  ich  einen  Punkt  der  Beachtung  für  die  Zukunft  emp- 
fehlen: diese  Uebungen  so  zu  veranstalten,  daß  zwei  Herren  die  praktische  An- 
leitung geben,  gerade  so  wie  es  beim  eigentlichen  Ruderbetrieb  (Jer  Fall  ist,  wo 
die  Herren  Prof.  Rumland  und  der  Trainer  Herr  Rauscher  sich  gegenseitig  außer- 
ordentlich glücklich  ergänzten.  Diese  Uebungen  sind  für  alle  die  Vereine,  die 
ihre  Boote  zu  Reparaturen  weithin  verschicken  müßten,  von  allergrößtem  Werte 
und  können  nicht  ausführlich  genug  durchgenommen  werden.  Bei  der  Menge  der 
Mitglieder  war  es  oft  nicht  möglich,  in  genügende  Nähe  des  Vortragenden  oder 
Anleitenden  zu  kommen,  um  alles  genau  sehen  und  auch  selbst  üben  zu  können. 
Für  die  in  diesen  Dingen  verwöhnten  Berliner  Rudervereine,  denen  der  treffliche 
Bootshauswart  alle  derartigen  Arbeiten  abnimmt,  mag  es  ja  weniger  bedeutsam 
sein.  Es  muß  dabei  aber  doch  gerade  auf  die  Schulen  Rücksicht  genommen  werden, 
die  nicht  so  günstig  gestellt  sind,  und  diese  werden,  je  mehr  das  Rudern  sich  aus- 
breitet, bei  den  Kursen  immer  mehr  in  den  Vordergrund  treten.  Ich  freue  mich, 
daß  das  Gelernte  mich  vor  kurzem  in  einem  ziemlich  verzweifelten  Falle  befähigte, 
das  Boot  soweit  zu  dichten,  daß  wir  ohne  Unfall  eine  12  km  lange  Strecke  zum 
Heimatshafen  zurücklegen  konnten. 

Herr  Dr.  Pfeiffer  war  es  auch,  der  zusammen  mit  Herrn  Rauscher  uns  eines 
Tages  auf  einer  prächtigen  Rundtour  in  den  Osten  von  Berlin  führte,  wo  wir  Gelegen- 
heit hatten  verschiedene  Bootswerften  und  eine  Riemenfabrik  in  ihrer  Tätigkeit  zu 
besichtigen.  Am  gleichen  Tage  besuchten  wir  auch  das  Bootshaus  der  nicht  am 
Wannsee  untergebrachten  8  Berliner  Schulen  und  die  Häuser  des  „Wicking"  und 


438       R.  Uhl,  Fünfter  Ruderkursus  für  Oberlehrer  höherer  Lehranstalten  usw. 

„Hellas,**  deren  Besichtigung  uns  ebenso  wie  an  einem  früheren  Tage  die  des 
Bootshauses  des  Berliner  Ruderklubs  am  Wannsee  von  den  Vorständen  in  liebens- 
würdigster Weise  gestattet  wurde.  Diesen  und  besonders  den  Herren,  die  sich  an 
der  Führung  durch  ihre  Vereinsräume  beteiligt  haben,  sei  auch  hier  noch  unser 
herzlicher  Dank  dargebracht. 

Diesen  Dank  statten  wir  auch  den  Herren  ab,  die  uns  bei  Besichtigung  ihrer 
Lehranstalten  in  liebenswürdigster  Weise  geführt  haben. 

Von  Ruderausflügen  möchte  ich  den  zum  Pfingstberge  erwähnen,  der  bei 
ziemlich  stürmischem  Wetter  stattfand,  so  daß  einige  Boote  reichlich  Wasser  über- 
nahmen. Die  Aussicht  von  der  hier  für  die  Wasserversorgung  des  Neuen  Gartens 
erbauten  Ruine  entschädigte  alle  Teilnehmer  für  die  anstrengende  Fahrt. 

Eine  Veranstaltung  von  der  Art,  wie  sie  die  Berliner  Schülerrudervereine  an 
Stelle  des  Regattaruderns  zu  setzen  gedenken,  möchte  ich  nicht  übergehen:  ich 
meine  die  Auffahrt  von  etwa  70  Booten  dieser  Vereine  vor  dem  Vorsitzenden  des 
Jungdeutschlandbundes  Sr.  Exzellenz  dem  Generalfeldmarschall  Freiherrn 
V.  d.  Goltz.  Mit  hoher  Freude  konnten  wir  hier  wahrnehmen,  wie  die  Berliner 
Jungen  mit  wahrer  Begeisterung  ihre  Ruderkünste  vorführten.  Die  Fahrt  der 
meist  vier  Boote  starken  Geschwader  bis  in  die  Nähe  von  Cladow  hat  denn  auch  die 
volle  Anerkennung  des  hohen  Besuches  gefunden.  Ein  solcher  friedlicher  Wett- 
bewerb der  Boote  dürfte  dem  für  Schüler  doch  leicht  viel  zu  anstrengenden  Regatta- 
betrieb, wie  er  gewöhnlich  gehandhabt  wird,  vorzuziehen  sein. 

Der  Verwaltung  der  Kgl.  Theater  für  die  freundliche  Ueberlassung  von  Einlaß- 
karten zu  verschiedenen  Veranstaltungen  an  dieser  Stelle  danken  zu  können,  ist 
mir  eine  besondere  Freude. 

Nachdem  wir  so  in  ungetrübter  Arbeitsfreude,  die  öfter  auch  noch  durch  komische 
Zwischenfälle  erhöht  wurde,  über  3  Wochen  mit  unsern  Lehrern  verbracht  hatten, 
drängte  es  uns,  sie  zum  Abschied  noch  einmal  alle  bei  uns  zu  einem  geselligen  Zu- 
sammensein zu  versammeln.  Es  erschienen  denn  auch  in  einem  zu  diesem  Zweck 
im  Landwehroffizierskasino  gemieteten,  sehr  gemütlichen  Zimmer  die  meisten  der 
Eingeladenen.  Bei  verschiedenen  Gläsern  Bier  verlief  der  durch  ernste  und  launige 
Reden  gewürzte  Abend  zu  aller  Zufriedenheit.  Alle  schieden  schließlich  mit  dem 
Gefühl,  daß  sie  gern  noch  drei  weitere  Wochen  dieser  gesunden  und  vielseitig  an- 
regenden Beschäftigung  gewidmet  hätten.  Möchten  wir  alle  die  Frische  und 
Freudigkeit,  die  wir  dort  in  uns  aufgenommen  haben,  in  die  uns  anvertraute  Jugend 
verpflanzen,  daß  sie  Kräfte  sammele  zum  Heile  unseres  teueren  Vaterlandes! 

Dramburg.  ReinholdUhl. 


II.    Bücherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 

Lateinische  Schriftsteller. 

Auswahl  aus  Vergils  Werken.  Für  den  Schulgebrauch  herausgegeben  und  er- 
klärt von  Dr.  W  a  1 1  h  e  r  J  a  n  e  1 1.  1  Teil:  Text.  Heidelberg  1911.  Winter.  8«. 
XXI  u.  120  S.     kart.  1,60  M. 

Wenn  es  nach  O.  Jäger  das  Ideal  einer  Interpretation  ist,  durch  die  Werke  den 
Dichter  und  durch  den  Dichter  die  Werke  zu  verstehen,  so  wird  in  dieser  Hinsicht 
neben  Ovid  an  keinem  so  viel  gesündigt  wie  an  Vergil.  Horaz  ist  der  einzige  römische 
Dichter,  in  dessen  Gesamttätigkeit  unsere  Jugend  eingeführt  wird,  dagegen  bekommt 
sie  an  reichsdeutschen  Gymnasien  wohl  äußerst  selten  mehr  von  unserem  Dichter 
zu  hören  wie  eine  Auswahl  aus  der  Aeneis,  die  dann  als  Kunstepos  den  homerischen 
Gesängen  und  dem  Nibelungenliede  gegenüber  leicht  in  den  Hintergrund  tritt. 
Denn  sie  will  verstanden  sein  aus  der  Entwicklung  ihres  Verfassers,  den  der  furcht- 
bare Ernst  der  Zeit  aus  einem  tändelnden  Idyllendichter  zu  dem  religiös  begeisterten 
Vorkämpfer  des  Prinzipats  umgeschmiedet  hatte.  Und  vollends  der  Gipfel  seiner 
Kunst,  die  Hirtengedichte  und  die  Georgika,  werden  kaum  mit  Namen  genannt, 
die  kleinen  Gedichte  überhaupt  totgeschwiegen.  Dieser  Mißstand  in  erster  Linie 
hat  den  Herausgeber  zu  seinem  Werkchen  bewogen,  in  dem  er  uns  durch  eine 
Auswahl  aus  seinen  sämtlichen  Werken  ein  Bild  der  Persönlichkeit  dieses  wohl 
mit  bedeutendsten  Vertreters  der  Augustinischen  Periode  geben  will.  Er  folgt  damit 
einer  auch  an  dieser  Stelle  wiederholt  geäußerten  Anregung,  neben  der  Hora- 
zischen  Muse  doch  auch  die  übrigen  lyrischen  Erzeugnisse  daraus  zu  ihrem  Recht 
kommen  zu  lassen,  vor  allem  aber  eben  die  Vergils,  der  inhaltlich  und  formell  die 
Vorstufe  für  jenen  bildet. 

Die  Einleitung  handelt  zunächst  vom  Leben  und  den  Werken  Vergils  sowie  dem 
Verhältnis  zu  seinen  Vorgängern,  dann  wird  seine  wohl  einzigartige  Stellung  und 
Bewunderung  in  der  Weltliteratur  bis  auf  unsere  Zeit  beleuchtet,  welche  er  leider 
durch  unverständige  Behandlung  in  unserer  Zeit  bitter  büßen  muß.  Es  folgen  dann 
Proben  kleiner  Gedichte,  darauf  je  eine  Blütenlese  aus  den  Eklogen,  der  Georgika 
und  der  Aeneis,  letztere  unter  Berücksichtigung  der  preußischen  Lehrpläne  mit 
verbindendem  Prosatext.  Daran  schließt  sich  ein  Verzeichnis  der  Eigennamen 
und  eine  Übersicht  über  die  abgedruckten  Stücke. 


440  H.  Bernhardt, 

Die  Auswahl  ist  durchweg  glücklich,  sie  entspricht  stellenweise  der  in  den 
österreichischen  Lehrplänen  vorgeschlagenen,  bringt  jedoch  mehr.  Geschmackvoll 
und  anregend  sind  auch  die  deutschen  Dichtern  entnommenen  Mottos  zu  einzelnen 
Stücken, 

Dem  Text  der  Buc.  Georgica  und  Aeneis  liegt  im  allgemeinen  die  Ladewig- 
Schaper-Deutickesche  Ausgabe  zugrunde,  ein  Kommentar  dazu  wird  als  2.  Teil 
des  Werkes  in  Aussicht  gestellt.  Von  Druckfehlern  hält  er  sich  so  gut  wie  frei  (ich 
habe  deren  nur  drei  gezählt),  störend  wirkt  dagegen  die  inkonsequente  Verwendung 
von  j  neben  i  inmitten  lateinischer  Wörter. 

Aber  sonst  bereitet  die  Lektüre  des  Büchleins  einen  reinen  Genuß  und  wird 
fraglos  auch  unsere  Schüler  fesseln.  Möchten  ihm  doch  bald  ähnliche  Arbeiten 
auch  für  Ovid  u.  a.  folgen,  vielleicht  verstummen  dann  angesichts  der  geschlossenen 
großen  Persönlichkeiten  die  laienhaften  Urteile  von  den  „trockenen  Dichtern 
zweiten  Ranges,  mit  denen  die  deutsche  Jugend  gequält  wird  (p.   IV)". 

Zu  Vergils  Landsmann  Livius  führen  die  beiden  nächsten  Besprechungen, 
dessen  römische  Geschichte  Birt  einmal  nicht  mit  Unrecht  ein  enormes  Epos  in 
Prosa  genannt  hat. 

Livi  ab  urbe  condita  libri,  W.  Weißenborns  erste  Ausgabe.  Neu  bearbeitet 
von  H.  J.  Müller.  5  Bd.,  2.  Heft.  Buch  XXVI.  5.  Aufl.  Berlin  1911.  Weid- 
mannsche  Buchhandlung.    8^    VI  u.  168  S.    geh.  2  M. 

In  dem  genannten  liegt  ein  weiteres  Heft  des  von  Müller  neu  herausgegebenen 
trefflichen  alten  Weißenbornschen  Livius  vor.  Die  trotz  der  31  Jahre  seit  der 
letzten  Ausgabe  nur  spärlichen  Textverbesserungen  gehen  wie  der  kritische  Apparat 
zum  größten  Teil  auf  die  Bearbeitung  von  A.  Luchs  zurück. 

Kap.  43  Schluß  eine  Lücke  anzunehmen,  scheint  mir  nicht  unbedingt  nötig, 
am  Anfang  des  folgenden  möchte  ich  dann  mit  Fügner  lesen :  Mago  cum  terra  ma- 
rique  eqs. 

Der  recht  brauchbare  Kommentar  berücksichtigt  natürlich  die  neuesten  For- 
schungen und  gibt  nicht  selten  auch  das  antike  Quellenmaterial  in  größerem  Um- 
fange, so  zu  cap.  7—11,  18—20,  19,3,  24—26,  35—36,  40  und  41—51.  Dagegen 
macht  er  in  den  Übersetzungshilfen  den  modernen  Forderungen  nach  möglichster 
Erleichterung  zu  große  Konzessionen:  Erklärungen  wie  zu  9,4  in  inopia,  15,6  de- 
nuntiarent,  31,6  maximo  argumento  est,  38,13  ad  ultimum,  39,18  praetoriam 
nauem,  41,13  sustinuerunt,  42,3  und  47,5  apparatus,  44,11  adplicant,  sollten  sich 
für  Schüler,  die  Livius  treiben,  erübrigen. 

Druckfehler  finde  ich  nur  im  Kommentar,  u.  zw.  zu  6,10  elenphanti,  26,5  des 
prouinciis,  29,6  postutatum,  49,9  der  Geisel  (plur.). 

Jedenfalls  bedeutet  diese  neue  Ausgabe  ein  für  jede  Livius- Interpretation 
unentbehrliches  Hilfsmittel. 

Livius,  Römische  Geschichte,  Auswahl  aus  der  3.  Dekade.  Auf 
Grund  der  Ausgabe  von  Fügner  neu  bearbeitet  von  Joh.  Teufer.  Leipzig 
1911.  Teubner.  8«.  Text  VI  u.  306  S.  geb.  2,20  M.  Kommentar  I.  Heft  (XXI 
bis  XXIII)  IV  u.  132  S.  geb.  1,20  M.    II.  Heft  (XXIV— XXX)  153  S.  geb.  1,40  M. 

Nach  dem  Vorwort  ist  die  Ausgabe  in  erster  Linie  für  die  weibliche  Latein- 
treibende Jugend  bestimmt,  u.   zw.  möchte  sie  der  Herausgeber  im  Gegensatz 


Lateinische  Schriftsteller.  441 

zu  den  Lehrplänen,  welche  die  Liviuslektüre  der  4.  Klasse  zuweisen,  in  die  3.  ver- 
legen. Die  Auswahl  stellt  sich  die  Aufgabe,  die  besonders  scharf  gezeichneten 
Charaktere  der  betr.  Periode  und  des  Schriftstellers  sittlich-politische  Gedanken 
zu  übermitteln,  sowie  wertvolle  Einblicke  in  das  römische  Kulturleben  tun  zu 
lassen;  entsprechend  den  methodischen  Bemerkungen  der  Lehrpläne  finden  sich 
zwischen  den  einzelnen  Teilen  verbindende  Inhaltsangaben. 

Die  Auswahl  kann  zweckentsprechend  genannt  werden,  ihre  Benutzung  wird 
schon  durch  den  Druck  erleichtert,  durch  graphische  Kennzeichnung  der  Reden 
gegenüber  der  Erzählung  und  durch  Andeutung  des  Hauptsatzes  in  schwierigen 
Perioden.  Ein  weiteres  Hilfsmittel  bilden  neben  dem  angehängten  Namensverzeich- 
nis gute  Karten  und 'Pläne,  bei  denen  freilich  derjenige  von  der  vom  Herausgeber 
fortgelassenen  Trebiaschlacht  überflüssig  geworden  ist.  Unwürdig  erscheint  mir 
ferner  im  Namensverzeichnis  die  besondere  Hinzufügung  des  Adjektivums  zu 
seinem  Nomen,  z.  B.  Africus  neben  Africa,  Canusinus  neben  Canusia.  Die  doppelte 
Schreibweise  Kroto  p.  108  und  Kroton  p.  267  endlich  kann  irreführen. 

Den  beiden  Heften  des  Kommentars,  die  im  Druck  wie  der  Text  behandelt 
sind,  ist  als  Kap.  I  und  H  je  eine  gleichlautende  Anleitung  zum  Übersetzen  und  eine 
Sammlung  grammatisch-stilistischer  Regeln  vorausgesandt,  die  freilich  in  derNicht- 
voraussetzung  auch  der  einfachsten  grammatischen  Grundbegriffe  des  Guten 
entschieden  zu  viel  tun. 

Dasselbe  gilt  teilweise  von  den  Anmerkungen  zum  Text  (Kap.  HI):  Ausdrücke 
wie  in  I  p.  73  summa  imperii,  fallit  me,  76  solo  aequare,  118  ciuitatem,  131  uinci, 
II  p.  19  uirtus,  fore,  45  in  dies,  57  animo  def leere,  95  petere,  110  habitus  est,  um 
nur  einige  besonders  prägnante  hervorzuheben,  müssen  Schülerinnen  auf  dieser 
Stufe  bekannt  sein.  Die  zahlreichen  Wiederholungen  dagegen  erklären  sich  wohl 
daraus,  daß  es  sich  um  eine  Art  Chrestomathie  handelt,  aus  der  nach  Belieben 
gewählt  werden  soll. 

Unrichtig  ist  die  Grundbedeutung  von  emolumentum  (II  52)  als  „Entlastung", 
ebenso  ist  mir  nicht  bekannt,  daß  nicht  negiertes  alias  andere  als  zeitliche  Bedeutung 
haben  könnte,  die  betr.  Erklärung  II  70  also  überflüssig. 

Gut  und  sachgemäß  sind  hiergegen  durchweg  die  Bemerkungen  über  die  Ein- 
richtungen und  kulturellen  Zustände  des  Römertums,  und  da  Text  wie  Kommentar 
mit  einer  Ausnahme  (II  91  falsche  Schreibung  für  Quid)  sorgfältig  von  Druck- 
fehlern gesäubert  sind,  kann  ich  mich  dem  Wunsche  des  Herausgebers  anschließen, 
diese  Neubearbeitung  der  Fügnerschen  Ausgabe  möchte  auch  an  der  höheren 
Knabenschule  Freunde  finden. 

Ein  den  bekannten  Krafft  und  Rankeschen  Schülerpräparationen  ähnliches 
Unternehmen  beginnt  der  Verlag  C.  C.  Buchner  in  Bamberg  mit  seinen  P  r  ä  p  a  - 
rationen  zur  griechischen  und  lateinischen  Schülerlek- 
türe, herausgegeben  von  Preuß  und  Reisinger.  8^  von  denen  bis  jetzt  17  Heftchen 
vorliegen.  Er  hat  sich,  so  heißt  es  in  der  Ankündigung,  vor  längerer  Zeit  gegenüber 
einer  Anregung  zur  Herausgabe  solcher  Präparationen  zunächst  ablehnend  ver- 
halten, sie  aber  jetzt  übernommen,  nachdem  die  Überzeugung  von  ihrem  Nutzen 
mehr  und  mehr  Boden  gewinnt.  Sie  sollen  dem  Schüler  das  zeitraubende  mecha- 
nische Aufschlagen  im  Wörterbuch  abnehmen  und  ihn  möglichst  vor  Irrtümern 


442  H.  Bernhardt, 

bewahren.  Indem  sie  ein  rascheres  Eindringen  in  den  Inhalt  der  Schriftsteller 
ermöglichen,  wird  die  Lektüre  erleichtert  und  fruchtbringend  gestaltet  werden 
können.  Um  jedoch  die  Denkarbeit  nicht  auszuschalten,  sind  bei  den  einzelnen 
Wörtern  neben  der  Grundbedeutung  die  verschiedenen  Entwicklungsstufen  der 
Bedeutungen  angegeben,  aus  denen  der  Schüler  die  jedesmal  zutreffende  selbst 
finden  muß.  Knappe  Hilfen  sollen  die  Konstruktion  schwieriger  Stellen  erleichtern, 
etymologische  Angaben  Verständnis  und  Aneignung  der  Bedeutungen  fördern. 
Die  Erklärung  der  sogen.  Realien  bleibt  in  der  Hauptsache  dem  Unterricht  über- 
lassen, doch  finden  sich  anregende  Hinweise  auf  heutige  Zustände  und  kurze  Fragen, 
die  zum  Nachdenken  über  den  Inhalt  auffordern. 

So  weit  die  Herausgeber.  Ich  selbst  bekenne  mich  zu  der  altmodischen  Ansicht, 
der  Präparation  durch  eins  unserer  trefflichen  Schulwörterbücher  noch  immer 
den  Vorzug  zu  geben,  damit  dem  Schüler  etwas  Selbständigkeit  und  die  pädagogisch 
unschätzbare  Mühe  des  Suchens  und  Lust  des  Findens  bleibt,  ferner  möglichst 
viel  von  der  Erklärung  dem  Lehrer  zu  überlassen,  der  doch  dazu  da  ist.  Auf  keinen 
Fall  dürfen  ferner  derartige  Hilfen  gründliche  Vertrautheit  mit  dem  Gebrauch 
des  allgemeinen  Lexikons  überflüssig  machen.  Doch  räume  ich  ein,  daß  sie  unter 
Umständen,  vor  allem  für  die  Privatlektüre  oder  bei  Schülern,  die  längere  Zeit 
dem  Unterricht  fern  waren,  brauchbar  sein  können,  wie  sie  ja  auch  an  einer  Reihe 
von  Anstalten  nicht  nur  geduldet,  sondern  sogar  empfohlen  werden.  Dann  sind 
aber,  um  sie  nicht  zu  einer  neuen  Stütze  der  Mittelmäßigkeit  werden  zu  lassen, 
bei  ihrer  Abfassung  folgende  Grundsätze  zu  beachten: 

1.  Sie  sollen  keine  Vokabeln  geben,  die  dem  normalen  Schüler  schon  bekannt 
sein  müssen. 

2.  Sie  dürfen  jedes  andere  Wort  nur  einmal  bringen,  u.  z.  etymologisch  er- 
klärt, mit  Grundbedeutung  und  den  verschiedenen  Stufen  der  abgeleiteten  Bedeu- 
tungen. 

3.  Sie  müssen  dazu  befähigen,  durch  die  Situation  und  das  richtige  Verständnis 
der  Präpositionen  aus  dem  Simplex  die  composita  selbständig  abzuleiten. 

4.  Die  Übersetzungshilfen  haben  sich  auf  Konstruktionen  und  Wendungen 
zu  beschränken,  die  wirklich  Schwierigkeiten  machen. 

5.  Die  bloße  Angabe  der  betr.  Übersetzungen  ist  nur  ausnahmsweise  statthaft 
bei  Anhäufungen  fremder  Vokabeln,  deren  Aufschlagen  lediglich  einer  mecha- 
nischen Tätigkeit  gleichkommen  würde  (z.  B.  B.  G.   IV  17). 

Diesen  Anforderungen  entspricht  von  den  Buchnerschen  Heftchen  am  meisten 
Johann  Hofmann,  Präparation  zu  Ciceros  Rede  über  den 
Oberbefehl  des  Cn.  Pompeius.     19  S.    brosch.  25  Pfg. 

Nach  einem  Überblick  über  die  politische  Lage  und  das  Leben  des  Pompejus 
bis  66  folgt  die  nach  den  drei  Hauptteilen  geordnete  Präparation.  In  ihr  sind  über- 
flüssige Zusätze  und  Wiederholungen  fast  völlig  vermieden,  es  wird  mit  einem 
wachsenden  Verständnis  des  Schülers  gerechnet  und  seine  Denkarbeit  immer 
wieder  durch  geschickt  eingestreute  Fragen  in  Anspruch  genommen. 

Das  gleiche  gilt  in  jeder  Hinsicht  von  desselben  Verfassers  nächstem  Heft: 
Johann  Hofmann,  Präparation  zu  Ciceros  Rede  für  den 
Dichter  Archias.    18  S.   brosch.  25  Pfg.     Eine  weitere  Arbeit   zu  Cicero 


Lateinische  Schriftsteller.  443 

bietet:  Dr.  August  Steier,  Präparation  zu  Ciceros  Reden 
fürG.  Ligarius  und  den  König  Deiotarus.  25  S.  brosch.  30  Pf g. 
Aber  die  Fragen  zur  Anregung  der  Selbsttätigkeit  werden  schon  spärlicher,  auch 
sollte  man  wohl  einem  Sekundaner  die  Kenntnis  von  Vokabeln  zutrauen  wie  z.  B. 
p.  3  fortasse,  4  voluntas,  6  sensus,  7  repente,  9  constantia,  10  fingere,  14  fides, 
15  crimen,  17  labi,  22  domesticus,  23  benignus. 

Als  besonderen  Vorzug  von  Dr.  Bullemer,  Präparation  zu  des 
C.  Sallustius  Crispus  Schrift  über  die  Katilinarische 
Verschwörung.  17  S.  brosch.  25  Pfg.,  betrachte  ich  die  Angaben  über 
stilistische  Eigentümlichkeiten  dieses  Schriftstellers,  halte  hingegen  für  über- 
flüssig die  Konstruktionserklärungen  p.  5  zu  cap.  VII,  10  zu  XXII,  11  zu  XXIV, 
sowie  die  Übersetzungen  von  p.  9  imparatus  und  11  decus.  Zu  p.  17  in  sententiam 
discedere  wäre  ein  Hinweis  auf  15  pedibus  in  sententiam  ire  angebracht  gewesen. 

Demselben  Verfasser  gehören  an:  Präparation  zu  Curtius  Ge- 
schichte Alexanders  des  Großen,  3.  Buch  27  S.  brosch.  30  Pfg. 
und  4.  Buch,  38  S.  brosch.  35  Pfg.  Eine  Inhaltsangabe  der  beiden  ersten  Bücher 
ist  dem  1.  Heftchen  vorausgeschickt.  Beide  Präparationen  halten  sich  nicht  frei 
von  Wiederholungen,  wenngleich  sich  diese  auf  seltnere  Vokabeln  beschränken, 
so  I  p.  3  und  21  petra,  13  und  22  callis,  12  und  24  spado,  II  18  und  28  monare, 
19  und  34  cicatrix,  19  und  38  ouare.  Nicht  fehlen  durfte  I  p.  21  bei  funditor 
der  Hinweis  auf  9  funda,  II  17  uestigo  auf  10  uestigium,  26  fastidium  auf  3  fasti- 
dire,  36  truncus  auf  9  obtruncare,  und  die  Zusammengehörigkeit  von  II  p.  19  religo, 
ligamentum  ibid.  und  Obligo  p.  18  mußte  zum  Ausdruck  kommen.  Glaubt  schließ- 
lich der  Verfasser  wohl,  sein  kategorischer  Imperativ:  I  p.  6  ,, Prüfe  nach  der  Karte, 
ob  die  geographischen  Angaben  richtig  sind"!  würde  von  allen  Benutzern  seiner 
Präparation  befolgt  werden? 

Noch  einmal  zu  Cicero  führt  uns:  Ihle,  Präparation  zu  Ciceros 
L  ä  1  i  u  s.  16  S.  brosch.  20  Pfg.  Auch  hier  möchte  ich  zunächst  als  auf  dieser 
Stufe  bekannt  und  daher  überflüssig  ausscheiden:  p.  2  sententia,  2  liberalitas, 
libido,  mutuus,  6  cogitatio,  9  temperantia,  10  cultus  und  15  fortuna.  Nicht  genügend 
erwiesen  ist  die  Etymologie  des  zweiten  Bestandteiles  von  augur  p.  1,  während  ich 
bei  peregrinatio  p.  16  den  Hinweis  auf  5  peregrinus  vermisse.  Die  Verständnisfragen 
sind  teils  stereotyp,  so  p.  6  und  7,  teils,  p.  8  und  12,  unnötig,  weil  wohl  von  jedem 
Sekundaner  ohne  großes  Nachdenken  zu  beantworten,  dagegen  wird  in  Dr.  Weber, 
Präparation  zu  den  Lebensbeschreibungen  des  Cornelius 
N  e  p  0  s  I  (Miltiades,  Themistocles,  Aristides,  Pausanias,  Cimon,  Lysander) 
32  S.  und  II  (Alcibiades,  Thrasybulus,  Conon,Dion,  Iphikrates,  Chabrias,  Timotheus) 
32  S.  brosch.  je  30  Pfg.  I  10  eine  Zusammenstellung  der  umschreibenden  Ausdrücke 
für  Tod  und  Sterben  bei  den  Völkern  aller  Zeiten  angeregt,  sicher  eine  Arbeit  mit 
reichem  kulturgeschichtlichen  Ertrag.  Sonst  finden  sich  auch  hier  manche  Wieder- 
holungen, bei  deren  Aufzählung  ich  mich  auf  solche  in  derselben  vita  beschränke, 
trotzdem  Verfasser  gelegentlich  von  einer  Biographie  auf  die  andere  verweist 
(I  p.  11,  II  30):  I  5  und  7  ualeo,  12  und  15  explico,  gradus,  II,  7  und  9  uulgus. 
Nur  lapsus  calami  sind  dagegen  wohl  I  4  d  e  r  statt  d  i  e  Chersones,  32  Kornel 
für  Nepos.      Bei   Dr.    Kemmerknecht,   Präparation   zu   Virgils 


444  H.  Bernhardt,  Lateinische  Schriftsteller. 

Ä  n  e  i  d  e  ,  1.  und  2.  Buch,  37  S.  brosch.  35  Pfg.  beschränken  sich  die  4  zu  eigenem 
Nachdenken  anregenden  Fragen  (p.  5,  12,  22,  23)  auf  die  Ableitung  von  4  Frequen- 
tativen.  Umso  größer  ist  die  Zahl  der  als  bekannt  auszumerzenden  Worterklärungen, 
z.  B.  p.  1  uir,  inferre,  pater,  dolere,  9  und  36  iuvat,  11  hospitium,  13  ignotus,  14  rus, 
19  fallere,  33  und  34  narrare,  35  paulatim,  fons,  36  regio,  ein  Verzeichnis,  das  sich 
ohne  Mühe  verdoppeln  läßt.  Auch  Wiederholungen  finden  sich  nicht  wenige: 
16  und  23  inermis,  21,  23  und  30  fando,  18  und  24  decus,  33  und  36  mens,  7  und 
33  pietas.  Dagegen  durfte  nicht  fehlen  zu  p.  15  lustrare  die  Beziehung  auf  1 1  lustrum, 
32  tumidus  auf  28  tumeo  und  36  tumulus,  32  robora  auf  26  robur. 

Der  Cäsarlektüre  sollen  drei  Heftchen  dienen:  Dr.  Reißinger,  Präpa- 
rationzuCäsarsGallischemKrieg.  I.  1.  Buch.  21  S.  brosch.  25  Pfg. 
II.  2.  und  3.  Buch  27  S.  30  Pfg.  III.  4.  Buch.  20  S.  25  Pfg.  Leider  fehlen  auch 
hier  Fragen  mit  Beziehungen  auf  moderne  Verhältnisse  fast  völlig,  abgesehen 
von  II  p.  7.  Die  Etymologie  von  populor  II  p.  3  deckt  sich  nicht  mit  der  I  5  ge- 
gebenen, die  zweite  von  Aprilis  (I  4)  habe  ich  sonst  nirgends  gefunden,  sondern 
die  Wurzel  stets  mit  aperire  (davon  auch  apricus)  in  Zusammenhang  gebracht. 
Die  Erklärungen  von  virtus  I  1,  118  und  IV  13,  ager,  ducere,  conficere  I  2  mußten 
als  bekannt  fortgelassen  werden,  desgl.  waren  zu  vermeiden  die  Wiederholungen 

I  5  und  13  exemplum,  5  und  16  praesidium,  1  und  20  institutum.  13  und  21  laborare, 

II  3  und  1 1  summa,  8  und  1 1  una,  4  und  1 1  nudare,  8  und  15  increpitare,  dediticius, 

III  8  und  16  plane.  Von  Konstruktionshilfen  erübrigen  sich  I  p.  5  zu  I  10,  7  zu 
I  14,  II  p.  3  zu  II  5,  14  zu  II  27,  III  p.  9  zu  IV  16.  Und  warum  wurde  nicht 
hingewiesen  bei  I  20  continuus  auf  continere  und  continentes,  II  9  munimentum 
auf  3  munire,  9  incitatus  auf  7  incito,  12  mandare  auf  3  mandatum? 

Die  Horazinterpretation  ist  mit  zwei  Heftchen  des  gleichen  Verfassers  vertreten: 
Dr.  Stemplinger,  Präparationzu  Horaz  Oden.  1.  Buch.  37  S. 
brosch.  35  Pfg.  An  der  Spitze  des  Büchleins  findet  sich  eine  recht  brauchbare 
synchronistische  Zeittafel,  doch  verlegen  wohl  die  meisten  die  ars  poetica  statt 
wie  es  hier  geschieht  in  das  Jahr  16,  an  das  Ende  der  dichterischen  Tätigkeit  des 
Venusiners,  d.  h.  in  die  Zeit  von  13 — 8  v.  Chr.  Sachliche  Versehen  finden  sich 
p.  6,  denn  der  Name  Parther  ist  heute  verschwunden,  und  20,  wo  es  U'.  statt  U. 
heißen  muß.  Die  Auswahl  ist  im  allgemeinen  zu  billigen,  doch  nicht  recht  ersicht- 
lich, warum  neben  C.  25,  30,  33  und  36  die  tiefsinnige  Archytasode  fortgelassen 
wurde.  Zum  mindesten  überflüssig  ist  hingegen  die  bei  jedem  Liede  bis  zum  Schluß 
durchgeführte  Angabe  des  Versmaßes.  Wiederholungen  finden  sich  ferner  p.  9 
und  14  nil,  21  und  28  penitus,  bimus  p.  27  war  durch  den  einfachen  Hinweis  auf  15 
quadrimus  zur  Genüge  erklärt.  Sind  denn  endlich  auch  noch  auf  dieser  Stufe 
Hilfen  wie  p.  4  zu  c.  I  11  und  15  nötig?  Das  zweite  Werkchen,  Dr.  Stemp- 
linger, Präpafation  zu  Horaz  Satiren.  1.  Buch.  29  S.,  brosch. 
30  Pfg.,  bringt  gleichfalls  nur  eine  Auswahl,  indem  sat.  1.2,5,7  und  8  aus  einleuchten- 
den Gründen  fehlen.  Als  besonderes  Merkmal  und  Zeichen  der  Zeit  mache  ich  unter 
den  spärlichen  (4)  Fragen  zur  Anregung  eigenen  Nachdenkens  auf  2  aus  bürger- 
kundlichem  Gebiet  aufmerksam  (p.  21  und  28.)  Die  p.  22  als  vermutlich 
bezeichnete  Ableitung  von  forsit  aus  fort  sit  wird  wohl  von  keinem  ernstlich  be- 
zweifelt. 


W.  Schuppe,  Grundriß  der  Erkenntnistheorie  und  Logilc,  angez.  von  A.  Heußner.    445 

Das  16.  und  17.  Heftchen  schließlich  sind  Dr.  Geyer,  Präparation 
zu  Tacitus  Annale  n.  I.  1.  Buch.  34  S.  II.  2.  und  3.  Buch.  36  S.  brosch. 
je  30  Pfg.  In  einer  Arbeit  zur  Vorbereitung  für  Primaner  müssen  stete  Wieder- 
holungen geradezu  tödlich  langweilen  und  abstumpfen,  trotzdem  wimmeln  die 
beiden  Hefte  von  solchen:  im  ersten  habe  ich  derer  nicht  weniger  wie  22  (!),  im 
zweiten  18  gezählt.  Wo  bleibt  da  die  eigene  Tätigkeit  der  Schüler,  und  was  unter- 
scheidet solche  Hilfsmittel  noch  viel  von  den  unerlaubten,  deren  Verdrängung 
die  gedruckten  Schülerpräparationen  als  eins  ihrer  Hauptverdienste  für  sich  bean- 
spruchen? 

Ausstattung  und  Druck  sämtlicher  Hefte  sind  ungeachtet  des  äußerst  niedrigen 
Preises  vorzüglich,  auch  ist  viel  Mühe  auf  einen  sauberen  Text  verwandt,  sind 
mir  doch  insgesamt  nur  drei  Druckfehler  begegnet.  Aber  trotz  alles  in  ihnen  stecken- 
den Fleißes,  trotz  der  gründlichen  Gelehrsamkeit  namentlich  auf  etymologischem 
Gebiet,  die  sie  ausnahmslos  auszeichnet,  haben  sie  mich  nicht  von  meinem  oben 
skizzierten  Standpunkt  abzubringen  vermocht,  kann  ich  in  ihnen  ebensowenig 
ein  ideales  Hilfsmittel  erblicken  wie  in  anderen  Arbeiten  ähnlicher  Art. 

Soest.  H.  Bernhardt. 


b)  Einzelbesprechungen: 

Schuppe^  Wilhelm,  Grundriß  der  Erkenntnistheorie  und  Lo- 
gik. Zweite,  durchgesehene  Auflage.  Berlin  1910.  Weidmannsche  Buchhandlung. 
Xu.  189  S.    8«.     geh.  3  M. 

Die  Neuausgabe  des  Schuppeschen  Grundrisses  —  erste  Auflage  1894  — 
ist  mit  Freuden  zu  begrüßen,  denn  das  Buch  ist  in  seiner  meisterhaften  Kürze 
und  durchsichtigen  Klarheit  nach  Inhalt  und  Form  ein  kleines  Meisterwerk. 
Schuppes  Bearbeitung  der  Logik  ist  eine  durchaus  selbständige  und  eigenartige 
Leistung,  an  der  man  nicht  vorübergehen  kann,  auch  wenn  man  nicht  ganz  auf 
den  Standpunkt  seiner  ,, immanenten"  Philosophie  zu  treten  vermag.  Da  er  keine 
„formale",  sondern  eine  „erkenntnistheoretische"  Logik  bietet,  ferner  aber  auch 
„bewußt  sein"  und  „wirklich  sein",  ,, Objekt"  und  , »Vorstellung"  gleichsetzt  und 
sich  nicht  auf  das  individuelle  Bewußtsein  beschränkt,  sondern  auf  den  Zusammen- 
hang des  Weltganzen  als  Inhalt  des  Gattungsbewußtseins  richtet,  so  erweitert 
sich  die  logische  Untersuchung  zur  Darstellung  einer  Weltanschauung  von  hin- 
reißendem Schwung,  ,,wo  alles  sich  zum  Ganzen  webt,  eins  in  dem  andern  wirkt 
und  lebt".  Gerade  dieser  „Zusammenhang"  alles  Wirklichen  gibt  dann  bei  der 
Beurteilung  des  Einzelnen  das  Kriterium  der  „Wahrheit"  ab.  —  Das  Büchlein 
verlangt  konzentrierte  Gedankenarbeit  und  den  Willen  zur  Vertiefung  in  die  Sache, 
aber  die  ständigen  Verweisungen  auf  des  Verfassers  größeres  Werk,  die  „Erkenntnis- 
theoretische Logik",  (Bonn  1878)  das  ausführliche  Inhaltsverzeichnis  und  das 
sorgfältige  Sachregister  erleichtern  das  Eindringen  sehr. 

Cassel.  Alfred  Heußner. 


446  P.  Vogt,  Leitfaden  der  philosophischen  Propädeutik, 

Vogt,  Peter,  Leitfaden  der  philosophischen  Propädeutik. 
Für  den  Schulgebrauch.  Freiburg  im  Breisgau  1911.  Herdersche  Verlagsbuch- 
handlung. Erster  Teil:  Logik  IV  u.  71  S.  8«.  1,20  M.  (K.  1,50)  geb.  1,60  M. 
(K.  2,—).  Zweiter  (Schluß-)  Teil.  Psychologie  IV  u.  77.  S  8».  1,20  M.  (K.  1,50). 
geb.  1,60  M.  (K.  2,—). 
Der  Leitfaden  nimmt  unter  den  Schriften  über  philosophische  Propädeutik 
eine  besondere  Stellung  ein.  Er  ist  nicht  sowohl  an  der  modernen  Philosophie, 
als  an  der  Scholastik  und  ihrer  Fortbildung  in  der  Neuzeit  orientiert  und  will  in  die 
philosophia  perennis  einführen.  Das  tritt  dem  Leser  gleich  am  Eingang  der  kleinen 
Schrift  entgegen.  Er  findet  da  in  der  Weise  der  Scholastik  die  logische  Wahrheit 
von  der  ontologischen  unterschieden  und  hört,  daß  einem  Dinge  etwa  einem  Baum 
insoweit  ontologische  Wahrheit  zukomme,  wie  er  mit  der  Idee,  die  wir  vom  Baume 
haben,  insbesondere  aber  mit  der  vorbildlichen  Idee,  die  der  Schöpfer  vom  Baum 
hat,  übereinstimmt.  Danach  wird  von  den  Denkgesetzen,  dem  Begriff,  dem  Urteil 
und  dem  Schluß  gehandelt.  Die  Lehre  von  den  Kategorien  wird  nach  Aristoteles 
vorgetragen.  Im  Anschluß  daran  wird  eine  Reihe  von  Aufgaben  zur  Klassifizierung 
von  Begriffen,  zur  Bestimmung  ihres  Verhältnisses  zu  einander  und  zur  Definition 
von  Begriffen  nebst  allgemeinen  Regeln  für  ihre  Lösung  gegeben.  Die  Beispiele, 
die  da  vorgelegt  werden,  sind  seltsam  gemischt.  Die  einen  sind  sehr  einfacher  Natur, 
die  anderen  beziehen  sich  auf  die  letzten  Fragen  des  Erkennens  und  greifen  entweder 
auf  die  Grundlehren  der  Scholastik  zurück  oder  haben  eine  polemische  Beziehung 
zu  modernen  Philosophemen.  Es  mutet  wunderlich  an,  wenn  erst  als  Beispiel 
einer  falschen  Definition  die  Sätze  vorgelegt  werden:  ,,Die  gerade  Linie  ist  jene, 
die  nicht  krumm  ist"  —  „das  Sechseck  ist  eine  sechseckige  Figur"  und  unmittelbar 
danach  die  Aufgabe  gestellt  wird,  die  Definition  der  Wahrheit  zu  prüfen,  die  in  den 
Sätzen  enthalten  ist:  „Logische  Wahrheit  ist  die  Übereinstimmung  unserer  Gedanken 
mit  einander"  oder  ,,Ein  Gedanke  ist  wahr,  insofern  er  brauchbar  ist."  Ebenso, 
wenn  die  Frage  aufgeworfen  wird,  ob  das  Wort  „Mut"  den  eigentlichen  Gattungs- 
begriff zu  seinen  Zusammensetzungen  wie  Kleinmut,  Demut,  Hochmut  bildet, 
und  gleich  darauf  eine  scharfe  Definition  des  Grundes,  des  Wesensgrundes  und  des 
Existenzgrundes  gefordert  und  an  die  aristotelische  Lehre  von  der  vierfachen 
Ursache  angeknüpft  wird.  Auch  auf  Induktion  und  Deduktion  wird  eingegangen. 
Der  Verfasser  bleibt  da  bei  der  Lehre  stehen,  daß  wir  zur  Erkenntnis  allgemeiner 
Gesetze  auf  Grund  von  Beobachtungen  nur  darum  fortzuschreiten  vermöchten, 
weil  wir  das  einzelne  Geschehen  als  eine  Folge  aus  dem  Wesen  der  Dinge  begriffen, 
so  daß,  wie  der  Verfasser  meint,  Induktion  und  Deduktion  im  Grunde  auf  das- 
selbe hinauskommen.  Wie  unzulänglich  das  ist,  braucht  nicht  dargetan  zu  werden. 
Es  rächt  sich  eben  bitter,  daß  der  Verfasser  das  Wesen  der  Induktion  bei  Aristoteles 
umschrieben  finden  will,  während  es  zwar  nicht  bei  Bacon,  aber  bei  Kepler  und 
Galilei  zuerst  kräftig  zutage  kommt.  Wieviel  Arbeit  hätte  sich  Kepler  sparen  können, 
wenn  er,  wie  das  der  Verfasser  S.  36  empfiehlt,  zunächst  die  elliptische  Gestalt 
der  Erdbahn  dargetan,  dann  sie  als  eine  Folge  der  Planetennatur  der  Erde  begriffen 
und  damit  für  alle  übrigen  Planeten  erschlossen  hätte.  —  Es  ist  jetzt  im  ganzen 
üblich,  die  Frage  nach  der  Methode  des  Erkennens  streng  von  der  Frage  nach  dem 
Erkenntniswert  des  erlangten  Wissens  —  die  erkenntnistheoretische  Frage  von  der 


angez.  von  G.  Louis.  447 

metaphysischen  zu  trennen,  was  denn  freihch,  wie  die  Dinge  liegen,  meist  dazu 
führt,  metaphysische  Fragen  überhaupt  zurückzustellen  oder  ihre  Erörterung 
doch  auf  einige  wesentliche  einzuschränken.  Auch  hier  weicht  der  Verfasser  ab. 
Er  wirft  gleich  im  Eingang  seiner  Schrift  die  Frage  auf,  ob  das  Denken  sein  Ziel 
erreichen,  ob  es  die  Dinge  erkennen  kann,  wie  sie  an  sich  sind.  Die  Lehrmeinungen, 
die  darüber  hervorgetreten  sind,  gliedern  sich  für  ihn  lediglich  in  zwei  Gruppen, 
Er  stellt  dem  Dogmatismus  den  Skeptizismus  gegenüber,  in  dem  er  eine  radikale 
und  eine  gemäßigte  Richtung  unterscheidet.  Die  Beurteilung  der  beiden  entgegen- 
gesetzten Grundansichten  kann  nach  den  Worten  des  Verfassers  kaum  Schwierig- 
keiten verursachen.  Er  meint,  „der  Dogmatismus  mit  seiner  Behauptung,  der 
menschliche  Geist  sei  fähig,  in  den  Besitz  der  Wahrheit  zu  gelangen,  sei  im  all- 
gemeinen unbedenklich  anzuerkennen."  Mit  der  antiken  Skepsis  setzt  sich  der 
Verfasser  auseinander,  indem  er  die  xpoTcoi  des  Aenesidemus  in  der  Fassung  des 
Agrippa  vorlegt  und  empfiehlt,  die  Schüler  in  ihrer  Widerlegung  zu  üben.  Dem 
modernen  Agnostizismus  begegnet  er,  indem  er  über  die  Sinnesempfindungen  die 
alte  Lehre  der  Scholastik,  die  Abbildungstheorie,  vorträgt.  Die  Schwingungen 
der  Luft,  die  uns  Schalleindrücke  vermitteln,  die  Schwingungsvorgänge  im  Äther, 
die  wir  als  Träger  der  Lichtphänomene  betrachten,  üben  nach  ihr  nicht  lediglich 
eine  Wirkung  auf  unsere  Sinnesorgane  aus  und  regen  dadurch  die  Psyche  zu  einer 
Empfindung  an,  sondern  sie  vermitteln  dem  erkennenden  Subjekt  die  objektiv 
vorhandenen  Qualitäten  der  Dinge.  Wie  der  Verfasser  sich  die  Vertretung  dieser  An- 
sicht denkt,  deutet  er  nur  flüchtig,  aber  sehr  charakteristisch  an.  Da  wird  z.  B.  die 
Frage  aufgeworfen,  warum  denn,  wenn  in  der  Außenwelt  nur  Bewegungsvorgänge  vor- 
handen seien,  diese  nicht  als  solche  wahrgenommen  würden,  bald  danach  aber  kommt 
die  schwerwiegende  Frage,  ob  die  in  der  Empfindung  wahrgenommenen  Qualitäten, 
sowie  sie  empfunden  werden,  den  Dingen  anhaften  können,  da  doch  die  Empfindungen 
der  Psyche  des  Menschen  angehören,  die  Qualitäten  der  Dinge  aber  eine  Existenz 
im  Raum  haben  müssen.  Doch  der  Verfasser  fügt  gleich  hinzu,  diese  Betrachtungs- 
weise lasse  sich  ebenso  gegen  die  objektive  Existenz  der  primären  Qualitäten, 
wie  gegen  die  der  sekundären  wenden  und  führe  damit  zum  Idealismus.  Den  aber 
vermag  der  Verfasser  nicht  ernst  zu  nehmen.  Er  meint,  man  solle  ihn  nur  konsequent 
auf  irgend  einen  Vorgang  des  täglichen  Lebens  etwa  auf  eine  Ferienreise  anwenden. 
Dann  werde  er  sich  mehr  als  sonderbar  ausnehmen.  Überdies  widerstreiten 
alle  Lehren,  die  die  Abbildungstheorie  ablehnen,  der  veracitas  Dei.  Unstreitig 
sind,  so  läßt  der  Verfasser  diese  Theorie  ausführen,  die  Sinne  dazu  gegeben,  daß 
man  in  bequemer  Weise  mit  der  Außenwelt  in  wahrheitsgetreuen  Verkehr  treten 
könne.  Wir  wollen  die  Welt  kennen  lernen,  wie  sie  wirklich  ist.  Wenn  sich  aber 
die  Außenwelt  nach  den  sekundären  Qualitäten  in  Wirklichkeit  wesentlich  anders 
verhält,  als  sie  erscheint,  ist  es  dann  nicht  der  Schöpfer  selbst,  der  allen  Menschen, 
ja  allen  Sinneswesen  eine  Täuschung  aufnötigt,  der  sich  niemand  entziehen  kann? 
Hiermit  wäre  der  Inhalt  der  Logik  des  Verfassers  im  wesentlichen  charakterisiert. 
In  welcher  Richtung  ein  Unterricht,  der  ihr  folgt,  wirken  kann,  braucht  nicht 
erörtert  zu  werden.  Ob  er  aber  eine  tiefer  greifende  Wirkung  überhaupt  ausüben 
wird,  das  wird  nach  Ansicht  des  Referenten  davon  abhängen,  wieweit  der  Lehrer 
imstande  ist,  die  vielfältigen  modernen  Philosopheme,  zu  deren  Widerlegung  die 


448     P.  Vogt,  Leitfaden  der  philosophischen  Propädeutik,  angez.  von   G.  Louis. 

Schrift  auffordert,  als  sehr  ernsthafte,  mit  einer  gewissen  Notwendigkeit  erwachsene 
Gedankenbildungen  zu  behandeln,  deren  relative  Berechtigung  man  anerkennen 
muß,  wenn  man  sie  auch  in  letzter  Linie  ablehnt.  Es  kann  kein  tieferes  Interesse 
erwecken,  wenn  der  Unterricht  lediglich  dazu  anleitet,  von  dem  einmal  eingenomme- 
nen Standpunkt  aus,  ohne  eigentliches  Verständnis  über  entgegengesetzte  Ansichten 
abzuurteilen.  Die  vorliegende  Schrift  gibt  indessen  keinerlei  Fingerzeig,  wie  diese 
Klippe  vermieden  werden  kann. 

Noch  schwerere  Ausstellungen  sind  an  dem  zweiten  Teil  des  Werkes,  der  die 
Psychologie  behandelt,  zu  machen.  Er  soll,  wie  in  der  Einleitung  gesagt  wird, 
einen  Abriß  der  empirischen  Psychologie  geben  und  sich  damit  den  Instruktionen 
für  den  Unterricht  an  den  Gymnasien  in  Österreich,  für  den  das  vorliegende  Werk 
in  erster  Linie  bestimmt  ist,  anpassen.  Denn  durch  sie  ist  der  Psychologie  im  Rahmen 
der  philosophischen  Propädeutik  ausdrücklich  die  Aufgabe  gestellt,  „die  eigenartigen 
Erscheinungen  des  psychischen  Lebens''  darzustellen  und  ,,in  das  Wesen  psychischen 
Geschehens"  einzuführen.  Aber  die  empirische  Psychologie,  die  der  Verfasser  vor- 
legt, trägt  ein  eigenartiges  Gepräge.  Zwar  das  Hauptstück  der  philosophischen 
Psychologie  der  Scholastik,  die  Lehre  von  der  Substantialität,  der  Einfachheit 
und  Unsterblichkeit  der  Seele  wird  in  den  Anhang  des  Werkes  verwiesen  und  eben 
da  wird  auch  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Leib  und  Seele  zueinander  behandelt. 
Der  Hauptteil  gibt  auch  in  der  Lehre  von  den  Empfindungen,  den  Vorstellungen 
und  ihrer  Reproduktion,  dem  Fühlen  und  Wollen  das  Landläufige.  Auffallend 
ist  nur,  daß  das  Webersche  Gesetz  nicht  in  der  klaren  Bestimmtheit,  die  ihm  eignet, 
vorgetragen  wird,  daß  wir  vielmehr  an  seiner  Stelle  eine  blasse  Allgemeinheit 
über  die  Abhängigkeit  der  Empfindung  vom  Reiz  finden  und  daß  die  Wahrnehmung 
überall  als  ein  passives  Geschehen  betrachtet  wird.  Aber  so  charakteristisch  das  ist, 
den  wesentlichsten  Charakterzug  bekommt  das  Werk  durch  die  Tatsache,  daß  es 
mit  Behauptungen  und  Unterstellungen  durchsetzt  ist,  die  mit  moderner  Wissen- 
schaft nichts  gemein  haben.  Diese  Lehrstücke  hängen  sämtlich  mit  einer  Theorie 
des  Sehaktes  zusammen,  die  einerseits  an  die  in  der  Antike  aufgetretene  Lehre  er- 
innert, daß  das  Auge  mit  Hilfe  von  Sehstrahlen  die  gesehenen  Objekte  gleichsam 
betaste,  und  andrerseits  an  eine  noch  vor  etwa  sechzig  Jahren  weitverbreitete 
Ansicht  anknüpft,  nach  der  das  Sehen  dadurch  zustande  kommt,  daß  zunächst 
ein  Bild  des  gesehenen  Gegenstandes  auf  der  Netzhaut  des  Auges  entsteht  und 
daß  dies  dann  in  den  Außenraum  projiziert  wird.  Da  wird  z.  B.  die  Frage  auf- 
geworfen, ob  der  Ort,  an  dem  die  Wahrnehmungen  zustande  kommen  mit  den  meisten 
Physiologen  in  dem  Zentralorgan  oder  mit  der  alten  Philosophie  und  der  populären 
Ansicht  in  den  Sinnesorganen  zu  suchen  sei.  Der  Verfasser  entscheidet  sich 
für  die  letztere  Auffassung.  Bei  der  Begründung  legt  er  unter  anderem  auch 
die  Frage  vor,  mit  welcher  Ansicht  sich  die  Projektion  der  Netzhautbilder 
in  den  Außenraum  am  leichtesten  vertrage.  Ferner  wird  von  den  Stäbchen  und 
Zapfen  der  Netzhaut  gehandelt,  von  denen  wie  bekannt  nur  die  Zapfen  Farben- 
empfindungen zu  vermitteln  vermögen,  während  die  Stäbchen  lediglich  für  Hell 
und  Dunkel  empfindlich  sind.  Diesen  Stäbchen  nun  ist  bei  der  Projektion  der  Netz- 
hautbilder nach  außen  von  dem  Verfasser  eine  besondere  Rolle  zugedacht.  Er 
merkt  deswegen  an,  daß  schon  vor  mehr  als  sechzig  Jahren  bedeutende  Physiologen 


L.  Weniger,  Jugenderziehung  und  Weiterbildung,  angez.  von  L.  Mackensen.    449 

den  Stäbchen  der  Netzhaut  eine  katoptrische,  d.  h.  lichtspiegelnde  Funktion  bei- 
gelegt haben  und  knüpft  daran  die  Aufforderung  zu  versuchen,  ob  sich  nicht  aus 
dieser  Funktion  der  Stäbchen  das  Phänomen  erklären  lasse,  daß  bei  starker 
Steigerung  der  Belichtung  sich  die  Farben  nach  Weiß  hinändern  und  daß  bei 
starker  Verminderung  der  Belichtung  die  Farben  sämtlich  zu  schwinden  beginnen. 
Nach  diesen  Vorbereitungen  trägt  der  Verfasser  über  die  Funktion  des  Auges 
selbst  aber  etwa  folgende  Gedanken  vor.  Das  Auge  ist  ihm  ein  Apparat,  der  zwei 
völlig  voneinander  abtrennbare  Aufgaben  erfüllt.  Erstens  ist  es  um  des  Bildchens 
willen,  das  von  einem  mit  dem  Auge  wahrgenommenen  Gegenstande  auf  der  Netz- 
haut entsteht,  ein  Photographieapparat.  Zweitens  wirkt  es  als  Projektionsapparat. 
Als  Lichtquelle,  die  dazu  dient,  das  auf  der  Netzhaut  entstandene  Bild,  nach  außen 
zu  projizieren,  wird  das  in  die  Spiegelapparate  des  Auges,  die  Stäbchen  der  Netz- 
haut, eingeströmte  Licht  in  Anspruch  genommen,  als  Auffangeschirm  für  die 
projizierenden  Strahlen  aber  gilt  der  Gegenstand  selbst.  Um  die  Erfassung  des 
von  dem  Auge  nach  außen  projizierten  Bildes  zu  erklären,  wird  an  die  Tatsache 
erinnert,  daß  wir,  um  einen  Gegenstand  abzutasten,  ihn  nicht  selbst  zu  berühren 
brauchen,  sondern  auch  mit  einem  in  der  Hand  gehaltenen  Stäbchen  an  seiner 
Oberfläche  entlang  tasten  können;  demgemäß  wird  empfohlen,  die  von  dem  leben- 
digen Auge  ausgehenden  Projektionsstrahlen  gleichsam  als  Taststrahlen  zu  betrach- 
ten. Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  diese  mehr  als  seltsame  Lehre  hier  ernst- 
haft zu  erörtern.  Wir  können  nur  bedauern,  daß  dergleichen  in  einem  für  die  Schule 
bestimmten  Buch  vorgelegt  wird.  Dies  Bedauern  wird  verstärkt  durch  die  Kühn- 
heit, mit  der  der  Verfasser,  der  Einwände  gedenkt  die  „als  experimentell  erwiesene 
Tatsachen  ausgegeben  und  gegen  obige  Auffassung  ins  Feld  geführt  werden**. 
Gemeint  ist  da  vor  allem  Herings  Gesetz  der  identischen  Sehrichtung.  Der  Ver- 
fasser geht  dann  an  eine  Widerlegung  dieses  Gesetzes.  Doch  beweist  dieser  Versuch, 
daß  er  weder  das  empirische  Material  gehörig  kennt,  noch  von  dem  Ernst  empirischer 
Forschung  eine  zutreffende  Vorstellung  hat.  Denn  die  Ausführungen,  die  Herings 
Lehre  beseitigen  sollen,  beschränken  sich  auf  vage  Andeutungen.  Es  braucht 
hiernach  kaum  gesagt  zu  werden,  daß  das  gesamte  Werk  für  den  Unterricht  nicht 
geeignet  erscheint. 

Berlin.  G.  Louis. 

Weniger,  L.,  Jugenderziehung  und  Weiterbildung.  Gütersloh 
19n.  C.  Bertelsmann.  VH  u.  134  S.  8«.  2  M.,  geb.  2,50  M. 
:  Aus  der  Fülle  der  Erfahrungen  eines  langen  und  gesegneten  Lebens  heraus 
behandelt  der  Verfasser,  „ein  alter  Schulmann,  der  über  ein  halbes  Jahrhundert 
auf  diesem  Felde  gewirkt  hat",  Fragen  der  Erziehung  von  der  Kinderstube  an  bis 
zur  Hochschule  und  darüber  hinaus.  Die  tiefe  Liebe  zur  Jugend,  die  wahre  Frömmig- 
keit und  edle  Vaterlandsliebe,  die  aus  jeder  Zeile  des  Buches  zu  uns  sprechen, 
machen  im  Verein  mit  der  Zurückhaltung,  mit  der  Übelstände  besprochen,  und 
der  bescheidenen  Art,  mit  der  Ratschläge  dargeboten  werden,  die  Lektüre  der 
kleinen  Schrift  zu  einem  hohen  Genuß.  Das  Büchlein  ist  für  gebildete  Christen 
bestimmt,  für  alle  Väter  und  Mütter  zunächst,  von  denen  leider  so  viele  zum  Schaden 
unserer  Nation  sich  ihren  Erziehungspflichten  zu  entziehen  suchen,  aber  auch 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  29 


450    L.  Weniger,  Jugenderziehung  und  Weiterbildung,  angez.  von  L.  Mackensen. 

der  Berufserzieher,  der  Schulmann,  wird  manches  aus  ihm  lernen  können,  haben 
doch  drei  von  den  fünf  Kapiteln  des  Buches  ihn  und  seine  Aufgabe  vorzugsweise 
im  Auge.  Die  meisten  der  Forderungen,  die  der  Verfasser  an  den  Lehrer  richtet, 
sind  alt  und  selbstverständlich;  ob  sie  deshalb  aber  auch  überall  bekannt  sind 
oder  von  allen  Erziehern  beherzigt  werden,  ist  doch  recht  zweifelhaft.  Wenn  z.  B. 
auf  Seite  76  gefordert  wird,  daß  jeder  Lehrer  seine  Schüler  ordentlich  kennen 
lerne,  seine  Eigenart  begreife,  die  kleine  Lebensgeschichte  des  Zöglings  wenigstens 
in  den  Hauptzügen  in  Erfahrung  bringe  und  danach  die  Behandlung  des  Kindes, 
welches  das  Haus  ihm  jeden  Tag  für  viele  Stunden  vertrauensvoll  übergibt,  einrichte, 
so  weiß  jeder  Eingeweihte,  daß  gegen  diese  Forderung,  die  m.  E.  bei  einigem  guten 
Willen  auch  an  großen  Anstalten  und  in  überfüllten  Klassen  durchzuführen  ist,  oft 
gefehlt  wird.  Auch  daß  auf  den  alten  Grundsatz  „maxima  debetur  puero  reverentia'' 
mit  aller  Deutlichkeit  einmal  wieder  hingewiesen  wird,  ist  mit  Freuden  zu  begrüßen. 
Sehr  vernünftig  ist  ferner,  daß  der  Verfasser  von  den  geschlechtlichen  Aufklärungen 
unserer  Jugend  in  der  Schule  nichts  wissen  will;  Belehrungen  über  das  Geschlechts- 
leben, noch  gar  in  feierlicher  Form,  gehören  nicht  in  sie  hinein,  und  die  Schule 
sollte  sich  hüten,  sie  sich  von  bequemen  Eltern  aufdrängen  zu  lassen.  Auch  darin 
wird  man  dem  Verfasser  beistimmen,  daß  die  höhere  Schule  sich  gegen  die  Be- 
strebungen, die  ihr  immer  neue  Fächer  aufladen  wollen,  ablehnend  oder  zum 
mindesten  abwartend  verhalten  soll;  man  soll  der  Weiterbildung  in  der  Zeit  nach 
Vollendung  der  Schulunterweisung  auch  noch  etwas  übriglassen.  Daß  dagegen 
manche  bereits  vorhandenen  Fächer,  wie  z.  B.  die  Erdkunde  oder  die  Anthropologie, 
einen  stärkeren  Betrieb,  zumal  auf  dem  Gymnasium,  verdienten,  wer  möchte  das 
bestreiten?  Auch  daß  der  deutsche  Unterricht  eine  seiner  Hauptaufgaben,  die 
Erziehung  zur  Darstellung  in  der  Muttersprache,  mündlich  und  schriftlich  noch  viel 
besser  lösen  könnte,  wer  möchte  es  leugnen?  Fände  doch  das,  was  in  dem  vor- 
liegenden Büchlein  über  diesen  Gegenstand  gesagt  ist,  allseitige  Beachtung ! 

Nur  zu  unterschreiben  sind  auch  die  Ausführungen  des  Verfassers  über  die 
Aufgabe  der  Universitäten  (S.  115).  Auch  sie  sollen  mitarbeiten  an  dem  großen 
Werke  der  Erziehung,  und  so  richtig  es  ist,  daß  an  ihnen  die  Wissenschaft  völlig 
in  den  Vordergrund  tritt,  so  verfehlt  wäre  es,  wenn  die  Erziehung  fortan  ganz  außer 
acht  gelassen  würde.  „Universitäten  sind  keine  Akademien,  sondern  Unterrichts- 
anstalten, vom  Staate  zur  Vorbereitung  für  wichtige  Berufszweige  bestimmt  und 
unterhalten.  Der  Universitätslehrer  soll  nicht  nur  seine  Vorlesung  halten  und  auf 
dem  Studierzimmer  stolz  abgeschlossen  seiner  Forschung  leben,  sondern  er  soll 
sich  auch  des  Studenten  annehmen,  ihn  mit  gutem  Rat  unterstützen,  ihm  in  seinen 
Geistesnöten  förderlich  und  dienstlich  sein.  Es  ist  unbarmherzig,  wenn  sich  keiner 
der  hochangesehenen  Gelehrten  um  den  frisch  von  der  Schule  kommenden  grünen 
Jungen  kümmert,  mit  der  vornehmen  Ausrede:  ,Man  werfe  ihn  ins  Wasser,  so  wird 
er  auch  schwimmen  lernen!'  Wie  viele  ertrinken  oder  ein  gutes  Stück  kostbarer 
Lebenszeit  einbüßen,  steht  auf  einem  anderen  Blatte." 

Der ,, Weiterbildung",  d.  h.  der  Bildung  durch  uns  selbst,  der  eigenen  Erziehung 
durch  bewußtes  Wollen,  ist  das  letzte  Kapitel  des  Buches  gewidmet.  Auch  hier 
eine  Fülle  von  anregenden  und  klugen  Gedanken,  von  denen  hier  nur  die  über  ein- 
seitige und  vielseitige  Bildung,  über  das  Lesen  (warum  „Lesung"?)  der  großen 


F.  Paulsen,  Gesammlte  Pädagogische  Abhandlungen,  angez.  von  Fr.  Heußner.     451 

Schriftsteller  der  Heimat  und  des  Auslandes,  über  Reisen,  über  die  Pflichten  eines 
Deutschen  hervorgehoben  seien. 

Das  Büchlein,  so  einfach  es  anspricht  und  so  schlicht  es  auftritt,  verdient  eine 
weite  Verbreitung,  auch  in  den  Kreisen  der  Amtsgenossen. 

Gotha.  L.  Mackensen. 

Paulsen,  Friedrich,  Gesammelte  Pädagogische  Abhandlungen. 
Herausgegeben   und   eingeleitet   von   Eduard   Spranger.      Stuttgart   u. 
Berlin  1912.    Cottasche  Buchhandlung  Nachf.    8.    XXXV  u.  711  S.    geh.  9  M., 
in  Leinwand  10,50  M.,  in  Halbfranz  11,50  M. 
Friedrich  Paulsen  starb  am  14.  August  1908  in  Steglitz  in  einem  Alter  von 
62  Jahren.    Auf  dem  Fichteberge  bei  Steglitz  haben  ihm  die  deutschen  Oberlehrer 
im  vorigen  Jahre  ein  würdiges  Denkmal  errichtet,  und  ein  neues  schönes  Denk- 
mal für  ihn  haben  wir  in  der  vorliegenden,  von  berufenster  Seite  herausgegebenen 
und  eingeleiteten  Sammlung  seiner  pädagogischen  Abhandlungen. 

Es  ist  eine  Auswahl  aus  dem  überreichen  Material  seiner  verstreuten  Schriften, 
und  werden  uns  hier  —  es  sind  48  an  der  Zahl  —  nur  solche  aus  seiner  schulgeschicht- 
lichen, schulpolitischen  und  allgemein  pädagogischen  Wirksamkeit,  worin  seine 
Lebensarbeit  gipfelte,  geboten.  Die  Anordnung  ist  die  chronologische,  und  die  Ar- 
beiten liegen  zwischen  den  Jahren  1889  und  1908.  Der  erste  Aufsatz,  ,,Das  Real- 
gymnasium und  die  humanistische  Bildung'*,  der  als  das  Programm  von  Paulsens 
Wirksamkeit  gelten  darf,  die  längste  der  hier  aufgenommenen  Arbeiten,  umfaßt 
65  S.  und  erschien  damals  als  Broschüre;  der  letzte,  über  ,, Wissenschaftliche  Fort- 
bildungskurse für  Oberlehrer",  erschien,  6  Seiten  lang  (eine  der  kürzesten  Arbeiten 
der  Sammlung),  im  Oktober  1908,  als  ein  op.  posthum.  im  Pädagogischen  Archiv  als 
einleitendes  Wort  zu  einer  Reihe  von  Artikeln  über  die  wissenschaftliche  Fort- 
bildung der  Oberlehrer,  ein  Beitrag  zu  der  von  Paulsen  so  warm  vertretenen  These: 
Der  Oberlehrerstand  ein  Gelehrtenstand,  der  auch  noch  andere  Aufsätze  der 
Sammlung  dienen. 

In  den  verschiedensten  Zeitungen  und  Zeitschriften  sind  Paulsens  Abhandlungen 
zuerst  gedruckt  worden,  und  es  ist  gar  dankenswert,  daß  die  besten  und  bedeutungs- 
vollsten hier  so  schön  zusammengestellt,  so  leicht  zugänglich  gemacht  und  zum 
Teil  auch  auf  diese  Weise  der  Vergessenheit  entrissen  sind.  Mit  großem  Fleiß  sind 
dann  noch  am  Schluß  des  Bandes  von  einem  Kand.  Pieper  in  365  Nummern 
alle  Schriften  Paulsens  mit  ihren  Fundstätten  in  chronologischer  Reihenfolge 
vom  Jahre  1871  bis  1912  zusammengestellt,  sowohl  die  selbständig  erschienenen 
wie  die  in  Zeitungen  und  Zeitschriften,  deren  sich  36  ergeben,  gedruckten.  Freunde 
und  Schüler  Paulsens  haben  den  Herausgeber  bei  dem  Werk  unterstützt. 

Ganz  besonderen  Dank  verdient  aber  die  27  Seiten  umfassende  Einleitung 
von  Professor  Spranger,  die  den  sachlichen  Zusammenhang  der  Arbeiten 
vermittelt,  zugleich  auch  manche  Ergänzungen  aus  hier  nicht  abgedruckten  Stücken 
bringt,  ja  einiges  auch  aus  dem  bisher  ungedruckten  zweiten  Teil  der  Lebenserinne- 
rungen Paulsens,  die  noch  im  Besitz  seiner  Witwe  sind,  entnehmen  konnte.  Es 
empfiehlt  sich,  diese  Einleitung  zunächst  zur  allgemeinen  Orientierung  durchzulesen, 
dann  aber,  nachdem  man  die  Aufsätze  (alle  oder  mit  Auswahl)  gelesen,  die  Einleitung 

29* 


452    F.  Paulsen,  Gesammelte  Pädagogische  Abhandlungen,  angez.  von  Fr.  Heußner. 

noch  einmal  sorgfältig  durchzugehen,  um  so  ein  recht  klares  Bild  der  pädagogischen 
Entwicklung,  Tätigkeit  und  Bedeutung  des  Mannes  zu  erhalten,  der  die  für  die 
Pädagogik  so  wichtigen  letzten  drei  Jahrzehnte  als  „Kenner  der  Vergangenheit, 
Deuter  der  Gegenwart  und  Prophet  der  Zukunft"  begleitet  hat,  wohl  der  hervor- 
ragendste und  wirksamste  Führer  der  pädagogischen  und  schulpolitischen  Bewe- 
gungen dieser  Epoche  gewesen  ist  und  sich  um  das  nationale  ßildungswesen  so 
hohe  Verdienste  erworben  hat.  Das  wäre  so  ein  Thema  für  eine  größere  Seminar- 
arbeit eines  Kandidaten!  Die  hier  zusammengestellten  Aufsätze  sind  ein  wichtiges 
Stück  deutscher  Bildungsgeschichte  und  Schulpolitik  und  ein  schönes  Denkmal 
für  den  Mann,  der  mahnend,  klärend  und  führend  so  vielseitig  wirkte  und  ins- 
besondere als  der  getreue  Eckart  der  höheren  Schulen,  ihrer  Lehrer  und  Schüler, 
bezeichnet  werden  konnte. 

Der  größte  Anteil  der  Arbeiten  fällt  dem  höheren  Schulwesen  zu,  der  zweite 
dann  den  Universitäten.  Aber  auch  der  Volksschule  sind  einige  Aufsätze  gewidmet 
mit  Erörterungen  über  Fortbildungsschulen  oder  eine  „ländliche  Hochschule'* 
und  die  Frage  der  konfessionellen  Schule.  Dazu  kommen  noch  Abhandlungen 
über  allgemein  pädagogische  Fragen,  die  aus  früherer  Zeit  heitere  Spiegelbilder 
der  Zeit,  von  einem  schönen  Optimismus  getragen,  die  aus  den  letzten  Jahren, 
der  Zeit  körperlichen  Siechtums,  mehr  von  einer  pessimistischen  Lebensauffassung 
durchzogen.  Hervorheben  möchte  ich  aus  der  Zahl  der  Aufsätze  hier  noch  einige, 
die  für  die  Lehrer  und  die  Schule  gegenwärtig  mir  von  besonderer  Bedeutung 
zu  sein  scheinen,  nämlich:  die  Philosophie  im  Unterricht  der  höheren  Lehranstalten, 
die  Überbürdung  der  Gymnasiallehrer,  die  verschiedenen  Artikel  über  den  Ober- 
lehrerstand als  einen  gelehrten  Stand,  über  Programmwesen  und  Programmbibliothek, 
zum  Kapitel  der  geschlechtlichen  Sittlichkeit.  Der  Aufsatz  über  Fr.  A  1 1  h  o  f  f 
mag  dazu  dienen,  manchem  das  in  seinem  Urteil  noch  schwankende  Bild  dieses 
hervorragenden  Mannes  zu  klären  und  richtig  zu  stellen. 

Eine  schöne  Würdigung  Paulsens  gab  kurz  nach  seinem  Tod  sein  Freund 
M  ü  n  c  h  ,  der  ihm  nun  am  25.  März  d.  J.  im  Tode  nachgefolgt  ist,  im  Korrespondenz- 
blatt für  den  akademisch  gebildeten  Lehrerstand.  In  schöner  Klarheit  wird  durch 
unser  Buch  das  Bild  dieses  ,, Lehrers  Deutschlands"  weiterhin  vor  vieler  Augen 
stehen,  seinen  Schülern  wird  dadurch  die  Erinnerung  neu  belebt,  die  Nachfolgenden 
werden  schon,  abgesehen  von  dem  reichen  Inhalt,  durch  die  ruhige,  einfache,  klare, 
in  Schönheit  der  Form  fesselnder  Darstellung  und  des  Verfassers  edele  Persönlich- 
keit, in  der  ein  schöner  Idealismus  sich  mit  einem  gesunden  Realismus  verband, 
gewonnen  werden.  Man  wird,  je  nach  seiner  Stellung,  in  vielem  ihm  zustimmen, 
manches  ablehnen,  immer  aber  seine  Ansicht  achten.  Als  ein  Archiv  von  Paulsens 
bildungspolitischer  Tätigkeit  wird  das  Buch  auch  für  künftige  Zeiten  einen  bleibenden 
Quellenwert  behalten  und  sei  zur  Anschaffung  für  Bibliotheken  warm  empfohlen. 

Kassel.  Fr.  Heußner. 

Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts.     Erster  Jahrgang 
und  erstes  Beiheft.     Berlin    1911.    Weidmannsche   Buchhandlung.     Jahrgang 
in  4  Heften  8  M. 
20  Jahre  hindurch  hat  die  „Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schul- 
geschichte" ihre  Mitteilungen  herausgegeben,  die  von   Kehrbach  und  Heubaum 


Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  usw.,  angez.  von  M.  Wehrmann.     453 

geleitet  wurden.  In  diesen  Bänden  ist  eine  große  Fülle  von  Stoff  zur  Geschichte 
der  Erziehung  und  des  Unterrichts  enthalten,  recht  ungleich  im  Werte,  wenig 
systematisch  in  der  Sammlung  und  Zusammentragung,  aber  doch  im  ganzen  nicht 
wertlos  oder  gar  schädlich.  Als  man  vor  20  Jahren  anfing,  diesem  Zweige  der  deut- 
schen Kulturgeschichte  größeres  Interesse  zuzuwenden  als  bisher,  da  ging  man  noch 
wenig  planvoll  vor  und  sammelte  Stoff,  ohne  immer  das  Unwichtige  von  dem 
Wichtigen  zu  scheiden.  Allmählich  aber  hat  sich  auch  für  diese  Disziplin  eine  Art 
von  Methode  gebildet,  man  hat  gelernt,  planmäßig  zu  arbeiten  und  auch  an  dem 
Quellenmaterial  Kritik  zu  üben.  Diese  Erkenntnis  hat  nun  dazu  geführt,  der 
Zeitschrift  der  Gesellschaft  einen  etwas  anderen  Charakter  zu  geben,  wenigstens 
indem  man  von  der  nationalen  Beschränkung  auf  die  deutschen  Verhältnisse  für 
die  allgemeinen  und  wichtigen  Fragen  abgehen  will.  Zugleich  soll  die  Veröffent- 
lichung von  Arbeiten  rein  lokalgeschichtlicher  Art,  die  eine  Zeitlang  in  den  Mit- 
teilungen gar  zu  sehr  hervortraten,  eingeschränkt  werden  und  nur  dann  erfolgen, 
wenn  sie  in  irgendeiner  Weise  das  Typische  ihres  Materials  oder  ihrer  Ergebnisse 
betonen  oder  aber  Verhältnisse  beleuchten,  die  vom  Typischen  abweichen.  Das 
ist  nur  mit  Freude  zu  begrüßen  und  dringend  zu  hoffen,  daß  dies  Programm  auch 
eingehalten  wird.  Der  Dilettantismus,  der  sich  schon  in  so  vielen  geschichtlichen 
Zeitschriften  breit  macht,  ist  der  Tod  ernster  wissenschaftlicher  Forschung,  und 
wenn  es  der  vorliegenden  Zeitschrift  gelingt,  einen  maßgebenden  Einfluß  auf  die 
schulgeschichtlichen  Arbeiten,  die  zu  einem  großen  Teile  noch  sehr  am  Dilettan- 
tismus leiden,  auszuüben  und  sie  in  die  richtigen  Bahnen  zu  leiten,  so  wird  das  ein 
großes  Verdienst  sein  und  gewiß  im  Geiste  Heubaums  gehandelt  sein,  der  sich 
um  die  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte  und  um  die 
Neugestaltung  ihrer  Zeitschrift  besonders  verdient  gemacht  hat.  Der  vorliegende 
1.  Jahrgang,  der  in  4  Heften  erschienen  ist  und  den  Mitgliedern 'der  Gesellschaft 
für  den  niedrigen  Jahresbeitrag  von  5  M.  mit  allen  Beiheften  geliefert  wird,  enthält 
eine  Reihe  von  tüchtigen  Abhandlungen,  wie  von  B.  Barth  über  Montaignes 
Pädagogik,  von  A.  J  o  1 1  e  s  über  Spielzeug  vergangener  Jahrhunderte,  von 
P.  Schwartz  über  preußische  Schulpolitik  in  den  Provinzen  Südpreußen  und 
Neuostpreußen,  von  M.  Herrmann  über  Alfred  Heubaum  u.  a.  m.  Auch 
einzelne  Quellenstücke,  z.  B.  zur  Geschichte  der  Fürstenerziehung,  oder  Notizen 
und  Nachrichten  aus  alten  Rechnungen,  werden  mitgeteilt.  Es  fehlen  noch  mehr 
allgemeine  Aufsätze  besonders  auch  methodischen  Inhaltes;  sie  tun,  wie  es  scheint, 
besonders  not.  Wir  wünschen  der  Zeitschrift  eine  weitere  glückliche  Entwicklung 
und  vor  allem  eine  recht  große  Verbreitung,  namentlich  auch  in  den  Kreisen  der 
Lehrer  an  höheren  Schulen,  die  sich  zum  größten  Teile  von  den  Bestrebungen 
der  Gesellschaft  noch  recht  fern  halten. 

Das  erste  Beiheft  zu  der  Zeitschrift  ist  als  ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Er- 
ziehung und  des  Unterrichtes  in  Sachsen  herausgegeben  worden  von  Prof.  Dr. 
R.  N  e  e  d  0  n  und  enthält  die  lectionum  praxis  des  Magisters 
J  0  h  a  n  n  e  s  T  h  e  i  1 1.  Es  ist  das  ein  Tagebuch  für  die  Ratsschule  in  Bautzen 
aus  den  Jahren  1642— «1679.  Johannes  Theill  (geb.  1608)  war  von  1641—1679 
Rektor  an  dieser  Schule.  Über  den  Unterricht,  die  Feiern  und  allerlei  Ereignisse  hat 
er  sorgfältig  Buch  geführt;  es  ist  unzweifelhaft,  daß  sich  in  den  Aufzeichnungen 


454  Quintin  Steinbart,  1841—1912,  angez.  von  A.  Matthias. 

manche  wertvolle  oder  interessante  Notiz  findet,  man  muß  es  indessen  bezweifeln, 
ob  der  vollständige  Abdruck  nötig  oder  ratsam  war.  Es  gibt  auch  an  anderen 
Anstalten  solche  acta  scholastica,  wie  sie  häufig  genannt  werden;  sollen  diese  auch 
veröffentlicht  werden?  Daß  wir  unter  den  Quellenpublikationen  zu  ersticken 
drohen,  ist  eine  alte  Klage,  deren  Berechtigung  nicht  zu  leugnen  ist. 

Greifenberg  i.  Po.  M.  Wehrmann. 

Quintin   Steinbart,    1841—1912.      Blätter  der   Erinnerung  der  29.   Delegierten- 
versammlung des  Allgemeinen   Deutschen   Realschulmännervereins    gewidmet 
von  Karl  Schwabe,  Richard  Eickhoff,  Max  Walter.    Mit  einem  Bildnis  des  Ver- 
storbenen.   Berlin-Wilmersdorf  1912.    Rosenbaum   &  Hart.    20  S.    8«.    0,80  M. 
Am  5.  Juni  d.  J.  ist  der  Geheimrat  Dr.  Quintin  Steinbart,  der  Di^'eklor  des 
Duisburger  Realgymnasiums,  nach  kurzer  Krankheit  gestorben.     Ihm,  dem  Be- 
gründer und  langjährigen  Vorsitzenden  des  Allgemeinen  Deutschen   Realschul- 
männervereins, ist  die  vorliegende  Schrift  gewidmet.     Schwabes  Aufsatz  gilt  der 
Erinnerung  an  den  Verstorbenen.     Eickhoffs  Worte  waren  zum  70.  Geburtstage 
Steinbarts  niedergeschrieben;  sie  kennzeichnen  den  Dahingeschiedenen  im  Kampfe 
um  die  Schulreform.     Max  Walter  feiert  seinen  ehemaligen  Rawitscher  Direktor 
am  Tage  seines  vierzigjährigen  Dienstjubiläums  als  Direktor  einer  Vollanstalt. 
Beigefügt  ist  noch  ein  kleines  Charakterbild  des  Lehrers  und  Menschen  Steinbart, 
das  ein  dankbarer  Schüler,  der  selber  zum  Lehrer  geworden,  mit  liebevoller  Hand 
gezeichnet  hat. 

Da  Steinbart  immerfort  als  Vorkämpfer  für  die  Gleichberechtigung  der  Real- 
anstalten in  erster  Linie  gestanden  hat  so  bilden  diese  Blätter  zugleich  einen  Bei- 
trag zur  Geschichte  des  höheren  Unterrichts  der  die  weitesten  Kreise  interessieren 
muß;  und  wir  können  um  das  Andenken  dieses  wackeren  Streiters,  dieses  vor- 
trefflichen Lehrers  und  Direktors  und  dieses  herzgewinnenden,  wahren  und  schlichten 
Mannes  zu  ehren,  nichts  Besseres  tun  als  der  kleinen  Schrift  eine  möglichst  weite 
Verbreitung  zu  wünschen.  Steinbart  verdient  es,  bekannt  zu  werden,  wo  die  Kennt- 
nis seines  Wirkens  noch  nicht  vorhanden  war,  und  in  lebhafte  Erinnerung  gerufen 
zu  werden,  wo  man  ihn  schon  lange  verehrte  und  liebte. 

Berlin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 

Meth,  B.,  Schulgeschichten  aus  dem  alten  Görlitzer 
Kloster.  Berlin  1909.  Trowitzsch  u.  Sohn.  XI  u.  189  S.  8".  5,45  M. 
Eine  eigenartige  Veröffentlichung  zur  Schulgeschichte!  In  der  Prima  des 
alten  Görlitzer  Gymnasiums  wurde  seit  1810  unter  dem  Titel  Memorabilia  primae 
classis  gymnasii  Gorlicensis  eine  Art  von  Tagebuch  geführt,  in  dem  alle  möglichen 
Ereignisse  innerhalb  und  außerhalb  der  Schule  aufgezeichnet  worden  sind.  Die 
beiden  ersten  Bände  dieser  Annalen  umfassen  die  Jahre  1810  bis  1838,  ein  dritter 
Band  (1839—1853)  ist  verloren,  der  vierte,  der  die  neuere  Zeit  behandelt,  enthält 
kurze  Aufzeichnungen,  von  denen  der  Herausgeber  nur  einige  aus  den  Jahren 
1853  bis  1858  mitteilt,  während  die  ersten  Teile  fast  vollständig  abgedruckt  worden 
sind.  Der  Inhalt  dieses  Tagebuches  läßt  uns  tiefe  Blicke  in  das  Schulleben  tun. 
Mit  Erstaunen,  ja  fast  mit  Grausen  lesen  wir  von  dem  ungebundenen  Leben  und 


K,  Reisinger,  Dokumente  zur  Geschichte  usw.  angez.  von  M.  Wehrmann.     455 

Treiben  der  Primaner,  von  Kommersen  und  Kneipereien,  von  Duellen  und  Prügeleien, 
von  Ausbrüchen  jugendlichen  Übermutes  und  von  einer  Disziplinlosigkeit  eigener 
Art.  Wir  bekommen  dadurch  ein  Bild  von  Zuständen,  die  uns  heute  ganz  unglaub- 
lich erscheinen,  so  daß  wir  mit  Befriedigung  ausrufen:  ,,Wir,  moderne  Lehrer  und 
Schüler,  sind  doch  bessere  Menschen!"  Das  soll  die  oft  gerühmte  Blütezeit  der 
humanistischen  Gymnasien  sein,  das  die  Jahre,  in  denen  unsere  Väter  den  Grund 
zu  ihrer  Bildung  legten!  Nun,  ganz  so  schlimm,  wie  es  nach  dieser  Schilderung 
erscheint,  wird  es  nicht  gewesen  sein.  So  wertvoll  in  einzelnen  Beziehungen  diese 
Quelle  für  unsere  Kenntnis  vom  Schulleben  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
sein  mag,  so  vorsichtig  muß  sie  benutzt  werden,  um  allgemeine  Schlüsse  daraus 
zu  ziehen.  Die  Primaner,  die  in  den  Annalen  ihre  Erlebnisse  aufzeichneten,  wollten 
nicht  eine  getreue  Schilderung  der  Vorgänge  geben,  sondern  ihre  Mitschüler  und  die 
späteren  Generationen  mit  ihren  Erzählungen  amüsieren  und  haben  deshalb  in 
der  Art  einer  Bierzeitung  Übertreibungen  und  Ausschmückungen  beliebt,  die  im 
einzelnen  deutlich  erkennbar  sind.  Ist  es  doch  eine  bekannte  Eigenart  der  Jugend, 
mit  solchen  Heldentaten  innerhalb  und  außerhalb  der  Schule  zu  renommieren  und 
sich  auch  später  noch  dessen  zu  rühmen,  wodurch  sie  die  Schulordnung  verletzt 
und  ihre  Lehrer  geärgert  oder  hintergangen  zu  haben  glauben.  Ganz  besonders 
wird  das  der  Fall  gewesen  sein  in  solchen  schriftlichen  Aufzeichnungen,  die  sich 
in  der  Klasse  forterbten.  Deshalb  schenke  man  ihnen  nicht  zu  viel  Glauben!  Von 
dem  ernsten  Arbeiten  und  Streben  zu  sprechen,  die  Unterrichtstätigkeit  ihrer  Lehrer 
zu  schildern,  das  lag  den  jungen  Schriftstellern  fern,  ja  dazu  fehlte  es  ihnen  an 
Urteil  und  Verständnis.  So  wollen  wir  diese  Aufzeichnungen,  deren  Veröffentlichung 
immerhin  dankenswert  ist,  nur  mit  Vorsicht  als  Quelle  zur  Schulgeschichte  benutzen. 

Reisinger,  K.,  Dokumente  zurGeschichte  der  humanistischen 
Schulen  im  Gebiet  der  Bayerischen  Pfalz.     Mit  historischer 
Einleitung  herausgegeben.   Erster  Band.   Historische  Einleitung  und  Dokumente 
der  bischöflichen    Schulen    in  Speyer.      Zweiter   Band.     Dokumente  zur   Ge- 
schichte der  weltlichen  Schulen  in  Zweibrücken,  Speyer  und  kleineren  Orten. 
(Monumenta  Germaniae  Paedagogica   Band  XLVII,  XL IX).    Berlin  1910,  1911. 
Weidmannsche  Buchhandlung.   XVIII  u.  446  S.    IX  u.  666  S.  8°.  11,60  u.l7M. 
Nach  dem  neuen  Plane  für  die  Fortführung  der  Monumenta  Germaniae  Pae- 
dagogica  (Mitteilungen   der   Gesellschaft  für  deutsche   Erziehungs-  und   Schul- 
geschichte XX,  S.  233—236)  sollen  „an  die  Stelle  der  Quellenpublikationen,  denen 
nur  darstellende  Einleitungen  hinzugefügt  waren,  umgekehrt  in  größerer  Zahl 
als  bisher  umfassende  Darstellungen  treten,  die  neben  dem  verarbeiteten  Stoff 
nur  einzelne,  besonders  wichtige  Dokumente  vollständig  zum  Abdruck  bringen". 
Die  vorliegenden  Bände,  die  noch  nach  den  älteren  Grundsätzen  bearbeitet  worden 
sind,  bilden  doch  bereits  eine  Art  von  Übergang  zu  den  neuen.    Die  „historische 
Einleitung"   ist   so   eingehend   und   ausführlich,   daß   sie   in  dem  ersten  Bande 
den  größten  Teil  einnimmt.    Sie  bietet  für  die  Territorial-  und  Lokalgeschichte 
eine  Fülle  von  Material,  das  weiter  bearbeitet  werden  kann,  für  die  allgemeine 
deutsche  Schulgeschichte  ist  das  Ergebnis  minder  reich.    Man  lese  die  treffliche 
Übersicht  über  die  Entwicklung  des  gesamten  Schulwesens  der  Pfalz  (S.  313 — 328) 


456        A.  Huck,  Synopse  der  drei  ersten  Evangelien,  angez.  von  H.  Richert. 

durch,  und  man  wird  leicht  erkennen,  daß  sich  in  ihr  wenig  Eigenartiges  kundtut. 
Der  Verfasser  sagt  selbst,  daß  auf  diesem  Gebiete  „für  die  Zeit  des  Mittelalters 
alle  die  Haupterscheinungen  im  Schulwesen  und  die  Haupteinflüsse  von  bedeutenden 
Männern  und  Zeitströmungen  zu  beobachten  sind,  welche  in  der  allgemeinen  Ge- 
schichte der  Pädagogik  die  leitenden  Gesichtspunkte  ausmachen".  Nicht  anders 
ist  es  in  der  späteren  Zeit,  die  pädagogischen  Anschauungen  des  18.  Jahrhunderts 
2.  B.  sind  auch  in  der  Geschichte  der  Pfälzer  Schule  erkennbar.  Das  ist  unzweifel- 
haft interessant,  aber  €s  ist  nicht  zu  billigen,  daß  solche  territorialgeschichtlichen 
Arbeiten  immer  noch  Aufnahme  in  die  M.  G.  F.  finden,  obwohl  bereits  vor  Jahren 
ihr  Ausschluß  erwogen  und  beschlossen  worden  ist.  Man  sollte  endlich  damit  Ernst 
machen  1 

Sehr  ausführlich  hat  Reisinger  im  ersten  Bande  die  Geschichte  der  Dom- 
schule in  Speyer,  für  die  einige  besonders  lehrreiche  Zeugnisse  aus  alter  Zeit  vor- 
liegen, und  der  Gymnasien  von  Zweibrücken  und  Speyer  behandelt.  Dabei  wird 
namentlich  für  die  Geschichte  einzelner  Unterrich'tsgegenstände  reichhaltiger  Stoff 
geboten,  der  recht  gründlich  ausgebeutet  werden  sollte.  Das  geschieht  in  den 
betreffenden  Abschnitten  des  historisch-pädagogischen  Literaturberichts  noch  nicht 
in  dem  Umfange,  wie  es  wünschenswert  ist.  Eine  sehr  dankenswerte  Zugabe  ist 
die  Zusammenstellung  der  Lehrbücher,  die  an  den  Gymnasien  in  Speyer  und 
Zweibrücken  in  Gebrauch  waren. 

Der  zweite  Band  enthält  eine  Sammlung  von  urkundlichen  Nachrichten  und 
Schriftstücken  über  die  Schulen  im  Herzogtum  Zweibrücken  (Hornbach,  Lauingen, 
Zweibrücken  u.  a.),  über  das  reichsstädtische  Gymnasium  in  Speyer  und  Anstalten 
an  kleineren  Orten  (Landau,  Höningen,  Heidesheim).  Eine  reiche  Auswahl  von 
Schulgesetzen,  catalogi  lectionum,  Stundenplänen,  Bestallungen,  Visitations- 
berichten, Zeugnissen,  Schülerarbeiten,  Berichten,  Instruktionen,  Plänen,  Entwürfen, 
Prüfungsaufgaben  u.  a.  m.  wird  uns  hier  geboten.  Darunter  findet  sich  viel  Stoff, 
der  beachtenswert  ist,  aber  diesen  aus  der  Menge  herauszufinden,  ist  nicht  leicht, 
und  man  muß  bezweifeln,  ob  sich  die  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  allgemeinen 
deutschen  Schulgeschichte  dieser  Mühe  unterziehen  werden,  zumal  da  das  Wort- 
und  Sachregister  kaum  dafür  ausreichen  wird.  An  dieser  Stelle  möchte  ich  auf- 
merksam machen  auf  die  Schülerarbeiten  von  1631  (Nr.  64)  und  1755  (Nr.  78), 
die  Schülerreden  von  1736/68  (Nr.  106  a),  die  Prüfungsaufgaben  eines  Lehrers 
von  1761  (Nr.  111),  den  Realschulplan  von  1764  (Nr.  112)  und  Bahrdts  Entwurf 
zur  Einrichtung  eines  Philanthropins  von  1776/77  (Nr.  88,  89).  Trotz  der  Bedenken, 
die  im  allgemeinen  gegen  das  Werk  erhoben  sind,  muß  nachdrücklich  anerkannt 
werden,  daß  es  von  sehr  großem  Fleiße  und  guter  Kenntnis  der  schulgeschichtlichen 
Verhältnisse  zeugt. 

Greifenberg  i.  P.  M.  W  e  h  r  m  a  n  n. 

Huck,  A.,  Synopse  der  drei  ersten  Evangelien.  4.  durchgesehene 
und  verbesserte  Auflage.  Tübingen  1910.  J.  C.  B.  Mohr.  XXXVII.  223  S. 
4,40  M. 

Hucks  Synopse  bedarf  keiner  empfehlenden  Anzeige  mehr.    Sie  ist  nicht  nur 

ein  notwendiges  Studentenbuch,  sie  ist  nicht  nur  für  den  Religionslehrer  unent- 


F.  Heyn,  Geschichte  Jesu,  angez.  von  H.  Richert.  457 

behrlich,  sie  bietet  jedem  gebildeten  Laien  alles  Material,  um  sich  über  die  ersten 
drei  Evangelien  ein  Urteil  zu  bilden.  Und  wie  wünschenswert  wäre  es,  daß  in  einer 
Zeit  waghalsigster  Theorien  die  wissenschaftlich  gebildeten  Männer  einmal  sich 
über  den  wirklichen  Tatbestand  der  Evangelien  aus  solcher  Quelle  informierten. 
In  den  wertvollen  Prolegomena  führt  Huck  die  ältesten  Zeugnisse  für  die  synoptischen 
Evangelien  im  Wortlaut  auf,  zum  textkritischen  Apparat  werden  die  griechischen 
Handschriften,  die  Übersetzungen,  die  kirchlichen  Schriftsteller  genau  namhaft 
gemacht,  ein  weiteres  Kapitel  ist  der  apokryphen  Evangelien  und  Agrapha  gewidmet, 
unter  IV  findet  sich  das  Parallelen-  und  Stellenregister  zur  Synopse.  Damit  ist 
in  der  Tat  alles  gegeben,  was  für  eine  ernsthafte  Beschäftigung  mit  den  Evangelien 
wünschenswert  ist.  Es  folgt  dann  in  einer  meisterhaften  Anordnung  und  Übersicht- 
lichkeit mit  dem  kritischen  Apparat  die  eigentliche  Synopse  nach  dem  Tischen- 
dorfschen  Text.  Man  kann  über  die  Sorgfalt,  den  Scharfsinn  und  den  Gelehrtenfleiß, 
der  hier  solch  Werk  geschaffen  hat,  nicht  genug  Rühmenswertes  sagen.  Die  Ehrung, 
die  die  Straßburger  theologische  Fakultät  dem  Verfasser  wegen  dieses  Werkes 
hat  zuteil  werden  lassen,  ist  ein  deutlicher  Ausdruck  der  Dankbarkeit,  den  jeder 
theologische  Arbeiter  dem  Verfasser  zollen  wird. 

Heyn,  F.,  G  e  s  c  h  i  c  h  t  e  J  e  s  u.  4.  u.  5.  verbesserte  Auflage.  Leipzig  1910. 
Ernst  Wunderlich.     XXIV  u.  334  S.    8«.     4  M. 

Die  weite  Verbreitung,  die  Heyns  Geschichte  Jesu  gefunden  hat,  ist  wohl 
verständlich,  da  das  Buch  große  wissenschaftliche  und  pädagogische  Vorzüge  besitzt. 
Der  Verfasser  hat  die  neuere  und  neueste  Literatur  über  Jesus  und  die  Evangelien 
mit  eigenem  Urteil  studiert  und  gibt  dem  Leser  im  Vorwort  und  in  zahlreichen 
Anmerkungen  ein  Bild  von  dem  Gewirr  der  hier  zu  nennenden  Anschauungen, 
wobei  allerdings  die  mehr  rechts  stehende  Theologie  mehr  oder  \yeniger  ignoriert 
wird.  Da  der  Verfasser  seinen  Standpunkt  klar  präzisiert,  so  kann  ihm  daraus 
kein  Vorwurf  gemacht  werden.  Wer,  so  sagt  er,  von  einem  dogmatischen  Christus- 
bilde ausgeht,  wird  das  Buch  getrost  aus  der  Hand  legen  dürfen.  Man  kann  einem 
so  ehrlich  ausgesprochenen  Standpunkte  gegenüber  nur  fragen,  ob  der  hier  ein- 
geschlagene Weg,  nicht  theologisch  gebildete  Leser  in  die  wissenschaftliche  Literatur 
einzuführen,  zum  Ziele  führt.  Ich  möchte  meinen,  daß  statt  der  ausführlichen 
Vorreden  eine  orientierende  Einführung  den  Bedürfnissen  solcher  Leser  mehr 
entspräche. 

Was  dem  Buch  seine  eigentümliche  Färbung  gibt,  ist  das  Bestreben,  mit 
Nachdruck  die  Fühlung  der  Schule  mit  der  wissenschaftlichen  Evangelienforschung 
praktisch  zu  vertreten.  Zwar  will  der  Verfasser  nicht,  daß  die  Schule  alle  „neuesten" 
vermeintlichen  Errungenschaften  sofort  auch  für  den  Marktgebrauch  weitergibt. 
Er  lehnt  also  Drews  und  Kalthoff  ab.  Aber  die  Vorreden  belehren  doch  darüber, 
daß  die  neuesten  Hypothesen  sofort  auch  auf  die  Gestaltung  des  den  Schülern 
zu  übermittelnden  Stoffes  Einfluß  haben.  Ich  lasse  die  Richtigkeit  dieser  wissen- 
schaftlichen Sätze  ganz  unerörtert.  Auch  Heyns  Theorien  über  diese  Fragen  sind 
natürlich  nur  eine  These  neben  andern.  Mich  interessiert  hier  nur  die  Frage,  wieweit 
die  Schule  für  den  Volksschulunterricht  und  für  die  mittleren  Klassen  der  höheren 
Schulen  sich  in  Stoff  und  Methode  des  Lebens  Jesu  nach  diesem  wissenschaftlichen 


458  F.  Heyn,  Geschichte  Jesu,  angez.  von  H.  Richert. 

Leuchtfeuer  orientieren  soll.  Die  Frage  ist  also,  soll  für  diese  Stufen  das  traditionelle 
Christusbild  oder  das  nach  der  modernen  Forschung  orientierte  Jesusbild  den 
Schülern  geboten  werden?  Heyn  scheidet  alle  johanneischen  Züge  radikal  aus, 
weil  die  Gedanken  des  4.  Evangeliums  ganz  andersartig  seien  als  die,  welche  der 
Schüler  bei  den  Synoptikern  kennen  lernt.  Bei  der  Wichtigkeit  dieser  Frage  will 
ich  an  einem  entscheidenden  Punkte  zeigen,  wie  sich  die  Anwendung  dieser  Grund- 
sätze für  die  Praxis  gestaltet:  ich  greife  die  Kreuzigung  Jesu  heraus.  Nur  Markus- 
stellen werden  verarbeitet.  Mark.  15,V  20b— 23.  V  25—35,  v.  40  f.  Ort  und  Zeit 
der  Kreuzigung  werden  genannt.  Dann  heißt  es:  zählt  die  Leiden  auf,  die  der  Gottes- 
sohn ertragen  muß!  a)  die  körperlichen  Schmerzen;  b)  die  seelischen  Schmerzen: 
den  Mördern  ist  er  gleichgeachtet,  verspottet,  ohne  Trost,  verlassen.  Und  nun 
wörtlich:  „Ob  ihm  da  nicht  in  fliegender  Eile  sein  ganzes  Leben  durch  die  Seele 
gezogen  ist  und  ihn  die  jetzige  Verlassenheit  doppelt  schmerzlich  empfinden  ließ? 
Als  glückliches  Kind  sieht  er  sich  am  Brunnen  in  Nazareth  spielen,  als  Jüngling 
hört  er  von  den  Leiden  des  Volkes,  in  Kapernaum  strecken  sich  ihm  bittend 
Arme  entgegen,  am  Galiläischen  See  folgen  die  Augen  der  andächtigen  Menge 
seinem  Blicke  auf  die  Vögel  unter  dem  Himmel,  jetzt  lächeln  ihn  holde  Kinder- 
augen an,  immer  neue  Scharen  durch  ihn  Beseligter  drängen  sich  heran,  die  Ge- 
lähmten, die  Besessenen,  die  Blinden  finden  sich  ein.  Hosianna,  ruft  die  Menge, 
gelobt  sei  der  da  kommt  im  Namen  des  Herrn !  Aber  da  jagen  arglistige,  heuchle- 
rische Gesichter  die  Menge  auseinander  und  quälen  ihn  mit  Fragen,  und  da  stehen 
sie  dicht  vor  ihm,  immer  höhnischer  und  widerlicher  werden  die  Gesichter.  Kein 
Petrus,  kein  Johannes  in  der  Nähe,  nicht  Vater  oder  Mutter  oder  Brüder  oder 
Schwestern  stehen  ihm  zur  Seite.  Dann  wendet  er  sich  zum  letzten  Male  in  seinem 
Leben  im  Gebet  an  Gott,  seinen  Gott,  schreit  laut  auf  und  verscheidet.  Zusammen- 
fassung: Jesus  stirbt  in  gänzlicher  Verlassenheit".  Hier  tritt  aus  wissenschaftlich- 
kritischen Gründen  an  die  Stelle  des  traditionellen  Bildes  vom  Tode  Jesu  mit  den 
weltbekannten  Einzelzügen,  mit  den  Kreuzesworten,  mit  der  ehrfurchtgebietenden 
Tiefe  und  der  erschütternden  Tragik  ein  in  den  Evangelien  mit  keinem  Worte 
angedeutetes,  durch  Tiefe  nicht  ausgezeichnetes  Ausmalen  von  Seelenvorgängen, 
die  ohne  weiteres  auf  irgend  einen  sterbenden  Romanhelden  übertragen  werden 
könnten.  Der  Verfasser  wird  sich  der  Armut  seines  Bildes  nicht  verschließen.  Er 
wird  aber  einwenden,  daß  der  schmerzliche  Verzicht  durch  wissenschaftliche 
Gewissenhaftigkeit  geboten  sei.  Ich  teile  seinen  wissenschaftlichen  Standpunkt 
hier  nicht.  Aber  ich  konzediere  ihn  einmal,  um  die  prinzipielle  Frage  stellen  zu 
können,  ob  bei  solchem  wissenschaftlichen  Standpunkt  dieses  pädagogische  Verfahren 
geboten  ist.  Ich  verneine  diese  Frage  mit  allem  Nachdruck.  Ich  freue  mich,  hier 
auf  das  ganz  entgegengesetzte  Verfahren  Thrändorfs  in  seinem  Leben  Jesu  verweisen 
zu  können.  Unsere  Kinder  haben  einen  Anspruch  auf  das  Christusbild  der  Gemeinde, 
auf  den  Christus,  der  Gegenstand  des  Evangeliums  ist.  Die  oberen  Klassen  mögen 
von  der  Forschung,  ihren  Methoden  und  Resultaten  etwas  hören,  um  sich  einst 
in  diesen  Fragen  zurechtfinden  zu  können.  Aber  so  gewiß  die  Geschichte  Jesu 
schon  für  die  mittlere  Stufe  vieles  in  die  Peripherie  verweisen  wird,  so  darf  doch 
solche  Verkürzung  der  überlieferten  Stoffe  auch  von  dem  für  diese  Stufe  nicht 
vorgenommen  werden,  der  in  einem  wissenschaftlichen  Buch  über  Jesus  glaubt, 


I 


A.  Reukauf  u.  E.  Heyn,  Lesebuch  usw.,  angez.  von  H.  Richert.  459 

nicht  mehr  sagen  zu  können.  Soweit  ich  sehe,  hat  der  Verfasser  für  die  biblischen 
Geschichten  eine  solche  Reduzierung  nicht  gefordert.  Ich  meine,  die  gleiche  päda- 
gogische Rücksicht  muß  auch  noch  für  die  Mittelstufe  der  höheren  Schule  gefordert 
werden.  Hier  entscheiden  pädagogische,  nicht  wissenschaftliche  Überlegungen. 
Ich  stimme  dem  Verfasser  auch  darin  nicht  bei,  daß  er  doch  wesentlich  aus  Gründen 
der  Disponierung  Jesu  Bruch  mit  der  Familie  auf  eine  sehr  späte  Stelle  verweist, 
die  Versuchungsgeschichte  gar  erst  vor  der  Verklärung  bringt.  Beides  scheint  mir 
mit  einer  ,, Geschichte  Jesu"  unvereinbar.  In  vielen  Teilen  ist  das  Buch  ein  aus- 
gezeichnetes Hilfsmittel.  Aber  gerade  bei  der  großen  Verbreitung  dieses  Unterrichts- 
werkes schien  mir  der  Ausdruck  abweichender  Meinung  notwendig. 

Reukaufy  A.  u.  Heyn,  E.,  Lesebuch  zur  Kirchengeschichte  mit 
Abriß  der  Kirchengeschichtefürhöhere  Schulen.  2.  Aufl. 
Leipzig  1911.  Ernst  Wunderlich.  VI  u.  412  S.  8^.  2  M. 
Nachdem  für  die  höheren  Mädchenschulen  Preußens  ein  kirchengeschichtliches 
Lesebuch  im  Lehrplan  vorgeschrieben  ist,  wird  die  dringend  nötige  Reform  des 
Lehrplans  für  höhere  Knabenschulen  zweifellos  auch  diesen  die  gleiche  Wohltat 
eines  solchen  Lesebuches  bringen,  denn  es  kann  dank  der  bahnbrechenden  Arbeiten 
Thrändorfs  heute  als  ein  Gemeinplatz  gelten,  daß  allein  auf  diese  Weise  kirchen- 
geschichtlicher Unterricht  fruchtbar  gemacht  werden  kann.  Heyn  und  Reukauf 
haben  redlichen  Anteil  an  dem  Durchdringen  kirchengeschichtlicher  Lesebücher. 
Das  mir  vorliegende  Lesebuch  ist  gegenüber  der  Ausgabe  A  in  drei  Bänden  mehr 
zusammengedrängt.  Hier  und  da  scheint  mir  nach  dieser  Richtung  zu  viel  getan 
zu  sein.  Vor  allem  müßte  der  Abschnitt:  Die  Vorherrschaft  des  neueren  Protestantis- 
mus sehr  viel  umfassender  sein,  wenn  der  Religionsunterricht  schon  die  Kirchen- 
geschichte mit  der  Gegenwartstendenz  treiben  will,  die  mir  dringend  nötig  erscheint, 
wenn  er  aber  andererseits  die  auf  Kant  und  Goethe  basierende  moderne  Geistes- 
geschichte auch  für  den  Religionsunterricht  zur  Darstellung  bringen  will.  Wenn, 
was  herzlich  zu  wünschen  ist,  die  Gegenwartsfragen  im  Unterricht  der  Prima 
den  ihnen  gebührenden  Platz  erhalten,  wird  auch  das  Lesebuch  auf  diese  Fragen  mehr 
Rücksicht  nehmen  müssen.  Aber  diese  Zukunftswünsche  sollen  nicht  das  Urteil 
beeinträchtigen,  daß  wir  in  diesem  Buch  eine  sorgfältige,  mühsame  und  gelungene 
Arbeit  vor  uns  haben;  von  der  Mühe  solcher  Arbeiten  machen  sich  wohl  nicht  alle 
Leser  die  rechte  Vorstellung.  Die  2.  Auflage  ist  als  eine  sehr  wesentlich  verbesserte 
zu  bezeichnen.  Möchte  dieses  Buch  sich  immer  mehr  zu  dem  kirchengeschichtlichen 
Lesebuche  auswachsen. 

Geffken,  H.,  Rade,  M.,  Seil,  K.,  Traub,  F.,  DieReligionim  Lebender 
Gegenwart.    4  Vorträge.     Leipzig  1910.      Quelle  &  Meyer.    VI  u.  137  S. 
80.     2,40  M. 
Vier  Vorträge  aus  der  Kölner  Bewegung  sind  hier  vereinigt.     Im  Vorwort 
wird  diese  Bewegung  charakterisiert.    Sie  will  rückhaltlos  auf  alles  Veraltete  ver- 
zichten, das  neuzeitliche  Wissen  freudig  bejahen  und  für  die  jenseits  der  Wissenschaft 
selbständig  gebietende  Lebensmacht  der  Religion  begeistern.    In  den  Dienst  dieser 
Bewegung  stellen  sich  diese  Vorträge:  Religion  und  Wissenschaft  von  Seil-Bonn, 


460  P.  Dörwald,  Der  hebräische  Unterricht,  angez.  von  H.  Richert. 

Religion  und  Moral  von  Rade -Marburg,  Religion  und  Kirche  von  Traub-Dort- 
mund,  Religion  und  Politik  von  Geffken-Köln.  Die  Namen  der  Verfasser  bürgen 
dafür,  daß  sie  unter  eigener  Verantwortlichkeit  diese  aktuellen  Fragen  erörtern 
und  daß  daher  der  Leser  nicht  etwa  die  Fragen  durch  den  trüben  Dunst  einer 
Parteipropaganda  ansehen  muß.  Der  Standpunkt  der  Verfasser  ist  ja  bekannt. 
Ich  rühme  den  Ernst,  den  vornehm  wissenschaftlichen  Ton  und  die  religiöse  Wärme 
der  Vorträge.  Sie  alle  beweisen  den  Satz  Seils,  daß  wirklich  die  Frage  nach  der 
Religion  auf  der  Tagesordnung  unseres  öffentlichen  Lebens  steht.  Selbstverständ- 
lich kann  man  bei  dem  Umfang  der  Fragen  hier  nicht  mehr  als  vielseitige  Anregung 
erwarten.  Für  diese  Anregung  wird  auch  der  dankbar  sein,  wer  in  vielen  Punkten 
von  den  Vortragenden  abweicht. 

Dörwald,  Paul,  Der  hebräische  Unterricht.  Eine  Methodik  für  Gym- 
nasien. Berlin  1910.  Weidmannsche  Buchhandlung.  131  S.  8^.  3,40  M. 
Der  Verfasser  hat  fast  ein  Vierteljahrhundert  lang  dem  hebräischen  Unterricht 
ein  gut  Teil  seiner  Berufsarbeit  zugewandt,  er  hat  über  diesen  Gegenstand  mancherlei 
Arbeiten  veröffentlicht  und  gibt  nun  als  Abschluß  seines  Wirkens  auf  diesem  Gebiet 
eine  Methodik  heraus,  die  in  der  Tat  eine  treffliche  und  sachgemäße  Arbeit  ist. 
Der  Verfasser  erörtert  die  Stellung  des  Hebräischen  auf  dem  Gymnasium,  bespricht 
das  Lehrverfahren  im  allgemeinen,  geht  die  grammatischen  Stoffe  im  einzelnen 
genau  durch  und  behandelt  verhältnismäßig  kurz  die  Lektüre  auf  zehn  Seiten, 
von  denen  noch  sechs  auf  ein  ausführliches  Lehrbeispiel  (Ps.  8)  fallen.  Schon  hieraus 
ergibt  sich,  daß  für  den  Verfasser  der  grammatische  Unterricht  im  Mittelpunkt 
seines  Interesses  steht.  Für  diesen  Unterricht  ist  das  Buch  denn  auch  recht  erfreu- 
lich. Aber  darin  weiche  ich  sehr  erheblich  von  dem  Verfasser  ab,  daß  ich  diesem 
Unterricht  literarisch-geschichtliche  Aufgaben  stelle,  die  das  Buch  fast  ganz  ignoriert. 
Freilich  will  das  Buch  zeigen,  wie  der  hebräische  Unterricht  dem  Schüler  Blicke 
in  große  weltgeschichtliche  Kulturbewegungen  zu  eröffnen  vermag.  Die  hierfür 
angeführten  Beispiele  sind  aber  wesentlich  einige  Hinweise,  wie  die  Geschichte 
und  Erdkunde  durch  den  hebräischen  Unterricht  bereichert  werden  kann.  Der 
Schlußsatz  des  Buches  zeigt,  daß  diese  Beschränkung  kein  Zufall  ist:  ,,es  sei  noch 
besonders  darauf  hingewiesen,  daß  eine  theologische  Behandlung  des  Alten  Testa- 
mentes nicht  in  den  Gymnasialunterricht  gehört,  daß  der  Lehrer  im  besonderen 
den  kritischen  Fragen  der  modernen  Theologie  aus  dem  Wege  zu  gehen  hat."  So 
beschränkt  sich  denn  der  Verfasser  in  der  Literatur,  die  dem  Lehrer  des  Hebräischen 
für  die  eigenen  Studien  und  für  den  Unterricht  zur  Verfügung  steht,  auf  gramma- 
tische Hilfsmittel.  Damit  aber  sind  lohnende,  notwendige  und  wertvolle  Aufgaben 
dieses  Unterrichts  mit  einem  grollenden  Seitenblick  auf  die  moderne  Theologie 
und  mit  einem  kategorischen  Diktum  abgelehnt.  Und  das  ist  ein  wesentlicher 
Mangel  dieser  tüchtigen  Arbeit. 

Posen.  Hans  Richert. 

Freiherr  von  Hertling,  Georg,  DieBekenntnisscdesheiligenAugu- 

s  t  i  n  u  s.  Buch  I — X.  Ins  Deutsche  übersetzt  und  mit  einer  Einleitung  versehen. 

Vierte  und  fünfte  Auflage,  kl.  12«.  Xu.  520  S.  Freiburg  1910.  Herder,   broschiert 

2,30  M.,  in  Leinwand  3  M.,  in  Leder  geb.  3,80  M. 

Der  bekannte  Münchener  Professor  und  Philosoph  —  seit  kurzem  Minister- 


Georg  Freiherr  von  Hertling,  Die  Bekenntnisse  usw.  angez.  von  W.  Capitaine.     461 

Präsident  —  hat  in  dem  letzten  Jahrzehnt  seines  wissenschaftlichen  Arbeitens 
sich  vorwiegend  mit  Augustinusstudien  beschäftigt.  1902  erschien  in  der  Kirch- 
heimschen  „Weltgeschichte  in  Charakterbildern"  Hertlings  „Augustin"  mit  dem 
Obertitel  „Der  Untergang  der  antiken  Kultur";  das  Buch  fand  freudigen  Anklang, 
und  die  Kritik  erwartete  weitere  Werke  über  Augustinus  aus  der  Feder  des  gefeierten 
Philosophen.  Bereits  1905  ließ  Hertling  seine  „Augustinus-Zitate  bei  Thomas  von 
Aquin"  und  fast  gleichzeitig  die  Übersetzung  der  zehn  ersten  Bücher  der  „Be- 
kenntnisse" erscheinen.  Auch  diese  Arbeiten  wurden,  zumal  in  der  theologischen 
Welt,  dankbar  begrüßt,  und  die  Übersetzung  der  Bekenntnisse  erlebte  in  kurzer 
Zeit  Auflage  um  Auflage. 

Die  „Bekenntnisse  des  heiligen  Augustinus"  gehören  zum  dauernden  Bestand 
der  theologischen  Literatur  aller  Konfessionen;  man  kann  sie  geradezu  ein  Stück 
Weltliteratur  nennen.  Das  Ringen  eines  gewaltigen,  aber  verirrten  Geistes  um 
Befreiung  von  Wahn  und  Leidenschaft  und  Erlangung  von  Ruhe  und  Seelenfrieden 
findet  in  diesem  Werke  eine  Darstellung,  die  vorbildlich  bleibt.  Das  Werk  lag 
schon  längst  in  manchen  Übersetzungen  vor,  aber  der  Wert  des  Buches  kann  immer 
aufs  neue  die  Konkurrenz  einer  neuen  Übersetzung  ertragen.  Die  Hertlingsche 
Arbeit  zeichnet  sich  durch  Glätte  der  Sprache  und  Genauigkeit  des  Ausdruckes 
vorteilhaft  aus.  Interessant  war  für  den  Referenten  die  Vergleichung  der  Arbeit 
von  Hertling  mit  einer  1853  bei  Manz  in  Regensburg  erschienenen  Übersetzung. 
Auf  die  drei  letzten  Bücher  der  Bekenntnisse,  die  Hertling  als  nicht  zum  Zu- 
sammenhang gehörig  ausscheidet,  kann  man  an  dieser  Stelle  verzichten;  wünschens- 
wert aber  für  spätere  Ausgaben  bliebe  die  auch  in  sonstigen  Ausgaben  beigegebene 
Inhaltsangabe,  die  am  Kopfe  der  einzelnen  Kapitel  und  möglichst  auch  am  Schlüsse 
des  ganzen  in  kurzen  Sätzchen  den  Inhalt  der  Kapitel  angibt.  Die  Theologen 
werden  dem  Verfasser  besonders  noch  für  die  genaue  Angabe  der  zahlreich  ver- 
werteten Bibelstellen  dankbar  sein.  Die  vornehme  Ausstattung,  'die  der  Verlag 
dem  Buche  gegeben,  entspricht  durchaus  dessen  inhaltlichem  und  wissenschaft- 
lichen Werte. 

Eschweiler.  Wilhelm  Capitaine. 

Amelangs  Taschenbibliothek  für  Büchcrlicbhaber.  I.Goethe,  Hermann  und 
Dorothea.  Eingeleitet  von  Otto  Harnack.  geb.  I  M.  Leipzig  1910.  2.  H  e  i  n  e  , 
Buch  der  Lieder.    Ohne  Einführung.   Leipzig  191 1.  geb.  IM.  3.  S  h  a  k  e  - 
speare,    Romeo   und  Julia.  Übersetzt  von  A.  W.  v.  Schlegel.     Über- 
arbeitet und  mit  einer  Einleitung  versehen  von  Max  J.  Wolff.     Leipzig  1911. 
geb.  1  M. 
Die   Eigenart   dieser   neuen   Veröffentlichungen   des  rührigen   Amelangschen 
Verlages  besteht  zunächst  in  ihrer  äußeren  Gestaltung.    Das  zierliche  und  hand- 
liche Format,  der  Einband  in  blauer  und  in  roter  Farbe  und  einem  geschmackvollen 
Muster  des  18.  Jahrhunderts  entsprechend,  das  federleichte  und  trotzdem  kräf- 
tige Dickdruckpapier,  das  ein  allergeringstes  Gewicht  ermöglicht,  bei  Nr.  1  und  3 
von  etwa  60  g,  bei  den  208  Seiten  von  Nr.  2  von  etwa  150  g,  die  schönen  Lettern 
mit  neuer,  ansprechender  Satzeinrichtung:  das  alles  befriedigt  auch  einen  ver- 
wöhnten Geschmack  und  rechtfertigt  auch  hier  das  Bild  von  der  silbernen  Schale, 


462      Amelangs  Taschenbibliothek  für  Bücherliebhaber,  angez.  von  P.  Lorentz. 

in  der  goldene  Früchte  geboten  werden.  Ohne  ein  begleitendes  Wort  literarhisto- 
rischer Würdigung  wirken  die  lyrischen  Schöpfungen  der  Muse  Heinrichs  Heine 
durch  sich  selbst.  Bei  Goethes  „Hermann  und  Dorothea"  hat  Otto  Harnack  ein 
paar  Blätter  zum  Verständnis  der  Dichtung  geschrieben,  die  er  in  feinsinniger 
Absicht  am  Schluß  hinzufügt,  während  Max  J.  Wolff  seine  Einführung  in  der 
gewöhnlichen  Weise  Shakespeares  ,, Romeo  und  Julia**  voransetzt.  Harnack  be- 
handelt Goethes  Epos  in  der  üblichen  Weise  als  die  Frucht  der  in  Italien  gewonnenen 
Einsichten  in  das  Wesen  und  die  Grundsätze  der  Kunst,  verteidigt  die  Dichtung 
gegen  moderne  Angriffe  auf  die  Form,  die  keinen  Mangel  in  nationaler  Hinsicht 
bedeute,  und  weist  die  Erfahrungen  Goethes  nach,  die  die  besondere  Färbung  von 
Ort  und  Zeit,  von  Handlung  und  Personen  bedingt  haben.  Dabei  werden  die  Ver- 
dienste Kullners  um  die  Entdeckung  der  Beziehungen,  die  Pösneck  in  Thüringen 
zu  ,, Hermann  und  Dorothea"  hat,  gebührend  anerkannt  und  gewürdigt.  Wolff 
gibt  in  seiner  Einführung  genau  Rechenschaft  über  Entstehung  und  Quellen  von 
Shakespeares  typischer  Liebestragödie,  die  sein  dramatisches  Erstlingswerk  dar- 
stellt, und  weist  „ex  ungue  leonem''  nach,  geht  freilich  in  der  Behauptung  der  vollen 
Tragik  und  der  Verteidigung  der  Rolle,  die  der  Zufall  spielt,  doch  zu  weit.  Zu 
Grunde  liegt  seiner  Übersetzung  die  Schlegelsche,  deren  Härten  und  doch  eben 
auch  nicht  seltene  Fehler  abgestellt  worden;  mit  Vorteil  ist  für  die  Gestaltung  des 
Textes  die  Revision  von  H.  Conrad,  die  Übersetzung  von  Bodenstedt  und  Vischers 
Arbeit  in  seinen  Shakespeare- Vorträgen  benutzt  worden.  —  Auch  auf  solche  Lieb- 
haberausgaben soll  man  die  Schüler  hinweisen,  die  beim  gegenseitigen  Beschenken 
nicht  selten  Fehlgriffe  begehen  und  so  auf  die  anmutigste  Weise  lernen  können, 
wie  auch  mit  geringen  Mitteln  sich  der  dauernde  Besitz  eines  gehaltvollen  Inhalts 
in  geschmackvoller  Form  erwerben  läßt:  das  ist  auch  ein  Stückchen  Erziehung 
zur  Kunst,  das  keine  besondere  Unterrichtsstunde  kostet,  deren  unsere  höhere 
Schuljugend  wirklich  genug  hat. 

Spandau.  P.  Lorentz. 

Deutsche  Bücherei  1 14/5.  Hermann  Nitzschke,  Aus  der  Hunde- 
türkei. 168  S.  IM.  Verlag  deutsche  Bücherei  Otto  Koobs  1910.  Berlin  W.  57. 

Statt  einer  Leibeskur  in  einer  Sommerfrische  macht  Herr  Balduin  Wohlfahrt 
aus  Buxtehude  eine  Seelenkur  in  der  ,, Hundetürkei"  durch,  einer  Gegend  abseits 
von  allem  Verkehr  mit  sehr  bescheidenen  landschaftlichen  Reizen.  Es  schwebt 
dem  Verfasser  die  Verherrlichung  eines  Völkchens  voll  Selbstgenügsamkeit  und 
Bescheidenheit  vor,  das  keine  Reize  moderner  Kultur  braucht.  Ein  solcher  Schlag 
sind  die  Bewohner  der  ,, Hundetürkei**.  Aber  Nitzschke  kommt  nicht  recht  über 
das  Reden  hinaus,  sein  Humor  ist  gezwungen,  seine  Gestaltungskraft  gering,  die 
Tendenz  blickt  aufdringlich  durch.  — 

Das  Büchlein  gehört  zu  der  „Deutschen  Bücherei",  deren  wertvolle  Eigenart 
ich  schon  früher  in  der  ,, Monatschrift*'  gewürdigt  habe.  Sie  präsentiert  sich  dies- 
mal —  in  einem  neuen  Verlage  —  äußerlich  erheblich  eleganter,  auf  besserem 
Papier  mit  klarerem  Druck.  Dafür  scheint  die  Sammlung  allerdings  auch  viel 
(um  das  Doppelte?)  teurer  geworden  zu  sein:  merkwürdigerweise  fehlt  in  dem 
angehängten  Verzeichnis  die  Angabe  der  Preise! 

Linden  b.  Hannover.  Waldemar  Haynel. 


R.  Meßleny,  Teil-Probleme,  angez.  von  G.   Kettner.  463 

Meßl^ny,  Richard,  T  e  1 1  -  P  r  o  b  1  e  m  e.  Berlin-Zehlendorf  1910.  B.  Behrs 
Verlag.     115  S.     8«.    2,50  M. 

Der  Verfasser  behandelt  zunächst  die  Entstehung  der  Tellsage.  Er  meint, 
die  Wandersage  von  dem  Meisterschützen  habe  gerade  in  der  Schweiz  feste  Wurzeln 
geschlagen,  weil  hier  die  Schützenkunst  von  jeher  eine  „Nationalgeschicklichkeit" 
gewesen  sei.  Der  Sage  von  dem  Frevel  der  Vögte,  die  für  Teils  Tat  die  Voraus- 
setzung bildet,  glaubt  er  mit  ,,der  modernen  Geschichtswissenschaft'  jede  geschicht- 
liche Grundlage  absprechen  zu  müssen  —  als  ob  nicht  Forscher  wie  Oechsli  einen 
geschichtlichen  Kern  annähmen!  Die  Hypothese,  daß  ,,die  Missetaten  auf 
biblische  Muster  zurückgehen",  gilt  ihm  als  ein  „tatsächlicher,  unzweifel- 
hafter Nachweis".  Da  nun  aber  doch  „die  Volksepik  ihre  Erzählung  niemals  ganz  aus 
der  Luft  greift",  so  sucht  er  nach  einem  Anlaß,  der  zu  solchen  Vorstellungen  führte, 
und  findet  ihn  in  der  Machtvollkommenheit,  die  der  feudale  Staat  seinen  Vertretern 
gab.  „Denken  wir  an  einen  preußischen  Amtsrichter,  der  als  Berliner  Assessor 
(umgekehrt!)  plötzlich  nach  einem  kleinen,  halb  deutschen,  halb  französischen 
Landstädtchen  ins  Elsaß  befördert  wird:  ist  er  nicht  mehr  als  ein  Durchschnitts- 
beamter, so  sind  Konflikte  fast  unausbleiblich,  wie  sich  jeder  Zeitungsleser  davon 
überzeugen  mag.  Solcher  Vorbedingungen  zum  Konflikt  mangelte  es  im  Mittel- 
alter bei  dem  Volke  noch  weniger  als  bei  der  Verwaltung."  Etwas  weniger  harmlos 
werden  wir  uns  den  Hergang  doch  wohl  zu  denken  haben! 

Ausführlich  schildert  Meßleny  dann  die  Ausgestaltung  der  Sage  bis  auf  Tschudi. 
Vischers  Untersuchungen  bilden  seine  Grundlage;  er  greift  aber  nur  die  Haupt- 
punkte der  Entwicklung  heraus  und  sucht  sie  schärfer  zu  charakterisieren.  Daran 
reiht  sich  eine  Besprechung  der  Darstellung  der  Sage  in  J.  Müllers  Geschichte  und 
in  Schillers  Dramen,  sowie  der  Auffassung  Gottfried  Kellers  und  eine  Würdigung 
des  Bildes  von  Hodler,  in  den  Meßleny  „den  größten  linearen  Denker  der  Menschheit 
seit  Michelangelo"  sieht.  Da  gerade  der  Abschnitt  über  Schillers  Teil  reich  an  Miß- 
verständnissen ist,  so  gehe  ich  auf  ihn  hier  noch  kurz  ein. 

Es  ist  müßig,  zu  fragen,  ,,ob  das  Drama  die  poetische  Wiedergabe  der  spezifisch 
schweizerischen  Staatsbildung  sei";  wie  hätte  Schiller  darauf  kommen  sollen? 
Aber  Meßleny  bestreitet  auch,  daß  Schiller  an  „eine  poetische  Symbolisierung 
staatlichen  Lebens"  gedacht  habe,  ihm  ist  er  „so  gut  ein  Zoon  apolitikon  wie  seine 
größten  Zeitgenossen".  Das  ist  durchaus  falsch.  Mag  Schiller  auch  zuzeiten  sich 
müde  vom  politischen  Leben  abgewandt  haben:  wie  er  schon  in  seiner  Jungfrau 
dazu  sich  stellte,  hat  u.  a.  Kühnemann  warm  und  schön  gezeigt,  und  den  politischen 
Gehalt  des  Teil,  besonders  der  Rütliszene,  habe  ich  in  meinen  „Studien  zu  Schillers 
Dramen"  Bd.  I  W.  Teil  72—75,  94—99  eingehend  entwickelt. 

Genauer  geht  Meßleny  auf  die  Verknüpfung  der  Tellhandlung  mit  der  Er- 
hebung der  Eidgenossen  ein.  Freilich  die  Hauptfrage,  wie  Schiller  das  Verhältnis 
zwischen  dem  Willen  und  Streben  des  Volkes  und  der  tatkräftigen  Einzelpersönlich- 
keit behandelt,  streift  er  kaum.  Neben  den  Verzahnungen,  auf  die  von  jeher  hin- 
gewiesen ist,  zieht  er  noch  einzelne  Stellen  heran,  die  er  zum  Teil  recht  unklar  und 
gewaltsam  ausdeutet.     In  den  Worten  Geßlers  (2082): 

Ich  kenn  euch  alle  —  ich  durchschau  euch  ganz  — 
Den  nehm'  ich  jetzt  heraus  aus  eurer  Mitte, 
Doch  alle  seid  ihr  teilhaft  seiner  Schuld, 


464     W.  Herzog,  Heinrich  von  Kleist  u.  Meyer-Benfey,  Kleists  Leben  und  Werke. 

soll  Teil  „als  der  autochthone  (??)  individuelle  Vertreter  des  ganzen  Volkes  klar 
bezeichnet  sein  im  Gegensatz  zu  Stauffacher,  der  ein  sozialer,  gewählter  Vertreter 
ist".  Wo  steht  davon  eine  Silbe?  —  Am  „innigsten**  aber  soll  „die  Verknüpfung 
im  entscheidenden  Moment  an  Attinghausens  Sterbebett  werden".  „Entscheidend" 
sind  ihm  die  Verse: 

2420  Ja,  dann  bedarf  es  unserer  nicht  mehr; 
Getröstet  können  wir  zu  Grabe  steigen: 
Es  lebt  nach  uns  —  durch  andere  Kräfte  will 
Das  Herrliche  der  Menschheit  sich  erhalten. 

(Er  legt  seine  Hand  auf  das  Haupt  des  Kindes.) 
Aus  diesem  Haupte,  wo  der  Apfel  lag, 

2425  Wird  auch  die  neue  bessere  Freiheit  grünen; 
Das  Alte  stürzt,  es  ändert  sich  die  Zeit, 
Und  neues  Leben  blüht  aus  den  Ruinen. 

„Nicht  allein  wird  dadurch  die  neue  Freiheit  entschieden  an  den  Apfelschuß  (?!) 
angeknüpft  und  so  Teils  Zusammenhang  mit  der  Neubegründung  des  Staates  feier- 
lich und  unanzweifelbar  proklamiert  (!),  es  wird  auch  ein  neuer  poetischer  (politi- 
scher?) Sinn  dem  Heldenschützen  beigelegt.  In  ihm  erblickt  Attinghausen  im 
Gegensatz  zum  Adel  den  Vertreter  des  neuen  Demos."  Meßleny  legt  hier  gewalt- 
sam der  Stelle  einen  Sinn  unter,  der  durch  den  Zusammenhang  der  Szene  völlig 
ausgeschlossen  ist;  er  kümmert  sich  gar  nicht  darum,  wodurch  die  Worte  2420 — ^2424 
hervorgerufen  sind.  Eben  hat  Attinghausen  durch  die  drei  Führer  von  dem  Bunde 
des  Volkes  gehört.  Wohl  erfüllt  ihn  anfangs  dies  selbständige  Handeln  der  Land- 
leute „ohne  Hilf  der  Edeln"  „mit  großem  Erstaunen",  aber  rasch  gefaßt  erkennt 
er  das  Bedeutungsvolle  dieser  politischen  Entwicklung  an.  Darauf  und  nicht 
auf  Teils  Apfelschuß  beziehen  sich  die  von  Meßleny  zitierten  Verse,  wie  der  von  ihm 
übersehene,  durch  einen  Gedankenstrich  getrennte  Vordersatz  aufs  schärfste  sich  dem 
Leser  einprägt.  Weniger  klar  ist  die  Bedeutung  von  2444;  jedenfalls  aber  bezeichnet 
er  nicht  den  Heldenschützen  als  Vertreter  des  neuen  Demos,  sondern  seinen  Sohn. 
In  dem  Knaben,  den  noch  der  letzte,  furchtbarste  Frevel  der  Gewalt  gestreift 
hat,  erblickt  Attinghausen  den  Vertreter  einer  neuen,  freien  und  glücklichen 
Generation. 

Weimar.  Gustav  Kettner. 

Herzog,   Wilhelm,    Heinrich    von    Kleist.     Sein  Leben  und  sein  Werk. 

München  1911.  C.  H.  Beck.  VI  u.  694  S.  gr.  8».  7,50  M. 
Meyer-Bentey,  Kleists  Leben  und  Werke,  dem  deutschen  Volke  dar- 
gestellt. Göttingen  1911.  0.  Hapke.  XV  u.  392  S.  gr.  8°.  4,80  M. 
Wir  besitzen  leider  kein  befriedigendes  Bildnis  von  Kleists  Gesichtszügen. 
So  gibt  es  auch  bisher  keine  vollgenügende  Biographie  im  großen  Stile.  Das  Jahr 
1911  hat  die  Zahl  der  Kleist-Biographien  um  zwei  bedeutsame,  unabhängig  von- 
einander entstandene  Arbeiten  vermehrt.  Sie  sind  von  leidenschaftlichen  Ver- 
ehrern Kleists  geschrieben.  Beide,  von  den  Verlegern  aufs  würdigste  ausgestattet, 
feiern  in   Kleist  den    größten   deutschen  Dramatiker  und   wenden   sich  an  das 


angez.  von   H.  Gilow.  465 

deutsche  Volk.  Beide  geben  das  Philologische  ausdrücklich  preis.  Aber  so  sehr 
sich  jeder  von  ihnen  in  Kleist  eingefühlt  zu  haben  glaubt  —  eine  objektive 
Biographie,  geschweige  denn  d  i  e  Biographie  Kleists  haben  sie  uns  nicht  gegeben. 

Herzog  sagt,  Kleist  suche  ,,die  reine  architektonische  Form  der  griechischen 
Tragiker  mit  der  individuellen  realistischen  Charakteristik  Shakespeares,  die  von 
Goethe  und  Schiller  ganz  vernachlässigt  worden  war**,  zu  vereinigen,  und  beklagt 
„die  zum  Unheil  der  deutschen  Nationalliteratur  von  Goethe  und  Schiller  betriebenen 
Nachahmungen*'  der  Antike;  ebenso  Meyer,  der  dieselbe  ablehnende  Haltung  gegen 
den  deutschen  Klassizismus  offenbart.  —  Kleist,  der  „es  wagte,  das  ganz  und  gar 
Individuelle,  ja  das  Extreme  und  Perverse  zu  schildern",  wird  von  Herzog  einmal 
an  den  Anfang  einer  Entwicklungslinie  Kleist  —  Hebbel  —  Ibsen  gestellt  (ähnlich 
Meyer-Benfey  S.  64),  ein  andermal  heißt  es:  ,, Rousseau  —  Kleist  —  Nietzsche, 
drei  Punkte  einer  Linie."  Meyer-Benfey  S.  288:  „Er  verkündet  als  Vorgänger 
Nietzsches,  das  Genie  hat  seine  eigne  Ethik."  Vollends  bei  Herzog  S.  144  ist  Kleist 
„der  erste  Ahn  jener  verzweiflungsvollen  nihilistischen  Künstler .  .  .  Dostojewski". 
Aber  Kleist,  dessen  reifstes  Werk,  der  Prinz  von  Homburg,  der  Majestät  des 
Staates  huldigt,  und  Nietzsche,  der  den  Staat  als  Fessel  des  Herrenmenschen 
haßt  und  sagt:  „Dort  wo  der  Staat  aufhört,  beginnt  erst  der  Mensch,  der  nicht 
überflüssig  ist",  können  meines  Erachtens  nicht  ohne  größte  Gewaltsamkeit  als 
Punkte  einer  Linie  angesprochen  werden! 

Gleich  die  Einleitung  von  Herzogs  Buch,  das  nach  dem  Prospekt  Kleists  Bild 
doch  dem  Herzen  unseres  Volkes  nahebringen  möchte,  stimmt  irreführend 
alles  auf  einen  Unglückston:  ,,Als  ob  es  die  Aufgabe  des  Dichters  wäre,  das  Normale, 
das  Gewöhnliche,  das  Durchschnittliche,  das  Gesunde  darzustellen  .  .  .  Worin  be- 
steht vor  allem  das  Tragische,  wenn  nicht  im  Kranken  —  im  Unheilbaren?"  Herzog 
wurzelt  also  auf  Nietzsches  Boden.  Und  nicht  viel  anders  Meyer-Benfey  in  dem 
zum  Teil  recht  anfechtbaren  Abschnitt  ,, Genie  und  Krankheit".  '  Braucht  es,  um 
von  Iffland,  Kotzebue  und  Konsorten  abzurücken,  solcher  Übertreibungen,  denen 
zufolge  doch  ein  großer  Teil  der  Klassiker  aller  Zeiten  eine  Wertschmälerung 
erfahren  müßte,  weil  sie  nicht  aufs  Klinische  gerichtet  sind?  Vielleicht  sind 
aber  krankhafte  Naturen  unter  den  Lesern  glücklicher  veranlagt  als  der  Bericht- 
erstatter und  freuen  sich  solcher  Kunst-  und  Weltanschauung?!  —  So  stehen  diese 
Biographien  absprechend  auf  einem  äußersten  Flügel.  Herzogs  Werk  ist  das  Buch 
vom  „Martyrium  des  Genies"  und  gleichzeitig  eines  unbedingten  Kultus  des 
Genies.  Wieder  und  wieder  wird  von  dem  „Banne  des  Genius"  gesprochen,  dem 
Kleist  verfallen  sei  (Meyer-Benfey  S.  45),  von  dem  Schicksal,  das  über  ihm,  ,,der 
unter  einem  Unstern  geboren",  walte.  Man  erhebt  Anklage  gegen  die,, Grausamkeit 
des  Geschicks,  das  mit  ihm  gespielt"  (Meyer-Benfey  Vorrede  S.  X),  und  das 
unerbittliche  Schicksal,  das  ihm  immer  wieder  den  Weg  versperrte.  Haben  solche 
vieldeutigen  Begriffe  Platz  in  Biographien  für  das  deutsche  Volk?  Und  ist  es 
wirklich  nötig,  das  dunkle  Schicksal  zu  bemühen?  Wenn  der  leitende  Gedanke 
jeder  Kleistbiographie  meines  Erachtens  das  unumwundene  Zugeständnis  eines 
schmerzlichen  Mißverhältnisses  zwischen  dem  Genie  des  Dichters  und  der  Zer- 
fahrenheit seines  Lebens  sein  muß,  so  erfüllen  diese  Biographien  eine  solche  Auf- 
gabe   noch    nicht.      In   diesem    richtigen  Sinne    hatte  schon  einst  der  Dichter 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  30 


466    W.  Herzog,  Heinrich  von  Kleist  u.  Meyer-Benfey,  Kleists  Leben  und  Werke, 

Eichendorff  Kleists  Leben  im  Umriß  gezeichnet.  Die  neuzeitlichen  Biographen 
aber,  Hebbels  Wort,  an  unerhörtem  „Unglück"  sei  keiner  Kleist  zu  vergleichen, 
weit  übertrumpfend,  entäußern  Kleist   der  eigenen  Verantwortung. 

Wenn  man,  wie  Herzog  die  rücksichtslose  Einseitigkeit,  die  keine  Kompromisse 
kenne  und  die  nicht  gelernt  habe,  das  äußere  Leben  nach  bestimmtenGesichtspunkten 
zu  gestalten  und  das  Gleichgewicht  zu  bewahren,  bei  Kleist  zugesteht,  warum 
dann  dieses  tatsächliche  Verhältnis  gleich  bis  zur  Behauptung  der  für  das  Genie 
bestehenden  Unmöglichkeit,  sich  hier  in  dieser  Welt  zurechtzufinden, 
steigern  (S.  637)?  Herzog,  Kleists  Über- Individualismus  zugestehend,  sagt: 
„Er  gerät  in  einen  Kultus  des  Ichs,  der  ihn  für  die  Schranken  der  Wirklichkeit, 
die  sich  ihm  überall  entgegenstellen,  blind  macht."  Aber  Herzog  scheut  die  Folge- 
rung, darin  eine  Schuld  seines  Heros  zu  erblicken.  Wenn  oftmals  das  Genie, 
und  so  auch  Kleist,  schwer  leidet,  so  leidet  es  unseres  Bedünkens  nicht  immer  a  1  s 
solches,  sondern  wegen  vieler  Nebeneigenschaften,  die  als  Untugenden  und 
Unarten  mit  dem  Genie  so  gut  wie  mit  jeder  anderen  menschlichen  Individualität 
verbunden  sein  können,  aber  nicht  verbunden  sein  müssen.  Und  sind  denn  etwa 
äußere  Verhältnisse  wie  der  frühe  Tod  seiner  Eltern,  der  unselige  autodidaktische 
Bildungsgang  und  die  daraus  hervorgehende  entsetzlich  überspannte  Geistigkeit  seiner 
Studentenzeit,  sein  offenbarer  Mangel  an  wirtschaftlichem  Sinne,  die  zu  meßbaren 
Quellen  des  Unsegens  für  ihn  wurden,  als  untrennbare  Eigenschaften  seines  Genius 
anzusehen?  Endlich  ist  man  in  den  Biographien  Friedrichs  des  Großen  und 
Goethes  davon  abgekommen,  die  Väter  als  bloße  Kontrastgestalten  zu  miß- 
handeln: für  Kleists  Leben  erneuert  sich  immer  wieder,  und  so  auch  bei  Herzog 
und  Meyer-Benfey,  der  Versuch,  die  Schuld  von  dem  Dichter  abzuwälzen  und  der 
Gleichgültigkeit  der  Welt,  näher  seiner  Familie  und  Freunde,  aufzubürden. 

Das  Wort:  „Alles  verstehen,  heißt  alles  verzeihen",  darf  doch  aber  nicht 
bloß  dem  jungen  Kleist,  sondern  es  muß  auch  seinen  Zeitgenossen  zugute  kommen. 
Der  „schweren  Unterlassungssünde  der  Zeitgenossen"  (Meyer-Benfey  S.  X  und  S. 
236)  stehen  doch  nicht  wenig  Unterlassungen  seinerseits  gegenüber,  zumal  wenn 
er,  wie  Herzog  und  Meyer-Benfey  (S.  288)  annehmen,  Nietzsches  Gesinnungs- 
verwandter sein  sollte.  Da  Kleist  selbst  erst  spät  seinen  Beruf  zum  Künstler  ent- 
deckte, darf  man  es  dann  seiner  Schwester  Ulrike  verargen,  daß  sie  es  nicht  getan 
habe?  Der  Reihe  von  unglücklichen  äußeren  Umständen  in  seinem  Leben  standen 
unzweifelhaft  ebenso  viele  glückliche  Fügungen  durch  Verbindungen  seiner  Familie 
gegenüber  und  gaben  seinem  Lebensschiffe  wiederholt  eine  günstige  Richtung. 
Brockes,  Pfuel,  Rühle  waren  hilfreiche  Freunde.  Die  Unterstützung  seiner  immer 
zu  Opfern  und  zur  Vermittlung  für  ihn  bereiten  Schwester  Ulrike  versagte  nie. 
Noch  im  Herbst  1811  hatte  sie  bei  Frau  Marie  von  Kleist  für  alle  Fälle  zugunsten 
ihres  Bruders  Geld  niedergelegt.  —  Kleists  wiederholtes  Umsatteln  im  Beruf  war 
ein  zu  kostbarer  Luxus.  Und  hätten  die  „lieben"  Verwandten,  gegen  deren 
, »philiströs  anspruchsvolle  Beschränktheit"  seine  Biographen  sich  so  sehr  ent- 
rüsten, nicht  gewissenlos  gehandelt,  wenn  sie  ihm  überhaupt  nicht  zur  An- 
nahme eines  Amtes  geraten  hätten,  das  für  Herzog  wie  für  Meyer-Benfey 
freilich  nur  als  ein  „unwürdiges  Joch"  gilt.  Wenn  aber  Kleist  als  französischer 
Gefangener  auf  dem  Transport   nach  Fort   Joux  „durch  den  Kampf  mit  diesen 


angez.  von  H.  Gilow.  467 

Beschwerden   gehoben   wird"   und   „gesunder    als    jemals"    ist    (Meyer -Benfey 
S.  182),    warum  sollte   da  die   Betätigung  in  einem  Amte    nicht   einen  ähnlich 
heilsamen    Einfluß    ausgeübt    haben?    Wer  wird  gleich,   wie  Meyer-Benfey  tut 
(S.  218),  von  einer  „Königsberger  Winkelexistenz"  sprechen!  —  Es  ist  wirklich 
nicht  jedermanns   Sache,   so    ahnungslos  und    waghalsig   einem    Übermaß    von 
Hoffnungen  zu  huldigen,  wie  es  Kleist  bei  Begründung  des  Phöbus  und  dann  der 
Abendblätter  getan  hatte.  Weitere  Beihilfen  hätten  sicher  die  Kräfte  der  Familie 
auf  die  Dauer  überstiegen.     Und  wenn  ein  Goethe  noch  nicht  das  rechte  Augen- 
maß für  Kleists  dichterische  Riesengröße  hatte,  wie  konnten  es  da  die  Angehörigen 
haben?  Hier  sollten  die  Biographen  auch  eines  Wortes  des  sonst  von  ihnen  so  gern 
mit  Kleist  in  Verbindung  gesetzten  Nietzsche  sich  erinnern:    ,, Blitz  und  Donner 
brauchen  Zeit,  Taten  brauchen  Zeit,   auch  nachdem  sie  getan  sind,  um  gesehen  und 
gehört  zu  werden."    Darf  man  spöttisch  von  der  untergeordneten  Kritik  braver 
Schwestern   reden,   die  doch  wirklich  ebenso  wenig  Zutrauen  zu   Kleists  —  des 
noch  dazu  „immer  Verhüllenden"  —  rascher,  die  Wirklichkeit  überfliegender  Art 
haben  konnten  als  seine  von  den  Biographen   so  hart  angefaßte  Braut  („naive 
Spießbürgerlichkeit",  Herzog  S.  170;  etwas  milder  Meyer-Benfey  S.  45)  zu  seinen 
Illusionen  über  ein  in  der  Ferne  zu  führendes  Bauernleben?   Muß  man  wirklich  den 
gutmütigen  General  von  Köckeritz  gleich  darum  subaltern  und  armselig  schelten, 
weil  er  einem  so  unstäten  Mann  wie  Kleist  nicht  ohne  weiteres  zu  Diensten  war? 
Bei  solcher  Betrachtungsweise  ist  es  denn  auch  kein  Wunder,  daß  Kleist,  trotzdem 
er  immer  wieder  Adam  Müllers  Angriffe  gegen   Hardenberg,   auf  dessen  Unter- 
stützung Kleist  doch  rechnete,  in  seinen  Abendblättern  zu  seinem  Schaden  duldete, 
als  der   „unglückliche  Publizist"  (S.  583)  hingestellt  wird.     Und  wie  die 
Einleitung  Herzogs  so  klingt  auch  der  Schluß  in  eine  Anerkennung  von   Kleists 
befreiender  ,, Selbstrettung"  als  einer  Notwendigkeit  aus.  Etwas  anderes  wäre  es  ja, 
wenn  eine  solche  Notwendigkeit  etwa  aus  Kleists  krankhafter  Belastung  hergeleitet 
würde,  aber  gerade  eine  solche  wollen  unsere  beiden  Biographen  nicht  Wort  haben. 
Als  ich  in  Herzogs  Vorwort  die  stolzen  Worte  las:    ,,Es  galt,  die  durch  über- 
nommene Meinungen,  Vorurteile  und  Mißverständnisse  erzeugten  Dünste  zu  zer- 
streuen, mit  zweifelhaften  Hypothesen  und  herkömmlichen  Ansichten,  die  einer 
Prüfung  nicht  standhielten,  aufzuräumen",  hoffte  ich  schon,  es  würde,  nachdem 
nun  über  Kleist  in  unmännlicher  Weise  genug  geklagt  worden  ist,  mit  der  Weich- 
mütigkeit  der  Beurteilung  seiner  Schwächen  ein  Ende  gemacht  werden.     Wohl 
nimmt  Herzog  gelegentlich  Anläufe  zur  Kritik  des  Kleistschen  Wesens:   ,, Alles  oder 
nichts.  So  zerstörerisch  wütete  sein  geistiger  Radikalismus  immer  in  seinem  Leben.** 
Und  noch  deutlicher  gesteht  er  doch  an  der  Stelle,  wo  er  den  fundamentalen  Unter- 
schied Goethes  und  Kleists  darlegt:   ,,Der  Dichter  des  Werther,  des  Tasso  und  des 
W.  Meister  hatte  wie  nur  einer  all  diese  gefährlichen  Tendenzen  in  sich  gehabt, 
aber  zugleich  mit  ihnen  den  Willen  und  die  Kraft,  sie  umzubiegen  . . 
Kleist  hat  diese  Abgeklärtheit  (Goethes)  nie  erreicht."  —  Der  durchgehende  Zug 
beider  Biographien  ist  aber  doch  die  einseitige  Ansicht  von  dem  „wehvollen  Schauen 
und  Schaffen   des   Dichters,   das   gleich   dem    Gebären   nur   unter  unsäglichen 
Schmerzen  sich  vollzieht",  von  der  Unversöhnlichkeit  und  dem  ,, tragischen  Ver- 
hältnis des  Künstlers  zum  Leben"  (S.  111).    Doch  nicht  des  Künstlers,  sondern 

30* 


468    W.  Herzog,  Heinrich  von  Kleist  u.  Meyer-Benfey,  Kleists  Leben   und  Werke, 

nur  m  a  n  c  h  e  s  Ktinstlers!  Und  es  entschlüpft  ja  Herzog  gelegentlich  das  Wort: 
„Im  Gegensatz  zu  vielen  anderen  Dichtern  hat  die  Art  seines 
Schaffens  nichts  Regelmäßiges."  Es  wäre  ja  geradezu  niederschmetternd,  wenn 
man  den  düstern  Wahn  hegte,  das  Genie  müßte  zugrunde  gehen.  Es  gehen  doch 
aber  nur  diejenigen  Genies  unter,  denen  die  tragische  „Unfähigkeit  zum  Kompromiß*', 
der  Trieb  zum  Unmöglichen  innewohnt,  die  auch  Herzog  hervorhebt,  ohne  sie  aber 
als  Schwäche  zu  kennzeichnen.  Er  sagt:  „Man  könnte  einwenden:  sein  Leben 
sei  unglücklich,  zerrissen,  voller  Niederlagen  gewesen,  während  seine  Kunst  eine 
Reihe  helleuchtender  Siege  darstelle.  Diese  Feststellung  ist  so  richtig  wie  ober- 
flächlich." Wieso  das?  Solange  es  nicht  verpönt  ist,  einem  Menschen  aus  der  Har- 
monie seines  Daseins  ein  Verdienst  zu  machen,  muß  man  auch  das  Fehlen  dieser 
Ausgeglichenheit  beim  rechten  Namen  nennen.  Eine  solche  unbestechliche  Ab- 
messung der  Licht-  und  Schattenseiten,  die  ohne  alle  Lieblosigkeit  zu  geschehen 
hätte,  und  eine  zusammenfassende  Charakteristik  Kleists, 
in  der  alles  einzelne  gipfeln  müßte,  versuchen  beide  Lebensbeschreibungen  nicht, 
ebensowenig  wie  die  Entwicklung  seines  (bei  Herzog  nur  an  zerstreuten  Stellen  48, 
64,  79,  142,  199,  268,  556  angedeuteten)  Wachstums  vom  Rationalismus 
durch  das  Ästhetentum  aufwärts  zur  höchsten  Reife  einer  zugleich  künstlerisch  voll- 
kommenen und  vaterländischen  Dichtung.  Viele  einzelne  Beiträge  von  selten  des 
Reinmenschlichen  sind  in  Kleists  Selbstbeurteilung  vorhanden,  und,  wenn  man  auch 
Goethe  als  einseitig  ablehnen  muß,  so  sind  die  scharfen  Schlaglichter,  die  durch 
Äußerungen  Brentanos,  Achims,  Dahlmanns,  Adam  Müllers  u.  a.  auf  Kleist  ge- 
worfen werden,  nicht  so  unbrauchbar,  wie  Herzog  meint.  Oder  sollte  etwa  der 
Genius  überhaupt  außer  Wettbewerb  und  über  jeder  sittlichen  Bewertung  erhaben 
sein?  Dann  dürfte  vor  allem  Herzog  selbst  nicht  wiederholt  von  Kleists  „Bos- 
heiten" sprechen,  nicht  von  , »häßlicher  Beleidigung"  —  er  m  u  ß  t  e  (?)  sie  her- 
ausschleudern, sagt  Herzog  —  nicht  „von  giftiger  Ironie"  und  nicht  seine  Handlungs- 
weise einmal  „unfair  und  zugleich  unklug"  nennen. 

Meyer-Benfey  sagt  S.  90:  „Das  Genie  ist  anormal,  das  gehört  zu  seinem 
Wesen;  es  ist  anders  als  die  vielen,  als  alle,  denn  es  ist  ein  Wesen  eigener  Art,  das 
sein  Gesetz  in  sich  trägt  usw."  Seine  „Aufgabe  aber  hat  sich  das  Genie  nicht  selbst 
gewählt,  weil  sie  ihm  etwa  vorteilhaft  oder  angenehm  oder  ehrenvoll  erschien". 
Wie  sehr  hier  Wahrheit  und  Übertreibung  sich  mischen,  und  wie  sehr  die  Ausschaltung 
des  Ehrgeizes  bei  Kleist  der  Berichtigung  bedarf,  beweisen  (trotz  Meyer-Benfey 
S.  94)  die  bekannten  Worte  Kleists:  „Der  Himmel  versagt  mir  den  Ruhm,  das 
größte  der  Güter  der  Erde;  ich  werfe  ihm  wie  ein  eigensinniges  Kind,  alle  übrigen 
hin."  —  Nachdrücklich  und  richtig  hebt  Meyer-Benfey  wenigstens  die  Grenzscheide 
der  beiden  Hauptabschnitte  von  Kleists  Dichtung,  den  Übergang  von  der 
individualistisch-ästhetischen  zur  politischen  Dichtung  hervor.  Nur  will  es  uns 
scheinen,  als  sollte  diese  Wandlung  noch  stärker  als  Fortschritt  betont  sein.  Aber 
die  Liebe  der  Verfasser  und  die  panegyrische  Verherrlichung  in  beiden  Werken  gilt 
eben  mehr  dem  Genie  Kleist  als  dem  Dichter-Patrioten. 

Ja,  Herzog  möchte  dem  Dichter  ein  besonderes  Verdienst  daraus  machen, 
daß  er  von  Tendenz  frei  sei  oder,  wie  es  auch  heißt,  „rein"  künstlerische  Absichten 
habe.    Freilich  entscheidet  ja  nun  darüber,  ob  ein  Werk  Kunstwert  hat,  der  Grad 


angez.  von  H.  Gilow.  469 

der  ästhetischen  Vollendung.  Aber  man  sollte  aus  eines  Dichters  Absichts- 
losigkeit  weder  ein  Verdienst  herleiten  noch  das  Gegenteil,  zumal  diese  Frage  oft 
zu  einem  bloßen  Streit  um  Worte  führen  wird.  Ist  Goethes  Faust,  ist  Kleists 
Kohlhaas  tendenzfrei  oder  nicht?  Wo  wäre  die  Grenze?  Ein  großer  Dichter 
wie  Kleist,  der  gleichzeitig  Herz  und  Kraft  hat,  um  durch  seine  Dichtungen  ein 
bewußter  politischer  Führer  seines  Volkes  in  schwerer  Zeit  zu  sein,  tut  damit  seiner 
Hünengröße  wahrlich  keinen  Abbruch.  Die  Unzahl  von  aufdringlichen  Dichterlingen, 
denen  das  künstlerische  Vermögen  fehlt  und  die  nur  eine  gutgemeinte  Tendenz 
haben,  darf  nicht  dazu  verleiten,  in  der  Tendenzfreiheit  einen  Vorzug  zu  sehen. 
Wenn  alles,  was  als  hohe  Güter  gilt,  ein  würdiger  Gegenstand  der  Poesie  ist,  also 
—  außer  allgemeinmenschlichen  Gütern  wie  Liebe,  Freundschaft,  Heimat,  Treue 
gegen  andere  und  sich  selbst  —  doch  wohl  auch  der  Staat,  warum  sollte  dem  Dichter 
unduldsamerweise  verwehrt  sein,  eine  politische  Absicht  zu  haben,  wenn  er  nur 
gleichzeitig  künstlerisch  und  politisch  zu  erheben  vermag?  So  gut  der 
Dichter,  wenn  er  ein  Kosmopolit  ist,  für  Weltbürgertum  eintreten  mag,  wird  er 
als  Deutscher  deutsche  Sprache,  deutsche  Frauen,  kurz  die  Sache  seines  deutschen 
Vaterlandes  nach  Herzenslust  feiern  dürfen.  Gerade  die  Liebe  und  Parteinahme 
für  sein  besonderes  Vaterland  läßt  den  Dichter  die  Kraft  finden,  die  allgemeine 
Idee  der  Vaterlandsliebe  unwiderstehlich  für  alle,  auch  Angehörige  eines  anderen 
Volkes,  zu  gestalten.  —  Man  verzeihe  diese  Abschweifung.  Aber  braucht  Kleist 
wirklich  die  Entschuldigung,  daß  seine  Werke  „mit  einer  einzigen  Aus- 
nahme keine  Tendenzen  . . .  propagieren?'*  ,,Nur  der  Dichter  der  Hermannsschlacht 
und  einiger  (!)  patriotischer  Lieder  wollte  unmittelbar  agitatorisch  wirken."  Das 
sind  nach  meiner  Zählung  aber  schon  mindestens  zwei  Ausnahmen,  und  wenn 
Kleist  auch  mit  politischen  Satiren  und  dann  mit  dem  Prinzen  von  Homburg 
(mit  diesem  freilich  nicht  ,, unmittelbar  agitatorisch")  wirken  wollte,  so  haben  wir 
doch,  da  der  Dichter  dies  Werk  selbst  ein  ,, vaterländisches  mit  mancherlei  Be- 
ziehungen" nennt,  schon  vier  Ausnahmen,  und  was  für  Ausnahmen!  Und  da 
braucht  Herzog  S.  86  sogar  die  Übertreibung,  Kleists  Werke  hätten  „nie  irgend- 
eine moralisierende  oder  lehrhafte  Tendenz". 

Aber  Herzog  selbst  steht  in  einem  späteren  Kapitel,  soll  man  sagen  leider 
oder  zum  Glück,  im  Widerspruch  zu  seinen  eigenen  früheren  Ausführungen, 
gegen  die  ich  mich  hier  wenden  mußte,  und  findet  kräftige  Worte  (S.  294)  gegen 
die  Romantiker,  ,,die  —  von  Goethes  Objektivität  verführt  —  nur  im  Ästhetischen 
zu  leben  trachteten"  und  alle  ,,im  Literarischen  stecken  blieben !"  In  der  Tat,  welche 
Schmach  würde  auf  der  deutschen  Dichtung  jener  Zeiten  ruhen,  wenn  nach  Art 
des  üblen,  ja  unerhörten  Goethe-Epigramms  „Zur  Nation  euch  zu  bilden,  ihr  hofft 
es,  Deutsche,  vergebens  usw."  auch  alle  anderen  Dichter  quietistische  Weltbürger 
und  „reine"  Literaten  geblieben  wären.  Es  ist  nicht  richtig,  daß  Kleist  nur 
mit  jener  angeblich  „einzigen  Ausnahme"  bewußt  vaterländische  Werbearbeit  ge- 
leistet habe,  und  es  geht  viel  zu  weit,  wenn  Herzog  (S.  363)  sagt:  „Nichts  lag 
dem  Künstler  in  Kleist  Zeit  sJnes  Lebens  ferner  als  ein  solches  fabula  docet." 
Hat  derselbe  Verfasser  das  9.  und  das  15.  Kapitel  des  Herzogschen  Buches 
geschrieben? 

Dies    15.    Kapitel  enthält   vieles    Treffliche,   nur   wird    der   Zusammenbruch 


470    W.  Herzog,  Heinrich  von  Kleist  u.  Meyer- Benfey,  Kleists  Leben  und  Werke, 

von  1806  viel  zu  einseitig  —  wie  übrigens  auch  bei  Meyer-Benfey  S.  340,  343,  355  — 
auf  die  Schuld  des  offiziellen  Preußens,  des  „völlig  korrumpierten"  (?)  Heeres 
(S.29)  und  der  niederen  Volksschichten  zurückgeführt,  ohne  daß  auch  die  gebildeten 
Stände  ihren  Anteil  bekommen,  mit  ihrer  auch  die  Offiziere  ansteckenden  seichten 
Humanität  und  dem  „Überreiz  des  Verstandes",  den  gerade  Kleist  so  sicher  im 
Katechismus  der  Deutschen  trifft  („sie  reflektierten,  wo  sie  empfinden  oder  handeln 
sollten").  Es  kommt,  seit  wir  den  richtigen  Abstand  eines  Jahrhunderts  gewonnen 
haben,  das  Urteil  doch  immer  mehr  hinaus  auf  Schenkendorfs  „So  Fürst  als  Bürger, 
so  der  Adel,  hier  ist  nicht  einer  ohne  Tadel".  Was  Herzog  mit  dem  „jämmerlichen 
Muckertum  des  Preußens  von  1806/07"  (S.  12)  meint,  ist  mir  ebenso  unverständlich 
wie  das  Wort,  „der  Patriotismus  Kleists,  heut  schon  antiquiert,  mag  uns  zeitlich 
bedingt  erscheinen"  (S.  500).  In  einer  Sintflut  wie  der  damaligen,  hat  auch  Kleists 
Haß  meines  Erachtens  nichts  „Vorsintflutliches"  (S.  500).  Das  wird  man  vielleicht 
noch  mehr  Wort  haben,  wenn  wir  wieder  einmal  einen  heiligen  Krieg  führen.  Und 
weshalb  in  einem  wissenschaftlichen  Werke  solche  Anzüglichkeiten  wie  „er,  der 
—  wie  es  so  schön  preußisch  heißt  —  die  Untertanen  . . .  vorbereiten  sollte"  (S.  571), 
oder  der  Ausfall  gegen  die  ,, engbrüstigen  und  beschränkten  Freiheitshelden,  deren 
subalterne  Vaterlandsliebe  sich  ausgezeichnet  mit  preußischer  Dressur  und  geistiger 
Knebelung  vertrug?"  Weshalb  solche  Schroffheiten  wie:  „die  Linie  von  Fichte 
endete  leider  bei  Theodor  Körner  und  dem  Turnvater  Jahn"  (S.  297),  und 
spöttisch  (S.  536)  „vom  Format  Theodor  Körners"?  Man  bedenke  doch,  daß  bis 
auf  diesen  Tag  die  Undeutschtümelei  viel  mehr  Schaden  getan  hat  als  die  Deutsch- 
tümelei. Vor  Körners  Lichtgestalt  sollte  der  Hohn  haltmachen,  sie  wird  wohl  auch 
die  nicht  geringe  Zahl  derer  überleben,  die  seit  Hebbels  Vorgang  jetzt  ihr  Mütchen 
an  ihm  kühlen.  Und  in  der  bei  Herzog  von  der  Königin  Luise  gebrauchten  Wen- 
dung: „ihre  unbedeutende,  liebenswürdige  Menschlichkeit"  sollte  das  Wort  un- 
bedeutend doch  besser  nicht  gesagt  sein.     Es  klingt  unritterlich. 

Herzog  und  Meyer-Benfey  nennen  den  Prinzen  von  Homburg  mit  Recht 
Kleists  reifstes  und  vollkommenstes  Werk,  ja  den  Gipfelpunkt  des  deutschen 
Dramas.  Aber  woraus  leitet  Herzog  seine  Anerkennung  her?  Schon  gleich  anfangs 
des  Buches  hat  sich  der  Leser  zu  den  folgenden  über  Kleist  und  seine  Helden  auf- 
gestellten, in  dieser  Allgemeinheit  weit  über  das  Ziel  hinausschießenden  Sätzen, 
ein  Fragezeichen  gemacht:  „Kleist  war  nie  ein  großer  Intellekt,  .  .  .  sein  ganzes 
Denken  ist  auf  das  Gefühl  gestellt.  A  1 1  (?)  sein  Dichten  ist  Naturtrieb  .  .  .  seine 
Helden  sind  triebhafte  Naturen."  Das  lautet  ja  ungemein  bestimmt,  aber  —  Herzog 
sagt  selbst  anderswo  (S.  210)  so  ziemlich  das  Gegenteil:  In  Kleist  „paart  sich  mit 
der  Intuition  ein  strenges  Bewußtsein,  ein  kalter,  scharfer  Verstand".  Richtig! 
Die  obigen  Worte  passen  keinesfalls  auf  die  reifsten  Werke  Kleists.  Schon  für 
Hermann  reichen  sie  nicht  mehr  zu,  bei  dem  einen  der  beiden  Helden  des  Homburg- 
dramas aber,  dem  Großen  Kurfürsten,  versagen  sie  vollkommen;  denn  bei  ihm  kann 
von  ,, Manie"  (S.  434)  keine  Rede  sein.  Freilich,  Herzog  sagt,  in  diesem  Drama  werde 
weder  das  Gesetz,  noch  die  Leidenschaft  des  Ichs  verherrlicht,  noch  die  Versöhnung 
beider.  Kleists  Werk  habe ,, keine  solche  Tendenz.  Er  sagt  weder  ja  noch  nein ...  die 
Gewalten,  die  den  Prozeß  bestimmen,  können  weder  zu  einem  Schuldig  noch  zu 


angez.  von  H.  Gilow.  471 

einem  Freispruch  kommen.  Es  gibt  kein  absolutes  Recht.  Aber  auch  kein  absolutes 
Ich.  Sowohl  der  Kurfürst,  wie  der  Prinz  haben  recht."  Der  Dichter  plädiere  nach 
dem  Worte  eines  geistreichen  Kritikers  für  die  „aus  der  Undurchdringlichkeit  der 
Kausalität  entstehende  Unverantwortlichkeit  des  einzelnen  Menschen".  —  Aber 
selbst  die  Berechtigung  des  Satzes,  es  gibt  kein  absolutes  Recht,  zugestanden,  so 
wäre  doch  Homburgs  Tun  das  unglücklichste  Beispiel,  um'diesen  Gedanken  zu  ver- 
anschaulichen. Denn  seine  Handlungsweise  ist  derart,  daß  der  Herrscher  min- 
destens relativ  recht,  der  Prinz  aber  unrecht  hat.  Und  —  der  Anfang  von  Herzogs 
eigener  Erläuterung  des  Dramas  verurteilt  ja  auch  den  Prinzen  nach  jeder  Richtung 
und  gibt  seine  Fehler  unumwunden  zu!  Fast  traut  man  seinen  Augen  nicht,  aber 
trotz  jenes  Wortes  von  der  „Unverantwortlichkeit"  wird  des  Prinzen  Tun  ganz 
richtig  von  Herzog  charakterisiert:  Kleist  ,, enthebt  seinen  Helden  nicht  der 
Verantwortun  g",  der  Prinz  sei  ein  „egoistischer  Stürmer",  „übermütiger 
Draufgänger",  „übereilt  und  leichtfertig",  „dessen  Willkür  einen  zufälligen  Sieg 
gebar",  von  ,, ruchlosem  Optimismus",  bis  er  sich  der  Pflicht  unterwerfe,  ,, geheilt" 
werde.  Wo  bleibt  da  jene  , »undurchdringliche"  Kausalität?  Und  sollten  bei  so 
klarer  Sachlage  die  Gewalten,  die  den  Prozeß  bestimmen,  nicht  zu  einem  „Schuldig" 
kommen? 

Es  ist  mir  völlig  unbegreiflich,  wie  Herzog  —  der  selbst  sagt,  der  Kurfürst 
verkörpere  die  sittliche  Idee  (S.  544),  das  Ganze  die  Notwendigkeit  des  Gesetzes 
(S.  528)  —  das  Homburgdrama  ein  Lied  vom  „Siege  der  Leidenschaft"  (,, Berechti- 
gung der  Leidenschaft"  S. 610)  nennen  kann,  da  der  Prinz  nur  einen  und  zwar  zu- 
fälligen Sieg  erringt,  die  vom  Kurfürsten  eingeleitete  Vernichtung  der  Schweden 
aber  vereitelt  und  dadurch  den  schnellen  Ausgang  des  Feldzuges  und  den  Frieden 
verzögert  hatte,  einen  Sieg,  der  die  schwerste  moralische  Niederlage  für  Homburg 
in  sich  schloß!  —  Und  der  Dichter  ergreife,  so  sollen  wir  mit > Herzog  glauben, 
,, zwischen  den  Forderungen  des  Gesetzes  und  des  Ichs  nirgends  Partei?"  Dann 
wäre  wohl  auch  die  Hermannsschlacht  ohne  solche  geheime  Parteinahme  des 
Dichters?  Und  wenn  niemand  dem  Dichter  dieses  früheren  Dramas  den  Anteil 
seines  heißen  Herzens  an  der  Sache  wird  rauben  dürfen,  so  bedeutet  also  etwa  der 
Prinz  von  Homburg  einen  Rückfall  in  Kleists  individualistisch-ästhetische  Periode? 
Woher  nimmt  Herzog  das  Recht  zu  der  Behauptung  (S.  533):  ,,Als  Kleist  dieses  Werk 
zu  schreiben  begann,  dachte  er  an  keine  patriotische  Verherrlichung"??,  während 
doch  die  erste  Szene  des  Homburgdramas  unverkennbar  die  Ausgestaltung  der 
geharnischten  Worte  ist,  die  Kleist  1809  schrieb:  „Gilt  es  (etwa  in  diesem 
Kriege)  den  Ruhm  eines  jungen  und  unternehmenden  Fürsten,  der,  in  dem 
Duft  einer  lieblichen  Sommernacht,  von  Lorbeern  geträumt  hat?"  Und  der 
Dichter  sollte  wirklich,  wie  Herzog  meint  (S.  588),  im  Dunklen  gelassen  haben, 
wann  der  Kurfürst  sich  eines  andern  besinne  und  weshalb  er  den  Prinzen 
begnadige.  Nein!  Das  „wann"  läßt  Kleist  nicht  im  Unklaren,  vgl.  V.  1480  ,,Pritt- 
witz!  Das  Todesurteil  bring  mir  her  .  .  ."  Es  brauchten  also  gar  keine  Gewichte 
mehr  in  die  Wagschale  der  kurfürstlichen  Entscheidung  zu  fallen,  am  wenigsten 
so  plumpe  wie  die  von  Hohenzollern  geworfenen.  Und  vollends  nicht  das  „weshalb"; 
denn  der  Kurfürst  begnadigt  den  Neffen,  sobald  dieser  sich  mit  des  Oheims  Hilfe 
selbst  überwunden  hat.   Nennt  man  solchen  Akt  der  Begnadigung  aber,  wie  Herzog 


472     W.  Herzog,  Heinrich  von  Kleist  u.  Meyer-Benfey,  Kleists  Leben  und  Werke, 

(S.  608)  sagt:  die  Leidenschaft  „krönen"?  —  Wenn  wirklich  auch  der  Kur- 
fürst eine  „Wandlung"  erlebte  (Herzog  S.  533,  536,  553),  wenn  er  nachgäbe  gegen- 
über einem  Haltlosen,  der  aus  Ruhmsucht  losgebrochen  war,  und  nachgäbe,  bloß 
weil  seine  von  blinder  Liebe  erfüllten  falschen  Freunde  ihn  als  Helden  der  freien 
Entschließung,  der  er  garnicht  ist,  preisen,  —  wenn  der  Kurfürst  nicht  Partei 
ergriffe  (S.  591),  dann  könnte  man  versucht  sein,  auch  heut  wieder  —  wie  viele 
Beurteiler  und  nicht  nur  in  Preußen  vor  90  Jahren  —  zu  rufen:  Fort  mit  diesem 
Drama  von  der  deutschen  Bühne! 

So  zersetzend  wirkt  die  Überspannung  des  Gedankens  der  Tendenzlosigkeit.  — 
Auch  die  „gefühllose  Objektivität"  des  Herrschers,  mit  der  ihn  Herzog  belasten 
möchte,  fällt  platt  zu  Boden,  wenn  man  V.  1111,  V.  1441  u.  a.  beachtet.  —  Man 
sollte  nun  meinen,  wenigstens  über  die  Ursache  der  Heilung  Homburgs  könne 
ein  Zweifel  nicht  bestehen.  Herzog  aber  bietet  dem  Leser  drei  Lesarten  S.  547: 
„Der  Schmerz  stählt  und  erhebt  ihn"  (nein,  er  stimmt  ihn  höchstens  weich), 
zweitens  S.  548:  „An  sich  selbst  hat  er  sich  erhoben."  Nein!  und  erst  S.  549 
liest  man  anders  und  endlich  richtig:  ,,Des  Kurfürsten  Weisheit  hat  des 
Prinzen  Geist  erweckt,  geläutert  und  geheilt." 

Etwas  mehr  als  Herzog  wird  Meyer-Benfeys  Deutung  dem  Homburg- 
drama und  namentlich  dem  Charakter  des  Kurfürsten  gerecht,  aber  auch  hier  geht 
die  nebelhafte  Vorstellung  von  einem  „höheren  Gesetz"  der  Gnade  um,  wieder 
infolge  mangelnder  Berücksichtigung  der  wahren  Schuld  des  Prinzen,  der  ja  gar 
nicht  aus  sachlichen  Gründen  einer  besseren  militärischen  Überzeugung 
gefolgt  war,  sondern  in  selbstsüchtigem  Ehrgeiz  dem  Befehle  zuwidergehandelt 
hatte.  Für  die  ausführliche  Begründung  dieser  vom  Berichterstatter  seit  1892 
wiederholt  vertretenen  Auffassung  verweist  er,  da  der  Raum  hier  gemessen  ist 
und  er  sich  nicht  selbst  ausschreiben  möchte,  auf  seine  Arbeit  „Die  Grundgedanken 
in  Kleists  Prinz  F.  v.  Homburg"  (Progr.  Königstädtisches  Gymnasium  Berlin 
1893),  „über  die  ja  doch  niemand  bisher  hinausgekommen  ist",  wie  G.  Minde-Pouet 
(D.  Lit.  Ztg.,  1903)  urteilt.  Da  Band  H  von  Meyer-Benfeys  „Das  Drama  Kleists" 
noch  aussteht,  ist  diesem  Gelegenheit  gegeben,  dem  dort  schon  1893  über  die 
Grundgedanken  dieser  Dichtung  Ausgesprochenen  beizutreten  oder  es  zu  wider- 
legen. 

Gleich  mir  werden  übrigens  viele  Leser  angenehm  überrascht  sein,  daß  Meyer- 
Benfey  seine  frühere  Behauptung  einer  „durchgehenden  Entwicklungs- 
linie" der  Dramen  Kleists  jetzt  aufgegeben  hat.  Er  hatte  sich  damit  im  ersten 
1911  erschienenen  Bande  seines  eben  genannten,  in  dieser  Monatschrift  von  mir 
1911,  S.  633 — 635  besprochenen  Werkes  entschieden  zu  weit  vorgewagt,  mindestens 
nicht  vorsichtig  genug  ausgedrückt.  Jetzt  in  Kleists  Leben  gibt  er  aber  schon 
für  das  Käthchen  und  die  Hermannsschlacht  ohne  weiteres  zu,  daß  Kleist  in  den 
späteren  Dramen  seinen  Frieden  mit  dem  Theater  seiner  Zeit  gemacht  hatte  und 
mit  dem  Prinzen  von  Homburg  sich  wieder  „in  die  gute  Tradition"  des  deutschen 
Dramas  stelle,  ja  daß  in  diesem  Drama  „die  Vorteile  der  gewöhnlichen  Dramen- 
form erstrahlen"!  Da  nun  Meyer-Benfey  jene  ,, durchgehende  Entwicklungslinie 
und  innere  Zusammengehörigkeit,  die  die  einzelnen  Werke  zur  Einheit  eines 


angez.  von  H.  Gilow.  473 

Lebenswerkes  zusammenfaßt"  —  Worte  Meyer-Benfeys  in  der 
Vorrede  XII  zu  „Das  Drama"  Bd.  I,  1911  —  nicht  mehr  aufrecht  erhält,  so  entfällt 
allerdings  der  eigens  dieser  angeblich  durchgehenden  Entwicklungslinie  vom 
Verfasser  entnommene  Grund  für  den  Titel  „Das  Drama"  Kleists  statt  „Die 
Dramen"  !  —  Auch  seine  in  meiner  Besprechung  im  vorigen  Jahre  bedauerte  schroffe 
Gegnerschaft  gegen  Schiller  scheint  sich  etwas  gewandelt  und  abgeschwächt  zu 
haben;  jetzt  steht  S.  X:  „Kleist  ist  als  Künstler  wie  als  Mensch  ein  Geistesverwandter 
Schillers."    Und  das  von  Rechts  wegen! 

Da  Kleist  es  vermeidet,  von  seinen  Arbeiten  zu  sprechen,  so  sind  wir  im  Un- 
klaren darüber,  wie  weit  die  erste  Anregung  zu  manchen  seiner  Werke,  namentlich 
der  Novellen,  zurückreicht,  und  es  ist  den  Vermutungen  weiter  Spielraum  ge- 
lassen. Meyer-Benfey  sucht  jedem  Werke  den  ihm  zufolge  Kleists  äußerer  und 
innerer  Entwicklung  zukommenden  Platz  anzuweisen  und  stellt  danach  eine  chrono- 
logische Tafel  auf.  Es  wird  mit  vielem  Spürsinn  der  oft  ansprechende  Versuch 
gemacht,  die  Novellen  zu  den  Dramen  in  Beziehung  zu  setzen,  und  die  vermutete 
Gleichzeitigkeit  der  Entstehung  soll  dann  wieder  die  innere  Wesenheit  erklären 
helfen.  Wie  Meyer-Benfey  in  dem  ersten  Bande  („Das  Drama"  1911)  für  jedes 
einzelne  der  früheren  Dramen  festzulegen  versucht  hatte,  daß  es  der  Ausdruck 
eigener  Erlebnisse  sei,  so  wird  dieselbe  Methode  hier  für  die  Novellen  zur  Anwen- 
dung gebracht.  Das  Erdbeben  in  Chili  soll  z.  B.  an  die  Katastrophe  von  1806  an- 
klingen. Hypothesen  wie  die,  daß  Kleist  sich  gerade  in  einem  Weibe,  Penthesilea, 
selbst  dargestellt  habe,  um  seine  Liebe  (zu  Goethe)  zu  verkörpern,  sind  Versuche, 
die  nach  Lage  der  Dinge  nicht  über  einen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  hinaus- 
kommen. —  Die  Würzburger  Reise  deutet  Meyer-Benfey  (anders  als  Herzog)  als 
dienstliche  Fahrt  zur  Erkundung  von  Fabrikgeheimnissen  (?). 

Druckfehler:  S.  135  Reihe  (statt  Reiche),  S.  216  Notenmotive, (statt  Neben- 
motive), S.  330  Aussage  (statt  Absage),  S.  343  der  Steuern  (statt  den).  — 

Herzog  hat  seinem  Buche  ein  bibliographisches  Verzeichnis  beigegeben  und 
nennt  dies  mit  Recht  einen  schüchternen  Versuch.  Die  Literaturangaben  in  der 
Ausgabe  von  Erich  Schmidt,  Minde-Pouet  und  Steig  (Leipzig  1905)  sind  allerdings 
schon  viel  vollständiger.  Von  0.  Brahms  Kleist  und  H.  Bulthaupts  Dramaturgie 
der  Klassiker  werden  nur  die  längst  überholten  ersten  Auflagen  genannt!  Auch 
sonst  herrscht  große  Willkür.  In  das  Register  wird  leider  nicht  auch  der  Inhalt 
von  Vorwort,  Literatur  und  Quellennachweisen  einbezogen,  ja  nicht  einmal  voll- 
ständig der  der  Anmerkungen.  So  fehlen  z.  B.  die  Namen  des  Kleistschen  Stamm- 
baums und  so  tüchtiger  Kleistforscher  wie  F.  Servaes,  Albert  Fries  usw.  — 
Druckfehler:  Czgan  statt  Czygan  650,  Kuhnt  statt  Kunth  S.  71,  Sanders  statt 
Sander  S.  520,  und  das  sehr  störende  Subordination  statt  Insubordination  S.  549 
(an  einer  Stelle,  wo  in  zwölf  Zeilen  acht  bis  neun  überflüssige  Fremdwörter  wuchern !). 
—  Fehler:  „den  Prinz"  S.  548,  „dem  Kurfürst"  S.  558,  „den  Landgraf"  S.  559. 

Wenn  Herzog  von  Kleist  sagt,  man  könne  keinen  Satz  bei  ihm  streichen,  so 
ist  ein  Gleiches  seiner  eigenen  Darstellungsweise  —  im  Gegensatz  zu  Meyer-Benfeys 
löblich  enthaltsamerem  Stile  —  nicht  nachzurühmen.  Welche  Breite  z.  B.  in  dem 
Satze  (S.  389):    „Das  Theater  fordert  Handlung  und  Aktivität.     Berichte  und 


474     W.  Herzog,  Heinrich  von  Kleist  u.  Meyer-Benfey,  Kleists  Leben  und  Werke, 

breite  Erzählungen  hemmen  und  unterbinden  die  Wirkung,  die  der  Dichter  erzielen 
will.  Sie  sind  meistens  kontemplativer,  beschaulicher  Natur  usw."  —  Dieselben 
Anführungen  erscheinen  doppelt:  wie  das  allgemeine  Unglück  die  Menschen  erzog 
S.  297  und  298;  sechs  Zeilen  von  S.  28  stehen  auch  S.  531  wieder  als  Zitat;  drei- 
mal S.  435,  437,  442,  das  Mädchen  mit  dem  Strohhut  auf  dem  Kopf;  Vergißmein- 
nicht und  Veilchen  und  Kamillen  blühen  S.  444  und  448;  wie  viele  Wiederholungen 
S.  388  über  die  Penthesilea!  —  Jeder  von  uns  kennt  das  Gefühl,  wenn  plötzlich 
eine  sonst  gute  Rede,  ein  Konzert  den  Eindruck  des  Allzulangen  auslöst.  — 
Herzog  hat  eine  Vorliebe  für  die  Verdoppelung,  ja  Verdreifachung  der  Aussagen: 
„Elan,  Kunst,  Kraft;'*  ,,nie  flach,  vag  oder  banal;'*  nichts  Spontanes,  Unmittel- 
bares, es  fehlte  die  Impetuosität,  der  Wille,  der  Elan  der  Leidenschaft  (S.  511)." 
Warum  übrigens  nicht  einfach  deutsch:  nichts  Unmittelbares,  es  fehlte  die  Stoß- 
kraft, der  Schwung  der  Leidenschaft? 

Ja,  wer  das  verlangt,  erwägt  nicht,  wie  sehr  Herzog  die  arme  deutsche  Sprak, 
die  plumpe  deutsche  Sprak  mit  fremden  Zutaten  zu  überpfeffern  liebt.  Manchmal 
erlebt  man  reine  Sternschnuppenfälle  der  sprachlichen  Ausländerei:  ,,Man  pole- 
misierte und  pamphletisierte  auf  eine  subalterne  Art;"  „er  hat  die  pointillistische 
Andeutungskraft  eines  modernen  Impressionisten;"  „subjektivistisch-romantische 
Amalgamierung."  Wenn  man  die  Lage  schwarzseherisch  beurteilen  kann,  wes- 
halb „die  Situation  pessimistisch"?  Warum  nicht  äußerste  Verkörperung  statt 
extremste  Inkarnation?  Auf  jeder  Seite  durchschnittlich  5 — 10  überflüssige  Fremd- 
wörter, das  macht  bei  638  Seiten  eine  wahre  Überflutung.  Doch  endlich  drückt 
des  Fremdworts  Schwere,  und  abgeschüttelt  will  es  sein! 

Dabei  werden  auch  die  neuzeitlichen  Schlager  im  Ausdruck,  wie  Milieu,  Geste, 
Psyche  nur  zu  sehr  „ausgeschöpft"  (aber  eine  „Skala  ausschöpfen"  S.  353  kann 
man  doch  nicht  sagen !),  und  wenn  bestimmte  Worte,  z.  B.  abseitig,  katastrophal, 
draufgängerisch  wieder  und  wieder  erscheinen,  wirken  sie  manieriert.  —  Wie  übel- 
klingend: ,,Im  Genie,  oder  um  pathetisch -nie  tzschi  seh  zu  sprechen,  im  Über- 
menschen .  .  . !"  —  Viele  Überschwenglichkeiten  z.  B.  „Kleists  Tragödie,  sein 
Ungeheuer  Penthesilea:  Das  grandiose  Symbol  des  Chaos  des  Dichters,  sein  Tanz, 
sein  Kampf  durch  die  Welten,  ...  der  Sieg  des  Künstlers  über  die  Abgründe  des 
Lebens."  —  Zuweilen  aber  sinkt  auch  der  Stil:  Kleist  verkrachte  sich  (S.  572), 
Iffland  wurde  abgestochen  (S.  574,  derselbe  Ausdruck  S.  479),  Kleist  legte  seine 
Gefühle  auf  Eis  (S.  268).  Was  „von  pastoraler  Schlichtheit  triefende  Worte" 
sind  (S.  512),  bleibt  unverständlich;  ebenso,  weshalb  Zeitschriftentitel  wie  „Das 
Vaterland"  und  „Der  Hausfreund"  eine  hausbackene  Gesinnung  kennzeichnen 
sollen  (S.  510).  —  Voreilig  ist  es,  Kleist  und  Bismarck  die  beiden  größten  Genies 
zu  nennen,  die  Preußen  hervorgebracht  hat,  denn  wo  bleibt  Friedrich  der  Große? 
Übermäßige  Behauptungen  z.  B.:  „es  gibt  nur  noch  zwei  Geister  .  .  ." 
(S.  102);  „Nie  hat  ein  Dichter  das  Verhältnis  .  .  .  zärtlicher,  zurückhaltender 
gemalt  als  Kleist"  (S.  597)  stören  nur. 

Milde  in  Beurteilung'*' anderer  ;Jst  Herzogs  Sache  eben  nicht:  (dies  .  .  . 
Motiv  in  der  Novelle  die  Verlobung  von  St.  Domingo)  ,,war  nicht  nach  dem  Ge- 
schmack des  zudringlichen  Knaben  Theodor  Körner,  der  sich  unterstand,  diese 


angez.  von  H.  Gilow.  475 

Novelle  zu  dramatisieren  ...  Er  hat,  ohne  Kleists  Namen  zu  nennen,  das  Ganze 
übernommen  und  zu  einem  rührseligen  Schauspiel  versüßt,  das  er  frech  Toni  be- 
titelte" usw.  Gemach!  Gemach!  Namentlich  wenn  man  in  einem  Glashause  sitzt 
und  selbst  ein  starker  Nehmer  ist,  „ohne  Namen  zu  nennen".  Freilich,  gewisse 
Ideen  —  sagt  man  —  liegen  in  der  Luft.  Aber  wunderbar  ist  es  doch,  wenn  sie  fast 
wörtlich  ebenso  bei  jemand  stehen,  wie  sie  schon  bei  anderen  gedruckt  sind,  als  wenn 
auch  der  W  0  r  1 1  a  u  t  in  der  Luft  läge.  Hat  sich  Herzog  so  in  einzelne  Gedanken 
anderer  hineingelebt,  daß  er  zwischen  seinen  eigenen  und  denen  etwas  älterer  Kleist- 
forscher kaum  noch  zu  unterscheiden  weiß?  Oder  liebt  er  seinen  Kleist  so,  daß 
er  eifersüchtig  darauf  ist,  wenn  auch  andere  etwas  getroffen  haben,  und  möchte 
er  alles  Gute  seinem  Helden  selbst  und  allein  antun?  —  „Ich  wollte  nirgends  den 
philologischen  Apparat  sichtbar  werden  lassen",  so  sagt  Herzogs  Vorwort,  und 
gewiß  ist  jeder  berechtigt  —  seine  eigenen  Sätze  ohne  deren  literarische  Unterlagen 
mitzuteilen.  Wenn  aber  bald  die  Herkunftsstelle  angegeben  wird,  bald  nicht,  so 
wird  durch  das  ungleiche  Verfahren  der  Anschein  erweckt,  als  ob  nur  jenes  über- 
nommen, alles  andere  aber  nicht  angeeignet  sei.  So  z.  B.  heißt  es  S.  662,  daß  „die 
Stelle  aus  Kant  von  N.  N.  zuerst  zitiert"  sei.  Ähnlich  S.  41  das  in  Klammer  ge- 
setzte „(Hettner)".  Gut,  das  genügt!  Auf  S.  558  aber  wird  eine  sonst  noch  nie 
in  solche  Beziehung  zu  Kleist  gesetzte  Stelle  aus  Schiller  zum  Vergleiche  heran- 
gezogen, ohne  wie  es  des  Landes  Brauch  ist,  zu  sagen,  daß  der  Verfasser  diese  den 
Herausgebern  der  Bongschen  Klassikerausgabe  III,  S.  218  schuldet,  und  sie 
wird  auch  wörtlich  ebenso  eingeführt:  ,,Was  Schiller  von  dem 
Auftreten  Kants  gegen  die  Moral  seiner  Zeit  sagt:  Erschütterung  forderte  die 
Kur"  usw.! 

Da  diese  von  Herzog  in  seiner  Literatur-Aufzählung  ganz  übergangene  Aus- 
gabe 1907  „ohne  Jahr"  gedruckt  ist,  so  wäre  es  doppelt  angezeigt  gewesen,  auch 
nur  den  Schein  einer  angemaßten  Priorität  zu  vermeiden  und  diese  und  eine 
Reihe  von  anderen  Anleihen  als  das  kenntlich  zu  machen,  was  sie 
sind.  Wir  hörten  allerdings  (S.  554),  ,,es  gibt  kein  absolutes  Recht",  aber  das 
relative  Recht  geistigen  Eigentums  ist  doch  wohl  anerkannt,  und  auch  „von  Un- 
durchdringlichkeit der  Kausalität"  kann  hier  nicht  die  Rede  sein,  da  der  Tatbestand 
offenliegt. 

Und  schließlich  noch  etwas  aus  dem  Reiche  der  Splitterrichterei.  Wer  anderen, 
darunter  einem  Krafft-Ebing,  „unfruchtbare  Arroganz"  (S.  382)  vorwirft,  der 
sollte  nicht  so  herausfordernd  —  noch  dazu  in  unserer  sozial  arbeitenden  Zeit  — 
mit  dem  Lehrstande  um  jeden  Preis  anbinden.  ,,Wie  ein  trockener  abstrakter 
Oberlehrer"  stelle  der  junge  Kleist  Fragen  (S.  82).  Oder:  „wie  die  Schulmeister 
sich  so  köstlich  ausdrücken"  (S.  479)  an  einer  Stelle,  wo  der  Verfasser  sich  recht 
unnötig  gegen  die  „neunmal  weisen  Schulpedanten"  ereifert,  die  nämlich  in  ihren 
Anmerkungen  auf  gewisse  Anachronismen  in  der  Hermannsschlacht  hinweisen. 
Wer  in  der  Unterrichtspraxis  steht,  weiß,  daß  solche  Anachronismen  sehr  leicht 
von  den  Schülern  gegen  manche  Klassikerstelle  geltend  gemacht  werden  und  daß 
man  ihnen  diesen  (übrigens  harmlosen)  Überlegenheitsdünkel  am  schnellsten 
benimmt,  wenn  man  ihnen  zuvorkommt  und  selbst  und  zwar  mit  dem  Zusätze 
darauf  hinweist,  daß  in  solchen  Fällen  der  Dichter  von  seiner  Freiheit  Gebrauch 


476  R.  Dohse,  Fritz  Reuter,  angez.  von  P.  Lorentz. 

mache.  Und  welcher  Schulpedant  hätte  denn  in  anderem  Sinne  solche  An- 
merkungen gemacht?    Wer?    Wann? 

Es  gibt  ängstliche  Leute,  die,  wenn  ein  der  Rede  mächtiger  Mann  in  ihrer 
Gegenwart  auf  Spießbürger  und  Philister,  Subalterne  und  Pedanten  losschlägt, 
in  jedem  Falle  beifällig  nicken,  in  der  Besorgnis,  daß  sonst  dieser  furchtbarste 
aller  Tadel  wohl  gar  auf  ihnen  sitzen  bleiben  könnte.  Aber  es  gibt  doch  zum  Glück 
noch  Männer,  die  standhalten,  näher  zusehen  und  dem  Übereifer  ein  ruhiges 
,, Erlauben  Sie  mal  .  .  .**  entgegensetzen. 

Berlin.  Hermann   Gilow. 

Dohse,  Richard,  F  r  i  t  z  R  e  u  t  e  r.  Ein  Bild  seines  Lebens  und  Schaffens.  Mit 
7  Abb.    „Aufwärts'-Bücherei  Nr.  12.    E.  Griesen.    Frankfurt  a.  M.   geh.  0,30  M. 

Auf  71  Seiten  wird  als  Jubiläumsgabe  zum  100.  Geburtstag  der  Mensch  und 
Dichter  Fritz  Reuter  dem  deuschen  Volk  in  schlichter,  zu  Herzen  gehender  Dar- 
stellung geboten.  In  der  Beurteilung  der  Schöpfungen  dieses  allerechtesten  Ver- 
treters der  Heimatkunst  kann  man  dem  Verfasser  fast  überall  beistimmen.  Daß 
die  Figur  des  Onkels  Bräsig  gegenüber  der  vielfach  noch  herrschenden  flachen 
Auffassung  des  Derbkomischen  von  selten  ihres  echten,  vollgültigen  Humors  ge- 
würdigt wird,  ist  doch  nicht  überflüssig,  wenn  man  bedenkt,  daß  selbst  auf  einer 
so  bedeutenden  Veranstaltung,  wie  es  die  Reuter- Jubiläums-Ausstellung  in  Berlin 
war,  die  panoptikumartige  Darstellung  Bräsigs  eigentlich  nur  „ulkig"  wirkte. 
Dagegen  kann  ich  mich  mit  der  so  ungewöhnlich  hoch  eingeschätzten  Würdigung 
von  ,,Kein  Hüsung",  das  ganz  gewiß  heute  noch  oft  unterschätzt  wird,  doch  nicht 
einverstanden  erklären:  das  Schuldbewußtsein  will  mir  nicht  ganz  echt  erscheinen. 
Die  kleine  Reuterschrift  gibt  ihrem  Verfasser  zugleich  höchst  erwünschte  Gelegen- 
heit, für  die  Würdigung  und  Förderung  der  plattdeutschen  Literatur  nachdrück- 
lich einzutreten.  Und  seine  Darstellung  ist  auch  ganz  dazu  angetan,  die  Hoffnung 
auf  Gelingen  wachzurufen.  Wünschenswert  aber  ist  das  in  hohem  Grade,  wie  die 
zahlreichen  Broschüren  desselben  Verfassers  beweisen,  deren  jüngste  ,, Gefahr 
im  Verzuge"  mit  Recht  wieder  vor  der  Utopie  einer  allgemeinen  platt- 
deutschen Schriftsprache  warnt,  dagegen  die  bewährte  Reutersche  Art  der  An- 
passung an  die  hochdeutschen  Lautbilder  empfiehlt  und  eine  knappe  Übersicht 
über  den  heutigen  Stand  der  niederdeutschen  Dichtung  wie  über  die  modernen 
Bestrebungen  zur  Pflege  der  niederdeutschen  Sprache  und  Literatur  gibt.  Wir 
sind  noch  lange  nicht  genügend  davon  durchdrungen  —  und  je  weiter  nach  Süden 
in  unserm  Vaterlande,  desto  weniger  sind  wir  es  —  welche  Schönheiten  diese  eben- 
bürtige und  ältere  Schwester  des  Hochdeutschen  in  sich  birgt,  wie  sie,  um  mit 
Klaus  Groth  zu  reden,  „für  alle  Töne  der  Menschenbrust  den  direkten  Ausdruck, 
für  einen  ganzen  Menschengeist  den  artikulierten  Leib,  für  jeden  echten  Gedanken 
das  rechte  Gewand  hat;  daß  sie  nicht  etwa  naiv  oder  komisch  oder  derb  oder  schlicht 
ist,  sondern  daß  sie  zum  Lachen  und  Weinen  die  Gebärde  hat,  daß  sie  gar  vornehm 
und  herablassend  sein  kann,  und  daß  es  ihr  wohl  ansteht." 

Das  Äußere  der  kleinen  Reuterschrift  ist  leider  wenig  sorgfältig  ausgefallen: 
nicht  nur  hat  offenbar  die  Eile,  sie  fertigzustellen,  eine  Reihe  von  stilistischen 
Nachlässigkeiten  stehen  lassen,  so  S.  20/21,  23,  29,  63,  sondern  auch  die  Buch- 


0.  Hellinghaus,  Bibliothek  wertvoller  Novellen  usw.,  angez.  J.  Riehemann.      477 

Stäben  taumeln  fast  auf  jeder  Seite  recht  bedenklich.  Wegen  seines  Inhalts  und 
seiner  Tendenz  aber  ist  das  Buch  doch  als  ein  Gewinn  für  die  Volksbildung  zu 
bezeichnen  und  wird  auch  in  den  Schülerbibliotheken  der  höheren  Schulen  seinen 
Zweck  erfüllen  können.  Ihn  unterstützen  auch  die  Abbildungen,  die  Reuter  selbst, 
seinen  Vater,  seine  Frau,  sein  Geburtshaus  und  sein  Wohnhaus  in  Eisenach  wieder- 
geben. Zum  ersten  Male  in  einer  Reuterschrift  erscheint  auch  die  Wiedergabe 
des  offenbar  recht  wohlgelungenen  Standbildes  von  Wandscheider,  das  am  T  o  d  e  s- 
tage  des  Dichters  im  Jahre  1911  in  seiner  Geburtsstadt  Stavenhagen  enthüllt 
werden  sollte. 

Spandau.  P.  L  o  r  e  n  t  z. 

Hellinghaus,  Otto,  Bibliothek  wertvoller  Novellen  und  Er- 
zählungen. 12  Bände.  Freiburg  191 1.  Herdersche  Verlagsbuchhandlung. 
Jeder  Band  geb.  in  Leinwand  2,50  M. 
,,Die  stärkste  Wehr  gegen  die  gerade  gegenwärtig  Familie  und  Jugend  in  so 
bedenklichem  Maße  bedrohende  Flut  der  Schmutzliteratur  ist  die  Darbietung 
guter  Lektüre."  Mit  diesen  Worten  begründet  der  Herausgeber  im  Vorwort  das 
Erscheinen  der  neuen  Sammlung,  die  die  bekannte  Herdersche  Bibliothek  deutscher 
Klassiker  ergänzen  soll  und  nunmehr  ganz  abgeschlossen  vorliegt;  und  sicherlich 
verdient  dieser  Grundsatz  allseitige  Zustimmung,  da  er  der  unleugbaren  Gefahr 
gegenüber  sich  nicht  mit  untätigen  Klagen  begnügt,  sondern  der  Jugend,  die  nach 
dem  Ausdrucke  des  Herausgebers  ,,in  der  Regel  von  unbändigem  Hunger  nach 
erzählender  Lektüre  ergriffen"  ist,  eine  gesunde,  wirklich  nährende  Kraft  verabreicht 
wissen  will.  Daß  dabei  ,, sittlich  oder  religiös  verwerfliche  Erzeugnisse  grundsätz- 
lich ausgeschlossen  bleiben"  sollen,  ist  nicht  minder  zu  billigen,  und  in  dieser  Hinsicht 
wird  die  getroffene  Auswahl  keinerlei  Bedenken  begegnen.  Indes  können  wir  nicht 
einen  Zweifel  darüber  unterdrücken,  ob  die  in  den  12  Bänden  vereinigten  50  No- 
vellen oder  Erzählungen  wirklich  alle  oder  doch  der  großen  Mehrzahl  nach  das 
Interesse  unserer  Jugend  zu  erregen  und  dauernd  zu  fesseln  geeignet  sind,  so  daß 
diese  nicht  mehr  daran  denkt,  zu  minderwertiger  Lektüre  zu  greifen.  Es  mag 
ja  aus  mancherlei  Gründen  nicht  möglich  gewesen  sein,  neuere  Novellen,  so  von 
Gottfried  Keller,  Storm,  Heyse,  Hans  Hoff  mann  aufzunehmen;  aber  immerhin 
macht  die  Sammlung  hier  und  da  einen  etwas  antiquierten  Eindruck,  und  gerade 
Tieck  und  Stifter,  die  die  meisten  (5  und  6)  längeren  Beiträge  lieferten,  dürften, 
jener  mit  seiner  Weitschweifigkeit,  dieser  mit  seinen  oft  überwuchernden  Schilde- 
rungen, in  solcher  Fülle  nicht  ganz  den  Wünschen  unserer  Jugend  entsprechen, 
deren  stoffliches  Interesse  zu  wenig  befriedigt  wird  und  die  für  die  mancherlei 
entschädigenden  Vorzüge  und  intimen  Reize  beider  noch  kaum  ein  völliges  Ver- 
ständnis besitzt.  Auch  sonst  würde  vielleicht  das  eine  oder  andere  Stück  der 
Sammlung  ohne  Bedauern  entbehrt  werden,  so  u.  a.  Goethes  Ferdinand  (Unter- 
haltungen deutscher  Ausgewanderten).  Daneben  bleibt  freilich  noch  unendlich 
viel  des  Wertvollen  übrig,  das  hier  geschickt  vereinigt  und  mit  kurzen,  bisweilen 
wohl  allzu  kurzen  Einleitungen  und  erklärenden  Anmerkungen  dargeboten  wird: 
Eichendorff  ist  viermal  vertreten,  je  dreimal  H.  v.  Kleist,  Ludwig,  E.  T.  A.  Hoff- 
mann und  Möricke,  je  zweimal  Brentano,  Hebbel,  Goethe  (außer  Ferdinand  die 


478  W.  von  Christs  Geschichte  der  griechischen  Literatur, 

Novelle),  Herrn.  Kurz  und  der  sonst  wenig  bekannte  Jakob  Frey,  endlich  je  einmal 
Grillparzer,  Fouque,  Halm,  Droste-Hülshoff,  Gottheit,  Chamisso,  Arnim,  Ger- 
stäcker, Hauff,  Marie  Nathusius,  Kinkel,  Melchior  Meyer  und  Karl  Stöber. 

Die  Ausstattung  ist  lobenswert. 

Meppen.  Joseph  Riehemann. 

Wilhelm  von  Christs  Geschichte  der  griechischen  Literatur. 
Handbuch  der  klassischen  Altertumswissenschaft  VH.  Unter  Mitwirkung  von 
Otto  Stählin,  bearbeitet  von  W  i  1  h  e  1  m  S  c  h  m  i  d.  L  Teil.  Klassische 
Periode  der  griechischen  Literatur.  5.  Aufl.  XU  u.  716 S.  gr.  8^.  München  1908. 
C.  H.  Beck.  geh.  13,50  M.,  in  Halbfranz  geb.  15,80  M.  Dasselbe  6.  Aufl. 
XIV  u.  771  S.  München  1912.     C.  H.  Beck.     geh.  13,50  M.,  geb.  15,80  M. 

Über  die  Neubearbeitung  der  Christschen  Literaturgeschichte  durch  W.  Schmid 
gedachte  ich  nach  Abschluß  der  5.  Auflage  (davon  Teil  I  1908,  II  1911  erschienen) 
zu  berichten.  Das  inzwischen  erfolgte  Erscheinen  der  ersten  Hälfte  des  Werkes 
in  6.  Auflage  veranlaßt  mich,  diesen  ersten  Teil  jetzt  gesondert  anzuzeigen. 

Die  Teilung  des  Christschen  Werkes  in  zwei  (oder  mehr)  Teile  ist  bei  der  Neu- 
bearbeitung nötig  geworden  durch  das  Anschwellen  des  Umfanges.  Das  lehren 
die  Seitenzahlen:  I^  771  Seiten,  P  716,  der  entsprechende  Teil  der  4.,  noch  von 
Christ  selbst  besorgten  Auflage  umfaßte  nur  508  Seiten.  Dieser  Zuwachs  entspringt 
zum  kleineren  Teile  der  Umgestaltung  und  Erweiterung  des  Textes.  Christs  Eintei- 
lung und  Anordnung  ist  im  wesentlichen  beibehalten:  kein  neues  Buch  zu  schreiben 
war  die  Absicht,  sondern  das  altbewährte  zu  verbessern.  Zwei  wichtige  Änderungen 
in  der  Stoffverteilung  sind  zu  erwähnen.  Christ  hatte  die  fachwissenschaftliche 
Literatur  neben  den  christlichen  Schriftstellern  in  einen  Anhang  am  Ende  des 
Werkes  (S.  882  ff .)  verwiesen:  diese  Partien  arbeitet  Schmid  in  das  Gesamtwerk 
hinein.  Davon  ist  im  ersten  Teile  am  Schlüsse  des  Abschnitts,  der  etwas  ungeschickt 
betitelt  ist,  „Die  Anfänge  der  Philosophie"  (dabei  führt  er  bis  zu  Demokritos!), 
vor  dem  Beginne  der  attischen  Periode  der  Philosophie  passend  eingeschoben, 
was  über  die  Heilkunde  (§  327),  Hippokrates  (328),  die  Hygieiniker  Herodikos 
und  Ikkos  sowie  Diokles  den  Karystier  u.  a.  (329),  endlich  über  die  Anfänge  der 
Mathematik  und  Astronomie  (330)  zu  sagen  war.  Auch  die  zweite  bedeutendere 
Änderung  der  Anordnung,  daß  die  neuere  attische  Komödie  (bei  Christ*  S.  320  ff.) 
von  der  mittleren  abgetrennt  und  an  den  Beginn  der  hellenistischen  Literatur 
(II  1,  S.  25  ff.)  verwiesen  ist,  darf  man  wohl  als  Verbesserung  begrüßen.  Daß 
auch  sonst  ,, tiefer  greifende  Umarbeitungen"  hier  und  da  nötig  waren,  liegt  auf 
der  Hand;  die  Vorrede  zur  5.  Auflage  hebt  hervor,  daß  „die  Disposition  besonders 
in  den  Kapiteln  über  Euripides,  Xenophön,  Piaton  verändert,  in  Charakteristik 
von  geistigen  Richtungen  und  einzelnen  Persönlichkeiten  dem  Buch  etwas  mehr 
Fülle  gegeben  worden  sei".  Das  Wachstum  des  Umfanges  kommt  aber  hauptsächlich 
auf  Rechnung  der  vermehrten  Literaturangaben  in  den  Anmerkungen.  Man  muß 
anerkennen,  daß  in  der  6.  Auflage  Literatur  bis  in  die  neueste  Zeit  emsig  nach- 
getragen ist.  Mit  Recht  bezeichnet  die  Vorrede  auch  diese  Auflage  als  eine  ver- 
mehrte, mit  Recht  auch  als  eine  verbesserte:  überall  bemerkt  man  kleine  Berichti- 


angez.  von  K.  Münscher.  479 

gungen  in  Einzelheiten,  Beseitigungen  von  Unstimmigkeiten  zwischen  Text  und 
Anmerkungen  u.  a. 

Mehr  und  mehr  wird  Christs  Werk  durch  Schmids  Hand  das  unentbehrliche 
Nachschlagebuch  für  jeden  klassischen  Philologen  auf  Schulen  und  Universitäten. 
Doch  indem  wir  seine  Unentbehrlichkeit  anerkennen,  dürfen  wir  nicht  verschweigen, 
daß  das  Werk,  auch  nur  soweit  es  Nachschlagebuch  sein  will  (es  erstrebt  ja  wohl 
auch  das  Ziel,  eine  wirkliche  Literaturgeschichte  zu  werden)  oder,  besser  vielleicht 
gesagt,  eben  weil  es  zunächst  Nachschlagebuch  sein  will,  noch  immer  allzuviele 
Mängel  in  der  Genauigkeit  und  Vollständigkeit  seiner  Angaben  aufweist,  noch 
weit  davon  entfernt  ist,  das  ideale  Nachschlagebuch  zu  sein,  das  wir  in  der 
Teuffel-Schwabe  sehen  Geschichte  der  römischen  Literatur  hatten  und, 
wie  ich  überzeugt  bin,  auch  in  deren  Neubearbeitung  durch  Kroll  und  seine 
Genossen  haben  oder  haben  werden.  Daß  dies  Urteil  berechtigt  ist,  wird"  jeder, 
der  hier  und  da  die  Angaben  bei  Christ-Schmid  nacharbeitend  prüft,  anerkennen. 

Um  einzelne  Ansichten,  Behauptungen,  Annahmen  mit  dem  Herausgeber 
zu  rechten,  dazu  ist  eine  solche  Anzeige  nicht  der  Ort,  Wohl  aber  muß  es  eigentlich 
das  Ziel  aller  Philologen,  die  wir  tagtäglich  Christs  Literaturgeschichte  benutzen, 
sein,  die  Angaben  darin  möglichst  genau  und,  was  die  wirklich  fördernde  und 
brauchbare  Literatur  anbelangt,  auch  möglichst  vollständig  zu  gestalten.  Darum 
will  ich  kurz  mitteilen,  was  ich  mir  in  den  Wochen  seit  Erscheinen  der 
6.  Auflage  beim  Benutzen  des  Buches  am  Rande  notiert  habe. 

S.  109  fehlt:  G  rösch  1,  Text  und  Kommentar  zur  homerischen  Ba- 
trachomyomachie  des  Karers  Pigres,  Friedek  1910.  —  Bei  den  Lyrikern  fehlen 
Verweise  auf  D  i  e  h  1  Supplementum  lyricum.  —  S.  246  zum  großen  Pindar 
von  Schröder  vgl.  die  Rezension  von  Körte  GGA.  1901,  960—72.  —  Bei 
Pratinas  (S.  282),  den  Schmid  das  Satyrspiel  in  Athen  „einbürgern"  läßt,  fehlt 
die  Behandlung  des  Hyporchems  durch  v.  Wilamowitz,  Commentariol. 
gramm.  I,  Greifswald  1879,  5.  —  S.  289  fehlt  E.  Maaß,  de  Aeschyli  Suppli- 
cibus,  Greifswald  1890.  —  S.  292  über  Aischylos  Glaukos  als  Quelle  Herodots 
W  r  i  g  h  t ,  in  den  Transactions  der  Connecticut  Academy  XV  1909,  295.  —  S.  303 
gehört  Anm.  6  nicht  zu  den  Kaßsipot,  sondern  zur  Auxoüp-fsia;  statt  597  ff.  rich- 
tiger 612.  —  S.  312,4  (Schmid  hält  Antigone  905  ff .  für  interpoliert!)  fehlt 
Nieberding,  Sophokles  und  Herodot,  Progr.  Neustadt  1875.  Hanna, 
Beziehungen  des  Sophokles  zu  Herodot,  Progr.  Straznic  1875.  —  S.  378  zu  den 
verlorenen  Euripidesstücken  vgl.  Croiset,  Revue  de  philol.  XXXIV,  213. 
Zu  den  Kretern  vgl.  Kappelmacher,  Wiener  Eranos  1909,  26.  Zum 
Telephos:  Pilling,  quomodo  T.  fabulam  et  scriptores  et  artifices  veteres 
tractaverint,  Halle  1886.  —  S.  387  zu  Schwartz  Euripides- Schollen  vgl. 
V.  Wilamowitz,  Commentariol.  gramm.  IV,  Göttingen  1890,  10.  —  Derselbe 
23  zu  den  Ikarioi  des  Timokles  S.  445,9.  —  S.  461, 1  wird  J  G  A  500  statt  C  J  A 
226,12  zitiert.  —  S.  475  zum  Oxyrhynchos-Exzerpt  aus  Herodot  vgl.  Fuhr, 
Berl.  philol.  Woch.  1909,  266,  wo  festgestellt,  daß  es  nicht  Theopomp  sein  kann.  — 
S.  477  in  den  reichen  Literaturangaben  zum  Athenerstaate,  der  mit  Recht  von 
Xenophons  Schriften  abgetrennt  und  vor  Thukydides  eingereiht  ist,  vermißt  man 
V.  Wilamowitz,  Commentariol.  gramm.  I,  9,  sowie  Maaß,  Parerga  Attica, 


480  W.  von  Christs  Geschichte  der  griechischen  Literatur, 

Greifswald  1889,  11,  der  rhetorische  Bildung  des  Verfassers  zeigen  wollte,  da- 
gegen Norden,  Antike  Kunstprosa  I  27,3.  —  S.  492  zum  Oxyrhynchos- Kom- 
mentar des  Thukydides  vgl.  Fuhr,  Berl.  philol.  Woch.  1909,  265.  -^  S.  494,5 
lies  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  19,  1893,  151  (statt  156).  —  S.  496,4  muß  zu  Paus.  I, 
2,24  erwähnt  werden,  daß  die  Inschriftbasen  erhalten  sind  (Dittenberger  Syll.  I,  15), 
die  den  Anlaß  zu  dem  Irrtum  des  Pausanias  gegeben  haben.  —  S.  500,10  die  bei 
Stobaios  erwähnte  Theognisschrift  hat  mit  Xenophon  nichts  zu  tun,  war  wahr- 
scheinlich von  Antisthenes,  vgl.  v.  Geyso,  Studia  Theognidea,  Diss.  Straßburg  1892, 
29.  Joel,  der  echte  und  der  xenoph.  Sokrates  III,  349.  An  Antisthenes  hatte  bereits 
Bergk  gedacht,  das  Fragment  aber  später  auf  Aristoteles  irepl  su^sveia?  zurück- 
geführt P  L  G  11^  p.  136.  Ebenso  Rausch,  Quaestiones  Xenophonteae,  Diss.  Halle 
1881,  33.  —  S.  502,9  eine  Ausgabe  in  8  Büchern  ist  bezeugt  durch  den  Index  einer 
Neapeler  Handschrift,  vgl.  Jorio  Codici  Ignorati  nelle  Bibl.  di  Napoli  I,  Leipzig 
(Harrassowitz)  1892.  Zur  Hellenika-Ausgabe  des  Harpokration  vgl.  Simon,  Progr. 
Düren  1888  (abzulehnen).  —  S.  511,5  lies  Stob.  flor.  56,19  (statt  55).  —  S.  513, 
§  271  ist  der  erste  Satz  schlecht  gebaut;  umstellen:  „oder  sie  haben".  —  S.  522/3 
wird  Photios'  Ktesiasauszug  fälschlich  als  aus  der  Epitome  der  Pamphila  in  drei 
Büchern  stammend  bezeichnet  (Photios  cod.  72  dvsYvwoÖTj  ßißXiov  Kxtjoioü  tou 
KviStov  xa  rispoixa  Iv  ßtßXioi?  xy).  —  S.  526  die  Philistosfragmente  stehen 
F  H  G  IV  639  f.  (nicht  369).  —  S.  552,1  zur  2.  Tetralogie  fehlt  v.Wilamowitz, 
commentariol.  gramm.  IV  16.  —  S.  554,  m.  Anm.  8  wird  Ps.  Lys.  VI  ganz  verkehrt 
in  die  Zeit  nicht  lange  vor  Harpokration  verlegt.  Als  Deklamation  der  Zeit  des 
Demetrios  von  Phaleron  sah  sie  an  J  a  n.  S  1  u  i  t  e  r ,  Lectiones  Andocideae,  Leyden 
1804,  als  Epitome  Zutt,  die  Rede  des  Andokides  Trspl  täv  [AUsXTjpitov  und  die 
Rede  des  Lysias  xax  'Av8oxi8ou  I.  Progr.  Mannheim  (Leipzig)  1891.  Das  richtige 
hat  V.  Wilamowitz  zweimal  kurz  gesagt  (Aristoteles  und  Athen  1 1  74  Anm.  5. 
Textgeschichte  der  griech.  Lyriker  83  Anm.  2),  daß  es  die  echte  Synegorie  des  Meletos 
ist.  —  S.  557,5  zur  Eratosthenesrede  fehlt  v.  Wilamowitz,  Aristoteles  und 
Athen  II  218.  —  S.  560,3  Aristot.  rhet.  III  10  bezieht  sich  nach  v.  W  i  1  a  m  o  w  i  t  z 
bei  D  i  e  1  s ,  das  3.  Buch  der  aristotelischen  Rhetorik,  Abhdlgn.  der  Berl.  Akad. 
1886,35  auf  Gorgias  Epitaphios.  —  S.  561  zur  Rede  gegen  Philon  fehlt  ein  Hinweis 
auf  die  Zweifel  an  ihrer  Echtheit  bei  B  ü  c  h  1  e  ,  Progr.  Durlach  1894.  Vogel, 
Analecta  aus  griech.  Schriftstellern  I,  Progr.  Fürth  1901,46.  —  S.  563  in  den 
Literaturangaben  zu  Lysias  fehlt  Holmes,  Index  Lysiacus,  Bonn  1895,  sowie 
die  neueste  Ausgabe  des  Neugriechen  Zakas,  2  Bde.,  Athen  1911.  Cobets 
Ausgabe  in  4.  Auflage  von  Hartmann,  Lugd.  1905.  —  S.  565  Brück 
(nicht  Brück)  hat  eine  zweite  Schrift  verfaßt:  Zur  Geschichte  der  Verfügungen 
von  Todes  wegen  im  altgriechischen  Recht,  Breslau  1909;  zu  beiden  fehlen  die 
wichtigen  Rezensionen  von  Thalheim,  Berl.  philol.  Woch.  1909,  877 
und  1910,  369.  —  S.  565,1  daß  die  anonyme  Isokratesvita  von  Zosimos,  ist 
bewiesen  von  H  o  h  m  a  n  n  ,  Gymnasium  1906,  229.  —  S.  578  über  Antisthenes 
fehlt  die  ältere  Arbeit  von  Adolph  Müller,  de  Ant.  cynici  vita  et  scriptis, 
Diss.  Marburg  1860,  wie  die  neuere  von  Lulofs,  de  Ant.  studiis  rhetoricis, 
Diss.  Amsterdam  1900,  wo  die  Echtheit  der  Deklamationen  erwiesen  ist;  bezüg- 
lich der  Rhythmen  vgl.  Bachmann,  Aiax  et  Ulixes  declamationes  etc.,  Diss. 


angez.  von  K-  Münscher.  481 

Münster  1911  sowie  die  Selbstanzeige  von  Wenig,  Berl.  philol.  Woch.  1912, 
107.  —  S.  579  der  Text  steht  Isokrates  XI  50  ganz  fest,  nur  ist  bei  D  r  e  r  u  p 
die  hier  einzig  richtige  Vulgatrezension  verkehrterweise  in  den  Apparat  verwiesen, 
—  S.  579,2  fehlt  Busse,  Rh.  Mus.  64,  1909,  108,  der  allerdings  S.  128,3  zitiert 
wird,  aber  falsch  als  Hermes  64.  —  S.  579  zu  Polykrates  rspi  /uxpas  vgl.  v.  W  i  - 
lamowitz,  Commentariol.  gramm.  IV,  25,1  (Anspielung  in  Piatos  Hipp, 
mai.  288  D).  —  S.  580,2  zur  KatTj^opia  Itü/.pdzorj^  außer  M  e  s  k  vgl.  M  a  r  k  o  w  s  - 
ki,  de  Libanio  Socratis  defensore,  Breslauer  philol.  Abhdlgn  40,  1910.  — 
S.  581,3  fehlt  die  Ausgabe  von  Plutarchs  Demosthenesvita  bei  Ch.  Graux, 
Oeuvres  II,  Paris  1886,  301.  —  S.  607  zu  den  Demosthenespapyri  fehlt  Nicole, 
Textes  gr.  ined.,  Genf  1909,  Nr.  2,  und  dazu  Fuhr,  Berl.  philol.  Woch.  1910, 
581.  Es  fehlen  die  Ausgaben  G  o  o  d  w  i  n  s:  Dem.  on  the  crown,  Cambridge 
1901 ;  Dem.  against  Midias,  Cambridge  1906.  —  S.  609  P  i  n  z  g  e  r  hat  1824  zwei 
Lykurg-Ausgaben  gemacht,  eine  schol.  usibus  accommodata,  und  eine  mit  Einleitung, 
Urschrift,  Übersetzung  und  Anmerkungen.  Es  fehlen  die  Lykurgausgaben  von 
Blume,  Sundiae  1828.  M  a  e  t  z  n  e  r  ,  Berlin  1836.  —  S.  61 1  lies  K.  Fuhr, 
Berl.  philol.  Woch.  30,  1910,  579  (statt  479).  —  S.  612  in  den  Aischines- 
ausgaben fehlt  die  von  B  e  n  s  e  1  e  r ,  Griechisch  und  deutsch,  3  Bändchen  1855 
bis  1860.  Vor  der  Weidne  rausgabe  der  Ctesiphontea  bei  Weidmann  1878  er- 
schien die  bei  Teubner,  rec.  explicuit  1872.  —  S.  612,2  fehlt  Girard,  Hy- 
peride  et  le  proces  de  Phryne,  Paris  1911.  —  S.  614  die  Hypereidesliteratur 
ist  sehr  unvollständig  angegeben,  besonders  alle  Ansätze  zur  Erklärung  sind 
unberücksichtigt.  Zu  nennen  wären  etwa  die  Ausgaben  Babingtons 
1850,  1853  und  1859.  Schneidewin,  Göttingen  1853.  Sauppe,  Philol. 
Suppl.  I  1859,1  ff.  Comparetti,  Pisa  1861  und  1864.  Cobet  Lugd.  1877, 
R e V i  1 1 0 u t s Veröffentlichungen  sind  genauer  anzugeben.  Herwerden,  Mnemos. 
XXI,  1893,  383.  K  e  n  y  o  n  ,  London  1893.  Leop.  Wenge;,3  Progr.  Cilli 
1903.  Krems  1905  u.  1906.  Westermann,  Index  graecitatis  Hyperideae, 
8  Univ.  Progr.  Leipzig  1860 — 3.  —  S.  616  zu  Stratokies,  verspottet  vom  Komiker 
Philippides  s.  F  r  a  n  t  z  ,  Hermes  35,  1900,  671.  —  S.  648,5  in  der  Literatur  über 
die  sogenannten  oiaXscei?  fehlt  die  erste  Ausgabe  von  H.  Stephanus  1570  im 
Anhang  des  Sextus.  F  a  b  r  i  c  i  u  s  Bibl.  gr.  XII,  O  r  e  1 1  i  opusc.  gr.  sententiosa 
et  moralia  II,  M  u  1 1  a  c  h  fragm.  philos.  gr.  I  können  vielleicht  wegbleiben,  man 
vermißt  aber  v.  Wilamowitz,  Commentariol.  gramm.  III,  Göttingen  1889, 
7.  Ungenau  ist  die  Angabe  über  T  e  i  c  h  m  ü  1 1  e  r  ,  der  die  Dialexeis  S.  97  ff. 
im  Kapitel  über  die  Schusterdialoge  des  Simon  behandelt  und  S.  203  ff.  eine  Über- 
setzung gibt. 

Der  beste  Beweis  für  die  Brauchbarkeit  und  den  Gebrauch  des  Christ-Schmid- 
schen  Werkes  ist  es  ja,  daß  die  5.  Auflage  nach  kurzen  drei  Jahren  zur  Überraschung 
des  Herausgebers  selbst  vergriffen  war.  Das  gibt  mir  Anlaß,  der  Verlagsbuchhand- 
lung eine  dringende  Bitte  vorzutragen:  von  einem  so  viel  gebrauchten  Werke 
müssen  die  Auflagen  so  groß  sein,  daß  sie  nicht  in  so  kurzer  Zeit  ausverkauft  sind. 
Jeder  Student,  der  ernsthaft  klassische  Philologie  treibt,  muß  sich  den  Christ  an- 
schaffen (allen  neueren  Einleitungen,  Grundzügen  usw.  zum  Trotz),  und  ich  habe 
bewegliche  und  berechtigte  Klagen  von  Studenten  gehört,  daß  der  eben  neu  an- 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  XI.  Jhrg.  31 


482  Grundzüge  der  klassischen  Philologie, 

geschaffte  Christ^  durch  das  Erscheinen  von  Christ^  schon  wieder  veraltet  sei. 
Die  5.  Auflage  von  Teuffels  römischer  Literatur  hat  20  Jahre  vorgehalten,  für 
10  Jahre  sollte  auch  der  Vorrat  einer  Christauflage  reichen.  Dann  gewinnt  auch 
der  Herausgeber  die  Möglichkeit,  die  ,, eingreifende  Umgestaltung"  vorzunehmen, 
die  er  schon  nach  der  5.  Auflage  ins  Auge  gefaßt  hatte  und  nun  notgedrungen 
zurückgestellt  hat.  Und  noch  einen  Wunsch  richte  ich  an  den  Herausgeber:  der 
Christ  hat  geteilt  werden  müssen  in  nunmehr  schon  mindestens  drei  Teile,  die  zu 
verschiedenen  Zeiten  und  auch  schon  in  verschiedenen  Auflagen  dem  Publikum 
in  die  Hände  kommen.  Da  ist  es  ein  unbedingtes  Erfordernis,  nicht  bloß  zur  Be- 
quemlichkeit der  Benutzer,  sondern  um  eine  gründlichere  Benutzung  zu  ermöglichen, 
daß  jedem  Sonderteile  ein  Register  beigegeben  wird.  In  I^  sind  die  Seiten  von  I^ 
am  Rande  wiederholt,  damit  das  Gesamtregister,  das  II  2^  schließen  soll,  auch 
für  I^  benutzbar  ist:  ein  kümmerlicher  Notbehelf.  Neben  den  einzelnen  Sonder- 
indices  ist  natürlich  ein  Gesamtregister  erwünscht,  aber  bei  dem  Nebeneinander 
verschiedener  Auflagen  der  einzelnen  Teile  auf  die  Dauer  schwerlich  gut  durch- 
zuführen und  noch  weniger  bequem  zu  handhaben. 

Grundzüge  der  klassischen  Philologie  von  Berthold  Maurenbrecher 
und  ReinholdWagner.  Bd.  III,  1.  Abtlg. :  Geschichtedergrie- 
chischen  Literatur.  1.  Hälfte:  Die  Literatur  der  klassischen 
Zeit  von  Reinhold  Wagner.  Stuttgart  1911.  Wilhelm  Violet.  352  S. 
geh.  5,50  M. 
Die  Abiturienten  unserer  höheren  Lehranstalten  beziehen  die  Universität 
jetzt  vielfach  mit  recht  mangelhaften  Kenntnissen,  jedenfalls  mit  sehr  viel  geringeren 
als  früher.  Das  ist  eine  ziemlich  allgemein  bekannte  und  anerkannte  Tatsache, 
die  dadurch  nicht  beseitigt  wird,  daß  man  sie  leugnet,  auch  nicht,  wenn  das  — 
leider  —  der  preußische  Kultusminister  tut.  Namentlich  der  klassische  Philologe, 
der  auf  der  Universität  mit  Anfängern  lateinische  oder  griechische  Stilübungen 
abhält,  spürt  es  mit  Schrecken,  wie  die  feste  Kenntnis  der  Elemente  mehr  und 
mehr  schwindet.  Die  mangelhaft  vorgebildete  Jugend  zum  Studium  der  klassischen 
Philologie  anzuleiten,  braucht  man  aber  ein  —  meines  Bedünkens  —  recht  be- 
denkliches Mittel:  man  sucht  ihr  Handbücher  zu  schaffen,  die  möglichst  rasch  und 
bequem  in  alle  Zweige  der  klassischen  Philologie  einführen.  Immerhin,  wenn 
namhafte  Gelehrte  unter  Führung  von  Gercke  und  Norden  eine  Einleitung  in  die 
Altertumswissenschaft  herausgeben,  so  darf  ein  solches  Werk  im  großen  und  ganzen 
unbedingt  empfohlen  werden.  Bei  Winter  in  Heidelberg  beginnt  eine  Bibliothek 
der  klassischen  Altertumswissenschaft  zu  erscheinen,  herausgegeben  von  Joh. 
Geffcken,  die  auch  „in  erster  Linie  bei  Behandlung  des  Stoffes  auf  die  Bedürfnisse 
der  Studierenden  Rücksicht  nehmen"  soll  (Bd.  I  Mathematik  und  Astronomie 
von  Edm.  Hoppe  bisher  erschienen).  So  kann  es  denn  wohl  nicht  wundernehmen, 
daß  auch  Freunds  Triennium  philologicum  in  neuem  Gewände 
erscheint. 

Maurenbrecher  und  Wagner  bearbeiten  es  unter  dem  Titel  „Grundzüge  der 
klassischen  Philologie".  Wie  die  Umschlagseiten  des  mir  vorliegenden  Teils  III,  1 
lehren,  ist  Bd.  I  Grundlagen  der  klassischen  Philologie  sowie  II,  1  Grundzüge  der 


angez.  von  K.  Münscher.  483 

griechischen  Grammatik  bereits  erschienen.  II,  2  Grundzüge  der  lateinischen  Gram- 
matik und  III,  2  Geschichte  der  griechischen  Literatur  der  nachklassischen  Zeit 
sollen  1912  folgen.  Auch  diese  Grundzüge  , »wollen  zunächst  den  Studierenden 
als  Handbuch  und  Führer  beim  Studium  und  bei  der  Wiederholung  des  Stoffes 
zur  Seite  stehen",  sie  wollen  aber  „auch  den  Gymnasiallehrern  und  anderen  Freunden 
der  Philologie  als  ein  Überblick  und  Nachschlagewerk  dienen,  daher  ist  auf  mög- 
lichste Kürze  und  eine  übersichtliche  Gruppierung  besonderes  Gewicht  gelegt 
worden".  Diesem  ersten  Teile  des  III.  Bandes,  in  dem  Wagner  die  Geschichte  der 
Literatur  der  klassischen  Zeit  vorlegt,  ist  noch  eine  Mitteilung  beigegeben,  die 
betont:  ,,Die  Behandlung  mußte,  dem  Plan  des  Gesamtwerkes  entsprechend, 
im  ganzen  eine  pinakographische  sein,  d.  h.  sich  beschränken  auf  kurze  biogra- 
phische und  bibliographische  Notizen.  Daran  schließen  sich  ausführliche,  wenn 
auch  nicht  vollständige  Verzeichnisse  der  einschlägigen  Literatur;  die  Titel  sind 
nach  Möglichkeit  nachgeprüft  worden." 

Ein  §  1  Einleitende  Biographie  (ohne  Text)  stellt  zusammen:  Zusammen- 
fassende Darstellungen,  Nachschlagewerke  und  Jahresberichte,  Sammelwerke 
zur  griechischen  Literatur,  Beiträge  und  Untersuchungen  von  Bedeutung,  (Werke 
über  den)  Einfluß  der  griechischen  Literatur.  §  2  gibt  die  Einleitung  der  grie- 
chischen Literaturgeschichte  (in  einer  Anmerkung  riesigen  Umfangs  wird  die 
Literaturgeschichte  im  Altertum  behandelt).  Nun  folgt  die  Literatur  selbst:  §  3 
Eingang:  die  vorhomerische  Zeit;  dann  werden  zwei  große  Perioden  geschieden: 
A.  Hellenische  Periode:  Von  den  homerischen  Gedichten  (abgeschlossen  um  700 
v.  Chr.)  bis  zum  Ende  der  persischen  Angriffskriege  (480).  B.  Attische  Periode: 
Vom  Beginn  des  nationalen  Aufschwungs  (480)  bis  zum  Eintritt  der  makedonischen 
Vorherrschaft  (338).  Diese  Teilung  wird  nun  arg  mechanisch  durchgeführt,  sodaß 
z.  B.  die  Anfänge  der  Tragödie  samt  Thespis,  Pratinas,  Phrynichos  und  Choirilos 
der  ersten,  dagegen  der  zweiten,  attischen  Periode  Myrtis,  Korinna,  Praxilla, 
Telesilla  nicht  minder  als  Pindar  Simonides  und  Bakchylides  zugewiesen  werden. 
Sonst  folgt  in  beiden  Perioden 'auf  die  Dichtungsgattungen  (A:  epische,  lyrische, 
dramatische  Poesie,  §§  4 — 14,  15 — 23,  24 — 28.  B:  lyrische,  dramatische,  epische, 
§§  35—39,  40—48,  49)  naturgemäß  die  Prosa  (A:  Anfänge  der  Prosa,  Geschieht-, 
Schreibung,  Philosophie,  §§  29—30,  31—32,  33—34.  B:  Geschichte  und  Erdkunde, 
Beredsamkeit,  Philosophie,  §§  50—59,  60—^5,  66—76). 

Solch  ein  Nachschlagebuch  kann  natürlich  nützlich  sein,  wenn  es  das  erste, 
aber  unbedingte  Erfordernis  erfüllt,  daß  der  knappe  Text  nur  positiv  Feststehendes 
bringt.  Hypothetisches  als  solches  bezeichnet,  daß  die  Literaturangaben  alles 
bieten,  was  den  Text  und  seine  Fassung  begründet,  überhaupt  das  Wichtige 
in  genügender  Vollständigkeit,  und  selbstverständlich  nichts  Falsches.  An  diesen 
Forderungen  das  Buch  zu  prüfen,  habe  ich  einen  mir  wohl  bekannten  Abschnitt 
gewählt,  den  über  die  Beredsamkeit  S.  291  ff. 

Von  §  60  „Einleitendes"  beginnt  der  Abschnitt  a  mit  dem  gänzlich  schiefen, 
ja  falschen  Satze:  ,,Die  Geschichte  der  griechischen  Beredsamkeit  beschäftigte 
vor  allem  die  alexandrinischen  und  die  pergamenischen  Gelehrten."  Was  die 
Alexandriner  betrifft,  korrigiert  das  folgende  kleingedruckte  „Einzelne"  den  Satz 
selbst:  „1.  Alexandriner:  die  älteren  beachteten  die  Redner  nicht."   Dann  wird 

31* 


484  Grundzüge  der  klassischen  Philologie, 

von  Didymos  gesprochen,  dagegen  ist  von  Kallimachos  pinakographischer  Tätig- 
keit und  den  daran  anknüpfenden  Arbeiten  seiner  Schüler,  wie  Hermippos,  keine 
Rede.  Dann  folgt:  „2.  Pergamener:  sie  behandelten  besonders  die  attischen  Redner 
literarhistorisch  und  rhetorisch-ästhetisch'*  (eine  unbewiesene  Hypothese;  die 
pergamenischen  irivaxs?  waren  gewiß  nicht  anders  als  die  alexandrinischen)  und 
dann  —  man  höre  und  staune  —  „so  Caecilius  von  Kaie  Akte  und  Dionysios  von 
Halikarnassos**:  das  waren  also  Pergamener!  Als  erhalten  werden  dann  aufgezählt 
Dionys,  Ps.-Plutarch,  Photios  (Hermogenes  und  Philostratos  fehlen;  dieser  wird 
aber  S.  293  mit  seinen  Inhaltsangaben  Gorgianischer  Reden  zitiert),  Harpokration, 
Pollux  (von  der  Lexikographie  der  Alexandriner,  des  Kaikilios  u.  a.  kein  Wort): 
und  das  alles  figuriert  unter  der  Rubrik:  Pergamener!  Von  atticistischen  Bestre- 
bungen im  I.  Jahrh.  vor,  im  II.  nach  Chr.  kein  Wort.  Als  Literatur  zu  dem  aller 
folgen  zwei  Titel  (A.  Schöne,  Ibb.  1871.  Zucker,  Erlangen  1878);  für  Photios  und 
sein  Verhältnis  zu  den  Vorlagen  sollte  wenigstens  noch  die  neueste  Arbeit  Vonachs, 
Innsbruck  1910,  angeführt  sein.  Dann  folgt  Literatur  „zur  neueren  Geschichte 
der  griechischen  Beredsamkeit:  1.  Sammelwerke:  Verweis  auf  §  1 ;  2.  Übersetzunger 
angekündigt  von  G.  Lehnert  (mir  unbekannt);  3.  Jahresberichte;  4.  Untersuchungen: 
zunächst  Ruhnkens  historia  critica;  diese  liest  man  zumeist  in  der  nicht  genannter 
Ausgabe  des  Rutilius  Lupus  von  Frotscher  1831.  Spengels  ouva^.  xs/vaiv  1828, 
(nicht  1829  erschienen).  Dann  folgen  nach  Westermann  und  Blaß  falsche  Angaber 
über  Volkmann:  dessen  Rhetorik  der  Griechen  und  Römer"^  1885  ist  ein  selbständiges 
Werk,  das  Hammer  nicht  neu  bearbeitet  hat;  Hammer  hat  nur  den  gleichfalls 
von  Volkmanns  Hand  stammenden  kurzen  Abschnitt  über  Rhetorik  in  Müllers 
Handbuch  II,  3  (dritte  Aufl.  1901)  bearbeitet.  Zwischen  Norden,  Navarre,  Drerup 
(Jbb.-Suppl.  XXVII),  Süß  nimmt  sich  dann  Schodorf,  Beiträge  zur  Kenntnis  dei 
att.  Gerichtssprache  etwas  seltsam  aus.  5.  Wörterverzeichnisse:  „Indices  graecitatis 
zu  den  einzelnen  att.  Rednern  auf  Grund  von  Reiskes  Sonderindices  vor 
T.  Mitchell,  2  vol.,  Ox.  1828'',  wörtlich  aus  Christ. 

Folgt  Abschnitt  b)  Anfänge  der  kunstmäßigen  Beredsamkeit.  Richtig  wird 
auf  Homer  hingewiesen,  ebenso  auf  die  Gerichtsszene  der  Eumeniden;  nur  fehlt 
deren  Behandlung  durch  v.  Wilamowitz,  Aristoteles  und  Athen  II,  sowie  ein  Hin- 
weis auf  die  homerische  Rhetorik  desTelephos  und  die  Arbeiten  Schraders,  Hermes 
37  und  38.  „Im  übrigen  die  Überlieferung  über  Solon,  Themistokles,  Perikles  u.  a.": 
da  ist  wieder  unpassendes  zusammengeworfen:  bei  Solon  und  Themistokles  haben 
wir  die  im  wesentlichen  durch  Cicero  vermittelten,  lediglich  erschlossenen  An- 
gaben, sie  seien  tüchtige  Redner  gewesen  (Solon  erzielt  aber  seine  höchsten  Wir- 
kungen nicht  durch  das  prosaische  Wort,  sondern  durch  seine  Poesie  dviaYopTj?), 
von  Perikles  Beredsamkeit  dagegen  haben  wir,  durch  Aristoteles  und  Plutarch 
(aus  Jon  und  Stesimbrotos),  doch  eine  recht  deutliche  Vorstellung.  Der  nächste 
Satz  ist  wieder  ganz  schief:  „Der  Spott  des  Aristophanes  über  die  redenschreibenden 
Rechtsbeistände  seit  427  trifft  zusammen  mit  der  Verbreitung  kunstmäßiger  Bered- 
samkeit von  Sizilien  aus  im  eigentlichen  Griechenland."  427  spottet  Aristophanes 
in  seinen  Daitales  über  Thrasymachos,  ein  Beweis,  daß  bereits  rhetorische  Kunst- 
lehre in  Athen  getrieben  wurde  vor  Gorgias  Eintreffen  in  Athen  im  gleichen  Jahre. 

In  Abschnitt  c)   Gattungen  der  Beredsamkeit  werden   die  drei   genera  ge- 


angez.  von   K«  Münscher.  485 

nannt;  welche  Vulgärrhetorik  (?)  das  eirioetxxixov  dem  oujxßoüXsuxixov  untergeordnet 
haben  soll,  ist  mir  unklar.  Beim  dritten  -j-svoc  werden  die  sTruacpiot  l6'(oi  genannt 
, »nachweisbar  seit  440  (saniischer  Epitaphios  des  Perikles)".  Dieser,  allerdings 
der  erste  wirklich  bekannte,  ist  439  gehalten,  die  Sitte  der  staatlichen  Leichenrede 
bestand  aber  wahrscheinlich  schon  seit  der  Mitte  der  70er  Jahre  des  V.  Jahrhunderts. 
Dann  heißt  es:  „seit  dem  4.  Jahrhundert  wurde  in  Athen  an  der  jähr- 
lichen Totenfeier  bei  der  Akademie  der  vermeintlich  auf  Aspasia  zurückgehende 
(richtig:  nach  Piatons  Fiktion  von  Aspasia  dem  Sokrates  mitgeteilte)  Epitaphios 
^:i  Piatons  Menexenos  vorgelesen."  Die  Ciceronotiz  (orat.  151)  bezieht  sich  aber 
t'denfalls  auf  spätere  Zeiten.  Als  Literatur  zur  Topik  dieser  Gattung  wird  nur 
Burgess,  Chicago  1902,  genannt;  fehlt  Pflugmacher,  Greifswald  1909;  Literatur 
über  die  Geschichte  des  Epitaphios  (Brückner,  Athen.  Mitteilungen  35.  Elsa  Goß- 
mann, Jena  1908)  fehlt  ganz. 

§  61  behandelt  die  sizilische  Beredsamkeit,  beginnend  mit  dem  Satze:  , »Ver- 
treter dieser  Advokatenkunst  sind  Korax  und  Teisias,  besonders  aber  Gorgias 
von  Leontinoi"  —  ganz  falsch,  da  Gorgias  zwar  Sizilianer,  aber  kein  Advokat 
ist  und  zu  seinen  Vorgängern  vielfach  im  Gegensatze  steht.  Ebenso  falsch  ist's, 
bei  Gorgias  dann  (im  Kleingedruckten)  von  einer  „durch  keine  Gewissensbedenken 
beeinflußten  Beredsamkeit"  zu  reden.  Ganz  schief  ist  wieder  die  Behauptung, 
Gorgias  sei  „geb.  zwischen  500  und  480,  gestorben  zwischen  391  und  370";  es  gab 
zwei  verschiedene  Ansätze  im  Altertum,  zwischen  denen  wir  zu  wählen  haben, 
aber  Gorgias  ist  nicht  in  der  Zeit  zwischen  den  beiden  Ansätzen  geboren  bzw. 
gestorben;  ebenso  verkehrt  ist  die  Angabe  über  den  'OXüfxTiixo?  („vielleicht  zwischen 
408  und  391")-  Unter  Gorgias  Hauptschülern  wird  zwischen  Polos  und  Alkidamas 
Prodikos  genannt  (wo  ist  das  überliefert?)  und  neben  „Menon  (bei  Xenophon)" 
(muß  heißen :  bei  Plato  Men.  p.  70  B,  verwechselt  mit  Proxenos  bei  Xen.  Anab.  1 1, 6, 16) 
steht  „Kallikles  (=  Charikles?),  ein  Politiker  (bei  Piaton)"!  Isokrates  dagegen 
fehlt.  Zu  den  „unbedeutenden  Bruchstücken"  gehört  auch  das  Epitaphiosfragment, 
das  uns  von  Gorgias  Art  doch  eine  ganz  deutliche  Vorstellung  ermöglicht.  Zu 
Helena  und  Palamedes  heißt  es: ,, diese  beiden  früher  für  unecht  gehalten";  Literatur 
darüber  fehlt.  Der  letzte  Satz  des  Abschnitts  ist  wieder  ganz  schief:  ,, Übertrieben 
haben  diesen  schon  von  Empedokles  vorgebildeten  Stil  Agathon  und  Likymnios, 
umgebildet  Isokrates":  Weil  Gorgias  die  Figuren  in  seiner  Prosa  übertrieben  an- 
wandte, galt  er  als  ihr  Erfinder,  tragen  sie  seinen  Namen;  seine  getreuen  Schüler, 
Agathon  u.  a.  machten's  wie  er;  Isokrates  ermäßigte  den  Figurenschmuck.  Daß 
Empedokles  diesen  Stil  vorgebildet,  suchte  Diels  (Berl.  Sitzungs-Ber.  1884)  zu 
erweisen  (der  aber  nicht  zitiert  wird);  richtiger  ist  die  Anschauung,  die  Reich  vertritt, 
daß  die  Gorgianischen  Figuren  in  der  Poesie  längst  kunstmäßig  gebraucht  vorlagen; 
Reich  wird  auch  zitiert,  aber  nur  Heft  I  seiner  Abhandlung  über  den  Einfluß  der 
griechischen  Poesie  auf  Gorgias  Progr.  Ludwigshafen  1908,  während  der  II.  Teil, 
Ludwigshafen  1909,  dafür  in  Betracht  kommt.  Sonst  wird  bez.  der  Nachwirkung 
bei  den  nächsten  Generationen  (bez.  Xenophon  fehlt  Seyffert,  de  Xenophontis 
Agesilao,  Diss.  Göttingen  1909)  zitiert  „Schacht,  E.,  De  Gorgianae  disciplinae 
vestigiis,  Diss.  Rostock  1890":  Schacht  ist  Druckfehler  statt  Scheel  und  ein  alter 
Bekannter:    er  ist  ohne  Nachprüfung  aus   Gercke-Norden  I  447  übernommen! 


486    C.  F.  Lehmann-Haupt,  Die  historische  Semiramis  usw.,  angez.  von  S.  Widmann. 

(dort  durch  das  daneben  stehende  Zitat  H.  Schacht,  de  Xenophontis  studiis  rhe- 
toricis  hervorgerufen). 

So  könnte  ich  mit  meiner  Kritik  Abschnitt  für  Abschnitt  fortfahren.  Nur 
noch  einiges  sei  aus  den  nächsten  Seiten  herausgegriffen.  Über  Antiphon  heißt 
es  (S.  294):  „Er  ist  neuerdings  mit  dem  Sophisten  A.  identifiziert  worden  (un- 
bewiesen)": Literatur  für  und  wider  fehlt.  Daß  die  Tetralogien  nicht  vom  Rham- 
nusier  sind,  wird  nicht  gesagt,  Literatur  dazu  nicht  erwähnt:  dagegen  wird  im  all- 
gemeinen auf  Christ-Schmid  verwiesen  „mit  zahlreichen  Literaturangaben".  Über 
Andokides  4  heißt  es  (S.  295):  „AOiTä  'AXxißiaoou  (um  418,  unecht,  im  Altertum 
z.  T.  Lysias  zugeschrieben)":  daß  es  ein  Erzeugnis  wahrscheinlich  des  späteren 
IV.  Jahrhunderts  ist,  erfährt  man  nicht,  Literatur  fehlt.  Lysias  soll  (S.  296)  wieder 
in  Syrakus  geboren  sein  (ein  wohl  aus  Christ-Schmid  übernommener  Fehler, 
der  dort  in  der  6.  Aufl.  korrigiert  ist).  Ob  man  Lysias'  dnoXo^ia  Hwxpaxous  als  ein 
irat^viov  bezeichnen  darf,  ist  mindestens  zweifelhaft;  als  Übungsstücke,  ziyyoLi, 
von  ihm  figurieren  neben  der  fingierten  Verteidigungsrede  für  Nikias  die  zwei 
Reden  gegen  den  jüngeren  Alkibiades  und  gegen  den  Sokratiker  Aischines  (das 
sind  doch  Prozeßreden,  wenn  sie  auch  für  die  literarische  Publikation  überarbeitet 
sind!)  und  „der  in  Plat.  Phaidr.  stehende  Liebesbrief  (Xoyo?  Iptüiixo?)",  der  also 
als  echt  lysianisch  angesehen  wird:  Literatur  zu  dem  allen  fehlt.  Schlägt  man 
unter  Plato  nach,  S.  338,  so  findet  man  den  Verweis  „Räder  a.  a.  O.  (1905)  S.  245  ff. 
(Literatur)";  daneben  werden  zur  Ergänzung  zitiert  Vollgraffs  Coniectanea  in 
Piatonis  Phaedrum,  Mnemos.  27,  und  „Thiele,  G.,  Phädrusstudien,  in  Herm.  41 
(1906),  S.  562—92"  —  leider  gelten  diese  dem  Fabeldichter  Phaedrusü 

Ich  glaube,  die  Proben  genügen.  Die  Angaben  des  Textes  sind  vielfach  schief 
und  falsch,  sie  lassen  die  nötige  Vorsicht,  aber  auch  das  nötige  philologische  Urteil 
vermissen;  die  Zitate  sind  kritiklos  zusammengetragen,  nicht  sorgfältig  nach- 
geprüft, oft  ohne  Kenntnis  der  genannten  Arbeit  gegeben,  oft  fehlt  gerade  d  i  e 
Literatur,  die  man  nach  der  Fassung  des  Textes  erwarten  sollte.  Der  ganzen  Arbeit 
fehlt  philologische  Akribie.  Ich  kann  vor  der  Benutzung  dieses  Teiles  der  Grund- 
züge der  klassischen  Philologie  nur  warnen. 

Münster  (Westf.)  K.  Münscher. 

Lehmann-Haupt,  C.  F.,  Diehistorische  Semiramisundihre  Zeit. 
Mit  50  Abbildungen.  76  S.  8«.  Tübingen  1910.  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck), 
geh.  2  M.,  geb.  3  M. 

Galt  Semiramis  eine  Zeitlang  als  rein  sagenhafte  Persönlichkeit,  so  bewies 
das  Vorkommen  ihres  Namens  Schammuramat  auf  mehreren  in  Nimrud,  dem 
altassyrischen  Kalach,  entdeckten  Statuen  des  Gottes  Nebo  ihre  Geschichtlichkeit. 
Da  sie  als  „Palastfrau"  des  Königs  Adadnirari  bezeichnet  war,  lag  es  nahe,  sie  für 
dessen  Gemahlin  zu  halten.  Aufschluß  über  ihre  wirkliche  Stellung  im  assyrischen 
Königshause  brachte  ein  bei  den  Ausgrabungen  der  Deutschen  Orientgesellschaft 
im  Jahre  1909  unter  einer  größeren  Anzahl  von  Königsstelen  in  Assur  gemachter 
Fund,  eine  Denksäule  der  Schammuramat.  Hier  ist  sie  die  „Palastfrau",  d.  i.  die 
Gemahlin  Samsi-Adads  genannt  und  zugleich  als  Mutter  Adadniraris  (IV.)  an- 


E.  Schramm,  Griechisch-römische  Geschütze,  angez.  von  C.  Fredrich.         487 

gegeben.  Ihre  Verwandtschaft  zu  dem  gleichfalls  hier  erwähnten  Salmanassar 
ist  nicht  ganz  sicher;  doch  scheint  sie  als  Schwiegertochter  des  dritten  Königs 
dieses  Namens  bezeichnet  zu  sein.  Schon  die  Tatsache,  daß  sie  die  einzige  Frau  ist, 
der  eine  besondere  Ehre  unter  den  Königen  zuteil  wird,  berechtigt  zur  Vermutung, 
daß  sie  keine  unbedeutende  Rolle  spielte.  Professor  Lehmann  sucht  in  seinem 
anregenden  Vortrage  aus  der  sagenhaften  Umhüllung  den  geschichtlichen  Kern 
zu  gewinnen. 

Münster  i.  W.  S.  W  i  d  m  a  n  n. 

Schramm,  E.,  Griechisch-römische  Geschütze.  Bemerkungen 
zu  der  Rekonstruktion.  Metz  1910.  G.  Scriba.  37  S.,  10  Tafeln  und  14  Text- 
figuren, gr.  8°.  geb.  3  M. 
Das  vorliegende  Buch  bedarf  eigentlich  keiner  Besprechung,  denn  der  Inhalt 
ist  seit  Jahren  bekannt  und  anerkannt.  Der  Text  ist  ein  wörtlicher  Abdruck  von 
drei  Aufsätzen  des  Verfassers  in  dem  „Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lothringische 
Geschichte  und  Altertumskunde"  XVI  1904,  142—160;  XVIII  1906,  276—283, 
und  XXI  1909,  86—90.  Bei  einer  Vergleichung  ergibt  sich,  daß  hier  und  da  ein  Über- 
gang gemacht,  selten  einmal  ein  Wort  oder  ein  Satz  ausgelassen  oder  geändert 
wurde,  wie  das  Zusammenstellen  oder  ein  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  es  mit 
sich  brachten.  Auch  die  zum  Teil  recht  mäßigen  Abbildungen  und  die  guten  Tafeln 
finden  sich  alle  schon  früher  bis  auf  Tafel  9,  die,  soviel  ich  sehe,  neu  ist.  Warum 
ist  dieser  Tatbestand  an  keiner  Stelle  in  dem  Buche  kund  gegeben  worden?  Der 
literarische  Brauch  hätte  es  gefordert,  und  niemand' verdenkt  es  dem  Verfasser, 
daß  er  die  in  mehreren  Bänden  einer  seltenen  Zeitschrift  verborgenen  Aufsätze 
sammelte. 

Weggeblieben  ist  z.  B.  auf  S.  8  die  Bezeichnung  „trefflich"  bei  der  ersten  Er- 
wähnung des  Werkes  von  Rüstow  und  Köchly,  Geschichte  des  griechischen  Kriegs- 
wesens. Aarau  1852.  Dieses  Buch,  das  so  lange  das  deutsche  Werk  über  dieses 
Thema  war,  hätte  ein  Lob  behalten  können,  auch  wenn  ein  Blick  auf  die  hier  zu 
vergleichenden  Seiten  378  ff.  zeigt,  wie  weit  die  neuesten  Forscher  über  jene  hinweg- 
gekommen sind.  Neben  dem  Techniker  Schramm  steht  nämlich  als  Theoretiker  der 
Philologe  R.  Schneider.  Mit  Nutzen  kann  man  dessen  Veröffentlichungen  vergleichen: 
„Antike  Geschütze  auf  der  Saalburg.  Erläuterungen  zu  Schramms  Rekonstruk- 
tionen." Homburg  v.  d.  H.  1908,  und  die  anderen,  die  wichtige  Anhaltspunkte 
für  die  Rekonstruktionen  lieferten :  über  Geschütze  auf  antiken  Reliefs  (Mitteilungen 
des  K.  D.  Archäologischen  Instituts.  Rom  1905)  und  auf  handschriftlichen  Bildern 
(Metz  1907),  ferner  die  Ausgaben  der  griechischen  Poliorketiker  und  des  in  betreff 
seines  Alters  heiß  umstrittenen  ,, Anonymi  de  rebus  bellicis  über".  Von  R.  Schneider 
ist  nach  einer  Äußerung  auf  S.  6  noch  ein  umfassendes  Werk  zu  erwarten.  Schneider 
schrieb  einmal  („Anfang  und  Ende  der  Torsionsgeschütze".  Neue  Jahrbücher 
V909,  133  ff.):  „Die  Torsionsgeschütze  sind  Kunstwerke  einer  so  ausgebildeten 
Technik  und  die  zweiarmigen  Geschütze  geradezu  vollendete  Meisterwerke,  die 
den  Vergleich  mit  den  modernen  Konstruktionen  vollkommen  aushalten."  Um 
so  höher  ist  es  zu  schätzen,  daß  es  der  Praxis  und  Theorie  in  schönem  Vereine 
gelang,  jenes  ältere  deutsche  Werk  wie  die  französischen  weit  zu  überholen,  die 


488  Quellen  und  Forschungen  usw.,  angez.  von  S.  Widmann. 

Grundlage  für  eine  Geschichte  der  antiken  Artillerie  zu  schaffen,  ja  die  ver- 
lorenen antiken  Geschütze  zu  ersetzen. 

Es  ist  sehr  zu  wünschen,  daß  die  Resultate,  die  wohl  nur  in  Kleinigkeiten 
noch  Besserungen  erfahren  werden,  möglichst  bald  in  die  Handbücher  und  Kom- 
mentare übergehen,  wie  sie  z.  B.  schon  1907  in  der  zweiten  Auflage  von  Dehlers 
Bilderatlas  zu  Caesars  Büchern  de  hello  gallico  Aufnahme  fanden.  Übrigens  könnten 
recht  viele  Abbildungen  dieses  brauchbaren  Atlasses  in  einer  moderner  Technik 
entsprechenden  Weise  einmal  erneuert  werden! 

Cüstrin.  C.  F  r  e  d  r  i  c  h. 

Quellen  und  Forschungen  zur  alten  Geschichte  und  Geographie.      Herausgegeben 

von  W.  S  i  e  g  1  i  n  ,  Heft  23. 
Plutarchs  Leben  des  Lykurgos.    Von  Dr.  E  r  n  s  t  Keßler.    Berlin  1910.  Weid- 
mannsche  Buchhandlung.    VIII  u.  132  S.    gr.  8°.    geh.  4,40  M. 

In  der  Alexander-Vita  bittet  Plutarch  seine  Leser  um  Nachsicht,  wenn  er  bei 
der  Behandlung  großer  Taten  nicht  auf  Einzelheiten  eingehe,  sondern  sich  da- 
bei kurz  fasse,  und  rechtfertigt  die  Bevorzugung  charakteristischer  Züge,  Handlungen 
und  Aussprüche  seiner  Helden  mit  dem  Worte:  ,,Ich  schreibe  ja  nicht  Geschichte, 
sondern  Lebensbilder."  Er  will  seinen  Lesern  geistige  Nahrung  bieten  und  auf  sie 
erziehlich  wirken.  Darum  haben  für  ihn  oft  nüchterne  Tatsachen  geringeren  Wert, 
als  Anekdoten,  Legenden  und  was  der  Turnvater  Jahn  ,,Geschichtser*  nennt. 
Bei  den  strengen  Historikern  konnte  er  diese  selten  finden,  wohl  aber  in  den  Büchern 
älterer  Traditionssammler.  Der  Forschung  nach  den  Quellen  des  Plutarch  muß 
deshalb  die  Untersuchung  der  Parallelberichte  auf  ihre  Quellen  hin  vorausgehen. 
Einer  Anregung  des  Straßburger  Historikers  K.  J.  Neumann,  der  selbst  über  die 
Entstehung  des  spartanischen  Staates  in  der  lykurgischen  Verfassung  schrieb, 
folgend,  unternimmt  Keßler  den  Versuch,  die  in  der  Lykurgvita  enthaltenen  Be- 
richte der  Reihe  nach  zu  prüfen  und  ihnen  ,,ihre  Stelle  innerhalb  der  Traditions- 
geschichte anzuweisen'*.  Erst  in  zweiter  Linie  fragt  er  nach  den  direkten  Vorlagen 
und  nennt  mit  Recht  an  erster  Stelle  den  Hermippus,  dann  den  Borystheniten 
Sphairos,  während  die  unmittelbare  Benutzung  Phylarchs  zweifelhaft  bleibt,  ferner 
wahrscheinlich  Piaton,  Thukydides,  Theophrast,  Aristokrates.  Vergleich  mit  der 
Schrift  Xenophons  über  den  Staat  der  Lakedämonier  führt  zur  Vermutung,  daß 
ein  Redaktor  aus  Plutarch  schöpfte.  Über  Hypothesen  kommt  die  Quellenforschung 
bei  Plutarch  wenig  hinaus.  In  einem  Anhang  zu  der  sorgfältigen  Untersuchung 
behandelt  Professor  Neumann  die  spartanischen  Königslisten  bei  Plutarch  und 
die  Entstehungszeit  des  Ephorats  und  Theopomp  (754). 

Münster  i.  W.  S.  W  i  d  m  a  n  n. 

Meyer,  Chr.,^ Geschichte  Frankens  (Sammlung  Göschen  434).    Leipzig 

1909.     Göschen.     153  S.     kl.  8«.     geb.  0,80  M. 
Weller,    K.,   Württembergische    Geschichte    (Sammlung   Göschen 

462).     Leipzig  1909.     Göschen.     176  S.     kl.  8".    geb.  0,80  M. 
Zwei  wertvolle  Bereicherungen  der  Göschenschen  geschichtlichen  Bibliothek. 
Das  zuerst  genannteBüchlein  gibt  eine  Darstellung  von  der  politischen 
und  territorialen  Entwicklung,  vor  allem  des  fränkischen  Stückes  von  Bayern, 


i 


Die  deutschen  Kolonien,  angez.  von  \V.  Scheel.  489 

d.  h.  der  drei  Kreise  Unter-,  Ober-  und  Mittelfranken,  eines  Gebietes  reichlich  so 
groß  wie  die  Provinz  Westfalen,  auf  dem  nicht  weniger  als  3  Bistümer,  9  Mark- 
grafenschaften  und  Grafschaften,  5  Reichsstädte  und  dazu  eine  Anzahl  von  reichs- 
freien Ritterschaften'  in  buntem  Wechsel  durcheinander  lagen.  Es  verfolgt  deren 
Schicksale  bis  in  die  napoleonische  Zeit,  wo  sie  fast  alle  durch  das  Band,  das  die 
wittelsbachische  Dynastie  um  sie  schlang,  vereint  wurden,  ein  Band,  stark  genug, 
um  sie  weiterhin  zusammenzuhalten.  W  e  1 1  e  r  beginnt  mit  der  Geschichte  des 
Schwabenlandes,  die  er  von  ihren  Uranfängen  an  über  die  Besitzergreifung  des  Landes 
durch  die  Schwaben  hinaus  bis  zu  der  Zeit  verfolgt,  wo  ihm  mit  dem  Untergang  des 
Hohenstaufenhauses  die  Hoffnung  auf  einen  politischen  Zusammenschluß  ge- 
nommen wurde.  Er  führt  uns  von  da  an  in  einer  doppelten  Kapitelreihe  neben- 
einander die  allgemeine  Geschichte  des  heutigen  württembergischen  Landes  vor 
Augen  —  die  sich  wieder  nicht  selten  zu  einer  Geschichte  Schwabens  erweitert  — 
und  die  besondere  Entwicklung  zuerst  der  Grafschaft,  dann  des  Herzogtums,  end- 
lich des  Kurfürstentums  Württemberg,  bis  seit  Ende  1805  infolge  der  Begründung 
des  Königreichs  und  dessen  Erweiterung  auf  seinen  heutigen  Umfang  durch  Napoleons 
Gnaden  das  Besondere  in  dem  Allgemeinen  aufgeht  und  dadurch  dem  Verfasser 
seine  Darstellung,  der  er  erst  mit  der  Hinabführung  auf  die  Jetztzeit  ein  Ziel  setzt, 
vereinfacht  wird. 

Meyer  faßt  seine  Aufgabe  vorwiegend  einmal  vom  politischen  und  sodann 
vom  territorialen,  nicht  selten  dynastischen  Standpunkt.  Bei  W  e  1 1  e  r  kommt 
neben  der  politischen  Geschichte  die  Entwicklung  des  wirtschaftlichen  und  des 
Geisteslebens  zum  vollen  Recht,  wird  über  der  Betrachtung  der  Geschicke  der 
Territorien  und  Dynastien  nie  der  Blick  aufs  Ganze  verloren,  die  Rückwirkung 
des  Einzelnen  auf  die  Gesamtheit  und  umgekehrt  aus  dem  Auge  gelassen.  Dadurch 
gewinnt  sein  Büchlein  an  Gehalt  und  Tiefe.  —  Beide  Bücher  weisen  reiche  Stamm- 
bäume und  ein  umfangreiches  Register  auf;  als  Wunsch  für  die  zweite  Auflage 
notiere  ich  die  Hinzufügung  einer  Karte.  Die  Verfasser  unserer  geschichtlichen 
Lehrbücher  und  andere  müssen  sich  mit  Meyer  auseinandersetzen,  wenn  er  S.  72  und 
146  Friedrich  VH.  1415  mit  Brandenburg  belehnt  werden  läßt  (nicht  Friedrich  VI.); 
die  Abweichung  erklärt  sich  aus  der  Unterscheidung  von  drei  Friedrichen  zwischen 
1200  und  1297  (statt  2). 

Elberfeld.  W.  M  e  i  n  e  r  s. 

Die  deutschen  Kolonien,  herausgegeben  von  Major  a.  D.  Kurd  Schwabe, 
unter  Mitwirkung  von  Amtsrichter  Dr.  Fr.  B  e  h  m  e  ,  Major  in  der  Schutz- 
truppe für  Südwestafrika  B  e  t  h  e ,  Hauptmann  ä  la  Suite  der  Schutztruppe 
für  Kamerun  Dominik,  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr.  Gustav  Fritsch, 
Direktor  der  Deutschen  Togogesellschaft  Bergassessor  a.  D.  Fr.  H  u  p  f  e  1  d,  Ma- 
rine-Oberstabsarzt Prof.  Dr.  K  r  a  e  m  e  r  ,  Stabsarzt  im  Kommando  der  Schutz- 
truppen Dr.  Kuhn,  Geh.  Regierungsrat  Prof.  Dr.  P  a  a  s  c  h  e  ,  Hauptmann 
a.  D.  H.  R  a  m  s  a  y,  Hauptmann  a.  D.  V  o  1  k  m  a  n  n.  Herstellung  des  Werkes 
unter  künstlerischer  Leitung  von  BernhardEsch,  Farbenphotographische 
Aufnahmen  von  Dr.  Robert  Lohmeyer,  Bruno  Marquardt  und 
Eduard  Kiewning.  Band  I  Togo,  Kamerun.  Deutsch-Südwestafrika. 
Mit  126  Farbenphotographien  nach  der  Natur  und  zwar  20  Tafelbildern  und 


490  Die  deutschen  Kolonien,  angez.  von  W.  Scheel. 

106  Bildern  im  Text.  Band  II  Deutsch-Ostafrika.  Kaiser-Wilhelmsland  und 
die  Inselwelt  im  Stillen  Ozean.  Samoa.  Kiautschou.  Mit  125  Farbenphotographien 
nach  der  Natur  und  zwar  20  Tafelbildern  und  105  Bildern  im  Text.  Verlags- 
anstalt für  Farbenphotographie.  Berlin  1911.  Weller  und  Hüttich.  Sub- 
skriptionspreis 200  M. 
Eine  stattliche  Reihe  bekannter  Kolonialfreunde  und  Kolonialkämpfer  haben 
sich  vereinigt,  ein  Monumentalwerk  über  die  deutschen  Kolonien  zu  schaffen, 
ihre  Bedeutung  nach  politischer  wie  wirtschaftlicher  Seite  hin  zu  beleuchten  und 
in  gedrängten  übersichtlichen  Aufsätzen  und  Aufzeichnungen  meist  aus  persön- 
licher Erfahrung  heraus  die  einzelnen  Kolonien  und  Schutzgebiete  dem  Leser 
vor  Augen  zu  führen.  Nach  einem  kurzen  markigen  Geleitwort  des  ältesten  Afrika- 
reisenden unserer  Tage,  des  Geh.  Medizinalrats  Fritsch  bespricht  Hupfeld  die 
Kolonie  Togo  besonders  nach  ihrer  wirtschaftlichen  Bedeutung,  versteht  es  jedoch 
auch,  die  sehr  interessanten  völkerkundlichen  Fragen,  die  gerade  diese  Kolonie 
berühren,  klar  zu  entwickeln.  In  die  Kolonie  Kamerun  teilen  sich  Ramsay  und 
der  kürzlich  verstorbene  unvergeßliche  Hans  Dominik,  der  die  ganze  Kraft  seiner 
jungen  Tage  für  die  Erschließung  und  Nutzbarmachung  besonders  von  Süd-Kamerun 
einsetzte,  dem  Deutschland  diesen  Süden  der  Kolonie  erst  recht  eigentlich  mit 
seiner  Jaunde-Station  zu  verdanken  hat.  Was  hier  von  Kribi  bis  zum  Tschadsee 
noch  an  Werten  und  Ländern  rationeller  Erschließung  harrt,  hat  Dominik  in 
fesselnder  sachkundiger  Darstellung  beschrieben.  Es  ist  die  letzte  Arbeit  seines 
kurzen,  tatenreichen  Lebens  gewesen.  —  In  die  Geschichte  und  Landeskunde 
von  Deutsch-Südwestafrika  führen  uns  die  Schilderungen  dreier  Mitkämpfer  aus 
dem  letzten  großen  Aufstand,  des  Majors  Schwabe,  des  Stabsarztes  Dr.  Kuhn 
und  des  Hauptmanns  Volkmann.  Unter  diesen  beanspruchen  die  Schilderungen 
aus  dem  Hererolande  und  des  Sandfeldes  (Omaheke),  in  dem  die  letzten  Reste 
des  einst  so  stolzen  Volkes  der  Herero  verdursteten  und  verkamen,  besonderes 
Interesse.  Bieten  sie  doch  eine  lebendige  Illustration  zu  den  knappen,  markigen 
Worten,  mit  denen  das  Generalstabswerk  über  den  Krieg  in  Südwestafrika  fern 
jeder  Ruhmredigkeit  von  den  Heldentaten  deutscher  Reiter  und  Offiziere  erzählt, 
die  hier  in  einsamer  Öde,  fern  der  Heimat,  treu  ihrem  Fahneneide  gefallen  sind. 
In  dem  Abschnitt  über  Deutsch-Ostafrika  bringt  Ramsay  mit  Recht  das 
Verdienst  wieder  zu  Ehren,  das  Karl  Peters  ohne  Zweifel  an  der  ersten  Erwerbung 
dieser  unserer  wichtigsten  Kolonie  hat.  Nach  einer  kurzen  Landeskunde  von  Bethe 
bespricht  sodann  der  frühere  Vizepräsident  des  Reichstages  Paasche,  der  selbst 
einige  Zeit  in  Ostafrika  geweilt,  im  Anschluß  an  seine  Monographie  über  diesen 
Gegenstand  die  wirtschaftlichen  Zustände  und  Aussichten  der  Kolonie.  Den  Be- 
schluß machen  die  Kolonien  und  Schutzgebiete  im  Stillen  Ozean  von  Kraemer  und 
Henoch,  sowie  Kiautschou  von  Behme,  für  das  einst  der  große  Geograph  Richt- 
hofen  durch  seine  berühmte  Monographie  weitgehendes  Interesse  erweckt  hatte. 
Wir  würden  jedoch  dem  Werke  bei  weitem  nicht  gerecht  werden,  wenn  wir 
unsere  Besprechung  mit  einer  Durchmusterung  der  Textaufsätze  beschlössen. 
Den  eigentlichen  Wert  und  seine  charakteristische  Eigenart  erhält  das  Buch  durch 
die  Beigabe  sehr  zahlreicher  Farbenphotographien,  die  mit  farbenempfindlichen 
Platten  von  Dr.  Robert  Lohmeyer  u.  a.  an  Ort  und  Stelle  aufgenommen  uns  eine 


Roller,  Adolf  Spieß,  angez.  von  E.  Neuendorff.  491 

ganz  überraschend  naturgetreue  Wiedergabe  besonders  der  Flora  und  Fauna,  aber 
atjch  der  Bewohner  der  Kolonien  und  ihrer  Landschaften  bieten.  Für  Geo- 
graphie, Anthropologie,  Ethnographie,  Botanik  und  viele  andere  Zweige  der 
Wissenschaft  haben  gerade  die  farbigen  Naturaufnahmen  ganz  anderen  Wert 
als  kolorierte  Illustrationen.  Hier  spielt  die  individuelle  Auffassung  des  Künstlers 
von  Farbe  und  Licht  eine  gewichtige  Rolle;  die  Farbenphotographien  dagegen, 
die  durch  das  Miethesche  Verfahren  zu  hoher  Vollendung  gediehen  sind,  er- 
möglichen eine  getreue  Darstellung  nach  der  Natur.  Ich  kann  aus  der  über- 
wältigenden Fülle  des  Gebotenen  nur  Weniges  hier  hervorheben.  Man  betrachte 
die  Farbenaufnahme  des  Kibogipfels  aus  der  Höhe  des  sogen,  letzten  Lagers 
des  Erstersteigers  Hans  Meyer,  die  Dr.  Lohmeyer  hergestellt  hat,  mit  ihren 
wunderbaren  Farbentönen  in  Gras  und  Eisdecke  (Band  II,  S.  48)  und  dem  zarten 
Wolkenschleier  über  der  mehr  als  6000  m  hohen  Spitze;  daneben  blicke  man 
einmal  in  den  Kaufladen  eines  Inders  in  Morogoro  (Band  II,  S.40),  wo  ungefähr 
zwölf  Trägerkoffer  verschiedenster  Färbung  übereinander  aufgestapelt  sind.  Welche 
einfache  Schwarzplatte  oder  welche  künstliche  Farbengebung  könnte  einen  ähnlich 
naturgetreuen  Eindruck  hervorrufen  wie  diese  Farbenaufnahme?  Und  so  ist  es 
durchgängig.  Die  zarten  Spitzen  des  Steppengrases,  die  leichten  Palmenfieder, 
die  starrenden,  von  der  Abendsonne  beschienenen  Äste  des  Affenbrotbaumes, 
erscheinen  in  der  Naturaufnahme  in  so  glänzender  Wiedergabe,  daß  man  sich 
kaum  ein  besseres  Hilfsmittel  für  die  Kenntnis  der  Kolonien  denken  kann  als  dies 
Bilderwerk. 

Nowawes  bei  Potsdam.  Willy  Scheel. 

Roller,  Karl,  AdolfSpieß.  Ein  Gedenkblatt  zu  seinem  hundertjährigen  Ge- 
burtstage. Berlin  1910.  Weidmannsche  Buchhandlung.  VIII  u.  167  S.  8«.  3M. 
Während  uns  Leben  und  Wirken  Jahns  wiederholt  in  selbständigen  Arbeiten 
geschildert  worden  sind,  so  am  gelehrtesten  von  Euler,  am  großzügigsten  von 
Schulthess  und  am  volkstümlichsten  von  Meyer,  sind  über  Adolf  Spieß,  den  Be- 
gründer des  deutschen  Schulturnens,  ersc  1910  als  Gedenkblatt  zu  seinem  100  jähri- 
gen Geburtstage  zwei  selbständige  Lebensbilder  erschienen.  Beide  kommen  aus 
Hessen,  der  Heimat  und  hauptsächlichsten  Wirkungsstätte  von  Spieß.  Das  eine 
ist  eine  einfache  Lebensbeschreibung  von  Schulinspektor  Schmeel  in  Worms.  Das 
andere,  das  vorliegende  Buch  von  Roller,  stellt  nicht  nur  das  Leben  von  Spieß 
ausführlich  dar,  sondern  versucht  auf  breiterer  Grundlage  ein  Verständnis  seines 
Wirkens  anzubahnen.  Es  ist  als  eine  fleißige  und  erschöpfende  Zusammenfassung  alles 
Wissenswerten  über  Spießens  Leben  und  den  Inhalt  seiner  Schriften  für  den  Turn- 
historiker eine  wertvolle  Arbeit.  Wertvoller  noch  wäre  sie  geworden,  wenn  der 
Verfasser  auf  die  vielen  seitenlangen  Zitate  verzichtet  und  Ereignisse  bzw.  Ge- 
danken in  eigener  lebendiger  Form  dargestellt  hätte,  auch  wenn  er  statt  der  aus- 
führlichen Inhaltsangabe  der  Spießschen  Schriften  tiefer  auf  ihre  historische  Be- 
deutung eingegangen  wäre. 

Mülheim  (Ruhr).  Edmund    Neuendorff. 

Berliner  Heimatbücher.     Herausgegeben  von  der  Diesterweg-Stiftung  in  Berlin. 
1.  Spuren  der  Eiszeit  in  und  bei  Berlin  von  Gustav  Kalb. 


492       G.  Helm,  Grundlehren  der  höheren  Mathematik,  angez.  von  H.  Thieme. 

46  S.  geh.  0,25  M.  2.  Berliner  Sagen  und  Erinnerungen  für 
die  Berliner  Jugend,  gesammelt  von  Otto  Monke.  Leipzig  191 1. 
Quelle  &  Meyer.  70  S.  geh.  0,30  M. 
Das  Unternehmen,  das  mit  den  vorliegenden  Bändchen  ins  Leben  tritt,  ver- 
dient Ermutigung  und  Beifall.  Es  will  dem  Heimatsgefühl,  das  in  der  Großstadt- 
jugend nicht  leicht  von  selbst  erwächst,  für  seine  Entwicklung  Stützen  bieten, 
indem  es  die  Jugend  Berlins  anleitet,  nachdenkend  bei  einzelnen  charakteristischen 
Momenten  in  dem  Gesamtbild  ihrer  ins  Riesenhafte  gewachsenen  Heimatstadt 
zu  verweilen.  Die  erste  Schrift  führt  in  die  Vereisungstheorie  von  Torell  ein  und 
erinnert  daran,  daß  es  dem  schwedischen  Forscher  bei  einem  Besuch  der  Rüders- 
dorfer  Kalkberge  zur  Gewißheit  wurde,  daß  ganz  Norddeutschland  einst  von 
Gletschern  bedeckt  war.  Sie  erzählt  dann  von  der  ungeheuren  Grundmoräne, 
die  den  Äckern  der  Mark  ihre  Fruchtbarkeit  gibt,  von  Stirnmoränen  und  Seiten- 
moränen, die  hier  und  da  zutage  liegen,  von  den  Tonlagern,  die  die  abschmelzenden 
Gletscher  zurückgelassen  haben,  von  der  Entstehung  unserer  Flüsse  und  weist 
auf  Zeichen  der  Eiszeit  hin,  die  uns  überall  in  der  Mark  entgegentreten.  Manchmal 
hätte  man  wohl  den  Wunsch,  daß  die  Darstellung  etwas  mehr  bei  dem  Einzelnen 
verweilen  möchte,  aber  im  ganzen  ist  es  sicherlich  geeignet,  die  Jugend,  an  die  es 
sich  wendet,  zum  Nachdenken  über  den  heimatlichen  Boden  und  seine  Gestaltung 
anzuregen.  Die  zweite  Schrift  gibt  in  Chronikenstil  allerlei  Sagen  und  Geschichten 
wieder,  die  in  Berlin  unter  den  von  altersher  Eingesessenen  von  Mund  zu  Mund 
gehen  und  von  denen  wohl  jedem  Berliner  hin  und  wieder  dunkle  Kunde  gekommen 
ist.  Sie  erzählt  von  der  weißen  Frau,  von  dem  Steinkreuz  an  der  Marienkirche, 
vom  Großen  Kurfürsten  auf  der  Langen  Brücke,  von  der  Kuppel  der  Hedwigs- 
kirche, von  der  Riesenrippe  an  einem  Haus  am  Molkenmarkt,  von  dem  Bild  eines 
Mannes,  der  eine  Tür  trägt,  an  einem  Haus  der  Wallstraße  und  von  vielem  anderen. 
Die  Erzählungen  sind  zuweilen  etwas  nüchtern,  doch  finden  sich  auch  solche  von 
grausiger  Romantik  oder  burleskem  Humor.  Man  kann  die  beiden  Bändchen 
freundlicher  Beachtung  empfehlen. 

Berlin.  G.  Louis. 

Helm,  G.,  Grundlehren  der  höheren  Mathematik.  Zum  Ge- 
brauch bei  Anwendungen  und  Wiederholungen  zusammengestellt.  Mit  387 
Figuren  im  Text.  Leipzig  1910.  Akademische  Verlagsgesellschaft.  XV  u.  419  S. 
8».     14,20  M. 

Das  vorliegende  Buch  enthält  den  Lehrstoff  der  höheren  Mathematik,  den  der 
Verfasser  an  der  Dresdener  technischen  Hochschule  in  einer  sich  über  vier  Studien- 
semester erstreckenden  Vorlesung  seinen  Hörern  vorzuführen  pflegt.  Er  will  aus 
dem  Gesamtgebiete  der  höheren  Mathematik  das  für  Techniker  Wertvolle  tunlichst 
in  solcher  Anordnung  bieten,  daß  auf  die  Lehren,  die  für  alle  wichtig  sind,  erst  die 
eingehenderen  Untersuchungen  folgen,  die  insbesondere  für  ein  tiefer  eindringendes 
Studium  der  gesamten  technischen  Mechanik,  der  Elektro-  und  Thermodynamik 
erforderlich  sind.  Es  ist  dabei  in  jenen  ersten  Teilen  ausführlicher  gehalten  als  in 
den  späteren. 

Seinen  Zwecken  entsprechend  enthält  das  Werk  Differential-  und  Integral- 
rechnung,   unendliche    Reihen,    Methoden    der    unbestimmten    Integration,  be- 


F.  Klein,  Abhandlungen  über  den  mathematischen  usw.,  angez.  von  H.  Thieme.     493 

stimmte  Integrale,  mehrfache  Integrale,  die  Lehre  von  den  Differentialgleichungen 
erster  und  zweiter  Ordnung,  daneben  einen  vollständigen  Lehrgang  der  ana- 
lytischen Geometrie  der  Ebene  und  des  Raumes  nebst  den  Anwendungen  der 
Differential-  und  Integralrechnung  auf  Geometrie  bis  zum  Begriff  der  Krümmung 
von  Raumkurven  und  Flächen.  Die  Anwendungen  der  Infinitesimalrechnung 
erstrecken  sich  jedoch  nicht  nur  auf  Geometrie,  sondern  auch  auf  andere  Gebiete 
wie  namentlich  auf  Physik  und  insbesondere  auf  Mechanik.  Die  Grundlagen  des 
Rechnens  mit  Vektorgrößen  sind  ebenfalls  mit  in  den  Gedankengang  aufgenommen 
worden. 

Daß  das  Werk  für  den  Zweck,  für  den  es  bestimmt  ist,  nämlich  den  Hörern 
des  Verfassers  ein  brauchbares  Hilfsmittel  für  Wiederholungen  und  Anwendungen 
zu  bieten,  durchaus  geeignet  ist,  darüber  kann  kein  Zweifel  sein.  Bei  den  heutigen 
Bestrebungen,  die  Anfangsgründe  der  Infinitesimalrechnung  in  irgend  einer  Form 
in  den  mathematischen  Unterricht  der  höheren  Schulen  einzugliedern,  kann  das 
Werk  vielleicht  auch  für  diese  fruchtbar  gemacht  werden. 

Die  Mathematik  ist  an  den  technischen  Hochschulen  nur  Hilfswissenschaft. 
Der  Dozent  für  Mathematik  an  den  technischen  Hochschulen  muß  in  seinem  Lehr- 
gange ähnlich  wie  der  Lehrer  der  Mathematik  an  den  höheren  Schulen  auf  einen 
streng  systematischen  Aufbau  verzichten,  er  kann  nicht  alle  Möglichkeiten  und 
Feinheiten  der  vollkommenen  mathematischen  Theorie  berücksichtigen,  er  muß 
stets  im  Auge  behalten,  daß  für  den  Techniker  nicht  die  abstrakten  mathematischen 
Lehren  an  und  für  sich,  sondern  deren  Anwendung  die  Hauptsache  sein.  Der  Lehr- 
gang, der  sich  so  allmählich  an  den  technischen  Hochschulen  herausbildet,  wird 
dem  Lehrgange  in  der  Infinitesimalrechnung,  der  an  den  höheren  Schulen  möglich 
und  zweckmäßig  ist,  näher  stehen  als  der  zuweilen  rein  abstrakt  gehaltene  Lehrgang 
der  Universitäten. 

Für  die  Neugestaltung  des  mathematischen  Unterrichts  an  de^i  höheren  Schulen 
würden  hier  namentlich  die  ersten  Abschnitte  des  Buches  verwertet  werden  können. 
Es  sei  nach  dieser  Richtung  auf  die  Einführung  der  Grundbegriffe  der  Funktion, 
des  Differentialquotienten  und  des  Integrals  hingewiesen. 

Diese  einführenden  Abschnitte  erinnern  daran,  daß  der  Verfasser  auch  einmal 
Oberlehrer  war  und  aus  seiner  Tätigkeit  an  der  höheren  Schule  weiß,  was  metho- 
dische Durcharbeitung  des  den  Hörern  zu  bietenden  Stoffes  bedeutet. 

Selbstverständlich  enthält  das  Buch  auch  vieles,  wofür  auf  den  höheren  Schulen 
die  Zeit  fehlt. 

Klein,  F.,  Abhandlungen  über  den  mathematischen  Unter- 
richt in  Deutschland,  veranlaßt  durch  die  Internationale  Unterrichts- 
kommission. Vier  Bände  in  einzeln  käuflichen  Heften.  B.  G.  Teubner.  Leipzig 
und  Berlin.     8°.     Steif  geheftet. 

I.Band.  Die  höheren  Schulen  in  Norddeutschland. 
Mit  einem  Einführungswort  von  F.  Klein.  1.  Lietzmann,  W.,  Stoff 
und  Methode  im  mathematischen  Unterricht  der  norddeutschen  höheren  Schulen. 
Auf  Grund  der  vorhandenen  Lehrbücher.  XII  u.  102  S.  1909.  2  M.  2.  L  i  e  t  z  - 
mann,  W.,  Die  Organisation  des  mathematischen  Unterrichts  an  den 
höheren  Schulen  in  P  r  e  u  ß  e  n.    Mit  18  Figuren.    VII  u.  204  S.     1910.  5  M. 


494     F.  Klein,  Abhandlungen  über  den  mathematischen  Unterricht  in  Deutschland, 

II.  Band.  Die  höheren  Schulen  in  Mittel-  und  Süd- 
deutschland. Mit  einem  Einführungswort  von  P.  Treutlein.  1.  Wie- 
lei t  n  e  r  ,  H.,  Der  mathematische  Unterricht  an  den  Gymnasien  und  Real- 
anstalten nach  Organisation,  Lehrstoff  und  Lehrverfahren 
und  die  Ausbildung  und  die  Fortbildung  der  Lehrer  im  Königreich 
Bayern.  XIV  u.  85  S.  1910.  2,40  M.  2.  W  i  1 1  i  n  g  ,  A.,  Desgl.  im  König- 
reich S  a  c  h  s  e  n.  IV  u.  78  S.  1910.  2,20  M.  3.  G  e  c  k  ,  E.,  Desgl.  im  König- 
reich W  ü  r  1 1  e  m  b  e  r  g.  IV  u.  104  S.  1910.  2,20  M.  4.  C  r  a  m  e  r ,  H.,  Desgl. 
im  Großherzogtum  B  a  d  e  n.  XIV  u.  48  S.  1910.  1,60  M.  5.  S  c  h  n  e  1 1 ,  H., 
Desgl.  im  Großherzogtum  Hessen.    VI  u.  51  S.     1910.     1,60  M. 

III.  Band.  Berichte  allgemeiner  Art  über  den  höheren  mathe- 
matischen Unterricht.  Mit  einem  Einführungswort  von  F.  K  I  e  i  n.  2.  T  i  m  e  r  - 
ding,  H.  E.,  Die  Mathematik  in  den  physikalischen  Lehrbüchern.  Mit  22  Fi- 
guren im  Text.     VI  u.  112  S.     1910.    2,80  M. 

IV.  B  a  n  d.  Die  Mathematik  an  den  technischenSchulen  mit  einem 
Einführungswort  von  P.  Stäckel.  1.  G  r  ü  n  b  a  u  m  ,  H.,  Der  mathematische  Unter- 
richt an  den  deutschen  mittleren  Fachschulen.   XVI  u.  100  S.    1910.   2,60  M. 

Als  die  „Meraner  Lehrpläne"  ihrer  Zeit  zum  erstenmal  der  Öffentlichkeit 
übergeben  wurden,  machte  man  ihnen  die  Vorwürfe,  die  den  Neuerungen  gewöhnlich 
gemacht  werden.  Von  der  einen  Seite  wurde  den  Neuerern  entgegengehalten, 
sie  stellten  Forderungen  auf,  die  sich  nicht  erfüllen  ließen;  sie  verlangten  eine 
Erhöhung  der  Unterrichtsziele,  und  bei  den  gegebenen  Verhältnissen  sei  es  jetzt 
schon  —  namentlich  an  Gymnasien  —  schwer  möglich,  die  in  den  geltenden  Lehr- 
plänen dem  mathematischen  Unterricht  gesteckten  Ziele  mit  der  Mehrzahl  der 
Schüler  zu  erreichen. 

Von  der  anderen  Seite  wieder  wurde  behauptet,  die  Meraner  ,, Lehrpläne" 
brächten  nichts  Neues.  Was  in  ihnen  gefordert  werde,  sei  von  Lehrern,  die  mit  der 
Methodik  des  mathematischen  Unterrichts  ausreichend  bekannt  seien,  schon  seit 
langer  Zeit  angestrebt  und  auch  geübt  worden.  Der  methodisch  richtig  erteilte 
Unterricht  habe  schon  lange  in  allen  Zweigen  der  Mathematik  funktionales  Denken 
gepflegt,  im  einfachen  Rechenunterricht,  in  der  Geometrie  und  in  der  Arithmetik 
sowie  in  den  mannigfachen  Anwendungen,  in  den  verschiedenen  Zweigen  der  Physik, 
in  der  Astronomie.  Überall  habe  man  den  Schülern  die  gegenseitigen  Abhängigkeits- 
verhältnisse der  in  Betracht  kommenden  Größen  zur  Anschauung  zu  bringen 
gesucht,  ebenso  sei  schon  immer  auf  Ausbildung  des  Anschauungsvermögens  der 
Schüler  hingearbeitet  worden,  im  propädeutischen  geometrischen  Unterricht, 
in  Planimetrie,  Stereometrie  und  in  der  darstellenden  Geometrie.  Auch  graphische 
Darstellungen  hätten  die  Schüler  kennen  gelernt,  ebenso  die  Begriffe  des  Differential- 
quotienten und  des  Integrals  als  Grenzwerte  von  Quotienten  und  Summen.  Daneben 
sei  man  auch  bestrebt  gewesen,  in  möglichst  weitgehender  Berücksichtigung  der 
Anwendungen  den  Schülern  den  Wert  der  Mathematik  für  die  Beherrschung  der 
Außenwelt  zum  Bewußtsein  zu  bringen. 

Bei  diesem  Widerstreit  der  Meinungen  haben  die  Reformer  das  Richtigste 
getan,  was  sie  tun  konnten.  Um  für  die  Beurteilung  der  Notwendigkeit  und  Möglich- 
keit von  Reformen  eine  brauchbare  Grundlage  zu  schaffen,  haben  sie  sich  ent- 


angez.  von  H.  Thieme.  495 

schlössen,  die  wirkliche  Lage  des  mathematischen  Unterrichts  in  den  einzelnen 
Ländern  durch  eine  Reihe  von  gründlichen  Einzeluntersuchungen  unparteiisch 
feststellen  zu  lassen. 

Es  wurde  auf  dem  IV.  Internationalen  Mathematiker- Kongreß  in  Rom,  Ostern 
1908,  die  Einsetzung  einer  Internationalen  mathematischen  Unterrichtskommission 
(I.  M.  U.  K.)  beschlossen,  die  den  Auftrag  erhielt,  einen  vergleichenden  Bericht  über 
den  Stand  des  mathematischen  Unterrichts  in  allen  Kulturländern  auszuarbeiten. 
Die  einzelnen  Länder  ernannten  für  diesen  Zweck  besondere  Unterkommissionen. 

Die  deutsche  Unterkommission  hatte  sich  ursprünglich  darauf  beschränken 
wollen,  in  der  von  Herrn  Schotten  herausgegebenen  Zeitschrift  für  mathematischen 
und  naturwissenschaftlichen  Unterricht  eine  fortlaufende  Rubrik  „Berichte  und 
Mitteilungen,  veranlaßt  durch  die  Internationale  mathematische  Unterrichts- 
kommission", einzurichten.  Es  stellte  sich  indes  bald  heraus,  daß  man  dem  bei 
dieser  Arbeit  zusammenkommenden  wertvollen  Material  innerhalb  dieser  Rubrik 
nicht  in  einer  der  Wichtigkeit  der  Sache  entsprechenden  Form  gerecht  werden 
konnte.  Vielmehr  erschien  es  dringend  wünschenswert,  die  Ergebnisse,  die  sich 
bei  den  eingehenden  Studien  der  Mitarbeiter  herausstellten,  den  interessierten 
Kreisen  in  ausführlichen  Darstellungen  darzubieten.  Man  entschloß  sich  deshalb, 
die  Arbeiten  als  besondere  Abhandlungen  über  den  mathematischen  Unterricht 
in  Deutschland  herauszugeben. 

Das  ganze  Werk  ist  vorläufig  auf  vier  Bände  berechnet.  Der  erste  Band,  dem 
ein  Vorwort  von  F.  Klein  vorangeht,  behandelt  die  höheren  Schulen  in  Nord- 
deutschland, der  zweite  mit  einem  Einführungswort  von  P.  T  r  e  u  1 1  e  i  n  die 
höheren  Schulen  in  Mittel-  und  Süddeutschland,  der  dritte  wieder  mit  einem  Ein- 
führungswort von  F.  Klein  gibt  Berichte  allgemeiner  Natur  über  den  höheren 
mathematischen  Unterricht  und  der  vierte  durch  ein  Vorwort  von  P.  S  t  ä  c  k  e  1 
eingeleitete  Band  ist  für  die  Mathematik  an  den  technischen  Schijlen  bestimmt. 

Vorläufig  sind  von  dem  ersten  Bande  zwei  Hefte,  von  dem  zweiten  Bande 
fünf  Hefte,  von  dem  dritten  und  dem  vierten  Bande  je  ein  Heft  erschienen. 

Alle  bisher  vorliegenden  Hefte  sind  als  außerordentlich  wertvoll  zu  bezeichnen; 
sie  stellen  ein  bequemes  Hilfsmittel  dar,  sich  über  den  mathematischen  Unterricht 
nach  Organisation,  Lehrstoff  und  Lehrverfahren  sowie  über  die  Ausbildung  und 
Fortbildung  der  Lehrer  der  Mathematik  in  den  einzelnen  Staaten  Deutschlands 
Klarheit  zu  verschaffen. 

Die  beiden  Hefte  des  ersten  Bandes,  der  den  höheren  Schulen  Nord- 
deutschlands gewidmet  ist,  haben  W.  Lietzmann  zum  Verfasser;  das  erste  Heft 
behandelt  Stoff  und  Methode  im  mathematischen  Unterricht  Norddeutschlands 
auf  Grund  der  vorhandenen  Lehrbücher,  das  zweite  Heft  die  Organisation  des 
mathematischen  Unterrichts  an  den  höheren  Schulen  in  Preußen. 

Das  erste  Heft  gliedert  sich  in  drei  Teile.  In  dem  ersten  allgemeinen  Teile 
werden  die  verschiedenen  Arten  von  mathematischen  Lehrbüchern:  Leitfaden, 
Lehrbuch,  systematisches  und  methodisches  Lehrbuch  näher  charakterisiert,  in 
dem  zweiten  Teile  werden  die  Lehrbücher  für  Planimetrie,  Trigonometrie  und 
Stereometrie,  in  dem  dritten  die  Lehrbücher  für  Arithmetik,  Algebra  und  Analysis 
eingehend  besprochen,  naturgemäß  besonders  mit  Rücksicht  auf  die  in  den  Meraner 


496     F.  Klein,  Abhandlungen  über  den  mathematischen  Unterricht  in  Deutschland. 

Lehrplänen  angestrebten  Änderungen.  Der  Verfasser  hat  selbstverständlich  nicht 
alle  vorhandenen  Lehrbücher  in  seine  Besprechung  einbezogen,  sondern  nur  solche, 
die  typische  Bedeutung  haben;  um  so  wertvoller  sind  seine  an  die  einzelnen  Werke 
angeknüpften  Darlegungen.  Dazwischen  finden  sich  viele  beachtenswerte  metho- 
dische Bemerkungen  eingestreut. 

Das  zweite  Heft  von  Lietzmann,  das  die  Organisation  des  mathematischen 
Unterrichts  in  Preußen  zum  Gegenstande  hat,  gliedert  sich  ebenfalls  in  drei  Teile. 
In  diesem  behandelt  der  erste  Teil  die  Organisation  des  Unterrichts  an  den  höheren 
Knabenschulen  im  allgemeinen.  Nach  einem  kurzen  RücW)lick  auf  den  Entwick- 
lungsgang des  höheren  Schulwesens  in  Preußen  charakterisiert  er  die  verschiedenen 
Arten  von  Schulen,  die  wir  jetzt  in  Preußen  haben,  bespricht  die  freiere  Gestaltung 
des  Unterrichts  auf  der  Oberstufe,  die  Zahl  der  Stunden  an  den  einzelnen  Anstalten, 
die  häuslichen  Arbeiten,  Versetzungen  und  Prüfungen,  führt  aifch  eine  mathema- 
tische Unterrichtsstunde  in  Frage  und  Antwort  vor. 

Im  zweiten  Teile  werden  die  mathematischen  Lehrpläne  und  Lehraufgaben 
für  die  höheren  Knabenschulen  in  Preußen  im  einzelnen  behandelt:  Zweck  des 
mathematischen  Unterrichts,  die  Methodik  des  Rechenunterrichts,  des  propädeu- 
tischen Unterrichts  in  der  Raumlehre,  der  Konstruktionsaufgaben. 

Der  dritte  Teil  dieses  Heftes  beschäftigt  sich  mit  dem  Einfluß  der  Reform- 
bewegung auf  die  Lehrpläne,  insbesondere  mit  der  Frage  der  Einführung  und  der 
Behandlungsweise  des  Funktionsbegriffes  auf  den  verschiedenen  Stufen  der  einzelnen 
höheren  Schulen,  mit  der  Frage  der  Einführung  der  Infinitesimalrechnung.  Von 
besonderem  Werte  sind  die  zahlreichen  Beispiele  aus  dem  .wirklichen  Unterrichts- 
betriebe, aus  denen  der  Leser  ersehen  kann,  in  wie  verschiedener  Weise  die  amt- 
lichen Lehrpläne  in  der  Wirklichkeit  praktische  Gestalt  gewonnen  haben;  weiter 
sind  besonders  von  Interesse  die  genauen  Lehrpläne  der  Unterrichtsanstalten, 
an  denen  Versuche  im  Sinne  der  Reformbestrebungen  angestellt  werden. 

Das  Material,  das  Lietzmann  zusammengetragen  und  verarbeitet  hat,  ist 
außerordentlich  umfangreich. 

Die  Darstellung  ist  in  beiden  Heften  klar  gegliedert,  lebhaft  und  leicht  lesbar. 

Die  Mitarbeit  an  dem  zweitenBandeder  Sammlung,  in  dem  der  mathe- 
matische Unterricht  an  den  Gymnasien  und  an  den  Realanstalten  in  Mittel-  und 
Süddeutschland  nach  Organisation,  Lehrstoff  und  Lehrverfahren  sowie  die  Aus- 
bildung und  Fortbildung  der  Lehrer  in  diesen  Staaten  zur  Darstellung  gelangt, 
haben  übernommen  für  Bayern  H.  W  i  e  1  e  i  t  n  e  r  ,  für  Sachsen  A.  W  i  1 1  i  n  g  , 
für  Württemberg  E.  G  e  c  k  ,  für  Baden  H.  C  r  a  m  e  r ,  für  das  Großherzogtum 
Hessen  H.  Schnell.  Die  Namen  der  Verfasser,  die  fast  durchweg  in  der  wissen- 
schaftlichen und  in  der  pädagogischen  Welt  anerkannte  Geltung  besitzen,  bürgen 
schon  dafür,  daß  wir  in  diesen  Schriften  ebenso  wie  in  denen  von  Lietzmann  ge- 
diegene Leistungen  vor  uns  haben. 

Um  ein  klares,  von  den  subjektiven  Auffassungen  der  einzelnen  Berichterstatter 
möglichst  freies  Bild  von  dem  wirklichen  Unterrichtsbetriebe  in  den  einzelnen 
Staaten  zu  gewinnen,  war  es  erwünscht,  von  einer  ausreichend  großen  Zahl  an 
höheren  Schulen  tätiger  Lehrer  Auskunft  über  ihre  Stellung  zu  den  hauptsächlich 
in  Betracht  kommenden  Fragen  zu  erhalten.     Es  wurde  deshalb  ein  besonderer 


angez.  von  H.  Thieme.  497 

Fragebogen  ausgearbeitet  und  von  den  Berichterstattern  der  einzelnen  Länder 
einer  Reihe  von  Lehrern  an  den  höheren  Schulen  zugesandt.  Diese  veranstaltete 
Umfrage  bildete  die  Grundlage  für  die  einzelnen  Abhandlungen. 

Dieser  Art  der  Entstehung  gemäß  ist  die  Arbeit  ihrer  Anlage  nach  in  den  fünf 
Heften  in  der  Hauptsache  einheitlich  durchgeführt.  Die  Verfasser  machen  den 
Leser  zunächst  mit  der  allgemeinen  Organisation  der  höheren  Schulen  in  den  be- 
treffenden Staaten  bekannt,  behandeln  dann  im  einzelnen  die  Gymnasien,  die  Real- 
gymnasien, die  Real-  und  Oberrealschulen  und  die  höheren  Mädchenschulen, 
sodann  insbesondere  den  mathematischen  Unterricht  nach  Stoff  und  Methode, 
die  mathematischen  Lehrbücher  und  schließlich  auch  die  Einrichtungen  für  die 
Ausbildung  und  die  Weiterbildung  der  Lehrer  für  Mathematik. 

Es  ist  nicht  gut  möglich,  den  reichen  Inhalt  dieser  Schriften  hier  wiederzugeben. 
Auch  wer  sich  schon  stets  für  die  Verhältnisse  in  den  außerpreußischen  Schulen 
interessiert  hat,  wird  noch  in  jeder  dieser  Schriften  viel  des  ihm  Unbekannten 
kennen  lernen.  So  manchen  Fachgenossen  wird  es  überraschen,  zu  erfahren,  daß 
die  höheren  Schulen  in  den  einzelnen  Staaten  Deutschlands  noch  so  große  Unter- 
schiede aufweisen,  wie  wir  sie  hier  dargelegt  finden. 

Besondere  Beachtung  verdienen  auch  die  längeren  oder  kürzeren  methodischen 
Auseinandersetzungen,  die  in  die  Darstellung  eingefügt  sind  und  so  manches  wert- 
volle Goldkorn  enthalten,  dann  auch  die  genauen  ausführlichen  Angaben  über  die 
in  den  einzelnen  Staaten  als  Zielleistungen  gestellten  Aufgaben,  die  dem  Fachmann 
oft  klarer  als  langatmige  Erörterungen  ein  Bild  von  dem  geben,  was  die  Schule 
treibt  und  leistet. 

Von  dem  dritten  Bande  der  Sammlung  ist  vorläufig  erst  ein  Heft  er- 
schienen, die  Arbeit  von  Tim  er  ding:  Die  Mathematik  in  den  physikalischen 
Lehrbüchern. 

Trotzdem  die  Physik  an  den  höheren  Schulen  fast  stets  in  den  Händen  von 
Mathematikern  gelegen  hat  und  die  Mathematik  demgemäß  oft  mehr,  als  berechtigt 
war,  in  den  physikalischen  Unterricht  hineingezogen  worden  ist,  kann  die  Mathe- 
matik, die  wir  in  den  physikalischen  Lehrbüchern  finden,  doch  in  keiner  Weise 
als  einwandfrei  bezeichnet  werden.  Die  Mängel  der  Darstellung  erklären  sich, 
wie  der  Verfasser  im  einzelnen  nachweist,  historisch  aus  der  Entwicklung  der 
Mathematik  in  ihrer  Beziehung  zur  Physik,  aus  der  Entwicklung  des  physikalischen 
Lehrbuchs  in  mathematischer  Hinsicht,  insbesondere  aus  der  Scheu,  von  den 
aus  alter  Zeit  ererbten  unstrengen  mathematischen  Herleitungen  physikalischer 
Lehren  abzugehen,  und  aus  der  Tatsache,  daß  die  in  den  höheren  Schulen  bisher 
gelehrte  Mathematik  überhaupt  nicht  zur  exakten  Erfassung  der  physikalischen 
Begriffe  und  zur  strengen  Ableitung  der  mathematisch-physikalischen  Gesetze 
ausreichte.  Allerdings  finden  sich  diese  Mängel  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  auch 
in  physikalischen   Lehrbüchern,  die  für  den   Hochschulunterricht  verfaßt  sind. 

Timerding  weist  diese  Mängel  an  einer  großen  Zahl  physikalischer  Lehrbücher 
nach  und  stellt  dann  seine  Forderungen  für  eine  Darstellung,  wie  er  sie  für  not- 
wendig hält. 

Die  Infinitesimalbegriffe  sind,  wie  das  allerdings  schon  oft  vor  Timerding 
betont  worden  ist,  in  der  Physik  nicht  zu  entbehren.  Allein  die  Infinitesimalrechnung 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  XI.  Jhrg.  32 


498  E.  Müller,  Technische  Übungsaufgaben  für  darstellende  Geometrie. 

kann  das  leisten,  was^von  einer  wissenschaftlich  und  pädagogisch  befriedigenden 
Darstellung  der  physikalischen  Lehren  verlangt  werden  muß.  Nicht  weitgehende 
Übungen  im  Differenzieren  und  Integrieren  sind  erforderlich;  es  genügt  nach 
dieser  Richtung  die  Behandlung  der  einfachsten  Funktionen,  der  Potenz,  der 
goniometrischen  Funktionen,  der  Exponentialfunktion  und  des  Logarithmus. 
Als  vorbildlich  für  die  Art  der  Behandlung  des  Stoffes  kann  das  Werk  von  John 
Perry:  Höhere  Analysis  für  Ingenieure  (Bearbeitung  von  Fricke  und  Lüchting) 
bezeichnet  werden. 

Von  dem  viertenBandeder  Abhandlungen  liegt  die  Arbeit  von  G  r  ü  n  - 
bäum  vor:  Der  mathematische  Unterricht  an  den  deutschen  mittleren  Fachschulen 
der  Maschinenindustrie. 

Der  Verfasser  schildert  zunächst  die  historische  Entwicklung  der  mittleren 
technischen  Fachschulen  in  Deutschland,  ihre  Bedeutung  und  Stellung,  die  Or- 
ganisation und  die  Unterrichtspläne  der  einzelnen  Anstalten;  dann  bespricht 
er  die  Art  und  Stellung,  die  Methode  und  den  Stoff  des  mathematischen  Unterrichts 
an  diesen  Anstalten,  die  Lehrbücher  der  Mathematik  und  unter  ihrer  besonderen 
Berücksichtigung  die  Behandlungsweise  der  mathematischen  Einzelfächer  und 
zum  Schluß  noch  die  Ausbildung  der  Lehrer  der  Mathematik  für  diese  Schulen. 

Da  der  mathematische  Unterricht  an  den  mittleren  Fachschulen  sich  im  wesent- 
lichen mit  demselben  Stoffgebiet  beschäftigt,  das  an  den  allgemein  bildenden 
höheren  Lehranstalten  behandelt  wird,  so  ist  es  für  den  Fachmann  nur  von  Vorteil, 
wenn  er  sich  auch  mit  der  Art  und  Weise  bekannt  macht,  in  der  dieser  Stoff  an  den 
Fachschulen  gestaltet  und  für  die  Anwendungen  zurechtgelegt  wird.  Pflege  der 
Anwendungen  im  mathematischen  Unterricht  liegt  zudem  im  Sinne  der  Meraner 
Lehrpläne. 

Alles  in  allem  sind  wir  der  internationalen  mathematischen  Unterrichts- 
kommission für  das,  was  sie  uns  bisher  geboten  hat.  Dank  schuldig. 

Bromberg.  H.  Thieme. 

Müller,  Emil,  Technische  Übungsaufgaben  für  darstellende 
Geometrie.  Leipzig  und  Wien  1910  und  191 1.  Franz  Deuticke.  40  Quart- 
Doppeltafeln  in  4  Heften  mit  einem  Begleitwort  (3S.).  Preis  jedes  Heftes  1,25  M. 
An  unseren  höheren  Schulen  beginnt  der  Unterricht  im  Linearzeichnen  und 
in  der  darstellenden  Geometrie  in  der  Regel  mit  der  Abbildung  konkreter  Dinge. 
In  der  Tat  liegt  ja  dem  Schüler  die  Behandlung  konkreter  Aufgaben  näher  als  eine 
streng  wissenschaftliche  Entwicklung  abstrakter  Wahrheiten,  die  Praxis  näher 
als  die  Theorie,  die  Beschäftigung  mit  den  Körpern  näher  als  die  mit  Punkt,  Linie 
und  Fläche.  Aber  nicht  bloß  im  Anfang,  sondern  auch  im  weiteren  Verlauf  des 
Unterrichts  bevorzugt  man  Aufgaben,  die  in  einem  erkennbaren  Zusammenhang 
mit  der  Praxis  stehen.  Freilich  wird  ein  verständiger  Lehrer  das  utilitaristische 
Prinzip  nicht  zu  Tode  reiten,  er  wird  nicht  vergessen,  daß  an  unseren  allgemein- 
bildenden Schulen  die  von  der  sinnlichen  Anschauung  ausgehenden,  konkreten, 
der  Praxis  entnommenen  Aufgaben  sozusagen  nur  das  feste  Spalier  bilden,  an  dem 
die  anfangs  schwächliche  Pflanze  der  inneren  Anschauung  und  der  abstrakten 
Erkenntnis  Halt  gewinnen  soll,  doch  besteht  die  von  G.  H  a  u  c  k  vor  zehn  Jahren 


angez.  von  P.  Zühlke.  499 

auch  für  die  darstellende  Geometrie  aufgestellte  Forderung,  daß  sich  eine  gesunde 
Pädagogik  beständig  zwischen  Abstraktion  und  Anwendung  hin-  und  herbewegen 
solle,  noch  immer  zu  Recht.  Wer  aber  je  den  Versuch  gemacht  hat,  für  den  Unter- 
richt an  unseren  höheren  Schulen  und  Hochschulen  praktische  Aufgaben  für  die 
darstellende  Geometrie  zu  sammeln  und  dabei  „den  Wirklichkeitscharakter  der 
technischen  Objekte,  trotz  der  selbstverständlich  häufig  nötigen  Vereinfachungen, 
möglichst  zu  wahren",  der  wird  dem  Verfasser  Dank  wissen,  daß  er  sich  der  großen 
Mühe  unterzogen  hat,  solche  Aufgaben  in  einer  Form  zu  veröffentlichen,  die  ihre 
unmittelbare  Verwendung  im  Unterricht  zuläßt.  Der  Inhalt  ist  folgender:  i.  Heft. 
Kristallgestalten,  Postamente,  Säulenfüße,  Pfostenköpfe  usw.,  Gerüstböcke, 
Gesimse,  Hauseingang,  zwei  einfache  Häuschen,  Stadttor,  Kapelle,  Gartenhaus. 
—  2.  Heft.  (Objekte  mit  runden  Flächen).  Gesims-  und  Sockelprofile,  Stichkappen, 
Grabdenkmal,  Erker  mit  Balkon,  romanischer  Bogenfries,  Gesims,  Prellsteine 
(Radabweiser),  Baluster,  Nische  mit  Urne,  gotische  Einzelheit.  —  j.  Heft.  Zwei 
Balkone,  Doppelfenster,  Gerüstbock,  Sprengwerk,  Dachstuhl-Einzelheiten,  Fenster- 
giebel (in  zwei  Ausführungen),  Säulenkapitäle  und  Säulenbasen,  gotisches  Kirchen* 
fenster,  Fenster-  und  Torbogen  (Steinschnittaufgaben),  Dachausmittclung,  Auf- 
gaben zur  kotierten  Projektion  (Dämme,  Einschnitte,  Plattformen  im  Gelände).  — 
4.  Heft.  Romanische  Säule,  Turmuhr,  2  Hängezapfen,  Kugelgewölbe,  gewölbte 
Bahnüberbrückungen  (3  Beispiele),  Flügelmauern  (4  Steinschnittaufgaben), 
7  Steinschnittaufgaben  (Tür-  und  Fensterbogen,  Gewölbe,  Giebelmauer), 
Knauf,  ellipsoidische  Nische  mit  Konsole,  Vordach,  Fußwegbrücke,  Träger- 
verbindung, Nietformen,  Arkaden,  Tempel,  Bahnwächterhaus,  Landhaus.  — 
Wie  man  sieht,  sind  fast  alle  Aufgaben  der  Architektur  oder  dem  Bauingenieur- 
wesen entnommen,  also  jedenfalls  für  unsere  höheren  Schulen  viel  zu  einseitig 
ausgewählt  (man  vergleiche  z.  B.  die  vielseitige  und  anregende  Auswahl  in  dem 
bekannten  Lehrbuche  von  C.  H.  Müller  und  0.  Presler,  Ausgabe  Ä.).  Das  darf  man 
aber  dem  Verfasser  nicht  zum  Vorwurf  machen,  denn  die  vorliegende  Sammlung 
schließt  sich  an  des  Verfassers  umfangreiches  „Lehrbuch  der  darstellenden  Geometrie 
für  technische  Hochschulen"  (1.  Bd.  1908  B.  G.Teubner)  aufs  engste  an,  und  demgemäß 
sind  auch  die  hier  veröffentlichten  Übungsaufgaben  „aus  dem  Unterrichtsbetrieb 
an  technischen  Hoch-  und  Mittelschulen  hervorgegangen  und  daher  in  erster  Linie 
für  solche  Anstalten  bestimmt".  Immerhin  kann  man  vieles  daraus  auch  in  unseren 
allgemeinbildenden  Schulen  zur  Belebung  des  Unterrichts  im  Linearzeichnen  und 
in  der  darstellenden  Geometrie  benutzen.  Natürlich  wird  man  dabei  die  kompli- 
zierten Gebilde  nie  vollständig  zeichnen  lassen,  sondern  man  wird  irgend  eine 
interessante  Einzelheit  daraus  in  größerem  Maßstabe  darstellen  lassen.  Um  dies 
zu  erleichtern,  hat  der  Verfasser  alle  dargestellten  Gegenstände  „durch  kotierte 
Risse  und  Schnitte  vollkommen  festgelegt,  so  daß  auch  ein  nicht  technisch  gebildeter 
Lehrer  sich  über  Gestalt  und  Größe  der  Objekte  vollkommen  Klarheit  zu  ver- 
schaffen vermag".  Die  Ausführung  der  Blätter  ist  im  ganzen  und  in  allen  Einzel«- 
heiten  musterhaft.  —  Der  trefflichen  Sammlung  ist  zu  wünschen,  daß  sie  auch  an 
unseren  höheren  Schulen  rechte  Beachtung  finden  möge;  sie  wird  bei  verständigem 
Gebrauch  viel  Gutes  stiften. 

Landeshut  i.  Schi.  P.  Zühlke. 

32* 


500  Hoffmann-Dennert,  Botanischer  Bilderatlas,  angez.  von  W.  Heering. 

Hof f mann- Dennert,    Botanischer  Bilderatlas  nach  dem  natür- 
lichen   Pflanzensystem.      Zugleich  eine    Flora   zurBe- 
stimmung   sämtlicher   in   Deutschland    vorkommenden 
Pflanzen.   3.,  völlig  veränderte  Auflage.   Unter  besonderer  Berücksichtigung 
der  Biologie  neu  bearbeitet  von  Professor  Dr.  E.  D  e  n  n  e  r  t.    34  Bogen  Text, 
86  Farbentafeln  und  959  Textfiguren.   Stuttgart.    E.  Schweizerbartsche  Verlags- 
buchhandlung,  kart.  20  M.  in  einem  Band,  geb.  22  M.,  in  zwei  Bänden  23,50  M. 
Das  Buch  ist  für  Laien  berechnet.    Es  soll  jeden  Pflanzenliebhaber  instand 
setzen,  selbständig  die  in  Deutschland  vorkommenden  Pflanzenarten  zu  bestimmen. 
Der  Bearbeiter  des  Buches  geht  von  dem  ganz  richtigen  Gesichtspunkte  aus, 
daß  mit  einer  Sammlung  von  Abbildungen  allein  dieses  Ziel  nicht  erreicht  werden 
kann.     Ein  Abbildungswerk,  das  nur  sämtliche  Blüten  pflanzen  Deutschlands 
darstellen  würde,  müßte  schon  einen  weit  beträchtlicheren  Umfang  haben  als  das 
vorliegende,  und  der  Laie  würde  gezwungen  sein,  dies  ganze  Werk  zu  vergleichen, 
um  die  Identität  einer  vorliegenden  Pflanze  mit  einer  abgebildeten  Art  festzustellen. 
Deshalb  ist  der  Text  der  vorigen  Auflage  umgearbeitet  worden  und  zwar  so,  daß 
er  zugleich  eine  Flora  Deutschlands  darstellt.     In  der  Anordnung  folgt  der  Ver- 
fasser im  wesentlichen  dem  Englerschen  System.    Der  systematischen  Aufzählung 
wird  eine  analytische  Tabelle  zur  Bestimmung  der  Familien  vorangeschickt. 

Den  großen  Schwierigkeiten,  die  diese  Bestimmung  dem  Anfänger  bereitet, 
sucht  der  Verfasser  dadurch  zu  entgehen,  daß  er  möglichst  in  die  Augen  fallende 
Merkmale  wählt.  Wissenschaftlich  ist  das  Verfahren  natürlich  nicht.  Es  steht 
auch  nicht  höher  als  das  verpönte  Bestimmen  nach  dem  Linneschen  System.  Damit 
soll  allerdings  nicht  gesagt  sein,  daß  für  den  vorliegenden  Zweck  wissenschaft- 
lichere Tabellen  besser  wären.  Ich  halte  es  überhaupt  für  ausgeschlossen,  daß  ein 
Anfänger  mit  den  wissenschaftlichen  Familiendiagnosen  viel  anfangen  kann.  Ich 
möchte  deshalb  nicht  nur  betonen,  daß  für  den  Laien  verwertbare  Bestimmungs- 
tabellen genau  so  künstlich  sein  müssen,  wie  es  die  Bestimmungstabellen  nach 
dem  Linneschen  System  sind.  In  den  letzteren  führen  sie  zur  Gattung,  in  den 
ersteren  zur  Familie.    Das  ist  der  ganze  Unterschied. 

Da  es  undenkbar  ist,  daß  der  Anfänger  von  jeden  der  zur  Unterscheidung 
verwendeten  Eigenschaften  eine  anschauliche  Vorstellung  besitzt,  kommen  ihm 
hier  einfache  Zeichnungen  zu  Hilfe,  sodaß  er  wenigstens  in  der  Lage  ist,  die  vor- 
liegende Pflanze  mit  einem  wirklichen  und  nicht  nur  mit  dem  im  Gedächtnis  oft 
nur  unklar  vorhandenen  Bilde  zu  vergleichen. 

Innerhalb  der  Familie  sind  die  Beschreibungen  der  Gattungen  und  Arten  in 
Form  eines  Bestimmungsschlüssels  angeordnet.  Zahlreiche  Textabbildungen 
und  die  Tafeln  erleichtern  das  Bestimmen.  Für  einen  Bilderatlas  möchte  ich  aller- 
dings an  die  künstlerische  Ausführung  höhere  Anforderungen  stellen. 

Der  eigentlichen  Flora  ist  ein  allgemeiner  Teil  vorausgeschickt,  in  dem  die 
Morphologie,  Anatomie,  Physiologie,  die  Pflanze  in  ihrem  Verhältnis  zur  Tierwelt 
(Biologie  im  engeren  Sinne),  die  Verbreitung  der  Pflanzen  auf  der  Erde  behandelt 
werden.  Ferner  wird  eine  Anleitung  zur  Anlage  von  Herbarien  und  ein  Blüten- 
kalender gegeben. 

Im  einzelnen  kann  hier  nicht  auf  das  Werk  eingegangen  werden.    Die  biolo- 


W.  Kuhnert,  Farbige  Tierbilder,  angez.  von  F.  Hock.  501 

gische  Betrachtungsweise,  wie  sie  hier  angewendet  wird,  hat  wohl  unter  den  wissen- 
schaftlichen Botanikern  auf  wenig  Freunde  zu  rechnen.  Glücklicherweise  macht 
sich  doch  jetzt  das  Bestreben  mehr  und  mehr  geltend,  die  Zweckmäßigkeit  einer 
vorhandenen  Eigenschaft  nicht  als  die  Entstehungsursache  derselben  anzugeben. 
Bei  dem  Laien  erweckt  es  jedenfalls  eine  verkehrte  Vorstellung,  wenn  z.  B.  gesagt 
wird,  ein  Farn  hat  zarte,  kahle  Wedel,  w  e  i  1  er  an  schattigen  Felsenorten  wächst; 
Ich  würde  es  für  richtiger  halten  zu  sagen,  weil  der  Farn  zarte,  kahle  Wedel  besitzt, 
wächst  er  nur  an  schattigen  Orten.  Berechtigt  würde  das  „weil"  sein,  wenn  eine 
Pflanzenart  z.  B.  auf  trockenen  und  feuchten  Standorten  vorkäme  und  nun  die 
Verschiedenheit  der  Standortsformen  durch  die  Verschiedenheit  der  Lebens- 
bedingungen erklärt  würde.  In  diesem  Falle  handelt  es  sich  tatsächlich  um  ein  durch 
Kulturversuche  nachweisbares  Kausalverhältnis  zwischen  Pflanze  und  Standort. 
Altona.  W.  H  e  e  r  i  n  g. 

Kuhnert,  Wilhelm,  Farbige  Tierbilder.     Text  von  Oswald   Großmann. 
Berlin  1910/11.    M.  Oldenbourg.     Heft  1  u.  2. 

Vielen  Fachgenossen  ist  sicher  Haacke-Kuhnert, ,, Tierleben  der  Erde"  bekannt, 
das  nicht  nur  durch  seinen  von  Haacke  bearbeiteten  Text,  der  eine  gute  Einführung 
in  die  Tiergeographie  bildet,  den  Lehrern  ein  wertvolles  Werk  ist,  sondern  durch 
seine  schönen  von  Kuhnert  verfertigten  Bilder  selbst  Künstler  anzuziehen  vermag. 
Hier  werden  nun  ähnliche,  aber  größere  Bilder  geboten  und  mit  schönem  Text 
begleitet.  Die  Bilder  sind  so  herrlich  ausgeführt,  daß  ein  Tierliebhaber  wohl  ver- 
leitet werden  könnte  sie  einrahmen  zu  lassen  und  an  die  Wand  zu  hängen,  und 
wenn  dies  nicht  zu  teuer  würde,  böten  sie  auch  für  Klassenzimmer  einen  passenden 
Wandschmuck.  Sie  würden,  wie  der  bekannte  Direktor  des  Berliner  Zoologischen 
Gartens,  L.  H  e  c  k ,  in  seinem  einführenden  Vorwort  sagt,  dazu  beitragen  können, 
dem  Großstädter  die  Natur  weniger  zu  entfremden. 

In  den  vorliegenden  ersten  zwei  Heften,  von  denen  jedes  einzeln  2,50  M., 
bei  Abnahme  aller  zehn  Hefte  2  M.  (die  einzelne  Tafel  0,60  M.)  kostet,  sind  dar- 
gestellt :  Steinadler  (Aquila  chrysaetus),  Hamster  (C  r  i  c  e  t  u  s  f  r  u- 
m  e  n  t  a  r  i  u  s),  Tordalk  (A  1  c  a  t  o  r  d  a),  Königstiger  (Felis  t  i  g  r  i  s), 
Ameisenbär  (Myrmecophaga  jubata),  Nebelkrähe  (C  o  r  v  u  s  c  o  r  n  i  x), 
brauner  Bär  (U  r  s  u  s  a  r  c  t  o  s),  Biber  (C  a  s  t  o  r  f  i  b  e  r),  Königsglanzfasan 
(Lophophorus  impeganus)  und  Säbelantilope  (0  r  y  x  1  e  u  c  o  r  y  x), 
also  in  jedem  Heft  5  Tiere  aus  verschiedenen  Gruppen  des  Tierreiches. 

Wenn  die  Bilder  auch  für  große  Klassen  zu  klein  sind,  um  als  Wandbilder 
einer  Besprechung  der  Tiere  zugrunde  gelegt  zu  werden,  so  vermögen  sie  doch 
durch  Herumzeigen  solche  zu  unterstützen,  da  sie  wesentlich  besser  ausgeführt 
sind  als  jene  meist. 
^ .' 1    Perleberg.  F.  H  ö  c  k. 

Walde,   Adolf,      Das     Pilzbüchlein     für     den     Sammler     und 

wandernden     Naturfreund.     Stuttgart,   ohne   Jahrangabe.     Ernst 

Heinrich  Moritz.     60  S.     8».    Mit    10   farbigen  Tafeln   und    mit  Textbildern. 

Kartonniert  1,20  M. 

Mit  Recht  wird  in  der  Einleitung  beklagt,  daß  der  Pilzgenuß  im  Volke  nicht 


502      P.  Graebner,  Taschenbuch  zum  Pflanzenbestimmen,  angez.  von  F.  Pfuhl. 

SO  verbreitet  ist,  wie  es  zu  wünschen  wäre.  Vielleicht  ist  die  allerdings  nicht  un- 
berechtigte Besorgnis  vor  giftigen  Pilzen  daran  Schuld.  Um  nun  die  wenigen 
giftigen  von  den  eßbaren  Pilzen  unterscheiden  zu  lernen,  soll  das  Büchlein  An- 
leitung geben.  Es  tut  dies  durch  Beschreibung  der  Arten,  auch  durch  Gegen- 
überstellung der  eßbaren  und  der  giftigen  Art,  mit  der  sie  verwechselt  werden 
könnte.  Der  besseren  Uebersicht  halber  sind  Gruppen  gebildet,  z.  B.  Basidien- 
pilze  —  Schlauchpilze,  Hutpilze  —  Bauchpilze,  Röhrlinge  mit  Ring,  ohne  Ring. 
Über  das  Sammeln  der  Pilze,  ihre  Zubereitung  und  ihre  Verwertung  zu  verschiedenen 
Speisen  sind  Angaben  gemacht.  Die  Abbildungen  sind  geeignet,  die  Arten  für  den 
Laien  zu  charakterisieren. 

Graebner,  Paul,  Taschenbuch  zum  Pflanzenbestimmen.  Stutt- 
gart. Kosmos,  Gesellschaft  der  Naturfreunde.  Franckhsche  Verlagshandlung. 
185  S.  8°.  Mit  11  farbigen,  6  schwarzen  Tafeln  und  376  Textabbildungen, 
geb.  3,80  M. 
Der  Untertitel  gibt  das  Hauptmerkmal  dieses  Bestimmungsbuches  an:  ein 
Handbuch  zum  Erkennen  der  wichtigeren  Pflanzenarten  Deutschlands  nach  ihrem 
Vorkommen  in  bestimmten  Pflanzenvereinen.  Ein  „Schlüssel"  also  ist  nicht  vor- 
handen und  Bestimmungstabellen  fehlen.  Die  Pflanzen  sind  nach  der  Gemein- 
samkeit ihres  Auftretens  zusammengestellt.  Für  den  Anfänger,  der  sich  mit  Hilfe 
des  Taschenbuches  „eine  Kenntnis  der  häufigeren  und  wichtigeren  Pflanzenfamiiien, 
Gattungen  und  Arten  zu  verschaffen'*  wünscht,  werden  innerhalb  der  Pflanzenvereine 
weitere  Unterabteilungen  gebildet ;  bei  der  Flora  derGewässer  und  Ufer  z.B. :  die  unter- 
getauchten und  die  schwimmenden  Wasserpflanzen,  ohne  flache  Schwimmblätter 
bzw.  mit  solchen.  Dann  wird  auch  innerhalb  der  ökologischen  Gruppen  das  System 
in  der  Aufzählung  berücksichtigt,  ohne  es  jedoch  zu  nennen.  Bei  dem  angeführten 
Beispiele  kommen  also  zunächst  die  Armleuchtergewächse,  dann  Brachsenkräuter, 
Nixenkräuter,  Laichkräuter  und  andere  Monokotylen;  mit  den  Seerosengewächsen 
beginnen  die  Dikotylen  usw.  Die  schwimmenden  Wasserpflanzen  werden  in  ent- 
sprechender Weise  aufgezählt.  Daß  der  Anfänger  auf  diese  Weise  eine  ganze  Reihe  be- 
sonders hervorstechender  Pflanzenarten  kennen  lernen  kann,  ist  wohl  sicher.  Doch 
so  manche  der  aufgeführten  Arten  wird  sich  vielleicht  der  Ermittlung  entziehen,  da 
vielfach  nur  wenig  erklärende  Worte  beigefügt  sind  —  und  der  Wunsch  nach  Be- 
stimmungstabellen wird  sich  beim  Anfänger  manchmal  einstellen,  trotzdem  die 
Orientierung  durch  die  große  Anzahl  von  Abbildungen  unterstützt  wird.  In  den 
meisten  Fällen  bringen  sie  die  Pflanzen  gut  zur  Darstellung  (doch:  Polygala  13,  8, 
Lemna  trisulca,  Abb.  236,  und  der  Sonnen-Wolfsmilch  hätte  eine  Blütenstand- 
drüse  beigefügt  werden  sollen).  Auch  können  vielleicht  manche  der  Gräser- 
Abbildungen  dem  Anfänger  nichts  sagen,  die  vergrößerte  Abbildung  eines 
Aehrchens  wäre  erwünscht  gewesen,  auch  eine  ungefähre  Angabe  der  Größe  (vgl. 
Rohrkolben  und  danebenstehende  Fuchssegge,  Abb.  254,  255),  desgleichen  die 
Angabe  der  Betonung  für  die  botanischen  Namen.  Eine  Erklärung  der  wichtigsten 
Fachausdrücke  und  Pflanzenfamilien  mit  Abbildungen  ist  der  eigentlichen  Dar- 
stellung vorausgeschickt,  hinzugefügt  ist  ein  Register  der  Pflanzennamen  und  bei- 
geheftet das  Pilzmerkblatt  des  Kaiserlichen  Gesundheitsamts.  So  manchem  Jünger 


Th.  H.  Morgan,  Experimentelle  Zoologie,  angez.  von  W.  Heering.  503 

der  Botanik  wird  das  Taschenbuch  also  sehr  willkommen  sein,  und  es  ist  auch 
diesem  Werke  Graebners  im  Interesse  der  Scientia  amabilis  weite  Verbreitung 
zu  wüuschen. 

Posen.  Fritz  Pfuhl. 

Morgan,  Th.  H.,  Experimentelle  Zoologie.  Unter,  verantwortlicher 
Mitredaktion  von  L.  Rhumbler,  übersetzt  von  H.  Rhumbler,  vom 
Verfasser  autorisierte  und  von  ihm  mit  Zusätzen  und  Verbesserungen  versehene 
deutsche  Ausgabe.  X  u.  570  S.  Leipzig  1909.  B.  G.  Teubner.  geb.  12  M.,  geh. 
11  M. 

In  dem  vorliegenden  Werke  gibt  Verfasser  eine  Zusammenstellung  der  Ergeb- 
nisse der  experimentellen  Zoologie  mit  Ausschluß  der  experimentellen  Embryologie 
und  des  experimentellen  Studiums  der  Regeneration.  Das  Buch  ist  auf  Grund 
einer  Reihe  von  35  Vorlesungen  geschrieben  worden.  Die  Darstellung  ist  klar  und 
sehr  lesbar.  Es  ist  hier  natürlich  nicht  möglich,  auch  nur  kurz  den  Inhalt  des  Buches 
anzugeben.  Ich  will  mich  darauf  beschränken,  die  wichtigsten  Kapitel  namhaft 
zu  machen:  Die  experimentelle  Methode.  —  Der  Einfluß  äußerer  Bedingungen  als 
Ursache  für  die  Veränderungen  im  Bau  der  Lebewesen.  Über  erbliche  Veränderungen, 
die  durch  äußere  Faktoren  verursacht  werden.  Die  Erblichkeit  erworbener  Eigen- 
schaften. Experimentelle  Bastardierung.  Verhalten  der  Keimzellen  bei  Kreuz- 
befruchtung. Inzucht.  Einfluß  der  Zuchtwahl.  Die  Evolutionstheorie.  —  Ex- 
perimentelles Studium  des  Wachstums.  Äußere  Faktoren,  die  das  Wachstum 
beeinflussen.  —  Pfropfungsversuche.  —  Experimentelle  Studien  über  den  Einfluß 
der  Umgebung  auf  den  Lebenskreislauf:  Wechsel  zwischen  geschlechtlichen  und 
parthenogenetischen  Formen,  Lebenskreislauf  der  niederen  Krustazeen,  der  Rotifere 
Hydatina  senta,  der  Bienen.  —  Experimentelles  Studium  der  Geschlechts- 
bestimmung: äußere  und  innere  Faktoren.  —  Experimentelles  Studium  der  sekun- 
dären Geschlechtscharaktere. 

Ein  ausführliches  Literaturverzeichnis  erleichtert  speziellere  Studien,  ein 
gründliches  Register  das  Auffinden  der  erwähnten  Objekte. 

Wenn  auch  die  behandelte  Materie  für  den  Schulunterricht  kaum  in  Betracht 
kommt,  so  möchte  ich  es  doch  allen  Biologen  angelegentlichst  zum  Studium  emp- 
fehlen.    Es  ist  ein  ausgezeichnetes  Buch. 

Altona.  W.  H  e  e  r  i  n  g. 

Löhlein,  Walther,  HygienedesAuges.   Mit  2  Karten  im  Text.    Würzburger 

Abhandlungen  aus  dem  Gesamtgebiet  der  praktischen  Medizin.   XI.  Bd.     3/4. 

Heft.    Würzburg  1911.    Curt  Kabitzsch  (A.  Stubers  Verlag).    62  S.    8«.    brosch. 

1,70  M. 

Nach  einem  kurzen  allgemeinen  Teile,  der  besonders  durch  die  beigefügte  Karte, 

welche  die  Verbreitung  der  Blindheit  in  Europa  veranschaulicht,  interessant  ist, 

behandelt  der  Verfasser  in  acht  Kapiteln  Schädigungen,  Krankheiten  und  Fehler 

des  Auges.     Das  erste  —  Schädigungen  durch  Licht,  Wärme,  Elektrizität  —  ist 

für  den  Pädagogen  hauptsächlich  wertvoll  durch  den  zweiten  Abschnitt  über  die 

Verhütung  derartiger  Schäden,  weil  darin  eingehend  die  wichtige  Frage  der  natür- 


504  Deutsches  Wanderjahrbuch,  angez.  von  E.  Neuendorff. 

liehen  und  künstlichen  Beleuchtung  besprochen  wird.  Das  zweite  Kapitel  ist  Ver- 
letzungen des  Auges,  das  dritte  den  Infektionskrankheiten  des  Auges  gewidmet. 
Von  letzteren  wird  besonders  eingehend  die  sogenannte  ägyptische  Augenentzündung, 
das  Trachom,  behandelt.  Eine  beigegebene,  sehr  interessante  Karte  zeigt  die 
Verbreitung  des  Trachoms  in  Deutschland:  zwei  große  Seuchenherde,  den  einen 
östlich  von  der  Oder,  den  andern  im  untern  Rheintale  und  Seitentälern,  führt  sie 
deutlich  vor  Augen.  Die  Prophylaxe  —  vor  allem  peinliche  Sauberkeit  —  kann 
in  trachomverseuchten  Gegenden  auch  in  der  Schule  wichtig  werden.  Nach  den 
beiden  folgenden  Kapiteln  (Augenleiden  bei  allgemeinen  Schwächezuständen, 
Schädigungen  durch  Giftwirkung)  ist  für  das  Schulleben  wieder  das  sechste  (die 
Kurzsichtigkeit)  besonders  wertvoll.  Wir  erfahren  hier,  daß  fast  immer  zu  große 
Achsenlänge  des  Auges  Ursache  der  Kurzsichtigkeit  ist  und  daß  traurigerweise 
die  Kurzsichtigen  fast  ausnahmslos  diesen  abnormen  Langbau  ihres  Auges  durch 
übermäßige  Naharbeit  in  den  ersten  beiden  Lebensjahrzehnten  erwerben.  Nament- 
lich bei  Schülern  höherer  Schulen  ist  dies  —  vor  allem  durch  Hermann  Cohn  — 
festgestellt.  Nicht  genug  kann  also  die  Schule  tun,  um  übertriebene  Annäherung 
des  Auges  an  die  Sehobjekte  zu  verhindern.  Der  Verfasser  weist  hier  u.  a.  auf  die 
Schädlichkeit  des  heute  in  Büchern  und  Zeitschriften  so  häufig  verwandten  stark 
glänzenden  Papieres  hin.  Die  beiden  letzten  Kapitel  handeln  von  Berufskrankheiten 
des  Auges  und  von  dem  alternden  Auge.  Mit  Recht  wird  hier  Aufklärung  über 
die  Notwendigkeit  einer  rechtzeitigen  Altersbrille  gefordert.  Zum  Schlüsse  ist  eine 
Reihe  von  wünschenswerten  Maßnahmen  zur  besseren  Verhütung  von  Augenleiden 
aufgestellt,  z.  B.  wird  Augenuntersuchung  vor  der  Berufswahl  und  für  etliche 
Berufe  Festsetzung  einer  Mindestsehschärfe  empfohlen.  Zur  Erfüllung  der  vorletzten 
Forderung  des  Verfassers,  nämlich  Weckung  des  Verständnisses  für  die  Forderungen 
der  Augenhygiene  bei  Lehrern,  Anstaltsleitern  usw.,  trägt  die  gründliche,  klar 
und  fesselnd  geschriebene  Schrift  selber  in  trefflichster  Weise  bei.  Ihre  Lektüre 
wird  jedem  Lehrer,  namentlich  dem  Naturwissenschaftler,  interessante  Belehrung 
und  Anregung  bieten. 

Soest.  F.  Rosendahl. 

Deutsches  Wander  Jahrbuch.     1.  Jahrgang.     Herausgegeben  von  der  Auskunfts- 
stelle für  Jugendwandern  unter  Mitwirkung  zahlreicher  Wanderfreunde  durch 
Oberlehrer  F.  E  c  k  a  r  d  t  in  Dresden.    Leipzig  1911.    B.  G.  Teubner.    1,40  M. 
kartonniert. 
Von  allen  Leibesübungen  erfreut  sich  seit  einiger  Zeit  keine  so  liebevoller  Pflege 
und  begeisterter  Fürsprache  wie  das  Wandern.    Es  war  von  jeher  alte  schöne  Sitte 
auf  deutschen  höheren  Schulen,  daß  jede  Klasse  mit  ihrem  Klassenlehrer  jährlich 
wenigstens  3  Wanderungen  ausführte:  2  Nachmittagsausflüge  im  Frühling  und 
Herbst,  eine  ganztägige  Wanderung  im  Sommer.  Darüber  hinaus  unternahmen 
tüchtige  Turnlehrer  von  Zeit  zu  Zeit  Nachmittagsausflüge  und  Sonntagswande- 
rungen zu  allen  Jahreszeiten.    Mehrtägige  Fahrten,  die  eigentlich  erst  die  rechte 
Lust  des  Wanderns  kennen  lehren,  waren  im  ganzen  selten,  und  da  sie  gewöhnlich 
beträchtliche  Ausgaben  verursachten,  war  die  Zahl  der  Teilnehmer  gering.     Die 
letzten  Jahre  haben  indessen  einen  völligen  Umschwung  gebracht.    Nicht  nur  daß 


P.  Manderscheid,  Abriß  der  Musikgeschichte  usw.,  angez.  von  T.  Heinrich.     505 

unsere  deutschen  Jungen  Pflege  und  Leitung  des  Wanderns  zum  Teil  selbst  tat- 
kräftig in  die  Hand  genommen  haben,  nachdem  erst  einmal  die  Wandervogel- 
bewegung entstanden  war  und  sich  gewaltig  ausgebreitet  hatte,  nicht  nur  daß  die 
Turnlehrer  noch  mehr  wandern  als  früher,  auch  unter  den  Oberlehrern  haben  sich 
erfreulicherweise  von  Jahr  zu  Jahr  mehr  gefunden,  die  in  den  Ferien  mehr-,  ja 
vieltägige  Wanderungen  unternehmen.  Sie  haben  auch  für  die  Technik  des  Wanderns 
mancherlei  von  den  Wandervögeln  angenommen,  haben  vor  allem  von  ihnen  gelernt, 
billig  zu  wandern.  Sicherlich  kann  man  von  ihrer  Erfahrung  sehr  viel  lernen. 
Wer  nicht  dazu  unmittelbar  Gelegenheit  hat,  dem  stehen  so  treffliche  Wander- 
bücher, wie  das  von  Raydt-Eckardt  eines  ist,  zur  Verfügung,  um  mit  allen  Ge- 
heimnissen der  Wandertechnik  vertraut  zu  werden.  Eine  Ergänzung  zu  jenem 
ist  das  vorliegende  Wanderjahrbuch.  Mit  schönen  Bildern  ausgeschmückt,  be- 
richtet es  über  alles  Interessante,  was  aus  dem  vergangenen  Jahre  über  das  Wandern 
zu  vermelden  ist.  Es  erzählt  von  neuen  Anregungen  praktischer  Art,  von  der 
Ausbreitung  der  Wandervereinigungen,  von  neuer  Wanderliteratur,  von  größeren 
Wanderungen  des  letzten  Jahres.  So  unvollstänidg  die  Aufzählung  dieser  gewiß 
ist,  so  ist  man  doch  erstaunt,  wie  gewaltig  viel  gewandert  worden  ist.  Da  aber 
dieses  Erstaunen  sicherlich  manchen  bewegen  wird,  auch  seinerseits  im  nächsten 
Jahre  mit  Schülern  hinauszuziehen,  kann  man  die  Beschaffung  des  billigen  Büchleins 
für  die  Lehrerbüchereien  wohl  empfehlen.  Es  wird  sich  als  das  erweisen,  was  es 
sein  soll:  als  ein  gutes  Werbemittel. 

Mülheim  (Ruhr).  Edmund    Neuendorf  f. 

Manderscheid,  Paul,  Abriß  der  Musikgeschichte  für  höhere  Schulen 
und  Lehrerbildungsanstalten.     Düsseldorf  1910.  L.  Schwann.  35  S.  0,50  M. 

„Vorliegender  Abriß  der  Musikgeschichte  will  dem  Leser  in  möglichst  knapper 
Form  einen  Überblick  über  die  Entwickelung  der  abendländischen  Musik  von  ihren 
Anfängen  bis  zur  Gegenwart  bieten  unter  Voranstellung  der  Geschichte  der  deut- 
schen Musik." 

Es  ist  sehr  schwer,  eine  eingehende  Musikgeschichte  zu  schreiben,  und  noch 
viel  schwerer,  einen  genügenden  Abriß  der  Musikgeschichte  zu  geben.  Einen  solchen 
bietet  für  mich  auch  der  Verfasser  nicht.  Wenn  ich  dem  Heftchen  trotzdem  eine 
etwas  eingehendere  Besprechung  widme,  so  finde  ich  die  Berechtigung  dazu  darin, 
daß  ich  gleichzeitig  versuche,  Wege  zu  weisen  zum  Bessermachen,  und  in  diesem 
Sinne  mögen  die  folgenden  Zeilen  aufgefaßt  werden. 

Das  Büchlein  erhebt  den  Anspruch,  auch  bei  „kulturgeschichtlichen  Unter- 
weisungen dort  als  Ergänzung  herangezogen  werden  zu  können,  wo  es  sich  um  Fragen 
handelt,  die  das  Gebiet  der  Musik  berühren."  Bei  dem  heutigen  Stande  der  Wissen- 
schaft empfiehlt  es  sich  aber  nicht  mehr,  kurzerhand  von  einer  „abendländischen" 
Musik  zu  reden.  Der  Gegensatz,  wenn  man  einen  solchen  herausarbeiten  will, 
besteht  ja  nicht  zwischen  Westen  und  Osten,  sondern  in  Europa  selbst  zwischen 
Norden  und  Süden,  dergestalt,  daß  der  Süden  zum  „Morgenlande"  gehört;  und 
wenn  der  ältere  Süden  mit  erwähnt  wird,  dann  darf  das  Heft  nicht  mit  den 
Griechen  beginnen,  sondern  muß  vorher  einen  Blick  auf  Babylon  werfen, 
das  die  Lehrmeisterin  nicht  nur  für  das  gesamte  Altertum,  sondern  fast  bis  auf 


506      P.  Manderscheid,  Abriß  der  Musikgeschichte  usw.,  angez.  von  T.  Heinrich. 

unsere  Zeit  gewesen  und  geblieben  ist.  Ein  Blick  auf  die  Tasten  des  Klavieres 
bestätigt  uns  das.  Zwischen  Terz  und  Quarte  und  Septime  und  Oktave  (der  C-Ton- 
leiter)  liegt  nur  ein  halbes  Intervall,  entsprechend  den  beiden  bösen  Planeten  Ninib 
(Mars)  und  Nergal  (Saturn).  Das,  sowie  schon  die  Siebenzahl  der  weißen  Tasten, 
die  durch  die  fünf  schwarzen  zu  einer  Zwölfzahl  vervollständigt  wird,  ist  etwas 
spezifisch  Babylonisches.  Nach  der  Anschauung  der  alten  Babylonier  erzeugten 
die  Planeten  bei  ihrer  Umdrehung  Töne,  ihr  Kreislauf  am  Himmel  die  Harmonie 
der  Sphären,  und  diese  Dinge,  die  uns  als  Pythagoräische  Lehren  geläufig  sind, 
werden  alsbald  erklärlich,  wenn  man  ihren  babylonischen  Ursprung  ins  Auge  faßt. 

Im  Gegensatze  zu  dieser  orientalisch-griechischen  Musik 
steht  in  ihrem  Tonsysteme,  ihren  rhythmischen  und  melodischen  Formen  die 
nordisch-germanische  Musik,  die  zugleich  das  harmonische  Element 
neu  hinzubringen  würde,  wenn  Manderscheid  mit  Recht  behauptete,  die  Griechen 
kannten  mehrstimmige  Gesänge  nicht.  Erst  der  Ausgleich  dieser  beiden  Musikarten 
hat  ja  das  ergeben,  was  Manderscheid  dann  weiterhin  als  ,, abendländische"  Musik 
behandelt,  die  Verschmelzung  des  römischen  mit  dem  gallikanischen 
Systeme. 

Die  „gallikanische"  Musik  wird  bei  Manderscheid  S.  6  mit  den  Worten  ab- 
getan: „Schon  die  alten  Germanen  hatten  ihre  Lieder,  in  denen  sie  ihre  Götter 
und  Helden  besangen*',  und  man  bekommt  fast  den  Eindruck,  als  seien  die  deutschen 
weltlichen  Lieder  überhaupt  erst  der  römischen  Kirchenmusik  entstammt.  Ich 
betone,  es  steht  nicht  im  Hefte  ausgesprochen,  nur  ist  der  Text  so  angelegt,  daß 
er  diese  Wirkung  tut.  —  Hier  fehlt  also  ein  Abrechnen  mit  der  vergleichen- 
den Liedforschung  und  ein  Herausarbeiten  des  Gegensatzes  zwischen 
dem  in  verschiedenen  Intervallen  frei  einherschreitenden  germanischen  Stile  und 
der  römischen  Melodie,   die  sich  bewegt  wie  etwa  der  König  im  Schachspiele. 

Aus  demselben  Grunde  vermisse  ich  bei  der  Behandlung  des  deutschen 
Volksliedes  einen  Hinweis  auf  dessen  oft  so  innige  Verwandtschaft  mit 
Liedern  der  übrigen  germanischen  Völker,  wie  sie  die  vergleichende  Liedforschung 
reichlich  nachgewiesen  hat  und  mehr  und  mehr  nachweist.  Im  übrigen  halte  ich 
aber  den  Abschnitt  über  das  deutsche  Volkslied  für  dem  Zwecke  entsprechend 
und  stimme  in  des  Verfassers  Klage  über  das  Verstummen  des  Volksliedes  in  heutiger 
Zeit  mit  ein. 

Erst  durch  das  Verstummen  der  guten  Kunst  unserer  Volksmusik  ist  das 
Hauptgewicht  allmählich  in  das  Notenpapier  verlegt  worden,  auf  das  sich  so  Vieles 
nicht  bringen  läßt,  was  gerade  zur  echten  Kunst  gehört  und  was  das  Ohr  allein 
völlig  erfassen  konnte.  Mit  der  Verbreitung  durch  die  eigentlichen  heutigen  Noten 
beginnt  aber  auch  die  Zeit,  in  der  man  quellenmäßig  an  eine  Geschichte  der  Neu- 
Eroberungen  in  der  Ausdrucksfähigkeit  und  deren  technischen  Mitteln  heran- 
treten kann,  und  dieses  Kapitel  hätte  in  den  letzten  20  Seiten  denn  doch  mehr 
Betonung  verdient  als  die  Musikerbiographien.  Dieser  Hauptteil  des  Heftchens 
wäre  überhaupt  nicht  in  biographischer  Anordnung  zu  geben.  Nicht  nach  Musikern, 
sondern  nach  den  Fortschritten  der  Entwicklung  war  hier  vorzugehen. 

In  dem  Abschnitte  ,, Anfänge  der  Bühnenmusik"  hätte  notwendig 
darauf  hingewiesen  werden  müssen,  daß  die  Anfänge  der  Oper  humanistische 


I 


Monatsschrift  für  Schulgesang,  angez.  von  T.  Heinrich.  507 

Bestrebungen  waren,  die  antike  Tragödie  neu  aufleben  zu  lassen  und  daß  deswegen 
die  hier  einschlägige  Terminologie  im  wesentlichen  antiker  Herkunft  ist. 

Verfehlt  ist  z.  B.  im  weiteren  Verlaufe,  was  der  Verfasser  über  K.  M.  v.  W  e  b  e  r 
sagt,  daß  dieser  nämlich  als  Vorläufer  R.  Wagners  versucht  habe,  „Wort,  Ton  und 
Handlung  so  innig  zu  verschmelzen,  daß  daraus  jenes  Kunstwerk  entstehe,  welches 
wir  heute  , Musikdrama'  nennen".  Webers  meistgesungener  ,, Freischütz"  ist  eine 
echte  Oper  —  weit  entfernt  vom  Musikdrama  —  eingeteilt  in  Terzett,  Arie,  Arietta, 
Cavatine,  Romanze,  Chor,  Finale  —  untereinander  verbunden  durch  Recitative. 
Und  seine  musikalische  Deklamation  ist  die  des  Volksliedes,  wie  es  uns  heute  als 
Strophenlied  in  seiner  Erstarrung  und  Verkümmerung  vorliegt,  in  dem  Wort 
und  Ton  sich  gerade  nicht  innig  verschmelzen,  sondern  in  den  verschiedenen 
Strophen  nur  zufällig  zusammentreffen.  Des  Verfassers  Bemerkungen  sind  hier 
um  so  verwunderlicher,  als  er  doch  bei  Richard  Wagner  das  Wesen  des  Musik- 
dramas richtig  schildert. 

Größere  Musikgeschichten,  die  man  kaum  kauft  und  noch  weniger  liest,  haben 
vielleicht  weniger  praktischen  Einfluß  als  ein  wohlfeiles  Heftchen;  daher  wäre  es 
besonders  wünschenswert,  daß  die  letztere  Gattung  möglichst  auf  die  Höhe  käme, 
die  der  heutige  Stand  der  Musikforschung  erheischt.  Für  die  höheren  Schulen 
ist  diese  Frage  gerade  jetzt  von  größester  Bedeutung,  da  „der  neue  Lehrplan  des 
Gesangunterrichtes  an  höheren  Lehranstalten"  auch  ins  Auge  faßt,  dem  Schüler 
„musikgeschichtliche  Zusammenhänge"  zu  geben.  Aber  nur  das  Beste  ist  für  den 
Schüler  gut  genug. 

Monatsschrift   für    Schulgesang,    herausgegeben   von   F.   Wiedermann   und 
E.  Paul.    Essen-Ruhr.     G.  D.  Baedeker.     Preis   für   3  Hefte   vierteljährlich 
1  M. 
Die  Zeitschrift  beendete  im  März  d.  J.  den  VL  Jahrgang.    In  dieser  Zeit  hat 
sie  getreulich  ihr  Ziel  verfolgt:  ,, Hebung  und  Pflege  des  Schulgesanges."     Mit 
Sorgfalt  und  Umsicht  sind  ihre  Herausgeber  bemüht  gewesen,  möglichst  alle  hier 
einschlägigen   Fragen  zu  berühren.      Nach  der  wissenschaftlichen   Seite  kamen 
Musikgeschichte,  Musiklehre,  Tonbildung,  Phonetik  und  Lautphysiologie  zu  Worte; 
andrerseits  erfolgte  ein  reger  Gedankenaustausch  zwischen  praktisch  erfahrenen 
Gesanglehrern.   So  dürfen  Verlag  und  Herausgeber  Genugtuung  darüber  empfinden, 
wie  die  Gesanglehrer,  insbesondere  die  der  höheren  Lehranstalten,  in  dieser  Zeit- 
schrift das  führende  Blatt  auf  dem  Gebiete  der  Pflege  des  Schulgesanges  erblicken. 
Das  Streben  der  Herausgeber  nach  immer  weiterer  Ausgestaltung  der  Monatsschrift 
begleiten  wir  mit  den  besten  Wünschen  für  ihre  recht  weite  Verbreitung. 
Berlin.  Traugott  Heinrich. 


III.  Vermischtes. 


i 


Eine  neue  pädagogische  Zeitschrift  beginnt  als  „Archiv  für  Päda- 
gogik" im  Oktober  dieses  Jahres  in  Leipzig  ihr  Erscheinen.  Sie  umfaßt  zwei 
Abteilungen,  die  sich  der  „Pädagogischen  Praxis*'  und  der  „Pädagogischen 
Forschung"  widmen.  In  den  ersten  Teil  geht  die  bisher  unter  dem  Namen  „Der 
praktische  Schulmann"  erscheinende  Monatsschrift  auf.  Als  Herausgeber  zeichnen 
der  bekannte  Leipziger  Universitätslehrer  Dr.  B  r  a  h  n  ,  wissenschaftlicher  Leiter 
des  psychologischen  Instituts  des  Leipziger  Lehrervereins  und  Direktor  des  Instituts 
für  experimentelle  Pädagogik  an  der  Universität  Leipzig,  und  der  Leipziger  Lehrer 
M.  Döring,  der  durch  psychologisch-pädagogische  Studien  und  durch  seine 
Arbeit  über  die  „Pädagogische  Presse"  bekannt  geworden  ist.  Das  „Archiv  für 
Pädagogik"  erscheint  im  Verlag  von   Friedrich  Brandstetter  in  Leipzig. 


Berichtigung. 


Zu  der  Erwiderung  C.  Rothes  auf  Cauers  Aufsatz:  „Soll  die  Homerkritik  ab- 
danken?' (Monatschrift  1912,  Heft  5,  S.  229  ff.),  möge  mir  ein  Wort  der  Richtig- 
stellung gestattet  sein. 

1.  Rothe  sagt  dort  S.  235:  „Cauer  spricht  hier  zunächst  das  Urteil  Mülders 
über  die  Unitarier  nach.  Gemeint  ist  der  Satz  („Die  Ihas  und  ihre  Quellen"  S.  8): 
„verfochten  pflegt  sie  (die  Einheit)  zu  werden,  soweit  sie  sich  literarisch  noch  hat 
halten  können,  mehr  mit  Sentiments  als  mit  Gründen;  kritischer  Aufzeigung  von 
Anstößen  pflegt  man  unter  starker  Betonung  seiner  Bewunderung  für  den  Genius 
des  Dichters  mit  der  Forderung  zu  begegnen,  einer  solchen  Größe  gegenüber  die 
Einsicht  zu  kreuzigen.  In  einer  solchen  Forderung  steckt  ebensoviel  Überhebung 
als  Unwissenschaftlichkeit."  Es  ist  aber  nicht  richtig,  daß  dieser  Satz  sich  so  all- 
gemein auf  „die  Unitarier"  bezöge.  Bin  ich  doch  selbst  „Unitarier"  und  zwar, 
wie  ich  meine,  ein  besserer  und  konsequenterer  als  Rothe,  der  dem  Dichter  so 
unendlich  vieles  abspricht!  Vielmehr  bezieht  sich  mein  Tadel  nur  auf  Rothes 
Manier,  seine  Einheitsvorstellung  in  den  Jahresberichten  zu  „verteidigen".  Ich 
habe  diese  an  den  Besprechungen  meiner  homerischen  Arbeiten  seit  Jahren  mit 
steigender  Entrüstung  zu  studieren  Gelegenheit  gehabt. 


Vermischtes.  509 

2.  Auf  S.  231  rühmt  sich  Rothe  der  Zustimmung  einiger  außerdeutscher 
Forscher  und  schließt  mit  dem  Satze:  „So  sind  allmählich  auch  andere  Homer- 
forscher  meiner  Ansicht  beigetreten  (s.  Jahresbericht  1910,  S.  368)."  Man 
schlage  den  Jahresbericht  auf  und  wird  finden,  daß  diese  „anderen  Forscher'* 
(im  Plural)  niemand  anders  ist,  niemand  anders  sein  soll  als  —  ich !  Daß  er  meinen 
N  a  m  e  n  bei  dieser  Berufung  nicht  nennt,  während  er  doch  jene,  nichtdeutschen 
Forscher  namentlich  aufführt,  ist  allerdings  erklärlich !  Denn  es  gibt  keinen  Homer- 
forscher, der  das  Rothesche  „Verteidigungs^-system  und  die  Rotheschen  An- 
sichten (die  Einheit  ist  kein  Rothesches  Reservat;  vgl.  „die  Ilias  und  ihre  Quellen" 
S.  8,  Mitte)  so  verurteilte,  wie  ich !  Ich  muß  es  daher  weit  ablehnen,  als  Schwur- 
zeuge für  die  Richtigkeit  Rothescher  „Standpunkte"  oder  „Gedanken"  irgend  in 
Anspruch  genommen  zu  werden.  Meine  wirkliche  Meinung  von  ihm  ist  jetzt 
im  Jahresbericht  für  Altertumswissenschaft  Bd.  CLVII  (1912,  1)  —  Bericht  über 
die  Literatur  zu  Homer  1902—1911  von  Mülder  vgl.  bes.  S.  272f.;  S.  303ff.  — 
unmißverständlich  ausgesprochen. 

Emden.  Dietrich  Mülder. 


Auf  Seite  398   dieser  Monatschrift  muß    es   statt   Ketteier,  Kurt   heißen 
Kesseler,  Kurt,  der  Unsterblichkeitsglaube  etc. 


IV.  Sprechsaal, 


Zu  Professor  E.  M  e  y  e  r:  Wo  findet  man  näheres  über  den  ,Delischen  Taucher'? 

Der  ,natator  Delius'  bei  Heineccius  a.  a.  0.  ist  gewiß  kein  anderer  als  der 
bekannte  6ai'|jia)v  OaXaooio?  Glaukos,  über  den  ein  reiches  Material  sich  findet 
in  Roschers  Ausf.  Lexikon  der  griechischen  und  römischen  Mythologie  I  (1884—90) 
Sp.  1678— S6  s.  V.  Glaukos  7),  vgl.  auch  12)  Sp.  1688—90,  und  in  Paulys  Real- 
Enzyklopädie  der  klassischen  Altertumswissenschaft,  Neue  Bearbeitung,  begründet 
von  Wissowa  Lieferung  98  s.  Glaukos  8—9)  =  Halbband  XIII  (1910)  Sp.  1408—13, 
vgl.  auch  23)  Sp.  1415 — 16.  Der  eigentliche  Mittelpunkt  von  des  Glaukos  Verehrung 
liegt  allerdings  in  historischer  Zeit  in  Boiotien,  in  der  Küstenstadt  Anthedon. 
Mit  ätiologischer  Deutung  dieses  Stadtnamens  knüpft  die  Kultlegende  an  ein  dort 
wachsendes  Wunderkraut  an,  dessen  Genuß  Unsterblichkeit  verleihe:  Dort  bemerkte 
einst  ein  Fischer,  wie  auf  den  Strand  geworfene  Fische  durch  zufällige  Berührung 
mit  einer  Pflanze  wieder  lebendig  wurden  (s.  bes.  Ov.  met.  XIII  936  ff.,  auch  VII 
232  und  anderswo !).  Er  kostet  selbst  davon  und  wird  in  einen  fisch-  oder  schlangen- 
schwänzigen  Meergott  verwandelt.  Von  der  darnach  FXaüxoü  TrVjSr^fxa  genannten 
Stelle,  die  noch  zu  des  ,Bädeker'-Pausanias  Zeiten  (Paus.  IX  22,6)  Gläubig-Neu- 
gierigen gezeigt  wurde,  die  auch  Rosz  (Wanderungen  II  131)  feststellen  zu  können 
geglaubt  hat,  tat  er  den  Sprung  ins  Meer.  (Daher  stammt  das  Sprichwort:  rXauxo? 
cpaY<«v  TToav  o?xet  ev  OaXaxxTfj  [z.  B.  Mich.  Apost.  V  49J.)  Nach  einer  andern  Über- 
lieferung gewinnt  Glaukos  zwar  Unsterblichkeit,  altert  aber  und  springt  in  un- 
mutiger Verzweiflung  ins  Meer.  Besondere  Berühmtheit  erhielt  unser  Glaukos, 
der  neben  dem  hehren,  unnahbaren  Poseidon  immer  ,ein  Gott  der  kleinen  Leute', 
der  Schiffer  und  Fischer,  geblieben  ist,  durch  seine  nimmer  trügende  Weissagekunst, 
als  d'^EüÖTj?  Oeo?  (Eurip.  Orest.  360  u.  sonst).  Er  lehrte  diese  Kunst  den  Apoll, 
ward  darum  zum  Vater  der  kymäischen  Sibylle  (Verg.  Aen.  VI  36),  weissagte  dem 
Menelaos  am  Kap  Malea,  den  Argonauten  wie  den  Menschen;  er  übte  sein  Gewerbe 
auch  im  Umherziehen.  Alljährlich  hat  er  —  nach  jüngerer  Sage  wahrscheinlich  — 
einmal  alle  Meere  durchzogen,  alle  Inseln  und  Küsten  besucht,  in  weltschmerz- 
lerisch-ahasverischer  Anwandlung  klagend,  daß  er  nicht  sterben  könne,  dabei 
stets  Zukünftiges,  und  zwar  ausnahmslos  leider  Unheil,  prophezeiend.    So  erklärt 


Sprechsaal.  511 

es  sich,  daß  des  Glaukos  Verehrung  nicht  auf  Boiotien  beschränkt  blieb;  wir  begegnen 
ihm  auch  auf  Naxos,  am  Kap  Malea,  in  Korinth,  in  Gytheion,  bei  den  Aitolern, 
ja  gar  bei  den  Iberern  und  noch  anderswo.  Besonders  berühmt  scheint  das  Orakel 
des  Glaukos  auf  Delos  gewesen  zu  sein,  das  er  in  Gemeinschaft  mit  den  Nereiden 
betrieb,  die  ihm  ihre  Liebe  nicht  versagten  (Aristot.  b.  Athen.  VI  296  E).  Daher 
kann  Glaukos  wohl  auch  der  AVjXio?  xoXufjißYjTr^c  bei  Diog.  Laert.  a.  a.  O.  sein  wie 
bei  Heineccius  der  ,Delius  natator*.  Viel  schwieriger,  ja  unlösbar  erscheint  mir  die 
Deutung  des  Sprichwortes  (tj)  FXauxou  liyyi].  Wenn  Wohlrab  zu  Plat.  Phaed.  c.  58, 
108  D  behauptet:  ,Von  allem,  dessen  Auffassung  und  Ausführung  viel  Scharfsinn 
und  Einsicht  erforderte,  sagte  man  sprichwörtlich,  es  gehöre  die  Kunst  des  Glaukos 
dazu*,  und  er  erklärend  hinzufügt:  ,des  Schutzpatrons  der  Fischer  und  Taucher*, 
so  setzt  er  sich  damit  in  Widerspruch  zu  der  Auffassung  der  alten  Gelehrten.  So 
bezog  Dionysodoros,  ein  Schüler  Aristarchs,  die  ts^^vy]  FXaüxou  auf  einen  Metall- 
arbeiter Glaukos  aus  Chios,  der  (nach  Herod.)  jjlouvo?  Stj  TravTtuv  dvOpa»Tra)v  oiSi/ipoü 
xoXXtjoiv  £;£up£,  dcr  also  —  ein  Krupp  des  Altertums  —  die  Kunst,  das  Eisen 
zu  schweißen,  erfand.  (Ebensowohl  auch  andere  Parömiographen,  wieZenob.  II  91.) 
Andere  verbinden  das  Wort  mit  einer  uns  völlig  unbekannten  ts/vt]  -ypttjAiAaTcüv 
eines  Glaukos  von  Samos.  In  dem  Scholion  zu  unserer  Platostelle  wird  am  Schluß 
der  Samische  ^pap-ixaiixo?  mit  dem  Erfinder  der  oiSvjpou  xoXXtjoi?  zu  einer  Person 
zusammengeschweißt.  Noch  andere  haben  an  die  musikalische  Kunst  eines  Glaukos 
von  Rhegion  gedacht.  (Man  vergl.  hierzu  Pauly-Wissowa  Real-Enzyklopädie 
s.  V.  Glaukos  46  Sp.  1421— 22;  44  Sp.  1421;  36  Sp.  1419!)  Niemand  aber  hat, 
soweit  ich  augenblicklich  das  weitschichtige  und  zersplitterte  Material  übersehe, 
bei  der  xs^virj  FXauxoü  sich  an  die  untrügliche  Weissagekunst  des  Meergottes 
Glaukos  erinnert,  des  berühmten  ,natator  Delius'. 


Zu  Professor  E.  M  e  y  e  r:  Eine  neue  Erklärung  des  Wortes  ,Aneroidbarometer'. 

Ganz  allgemein  hat  man  sich  bisher,  soweit  mir  bekannt,  bei  der  Ableitung  der 
ersten  Hälfte  des  Wortes  ,Aneroid-barometer'  von  d  privativum  und  vTjpo?  = 
feucht,  naß  beruhigt  und  anerkannt,  daß  damit  das  Wesen  des  Apparates  vor- 
trefflich zum  Ausdruck  gebracht  sei.  Zu  bestreiten  ist  ja  nicht,  daß  sich  für  vrjpo? 
in  der  klassischen  Gräzität  keine  Belege  finden  (,aber  väpo?  steht  doch  in  je  1  fragm. 
des  Aischylos  und  Sophokles!);  auch  der  Attikist  Phrynichos  tadelt  das  Wort, 
indes  sein  Herausgeber  Lobeck  (1820)  S.  42  Anmerkung  als  Zeugnis  für  das  Alter 
von  vr^pog  auf  den  Namen  ,Nereus'  hinweist.  Kommt  es  denn  wirklich  bei  einer 
modern-künstlichen  Retortenschöpfung  —  als  Geburtsjahr  des  Aneroidbarometers 
wird  1847  angegeben  —  auf  ältere  oder  jüngere  Gräzität  an?  Das  Neugeborene 
soll  einen  bezeichnenden  und  dabei  wohlklingend-gelehrten  Namen  erhalten,  da 
spielt  gewiß  auch  der  Zufall  seine  neckische  Rolle.  Schwerer  wiegt  meines  Erachtens 
der  Einwurf,  daß  bei  der  landläufigen  Erklärung  die  Endung  -id  (von  sISo?)  nicht 
zur  Geltung  komme.  Das  ist  gewiß  richtig;  doch  sollte  da  nicht  gerade  die  Mathe- 
matikern und  Physikern  so  geläufige  Ableitungssilbe  zu  einer  falschen  Analogie- 


512  Sprechsaal. 

bildung  geführt  haben  können !  Als  Ersatz  für  die  bisherige  Deutung  wird  nun  die 
Abteilung:  Anero-id  (von  avTJp  und  elSo?)  =  manngestaltet  vorgeschlagen.  Es 
braucht  ja  ein  Physiker  kein  klassischer  Philolog  zu  sein,  aber  jene  Bildung  wäre 
sprachlich  gar  zu  ungewöhnlich;  es  heißt  doch  ,manngestaltet*  dvSpwÖT]?  und  alle 
Verbindungen  mit  dvT^p,  die  ungemein  zahlreich  sind  —  die  Lexika  weisen  mehrere 
Dutzend  nach  — ,  beginnen  dvSpo-,  aber  niemals  dvTjpo-.  Demnach  müßte  man 
schon  von  einem  Android-  oder  Androd-  und  nicht  von  einem  Aneroid-barometer 
sprechen,  wollte  man  nicht  die  Philologen  gar  zu  sehr  reizen.  Und  warum  sollte 
jener  bekannte  Apparat  ,manngestaltet'  heißen,  während  doch  ,ohne  Flüssigkeit' 
ihn  so  treffend  charakterisiert? 

Königsberg  i.  Pr.  Dr.  Otto  Kröhnert. 


{IS* 


I.  Abhandlungen. 


Die  erste  Revision  der  Übungsarbeiten. 

Seit  etwa  einem  halben  Jahre  sind  die  sogenannten  Übungsarbeiten  eingeführt. 
Von  manchen  Direktoren  und  Lehrern  anfänglich  nicht  ohne  Widerstreben  auf- 
genommen, haben  sie  sich  doch  allmählich  wohl  überall  durchgesetzt:  ihre  Form 
und  Ausdehnung  ist  in  Konferenzen  besprochen  worden,  jedes  Kollegium  wird  bei 
einigem  guten  Willen  auch  einen  Weg  gefunden  haben,  sie  in  den  Rahmen  der 
Unterrichtsstunde  einzureihen  und  als  Bildungsmittel  zu  verwerten.  Zwar  wurden 
noch  vor  kurzem  im  Abgeordnetenhause  bei  der  Etatsberatung  Bedenken  gegen 
die  Neuerung  geäußert,  aber  auch  sie  verstummten  schnell,  als  der  Minister  aus- 
drücklich erklärte,  daß  die  Leistungen  auf  keinen  Fall  herabgemindert  werden 
sollen.  Ja,  der  Abgeordnete  Geh.  Justizrat  Cassel  spendete  den  Übungen,  die  er 
als  gute  Bekannte  aus  seiner  Jugendzeit  begrüßte,  sogar  uneingeschränktes  Lob. 
So  darf  man  hoffen,  daß  eine  Besprechung  dieser  Arbeiten  nicht  grundsätzlich 
abgelehnt,  sondern  ruhig  und  sachlich  gewürdigt  werden  wird. 

Ich  will  keine  theoretische  Erörterung  über  ihren  Wert  anheben.  Eigene 
Erfahrungen  und  Beobachtungen  sollen  vorgelegt  werden,  wie  ich  sie  beim  Hospi- 
tieren oder  gelegentlichen  Versuchen  und  besonders  bei  einer  Revision  der  Übungs- 
hefte aus  den  Klassen  Sexta  bis  Untersekunda  eines  Gymnasiums  und  einer  Real- 
schule gemacht  habe. 

Im  voraus  einige  allgemeine  Bemerkungen.  Die  Übungen  sollen  in  gedrängter 
Kürze  den  Niederschlag  aus  einer  Arbeitsstunde  enthalten.  „Was  der  Schüler  durch 
Auge  und  Ohr  aufgenommen  hat,  soll  er  schriftlich  genau  formen  lernen."  Die 
Selbsttätigkeit  des  Schülers  soll  dadurch  erhöht,  die  Gemeinschaftsarbeit  mehr 
gepflegt  werden.  Besonders  in  den  Fremdsprachen  sollen  diese  Übungen  in  engster 
Verbindung  mit  dem  übrigen  Stoff  des  betreffenden  Faches  gehalten  werden. 
Daraus  ergibt  sich:  1.  Die  Arbeiten  dürfen  nicht  nur  gelegentlich  gemacht  werden, 
sondern  müssen  womöglich  in  jeder  Stunde  als  ein  wichtiger  Teil  der  , Anwendung* 
den  Abschluß  bilden.  2.  Sie  müssen,  richtig  und  konsequent  gehandhabt,  den  Gang 
des  Unterrichts  erkennen  lassen.  3.  Sie  müssen,  damit  die  Aufmerksamkeit  nicht 
zersplittert  werde,  sich  auf  die  besprochene  Regel  beschränken;  erst  wenn  ihre 
Anwendung  mechanisiert  ist,  kann  sie  unbedenklich  mit  anderen  Übungen  ver- 
knüpft werden. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  XI.  Jhrg.  33 


514  F.  Schlee, 

Daß  bei  der  vorhergehenden  mündlichen  Übung  die  Wandtafel  namentlich 
in  den  unteren  Klassen  ausgiebig  benutzt  werde,  ist  selbstverständlich.  Weniger 
beachtet,  ja  vielfach  verachtet  wird  das  Chorsprechen  der  Kleinen.  Mit  Unrecht. 
Es  ist  auch  eine  Gemeinschaftsarbeit,  die  der  Übung  dient,  wertlos  freilich  als 
Kontrolle  des  Verständnisses,  aber  sie  macht  dem  Zaghaften  Mut  und  rüttelt 
den  Trägen  etwas  auf. 

Jede  Übungsarbeit,  sei  sie  auch  noch  so  klein,  muß  gleich  korrigiert  werden, 
entweder  durch  den  Lehrer  nach  der  Stunde,  oder  durch  die  Schüler  selbst  — 
aber  ohne  Hefteaustausch  —  in  der  Stunde.  Immer  aber  müssen  wir  auch  im 
zweiten  Falle  nachträglich  die  Arbeit  kontrollieren,  und  zwar  nicht  zu  selten, 
damit  die  Verbesserung  für  die  Schüler  nicht  zu  schwer  und  umfangreich  wird. 
Es  genügt  aber  nicht,  bloß  die  Verbesserung  der  Schüler  auf  der  rechten  Seite 
der  Übungshefte  durchzusehen.  Die  Übung  verliert  in  diesem  Fall  auch  für  den 
Schüler  an  Interesse,  und  es  wäre  kein  Wunder,  wenn  er  solche  Nichtachtung  seiner 
Übungen  mit  Liederlichkeit  quittierte. 

Im  einzelnen  ist  mir  folgendes  aufgefallen:  Die  lateinischen  Übungen 
wollen  den  Sextanern  zu  Anfang  noch  nicht  recht  geraten.  Die  lateinische  Schrift 
ist  vielen  nicht  geläufig,  deutsche  und  lateinische  Buchstaben  gehen  durcheinander, 
die  Hand  will  dem  Kopf  nicht  schnell  genug  folgen,  daher  selbst  bei  aufmerk- 
samen Kindern  viele,  meist  orthographische  Fehler.  Der  lateinische,  deutsche  und 
Schreibunterricht  muß  bei  einer  nicht  einheitlich  vorgebildeten  Sexta  erst  Sicherheit 
in  der  Anwendung  des  lateinischen  Alphabets  schaffen.  Kleine  deutsche  Sätzchen 
in  lateinischer  Schrift  müssen  die  ersten  Übungen  bilden.  Ähnlich  ist  es  im  g  r  i  e  - 
c  h  i  s  c  h  e  n  Anfangsunterricht.  Ehe  nicht  volle  Geläufigkeit  im  Schreiben  der 
griechischen  Buchstaben  erzielt  ist,  sollten  Übungssätze  nicht  gefordert  werden. 
Man  lasse  lieber  zunächst  jeden  Tag  2 — 3  Reihen  griechischen  Text  zu  Hause 
aus  dem  Lesebuche  abschreiben,  höchstens  diktiere  man  als  Übung  in  der  Klasse 
ab  und  zu  ein  paar  griechische  Eigennamen,  bis  die  Schüler  in  der  Schrift  ganz 
sicher  sind.  Von  solchen  einfachen  Übungen  im  Lateinischen  und  Griechischen 
schreitet  man  allmählich  zu  gedächtnismäßiger  Reproduktion  kleiner,  an  der 
Wandtafel  und  in  Sexta  auch  durch  Chorsprechen  eingeübter  Sätzchen  vor.  Nach 
und  nach  erst  werden  geringe  Veränderungen  vorgenommen.  Eine  eigentliche 
Probearbeit  sollten  Sextaner  erst  schreiben,  wenn  sie  an  den  Übungsarbeiten  dazu 
erzogen  sind.  Das  kann  unter  Umständen  ein  Vierteljahr  und  länger  dauern.  Formen- 
Übungen  sind  im  Anfangsunterricht  sehr  beliebt;  es  genügt  m.  E.,  wenn  Formen 
mündlich  eingepaukt  werden,  der  Bildungswert  des  Formenextemporales  ist  sehr 
gering.  Dagegen  sollten  die  Schüler  wenigstens  von  Quarta  an  im  Lateinischen 
wieder  öfters  angehalten  werden,  den  erarbeiteten  Inhalt  einer  Lektürestunde 
in  lateinische  Sätze  zu  fassen.  Ob  das  in  einer  Grammatik-  oder  Lektürestunde 
geschieht,  ist  gleichgültig.  Hauptsache  ist,  daß  solche  Arbeiten  vortreffliche  Stil- 
übungen sind,  um  so  fruchtbarer,  je  selbständiger  die  Schüler  in  der  Anwendung 
der  Sprache  werden. 

Den  deutschen  Übungen  stehen  manche  Lehrer  in  den  unteren  Klassen 
noch  ratlos  gegenüber.  Was  soll  an  die  Stelle  des  wöchentlichen  Diktates  zur 
Einübung  der  Rechtschreibung  treten?    Etwa  zwei  bis  drei  kürzere  Arbeiten  statt 


Die  erste  Revision  der  Übungsarbeiten.  515 

der  einen,  aber  nicht  im  Diktatheft,  sondern  im  Übungsheft,  nicht  zensiert,  sondern 
bloß  korrigiert?  So  geschieht's  denn  wohl,  daß  Lehrer  am  Schlüsse  der  Stunde, 
je  nachdem  die  Zeit  es  erlaubt,  schnell  ein  paar  Sätzchen  zur  Übung  diktieren, 
die  mit  dem  Unterricht  gar  nicht  zusammenhängen,  nur  damit  der  Vorschrift  genügt 
werde.  Und  doch  haben  wir  gerade  im  Deutschen  so  hübsche  Übungsarbeiten, 
die  unmittelbar  aus  dem  Stoff  herauswachsen.  Ist  z.  B.  in  der  Klasse  ein  Lese- 
stück oder  Gedicht  besprochen,  so  können  wir  durch  drei  oder  vier  kurze  Fragen 
den  Inhalt  des  Ganzen  oder  eines  abgeschlossenen  Teils  feststellen,  diese  Sätzchen 
einige  Male  wiederholen  und  dann  niederschreiben  lassen.  So  hat  man  eine  vor- 
treffliche Aufsatzvorübung,  die  zugleich  den  orthographischen  und  grammatischen 
Stoff  der  Klasse  miteinflechten  läßt.  Durch  Erweiterung  des  Umfangs  und  der 
Selbständigkeit  steigt  man  allmählich  zu  den  kleinen  Aufsätzen  empor,  die,  sorg- 
fältig vorbereitet,  dem  Sextaner  und  Quintaner  die  Hilfe  der  Mutter  und  des  Haus- 
lehrers entbehrlich  machen.  Neben  diesen  Übungen  kann  auch  gelegentlich  die 
Aufgabe  gestellt  werden,  eine  gelernte  Strophe  aus  dem  Gedächtnis  mit  richtiger 
Interpunktion  niederzuschreiben.  Man  kann  dabei  interessante  Beobachtungen 
über  die  Sorgfalt  und  Aufnahmefähigkeit  der  Kleinen  machen.  Übrigens  soll 
das  Diktat  ja  nicht  verbannt  werden;  auch  kleine  grammatische  Übungen  im 
Deklinieren  und  Bestimmen  von  Satzgliedern  können  gelegentlich  vorgenommen 
werden. 

Im  Französischen  und  Englischen  wird  der  Anhänger  der  Sprech- 
methode sich  mit  den  Übungsarbeiten  ebensowenig  befreunden  können  wie  mit 
den  alten  Extemporalien.  Er  legt  ja  auf  das  Schreiben,  auf  Grammatik  und  Ortho- 
graphie im  Anfangsunterricht  keinen  Wert,  er  will  die  fremde  Sprache  in  erster 
Linie  sprechen  lehren.  Wer  dagegen  die  grammatische  oder  die  von  Münch  emp- 
fohlene vermittelnde  Methode  befolgt,  wird  aus  den  Übungen  denselben  Nutzen 
ziehen  können  wie  der  Lehrer  der  alten  Sprachen.  Nur  muß  er  noch  langsamer 
vorgehen  als  dieser,  weil  hier  zum  fremden  Wort  auch  noch  die  fremde  Aussprache 
hinzukommt.  Auge  und  Ohr  bedürfen  in  den  neueren  Sprachen  weit  größererSchulung 
als  in  den  klassischen.  Man  muß  mit  ganz  bescheidenen  orthographischen  Übungen 
anfangen  und  die  ersten  Sätzchen  sehr  sorgfältig  an  der  Tafel  einüben,  sonst  erhält 
man  unkorrigierbare  Leistungen.  Das  Sprachgefühl,  das  grammatische  Verständnis 
schärfen  solche  Übungen  freilich  zunächst  noch  nicht,  aber  sie  stärken  das  Ge- 
dächtnis und  erziehen  vor  allem  zur  peinlich  genauen  Beobachtung  der  Wort- 
bilder, wodurch  das  Lernen  der  fremden  Sprache  wesentlich  erleichtert  wird.  In 
den  mittleren  Klassen  der  Realschule  sollten  zu  den  rein  grammatischen  auch 
kleine  stilistische  Übungen  in  Form  kurzer  Inhaltsangaben  über  einzelne  Abschnitte 
der  Lektüre  noch  hinzukommen.  Auf  dem  Gymnasium  ist  leider  bei  der  beschränkten 
Stundenzahl  keine  Zeit  dazu.  Hier  hält  es  sogar  sehr  schwer,  auch  nur  für  die 
grammatischen  Übungen  in  der  Stunde  die  nötige  Zeit  zu  gewinnen.  Vieles  muß 
dem  häuslichen  Fleiß  der  Schüler  überlassen  werden,  was  besser  und  leichter  in  der 
Klasse  eingeübt  werden  könnte. 

In  den  mathematischen  Unterricht  haben  sich  die  Übungsarbeiten 
leicht  eingefügt,  wenigstens  in  das  gemeine  Rechnen  und  in  die  Arithmetik.  Hier 
besteht  wohl  allgemein  die  Sitte,  daß  der  Lehrer  oder  einer  der  Schüler  an  der 

33* 


516  H.  Strunk, 

Tafel  vorrechnet,  während  die  Klasse  im  Diarium  mit-  oder  nachrechnet.  Dabei 
gibt  es  natürHch  immer  einige  Schlepper  und  solche,  die  sich  schleppen  lassen. 
Die  Übungsarbeit  bringt  in  diese  Form  Erfrischung  und  Abwechslung.  Wenn 
die  Schüler  nämlich  wissen,  daß  sie  am  Schluß  der  Stunde  eine  Aufgabe  ohne 
Vorarbeiter  ganz  selbständig  im  Übungsheft  lösen  müssen,  wird  das  ihre  Auf- 
merksamkeit bei  der  Mitarbeit  sicher  erhöhen.  Weniger  gut  läßt  sich  die  Übungs- 
arbeit mit  dem  planimetrischen  Unterricht  verbinden.  Eine  Aufgabe  mit  Analysis, 
Konstruktion  und  Figuren  läßt  sich  in  wenigen  Minuten  am  Schluß  einer  Stunde 
nicht  bewältigen.  Will  man  gelegentlich  solche  Aufgaben  stellen,  wird  man  sich 
begnügen,  wenn  die  Schüler  die  Konstruktion  an  der  Figur  darstellen  oder  eine 
Analysis  bzw.  Konstruktion  in  wenigen  Sätzen  entwerfen.  Der  Fachmann  weiß, 
daß  solche  Konstruktionsaufgaben  Ruhe  und  Zeit  erfordern;  sie  werden  besser 
der  Hausarbeit  zugewiesen.  Eine  regelmäßige  Übungsarbeit  möglichst  in  jeder 
Stunde  ist  in  der  Planimetrie  nicht  möglich. 

So  viel  ist  wohl  klar,  schematisch  lassen  sich  die  Übungsarbeiten  nicht  für  alle 
Klassen  und  Fächer  durchführen.  Die  Einrichtung  aber  als  solche,  verständig 
gehandhabt,  ist  ebenso  gut  wie  alt  und  wird  sich  je  länger  je  mehr  Freunde  erwerben. 
Wir  müssen  nur  Geduld  haben  und  uns  den  freien  Blick  und  den  frohen  Mut  erhalten, 
der  fähig  ist  über  kleine  Anfangsschwierigkeiten  hinwegzuschreiten  aus  Zuversicht 
zu  dem  werdenden  Ganzen. 

Landsberg  a.  W.  F.  S  c  h  1  e  e. 


I 


Die  Zeitung  in  den  höheren  Schulen. 

Wir  gehen  bei  den  folgenden  Ausführungen  von  der  Voraussetzung  aus,  daß 
die  Presse,  von  der  großen  Weltzeitung  herab  bis  zum  kleinen  Lokalblättchen, 
eine  Großmacht  in  unserm  öffentlichen  Leben  ist.  Die  Zeitung  kommt  überall 
hin,  in  jedes  Haus,  in  jede  Familie,  sie  kommt  auch  zu  der  Jugend.  Wir  bedauern 
diese  Entwicklung  nicht,  fordern  vielmehr,  daß  die  Schüler  und  Schülerinnen 
der  oberen  Klassen  unserer  höheren  Lehranstalten  von  ihren  Lehrern  auf  den  Wert, 
ja  die  Notwendigkeit  ständigen  Zeitungslesens  hingewiesen  werden.  Denn  wenn, 
wie  wir  glauben,  die  Presse  der  wichtigste  existierende  Bildungsfaktor  ist,  wäre 
es  weit-  und  lebensfremd,  wenn  die  höhere  Schule  ihn  nicht  mit  bei  ihrer  Bildungs- 
und Erziehungsarbeit  in  Rechnung  stellte  und  verwertete. 

Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  unsere  jungen  Männer  und  Mädchen  die  rechte 
Stellung,  das  notwendige  Distanzgefühl  diesem  bedeutsamen  Kulturfaktor  gegenüber 
gewinnen.  Man  darf  leider  nicht  annehmen,  daß  unsere  heutigen  Zeitungen  in 
ihrer  Mehrheit  sich  ihrer  volkserzieherischen  Bedeutung  und  Verantwortung  bewußt 
sind.  Auch  bin  ich  nicht  der  Ansicht,  daß  unsere  Gebildeten  die  Zeitungen  durch- 
weg richtig  zu  lesen  wissen;  denn  dagegen  spricht  der  Umstand,  daß  Hundert- 
tausende sich  so  stark  von  ihrem  Leibblatt  beeinflussen  lassen,  daß  sie  darauf 
Verzicht  leisten,  sich  ein  eigenes  Urteil  zu  bilden.  Daher  wird  wohl  niemand  ernst- 
haft glauben,  daß  unsere  Jugend  von  selbst  die  Zeitung  richtig  einzuschätzen 
und  zu  benutzen  verstände.    So  bleibt  also  nur  die  Folgerung  übrig,  daß  die  höhere 


Die  Zeitung  in  den  höheren  Schulen.  517 

Schule  zu  einer  kritischen  Zeitungslektüre  erziehen  muß  —  denn  ein  Verzicht 
auf  die  Zeitung,  dieses  Organ  der  Tagesgeschichte,  ist  nicht  möglich. 

Es  gibt  wohl  kaum  einen  Lehrer  der  Geschichte,  Erdkunde,  Religion  und  des 
Deutschen,  der  noch  niemals  einen  Zeitungsausschnitt  im  Unterrichte  verwertet 
hätte.  Eine  solche  .bloß  gelegentliche  Heranziehung  der  Presseerzeugnisse,  ge- 
wissermaßen eine  „dekorative  Quellenmethode",  wie  sich  Schliebitz  neulich  in  der 
Zeitschrift  ,,Die  höheren  Mädchenschulen"  ausdrückte,  genügt  aber  bei  weitem 
nicht,  um  eine  verständnisvolle  Beurteilung  der  Zeitung  zu  erzielen.  Das  Ziel  muß 
sein,  daß  jeder  Absolvent  einer  höheren  Schule  eine  Zeitung  kritisch  zu  lesen  ver- 
steht. Dazu  reicht  noch  nicht  aus  die  allgemeine  Erziehung  zum  Tatsachensinn, 
zur  geschichtlichen  Objektivität,  die  die  höhere  Schule  seit  langem  leistet.  Ohne 
die  Didaktik  des  Zeitungsunterrichts,  der  natürlich  kein  besonderes  Fach  sein 
soll,  näher  erörtern  zu  wollen,  möchten  wir  auf  eine  Möglichkeit,  zum  kritischen 
Lesen  zu  erziehen,  hinweisen.  Der  Lehrer  könnte  z.  B.  in  seinem  Zeitungsunterricht, 
um  die  Entstehung  und  Glaubwürdigkeit  eines  Presseberichts  zu  veranschaulichen, 
mehrere  Zeitungen  aus  verschiedenen  Parteilagern  vergleichen  und  ihre  voneinander 
abweichenden  Ansichten  und  Behauptungen  klarstellen.  Durch  mehrfache  An- 
wendung einer  solchen  „kombinierenden"  Quellenmcthode  würde  der  Glaube  an 
die  Allwissenheit  und  unparteiliche  Gerechtigkeit  der  Zeitungen  bald  gemindert 
oder  gar  zerstört  werden,  wodurch  schon  viel  gewonnen  wäre.  Außerdem  müßte 
jeder  Absolvent  einer  höheren  Schule  wenigstens  eine  Ahnung  von  dem  Gepräge 
unserer  bekanntesten  Zeitungen  erworben  haben. 

Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  daß  die  Tageszeitung  in  ihrem  jetzigen  Zustand 
und  Umfang  von  uns  als  ein  Ideal  oder  eine  Notwendigkeit  empfunden  würde. 
Vom  Standpunkte  des  Lehrers  und  des  Volkserziehers  sind  vielmehr  erhebliche 
Reformforderungen  an  die  Presse  zu  richten.  Im  Kunstwart  (z.  B.  1911  No.  24 
von  K.  Wilhelm)  ist  wiederholt  darauf  hingewiesen,  daß  die  Zeitungen  geradezu 
als  Schundliteratur  angesehen  werden  müssen,  soweit  sie  der  Sensation  dienen, 
soweit  ihre  Berichte  aus  dem  Gerichtssaal  und  das  „Vermischte"  mit  seinen  Schauer- 
mären „auf  eine  Glorifikation  des  Verbrechers  hinauslaufen".  In  Oberlehrerkreisen 
ist  man  mit  Recht  der  Ansicht,  daß  die  ausführlichen  Preßberichte  über  die  Selbst- 
morde Jugendlicher  auf  manches  krankhafte  Nervensystem  aufreizend  eingewirkt 
haben.  Hier  müßte  also  die  Zeitung  zugunsten  der  wirklich  bildenden  Teile  gekürzt 
weraen.  A.  Matthias  hat  in  den  „Blättern  für  Volkskultur"  (No.  21,  1911)  von 
der  Presse  vermehrte  Berücksichtigung  der  staatsbürgerlichen  Erziehung  gefordert 
und  z.  B.  eigens  zu  diesem  Zwecke  herausgegebene  Beilagen  und  verständlichere 
Gestaltung  der  Leitartikel  empfohlen. 

Ähnlich  steht  es  mit  dem  Unterhaltungsteil.  Wir  wollen  gar  nicht  eingehen 
auf  die  verflachende  und  verbildende  Wirkung  des  typischen  Zeitungsromans, 
der  ein  trauriges  Zeichen  für  den  Tiefstand  der  Geschmacksbildung  ist.  Sozial- 
demokratische Zeitungen  machen  da  häufig  eine  erfreuliche  Ausnahme,  werden 
aber  grade  darum  von  den  Frauen  und  andern  politisch  uninteressierten  Familien- 
gliedern beiseite  gelegt.  Ich  verweise  auf  die  Uhligsche  Preisarbeit:  Wie  ge- 
winnt man  das  Volk  für  gute  Literatur?  (M.  Helmert,  Schwarzenberg  Sa.)  Sehr 
wichtig  ist  noch  anderes.     E.  Lorenzen  sagt  in  den   ,, Blättern  für  Volkskultur" 


518  H.  Strunk, 

(15.  November  1911)  mit  vollem  Recht:  Die  vielen  Fortsetzungen  der  Romane, 
Novellen  usw.  verhindern  das  Entstehen  eines  einheitlichen  Gesamt- 
eindruckes, sie  erheben  das  Haschen  nach  dem  Stofflichen  zum  alleinigen  Zweck 
und  machen  die  Erfassung  des  Kunstwerkes  zur  Unmöglichkeit.  An  Stelle  dieser 
täglichen  Häppchenliteratur  verlangt  er  die  Herausgabe  einer  wöchentlichen 
Unterhaltungsbeilage  mit  wirklich  wertvollem  Inhalt. 

Damit  kommen  wir  auf  einen  Vorschlag  zurück,  den  K.  Blass  im  2.  September- 
heft des  Kunstwarts  (1911)  erhoben  hat.  Es  ist  wohl  kine  Frage,  daß  die  Über- 
fülle des  Inhalts  unserer  Tagespresse  von  den  Schülern  und  Schülerinnen  der 
oberen  Klassen  unserer  höheren  Lehranstalten  kaum  ohne  ernstlichen  Schaden 
bewältigt  werden  könnte.  Wo  sollen  sie  schon  die  Zeit  hernehmen?  Wichtiger 
aber  ist,  was  K.  Blass  im  Kunstwart  über  den  schädlichen  Einfluß  der  Zeitungen 
auf  die  formale  Bildung  sagt:  „Der  Kern  der  Vorwürfe,  die  im  Namen  einer  geistigen 
Volkswirtschaft  wider  die  Zeitungslektüre  erhoben  werden,  steckt  in  der  Gewöhnung 
der  Leser  an  Oberflächlichkeit  und  Flüchtigkeit,  Wahllosigkeit  und  Zersplitterung 
in  der  Aufnahme  des  Lesestoffes,  während  durch  die  Masse  des  Dargebotenen  und 
die  scheinbar  abschließende,  parteimäßig  festgelegte  Beurteilung  die  selbständige 
Verarbeitung  und  Ausgestaltung  des  Aufgenommenen  gehemmt  wird."  So  richtig 
dieser  Gedanke  auch  ist,  so  bleibt  doch  bestehen,  daß  jeder,  der  am  Leben  seines 
Volkes  teilnehmen  will  —  und  dazu  gehört  natürlich  auch  unsere  reifere  Jugend 
—  ein  Organ  braucht,  das  ihm  die  gleichzeitigen  Ereignisse  und  Zustände  mitteilt 
Die  Berichterstattung  braucht  aber  selbst  in  unserer  schnellebigen  Zeit  keine  täg- 
liche, keine  „brühwarme"  zu  sein,  sicherlich  nicht  für  unsere  Jugend,  wenn  sie  nur 
richtig,  umfassend  und  doch  knapp  ist.  Wieviel  falsche  Nachrichten  hat  man, 
während  ich  diese  Zeilen  schreibe,  bei  dem  Untergang  des  Titanic  verschlucken 
müssen,  bis  authentische  Kunde  eintraf.  Wieviel  Lesekraft  ist  da  verschwendet. 
Blass  fordert  daher  als  neuen  Zeitungstyp  ein  Wochenblatt,  das  in  einem  ersten 
Teile  in  übersichtlicher  Form  und  Anordnung  scharf  und  klar  das  wesentliche 
Nachrichtenmaterial  aus  allen  Gebieten  für  die  verflossene  Woche  — 
keinen  Klatsch  und  Tratsch!  —  zusammenstellte  und  in  einem  zweiten  Teil 
vielleicht  „Aufsätze  mäßigen  Umfanges,  grundsätzliche  Äußerungen  der  Re- 
daktion und  fremde  Presseäußerungen  im  Auszuge"  enthalten  könnte.  Es 
soll  nach  seiner  Meinung  Material  geboten  werden,  dessen  Bearbeitung  durch 
aie  Schriftleitung  sich  im  wesentlichen  auf  scharfe  Sichtung  und  klare 
Anordnung  beschränkt,  während  die  Weiterverarbeitung,  besonders  die  Be- 
urteilung, dem  Leser  überlassen  bleibt.  „So  erhielte  man  in  kurzer  Zeit  ein- 
maliger konzentrierter  Beschäftigung  und  um  ein  geringes  Geld  auf  wenigen  Seiten 
alles  wirklich  Wesentliche  des  Inhalts  jetziger  Tagesblätter  geboten,  damit  aber 
bliebe  unserer  Spannkraft  die  schauderhafte  Sisyphusarbeit  erspart,  täglich  einen 
Haufen  Makulatur  wegen  weniger  Zeilen  von  Erfahrenswertem  durchzujagen." 
Die  Bedenken,  die  Avenarius  diesem  vorgeschlagenen  Zeitungstyp  gegenüber 
erhebt,  sind  nicht  so  schwerwiegend,  daß  wir  nicht  mit  vollem  Ernst  vom  Stand- 
punkte des  Lehrers  und  Erziehers  aus  die  Blasssche  Forderung  unterstützten. 
Man  kämpfte  damit  gleichzeitig  gegen  die  anspruchsvolle  Neugier,  die  jeden 
Tag  ihr   Sensatiönchen  verlangt.      Mag   man  ein  Wochenblatt  für  ausreichend 


Die  Zeitung  in  den  höiieren  Schulen.  519 

halten  oder  ein  Halbwochenblatt  fordern,  ein  solcher  Zeitungstyp  wäre  der  für 
unsere  reifere  Jugend  angemessene,  da  er  sie  einmal  über  das  gegenwärtige  Ge- 
schehen und  Sein  unterrichtet,  gleichzeitig  Kopfarbeit  verlangt  und  so  unmittel- 
bar zum  nachdenklichen  Lesen  erzieht,  sie  aber  nicht  mit  dem  papiernen 
Ballast  des  Überflüssigen,  Unrichtigen  und  Raisonnements  überbürdet. 

Ansätze  zu  einer  solchen  Zeitung  sind  bereits  vorhanden.  Wir  meinen 
nicht  die  dürftige  Zeittafel  der  „Woche**,  sondern  möchten  hinweisen  auf  die 
Wochenblätter  der  „Frankfurter  Zeitung'*,  des  „Berliner  Tageblatts"  und  der 
„Täglichen  Rundschau",  die  neben  den  umfangreichen  Tagesausgaben  erscheinen 
und  für  die  Deutschen  im  Auslande  bestimmt  sind.  Es  würde  zu  weit  führen,  hier 
die  Anordnung  und  den  Inhalt  dieser  Wochenausgaben  darzulegen;  die  Interessenten 
könnten  sich  Probenummern  von  den  Expeditionen  ausbitten. 

Meiner  Meinung  nach  ließe  sich  nun  mit  dem  Blassschen  Vorschlage  die  An- 
regung verbinden,  die  vor  einigen  Jahren  H.  Ehrhard  in  seiner  Broschüre  „Unter 
dem  Reichsbanner"  gegeben  hat.  Denn  ein  Nachteil  der  Wochenausgaben  der 
schon  genannten  Zeitungen  besteht  darin,  daß  sie  die  politische  Färbung  ihrer 
Hauptblätter  tragen.  H.  Ehrhard  fordert  ein  „Reichsblatt",  „das  ein  auf  ver- 
fassungsmäßigem Wege  durch  ein  Reichsgesetz  ins  Leben  gerufenes  und  der  Etat- 
kontrolle des  Reichstages  unterliegendes  Unternehmen  sein  würde,  einerseits  zur 
wirksamen  Unterstützung  und  Fortführung  der  allgemeinen  staatsbürgerlichen 
Schulerziehung  und  zur  Verbreitung  der  Bürgerkunde  im  ganzen  Volke,  anderer- 
seits um  den  Reichs-  und  Landesregierungen  die  Möglichkeit  zu  gewähren,  die 
Beweggründe  und  Ziele  ihres  politischen  und  gesetzgeberischen  Vorgehens  allen 
Reichs-  und  Staatsangehörigen  unmittelbar  kundzugeben".  Das  „Reichsblatt" 
soll  auch  ein  Wochenblatt  sein,  das  unentgeltlich  durch  die  Post  jedem  Haushalt 
zugestellt  werden  würde.  Eine  Verbindung  der  beiden  Vorschläge  von  Blass  und 
Ehrhard  scheint  mir  einen  Zeitungstyp  zu  schaffen,  der  für  unsere  Schüler  und 
Schülerinnen  als  ein  idealer  erschiene,  aber  zugleich  auch  jedem  einzelnen  sowie 
der  Allgemeinheit  —  unbeschadet  der  Berechtigung  der  politischen  Tagespresse 
und  der  Lokalzeitungen  —  wertvolle  Dienste  leisten  könnte. 

Zwei  Anregungen  wären  noch  zu  erwägen.  Soll  die  Jugend  selbst  in  dieser 
Zeitung  zu  Worte  kommen?  Es  läßt  sich  manches  dafür  anführen.  R.  Strecker 
gibt  eine  Zeitschrift  heraus  „Junge  Geister",  Monatschrift  für  die  geistige  Fort- 
bildung und  Betätigung  der  reifen  Jugend.  Ihr  Programm  lautet:  „Das  Blatt 
will  vor  allem  die  Jugend  zu  Worte  kommen  lassen.  Sie  soll  sich  über  literarische, 
ästhetische,  religiöse  und  politische  Fragen  frei  aussprechen.  Es  wird  jeder  Ansicht 
zur  Besprechung  Raum  gewährt,  doch  ist  jeder  Nummer  ein  kritisches  Begleit- 
schreiben der  Schriftleitung  beigegeben.  Es  soll  die  Jugend  in  die  Probleme  der 
Zeit  eingeführt,  in  Gebrauch  von  Feder  und  Presse  ein  wenig  geübt  werden  und 
zugleich  Gelegenheit  erhalten,  mit  weiteren  Kreisen  in  geistig  befruchtende  Be- 
rührung zu  kommen."  Für  die  von  uns  vorgeschlagene  Zeitung  und  den  emp- 
fohlenen Zeitungsunterricht  scheint  mir  der  an  sich  beachtenswerte  Gedanke 
Streckers  unfruchtbar,  da  seine  Verwirklichung  die  Höhenlage  und  damit  den 
Wert  des  neuen  Zeitungstyps  herabdrücken  und  somit  seinen  idealen  Zweck  beein- 
trächtigen würde. 


520  A.  Tilmann, 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  Gedanken,  die  seit  langem  Berthold  Otto 
in  seinem  „Hauslehrer**  mit  großem  Geschick  verwirklicht  hat.  Es  ist  natürlich 
ausgeschlossen,  im  Rahmen  unseres  Aufsatzes  auf  das  Problem  der  Altersmundart 
einzugehen.  Wir  können  seine  Vorschläge  in  unserm  Zusammenhange  darum  nicht 
zu  den  unsrigen  machen,  weil  sich  Otto  an  K  i  n  d  e  r  wendet  und  wir  die  r  e  i  f  e  r  e 
Jugend  zum  Verständnis  und  zum  kritischen  Lesen  der  für  Erwachsene 
bestimmten  Tageszeitungen  geführt  wissen  wollen.  Hervorgehoben  aber  soll  werden, 
daß  das  schon  oft  angegriffene  Zeitungsdeutsch  fast  durchweg  tief  unter  der  Klar- 
heit, Schlichtheit  und  Gegenständlichkeit  des  Hauslehrerstils  steht.  So  könnten  z.  B. 
Ottos  Aufsätze  über  den  Marokkovertrag  und  die  Marokkodebatte  im  Deutschen 
Reichstage  (No.  46  und  47  des  11.  Jahrgangs)  unserer  heutigen  Presse  und  der  hier 
vorgeschlagenen  Zeitung  zum  Vorbild  dienen. 

Das  Hauptübel  unserer  jetzigen  Verhältnisse  ist  das,  daß  die  meisten  Schüler 
und  Schülerinnen  nach  dem  Abgange  von  der  höheren  Schule  einer  rein  partei- 
mäßigen Belehrung  durch  die  Tagespresse  verfallen,  d.  h.  häufig  einer  Irreführung, 
ja  Verblendung  —  wenn  sie  nicht  durch  einen  Zeitungsunterricht  darüber  belehrt 
werden,  wie  man  eine  Zeitung  zu  lesen  hat.  Es  ist  möglich,  daß  viele  sich  scheuen, 
an  diese  Sache  heranzugehen,  da  sie  die  „Politik  in  der  Schule*'  fürchten.  Doch 
scheint  mir  für  einen  mäßigen  und  vorsichtigen  Zeitungsunterricht  in  übertragenem 
Sinne  das  zu  gelten,  was  Berthold  Otto  von  seiner  Wochenschrift  gesagt  hat: 
„Der  Hauslehrer  hat,  lange  ehe  die  staatsbürgerliche  Erziehung  zum  gern  geführten 
Schlagwort  wurde,  Politik  und  Volkswirtschaftslehre  den  Kindern  verständlich 
gemacht.  Gerade  dabei  hat  sich  noch  eine  besondere  Wirkung  der  Kindersprache 
gezeigt:  es  ist  unmöglich  für  sie,  mit  den  gewohnten  Phrasen  auszukommen,  und 
es  zeigt  sich  bei  der  tieferen  Betrachtung,  zu  der  eben  die  Umarbeitung  in  Kinder- 
sprache nötigt,  daß  keine  Partei  so  grundschlecht  ist,  wie  sie  von  ihren  Gegen- 
parteien gemacht  wird.  So  wird  durch  die  Hauslehrerartikel  das  Kind  nicht  etwa 
in  den  Parteihader  hineingezogen,  sondern  vielmehr  der  Parteihader  selbst,  der 
sich  vor  den  unbefangenen  Augen  des  Kindes  rechtfertigen  soll,  von  dem  gereinigt, 
was  ihm  eigentlich  von  der  Menschenwürde  etwas  abseits  führt.  Und  das  wäre  doch 
schließlich  das  beste  Stück  einer  staatsbürgerlichen  Erziehung." 

Geestemünde.  Hermann  Strunk. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußisclien 

Universitäten. 

Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten  im 
Sommer-Semester  1912.  Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studie- 
rende, die  nicht  auf  Grund  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  immatrikuliert 
waren,  unberücksichtigt.  Von  den  nachstehenden  Zusammenstellungen  umfaßt 
die  erste  alle  im  Sommer-Semester  1912  an  den  preußischen  Universitäten  im- 
matrikulierten Studierenden,  die  zweite  nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Er- 
hebung im  ersten  Semester  standen. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten.  521 

I.    Im  Sommer-Semester  1910  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a)  in  der  Evangelixh-Theologischen  Fakultät  1678  Studierende, 
davon  auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums   ....  1669 

,,         „                 „                ,,      Realgymnasiums    .  .  9 

b)  in  der   Katholisch-Theologischen   Fakultät   1009   Studierende, 
alle  auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  5764  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  4452 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  932 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    .   .   .  380 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  4852  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  3613 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  876 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    .   .   .  363 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  12  028  Studierende,  davon  immatri- 
kuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  7319 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums    .   .  2682 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    .   .   ,  2027 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  311  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  195 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .    .  80 

„        „                  „              einer  Oberrealschule    ...  36 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  3534  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  3099 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  312 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    ...  123 

3.  Neuere  Philologie  2538  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  998 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  893 

„        „                  „              einer  Oberrealschule    .   .   .  647 

4.  Geschichte  934  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  724 

„        „                 „                „     Realgymnasiums    .   .  161 

„        „                  „             einer  Oberrealschule    ...  49 


522  A.  Tilmann, 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  3710  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  1728 

„        „                 „                „     Realgymnasiums    .   .  989 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    ...  993 

6.  Sonstige  Studienfächer  1001  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  575 

„        ,,                  „                „      Realgymnasiums    .   .  247 

„        „                  „             einer  Oberrealschule    ...  179 

II.  Von  den  unter  I.  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  in    der    Evangelisch-Theologischen    Fakultät  349  Studierende,  im- 
matrikuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

b)  in  der  Katholisch-Theologischen  Fakultät  279  Studierende,  immatri- 
kuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums. 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  710  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  498 

„        „                 „                „     Realgymnasiums    .   .  134 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    ...  78 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  787  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  528 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  183 

„        „                 „              einer  Oberrealschule  ...  76 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  1 380  Studierende,  davon  immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  706 

„        „                  „                „     Realgymnasiums    .   .  405 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    .   .   .  269 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  45  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  16 

„        „                  „                „     Realgymnasiums    .   .  23 

„        „                  „             einer  Oberrealschule    ...  6 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  329  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  270 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  44 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    ...  15 

3.  Neuere  Philologie  304  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  103 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .   .  122 

einer  Oberrealschule    ...  79 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten.  523 

4.  Geschichte  91  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  59 

„        „                 „                „     Realgymnasiums    .   .  25 

„         „                  „             einer  Oberrealschule   ...  7 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  451  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  176 

„        „                  „                „      Realgymnasiums    .    .  150 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    ...  125 

6.  Sonstige  Studienfächer  160  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  82 

„        „                 „                „     Realgymnasiums   .   .  41 

„        „                 „             einer  Oberrealschule    ...  37 

Gr.-Lichterfelde.  A.   T  i  I  m  a  n  n. 


II.  Programmabhandlungen  1911. 

Erdkunde. 

1 .  BruhnSy  Dr.  B.,  Abschnitte  aus  dem  Lehrgang  der  Geo- 
graphie in  den  Oberklassen  des  Zittauer  Realgymna- 
siums.      Realgymnasium  Zittau.     1911.     Progr.-No.  789.    40  S.    4«. 

2.  Nold,  Peter,  Vorschläge  zur  Hebung  des  erdkundlichen 
Unterrichts  auf  der  Oberstufe  höherer  Lehranstalten. 
Realschule  Kolmar  in  Posen.     1911.     Progr.-No.  250.     12  S.    4°. 

3.  Stephan,  E.,  Die  Notwendigkeit  einer  Reform  des  erd- 
kundlichen Unterrichts  und  Vorschläge  für  ihre  Aus- 
führung in  Hamburg.  Stiftungsschule  von  1815  zu  Hamburg.  1911. 
Progr.-No.  1059.    28  S.    8«. 

4.  Mischer,  Dr.  Rudolf,  Der  vorgeschichtliche  Mensch  im 
mittleren  Europa.  Realschule  Seehausen  i.  A.  1911.  Progr.-No.  378. 
14  S.   4«. 

5.  Springfeldt,  Das  Gradnetz  in  den  Schulatlanten.  Gym- 
nasium Lötzen.    1911.    Progr.-No.  11.     15  S.    4»  mit  4  Tafeln. 

6.  Kienitz,  Dr.  Otto,  Wertheim  und  seine  Umgebung,  I.  Gym- 
nasium Wertheim.     1911.     Progr.-No.  868.    30  S.    4\ 

7.  Risse,  Willy,  Die  Verlandung  des  Grunewaldsees.  Real- 
gymnasium Schmargendorf.     1911.    Progr.-No.  144.    40  S.    8»  mit  4  Tafeln. 

8.  Kurtz,  Dr.  Edmund,  Geologische  Ausflüge  in  die  Um- 
gebung von  Düren.  Gymnasium  Düren.  1911.  Progr.-No.  608.  30  S.  8'' 
mit   1  Karte. 

9.  Wilz,  Alois,  Über  Oberflächengestaltung  im  Spessart. 
Städtische  Handelslehranstalt  Frankfurt  a.  M.  1911.  Progr.-No.  572.  47  S.  8» 
mit  1  Karte  und  6  Figuren. 

10.  Meisten,  Dr.  Robert,  Woher  stammt  dieWeizackertracht? 
Gymnasium  Pyritz.     1911.     Progr.-No.  208.     19  S.    4°  mit  1  Karte. 

11.  Bernatzky,  Dr.  Viktor,  Das  Dorf  Sucholohna  bei  Groß 
Strehlitz  und  die  Flurnamen  seiner  Gemarkung.  Gymnasium 
Groß  Strehlitz.     1911.     Progr.-No.  297.     18  S.    4«  mit  2  Tafeln. 

12.  Burhenne,  Dr.  H.,  Eine  geologische  Exkursion  in  die 
Schweiz.    Oberrealschule  Marburg  a.  L.     1911.    Progr.-No.  579.    22  S.    8°. 


V.  steinecke,  Erdkunde.  525 

13.  Bertheau,  W.,  Wanderungen  und  Stimmungen.  Historisch- 
geographische Skizzen  aus  der  Südostecke  Englands.  Realschule  St.  Pauli  Ham- 
burg.    1911.     Progr.-No.  1053.     28  S.     8°. 

14.  Suck,  Dr.  Walter,  Schottland  und  seine  Bewohner.  Real- 
schule Oschersleben.     1911.    Progr.-No.  375.    59  S.    8«  mit  1  Karte. 

15.  Becker,  Adolf,  Die  geologische  Beziehung  unserer 
Heimat  zum  Norden,  mit  besonderer  Berücksichtigung 
Staßfurts.  Realprogymnasium  Staßfurt.  1911.  Progr.-No.  362.  26  S.  4° 
mit  12  Bildern. 

16.  Braun,  Fritz,  Zur  Siedelungskunde  der  Bosporusufer. 
Gymnasium  Graudenz.     1910.     Progr.-No.  39.     13  S.    4'^. 

17.  Malguth,  Dr.,  Skizzen  und  Studien  aus  Deutsch-Ost- 
afrika. Werner  Siemens-Realgymnasium  Schöneberg.  1911.  Progr.-No.  146. 
24  S.    8«  mit  8  Bildern. 

18.  Schneck,  Dr.  Bernhard,  Archäologisch  eReiseerinnerungen 
Akragas-Girgenti.  Johannes-Gymnasium  Breslau.  1911.  Progr.-No.  260. 
31  S.    4»  mit  1  Karte. 

19.  Blondeau,  Arnold,  Delos  und  Delphi.  Reiseerinnerungen.  Kloster 
Unser  Lieben  Frauen  Magdeburg.     1911.     Progr.-No.  336.    29  S.    4". 

Die  Methodik  des  erdkundlichen  Unterrichts  ist  trotz  vieler  Vorarbeiten  noch 
nicht  vollständig  geklärt.  Zudem  weist  der  Lehrplan  unseres  Faches  bedenkliche 
Lücken  auf.  In  wenigen  Disziplinen  bietet  auch  die  Umsetzung  der  Theorie  in  die 
Praxis  so  große  Schwierigkeiten,  in  wenigen  ist  der  Gegenstand  und  die  Betrachtungs- 
weise so  raschen  und  tiefgreifenden  Veränderungen  unterworfen  wie  in  der  Erd- 
kunde. Der  Streit  um  den  Inhalt  und  die  Methode  der  Schulgeographie  erfaßt  um 
so  weitere  Kreise,  je  länger  die  Erfüllung  des  unabweisbaren  Verlangens,  den  Unter- 
richt an  allen  Schularten  bis  zur  obersten  Klasse  fortzuführei},  auf  sich  warten 
läßt,  und  findet  seinen  Widerhall  mehr  als  bisher  auch  in  den  wissenschaftlichen 
Beilagen  unserer  Schulprogramme. 

Über  das  gewöhnliche  Niveau  ragt  die  für  die  Oberklassen  bestimmte  Stoff- 
sammlung von  B  r  u  h  n  s  (1).  Was  der  durch  seine  methodischen  Aufsätze  bekannte 
Verfasser  bietet,  ist  der  Ansatz  zu  einem  Lehrbuche  der  Allgemeinen  Erdkunde, 
das  er  uns  hoffentlich  später  noch  bescheren  wird.  Er  erstrebt  eine  mehr  moderne 
Behandlung  des  erdkundlichen  Lehrstoffes  und  verwendet  die  neueste  wissen- 
schaftliche Literatur  sowie  die  Forschungs-  und  Reiseberichte  zu  einer  sehr  an- 
ziehenden Ausarbeitung  des  Lehrplanes  für  Obersekunda  und  Prima.  Die  physische 
Erdkunde,  die  Völkerkunde  und  eine  ganz  eigenartige  Wirtschaftskunde  sind  in 
einer  Weise  behandelt,  die  es  deutlich  zeigt,  wie  wichtig  der  geographische  Unterricht 
für  die  Schule  und  ganz  besonders  für  das  Leben  gestaltet  werden  kann.  Den 
zunächst  noch  ausgelassenen  Teilen  über  Wind  und  Meer,  über  das  Bodenrelief, 
die  langsamen  Niveauveränderungen  und  die  Kartographie  sehen  wir  gern  entgegen. 

Die  Erdkunde  zu  einem  für  das  ganze  Leben  bedeutsamen  Unterrichtsfache 
zu  erheben,  ist  auch  N  o  1  d  (2)  bestrebt.  Er  erörtert  und  erweitert  die  Forderungen 
der  Schulgeographen  und  gibt  beachtenswerte  Winke  für  den  Unterricht  und  seine 
Hilfsmittel.    Seine  im  allgemeinen  mit  den  Wünschen  des  Lübecker  Geographen- 


526  V.  Steinecke, 

tages  übereinstimmenden  Leitsätze  klingen  ähnlich  wie  Hauptmanns  „nationale 
Erdkunde"  aus:  „Umgestaltung  des  geographischen  Stoffes  durch  kräftige  Hervor- 
hebung der  Weltwirtschaft  Deutschlands,  Erteilung  des  Unterrichts  im  Sinne  einer 
nationalen  Konzentration!"  Wir  geben  ihm  durchaus  recht,  wenn  er  mehr 
Lebenspraxis  und  weniger  tote  Namen  und  Zahlen  verlangt,  und  erhoffen,  daß 
den  Lehrern  der  Erdkunde  in  Bälde  Gelegenheit  gegeben  werde,  sich  in  dieser  Rich- 
tung segensreich  zu  betätigen. 

S  t  e  p  h  a  n  (3)  betrachtet  gleichfalls  den  Wert  des  geographischen  Unterrichts 
für  das  praktische  Leben  und  kommt  zu  dem  Ergebnis:  „In  der  Verwendbarkeit 
für  eine  gesunde  Nationalerziehung  steht  er  allen  Unterrichtsfächern  voran  und 
verdient  daher  die  fördernde  Fürsorge  der  deutschen  Verwaltungen  des  Unterrichts 
und  des  Heeres."  Er  verlangt,  daß  der  Unterricht  in  der  Länderkunde  von  der 
Landeskunde  ausgehe,  und  bietet  einige  Andeutungen,  wie  er  mit  seinen  Schülern 
aus  der  Heimatkunde  Hamburgs  wichtige  geographische,  geschichtliche  und  wirt- 
schaftliche Tatsachen  erarbeitet  hat.  Seine  Aufsatzthemen  werden  manchem  Fach- 
genossen eine  willkommene  Anregung  bieten. 

Die  übrigen  Beilagen  haben  einzelne  Teile  der  Erdkunde  zum  Gegenstande. 
M  i  s  c  h  e  r  (4)  versteht  es,  bei  einem  Vortrage  über  den  vorgeschichtlichen  Menschen 
die  heimatlichen  Verhältnisse  heranzuziehen,  und  verwendet  mit  Geschick  die 
klassische  Literatur  ebenso  wie  die  neueren  Forschungen  zu  einem  lebensvollen 
Bilde,  das  den  Menschen  von  seinem  ersten  Auftreten  an  bis  in  die  Morgendämme- 
rung der  geschichtlichen  Zeit  nach  seinem  Aussehen,  Leben  und  Wirken  darstellt. 

Springfeldt(5)  bespricht  die  verschiedenen  Kartenprojektionen  zunächst 
vom  mathematischen  Standpunkte  aus.  Danach  kommt  er  als  Geograph  zu  der 
Forderung,  daß  die  Schulkarte  nicht  der  Kartometrie  und  Kartenkritik,  sondern 
in  erster  Linie  der  Anschaulichkeit  dienen  soll,  und  daß  deshalb  auf  manche  Art 
der  Projektion  verzichtet  werden  muß,  die  im  Handatlas  ganz  angebracht  erscheint. 
Berechnungen  und  Zeichnungen  machen  die  lesenswerte  Abhandlung  noch  wert- 
voller. 

Heimatkundliche  bzw.  landeskundliche  Arbeiten  sind  auch  in  diesem  Jahre 
erfreulicherweise  recht  zahlreich  und  werden  den  Eltern  und  Schülern  gewiß  mehr 
Freude  machen  als  manche  in  gelehrtem  Küraß  daherprangende  „wissenschaft- 
liche" Beilage  anderer  Lehrfächer. 

K  i  e  n  i  t  z  (6)  hat  die  Absicht,  nach  und  nach  die  natürlichen,  wirtschaftlichen 
und  historischen  Verhältnisse  des  altertümlichen  Städtchens  darzustellen,  das  an 
der  Taubermündung  so  heimlich  liegt  und  den  sinnigen  Reisenden  anlockt.  Er 
schildert  auf  Grund  wissenschaftlicher  Forschung  mit  liebevoller  Hingabe  die 
Lage  und  Umgebung  der  Stadt  Wertheim,  die  natürliche  Abgrenzung  des  staatlich 
recht  zersplissenen  Gebietes,  den  geologischen  Bau  und  die  technische  Verwend- 
barkeit des  Bodens,  die  hydrographischen  Verhältnisse,  besonders  die  gefährlichen 
Hochwasser,  und  schließlich  das  Klima.  Der  Verfasser  wird  sich  Dank  erwerben, 
wenn  er  die  heimatkundliche  Monographie  mit  derselben  Liebe  und  Gründlichkeit 
vollendet. 

Die  Verlandung  des  Grunewaldsees  durch  langsames  Vordringen  des  Pflanzen- 
wuchses und  allmähliches  Sinken  des  Wasserspiegels  hat  K  i  s  s  e  (7)  veranlaßt, 


Erdkunde.  527 

den  Gründen  für  die  Veränderung  des  Landschaftsbildes  nachzugehen.  Er  unter- 
sucht die  Moorbildung  und  den  Einfluß  der  Winde,  führt  Lotungen  und  Messungen 
aus  und  zeichnet  Karten,  die  die  Verlandungsfortschritte  festlegen.  Das  verdienst- 
liche Werk  gewinnt  dadurch  an  Bedeutung  und  erheischt  unsere  Anerkennung 
um  so  mehr,  weil  Kisse  seine  Schüler  zu  den  Arbeiten  heranzieht  und  ihnen  da- 
durch Liebe  zur  Arbeit  und  Freude  am  Forschen  einflößt. 

Der  unermüdliche  K  u  r  t  z  (8),  dessen  geologische  Studien  im  Rurgebiet 
wir  schon  öfters  erwähnt  haben,  hat  jetzt  seine  Ergebnisse  zu  einem  geologischen 
Führer  zusammengestellt,  der  in  erster  Linie  den  Schülern  bei  den  Ausflügen  zur 
Einführung  in  die  Kunde  des  heimischen  Bodens  dienen  soll.  In  einem  Anhange 
bespricht  er  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  als  eine  Folge  der  geologischen  Grund- 
lagen. 

Wilz  (9)  schildert  die  geologische  Entstehung  des  waldbedeckten  Spessart- 
gebirges  auf  Grund  der  Quellen  und  eigener  Forschung  sehr  eingehend  und  widmet 
besonders  der  Wirkung  des  Wassers  seine  Aufmerksamkeit.  Die  treffliche  Arbeit 
wird  durch  eine  Reihe  hübscher  Skizzen  und  gelungener  Profile  illustriert,  aus 
denen  die  vorzeitlichen  Bodenbewegungen  und  die  neuzeitliche  Abdeckung  sehr 
deutlich  werden,  so  daß  das  Schriftchen  als  eine  notwendige  wissenschaftliche 
Ergänzung  zu  jedem  Spessartführer  gelten  kann. 

Einen  sehr  hübschen  Beitrag  zur  heimatlichen  Volkskunde  liefert  H  o  1  s  t  e  n 
(10)  in  seiner  historisch-kritischen  Untersuchung  der  Volkstracht  des  Weizackers 
bei  Pyritz.  Er  folgt  den  alten  Beziehungen,  die  zwischen  Pommern  und  der  Alt- 
mark bestehen,  und  findet,  daß  die  Colbatzer  Mönche  im  13.  Jahrhundert  Kolonisten 
aus  der  Altmark  geholt  haben  und  daß  ebendaher  auch  die  eigentümliche  Pyritzer 
Tracht  stammt. 

Ebenfalls  zur  Vertiefung  des  heimatkundlichen  Unterrichts  und  zur  Belebung 
des  Interesses  an  der  Erforschung  der  heimatlichen  Scholle  .unternimmt  B  e  r  - 
natzky  (11)  seine  Untersuchung  der  Flurnamen.  Es  gelingt  ihm,  eine  reiche 
Fundgrube  zu  eröffnen  und  aus  den  Namen  vielfältige  Rückschlüsse  auf  die  frühere 
oro-  und  hydrographische  Beschaffenheit  des  Landes,  auf  den  ehemaligen  Tier- 
und  Pflanzenbestand,  auf  die  Ansiedler  der  Vorzeit,  auf  die  früheren  Besiedlungs- 
formen und  auf  die  alten  Volksanschauungen  zu  ermöglichen. 

Eine  größere  Zahl  von  Kollegen  macht  ihre  Ferien-  und  Studienreisen  in  löb- 
licher Art  für  die  Schule  fruchtbar. 

Burhenne  (12)  spricht  am  Schlüsse  seiner  trefflichen  Reiseskizze,  die  den 
Deckenbau  der  Schweizer  Alpen  zum  Gegenstande  hat,  die  ideale  Richtung  seines 
schülerfreundlichen  Sinnes  dahin  aus:  „Alles  dies  hat  in  mir  den  lebhaften  Wunsch 
hervorgerufen,  das  Schöne  und  Interessante,  was  ich  auch  diesmal  in  den  Alpen 
gesehen  habe,  meinen  Schülern  nicht  nur  im  Unterricht  wieder  darzubieten,  sondern 
womöglich  an  Ort  und  Stelle  zu  zeigen.  Eine  einzige  derartige  Wanderung  dürfte 
lehrreicher  für  unsere  für  die  Natur  so  empfängliche  Jugend  sein,  als  langjähriger 
Unterricht  in  Erdkunde  und  Botanik."  Nun,  allenthalben  findet  ja  der  Gedanke 
der  Schülerreisen  günstige  Aufnahme  bei  den  Eltern  und  den  Behörden,  —  da 
wird  es  dem  Verfasser  und  anderen  opferwilligen  Lehrern  hoffentlich  bald  ver- 
gönnt sein,  mit  den  Schülern  solche  Wandervogelfahrten  zu  unternehmen. 


528  V.   steinecke, 

Einen  historischen  Führer  für  solche,  die  zum  ersten  Maie  Englands  „gastliche 
und  trutzige"  Küste  betreten,  um  den  Südosten  und  die  Hauptstadt  des  Landes 
zu  besuchen,  schreibt  Bertheau  (13).  Die  alten  Zeiten  mit  ihren  großen  Be- 
gebenheiten und  großen  Männern  läßt  er  vor  unserem  Auge  erstehen;  die  Städte 
und  Straßen  beleben  sich  mit  geschichtlichen  Gestalten,  und  aus  den  Nebelschwaden 
tauchen  Geister  auf  und  flüstern  und  raunen  dem  Fremden  wunderliche  Dinge 
ins  Ohr,  legen  sich  wie  ein  Alp  auf  seine  Brust  und  lassen  sein  Herz  im  Gedenken 
an  die  furchtbaren  Ereignisse  früherer  Tage  erbeben. 

Skizzen  und  Studien  nennt  S  u  c  k  (14)  seine  Reiseerinnerungen  an  Schottland. 
Mit  offenem  Blick  und  warmem  Herzen  hat  er  das  nordische  Land  und  sein  tapferes 
Volk  studiert,  und  mit  ehrlicher  Begeisterung  schildert  er  die  „menschenfreund- 
liche Denkungsweise,  den  unverfälschten  Gemeinschaftssinn  und  die  ehrliche 
Gastlichkeit"  des  keltischen  Stammes.  Daneben  aber  bietet  er  eine  eigen- 
artige Darstellung  der  wirtschaftlichen  und  geistigen  Kultur  des  Landes,  auch 
des  Schulwesens,  und  stellt  manche  irrige  Vorstellung  richtig,  so  daß  man  das 
in  jeder  Beziehung  sehr  anregende  Schriftchen  sehr  wohl  zur  Vorbereitung  auf 
den  Unterricht  oder  auf  eine  schottische  Reise  verwenden  kann. 

Die  Ergebnisse  einer  Nordlandfahrt  benutzt  Becker  (15)  dazu,  die  in  seiner 
Magdeburger  Heimat  erkennbaren  Reste  nordischer  Einwirkungen  in  der  Tertiär- 
und  Diluvialzeit  allgemein  verständlich  zu  machen.  Er  will  das  Interesse  für  geo- 
logische Fragen  anregen  und  seinen  Schülern  ebenso  wie  den  Erwachsenen  einen 
Überblick  über  die  Eiszeit  geben  und  führt  diese  Aufgabe  mit  großem  Fleiß  und 
Geschick  durch. 

Ein  Nachläufer  von  1910,  hoffentlich  aber  ein  Vorläufer  zu  einem  größeren 
Werke  über  die  Siedelungskunde  der  Bosporusufer  ist  die  Arbeit  von 
Braun  (16).  Das  ist  eine  gedankenreiche,  auf  guter  Beobachtung  beruhende 
Monographie,  die  vom  geschichtlichen  und  wirtschaftlichen  Standpunkte  aus, 
unter  gebührender  Rücksicht  auf  die  Volksart  der  einzelnen  Stämme,  die 
Siedelungsfrage  an  dem  wichtigen  Durchdringungspunkte  Europas  und  Asiens 
zu  lösen  sucht. 

Den  freundlichen  Beziehungen  von  Schule  und  Haus  hat  M  a  1  g  u  t  h  (17) 
seine  frischen  Wanderskizzen  aus  Deutsch-Ostafrika  gewidmet.  Er  nahm  an  der 
akademischen  Studienfahrt  1910  teil,  hat  gut  beobachtet  und  entwirft  uns  mit 
der  Feder  zwei  Bilder  der  Steppe  und  des  Urwaldes,  an  deren  Deutlichkeit  und 
Farbenpracht  die  mit  der  Kamera  festgehaltenen  Bilder  bei  weitem  nicht  heran- 
reichen. Die  in  Aussicht  gestellte  Schilderung  der  g  a  n  z  e  n  Reise  wird  sich  sicher 
unserer  besseren  Kolonialliteratur  würdig  anreihen. 

Seh  neck  (18)  bezeichnet  bescheidenerweise  seine  Reiseerinnerungen  nur 
als  einen  schwachen  Abglanz  der  geschauten  ewigen  Schönheit  des  Griechentums. 
Er  hat  mit  klarem  Blicke  das  Land  und  Volk  beobachtet,  und  seine  geschichtlichen 
und  archäologischen  Bemerkungen  zeugen  von  gründlichem  Studium  sowohl  der 
klassischen,  als  auch  der  mittelalterlichen  und  späteren  Zeit.  Der  Lage  der  Akropolis 
von  Akragas  ist  ein  besonderer  Abschnitt  gewidmet. 


Erdkunde.  529 

Eine  begeisterte  Schilderung  bieten  auch  Blondeaus  (19)  Erinnerungen 
an  Delos  und  Delphi.  Voir,  c'est  avoir  ist  das  Motto  des  wanderfrohen  Kollegen. 
Und  er  hat  nicht  nur  mit  dem  leiblichen  Auge  gesehen,  sondern  mit  dem  Geiste  sieht 
er  die  alten  Zeiten  wieder  aufleben,  so  daß  blühendes  Leben  wieder  die  trostlose 
Öde  umgibt;  unvergängliche  Schätze  trägt  er  im  Herzen  heim  und  schildert  beredt 
seinen  Schülern  die  Herrlichkeit  griechischer  Landschaft  sowie  die  Größe  grie- 
chischer Geschichte  und  Kunst. 

Alles  in  allem  zeigen  die  Arbeiten  der  Geographen  wieder  tüchtiges  Streben, 
Liebe  zum  Unterricht  und  zu  den  Schülern  und  eine  ehrliche  Begeisterung  für 
das  Aschenbrödel  unter  den  Lehrfächern. 

Essen-Ruhr.  Victor  Steinecke. 


Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  34 


III.    Bücherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 
Zur  Chemie. 

Im  5.  Band  dieser  Monatschrift  wurde  Wilhelm  Ostwalds  SchulederChemie, 
Braunschweig  1910,  F.  Vieweg  &  Sohn,  441  S.,  gr.  8^,  5  M.,  eingehend  besprochen. 
Das  Buch  ist  nunmehr  in  nahezu  unveränderter  Form  in  zweiter  Auflage  erschienen 
und  ist,  wie  der  Verfasser  in  der  Vorrede  bemerkt,  von  seinen  Büchern  dasjenige, 
welches  die  schnellste  Verbreitung  gefunden  hat.  Auf  S.  317,  Z.  14  v.  o.  ist  das 
Wort  „nicht"  ausgelassen;  es  muß  heißen  „und  nicht  sehr  flüchtigen  Schwefel- 
säure". Ferner  steht  auf  S.  321,  Z.  12  v.  u.  NagHPO  statt  Na2HP04,  und  auf  S.  352 
fehlt  die  Angabe,  daß  der  zur  Porzellanbereitung  dienende  Kaolin  vor  dem  Formen 
mit  Feldspat  vermischt  wird,  welcher  dadurch,  daß  er  beim  Scharfbrennen  schmilzt, 
die  Porosität  des  Scherbens  aufhebt. 

Während  das  soeben  erwähnte  Buch  für  weitere  Kreise  bestimmt  ist,  soll  die 
Einführung  in  die  Chemie  von  Wilhelm  Ostwaid,  Stuttgart  1910,  Francksche 
Verlagsbuchhandlung,  239  S.  m.  Abb.,  gr.  S^\  3  M.,  als  Lehrbuch  für  den  chemischen 
Unterricht  an  höheren  Lehranstalten  dienen.  Wie  der  Verfasser  in  der  Vorrede  be- 
merkt, waren  für  ihn  bei  der  Abfassung  beider  Bücher  im  wesentlichen  dieselben 
Grundsätze  maßgebend,  unter  ihnen  in  erster  Linie  das  Bestreben,  den  Unterricht 
in  der  Chemie  so  zu  gestalten,  daß  die  Schüler,  anstatt  sie  durch  eine  Fülle  von 
Einzeltatsachen  zu  verwirren,  durch  ihn  zu  eigener  Denktätigkeit  angeregt  und 
erzogen  werden,  und  er  hat  daher  bei  der  Auswahl  des  Stoffes  „eine  energische 
Beschränkung  durchgeführt".  Demgemäß  wird  eine  Reihe  von  Elementen,  von  denen 
nur  die  Edelgase,  ferner  das  Bor,  Selen,  Tellur,  Arsen,  Antimon,  Wismut,  Kadmium, 
Nickel,  Kobalt  und  Chrom  genannt  seien,  nicht  einmal  dem  Namen  nach  er- 
wähnt, und  bei  der  Beschreibung  der  Verbindungen,  von  denen  (soweit  die  be- 
treffenden Elemente  berücksichtigt  würden)  keine  wichtigere  fehlt,  beschränkt 
sich  der  Verfasser  zumeist  auf  die  Angabe  nur  weniger,  besonders  charakteristischer 
Eigenschaften.  Auch  die  Technologie,  namentlich  die  Gewinnung  der  Metalle, 
wird  nur  kurz  abgehandelt.  Immerhin  ist  das  mitgeteilte  Tatsachenmaterial  noch 
groß  genug  und  kann  da,  wo  es  der  Fachlehrer  für  angebracht  erachtet,  leicht  er- 
gänzt werden.  Dies  wird  um  so  leichter  möglich  sein,  als  die  eingehende  Be- 
sprechung einer  Anzahl  von  Abschnitten  des  Buches  im  chemischen  Unterricht 
nicht  nötig  ist,  weil  ihr  Inhalt  bereits  Gegenstand  des  an  den  höheren  Lehranstalten 


H.  Böttger,  Zur  Chemie.  531 

früher  beginnenden  Physikunterrichtes  gewesen  ist.  Hierher  gehören  z.  B.  die 
Paragraphen,  welche  über  die  Formarten  und  ihre  Umwandlung,  das  Gewicht, 
die  Dichte,  die  Temperatur,  die  Schmelz-  und  Verdampfungswärme  handeln.  Dem 
Fachlehrer  für  Chemie  ist  es  im  Hinblick  auf  die  geringe  Stundenzahl,  mit 
welcher  diese  Disziplin  zurzeit  noch  bedacht  ist,  gar  nicht  möglich,  Teile  des  physi- 
kalischen Unterrichtsstoffes  in  der  Ausdehnung  zu  berücksichtigen,  wie  dies  nach 
dem  Ostwaldschen  Buche  geschehen  soll,  und  es  ist  bei  einigermaßen  gut  ge- 
leitetem physikalischen  Unterricht  auch  nicht  nötig. 

Eigenartig  ist  die  Reihenfolge,  in  der  die  einzelnen  Elemente  besprochen 
werden.  An  die  Betrachtung  des  Sauerstoffs,  Wasserstoffs  und  des  Wassers  schließen 
sich  die  Halogene  und  ihre  Wasserstoffverbindungen,  an  diese  aber  sogleich  das 
Natrium,  Kalium  und  Magnesium  an,  so  daß  neben  jenen  wichtigen  säurebildenden 
Elementen  nicht  nur  die  Basen  selbst,  sondern  auch  die  sie  bildenden  Metalle  früh- 
zeitig den  Gegenstand  des  Unterrichtes  bilden.  Ebenso  werden  an  den  Schwefel 
die  Erdalkalimetalle  angeschlossen;  dann  folgt  der  Stickstoff,  an  dessen  Sauer- 
stoffsäuren die  ähnlich  zusammengesetzten  entsprechenden  Verbindungen  der 
Halogene  angegliedert  sind,  und  weiterhin  der  Kohlenstoff,  bei  dessen  Wasserstoff- 
verbindungen ein  Ausblick  auf  die  organischen  Verbindungen  gegeben  wird.  Der 
Betrachtung  der  Schwermetalle  (Zink,  Eisen,  Mangan;  Blei,  Kupfer,  Quecksilber, 
Silber;  Zinn,  Gold,  Platin)  geht  ein  als  „die  Erdrinde"  bezeichnetes  Kapitel  voraus, 
in  dem  außer  dem  Aluminium  und  Silicium  eigentümlicherweise  auch  der  Phosphor 
behandelt  wird,  wiewohl  unter  seinen  Verbindungen  kaum  eine  als  gesteinsbildend 
bezeichnet  werden  kann.  Dieses  Verfahren  des  Verfassers,  bei  dem  die  Metalle 
nicht  erst,  wie  es  bisher  üblich  war,  nach  Absolvierung  der  Nichtmetalle,  sondern 
in  bunter  Reihe  mit  ihnen  betrachtet  werden,  ist  beachtenswert  und  verdient  im 
Unterricht  praktisch  erprobt  zu  werden.  Daß  sich  auch  sonst  vieles  Originelle 
im  Inhalt  und  in  der  Form  der  Ausführungen  sowie  in  den  mitgeteilten  Versuchs- 
anordnungen finden,  braucht  kaum  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Beim 
Durchlesen  des  Buches  sind  dem  Referenten  folgende  Versehen  bei  der  Druck- 
legung aufgefallen:  S.  69,  Z.  18  v.  u.:  einfache  und  zusammengesetzte  Verbindungen 
statt  Stoffe.  S.  95,  Z.  2  v.  o.:  16«  statt  6«.  S.  125,  Z.  6  v.  u.:  Mg  (OHg)  statt 
Mg  (0H)2.  S.  133,  Z.  5  V.  u.  wird  das  Wort  Anion  gebraucht,  obwohl  der  Begriff 
erst  später  erläutert  wird.  S.  134:  Na2S04=H20  statt  Na2S04H-  HgO.  S.  141: 
Der  Unterschied  zwischen  Kiesen  und  Glänzen  besteht  in  der  Färbung  dieser 
Mineralien,  metallisch  glänzend  sind  beide.  S.  151,  Z.  24  v.  u.:  angetrieben  statt 
ausgetrieben.  §  209  ist  eine  Wiederholung  eines  Teils  von  §  106.  Die  Schreibweise 
Karnallit  (S.  124)  ist,  weil  der  Name  des  Minerals  von  einem  Personennamen 
(v.  Carnall)  abgeleitet  wurde,  unstatthaft.  S.  175,  Z.  13  v.  u.:  C03  statt  CO3.  Das 
Wort  Schwefelkies  (S.  210)  wird  zweckmäßig  durch  Eisenkies  ersetzt.  Von  dem 
S.  215  neben  dem  Aragonit  erwähnten  Witherit  ist  sonst  nirgends  die  Rede.  S.  216, 
Z.  7  V.  0.:  Pb(C2H302)  statt  Pb(C2H302)2.  Treibherde  sind  noch  vielfach,  z.  B 
im  Harz  im  Betriebe.  S.  222,  Z.  11  u.  13  v.  0.  HN3  statt  NH3.  Bei  der  auf  derselben 
Seite  folgenden  Schilderung  der  Kupfergewinnung  aus  dem  Kupferkies  hätte  das 
Verfahren  zur  Entfernung  des  Eisens  wenigstens  angedeutet  werden  müssen. 
Ebenso  ist  die  S.  128  sich  findende  Angabe,  daß  (im  monosymmetrischen  System) 

34* 


532  H.  Böttger, 

nur  eine  Drehung  von  ISO''  um  eine  Achse,  die  den  schiefen  Endflächen  parallel 
ist,  eine  Deckbewegung  ist,  ungenau,  da  es  zu  einer  Ebene  unendlich  viele  parallele 
Gerade  gibt.  Rührt  nicht  die  Bezeichnung  Erdmetalle  und  alkalische  Erdmetalle 
von  der  erdigen  (d.  h.  leicht  zerreiblichen)  Beschaffenheit  des  Aluminium-  und  des 
Kalziumoxyds  (S.  71),  und  die  Bezeichnung  Kohlensäure  noch  von  der  Berzelius- 
schen  Auffassung  der  Säuren,  Basen  und  Salze  (S.  166)  her? 

Die  PrinzipienderChemie  vo  n  Wilhelm  Ost  wald,  Leipzigl907,  Akademische 
Verlagsgesellschaft  m.  b.  H.,  540  S.  m.  Fig.,  8^,  8  M.,  enthalten  in  breiterer  und  wissen- 
schaftlich vertiefter  Ausführung  Betrachtungen,  die  sich  teilweise  bereits  in  mehr 
populärer  Form  in  den  beiden  zuvor  erwähnten  Büchern  des  Verfassers  finden. 
Das  Werk  ist  nicht  für  die  Hand  des  Schülers,  sondern  für  die  des  Studierenden  und 
des  Lehrers  bestimmt.  Dem  ersteren  soll  es,  wenn  er  durch  die  Bekanntschaft 
mit  einer  nicht  zu  kleinen  Anzahl  von  wichtigen  und  charakteristischen  Stoffen  eine 
Grundlage  für  sein  chemisches  Wissen  gewonnen  hat,  „Gelegenheit  bieten,  die 
großen  Zusammenhänge  zu  überblicken,  durch  die  alle  Einzelheiten  zu  einer  Einheit 
verbunden  sind;  dem  letzteren  soll  es  eine  Anleitung  geben,  wie  er  diese  Allgemein- 
heiten zu  fassen  und  in  seinen  Unterricht  in  Experimentalchemie  zu  verweben  hat**. 
Die  einzelnen  Kapitel  des  Buches  handeln  von  dem  Unterschied  zwischen  Körpern 
und  Stoffen,  ihren  willkürlichen  und  spezifischen  Eigenschaften;  von  der  Charakteri- 
sierung der  drei  Formarten;  von  dem  Unterschied  zwischen  Gemengen,  Lösungen 
und  reinen  Stoffen;  von  der  Umwandlung  der  Formarten  in  einander  und  den  sich  da- 
bei ergebenden  Gleichgewichten;  von  den  Lösungen;  von  dem  Unterschied  zwischen 
Elementen  und  Verbindungen;  von  denVerbindungs-  und  Molargewichten  und  den 
Eigenschaften  der  verdünnten  Lösungen ;  von  der  Reaktionsgeschwindigkeit  und  dem 
Massenwirkungsgesetz;  von  der  Isomerie;  endlich  von  den  Ionen.  Wie  es  dem  Ver- 
fasser gelingt,  die  oben  angegebenen  Ziele  zu  erreichen  und  ein  Lehrbuch  der  Chemie 
zu  schaffen,  welches  ohne  Bezugnahme  auf  die  Eigenschaften  individueller  Stoffe 
ein  rationelles  wissenschaftliches  System  der  Chemie  darstellt,  kann  im  einzelnen 
und  innerhalb  des  hier  zur  Verfügung  stehenden  Raumes  nicht  näher  geschildert 
werden.  Das  Buch  erfordert  ein  gründliches  Studium  und  zu  seinem  Verständnis 
einen  in  den  einzelnen  Teilen  allerdings  verschieden  großen  Aufwand  von  geistiger 
Anstrengung.  Dieser  ist  nach  der  Ansicht  des  Referenten  am  größten  im  6.  Kapitel ; 
welches  durch  Hinweise  auf  besondere  Fälle,  in  denen  die  dort  erörterten  all- 
gemeinen Gesetzmäßigkeiten  zur  Anwendung  gelangen,  wohl  leichter  verständlich 
sein  würde.  Wer  die  Mühe  nicht  scheut,  sich  den  Inhalt  des  Buches  anzueignen  — 
und  im  Interesse  des  chemischen  Unterrichts  wäre  es  zu  wünschen,  daß  sich  recht 
viele  dieser  Mühe  unterzögen  —  wird  reichen  Gewinn  davontragen. 

Die  Einführung  in  die  Chemie  von  Rudolf  Ochs,  Berlin  1911,  J.  Springer, 
502  S.,  gr.8^  geb.6  M.,  ist  nicht,  wie  man  vielleicht  nach  demTitel  vermuten  könnte,  ein 
Hilfsmittel  für  den  propädeutischen  Schulunterricht  in  der  Chemie,  vielmehr  ist  das 
Buch  für  solche  Leser  bestimmt,  die,  ohne  besondereVorkenntnisse  zu  besitzen,  einen 
tieferen  Einblick  in  die  Welt  des  chemischen  Geschehens  gewinnen  möchten.  Der 
Verfasser  wählt  für  seine  Ausführungen  die  Form  des  Vortrags  (der  Vorrede  zu- 
folge sind  die  Vorträge  in  einem  engeren  Kreis  von  Freunden  und  Bekannten  ge- 
halten worden),  und  da  seine  Sprache  gewandt  und  sein  Stil  flüssig  ist,  so  folgt  man 


Zur  Chemie.  533 

ihm  zunächst  gern  bei  seinen  Erörterungen,  um  leider  bald  zu  erkennen,  daß  die 
Korrektheit  des  Ausdrucks  und  vor  allem  die  sachliche  Richtigkeit  an  nicht  wenigen 
Stellen  recht  viel  zu  wünschen  übrig  läßt.  Wenn  er  z.  B.  S.  31  sagt:  ,,Wir  können 
demnach  den  Stickstoff  als  ein  giftiges  Gas  bezeichnen,  insofern  nämlich,  als 
lebende  Wesen  in  ihm  nach  kurzer  Zeit  zugrunde  gehen,  müssen  aber  dabei  immer 
bedenken,  daß  nicht  dem  Stickstoff  an  sich  giftige  Eigenschaften  zukommen,  sondern 
daß  er  nur  giftig  wirkt,  weil  er  keinen  Sauerstoff  enthält.  Genau  ebenso  würde 
ein  luftleerer  Raum  wirken,  ohne  daß  wir  deshalb  sagen  könnten,  daß  er  giftig  sei," 
so  wird  der  Leser  mit  Recht  fragen:  Ist  denn  nun  eigentlich  der  Stickstoff  giftig, 
oder  ist  er  es  nicht?  Ebenso  wird  auf  S.  481  nach  den  Worten:  ,,Als  Mengen  (bei 
thermochemischen  Reaktionsgleichungen)  werden  stets  Grammoleküle  ange- 
nommen,** als  Beispiel  die  Gleichung:  Hg  +  0  =  HgO  gasförmig  -f  58  750  cal. 
angeführt,  in  welcher  von  einem  Gramm  a  t  o  m  Sauerstoff  die  Rede  ist.  Neben 
ihm  wird  allerdings  das  Zeichen  für  das  Gramm  o  1  e  k  ü  1  Wasserstoff  gebraucht; 
dann  müßten  jedoch  nach  der  früheren  richtigen  Behauptung  des  Verfassers  zwei 
Moleküle  Wasserstoff  an  der  Entstehung  des  Wassers  beteiligt  sein.  Nebenbei 
bemerkt,  ist  es  in  der  Thermochemie  durchaus  nicht  üblich,  die  Zahlenangaben 
auf  molekulare  Mengen  der  an  den  Vorgängen  beteiligten  Elemente  zu  beziehen; 
ein  Blick  in  J.  Thomsens  Thermochemische  Untersuchungen,  Berthelots  Thermo- 
chemie oder  ein  Tabellenwerk  (Chemiker-Kalender,  Landolt-Börnsteins  Tabellen) 
würde  den  Verfasser  davon  überzeugt  haben.  Überhaupt  hat  über  der  ganzen 
oben  angeführten  thermochemischen  Betrachtung  ein  Unstern  gewaltet.  Denn 
nachdem  die  entsprechende  Gleichung  für  die  68  400  cal.  betragende  Bildungs- 
wärme des  flüssigen  Wassers  mitgeteilt  ist,  fährt  der  Verfasser  S.  482  fort:  „Die 
Wärmeentwicklung  ist  also  jetzt  um  9650  cal.  größer.  Diese  9650  cal.  stecken 
als  latente  Wärme  in  den  18  g  flüssigen  (!)  Wassers  und  (das  Nachfolgende  ist  im 
Original  nicht  gesperrt)  werden  beim  Gefrieren  wie>derfrei;  um- 
gekehrtwerdensiezum  Schmelzenvon  18  g  Eiswiederver- 
brauch t."  Der  Verfasser  verwechselt  also  offensichtlich  die  Verdampfungs- 
wärme des  Wassers  mit  seiner  Schmelzwärme,  wiewohl  ihm  eine  einfache  Über- 
legung hätte  sagen  müssen,  daß  diese  pro  Mol.  Wasser  (rund)  18  x  80  cal.  = 
1440  cal.  beträgt,  also  von  der  oben  stehenden  Differenz  sehr  verschieden  ist,  und 
daß  die  Bildungswärme  des  f  e  s  t  e  n  Wassers  um  diesen  Betrag  g  r  ö  ß  e  r  ist  als 
diejenige  des  flüssigen,  also  68  400  +  1440  cal.  =  69  840  cal.  beträgt,  wenn  man 
von  dem  Umstand  absieht,  daß  die  Bildungsräume  des  flüssigen  Wassers  bei  18° 
gemessen  wurde,  und  daß  mithin  beim  Abkühlen  auf  0°  abermals  18  x  18  cal.  = 
144  cal.  nach  außen  hin  abgegeben  werden.  Die  Zuverlässigkeit  des  Textes  versagt 
überhaupt  besonders  da,  wo  es  sich  um  die  Erörterung  oder  die  Anwendung  physi- 
kalischer Begriffe  handelt.  Nachdem  S.  2  die  Behauptung  aufgestellt  ist,  daß  eine 
gewisse  Menge  Quecksilber  über  1314  mal  so  viel  wiegt  wie  eine  gleiche  Menge 
Wasser,  versucht  der  Verfasser  nachzuweisen,  daß  der  von  einem  Körper  auf  seine 
Unterlage  ausgeübte  Druck  von  seiner  Größe  abhängig  ist.  Es  ist  nicht  ersicht- 
lich, was  hier  unter  dem  Begriff  „Größe"  gemeint  ist.  Das  Volumen  des  Körpers 
kann  es  doch  nicht  sein,  denn  eine  einfache  Überlegung  zeigt,  daß  sich  dann  das 
Gewicht  eines  Körpers  mit  seiner  Temperatur  ändern  muß,  da  hierbei  eine  Volumen- 


534  H.  Böttger, 

änderung  stattfindet.  Aus  den  unmittelbar  darauf  folgenden  Worten:  ,,Der  zweite 
Fall,  nämlich  daß  Körper  aus  verschiedenem  Stoff  trotz  gleichen  Volumens  (gleiche 
Masse)  verschiedenes  Gewicht  haben  usw.*',  ersieht  man  dann,  daß  der  Verfasser 
unter  Größe  die  Masse  verstanden  sehen  will,  die  er  jedoch  unbegreiflicherweise 
mit  dem  Volumen  verwechselt.  Infolgedessen  mißlingt  ihm  natürlich  die  Ableitung 
der  aus  dem  zweiten  Newtonschen  Bewegungsgesetz  in  der  einfachsten  Weise  sich 
ergebenden  Gleichung  p  =  m .  g,  in  der  p  die  von  der  Erde  auf  die  Masse  m  aus- 
geübte Kraft  ist,  um  so  gründlicher,  als  er  die  Größe  g,  d.  h.  die  Schwerebeschleuni- 
gung (981  cm  sec.-2)  mit  jener  Kraft  selbst  identifiziert  (S.  3),  wodurch  die  Begriffs- 
verwirrung ihren  Höhepunkt  erreicht.  Nicht  ohne  bedenkliches  Kopfschütteln 
werden  die  Physiker  den  Satz  (S.  3)  lesen,  welcher  das  Endergebnis  dieser  Er- 
örterungen bildet:  „Wir  müssen  also  zwei  Gewichtseinheiten  unterscheiden:  die 
technische  und  die  physikalische.  Die  technische  vernachlässigt  den  Einfluß  der 
Schwerkraft  und  setzt  einfach  Gewichtseinheit  gleich  Masseneinheit;  um  diese 
handelt  es  sich  auch  in  der  Chemie,  da  wir  hier  nur  vergleichen.  In  der  Physik 
dagegen,  wo  man  es  stets  mit  absoluten  Größen  zu  tun  hat,  kann  dieser  Betrag 
nicht  vernachlässigt  werden.  Deshalb  ist  die  physikalische  Gewichtseinheit  gleich 
der  Masseneinheit  mal  der  Erdanziehung*'.  Auch  gegen  die  Gleichsetzung  von  Kraft 
und  Energie  (S.  40:  Wir  wissen  nur,  daß  die  Elektrizität  eine  Kraft,  eine  Energie- 
form ist;  S.  1  und  an  anderen  Stellen:  Die  Wärme  ist  eine  Kraft)  dürfte  sich  all- 
seitiger Widerspruch  erheben. 

Nicht  viel  besser  ist  es  mit  dem  rein  chemischen  Inhalt  der  Vorträge  bestellt. 
Sätze  wie  der  S.  44  stehende:  „Ein  Milligrammatom  Wasserstoff,  also  1  Milligramm 
dieses  Elementes,  nennt  man  eine  Valenz",  oder  der  S.  53  sich  findende:  „Wir  be- 
sitzen im  Stickstoffdioxyd  ein  bequemes  Mittel,  starke  luftverdünnte  Räume  herzu- 
stellen" (weil  nämlich  Kalilauge  auf  die  genannte  Verbindung  so  einwirkt,  daß 
das  Volumen  der  Reaktionsprodukte  kleiner  ist  als  das  der  angewandten  Verbin- 
dung) sind  schlechthin  unverständlich,  während  andere  geradezu  falsch  sind.  Es 
ist  indes  nicht  möglich,  in  dem  Rahmen  dieser  ohnehin  bereits  über  Gebühr  aus- 
gedehnten Besprechung  weitere  Belegstellen  für  die  Richtigkeit  der  aufgestellten 
Behauptung  anzuführen. 

Als  einen  besonderen  Vorzug  seines  Buches  hebt  der  Verfasser  in  der  Vorrede 
die  frühzeitige  Einführung  des  Begriffs  der  elektrolytischen  Dissoziation  hervor 
(der  Verfasser  nennt  sie  unberechtigterweise  kurzweg  Dissoziation).  Tatsächlich 
wird  der  Begriff  bereits  im  5.  Vortrag  erörtert,  allein  von  einer  Anwendung  der 
Theorie  merkt  man  in  dem  Buche  nicht  viel,  und  die  wenigen  Vorgänge,  bei  denen 
die  lonenschreibweise  gebraucht  wird,  sind  zum  Teil  solche,  bei  denen  die  elektro- 
lytische Dissoziation,  da  es  sich  nicht  um  Reaktionen  in  wässerigen  Lösungen 
handelt,  ganz  oder  doch  nahezu  ganz  unbeteiligt  ist  (s.  die  Darstellung  der  Chlor- 
wasserstoffsäure und  sogar  der  Flußsäure).  Andere  lonengleichungen  wiederum 
sind  unrichtig,  wie  z.  B.  die  Gleichung:  2  M*  +  2  H'  +  2  Cl'  =  2  MCI  +  Hj, 
in  der  M  ein  einwertiges  Metall  bezeichnet  (S.  59);  denn  die  Gleichung  lautet  tat- 
sächlich: 2  M  -f  2  H-  +  2  er  =  2  M-  +  2  er  +  H2  oder  (kürzer):  2  M  + 
2  H*  =  2  M*  4-  Hg.  Störend  und  irreführend  ist  auch  die  Inkonsequenz,  mit  der 
in  den  Gleichungen  bald  die  Zeichen  für  die  molekularen  Mengen  der  Elemente, 
bald  wieder  die  den  Atomgewichten  entsprechenden  gebraucht  werden. 


Zur  Chemie.  535 

Dem  theoretischen  Teil  folgt  ein  die  Hälfte  des  Buches  einnehmender  praktischer, 
in  welchem  eine  ausführlichere  Anleitung  zur  Ausführung  von  Demonstrations- 
versuchen gegeben  wird  (eine  Anzahl  derartiger  Versuche  wird  schon  im  ersten  Teil 
beschrieben).  Neben  wohl  brauchbaren  Versuchsanordnungen,  z.  B.  denjenigen, 
welche  das  Leuchten  des  Phosphors  betreffen  (S.  380  und  381),  findet  sich  auch  hier 
manches  Unrichtige.  So  muß  in  Fig.  176  das  den  Wasserstoff  zuführende  Rohr 
unbedingt  bis  auf  den  Boden  der  Retorte  reichen  (wenn  man  nicht  überhaupt  vor- 
zieht, statt  der  Retorte  eine  Kugelröhre  zu  verwenden),  und  in  Fig.  186  ist  das 
Ableitungsrohr  des  Fraktionierkölbchens,  aus  welchem  Sulfurylchlorid  destilliert 
wird,  anscheinend  luftdicht  durch  den  Pfropfen  der  Vorlage  hindurchführt,  welche 
zur  Aufnahme  des  Destillats  bestimmt  ist.  Warum  die  bei  etwa  70°  siedende 
Verbindung  im  Sandbad  erhitzt  wird,  ist  nicht  einzusehen,  ebensowenig  wie  die 
Anwendung  des  Sandbades  zum  Erhitzen  des  Wassers  in  Fig.  10  und  11. 

Es  ist  bedauerlich,  daß  das  Buch,  welches  sich  wie  alle  im  Springerschen  Verlag 
erschienenen  Schriften  durch  eine  vorzügliche  Ausstattung  auszeichnet,  durch 
so  viele  sachliche  Inkorrektheiten  und  Fehler  entstellt  ist.  Erstrecken  sich  doch  die 
Ungenauigkeiten  bis  in  das  Register,  in  welchem  bei  Cadmium  auf  Kadmium 
verwiesen  ist,  der  Name  des  Metalls  unter  dem  Buchstaben  K  aber  fehlt. 

Ebenfalls  nicht  speziell  für  den  Schulgebrauch,  sondern  für  weitere  Kreise  be- 
stimmt ist  die  Anorganische  Chemie  von  Jos. Klein  (No.  37  der  Sammlung 
Göschen.  Leipzig  1911, 5.  Aufl.,  170  S,,  geb.  0,80 M.).  Angesichts  des  Umstandes,  daß 
dies  kleine  Buch  bereits  in  der  5.  Auflage  erscheint,  muß  es  auffallen,  daß  derVerfasser 
bei  den  wiederholten  Revisionen  desTextes  sich  nicht  veranlaßt  gesehen  hat,  die  zahl- 
reichen Ungenauigkeiten  und  Unrichtigkeiten  auszumerzen,  die  sich  darin  finden.  So 
hat  die  Angabe  auf  S.  72:  „Das  Salzsäuregas  ist  durch  einen  Druck  von  40  Atmos- 
phären zu  einerFlüssigkeit  verdichtbar*'doch  gar  keinenSinn,wenn  nicht  die  zugehörige 
Temperatur  angegeben  wird,  und  das  Nämliche  gilt  von  dem  S.  78  stehenden  Satz, 
daß  der  Schwefelwasserstoff  sowohl  durch  Druck  (14  Atmosphären)  wie  durch  niedere 
Temperatur  ( —  74  °)  verdichtet  werden  kann.  Der  Sauerstoff  soll,  wie  S.  57  mit- 
geteilt wird  unter  hohem  Druck  (320  Atmosphären)  und  bei  niederer  Temperatur 
( —  140  «)  verdichtet  werden,  wiewohl  der  kritische  Druck  dieses  Gases,  d.  h.  der 
größte  Druck,  den  das  neben  dem  flüssigen  vorhandene  gasförmipe  Element  aus- 
üben und  der  daher  für  die  Verflüssigung  in  Betracht  kommen  kann,  nur  50  Atmo- 
sphären beträgt.  Welche  Bedeutung  soll  sonach  den  320  Atmosphären  zukommen? 
Ebensowenig  ist  die  Temperaturangabe  ( —  140  ^)  verständlich,  da  als  ausgezeichnete 
Temperaturen  doch  wohl  nur  die  kritische  Temperatur  ( —  118'^)  und  der  Siede- 
punkt ( —  181  °)  des  Sauerstoffs  in  Betracht  kommen  können.  S.  56  wird  das 
Kaliumchlorat  als  zusammengesetztes  Oxyd  bezeichnet,  und  als  zweites  Beispiel 
für  diese  in  der  Chemie  sonst  unbekannte  Gruppe  von  Oxyden  wird  kurz  darauf 
„eine  Mischung  von  chromsaurem  Kalium  mit  Schwefelsäure"  angeführt.  S.  70 
wird  behauptet,  das  Jod  stelle  braunrote  (!),  metallisch  glänzende  Blättchen  von 
an  Chlor  (!)  erinnerndem  Geruch  dar,  u.  ä.  m.  Der  Raum  verbietet,  noch  mehr 
derartige  Stellen  anzugeben,  die  dringend  der  Korrektur  bedürfen.  Es  möge 
indes  noch  bemerkt  werden,  daß  die  (vollständige)  Dissoziation  der  Schwefel- 
säure nicht  durch  die  Gleichung  H2SO4  =  Hg"  +  SO/'  (S.  120),  sondern  durch 


536  H.  Böttger, 

H2O4  =  2  H-  +  SO4"  auszudrücken  ist,  weil  es  ein  Kation  Hg"  nicht  gibt.  Wün- 
schenswert ist  ferner  für  eine  Neuauflage  die  Revision  des  Textes  auf  seine  stilistische 
Reinheit  hin,  wenn  anders  das  Buch  auch  für  die  Schüler  der  höheren  Lehranstalten 
brauchbar  sein  soll.  Sätze  wie  der  auf  S.  114  sich  findende:  „Sie  (die  Blausäure) 
ist  äußerst  giftig  und  in  wasserfreiem  Zustand  eingeatmet  wirkt  sie  schon  tödlich", 
oder  der  auf  S.  73  stehende:  „Charakteristisch  für  HCl,  HBr  und  HI  sowie  deren 
lösliche  Salze  ist  das  Gefälltwerden  durch  salpetersaures  Silber"  könnten  doch 
leicht  eine  einwandfreiere  Form  erhalten,  während  die  Umgestaltung  anderer 
Sätze  zwar  schwieriger  aber  um  so  wünschenswerter  ist. 

Die  rasche  Aufeinanderfolge  der  Auflagen  des  bekannten,  im  besten  Sinne 
populären  Buches  von  Lassar-Cohn:  DieChemie  im  täglichen  Leben 
Hamburg  und  Leipzig  1912,  L.  Voß,  VI  U.345S.  m.  23  Abb.,  8«,  geb.  4  M.,  von  dem 
nun  schon  die  7.  Auflage  vorliegt,  ist  ein  Zeichen  für  das  wachsende  Interesse,  welches 
das  große  Publikum  der  Chemie  entgegenbringt,  andererseits  aber  auch  ein  Beweis 
für  die  Vortrefflichkeit  des  Buches,  welches  auf  seinen  20  Bogen  außer  den  für  die 
Ernährung  der  Pflanzen  und  des  Menschen  in  Betracht  kommenden  chemischen 
Vorgängen  so  ziemlich  alle  Gebiete  der  anorganischen  und  organischen  Technologie 
in  gemeinverständlicher  Weise  behandelt.  Das  Buch  enthält  außerdem  eine  solche 
Fülle  von  historischen,  biographischen,  statistischen  und  volkswirtschaftlichen 
Notizen,  daß  seine  Lektüre  auch  für  den  Chemiker  von  Fach  genußreich  ist. 
Insbesondere  werden  alle,  die  in  Chemie  unterrichten,  vieles  darin  finden,  was 
unmittelbar  im  Unterricht  verwendet  werden  kann. 

Unter  den  speziell  für  denSchulunterricht  bestimmtenLehrbüchern  möge  zunächst 
das  ganz  auf  dem  Boden  der  modernen  Wissenschaft  stehende  Lehrbuch  der 
Chemie  von  Ernst  Rotte,  Dresden-Blasewitz  1911,  Bleyl  und  Kämmerer,  gr.  8^ 
geb.  10,55  M.,  erwähnt  werden.  DerVerf asser  will,  wie  er  in  derVorrede  ausführt,  den 
Unterricht  in  der  Chemie  so  gestalten,  daß  der  Nachdruck  auf  die  allgemeinen  Gesetz- 
mäßigkeitengelegt wird,welche  die  chemischen  Vorgänge  beherrschen,und  erwill  sonach 
mit  dem  bisher  zumeist  geübten  Unterrichtsverfahren  brechen,  welches  der  Chemie 
mehr  oder  weniger  deutlich  den  ihr  fremden  Charakter  einer  beschreibenden  Natur- 
wissenschaft aufprägt.  Dieser  Absicht  kann  der  Referent  aus  vollster  Überzeugung 
zustimmen  und  auf  Grund  seiner  mehr  als  zwei  Dezennien  umfassenden  Lehr- 
tätigkeit versichern,  daß  bei  diesem  Unterrichtsbetrieb,  der  nach  seinem  Dafür- 
halten am  besten  ein  Verständnis  für  die  Eigenart  der  chemischen  Vorgänge  zu 
geben  und  sie  zur  Schärfung  des  Denkvermögens  der  Schüler  zu  verwerten  vermag, 
keine  anderen  Schwierigkeiten  zu  überwinden  sind  als  bei  jedem  anderen  Unterricht, 
der  bestimmte  Anforderungen  an  die  eigene  Denktätigkeit  der  Schüler  stellt. 

Das  Lehrbuch  zerfällt  in  drei  Teile,  von  denen  der  erste,  205  Seiten  umfassende, 
als  Einführung  in  die  Chemie  bezeichnet  wird.  Der  Verfasser  beginnt 
den  Unterricht  mit  den  dem  Grenzgebiet  zwischen  Chemie  und  Physik  angehörenden 
Vorgängen  der  Zustandsänderungen,  wobei  sich  bereits  Gelegenheit  bietet,  den 
Begriff  des  Gleichgewichts  an  einfachen  Beispielen  zu  erörtern  und  dadurch  das 
Verständnis  dieses  Begriffs  in  später  folgenden  komplizierteren  Fällen  vorzubereiten. 
Auch  auf  die  praktische  Bedeutung  der  genannten  Änderungen,  namentlich  zur 
Erzielung  reiner  Stoffe,  wird  nachdrücklich  hingewiesen.    An  den  Verbrennungs- 


Zur  Chemie.  537 

Vorgängen  erörtert  der  Verfasser  alsdann  das  Wesen  der  chemischen  Veränderungen 
und  betrachtet  im  Anschluß  an  jene  Vorgänge  einerseits  die  wichtigsten  unter  den 
Oxyden  der  Nichtmetalle  und  der  Metalle,  anderseits  die  bei  der  Entstehung 
dieser  Verbindungen  stattfindenden  Energieänderungen,  so  daß  der  Schüler  sehr 
frühzeitig  mit  dem  Energiebegriff  und  dem  Energiesatz  bekannt  gemacht  wird. 
Eine  besonders  eingehende  Betrachtung  wird  dem  wichtigsten  unter  den  Oxyden, 
dem  Wasser,  gewidmet,  dessen  bemerkenswerte  physikalische  Eigenschaften 
eingehend  geschildert  werden.  Seine  quantitative  Zusammensetzung  gibt  dann 
Gelegenheit  zur  Erörterung  der  stöchiometrischen  Grundgesetze  und  der  Gay- 
Lussacschen  Volumengesetze.  Diese  Betrachtungen  erfahren  eine  Ergänzung  und 
Erweiterung  durch  die  im  Anschluß  an  die  Zusammensetzung  der  Salzsäure  ge- 
machten Ausführungen  über  die  Molekularhypothese.  Das  letzte  Kapitel  handelt 
von  den  Säuren,  Basen  und  Salzen  und  schließt  mit  einem  Einblick  in  das  Wesen 
und  die  Bedeutung  der  Theorie  der  elektrolytischen  Dissoziation  und  in  die  Vor- 
gänge bei  der  Elektrolyse.  Diese  kurze  Übersicht,  welche  den  Reichtum  des  dar- 
gebotenen Unterrichtsstoffes  nur  sehr  unvollkommen  erkennen  läßt,  war  not- 
wendig, um  zu  zeigen,  daß  hier  ein  nach  Anlage  und  Ausführung  durchaus  originelles 
Buch  vorliegt,  welches  als  Leitfaden  für  den  chemischen  Unterricht  in  dem  vom 
Verfasser  erstrebten  Sinn  vortrefflich  geeignet  ist. 

In  dem  zweiten,  als  systematische  anorganische  Chemie  be- 
zeichneten Teil  (264  S.)  werden  die  Elemente  (außer  dem  Sauerstoff  und  Wasser- 
stoff) gemäß  ihrer  Ähnlichkeit  nach  Gruppen  zusammengefaßt  und  nach  den  zuvor 
erörterten  Gesichtspunkten  betrachtet,  wobei  auch  die  anorganische  Technologie 
gebührende  Berücksichtigung  findet.  Ferner  wird,  wie  schon  im  ersten  Teil,  eine 
große  Zahl  von  Demonstrationsversuchen  beschrieben,  die  in  ihrer  Anordnung 
zum  nicht  geringen  Teil  neu  sind.  Einige  Bemerkungen  mögen  hier  gestattet  sein. 
In  Fig.  8  (S.  22)  taucht  die  Mündung  des  Retortenhalses  in  ^ine  in  der  Vorlage 
befindliche  Flüssigkeit  ein,  deren  Natur  aus  dem  Text  nicht  recht  ersichtlich  ist. 
Ferner  ist  der  Trockenturm  in  Fig.  10  (S.  26)  verkehrt  geschaltet:  das  Gas  muß 
in  den  oberhalb  des  Fußes  befindlichen  Teil,  in  dem  sich  kein  Trockenmittel  be- 
findet, eintreten,  damit  mechanisch  mitgerissene  Wassertröpfchen  infolge  der 
Verlangsamung  der  Strömungsgeschwindigkeit  zu  Boden  sinken  können  und  das 
Trockenmittel  selbst  entlastet  wird.  Vielleicht  entschließt  sich  der  Verfasser  auch 
bei  einer  Neuauflage  dazu,  in  den  Gleichungen  nur  die  an  den  Vorgängen  beteiligten 
Ionen  anzugeben.  Die  Schreibweise:  Hg" SO/',  Nag" SO/'  usw.  ist  irreführend, 
weil  es  Ionen  Hg",  Nag"  usw.  nicht  gibt. 

In  dem  dritten  Teil  des  Buches  (160  S.),  der  organischen  Chemie, 
wählt  der  Verfasser  aus  der  großen  Anzahl  von  Verbindungen  in  zweckmäßiger 
Weise  diejenigen  aus,  welche  in  theoretischer,  technologischer  oder  physiologischer 
Beziehung  von  einiger  Bedeutung  sind.  Auch  hier  sucht  er  den  Zusammenhang 
mit  der  anorganischen  Chemie  und  insbesondere  mit  der  Theorie  von  der  elektro- 
lytischen Dissoziation  herzustellen.  Dies  ist  allerdings  verhältnismäßig  selten 
möglich;  es  muß  aber  hervorgehoben  werden,  daß  der  Verfasser  keine  sich  darbietende 
Gelegenheit  unbeachtet  läßt.  Es  braucht  kaum  besonders  hervorgehoben  zu  werden, 
daß  auch  dieser  Teil  des  Buches  gleich  den  beiden  anderen  wissenschaftlich  voll- 
kommen auf  der  Höhe  steht. 


538  H.  Böttger, 

Neue  Bahnen  der  Methodik  des  chemischen  Unterrichtes  an  den  Hochschulen 
weist  das  in  zweiter  Auflage  erschienene  Buch  von  Alexander  Smith,  Praktische 
Übungen  zur  Einführung  in  die  Chemie,  dessen  deutsche  Über- 
setzung von  F.  H  a  b  e  r  und  M.  Stöcker  besorgt  worden  ist.  KarlsruhelQ  10,Braunsche 
Hof buchdruckerei,VI  I  u.  1 75  S.,8^  geb.,  3,60  M.  Die  praktischen  Übungen  in  den  Uni- 
versitätslaboratorien beginnen  wie  vor  Jahrzehnten  so  auch  heute  noch  fast  allenthalben 
mit  den  Vorübungen  zur  qualitativen  Analyse,  an  die  sich  dann  die  Ausführung  einer 
bestimmten  Anzahl  von  qualitativen  und  später  von  quantitativenAnalysen  anschließt. 
Prof.  Haber,  der  auf  einer  Studienreise  nach  den  Vereinigten  Staaten  an  den  dortigen 
Hochschulenein  von  dem  unsrigen  wesentlich  abweichendes  Unterrichtsverfahren 
kennen  gelernt  hat,wendet  sich  in  derVorrede  mit  Entschiedenheit  gegen  das  erstere  und 
wünscht  es  durch  das  letztere  ersetzt  zu  sehen.  Bei  ihm  wiederholen  die  Praktikanten 
im  Laboratorium  in  zweckmäßig  abgeänderter  Form  die  Versuche,  welche  ihnen  in 
der  einleitenden  Vorlesung  über  Experimentalchemie  vorgeführt  worden  sind, 
so  daß  die  hier  gewonnenen  Eindrücke  vertieft  und  befestigt  werden  und  den 
Studierenden  von  Anfang  an  Gelegenheit  zur  Erwerbung  einer  Fertigkeit  im  Zu- 
sammenstellen und  Handhaben  von  Apparaten  gegeben  wird,  die  sich  beim  ana- 
lytischen Arbeiten  nur  in  sehr  bescheidenem  Umfange  gewinnen  läßt.  Erst  wenn 
dieses  Ziel  erreicht  ist,  sollen  die  analytischen  Übungen  beginnen,  die  sich  dann 
in  einer  wesentlich  kürzeren  Zeit  als  jetzt  absolvieren  lassen.  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort  zu  untersuchen,  ob  eine  solche  Änderung  des  Anfangsunterrichts  in  den 
Universitätslaboratorien  für  die  Erreichung  der  dort  gesteckten  Ziele  von  Vorteil 
oder  von  Nachteil  ist;  das  eine  kann  man  jedenfalls  behaupten,  daß  viele  Stu- 
dierende der  Chemie  den  Unterschied,  der  bei  der  bisherigen  Einrichtung  zwischen 
dem  Gegenstand  der  Vorlesung  und  demjenigen  der  praktischen  Übungen  im 
Laboratorium  besteht,  oftmals  unangenehm  empfunden  haben,  und  man  kann 
den  Worten  der  Vorrede  rückhaltlos  beistimmen,  in  denen  es  beklagt  wird,  daß  wir 
durch  unser  Verfahren  der  Neigung  des  jungen  Studenten  widerstreben,  den  der 
Zusammenhang  der  chemischen  Erscheinungen  und  nicht  die  Methoden  der  analy- 
tischen Lernung  anziehen.  Aber  es  muß  an  dieser  Stelle  hervorgehoben  werden, 
daß  sich  in  dem  Buch  vieles  findet,  was  auch  für  die  praktisch-chemischen  Übungen 
an  höheren  Lehranstalten  verwendet  werden  kann,  in  denen  man  seit  einem  Jahr- 
zehnt begonnen  hat  die  früher  ausschließlich  ausgeführten  Reaktionen,  welche 
zum  Nachweis  der  Elemente  und  ihrer  Verbindungen  dienen,  mehr  und  mehr 
durch  Arbeiten  präparativer  Natur  zu  ersetzen. 

Als  Hilfsbuch  soll  neben  den  zuvor  erwähnten  Praktischen  Übungen  von 
Alexander  Smith  desselben  Verfassers  die  Einführung  in  die  allgemeine 
und  anorganische  Chemie  dienen,  dessen  deutsche  Übersetzung  unter  der 
Mitwirkung  des  Verfassers  von  Ernst  Stern  besorgt  ist,  Karlsruhe  1909.  G.Braunsche 
Hofbuchdruckerei  und  Verlag,  677  S.,  8^  9  M.  Prof.  Haber,  der  das  Vorwort  zu  der 
deutschen  Ausgabe  geschrieben  hat,  führt  darin  aus,  daß  man  große  Gebiete  der  che- 
mischen Wissenschaft  von  drei  Standpunkten  aus  übersehen  kann,  einmal  indem  man 
die  Elemente  an  der  Hand  des  periodischen  Systems  untereinander  vergleicht,  dann 
indem  man  die  Reaktionsweise  der  Stoffe  qualitativ  durch  Strukturformeln  dar- 
stellt, endlich  indem  man  die  Erscheinungen  nach  physikalisch-chemischen  Grund- 


Zur  Chemie.  539 

Sätzen  quantitativ  behandelt.  Wird  im  Anfangsunterricht  einer  von  diesen  Stand- 
punkten einseitig  bevorzugt,  so  findet  sich  der  Studierende  schwer  in  die  andere 
Auffassung  hinein  und  ist  geneigt,  sie  gering  zu  schätzen.  So  kommt  es,  daß  physi- 
kalische Chemiker  ausgebildet  werden,  denen  der  Sinn  für  Aufbau  und  Struktur 
fehlt,  und  organische  Chemiker,  die  keine  physikalisch-chemische  Einsicht  besitzen, 
wobei  beide  verkennen,  daß  es  nur  eine  Chemie  gibt,  in  der  die  verschiedenen 
Auffassungsweisen  gleich  fruchtbar  sind  und  darum  gleich  viel  Berechtigung  haben. 
Das  Smithsche  Buch  ist  in  der  Absicht  verfaßt,  dem  Leser  die  drei  allgemeinen 
Standpunkte  zugleich  vertraut  zu  machen,  und  da  es  in  erster  Linie  zum  Gebrauch 
an  Hochschulen  bestimmt  ist,  mag  dieser  Hinweis  auf  die  Eigenart  des  vortreff- 
lichen Buches  genügen,  welches  zwar  nicht  als  Schulbuch  verwendet  werden  kann, 
wohl  aber  dem  Lehrer  schätzenswerte  Dienste  zu  leisten  vermag,  und  dessen  ein- 
gehendes Studium  allen,  die  in  Chemie  unterrichten,  nicht  warm  genug  empfohlen 
werden  kann. 

Am  Schluß  der  wichtigeren  Kapitel  des  Smithschen  Buches  ist  eine  Reihe 
von  Übungen  zusammengestellt,  die  sich  auf  den  Inhalt  der  betreffenden  Kapitel 
beziehen  und  die  den  Leser  zu  sachgemäßer  Anwendung  des  Gelernten  anleiten 
sollen.  Diese  Übungen  bestehen  in  der  Beantwortung  einzelner  Fragen  und  in 
der  Lösung  von  Rechenaufgaben.  Wem  die  letzteren,  soweit  sie  physikalisch- 
chemischen Inhalts  sind,  nicht  genügen,  der  sei  auf  die  vortreffliche,  den  Band  445 
der  Sammlung  Göschen  bildende  Auswahl  von  physikalisch-chemischen 
Rechenaufgaben  von  R.  Abegg  und  0,  Sackur  verwiesen,  in  der  eine  die 
verschiedensten  Gebiete  der  allgemeinen  Chemie  berührende  Zusammenstellung 
von  52  Aufgaben  gegeben  wird,  deren  rechnerische  Durchführung  den  größeren 
Teil  des  Bändchens  ausfüllt.  Leipzig  1909,  Göschen,  104  S.,  geb.,  0,80  M.  Wer 
nicht  Gelegenheit  hat,  derartige  Rechnungen  im  Anschluß  an  Originalabhandlungen 
auszuführen,  wird  in  dem  Buche  die  reichste  Anregung  finden.  Man  wird  die 
ersten  von  der  Steigkraft  des  Luftballons  handelnden  Aufgaben  nicht  lesen,  ohne 
mit  Wehmut  des  erstgenannten  Verfassers  zu  gedenken,  der  in  so  tragischer  Weise 
gelegentlich  einer  Ballonfahrt  viel  zu  früh  der  Wissenschaft  entrissen  wurde. 

Reichenübungsstoff  aus  allen  Gebieten  der  Stöchiometrie  einschließlich  derMaß- 
analyse  bietet  auch  die  Stöchiometrische  Aufgabensammlung 
vonWilhelmBahrdt  (Band  452  derSammlungGöschen,Leipzigl909,140S.,geb.  0,80  M.) 

Wie  durch  das  erste  der  beiden  zuvor  erwähnten  Smithschen  Bücher  eine  Reform 
des  Hochschulunterrichtes  in  der  Chemie  herbeigeführt  werden  soll,  so  sucht  Emil 
Löwenhardt  in  seinem  Leitfaden  für  die  chemischen  Unterrichts- 
übungen, Leipzig  und  Berlinl909,  B.  G.Teubner,  1 27S.,gr.8Vb.2,40  M.,eineReform 
des  chemischenSchulunterrichts  dadurch  anzubahnen,  daß  er  den  Schwerpunkt  dieses 
Unterrichts  mehr  und  mehr  aus  derKlasse  in  dasSchülerlaboratorium  verlegen  und  den 
Schülern  die  chemischen  Kenntnisse,  wenn  nicht  ausschließlich,  so  doch  in  ersterLinie 
durch  Versuche,  die  sie  selbst  ausführen,  übermitteln  will.  Man  kann  diesem  Gedanken 
rückhaltlos  zustimmen  —  der  Referent  möchte  einen  derartigen  Unterricht  geradezu 
als  ideal  bezeichnen  —  und  doch  der  Überzeugung  sein,  daß  sich  seiner  Verwirk- 
lichung einstweilen  noch  schwer  zu  überwindende  Schwierigkeiten  entgegenstellen. 
Es  ist  damit  nicht  die  Geldfrage  gemeint,  die  bei  chemischen  Schülerübungen 


540  H.  Böttger, 

wesentlich  leichter  zu  lösen  ist  als  bei  den  ungleich  größere  Kosten  verursachenden 
physikalischen  Übungen.  Wohl  aber  bildet  die  Frequenz  der  Klassen,  wenigstens 
an  einigermaßen  großen  Anstalten,  ein  nicht  als  gering  zu  achtendes  Hindernis.  Der 
Verfasser  ist  selbst  der  Ansicht,  daß,  wenn  wirklich  intensiv  gearbeitet  werden 
und  der  Lehrer  die  Gewißheit  haben  soll,  daß  jeder  Schüler  aus  richtigen  Beob- 
achtungen die  richtigen  Schlüsse  herleitet,  12  bis  16  Schüler  in  6  bzw.  8  Gruppen 
vereinigt,  die  höchste  noch  gut  zu  überblickende  Anzahl  bilden,  und  dem  Referenten 
scheinen  nach  seinen  Erfahrungen  diese  Zahlen  eher  zu  hoch  als  zu  niedrig  gegriffen 
zu  sein.  Wie  nun  aber,  wenn  die  Schülerzahl  24  oder  gar  30  beträgt?  Dann  bleiben 
nur  die  beiden  Möglichkeiten,  entweder  die  Klassen  zu  teilen,  was  große  Schwierig- 
keiten für  den  Stundenplan  mit  sich  bringt  und,  wenn  die  Teilung  in  einer  größeren 
Zahl  von  Klassen  stattfinden  muß,  vielfach  unausführbar  ist,  oder  die  Schüler 
in  gleicher  Front  arbeiten  zu  lassen,  was  bei  Übungen  präparativer  Art  unmöglich 
ist,  weil  bei  ihnen  die  Aufmerksamkeit  und  Geschicklichkeit  des  einzelnen  eine  so 
wichtige  Rolle  spielt,  daß  das  Tempo  des  Fortschreitens  fast  ebenso  verschieden 
ist  als  Schüler  vorhanden  sind.  Eine  zweite  Schwierigkeit  bietet  die  Bewältigung 
des  Unterrichtsstoffes.  Nimmt  schon  die  Ausführung  und  Auswertung  der  Unter- 
richtsversuche durch  den  Lehrer  auch  bei  der  sorgfältigen  Vorbereitung  eine  ge- 
raume Zeit  in  Anspruch,  um  wieviel  größer  ist  der  Zeitaufwand,  wenn  diese  Ver- 
suche durch  die  Schüler  ausgeführt  werden,  die  über  eine  weit  geringere  manuelle 
Fertigkeit  verfügen  und  viel  weniger  die  Umstände  zu  überblicken  vermögen,  welche 
berücksichtigt  werden  müssen,  damit  der  Versuch  gelingt.  So  bieten  die  Versuche, 
die  in  dem  Leitfaden  über  Elektrolyse  im  §  37  auf  S.  48  und  49  angegeben  sind 
(das  Beispiel  ist  beliebig  herausgegriffen),  nach  oberflächlicherSchätzung  denübungs- 
stoff  für  drei  oder  vier  Doppelstunden,  und  andere  Versuche,  wie  z.  B.  diejenigen 
über  die  Salpetersäure  (§  30,  S.  38)  lassen  sich  innerhalb  dieser  Zeit  wohl  kaum 
erledigen.  Daß  sich  dann  aber  bei  der  heute  dem  chemischen  Unterricht  zur  Ver- 
fügung stehenden  Zeit  das  ganze  Pensum  absolvieren  läßt  —  denn  eine  gewisse 
Anzahl  von  Stunden  muß  doch  notwendigerweise  für  zusammenfassende  Betrach- 
tungen, theoretische  Erörterungen,  schwierigere  Experimente,  welche  die  Schüler 
nicht  ausführen  können,  übrig  bleiben  (der  Verfasser  nimmt  ja  selbst  auf  diese 
Verhältnisse  Rücksicht)  — ,  erscheint  dem  Referenten  nahezu  unmöglich,  selbst 
wenn  man  den  Umfang  des  Pensums  soweit  als  irgend  möglich  beschränkt  und  über- 
zeugt ist,  daß  es  beim  chemischen  Unterrichte  in  erster  Linie  auf  die  Gründlichkeit 
ankommt,  mit  der  ein  engeres  Gebiet  von  Erscheinungen  mit  den  Schülern  durch- 
gearbeitet wurde,  um  sie  mit  der  Eigenart  chemischer  Vorgänge  und  den  sie 
beherrschenden  Gesetzmäßigkeiten  bekannt  zu  machen.  Bei  der  Stellung,  welche 
der  chemische  Unterricht  an  unseren  höheren  Lehranstalten  zurzeit  noch  einnimmt 
—  sie  ist  im  Auslande  vielfach  eine  ganz  andere  und  aus  diesem  Grunde  führt 
ein  Vergleich  des  dort  angewandten  Unterrichtsverfahrens  mit  dem  unsrigen  leicht 
zu  Trugschlüssen  —  scheint  daher  die  Zeit  noch  nicht  gekommen  zu  sein,  um  den 
Schülerübungen  die  herrschende  Stellung  im  Schulunterricht  einzuräumen;  sie 
können,  bis  nicht  eine  größere  Anzahl  von  Stunden  zur  Verfügung  steht,  nur  eine 
wirksame  und  äußerst  wertvolle  Ergänzung  des  Klassenunterrichtes  bilden. 

Der   Leitfaden,    dessen  Wert  durch  die  im   Vorstehenden   ausgesprochenen 


Zur  Chemie.  541 

von  denjenigen  des  Verfassers  abweichenden  Ansichten  natürlich  in  keiner  Weise 
herabgesetzt  werden  soll,  zerfällt  in  vier  Abteilungen,  einen  vorbereitenden  Lehrgang 
und  je  eine  Abteilung,  welche  die  Chemie  der  Nichtmetalle,  der  Metalle  und  der 
organischen  Verbindungen  zum  Gegenstand  hat.  Die  Vorschriften  und  Anweisungen, 
welche  der  Verfasser  in  kurzer  und  prägnanter  Weise  gibt,  sind  zuverlässig  und 
lassen  erkennen,  daß  sie  bereits  praktisch  erprobt  sind.  Der  Leitfaden  kann  deshalb 
zum  Gebrauch  im  Laboratorium  bestens  empfohlen  werden.  Da  er  im  Anhang 
einen  Gang  der  qualitativen  Analyse  und  Bestimmungstabellen  für  die  wichtigsten 
Mineralien  enthält,  wird  er  den  weitgehendsten  Anforderungen  gerecht. 

Auch  in  dem  umfangreichen  Vorbereitungsbuch  für  den  Ex- 
perimentalunterricht  in  Chemie  von  Karl  Scheid,  Leipzig  und  Berlin, 
1911,  B.  G.  Teubner,  VIII  u.  622  S.  m.  233  Fig.  gr."  geb.  14  M.,  welches  als  Hilfs- 
buch bei  der  Vorbereitung  für  den  Klassenunterricht  wie  bei  der  Auswahl  der  Auf- 
gaben für  den  Laboratoriumsunterricht  dienen  soll,  erfahren  die  Schülerübungen 
eine  weitgehende  Berücksichtigung.  Die  in  letzterer  Beziehung  brauchbaren  Ver- 
suche sind  im  Text  durch  ein  besonderes  Zeichen  hervorgehoben.  Dadurch  unter- 
scheidet sich  das  Buch  von  den  bekannten  Werken  von  Heumann,  Arendt,  Lubarsch 
u.  a.,  denen  es  im  übrigen  an  die  Seite  zu  stellen  ist.  Es  handelt  zunächst  von 
der  Ausstattung  (nicht  der  baulichen  Einrichtung)  des  Unterrichtszimmers  und 
des  Schülerlaboratoriums,  sowie  ausführlich  von  den  beim  Experimentieren  not- 
wendigen Glas-,  Porzellan-,  Metallgeräten,  Wagen,  Trockenschränken  usw.  Dann 
folgen  die  auf  die  Nichtmetalle  und  die  Metalle  sich  beziehenden  Versuche,  von 
denen  die  ersteren  naturgemäß  den  breiteren  Raum  einnehmen;  eine  Anzahl  von 
Versuchen  aus  der  organischen  Chemie  bildet  den  Schluß.  Das  Buch  ist  eine  fleißige 
nud  sorgfältige  Arbeit,  aus  welcher  jeder,  der  in  Chemie  unterrichtet,  mannigfache 
Anregung  gewinnen  kann,  wenn  er  auch  da  und  dort  auf  Grund  seiner  persön- 
lichen Erfahrung  einer  anderen  Versuchsanordnung  den  Vorzug  geben  wird. 

In  dem  Hilfsbuch  für  den  Unterricht  in  den  praktisch- 
chemischen Übungen  von  Franz  von  Hemmelmayr,  Wien  1908,  A.  Holder, 
109  S.  gr.  8^.  geb.  2M.,  wird  dagegen,  dem  früheren  Unterrichtsbetrieb  entsprechend, 
das  Hauptgewicht  auf  die  Ausführung  von  analytischen  Versuchen  gelegt,  wenn 
sich  in  ihm  auch  Vorschriften  zur  Behandlung  von  Glas  und  Kork  und  zur  Darstel- 
lung einzelner  Verbindungen,  wie  des  Chlorwasserstoff s  und  des  Ammoniaks  finden. 

Das  methodische  LehrbuchinderChemie  von  Levin,  Bd.  1  u.2, 
Berlin,  0.  Salle,  gr.  8^  Vollst.  5,45  M.  ist  in  neuer  Auflage  erschienen.  Das  Buch 
wurde  bei  seinem  ersten  Erscheinen  im  2.  Band  dieser  Monatschrift  eingehend  be- 
sprochen. Da  es  in  seiner  Anlage  keine  Veränderung  erfahren  hat,  sei  auf  jene 
Besprechung  verwiesen. 

Zu  den  methodischen  Lehrbüchern  der  organischen  Chemie  ist  die  0  r  g  a  - 
nischeChe  mie  von  Karl  Scheid  (Leipzig,  1908,  Quelle  &  Mayer,  74  S.  gr.  8^. 
0,80  M.)  zu  rechnen.  Der  Verfasser  zeigt  an  einer  der  bekanntesten  organischen  Ver- 
bindungen, dem  Äthylalkohol,  dessen  Eigenschaften  eingehend  beschrieben  werden, 
das  Verfahren  zur  Ermittlung  der  qualitativen  und  quantitativen  Zusammensetzung 
der  organischen  Verbindungen,  betrachtet  alsdann  die  Oxydationsprodukte  des 
Äthylalkohols  und  gelangt  vom  Natriumacetat  zum  Methan,  um  dann  zu  zeigen,  wie 
die  Strukturformeln  der  genannten  Stoffe  mit  ihrem  chemischen  Verhalten  im  Ein- 


542  H.  Böttger, 

klang  stehen.  Ähnlich  verfährt  er  beim  Holzgeist.  Erst  dann  gibt  er  einen  Überblick 
über  die  gesättigten  und  die  ungesättigten  Kohlenwasserstoffe  und  deren  Derivate, 
soweit  sie  nicht  bereits  beschrieben  wurden.  Ausführlich  werden  dann  noch  die 
Kohlehydrate  nach  ihrer  technischen  Gewinnung  und  ihrer  Verwendung  betrachtet, 
während  die  Frage  nach  ihrer  Struktur  nur  flüchtig  gestreift  wird.  (Die  S.  52  ge- 
gebene Strukturformel  ist  nicht  für  den  Traubenzucker  charakteristisch;  sondern 
gilt  für  jede  der  16  Hexosen.)  Die  Schrift,  deren  Anordnung  vielfach  an  das  seiner- 
zeit sehr  verbreitete,  der  gegenwärtigen  Generation  aber  wohl  kaum  noch  be- 
kannte Kurze  Lehrbuch  der  organischen  Chemie  von  H.  Kolbe  erinnert,  enthält 
manchen  beachtenswerten  Wink  in  bezug  auf  die  unterrichtliche  Behandlung  der 
Kohlenstoffverbindungen,  welche  der  Verfasser  schon  dem  Pensum  der  Ober- 
sekunda zugewiesen  zu  sehen  wünscht. 

Unter  den  für  den  Schulunterricht  bestimmten  Lehrbüchern  der  Chemie,  in 
denen  der  Stoff  weniger  nach  methodischen  Gesichtspunkten  als  rein  systematisch 
angeordnet  ist,  befindet  sich  eine  neue  (die  19.)  Auflage  des  bekannten  Lehr- 
buches der  anorganischen  Chemie  von  Jakob  Lorscheid,  welche 
wiederum  von  F.  Lehmann  besorgt  worden  ist.  Freiburg  1911,  Herder.  VIII  u. 
334  S.  gr.  8^  geb.  4,20  M.  Der  Bearbeiter  hat  es  verstanden,  das  Buch  inhaltlich 
auf  der  Höhe  zu  erhalten,  wenn  auch  ein  Einfluß  der  modernen  physikalisch-che- 
mischen Forschung  auf  dessen  Gesamtcharakter  kaum  bemerkbar  ist.  Im  Interesse 
des  Buches  mögen  einige  Bemerkungen  gestattet  sein.  Das  Urteil  über  Berthelots 
Prinzip  vom  Arbeitsmaximum  (S.  302)  ist  doch  wohl  zu  hart;  das  Prinzip  ist 
vielmehr,  wie  namentlich  Nernst  betont  hat,  um  so  strenger  gültig,  je  niedriger 
die  Temperatur  ist,  bei  der  die  Wärmetönung  gemessen  wurde,  und  es  würde  beim 
absoluten  Nullpunkte  streng  richtig  sein.  Die  Gleichung  2  H  +  0  =  HgO  +  68  400 
cal.  (S.  296)  ist  nur  dann  richtig,  wenn  bei  HgO  der  Zusatz  „flüssig"  steht.  Die 
Flamme  ist  nicht  ein  brenn  barer  Gasstrom  (S.  37),  sondern  ein  brennendes  Gas. 
Wünschenswert  wäre  es,  wenn  die  Verlagsbuchhandlung  sich  entschlösse,  bei 
einer  Neuauflage  des  Buches  eine  Anzahl  von  Abbildungen  durch  neue  zu  ersetzen. 
Kippsche  Apparate,  wie  der  in  Fig.  47  (S.  62)  abgebildete,  werden  wohl  nirgends 
mehr  angefertigt,  ebenso  wenig  wie  Sicherheitsröhren  von  der  dort  gezeichneten 
Form  und  Größe.  Auch  die  Destilliervorrichtung  Fig.  31  (S.  50)  mit  dem  ver- 
alteten Dreifuß,  dem  von  einem  Drahtdreieck  getragenen  Sandbad  und  der  viel  zu 
flachen  Schale  für  die  Vorlage  mutet  eigenartig  an,  und  ebenso  sind  Kolben  von  der 
in  Fig.  106  (S.  157)  gezeichneten  Form  schwerlich  noch  irgendwo  käuflich.  Übrigens 
würde  der  Inhalt  des  Kolbens,  wenn  er  diesen  soweit  erfüllte,  wie  in  der  Figur  ge- 
zeichnet ist,  unfehlbar  überschäumen;  auch  ist  das  Becherglas,  welches  eigen- 
tümlicherweise zum  Auffangen  des  Kohlenoxyds  dienen  soll  (namentlich  im  Hinblick 
auf  die  Giftigkeit  des  Gases)  viel  zu  klein.  Auch  die  folgende  Figur  bedarf  der 
Erneuerung,  da  heutigen  Tages  kaum  noch  Holzkohlen  als  Brennstoff  in  chemischen 
Laboratorien,  wenigstens  nicht  bei  derartigen  Versuchen,  Verwendung  finden. 

Die  zu  dem  Lehrbuch  gehörende  organische  Chemie  ist  von  ihm  getrennt 
unter  dem  Titel:  J.  Lorscheids,  Kurzer  Grundriß  der  organischen 
Chemie  von  P.  Kunkel  bearbeitet,  in  zweiter  Auflage  Freiburg  1908,  Herder, 
124  S.,  gr.  8^,  geb.  2,50  M.,  erschienen.  Der  Stoff  ist  in  der  in  größeren  Lehrbüchern  der 
Chemie  der  Kohlenstoff  Verbindungen  üblichenWeise  geordnet.   ImText  ist  aber,  durch 


Zur  Chemie.  543 

Kleindruck  und  seitlicheVertikalstriche  hervorgehoben,  einegroßeZahl  vonVersuchen 
angeführt,  die  sich  zu  Demonstrationsversuchen  eignen  oder  von  den  Schülern 
selbst  angestellt  werden  können.  Die  sich  hier  findenden  genauen  Vorschriften 
werden  vielen  bei  der  Vorbereitung  der  Unterrichtsstunden  willkommen  sein.  In 
sachlicher  Beziehung  ist  der  Text  durchaus  zuverlässig.  Die  Angabe  (S.  113),  die 
Synthese  des  Alizarins  sei  von  Grabe  und  Lindemann  (statt  Liebermann)  ausgeführt 
worden,  beruht  wohl  auf  einem  Druckfehler.  Dulcit  und  Sorbit  sind  dem  Mannit 
nicht  untergeordnet,   wie  man  nach  dem  Wortlaut  von   S.  76  vermuten  könnte. 

An  dem  Lehrgang  der  Chemie  und  Mineralogie  von  Franz  Küspert 
Nürnberg  1909,  C.Koch,  3 Teile,  225,227— 344  u.  68  S.,80,  geb.  2,20, 1,50 u.  1,20 M.)  ist 
besonders  der  erste,  als  Einführung  bezeichnete,  sowie  der  dritte  Teil  bemerkenswert. 
In  jenem  wird  der  Schüler  an  der  Hand  einfacher  Versuche,  zu  denen  in  erster  Linie 
Mineralien  (Gips,  Kalkspat)  verwendet  werden,  mit  dem  Wesen  der  chemischen  Vor- 
gänge und  mit  den  Grundgesetzen  der  Chemie  bekannt  gemacht  (dieser  Teil  enthält 
somit  den  Lehrstoff  bei  dem  propädeutischenUnterricht  in  der  Chemie);  der  dritteTeil 
behandelt  die  Mineralogie  und  zwar  zunächst  die  Kristallkunde,  welcher  mit  Recht 
die  Symmetrieverhältnisse  der  Kristalle  zugrunde  gelegt  sind  und  dann  die  Mineral- 
kunde, die  jedoch  nicht  aus  einer  Aufzählung  und  Beschreibung  der  einzelnen 
Mineralspezies,  sondern  aus  einer  Anzahl  von  Tabellen  besteht,  mittels  deren  der 
Schüler  die  häufigsten  Mineralien  nach  leicht  erkennbaren  Merkmalen  selbst  be- 
stimmen kann,  wie  denn  der  Verfasser  überhaupt  bestrebt  ist,  die  Selbsttätigkeit 
des  Schülers  nach  Möglichkeit  anzuregen.  Dies  geschieht  auch  in  dem  zweiten  um- 
fangreichsten Teil  des  Buches,  der  speziellen  Chemie,  in  dem  zahlreiche  Versuche  mit- 
geteilt werden,  welche  die  Schüler  mit  einfachen  Mitteln  selbst  ausführen  können. 
Dieser  Teil  enthält  nicht  nur  die  Chemie  der  Nichtmetalle  und  Metalle,  sondern  im 
Anschluß  an  den  Kohlenstoff  auch  einen  Überblick  über  die  wichtigsten  organischen 
Verbindungen.  Bemerkt  sei,  daß  sich  Wasserstoff  und  Sauerstoff  im  Gewichtsverhältnis 
1  :  7,94  (nicht  1  :  7,98,  S.  49)  verbinden,  und  daß  die  Fassung  des  Gay-Lussacschen 
Gesetzes  (S.  53)  unrichtig  ist:  Das  Volumen  einer  gegebenen  Gasmasse  wächst  bei 
der  Erwärmung  um  1°  nicht  um  1/273  des  vormals  eingenommenen  Raumes,  der 
sich  ja  stetig  ändert,  sondern  des  Raumes,  den  die  Gasmasse  bei  0°  erfüllt.  Die 
Berechnung  der  Temperatur  der  Knallgasflamme  (S.  47)  ist  unrichtig,  weil  die 
spezifische  Wärme  des  Wasserdampfes  nur  in  dem  Temperaturintervall  0  bis  etwa 
200°  annähernd  V2  ^st;  wie  diejenige  aller  Gase  wächst  sie  mit  der  Temperatur 
beträchtlich.  In  den  Tabellen  auf  S.  104  ist  in  der  letzten  Spalte  das  Verhältnis 
der  Siedepunkts  erhöhungen  und  Gefrierpunkts  erniedrigungen, 
nicht  das  der  Siedepunkte  und  Gefrierpunkte  selbst  angegeben.  Die  Zitronen- 
säure ist  drei-  und  nicht  zweibasisch  (S.  211).  Auf  S.  213  wäre  eine  scharfe  Unter- 
scheidung zwischen  den  Azofarbstoffen  und  den  Diazoverbindungen  angebracht  ge- 
wesen. Wünschenswert  ist  auch  die  Beigabe  eines  Registers  oder  wenigstens  eines 
Inhaltsverzeichnisses. 

Das  Lehrbuch  deranorganischen  Chemiefürdiefünfte 
Klasse  der  Realschulen  von  Maximilian  Rosenfeld  (Wien,  C.  Fromme) 
schließt  sich  an  des  Verfassers  Buch:  „Erster  Unterricht  in  der  Chemie  und  Minera- 
logie" an,  welches  im  2.  Jahrgang  dieser  Monatschrift  besprochen  wurde,  und  setzt  die 


544  H.  Böttger, 

Bekanntschaft  des  Schülers  mit  dem  Inhalt  dieses  Buches  voraus.  Dies  ist  insbesondere 
für  das  Verständnis  der  Einleitung  erforderlich,  in  der  auf  21  Seiten  die  stöchio- 
metrischen  Grundgesetze,  die  Atomtheorie,  die  die  Avogadrosche  Regel  und  die 
sich  aus  ihr  ergebenden  Folgerungen,  das  Dulong  und  Petitsche  Gesetz  über  die 
Atomwärme,  die  chemische  Zeichensprache,  die  Gay-Lussacschen  Volumengesetze 
und  die  Wertigkeit  (deren  Einheit  auf  S.19  irrtümlicherweise  als  Affinitätseinheit 
bezeichnet  wird)  ihre  Erörterung  finden.  Sollen  all  diese  Betrachtungen,  los- 
gelöst vom  erläuternden  Experiment,  für  den  Schüler  irgendwie  nutzbringend 
sein,  so  muß  dieser  bereits  über  ein  nicht  geringes  Maß  von  chemischen  Kenntnissen 
verfügen,  und  es  ist  zweifelhaft,  ob  man  sie  auf  der  Klassenstufe,  für  die  das  Buch 
seinem  Titel  nach  bestimmt  ist,  als  vorhanden  voraussetzen  darf.  Auch  der  übrige 
Unterrichtsstoff  ist  reichlich  bemessen,  so  daß  eine  hinreichend  gründliche  Durch- 
arbeitung, wenigstens  bei  der  in  Deutschland  zur  Verfügung  stehenden  Stunden- 
zahl, kaum  möglich  erscheint.  Für  die  Bildungswärme  des  Wassers  sind  zwei  ver- 
schiedene Zahlenwerte  (S.  39  und  1 13)  mitgeteilt,  ohne  daß  als  Grund  für  diese  Ver- 
schiedenheit angegeben  wird,  daß  die  eine  Zahl  für  flüssiges,  die  andere  für  gasförmiges 
Wasser  gilt.  Bei  der  letzteren  müßte  außerdem  die  Temperatur  des  Wasserdampfes 
vermerkt  werden,  weil  bekanntlich  die  Verdampfungswärme  des  Wassers  mit 
steigender  Temperatur  abnimmt.  Übrigens  gibt  Thomsen  für  Wasserdampf  von 
0°  57,9  Cal.,  Berthelot  sogar  58,1  Cal.  an.  Bei  dem  auf  S.  147  abgebildeten  Spektro- 
skop fehlt  die  Angabe,  daß  die  Kombination  von  Krön-  und  Flintglasprismen  die 
Herstellung  eines  gradsichtigen  Spektroskops  bezweckt.  Die  Abbildung  bleibt 
dem  Schüler  sonst  im  Hinblick  auf  die  vorhergehenden  Fig.  24  und  25  ganz  un- 
verständlich. Sehr  störend  ist  die  konsequente  Schreibweise  Frauenhofer  statt 
Fraunhofer.     Barzelius  auf  S.  6  (statt  Berzelius)  ist  wohl  ein  Druckfehler. 

AlsEigenart  vonJohns  Schulchemie  (Leipzigl909,  Erwin  Nägele,  215  S.,  gr.8°, 
geb.,  2,40  M.)  wird  in  derVorrede  hervorgehoben,  daß  in  dem  Buche  der  Energiebegriff 
eine  schärfere  Fassung  und  weitere  Anwendung  finden  und  daß  dieser  Begriff,  „weil 
er  sich  beim  Anschauungsunterricht  bewährt  hat",  sehr  früh  gegeben  werden  soll. 
Das  Letztere  ist  richtig;  denn  bereits  auf  S.  14  wird  die  chemische  Energie  erwähnt, 
die  dann  sogleich  mit  der  Affinität  identifiziert  wird,  „da  eine  Strebekraft,  also 
die  Kraft,  welche  zwei  Stoffe  zusammenzuführen  strebt,  in  der  Regel  Energie  ge- 
nannt wird".  Dieselbe  Gleichsetzung  findet  sich  auf  S.  93.  Daß  dies  eine  schärfere 
Fassung  des  Begriffs  der  Energie,  insbesondere  der  chemischen  Energie  ist,  kann 
man  gewiß  nicht  behaupten;  denn  die  Affinität  ist  nicht  gleich  der  chemischen 
Energie  überhaupt,  sondern  ihr  Maß  ist  die  freie  Energie,  d.  h.  die  maximale  bei 
einem  chemischen  Vorgang  pro  Mol  gewinnbare  Arbeit,  wie  sie  sich  nach  der  bekann- 
ten von  van't  Hoff  aufgestellten  Formel  mittels  des  natürlichen  Logarithmus  der 
Gleichgewichtskonstante  berechnen  läßt.  Derartige  Erörterungen  gehören  je- 
doch nicht  in  den  chemischen  Anfangsunterricht ;  bereiten  sie  doch  fortgeschritteneren 
Studierenden  der  Chemie  Schwierigkeiten  genug.  Von  der  weiteren  Anwendung 
des  Energiebegriffs  merkt  man,  soweit  der  Berichterstatter  zu  sehen  vermag,  in 
dem  Buch  nicht  eben  viel,  keinesfalls  tritt  sie  derart  hervor,  daß  man  darin  etwas 
dem  Buche  Eigentümliches  zu  erkennen  vermöchte.  Schärfe  und  Richtigkeit 
der  Definitionen  lassen  an  manchen  Stellen  zu  wünschen  übrig,  so  wenn  auf  S.  14 


Zur  Chemie.  545 

gesagt  wird:  Verbinden  sich  die  Stoffe,  aus  denen  die  Körper  bestehen,  mit  Sauer- 
stoff, so  entstehen  Oxyde.  Was  soll  man  sich  unter  jenen  Stoffen  denken?  Oder 
wenn  S.  36  die  Mineralien  als  die  festen  Körper  definiert  werden,  welche  die  Erd- 
rinde zusammensetzen.  Das  Wesen  der  Mineralien  liegt  doch  wohl  in  ihrer  Homo- 
genität, wegen  deren  sie  bestimmte  chemische  Individuen  darstellen,  während  die 
Baustoffe  der  Erdrinde  Gesteine  genannt  werden.  —  Die  88  Seiten  umfassende 
organische  Chemie  handelt  zunächst  von  der  Pflanzenernährung,  im  Anschluß 
daran  von  den  Kohlehydraten  und  ihren  Umwandlungsprodukten  und  dann  erst 
von  den  Kohlenwasserstoffen  und  ihren  Derivaten.  Auch  in  diesem  Teil  finden  sich 
mancherlei  Irrtümer,  z.  B.  die  Angabe,  daß  in  der  Formel  der  Stärke  (CeHioOs)^ 
der  Koeffizient  n  eine  kleine  Zahl  sei  (S.  10),  oder  daß  der  Trauben-  und  der  Frucht- 
zucker Kristallwasser  enthalten  (S.  13).  Ungebräuchlich  ist  die  Schreibweise 
CgHa,  OH;  CgHs,  NHg  usw.  (S.  31  und  29),  (man  schreibt  vielmehr  CgHg.OH,  CqH^. 
NHo),  ferner  der  Name  Glyzeril-Alkohol  (S.  43).  Den  letzten  Teil  des  Buches 
bildet  die  Betrachtung  der  physiologischen  Vorgänge  bei  der  Ernährung  der  Menschen 
und  Tiere. —  Das  Buch  ist  auch  in  gekürzter  Form  als  „Kleine  Ausgabe  der  Schul- 
chemie" (212  S.)  erschienen,  ferner  sind  der  anorganische  und  der  organische  Teil 
getrennt  käuflich. 

Ein  typisch  systematisches  Lehrbuch  sind  die  in  zweiter  Auflage  vorliegenden 
Grundlinien  der  Chemie  für  Oberrealschulen  von  Johann  Rippel  (Wien 
1909,  F.Deuticke,  2Teile,  264  u.  199  S.,  gr.S^,  geb.  3  u.  2,80  M.)  Die  allgemeinen  Gesetz- 
mäßigkeiten der  Chemie  sind  ebenso  wie  die  theoretischen  Betrachtungen  in  der  Ein- 
leitung enthalten,  die  mit  einem  Abriß  derGeschichtederChemie  (nach  der  Koppschen 
Einteilung)  beginnt.  Der  Text  des  Buches  ist  korrekt  und  gibt,  soweit  sich  nach  den 
zahlreichen  angestellten  Stichproben  erkennen  läßt,  zu  keinen  Bemerkungen  Veran- 
lassung. Als  ein  sehr  brauchbares  Buch  ist  die  als  zweiter  Teil  der  ,,  Grundlinien" 
getrennt  erschienene  Organische  Chemie  desselben  Verfassers  zu  bezeichnen, 
die  einen  guten  Überblick  über  die  Kohlenstoffverbindungen  gibt  und  namentlich  da, 
wo  es  sich  um  theoretische  Erörterungen  handelt,  wie  bei  der  Deutung  der  raum- 
isomeren Verbindungen,  von  anerkennenswerterKlarheit  ist.  Eine  nicht  geringe  Zahl 
von  Demonstrationsversuchen  wird  beschrieben  und  durch  gute  Abbildungen  er- 
läutert. Dankenswert  sind  auch  die  biographischen  Notizen  über  Chemiker,  die 
in  der  organischen  Chemie  Hervorragendes  geleistet  haben;  es  ist  nötig,  den  Schülern 
die  Bedeutung  auch  dieser  Männer  nachdrücklich  vor  Augen  zu  führen.  (Ent- 
sprechende Notizen  finden  sich  auch  in  dem  ersten,  dem  anorganischen  Teil  des  Lehr- 
buchs.) Vielleicht  ist  der  Rahmen  des  Buches  für  den  Schulgebrauch  etwas  zu 
weitgespannt;  es  dürfte  indes  nicht  schwer  sein,  eine  passende  Auswahl  zu  treffen, 
und  anderseits  werden  es  die  Schüler,  welche  sich  dem  Studium  der  Natur- 
wissenschaften widmen,  dem  Verfasser  danken,  wenn  sie  sein  Buch  auch  während 
ihrer  Universitätszeit  noch  mit  Vorteil  benutzen  können. 

Das  Lehrbuchder  Chemie  von  Moritz  Kitt  (Wien  1911,  A.PichlersWwe.  & 
Sohn,  gr.8°,  geb.,  2,40  M.)  von  dem  bis  jetzt  der  163  Seiten  starke  ersteTeil  vorliegt,  ist 
speziell  für  Handelsakademien  bestimmt  und  berücksichtigt  vornehmlich  diejenigen 
Stoffe,  welche  als  Handelsobjekte  von  Bedeutung  sind,  während  sich  die  Erörterungen 
allgemeiner  Art,  namentlich  diejenigen  physikalisch-chemischen  Inhalts,  auf  das 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  35 


546  H.   Böttger, 

notwendigste  Maß  beschränken.  Das  mit  einer  Anzahl  guter  Abbildungen  aus- 
gestattete Buch  wird  als  Unterrichtsmittel  an  den  Lehranstalten  der  genannten 
Art  gut  brauchbar  sein.  Bei  einer  Neuauflage  sollten  Temperaturangaben  nach 
Reaumur  vermieden  werden,  besonders  dann,  wenn  es  sich  wie  auf  S.  23  um  den 
Sättigungsdruck  des  Wasserdampfes  handelt,  dessen  Größe  in  den  Tabellen  doch 
ausschließlich  für  Celsiusgrade  angegeben  wird. 

Von  Lehrbüchern,  die  bereits  früher  in  dieser  Monatschrift  besprochen  wurden 
(Band  2,  717  und  Band  5,  415)  sind  neu  aufgelegt  worden:  Lehrbuch  der 
Chemie,  L  Teil,  von  M.  Ebeling  (Berlin  1910,  Weidmannsche  Buchhandlung, 
X  u.  378  S.,  3.  Aufl.,  gr.  8«,  geb.  4M.)  und  Lehrbuch  der  Chemie  und 
Mineralogie  von  A.  Henniger  (Stuttgart  1912,  Grub,  VIII  u.244  S.,  gr.  8», 
geb.  2,80  M.)  Das  letztere  liegt  außer  in  der  bisherigen  Ausgabe  (A)  in  ge- 
kürzter Form  in  der  Ausgabe  B  vor,  die  auf  etwa  15  Druckbogen  außer  der  anor- 
ganischen Chemie  einen  Abriß  der  Kristallographie  sowie  das  Wichtigste  aus  der 
Chemie  der  Kohlenstoffverbindungen  enthält  und  außerdem  einen  Überblick 
über  die  dynamische  und  historische  Geologie  sowie  über  die  Petrographie  gibt. 

Die  organische  Chemie  für  die  Oberstufe  der  Real- 
schulen von  B.  König  und  J.  Matuschek  (Wien  191 1 ,  A.  Pichlers  Wwe.  &  Sohn, 
135  S.gr.8^.  geb.  1,70  M.)  gibt  einen  Überblick  über  die  wichtigsten  aliphatischen  und 
zyklischen  Verbindungen  in  der  üblichen  Anordnung,  wobei  in  erster  Linie  die  Techno- 
logie dieser  Verbindungen  berücksichtigt  und  durch  eine  Reihe  guter  Abbildungen 
veranschaulicht  wird.  Der  Text  ist  leicht  verständlich  und  sachlich  einwandfrei. 
Bei  der  Einteilung  der  Kohlehydrate  (S.  59)  ist  es  jedoch  auffallend,  daß  zu  den 
natürlich  vorkommenden  auch  die  Triosen,  Tetrosen  und  Pentosen  gerechnet  sind. 
Für  welche  von  ihnen  trifft  dies  zu? 

Das  Kurze  Lehrbuch  der  organischen  Chemie  von  William 
A.  Noyes,  ins  Deutsche  übertragen  von  WaltherOstwald,  mit  einer  Vorrede 
von  WilhelmOstwald  (Leipzigl  907,AkademischeVerlagsbuchgesellschaft  m.b.H., 
722  S.,  8^  10  M.)  ist  zum  Gebrauch  an  Hochschulen  bestimmt.  Es  weicht  von  den 
gleichen  Zwecken  dienenden  kürzeren  Lehrbüchern  deutscher  Autoren  (sein  Verfasser, 
ein  Schüler  von  W.  Ostwald,  ist  Professor  an  der  Universität  Illinois)  in  zweifacher 
Weise  ab,  einmal  durch  die  weitgehende  Berücksichtigung  der  Ergebnisse  der 
physikalisch-chemischen  Forschung,  was  namentlich  bei  der  Definition  und  der 
Charakterisierung  der  einzelnen  organischen  Säuren  hervortritt;  sodann  durch  die 
Anordnung  des  Stoffs,  bei  welcher  die  Trennung  in  aliphatische  und  aromatische 
Verbindungen  aufgegeben  ist  (die  heterozyklischen  sind  als  besondere  Gruppe  bei- 
behalten). Demgemäß  werden  im  Anschluß  an  die  gesättigten  und  ungesättigten 
aliphatischen  Kohlenwasserstoffe  sogleich  das  Terpentin,  das  Benzol  und  seine 
Homologen,  die  mehrkernigen  und  die  kondensierten  zyklischen  Kohlenwasser- 
stoffe, ebenso  an  die  Alkohole  die  Phenole,  an  die  Aldehyde  und  Ketone  die  Chinone 
usw.  betrachtet.  Am  Schluß  der  größeren  Abschnitte  ist  eine  Reihe  von  Aufgaben 
zusammengestellt,  die  zumeist  in  der  Anfertigung  von  Präparaten  bestehen,  für 
welche  jedoch  keine  besonderen  Vorschriften  gegeben  werden. 

Von  neu  erschienenen  Lehrbüchern  für  den  propädeutischen  Unterricht  in 
der  Chemie  liegt  dem  Berichterstatter  die  Vorschule  der  Chemie  von 
W.  Schwarze  (Leipzig  1911,  Leopold Voß,  X 1 1  u.  1 79  S.,  gr.  8^=,  geb.  1 ,80  M.)  vor.   In  der 


Zur  Chemie.  547 

Einleitung  lehnt  sich  derVerfasser  ziemlich  eng  an  die  Arendtsche  Unterrichtsmethode 
an,  und  eine  Anzahl  von  Abbildungen  ist  Arendtschen  Büchern  entnommen.  Später 
verfolgt  er  eigene  Wege,  indem  er  nicht  einzelne  Gruppen  von  Verbindungen  (Oxyde, 
Sulfide  usw.)imZusammenhang  betrachtet,sondern  seineErörterungen  an  die  einzelnen 
Elemente  anschließt.  Das  Ergebnis  eines  jeden  Versuchs  wird  kurz  zusammengefaßt 
und,  wo  es  möglich  ist,  wird  aus  den  Einzelergebnissen  ein  Gesetz  abgeleitet.  Eigen- 
tümlich ist  das  Fehlen  der  chemischen  Zeichensprache  in  einem  großen  Teil  des 
Buches;  sie  wird  erst  im  letzten  Drittel  in  einem  zusammenhängenden  Abschnitt 
erörtert.  Der  Verfasser  hält  die  Zeichensprache  für  angewandte  Atomtheorie  und 
meint,  daß  zu  ihrem  Verständnis  die  Kenntnis  dieser  Theorie  erforderlich  sei. 
Der  Referent  vermag  dieser  Ansicht  nicht  beizupflichten,  sondern  glaubt,  daß 
das  Verständnis  der  Zeichensprache  schon  auf  Grund  des  durchaus  anschaulichen 
Begriffs  des  Verbindungsgewichtes  gewonnen  werden  kann.  Auch  kann  er  nicht 
zugeben,  daß  —  bei  einem  vernünftig  geleiteten  Unterricht  —  die  Beobachtung 
und  die  Beschreibung  des  Beobachteten  durch  die  Anwendung  der  Zeichensprache 
in  den  Hintergrund  gedrängt  werden  könne,  sondern  ist  der  Meinung,  daß  der 
Vorteil,  den  die  Zeichensprache  dadurch  gewährt,  daß  sie  alle  qualitativen  und 
quantitativen  Beziehungen  der  an  einem  chemischen  Vorgang  beteiligten  Stoffe 
in  der  kürzesten  Form  zum  Ausdruck  bringt,  so  groß  ist,  daß  man  ohne  besonders 
schwer  wiegende  Gründe  auf  ihre  möglichst  umfangreiche  Anwendung  nicht  ver- 
zichten soll.  Es  ist  übrigens  nicht  richtig,  wie  ä.  124  gesagt  wird,  daß  Berzelius 
das  Verbindungsgewicht  des  Wasserstoffs  als  Einheit  gewählt  habe;  das  hatte 
vielmehr  vor  ihm  Dalton  getan.  Berzelius  verließ  bei  seinen  bekannten  Atom- 
gewichtsbestimmungen sehr  bald  diese  Einheit  und  wählte  statt  ihrer  das  Ver- 
bindungsgewicht des  Sauerstoffs  aus  demselben  Grunde,  aus  dem  man  vor  einigen 
Jahrzehnten  wieder  zum  Sauerstoff  als  Bezugselement  zurückgekehrt  ist;  nur 
setzte  er  das  Verbindungsgewicht  dieses  Elements  gleich  100.  Ungenau  ist  auch 
der  auf  derselben  Seite  sich  findende  Satz,  daß  die  Molekel  der  gasförmigen  Elemente 
in  der  Regel  aus  2  Atomen  bestehen.  Das  trifft  seit  der  Entdeckung  der  Edelgase 
nicht  einmal  mehr  für  die  bei  gewöhnlicher  Temperatur  gasförmigen  Elemente 
zu  und  gilt  erst  recht  nicht  für  Elemente  wie  Schwefel,  Phosphor,  Arsen  oder  die 
vergasbaren  Metalle.  Der  berühmte  Berliner  Chemiker  hieß  Hofmann  und  nicht 
Hoffmann  (Anm.  zu  S.  14  und  auf  S.  25). 

Die  Vorschule  der  Chemie  und  Mineralogie  von  H. Boerner  (Berlin 
1911,  Weidmannsche  Buchhandlung,  XU  u.  88  S.,  4.  Aufl.,  gr.  8^,  geb.  1,60 M.)  bildet 
einen  Teil  des  von  dem  genannten  Schulmann  verfaßten  physikalischen  Unterrichts- 
werkes für  höhere  Lehranstalten.  Sie  ist  zum  Gebrauch  an  Gymnasien  und  Pro- 
gymnasien bestimmt  und  muß  daher  im  Hinblick  auf  die  sehr  beschränkte  Zeit,  welche 
für  den  Chemieunterricht  an  diesen  Anstalten  zurVerfügung  steht,  und  angesichts  des 
Umstandes,  daß  dieser  Unterricht  in  den  meisten  Fällen  nicht  einmal  von  einem  Che- 
miker von  Fach  erteilt  werden  kann,  unter  Verzichtleistung  auf  ein  tieferes  Eindringen 
in  das  Gebiet  dieser  Wissenschaft  sich  mit  der  Betrachtung  einiger  wenigen  wichtigen 
Stoffe  und  Prozesse  begnügen.  Die  Auswahl,  welche  der  Verfasser  in  dieser  Be- 
ziehung getroffen  hat  und  bei  der  auch  die  Mineralogie  berücksichtigt  wird,  kann 
als  eine  glückliche  bezeichnet  werden,  wie  schon  der  Umstand  beweist,  daß  das 

35* 


548  Festschrift, 

Buch  bereits  in  der  4.  Auflage  vorliegt.  Für  eine  Neuauflage  mögen  im  Interesse 
des  Buches  folgende  Stellen  als  einer  Verbesserung  bedürftig  bezeichnet  werden. 
S.  7:  Man  kann  den  Sauerstoff  durch  Erhitzen  vieler  Verbindungen  darstellen; 
tatsächlich  gibt  es  doch  nur  einige  wenige.  S.  8:  Der  Zusatz  des  Braunsteins  zum 
Kaliumchlorat  soll  die  Sauerstoffentwicklung  gerade  beschleunigen,  aber  nicht 
mäßigen,  da  der  Braunstein  als  (positiver)  Katalysator  wirkt.  Daß  gerade  das 
Wasser  der  Werra  besonders  stark  gipshaltig  sein  soll,  ist  dem  Referenten,  der 
ein  Kind  des  Werratals  ist,  nicht  recht  verständlich,  weil  sich  ausgedehntere  Gips- 
berge längs  des  Werralaufs  nicht  finden.  Der  Schwefel  schmilzt  bei  l^jS"*  (S.  23), 
erstarrt  aber  bei  120^  weil  der  schmelzende  Schwefel  rhombisch,  der  aus  dem 
Schmelzfluß  erstarrende  monosymmetrisch  ist.  Unrichtig  ist  der  Satz:  Chlor 
bleicht,  d.  h.  es  zerstört  Pflanzenstoffe  (S.  29),  ebenso  die  Bezeichnung  Natrium- 
und  Kaliumhydrat  (S.  32),  die  Stoffe  hießen  vielmehr  früher  Natron-  bzw.  Kali- 
hydrat, weil  man  ihre  Formeln  NagO,  HgO  und  HgO,  H2O  (oder  mit  den  früher 
gebrauchten  Äquivalentgewichten  NaO,  HO  und  KO,  HO)  schrieb  und  die  Oxyde 
NagO  und  KoO  als  Natron  bzw.  Kali  bezeichnete.  Man  kann  auch  nicht  wohl  sagen, 
daß  die  Salpetersäure  bei  der  Einwirkung  auf  Kupfer  zerfällt,  wie  das  S.  36  angegeben 
ist.  Die  beiden  Rhomboeder  auf  S.  51  sind  keine  Kalkspatrhomboeder,  wenigstens 
nicht  die  Spaltungsrhomboeder.  Der  technisch  verwendete  gebrannte  Gips  ist 
nicht  identisch  mit  dem  Mineral  Anhydrit  (S.  53),  sondern  ist  das  Hemihydrat 
CaS04.V2H20,  dessen  nähere  Zusammensetzung  noch  nicht  hinreichend  feststeht. 
Bei  der  Porzellanbereitung  (S.  56)  ist  der  Zusatz  von  Feldspat  wesentlich.  Bei  der 
Verwitterung  der  Feldspate  entstehen  nicht  die  Silikate,  sondern  die  Karbonate 
zum  Kalium  und  Natrium.  Die  Formel  Mg3(Si03)2  auf  S.  59  ist  unrichtig.  Endlich 
sind  die  Figuren  35  und  36  (S.  47),  sowie  78  und  79  (S.  64)  versehentlich  auf  den 
Kopf  gestellt. 

Arendts  Leitfaden  für  Chemie  und  Mineralogie  (Leipzig 
1909,  Leopold  Voß,  140  S.,  gr.  8^  1,60  M.)  ist,  wiederum  von  L.  Doermer  heraus- 
gegeben, in  einer  neuen,  der  11.  Auflage  erschienen.  Ebenso  liegt  eine  neue 
Auflage  von  A.  Henniger,  Vorbereitender  Lehrgang  der  Chemie 
und  Mineralogie  (Stuttgart  1909  u.  191 1,  Grub)  vor.  Das  letztere  Buch 
ist  in  zwei  Ausgaben  (A  und  B)  erschienen,  von  denen  die  erstere  (109  S.,  geb., 
1,50  M.)  für  Oberrealschulen  und  Realschulen,  die  letztere  (76  S.,  geb.,  1  M.)  kürzer 
gefaßte,  für  Anstalten  bestimmt  ist,  an  denen  die  Stundenzahl  für  den  propä- 
deutischen Unterricht  in  der  Chemie  eine  beschränkte  ist. 

Berlin-Grunewald.  Höh.  Böttger. 

b)  Einzelbesprechungen: 

Festschrift,   dem    König  Wilhelm-Gymnasium   zu  Magdeburg 
zur   Feier    seines  25jährigen    Bestehens   Ostern    1911    dar- 
gebracht vom   Direktor  und  Mitgliedern  des   Kollegiums.     Magdeburg   1911. 
Karl  Peters.     185  S.    4\    2,50  M. 
Die  vom  Direktor  und  Mitgliedern  des  Lehrerkollegiums  ihrer  Anstalt  ge- 
widmete Jubiläumsgabe  wird  vom  Direktor  Knaub  eröffnet  durch  eine  metrische 
Übersetzung  des  König  Ödipus.     Sie  kann  im  allgemeinen  als  wohlgelungen  be- 


angez.  von  H.  Bernhardt  549 

zeichnet  werden,  störend  wirken  nur  gelegentliche  bewußte  Anklänge  an  deutsche 
Dichter,  und  manche  Verlegenheitshilfen  hätten  vermieden  werden  können,  wenn 
der  Übersetzer  von  vornherein  auf  eine  gereimte  Wiedergabe  der  Chorpartien 
verzichtet  hätte.  Als  besonders  glücklich  möchte  ich  trotz  alledem  die  Parodos 
und  das  dritte  Stasimon  bezeichnen. 

Das  folgende  Wortverzeichnis  des  altmärkischen  Dorfes  Hohenwarsleben, 
von  Professor  Schaper  als  Baustein  zu  dem  immer  noch  fehlenden  niederdeutschen 
und  Ergänzung  zum  Danneilschen  Wörterbuch  veröffentlicht,  bildet  eine  Fund- 
grube wertvoller  kulturgeschichtlicher  Einzelheiten  und  prächtiger  Proben  der 
derb-schalkhaften  Ausdrucksweise  unseres  niedersächsischen  Stammes.  Interessant 
ist  ferner  z.  B.  das  Schwinden  ganzer  Wortgruppen,  so  von  Pflanzennamen  und 
den  Ausdrücken  für  Flachsbau,  und  das  allmähliche  Absterben  des  Nieder- 
deutschen wird  am  besten  durch  das  Verzeichnis  am  Schluß  gekennzeichnet, 
wo  ursprünglich  gut  plattdeutsche  Ausdrücke  nunmehr  in  hochdeutscher  Form 
erscheinen. 

Professor  Philippson  untersucht  die  Frage,  ob  sich  Horaz  seine  Anschauungen 
auf  Grund  der  Philosophie  gebildet,  oder  diese  auf  Grund  jener  gewählt  hat.  Die 
angeführten  Parallelstellen  machen  es  wahrscheinlich,  daß  Philodem,  das  Haupt 
der  italischen  Epikuräer,  Horaz  die  Kenntnis  seiner  Philosophie  vermittelte,  ein 
Mann,  der  auch  als  Mensch  und  Dichter  von  großem  Einfluß  auf  ihn  gewesen  ist. 

Eine  pädagogische  Frage  behandelt  Professor  Röhlecke  in  seiner  Betrachtung: 
„Beurteilung  des  häuslichen  Fleißes  auf  Schulzeugnissen",  die  freilich  ein  wenig 
breit  angelegt  ist  und  dem  Fachmann  nicht  viel  Neues  bringt. 

Die  Abhandlung  Professor  Bradherings  „Zur  Geschichte  des  Schiffskompasses", 
geht  von  den  Deviationen  aus,  welche  die  Kompasse  an  Bord  der  mehr  und  mehr 
ausschließlich  von  Stahl  erbauten  Schiffe  erleiden.  So  mußte  auf  den  Kriegsschiffen 
der  Magnetkompaß  abgeschafft  werden,  während  er  vorläufig  in  der  Handels- 
marine noch  im  Gebrauch  ist.  Den  Schluß  bildet  ein  Zukunftsbild:  Der  Kompaß 
in  der  Aviatik. 

Die  folgende  lateinische  Untersuchung  Oberlehrer  Schumanns  führt  an  der 
Hand  der  Fragmente  bei  Stobaeus,  die  eingehend  mit  anderen  unbestrittenen  Stellen 
des  Aristoteles  verglichen  werden,  den  Nachweis,  daß  auch  der  Dialog  :repl  su^e- 
vsi'a?  trotz  der  Anzweiflung  Plutarchs  auf  den  großen  Stagiriten  zurückgeht. 

Den  Schluß  bilden  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutschen  Juden  des  Mittel- 
alters von  Oberlehrer  Forchhammer.  Er  zeigt,  daß  der  Hauptgrund  des  Juden- 
hasses auf  wirtschaftlichem  Gebiete  lag,  indem  einmal  die  Juden  im  12.  Jahrhundert 
durch  das  Aufblühen  des  deutschen  Großhandels  ihre  Monopolstellung  auf  diesem 
Gebiet  einbüßten,  dann  im  15.  Jahrhundert  auch  als  Vermittler  des  Geldverkehrs, 
auf  den  sie  sich  seitdem  geworfen  hatten,  überflüssig  wurden  und  nun  zu  Pfand- 
beleihern  und  Trödlern  hinabsanken.  Dem  von  der  Kirche  künstlich  entfachten 
religiösen  Fanatismus  kommt  nur  eine  sekundäre  Bedeutung  zu.  Dieser  Verlauf 
der  mittelalterlichen  Judenbewegung  im  großen  wird  dann  im  einzelnen  an  der 
Geschichte  der  israelitischen  Gemeinde  in  Magdeburg  nachgewiesen. 

So  bringt  die  Festschrift  eine  Reihe  wertvoller  Gaben  aus  den  verschiedensten 
Wissensgebieten,  unter  denen  ich  —  trotz  des  humanistischen  Gymnasiums  — 


550  R.   Lehmann,  Erziehung  und  Unterricht,  angez.  von  A.  Matthias. 

zur  Vervollständigung  der  universitas  literarum  gern  auch  einen  neusprachlichen 
Beitrag  gesehen  hätte.  Aber  auch  so  gereicht  die  Gabe  ihren  Urhebern  wie  der 
Anstalt  zu  gleicher  Ehre  und  wird  dazu  dienen,  die  Erinnerung  an  das  Jubiläum 
zu  einer  dauernden  zu  gestalten. 

Soest.  H.  Bernhardt. 

Pädagogische  Jahresschau  über  das  Volksschulwesen.    In  Gemeinschaft  mit  E.  Alt- 
mann, L.  Baur,  Fr.  W.  Bürgel  u.  a.  herausgegeben  von  E.  Clausnitzer.    V.  Band 
1910.    XX  u.  490  S.     VI.  Band  1911.     XXVI  u.  446  S.     Leipzig  und   Berlin. 
B.  G.  Teubner.    ä  Bd.  6  M. 
Die  ersten  Bände  sind  bereits  in  dieser  Monatschrift  X.  Jahrg.,  S.  51  f.  be- 
sprochen.   Ich  verweise  auf  die  dortige  Beurteilung  und  bemerke  nur,  daß  die  Mit- 
arbeiter an  manchen  Stellen  gewechselt  haben,  was  dem  Ganzen  offenbar  nicht 
geschadet  und,  was  frisches  Leben  anbelangt,  nur  Gutes  gewirkt  hat. 

Lehmann,  Rudolf,  Erziehung  und  Unterricht.  Grundzüge  einer  prak- 
tischen Pädagogik.  Zweite  neubearbeitete  und  erweiterte  Auflage  von  „Er- 
ziehung und  Erzieher".  Berlin  1912.  Weidmannsche  Buchhandlung.  XII  u. 
454  S.     8«.    geb.  9  M. 

Das  im  Jahre  1900  zuerst  unter  dem  Titel  Erziehung  und  Erzieher  erschienene 
Buch  bietet  sich  hier  in  wesentlich  umgearbeiteter  und  erfreulich  erweiterter  Form. 
Schon  der  neue  Titel  zeigt,  daß  die  Richtlinien  viel  weiter  gesteckt  und  die  zu  er- 
reichenden Ziele  praktischer  begründet  sind.  Der  äußere  Umfang  ist  um  100  Seiten 
gewachsen;  statt  zehn  Kapitel  haben  wir  jetzt  deren  vierzehn. 

Früher  war  das  Buch  in  der  Hauptsache  ein  Buch  für  Lehrer  höherer  Schulen, 
da  es  sich  auf  die  Erziehung  und  Erzieher  beschränkte,  die  mit  diesen  Schulen 
in  Berührung  kommen;  jetzt  schließt  es  auch  die  Volksschule  und  die  Mädchen- 
bildung in  die  Besprechung  ein  und  ist  für  alle  Lehrerkreise  bestimmt  und  so  an- 
gelegt, daß  die  eine  Kategorie  von  dem  Treiben  der  anderen  sehr  viel  Anregendes 
erfährt,  was  den  Horizont  wesentlich  erweitert. 

Von  der  Neubegründung  der  Volksschule  durch  Pestalozzi  werden  wir  bis  zur 
Neuzeit  geführt  an  allen  wichtigen  Fragen  vorbei,  die  jeder  Gebildete  kennen  lernen 
sollte,  jeder  Lehrer,  mag  er  oben  oder  unten  unterrichten,  kennen  lernen  muß. 
Wir  können  nicht  alles  aufführen,  was  neu  ist  an  dem  Buche.  Nur  hinweisen  können 
wir  auf  wichtige  Probleme,  so  auf  das  Problem  der  religiösen  und  der  staatsbürgerlichen 
Erziehung  und  auf  den  Moralunterricht,  die  in  geschickter  Vergleichung  und  Neben- 
einanderstellung erörtert  werden.  Ferner  bespricht  das  Buch  als  neuen  Gegen- 
stand das  Prinzip  der  Selbsttätigkeit  und  die  Forderungen  Pestalozzis,  Fichtes 
und  Fröbels,  dann  die  aktuellen  Fragen  der  Arbeitsschule,  des  Kindergartens, 
der  Werktätigkeit,  der  Arbeitsschule,  der  Kinderhorte  und  der  Fortbildungsschulen. 
Zwei  gesonderte  Gebiete,  die  früher  in  einem  gemeinsamen  Abschnitt  besprochen 
oder  nur  berührt  waren,  werden  jetzt  jedes  in  einem  besonderen  Kapitel  behandelt; 
das  eine  ist  betitelt  , Lehrer  und  Lehrerbildung*,  das  andere  ,der  Oberlehrer«;  jenes 
beleuchtet  das  Gebiet  der  Volksschule  und  Seminarlehrer,  dieses  die  akademisch- 
gebildeten Kreise. 


J.  Ziehen,  Aus  der  Werkstatt  der  Schule,  angez.  von  A.  Matthias.  551 

Ebenso  ist  neu  das  Kapitel  über  Frauenbildung  und  Mädchenschule,  das  uns 
die  geschichtliche  Entwicklung  der  Frauenkultur  bringt  und  sich  bis  zur  Reform 
des  höheren  Mädchenschulwesens  erstreckt,  aber  auch  die  Vorbildung  der  Lehre- 
rinnen mit  umfaßt.  An  letzter  Stelle  folgt  dann  noch  ein  Kapitel  über  die  Päda- 
gogik der  Hochschule,  in  denen  sich  der  Verfasser  als  kluger  Berater  über  mancherlei 
Lücken  erweist,  die  hier  noch  auszufüllen  sind. 

Die  Erweiterung,  die  gegen  die  erste  Auflage  mit  dem  Buche  stattgefunden, 
ist  nicht  nur  äußerlich  zu  fassen;  sie  ist  vielmehr  zugleich  eine  Vertiefung,  die  mit 
dem  Entwicklungsgange  des  Verfassers  zusammenhängt.  Vor  10  Jahren  war  er 
Oberlehrer  an  einem  Berliner  Gymnasium;  inzwischen  hat  er  als  Professor  an  der 
Posener  Akademie  seine  Erfahrungen  und  Anschauungen  wesentlich  vermehrt 
in  einer  Zeit,  in  welcher  an  den  höheren  Schulen,  auch  an  denen  für  Mädchen, 
bedeutende  Veränderungen  vor  sich  gegangen  sind.  Dazu  wurde  Lehmann  mit  der 
Praxis  des  Universitätslebens  innig  vertraut.  Und  ferner  erweiterte  seinen  Blick, 
sein  Wissen  und  seine  Erfahrungen  ein  wiederholter  Aufenthalt  in  Amerika,  der 
ihn  befähigte,  das  Ganze  eines  nationalen  Schulwesens  kennen  zu  lernen  und  es 
zu  vergleichen  mit  den  heimischen  Verhältnissen.  Lehmanns  Gesichtskreis  und 
damit  sein  Recht,  in  pädagogischen  Fragen  mitzusprechen,  ist  dadurch  bedeutsam 
erweitert  und  fester  begründet  und  er  ist  befähigt,  nunmehr  den  höheren  Unterricht 
nicht  mehr  allein  zu  beurteilen,  sondern  ihn  als  einen  Teil  eines  großen  Ganzen  anzu- 
sehen und  die  Fäden  zu  erkennen,  die  hin  und  wieder  laufen  und  auf  neue  Fäden 
hinzuweisen,  die  noch  geknüpft  werden  müssen. 

Und  weil  dem  so  ist,  so  ist  das  Buch  ein  sehr  wertvolles  Werk  für  jeden  Lehrer, 
von  der  Universität  herab  bis  zur  kleinsten  Dorfschule.  Es  kann  nur  zu  weitester 
Verbreitung  empfohlen  werden. 

Ziehen,  Julius,  Aus  der  Werkstatt  der  Schule.  Studien  über  den 
inneren  Organismus  des  höheren  Schulwesens.  Leipzig  1907.  Quelle  &  Meyer. 
8».  VI  u.  207  S.  4  M. 
Versehentlich  kommt  die  Besprechung  verhältnismäßig  spät,  da  das  Buch 
in  der  Redaktion  etwas  Irrläuferei  getrieben  hat.  Aber  es  ist  besser,  ein  Versehen 
einzugestehen,  als  sich  mit  Schweigen  aus  der  Affaire  zu  ziehen;  um  so  mehr,  als 
es  sich  hier  um  ein  Buch  handelt,  das  für  jeden  ernst  arbeitenden  Schulmann  eine 
Fülle  von  Anregungen  bietet  und  recht  bekannt  zu  werden  verdient.  „Anspruchs- 
lose" Einzelstudien  nennt  Ziehen  diese  Studien,  es  entspricht  das  ganz  seiner  Art. 
Wer  Ansprüche  macht,  beweist  dadurch  in  den  meisten  Fällen,  daß  er  keine  zu 
machen  hat.  Aber,  wer  wie  Ziehen  das  Beste  bietet  und  sagt,  es  sei  anspruchslos, 
der  hat  wirklichen  und  begründeten  Anspruch,  gelesen,  studiert  und  befolgt  zu 
werden.  Gleich  der  erste  Aufsatz  ,,über  ein  künftiges  deutsches  Reichsschul- 
museum" ist  schon  bei  seinem  ersten  Erscheinen  sehr  beachtet  und  er  ist  auch 
befolgt,  indem  das  preußische  Kultusministerium  die  wertvollen  Schätze  der 
Brüsseler  Unterrichtsausstellung  nicht  wieder  hat  verkommen  lassen,  sondern 
aufbewahrt  hat  in  einem  Berliner  Schulmuseum,  das  hoffentlich  den  Anfang  oder 
einen  der  Anfänge  eines  Reichsschulmuseums  bildet,  das  Ziehen  immer  wieder  ge- 
wünscht hat.  — 


552  A.  Matthias,  Praktische  Pädagogik  für  höhere  Lehranstalten, 

Die  anderen  Studien  sind  anderer  Art.  Sie  behandeln  Fragen  der  Unterrichts- 
methodik, die  einerseits  die  Sichtung,  auf  der  anderen  Seite  die  Erweiterung  und 
Vertiefung  der  Lehrstoffe  betreffen  und  deren  Verlauf  einer  anregenden  und  inner- 
lich bildenden  Lehrweise  Klarheit  zu  schaffen  sucht.  Aus  den  Gebieten,  die  Ziehens 
persönlicher  Neigung  nahe  liegen  und  die  er  mit  klugem  Sinn  und  scharfem  Auge 
für  praktische  Handhabung  selber  durchwandert  hat,  sind  diese  methodischen 
Anregungen  entnommen;  vor  allem  aus  der  Arbeit  am  Frankfurter  Lehrplan, 
der  sieben  Aufsätze  gelten,  dann  aus  dem  deutschen  Unterricht,  den  drei  Auf- 
sätze behandeln,  aus  dem  neuphilologischen  Unterricht  mit  sechs  Aufsätzen. 
Ferner  findet  der  Geschichtsunterricht  und  der  Unterricht  in  der  Erdkunde  mit 
sieben  Aufsätzen  Berücksichtigung,  und  den  Schluß  krönt  die  Kunst  mit  einer  Ab- 
handlung zur  Schulung  des  Auges  und  zur  Erweckung, des  Kunstsinnes  im  Zeichen- 
unterricht. 

Alles,  was  geboten  wird,  ist,  wie  man  das  bei  Ziehen  gewohnt  ist,  ungemein 
anregend,  und  die  Anregungen  sind  so,  daß  man  sie  verwenden  kann;  sie  sind  nicht 
nur  da,  um  zu  unterhalten,  sondern  so,  daß  man  sich  im  eigenen  Unterricht  hand- 
fest an  sie  halten  kann.  Und  dazu  sind  sie  —  und  das  ist  in  pädagogischen  Büchern 
nicht  immer  der  Fall  —  niemals  langweilig,  sondern  originell  und  geistreich  und 
zwar  in  dem  Sinne  geistreich,  daß  sich  überall  vornehmer  Respekt  vor  den  be- 
stehenden Zuständen  zeigt.  Denn  geistreich  zu  sein,  wenn  man  vor  nichts  Respekt 
hat,  das  ist  nach  Goethe  bekanntlich  kein  Kunststück. 

Das  Versehen  ist  also  wieder  gut  gemacht;  da  es  so  spät  geschehen,  kann  ich 
den  Lesern,  die  das  Buch  noch  nicht  gelesen  haben,  nur  raten,  es  schleunigst 
zu  studieren.     Sie  werden,  wie  ich,  Freude  daran  haben. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Matthias,  Adolf ,  Praktische  Pädagogik  für  höhere  Lehr- 
anstalten. 4.  Auflage.  München  1912.  C.  H.  Becksche  Verlagsbuchhand- 
lung.   X  u.  294  S.    8».    geb.  6  M. 

Im  Begriffe,  in  einen  neuen  und  verantwortungsvolleren  Wirkungskreis  ein- 
zutreten, hatte  ich  mir  behufs  Selbstprüfung  und  Gewissensschärfung  die  erneute 
Lektüre  einiger  weniger  pädagogischer  Werke  vorgesetzt,  zu  denen  auch  Matthias' 
Praktische  Pädagogik  gehörte:  die  Aufforderung  zur  Besprechung  der  neuen  Auf- 
lage war  mir  um  so  willkommener.  Unter  den  vielen  ausgezeichneten  Arbeiten,  die 
Baumeisters  Handbuch  vereinigt,  hat  die  Praktische  Pädagogik  in  der  Auflage- 
ziffer den  Rekord  erreicht.  Und  das  nimmt  nicht  wunder:  an  pädagogischer  Theorie 
fehlt  es  dem  in  den  Schuldienst  Tretenden  in  der  Regel  nicht;  die  Erfahrungen  der 
Praxis  aber,  die  doch  schließlich  erst  den  belebenden  und  sicher  machenden  In- 
duktionsbeweis für  die  Theorie  liefert,  sind  in  zahllosen  Schriften  und  Aufsätzen 
so  zerstreut,  daß  man  mit  Dank  ein  Buch  begrüßen  wird,  in  dem  sie  gesammelt 
und  zugleich  von  kundiger  Hand  gesichtet,  gewogen  und  gerichtet  vorliegen.  Von 
kundiger  Hand:  der  Verfasser  ist  die  ganze  Stufenleiter  vom  Lehrer  zu  einem 
langjährigen  Mitgliede  der  Zentralstelle  unseres  Unterrichtswesens  aufgestiegen 
und  hat  damit  Einblicke  und  Umblicke  in  Schule  und  Leben  gewonnen,  die  dem 
in  engerem  Kreise  Schaffenden  versagt  bleiben,  aber  auch  das  Zutrauen  zu  dem 


angez.  von  E.  Grünwald.  553 

Führer  erhöhen  müssen.  Dazu  fehlt  dem  Buche  alles  Zunftmäßige  und  Doktrinäre, 
heimelt  im  Gegenteil  eine  stark  persönliche  Färbung  der  Darstellung  besonders 
an;  ich  verstehe  wenigstens  nicht,  wie  man  dem  Verfasser  aus  seiner  Geradheit 
und  Natürlichkeit  hat  einen  Vorwurf  machen  können.  Die  enge  Wechselbeziehung 
zwischen  Schule  und  Leben  wird  heutzutage  glücklicherweise  immer  mehr  ge- 
würdigt: daß  man  nur  die  eine  oder  das  andere  kennt  und  berücksichtigt,  führt 
zu  so  vielen  haltlosen  und  ziellosen  Reformvorschlägen.  Nicht  als  ob  der  moderne 
Zug  —  der  Matthias  mit  unserm  unvergeßlichen  Münch  eignet  —  ihn  nun  blindlings 
allen  Welt-  und  Schulverbesserern  Sitz  und  Stimme  im  Rate  geben  ließe:  „Laß 
dich  nicht  verblüffen,  heißt  es  S.  33,  . . .  von  den  Eltern  deiner  Schüler,  auch  wenn 
sie  noch  so  voreingenommen  und  aufgeregt  sind  über  ihre  Kinder  und  deren  Be- 
handlung seitens  der  Schule;  auch  nicht  verblüffen  von  der  tadelnden  Presse,  dem 
nörgelnden  Publikum  und  vor  allem  nicht  von  den  maßlosen  Reformhelden  des 
Tages,  die  der  Schule  im  allgemeinen  und  deinem  Stande  etwas  am  Zeuge  flicken 
wollen  und  das  tun  unter  marktschreierischem  Paukenschlage  nichtssagender 
Phrasen  und  unbewiesener  Vorwürfe."  S.  142  liest  man:  „Man  sollte  sich  den 
Reformrufern  gegenüber,  welche  Aussonderung  des  unnötigen  Lehrstoffs  und  überall 
einen  Lehr-  und  Lernkanon  verlangen,  sehr  zurückhaltend  benehmen;  man  beraubt 
sich  vielfach  durch  Beseitigung  des  „unnützen  Ballastes"  der  besten  Assoziations- 
stützen. Das  können  jene  Entbürdungsapostel  nicht  wissen,  da  sie  der  Sache 
allzu  fern  stehen  und  von  echter,  kräftiger  Pädagogik  herzlich  wenig  verstehen.'' 
Und  S.  144:  „Auch  das  sollten  wir  festhalten  moderner  Weisheit  gegenüber,  die 
uns  überreden  möchte,  daß  man  die  Ausnahmen  nicht  mehr  lernen  lasse,  weil  das 
dem  festen  Besitz  schade:  exceptio  f  ir mat  regulam  sagt  ältere  Weisheit,  die  un- 
bewußt ihren  Respekt  vor  Assoziationsstützen  aussprach,  weil  sie  nicht  unter  dem 
unklaren  Einfluß  eines  unphilosophischen  Zeitalters  stand."  Und  endlich  S.  164: 
„Man  hat  wohl  geklagt,  daß  unsere  Schulen  mit  ihrer  große^n  Schülerzahl,  mit 
ihren  bestimmten  Lehrzielen  und  ihrer  strengen  Zucht  dem  individuellen  Lern- 
triebe verhältnismäßig  wenig  Raum  gewähren  und  die  Individualität  der  Schüler 
beengen  und  schädigen;  man  hat  aber  dabei  vergessen,  daß  jener  Schaden,  wenn 
er  wirklich  bemerkenswert  sein  sollte,  ausgeglichen  wird  durch  die  Verschärfung 
des  jugendlichen  Pflichtgefühls,  durch  die  zuchtvolle  Forderung  von  Gesamt- 
leistungen und  durch  die  Pflicht  des  Zusammennehmens  im  Interesse  eines  Gesamt- 
lerngebietes. Man  beachtet  ferner  nicht,  daß  diese  Schule  dem  falschen  Individua- 
lismus, dem  leichtfertigen  Verwöhnen,  dem  Gehen-  und  Gewährenlassen  des  Hauses 
doch  einen  schätzenswerten  Damm  entgegenstellt,  ohne  den  die  heutige  Gesellschaft, 
wenn  sie  in  der  Erziehung  allen  ihren  Neigungen  frönen  dürfte,  doch  bald  aus 
Rand  und  Band  kommen  könnte.  Der  kategorische  Imperativ,  der  den  Knaben 
treibt  zu  lernen,  was  er  lernen  soll,  übt  seine  Wirkung  auch  auf  die  Pflichttreue 
unserer  Zeit  aus;  eine  zu  starke  Pflege  der  Individualität  würde  gerade  in  unseren 
Tagen  das  bedenklichste  Geschenk  sein,  das  wir  der  Jugend  für  ihre  Zukunft  mit 
auf  ihren  Lebensweg  geben  könnten."  Die  Forderungen  des  Verfassers  bleiben 
immer  diesseits  des  Möglichen  und  Wünschbaren,  bestehen  aber  auf  dem  Nötigen 
und  Erreichbaren:  mit  der  „Moderne"  wird  nur  paktiert,  soweit  „das  Empirische 
der  Pädagogik,  die  historische  Entwicklung  der  Kunst"  es  ungezwungen  zuläßt; 


554  A.  Matthias,  Praktische  Pädagogik  usw-,  angez.  von  E.   Grünwald. 

denn  „der  richtige  Pädagoge  und  eine  richtige  Pädagogik  lernen  nimmer  aus'", 
die  praktische  Pädagogik  trägt  einen  „kompromißartigen  Charakter**.  Soviel  des 
nicht  Meßbaren  und  nicht  Wägbaren  tritt  dem  Erzieher  zumal  in  dem  „Naturleben" 
der  Schüler  gegenüber,  daß  er  ihm  mit  Schema  F  nicht  ohne  weiteres  gerecht  werden 
kann.  Damit  hängt  der  Wert  der  Persönlichkeit  für  die  Erziehung  zusammen, 
auf  die  der  Verfasser  starkes  Gewicht  legt  und  immer  wieder  zurückkommt,  mit 
der  er  —  für  seinen  Standpunkt  bezeichnend  —  seine  Pädagogik  beginnt  und  an 
der  ja  auch  für  die  Praxis  tatsächlich  mehr  liegt  als  an  Stoff  und  Methode,  Reglement 
und  Lehrbuch.  S.  253  heißt  es  ausdrücklich  und  deutlich:  „Die  praktische  Pädagogik 
soll  nicht  der  Selbstverherrlichung,  sondern  der  Selbsterkenntnis  dienen;  sie  ist 
nicht  bestimmt  fürs  große  Publikum,  sondern  für  den  Hausbedarf  und  die  Selbst- 
erziehung, der  wir  doch  schließlich  die  eigentlichen  Resultate  unseres  Lebens  ver- 
danken." Aus  dem  zweiten,  umfangreichsten  Abschnitt,  der  von  der  Methode 
handelt,  sei  es  dem  Humanisten  gestattet,  auch  einiges  Haben  zu  buchen,  zumal 
die  gelegentliche  Stellungnahme  des  Verfassers  zur  Sache  des  Gymnasiums  ihn 
in  den  Verdacht  recht  platonischer  Liebe  zur  alten  Gelehrtenschule  und  modischer 
Unterschätzung  ihrer  Verdienste  und  ihrer  Daseinsberechtigung  gebracht  hat. 
Wenn  er  auch  (S.  46)  den  formalbildenden  Wert  des  lateinischen  Grammatik- 
unterrichts noch  stärker  hätte  betonen  können,  so  erkennt  er  doch  „geistige  Schulung 
durch  formale  Übung'*  (S.  52)  überhaupt  an,  ermuntert  (S.  47)  „zu  freiem  und 
mutigem  Gebrauch  der  lateinischen  Sprache,  den  wir  doch  nicht  aufgeben  wollen", 
spricht  (S.  101)  von  „Übungen  des  Übersetzens  in  die  fremden  Sprachen,  die  wir 
nicht  werden  entbehren  können**,  (S.  240)  von  den  Extemporalien  als  einem  „vor- 
trefflichen Kraftmesser",  (S.  108)  von  dem  „oberflächlichen  Gerede  derer,  die  die 
Übersetzungen  der  alten  Klassiker  für  ebenso  vollwertig  halten  wie  die  Originale*'. 
—  Materiam  aequat  opus.  Die  ursprüngliche,  frische,  phrasenlose,  auch  allem 
Fachjargon  möglichst  aus  dem  Wege  gehende,  gegen  Anmaßung  scharfe,  gegen 
Verkehrtheiten  oft  sarkastische,  meist  humorvolle  Sprache  bringt  den  Leser  bald 
zu  dem  Verfasser  in  das  rechte  Vertrauensverhältnis;  glückliche  Wendungen  und 
Formulierungen  finden  sich  fast  auf  jeder  Seite:  so  „Eigensinn  frißt,  wenn  er  nicht 
beachtet  wird,  meist  sich  selber  auf**;  „wirkungsvolle  Strafen  gleichen  Kapitalien, 
die  gute  Zinsen  bringen'*;  „nicht  mit  Kanonen  nach  Spatzen  schießen,  ist  auch  gute 
Regel  für  Erhaltung  des  Gehorsams  und  Wahrung  der  Autorität**;  „suum  cuique, 
nicht  idem  cuique";  „die  schlichten  Worte:  ,Und  der  Herr  wandte  sich  und  sah 
Petrus  an*  enthalten  eine  Fülle  der  Weisheit  über  den  Wert  des  Auges  für  die  Zucht 
und  Besserung*';  „die  Mehrzahl  der  Menschen  und  auch  der  Lehrer  ist  zum  Nörgeln 
mehr  veranlagt  als  zu  freiem  und  frischem  Anerkennen**;  „je  pädagogischer  man 
verfährt,  um  so  gerechter  wird  die  Versetzung  sein;  und  je  gerechter  man  versetzt, 
um  so  mehr  werden  pädagogische  Wirkungen  erzielt  werden**;  „die  praktische  Päda- 
gogik hat  allewege  den  Grundsatz  zu  verfolgen,  daß  man  als  Schulmann  empfind- 
licher sein  muß  für  das  Vergnügen  zu  lernen  als  für  das  Mißvergnügen  das  Voll- 
kommene noch  nicht  erreicht  zu  haben".  Die  Literaturangaben  sind  sparsam, 
aber  ausreichend;  Wetekamps  Programmabhandlung  (S.  162)  ist  als  selbständiges 
Buch  und  schon  in  dritter  Auflage  erschienen.  Zu  S.  220  f.  wäre  zu  bemerken, 
daß  den  gewiß  begründeten  Bedenken  und  Warnungen  des  Verfassers,  die  [das 


K.   Seil,  Katholizismus  und  Protestantismus,  angez.  von  R.  Peters.  555 

Fleißprädikat  auf  dem  Zeugnis  betreffen,  in  der  neuen  Dienstanweisung  S.  16 
Rechnung  getragen  ist.  An  Druck  versehen  füge  ich  an:  S.  41  Z.  4  v.  u.  1.  ent- 
wachsen; S.  83  und  86  1.  Hildebrand;  S.  108  Z.  14  v.  u.  1.  patria;  S.  109  1.  clades; 
S.  111  Z.  21  V.  u.  1.  verbindende  usw.;  Z.  14  v.  u.  1.  sente;  S.  114  Z.  4  v.  o.l.  essent; 
S.  147  Z.  1  V.  u.  1.  er;  S.  164  Z.  15  v.  u.  1.  das;  S.  185  Z.  15  v.  o.  1.  einen.  —  Schließ- 
lich trage  ich  noch  nach,  daß  diese  vierte  Auflage  um  drei  wichtige  und  wohl- 
gelungene Kapitel  bereichert  ist:  die  zehn  Gebote  für  den  Lehrer,  die  zehn  Gebote 
für  den  Schüler  und  die  schriftlichen  Klassenarbeiten  —  jene  vom  Verfasser 
treffend  charakterisierte  Versuche,  die  Pflichten  des  Lehrers  und  Schülers  auf 
möglichst  kurze  und  behaltbare  Formeln  zu  bringen;  dies  eine  im  ganzen  an- 
erkennende Beleuchtung  des  Extemporaleerlasses  vom  21.  Oktober  1911. 
Friedeberg  Nm.  E.  G  r  ü  n  w  a  1  d. 

Seil,  Karl,  Katholizismus  und  Protestantismus.  Leipzig  1908. 
Quelle  &  Meyer.  VII  u.  327  S.  8«.  4,40  M. 
Das  Buch  verfolgt  ebensowenig  apologetische,  wie  polemische  Tendenz.  Es 
wird  weder  der  dogmatische  Maßstab  angelegt  und  die  eine  Auffassung  als  die  allein 
haltbare  gegenüber  der  anderen  zu  erweisen  versucht,  noch  auch  wird  die  Methode 
des  konfessionellen  Streites  befolgt,  die  der  anderen  Konfession  ohne  weiteres 
die  Schuld  aufbürdet  für  Einseitigkeiten  und  Fehler  einzelner  Persönlichkeiten. 
Vielmehr  wird  nach  einem  kurzen  Überblick  über  das  Urchristentum  und  das  katho- 
lische Kirchentum  bis  zur  Glaubensspaltung  in  objektiv  geschichtlicher  Dar- 
stellung gezeigt,  wie  ,aus  dem  Mutterschoße  der  mittelalterlichen  Religion  in  der 
Reformationszeit  mit  dem  Zwillingsbruder,  der  die  Züge  der  alten  Mutter  Kirche 
vorwiegend  an  sich  trug,  dem  neuen  Katholizismus,  ein  anderer  entbunden  wurde, 
der,  in  allem  verschieden  von  jenem,  doch  seiner  Bestimmung  nach  nichts  anderes 
sein  will  und  wollen  kann,  als  auf  seine  Weise  die  auch  ihm  eingeborenen  Kräfte 
eines  eigentümlichen  christlich  sittlichen  Genius  zu  betätigen'.  Es  kommt  dem 
Verfasser  darauf  an,  das  Wesen  der  in  sich  gleichberechtigten  Ausprägungen  der 
christlichen  Religion  aufzuweisen  und  darzutun,  wie  daraus  ein  verschiedenes  Ver- 
hältnis zur  Politik  und  zur  Kultur  sich  ergibt.  Auch  in  diesen  Kapiteln  tritt  das 
richtende  Urteil  zurück  hinter  dem  besonnen  würdigenden,  und  bei  den  unvermeid- 
lichen Werturteilen  über  die  einzelnen  Erscheinungen  waltet  das  Bestreben,  vor 
allem  den  Beweis  des  Geistes  und  der  Kraft  reden  zu  lassen. 

Die  Schwierigkeiten  einer  solchen  Darstellung  liegen  auf  der  Hand,  und  der 
Verfasser  hat  sie  sich  nicht  verhehlt.  Sie  liegen  einmal  darin,  daß  bei  manchen 
Steinen,  die  in  den  Aufbau  der  geschichtlichen  Betrachtung  eingefügt  werden, 
die  vorbereitende  Bearbeitung  noch  nicht  fertig  war.  Aber  auch  bei  der  ,rein  ge- 
schichtlichen' Antwort  auf  die  Frage  nach  dem  Wesen  von  Katholizismus  und 
Protestantismus  treten  sie  hervor.  Wenn  z.  B.  S.  205  gesagt  wird:  , Nicht  der 
Katholizismus,  sondern  nur  der  Kurialismus,  der  politische  Katholizismus,  der 
seine  Weisung  aus  dem  Syllabus  nehmen  muß,  ist  innerlicher  Gegner  des  modernen 
paritätischen  Staates',  so  könnte  man  doch  angesichts  der  Tatsache,  daß  der  Syllabus 
durch  die  einstimmige  Annahme  des  gesamten  Episkopats  den  Charakter  einer 
durchaus  maßgebenden  Kundgebung  erhalten  hat,  dagegen  einwenden,  daß  eine 


556      P.  Cauer,  Das  Altertum  im  Leben  der  Gegenwart,  angez.  von  F,  Thümen. 

Unterscheidung  zwischen  Katholizismus  und  Kurialismus,  die  dem  religiösen  Urteil 
des  Protestanten  sich  aufdrängt,  vom  geschichtlichen  Standpunkt  nicht  mehr  halt- 
bar ist.  Doch  trotz  solcher  Bedenken  wird  auch  der,  bei  dem  der  optimistische 
Ausblick  in  die  Zukunft  (,Zur  Psychologie  der  Konfessionen,  der  Austausch  der 
Konfessionen  und  die  Zukunft  des  Christentums')  Zweifel  über  die  Verwirklichung 
des  Ideals  erweckt,  seine  Freude  haben  an  der  gerechten  und  weitblickenden  Art 
der  Darstellung. 

Düsseldorf.  RudolfPeters. 

Cauer,  Paul,  DasAltertumim  Leben  der  Gegenwart.  Leipzig  191 1. 
B.  G.  Teubner.    VII  u.  122  S.    S\    geh.  1  M.,  in  Leinwand  geb.  1,25  M. 

Von  den  zahlreichen  Schriften,  die  der  Verfasser  zur  Würdigung  des  klassischen 
Altertums  als  eines  unerläßlichen  Kulturfaktors  auch  für  unsere  Zeit  im  Laufe  der 
Jahre  veröffentlicht  hat,  ist  jüngst  der  Vortrag  „Wissenschaft  und  Schule  in  ihrem 
Verhältnis  zum  klassischen  Altertum"  in  dieser  Monatschrift  besprochen  worden. 
Ihm  folgt  das  obige  Büchlein,  das  aus  teils  akademischen,  teils  privaten  Vorträgen 
hervorgegangen  ist  und  den  in  der  erstgenannten  Veröffentlichung  liegenden  Grund- 
gedanken weiter  verfolgt  und  tiefer  begründet.  Hieß  es  dort,  daß  die  Philologie, 
„indem  sie  die  gesamte  Geisteskultur  von  Jahrtausenden  für  den  forschenden 
Blick  in  eine  Folge  von  Entwicklungsstufen  auflöst,  den  Zwang  lockern  hilft,  mit 
dem  nun  die  geschlossene  Masse  auf  den  Epigonen  lastet",  so  wird  hier  auf  den 
verschiedenen  Gebieten  der  Lebensäußerungen  des  Altertums  nachgewiesen,  in 
welcher  Weise  „der  Tyrannei  formulierter  Ansichten  entgegengearbeitet  und  der 
Blick  auf  das  allmähliche  Werden  der  Begriffe  und  der  Denkweisen  hingelenkt" 
werden  soll.  Das  kann  nach  des  Verfassers  Ansicht  nur  geschehen,  wenn  das  Alter- 
tum nicht  mehr  schlechthin  als  ein  Ideal,  sondern  rein  menschlich  —  „was  die 
Alten  gewesen  sind  und  geleistet  haben"  —  betrachtet  wird,  wenn  die  Forschung 
wie  die  ästhetische  Würdigung  mehr  zum  Kerne,  zum  Ursprung  und  den  Anfängen 
der  Entwicklung  vordringt  und  in  dem  schließlich  Gewordenen  das  Bleibende  von 
dem  Vergänglichen  zu  sondern  lernt.  Die  Ergebnisse  einer  solchen  Betrachtungs- 
weise werden  die  Wirkung  haben,  daß  die  Gegenwart  die  Schätze,  die  im  klassischen 
Altertum  liegen,  sich  innerlich  aneignet  —  vgl.  auch  Otto  Immisch:  Das  Erbe  der 
Alten  (Vortrag)  —  und  damit  für  die  eigenen  Aufgaben  und  Bestrebungen  ver- 
wertet. Gern  lassen  wir  uns  im  einzelnen  durch  die  feinsinnigen  Betrachtungen 
des  Buches  leiten  und  anregen,  so  über  die  Frage,  ob  die  Römer  für  unser  Geistes- 
leben eine  ebenso  hohe  Bedeutung  wie  die  Griechen  haben  oder  nur  als  Vermittler 
des  Zusammenhanges  mit  diesen  anzusehen  sind;  über  den  Begriff  Klassizismus; 
ganz  besonders  über  die  bildende  Kunst  und  deren  Verständnis.  Diese  sowie  die 
Ausführungen  über  Homer,  die  Tragödie,  die  Wissenschaft,  die  Sprache,  den  Staat 
stehen  sämtlich  unter  dem  Einflüsse  des  Satzes,  daß  ein  Werk  aus  dem  Geiste  seines 
Schöpfers  und  den  Bedingungen  der  Zeit,  in  der  es  geschaffen  wurde,  zu  verstehen 
ist,  setzen  wir  hinzu,  damit  die  Nachwelt  daraus  Gewinn  für  ihre  weitere  Entwick- 
lung ziehe. 

Das  Büchlein  wird  sich  viele  Freunde  unter  den  Verehrern  des  klassischen  Alter- 
tums erwerben,  ist  aber  auch  recht  geeignet,  die  Gegner  des  Humanismus  —  die, 


G.  Finsler,  Homer  in  der  Neuzeit  usw.,  angez.  von  C.  Rothe.  557 

wie  Immisch  meint,  im  Grunde  bereits  die  Leute  von  gestern  sind  —  zum  min- 
desten zu  interessieren.  Der  Titel  erscheint  insofern  nicht  glücklich  gewählt,  als 
nicht  das  i  n  der  Gegenwart  lebendig  wirkende  Altertum  geschildert,  sondern 
dessen  Wert  für  Gegenwart  und  Zukunft  erwogen  und  festgestellt  wird,  eine  Wendung, 
die  der  Verfasser  selbst  S.  26  „Bildende  Kunst"  Z.  1  gebraucht. 

Naumburg  a.  S.  F.  T  h  ü  m  e  n. 

Finsler,  G.,  Homer  in  der  Neuzeit  von  Dante  bis  Goethe. 
Italien.  Frankreich.  England.  Deutschland.  Leipzig  und 
Berlin  1912.     B.  G.  Teubner.    530  S.    gr.  8».     12  M.,  geb.  14  M. 

Ein  Werk  wie  das  vorliegende  konnte  nur  ein  Gelehrter  wie  Finsler  in  würdiger 
Weise  schreiben.  Finsler  hat,  wie  sein  'Homer'  1908  und  mehrere  kleinere  Ab- 
handlungen beweisen,  nicht  nur  die  homerischen  Gedichte  selbst  mit  Liebe  und 
feinem  Verständnis  gelesen,  sondern  er  beherrscht  auch  in  ungewöhnlichem  Um- 
fange die  neuere  wie  die  ältere  Homerliteratur.  Von  dem  Dichter  selbst  aber  hat  er, 
wie  es  scheint,  die  Kunst,  einen  gewaltigen  Stoff  gut  zu  ordnen  und  die  Ver- 
bindung zwischen  scheinbar  getrennten  Dingen  geschickt  herzustellen.  Hinzu- 
kommt die  Gabe  klarer,  gefälliger  Darstellung,  die  für  ein  Werk,  das  in  weiten 
Kreisen  der  Gebildeten  gelesen  werden  soll,  unbedingt  notwendig  ist.  Endlich 
erleichtert  die  Lektüre  des  Buches  eine  genaue  Inhaltsangabe,  die  vorausgeht, 
sowie  Register,  die  folgen,  und  die  sorgfältige  Trennung  von  der  Darstellung 
und  den  Nachweisen,  auf  denen  die  Darstellung  fußt.  Letztere  sind  nur  für 
Fachgenossen;  andere  werden  dadurch  nur  gestört. 

In  kurzen  Strichen  zeichnet  uns  der  Verfasser  die  Veränderung  des  Geschmackes 
und  der  Bildung  und  in  Verbindung  damit  die  Beurteilung  Homers  am  Ausgange 
des  Altertums;  weist  nach,  daß  das  7.  und  8.  nachchristliche  Jahrhundert  den 
Tiefstand  der  Bildung  bezeichnen;  zeigt,  wie  in  Byzanz,  wo  die  Verbindung  mit 
dem  Altertum  nie  ganz  unterbrochen  ist,  im  12.  Jahrhundert  neue  Ansätze  auch 
für  das  Homerstudium  gemacht  werden  von  Tetzes  und  besonders  von  Eustathios 
(t  um  1192),  dessen  fleißiges  Werk  in  der  Renaissance,  ja  bis  zur  Entdeckung 
der  Homerscholien  im  18.  Jahrhundert  große  Wirkung  gehabt  hat.  Als  Wieder- 
entdecker Homers  im  Abendlande  gilt  Petrarca;  aber  nur  sehr  langsam  breitet 
sich  die  Kenntnis  des  Griechischen  aus;  nur  wenige  Gelehrte  kennen  von  Homer 
mehr  als  einzelne  Szenen  oder  dürftig  den  Inhalt  der  Gedichte.  Ariost  in  seinem 
'Rasenden  Roland'  (1516,  in  endgültiger  Form  1538)  hat  Homer  noch  nicht  be- 
nutzt; sein  Werk  ist  durchaus  selbständig,  auch  frei  von  dem  Aristotelischen  Regel- 
zwang. Tasso  dagegen  im  'Befreiten  Jerusalem'  (1575)  ahmt  nicht  nur  die  Gesamt- 
handlung der  Ilias  nach,  sondern  auch  einzelne  Szenen,  aber  er  tut  es  nicht 
sklavisch,  sondern  trägt  den  Verhältnissen  seiner  Zeit  sowohl  in  der  Begründung 
wie  in  der  Auflösung  des  Zornes  der  Fürsten  Rechnung. 

Klar  zur  Anschauung  bringt  Finsler  die  Streitfrage,  welche  alle  Gebildeten 
nicht  nur  in  Italien,  sondern  auch  in  Frankreich,  England  und  Deutschland  be- 
schäftigt hat:  Ist  Homer  oder  Virgil  der  größere  Dichter?  Das  Urteil  fällt  sehr 
verschieden  aus,  je  nach  der  Zeit  und  dem  Stande  der  Bildung.  Während  in  der 
Frührenaissance  der  Humanist  Lorenzo  Valla  (um  1450)  erklärt:  'der  unter  dem 


558  G.  Finsler,  Homer  in  der  Neuzeit  usw.,  angez.  von  C.  Rothe. 

Namen  des  Pindarus  Thebanus  gehende  Auszug  aus  der  Ilias  sei  dem  Virgil  vor- 
zuziehen,' urteilt  der  gelehrte  Paolo  Beni  (um  1600):  'Homer  ist  Kupfer,  Virgil 
im  Vergleich  zu  ihm  Silber,  Tasso  eitel  Gold.'  Dieses  absprechende  Urteil  über 
Homer  überbietet  noch  der  Franzose  Scaliger  (1561),  wenn  er  sagt,  daß  Virgil 
sich  von  Homer  wie  eine  vornehme  Dame  von  einem  plebeischen,  läppischen  Weibe 
unterscheide.  Überhaupt  hat  in  Frankreich  Homer  niemals  das  Interesse  erregt  wie 
in  Italien,  England  und  Deutschland,  weil  hier  das  Epos  an  sich  hinter  dem  Drama 
zurückstand  und  nur  ein  ganz  kleiner  Kreis  mit  eng  begrenztem  Gesichtspunkt 
den  Wertmesser  ästhetischen  Urteils  abgab. 

Viel  erörtert  ist  auch  schon  im  Cinquecento  die  Frage:  Wie  weit  sollen  neuere 
Dichter  Homer  nachahmen?  wie  weit  auch  nur  die  Regeln  des  Aristoteles?  Es 
ist  bemerkenswert,  daß  schon  damals  mit  aller  Entschiedenheit  der  Gedanke  aus- 
gesprochen ist,  daß  der  Dichter  sich  selbst  das  Gesetz  gibt,  daß  Regeln  der  Gram- 
matiker und  Forderungen  der  Kritiker  nicht  über  dem  Geist  stehen,  aus  dem  der 
Dichter  schafft.  Sehr  richtig  bemerkt  Finsler,  daß  uns  sehr  viel  Mühe  und  Ärger 
erspart  geblieben  wäre,  wenn  dieser  Gedanke  durchgedrungen  und  die  Ansicht 
aller  einsichtsvollen  Kritiker  geworden  wäre.  Am  wenigsten  aber  ist  von  dieser 
Einsicht  im  17.  Jahrhundert  zu  merken,  das  bei  allen  Kulturvölkern  so  ziemlich 
den  Tiefstand  in  der  Beurteilung  Homers  und  im  Tadel  seiner  Dichtung  im  einzelnen 
wie  im  Gesamtplane  bedeutet.  Man  tadelt  nicht  nur  die  zahlreichen  Wieder- 
holungen und  Widersprüche,  sondern  auch  das  Rohe  seiner  Darstellung,  z.  B. 
daß  er  Nausikaa  selbst  die  Kleider  waschen  lasse,  was  nicht  nur  einer  Prinzessin, 
sondern  einer  einfachen  Bürgersfrau  unziemend  wäre. 

Im  18.  Jahrhundert  tritt  eine  Wendung  zu  einer  gerechteren  Beurteilung 
Homers  ein.  Die  Führung  übernimmt  England,  wo  im  Anfange  des  Jahrhunderts 
die  Kenntnis  des  Griechischen  gewaltig  an  Umfang  gewinnt.  Wirkte  doch  hier 
seit  1700  als  Master  des  Trinity  College  in  Cambridge  der  größte  Philologe  seiner 
Zeit,  Bentley,  bekannt  durch  die  Entdeckung,  daß  zur  Zeit  der  Entstehung  der 
Gedichte  das  V  (nach  seiner  Form  'Digamma'  genannt)  noch  gesprochen  worden 
sei.  Die  Sprache  Homers  und  die  Realien  werden  ebenso  untersucht  wie  die  Kunst 
im  Aufbau  der  Gedichte.  Wird  in  Italien  Ariost  und  Tasso,  so  wird  in  England 
gern  Milton  zum  Vergleich  herangezogen.  Seit  der  Mitte  des  Jahrhunderts  wird 
der  Ruf  'Zurück  zur  Natur'  laut,  und  es  beginnt  damit  für  Homer,  in  dem  man 
reine  Natur  im  Unterschiede  zu  der  Bildung  späterer  Zeit  sieht,  das  Zeitalter  der 
höchsten  Bewunderung.  Der  Engländer  Wood  unternimmt  große  Reisen  nach 
dem  Orient  in  erster  Linie,  um  die  Länder  und  Volker  kennen  zu  lernen,  die  Homer 
schildert,  und  er  findet  wirklich  in  Homers  Gedichten  ein  treues  Abbild  davon. 
Dazu  schärfen  Ossians  Gesänge,  die  Macpherson  veröffentlicht,  den  Blick  für 
das  Volkslied.  Die  Bewegung  greift  mächtig  nach  Deutschland  hinüber,  wo  be- 
sonders Herder  in  diesem  Sinne  tätig  ist.  Damit  tritt  die  Frage  nach  dem  Ursprünge 
der  Gedichte,  die  vereinzelt  auch  früher  gestreift  ist,  in  den  Vordergrund:  In 
blinder  Bewunderung  des  Volksliedes  sieht  man  auch  in  der  Ilias  ein  'Volksepos', 
ein  Epos,  an  dem  das  ganze  Volk  geschaffen  habe,  nicht  ein  einzelnes  gewaltiges 
Genie.  Damit  ist  die  Grundlage  gegeben,  um  Wolfs  Hypothese,  obwohl  sie,  wie 
Finsler  zeigt,  nicht  neu  ist,  sondern  vor  ihm  von  d'Aubignac  und  Heyne  in  allen 


Gedichte  des  Catullus,  angez.  von  A.  Matthias.  559 

wesentlichen  Zügen  schon  aufgestellt  ist,  die  ungewöhnliche  Wirkung  zu  verschaffen. 
Die  meisterhafte  Darstellung  und  das  Ansehen  des  Gelehrten  trugen  freilich  auch 
nicht  wenig  zur  Verbreitung  bei. 

Kurz  gibt  Finsler  noch  an,  welche  Stellung  die  damals  führenden  Geister 
in  Deutschland,  Goethe,  Schiller  und  Wieland,  zu  der  Hypothese  Wolfs  einnahmen 
und  welche  Bedeutung  sie  im  19.  Jahrhundert  gehabt  hat.  Und  er  schließt  mit 
den  schönen  Worten:  „Scheffel  hat  die  Homerkritik  zerstörungsfroh  genannt, 
und  es  läßt  sich  nicht  bestreiten,  daß  sie  im  Aufspüren  von  Widersprüchen  in  der 
Gesamtkomposition  wie  in  den  Einzelheiten  der  Gedichte  das  Maß  des  Zulässigen 
weit  überschritten  hat.  Was  das  Schlimmste  ist:  bei  gar  zu  vielen  der  Gelehrten 
findet  sich  zu  wenig  Gefühl  dafür,  daß  wir  es  mit  Poesie  zu  tun  haben,  und  daß 
Poesie  ohne  einen  Dichter  undenkbar  ist.  Und  nun  ist  dieser  Dichter  nicht  nur 
der  älteste  unter  den  erhaltenen,  sondern  der  lebendigste,  frischeste  und  unver- 
wüstlichste. Ihn  von  der  Seite  der  Poesie  zu  betrachten,  ist  denn  auch  die  Auf- 
gabe, die  sich  in  neuester  Zeit  viele  gestellt  haben Bekennen  wir  uns  vor 

allem  zu  einer  poetischen  Persönlichkeit  Homers;  dann  wird  uns  die  Kritik  und 
Erklärung  der  Werke  weiter  fördern,  als  wenn  ihr  Resultat  nur  die  Zertrümmerung 
ist,  wie  es  vielfach  der  Fall  war.  Dann  wird  auch  die  Freude  an  dieser  unver- 
gänglichen Poesie  die  weitesten  Kreise  der  gebildeten  Weit  wieder  ebenso  stark 
durchdringen  wie  in  Herders  unvergeßlicher  Zeit.** 

Wie  sehr  ich  Wort  für  Wort  mit  dieser  Ansicht  übereinstimme,  beweist  mein 
Aufsatz  in  dieser  Monatschrift  S.  229 — 236.  Bei  Finsler  aber  ist  diese  Absage  an 
den  'kritischen  Nihilismus',  der  nur  zerstört,  nicht  aufbaut,  um  so  bezeichnender, 
als  er  noch  in  seinem  'Homer'  1908  ähnlichen  Vorstellungen  in  bezug  auf 
die  Eigenheit  der  homerischen  Gedichte  huldigte,  wie  Cauer  es  jetzt  noch  tut  (vgl. 
Jahresber.  1909,  S.  210—213).  Daß  man  aber  beim  Unterricht  anfangen  müsse, 
wenn  man  wieder  größere  Begeisterung  für  Homer  erwecken  will,  ist  klar;  daß 
es  möglich  ist,  habe  ich  a.  a.  0.  durch  bestimmte  Zeugnisse 'nachgewiesen. 

Berlin-Friedenau.  Carl    Rothe. 


Gedichte  des  Catullus.  Übersetzt  von  W.  A  m  e  1  u  n  g.  Mit  einer  Einleitung 
von  Fr.  Spiro  und  einigen  Abbildungen  antiker  Denkmäler.  Jena  1911. 
Eugen  Diederichs.     XXXII  u.  38  S.     8«.    3  M. 

Nicht  der  Wunsch,  ältere,  in  ihrer  Art  vortreffliche  Übersetzungen  durch  eine 
neue  zu  übertrumpfen,  hat  Amelung  zu  seinem  Versuche  angeregt,  eine  Auswahl 
Catallscher  Gedichte  in  deutscher  Form  zu  geben.  Eigenes  Erleben  vielmehr 
hat  die  mit  dem  Feuer  echtester  Empfindung  getauften  Dichtungen  in  dem  Über- 
setzer wieder  lebendig  werden  lassen  und  ihn  gedrängt,  ihren  menschlich-poetischen 
Gehalt  in  neugeschaffener  Form  zu  fassen.  Das  Versmaß  des  Originals  ist  nirgends 
festgehalten;  es  sind  aber  deutsche  Maße  gewählt,  die  die  Stimmung  des  Originals 
zu  treffen  suchen  und  das  auch  erreichen.  Die  Übersetzungen  sind  frei,  aber  dem 
Sinne  getreu  bis  zu  philologischer  Genauigkeit,  und  sie  sind  sehr  geschmackvoll 
und  poetisch.  —  Die  Einleitung  von  Spiro  nimmt  fast  die  Hälfte  des  Buches  ein: 
sie  gibt  ein  meisterhaftes  Lebensbild  Catulls  und  führt  uns  mit  großer  Anschau- 


560  E.  Redslob,  Kritische  Bemerkungen  zu  Horaz,  angez.  von  H.  Röhl. 

lichkeit  und  in  lebendigem  Stil  ein  in  die  Zeit  Catulls.    Die  Ausstattung  ist  vor- 
nehm und  dem  wertvollen  Inhalt  des  Buches  entsprechend. 

Berlin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 

Redsloby  Ernst,  Kritische  Bemerkungen  zu  Horaz.  Weimar  1912. 
Alexander  Duncker.    97  S.    8«.    3  M. 

Diese  überaus  inhaltreiche  Publikation  behandelt  in  knapper  Form  eine  außer- 
ordentlich große  Anzahl  von  Horazstellen  kritisch  und  exegetisch,  oft  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  die  Wortstellung.  Eine  Kritik  seiner  Arbeit  hat  der  Verfasser  schon 
vorweggenommen,  indem  er  sich  im  Vorworte  dahin  äußert,  daß  gewiß  auch  reich- 
lich viel  Spreu  mit  unter  die  Körner  gekommen  sei.  Nun,  das  ist  ja  an  sich  noch 
kein  Schade;  die  Hauptsache  bleibt  immer,  ob  auch  wirklich  Körner  vorhanden 
sind.  Und  das  ist  nach  Ansicht  des  Referenten  allerdings  der  Fall:  unter  dem 
Dargebotenen  findet  sich  neben  vielem,  was  teils  abzulehnen  ist,  teils  zwar  anregt 
und  Interesse  erweckt,  aber  nicht  eigentlich  überzeugt,  doch  auch  einzelnes,  was 
der  Beachtung  und  Nachprüfung  durch  die  Horazforscher  durchaus  würdig  erscheint 
und  sich  vielleicht  durchsetzt.  Und  das  wäre  bei  einem  Schriftsteller  wie  Horaz 
kein  kleiner  Erfolg.  Hier  einige  Proben  von  der  besseren  Qualität;  einen  aus- 
führlicheren Bericht  bringt  demnächst  die  Berliner  Philologische  Wochenschrift. 

Od.  I  28,  31.  Für  fors  et  schreibt  der  Verfasser  fas  ei,  wobei  der  Satz  optativi- 
schen Sinn  hat.  —  Od.  II  10,  13.  Infestis  und  secundis  nimmt  Redslob  nach  Maß- 
gabe des  Sinnes  als  Ablative.  Vielleicht  richtig;  man  vergleiche  auch  das  an- 
scheinend auf  dieselbe  Quelle  zurückgehende  Distichon  Catonis  IV  26  tranquillis 
rebus  semper  diversa  timeto;  rursus  in  adversis  melius  sperare  memento.  —  Od.  III 
20, 8.  Aus  Redslobs  Verteidigung  der  Überlieferung  sei  die  Deutung  der  praeda  maior 
auf  die  größere  Gunst  {quis  potior  futurus  sit)  hervorgehoben.  —  Das  Carmen 
saeculare  zerlegt  Redslob  unter  Absonderung  der  Schlußstrophe  in  zwei  Strophen- 
reihen zu  je  drei  Triaden  (so  schon  Menozzi  in  den  Studi  italiani  di  filologia  classica 
XII  1905,  S.  67  ff.).  Diese  Zerlegung  ist,  wie  man  leicht  sieht,  an  manchen  Stellen 
sehr  ansprechend,  während  andere  sie  minder  zu  begünstigen  scheinen.  —  Epod.  4, 17. 
Für  ora  konjiziert  der  Verfasser  monstra,  gewiß  ein  guter,  glatter  Ausdruck  statt 
der,  wie  sich  nicht  wohl  leugnen  läßt,  etwas  befremdlichen  Überlieferung.  Nur 
ist  die  Frage,  was  Horaz  nun  wirklich  geschrieben  hat,  dadurch  doch  noch  nicht 
mit  Sicherheit  gelöst.  —  Sat.  I  3,  56.  Redslob  schlägt  urgemus  vor.  Dem  Sinne 
nach  gut;  vgl.  Lejay:  on  attend  un  mot  comme  certamus. 

Zehlendorf  bei  Berlin.  H.  Röhl. 

KHnghardt,  H.  und  de  Fourmestraux,  M.,  Französische  Intonations- 
übungenfür Lehrer   und  Studierende.    Texte  und  Intonations- 
bilder.    Cöthen  (Anhalt)  1911.    Otto  Schulze.    VII  u.  114  S.   8».   geb.  3,80  M. 
Bei  der  Abfassung  dieses  anregenden  und  lehrreichen  Buches  haben  sich  die 
beiden  Verfasser  in  der  glücklichsten  Weise  ergänzt:  ein  deutscher  Schulmann, 
der  gediegene  Kenntnis  des  Französischen  mit  sehr  langer  Unterrichtserfahrung 
verbindet,  und  ein  in  Paris  geborener  Franzose,  der  ebenfalls  dort  seine  Studien 
gemacht  hat,  der  zugleich  aber,  da  er  seit  Jahren  als  Lehrer  des  Französischen 


H.  Klinghardt  und  M.  de  Fourmestraux,  Intonationsübungen,  angez.  v.  E.Weber.     561 

in  Kiel  lebt,  mit  den  besonderen  Schwierigkeiten,  die  für  Deutsche  die  französische 
Intonation  bietet,  wohl  vertraut  ist. 

Wie  der  Titel  ausdrücklich  sagt,  ist  das  Buch  in  erster  Linie  für  Lehrer  und 
Studierende  bestimmt,  die  dann  die  erworbene  Einsicht  nach  eigenem  Ermessen 
beim  Unterrichten  verwerten  mögen.  Als  Darstellungsmittel  benutzen  die  Verfasser 
nicht  die  üblichen  musikalischen  Noten  und  Zeichen,  wie  das  andere  getan  haben, 
sondern  als  Vertreter  der  Silben  Punkte,  die  dann  meistens  zu  auf-  und  absteigenden 
Linien  verbunden  werden.  In  der  Einleitung  wird  das  Wesen  der  französischen 
Intonation  treffend  chrakterisiert.  Durchaus  richtig  ist  die  Bemerkung  „es  genügt 
wahrlich  nicht  den  trochäischen  Gang  der  deutschen  Sprache  durch  den  iambischen 
zu  ersetzen".  Freilich  leben  die  Verfasser  dabei  offenbar  der  festen  Zuversicht, 
daß  solche  Lehrer,  die  auch  im  Französischen  einfach  den  trochäischen  Gang  des 
Deutschen  beibehalten  —  und  sie  waren  noch  vor  dreißig,  zwanzig  Jahren  gar 
nicht  so  selten  —  sich  jetzt  alle  eines  gesegneten  Ruhestandes  erfreuen.  Im  übrigen 
besteht  doch  gar  kein  Zweifel,  daß  die  iambische  Intonation,  ohne  mit  der  wirklichen 
oder  idealen  Intonation  des  Französischen  identisch  zu  sein,  ihr  recht  nahe  kommt. 
Um  mit  der  diametral  entgegengesetzten  deutschen  Gewöhnung  zu  brechen  und 
die  Schüler  zu  einer  korrekten  Intonation  hinüberzuleiten,  kann  man  daher  auch 
in  den  ersten  Jahren  des  französischen  Unterrichts  die  iambische  Zwischenstufe 
kaum  entbehren.  Man  scheue  sich  um  so  weniger  dieses  Hilfsmittel  zu  verwenden, 
als  man  damit  nicht  etwas  im  eigentlichen  Sinne  Unrichtiges  tut,  sondern  mit  dem 
geschichtlichen  Entwicklungsgang  der  Sprache  und  den  immanenten  Tendenzen 
ihrer  Intonation  im  Einklang  bleibt,  wie  stark  und  wie  häufig  auch  aus  verschiedenen 
Gründen  die  Abweichungen  davon  sein  mögen.  In  diesem  Falle  ist  eine  leise  und 
weise  Übertreibung,  oder,  genauer  gesagt,  Normalisierung,  nur  anzuraten.  Ohne 
eine  solche  kommt  man  ja  auch  sonst,  gerade  wenn  man  das  gesteckte  Ziel  sicher 
treffen  will,  im  elementaren  Unterricht  gar  nicht  aus  —  und  elementar  bleibt 
schließlich  all  unser  Tun,  selbst  in  den  oberen  Klassen. 

Die  starke  Heraushebung  eines  einzelnen  Wortes  oder  einer  einzelnen  Silbe 
eines  Wortes,  wie  sie  dem  Deutschen  und  vollends  dem  Engländer  ganz  geläufig 
ist,  widerstrebt  dem  Franzosen,  der  weit  lieber  das  in  gleichmäßiger  Druckart  liegende 
Ebenmaß  wahrt.  In  dieser  Eigentümlichkeit  des  Französischen  liegt  auch,  um  das 
hier  hinzuzufügen,  der  wahre  Grund  für  die  Umschreibung  mit  c'est — que,  wenn 
ein  Wort  aus  logischen  Gründen  hervorgehoben  werden  soll.  Die  Gewöhnung 
an  die  Muttersprache  ist  nun  selbst  bei  solchen  Deutschen,  die  sich  die  musikalische 
Bewegung  des  Französischen  gut  angeeignet  haben,  so  übermächtig,  daß  sie  es  auch 
in  diesem  Falle  schwerlich  unterlassen  werden,  das  also  hervorgehobene  Wort 
noch  durch  steigende  Stimmlage  zu  unterstreichen,  während  sich  der  Franzose 
schon  durch  die  bloße  Umschreibung  befriedigt  fühlt  und  in  gleichmäßiger  Tonlage 
über  das  Wort  dahingleitet:  GUssez,  Frangais,  n'appuyez  pasl 

Nach  dem  Gesagten  wird  begreiflich,  daß  die  Umschreibung  mit  c'est — que 
und  selbstverständlich,  wenn  es  sich  um  das  Subjekt  des  Satzes  handelt,  mit  c'est — 
qui  von  Franzosen  bei  weitem  nicht  so  oft  gebraucht  wird  wie  von  den  meisten 
Ausländern,  die,  wenn  sie  französisch  zu  sprechen  oder  zu  schreiben  haben,  ihrer 
Ausdrucksweise  dadurch  einen  recht  französischen  Charakter  zu  geben  glauben. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  36 


562     H.  Klinghardt  und  M.  de  Fourmestraux,  Intonationsübungen,  angez.  v.  E.Weber. 

Diesen  Fehler  begehen  nicht  nur  Anfänger  im  Französischen,  wieFritzStroh- 
m  e  y  e  r  in  seinem  Stil  der  Französischen  Sprache,  Berlin,  Weid- 
mannsche  Buchhandlung  1910,  S.  105  höflich  sagt,  nicht  bloß  Leute  qui  ne  savent 
pas  le  frangais,  sondern  selbst  einer  qui  ne  savait  pas  trop  mal  le  frangais — pour  un 
roi  de  Prasse.  Es  ist  erstaunlich,  wie  häufig  der  Große  König  die  Umschreibung 
gebraucht  im  Gegensatz  zu  Voltaire,  der  damit  sparsam  umgeht.  Trotz  aller  zur 
Schau  getragenen  Keckheit  hatte  Voltaire  schließlich  doch  zu  viel  inneren  Respekt, 
um  es  zu  wagen,  den  König  auf  solch  einen  Mißgriff  aufmerksam  zu  machen,  was 
man  auch  an  anderen  Eigentümlichkeiten  des  friderizianischen  Französisch  erkennt. 
Außerdem  war  Nachdenken  über  die  eigene  Sprache,  zergliedernde  Beobachtung 
an  der  Sprache,  noch  dazu  an  einer  lebenden,  so  gut  wie  unbekannt.  Das  sieht 
man  so  recht  an  den  für  uns  so  überaus  lehrreichen,  oft  unglaublich  mißglückten 
Versuchen,  die  der  auf  den  verschiedensten  Gebieten  rührige  Voltaire  auch  auf 
diesem  noch  unbeackerten  Felde  in  den  Commentaires  sur  Corneille  gewagt  hat. 
Er  empfand  sehr  wohl  den  Unterschied  zwischen  Friedrichs  und  seinem  Französisch, 
aber  selbst  einen  Voltaire  hätte  es  in  Verlegenheit  gesetzt,  darüber  die  Rechenschaft 
abzulegen,  die  sein  königlicher  Schüler  sicher  verlangt  hätte.  Wie  anders  werden 
sich  in  unseren  Tagen  die  Belehrungen  gestaltet  haben,  dieGustaveLanson, 
der  unübertroffene  Meister  der  Französischen  Literaturgeschichte,  der  große  Lehrer 
des  Französischen  Stils  (Btudes  pratiques  de  composition  frangaise  —  Conseils  sur 
l'art  d'ecrire  —  l'Art  de  la  prose)  dem  russischen  Thronfolger  und  jetzigen  Zaren 
erteilt  hat!  Im  Anfange  des  20.  Jahrhunderts  nun  gar  arbeitet  die  Philologie  mit 
dem  Werkzeug  der  Statistik,  und  Strohmeyer  berechnet  S.  289  auf  Grund  eines 
stattlichen,  aus  verschiedenen  Schriftstellern  geschöpften  Materials,  daß  in  noch 
nicht  einem  Prozent  französischer  Sätze  die  Umschreibung  vorkommt.  In  der  Tat 
ein  überraschendes  Resultat !  Vielleicht  freut  es  den  Verfasser  des  ausgezeichneten 
Buches  über  den  französischen  Stil  seine  Feststellungen  durch  die  hier  angestellten 
von  anderen  Gesichtspunkten  ausgehenden  Erwägungen  bestätigt  zu  finden. 

Besonders  auffällig  wirkt  es  ferner,  wenn  gerade  in  dramatisch  bewegter  franzö- 
sischer Rede  das  tonlose  an  das  Verbum  angelehnte  Personalpronomen  in  solchen 
Fällen  steht,  in  denen  selbst  gewiegte  deutsche  Kenner  des  Französischen  höchst- 
wahrscheinlich zu  dem  betonten  selbständigen  Pronomen  greifen  würden.  Diese, 
wenn  ich  nicht  irre,  noch  wenig  bekannte  Erscheinung  läßt  sich  gar  nicht  so  selten 
beobachten. 

Will  man  den  fundamentalen  Unterschied  zwischen  deutscher  und  französischer 
Intonation  recht  deutlich  zu  Gehör  bringen,  so  lasse  man  die  Worte  //  jaut  se  de- 
mettre  ou  se  soumettre  durch  einen  Deutschen,  und  den  Ausspruch:  Die  Sozial- 
demokratie sollte  nur  Objekt,  nicht  Subjekt  der  Gesetzgebung  sein  durch  einen  Franzosen 
sprechen.  Der  Deutsche  wird  durch  starke  Betonung  der  Vorsilben  di-  und  Sau- 
den Gegensatz  kräftig  herausarbeiten;  dagegen  wird  der  Franzose,  wenigstens 
nach  deutschem  Urteil,  über  Ob-  und  Sub-,  die  beiden  Träger  der  schroffen  Gegen- 
überstellung, hinweggehen  und  beide  Male  -jekt  gleich  stark  betonen,  wozu  er  ebenso 
sehr  durch  den  iambischen  Gang  der  französischen  Intonation  wie  durch  seine 
Überzeugung  bestimmt  wird,  daß  eine  an  Denken  gewöhnte  Person  die  Stellung 
zweier  Gegensätze  zueinander  auch  ohne  äußere  Unterstützung,  wie  Nachdruck 


E.  Wulffen,  Shakespeares  große  Verbrecher,  angez.  von  M.  Wohlrab.         563 

und  Hochton,  erfaßt.  Wo  bleibt  aber  bei  solchen  Feststellungen  das  hochgesteigerte 
und,  wie  man  in  Deutschland  so  oft  sagen  hört,  unnatürliche  Pathos  französischer 
Rede? 

Der  Fehler,  den  deutsche  Schüler  und  bisweilen  auch  wohl  Lehrer  und  solche 
Personen,  die  im  allgemeinen  eine  erfreuliche  Gewandtheit  im  mündlichen  Gebrauch 
des  Französischen  besitzen,  am  häufigsten  begehen,  ist  der,  die  Vokale  zu  lang  zu 
sprechen.  In  Wirklichkeit  sind  sie  überwiegend  kurz,  während  Wörter,  die  einen 
langen  Vokal  aufweisen,  nicht  eben  zahlreich  sind.  Und  zwar  sind  die  Längen  ebenso 
wie  die  Kürzen  von  etwas  geringerer  Zeitdauer  als  im  Deutschen.  Bis  dahin  haben 
die  Verfasser  also  recht.  Wenn  sie  dagegen  lehren,  daß  die  Dauer  der  französischen 
Längen  nicht  größer  ist  als  die  deutscher  Kürzen,  so  ist  das  schon  nicht  mehr  eine 
jener  didaktischen  Übertreibungen,  denen  hier  vorhin  das  Wort  geredet  worden 
ist,  sondern  einfach  ein  Irrtum.  Nicht  nur  in  feierlich  gehobener  oder  leidenschaft- 
lich erregter  Rede,  sondern  schon  in  jeder  Unterhaltung,  sowie  sie  nur  über  schlichte, 
rein  sachliche  Mitteilung  hinausgeht,  bekommt  man  lange  Vokale  zu  hören,  die  den 
im  Deutschen  üblichen  Längen  zum  mindesten  nicht  nachstehen.  Wie  wird  der 
Vokal  gedehnt,  wenn  eine  Person  mit  ihrem  Namen  angerufen  wird:  Jeannel 
Jacques !  Und  dabei  braucht  der  Anruf  weder  besonders  laut  noch  aus  weiter  Ent- 
fernung zu  erfolgen.  Auf  der  Bühne  vollends,  etwa  im  Versdrama  und  da  wiederum 
bei  Wörtern,  die  im  Reime  stehen,  oder  auch  in  einem  schwungvollen  lyrischen 
Gedichte  können  deutsche  Hörer  über  die  schier  nicht  enden  wollenden  Längen 
einzelner  Vokale  nur  mit  Mühe  ein  Lächeln  unterdrücken.  Wer  einmal  Hugos 
Verse  (Contemplations  II,  28): 

Que  fönt  vos  yeux  lä-haut?  je  les  reclame. 

Quittez  le  ciel,  regardez  dans  mon  äme! 

La  clarU  vraie  et  la  meilleure  flamme, 
C'est  le  rayon  qui  va  de  Väme  ä  l'äme! 

von  einem  Meister  der  Vortragskunst  gehört  hat,  dem  werden  die  Längen  reclame  : 
äme,  flamme:  l'äme  noch  nach  Jahren  in  den  Ohren  klingen. 

In  dieser  Weise  bietet  das  Buch  noch  manche  schätzenswerte  Belehrung  und 
regt  zu  interessanten  Beobachtungen  und  Erörterungen  an.  Um  aber  nicht  zu  lang 
zu  werden,  sei  zum  Schluß  nur  noch  der  sorgfältige,  saubere  Druck,  besonders  der 
Intonationsbilder,  lobend  erwähnt.  —  Die  weltberühmte  Marseiller  Cannebiere 
wird  mit  nn  geschrieben,  nicht  mit  n  wie  S.  86  zweimal  steht. 

Steglitz.  Ernst   Weber. 

Wulffen,  Erich,  Shakespeares  große  Verbrecher.  Berlin- 
Lichterfelde  IQU.  Langenscheid.  292  S.  4  M.  geb.  5  M. 
Vertrautheit  mit  Shakespeares  Werken,  Verständnis  für  seine  Gedankenwelt 
wird  niemand  dem  Verfasser  absprechen.  Und  so  hat  er  denn  in  der  Tat  nicht  wenig 
neue  Anregungen  und  Aufschlüsse  beigebracht,  beachtenswerte  Anregungen  auch 
an  manchen  Stellen,  an  denen  man  ihm  widersprechen  wird.  Der  Schwerpunkt 
seiner  Leistung  liegt  aber  in  der  Anwendung  des  von  ihm  behandelten  Gebietes 
auf  die  Dramen  des  Dichters.    Neues  Licht  scheint  sich  ihm  über  sie  zu  verbreiten 

36* 


564  E.  Wulffen,    Shakespeares  große  Verbrecher, 

durch  die  Ergebnisse  der  Kriminalpsychologie,  die  ihm  wesentlich  Sexualwissenschaft 
ist.  Er  weiß  natürlich  recht  wohl,  daß  dem  Dichter  selbst  diese  völlig  neue  Wissen- 
schaft gänzlich  unbekannt  ist,  auch  seinen  Lesern  bis  auf  unsere  Tage.  Es  kann 
hiernach  nicht  wundernehmen,  wenn  sehr  überraschende,  auch  bedenkliche  Resultate 
erzielt  werden. 

Bisher  galt  als  die  Eingangspforte  zum  tieferen  Eindringen  nicht  nur  in  die 
Shakespearischen,  sondern  auch  in  alle  klassischen  Dramen  die  empirische  Psycho- 
logie. Für  das  Verständnis  der  in  ihnen  dargestellten  seelischen  Erkrankungen, 
denen  mancher  von  schweren  Schicksalsschlägen  getroffene  Held  erliegt,  zog  man 
den  Psychiater  zu  Rate.  Die  Voraussetzung  war  auch  in  diesem  Falle,  daß  die 
Krankheit  in  der  Seele  ihren  Ursprung  hatte,  nicht  im  Körper. 

Daß  in  der  Wirklichkeit  auch  der  umgekehrte  Fall  vorkommt,  daß  körperliche 
Anomalien  seelische  Störungen  hervorrufen,  leugnet  selbstverständlich  niemand. 
Recht  viele  mögen  auf  dem  Gebiete  der  Sexualität  liegen.  Der  physisch  Gebundene, 
der  erblich  Belastete,  der  Determinierte  ist  nicht  im  Vollbesitz  seiner  Willensfreiheit, 
seine  Handlungen  stehen  unter  einem  unüberwindlichen  Zwange.  Dadurch  wird 
seine  persönliche  Verantwortung  wesentlich  eingeschränkt.  Diese  Tatsachen  hat 
der  Kriminalist  festzustellen,  sie  sind  von  maßgebendem  Einfluß  auf  sein  Urteil. 

Anders  liegen  die  Dinge  für  den  tragischen  Dichter.  Er  kann  die  Handlungen 
nicht  pathologisch  motivieren;  er  würde  sonst  Ausnahmemenschen  vorführen, 
für  die  seinem  Publikum  das  volle  Verständnis  fehlen  würde;  denn  das  können  nur 
Fachmänner  haben.  Wer  eine  Tragödie  sieht,  dem  muß  das,  was  vorgeführt  wird, 
vollkommen  verständlich  sein.  Diese  Forderung  hat  aber  zur  Voraussetzung 
Menschen,  denen  eine  uneingeschränkte  Willensfreiheit,  volle  Verantwortlichkeit 
zukommt,  also  normale  Menschen. 

Normale  Menschen  sind  aber  natürlich  noch  nicht  fehlerfreie,  solche  gibt  es 
ja  überhaupt  nicht;  nein,  sie  haben  Fehler,  Leidenschaften,  die  sie  ablegen  können, 
die  sie  also  bekämpfen  müssen.  Lassen  sie  ihnen  ungezügelt  ihren  Lauf,  so  werden 
ihnen  Kollisionen,  Schicksalsschläge  zum  Verderben.  Das  liegt  bei  den  physisch 
Gebundenen  ganz  anders;  sie  werden  dem  Verderben  entgegengetrieben. 

Der  wirklich  tragische  Held  ist  seines  Schicksals  Schmied.  Der  Dichter  läßt 
ihn  vor  unseren  Augen  schuldig  werden,  ja  er  kann  ihn  stufenweise  dem  Wahnsinn 
zuführen.    Alle  Stadien  lassen  sich  in  völlig  überzeugender  Weise  darstellen. 

Alles  zusammengefaßt,  ist  es  einzig  die  empirische  Psychologie,  die  den  Schlüssel 
zum  vollen  Verständnis  wenigstens  der  klassischen  Tragödien  bietet. 

Der  Verfasser  behandelt  die  drei  großen  Verbrecher  Richard  III.,  Macbeth 
und  Othello.  Für  unsere  Schulen  kommt  Macbeth  am  meisten  in  Betracht.  Des- 
halb will  ich  an  ihm  sein  Verfahren  darlegen.  Daß  er  sich  eingehend  mit  dem 
Stücke  befaßt  hat,  ersieht  man  aus  dem,  was  er  bietet.  Neu  und  beachtenswert 
ist,  was  er  über  das  Folklore  und  das  Kolorit  des  schottischen  Hochlandes  vorbringt. 
Auch  für  die  Aufführung  gibt  er  gute  Winke. 

Aber  in  der  Auffassung  einzelner  Stellen  können  wir  nicht  mit  ihm  gehen. 
Er  nennt  es  S.  138  ein  dramaturgisches  Meisterstück,  daß  der  nachgesandte  dritte 
Mörder  den  Plan  der  zwei  ersten  verdorben  habe.     Schwerlich  mit  Recht.     Die 


angez.  von  M.  Wohlrab.  565 

Instruktion,  die  er  hatte,  stimmte  ja  nach  der  Aussage  des  zweiten  Mörders  voll- 
kommen mit  der  überein,  die  dieser  und  der  erste  hatte. 

Wir  können  ihm  vertraun,  dieweii  er  ja, 
Was  unser  Amt  und  was  uns  aufgetragen, 
Vollkommen  richtig  weiß. 

Shakespeare  motiviert  das  Mißlingen  des  Planes  vielmehr  damit,  daß  der 
erste  Mörder  die  Fackel  ausschlug.  Der  Umstand,  daß  jemand  eine  Fackel  trug, 
konnte  nicht  vorausgesehen,  also  voraus  im  Anschlag  nicht  berücksichtigt  werden. 

Ferner  erscheint  es  aus  mehr  als  einem  Grunde  unwahrscheinlich,  daß  die 
Königin  in  eigener  Person  die  Plätze  bestimmt  und  den  Platz  für  Banquo  ausge- 
schaltet habe  (S.  139  ff.).  Einleuchtender  ist  doch  die  bisherige  Annahme,  daß 
für  Macbeth  neben  seiner  Gemahlin  auf  dem  erhöhten  Thronsitz  der  Platz  gedeckt 
gewesen  ist.  Nur  dadurch  werden  seine  Worte  verständlich,  er  wolle  lieber  den 
leutseligen  Wirt  spielen  und  sich  zu  seinen  Gästen  setzen.  Dann  konnte  er  freilich 
keinen  andern  Platz  einnehmen  als  den  für  Banquo  frei  gelassenen. 

Nun  aber  zu  dem  neuen  Gesichtspunkte,  unter  dem  der  Verfasser  insbesondere 
Macbeth  und  seine  Gemahlin  auffaßt.  Beide  sind  ihm  determiniert,  sie  leiden 
an  Hysterie,  die  auf  Sexualität  beruht.  Das  ist  in  der  Tat  ein  überraschender 
Aufschluß.  Spuren,  die  direkt  auf  Sexualität  hinweisen,  werden  im  Stücke  auch 
achtsamen  Lesern  kaum  aufgestoßen  sein.  Für  den  Verfasser  bildet  die  Kinder- 
losigkeit des  neuen  Königspaares  einen  wesentlichen  Anhaltspunkt.  Macbeth 
quält  der  Gedanke,  daß  er  schließlich  für  Banquos  Brut  zum  Verbrecher  geworden 
sei.  Aber  nur  in  diesem  Zusammenhange  fällt  ihm  dieser  Mangel  schwer  auf  die 
Seele.  Alles  was  er  denkt  und  tut,  wird  ja  lediglich  von  dem  Gedanken  beherrscht, 
sich  den  Thron  zu  sichern,  und  schließlich  von  sinnloser  Mordlust.  Von  der  Lady 
gibt  es  überhaupt  keine  Äußerung,  die  auf  das  Verlangen  nach  einem  Kinde  hin- 
deutet. Wenn  sie  nachtwandelnd  mit  den  Worten  abgeht:  „zu  Bett,  zu  Bett, 
zu  Bett!",  so  wird  außer  dem  Verfasser  wohl  niemand  darin  einen  sexuellen  Unter- 
ton heraushören  (S.  175).  Man  wird  da  an  Horatios  Ausspruch  im  Hamlet  er- 
innert: „Die  Dinge  so  betrachten,  hieße,  sie  allzu  genau  betrachten." 

Die  Halluzinationen  Macbeths  sind  psychologisch  wohl  zu  erklären.  Es  handelt 
sich  da  um  den  umgekehrten  Vorgang  wie  bei  dem  normalen  Sehen.  Bei  diesem 
wirkt  ein  äußerer  Gegenstand  als  Reiz  auf  das  Auge.  Durch  die  Nerven  wird  er 
zu  der  Rinde  des  Großhirns  geleitet  und  so  kommt  er  zum  Bewußtsein.  Die  Hallu- 
zination geht  den  entgegengesetzten  Weg.  Den  Mittelpunkt  in  dem  furchtbar  er- 
regten Schuldbewußtsein  Macbeths  stellt  erst  der  Dolch,  dann  Banquo  dar.  Dieses 
schafft  im  Hirn  die  Bilder  von  beiden,  durch  die  Vermittlung  der  Nerven  werden 
sie  dem  Auge  sichtbar.  Dieser  Vorgang  beruht  also  nicht  auf  einer  körperlichen 
Anomalie,  sondern  auf  einer  seelischen  Störung;  jeder  normale  Mensch  kann  ihn 
unter  gleichen  Voraussetzungen  haben. 

Was  den  Verfasser  bei  seinen  neuen  Auffassungen  beeinflußte,  war  die  unglaub- 
lich rasche  Entwicklung,  welche  die  Handlung  im  Macbeth  nimmt.  Da  liegt  aller- 
dings die  Annahme  nahe,  daß  unüberwindliche  Mächte  ihre  Hand  im  Spiele  hatten. 
Geschichtlich  hat  sich  die  Handlung  nicht  mit  dieser  Raschheit  vollzogen,  sie 


566     B.  Köhler,  die  Schilderung  des  Milieus  in  Hamlet  usw.,  angez.  v.  M.Wohlrab. 

konnte  sich  nicht  so  vollziehen.  Aber  der  Dichter  konnte  dieses  zeitliche  Moment 
in  den  Hintergrund  drängen,  er  hat  das  auch  in  andern  Stücken  getan,  im  Coriolan, 
im  Caesar,  im  Lear;  für  ihn  kommt  es  lediglich  auf  die  tadellose  Folgerichtigkeit 
der  Handlung  selbst  an;  durch  diese  täuscht  er  den  Hörer  über  die  chronologischen 
Schwierigkeiten  hinweg. 

Brinus  Köhler,  Die  Schilderung  des  Milieus  in  Shakespeares 
Hamlet,  Macbeth  und  King  Lear.  Halle  a.  S.  1912.  Niemeyer. 
XII  u.  65  S.    gr.  8«.     2,40  M. 

Eine  sehr  sorgfältige,  gelehrte,  auf  umfassenden  Studien  beruhende  Arbeit, 
die  das  Milieu  der  drei  Dramen  erschöpfend  darstellt.  Auch  den  Ergebnissen  kann 
man  vollständig  zustimmen.  Freilich  Neues  bringen  sie  nicht.  Daß  Shakespeare 
diese  Dramen  in  seiner  Zeit  sich  abspielen  läßt,  war  sattsam  bekannt.  Es  muß  also 
fast  als  ein  Übermaß  von  Gewissenhaftigkeit  erscheinen,  wenn  alle  Einzelheiten 
aufgeführt  werden,  in  denen  diese  Dramen  von  ihren  weit  zurückliegenden  Vor- 
lagen abweichen. 

Zu  eingehenderer  Behandlung  lud  natürlich  Hamlet  ein,  über  Macbeth  und 
Lear  war  weniger  zu  sagen.  Die  Ergebnisse  leiden  mehrfach  an  Wiederholungen. 
Die  einschlägige  Literatur  ist  ausgiebig  benutzt.  Ihre  ungemeine  Reichhaltigkeit 
hat  es  dem  Verfasser  schwer  gemacht,  aus  dem  Eigenen  viel  beizusteuern. 

So  verdienstlich  solche  Spezialuntersuchungen  an  sich  sein  mögen,  so  er- 
halten sie  ihren  höheren  Wert  doch  erst  dadurch,  daß  der  Verfasser  den  größeren 
Zusammenhang  im  Auge  behält,  in  den  sie  sich  schließlich  einordnen  sollen.  Die 
Frage,  ob  unter  den  Abweichungen  von  der  Vorlage  die  Einheitlichkeit  der  Dar- 
stellung gelitten  habe,  hat  den  Verfasser  immer  beschäftigt.  Er  konnte  sich  auch 
darüber  äußern,  welche  Absicht  der  Dichter  bei  diesen  Abweichungen  hatte,  welchen 
Einblick  in  seine  Art  zu  schaffen  wir  durch  sein  Verfahren  gewinnen. 

Dresden-Striesen.  Martin  Wohlrab. 

Hense,  J.,   Griechisch-römische  Altertumskunde.      Ein   Hilfs- 
buch für  den  Unterricht.     Unter  Mitwirkung  von  Th.  Grobbel,  W.  Kotthoff, 
H.  Leppermann,  G.  Schunk,  A.  Wirmer,     Dritte,  verbesserte  und  vermehrte 
Auflage.     Paderborn  1910.     Aschendorf f sehe  Buchhandlung.     XII  u.  341   S. 
8^    geb.  4  M. 
Vor  fünf  Jahren  mußte  ich  gegen  die  zweite  Auflage  dieses  Werkes  eine  Reihe 
starker  prinzipieller  Bedenken  erheben.     Privatim  habe  ich  mich  damals  über 
einen  längeren  Abschnitt  noch  genauer  geäußert.    Die  Herausgeber  sind  daher  so 
liebenswürdig  gewesen,  meiner  im  Vorworte  zu  gedenken,  und  werden  es  sicherlich 
mir  nicht  verdenken,  wenn  ich  noch  einmal  vieles,  besonders  in  den  archäologischen 
Teilen,  beanstanden  muß;  ich  will  diesmal  nicht  allgemein  sprechen,  sondern  Einzel- 
heiten anführen,  von  diesen  freilich  nur  Proben  geben. 

Die  eine  Stimme  der  Kritik,  die  mit  Unrecht  „eine  rein  wissenschaftlich  ge- 
haltene Darstellung  im  archäologischen  Teil"  forderte  (S.  VI),  kann  die  meinige  nicht 
sein;  denn  ich  wünschte:  „Die  neuesten  gesicherten  Resultate  der  Forschung  sind 
in  sorgsam  überlegter  Beschränkung  auf  das  Notwendige  zu  geben."  Noch  aber 


J.  Hense,  Griechisch-römische  Altertumskunde,  angez.  von  C.  Fredrich.        567 

steht  vieles  nicht  „auf  der  Höhe  der  Forschung",  und  ist  vieles  nicht  sorgsam 
beschränkt.  Von  Pergamon  sind  nur  die  Resultate  der  Grabungen  bis  zum  Jahre 
1900  bekannt;  so  erfährt  der  Leser  denn  z.  B.  nichts  von  dem  größten  griechischen 
Gymnasium,  das  wir  gut  kennen.  Weniger  hoch  veranschlagen  will  ich,  daß 
z.  B.  für  Tiryns,  Delphi  (Stadion?  Ein  Schlangenkopf  des  Weihgeschenkes  ist  im 
Museum  in  Konstantinopel),  Pompeji  (Haus  der  Vettier?  Fechterkaserne  in  der 
Nähe  des  Amphitheaters?  Überschwemmungen  in  Pompeji?)  Kenntnis  neuester 
Forschung  sich  nicht  verrät.  Die  Hypokausten  (S.  163)  dienten  wirklich  der  Heizung, 
wie  die  neuesten  Grabungen  in  Milet  wieder  erwiesen  haben;  sie  wurden  aber  im 
Süden  nicht  in  Privathäusern  (außer  für  die  Bäder)  gebraucht;  das  sollte  bekannt 
sein.  Atrium  (S.  161)  darf  nicht  mehr  mit  ater  zusammengebracht  werden.  Die 
richtige  Erklärung  des  Namens  ,,Rom",  durch  die  zugleich  reiches  Licht  auf  die 
Geschichte  fällt,  gab  W.  Schulze;  die  auf  S.  174  mitgeteilte  ist  recht  sonderbar. 
Zu  Hülsens  „Forum"  (S.  185)  erschien  auch  eine  deutsche  Fortsetzung.  Die  treff- 
lichen Arbeiten  von  E.  Schramm  und  R.  Schneider  über  die  antiken  Geschütze, 
deren  Resultate  auch  Schüler  interessieren,  sind  nicht  verwertet.  Für  die  Bedeutung 
des  Wortes  „Limes"  (S.  308)  sind  die  klärenden  Ausführungen  Dragendorffs  un- 
bekannt. Die  veralteten  Anschauungen  über  die  Masken  und  den  Kothurn  werden 
weitergegeben.  Zur  Entstehung  des  Dramas  hätte  mit  Nutzen  verwandt  werden 
können:  Kroll,  Zeitschrift  für  das  Gymnasialwesen  1909.  Werke  wie  Geffcken, 
Das  griechische  Drama;  Gercke-Norden,  Einleitung  in  die  Altertumswissenschaft, 
wie  Fritsch,  Delphi  (Gymnasialbibliothek);  von  Duhn,  Pompeji  (Aus  Natur  und 
Geisteswelt)  hätten  neben  anderen  wohl  erwähnt  werden  können.  Eine  allgemeine 
Empfehlung  von  Luckenbachs  ausgezeichneter  „Kunst  und  Geschichte"  I  wäre 
sicherlich  angebracht  gewesen;  dieses  Heft  bietet  dem  Schüler  doch  mehr  als 
jede  Beschreibung. 

Wenn  der  Bearbeiter  der  „Übersicht  der  Geschichte  der  griechischen  und  rö- 
mischen Kunst"  nur  den  schönen  ersten  Band  des  Handbuchs  der  Kunstgeschichte 
von  A.  Springer,  bearbeitet  von  A.  Michaelis,  durchgesehen  hätte,  wäre  der  Leser 
vor  vielem  bewahrt  geblieben.  Dieser  Abschnitt  ist  jetzt  der  böseste  im  Buche. 
Er  ist  in  der  Perioden-Einteilung,  der  Anordnung  und  Darstellung,,  und  besonders 
stofflich  voller  Unrichtigkeiten. 

Der  Bearbeiter  des  „Religionswesens  der  Griechen  und  Römer"  hätte  wohl 
am  besten  getan,  wenn  er  die  Darstellung  von  Sam  Wide  (bei  Gercke-Norden) 
benutzt  hätte,  da  es  an  einer  ganz  befriedigenden  Bearbeitung  dieser  schwierigen 
Materie  noch  fehlt.  Statt  dessen  gibt  er  zuerst  eine  sprachlich  und  religionsgeschicht- 
lich vielfach  höchst  bedenkliche  Darstellung,  aus  der  „die  Mondmythologie  der 
mykenisch-kretischen  Zeit"  einem  damals  noch  ungeborenen  Werke  eines  Bekannten 
entstammt.  Dieses  alles  mit  seinen  Fehlern,  ganz  persönlichen  Ansichten,  ver- 
wirrenden Einzelheiten,  unbewiesenen  und  teilweise  unbeweisbaren  Sätzen  ist  be- 
sonders für  Schüler  gänzlich  ungeeignet.  Das  übrige  ist  eine  Fülle  von  Notizen, 
die  an  die  einzelnen  Götternamen  angeschwemmt  sind  und  in  der  Deutung  des  Wesens 
und  der  Namen  der  Götter  viel  Unsicheres,  in  den  Absätzen  über  die  Kunst  z.  B. 
viel  Falsches  enthalten;  dazu  sind  diese  mit  dem  Hauptabschnitt  über  „KunstS 
nicht  völlig  ausgeglichen  worden. 


568     H.  Thiersch,  An  den  Rändern  des  römischen  Reichs,  angez.  v.  F.  Neubauer. 

Soll  ich  noch  ein  paar  Einzelheiten  herausnehmen?  Auf  S.  103  liegt  bei  dem 
Namen  Hekatompedon  ein  Versehen  vor  (vgl.  S.  100).  Manchmal  erkennt  der  Laie 
nicht,  was  von  den  aufgezählten  Bauten  erhalten  ist,  was  nicht  (z.  B.  S.  104  d).  Das 
Stadion  von  Athen  ist  neuerdings  wiederhergestellt  worden  (HO).  Im  National- 
museum befinden  sich  Funde  von  der  Burg  nicht  (S.  105,  5).  Zu  beanstanden 
sind  S.  185,  2;  55  (mykenische  Zeit  1500—1104);  64  (daß  die  Zahlen  dichterisch 
übertrieben  sind,  wird  nicht  klar);  74  (30  000?);  304  (der  Name  Overbeck  muß 
in  diesem  Zusammenhange  fehlen);  276  (unterirdische  Gänge);  295  (von  dem 
Beutel  sollte  man  nicht  mehr  sprechen);  296  (Lage  von  Delphi);  299  (für  Caesar  lies 
Antonius);  300  (Stellung  von  Prof.  Conze);  303  (Umbau?);  109  (Phaidros  229  A); 
219  (Lemnos  war  nicht  vulkanisch,  vgl.  Athen.  Mitt.  XXX  1,253 f.);  261  (die  Gründe 
für  Alexander  und  die  Epheser  waren  politische);  274,2  (Nationalmuseum?);  318 
unten  (doch  wohl  ein  Abguß  des  Steines?);  285  (wozu  werden  das  Mädchenskelett 
und  der  etruskische  (!)  Ursprung  von  Gefäßen  erwähnt,  wozu  überhaupt  die  ab- 
getanen Ansichten  Schliemanns?). 

Der  Ausdruck  ist  nicht  selten  inkorrekt  oder  unschön:  S.  180  (Hauptschmuck 
Roms)?;  217  (krönte?);  220  (Vollstatue);  262  (mannigfaltig  vorgelagerte  Säulen); 
264  (von  denen  letzteres);  268  (madonnenartig);  269  (sowie);  277  (bis  Schliemann 
1876  dort  durch  den  Spaten  den  Zeugen  griechischer  Heldentage  den  Mund  öffnete !); 
294  und  sonst  (ad  a;  ad  b  usw.);  302  (das  größte  Kunstwerk;  die  Kunst  trieb  neue, 
eigenartige  Blüten);  281   (das  Schliemannsche  Wort  sollte  man  nicht  zitieren). 

Ein  unberichtigter  Druckfehler  liegt  z.  B.  auf  S.  280, 1  vor. 

Aber  ich  will  nicht  nur  tadeln.  Es  steckt  eine  bedeutende  Arbeit  in  dem  Buche, 
und  wenn  an  ihm  weiter  gearbeitet  wird,  kann  es  ein  brauchbares  Hilfsmittel  dar- 
stellen. „Athen**  und  „Rom"  sind  schon  sehr  viel  besser  geworden.  Ein  Abschnitt 
über  „Oberaden"  kam  hinzu.  Ich  möchte  auch  ausdrücklich  hervorheben,  daß 
die  „Literatur",  die  „Altertümer",  die  „Realien",  die  Ausgrabungen  in  Deutsch- 
land, zu  Ausstellungen  wenig  Anlaß  geben,  wenn  man  im  einzelnen  natürlich  auch 
oft  verschiedener  Meinung  sein  kann  und,  wie  mir  scheint,  vielfach  gekürzt  werden 
könnte.  Die  Schreibung  der  Eigennamen  ist  verbessert.  Die  Rufe  nach  einem 
Register  wurden  gehört.     Der  neue  Verlag  brachte  neue,  bessere  Typen. 

Cüstrin.  C.  F  r  e  d  r  i  c  h. 

Thiersch,  Hermann,  An  den  Ränderndesrömischen  Reichs.  Sechs 
Vorträge  über  antike  Kultur.  München  1911.  Beck.  X  u.  151  S.  8«.  geb.  3  M. 
Das  Buch  ist  aus  Vorträgen  hervorgegangen,  die  in  Karlsruhe  gehalten  worden 
sind.  Auf  die  Lichtbilder  freilich,  denen  sie  zur  Erläuterung  dienten,  muß  der 
Leser  verzichten;  er  wird  trotzdem  auf  seine  Kosten  kommen.  Die  Absicht  des 
Verfassers  ist,  zu  zeigen,  „welcher  Reichtum  von  Völkercharakteren  unter  dem 
Zepter  des  römischen  Imperiums  seine  Erziehung  erfuhr";  die  inneren  Bezie- 
hungen nachzuweisen,  die  zwischen  Landesnatur  und  nationaler  Eigenart  obwalten; 
ein  Bild  der  Rassenmischung  zu  entwerfen,  die  sich  im  Weltreich  herausstellte; 
schließlich  darauf  aufmerksam  zu  machen,  mit  welcher  Zähigkeit  und  Beständig- 
keit sich  dennoch  vielfach  der  ursprüngliche  Volkscharakter  behauptet  und  trotz 
aller  Schicksale,  Einwanderungen,  Blutmischungen  immer  wieder  zum  Vorschein 


H.  Spieß,  Das  moderne  England,  angez.  von  P.  Rogozinski.  569 

kommt.  So  sucht  er  z.  B.  im  ersten  Kapitel,  in  dem  er  uns  an  die  Ufer  des  Nils 
führt,  einige  Grundzüge  der  ägyptischen  Eigenart  festzustellen  und  aus  Boden 
und  Klima  abzuleiten,  bespricht  sodann  die  jüdische  und  griechische  Einwanderung 
und  ihre  Einwirkungen  und  entwirft  in  anschaulichen  Schilderungen  ein  Kultur- 
bild des  Landes  in  der  Kaiserzeit.  Es  folgen  in  ähnlicher  Behandlung  hübsche 
Kapitel  über  Arabien,  vornehmlich  Petra,  über  Syrien  und  Kleinasien.  Der  fünfte 
Vortrag  führt  uns  nach  Nordafrika  und  berichtet  nach  einem  Rückblick  auf  die 
Zeit,  als  der  homo  mediterraneus  an  den  damals  noch  zusammenhängenden  Ufern 
des  Westbeckens  des  Mittelmeers  lebte,  von  der  Entwicklung  des  Berbertums 
bis  zu  den  Zeiten  des  Septimius  Severus  und  der  Verbreitung  des  Christentums. 
Im  letzten  Vortrag  endlich  werden  wir  nach  den  römisch-germanischen  Grenzlanden 
an  Mosel  und  Rhein  geführt.  Rassenfragen  haben  fast  immer  etwas  stark  Proble- 
matisches; es  ist  mir  nicht  möglich,  dem  Verfasser  überall  zu  folgen.  Daß  die 
phönikischen  Syrer  aus  sich  heraus  ein  Handelsvolk  geworden  sein  könnten,  scheint 
ihm  nicht  glaublich;  er  meint  eine  Zuwanderung  von  Kretern,  die  nach  dem  Unter- 
gang des  minoischen  Reiches  sich  dorthin  gewandt  hätten,  annehmen  zu  sollen, 
eine  Auffassung,  die  mir  allerdings  recht  wenig  begründet  zu  sein  scheint.  Auch  wenn 
er  die  ,, enthusiastisch-asketische  Art"  der  Albigenser  auf  die  späte  Nachwirkung 
syrischer  Einwanderung  in  Südgallien  zurückführt,  sogar  Franz  von  Assisi  zu  einem 
Vertreter  syrischer  Art  im  Abendlande  stempelt,  wird  er  vermutlich  nicht  viele 
finden,  die  ihm  zu  folgen  vermögen.  Aber  man  lasse  sich  durch  solche  Kühn- 
heiten nicht  abhalten,  das  Buch  zu  lesen;  es  ist  reich  an  Anregungen  und  Aus- 
blicken und  sehr  lebendig  und  anziehend  geschrieben. 

Frankfurt  a.  M.  F.  N  e  u  b  a  u  e  r  . 

Spieß,  Heinrich,  Das  moderne  England.  Einführung  in  das  Studium 
seiner  Kultur.  Mit  besonderem  Hinblick  auf  einen  Aufenthalt'  im  Lande.  Straß- 
burg 1911.  Verlag  von  Karl  J.  Trübner.  HI  u.  300  S.  4».  brosch.  4  M. 
Ein  ausgezeichnetes  Buch,  ohne  das  kein  Akademiker,  überhaupt  kein  Ge- 
bildeter England  besuchen  sollte.  Auf  ungeheuer  eingehendem  Studium  einschlä- 
giger Werke  (sogar  die  Bibliothek  des  Kaiserlichen  Patentamts  wurde  nach  Literatur 
durchforscht)  u  n  d  auf  jahrelangen  persönlichen  Informationen  und  Beobachtungen 
in  England  selbst  aufgebaut,  will  das  Werk  eine  handliche  Einführung  in  das  moderne 
Kulturleben  unserer  Vettern  jenseits  des  Kanals  geben  und  vermittelst  der  Kenntnis 
des  fremden  Volkscharakters  und  Würdigung  seiner  Eigenart  der  Verständi  g  u  n  g 
der  Völker  durch  gegenseitiges  Verstand  n  i  s  dienen.  Ein  sehr  zeitgemäßes  Ziel, 
das  —  ach  wie  oft  —  mit  unzulänglichen  Mitteln  zu  erreichen  versucht  ist.  Hier 
haben  wir  das  Werk  eines  gründlichen  deutschen  Gelehrten  (Verfasser  ist  Privat- 
dozent an  der  Universität  Berlin),  das  durch  konsequente  Durchführung  des  histo- 
rischen Prinzips  (,,Nichts  Altes  ohne  das  Moderne  —  nichts  Modernes  ohne  das 
Alte!")  dem  Besucher  Englands  bei  allen  Fragen,  die  ihm  entgegentreten,  zur 
richtigen  Lösung  verhilft.  Wie  weit  stehen  alle  jene  aufdringlichen  „Führer" 
und  „R  a  t  g  e  b  e  r"  hinter  diesem  immer  nur  vornehm  anleitenden,  niemals 
überhebungsvoll  dozierenden  Buche  zurück. 

Das  Werk  zerfällt  in  25  Kapitel,  deren  jedes  einen  scharf  umrissenen  Aus- 


570  H.  spieß,  Das  moderne  England,  angez.  von  P.  Rogozinski. 

schnitt  aus  dem  englischen  Kulturleben  gibt.  Jedes  Kapitel  zerfällt  in  einen, 
bald  ausführlicheren,  bald  kürzeren  Textabschnitt  und  ein  stets  sehr  ausführliches 
Literaturverzeichnis,  das  dem  Studierenden  die  Mittel  an  die  Hand  geben  soll, 
sich  selbst  aus  den  Stimmen  des  Landes  und  des  Auslandes  über  die  betreffende 
Frage  zu  informieren.  Als  besonders  hervorragend  möchte  ich  bezeichnen  die 
Kapitel:  9.  „Landes-  und  Reichsverteidigung",  11.  „Englische  Charity"  (sehr 
zu  empfehlen  den  sonst  so  für  alles  Englische  schwärmenden  Gegnern  unserer 
„Blumentage'M),  12.  „Erziehungswesen",  14.  „Das  englische  Theater  und  Theater- 
wesen der  Gegenwart"  (besonders  c:  praktische  Ratschläge  für  den  Theaterbesuch), 
19.  „Presse"  und  2L  „Studienaufenthalt".  Bei  anderen  Kapiteln  ist,  wenn  ich 
bei  vollster  Anerkennung  des  Buches  einige  Ausstellungen  machen  darf,  der  zusam- 
menfassende Text  etwas  zu  kurz  geraten,  so  z.  B.  S.  6  „Gesellschaft",  S.  7  „Juden 
in  England",  S.  41  f.  ,,  Imperialismus"  (mehr  Aufklärung  über  den  gegenwärtigen 
Stand  und  die  Aussichten  des  britischen  Imperialismus  wäre  erwünscht  gewesen), 
S.  56  „Reichsregierung"  (nur  U/g  Seiten  Text),  S.  96  „Elementarschulwesen"  (gar 
kein  Text!),  S.  116  „Plastik".  Vielleicht  ließ  sich  aber  der  Verfasser  dabei  von  dem 
Wunsche  leiten,  den  Umfang  des  Buches  nicht  noch  mehr  anschwellen  zu  lassen. 
Schwerwiegender  erscheint  mir  indessen  ein  anderer  Punkt.  Das  Buch  berück- 
sichtigt in  erster  Linie  Londoner  Verhältnisse  und  hat  weniger  Platz  und  Worte 
übrig  für  die  anderen  Kulturzentren  Englands.  Wenn  auch  unbestritten  sein  soll, 
daß  Englands  gesamte  Kultur  stark  auf  London  zentralisiert  ist,  so  verdient  beispiels- 
weise die  Universität  Liverpool  doch  mehr  wie  3  Zeilen  (gegen  21  London).  Min- 
destens hätte  neben  den  dort  erwähnten  Ingenieurwissenschaften  Tropen- 
m  e  d  i  z  i  n  (School  for  Tropical  Medicine,  der  frühere  Leiter,  Major  Roß, 
Nobelpreisträger)  als  besonders  gut  vertretenes  Lehrfach  angeführt  werden 
müssen.  Ähnliches  gilt  für  Aberdeen,  Manchester,  Glasgow,  Durham.  Daß  unter 
,, Sports"  das  regelmäßig  vom  Könige  besuchte  Grand  National  nicht  er- 
wähnt ist,  hängt  wohl  auch  hiermit  zusammen.  Bei  S.  201  ,, Channel  Islands" 
vermisse  ich  einen  Hinweis  auf  Victor  Hugo,  bei  „Keltische  Landesteile"  hätte  ich 
neben  Zimmers  Namen  gern  den  Kuno  Meyers  gesehen.  Das  Prinzip,  bei  den  ein- 
zelnen Orten  und  Gegenden  bezügliche  Werke  der  schönen  Literatur  heranzuziehen, 
hat  der  Verfasser  nicht  immer  befolgt;  so  hätten  z.  B.  beim  Kapitel  „Höheres 
Schulwesen"  Tom  Browns  Schooldays  als  total  veraltet  charakterisiert  werden 
können  (English  schoolboy-life  as  it  u  s  ed  to  bei)  Ich  weiß  aus  eigener  Erfahrung, 
daß  nicht  bloß  Studenten,  sondern  auch  gereiftere  Besucher  Eton  und  Harrow 
an  der  Hand  dieses  Buches  nach  halbtägigem  Besuche  gründlich  zu  kennen  ver- 
meinten. —  Aber  diese  geringfügigen  Ausstellungen  sprechen  natürlich  bei  der 
Gesamtbeurteilung  des  Buches  gar  nicht  mit.  Der  Studierende  wird  Anregungen 
über  Anregungen  aus  dem  Werke  schöpfen  können.  Manchmal  werfen  einzelne 
kurze  Textbemerkungen  Schlaglichter  auf  soziale  und  kulturelle  Verhältnisse, 
die  in  seitenlanger  Darstellung  nicht  besser  hätten  geschildert  werden  können. 
Man  vergleiche  z.  B.  S.  2  common  sense,  S.  9  Kastengeist,  S.  17  politische  Erörte- 
rungen, S.  30  Hetzpresse,  S.  37  Tradition,  S.  135  Herdengeschmack  des  Publikums, 
etc.  —  Besonders  angenehm  berührt  der  im  edelsten  Sinne  des  Wortes  patriotische 
Ton  des  Buches.    „Gedenke,  daß  Du  ein  Deutscher  bist,  aber  sieh  nichts  durch 


C.  Küchler,  In  Lavawüsten  und  Zauberwelten  auf  Island,  angez.  v.  W.  Ranisch.     571 

die  Brille  chauvinistischer  Überhebung!"  Das  Buch  wird  wirklich  dazu  beitragen, 
„manchen  Deutschen  zum  Besten  eines  gesunden  Patriotismus  nach  England 
gehen  und  wieder  heimkehren  zu  lassen".  Es  wird  ferner  in  der  Hand  unserer 
Amtsgenossen  und  —  unserer  extremen  Anglophilen  dazu  beitragen,  daß  jene 
oft  so  unsagbar  schiefen  „kompetenten"  Urteile  der  week-end  Englandbesucher 
immer  seltener  werden. 

Von  Druckfehlern  sind  mir  aufgestoßen:  S.  64,  Zeile  31  Horsors  statt  Horrors, 
S.  95,  Zeile  24  notional  statt  national. 

Stolp  i.  Pomm.  Paul  Rogozinski. 

Küchler,  Carl,  In  Lavawüsten  und  Zauberwelten  auf  Island. 
Berlin  1911,  Alfred  Schall.  XXII  u.  233  S.  8«  nebst  107  Illustrationen 
und  4  Kartenskizzen  auf  70  Tafeln,  geh.  5  M.,  geb.  6  M. 
Der  Vareler  Oberlehrer  C.  Küchler  hat  in  seinen  Kopenhagener  Studienjahren 
mit  isländischen  Studenten  Bekanntschaft  und  Freundschaft  geschlossen  und  sich 
durch  sie  eine  gründliche  Kenntnis  der  isländischen  Sprache  angeeignet.  Durch 
sie  hat  er  auch  eine  innige  Liebe  zu  der  fernen  Insel,  ihrer  Natur,  ihren  Menschen, 
ihrer  Kultur  und  Dichtung  gefaßt.  Er  ist  der  begeisterte  und  tatkräftige  Prophet 
Islands,  der  entschiedenste  der  „Isländerfreunde".  Seine  Tätigkeit  für  Island,  die 
ihm  die  Liebe  und  Verehrung  der  Inselbewohner  eintrug,  begann  mit  Übersetzungen 
altisländischer  Sagas  und  neuisländischer  Prosadichtungen.  Dann  ließ  er  zwei 
Hefte  einer  „Geschichte  der  isländischen  Dichtung  der  Neuzeit  (1800 — 1900)" 
erscheinen,  Novellistik  und  Drama  behandelnd.  Die  zum  Teil  wohl  etwas  erweiterten 
Sommerferien  der  Jahre  1905,  1908,  1909  hat  er  benutzt,  um  das  gelobte  Land 
mit  eigenen  Augen  zu  schauen  und  zu  durchforschen.  Die  Schilderung  der  Reise 
des  Jahres  1909  „In  Lavawüsten  und  Zauberwelten  auf  Island"  liegt  mir  vor. 
Darin  beschreibt  er  zunächst  einen  kurzen  Besuch  auf  den  Färcyern,  eine  Landung 
auf  den  Westmännerinseln  und  die  Ankunft  in  Reykjavik.  Sein  Ziel  ist  diesmaV 
die  Halbinsel  Snaefellsnes,  die  sich  im  Westen  Islands  zwischen  den  zwei  großen 
Fjorden,  dem  Faxafjord  und  dem  Breidifjord  ins  Meer  vorschiebt,  mit  dem  weit- 
hin glänzenden  Snaefellsgletscher,  mit  den  wunderbaren  Felsbildungen  an  der  Süd- 
küste, den  berühmten  Sagastätten  an  der  Nordküste.  Und  er  legt  seinen  Weg, 
der  wieder  und  wieder  durch  schwer  zu  passierende  Lavawüsten  führt  —  anders 
als  die  meisten  Reisenden  —  mit  seinem  isländischen  Führer  zu  Fuße  zurück,  während 
ein  einziges  Pferd  die  schwere  Packtasche  nachträgt.  An  den  Hauptausflug  schließen 
sich  zwei  kürzere  Ritte,  der  erste  nach  den  dampfenden,  lärmenden  Schwefelquellen 
in  Krisuvik  auf  der  Halbinsel  im  Südwest,  der  zweite  nach  dem  breiten  Wasserfall 
Tröllafoß  im  Gebirgsstock  der  Esja,  n.  ö.  von  Reykjavik.  —  Küchler  beschreibt  Island 
als  begeisterter  Liebhaber.  Aus  der  etwas  breiten  Darstellung,  den  langen,  oft  atem- 
losen Sätzen  strömt  eine  Wärme  aus,  die  den  Leser  anzuziehen  und  zu  fesseln  ver- 
mag. Seine  Worte  unterstützt  der  Verfasser  durch  Bilder;  er  teilt  neben  einigen 
Kartenskizzen  eine  große  Zahl  kleiner,  aber  meist  wohlgelungener  Aufnahmen  mit, 
die  er  größtenteils  selber  mit  dem  photographischen  Apparat  eingefangen  hat. 
Wenn  die  von  Jahr  zu  Jahr  sich  mehrenden  Besucher  Islands  in  erster  Linie 
wohl  das  Werk  des  Torgauer  Professors  P.  Herrmann  zu  Rate  ziehen  werden,  der 


572  R.  Hesse  und  F.  Doflein,  Tierbau  und  Tierleben, 

mit  Fleiß  und  Geschmack  unser  ganzes  heutiges  Wissen  von  Island  in  die  Darstellung 
seiner  zwei  Reisen  eingefügt  hat,  so  werden  sie  doch  auch  die  begeisterten  Schilde- 
rungen Küchlers  wie  seine  trefflichen  photographischen  Aufnahmen  als  Anleitung 
zum  Genießen  und  als  Erinnerung  daran  nicht  entbehren  mögen. 

Osnabrück.  W  i  1  h.  R  a  n  i  s  c  h. 

Hesse,  R.  und  Doflein,  F.,  Tierbau  und  Tierleben  in  ihrem  Zu- 
sammenhang betrachtet.  I.  Band :  R.  Hesse,  Der  Tier- 
körper als  selbständiger  Organismus.  Leipzig  und  Berlin 
1910.     Teubner.     XVII  u.  789  S.  mit  15  Tafeln.     Lex.-8«.     20  M. 

Etwa  gleichzeitig  mit  dem  Beginn  des  Erscheinens  der  Neubearbeitung  von 
Brehms  Tierleben  erschien  der  erste  Band  des  hier  vorliegenden  Werkes,  das  gleich- 
falls —  wenn  auch  in  anderer  Weise  —  den  Leser  in  die  Kenntnis  des  Tierlebens 
einführen  will.  Bietet  das  Werk  Brehms  ein  reiches  Material  von  Beobachtungen 
der  Lebensgewohnheiten  einzelner  Tierarten,  so  handelt  es  sich  hier  um  eine  Dar- 
legung allgemeiner  Gesetze,  um  die  Betrachtung  der  vielen  Einzeltatsachen  unter 
gewissen  leitenden  Gesichtspunkten,  die  den  Zusammenhang  aller  Lebenserschei- 
nungen eines  Organismus  untereinander  und  die  gegenseitige  Bedingtheit  von 
Körperbau  und  Lebensweise  erkennen  und  verstehen  lassen.  So  sind  beide  Werke 
geeignet,  sich  gegenseitig  zu  ergänzen. 

Vor  sechzig  Jahren  veröffentlichten  Bergmann  und  Leuckart  ihre  „Anatomisch- 
physiologische Übersicht  des  Tierreichs",  ein  grundlegendes  Werk,  das  allerdings 
in  seiner  ganzen  Darstellungsweise  zunächst  für  Zoologen  bestimmt  war.  Hier 
wurde  zum  erstenmal  in  umfassender  Weise  der  Versuch  gemacht,  die  Lebens- 
erscheinungen der  verschiedenen  Tiergruppen  vergleichend  darzustellen  und  die  ver- 
schiedene Art,  in  der  den  Lebensbedürfnissen  genügt  wird,  durch  den  abweichenden 
Bau  der  einzelnen  Gruppen  zu  erklären.  Seit  dem  Erscheinen  dieses  Werkes 
ist  nun  nicht  nur  die  Zahl  der  beobachteten  Tatsachen  ungemein  angewachsen, 
sondern  es  ist  auch  durch  die  wenige  Jahre  später  durch  Darwins  bahnbrechende 
Schriften  neu  begründete  Abstammungslehre  das  Verständnis  für  Bau  und  Ent- 
wicklung des  tierischen  Organismus  wesentlich  gefördert  worden.  Auch  machte 
sich  in  dem  Maße,  wie  das  Interesse  für  biologische  Fragen  auch  in  weiteren  Kreisen 
zunahm,  allmählich  das  Bedürfnis  nach  einer  nicht  nur  dem  Fachzoologen  ver- 
ständlichen zusammenfassenden  Darstellung  geltend,  die  die  von  der  Wissenschaft 
gesicherten  Tatsachen  und  die  zur  Erklärung  derselben  aufgestellten  Theorien 
auch  einem  größeren  Leserkreise  zugänglich  macht.  Diese  Aufgabe  stellt  sich 
das  auf  zwei  starke  Bände  veranschlagte  Werk,  dessen  erster  Band  fertig  vor- 
liegt. 

Der  tierische  Organismus  kann  in  zweifacher  Weise  Gegenstand  unserer  Be- 
obachtung und  Erforschung  sein.  Zunächst  tritt  er  uns  als  eine  Einheit  entgegen, 
als  ein  Individuum,  das  sich  entwickelt,  sich  ernährt,  Stoffe  aufnimmt  und  abgibt, 
Reize  von  der  Außenwelt  empfängt,  auf  diese  in  mannigfacher  Weise  reagiert, 
sich  bewegt,  sich  fortpflanzt  usw.  Andererseits  aber  erscheint  jedes  Einzelwesen 
als  ein  Glied  des  Naturganzen;  es  tritt  in  mannigfache  Beziehung  zur  Umwelt, 
ist  abhängig  von  dem  klimatischen  und  geographischen  Charakter  seiner  Um- 


angez.  von  R.  v.  Hanstein.  573 

gebung,  von  der  Pflanzenwelt,  sowie  von  den  zahlreichen  tierischen  Mitbewohnern, 
die  ihm  je  nach  den  Umständen  förderlich  oder  feindlich  entgegentreten.  So 
gliedert  sich  naturgemäß  die  Betrachtung  des  Tierlebens  in  zwei  Hauptabschnitte, 
in  die  Betrachtung  des  tierischen  Individuums  mit  all  seinen  Lebensäußerungen 
und  in  die  Erörterung  der  mannigfachen  Wechselbeziehungen,  in  die  es  zur  Um- 
welt tritt. 

Der  vorliegende,  von  R.  Hesse  bearbeitete  Band  behandelt  die  erste  dieser 
Aufgaben. 

Hesse  beginnt  mit  einer  Erörterung  der  allgemeinen  Lebensbedingungen,  die 
für  alle  Organismen  bestehen.  In  einem  „Das  Wesen  des  Lebens"  betitelten  Kapitel 
erörtert  er  ferner  die  beiden  einander  gegenüberstehenden  Anschauungen  des 
Mechanismus  und  des  Vitalismus.  Bei  Anerkennung  der  Tatsache,  daß  das  Leben 
zurzeit  noch  nicht  restlos  mechanisch  verständlich,  daß  es  „Mechanismus  auf  der 
Basis  der  gegebenen  Struktur"  sei,  und  daß  ein  zwingender  Beweis  sich  für  keine 
der  beiden  Anschauungen  führen  lasse,  läßt  der  Verfasser  keinen  Zweifel  darüber, 
daß  er  auf  Seite  derer  steht,  die  sich  , »hoffnungsfreudig  für  das  glatte,  restlose 
Aufgehen  des  Exempels  der  Lebenserklärung"  entscheiden,  und  betont,  daß  Darwins 
Selektionslehre  wenigstens  ,,das  Bestehenbleiben  des  einmal  entstandenen  Er- 
haltungsmäßigen und  das  Zugrundegehen  des  Lebenswidrigen"  begreiflich  mache. 
Weiter  werden  die  allgemeinen  Eigenschaften  des  Protoplasmas  sowie  der  Aufbau 
der  Zellen  erörtert.  Der  Verfasser  faßt  den  Zellbegriff  etwas  weit  und  wendet 
ihn  auch  auf  Protoplasmagebilde  an,  in  denen  eine  Differenzierung  zwischen  Plasma 
und  Kern  noch  nicht  eingetreten  ist.  Nach  kurzer  Besprechung  der  Zellverbände, 
wie  sie  uns  in  den  Stöcken  der  Infusorien  und  Flagellaten  vorliegen,  wendet  er  sich 
zu  den  vielzelligen  Körpern  der  Metazoen,  die  eine  Differenzierung  zwischen  ver- 
schiedenen Zellarten  erkennen  lassen,  erörtert  die  Begriffe  Pflanze  und  Tier  und  die 
Artunterschiede,  wie  sie  sich  nicht  nur  in  den  morphologischen  Merkmalen,  sondern 
auch  im  Stoffwechsel  und  im  chemischen  Verhalten  zeigen.  Den  Abschluß  dieses 
einleitenden  Abschnittes  bildet  eine  kurze  Übersicht  über  die  Begründung  der 
Deszendenzlehre.  Indem  Hesse  nach  einer  allgemeinen  Darlegung  der  durch  die 
vergleichende  Anatomie,  die  Entwicklungsgeschichte,  die  Paläontologie  und  die 
geographische  Verbreitung  der  Tiere  gelieferten  Beweisgründe  schließlich  eine 
Darstellung  des  mutmaßlichen  Entwicklungsganges  des  Tierreichs  gibt,  erörtert  er 
gleichzeitig  die  Art,  wie  eine  solche  Ableitung  —  die  immerhin  hypothetisch  und 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  subjektiv  bleibt  —  begründet  werden  kann,  und  be- 
nutzt diese  Darlegung  gleichzeitig  zu  einer  Einführung  des  Lesers  in  die  Kenntnis 
der  Hauptgruppen  des  Tierreichs. 

Der  nunmehr  folgende  spezielle  Teil  gliedert  sich  in  vier  umfangreiche  Haupt- 
abschnitte. 

Der  erste  behandelt  dieStatikundMechanikdesTierkörpers. 
Einleitend  betrachtet  der  Verfasser  die  verschiedenen  Bewegungsformen,  wie  sie 
sich  bei  den  Protozoen  finden,  die  amöboide  Bewegung  und  die  Bewegung  durch 
Geißeln,  Flimmerhaare  oder  Myoneme.  Zu  den  Metazoen  übergehend,  wendet  er 
sich  zunächst  zu  einer  Besprechung  des  Skeletts,  erörtert  die  mechanischen,  an  ein 
bewegliches  Stützorgan  zu  stellenden  Bedingungen  und  erläutert  an  einigen  Bei- 


574  R.  Hesse  und  F.  Doflein,  Tierbau  und  Tierleben, 

spielen,  wie  die  verschiedenen  Anforderungen  an  Stütze,  Schutzwirkung  und  Be- 
weglichkeit, die  zum  Teil  schwer  vereinbar  sind,  in  den  verschiedenen  Tiergruppen 
eine  verschiedene  Ausgestaltung  des  Skeletts  mit  sich  bringen.  Die  zur  Skelett- 
bildung verwandten  Substanzen  werden  besprochen,  auch  das  Verhältnis  zwischen 
Größe  des  Tiers  und  Gewicht  des  Skeletts  an  der  Hand  einzelner  Beispiele  erläutert. 
Eine  genauere  Darstellung  erfährt  noch  das  Skelett  der  Wirbeltiere  in  seinen  einzelnen 
Teilen  unter  steter  Bezugnahme  auf  die  funktionelle  Beanspruchung.  Nachdem 
noch  die  Haut  mit  ihrer  verschiedenen  Skelettbildung  besprochen  ist,  wendet  sich 
der  Verfasser  dem  aktiven  Teil  des  Bewegungsapparates,  den  Muskeln  zu.  Außer 
einer  allgemeinen  Besprechung  des  Baues  und  der  Wirksamkeit  der  Muskeln  findet 
der  Leser  hier  auch  solche  Fragen  erörtert,  wie  das  Verhältnis  zwischen  Körper- 
größe und  Muskelarbeit,  zwischen  Muskel-  und  Sehnenlänge  und  so  fort.  Nachdem 
so  der  Bewegungsapparat  der  Metazoen  dem  Leser  erläutert  ist,  geht  Hesse  zu  einer 
näheren  Besprechung  der  einzelnen  Bewegungsarten  über.  Er  beginnt  mit  dem 
passiven  Schweben,  wie  es  sich  z.  B.  bei  Planktontieren  findet,  und  geht  im  einzelnen 
auf  die  hierzu  befähigenden  Anpassungen  ein,  bespricht  dann  das  Vorkommen 
von  Flimmerbewegung  bei  Metazoen  und  wendet  sich  schließlich  zu  den  verschie- 
denen Formen  der  Muskelbewegung.  Auch  hier  gelangen  überall  die  mechanischen 
und  statischen  Verhältnisse  zur  Erörterung,  auch  erleichtert  in  diesem  wie  in  allen 
übrigen  Abschnitten  eine  reichliche  Beigabe  von  Abbildungen  das  Verständnis 
der  besprochenen  Vorgänge.  Besonders  eingehend  sind  die  verschiedenen  Arten 
des  Fluges  behandelt. 

Handelte  es  sich  im  ersten  Abschnitt  um  Arbeitsleistungen  des  Organismus, 
so  führt  der  zweite,  den  Stoffwechsel  undseineOrgane  behandelnde 
Hauptteil  zur  Erörterung  der  Energiequellen,  die  dem  Organismus  für  seine  Leistun- 
gen zu  Gebote  stehen.  Die  Ernährung  im  engeren  Sinne,  die  Nahrungsaufnahme 
und  die  Wirkung  der  verdauenden  Enzyme,  wird  einleitend  kurz  besprochen;  die 
verschiedenen  Formen  der  Nahrungsgewinnung  —  holophytische,  saprozoische, 
Schmarotzertum  und  „Fressen'*  im  engeren  Sinn  —  werden  kurz  charakterisiert; 
dann  wendet  sich  Hesse  zu  einer  näheren  Besprechung  der  verschiedenen  Formen 
der  Nahrungsaufnahme  bei  Protozoen.  Bei  den  Metazoen  bespricht  der  Verfasser 
die  Ernährung  der  einzelnen  Stämme  gesondert.  Besonders  wird  die  allmählich 
fortschreitende  Arbeitsteilung,  wie  sie  sich  in  der  Ausbildung  eines  besonderen 
Darmes  und  seiner  immer  weitergehenden  Gliederung  ausspricht,  hervorgehoben. 
Sowohl  diese  Erörterung,  wie  z.  B.  auch  die  Besprechung  der  Mundgliedmaßen 
bei  den  Gliederfüßern,  geben  Gelegenheit  zu  stetem  Hinweis  auf  die  Bedeutung 
der  Deszendenzlehre  für  das  Verständnis  all  dieser  Organisationsverhältnisse. 
Auch  in  diesem  Abschnitt  nimmt  die  Darstellung  des  Ernährungsapparates  der 
Wirbeltiere  mit  seinen  vielfachen  Anpassungen  und  Differenzierungen  den  größten 
Raum  ein. 

An  die  Ernährung  im  engeren  Sinne  schließt  sich  die  Besprechung  der  Atmung. 
Auch  hier  geht  eine  allgemeine  Erörterung  der  Bedeutung  der  Atmung  und  der 
an  verschiedenen  Orten  —  z.  B.  im  Wasser  —  gegebenen  Atmungsbedingungen 
voran.  Auch  die  Anaerobiose  wird  kurz  berührt.  Die  spezielle  Besprechung  der 
Atmungsorgane  der  einzelnen  Tiergruppen  berücksichtigt  bei  den  Wirbeltieren  auch 
die  Stimmorgane. 


angez.  von  R.  v.  Hanstein.  575 

Die  Darstellung  der  Exkretionsorgane  nimmt  eingehend  Bezug  auf  ihre  onto- 
genetische  und  phylogenetische  Entwicklung. 

Den  Abschluß  dieses  zweiten  Hauptteils  bildet  ein  Abschnitt  über  die  Körper- 
flüssigkeiten, von  denen  naturgemäß  das  Blut  besonders  eingehend  behandelt  wird. 
Bei  der  Besprechung  der  Blutgefäße  geht  der  Verfasser  auch  auf  die  Beziehungen 
zwischen  Herzgewicht,  Körpergröße  und  Beweglichkeit  der  Tiere  ein,  unter  Bezug- 
nahme auf  die  von  ihm  selbst  ermittelten  Gewichtsverhältnisse.  Der  Abschnitt 
schließt  mit  einer  Übersicht  über  den  Wärmehaushalt  des  Körpers. 

Der  dritte  Hauptteil  behandelt  die  Fortpflanzung  und  Verer- 
bung. Eine  Übersicht  über  die  verschiedenen  Formen  der  cytogenen  Fortpflanzung, 
die  Bildung  und  Entwicklung  der  Geschlechtsprodukte  und  die  Geschlechts 
unterschiede  gibt  dem  Verfasser  Anlaß  zur  Erörterung  der  Theorien,  die  die  sekun- 
dären Geschlechtsmerkmale  zu  erklären  versuchen.  Ihm  erscheint  die  Deutung 
der  besonderen,  die  Männchen  auszeichnenden  Körperbildungen  als  „Überschuß- 
bildungen", die  sich  durch  den  geringeren  Stoffaufwand  der  männlichen  Tiere  bei  der 
Fortpflanzung  erklären,  noch  immer  als  die  beste.  In  diesem  Abschnitt  finden  sich 
auch  Angaben  über  das  Zahlenverhältnis  der  Geschlechter  bei  verschiedenen 
Tierarten,  über  die  Zahl  der  Nachkommen  und  ihren  Zusammenhang  mit  den 
Lebens-  und  Entwicklungsbedingungen  usw. 

Es  folgt  eine  Besprechung  der  vegetativen  Fortpflanzungsweise  —  Teilung, 
Knospung — sowie  der  regelmäßig  abwechselnden  Fortpflanzungsarten  (Heterogonie, 
Generationswechsel). 

Eine  Schilderung  der  mitotischen  Zellteilung  leitet  das  Kapitel  über  Be- 
fruchtung und  Vererbung  ein.  Die  Befruchtung  des  Metazoeneies  und  die  Kon- 
jugation der  Protozoen  werden  vergleichend  besprochen,  und  hierauf  folgt  eine  Er- 
örterung der  Vererbungstheorien  und  ihrer  tatsächlichen  Grundlagen.  An  eine 
Darlegung  der  Chromosomentheorie  und  der  Mendelschen  Regeln  schließt  sich 
die  Frage  nach  der  Geschlechtsbestimmung,  die  auf  Grund  der  neueren 
Beobachtungen  und  Theorien  kurz  besprochen  wird. 

Die  embryonale  Entwicklung  führt  zur  Erörterung  der  Frage  nach  der  Existenz 
organbildender  Keimbezirke.  Es  schließt  sich  an  die  Besprechung  der  postembryo- 
nalen Entwicklung  und  der  Metamorphose.  Der  Abschnitt  schließt  mit  einem 
Kapitel  über  Wachstum,  Geschlechtsreife  und  Lebensalter,  das  am  Schluß  An- 
gaben über  das  beobachtete  Lebensalter  einer  Anzahl  von  Tieren  bringt. 

Nervensystem  und  Sinnesorgane  sind  Gegenstand  des  vierten 
Hauptteils.  Nach  einer  einleitenden  Uebersicht  über  die  Elemente  des  Nerven- 
systems und  die  Verbindung  der  Neurone  wendet  sich  der  Verfasser  zur  Einteilung 
der  Sinne  und  bespricht  dann  der  Reihe  nach  die  mechanischen,  thermischen, 
chemischen  und  optischen  Sinnesorgane.  Besonders  eingehend  sind  hier  die  Organe 
der  Lichtempfindung  behandelt,  deren  verschiedene  Ausbildung  in  den  verschie- 
denen Tiergruppen  durch  eine  Reihe  vortrefflicher  Abbildungen  veranschaulicht 
wird.  Den  Sinnesorganen  schließt  sich  eine  Besprechung  der  effektorischen  Nerven 
an.  Den  Schluß  des  Abschnitts  bildet  ein  Kapitel  über  die  Nervenzentren,  das 
zunächst  die  Nervenleitung  und  die  Reflexwirkungen  behandelt,  dann  verschiedene 
Hauptformen  des  Nervensystems  der  Wirbellosen  vorführt  und  sich  schließlich  den 
Chordaten  zuwendet. 


576     R.  Hesse  und  F.  Doflein,  Tierbau  und  Tierleben,  angez.  v.  R.  v.  Hanstein. 

Auf  die  vier  Hauptteile  folgt  ein  kurzer  Anhangsabschnitt,  der  unter 
dem  Titel  „Das  Ganze  und  seine  Teile"  die  in  der  speziellen  Darstellung  schon  oft 
berührte  Frage  der  Arbeitsteilung  noch  einmal  zusammenfassend  behandelt.  Vor- 
teile und  Nachteile  der  Arbeitsteilung  werden  hervorgehoben,  und  daran  die  Frage 
geknüpft,  wie  das  harmonische  Zusammenwirken  der  verschiedenen  Organe  bei 
vorhandener  Arbeitsteilung  gesichert  wird.  Es  wird  die  Theorie  der  Hormone,  die 
zentralisierende  Bedeutung  des  Nervensystems  und  die  funktionelle  Anpassung  der 
Organe  erörtert.  Der  Band  schließt  mit  den  Worten  R.  Leuckarts:  „Lebensäußerung 
und  Bau  verhalten  sich  zu  einander  wie  die  zwei  Seiten  einer  Gleichung.  Man 
kann  keinen  Faktor,  auch  nicht  den  kleinsten,  verändern,  ohne  die  Gleichung  zu 
stören." 

Wer  es  heute  unternimmt,  dem  nicht  biologisch  vorgebildeten  Leser  einen 
Einblick  in  die  Probleme  der  Tierbiologie  zu  eröffnen,  hat  mit  dem  sehr  geringen 
Maß  biologischen  Wissens  zu  rechnen,  daß  die  höhere  Schule  bisher  ihren  Schülern 
nur  vermitteln  konnte.  Es  ist  deshalb  oft  ein  weites  Ausholen  bei  der  Darstellung 
nötig,  und  das  bringt  die  Gefahr  mit  sich,  daß  der  Verfasser  gerade  in  der  Absicht, 
recht  verständlich  und  dabei  doch  wissenschaftlich  einwandfrei  zu  schreiben,  die 
Lesbarkeit  beeinträchtigt.  Von  dem  hier  vorliegenden  Werk  wird  man  das  nicht 
sagen  können,  die  Darstellung  ist  durchweg  klar  und  wird  dem,  der  Belehrung  sucht, 
keine  Schwierigkeiten  bieten.  In  einer  eventuellen  neuen  Auflage,  die  dem  verdienst- 
vollen Werk  recht  bald  gewünscht  sei,  ließe  sich  wohl  noch  eine  Verminderung 
der  angewandten  fremdsprachlichen  Fachausdrücke  empfehlen.  Beim  Durchlesen 
einzelner  Kapitel,  wie  z.  B.  mancher  Abschnitte  der ,,  Stammesentwicklung  der  Tiere", 
ferner  bei  der  Darstellung  der  Nierenentwicklung  und  an  einigen  anderen  Stellen, 
konnte  Referent  sich  einiger  Zweifel  nicht  erwehren,  ob  dem  Laien  die  hier  zur  Er- 
örterung stehenden  Vorgänge  ganz  klar  werden;  das  sind  aber  einzelne  Stellen,  die 
das  Gesamturteil  über  das  Werk  durchaus  nicht  beeinflussen  können. 

Abschließend  kann  wohl  ausgesprochen  werden,  daß  das  hier  vorliegende 
Werk,  das  den  Versuch  macht,  den  Laien  mitten  in  die  Probleme  der  Tierbiologie 
hineinzuführen,  und  ihm  die  vielerlei  Verbindungen  zu  zeigen,  die  diesen  Zweig 
der  Naturforschung  mit  den  verschiedensten  anderen  Nachbargebieten  verknüpfen, 
eine  sehr  dankenswerte  und  verdienstvolle  Bereicherung  unserer  Literatur  darstellt. 
In  klar  geordnetem  Zusammenhange  bringt  er,  wie  die  vorstehende  Übersicht  wohl 
genugsam  erkennen  läßt,  ein  außerordentlich  reichhaltiges  Tatsachenmaterial,  das 
durch  die  reiche  Ausstattung  des  Buches  mit  vortrefflichen  Abbildungen  der  An- 
schauung des  Lesers  näher  gebracht  wird.  Es  sollte  in  keiner  Lehrerbibliothek 
fehlen,  und  auch  für  die  Schülerbibliotheken  der  oberen  Klassen  kann  es  dringend 
empfohlen  werden.    Möge  der  zweite  abschließende  Band  bald  nachfolgen. 

Gr.-Lichterfelde.  R.  v.  H  a  n  s  t  e  1  n. 


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Die  Friedrich  Althoff -Stiftung. 

Unter  den  3495  Mitgliedern,  welche  die  Stiftung  am  1.  Oktober  1912  auf- 
wies, befanden  sich  nicht  weniger  als  3098  Oberlehrer  und  Direktoren  höherer 
Lehranstalten.  Ihre  Verteilung  auf  die  einzelnen  Provinzen  ist  nachstehend  an- 
gegeben und  verglichen  mit  den  Zahlen,  welche  ich  in  dieser  Monatschrift,  Jahrg.  1910 
S.  596,  veröffentlicht  habe. 

1910        1912 

Ost-  und  Westpreußen 165         339 

Brandenburg.-und  Berlin 551  912 

Pommern    19  80 

Posen  152  229 

Schlesien   87  183 

Sachsen   23  198 

Schleswig-Holstein 11  56 

Hannover    50  176 

Westfalen   21  167 

Hessen  -  Nassau 75         211 

Rheinprovinz 215  547 

Wie  man  sieht,  zeigt  sich  allerorten  ein  erfreuliches  Interesse  an  der  segens- 
reichen Stiftung,  wenn  auch  nicht  in  allen  Provinzen  in  gleichem  Grade.  Vielleicht 
dienen  diese  Zahlen  dazu,  eine  Steigerung  der  Beteiligung  in  den  etwas  zurück- 
stehenden Provinzen  anzuregen. 

Berlin-Lichterfelde.  A.  T  i  1  m  a  n  n. 


I.  Abhandlungen 


Der  Hellenismus  im  Geschichtsunterricht  der  höheren  Schulen. 

Ulrich  von  Wilamowitz-Moellendorff  beginnt  seine  Darstellung  der  Literatur 
des  Hellenismus*)  mit  den  Worten:  „In  Alexander  krönt  sich  die  hellenische  Ge- 
schichte. Das  3.  Jahrhundert  ist  der  Gipfel  der  hellenischen  Kultur  und  damit  der 
antiken  Welt,  die  Zeit,  die  der  modernen  allein  vergleichbar  ist.  Mögen  die  ewigen 
Gedanken  früher  gedacht,  die  ewigen  Kunstwerke  vorher  geschaffen  sein:  durch 
die  Ausgestaltung  der  Wissenschaft  ebenso  wie  durch  die  Weltherrschaft  ge- 
winnen beide  erst  die  Macht,  auf  die  Ewigkeit  hin  zu  dauern  und  zu  wirken." 
In  den  Worten  des  großen  Bahnbrechers  auf  dem  Gebiete  der  modernen  Alter- 
tumswissenschaft liegt  klar  ausgedrückt,  was  der  Hellenismus  für  die  Menschheits- 
geschichte bedeutet.  Hier  münden  alle  die  Bäche  und  Ströme  des  Hellenentums, 
hier  sind  aber  auch  die  Quellen  gewaltigerer  Ströme,  die  sich  von  den  neuen  Zentren 
aus  ergießen  in  alle  Welt. 

Ausgespielt  hat  in  der  Altertumswissenschaft  der  Klassizismus,  vorüber  sind 
die  Zeiten,  wo  man  das  Griechentum  des  5.  und  4.  Jahrhunderts  als  eine  einsame 
Insel  im  fernen  Ozean  der  Zeiten  betrachtete.  Dieses  Griechentum,  so  herrlich 
es  auch  war,  ist  nur  der  Prolog  jenes  großen  Dramas,  das  mit  dem  Alexanderzuge 
anhebt  und  in  dem  Untergange  oder  besser  dem  Aufgehen  des  Hellenentums  im 
römischen  Reiche  seinen  Abschluß  findet. 

Der  Hellenismus  bedeutet  den  Höhepunkt  der  politischen  Entwicklung 
des  griechischen  Volkes.  In  grauer  Vorzeit  freilich,  da  König  Minos  herrschte  und 
die  Karer  von  den  Inseln  vertrieb,  und  auch  damals  noch,  als  der  Herrscher  von 
Mykene  mit  dem  Heerbann  der  gesamten  Achaeer  den  sagenumwobenen  Zug 
nach  der  heiligen  Ilios  unternahm,  da  war  die  hellenische  Nation  ein  starkes  Volk 
gewesen.  Aber  schon  das  beginnende  1.  Jahrtausend  findet  Hellas  zersplittert 
in  einzelne  Stämme  und  Staaten,  die  sich  fremd  oder  feindlich  gegenüberstehen. 
Erst  der  Kampf  gegen  den  äußeren  Feind  erweckte  vorübergehend  das  schlummernde 
Nationalgefühl,  und  Hellas  Freiheit  war  die  köstliche  Frucht  gemeinsamer  Kampfes- 
arbeit. Doch  der  Wandel  der  inneren  Politik  Athens  schafft  Grund  zu  neuer  Feind- 
schaft. Athen  gerät  mit  Sparta  in  verhängnisvollen  Bruderkrieg  und  stürzt,  von 
persischem  Golde  bezwungen.  Und  dann  die  unheilvolle  Zeit  des  Korinthischen 
Krieges:  Persien  das  Zünglein  an  der  Wage,  persisches  Gold  der  Trumpf,  den 
die  Feinde  abwechselnd  gegeneinander  ausspielen,  und  das  Ergebnis:  die  Ohn- 
machtserklärung   Griechenlands,    der    Königsfriede,    diktiert    von   Persien.    Das 


*)  Die  griechische  und  lateinische   Literatur  und  Sprache,   Kultur  der  Gegenwart 
I,  8,  S.  82. 


H.  Preibisch,  Der  Hellenismus  im   Geschichtsunterricht  usw.  579 

Jahr  387/86  bedeutet  den  vollkommensten  Sieg  der  persischen  Politik;  der  Sieger 
erliegt  dem  Besiegten. 

Da  endlich,  in  der  tiefsten  Schmach  des  Vaterlandes,  erwacht  die  Scham  in 
den  Herzen  einiger  Patrioten.  ,, Rache  an  Persien!"  das  wird  die  Losung,  die  ein 
Isokrates  seinen  Landsleuten  zuruft.  Und  an  der  fernen  Nordwarte  Griechen- 
lands, in  dem  blutsverwandten  Mazedonien,  geht  eben  ein  Stern  auf,  nach  dem  sich 
die  Blicke  richten,  König  Philipp,  vielleicht  der  ersehnte  Messias,  der  Retter  und 
Rächer  der  Hellenen.  Das  Schicksal  will  es  anders:  König  Philipp  stirbt  eines  jähen 
Todes,  als  der  Zug  längst  beschlossen  ist;  aber  sein  herrlicher  Sohn  hat  die  Tat 
vollbracht,  die  die  Griechen  von  ihm  erwarteten,  als  sie  ihn  zu  Korinth  zum  Bundes- 
feldherrn  ernannten:  Mit  den  Streitkräften  Mazedoniens  und  Griechenlands  hat 
er  Persien  zu  Boden  gestreckt  und  das  Volk  der  Hellenen  zu  einer  Weltmacht 
erhoben. 

In  der  i  n  n  e  r  e  n  Politik  steht  es  nicht  anders.  Nach  all  dem  Wirrwarr  der 
Verfassungen,  als  die  Werke  eines  Lykurg  und  Solon  aufgelöst,  zertrümmert,  ent- 
artet, zur  Unkenntlichkeit  entstellt  waren,  als  in  der  athenischen  Ekklesie  und 
anderswo  die  Schreier  und  der  bezahlte  Pöbel  längst  das  große  Wort  führten,  als 
die  Besten  des  Volkes  wie  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  aus  der  Schauderhaftig- 
keit  des  politischen  Lebens  an  den  Schreibtisch  oder  in  die  Haine  der  Kunst  und 
Literatur  geflüchtet  waren  —  endlich  wieder  einmal  ein  politischer  Wille,  große 
Ziele  und  Hoffnungen,  die  Begeisterung  erweckten  und  die  Herzen  ergriffen.  Das 
Synedrion  von  Korinth  ist  das  erste  Beispiel  eines  repräsentativen  Parlamentes, 
und  Alexanders  Monarchie  und  die  ßaaiXsiGci  der  Diadochen  haben  die  Urbilder 
all  der  modernen  Formen  staatlichen  Lebens  geschaffen. 

Wie  steht  es  nun  aber  mit  der  hellenistischen  Kultur?  Ich  zitiere  Wend- 
land:*) „Kein  moderner  Philologe  leugnet,  daß  die  Kultur  des  5.  und  4.  Jahr- 
hunderts nach  dem  Reichtum  originaler  und  wahrhaft  schöpferischer  Gedanken, 
nach  der  Größe  ihrer  geistigen  Heroen  einzig  dasteht  .  .  .,  aber  durch  diese 
Schätzung  darf  der  Hellenismus  nicht  in  seinem  Rechte  verkürzt  werden.  Er  hat 
eine  neue  Kultur  hervorgebracht,  deren  Formen  und  Anschauungen  zum  Teil  bis 
auf  die  Gegenwart  herrschen  oder  nachwirken.  Er  hat  neue  Literaturgattungen 
geschaffen  und  alte  auf  die  Höhe  ihr^r  Entwicklung  geführt.  Er  hat  die  Fach- 
wissenschaften zur  höchsten  Blüte  gebracht.  Und  auch  wer  dies  verkennen  wollte, 
müßte  ihm  doch  das  Verdienst  zuschreiben,  daß  das  Griechentum  neben  dem 
Christentum  die  Grundlage  unserer  Kultur  geworden  ist.  So  hat  der  Hellenismus 
den  Ertrag  der  älteren  griechischen,  vor  allem  attischen  Geistesarbeit  und  Kultur- 
entwicklung in  die  Formen  gegossen,  die  ein  Gemeinbesitz  der  Kulturvölker  ge- 
worden sind." 

Und  einen  solchen  Abschnitt  der  Weltgeschichte  sollten  wir  Geschichtslehrer 
uns  entgehen  lassen?  Wir  sollten  unsere  kostbare  Zeit  in  Obersekunda  mit  den 
Katzbalgereien  der  Spartaner  und  Athener  vertrödeln,  um  in  der  letzten  Stunde 
des  2.  Quartals  gerade  noch  so  viel  Zeit  zu  haben,  um  die  griechische  Geschichte 
mit  dem  üblichen,  aber  nichtssagenden  „Ausblick"  auf  die  Zeit  des  Hellenismus 


*)  Paul  Wendland,  Die  hellenistisch-römische  Kultur,  Tübingen  1907,  S.  3 ff. 

37* 


580  H.  Preibisch, 

zu  beschließen  und  in  der  ersten  Stunde  nach  den  Ferien  mit  der  römischen  Geschichte 
ab  ovo  zu  beginnen? 

Nein  und  nimmer!  Unsere  Gymnasiasten  lesen  in  Prima  den  Thucydides. 
Wenn  es  nicht  geschieht,  ist  es  unverzeihlich.  Hier  können  sie  meinetwegen  die 
Einzelheiten  des  peloponnesischen  Krieges  genau  kennen  lernen.  Im  Geschichts- 
unterricht der  Obersekunda  ist  dazu  keine  Zeit.  Ähnlich  steht  es  mit  den  einzelnen 
Kriegsereignissen  der  Pentekontaetie  und  des  korinthischen  Krieges.  Die  einzigen 
kriegerischen  Ereignisse  vor  Alexander,  die  eine  genaue  Behandlung  vom  historischen 
Gesichtspunkte  erfordern,  sind  die  Perserkriege.  Das  übrige  gehört,  soweit  wichtige 
Neuerungen  stattfinden,  in  das  Gebiet  der  „Antiken  Strategie  und  Taktik"  und  wird 
etwa  an  der  Hand  von  Delbrück,  Kromayer,  Bauer  als  ein  Kapitel  der  allgemeinen 
Kulturgeschichte  behandelt. 

So  wird  die  für  die  Behandlung  des  Hellenismus  erforderliche  Zeit  spielend 
gewonnen.  Den  äußeren  Rahmen  bildet  natürlich  auch  hier  die  politische  Geschichte. 
Diese  erscheint  vielen  Leuten  noch  viel  wirrer  und  komplizierter,  als  sie  in  Wirk- 
lichkeit ist.  Den  ersten  großen  Abschnitt  bildet  die  Zeit  bis  zur  Schlacht  bei  Ipsus, 
d.  h.  bis  zum  Tode  des  großen  Antigonus,  der  den  Gedanken  eines  einheitlichen 
Reiches  bis  zu  seinem  Lebensende  vertritt.  Dann  beginnt  die  Periode  der  vollen 
Territorialsouveränität,  die  Konsolidierung  der  Einzelherrschaften  zu  vollkommen 
selbständigen  und  voneinander  unabhängigen  Staaten.  Bei  der  Schlacht  von 
Kurupedion  wird  abgebrochen;  denn  in  dieselbe  Zeit  fällt  der  Zug  des  Königs 
Pyrrhus  nach  Italien.  Das  Hauptinteresse  wendet  sich  jetzt  den  siegreichen  Römern 
zu.  Doch  ehe  die  Schüler  mit  ihren  Gedanken  dem  kühnen  Epiroten  nach  dem 
fernen  Westen  folgen  dürfen,  um  vom  römischen  Kapitol  aus  die  nun  folgenden 
Szenen  auf  der  Weltbühne  besser  anschauen  zu  können,  lenkt  der  Lehrer  wie  zum 
Abschiede  ihre  Blicke  noch  einmal  auf  jene  herrliche  Kulturwelt  des  Hellenismus, 
die  sie  von  jetzt  an  nur  noch  aus  der  römischen  Ferne  betrachten  werden.  Dann 
aber  beginnt  nach  einem  kurzen  Überblick  über  die  älteste  Geschichte  Italiens 
und  Roms  mit  der  Darstellung  des  Tarentinischen  Krieges  die  Geschichte  des 
römischen  Imperiums. 

So  erhält  der  Hellenismus  auch  auf  der  Schule  die  Stelle,  die  ihm  gebührt, 
nämlich  die  Vermittlung  zwischen  Hellas  und  Rom.  Der  verhängnisvolle  und  den 
Blick  für  alle  weltgeschichtliche  Betrachtung  versperrende  Dualismus:  1.  Römische, 
2.  griechische  Geschichte  wird  dann  endlich  aufhören,  und  auch  in  die  Schulstube 
wird  einziehen  die  seit  Eduard  Meyer  der  historischen  Wissenschaft  selbstverständ- 
liche „Geschichte  des  Altertums". 

Gliederung  des  Stoffes. 

1.  Die  Beschlüsse  von  Babylon.    Aufstände  in  Baktrien  und  Griechenland. 
Festsetzungen  über  die  Thronfolge.    Krateros  Reichsverweser,  Perdikkas 

Chiliarch.  Neueinteilung  der  Satrapien.  Aufstände  in  Baktrien  durch  Peithon, 
in  Griechenland  (L amischer  Krieg)  durch  Antipater  niedergeworfen 
(Krannon,  A  m  o  r  g  o  s  322).     Oligarchie  des  Phocion  in  Athen. 

2.  Krieg  gegen  Perdikkas  und  Eumenes.  Wiederherstellung  der  Zentral- 
gewalt. 


Der  Hellenismus  im  Geschichtsunterricht  der  höheren  Schulen.  581 

Antigonos  verbündet  sich  mit  den  übrigen  Diadochen  gegen  Perdikkas/'der 
auf  seinem  unglücklichen  Feldzuge  gegen  Ägypten  ermordet  wird  (321),  während 
Eumenes  für  ihn  in  Asien  erfolgreich  Krieg  führt.  Triparadeisos:  Eumenes 
geächtet,  Antipater  Reichsverweser,  Antigonus  Reichsfeldherr,  Seleukos  er- 
hält Babylonien.   Eumenes  bei  Orkynia  geschlagen  und  nach  Nora  zurückgeworfen. 

3.  Cassander  wird  Herr  in  Europa,  Antigonus  in  Asien. 

Antipater  stirbt  319:  Polyperchon  Reichsverweser.  Gegen  ihn  ver- 
bünden sich  Cassander,  Antigonus,  Ptolemaeus.  Nach  einigen  Erfolgen  des  Poly- 
perchon in  Griechenland  (Wiedereinführung  der  Demokratie  in  Athen;  Phocion 
hingerichtet  318)  wird  die  Flotte  Polyperchons  durch  Antigonos  am  Bosporus  ver- 
nichtet. Restauration  der  Oligarchie  in  Griechenland  durch  Cassander:  Herrschaft 
des  Demetrius  v.  Phaleron  in  Athen  (317 — 307).  Kampf  der  Olympias 
und  Eurydice.  Philippus  Arrhidaeus  ermordet.  Eumenes  v.  Kardia  von  Antigonus 
bei  Gabiene  (316)  geschlagen  und  hingerichtet.  Seleukus  wird  aus  Babylon 
durch  Antigonus  vertrieben  und  flieht  zu  Ptolemaeus.  A  n  t  i  g  o  n  u  s  ist  in  Asien 
fast  unumschränkter  Herr. 

4.  I.  Koalition  gegen  Antigonus. 

Antigonus  kämpft  erfolgreich  gegen  Cassander  in  Griechenland  und  gegen 
Ptolemaeus  in  Syrien.  Dieser  erringt  zunächst  über  Demetrius  den  Sieg  bei  Gaza 
(312),  aber  sein  Feldherr  Killas  wird  kurz  darauf  geschlagen  und  Syrien  geht  ver- 
loren. Friedenschluß  auf  Grund  des  Status  quo:  Seleukus  kehrt  nach  Babylon 
zurück,  Antigonus  erhält  Syrien. 

5.  Das  Ende  des  mazedonischen  Herrscherhauses.  II.  Koalition  gegen 
Antigonus. 

Alexander,  S.  d.  Roxane  (u.  Herakles,  S.  d.  Barsine)  310  ermordet. 
Kämpfe  des  Seleukus  gegen  Sandrokottos  in  Indien.  Ptolemaeus  unterstützt  in 
Griechenland  den  Aufstand  des  Polemaeus  gegen  Antigonus.  Ihi  Jahre  307  Zug 
des  Antigonus  und  Demetrius  nach  Griechenland:  Begeisterte  Auf- 
nahme in  Athen,  Demetrius  von  Phaleron  vertrieben.  Ptolemaeus  Feldherr  Menelaus 
bei  Salamis  auf  Cypern  (306)  geschlagen.  Die  Diadochen  (Ptolemaeus 
nach  einem  unglücklichen  Feldzuge  des  Antigonus  gegen  Ägypten)  nehmen  im  Jahre 
305  den  Königstitel  an.  Demetrius  belagert  Rhodus  (305),  zieht  von  hier 
gegen  Cassander,  wird  aber  bald  darauf  von  Antigonus  nach  Asien  gerufen.  Hier 
wiederum  eine  große  Koalition  gegen  Antigonus,  der  in  der  Schlacht  bei  Ipsus 
(301)  geschlagen  wird  und  fällt.    In  sein  Reich  teilen  sich  Lysimachus  und  Seleukus. 

6.  Demetrius. 

Demetrius  kämpft  mit  wechselndem  Geschick  um  die  Wiedereroberung 
des  väterlichen  Reiches.  Er  wird  im  Jahre  294  König  von  Mazedonien,  verliert 
aber  sein  Land  bald  darauf  (Schlacht  bei  Beroea  288)  an  Lysimachus  und  Pyrrhus. 
Zug  nach  Asien  (287),  Gefangennahme  durch  Seleukus  (285),  Tod  in 
Apamea  am  Orontes  (283). 

7.  Untergang  des  Reiches  des  Lysimachos.  Tod  des  Seleukos.  Die  Anti- 
goniden  gelangen  endgültig  auf  den  Thron  Mazedoniens. 

Lysimachus  gewinnt  ganz  Mazedonien,  auch  Teile  Griechenlands.  Da  bricht 
in  seinem  eigenen  Hause  Unheil  aus.    Wegen  der  Ermordung  ihres  Gatten  Aga- 


582  H.  Preibisch,  Der  Hellenismus  im  Geschichtsunterricht  usw. 

thokles  begibt  sich  Lysandra  zu  Seleukus  und  treibt  ihn  zum  Rachekriege  gegen 
Lysimachos,  der  bei  K  u  r  u  p  e  d  i  o  n  (281)  besiegt  wird  und  fällt.  Seleukus, 
der  Erbe  seines  Reiches,  will  auch  Mazedonien  gewinnen,  wird  aber  kurz  nach  seiner 
Landung  in  Europa  von  Ptolemaeus  Keraunos  ermordet  (Winter  281/80). 
Dieser  wird  mühelos  König  von  Mazedonien,  da  sein  einziger  Rival  P  y  r  r  h  u  s 
eben  mit  seinen  westhellenischen  Plänen  (Tarentin.  Krieg  280—272)  be- 
schäftigt ist.  Wenige  Jahre  darauf  fällt  Ptolemaeus  Keraunos  im  Kampfe  gegen 
die  Kelten,  und  durch  einen  Sieg  über  dieses  Volk  bei  Lysimacheia  (277) 
erringt  Antigonos  Gonatas,  S.  d.  Demetrius,  die  mazedonische  Königs- 
krone, die  die  Antigoniden  von  jetzt  ab  bis  zur  Schlacht  bei  Pydna  ununterbrochen 
behaupten. 

8.  Die  hellenistischen  Reiche  bis  zum  Eingreifen  der  Römer. 

Aus  dem  Alexanderreiche  haben  sich  drei  große  T  e  i  1  r  e  i  c  h  e  entwickelt: 
Mazedonien,  das  Reich  der  Antigoniden;  Syrien,  das  Reich  der  Seleu- 
ciden;  Ägypten,  das  Reich  der  Ptolemaeer.  Fast  dreißig  Jahre  lang  kämpfen 
die  Seleuciden  (Antiochus  I  und  II)  mit  den  Ptolemaeern  (Ptol.  II.  Philadelphos 
und  Ptol.  III  Euergetes)  um  das  südliche  Syrien,  das  endlich  von  Euergetes 
für  Ägypten  gewonnen  wird.  Das  Seleucidenreich  löst  sich  auf  (Pontus,  Pergamon), 
besonders  seit  der  Entstehung  des  Partherreiches  (Arsaces).  Einen 
Aufschwung  führt  Antiochus  der  Große  herbei,  der  jedoch  im  Syrischen  Kriege 
(192 — 189)  den  Römern  unterliegt.  Die  Antigoniden  in  Mazedonien  haben 
gegen  die  für  ihre  Freiheit  kämpfenden  Griechen  noch  viele  Kriege  zu  führen. 
Ihre  Feinde  sind  vor  allem  der  aetolische  und  achaeische  Bund  (Arat  v. 
Sikyon)  und  das  von  Agis  und  Kleomenes  reformierte  Sparta.  Das  Endergebnis 
dieser  Kämpfe  ist  die  Besiegung  der  unter  Spartas  Führung  vereinigten  Griechen 
bei  S  e  1 1  a  s  i  a  (221)  durch  den  König  Antigonus  Doson.  Sein  Nachfolger  Philipp, 
der  Bundesgenosse  Hannibals,  wird  von  den  Römern  bei  Kynoskephalae  (197) 
geschlagen. 

Zusammenfassung. 

1.  Die  Idee  eines  einheitlichen  Alexanderreiches  verliert  schon  in  den  ersten 
Jahren  nach  dem  Tode  des  Königs  infolge  der  fortwährenden  Kämpfe  der  Satrapen 
untereinander  mehr  und  mehr  an  Kraft  und  wird  durch  das  Aussterben  der  männ- 
lichen Linie  des  Herrschergeschlechtes  im  Jahre  310  gegenstandslos. 

2.  Ober  die  monarchischen  Bestrebungen  des  Antigonos  erringen  die  zentri- 
fugalen Tendenzen  der  übrigen  Diadochen,  die  seit  dem  Jahre  305  in  ihren  Ländern 
den  Königstitel  führen  (Territorialsouveränität!)  den  Sieg  in  der  Schlacht  bei 
Ipsos  (301). 

3.  Die  Vernichtung  des  Reiches  des  Lysimachos  (Kurupedion  281)  und  die 
Thronbesteigung  der  Antigoniden  in  Mazedonien  (277)  führen  zur  Konsolidierung 
der  drei  großen  Hauptmächte  des  Hellenismus. 

4.  Territorialgeschichte  Mazedoniens,  Syriens,  Ägyptens  und  der  Untergang 
des  Hellenismus  im  Römerreiche,  vollendet  durch  Octavians  Einzug  in  Alexandria 
nach  dem  Siege  bei  Actium  (31  v.  Chr.). 

Magdeburg.  Hans  Preibisch. 


IL  Programmabhandlungen  1911. 


Latein.    1911. 

Die  komische  Muse  Alt-Roms  bewährt  auch  diesmal  wieder  ihre  Anziehungs- 
kraft. In  einer  lesenswerten  Abhandlung  „Z  urWürdigung  desPlautus*' 
(Dresden-Altstadt,  Kreuzschule,  4»,  23  S.,  No.  757)  will  Dr.  Arthur  Denecke  keine 
„streng  philologische  Kleinarbeit",  sondern  „eine  zusammenfassende,  sachliche 
Würdigung"  des  Komikers  geben.  Form  und  Inhalt  der  meisten  Stücke  werden 
besprochen  und  dabei  besonders  auf  die  meisterhafte  Kunst  der  Sprache  hin- 
gewiesen. Das  Bühnengeschick  des  römischen  Dichters  könne  sich  neben  das  der 
griechischen  Vorbilder  stellen.  Die  Einheitlichkeit  der  Handlung,  die  Darstellung 
der  Charaktere,  der  feine  und  kräftige  Witz  usw.  sprechen  doch,  wenn  man  un- 
befangen urteilt,  f  ü  r  die  Plautinische  Muse,  und  das  Lob,  das  man  den  Lustspielen 
spenden  mag,  ist  mehr  auf  Rechnung  des  Römers  als  nur  der  hellenistischen  Vor- 
lagen zu  schreiben.  Die  Fähigkeit,  die  Handlung  im  einzelnen  witzig  und  humorvoll 
zu  gestalten,  ist  ganz  besonders  plautinisch.  Nach  dem  Verfasser  hat  Plautus 
seine  Kenntnisse  der  griechischen  Literatur  frei  verwertet,  hat  Gedanken  und 
Züge  aus  ihr  entnommen  und  hat  dann  diese  nach  eigenem  Ermessen  n  u  r  i  m 
allgemeinen  nach  attischem  Muster  zusammengefügt. 

Professor  Johannes  Poland  (der  „bei  seiner  Arbeit  über  ,Zwei  neue 
Beweise  des  Fermatschen  Satzes  für  Kubus  und  Quadrat'  auf  Schwierigkeiten 
gestoßen  war  und  deshalb  eine  andere  Abhandlung  als  Ersatz  lieferte)  untersucht 
„Zu  Plautus'  Captivi  und  Stichus"  (Kgl.  Gymnasium  zu  Dresden- 
Neustadt.  B.  G.  Teubner.  4».  14  S.  No.  761)  zunächst  die  Zulässigkeit  des  Hiatus 
bei  Eigennamen.  Verfasser  glaubt,  daß  die  vielfachen  Schwierigkeiten  im  Text 
nicht  dadurch  zu  beseitigen  seien,  daß  man  vor  oder  hinter  diesen  verbessert, 
sondern  daß  man  die  Überlieferung  der  Namen  selbst  auf  ihre  Echtheit  prüft, 
weil  ja  die  Personennamen  häufig  von  Rezensenten  willkürlich  geändert  worden 
seien.  Wenn  man  in  den  Captivi  den  Namen  H  e  g  i  o  ändere  (etwa  in  Micio  oder 
Demipho),  seien  viele  Stellen  schon  in  Ordnung,  und  die  noch  übrigbleibenden 
Anstöße  ließen  sich  auf  verschiedene  Art  leicht  beheben.  Im  zweiten  Teile  ver- 
teidigt der  Verfasser  den  Namen  Epignomus  (im  Stichus)  gegen  andere  Lesarten; 
auch  das  Metrum  spreche  dafür.    Die  Vorschläge  erscheinen  beachtenswert. 

Es  ist  jedesmal  erfreulich,  wenn  antike  Überlieferung  durch  heutige  Beob- 
achtung bestätigt,  ergänzt,  erläutert  wird,  wie  es  für  einen  Punkt  der  Cäsarischen 


584  Gramer, 

„Denkwürdigkeiten"  von  Oberlehrer  Dr.  Carl  Ansfeld,  in  einer  Studie  über  G  e  r- 
govia  geschieht  (Großherzogl.  Ludwig- Georgs- Gymnasium  zu  Darmstadt. 
G.  Ottos  Hof-Druckerei.  4«.  16  S.  No.  917).  Verfasser  hat  im  Frühjahre  1908 
das  Kampfgebiet  und  auch  die  Höhe  von  Gergovia  (744  m)  besucht.  Es  werden 
der  Aufstand  des  Vercingetorix,  die  Feldzugspläne  Cäsars  und  die  Berechnungen 
seines  gewaltigen  Gegners,  die  Schlacht  selbst,  ihr  Ausgang  und  der  endliche  Erfolg 
Cäsars  im  einzelnen  durchgesprochen,  auch  hervorgehoben,  wie  Cäsar  die  Dar- 
stellung zu  seinen  Gunsten  zu  gestalten  weiß,  ohne  doch  dem  Feinde  die  Aner- 
kennung zu  versagen.  Von  besonderem  Werte  ist  die  genaue  Beschreibung  und 
Würdigung  der  Stätte  des  alten  Gergovia,  die  Verfasser  auf  Grund  seiner  eigenen 
Anschauung  gibt,  und  die  verdienstlich  ist  für  die  Erkenntnis  der  altgallischen 
Befestigungsweise  mit  ihren  Holz-Stein-Bauten  auf  schwer  zugänglichen  Höhen 
(vgl.  besonders  S.  6). 

Über  die  Arbeitsweise  Cäsars  als  Geschichtsschreibers  und  den  Anteil  seiner 
Unterfeldherren  an  den  Kriegsberichten  haben  manche  Untersuchungen  der  letzten 
Jahre  neues  Licht  verbreitet.  Kurios  Feldzug  in  Afrika  ist  der  Gegen- 
stand eingehender  Forschung,  die  Oberlehrer  Paul  Menge  uns  vorgelegt  hat.  In 
einem  1.  Teile,  der  im  vorhergehenden  Berichtsjahre  erschien,  hatte  er  auf  Grund 
grammatischer  Beobachtungen  sich  gegen  Cäsar  als  Verfasser  ausgesprochen. 
In  der  vorHegenden  zweiten  Abhandlung  (Ist  Cäsar  der  Verfasser 
des  Abschnittes  über  Kurios  Feldzug  in  Afrika?  (Caesar, 
de  hello  civili  II  23 — 44).  Ein  Beitrag  zur  Cäsarfrage.  Kgl.  Landesschule  Pforta. 
H.  Sieling.  4^.  32  S.  No.  343)  weist  er  u.  a.  darauf  hin,  daß  Cäsar  selbst  so  wenig 
über  Kurio  urteilt  und  seine  Fehler  tadelt.  Wer  aber  ist  der  Verfasser?  Asinius 
Polio,  der  an  sich  in  Frage  kommen  könnte,  ist  es  nicht.  Andererseits  ist  es  nicht 
möglich,  mit  Sicherheit  einen  Namen  zu  nennen.  Als  Ergebnis  stellt  Verfasser  fest, 
daß  ein  Überarbeiterd  ie  Berichte  Verschiedener  (Kurio,  Rebilus,  Rufus)  zusammen- 
stellte und  selbst  nur  die  verknüpfenden  Sätze  schrieb.  Wertvoll  ist  die  angehängte 
Übersicht  über  die  ältere  Cäsarliteratur;  sie  reicht  von  1330  (Griechische  Über- 
setzung des  Planudes)  bis   1847  (Nipperdeys  Ausgabe). 

Prof.  Dr.  Max  Hodermann,  der  schon  durch  frühere  Arbeiten  über  „mili- 
tärische Ausdrücke"  (bei  Xenophon,  Livius,  Cäsar)  wohlbekannt  ist,  hat 
diesmal  die  gleiche  Aufgabe  für  Sallust  gelöst  (S  a  1 1  u  s  t  s  m  i  1  i  t  ä  r. 
Ausdrücke,  nach  Gruppen  geordnet  und  übersetzt. 
Fürstlich  Stolbergsches  Gymnasium  zu  Wernigerode.  Rud.  Vierthaler.  8°.  30  S. 
Nr.  351).  Sallust  hat  die  Kenntnis  der  Fachausdrücke  zum  Teil  durch  seine  eigene 
Dienstzeit  erworben;  Verfasser  bewährt  sich  auch  diesmal  wieder  als  sicherer 
Führer.  Manchem  willkommen  wird  es  sein,  daß  die  Ausdrücke  nach  denselben 
Gesichtspunkten  geordnet  sind,  wie  sie  Ostermann-Müller  in  seinem  Übungsbuch 
aufstellt. 

„Die  Schrift  des  Juncus  irepl  YTjpo);  und  ihr  Verhältnis 
zu  Ciceros  Cato  maior"  untersucht  Prof.  Dr.  Friedrich  Wilhelm 
(Kgl.  König-Wilhelms-Gymnasium  zu  Breslau.  .Otto  Gutmann.  4«.  20  S.  No.  263). 
Der  erste  Teil  beschäftigt  sich  zunächst  mit  den  Schriften  über  das  Alter  über- 
haupt, eine  Frage,  die  in  Ciceros  Büchlein  wohl  die  beste  Behandlung  gefunden 


Latein.    1911.  585 

habe.  Die  Quellen  für  ,,das  arg  versäumte  Schriftchen"  des  Juncus  sind  bei  den 
Griechen  zu  suchen;  der  Gedankengang  ist  nicht  so  streng  gegliedert  wie  bei  Cicero. 
Im  zweiten  Teile  kommt  Verfasser  zu  dem  überzeugenden  Schlüsse,  daß  beide 
Abschnitte  der  fraglichen  Schrift  auf  mindestens  eine  griechische  Vorlage  des- 
selben Inhalts  zurückgehen,  und  daß  andererseits  Cicero   nicht  benutzt  ist. 

Auf  Grund  der  bisherigen  Forschung  hatte  Norden  über  das  Gefüge  der 
Metamorphosen  Ovids  das  Wort  geprägt:  „Ein  chronologisch  und 
genealogisch  geordnetes  Kompendium  gab  den  Grundstock".  Mit  Rücksicht 
hierauf  hat  sich  Oberlehrer  Dr.  Walter  Zinzow  die  Aufgabe  gestellt,  „die 
Anordnung  des  Stoffes  in  den  Metamorphosen  zu  prüfen  und  zu  vergleichen  mit 
der  Disposition,  die  sich  in  den  zu  Ovids  Zeit  gebräuchlichen  mythologischen  Hand- 
büchern findet"  (Städtisches  Gymnasium  zu  Beigard.  Gust.  Klemp.  8^.  14  S. 
No.  197).  Zunächst  wird  Diodors  ßißXioör^xYj  bxoptxTj  (4.  Buch)  herangezogen, 
der  dort  ein  solches  Handbuch  benutzt,  dann  Hygins  Fabeln  und  Horaz'  Ode 
*III  19  (S.  9)  und  ein  „Schema  der  mythographischen  Kompilationen"  ermittelt; 
ein  Vergleich  mit  Ovids  Erzählungsstoff  zeigt  dann,  ,,daß  das  von  Ovid  benutzte 
Handbuch  im  Aufbau  die  größte  Verwandtschaft  mit  dem  von  Diodor  und  dem 
Mythographen  Hygin  excerpierten  Kompendium  zeigt". 

Livius'  darstellende  Kunst  wird  behandelt  von  Dr.  Carl  Atzert  im  Pro- 
gramm des  Königlichen  Gymnasiums  zu  Meppen  (Livius  quomodo  composuerit 
1.  XXI  capita  40—44.  Huth,  Göttingen.  8».  22  S.  No.  426);  besprochen  werden 
die  Reden  der  beiden  Gegner  Scipio  und  Hannibal,  und  zwar  so,  daß  die  Kunst, 
die  Livius  bei  der  Gegenüberstellung  des  Redepaares  ent- 
faltet, ins  Licht  gestellt  wird.  S.  19:  „Et  multum  quidem  Livius  noster  in  hoc  genere 
dicendi  profecisse  videtur.  Neque  enim  quicquam  fere  dixit  Scipio,  quod  non  in  con- 
trariam  partem  verterit  Hannibal.'' 

Im  Jahresbericht  des  Kgl.  Gymnasiums  in  Freienwalde  ist  die  (6.)  Fortsetzung 
der  Bentley  -  Studien  des  Direktors  Prof.  Dr.  Hedicke  erschienen  (S  t  u  d  i  a 
Bentleiana.  VI.  Lucanus  Bentleianus  IL  P.  Neubert.  4°.  30  S.  No.  85); 
es  handelt  sich  um  die  kritische  Textgestaltung  des  Lucan. 

Eine  sprachvergleichende  Studie  über  „die  kopulative  Kompo- 
sition im  Lateinischen"  bietet  Oberlehrer  Dr.  Friedrich  Slotty  (Kgl. 
Viktoria -Gymnasium  zu  Potsdam.  Robert  Müller.  8°.  40  S.);  es  ist  ein  willkom- 
mener, sachkundiger  Beitrag  zur  lateinischen  Wortbildungslehre.  Die  Arbeit 
will  eine  Lücke  ausfüllen,  da  (im  Gegensatz  zur  griechischen  Sprachforschung) 
das  , »interessanteste  Problem"  und  „die  kühnste  Art  der  Worteinung",  näm- 
lich die  kopulative  Komposition,  für  das  Lateinische  noch  nicht  genauer  unter- 
sucht sei.  Während  sich  im  Altindischen  alle  Abstufungen  in  der  Innigkeit  dieser 
Wortverbindung  nachweisen  lassen,  hat  das  Lateinische  fast  nur  diejenige  Art 
ausgebildet,  in  der  die  Individualität  der  Einzelglieder  stark  oder  gänzlich  zurück- 
gedrängt ist  (z.  B.  euronotus,  sacrosanctus,  aequipar).  Die  „Textkritischen 
Bemerkungen  zu  P  e  t  r  o  n  i  u  s",  die  Oberlehrer  Dr.  Paul  Siewert 
veröffentlicht  (Kgl.  Friedrichs- Gymnasium  zu  Frankfurt  an  der  Oder.  Franz 
Köhler.  4^.  31  S.  No.  84),  haben  den  Vorteil,  daß  sie  das  Vulgärlatein  Petrons 
weitgehend  berücksichtigen  und  sich  im  übrigen  streng  an  den  gerade  bei  der 


586  Cramer, 

Petronüberlieferung  bewährten  Grundsatz  halten,  daß  die  handschriftliche  Lesart 
nur  auf  leichte  und  einfache  Weise  zu  ändern  sei,  „unter  Verzicht  auf  kühne,  wenn 
auch  auf  den  ersten  Augenblick  verblüffende  Einfälle".  (Beachtenswert  ist  gleich 
die  erste  Vermutung,  daß  cp.  28,  3  statt  'propinasse'  zu  schreiben  ist  ein  vulgär- 
lateinisches 'popinasse'y  obschon  sonst  nur  popinari  (Deponens)  vorzukommen 
scheint.) 

1  In  einem  zweiten  Teile  seiner  Arbeit  über  den  Servius-Kommentar 
zu  Vergil  behandelt  Joh.  Kirchner  in  mühevollen  Zusammenstellungen  die 
Stellen,  an  denen  Servius  den  Vergil  selbst  zur  Erklärung  heranzieht,  um  des 
Kommentators  Vertrautheit  mit  den  Vergilschen  Werken  zu  zeigen.  Nützlich 
sind  auch  die  Übersichten  über  die  von  Servius  angeführten  Stellen  des  T  e  r  e  n  z 
(mit  Rücksicht  auf  den  Grad  der  Treue  im  Zitieren),  ebenso  die  Vergleichung 
der  verschiedenen  Art  und  Weise,  wie  Erzählungen  und  mythologische  Geschichten 
von  dem  kürzeren  und  von  dem  erweiterten  Servius-Kommentar  zitiert  werden. 

Dr.  F.  Krohn  (Ad,  in  und  andere  Palaeographica.  Kgl. 
Schillergymnasium  zu  Münster.  J.  Bredt.  8«.  20  S.  No.  488)  hat  bei  V  i  t  r  u  v 
beobachtet,  daß  das  Wörtchen  'ad'  an  22  Stellen  (S.  16)  als  sinnlos  zu  streichen 
ist,  und  vermutet  deshalb,  daß  dieses  ad  die  Bedeutung  einer  handschriftlichen 
nota  hatte,  wie  etwa  in  mittelalterlichen  Handschriften  hd  (=  hie  deest)  oder  fi 
(hiaf)  oder  hh  (hie  hiaf).  Die  Natur  dieses  Wörtchens  sei  in  Vergessenheit  ge- 
raten und  in  den  Text  übernommen  worden.  Dieselbe  Beobachtung  trifft  bei 
'in*  zu,  das  bei  Vitruv  nach  dem  Verfasser  26  mal  zu  streichen  ist.  Die  richtige 
Bedeutung  dieser  notae  festzustellen,  ist  freilich  noch  nicht  gelungen;  doch  sind 
die  gemachten  Beobachtungen  recht  ansprechend.  Über  ähnliche  andere  Irrtümer, 
die  durch  Abkürzungen  entstanden  sind,  spricht  Verfasser  S.  16  ff.  Besonders 
beachtenswert  scheint  mir  die  Vermutung  zu  Vitruv  II  35,  15  nonnulli  ex  ulva 
palüstri  eomponunt  tuguria.  apud  eeteras  quoque  gentes  &  nonnulla  loea 
pari  similique  ratione  easarum  perfieiuntur  eonstitutiones :  statt  &  ist  zu  lesen 
ex  (eine  sehr  geläufige  Verwechslung),  und  'nonnulla  loea'  ist  vom  Schreiber  irr- 

1 .  ca 
tümHch  aufgelöst,    aus    der  Vorlage:  nonnulla,  d.   h.   'v  e  l   cannula';*)    es  ist 
also    zu  lesen    ex    cannula     =  'aus  Rohr'  (im  Gegensatz   zu    dem    voran- 
gehenden ex  ulva,  'aus  Schilf). 

In  einem  weit  ausgreifenden  und  tief  schürfenden  „Beitrage  zur  Gymnasial- 
pädagogik** will  Oberlehrer  Dr.  Johannes  Moeller  eine  Art  Ethik  bieten,  die,  auf 
dem  Boden  der  altsprachlichen  Lektüre  gewonnen,  über  den  Rahmen  des  Unter- 
richts nicht  hinausgeht  und  den  Gesichtskreis  des  Schülers  nicht  übersteigt. 
(Über  den  Bildungswert  der  altsprachlichen  Lektüre. 
2.  Teil.  Lateinische  Hauptschule  in  den  Franckeschen  Stiftungen  zu  Halle  a.  d.  S. 
Druckerei  des  Waisenhauses.  4^.  41  S.  No.  332.)  Nur  einzelne  ethische  Grund- 
fragen werden  behandelt,  soweit  sie  nämlich  bei  der  Lektüre  in  Frage  kommen 
können.    Es  ist  zu  begrüßen,  daß  Verfasser,  offenbar  ein  ebenso  erfahrener  Päda- 


*)  Dem   Abschreiber   war   also    die   Abkürzung    1.    (=  vel)   unbekannt,    und    er 
setzte  daher  hinter  nonnulla  das  aus  '1.  ca'  falsch  aufgelöste  loea. 


Latein.    1911.  587 

goge  wie  bewanderter  Philologe,  eine  zusammenfassende  Buchausgabe 
vorbereitet;  nach  ihrem  Erscheinen  wird  es  sich  lohnen,  auf  die  gedankenreiche 
Arbeit  zurückzukommen.  Besonders  zu  unterstreichen  ist  die  durchaus  richtige 
Grundanschauung  des  Verfassers:  ,,Da  nicht  mit  Notwendigkeit  aus  Gedanken 
Empfindungen  und  daraus  Grundsätze  und  Handlungsweisen  werden,  so  ist  das 
gemüt-  und  willenbildende  Moment  vor  allem  in  der  Art  der  Betrach- 
tun g  ....  zu  suchen  und  das  betrachtete  Objekt  weniger  nach  seiner  wissen- 
schaftlichen als  nach  seiner  erzieherischen  Bedeutung  zu  würdigen." 
Es  wird  damit  eine  Hauptaufgabe  unserer  heutigen  Gymnasialerziehung  berührt, 
die  ihrerseits  —  in  einseitiger  Fortbildung  Herbartscher  Gedanken  — 
zum  Teil  auf  falsche  oder  ausgefahrene  Geleise  geraten  ist. 

Der  Wirklichkeitssinn  der  Schüler  soll  auch  durch  die  alten  Sprachen  geweckt 
werden;  er  soll  z.  B.  sehen,  welche  Stellung  der  antike  Mensch  zu  den  Tieren  ein- 
nimmt, wie  gut  er  deren  Leben  und  Treiben  zu  beobachten  versteht,  wie  manche 
Bilder  er  der  Tierwelt  entlehnt.  Solcher  Aufgabe  dient  Direktor  Dr.  Oskar  Alten- 
burg mit  der  Fortsetzung  seines  von  uns  schon  früher  besprochenen  „latei- 
nischen Sachbuches"  (Hl.  Aus  dem  Tierleben.  1.  Aus  dem 
Leben  der  Haustiere.  Kgl.  Gymnasium  zu  Glogau.  Glogauer  Druckerei.  4^.  23  S. 
No.  272).  Der  Schüler  soll  angeregt  werden,  bei  seinen  Spaziergängen  nicht  blind 
durch  die  umgebende  Natur  zu  gehen,  besonders  da  das,  was  den  Alten  auffiel, 
auch  heute  noch  zutrifft  (z.  B.  daß  den  Südländern  die  Zugvögel  zum  Opfer  fallen). 
Mit  großer  Sachkenntnis  sucht  Verfasser  alles  zusammen,  was  von  den  Alten  über 
die  Haustiere  gesagt  wird  und  gewinnt  dadurch  recht  treffende  Bilder  von  ihnen. 
Von  solchen  Zusammenstellungen  wird  besonders  der  Unterricht  in  der  Groß- 
stadt Nutzen  ziehen  können,  da  es  dort  so  wenig  Gelegenheit  gibt,  die  Haustiere 
in  ihrem  Tun  und  Wesen  an  Ort  und  Stelle  zu  beobachten. 

In  seinen  „Beiträgen  zur  lateinischen  Sc^hulstilistik" 
will  Prof.  Julius  Sander  dem  heutigen  (gegenüber  der  ,,w  i  r  k  l  i  c  h  guten, 
alten  Zeit'*  beschränkten)  Lateinunterricht  eine  Stütze  geben,  um  die  Eigen- 
art der  lateinischen  Sprache  in  den  Schülern  lebendig  werden  zu  lassen;  er  faßt 
in  sieben  „Stilgesetzen"  das  Wichtigste  für  die  Wortstellung  und  die  Verbindung 
der  Sätze,  überhaupt  für  den  'color  latinus'  zusammen.  Besonderer  Wert  ist  auf 
sinnvolle  Kürze  der  Regeln  gelegt,  da  die  Schülier  sie  auswendig  lernen  sollen. 
Berechnet  sind  sie  für  Sekunda  und  Prima,  doch  sind  sie  auch  der  Tertia,  wenig- 
stens zum  Teil  verständlich.  Das  Heftchen  empfehlen  wir  dem  jungen  Latein- 
lehrer als  nützliches  Hilfsmittel:  er  findet  darin  praktische  Winke  eines  erfahrenen 
Schulmannes,  wenngleich  uns  das  „Auswendiglernen"  weniger  behagt. 

Ein  solcher  hat  auch  das  Wort  in  den  ,,Lateinischen  Studien" 
(2.  Teil),  in  denen  Oberlehrer  Dr.  A.  Baltzer  „den  lateinischen  Genetiv,  seine  Be- 
deutung und  Behandlung  im  Unterricht"  bespricht  (Gymnasium  und  Realschule 
zu  Wismar.  Eberhardtsche  Hof-  und  Ratsdruckerei.  8».  32  S.  No.  949); 
im  1.  Teile  war  der  Ablativ  behandelt.  Der  Quartaner  und  Untertertianer  soll, 
wie  jeder  Schüler  einer  höheren  Bildungsanstalt,  auch  inneres  Verständnis  den 
Regeln  entgegenbringen;  er  soll  sie  empirisch  kennen  lernen,  und  in  so  leichter 
Fassung,  daß  er  sie  nicht  bloß  äußerlich  und  nur  halb  verstanden  aufnimmt.  Diesen 


588  Cramer,  Latein.    1911. 

Grundsätzen  folgend,  bietet  Verfasser  zunächst  Beispiele  aus  Lesestücken,  gibt 
dann  die  Erklärung  der  Grundbedeutung  und  faßt  zum  Schluß  alles  in  feste  Grund- 
gesetze zusammen.  Beachtenswert  ist  ein  als  Anhang  beigefügter  Abschnitt  über 
einige  Präpositionen. 


Nachträglich  ist  noch  zu  meiner  Kenntnis  gekommen  eine.  Studie  des  Ober- 
lehrers Paul  Ahlgrimm :  ,,Zur  Quellenkritik  der  Naturalis 
Historia  des  Pliniu  s".  (Schwerin  i.  M.  Bärensprungsche  Hofdruckerei. 
40.  10  S.  No.  947.)  Im  8.  Buch  zitiert  Plinius  die  50  Bücher  der  Aristotelischen 
Tiergeschichte;  er  hat  indes  nach  dem  Verfasser  nicht  den  Aristoteles  selber  studiert. 
Vielmehr  hat  Plinius  dies  Werk  aus  Handbüchern  kennen  gelernt;  ,,die  feierliche 
Versicherung  im  8.  Buch  wird  auf  Rechnung  seiner  Gelehrteneitelkeit  zu  setzen  sein''. 
,,Die  Hauptquellen  des  Plinius  waren  römische  Handbücher,  deren  zusammen- 
hängenden Darstellungen  er  den  Stoff  für  die  verschiedenen  Disziplinen  seines 
Werkes  entnahm.  Die  Autoren,  die  er  dort  schon  zitiert  fand,  führte  er  als  benutzt 
in  den  Indices  der  einzelnen  Bücher  auf,  häufig  in  anderer  Reihenfolge,  als  sie 
im  Text  begegnen,  und  mit  Auslassungen."  Vermutliche  Quelle  war  für  Plinius 
vielmehr  V  e  r  r  i  u  s  (Rerum  memoria  dignarum  libri),  aus  dem  auch  Sueton  ge- 
schöpft hat.    Die  Beweisführung  des  Verfassers  erscheint  begründet. 

Münster.  Cramer. 


III.    Bücherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen: 

Deutsche  Lesebücher  VHI.*) 

Buschmann,  Deutsches  Lesebuch  für  die  Oberklassen 
höherer  Lehranstalten.  ZweiteAbteilung.  Deutsche  Dichtung 
in  der  Neuzeit.  9.  vermehrte  Auflage,  besorgt  von  E.  G  e  n  n  i  g  e  s.  Trier  1912. 
J.  Lintz.     XVI  u.  646  S.    8«.    geb.  4,60  M. 

Bötticher,  G.  und  Kinzel,  K.,  Altdeutsches  Lesebuch.  4.  Aufl. 
Halle  1912.    Buchhandlung  des  Waisenhauses.    VI  u.  202  S.    8«.    geb.  2,20  M. 

Evers- Walz- Kühne,  Deutsches  Lesebuch  für  höhere  Lehr- 
anstalten. Sechster  Teil.  Untersekunda.  Ausgabe  A.  2.  Aufl. 
Leipzig  1911.  B.  G.  Teubner.  XII  u.  316  S.  8^.  geb.  2,60  M.  Ausgabe  B,  für 
paritätische  Anstalten.  2.  Aufl.  Ebenda  1911.  —  Siebenter  Teil.  Ober- 
sekunda.   Ausgabe  A,  B.    2.  Aufl.    Ebenda  1912.    X  u.  363  S.  8«.   geb.  2,80  M. 

Wevelmeyer-Scheier,  Deutsches  Lesebuch  für  die  Grund- 
stufen (Vorklassen)  höherer  Lehranstalten.  I.  Band.  Zweites 
Schuljahr.  Leipzig  1911.  J.  Klinkhardt.  XVI  u.  216  S.  8«.  geb.  1,70  M.  II.  Band. 
Drittes  Schuljahr.    Ebenda  1911.    XV  u.  320  S.    geb.  2,25  Ml 

Gaertner,  R.,  Fibel  für  die  Vorschulen  höherer  Lehr- 
anstalten. 4.  Aufl.  Berlin  1912.  Trowitzsch  &  Sohn.  120  S.  Aus- 
gabe A,    Steilschrift.    Ausgabe  B,  Schrägschrift.  S^'  0,90  M. 

Bielteldt,  H.,  Fibel.  Mit  Bildern  von  E.  Kuithan.  Kiel  und  Leipzig  1910. 
Lipsius  &  Tischer.    132  S.    IM.    Dazu  B  e  g  1  e  i  t  w  o  r  t  ebenda.    39  S.    0,60  M. 

Tollert,  A.,  Neue  Fibel  für  Vorschulen  höherer  Lehr- 
anstalten, für  Mädchenschulen  und  Mittelschulen.  Berlin 
0.  J.  L.  Oehmigkes  Verlag  (R.  Appelius).  126  S.  8^.  geb.  0,80  M.  Dazu  Begleit- 
wort ebenda.    27  S.    0,50  M. 

Hessel,  K.,  Schneeglöckchen.  5.  Aufl.  Bonn  191 1.  A.  Marcus  & 
E.  Weber.  125  S.    8^.     1,80  M. 

Caspari- Fibel.  Ein  Lesebuch  mit  vielen  bunten  Bildern 
für  die  erste  Schulzeit.  Herausgegeben  von  Gertrud  Caspari.  Stutt- 
gart 1912.     R.  Keutel.    76   S.     8«.    geb.  2,50  M. 

Die  9.  Auflage  desLesebuchesvonBuschmann  zeigt  weitere  wert- 
volle Verbesserungen.    Damit  bei  der  Behandlung  der  in  dem  vorliegenden  Bande 


*)  Vgl.  Monatschrift  X  (I9U),  S.  669 f. 


590  A.  Zehme, 

vertretenen  Dichter  ein  Rückblick  auf  ihre  in  den  früheren  Klassen  behandelten 
Dichtungen  erleichtert  werde,  sind  im  Texte  bei  den  einzelnen  Autoren  die  in  den 
drei  Bänden  desselben  Lesebuches  für  die  Unter-  und  Mittelstufe  befindlichen 
Dichtungen  zusammengestellt  worden.  Die  im  ganzen  immer  noch  recht  reichliche 
Auswahl  aus  neueren  Dichtern  ist  nicht  wesentlich  geändert.  Fortgefallen  sind 
Reinhold  Fuchs,  Heinrich  Vierordt  und  Alice  Freiin  von  Gaudy,  neu  aufgenommen 
Georg  Busse-Palma,  Hermann  Hesse  und  Wilhelm  von  Scholz.  Das  Lesebuch, 
welches  schon  in  der  „Monatschrift"  (X,  670  f.)  vom  Referenten  auf  das  wärmste 
empfohlen  wurde,  hat  seinen  bisherigen  reichen  Erfolg  wohl  verdient.  —  Das  gut 
eingeführte  AltdeutscheLesebuchvon  Bötticherund  Kinzel, 
dessen  1.  Auflage  (1903)  in  dieser  Monatschrift  (III,  98)  vom  Referenten  freudig 
begrüßt  wurde,  ist  inzwischen  vermehrt  worden  durch  eine  gute  Auswahl  aus  Ot- 
frieds  Evangelienbuch  (nach  Seilers  Übersetzung)  sowie  bei  der  Wölsungensage 
und  den  eingefügten  Teilen  der  Liederedda  durch  das  dritte  Sigurdslied,  dessen  hin- 
reißende Schönheit  Referent  in  seiner  „Germanischen  Götter-  und  Heldensage" 
(Leipzig,  Freytag)  gewürdigt  hat,  und  durch  das  Lied  von  Atli.  Auch  die  im  An- 
hange gegebene  mhd.  Grammatik  ist  sorgfältig  durchgesehen  und  mehrfach  ergänzt. 
So  gehört  dieses  altdeutsche  Lesebuch,  welches  sich  durch  die  Reichhaltigkeit 
seines  Inhaltes  und  die  erprobte  Methode  seiner  Darbietung  schon  viele  aufrichtigen 
Freunde  erworben  hat,  mit  den  von  denselben  Verfassern  in  gleichem  Verlage 
früher  erschienenen  „Denkmälern  älterer  deutscher  Literatur"  unstreitig  zu  den 
besten  Hilfsmitteln  zur  Einführung  in  die  altdeutsche  Literatur.  —  Von  dem  be- 
währten Lesebuche  von  Evers-Walz -Kühne,  auf  welches  Referent 
an  dieser  Stelle  schon  wiederholt  mit  anerkennenden  Worten  hingewiesen  hat, 
liegen  die  Bände  für  Unter-  und  Obersekunda  in  2.  Auflage  vor,  beide  in  zwei  Aus- 
gaben, von  denen  die  Ausgabe  B  für  paritätische  Anstalten  bestimmt  ist.  Der 
Band  für  Uli  ist  erheblich  verbessert  und  erweitert.  Im  Prosateile  sind  neu 
hinzugekommen  Aufsätze  über  die  Steinsche  Städteordnung  (nach  E.  Wolff),  die 
politischen  Wirkungen  des  Zollvereins  (nach  Treitschke),  die  deutsche  Flagge 
(nach  Lists  Zollvereinsblatt  1843),  das  Wesen  des  modernen  Staates  (nach  Sohm), 
Graf  Zeppelin;  auch  die  Botschaft  Wilhelms  I.  an  den  Reichstag  über  die  soziale 
Versicherung  (14.  April  1883)  ist  abgedruckt.  Diese  stärkere  Betonung  der  Bürger- 
kunde wird  manchem  willkommen  sein.  Die  Gedichte  enthalten  neben  dem  eisernen 
Bestände  aus  Goethe,  Schiller,  Uhland  eine  wesentlich  vermehrte  Auswahl  aus 
Mörike,  Storm,  Keller,  Meyer,  Hebbel,  Liliencron,  Falke,  Avenarius.  Eine  treff- 
liche Sammlung  von  Volksliedern  schließt  den  poetischen  Teil  ab.  Sehr  nach- 
ahmenswert ist  der  A  n  h  a  n  g  ,  welcher  eine  Übersicht  über  die  in  den  6  Bänden  des 
Lesebuches  enthaltenen  Gedichte  und  Volkslieder  enthält.  Solche  höchst  prakti- 
schen Übersichten  hat  Referent  anderen  Lesebüchern  wiederholt  empfohlen.  — 
Der  Band  für  OII,  dessen  1.  Auflage  schon  angezeigt  ist  (Monatschrift  VI, 
103),  stellt  in  der  neuen  Auflage  eine  völlige  Neubearbeitung  dar.  Fortgefallen 
sind,  außer  den  Sprachproben  des  17.  Jahrhunderts,  im  Prosateile  leider  der  Auf- 
satz über  die  nordische  Gestalt  der  Siegfriedsage  sowie  die  ausführliche  Inhalts- 
angabe des  Parzival  (nach  Vilmar);  für  letztere  kann  der  Aufsatz  aus  Engels  Lite- 
raturgeschichte als  ein  gleichwertiger  Ersatz  nicht  angesehen  werden.  Erweitert 
ist  die  Auswahl  aus  N.  L.,  Gudrun,  Walther,  M.  F.    Beseitigt  sind  die  deutschen 


Deutsche  Lesebücher  VI  11.  591 

Übersetzungen,  dafür  hinzugekommen  Anmerkungen  sowie  im  Anhang  ein  Ab- 
schnitt über  den  Wortschatz  und  ein  Wörterverzeichnis.    Für  die  Literatur-  und 
Kulturgeschichte  sind  Aufsätze  aus  neueren  Schriftstellern  gewählt,  so  über  Wagners 
Ring  des  Nibelungen  von  Kretzschmar,  über  mhd.  Epiker  von  Engel,  über  die 
römische  Kaiserzeit  von  Domaszewski.     Hinsichtlich  der  Auswahl  aus  der  Edda 
möchte  Referent  die  Aufnahme  des  kurzen  Sigurdsliedes,  welches  sich  auch  bei 
Bötticher-Kinzel  (s.  oben  1),  Liermann  u.  a.  findet,  nahelegen.  —  Das  Vorschul- 
lesebuch von  Wevelmeyer  und  Scheier,  vom  Verlage  dem  Refe- 
renten direkt  zugeschickt,  ist,  wie  schon  vor  ihm  andere  ähnliche,  z.  B.  dasjenige 
von  Kühne-Vorwerk,  durchweht  von  Großstadtluft,  hält  sich  aber  darin  in  maß- 
volleren Grenzen.    Die  neueren  Lesebücherfürdieersten  Schul- 
jahre wählen  —  darin  liegt  ein  gewisser  Fortschritt  gegen  früher  —  gern  aktuelle 
Stoffe,  d.  h.  Stoffe  aus  der  Umwelt  des  Kindes,  aus  der  Welt  des  Selbsterlebten, 
des  unmittelbar  Angeschauten,  Beobachteten,   Selbstempfundenen.     Durch  eine 
groß  angelegte  Personifikation  dieser  ganzen  Umwelt,  der  leblosen  wie  der  lebendigen, 
seitens  neuerer  Jugendschriftsteller  entstehen  packende,  realistische,  humorvolle 
Szenen,  denen  die  Psyche  des  Kindes  zweifellos  natürliches  Interesse  und  Verständ- 
nis entgegenbringt  und  auch  eine  gewisse  Bereicherung  verdanken  kann.    Das  Kind 
gewinnt  ein  inneres,  teilnehmendes  Verhältnis  zu  allem,  was  es  umgibt  in  Haus  und 
Hof,  im  Garten  und  auf  der  Straße.    Aber  die  Häufung  solcher  Schilderungen, 
namentlich  derjenigen,  welche  die  Gansberg,  Scharrelmann,  J.  Fra- 
pan,Arno  Fuchs,  0.  von  Greyerzin  ihren  Streifzügen  durch  die  Welt 
der  Großstadtkinder  bringen,  birgt  die  Gefahr  in  sich,  ins  Platte,  Triviale,  Manie- 
rierte zu  verfallen  und  hinterläßt  bei  den  Kindern  kaum  so  nachhaltige,  Geist, 
Gemüt  und  Phantasie  stärkende  Eindrücke  wie  die  kräftige  frühere  Lesekost, 
z.  B.  Märchen,  Schilderungen  wahren  Naturlebens  in  Wald  und  Feld  usw.    Oder 
schütteln  nicht  auch  noch  große  Leute  zuzeiten  gern  den  Staqb  der  Großstadt 
von  sich  ab  und  suchen  neue  Kraft  und  Erfrischung  an  dem  Busen  der  reinen, 
unverfälschten  Natur?    Also  Maß  und  Vorsicht  in  der  Schilderung  der  Großstadt- 
kultur für  die  Jugend!     Ich  fürchte,  diese  lernt  davon  auch  ohne  Lesebuch  oft 
mehr  als  gut  ist.    Der  Standpunkt  des  vorliegenden  Vorschullesebuches  ist  darin, 
wie  bemerkt,  maßvoll,  wird  aber  den  modernen  Anforderungen,  auch  in  Auswahl 
neuerer  Lyrik,  gerecht.    D  e  r  2.  Band  ist  ungewöhnlich  stark,  vielleicht  weil  er 
manches  der  Sexta  vorwegnimmt,  namentlich  Gedichte  und  Prosastücke  aus  dem 
vaterländischen  Leben  (Abschnitt  VII).  Eine  Einsicht  in  den  Sextaband  der  üb- 
lichen Lesebücher  wird  das  bestätigen  und  durch  sorgfältige  Nachprüfung  der 
Lesestücke  nach  diesem  Gesichtspunkt  zu  einer  Kürzung  des  2.  Bandes  führen 
können.    Warum  in  dem  reizenden  Weihnachtsgedicht  von  Heinrich  Seidel 
„D  erkleine  Nimmersatt"  (Band  II,  No.  142)  die  letzte  Strophe,  welche 
doch  die  Pointe  enthält,  fehlt,  ist  unverständlich.     Im  ganzen  wird  das  besonders 
die  Heimatkunde  des  Rheinlandes  berücksichtigende  Vorschullesebuch  von  Wevel- 
meyer und  Scheier,  welchem  der  Verlag  eine  gediegene  Ausstattung,  auch  mit 
Bildern  von  0.  Pletsch,  L.  Richter,  A.  Menzel,  und  einen  vorzüglichen  Druck  (Offen- 
bacher Schwabach-Typen)  gegeben  hat,  sich  als  recht  brauchbar  erweisen  und  zur 
Einführung  unbedenklich  zugelassen  werden  können.  —  Die  zur  Anzeige  eingelaufenen 
Fibeln  vertreten  verschiedene  Methoden.     Die  altbewährte  reine  Schreiblese- 


592  A.  Zehme,  Deutsche  Lesebücher  VIII. 

methode,  bei  welcher  mit  der  kleinen  Schreibschrift  begonnen  wird,  befolgt  die 
in  4.  Auflage  vorliegende  Fibel  von  Gaertner;  Ausgabe A  bringt  die  neuer- 
dings beliebte  Steilschrift,  Ausgabe  B  die  bisherige  Schrägschrift.  Die  mit  Illustra- 
tionen geschmückte  und  mit  sorgfältigem  Druck  ausgestattete  Fibel,  welche  in  ihrer 
neuen  Auflage  stark  umgearbeitet  ist  und  auch  moderne  Schriftsteller  berücksichtigt, 
kann  empfohlen  werden.  —  Die  Bielfeldtsche  Fibel  ist  gearbeitet  nach 
dem  phonetischen  Prinzip  auf  physiologischer  Grundlage  unter  Anwendung  von 
Lautbildern  und  Lautfiguren.  —  Die  Fibeln  vonTollert  und  Hessel 
zeigen  eine  völlig  neue  Methode,  welche  einen  immerhin  interessanten  Versuch  dar- 
stellt. Es  ist  bekannt,  daß  Wetekamp  in  seinem  anregenden  Buche  ,, Selbst- 
betätigung und  Schaffensfreude  in  Erziehung  und  Unterricht"  (3.  Aufl.  1912, 
Teubner),  unabhängig  von  Kerschensteiner,  doch  in  seinen  Ideen  sich  mit  diesem 
vielfach  berührend,  der  Werkschule  das  Wort  redet.  Er  läßt,  anknüpfend  an  den 
natürlichen  Spieltrieb,  den  Vorschulunterricht  beginnen  mit  Modellieren  und  Zeich- 
nen, mit  Buchstabenlegen  und  Zusammensetzen  von  Wörtern  und  Sätzen  aus  den 
Buchstaben  des  Setzkastens.  Erst  nach  einigen  Monaten  beginnt  dann  der  eigentliche 
Leseunterricht  und  noch  später  der  Schreibunterricht  (Steilschrift).  Die  Erfahrungen 
mit  dieser  neuen  Methode,  welche  Arbeitsfreude  und  Frohsinn  in  die  Schule  hinein- 
tragen will,  sind  noch  nicht  abgeschlossen,  sollen  aber  nicht  ungünstig  sein.  Im 
Anschluß  hieran  ist  schon  eine  förmliche  Literatur  über  den  Anfangsunterricht, 
das  Stäbchenlegen  usw.  entstanden.  Die  Tollertsche  Fibel  geht  nach 
diesen  Grundsätzen,  indem  sie  das  Märchen  von  den  Sterntalern  verwendet,  von 
den  großen  lateinischen  Druckbuchstaben  (Antiqua)  aus,  da  diese  einfachere  Formen 
böten.  Diese  werden  von  den  Kindern  modelliert,  mit  Stäbchen  gelegt,  nach- 
gemalt, gelernt.  Darauf  folgen  die  kleinen  lateinischen  Druckbuchstaben,  die 
deutsche  Druckschrift  und  die  lateinische  Schreibschrift  (im  Anhang).  —  Auch 
die  Hesseische  Fibel  mit  dem  etwas  seltsamen  Titel  „Schneeglöckchen" 
beginnt  nach  gleicher  Methode  mit  einfachen,  kleinen  Geschichten  in  der  großen 
lateinischen  Druckschrift  und  kommt  von  dieser  zu  der  kleinen  lateinischen  Druck- 
schrift, der  lateinischen  Schreibschrift  (Steilschrift),  endlich  zur  deutschen  Schreib- 
und Druckschrift.  Die  Auswahl  der  Lesestücke  räumt  mit  manchem  Altmodischen 
auf,  bewahrt  aber  die  alten  volkstümlichen  Kinderreime.  Diese  Fibel  soll  das  erste 
Lesebuch  für  die  Kinder  darstellen.  Ihrem  Gebrauche  soll  die  Einführung  in  das 
Schreiben  und  Lesen  vorausgehen,  welche  mit  dem  Stäbchenlegen  und  Nach- 
malen einfacher  Worte  (Mama,  Papa,  Lina)  in  großen  lateinischen  Druckbuch- 
staben beginnt.  —  Wieweit  sich  diese  neue  Methode,  welche  allerdings  etwas  zeit- 
raubend zu  sein  scheint,  im  Anfangsunterricht  einbürgern  und  auf  die  Dauer  be- 
währen wird,  muß  die  Zukunft  entscheiden.  Da  es  in  der  praktischen  Pädagogik 
ja  eine  alleinseligmachende  Methode  nicht  gibt,  muß  diese  neue  ohne  Vorurteil 
betrachtet  werden  und  sie  kann  vielleicht  auch  zum  Ziele  führen.  —  Die  C  a  s  p  a  r  i  - 
Fibel  liegt  dem  Referenten  nur  in  einem  Prospekt  vor,  welcher  einen  unzuläng- 
lichen Einblick  bietet.  Sie  stammt  von  der  durch  ihre  Kinderbücher  bekannten 
Künstlerin  Gertrud  Caspari  und  ist  in  Bild  und  Wort  als  Ergänzung  zu  anderen 
benutzten  Fibeln  gedacht.    Auch  sie  hat  die  Antiquaschrift  gewählt. 

Wilmersdorf-Berlin.  A  r  n  o  1  d  Z  e  h  m  e. 


A.  Zehme,  Schriften  aus  dem  Gebiete  von  Mythus,  Sage  und  Altertumskunde.     593 

Schriften  aus  dem  Gebiete  von  Mythus,  Sage  und  Altertumsltunde. 

von  der  Leyen,  Friedrich,  Deutsches  Sagenbuch.  II.  Teil:  Die 
deutschen  Heldensagen,  von  Fr.  von  der  Leyen.  München 
1912.  C.  H.  Becksche  Verlagsbuchhandlung,  0.  Beck.  VIII  u.  352  S.  8°.  geb. 
3,50  M.,  in  Halbpergament  5  M. 

Panzer,  Friedrich,  Studien  zur  germanischen  Sagenge- 
schichte. II.  Sigfrid.  München  1912.  Ebenda.  X  u.  281  S.  8«.  brosch. 
8  M.,  geb.  10,50  M. 

Thule,  Altnordische  Dichtung  und  Prosa.  Herausgegeben 
von  Felix  Niedner.  1.  Bd.  E  d  d  a.  I.  Teil:  Heldendichtung,  übersetzt 
von  Felix  Genzmer,  mit  Einl.  und  Anmerk.  von  Andreas  Heusler. 
Jena  1912.     Eugen  Diederichs.     222  S.    8».    brosch.  3  M.,  geb.  4,50  M. 

Klee,  Gotthold,  Sagen  der  griechischen  Vorzeit.  3.  Aufl. 
Gütersloh  1912.    C.  Bertelsmann.    VIII  u.  344  S.    8«.    geb.  3  M. 

Hoernes,  Moritz,  KulturderUrzeit.  I.  Steinzeit.  Mit  41  Bilder- 
gruppen und  Titelbild.  II.  Bronzezeit.  Mit  37  Bildergruppen.  III.  Eisen- 
zeit. Mit  35  Bildergruppen.  Leipzig  1912.  G.  J.  Göschensche  Verlagshandlung. 
(Sammlung  Göschen  No.  564 — 566.)    geb.  je  0,80  M. 

Hinsichtlich  der  in  der  letzten  Sammelbesprechung  (Monatschrift  XI,  186  f.) 
angezeigten  schönen  Schrift  von  J.  Stuhrmann,  Die  Idee  und  die 
Hauptcharaktere  der  Nibelungen,  möchte  Referent  nach  Rück- 
sprache mit  dem  geschätzten  Herrn  Verfasser  noch  nachtragen,  daß  die  von  Stuhr- 
mann vertretene  und  vom  Referenten  anerkennend  hervorgehobene  Verwerfung 
der  Schuldtheorie  schon  in  der  1.  Auflage  dieses  Büchleins  1886  zum  Ausdruck 
gekommen,  also  völlig  unabhängig  von  Volkelts  „Ästhetik  des  Tragischen"  ent- 
standen ist.  Dieses  Werk  zu  zitieren  hatte  also  der  Verfasser  ke^ne  Veranlassung; 
doch  ist  es  in  späteren  Auflagen  der  Vollständigkeit  der  einschlägigen  Bibliographie 
wegen  vielleicht  ganz  zweckmäßig.  —  Der  vorliegende  2.  Teil  des  Deut- 
schen Sagenbuches  von  F.  von  der  Leyen,  dessen  1.  und  4.  Teil 
vom  Referenten  empfohlen  wurde  (Monatschrift  IX,  49;  613),  ist  vom  Heraus- 
geber selbst  bearbeitet.  Er  verfolgt  in  ihm  das  Ziel,  die  unvergänglichen  und  wunder- 
baren Kräfte  des  germanischen  Heldentums  zu  schildern,  welche  aus  den  alten 
Heldensagen  geheimnisvoll  hervorstrahlen  und  Herz  und  Sinn  der  Germanen 
dauernd  fesselten.  Daher  schließt  der  Verfasser  an  die  Erzählung  des  Inhaltes 
der  einzelnen  Sagen  (meist  nach  Grimm,  Uhland  u.  a.)  und  an  die  Erörterung  ihrer 
Entstehung,  Entwicklung  und  historischen  Zusammenhänge  stets  eine  ästhetische 
Würdigung  ihrer  Größe  und  Tragik.  Die  literarischen  Nachweise  sind  am  Schluß 
in  den  Anmerkungen  gegeben.  Personen-  und  Sachregister  fehlen 
leider  in  allen  bisherigen  Bänden,  sie  wären  zum  Nachschlagen  doch  recht  er- 
wünscht gewesen.  Der  2.  Band  lenkt  zunächst  den  Blick  in  die  vorgeschichtliche 
Zeit  der  germanischen  Heldendichtung,  sodann  auf  die  allmähliche  Bildung  und 
Umbildung  der  Sage  in  der  Zeit  der  Völkerwanderung,  auf  die  Beteiligung  der 
einzelnen  Stämme  daran,  die  nationale  Bedeutung  der  Heldenlieder  und  ihr  Ver- 
hältnis zur  Geschichte.    Darauf  folgt  die  Behandlung  der  Sagen  von  England  und 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  XI.  Jhrg.  33 


594  A.  Zehme, 

Dänemark  (Beowulf,  Wermund  und  Uffe,  Hagbard  und  Signe,  Starkad,  Hrolf), 
der  nordischen  Sagen  (Die  Halfdansöhne,  Amleth,  Ermanarich,  Wieland,  Helgi), 
des  deutschen  Mittelalters    (Walther,    Rother,   Wolfdietrich,    Dietrich,    Gudrun), 
endlich  der  Nibelungensage.     Hinsichtlich  der  wissenschaftlichen   Stellung  sagt 
Verfasser  selbst,  daß  er  von  den  Ergebnissen  anderer  Forscher  öfters  abweiche  und 
besonders   der   mythisch    ausdeutenden    und    der    dialektisch   rekonstruierenden 
Methode  nicht  zu  folgen  vermöge,  daß  aber  anderseits  auch  seine  eigenen  Ansichten 
keine  unbedingte  Gewähr  auf  Richtigkeit  böten.     Verfasser  zeigt  die  Neigung, 
statt  sagengeschichtlicher  literarische  Zusammenhänge  zu  vermuten.    Es  ist  hier 
nicht  der  Ort,  darauf  einzugehen,  wie  Verfasser  die  Sagen  im  einzelnen  auffaßt 
und  ableitet,  z.  B.  die  von  Siegfrieds  und  Beowulfs  Tod  aus  uralten  Liedern  vom 
Opfer  und  vom  Tode  eines  strahlenden  Helden.    Jeder  Fachmann  weiß,  wieviel 
Problematisches  noch  die  germanische  Sage  bietet.    Im  ganzen  ist  auch  der  2.  Band 
zur  Anschaffung  für  Schüler-  und  Volksbibliotheken  sowie  zu  Prämien  wohlgeeignet. 
—  Panzers  ,,Sigfri  d",  die  Frucht  jahrelanger  einschlägiger  Studien,  be- 
schränkt sich,  unter  Ausschluß  der  Burgundensage,  auf  die  eigentliche  Sigfridsage 
und  faßt  völlig  unabhängig  von  neueren  Arbeiten  (Boer,  Neckel  u.  a.)  die  Sage 
nach  ganz  neuen  Gesichtspunkten  auf.    Verfasser  lehnt  den  Begriff  ,,Sigfridmythus** 
ab  und  will  dartun,  daß  „die  Vorgeschichte  dieser  Sage  nicht  am  Himmel,  sondern 
auf  der  Erde  zu  suchen"  sei,  daß  es  also  bei  ihr  nichts  zu  „deuten**  gebe.    Er  ordnet 
die  zahlreichen  deutschen  und  nordischen  Sigfridsagen,  ihrem  Ursprünge  nach, 
in  zwei  Hauptgruppen,  die  er  nach  dem  Vorgange  Heuslers   als  Erlösungs-  und 
Werbungssage  bezeichnet.    Die  Erlösungssage,  zu  welcher  er  im  Gegensatz  zu  seinen 
Vorgängern  nicht  nur  die  Erlösung  und  Erweckung  der  Jungfrau  durch  Sigfrid, 
sondern  auch  Sigfrids  dunkle  Jugend,  seinen  Kampf  mit  dem  Drachen  und  die  Er- 
werbung des  Schatzes  rechnet,  leitet  er  ab  aus  dem  Märchen  vom  Bärensohn, 
dessen  Typus  in  seinen  drei  Hauptteilen  (Jugendabenteuer  des  Helden,  Erlösungs- 
tat im  dämonischen  Reich,  Heimführung  der  erlösten  Jungfrau)  in  die  Sage  über- 
gegangen sei.     Den  gemeinsamen   Ursprung  der  mannigfachen  Werbungssagen 
führt  Verfasser  zurück  auf  einen  Märchentypus,  den  er  als  das  Märchen  vom  Braut- 
werber bezeichnet.    Auch  in  seinen  früheren  Schriften  sucht  Verfasser  bekanntlich 
verschiedene  Heldensagen  aus  demselben  Märchentypus  abzuleiten,  so  die  Hilde- 
Gudrunsage  aus  dem  Goldener  Märchen,  die  Beowulfsage  aus  dem  Märchen  vom 
Bärensohne  (vgl.  Monatschrift  IX,  612  f.).    Wenn  auch  die  heutigen  Mythologen 
diesen  Resultaten  bis  jetzt  zum  Teil  noch  skeptisch  gegenüberstehen,  so  sind  doch 
Panzers  Verdienste,  eine  von  großer  Belesenheit  zeugende  mustergültige  Sammlung 
und  methodische  Analyse  der  betreffenden  Märchen,  ihrer  Varianten,  ihrer  Ver- 
breitung, gegeben  zu  haben,  unbestritten.  —  Die  mit  Hilfe  mehrerer  Mitarbeiter 
von    Felix   Niedner    unter    dem   Tittl    „T  h  u  1  e"   herausgegebene    alt- 
nordische Dichtungund  Prosa  will  den  Versuch  machen,  durch  eine 
planmäßige   Zusammenstellung   und   künstlerische   Übersetzung   der  wichtigsten 
klassischen  Urkunden,  die  sich  auf   Island  erhalten  haben,  der  gebildeten  Welt 
die  Anschauungen   einer  großen  germanischen   Lebensperiode  (zirka  850 — 1250) 
zu  vermitteln  und  Islands  Leistung  für  die  Weltliteratur  zu  zeigen.    Das  ist  an  sich 
ein  zweifellos  recht  dankenswertes  Unternehmen,  welches  nur  mit  Freude  begrüßt 


Schriften  aus  dem  Gebiete  von  Mythus,  Sage  und  Altertumskunde.         595 

werden  kann.  Referent  hat  schon  mehrfach  (Monatschrift  IX,  615  u.  a.)  auf  die 
Bedeutung  der  isländischen  Saga  und  die  neuerdings  verfaßten  Übersetzungen 
(A.  Bonus,  P.  Herrmann,  Fr.  Ranke  etc.)  hingewiesen,  auch  schon  1901  in  seiner 
„Germanischen  Götter-  und  Heldensage"  (Leipzig,  Freytag)1*eine  Reihe  dieser 
isländischen  Sagas  ftir^die  Schule  dargeboten.  Die  obige  Sammlung  Thule  ist 
berechnet  auf  etwa  24  Bände.  Der  vorliegende  1.  Teil  der  Eddaübersetzung 
enthält  die  Heldenlieder  und  Verfolgt  "das  Ziel,  die  Eddagedichte'^als  Kunstwerke 
dem  deutschen  Poesiefreund  in  die  Hand  zu  legen.  Daher  wollen  auch  die  bei- 
gegebenen Einleitungen  und  Fußnoten  nicht  eigentlich  lehrhaft  sein,  sondern  nur 
dem  Leser  den  Weg  bahnen  zu  einem  künstlerischen  Nachempfinden  dieser  Dich- 
tungen. Demgemäß  spannt  das  Buch  den  Rahmen  der  „Eddadichtung**  viel  weiter, 
als  sonst  üblich  ist,  und  hat  mit  aufgenommen  das  „Lied  von  der  Hunnenschlacht**, 
das  „Mühlenlied**,  ,,Bjarkilied**,  „Herwörlied**,  „Innsteinlied**,  ,,Hroklied'*,  „Star- 
kads  Rückblick**,  den  „Kampf  auf  Samsey*',  „Hjalmars  Sterbelied**,  „Hildibrands 
Sterbelied**,  „Fridthofstrophen**.  Auch  noch  andere  Freiheiten  nimmt  sich  der 
Herausgeber,  um  seine  künstlerischen  Absichten  auszuführen:  er  gibt  die  alte  Reihen- 
folge der  Gedichte  grundsätzlich  auf  und  gruppiert  sie  nach  eigener  Wahl;  er  sucht 
mit  höherer  Kritik  bei  den  Gedichten  die  Einheiten  herauszuheben,  das  zu  Unrecht 
Verbundene  zu  trennen,  störende  Zutaten  zu  entfernen,  Lücken  auszufüllen,  Ver- 
schobenes umzustellen.  Daher  tragen  des  Herausgebers  Gestaltungen  und  Re- 
konstruktionen subjektiven  Charakter.  Für  den  gedachten  Zweck  erscheint  das 
Buch  als  wohlgeeignet,  und  es  kann  auch  in  der  Schülerbibliothek  der  Oberstufe 
anregend  wirken.  Zur  wissenschaftlichen  Beschäftigung  mit  diesem 
Stoff  wird  man  freilich,  wie  bisher,  zu  der  Übersetzung  von  Hugo  Gering 
(Leipzig,  Bibliographisches  Institut)  greifen,  welcher  auch  die  deutschen  Lese- 
bücher ihre  Auswahl  zu  entnehmen  pflegen.  —  Die  Sagen  der  griechi- 
schen Vorzeit  von  G.  Klee  sind  zum  ersten  Male  bereits  1888  erschienen, 
allerdings  unter  dem  Titel  „Hausmärchen  aus  Altgriechenland**.  Der  Bearbeiter 
hat  im  ganzen  die  unsterbliche  Lebenskraft  der  griechischen  Heldensage  ungestört 
selbst  walten  lassen,  doch  dabei  manches  weggeschnitten  oder  leise  geändert,  auch 
eigene  Ausschmückung  nicht  gänzlich  vermieden,  um  die  alten  schönen  Erzählungen 
den  Kindern  zwischen  acht  und  vierzehn  Jahren,  die  er  sich  als  seine  Leser  denkt, 
recht  verständlich  und  anziehend  zu  machen.  Und  dafür,  daß  ihm  dieses  in  aus- 
gezeichneter Weise  gelungen  ist,  bürgt  schon  der  Name  des  Verfassers,  welcher 
durch  seine  zahlreichen,  köstlichen  Sagenbücher  unserer  Jugend  längst  ein  treuer, 
lieber  Freund  geworden  ist.  Daher  darf  das  Buch  in  der  Schülerbibliothek  nicht 
fehlen  und  wird  auch  als  passendes  Festgeschenk  und  als  Prämie  gewiß  oft  Freude 
bereiten.  —  Moritz  Hoernes  gibt  in  den  drei  Bändchen  seiner  „Kultur 
der  Urzeit**  einen  vortrefflichen  Überblick  über  alle  anthropologischen  Er- 
scheinungen der  ur-'^oder  "vorgeschichtlichen  Kulturperioden.  Das  Werkchen, 
welches  die  einschlägige,"'zum^Teirin~zahlreichen  kleineren  Einzelarbeiten  nieder- 
gelegte Fachliteratur  umsichtig  und  gewissenhaft  verwertet,  ist  in  seiner  knappen, 
übersichtlichen  Fassung,  in  seiner  wissenschaftlichen  und  doch  gemeinverständ- 
lichen Darstellung  vorzüglich  geeignet  zur  raschen  und  sicheren  Orientierung  über 
alles  Wissenswerte  und  die  sicheren  Ergebnisse  der  Forschung  und  wird  das  Interesse 

38* 


596  G.  Sachse, 

für  dieses  Gebiet  der  Altertumskunde  wesentlich  fördern.  Sein  Inhalt  hat  viele 
Beziehungen  zu  den  Unterrichtsfächern  der  höheren  Schulen,  namentlich  zur 
Geschichte  (Kultur-  und  Kunstgeschichte,  Mythologie),  Geographie,  doch  auch 
zu  den  naturwissenschaftlich-technischen,  den  klassisch-philologischen  (Homer, 
Herodot,  Caesar,  Tacitus,  Plinius)  und  zum  Religionsunterricht  (A.  T.). 
Wilmersdorf-Berlin.  Arnold  Zehme. 


Griechische  Grammatilcen  und  Übungsbücher. 

Der  sogenannte  Extemporaleerlaß  des  Herrn  Ministers  hat  die  Gemüter  der 
Oberlehrer  sehr  erregt.  Er  hat  vielfache  Zustimmung  gefunden,  aber  auch  mancherlei 
Ablehnung  erfahren.  Die  Mahnung  in  den  Lehrplänen,  den  Extemporalien  bei  der 
Beurteilung  der  Leistungen  der  Schüler  keine  ausschlaggebende  Bedeutung  ein- 
zuräumen, kann  nicht  mehr  unbeachtet  verhallen,  denn  da  im  Schuljahr  nur  7  bis  12 
zu  beurteilende  Klassenarbeiten  angefertigt  werden  sollen,  im  Vierteljahr  2  bis  3, 
in  dem  kurzen,  von  Johannis  bis  Michaelis  reichenden  nur  eine  geschrieben  werden 
kann,  so  ist  die  Notwendigkeit  gegeben,  bei  der  Beurteilung  die  mündlichen 
Leistungen  recht  stark  heranzuziehen.  Auch  die  von  Eltern  und  Lehrern  geäußerte 
Befürchtung,  die  Nervosität  der  Schüler  und  ihrer  Eltern  könne  durch  die  Ver- 
minderung der  Zahl  der  Klassenarbeiten  nur  verstärkt  werden,  ist  nichtig,  da  die 
Bestimmung  über  das  zulässige  Maß  der  mangelhaften  und  ungenügenden  Arbeiten 
und  über  das  für  den  Fall  eines  ungünstigen  Ergebnisses  zu  beobachtende  Verfahren 
die  Gewähr  bietet,  daß  die  Schüler  so  gefördert  sein  müssen,  daß  sie  den  zu  stellenden 
Anforderungen  genügen  werden.  Dies  Ziel  kann  aber  nur  erreicht  werden,  wenn 
das  grammatische  Pensum  wohl  eingeteilt.  Zusammengehörendes  zusammen  be- 
handelt, jeder  Abschnitt  vielfach  mündlich  und  schriftlich  geübt  wird.  Durch 
häufige,  in  den  Unterklassen  im  Lateinischen  und  Französischen,  in  U  III  im 
Griechischen  sogar  tägliche  schriftliche  Übungen  in  der  Klasse  wird  dem  Schüler 
die  Angst  vor  schriftlicher  Aufzeichnung  des  zu  übersetzenden  Stoffes  allmählich 
genommen,  zumal  da  diese  Übungen  nicht  zensiert  werden;  er  wird,  sofern  die 
zu  übersetzenden  Sätze  die  einzuübenden  grammatischen  Regeln  in  verschiedenen 
Wendungen  enthalten,  eine  gewisse  Übersetzungsfertigkeit  erlangen  und,  wenn 
auch  die  Termine  für  die  zu  zensierenden  Klassenarbeiten  ihm  nicht  vorher  bekannt 
sind,  an  ihnen  die  Probe  seiner  Kenntnisse  und  Fertigkeit  abzulegen  nicht  er- 
schrecken. 

Wenn  von  mancher  Seite  die  Befürchtung  ausgesprochen  wird,  Schüler  könnten 
sich  verabreden,  die  Arbeiten  durch  absichtliche  Häufung  von  Fehlern  für  die 
Beurteilung  unverwendbar  zu  machen,  so  übersieht  man,  daß  der  Lehrer  eine  Hand- 
habe hat,  diese  Bestrebungen  unwirksam  zu  machen,  in  der  Berechtigung  und  Ver- 
pflichtung Ersatzarbeiten  schreiben  zu  lassen,  deren  Zahl  mit  Recht  unbestimmt 
gelassen  ist.  Und  sollten  sich  in  einer  Klasse  zufällig  solche  den  Erfolg  eines  gewissen- 
haften Unterrichts  hemmende  Elemente  häufen,  so  ist  der  Lehrer  ja  bei  der  Be- 
urteilung der  Leistungen  in  den  Vierteljahrszeugnissen  auf  diese  Klassenarbeiten 
allein  nicht  angewiesen,  er  benutzt  seine  Beobachtungen  im  Unterricht,  er  wird 


Griechische  Grammatiken  und   Übungsbücher.  597 

sich  dann  schon  ein  sicheres  Urteil  bilden.  So  werden  auch  widerspenstige  Schüler 
zu  gewissenhafter  Betätigung  ihrer  Kräfte  auch  bei  den  schriftlichen  Arbeiten 
gezwungen  oder  zum  Verlassen  der  Anstalt  genötigt  werden. 

Der  Überschätzung  der  Extemporalien  wird  durch  den  Erlaß  energisch  ent- 
gegengetreten. Auch  solche  Mißgriffe  können  nicht  mehr  vorkommen,  wie  sie  sich 
dann  zeigen,  wenn  Direktoren  in  zweifelhaften  Fällen,  um  sich  von  der  Versetzungs- 
reife der  betreffenden  Schüler  zu  überzeugen,  diese  zusammennehmen  und  ihnen 
Extemporalien  diktieren.  Ich  halte  ein  solches  Verfahren  für  einen  Mißgriff,  weil 
dadurch  den  schriftlichen  Leistungen  ein  Übergewicht  über  die  mündlichen  bei- 
gelegt wird  und  ängstliche  Schüler  in  eine  Aufregung  versetzt  werden,  die  ihnen 
die  Ruhe  raubt,  die  nötig  ist,  das  erworbene  Wissen  zu  zeigen.  So  kann  ich  diesen 
Rat,  der  von  einem  ehemaligen  langjährigen  Direktor  jüngeren  Direktoren  gegeben 
wird,  nicht  gutheißen.  Der  Direktor  findet  und  hat  im  Laufe  des  Schuljahres 
ungesucht  vielfache  Gelegenheit  sich  von  den  Fortschritten  der  ihm  anvertrauten 
Schülerschar  zu  vergewissern  und,  wo  es  nötig  ist,  auf  eine  Änderung  des  Lehr- 
verfahrens einzuwirken. 

Der  Erlaß  weist  auf  die  Notwendigkeit  möglichst  häufiger  mündlicher  und 
schriftlicher  Übungen  hin,  ehe  bei  dem  Schüler  die  Sicherheit  in  der  Anwendung 
des  Erlernten  vorausgesetzt  werden  darf.  Von  der  Richtigkeit  dieser  Bemerkung 
hat  sich  jeder  Lehrer  überzeugen  können.  Wie  viele  Übungen  werden  im  Hause 
von  Vätern  oder  wenn  es  ihnen  an  Zeit  oder  Befähigung  fehlt,  von  Nachhilfelehrern 
vorgenommen,  wenn  eine  Klassenarbeit  in  Aussicht  steht. 

Sind  neben  den  Klassenübungen  auch  jetzt  noch  Übungen  zu  Hause  an- 
zustellen? Gewiß,  der  Erlaß  verlangt,  daß  die  Schüler  zu  sorgfältiger  Verbesserung 
der  Fehler  in  den  Übungsarbeiten  anzuhalten  sind.  Diese  Berichtigung  wird  zu- 
nächst in  der  Schule  erfolgen,  aber  es  ist  m.  E.  erwünscht,  daß  der  Schüler  sich  die 
Sätze  oder  Formen  zu  Hause  nochmals  vornimmt  und  sich  das  Richtige  einprägt. 
Für  Schwächere  dürfte  es  sich  auch  empfehlen,  durch  Übersetzen  anderer  Vorlagen 
sich  die  erforderliche  Sicherheit  in  der  Grammatik  zu  erwerben. 

Reinhardt  und  Roemer,  Griechische  Formen-  und  Satzlehre. 
3.  Auflage  besorgt  von  Ewald  Bruhn.  Berlin  19 U.  Weidmannsche  Buchhand- 
lung.   XIV  u.   284  S.    80.     geb.  3,60  M. 

Die  dritte  Auflage  unterscheidet  sich  von  der  zweiten  darin,  daß  auch  die 
Entstehung  des  Akkusativs  der  Beziehung  erklärt  wird.  Solche  Belehrungen,  die 
ich  für  den  Vorzug  einer  Grammatik  halte,  geben  dem  Schüler  Gelegenheit,  in  den 
sprachlichen  Bildungen  nicht  etwas  Starres,  sondern  das  Ergebnis  der  Tätigkeit 
an  der  besseren  und  reicheren  Ausdrucksfähigkeit  der  Sprache  immerfort  arbeitenden 
Menschen  zu  sehen.  Daher  ist  es  für  mich  garnicht  auffällig,  daß  schon  nach  vier 
Jahren  eine  neue  Auflage  nötig  geworden  ist.  An  den  alten  Gymnasien  werden 
nach  ähnlichen  Gesichtspunkten  verfaßte  Lehrbücher  durch  solche  Grammatiken 
verdrängt,  die  nur  eine  dürre  Aufzählung  der  grammatischen  Erscheinungen  bieten 
und  sie  durch  ein,  höchstens  zwei  Beispiele  zu  erläutern  suchen.  Ich  weiß  es  aus 
bester  Quelle,  daß  vielen  die  geringste  Seitenzahl  einer  Grammatik  die  beste  Emp- 
fehlung ist. 


598  G.  Sachse,  Griechische  Grammatiken  und  Übungsbücher. 

Robertson^  Kurzgefaßte  Grammatikdes  neutestament- 
lichenGriechisch,mit  Berücksichtigung  der  Ergebnisse  der  vergleichenden 
Sprachwissenschaft  und  der  Koine-Forschung.  Deutsche  Ausgabe  von  Hermann 
Stocks.  Leipzig  1911.  J.  C.  Hinrichssche  Buchhandlung.  XVI  u.  312  S.  8". 
5  M.,  geb.  6  M. 

Nach  dem  Titel  erwartet  man  eine  kurze  Angabe  der^  Einzelheiten  zu  finden, 
in  denen  die  Sprache  des  Neuen  Testaments  von  dem  attischen  Griechisch  ab- 
weicht. In  der  Deklination,  Konjugation,  der  Casus-  und  Modussyntax,  in  der 
Tempuslehre  stimmt  das  neutestamentliche  Griechisch  mit  dem  attischen  in  manchen 
Dingen  nicht  überein.  Eine  solche  Aufzählung  ist  für  den  Studierenden  der  Theologie 
von  Wichtigkeit,  da  er  so  befähigt  wird,  den  Text  des  Neuen  Testaments  richtig 
zu  verstehen.  Diesen  Zweck  scheint  der  Verfasser  im  Auge  zu  haben.  Man  ver- 
gleiche z.  B.  die  Bemerkungen  über  die  Präposition  7vu  im  §  94. 

Aber  dem  steht  mancherlei  entgegen.  §  138  heißt  es:  „Der  sog.  Konj.  Fut. 
ist  eine  spätere  Bildung.  Im  Opt.  liegt  die  Sache  ähnlich,  nur  daß  es  dazu  ein 
Fut.  gibt,  dies  aber  nur  in  indirekter  Rede  an  Stelle  des  Ind.  Fut.  der  direkten." 
In  der  Anmerkung  sagt  der  Verfasser:  „es  fehlt  im  N.  T." 

Ganz  besonders  auffallend  aber  sind  die  allgemeinen  Bemerkungen  über  die 
Entstehung  der  Präpositionen  §  87,  über  das  prädikative  Partizip  §  234,  über  das 
Verb  §§  110—119,  über  den  Satz  §§  48—50,  das  Wesen  des  Satzes  §  140,  über  den 
Ursprung  der  Kasusformen  S.  133  u.  a.  Das  sind  Dinge,  die  derjenige,  der  sich  mit 
dem  neutestamentlichen  Griechisch  beschäftigt,  längst  weiß.  Ausführliche  Dar- 
legung der  Bedeutung  und  des  Gebrauchs  der  Kasus,  deren  Zahl  im  Sanskrit  viel 
größer  ist,  als  sie  in  der  griechischen  und  lateinischen  Schulgrammatik  angegeben 
wird,  interessieren  den  Leser  des  Neuen  Testaments  garnicht.  Daher  scheint  der 
Titel  den  Inhalt  ungenau  anzugeben.  Er  müßte  lauten:  „Gedrängte  Übersicht 
über  die  geschichtliche  Entwicklung  der  griechischen  Sprache  aus  der  urindogerma- 
nischen bis  auf  die  Gegenwart  mit  Hervorhebung  der  Eigentümlichkeiten  der 
neutestamentlichen  Sprache." 

Der  Übersetzer  hätte  auf  die  Reinhaltung  der  deutschen  Sprache  achten 
müssen.  Fremdwörter  wie  eruieren  S.  133,  der  subfinale  Gebrauch  von  Tva  S.  207, 
abruptes  Sprechen  S.  208,  der  abrupte  Gebrauch  von  2I  S.  220,  der  Dual  ist  ob- 
solet geworden  S.  40,  das  Imperfektum  des  Verbums  eines  Wunsches  ist  der  höf- 
lichste Ausdruck  für  etvv^as  Diffiziles  S.  212  waren  zu  vermeiden.  Auch  grammatische 
Fachausdrücke  wie  punktuelle  Aktion  S.  195,  die  Reduplikation  im  Griechischen 
ist  intensiv  oder  durativ  oder  kompletiv  geworden,  lassen  sich  gut  deutsch  wieder- 
geben. Durch  solche  Ausdrücke  wird  der  Glaube  an  eine  wissenschaftliche  Über- 
legenheit nicht  gestärkt.  Ausdrücke  wie  die  Bezeichnung  des  Mediums  als  eines 
Schmarotzers  S.  185  erhöhen  die  Beweiskraft  der  Behauptung  nicht. 

Preuß,  Griechische  Hausübungen  (mit  Schlüssel)  zum  Selbst- 
studium. I.  Pensum  der  Untertertia.  Leipzig  1911.  Dr.  Seele  &  Co.  IV  u. 
85  S.    8«.    2,50  M. 

Sorgfältiges  Übersetzen  der  in  dem  Buche  gebotenen  Vorlagen  gehört  zu 
den  Übungen,  die  Sicherheit  in  der  Bildung  grammatischer  Formen  verbürgen. 

Charlottenburg.  Gotthold  Sachse. 


\ 


I 


Schickhelm,  Bastian  Schmids  naturwissenschaftliche  Schülerbibliothek.       599 

Bastian  Sclimids  naturwissenschaftliche  Schülerbibliothek. 

Band  I:  Physikalisches  Experimentierbuch.  I.  Teil.  An- 
leitung zum  selbständigen  Experimentieren  für  jüngere  und  mittlere  Schüler  von 
Prof.  H.  Rebenstorff.  Mit  99  Abbildungen  im  Text.  Leipzig  und  Berlin  1911. 
B.  G.  Teubner.     230  S.     8«.    3  M. 

Das  Unternehmen,  durch  eine  naturwissenschaftliche  Schülerbibliothek  einen 
geistigen  Zusammenhang  zwischen  Unterricht  und  freiwilliger  naturwissenschaftlicher 
Beschäftigung  der  Schüler  herzustellen,  darf  eines  günstigen  Entgegenkommens 
in  weiteren  Kreisen  —  nicht  bloß  in  denen  der  Lehrer  —  sicher  sein.  Es  kann 
kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  die  Begleitworte,  die  Bastian  Schmid  seiner 
Sammlung  mit  auf  den  Weg  gibt,  zu  Recht  bestehen:  Selbsttätigkeit  und  produktive 
Arbeit  vermag  schlummernde  Kräfte  und  stille  Talente  zu  wecken  und  zu  fördern 
wie  keine  andere  Beschäftigung.  Diese  Einsicht  bricht  sich  auch  im  naturwissen- 
schaftlichen Unterricht  immer  mehr  Bahn,  immer  mehr  kommt  man  zu  der  Über- 
zeugung, daß  durch  eine  passive  Aufnahme  des  Lehrstoffes  auf  Grund  von  De- 
monstrationen —  und  seien  diese  auch  noch  so  fesselnd  —  der  Zweck  des  natur- 
wissenschaftlichen Unterrichts  nicht  erschöpft  ist,  daß  vielmehr  jener  Anreiz,  der 
in  eigener  Beobachtung  und  in  der  Tätigkeit  der  Hand  liegt,  durch  nichts  ersetzt 
werden  kann  und  deshalb  auch  im  Unterricht  oder  im  Anschluß  an  denselben 
von  der  untersten  Stufe  ab  sorgfältiger  Berücksichtigung  und  Pflege  wert  ist. 
Diesem  Gesichtspunkt  Rechnung  tragend  ist  der  Zweck  des  Unternehmens,  An- 
regung zu  aktiver  Betätigung  zu  geben,  den  Schüler  zu  verständiger  Beobachtung 
und  planmäßigem  Versuch  anzuregen  und  anzuleiten. 

Das  vorliegende  erste  Bändchen  der  Sammlung  wendet  sich  an  solche  Schüler, 
die  der  Physik  besonderes  Interesse  entgegenbringen  und  der  Neigung  der  Jugend 
folgend  sich  in  leichten  Versuchen  betätigen  wollen.  Es  folgt  >  in  der  Anordnung 
des  Stoffes  den  gebräuchlichen  Lehrbüchern,  ohne  jedoch  diese  irgendwie  ersetzen 
zu  wollen,  wie  überhaupt  der  Gebrauch  des  Buches  nicht  i  m  ,  sondern  neben 
dem  Unterricht  gedacht  ist.  In  freier,  zusammenhängender  Darstellung  wird  eine 
Reihe  von  Versuchen  beschrieben,  wie  sie  von  einem  interessierten  Schüler  ohne 
erhebliche  Kosten  und  ohne  übermäßige  Anforderungen  an  die  Übung  und  Ge- 
schicklichkeit ausgeführt  werden  können.  Charakteristisch  ist  die  an  jeden  Ver- 
such sich  anschließende  praktische  Verwertung  der  Ergebnisse.  Nicht  alle  Ver- 
suche und  Anordnungen  dürften  allgemein  bekannt  sein,  manche  werden  sich 
auch  zu  Demonstrationen  im  Unterricht  eignen,  so  daß  das  Buch  auch  für  den  Lehrer 
recht  lesenswert  ist.  Die  Anordnung  des  Stoffes  bringt  es  mit  sich,  daß  gleich  auf 
den  ersten  Seiten  physikalische  Begriffe  und  Gedankengänge  vorgeführt  werden, 
die  für  den  Anfänger  recht  hoch  liegen,  so  daß  ein  Schwinden  des  Interesses  nicht 
ausgeschlossen  sein  dürfte.  Der  Ausgang  von  der  Mechanik  der  festen  Körper 
entspricht  zwar  der  systematischen  Darstellung  und  dem  gewöhnlichen  Gang  des 
Unterrichts,  hat  aber  weder  das  leichtere  Verständnis  noch  das  allgemeinere  Interesse 
des  Schülers  für  sich.  Methodisch  viel  glücklicher  ist  der  Ausgang  von  einfachen 
Wärmeerscheinungen,  an  welche  sich  die  Mechanik  der  luftförmigen  und 
flüssigen  Körper  zwanglos  angliedern  läßt.    Die  Mechanik  der  festen  Körper  bilde 


600       Schickhelm,  Bastian  Schmids  naturwissenschaftliche  Schülerbibliothek. 

den  Beschluß.  Dieser  Weg  sollte  auch  im  Unterricht  eingeschlagen  werden.  Es 
läßt  sich  bei  einer  derartigen  Anordnung  des  Stoffes  die  Unterweisung  in  vorzüg- 
licher Weise  unter  den  Gesichtspunkt  der  Problemstellung  bringen,  so  daß  jede 
Erkenntnis  den  Keim  und  den  Hinweis  auf  neue  Gedankengänge  und  neue  Versuche 
in  sich  trägt.  Jedenfalls  sollten  für  die  Anordnung  des  Stoffes  im  Unterricht 
mehr  die  Forderungen  der  Methode  als  die  des  Systems  maßgebend  sein,  auch 
dann,  wenn  das  eingeführte  Lehrbuch  nach  systematischen  Grundsätzen  ein- 
gerichtet ist. 

Das  Buch,  dessen  zweiter  Teil  in  Aussicht  gestellt  ist,  hat  manche  Vorzüge 
vor  andern,  die  das  Schwergewicht  mehr  auf  die  praktische  Unterweisung  legen; 
wir  wünschen  ihm  sowie  dem  ganzen  Unternehmen  Glück  auf  den  Weg, 

Band  3:An  derSee.  Geologisch-geographische  Betrachtungen  für  mittlere 
und  reife  Schüler  von  Prof.  Dr.  P.  Dahms  mit  61  Abbildungen  im  Text.  Leipzig 
und  Berlin  1911.    B.  G.  Teubner.    210  S.    8^.    3  M. 

Die  Schrift,  die  in  kleinem  Umfang  ein  reiches  und  vielseitiges  Wissen  um- 
schließt, gibt  Zeugnis  von  scharfer  und  gleichzeitig  liebevoller  Betrachtung  der 
Natur.  Es  will  das  Verständnis  für  den  Strand  und  seine  Wunder  wecken  und  er- 
schließen und  zugleich  einen  Einblick  gewähren  in  den  eigenartigen  Charakter 
der  Küstenbewohner.  So  wird  es,  da  es  vielfach  auf  die  eigene  Anschauung  zu- 
rückgreift, vor  allem  denen  von  Nutzen  sein,  die  selbst  am  Strand  leben  oder  doch 
Gelegenheit  haben,  den  Strand  zu  besuchen.  In  der  Auswahl  des  Stoffes  geht  es 
vielfach  über  das,  was  in  der  Schule  gebracht  werden  kann,  hinaus.  Aber  gerade 
darin,  daß  auseinander  liegende  Stoffe  unter  einheitliche  Gesichtspunkte  gebracht 
werden,  liegt  der  eigenartige  Reiz  des  frisch  und  warm  geschriebenen  Buches,  das 
nicht  bloß  Schülern,  sondern  überhaupt  allen  Freunden  der  See  eine  Quelle  der 
Belehrung  und  Unterhaltung  werden  dürfte. 

Band  4:  Große  Physiker.  Bilder  aus  der  Geschichte  der  Astronomie 
und  Physik  von  Dir.  Prof.  Dr.  Hans  Keferstein.  Für  reife  Schüler.  Mit  12  Bild- 
nissen auf  Tafeln.    Leipzig  und  Berlin  1911.     B.  G.  Teubner.    233  S.    8«.    3  M. 

Die  Schilderung  des  Werdeganges  einer  Auswahl  hervorragender  Physiker 
und  Astronomen  soll  dem  jugendlichen  Leser  einen  Blick  in  die  Geisteswerkstatt 
des  Genies  verschaffen  und  sein  Interesse  durch  Erzeugung  einer  warmen  persön- 
lichen Anteilnahme  an  der  wissenschaftlichen  Forschung  ihrer  bedeutendsten 
Förderer  zu  tätiger  Liebe  steigern.  Die  Auswahl  ist  gut  getroffen,  die  Einzeldar- 
stellungen leisten  das,  was  im  Vorwort  versprochen  wird,  indem  nicht  eine  trockne 
Darstellung  der  Tatsachen  geboten  wird,  sondern  überall  bei  der  Entwicklung 
philosophische  Gesichtspunkte  in  den  Vordergrund  gerückt  werden.  Als  Unter- 
haltungslektüre wird  freilich  das  Buch  dem  Durchschnittsprimaner  unserer  höheren 
Lehranstalten  nicht  dienen  können;  das  Verständnis  der  einzelnen  Abhandlungen 
kann  nur  auf  Grund  guter  physikalischer  Kenntnisse  erzielt  werden,  und  so  wird 
das  Buch  für  besonders  interessierte  Schüler  zur  Vertiefung  und  Erweiterung 
des  im  Unterricht  Gebotenen  beitragen  sowie  etwa  als  Unterlage  für  freie  Vorträge 
dieser  Schüler  gute  Dienste  leisten. 

Anzuerkennen  ist,  daß  in  den  Einzeldarstellungen  auch  die  Leistungen  anderer 


Hock,  Sammelbericht  über  Biologie.  601 

großer  Forscher  so  die  eines  Huygens,  Laplace,  Kant,  Maxwell,  Herz  und  anderer 
gewürdigt  und  ins  rechte  Licht  gestellt  sind.  Vom  Verleger  sind  dem  Buch  12  gute 
Bildnisse  von  Forschern  beigegeben. 

Münster  i.  W.  S  c  h  i  c  k  h  e  1  m. 


Sammelbericht  über  Biologie. 

Ein  ganz  neues  Schullehrbuch  liegt  vor  in: 

Heimbach,  H.  und  Leißner,  A.,  LehrbuchderBotanikfürhöhere 
Schulen.  Bielefeld  und  Leipzig  1910.  Velhagen  &  Klasing.  8«.  Bd.  I: 
VI I  u.  183  S.  Mit  21 1  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen  und  4  Tafeln  in  Farben- 
druck, geh.  2  M.  Bd.  II:  V  u.  252  S.  Mit  293  in  den  Text  gedruckten  Ab- 
bildungen und  12  Tafeln  in  Farbendruck,    geb.  2,80  M. 

Der  erste  Band  dieses  Werkes  erinnert  seiner  Anlage  nach  etwas  an  den  im 
IX.  Jahrgang  dieser  Monatschrift  S.  637  f.  empfohlenen  Leitfaden  von  H  e  e  r  i  n  g 
insofern,  als  die  Pflanzen  weder  nach  systematischen  noch  nach  methodischen, 
sondern  nach  ökologischen  Verhältnissen  geordnet  sind.  Doch  nicht  der  Wohnort 
allein  ist  hier  maßgebend  wie  bei  H  e  e  r  i  n  g ,  sondern  vor  allem  die  Blütezeit. 
Es  werden  daher  ,,vier  Gänge  in  Garten,  Wiese,  Wald  und  Feld'*,  und  zwar  je 
einer  im  ,, Vorfrühling",  „Vollfrühling",  ,, Hochsommer"  und  ,, Herbst"  in  zu- 
sammenhängender Darstellung  geschildert  zur  Einführung  in  die  Pflanzenkunde.  In 
diese  Schilderungen  sind  die  Einzelbeschreibungen  von  Pflanzenarten  aufgenommen, 
doch  so,  daß  man  einige  davon  je  nach  Bedürfnis  auswählen  kann.  Eine  solche 
Auswahl  wird  im  Anfang  sehr  nötig,  denn  auf  die  Feigwurz  als  erste  Pflanze  folgen 
unmittelbar  Huflattich,  Weide  und  Erle,  also  Pflanzen,  deren  Behandlung  auf  der 
Unterstufe  schwer  ist.  Außer  diesen  Gängen  enthält  der  erste  Band  noch  eine 
„Anfängerflora"  und  Abschnitte  aus  der ,, Morphologie".  Man  sieht,  über  die  neuer- 
dings stark  betonte  Ökologie  werden  die  alten  Unterrichtsgegenstände  nicht  ver- 
nachlässigt. Der  2.  Band  umfaßt  Anatomie,  Physiologie,  Biologie,  Wirtschafts- 
botanik und  Systematik.  In  die  Biologie  sind  die  Pflanzengeographie  und  Pflanzen- 
psychologie hinein  verarbeitet;  die  Pflanzenvereine  treten  auch  da  stark  hervor, 
während  die  Systematik  die  Einzelbeschreibungeu  auch  nach  der  Seite  der  wirt- 
schaftlichen Botanik  ergänzt,  wobei  Familien  genannt  werden,  die  zum  Teil  viel- 
leicht kaum  in  ein  Schulbuch  gehören  wie  Burseraceen  und  Meliaceen  (verdruckt 
in  Miliaceen);  es  würde  wohl  genügt  haben,  solche  Nutzpflanzen  hinsichtlich  ihrer 
Stellung  in  einer  „Ordnung"  (hier  E  n  g  1  e  r  entsprechend  „Reihe"  genannt)  ein- 
zuordnen. Doch  das  sind  Kleinigkeiten;  im  ganzen  ist  das  Buch  wohl  den  besten 
Lehrbüchern  auf  dem  Gebiete  unbedingt  einzureihen. 

Ein  neues  Lehrbuch  liegt  auch  vor  in: 

Schmeil,  0.,  Einführung  in  die  Tier-  und  Menschenkunde. 
Ein  Hilfsbuch  für  den  naturgeschichtlichen  Unterricht  an  höheren  Lehranstalten 
und  Mittelschulen.  Leipzig  1911.  Quelle  &  Meyer.  X  u.  260  S.  8«.  Mit  16  far- 
bigen Tafeln  und  zahlreichen  Textbildern.     2,50  M. 

Dieses  Buch  ist  aber  nichts  ganz  Neues,  sondern  nur  ein  Zwischenglied  zwischen 


602  Hock, 

den  „Leitfäden"  und  „Grundrissen"  des  Verfassers.  Es  ist  also  eine  Kürzung  des 
Leitfadens  des  Verfassers,  bei  dem  aber  trotzdem  der  Geist  der  gleiche  geblieben 
ist.  Ökologie  herrscht  vor,  Morphologie  und  Systematik  werden  nicht  vernach- 
lässigt, wie  man  es  von  den  anderen  Büchern  kennt,  die  sich  viele  Freunde  er- 
warben. Mehr  als  in  früheren  Büchern  des  Verfassers  werden  Paläontologie  und 
Tiergeographie  berücksichtigt;  doch  hätte  im  letzten  Abschnitt  das  Gebiet  der 
nördlich-gemäßigten  Zone  vielleicht  besser  sich  zerlegen  lassen,  um  den  Unterschied 
wenigstens  von  Süd-  und  Mitteleuropa,  vielleicht  auch  einige  Eigenheiten  Ost- 
asiens hervorzuheben.  Der  Verweis  der  wissenschaftlichen  Namen  ins  Register 
ist  mit  Freuden  zu  begrüßen,  da  diese  dann  aus  dem  Lehrstoffe  verschwinden, 
doch  wäre  in  einzelnen  Fällen  wohl  eine  genauere  Bezeichnung  angebracht,  z.  B. 
„weißer  Storch"  statt  „Storch"  allein,  weil  Schüler  dadurch  aufmerksam  darauf 
werden,  daß  es  auch  andere  Störche  gibt  als  ihren  alten  Bekannten. 

Zwei  Teile  eines  in  den  ersten  Teilen  des  entsprechenden  tierkundlichen  Werkes 
schon  in  dieser  Monatschrift  IX,  1910,  S.  446  angekündigten  Buchs  kennzeichnen: 

Smalian,  K.,  Leitfaden  der  Pflanzenkunde  für  höhere 
Lehranstalten.  4.  Teil:  Lehrstoff  der  Ulli.  IV  u.  225  S.  8».  Mit 
45  Textabbildungen  und  14  Farbentafeln,  geh.  2,25  M.  5.  Teil:  Lehrstoff  der 
Olli.  IV.  u.  326  S.  Mit  86  Textabbildungen  und  10  Farbentafeln,  geb.  2  M. 
Leipzig  und  Wien  1912.     Freytag  &  Tempsky. 

Es  ist  das  nur  die  Umwandlung  der  vom  Verfasser  früher  in  zusammenhängen- 
der Darstellung  bearbeiteten  und  auch  in  dieser  Monatschrift  VI,  1907,  S.  460  f., 
empfohlenen  Werke  über  Pflanzenkunde.  Daß  eine  Zerlegung  des  Stoffes  nach 
Klassenstufen  Vorteile  und  Nachteile  mit  sich  bringt,  ist  ja  bekannt  genug.  Jeder 
Lehrer  muß  sich  entscheiden,  welche  Ausgabe  er  bevorzugt. 

Neue  Auflagen  liegen  von  den  folgenden  Büchern  vor: 

Bokorny,  Th.,  Lehrbuch  der  Botanik  für  Realschulen  und 
Gymnasien.  Im  Hinblick  auf  ministerielle  Vorschriften  bearbeitet.  3.  ver- 
besserte Auflage.     Leipzig  1910.    W.  Engelmann.    VI  u.  272  S.    8«.    geb.  3  M. 

Da  die  große,  für  Oberrealschulen  bestimmte  Ausgabe  dieses  Werkes  erst  in 
dieser  Monatschrift  VIII,  1909,  S.  384 f.,  empfohlen  wurde,  mag  ein  kurzer  Hin- 
weis auf  diese  neue  Auflage  der  kleinen  Ausgabe  hier  genügen. 

Kraß,  M.  und  Landois,  H.,  Der  Mensch  und  das  Tierreich  in 
Wort  und  Bild  für  den  Schulunterricht  in  der  Natur- 
geschichte dargestellt.  14.  unter  besonderer  Berücksichtigung  der 
Biologie  verbesserte  Auflage.  Freiburg  i.  B.  1911.  Herdersche  Verlagsbuchhand- 
lung. XVI  u.  277  S.  8«.  Mit  3  Farbentafeln  und  233  eingedruckten  Abbildungen. 
3  M. 

Die  wesentlichste  Verbesserung  der  nach  dem  Tode  des  an  zweiter  Stelle  ge- 
nannten Verfassers  erschienenen  Auflage  ist  die  Einführung  neuer  Abbildungen, 
darunter  2  bunte  Tafeln  („Vogeleier"  und  ,, Schmetterlinge").  Wie  bisher  kommt 
in  stärkerer  Betonung  der  Ökologie  das  altbekannte  Buch  den  Forderungen  der 
Neuzeit  nach. 

Kraepelin,  K.,  Leitfaden  für  den  zoologischen  Unterricht 
in  den  unter  en   Klassen  der  höheren   Schulen.     6.  verbesserte 


Sammelbericht  über  Biologie.  603 

Auflage.  Vollständige  Ausgabe  in  einem  Bande.  Leipzig  und  Berlin  1911.  B.  G. 
Teubner.  V  u.  355  S.  8».  Mit  536  Abbild,  im  Text  und  9  farbigen  Tafeln,  geb. 
4,80  M. 

Da  die  zunächst  vorangehende  Auflage  des  Werkes  dem  Berichterstatter  nicht 
vorliegt,  kann  er  mit  dieser  nicht  vergleichen.  Nach  der  Einleitung  zu  urteilen,  ist 
namentlich  auf  Richtigstellung  der  wissenschaftlichen  Bezeichnungen  im  Text 
Wert  gelegt,  eine  Frage,  die  für  die  Schule  wenig  bedeutsam  ist.  Gegenüber 
der  3.  Auflage  ist  aber  der  Text  sowohl  als  namentlich  die  Abbildungszahl  sehr 
vermehrt.  Vor  allem  erscheinen  im  Gegensatz  zu  jener  Auflage  auch  bunte  Ab- 
bildungen, die  für  die  dauernde  Einprägung  bei  Schülern  doch  Wert  haben,  nur 
nicht  dem  Unterricht  von  vornherein  zugrunde  gelegt  werden  dürfen.  Vor  allem 
ist  der  Text  nach  dem  abgedruckten  Vorwort  der  5.  Auflage  aber  schon  bei  dieser, 
ein  leichter  lesbarer  geworden,  da  nicht  mehr  ,, Stichworte"  allein  gegeben  werden. 
Das  Buch  ist  nur  für  untere  und  mittlere  Klassen  bestimmt,  da  Verfasser  ja  ein 
besonderes  Lehrbuch  der  Biologie  für  die  Oberstufe  bearbeitet  hat  (vgl.  diese  Monat- 
schrift VI,  1907,  S.  632  f.  und  IX,  1910,  S.  449  f.),  doch  ist  dieses  noch  in  zwei 
Teilen  käuflich,  von  denen  je  einer  für  die  unteren  und  für  die  mittleren  Klassen 
der  Realanstalten  dann  in  Betracht  kommen  würde;  in  dem  Falle  würde  das  Buch 
nicht  veralten,  bevor  der  Schüler  die  Mittelstufe  erreichte. 

Von  Hilfsmitteln  für  den  Unterricht  liegen  mehrere  in  weiteren  Fortsetzungen 
vor: 

Meerwarth,  H.,  Lebensbilder  aus  der  Tierwelt.  4.  Bd.  2.  Reihe, 
Vögel  I.  Leipzig  1912.  R.  Voigtländer.  VIII  u.  596  S.  8«.  6.  Bd.  Vögel  III. 
1  Herausgegeben  von  K.  Soffel.  Ebenda.  IX  u.  725  S.  8«.  Mit  712  photo- 
graphischen Aufnahmen.     Jeder  Band  12  M. 

Die  Bedeutung  dieses  Buches  für  den  tierkundlichen  Unterricht  wurde  bei 
Besprechung  des  ersten  Teiles  (Monatschrift  IX,  1910,  S.  286  ff.)  dargelegt,  während 
auf  zwei  weitere  Teile  später  (ebenda  X,  1911,  S.  535  f.)  hingewiesen  wurde.  Nun 
liegt  die  Bearbeitung  der  Vögel  vollständig  vor.  Da  die  Einzelbearbeitungen 
der  Arten  oder  Gruppen  je  nach  Fertigstellung  bunt  durcheinander  erschienen, 
ist  im  letzten  Bande  dieser  Klasse  ein  ausführliches  ,, systematisches  Verzeichnis 
der  in  den  drei  Bänden  behandelten  europäischen  Vögel"  gegeben,  das  für  den  Lehrer 
nicht  nur  durch  die  Erleichterung  der  Auffindbarkeit,  sondern  auch  noch  durch 
Ergänzung  der  Abbildungen  Wert  hat  und  diesem  die  etwaige  Bestimmung  von 
Arten  durch  Diagnosen  erleichtert,  während  sonst  nur  lebensvolle  Schilderungen 
geboten  werden.  Das  Auffinden  ermöglicht  dann  vor  allem  ein  Gesamtregister 
für  alle  3  Teile.  Der  Hauptwert  des  Werkes  beruht  aber  auf  den  schönen  Ab- 
bildungen, deren  Zahl  so  groß  ist,  daß  man  den  billigen  Preis  kaum  begreift. 

Willkomm- Köhne,  Bilder-Atlas  des  Pflanzenreichs.  5.,  voll- 
ständig umgearbeitete  Auflage.  Eßling  und  München  1912.  J.  F.  Schreiber.  Wien. 
R.Mohr.  Lieferung  2—10.  Vollständig  in  25  Lieferungen  ä  0,50  M.  mit  526  Pflanzen- 
bildern auf  124  Farbendrucktafeln,  1  Schwarzdrucktafel  und  205  S.  Text  mit 
100  Abbildungen.     Vollstänidg  geb.  14  M. 

Schon  die  1.  Lieferung  ließ  erkennen,  daß  dieses  Werk  nicht  nur  seine  frühere 
Bedeutung  erhielt,  sondern  wesentlich  verbessert  war  (vgl.  Monatschrift  X,  1911, 


604  Hock, 

S.  534  f.).  Das  zeigen  namentlich  hinsichtlich  der  wirklich  prächtigen  Abbildungen 
auch  die  heute  vorliegenden  Lieferungen.  Der  Text  erscheint  leider  bruchstück- 
weise; aber  auch  die  heute  fertig  vorliegenden  Teile  lassen  erkennen,  daß  der  neue 
Bearbeiter  es  versteht,  das  aus  der  Fülle  des  Stoffes  zur  eingehenden  Behandlung 
auszuwählen,  was  am  wichtigsten  ist.  Dabei  beschränkt  er  sich  natürlich  nicht  auf 
die  heimischen  Vertreter,  sondern  erwähnt  oder  beschreibt  auch  solche  Gewächse 
anderer  Länder,  die  als  Nutz-  oder  Zierpflanzen  dem  Namen  nach  bekannt  sind 
oder  aus  irgendeinem  anderen  Grunde  allgemeine  Beachtung  verdienen.  Schon 
jetzt  kann  man  sehen,  daß  das  Buch  Schülern  zur  Weiterbildung  durchaus  zu 
empfehlen  ist. 

Berges  Kleines  Schmetterlingsbuchfür  Knaben  und  An- 
fänger. In  der  Bearbeitung  von  Prof.  Dr.  H.  Nebel.  Stuttgart  1912. 
E.  Schweizerb art.  VIII  u.  208  S.  8°.  Mit  344  Abbildungen  auf  24  Farbentafeln 
und  97  Abbildungen  im  Text.    geb.  5,40  M. 

Auch  dieses  Buch  ist  gleich  dem  vorigen  ein  den  meisten  Lehrern  der  Natur- 
wissenschaften sicher  bekanntes  Werk  in  neuer  Form,  in  diesem  Falle  in  einer 
kleinen  Ausgabe,  die  für  Kinder  bestimmt  und  auch  durchaus  empfehlenswert  ist, 
falls  diese  ihre  Sammlungen  auch  auf  Tiere  ausdehnen.  Selbstverständlich  kann 
diese  Ausgabe  nicht  alle  deutschen  Schmetterlingsarten  umfassen,  doch  sind  die 
häufigsten  oder  sich  durch  Schädlichkeit  auszeichnenden  Arten  ausgewählt  und 
die  314  so  ausgesonderten  Arten  nicht  nur  beschrieben,  sondern  sämtlich  farbig 
oder  schwarz  abgebildet.  Die  Einleitung  enthält  die  wichtigsten  allgemeinen  Mit- 
teilungen, wobei  auf  die  Ökologie  gebührende  Rücksicht  genommen  ist.  Daß  auch 
Fang  und  Aufzucht  der  Schmetterlinge  besprochen  wird,  ist  bei  dem  Zwecke  des 
Buches  selbstverständlich.  Wenn  man  als  Lehrer  auch  vielleicht  kaum  zur  Samm- 
lung dieser  wie  anderer  Tiere  auffordern  wird,  kann  man  doch  Knaben,  die  dazu 
Neigung  zeigen,  das  Buch  empfehlen. 

Als  Fortsetzung  wiederum  zu  betrachten  ist: 

Böhmig,  L.,  DiewirbellosenTiere.  2.  Band:  Krebse,  Spinnentiere, 
Tausendfüßer,  Weichtiere,  Moostierchen,  Armfüßer,  Stachelhäuter  und  Mantel- 
tiere.    Leipzig  1911.     Göschen.     169  S.     8°.     Mit  97  Figuren.     0,80  M. 

Es  ist  eine  Ergänzung  zu  einem  (Monatschrift  IX,  1910,  S.  448  f.)  angekündigten 
Werke,  das  aber  wieder  gewissermaßen  auch  nur  ein  Teil  eines  größeren  schon 
(ebenda  VIII,  S.  389)  besprochenen  Gesamtwerkes  „das  Tierreich"  ist.  Es  ent- 
spricht ganz  den  anderen  Bändchen  der  „Sammlung  Göschen",  kann  daher  dem 
Lehrer  eine  billige  Ergänzung  seiner  Handbücher  liefern.  Auffallen  muß  im  Titel, 
daß  die  Insekten  fehlen;  doch  erklärt  sich  das,  weil  diesen  ein  besonderer  Band 
gewidmet  sein  soll.  Reife  Schüler  können  es  natürlich  auch  benutzen;  auf  der 
Stufe  aber,  auf  welcher  diese  Tiergruppen  in  der  Schule  meist  behandelt  werden, 
bietet  es  den  Schülern  zu  viel. 

Weit  mehr  für  Schüler  berechnet  ist: 

Graebner,  P.,  Vegetationsschilderungen.  Eine  Einführung  in 
die  Lebensverhältnisse   der  Pflanzenvereine,    namentlich  in  die  morphologischen 


Sammelbericht  über  Biologie.  605 

und  blütenbiologischen  Anpassungen.  Für  mittlere  und  reife  Schüler.  Leipzig 
und  Berlin  1912.  B.  G.  Teubner.  184  S.  8".  Mit  40  Abbildungen,  geb.  3  M. 
Das  Buch  bildet  den  12.  Band  einer  naturwissenschaftlichen  Schülerbibliothek, 
auf  die  auch  an  anderer  Stelle  in  dieser  „Monatschrift"  hingewiesen  werden  wird.  Sie 
hat  als  Herausgeber  Dr.  BastianSchmid,  einen  Mann,  der  in  unseren  Fach- 
kreisen sich  einen  Namen  erworben  hat,  wie  wenig  andere  Fachgenossen.  Auch 
bei  der  Wahl  des  Verfassers  dieses  Buches  hat  er  wieder  sein  Geschick  bewiesen, 
denn  dieser  gehört  zu  den  besten  Kennern  der  Pflanzenwelt  unseres  Landes.  Er 
versteht  es  aber  auch,  die  Jugend  einzuführen  in  die  Bewohner  von  Wald,  sonnigen 
Hügeln,  Äckern  und  Wegrändern,  Gewässern  u.  Ufern,  sowie  Wiesen  und  Mooren 
und  dabei  sie  bekannt  zu  machen  mit  den  wichtigsten  Erscheinungen  über  Bau 
und  Leben  der  Pflanzen;  es  wird  so  viel  darin  geboten  und  in  so  angenehmer  Dar- 
stellung, daß  auch  wir  Lehrer  das  Buch  mit  Vorteil  benutzen  können,  namentlich 
wenn  wir  Gelegenheit  haben,  im  Freien  die  Schüler  ins  Verständnis  der  Pflanzen- 
vereine einzuführen.  Das  Buch  dürfte  aber  vor  allem  in  keiner  Schülerbibliothek 
fehlen,  da  es  auch  den  Schüler  ohne  Lehrer  fördern  kann. 

Für  gleichen  Zweck  empfehlenswert  ist: 

Sellheim,  H.,  Tiere  des  Waldes.  Leipzig  1911.  Quelle  &  Meyer. 
X  u.  182  S.     8».     Mit  zahlreichen  Abbildungen  im  Text  und  2  Tafeln.  L80  M. 

Auch  dieses  gehört  einer  „Naturwissenschaftlichen  Bibliothek"  an;  sie  wird 
von  K.  H  ö  1 1  e  r  und  G.  U  1  m  e  r  herausgegeben.  Wie  im  vorigen  Buch  ins 
Pflanzenleben  führen  hier  lebensvolle  Schilderungen  ins  Tierleben  hinein;  an  Voll- 
ständigkeit ist  wie  bei  vorigem  auch  bei  diesem  Buch  nicht  zu  denken.  Schöne 
Abbildungen  ergänzen  hier  wie  da  den  Text,  hier  sogar  2  Tafeln.  Da  der  Verfasser 
ein  Forstmeister  ist,  muß  er  vertraut  mit  seinem  Gegenstand  sein. 

Unmittelbaren  Nutzen  hat  aber  das  Werk,  mit  dem  wir  den  diesmaligen  Be- 
richt beschließen  wollen,  weil  es  das  für  den  Schulunterricht  wichtigste  von  allen  ist: 

Potonie,  H.  und  Gothan,  H.,  Vegetationsbilder  der  Jetzt-  und 
Vorzeit.  Tafel  IV  u.  V.  Eßlingen  u.  München  1911.  J.  F.  Schreiber. 
Preis  der  Tafel  4,50  M.,  Text  zu  beiden  0,20  M. 

Die  ersten  3  Tafeln  der  Sa;nmlung  wurden  in  dieser  Monatschrift  (VIII,  1909, 
S.  387)  besprochen.  Von  den  heute  vorliegenden  behandelt  die  erste  die  Ruderal- 
(und  Mauer-)  Flora,  also  die  Pflanzenwelt  der  Orte,  die  durch  Anhäufung  von  Stick- 
stoff bestimmte  Pf  lanzen  anlockt,  solche,  die  vielfach  aus  Steppengebieten  stammen, 
zum  Teil  auch  auf  Äckern  oder  an  anderen  durch  tierische  Abfälle  überreich  mit 
Nährstoffen  versehenen  Örtlichkeiten  erscheinen.  Das  Bild  zeigt  die  wichtigsten 
Vertreter  solcher  Bestände,  z.  B.  neben  Nesseln-  und  Gänsefußarten,  Stechapfel 
und  Bilsenkraut  sowie  Spitzkletten,  Pflanzen,  die  man  nicht  überall  in  Natur 
den  Schülern  zeigen  kann  und  die  doch  bezeichnend  genug  sind,  um  den  Schülern 
vorgeführt  zu  werden.  Noch  wichtiger  ist  Tafel  V.  Sie  stellt  ähnlich  wie  Tafel  III 
ein  Bild  aus  der  Vorzeit  dar,  in  diesem  Fall  aus  der  Rhät-Lias-Periode,  also  aus  dem 
Mittelalter  der  Erdbildungsgeschichte.  Noch  immer  herrschen  Gefäßsporer  und 
Nacktsanier  vor  wie  auf  dem  Bilde  aus  der  Steinkohlenzeit,  aber  sie  erinnern 
doch  mehr  an  Pflanzen  der  heutigen  Tropenwelt.    Das  Bild  ist  für  Geologie  und 


606  A.  Huther,  Über  das  Problem  usw.,  angez.  von  F.  Schmitz. 

Botanik  gleich  wichtig,  die  Ausführung  gleich  der  der  vorhergehenden  Tafeln 
vorzüglich.  Gerade  solche  Bilder  wie  das  letzte  sind  noch  sehr  selten,  doch  auch 
noch  von  lebenden  Beständen  der  heimischen  Pflanzenwelt  können  wir  weitere 
brauchen.  Wir  fordern  die  Fachgenossen  dringend  auf,  durch  Ankauf  für  ihre  Schul- 
sammlungen das  Unternehmen  zu  unterstützen  und  so  zu  weiteren  derartigen 
Tafeln  zu  locken. 

Perleberg.  F.    H  ö  c  k. 

b)  Einzelbesprechungen: 

Huther,  A.,  Über  das  Problem  einer  psychologischen  und 
pädagogischen  Theorie  der  intellektuellen  Begabung. 
Aus:  Sammlung  von  Abhandlungen  zur  psychologischen  Pädagogik,  heraus- 
gegeben von  Meumann.  Band  II,  Heft  4.  Leipzig  1910.  Verlag  von  Engel- 
mann. 41  S.  8«.  1  M. 
Der  Verfasser,  der  in  einer  früheren  anziehenden  Schrift  die  psychologische 
Grundlage  des  Unterrichts  untersucht  hat,  befaßt  sich  in  der  oben  genannten  Ab- 
handlung mit  der  Theorie  der  Begabung.  Nach  ihm  ist  eine  allgemein  befriedigende 
Theorie  der  intellektuellen  Begabung  bisher  noch  nicht  mit  Erfolg  versucht  worden 
und  zwar  wahrscheinlich  deshalb,  weil  das  Problem  selbst  unrichtig  gestellt  zu 
werden  pflege.  Nach  einem  kurzen  geschichtlichen  Überblick  über  die  hergebrachten 
Auffassungen  von  Begabung,  Anlagen  und  angeborenen  Talenten  und  einer  ge- 
drängten Darstellung  und  Kritik  der  Anschauungen  Wundts  auf  diesem  Gebiet 
bestimmt  der  Verfasser  den  Begriff  der  Begabung  im  aktuellen  Sinne,  nämlich 
dem  einer  Ausbildungs-  oder  Entwicklungsmöglichkeit.  Um  nicht  in  den  Fehler 
der  älteren  Vermögenstheorie  zu  verfallen,  verwirft  er  durchaus  den  Begriff  einer 
angeborenen  spezifischen  Talentsanlage,  die  nur  geübt  zu  werden  brauche,  um 
,,sich  die  Fertigkeit  anzueignen,  die  durch  ihre  angeborene  Beschaffenheit  be- 
günstigt wird*'.  Von  diesem  Begriff  der  Anlage  trennt  er  scharf  den  der  „Funktion", 
die  einen  formalen  Faktor  des  Bewußtseins  darstellt  und  ,,nur  in  Verbindung 
mit  einem  konkreten  Inhalt  aktuelle  Bedeutung  und  damit  zugleich  erst  qualitative 
Bestimmtheit  erhält**.  Den  Begriff  der  Begabung  im  aktuellen  Sinne  untersucht 
der  Verfasser  dann  besonders  für  das  Lehrfach  der  Mathematik.  Er  sucht  die 
subjektiven  Faktoren  auf,  welche  die  mathematische  Begabungsart  ausmachen, 
und  stellt  im  Anschluß  daran  die  qualitativen  Begabungstypen  für  mathematische 
Betätigung,  namentlich  auf  dem  Gebiet  der  Geometrie,  fest:  1.  den  anschaulichen 
Typus  bei  Vorwiegen  der  anschaulichen  Phantasie;  2.  den  kombinatorischen  bei 
Vorwiegen  der  kombinierenden  Phantasie;  3.  die  verschiedenen  intellektuellen 
Typen,  die  sich  aus  dem  sogenannten  mathematischen  Verstände,  dem  induktiven 
wie  deduktiven,  herleiten,  und  zwar  in  ihrer  produktiven  wie  reproduktiven  Form. 
Interessante  Streiflichter  fallen  bei  dieser  Darlegung  auch  auf  die  Willensvorgängc, 
die  für  die  Tätigkeit  des  Intellekts  und  die  intellektuelle  Begabung  von  Bedeutung 
sind  und  wirksam  werden,  und  die  Möglichkeit  und  Notwendigkeit  der  Schulung 
des  Willens  als  Faktors""der  intellektuellen^Begabung.  Auch  über  das  Wesen  des 
logischen  Gefühls  sowie  das  Problem  einer  formalen  Schulung  dieses  Gefühls  handelt 


K.  Levinstein,  Die  Erziehungslehre  Ernst  Moritz  Arndts,  angez.  von  Schröer.     607 

der  Verfasser  in  diesem  Zusammenhang  in  höchst  anziehender  Weise.  Das  Er- 
gebnis der  Abhandlung  ist,  daß  es,  wenn  man  die  für  die  mathematische  Bildung 
bedeutsamen  rein  formalen  Faktoren  außer  acht  läßt,  eine  angeborene  Anlage  für 
die  Mathematik  nicht  gibt.  Zum  Schluß  untersucht  der  Verfasser  noch  kurz  die 
Begabung  für  den  deutschen  Aufsatz,  wobei  er  manch  trefflichen  Wink  für  den 
Lehrer  des  Deutschen  gibt.  —  Die  Abhandlung  Huthers  verdient  ernstlich  die  Auf- 
merksamkeit der  Pädagogen  und  Psychologen,  namentlich  der  mathematisch  inter- 
essierten. Wenn  sie  auch  manches  Wichtige  beiseite  läßt,  wie  z.  B.  die  dem  Thema 
naheliegenden  inneren  Beziehungen  zwischen  Begabung,  Temperament  und  Indivi- 
dualität, und  die  Grundansicht  des  Verfassers,  daß  eine  angeborene  Veranlagung 
für  Mathematik  nicht  anzunehmen  sei,  wohl  kaum  die  Zustimmung  der  meisten 
in  der  Praxis  des  Unterrichts  stehenden  Mathematiker  finden  dürfte,  so  ist  sie 
doch  schon  deshalb  in  hohem  Maße  anerkennenswert,  weil  sie  helles  Licht  über 
ein  Gebiet  wirft,  das  in  den  meisten  kleinen  wie  großen  Handbüchern  psychologischer 
Pädagogik  etwas  stiefmütterlich  behandelt  wird  und  unseres  Wissens  außer  in 
Baerwalds  Theorie  der  Begabung  bislang  kaum  in  ausreichender  Weise  bebaut 
worden  ist.     Druckfehler:  p.  410  (14)  Amm.  Z.  2  v.  o.  „einer"   Idee. 

Langenberg.  Friedrich    Schmitz. 

Levinstein,  Kurt,    Die    Erziehungslehre    Ernst    Moritz   Arndts. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Pädagogik  im  ersten  Jahrzehnt  des  19.  Jahr- 
hunderts.   Berlin  1912.     Weidmannsche  Bchhandlung.     VI  u.  158  S.    8».    3  M. 
Das  Hauptwerk,  in  dem  E.  M.  Arndt  seine  Erziehungslehre  niedergelegt  hat, 
sind  die  „Fragmente  über  Menschenbildung'',  die  im  Jahre  1905  zum  ersten  Male 
erschienen. 

Levinstein  hat  sein  Buch,  dessen  Anlage  durchaus  zu  billigen  ist,  in  fünf  wohl- 
gegliederte Abschnitte  geteilt.  Nachdem  er  in  gehaltvoller  Einleitung  darauf  hin- 
gewiesen, daß  der  Dichter  und  Politiker  Arndt  längst  eingehend  gewürdigt  sei, 
der  Erzieher  dagegen  noch  keineswegs  richtig  eingeschätzt  werde,  stellt  er  in  dem 
ersten  Abschnitte  seine  „Fragmente"  Rousseaus  „Emile"  gegenüber.  Nach  sorg- 
fältigster Untersuchung  gelangt  der  Verfasser  zu  dem  Ergebnis,  daß  man  zwar  den 
Spuren  der  Lektüre  Rousseaus  in  den  „Fragmenten"  fast  auf  jeder  Seite  begegne, 
daß  aber  keineswegs  der  deutsche  Pädagoge  dem  französischen  als  ein  äußerlicher 
Nachahmer  gefolgt  sei,  auch  nirgends  seine  persönliche  Eigenart  ihm  gegenüber 
verleugnet  habe. 

Der  zweite  Abschnitt  führt  uns  in  die  Gedankenwelt  des  klassischen  Alter- 
tums, besonders  zu  Piatos  „Staat".  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  sich  Arndt  zu  der 
Welt  des  Altertums  stark  hingezogen  fühlt,  daß  er  begeisterte  Hymnen  auf  die 
Alten  und  ihre  Sprache  singt,  daß  ihn  die  Erziehungskunst  der  Griechen  fesselt, 
und  besonders  nachhaltig  Plato  auf  ihn  wirkt.  Und  doch  wahrt  selbst  einem  Plato 
gegenüber  Arndt  stets  seinen  persönlichen  Standpunkt.  Auf  dem  Gebiete  der 
Erziehung  ist  und  bleibt  er  ein  selbständiger  Denker,  der  sich  widerspruchslos 
auch  seinem  griechischen  Vorbilde  niemals  anschließt. 

Die  beiden  nächsten  Abschnitte,  der  dritte  und  vierte,  beleuchten  Arndts 
Verhältnis  zu  Salzmann  und  Pestalozzi.   Mag  immerhin  der  Einfluß  des  bekannten 


608  A.  Freudenberg,  Aphorismen  usw.,  angez.  von  Schröer. 

Philanthropen  und  des  Altmeisters  unserer  deutschen  Schule  an  Bedeutung  dem 
Rousseaus  und  Piatos  nicht  gleichkommen,  so  hat  doch  auch  aus  ihren  Werken 
der  Verfasser  der  „Fragmente"  reiche  Belehrung  geschöpft.  Arndt  hat  schon  in 
seinem  fünfzehnten  Jahre  Salzmann  gelesen  und  sich  bereits  um  das  Jahr  1805  mit 
den  pädagogischen  Anschauungen  Pestalozzis  vertraut  gezeigt.  In  dem  Pädagogen 
von  Schnepfenthal  fand  Arndt  auf  verschiedenen  wichtigen  Gebieten  der  Er- 
ziehung einen  vorzüglichen  Meister,  und  in  gleicher  Weise  zollte  er  dem  nach  dem 
Höchsten  strebenden  Pestalozzi,  mit  dem  er  sich  in  so  manchen  Fragen  eins  wußte, 
unbedingte  Anerkennung.  Das  hält  ihn  jedoch  nicht  ab,  wenn  es  nötig  ist,  an  der 
Lehre  des  Schweizers  Kritik  zu  üben  und  andere  Wege  zu  gehen  als  jener. 

„Arndts  erzieherische  Persönlichkeit",  betitelt  sich  das  fünfte  und  letzte 
Kapitel  des  vorliegenden  Buches.  Der  Verfasser  wirft  noch  einmal  die  Frage  auf, 
inwieweit  „die  Fragmente"  trotz  so  mannigfaltiger  Beeinflussungen  von  außen 
als  ein  selbständiges  Werk  auf  pädagogischem  Gebiet  hingestellt  zu  werden  verdienen. 
Ob  das  notwendig  war,  lassen  wir  hier  unerörtert.  Die  Frage  dürfte  in  den  vorher- 
gehenden Abschnitten  zur  Genüge  beantwortet  sein.  Nichtsdestoweniger  folgen 
wir  unserem  Verfasser  gern,  wenn  er  in  den  „Fragmenten"  eine  Art  von  didak- 
tischer oder  pädagogischer  Autobiographie  sieht,  wenn  er  uns  zeigt,  daß  alle  darin 
niedergelegten  Anschauungen  erst  in  zweiter  Linie  von  den  genannten  Erziehungs- 
büchern beeinflußt  sind,  daß  in  erster  Linie  aber  hinter  allem,  was  Arndt  sagt, 
seine  eigene  eindrucksfähige,  durch  reiche  Lebenserfahrungen  gefestigte  Persön- 
lichkeit zu  finden  ist. 

An  ein  kurzes  Schlußwort  schließen  sich  147  Anmerkungen,  die  von  dem 
Bienenfleiße  Levinsteins  Zeugnis  ablegen.  Wir  wünschen  der  Arbeit,  die  sicher- 
lich viel  Gutes  enthält,  zahlreiche  Leser.  Vielleicht  reiht  sich  einmal  die  noch  feh- 
lende, allen  wissenschaftlichen  Ansprüchen  genügende  Biographie  Arndts  an! 

Freudenberg, Alwin,  Aphorismen  aus  der  Pädagogik  der  Gegen- 
wart.    Zitate  über  Erziehung  und  Unterricht  der  Jugend  aus  den  Werken 
berufener  deutscher  Pädagogen  und  Schulmänner.    Dresden  1912.   Alwin  Huhle. 
VIII  u.  238  S.    80.    2M. 
Der  Verfasser  bezeichnet  als  die  Bestimmung  der  hier  dargebotenen  Apho- 
rismensammlung, „die  Unterrichts-  und  Erziehungsarbeit  an  unserer  Jugend  nach 
einigen  beachtenswert  erscheinenden   Seiten  hin  fördern  zu  helfen,  sowie  zum 
Nachdenken  über  mancherlei  heutzutage  scharf  umstrittene  Fragen  und  Probleme 
der  Pädagogik  anzuregen".  Das  Buch  ist  nett  zu  lesen,  doch  bezieht  es  sich  inhaltlich 
nur  zum  geringeren  Teile  auf  höhere  Lehranstalten;  überdies  ist  es  lediglich  eine 
Zusammenstellung.    Von  den  418  Zitaten,  die  den  Werken  wohl  aller  wichtigeren 
deutschen  Erzieher  und  Schulmänner  entnommen  und  hier  mitgeteilt  sind,  handeln 
No.  1 — 134  über  Erziehung,  135 — 418  vom  Unterricht.  Daß  alle  brennenden  Fragen 
der  modernen  Pädagogik  hier  berührt  werden,  darf  man  von  vornherein  annehmen. 
Die  Auswahl  der  vorliegenden  Sammlung  zeugt  von  Geschick.    ,,Möge  dem  Buche 
bei  seiner  Fahrt  in  die  pädagogische  Welt  ein  freundlicher  Stern  leuchten!"    So 
der  Verfasser.    Wir  stimmen  bei. 

Posen.  Schröer. 


H.  Cornelius,  Elementargesetze  usw.,  angez.  von  A.  Schoop.  609 

Cornelius,  Hans,  ElementargesetzederbildendenKunst.  Zweite 
vermehrte  Auflage  mit  245  Abbildungen  im  Text  und  13  Tafeln.  201  S.  Leipzig 
und  Berlin  1911.     B.  G.  Teubner.    geh.  7  M.,  in  Leinen  geb.  8  M. 

Das  inhaltreiche,  tiefgründige  Buch,  eine  praktische  Ästhetik,  richtet  sich 
in  erster  Linie  nicht  an  Gelehrte,  sondern  an  praktische  Künstler.  Indem  der 
Verfasser,  vielfach  auf  Hildebrands  ,, Problem  der  Form"  fußend,  die  Grund- 
bedingungen alles  künstlerischen  Schaffens  untersucht,  will  er  der  Stilverrohung 
entgegenwirken,  die  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  in  der  bildenden  Kunst,  be- 
sonders im  Kunsthandwerk  immer  mehr  geltend  macht  und  schließlich  zu  einer 
allgemeinen  Entartung  des  künstlerischen  Geschmackes  führen  könnte.  Es  wäre 
zu  wünschen,  daß  das  klare,  überzeugende  Werk  in  den  beteiligten  Kreisen  die 
weitgehendste  Beachtung  fände.  Aber  auch  der  Nicht-Künstler,  welcher  tiefer 
in  die  geistige  Werkstätte  des  künstlerischen  Schaffens  eindringen  möchte,  wird 
das  Buch  mit  Nutzen  und  Genuß  lesen.  Gewiß  ist  eine  natürliche  Empfänglichkeit 
für  die  ästhetischen  Werte,  welche  im  Kunstwerk  zum  Ausdruck  kommen,  die 
unerläßliche  Voraussetzung  und  sicherste  Gewähr  für  Kunstverständnis  und  Kunst- 
genuß, allein  theoretisch-ästhetische  Schulung,  wie  sie  aus  dem  Studium  des  Corne- 
liusschen  Buches  erwächst,  läutert  und  vertieft  den  künstlerischen  Geschmack. 
Eine  eingehendere  Würdigung  der  vom  Verfasser  entwickelten  Grundgesetze 
muß  ich  mir  leider  hier  versagen,  da  sie  in  eine  Fachzeitschrift  für  Kunst  gehört. 
Das  Verständnis  des  Buches,  welches  Anfängern  im  Studium  der  Ästhetik  nicht 
ganz  leicht  sein  dürfte,  wird  wesentlich  gefördert  durch  zahlreiche,  erläuterte, 
gute  Abbildungen.  Ich  möchte  dem  Verfasser  empfehlen,  diese  Erläuterungen, 
die  ja  doch  besonders  für  Anfänger  bestimmt  sind,  in  einer  späteren  Auflage  an 
einzelnen  Stellen  noch  etwas  zu  erweitern. 

Düren.  Aug.  Schoop. 

Batiffol,  Pierre,  Urkirche  und  Katholizismus.     Übersetzt  und  ein- 
geleitet von  Dr.  theol.  Franz  Xaver  Seppelt,  Privat-Dozent  an  der  Universität 
Breslau.     Kempten  und  München   1910.     Jos.   Kösel.     XXIX  u.  420   S.    8». 
4,50  M.,  geb.  5,50  M. 
Mit  Gewinn  und  Genuß  habe  ich  des  berühmten  Autors  „Eglise  naissante" 
gelesen.     1908  ist  es  erschienen  und  hat  einen  bei  theologischer  Literatur  selten 
vorkommenden  Erfolg  gehabt,  in  100  Tagen  waren  zwei  Auflagen  ausverkauft. 
Man  kann  das  verstehen.    Die  Frage  nach  dem  Ursprung  des  Katholizismus  wird 
heute  viel  erörtert  und  ist  heftig  umstritten;  und  in  romanischen  Ländern,  auch 
in  Frankreich,  sind  modernistische  Gedankengänge  nicht  wenig  verbreitet.   Man 
denke  nur,  wie  Harnack  und  Solms,  Schnitzer  und  Hugo  Koch  über  die  Anfänge 
von  Primat  und  Kirche  gearbeitet  haben.    Dem  Interesse  am  behandelten  Stoff 
kommt  die  französisch-elegante  Form  zu  Hilfe,  in  der  Batiffol  seine  Erörterungen 
über  Zyprian  und  den  Primat,  über  die  Kirche  im  Evangelium  usw.  dem  Leser- 
kreis zu  bieten  versteht.     Der  Verfasser  will  mit  seiner  wissenschaftlich  exakten 
und  gründlichen  Arbeit  zeigen,  so  hat  Harnack  es  sehr  gut  formuliert,  daß  die  Kirche 
so  alt  ist  wie  die  christliche  Religion,  der  Katholizismus  so  alt  wie  die  Kirche  und 
der  römische  Primat  so  alt  wie  der  Katholizismus.    Harnack  stellt  dem  Verfasser 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  39 


610     H.  V.  Schubert,   Grundzüge  der  Kirchengeschichte,  angez.   von  R.  Peters. 

das  Zeugnis  aus,  daß  man  mit  größerer  Sachkenntnis  den  Beweis  für  die  wurzel- 
hafte Einheit  von  Christentum,  Katholizismus  und  römischem  Primat  nicht  an- 
treten kann  als  es  hier  geschehen  ist.  Und  wirklich,  geschickter,  schärfer  und 
klarer  hat  kein  Katholik  den  geschichtlichen  Nachweis  für  die  These,  daß  die 
Urkirche  katholisch  war,  daß  der  Primat  von  Christus  gestiftet  ist,  geführt.  Wer 
als  katholischer  Religionslehrer  in  der  Apologetik  und  Kirchengeschichte  mit 
seinen  Schülern  diese  Fragen  besprechen  muß,  kann  bessere  und  zuverlässigere 
Hilfe  nicht  finden.  Wer  überhaupt  wissen  will,  was  an  den  modernen  Theorien 
über  die  Entstehung  des  Primates  und  der  Kirche  angreifbar  ist,  weiter,  wer  sehen 
will,  wie  die  katholische  Theologie  wissenschaftlich  mit  diesen  Theorien  sich  aus- 
einandersetzt und  geschichtlich  das  Fundament  stützt,  auf  dem  die  Lehrautorität 
der  Kirche  und  des  Papstes  sich  erhebt,  der  lese  Batiffol.  Seppelt  hat  das  Werk, 
das  auch  in  den  Kreisen  derer,  die  einer  französisch  geschriebenen  wissenschaft- 
lichen Abhandlung  nicht  zu  folgen  vermögen,  Verbreitung  und  Studium  verdient, 
gut  ins  Deutsche  übersetzt.  Der  Verfasser  hat  die  dritte  Auflage  seines  Werkes 
für  die  Übersetzung  durchgesehen  und  eine  Anzahl  Berichtigungen  und  Zusätze 
geliefert.  Der  Übersetzer  hat  da  und  dort  die  Angaben,  namentlich  aus  der  deutschen 
Literatur  ergänzt.  Somit  kommt  der  deutschen  Übersetzung  ein  selbständiger  Wert 
neben  dem  französischen  Original  zu. 

Breslau.  Hermann  Hoff  mann. 

von  Schubert,  Hans,  Grundzüge  der  Kirchengeschichte.  Ein 
Überblick.  4.  verbesserte  Auflage.  Tübingen  1912.  J.  C.  B.  Mohr  (Paul 
Siebeck).  VII  u.  301  S.  8».  4  M. 
Die  Schrift  gibt  Vorlesungen  wieder,  die  vor  Studenten  aller  Fakultäten  und 
bei  einem  Hochschulferienkursus  vor  Lehrern  gehalten  wurden.  Die  Aufgabe, 
in  gedrängter  Kürze  einen  Überblick  über  die  Entwicklung  der  christlichen  Kirche 
von  ihren  Anfängen  bis  zur  Gegenwart  zu  geben  und  dabei  die  Hauptmomente  auf- 
zuweisen, ohne  die  Darstellung  mit  Einzelheiten  zu  belasten,  ist  in  recht  ansprechender 
Weise  gelöst.  Nur  die  neueste  Zeit  kommt  doch  wohl  etwas  zu  kurz;  der  letzte  (16.) 
Abschnitt  behandelt  zusammenfassend  die  Epoche  vom  Ende  des  18.  Jahrhunderts 
bis  zur  Gegenwart,  die  religiöse  und  kirchliche  Regeneration  und  das  Ringen  der 
Gegensätze  in  der  neuesten  Zeit.  Das  ist  ja  aus  der  Entstehung  der  Schrift  er- 
klärlich. Aber  für  das  Verständnis  der  religiösen  und  kirchlichen  Verhältnisse 
der  Gegenwart  ist  doch  die  Einsicht  in  das  geschichtliche  Entstehen  und  Werden 
der  wirksamen  Mächte  von  besonderer  Bedeutung,  und  gerade  die  Schilderung 
der  früheren  Zeiten  ruft  bei  diesem  Überblick  den  Wunsch  wach,  daß  der  Ver- 
fasser auf  die  kirchliche  Entwicklung  des  19.  Jahrhunderts  noch  eingegangen 
sein  und  manche  Erscheinungen  etwas  ausführlicher  behandelt  haben  möchte, 
die  jetzt  nur  gestreift  wurden. 

Köstlin,  Friedrich,  SchülerheftzurKirchengeschichte.    Tübingen 
1908.     J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck).    79  S.    8«.    0,75  M. 
Das  Heft  ist  zunächst  bestimmt  für  die  Oberstufe  der  sechs-  und  siebenklassigen 
höheren  Schulen  Württembergs,  für  die  der  Lehrplan  kirchengeschichtliche  Unter- 


H.  Stephan,  Die  Neuzeit,  angez.  von  R.  Peters.  611 

Weisung  vorsieht.  Doch  hat  sich  auch  in  den  anderen  deutschen  Staaten  seit  Jahren 
die  Überzeugung  geltend  gemacht,  daß  auf  der  Mittelstufe  ein  vorbereitender 
Kursus  der  Kirchengeschichte  am  Platze  ist.  Dafür  tut  das  Schülerheft,  das  das 
Diktieren  erspart  und  die  Einprägung,  Repetition  und  Wiederanknüpfung  er- 
leichtert, treffliche  Dienste.  Die  Hauptgesichtspunkte  sind  klar  und  übersichtlich 
zusammengestellt,  und  dabei  bringen  die  kleinen  Abschnitte  doch  nicht  in  ab- 
gehackter Form  nur  nackte  Daten,  sondern  die  sprachliche  Form  ist  trotz  der 
prägnanten  Kürze  gefällig.  Öfters  wird  auf  das  k  i  r  c  h  e  n  g  e  s  c  h  i  c  h  1 1  i  c  h  e 
Lesebuch  von  Rinn-Jüngst  verwiesen;  vielleicht  wäre  für  diese  Stufe 
das  von  Meltzer-Thrändorf  noch  besser  geeignet. 

Stephan,  Horst,  DieNeuzeit.  4.  Teil  des  Handbuchs  der  Kirchengeschichte 
für  Studierende,  in  Verbindung  mit  G.  Ficker,  H.  Hermelink,  E.  Preuschen 
und  H.  Stephan  herausgegeben  von  Gustav  Krüger.  Tübingen  1909. 
J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck).  8».  XII  u.  300  S.  5  M. 
Eine  Darstellung  der  Kirchengeschichte  der  neueren  und  vor  allem  der  neuesten 
Zeit  hat  ihre  besonderen  Schwierigkeiten.  Über  manche  Erscheinungen  ist  das 
Urteil  noch  weniger  geklärt,  fehlt  es  an  eingehenden  wissenschaftlichen  Bear- 
beitungen, und  dazu  die  der  reichen  Entfaltung  moderner  Kultur  entsprechende 
größere  Mannigfaltigkeit  des  kirchlichen  Lebens  gegenüber  der  Einfachheit  früherer 
Zustände !  Da  liegt  gewiß  die  Gefahr  einer  mehr  registrierenden  Art  der  Darstellung 
nahe.  Auf  den  ersten  Blick  könnte  es  so  scheinen,  als  ob  auch  bei  H.  S  t  e  p  h  a  n  s 
Kirchengeschichte  der  Neuzeit  der  Schwerpunkt  nach  dieser  Seite  hin  liege.  Welche 
Fülle  von  Einzelheiten,  von  Namen,  Daten  und  Werken  in  den  zahlreichen  aus- 
führlichen Anmerkungen  zu  jedem  Paragraphen !  Aber  zeigt  sich  schon  in  diesen 
Abschnitten,  daß  die  Persönlichkeiten  und  Bewegungen  in  ihrem  Zusammenhang 
mit  der  Gesamtentwicklung  behandelt  und  in  ihrer  kirchengeschichtlichen  Be- 
deutung beurteilt  werden,  so  werden  wir  erst  recht  durch  die  allgemeinen  Aus- 
führungen an  der  Spitze  der  Abschnitte  auf  eine  Höhe  der  geschichtlichen  Betrach- 
tung geführt,  von  der  aus  wir  den  genetischen  Zusammenhang  der  Erscheinungen 
und  die  Richtlinien  der  äußeren  und  inneren  kirchlichen  Entwicklung  erkennen 
und  diese  Entwicklung  aus  der  Wechselwirkung  mit  den  allgemeinen  (geschicht- 
lichen, kulturellen,  sozialen,  geistigen)  Verhältnissen  heraus  verstehen  lernen. 
Auch  den  beiden  Hauptabschnitten  (1.  Zeitraum  von  1689  bis  1814:  Innere  Um- 
bildung und  äußere  Auflösung;  2.  Zeitraum  von  1841  bis  zur  Gegenwart:  Äußere 
und  innere  Neubildung)  werden  derartige  allgemeine  Erörterungen  vorangestellt, 
die  über  die  wirtschaftlichen,  sozialen  und  politischen  Voraussetzungen  des  kirchen- 
geschichtlichen Zeitalters,  über  die  geistesgeschichtlichen  Voraussetzungen,  über 
Förderungen  und  Hemmungen  der  kirchengeschichtlichen  Entwicklung  und  die 
Wandlung  der  interkonfessionellen  Lage  unterrichten.  In  seiner  äußeren  Anlage 
folgt  das  Werk  dem  Beispiel  von  K  u  r  t  z  '  Kirchengeschichte,  das  u.  a.  auch  von 
Bruno  Gebhardt  in  seinem  Handbuch  der  Deutschen  Geschichte  nachgeahmt 
worden  ist.  Diese  Art,  Hauptgedanken  und  Einzelausführungen  zu  trennen,  hat 
sich  für  den  Zweck  solcher  Kompendien,  eine  Grundlage  für  akademische  Vor- 
lesungen zu  bieten,  gut  bewährt. 

39* 


612       K.  Heussi,   Kompendium  der  Kirchengeschichte,  angez.   von  R.  Peters. 

Heussi,  Karl,  Kompendium  der  Kirchengeschichte,  Zweite  ver- 
besserte Auflage.  Tübingen  1910.  J.  C.  B,  Mohr  (Paul  Siebeck).  XXXII  u. 
612  S.  8«.  brosch.  9  M. 
Das  treffliche  Kompendium  der  Kischengeschichte  von  K.  H  e  u  s  s  i  liegt  in 
zweiter  Auflage  vor.  Wenn  diese  kaum  zwei  Jahre  nach  dem  Abschluß  der  ersten 
Auflage  nötig  wurde,  so  ist  das  ein  Beweis  dafür,  daß  das  Buch  sich  in  den  Kreisen, 
auf  die  es  berechnet  ist,  gegenüber  den  früheren  Unternehmungen  ähnlicher  Art 
rasch  durchgesetzt  hat.  Und  in  der  Tat  verdient  es  eine  solche  Verbreitung.  Seine 
Vorzüge  sind  von  der  Kritik  allseitig  anerkannt  worden:  klare  Übersichtlichkeit 
in  der  Anordnung  und  der  äußeren  Anlage  bei  größter  Reichhaltigkeit  des  Stoffes, 
Hervorhebung  der  Grundzüge  und  Hauptmomente  in  der  kirchengeschichtlichen 
Entwicklung  bei  sorgfältiger  Berücksichtigung  der  Einzelheiten,  gefällige  Form 
und  lebendige  Frische  der  Darstellung  bei  aller  durch  die  Stoffmenge  und  den 
Zweck  des  Werkes  bedingten  Knappheit  und  Objektivität.  Durch  die  Neubear- 
beitung ist  der  Wert  noch  erhöht  worden.  Das  gilt  nicht  nur  von  den  vorgenom- 
menen Einzelverbesserungen  und  der  zweckmäßigeren  Gestaltung  einiger  Para- 
graphen, sondern  vor  allem  auch  von  der  S.  XVI— XXXII  beigegebenen  Literatur- 
Übersicht.  Diese  bezeichnet  sich  zwar  ausdrücklich  als  Literatur-A  u  s  w  a  h  1 
und  will  dem  Studenten  zur  Einführung  in  das  kirchengeschichtliche  Studium 
die  ersten  Fingerzeige  geben;  eine  einigermaßen  vollständige  Aufzählung  aller 
einschlägigen  Werke  liegt  also  nicht  in  der  Absicht  des  Buches,  wenn  auch  die  An- 
gaben über  die  wichtigsten  Arbeiten  zu  fast  jedem  der  196  Paragraphen  schon 
etwa  14  Seiten  in  Anspruch  nehmen.  Doch  auch  bei  dieser  notwendigen  Beschrän- 
kung ist  die  Beigabe  wertvoll,  nicht  nur  für  den  Anfänger,  sondern  auch  für  jeden, 
der,  wie  der  Religions-  und  der  Geschichtslehrer,  mit  dem  Stoffe  lehrend  und  lernend 
umzugehen  hat.  Überhaupt  entspricht  das  Buch  vortrefflich  der  Erwartung,  der 
im  Vorwort  zur  ersten  Auflage  Ausdruck  gegeben  wurde,  daß  es  über  seinen  eigent- 
lichen Zweck  hinaus  auch  Pfarrern,  Religionslehrern  und  Historikern  als  bequemes 
Orientierungsmittel  werde  dienen  können.  Für  die  Handbibliothek  des  Konferenz- 
zimmers bietet  es  eine  willkommene  Bereicherung. 

Meinhold,  Hans,  Die  Weisheit  Israels  in  Spruch,  Sage  und 
Dichtung.  Leipzig  1908.  Quelle  &  Meyer.  VIII  u.  343  S.  8«.  4,40  M. 
Das  Buch  ist  für  denselben  Leserkreis  bestimmt,  wie  etwa  die  „Religions- 
geschichtlichen Volksbücher".  In  ausführlicherer  Darstellung,  als  diese  sie  bieten 
können,  entwirft  es  nach  einem  einleitenden  Überblick  über  die  Weisheitsschriften 
Israels  ein  Bild  von  der  in  diesen  enthaltenen  Gottes-  und  Weltanschauung.  Im 
zweiten  Teile  wird  dann  die  Entstehung  und  Entwicklung  der  Weisheit  Israels 
behandelt;  es  wird  gezeigt,  wie  die  Weisheit  auf  der  vorprophetischen  Stufe  den 
Charakter  der  Magie  trägt  und  vor  allem  Wissen  um  den  Namen  und  den  Kult 
der  Gottheit  ist,  Wissen  um  die  Mittel,  freundliche  Götter  und  Geister  für  sich  zu 
gewinnen,  gegen  feindliche  sich  zu  schützen;  wie  dann  unter  dem  Einfluß  der  Pro- 
pheten, denen  Jahwe  durchaus  der  Herr  und  Erhalter  der  sittlichen  Welt  ist,  der 
Weisheitsbegriff  sich  vertiefte  und  wie  in  der  Verbannung  und  im  nachexilischen 
Judentum   der  Typus   des  weisen  Lehrers  sich  herausbildete  und  die  Hyposta- 


F.  Diekmann,  Das  apologetische  Lehrverfahren  usw.,  angez.  von  R.  Peters.      613 

sierung  der  Weisheit  erfolgte.  Die  Schilderung  befriedigt  nicht  nur  in  hohem  Maße 
das  Interesse,  das  wir  an  einer  bedeutsamen  Erscheinung  der  Religionsgeschichte 
nehmen;  es  werden  vielmehr  auch  die  Fäden  aufgewiesen,  die  von  der  religiösen 
Gedankenwelt  Israels  und  des  Judentums  hinüberführen  zur  christlichen  Religion 
bis  in  die  Gegenwart  hinein.  So  manches,  was  als  spezifisch  christlich  gilt,  erweist 
sich  bei  näherem  Zusehen  als  Erbe  jener  früheren  Zeit,  und  gerade  weil  auf  diesem 
Gebiete  noch  so  viel  Unklarheit  herrscht,  weil  vor-  und  unterchristliche  Gedanken- 
kreise noch  immer  von  vielen  kritiklos  als  wesentliche  Bestandteile  der  christlichen 
Religion  betrachtet  werden,  muß  man  dem  Buche  einen  großen  Leserkreis  wünschen. 

Diekmann,  Fritz,  Das  apologetischeLehrverfahren  im  evange- 
lischen Religionsunterricht  höherer  Schulen.  München 
1909.  O.  Beck.  77  S.  8«.  1,50  M. 
Die  Schrift  verfolgt  in  dankenswerter  Weise  hinsichtlich  der  apologetischen 
Aufgabe  desR.-U.'s  die  Tendenz,  daß  bei  dem  Schüler  der  Blick  für  das  Wesentliche 
der  christlichen  Religion  geweckt  und  geschärft  werden  müsse.  Die  Ausführungen 
werden  (S.  67)  so  zusammengefaßt:  ,Die  religiöse  Erfahrungswelt  ist  hauptsächlich 
in  Einklang  zu  setzen  mit  der  Anschauungswelt  (Unterstufe),  mit  der  Empfindungs- 
welt (Mittelstufe)  und  dem  Denken  (Oberstufe),  indem  zugleich  auf  allen  Stufen 
auf  eine  kräftige  Anregung  des  Willens  hingezielt  wird.*  Man  könnte  wohl  bei  dem 
Schlußsatz,  wie  bei  anderen  Stellen  der  Schrift,  z.  B.  bei  der  näheren  Zielbestimmung 
der  Mittelstufe  (»Einführung  in  die  Mächte  des  religiösen  Lebens,  wie  sie  sich  durch 
die  Tatsachen  desselben  dem  Gemüt  aufdrängen',  S.  27)  die  Einwendung  machen, 
daß  das  eigentlich  apologetische  Moment  nicht  klar  genug  heraustrete  gegenüber 
der  allgemeinen  Aufgabe  des  R.-U.'s.  Doch  gilt  dies  nicht  von  den  Ausführungen 
über  die  Oberstufe,  auf  der  ja  die  Apologetik  erst  recht  zur  Geltung  gebracht  werden 
kann  und  muß  und  der  Diekmann  als  Aufgabe  die  selbständige  denkende  Durch- 
dringung des  Lehrstoffes  mit  Recht  zuweist.  Zu  der  in  der  letzten  Zeit  öfters  er- 
örterten Frage,  ob  in  dem  abschließenden  R.-U.  der  Prima  die  Apologetik  eine 
besondere  Behandlung  erfordere  und  ob  ihr  gegenüber  andere  Stoffe  des  jetzigen 
Lehrplans  zurücktreten  müßten,  nimmt  Diekmann  die  Stellung  ein,  daß  der  apolo- 
getische Unterricht,  der  durchaus  dem  Endziel  des  R.-U.'s,  der  Förderung  religiösen 
Lebens,  zu  dienen  habe,  keiner  systematischen  Behandlung  bedürfe,  sondern  an 
die  Lehrpensen  der  verschiedenen  Stufen  angeschlossen  werden  müsse. 

Biblische  Zeit-  und  Streitfragen,  zur  Aufklärung  der   Gebildeten, 
herausgegeben  von  Liz.  Dr.  Kropatscheck.   I. — VI.  Serie.  Gr.-Lichterfelde- 
Berlin  1912.    Edw.  Runge,    kl.  8».    Einzelhefte  meist  0,50  M.,    Subskriptions- 
preis 0,40  M. 
Ein  dankenswertes  Unternehmen,  den  »Religionsgeschichtlichen 
Volksbüchern'  von  F.  M.  Schiele  diese  Hefte  entgegenzustellen,  die  vom 
Standpunkt  der  konservativen  Richtung  aus  in  die  Arbeit  der  theologischen  For- 
schung einführen  wollen.    Dem  gebildeten  Laien,  für  den  beide  Sammlungen  be- 
rechnebsind,  ist  so  Gelegenheit  gegeben,  die  Probleme  von  beiden  Seiten  beleuchtet 
zu  sehen.    Auch  im  Religionsunterricht  der  oberen  Klassen  darf  das  ^audiatur  et 
altera  pars'  nie  vergessen  werden,  da  es  ja  hier  gilt,  den  Schüler  zu  selbständiger 


614  Biblische  Zeit-  und  Streitfragen,  angez.  von  R.  Peters. 

Erkenntnis  in  den  Fragen  der  religiösen  Weltanschauung  anzuleiten.  Es  ist  daher 
eine  lohnende  Aufgabe,  einzelne  Hefte  der  , Biblischen  Zeit-  und  Streitfragen' 
mit  den  entsprechenden  »Volksbüchern'  zu  vergleichen,  etwa  P.  E  w  a  1  d ,  ,D  e  r 
Kanondes  NeuenTestaments'  (II,  7)  mit  H.  H  o  1 1  z  m  a  n  n ,  ,D  i  e 
Entstehung  des  NeuenTestaments',  K.  Beth,  , Die  Wunder 
Jesu'  (II,  1)  und  ,DasWunder,  Prinzipielle  Erörterung  des  Problems'  (IV,  5) 
mit  Traub,DieWunderim  Neuen  Testament',  Grützmacher 
,Die  Jungfrauen  geburt'  (11,5;  2.  Auflage)  mit  E.  Petersen  ,Die 
wunderbare  Geburt  des  Heilandes',  Kühl  ,Das  Selbst- 
bewußtseinjesu' (III,  11/12)  und  Kirn,  ,Die  sittlichen  Forde- 
rungen Jesu'  mit  den  betreffenden  Abschnitten  in  Boussets  ,Jesus' 
oder,  um  auch  andere  Schriften  zu  nennen,  mit  W.  H  e  r  r  m  a  n  n,  ,D  i  e  s  i  1 1  - 
liehen  Weisungenjesu'  und  K.  Weidel,  ,Die  Persönlichkeit 
J  e  s  u'.  In  einigen  Fällen  ergibt  sich  bei  der  Gegenüberstellung,  daß  der  Gegensatz 
nur  unbedeutend  ist;  so  hat,  als  die  ,Zeit-  und  Streitfragen'  zu  erscheinen  be- 
gannen, G  u  n  k  e  1  in  der  , Christlichen  Welt'  mit  Recht  darauf  hingewiesen, 
daß  zwischen  Köberle,  ,DasRätsel  desLeidensimAltenTesta- 
m  e  n  t'  (I,  1)  und  Löhr,  , Seelenkämpfe  und  Glaubensnöte  vor 
2000  Jahren'  weitgehende  Übereinstimmung  herrscht.  Auch  an  anderen  Heften 
läßt  sich  dartun,  wie  die  , positive'  Theologie  den  früheren  dogmatischen  Boden 
verlassen  hat  und  sich  beim  Eingehen  auf  die  Probleme  der  Gegenwart  vielfach 
der  ,modernen'  Theologie  nähert,  und  es  ist  auch  für  den  reiferen  Schüler 
wertvoll,  wenn  ihm  an  solchen  Beispielen  gezeigt  wird,  daß  der  Gegensatz  der 
Anschauungen  befruchtend  wirkt.  Bei  manchen  Ausführungen  hat  man  das  Gefühl, 
daß  sie  auch  in  den  Schriften  liberaler  Theologen  stehen  könnten;  ja,  hier  und  da 
drängt  sich  der  Gedanke  auf:  wenn  das  von  der  Gegenseite  geschrieben  wäre, 
würde  es  als  bedenklich  empfunden  werden;  etwa  als  , stark  rationalisierend',  wenn 
Beth  bei  dem  Staterwunder  Matth.  12,  27  in  dem  sonst  sehr  konservativ  gehal- 
tenen Heft  II,  1  die  innere  Unglaubwürdigkeit  der  Darstellung  hervorhebt,  bei 
dieser  ,nur  im  ersten  Evangelium  gebotenen  Erzählung  eine  Verschiebung  des 
Erinnerungsbildes'  annimmt  und  für  den  wunderbaren  Vorgang,  der  ,mit  der 
moralischen  Denkrichtung  des  Herrn  nur  schwer  in  Harmonie  gebracht*  werden 
könnte,  die  einfache  Weisung  Jesu  an  Petrus  einsetzt,  er  solle  einen  Fisch  fangen 
und  von  dem  Erlös  die  Steuern  bezahlen. 

Bei  dem  Charakter  einer  solchen  Sammlung  ist  es  erklärlich,  wenn  die  Tonart 
anderen  Anschauungen  gegenüber  nicht  überall  dieselbe  ist.  Während  in  den  meisten 
Heften  die  Probleme  mit  Achtung  vor  dem  gegnerischen  Standpunkt  erörtert 
werden,  redet  Grützmacher  von  »tendenziöser  wissenschaftlicher  Halb- 
bildung', die  Unkundigen  etwas  vormachen  will  (I I,  5,  S.  5),  und  der  geringschätzigen 
Art,  mit  der  die  Gegner  abgetan  werden,  entspricht  die  souveräne  Sicherheit  der 
eigenen  Behauptungen,  daß  ,vom  Standort  des  reinen  vorurteilsfreien  Historikers 
nichts  dagegen  einzuwenden'  sei.  Der  historisch-kritische  Weg  eines  H  a  r  n  a  c  k 
und  Bousset  besteht  in  der  Aussonderung  der  glaubwürdigen  Quellen  (111,2, 
S.  12).  Wenn  J  ü  1  i  c  h  e  r  sagt,  daß  Jesus  über  die  Pharisäer  harte  Worte  gesprochen 
und  ihr  Bild  unbillig  ins  Schwarze  gezeichnet  habe,  so  macht  Grützm  acher 


E.  König,  Hebräische  Grammatik,  angez.   von  R.  Peters.  615 

daraus  den  Vorwurf,  daß  danach  Jesu  ,irrtümliclie  Stellung  keineswegs  sittlich  un- 
tadelig' gewesen  sei,  und  nach  der  hämischen  Bemerkung:  , Soweit  als  möglich  soll 
allerdings  Jesus  von  ethischen  Vorwürfen  entlastet  werden  durch  die  liberalen 
Theologen'  (II,  2,  S.  16),  wird  deren  Ansicht  dahin  zusammengefaßt:  ,Es  mangeln 
Jesus  auch  nicht  völlig  sittliche  Verfehlungen,  er  stand  wirklich  in  innerer  Ver- 
bindung mit  der  Sünde'.  Man  müßte  sich  eigentlich  wundern,  daß  diese  liberalen 
Theologen-  in  ihrer  verständnislosen  Borniertheit  und  unwissenschaftlichen  Ober- 
flächlichkeit überhaupt  noch  Anhang  finden.  Aber  , Durchschnittsphilister  .  .  hat 
es  zu  allen  Zeiten  gegeben;  .  .  sie  sind  immer  in  derselben  Form  aufgetreten,  sie 
haben  dem  alten  Rationalismus  mit  derselben  Wonne  zugestimmt,  David  Strauss 
zugejauchzt,  sind  von  Renan  gerührt  worden,  und  ihre  unveränderten  Seelen 
schwingen  in  zeitloser  Weise,  wenn  nun  die  Töne  des  gegenwärtigen  Liberalismus 
locken'  (III,  2,  S.  23).  Wie  ganz  anders,  als  diese  Art,  die  an  die  gereizte  und  ab- 
sprechende Polemik  kirchenpolitischer  Parteiversammlungen  erinnert,  klingt  es 
doch,  wenn  z.  B.  K  ü  h  1  den  wissenschaftlichen  und  religiösen  Ernst  der  modernen 
Theologen,  die  den  Messianismus  aus  dem  Lebensbild  Jesu  streichen  möchten, 
betont  und  sie  gegen  F  r  e  n  s  s  e  n  s  '  Entstellung  in  Schutz  nimmt  (111,11/12, 
S.  5).  Und  es  ist  gewiß  anzuerkennen,  daß  der  Ton  der  ruhigen  wissenschaftlichen 
Darstellung  und  der  vornehmen  Würdigung  des  Gegners  in  den  meisten  Heften 
sich  findet.  Merkwürdig  kann  es  dabei  allerdings  anmuten,  wenn  hier  und  da  der 
Autor  das  Gefühl  zum  Ausdruck  bringt,  daß  er  der  Stimmung  und  Erwartung 
der  Leser  der  , Biblischen  Zeit-  und  Streitfragen'  vielleicht  nicht 
ganz  entspreche.  Doch  wäre  zu  wünschen,  daß  dieses  Gefühl  durch  die  Tatsache 
widerlegt  werde,  daß  nicht  die  gehässige  Polemik,  sondern  die  sachliche  Behandlung 
Boden  findet  in  den  Kreisen,  auf  die  die  Hefte  berechnet  sind;  denn  nur  dann  würden 
sie  wirklich  zur  , Aufklärung  der  Gebildeten'  beitragen. 

Bei  der  außerordentlichen  Reichhaltigkeit  der  Sammlung>  ist  ein  Eingehen 
auf  die  einzelnen  Schriften  natürlich  unmöglich.  Doch  sei  zum  Schluß  noch  hervor- 
gehoben, daß  die  hervorragendsten  Gelehrten  der  positiven  Richtung  darin  ver- 
treten sind  und  daß  nach  dem  Prospekt  eine  große  Anzahl  von  gediegenen  Arbeiten 
eben  solcher  Theologen  noch  für  die  nächste  Zeit  in  Aussicht  steht. 

König,  Eduard,  H  e  b  r  ä  i  s  c  h  e  G  r  a  m  m  a  t  i  k  ,  für  den  Unterricht  mit  Übungs- 
stücken und  Wörterverzeichnissen  methodisch   dargestellt.   Leipzig  1908.  J.  C. 
Hinrichs.     VIII  u.  112  u.  88  S.     8".    3  M. 
Königs  Grammatik  eignet  sich  mehr  zur  Einführung  in  das  wissenschaft- 
liche Studium  der  hebräischen  Sprache,   als  für  den  Gebrauch  an  den  Schulen. 
Für  den  letzteren  sind  doch  zu  viel  gelehrte  Einzelbemerkungen,  wie  Hinweise  auf 
Fachwerke  und   Fachzeitschriften  zur  Begründung  des  eigenen  oder  Ablehnung 
eines  anderen  Standpunktes,  eingeflochten,  mit  denen  der  Schüler  nichts  anzu- 
fangen weiß.  Vor  allem  fehlen  die  in  einer  Schulgrammatik  unbedingt  notwendigen 
Übersichts-Tabellen;  ohne  solche  Paradigmata  wird  sich  der  Schüler  die  verschie- 
denen Gruppen  der  Verben,  die  Substantiva  mit  Suffixen  u.  a.  schwer  einprägen 
können.    Auch  müßte  für  den  Zweck  des  Unterrichts  die  Übersichtlichkeit  durch 
Absätze  und  verschiedenen  Druck  weit  mehr  erreicht  werden,  als  das  jetzt  durch 


616     M.  Trautmann,  Der  Staat  und  die  deutsche  Sprache,  angez.  von  A.  Matthias. 

die  mit  einem  Kreis  umgebenen  Buchstaben  im  Text  und  durch  Sperrdruck  der 
Fall  ist.  Doch  wird  der  Lehrer  des  Hebräischen  aus  dem  in  120  Paragraphen  dar- 
gebotenen Lehrstoff  für  seine  Vorbereitung  reichen  Gewinn  ziehen,  und  auch  das 
beigegebene  Übersetzungsmaterial  wird  ihm  für  die  Einübung  der  Regeln  wertvoll 
sein. 

Düsseldorf.  Rudolf  Peters. 

Trautmann,  Moritz,  Der  Staat  und  die  deutsche  Sprache.    Reden 
und  Aufsätze.     Leipzig  1911.     Dieterische  Verlagsbuchhandlung.     IV  u.  76  S. 
gr.  80.     1  M. 
Der  erste  Vortrag  erörtert  die  Mittel,  durch  welche  der  Staat  helfen  könnte, 
Mißstände,  an  denen  unsere  Sprache  krankt,  zu  heilen.    Der  zweite  wendet  sich 
gegen  die  Albernheiten  der  Engländerei,  durch  welche  die  deutsche  Sprache  ver- 
hunzt wird;  der  dritte  beantwortet  die  Frage:  Was  wird  aus  unserem  deutschen 
Unterricht?,  der  vierte  handelt  über  Entstehung  und  Ziele,  Wirken  und  Erfolge 
des  Sprachvereins,  und  der  fünfte  äußert  sich  zum  Unterricht  in  den  neueren 
Sprachen. 

Wenn  man  auch  nicht  mit  allem,  selbst  nicht  mit  vielem,  was  Trautmann  sagt 
und  will,  einverstanden  ist,  so  muß  man  doch  in  einem  Punkte  ganz  mit  ihm  gehen, 
in  der  Begeisterung  für  unsere  Muttersprache.  Wer  so  wie  Trautmann  begeistert 
ist,  der  geht  aufs  Ganze.  Andere  schicken  sich  in  die  Zeit,  begnügen 
sich  mit  der  Hälfte  und  sagen  sich,  daß  die  Hälfte  oft  besser  ist  als 
das  Ganze.  Gerade  auf  dem  Gebiete  des  Deutschen  werden  wir  uns  noch 
lange  Zeit  in  Geduld  fassen  müssen,  bis  wir  das  erreichen,  was  wir  er- 
reichen müssen.  Geduld  setzt  aber  keineswegs  voraus,  daß  wir  hier  den 
Mut  sinken  lassen;  man  kann  geduldig  sein  und  doch  erfolgreich  tätig  für 
seine  Ideale.  Trautmann  schreibt  auf  S.  44  und  gibt  damit  sein  Zukunftsziel  (ich 
übersetze  ihm  zu  Liebe  das  Wort  „Programm"):  „Nicht  mehr  die  Dinge  gehn 
und  geschehn  lassen,  sondern  unsere  Sprache  richten  und  pflegen!  Die  deutsche 
Sprache  muß  die  klarste,  die  einfachste,  die  schönste,  die  ausdrucksvollste  werden, 
die  es  gibt.  Daß  der  deutsche  Staat  nach  seiner  Sprache  sehe,  ist  eine  seiner  wich- 
tigsten Aufgaben.  Von  der  Weisheit  und  Kraft,  mit  der  er  es  tut,  wird  zu  einem 
großen  Teile  die  künftige  Geltung  der  deutschen  unter  den  Völkern  der  Erde  ab- 
hängen." —  Diesen  Worten  kann  man  zustimmen,  wenn  man  anstatt  „Staat" 
„Schule"  setzt  und  äußere  Machtfragen  nur  mittelbar  mit  der  Pflege  der  deut- 
schen Sprache  verknüpft.  Wer  auf  seine  Sprache  etwas  hält,  hält  auf  sich  selber 
etwas,  und  wer  auf  sich  selber  hält,  vermeidet  Engländerei  und  Französelei  und 
trägt  insofern  etwas  dazu  bei,  daß  deutscher  Stolz  und  deutsches  Selbstbewußt- 
sein wächst  und  damit  unsere  Geltung  zunimmt  unter  den  Völkern  der  Welt. 
Daß  sich  Trautmann  auf  dem  Deckblatt  (Titel)  des  Buches  statt  Professor  ord. 
an  der  Universität  zu  Bonn  ord.  Lehrer  an  der  Hochschule  zu  Bonn  nennt,  wird 
manchem  seltsam  scheinen,  wenn  er  aber  zusammenzieht  und  an  den  Hochschul- 
lehrer Trautmann  denkt,  so  wird  die  Seltsamkeit  sich  mindern,  und  man  wird 
sehen,  daß  doch  viele  Ausdrücke  uns  mehr  anmuten,  wenn  wir  sie  in  deutschen 
Wendungen  wiedergeben. 


H.  Deckelmann,  Die  Literatur  usw.,  angez.  von  A.  Matthias.  617 

Deckelmann,  Heinrich,  Die  Literatur  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts im  deutschen  Unterricht.  Eine  Einführung  in  die 
Lektüre.  Berlin  1912.  Weidmannsche  Buchhandlung.  VIll  u.  320  S.  gr.  8". 
geb.  5  M. 

Eines  der  besten  Bücher,  die  in  neuester  Zeit  zum  deutschen  Unterricht  und 
für  das  deutsche  Haus  (hätte  der  Verfasser  ohne  Bedenken  hinzufügen  können) 
erschienen  ist.  Ich  kann  das  deshalb  mit  gutern  Gewissen  sagen,  weil  ich  das  Buch 
schon  im  Entstehen  kennen  gelernt  habe  und  seiner  gründlichen  Kenntnis  mich 
freue.  Hier  ist  endlich  einmal  ein  Werk,  das  keine  Verbal-  und  Nominalliteratur- 
kunde  bietet,  sondern  auf  jeder  Seite  reichen  Inhalt.  Es  leitet  uns  an  zu  vertieftem 
und  aufmerksamem  Lesen  und  liebevollem  Verständnis  der  Literatur  des  19.  Jahr- 
hunderts, nimmt  das  Kunstwerk  als  Ausgangspunkt,  ohne  sich  viel  mit  biographi- 
schem und  literarhistorischem  Material  zu  belasten  und  entwickelt  am  trefflichen 
Beispiel  die  Eigenart  des  Kunstwerkes  so,  daß  zugleich  ein  Einblick  in  die  künst- 
lerische Entwicklung  des  Dichters  und  seine  Stellung  in  der  literarischen  Bewegung 
des  19.  Jahrhunderts  gewonnen  wird.  Wer  das  Buch  in  dieser  Beziehung  prüfen 
will,  der  lese  die  Abschnitte  über  Romantik  und  Realismus,  über  Impressionismus 
und  über  Symbolismus.  Er  wird  mir  beistimmen,  daß  hier  mit  pädagogischem  Takt 
und  mit  pädagogischer  Kunst  ein  nicht  ganz  leichter  Stoff  für  den  Schüler  ver- 
ständlich gemacht  wird.  Deckelmann  hat  eben  eine  sehr  glückliche  Hand  an  vielen 
Stellen;  ich  verweise  nur  darauf,  daß  er  beim  Symbolismus  nicht  von  Richard 
Dehmel,  sondern  von  Hoffmannsthal  als  konkretem  Beispiel  ausgeht.  Und  wie 
hier,  finden  wir  überall  große  Geschicklichkeit.  Daß  Deckelmann  diese  be- 
sonders bei  der  Auswahl  der  Dichter  und  Schriftsteller  bekundet,  sei  ihm  gedankt. 
Solche  Bücher  wie  das  seinige  leiden  zu  leicht  unter  der  Sucht  nach  Vollständig- 
keit, die  unter  Umständen  geradezu  geisttötend  sein  kann. 

Alles  ganz  schön !  Aber,  so  erwidert  man  mir,  woher  die  Zöit  nehmen?  Drei 
Kurzstunden  stehen  zur  Verfügung,  das  gibt  2  Stunden  und  15  Minuten.  Und 
in  dieser  Zeit  soll  man  auch  noch  nachgoethesche  Literatur  berücksichtigen?  Der 
Einwurf  scheint  berechtigt.  Sollen  wir  nun  warten,  bis  unsere  Kindeskinder  in  der 
glücklichen  Lage  sind,  mehr  deutschen  Unterricht  zu  genießen  und  in  Resignation 
unsere  heutige  Jugend  bemitleiden?  5as  ist  nicht  nötig,  wenn  wir's  nur  richtig 
anfangen.  Der  Deutschlehrer,  und  das  hat  Deckelmann  und  vor  ihm  andere  schon 
sicherlich  getan,  erobere  sich  nur  mit  kurzen  Anregungen  (15  Minuten  besagter 
Kurzstunden  genügen)  in  guter  Freundschaft  die  Herzen  seiner  Schüler,  daß  sie 
das,  wozu  die  Schule  keine  Zeit  bietet,  in  der  häuslichen  Muße  oder  in  literarischen 
Vereinen  treiben,  die  ihnen  besonders  an  langen  Wintefabenden  von  der  Arbeit 
für  die  ,, Hauptfächer"  noch  übrig  bleibt.  Das  werden  dann  keine  Kurzstunden 
sein,  sondern  Stunden  von  120  Minuten  und  deren  mehr,  besonders  wenn  sie  bei 
Hebbel  ankommen,  den  Deckelmann  —  und  das  ehrt  ihn  und  charakterisiert  das 
Buch  —  als  seinen  Liebling  auserkoren  hat.  — 

Noch  eins  gefällt  mir  an  Deckelmanns  Ansichten:  daß  er  die  Schüler  die 
Themata  zu  deutschen  Aufsätzen  und  Vorträgen  sich  selber  wählen  lassen  will. 
Dazu  gibt  ihm  die  offiziell  anerkannte  Bewegungsfreiheit  das  gute  Recht  und 
den  Schülern  das  Deckelmannsche  Buch  reiche  Gelegenheit,  zumal  es  durch  Hin- 


618  A.  Sergel,   Du  mein  Vaterland,  angez.  von  A.  Zehme. 

weise  auf  treffliche  Werke  von  Biese,  Volkelt,  Walzel,  Witkowski,  Erich  Schmidt 
und  R.  M.  Meyer  Anregung  bietet,  noch  weiter  zu  forschen  und  sich  auch  etwas 
philosophisch  zu  bilden.  Denn  alle  philosophischen  Fragen  behandelt  Deckelmann 
mit  besonderer  Vorliebe. 

Ein  Wunsch  noch !  Einmischung  in  Angelegenheiten,  die  mich  offiziell  nichts 
mehr  angehen,  wird  man  in  dem  Wunsche  nicht  sehen.  Solchen  Leuten,  wie  Deckel- 
mann, sollte  man  sofort  ein  pädagogisches  Seminar  geben  und  diesem  tüchtige 
Kandidaten  überweisen,  die  eine  vornehme  Deutschfakultas  besitzen.  Dann  kann 
man  Schule  machen  und  tiefwirkende  Deutschlehrer  heranziehen,  die  es  ver- 
stehen, den  Kollegen,  die  mit  mehr  Stunden  im  Unterrichtsplan  als  sie  selber 
gesegnet  sind,   die  häusliche  Butter  vom  Brot  zu  nehmen.  — 

Berlin.  A.  Matthias. 

Sergel,  Albert,  Du  mein  Vaterland.  Eine  Sammlung  nationaler  Dichtung 
von  Friedrich  dem  Großen  bis  auf  unsere  Tage.  Mit  Bildschmuck*  von  Anton 
Hoffmann.  Reutlingen  o.  J.  Ensslin  &  Laiblin.  479  S.  geb.  3,80  M. 
Rechtzeitig  zu  den  bevorstehenden  patriotischen  Gedenkfeiern,  der  Hundert- 
jahrfeier der  Freiheitskriege  und  der  Errichtung  des  Völkerschlachtdenkmals  1913, 
der  25  jährigen  Wiederkehr  des  Dreikaiserjahres  1888  und  dem  25  jährigen  Regie- 
rungsjubiläum Wilhelms  II.  1913,  ist  die  vorliegende  Sammlung  nationaler  Dichtung 
erschienen.  Die  besten  Lieder  alter  und  neuer  Sänger,  von  Klopstock,  Goethe, 
Schiller,  den  Dichtern  der  Freiheitskriege  bis  auf  Fontane,  Wildenbruch,  Liliencron 
und  den  Dichtern  der  Gegenwart,  tönen  an  unser  Ohr  und  dringen  in  unser  Herz. 
In  fünf  Abschnitten  wird  die  glorreiche  Vergangenheit  in  unser  Gedächtnis  zurück- 
gerufen, d.  h.  das  Zeitalter  des  alten  Fritz,  die  Freiheitskriege,  die  Zeit  der  deutschen 
Träume  1815 — 1864,  die  Kriegsjahre  1864 — ■1871  und  die  Errichtung  des  deutschen 
Kaiserthrones,  endlich  die  Zeit  im  neuen  Deutschen  Reich.  Alle'die  vaterländischen 
großen  Männer  bis  auf  Moltke,  Bismarck,  die  Helden  vom  Iltis,  die  Kämpfer  in 
Afrika  und  Zeppelin,  sowie  die  ehrwürdigen  Gestalten  bedeutender  preußischer 
Könige  ziehen  an  unserm  Auge  vorüber.  Die  Auswahl  zeugt  von  guter  Umsicht 
und  feinem  Geschmack  des  durch  seine  eigenen  Dichtungen  und  Kinderlieder 
(„Ringelreihen"  etc.)  auch  schon  der  Jugend  bekannten  Herausgebers.  Dabei  wird 
mit  anerkennenswertem  Takt  nur  dem  schlichten,  echten  Patriotismus,  nicht  dem 
Chauvinismus,  das  Wort  gegeben.  Das  mit  hübschen  Illustrationen  geschmückte 
und  auch  sonst  gut  ausgestattete  Buch  kann  allen  Schul-,  Volks-  und  Vereins- 
bibliotheken warm  empfohlen  werden  und  ist  auch  zu  Prämienzwecken  wohl- 
geeignet. * 

Berlin-Wilmersdorf.  Arnold   Zehme. 

Gesundbrunnen  1913.  Herausgegeben  vom  D  ü  r  e  r  b  u  n  d  e.  Georg  D.  W. 
Callwey.  München. 
Der  Kalender  Gesundbrunnen  bringt  auf  224  Seiten  sehr  wertvolle  Beiträge 
aus  allen  Gebieten  des  Natur-  und  Kulturlebens,  Scherzhaftes  und  Ernstes,  Poesie 
und  Prosa,  Erzählbares  und  Sangbares,  prächtige  Zeichnungen,  Schattenrisse  und 
Vignetten.    Dabei  hält  er  sich  frei  von  allem  Konfessionellen  und  frei  vom  garstig 


G.   Schneider,   Lesebuch  aus  Piaton  und  Aristoteles,  angez.  von  B.  v.  Hagen.     619 

Politischen.  Er  gehört  deshalb  ins  deutsche  Haus  wie  wenige  andere  Kalender. 
Und  er  ist  so  leicht  erschwingbar;  kostet  nur  60  Pfennig,  bei  Bezug  von  mindestens 
50  Stück  nur  50  Pfennig.  Der  Gewinn  des  Kalenders  wird  restlos  für  die  gemein- 
nützigen Zwecke  des  Dürerbundes  verwandt. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Schneider,  Gustav,  Lesebuch  aus  Platon  und  Aristoteles. 
Für  den  Schulgebrauch  herausgegeben.  Dritte  erweiterte  Auflage.  Wien 
und  Leipzig  1912.  (Tempsky-Freytag.)  243  S.  geb.  3  K  60  h  -  3  M. 
Das  frühere  ,, Lesebuch  aus  Platon"  ist  nunmehr  ein  Lesebuch  aus  Platon 
und  Aristoteles  geworden,  und  dafür  haben  die  höheren  Schulen  dem 
ausgezeichneten  Forscher  und  Pädagogen  ganz  besonders  dankbar  zu  sein.  Plato 
ist  der  größere  Raum  zugewiesen;  „denn  er  ist  der  schöpferische  Geist  und  infolge 
seiner  dichterischen  Begabung  Meister  des  Stils  und  der  Darstellung".  Aber  Aristo- 
teles in  einer  Prima  der  Gymnasien  nicht  zur  Geltung  kommen  lassen,  heißt  seine 
Wirkung  auf  den  Ausbau  der  Wissenschaften  verkennen  und  der  Jugend  eines  der 
wichtigsten  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Philosophie  vorenthalten.  G.  Schneider 
hat  das  richtige  Verhältnis  bei  der  Auswahl  aus  den  Schriften  der  beiden  Denker  mit 
der  ihm  eigenen  Sicherheit  und  Klarheit  getroffen.  Sieht  man  von  den  in  u  n  - 
verkürzter  Gestalt  abgedruckten  drei  Schriften  Piatons  (Apol.,  Kriton,  Enthy- 
phron)  ab,  so  ergibt  sich  für  die  zur  Einführung  in  die  Platonische  und  Aristote- 
lische Philosophie  ,, ausgewählten  Abschnitte"  aus  den  Schriften  des  Platon  und 
Aristoteles  das  Zahlenverhältnis  5:1.     Und  das  ist  durchaus  richtig. 

Die  Anlage  des  Ganzen  ist  die  gleiche  geblieben,  wie  sie  die  zweite  Auflage 
bot.  Doch  ist  der  P  a  r  a  1 1  e  1  i  s  m  u  s  zwischen  den  einzelnen  Abschnitten  der 
beiden  Teile  des  Lesebuches  noch  strenger  durchgeführt.  So  entspricht 
jetzt  dem  V.  Abschnitte  aus  Aristoteles  „das  Wesen  der  Tragödie" 
(Poetik  p.  1447  a  13—1454  b  im  Auszug)  ein  V.  Abschnitt  aus  Platon  „Wesen 
und  Wirkung  der  nachahmenden  Poesie"  (Politeia  X,  p.  595  A  ff.  Neu  aufge- 
nommen!). Andererseits  ist  dem  (VI.)  Abschnitte  aus  Platon  „die  Unsterb- 
lichkeit der  Seele"  ein  (VI.)  Abschnitt  aus  A  r  i  s  t  o  t  e  1  e  s  „unser  unsterblicher 
Teil"  (de  anima  III,  p.  429  a  10— 430  a  33)  gegenübergestellt;  dieser  Abschnitt 
fehlte  früher.  Welche  Bedeutung  solcher  Parallelismus  für  den  Unterricht  hat, 
brauche  ich  nicht  auszuführen.  Schneiders  Buch  ist  wirklich  ein  pädagogisches 
Kunstwerk  ersten  Ranges  und  ist  des  Erfolges  bei  verständiger  Benutzung  gewiß. 
Daß  sich  Schneider  entschlossen  hat,  auch  den  „Euthyphron"  —  außer  „Apo- 
logie" und  „Kriton"  —  unverkürzt  abzudrucken,  ist  einem  Wunsche  aus  dem  Kreise 
der  Gymnasiallehrer  zuzuschreiben.  Freilich  ist  er  dadurch  genötigt  worden,  in 
dem  Abschnitte  (I)  „die  Erkenntnis  der  Wahrheit"  unter  No.  3  („die  Wahrheit 
ist  in  den  Begriffen  gegeben")  Euthyphron  p.  5  C— D,  6  C— E,  ebenso  in  dem  Ab- 
schnitte (III)  „die  Tugend"  unter  No.  3d  („die  Frömmigkeit")  p.  12  D— 14  C 
derselben  Schrift  von  neuem  abzudrucken. 

Neu  aufgenommen  sind  ferner  Protag.  p.  310  A— 316  A,  317  E— 319  A, 
324  D— 326  E,  Gorg.  p.  482  C— 484  C,  Sympos.  p.  215  A— 217  A,  219  E— 222  A, 
Laches  p.  187  B— 189  B,  Phaidon  p.  57  A— 69  E.    Damit  hat  Schneider  auch  dem 


620  Lesebuch  aus  Piaton  und  Aristoteles,  angez.  von  B.  v.  Hagen. 

Wunsche  Rechnung  getragen,  es  möge  durch  Heranziehung  poetisch  wert- 
voller Dialogszenen  dem  Dichter  in  Piaton  sein  Recht  gewährt  werden.  (Vgl. 
V.Bamberg,  Jahresber.  über  das  höhere  Schulwesen  XX HI.  Jahrg.  [1908]  VH,  8.) 

Nörgler  werden  den  oder  jenen  Abschnitt  gestrichen,  andere  hinzugefügt 
wünschen:  bei  einer  Auswahl  allen  recht  tun,  ist  nun  einmal  unmög- 
lich. Schneider  bietet  mehr  als  irgendein  Lehrer  in  den  der  philosophischen 
Lektüre  zur  Verfügung  stehenden  Stunden  lesen  kann.  Das  ist  kein  Vorwurf,  son- 
dern eine  Anerkennung.  Nur  so  kann  der  Lehrer  den  verschiedenen  Generationen 
gerecht  werden.  Er  wird  beispielsweise  mit  durchschnittlichen  Jahrgängen  die 
ethisch-politischen  Abschnitte,  mit  philosophisch  gerichteten  mehr  die  meta- 
physisch-erkenntnistheoretischen Abschnitte  lesen. 

Das  Lesebuch  aus  Piaton  und  Aristoteles  in  seiner  neuen  Gestalt  ist  die  reifste 
Frucht  der  wissenschaftlichen  und  pädagogischen  Arbeit  des  Mannes,  der  von 
H.  St.  Sedlmayer  (Zeitschr.  für  österr.  Gymn.  1911,  X.  Heft,  S.  897)  mit 
gutem  Grund  ,, gegenwärtig  unbestritten  der  beste  Platokenner"  genannt  wird. 
Hinzufügen  will  ich,  daß  derselbe  ausgezeichnete  österreichische  Schulmann  ,,die 
Einführung  in  die  hellenische  Welt-  und  Lebensanschauung  durch  die  Lektüre 
Piatos''  auf  Grund  des  in  Österreich  immer  weitere  Verbreitung  findenden  Schnei- 
derschen  Lesebuches  gegeben  hat  (Wien  1910).  Wenn  die  preußischen  Lehrpläne 
Einführung  in  das  Geistes-  und  Kulturleben  des  Altertums  fordern,  so  hat  Schneider 
in  einzigartiger  Weise  —  unterstützt  durch  jahrzehntelange  Forschungsarbeit 
und  25  jährige  Unterrichtspraxis  in  der  Prima  —  diese  Forderung  für  Piaton  und 
Aristoteles  voll  erfüllt. 

Wir  können  nur  wünschen,  daß  die  Liebe  und  Begeisterung  für  die  vornehmsten 
Denker  der  Griechen,  die  G.  Schneiders  Unterricht  allezeit  so  wertvoll  und  an- 
regend gestalteten,  durch  die  dritte  Auflage  seines  Buches  in  immer  weitere  Kreise 
der  Gymnasiallehrer  Eingang  finden.  Das  Innenleben  unserer  Jugend  wird  dann 
eine  wirkliche  Bereicherung  und  eine  bleibende  Vertiefung  erfahren.  Handelt  es 
sich  doch  hier  um  das  höchste  Ziel  überhaupt,  um  die  Vermittelung  einer  Welt- 
anschauung. 

Zum  Schluß  eine  technische  Bemerkung.  Um  die  Benützung  der  „Erläu- 
terungen" (1911)  zu  dem  Lesebuche  aus  Piaton  „mit  einem  Anhange  aus  Aristo- 
teles" (Titel  der  früheren  Auflage!)  für  die  dritte  Auflage  zu  ermöglichen,  sind 
in  ihr  die  entsprechenden  Seitenzahlen  der  Erläuterungen  unter  dem  Texte 
angegeben  (z.  B.  E.  63),  für  den  Euthyphron  und  die  neu  aufgenommenen  Ab- 
schnitte aus  dem  Phaidon  die  Seitenzahlen  in  den  (ebenfalls  bei  Tempsky-Freytag 
erschienenen)  rühmlichst  bekannten  Kommentaren  Schneiders  zu  diesen  Dialogen 
(z.  B.  K.  32 — 34).  Die  Fürsorge  geht  sogar  noch  weiter:  für  die  in  der  f  r  ü  h  e  - 
ren  Auflage  schon  abgedruckten  Phaidonabschnitte  ist  die  Seitenzahl  der  „Er- 
läuterungen" u  n  d  des  Kommentars  angegeben  (z.  B.  E.  109 — 110,  K.  104 — 105). 
Auch  für  Apologie  und  Kriton  sind  solche  doppelten  Hinweise  gegeben,  K.  be- 
,deutet  hier  die  zweite  Auflage  des  Kommentars). 

Das  Verzeichnis  der  Eigennamen  ist  mit  peinlichster  Sorgfalt  gearbeitet  und 
gibt  viele  Winke  zur  Belebung  des  Unterrichts,  namentlich  nach  der  künstlerischen 
Seite  hin.     Die  „Einleitung"  S.  9—39  ist  meisterhaft. 

Jena.  Benno  v.  Hagen. 


J.  Bezard,  De  la  methode  litteraire,  angez.  von  W.  Bohnhardt.  621 

Bezardy  J.,  De  la  methode  litteraire.  Journal  ä'  u  n  P  ro- 
fesseur  dans  une  C  lasse  de  Premiere.  Paris  1911.  Librairie 
Vuibert.  20/12«.  738  S. 
Bezard  ist  uns  kein  Unbekannter  mehr.  Seine  Classe  de  Francais:  Journal  d'un 
Professeur  dans  une  division  de  Seconde  C  (latin-sciences),  in  der  er  zeigt,  wie  ge- 
wissermaßen Musterleistungen  im  französischen  Aufsatz  zu  erzielen  seien,  hatten 
wir  zu  unserer  großen  Freude  in  der  Monatschrift  VII I,  57  ff.  warm  empfehlen  können. 
Im  Nachwort  hatte  er  auch  einen  Lehrbericht  über  die  Prima  in  Aussicht  gestellt, 
der  seine  Methode  in  der  Erklärung  der  Autoren  der  öffentlichen  Beurteilung  unter- 
breiten sollte.  Mit  dem  zu  Ostern  1911  erschienenen,  mehr  als  stattlichen  Band, 
der  eine  Unsumme  von  Arbeit  darstellt,  hat  er  sein  Wort  glänzend  eingelöst.  Zum 
Verständnis  der  Schrift  und  der  Gründe,  die  mit  für  die  Abfassung  maßgebend 
gewesen  sein  mögen,  ist  ein  Hinweis  auf  eine  wohl  bei  uns  nicht  allgemein  bekannte 
Tatsache  am  Platze.  Mit  besonderer  Liebe  ist  von  jeher  in  Frankreich  auf  den 
Gymnasien  die  Muttersprache  gepflegt  und  Hauptwert  auf  eine  elegante,  form- 
vollendete Darstellung  gelegt  worden.  Die  neuen  Lehrpläne  von  1902,  die  eine 
Herabsetzung  der  Stundenzahl  des  Französischen  zugunsten  anderer  Disziplinen 
vorsehen,  haben  eine  gewaltige  Bewegung  im  Interesse  der  gefährdeten  Mutter- 
sprache („la  crise  du  Francais'')  hervorgerufen.  In  Vorträgen  und  Zeitungen 
traten  hervorragende  Männer  kräftig  und  begeistert  für  einen  uneingeschränkten 
Betrieb  der  Sprache  ein,  der  allein  die  Pflege  eines  schönen  und  edlen  Ausdrucks 
im  alten  Umfange  zuließe.  Zu  diesen  Vorkämpfern  gehört  neben  L  a  n  s  o  n  , 
der  im  Musee  Pedagogique  am  28.  Januar  1909  einen  Vortrag  über  „la  Crise  des 
Methodes  dans  V Enseignement  du  Francais''  hielt,  auch  Bezard.  Er  besprach 
in  derselben  Gesellschaft  bald  darauf  die  Behandlung  der  Literaturgeschichte 
auf  der  höheren  Schule.  Nach  ihm  ist  —  ganz  im  Gegensatz  zu  dem  früheren 
verkehrten  Verfahren  —  die  Literaturgeschichte  im  engsten  Ausschluß  an  die  in 
der  Klasse  gelesenen  Autoren  zu  behandeln,  und  gleicherweise  haben  die  schrift- 
lichen Arbeiten  zu  ihr  in  unmittelbare  Beziehung  zu  treten.  Dementsprechend 
sagt  das  Vorwort  unserer  Schrift  (S.  4)  „nous  avons  täche,  malgre  le  peu  de  temps 
qui  nous  etait  accorde,  de  lire  nous-memes  les  texte  s  or  iginaux  et  de  ne  lire 
ü  peu  pres  qu'eux."  Grundrisse  der  Literaturgeschichte  bedarf  er  im  Unterricht 
höchstens  zum  Nachschlagen  von  Daten  oder  biographischen  Einzelheiten.  Mit 
Virtuosität  hat  Bezard  in  dem  Buche  seine  Theorie  praktisch  durchgeführt;  ver- 
blüffend ist  seine  Kenntnis  der  Literatur  und  gewaltig  die  Menge  von  Schriften, 
die  er  mit  den  Schülern  nach  voraufgehender  Hauslektüre  durchspricht.  Geschickt 
stellt  er  bei  Erörterung  einzelner  Fragen  Verwandtes  zusammen.  Bei  Rousseau 
z.  B.  empfiehlt  er  vom  Pastor  Ch.  Wagner  „La  Vie  simple".  Ausdrücklich 
möchten  wir  auf  dieses  treffliche,  bereits  in  17.  Auflage  vorliegende  Werk  die  Auf- 
merksamkeit unserer  Fachgenossen  lenken,  „das  nützlichste  Buch",  das  nach 
Präsident  Roosevelt  die  Amerikaner  lesen  sollten.  Den  Stoff  für  die  Lektüre  und 
Besprechung  hat  Bezard  nach  5  Gesichtspunkten  (vom  Jahre  1600  an)  geordnet. 
Der  erste  Hauptabschnitt  ist  betitelt:  Les  caracteres  de  la  Science  au  debut  du  if 
siede,  ou  les  origines  de  la  raison  classique,  der  letzte :  Uapplication  de  la  methode 
classique  ä  l'epoque  contemporaine:  Du  Romantisme  au  Realisme.    Der  Durchnahme 


622  R.  V.  Pöhlmann,  Aus  Altertum  und  Gegenwart, 

einer  einzelnen  Gruppe  sind  10 — 20  Unterrichtsstunden  gewidmet.  Welche  An- 
regung durch  seine  Textbehandlung  Bezard  auch  uns  geben  kann,  zeigt  treffend, 
um  nur  einen  Fall  herauszugreifen,  in  dem  Kapitel:  Imagination  de  V.  Hugo  die 
Interpretation  des  auch  auf  unseren  Schulen  gern  gelesenen  Abschnittes  aus  der 
E  X  p  i  a  t  i  0  n  (//  neigeait  bis  Waterloo).  Hier  kann  mancher  noch  lernen.  Über 
den  Wert  des  Buches  im  einzelnen  brauchen  wir  uns  nicht  weiter  auszulassen.  Wir 
dürfen  ihm  alles  an  seinem  Vorgänger  gekennzeichnete  Gute  nachrühmen. 
Kollegen  Bezard  unser  herzlichster  Glückwunsch  zu  der  trefflichen  Leistung.*) 
Düsseldorf.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t. 

von  Pöhlmann,  Robert,  Aus  Altertum  und  Gegenwart;  Gesammelte 
Abhandlungen.  Neue  Folge.  München  1911.  C.  H.  Becksche  Verlagsbuch- 
handlung.    Vf  u.  322  S.     8».     geh.  6  M. 

Dem  ersten  Band  gesammelter  Abhandlungen  ,,Aus  Altertum  und  Gegenwart", 
der  kürzlich  in  zweiter  umgestalteter  und  verbesserter  Auflage  erschien  und  von 
mir  in  dieser  Zeitschrift  angezeigt  wurde,  hat  der  Verfasser  jetzt  eine  neue  Folge 
hinzugefügt,  und  wir  sind  ihm  dankbar  dafür,  daß  er  diese  Abhandlungen,  in  denen 
eine  Reihe  von  Problemen,  welche  für  die  Erkenntnis  der  Antike  von  grundlegender 
Bedeutung  sind,  noch  einmal  durchgearbeitet  hat  und  so  weiteren  Kreisen  in  ver- 
besserter, dem  jetzigen  Stand  der  Wissenschaft  entsprechender  Gestalt  vorlegt. 
Die  Themata  sind:  1.  Das  Sokratesproblem,  2.  Tiberius  Gracchus  als  Sozial- 
reformer, 3.  ,,An  Cäsar!"  ,,Über  den  Staat".  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  an- 
tiken Publizistik,  4.  Die  Geschichte  der  Griechen  und  das  neunzehnte  Jahrhundert. 
—  Die  drei  ersten  Arbeiten  erschienen  früher  in  den  Sitzungsberichten  der  Kgl. 
bayer.  Akademie  der  Wissenschaften  1906,  1907  und  1904,  die  letzte,  eine  Festrede 
zur  Feier  des  143.  Stiftungstags  der  genannten  Akademie,  1902. 

Pöhlmann  unterzieht  die  Bilder,  die  Plato  und  Xenophon  von  Sokrates  ent- 
worfen haben,  einer  gründlichen  Kritik.  Dann  prüft  er  eingehend  die  mit  dem  Be- 
ginn dieses  Jahrhunderts  über  ihn  erschienenen  Arbeiten,  legt  die  widersprechen- 
den und  zum  Teil  in  sich  wieder  widerspruchsvollen  Urteile,  das  Unzulängliche 
und  Unzutreffende  in  ihnen  klar  und  zeigt,  wie  wir,  wenn  auch  jetzt  immer  ent- 
schiedener Ernst  gemacht  wird  mit  der  „Emanzipation  von  der  antiken  Stilisierung 
des  Sokratesbildes",  doch  noch  zu  keinem  allseitig  klaren  und  richtigen  Bilde 
dieses  wunderbaren  Mannes  gelangt  sind.  Ihm  ist  Sokrates  der  nüchterne,  kritische 
Forscher,  der  ganz  und  gar  in  der  begrifflichen  Bearbeitung  der  Erschei- 
nungen aufgeht  und  in  der  Befriedigung  dieses  rein  wissenschaftlichen 
Erkenntnisdranges  das  ,,h  ö  c  h  s  t  e  Gut"  sieht,  der  sich  in  seinem  wissenschaft- 
lichen Denken  nur  durch  die  Vernunft  beraten  und  nicht  durch  Autoritäten,  durch 
die  Forderungen  irgendeiner  Macht  binden  läßt:  ein  wahrhaft  vorbildlicher  Ver- 
treter des  Prinzips  wissenschaftlicher  Voraussetzungslosig- 
k  e  i  t !  Vor  allem  ist  es  (nach  E.  Meyer)  die  Persönlichkeit  des  Sokrates,  an  der 
es  uns  so  recht  klar  wird,  daß  ,,die  Entwicklung  des  griechischen  Geistes  nicht  in 

*)  Sie  hat  inzwischen  auch  in  England  und  Amerika  uneingeschränktes  Lob  ge- 
funden. 


angez.  von  Fr.  Heußner.  623 

eine  neu6  Religion  ausmünden  konnte,  sondern  nur  in  die  Schöpfung  der  W  i  s  s  e  n  - 
s  c  h  a  f  t".  Damit  wird  ein  Vergleich  mit  Hiob,  mit  Christus  u.  a.  als  unzutreffend 
zurückgewiesen,  auch  wird  das  ootifj-oviov  in  seiner  Bedeutung  für  Sokrates  in 
das  rechte  Licht  gestellt.  Trotz  seiner  überzeugenden  Darstellung  wird  der  Ver- 
fasser noch  manchen  Widerspruch  finden,  doch  danken  wir  ihm  für  die  Aufklärung, 
die  vieles  in  dem  ,,Sokratesproblem"  durch  ihn  gefunden  hat. 

Diesem  Aufsatz  ist  in  seiner  Tendenz  verwandt  der  letzte  des  Buches  ,,Die 
Geschichte  der  Griechen  und  das  19.  Jahrhundert".  Über  die  Frage,  was  die  Alten, 
insbesondere  die  Griechen  für  uns  bedeuten,  hat  man  nur  zu  oft  verkannt, 
was  sie  s  e  1  b  s  t  waren,  und  wie  es  damals  , »eigentlich  gewesen".  Jenes  , .kanoni- 
sierte" Griechentum  sollte  seinerzeit  der  Leitstern  sein  für  die  ästhetische  Er- 
ziehung des  .Menschen,  wie  sie  Schiller  als  höchstes  Bildungsideal  proklamiert  hat. 
Dieser  von  der  Wissenschaft  überwundene  Geist  des  Klassizismus  lebt  als  ein  idealer 
Mustertypus  und  maßgebendes  Vorbild  zum  Teil  immer  noch  in  der  Tradition  der 
Schule  fort,  und  viele  meinen,  daß  wenigstens  unsere  Jugend  in  dem  Glauben  an 
die  Realität  des  konventionellen  Idealbildes  der  Antike  auch  ferner  zu  erziehen 
sei,  Fiktionen,  die  Pöhlmann  entschieden  verwirft.  Dann  wendet  er  sich  gegen  den 
,, Griechenstaat  der  liberalen  Legende  mit  seinem  stilisierten  Antlitz",  der  in  der 
Verdunkelung  der  Wirklichkeit  hinter  den  Idealtypen  des  ästhetischen  PClassizis- 
mus  nicht  weit  zurückbleibt.  Hier  wird  die  G  r  o  t  e  sehe  Geschichtsauffassung 
und  -darstellung  besonders  charakterisiert  und  kritisiert,  dessen  Geschichte  schon 
im  1.  Bande  der  Abhandlungen  des  Verfassers  eine  eingehende  Beurteilung  ge- 
funden hat,  und  es  werden  die  Gründe  entwickelt  für  diese  fehlerhafte  politische 
Romantik  des  Klassizismus.  Er  zeigt  uns  den  „tragischen  Riß,  der  durch  die  helle- 
nische Hochkultur  wie  durch  alle  hohe  Kultur  hindurchgeht"  (vgl.  J.  Burck- 
h  a  r  d  t  in  seiner  griechischen  Kulturgeschichte,  dessen  Reaktion  gegen  die  frühere 
Idealisierung  und  Verklärung  vielfach  freilich  zu  weit  geht).  Für  die  geschichtliche 
Beurteilung  des  Griechentums  hat  sich  uns  eine  Welt  neuer  Anschauungen  erschlossen 
und  wir  haben  gelernt,  auch  den  antiken  Menschen  in  seiner  Eigenschaft  als  so- 
ziale s  Wesen  zu  verstehen  (6  avilpoi-o?  ou  aovov  -oaitixöv  cxXXa  xal  oixovofxixöv 
ctüov)  und  die  Erklärung  hellenischer  Sozialtheoretiker,  daß  die  Ungleichheit  des 
Besitzes  die  Ursache  alles  Bürgerkrieges  und  daher  die  Regulierung  des  Güter- 
lebens das  Haupt-  und  Grundproblehi  aller  Politik  sei.  Verfasser  zeigt  die 
Entwicklung  des  politischen  Parteikampfs  zum  sozialen 
Klassenkampf,  das  Zurückdrängen  der  Freiheitsidee  durch  den 
Gleichheits  durst  der  Massen.  Eine  Geschichtsschreibung,  deren  Interesse 
sich  einseitig  auf  den  F  r  e  i  h  e  i  t  s  begriff  konzentriert,  bleibt  weit  hinter  der 
vollen  historischen  Wahrheit  zurück;  erst  die  moderne  sozialgeschicht- 
liche Interpretation  der  Antike  hat  den  vollen  Umfang  der  politischen  und 
gesellschaftlichen  Probleme  erkennen  lassen,  vor  die  sich  bereits  der  antike  Mensch 
gestellt  sah.  Einige  der  Hauptergebnisse  werden  dann  in  Kürze  skizziert,  wir  er- 
kennen, wie  s  0  diese  Geschichte  gerade  dem  modernen  Menschen  nahe  ge- 
bracht ist,  und  es  zeigt  sich  uns  ein  Parallelismus  der  Geschichte,  der  immer  wieder 
den  Vergleich  mit  der  Antike  als  ein  Mittel  der  reizvollsten  und  instruktivsten 
Anregung  zu  neuen  Kombinationen  aufdrängt.  Daß  es  zum  guten  Teil  immer  wieder 


624  G.  Billeter,  Die  Anschauungen  vom  Wesen  des  Griechentums, 

dieselben  großen  Probleme  sind,  die  das  Menschenherz  im  Innersten  beschäftigen 
und  quälen,  das  kommt  in  der  Geschichte  der  Griechen  wie  der  Antike  überhaupt 
in  wahrhaft  typischer  Weise  zum  Ausdruck,  was  besonders  den  Bildungswert  der 
Antike  für  alle  die  erkennen  läßt,  die  zu  denkender  Mitarbeit  an  den  großen  Auf- 
gaben unserer  Kulturwelt  berufen  sind;  sie  hat  für  uns  den  Wert  einer  politischen 
und  sozialwissenschaftlichen  Propädeutik  ersten  Ranges. 

Aus  beiden  Arbeiten  werden  die  Philologen  und  Geschichtslehrer  für  ihren 
Unterricht  reichen  Gewinn  ziehen  können. 

Hinsichtlich  der  anderen  Artikel  muß  ich  mich  kürzer  fassen,  so  verlockend 
es  auch  erscheint,  des  Verfassers  gründliche  geschichtliche  Entwicklung  und  Be- 
weisführung in  der  Hauptsache  wiederzugeben. 

Er  zeigt  uns,  auf  der  Gracchengeschiclite  Appians  fußend,  auch  den  neuesten 
Anfechtungen  gegenüber  den  Tiberius  Gracchus  als  einen  Reformator 
großen  Stils,  dem  es  um  das  gesamte  Wohlbefinden  seines  Volks  zu  tun  war, 
der  auch  als  Sozialpolitiker  stets  grundsätzlich  auf  dem  Boden  der  Re- 
form stehen  geblieben  ist;  und  was  ihm  als  Ziel  vorschwebte,  die  Wiedergeburt 
der  plebs  rustica,  war  ausgesprochen  konservative  Mittelstandspolitik.  Hierbei 
geht  er  auch  mit  Mommsen  und  Wilamowitz  scharf  ins  Gericht. 

Nicht  minder  wertvoll  und  interessant  ist  die  Analyse  der  beiden  Pamphlete 
„An  Cäsar!"  und  „Über  den  Staat",  von  denen  er  zusammenfassend  sagt:  „Wir 
haben  an  ihnen  sehr  bedeutsame,  in  ihrer  Art  für  uns  einzig  dastehende  und  höchst 
wahrscheinlich  zeitgenössische  Quellen  für  die  Erkenntnis  jener  gewaltigsten 
inneren  Krisis  des  römischen  Staates,  ja  allem  Anschein  nach  echte  Sallu- 
s  t  i  a  n  a  nach  langer  Verkennung  wiedergewonnen. 

Die  Arbeiten  zeigen  uns  besonders  auch  die  geschichtliche  Kontinuität  zwischen 
der  antiken  Kultur  und  der  unseren,  die  zahlreichen  Berührungspunkte  zwischen 
beiden  auf  den  verschiedensten  Gebieten  des  religiösen,  des  sittlichen  und  gei- 
stigen, des  sozialen  und  politischen  Lebens,  und  darin  liegt  ein  besonderer  Reiz 
auch  dieses  Bandes,  der  ebenso  wie  der  erste  warm  empfohlen  sei. 

Cassel.  •  F  r.  H  e  u  ß  n  e  r. 

Billeter,  Gustav,  Die  Anschauungen  vom  Wesen  des  Griechen- 
tums. Leipzig  und  Berlin  1911.  B.  G.  Teubner.  XVIII  u.  477  S.  8°.  12  M., 
geb.  in  Leinwand  13  M. 

Ein  historisch-kritisches  Werk,  das  sich  die  Aufgabe  stellt,  die  Anschauungen 
vom  Wesen  des  Griechentums  als  einer  Gesamterscheinung  in  ihren  Hauptzügen 
darzustellen.  Reichen  auch  sowohl  die  Werturteile  wie  die  Erkenntnisurteile  dar- 
über schon  bis  in  das  Altertum  zurück,  so  legt  der  Verfasser  doch  das  Hauptgewicht 
seiner  Arbeit  auf  das  18.  und  das  19.  Jahrhundert,  da  diese  in  der  Geschichte  dieser 
Anschauungen  weitaus  den  ersten  Platz  einnehmen.  Innerhalb  dieses  Rahmens 
wählt  er  eine  systematische  Darstellung,  einmal  wegen  des  Fortbestehens  einer 
großen  Reihe  jener  Anschauungen  über  weite  Strecken,  sogar  die  ganze  Ausdehnung 
jenes  Zeitraumes,  sodann  in  der  Hoffnung,  neben  der  Klarlegung  dieser  Probleme 
sie  auch  mittelbar  zu  fördern,  endlich  um  mit  der  Darstellung  der  Entwicklungen 
und  Wandlungen  jener  Anschauungen  auf  die  zahlreichen  Gegensätze  hinzuweisen, 


angez.  von  F.  Thümen.*  625 

durch  welche  die  ältere  Betrachtungsweise  von  der  heute  mehr  und  mehr  geltenden 
geschieden  ist.  Die  allgemeinen,  besonders  geschichtstheoretischen  Vorbedingungen 
der  Auffassungen  des  Griechentums  werden  um  der  Wichtigkeit  willen  dieser  Ein- 
flüsse genügend  berücksichtigt. 

Das  Buch  ist  in  zwei,  äußerlich  getrennte  Teile  zerlegt,  den  allgemeinen,  dar- 
stellenden, und  den  besonderen,  welcher  die  Belege  für  die  Anschauungen,  Be- 
merkungen zu  diesen  und  Ergänzungen  und  Ausführungen  zu  dem  allgemeinen  Teil 
enthält.  Diese  Belege  können  nur  eine  Auswahl  aus  dem  gewaltig  großen  vorhan- 
denen Stoffe  bieten;  und  wenn  in  ihnen  auch  die  führenden  Persönlichkeiten,  wie 
natürlich,  stärker  berücksichtigt  worden  sind,  so  sind  doch  andere  nicht  ausge- 
schlossen, namentlich  wo  es  sich  um  die  Geschichte  der  Werturteile  handelt.  Daß 
die  Belege  zumeist  ein  möglichst  charakteristisch  ausgewähltes  Wort  des  Autors 
wiedergeben,  ist  als  ein  Vorzug  anzusehen,  da  dies  anschaulicher  wirkt  als  die 
bloße  Angabe  des  Verfassers,  des  Buchtitels  und  der  Seitenzahl. 

So  folgen  wir  dem  Verfasser  zu  dem  ,, Allgemeinen  Teil",  dessen  „Einleitung" 
zunächst  von  den  Versuchen,  den  Begriff  des  „Griechentums"  zeitlich  abzugrenzen, 
und  zugleich  von  der  störenden  Unbestimmtheit  spricht,  die  hierbei  geherrscht 
hat  und  auch  heute  noch  nicht  verschwunden  ist;  im  allgemeinen  freilich  werden 
ziemlich  übereinstimmend  vor  allem  die  vorchristlichen  Jahrhunderte  ins  Auge 
gefaßt,  für  welche  die  Bezeichnungen  des  ,, antiken"  und,  mit  einer  gewissen  Be- 
schränkung, des  „klassischen"  Griechentums  in  Geltung  gewesen  sind,  ohne  es  heute 
noch  unbestritten  zu  sein.  Die  weiteren  Ausführungen  der  beiden  ersten  Abschnitte 
des  Hauptteils  stehen  unter  der  Wahrnehmung  einer  doppelten  Art  der  Auffassung 
des  Griechentums,  nämlich  der  der  Einheitlichkeit  und  der  Differenzierung.  Jene, 
die  ältere  Ansicht,  ist  im  18.  Jahrhundert  entstanden,  während  diese  in  der  zweiten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  sich  entwickelt  hat.  Den  Ursachen  jener  geht  der 
Verfasser  nach,  wie  auch  deren  Wirkungen  und  den  Gefahren,  die  sie  in  sich  birgt. 
Mit  ihr  steht  in  regstem  Zusammenhange  der  Begriff  des  Volkscharakters,  bei  dem  es 
sich  um  eine  Sprachgemeinschaft  als  Trägerin  seelischer  Übereinstimmung  handelt; 
doch  ist  diese  Lehre  allmählich  sowohl  aus  besonderen,  für  die  Betrachtung  des 
Griechentums  maßgebenden  Gründen,  als  auch  deshalb  in  den  Hintergrund  getreten, 
weil  die  neuere  Geschichtsforschung  und  -betrachtung  weniger  auf  die  Gewinnung 
umfassender  Gesamtvorstellungen  und  großer  Zusammenhänge  ausgeht,  als  daß 
sie  von  unten  nach  oben  ihre  Forschungen  anstellt  und  nicht  von  vornherein  eine 
psychische  Einheitlichkeit  behauptet,  namentlich  wenn  lange  Zeiträume  vorliegen, 
in  denen  mehr  oder  minder  große  Änderungen  sich  vollziehen.  Die  Anschauungen 
von  der  Differenzierung  des  Griechentums  andererseits  beruhen  auf  der  zeitlichen 
GUederung  nach  Blüte  und  Verfall,  umschließen  also  zwei  verschiedene  Epochen 
oder,  wenn  die  Entwicklungszeit  als  eine  andersartige,  jene  erste  nur  vorbereitende 
Epoche  angesehen  wird,  deren  drei;  doch  drängt  sich  gerade  hier  der  Begriff  der 
Einheitlichkeit  wieder  auf,  insofern  ein  Werden  und  Vergehen  derselben  Kräfte 
und  Anlagen  innerhalb  dieser  Zeiträume  stattfindet.  Dieser  zeitlichen  Trennung 
steht  eine  örtliche  zur  Seite,  nach  Volksstämmen.  Auch  die  Gründe  allgemeiner 
Art,  durch  welche  die  Anschauungen  von  der  Differenzierung  des  Griechentums 
gefördert  worden  sind,  wie  den  Gedanken  der  Entwicklung,  welche  eine  Wandlung 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  40 


626  G.  Billeter,  Die  Anschauungen  vom  Wesen  des  Griechentums, 

und  ein  Anderswerden  in  sich  schließt,  ferner  die  im  19.  Jahrhundert  erweiterte 
und  vertiefte  Einsicht  in  die  verschiedensten  Seiten  und  Ausdrucksformen  mensch- 
lichen Lebens  und  Schaffens,  endlich  die  Einzelforschung,  welche  das  Verständnis 
für  die  Mannigfaltigkeit  griechischen  Daseins  erst  recht  ermöglicht  und  begründet 
hat,  deren  Ergebnisse  zugleich  aber  auch  zu  der  Einsicht  führten,  daß  das  Griechen- 
tum starke  Gegensätze  in  sich  schloß,  beleuchtet  der  Verfasser;  ebenso  in  den  fol- 
genden Kapiteln,  wie  der  Begriff  des  Zeitalters  in  seiner  Anwendung  auf  das  Griechen- 
tum einerseits  dem  Bestreben  dient,  die  Differenzierung  dieser  Kultur  zu  erfassen, 
zugleich  aber  auch  eine  umfassende  Einheitlichkeit  voraussetzt.  —  Der  vergleichenden 
Betrachtung  des  Griechentums  ist  der  folgende  Abschnitt  gewidmet,  der  zunächst 
die  Voraussetzungen  dieses  Verfahrens  erörtert  und  sich  dann  den  Versuchen 
zu  einer  vergleichenden  Betrachtung  des  griechischen  Volkscharakters  zuwendet, 
die  entweder  auf  einen  Nachweis  seiner  Eigenart  oder,  jedoch  seltener,  des  Gegen- 
teils davon  hinauslaufen  und  danach  in  ihren  Ergebnissen  sich  unterscheiden.  Aus- 
führlich werden  diese  in  bezug  auf  die  Feststellung  der  mannigfaltigen  Eigen- 
schaften, die  den  Griechen  in  besonderem  Maße  zugeschrieben  werden,  erörtert 
und  sodann  die  Anschauungen  von  der  Eigenart  des  differenzierten  Volkscharakters 
beleuchtet.  Die  Versuche,  typische  Züge  in  ihm  zu  finden,  sind  nicht  zahlreich.  — 
Von  der  vergleichenden  Betrachtung  des  Volkscharakters  wendet  sich  sodann  der 
Verfasser  zu  dem  der  griechischen  Kultur,  bei  welcher  wiederum,  wie  bei  jenem, 
die  Anschauungen  sich  dahin  teilen,  daß  sie  entweder  die  gemeinsamen  Züge  und 
deren  Eigenart  suchen  —  wobei  es  auch  hier  an  Gegensätzen  nicht  fehlt  —  oder 
der  Differenzierung  in  der  Zeit,  d.  h.  der  Entwicklungsstufen  der  Kultur  nach- 
gehen. Inwieweit  jene  gemeinsamen  Züge  typisch  sind,  also  mit  anderen  Kulturen 
übereinstimmen  oder  auch  von  ihnen  sich  unterscheiden,  und  welche  Theorien 
zu  den  hierüber  entstandenen  Anschauungen  geführt  haben,  ist  der  Gegenstand 
weiterer  Erörterungen,  ehe  der  Verfasser  zu  dem  dritten  Abschnitte,  der  Bewertung 
des  Griechentums,  gelangt.  Zunächst  wird  auf  den  Unterschied  zwischen  Wert- 
urteil und  Erkenntnisurteil  und  das  Verhältnis  jener  zur  Geschichtswissenschaft 
hingewiesen,  sein  immer  schärferes  Ausscheiden  oder  wenigstens  Zurücktreten 
gegenüber  geschichtlichen  Dingen  mit  der  Gefahr  einer  Entstellung  durch  Tem- 
perament und  persönliche  Neigung  des  Forschers  begründet;  sodann  auf  neuere 
Wandlungen  in  der  Bewertung  geschichtlicher  Erscheinungen  hingewiesen,  die 
durch  den  immer  gewaltiger  anwachsenden  geschichtlichen  Stoff  überhaupt,  durch 
neue  Richtungen  in  Kunst  und  Literatur,  neue  soziale  Ziele,  sodann  auch  durch 
stärkere  Individualisierung  des  Werturteils  und  stärkere  Betonung  des  Subjektiv- 
Persönlichen  bedingt  sind.  Unter  diesen  Einflüssen  ist  das  Griechentum  bewehrtet 
worden;  doch  wird  festgestellt,  daß  die  objektive  Richtung  besonders  im  18.  und 
19.  Jahrhundert  erstarkt  ist  und  zwar  gerade  bei  Männern,  die  dem  Griechentum 
die  tiefste  Verehrung  entgegenbringen.  Die  gleiche  Wirkung  hat  auch  der  wachsende 
zeitliche  Abstand  sowie  der  Einfluß  der  Geschichtswissenschaft  gehabt;  und  endlich 
sind  neuere  allgemeine  Veränderungen  in  der  Bewertung  des  Griechentums  durch 
das  Anwachsen  des  Stoffes  auch  bei  jeder  geschichtlichen  Vergleichung  hervorgerufen 
worden.  Bei  der  Bewertung  des  Griechentums  in  seinem  zeitlichen  Verlaufe  findet 
der  Verfasser  drei  Formeln  der  Anschauungen,  die  zeitgenössisch  griechische,  welche 


angez.  von  F.  Thümen.  627 

die  Vergangenheit  überhaupt  positiv  bewertet,  dann  eine  solche  neueren  Ursprungs, 
welche  die  Stufen  des  Wachsens,  Blühens  und  Verwelkens  ansetzt,  und  eine  dritte, 
gleichfalls  jüngeren  Datums,  die  einen  Höhepunkt  mit  einem  Abfall  nach  rückwärts 
und  vorwärts  annimmt.  Für  die  allgemeine  positive  Bewertung  hat  sich  der  Name 
„Klassizismus"  eingebürgert;  doch  herrscht  über  diesen  Begriff  keine  Überein- 
stimmung, ob  er  sich  auf  das  ganze  Griechentum  bezieht,  oder  ob  einzelne  Kultur- 
erscheinungen im  Vordergrunde,  andere  in  zweiter  Linie  stehen,  und  ob  er  sich  auf 
bestimmte  Zeiten,  bestimmte  Landstriche  wie  Athen  beschränkt.  Dieser  Klassi- 
zismus hat  der  Erkenntnis  des  Griechentums  vielfach  im  Wege  gestanden,  anderer- 
seits sie  auch  durch  die  Fülle  der  Kräfte,  die  er  in  diesem  Gebiete  der  Geschichte 
zuführte,  kräftig  gefördert.  Die  negative  Bewertung  des  Griechentums  hat  im 
Christentum  ihren  Höhepunkt  erreicht,  indem  es  besonders  Religion,  Staat  und 
soziale  Zustände  zu  Angriffspunkten  nahm;  ihr  zur  Seite  tritt  die  moderne  Kritik, 
die  das  Griechentum  an  den  eigenen  Zielen,  Werten  und  Schöpfungen  mißt  und  im 
besonderen  vom  deutsch-nationalen  Standpunkte  aus  gegen  die  Rolle  des  Griechen- 
tums in  der  Erziehung  streitet.  —  Der  letzte  Abschnitt  betrachtet  die  Anschauungen 
von  den  allgemeinen  Bedingungen  des  Griechentums,  und  zwar  zunächst  die  neueren 
Wandlungen  der  Auffassung  geschichtlicher  Zusammenhänge  im  allgemeinen  und 
bei  ihm  im  besonderen.  Vom  18.  Jahrhundert  an  bis  zur  Mitte  des  19.  macht  sich 
eine  sehr  starke  Vertiefung  der  kausalen  Erfassung  geschichtlicher  Erscheinungen, 
die  vorwiegend  auf  das  Allgemeine,  auf  das  Einheitliche  und  Bleibende  großer  ge- 
schichtlicher Kreise  gerichtet  ist,  bemerkbar.  Beim  Griechentum  zerfallen  die  auf- 
gestellten allgemeinen  Kausaltheorien  in  zwei  Hauptgruppen,  deren  eine  zur  Er- 
klärung der  Blüte,  die  andere  zur  Deutung  des  Verfalls  dienen  soll,  jene  also  die 
ältere,  diese  die  jüngere  Zeit  behandelt.  Von  besonderen  Theorien  werden  die 
zeitliche,  die  geographischen  —  Versuche,  das  Griechentum  als  eine  singulare 
Erscheinung  aus  seinen  individuellen  geographischen  Bedingungen  heraus  zu  er- 
klären — ,  die  ethnischen  —  die  Frage,  ob  der  griechische  Volkscharakter  als  eigen- 
artig oder  als  typisch  anzusehen  ist  —  und  die  orientalische,  welche  die  unmittel- 
bare Einwirkung  fremder,  älterer,  orientalischer  Kulturen  als  das  entscheidende 
Moment  in  dem  Vorgange  des  Werdens  des  Griechentums  behauptet,  erwähnt, 
in  bezug  auf  letztere  auch  richtig  hervorgehoben,  daß  seit  dem  Bekanntwerden 
der  kretisch-ägäischen  Kultur  und  dem  Eintreten  der  ägyptisch-babylonischen 
Welt  in  den  Kreis  der  Forschungen  „Alles  noch  fließt".  Weiter  kommen  hier  noch 
eine  Anzahl  von  Theorien  in  Betracht,  nach  denen  die  Entfaltung  der  griechischen 
Kultur  auf  bestimmte  Erscheinungen  innerhalb  ihrer  selbst,  besonders  auf  solche 
im  Staatsleben  —  politische  Geteiltheit,  Kleinstaaterei,  freiheitliche  Verfassung, 
Unabhängigkeit  —  zurückgeführt  wird.  Die  Versuche  endlich,  die  späteren  Epochen, 
des  Verfalls,  zu  erklären,  sind  sehr  zahlreich.  —  In  dem  Schlußworte  wird  die 
neuerdings  mehr  in  den  Vordergrund  tretende  Frage  gestreift,  welche  Bedeutung 
der  geschichtlichen  Wirkung  des  Griechentums  für  dessen  Auffassung  zukomme, 
und  darauf  hingewiesen,  daß  heute  stärker  als  je  sein  Anteil  an  der  Bildung  der  mo- 
dernen Welt  betont  wird;  da  diese  Kultur  als  etwas  Wertvolles  gilt,  erscheint  auch 
das  Griechentum  in  demselben  Lichte. 

Der  Zusammenstellung  und  Beleuchtung  der  Anschauungen  vom  Wesen  des 

40* 


628  H.  Michelis,  Unsere  ältesten  Vorfahren,  angez.  von  R.  v.  Hanstein. 

Griechentums  im  ersten  Teile  des  Buches  folgen  wir  mit  Interesse,  da  sie  in  der 
gewählten  zeitlichen  Beschränkung  Wesentliches  nicht  vermissen  läßt  und  überall 
ein  gesundes  Urteil  zutage  tritt.  Im  einzelnen  hätte  bei  der  Besprechung  des  grie- 
chischen Volkscharakters  stärker  betont  werden  können,  daß  eine  psychische 
Differenzierung  auch  auf  das  Bestehen  von  Ständen  in  den  einzelnen  Städten 
und  Staaten  zurückzuführen  ist,  stärker  auch  an  anderer  Stelle  die  hohe  positive 
Bewertung  des  Griechentums  durch  den  Neuhumanismus.  Der  Schwerpunkt  des 
Buches  aber  liegt  in  dem  zweiten,  dem  besonderen  Teile,  der  auf  fast  400  Seiten 
die  Belege  bringt  und  als  eine  mit  außerordentlicher  Sorgfalt  geschaffene  Sammel- 
arbeit bezeichnet  werden  muß,  die  für  den  Lehrer  wie  besonders  den  Forscher 
auf  diesem  Gebiete  von  hohem  Werte  ist;  dieser  wird  noch  durch  die  bei  einem 
solchen  Werke  unentbehrlichen  Autoren-  und  Sachregister  erhöht.  Die  Hoffnung, 
welche  der  Verfasser  am  Schlüsse  der  Vorrede  ausspricht,  man  werde  ihm  den 
zweiten  Teil  des  Satzes  des  Kallimachos  von  dem  iiiya  ßißXiov  erlassen,  darf  er 
als  erfüllt  betrachten. 

Naumburg  a.  S.  F.  T  h  ü  m  e  n. 

Michelis,  H.,  Unsere  ältesten  Vorfahren,  ihre  Abstammung 
und  Kultur.  Leipzig  und  Berlin  1910.  B.  G.  Teubner.  35  S.  8».  0,80 M. 
Die  kleine  Schrift  gibt  in  etwas  erweiterter  Form  den  Inhalt  eines  vom  Ver- 
fasser gehaltenen  Vortrages  wieder.  Ihr  Zweck  ist  nicht,  Neues  zu  bringen,  sondern 
das  über  die  ältesten  beglaubigten  Vorfahren  des  Menschen  Bekannte  kurz  darzu- 
legen. In  dem  einleitenden  Abschnitt  behandelt  Michelis  die  Frage  nach  der  Ab- 
stammung des  Menschen  und  stellt  kurz  die  Tatsachen  zusammen,  die  auch  für  den 
Menschen  ^ine  Entwicklung  aus  niederen  Säugetierformen  wahrscheinlich  machen. 
So  viele  Gründe  aber  auch  zugunsten  dieser  Annahme  sprechen,  so  ist  es  doch  wissen- 
schaftlich nicht  richtig,  ihren  hypothetischen  Charakter,  den  sie  mit  allen  auf  ver- 
gangene; direkter  Beobachtung  nicht  zugängliche  Vorgänge  bezüglichen  Annahmen 
teilt,  zu  verschleiern.  Wenn  der  Verfasser  am  Schlüsse  seiner  Schrift  den  Satz  aus- 
spricht: „Heute  wissen  wir,  daß  Darwin  in  seiner  Anschauung  von  der  Entwicklung  des 
Menschen  recht  hatte",  so  ist  dies  tatsächlich  nicht  richtig;  wir  w  i  s  s  e  n  es  nicht, 
wir  haben  nur  viel  und  gute  Gründe  es  anzunehmen,  und  gerade  in  Schriften, 
die  sich  an  einen  weiteren  Leserkreis  wenden,  ist  es  erforderlich,  die  Grenze  zwischen 
Tatsachen  und  erklärenden  Hypothesen  überall  deutlich  erkennen  zu  lassen.  Den 
Hauptteil  der  Schrift  bildet  eine  kurze,  durch  eine  Reihe  von  Abbildungen  erläuterte 
Uebersicht  über  die  Hauptperioden  vorgeschichtlicher  menschlicher  Kulturentwick- 
lung. Für  Leser,  die  sich  etwas  eingehender  orientieren  wollen,  sind  eine  Anzahl 
von  Literaturangaben  beigefügt.  Als  kurze  orientierende  Übersicht  dürfte  die 
Schrift  manchem  Leser  willkommen  sein;  sehr  tief  dringt  sie  in  die  hier  zu  erörternden 
Probleme  nirgends  ein. 

Gr.-Lichterfelde.  R.  v.  H  a  n  s  t  e  i  n. 

Freytag,  H.,  Aus  Ernestinischer  Vergangenheit.    Weimar  1911. 
W.  Hoffmann.     VII.  u.  191  S.     8«.    2,50  M. 

An  eine  Führung  durch  den  Prinzessinnengarten  zu  Jena,  in  dem  ein  Stück 
klassischer  Vergangenheit  der  Gegenwart  erhalten  ist,  schließt  sich  das  Lebensbild 


L.  E.  Grimm,  Erinnerungen  aus  meinem  Leben,  angez.  von  Fr.  Heußner.       629 

eines  der  größten  Ernestiner,  des  Kriegshelden  Bernhard  von  Weimar.  Die  folgen- 
den Aufsätze,  vorwiegend  biographischen  Inhalts,  knüpfen  teils  an  die  Saale- 
Universität  Jena,  die  Schöpfung  des  Bekennerkurfürsten  Johann  Friedrich,  teils 
an  Weimars  altehrwürdige  Gräberstätte,  den  Jakobsfriedhof,  an.  Die  Lebens- 
bilder alter  Jenenser  —  genannt  seien  vor  allen  der  Mitarbeiter  Luthers,  Matthias 
Flacius,  und  die  Philosophen  Fichte  und  Fries  —  umspannen  ein  Stück  deutscher 
Gelehrtengeschichte  von  den  Tagen  der  Reformation  bis  zum  Ausgange  des  19.  Jahr- 
hunderts. Die  weimarische  Gruppe,  die  Toten  des  Jakobsfriedhofs,  weist  mit 
Lucas  Kranach  ebenfalls  ins  Reformationsjahrhundert  zurück,  schließt  sich  dann 
aber  eng  an  Weimars  klassische  Zeit  an,  in  die  ja  auch  der  schwere  Schicksalsschlag 
der  Schlacht  bei  Jena  fällt.  Wer  an  den  Gräbern  Euphrosynes,  Christianens,  des 
Grafen  Schmettau  und  an  Schillers  erster  Begräbnisstätte  sinnend  gestanden  hat, 
wird  sich  diese  Erinnerung  durch  die  Lektüre  des  Buches  gern  erneuen. 

Der  Verfasser  hat  die  einschlägige  Literatur  gründlich  durchforscht;  seiner 
Darstellung  wünschte  ich  hier  und  da  größere  Knappheit. 

Hamburg.  Heinrich  Gerstenberg. 

Grimm,  Ludwig  Emil,  Erinnerungen  aus  meinem  Leben.  Heraus- 
gegeben und  ergänzt  von  Adolf  S  t  o  1 1.  Leipzig  1911,  Hesse  und  Becker. 
640  S.     kl.  80.     3  M.  *) 

Die  Lebenserinnerungen  des  jüngsten  Bruders  von  Jakob  und  Wilhelm  Grimm 
erscheinen  hier  zum  erstenmal  im  Druck,  und  gewidmet  ist  das  Buch  vom  Heraus- 
geber, der  es  mit  zahlreichen  Bildnissen  und  Abbildungen,  einer  Kartenskizze 
und  einem  Verzeichnis  von  Grimms  Werk  versehen  und  durch  Ergänzung  der 
Lücken,  Briefe  der  Brüder  Jakob,  Wilhelm,  Ferdinand  und  Ludwig  und  andere 
Beiträge  zur  Familiengeschichte  erweitert  hat,  der  Berliner  Universität  zum  hundert- 
jährigen Jubelfest  1910  als  ein  ,, Beitrag  zur  Kenntnis  des  Jugendlebens  auch 
von  Jakob  und  Wilhelm  Grimm".  Wäre  Ludwig  Grimm  auch  nur  der  Bruder 
dieser  beiden  unvergleichlichen  Männer,  so  wäre  er  schon  der  Beachtung  wert;  er 
ist  aber  auch  selbst  ein  trefflicher  und  liebenswerter  Mensch  und  ein  sinniger  Künstler 
gewesen,  der  auch  an  sich  verdient,  nicht  vergessen  zu  werden.  Geboren  1790 
zu  Hanau,  ist  er  als  Professor  an  der  Akademie  der  bildenden  Künste  in  Cassel 
1863  gestorben.  Ist  er  auch  kein  hervorragender  Förderer  seiner  Kunst  geworden, 
so  war  er  doch  als  Maler  und  Radierer  ein  stiller,  anspruchloser  und  beglückter 
Ausüber  derselben.  Viele  haben  sich  an  seinem  Lebenswerk  erfreut,  in  seinen  Bildern 
spiegeln  sich  nicht  weniger  rein  die  Gedanken  jener  Epoche  ab  als  in  den  Werken 
der  Literatur,  und  seine  Porträts  bewahren  treu  die  Züge  vieler,  die  uns  interessieren, 
und  mancher,  die  auf  das  geistige  Leben  unseres  Volkes  nachhaltig  zu  wirken 
berufen  waren.  Dadurch  sind  die  vielen,  größtenteils  noch  nicht  bekannten  Bild- 
nisse, die  das  Buch  schmücken,  besonders  wertvoll. 

Im  Alter  von  etwa  54  Jahren  hat  Ludwig  Grimm  die  Mitteilungen  aus  seinem 
Leben  aufzuzeichnen  begonnen,  und  zwar  zunächst  für  sich  selbst,  allenfalls  wollte 
er  sie  seinen  nächsten  Verwandten  als  ein  Vermächtnis  erhalten;  schade  nur,  daß 


*)   Inzwischen  ist  1912  eine  zweite  Auflage  (7.  bis   10.  Tausend)  erschienen. 


630       L.  E.  Grimm,  Erinnerungen  aus  meinem  Leben,  angez.  von  Fr.  Heußner. 

er  aus  •  Bedenklichkeit  und  Zartgefühl  viele  Stellen,  wo  er  denken  mochte  sich 
zu  offenherzig  geäußert  zu  haben,  später  herausgeschnitten  und  vernichtet  hat. 
Liebevoll  hat  er  sich  in  all  die  alten  Erinnerungen  von  frühester  Jugend  an  ver- 
senkt und  verzeichnet  mit  der  größten  Sorgfalt  alles,  was  sein  Gedächtnis  bewahrt 
hat.  Und  was  wird  uns  alles  erzählt!  Zunächst  das  reizende  Idyll  der  Kinder- 
jahre in  Steinau  unter  der  Obhut  der  ,, liebsten,  besten  Mutter*',  voll  Heimat- 
freude und  Jugendglück;  zugleich  voll  köstlichen  Humors  in  der  Schilderung  des 
Unterrichts  unter  der  Leitung  des  „Stadtpräzeptors"  Zinckhan;  dann  die  drei 
schönen  Wochen  in  Birstein  im  Verkehr  mit  der  schönen  Gräfin  Auguste  von 
Wächtersbach  und  der  idyllische  Aufenthalt  in  Wilhelmshöhe,  wo  er  sich  beim 
Kastellan  des  Oktogons  einlogiert  hatte.  Und  dazwischen  nun  seine  Ausbildung 
auf  dem  Lyzeum  und  der  Akademie  in  Cassel,  dann  in  München,  wo  er  in  lebhaftem 
Verkehr  mit  Professoren  und  Künstlern  sich  bildete  und  in  seiner  Kunst  förderte. 
Danach  ein  anderes  Bild:  sein  Feldzug  nach  Frankreich  1814  mit  der  Schilderung 
der  heiteren  und  düsteren  Seiten  des  Lagerlebens,  und  dann  die  Reise  nach  Italien 
mit  lieblichen  und  gewaltigen  Bildern,  mit  Schilderungen  von  Land  und  Leuten, 
Natur  und  Kunst,  endlich  die  eingehende  Schilderung  des  Dürerfestes  in  Nüim- 
berg  (1828)  usw.  Ausgeprägt  ist  auch  bei  ihm  wie  bei  seinen  Brüdern  der  warme 
Familiensinn,  die  Freude  an  der  Natur  und  das  liebevolle  Sichversenken  auch  in 
das  Kleine  und  Unbedeutende;  Natur  und  Kunst  betrachtet  er  mit  malerischem 
Blick,  und  ein  liebenswürdiger  Humor  begleitet  viele  seiner  Schilderungen.  Für 
Geschichte  und  Kulturgeschichte  der  Zeit  enthält  das  Buch  wertvolle  Beiträge, 
wir  werden  eingeführt  in  den  Kreis  der  gleichzeitigen  Gelehrten  und  Dichter,  na- 
mentlich der  Romantiker,  und  namhaften  Künstler,  da  die  vielen  Beziehungen 
der  Brüder  ihm  leicht  Zugang  verschafften.  So  entschädigt  da,  wo  seine  eigene 
Gestalt  weniger  bedeutend  erscheint,  der  Hintergrund  und  die  Nebenfiguren,  die 
mancherlei  persönlichen  und  sachlichen  Fäden,  durch  die  das  Einzelbild  mit  dem 
reichen  und  belebten  Zeitbild  sich  zusammenschließt. 

Besonderer  Dank  und  warme  Anerkennung  gebührt  auch  dem  Herausgeber. 
Mit  großer  Liebe  hat  Professor  Stoll  diese  Lebenserinnerungen  verfolgt,  gar  schön 
würdigt  er  in  der  Einleitung  den  Verfasser,  mit  lebhaftem  Interesse  ist  er  allen  Einzel- 
heiten nachgegangen,  hat  die  Lücken  der  Biographie  ergänzt  und  hat  nicht  Zeit 
und  Mühe  gescheut,  um  uns  über  all  die  in  der  Biographie  erwähnten  Zeitumstände, 
Örtlichkeiten,  Personen  und  ihre  Familien  genau  zu  orientieren.  Davon  zeugen  die 
zahlreichen,  oft  recht  eingehenden,  mit  erstaunlichem  Fleiß  zusammengestellten 
Anmerkungen  und  die  Einzelbetrachtungen  im  Anhang,  der  uns  noch  besondere 
kleine  Abhandlungen  über  den  Stadtpräzeptor  Zinckhan,  die  Brüder  Ferdinand 
und  Karl,  die  Schwester  Lotte  und  ihren  Gemahl,  den  bekannten  Minister  Hassen- 
pflug,  Dortchen  Grimm,  die  Gattin  Wilhelms,  die  damaligen  Casseler  Schulverhält- 
nisse, die  Wohnungen  und  Grabstätten  der  Familie  Grimm  und  anderes  bringt 
und  endlich  auf  27  Seiten  eine  Zusammenstellung  von  Ludwig  Grimms  Werk  ent- 
hält. Und  wie  es  bei  solchem  Forschen  und  Nachspüren  bis  ins  einzelne  zu  ge- 
schehen pflegt:  Stoll  hat  auch  in  den  Mitteilungen  Ludwig  Grimms  und  den  Über- 
lieferungen anderer  unrichtige  und  ungenaue  Angaben  verbessern  können,  und  es 
wird  auch  hier  bestätigt,  was  W.  H  e  r  b  s  t  im  Vorworte  zu  seinem  „  Joh.  Heinrich 


A.  Bettelheim,  Beaumarchais,  angez.  von  W.  Bohnhardt.  631 

Voß"  treffend  sagt,  daß  es  immer  „nötig  und  heilsam  ist,  einen  mit  Zuversicht 
aufgeführten  geschichtlichen  Bau  durch  Einzeldarstellungen  zu  beleben,  zu  er- 
gänzen, zu  berichtigen  und  die  Haltbarkeit  seiner  Grundmauern  immer  aufs  neue 
zu  prüfen".  Die  beigegebenen  Bilder  aus  Steinau,  Schlüchtern  und  des  Wohnhauses 
der  FamiHe  Grimm  in  der  Marktgasse  zu  Cassel,  wo  sie  von  1805—1814  wohnte 
und  das  seit  1885  durch  ein  von  Lottes  ältestem  Sohn,  dem  Bildhauer  Karl  Hassen- 
pflug,  gefertigtes  Reliefbild  der  ,, Märchenfrau"  bezeichnet  ist,  werden  vielen  will- 
kommen sein.  Unter  den  Bildnissen  hebe  ich,  abgesehen  von  den  zahlreichen 
aus  der  Familie  Grimm,  hervor  Ludwigs  Selbstbildnis,  die  von  Bettina  von  Arnim, 
Clemens  Brentano,  Görres,  Savigny  und  das  seines  Schwagers  Hassenpflug,  den 
er  1816  in  altdeutscher  Tracht  malte,  mit  „teutschem  Schwert  umgürtet,  als  Senior 
von  Studentenverbindungen".  Andere  Bildnisse  von  diesem  gibt  es  nicht.  —  Auf  S.25 
haben  wir  eine  Inhaltsübersicht  des  Buches,  auf  der  folgenden  Seite  ein  Verzeichnis 
der  hier  gebotenen  Bilder  und  Bildnisse  und  zum  Schluß  ein  sehr  sorgfältiges 
Register  aller  in  den  Erinnerungen,  der  Einleitung  und  den  Anmerkungen  vor- 
kommenden Namen,  was  das  Buch  auch  zum  Nachschlagen  über  viele  uns  inter- 
essierende Personen  und  Verhältnisse  geeignet  macht. 

So  sei  das  Werk,  das  bei  trefflicher  Ausstattung  zu  dem  erstaunlich  billigen 
Preis  von  nur  3  M.  geboten  wird,  auch  den  Philologen  angelegentlich  empfohlen 
schon  wegen  seines  reichen,  vielseitigen,  belehrenden  und  fesselnden  Inhalts,  dann 
als  ein  Muster  philologischer  Gründlichkeit  und  Genauigkeit  von  selten  des  Heraus- 
gebers; und  endlich  möchte  ich  die  Leser  noch  besonders  hinweisen  auf  die  köst- 
liche Schilderung  der  Schulzeit  in  Steinau  unter  der  Leitung  des  Präzeptors  Zinck- 
han,  von  dem  Jakob  sagte,  man  habe  wenigstens  Fleiß  und  strenge  Aufmerksamkeit 
bei  ihm  gelernt,  wenn  ihnen  auch  aus  seinem  charakteristischen  Benehmen  eine 
Menge  ergötzlicher  Spaße,  Redensarten  und  Manieren  zurückgeblieben  sei.  Als 
Muster  eines  schlagfertigen  „Orbilius"  hat  er  sich  seinen  Buben  gegenüber  stets 
alsbald  sein  Recht  verschafft  und  ist  keinem  etwas  schuldig  geblieben.  Anhang  1 
bringt  uns  eine  ausführliche,  auch  kulturgeschichtlich  wertvolle  Schilderung  des 
Lebens,  Leidens  und  Wirkens  dieses  ,,  Studiosus"  Zinckhan,  der  mit  37  Jahren 
endlich  in  Wohnung,  Dienst  und  Besoldung  kam.  „Er  hat  hart  ringen  und  kämpfen 
und  viel  tragen  müssen,  wie  Tausende  seines  Amtes  in  jener  Zeit,  und  man  muß 
doch  Respekt  vor  ihm  haben,  wie  er  sich  solchen  auch  von  seinen  Schulbuben  er- 
zwang und  auch  bei  seinen  Mitbürgern  verschafft  haben  muß,  deren  Nachkommen 
sonst  nichts  mehr  von  ihm  wüßten." 

Cassel.  Fr.  Heußner. 


Bettelheim,  Anton,  Beaumarchais.  Eine  Biographie.  Zweite,  neubearbeitete 
Auflage.  München  1911.  C.  H.t^Beck'sche  Verlagsbuchhandlung.  XIII  u. 
530  S.    brosch.  9  M. 

Bettelheim  war  für  diese  erste  deutsche  Beaumarchais-Biographie,  in  der  er 
sich  als  hervorragender  Kenner  und  künstlerischer  Gestalter  des  so  eigenartigen 
Stoffes  und  des  ganzen  Zeitabschnittes  einführte,  die  einmütige  Anerkennung 
unserer  Literarhistoriker,  nicht  zuletzt  seines  Lehrers  Wilhelm  Scherer,  sowie  der 


632  K.  Brücher,  Anschauung  in  der  Arithmetik. 

Franzosen  (V.  Cherbuliez  in  der  Revue  des  Deux  Mondes  1886)  zu  teil  geworden. 
Die  Reize  des  Werkes,  das  eine  erstaunliche  Belesenheit  und  einen  seltenen  literari- 
schen Geschmack  des  Verfassers  bekundet,  waren  gebührend  gewürdigt  worden. 
Um  so  mehr  mag  manchen  wie  mich  das  Ausbleiben  einer  Neubearbeitung  befremdet 
haben,  zu  der  sich  Bettelheim  auch  jetzt,  genau  nach  einem  Vierteljahrhundert, 
noch  nicht  entschlossen  haben  würde,  wenn  in  der  Zwischenzeit  andere  Biographen 
für  Beaumarchais  tätig  gewesen  wären.  Der  Umstand  allein,  daß  gegen  alles  Erwarten 
die  Beaumarchais-Forschung  in  Deutschland  fast  gar  keine  neuen  Triebe  angesetzt 
hatte,  während  unser  Theater  und  unsere  Übersetzungskunst  ihr  Interesse  dem 
Dichter  der  Figaro-Trilogie  zuwandten,  hat  Bettelheim  von  neuem  an  das  Werk 
gerufen.  Wiederum  hat  er  in  allen  in  Frage  kommenden  Archiven  gründlich  Um- 
schau gehalten  und  von  den  seit  1886  leider  sehr  spärlich  veröffentlichten  Unter- 
suchungen Kenntnis  genommen  (vgl.  S.  493).  Trotzdem  konnte  er  an  dem  Lebens- 
bilde nichts  Wesentliches  ändern,  und  wir  müssen  gestehen,  daß  Beaumarchais 
durch  ihn  ein  für  allemal  seine  großzügige,  erschöpfende  Darstellung  gefunden  hat. 
Der  Text  ist  genau  um  100  Seiten  (jetzt  nur  noch  487)  beschnitten;  die  ausführlichen, 
oft  seitenlangen  Stellen  aus  den  Werken  und  Briefen,  die  m.  E.  die  Lektüre  nur  be- 
einträchtigten, sind  erheblich  gekürzt,  ebenso  die  Quellenbelege  der  Urausgabe 
in  den  Beilagen  (Abschnitt  D).  Endlich  ist  aus  den  eigentlichen  Anmerkungen 
viel  Material,  das  bloß  für  Philologen  und  Forscher  wertvoll  war,  ausgeschieden.  Hin- 
zugekommen ist  dagegen  ein  sehr  nützliches  alphabetisches  Namenverzeichnis. 
Für  die  musterhafte  Ausstattung  des  Ganzen  hat  die  Beck'sche  Verlagsbuchhand- 
lung gesorgt.  Das  neue  Titelbild  spricht  mich  mehr  an  als  die  frühere  Wiedergabe 
des  Stiches  von  Hopwood,  die  manchem  allerdings  charakteristischer  vorgekommen 
sein  mag.  So  mögen  denn  an  dem  Buch  in  seiner  verbesserten  Gestalt  auch  weitere 
Kreise  ihre  Freude  haben! 

Düsseldorf.  W.  B  o  h  n  h  a  r  d  t. 


Brücher,  K.,  Anschauung  in  der  Arithmetik.  Bamberg  191 1.  Buchner. 
VIH  u.  41   S.     geh.  1,60  M. 

Das  vorliegende  Schriftchen  gibt  einen  Beitrag  zur  Anschaulichkeit  im  arith- 
metischen Unterricht,  indem  es  die  Verwendbarkeit  dreier  vom  Verfasser  heraus- 
gegebener Apparate  ausführlich  darlegt.  Jeder  Versuch,  die  Anschaulichkeit  des 
mathematischen  Anfangsunterrichtes,  zumal  des  arithmetischen,  zu  fördern,  ist 
an  sich  freudig  zu  begrüßen  und  verdient  eingehende  Prüfung.  Wenn  auch  nur 
längere  Unterrichtserfahrung  mit  den  betreffenden  Apparaten  zu  einem  end- 
gültigen Urteil  berechtigt,  so  seien  hier  doch  einige  Bemerkungen  vorgetragen, 
die  sich  bei  der  Lektüre  der  Begleitschrift  dem  Leser  aufdrängen. 

Das  erste  Modell  will  die  Einführung  in  den  Bereich  der  ganzen  natürlichen 
Zahlen  unterstützen,  gehört  also  in  die  Anfangsstufe  des  Rechenunterrichts.  Wie 
bei  dem  alten  T  i  1 1  i  c  h  sehen  Anschauungsmittel  ist  die  Einheit  durch  einen 
Würfel,  die  Zahl  2  durch  eine  quadratische  Säule  von  gleicher  Grundfläche  und 
doppelter  Höhe  dargestellt  usf.  Neu  gegenüber  dem  in  den  mannigfachsten  Wan- 
delungen benutzten  T  i  1 1  i  c  h  sehen  Apparat  ist,  daß  die  Säulen  farbig  sind  und 


angez.  von  W.  Lietzmann.  633 

mit  ihren  Farben  auf  die  multiplikative  Zerlegbarkeit  der  betreffenden  Zahlen 
hinweisen.   So  sind  die  Säulen  2,  4,  8  gelb,  3,  9  rot,  6  (=2 . 3)  rotgelb.  Der  Verfasser 

vertritt  nämlich  die  Anschauung: ,, Selbstverständlich  müssen  die  4  Grundrechnungs- 
arten nebeneinander,  nicht  nacheinander  behandelt  werden."  Das  deckt  sich 
mit  der  Grube  sehen  monographischen  Zahlbehandlung,  die  heute  gänzlich  ver- 
lassen ist.  Man  ist  im  Gegensatz  zum  Verfasser  heute  fast  durchweg  im  elementaren 
Rechenunterricht  bestrebt,  die  Multiplikation  und  Division  möglichst  weit  hinaus- 
zuschieben (zuweilen  bis  nach  den  Rechenoperationen  1.  Stufe  im  ersten  Hun- 
derter); der  Primzahlbegriff  endlich  kommt  im  Rechenunterricht  meines  Wissens 
überall  erst  nach  der  Erledigung  des  unendlichen  Zahlbereiches,  kurz  vor  der 
Bruchrechnung  zur  Verwendung.  Ich  glaube  deshalb,  daß  bei  den  gegenwärtigen 
Anschauungen  über  die  Methodik  des  Rechenunterrichtes  jedenfalls  für  den 
Anfangsunterricht  den  mehrfarbigen  Säulen  einfarbige  vorzuziehen  sind.  — 
Ich  möchte  aber  noch  ausdrücklich  auf  die  schönen  Anwendungen  der  Säulen  — 
ebenso  kann  man  es  mit  Quadraten  des  Millimeterpapiers  machen  —  zur  Dar- 
stellung gewisser  Zahlenreihen  und  arithmetischer  Zusammenhänge  hinweisen, 
die  der  Verfasser  angibt. 

Bei  seinem  Apparat  zur  Darstellung  der  Brüche  ist  der  Verfasser  von  der  Kreis- 
scheibe als  Einheit  ausgegangen.  Auch  dieser  Gedanke  ist  ja  an  sich  nicht  neu; 
entweder  die  Strecke  oder  die  Kreisscheibe,  manchmal  auch  beides,  wählen  fast 
alle  Rechenbücher  als  Veranschaulichungsmittel;  jede  der  beiden  Methoden  hat 
ihre  guten  und  ihre  schlechten  Seiten.  Es  ist  aber  vielleicht  sehr  nützlich,  richtig 
geteilte  Drittel-,  Viertel-  usw.  Scheiben  in  handlicher  Form  im  Unterricht  bereit 
zu  haben;  die  jedesmalige  schnelle  Herstellung  der  Teile  in  einer  Zeichnung  nach 
Augenmaß  liefert  bei  Fünfteln  und  Siebenteln  z.  B.  oft  recht  ungenaue  Dar- 
stellungen. Wenn  der  Verfasser  auch  hier  wieder  die  Zahlenverwandtschaft  der 
Nenner  durch  Farben  ausdrückt,  so  kann  man  diesem  meines  Wissens  neuen 
Gedanken  nur  zustimmen.  Der  Gewinn  wird  für  die  Schüler  ein  doppelter  sein, 
wenn  sie  selbst  aus  Pappe  für  ihren  eigenen  Gebrauch  sich  einen  solchen  Apparat 
herstellen. 

Der  dritte  Apparat  dient  dem  ersten  Algebraunterricht.  Die  Formeln  für 
(a+  b)*-  usf.  werden  durch  Flächen  in  der  bekannten  Weise  veranschaulicht.  Auch 
hier  wieder  ist  der  Gedanke  alt,  neu  vielleicht  nur  die  verschiedene  Färbung  der 
Flächenstücke.  Wenn  bisher  Lehrer  und  Schüler  die  entsprechenden  Figuren  meist 
selbst  herstellten,  so  sollte  man  auch  in  Zukunft  davon  fürs  erste  nicht  abgehen; 
nur  später,  wenn  es  einmal  schnell  gehen  soll,  darf  meines  Erachtens  der  Lehrer 
zum  fertigen  Modell  greifen.  Übrigens  empfehle  ich  die  Herstellung  von  Modellen 
für  (a+b)=^  und  eventuell  auch  (a— b)^  man  findet  sie  wohl  hier  und  da  in  den 
mathematischen  Sammlungen  der  höheren  Schulen.  Hier  ist  nämlich  die  eigene 
Herstellung  durch  Lehrer  und  Schüler  nicht  so  leicht  möglich  und  doch  ist  das 
Ganze  für  die  Fähigkeit  räumlicher  Anschauung  von  Bedeutung. 

Alles  in  allem  möchte  ich  sehr  empfehlen,  die  kleine  Schrift  durchzusehen; 
wenn  man  auch  nicht  überall  mit  dem  Verfasser  übereinstimmt,  man  wird  doch 
zwischen  manchem  Bekannten  vielen  neuen  Anregungen  begegnen. 

Barmen.  W.  Lietzmann. 


634     F.  Strunz,  Geschichte  der  Naturwissenschaften  usw.,  angez.  von  F.  Dannemann. 

StrunZy  Franz,  Geschichte  derNaturwissenschaften  im  Mittel- 
alt er.  Im  Grundriß  dargestellt.  Mit  einer  Abbildung.  Stuttgart  1910.  Fer- 
dinand Enke.    VII  u.  120  S.    8^    4  M. 

Das  angezeigte  Werk  von  Strunz,  dem  bekannten  Wiener  Historiker  der 
Naturwissenschaften,  stellt  sich  die  dankenswerte  Aufgabe,  die  Entwicklung  der 
mittelalterlichen  Naturbetrachtung  und  Naturerkenntnis  an  der  Hand  der  Quellen 
in  den  Grundlinien  zusammenzufassen.  Die  Darstellung  umschließt  einen  Zeit- 
raum von  etwa  zwölf  Jahrhunderten.  Sie  beginnt  mit  dem  Übergang  von  der 
Antike  zum  Frühmittelalter  und  schildert  zunächst  die  allmähliche  Ausbildung 
des  neuen  christlich-kirchlichen  Naturbegriffes.  Der  nächste  Abschnitt  handelt 
von  der  Naturforschung  der  Araber.  Hier  wird  das  Hauptgewicht  auf  die  Ent- 
wicklung der  Chemie  gelegt.  An  das  arabische  Zeitalter  schließt  sich  dasjenige 
der  Scholastik.  Strunz  begreift  darunter  den  Zeitraum  von  1050  bis  1500.  Die 
letzten  Zeilen  des  Buches  sind  der  Naturforschung  im  Zeitalter  der  deutschen 
Mystik  und  des  ausgehenden  Mittelalters  gewidmet. 

Das  Werk  von  Strunz  wendet  sich  nicht  lediglich  an  den  kleinen  Kreis  der- 
jenigen, die  sich  mit  der  Geschichtsforschung  auf  dem  Gebiete  der  Naturwissen- 
schaften beschäftigen.  Es  ist  vielmehr  berufen,  auch  dem  Historiker  des  Mittel- 
alters, dem  Philosophen  und  dem  Philologen  gute  Dienste  zu  leisten.  Die  allgemeinen 
Ausblicke,  die  das  Buch  enthält,  machen  es  auch  für  alle  Freunde  kulturgeschicht- 
licher Darstellung  geeignet.  Mit  besonderer  Ausführlichkeit  und  Liebe  wird  das 
arabische  Zeitalter  geschildert.  Hier  bildeten  die  Forschungen  Berthelots  über  die 
Entwicklung  der  Alchemie  die  wichtigste  Grundlage.  Ein  reiches  Material  ent- 
halten die  Abschnitte,  die  sich  mit  den  Ergebnissen  der  praktischen  Naturforschung 
innerhalb  der  einzelnen  Epochen  beschäftigen.  Sämtliche  Teile  der  Naturwissen- 
schaft finden  hier  Berücksichtigung,  mag  es  sich  um  bloße  Tier-  und  Pflanzenkunde, 
um  Chemie,  Chronologie  oder  Astronomie  handeln.  Bei  einer  etwaigen  Neuausgabe 
des  Buches  dürfte  es  sich  empfehlen,  ein  Sach-  oder  wenigstens  ein  Namenregister 
beizugeben. 

Barmen.  Friedrich    Dannemann. 

Guenther,  K.,  Tiergarten  fürs  Haus  in  Wort  und  Bild.    Stuttgart, 
Deutsche  Verlags-Anstalt.      100  Tafeln  m.  Text.     Fol.  12  M.,  wohlf.  Ausgabe 
6  M. 
An  Werken,  die  photographische  Aufnahmen  lebender  Tiere  bieten,  ist  zurzeit 
kein  Mangel.   Seitdem  vor  nunmehr  zwölf  Jahren  Heck  seine  „Lebenden  Bilder 
aus  dem  Reich  der  Tiere"  veröffentlichte,  die  eine  Reihe  guter  Tieraufnahmen  aus 
dem  Berliner  zoologischen  Garten  brachten,  ist  eine  ganze  Anzahl  zum  Teil  vor- 
trefflicher Werke  erschienen,   die   namentlich  auch  freilebende  Tiere  in  getreuer 
photographischer  Wiedergabe  darstellen.     Durch  diese  Veröffentlichungen  —  es 
sei  hier  nur  an  die  schönen  Werke  von  Kearton  und  Schillings,  anMeerwarths 
„Lebensbilder  aus  der  Tierwelt**  und  an  die  englischen  Gowans  Series  erinnert  — 
sind  wir  bereits  etwas  verwöhnt  und  legen  an  derartige  Bücher,  wie  das  hier  vor- 
liegende, einen  höheren  Maßstab.    Es  genügt  nicht  nur,  daß  ein  lebendes  Tier  er- 
kennbar aufgenommen  wird,    wir  verlangen  auch  das  Abwarten  eines  günstigen 


H.  Löns,  Da  draußen  vor  dem  Tore,  angez.  von  R.  v.  Hanstein.  635 

Augenblicks,  der  das  Tier  in  charakteristischer  Stellung  zeigt,  und  eine  technisch 
tadellose  Reproduktion.  In  diesem  Sinne  betrachtet,  kann  der  Guenthersche 
Bilderatlas  nicht  als  gelungen  bezeichnet  werden.  Die  meisten  Bilder  wirken  steif 
und  unnatürlich,  die  Tiere  erscheinen  meist  in  seitlicher  Aufnahme,  wenig  lebendig. 
Man  vergleiche  die  Bilder  des  Wolfs  (16),  des  Bären  (18),  des  Eisbären  (19),  des 
afrikanischen  Elefanten  (23),  der  Tapire  (26,  27),  des  Shetlandpony  (28),  des  Wild- 
esels (29),  des  Elch  (40)  und  viele  andere.  Auch  einige  Gruppenbilder,  wie  die  der 
Eisbären,  der  Nilpferde  oder  der  Fischreiher,  sind  entsetzlich  steif.  Als  ein  unglück- 
licher Gedanke  muß  es  auch  bezeichnet  werden,  Tiere  außerhalb  ihres  natürlichen 
Wohnelementes  zu  photographieren,  wie  dies  z.  B.  beim  Seelöwen  und  Seehund 
geschehen  ist.  Es  führt  dies  zu  ganz  unnatürlichen  Bildern.  Recht  wenig  glück- 
lich ist  auch  die  Wiedergabe  der  beiden  Laubfrösche  (98). 

Im  ganzen  sind  64  Säugetiere,  28  Vögel,  5  Reptilien  und  3  Amphibien  dar- 
gestellt. Die  Gesichtspunkte,  nach  denen  die  Auswahl  erfolgt  ist,  treten  nicht 
recht  hervor.  So  sind  z.  B.  von  Amphibien  neben  unserem  einheimischen  Laub- 
frosch die  amerikanische  Riesenkröte  und  der  japanische  Riesenmolch  abgebildet. 
Bei  den  beiden  letztgenannten  Tieren  ist  zu  bemerken,  daß  die  Kröte  nach  der  Ab- 
bildung nahezu  noch  einmal  so  groß  erscheint,  als  der  Molch.  Da  nur  bei  dem 
letzteren  eine  Angabe  über  seine  wahre  Größe  gemacht  ist,  so  muß  im  Leser  eine 
ganz  falsche  Vorstellung  über  die  Größe  der  Kröte  entstehen. 

Es  scheint,  daß  nicht  der  Verfasser  des  Textes  —  der  sich  in  verschiedenen 
gemeinverständlichen  Schriften  als  gewandter  Schriftsteller  gezeigt  hat  —  die 
Tafeln  auswählte,  sondern  daß  es  sich  nur  um  einen  verbindenden  Text  zu  einmal 
vorhandenen  Tafeln  handelt.  In  kurzen,  je  eine  Seite  umfassenden  Skizzen  ist  bald 
die  Ernährungsweise  des  Tieres,  bald  seine  heimatliche  Umgebung,  bald  seine 
Bedeutung  für  den  Menschen  mehr  hervorgehoben. 

> 
Löns,  H.,  DadraußenvordemTore.   Heimatliche  Naturbilder.    Waren- 
dorf 1911.    J.  Schnell.     195  S.    8».    geb.  4,50  M. 

In  zwangloser  Folge  gibt  das  kleine  Buch  eine  Reihe  von  Bildern  heimischen 
Naturlebens,  wie  sie  sich  dem  mit  offnem  Auge  wandernden  Spaziergänger  bieten. 
Der  Verfasser  läßt  den  Leser  teilnehmen  an  seinen  Gängen  durch  Wald  und  Flur, 
durch  Heide  und  Moor,  am  Graben  und  am  Teich  und  lenkt  den  Blick  bald  auf 
diese,  bald  auf  jene  Erscheinung  des  Tier-  oder  Pflanzenlebens.  Nicht  Natur- 
schilderungen im  eigentlichen  Sinne  des  Worts,  noch  weniger  Anleitungen  zur  Natur- 
beobachtung finden  wir  hier.  Die  hier  und  da  eingestreuten  geschichtlichen  und 
biologischen  Erläuterungen  sind  durchaus  nicht  die  Hauptsache,  auf  die  es  dem 
Verfasser  ankommt.  Es  hieße  daher  den  Zweck  des  Buches  verkennen,  wollte 
man  an  dieser  Stelle  eine  Liste  der  kleinen  Fehler  geben,  die  sich  in  der  Darstellung 
finden  —  wie  z.  B.  die  Angabe,  daß  in  eigentlichem  Moorwasser  kein  Tierleben 
zu  finden  sei,  daß  die  Wasserpest  sich  von  Moder  und  Fäulnis  nähre  und  dergleichen 
mehr.  Eine  Darstellung,  die  Tiere  und  Pflanzen  oft  rein  menschlich  personifiziert, 
die  den  Frühling  den  Bäumen  gestatten  läßt,  sich  in  ein  grünes  Gewand  zu  hüllen 
und  so  fort,  will  nicht  vom  streng  wissenschaftlichen  Standpunkt  beurteilt  sein. 
Stimmungsbilder  sind  es,  die  Löns  geben  will;  Freude  an  der  heimischen  Natur, 


636  H.  Conwentz,  Beiträge  zur  Nattirdenkmalpflege. 

namentlich  an  den  vielen  kleinen  Zügen,  die  die  Beobachtung  des  Tier-  und  Pflanzen- 
lebens uns  zeigt,  will  er  vermitteln.  Selbst  offenbar  seit  der  Kindheit  mit  der  Natur 
vertraut,  will  er  auch  im  Leser  die  Liebe  zu  gemütvoller  Naturbetrachtung,  zu 
einsamen  Wald-  und  Heidewanderungen  erwecken.  Und  in  diesem  Sinne  kann  man 
das  kleine  Buch  wohl  als  zeitgemäß  betrachten.  Wird  doch  in  der  Hast  und  im  Drange 
des  Daseinskampfes  ein  immer  größerer  Teil  der  Kulturmenschen  mehr  und  mehr 
der  Natur  entfremdet,  mehrt  sich  doch  von  Jahr  zu  Jahr  die  Zahl  derer,  die  — 
wie  der  Verfasser  an  einer  Stelle  sagt  —  ,,die  Natur  nur  aus  den  Schaufenstern 
und  vom  zoologischen  Garten  her  kennen**,  ja,  es  scheint  fast,  als  ob  die  leichtere 
Möglichkeit  des  Reisens  bei  vielen  den  Sinn  für  die  intimen  Züge  der  heimischen 
Natur,  auch  wenn  diese  ein  bescheidenes  Gewand  trägt,  abstumpft.  Wenn  es  dem 
Verfasser  gelingt,  durch  seine  von  echter  Naturfreude  und  Naturliebe  erfüllten 
Skizzen  seine  Leser  zum  eigenen  Hinauswandern,  zum  eigenen  Sehen  und  Beobachten 
zu  veranlassen,  so  wiegen  demgegenüber  einige  tatsächliche  Irrtümer  und  ein  — 
nach  des  Referenten  Empfindung  —  hierund  da  etwas  zu  sehr  an  das  Sentimentale 
anklingender  Ton,  nicht  allzu  schwer. 

Gr.-Lichterfelde.  R.  v.  H  a  n  s  t  e  i  n. 

Conwentz,  H.,  Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege.  Band  1 1,  Heft  1 . 
Berlin  1911.  Gebrüder  Borntraeger.  H  u.  104  S.  gr.  8°.  Einzelpreis  3,50  M., 
Subskriptionspreis  2,80  M. 

Seit  Errichtung  der  staatlichen  Stelle  für  Naturdenkmalpflege  in  Preußen 
im  Jahre  1906  sind  mehrere  größere  wissenschaftliche  Arbeiten  zur  Erforschung 
unserer  Heimat  in  Angriff  genommen  worden.  Eine  dieser  Arbeiten  liegt  nun- 
mehr als  erstes  Heft  des  zweiten  Bandes  der  Beiträge  zur  Naturdenk- 
malpflege vor. 

Im  Jahre  1908  betraute  nämlich  das  Westpreußische  Provinzialkomitee  für 
Naturdenkmalpflege  auf  Anregung  seines  damaligen  Geschäftsführers,  Herrn 
Geheimen  Regierungsrats  Professor  Dr.  Conwentz,  den  früheren  Hilfsarbeiter 
bei  der  Staatlichen  Stelle  für  Naturdenkmalpflege,  Herrn  Dr.  R.  Hermann, 
mit  der  Aufgabe,  die  im  Regierungsbezirk  Danzig  vorhandenen  erratischen  Blöcke 
zu  inventarisieren  und  geologisch  zu  untersuchen.  An  etwa  50  Tagen  war  Dr.  Her- 
mann zu  diesem  Zwecke  unterwegs;  er  hat  im  ganzen  71  Blöcke  vermessen,  kartiert 
und  photographiert,  sowie  Gesteins-  und  Pflanzenproben  von  ihnen  gesammelt. 

Die  Arbeit  zerfällt  in  einen  beschreibenden  und  einen  allgemeinen  Teil.  Im 
ersteren  ist,  unter  Zugrundelegung  des  in  den  Akten  des  Westpreußischen  Provinzial- 
museums  zu  Danzig  vorhandenen  Materials  über  erratische  Blöcke,  jeder  der  Blöcke 
genau  nach  Lage,  Größe  und  Beschaffenheit,  nach  seiner  Flora  und  Ge- 
schichte beschrieben.  Im  allgemeinen  Teile  der  Arbeit  werden  die  geologischen, 
botanischen  und  volkskundlichen  Ergebnisse  zusammengefaßt,  sowie  Gefährdung 
und  Schutz  der  Blöcke  erörtert.  Den  botanischen  Teil  hat  Herr  Professor  Dr. 
Lindau,  Berlin,  bearbeitet. 

Mit  der  Veröffentlichung  dieser  Arbeit  ist  ein  bedeutungsvoller  Schritt  vor- 
wärts getan  worden  in  der  Verwirklichung  des  Naturschutzgedankens.  Geheim- 
rat Conwentz  erkannte  seit  langem,  daß  es  an  der  Zeit  wäre,  die  Naturdenkmäler, 


angez.  von  W.  Günther.  637 

die  am  schnellsten  der  Zerstörung  anheimfallen,  zuerst  zur  Untersuchung  heranzu- 
ziehen. Gerade  in  einem  Gebiete,  wo  anstehender  Fels  vollkommen  fehlt,  ist  es 
natürlich,  daß  die  größeren  Geschiebe  als  Baumaterial  verwertet  werden.  Ge- 
dankenlosigkeit und  kleinlicher  Egoismus  haben  am  meisten  zur  Vernichtung 
der  großen  Findlinge  beigetragen,  besonders  seitdem  der  Großbetrieb  der  Stein- 
gewinnung in  das  Land  eingedrungen  ist  und  mit  riesigen  Steinbrechern  die  letzten 
großen  Zeugen  der  Eiszeit  systematisch  zu  Schottern  verarbeitet.  So  ist  es  freudig 
zu  begrüßen,  daß  durch  diese  Arbeit  wenigstens  die  noch  vorhandenen  Blöcke 
untersucht  worden  sind  und  die  Erhaltung  bei  ihren  Besitzern  teils  erreicht,  teils 
in  Anregung  gebracht  ist. 

Von  den  71  untersuchten  und  beschriebenen  Blöcken  sind  67  noch  vorhanden; 
von  diesen  67  sind  41  durch  Verfügungen,  gesetzliche  Bestimmungen  und  Erlasse 
dauernd  als  Naturdenkmäler  geschützt.  Die  meisten  Blöcke  fallen  auf  den  Kreis 
Neustadt  (20),  dann  folgen  der  Landkreis  Elbing  (12),  Bereut  (9),  Karthaus  (8), 
der  Kreis  Danziger  Höhe  (6)  und  Putzig  (4).  Aus  der  der  Abhandlung  beigegebenen 
Karte  im  Zusammenhang  mit  der  geologischen  Karte  erkennt  man  deutlich  drei 
Hauptverbreitungsgebiete  der  Findlinge,  nämlich  das  E  n  d  moränengebiet  bei 
Karthaus  und  Bereut,  das  Grund  moränengebiet  bei  Neustadt  und  Putzig  und 
das  Grund  moränengebiet  nordöstlich  von  Elbing.  Die  Hermannsche  Arbeit 
gibt  uns  auch  Aufschluß  über  die  Verbreitung  der  eiszeitlichen  Ablagerungen  im 
Regierungsbezirk  Danzig.  Interessant  und  nur  geologisch  zu  erklären  ist  das 
völlige  Fehlen  erratischer  Blöcke  in  den  Kreisen  Danziger  Niederung  und  Marien- 
burg, wo  die  ausgedehnten  Schlickbildungen  der  Weichselniederung  nach  Wahn- 
schaffe „als  ein  altes  Delta  der  Weichsel  bei  ihrer  Einmündung  in  das  früher  bis 
Dirschau  und  Marienburg  sich  ausdehnende  Frische  Haff  anzusehen  ist**. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Anhäufung  von  Geschieben  zwischen  der 
Ostseeküste  und  dem  baltischen  Höhenrücken,  insbesondere  in  den  großen  End- 
moränenzügen, die  ihn  begleiten. 

Durch  die  Untersuchungen  von  Cohen,  Deecke  u.  a.  ist  schon  früher  mit 
großer  Genauigkeit  die  nordische  Heimat  der  kleineren  Geschiebe  festgestellt 
worden.  In  bezug  auf  die  großen  erratischen  Blöcke  hat  Hermann  nur  für  einen 
einzigen,  den  Wingenstein  bei  Cadinen,  die  nordische  Heimat,  Gr.  Aland,  mit 
Sicherheit  nachweisen  können.  Dieser  große  Block  hat  demnach  im  Eise  einen 
Weg  von  über  600  km  zurückgelegt,  was  ungefähr  der  Eisenbahnstrecke  von  Danzig 
bis  Magdeburg  entspricht.  Hoffentlich  läßt  Dr.  Hermann  seine  Arbeit  nicht  als 
abgeschlossen  gelten.  Es  wäre  für  uns  gerade  von  Interesse,  für  die  größeren  Ge- 
schiebe, wie  z.  B.  für  die  Sillimanitgneise  bei  Danzig,  am  Ostritz-See,  bei  Pinschau 
und  Schmechau,  den  Muskovitgneis  bei  Ober-Brodnitz  oder  den  Andalusit  führenden 
Gneisgranit  bei  Bieschkowitz  die  genauere  Heimat  kennen  zu  lernen.  Ich  würde 
es  im  Interesse  der  heimatkundlichen  Geologie  begrüßen,  wenn  Dr.  Hermann 
recht  bald  die  Identität  der  westpreußischen  Findlinge  mit  in  Schweden  anstehenden 
Gesteinsarten  nachweisen  könnte. 

Mit  den  Blöcken  gleichzeitig  ist  ihre  Flora  untersucht  worden.  Pro- 
fessor Dr.  Lindau  hat  sich  dieser  Aufgabe  mit  großer  Sorgfalt  unterzogen. 
Die    Ergebnisse     sind     gleich     wertvoll     für     die    Botanik     im     allgemeinen, 


638        H.  Conwentz,  Beiträge  zur  Naturdenkmalpflege,  angez.  von  W.  Günther. 

wie  insbesondere  für  die  Pflanzengeographie  und  für  die  Geschichte  unserer 
Pflanzenwelt  in  Westpreußen  und  Deutschland  überhaupt.  Mannigfache 
Fragen  sind  bei  dieser  Untersuchung  angeschnitten  worden.  Die  Besiedlung  der 
erratischen  Blöcke  und  auch  der  betreffenden  Landstrecken  mit  Pflanzen,  der 
Nachweis  von  Relikten  aus  der  Eiszeit  und  andere  Fragen  hat  Lindau  bei  dieser 
Gelegenheit  zu  lösen  versucht.  Dabei  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  auch 
mehrere  für  Westpreußen  neue  Arten  auf  den  Findlingen  festgestellt  worden 
sind.  Lindau  hält  die  Erhaltung  und  Untersuchung  besonders  der  großen  errati- 
schen Blöcke  für  wertvoll,  weil  auf  ihnen  eine  weit  größere  Mannigfaltigkeit  der 
montanen  Flechten-  und  Moosformen  der  Ebene  zu  finden  ist  als  auf  den  kleineren 
Findlingen.  Aber  auch  die  Endmoränenzüge  nicht  nur  in  Westpreußen,  sondern 
in  ihrem  ganzen  Verlaufe  von  der  Eibmündung  bis  nach  Ostpreußen  will  er  genauer 
untersucht  wissen,  weil  sich  erst  dann  weitere  Schlüsse  über  die  Verbreitung  der 
Flechten  von  Süden  her  werden  ziehen  lassen. 

Nicht  weniger  als  7  Arten  von  Lebermoosen,  52  Arten  von  Laubmoosen  und 
51  Arten  von  Flechten  sind  auf  den  untersuchten  Blöcken  festgestellt  worden. 

Auch  Lindau  kommt  zu  dem  Schlüsse,  und  für  die  Anregung  müssen  wir  ihm 
dankbar  sein,  daß  keine  Zeit  zu  verlieren  ist,  die  angeregten  Fragen  weiter 
zu  verfolgen,  ehe  es  zu  spät  wird,  und  ehe  wir  der  Möglichkeit  beraubt  werden, 
diese  Naturdenkmäler  für  die  pflanzengeographische  Wissenschaft  nutzbar  zu 
machen. 

Im  2.  Teile  berichtet  Dr.  Hermann  auch  über  seine  volkskundlichen  Er- 
gebnisse. All  die  Sagen  und  Erzählungen  über  die  „Teufelsblöcke",  über  Riesen- 
und  Hexen,  über  die  Kämpfe  des  Teufels  mit  der  christlichen  Kirche,  über  die  vom 
Teufel  oder  „bösen"  Menschen  in  Steine  verwandelten  Leute,  über  die  Herkunft 
der  Steine  u.  a.  m.  hat  Dr.  Hermann  zu  erkunden  gewußt.  Auch  über  die  geschicht- 
lichen und  vorgeschichtlichen  Erinnerungen,  die  sich  bei  den  Steinen  erhalten 
haben,  berichtet  er  uns. 

Als  besonders  interessant  darf  das  noch  heute  bei  den  dortigen  Bewohnern 
lebendige  Gedächtnis  an  die  Schlacht  bei  Schwetzin  am  14.  September  1462  zwischen 
Deutschrittern  und  Polen  bei  dem  Czechauer  Stein  gelten,  sowie  die  über  ein  halbes 
Jahrtausend  alte  urkundliche  Erwähnung  zweier  Blöcke,  des  S  t  o  y  c  und 
des  Bozestopka  im  Kreise  Putzig.  Diese  Urkunden  sind  aus  den  Jahren 
1277  und  1281. 

Durch  die  Anordnung  des  Stoffes,  besonders  im  ersten  Teil  der  Arbeit,  wird 
diese  Schrift,  die  nur  ein  Inventar  sein  will,  nicht  als  solches  in  den  Bibliotheken 
und  Akten  der  Vergessenheit  anheimfallen,  sondern  wird  allen  beteiligten  Kreisen 
zum  Ansporn  dienen,  möglichst  viele  solcher  Naturdenkmäler  der  Öffentlichkeit 
bekannt  zu  geben  und  sie  der  Gefahr  der  Vernichtung  zu  entziehen.  Ich  kann 
mich  dem  Wunsche  des  Oberpräsidenten  von  Westpreußen,  als  Vorsitzenden  des 
Westpreußischen  Provinzialkomitees  für  Naturdenkmalpflege,  Herrn  von  Jagow, 
nur  anschließen,  daß  die  Schrift  bei  staatlichen  und  kommunalen  Verwaltungen, 
sowie  auch  bei  Grundbesitzern  die  nötige  Beachtung  finden  möchte.  Insbesondere 
möchte  ich  dem  Wunsche  Ausdruck  geben,  daß  die  Lehrer  und  Förster  unseres 


Rolle- Sering,  Gesänge  für  Gymnasien  usw.,  angez.  von  T.  Heinrich.  639 

schönen  Westpreußens  diese  Schrift  erhalten  möchten,  und  daß  recht  bald  auch 

für  den  anderen  Regierungsbezirk    und    für  die  anderen   Provinzen    solche    In- 
ventare  angefertigt  würden. 

Halle  a.  S.  W.  G  ü  n  t  h  e  r. 

Rolle  -  Sering,  Gesänge  für  Gymnasien  und  andere  höhere 
Lehranstalten.  Lahr  (Baden)  1912.  Moritz  Schauenburg.  207  S. 
8».    1,60  M. 

In  dem  vorliegenden  Buche  hat  der  Herausgeber  Georg  Rolle  die  Lieder- 
hefte „Gesänge  für  Progymnasien  usw."  und  „Auswahl  von  Gesängen  für  Gym- 
nasien und  Realschulen**  von  F.  W.  S  e  r  i  n  g  in  e  i  n  Buch  zusammengefaßt.  Schon 
dadurch  allein  erscheint  das  Buch  als  eine  völlige  Umarbeitung  der  Seringschen 
Hefte.  Noch  näher  betrachtet,  segelt  es  zwar  unter  der  Flagge  des  allbekannten 
Musikpädagogen  Sering,  ist  im  übrigen  aber  insofern  eine  völlig  selbständige  N  e  u  - 
Schöpfung  des  Herausgebers,  als  dieser  ein  Liederbuch  bietet,  an  dessen  Hand 
es  den  Gesanglehrern  aller  höheren  Lehranstalten  ermöglicht  ist,  den  Forderungen 
des  „Lehrplanes  des  Gesangunterrichtes  an  den  höheren  Lehranstalten  für  die 
männliche  Jugend"  vom  21.  Juni  1910  gerecht  zu  werden.  Diese  gehen  dahin, 
daß  „in  den  beiden  unteren  Klassen  (Sexta  und  Quinta)  die  einzuübenden  Lieder 
den  Gang  der  theoretischen  Belehrungen  und  praktischen  Vorübungen  bestimmen" 
sollen. 

Da  nun  der  Wert  jeglicher  Belehrungen  darin  besteht,  daß  sie  vom  Leichten 
zum  Schweren,  vom  Einfachen  zum  Zusammengesetzten  fortschreiten,  hat  der 
Verfasser  sich  bemüht,  diese  pädagogischen  Grundsätze  in  der 
Auswahl  und  Einordnung  der  Lieder  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Dadurch  unterscheidet  sich  sein  Buch  ganz  wesentlich  von  den  Seringschen  Heften. 
Während  diese  schon  beim  ersten  Liede  eine  Menge  „theoretischer  Belehrungen", 
hauptsächlich  die  von  den  verschiedenen  Tonarten,  voraussetzen,  beginnt  Rolle 
mit  einfachen  Liedchen  in  C-dur,  an  denen  sich  das  stufenmäßige  Auf-  und  Ab- 
steigen der  Tonleiter  im  Gegensatze  zu  den  größeren  Tonschritten  des  Drei-  und 
Mehrklanges  leicht  veranschaulichen  läßt.  Dadurch  ist  sein  Buch  zu  dem  geworden, 
das  ich  als  eine  Liederschule  bezeichnen  möchte. 

Nur  hat  die  Rücksichtnahme  auf  eine  daneben  hergehende  Einordnung  nach 
dem  Textinhalte  den  Verfasser  offenbar  beengt,  seinen  Plan  völlig  durchzuführen; 
denn  dadurch  sind  Lieder,  die  musikalisch-systematisch  aufeinander  folgen  könnten, 
leider  auseinander  gesprengt  worden.  Für  den  kundigen  Gesanglehrer  ist  das 
freilich  nicht  von  allzu  großem  Belange  —  er  macht  sich  seinen  „Gang"  selb- 
ständig; was  er  aber  braucjit,  findet  er  in  dem  Buche  genugsam:  reichhaltigen 
zweckmäßigen  Übungsstoff.  Dennoch  bitte  ich  den  Verfasser,  angesichts  einer 
späteren  Neuauflage  zu  erwägen,  ob  nicht  in  der  ersten  Hälfte  des  ersten  Teiles 
die  Berücksichtigung  des  Textinhaltes  sich  einmal  ganz  ausscheiden  ließe.  Alsdann 
würde  der  Fortschritt,  den  das  Buch  anderen  Schulliederbüchern  gegenüber  auf- 
weist, noch  viel  augenfälliger  werden. 

Im  Vergleiche  zu  den  Seringschen  Heften  hat  das  Buch  noch  den  besonderen 
Vorzug,  daß  eine  Anzahl  sogenannter  volkstümlicher  Lieder  zweifelhaften  Wertes 


640  Vermischtes. 

ausgeschieden  sind,  Surrogate  aus  Zeiten,  da  man  noch  nicht  wähnte,  wie  reich  der 
Born  des  echten  Volksliedes  fleußt.  Auch  freue  ich  mich  darüber,  daß  eine  Menge 
ursprünglicher  Chorlieder,  deren  Originalen  im  zweistimmigen  Satze  harmonisch 
und  rhythmisch  Zwang  angetan  werden  muß,  in  Wegfall  gekommen  sind.  Dadurch 
ist  nunmehr  dem  V  o  1  k  s  1  i  e  d  e  eine  hervorragende  Stellung  im  Rahmen  des 
Ganzen  eingeräumt  worden. 

Besonders  erwähnenswert  ist  es,  wie  einfach  und  natürlich  fließend  die  Füh- 
rung der  Zweitenstimme  gehandhabt  ist.  Die  Kinder  werden  auf  diese 
Art  geradezu  herangeschult,  sich  auch  einmal  selbst  eine  volksmäßige  zweite  Stimme 
bilden  zu  können.  Ja,  das  Bestreben  des  Verfassers  nach  leichter  Sangbarkeit 
geht  so  weit,  daß  er  hier  und  da,  wo  das  Ohr  vom  Chor-  oder  begleiteten  Gesänge 
her  eine  schwierigere  Führung  erwartet,  daß  er  dann  das  Leichtere,  jedoch  har- 
monisch Widerstrebende,  wählt.  Ich  denke  dabei  z.  B.  an  das  erste  „Wacht  am 
Rhein"  und  kann  darin  nicht  zustimmen,  führe  das  aber  nicht  an,  um  etwa  zu- 
guterletzt  auch  ein  Mängelchen  festnageln  zu  wollen,  sondern  um  zu  zeigen,  wie 
sorgfältig  ich  das  ganze  Buch  durchgearbeitet  habe. 

Hierfür  möchten  auch  noch  einige  andere  Bemerkungen  Zeugnis  ablegen. 
Der  Verfasser  wird  später  gewiß  noch  gern  Volkslieder  —  wie  ,,Wer  hat  die  Blumen 
nur  erdacht''  und  das  diesem  verwandte  jedenfalls  gemein-germanische  Spiellied 
„Taler,  Taler,  du  mußt  wandern'',  sowie  „Tränen  hab'  ich  viele  vergossen"  — 
aufnehmen.  Dafür  könnte  noch  so  manches  der  „volkstümlichen"  Lieder,  das 
doch  nicht  tief  ins  Volk  gedrungen  ist,  geopfert  werden.  Aber  z.  B.  die  schon  zum 
Volksliede  gewordene  Weise  zu  „Sah  ein  Knab'  ein  Röslein  stehn"  von  Heinrich 
Werner  wird  wohl  auch  der  Verfasser  nicht  fernerhin  missen  wollen. 

Im  übrigen  fasse  ich  mein  Urteil  in  den  Wunsch:  Möge  dieses  ausgezeichnete 
und  bahnbrechende  Buch  recht  bald  allgemein  bekannt  werden  und  ihm  eine  weite 
Verbreitung  beschieden  sein  zum  Heile  des  Gesangunterrichtes  in  den  höheren 
Lehranstalten ! 

Berlin.  Traugott  Heinrich. 


Vermischtes. 

In  den  Räumen  der  Deutschen  Unterrichts-Ausstellung  (Berlin  N24,  Friedrich- 
Straße  126)  befindet  sich  zurzeit  eine  Sonderausstellung  „Dekorative  Schrift", 
welche  4  Abteilungen  umfaßt:  1.  Dekorative  Schriften  von  Künstlern,  2.  Deko- 
rative Schriften  aus  dem  Schreib-  und  Zeichenunterricht,  3.  Schreiblehrbücher 
früherer  Zeit,  4.  Schreibgeräte.  Die  Ausstellung  ist  wochentäglich  von  4 — 6  Uhr 
unentgeltlich  geöffnet.  Führungen  finden  statt:  Sonnabend,  9.  November,  nach- 
mittag 6 — 7  Uhr;  Sonntag,  17.  November,  vorm.  11 — 12  Uhr;  Sonnabend,  den 
30.  November,  nachm.  6 — 7  Uhr;  Sonntag,  S.Dezember,  vorm.  11 — 12  Uhr; 
Montag,  30.  Dez.,  nachm.  6 — 7  Uhr. 


tM' 


I.  Abhandlungen, 


Die  schriftlichen  Arbeiten  in  den  preußischen  höheren 

Lehranstalten. 

Nach  mancherlei  Hin-  und  Herreden  über  die  sogenannte  Extemporalever- 
fügung (vom  21.  Oktober  1911)  haben  wir  jetzt  in  einer  Schrift  des  Vortragenden 
Rats  im  Kultusministerium,  Geh.Ober-Reg.-Rats  Dr.  Reinhardt,*)  einen  authenti- 
schen Kommentar  erhalten.  Die  Schrift  beginnt  mit  einer  Untersuchung  über 
die  Entstehung  des  Extemporales.  Schriftliche  Stegreifübersetzungen  aus  dem 
Deutschen  ins  Lateinische  sind  eine  Erfindung  des  Leipziger  Philologen  und  Schul- 
manns Johann  Matthias  Gesner  zu  Anfang  der  dreißiger  Jahre  des  18.  Jahrhunderts. 
Der  ausgesprochne  Zweck  war  Scheidung  der  Geister  in  solche,  die  es  zu  einer  Fertig- 
keit gebracht,  und  solche,  die  nur  mit  dem  Gedächtnis  gearbeitet  hätten.  Bei  der  so- 
gleich in  der  Klasse  folgenden  Korrektur  umstanden  die  schwächeren  Schüler  den 
Tisch  des  drei  oder  vier  Arbeiten  korrigierenden  und  laut  besprechenden  Lehrers, 
während  die  andern  ihre  Arbeit  selber  verbesserten.  Auf  diese  Weise  waren  es  doch 
ebensosehr  Übungs-  als  Prüfungsarbeiten.  Ein  rigoroserer  Zug  kam  erst  hinein  um 
die  Mitte  vorigen  Jahrhunderts,  und  schon  1882,  in  den  Bonitzischen  Lehrplänen, 
beginnen  die  Warnrufe  aus  dem  Ministerium.  Gleichzeitig  traten  die  sogenannten 
Exerzitien,  die  zu  Hause  gefertigten  Übersetzungen  in  die  fremde  Sprache,  zurück. 
Die  Lehrpläne  von  1892  brachten  dann  den  allgemeinen  Rückgang  der  Leistungen, 
namentlich  in  den  mittleren  Klassen,  dem  dann  die  Lehrpläne  von  1901  wieder  etwas 
zu  steuern  suchten;  die  Abneigung  gegen  die  häusHchen  Exerzitien  blieb.  Nur  die 
Extemporalien  schienen  eine  Gewähr  zu  bieten  für  eine  gerechte  Beurteilung  der 
Schüler,  für  eine  Wiedergewinnung  der  alten  Schneidigkeit,  für  eine  neue  Festigung 
der  Grundlagen  unserer  Kultur!  Wie  schablonenhaft,  einseitig  und  oberflächlich 
hierbei  leicht  das  Urteil  ward,  das  war  einsichtigem  Schulmännern  nicht  entgangen. 
Aber  gewissermaßen  hatte  auch  die  Aufsichtsbehörde  sich  mitschuldig  gemacht: 
sie  warnte  vor  übertriebener  Wertschätzung  des  Extemporales,  setzte  aber  genau 
fest  die  Anzahl  und  damit  die  Intervalle  und  damit  das  Datum  der  von  den 
Schülern  wohl  oder  übel  zu  liefernden,  von  den  Lehrern  zu  korrigierenden  Prüfungs- 
arbeiten, und  es  war  verboten,  den  Schülern  eine  schriftliche  Arbeit  aufzugeben, 

*)  Karl  Reinhardt,  Die  schriftlichen  Arbeiten  in  den  preußischen  höheren 
Lehranstalten.   2.  Aufl.    Berlin  1912.  Weidmannsche  Buchhandlung.    109  S.   8«.    2  M. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  41 


642     O.  Schroeder,  Die  schriftlichen  Arbeiten  in  den  preußischen  höheren  Lehranstalten. 

die  nicht  vom  Lehrer  selbst  zu  Hause  korrigiert  würde.  So  hat  sich  mancher  Lehrer 
müd  und  stumpf  korrigiert,  so  ward  in  der  Schule  schließlich  mehr  zensiert  als 
doziert,  mehr  gefordert,  als  gegeben.  Auf  der  andren  Seite  hat  die  Einrichtung 
der  regelmäßig  zensierten  und  gebuchten  Klassenarbeiten  vielfach  dahin  geführt, 
daß  diese  Arbeiten,  gerade  weil  sie  nicht  nur  der  Übung,  sondern  auch  als  Unter- 
lage für  Zeugnis  und  Versetzung  dienten,  zu  leicht  gestellt  wurden  und  nicht  ge- 
nügend in  die  Tiefe  gingen. 

Es  folgen  Ausführungen  über  Rede  und  Schrift,  über  den  Tiefstand  unsrer 
öffentlichen  Beredsamkeit,  über  die  Notwendigkeit,  auch  für  die  Gymnasien,  sich 
wenigstens  in  einer  fremden  Sprache  ausdrücken  zu  können.  „Das  setzt  freilich 
Lehrer  voraus,  die  in  der  fremden  Sprache  wie  in  der  Methode  Meister  sind."  „Unser 
bisheriger  Extemporalebetrieb  hat  auch  hier  verflachend  gewirkt."  „Man  trifft 
auf  Arbeiten,  auch  Abiturientenarbeiten,  in  denen  sich  kein  Fehler  findet,  auch 
eine  erhebliche  Anzahl  von  Schwierigkeiten  bewältigt  worden  ist,  die  als  gut  zensiert 
werden,  und  wo  doch  kein   Satz  lateinisch  klingt." 

Die  deutschen  Texte  sollten  wirkliches  Deutsch  bieten.  —  Der  Glaube,  die 
lateinischen  Sätze  möglichst  lang  bilden  zu  müssen,  steht  auf  der  selben  Höhe, 
wie  der  andre,  zerhackte  Sätze  wären  ein  gutes  Deutsch. 

Kein  Können  ohne  Übung.  Daher  empfiehlt  die  Oktoberverfügung  unablässige 
Übungen,  schriftliche  und  mündliche,  möglichst  unabhängig  von  der  oft  geist- 
tötenden Fessel  der  gedruckten  Übungsbücher. 

Bei  geschlossenen  Büchern  in  den  oberen  Klassen  eine  Anzahl  (drei  bis  sechs) 
zu  Hause  durchgelesener  Kapitel  eines  leichten  Schriftstellers  zu  besprechen  und 
den  Inhalt  in  der  Sprache  des  Originals  wiedergeben  zu  lassen,  bald  kürzer,  bald 
ausführlicher,  ist  eine  auch  von  Reinhardt  aus  eigner  Praxis  empfohlene  Übung. 
Wer  sie  versucht,  wird  erstaunen,  mit  welchem  Eifer  nun  der  eine  dies,  der  andere 
das  beibringt,  bis  Gedankengang  und  Wortlaut  der  Kapitel  aus  dem  Gedächtnis 
hergestellt  sind. 

Aber  unentbehrlich  bleibt  doch  stets  die  schon  im  Altertum  von  einem  Sach- 
kenner ersten  Ranges  empfohlene  scriptio.  So  empfehlen  sich  denn  auch  im  Ge- 
brauch der  Muttersprache  kleine  schriftliche  Übungen,  um  der  noch  immer  weithin 
herrschenden  Sorg-  und  Stillosigkeit  zu  steuern. 

In  der  Mathematik  und  im  Rechnen  sind  die  kleinen  Übungsarbeiten  wohl 
stets  gepflegt  worden. 

Daß  diese  zahllosen  Arbeiten  nun  nicht  ausnahmslos  vom  Lehrer  zu  Hause 
korrigiert  werden  können,  versteht  sich  von  selbst.  So  oft  es  nötig  erscheint,  wird 
er  die  Hefte  durchsehen  müssen;  für  Erklärung  und  Verbesserung  der  Fehler  trägt 
doch  er  die  Verantwortung. 

Was  über  die  Anzahl  der  jetzt  geforderten  Extemporalien  gesagt  wird  und 
ferner  über  die  vielbesprochne  Außerkurssetzung  allzu  mißlungener  Arbeiten, 
ist  wohl  geeignet,  manche  Bedenken  zu  zerstreuen. 

Endlich  erfahren  noch  die  Übersetzungen  aus  der  fremden  Sprache  eine  lehr- 
reiche Beleuchtung;  recht  anschaulich  wird  gezeigt,  wie  man  es  nicht  machen  soll, 
und  wie  man  es  etwa  machen  kann. 


A.  Höfer,  Das  Unterrichtswesen  der  Vereinigten  Staaten  usw.  643 

Das  Buch  bedarf  keiner  Empfehkmg:  von  selber  wird  es  stark  interessierte 
Leser  finden,  und  mit  seiner  in  amtlichen  und  halbamtlichen  Kundgebungen  un- 
gewöhnlich offenen  und  herzhaften  Sprache  und  seiner  in  pädagogischen  Schriften 
ungemein  seltenen  Verbindung  von  Menschen-  und  Sachkenntnis,  auch  dort  Ein- 
druck machen,  wo  man  sich  gewöhnt  hat,  das  Bestehende  überall  auch  für  das 
Bewährte  zu  halten.  Aus  den  Worten  dieses  Tadlers  spricht  mehr  Liebe,  als  aus 
den  endlosen  Anpreisungen  dieses  oder  jenes  Schulsystems.  Möchte  nur  das  den 
Lehrern   entgegengebrachte  Vertrauen   nicht  getäuscht  werden. 

Charlottenburg.  Otto    Schroeder. 


Das  Unterrichtswesen  der  Vereinigten  Staaten  im  ersten 
Jahrzehnt  des  20.  Jahrhunderts. 

Den  neuesten  der  alljährlich  von  dem  Bureau  of  Education  herausgegebenen 
wertvollen  Berichte  über  das  Unterrichtswesen  der  Vereinigten  Staaten  eröffnet 
eine  äußerst  interessante  Übersicht  über  die  Entwicklung  während  des  ersten  Jahr- 
zehnts unseres  Jahrhunderts,  aus  der  hier  die  wichtigsten  Tatsachen  kurz  ange- 
führt seien.  Aufgebaut  auf  einer  methodisch  außerordentlich  fein  ausgearbeiteten 
Statistik,  deren  trockene  Ziffern  und  Tabellen  viele  hundert  Seiten  des  zweiten 
Bandes  des  Jahresberichts  füllen,  eriaubt  diese  Übersicht  doch  schließlich  Folge- 
rungen zu  ziehen,  die  an  vielen  Stellen  von  dem  äußeren  Rahmen  der  Schul- 
einrichtungen weg  tief  in  das  innere  Wesen  hineinführen. 

Gleich  beim  ersten  Punkt,  dem  Verhältnis  der  schulpflichtigen 
Jugend  zurgesamten  Bevölkerung,  zeigt  sich  die  hochbedeutsame 
Tatsache,  daß  die  letztere  in  dem  abgelaufenen  Jahrzehnt  von  7572  auf  92  Millionen, 
also  um  21%  gewachsen  ist,  die  erstere  dagegen  nur  um  knapp  15%;  und  wenn 
wir  erfahren,  daß  dieses  Verhältnis  in  stetigem  Rückgang  begriffen  ist  —  im  vor- 
vorigen Jahrzehnt  23%,  im  vorigen  17  — ,  so  sehen  wir,  daß  die  erstaunliche  Be- 
völkerungszunahme der  Vereinigten  Staaten  in  ganz  überwiegendem  Maße  durch 
Einwanderung  Erwachsener  bewirkt  wird,  während  der  Geburtenüberschuß  im 
Lande  selbst  andauernd  zurückgeht,  und  zwar  am  stärksten  bei  der  alteingesessenen 
Bevölkerung,  so  daß  Roosevelt  nicht  mit  Unrecht  von  dem  Rassenselbstmord  der 
Amerikaner  gesprochen  hat.  Während  also  die  europäischen  Staaten  vor  allem 
die  Frage  erwägen,  wie  sie  ihre  nationale  Bevölkerungszunahme  erhalten  können, 
wird  für  die  Union  angesichts  des  fast  unverminderten  Zustroms  der  erwachsenen 
fremden  Bestandteile,  deren  Güte  und  Bildungsstand  zudem  von  Jahr  zu  Jahr 
abnimmt,  immer  wichtiger  die  Frage,  wie  sie  diese  Volksmassen  zu  brauchbaren 
Bürgern  ihres  Staatswesens  umwandeln  kann.  Bisher  ist  ja  dieser  Aufsaugungs- 
vorgang, eine  der  wunderbarsten  Erscheinungen  für  den  aufmerksamen  Beobachter, 
dank  vor  allem  der  vorzüglichen  Anpassung  der  Volksschule  an  diese  Aufgabe,  in 
großartigerweise  gelungen;  ob  aber  der  riesige  Völkertiegel  auf  die  Dauer  solche 
Massen  guter  Amerikaner  zusammenkochen  wird,  das  bleibt  eine  offene  Frage. 

Daß  trotz  der  allgemeinen  Schulpflicht  von  der  oben  als  schulpflichtig  be- 
zeichneten Jugend  nur  wenig  mehr  als  die  Hälfte  tatsächlich  irgend  eine  Schule 

41* 


644  A.  Höfer, 

besucht,  erklärt  sich  einmal  daraus,  daß  die  amerikanische  Statistik  als  schul- 
pflichtig alle  Lebensalter  vom  5. — 18.  Jahre  bezeichnet;  von  diesen  scheidet  das 
5.  Lebensjahr  fast  ganz  und  vom  15. — 18.  ein  großer  Teil  aus,  weil  für  diese  letzteren 
Jahre  nur  die  über  die  Volksschule  hinausführenden  Schularten,  vor  allem  die 
HighSchool,  hier  und  da  auch  schon  die  allgemeine  Fortbildungsschule  {Continuation 
School),  in  Betracht  kommen.  Daß  der  Schulbesuch  tatsächlich  besser  ge- 
worden ist,  zeigt  das  Anwachsen  der  Durchschnittslänge  des 
Schuljahres  von  144  auf  155  Tage.  Da  die  amerikanische  Schulwoche  nur 
5  Tage  zählt  (der  Samstag  ist  überall  schulfrei),  so  bedeutet  das  eine  durchschnitt- 
liche Gesamtdauer  des  Schuljahres  von  31  Wochen  und  in  dem  einen  Jahrzehnt 
eine  Zunahme  von  einem  halben  Monat.  Das  ist  nun  freilich,  mit  unseren  deutschen 
Zuständen  verglichen,  immer  noch  kurz,  und  das  ganze  Verhältnis  wird  noch  un- 
günstiger bei  einem  Blick  auf  die  Zahl  der  beim  Unterricht  tatsächlich  anwesenden 
Schulkinder.  Jene  Zahl  bedeutet  eben  nur,  daß  an  155  Tagen  Schule  gehalten 
wurde;  auf  die  Gesamtzahl  der  die  Schule  tatsächlich  besuchenden  Kinder  aus- 
geschlagen aber  ergibt  sich  ein  durchschnittlicher  Schulbesuch 
von  nur  113  Tagen  auf  jedes  schulanwesende  Kind.  Ist  dies  zwar  gegen  die 
99  Tage  vor  10  Jahren  eine  bedeutende  Zunahme,  so  erhellt  doch  schon  aus  diesem 
Gegensatz  von  155  Gesamtschultagen  und  113  Schülertagen,  wie  gewaltig  trotz 
der  allgemeinen  Schulpflicht  noch  die  Zahl  der  truants,  der  „Schulschwänzer",  ist, 
die  natürlich  zumeist  in  den  Reihen  der  Volksschule  und  da  wieder  in  den  Groß- 
städten und  im  Süden  zu  suchen  sind.  Man  muß  die  für  unsere  Begriffe  fast  unglaub- 
liche Beweglichkeit  und  Freizügigkeit  der  arbeitenden  Volksmassen,  den  völligen 
Mangel  jeder  polizeilichen  Aufsicht  usw.  kennen,  um  zu  verstehen,  daß  es  dort  in 
jedem  Schulwesen  besondere  truant  officers  gibt,  die  nur  diesen  Schulschwänzern 
nachspüren.  Ungläubig  schüttelt  der  amerikanische  Stadtschulrat  den  Kopf, 
wenn  man  ihm  versichert,  bei  uns  gebe  es  diese  Einrichtung  nicht,  weil  sie  über- 
flüssig sei! 

Die  Anzahl  der  Lehrkräfte  im  niederen  und  mittleren  Schulwesen 
ist,  entsprechend  dem  Wachstum  der  Bevölkerung,  gewaltig  gestiegen:  von  423  000 
auf  506  000;  aber  gerade  hier  zeigt  sich  wieder  eine  der  bedenklichsten  Seiten  des 
ganzen  amerikanischen  Schulwesens:  die  immer  stärkere  Zunahme  der  weib- 
lichen Lehrkräfte  gegenüber  den  männlichen.  Betrug  das  Verhältnis  im  Jahre 
1900  noch  70  :  30,  so  ist  es  heute  79  :  21;  während  also  damals  wenigstens  noch 
fast  ein  Drittel  aller  Lehrkräfte  männlich  war,  ist  es  heute  nur  noch  wenig  mehr 
als  ein  Fünftel!  Und  dabei  sind  alle  Schulaufsichtsbeamten,  die  selbst  nicht  mehr 
unterrichten  —  Rektoren,  Direktoren,  Schulräte,  Inspektoren  —  und  die  meist 
noch  Männer  sind  —  in  Chicago  freilich  ist  der  Stadtschulrat  eine  Dame  —  in  die 
Statistik  eingeschlossen,  so  daß  das  Verhältnis  der  wirklich  Lehrenden  noch  un- 
günstiger ist.  Angesichts  der  Tatsache,  daß  fast  der  ganze  Volksschulunterricht 
ausschließlich  in  den  Händen  von  Lehrerinnen  liegt,  kann  man  sich  der  Frage  nicht 
enthalten,  wie  diese  Art  von  „Erziehung",  bei  der  es  doch  für  alle  über  10  Jahre 
alten  Knaben  sich  im  besten  Fall  nur  um  Unterricht  handeln  kann,  auf  die  Dauer 
den  Nationalcharakter  beeinflussen  wird.  Da  dieses  ganze  Mißverhältnis  trotz 
allem,  was  die  Amerikaner  dazu  sagen  mögen,  lediglich  die  Folge  ungenügender 


Das  Unterrichtswesen  der  Vereinigten  Staaten  im  ersten  Jahrzehnt  usw.       645 

Bezahlung  der  männlichen  Arbeitskraft  ist,  so  besteht  nur  dann  Aussicht  auf 
Besserung,  wenn  die  Besoldungsverhältnisse  geändert  werden;  denn  es  ist  eine 
bei  uns  vielfach  noch  lange  nicht  genug  bekannte  Tatsache,  daß,  von  wenigen  gut 
besoldeten  Stellen  abgesehen,  die  amerikanischen  Lehrkräfte  im  Verhältnis  zu  den 
übrigen  Ständen  und  zu  der  ganzen  Lebenshaltung  außerordentlich  ärmlich  bezahlt 
werden.  Macht  aber  der  von  den  Lehrerinnen  in  jüngster  Zeit  stark  verfochtene 
Grundsatz  equal  pay  for  equal  work,  infolgedessen  sie  z.  B.  jetzt  in  New  York  genau 
dasselbe  Gehalt  bekommen  wie  ihre  männlichen  Kollegen,  noch  weitere  Fortschritte, 
so  besteht  einerseits  wenig  Aussicht  auf  eine  baldige  Änderung  dieses  leidigen  Zu- 
Standes,  und  andererseits  kann  man  auf  die  sozialen  Wirkungen  dieser  Maßregel  ge- 
spannt sein;  bei  uns  wenigstens  hat  man  bisher  daran  festgehalten,  daß  die  Beamten- 
und  Lehrergehälter  nicht  bloß  eine  Entlohnung  für  die  geleisteten  Dienste  darstellen, 
sondern  zugleich  auch  auf  die  standesgemäße  Erhaltung  emer  Familie  Rücksicht 
nehmen  —  oder  sollte  die  Gewährung  des  gleichen  Wohnungsgeldzuschusses  an 
die  Oberlehrerinnen  auch  bei  uns  den  ersten  Schritt  von  dieser  Bahn  weg  bedeuten?? 
Wie  dem  auch  sei,  lehrreich  und  bedenklich  ist  dieser  amerikanische  Vorgang 
außerordentlich:  das  Lehramt  wird  so  schlecht  bezahlt,  daß  die  „billigere"  weib- 
liche Lehrkraft  es  fast  ausschließlich  für  sich  erobert;  nachdem  sie  die  Vormacht- 
stellung gewonnen  hat,  verlangt  sie  „gleiche  Bezahlung  für  gleiche  Arbeit",  also 
das  Gehalt  der  Männer!  und  den  Schaden  davon  hat  —  nicht  etwa  der  Mann, 
denn  der  bekommt  ja  anderswo  noch  lohnendere  Arbeit  — ,  sondern  ganz  ent- 
schieden die  Nation. 

Sehr  viel  trägt  übrigens  zu  diesen  Zuständen  auch  die  noch  weit  verbreitete 
Meinung  bei,  die  Ausübung  des  Lehramts  sei  überhaupt  kein  „Beruf",  erfordere 
also  auch  keine  besondere  fachliche  Berufsvorbildung.  So  kommt  es,  daß  einerseits 
das  Lehramt  in  die  Reihe  der  zahllosen  „Beschäftigungen"  gerechnet  wird,  mit 
denen  man  dort  drüben  je  nach  Lust  und  Gelegenheit  eine  Zeitlang  sein  Brot  zu  ver- 
dienen sucht,  bis  sich  etwas  Besseres  bietet,  und  daß  andererseits  die  Fachbildung 
der  Lehrer  von  Beruf  vielfach  unzureichend  ist.  In  Erkenntnis  dieses  Mangels 
hat  man  im  abgelaufenen  Jahrzehnt  die  Anzahl  der  Lehrerseminare,  dort 
Normal  Schools  genannt,  ganz  bedeutend  vermehrt;  allerdings  haben  sehr  viele 
davon  nur  einen  zweijährigen  Lehrgang,  und  die  Forderung,  daß  die  Zulassung 
zum  Seminar  an  den  abgeschlossenen  Besuch  einer  vierstufigen  High  School  ge- 
knüpft sein  soll,  läßt  sich  noch  lange  nicht  überall  durchführen.  Andererseits  ist 
wenigstens  hinsichtlich  der  Lehrkräfte  in  diesen  Seminaren  festzustellen,  daß  die 
meisten  von  ihnen  Collegebildung,  ein  Teil  auch  Universitätsbildung  haben.  Den 
allgemeinen  Verhältnissen  entsprechend  überwiegen  im  ganzen  Seminarwesen 
natürlich  auch  die  Frauen:  bei  den  Lehrkräften  ist  das  Verhältnis  2  :  1,  bei  den 
Schülern  sogar  4:1. 

Von  den  verschiedenen  Stufen  der  Schulbildung,  Kindergarten  (4.  und 
5.  Lebensjahr),  Volksschule  (6.— 14.),  High  School  (15.— 18.),  College  und  Universität 
(19._26.),  haben  äußerlich  die  erste  und  dritte  die  bedeutendste  Zunahme  zu 
verzeichnen.  In  400  meist  im  Norden  gelegenen  Städten  bestehen  öffentliche 
und  deshalb  natürlich  kostenlose  Kindergärten,  in  denen  6000  Lehrerinnen 
185  000  Kinder  beschäftigen;  allerdings  fügt  der  amerikanische  Berichterstatter 


646  A.  Höfer, 

selbst  warnend  hinzu,  es  möchte  bei  dieser  Tätigkeit  etwas  mehr  die  ideale  Absicht 
Froebels  im  Auge  behalten  werden,  damit  nicht  die  Gefahr  einer  allzufrühen  Vor- 
wegnahme des  eigentlichen  Unterrichts  sich  einschleiche. 

Das  erstaunlichste  Wachstum  aber  zeigt  die  High  School,  das  jüngste  Glied 
des  amerikanischen  Schulwesens,  das  in  geschickter  Weise  die  Aufgabe  gelöst  hat, 
eine  Verbindung  zwischen  der  Volksschule  und  dem  College  herzustellen.  Hier  haben 
sich  in  dem  einen  Jahrzehnt  die  Zahlen  der  Schulen  sowohl  wie  der  Lehrkräfte  und 
der  Schüler  fast  verdoppelt:  in  10  000  Schulen  unterrichten  41  000  Lehrer  nahezu 
1  000  000  Schüler.  Allerdings  ist  es  wieder  sehr  bezeichnend  für  die  amerikanischen 
Verhältnisse,  daß  von  diesen  Schülern  nur  etwa  ein  Achtel  sämtliche  4  Klassen  der 
High  School  durchläuft,  und  von  diesen  „Abiturienten"  geht  wieder  nur  ein  Drittel 
zum  College  über.  Daß  schon  auf  der  High  School,  insbesondere  in  den  oberen  Klassen, 
die  Anzahl  der  Schülerinnen  die  der  Schüler  überwiegt  (rund  3  :  2),  erklärt  sich 
aus  dem  Zwang  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse:  die  Knaben  müssen  des  Verdienstes 
wegen  früher  die  Schule  verlassen,  während  die  Mädchen  mehr  Zeit  haben,  ihren 
wissenschaftlichen  Neigungen  unter  der  Form  von  Studien  nachzugehen. 

Interessant  ist  ein  Einblick  in  die  Lehrgegenstände  der  High  School  und 
in  die  Beteiligung  der  Schüler  daran.  Unter  dem  Druck  der  vielfach  auf  das  un- 
mittelbar Praktische  gerichteten  Forderungen  der  Jugend  ist  einerseits  eine  außer- 
ordentliche Masse  von  Lehrfächern  —  von  Psychologie  und  Astronomie  bis  zu 
Maschinenschreiben  und  Handfertigkeit  —  und  andererseits  eine  fast  unbeschränkte 
Wahlfreiheit  entstanden,  die  allerdings  jetzt  schon  ihren  Höhepunkt  fast  über- 
schritten zu  haben  scheint.  Die  begehrtesten  wissenschaftlichen  Fächer  sind 
Englisch,  Algebra,  Rhetorik  und  Geschichte,  ein  deutlicher  Maßstab  für  den  Wert, 
den  der  Amerikaner  den  in  der  politischen  Betätigung  wichtigen  Kenntnissen  und 
Fertigkeiten  zuweist.  Unter  den  fremden  Sprachen  ist  Griechisch  so  gut  wie  aus- 
gestorben. Lateinisch  noch  recht  begehrt,  während  Französisch  nur  eine  ganz  ge- 
ringe, Deutsch  aber  erfreulicherweise  eine  recht  bedeutende  Zunahme  zu  verzeich- 
nen hat. 

Im  Gegensatz  zur  High  School  bedeutet  für  die  C  o  1 1  e  g  e  s  und  Universi- 
täten das  abgelaufene  Jahrzehnt  nicht  eine  Periode  der  Neugründungen,  sondern 
vielmehr  der  inneren  Stärkung  und  Vertiefung.  Auch  hier  stieg  die  Anzahl  der 
Hörer  von  1 10  000  auf  183  000,  die  der  Lehrkräfte  von  17  000  auf  27  000,  das  Jahres- 
einkommen gar  von  28  auf  78  Millionen  Dollar!  Die  außerordentlich  schnelle  An- 
passung der  sich  der  Jugend  bietenden  Ausbildungsmöglichkeiten  an  die  neu  er- 
stehenden Bedürfnisse  zeigt  die  Tatsache,  daß  die  Kurse  in  der  Landwirtschaftslehre 
eine  ganz  gewaltige  Zunahme  erfahren  haben  und  daß  jetzt  auch  ein  ganz  neues 
Fach,  das  sich  Forstwirtschaftslehre  nennt,  schon  reichen  Zuspruch  findet.  Auch 
in  Amerika  sind  eben  die  primitiven  Zeiten  des  Raubbaues,  bzw.  des  bloß  extensiven 
Wirtschaftsbetriebs  vorüber,  und  die  sinnlose  Waldverheerung  der  letzten  Jahr- 
zehnte hat  den  einsichtigen  und  verantwortlichen  Stellen  doch  die  Augen  über 
die  Notwendigkeit  der  Erhaltung  des  Waldreichtums  geöffnet. 

Nur  auf  einem  Gebiete  kann  der  Berichterstatter  bezeichnenderweise  keinen 
Fortschritt  feststellen ;  auf  dem  der  K  u  n  s  t  p  f  1  e  g  e !  Die  Musik  insbesondere 
erfreut  sich  in  den  Schulen  keiner  stärkeren  Beachtung  als  zuvor,  und  im  Zeitalter 


Das  Unterrichtswesen  der  Vereinigten  Staaten  im  ersten  Jahrzehnt  usw.        647 

des  Kinematographen  kann  uns  das  eigentlich  nicht  wundernehmen.  Aber  haben 
wir  Deutsche,  wenn  wir  von  unserem  Zeichenunterricht  absehen,  starke  Veran- 
lassung, die  mangelhafte  Kunstpflege  der  anderen  Völker  zu  bekritteln?  Wo  ist 
bei  uns  auch  nur  auf  der  höheren  Schule  ein  bescheidenes  Plätzchen  dafür  zu  finden? 
Wie  rasch  Mm  übrigen  die  Amerikaner  es  verstehen,  alle  Neuerungen  einzu- 
führen, davon  zeigt  die  Entwicklung  des  abgelaufenen  Jahrzehnts  eine  ganze  Reihe 
wichtiger  Beispiele.  Wir  denken  hierbei  nicht  so  sehr  an  die  jedem  Kenner  der 
Verhältnisse  vertraute  Zickzackbewegung  innerhalb  der  kleineren  Schuleinheiten, 
wo  durch  einen  Wechsel  in  der  Person  des  Schulrats  {Superintendent)  die  Methoden, 
die  Lehrbücher,  die  Lehrpläne,  die  Unterrichtsgegenstände  und  die  Lehrpersonen 
nach  Belieben  wechseln  können,  sondern  vielmehr  an  die  großen  neuen  Bewegungen 
innerhalb  der  pädagogischen  Welt:  so  ist  z.  B.  in  der  S  c  h  u  1  a  r  z  t  f  r  a  g  e  das 
Land  ungemein  rasch  vorangeschritten.  Während  im  Jahre  1905  erst  55  Städte 
eine  regelrechte  ärztliche  Beaufsichtigung  der  Schule  eingeführt  hatten,  bestand 
sie  nach  fünf  Jahren  schon  in  400,  und  teilweise  in  viel  ausgedehnterem  Maße  als 
bei  uns:  Schulschwestern,  Zahnpflege,  allgemeine  ärztliche  Untersuchung  von 
Schülern  und  Lehrern,  Schulhaushygiene  usw.  sind  jetzt  dort  schon  allgemeine 
Forderungen;  Freiluftschulen,  Waldschulen,  Hilfsschulen  für  geistig  oder  körper- 
lich Zurückgebliebene  sind  alles  keine  unbekannten  Dinge  mehr,  und  an  einzelnen 
Orten  bestehen  schon  gesetzHche  Bestimmungen  über  die  allgemein  verbindliche 
Fortbildungsschule  (Continuation  School). 

Für  die  Lehrkräfte  besonders  wichtig  ist  das  rüstige  Fortschreiten  der  Frage 
des  R  u  h  e  g  e  h  a  1 1  s.  Noch  vor  10  Jahren  war  selbst  der  Begriff  einer  Pension 
den  Amerikanern,  entsprechend  ihren  gesamten  Arbeitseinrichtungen,  völlig  fremd: 
die  Lehrkräfte  werden  ja  —  mit  wenigen  Ausnahmen  in  den  Oststaaten  —  auch 
heute  noch  nur  auf  ein  Jahr  angestellt;  wer  arbeitsuntauglich  wird,  scheidet  eben 
aus,  und  bezeichnend  für  die  Fabrikarbeiterstellung  auch  des  geistigen  Arbeiters 
sind  zwei  unscheinbare  Tatsachen,  einmal  daß  jeder  Lehrer  —'selbst  in  den  High 
Schools  —  sich  morgens  um  ^Iß  Uhr  und  nachmittags  nach  Schluß  der  Schule  — 
nicht  etwa  am  Ende  seines  eigenen  Unterrichts!  —  in  das  Diensttagebuch  ein- 
tragen muß:  dazwischen  darf  er,  ob  er  Unterricht  hat  oder  nicht,  die  Schule  nicht 
verlassen!  Und  zweitens,  daß  er  für  jeden  Tag,  den  er  aus  irgendeinem  Grunde  — 
auch  Krankheit  —  versäumt,  entsprechenden  Abzug  an  seinem  Monatsgehalt  er- 
leiden kann!!  Demgegenüber  bedeutet  es  doch  einen  gewaltigen  Fortschritt, 
wenn  jetzt  in  mehreren  Staaten  den  Lehrkräften  schon  ein  gesetzlicher  Anspruch 
auf  Ruhegehalt  zusteht,  das  in  zwei  Fällen  sogar  vom  Staat  selbst,  in  anderen  von 
den  betreffenden  Gemeinden  bezahlt  wird.  Das  Wichtigste  ist  eben  immer,  daß 
eine  Frage  überhaupt  einmal  aufgeworfen  wird;  dann  wird  sie  auch  schon  bald  eine 
Lösung  finden. 

Recht  bedeutsam  ist  auch  eine  Bewegung  auf  dem  Gebiete  der  S  c  h  u  l  v  e  r  - 
waltung,  die  dahin  strebt,  die  außerordentlich  buntscheckige  Vielheit  der 
Schulbehörde,  der  vor  allem  jenes  Rastlose  und  Unstete  in  der  ganzen  Entwick- 
lung zuzuschreiben  ist,  zugunsten  einer  sachlicheren  und  stetigeren  Verwaltung 
der  Schulangelegenheiten  zu  beseitigen.  Die  wichtigste  Aufgabe  ist  dabei  die  Los- 
lösung der  Schulverwaltung  von  den  Zufällen  der  politischen  Wahlen,  die  vielfach 


648  A.  Tilmann, 

alle  zwei  Jahre  einen  völligen  Personen-  und  damit  auch  einen  Ideen-  und  Sachen- 
wechsel herbeiführen,  von  dessen  Gründlichkeit  wir  in  Europa  uns  gar  keine  Vor- 
stellung zu  machen  vermögen.  Während  bisher  meist  jeder  einzelne  Stadtbezirk, 
der  die  Grundlage  für  die  politischen  Wahlen  bildete,  dabei  auch  sein  Mitglied  für 
den  Schulvorstand  neu  wählte,  werden  jetzt  vielfach  schon  members  at  large,  d.  h. 
aus  der  Gesamtzahl  der  Bürgerschaft  für  längere  Zeit  gewählte  Mitglieder  in  den 
Schulvorstand  entsandt,  die  unter  allen  Umständen  eine  größere  Beständigkeit 
in  den  Grundsätzen  der  Schulverwaltung  und  damit  eine  Unabhängigkeit  von  poli- 
tischen Einflüssen  verbürgen.  Den  gewaltigsten  Fortschritt  auf  diesem  Gebiet 
bedeutet  die  im  vorigen  Jahr  vollzogene  Schaffung  einer  Unterrichtsbehörde  im 
Staat  Oklahoma,  die  so  ziemlich  mit  sämtlichen  Befugnissen  ausgestattet  ist,  wie 
sie  bei  uns  ein  Unterrichtsminister  hat.  Damit  ist  für  die  Vereinigten  Staaten 
das  erste  Beispiel  einer  staatlichen  einheitlichen  Unterrichtsverwaltung  geschaffen, 
wie  man  es  nach  den  bisherigen  Zuständen  kaum  schon  für  möglich  gehalten  hätte. 

Amerikanisch  wäre  diese  kurze  Übersicht  nicht,  wenn  sie  nicht  schlösse  mit 
einem  Hinweis  auf  die  finanziellen  Fortschritte  der  Union  auf  dem  Gebiete  der 
Geistesbildung.  In  dieser  Beziehung  bedeutet  selbst  für  die  dortigen  Verhältnisse 
das  abgelaufene  Jahrzehnt  einen  Höhepunkt.  Sind  doch  dank  den  Stiftungen 
von  Carnegie,  Rockefeiler  und  anderen  rund  100  Millionen  Dollar  für  die  Förderung 
der  allgemeinen  Bildungszwecke  im  weitesten  Umfang  neu  geschenkt  worden, 
während  die  Stiftungskapitalien  der  bestehenden  Universitäten  und  Colleges  gar 
um  180  Millionen  vermehrt  wurden!  Angesichts  solcher  Zahlen  kann  man  es  den 
Amerikanern  nicht  verargen,  wenn  sie  mit  pädagogischen  Experimenten  kostspie- 
ligster Art  schneller  bei  der  Hand  sind  als  wir  und  wenn  die  ganze  Masse  des  Volkes 
den  Ruhm  ihres  Schulwesens  vorläufig  mehr  in  der  äußeren  Ausstattung  als  in  der 
tüchtigen  Leistung  sucht.  Über  Mangel  an  frischem  Leben  kann  der  Beobachter 
vorläufig  nicht  klagen,  und  wenn  hier  und  da  die  Entwicklung  etwas  zu  lebhaft 
und  zu  rasch  erscheint,  so  beruhigt  ihn  darüber  die  Wahrnehmung,  daß  die  ein- 
sichtigen und  namentlich  die  verantwortlichen  Kreise  sich  der  Schwächen  ihrer 
Schuleinrichtungen  deutlich  bewußt  sind  und  daß  die  Kritik  dieser  Einrichtungen 
drüben  mindestens  so  lebhaft  ist  wie  bei  uns,  wenn  sie  auch  freilich  nicht  gleich 
die  finstere  Miene  der  Schulverdrossenheit  an  sich  trägt,  die  jetzt  bei  uns  so  beliebt 
ist.  Und  diese  Feststellung  mag  schließlich  auch  den  deutschen  Schulmann 
trösten ! 

Wiesbaden.  A.  H  ö  f  e  r. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen 

Universitäten. 

Erlangen,  Freiburg,  Gießen,  Heidelberg,  Jena,  Leipzig,  München,  Rostock,  Straß- 
burg, Tübingen  und  Würzburg  im  Sommer-Semester  1912. 
Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studierende,  die  nicht  auf 
Grund  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  immatrikuliert  waren,  unberücksichtigt. 
Von  den  nachstehenden  Zusammenstellungen  umfaßt  die  erste  alle  im  Sommer- 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen   Universitäten.      649 

Semester  1912  an  den  genannten  Universitäten  immatrikulierten  Studierenden, 
die  zweite  nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten  Semester 
standen. 

I.    Im  Sommer-Semester  1912  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  1469  Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     1439 
„        „  „  „      Realgymnasiums    .    .        25 

„        „  „  einer  Oberrealschule    ...  5 

b)  in  der   Katholisch-Theologischen   Fakultät  846    Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     844 

„      Realgymnasiums  .    .        2 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  4770  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  3795 
„        „  „  „      Realgymnasiums   .    .     695 

„        „  „  einer  Oberrealschule   .    .    .     280 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  6880  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   .    .    .5150 
„        „  „  „      Realgymnasiums   .    .   1212 

„        „  „  einer  Oberrealschule   ...     518 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  10017  Studierende,  davon  immatri- 
kuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  6072 

„  „      Realgymnasiums   .    .  2239 

„        „  „  einer  Oberrealschule   .   .   .   1706 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  868  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     593 
,,  „  „      Realgymnasiums   .    .     180 

,,  „  einer  Oberrealschule   ...       95 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch*)  2254  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....   1965 
„  „  „      Realgymnasiums  .    .     174 

,,  „  einer  Oberrealschule  ...     115 

3.  Neuere  Philologie*)  2065  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....     966 

„  „      Realgymnasiums   .    .     683 

,,  „  einer  Oberrealschule   ...     416 

•)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg 
bei  der  Geschichte  nachgewiesen. 


650  A.  Tilmann, 

4.  Geschichte*)  710  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  499 

„        „                 „                „      Realgymnasiums   .   .  153 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  58 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  3411  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  .   .   .   .  1612 

„        „                 „                „      Realgymnasiums   .   .  902 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   .   .   .  897 

6.  Sonstige  Studienfächer  709  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  437 

„        „                 „                „     Realgymnasiums   .    .  147 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  125 

11.  Von  den  unter  I.  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  in   der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  293  Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  290 

„         ,,                „                ,,     Realgymnasiums    .   .  3 

b)  in   der  Katholisch  -  Theologischen  Fakultät  22  Studierende,    davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums 21 

„     Realgymnasiums  ...  1 

c)  in  der  Juristixhen  Fakultät  857  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  646 

„        „                 „                „     Realgymnasiums   .   .  155 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  56 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  931  Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  589 

„        „                 „                „     Realgymnasiums   .   .  243 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  99 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  1201  Studierende,  davon  immatri- 
kuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  631 

„        „                 „                „     Realgymnasiums   .    .  359 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  211 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  79  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  47 

„        „                 „                „      Realgymnasiums   .   .  25 

einer  Oberrealschule    ...  7 


•)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg 
bei  der  Geschichte  nachgewiesen.  ^ 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten.  651 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch*)  260  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  203 

„        „                  „                „      Realgymnasiums   .    .  38 

„        „                  „             einer  Oberrealschule   ...  19 

3.  Neuere  Philologie*)  230  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  75 

„        „                  „                „     Realgymnasiums   .    .  103 

„        „                  „             einer  Oberrealschule   ...  52 

4.  Geschichte*)  143  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  91 

„        „                  „                „     Realgymnasiums   .    .  39 

„        „                  „             einer  Oberrealschule   ...  13 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  401  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  171 

„        „                  „                „      Realgymnasiums   .   .  135 

„        „                 „             einer  Oberrealschule   ...  95 

6.  Sonstige  Studienfächer  88  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  ....  44 

„     Realgymnasiums   .    .  19 

„         „                „             einer  Oberrealschule   ...  25 
Gr.-Lichterfelde.                                                                  A.  T  i  l  m  a  n  n. 


♦)  Deutsch  ist  in  Gießen  bei  der  neueren  Philologie,  in  Freiburg  und  Heidelberg 
bei  der  Geschichte  nachgewiesen. 


IL  Programmabhandlungen  1910  u.  1911 


Französisch  und  Englisch. 

1910. 

Engwer,  Theodor,  Impressions  de  France.  Berlin,  Königl.  Augusta- 
Schule.    40  S.    8».    Progr.-No.  194. 

Der  Reisebericht,  den  einer  unserer  gediegensten  Neuphilologen  und  ein 
gründlicher  Kenner  Frankreichs  in  fließendem  Französisch  geschrieben  hat,  enthält 
eine  reiche  Fülle  feiner  Beobachtungen  über  Land  und  Leute.  Zunächst  folgen 
wir  dem  Verfasser  auf  seiner  Reise  nach  dem  Westen  Frankreichs,  kehren  dann 
mit  ihm  zu  einem  längeren  Aufenthalte  nach  Paris  zurück  und  begleiten  ihn  schließ- 
lich in  den  sonnigen  Süden  von  Bordeaux  aus  über  Toulouse  nach  Marseille.  Der 
Aufenthalt  in  der  Hauptstadt  wird  nur  auf  wenigen  Seiten  besprochen,  und  doch 
gibt  uns  diese  Skizze  mehr  Anregungen  als  seitenlange  trockene  Aufzählungen 
landläufiger  Reisehandbücher  oder  seichter  Reiseberichte.  Die  Reisen  in  der  Pro- 
vinz werden  ausführlich  beschrieben,  und  hier  zeigt  der  Verfasser  meisterhaft, 
wie  der  Philologe  zu  reisen  hat.  Peinlich  genaue  Vorbereitungen  und  eingehende 
Studien  haben  in  der  Heimat  der  Auslandsreise  vorherzugehen,  dann  heißt  es, 
langsam  und  mit  Bedacht  die  Fahrt  durch  das  fremde  Land  zu  machen.  Es  gilt, 
die  Eigenart,  die  Sitten  und  Gewohnheiten  der  Bevölkerung  zu  beobachten,  an 
historisch  und  literarisch  denkwürdigen  Stätten  zu  verweilen,  die  Stätten  der  Kunst 
aufzusuchen,  ehrwürdige  Baudenkmäler  zu  bewundern  und  den  Spuren  der  Dichter 
zu  folgen.  Gerade  in  den  Werken  der  Dichter  findet  der  Neuphilologe  einen  ganz 
eigenartigen  Reiseführer,  denn  den  Kundigen  begleiten  literarische  Erinnerungen 
auf  Schritt  und  Tritt.  Mögen  unsere  Philologen,  die  nach  Frankreich  gehen,  die 
wertvolle  Arbeit  vorher  genau  studieren  und  sie  dann  noch  als  einen  anregenden 
Führer  mit  auf  die  Reise  nehmen. 

Fröhlich,  Walter,  Feuilles  d'Ete.  Hamburg,  Oberrealschule  in  St.  Georg. 
32  S.    40.    Progr.-No.  1012. 

Der  Verfasser,  der  seine  Sommerferien  gelegentlich  in  Frankreich  zugebracht 
hat,  wählte  für  seinen  Aufenthalt  kleinere  Orte  der  Provinz,  wo  die  Volkssitten 
noch  ihren  ursprünglichen  Charakter  gewahrt  haben  und  wo  die  Pensionsgeber, 
etwa  französische  Professoren,  mehr  Zeit  haben,  die  sprachliche  Weiterbildung  des 
deutschen  Oberlehrers  zu  fördern  und  zu  unterstützen.  Um  einen  möglichst  reichen 
sprachlichen  Gewinn  zu  erzielen,  hat  nun  der  Verfasser  in  Form  eines  ausführlicheren 


R.  Preußner,  Französisch  und  Englisch.  653 

Tagebuchs  die  Erlebnisse  des  Tages  niedergeschrieben  und  diese  kleinen  Aufsätze 
französischen  Freunden  zur  Durchsicht  und  Besprechung  unterbreitet.  Die  vor- 
liegende Abhandlung  enthält  eine  Reihe  ganz  reizender  Plaudereien  —  feuilles  d'ete 
— ,  die  auch  nicht  ohne  kulturhistorischen  Wert  sind. 

Michael,  Friedrich,  Das  Oxforder  Summer  Meeting  von  1909. 
Suhl,  Königl.  Oberrealschule.     19  S.    4».     Progr.-No.  377. 

Die  deutschen  Lehrer  und  Lehrerinnen  besuchen  mit  Vorliebe  die  von  der 
University  Extension  Movement  abgehaltenen  Ferienkurse,  vielleicht  weil  der 
Besuch  der  Vorlesungen  verhältnismäßig  billig  ist  und  die  Vorträge  in  ihrer  Mannig- 
faltigkeit schließlich  jedem  etwas  bringen.  Der  Besuch  eines  solchen  Meeting 
kann  aber  nur  denen  angeraten  werden,  die  bereits  das  echt  englische  Leben  ander- 
weitig kennen  gelernt  haben  und  auch  über  praktische  Sprachkenntnisse  verfügen. 
Am  besten  wählt  man  wie  der  Verfasser  das  Summer  Meeting  als  Abschluß  eines 
halbjährigen  Aufenthalts  in  England.  Der  Verfasser  berichtet  nur  über  solche 
Vorträge,  die  für  den  Deutschen  von  Interesse  sind,  und  erzählt  Einzelheiten  über 
die  Vorträge  über  die  englische  Sprache,  über  Phonetik  und  über  die  englische  Ver- 
fassung. 

Aymanns,  Joseph,  Das  Französische  im  Ersatzunterricht 
der  Mittelklassen  von  Gymnasien.  Ahrweiler-Neuenahr,  Progym- 
nasium.   45  S.    40.    Progr.-No.  583. 

Der  Verfasser  gibt  zunächst  einen  kurzen  Abriß  der  Geschichte  des  franzö- 
sischen Unterrichts  am  Gymnasium  und  schließt  daran  einen  historischen  Über- 
blick über  die  Entwicklung  des  Ersatzunterrichts  mit  fast  ausschheßlicher  Berück- 
sichtigung des  Französischen.  Die  Frage,  wie  die  durch  den  Fortfall  des  Griechischen 
frei  werdenden  Stunden  zu  verteilen  sind  und  wie  durch  diesen  Ersatzunterricht 
eine  Annäherung  an  die  Lehrpläne  und  Lehrziele  des  Realgymnasiums  ermöglicht 
werden  kann,  ist  zwar  interessant,  aber  nicht  gerade  leicht  zu  beantworten.  Der 
Verfasser  schlägt  zwei  Wege  vor,  die  zum  Ziele  führen  sollen.  Er  empfiehlt,  die 
Schüler,  die  Ersatzunterricht  haben,  in  Unter-  und  Obertertia  in  den  gemeinsamen 
französischen  Stunden  mit  den  Gymnasiasten  der  nächst  höheren  Klasse  zu  unter- 
richten, die  Untersekundaner  jedoch  nur  in  der  einen  Lektürestunde  mit  den  Gym- 
nasiasten zu  vereinigen,  in  den  drei  andern  Stunden  aber  einen  selbständigen  Kursus 
zu  bilden.  Außer  der  nicht  gerade  empfehlenswerten  Verbindung  ungleicher  Klassen 
stehen  aber  besonders  im  ersten  Jahre  der  Trennung,  in  Untertertia,  dem  Vor- 
schlage schwere  Bedenken  entgegen.  Um  eine  völlige  Angleichung  des  Unterrichts 
der  Nichtgriechen  mit  den  entsprechenden  Pensen  des  Realgymnasiums  zu  erzielen, 
macht  der  Verfasser  noch  den  radikaleren  Vorschlag,  die  lateinischen  Stunden 
des  Gymnasiums  auf  die  Zahl  der  lateinischen  Stunden  des  Realgymnasiums  zu 
reduzieren,  um  dann  mit  Hilfe  der  dadurch  gewonnenen  Zeit  die  Lehrziele  der 
realgymnasialen  Klasse  zu  erreichen.  Ich  kann  mich  für  keinen  der  beiden  Vor- 
schläge erwärmen.  Meines  Erachtens  kann  nur  das  Griechische  zuguasten  des 
Ersatzunterrichts  geopfert  werden,  und  außerdem  halte  ich  es  nicht  für  richtig, 
Schüler  der  verschiedenen  Klassenstufen  zusammen  zu  unterrichten.  Man  behalte 
Griechen  und  Nichtgriechen  in  den  französischen  Stunden  zusammen,  erledige  hier 
das  vorgeschriebene  Pensum  und  treibe  in  den  Sonderstunden  fleißig  Lektüre  und 


654  R.  Preußner, 

befestige  und  erweitere  hierbei  den  Vokabel-  und  Phrasenschatz.  Für  noch  ersprieß- 
licher würde  ich  es  halten,  wenn  man  von  dem  Ersatzunterrichte  überhaupt  absähe 
und  da,  wo  sich  die  Notwendigkeit  ergibt,  das  Gymnasium  in  ein  Realgymnasium 
umwandelte.    Damit  wäre  den  kleineren  Städten  am  besten  gedient. 

Thiele,  Paul,  Formen  und  Wortschatz  des  klassischen 
Lateins  in  ihrem  Werte  für  die  schulmäßige  Erlernung 
des  Französischen.  Berlin,  Königl.  Französisches  Gymnasium.  32  S. 
40.    Progr.-No.  64. 

Der  Verfasser  beantwortet  die  Frage,  ob  die  Kenntnis  des  Lateinischen  die 
Erlernung  des  Französischen  auf  dem  Gebiete  der  Formen  und  des  Wortschatzes 
wesentüch  unterstützt  und  erleichtert,  mit  einem  ziemlich  energischen  Nein.  Um 
seine  Behauptung  zu  beweisen,  zeigt  er,  wie  die  neufranzösischen  Sprachformen 
sich  doch  zu  weit  von  den  entsprechenden  lateinischen  Formen  entfernt  haben, 
als  daß  noch  die  auf  das  sichere  Beherrschen  der  lateinischen  Elementar-Gram- 
matik  verwandte  Mühe  für  das  Französische  von  besonderem  Nutzen  und  von 
einer  Anknüpfung  an  das  Latein  die  Rede  sein  könnte.  Fast  überall  zeigt  sich 
ein  Verfall  der  Formen,  die  durch  zweckmäßige  Neubildungen  ersetzt  werden 
müssen;  hier  und  da  sind  noch  kümmerliche  Reste  geblieben,  die  für  den  Schüler 
schwer  oder  gar  nicht  erkennbar  und  deren  etymologische  Begründung  für  den 
Schüler  eher  schädlich  als  nützlich  sei.  Selbst  bei  der  Erlernung  des  französischen 
Wortschatzes  verspricht  sich  der  Verfasser  vom  Latein  nicht  viel  Vorarbeit  und 
Nutzen,  wenn  auch  das  lateinische  Wort  für  das  entsprechende  französische  vielfach 
eine  Gedächtnisstütze  bietet.  Diese  Stütze  versagt  aber  oft,  sobald  man  die  Bedeu- 
tung des  französischen  und  des  lateinischen  Wortes  in  Betracht  zieht.  Die  Aus- 
führungen des  Verfassers  stützen  sich  auf  ein  geschickt  zusammengestelltes  Beweis- 
material, werden  aber  sicher  auch  manchen  Widerspruch  hervorrufen.  Der  Ver- 
fasser muß  selbst  zugeben,  daß  ein  geschickter  Lehrer  die  direkte  Anknüpfung  des 
Französischen  an  das  Lateinische  mehr  oder  weniger  suchen  wird,  „um  bei  den 
Schülern  Sinn  für  sprachgeschichtliche  Erscheinungen  und  Freude  an  der  Er- 
kenntnis von  Zusammenhängen  zu  wecken,  um  die  Beschäftigung  mit  den  Formen 
des  Französischen  von  einer  rein  gedächtnismäßigen  Arbeit,  von  einer  bloßen  Fertig- 
keit zu  einem  wirklichen  Bildungsmittel,  zu  einer  Quelle  sprachhistorischer  An- 
schauung zu  machen".  Und  das  ist  doch  gerade  in  den  oberen  Klassen,  wenn 
es  sich  um  ein  Vertiefen  der  französischen  Formenlehre  handelt,  von  nicht  zu  unter- 
schätzendem Werte,  und  der  Lehrer  des  Französischen  an  der  Oberrealschule 
vermißt  diese  Anknüpfung  an  das  Lateinische  gar  oft  recht  schmerzlich.  Die 
Kenntnis  des  Lateinischen  zeigt  auch  dem  Schüler,  wie  die  französische  Sprache 
kein  starres  und  totes,  sondern  ein  lebendes  Gebilde  ist,  daß  neuer  Formenreichtum 
anstelle  der  zerfallenen  Gebilde  getreten  ist,  daß  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  die 
Bedeutungsentwicklung  wirksam  und  tätig  ist.  Aber  auch  in  den  unteren  und 
mittleren  Klassen  verhelfen  Wortschatz  und  Formenlehre  des  Lateinischen  dem 
Französisch  lernenden  Schüler  zu  manchen  Stützen  und  Hilfen,  die  Lehrer  und 
Schüler  gern  suchen  und  gebrauchen.  Unsere  jetzt  mächtig  aufblühenden  Reform- 
schulen haben  zur  Genüge  bewiesen,  daß  man  auch  den  umgekehrten  Weg  ein- 
schlagen und  das  Latein  durch  Französisch  unterstützen  kann.    Aber  mag  man  mit 


Französisch  und  Englisch.  655 

der  einen  oder  anderen  Sprache  anfangen,  beide  sind  beim  Erlernen  auf  der  Schule 
vielfach  aufeinander  angewiesen. 

Wehrmann,  Karl,  Der  neusprachliche  Unterricht  auf  der 
Oberstufe  der  Oberrealschule.  Bochum,  Stadt.  Oberrealschule.  9  S. 
40.     Progr.-No.  511. 

Wie  der  Verfasser  in  einer  Fußnote  angibt,  sind  die  Abhandlungen  des  Jahres- 
berichts mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Brüsseler  Weltausstellung  gedruckt, 
auf  der  die  Anstalt  die  preußischen  Oberrealschulen  zu  vertreten  hatte.  Uns  inter- 
essieren hier  nur  die  Ausführungen  über  den  neusprachlichen  Unterricht,  die  in 
gedrängter  Kürze  das  Wesentliche  und  Bedeutende  zusammenfassen.  Der  Ver- 
fasser tritt  für  eine  weise  Beschränkung  des  überaus  umfangreichen  Unterrichts- 
stoffes ein  und  empfiehlt,  ohne  der  freien  Entfaltung  des  Lehrers  auch  nur  irgend- 
wie Abbruch  zu  tun,  für  die  einzelnen  Klassenstufen  Mindestforderungen  fest- 
zulegen, um  endlich  einmal  eine  größere  Einheit  in  den  Grundlagen  wie  in  den  Ziel- 
forderungen zu  schaffen.  In  der  Lektüre  kommt  die  flache  Unterhaltungslektüre 
für  die  geistige  Bildung  unserer  Schüler  nicht  mehr  in  Frage;  der  allen  preußischen 
Oberrealschulen  gemeinsame  Gedankenstoff  ist  etwa  so  festzulegen,  daß  für  jede 
Klasse  von  Obersekunda  bis  Prima  ein  Dichter  und  ein  Prosaschriftsteller  zu  lesen 
sind.  Weiteren  Lesestoff,  der  besonders  den  literarischen  Interessen  der  Schüler 
entgegenkommt,  müßte  eine  wissenschaftlich  gehaltene  Chrestomathie  bieten, 
wie  sie  etwa  Wilamowitz-Möllendorff  für  das  Griechische  geschaffen  hat.  Der 
grammatische  Lehrstoff,  der  leider  in  den  unteren  und  mittleren  Klassen  des  über- 
reichen Stoffes  wegen  vielfach  nur  oberflächlich  behandelt  werden  kann,  ist  in  den 
oberen  Klassen  wissenschaftlich  zu  vertiefen;  der  Lehrer  hat  seinen  eignen  wissen- 
schaftlichen Neigungen  entsprechend  die  Schüler  in  die  Gebiete  der  Phonetik, 
der  wissenschaftlichen  Syntax,  der  Sprachvergleichung  und  Sprachforschung  und 
selbst  in  die  einfachsten  philologischen  Arbeiten  einzuführen.  >  Für  die  schrift- 
lichen Arbeiten  auf  der  Oberstufe  empfiehlt  der  Verfasser  mit  Recht  dem  ganzen 
Unterricht  entsprechend  in  beiden  Sprachen  freie  Arbeiten,  „deren  Stoffe  der  ge- 
schlossenen Einheit  des  Unterrichts  wegen  aus  dem  mündlichen  Unterricht  hervor- 
gehen und  so  der  Lektüre  oder  der  französischen  und  englischen  Geschichte  und 
Literatur  entnommen  werden".  Die  Lektüre,  die  ja  auf  der  Oberstufe  den  ganzen 
Unterricht  beherrscht  und  durchdringt,  muß  zu  freiem  Sprechen  und  zu  freiem 
Schreiben  führen.  Was  der  Verfasser  schließlich  über  die  Behandlung  des  bisher 
üblichen  Extemporale  sagt,  verdient  noch  besonders  hervorgehoben  zu  werden. 
Das  Extemporale,  das  wir  von  dem  Betriebe  der  klassischen  Sprachen  über- 
nommen haben,  gilt  nicht  in  derselben  starren  Art  für  die  neueren  Sprachen.  „Wir 
wünschen  eine  freiere,  menschlichere  Beurteilung  der  geistigen  Fähigkeiten  unserer 
Schüler."  Wenn  des  Verfassers  Ausführungen  recht  viel  gelesen  und  zur  Grund- 
lage von  Besprechungen  in  Fachkonferenzen  gemacht  werden,  wird  gar  manches 
im  Betriebe  der  beiden  neueren  Fremdsprachen  auf  unsern  Oberrealschulen  anders 
und  auch  besser  werden.  In  dem  der  neusprachlichen  Abhandlung  vorausgehenden 
Aufsatz  bespricht  der  Verfasser  mit  Begeisterung  und  Wärme  die  Grundzüge  der 
Oberrealschulbildung;  möge  auch  dieser  Aufsatz  die  ihm  gebührende  Beachtung 
finden. 


656  R.  Preußner, 

Behr,Fr.,Vi  ctorHugosTorquemada  unter  vergleichender 
Berücksichtigung  der  übrigen  Dramen  des  Dichters.  Wei- 
mar, Gymnasium.     11  S.    4«.     Progr.-No.  931. 

Torquemada,  der  Henker  aus  Mitleid,  ist  das  letzte  Drama,  das  Victor  Hugo 
geschrieben  hat.  Das  Stück  hat  wohl  mehr  epischen  als  dramatischen  Charakter; 
es  ist  aber  vom  Dichter  nicht  nur  als  Lesedrama  geschrieben,  sondern  seiner  ganzen 
Anlage  nach  als  Bühnenwerk  gedacht.  Der  Verfasser  analysiert  das  Drama  und 
zeigt  unter  Hinweis  auf  ähnliche  Szenen  und  analoge  Charaktere  in  den  übrigen 
Dramen,  daß  der  Dichter  in  seinem  letzten  Bühnenwerk  seinen  im  Cromwell  auf- 
gestellten Theorien  bis  zuletzt  treu  geblieben  ist.  Seine  Vorliebe  für  starke  Effekte, 
für  das  Phantastische  und  Groteske  führt  den  Dichter  zu  Übertreibungen  und  Un- 
geheuerlichkeiten, die  abstoßend  wirken  und  die  die  Gestalten  nicht  mehr  lebens- 
wahr erscheinen  lassen. 

Gauger,  B.,  Die  Helden  von  Rostands  Dramen  Cyrano  de 
Bergeracund  L'Aiglon.  Gmünd,  Königl.  Realgymnasium.  30  S.  4^. 
Progr.-No.  825. 

Der  Verfasser  stellt  sich  zur  Aufgabe,  die  beiden  Helden  von  Rostands  Dramen, 
Cyrano  und  den  Herzog  von  Reichstadt,  mit  ihrem  historischen  Urbild  zu  vergleichen, 
um  die  Schaffensart  des  Dichters  zu  kennzeichnen.  Am  eingehendsten  wird  Cyrano 
charakterisiert.  Rostand  hat  mehr  den  legendären  als  den  historischen  Cyrano 
benutzt,  wie  er  ihn  etwa  in  der  Notice  historique  der  von  Paul  Lacroix  im  Jahre 
1858  besorgten  Gesamtausgabe  der  Werke  Cyranos  vorfand.  Er  hat  alle  Züge, 
die  Geschichte  oder  Legende  berichten,  benutzt,  sie  dichterisch  gestaltet  und  dra- 
matisch wirksam  dargestellt;  vor  allem  hat  er  auch  die  Werke  Cyranos  verwertet 
und  sie  in  engen  Zusammenhang  mit  der  Handlung  gebracht.  Nebenher  finden 
sich  genug  Einzelheiten,  die  der  freien  Erfindung  des  Dichters  entsprungen  sind; 
vor  allem  hat  er  das  Verhältnis  Cyranos  zu  Roxane  frei  erfunden  und  die  Liebe 
seines  Helden  mit  einem  eigenartig  romantischen  Zauber  umgeben.  Das  Verhältnis 
des  in  der  französischen  Literatur  mehrfach  behandelten  Kaisersohnes  zu  dem 
historischen  Herzog  von  Reichstadt  wird  vom  Verfasser  weniger  ausführlich  be- 
sprochen. Es  zeigt  sich  aber  auch,  daß  der  Dichter  bei  der  Benutzung  der  histo- 
rischen Quelle  ganz  ähnlich  verfahren  ist  wie  bei  seinem  Cyrano.  Neben  mancherlei 
Dokumenten,  Briefen  und  Memoiren  hat  vor  allem  die  im  Jahre  1897  erschienene 
Biographie  des  Königs  von  Rom  von  Henri  Welschinger  dem  Dichter  die  Grundzüge 
seines  Helden  geliefert;  selbst  die  kleinsten  Einzelheiten,  die  nur  irgendwie  drama- 
tisch zu  verwerten  waren,  sind  zur  Charakterisierung  des  Helden  benutzt  worden. 
Freilich  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  die  Figur  des  Aiglon  gegenüber  der  Gestalt  Cyranos 
einen  unverkennbaren  Rückschritt  bedeutet. 

Marcus,  Willy,  Choiseul  und  Voltaire.  Ratibor,  Königl.  Evange- 
lisches Gymnasium.    30  S.    4».    Progr-No.  291. 

Der  Verfasser  zeigt  in  einer  historisch  wie  literarisch  interessanten  Studie, 
wie  beide  Männer,  der  Staatsmann  und  der  Dichter,  sich  zunächst  auf  politischem 
Gebiet  berühren.  Der  Ehrgeiz  Voltaires,  auch  eine  politische  Rolle  in  der  politisch 
stark  bewegten  Zeit  zu  spielen  und  dem  Minister  durch  seine  Beziehungen  zu  dem 
Könige  von  Preußen  wertvolle  Dienste  zu  leisten,  hat  wohl  die  Veranlassung  zu  dem 


Französisch  und  Englisch.  657 

Freundschaftsbund  der  beiden  Männer  gegeben.  Der  Politiker  und  der  Schrift- 
steller begegnen  sich  in  dem  Bestreben,  den  König  von  Preußen  während  des  Sieben- 
jährigen Krieges  zum  Frieden  geneigt  zu  machen.  Freilich  bietet  Voltaire  hierzu 
seine  Dienste  mit  einer  unverkennbaren  Zudringlichkeit  an;  trotz  aller  Mißerfolge 
unterhandelt  er  unaufgefordert  mit  dem  Könige  in  der  Hoffnung,  doch  noch  einmal 
politisch  erfolgreich  und  seinem  mächtigen  Gönner  nützlich  sein  zu  können.  Choiseul 
ist  zu  Friedensverhandlungen  geneigt,  um  Frankreich,  das  schweren  finanziellen 
Sorgen  entgegengeht,  nicht  noch  mehr  zu  belasten  und  um  Preußen,  das  für  das 
Gleichgewicht  Deutschlands  notwendig  ist,  nicht  zu  sehr  zu  schwächen.  Die  Be- 
strebungen beider  Männer  scheitern  an  der  unbesiegbaren  Kraft  Friedrichs,  und 
so  äußern  sich  denn  ihre  Enttäuschungen  in  leidenschaftlichen  Ausdrücken  und 
bitterm  Groll  gegen  den  Preußenkönig.  Der  vom  Verfasser  eingehend  behandelte 
Briefwechsel  Voltaires  und  Choiseuls  offenbart  eine  ganze  Reihe  interessanter 
Einzelheiten,  die  das  Verhältnis  der  beiden  Männer  zueinander  treffend  beleuchten. 
Schließlich  zeigt  der  Verfasser  noch,  wie  sich  Voltaire  und  Choiseul  auch  auf  einem 
andern  Gebiet  berühren,  wie  Voltaire  seinen  Gönner  in  literarische  Streitfragen 
verwickelt,  wie  Voltaire  auch  den  Minister  in  der  Angelegenheit  des  bekannten 
Prozesses  Calas  auf  seine  Seite  zieht  und  wie  Voltaire  im  Gegensatz  zu  Rousseau 
trotz  mannigfacher  Abweisungen  doch  nie  die  Gunst  des  einflußreichen  Freundes 
ganz  verliert. 

Richter,  C.  A.,  Beiträgezum  Bekanntwerden  Shakespeares 
in  Deutschland.  II.  Teil.  Breslau,  Gymnasium  und  Realgymnasium  zum 
heiligen  Geist.    31  S.    8o.    Progr.-No.  258. 

Während  im  ersten  Teil  die  Jahre  bis  1757  behandelt  werden  (vergl.  Monat- 
schrift X,  p.  36),  zeigt  der  Verfasser  im  vorliegenden  Teil  der  Arbeit,  wie  sich  von 
1757  an  die  deutschen  Kritiker  ständig  mit  Shakespeare  beschäftigen,  wie  sie  auf 
den  großen  Briten  aufmerksam  machen  und  ihn  allmählich  als  leuchtendes  Vorbild 
für  alle  Dramatiker  empfehlen.  Es  werden  die  Zeugnisse  für  Shakespeare  bis  zum 
Jahre  1763  zusammengestellt.  Wieland  ist  der  erste  unter  den  deutschen  Dichtern, 
der  für  den  Briten  eintritt  und  der  durch  seine  Übersetzung  der  Werke  des  englischen 
Dramatikers  viel  zum  Bekanntwerden  Shakespeares  in  Deutschland  beigetragen  hat. 
Neben  Wieland  hat  sich  Moses  Mendelssohn  viel  mit  Shakespeare  beschäftigt;  er 
schrieb  für  die  Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften  und  freien  Künste  Artikel, 
in  denen  er  sich  offen  für  Shakespeare  ausspricht  und  Shakespeare  als  Muster  hin- 
stellt. Im  Jahre  1758  nimmt  endlich  auch  Lessing  Stellung  zu  dem  englischen 
Dramatiker,  und  bereits  ein  Jahr  später  tritt  er  im  bekannten  17.  Literaturbrief 
entschieden  für  ihn  ein;  er  spricht  Gottsched,  der  den  deutschen  Dichtern  nur  die 
Franzosen  als  Muster  empfahl,  jedes  Verdienst  um  das  deutsche  Theater  ab  und 
erklärt  Shakespeare  neben  Sophokles  als  den  größten  Tragiker.  In  ähnlicher  Weise 
treten  Uz,  Joh.  Georg  Hamann,  Chr.  Felix  Weisse  und  Gerstenberg  für  den  großen 
Briten  ein.  Außer  diesen  ja  mehr  oder  minder  bekannten  Zeugnissen  zählt  der 
Verfasser  auch  bedeutsame  Äußerungen  und  Aufsätze  in  den  verschiedensten 
literarisch-kritischen  Zeitschriften  auf,  die  Kunde  geben  von  dem  Umschwung  der 
Ansichten  zugunsten  Shakespeares;  man  zitiert  Shakespeare  in  der  Originalsprache 
oder  auch  in  der  Übersetzung,  1758  erscheint  eine  Übersetzung  von  Romeo  und 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  42 


658  R.  Preußner, 

Juliet,  1763  die  erste  kürze  Biographie  Shakespeares.  Überall  mehren  sich  die 
Stimmen  für  den  großen  englischen  Dramatiker,  seine  Werke  werden  immer  mehr 
gelesen  und  bewundert,  und  Shakespeares  Genius  gibt  der  deutschen  dramatischen 
Literatur  die  neue  Richtung  und  neue  Wege  an.  Der  Verfasser  hat  das  nicht  immer 
leicht  zugängliche  und  recht  zerstreute  Material  mit  Fleiß  gesammelt  und  auf  seinen 
Wert  für  das  Bekanntwerden  Shakespeares  in  Deutschland  mit  scharfem  Blick 
geprüft  und  gesichtet. 

Schmidt,  Karl,  Robert  Browning  als  Dichter  und  Mensch. 
Tauberbischofsheim,  Großherz.  Gymnasium.    33  S.    4^.    Progr.-No.  850. 

In  einer  interessanten  und  lesenswerten  Studie  sucht  der  Verfasser  die  Frage  zu 
lösen,  die  sich  bei  allen  geistig  bedeutenden  Menschen  und  zumal  bei  den  Dichtern 
stets  aufdrängt,  inwieweit  sich  die  Persönlichkeit  in  den  Werken  widerspiegelt. 
Zwar  hat  es  uns  Browning  durch  eine  recht  schwer  verständliche  Form  oft  nicht 
leicht  gemacht,  in  den  Inhalt  seiner  Dichtungen  einzudringen;  er  hat  sich  auch 
dahin  ausgesprochen,  daß  er  es  nach  Möglichkeit  vermieden  habe,  sein  persönliches 
Leben  in  den  Kreis  seines  Dichtens  hineinzuziehen.  Er  wollte  sein  Bestes  für  sich 
behalten  und  sein  häusliches  Leben  nicht  den  Blicken  einer  neugierigen  Menge 
offenbaren.  Vertieft  man  sich  jedoch,  wie  es  der  Verfasser  mit  Fleiß  getan  hat,  in  das 
Studium  seiner  Werke,  so  sieht  man,  daß  die  meisten  Gestalten  seiner  Dichtungen 
doch  auf  ein  einheitliches  Ziel  hinausgehen,  daß  die  Weltanschauung  und  das  Streben 
der  Helden  der  Dichtungen  auch  für  den  Entwicklungsgang  und  das  Gedankenleben 
des  Dichters  selbst  charakteristisch  sind.  Der  Verfasser  untersucht  die  Haupt- 
werke und  besonders  die  Briefe  des  Dichters  unter  diesem  Gesichtspunkt  und  zeigt, 
wie  Browning  das  Verhältnis  von  Leben  und  Dichtkunst  aufgefaßt  hat.  Er  übte 
die  Kunst  des  Dichtens  um  ihrer  selbst  willen,  nicht  um  Gelderwerb  oder  um  den 
Beifall  der  Menge  zu  gewinnen;  er  wollte  nur  für  die  Menschheit  das  Beste  er- 
wirken, auch  selbst  bei  seinen  bescheidenen  Versuchen  als  Maler,  Bildhauer  und 
Musiker.  Die  Menschheit,  und  grade  wieder  die  leidende  Menschheit,  ist  der  stete 
Inhalt  seiner  Dichtungen.  Die  Liebe  zur  Menschheit,  die  er  aufrichten,  erheben 
und  trösten  will,  hat  ihn  zum  Dichter  gemacht;  seine  Kämpfe  in  dieser  Welt  gelten 
Gott  und  der  Ewigkeit;  er  glaubt  fest  an  eine  höhere  Bestimmung  des  Menschen, 
an  ein  Fortleben  nach  dem  Tode.  So  ist  sein  Leben  reichlich  Mühe  und  Arbeit 
gewesen.  Das  größte  Glück  bescherte  ihm  die  Liebe  zu  seiner  Frau,  die  seinem  Leben 
Inhalt  und  Form  gab.  Der  Verfasser  stellt  sogar  die  Briefe  des  Dichters  an  seine 
Frau  an  Fülle  des  Inhalts  über  die  Briefe  Goethes.  Freilich  wird  die  Gemeinde 
Brownings  immer  etwas  klein  bleiben,  da  die  schwer  verständlichen  Werke  der 
größeren  Allgemeinheit  verschlossen  bleiben. 

Seibt,  Robert,  Mrs.  Centlivre  und  ihre  Quelle  Hauteroche. 
BerUn,  VII.  Stadt.  Realschule.    27  S.    4».    Progr.-No.  163. 

Zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  hat  die  englische  Dichterin  Susanna  Centlivre 
mit  andern  versucht,  der  sittlichen  Verwilderung  des  Lustspiels  Einhalt  zu  tun. 
In  ihren  zahlreichen  Lustspielen,  denen  vielfach  eine  gute  Bühnenwirkung  nicht 
abzusprechen  ist,  huldigt  sie  zwar  noch  in  derben  Witzen  und  groben  Wortspielen 
dem  Geschmack  der  Zeit,  vermeidet  es  aber,  lüstern  und  gemein  zu  sein.  Wenn  auch 
ihre  Lustspiele  meist  auf  französische  Vorlagen  zurückgehen,  so  hat  sie  sich  doch 


Französisch  und  Englisch.  659 

bei  diesen  Entlehnungen  eine  gewisse  Selbständigkeit  zu  wahren  gewußt.  Der  Ver- 
fasser, der  in  seiner  Arbeit  „die  Komödien  der  Mrs.  Centlivre"  (Anglia  N.  F.  XX 
und  XXI)  die  Art  der  Entlehnung  und  die  Benutzung  der  Quellen  bereits  allgemein 
charakterisiert  hat,  vergleicht  in  der  vorliegenden  Abhandlung  die  Komödie  The 
Man's  bewitch'd  mit  Hauteroches  Le  Deuil  und  zeigt  an  dieser  Gegenüberstellung 
die  Vorzüge  wie  die  Fehler  der  englischen  Bearbeitung. 

Aus  der  Festschriftzum600jährigenjubiläum  desGym- 
nasiums zu  Liegnitz  verdienen  zwei  Abhandlungen  erwähnt  zu  werden, 
die  zu  unserer  Programmschau  gehören. 

Gemoll,  Wilhelm,  Thomas  Morus'  Utopia. 

Es  ist  zu  verstehen,  wenn  der  Sozialist  Kautsky  bei  oberflächlicher  Lektüre 
der  Utopia  den  Lordkanzler  Heinrichs  VI  IL  als  den  Vater  des  modernen  Sozialis- 
mus ansieht,  ist  doch  die  Idee  des  Kommunismus  folgerichtig  durchgeführt;  aller- 
dings mußte  die  Annahme  von  Sklaven  für  diesen  sozialistischen  Staat  auch  den 
Sozialisten  bedenklich  machen.  Der  Verfasser  weist  nun  nach,  daß  Morus  bei  seinen 
Ausführungen  im  wesentlichen  den  Sonnenstaat  des  Jambulos  als  Quelle  benutzt 
hat,  daß  er  sich  aber  auch  Zusätze  erlaubte,  die  uns  berechtigen,  den  Roman  als 
eine  Satire  auf  die  Zeitverhältnisse  anzunehmen.  Indessen  hat  sich  Morus  nicht 
bemüht,  das  antike  und  das  moderne  Element  miteinander  auszugleichen. 

Mende,  Richard,  Die  Tierwelt  im  deutschen  und  franzö- 
sischenSprichwort. 

Der  Verfasser  stellt  die  Sprichwörter  zusammen,  die  in  der  deutschen  und  in 
der  französischen  Sprache  denselben  Gedanken  darstellen.  Er  zeigt  dabei  gleich- 
zeitig, daß  ähnlich  wie  der  Dichter  in  der  Fabel  der  Volksmund  im  Sprichwort  Tiere 
zu  Trägern  einer  Handlung  gemacht  hat  „wegen  der  allgemeinen  Bestandheit  der 
Charaktere"  (Lessing).  Dabei  veranschaulicht  das  Tiersprichwort  in  vielen  Fällen 
einen  allgemeinen  moralischen  Satz.  Die  Auswahl  ist  gut  getroffen  und  übersichtlich 
zusammengestellt.  Gelegentlich  finden  sich  auch  Hinweise  auf  analoge  Sprich- 
wörter der  Antike. 

Kottcke,  Wilhelm,  Beiträge  zur  französischen  Stilistik. 
Berlin,     IL  Städtische  Realschule.    27  S.    4».     Progr.-No.  158. 

Der  Verfasser  unterzieht  sich  der  für  einen  Deutschen  recht  schwierigen  Auf- 
gabe, den  Feinheiten  der  französischen  Sprache  nachzuspüren  und  die  den  Wohl- 
klang des  Ausdrucks  bedingenden  Gesetze  in  den  Hauptzügen  aufzustellen.  Zur 
Lösung  der  Frage;  „Was  gibt  dem  französischen  Satzbau  seine  nationale  Färbung?'* 
folgt  er  im  großen  und  ganzen  dem  Werke  von  Antonin  Roche,  Du  Style  et  de  la 
Composition  litteraire  und  zeigt  Mittel  und  Wege,  die  zur  präzisen  Form,  zur  Man- 
nigfaltigkeit und  Abwechslung  in  der  Wahl  der  Worte  und  der  Konstruktionen 
und  schließlich  zum  Wohllaut  der  Rede  führen.  Allerdings  werden  diesen  idealen 
Forderungen  nur  wenige  Ausländer  nachkommen  können.  Zu  den  verschiedenen 
in  der  Arbeit  behandelten  Stilarten  gibt  der  Verfasser  eine  größere  Anzahl  von 
Beispielen  und  Proben. 

Brandes,  Adolf,  Die  Stellung  der  Adverbien  im  französi- 
schen Satze.  Aachen,  Stadt.  Realgymnasium  mit  höherer  Handelsschule. 
28  S.    40.  Progr.-No.  651. 

42* 


660  R.  Preußner, 

Es  wird  versucht,  die  scheinbar  willkürliche  Stellung  der  Adverbien  in  feste 
Gesetze  zu  bringen  und  für  diese  Mannigfaltigkeit  der  Stellung  dieses  Satzteils  be- 
stimmte Gründe  anzuführen.  Aber  der  Sprachgebrauch  hat  sich  nicht  nach  logi- 
schen Forderungen  und  Regeln  gerichtet,  sondern  ist  frei  seine  eigenen  Wege  ge- 
gangen. Gerade  bei  den  neueren  und  neuesten  Schriftstellern  ist  der  Sprachgebrauch 
recht  schwankend.  Der  moderne  Schriftsteller  tut  sich  etwas  zu  gute  auf  gewisse 
Freiheiten  des  Ausdrucks,  die  sich  nicht  in  Regeln  bringen  lassen;  der  Wohlklang, 
dem  früher  schier  alles  geopfert  wurde,  ist  bei  den  Modernen  nicht  mehr  das  allein 
Entscheidende.  Ihre  Werke  sollen,  so  scheint  es  fast,  mehr  dem  Vortrage  als  dem 
stillen  Lesen  dienen;  der  Satzton  des  Vortragenden  entscheidet  meist  die  Wort- 
folge. Wenn  man  will,  kann  man  auch  meist  eine  auffallende  und  abweichende 
Stellung  des  Adverbs  erklären,  allerdings  um  bei  der  Lektüre  an  einer  andern  Stelle 
gerade  das  Gegenteil  von  dem  zu  finden,  was  man  eben  zu  erklären  versucht  hat. 
Die  Vorsicht,  die  der  Verfasser  überall  bei  der  Aufstellung  von  Regeln  beobachtet, 
ist  darum  wohl  angebracht;  hoffentlich  werden  unsere  Schulgrammatiker  allmählich 
auch  vorsichtiger  und  stellen  nur  solche  Regeln  auf,  die  sich  auch  wirklich  halten 
lassen.  Die  angeführten  Beispiele  aus  40  Schriftstellern  sind  fast  ausschließlich 
der  neueren  und  neuesten  Literatur  entnommen. 

Fredenhagen,  Hermann,  Über  den  Gebrauch  aer  Zeitstufen 
und  Aussageformen  in  der  französischen  Prosa  des 
13.  Jahrhunderts  mit  Berücksichtigung  des  neufran- 
zösischen Sprachgebrauchs.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der 
französischen  Satzlehre.  I.  Teil:  Die  Zeitstufen.  Hamburg,  Realschule  in 
Hamm.    40  S.    4«.       Progr.-No.  1013. 

Der  Verfasser  verfolgt  den  Plan,  die  Verwendung  der  Zeitstufen  (Tempora) 
im  Sprachgebrauch  des  13.  Jahrhunderts  mit  Beschränkung  auf  die  Prosatexte 
möglichst  erschöpfend  zu  behandeln  und  damit  zugleich  die  neufranzösische  Sprech- 
weise kritisch  zu  beleuchten.  Eingehende  und  gründliche  grammatische  Unter- 
suchungen älterer  und  neuerer  Texte  veranlassen  ihn  zu  dem  interessanten  Versuch, 
mit  den  hergebrachten  grammatischen  Bezeichnungen,  die  der  lateinischen  Gram- 
matik entlehnt  sind,  zu  brechen  und  statt  der  allgemein  üblichen  lateinischen 
Namen  der  Zeitformen  Bezeichnungen  einzusetzen,  die  den  Ausdrucksformen  der 
französischen  Sprache  weit  mehr  entsprechen.  Als  ein  Schüler  Gröbers  handelt 
er  nach  dem  von  ihm  aus  Gröbers  Grundriß  zitierten  Wort:  „Durch  zuviel  Unter- 
scheidungen verrät  der  Grammatiker,  daß  ihm  das  Wesen  der  sprachlichen  Er- 
scheinungen fremd  geblieben  ist."  So  unterscheidet  der  Verfasser  nur  noch  zwei 
aktive  Zeitstufen,  Gegenwart  und  Vergangenheit;  Futurum  und  Conditionnel 
führt  er  ihrer  Bildung  entsprechend  auf  Aussageformen  der  Gegenwart,  resp.  der 
Vergangenheit  zurück.  Imperativ  und  Perfectum  (il  a  chante)  sind  für  den  Kundigen 
auch  nur  Gegenwartsstufen.  Mit  den  besonderen  Vergangenheitsstufen  Passe 
indefini,  Plus-que-parfait,  Passe  ant^rieur  wird  aufgeräumt.  Die  scharfen,  klaren 
und  eingehenden  Darlegungen  sind  durch  Beispiele  aus  den  Prosaschriften  des 
13.  Jahrhunderts  belegt,  einzelne  Stellen,  die  das  aufgestellte  Gesetz  zu  durch- 
brechen scheinen,  werden  besonders  behandelt  und  erweisen  sich  als  nur  scheinbare 
Abweichungen  von  der  Regel.    Der  zweite  Teil  der  Arbeit  soll  über  die  Aussagefor- 


Französisch  und  Englisch.  661 

men  (Modi)  handeln;  aber  bereits  im  vorliegenden  Teil  der  Arbeit  geht  der  Ver- 
fasser zum  Teil  schon  auf  diese  Frage  ein,  zumal  im  mehrfachen  Satze  bei  der  Darstel- 
lung der  Folge  der  Zeiten. 

1911. 

S^haper,    Studienreise    nach    England    und    Schottland. 
iMeiningen,  Herzogl.  Realgymnasium.     16  S.    4».     Progr.-No.  1014. 

Der  Verfasser  ging  längere  Zeit  nach  England  und  Schottland,  um  den  Unter- 
richt in  der  Physik  und  in  den  verwandten  Disziplinen  zu  studieren.  Er  rühmt 
die  Opferwilligkeit  der  englischen  Handelsstädte,  die  keine  Kosten  scheuen,  um 
in  den  Schulen  große,  ausreichende  Räume  zu  bauen  und  sie  mit  den  erforderlichen 
Lehrmitteln  auszustatten.  Neben  Lehr-  und  Arbeitsräumen  für  Physik,  Chemie 
und  Biologie  findet  man  Säle  für  technisches  und  künstlerisches  Zeichnen,  für 
praktische  Werkarbeit  (Tischlerei,  Papp-  und  Metallarbeit),  große  und  gutgepflegte 
Plätze  für  Spiele  und  Sport  aller  Art.  Daneben  sind  auch  reiche  Stiftungen  vor- 
handen, die  ärmeren  und  begabten  Schülern  den  in  England  recht  teuren  Schul- 
besuch und  das  Studium  erleichtern.  Der  Verfasser  spricht  dann  von  der  wissenschaft- 
lichen und  körperlichen  Ausbildung  der  Jugend;  er  deckt  offen  die  Mängel  und 
Schwächen  des  englischen  Bildungswesens  auf,  weist  uns  aber  auch  auf  manches 
hin,  was  im  deutschen  Vaterlande  noch  der  Reform  harrt,  so  vor  allem  eine  freiere 
Gestaltung  des  Unterrichts  und  möglichste  Beseitigung  des  bisher  unvermeidlichen 
Berechtigungswesens. 

Wieckert,  W.,  Eine  Englandreise  als  Studienabschluß. 
Quedlinburg,  Stadt.  Guts  Muths-Oberrealschule.    39  S.    S^.     Progr.-No.  376. 

Verfasser  denkt,  wenn  einer  eine  Reise  tut,  so  kann  er  viel  erzählen,  und  um 
so  mehr,  je  mehr  er  gesehen  hat.  In  kurzer  Zeit  durcheilt  er  die  Stätten  in  England, 
Wales  und  Schottland,  die  ihn  als  Historiker,  als  Literatur- '  und  Kunstfreund 
interessieren.  Es  ist  gewiß  einmal  etwas  anderes,  täglich  von  Ort  zu  Ort  zu  wandern 
und  all  die  verschiedenen  Bilder,  die  Land  und  Leute  vermitteln,  kaleidoskopartig 
an  sich  vorüberziehen  zu  lassen,  als  wochen-  oder  monatelang  in  einer  Pension  der 
beschaulichen  Ruhe  zu  pflegen.  Aber  für  jeden  wäre  die  Hast  und  Eile  nicht  an- 
gebracht. Die  vielfachen  Eindrücke,  die  der  Besuch  all  der  an  geschichtlichen, 
literarischen  und  kulturellen  Erinnerungen  so  reichen  Stätten  vermittelt,  müssen 
sich  verwirren.  Allerdings  kann  man  auch  aus  dem  an  Einzelheiten  so  reichen 
Reisebericht  lernen,  wie  man  eine  solche  Studienreise  gewissenhaft  vorbereitet, 
damit  man  nicht  an  Sehenswürdigkeiten  stumpf  vorübergeht  und  beim  Aufenthalt 
selbst  nicht  erst  Zeit  verliert,  das  wirklich  Sehenswerte  mühsam  zusammenzu- 
stellen. 

Maaß, 0., Shakespearelektüre  auf  dem  Gymnasium.  Güters- 
loh, Gymnasium.    42  S.    4^.    Progr.-No.  478. 

Mit  warmer  Begeisterung  tritt  der  Verfasser  dafür  ein,  Shakespeare  den  ihm 
gebührenden  Platz  auch  auf  dem  Gymnasium  zu  sichern  und  ihm  da,  wo  es  noch 
not  tun  sollte,  neue  Freunde  zu  gewinnen.  Der  Verfasser  gibt  sich  nicht  mit  der 
Beantwortung  der  alten,  wertlosen  Streitfrage  ab,  ob  der  Gymnasiast  für  Shakespeare 
vollwertigen  Ersatz  in  der  antiken  Literatur  findet;  er  zeigt  vielmehr,  wie  man  grade 


662  R.  Preußner, 

am  Gymnasium  den  deutschen  Unterricht  fruchtbar  gestalten  kann  durch  Ver- 
gleichung  der  Werke  und  der  Gestalten  Shakespeares  mit  den  Schöpfungen  der 
griechischen  Tragiker,  wie  dem  Gymnasiasten  der  Unterschied  der  antiken  und 
modernen  Tragödie  grade  durch  die  Lektüre  Shakespeares  verständlich  wird,  wie 
das  Schicksal  in  beiden  waltet,  wie  bei  Shakespeare  neben  der  Handlung  und  der 
Fabel  das  Hauptgewicht  auf  den  Charakteren  ruht.  Die  Lektüre  Shakespeares  ist 
aber  schließlich  auch  aus  ethischen  Gründen  für  unsere  Primaner  gewinnbringend. 
Der  Dichter  der  Leidenschaft  und  des  Gewissens  betätigt  eine  sittliche  Kraft,  die 
auf  die  Charakterbildung  unserer  Schüler  nicht  ohne  Einfluß  bleiben  kann.  Zum 
Schluß  zeigt  der  Verfasser,  welche  Dramen  Shakespeares  sich  für  die  Lektüre  auf 
dem  Gymnasium  eignen.  Es  werden  die  durch  langjährige  Erfahrung  erprobten 
Dramen  Julius  Caesar  und  Macbeth,  etwa  auch  noch  Coriolan  empfohlen.  Hamlet, 
Lear  und  einzelne  Lustspiele  werden  besonderen  Leseabenden  zugewiesen.  Von 
den  Historien  kann  sich  der  Verfasser  für  Richard  II.  nicht  erwärmen,  der  Shake- 
spearesche  Kraft  vermissen  läßt;  er  tritt  nachdrücklich  für  Richard  III.  ein  und  legt 
die  Gesichtspunkte  dar,  nach  denen  dieses  gewaltige  Drama  behandelt  werden  kann. 
Die  Lektüre  der  lesenswerten  Abhandlung  sei  angelegentlichst  empfohlen. 

Schittenhelm,  Moritz,  DerfremdsprachlicheAufsatzanGym- 
nasium  und  Realschule.  Stuttgart,  Karls-Gymnasium.  26  S.  4°. 
Progr.-No.  836. 

Der  Verfasser  verwirft  den  freien  Aufsatz  wegen  der  Schwierigkeit  der  sprach- 
lichen Form  und  beschränkt  sich  auf  Themen,  die  sich  der  Lektüre  anschließen. 
Der  Schüler  kann  die  Sprache  nicht  soweit  beherrschen,  daß  er  für  jeden  Gedanken 
den  entsprechenden  Ausdruck  findet  und  daß  er  stilistisch  gewandt  schreibt.  Der 
Verfasser  entwickelt  die  wichtigsten  Arten  des  sich  an  die  Schriftstellerlektüre 
anschließenden  Aufsatzes  und  zeigt,  wie  wichtig  die  Wahl  des  Themas  und  ein^ 
planmäßige  Vorbereitung  und  Durcharbeitung  des  Sprachstoffes  für  ein  Gelingen 
des  Aufsatzes  ist.  Als  Anhang  folgen  eine  Reihe  von  französischen  und  englischen 
Schüleraufsätzen,  die  recht  lehrreich  sind.  Man  erkennt  gar  manchen  Ausdruck 
des  Schriftstellers  wieder,  man  sieht  an  den  verschiedenen  Variationen  des  Ausdrucks 
die  Arbeit  des  Lehrers;  man  merkt  aber  auch,  mit  welcher  Leichtigkeit  der  Schüler 
die  sprachliche  Form  beherrscht  und  seinen  Gedanken  Ausdruck  verleiht.  Man 
findet  da  kein  mühseliges  und  unsicheres  Ringen  mit  der  Sprache,  es  ist  idiomatisch 
gefärbtes  Französisch  und  Englisch. 

Ammon,  Hermann,  Le  Tartuffe  de  Moliere  est-il  [un  Cro- 
y  a  n  t  ?  Halle  a.  d.  S.,  Oberrealschule  in  den  Franckeschen  Stiftungen.  16  S.  4^. 
Progr.-No.  371. 

Der  Verfasser  widerspricht  der  Annahme  Eugene  Rigals,  daß  Molieres  Tar- 
tuffe trotz  seiner  moralischen  Verfehlungen  religiös  sei,  und  zeigt,  daß  Tartuffe 
ein  religiöser  Heuchler  und  ein  Freigeist  ist,  der  keinen  Glauben  hat. 

Apitzsch,  Arthur,  EssaisurlesPens^esdePascal.  Lesfrag- 
ments posthumes  et  l'Apologie;  philosophie  de  Pascal. 
Neustettin,  Königl.  Fürstin-Hedwig-Gymnasium.     31   S.     4°.     Progr.-No.  206. 

Den  nachgelassenen  Schriften  Pascals  haben  die  Herausgeber  von  Port-Royal 
den  gemeinsamen  Titel  „Pensees"  gegeben.    Der  Verfasser  untersucht  nun  genauer 


Französisch  und  Englisch.  663 

die  literarisch  wertvollen  Aufzeichnungen,  die  Pascal  zunächst  ohne  Ordnung  und 
Zusammenhang  niederschrieb  und  die  allmählich  das  Material  liefern  sollten  zu  einer 
großen  Verteidigungsschrift  der  christlichen  Kirche  gegen  die  Zweifler  und  Leugner 
der  christlichen  Heilswahrheit.  Die  Apologie  sollte  zugleich  mit  der  Widerlegung 
der  Angriffe  die  Ungläubigen  wieder  hinführen  zum  Christentum,  allerdings  zum 
Christentum  nach  der  Lehre  des  Jansenius.  Mit  feinem  Verständnis  scheidet  der 
Verfasser  das  aus,  was  wohl  nicht  zur  Veröffentlichung  bestimmt  war,  da  es  sich 
nicht  in  den  Plan  des  Ganzen  fügt,  und  geht  dann  daran,  die  losen  Bruchstücke 
in  eine  bestimmte  Ordnung  zu  fügen  und  die  Methode  herauszufinden,  die  etwa 
Pascal  bei  der  Abfassung  des  Lebenswerkes  befolgt  haben  würde.  Den  größten  Teil 
der  scharfsinnigen  Untersuchungen  nimmt  eine  Darstellung  der  Philosophie  Pascals 
nach  seinen  in  den  Gedanken  niedergelegten  Ausführungen  ein. 

Egbring,  JohannHeinrichVoßderJüngerealsÜbersetzer 
desMacbethvonW.  Shakespeare.  Münster  i.  W.,  Stadt,  Gymnasium 
und  Realgymnasium.    77  S.    8^.    Progr.-No.  489. 

Voss,  der  das  Englische  nicht  genügend  beherrscht,  ist  seiner  Aufgabe  nicht 
gewachsen  und  erreicht  die  Übersetzung  Schlegels  in  keiner  Weise.  Der  Verfasser 
prüft  die  Übersetzung  ziemlich  genau  und  zeigt  an  zahlreichen  Stellen,  daß  Voß 
falsch  oder  willkürlich  übersetzt,  daß  er  oberflächlich,  ungenau  und  unklar  ist, 
sobald  er  die  Konstruktion-  nicht  versteht,  daß  seine  Sprache  steif,  unbeholfen  und 
schwerfällig  ist,  sobald  er  versucht,  wörtlich  ins  Deutsche  zu  übertragen.  Vielleicht 
ist  die  Kritik  gelegentlich  etwas  zu  scharf,  wenn  man  bedenkt,  daß  dem  Übersetzer 
doch  nur  recht  dürftige  und  spärliche  Hilfsmittel  zu  Gebote  standen.  Recht  inter- 
essant ist  der  Nachweis  des  Verfassers,  inwieweit  Voß  die  freien  Bearbeitungen 
von  Bürger  und  Schiller  sowie  die  Übersetzungen  von  Eschenburg  und  Wagner 
benutzt  hat.  Es  wird  eingehend  gezeigt,  wie  Voß  zwar  in  recht  umfangreicher 
Weise  Verse  aus  vorhandenen  Übersetzungen  übernommen  u;id  zum  Teil  auch 
gebessert  hat,  wie  er  aber  bei  der  Ausbeutung  doch  recht  oberflächlich  und  nicht 
gründlich  genug  verfahren  ist.  Voß  hat  ohne  weiteres  eine  ganze  Reihe  von  falschen 
Übersetzungen  übernommen,  deren  Besserung  und  Richtigstellung  mit  Benutzung 
des  Originals  nicht  schwer  gewesen  wäre.  Es  liegt  deshalb  der  Verdacht  nahe,  daß 
Voß  sich  seine  Arbeit  sehr  leicht  gemacht  und  sich  mehr  nach  den  deutschen  Über- 
setzungen als  nach  dem  englischen  Text  gerichtet  hat. 

Eichhotf ,  Th.,  DieMängelderShakespeare-Überlieferung 
erläutert  an  der  Gerichtsszene  des  „Kaufman  n  von  Vene- 
dig."    Anklam,  Gymnasium.     31   S.     8».     Progr.-No.  196. 

Verfasser  verwirft  alle  bisher  angewandten  wissenschaftlichen  Methoden, 
die  sich  damit  befaßt  haben,  die  mangelhafte  Shakespeare-Überlieferung  zu  bessern 
und  zu  klären.  Er  versucht  ein  einschneidendes,  aber  auch  recht  gewagtes  und 
kühnes  Experiment.  Ausgehend  von  der  Voraussetzung,  daß  kein  einziges  Drama 
in  der  jetzt  vorhandenen  Form  aus  Shakespeares  Feder  geflossen  ist  und  daß  der 
ursprüngliche  Text  von  eitlen  Schauspielern  wohl  durchweg  durch  Zusätze  ver-. 
ändert  worden  ist,  unterbreitet  der  Verfasser  der  Shakespeare-Philologie  die  neue 
Aufgabe,  aus  dem  vielfach  erweiterten  Text  den  Kern  der  Handlung  herauszu- 
schälen und  so  den  echten  Shakespeare  zu  rekonstruieren.    Die  nach  des  Verfassers 


664  R.  Preußner, 

Ansicht  so  durchsichtige  und  überzeugende  experimentelle  Methode  wird  in  der 
vorliegenden  Abhandlung  auf  die  Gerichtsszene  im  4.  Akt  des  Kaufmanns  von 
Venedig  angewandt.  Die  Szene  wird  rücksichtslos  kritisch  zerpflückt;  was  dem 
Verfasser  als  schlecht  erscheint,  gilt  als  schlecht  und  wird  gestrichen,  so  daß  von 
den  450  Zeilen  der  Gerichtsszene  208  dem  Blaustift  verfallen.  Der  Raum  verbietet 
es,  auf  die  näheren  Ausführungen  des  Verfassers  einzugehen.  Wenn  man  auch  ohne 
jedes  Mißtrauen  und  mit  gutem  Willen  der  Methode  des  Verfassers  folgt,  so  kann 
man  doch  das  Experiment  nicht  gutheißen.  Man  wird  sich  sicher  mit  dem  Ver- 
fasser über  den  Umfang  des  absolut  Einwandfreien  auseinanderzusetzen  haben, 
man  wird  manche  Stelle,  die  der  Verfasser  als  schlecht  angreift  und  tilgt,  nicht 
hergeben  wollen,  und  man  wird  über  das,  was  poetisch  schön  und  des  Dichters 
Kunst  ist,  mit  dem  Verfasser  anderer  Ansicht  sein.  Wenn  aber  die  Voraussetzung 
zur  Hypothese  nicht  anerkannt  werden  kann,  dann  fällt  auch  das  ganze  Experiment 
in  sich  zusammen. 

Kaufmann,  Michael,  Zur  Technik  der  Komödien  von  Eugene 
S  c  r  i  b  e.  Hamburg,  Realschule  vor  dem  Lübecker  Tore.  119  S.  8^.  Progr.- 
No.  1051. 

Es  ist  keine  uninteressante  Aufgabe,  einmal  nachzuforschen,  ob  die  Gründe 
für  die  Fülle  und  Schnelligkeit  des  dramatischen  Schaffens  Scribes  in  äußeren 
technischen  Fertigkeiten,  in  einer  gewissen  Routine  zu  suchen  sind.  Der  Verfasser 
zeigt  in  einer  oft  bis  ins  kleinste  und  selbst  bis  auf  Nebensächliches  gehenden 
Untersuchung,  wie  es  Scribe  mit  unleugbarem  Geschick  verstanden  hat,  technische 
Mittel,  die  der  Handlung  zu  einem  theatralischen  Effekt  verhelfen  oder  die  das 
Gespräch  eines  unfehlbaren  und  dankbaren  Erfolges  sichern,  wiederholt  anzuwenden. 
Scribe  kennt  das  Publikum,  für  das  er  schreibt,  sehr  genau;  er  weiß,  daß  gerade 
alltägliche  Vorkommnisse,  die  dem  Publikum  vertraut  sind  und  darum  lebenswahr 
erscheinen,  ihre  Wirkung  nie  verfehlen.  Ja,  man  wundert  sich  manchmal,  daß 
bekannte  und  gerade  heute  von  unsern  Lustspieldichtern  bis  zum  Überdruß  ange- 
wandte bühnenwirksame  Mittel  von  Scribe  nicht  noch  öfters  herangezogen  worden 
sind.  In  einem  Nachtrag  behandelt  der  Verfasser  kurz  die  Vorbilder  und  die  Nach- 
ahmer Scribes;  es  würde  sich  gewiß  der  Mühe  verlohnen,  die  Frage,  die  hier  nur 
gestreift  werden  kann,  zum  Gegenstand  einer  besonderen  Untersuchung  zu  machen. 

Marcus,  Willy,  Die  Familie  Choiseul  und  ihr  Freundes- 
kreis. I.  Teil.  Ratibor,  Königl.  Evangelisches  Gymnasium.  29  S.  4^.  Progr.- 
No.  292. 

Nach  einigen  einleitenden  allgemeinen  Bemerkungen  über  Inhalt,  Art  und  Form 
der  Briefliteratur,  an  der  gerade  Frankreich  so  reich  ist,  entwirft  der  Verfasser 
ein  interessantes  Kulturgemälde  der  Gesellschaft  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts nach  den  Briefen,  die  der  Herzog  und  die  Herzogin  von  Choiseul  sowie 
Persönlichkeiten  aus  ihrem  Freundeskreis,  die  Gräfin  Du  Deffand,  Voltaire,  der 
Abt  Barth^lemy  und  andere,  sich  gegenseitig  geschrieben  haben.  Wir  erfahren 
gar  manche,  zum  Teil  auch  belustigende  Einzelheiten  über  das  Leben  im  Salon 
jener  Kreise,  über  die  Hohlheit  und  Leere  des  Daseins  der  vornehmen  Welt,  wir 
hören  von  den  kirchlichen,  politischen  und  philosophischen  Anschauungen  und 
von  den  die  allgemeine  Bildung  betreffenden  Fragen.   Wir  sind  auch  vielfach  über- 


Französisch  und  Englisch.  665 

rascht,  welche  rege  Teilnahme  die  Gesellschaft,  auch  Damen,  neben  der  zeit- 
genössischen französischen  Literatur  dem  klassischen  Altertum  entgegenbrachte, 
und  verfolgen  mit  Interesse  die  Stellung  des  Choiseulschen  Kreises  zu  Voltaire, 
dem  führenden  Geiste  der  Zeit.  Vergl.  hierzu  des  Verfassers  Arbeit:  Choiseul 
und  Voltaire.  Programm-Abhandlung  1910. 

Meier,  Ulrich,  Beiträge  zur  Kenntnis  Pierre  Corneilles, 
vornehmlich  in  den  Jahren  von  „M  eilte"  bis  zum  „Cid" 
(1629—1637).   Bautzen,  Gymnasium.   52  S.   4«.    Progr.-No.  755. 

Der  Verfasser,  der  sich  eingehend  mit  der  einschlägigen  Literatur  vertraut 
gemacht  und  an  andern  Stellen  schon  wiederholt  die  Resultate  seiner  Studien 
über  Corneille  veröffentlicht  hat,  weist  in  seiner  Abhandlung  an  mehreren  Bei- 
spielen darauf  hin,  wie  selbst  in  wissenschaftlichen  Werken  Fehler  und  Irrtümer 
über  Corneille  ohne  selbständige  Prüfung  gläubig  hingenommen  und  weiter  ver- 
breitet werden.  Der  Verfasser  behandelt  in  der  vorliegenden  Arbeit  nur  die  Jahre 
1629 — 1637,  also  einen  kleinen  Abschnitt  aus  des  Dichters  Leben  und  Wirken; 
er  tut  dies  aber  mit  einer  solchen  Gründlichkeit,  daß  er  mehrfach  die  Forschung 
über  Corneille  direkt  fördert.  Wir  begleiten  den  Verfasser  mit  Interesse  bei  seinen 
Streifzügen  durch  Ronen  und  die  Umgebung  der  Provinzialhauptstadt,  wir  hören 
gern  die  Resultate  und  Einzelheiten  seiner  umfangreichen  und  schwierigen  Unter- 
suchungen des  oft  schwer  zugänglichen  Quellenmaterials,  um  so  in  uns  ein  mög- 
lichst naturgetreues  Bild  vom  alten  Ronen  und  seiner  Umgebung,  vor  allem  des 
Landgutes  der  Familie  Corneille,  vor  unseren  Augen  wieder  aufleben  zu  lassen. 
Nur  so  läßt  sich  dann  die  Frage  beantworten,  inwieweit  ein  Zusammenhang  zwischen 
der  heimatlichen  Landschaft  des  Dichters  und  seinen  ersten  Dichterwerken  noch 
zu  erkennen  ist.  Ausführlich  behandelt  der  Verfasser  die  Frage  nach  dem  Anlaß 
zu  seinem  dramatischen  Erstlingswerk  Melite,  das  nicht  als  eip  Drama  mit  vor- 
herrschender satirischer  Absicht  gelten  kann,  sondern  das  ein  eigenes  Erlebnis  des 
Dichters  in  die  Handlung  verwebt.  Einen  breiten  Raum  nehmen  dann  die  ein- 
gehenden Erörterungen  über  die  Annäherung  Corneilles  an  Richelieu  ein.  Die 
weiteren  Ausführungen  gelten  dem  Cid  und  der  Rolle,  die  der  Kardinal  im  Cid- 
streit  gespielt  hat.  Der  Dichter,  der  mit  seinem  Cid  die  zeitgenössischen  Dichter- 
linge bitteren  Konkurrenzneid  empfinden  ließ  und  der  sich  indirekt  auch  gerade 
durch  sein  kühnes  Emporheben  über  die  Dichter  der  Zeit  die  Gunst  des  Kardinals 
verscherzte,  hatte  bereits  Bahnen  beschritten,  die  ihm  eine  Sonderstellung  ver- 
schafften und  ihn  als  Neuerer  im  Drama  hinstellten.  Der  Verfasser  zeigt  zum 
Schluß,  wie  Corneille  bereits  durch  die  Schlichtheit  und  Anmut  der  Sprache  den 
sich  in  bombastischen  und  gezierten  Redewendungen  ergehenden  Dichtern  seiner 
Zeit  überlegen  war,  wie  er  die  Personen  nach  dem  Leben  natürlich  und  wahr  zeich- 
nete und  sich  in  den  Dramen  an  die  Örtlichkeiten  hielt,  die  ihm  seine  Vaterstadt 
bot.  Im  Cid  finden  wir  die  französischen  Verhältnisse  um  das  Jahr  1630  wieder, 
er  bleibt  im  Rahmen  seiner  Zeit.  Es  ist  nur  zu  wünschen,  daß  der  Verfasser  das 
bereits  gesammelte  Material  zu  einer  vollständigen  Darstellung  von  Corneilles 
Dichtersprache  und  dramatischen  Darstellungskunst  während  der  Jahre  1629  bis 
1637  recht  bald  veröffentlichen  möchte. 


666  R.  Preußner, 

Mettlich,  Jos.,  Die  Abhandlung  über  Rymes  et  mettres 
in  der  Prosabearbeitung  der  „Echecs  amoureux". 
Münster  i.  W.,  Königl.  Paulinisches  Gymnasium.    31  S.    8o.     Progr.-No.  487. 

Der  Verfasser  druckt  die  in  der  Prosabearbeitung  der  Echecs  amoureux  ent- 
haltenen Abhandlung  über  gereimte  und  metrische  Verse  ab  und  gibt  eine  deutsche 
Übersetzung  bei.  Der  hier  veröffentlichte  Abschnitt,  der  im  Gesamtwerk  einen 
Teil  der  Abhandlung  über  Musik  bildet,  ist  im  einzelnen  recht  interessant  und  eigen- 
artig. Der  anonyme  Verfasser,  der  die  Prosabearbeitung  zwischen  1380  und  1390 
geschrieben  hat,  unterscheidet  schon  klar  zwischen  metrischen  und  gereimten 
Versen.  Für  die  Reimverse  stellt  er  bereits  all  die  Forderungen  als  selbstverständlich 
auf,  die  erst  weit  später  zur  allgemeinen  Anerkennung  kommen.  Er  spricht  auch 
schon  von  der  Wichtigkeit  der  Cäsur  im  Verse,  die  neben  der  Klangschönheit  der 
Worte  als  ein  wesentlicher  musikalischer  Faktor  beim  Bau  des  französischen  Verses 
wohl  zu  beachten  ist.  Der  Vers  ist  ihm  ein  Monochord,  dessen  Länge  durch  die 
Zahl  der  Silben  bestimmt  wird.  Die  den  Vers  unterbrechende  Cäsur  läßt  gleichsam 
den  Vers  in  Teilen  schwingen,  so  daß  auch  für  den  Vers  wie  bei  der  Saite  die  musika- 
lische Zahlentheorie  in  Anwendung  kommt.  Interessant  ist  auch,  daß  in  dieser 
Prosabearbeitung  zum  ersten  Male  die  Etymologie  des  Wortes  „Alexandriner" 
gegeben  wird. 

Meyer,  Fritz,  Les  Amoureuses  von  Alphonse  Daudet, 
metrisch   übersetzt.     Lübeck,  Johanneum.    54  S.    8°.    Progr.-No.  1032. 

Daudet  schrieb  die  unter  dem  Titel  „Les  Amoureuses''  veröffentlichten  Ge- 
dichte als  achtzehnjähriger  Jüngling.  Sind  die  Dichtungen  auch  nicht  gleich  wert- 
voll und  verraten  sie  auch  in  gar  manchem  die  Erstlingsarbeit  des  Dichters,  so 
zeigen  sie  uns  doch  schon  den  künftigen  Dichter,  der  mit  gesundem  Sinn  und  köst- 
lichem Humor  die  kleinen  Ereignisse  des  Alltagslebens  schildert  und  seine  Freude 
an  der  Natur  offenbart.  Es  war  für  den  Verfasser,  der  die  Form  des  französischen 
Originals  möglichst  zu  wahren  suchte,  nicht  leicht,  in  der  Übersetzung  die  Leichtig- 
keit der  französischen  Sprache  wiederzugeben.  Die  poetische  Form  zwang  den 
Übersetzer,  den  deutschen  Text  vielfach  etwas  freier  zu  gestalten;  auch  ist  hin 
und  wieder  ein  anmutiges  poetisches  Bild  in  der  deutschen  Übersetzung  etwas 
verblaßt.  Aber  meist  lassen  sich  doch  die  deutschen  Verse  neben  den  französischen 
gar  wohl  hören.  Es  verlohnt  sich  gewiß  einmal  der  Mühe,  all  die  in  Programm- 
abhandlungen verstreut  veröffentlichten  metrischen  Übertragungen  französischer 
und   englischer  Dichter  zusammenzustellen   und  als   Ganzes  herauszugeben. 

Möbius,  H.,  Die  englischen  Rosenkreuzerromane  und 
ihre  Vorläufer.  Eine  Studie  über  die  Entwicklung  der  phantastisch- 
romantischen Erzählungsart  in  England  während  des  18.  und  19.  Jahrhunderts. 
Hamburg,  Realschule  in  Hamm.    63  S.    4".    Progr.-No.  1055. 

Der  Verfasser  bespricht  zunächst  die  phantastisch-romantischen  Romane  der 
Walpole-Radcliffe-Schule,  die  die  realistischen  Erzählungen  in  der  zweiten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  ablösten  und  damals  viel  Bewunderer  fanden.  Die  Romane 
sind  heut  fast  vergessen,  bleiben  aber  doch,  wie  der  Verfasser  nachweist,  für  den 
Literarhistoriker  wichtiger,  als  man  bisher  anzunehmen  pflegte.  Der  Begründer 
der  neuen  Schule  wurde  Walpole  mit  seinem  damals  viel  gelesenen  Roman:   „The 


Französisch  und  Englisch.  667 

Castle  of  OtranW.  Es  folgten  andere  Erzählungen,  in  denen  sich  schaurige  Er- 
eignisse in  unheimlichen  mittelalterlichen  Schlössern  abspielen.  Der  Verfasser 
kritisiert  die  Schreibweise  der  Autoren  und  beleuchtet  das  Charakteristische  der 
Romane  durch  eine  Reihe  von  Beispielen.  Interessant  ist  hierbei  der  Nachweis 
auffallender  Ähnlichkeiten  mit  anderen  Werken  der  englischen,  deutschen  und 
französischen  Literatur.  So  hat  Mrs.  Radcliffe  bei  den  zahlreichen  Naturschilde- 
rungen sicher  unter  dem  Einfluß  von  Thomson,  Collins  und  Gray  gestanden  und 
vor  allem  auch  Rousseau  nachgeeifert,  während  sie  anderseits  wieder  nicht  ohne 
Einwirkung  auf  Byron  geblieben  ist,  der  ja  zu  den  Bewunderern  der  Schriftstellerin 
gehörte.  Jedenfalls  ist  die  Annahme  des  Verfassers,  man  müsse  das  Urbild  des 
Byronschen  Übermenschentypus  in  Schedoni,  dem  Helden  in  Radcliffes  ,Jtalian'\ 
suchen,  noch  genauerer  Untersuchung  wert.  Eine  offene  Frage  ist  auch  noch,  wie 
weit  die  Helden  ihrer  Romane  unter  dem  Einfluß  zeitgenössischer  Schriftsteller 
(Richardson,  Goldsmith)  gestanden  haben.  Ein  anderer  Roman  dieser  Schule, 
The  Monk  von  Lewis,  hat  auf  Victor  Hugo  eingewirkt  und  weist  Übereinstimmungen 
mit  E.  T.  A.  Hoffmanns  Elixieren  des  Teufels  auf.  Als  die  Gattung  dieser  phan- 
tastischen Romane  zu  verblassen  drohte,  bemächtigten  sich  die  Romanschrift- 
steller einer  neuen  Idee,  der  Rosenkreuzerlegende,  nach  der  ein  deutscher  Edel- 
mann Christian  Rosenkreuz  in  den  Besitz  des  Steins  der  Weisen  gekommen  sei 
und  sich  so  ewige  Jugend  und  unermeßliche  Reichtümer  erworben  habe.  Der 
Verfasser  zeigt  uns  nun  die  Entwicklung  der  Rosenkreuzeridee  in  den  Romanen 
von  Godwin,  P.  B.  Shelley,  Ch.  R.  Maturin,  Mrs.  Shelley  und  schließlich  die  poetische 
Lösung  des  Problems  bei  Bulwer.  Interessant  sind  wieder  die  Hinweise  auf  Parallel- 
stellen in  der  deutschen  Literatur. 

Petri,  A.,  Über  Walter  Scotts  Dramen  (II.  Teil).  Schmölln 
(S.-A.),  Herzogl.  Realschule.    24  S.    4«.    Progr.-No.  990. 

Es  werden  behandelt  Halidon  Hill,  Macduff's  Gross  und  Auchindrane.  Alle 
drei  Dramen,  denen  Clanfehden  mit  echt  schottischem  Kolorit  zugrunde  liegen, 
zeigen  uns  den  schottischen  Nationalcharakter  nach  der  guten  und  schlechten  Seite 
hin.  Halidon  Hill  ist  eine  kurze  dramatische  Skizze,  die  einen  geschichtlichen  Vor- 
gang der  Schlacht  am  Homildon  Hill  zum  Gegenstand  hat  und  auch  Anklänge 
an  Ereignisse  in  der  unglücklichen  Schlacht  bei  Falkirk  aufweist.  Macduffs  Gross, 
eine  einzige  dramatische  Szene  von  etwa  300  Blankversen,  baut  sich  auf  dem  von 
Malcolm  dem  Thane  von  Fife  gewährten  Vorrecht  auf,  daß  die  Umgegend  des 
auf  einem  mächtigen  Stein  errichteten  Kreuzes  eine  Freistatt  für  Verwandte  des 
Geschlechtes  Macduff  sei.  Auchindrane,  Scotts  bestes  Drama,  behandelt  in  drei 
Akten  einen  Abschnitt  aus  Robert  Pitcairns  Griminal  Trials  of  Scotland.  Der 
Verfasser  analysiert  die  Dramen,  geht  auf  ihr  Verhältnis  zu  den  Quellen  ein,  be- 
spricht die  Charakterzeichnung  und  bewertet  ihren  künstlerischen  Aufbau. 

Pommrich,  Königin  Elisabeth  und  die  zeitgenössische 
englische  Literatur.  Radebeul,  Realgymnasium  i.  E.  mit  Realschule 
klassen  in  der  Lößnitz.    51  S.    4^    Progr.-No.  784. 

Der  Literarhistoriker  spricht  ja  von  einem  Elisabethan  Age,  das  reich  an 
Dichtern  und  wertvollen  Dichtungen  ist.  Der  Verfasser  untersucht  nun  die  Frage, 
ob  die  Königin  einen  bestimmenden  Einfluß  auf  die  Dichtkunst  der  Zeit  ausgeübt 


668  R.  Preußner, 

und  ob  die  Größe  der  Herrscherin  allein  die  Dichter  der  Zeit  zu  ihren  Schöpfungen 
angeregt  habe.  Die  Königin,  die  infolge  einer  sorgfältigen  Erziehung  eine  hohe 
geistige  Bildung  hatte  und  gern  Verse  hörte,  nahm  die  mannigfachen  Huldigungen 
der  Dichter  gern  entgegen.  Darum  wetteiferten  die  Literaten  der  Zeit  in  der  Ver- 
herrlichung der  Herrscherin.  An  26  Autoren  zeigt  der  Verfasser,  wie  alle  Dichter 
der  Königin  aufrichtig  huldigten,  wie  sie  die  Tugenden  der  jungfräulichen  Königin 
überschwenglich  feierteUi  ohne  gerade  auf  besondere  Gunstbezeugungen  zu  rechnen. 
Die  nach  unseren  heutigen  Begriffen  das  Maß  des  Erlaubten  oft  überschreitenden 
Lobpreisungen  kommen  aus  ehrlichem  Herzen  und  geben  Zeugnis  von  der  all- 
seitigen Verehrung  und  Liebe,  die  die  Königin  genoß.  Die  Königin  erscheint  meist 
unter  verschiedenen  mythologischen  und  sagenhaften  Gestalten,  so  vor  allem  gern 
in  epischen  und  lyrischen  Dichtungen,  in  Hirten-  und  Schäferpoesien,  in  Masken- 
stücken, Allegorien  und  Schaustücken,  die  man  bei  festlichen  Gelegenheiten  und 
bei  Besuchen  der  Königin  gab. 

Schmid,  Karl,  Corneille  und  die  deutsche  Literatur. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  deutschen  Corneilleübersetzungen.  Eßlingen, 
Oberrealschule.    32  S.    4».     Progr.-No.  840. 

In  der  vorliegenden  Arbeit  werden  die  Übersetzer  des  18.  Jahrhunderts  be- 
handelt. Wir  sehen,  wie  zunächst  durch  den  Einfluß  Gottscheds  in  die  Arbeit 
der  Übersetzer  ein  gewisses  System  hineinkommt  und  wie  Gottsched  durch  die 
Herausgabe  seiner  deutschen  Schaubühne  die  Übersetzungen  jüngerer,  noch  un- 
bekannter Dichter  der  Öffentlichkeit  übergibt.  Es  erscheinen  eine  Übersetzung 
des  Cid  von  Gottfried  Lange  und  eine  Übersetzung  des  Horace  von  Friedrich  Erd- 
mann Freiherrn  von  Glaubitz.  Beide  Übersetzungen  bedeuten  wohl  sprachlich, 
aber  nicht  dichterisch  einen  Fortschritt  gegenüber  den  Übersetzungen  des  17.  Jahr- 
hunderts. Eine  Übersetzung  des  Cinna  von  dem  Nürnberger  Magistratsherrn 
von  Führer  ist  zwar  wenigstens  klar  und  verständlich,  aber  im  Gegensatz  zu  der 
edlen  Sprache  der  Vorlage  doch  noch  zu  derb  im  Ausdruck.  Im  Jahre  1727  er- 
schien Polyeuctes,  übersetzt  von  Catharina  Salome  Linck,  die  bisher  beste  Ver- 
deutschung eines  Corneilleschen  Stückes.  Schließlich  enthält  noch  die  Schöne- 
mannsche  Schaubühne  Übersetzungen  von  unbekannten  Verfassern  des  Cid  und 
des  Cinna,  die  beide  wiederum  einen  bedeutenden  Fortschritt  erkennen  lassen 
und  den  Übertragungen  Langes  und  Führers  überlegen  sind.  Eine  Behandlung 
der  Übersetzer  des  19.  Jahrhunderts  soll  den  Abschluß  der  verdienstvollen  Arbeit 
bringen. 

Schön,  Eduard,  Anatoie  France,  La  Vie  Litter  aire.  Ham- 
burg, Realschule  an  der  Bismarckstraße.   60  S.   S^.   Progr.-No.  1056. 

Anatoie  France  hat  seine  Vie  litteraire  zunächst  als  Feuilletonartikel  im  Temps 
geschrieben  und  diese  erst  später  unverändert  zu  einem  vierbändigen  Werk  zu- 
sammengestellt. So  ist  wohl  die  Form  aller  Artikel  die  feuilletonistische,  aber 
die  Abhandlungen  selbst  erheben  sich  weit  über  journalistische  Tagesartikel; 
sie  sind  besonders  reizvoll  durch  die  mancherlei  intimen  und  persönlichen  Be- 
ziehungen Frances  mit  den  führenden  literarischen  Größen.  Das  Studium  der 
Menschen  selbst  ist  ihm  oft  interessante^  als  die  Werke;  über  dem  Werk  steht  ihm 
der  Dichter.    France  kennt  keine  Einseitigkeit,  keinen  allseligmachenden  Dogmatis- 


Französisch  und  Englisch.  669 

mus;  darum  sucht  sein  vielseitiger  Geist  ohne  jedes  Vorurteil  die  großen  Gegen- 
sätze in  den  verschiedensten  Strömungen  der  französischen  Literatur  zu  erfassen 
und  als  gerechter  Kritiker  und  mit  überaus  feiner  Empfindung  zu  beurteilen. 
Für  alles  ist  er  empfänglich,  nur  nicht  für  das  Geschmacklose  und  Triviale.  So 
erklären  wir  uns  sein  hartes  Urteil  über  Ohnet  und  Zola,  seinen  Widerwillen  gegen 
Symbolisten  und  Naturalisten.  Sein  rein  französischer  Geist  hat  auch  wenig  übrig 
für  die  Literatur  der  Deutschen,  Engländer  und  Skandinavier.  Als  Skeptiker, 
jedoch  auch  nicht  ohne  Ausnahme,  neigt  er  stets  zur  Milde  und  Versöhnlichkeit, 
zugleich  aber  auch  zur  Lauheit.  Bemerkenswert  ist  auch  Frances  Stellung  zur 
Geschichtsschreibung.  Obwohl  er  ein  gründlicher  Kenner  der  Geschichte  ist,  will 
er  doch  eine  objektive  Geschichtswissenschaft  nicht  zugeben;  ebenso  leugnet  er, 
daß  es  eine  objektive  Kritik  gibt,  solange  es  noch  kein  Kriterium  des  Schönen  gibt. 
Und  doch  kommt  seine  Kritik  auf  die  objektive  Kritik  hinaus,  denn  für  ihn  ist  die 
Kritik  keine  Wissenschaft,  sondern  eine  Kunst,  die  nur  der  üben  darf,  der  selbst 
eine  hohe  Kultur,  eine  feine  literarische  Bildung  besitzt,  der  imstande  ist,  das  Werk 
in  den  richtigen  Rahmen  seiner  Zeit  und  seiner  Umgebung  einzureihen.  In  Frances 
Kritik  aber  ein  festes  System  zu  suchen,  mißlingt,  da  das  Persönliche  die  eigentliche 
Kritik  erdrückt.  Darum  gibt  die  Vie  litteraire  ein  Bild  von  der  oft  seltsamen  Eigen- 
art seiner  künstlerischen  und  sittlichen  Persönlichkeit,  und  diese  Persönlichkeit 
sucht  der  Verfasser  in  seiner  Abhandlung  vor  allem  zu  ergründen  und  zu  beleuchten. 
Allerdings  ist  es  nicht  leicht,  die  Persönlichkeit  Frances  scharf  zu  zeichnen;  sie 
ist  von  recht  komplizierter  Art.  France  ist  Pessimist,  aber  doch  ein  solcher,  der 
€s  mit  der  pessimistischen  Stimmung  nicht  gerade  schwer  nimmt.  Keck  und  kühn 
kommt  er  über  die  düstere  Weltanschauung  hinweg,  auch  ein  bißchen  Ironie  hilft 
dabei.  Der  Verfasser  gibt  eine  Auslese  von  köstlichen  Beispielen,  die  zeigen,  wie 
sich  bei  France  die  Ironie  äußert,  bald  leidenschaftlich  und  bitter,  bald  nur  schalk- 
haft und  neckend,  überall  aber  fein  und  überlegen.  Frances  farbenprächtiger  und 
bilderreicher  Stil  ist  oft  bewundert  worden,  und  dem  Zauber  seiner  Sprache  und 
Ausdrucksfähigkeit  kann  sich  niemand  entziehen.  Unser  Verfasser  kennt  und  ver- 
ehrt seinen  Anatole  France;  es  ist  eine  Lust,  die  flott  und  geistreich  geschriebene 
Studie  zu  lesen. 

Weiske,  Hans,  Regis  Michalias  Auvergnatische  Lieder. 
Königsberg  (Nm.),  Friedrich-Wilhelms-Gymnasium.    42  S.    8^    Progr.-No.  91. 

Der  Verfasser  gibt  zunächst  einige  biographische  Nachrichten  über  Michalias, 
einen  volkstümlichen  Dichter  der  Auvergne,  der  wohl  verdient,  weiteren  Kreisen 
bekannt  zu  werden.  Daran  schließt  sich  eine  Charakteristik  seiner  Lieder,  die 
den  Zauber  der  Heimat  besingen  und  die  von  des  urwüchsigen  Auvergners  Lust 
und  Leid  erzählen.  Die  Ausführungen  sind  recht  interessant,  um  so  mehr  als  sie 
vielfach  auf  persönlichen  Mitteilungen  des  Dichters  beruhen.  Aus  den  Bergliedern 
und  den  Liedern  eines  Landmanns  hat  der  Verfasser  eine  Reihe  von  Liedern  aus- 
gewählt und  sie  uns  zum  besseren  Verständnis  verdeutscht  unter  möglichster 
Wahrung  der  poetischen  Form  des  Originals.  Die  Proben  sind  wahre  Perlen  echter 
Heimatpoesie,  von  denen  man  gern  noch  mehr  gelesen  hätte. 

Born,Max,  Nachträge  zu  The  Oxford  English  Dictionary. 
II.  Teil.    Schöneberg,  Chamisso-Schule.    49  S.    8». 


670  R-  Preußner,  Französisch  und  Englisch. 

Der  Verfasser,  der  bereits  für  das  große  englische  Wörterbuch  Nachträge, 
Zusätze  und  Berichtigungen  für  die  Buchstaben  A — E  gegeben  hat  (vgl.  Monat- 
schrift X,  38),  hat  seine  Studien  weiter  fortgesetzt  und  eine  größere  Anzahl  älterer 
und  neuerer  Werke  zum  Zweck  seiner  Forschungen  durchgelesen,  so  daß  jetzt 
gegen  100  Werke  benützt  werden  konnten.  Das  Resultat  der  eingehenden  Studien 
ist  eine  reiche  Fülle  von  Material,  das  nun  für  die  Buchstaben  F — L  vorliegt.  Man 
sieht  aus  den  Zusätzen  des  Verfassers,  daß  ein  so  groß  angelegtes  Werk  wie  das 
Oxford  English  Dictionary  doch  noch  Lücken  genug  enthält  und  daß  manches  Wort 
eigentlich    recht    spärlich    behandelt    und    bedacht    worden    ist. 

Brütting,  J.,  Das  Bauern-Französisch  in  Dancourts 
Lustspielen.  Altenburg  (S.-A.),  Herzogl.  Realgymnasium  mit  Realschule. 
131  S.    80.     Progr.-No.  988. 

Von  dem  Dichter  Dancourt  sind  uns  47  Lustspiele  hinterlassen,  die  teils  in 
Versen,  teils  in  Prosa  geschrieben  sind.  Die  Stücke  sind  wohl  meist  vergessen, 
verdienen  aber  immerhin  Beachtung  wegen  der  getreuen  Zeitgemälde,  die  uns 
der  Dichter  in  den  meisten  Stücken  entwirft.  Vor  allem  liefern  sie  uns  aber  einen 
wichtigen  Beitrag  zum  Studium  der  Sprache,  die  der  Dichter  seine  Personen, 
meist  Bauern  aus  der  nächsten  Umgebung  der  Hauptstadt,  reden  läßt.  Zwar 
stehen  diese  Untersuchungen  auf  schwachen  Füßen,  denn  das  uns  überkommene 
Schriftbild  gibt  kein  getreues  phonetisches  Abbild  der  gesprochenen  Sprache, 
und  außerdem  arbeitete  Dancourt  so  flüchtig,  daß  er  zumeist  wohl  ein  Gemisch 
von  Vulgärsprache,  veralteten  Formen  und  der  damaligen  Schriftsprache  nieder- 
schrieb. Aber  immerhin  sind  die  mühevollen  und  eingehenden  Untersuchungen 
interessant  genug,  zeigen  sie  uns  doch,  daß  die  Bauernsprache  bei  Dancourt  im 
wesentlichen  mit  der  von  Moliere  und  Marivaux  angewandten  Vulgärsprache 
übereinstimmt;  außerdem  ersehen  wir,  daß  die  Bauernsprache  gar  manche  Formen 
des  Altfranzösischen  erhalten  hat,  die  wir  auch  noch  in  der  modernen  Vulgärsprache 
und  in  verschiedenen  Mundarten  wiederfinden. 

Stettin.  Oskar    Preußner. 


III.    Bücherbesprechungen. 

a)  Satnmelbesprechungen: 
Jugendliteratur. 

Nach  einer  Zusammenstellung  des  Buchhändler-Börsenblattes  sind  im  Jahre 
1911  in  Deutschland  erschienen:  5252  Bücher  aus  dem  Gebiet  der  Erziehung, 
des  Unterrichts  und  der  Jugendliteratur  und  4529  Bücher  aus  dem  Gebiet  der 
schönen  Literatur,  die  ja  auch  zum  guten  Teil  der  Jugendliteratur  zuzurechnen  ist. 
Einer  solchen  Massenerzeugung  gegenüber  muß  sich  die  Berichterstattung  darauf 
beschränken,  die  Richtlinien  der  Gesamtentwicklung  aufzuweisen.  Einzelerschei- 
nungen wird  sie  zum  Gegenstand  ausführlicherer  Besprechung  nur  machen  können, 
wenn  sie  sich  durch  Bedeutung  oder  durch  Eigenart  aus  der  unabsehbaren  Masse 
des  Unbedeutenden  und  des  Schablonenhaften  hervorheben. 

Unter  den  neu  erschienenen  Bilderbüchern  dürfen  zwei  als  Kunstleistungen  von 
hohem  Wert  angesprochen  werden.  Es  sind  Werke  von  ganz  verschiedener  Stilart. 
Das  eine  ist  das  „Kaulbach-Güll-Bilderbuch"  (München,  1910.  Ver^ 
lag  der  Jugendblätter.  64  S.  geb.  4,50  M.) ;  das  andere  ist  „D  e  r  G  a  r  t  e  n  t  r  a  u  m" 
von  Ernst  Kreidolf  (Köln,  Schaffstein,  geb.  5  M.).  Das  Kaulbach-Güll- 
Bilderbuch  bietet  die  schönsten  Lieder  aus  des  alten  Friedrich  Gull  „Kinderheimat" 
in  trefflichem  Druck  und  gediegener  Ausstattung  dar.  Die  Bilder  hat  Hermann 
Kaulbach,  der  Sohn  Wilhelms,  entworfen.  Hier  haben  sich  zwei  gleichgestimmte 
Künstler  zu  einer  Meisterleistung  zusammengefunden.  Liebliche  Innigkeit  und 
neckischer  Humor  bilden  die  gemeinsamen  Kennzeichen  ihrer  herzerquickenden 
Kunst.  Es  ist  selten,  daß  der  Dichter  und  der  Zeichner  sich  so  vollkommen  ver- 
stehen wie  in  diesem  Buch,  in  dem  Wort  und  Bild  sich  zu  der  anmutigsten  Einheit 
verbinden.  —  Kreidolf  gilt  als  einer  der  begabtesten  oder  gar  als  der  begabteste 
unter  den  Jüngern  Bilderbuchzeichnern.  Und  das  mit  Recht.  Denn  an  Farbenduft, 
an  Phantasiereichtum,  an-  sinniger  Naturbetrachtung  und  Naturdeutung  tut  es 
ihm  keiner  zuvor.  Dabei  ist  er  ein  Künstler  von  selbsteigenem  Gepräge.  Es  dürfte 
schwer  zu  entscheiden  sein,  welchem  von  seinen  Werken  der  Vorrang  gebührt, 
ob  den  „Schlafenden  Bäumen"  oder  den  „Blumenmärchen"  oder  den  „Sommer- 
vögeln" oder  den  „Wiesenzwergen".  „Der  Gartentraum"  bildet  ein  Seitenstück 
zu  den  „Blumenmärchen".  Das  Buch  enthält  16  große  farbige  Vollbilder  mit  er- 
läuternden Versen  von  des  Meisters  eigener  Erfindung.  In  beiden  Werken  werden 
die  Blumen  in  zarten,  phantasievollen,  schalkhaft  karikierenden  Bildern  vermensch- 


672  F.  Johannesson, 

licht.  Das  neuere  Werk  dürfte  an  stilvoller  Durchbildung  noch  über  das  ältere 
hinausreichen.  Es  wird  besonders  Naturfreunden,  jungen  wie  alten,  Freude  be- 
reiten. Kinder  werden  sich  in  die  etwas  spröde  Eigenart  des  Künstlers  freilich 
nicht  mühelos  einfühlen  können. 

Die  Märchenliteratur  feiert  um  diese  Zeit  ein  hochbedeutsames  Jubiläum. 
Denn  hundert  Jahre  sind  darüber  hingegangen,  daß  der  erste  Band  der  Grimmschen 
Märchen  der  deutschen  Kinderwelt  als  köstliche  Weihnachtsgabe  beschert  wurde. 
Heute  noch  bilden  sie  das  unerreichte  Meisterstück  ihrer  Gattung,  das  unserem 
Volke  gleich  teuer  sein  muß  durch  seinen  Inhalt  wie  durch  die  wundervolle,  ganz 
unvergleichliche  Kunst  der  Darstellung.  An  ihnen  läßt  sich  der  Wert  neuerer 
Erscheinungen  nicht  messen. 

Unter  den  jüngsten  Märchenbüchern  verdienen  die  „Naturgeschicht- 
lichen Märchen"  des  Dänen  Karl  Ewald  besondere  Beachtung 
(2  Bände:  1.  Mutter  Natur  erzählt.  VII  u.  302  S.  2.  Der  Zweifüßler  und  andere 
Geschichten.  310  S.  Stuttgart,  1910  u.  1911.  Franckh.  8«.  geb.  je  4,80  M.). 
Ewald  ist  im  Jahre  1908  im  Alter  von  51  Jahren  gestorben.  Gesamtausgaben 
seiner  Märchen,  deren  erstes  Heft  bereits  im  Jahre  1882  veröffentlicht  wurde, 
sind  in  England,  Amerika,  Schweden  und  Holland  erschienen.  Nun  liegt  auch 
€ine  deutsche  Ausgabe  vor.  Ewald  wird  in  seinem  Vaterlande  als  Schriftsteller 
von  hohem  und  vielseitigem  Können  geschätzt.  Er  hat  auch  zwei  vielgelesene 
Erziehungsbücher  „Mein  großes  Mädel"  und  ,,Mein  kleiner  Junge"  verfaßt.  In 
seinen  Märchen  entfaltet  sich  seine  Kunst  am  reinsten  und  schönsten.  Seine 
Darstellungsweise  steht  unverkennbar  unter  Andersens  Einfluß.  Mit  Schlicht- 
heit und  Zartheit  verbindet  er  Tiefe  und  Schalkhaftigkeit.  Er  weiß  vom 
Leben  der  Tiere  und  Pflanzen,  vom  Walten  der  Naturmächte  in  der  Luft 
und  im  Wasser  so  fesselnd  zu  erzählen,  als  handle  es  sich  um  Menschen- 
schicksale. Der  tiefe  sittliche  Gehalt,  der  in  diesen  seelenvollen  Naturgemälden 
sich  findet,  kann  allerdings  erst  dem  Verständnis  des  reiferen  Lesers  offenbar  werden. 
Jedenfalls  stellen  Ewalds  liebenswürdige  Märchen  eine  wertvolle  Bereicherung 
unserer  Jugendliteratur  dar,  die  ja  unseren  nördlichen  Nachbarn  schon  so  manche 
reizvolle  und  bedeutende  Gabe  zu  danken  hat.  Es  sei  nur  an  Selma  Lagerlöf, 
an  Aanrud,  Bernt  Lie  und  Nylander  erinnert.  Die  Übersetzung  von  Hermann  Kiy 
liest  sich  sehr  gut.  Willy  Planck  hat  das  Werk  mit  Tafel-  und  Randbildern  ge- 
schmückt.   Die  Ausstattung  ist  des  Inhalts  durchaus  würdig. 

Von  neueren  deutschen  Märchenbüchern  mögen  hier  zwei  genannt  werden. 
Das  eine,  ein  stattlicher  Band  mit  stimmungsvollem  Bildschmuck,  nennt  sich 
,,DasBuch  von  denMeerleute  n".  (Reutlingen  1911,  Enßlin  &  Laiblin. 
158  S.  8.  geb.  3,50  M.).  Es  ist  von  GerhardKrügel  verfaßt  und  von  Ernst 
Lieber  mann  illustriert.  Die  14  Geschichten,  die  es  enthält,  sind  nach  alten 
Volkssagen  und  Volksmärchen  bearbeitet,  deren  Schauplatz  die  Küste  der  Nord-  und 
Ostsee  bildet.  Einzelne  Stoffe  sind  altbekannt,  so  die  Sage  vom  Geisterschiff  und  von 
der  versunkenen  Stadt;  die  meisten  aberwerden  dem  Leser  zum  ersten  Male  begegnen. 
Ober  dem  Buch  liegt  tiefe  Schwermut,  nur  selten  und  spärlich  leuchten  die  Lichter 
des  Humors  darin  auf.  Die  Schrecken  und  Schauer  des  Meeres,  das  verhängnis- 
volle Wirken  seiner  dunklen  Mächte  geben  ihm  seine  Stimmung,  der  sich  auch  die 


Jugendliteratur.  673 

Darstellungsweise  stilgemäß  anpaßt.  Abends  lasse  man  die  Kinder  diese  düsteren 
Geschichten  keinesfalls  lesen.  Ihr  Schlaf  möchte  sonst  von  schreckhaften  Träumen 
gestört  werden. 

Sonniger  ist  ein  Büchlein,  das  unter  dem  Titel  „Die  M  ä  r  c  h  e  n  w  i  e  s  e" 
in  den  „Lebensbüchern  der  Jugend''  erschienen  ist  (Braunschweig,  Westermann, 
geb.  2,50  M.).  Die  Märchen,  die  darin  neben  einigen  hübschen  Gedichten  stehen, 
stützen  sich  nicht  wie  die  vorgenannten  auf  Volksüberlieferung,  sondern  sind  frei 
und  neu  erfunden.  Die  Verfasserin,  Elisabeth  Dauthendey,  verfügt 
über  dichterische  Phantasie  und  eine  anmutige  Schilderungsgabe.  Inniges  und 
zartes  Empfinden  spricht  aus  dem  Buche,  das  übrigens  die  kleinen  Leser  und  Lese- 
rinnen nicht  nur  erfreuen,  sondern  zugleich  in  ihrer  Lebensanschauung  beeinflussen 
will.  Nebenher  sei  bemerkt:  Die  Deutung,  die  in  der  Geschichte  „Der  himmlische 
Sämann"  der  Entstehung  des  Menschen  gegeben  wird,  ist  gewiß  sinnig  und  keusch, 
trotzdem  wird  sie  nicht  nach  aller  Eltern  Geschmack  sein.  Auf  diesem  heiklen 
Gebiet,  das  auch  in  dem  Märchen  „König  Sturm  und  Frau  Sonne"  berührt  wird, 
können  die  Verfasser  von  Kinderbüchern  nicht  zurückhaltend  genug  sein. 

In  der  Erzählungsliteratur  zeigt  sich  die  Jugendschriftstellerei  am  frucht- 
barsten. Und  das  ist  kein  Wunder.  Denn  gerade  auf  diesem  Gebiet  ist  die  Nach- 
frage am  stärksten  und  das  Schaffen  am  bequemsten.  Zumal  in  der  geschichtlichen 
Erzählung  wirken  bei  geschickter  Stoffwahl  die  Ereignisse  an  sich  schon  so  mächtig, 
daß  es  nur  einer  armseligen  Erfindungsgabe  und  einer  bescheidenen  Darstellungs- 
kunst bedarf,  um  dem  jugendlichen  Leser  Genüge  zu  tun.  Die  gewaltige  Jahres- 
produktion pflegt  denn  auch  nur  vereinzelte  Werke  von  Charakter  und  Bedeutung 
zu  zeitigen.  Die  große  Masse  besteht  aus  harmlosen,  aber  dürftigen  Machwerken, 
die  nach  der  Schablone  gearbeitet  sind.  Dazwischen  begegnet  man  argen  Miß- 
bildungen, die  schädlich  zu  wirken  vermögen. 

Als  Beispiel  hierfür  sei  „Der  Schleier  der  T  a  n  i  t"  von  August 
N  i  e  m  a  n  n  genannt.  (Berlin  1911,  Verlag  Berlin-Wien.  V  U.360S.  8^.  geb.6M.). 
Dieses  Buch,  das  gut  gedruckt  und  mit  4  Vollbildern  von  A.  Rolof  versehen  ist, 
ist  Flauberts  ,,Salambo"  nachgebildet.  Flaubert  gilt  den  Franzosen  als  Meister 
naturalistischer  Darstellungskunst.  Er  ist  ein  glänzender  Sprachvirtuose,  ein  scharf- 
sichtiger Beobachter  und  ein  anschaulich  gestaltender  Künstler.  In  „  Salambo"  suchte 
er,  entgegen  denGepf  logenheiten  der  naturalistischen  Schule,  sein  reiches  Schilderungs- 
vermögen außerhalb  der  von  ihm  selbst  beobachteten  Alltäglichkeit  zu  bewähren.  Das 
Werk  ist  ein  archäologischer  Roman,  der  auf  eingehenden  Geschichts-  und  Kultur- 
studien beruht.  Er  bietet  eine  Reihe  buntbewegter  Bilder  aus  dem  Leben  des  alten 
Karthago  und  seines  Söldnerheeres.  In  ihrer  Mitte  steht  die  Gestalt  der  Tanit- 
priesterin  Salambo,  der  Tochter  Hamilkars.  Diese  Bilder  sind  mit  raffinierter  Kunst 
entworfen  und  in  grell  leuchtenden  Farben  ausgeführt.  Ein  innerliches  Verhältnis  aber 
wird  der  Leser  zu  dem,  was  sie  schildern,  schwerlich  gewinnen.  Und  die  Handlung? 
Sie  besteht  aus  einer  ununterbrochenen  Folge  der  allerscheußlichsten  Greueltaten, 
von  denen  sich  jedes  gesunde  Empfinden  mit  Abscheu  abwenden  muß.  Die  Auf- 
nahme eines  solchen  Buches  in  die  deutsche  Jugendliteratur  kann  durch  nichts 
gerechtfertigt  werden.  Denn  seine  literarischen  Feinheiten,  die  den  Ästheten  er- 
freuen mögen,  kommen  dem  jugendlichen  Leser  noch  nicht  zum  Bewußtsein.    Dem 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.  XI.  Jhrg.  43 


674  F.  Johannesson, 

Gefühlsleben  aber  kann  aus  der  unverhüllten  Schilderung  roher  Instinkte,  denen 
kein  edleres  Menschentum  das  Gleichgewicht  hält,  schwerer  Schaden  erwachsen. 

An  Kunstwert  ärmer,  aber  an  ethischem  Gehalt  reicher  sind  einige  Schilderungen 
aus  der  vaterländischen  Geschichte,  die  unlängst  erschienen  sind.  „Fürstabt 
undErzbischof"  von  Karl  Henkelmann  (Leipzig  1912,  Hirt.  166  S. 
gr.  8^.  geb.  4  M.)  führt  uns  in  die  wildbewegte  Jugendzeit  Heinrichs  IV.  Die  Er- 
zählung gibt  ein  anschauliches  Bild  klösterlichen  Lebens.  Sie  behandelt  einen  Ab- 
schnitt aus  der  Geschichte  des  altberühmten  Klosters  Lorsch,  dessen  Abt,  der  hoch- 
sinnige Udalrich,  seinen  Besitz  in  schwerem  Ringen  gegen  den  herrschsüchtigen 
Erzbischof  Adalbert  von  Bremen  zu  verteidigen  hatte.  Die  Schreibart  des  Verfassers 
ist  klar  und  vornehm,  wenn  sie  auch  ein  wenig  nüchtern  und  leblos  anmutet. 
Das  Buch  ist  mit  schönen  Bildern  von  Hans  W.  Schmidt-Weimar  ausgestattet. 

Von  den  Mainzer  Volks-  und  Jugendbüchern  sind  drei  neue  Bände  heraus- 
gekommen. (Mainz  1912,  Scholz,  geb.  je  3  M.).  W.  K  o  t  z  d  e  schildert  in  seinem 
Buche  ,,Und  deutsch  sei  die  Erde!"  (239  S.  mit  Bildern  von  F.  Stassen) 
die  Germanisierung  der  Mark  Brandenburg  unter  Albrecht  dem  Bären.  J  o  h. 
H  ö  f  f  n  e  r  erzählt  in„DieTreuevonPommern"  (193  S.  mit  Bildern  von 
F.  Müller-Münster)  die  rührende  Geschichte  vom  Herzog  Bogislav  von  Pommern 
und  von  seiner  Erziehung  durch  den  Bauern  Hans  Lange.  W.  L  o  b  s  i  e  n  berichtet 
in  ,,J  0  d  u  t  e!"  (190  S.  mit  Bildern  von  O.  R.  Bossert)  vom  Kampf  der  Zünfte  mit 
den  Geschlechtern  im  alten  Lübeck.  Diese  Neuerscheinungen  der  trefflichen  Samm- 
lung reihen^sich  den  früheren  Bänden  ebenbürtig  an.  Sie  können  keinen  Anspruch 
darauf  erheben,  als  Literaturwerke  hohen  Ranges  bewertet  zu  werden.  Aber  sie  sind 
tüchtiges,  gediegenes  Mittelgut,  das  nach  Inhalt  und  Darstellungsart  für  unsere 
Jungen  einen  sehr  zuträglichen  Lesestoff  bildet.  Gerade  in  unserer  Zeit  der  nationalen 
Zersetzung  und  der  religiösen  und  politischen  Verhetzung  müssen  uns  solche  Bücher 
hoch  willkommen  sein.  Denn  sie  führen  dem  Leser  die  Größe  des  Vaterlandes  und 
die  Macht  unserer  Geschichte  vor  Augen,  und  indem  sie  das  tun,  erwecken  sie  in  ihm 
völkischen  Stolz  und  Liebe  zur  Heimat.  Unter  den  vorgenannten  Werken  dürfte 
Kotzdes  märkische  Erzählung  diesem  Ziele  am  nächsten  kommen.  Mit  großer  Kraft 
und  Lebendigkeit  schildert  der  Verfasser  die  Gegensätze  und  Kämpfe  zwischen  dem 
Christen-  und  Heidenglauben,  zwischen  Deutschtum  und  Slawentum.  Das  Buch, 
das  neben  dem  Heldenhaften  auch  liebliche  Züge  aufweist,  liest  sich  wie  ein  hohes 
Lied  deutschen  Wesens,  deutscher  Zucht  und  Sitte,  deutscher  Mannhaftigkeit  und 
deutschen  Glaubens. 

Ein  hohes  Lied  von  deutschem  Heldentum  ist  auch  die  Geschichte  aus  dem 
südwestafrikanischen  Kriege  ,,Okowi  —  ein  Hererospion?"  (236  S.  mit 
Bildern  von  E.  Heims.  Berlin  1910,  Weicher,  geb.  3,60  M.).  Ihr  Verfasser  nennt 
sich  Jonk  Steffen.  Das  Buch  gibt  eine  eindrucksvolle  Schilderung  von  den 
schweren  Kämpfen  unserer  Truppen  mit  den  Hereros.  Es  erscheint  wie  ein  frei  er- 
fundener Roman  und  beruht  doch  auf  den  eigenen  Erlebnissen  eines  Mitkämpfers  und 
zuverlässigen  Kenners  des  südwestafrikanischen  Feldzuges.  Jonk  Steffen  ist  nämlich 
ein  Deckname.  Hinter  ihm  verbirgt  sich  der  Hauptmann  M.  Bayer,  der  verdienst- 
volle Verfasser  des  Kolonialbuches  „Mit  dem  Hauptquartier  in  Südwestafrika". 
Der  „Okowi"  ist  ein  spannendes  Buch  und  dabei  ein  gutes  Buch.    Einem  Meister-^ 


Jugendliteratur.  675 

werk  wie  Frenssens  ,, Peter  Moor"  darf  es  gewiß  nicht  an  die  Seite  gestellt  werden, 
immerhin  stellt  es  eine  achtbare  literarische  Leistung  dar.  Schon  Zehnjährige 
werden  es  mit  Freude  und  Begeisterung  lesen. 

An  ein  reiferes  Verständnis  wendet  sich  „S  e  e  m  a  n  n  s  1  e  b  e  n"  von  Edmund 
FriedrichHanssen  (Berlin  1912,  Wedekind.  VII  u.  339  S.  S«.  geb.  8  M.). 
Es  ist  ein  fesselndes,  frisch  und  flott  geschriebenes  Seemannsbuch,  wie  es  deutsche 
Jungen  lieben.  Der  Verfasser,  der  Kapitän  eines  Kauffahrers  ist,  schildert  darin  seine 
wechselvollen,  ernsten  und  heiteren  Erlebnisse.  Seine  kunstlose  Darstellungsweise 
mag  strengen  literarischen  Anforderungen  nicht  in  allem  genügen.  Gleichwohl  bildet 
das  Buch  einen  wertvollen  Zuwachs  unserer  Jugendliteratur,  die  durchaus  keinen 
Überfluß  an  ansprechenden  Schilderungen  des  Seemannsberufes  besitzt.  Es  dürfte 
wenigWerke  geben,  die  das  Leben  und  Treiben  auf  Handelsschiffen  mit  solcher  Liebe 
und  Freude  und  zugleich  mit  solcher  Ursprünglichkeit  und  Anschaulichkeit  darstellen 
wie  dieses.  Die  Ausstattung  ist  gut,  nur  wird  die  Verwendung  der  lateinischen 
Druckschrift  manchen  Leser  stören.  Der  Bildschmuck,  den  der  bewährte  Marine- 
maler W.  Stöwer  beigesteuert  hat,  paßt  sich  dem  Inhalt  stimmungsvoll  an. 

Natürlich  fehlt  es  auch  nicht  an  zahlreichen  Neuausgaben  älterer  Werke. 
G  e  r  1  a  c  h  s  rühmlich  bekannte  Jugendbücherei  bietet  in  ihren  letzten 
Bändchen  Schwabs  „Schildbürger"  mit  Bildern  von  Ernst  Liebenauer 
und  eine  Auswahl  aus  Uhlands  Gedichten  mit  Bildern  von  Ferdinand 
Steeger.  Die  Texte  hat  H.  Fraungruber  gesichtet.  (Wien,  Gerlach  &  Wiedling. 
geb.  je  2,50  M.).  Besonders  reizvoll  wirkt  das  erste  der  beiden  zierlichen  Büchlein 
durch  seine  schmucke  Ausstattung  und  seine  lustigen  Bilder. 

Schaffsteins  Volksbücher  bringen  in  einfach-gediegenen,  bild- 
losen Ausgaben  zwei  ergreifende  Kulturbilder  aus  dem  16.  und  17.  Jahrhundert, 
des  oberbayrischen  Volksschriftstellers  HermannSchmid  „Dommeister 
von  Regensburg"  94  S.  und  des  pommerschen  Pfarrers  WilhelmMein- 
h  0  1  d  berühmte  „B  e  r  n  s  t  e  i  n  h  e  x  e"  142  S.,  sowie  Andersens  Selbstbio- 
graphie „D  a  s  M  ä  r  c  h  e  n  m  e  i  n  e  s  Lebens"  97  S.  (Köln,  Schaffstein,  geb. 
1  M.,  1,50  M.,  1,30  M.).  In  demselben,  um  die  Jugendliteratur  hochverdienten  Ver- 
lage erscheinen  auch  die  nützlichen,  wohlfeilen  „Blauen  B  ä  n  d  c  h  e  n"  und 
„Grünen  Bändche  n",  geb.  je  30  Pf. ;  Geschenkausg.  je  60  Pf. 

Eine  Auswahl  aus  Andersen  und  aus  M  u  s  ä  u  s  bieten  die  neuesten 
Bände  der  trefflichen  Sammlung  „M  e  i  s  t  e  r  d  e  s  Märchens",  die  von  der 
Freien  Lehrervereinigung  für  Kunstpflege  in  Berlin  herausgegeben  wird.  (Leipzig, 
Abel  &  Müller,  geb.  je  1,50  M.).  Die  Auswahl  aus  Andersen  umfaßt  etwa  den 
vierten  Teil  seiner  Märchen.  Sie  enthält  nur  leichtere  Stücke  und  ist  deshalb  vor- 
nehmlich für  die  Kleinen  geeignet.  Aus  Musäus  sind  die  Märchennovellen  „Die 
Nymphe  des  Brunnens",  „Stumme  Liebe",  „Der  geraubte  Schleier"  ausgewählt. 
Alle  drei  sind  phantastische  Liebesgeschichten  von  unvergleichlicher  Anmut  und 
Schalkhaftigkeit.  Die  Schönheit,  die  sich  in  ihnen  birgt,  kann  freilich  erst  dem 
gereiften  Leser  offenbar  werden. 

Die  von  F.  D  ü  s  e  I  herausgegebenen  „L  e  b  e  n  s  b  ü  c  h  e  r"  spenden  der 
Jugend  neben  anderen  wertvollen  Gaben  „Die  Hosen  des  Herrn  von 
Bredow"    224  S.,  geb.  2,50  M.   und    „Romantische   Märchen"   von 

43* 


676  F.  Johannesson, 

E.  T.  A.  H  0  f  f  m  a  n  n  180  S.  geb.  2,50  M.  Alexis'  märkischer  Roman  verdient 
geradezu  als  ein  Muster  guter  und  gesunder  Jugendliteratur  bezeichnet  zu  werden. 
Schlichtheit  und  Klarheit  in  der  Führung  der  Handlung  und  in  der  Zeichnung  der 
Charaktere,  trauliche  Heimatstimmung,  sieghafter  Humor,  tiefer  sittlicher  und  natio- 
naler Gehalt  heben  ihn  hoch  empor  über  die  Mehrzahl  aller  geschichtlichen  Romane 
und  verleihen  ihm  neben  dem  literarischen  einen  hohen  erziehlichen  Wert.  Geringere 
Begabung  zum  Jugendschriftsteller  ist  E.T.A.  Hoffmann  zuzuerkennen.  Gewiß  ist 
er  einer  der  besten,  erfindungsreichsten  und  unterhaltsamsten  Erzähler  unserer 
älteren  Literatur.  Doch  werden  fast  alle  seine  Werke  durch  eine  wild  wuchernde 
Phantasie  und  einen  krankhaften  Zug  zum  Mystischen  und  Dämonischen  in  ihrem 
Werte  beeinträchtigt.  Hier  sind  solche  Schriften  zusammengestellt,  in  denen  Hoff- 
manns gute  Eigenschaften  die  entschiedene  Vorherrschaft  behaupten.  Es  sind  das 
von  Scherz  und  Humor  erfüllte  Märchen  „Nußknacker  und  Mausekönig'*,  die  einfach 
und  groß  erzählte  Geschichte  von  den  „Bergwerken  zuFalun",die  reizvolle  Künstler- 
novelle,,Der  Artushof"  und,  wohl  das  Schönste  in  dem  ganzen  Bändchen,  die  meister- 
liche Schilderung  altnürnbergischen  Handwerkerlebens ,, Meister  Martin  der  Küfner 
und  seine  Gesellen*'.  Ob  es  mit  der  Achtung,  die  wir  bedeutenden  Literaturwerken 
schulden,  vereinbar  ist,  sie  der  Jugend  durch  kürzende  Bearbeitung  schmackhafter 
zu  machen,  stehe  dahin.  Anerkannt  muß  jedenfalls  werden,  daß  der  Herausgeber 
bei  seinen  Kürzungen  weise  Bescheidung  geübt  und  feinen  Takt  bewiesen  hat. 
Recht  stimmungsvoll  wirken  S.  v.  Suchodolskis  Illustrationen  zu  Alexis'  Roman 
in  ihrer  getreuen  Wiedergabe  des  Zeitmilieus. 

Auch  unter  den  Ausgaben  der  Deutschen  Dichter-Gedächtnis- 
Stiftung  findet  sich  manche  vortreffliche  Jugendschrift.    Dieses  gemeinnützige 
Unternehmen,  das  durch  die  Jahresbeiträge  von  etwa  10  000  Mitgliedern  gestützt 
wird,  sieht  nunmehr  auf  eine  zehnjährige,  reich  gesegnete  Tätigkeit  zurück.  40  000 
Bände  guter  Literatur  hat  die  Stiftung  bisher  an  hilfsbedürftige  Büchereien  un- 
entgeltlich verteilt,  und  eine  und  eine  halbe  Million  Bände  hat  sie  im  eigenen  Verlage 
herausgegeben.     Zu  einer  so  erfolgreichen  Wirksamkeit  kann  man  sie  aufrichtig 
beglückwünschen,  und  Dank  gebührt  denen,  die  in  uneigennütziger  Arbeit  ihre 
Bestrebungen  gefördert  haben,  vor  allem  ihrem  verdienstvollen  Leiter,  dem  un- 
ermüdlichen Vorkämpfer  gegen  die  Schundliteratur,  Dr.  Ernst  Schnitze  in  Hamburg- 
Großborstel.    Eine  noch  viel  weitere  Verbreitung  aber,  als  sie  sie  bisher  gefunden 
haben,  wäre  den  Verlagswerken  der  Stiftung  zum  Heil  unseres  Volkes  für  die  Zu- 
kunft zu  wünschen.    Denn  so  hoch  die  angegebenen  Zahlen  auf  den  ersten  Blick 
scheinen,  sie  sind  tatsächlich  nur  niedrig,  wenn  sie  an  dem  vorhandenen  Bedürfnis 
und  an  den  Leistungen  mancher  anderen  Länder,  z.  B.  der  Vereinigten  Staaten, 
gemessen  werden.     Die  nach  Inhalt  und  Ausstattung  durchweg  gediegenen  und 
schönen,  dazu  überaus  wohlfeilen  Bände  der ,, Hausbücherei"  und  der  „Volksbücher" 
sollten  in  jedes  gute  deutsche  Haus  ihren  Weg  finden.     Unserer  Jugend  kommt 
die  Verlagstätigkeit   der  Stiftung   besonders   zugute.     Wahrhaft   erlesene  Gaben 
bietet  sie  ihr  in  dem  prachtvollen  zweibändigen  „Balladenbuc h",  in  dem 
„Deutschen  Weihnachtsbuc  h",  einer  Sammlung  der  schönsten  Weih- 
nachtsdichtungen in  Poesie  und  Prosa,  und  in  einer  Auswahl  aus  Goethesund 
S  c  h  i  1 1  e  r  s  B  r  i  e  f  e  n  ,  die  von  W.  Bode  und  E.  Kühnemann  besorgt  ist.    Jeder 
Band  dieser  Werke  kostet  in  Leinen  gebunden  2  M.,  in  Ganzleder  oder  in  weißem 


Jugendliteratur.  677 

Dermatoid  4  iM.  Unter  den  übrigen  Veröffentlichungen  seien  als  freundliche 
und  gehaltvolle  Jugendbücher  empfohlen :  einzelne  Bände  der  „D  e  u  t  s  c  h  e  n  H  u  - 
m  0  r  i  s  t  e  n",  die  ,,S  e  e  g  e  s  c  h  i  c  h  t  e  n"  und  „Kriegsgeschichten", 
Immermanns  Jugenderinnerungen  „Preußische  Jugend  unter 
Napoleon",  des  Dichter- Ingenieurs  Max  Eyth  humoristische  Erzählung 
„G  e  I  d  u  n  d  E  r  f  a  h  r  u  n  g"  und  von  den  neuesten  Bänden  vor  allem  des  heimat- 
und  lebensfrohen  Schwaben  Ludwig  Finckh  liebliches,  frühlingsfrisches 
»»Rapunzel"  (geb.  je  1  M.). 

Eine  neue  Folge  von  Jugendbüchern  gibt  der  betriebsame  Verlag  Ullstein 
in  Berlin  unter  dem  Titel  „Ullstein-Jugendbücher"  heraus.  Dem 
Unternehmen  liegt  die  Absicht  zugrunde,  der  heutigen  Jugend  bewährte  alte  Stoffe 
in  neuzeitlicher  Bearbeitung  zu  bieten.  Der  Verlag  hat  bedeutende  Schriftsteller 
und  Zeichner  für  die  Mitarbeit  gewonnen.  Rudolf  Herzog  hat  die  Nibelungen, 
Fedor  von  Zobeltitz  den  trojanischen  Krieg,  Otto  Ernst  den 
Gulliver,  Ernst  von  Wolzogen  den  Münchhausen,  Gustav  Falke 
ein  Märchen  aus  1001  Nacht  bearbeitet.  Sogar  Gerhard  Hauptmann 
hat  Beiträge  in  Aussicht  gestellt.  Er  will  die  Parzival-  und  die  Lohengrinsage 
erzählen.  Man  sieht:  Die  Verfassernamen  sind  gut.  Und  man  muß  zugeben: 
Die  Arbeit,  die  in  den  vorliegenden  Bänden  geleistet  ist,  ist  nicht  schlecht.  Und 
doch  läßt  sich  die  Befürchtung  nicht  unterdrücken,  daß  mit  derlei  Unternehmungen, 
bei  denen  das  Geschäft  das  erste  und  die  Kunst  erst  das  zweite  Wort  zu  sprechen 
hat,  der  Jugendliteratur  kein  guter  Dienst  erwiesen  werde.  Denn  diese  ist  gerade 
dadurch  von  jeher  in  ihrer  Würde  schwer  beeinträchtigt  worden,  daß  gar  zu  viele 
ihrer  Werke  nicht  aus  innerer  Nötigung  geschaffen,  sondern  auf  Bestellung  geliefert 
wurden.  Bezeichnend  ist  es,  daß  der  Umfang  der  einzelnen  Ullstein-Jugendbücher 
fast  auf  die  Seite  genau  der  nämliche  ist.  Neun  Bogen  stark,  in  kleinem  Format, 
sehr  weitläufig  gedruckt,  in  Pappe  gebunden,  kostet  das  Bändchen  1  M.  Wiewohl 
dieser  Preis  durchaus  nicht  so  niedrig  ist,  wie  es  dem  Unkundigen  scheinen  mag, 
wird  die  geschäftsgewandte  Firma  aller  Voraussicht  nach  einen  Massenumsatz 
erzielen,  während  andere  Verlagsanstalten  bei  ehrlichstem  Streben  und  gediegensten 
Leistungen  Mühe  haben,  für  ihre  Verlagswerke  lohnenden  Absatz  zu  finden.  Und  ob 
die  beteiligten  „namhaften"  Künstler  (,, namhaft"  müssen  sie  sein,  das  ist  die  erste 
Bedingung)  bei  solcher  Art  des  Schaffens  innerlich  gewinnen?  Ob  beispielsweise  nicht 
ein  so  begabter  Dichter  wie  Gustav  Falke  oder  ein  so  meisterlicher  Zeichner  wie 
Franz  Stassen  Gefahr  läuft,  bei  der  flinken  und  vielgeschäftigen  Tätigkeit  im 
Dienste  der  Jugendliteratur,  wie  wir  sie  seit  Jahren  an  ihnen  gewöhnt  sind,  schließ- 
lich an  künstlerischer  Eigenart  und  Bedeutung  Einbuße  zu  erleiden? 

Sammelwerke,  die  für  die  Jugend  bestimmt  sind,  kommen  Jahr  für  Jahr  in 
beträchtlicher  Anzahl  heraus.  So  ist  auch  heuer  kein  Mangel  an  neuen  Märchen-, 
Schwank-,  Geschichten-  und  Gedichtsammlungen.  Sie  suchen  den  verschiedensten 
Ansprüchen  gerecht  zu  werden  und  sind  natürlich  sehr  ungleich  an  äußerer  Aus- 
stattung und  innerem  Wert.  Daneben  pflegen  um  die  Weihnachtszeit  regelmäßig 
Jugendjahrbücher  zu  erscheinen,  die  in  bunter  Folge  von  allem  etwas  bringen 
und  die  bei  den  Zehn-  bis  Vierzehnjährigen,  Mädchen  wie  Jungen,  sich  großer 
Beliebtheit  erfreuen.    Unter  ihnen  nimmt  das  von  W.  K  o  t  z  d  e  herausgegebene, 


678  F.  Johannesson, 

nun  im  vierten  Jahrgang  vorliegende  „Deutsche  Jugendbuc  h"  eine 
der  ersten  Stellen  ein  (Mainz,  Scholz,     geb.  3  M.). 

Die  große  Masse  der  Jugendanthologien  verfolgt  kein  anderes  Ziel,  als  dem 
Leser  anziehende  Unterhaltung  zu  bieten.  Nur  wenige  lassen  ein  einheitliches, 
charaktervolles  Gepräge  erkennen,  auch  wenige  nur  werden  von  einem  hohen 
Leitgedanken  beherrscht.  Tiefes  Verständnis  für  die  Not  unserer  Zeit  bekunden 
einzelne  Sammelbände,  deren  Streben  darauf  gerichtet  ist,  in  der  deutschen  Jugend 
den  Vaterlandssinn  zu  wecken  und  wirksam  zu  beleben.  Eine  eigenartige,  von 
hoher  nationaler  Gesinnung  getragene  Auslese  aus  unserer  Literatur,  der  älteren 
und  der  neueren,  gibt  ,,Die  Jugendbibel.  Ein  Buch  von  deut- 
scher Art",  herausgegeben  von  Adalbert  Luntowski  (Berlin, 
Borngräber,  geb.  5  M.).  Das  Buch  zeigt  schlicht-vornehme  Ausstattung.  Es  ist 
in  dem  gleichen  Verlage  wie  Carlyles  ,, Friedrich  der  Große"  und  Francks  ,,  Goethe 
für  Jungens"  erschienen.  Mit  „Des  Hammers  Heimholung"  aus  der  Edda  be- 
ginnt's und  mit  Fontanes  „Wo  Bismarck  liegen  soll"  endet's.  Dazwischen  stehen 
Auszüge  aus  Tacitus'  Germania,  aus  dem  Nibelungenlied  (Siegfrieds  Tod),  aus 
Luther,  Friedrich  dem  Großen,  Lessing,  Goethe,  Schiller,  Körner,  Arndt,  Jahn, 
Uhland,  Eichendorff,  Rückert,  Geibel  und  Bismarck.  Die  allerdeutschesten  unserer 
Literatur-  und  Geschichtsgrößen  sind  hier  also  mit  Beiträgen  vertreten.  Jedem 
dieser  Jugend-  und  Volkserzieher  ist  ein  kurzes,  kerniges  Geleitwort  gewidmet. 
Schillers  Bildnis  ist  dem  Buche  vorgeheftet.  Eine  gehaltvollere  Gabe  kann  man 
in  der  nahenden  Zeit  großen  vaterländischen  Gedenkens  deutschen  Jungen  schwer- 
lich bescheren. 

Eine  Sammlung  von  Heimatbüchern  veröffentlicht  der  Verlag  von  Brand- 
stetter  in  Leipzig.  Zwei  Bände  sind  bisher  erschienen.  Der  eine,  von  J  o  h. 
S  c  h  m  a  r  j  e  und  Joh.  Henningsen  herausgegeben,  behandelt  unter 
dem  Titel  ,,D  i  e  N  o  r  d  m  a  r  k"  Schleswig-Holstein,  Hamburg  und  Lübeck 
(geb.  3  M.);  das  andere,  von  R.  Nordhausen  herausgegeben,  behandelt 
unter  dem  Titel  ,,Unsere  märkische  Heimat"  Berlin  und  Branden- 
burg (geb.  4  M.).  Die  beiden,  mit  Abbildungen  versehenen  Bände  geben  nicht 
eine  zusammenhängende  heimatkundliche  Darstellung.  Sie  bieten  vielmehr  eine 
vielgestaltige  Sammlung  von  Prosastücken  und  Gedichten,  die  Land  und  Leute, 
Sage  und  Geschichte  je  einer  Provinz,  teils  beschreibend,  teils  betrachtend,  zu 
einheitlicher  Anschauung  bringen.  Die  Verfasser  der  Beiträge  sind  zumeist  Ein- 
geborene, in  deren  Wesen  sich  das  Bild  der  Heimat  widerspiegelt.  So  gewähren 
die  Bücher  zugleich  einen  Einblick  in  die  literarische  Eigenart  des  geschilderten 
Landesteils.  Besonders  reizvoll  gestaltet  sich  dieser  Einblick  im  ersten  der  beiden 
Bände.  Bedeutende  Namen  in  reicher  Zahl  treten  uns  hier  entgegen:  Hebbel, 
Groth,  Storm,  Liliencron,  Falke,  Frenßen,  Dose,  Timm  Kroger,  Otto  Ernst,  Fehrs, 
Charlotte  Niese,  Helene  Voigt-Diederichs,  Bartels,  Paulsen,  Lichtwark.  Der  zweite 
Band  mußte  naturgemäß  an  Zahl  der  Literaturgrößen  spärlicher  ausfallen.  Auch 
ist  er  wohl  in  der  Anordnung  des  Stoffes  weniger  glücklich.  Daß  Wildenbruch 
fehlt  und  daß  Kopisch  und  Fontane  nicht  ausgiebiger  vertreten  sind,  daß  von 
Menzel  nur  das  Flötenkonzert  und  von  Leistikow  keine  einzige  seiner  boden- 
ständigen,  liebevoll  und  scharf  gesehenen   Landschaften  unter  die  Abbildungen 


Jugendliteratur.  679 

aufgenommen  ist,  wird  manchem  leid  sein.  Solche  Bedenken  aber  müssen  hinter 
der  Freude  zurücktreten,  daß  mit  dem  Werke  unserer  Jugend  ein  im  ganzen  doch 
eindrucksvolles  Bild  der  Heimat  geboten  wird. 

„Die  deutschen  Lande  in  der  Dichtung"  lautet  der  Titel 
einer  anderen  Folge  von  Heimatbüchern.  Sie  wird  von  der  Deutschen  Dichter- 
Gedächtnis-Stiftung  in  Hamburg-Großborstel  herausgegeben  (geb.  je  1  M.).  Den 
Reigen  eröffnet  ein  schmuckes  Bändchen,  das  ,, Deutschland"  benannt  und  wohl 
als  Auftakt  zu  der  ganzen  Reihe  gedacht  ist.  Es  ist  mit  artigen  Zeichnungen  von 
W.  Strich-Chapell  und  mit  sieben  höchst  charakteristischen  Bildern  von  Lieber- 
mann, Kallmorgen,  Leistikow,  Mackensen,  Stadler,  Trübner  und  Bauriedl  ge- 
schmückt. Hier  wird,  abweichend  von  den  vorgenannten  Werken,  die  Landschafts- 
schilderung ausschließlich  durch  den  Mund  des  Dichters  bewirkt.  Bei  der  Weite 
des  Stoffes  und  der  Enge  des  Raums  muß  sich  das  Büchlein  freilich  mit  flüchtiger 
Skizzierung  begnügen,  und  die  Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenartigkeit  des 
Inhalts  läßt  im  Leser  eine  starke  und  dauernde  Stimmung  kaum  aufkommen. 
Gleichwohl  muß  anerkannt  werden,  daß  die  Auswahl  im  ganzen  taktvoll  besorgt 
ist  und  daß  sie  im  einzelnen  sogar  prächtige  Treffer  aufweist.  Die  Herausgabe  der 
Sammlung  stellt  einen  willkommenen  Beitrag  zu  einer  von  edler  Vaterlands- 
hebe getragenen  Kenntnis  der  Heimaterde  dar.  Der  Preis  ist  in  Anbetracht  des 
Gebotenen  außergewöhnlich  gering. 

Im  Anschluß  an  diese  Heimatbücher  sei  eines  neuen  Sammelwerkes  Erwähnung 
getan,  das  die  Sagen  aller  deutschen  Gaue,  nach  Landschaften  geordnet,  ver- 
einigen und  ihren  dichterischen  und  ethischen  Gehalt  den  weitesten  Kreisen  unseres 
Volkes  nahebringen  will.  Das  Werk  nennt  sich  „Eichblatts  Deutscher 
Sagenschatz  in  Einzeldarstellungen"  und  erscheint  im  Verlage 
von  H.  Eichblatt  in  Berlin-Friedenau  (geb.  je  3  M.).  Der  erste  Band  ist  kürzlich 
erschienen.  Er  enthält  pommersche  Sagen,  die  von  A.  Haas,  einer  heimischen 
Autorität,  gesammelt  und  herausgegeben  sind.  Im  zweiten  sollen  märkische,  im 
dritten  posensche  Sagen  folgen.  Der  vorliegende  Band,  der  gut  gedruckt  und  mit 
Abbildungen  versehen  ist,  ist  leicht  lesbar  und  dürfte  wohl  geeignet  sein,  auch  bei 
der  reiferen  Jugend  die  Teilnahme  für  die  heimische  Volkskunde  zu  beleben. 

In  der  belehrenden  Jugendliteratur  ist,  wie's  ja  nicht  anders  erwartet  werden 
kann,  die  Nachfrage  längst  nicht  so  groß  wie  in  der  unterhaltenden.  Trotzdem 
findet  auch  in  ihr  eine  bedrohliche  Überproduktion  statt,  so  daß  die  Gefahr  besteht, 
es  möchte  manches  Gute  in  der  unübersehbaren  Fülle  der  Neuerscheinungen  er- 
sticken. In  der  Anlage  der  belehrenden  Jugendbücher  hat  sich,  der  Entwicklung 
des  Lehrverfahrens  der  Schule  entsprechend,  in  jüngster  Zeit  ein  unverkennbarer 
Wandel  vollzogen.  Mehr  und  mehr  verschafft  sich  das  Streben  Geltung,  dem  Leser 
nicht  fertigen  Wissensstoff  zu  übermitteln,  sondern  ihn  durch  eigene  Beobachtung 
und  eigenes  Denken  sich  sein  Wissen  erarbeiten  zu  lassen.  Dieses  Streben  be- 
kundet sich  am  augenscheinlichsten  da,  wo  es  sich  um  die  Erkenntnis  von  Natur- 
erscheinungen und  Naturgesetzen  handelt.  Aber  es  tritt,  ein  wenig  schüchterner 
freilich,  auch  in  Werken  hervor,  die  die  Völkergeschichte  und  die  Erdkunde  zum 
Gegenstand  haben.  Auch  auf  diesen  Gebieten  trachtet  man  danach,  selbständiges 
Erfassen  der  Geschehnisse  und  der  Erscheinungen  durch  das  Lesen  von  Selbst- 


680  F.  Johannesson, 

Zeugnissen  herbeizuführen,  wie  sie  sich  in  den  Lebenserinnerungen  großer  ge- 
schichtHcher  PersönHchkeiten  sowie  in  den  Reiseberichten  und  Naturschilderungen 
großer  Entdecker  und  Forscher  darbieten. 

Eine  neue  Bücherfolge,  die  zu  den  Quellen  geschichtlichen  und  geographischen 
Wissens  hinführen  will,  trägt  den  bezeichnenden  Titel  „Erlebtes  und  Er- 
schaute s''.  Sie  wird  von  der  Freien  Lehrervereinigung  für  Kunstpflege  in  Berlin 
herausgegeben  und  ist  bei  Voigtländer  in  Leipzig  verlegt.  Die  Bände  sind  gut  ge- 
druckt, schmuck  in  Pappe  gebunden,  mit  zahlreichen  Bildern  ausgestattet  und 
kosten  nur  je  1,80  M.  Die  Texte  sind  gekürzt  und  gesichtet  und  so  für  die  Jugend 
lesbar  gemacht.  Bisher  sind  erschienen:  1.  „Im  Reiche  der  Azteken." 
Die  Eroberung  Mexikos  durch  Ferdinand  Cortez,  nach  den  Berichten  des  Eroberers 
bearbeitet.  2.  „Aus  dem  großenKrie  g.*'  Schilderungen  und  Berichte  von 
Augenzeugen.  3.  „Durch  das  tropische  Südamerik  a."  Aus  Alexander 
von  Humboldts  Bericht  über  seine  Reise  in  die  Äquinoktialgegenden.  4.  „Aus 
deutscher  Ritterzei  t.'^  Götz  von  Berlichingen,  Hans  von  Schweinichen, 
die  Herren  von  Zimmern.  Diese  Ausgaben  vermög-en  der  reiferen  Jugend^  die 
die  Heldentaten  der  Vergangenheit  gern  in  Begeisterung  nacherlebt,  reiche  An- 
regung zu  geben. 

Den  oben  bezeichneten  Weg  zur  Erreichung  naturkundlichen  Wissens  ver- 
folgt zielbewußt  Bastian  Schmids  „Naturwissenschaftliche 
Schülerbibliothek"  (Leipzig,  Teubner).  Dieses  neuartige  Unternehmen 
ist  von  hervorragender  Bedeutung  und  hohem  Bildungsgehalt.  Es  erstrebt  einen 
geistigen  Zusammenhang  zwischen  dem  Unterricht  und  freiwilliger  naturwissen- 
schaftlicher Betätigung  der  Schüler  und  erblickt  seine  vornehmste  Aufgabe  in 
der  Anregung  zur  Selbsttätigkeit  und  produktiven  Arbeit.  Diesem  Zweck  dienen 
in  erster  Linie  Anleitungen  zum  selbständigen  Experimentieren,  wie  sie  in 
H.  Rebenstorffs  anregendem  „PhysikalischenExperimentier- 
b  u  c  h"  (2  Teile,  geb.  je  3  M.),  in  E.  Gscheidlens  trefflichem,  wenn  auch 
in  der  Darstellung  der  Entwürfe  gar  zu  knapp  gehaltenen  Buch  ,,A  n  der  Werk- 
bank" (geb.  4  M.)  und  in  E.  S  c  h  e  i  d  s  altbewährtem,  hier  in  neuem  Gewände 
erscheinenden  „Chemischen  Experimentierbuch'*  (I.Teil,  geb. 
3  M.)  gegeben  werden.  Eine  hübsche  Einführung  in  die  Wetterkunde,  die  nicht 
nur  für  Sekundaner  und  Primaner,  sondern  auch  für  den  weiteren  Kreis  der  Ge- 
bildeten gut  geeignet  ist,  bietet  M.  Sassenfelds  „Aus  dem  Luft- 
meer" (geb.  3  M.).  Das  mit  leicht  zu  handhabenden  Bestimmungstabellen  ver- 
sehene Buch  von  F.  Hock  ,,Unsere  Frühlingspflanzen"  (geb. 
3  M.)  gibt  jüngeren  und  mittleren  Schülern  eine  anregende  Anleitung  zur  Beobachtung 
und  zum  Sammeln  unserer  Frühlingsgewächse.  P.  Graebners  „Vege- 
tationsschilderungen" (geb.  3  M.)  führen  reifere  Schüler  in  die  Lebens- 
verhältnisse der  Pflanzenvereine,  namentlich  in  die  morphologischen  und  blüten- 
biologischen Anpassungen  zuverlässig  und  ansprechend  ein.  Wünschenswert  wäre 
eine  minder  auffällige  Häufung  von  Einzeltatsachen  sowie  eine  sorgfältigere  Aus- 
führung einzelner  Abbildungen.  K.  R  a  d  u  n  z  gibt  in  seinem  Buch  „Vom  E  i  n  - 
bäum  zum  Linienschiff"  (geb.  3  M.)  einen  anschaulichen  und  lebendigen 
Bericht  über  die  Entwicklung  der  Schiffahrt  und  des  Seewesens. 


Jugendliteratur.  681 

Ein  anderes  Gepräge  trägt  die  von  H.  V  o  i  1  ni  e  r  herausgegebene  „Sa  m  m  - 
lang  belehrender  U n t e r h a 1 1 u n gs s c h r  i  f  t  e n  für  die 
J  u  g  e  n  d",  die  nun  beinahe  ein  halbes  Hundert  Bände  umfaßt  (BerUn-Wilmersdorf, 
H.  Paetel).  Sie  ist  vielseitiger  und  nicht  so  bewußt  auf  ein  bestimmtes  Ziel  ein- 
gestellt wie  die  vorgenannte  Sammlung.  Wohl  weiß  auch  sie  gelegentlich  zur  Selbst- 
betätigung anzuregen;  ihr  eigentlicher  Zweck  aber  ist  Unterhaltung  und  Belehrung 
durch  erzählende  und  beschreibende  Darstellung.  Ursprünglich  hatte  sie  sich  auf 
einzelne  Wissensgebiete,  auf  die  Geschichte  und  die  Erdkunde,  beschränkt.  Neuer- 
dings hat  sie  indessen  auch  die  Naturkunde  und  die  Technik,  den  Sport  und  das 
Spiel  in  ihren  Bereich  gezogen.  So  behandeln  auch  die  neueren  Bände  sehr  ver- 
schiedenartige Stoffe,  Der  eine  bietet  zwei  freundliche  Seenovellen  des  Admirals 
Reinhold  von  Werner,  die  dem  größeren  Buche  „Aus  fernen 
Meeren"  entnommen  sind  und  uns  in  jene  Tage  zurückversetzen,  da  die  Schiff- 
fahrt noch  ohne  die  technische  Vervollkommnung  einer  neueren  Zeit  auskommen 
mußte  (geb.  1,75  M.).  In  zwei  anderen  beschreibt  G.  Biedenkapp  in  leicht 
faßlicher  Darstellung  „Die  Entwicklung  der  modernen  Ver- 
kehrsmittel" von  der  Erfindung  des  Wagens  bis  zum  Auto  und  zur  draht- 
losen Telegraphie  (geb.  je  1 ,50  M.).  Weiterhin  berichtet  H.  Schomburg  über 
Schülerfahrten,  die  unter  seiner  Leitung  auf  Schneeschuhen  und  zu 
Fuß  durchs  Sauerland  unternommen  wurden  (geb.  1,50  M.),  und 
B.  K  u  h  s  e ,  der  verdienstvolle  Verfasser  des  Buches  „Das  Schülerrudern", 
über  eine  Pfingstfahrt  im  Schülerboot  nach  dem  Spree- 
walde (geb.  2  M.).  Mit  den  beiden  letzten  Bändchen  wird  eine  Sonderreihe 
eröffnet,  die  zwar  kaum  Werke  von  hohem  literarischen  Wert  verheißt,  die  aber 
wohl  dazu  beitragen  kann,  die  fröhhche  Wanderlust  der  deutschen  Jugend  zu 
fördern. 

Den  Wandertrieb  der  Jugend  erwecken  und  den  Wandernden  zum  rechten 
Beobachten  und  Genießen  anleiten  will  auch  das  flott  geschriebene  Büchlein  „I  m 
Wetterstein"  von  E.  Enzensberger,  dem  Alpinisten  und  Schul- 
mann, dem  wir  das  lehrreiche  Werkchen  „Wie  sollen  unsere  Mittelschüler  die  Alpen 
bereisen?"  verdanken.  Es  bildet  den  ersten  Band  einer  Bücherreihe,  die  unter  dem 
Titel  „Alpenfahrten  der  Jugend"  bei  Lindauer  in  München  erscheint  und  den  ersten 
Versuch  einer  alpinen  Jugendbücherei  darstellt  (geb.  2  M.).  Der  Anfang  läßt  für 
die  Zukunft  Gutes  erwarten. 

Zur  hundertjährigen  Gedenkfeier  der  Befreiungskriege  ist  manche  Schrift 
schon  erschienen  und  manche  wird  noch  erscheinen.  Auch  die  „Lebensbücher 
der  Jugend",  die  bereits  Biographien  Friedrichs  des  Großen  und  der  Königin 
Luise  enthalten,  liefern  ihren  Beitrag  zur  Festliteratur.  Unter  dem  Titel  „D  i  e 
Flammenzeichen  rauchen"  (Braunschweig,  Westermann,  geb.  2,50  M.) 
stellte  A.  S  e  r  g  e  1  Selbstbekenntnisse  deutscher  Männer  zusammen,  die  im 
Freiheitskampfe  gegen  Napoleon  standen.  Neben  der  „Belagerung  von  Kolberg" 
aus  Nettelbecks  Selbstbiographie,  neben  Auszügen  aus  Gneisenaus  Denkschriften, 
aus  Arndts  „Wanderungen  und  Wandelungen  mit  dem  Reichsfreiherrn  vom  Stein", 
aus  Körners  und  Blüchers  Briefen  steht  eine  Beschreibung  des  Rückzuges  der 
Großen  Armee  aus  Rußland  aus  den  fast  unbekannt  gebliebenen  Aufzeichnungen 


682  F.  Johannesson,  Jugendliteratur. 

des  Feldwebels  Toenges,  die  in  schlichter,  ergreifender  Weise  die  Leiden  eines  ge- 
wöhnlichen Soldaten  schildern,  der  wie  durch  ein  Wunder  dem  großen  Sterben 
entging,  sowie  eine  lebendig  anschauliche  Darstellung  einer  Episode  aus  der  Schlacht 
bei  Leipzig  durch  einen  Mitkämpfer,  den  Major  Friccius.  Den  Schluß  macht  ein 
Abschnitt  aus  dem  einst  hoch  gefeierten,  nun  fast  der  Vergessenheit  verfallenen 
poetischen  Schlachtgemälde  „Waterloo"  von  Scherenberg,  der  die  ruhmreiche  Zeit 
als  Jüngling  miterlebte  und  dessen  Erscheinung  fast  noch  in  unsere  Tage  hinein- 
reicht. Den  Wert  des  Buches,  das  schon  dem  Tertianer  etwas  sagen  kann,  er- 
höhen die  14  schön  ausgeführten  Einschaltbilder  nach  zeitgenössischen  Vorlagen. 

Auch  zur  Literaturkunde  liefern  die  ,, Lebensbücher  der  Jugend"  in  einem 
ihrer  neuesten  Bände  einen  Beitrag:  Ein  Lebens-  und  Charakterbild  der  Frau 
A  j  a  ,  der  Mutter  Goethes,  von  Adolf  Matthias  (233  S.  geb.  2,50  M.).  Dieses 
Buch  ist  vielleicht  das  schönste  von  allem,  was  die  an  schönen  Gaben  so  reiche 
Sammlung  unserer  Jugend  bisher  beschert  hat.  Daß  Matthias  wie  wenige  die 
Eigenschaften  besitzt,  die  den  echten  Jugend-  und  Volksschriftsteller  ausmachen, 
die  hohe  Kunst  der  schlichten,  klaren,  anschaulichen,  lebendigen  Darstellung, 
das  tiefe  Gemüt  und  den  herzhaften  Humor,  das  haben  seine  vor  Jahresfrist  er- 
schienenen ,, Kriegserinnerungen*'  zur  Genüge  bewiesen.  In  dem  vorliegenden 
Buch  führt  nicht  er  allein  das  Wort,  er  läßt  vielmehr  zumeist  Frau  Rat  selbst 
und  daneben  ihren  Sohn  reden.  Mit  feiner  Kunst  fügt  er  aus  den  Briefen  der  Mutter 
und  aus  solchen  Stücken  aus  , »Wahrheit  und  Dichtung",  die  sich  auf  sie  beziehen, 
ein  Mosaikbild  zusammen,  das  durch  einen  einführenden,  verbindenden  und  ab- 
schließenden Text  Einheitlichkeit  und  Vollständigkeit  erhält.  Frau  Aja  ist  eine 
Meisterin  des  Briefstils.  Ihre  Briefe,  die  eher  gesprochen  als  geschrieben  zu  sein 
scheinen,  sind  von  Anfang  bis  zu  Ende  reizvoll  und  fesselnd,  ob  sie  nun  von  Großem 
oder  von  Kleinem  plaudern,  ob  sie  in  tiefstem  Ernst  oder  in  heiterster  Laune  ver- 
faßt sind.  Überall  spiegelt  sich  in  ihnen  —  und  das  verleiht  ihnen  den  höchsten 
Wert  —  das  sonnige,  innige  Wesen  dieser  echt  deutschen  Frau  mit  dem  freien, 
frohen,  frommen,  tapferen,  gütigen  Herzen,  mit  der  gesunden  Urwüchsigkeit  des 
Körpers  und  Geistes  wider.  Das  ganze  Buch  ist  ein  Bekenntnis  freudigster  Lebens- 
bejahung, und  weil  es  das  ist,  ist  es  auch  von  hohem  erziehlichen  Wert.  Wer  an 
Mißmut  und  Verzagtheit,  an  Verdrossenheit  und  Freudlosigkeit  leidet,  der  nehme 
es  als  Heilmittel  zur  Hand.  Sobald  wird's  ihn  nicht  loslassen,  und  wenn  er's  gelesen 
hat,  wird  er  fröhlicher  und  zuversichtlicher  als  zuvor  ins  Leben  hinausschauen. 
Jungen  wie  Alten,  insbesondere  unseren  Jungfrauen  und  Frauen,  kann  es  als  ein 
wirkliches  „Lebensbuch"  angelegentlichst  empfohlen  werden.  Auch  der  Bildschmuck 
der  ihm  beigegeben  ist,  wirkt  überaus  anziehend.  Er  besteht  aus  zahlreichen,  gut 
ausgeführten  Einschalt-  und  Textbildern  nach  Vorlagen  aus  Goethes  Zeit.  Schon 
das  Deckelbild  gibt  die  rechte  Stimmung.  Es  stellt  Frau  Rat  dar,  wie  sie  häkelnd 
behäbig  im  Lehnstuhl  sitzt,  und  Bettina,  ihrer  Rede  andächtig  lauschend,  zu  ihren 
Füßen. 

Zum  Schluß  sei  eines  Werkes  gedacht,  das  kein  ,, Lebensbuch"  ist  und  sein  will, 
das  vielmehr  den  Bedürfnissen  des  Tages  Rechnung  trägt.  „Rund  ums  Jahr 
1911"  lautet  der  Titel  des  ersten  Bandes  eines  „Jahrbuchs  für  junge  Deutsche", 
das  der  Direktor  Dr.  HugoGruber,  der  Verfasser  des  Erziehungsbuchs  ,, Ruths 


K.  Knabe,  Geschichte  des  deutschen  Schulwesens,  angez.  von  A.  Matthias.     683 

Erziehung",  herausgibt  (Berlin,  Grote,  315  S.,  geb.  4  M.).  Ein  neuzeitliches,  eigen- 
artiges, interessantes  Buch !  Die  wichtigsten  Ereignisse,  die  sich  im  vorigen  Jahre  auf 
allen  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens,  in  der  Politik,  der  Kunst,  der  Wissenschaft, 
der  Technik,  dem  Sport  zugetragen  haben,  stellt  der  Verfasser  mit  Unterstützung 
zweier  Mitarbeiter  zusammen  und  sucht  sie  nach  ihrer  Bedeutung  für  die  Gegenwart 
und  die  Zukunft  zu  würdigen.  Das  Buch  bezweckt  also,  auch  die  Jugend  Anteil 
nehmen  zu  lassen  an  dem  reichbewegten  Leben  unserer  Zeit  und  aus  der  Erscheinungen 
Flucht  das  für  sie  Wertvolle  herauszuheben  und  festzuhalten.  Diese  klug  und  klar 
geschriebene,  Inhalts-  und  gedankenvolle  Jahresrundschau  wird  jeden  Gebildeten 
fesseln,  sofern  er  an  dem  Leben  des  Tages  eifrigen  Anteil  nimmt.  Da  sie  zugleich 
berichtet  und  führt,  wird  sie  der  gegenwartsfrohen  männlichen  und  weiblichen 
Jugend,  die  ins  Leben  hinaustritt,  besonders  willkommen  und  nützlich  sein. 
Jüngeren  Altersstufen  dürfte  sie  kaum  etwas  bieten.  Das  Buch,  von  dem  inzwischen 
der  zweite,  gleich  empfehlenswerte  Jahrgang  erschienen  ist,  ist  gut  ausgestattet 
und  mit  Illustrationen  versehen. 

Berlin.  Fritz  Johannesso  n. 

b)  Einzelbesprechungen: 

Knabe,  K.,  Geschichte  des  deutschenSchulwesens.  Leipzig  1905. 
B.  G.  Teubner.  154  S.  kl.  8».  geb.  1,25  M. 
Das  Bändchen  gehört  der  Teubnerschen  Sammlung  „Aus  Natur  und  Geistes- 
welt" an.  Dadurch  sind  ihm  die  Grenzen  vorgezeichnet,  in  denen  es  sich  von 
vornherein  zu  halten  hatte.  Auf  154  Seiten  nun  eine  Geschichte  des  deutschen 
Schulwesens  von  seinem  Anbeginn,  der  ausgehenden  Römerzeit,  und  von  den  Tagen 
Theodorich  des  Großen  bis  zur  Gegenwart  zu  bringen,  das  ist  keine  Kleinigkeit, 
und  es  heißt  hier  für  den  Verfasser,  daß  in  der  Beschränkung  sich  der  Meister  zu 
zeigen  hat.  Diesem  Grundsatz  ist  Knabe  überall  gefolgt,  ohne  aber  durch  die  Be- 
schränkung es  an  belebenden  Einzelheiten  fehlen  zu  lassen.  Wir  bekommen  überall 
einen  klaren  Einblick  in  die  Welt  der  Schule  und  in  die  geistigen  Bewegungen, 
welche  die  einzelnen  Zeitalter  beherrschten.  Die  einzelnen  Kapitel  bilden  stets 
ein  kleines  abgeschlossenes  Ganze;  alles  liest  sich  flott  und  frisch.  Das  hängt  damit 
zusammen,  daß  das  Buch  seinen  Ausgang  genommen  hat  vom  gesprochenen  Wort. 
Es  ist  aus  Vorträgen  entstanden,  die  der  Verfasser  in  einem  Marburger  Ferien- 
kursus gehalten  hat;  für  das  Buch  selber  und  für  seine  Veröffentlichung  hat  aber 
der  Verfasser  eine  völlige  Umarbeitung  vollzogen,  bei  welcher  das  Beste  aus  der 
historischen  Pädagogik  verwertet  ist.  —  Für  die  erste  Einführung  ist  das  Büchlein 
sehr  geeignet  und  den  Anfängern  im  Schulamt,  unseren  Seminar-  und  Probekandi- 
daten sehr  zu  empfehlen,  aber  auch  den  älteren  Schulmännern,  die  das  Bedürfnis 
haben,  noch  einmal  an  einer  Sonntagswanderung  durch  die  Geschichte  unserer 
Schulen  sich  zu  erfreuen. 

Berlin.  A.  Matthias. 

Schneider,  Alb.,  Wirklichkeiten.   Straßburg  1910.  J.  Singer.  254  S.  8«.  4M. 

Aus  dem  Titel  dieses  Buches  ersieht  man  nichts  Rechtes  über  seinen  Inhalt, 

und  man  wird  bei  der  Lektüre  erstaunt  sein,  in  ihm  eine  Erörterung  der  Grund- 


684         P-  Apel,  Die  Überwindung  des  Materialismus,  angez.  von  E.  Dennert. 

fragen  der  Philosophie  zu  finden  und  zwar  in  einer  ebenso  scharfsinnigen  wie  an- 
regenden Weise.  Der  Verfasser  kritisiert  alle  Erfahrungsgebiete,  Kraft,  Seele, 
Geist  usw.,  er  versucht  Philosophie  und  Wissenschaft  auf  eigenen  Boden  zu  stellen 
und  das  spekulative  Denken  zu  einem  allgemeinen  Regulativ  zu  machen.  Das 
Buch  verdient  gelesen  zu  werden. 

Apel,  Paul,  „Die  Überwindung  des  Materialismu  s".  2.  Aufl. 
Berlin-Zehlendorf  1909.  C.  Skopnik.  201  S.  8".  geb.  2,75  M. 
Der  Verfasser  hat  eine  sehr  glückliche  Art,  philosophische  Probleme  klar  und 
bestimmt  darzulegen.  Hier  gibt  er  auf  dem  Wege  der  Erkenntniskritik  eine  sehr 
brauchbare  Kritik  des  Materialismus,  indem  er  einen  Philosophen  im  Gespräch 
den  Laien  allmählich  überzeugen  läßt.  Das  Buch  scheint  mir  auch  sehr  geeignet 
zu  sein,  vom  Materialismus  angekränkelte  junge  Leute  wieder  zurecht  zu  rücken, 
sie  müssen  freilich  schon  etwas  philosophisch  denken  können. 

Hubert,  G.,  Christentum  undWissenschaft.  2.  verb.  Aufl.  Leipzig 
1909.  J.  C.  Hinrichs.  174  S.  8".  2  M.,  geb.  3  M. 
In  einer  Zeit,  in  der  man  die  Grenzen  zwischen  Wissenschaft  und  Religion 
nicht  immer  scharf  einzuhalten  weiß,  tun  Vorträge  wie  die  in  obigem  Buch  ge- 
sammelten wohl,  weil  sie  es  verstehen  der  Wissenschaft  zu  geben,  was  ihr  gebührt, 
und  ebenso  der  Religion,  was  ihr  gebührt.  Man  merkt  es  dem  Verfasser  an,  wie 
ernst  es  ihm  damit  ist,  wenn  er  sagt:  ,,Kann  man  nur  dann  dem  Christentum  an- 
hängen, wenn  man  sich  gewaltsam  der  Mehrheit  verschließt?  Ich  stehe  nicht  an 
offen  zu  bekennen,  daß  ich  mich  dann  entschlossen  auf  die  Seite  der  Mehrheit  stellen 
würde,  so  bitterschwer  mir  wie  jedem  bewußten  Christen  der  Bruch  mit  dem  Christen- 
tum ankommen  würde."  Der  Verfasser  behandelt  das  Verhältnis  des  christlichen 
Gottesglaubens  zur  modernen  Kosmologie,  Biologie  und  Psychologie,  sodann 
Person,  Werk  und  Auferstehung  Christi;  dabei  weiß  er  überall,  wie  auch  der  zugeben 
wird,  der  auf  anderem  Standpunkt  steht,  durch  große  Klarheit  zu  fesseln. 

Gockel,  A.,  Schöpfungsgeschichtliche  Theorien.  2.  verm. 
und  verb.  Auflage.  Köln  1910.  J.  P.  Bachem.  166  S.  gr.  8^.  2,40  M. 
Unter  den  zahlreichen  „Schöpfungsgeschichten"  der  Gegenwart  nimmt  dieses 
Buch  eine  hervorragende  Stellung  ein;  denn  es  zeichnet  sich  durch  eine  große, 
ruhige  Sachlichkeit  aus.  Es  gibt  Leute,  die  sich  durch  den  Namen  eines  katholi- 
schen Verlags  abschrecken  lassen  ein  Buch  zu  lesen.  Das  wäre  hier  sehr  unbe- 
rechtigt; denn  der  Freiburger  Physiker  hat  hier  seinen  persönlichen  religiösen 
Standpunkt  ganz  beiseite  gelassen  und  alle  einschlägigen  Theorien  von  Kant 
bis  Arrhenius  gleich  objektiv  dargestellt  und  kritisiert.  Ein  großer  Vorzug  des 
Buches  ist  es  auch,  daß  es  alle  neueren  Hypothesen  berücksichtigt. 

Müller,  J.,    Vonden   Quellen  des    Lebens.     3.  Aufl.    München   1910. 
C.  H.  Beck.    VIII  u.  359  S.    8^.    geb.  4  M. 
Müllers  Name  ist  ein  Programm,  er  ist  mit  dem  Begriff  des  „persönlichen 
Lebens"  eng  verbunden,  und  er  hat  bereits  eine  große  Gemeinde  hinter  sich.    Außer- 


K.  C.  Schneider,  Die  Grundgesetze  usw.,  angez.  von  E.  Dennert.  685 

halb  derselben  mag  manchem  an  ihm  manches  nicht  gefallen;  aber  jeder,  der  ihn 
kennenlernt,  wird  sich  eines  Eindrucks  nicht  erwehren  können:  hier  steht  ein 
Mann  vor  mir,  der  in  unserer  verworrenen  Zeit  vielen  ein  Wegweiser  zu  größerer 
Klarheit  über  sich  selbst  werden  kann.  Von  allen  Büchern  Müllers  hat  mir  dieses 
hier  angezeigte  stets  am  besten  gefallen,  und  denjenigen,  welche  ihn  noch  nicht 
kennen,  sei  es  zur  Orientierung  über  seine  Richtung  ganz  besonders  empfohlen. 
Manche  dieser  Aufsätze  verdienten  als  Flugblätter  allgemein  verbreitet  zu  werden. 

Schneider,  K.  C,  Die  Grundgesetze  der  Deszendenztheorie 
in  ihrer  Beziehung  zum  religiösen  Standpunkt.  Mit 
73  Abbildungen.  Freiburg  i.  Br.  1910.  Herdersche  Verlagsbuchhandlung. 
266  S.    gr.  8«.    7  M.,  geb.  7,80  M. 

Ein  Buch,  das  viele  in  Verwunderung  versetzen  wird,  weil  hier  ein  moderner 
Zoologe  Religion  und  Deszendenzlehre  zu  versöhnen  sucht.  Der  Verfasser  wider- 
legt den  Materialismus  und  bekennt  sich  zu  einer  Art  platonischer  Ideenlehre. 
Die  ,,Idee"  ist  nach  ihm  die  Summe  aller  Anlagen,  eine  nicht  stoffliche  „Substanz", 
welche  die  Organisation  bedingt.  Aus  der  Entwicklung  folgt  eine  Lebenskraft, 
deren  Träger  die  Idee  ist.  Als  drittes  kommt  die  „Formanalyse"  hinzu,  die  Analyse 
der  Korrelationen  zwischen  den  Anlagen,  die  man  auch  mit  „Entelechie"  bezeichnen 
kann  und  welche  bestimmte  Entwicklungsrichtungen  veranlaßt.  Den  Tod  be- 
trachtet der  Verfasser  als  etwas  Aktives,  das  die  Vervollkommnung  der  Organisation 
bewirkt,  als  5.  Prinzip  stellt  er  einen  psychischen  Finalfaktor  in  der  Natur  fest, 
die  Ursache  der  Anpassung,  wobei  er  Darwinismus  und  Lamarekismus  ablehnt. 
Nach  alle  dem  steht  der  Verfasser  auf  dualistischem,  ja  zum  Teil  scholastischem 
Standpunkt.  Das  Buch  ist  der  Leo- Gesellschaft  in  Wien  gewidmet.  Manche 
Gedanken  des  Buches  werden  wohl  heftigen  Widerspruch  erregen,  auch  bei  solchen, 
die  wie  der  Verfasser  an  eine  Versöhnung  von  Religion  und  Deszenclenzlehre  glauben, 
aber  auf  der  anderen  Seite  wird  auch  niemand  dieses  Buch  fortlegen,  ohne  selbst 
zum  Nachdenken  angeregt  zu  sein. 

Schwartz,  J.,  Die  Entwicklungslehre  naturwidrig.  Straßburg 
1910.     J.  Singer.     89  S.    8".    1,50  M. 

Das  ist  in  der  Tat  eine  neue  Entdeckung,  die  der  Verfasser  macht,  daß  die 
Entwicklungslehre  „naturwidrig"  sei.  Er  beginnt  mit  Graf  Arnim-Schlagen- 
thins Kritik  der  Selektion,  die  aber  bekanntlich  nur  den  Darwinismus  trifft,  geht 
dann  sehr  bald  zur  Frage  nach  der  Schwerkraft  über,  womit  er  sein  eigentliches 
Thema  verläßt,  dann  spricht  er  einmal  wieder  von  der  Entwicklungslehre;  dabei 
kommt  er  aber  auch  über  Behauptungen  nicht  heraus.  Für  den  Verfasser  ist  die 
Materie  mit  ihren  Eigenschaften,  sind  die  Lebewesen  ebenso  wie  die  Erde  seit 
Ewigkeit  so  gewesen,  wie  sie  heute  sind.  Zum  Schluß  wird  dann  wieder  die  Schwer- 
kraft angegriffen.  Mit  solchen  Ansichten  ist  nicht  zu  streiten;  aber  der  Verfasser 
sollte  wenigstens  nicht  behaupten,  daß  er  die  Entwicklungslehre  als  „naturwidrig" 
erwiesen  habe. 

Godesberg.  E.  Dennert. 


686  Buchner,  Leitfaden  der  Kunstgeschichte,  angez.  von  P.  Brandt. 

Buchner,  LeitfadenderKunstgeschichte.  Für  höhere  Lehranstalten 
und  zum  Selbstunterricht,  neu  bearbeitet  von  G.  H  o  w  e.  Mit  365  Abbildungen 
und  zwei  mehrfarbigen  Bildern.  Essen  1911.  G.  D.  Baedeker.  12.  Auflage. 
VIII  u.  378  S.     gr.  8«.    geb.  4  M. 

Buchners  Leitfaden  hat  an  der  bewährten  Hand  des  neuen  Bearbeiters,  eines 
in  der  Kunststadt  Düsseldorf  gern  gehörten  Kunstlehrers,  mit  dieser  12.,  stark 
bereicherten  Auflage  einen  bedeutsamen  Schritt  vorwärts  getan.  Nicht  bloß  die 
Abbildungen  sind  um  über  ein  Viertel  vermehrt,  die  Bearbeitung  des  Textes  ist 
auch  mit  Erfolg  darauf  ausgegangen,  alles  Kompendiarische  zugunsten  einer  kurzen, 
aber  eindringenden  Analyse  auszuschalten  und  so  den  einzelnen  Gestalten  mehr 
Körper  zu  geben.  Naturgemäß  hat  die  neuere  Kunst,  darunter  auch  das  Kapitel 
über  das  Kunstgewerbe  der  Gegenwart,  am  meisten  Bereicherung  erfahren,  aber 
auch  in  der  antiken  und  mittelalterlichen  Epoche  spürt  man  überall  die  bessernde 
und  glättende  Hand  des  Bearbeiters.  Die  Abbildungen  sind  mit  wenigen  Ausnahmen 
gut;  neu  hinzugetreten  ist  die  farbige  Nachbildung  der  innigen  Madonna  vom  Hause 
Tempi. 

Neuwirth,  Jos.,  Illustrierte  Kunstgeschichte.  Mit  über  1000  Text- 
abbildungen und  vielen  farbigen  Tafelbildern.  Berlin,  München,  Wien.  Allge- 
meine Verlagsgesellschaft  m.  b.  H.  gr.  8^.  Vollständig  in  20  Lieferungen  zu  1  M. 
Das  auf  zwei  Bände  berechnete  Werk  des  durch  Bearbeitung  von  Springers 
,, Mittelalter"  auch  weiteren  Kreisen  bekannten  Verfassers  will,  wie  die  „Ankündi- 
gung" sich  ausdrückt,  eine  Lücke  ausfüllen  zwischen  der  „reiches  Anschauungs- 
material bietenden  Vielbändigkeit"  auf  der  einen  und  „der  auf  das  allernotwendigste 
beschränkten,  in  der  Bildausführung  nicht  immer  einwandfreien  Einbändigkeit 
der  bisher  zur  Verfügung  stehenden  Unterrichtsbehelfe"  auf  der  andern  Seite. 
Wer  die  bisher  erschienenen  Lieferungen  überschaut,  die  bei  klarem  Druck  auf 
gelblichem,  die  Augen  schonenden  Papier  eine  Fülle  von  gut  ausgewählten  und  fast 
durchweg  gut  ausgeführten  Textbildern  bieten,  zu  denen  sich  eine  ganze  Reihe  ganz- 
seitiger farbiger  und  Tondrucktafeln  gesellt,  wird  von  dem  Aufbau  des  Ganzen 
einen  sehr  günstigen  Eindruck  gewinnen.  Nach  einem  Überblick  über  die  Kunst- 
übung der  vorgeschichtlichen  Zeit  handelt  der  Verfasser  die  Kunst  des  Orients, 
der  Ägypter,  Babylonier  und  Assyrer,  Perser  sowie  der  westasiatischen  Kleinstaaten 
ab,  um  sich  dann  zum  fernsten  Osten,  zur  Kunst  der  Inder,  Chinesen  und  Japaner 
zu  wenden,  von  denen  die  letzte  mit  Rücksicht  auf  ihre  Bedeutung  für  unsere  moderne 
Zeit  besonders  ausführlich  geschildert  wird.  Dann  erst  kehrt  der  Verfasser  zur  Kunst 
des  Abendlandes  zurück,  die  er  in  üblicher  Weise  gliedert.  Die  Darstellung  geht 
mit  Erfolg  darauf  aus,  unter  Vermeidung  der  Zersplitterung,  wie  sie  die  Rücksicht 
auf  Mittelmäßigkeiten  und  der  Drang  nach  Vollständigkeit  nur  zu  leicht  verschuldet, 
möglichst  abgeschlossene  Bilder  der  führenden  Ideen,  Meister  und  Schulen  zu  geben 
und  zugleich  die  mannigfachen  Anregungen  und  Wechselbeziehungen  klarzulegen, 
die  sie  gegeben  und  erfahren  haben.  Sachlich  dürfte  mit  dem  das  ungeheure  Gebiet 
gleichsam  spielend  bewältigenden  Verfasser  nicht  so  leicht  jemand  rechten  wollen. 
Um  so  auffallender  sind  gewisse  stilistische  Mängel  des  Werkes.  Stößt  man  sich 
zunächst   nur   an   neuartigen   Wortbildungen   wie   Verehrungsabsichten,    Lebens- 


E.  Löwy,  Die  griechische  Plastik,  angez.  von  P.  Brandt.  687 

Unglück,  Beachtungswürdigkeit, Kultkunst,  Zuweisungsbestimmung,Ewigkeitsbeach- 
tung,  Selbständigkeitsentfaltung,  so  findet  man  bei  näherem  Zusehen  überall  da, 
wo  sich  die  Darstellung  in  höhere  Sphären  aufschwingen  will,  einen  so  gezierten, 
schwülstigen,  verblasenen  und  mitunter  geradezu  fehlerhaften  Stil,  daß  dadurch 
der  Wert  des  Gebotenen  eine  empfindliche  Einbuße  erleidet.  Nur  einige  Beispiele. 
S.  269:  Das  schrittweise  Vordringen  (des  Christentums)  stieß  bis  zu  der  312  er- 
folgten Anerkennung  als  Staatsreligion  auf  wiederholt  blutvergießende  Gegner- 
schaft und  auf  manche  ganz  naturgemäß  sich  ergebende  Auseinandersetzungen 
mit  den  bestehenden  Verhältnissen.  S.  56:  Hochbedeutende  Bildwerke  schuf  die 
Palastausschmückung  in  Persepolis,  an  den  jüngeren  Stil  der  assyrischen  Kunst 
anknüpfend,  aber  nicht  mehr  Kriegstaten  und  Jagden  als  Darstellungsinhalt  der 
Königsverherrlichung  betrachtend,  sondern  letztere  in  der  Schilderung  der  könig- 
lichen Hofhaltung  findend."  S.  64:  . .  Indien,  wo  die  besonderen  Verhältnisse. . 
frühe  die  Phantasie  mannigfaltigst  anregten  und  von  oft  wundersamen  Erschei- 
nungen des  Alltagslebens  zu  ganz  merkwürdigen  Ausdrucksformen  einer  sich  an 
Großes  wagenden  Kunst  drängten."  S.  320:  „Auf  hoher  Stufe  byzantinischer 
Bildnerei  stand  der  Bronzeguß."  S.  109:  Die  Kultur  der  Griechen  erlangte  ,, vor- 
bildliche Bedeutung  unerschöpflicher,  geistvollster  Anregung."  S.  185:  Trotzdem 
galt  das  1506  in  Rom  gefundene  Werk  (die  Laokoongruppe)  lange  als  eine  Wunder- 
leistung griechischer  Bildnerei,  die  auf  große  Männer  verschiedener  Zeiten  und 
Völker  große  Anziehung  ausübte,  heute  jedoch  zutreffender  als  Zeuge  eine  be- 
wunderungswürdige Berechnung  über  die  sittliche  Idee  stellenden  Rückganges 
eingewertet  wird."  Ganz  ungenießbar  sind  auch  die  allgemeinen  Sätze,  welche  die 
griechische  Plastik  einleiten  (S.  146  f.).  Da  liest  man:  in  gleicher  oder  in  vielleicht 
noch  mehr  hervorragender  Weise  —  in  gar  manchen  Momenten  fördersamen  Rück- 
halt fanden  usw.  Alles  das  schreit  förmlich  nach  Wustmann  oder  nach  der  segens- 
reichen Tätigkeit  der  Prüfungskommission  des  Allgemeinen  peutschen  Sprach- 
vereins, der  doch  unsere  österreichischen  Brüder  mit  umfaßt!  So  sehr  wir  daher 
dem  trefflich  ausgestatteten  und  wissenschaftlich  auf  der  Höhe  der  Zeit  stehenden 
„Unterweisungsbehelfe"  ein  gutes  Geleitwort  mit  auf  den  Weg  geben  möchten: 
ehe  wir  es  unserer  reiferen  Jugend  in  die  Hand  legen  können,  muß  das  Werk  einer 
gründlichen  sprachlichen  Reinigung  unterzogen  werden.  So  wird  das  Werk  ge- 
winnen und  unsere  Jugend  diesseits  und  jenseits  der  schwarzgelben  Grenzpfähle 
dazu. 

Löwy,  Emanuel,  D  ie  griechische  Plast  ik.  Leipzig  1911.  Klinkhardt  & 
Biermann.  Textband  154  S.,  Tafelband  350  Abbildungen,  beide  8"  in  Geschenk- 
kassette.    6  M. 

In  vier  Kapiteln  von  mäßigem  Umfang  führt  der  Verfasser  an  der  Hand  vor- 
züglich ausgewählter  und  ausgeführter  Abbildungen  den  Leser  anmutig  durch 
das  weite  Gefilde  der  griechischen  Plastik:  I.  Die  archaische  Zeit;  II.  Phidias  und 
die  Bildwerke  des  Parthenon;  III.  Skopas  und  Praxiteles;  IV.  Lysipp  und  die 
hellenistische  Plastik.  Er  vermag  es,  weil  er  alles  gelehrte  Beiwerk  meidet  und 
nur  die  großen  grundlegenden  Züge  dieser  einzigartigen  Entwicklung  aufzeigt, 
die  selbst  da,  wo  sie  sich,  wie  in  der  vierten  dieser  Perioden,  ganz  dem  Individualis- 


688  H.  Luckenbach,  Kunst  und  Geschichte,  angez.  von  P.  Brandt. 

mus  zu  ergeben  scheint,  doch  im  Grunde  dem  Typus,  dem  Idealismus  huldigt. 
Und  auch  in  der  archaischen  Periode  bleibt  der  Naturalismus  der  olympischen 
Giebelgruppen,  der  an  Stelle  der  Tradition  den  Zufall,  an  Stelle  der  Auslese  den 
erstbesten  Eindruck,  den  „Impressionismus"  setzte,  nur  eine  Episode.  Von  beson- 
derer Feinheit  ist  die  Analyse  der  Kunst  des  Phidias,  von  dessen  Einfluß  der  Ver- 
fasser mit  Recht  auch  die  Giebelgruppen  und  den  Fries  des  Parthenon  nicht  zu 
lösen  vermag,  und  des  Neuen,  was  Lysipp  der  griechischen  Kunst  zugebracht 
hat.  Das  Beste  aber  ist,  daß  der  Leser,  wie  sich's  gebührt,  nichts  auf  Treu  und  Glau- 
ben hinzunehmen  braucht,  sondern  an  einem  reichen,  nach  dem  Prinzip  multum, 
non  multa  zusammengestellten  Anschauungsmaterial  sich  selbst  ein  Urteil  zu  bilden 
vermag.  Dabei  wird  auch  nicht  mit  verschiedenen  Ansichten  desselben  Kunst- 
werks, ja  mit  Wiederholung  der  gleichen  Ansicht  gegeizt,  wo  es  für  den  Vergleich 
ersprießlich  ist,  und  wiederholt  wirkt  das  Nebeneinander  stilistisch  ähnlicher 
Köpfe  (so  auf  Tafel  85,  88,  92,  93)  unter  demselben  Neigungswinkel  und  in  der- 
selben Beleuchtung  unmittelbar  überzeugend.  In  weiser  Selbstbescheidung  geht 
der  gelehrte  Verfasser  auf  politische  Veränderungen  und  soziale  Strömungen  nur, 
wo  es  unumgänglich  war,  ein;  den  Beziehungen  der  Plastik  zu  den  Schwester- 
künsten der  Architektur  und  Malerei  nachzugehen,  vermeidet  er  ganz.  So  tritt 
aus  dem  engbegrenzten  Rahmen  das  schließliche  Ergebnis  nur  um  so  reiner  und 
überzeugender  hervor,  das  in  einer  Zeit,  die  nach  Kunst  hungert  und  dürstet,  ins- 
besondere denen  zu  denken  geben  möge,  welche  eine  Vorbedingung  jedes  tieferen 
Verständnisses  der  griechischen  Kunst,  das  Studium  der  griechischen  Sprache, 
für  einen  entbehrlichen  Bestandteil  unseres  höheren  Unterrichts  zu  halten  geneigt 
sind:  „Die  griechische  Kunst  besitzt  im  höchsten  Maß  die  Gabe,  ohne  welche  Kunst 
nicht  bestehen  kann:  die  Fähigkeit  geläuterter  Erfassung  der  Form.  In  der  voll- 
endeten Idealität  der  griechischen  Kunst  liegt  das  Geheimnis  ihrer  Unsterblichkeit." 

Luckenbach,  H.,  Kunstund  Geschichte.    Kleine  Ausgabe.   Mit  8  farbigen 
Tafeln  und  349  Abbildungen.   München  und  Berlin  1910.   R.  Oldenbourg.   160  S. 
gr.  4«.     geb.  2,60  M. 
Dasselbe,  Große  Ausgabe.    Erster  Teil.    Altertum.    Mit  4  farbigen  Tafeln  und  308 
Abbildungen.    8.  vermehrte  Auflage.     124  S.    gr.  4«.    geb.  2  M. 
Es  ist  eine  Freude,  den  bewährten  Baumeister  sein  in  diesen  Blättern  oft  ge- 
rühmtes Werk  weiter  ausbauen  zu  sehen.  Einmal,  indem  er  die  bis  jetzt  erschienenen 
drei  Teile  in  einer  „Kleinen  Ausgabe"  zusammenfaßt  für  solche  Schulen,  die  kein 
Griechisch  und  Latein  treiben  und  darum  dem  Altertum  keinen  so  breiten  Raum 
gewähren  können,  sodann  aber  in  einer  neuen  vermehrten  „Großen  Ausgabe" 
dieser  Teile  selbst,  von  der  bis  jetzt  der  I.  Teil,  das  Altertum,  vorliegt.    Hinzu- 
gekommen sind  vor  allem  Farbentafeln,  von  denen  die  dem  Altertum  gewidmeten 
farbige  Architektur  und  Plastik  sowie  eine  Wand  des  sogenannten  2.  Dekorationsstils 
dem  Schüler  nahebringen;  die  kleine  Ausgabe  berücksichtigt  Grünewald,  Lucas 
Cranach,  Dürer  und  als  Beispiele  moderner  Maltechnik  Zügel  und  Liebermann. 
In  der  Auswahl  und  Gruppierung  der  vielfach  vermehrten  Abbildungen  verfährt 
Luckenbach  wie  immer  mit  großem  Geschick  und  Geschmack;  ein  kurzer  Text, 
gelegentlich  auch  eine  einleitende  Übersicht  geben  die  nötigen  Hilfen.    Die  große 


E.  Burnand,  Die  Gleichnisse  Jesu,  angez.  von  P.  Brandt.  689 

Lücke  freilich,  welche  zwischen  der  sinkenden  Gotik  einerseits  und  andererseits 
der  deutschen  Renaissance  und  dem  deutschen  Barock  in  früheren  Auflagen  klaffte, 
scheint  noch  nicht  hinreichend  ausgefüllt;  es  ist  im  wesentlichen  noch  so,  wie  auf 
S.  123  der  kleinen  Ausgabe  eine  gotische  und  eine  Rokoko-Monstranz  unvermittelt 
nebeneinanderstehen.  Und  doch  würde  ich  lieber  auf  das  zugefügte  Detail  der 
letzteren  verzichten  als  auf  ein  Renaissance-Zwischenglied,  das  die  im  Rokoko 
aufgelösten  Formen  noch  fest  zeigt.  Aus  ähnlichen  Gründen  würde  auf  S.  124  f. 
eine  Umstellung  der  Altäre  am  Platze  sein,  ausgenommen  vielleicht  den  Empire- 
Altar  von  Salem,  der  kein  Typus  ist,  sondern  ein  Einspänner.  In  der  modernen 
Malerei  ist  die  Auswahl  erfahrungsgemäß  besonders  schwierig,  und  leicht  wird 
als  Unvermögen  des  Auswählenden  angesehen,  was  bei  der  Überfülle  des  Stoffes 
eine  Unmöglichkeit  ist:  es  allen  leidlich  recht  zu  machen.  Immerhin  möchte  man 
den  Maler  Rembrandt  besser  vertreten  sehen  als  durch  das  Jugendwerk  Isaaks 
Opferung.  Auf  Liebermanns  Seilerbahn  hätte  ich  gerne  verzichtet;  sie  sagt  der 
Jugend  wenig.  Von  den  klassizistischen  Architekturen  wirken  Schinkels  Potsdamer 
Nikolaikirche  und  Weinbrenners  evangelische  Stadtkirche  in  Karlsruhe  doch  mehr 
als  Kuriosa;  auch  der  aufgewärmten  Gotik  der  Speyerer  Protestationskirche  und 
gar  des  Denkmals  Leopolds  I.  in  Laeken  hätte  man  füglich  entraten  können  —  lieber 
hätte  ich  dann  den  heute  nicht  mehr  gefährlichen  Sprung  in  unsere  neudeutsche 
gesunde  Bauentwicklung  gewagt.  Manche  frühere  Zusammenstellung  hat  Lucken- 
bach durch  eine  neue  ersetzt  lediglich  aus  dem  Grunde,  weil  sie  von  einer  gewissen 
Seite  übernommen  wurde,  und  man  begreift  den  Unmut  des  Verfassers,  mit  dem  er 
im  Vorwort  fortan  sein  Eigentumsrecht  wahrt.  Wir  wünschen  dem  reichhaltigen 
undjbilligen  Werk  in  beiderlei  Form  auch  ferner  weiteste  Verbreitung. 

Burnand,  Eugene,  Die  Gleichnissejesu.   Mit  einem  Vorwort  von  David 
Koch.   Mit  61  Zeichnungen  im  Text  und  1 1  Tafeln  in  Sirfiiligravüre.    Stuttgart 
1910.    Verlag  für  Volkskunst,  Richard  Keutel.    XXXIX  u.  148  S.    4°.    In  vor- 
nehmem Geschenkband  mit  Goldschnitt  15  M.  —  Daraus  im  gleichen  Verlag 
einzelne  Gleichnisbilder  als  „W  a  n  d  b  i  1  d  e  r  für  Kirche,  Schule  und  Haus** 
in  zwei  verschiedenen  Größen  zu  2,50  und  3,60  M.  —  Außerdem  farbige  Bilder 
nach  Burnand,  nicht  aus  den  „Gleichnissen  Jesu",  zu  4  M. 
Auf  der  Düsseldorfer  Ausstellung  für  christliche  Kunst  vor  drei  Jahren  machte 
wohl  mancher  in  einem  kleinen  Durchgangsraume  überrascht  halt;  was  ihn  fesselte, 
waren  einige  Bilder  des  französischen  Schweizers  Eugene  Burnand,  eine  „Kreuz- 
tragung",  die  „Einladung  zum  großen  Abendmahl"  und  „der  verlorene  Sohn". 
Auch  die  große  französische  Ausgabe  der  ,, Gleichnisse  Jesu"  lag  auf,  nach  welcher 
der  verdiente  Herausgeber  der  „Christlichen  Welt",   Pfarrer  D.  theol.  David 
Koch,  unter  großen  Opfern  die  leichter  erschwingliche  kleine  deutsche  Ausgabe 
herausgebracht  hat.      Über  diese  „Gleichnisse  Jesu"   ist  gegenwärtig  im   Lager 
der  Freunde  christlicher  Kunst  ein  heftiger  Streit  entbrannt.     Den  freilich  über- 
schwänglichen   Lobpreisungen   Kochs  im  „Vorwort"  gegenüber,  der  in  Burnand 
den  ersehnten  Messias  einer  neuen  religiösen  Kunst  erblickt,  erhebt  sich  in  dem 
Straßburger  Professor  Friedrich  Spitta,  dem  Mitherausgeber  der  „Monatsschrift 
für  Gottesdienst  und  kirchliche  Kunst",  die  protestantische  Theologie  mit  der 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XI.  Jhrg.  44 


690  E.  Burnand,  Die  Gleichnisse  Jesu,  angez.  von  P.  Brandt. 

kritischen  Frage,  ob  denn  Burnand  eine  solche  Propaganda  verdiene,  ob  es  ihm 
denn  gelungen  sei,  jedesmal  den  Kern  der  Gleichnisreden  Jesu  zu  treffen.  Das 
wenig  tröstliche  und  kaum  anfechtbare  Ergebnis  ist,  daß  Burnand,  genau  genommen, 
nur  ein  einziges  Mal,  in  seinem  „barmherzigen  Samariter",  diese  Parabeln  „in  ihren 
charakteristischen  Momenten  relativ  vollkommen  zum  Ausdruck  gebracht  habe'*. 
Und,  fügen  wir  hinzu,  genau  betrachtet  auch  in  diesem  nicht,  denn  Priester  und 
Levit  fehlen  auf  dem  Bilde  und  demgemäß  entfällt  für  den  Beschauer  auch  die  Ent- 
scheidungsfrage Christi,  welcher  unter  diesen  Dreien  der  N  ä  c  h  s  t  e  gewesen  sei 
dem,  der  unter  die  Mörder  gefallen  war.  Und  so  ist  es  denn  nur  ganz  folgerichtig, 
wenn  Eduard  v.  Gebhardt,  Spitta  sekundierend,  erklärt,  man  dürfe  die  Gleichnisse 
überhaupt  nicht  darstellen!  Und  doch  hören  wir  von  dem  tiefen  Eindruck,  den 
Lichtbildvorführungen  der  Burnandschen  Gleichnisse,  vom  erklärenden  und  erbau- 
lichen Wort  begleitet,  in  vielen  Gemeinden  des  Schwabenlandes  hinterlassen  haben. 
Ich  glaube,  wer  die  deutsche  Ausgabe  mit  ihren  vortrefflichen  Reproduktionen 
prüft  und  dazu  die  guten  farbigen  Steindrucke  der  „Wandbilder"  vergleicht,  wird 
zu  dem  Ergebnis  kommen,  daß  von  beiden  Seiten,  von  der  erbaulichen  Betrachtung 
Kochs  wie  von  der  kritischen  Exegese  Spittas,  über  das  Ziel  hinausgeschossen 
worden  ist.  Auch  hier  gilt  das  Gleichniswort  Christi:  ,,An  ihren  Früchten  sollt 
ihr  sie  erkennen."  Nun  beweist  allerdings  der  Eindruck  der  Lichtbilder  für  den 
exegetischen  Wert  der  „Gleichnisse"  nichts,  aber  immerhin  doch  etwas  für  einen 
gewissen  künstlerischen,  so  groß  auch  bei  einem  ungeschulten  Publikum  die  Macht 
der  Suggestion  des  Vortragenden  sein  mag:  sobald  es  nämlich  an  Hand  der  Bilder 
gelingt,  den  einen  Bestandteil  der  Parabel,  den  Vorgang,  aus  dem  die  belehrende 
Nutzanwendung  gezogen  wird,  der  Phantasie  recht  lebendig  vorzuführen.  Mag 
man  beides,  Vorgang  und  Nutzanwendung,  logisch  noch  so  säuberlich  trennen, 
wie  Spitta  und  v.  Gebhardt  tun,  für  die  Phantasie  und  für  das  gläubige  Gemüt 
sind  sie  untrennbar,  und  darin  liegt  die  Berechtigung,  das  bildlich  nicht  Darstellbare, 
die  Nutzanwendung,  durch  einen  oder  mehrere  Momente  des  Darstellbaren,  des 
Vorgangs,  für  Herz  und  Phantasie  erfaßbar  zu  machen.  Darum  ist  es  auch  dem 
Künstler  nicht  zu  verwehren,  am  allerwenigsten  von  einem  Künstler,  d  i  e  Momente 
herauszugreifen,  die  seiner  Eigenart  liegen.  Daß  er  hierbei  nicht  als  kritischer  Exeget 
verfährt,  ist  klar.  Wie  sollte  er  etwa  wissen,  daß  der  Mann  ohne  hochzeitliches 
Kleid  das  Bild  der  in  die  gesetzesfreie  Heidenkirche  eingedrungenen  Unsittlichkeit 
ist,  und  wüßte  er  es,  wie  sollte  er  es  malen?  Die  Grenzen  der  Begabung  Burnands 
liegen  ja  offen  zutage:  er  zeichnet  nur  nach  Modellen,  und  diese  kehren  häufig 
wieder;  er  bringt  manches  wenig  Charakteristische,  so  den  „Säemann";  er  setzt 
zuweilen  den  Akzent  nicht  auf  die  richtige  Stelle,  so  im  „Pharisäer  und  Zöllner"; 
er  vermag  eine  so  grandiose  Szene  wie  den  reichen  Mann  und  den  armen  Lazarus" 
nicht  in  genialer  Intuition  zu  einem  Bilde  zusammenzuzwingen,  sondern  legt 
sie  in  zwei  Alltagsszenen  auseinander.  Darum  aber  ,, diesen  (französischen)  Import" 
direkt  für  schädlich  zu  erklären,  wie  es  Paul  Schubring  in  einem  Briefe  an  Prof. 
Spitta  tut,  ist  eine  Übertreibung,  die  nur  als  Gegenschlag  gegen  den  Kultus  ver- 
ständlich ist,  den  David  Koch  mit  seinem  Schützling  getrieben  hat.  Eine  künst- 
lerische Persönlichkeit  von  eigentümlicher  Kraft  und  Schönheit  ist  darum  Burnaud 
doch,  und  darum  wissen  wir  dem  Herausgeber  Dank,  daß  er  sie  weiteren  Kreisen 


Kinzel,  Die  bildende  Kunst  usw.,  angez.  von  P.  Brandt.  691 

des  christlichen  Deutschland  zugänglich  gemacht  hat.  Lockt  doch  auch  der  Vergleich 
mit  dem  Burnand  unter  den  Deutschen  Nächstverwandten,  mit  Wilhelm  Stein- 
hausen, dem  er  an  Phantasie  nicht  ebenbürtig,  im  Formalen,  wie  gerade  „Der  barm- 
herzige Samariter"  beweist,  entschieden  überlegen  ist.  Auch  die  psychologische 
Charakteristik  gelingt  ihm  vortrefflich,  so  in  dem  weniger  bekannten  Gleichnis 
von  den  beiden  Söhnen  Matth.  XXI,  28—31.  Der  südfranzösische  Zug  von  Land 
und  Leuten  —  die  Provence  ist  Burnands  zweite  Heimat  —  verträgt  sich  gerade 
um  des  heißen  Klimas  willen  vortrefflich  mit  unsern  Vorstellungen  vom  Schauplatz 
der  heiligen  Geschichten.  Möge  daher  die  Wage  der  Kritik  sich  bald  ins  Gleiche 
stellen,  gleichweit  entfernt  von  Kritiklosigkeit  wie  Überkritik,  und  dem  Künstler 
zuwägen,  was  ihm  und  jedem  ernst  Schaffenden  gebührt:  das  Recht,  er  selbst  zu 
sein  und  aus  seinem  Schaffen  heraus  verstanden  und  gewürdigt  zu  werden. 

Kinzel,    Die   bildende  Kunst   im   deutschen   Unterricht   der 
Prima.     Leipzig  19H.     R.  Voigtländers  Verlag.    62  S.    8«.     1  M. 

Im  wesentlichen  ein  Neudruck  einer  Programmabhandlung  des  Berlinischen 
Gymnasiums  zum  Grauen  Kloster  vom  Jahre  1904.  Eine  Besprechung  würde 
sich  daher  erübrigen,  wäre  nicht  bei  dem  bekannten  Namen  des  Verfassers  eine 
Warnung  am  Platze,  den  Kunstunterricht  an  den  deutschen  Unterricht  in  Prima, 
d.  h.  an  Lessing  und  Goethe  zu  hängen.  Es  kommt  dabei  lediglich  ein  Eiertanz 
heraus.  Denn  warum  „fördert"  K.  die  „Geschichte  der  Baukunst"  von  den  Griechen 
bis  zur  Kuppel  von  St.  Peter  „in  der  Einleitung  zur  neuhochdeutschen  Literatur"? 
„Um  dann  erst  bei  Goethes  Italienischer  Reise  darauf  zurückzukommen"!  „Das 
2.  Halbjahr  in  Prima  ist  Lessing  geweiht.  Sein  Laokoon  nötigt  uns  zur  Einführung 
in  die  griechische  Plastik."  „Wie  eine  Vorstellung  davon  gewinnen,  ,daß  bei  den 
Alten  die  Schönheit  das  höchste  Gesetz  der  bildenden  Künste  gewesen  sei*  (ein 
Satz  Lessings,  der  doch  sehr  der  Einschränkung  bedarf!),  \^enn  man  ihnen  nicht 
die  bedeutendsten  Kunstwerke  aller  Perioden  (!)  in  guten  Abbildungen  zeigt?"  „Wie 
sollte  man  ihnen  klar  machen,  daß  die  Künstler  der  Laokoongruppe  im  Ausdruck 
des  Schmerzes  . . .  Maß  gehalten  haben  (? !),  obwohl  sie  tiefsten  Schmerz  in  der 
Figur  des  Laokoon  zum  Ausdruck  brachten  ( ! ),  als  wenn  man  zum  Vergleich  alt jre 
und  jüngere,  wie  auch  einige  moderne  Kunstwerke  heranzieht?"  Nun  tut  aber 
Goethe,  der  dann  an  die  Reihe  kommt,  dem  Verfasser  nicht  den  Gefallen,  hübsch 
bei  dem  Eindruck  zu  verharren,  den  Lessings  Laokoon  auf  den  siebzehnjährigen 
gemacht  hatte,  und  geradeswegs  nach  Italien  zu  gehen,  sondern  es  packen  ihn 
in  Dresden  nicht  die  großen  Meister  der  Renaissance,  sondern  just  ihr  Widerspiel, 
die  Niederländer,  und  mit  ihren  Augen  sieht  er  das  Interieur  seines  gastfreundlichen 
Schusters.  Da  allerdings  „liegt  die  Schwierigkeit  jetzt  darin,  daß  wir  den  im  Laokoon 
angeknüpften  Faden  zunächst  fallen  lassen  müssen".  Das  ist  schlimm,  aber  der 
Verfasser  weiß  sich  zu  helfen.  Zwar  ist  Goethe,  wenigstens  nach  „Dichtung  und 
Wahrheit",  an  den  Italienern  in  Dresden  kalt  vorübergegangen,  aber  was  ver- 
schlägt das?  „Man  wird  von  der  Entwicklung  der  Malerei  vom  Steifen,  Kon- 
ventionellen zur  Natur  im  Süden  wie  im  Norden  erzählen  und  diesem  niederländischen 
Realismus  den  Idealismus  der  italienischen  Renaissance  gegenüberstellen"  (!). 
Der  Verfasser  zieht  also  gleich  hier  die  großen  italienischen  Meister  des  15. — 16.  Jahr- 

44* 


692  C.  Lucerna,  Das  Märchen, 

hunderts  heran  „mit  dem  Hinweis  (I),  daß  Goethe  für  ihre  Größe  das  Verständnis 
erst  in  Italien,  auf  einer  anderen  Stufe  der  Entwicklung  aufging".  Aber  warum 
in  aller  Welt  sie  hier  bei  den  Haaren  herbeiziehen,  wo  es,  um  diese  Niederländer 
zu  verstehen,  solcher  Künste  nicht  braucht?  Doch  wir  ergeben  uns  drein  und  be- 
ginnen bei  Giotto,  lassen  den  großen  Masaccio  fein  beiseite  (S.  39),  hören  allerlei 
über  Giovanni  Bellini,  Perugino,  Fra  Bartolommeo,  Lionardo,  Michelangelo, 
Raffael,  Correggio,  Tizian,  Paolo  Veronese  und  kehren  dann  von  dieser  aristo- 
kratischen Kunst  zu  der  mehr  volkstümlichen  nordischen  Malerei  zurück,  über 
die  sich  Goethe  zum  Glück  einmal  in  einem  Aufsatz  „Das  Erwachen  der  nieder- 
rheinischen und  niederländischen  Malerei"  ausgesprochen  hat.  Es  marschieren 
also  auf  Rogier  van  der  Weyden,  Memling,  Massys,  Holbein,  Dürer,  Cranach, 
Rubens,  van  Dyck,  Rembrandt,  Bruyghel,  Teniers,  Ostade,  natürlich  nur  „je 
nach  Zeit  und  Geschmack"  kurz  charakterisiert.  „Dann  lenken  wir  wieder  ein 
zu  unserm  Studenten  in  Dresden".  Doch  Goethe  geht  nach  Straßburg  und  be- 
geistert sich  dort  für  die  Gotik  Erwins  von  Steinbach.  Die  gleiche  Begeisterung 
den  Primanern  einzuflößen,  wird  nicht  schwer  sein.  „Schwerer  ist  es,  die  Brücke 
zu  schlagen  von  Goethes  Bewunderung  der  Niederländer  zu  dieser  Freude  an  der 
Gotik."  Die  Anlehnung  an  die  Natur  ist  es,  die  Goethe  dort  bei  den  Niederländern 
wie  „merkwürdigerweise  auch  in  der  Gotik"  fand.  Er  hat  in  seiner  Schrift  ,,Von 
deutscher  Baukunst"  „einen  tiefen  Blick  in  das  Wesen  der  Kunst  getan.  Darum 
öffnete  sich  ihm  auch  auf  einem  reiferen  Standpunkte  nach  mehr  denn  einem 
Jahrzehnt  das  volle  Verständnis  für  die  Antike  und  ihre  Verjüngung  in  der  Re- 
naissance" (1).  „So  pflege  ich  die  Sache  den  Primanern  darzustellen",  heißt  es  daran 
anschließend  im  Programm  von  1904.  „Der  Schüler  braucht  nicht  zu  wissen  (!), 
daß  er  in  der  nächsten  Folgezeit  von  der  so  angeschwärmten  Gotik  verächtlich  sprach". 
Demgemäß  fehlt  in  dem  Neudruck  von  1910,  der  insbesondere  für  Primaner  bestimmt 
ist,  diese  liebliche  Stelle!  Und  nun  sind  wir  endlich  da,  wo  wir  von  Goethes  und 
Rechts  wegen  schon  längst  hätten  sein  sollen,  bei  Palladio  in  Vicenza  und  Venedig 
und  dann  in  Rom !  —  Nein,  es  tat  wirklich  not,  dies  sonderbare  System  der  Ein- 
führung in  die  bildende  Kunst  im  deutschen  Unterricht  der  Prima  etwas  näher 
zu  beleuchten.  Weder  dem  deutschen  Unterricht  noch  der  Kunst  ist  damit  gedient; 
während  jener  aus  dem  Leim  geht,  gerät  diese  in  schiefe  Beleuchtung.  So  z.  B. 
können  wir  unmöglich  heutzutage  mehr  den  Laokoon  mit  den  Augen  Lessings, 
Winckelmanns  und  Goethes  betrachten,  die  von  der  Unruhe  und  Leidenschaftlich- 
keit der  Barockskulptur  abgestoßen  dort  edle  Einfalt  und  stille  Größe  zu  finden 
glaubten,  wo  wir  nur  widrige  Verzerrung  sehen.  Auf  diesem  Wege  kommen  wir 
nicht  weiter,  heute  so  wenig  wie  vor  acht  Jahren,  und  daher  bedaure  ich  den 
Neudruck,  der  nur  Verwirrung  stiften  kann. 

Düsseldorf.  PaulBrandt. 

Lucerna,  Camilla,  Das  Märchen,  Goethes  Naturphilosophie  als  Kunstwerk. 

Deutungsarbeit  von  Camilla  Lucerna.     Leipzig  1910.     Fritz  Eckardt  Verlag. 

VIH  u.  191  S.    8«.    2,80  M. 
Es  handelt  sich  hier  um  ein  geistvolles,  auf  fleißigen  Studien  und  gründlicher 
Kenntnis  Goethes  ruhendes  Buch,  dessen  Ergebnisse  freilich  hypothetischer  Art 


angez.  von  M.  Heynacher.  693 

sind,  es  nach  der  Natur  des  Gegenstandes  sein  müssen.  Die  Verfasserin  ist  Lehrerin 
in  Agram.  Der  Genius  Goethe  verzeihe  mir,  wenn  ich  es  ernstlich  bezweifele, 
daß  zu  diesem  Märchen  von  30  Seiten  Länge  ein  Kommentar  von  192  Seiten  er- 
forderlich ist.  Unbeschadet  der  Gründlichkeit  hätte  Lucerna  sich  viel  kürzer  fassen 
können.  Die  40  Seiten  lange  Einleitung:  Auszüge  aus  Goethe,  Boucke  und  Moritz 
konnte  wegbleiben.  Goethes  40  bändige  Ausgabe,  durchweg  so  eingehend  er- 
klärt, würde  500  Bände  Kommentar  beanspruchen. 

Gar  mancher  der  verehrten  Leser  dieser  Monatschrift  wird  Goethes  Märchen 
von  der  grünen  Schlange  in  seiner  Goetheausgabe  überhaupt  nicht  finden  können. 
Er  wird  vergebens  es  in  dem  alphabetischen  Inhaltsverzeichnis  der  Cottaschen 
und  Hempelschen  Ausgaben  suchen.  Es  ist  das  letzte  Stück  der  Unterhal- 
tungen deutscher  Ausgewanderten.  Recht  bezeichnend  und  wohl 
berechtigt  erscheint  es  mir  wenigstens,  daß  Erich  Schmidt  in  der  sechsbändigen, 
im  Auftrage  der  Goethe-Gesellschaft  ausgewählten  und  im  Insel-Verlage  1909  er- 
schienenen Goetheausgabe  das  Märchen  nicht  bringt,  während  er  eine  andere  Er- 
zählung aus  den  ^Unterhaltungen  deutcher  Ausgewanderten,  das  Familiengemälde 
,, Ferdinand  und  Ottilie"  aufgenommen  hat.  Denn  das  Märchen  von  der  grünen 
Schlange  ist  nie  volkstümlich  geworden,  wird  es  auch  nicht  werden,  obwohl  auf  ihm 
aller  Glanz  Goethescher  Darstellungskraft  ruht  und  August  Wilhelm  von  Schlegel 
schreibt:  „In  Goethes  Märchen  von  der  grünen  Schlange  gaukelt  uns  die  Phantasie 
das  lieblichste  Märchen  vor,  das  je  von  ihrem  Himmel  auf  die  Erde  herabgefallen 
ist.  Alle  ihre  Jugend  und  Fröhlichkeit  scheint  wach  geworden  zu  sein.  Eine  Reihe  der 
lieblichsten  Bilder  zieht  uns  fort;  sie  gehen  zuweilen  in  eine  lächelnde  Charakteristik 
und  dann  wieder  ins  Rührende  über;  doch  liegt  das  Rührende  mehr  in  der  holden 
Zartheit  der  Schilderung  als  im  Mitleiden,  das  der  Gegenstand  erweckt." 

In  Gedanken  bei  dem  Märchen  und  seiner  Deutung  durch  Camilla  Lucerna 
verweilend,  ging  ich  einst  an  einer  grünen  Laube  vorbei,  in  der  ein  großes  Mädchen 
mit  zwei  Kindern  saß.  Da  hörte  ich,  wie  das  eine  Kind  ri^f:  ,, Erzähl'  uns  vom 
Schneeweißchen  und  Rosenrot!"  Wird,  fragte  ich  mich,  jemals  ein  Kind  das 
Märchen  von  der  grünen  Schlange  verlangen? 

Seit  seinem  Erscheinen  —  1795  —  haben  sich  die  Goethephilologen  abgemüht, 
hinter  den  Sinn  dieses  Rätsels  zu  kommen.  Goethe  selber  schmunzelte  behaglich, 
so  oft  man  ihm  eine  Lösung  brachte,  verriet  aber  nichts.  Schon  Schopenhauer  äußert 
bei  einer  Besprechung  über  das  Märchen:  „Es  hat  fast  den  Anschein,  als  ob  Goethe 
in  höheren  Lebensjahren  in  seinen  eigenen  Werken  Symbolisches  sah,  was  er  früher 
zurückgewiesen  hat." 

Strehlke  stellte  1868  in  der  Einleitung  zum  16.  Bande  der  Hempelschen  Goethe- 
ausgabe die  bisherigen  Deutungsversuche  zusammen.  Alles,  was  bis  zur  jetzigen 
Stunde  zu  seiner  Erklärung  beigebracht  ist,  faßt  Arthur  Denecke  in  einem  treff- 
lichen Aufsatze  im  dritten  Hefte  des  Jahrganges  191 1  S.  161  vonBodes  so  empfehlens- 
werten Stunden  mit  Goethe*)  zusammen. 

Denn  Lucerna,  die  der  Überzeugung  ist,  daß  sie  zuerst  —  115  Jahre  nach  dem 
Erscheinen  der  Dichtung  —  die  Lösung  des  Rätsels  gebracht  habe,  setzt  sich  mit 


*)   Im  Verlage  von  E.  S.  Mittler,  Berlin.     Das  Heft  kostet   1   M. 


694  C.  Lucerna,  Das  Märchen, 

den  früheren  Lösungsversuchen  nicht  auseinander.  Seite  112  erklärt  sie:  „Ver- 
gleichung  und  Kritik  der  zahlreichen  Interpretationen  liegt  außerhalb  des  Plans 
dieser  Arbeit."  Auch  berücksichtigt  sie  gar  nicht  die  Stellung  des  Märchens 
innerhalb  des  Zyklus  der  Unterhaltungen  deutscher  Ausgewanderten,  unter- 
sucht nicht  seine  Beziehungen  als  eines  Teiles  zum  Ganzen,  obwohl  doch  der  Alte, 
der  Erzähler  zu  Karl  sagt:  „Diesen  Abend  verspreche  ich  Ihnen  ein  Märchen,  durch 
das  Sie  an  nichts  und  an  alles  erinnert  werden  sollen.** 

Was  hat  sie  selbst  nun  Neues  uns  gebracht?  Das  Märchen  umhülle  in  sym- 
bolischer Form  das  Totalbild  von  Goethes  Weltanschauung;  es  ersetze  uns  das  von 
Goethe  zusammen  mit  Schelling  geplante  und  Plan  gebliebene  „Naturgedicht" 
(S.  15);  es  sei  ein  „Weltwerdungsbildchen",  ein  Sinnbild  des  Vorgangs  des  Werdens 
nach  Gesetzen.  Es  baut  sich  aus  sich  selbst  auf  nach  den  beiden  Grundbegriffen 
Goethescher  Natur-  und  Kunstanschauung:  Polarität  und  Steigerung  unter  Ver- 
wandlungen. 

Wie  die  Bibel  knüpft  es  an  Weib  und  Schlange  das  Problem  des  Lebens  und 
des  Todes.  „Daß  alle  wesentlichen  Elemente  von  Goethes  Weltbetrachtung  sich 
zu  Symbolen  umkristallisiert  und  zu  einem  poetischen  Mikrokosmus,  dem  Märchen, 
zusammengeschlossen  haben,  ward  bisher  nicht  erkannt"  (S.  24).  Goethe  stelle 
im  Märchen  über  Sündenfall,  Erlösung,  Herkunft  des  Gottesreiches  sinnbildlich 
unter  Verhüllungen  eine  neue  unchristliche  Lehre  auf.  In  der  Bibel  ist 
die  Schlange  der  Teufel,  d.  h.  die  Personifikation  der  bösen  Triebe  im  Menschen; 
im  Märchen  opfert  sie  sich  dem  Gemeinwohl  auf.  Denn  Goethe  will  von  dem 
„Schandfleck  des  radikalen  Bösen"  nichts  wissen;  der  Erbsünde  gegenüber  möchte 
er  eine  Erbtugend,  eine  angeborene  Güte  im  Menschen  voraussetzen.  Eben 
„der  Protest  gegen  die  postulierte  Schlechtigkeit  der  menschlichen  Triebe  bildet 
unter  dem  Symbol  der  Schlange  das  Grund-  und  Hauptmotiv." 

Die  Schlange  vermittelt  das  Hin  und  Her  der  Völkerscharen  von  und  zu  dem 
Zentrum  eines  Weltbundes  der  Humanität.  Von  der  sinnlichen  Gier  wird  sie  zur 
Erkenntnis  geleitet,  von  hier  zur  sittlichen  Tat.  Indem  sie  sich  für  den  Königs- 
sohn aufopfert,  paßt  auf  sie  der  Ausspruch  Goethes,  wir  müßten  unsere  Existenz 
aufgeben,  damit  wir  existieren.  In  schöner  Form  besteht  sie  fort  und  versinnlicht 
in  gewölbter  Brückengestalt  das  Gesetz  aller  Organisation,  dessen  poetische  Formu- 
lierung das  Märchen  ist. 

Auch  der  weitere  Grundgedanke  des  Märchens:  ,,Ein  einzelner  hilft  nicht, 
sondern  wer  sich  mit  vielen  zur  rechten  Stunde  vereinigt"  stehe  im  Gegensatze 
zum  Kern  der  christlichen  Glaubenslehre,  der  Herabkunft  des  Gottesreiches. 

1794 — 1796  erschien  Jung-Stillings  Roman:  „Das  Heimweh".  Durchtränkt 
von  Vorstellungen  aus  der  Offenbarung  Johannis,  stellt  er  den  Weg  des  Christen 
bis  zu  seiner  vollkommenen  Ausbildung,  zum  Kreuzritter  im  Tempel  zu  Jerusalem, 
dar.  Er  warnt  vor  dem  Irrlicht,  den  Lämpchenmännern,  dem  Irrwischglanz  der 
Aufklärung,  der  Verführung  des  Schlangengeistes,  vor  der  Kantischen  Philosophie. 
,, Kindlein  l  es  ist  die  letzte  Stunde  —  in  der  ersten  gab's  Riesen,  gewaltige  Leute, 
jetzt  aber  gibt's  Genies,  die  gewaltig  herrschen  und  mit  Verachtung  auf  den  Christen 
herabsehen."  Der  Hinweis  darauf  (S.  117),  daß  Goethes  Phantasie  in  dem  1795 
gedichteten  Märchen  mit  diesen  seiner  Zeit  geläufigen  Vorstellungen  spielte,  ist 
einleuchtend. 


angez.  von  M.  Heynacher.  695 

Ebenso  wenig  sind  die  vielen  Anklänge  an  die  Freimaurerei  abzuweisen.  Der 
Weltverjüngungsprozeß  im  Märchen  ist  geknüpft  an  das  Bild  der  Brücke  und  an 
das  Wiedererstehen  des  Tempels.  Unter  der  Arbeit  am  Tempel  verstehen  die  Frei- 
maurer die  Arbeit  am  Bau  und  Fortbau  der  Menschheit,  Mit  der  Dreikönigs- 
allegorie des  Märchens  hat  man  die  maurerische  Dreiheit:  Stärke,  Schönheit  und 
Weisheit  oft  zusammengestellt. 

Auf  alle  Symbolisierungen,  die  die  Verfasserin  deutet,  können  wir  hier  nicht 
eingehen.  Der  Alte  mit  der  Lampe  sei  Goethe  selber.  Die  Lampe  versinnbildliche 
zusammen  mit  ihrem  Träger  die  Synthese  und  Relation  von  höchster  Erden-  und 
Menschengeisteskraft.  Camilla  Lucerna  beruft  sich  dabei  auf  Goethes  Ausspruch: 
Licht  und  Geist,  jenes  im  Physischen,  dieses  im  Sittlichen  herrschend,  sind  die 
höchsten  denkbaren  unteilbaren  Energien  (Sophienausgabe  II,  11,  157). 

Bei  den  Irrlichtern  wird  die  Verfasserin  an  französische  Emigranten  erinnert 
(152 — 154)  als  Vertreter  einer  Scheinzivilisation,  gutmütige  Spötter  und  Schma- 
rotzer, die  in  ihrer  Unbekümmertheit  leicht  schweres  Unglück  anrichten.  Aber 
nur  sie  sind  imstande,  das  goldene  Schloß  an  der  Pforte  des  Heiligtums  aufzu- 
schließen. Damit  habe  der  Dichter  die  Idee  versinnbildlicht,  daß  irrende  Kräfte 
sich  leiten  und  einfangen  lassen  zum  Dienste  des  Ganzen;  auch  sei  zu  denken  an  die 
damals  noch  neue  Anwendung  der  spitzen  Flamme  beim  Lötrohr,  die  aufschmelzen 
kann,  was  der  runden  nicht  gelingt. 

Auch  unter  dem  Bilde  des  pflichtkundigen  Fährmanns  erblickt  Camilla  Lucerna 
Goethe  (158).  In  dem  Flusse  sieht  sie  das  Dämonische,  eine  unfaßliche  Schicksals- 
macht, die  die  moralische  Weltordnung  durchkreuzt,  in  alles  Menschliche  ein- 
greift und  manchmal  in  einzelnen  Menschen  selbst  verhängnisvoll  wirksam  wird. 

Im  Juni  1795  erwartete  Goethe  von  klugen  Käuzen  unübersehliche  Not,  „wenn 
ich'*,  schreibt  er,  „dem  englischen  Baal  Isaak  zu  Leibe  gehe  und  die  allerliebste 
hergebrachte  Strahlenspalterei  für  ein  Märchen  erklären  werde".  Diese  beachtens- 
werte Briefstelle  zeigt  uns,  daß  in  Goethe  damals,  als  er  das  Märchen  dichtete, 
der  Widerstreit  gegen  Newtons  Lehre  arbeitete.  Nun  hatte  Newton,  sein  wissen- 
schaftlicher Gegner  in  der  Farbenlehre,  auch  ein  Buch  über  die  Prophezeihungen 
Daniels  und  die  Apokalypse  geschrieben:  Observations  upon  the  Prophecies  of 
Daniel  and  the  Apocalypse  of  St.  John,  London  1733.  Hierin  ist  der  Schlüssel 
zu  suchen.  Daniel  deutete  den  Traum  Nebukadnezars  auf  fünf  Königreiche.  Das 
fünfte  „wird  ein  zerteilt  Königreich  sein",  zum  Teil  stark,  zum  Teil  schwach.  Im 
Hinblick  hierauf  sieht  Lucerna  in  dem  gemischten  König  des  Märchens  das  Sinn- 
bild für  alles  im  Werden  Gestockte,  alles  erzwungen  Hergestellte  —  den  Newto- 
nianismus,  Goethes  „Prügelgötzen".  Goethe  habe  diese  Vision  Daniels  im  Märchen 
ins  Komische  umgedeutet. 

Mit  diesen  Angaben  ist  der  reiche  Inhalt  des  Buches  nicht  erschöpft.  Es  wird 
jedem,  der  sich  für  die  Erklärung  des  rätselhaften  Märchens  interessiert,  eine  Fülle 
von  Anregungen  und  Aufklärungen  bieten.  Ihr  philosophisches  Rüstzeug  ver- 
dankt Camilla  Lucerna  Boucke,  Goethes  Weltanschauung  auf  historischer  Grund- 
lage (Stuttgart  1907.  Frommann),  einem  Werke,  das  bei  uns  bisher  nicht  genug 
gekannt  und  gewürdigt  worden  ist  und  den  Bibliotheken  der  höheren  Lehranstalten 
hiermit  empfohlen  sei. 

Hannover.  Max  Heynacher. 


696  Goethes  sämtliche  Werke,  angez.  von  A.  Matthias. 

Goethes  sämtliche  Werke.  Jubiläumsausgabe  in  40  Bänden.  In  Ver- 
bindung mit  Konrad  Burdach  etc.  herausgegeben  von  Eduard  von  der 
Hellen.  Register  von  Eduard  von  der  Hellen.  VIII  und  423  S.  8^.  Stutt- 
gart und  Berlin  1912.    J.  G.  Cotta  Nachfolger,    geh.  3  M.,    geb.  4  M. 

Zu  der  in  dieser  Monatschrift  Jahrgang  II  (1903)  S.565,  f.  und  Jahrgang  VII 
(1908)  S.469ff.  besprochenen  Jubiläumsausgabe  von  Goethes  sämtlichen  Werken  ist 
nun  der  von  Eduard  von  der  Hellen  bearbeitete  Registerband  erschienen:  eine  be- 
wundernswerte Leistung  des  Fleißes,  der  Gründlichkeit,  der  Gewissenhaftigkeit  und 
des  klug  sammelnden  Geschickes.  Das  Register  bringt  zunächst  Personen  und  Orte 
und  zwar  nicht  nur  die  genannten,  sondern  auch  diejenigen,  die  Goethe  nur  andeutet 
oder  im  Sinne  hat,  ohne  sie  zu  nennen.  Dann  sind  in  ihm  Sachen  und  Gedanken 
enthalten  in  einer  Art,  die  etwas  ganz  Neues  darstellt.  Alles  zu  erschöpfen  ist  un- 
möglich, es  mußten  deshalb  ganze  Seiten  zusammenfassende  Stichwörter  gegeben 
werden;  das  hat,  da  subjektives  Ermessen  hier  stark  mitwirkt,  große  Schwierig- 
keitengemacht; mancher  wird  das  Stichwort,  was  ihm  gerade  vorschwebt,  vermissen, 
ein  anderer  wird  mit  dem  Stichwort,  das  er  findet,  nichts  anzufangen  wissen.  Ein 
unverrückbar  festes  Maß  ließ  sich  hier  nicht  anwenden,  zumal  auch  bei  der  Arbeit 
manche  Stichwörter  durch  begriffsverwandte  sich  verschieben  mußten.  Außer 
den  Stichwörtern  hat  v.  d.  H.  aber  auch  viele  einzelne  Sätze  und  Gedanken  aufge- 
nommen, für  die  es  ebenfalls  keinen  festen  Maßstab  gab.  Maßgebend  war  für  ihn 
hier  Goethes  Anschauung,  aber  auch  der  Leser  Bedürfnis.  Letzteres  aber  ist  ja  so 
mannigfaltig,  wie  die  Leserschar  mannigfach  geartet  ist-  Also  auch  hier  wieder  war 
für  den  Verfasser  die  Wahl  eine  Qual. 

Wie  er  seine  Aufgabe  gelöst  hat,  vermag  man  nur  durch  eifrige  Benützung  des 
Registerbandes  festzustellen.  Ich  habe  nun  längere  Wochen  das  Buch  neben  mir 
gehabt  und  bei  allen  möglichen  Anlässen  den  Band  benützt;  kein  einziges  Mal  hat 
es  mich  im  Stich  gelassen.  Ich  habe  allerdings  auch  die  Mühe  nicht  gescheut,  die 
zahlreichen  Hin-  und  Herverweisungen  bei  meinem  Suchen  zu  benutzen.  — Daß  sich 
der  Verfasser  diese  Riesenarbeit  aufgeladen  hat,  sollte  ihm  jeder,  der  seinen  Goethe 
liebt,  aufrichtig  danken,  auch  dadurch,  daß  er  dem  Verfasser  mitteilt,  wenn  er  ein- 
mal bei  seinem  Suchen  nicht  findet  oder  wenn  er  Verbesserungen  vorschlagen  kann, 
die  das  Suchen  erleichtern. 

Was  der  Verfasser  am  Schluß  der  Vorbemerkung  sagt,  ist  sicherlich  vielen 
aus  der  Seele  gesprochen;  deshalb  setze  ich  es  hierher:  „Es  ist  ja  weder  Neugier 
noch  gelehrte  Sucht,  was  den  denkenden  Menschen  des  zwanzigsten  Jahrhunderts 
immerfort  fragen  läßt,  wie  Goethe  über  dieses  und  jenes  geurteilt  habe.  Wie  eine 
frühere  Zeit  an  den  heiligen  Schriften  der  Bibel,  so  mißt  die  heutige  ihr  Urteil  an 
dem  dieses  einen  universalen  Mannes.  Kein  Problem  der  Kunst  und  Wissenschaft, 
keine  Frage  des  geistigen  und  sittlichen,  des  öffentlichen  und  privaten,  sozialen  und 
individuellen  Lebens  hat  Goethe  unerörtert  gelassen,  und  der  moderne  Mensch 
orientiert  sich  auf  diesem  weiten  Meere,  indem  er,  wie  der  Schiffer  zum  Polarstern, 
aufblickt  zu  Goethe.  In  dem  Brennpunkt  dieses  einen  Geistes  sammeln  sich  alle 
Strahlen  zu  einem  Licht  von  unvergleichlicher  Klarheit." 

Josef  von  Görres'  Ausgewählte  Werke  und  Briefe.  Herausgegeben  mit  Einleitung 
und  Anmerkungen  versehen  von  Wilhelm  Schellberg.     Band  I :  Aus- 


Josef  V.  Görres'  Ausgewählte  Werke  und  Briefe,  angez.  von  A.  Matthias.      697 

gewählte  Werke.  827  S.  Band  II:  Ausgewählte  Briefe.  862  S.  geh.  in  zwei 
Bänden  6  M.,  geb.  in  einem  Band  7,50  M.  geb.  in  zwei  Bänden  8  M. 
Kempten  und  München  1911.     Josef  Kösel. 

Man  mag  zu  Görres  stehen,  wie  man  will  —  und  der  Haß  seiner  politischen 
und  religiösen  Gegner  hat  dieses  Mannes  edles  Bild  in  eine  Karikatur  zu  verzerren 
gesucht  —  man  wird  dem  Herausgeber  seiner  ausgewählten  Werke  und  Briefe 
danken  müssen,  daß  er  sich  einer  mühevollen  Arbeit  unterzogen  hat;  denn  in  Görres 
Schriften  steckt  ein  gewaltiges  Kapital  von  Werten,  das  der  Nachwelt  überliefert 
zu  werden  würdig  ist.  Zu  diesen  Werten  gehören  wohl  alle  seine  Schriften  über  die 
deutsche  Literatur,  besonders  was  er  über  die  alten  Volksbücher  geschrieben  hat. 
Und  ebenso  geht's  mit  sehr  vielem,  was  er  in  seinem  Rheinischen  Merkur  veröffent- 
licht hat.  Wenn  ihn  Napoleon  die  fünfte  Großmacht  nannte,  so  können  wir  er- 
messen, was  Görres  seinen  Zeitgenossen  gewesen  ist.  Er  hat  als  Journalist  in 
seiner  Zeit  nicht  seinesgleichen  gehabt.  Und  nennt  ihn  Hebbel  einen  homo  sui 
generis,  so  ist  damit  gesagt,  daß  er  nicht  nur  seinen  Zeitgenossen  etwas  gewesen  ist, 
sondern  allen  Menschen  für  alle  Zeiten  etwas  sein  wird. 

Auf  eine  Formel  läßt  sich  ja  dieser  Mann  nicht  bringen.  Als  Jüngling  hat  er 
voll  fanatischen  Jakobinereifers  wider  Kirche  und  Monarchie  gestritten,  als  Greis 
hat  er  nach  trüben  Tagen  bittrer  Enttäuschung  voll  ernster,  herber  Begeisterung 
für  seine  kirchlichen  und  politischen  Ideale  gefochten,  aber  als  Mann  hat  er  in  der 
Vollkraft  seiner  Reife  Napoleons  Glück  und  Ende,  Deutschlands  Schmach  und 
Sieg  geschaut  und  mit  Flammenworten  lodernden  Haß  entzündet  gegen  den  land- 
fremden Bedrücker.  Deshalb  sollen  wir  ihn  willkommen  heißen  in  einer  Zeit,  da 
die  Erinnerung  an  jene  Zeiten  mächtig  erwacht,  willkommen  heißen  auch  wegen  der 
gewaltigen  Anschauungskraft,  die  in  seiner  bilderreichen  Sprache  uns  erquicken 
muß,  und  wegen  der  poetischen  Sicherheit,  mit  der  jene  Kraft  in  die  sprachliche 
Erscheinung  tritt. 

Der  erste  Teil  des  Erneuerungsversuches,  den  mit  Görres"  Schriften  ein  rheini- 
scher Schulmann  hier  versucht,  gibt  eine  Auslese  aus  Görres'  Schaffen  bis  1819, 
dem  Jahre,  das  im  Wendepunkt  von  Görres'  Leben  steht  und  bis  zu  dem  seine 
Schriften  wohl  bei  allen,  wes  Glaubens  und  welcher  Partei  sie  sind,  eine  freundliche 
Aufnahme  finden  wird.  Der  zweite  Band  bringt  eine  Auswahl  aus  Görres'  Briefen; 
sie  stellen  hauptsächlich  seine  letzte  Entwicklungsstufe  dar. 

Dem  Ganzen  ist  eine  Darlegung  von  Görres  Entwicklung  vom  Verfasser  voran- 
geschickt, die  nicht  nur  ein  Bild  eines  reichen  Menschenlebens  uns  bietet,  sondern 
auch  ein  Bild  reicher  rheinischer  und  deutscher  Kultur  zwischen  den  Jahren  1776 
und  1848.  Die  wertvollen  Anmerkungen  d^s  Herausgebers  führen  ein  in  das 
Verständnis  des  Buches  und  in  die  Arbeitsstätte  des  Verfassers,  in  der  er  manche 
schwere  Mühe  hat  überwinden  müssen.  Vorzügliche  Register  schließen  das  Ganze  ab. 
Durch  die  Herausgabe  dieser  ausgewählten  Schriften  wird  der  Wunsch  nach  einer 
historisch-kritischen  Görresausgabe  wieder  wachgerufen.  Es  ist  höchst  erfreulich, 
daß  Schellberg  diesen  Gedanken  aufgenommen  und  bereits  als  Mitarbeiter  Männer 
gewonnen  hat  wie  Steig,  Merkel,  Spahn,  F.  Schultz,  H.  Grauert,  H.  Rondil, 
K.  A.  von  Müller  u.  Dyrhoff. 

Berlin.  A.  Matthias. 


698  Quellen,  angez.  von  K.  Lorenz. 

Quellen.  Bücher  zur  Freude  und  zur  Förderung.  Herausgegeben  von  Heinrich 
Wolgast.  München  1911.  Verlag  der  Jugendblätter  (C.  Schnell),  kl.  8^. 
jeder  Band  25  Pf. 
Über  Heinrich  Wolgast  und  seine  Stellung  in  der  Jugendschriftenfrage  gingen 
seit  dem  Erscheinen  seines  Buches  „Das  Elend  der  Jugendliteratur"  die  Ansichten 
bald  weit  auseinander.  Die  einen  feierten  ihn  als  ihren  Helden,  der  endlich  das 
Dornröschen  für  die  Kinder  erweckt  hätte,  die  andern  verdammten  ihn  und  seine 
Bestrebungen  in  Grund  und  Boden.  In  den  letzten  Jahren  haben  sich  die  Urteile 
abgeklärt,  und  auch  die  ehemaligen  Gegner  müssen  zugestehen,  daß  Wolgast 
immer  unter  denen  genannt  werden  muß,  die  zuerst  auf  das  Elend  der  Jugendliteratur 
rücksichtslos  hingewiesen  und  Besserung  auf  diesem  Gebiete  nach  Kräften  an- 
gestrebt haben.  Aber  trotzdem  kamen  aus  dem  Lager  der  Gegner  immer  noch  die 
Rufe:  Ja,  herunterreißen  ist  nicht  schwer,  mach  es  doch  besser,  wenn  Du  es 
besser  weißt!  —  Es  hat  lange  auf  sich  warten  lassen,  daß  von  dieser  berufenen 
Seite  aus  ein  Unternehmen  begonnen  wurde,  das  auf  jahrelang  geprüfter  guter 
Grundlage  Neues  aufbaut.  Vor  den  vielen  guten  Büchelchen  für  die  Jugend,  die 
uns  die  letzten  Jahre  gebracht  haben,  hat  diese  Wolgastsche  Sammlung  voraus, 
daß  sie  trotz  dem  billigen  Preise,  der  auch  den  ärmeren  Kindern  ihre  Anschaffung 
ermöglicht,  ein  innerlich  und  äußerlich  geschmackvolles  und  gutes  Buch  den  Kindern 
fürs  Leben  in  die  Hand  gibt.  Nichts  in  der  Benennung  erinnert,  wie  sonst  fast 
überall  bei  ähnlichen  Sammlungen,  an  die  Schule.  So  wirft  man  es  nach  der  Schule 
nicht  mit  den  anderen  ausgebrauchten  Schulbüchern  in  die  Ecke.  Auch  bringt  es 
keine  abgerissenen  und  verkürzten  Lesebuchgeschichten,  bei  denen  man  nie  warm 
werden  kann,  sondern  ein  Ganzes  und  in  sich  Abgeschlossenes.  Die  bisher  er- 
schienene Auswahl  —  Tiergeschichte,  Märchen  von  Grimm  und  Andersen,  drollige 
Geschichten  von  Hebel,  Sagen  vom  Eulenspiegel  und  den  Schildbürgern,  das 
Nibelungenlied,  Reisen  von  Humboldt  und  Adolf  Friedrich  von  Mecklenburg, 
Hermann  und  Dorothea,  Teil,  Homburg,  Briefe  von  Goethes  Mutter  —  zeigt,  daß 
planmäßig  von  unten  aufgebaut  und  das  Beste  den  Kindern  geboten  wird.  Den 
dickleibigen  Lesebüchern  erklärt  diese  Sammlung  den  Krieg.  In  jener  kann  doch 
nur  genascht  werden,  so  gut  die  Auswahl  auch  ist,  und  wer  liest  später  in  seinem 
Schullesebuch?  Diese  handlichen  Büchelchen  aber  regen  zum  Vertiefen  in  einen 
Gegenstand  an  und  bewahren  so  vor  dem  Hauptfehler  des  Lesens,  dem  Überall- 
herumsuchen  und  Schnelldarüberhinhuschen.  Mit  ihnen  reichen  sich  das  Lesen 
in  der  Schule  und  zu  Hause  zum  Segen  der  Jugend  die  Hand.  —  Der  Herausgeber 
und  Verleger  verdienen  höchstes  Lob. 

Hamburg.  Karl  Lorenz. 

Studies  in  the  History  of  Classical  Teaching,  Irish  and  Continental  (1500—1700) 
by  Rev.  J.  Corcoran  S.  J.  Professor  of  Education  in  the  National  University 
of  Ireland.  The  Educational  Company  of  Ireland  Limited.  Belfast  1911. 
gr.  8».     VIII  u.  306  S.    (Ohne  Preisangabe.) 

Das  Werk  zerfällt  in  zwei  Teile  und  einen  umfangreichen  Anhang.  In  T  e  i  1  I 
(130  S.)  behandelt  Corcoran  auf  Grund  eines  1907  in  Madrid  aufgefundenen  Exem- 
plars der  ersten  Ausgabe  (span.-lat.)  die  1611  von  den  Jesuiten  des  irischen  Collegs 


English  Education,  angez.  von  H.  Sommermeier.  699 

der  Universität  Salamanca  herausgegebene  JanuaLinguarum,  durcli  die 
Comenius  zu  seiner  Janua  Linguarum  Reserata  angeregt  wurde.  Das  vorliegende 
Buch  ist  also  eine  Art  Jubiläumsgabe.  Der  Person  des  Hauptverfassers  William 
Bathe,  seiner  Familie  und  seinen  Mitarbeitern  sind  die  ersten  Kapitel  gewidmet.  Dann 
folgt  eine  ausführliche  Beschreibung  der  Janua  und  ihrer  Ausgaben.  Be-  und  Verar- 
beitungen in  Deutschland,  England,  Portugal  und  Italien.  Das  Ziel  des  Verfassers 
ist  in  diesem  Teile,  der  Janua  seiner  Landsleute  und  Ordensbrüder  die  gebührende 
Anerkennung  und  den  ihr  nach  seiner  Ansicht  zukommenden  Platz  über  der  Janua 
des  Comenius  zu  verschaffen.  —  Die  Angaben  über  die  Janua  der  Jesuiten  sind  in 
unsern  Geschichten  der  Pädagogik,  soweit  ich  gesehen  habe,  ungenau  und  werden 
durch  C.s  Untersuchungen  verbessert  (vgl.  die  Werke  von  Raumer  S.  64,  Ziegler 
S.  160,  Schmid  III,  2  S.  270). 

Von  allgemeinerem  Interesse  ist  T  e  i  1  II  (1 16  S.),  in  dem  Verfasser  die  Methodik 
des  klassischen  Unterrichts  darstellt,  wie  sie  zwischen  1500  und  1700,  d.  h.  in  dem 
Zeitraum,  in  den  die  Janua  gehört,  von  den  führenden  Geistern  vertreten  wurde. 
Das  Bild,  das  er  hier  entwirft,  fügt  zu  dem  von  Paulsen,  Gesch.  d.  gel.  U.  S.  349  ff. 
und  412  ff.,  für  Deutschland  bzw.  die  Jesuitenschulen  gezeichneten  kaum  neue 
Züge  hinzu,  denn  das  Reich  der  Gelehrsamkeit  war  international.  Hierbei  will 
Verfasser  auch  die  Kämpfe  um  die  Methode  des  Sprachunterrichts,  wie  sie  für 
unsere  Tage  charakteristisch  sind,  beleuchten.  Wenn  seine  Ansichten,  durch  die 
hie  und  da  doch  die  Sutane  des  Ordensmannes  hindurchschimmert,  und  sein 
wehmütiges  Lob  der  guten  alten  Zeit  auch  nicht  immer  Zustimmung  finden  werden, 
so  bieten  seine  Ausführungen  doch  manches  Interessante,  zunächst  natürlich 
für  den  Altphilologen,  doch  auch  für  den  Neusprachler,  denn  dieselben  Fragen, 
die  in  den  letzten  Jahrzehnten  bei  dem  Kampf  um  die  Reform  des  neusprachlichen 
Unterrichts  die  Gemüter  erhitzten,  wie  direkte  Methode,  Behandlung  der  Lektüre 
und  Grammatik,  die  Muttersprache  im  Unterricht,  das  Übersetzen  in  die  Fremd- 
sprache, sehen  wir  auch  in  jener  Zeit  des  Nachhumanismus  im  Mittelpunkt  des 
Interesses  stehen.  —  Der  A  n  h  a  n  g  (57  S.)  bietet  Material  zu  Teil  I,  so  vor  allem 
Teile  der  Janua. 

Außer  einigen  leichten  Druckfehlern  ist  mir  nur  ein  störendes  Versehen  auf- 
gefallen: Die  letzte  Zeile  von  S.  212  gehört  an  den  Schluß  von  S.  213.  Sehr  nach- 
lässig ist  Verfasser  bei  der  Wiedergabe  der  in  den  Texten  latinisierten  deutschen 
Ortsnamen,  vgl.  z.  B.  S.  51  Lureberg  für  Lüneburg  (Text  Lynenb.),  S.  52  Scheningen 
für  Schöningen,  S.66  J.  M.  Dilherr,  Prof.  at  the  Palatine  Gymnasium  of  Saale  für 
University  of  Jena.  (Text  Academia  Salana,  Dilherr  war  z.  d.  Z.  Professor  in  Jena, 
und  Acad.  Salana    im  17./ 18.  Jahrh.  ganz  gebräuchlich  für  Univ.  Jena). 

English  Education,  the  Law,  the  Church,   and  the  Government 

0  f  t  h  e  B  r  i  t  i  s  h  E  m  p  i  r  e.    By  W.  H.  Wells  (B.  A.  Oxon),  English  Lecturer 

in  the  University  of  Munich.      München   und  Berlin  1910.     R.    Oldenbourg. 

IX  u.  131   S.     80.     brosch.  3,20  M.,  geb.  3,80  M. 

Den  Hauptteil  des  Werkes  nehmen  die  Abschnitte  ein,  die  die  Erziehung, 

d.  h.  Volksschule,   Höhere  Schule  und  Universität  mit  ihren  Mittelgliedern  und 

Abarten,  behandeln  (68  S.).     Das  Kapitel  über  die  Entwicklung  des  Volks- 


700  English  Education,  angez.  von  H.  Sommermeier. 

Schulunterrichts  und  der  verschiedenen  Schularten,  die  dem  Volksschüler 
Gelegenheit  zur  Weiterbildung  geben  sollen  —  auch  die  Lehrerseminare  werden 
besprochen  —  ist  klar  und  befriedigt  vollauf;  ebenso  das  zweite,  das  über  die 
Frauenbildung  (Höhere  Töchterschule  und  Frauenstudium)  handelt.  — 
Während  in  diesen  Abschnitten  das  Historische  überwiegt,  geht  der  Verfasser 
in  den  nächsten.  Public  Schools  und  Eton  College,  mehr  auf  den 
Charakter  der  englischen  Höheren  Knabenschule  ein  und  schließt  mit  einer  warmen 
Verteidigung  der  public  schooU  wie  sie  ist.  Bei  der  Betonung  der  englischen  E  r  - 
z  i  e  h  u  n  g  s  schule,  die  er,  in  einigen  Hinweisen  wenigstens,  in  Gegensatz  setzt 
zu  der  deutschen  Höheren  Lehr  anstalt,  hätte  Wells  mehr  hervorheben  sollen, 
daß  dieser  Unterschied  vor  allem  auf  dem  Gegensatz  zwischen  der  englischen 
Internatsschule  und  der  deutschen  Halbtagsschule  beruht.  Ich  vermisse  ein  näheres 
Eingehen  auf  den  Lehrbetrieb  (Anspannung  des  Ehrgeizes,  öffentliche  Preis- 
verteilungen etc.),  sowie  auf  die  Reformbestrebungen  der  letzten  Jahrzehnte. 
Einige  Bemerkungen  über  die  Höheren  Privatschulen,  die  neben  den  sogenannten 
public  schools  einen  so  breiten  Raum  einnehmen,  würden  sich  empfehlen.  Angaben 
über  die  Vorbildung  und  Stellung  des  englischen  Oberlehrers  {assistant  master) 
folgen  seltsamerweise  erst  58  Seiten  später.  —  Beachtenswert  ist  das  Kapitel  über 
die  englischen  Universitäten  mit  einer  lebendigen,  ausführlichen  Schilde- 
rung der  Universität  Oxford  und  kürzeren  Abschnitten  über  Cambridge  und  London 
University,  beachtenswert  vor  allem  durch  die  glänzende  Charakteristik  des  Geistes, 
der  auf  den  beiden  alten  englischen  Hochschulen  herrscht.  In  scharfen  Gegensatz 
zu  ihnen,  „dem  Eigentum  der  herrschenden  Klassen",  die  sich  durch  ,,eine  gewisse 
aristokratische  Erhabenheit  über  materielle  oder  unmittelbar  praktische  Dinge" 
auszeichnen,  stellt  er  London  University,  die  Volkshochschule  und  Arbeits- 
universität. —  Bei  der  Beschreibung  der  Tracht  des  B.  A.  und  B.  Sc.  fehlt  der  Hin- 
weis auf  die  mit  Seide  gefütterte  Kapuze. 

Ich  glaubte,  gerade  an  dieser  Stelle  auf  die  erste  Hälfte  des  Werks  näher  ein- 
gehen zu  müssen,  über  die  zweite  kann  ich  mich  kürzer  fassen.  Das  Kapitel  über 
englische  Rechtspflege  gibt  ein  klares  Bild  der  heutigen  Zustände,  ohne 
sich  auf  geschichtliche  Rückblicke  einzulassen.  Klar  und  übersichtlich  ist  auch 
der  Abschnitt  über  das  kirchliche  Leben,  vor  allem  die  Hochkirche. 
Ich  vermisse  eine  wenn  auch  kurze  Bemerkung  über  die  Quäker  und  Katholiken; 
zu  den  „Anglican  monasteries''  (S.  89,  3)  hätte  eine  Erläuterung  gegeben  werden 
müssen;  die  Zahl  der  Anhänger  der  Hochkirche  konnte  wenigstens  angedeutet 
werden.  —  Das  folgende  Kapitel  gibt  ein  übersichtliches  Bild  der  englischen  Ver- 
fassung, wie  sie  Anfang  1910  bestand.  Nachdem  Wells  dann  kurz  die  Ver- 
waltung der  County,  mit  besonderer  Berücksichtigung  Londons  und 
der  City,  charakterisiert  hat,  schließt  er  mit  einigen  Angaben  über  die  großen 
Kolonien  und  ihr  Verhältnis  zum  Mutterlande.  Indien  wird  besonders  be- 
handelt. 

Folgende  Druckfehler  sind  mir  aufgefallen:  S.  9,18,  10,7,  121,15  lies  de- 
velop  statt  develope;  S.  14,  10  lies  these  statt  theses;  S.  83,  12  lies  suffragan  für  suf- 
fragen;  S.  90,31  differences  für  of  differences;  S.  96,  12  sind  die  Zahlenangaben 
augenscheinlich  umgestellt;  S.  65,  18  lies  1829  für  1836. 


Velhagen  und  Klasings  Volksbücher,  angez.  von  A.  Matthias.  701 

Wells  will,  wie  er  in  der  Vorrede  sagt,  ,,den  Engländer  durch  seine  Erziehung 
und  die  Formen  des  öffentlichen  Lebens,  in  die  er  sich  einpassen  muß,  erklären". 
Hieraus  ergibt  sich  die  Auswahl  der  Kapitel  und  die  Anlage  des  Werks,  das  darauf 
verzichtet,  Nachschlagebuch  zu  sein.  (Ein  Index  fehlt  daher  leider.)  So  kommt 
es  wohl  auch,  daß  Wells  den  Schotten  und  Irländer  fast  durchweg  nicht  berück- 
sichtigt. Daß  vor  allem  das  schottische  Erziehungswesen  nicht  behandelt  ist, 
wird  mit  mir  mancher  Leser  bedauern. 

Sicherlich  hat  Wells  das  Ziel,  das  er  sich  gesteckt  hat,  erreicht.  Alles  cha- 
rakteristisch Englische  ist  trefflich  herausgearbeitet,  man  fühlt  sich  umweht  vom 
Geiste  Britanniens.  Wo  der  Verfasser  einen  eigenen  Standpunkt  einnimmt,  ist 
er  einseitig  englisch,  aber  nie  unangenehm  einseitig,  denn  man  fühlt,  das  Urteil 
beruht  auf  ehrlicher  Überzeugung  und  kommt  aus  einem  warmen  Herzen.  So 
kann  das  Werk  einem  jeden,  der  Interesse  für  englisches  Volkstum  hat,  nicht  warm 
genug  empfohlen  werden.  Eine  deutsche  Ausgabe,  deren  Preis  allerdings  niedriger 
sein  müßte,  würde  sicher  den  Leserkreis  bedeutend  erweitern. 

Halberstadt.  Herm.    Sommermeier. 

Velhagen  und  Klasings  Volksbücher.  Volksbücher  der  Geschichte. 
Die  Völkerschlacht  bei  Leipzig.  Von  Generalmajor  z.  D.  W.  von  Voss.  Mit  28  Ab- 
bildungen und  einem  farbigen  Umschlagsbild.  34  S.  —  Volksbücherder 
Literatur,  Ludwig  Uhland.  Von  Dir.  Max  Mandheim.  Mit  35  Ab- 
bildungen und  einem  farbigen  Umschlagsbild.  34  S.  Bielefeld  und  Leipzig  1912. 
Velhagen  und  Klasing.     Jedes  Heft  kart.  0,60  M. 

Den  im  Jahrgang  X,  S.  551  und  Jahrgang  XI,  S.  280  besprochenen  Heftchen 
sind  zwei  neue  gefolgt,  das  eine  offenbar  in  Erinnerung  an  den  50  jährigen  Todestag 
Ludwig  Uhlands  (13.  November  1862),  das  andere  zur  Erinnerung  an  das  kom- 
mende große  Jahr  der  Befreiungskriege.  Beide  Bücher  entsprechen  den  Zwecken 
der  Volksbücher;  sie  belehren  durch  reichen,  in  knapper  Form  gebotenen  Inhalt 
und  bieten  zugleich  edelste  Unterhaltung  durch  guten  Stil  und  vornehme  kunstreiche 
Ausstattung. 

Berlin.  A.  M  a  1 1  h  i  a  s. 

Schmid,  B.,  Biologisches  Praktikum.  Leipzig  1909.  B.  G.  Teubner. 
71  S.    gr.  8'\    geh.  2  M.,  geb.  2,50  M. 

Die  Wiedereinführung  der  Biologie  in  den  oberen  Klassen  hat  auch  erfreulicher- 
weise den  Gedanken  an  biologische  Übungen  mehr  in  den  Vordergrund  geschoben, 
wie  sie  Schreiber  dieses  bereits  vor  10  Jahren  im  Pädagogium  zu  Godesberg  ein- 
führte. Das  vorliegende  Buch  bietet  für  solche  Übungen  einen  willkommenen 
Leitfaden;  er  behandelt  Botanik  und  Zoologie  und  zwar  nicht  nur  Anatomisches, 
sondern  auch  Physiologisches.  Dadurch  gewinnt  der  Kursus  eine  angenehme  Viel- 
seitigkeit. Freilich  scheint  mir  der  Verfasser  im  zoologischen  Teil  doch  zu  weit 
zu  gehen,  da  wäre  größere  Beschränkung  wohl  angebracht  gewesen.  Vorzügliche 
Text-  und  Tafelbilder  erleichtern  das  Verständnis. 

Godesberg.  E.  D  e  n  n  e  r  t. 


Vermischtes. 


Bekanntmachung  des  Königlichen  Provinzialschulkollegiums. 

Coblenz,  den  29.  Oktober  1912. 

Auf  Grund  der  in  den  Amtsblättern  der  Königlichen  Regierungen  der  Rhein- 
provinz und  zu  Sigmaringen  im  Jahre  1889  veröffentlichten  Prüfungsordnung  vom 
26.  August  1889  wird  dieTurn-und  Schwimmlehrer-  Prüfung  im  Jahre 
1913  am  10.  März  und  folgenden  Tagen  in  den  Räumen  der  Karlschule  am  Kaiser- 
Karl-Ring  in  Bonn  abgehalten  werden.  t: 

Zu  der  Prüfung  werden  Bewerber  zugelassen,  welche  bereits  die  Befähigung 
zur  Erteilung  von  Schulunterricht  vorschriftsmäßig  erworben  haben,  und  Studie- 
rende, diese  jedoch  nicht  vor  vollendetem  dritten  Semester. 

Die  Anmeldung  zu  der  Prüfung  hat  bis  zum  10.  Februar  1913  bei  dem 
Provinzialschulkollegium  zu  erfolgen  und  zwar  seitens  der  in  einem  Lehramte 
stehenden  Bewerber  durch  die  vorgesetzte  Dienstbehörde,  seitens  der  anderen 
unmittelbar. 

Jeder  Bewerber  hat  vor  dem  Eintritte  in  die  Prüfung  eine  Gebühr  von  12  Mark 
zu  entrichten. 

Über  die  an  der  Zulassung  zur  Prüfung  geknüpften  besonderen  Bedingungen, 
insbesondere  auch  über  die  der  Meldung  beizufügenden  Schriftstücke  gibt  die 
Prüfungsordnung  nähere  Auskunft. 


Erwiderungen. 


Auf  S.  482 — 486  dieser  Monatschrift  ist  eine  absprechende  Beurteilung  meiner 
„Geschichte  der  griechischen  Literatur,  1.  Hälfte"  zu  lesen.  So  wenig  es  mir 
einfallen  kann,  mit  Recht  ausgestellte  falsche  Behauptungen  und  unzutreffende 
Angaben  beschönigen  zu  wollen,  so  bin  ich  doch  in  der  Lage,  mich  für  einen  sehr 
großen  Teil  des  dort  Gerügten  auf  gleichartige  Ausführungen  Größerer  zu  berufen. 
Ich  selber  muß  wenigstens  folgendes  vorbringen: 

1.  Mein  Kritiker  bemängelt  die  unvollständige  Nachprüfung  der  Literatur- 
angaben, und  doch  kennt  er  selber  die  Worte  des  Umschlags:  „die  Titel  sind  nach 


Vermischtes.  703 

Möglichkeit  (!)  nachgeprüft  worden":  wer  sich  jemals  an  eine  solche  Riesenarbeit 
gemacht  hat,  wird  den  Universitätsprofessor  beneiden,  der  sich  für  solche  Geschäfte 
der  Hilfe  seiner  Studenten  bedienen  kann,  und  doch  zeigen  auch  die  Werke  an- 
erkannter Größen  solche  Mängel  (vgl.  S.  479).  Über  Antiphon  (s.  die  Ausstellungen 
auf  S.  486)  steht  noch  einiges  auf  S.  317  f.  meines  Buchs,  worauf  natürlich  seinerzeit 
der  Index  hinweisen  wird. 

2.  Es  wird  von  mir  verlangt,  daß  „die  Literaturangaben  alles  bieten"  sollen, 
„was  den  Text  und  seine  Fassung  begründet":  in  einem  kleinen  Kompendium  ist 
das  ganz  unmöglich,  auch  wenn  der  Verleger  sich  noch  viel  entgegenkommender 
zeigt,  als  der  meinige  gewesen  ist;  vielleicht  darf  ich  meinen  Kritiker  einladen,  sich 
nun  auch  einmal  die  letzte  Auflage  des  „Freund"  (2.  A.  1880)  anzusehen,  wo  für 
den  Teil  der  griechischen  Literaturgeschichte,  den  ich  Ende  1911  vorgelegt  habe, 
statt  der  352  Seiten  meiner  Bearbeitung  ganze  153  zu  finden  sind. 

3.  Erstes  Erfordernis  soll  sein,  „daß  der  knappe  Text  [ist  er  das  nicht?]  nur 
positiv  Feststehendes  bringt.  Hypothetisches  als  solches  bezeichnet",  das  heißt  also, 
um  mich  der  Redeweise  des  alten  Sokrates  zu  bedienen:  Hypothetisches  darf  zwar 
nicht  gebracht  werden,  aber  es  darf  gebracht  werden.  Nun,  wenn  ich  Hypothe- 
tisches nicht  bringen  darf,  so  sollte  mein  Rezensent  auch  nicht  verlangen,  daß 
ich  bei  der  Angabe  über  die  sTrixacpioi  Xo^oi  mehr  sage  als  „nachweisbar  seit .  .  ." 
und  selber  die  Fassung  hätte  finden  sollen,  die  ich  übrigens  gerne  annehme:  „die 
Sitte  der  staatlichen  Leichenrede  bestand  aber  wahrscheinlich  schon  seit  der  Mitte 
der  70  er  Jahre  des  V.  Jahrhunderts":  dieses  „wahrscheinlich"  und  ebenso  u.  a. 
ein  „Anschauung"  auf  derselben  Seite  kennzeichnet  ja  die  Behauptung  unzweifelhaft 
als  Hypothese,  und  doch  soll  „der  knappe  Text  nur  [ !  ]  positiv  Feststehendes  bringen", 
also  „Hypothetisches"  beiseite  lassen.  Aber  wie  gesagt  Hypothetisches  darf  ja  auch 
gebracht  werden;  ich  glaube  denn  auch  Hypothetisches,  wenn  ich  es  überhaupt  auf- 
genommen habe,  in  der  Regel  als  solches  bemerklich  gemacht  z\i  haben,  auch  in  dem 
vom  Rezensenten  herausgegriffenen  Abschnitt  S.  291  ff.,  z.  B.  wo  ich  von  Antiphon 
sage  (S.  294):  „Er  ist  neuerdings  mit  dem  Sophisten  A.  identifiziert  worden  (unbe- 
wiesen)" —  ich  hätte  auch  „hypothetisch"  schreiben  können  —  oder  wo  ich  die 
TsTpaXoYtat  „stilistisch  verdächtig"  heiße  —  ich  hätte  auch  hier  „hypothetisch" 
schreiben  können,  aber  es  hätte  dem  Leser  weniger  gesagt  — . 

4.  Daß  wir  von  dem  Epitaphiosfragment  des  Gorgias  „unbedeutende  Bruch- 
stücke" haben,  gibt  mir  jeder  zu,  der  weiß,  daß  „unbedeutend"  soviel  wie  ,, wenig 
umfangreich"  bedeuten  kann,  und  daß  das  zutrifft,  zeigt  ein  Blick  in  Diels  Frag- 
mente der Vorsokratiker  II  1-  (1907),  S.  556 f.;  ein  Werturteil  wollte  ich  ja  gar 
nicht  geben,  aber  es  kann  immerhin  künftig  geschehen. 

5.  Gorgias  braucht,  wie  mir  ein  Neusprachler  bestätigt,  kein  Advokat  gewesen 
zu  sein,  um  als  Vertreter  einer  „Advokatenkunst"  zu  gelten;  übrigens  (nicht  „sonst", 
wie  es  S.  483  irreführend  heißt)  scheine  ich  mich  hier  in  guter  Gesellschaft  zu  be- 
finden (vgl.  Paul  Wendlands  Ausführungen  bei  Gercke  und  Norden  I  1910,  S.  337  f.). 

6.  Nachdem  ich  in  dem  den  §  60  einleitenden  Abschnitt  durch  ein  „vor  allem" 
mich  salviert  zu  haben  glaubte,  führte  ich  in  kleinerem  Druck  einiges  aus  und  zwar 
in  der  Form:    „Einzelnes:    I.Alexandriner....    2.  Pergamener 


704  Vermischtes. 

Dionysiosvon  Halikarnassos.  —  Erhalten:  1.  Dion. 

Hai.;  2.  Ps.-P  1  u  t  a  r  ch  s  Bioi  xwv  osxa  pvjxopwv  ....  5.  die  Auszüge 
{Glossen)  aus  dem  Onomastikon  des  Julius  P  o  1 1  u  x ,  um  180  n.  Chr.  (bes.  aus 
Didymos)."  Obwohl  ich  also,  außer  jenem  „vor  allem*',  am  Schluß  auf  den  unter  1 
erwähnten  Alexandriner  Didymos  verweise  und  zwischen  ,,H  a  1  i  k  a  r  n  a  s  s  o  s" 
und  ,,Erh  alten'*  einen  für  jedermann  ohne  weiteres  verständlichen  Strich 
gesetzt  habe,  schließt  Herr  K.  Münscher  seine  Ausführungen  über  diesen  Abschnitt 
mit  den  Worten:    „und  das  alles  figuriert  unter  der  Rubrik:  Pergamener!" 

R.  Wagner. 

Herr  Professor  Dr.  K.  Münscher,  dem  diese  Erwiderung  vorgelegt  ist,  ver- 
zichtet aufs  Wort.  A.  Matthias. 


Für  die  eingehende  Besprechung  von  natator  Delius  bin  ich  Herrn  Kröhnert 
aufrichtig  dankbar.  Auf  seine  Bedenken  gegen  meine  Deutung  des  Aneroidbaro- 
meters  erwidere  ich: 

1.  Nicht  daran  nehme  ich  Anstoß,  daß  ein  Physiker  ein  Wort,  obgleich  es  der 
späteren  Gräzität  angehört,  verwendet,  sondern  daß  ihm  ein  solches  Wort  sollte 
bekannt  gewesen  sein;  es  ist  nur  nachgewiesen  in  einem  obskuren  Fachschrift- 
steller und  wird  von  Phrynichus  in  seiner  Zusammenstellung  attischer  Ausdrücke 
besprochen,  einer  Schrift,  mit  der  sich  selbst  von  den  Philologen  nur  wenige  be- 
schäftigen. In  einem  englisch-griechischen  Wörterbuch  aber  dürfte  er  sicherlich 
das  Wort  nicht  gefunden  haben. 

2.  Daß  die  Ableitungen  von  dvr^p  mit  dvBpo  beginnen  müßten,  ist  ihm  als 
Nichtphilologen  nicht  anzurechnen;  für  ihn  lag  es  nahe,  nach  dem  Beispiel  doxT^p 
Asteroiden  von  dvVip  Aneroid  zu  bilden. 

3.  Die  Barometer  nach  ihrer  Gestalt  zu  benennen,  ist  nicht  ungewöhnlich, 
vgl.  Dosen-,  Kapsel-,  Flaschen-,  Radbarometer. 

4.  Anstoß  hat  man  offenbar  schon  früher  genommen,  wie  die  von  mir  er- 
wähnte Schreibung  barometre  an-airoide  beweist. 

5.  Daß  es  auffallend  bleibt,  daß  die  Endung  id  bei  der  gewöhnlichen  Erklärung 
nicht  zur  Geltung  kommt,  gibt  auch  Herr  Kröhnert  zu. 

Herford  i.  W.  ErnstMeyer. 


Druck  von  G.  Bernstein  in  Berlin.